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Full text of "Zeitschrift für Volkskunde"

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ZEITSCHRIFT 


Vereins  für  Volkskunde 


Neue   Folge  der  Zeitschrift  für   Völkerpsychologie  und  Sprachwissenschaft, 
bearündet  von  M.  Lazarus  und  H.  Steinthal. 


Im  Aiiftra<>'e  des  N^ereins 

herausgegeben 
von 

Karl  Weinliold. 


Neunter  Jahrffaiiff.      ^vj     \^^   .       vlfr^^^A  1899 


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Mit  fünf  Tafeln  und  Abbildunjren  im  Text. 


BERLIN. 
Verlag  von  A.  Asher  &  Co. 


47 


Inhalt. 
Abhandlungen  und  grössere  Mitteilungen. 

Seite 
Heidnische  Überreste  in  den  Vulksüberliefermigen  der  norddeutschen  Tiefebene.    Von 

Wilhelm  Schwartz 1.  123.  305 

Eine  Gesamtdarstellung  dos  deutscheu  Volkstums.     Von  E.  M.  Meyer 18 

Über  Brettchenwelierei.     Von  Margarete  Lehmann-Filhes 24 

Quellen  und  Parallelen  zum  Novellino  des  Masuccio.     Von  G.  Amalfi     .    .    .    .    33.  136 

„0  lass  mich  doch  hinein,  Schatzl"     Volksliedvergleichung  von  P.  Drechsler.    .    .  41 

Kulturgeschichtliches  aus  den  Wesermarschen..   Von  A.  Tienken 45.  157.  288 

Über  alte  Beleuchtungsmittel.    Von  0.  v.  Zingcrle 55 

Die  Krankheitsdämonen  der  Balkanvölker.    Von  K.  L.  Lübeck 58.  194.  295 

Die  alte  Gerichtstätte  von  Cavalese  in  Südtirol.     Von  K.  Weinhold <)8 

Holekreisch.    Von  A.  Landau T2 

Geschichten  aus  dem  Etschland  und  aus  Stubai.     Von  H.  Kaff.    . 77 

Niederdeutsche  Sprüche  und  Redensarten.    Von  H.  Beck 81 

Staufes  Sammlung  rumänischer  Märchen.     Von  J.  Bolte 84.  179 

Das  englische  Kinderspiel  Sally  Wator.     Von  K.  Weinhold 89 

Das  Huttl erlaufen.     Von  W.  Hein 109 

Das  Frautragen  im  Salzburgischen.     Von  M.  Eysn 154 

Ein  Paar  merkwürdige  Kreaturen.     Von  M.  Bartels 171.  "245 

Über  Höfdaletur,  von  ßrynjulfr  Junsson,  übersetzt  von  M.  Lehmann-Filhes  .  181 
Vergleichen<le  Mitteilungen  zu  Hans  Sachs  Fastnachtspiel  Der  Teufel  mit  dem  alten 

Weib.    Von  St.  Prato 189.  :;il 

Volksastronomie  und  Meteorologie  in  Nordthüringen.     Von  E.  Reichhardt  ....  229 

Nichtdeutsche  Marterln.     Von  E.  Sieger 236 

Tiroler  Teufelsglaube.    Von  A.  Dörler 25(;.  .-561 

Uckermärkische  Kinderreime.     Von  M.  Gerhardt  und  E.  Petsch 273.  389 

Haussprüche  aus  dem  Stubaithal.     Von  Fr.  Wilhelm 284 

Sanct  Kumnieniuss.     Von  K.  Weinhold 322 

Eiserne  AVeihefiguren.    Von  W.  Hein 324 

Volkskundliches  aus  J.  W.  Wolfs  Kölner  Jugeuderinneruugen.    Von  L.  Fränkel .    .  351 

Kriegs-  und  Schlachtensagen  aus  dem  Marchfelde.    Von  H.  Schukowitz .">77 

Eine  Primiz  in  Tirol.    Von  Fr.  P.  Piger 39G 

Mährische  Marterln  und  rumänische  Erinnerungskreuze.     Von  W.  Hein 399 

Euthenische  Märchen  und  Mythen  aus  der  Bukowina.     Von  E.  F.  Kaindl 401 

Alte  deutsche  Weihnachtslieder  aus  dem  Lungau.    Von  A.  Petak 420 


IV  Inhalt. 


Kleine  Mitteilungen. 

Seite 
Dreikönigslicder    vom    Niedorrliciii.     Einige    Fastnachtlieder   vom  Niederrhein.     Von 

0.  Schell 90.  91 

Der  Kulischwanz  an  der  Thüre.     Von  0.  v.  Zingerle 92 

Vom  Geldwerte  im  IS.  19.  Jalirh.     Von  H.  Beck 93 

Aus  einer  Polizeiverordnung  von  17S6.    Von  R.  v.  Strele 94 

Franz  Magnus  Böhme  f.     Von  K.  Wein  hold 95 

Die  Amsterdamer  Trachten-Ausstellung  von  1898.     Von  K.  W 204 

Die  Sjjelte    und  die  Drihe.    Von  demselben 205 

Fledermaus  und  Maulwurf.     Von  demselben 207 

Das  Sommertagsfest  in  der  Pfalz.     Von  L.  Fränkel l'07 

Chajim  Steinthal  f.    Von  K.  Weinhold 208 

Von  einem  Unheimlichen.    Von  E.  Pfeifer 209 

Wie  man  giftige  Schlangen  anfasst.     Von  K.  Krüger 211 

Nachtwächterspruch  aus  Hindelang.    Von  M.  v.  W 212 

Wilhelm  Schwartz  f.     Von  K.  Weiuhold 328 

Die  Stecknadel  im  Volksaberglaubeu.     Von  M.  v.  Wendheini ?>;>0 

Kinderpuppengräber  in  Nieder-Österreich 333 

Niedersächsische  Zauberpuppen.    Von  R.  Andre  e 333 

Wie  im  Lüneburgischen  Pferdekolik  geheilt  wird.    Von  demselben ;)35 

Zur  lö.  Erzählung  des  Siddhi-Kür.     Von  Th    Zachariae 336 

Zweideutige  Fabeltiere.     Von  N.  W.  Thomas 337 

Eine  braunschweigische  Fastnachtfeier.     Von  0.  Schütte 338 

Scheibenschlagen  im  Breisgau.     Von  0.  Heilig .\öO 

Gestickte  Liebestüchlein.     Von  M.  Eysn 436 

Aus  dem  Herzogtum  Braunschweig.     Von  0.  Schütte 438 

Die  Spinten  in  Gross-Krausnigk.    —    Gebräuche  und  Aberglaube  aus  Fröhden,    Von 

P.  Otto 441 

Gebildbrote  und  Gebäckformen.     Aufruf  von  M.  Höfler 444 

Aus  der  Grafschaft  Glatz.     Von  Fr.  Wieth 44<; 

Internationaler  Kongress  für  Volkskunde 447 

Sammlung  volkstümlicher  Überlieferungen  in  Würtemberg 448 


Bucheranzeigen. 


Die  Donauländer.    Zeitschrift  für  Volkskunde 96 

Zibrt,  C.,  Literatura  kulturne  historicka  a  ethnogralickd 97 

Zweck,  A.,  Litauen 97 

Smith,  Robertson,  Die  Religion  der  Semiteu 98.  450 

Herrmann,  P,  Deutsche  Mj^thologie 99 

Dennett,  Notes  ou  the  folklore  of  the  Fjort 100 

Hüll,  E.,  The  Cuchullin  Saga 101 

Köhler,  Reinh.,  Kleinere  Schi-iften.    I 102 

Reiser,  K.,  Sagen,  Gebräuche,  Sprichwörter  des  Allgäus 102 

Festschrift  zum  25jährigen  Jubiläum  des  Prof.  Lemke 103 

Gomme,  A.  B.,  The  Traditional  Games.   II •.    .  103 

Frömmel,  0.,  Kinder-Reime,  -Lieder  und  -Spiele 105 

Schweizerisches  Idiotikon  31  — 3(! lOö 

Dachler,  A.,  Bauernhaus  in  Nieder-Österreich 105 

Kaindl,  R.  F.,  Ethnographische  Streifzüge  in  den  Ostkarpathen 106 

ilbersicbt  periodischer  Publikationen  über  slavische  Volkskunde  von  A.  Brückner  .  213 

Amman,  J.  J..  Volksschauspiele  aus  dem  Böhmerwalde.    II 220 

Küffner,  G.  M,  Die  Deutschen  im  Sprichwort 220 


Inhalt.  V 

Seite 

Petsch,  R.,  Neue  Beiträge  zur  Kenntnis  des  Volksrätsels 222 

Sebillot,  P.,  Litterature  orale  de  l'Auvergne ' 22P> 

Teit,  J.,  Traditions  of  the  Thompson  River  Indians 224 

Das  deutsche  Volkslied.    Zeitschrift  von  Pommer  und  Fraungruber 340 

Mitteilungen  der  Gesellschaft  für  jüdische  Volkskunde,  2.  3 341 

Höfler,  M.,  Das  deutsche  Krankheitsnameu-Buch 342 

Haas,  A.,  Schnurren,  Schwanke  und  Erzählungen  von  Rügen 342 

Sebillot,  P.,  Legendes  locales  de  la  Haut-Bretagne 343 

Derselbe,  La  Veillee  de  Noel 343 

Zell,  Franz,  Bauernmöbel  aus  dem  bayerischen  Hochland 344 

Leite  de  Vasconcellos,  J.,  Religiües  da  Lusitania 345 

Seh  ermann,  L.  und  Kr  aus  s,  F.  S.,  Allgemeine  Methodik  der  Volkskunde  ....  448 

Müller,  Max,  Nouvelles  etudes  de  Mythologie.     Traduites  par  L.  Job 452 

Bugge,  S.,  The  home  of  the  Eddie  Poems.    Translated  by  W.  H.  Schofield .    ...  452 

Bücher,  K.,  Arbeit  und  Rhythmus 455 

Kunz  Kisten  er,  Die  Jakobsbrüder,  herausg.  von  K.  Euling 456 

Pichler,  Ad.,  Aus  den  Tiroler  Bergen 457 

Feilberg,  H.  F.,  Dansk  Bondeliv 457 

Chauvet,  H.,  Folklore  Catalan 458 

Gittee,  Aug.,  Ouriosites  de  la  vie  enfantine 459 

Flachs,  A.,  Rumänische  Hochzeit-  und  Totengel)räuche 460 

Mielke,  R.,  Die  Bauernhäuser  in  der  Mark 460 

Wigand,  P.,  Der  menschliche  Körper  im  Munde  des  deutschen  Volkes 460 

Nagl,  J.  W.,  Deutsche  Mundarten.     Zeitschrift  I,  ;•> 461 

Bächtold,  J.,  Kleine  Schriften 461 

Aus  den  Sitzuiigs-Protokollen  des  Vereins  für  Volkskunde.    Von  M.  Rocdiger. 

106.  225.  349.  462" 

Register 465^ 


Heidnisclie  Überreste  in  den  Volksilberlieferungen 
der  norddentschen  Tiefebene. 

Von  Wilhelm  Schwartz.^) 


Es  ist  nicht  das  erste  Mal,  dass  ich  von  diesem  Thema  handle. 
Schon  im  Jahre  1849/50  habe  ich  unter  den  Eindrücken  der  Wanderungen, 
welche  ich  im  nördlichen,  namentlich  im  nordöstlichen  Deutschland  in 
den  Jahren  1837—1849  mit  meinem  Schwager  Adalbert  Kuhn  fortgesetzt 
unternommen  hatte*),  des  eingehenderen  in  meiner  Schrift  „Der  heutige 
Volksglauben  und  das  alte  Heidentum"  (Berlin  bei  Hertz  1850)  nachgewiesen, 
dass  auch  in  diesen  Gegenden,  abseits  von  der  städtischen  Kultiirentwicklung, 
noch  viele  heidnische  alte  Bezüge,  natürlich  nur  in  einer  mehr  mechanischen 
Tradition  der  ländlichen  Bevölkerung,  sich  von  Geschlecht  zu  Geschlecht 
in  Sage  und  Gebrauch  erhalten  haben  und  speciell  die  Sagengruppe 
von  der  sogenannten  wilden  Jagd  sich  auf  altheidnische  deutsche 
Gewittermythen  beziehe. 

Ich  habe  die  Sache  dann  im  Jahre  1862  noch  einmal  in  einer  zweiten, 
vermehrten  Auflage  jener  Schrift  von  einem  umfassenderen  mythologischen 
Standpunkt  aus  behandelt  (Berlin  bei  Hertz  1862),  bin  aber  nicht  wieder 
darauf  zurückgekommen,  da  meine  mythologischen  Studien  mich  inzwischen 
auf  immer  weitere  Gebiete  führten. 

Erst  neuerdings  sah  ich  mich  durch  eigentümliche  Verhältnisse  ver- 
anlasst, wieder  auf  die  erwähnten  Ergebnisse  zurückzugehen  und  namentlich 
im  V.  Bande  unserer  Zeitschrift  in  dem  Artikel  „Der  Schimmelreiter  und 
die  weisse  Frau"  die  erwähnten  Partieen  des  Volksglaubens  in  ihrer 
Weiterentwicklung    auf   dem  Boden    der    analogen,    nationaler    gestalteten 


1)  Zugleich  eine  Entgegnung  auf  die  Artikel  des  Hrn.  Kuoop-Rogasen  in  der 
Veckenstedtschen  Zeitschrift  für  Volkskuude  in  Bd.  2—4,  sowie  im  5.  Bande  der  Monats- 
schrift „Am  Urquell"  in  betreff  der  Traditionen  von  der  Frau  Harke,  Frick  u.  s.w. 

2)  Siehe  meinen  Vortrag  ..Vom  Sagensammcln.  Erinnerungen  aus  meinen  Wande- 
rungen in  den  Jahren  1837-49-'  im  Archiv  der  „Brandenburgia",  Gesellschaft  für  Heimats- 
kunde der  Provinz  Brandenburg,  Berlin  1894,  S.  143—157.  Desgl.  unsere  märkischen  und 
norddeutschen  Sagen  u.  s.  w.  v.  J.  1843,  bezw.  184S.     Berlin,  bezw.  Leipzig. 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1899.  ^ 


2  Schwartz: 

Mythologie  zu  verfolgen.  Ich  dachte  so  ein  Beispiel  für  die  genetische 
Entwicklung-  der  deutschen 'Mythologie  überhaupt  zu  geben,  welche 
nur  in  derartiger  Weise,  —  vollständig  befreit  von  dem  bisher  in  ihr 
lierrschenden  Synkretismus  mit  der  nordischen,  —  zu  einer  eigenartigen 
Gestaltung  gelangen  kann,  gleichzeitig  aber  damit  die  Bedeutung  des  Volks- 
glaubens, gegenüber  einer  jetzt  verschiedentlich  hervortretenden  Missachtung 
desselben,  überhaupt  wieder  zu  erhärten  und  allerhand  aus  Missverstand 
gegen  denselben  sich  geltend  macliende  Angriffe  zu  beseitigen. 

Wenn  nämlich  der  wilde  Jäger  oder  Schimmelreiter,  —  ursprünglich 
der  Sturm  auf  dem  im  grellen  Blitzglanz  angeblich  weiss  schimmernden 
Donnerross,  —  wie  er  in  den  Traditionen  von  ganz  Deutschland  bis  in  die 
neuesten  Zeiten  noch  fortlebt  und  gerade  höchst  prägnant  in  dieser  Gestalt 
in  Sage  und  Gebrauch  in  den  ostelbischen  Landschaften  noch  sich  bekundet, 
auf  den  Wodan,  das  „deutsch  -  nationale"  Gegenbild  des  nordischen 
Odin,  hinzeigt  und  aucli  stellenweise  noch  in  jenen  Gegenden  der  Name 
Wode  direkt  für  ihn  sich  erhalten  hat,  so  weist  die  weisse  Frau,  welche 
in  Süddeutschland  Frau  Bercht  genannt  wird,  in  Thüringen,  Hessen  und 
Franken  als  Frau  Holda,  Holle,  Hülle  und  Huldi  auftritt,  in  der  nordischen 
Tiefebene  aber  als  Frau  Harke,  Gode,  Freke,  Frick,  Freen  oder  Frien 
erscheint,  als  volkstümliches  Prototyp  auf  des  Wodan  Gemahlin  Frea  oder 
Fria  hin^),  wenn  dieselbe  als  Windsbraut  dem  Sturm  oder,  bei  einem 
sich  weiter  entwickelnden  Gewitter,  im  Blitzglanz  als  ein  „weisses"  Wolken- 
gespenst u.  a.  dem  Schimmelreiter  auf  seinem  Donnerross  vorauszuziehen, 
bezw.  von  ihm  verfolgt  zu  werden  scheint. 

Bewegen  sich  aber  beide  Arten  von  Gestalten  so  in  der  volkstüm- 
lichen niederen  Mythologie  nur  als  mehr  momentan  in  den  Wolken 
auftretende  Sturm-  und  Gewitterwesen  und  zeigen  so  nur  mehr  einen  der 
Naturanschauung  entsprechenden  dämonischen  Charakter^),  so  stellt 
die  nationale  Mythologie,  nach  verschiedenen  Phasen  und  Richtungen 
ihrer  Entwicklung,    sie   in   einer  mehr  allgemeineren  anthropomorphischen 

1)  Wenn  man  jenes  Verhältnis  noch  nicht  voll  erkannt  hat,  so  trägt  dazu  viel  bei, 
dass  mau  immer  nocli  in  der  Auffassung  der  „weibliclien"  Götterwesen  in  der  deutschen 
Mythologie  in  die  Irre  geführt  wird,  indem  man  bei  ihnen  nicht  au  Himmelswesen,  sondern 
zum  Teil  au  eine,  von  J.  Grimm  noch  festgehaltene  ..Erdmutter"  denkt,  die  doch  nur 
römische  Anschauung  der  von  Tacitus  erwähnten  sogen.  Nerthus  als  Terra  Mater  suppeditiert 
hat.  Die  Erdmutter  ist  überhaupt  nur  meist  eine,  in  den  Mythologien  weiblichen  Wesen 
untergeschobene  Fiktion,  indem  sie  immer  mu-  eine  Art  Abstraktion  späterer  Zeiten  ist, 
was  ich  schou  öfter  betont  habe  und  wozu  auch  jetzt  Max  Müller  in  seinen  „Beiträgen 
zu  einer  wissenschaftlichen  Mythologie",  Leipzig  1889,  S.  262  im  Prinzip  stimmt. 

2)  Dieser  Unterschied  ist  für  eine  genetische  Entwicklung  der  Gestalten  festzuhalten, 
namentlich  verwirrt  es,  wenn  man  die  Naturweseu  schon  „als  Götter"  bezeichnet  und 
danach  behandelt,  wie  dies  bei  den  oben  S.  1,  Anm.  erwähnten  Angriffen  des  Hrn.  Knoop 
geschehen  ist,  von  denen  ich  weiter  unten  handle,  s.  W.  Schwartz,  Die  altgriechischen 
Schlangengottheiten,  ein  Beispiel  der  Anlehnung  altheidnischen  Volksglaubens  an  die 
Natur.    II.  Aufl.    Berlin  bei  Hertz  1897.     Desgl.  unsere  Zeitschr.  VII,  227. 


Heidnisclie  Überreste  in  der  norcldeutsclieu  Tiofebeno.  3 

Fassung  überhaupt  als  Ilimnielsgötter  dar,  welche,  im  Verborgenen 
dort  oben  waltend,  die  Welt  regieren,  d.  li.  nach  den  Vorstellungen  jener 
Zeit,  einfach  Glück  oder  Unglück  den  Menschen  brächten,  so  dass  diese 
in  allen  Lagen  zu  ihnen  Hilfe  suchend  aufblickten  und  bei  besonderen 
Zeiten  und  Gelegenheiten  sie  in  einem  Kultus  zu  verehren  begannen. 

Die  Verhältnisse  aber,  die  mich  veranlassten,  in  dem  erwähnten 
Artikel  in  unserer  Zeitschrift  noch  einmal  zur  heimischen  Mythologie 
zurückzukehren,  lagen  in  Angriffen,  welche  gerade  auf  die  von  J.  Grimm 
begonnene  und  von  Kuhn  und  mir  fortgefülirte  Fassung  und  Darstellung 
der  erwähnten  mythischen  Wesen  namentlich  des  norddeutschen  Volks- 
glaubens in  neuester  Zeit  plötzlich  hervorgetreten  waren. 

Es  ist  bei  der  Entscheidung  über  die  Sache  von  keiner  besonderen 
Bedeutung,  in  wie  weit  jemand  speciell  mit  mir  die  genannten  Gestalten 
des  Volksglaubens  als  Prototype,  wie  erwähnt,  der  entsprechenden 
nationalen  Götter  anerkennt  oder  anders  sich  das  Verhältnis  beider  Gruppen 
zurechtlegen  will.  Schloss  sich  doch  auch  Kuhn  in  dieser  Hinsicht  in 
«inem  Gegensatz  zu  mir  mehr  .1.  Grimm  an,  welcher  bei  Begründung  der 
deutschen  Mythologie  die  mythischen  Überlieferungen  auch  des  deutsehen 
Volkes  zunächst  nur  „als  Nachklänge"  einer  alten  „germanisclien"  Mythologie 
ansah,  welche  er  im  Anschluss  au  die  „nordischen"  Sagen  der  Edda  auch 
für  Deutschland  voraussetzte.  Die  erwähnten  Angriffe  berühren  diesen 
Punkt  nicht,  sondern  beziehen  sich  auf  den  von  J.  Grimm  überhaupt  ge- 
zeichneten und  von  Kuhn  mid  mir  dann  auf  unseren  W^anderungen  weiter 
festgestellten  Volksglauben,  indem  sie  die  Bedeutung  desselben  zu  diskre- 
ditieren und  für  die  Mythologie  fast  als  imbrauchbar  hinzustellen  trachten. 

Ich  dachte  zuerst,  als  ich  davon  Kenntnis  erhielt,  dass  in  der  im  Anfang 
der  90er  Jahre  aufgetretenen  „Veckenstedtschen  Zeitschrift  für  Volkskunde" 
allerhand  mythologische  Artikel  erschienen  seien,  in  welchen  Herr  Knoop 
(bei  einem  auf  seinen  heimischen  Rivalen  Ulrich  Jahn  von  ihm  unternommenen 
Angriff)  nicht  bloss  Kuhns  ,jj)ersönliche",  in  den  Anmerkungen  zu  den  Nordd. 
Sagen  ausgesprochenen  „mythologischen  Ansichten"  sondern  auch  die  von 
uns  „gemeinsam"  auf  unseren  Wanderungen  in  betreff  des  Volksglaubens 
neu  festgestellten  Tliatsachen  zu  erschüttern  suche,  es  wäre  nicht 
nötig,  mich  darauf  einzulassen;  die  Wissenschaft  werde  sclion  nach  allem 
darüber  zur  Tagesordnung  übergehen. 

Nahm  ich  doch  bei  Einsicht  einzelner  Hefte  der  Veckenstedtschen 
Zeitschrift  und  des  5.  Bandes  von  der  Zeitschrift  „Am  Urquell"  einerseits 
wahr,  dass  die  betreffenden  Erörterungen  des  Herrn  Knoop,  insofern  sie 
speciell  gegen  die  von  Kuhn  in  den  Anm.  zu  den  Nordd.  Sagen  persönlich 
ausgesprochenen   mythologischen  Ansichten  sich  richteten^),  meist  alte 

1)  Wie  Kulm  in  der  Vorrede  (S.  XVI)  bemerkt,  hatten  wir  bei  Herausgabe  der  Nordd. 
Sagen  uns  die  Arbeit  so  geteilt,  dass  er  die  Redaktion  des  (janzen  und  die  Anmerkungen 
übernahm,  während  ich  das  Register  anfertigte. 

1* 


4  Schwartz: 

Sachen  beträfen  und  an  Vorstellungen  anknüpften,  welche  einer  Zeit  an- 
gehörten, als  noch  fast  sämtliche  deutsche  Mythologen  mit  Grimm  alle 
nordischen  Götter  der  Edda  in  den  deutschen  Sagen  wiederfinden  zu  können 
wähnten,  während  dies  jetzt  schon  längst,  prinzipiell  wenigstens,  als  ein 
überwundener  Standpunkt  angesehen  wird,  so  dass  Kuhn,  wenn  er  noch 
lebte,  auch  selber  seine  damaligen  Erörterungen  speciell  jener  Art  nicht 
mehr  aufrecht  erhalten  würde  und  danach  auch  für  mich  kein  Grund  vor- 
läge, darüber  noch  jetzt  eine  besondere  Debatte  zu  beginnen,  zumal  Kuhns 
Bedeutung  für  die  Wissenschaft  nicht  von  den  betr.  Bemerkungen  in 
der  Yeckenstedtschen  Zeitschrift  abhängig  sein  dürfte.  ^) 

Die  anderen  Angriffe  aber,,  welche  HerrKnoop  gegen  die  schon  von 
J.  Grimm  im  Volksglauben  der  norddeutschen  Tiefebene  in  ihrer  Be- 
deutung für  die  deutsche  Mythologie  nachgewiesenen  und  dann  von  Kuhn 
und  mir  auf  unseren  AVanderungen  weiter  verfolgten  Beziehungen  und 
Nachklänge  altheidnischen  Charakters  richtete,  zeigten  doch  teil- 
weise einen  geradezu  wunderlichen  und  mit  Behauptungen  der  sonder- 
barsten Art  verbundenen  Anstrich,  so  dass  mit  ihnen  eine  wissenschaftliche 
Verständigung  kaum  möglich  schien. 

Ging  doch  überhaupt  Herr  Knoop  —  wie  ich  sah,  —  bei  allen  seinen 
Untersuchungen  nicht  von  dem  allgemeiuen  deutschen  Volksglauben  aus, 
wie  ihu  z.  B.  Wuttke  in  seinem  Buche  „Der  deutsche  Volksglaube  der 
Gegenwart"  (Berlin  1862,  2.  Aufl.  1869)  so  eingehend  erörtert  hat,  sondern 
meist  nur  von  einer  einseitigen,  aus  kleinen  Verhältnissen  und  einer  be- 
schränkten Litteratur  geschöpften  Kenntnis  der  Dinge  aus.  Die  Verhält- 
nisse, wie  sie  namentlich  in  seiner  hinterpommerschen  Heimat,  —  deren 
volkstümliche  Traditionen  einen  relativ  abgeblassten  Charakter  in  Bezug 
auf  Sage  und  Gebrauch  zeigen,  —  ihm  zuerst  entgegentraten,  sind  meist 
für  ihn  massgebend  geblieben,  und  nach  ihnen  beurteilt  er  dann  alles 
Weitere.  Weil  dort  z.  B.  die  Leute  bei  allerhand  dämonischen  Erscheinungen 
noch  jetzt  den  Teufel  im  Hintergrund  stehend  erachten,  wie  es  im  XVI. 
und  XVn.  Jahrhundert  ganz  allgemein  war^),  wird  ihm  auch  dies  zu  einer 
Art  von  wissenschaftlichem  Axiom.  Statt  eines  in  den  Dingen  hervortretenden 
Zusammenhanges,  erscheinen  dieselben  ihm  meist  nur  in  einer  gewissen 
Vereinzelung,  und  er  gerät  so  auf  die  eigenartigsten  Erklärungen  der- 
selben, bezw.  bei  Debatten  gegen  jemand  auf  die  wunderbarsten  An- 
srriffsideen. 


1)  Spricht  doch  auch  Herr  Veckenstedt  noch  im  Jahre  1882,  ein  Jahr  nach  Kuhns 
Tode,  von  ihm  als  einem  eminenten  Forscher,  über  dessen  hohe  und  zum  Teil  unvergäng- 
liche Leistungen  ein  Zweifel  nicht  obwalte,  (s.  Vorrede  zu  seinen  litauischen  Sagen  S.  23.) 
In  seiner  Zeitschrift  klingt  es  dann  freilich  anders,  vergl.  vor  allem  IV,  393,  al.  <i. 

2)  Siehe  u.  a.  „Den  höllischen  Proteus"  von  Francisci,  Hochgräfl.  Hohenlohe-Langen- 
burgischen  Rat,  ISIüi-nberg  1()95,  „das  Kapitel  von  der  boshafften  Gauckel-Jagt  dess  Satans". 


Heidnische  Überreste  in  der  norddeutschen  Tiefebene.  5 

So  findet  er  —  um  nur  ein  paar  Beispiele  von  den  Kontrasten  anzuführen, 
zu  denen  er  so  gegenüber  der  deutschen  Mythologie  in  der  Auffassung 
einzelner  mythischen  Wesen  gekommen  ist,  —  in  dem  an  den  Küsten  der 
Ostsee  in  Schleswig-Holstein,  sowie  in  Mecklenburg,  Vorpommern  und  den 
angrenzenden  Inseln  in  Sage  und  Gebrauch  bis  auf  die  neusten  Zeiten 
noch  fortlebenden  Wo  de  (oder  Wand)  nur  eine  Erinnerung  an  einen 
slavischen  Woiwod  (!),  trotzdem  an  den  gegenüber  liegenden  dänischen 
und  schwedischen  Küstenstrichen  in  derselben  Weise  noch  Odin  als  Pendant 
zu  ihm  auftritt,  was  doch  auf  eine  gegenseitige  Kontinuität  aus  altheid- 
nischer Zeit  hinweist.  So  deutet  er  die  thüringisch-hessische  „Frau  Holle" 
als  „die  Olle",  so  denkt  er  bei  der  analogen  „Frau  Gode"  im  nördliclien 
Teil  der  Altmark  sowie  in  der  Priegnitz  und  den  angrenzenden  Strichen 
Mecklenburgs,  wegen  einiger  sich  an  sie  schliessender,  sekundärer  Züge, 
an  die  Jungfrau  Maria  als  „die  gode  vrouwe",  von  welcher  Bezeichnung 
eben  nur  der  erste  Teil  übrig  geblieben  sei,  oder  ist  geneigt,  eine  zwar 
nicht  in  Mecklenburg,  aber  sonst  nachweislich  für  die  Taufpate  übliche  Be- 
zeichnung „Frau  Gode"  als  Erklärung  für  den  Namen  des  gleicliklingenden 
dämonischen  Wesens  heranzuziehen,  das  mit  der  wilden  Jagd  auftritt. 

Bei  solchen  Vorstellungen  schien  es  mir,  wie  gesagt,  zunächst  nicht 
glaublich,  dass  die  Wissenschaft  auf  weitere,  daran  sich  reihende  Expekto- 
rationen der  Art  ernsthaft  eingehen  werde  und  so  für  mich  eine  Notwendigkeit 
Torliege,  auf  daran  sich  schliessende  Angriffe  gegen  die  von  Kuhn  und 
mir  einst  mühsam  in  elf  Jahren  aus  dem  Volksglauben  zusammengebrachten 
„Thatsachen"  überhaupt  mich  einzulassen. 

Seit  50  Jahren  lagen  dieselben  in  unseren  märkischen  und  in  den 
norddeutschen  Sagen  öffentlich  vor  aller  Welt  da  und  hatten  in  den  be- 
treffenden Kreisen  nie  Widersprucli.  sondern  nur  zustimmenden  Wiederhall 
und  Bestätigung  gefunden,  waren  wissensoliaftlich  in  ihrer  Homogenität  mit 
analogen  Traditionen  im  übrigen  Deutschland  erfolgreich  überall  verwandt 
worden,  und  da  sollte  ich,  nach  zwei  Menschenaltern,  weil  ich  zufällig  noch 
am  Leben,  als  hoher  Siebziger  auf  eine  Art  Auseinandersetzung  in  Einzeln- 
heiten mich  einlassen,  wo  der  Angi'iff  gegen  die  von  Kuhn  und  mir  einst 
auf  unseren  Wanderungen  festgestellten  Resultate,  wie  ich  sah,  nur  auf  aller- 
hand Einfälle  der  luftigsten  Art  sich  stützte,  die,  was  das  Unerfreulichste 
war,  stets  mit  allerhand  bösen  Verdächtigungen  sich  paarten,  so  dass  in 
eine  Debatte  mit  den  betrefi'enden  Erörterungen  einzutreten  nicht  nui* 
nicht  angenehm,  sondern  überhaupt  bei  dem  in  jener  ganzen  Zeitschrift 
meist  platzgreifenden  Ton  bedenklich  erschien! 

Wurden  doch  auch  fast  alle  deutschen  Folkloristen  und  Mythologen 
im  Anschluss  an  die  Artikel  des  Herrn  Knoop  noch  in  rücksichtsloserer 
Weise  von  Herrn  Veckenstedt  in  seiner  Zeitschrift  be-  oder  vielmehr 
misshandelt  und  gab  doch  der  Ton,  den  er  besonders  in  dem  Karapf  wiegen 
seiner  litauischen  Sagen  mit  Gaidozs  „Melusine",  wie  auch  schon  früher  in 


6  Schwartz: 

Angriffen  gegen  Wilibald  von  Schulenburg,  seinen  Rivalen  in  betreffs  der 
Wendisclien  Sagen,  angeschlagen  hatte  *),  keine  Ermunterung,  sich  mit  seiner 
Zeitschrift  in  eine  Specialdebatte  einzulassen,  zumal  es  auch  im  Interesse 
der  Wissenschaft  zu  liegen  schien,  nicht  auf  diese  Weise  zu  veranlassen, 
dass  auch  unser  Berliner  Verein  für  Yolkskunde  und  seine  Zeitschrift  in 
die  Sache  mit  hineingezogen  werde. 

Bewogen  mich  aber  alle  derartigen  Erwägungen  zuerst  zu  einer  ge- 
wissen Reserve,  so  änderte  sich  doch  die  Situation,  als  ich  aus  Golthers 
Mythologie  ersah,  dass  auch  in  diesem  Falle  der  alte  Spruch:  „Semper  aliquid 
haeret"  sich  zu  beitunden  anfange  und  namentlich  in  betreff  der  Frau 
Harke  in  den  Havellandschaften  und  der  Frick  in  der  Uckermark  doch 
wider  Erwarten  in  weiterem  Kreise  Misstrauen  erregt  sei.  Ich  glaubte 
mich  da  im  Interesse  der  Wissenscliaft  verpflichtet,  doch  jedes  weitere 
Bedenken  fallen  zu  lassen,  und  legte  in  einem  Aufsatz  in  der  Berliner 
Zeitschrift  für  Ethnologie^),  der  von  „Volkstümlichem  aus  Lauterberg  nm 
Harz"  handelte  und  die  betreffenden  Wesen  gerade  streifte,  eine  Ver- 
wahrung gegen  die  Angriffe  des  Herrn  Knoop  ein,  indem  icli  dieselben 
als  unbegründet  bezeichnete  und  erklärte,  ich  würde  die  von  mir  einst 
mit  Kuhn  in  dieser  Hinsicht  festgestellten  Thatsachen,  nach  der  jetzt 
gemachten  Erfahrung,  noch  einmal  an  geeigneter  Stelle,  gegenüber  den 
teils  unvollständigen,  teils  meist  verzerrt  wiedergegebenen  Berichten  des 
Herrn  Knoop,  vollständig  und  objektiv  darlegen,  um  ihnen  „im  Interesse 
deutscher  Mythologie  und  Prähistorie"  die  Geltung,  welche  sie  ver- 
dienen und  seit  50  Jahren  in  der  Wissenschaft  allgemein  gehabt,  auch 
fernerhin  „ungeschmälert"  zu  erhalten. 

Wenn  die  angekündigte  Widerlegung  noch  nicht  früher  erfolgt  ist.  so 
waren  zwei  Gründe  die  Veranlassung  zu  einer  Verzögerung. 

Erstens  veranlasste  eine  solche  der  Umstand,  da  ich,  durch  die  erwähnten 
Verhältnisse  angeregt,  noch  einmal  nach  fast  50  Jahren  den  betreffenden 
mythischen  Partieen  wieder  näher  trat  und  so  nicht  bloss  ein  reich,  in- 
zwischen vermelirtes,  das  ganze  Deutschland  umfassendes  Material  jetzt  vorfand, 
sondern  ich  auch  selbst  unterdessen  durch  langjährige  mythologische  Studien 
noch  gereifter  alle  dabei  zur  Sprache  kommenden  Fragen  erfasste,  dass  sich 
bei  diesen  neuen  Studien  Schritt  für  Schritt  stets  ein  weiterer  Horizont 
und  neue  Perspektiven  entwickelten  und  immer  von  neuem  mich  fesselten, 
aber  auch  —  aufhielten. 

Wenn  z.  B.  die  irgendwie  „weiss"  am  Gewand  oder  auch  am  Körper  so 
ausgestatteten  mythischen  Wesen,  wie  der  Schimmelreiter  und  die  weisse 
Frau,  in  ihrer  Beziehung  zu  den  grell  aufleuchtenden  Blitzen  immer  mehr 


1)  In    seiner  Schrift  „Pumphiit,    Der  Kulturdämon  der  Deutschen,  Wenden,    Litauer 
und  Zainaitcn.    Leipzig  1885*" 

2)  V.  J.  189(;,  S.  152. 


Heidnische  Überreste  in  der  norddeutschen  Tiefebene.  7 

sich,  selbst  auch  auf  indogermanischem  Boden,  in  ihrer  ursprünglichen  An- 
lehnung an  die  Xatur  als  Gewitterwesen  irgend  welcher  Art  ergaben, 
so  reihten  sich  die  uns  hier  besonders  beschäftigenden  Gestalten  wie  Frau 
Berchta,  Holle  u.  s.  w.  nicht  bloss  dem  an,  wenn  sie  in  Gebräuchen  als 
weissgekleidete  Frauen  auftraten,  sondern  sie  entpuppten  sich  auch  überhaupt 
in  den  Sagen  immer  voller  als  „weibliche"  Pendants  zu  dem  wilden  Sturm- 
und Gewitterjäger  und  Schimmelreiter  Wode,  dem  ich  sie  schon  einst  im 
„Heutigen  A^olksglauben  u.  s.  w.«  in  ihrer  Beziehung  zum  Sturm  als 
Windsbraut  beim  Beginn  eines  Unwetters  zur  Seite  gestellt  hatte. 

Erschienen  sie  doch  in  immer  sich  mehrenden  Sagen  bald  selbst  aucli 
als  wilde  Jägerinnen,  bald  zogen  sie  wie  der  Wode  auf  dem  von  Wolken 
verhüllten  Donnerwagen  einher^)  oder  fuhren  bei  den  in  herabstürzenden 
Regenströmen  sich  „in  Wasser"  wandelnden  Wolkenmassen  in  einer  „tief- 
gehenden" Gewitterwolke  „wie  auf  einem  Schiff""  am  Himmel  dahin  ^). 
Daneben  bewährten  die  betreffenden  Wesen  auch  in  ihrem  Handeln  that- 
sächlich  immer  voller  ihre  Gewitternatur,  wenn  sie  die  ihnen  zufällig  bei  ihrem 
Umzüge  nähertretenden  Menschen  „blendeten"  oder  wie  der  wilde  Jäger 
mit  ihrem  Schlage  „lähmten"  ^),  ja  das  „Sichsehenlassen  der  weissen  Frau" 
liberhaupt  schon  stets  „den  Tod"  jemandes  als  bevorstehend  verkünden  sollte. 
Stimmten  doch  auch  immer  allseitiger  noch  andere  Momente  mit  dem 
Gewitter-Naturkreis  überein,  namentlich  neben  Gebräuchen  zur  Frühlings- 
zeit, in  denen  man  den  Ein-  und  Umzug  der  „neuen"  Gewittergottheiten 
festlich  begrüsste  und  im  Gebrauch  nachahmte  und  neben  allerhand  sich 
daranschliessendem  Aberglauben  vor  allem  die  Forderung,  dass,  wenn  jene 
Gewitterwesen  umzögen,  eine  gewisse  „sabbatartige  Arbeitsruhe"  ein- 
treten müsse,  weil  man  sonst  allerhand  Strafen  der  umziehenden  Wesen 
auf  sich  lade. 

Konnte  ich  docli  noch  jüngst  verschiedentlich  feststellen*),  dass  dann 
nicht  bloss  die  Weiber  nicht  spinnen  und  waschen,  sondern  auch  die 
Männer  nichts  im  Walde  vornehmen  durften,  weil  jenen  sonst  Tod  angedroht 
und  den  letzteren  auch  ähnliches  Unglück  bevorstehen  sollte,  da  dann  dort 
der  wilde  Jäger  vor  allem  auch  umgehe  und  das  Zusammentreffen  mit 
ihm  oefährlich  sei. 


1)  Wobei  dann  besonders  bei  ihnen  die  Sage  charakteristisch  hervortritt,  dass,  wenn  das 
Gewitter,  d.  h.  mythisch  gesprochen  „der  Donnerwagen-'  am  Himmel  oben  „zu  halten"  scheine, 
in  einem  vorangehenden  krachenden  Donner  etwas  an  ihm  gebrochen  sei  und  erst  (durch 
einen  Keil)  repariert  werden  müsse,  ehe  er  weiter  gehen  könne;    s.  unsre  Ztschr.  III,  234. 

2)  Wenn  dieser  Zug  in  den  meisten  Sagen  mehr  in  einer  irdischen  Lokalisierung 
auftritt,  so  zeigt  er  bei  der  niederländischen  Wanne  Thekla  oder  „fahrenden  Mutter"  noch 
zum  Teil  deutlich  auf  den  Himmel  und  die  Gewitternacht  hin:  s.  die  Ursulasage  von 
Schade,  Hannover  1854,  S.  98:  in  unserer  Zeitschrift  VII,  t::U,  Anm. 

3)  Siehe  El.  Hugo  Meyer,  Germ.  MythoL,  Berlin  1891  bei  den  betr.  Wesen. 

4)  Berliner  Zeitschrift  für  Ethnologie  vom  Jahre  1896,  S.  153  ff. 


8  Scliwartz : 

Dass  derartige  Vorstellungen  aber  uralt  sind,  beweisen  neben  dem 
Umstand,  dass  auch  noch  jetzt  bei  einem  irgend  starken  Gewitter,  besonders 
auf  dem  Lande,  allerhand  Reserven  beobachtet  werden,  die  sogar  das  Essen 
während  eines  Gewitters  verbieten  und  damit  die  „primitivste  Natürlichkeit'' 
einer  Art  heiliger  Scheu  während  dessen  bekunden*),  in  charakteristischer 
Weise  noch  die  eigentümlichsten  Parallelen  mit  mythischen  Vorstellungen 
derselben  Art  bei  anderen  Völkern.  So  straft  z.  B.  in  griechischer  Sage 
Dionysos  es  schwer  an  den  Minyaden,  dass  „bei  seinem  Umzug  mit  den 
Bacchantinnen"  sie  ruhig  weiter  weben''),  und  wie  bei  Nord-  und  Süd- 
germanen das  Verbot  des  Spinnens  am  Donnerstage  —  in  Mecklenburg  auch 
am  Mittwoch,  dem  Wodanstage,  —  also  an  den  betr.,  den  Gewittergöttern 
geweihten  Tagen  streng  galt,  so  galt  dasselbe  ebenso  auch  für  die  Dänen 
und  Schweden,  ja  auch  bei  Ehsten  und  Finnen  tritt  es  für  den  Donnerstag 
auf.  Bei  den  Litauern  wird  sogar  noch  voller  die  Arbeitsruhe  dann  gefordert, 
indem  sie  sich  auch  bei  ihnen  wie  auch  bei  den  Deutschen  an  alt- 
heiligen Zeiten  auf  „das  Waschen"  erstrecken  muss^). 

Fesselte  mich  aber  so  bald  dieser,  bald  jener  neue  Gedankengang  und 
hielt  auf,  so  wurde  ich  zweitens  auch  sonst  noch  in  anderer  Weise, 
selbst  im  Interesse  der  vorliegenden  Sache  mit  Herrn  Knoop,  in  Anspruch 
genommen  und  der  Abschluss  immer  wieder  hinausgeschoben. 

Wenngleich  ich  nämlich  selbst  jetzt  nicht  mehr  wandern  konnte,  so  hatte 
ich  doch  brieflich  inzwischen  nach  der  Enquete  über  Kröte  und  Regenwurm, 
die  ich  im  5.  Bande  unserer  Zeitschrift  behandelt  habe,  noch  andere  Unter- 
suchungen meist  dialektischer  Art,  namentlich  in  den  brandenburgischen  und 
angrenzenden  Landstrichen,  begonnen,  zumal  dieselben  bei  dem  freundlichen 
Entgegenkommen  der  Geistlichen  und  Lehrer  immer  reichhaltiger  und  inter- 
essanter wurden.  Dabei  kam  ich  dann  gelegentlich  auch  auf  den,  an  das 
Spinnen  zu  Fastnacht  oder  Weihnachten  oder  überhaupt  des  Sonnabends  in 
diesen  Gegenden  sich  knüpfenden  Aberglauben  zurück,  wenngleich  ich  kaum 
glaubte,  dass,  nachdem  seit  der  Zeit,  wo  Kuhn  und  ich  gesammelt,  schon  zwei 
Geschlechter  in  die  Grube  gefahren  und  das  Spinnen  seit  mehr  als  30  Jahren 
auch  fast  abgekommen  war,  sich  noch  Erinnerungen  daran  würden  auffinden 
lassen.  Zwar  erhielt  ich  auch  aus  allen  Gegenden  im  allgemeinen  die  Be- 
stätigung hiervon,  aber  dem  eingehenden  Bemühen  einzelner  Herren  war  es 
dennoch  fast  in  allen  dabei  zur  Sprache  kommenden  Landschaften  gelungen, 
stellenweise  noch  einzelne  Erinnerungen  an  die  Vergangenheit  aufzufinden, 
so  dass  im  ganzen  sich  docli  interessante  Resultate  ergaben,  die  ich  auch 
am  Sc  hl  US  s  in  einem  eigenen  Kapitel  zusammenstellen  werde.  Aber  auch 
dieses  Moment  trug  dazu  bei,  die  Sache  immer  noch  hinzuziehen. 


1)  s.  Berliner  Zeitschrift  für  Ethnologie  a.  a.  0. 

2)  Ael.  V.  h.  M-2.    Anton.  Lib.  10.     Ovid  Metam.  IV,  1-10,  389  ff. 

3)  Schleicher,  Litauische  Märchen.     Weimar  1857.     S.  97. 


Heidnische  Überreste  in  der  norddeutschen  Tiefebene.  9 

Als  ich  aber  jüngst  bei  einer  neuen  Auflage  der  germanischen  Mytho- 
logie von  Mogk  wahrnahm,  dass  auch  in  dieser  sich  Zweifel  an  der  Be- 
deutung der  Frau  Harke  und  Frick  unter  Hinweis  auf  Herrn  Knoops  Artikel 
zeigten,  schien  es  mir  im  Interesse  der  Wissenschaft  doch  zu  liegen, 
jetzt  jedes  Bedenken  und  Zögern,  —  auch  die  Fortsetzung  des  Artikels  über 
den  Schimmelreiter  und  die  weisse  Frau  in  dieser  Zeitschrift,  —  zunächst 
aufzugeben  und  erst  für  die  unverkümmerte  Geltung  der  von  Herrn  Knoop 
angefochtenen  mythischen  Wesen  noch  einmal  einzutreten,  die  unter  ver- 
schiedenen Namen  durch  ganz  Deutschland  gehen  und  auch  in  der  nord- 
deutschen Tiefebene,  wo  sich  das  Heidentum  ein  paar  Jahrhunderte  länger 
erhalten  hat,  zum  Teil  sogar  noch  besonders  charakteristisch  in  einer  eigen- 
tümlichen, geographischen  Gliederung  erhalten  haben. 

Also  zunächst  Frau  Harke, 
die  ich  voranstelle,    teils  wegen  ihrer  verschiedenen  Bedeutung,    teils  weil 
sie  die  Angriffsmethode  des  Herrn  Knoop  am  eingehendsten  zeigt. 

ZurOrientierung  bemerke  ich  zunächst,  dassKuhn  zuerst  beieineniBericht 
über  Sagen  in  den  Marken  in  einer  Sitzung  des  Vereins  für  Geschichte 
der  Mark  Brandenburg  im  Jahre  1841  unter  besonderem  Bezug  auf  Walthers 
Singularia  Magdeburgensia  neben  dem  wilden  Jäger  die  Frau  Harke  im 
ßrandenburgischen  aufführte  und  ausführlicher  dann  über  dieselbe  in  den 
„Märkischen  Sagen''  vom  Jahre  1843  berichtete. 

Der  Hauptpunkt  war,  dass  in  den  sogenannten  Zwölften,  in  welchen 
Holda  und  Berchta  in  Mittel-  und  Süd-Deutschland  aufträten,  im  Havellande 
in  fast  allen  Dörfern  noch  der  Aberglaube  fortlebe,  wenn  zu  jener  Zeit 
„nicht"  abgesponnen  sei,  so  käme  Frau  Harke  (oder  Frau  Harfe)  und 
zerkratze  die  Mädchen  oder  besudele  den  Flachs,  den  sie  noch  auf 
den  Wecken  vorfände,  wie  es  im  Süden  Frau  Holle  und  die  Bercht 
thun  sollten.  Ausserdem  erzähle  man  aber  noch,  namentlich  im  Umkreise 
der  Stöllenschen  Berge,  mancherlei  von  ihr  als  einer  grossmächtigen 
„Riesenfrau"  und  „Zauberin",  und  am  Fusse  der  Stöllenschen  Berge,  wo 
sie  besonders  gehaust,  habe  lange  ein  gewaltiger  Felsblock  gelegen,  mit 
dem  hätte  sie  den  Dom  zu  Havelberg  einwerfen  wollen,  der  Stein  sei  ihr 
aber  aus  der  Hand  geglitten  und  dort  niedergefallen^). 


1")  Wenn  Herr  Knoop  zu  der  Bezeichnung  der  Frau  Harke  hier  auch  als  einer  ge- 
waltigen Zauberin  die  Bemerkung  (Veckenstedts  Zeitschr.  IV,  S.  82)  hinzufügt:  „Dies  sei 
nicht  richtig,  mindestens  denn  doch  aus  Sagen  oder  sonstigen  Überlieferungen  zu  erweisen", 
so  liegt  dabei  seinerseits  ein  Missverständnis  zu  Grunde.  Nicht  wir,  sondern  die  Leute 
bezeichneten  Frau  Harke  nicht  bloss  als  eine  Riesin,  sondern  auch  als  eine  gewaltige 
Zauberin,  was  wir  eben  nur  berichteten.  —  Ich  habe  dies  angeführt,  weil  ein  derartiges 
Missverständnis  öfter  Herrn  Knoop  begegnet.  So  führen  wir  bei  den  Nebenformen  für 
den  Namen  Harke  auch  an  „der  Haken  (in  Ütz)",  wie  ich  es  seinerzeit  speciell  gehört  hatte. 
Herr  Knoop  fasst  dies  aber  wieder  nur  als  eine  Deutung  unsrerseits  für  ein  weibliches 
„de  Haken",    was    er   voraussetzt,    und    sagt    dazu    in   der  Weise,    die  er  in  seinen  ersten 


\Q  Schwartz: 

J.  Griniiii  uahm  dann  nach  den  Angaben  Kuhns  die  Frau  Harke  im 
Anschluss  an  Frau  Holle  und  Bevchte  als  sogenannte  Zwölftengottheit  in 
der  n.  Auflage  seiner  Deutschen  Mythologie  vom  Jahre  1844  auf,  indem  er 
noch  gleich  selbst  ein  zweites  Auftreten  derselben  in  Jessen  bei  Wittenberg 
unter  der  Variante  „Frau  Herken"  anführt.  Mein  alter  Universitätsfreund 
Emil  Sommer  fand  sie  dann  in  derselben  Weise  unter  den  Formen  Frau 
Harfe,  Archen  und  Frau  Harre,  bezw.  Harren  (wie  er  in  seinen  sächsisch- 
thüringischen Sagen  vom  Jahre  1846  berichtet)  in  der  Umgegend  von  Halle, 
während  Kuhn  und  ich  sie  gleichzeitig  auf  unseren  Wanderungen  nicht 
IjIoss  weiter  an  der  Havel,  sondern  fast  nach  allen  Himmelsrichtungen  hin 
von  dort  aus  verfolgen  konnten.  Wie  in  unseren  Norddeutschen  Sagen 
das  Terrain  vollständig  angegeben  ist,  habe  ich  es  auch  auf  der  Karte, 
welche  ich  einem  Aufsatz  über  den  verschiedenen  Stamm  Charakter  der 
Bevölkerung  in  den  Marken  in  den  „Märkischen  Forschungen"  vom  Jahre- 
1887  beigegeben  habe,  in  seiner  charakteristischen  Begrenzung  nach  allen 
Seiten  klargelegt,  indem  es  im  Norden  an  das  Gebiet  der  Frau  Gode  und 
Frick,  im  Westen  und  Südwesten  an  das  der  Frau  Holle  grenzt,  während 
nach  Südosten  die  slavische  Murraue  dafür  eintritt,  in  der  Eichtung  nach 
Osten  hin  aber  in  den  bekanntlich  je  weiter  ab,  je  mehr  germanisierten 
Strichen  Frau  Harke  nur  noch  zerstreuter  auftaucht. 

Neben  diesem  weiten  volkstümlichen  Hintergrund,  in  dem  sich  der 
durch  ganz  Deutschland  gehende  Aberglaube  in  betreff  des  Nichtspinnens- 
namentlich  in  den  Zwölften,  aber  auch  zu  Fastnacht,  hier  an  der  Frau 
Harke  erhalten  hat,  fanden  wir  zu  unserer  Überraschung,  dass,  wie  im 
Havellande  die  Stöllenschen  Berge  besonders  als  ihr  Quartier  daneben 
galten,  auch  links  von  der  Havel  im  nördlichen  Teil  des  Jerichower 
Kreises  an  den  Heil-Bergen  bei  Camern  sich  noch  ein  ganzer,  bis  dahin 
litterarisch  ebenfalls  unbekannter  Sagenkranz  von  Frau  Harke  gehalten  hatte. 
Hier  heisst  von  ihr  der  grösste  Berg  „der  Frau  Harkenberg";  ein  Grund,  der 
nach  dem  Schönfeldischen  See  hinabführt,  „der  Frau  Harkengrund";  eine 
Grube  „die  Frau  Harkengrube".  Hier  führt  nach  ihr  das  Gras  Flunkerbart 
oder  Straussengras  (stipa  pennata)  den  Namen  „Frau  Harfengras".  Auch 
hier  kehrt  bei  einem  grossen  Stein  die  Sage  wieder,  dass  sie  mit  dem- 
selben den  in  der  Ferne  sichtbaren  Havelberger  oder  Stendaler  Dom  habe 
einwerfen  wollen. 

Dann  aber  waren  hier  Sagen  eigentümlich  mythischen  Inhalts  noch  haften 
geblieben,  welche  sie  mit  der  wilden  oder  überhaupt  mit  allerhand  ge- 
spensterhafter Jagd,  dann  aber  noch  in  besonderer  Weise  mit  der  Frau  Holle 
und  Berchte  in  Analogie  brachten.  So  wollte  man  Frau  Harke  mit  gespenster- 
haftem Wild  des  Nachts  aus  dem  Berge,    wie  die  wilde  Jagd,  haben  her- 


Erörterungen  sich  seinem  Kivalen  Ulrich  Jahn  gegenüber  angewöhnt  hat:  „Kuhn  hat  aber 
fälschlich  [1]  der  Haken  daraus  gemacht,  was  uns  wieder  zeigt,  wie  wenig  er  die  platt- 
deutsche Volkssprache  verstand  [!!]" 


Heidnische  Überreste  in  der  norddeutschen  Tiefebene.  1 1 

vorkommen  sehen  oder  sich  an  dem  Fang  eines  wunderbaren  Jagdstücks, 
eines  „einäugigen"  Dachses  oder  eines  „klumpfüssigen  Hasens"  mit  ihrem 
Zuruf  haben  beteiligen  hören,  Jagdscenen  mythischer  Art,  wie  sie  auch 
sonst  in  der  Mark  von  der  wilden  Jagd  erzählt  wurden  und  wie  sie  au& 
dem  Yoigtland  noch  später  Eisel  in  ähnlicher  Art  berichtet  hat^). 

Aber  nicht  dies  allein:  der  Frau  Harkenberg  ist  überhaupt  ein  „Spuk- 
berg", wie  der  thüringische  Hörselberg.  Wenn  in  diesem  Frau  Holle 
wohnte,  so  wohnte  im  Frau  Harkenberge  neben  allerhand  Gezwerg  an- 
geblich auch  Frau  Harke  selbst.  Wie  Frau  Bercht  an  der  Bister  oder  an 
der  Orla  oder  Saale  mit  ihren  Wichtein  auf  „tiefgehendem"  Kahne  sich 
angeblich  übersetzen  lässt,  so  wird  auch  von  Frau  Harke  an  der  Elbe 
bei  Arneburg  berichtet,  dass  sie  sich  hier  übersetzen  lässt.  Es  ist,  wie  ich 
schon  oben  angedeutet,  ein  alter  Mythus  von  den  „in  den  Regenwolken- 
schichten" dahinziehenden  Gewitterwesen,  der  sich  verschiedentlich  an 
einem  grösseren  Wasser  lokalisiert  hat,  indem  bei  der  Frau  Berchte  nur 
ein  einmaliges  „zufälliges"  Übersetzen  auftritt,  bei  der  Frau  Harke  aber 
es  als  ihr  Abzug  gefasst  wird,  da  es  mit  der  Zeit  unter  verändertem  Ver- 
hältnis ihr  im   llarkenberge  unheimlich  geworden  sei"''). 

Sind  alles  dies  nur  Brocken  alter  Überlieferungen,  so  weisen  sie  doch 
in  der  angedeuteten  Homogenität  mit  ähnlichen  in  ihrem  Ursprung  auf 
alt  mythische  Zeiten  zurück  und  ergeben  sich  nur,  wie  noch  eingehender 
der  Artikel  von  der  weissen  Frau  zeigen  wird,  als  verschiedene  „Spiel- 
arten" derselben  mythischen  Vorstellungen  und  vorleihen  dadurch  den 
einzelnen  Wesen,  an  die  sie  sich  geheftet  haben,  eine  gemeinsame,  sich 
im  einzelnen  ergänzende  Bedeutung  für  die  niedere  3Iythologie. 

Wie  verhält  sich  aber  nun  zu  alledem  Herr  Knoop? 

Nach  einer  eigentümlichen  Einleitung  über  das  Sprichwort  „ik  wil  di 
wisen,  wat  n'  harke  is"  zerpflückt  er  zunächst  (Veckeustedts  Zeitschr.  IV, 
81  ff.)  die  an  die  Frau  Harke  sich  anschliessenden  Traditionen  in  der 
willkürlichsten  Weise,  so  dass  er  schliesslich  auf  „drei"  angeblich  ver- 
schiedene Wesen  des  Namens  dabei  kommt,  mit  denen  er  dann  ein  wunder- 
liches Spiel  treibt. 

Echt  ist  ihm  eigentlich  nur  die  Riesin  von  den  Stöllenschen  oder 
vom  Frau  Harkenberge  [Xo.  IJ.  Über  das  Mythische,  das  sich  nach  der 
Volksüberlieferung  an  letzterer  Stelle  besonders  an  sie  knüpft,  geht  er  leicht 
fort,  indem  er  die  sich  dabei  ergebende  Gestalt  nicht  in  ihrer  Beziehung- 
zu  Gewittererscheinungen  „als  ein  Naturwesen  der  niederen  Mythologie" 
in  Parallele  zur  Frau  Holle,  Berchte  u.  s.  w.  fasst,  sondern  sie  kurzweg 
als  eine  Göttin  bezeichnet  imd  nun  mit  der  sonderbaren  Schlussfolgeruno;: 


1)  Kuhn,  Märkische  Sagen,  Berlin  1843,  S.  145.  Eisel,  Sagenbuch  des  Voigtlandes, 
Gera  1871,  No.  311  f.  üreibeinige  Hasen  sind  gewöhnliche  Spnktiere:  Schwartz,  Ursprung 
der  Mythologie,  Berlin  18G0,  S.  227  ff. 

2)  Über  derartige  Umzüge  s    unsere  Zeitschr.  YU,  228. 


1-2  Schwartz: 

„Frau Harke  ist  eine  Riesin,  also  kann  sie  nicht  eine  Göttin  sein!"  diese  [nach 
ihm  No.  II]  mit  dem  ganzen  sich  an  sie  schliessenden  Sagenmaterial  „als 
beseitigt"  erachtet!!  —  Dass  beide  im  Volksbewusstsein  der  Bevölkerung  im 
Jerichower  Kreise  eine  Person  sind,  dass  die  Gewitterwesen  in  deutscher 
wie  griechischer  Mythologie  meist  einen  riesenhaften  Charakter  zeigen  ^),  zu 
einer  Aufstellung  einer  solchen  Sonderung  also  keine  Veranlassung  vorliegt, 
dass  der  Volksglaube  überhaupt  nicht,  sondern  nur  eine  theoretische  Be- 
handlung desselben  solche  Kategorien  in  allgemeiner  Geltung  aufstellt,  das 
kümmert  Herrn  Knoop  nicht!     Sein  Schema  ist  entscheidend. 

Nachdem  er  dann  in  einem  langen  mythologischen  Excurse  sich  auf 
allerhand  Theorien  Woestes  und  Simrocks  einlässt,  die  ihrer  Zeit  Be- 
ziehungen zu  unserer  Frau  Harke  auch  in  Westfalen  mit  einer  Hirke  oder 
Hurke  oder  mit  dem  Gebrauch  des  sogenannten  Harkelmai  finden  wollten, 
—  was  für  die  vorliegenden  Verhandlungen  aber,  auch  wenn  es  richtig 
wäre,  doch  ganz  gleichgültig  ist,  —  kommt  er  wieder  auf  seinen  früher 
aufgestellten  diktatorischen,  ihm  feststehenden  Ausspruch  zurück:  „Frau 
Harke  sei  keine  Göttin,  sondern  nur  eine  Riesin",  und  knüpft  daran  die 
Behauptung,  dieser  käme  auch  nur  allein  der  Name  Harke  eigentlich  zu, 
da  er  vom  Harkenberge  stamme! 

Dieser  Ansicht  versucht  er  dann  eine  Stütze  zu  geben,  indem  er  eine 
Etymologie  vom  Namen  Harkenberg  aufstellt  oder  vielmehr  gleich  „zwei'' 
für  eine  beliebige  Auswahl,  nämlich  eine  deutsche  und  eine  slavisch- 
deutsche. 

Vom  deutschen  Standpunkt  aus  erklärt  er  den  Namen  Harkenberg 
„als  waldige  Anhöhe",  für  die  Annahme  aber  einer  bei  dem  Namen 
influierenden  slavischen  Bezeichnung,  heisst  es,  bietet  sich  die  Gleichstellung 
von  Harke  mit  dem  polnischen  görka,  kleiner  Berg,  Anhöhe,  von  selbst  [!j 
dar.  „Der  Wechsel  von  g  und  h  ist  nicht  auffallend.  Aus  einem  Görken- 
berg [also  einer  slavisch- deutschen  Wörtermischung]  wurde  ein  Garken- 
berg und  Harkenberg,  und  diese  Vermutung  wird  uns  zur  Gewissheit  [!J 
dadurch,  dass  bei  Stollen,  dem  Harkenberg  gegenüber  [?]  sich  ein  anderer 
Berg  befindet,  welcher  der  GoUenberg  heisst.  Dieser  Name  hängt  aber 
zusammen  mit  dem  slavischen  Kolno,  Höhe,  Gipfel." 

Wenn  dieses  ganze  etymologische  Gebäude  schon  im  höchsten  Grade 
luftig  ist,  so  verliert  es  mit  allen  seinen  verschiedenen  Hypothesen  über- 
haupt schon  dadurch  jede  Bedeutung,  dass  „ein  Harken  borg"  gar 
nicht  existiert  und  ein  solcher  plötzlich  nur  von  Herrn  Knoop  dazu 
a  a.  0.  S.  93  bei  seinen  Konjekturen  angenommen  wird.  Das  Volk 
kennt  nur  einen  „Frau  Harkenberg"  sowie  einen  „Frau  Harkengrund", 
eine  ,,Frau  Harkengrube"  und  ein  „Frau  Harkengras".  Herr  Knoop  müsste 
da  also  erst  weiter  noch,  wenn  man  ihm  folgen  sollte,  annehmen  und  be- 


1)  In  der  Ilias  des  Homer  erscheinen  z.  B.  noch  fast  alle  Götter  riesenhaft. 


Heidnische  Überreste  in  der  norddeutschen  Tiefebene.  13 

weisen,    dass    die    Leute,    nachdem    sie    einen    deutsehen  oder  slavisch- 
deutschen  Namen  „Harkenberg"  für   den  Berg    geschaffen    und  von  dem- 
selben der  Riesin   den  Namen  Harke  gegeben    und    sich    weiter    gewöhnt 
hätten,  mit  der  letzteren  dann  den  Zusatz  „Frau"  zu  verbinden,  schliesslich 
nun  auch  noch  „eine  Umtaufung"  des  Berges,  des  Grundes,  der  Grube  und 
des  Grases  „mit  ebendemselben  Zusätze"  nachträglich  vorgenommen  haben. 
Aber  einstweilen  bleibt  es  wohl  noch  dabei,  dass,  was  die  erwähnten 
Punkte  anbetrifft,  nicht  Frau  Harke  von  einem  imaginären  Harkenberg, 
sondern  von  der  Frau  Harke,  die  im  Frau-Harkenberge  mit  den  Zwergen 
hauste  und  dort  sich   in    der    verschiedensten  Weise    bemerkbar    gemacht 
haben  sollte,  mit  der  man  drohte,  wenn  zu  Zeiten,  wo   sie  angeblich  um- 
zog,   gesponnen  würde,    sie  werde  kommen  und  es  strafen,  —  die  also  in 
der  verschiedensten  Weise  in  der  Erinnerung  der  dortigen  Bevölkerung  ge- 
heimnisvoll haftete,  —  gerade  umgekehrt  der  Frau  Harkenberg  und  die 
anderen  ähnlichen  Namen  herzuleiten  seien.     Wenn  ihr  Name  weiter  dann 
bei  den  auch  dort,  sowie  im  Havellande  sich  vielfach  findenden  Steinblöcken 
und  daran  sich,  ähnlich  wie  anderweitig,  knüpfenden  Sagen  hineingezogen 
wurde,    so  wäre   das  nicht  weiter  auffallend,    falls  nicht  hierin  noch,    wie 
manche  annehmen^),  es  an  die  Zeit    der  Einführung    des   Christentums  in 
dem  Lande  anklingt,  dass  gerade  Frau  Harke  mit  ihren  Steinwürfen  über- 
haupt den  Bau  christlicher  Kirchen  angeblich  hier  zu  stören  beabsichtigte. 
Zunächst  habe  ich  freilich  noch  die  oben  erwähnte  Frau  Harke, 
welche    beim  Spinnen    in    den  Zwölften    oder  zu  Fastnacht  in  der  Havel- 
landschaft auftritt    und,    wie  schon  ausgesprochen,    noch  in  weiterem  Um- 
kreise sich  erhalten  hat,  überhaupt  vor  der  Vernichtung  zu  retten,  mit 
der  Herr  Knoop  sie  bedroht.    Derselbe  sagt  nämlich  a.  a.  0,  S.  97 :  „Kuhn 
und  Schwartz  haben  noch  eine  andere"  [nach  ihm  also  eben  eine  dritte] 
„Frau  Harke  entdeckt,  die  mit  der  Camernschen  Riesin  weiter  nichts  als 
den    Namen    gemeinsam    hat."      „Sie    erscheint,"    heisst    es    "dann   weiter, 
„unter  verschiedenem  Namen."     Herr  Knoop   sieht  nämlich  in  den  volks- 
tümlichen Variationen,    die    neben    dem    Namen  Harke    stellenweise    auf- 
treten, —  ähnlich  wie  es  z.B.   auch  bei  der   Frau  Holle,    Bercht  u.  s.  w. 
erscheint,  —  besonders  zu  erörternde  selbständige  Namen,    die  er  einzeln 
dann  behandelt,    so    dass   das  ganze  Sagengespinnst  sich   ihm  schliesslich 
in  Flocken  auflöst. 

Zuerst  bringt  er  eine  Zusammenstellung  der  Namen,  welche  aber  zu 
einem  höchst  unvollständigen  Bilde  von  der  Verbreitung  der  Frau  Harke 
Veranlassung  giebt  und  auch  an  sich  ungenau  ist.  So  fehlt  z  B.  der 
Name  Frau  Herken,  welche  Form  zuerst  J.  Grimm,  wie  oben  erwähnt, 
aus  Jessen  berichtete  und  in  Parallele    zu    unserer    havelländischen  Frau 


1)  z.B.  Platner.  s.  Schwartz,  Zur  Stammbevölkeruugsfrage  der  Mark  Brandenburg 
in  den  Mark.  Forsch,  v.  J.  1887.  S.  120,  Anmerk.  —  s.  Kuhn  u.  Schwartz,  Nordd.  Sagen. 
S.  126,  den  Bericht  des  Kantors  Görnemann.     Auch  Lokalberichte  fassen  es  so. 


14;  Schwartz: 

Harke  stellte  und  die  wir  dann  erst  später  selbst  auch  anderweitig  be- 
legen konnten. 

Die  weitere  Untersucliung  beginnt  Herr  Knoop  nun  mit  einer  Yer- 
<iächtigung  dieser  [seiner  HI.]  Frau  Harke  überhaupt,  indem  er  sagt:  „Zu- 
nächst sei  bemerkt,  dass  sich  8agen  von  dieser  Frau  Harke  nicht  vorfinden: 
das  beweist  schon,  dass  ihr  niclit  recht  zu  trauen  ist  [!],  sie  muss  im 
Volksbewusstsein  „recht  geringen  Halt"  gehabt  haben,  denn  anders  wäre 
es  nicht  möglich,  dass  sie,  der  ein  so  weites  Gebiet  zugewiesen  wird,  nicht 
in  Sagen  verflochten  wäre."  —  Sagen,  die  Herr  Knoop  vermisst,  sind  ja 
aber  da  an  den  Stöllenschen  wie  an  den  Hellbergen,  sie  werden  ja  nur 
bei  dem  Teilungsverfahren  des  Herrn  Knoop  isoliert  und  ihr  Zusammen- 
hang mit  der  von  Herrn  Knoop  gesonderten  I.  und  H.  Frau  Harke,  geleugnet, 
knüpfen  sich  aber  gerade  höchst  charakteristisch,  wie  ich  noch  nachträglich 
hervorheben  will,  wie  bei  der  Frau  Holle,  „an  Berge",  in  denen  beide 
wohnen  sollten.  Es  ist  nämlich  im  Mythos  ursprünglich  „der  Wolkenberg", 
iius  dem  die  Sturmeswesen  herausfahren  und  in  dem  sie  wohnen  sollten, 
sobald  sie  sich  nicht  bemerkbar  machten,  ebenso  wie  es  auch  von  Wode 
gilt.  Die  Substituierung  dann  eines  Berges,  der  den  Leuten  in  der  Nähe  war, 
gehört  erst  der  individuellen  Lokalisierung  der  Sage  an,  ebenso  wie  beim 
Übersetzen  der  Harke  und  Berchte  die  Elbe.  Saale  u.  s.  w.  die  himmlischen 
Wasser  vertritt. 

Doch  gehen  wir  nun  auf  die  Namen  ein,  die  Herr  Knoop  einzeln 
behandelt  und  in  seiner  Weise  deutet.  Er  greift  nämlich  unter  den  ver- 
schiedenen Varianten  die  Formen  Herken,  Harre,  auch  die  olle 
Hak  seh  heraus,  mit  denen  er  sein  Spiel  treibt.  Herken,  welche  Form, 
wie  erwähnt,  zuerst  J.  Grimm  beigebracht  hat,  ist,  wie  Herr  Knoop  sagt, 
„sehr  einfach  zu  erklären!  Sie  ist  auf  „Herr"  zurückzuführen.  Derjenige, 
-der  ursprünglich  den  faulen  Spinnerinnen  etwas  Hässliches  in  den  Wecken 
steckt,  um  sie  für  ihre  Langsamkeit  zu  verhöhnen  oder  dem  Spotte  der 
Übrigen  auszusetzen,  ist  „der  Herr  —  Herke  oder  die  Herrin,  de 
Herrsch"!  — 

„Und  so,"  heisst  es  weiter  ganz  ernsthaft,  ^.verdankt  der  Brauch  einem 
Scherze  [!]  seine  Entstehung,  wie  das  auch  bei  vielen  anderen  Gebräuchen 
der  Fall  ist,  die  mythologisch  gedeutet  zu  werden  pflegen." 

Die  Frau  Harre  aber,  bei  der  es  noch  besser  kommt,  hatte,  wie  ich 
schon  erwähnt,  mein  alter  üniversitätsfreund  E.Sommer  im  Jahre  1844  oder  45 
bei  Halle  aufgefunden  neben  den  auch  in  der  Mark  vorkommenden  Neben- 
formen Frau  Harfe  und  Frau  Arche.  Jene  Form  Harre  aber,  die  Sommer 
aus  Gutenberg  anführt,  hebt  Herr  Knoop  besonders  hervor  und  sucht  sie 
in  einer  Weise  zu  beseitigen,  dass  ich  schon  in  Rücksicht  auf  Sommer 
noch  besonders  darauf  eingehen  muss  und,  um  keinen  Zweifel  an  der 
Oenauigkeit  der  Darstellung  aufkommen  zu  lassen,  am  besten  Herrn 
Xnoop  selbst,  von  Herrn  A^eckenstedt  unterstützt,  hier  redend  einführe. 


Heidnische  Überreste  in  der  norddeutschen  Tiefebene.  15 

Nachdem  Herr  Knoop  also  erwähnt,  dass  Herr  Yeckenstedt  trotz  der 
sorgfältigsten  Nachforschung  in  Gutenberg  bei  Halle  eine  Frau  Harre  als 
Göttin  f!]  nicht  habe  entdecken  können,  fährt  er  fort:  „Wie  mir  Herr 
Yeckenstedt  mitteilt,  hat  er  bei  seiner  Anwesenheit  in  Gutenberg  [doch  erst  in 
den  80er  Jahren?]  in  Gegenwart  des  Lehrers  Schlegel,  eines  alten  Herrn,  der 
schon  lange  [wie  lange?]  an  dem  Orte  lebt,  etwa  15 — 20  Personen  aus  allen 
Klassen  des  Dorfes  nach  den  von  Sommer  [vor  50  Jahren!]  angeführten  Gott- 
heiten [!J  Frau  Wolle,  Rolle  und  Frau  Harke  ausgeforscht,  aber  niemand  hatte 
etwas  von  solchen  gewusst.  Und  auf  Grund  weiterer  Nachforschungen  schreibt 
dann  noch  Herr  Lehrer  Schlegel,  der  zugleich  auch  wieder  nach  den  übrigen 
Somraerschen  Göttergestalten  (Rolle,  Wolle.  Holle)  dort  forschte:  „Nach 
neu  angestellten  Nachforschungen  hat  sich  die  ganze  Sache  als  Mumpitz 
ergeben;  in  Gutenberg  weiss  kein  Mensch  etwas  von  all'  diesen  Dingen, 
und  so  wird  es  wohl  auch  an  anderen  Orten  sein."  Die  Namen  Holle, 
sowie  die  Nebenform  Wolle,  Rolle  hatte,  nebenbei  bemerkt,  Sommer  auch 
nicht  in  Gutenberg,  sondern  in  anderen  Dörfern  westlicher  nach  Thüringen 
zu  angegeben  und  in  Gutenberg  nur  eben  Frau  Harre,  in  Ffützenthal 
Frau  Harren. 

Herr  Knoop  fährt  aber  unverdrossen  fort:  „Haben  also  ganz  alte 
Leute  keine  Ahnung  jnehr  von  einer  Frau  Harre  als  Göttin  [!]  oder  Hexe, 
so  sind  wir  berechtigt  oder  vielmehr  gezwungen  [!],  eine  Frau  Harre 
als  solche  zurückzuweisen:  wahrscheinlich  [!|  hat  Sommer  nur  gehört: 
„de  Fru  harre,  d.  i.  hatte  [!!],  woraus  er  dann  eine  Frau  Harre  (!!)  gemacht 
hat!"^)  — Was  heisst  das:  „gemacht  hat I"  Das  klingt  bös.  Herr  Yecken- 
stedt hat  es  auch  so  verstanden,  wenn  er  in  demselben  Bande  Seite  343 
Anm.  von  Sommer  sagt:  er  habe  „Pseudogestalten"  in  die  Wissenschaft 
eingeführt,  „die  noch  heute  in  den  Schriften,  z.  B.  von  Weinhold,  vor 
allem  Mogk  eine  Hauptrolle  spielen,  trotzdem  Weinhold  deutsche  Mytho- 
logie liest,  hier  in  Halle  [vor  50  Jahren]  gelehrt  und  gelebt  hat.  auf  jedem 
Dorfe,  welches  Sommer  als  Fundort  seiner  Pseudogestalten  angiebt,  fest- 
stellen konnte,  was  an  den  Sommerschen  Sagen  Volksgut,  was  subjektive 
Zuthat.  was  falsches  Verständnis  und  Unkenntnis  der  Volkssprache,  was 
„Fälschung"  ist." 

Weinhold  und  Mogk  bedürfen  wegen  dieses  Ausfalls  gegen  sie  wohl 
keiner  Verteidigung,  aber  dagegen,  dass  mein  verstorbener  Freund  Sommer 
so  behandelt  wird,  muss  ich  Verwahrung  einlegen.  Er  war  wahrhaft  inul 
zuverlässig,  wie  nur  einer,  und  hatte  auch  etwas  gelernt,  so  dass  er  zu 
den  schönsten  Hoffnungen  berechtigte,  wie  er  auch  nicht  blos  den  Brüdern 
Grimm  wert  war,    sondern    auch    [wie    ich  weiss,]  Lachmann,    weimgleich 


1)  Wenn  diese  Fiction  dem  Herrn  Knoop  in  der  ihn  damals  belicrrschenden  Stimmung 
wahrscheinlich  dünkte,  so  glaube  ich  doch,  dass  er  jetzt  bei  ruhiger  Überlegung  selber 
sie  nicht  mehr  dafür  hält  und  bedauert,  es  seiner  Zeit  so  haben  drucken  zu  lassen. 


\(j  Schwartz: 

dieser  einmal  in  einem  Briefe  an  Haupt  in  seiner  Weise  wegen  eines 
metrischen  Verfahrens  über  ihn  gescholten  hat  [s.  Veck.  Ztschr.  ebendaselbst]. 

Nachdem  ich:  dieser  Pflicht  genügt,  gehe  ich  zur  „ollen  Häksch" 
am  Harz  und  Elm  über,  die  Herr  Knoop  neben  Frau  Harke  und  Harre 
a.  a.  0.  S.  99  f.  ähnlich  behandelt.  Er  leugnet,  dass  sie,  wie  Kuhn  in  Haupts 
Zeitschrift  seiner  Zeit  behauptete,  mit  der  Harke  zusammenhänge.  Das  ist 
eine  Ansicht,  über  die  sich  streiten  lässt.  Herr  Knoop  knüpft  aber  an 
die  ,.olle  Haksch"  noch  folgendes,  was  ich  auch  niedriger  hängen  muss. 

Herr  Veckenstedt,  sagt  er,  habe  ihm  mitgeteilt,  dass  in  seinem 
Heimatsdorfe  Vehlitz  (im  H.  Jerichower  Kreise)  eine  Frau  Schulze 
gelebt,  welche  auf  einer  Handmühle  Grütze  hergestellt  habe  und  deshalb 
die  Grützschulzen  genannt  wurde.  Mit  der  hätten  die  Eltern  den  Kindern, 
wie  mit  einem  Gespenst,  oft  gedroht.  „So  ist,"  fährt  er  fort,  „in  den 
Dörfern  am  Elm,  wo  man  den  unartigen  Kindern  droht  „de  olle  Haksche 
kümmt"  —  die  alte  Hacksche  eine  wirkliche  Persönlichkeit  gewesen  [?]  und 
ihr  Name  hat  dann  auch  in  den  Norddeutschen  Sagen  —  [also  als  Schreck- 
gespenst beim  Spinneu]  —  Verwendung  gefunden!"  — 

Wie  die  Annahme  einer  „wirklichen"  Frau  Haksche  kühn  ist,  so  ist  es 
auch  der  Glaube  an  die  Wanderung  des  Namens  von  Dorf  zu  Dorf.  Aber 
Herr  Knoop  hat  auch  wieder  noch  eine  andere  Deutung  für  ,,die  olle 
Haksch"  auf  Lager.  „Indessen",  fährt  er  nämlich  fort,  „ist  auch  noch 
für  die  Kuhnsche  „olle  Häksch"  eine  andere  Deutung  möglich.  Hakschen 
ist  ein  nicht  unbekanntes  Verbum  und  „der  Hakschkomment"  ist  ein  der 
studentischen  Sprache  geläufiger  Ausdruck.  Hakschen  heisst  Zoten, 
Zotereien  reden  und  gehört  zu  Hacksch,  welches  Schwein  bedeutet.  In 
Giebichenstein  fand  Herr  Veckenstedt,  „dass  das  Wort  Hocksch  gesprochen 
wurde,  obgleich  die  Leute  behaupteten,  dass  sie  a  sprächen."  „Das 
mögen",  fährt  Herr  Knoop  fort,  „die  Sagensammler  gehört  haben,  und 
daraus  konnten  sie  dann  leicht  [!],  da  sie  den  Vokal  hörten  und  sich 
„einer"  ausgefallen,"  —  [es  soll  offenbar  heissen  ein  „r"  ausgefallen],  — 
wähnten,  zu  der  Form  Häksch  und  von  da  „mit  sanfter  L^mwandlung" 
[was  soll  das  heissen?]  „zu  Harke  gelangen.  Dass  man  die  Person  oder 
das  Wesen,  welches  den  Rocken  besudelte,  Hacksch,  d.  h.  Schwein,  nannte, 
wussten  die  Sagensammler  offenbar  nicht!"  — 

Es  bleibt  etwas  unbestimmt,  was  Herr  Knoop  eigentlich  mit  dieser 
Auseinandersetzung  erweisen  will?  Will  er  die  Angabe  einer  Frau  Harke 
in  den  Zwölften,  die  er  in  ihrem  weiteren  Auftreten  verdächtigen  möchte, 
damit  erklären  oder  kommt  es  ihm  nur  darauf  an,  die  „olle  Haksch", 
d.  h.  eigentlich  eine  Bezeichnung  für  „Schwein",  in  die  Debatte  einzuführen 
und  so  darin  eine  Bestätigung  dafür  zu  schaffen,  dass  auch  die  Leute,  wo 
sie  „Haksch"  sagten,  das  Ganze  für  eine  Zote  hielten,  wie  er  es  fasst? 
Das  letztere  stimmt  zu  der  Art,  wenn  er,  wie  wir  sehen  werden,  in  der 
Uckermark    die  Frick    mit    einem   unwilligen  „Pfui  Teufel"   der  Leute  in 


Heidnische  Überreste  in  der  norddeutsclieu  TiefebeDe.  17 

Verbindung  zu  bringen  sucht.  Das  erstere  aber  stimmt  mit  dem  Schluss 
des  geschilderten  Artikels  über  die  Frau  Harke,  wo  er  S.  101  im  Anschluss 
an  seine  Expectorationen  über  die  Frau  Harre  und  die  olle  Häksch  noch 
einmal  auf  seine  Camersche  Riesin  an  dem  angeblichen  Harkenberge  als 
die  allein  ächte  zurückkommt  [!]  und  dann  schliesst:  „Wo  er''  [der 
Name  Frau  Harke]  „aber  in  weiterer  Entfernung  vorhanden  ist,  da  ist  er 
entweder  , durch  die  besondere  Art  der  Fragestellung'  aus  den  Gefragten 
herausgebracht  oder  er  ist  gemacht  (!)  aus  anderen  missverstandenen 
Mitteilungen.  Der  ganze  Brauch  aber  charakterisiert  sich  [in  Nord  und  Süd?] 
als  etwas  grober  Spinnstubenwitz." 

Mit  diesem  kühnen  Ausspruch  schliesst  Herr  Knoop  seinen  Artikel  über 
Frau  Harke,  welcher  Schluss  manchen,  der  nicht  vorher  alles  ein- 
gehend gelesen,  in  die  Irre  geführt  zu  haben  scheint. 

Es  thut  mir  leid,  dass  derselbe  Herr,  der  in  seinen  pommerschen  und 
posener  Sagen  so  besonnen  war,  über  die  ich  mich  seiner  Zeit,  wenngleich 
sie  etwas  einseitig  zu  stände  gekommen  waren,  doch  freute,  durch  seine 
Beziehungen  zu  Veckenstedts  Zeitschrift  sich  so  hat  in  den  Sumpf  ver- 
locken lassen.  Denn  alle  seine  Expektorationen  über  Frau  Harke, 
die  ja  auch  nur  persönlichen  Angriffen  hauptsächlich  gegen  Kuhn  und  mich 
dienen  sollten,  werden,  ganz  abgesehen  von  alledem,  was  ich  schon  dagegen 
ausgeführt  habe,  noch  völlig  hinfällig  durch  das  eine  Faktum,  dass  sie 
an  eine  falsche  Adresse  gekommen  sind  und  damit  schon  jeden  Halt  ver- 
lieren. Kuhn  und  ich,  sowie  Grimm  und  Sommer  haben  die  Frau  Harke 
nämlich  als  mythisches  Wesen  in  Parallele  zur  Frau  Holle  gar  nicht  vor 
50  Jahren  zuerst  in  die  Wissenschaft  eingeführt,  sondern  nur  weiter  verfolgt. 
Es  giebt  nämlich  für  dieselbe  in  dieser  Hinsicht  schon  ein  altes,  unan- 
tastbares Zeugnis  aus  der  ersten  Hälfte  des  XYHI.  Jahrhunderts, 
auf  das  Kuhn  und  nach  ihm  auch  J.  Grimm  sich  schon  berief,  was  Herr 
Knoop  aber  ganz  übersehen  hat.  Auch  ich  habe  mich  in  meiner 
Schrift  in  den  Märkischen  Forschungen  über  die  Stammbevölkerung  in  den 
Marken  schon  darauf  bezogen,  drucke  es  aber  jetzt  vollständig  ab. 

Dies  alte  Zeugnis  findet  sich  nämlich  in  dem  schon  oben  erwähnten 
Werke  Singularia  Magdeburgica  (Magdeburg  u.  Leipzig.  A.  1732)  von  Samuel 
Walther,  Gymn.  Magd.  Rect.  und  Soc.  Sc.  Berl.  Collega,  einem  seiner  Zeit 
sehr  bekannten  Historiker,  dessen  Vater  Prediger  in  der  Gegend  gewesen 
und  der  mit  allen  volkstümlichen  Dingen  sich  sehr  wohlbekannt  erweist. 
Er  sagt  S.  767: 

„Also  giebt  es  z.  E.  alberne  Leute  unter  dem  Pöbel,  welche  in  der 
Christnacht  Kohl  vor  das  Rindvieh  und  Pferde  stehlen,  Ruthen  schneiden, 
um  das  Vieh  damit  zu  schlagen,  eine  gewisse  Zahl  von  Lichtern, 
Aschen-    und  Saltzhaufen  setzen,    um  Leben  und  Tod  daraus  zu  erfahren, 

sie  (die  Mädchen)  schmücken  des  Nachts  ihre  Haare  und  sehen  des 

Morgens    in  einem  Eymer  Wasser,    ob  sie  einen  Crantz  oder  Haube  aufm 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1899.  2 


18  Meyer: 

Kopfe  haben;  sie  glauben,  dass  Frau  Holla  oder  Frau  Holda,  welche 
in  der  Mark  auch  Frau  Harke  genaunt  wird. 

—  dieses  Wort  ist  ein  Diminutivum,  Frau  Harcke  von  Hare  oder  Häre,  — 
anfange  herumzuziehen,  daher  die  Mägde  ihre  Proben  am  Spinnwocken 
machen,  auch  denselben  absolut  vor  Neujahr  abspinnen,  damit  Frau  Harke 
sie  nicht  bespeie,  kratze  oder  besudele;  andere  aber  bebinden  die 
Bäume  mit  nassen  Strohseilen,  schreiben  Creutze,  hacken  der  Holde  einen 
Keil  zu  ilirem  Wagen ^),  backen  Brot,  dass  es  künftig  gedeie,  daure  und 
vorhalte,  sie  säen  und  pflanzen  etwas  im  Garten  zu  gewisser  Hoff- 
nung u.  s.  w.  Im  übrigen  glauben  sie  auch,  wie  vor  diesen,  den  Zwölften, 
und  so  lange  solche  Zeit  währet,    hüten  sie  sich  vor  gewisse  Speisen,    als 

Erbsen,  Linsen  und  andere  Hülsenfrüchte observieren  in  den  Zwölften 

die  Witterung,  welche  die  Frau  Holde  machen  soll  und  was  dergl.  mehr." 
Zunächst  wird  dies  in  betreff  der  Frau  Harke  wohl  genügen.  Ich  komme 
am  Schluss  noch  einmal  besonders  auf  sie  mit  neuen  Notizen  zurück. 
(Fortsetzung  folgt.) 


Eine  Gesamtdarstellung  des  deutschen  Volkstums.') 

Von  Richard  M.  Meyer. 

Scherers  Lieblingsplan,  man  könnte  fast  sagen  sein  Lebensplan,  war 
es,  eine  Kunde  vom  Wesen  deutscher  Eigenart  empirisch  aufzubauen.  Aus 
allen  Sphären  sollten  die  eigentümlichen  Lebensäusserungen  des  Deutsch- 
tums aufgesucht  werden  —  zunächst  aus  Sprache  und  Mythologie,  weiterhin 
aber  aus  dem  ganzen  Verlauf  der  politischen  und  kulturellen  Geschichte. 
Spencers  „Facts  of  Sociology"  schwebten  ihm  als  Muster  vor:  wie  der 
englische  Philosoph  solche  Thatsachen,  die  für  bestimmte  Kulturstufen 
charakteristisch  schienen,  ausheben  und  zusammenstellen  Hess,  so  sollten 
bezeichnende  Facta  die  Eigenheiten  der  deutschen  Nation  in  jedem  Zeit- 
punkt festlegen. 

Was  Hans  Meyer  mit  einer  Anzahl  tüchtiger  Mitarbeiter  giebt  und 
geben  will,    das   kann   etwa  als  eine  po])uläre  Bearbeitung  derselben  Auf- 

1)  Diese  Notiz  wird  noch  höchst  bedeutsam  im  Auschluss  an  die  oben  S.7  erwähnte 
Sage  von  dem  augeblich  in  einem  Donnerkrachen  gebrochenen  Wolken-Donnerwagen,  für 
den  jemand  dann  einen  Keil  hacken  und  den  Wagen  reparieren  müsse,  elie  er  (d.  h.  das 
Gewitter)  weiterziehen  könne.  Das  Hacken  eines  Keils  erscheint  hier  als  ein  allgemeiner 
Gebrauch  an  dem  Tage,  an  welchem  man  den  Umzug  des  betr.  Wesens  feierte,  um  den 
Keil  gleichsam  bereit  zu  liaben,  und  erklärt  auch,  weshalb  man  in  Übertragung  dieser 
Form  auch  dem  Festgebäck  öfter  a;n  solchen  Tagen  eine  keilförmige  Gestalt  gab. 

2)  Das  deutsche  Volkstum.  Unter  Mitarbeit  von  H.  Heimelt,  A.  Kirchhoff,  H. 
A.  Köstlin,  Ad.  Lobe,  E.  Mogk,  K.  Seil,  H.  Thode,  0.  Weise,  J.  Wychgram,  herausgegeben 
von  Hans  Meyer.     Mit  30  Tafeln.     Bibliograph.  Institut,  Leipzig  und  Wien  1898. 


Eino  Gesamtdarstellung  des  deutschen  Volkstums.  19 

gäbe  bezeiclinet  werden.  Eine  Art  empirischer  „deutscher  Ethik*',  wie 
Scherer  sie  in  dem  berühmten  Vorwort  zur  „Geschichte  der  deutschen 
Sprache"  forderte,  wird  auch  hier  angestrebt.  Aber  statt  einer  annähernd 
Yollständigen  Sammlung  der  charakteristischen  Thatsachen  werden  für 
jedes  Gebiet  natürlicli  nur  die  ausgewählt,  die  dem  Bearbeiter  als  typisch 
erscheinen;  und  statt  einer  rein  wissenschaftlichen  Ermittelung  ist  eine 
anregend  gemeinverständliche  Darstellung  als  Ziel  gesteckt. 

Nun  ist  es  unvermeidlich,  dass  bei  der  Auswahl  der  typischen  Momente 
die  dunkel  oder  klar  schon  vorschwebende  Vorstellung  von  der  Eigenart 
deutscher  Xation  bereits  mitwirkt.  Mögen  auch  die  Verfasser  ernstlich 
bestrebt  sein,  ihre  Auffassung  durch  die  Thatsachen  berichtigen  zu  lassen 
—  bis  zu  einem  gewissen  Grade  wird  der  Versuch,  von  einer  uns  nah  am 
Herzen  liegenden  Individualität  auf  Grund  ausgewählter  Facta  eine  neue 
Vorstellung  zu  gewinnen,  immer  eine  petitio  princi])ii  bleiben  müssen. 

Neues  ist  es  daher  am  wenigsten,  was  das  mit  sichtlicher  Liebe  von 
allen  ]\litarbeitern  geschriebene,  von  der  Verlagsbuchhandlung  hübsch  aus- 
gestattete und  vor  allem  auch  durch  die  musterliafte  Herstellung,  das 
weisse  feste  Papier,  den  klaren  Druck  des  Bibliographischen  Instituts 
würdige  Veröffentlichung  bringt.  Es  wären  vielleicht  im  deutschen  National- 
charakter doch  noch  manche  Seiten  aufzuhellen,  ja  ganze  Provinzen  zu 
entdecken,  an  denen  die  Verfasser  des  „Deutschen  Volkstums"  vorüber- 
gehen. Ich  hebe  einen  wichtigen  Punkt  heraus:  die  Treue,  Alle  Be- 
arbeiter heben  gerade  sie  als  eine  charakteristische  Tugend  der  Deutschen 
hervor.  Dafür  galt  sie  stets.  Als  Zimmermann  vor  seinem  Buch  „vom 
Nationalstolz"  sich  gegen  den  Vorwurf  verteidigte,  er  habe  die  Spuren 
dieses  Gebrechens  bei  den  Deutschen  übersehen,  schloss  er  sich  dem 
Urteil  Hallers  an,  uns  fehle  der  Nationalstolz  in  krankhaftem  Grade.  Aber 
in  derselben  Zeit  schrieb  schon  Michael  Conrad  Curtius  in  Giessen  (1775) 
„von  der  fälschlich  gerühmten  Treue  und  Redlichkeit  der  alten  Teutschen", 
und  warf  jener  Meinung  der  beiden  Schweizer  das  Bedenken  entgegen, 
der  Stolz  der  Deutschen  auf  ihre  Treue  und  Redlichkeit  sei  unbegründet. 
Er  führt  allerlei  Untreue  von  Königen  und  Fürsten  an  und  beginnt  mit 
Varus:  „In  einem  der  ersten  teutschen  Fürsten,  der  in  der  Geschichte  er- 
scheint, linden  wir  einen  Treulosen."  Aber  seine  Belege  vermögen  den 
Glauben  an  deutsche  Treue  nicht  umzustossen;  auch  mir  scheint  er  be- 
gründet. Nur  sollte  man  eben  bedenken,  wie  vielerlei  Schattierungen  solch 
vieldeutiger  Begriff  zulässt.  Treu  waren  die  Deutschen  wohl  allezeit;  aber 
die  stolze,  selbstbewusste  Treue  eines  Hagen  oder  Hildebrand  deckt  sich 
nicht  mit  der  knechtischen  Unterwürfigkeit  etwa  der  kleinstaatlichen 
Minister  des  17 — 18.  Jahrhunderts.  Ob  einer  in  freier  Verfügung  sieh  in 
den  Dienst  eines  Höheren  stellt  und  nun  ausharrt,  weil  er  Bürge  seiner 
eigenen  Ehre  ist,  oder  ob  er  auch  in  der  schlechtesten  Sache  ausdauert, 
weil  er  gar  nicht  den  Mut  hat,  zurückzutreten,  das  ist  doch  wolil  zweierlei. 


'_>(>  Meyer: 

Und  ebenso  ist  es  zweierlei,  ob  der  alte  Germanenhäuptling-  in  barbarischer 
List  die  Treue  gegen  den  römischen  Verbündeten  einer  höheren  Treue 
opfert,  wie  York  bei  Tauroggen,  oder  ob  bei  dem  Ringen  des  ganzen 
deutschen  Yolkes  um  Befreiung  vom  Joch  Napoleons  Rheinbundfürsten 
den  Kaiser  treulos  in  dem  Augenblick  verlassen,  da  ihm  das  Glück  untreu 
wird.  Die  ^AYandlungen  des  Begriffs  der  Treue  wären  zu  verfolgen:  ob 
sie  mehr  als  selbstgewollte  Ehrenpflicht  erscheint,  als  moralische  oder  als 
juristische  Notwendigkeit;  ob  sie  unbedingt  gefordert  wird  oder  mit  sitt- 
lichen Einschränkungen  u.  s.  w.  Hier  würden  sich  zeitlich  und  lokal  Ver- 
schiedenheiten ergeben  müssen,  die  den  etwas  allgemeinen  Begriff  der 
„Treue"  erst  recht  mit  Blut  und  Leben  erfüllen  würden. 

Unseren  Autoren  aber  kam  es  darauf  an,  das  Dauernde,  das  Allver- 
breitete herauszuheben.  Deutsche  Volksart  ist  ihnen,  „quod  semper,  quod 
ubique,  quod  ab  omnibus"  geübt  wird,  wie  die  alte  Kirche  den  katholischen 
Glauben  definiert. 

Zu  diesem  Zweck  untersucht  Hans  Meyer  (S.  If.)  einleitend  „das 
deutsche  Volkstum".  Für  eine  Bestimmung  des  „deutschen  Menschen" 
(S.  3  f.)  hält  er  sich  vorzugsweise  an  Henkes  Ausführungen  über  den 
„Typus  des  germanischen  Menschen",  dessen  bestechend  einfache  Zwei- 
teilung in  das  nordwestliche  Gebiet  des  Langgesichts  und  das  südöstliche 
des  Breitgesichts  eigentlich  doch  die  Einheitlichkeit  des  germanischen 
Typus  von  vornherein  in  Frage  stellt.  —  Der  Herausgeber  untersucht 
dann  (S.  7  f.)  den  Begriff  des  Volkstums  selbst,  mit  sehr  hübschen  Einzel- 
bemerkungen, z.  B.  (S.  20)  über  das  deutsche  Lachen.  Ich  möchte  an 
Walthers  von  der  Vogelweide  schöne  Verse  erinnern,  die  J.  Grimm  (Kleine 
Schriften  1,  1(51)  auf  K.  Lachmann  angewandt  hat;  sind  doch  auch  Luther 
und  Bismarck  grosse  Lacher  gewesen,  denen  ein  herzliches  Gelächter 
manchen  Druck  von  der  Seele  lösen  konnte.  Wer  hat  dagegen  in  Frank- 
reich nach  Rabelais  noch  laut  gelacht?  —  Alfr.  Kirchhoff  behandelt 
(S.  39  f.)  die  deutschen  Landschaften  und  Stämme  in  ganz  ausgezeichnet 
individualisierender  Charakteristik;  dieser  Abschnitt  ergänzt  auch  E.  IL 
Meyers  treffliches  Buch  über  Deutsche  Volkskunde,  dem  die  Einzel- 
beschreibung der  Landschaften  und  Stämme  fehlt,  in  erfreulicher  Weise. 
Besonders  hat  es  uns  erfreut,  dass  er  (S.  108)  auch  dem  Typus  des  Berliners 
gerecht  wird;  gar  zu  oft  pflegen  die  Vertreter  der  Volkskunde  den  Gross- 
städter gewaltsam  aus  dem  „Volk"  auszuscheiden.  Aber  was  wäre  uns 
der  „Grieche"  ohne  den  Athener  und  den  Spartaner?  der  „Franzose"  ohne 
den  Pariser?  —  Stärkere  Einwände  fordert  H.  Heimelt  mit  seiner  geist- 
reichen, aber  etwas  willkürlichen  Darstellung  der  deutschen  Geschichte 
(S.  121  f.)  heraus.  Es  war  freilich  das  schwierigste  Thema.  Was  wir  über 
die  Gefahr  sagten,  die  jeder  solchen  Zusammenstellung  droht:  dass  der 
Autor  doch  nur  sieht,  was  er  von  vornherein  erwartete,  das  macht  sich 
gerade    hier    geltend.     Ob    man    das  Hambacher  Fest    so  hoch  einschätzt, 


Eine  Gesamtdarstellung  des  dentschen  Volkstums.  21 

wie  (S.  202)  der  Verf.  oder  so  gering  wie  Treitschke,  das  wird  doch  immer 
wesentlich  von  der  Gesamtauffassung'  abhängen.  Kef.  begrüsst  übrigens  in 
dem  kräftig  liberalen  Ton,  der  doch  selbstverständlich  eine  begeisterte 
Würdigung  Bismarcks  (S.  208)  nicht  ausschliesst,  erfreut  einen  Umschwung: 
eine  Zeit  lang  sah  es  aus,  als  schiene  den  eifrigsten  Lobrednern  des 
deutschen  Volkes  jede  selbständigere  Regung  eben  dieses  Volkes  als  eine 
Störung  ihres  Idealbildes.  —  O.  Weise  hat  sich  in  der  Charakteristik  der 
deutschen  Sprache  (S.  211f.)  schon  früher  versucht.  Er  geht  öfter  zu  weit 
im  Anpreisen;  dass  das  Deutsche  in  der  einfachen  und  durchsichtigen 
Ausdrucksweise  das  Französische  und  Englische  übertrifft  (S.  219),  wird 
man  schwerlich  zugeben  können,  und  unsere  Neigung  zur  Wortklauberei 
(S.  228)  hat  eben  auch  in  gewissen  Undeutlichkeiten  der  Sprache  eine 
Wurzel.  —  Versteht  aber  Weise  im  ganzen  doch  die  Eigenheiten  deutscher 
Kode  klug  herauszuheben,  so  sündigt  Eugen  Mogk  in  seiner  —  an  sich 
sehr  dankenswerten  —  Übersicht  der  deutschen  Sitten  und  Bräuclie  (S.  261  f.) 
und  der  altdeutschen  heidnischen  Religion  (S.  317  f.)  durcli  die  übertriebene 
Neigung,  überall  specifisch  germanische  Züge  zu  finden.  Dass  die  Fort- 
pflanzung des  Geschlechts  der  Angelpunkt  der  Ehe  sei  (S.  279),  das  ist 
doch  nicht  bloss  „altgermanische  Auffassung",  sondern  die  ursprüngliche 
Auffassung  der  Ehe  bei  allen  Völkern  der  Welt;  ich  erinnere  nur  etwa  an 
die  römische  Definition:  librorum  procreandorum  causa!  Die  „Einfachheit" 
der  alten  Germanen  (S.  2G6)  ist  lediglich  von  der  Kulturstufe  bedingt  und 
schliesst  eine  lebhafte  Freude  an  Schnmck  und  Glanz  nicht  aus:  man  denke 
nur  etwa  an  die  Rigsthula  der  Edda!  Ebenso  wenig  bedingt  die  realistische 
Auffassung  der  Liebe  (S.  274)  eine  Verschiedenheit  der  Deutschen  von 
anderen  Völkern;  und  eben  deshalb  sollte  man  mit  dem  Ghiuben  an  die 
taciteische  „Keuschheit  der  germanischen  Jugend"  (e])enda)  etwas  vor- 
sichtig sein.  „Heute  sieht  es  in  dieser  Beziehung  vielfach  anders  aus", 
sagt  Mogk;  aber  liest  man  die  geistlichen  Strafreden  gegen  die  bösen 
Städte,  so  könnte  man  auch  heut  noch  zu  der  Vorstellung  kommen,  auf 
dem  Lande  herrsche  die  grösste  Sittsamkeit.  Nüchterne  Beobachter  urteilen 
anders  —  über  die  Urzeit  so  gut  wie  über  die  Gegenwart.  Es  giebt 
schwerlich  ein  Gebiet  menschlichen  Lebens,  in  dem  sich  so  wenig  ändert, 
wie  in  den  erotischen  Beziehungen  des  Volkes.  —  Andererseits  möchten 
wir  wieder  der  realistischen  Erklärung  des  Johannisfeuers.  das  (S.  303) 
schädliche  Stoffe  aus  der  Luft  räumen  soll,  nicht  beistimmen.  Schön  wird 
die  Schilderung  des  Weihnachtfestes  (S.  296)  von  warmem  Einfühlen  in 
die  Stimmung  erfüllt;  aber  die  alten  Waldheiligtümer  (S.  322)  haben  mit 
unserer  modernen  Waldfreude  und  Sentimentalität  schwerlich  etwas  zu 
schaffen. 

Eine  höchst  verdienstliche  Leistung  ist  auch  K.  Seils  Versuch,  das 
deutsche  Christentum  (S.  335  f.)  nach  seinen  drei  Seiten:  Katholicismus 
(S.  339),    Protestantismus    (S.  358),    konfessionslose    Religiosität  (S.  377) 


22  Meyer: 

darzustellen.  Wie  schon  diese  Einteilung  von  einem  weitherzigen  Streben 
nach  Objektivität  zeugt,  so  tritt  es  auch  weiterhin  hervor.  Aber  bei  aller 
Unparteilichkeit  gegen  die  Formen  des  deutschen  Christentums  weiss  auch 
Seil  sich  von  subjektiver  Ungerechtigkeit  gegen  die  Religiosität  anderer 
Nationalitäten  nicht  immer  frei  zu  halten.  Ist  die  Verbindung  von  Kaisertum 
und  Priestertum  (S.  399)  wirklich  ein  neuer,  deutscher  Gedanke?  entnahm 
ihn  Karl  der  Grosse  nicht  vielmehr  der  byzantinischen  Praxis?  VortrefPlich 
wird  (S.  356)  das  Verhältnis  der  Romantik  zum  Xeukatholicismus  aus- 
einandergesetzt, dabei  aber  der  wichtige  Einfluss  der  französischen  Theo- 
sophen  wie  de  Maistre  und  de  Bonald  zu  energisch  eliminiert.  Wenn  gar 
in  der  Hinrichtung  des  Kanzlers  Krell  (S.  367)  nur  „der  furchtbare  Ernst 
der  Bekenntnisverpflichtung"  gesehen  wird,  so  gestehen  wir,  diesen  von 
romanischem  Fanatismus  nicht  unterscheiden  zu  können.  —  Übrigens  ist 
der  Abschnitt  reich  an  glücklichen  Partien;  die  Bezeichnung  der  Hamann. 
Lavater,  Jung  Stilling  als  „geniale  Pietisten"  (S.  370)  sei  als  ein  Beispiel 
für  geistreiche  Erfassung  augeführt. 

Adolf  Lobe  bespricht  (S.  393  f.)  das  deutsche  Recht.  Das  lehrreiche 
Kapitel  ist  fast  das  einzige,  das  (S.  413)  wesentliche  Umgestaltungen 
innerhalb  der  Volksseele  zugiebt:  „Das  Gefühl  des  Dienens  und  Abhängig- 
seins beeinflusste  fernerhin  vielleicht  etwas  zu  stark  die  Charakterbildung 
des  deutschen  Volkes,  so  dass  geraume  Zeit  vergehen  musste,  bis  dieses 
seinem  ursprünglichen  Wesen  völlig  fremde  Element  wieder  ausgeschieden 
^ui-de.«  —  H.  Thodes  „Deutsche  bildende  Kunst"  (S.  463  f.)  scheint  uns 
der  am  wenigsten  gelungene  Beitrag.  Schwerfällige  Auseinandersetzungen 
rein  theoretischer  Natur,  gesucht  geistreiche  Betrachtungen,  subjektivste 
Urteile  lassen  uns  hier  zu  einem  ruhigen  Lernen  kaum  gelangen.  Die 
„Riemen-  und  Thürverschlingungs  -  Ornamentik"  (S.  475)  soll  mit  ihrer 
„wunderlichen  Mischung  von  Naturnachahmung  und  Phantastik"  bereits 
„alle  Besonderheiten  germanischer  bildnerischer  Eigenart"  aufweisen!  aber 
mangelt  denn  etwa  der  irischen  Ornamentik  jene  Mischung?  In  den 
Passionsdarstellungen  der  mittelalterlichen  Kunst  soll  dann  aber  wieder 
(S.  506)  aller  Realismus  fehlen  und  lediglich  eine  „unbändige  Phantastik" 
herrschen!  Dazu  diese  Superlative  überall!  „Welches  andere  Bildnis  der 
Welt  Hesse  sich  au  Lebensdarstellung  dem  Hieronymus  Holzschuher  ver- 
gleichen?" (S.  513).  Nun,  ich  denke,  recht  viele  von  Holbein,  von  Velaz- 
quez,  von  den  Venetianern!  Für  Matthias  Grunewald  herrscht  augen- 
blicklich, wie  für  Sandro  Botticelli,  eine  Schwärmerei,  die  alle  Schranken 
der  historischen  Würdigung  verachtet;  ihr  giebt  auch  Thode  (S.  515)  Aus- 
druck. Schliesslich  gipfelt  ihm  (S.  523)  alle  deutsche  Kunst  in  Richard 
Wagners  Werken,  „dieser  höchsten  Verherrlichung  des  Reinmenschlichen". 
Wären  sie  das,  wo  bliebe  dann  das  specifisch  Germanische  in  ihnen  gerade 
nach  der  Auffassung  des  Verfassers? 


Eine  Gesamtdarstellung  des  deutschen  Volkstums.  23 

Küstliii  handelt  (Ö.  525 f.)  über  deutsche  Tonkunst  und  urteilt  (S.  566) 
weit  nüchterner  über  R.  Wagner.  Die  deutsche  Dichtung  endlich  führt 
(S.  569f.)  J.  AVychgram  vor.  Auch  dies  ist  keiner  von  den  gelungensten 
Abschnitten;  es  fehlt  nicht  an  Phrasen,  wovon  fast  alle  Bearbeiter  sonst 
sich  erfreulich  fern  halten.  Der  romanischen  Litteraturentwickelung  soll 
(S.  573)  allenthalben  „das  rein  um  seiner  selbst  willen  vorhandene  per- 
sönliche Moment"  fehlen.  Bei  Corneille  freilich:  aber  wo  ist  eine  indi- 
viduellere Gestalt  zu  finden  als  z.  B.  der  Apotheker  in  Flauberts  „Madame 
Bovary"?  Jugenderinnerungen  wie  die  deutscher  Selbstbiographien  sollen 
nur  etwa  bei  Renan  zu  finden  sein  (S.  581);  und  Pierre  Loti?  Leopold 
Schäfer  und  Friedrich  v.  Sallet  hätten  (S.  582)  in  keinem  anderen  Volke 
ihres  Gleichen ;  aber  die  „weltweise  Betrachtung",  in  der  „der  Mensch  dem 
Menschen  als  das  Interessanteste  erscheint",  hat  ja  doch  gerade  bei  unseren 
Nachbarn  jenseits  des  Rheins  von  Montaigne  bis  Michelet  ihre  Klassiker! 
Über  den  deutschen  Humor  liesse  sich  viel  sagen;  seine  Eigenart  hat  er 
sicher.  Aber  durch  Thränen  zu  lachen  (S.  589)  verstehen  auch  die  Lehrer 
der  deutscheu  Humoristen,  Lawrence  Sterne,  Oliver  Goldsmith.  Überall 
spielen  hier  eine  Übereilung,  die  der  deutschen  Litteratur  zu  viel  „Einzig- 
keiten" sichern  will,  und  ungenaue  Kenntnis  der  Weltlitteratur  sich  in  die 
Hände.  Dagegen  weiss  Wychgram  etwa  das  deutsche  Trinklied  (S.  627) 
oder  die  Darstellungen  von  Land  und  Leuten  (S.  657)  ganz  hübsch  zu 
charakterisieren.  Die  Klassiker  werden  (S.  642  f.)  allzu  schematisch  ver- 
glichen, Goethe  (S.  641)  mit  einer  Strophe  eingeführt,  die  ihm  schwerlich 
gehört.  Dagegen  ist  der  Bilderschmuck  —  nirgends  in  aufdringlicher 
Massenhaftigkeit  —  gerade  hier  mit  feinem  Geschmack  ausgewählt. 

Zusammenfassend  dürfen  wir  sagen:  die  Darstellungen  des  Werkes 
sind  um  so  gelungener,  je  breiter  sie  in  eigentlich  volkstümliche  Gebiete 
eintauchen.  Je  mehr  sie  es  mit  Bezirken  zu  thun  haben,  in  denen 
schliesslich  doch  die  grosse  Individualität  massgebend  bleibt  —  Geschichte, 
bildende  Kunst,  Dichtung  —  um  so  mehr  geben  sie  Gelegenheit  zu  Be- 
anstandungen. Aber  gerade  in  jenen  Charakteristiken  von  Volkstum, 
Landschaft,  Sprache,  Recht  liegt  ja  auch  die  Hauptbedeutung  des  Buches. 
Deutsche  Eigenart  in  reichlicher  und  naiver  Abspiegelung  ist  ja  doch  hier 
gerade  am  besten  zu  finden.  Die  Kunst,  die  Religion,  die  Geschichte  sind 
ja  auch  von  den  Zeitverhältnissen,  von  der  Kulturstufe  der  Nachbarvölker, 
von  allem,  was  über  die  Grenzen  auch  der  grössten  Volksindividualität 
herausgeht,  so  stark  mitbedingt,  dass  es  kaum  möglich  scheint,  die  nationale 
Eigenart  hier  rein  herauszuschälen. 

Als  Ganzes  können  wir  das  Werk  nur  freudig  begrüssen.  Ein  gleiches 
Zeugnis,  wie  liebevoll  auf  allen  Gebieten  die  nationale  Art  aufgesucht  und 
gedeutet  wird,  hat  kein  anderes  Volk  aufzuweisen.  Einer  neuen  Auflage 
wünsche  ich  noch  eine  kurze  Übersicht  der  Wandelungen  in  den  Vor- 
stellungen der  Deutschen  von  ihrer  eigenen  Art:  wie  denn  überliaupt  Bücher 


24  Lehmann-Filhes: 

wie  E.  M.  Arndts  „Geist  der  Zeit",  Fichtes  „Grundzüge  des  gegenwärtigen 
Zeitalters"  (180(5),  H.  Steffens  „Gegenwärtige  Zeit,  mit  besonderer  Kück- 
sicht  auf  Deutschland'^  (1817),  Zschokkes  „Geist  des  deutschen  Yolks" 
(Aarau  1820),  weiterhin  Bogumil  Goltz  „Die  Deutschen"  (1860)  und  andere 
sich  nicht  ohne  Xutzen  hätten  verwenden  lassen.  Indes  kommt  so,  in  der 
Selbständigkeit  der  Einzelarbeit,  auch  wieder  deutsche  Eigenart  zum  Vor- 
schein; und  das  ganze  Werk  ist  kein  schlechtes  Denkmal  guter  deutscher 
Gelehrteneigenschaften.  Möge  denn  das  Publikum  seine  schlechte  Ge- 
wohnheit, gute  Bücher  nicht  zu  kaufen,  hier  bezwingen  und  dafür  sorgen, 
dass  das  „Deutsche  Volkstum"  in  Deutschland  volkstümlich  werde! 


Über  Brettchenweberei. 

Von  Margarete  Lehmann-Filhes. 

(Mit  Tafel  I.) 

Die  Kunst,  mit  Hilfe  kleiner  quadratischer  Täfelchen  oder  Brettchen 
Bänder  zu  weben,  ist  uralt.  Sie  wird  in  der  poetischen  Edda  im  zweiten 
Gudrunliede  erwähnt:  „Hunische  Maide,  die  mit  Brettchen  weben".  Jetzt 
ist  in  Island  der  „spjaldvefnadur"  (die  „Brettchenweberei":  daher  das 
Adjektivum  „spjaldofinn"  =  mit  Brettcheu  gewebt)  im  Aussterben  begriffen: 
ein  Pfarrer  im  südlichen  Island,  sera  porkell  Bjarnason  zu  Reynivellir 
in  der  Kjösarsysla,  fand  in  seinem  Kirchspiel  nur  noch  eine  alte  Frau, 
von  der  er  ein  Band  herstellen  lassen  konnte,  um  es  mir  mit  den  dazu 
gehörigen  40  hölzernen  „spjöld"  (plur.  von  ^spjald"  =  Täfelchen,  Brettchen) 

Fig.  1.     ftwa  '/j  natürl.  Grösse. 


Isläudisches  Band.  Wtherei  mit  einfachem  Fach 


zu  übersenden  (Fig.  1).  Sei-a  porkell  Bjarnason  ist  es  in  erster  Reihe 
zu  danken,  dass  diese  merkwürdige  AVebetechnik  uns  endlich  bekannt, 
geworden  ist,  denn  in  einer  wertvollen  Abhandlung  „Vor  40  Jahren"  („Fyrir 
40  ärum")')  erzählt  er  von  den  vielen  schönen  Bändern,  die  noch  in  seiner 

1)  Diese  Abhandlung    legte    ich    meinem  Aufsatz   „Kulturgeschichtliches  aus  Island" 
(1396,  S.  235  f.  373  f.  438  dieser  Zeitschrift)  zu  Grunde. 


über  Brettcheuweberei.  25 

Jugendzeit  mit  „spjöld"  gewebt  wurden,  als  da  waren:  Strumpfbänder 
(sokkabönd),  Achselbänder  (axlabönd),  Aufschürzbänder  (styttubönd)  und 
Kissenbänder  (sessubönd):  mit  letzteren  wurde  auf  dem  alten  isländischen 
Frauensattel  das  Sitzkissen  festgebunden.  Viele  dieser  Bänder,  besonders 
die  Kissen-  und  die  Aufschürzbänder  waren  mit  eingewebten  Inschriften, 
z.  B.  Glückwunschversen,  die  von  den  Dichtern  zu  diesem  Zwecke  verfasst 
wurden,  geschmückt  und  hiessen  dann  „Schriftbänder"  („leturbönd");  andere 
trugen  nur  hübsche  Muster.  Das  Weben  aller  dieser  Bänder  war  ein 
Sonntagsvergnügen  der  Frauen  und  Mädchen,  und  in  der  That  ist  die  Arb&it 
ungemein  anziehend.  Dabei  ist  das  Verfahren  sehr  einfach;  es  wird  ge- 
schildert in  Jon  Thoroddsens  im  vorigen  Jahrhundert  spielendem  Roman 
„Madur  og  kona"  („Mann  und  Frau").  Dort  sitzt  die  Hausfrau  auf  einer 
Truhe  und  webt  mit  Brettchen.  Sie  stützt  den  rechten  Fuss,  den  sie  vom 
Schuh  befreit  hat,  auf  einen  kleineren  Kasten,  der  vor  ihr  steht,  und  hat 
um  ihn  die  Kette  des  Gewebes  geschlungen.  Das  andere  Ende  der  Kette 
—  das,  an  welchem  sie  webt  —  hält  sie  in  der  einen  Hand  und  spannt  so 
die  Kette  straff;  mit  der  anderen  Hand  dreht  sie  die  Brettchen,  führt  den 
Schussfaden  durch  das  Fach  („skil",  von  skilja  =  trennen)  hindurch  und 
drückt  ihn  mit  einem  Finger  fest.  —  Nach  sera  porkell  Bjarnasons  und 
des  Altertumsforschers  Brynjülfur  Jonsson  brieflicher  Mitteilung  bewerk- 
stelligt man  das  Straffspannen  der  Kette  dadurch,  dass  man  deren  eines 
Ende  an  einen  in  der  Wand  befindlichen  Haken,  einen  Pfahl  oder  dergl. 
hängt  und  das  andere  an  einem  Gürtelbande  befestigt,  das  man  sich  um 
den  Leib  bindet;  als  Weberschiffchen  dient  ein  länglicher  Garnwickel. 
Viele  der  Muster  und  besonders  die  Schrift  erfordern  natürlich  grosse 
Sorgfalt  und  Aufmerksamkeit.  Von  den  auf  Taf.  I  abgebildeten  drei  oberen 
Bandproben,  die  Dr.  Valtyr  Gudmundsson  mir  mit  vieler  Mühe  aus  Island 
verschafft  hat,  sind  h,  c  besonders  künstlich  gewebt,  nämlich  vollkommen 
doppelt,  mit  einem  oberen  und  einem  unteren  Fach  (Fig.  2).  Man  w^endet 
diese  Methode  an  beim  Einweben  von  Buchstabeu  und  von  „glit"  (eingewebte 

Fig.  2. 


^^ 


Isländerin,    mit  doppeltem  Fach  (a,  b)  webend;    die  Brettchen   der  Deutlichkeit  wegen  in 

vergrössertem  Massstabe,     c  das  fertig  gewebte  Band,  d  der  später  zur  Verwendung 

kommende  Teil  der  Kette,  an  den  zur  Befestigung  eine  Schnur  gebunden  ist. 

Unter  Benutzung  einer  nach   der  Natur  aufgenommenen   Skizze  von  Brynjülfur  Jönsson. 


26  Lelimann-Filhes: 

Figuren),  d;iher  das  Adjektivum  „glitofinn"  =  mit  Figuren  durchwebt.  Bei 
genauer  Untersuchung  eines  solchen  Bandes  und  namentlich,  wenn  man 
es  nachwebt,  staunt  man  über  die  schöne  und  sinnreiche  Arbeit,  die  mit 
den  denkbar  einfachsten  Hilfsmitteln  so  Vollendetes  zu  schaffen  vermag. 

Nach  und  nach  hat  sich  nun  herausgestellt,  dass  die  Brettchenweberei 
durchaus  nicht  auf  Island  beschränkt  ist.  Das  „Dansk  Folkemuseum"  in 
Kopenhagen  besitzt  eine  aus  Jütland  stammende,  ganz  identische  Webe- 
vorriclitung,  dort  „Brikning"  genannt;  die  Täfelchen  heissen  „Brikker" 
(plur.  von  „Brik").  Die  Dame,  welche  sie  dem  Museum  geschenkt  hat, 
Frau  Jägermeister  Hvass  in  Randrup,  erzählte  mir  auf  meine  Erkundigungen 
brieflich  von  der  in  Jütland  und  besonders  auf  ihrem  grossen  Gute  noch 
in  Blüte  stehenden  Hausindustrie  und  sandte  mir  eine  Brikning- Vorrichtung, 
12  hölzerne  Täfelchen  mit  einem  angefangenen  Baude,  zu  welchem  sie 
die  Wolle  selbst  gesponnen  und  gefärbt  hat^).  Man  fertigt  in  Jütland 
Strumpfbänder,  Tragebänder,  Pferdeleinen  u.  s.  w.:  auch  erfuhr  ich  durch 
Frau  Jägermeister  Hvass,  dass  auch  in  Schweden  die  Technik  noch  geübt 
wird  und  dass  z.  B.  in  Smäland  die  flirten  beim  Viehhüten  weben,  indem 
sie  das  eine  Ende  der  Weberei  an  einen  Baum,  das  andere  sich  um  den 
Leib  binden.  Auf  eine  Anfrage  beim  Nordischen  Museum  in  Stockholm 
teilte  Herr  Amanuensis  und  Bibliothekar  Vistrand  mir  folgendes  mit.  In 
Schweden  wird  nocli  in  vielen  Gegenden  mit  Brettchen  gewebt,  so  in  Skäne, 
Halland,  Helsingland;  das  Nordische  Museum  besitzt  aus  allen  diesen 
Gegenden  und  sogar  aus  Norwegen  „brikkor"  von  sehr  verschiedener 
Grösse  und  Form,  wie  auch  ganze  Webevorrichtungen.  Eine  solche  wird 
im  Volke  „brikkeväf",  „brikkväfstol",  „bandstol"  genannt,  obgleich  keine 
anderen  Geräte  dazu  gehören  als  die  Brettchen,  die  immer  von  Holz  sind 
und  nicht  nur  „brikkor",  sondern  auch  „kort",  „slänn"  heissen,  dazu  eine 
Nadel  („näl")  für  den  Schussfaden  und  ein  „Bandmesser"  („bandknif")  zum 
Festschlagen  desselben  (Fig.  3).  Das  Nordische  Museum  beherbergt  ausserdem 
ein  ziemlich  kleines  knöchernes  Täf eichen,  das  seiner  ganzen  Beschaffenheit 
nach  sehr  wohl  zum  Weben  von  Bändern  gedient  haben  kann.  Es  wurde 
auf  der  Insel  Björkö  im  Mälarsee  zusammen  mit  anderen  Gegenständen, 
die  aus  dem  8. — 10.  Jahrhundert  stammen,  ausgegraben,  darunter  befinden 
sich  auch  ein  paar  gabel-  oder  kammähnliche  Geräte,  die  man  gleichfalls 
mit  der  Bandweberei  in  Verbindung  bringt^). 

Herr  Vistrand  hatte  die  Güte,  mich  darauf  aufmerksam  zu  machen, 
dass  die  betreffende  Webetecimik  auch  in  Finnland  bekannt  sei.  Eine 
briefliche  Anfrage    beim    ethnographischen    Museum    in  Helsingfors    hatte 


1)  Auch  iu  Island  wird  die  Wolle  mit  der  Hand  gesijoniien  und  vielerorten  noch 
mit  einlicimischen  Pflanzen  gefärbt. 

2)  Hjalmar  Stolpe:  Sur  les  decouvertes  faites  dans  File  de  Björkö.  Congres  inter- 
national d'Anthropologie  et  d'Archöologie  prehistoriques,  Compte  rendu  de  la  7me  session, 
Stockholm  1874.     Tome  IT,  pag.  619—640. 


über  Brettcheuweberei. 


27 


Fig.  3.     '2  natürl.  Grösse. 
h 


A 


000 


O  o  o 


o  O  ^ 


>v^ 


a,  /;,  f,  f/,  e  hölzerne  "VVebebrettcheu  (brikkor)  aus  Schweden  und  Norwegen, 

im  Nordischen  Museum  in  Stockholm  befindlich.    /"  Nadel  (näl)  mit  Schussfaden. 

Nach  Zeichnungen  des  Herrn  P.  G,  Vistrand. 

denn  ancli  den  Erfolg,  dass  der  Intendant  desselben,  Herr  Theodor  Öchviudt. 
mir  in  dieser  Beziehung  ausführliche  Mitteilungen  machte.  Nach  Band- 
resten, welche  dieser  Herr  in  Gräbern  aus  dem  13.  Jahrhundert  gefunden 
hat,  ist  in  Finnland  mehrere  Jahrhunderte  lang  mit  Brettchen  gewebt 
worden.  Gegenwärtig  ist  diese  Kunst  im  Begriff,  vergessen  zu  werden, 
nur  in  ein  paar  Kirchspielen  am  westlichen  Ufer  des  Ladoga  wird  sie 
noch  geübt.  Beim  Weben  wird  ein  knieförmig  gebogenes  Holz  („teke- 
mishankö"  oder  „kekka")  angewendet,  auf  dessen  breiterem  und  flacherem 
Teile  die  Weberin  sitzt  und  an  dessen  anderem,  ästigem  Ende  die  Kette 
befestigt  ist.  Hier  haben  wir  wohl  die  Erklärung  für  die  in  Schweden 
gebräuchliche  Bezeichnung  „bandstol";  wahrscheinlich  ist  in  alten  Zeiten 
auch  dort  dieser  hölzerne  Sitz  in  Gebrauch  gewesen.  Die  Brettchen,  meist 
zwischen  5  und  7  cm  gross,  quadratisch  und  mit  einem  Loch  in  jeder  der 


2^  Lehmann-Fillies: 

gewöhnlich  abgerundeten  Ecken,  sind  stets  von  Holz  und  heissen  „vyölaudat" 
(,,vyö"  =  der  Gürtel,  „laudat",  plur.  von  „lauta"  =  Brettchen),  auch  „viili- 
vyolaudat"  (von  ^viilettää"  =  aufschlitzen)  oder  „hiiretyislaudat".  Das 
Band  heisst  „vyö",  ^viilivyo",  „hiiretyisvyö".  Hierzu  kommt  noch  ein  dem 
schwedischen  „handknif"  entsprechendes  Gerät,  „vyövittiin"  („vittiin"  =  ein 
Werkzeug,  mit  dem  man  schabt),  ein  Webeschaft  „niidet"  —  wahrscheinlich 
um  das  Fach  zu  öffnen  —  und  ein  kleiner  Bandhaspel  „vyökela",  auf  den 
das  fertig  gewebte  Band  aufgewickelt  wird  und  den  die  Weberin  sich  in 
den  Gürtel  steckt^). 

Bedenkt  man,  in  wie  lebhaftem  Verkehr  die  skandinavischen  Länder 
stets  untereinander  und  auch  mit  Finnland  gestanden  haben,  so  erscheint 
es  nicht  sehr  erstaunlich,  dass  ihnen  allen  diese  Webetechuik  gemeinsam 
ist.  Auch  dass  in  der  Gegend  von  Naugard,  wie  Herrn  Sanitätsrat  Bartels 
eine  Dame  erzählte,  schmale  Bänder  mit  Hilfe  zwölf  sehr  kleiner  quadra- 
tischer Pappscheiben  gewebt  werden ''^),  lässt  sich  aus  dem  früheren  Zu- 
sammenhange Pommerns  mit  Schweden  leicht  erklären.  Weit  merkwürdiger 
ist  die  Entdeckung,  die  Herr  Sanitätsrat  Bartels  auf  einer  Keise  im  Sommer 
1897  machte.  Bereits  in  Moskau  fiel  ihm  in  der  kaukasischen  Abteilung 
des  Kumjanzow-Museums  ein  Päckchen  quadratisch  zugeschnittener  Spiel- 
karten-Blätter auf,  nach  Art  der  isländischen  „spjöld"  an  den  vier  Ecken 
mit  Löchern  versehen,  durch  welche  Fäden  gezogen  waren,  die  an  einem 
schnallenartigen  Gegenstande  befestigt  waren.  Herr  Sanitätsrat  Bartels 
erkannte  sofort  eine  Webevorrichtung  darin  und  er  sah  in  der  That  bald 
darauf  in  Kutais,  der  Hauptstadt  von  Imeretien,  in  einem  Waffenladen 
einen  Mann  sitzen  und  mit  solchen  Kartenblättchen  einen  der  schönen 
kaukasischen  Gürtel  weben,  wie  sie  aus  Gold-  oder  Silberfäden  mit  ein- 
gewebten schwarzen  Ornamenten  hergestellt  werden  (Fig.  4).  Ein  etwa  2  m 
langes  Brett  war  mit  dem  einen  Ende  auf  einen  Schemel  gelegt;  auf  diesem 
Ende  sass  der  Mann  und  hielt  so  das  Brett  in  der  Schwebe.  An  jedem  Ende 
trug  das  Brett  einen  aufrechtstehenden  Pflock,  zwischen  diesen  zwei  Pflöcken 
waren  die  Kettfäden  in  der  Weise  ausgespannt,  dass  eine  Schnur,  die  beide 
Enden  der  letzteren  miteinander  verband,  um  die  Pflöcke  und  auch  um  das 
linke  Knie  des  Webers  herumgelegt  war,  so  dass  dieser  durch  einen  Druck 
des  Knies  die  Spannung  der  Kette  nach  Belieben  regeln  konnte.  Der 
Schussfaden  war  auf  ein  cylindrisches  Hölzchen  aufgewickelt,  zum  Fest- 
schlagen des  Gewebes  diente  ein  hölzernes  Instrument,  das  einem  gestielten, 
doch  ungezähnten  Scheitelkamm  glich.  Noch  ein  anderes  Gerät  war  dabei 
in  Anwendung,  nämlich  ein  hölzerner  Kamm,  zwischen  dessen  nach  oben 
stehenden  Zähnen    die  Kettfäden    hindurch    gingen,    bevor    sie    durch   die 

1)  Die  genauere  Erklärung  einzelner  finnischer  Wörter  danke  ich  Herrn  stud.  med. 
Onni  Matikainen  in  Helsingfors. 

2)  Verhandl.  der  Berliner  anthropolog.  Gesellschaft.      Sitzung  vom  15.  Januar  1898. 


über  Brettchenweberei. 
Fis:.  4. 


29 


Imeretiner,  mit  Si)ielkarten-Bliitteni  einen  silberneu  Gürtel  webend. 
Von  Hrn.  San.-Eat  Bartels  nach  der  Natur  gezeichnet.  Verh.  d.  Berl.  anthr.  Ges.  1898,  S.  3(i. 

Löcher  der  Kartenblättclien  liefen^).  —  Ein  weiter  Weg  ist  von  Island 
bis  zum  Kaukasus  und  überraschend  ist  es,  hier  wie  dort  genau  die- 
selbe eigentümliche  Webetechnik  zu  finden.  Gemahnt  dies  nicht  an 
die  hunischen  Maide  des  zweiten  Gudrunliedes?  Der  Gudrun  —  es  ist 
die  Kriemhild  des  deutschen  Nibelungenliedes  —  rühmt  man,  um  sie  zur 
Heirat  mit  dem  Hunenherrscher  —  hier  Atli,  im  Nibelungenliede  Etzel 
genannt,  dem  der  historische  Attila  zu  Grunde  liegt  —  zu  bestimmen: 
„Hunische  Maide,  die  mit  Brettchen  weben  und  Gold  schön  (oder  schönes 
Gold)  machen,  so  dass  es  dir  eine  Lust  däuclit^)." 

Die  Identität  der  „Hiunen"  des  Nibelungenliedes  mit  den  aus  dem 
Kaukasus  nach  Deutschland  vordringenden  Hunnen  gilt  als  nicht  für  er- 
wiesen; hier  nun  zeigt  sich  ein  gemeinsamer  und  durchaus  nicht  alltäglicher 
Zug  bei  den  jetzigen  Kaukasus-Bewohnern  und  den  im  zweiten  Gudrun- 
liede  erwähnten  Hünen;  und  da  die  altnordischen  Lieder  aus  der  Nibelungen- 
sage diesen  Stoff  aus  deutschen  Quellen  geschöpft  haben,  so  ist  wohl  an- 
zunehmen, dass  in  verschollenen  deutschen  Liedern,  welche  die  Nibelungen 
sage  in  ihrer  ältesten  Form  enthielten,  auch  der  mit  Brettchen  webenden 
hunischen  Maide    gedacht    war.     Dass    diese    wahrscheinlich  nur  flüchtige 


1)  Verhandl.  d.  Berliner  anthropolog.  Gesellschaft,  Sitzung  vom  15.  Januar  1898. 

2)  Gudrünarkvida  II,  26:  „Hünskar  meyjar  pser  er  hlada  spjöldum  ok  göra  gull 
fagrt,  sva  at  per  gaman  picki."  „Hlada  spjöldum"  =  ursprünglich:  „die  Brettchen  (zum 
Weben)  zusammenstellen,  ordnen";  daher  später  in  der  Bedeutung:  „mit  Brettchen  weben'' 
gebraucht.  „Göra  gull  fagrt"  soll  in  diesem  Zusammenhange  (auch  nach  Dr.  Valtyr  Gud- 
mundsson)  höchst  wahrscheinlich  heissen:  „das  Gold  (die  Goldfäden)  zu  etwas  Schönem 
verarbeiten",  „schöne  Dinge  aus  Gold  (Goldfäden)  verfertigen",  was  man  wohl  nicht  mit 
Unrecht  auf  goldene  Gürtel  und  Bänder  bezieht. 


30 


Lehinann-Filhes: 


Kunde  in  dem  bewegten  Deutschland  wieder  in  Vergessenheit  geriet  — 
das  Nibelungenlied  enthält  keine  Andeutung  davon  —  ist  nicht  zu  ver- 
wundern, aber  auch  das  nicht,  dass  die  Kunst:  „at  hlada  spjöldura"  in 
Island  im  Liede  fortlebte;  denn  hier  kam  der  Umstand  zu  Hilfe,  dass  die 
Technik  selbst  inzwischen  von  Osten  her  eingewandert  war;  während 
nämlich  die  Edda  ausser  in  der  oben  angeführten  Stelle  des  zweiten  Gudrun- 
liedes keinen  einzigen  Ausdruck  enthält,  der  sich  mit  Sicherheit  auf  die 
Brettchenweberei  beziehen  liesse,  begegnen  wir  solchen  Ausdrücken  mehr- 
fach in  den  altisländischen  Sagas  ^). 

Veranlasst  durch  die  interessante  Beobachtung  des  Herrn  Sanitätsrat 
Bartels  hat  Herr  Dr.  Carl  Lehmann  sich  in  Tiflis  bemüht,  das  Weben  mit 
Kartenblättchen  auch  hier  aufzufinden.  Seiner  anerkennenswerten  Beharr- 
lichkeit gelang  es,  drei  Frauen  bei  dieser  Arbeit  zu  sehen,  deren  Apparat 


Fig.  5.    '^/s  nat.  Gr. 


Fi£ 


-/s  nat.  Gr. 


Kamm  von  Buchsbaumholz, 
aus  Tiflis. 


Spielkarten-Blatt,  zum  Weben  benutzt, 
aus  Tiflis,  die  eingehrannten  Löcher 
durch  den  Gehrauch  stark  ausgewetzt. 

genau  dem  von  Herrn  Sanitätsrat  Bartels  geschilderten  und  abgebildeten 
glich.  Herr  Dr.  Lehmann  übersandte  mir  einige  Beweisstücke:  eine  grosse 
Anzahl  Bandproben,  von  denen  einige  hier  abgebildet  sind  (Tafel  I,  e^f,g) 
zum  Weben  benutzte  Kartenblätter  und  einen  Kamm  von  Buchsbaumholz 
(Fig.  5  u.  6);  im  übrigen  kann  hier  nur  auf  seinen  demnächst  erscheinenden 
Bericht^)  verwiesen  werden. 

Li  allen  bisher  genannten  Gegenden  ist  die  Technik  bei  aller  Ver- 
schiedenheit des  Materials  genau  die  nämliche.  Im  Kaukasus  verwendet 
man    goldene,    silberne    und    bunte    baumwollene    und  seidene  Fäden;    in 

1)  Aus  dem  Verhum  hlada  ist  das  Substantivum  hlad  gebildet  worden,  das  ein  gold- 
gewirktes Band,  besonders  ein  Kopf  band  bezeichnet  und  in  den  Sagas  oft  erwähnt  wird: 
..gullhlad",  „silkihlad":  ferner  stammen  daher  einige  Beinamen  vornehmer  Frauen,  z.  B. 
der  pora  Hroaldsdottir  hiadhönd  in  der  Egils  saga  Skallagrimssonar  (Cap.  32),  deren  Hand 
damit  als  geschickt  im  "Weben  mit  Brettchen  gerühmt  wird.  Dr.  Valtyr  Gudmundsson 
nennt  ferner:  ,.spjalda(g)na",  „hladnipf,  „hladgrund",  ..hladnorn",  „hladgudr"  —  lauter 
weibliche  Beinamen;  das  Weben  war  im  Norden  das  Amt  der  Frauen. 

2)  Verhandl.  d.  Berl.  anthropol.  Gesellschaft.     Sitzung  vom  Kl.  Juli  1S98. 


über  Brettchenweberei.  31 

Finnland,  Schweden,  Norwegen  und  Island  jetzt  nur  die  einheimische 
Wolle;  ungeheuer  vereinfacht  zeigt  sich  auch  die  Vorrichtung  zum  Weben, 
je  weiter  wir  nach  Nordwesten  gehen,  doch  scheinen  gewisse  Übergänge 
den  Weg  anzudeuten,  den  die  Brettchenweberei  in  grauer  Yorzeit  durch- 
wandert hat:  das  lange  Brett,  auf  dem  der  (oder  die)  Webende  sitzt,  finden 
wir  in  etwas  roherer  Form  in  Finnland,  statt  seiner  nur  noch  die  Benennung 
„Bandstuhl"  in  Schweden  wieder,  in  Island  endlich  scheint  nichts  mehr  an 
die  ursprüngliche  Einrichtung  zu  erinnern.  —  Höchst  interessant  und 
wichtig-  ist  die  eigentümliche  Struktur,  welche  der  Mehrzahl  aller  mit 
Brettchen  (oder  Kartenblättern,  was  auf  eins  herauskommt)*)  gewebten 
Bänder  anhaftet.  Von  den  hier  abgebildeten  Bändern  könnte  nur  eines 
der  aus  Island  stammenden  (Tafel  I,  a)  ebenfalls  auf  andere  Weise,  z.  B. 
mit  dem  auch  in  Deutschland  sehr  verbreiteten  Webekamm,  gewebt 
werden,  von  allen  übrigen  kann  der  in  das  Verfahren  Eingeweihte  mit 
voller  Bestimmtheit  behaupten,  dass  sie  nur  durch  Brettchenweberei  her- 
gestellt sein  können.  Herrn  Geheimrat  Prof.  Jacobsthal  war  schon  lange, 
bevor  er  Kenntnis  von  der  Brettchenweberei  erhielt,  diese  ihm  damals 
rätselhaft  erscheinende  Textur  an  kaukasischen  Bändern  aufgefallen,  und 
er  erfand  für  alle  Bänder,  die  solche  Textur  zeigen,  den  vortrefflich 
passenden  Namen  „Schnurband"  ^):  infolge  fortgesetzter  einseitiger  Drehung 
<ler  Brettchen  beim  Weben  erscheinen  nämlich  die  zu  je  einem  Brettchen 
gehörigen  Fäden  —  es  seien  nun  2,  3  oder  4  —  im  fertig  gewebten  Bande 
als  gedrehte  Schnur^).  Dieses  ganz  charakteristische  Merkmal  ermöglicht 
('S,  an  Bändern,  denen  es  eigen  und  deren  Herkunft  bekannt  ist,  z.  B.  in 
ALuseen  ausgelegten,  sofort  zu  erkennen,  dass  in  dieser  oder  jener  Gegend 
die  Brettchenweberei  betrieben  wird,  und  dieses  Erkennungszeichen  führt 
uus  immer  weiter  nach  Osten.  Im  Museum  für  Völkerkunde  in  Berlin 
finden  sich  feine  wollene  Bänder,  angeblich  aus  Bhutan  (am  Himalaya), 
die  ihrer  Struktur  nach  mit  Brettchen  gewebt  sein  müssen,  wenngleich  im 


1)  Ich  habe  für  diese  Webetechnik  in  ihrer  Gesamtheit  den  Namen  „Brettchenweberei" 
^»eibehalten,  gleichviel  aus  welchem  Material  die  Täfelchen  verfertigt  sind. 

2)  Herr  Prof.  Jacobsthal  hielt  seinen  Vortrag  über  Schnurbäuder  in  der  Berl.  antlirop. 
Gesellschaft  am  Ki.  Juli  1898. 

3)  Die  eigentümliche  Textur  des  „Schnurbandes"  beeinllusst  in  den  meisten  Fällen 
auch  dessen  Muster.  Die  schnurartige  Drehung  der  durch  je  ein  Brettcheu  gezogenen 
Kettfäden,  die  durch  den  Schussfaden  fortlaufend  fixiert  wird,  entsteht  natürlich  auch  in 
dem  vom  Webenden  aus  jenseits  der  Brettchen  befindlichen  Teile  der  Kettfäden  und 
1)ereitet  im  weiteren  Verlaufe  des  Webens  dem  Drehen  und  Schieben  der  Brettchen  endlich 
ernste  Hindernisse.  Es  bereitet  unendliche  Mühe,  diese  lästige  Zusammendrehung  durch 
Auflösung  der  Kette  zu  beseitigen,  wenngleicli  es  hier  und  da  zu  geschehen  scheint;  man 
greift  daher  zu  dem  einfachen  Hilfsmittel,  die  Brettchen  von  Zeit  zu  Zeit  in  entgegen- 
gesetzter Richtung  zu  drehen,  was  man  den  im  „Schuurbandc"  enthaltenen  „Schnüren" 
deutlich  ansehen  kann.  Da  nun  bei  einem  reinen  „Schnurbande'"  der  Keim  zu  dem  etwa 
beabsiclitigten  Muster  schon  in  der  Anlage  der  Kette  enthalten  ist  und  sich  bei  einseitiger 
Drehung    der  Brettclien  ganz  von  selbst  ergiebt,    erfährt  natürlich  auch  die  Richtung  der 


;3-_>  Lehmanu-Filhes:  Über  Brettclienweberei. 

Museum  nichts  darüber  bekannt  ist.  Herr  Professor  Grünwedel,  der  sich 
sehr  bereitwillig  der  Sache  annahm,  hat  bisher  nur  von  einem  Missionar 
in  Leh  (Ladäk)  die  Auskunft  erlangt,  dass  dieselben  Bänder  auch  dort 
getragen  werden  und  zwar  von  den  regulären  anglo-indischen  Truppen, 
denen  sie  zum  Umwickeln  und  Zusammenhalten  des  Beinkleides  dienen, 
dass  sie  aber  nicht  daselbst,  sondern  im  inneren  Indien  gewebt  werden. 
(Vielleicht  kann  eine  Stelle  in  dem  Werke  „Quer  durch  Indien"  von 
F.  Reuleaux,  auf  die  Herr  Prof.  Jacobsthal  mich  neuerdings  aufmerksam 
machte,  zur  Aufklärung  beitragen;  Herr  Reuleaux  sah  in  Benares  einen 
Weber,  der  auf  einem  kleinen  tragbaren  Webstuhl  schmale  seidene  Bänder 
mit  Hilfe  quadratischer  Pergamentblättchen  herstellte,  und  schildert  dessen 
Verfahren  dabei  in  wenigen  Worten  so,  dass  man  es  für  identisch  mit  der 
Brettchenweberei  halten  muss.)  Das  Museum  für  A^ölkerkunde  beherbergt 
auch  seidene  Bänder  aus  Turkestan,  die  mit  Brettchen  gewebt  sein  müssen, 
und  Herrn  Prof.  Jacobsthal  sind  weitere  Entdeckungen  zu  danken:  er  fand 
im  Postmuseum  in  Berlin  unglaublich  feine  seidene  Schnurbänder  aus  Siam, 
die  um  heilige  Schriften  gewickelt  sind,  und  ein  als  Pferdezaum  dienendes 
baumwollenes  Schnurband  aus  Peking,  wie  auch  neuerdings  in  der  Muster- 
sammlung chinesischer  Gebrauchsgegenstände,  die  während  des  Monats 
Dezember  1898  in  Berlin  ausgestellt  war,  eine  grössere  Anzahl  von  Bändern 
aus  China,  die  wahrscheinlich  alle  mit  Brettchen  gewebt  sind;  ausserdem 
im  Grassi-Museum  in  Leipzig  seidene  Schnurbänder  aus  Japan  und  aus 
Birma  und  sogar  zwei  einschlägige  Webstühle  von  dort.  In  einigen  der 
Abbildungen  von  Stoffresten  aus  den  schweizerischen  Pfahlbauten^)  erkannte 
Herr  Prof.  Jacobsthal  Schnurgewebe  und  mit  vollem  Recht,  vorausgesetzt, 
dass  die  Zeichnungen  korrekt  sind;  beirren  muss  dabei  nur  die  Angabe, 
Herr  Paur  in  Zürich  habe  alle  jene  Stoffe  mittels  des  von  ihm  eigens 
dazu  konstruierten  Webstuhles  nachgeahmt;  wenn  diese  Behauptung  sich 
in  ihrem  vollen  Umfange  bestätigte,  so  wären  einige  der  Zeichnungen 
unaenau,    und   der  Beweis  für  die  Kenntnis  der  Brettchenweberei  bei  den 


Linien  des  Musters  eine"  Änderung,  sobald  die  ßrottclien  rückwärts  gedreht  werden,  z.  B. 
Tafel  I,  /.  Zuweilen  wird  aus  der  Not  eine  Tugend  gemacht,  indem  man  den  notwendigen 
Wechsel  der  Drehung  regelmässig  vornimmt  und  zu  einem  hübschen  Muster  benutzt, 
wie  bei  einem  Bande  aus  Bhutan  (Fig.  7)  (wovon  später). 

Fig.  7. 


1)  Mitteilungen  der  antiquarischen  Gesellschaft  in  Zürich,  Bd.  XIV.    IV.  Bericht  von 
Dr.  Keller.  ^ 


Aiiialfi:  Quellen  und  Parallelen  zum  „Novellino"  des  Saleiuitaners  Masuccio.        33 

Pfahlbauern  der  Schweiz  wäre  noch  nicht  erbracht.  Möglicherweise  aber 
wird  man  bakl  —  wenigstens  hinsichtlich  der  alten  Welt  —  fragen  können: 
„Wo  wird  oder  wurde  nicht  mit  Brettchen  gewebt?  Und  ist  diese  ebenso 
o-eniale  als  einfache  Webetechnik  nicht  vielleicht  die  älteste  der  Welt?"  ^) 


Quellen  und  Parallelen  zum  „Novellino" 
des  Salernitaners  Masuccio. 

Von  Dr.  Gaetano  Ainalfl. 


Bekanntermassen  hat  der  Verfasser  des  „Novellino"  seinen  Stoff  nicht 
selbst  erfunden,  vielmehr  zumeist  recht  alte  Motive  benutzt,  an  denen  sich 
Generationen  auf  Generationen  ergötzt  hatten.  Aber  das  genetische  Element 
tritt  uns  bei  ihm  in  so  genauer  Zeichnung  entgegen,  zeigt  sicli  hier  in 
einer  so  bestimmten  lokalen  Färbung,  dass  die  Geschichten  nicht  mehr 
<len  Eindruck  fremder,  sondern  einheimischer  Erzeugnisse  machen. 

So  lassen  sich  denn  diese  Novellen  unter  einem  doppelten  Gesichts- 
punkte studieren,  einmal  als  Sittengeschichte  für  das  Jahrhundert,  in  dem 
sie  erzählt  worden  sind,  und  somit  als  Quelle  reicher  Aufklärung  über 
dasselbe,  ferner  aber  als  Zeugnis  für  das  Fortleben  alter  Erzählungen. 

Über  den  ersteren  Punkt  mögen  die  Litterarhistoriker  zwar  bereits 
mit  Untersuchungen  hervorgetreten  sein,  noch  nicht  oder  so  gut  wie  nicht 
haben  sie  sich  jedoch  mit  den  Quellen  und  Varianten  befässt. 

Masuccio  hat  trotz  der  jüngsten  Ausgabe  seiner  Novellen  durch  Settem- 
brini''),  der  seinen  wahren  Kuf  zu  begründen  suchte,  bisher  noch  keine 
glückliche  Behandlung  gefunden.  Alles,  mit  der  Darstellung  seines  Lebens 
und  der  Schöpfung  eines  endgültigen  Textes  angefangen  (denn  der  von 
Settembrini  gebotene  verdient  diese  Bezeichnung  nicht),  bleibt  an  ihm 
noch  zu  leisten.  Fragen  wir  uns  nur  einmal,  ob  die  Methode,  der  er  bei 
seiner  Ausgabe  gefolgt  ist,  einer  ernsthaften  Erörterung  wert  sei! 

1)  Es  wäre  leicht  denkbar,  dass  durch  gönaues  Studium  alter  Litteraturen  noch  mehr 
Licht  in  die  Sache  zu  bringen  wäre.  Ebenso  gut  wie  Simrock  im  zweiten  Gudrunliede 
anstatt  „mit  Brettchen  weben"  übersetzt:  „Teppiche  weben",  könnten  sich  in  anderen  alten 
Schi-ifteu,  z.  B  iu  der  Bibel,  ähnliche  ungenau  übertragene  Stellen  befinden,  da  kein 
Übersetzer,  auch  nicht  der  scharfsinnigste  und  gewissenhafteste,  eine  solche  Stelle  richtig 
verstehen  und  wiedergeben  kann,  ohne  die  Sache  zu  kennen.  Auf  Weberei  bezügliche, 
doch  bisher  unklar  erscheinende  alte  Schriftstellen  raüssten  eigentlich  daraufhin  geprüft 
werden,  ob  sie  nicht  auf  Brettclieuweberei  zu  beziehen  sind. 

2)  II  Novellino  di  Masuccio  Salernitano  restituito  alla  sua  antica  lezione  da 
Luigi  Settembrini.     Napoli,  presso  Antonio  Morano,  1874. 

Q 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1899.  '^ 


^4  Amalli: 

In  der  Vorrode  belehrt  er  uns  darüber,  dass  er  seineu  Neudruck  nach 
der  Yenetiauer  Ausgabe  vom  Jahre  1492,  d.  i.  der  vierten  Ausgabe  der 
Novellen,  besorgt  habe,  viele  Stellen  in  dieser  habe  er  aber  nach  der 
Mailänder  Ausgabe  vom  Jahre  1483  gebessert;  gleichwohl  seien  verschiedene, 
wie  er  sagt,  dunkel  geblieben  infolge  von  Irrtümern,  die  sich  schon  in 
die  erste  Ausgabe  eingeschlichen  hätten  und  nicht  mehr  ausgemerzt  werden 
könnten. 

Der  erste  Druck  vom  Jahre  1476,  den  Francesco  del  Tuppo  in 
Neapel  in  der  Druckerei  des  Sixtus  Reisinger  hatte  herstellen  lassen') 
und  der  nur  in  einem  einzigen,  früher  dem  Fürsten  von  Fondi,  jetzt  der 
Pariser  National-Bibliothek  gehörigen  p]xemplar  erhalten  sein  soll,  blieb 
ihm  unzugänglich,  und  so  auch  der  Venezianer  Druck  vom  Jahre  1484. 
Um  von  späteren  Ausgaben  nicht  zu  sprechen,  hat  er  demnach  von  den- 
jenigen des  15.  Jahrhunderts  zweifelsohne  nur  zwei  gesehen,  unter  diesen 
aber  nicht  etwa  die  editio  princeps,  die  es  sich  doch  gelohnt  hätte,  zu 
Rate  zu  ziehen. 

So  prüfte  er  also  das  Material,  bevor  er  seinen  Text  festlegte,  in  un- 
vollkommener Weise,  und  verwertete  er  keineswegs  alle  Elemente,  mit 
deren  Hilfe  er  sein  Ziel  hätte  erreichen  können. 

Ausser  der  erwähnten  Ausgabe  vom  Jahre  1492  bildete  seine  Zuflucht, 
und  zwar  in  ausgedehntestem  Masse,  die  Konjektur,  jener  Blick,  vermöge 
dessen  man  zuweilen  wohl  das  Richtige  trifft,  der  sich  weit  öfter  hingegen 
täuscht.  „  .  .  .  indem  ich  jedes  Wort,  jeden  Gedanken  in  dem  Buche 
nacherwog  und  da  ich  Dialekt,  Orte,  Sitten  und  etwas  Greschichte  kannte^ 
habe  ich,  sagt  er,  klar  lesen  können." 

Die  Aufgabe  ist  aber  nicht  die,  einen  Text  besser  zu  machen,  wenn 
freilich  auch  dies  zu  geschehen  hat,  sondern  ihn  so  wieder  herzustellen, 
wie  er  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  aus  der  Feder  des  Verfassers  geflossen 
ist;  alles  Übrige  ist  Mutmassung,  künstliche  Berichtigung,  aber  keine  getreue 
Wiederherstellung. 

Aber  verlassen  wir  diesen  Gegenstand  und  treten  wir  der  Quellen- 
frage näher. 

Settembrini  berührt  dieselbe,  als  er  sich  fragt,  ob  Masuccio  seine 
Novellen  selbst  erfunden  oder  von  anderen  entlehnt  habe;  und  in  gewissem 
Sinne  fällt  er  auch  eine  Entscheidung,  wenn  er  nämlich  betont,  Masuccio 
sei  gar  nicht  darauf  ausgegangen  zu  erfinden,  sondern  wolle  nur  wahre 
Begebenheiten  erzählen,  er  nehme  nichts  weg,  noch  lege  er  etwas  hinzu, 
er  stelle  nur  die  Novelle  her,  d.  h.  er  erzähle  die  Vorgänge  mit  der  ihm 
eigenen  Kunst.  Jene  Begebenheiten,  sagt  er,  mögen  sie  nun  in  Wirklichkeit 
passiert    sein    oder    mag    die    allgemeine  Vorstellung  sie  nur  für  wirklich 


1)  Vgl,  De  Lollis,  L'Esopo  di  F.  del  Tuppo,  Giorn.  nap.  di  Filos.  e  Lett.  1SS5, 
SS.  175—202  und  289—336. 


Quellen  und  Parallelen  zum  „Novellino"  des  Salernitaners  Masuccio.  35 

halten,  werden  durch  so  bestimmte  Züge  charakterisiert,  dass  sie  meines 
Erachtens  niemand  vor  ihm  erzählt  haben  kann.  Will  ich  aber  umsichtig 
verfahren,  so  antworte  ich  ferner,  dass  die  von  einer  Novelle  umfasste 
Begebenheit  oftmals  nach  Art  eines  Sprichworts  nicht  Eigentum  eines 
einzelnen  Menschen,  sondern  eines  ganzen  Volkes,  ja  vieler  Völker  ist  und 
ein  jeder  sie  nur  nach  seiner  Weise  nacherzählt  und  sie  in  seiner  Heimat 
und  zu  seiner  Zeit  sich  zutragen  lässt.  Das  Verdienst  des  Erzählers  besteht 
somit  darin,  dass  er  gemeinsames  Gut  zu  eigenem  Gut  macht,  dass  er  dem 
Vorgange  Leben  und  Gegenwart  verleiht  und  dass  er  die  Personen,  die  in 
der  allgemeinen  Erzählung  als  unbestimmte,  völlig  unausgeprägte  Typen, 
mehr  gedacht  als  persönlich  gestaltet,  entgegentreten,  ausdrucksvoll  zeichnet 
und  lebhaft  färbt.  Oft  tritt  auch  der  Fall  ein,  dass  derjenige,  der  die 
Begebenheit  zuletzt  erfahren,  aber  am  besten  erzählt  hat,  in  den  Ruf  des 
ursprünglichen  Erfinders  kommt  .  .  .  Entdeckt  man,  dass  ein  Bildwerk 
aus  demselben  Marmor  gemeisselt  worden,  wie  etwa  ein  Mörser,  was  hat 
man  damit  entdeckt?  Nicht  an  den  Stoff  knüpft  sich  der  Wert  der  Kunst, 
und  nur  Stoff  ist  doch  jede  Gemeinerzähluug,  jede  Legende,  kurz  jede 
Tradition  welcher  Art  auch  immer,  aus  der  der  Künstler  seine  Novelle 
bildet;  diese  aber  ist  dann  gleich  dem  Bildwerk  ein  ganz  eigenes  Werk 
von  ihm,  eine  ursprüngliche  Schöpfung. 

Mit  diesen  Worten  betrachtet  er  die  Sache  wohl  von  ihrer  künstlerischen 
Seite,  doch  berührt  er  das  Gebiet  der  historischen  Forschung  nicht. 

Ich  wende  mich  nun  geradeswegs  meinem  Thema  zu. 

Ich  beabsichtige  nicht  etwa  dieses  zu  erschöpfen,  noch  auch  das  Beste 
anderen  vorwegzunehmen;  doch  ist  der  Anfang  immerhin  mehr  wert  als 
völliger  Verzicht.  Was  ich  gebe,  sind  nur  einige  Anmerkungen,  die  ich 
mir  bei  meiner  Lektüre  gemacht  habe,  doch  wird  auch  aus  ihnen  schon 
deutlich  hervorgehen,  dass  die  in  unserer  Novellensammlung  verarbeiteten 
Vorwürfe  ein  weit  höheres  Alter  besitzen,  als  Settembrini  vermutete,  und 
dass  sie  auch  noch  zu  weiteren  Novellen  Veranlassung  gegeben  haben. 
Es  handelt  sich  fast  um  das  gleiche  Material,  dessen  sich  auch  andere 
Novellenerzähler  bedient  haben. 

Masuccio  gehört  zu  der  ansehnlichen  Zahl  derjenigen,  die  in  Boccaccios 
Fussstapfen  getreten  sind;  unter  diesen  wird  er  auch  von  Dunlop^)  und 
von  Landau''')  aufgeführt.  So  liegt  es  denn  zuvörderst  nahe,  einen  Ver- 
gleich mit  dem  Dekameron  zu  ziehen,  obschon  man  derartige  Ver- 
gleichungen  zu  missbilligen  pflegt.  Auch  Settembrini  weist  auf  den  De- 
kameron hin.  „Masuccio",  sagt  er,  „ist  der  neapolitanische  Boccaccio  und 
sein  Novellino  ähnelt  in  vielen  Stücken  dem  Dekameron,  dennoch  aber  ist 
es    ein    Originalwerk."     Ja    bereits  Masuccios  Zeitgenosse  Pulci    hatte    an 


1)  Geschichte  der  Prosadichtungen,  übers,  v.  Liebrecht,  Berlin  1851,  S.  2G6ff. 

2)  Beiträge  zur  Geschichte  der  italienischen  Novelle,    Wien  1875,  S.  50fF. 

3' 


36  Airialfi: 

Boccaccio  gedacht;  in  einem  Schreiben  an  I])polita,  die  Gemahlin  Alphons 
von  Aragonien,  Herzogs  von  Calabrien,  nennt  er  ihn  einmal  „einen  starken 
Nachahmer  unseres  M.  Giovanni  Boccaccio."  umgekehrt  bemerkt  jedoch 
Doni  in  einer  seiner  Librerie,  den  Salernitaner  müsse  man  preisen,  der 
habe  wenigstens  auch  nicht  ein  Wort  dem  Boccaccio  geraubt,  sondern  ein 
Buch  geschrieben,  das  ganz  von  ihm  selber  herrühre.  Aber  dies  ist  eine 
jener  bekannten  übereilten  Behauptungen;  Boccaccio  hat  ihm  im  Gegenteil 
als  Muster  gedient,  wie  es  Settembrini  zugiebt  und  Masuccio  in  den  Worten : 
„  .  .  .  del  famoso  commendato  poeta  Boccaccio,  l'ornatissimo  idioma  e  stile 
del  quäle  ti  hai  sempre  ingegnato  de  imitare"  (S.  '239)  auch  selbst  bekennt. 
Nur  ist  das  Ziel  beider  ein  ganz  verschiedenes.  Boccaccio  erzählt  seine 
Novellen  einzig  in  der  Absicht  Genuss  zu  bereiten,  die  damalige  Welt 
abzuzeichnen,  während  Masuccio  die  Schwanke  und  Erzählungen  zu  passenden 
Belehrungen,  allgemeinen  Betrachtungen  verwertet.  Masuccio  bildet,  wie 
Settembrini  einmal  bemerkt,  in  seinen  fünfzig  Novellen  wie  in  fünfzig 
Gemälden  das  neapolitanische  Leben  ab,  zweierlei  aber  male  er  mit  be- 
sonders lebhaften  Farben,  die  bösen  Sitten  der  Geistlichen  und  die  Yer- 
derbtheit  der  Frauen,  denn  zweierlei  schätze  er  über  alles,  die  Religion 
und  die  Liebe;  daher  dringe  er  so  heftig  gegen  diejenigen  vor,  die  diese 
beiden  herrlichen  Gaben  schändeten. 

Es  besteht  nun  jede  seiner  Novellen  aus  einer  Widmung  oder  Ein- 
leitung (eine  Anlage,  die  sich  dann  auch  Bandello  zum  Muster  nahm), 
einer  Erzählung,  die  die  eigentliche  Fabel  der  Novelle  enthält,  und  einem 
Schlüsse  mit  der  Überschrift  Masuccio,  der  die  moralischen  Betrachtungen 
des  Autors  umfasst.  In  seiner  Anlage  gleicht  der  Novellino  ungefähr  dem 
Esopo  seines  Zeitgenossen  Francesco  del  Tuppo,  in  dem  jede  Fabel  aus 
dem  Apologus  (der  Übertragung  oder  Nacherzählung  der  Fabel),  der 
Tropologia  (die  den  Sinn  der  Geschichte  klarlegt),  dem  Sensus  Ana- 
gogicus  (einer  Art  Betrachtungen),  der  Descriptio  und  endlich  der 
Confirmatio  (einer  zweiten  Erzählung,  die  die  erste  bestätigt,  einer  Art 
Probe  auf  diese)  ^)  zusammengesetzt  ist.  Die  Erzählung  allein  thut  hier 
nicht  alles,  sie  gewährt  dem  Verfasser  gleichsam  nur  die  Gelegenheit  sich 
in  bestimmten  Reflexionen  zu  ergehen. 

Von  sonstigen  sich  rein  auf  die  Form  beziehenden  Berührungspunkten 
mit  anderen  Werken  unterlasse  ich  zu  sprechen. 

Auf  die  Quellen  des  Novellino  spielt  Masuccio  in  seiner  Vorrede  selbst 
an,  als  er  sich  über  die  Anlage  seiner  Sammlung  äussert;  er  spricht  hier 
von  „alcune  novelle  per  autentiche  istorie  approbate  negli  moderni  e  antiqui 
tempi  travenute".     Und  im  „Parlamente  de  lo  autore  al  libro  suo"  sagt  er: 


1)  Vgl.  Rua,  Di  alcune  iiov.  ins.  iieH'Esopo  di  F.  del  Tuppo,  Torino,  Bona, 
1889,  wo  anmerkungsweise  auch  die  jeweiligen  Neudrucke  angegeben  werden.  Zu  einer 
jeden  Erzählung  werden  die  Quellen  nachgewiesen. 


Quellen  und  Parallelen  zum  „Novellino"  des  Salernitaners  Masuccio.  37 

„  .  .  .  Saranno  altri  de  assai  meno  mala  sorte  che  diramio  che  de  cin- 
quanta  novelle,  .  .  .  la  maggior  parte  sono  favole  e  buscie;  a'  quali  te 
piazza  .  .  dire  .  .  che  tutte  sono  verissime  istorie,  le  piü  nelli  nostri  moderiii 
tempi  travenute;  e  quelle  che  de  antique  veste  e  de  canuta  barba  sono 
Ornate,  da  persone  de  graudissima  autorita  me  sono  state  per  istorie  in 
contando  approvate."  Das  ist  wohl  nur  freie  Erfindung,  um  die  Geschichten 
glaubwürdiger  zu  machen,  immerhin  darf  mau  ein  derartiges  Bekenntnis 
nicht  ausser  acht  lassen. 

Hervorgehoben  sei  auch,  dass  zu  den  fünfzig  nummerierten  :N"ovellen 
noch  zwei  Geschichten  hinzukommen,  eine  Schnurre  aus  dem  Prolog  (die 
von  dem  Kaufmann,  der  zum  Missvergnügen  des  armen  Schneiders  den 
Golddukaten  fand),  und  eine  Anekdote  (vom  König  Xerxes)  aus  dem 
Schlüsse  (S.  531  f.),  so  dass  wir  von  50  Novellen  und  2  Facetien  sprechen 
können. 

Zu  der  ersteren  dieser  beiden  habe  ich  keine  Varianten  entdecken 
können;  vielleicht  dürfen  wir  glauben,  dass  er  sie  aus  dem  Erzählungs- 
schatze des  Volkes  geschöpft  habe.  Anderen  ist  es  nicht  besser  ergangen 
als  mir.  So  lesen  wir  in  der  Nuova  Crestomazia  italiana  (Nap.  Morano, 
1883,  Bd.  II,  S.  220):  „Es  fällt  uns  zu  dieser  Erzählung  weder  eine  Parallele 
noch  eine  Quelle,  noch  eine  Nachahmung  ein."  Masuccio  flicht  sie  ein, 
weil  ihm  ein  vulgäres  Beispiel  in  den  Sinn  kommt,  und  behauptet,  diese 
Begebenheit  habe  sich  vor  langen  Jahren,  zur  Zeit  nämlich  der  Königin 
Margarethe,  der  Gemahlin  Karls  III.  von  Durazzo  und  Mutter  König 
Wladislaws  und  Johannas  IL,  in  Salern,  seiner  Vaterstadt,  zugetragen. 

Die  Xerxesanekdote,  will  sagen  die  Geschichte  von  dem  Landmann, 
der,  da  er  nichts  anderes  zu  schenken  hat,  eine  Hand  voll  Wasser  aus 
dem  Flusse  schöpft  und  diese  dem  Xerxes  als  Spende  darbringt,  wird 
auch  von  Codrus  und  einigen  anderen  erzählt;  denn  es  handelt  sich  hier 
um  eine  noch  heutzutage  weit  verbreitete  Volkssage.  Man  spielt  allgemein 
auf  sie  an,  wenn  man  die  Geschichte  von  dem  Bauer  erzählt,  der  seinem 
Herrn  Wasser  darbot. 

Nicht  unerwähnt  lassen  will  ich,  dass  wir  es  del  Tuppo  verdanken, 
wenn  Masuccios  Werk  nicht  abhanden  gekommen  ist.  Hiervon  unterrichtet 
er  uns  in  seiner  Widmung  an  I[)polita  von  Aragonien,  der  er  die  erste 
Ausgabe  des  Novellino,  wie  auch  schon  Masuccio  diesen  zugeeignet  hat. 
selbst;  seine  Worte  sind:  „  .  . .  Venendo  tra  mano  per  mezzo  del  Parmisano 
Johan  Marco,  unico  scriptore  de  quante  littere  mai  fossero  al  mondo,  e 
regio  familiäre,  a  me  carissimo  amico,  me  parse  tal  libro  non  doversi  senza 
fama  teuere;  e  beuche  fosse  lo  originale  de  propria  mano  del  Auditore 
delaniato,  e  brusato  da  coloro  che  dentro  senteano  nova  de  loro  casa, 
Tingenio  mio  fo  maggiore  a  serbare  la  copia  ..." 

Um  uns  nun  den  fünfzig  Novellen  zuzuwenden,  so  erzählen  die  ersten 
zehn    von    verabscheuuugswürdigen  Thaten  Geistlicher,    die    zweiten   zehn 


38  Amalfi: 

vou  den  verderblichen  Wirkungen  der  Eifersucht,  die  dritte  Gruppe  von 
Ränken  der  Frauen,  die  vierte  Gruppe  abwechselnd  traurige  und  lustige 
Begebenheiten  und  die  fünfte  enthält  Geschichten  mit  höchst  tugendhaften 
Zügen,  sie  erzählt  grossmütige  Handlungen  hoher  Fürsten  und  anziehende, 
sowie  rührende  Vorfälle,  die  einen  heiteren  Abschluss  finden. 

Auch  dann,  wenn  man  die  behandelten  Motive  rein  genetisch  betrachtet, 
gewahrt  man  schon  leicht  eine  gewisse  Ähnlichkeit  mit  den  Stoffen  des 
Dekameron;  doch  will  ich  lieber  die  Erzählungen  einzeln  vornehmen. 
Der  Kürze  halber  sehe  ich  von  der  Inhaltsangabe  ab  und  führe  nur  die 
Nummer  an. 

1.  Nov.  Der  Vorgang  spielt  in  Salamanca  und  zwar  zur  Zeit  Ferdinands 
von  Aragonien. 

Es  wird  angegeben,  dass  „la  novella  meravigliosa  in  brevissimi  di  con 
veloce  fama  e  gran  piacere  per  tutto  el  castigliano  regno  fu  divulgata,  e 
da  poi  essende  in  le  nostre  italiche  parti  pervenuta".  Auch  im  esordio 
hatte  er  schon  angedeutet,  dass  diese  Geschichte  im  Königreich  Castilien 
stattgefunden  habe.  Hält  man  sich  also  an  Masuccios  Aussagen,  so  ist 
Spanien  die  Heimat  derselben,  doch  hat  er  sie  auch  so  litterarischer  Über- 
lieferung innerhalb  Italiens  zu  entnehmen  vermocht.  Solch  ein  freiwilliges 
Geständnis  ist  jedenfalls,  wenn  es  aufrichtig  ist,  ein  besserer  Führer  bei 
der  Bestimmung  der  Quelle,  als  blosse  Ähnlichkeit:  diese  bildet,  wenn 
nicht  gewichtigere  Argumente  liinzutreten,  keine  genügende  Stütze  für  die 
Behauptung,  dass  der  Verfasser  das  Original  selbst  benutzt  habe. 

Die  Quellen,  die  bei  Dunlop-Liebrecht  a.  a.  0.  S.  267  angegeben  werden, 
sind  folgende:  Le  Grand  IV,  252,  das  Fabliau  mit  dem  Titel:  Le  Sa- 
cristain  de  Cluni;  Gesta  Komanorum  engl.,  Cap.  XXXI;  Keller,  Li 
romans  des  sept  sages  (Tübingen,  1836)  S.  223ff.;  Diokl.  Leben,  Einl. 
S.  16;  Timoneda,  Patranuelo,  No.  3. 

Die  Geschichte  war  besonders  in  Frankreich  und  England  beliebt; 
von  hier  aus  verbreitete  sie  sich  weiter  und  wurde  dann  in  fast  allen 
europäischen  Sprachen  novellistisch  bearbeitet. 

Masuccios  Erzählung  hat  Saint-Denis  in  französischer  Sprache  nach- 
gebildet (s.  Toldo,  Contributo  alle  studio  della  novella  franc.^) 
Koma,  Loescher,  1895,  S.  ll'J).  Letzterer  bemerkt  zum  Ursprünge,  dass 
nicht  allein  das  bekannte  Fabliau  Jean  le  Chapelains  vom  Soucretain 
(s.  Mont,  R.  VI,  S.  107),  von  dem  es  in  dem  „Prestre  qu'on  porte  ou  de 
la  longue  nuit"  (ibid.  VI,  S.  1)  eine  gleichfalls  mittelalterliche  Redaktion 
giebt,  sondern  auch  drei  weitere  Fabliaux  (ibid.  V,  123;  136;  VI,  243) 
Bearbeitungen  des  gleichen  Stoffes  darstellen.  Für  fernere  Varianten  ver- 
weist er  aufBedier,  Les  fabliaux  etc.,  S.  425,  auf  die  Anmerkungen  bei 
Montaiglon  (Bd.  IV,  S.  1)  und  auf  die  Fiabe  u.  s.  w.  Pitres  No.  165. 

1)  Vgl.  die  Eecension  dieses  Buches  von  G.  Paris,  La  nouvelle  franc;.,  Joiirn.  des 
Sav.,  Mai-Juni  u.  s.  w.,  1895. 


Quellen  und  Parallelen  zum  „Novellino"  des  Salernitaners  Masuccio.  3!) 

2.  Nov.  Eine  abweichende  Fassung  dieser  Novelle,  entnommen  aus 
«einer  Hs.  der  Bibl.  Riccard.  (Cod.  Mise.  No.  2437,  cart.  in  fol.),  hat  der 
verstorbene  Imbriani  im  Giorn.  Nap.,  Bd.  IX,  Jan.-Febr.  1884,  unter  dem 
Titel:  Due  Novelle  u.  s.  w.  veröffentlicht;  wer  an  eine  kritische  Aus- 
gabe des  Novellino  herangehen  will,  muss  von  dieser  Handschrift  Notiz 
nehmen. 

Die  Begebenheit  trug  sicli  nach  Masuccio  in  Magna  (oder  Alemagna, 
Deutschland)  zu:  im  Mittelpunkt  derselben  steht  eine  Tochter  des  Herzogs 
von  Lanzhueta,  d.  i.  Landshut  (Herzogtum  Bayern.  1504). 

Es  scheint  sich  hier  um  eine  Volksschnurre  zu  handeln.  Auch  Pontano 
erzählt  sie  gegen  Schluss  eines  Caronte,  und  Settembrini  ist  der  Meinung, 
■er  habe  sie  aus  Masuccio  entlehnt,  nicht  umgekehrt.  Im  Dekameron 
ist  es  die  bekannte  Geschichte  vom  Bruder  Alberto  (IV,  2),  der  einer 
Prau  einredet,  dass  der  Engel  Gabriel  in  sie  verliebt  sei.  S.  ferner  Cent 
nouvelles  nouvelles  p.  Le  Roux  de  Lincy,  Paris,  Paulin,  1841,  Nov.  XIV: 
Malespini,  Duecento  Novelle  etc.,  No.  80;  Doni,  Novelle,  hsg.  von 
Bongi,  Lucca,  Fontana  1852,  No.  VII,  S.  28—30.  Steht  auch  in  der  Si- 
racusa  Paolo  Regios  als  erste  Novelle,  in  Imbrianis  Abhandlung  (Neapel, 
1885,  S.  12):  Prode  sacrilega  betitelt.  Letzterer  erwähnt,  dass  die 
Begebenheit  auch  von  Josephus.  Ant.  lud.  XVIII,  3  und  von  Bandello, 
Teil  III,  Nov.  11)  erzählt  worden  ist.  Casti  hat  sie  nacli  einem  französischen 
Muster  als  13.  seiner  Novelle  galanti  in  Oktaven  bearbeitet  (s.  auch 
Dunlop-Liebrecht,  a.  a.  0.  S.  258).  Aus  Masuccio  ferner  schöpfte  Aloise 
<lelli  Fabrizi:  der  Name  der  Heldin  in  seinen  drei  Gesängen  (A  chi  ha 
Ventura,  poco  senno  basta  u.  s.  w.)  lautet  Barbara. 

Unsere  Novelle  hat  Saint-Denis  wiederum  ins  Französische  übertragen 
(s.  Toldo  a.  a.  0.  S.  122).  Das  Motiv  von  der  goldenen  Schrift  begegnet 
auch  in  der  69.  Novelle  Morlinis,  wie  Toldo  hervorhebt. 

3.  Nov.     Der  Schauplatz  der  Begebenheit  ist  Catania. 
Hauptquelle  ist  Boccaccios  3.  Novelle  des  7.  Tages:  „Bruder  Rinaldo 

schläft  bei  seiner  Gevatterin;  der  Mann  überrascht  sie  in  ihrer  Kammer, 
und  man  macht  ihm  weiss,  dass  jener  seiner  Patin  die  Würmer  beschwöre." 
Zu  Boccaccios  Quellen  verweise  ich  hiermit  ein  für  alle  Male  auf  Landaus 
Werk  Die  Quellen  des  Dekameron,  Stuttgart  1884.  Auch  bei  Sacchetti 
steht  die  Geschichte;  in  seiner  207.  Novelle  wird  erzählt,  wie  ein  Minoriten- 
bruder  die  Frau  des  Buccio  Malpanno  zu  Amelia  beschläft,  hernach  aber 
seine  Hosen  zurücklässt  und  man  dem  Ehemann  vorredet,  dass  dies  die 
Hosen  des  heiligen  Franciscus  seien,  was  er  in  der  That  glaubt.  Unter 
•dem  Titel  Braccae  Divi  Francisci  findet  sich  diese  Erzählung  auch 
bei  Poggio  Fiorentino,  Facetiae,  hsg.  von  Sommaruga,  S.  225,  No.  231. 
Es  ist  das  bekannte  Thema  von  dem  eifersüchtigen  Gatten,  der  einen 
vom  Liebhaber  in  der  Eile  vergessenen  Gegenstand  im  Zimmer  findet  und 
an  diesem  die  Untreue  seiner  Frau  entdeckt. 


40         Amalfi:  Quellen  und  Parallelen  zum  „Novellino-  des  Salernitaners  Masuccio. 

In  dem  Fabliau:  Les  braies  au  Cordelier  ist  der  Liebhaber  wie 
gewöhnlich  ein  clerc,  aber  bei  dem  Betrüge  spielt  das  ehebrecherische 
Weib  die  Hauptrolle.  Sie  schärft  ihm  ein,  ihrem  Manne  zu  sagen,  dass 
es  sich  um  die  Hosen  eines  Franziskanerbruders  handele;  der  einfältige 
Ehemann  glaubt  dies  auch  und  übergiebt  sie  ihm  selbst  mit  heiterer  Miene. 
In  einigen  Punkten  stimmt  Masuccios  Erzählung  fast  wörtlich  mit 
Poggios  Facetiae  überein;  auch  richten  sie  beide  streng  über  die  scham- 
losen Mönche.  (S.  Rua,  Le  P.  N.  di  M.  G.  F.  Straparola,  Rom,  Loescher, 
1898,  S.  41  f.) 

Vgl.  ferner  Morlini,  Novellae  No.  62:  Apologie  pour  Herodote, 
Cap.  21,  3;  Dunlop-Liebrecht  a.  a.  0.  S.  207  und  S.  333;  Bedier  a.  a.  0. 
S.  407,  in  den  Erläuterungen  zu  dem  erwähnten  Fabliau  Les  braies  au 
cordelier,  das  er  trotz  einiger  Verschiedenheiten  mit  Philetaerus  und 
Myrmex  in  den  Metam.  des  Apulejus  IX,  17—20  (Ed.  Eyssenhardt,  Berlin, 
1869)  in  Beziehung  bringt.  Als  annähernde  Varianten  verweist  er  auf 
Bojardos  Orlando  innamorato,  auf  die  farce  de  Frere  Guillebert. 
tres  bonne  et  fort  joyeuse  (Bezeichnungen,  die  sie  durchaus  verdient) 
und  auf  Viollet-le-Duc,  Ancien  theätre  franrois,  Bd.  I,  S.  305  ff.  Des- 
gleichen nennt  er  den  „Calecon  apotheose''  in  Lafontaines  Singe, 
Florenz  1773,  Bd.  I,  S.  54;  La  Culotte  de  saint  Raimond  de  Penna- 
fort  in  den  Contes  ä  .  .  .  rire  . .  .  par  le  citoyen  Collier,  commandant 
des  croisades  du  Bas-Rhin,  neu  herausgegeben  von  de  Katrix,  Brüssel, 
1881,  S.  3,  und  die  Comptes  du  monde  adventureux,  hrsg.  v.  Felix 
Frank,  1878,  No.  28,  eine  Übersetzung  von  Masuccios  Erzählung  (vgl.  Tokio, 
a.  a.  0.  S.  108  und  S.  120). 

Die  Erzählung  steht  auch  bei  Sabadino  degli  Arienti,  No.  39,  sowie 
auch  in  den  Faeezie  inedite  von  Carbone,  No.  94,  die  mein  Freund 
St.  Prato  binnen  kurzem  mit  Einleitung  und  Anmerkungen  herausgeben 
wird. 

Zum  Teil  entspricht  sie  auch  der  früher  erwähnten  Novelle  von  Casti : 
Le  brache  di  San  (iriffone. 

Das  Motiv  von  dem  bejahrten  Manne,  der  ein  junges  Mädchen  heiratet, 
kehrt  bei  Fortini  (Nov.  di  antiqui  senesi,  London  1796,  Bd.  I,  No.  IX, 
S.  324  ff.)  und  in  zahllosen  anderen  Erzählungen  (Nelli  II,  Anfang;  ibid. 
S.  89  ff.,  etc.)  wieder. 

4.  Nov.  Der  Schauplatz  ist  nach  Sorrent  verlegt  und  die  Zeit  die, 
um  welche  Giacomo  della  Marca  die  Königin  Johanna  H.  heiratete. 

Unsere  Novelle  hat  grosse  Ähnlichkeit  mit  der  10.  Geschichte  des  6.  Tages 
im  Dekanieron:  „Bruder  Cipolla  verspricht  den  Bewohnern  einer  Land- 
stadt, ihnen  eine  Feder  des  Engel  Gabriel  zu  zeigen;  da  er  aber  an  deren 
Stelle  Kohlen  findet,  sagt  er,  sie  seien  von  denen,  mit  welchen  der  heilige 
Laurentius  geröstet  ward."  Auch  mit  der  1.  Geschichte  des  2.  Tages  zeigt 
sie  einige  Verwandtschaft:  „Martellino  stellt  sich  lahm  und  giebt  vor,  durch 


Drechsler:  „0  lass  mich  doch  hinein,  Schatz!"  41 

den  Körper  des  heiligen  Heinrich  geheilt  zu  werden.  Sein  Betrug  wird 
entdeckt;  er  wird  geschlagen  und  eingekerkert  und  ist  in  Gefahr  gehangen 
zu  werden;  endlich  aber  kommt  er  los."  Letztere  Geschichte  findet  sich 
mit  nur  geringen  Abweichungen  auch  in  der  Istoria  Trivigiana,  Buch  YIII, 
von  Giovanni  Bonifacio  erzählt. 

Masuccios  Novelle  steht  auch  bei  Sacchetti,  in  dessen  60.  Novelle 
erzählt  wird,  wie  Bruder  Taddeo  Dini,  als  er  am  Feste  der  heil.  Katharina 
in  Bologna  predigt,  wider  seinen  Willen  einen  Arm  derselben  zeigen  muss 
und  über  diesen  vor  versammelter  Gemeinde  einen  Scherz  macht.  Auch 
Desperiers  hat  diesen  Schwank  in  Nov.  121:  Du  moyen  u.  s.  w.  nach- 
geahmt. 

Von  Saint-Denis  giebt  es  wiederum  eine  französische  Bearbeitung 
unserer  Novelle;  sie  bildet  die  19.  Novelle  seiner  Sammlung  und  ist  über- 
schrieben: D'un  notable  moyne  qui  sous  ooleur  d'hipocrisie  abusa 
tout  le  peuple  d"un  pays. 

(Schluss  folgt.) 


„0  lass  mich  doch  hinein,  Schatz!" 

Vergleichung  eines  schottischen  und  eines  schlcsischeii  Volksliedes. 
Von  Dr.  Paul  Drechsler. 


Am  üppigsten  gedeiht  in  der  Volksdiclitung  wohl  das  Liebeslied.  In 
ihm  zeigt  die  Muse  aller  Zeiten  und  aller  Orten  dieselben  Züge.  Es  ist 
darum  nicht  zu  verwundern,  dass  aus  den  Minneliedern  des  schottischen 
Volksdichters  Robert  Burns  (1759—1796)  Töne  des  Festlandes  wie  die 
Stimmen  alter  Bekannten  an  unser  Ohr  schlagen.  Vergleichen  wir  eines 
der  Gedichte  des  schottischen  Dichters  mit  einem  Volksliede  aus  dem 
deutschen  Oberschlesien,  so  werden  wir  finden,  dass  an  so  weit  von- 
einander abliegender  Stelle  Verwandtes  in  die  Erscheinung  tritt,  ohne  dass, 
ausser  dem  gemeinsamen  Boden,  woraus  beides  spriesst,  an  einen  Zu- 
sammenhang auch  nur  im  mindesten  zu  denken  wäre. 

Schlesisclies  Volkslied. 
(Aus  Katscher  und  dem  angrenzenden  Langenau.) 

Schätzle,  bist  bös  oder  kennst  mich  nicht, 
Oder  ist  dies  dein  Fenster  nicht?  — 
Ich  bin  nicht  bös  und  kenn  dich  schon; 
Du  hast  einen  Rausch,  das  kenn  ich  schon. 


42  Drechsler: 

Hab  ich  einen  Rausch,  das  macht  der  Wein, 
Schätzle,  steh  auf  und  lass  mich  rein!  — 
Ich  steh  nicht  auf,  lass  dich  nicht  rein, 
Du  könntst  heut  Nacht  mein  Unglück  sein.  —  — 

Und  sollt  ich  heut  Nacht  dein  Unglück  sein, 
So  komm  ich  am  Tag  und  heiere  dich!  — 
Und  kommst  du  am  Tag  und  heierst  mich, 
So  bin  ich  imstand  und  mag  dich  nicht.  —  — 

Bist  du  imstand  und  magst  mich  nicht. 
Geh  ich  in  Wald  und  schneid  Ruten  ab; 
Und  wenn  ich  die  Ruten  geschnitten  ab. 
Geh  ich  zuhaus  und  mach  Besen  draus; 

Und  wenn  ich  die  Besen  gebunden  hab. 
Geh  ich  die  Strassen  auf  und  ab: 
Jungfern,  kommt  raus,  kauft  Besem  ab, 
Dass  ich  viel  Geld  zum  trinken  hab!  — 

Am  Fenster  der  Kammer,  in  der  sein  Schätze!  schon  zur  Rnhe  ge- 
gangen ist,  steht  der  Bursche  und  heischt  Einlass.  Er  klopft,  sie  erscheint 
nicht.  Hat  er  sich  im  Fenster  geirrt?  —  Zürnt  sie  oder  kennt  sie  ihn 
nicht?  —  Sie  hat  doch  sonst  schon  am  Fenster  sehnsüchtig  seiner  gewartet 
und  schnell  geöffnet.  —  Wohl  hat  sie  ihn  mit  dem  scharfen  Ohre  der 
Liebe  kommen  hören,  wohl  hat  sie  das  so  wohl  bekannte  Pochen  ver- 
nommen, aber  sie  kennt  ihn  zu  gut,  als  dass  sie  sich  täuschte:  er  kommt 
vom  Wein  und  ist  beraucht,  Sie  weiss:  liesse  sie  ihn  heute  Nacht  herein, 
es  wäre  ihr  Unglück.  — 

Wie  dramatisch  ist  das  Ganze  gehalten !  Durch  die  einfachsten  Mittel 
macht  uns  das  Lied  flüchtig  und  knapp  mit  den  Personen  und  ihrem  Ver- 
hältnis bekannt,  versetzt  uns  in  medias  res,  und  wie  scharf  zeichnet  es  in 
Rede  und  Gegenrede  den  Burschen  und  sein  Mädchen!  —  Brächte  er  sie 
durch  seine  Augenblicksstimmung,  die  an  die  Folgen  nicht  denkt,  durch 
seine  stürmischen  Liebkosungen  und  feurigen  Bitten  zu  Fall,  sie  würde 
ihn  verachten  und  nimmer  sein  Weib  werden.  Sie  sieht  klar  und  weiss, 
dass  schwaches  Nachgeben  und  Gewähren  in  Abhängigkeit  und  zumeist 
in  Schande  stürzt.  Nimmermehr!  Er  beteuere  und  drohe  mit  arger 
List,  aber  gehe!  Am  nächsten  Abend  kehrt  er  voll  Reue  und  Scham 
wieder.  Liebe  und  gesundes  Fühlen  haben  über  Rausch  und  Sinnenlust 
gesiegt. 

In  kürzerer  und  zum  Teil  abweichender  Fassung  treten  zu  unserem 
Liede  aus  Hoffmann  von  Fallersleben  und  Richter,  Schlesische  Volkslieder 
mit  Melodien  (Leipzig  1842),  No.  5()-58  (S.  89  f.).  No.  56  „Kurz  ab- 
gefertigt", aus  Rosenbach  im  Frankensteiner  Kreise,  aus  der  Breslauer 
und  Oppelner  Gegend,  enthält  einen  Dialog  zweier  Liebenden  unter  ähn- 
lichen Verhältnissen.  Sie  lässt  ihn  aber  dort  nicht  ein,  weil  er  auch  „zu 
einer  andern  geht."     Am  Schluss  droht  er: 


„0  lass  mich  doch  hinein,  Scliatz!"  43 

Sonst  werd'  ich  ein  Soldate, 
Marschieren  muss  ich  fort. 

Sie: 
(7)    Musst  du  gleich  fortmarschieren, 
Marschier  nur  immer  hin! 
Zieht  doch  eine  andre  Mutter 
Mir  auch  ein  frommes  Kind. 

In  No.  57,  aus  Kapsdorf  und  Trebnitz,  bleibt  die  Thür  einem  Buhlen 
verschlossen,  weil  sie  aus  seinen  stolzen  Reden  heraushört,  dass  er  der 
rechte  nicht  sei.     Er  droht  gleichfalls,  Soldate  zu  werden:  gut! 

Es  thut  mir  gar  nicht  leid; 

Ein'n  solchen  Vielmaulmacher 

Bekomm'  ich  allezeit.  — 

Ähnlich  ist  die  Abfertigung  in  No.  58  aus  Grabig.  Zu  vergleichen 
sind  damit  wieder  bei  Erk  und  Böhme,  Deutscher  Liederhort,  II.  (Leipzig 
1893),  S.  619ff.  die  Lieder  vom  Gassatengehen,  No.  814b  und  818a  und  b. 

Den  zum  Vergleich  herangezogenen  Liedern  fehlt  die  innige  Gemüts- 
tiefe unseres  Katscherer  Liedes;  sie  enthalten  mehr  äusserliche  Zuthaten. 
Drohung  und  schnipi)ische  Abfertigung.  Das  Gemütliche  bringt  ein 
böhmisches  Lied  aus  Strodenitz  bei  Budweis  in  schöner,  bündiger  Form 
zum  Ausdruck,  das  wir  aus  Hruschka-Toischer,  Deutsche  Yolkslieder  aus 
Böhmen,  Prag  1891,  No.  141b  (S.  180)  zur  Yergleichung  vollständig  her- 
setzen : 

„Dirndal,  host  g'hört  oder  kennst  mi  not,      „Ih  steh  not  auf,  loss  di  not  hinein, 
Oda  san  dos  deine  Pcnsta  not?"  Du  kuntst  heut  Nocht  mei  Unglück  sein." 

„Ich  steh  nit  auf,  ih  kenn  di  scho,  „Wenn  ih  heut  Nocht  dei  Unglück  bi. 

Du  hast  an  Rausch,  dos  siag  ih  scho.""       Ih  bi  im  Stand  und  heiroth  di." 
^Hob  ih  an  Rausch,  dös  macht  da  Wein,      „Du  bist  im  Stand,  du  heirothst  mi, 
Schön's  Dirndl,  steh  auf,  loss  mi  hinein!"      Ih  bi  im  Stand  und  pfeif  af  di." 

Hören  wir  nun  Burns  oder  vielmehr,  was  er  als  Bearbeitung  eines 
alten  Yolksliedes  bietet.  Man  vgl.  The  Peoples  Centenary  Edition  p.  401  f. 
Oh  Lassie,  Art  Thou  Sleeping  Yet?  —  Air,  —  Let  me  in  this  ae  night. 
(An  old  song,  modified  and  improved.)  Ich  suche  in  meiner  Übersetzung 
Form  und  Inhalt  des  Originals  möglichst  zu  wahren. 

Du  schläfst  wohl  schon,  lieb  Schätzel  mein? 
Sprich!  oder  sollst  du  wach  noch  sein! 
Es  lässt  mich  nicht  vom  Fenster  dein. 
Kam  gar  zu  gern  hinein,  Lieb! 

Chor. 
Lass  mich  hinein  die  eine  Nacht, 
Die  eine,  eine,  eine  Nacht, 
Erbarm  dich  diese  eine  Nacht 

Steh  auf  und  lass  mich  ein.  Lieb! 


44  Drechsler:  „0  lass  mich  doch  hinein,  Schatz!" 

Du  hörst,  wies  stürmt  und  ^iesst  mit  Macht ^), 
Kein  Stern  erhellt  die  dunkle  Nacht, 
Doch  Sehnsucht  hat  mich  hergebracht, 

Drum  lass  mich  doch  hinein,  Lieb! 

Es  schreckt  mich  nicht  des  Sturms  Gewalt, 
Das  Dunkel,  das  sich  um  mich  ballt; 
Doch  dass  dein  Herz  so  eisig  kalt, 

Ist  meines  Herzens  Pein,  Lieb!  — 

Ihre  Antwort. 
Sprich  nicht,  obs  nass  und  stürmisch  ist. 
Schilt  mich  nicht  kalt  mit  arger  List, 
Geh  hin,  woher  du  kommen  bist  — 
Ich  lasse  dich  nicht  ein,  Lieb! 

Chor. 
Ich  sag  es  dir  die  eine  Nacht,  Das  Wiesenblümchen  perlumtaut, 

Die  eine,  eine,  eine  Nacht,  Zertreten  bald  wie  schlechtes  Kraut, 

Ein-  für  allemal  die  Nacht,  Es  predigt  jedem  Mädchen  laut: 

Ich  lasse  dich  nicht  ein.  Lieb!  Das  wird  dein  Schicksal  sein.   Lieb! 

Der  Sturm  nicht,  der  im  Dunkel  droht.  Das  Vöglein,  froh  am  Sommertag, 

Bringt  irrem  Wandrer  grössre  Not,  Nicht  auf  der  Hut  vor  Voglers  Schlag. 

Als  einem  Mädchen  jung  und  rot  Gefangen  rufts  in  bittrer  Klag: 

Der  Männer  Schmeichelein.  Lieb!  Mitdir  wirds  auch  so  sein,  Lieb! 

In  beiden  Liedern  stimmen  Schauplatz,  Personen  und  ihre  Beziehungen 
und  Empfindungen  überein:  der  Liebhaber  verlangt  in  der  Nacht  Einlass. 
den  die  Geliebte  verweigert.  Dass  das  schottische  Mädchen  über  den 
drohenden  Verlust  des  Magdtums  sich  in  gesuchten,  wenn  auch  hochpoetischen 
Betrachtungen  ergeht,  ist  gewiss  Burns  Zuthat.  Von  ihm  rührt  wohl  auch 
die  Fassung  des  Refrains  her,  der,  bei  lustigem  Gelage  vom  Chore  gesungen, 
sicherlich  recht  wirkungsvoll  ist.  Die  ursprüngliche  Fassung  der  alt- 
schottischen Weise,  die  der  Dichter  „modified  and  improved"  hat,  hat  sicli 
wohl  nicht  allzuweit  von  der  schlesischen  entfernt. 

In  dem  schlesischen  Liede  wechselt  in  lebendiger  Form  Rede  und 
Gegenrede  (6  :  (S  Zeilen),  bis  zuletzt  der  Bursche  den  Haupttrumpf  ausspielt, 
er  wolle,  falls  sie  ihn  nicht  einlässt,  sich  dem  Trünke  ergeben  und  die 
Mittel  dazu  durch  Besenbinden  (ein  niedriges  und  verächtliches  Geschäft) 
erwerben.  Sie  lässt  ihn  ruhig  reden  und  schweigt.  Burns  legt  seinem 
Burschen  drei  Strophen  hintereinander  in  den  Mund,  worauf  das  Mädchen 
mit  vier  ihre  Weigerung  ausführlich  begründet.  Ob  dieses  Verhalten  der 
Mädchen  einen  Schluss  auf  den  beiderseitigen  Volkscharakter  zulässt,  wäre 
eine  müssige  Frage.  Zeigt  das  schlesische  Lied  endlich  grössere  dramatische 
Lebendigkeit    und   lehnt  es  sich  ausschliesslich  ans  Menschenleben  an,    so 


1)  Man  vgl.  Hoffmann-Eichter.  No.  56,  Str.  4. 

Bin  ich  nicht  zu  dir  kommen 
Bei  Regen,  Schnee  und  Wind? 


Tienken:  Kulturgeschichtliches  aus  den  Marschen.  45 

setzt  Biirns  schönes  Lied  liebevoll  gezeichnete  Naturbilder  in  wirksame 
Beziehung  zu  dem  Seelenleben  des  um  ihre  Unschuld  besorgten  Mädchens. 
Beide  Erzeugnisse  des  Yolksgeistes  gleichen  sich  in  vielem,  in  vielem 
bieten  sie  Verschiedenheiten,  aber  beide  sind  scharfe  Spiegelbilder  des 
Volkstums,  dessen  Grundzüge  auch  „in  entgegengesetzten  Hemisphären" 
dieselben  sind.  So  ist  unsere  Vergleichung  ein  Beweis  für  E.  H.  Meyers 
Worte:  „Das  deutsche  Liebeslied  hat  insofern  einen  internationalen  Zug, 
als  es  die  tiefsten  Gefühle  mit  dem  fremden  teilt;  aber  diese  erwachsen 
doch  bei  den  verschiedenen  Völkern  aus  einer  alten  Verschiedenheit  des 
Gemüts  und  der  Lebenslage."  Deutsche  Volkskunde,  Strassburg  18i)<S, 
S.  322. 


Kulturgeschichtliches  aus  den  Marschen 
am  rechten  Ufer  der  Unterweser. 

Von  A.  Tienken. 


Land  und  Leute. 

Bis  um  die  Mitte  dieses  Jahrhunderts  waren  die  Marschen  als  eintönig 
und  langweilig  verrufen,  obwohl  niemand  sie  eigentlich  recht  kannte.  Wer 
reisen  wollte,  der  sah  nur  am  Rhein,  in  der  Schweiz  oder  mindestens  in 
den  deutschen  Mittelgebirgen  ein  würdiges  Ziel.  Die  Marschen  zu  besuchen, 
fiel  keinem  Menschen  ein;  „eine  einzige  weite  Ebene  ohne  Abwechselung, 
ein  paar  Wiesen,  feucht  und  sumpfig,  ein  paar  verkrüppelte  Bäume,  das 
ist  alles",  damit  waren  sie  ein  für  allemal  abgefertigt.  So  kam  es,  dass 
die  Marschen  für  den  grössten  Teil  unseres  Volkes,  einschliesslicli  der 
Gebildeten,  eine  völlige  terra  incognita  waren. 

Das  ist  jetzt  anders  geworden.  Es  ist  das  Verdienst  meines  verehrten 
Heimatsgenossen  Hermann  Allmers  und  neben  ihm  Klaus  Groths,  die  ruhige 
Schönheit,  die  stille  Poesie  der  Marschen  entdeckt  und  durch  ihre  herr- 
lichen Werke  den  weitesten  Kreisen  bekannt  gemacht  zu  haben. 

Mit  Leichtigkeit  ist  der  Marschbewohner,  besonders  wenn  noch  echtes 
Friesenblut  in  seinen  Adern  rollt,  von  dem  nachbarlichen  Geestbewohner 
zu  unterscheiden.  Er  ist  korpulent  und  breitschultrig,  mehr  gross  als 
klein,  blonden  Haares  und  blauen  Auges.  Hände  und  Füsse  sind  stark 
ausgebildet,  das  ovale  Gesicht  leicht  gerötet.  Gleich  dem  stammverwandten 
Holländer  ist  er  unglaublich  phlegmatisch  und  durch  und  durch  Verstandes- 
mensch; es  niuss  schon  schlimm  kommen,  wenn  er  seine  kaltblütige  Ruhe, 
seinen  würdevollen  Ernst  aufgeben  soll.     Er  hasst  alles  Neue,  und  nur  mit 


46 


Tienkeii: 


frosser  Mühe  ist  er  für  etwas  zu  interessieren,  das  bisher  ausserhalb  seines 
Gedankenkreises  lag.  Von  einem  vernünftigen  Gemeinsinn  findet  man 
keine  Spur;  hartnäckig  widersetzt  er  sich  aus  i)urem  Konservatismus  und 
thörichter  Oppositionslust  öffentlichen  Verbesserungen,  auch  wenn  er  ihre 
Notwendigkeit,  ihren  Nutzen  einsieht.  So  fanden  selbst  die  Chausseen  bei 
manchen  Hausleuten  den  schroffsten  Widerstand,  obwohl  sie  nirgends 
weniger  zu  entbehren  sind  als  in  den  Marschen,  deren  Naturwege  im 
Herbst,  Winter  und  Frühling  nicht  selten  völlig  unpassierbar  sind'). 
„Sund  use  Ölen",  meinten  sie,  „so  lang  dör  den  Dreck  kämen,  kämt  wi 
dr  ok  noch  dör;  worum  brückt  wi  dat  beter  to  hebben?"^) 

Muss  man  so  den  Friesen  wegen  seiner  Vorliebe  für  das  Alther- 
gebrachte, besonders  wenn  dieses  schlecht  und  überlebt  ist,  tadeln,  so 
muss  man  ihn  andererseits  doch  auch  wieder  dazu  beglückwünschen.  Mit 
Argusaugen  wacht  er  über  seinen  Rechten  und  Freiheiten.  Und  nicht» 
erregt  ihn  mehr,  als  sie  angetastgt  zu  sehen.  Da  lässt  er  kein  Mittel  un- 
versucht, da  scheut  er  weder  Mühe  noch  Kosten,  um  sie  zu  retten.  Auch 
das  ist  gewiss  nicht  immer  richtig,  aber  würde  der  Friese  sich  während 
des  Mittelalters  von  der  Unfreiheit  haben  freihalten  können,  wenn  er  nicht. 
so  energisch  für  seine  Freiheit,  sein  Recht  eingetreten  wäre? 

Vor  allem  aber  ist  bei  einer  Charakteristik  des  3Iarschbewohners  sein 
unsagbarer  Stolz  nicht  zu  vergessen.  Stolz  ist  er  namentlich,  besonder» 
der  reiche  Bauer,  auf  seine  fruchtbare  Heimat,  die  er  um  keinen  Preis 
für  eine  andere  dahingehen  möchte,  am  allerwenigsten  für  die  benachbarte 
Geest.  Von  dieser  und  ihren  Bewohnern  redet  er  nur  mit  einem  gewissen 
Bedauern,  zum  Teil  mit  Verachtung.  Mau  erzählt  sich  hierüber  eine 
Anekdote,  die  charakteristisch  genug  ist,  um  hier  Platz  zu  finden:  Ein 
junges  Marschenkind  fühlt  einen  unwiderstehlichen  Drang  in  sich,  ein 
wenig  in  der  Welt  sich  umzuschauen,  aber  der  Vater  weiss  ihn  davon 
abzubringen,  indem  er  ihm  zu  bedenken  giebt:  „Sü  Junge,  hier  is  dat  all 


1)  Eine  kleine  Weide  in  der  Nähe  Rechtenfleths  heisst  im  Volksmunde  „Hülpegars"' 
(Hilfe  Gottes).  Die  von  Bremerhaven  kommenden  Fuhrleute  fassten,  wenn  sie  sie  erreicht 
hatten  neuen  Mut  und  meinten,  wenn  sie  mit  Gottes  Hilfe  so  weit  gekommen  wären, 
würden  sie  ja  wohl  auch  noch  weiter  kommen.  -  Um  die  Mitte  dieses  Jahrhunderts, 
konnte  die  Leiche  eines  rechtenflether  Bauern  nur  durch  ein  Vorspann  von  zwölf  Pferden 
und  stete  Reinigung  der  Räder  von  der  wie  Pech  anklebenden  Erde  auf  den  Kirchhof 
überführt  werden. 

2)  Ein  köstliches  Geschichtchen  weiss  in  dieser  Beziehung  Allmers  (Marschenbuch 
S  453)  zu  erzählen-  Das  ergötzlichste  Beispiel  von  Vorsicht,  Misstrauen  gegen  Neuerungen 
und    echtem  Konservatismus    unserer  Marschbewohner    lieferte  jedenfalls   ein  angesehener 

'  Landmann  in  Osterstade,  der  als  pflichtgetreuer  Deichbeamter  seiner  Zeit  bei  der  betreffenden 
Wasserbaubehörde  allen  Ernstes  gegen  den  eben  in  Angriff  genommenen  Suezkanal  pro- 
testieren zu  müssen  glaubte,  weil  man  gar  nicht  wissen  könne,  ob  unseren  Mooren  dadurch 
auch  Wasser  zugeleitet  werde.  Jedenfalls  würde  ein  Protest  nicht  schaden,  meinte  er.  - 
Wo  aber  der  bedenkliche  Suezkanal  in  der  Welt  lag,  davon  hatte  der  wackere  und  wach- 
same Deichbeamte  freilich  nicht  die  leiseste  Ahnung." 


Kulturgeschichtliches  aus  den  Marschen.  47 

Marsch  uu  de  ganze  aniier  Welt  is  man  Geest:  wat  wullt  du  nu  in  de  Welt 
dohn?"  Und  diesem  analog  heisst  es  von  einem  Geestbewohner  gering- 
schätzig: „He  is  man  van  de  Geest." 

Bezüglich  der  Wm'ster  Bauern  ist  noch  hinzuzufügen,  dass  sie  sich 
nicht  immer  des  besten  Rufes  erfreuten.  Sie  galten  für  schlechte  Wirte, 
für  Spieler  und  Trinker,  andererseits  aber  auch  wieder  für  stolze  Aristo- 
kraten.    Am  besten  illustriert  dies  w^ohl  folgender  Spottvers: 

„Dag  un  Nacht  besapen, 

Dack  un  Gebe!  apen, 

Vo  't  Hus  en  grot  Wapen  — 

So  kann  man  de  Wuster  Buren  drapen." 

Und  sicherlich  liaben  diese  Reime  einen  Kern  von  Wahrheit  enthalten, 
denn  von  ihrer  Virtuosität  im  Trinken  und  Tollkühnheit  im  Spiel  weiss 
Allmers  manch  Stücklein  zu  erzählen.  —  Jetzt  aber  unterscheidet  der 
Wurster    sich    in  nichts  mehr  von   den  Bewohnern  der  anderen  Marschen. 

Die  Familie  und  ihre  Feste. 

Gemäss  dem  oft  von  ihm  angewandten  Sprichwort  „En  goden  Naber 
is  beter,  as  en  faren  Fründ"  ist  der  Marschbewohner  stets  auf  ein  gutes 
Verhältnis  mit  seiner  Nachbarschaft  bedacht,  umsomehr  als  er  derselben 
auch  nur  zu  oft  zu  Hilfeleistung  oder  auch  in  Krankheits-  und  Todesfällen 
bedarf.  Und  es  ist  in  der  That  wohlthuend,  zu  sehen,  mit  welch  rührender 
Teilnahme  und  selbstloser  Bereitwilligkeit  man  bei  solchen  Gelegenheiten 
einander  zu  helfen  pflegt.  Auch  bei  den  Familienfesten  zeigt  sich  dieses 
gute  Nachbarschaftsverhältnis.  Da  ist  es  ganz  selbstverständlich,  dass  der 
reiche  Hofbesitzer  seinen  Nachbar,  und  sei  er  auch  noch  so  arm  und 
gering,  einladet,  und  dass  er  umgekehrt  auch  der  Einladung  des  ärmeren 
Nachbarn  Folge  leistet.  Thäte  er  beides  nicht,  würde  er  sich  einer 
schweren  Beleidigung  schuldig  machen. 

Noch  in  den  '20 er  und  30er  Jahren  dieses  Jahrhunderts  w^ollte  die 
Sitte,  dass  befreundete  Hofbesitzerfamilien  mindestens  allmonatlich  einmal 
sich  durch  expresse  Boten  nach  dem  gegenseitigen  Befinden  erkundigten. 
Eine  Unterlassung  dieses  Höflichkeitsaktes  galt  als  absichtliche  Entfernung. 
Kein  Besuch  fand  statt,  der  nicht  vorher  angemeldet  worden  wäre,  und 
bis  in  die  kleinsten  Details  richtete  sich  hierbei  alles  nach  Rang,  Ver- 
mögen und  Alter.  x\us  den  geringfügigsten  Verstössen  in  dieser  Hinsicht 
erwuchsen  bei  der  Leichtverletzlichkeit  des  bäuerischen  Stolzes  die  er- 
bittertsten Feindschaften.  Dass  aber  der  Bauer  und  besonders  seine  Frau 
und  Töchter  heute  noch  ebenso  empfindlich  sind  für  alle  Fragen  der 
Etikette,  erfuhr  ich  vor  einigen  Jahren,  indem  eine  Bauerntochter  sich 
darüber  beklagte,  dass  eine  Freundin  bei  ihrem  letzten  Besuch  „nur"  das 
schwarze  Kleid  getragen,  während  sie  bei  einer  anderen  Freundin  im  roten 
(einem  besseren)    Kleide    erschienen    sei.     Dass    unter    diesen  Umständen 


4g  Tienken: 

ein  Besuch  nur  geringen  Genuss  zu  bieten  vermag,  ist  klar,  ebenso  liegt 
auf  der  Hand,  dass  ein  Fremder,  mag  er  auch  in  der  Stadt  zu  den  Salon- 
löwen gehören,  hier  schwerlich  fertig  wird,  ohne  Anstoss  zu  erregen. 

Mag  aber  diese  peinliche  Beobachtung  der  Etikette  auch  lächerlich 
erscheinen,  nach  einer  Richtung  hat  sie  doch  ganz  vorzüglich  gewirkt:  sie 
hat  dem  Bauern  ein  Ehrgefühl  anerzogen,  dessen  Verletzung,  mag  sie  her- 
rühren von  wem  sie  will,  ihn  in  die  heftigste  und  anhaltendste  Erregung 
versetzt.  Schwere  und  gemeine  Verbrechen  gehören  hier  zu  den  grössten 
Seltenheiten;  mit  dem  Gerichte  hat  der  Marschbewohner  nur  ungern  und 
nur  selten  zu  thun.  Hat  er  sich  aber  trotzdem  etwas  zu  Schulden  kommen 
lassen,  so  dass  ihm  Gefängnis-  oder  gar  Zuchthausstrafe  droht,  so  setzt  er 
alles  daran,  dass  sie  in  eine  Geldstrafe  umgewandelt  werde.  Gelingt  ihm 
das  nicht,  so  fiieht  er  nicht  selten  lieber  und  wandert  aus.  „Ick  harr  jo 
geern  dusend  Daler  un  mehr  gewen,  wenn  he  man  nich  sitten  schull", 
äusserte  weinend  vor  Scham  und  Wut  ein  alter  Marschbauer,  als  er  von 
einer  Carcerstrafe  seines  studierenden  Sohnes  erfuhr.  Das  Geschichtchen 
ist  bezeichnend.  Zu  den  allergrössten  Seltenheiten  gehört  auch,  dass  eine 
Bauerntochter  sich  nicht  rein  erhält  bis  zu  ihrer  Verheiratung.  Freilich 
würde  auch  jede,  die  sich  in  diesem  Punkte  etwas  zu  Schulden  kommen 
liesse,  allgemeine  Verachtung  treffen  und  dem  Gerede  der  Leute  auf  lange 
Zeiten  ein  willkommener  Gegenstand  sein.  In  den  unteren  Klassen  freilich 
ward  es  mit  der  jungfräulichen  Ehre  leider  nicht  so  genau  genommen. 

Eine  eigentliche  Prozesssucht  kann  man  dem  Marschbewohner  zwar 
nicht  vorwerfen,  glaubt  er  aber,  dass  ihm  Unrecht  geschieht,  so  streift  er 
mit  einem  Schlage  alles  Phlegma  ab  und  verfolgt  sein  Recht  bis  zur 
letzten  Instanz.  Er  ist  dann  die  Verkörperung  des  alten  Spruches:  „Nach 
einem  Lot  Recht  soll  man  das  beste  Pferd  im  Stall  zu  Schanden  jagen." 
Und  wenn  es  auch  nicht  zur  Anrufung  der  Gerichte  kommt,  so  ist  doch 
immer  ein  erbitterter  Hass  die  Folge,  dem  man  vor  allem  durch  eine 
sorgfältige  Übergehung  bei  der  Einladung  zu  Festen  aller  Art  Ausdruck 
verleiht.  Auch  erweitert  sich  bei  dem  grossen  Familiensinn  der  Marsch- 
bewohner ein  anfangs  persönlicher  Zwist  nicht  selten  zu  einer  allgemeinen 
Familien-  und  Gescljlechterfeindschaft,  an  der  selbst  das  Gesinde  zuweilen 
Anteil  nimmt. 

Wenn  W.  H.  Riehl  schreibt:  „In  Gegenden,  wo  noch  alte  Bauernsitte 
herrscht,  sind  die  aus  persönlicher  oder  Standespolitik  geschlossenen  Ehen 
unter  den  Bauern  gewiss  im  Verhältnis  ebenso  häufig  als  die  politischen 
Ehen  unter  der  hohen  Aristokratie.  Erst  kommt  der  Güterverband  und 
dann  der  Herzensverband",  so  hat  er  damit  nicht  zum  wenigsten  für  unsere 
Marschen  recht.  Es  würde  dem  Hofbesitzer  eine  „ewig  schmerzliche 
Schmach"  sein,  seine  Tochter  an  einen  weniger  Besitzenden,  an  einen 
Kötner,  der  für  ihn  nur  „de  littje  Mann"  ist,  zu  verheiraten.  Ebenso 
wenig  kommt  es  vor,  dass  ein  junger  Bauer  ein  armes  und  niederer  Klasse 


Kulturgeschichtliches  aus  den  Marschen.  49 

entstammendes  Mädchen,  wenn  es  auch  noch  so  viele  Yorzüge  hätte,  zu 
seiner  Frau  macht.  Meistens  beschliessen  —  auch  heute  noch  —  die 
beiderseitigen  Eltern  die  betreffende  Verbindung,  bei  der  die  Mitgiftsfrage 
natürlich  die  Hauptrolle  spielt,  die  Hauptbeteiligten  aber,  die  jungen  Leute, 
gar  oft  mit  keinem  Worte  gefragt  werden,  ob  sie  überhaupt  Lust  haben, 
den  Lebensweg  Seite  an  Seite  zurückzulegen.  „De  Lew  will  woU  näkämen", 
damit  beruhigen  sich  die  Eltern. 

Schon  in  der  ersten  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts  fand  gegen  Er- 
legung einer  bestimmten  Geldsumme  —  „ad  pias  causas"  —  die  Trauung 
zuweilen  im  Hochzeitshause  statt.  Xicht  selten  ging  sie  erst  spät  nach- 
mittags vor  sich;  da  das  aber  für  den  Prediger  viele  Unannehmlichkeiten 
mit  sich  brachte,  so  wurde  in  einer  Verordnung  vom  15.  Dezember  1755 
bestimmt,  dass  der  Pastor  zur  Haustrauung  nicht  verpflichtet  sei,  wenn 
diese  erst  nach  1  Uhr  nachmittags  stattfinden  solle ^). 

Schon  früh  glaubten  die  Behörden  gegen  den  bei  Gelegenheit  der 
Hochzeiten  entfalteten  Luxus,  w^ie  gegen  die  hierbei  zu  Tage  tretende 
Wildheit  einschreiten  zu  müssen.  So  ergingen  unter  dem  29.  Juli  1729 
und  23.  September  1750  zwei  Verordnungen,  welche  die  Zahl  der  Hochzeit- 
gäste normieren  und  die  Konsumtion  der  Festgetränke  auf  ein  bestimmtes 
Mass  beschränken  sollten.  Beide  Verordnungen  blieben,  wie  eine  andere 
vom  9.  August  175(5  selbst  zugiebt,  erfolglos.  Darum  wurden  die  ersteren 
denn  auch  durch  die  letzterwähnte  wieder  aufgehoben  und  die  alte  Freiheit 
wieder  hergestellt^). 

Das  führte  dann  in  der  Folge  bald  dahin,  dass  eine  Hausmanns- 
Hochzeit,  wenn  es  was  rechtes  sein  sollte,  mindestens  drei  Tage  dauern 
musste.  Meilenweit  in  der  Runde  wurden  die  Verwandten  und  Freunde 
geladen,  ebenso  natürlich  die  gesamte  Dorfbevölkerung,  einerlei  ob  arm 
oder  reich.  Allein  die  etwaigen  Feinde  und  deren  Familien  wurden  über- 
gangen. So  vereinigten  sich  bei  Gelegenheit  einer  Hochzeit  nicht  selten 
über  1000  Personen  in  einem  Hause,  dem  dadurch  natürlich  ausserordent- 
liche Kosten  erwuchsen,  denn  alle  wollten  drei  volle  Tage  hindurch  mit 
Lebensmitteln  versorgt  sein.  Dass  dieses  Ziel  aber  nur  mit  einem  Opfer 
von  zwei  oder  drei  fetten  Ochsen  und  grossen  Fässern  Weines,  Bieres  und 
Branntweins  zu  erreichen  war,  wird  mehr  als  einmal  berichtet. 

Eine  Eigentümlichkeit,  besonders  der  südosterstadischen  Hochzeiten 
waren  in  früherer  Zeit  die  Stallburschen.  Diese  waren  meistens  junge 
Knechte,  welche  ungeladen  erschienen.  Doch  zogen  es  nicht  selten  auch 
Bauernsöhne  vor,  sich  als  Stallburschen  in  den  dunklen  Ecken  und  Ställen 
zu  amüsieren,  anstatt  sich  in  den  ihnen  zukommenden  Gastzimmern  auf- 
zuhalten.     Die    Stallburschen    erschienen    gewöhnlich    in    allerlei    ebenso 


1)  G.  H.  Pratje,  Die  Herzogtümer  Bremöu  und  Verden.    Bremen  1757.   I,  S.  435f. 

2)  Ebenda  S.  437. 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1899.  ^ 


oO  Tienken : 

grotesken  wie  komischen  Vermummungen.  Ihr  Hauptvergnügen  bestand 
in  Neckereien  verschiedenster  Art  und  endlich  in  der  regen  Teihiahme  au 
der  Schlussprügelei,  „auf  die  man  sich  schon  lange  vorher  freute,  vor- 
bereitete, Partei  anwarb  und  passende  Knüppel  aussuchte"  (Allmers). 
Gegen  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  stand  das  Stallburschenwesen  noch 
in  hoher  Blüte  und  verlieh  den  osterstader  Hochzeiten  nicht  eben  den 
besten  Ruf.  Umsomehr  war  ein  um  die  angegebene  Zeit  in  eine  oster- 
stader Gemeinde  versetzter  Pastor^)  erstaunt,  als  er  gelegentlich  einer 
Hochzeit  nichts  von  dem  üblen  Treiben  der  Stallburschen  bemerkte.  Er 
wandte  sich  deshalb  an  einen  angesehenen  Bauern  und  meinte:  „Ich  habe 
so  viel  von  den  osterstader  Stallburschen  gehört,  aber  ich  habe  ja  gar 
keine  gesehen;  sind  vielleicht  keine  da?"  Dieser  machte  ein  verschmitztes 
Gesicht:  „Ja,  Herr  Pastor,  dar  sünd  wekke.  aber  de  sünd  nich  hier  bäben 
appe  Deel,  de  sünd  nedden  in  Stall;  —  wöt  Se  mal  sehn?"  —  „Ja,  sehen 
möchte  ich  sie  wohl  .  .  .  .  "  „Goot!  denn  gähn  Se  hier  man  sitten,  hier 
vo  d'u  Musikantendisch."  Nachdem  der  Pastor  seinen  Sitz  eingenommen 
hatte,  ging  der  Bauer  vor  die  Ställe  und  rief  die  Stallburschen  zusammen : 
„Hört  mal  Kinners,  de  Herr  Pastor  will  jo  mal  sehn;  —  ick  will  nu  en 
Marsch  bestellen  un  denn  marschiert  ji  när  Reeg  an  em  vöbi  un  mäkt  em 
'ne  Verbeugung.  Wöt  ji  dat?"  —  „Ja,  ja;  man  to",  schrie  es  im  Chorus. 
Der  Platz  ward  für  die  Stallburschen  geräumt,  die  Musik  intonierte  einen 
flotten  Marsch,  nach  dessen  Klängen  die  Stallburschen,  etwa  20 — 25  Mann, 
an  dem  Pastor  vorüberdefilierten.  —  Jetzt  sind  die  Stallburschen  längst 
vergessen,  die  Hochzeiten  überhaupt  ruhiger,  anständiger  und  gemütlicher 
geworden:  sie  sind  immer  nur  eintägig,  wenngleich  die  Zahl  der  Gäste  oft 
noch  mehr  als  1000  Personen  beträgt. 

Heute  geschieht  die  Einladung  meistens  vermittelst  eleganter  Karten; 
in  früherer  Zeit  wurde  zu  diesem  Zwecke  ein  eigener  „Hochtidsbidder" 
ausgesandt.  War  die  Hochzeit  gross,  dementsprechend  die  Zahl  der  Ein- 
ladungen bedeutend  und  die  Entfernungen  weit,  so  stellte  man  ihm  auch 
wohl  ein  Pferd  zur  bequemeren  und  schnelleren  Erledigung  seines  überall 
Freude  erregenden  Auftrages.  Ich  kenne  sie  noch,  die  alten  „Hochtids- 
bidder": mit  bekränztem  Hute,  in  der  Rechten  die  mit  zahllosen  und  in 
allen  Farben  schillernden  Bändern  geschmückte  Reitpeitsche  schwingend, 
sprengten  sie  in  flottem  Trabe  vor  die  zum  Windfang  ^)  führende  Doppel- 
thür.  Hier  richteten  sie,  ohne  vom  Pferde  zu  steigen,  entblössten  Hauptes 
ihren  Auftrag  aus,  nachdem  sich  sämtliche  Hausbewohner  um  sie  ver- 
sammelt hatten,  was  niemals  sehr  lange  dauerte.  —  Mit  vieler  Mühe  habe 
ich    mir    noch   zwei  solcher  Einladungen  im  Wortlaut  verschaffen  können. 

1)  Es  war  der  in  Sandstedt  amtierende  Pastor  Biedenweg,  der  Grossvater  Hermann 
Allmers',  nach  dessen  Erzählung  ich  denn  auch  diese  kleine  Schilderung  niedergeschrieben 
habe. 

2)  S.  nächsten  Abschnitt. 


Kulturgeschichtliches  aus  den  Marscheu. 


51 


Eine    davon    mag    liier    Platz    finden, 
schützen: 

„Hier  komm'  ich  her  geschritten, 
Hätf  ich  ein  Pferd,  so  war  ich  geritten: 
Dieweil  ich  aber  das  nicht  hab", 
Muss  ich  wandern  bei  Stecken  und  Stab. 
Hier  stelle  ich  meinen  Fuss  und  Stab; 
Meinen  Hut,  den  nehm'  ich  ab.  — 
Bin  abgesandt  und  ausgefertigt  mit 

freundlichem  Gruss 
Von  dem  Bräutigam  (Name)  und  dessen 

Braut  (Name): 
Sie  wollten  am  Freitag  ihren  Ehrentag 

halten : 
Sie  möchten  so  freundlich  sein  und  sie 

dazu  besuchen 
Und  mitzufeiern: 
Dazu  sämtlich  Hausgesinde 
Nachmitttigs  1  Uhr  im  Hochzeitshause.  — 
Hab'  ich  nun  noch  welche  vergessen, 
Etwa  die  in  Ecken  und  Winkeln  stecken? 
Hab'  ich  solche  nicht  genannt, 
So  sind  sie  doch  von  mir  gemeint.  — 
Viel  Lustbarkeit  soll  da  gegenwärtig 
sein: 
Denn  es  werden  geschlachtet  zwanzig 

fette  Ochsen 
Und  Schafe  und  Rinder  auch  nicht 

minder. 


sie    vor    der  Vergessenheit    zu 

Einen  Jäger  auf  dem  See 

Und  einen  Fischer  auf  dem  Schnee; 

Und  was  diese  beiden  nicht  werden 

fangen. 
Das  lassen  sie  aus  Hamburg  oder 

Bremen  langen. 
Da  werden  sie  auch  bekommen 
Von  zwölf  Malter  Weizen  feine  Butter- 
kuchen, 
Und  an  Bier,  Wein  und  Branntewein 
Soll  auch  kein  Mangel  sein. 
Sodann  thu'  ich  noch  die  Jungfern  und 

Junggesellen  warnen. 
Dass  sie  nicht  miteinander  in  Ecken  und 

Winkeln  stehen: 
Denn  die  Ecken  und  Winkel  sind  ver- 
gänglich, 
Und  die  schönen  Jungfern  werden  hernach 
kränklich.  — 
Mehr  weiss  ich  nicht  zu  sagen: 
Gestern  Abend,  als  ich  wollte  studieren, 
Da  kamen  die  jungen  Mädchen  und 

thäten  mich  verführen: 
Da  hab  ich  bei  ihnen  gesessen 
Und  das  Studieren  ganz  vergessen.  — 
Doch  endlich,  eins  nicht  zu  vergessen: 
Dass  man  meinen  Stock  mir  thut 

verbessern.'' 


Sie  werden  auch  zwei  Männer  haben: 

Es  bestand  nämlich  die  Sitte,  dass  in  jedem  Hanse,  das  der  Hochtids- 
bidder  betrat,  ihm  entweder  ein  buntes  Band  an  den  Stock  geheftet  oder 
ihm  dafür  ein  Geldgeschenk  gemacht  wurde.  — 

Die  Fahrt  zur  Civiltrauung  bietet  stets  eine  willkommene  Gelegenheit 
zu  mancherlei  Neckerei.  Da  wird  ein  Seil  über  die  Strasse  gespannt  und 
so  der  mit  rasender  Geschwindigkeit  —  im  allgemeinen  ist  der  Marscli- 
bauer  für  eine  unnütze  Anstrengung  seiner  Pferde  nicht  zu  haben,  aber 
hier  wie  bei  allen  besonderen  Gelegenheiten  überhaupt  macht  er  eine 
Ausnahme  —  heransausende  „Hochtidswagen"  zum  Halten  genötigt.  Und 
erst  nachdem  der  Bräutigam  ein  gutes  Trinkgeld  geopfert  hat,  wird  der 
Weg  freigegeben.  In  früherer  Zeit,  als  die  Fahrt  zum  Standesarat  meistens 
noch  auf  dem  Leiterwagen  zurückgelegt  wurde,  geschah  es  auch  wohl, 
dass  unbefugte  Häude  die  Verbindung  zwischen  dem  Vorder-  und  Hinter- 
wagen lösten,  was  natürlich  zur  Folge  hatte,  dass  nach  kürzerer  oder 
längerer  Fahrt  der  Wagen  auseinanderzog  und  seine  Insassen  auf  unan- 
genehme Art  mit  dem  Erdboden  Bekanntschaft  machten.  War  der  Weg 
trocken,   so  war  der  Schaden,    w^enn  nicht  ernstere  Körperverletzungen  zu 

4* 


52  Tieuken: 

verzeichnen  waren,  immerhin  noch  erträglich;  denn  der  Staub  liess  sich 
ja  leielit  abklopfen.  War  das  aber  nicht  der  Fall,  so  waren  die  kostbaren 
Toiletten  rettungslos  ruiniert.  —  Meistens  findet  bei  den  Bauern  die  kirch- 
liche Trauung  im  Hochzeitshause  statt,  nur  in  seltenen  Ausnahmefällen  im 
Gotteshause  und  dann  unmittelbar  der  Civiltrauung  folgend. 

Für  die  Sehmückung  des  Hochzeitshauses  sorgen  die  jungen  Leute 
des  Dorfes,  die  dazu  von  einer  dem  Brautpaare  nahestehenden  Person 
eingeladen  werden,  denn  das  „Gröns-Hälen"  und  das  „Kränsbinnen"  gilt 
schon  für  eine  Vorfeier.  —  Zwei  oder  drei  Tage  vor  der  Hochzeit,  die 
gewöhnlich  in  eine  der  arbeitsfreien  Zeiten  des  Jahres  gelegt  wird,  fährt 
die  männliche  Jugend  mit  einigen  buntbeflaggten  Wagen  auf  die  Geest, 
um  Tannen-  und  Eichenreisig  zu  holen,  das  es  in  der  Marsch  nicht  giebt. 
Ist  schon  diese  Arbeit  immer  ein  kleines  Fest,  so  noch  mehr  das  folgende 
Kranzbinden,  bei  dem  natürlich  die  Mädchenhände  das  meiste  thun.  Die 
fertigen  Kränze  an  den  bestimmten  Stellen  zu  befestigen,  die  beliebten, 
den  Triumphbogen  ähnelnden  Ehrenpforten  zu  errichten,  ist  die  ausschliess- 
liche Aufgabe  der  männlichen  Jugend.  Gegen  7  oder  8  Uhr  abends  ist 
man  gewöhnlich  mit  allem  fertig.  Nachdem  man  sich  nunmehr  ein  wenig 
gestärkt  hat,  wird  auf  der  grossen  Dreschdiele,  über  die  ein  „Saal"  gelegt 
ist,  ein  Tänzchen  gemacht,   zu  dem  eine  Handharmonika  spielt. 

Das  „Folterabend- Werfen"  ist  zwar  bekannt,  wird  aber  wenig  geübt. 
Wenn  es  stattfindet,  so  wird  damit  meistens  einer  Art  Volksjustiz  Ausdruck 
gegeben,  sowie  allerlei  Schabernack  und  Hoheit,  wie  Beschädigungen  der 
Thüren  und  Fenster  damit  verbunden  sind. 

Der  Hochzeitstag  fällt  durchweg  auf  einen  Freitag  (Weinhold,  Die 
deutscheu  Frauen  im  Mittelalter,  I,  333  (3.  A.).  Bald  nach  Mittag  wird 
der  Prediger  geholt,  der  um  2  oder  3  Uhr  die  Trauung  vornimmt,  zu  der 
die  Musikanten  einen  Choral  spielen.  Gegen  4  Uhr  beginnt  der  Tanz, 
den  das  junge  Ehepaar  eröffnet,  für  welches  dieser  „Erste"  wegen  der 
vielen  auf  ihm  ruhenden  Augen  ein  wahres  Spiessrutenlaufen  bedeutet; 
denn  noch  dürfen  andere  Paare  nicht  tanzen.  Erst  nach  dem  „Ersten" 
des  Ehepaares,  erst  nachdem  der  junge  Gatte  ein  Goldstück  auf  den  Teller 
der  Musikanten  geworfen  hat,  ist  der  Saal  den  übrigen  tanzlustigen  Per- 
sonen freigegeben.  Um  7  oder  8  Uhr  wird  zu  Abend  gegessen,  und  zwar, 
wenn  das  Wetter  es  nur  irgend  erlaubt,  im  Freien.  Es  giebt  Butterkuchen, 
„Stuten"^,  Kleenbrot"^)  und  auch  wohl  Schwarzbrot;  an  Auflagen:  rohen 
und  gekochten  Schinken,  kalten  Braten,  Käse  u.  s.  w\;  an  Getränken: 
Wein,  Bier  oder  Kaffee.  Tafelmusik  und  Toaste  aller  Art  fehlen  nicht, 
doch  kommt  ein  allgemeiner  Rundgesang  nur  höchst  selten  zu  stände. 

Nach  dem  Essen  beginnt  der  Tanz  von  neuem  und  dauert  ohne  Unter- 
brechung   bis  zum  hellen  Morgen.     Kurz  vor  Mitternacht  aber  macht  sich 


1)  S.  den  Abscliuitt  „Essen  und  Trinken" 


Kulturgeschichtliches  aus  den  Marschen.  53 

auf  dem  Saale  eine  auffallende  Leere  bemerkbar.  Wo  sind  nur  die  Tänzer 
und  Tänzerinnen  geblieben?  Sind  sie  schon  nach  Haus  gegangen?  Weit 
gefehlt.  Sie  sind  nur  „opp^i  Koffee",  d.  h.  sie  haben  —  merkwürdiger- 
weise durchweg  paarweise  —  behufs  Kaffeetrinkens  einen  Rundgang  durch 
das  Dorf  angetreten.  Sie  gehen  dabei  zwar  nur  in  die  Häuser  „ihres- 
o-leichen",  geraten  dabei  aber  nicht  selten  auch  in  solche,  deren  Besitzer 
sie  kaum  oder  gar  nicht  kennen.  Aber  das  schadet  nicht:  überall  werden 
sie  gleich  freundlich  aufgenommen  und  zum  Trinken  genötigt.  Mindestens 
muss  jede  Person,  will  sie  nicht  die  Wirte  beleidigen,  zwei  Tassen  Kaffee 
zu  sich  nehmen;  da  es  nun  durchaus  nicht  zu  den  Seltenheiten  gehört, 
dass  ein  Paar  drei  bis  vier  und  noch  mehr  verschiedene  Häuser  besucht, 
so  kann  man  leicht  ermessen,  wie  viel  Kaffee  in  einer  solchen  Nacht  drauf 
geht.  In  den  Augen  der  ledigen  Jugend  ist  dieses  „Oppn-Kaffee-Gahn" 
eigentlich  der  Gipfel  der  ganzen  Hochzeit  und  manches  Paar  kommt 
hierbei  nicht  selten  auf  den  Einfall,  ebenfalls  den  „Kram"  zusammen- 
zuwerfen, d.  h.  sich  zu  verloben. 

Nur  die  näheren  Verwandten  und  Bekannten  geben  Hochzeitsgeschenke. 
Doch  teilt  auch  das  junge  Ehepaar  Geschenke  aus  an  die  Schwäger  und 
Schwägerinnen  und  stets  auch  an  die  Dienstboten.  Die  Geschenke  bestehen 
durchweg  in  Kleidungsstücken. 

Um  die  Ausrichtung  eines  grösseren  Familienfestes,  sei  es  welcher 
Art  es  wolle,  zu  erleichtern,  erfordert  die  Sitte,  dass  die  näheren  Freunde 
und  Verwandten  allerlei  Zuthaten,  wie  Milch,  Butter,  Sahne  u.  s.  w.  in  das 
Haus  schicken,  welches  das  Fest  veranstaltet.  Dafür  senden  dann  aber 
die  Gastgeber  jenen  wieder  einen  grossen  Teil  der  Überreste  vom  Fest- 
mahle ^). 

Veranstaltet  jedoch  ein  den  niederen  Ständen  angehörendes  Brautpaar 
eine  grössere  Hochzeit,  zu  der  die  Dorf-Honoratioren  geladen  werden,  so 
empfängt  es  von  allen  Gästen  ein  gutes  Hochzeitsgeschenk,  gleichsam  als 
Vergütung  für  die  dargereichten  Speisen  und  Getränke.  Dadurch  wird 
nicht  selten  aus  der  Hochzeit  ein  gutes,  einträgliches  Geschäft. 

Hatte  der  junge  Ehemann  früher  mit  einem  anderen  Mädchen  ein 
anscheinend  ernsteres  Verhältnis  unterhalten,  so  wird  diesem  jetzt  von  der 
schadenfrohen  Frau  eine  grosse  Puppe,  „'n  Strohkerl"  aufs  Dach  oder  vors 
Fenster  gestellt.  Ein  gleiches  geschieht  auch  einem  etwaigen  früheren 
Liebhaber  der  jungen  Frau,  nur  dass  die  Puppe  dann  natürlich  ein  „Stroh- 
wiw"  ist.  —  Neuerdings  nimmt  diese  Neckerei  jedoch  zusehends  ab. 

Wird  die  Ehe  des  jungen  Paares  durch  die  Geburt  eines  Stammhalters 
gesegnet,  so  ist  die  Freude  gross.  Da  senden  die  glücklichen  Eltern  den 
Knecht    oder    die  Magd    zu  den  näheren  Verwandten  und  Bekannten,    um 


1)  Vgl.  K.  Haberland,  Gebräuche  und  Aberglauben  beim  Essen:  Zeitschr.  für  Völker- 
psychologie und  Sprachwissenschaft,  1885,  S.  3(n. 


54  Tieuken:  Kulturgeschichtliches  aus  den  Marschen. 

„Bärenbrot"  zu  sagen,  d.  h.  ihnen  die  Geburt  des  kleinen  Lebewesens 
anzuzeigen,  wofür  der  Bote  von  diesen  mit  einem  Geldgeschenk  belohnt 
wird.  —  In  den  wohlhabenderen  Familien  findet  die  Taufe  stets  im  Hause 
statt,  nur  die  Kinder  der  ärmeren  Klassen  erhalten  sie  im  Gotteshause. 
Besondere  Sitten  und  Gebräuche  treten  bei  der  Taufe  nicht  hervor.  Erst 
in  den  letzten  Jahrzehnten  ist  sie  eine  Veranlassung  zu  feineren  und 
grösseren  Gastereien  geworden. 

Viel  Aufwand  wurde  in  früheren  Zeiten  bei  Leichenbegängnissen  ge- 
macht; die  „Grossärdigkeit"  war  dabei  das  leitende  Prinzip.  Kaum  hatte 
jemand  die  Augen  geschlossen,  so  wurden  auch  schon  die  näheren  Ver- 
wandten und  Bekannten  zum  „Kleiden"  geladen.  In  der  Regel  aber  be- 
sorgten einige  alte  Frauen  das  Waschen  und  Kleiden,  während  die  offiziell 
hierzu  Geladenen  sich  an  Kuchen,  Kaffee  und  Wein  gütlich  thaten.  Eine 
andere  Einladung,  die  zum  „Ins-Holz-Legen",  war  ebenso  formell,  denn 
das  Einsargen  besorgte  mit  Hilfe  der  Knechte  und  etwaiger  Tagelöhner 
der  Tischler,  der  den  oft  luxuriös  ausgestatteten  Sarg  geliefert  hatte. 

Zur  endlichen  Bestattung  wurde  der  Sarg  auf  einen  im  Windfang 
stehenden,  schwarz  und  weiss  verhangenen  Tisch  gestellt,  und  zwar  so, 
dass  die  Füsse  der  Leiche  gegen  die  Ausgangsthür  gerichtet  sind.  Dieses, 
wie  auch  der  Brauch,  die  Leiche  mit  den  Füssen  voran  aus  dem  Hause 
zu  tragen,  ist  die  Folge  eines  alten  Aberglaubens,  dass  die  Leiche  sonst 
wiederkehren  würde.  Die  zur  Trauerfeierlichkeit  geladenen  Gäste  wurden 
im  Windfang  von  den  hierzu  bestimmten  Personen  empfangen  und,  nach- 
dem sie  am  Sarge,  der  von  vielen  Kerzen  umgeben  war,  ein  stilles  Gebet 
gesprochen  hatten,  in  die  einzelnen  Zimmer  geführt.  In  das  sogenannte 
„Trauerzimmer"  kamen  nur  die  nächsten  Verwandten  der  verstorbenen 
Person  und  der  Pastor.  Ein  anderes  Zimmer  wurde  den  Trägern  des 
Sarges  bestimmt,  welche,  wenn  die  verblichene  Person  verheiratet  gewesen 
war,  den  verheirateten  Männern  des  Dorfes  entnommen  wurden,  oder 
ledige  Leute  waren,  wenn  auch  die  Leiche  bei  Lebzeiten  unverheiratet 
geblieben  war.     Ein  drittes  Zimmer  endlich  fasste  alle  übrigen  Gäste. 

Besonders  dazu  geladene  Freunde  und  Nachbarn  besorgten,  wie  bei 
allen  Familienfesten  die  Aufwartung.  Die  Gäste  unterhielten  sich  in  leisem 
Flüsterton,  aber  darum  nicht  weniger  lebhaft  als  sonst.  Ebenso  still  und 
geräuschlos  traten  sie  in  den  Windfang,  in  dem  sich  die  nächsten  Leid- 
tragenden bereits  hinter  dem  Sarge  niedergelassen  hatten,  sobald  die 
Trauerrede  beginnen  sollte.  War  diese  zu  Ende,  so  wurde  den  Trägern 
noch  ein  Glas  Wein  und  eine  Citrone  gereicht,  ein  stilles  Gebet  noch 
gesprochen  und  dann  der  Sarg  auf  die  bereitstehende  Tragbahre  gestellt, 
mit  dieser  auf  die  Schultern  genommen  und  weggetragen. 

Auf  dem  Kirchhofe  wurde  der  Sarg  einmal  um  die  Kirche  getragen, 
dann  neben  dem  offenen  Grabe  niedergesetzt  und,  nachdem  der  Pastor 
nochmals  einige  Worte  gesprochen  hatte,  der  Erde  übergeben. 


Zingerle:  Über  alte  Beleuchtungsmittel.  55 

So  war  es  früher  und  so  ist  es  zum  grössteii  Teil  heute  noch. 
Während  aber  heute  jeder  Gast  sich  sogleich  vom  Kirchhof  aus  in  seine 
Wohnung  begiebt,  war  in  früherer  Zeit  „das  Amen  dieses  Gebetes"  (es 
ist  das  letzte  Gebet  auf  dem  Kirchhofe  gemeint)  „das  Signal  zur  eilenden 
Rückkehr  ins  Trauerhaus,  wo  schon  auf  allen  Tischen  Massen  von  Kuchen 
und  lange  Reihen  von  Weinflaschen,  dazwischen  Thonpfeifen,  Teller  mit 
Tabak,  Fidibus  und  Cigarren  die  Gäste  erwarteten  und  wo  nun  der  zweite 
Teil  des  Tages,  der  Leichenschmaus,  seinen  Anfang  nahm.  Herrschte 
vorher  die  grösste  Stille  im  Hause,  wurde  nur  geflüstert  und  leise  auf- 
getreten, so  ist  jetzt  mit  einem  Male  jeder  Zwang  entfernt.  Alles  atmet 
auf,  man  isst  und  trinkt  nach  Herzenslust,  man  pafft,  dass  man  vor  Tabaks- 
dampf kaum  drei  Schritte  weit  sieht,  x^lle  Zungen  sind  gelöst,  man 
schwatzt  und  scherzt,  lacht  und  trinkt  durcheinander,  klingt  wohl  gar  mit 
den  Gläsern  an  und  die  Gemütlichkeit  steigt  mit  jeder  Stunde."^) 

Nirgends  auch  trat  das  schon  erwähnte  Ceremonienwesen  schärfer 
hervor  als  eben  bei  Sterbefällen,  wo  selbst  die  Dienstboten  in  den  Häusern 
der  Verwandten  noch  Zeichen  der  Trauer  anlegten.  „In  der  Familie  des 
Verstorbenen  aber  gab  es  ganz  wie  bei  Hofe  eine  Tieftrauer  und  eine 
gewöhnliche,  eine  Volltrauer  und  eine  halbe,  je  nach  dem  Verwandtschafts- 
grade oder  der  nach  dem  Todesfalle  verstrichenen  Zeit,  und  im  Verhältnisse 
zum  Trauergrade  musste  auch  das  übrige  Verhalten  stehen,  so  dass  z.  B. 
eine  Frau  in  Tieftrauer  (schwarzes  Wollkleid  nebst  gleichfarbiger  dichter 
Krepphaube)  ein  halbes  Jalu-  lang  durchaus  nicht  das  Haus  verlassen  durfte, 
bei  Normaltrauer  (schwarzes  Kleid  mit  weisser  aber  schwarzbebänderter 
Haube)  nur  wieder  am  Gottesdienst  und  an  Beerdigungen  teilnehmen  und 
erst,  wenn  sie  mit  Violett  „abtrauerte'\  solches  auch  an  Gesellschaften,  d.  h. 
Kindtaufon  thun  durfte,  aber  noch  nicht  an  Hochzeiten."^) 

Ist  das  Familienoberhaupt  durch  den  Tod  abgerufen,  so  tritt  der  Erbe 
sofort  in  seine  Stelle.  Er  vertritt  jetzt  die  Familie,  sitzt  oben  am  Tische 
und  leitet  die  gesamte  Wirtschaft. 

(Fürtsetzung  folgt.) 


Über  alte  Beleuclitungsmittel. 

Von  Oswald  v.  Zingerle. 

In  alter  Zeit  wurde  bekanntlich  auf  mannigfache  Weise  für  Beleuch- 
tung gesorgt.  Man  verwandte  hierzu  vornehmlich  Holz,  Pech,  Talg  und 
anderes  Fett,  Wachs  und  Öl.    Späne  von  harzreichem  Nadelholz,  insbesondere 

1)  AUmers,  Marschenbuch,  S.  2G0. 

2)  Ebenda  S.  17S. 


56  Zingerle: 

dem  der  Kienfölire  (Pinus  silvestris  L.)  spielten  eine  grosse  Rolle  und 
sind  lieutzutage  in  den  bäuerlichen  Behausungen  mancher  Gegenden  noch 
gebräuchlich.  In  Tirol  treffen  wir  hier  und  dort  in  der  Stube  neben  dem 
Ofen  auch  einen  kleinen  Kamin  (Kendl,  Kömich,  Kömat)  für  Kienspan- 
feuer, das  lediglich  zur  Beleuchtung  des  Gemaches  angezündet  wird.  Diese 
primitive  Beleuchtungsart  kommt  aber  mehr  und  mehr  ab,  doch  werden 
sogenannte  Kenteln  noch  überall  gerne  bei  nächtlichen  Gängen  benutzt. 
Zur  Verstärkung  des  Lichtes  band  und  bindet  man  eine  Anzahl  von  solchen 
Spänen  zu  einer  Kieufackel  (Holzfackel,  Buchel)  zusammen.  Wo  Laubwald 
vorherrscht,  vertrat  den  Kienspan  das  Holz  der  Buche  und  in  holzarmen 
Gegenden  nahm  man  zu  Stroh-  und  Reisigbündeln  (Schaub)  Zuflucht,  die,  um 
Brenndauer  und  Leuchtkraft  zu  steigern,  in  Ermanglung  von  Pech  mit  irgend 
einem  Fettstoff  bestrichen  oder  imprägniert  wurden.  Wachskerzen  blieben 
allzeit  mehr  auf  den  kirchlichen  Gebrauch  beschränkt;  nur  die  vornehme 
Gesellschaft  bediente  sich  seit  dem  r2./13.  Jahrhundert,  zumal  bei  Festlich- 
keiten, auch  dieses,  allen  andern  vorzuziehenden  Leuchtmittels.  Doch  er- 
scheinen in  der  ersten  Zeit  meist  zwei  oder  mehrere  dünne  Wachslichter 
zu  einer  dickeren  Kerze  gewunden^),  während  die  in  den  Kirchen  ver- 
wendeten^) in  der  Regel  schon  den  heute  üblichen  glichen  und  für  be- 
stimmte Zwecke,  abgesehen  von  den  Osterkerzen,  frühzeitig  in  erstaunlicher 
Grösse  hergestellt  wurden.  Schmeller  (Bair.  Wörterb.  H,  936}  führt  unter 
„Wandelkerze"  an,  dass  zu  Regensburg  1519  eine  so  kolossale  W.  geopfert 
wurde,  dass  man,  um  sie  anzünden  zu  können,  eine  Leiter  von  12  Stufen 
anschaffen  musste  (s.  auch  Zeitschr.  f.  deutsch.  Altert.  VI,  313),  doch  lassen 
sich  ähnliche  Ungetüme  schon  in  älterer  Zeit  nachweisen,  z.  B.  berichten 
die  Jahrbücher  von  Prag  zum  Jahr  1282,  Bischof  Tobias  von  Prag  habe 
bei  seiner  Priesterweihe  und  am  Jahrtage  seiner  Bischofsweihe  nach  dem 
Brauche  seiner  Vorgänger  eine  220  Pfund  schwere  Wachskerze  in  der 
Domkirche  aufgestellt.  —  Gewöhnlich  wurde  zu  den  Hauskerzen  Talg  benutzt 
und  zwar  machte  man  zuerst  dünne  gezogene,  denen  sich  dann  die  dickern 
gegossenen  zugesellten.  Mit  Talg  speiste  man  auch  Lichttiegel  und  Lampen, 
was    auf    dem  Lande    noch    vorkommt.     Die    in  Südtirol    einst    stark  ver- 


1)  „kerzeschibe"  ist  keineswegs  „ein  gewunden,  gedrän  kerze",  wie  Lexer  (Mhd. 
Wörterb.  I,  1560)  meint,  sondern  nichts  anderes  als  die  der  Leuchterschale  entsprechende 
„schibe",  die  man  an  Kerzenstäbe  und  wohl  auch  an  dickere,  bei  kirchlichen  und  welt- 
lichen Umzügen  in  der  Hand  getragene  Kerzen  steckte,  um  gegen  das  herabtropfende 
Wachs  geschützt  zu  sein. 

2)  In  einem  Urbar  der  Matthäuskirche  in  Schieis  (Vinstgau)  aus  dem  15.  Jahrh.  sind 
einmal  als  Abgabe  Kerzen,  que  vulgariter  dicuntur  stalkertzen,  verzeichnet.  Der  Ausdruck 
erscheint  auch  in  der  von  Birlinger  (Germ.  IX,  192ff.,  Ztschr.  f.  deutsch.  Altert.  XIV,  l()2ff.) 
grösstenteils  veröffentlichten  Tegernseer  Hs.,  welche  u.  a.  die  Notiz  enthält,  dass  im  Jahre 
1535  Kerzen  gemacht  worden  seien  und  zwar  Mettenkerzen  1900,  Herrenkerzen  3:^50,  Stal- 
und  Priesterkerzen  o400,  Laternenkerzen  3250  (s.  Anzeiger  f.  K.  deutsch.  V.  1865,  Sp.  439). 
Man  verstand  darunter  wohl  die  für  ein  -kerzestal"  (Dornleuchter)  bestimmte  Kerze. 


über  alte  Beleuchtuugsmittel.  57 

breitete  Lutscliear^)  (lucerna)  mit  ihrer  in  der  Form  variiereuden,  aber 
stets  flachen  (verschiebbaren)  Schale  zeigt  sich  nur  hierfür  geeignet.  In 
den  Bauernstuben  des  Ötzthals  hängt  nicht  selten  ein  eiserner  Lichttiegel 
an  einer  horizontal  drehbaren  Stange,  die  in  der  Mitte  des  Durchzugbalkens 
der  Decke  angebracht  ist,  und  der  aus  geschabten  Lumpen  gefertigte  Docht 
wird  dort  auch  mit  Schmalz  genährt,  was  ehemals  selbst  bei  Kirchenampeln 
der  Fall  war,  wie  u.  a.  aus  einer  Urkunde  vom  J.  1438  erhellt,  wonach 
Herr  Anton  Thun  und  dessen  Frau  Dorothea  für  die  Kirche  von  Gufidaun 
einen  jährlichen  Zins  von  12  Pfund  Berner  stifteten  „mit  dem  gedinge,  das 

die  chirchbräbst öl  oder  schmaltz  oder  ander  ding  darvmb  chauffen, 

damit  das  sy  die  obgen.  chirchen  vnd  alter  beleuchten"  (Urk.  im  Kirchen- 
archiv zu  Gufidaun).  Sonst  wurde  vorzüglich  Baum-  und  Leinöl,  aber  auch 
Mohn-  und  anderes  ÖP)  zur  Füllung  der  Lampen  gebraucht.  Wenn 
Alw.  Schultz  (Höf.  Leben  I,  94,  Deutsch.  Leb.  im  14.  und  15.  Jahrh  T,  7o) 
glaubt,  die  Lampen  seien  in  den  besseren  Häusern  selten  gewesen,  so  ist 
er  im  Irrtum.  Schon  die  altdeutschen  Dichtungen  zeigen,  dass  bis  zum 
13.  Jahrh.  die  Lampe  zum  gewöhnlichen  Hausgebrauch  weit  üblicher  war 
als  die  Kerze  und  die  bildlichen  Darstellungen,  sowie  die  Geschichtsquellen 
bestätigen  dies.  Vgl.  z.  B.  Tliietmar  v.  Merseburg  VII,  43,  Magdeburger 
Jahrb.  z.  J.  1018  und  Jahrb.  v.  Prag  z.  J.  1258,  wo  über  Klosterbrände 
Meldung  geschieht. 

Ausser  den  genannten  Brennmaterialien  kamen  jedoch  noch  andere  in 
Verwendung.  Hieron.  Braunschweig  belehrt  uns  in  seinem  Distillierbuch 
Bl  85b  das  Verbascum^),  aus  dessen  Blättern  nach  anderen  Berichten 
Docht  und  Feuerschwamm  erzeugt  wurden,  heisse  Königskerze  „darumb 
das  sein  Stengel  von  vielen  gedört  wird  vnd  vberzogen  mit  Hartz.  Wachs 
odder  Bech,  darnach  machen  sie  Stangkertzen  oder  Tartschen  daruon  vnd 
brennen  sie  für  Schaubfacklen",  und  in  der  Oeconomia  ruralis  des  Joh. 
Colerus  ist  unter  „Lampen  machen"  (in  der  Ausgabe  von  1672,  S.  698  f.j 
folgendes  zu  lesen:  „Mancher  guter  Haußwirth  hat  alle  ^" ächte  durch  eine 
Lampe,  die  da  brennet,  bey  seinem  Betthe  stehen,  welche  oben  zu  gemacht 
ist,  daß  es  niemand  in  der  Kammer  sehen  oder  mercken  kan,  daß  eine 
Lampe  vorhanden  ist,  daß  man  balde  Liecht  hat,  wann  sich  deß  Nachts 
etwas  erhebet.  An  etlichen  Oertern  machen  auch  die  Töpffer  Lampen  und 
Leuchter  vor  die  Armen  auff  diese  Weise  schier  wie  eine  Kanne,  oben 
hats  ein  Thürlein,  daß  man  ein  Liecht  drein  stecken  kan.  darneben  machen 

1)  Nach  Schöpf,  Tirol.  Idiotikon  S.  405  heisst  im  Viustgau  Lutscher  auch  ein  auf  einem 
dreifüssigen  Gestelle  stehender,  drehbarer  I,euchter  von  Eisen,  sonst  auch  eine  Lampe  mit 
Hängeisen.  Für  Lichttiegel  hat  man  in  Passeier  die  Bezeichnung  Lutze,  im  Pusterthal 
Tschirfe. 

2)  Megenberg,  Buch  der  Natur,  S.  323,  30  sagt  von  dem  aus  Bucheckern  gewonnenen 
Öl  „daz  ist  gar  lauter  und  ist  güot  ze  prenuen  in  den  lampen". 

3)  Brunfels  und  Fuchs  nennen  diese  Pflanze  Kerzenkraut,  welche  Bezeichnung  Diefen- 
bach,  Gloss.  latino-germ.  G44c  für  Dipsacus  fullonum  (Weberkarde)  begegnet. 


58  Lübeck: 

sie  auch  eiue  Lampen  in  einer  Schnaucken  und  unter  derselbigen  machen 
sie  nocli  eine  Lampen,  wann  von  der  obern  etwas  abtreufft,  daß  es  in  die 
untere  falle,  legen  das  weisse  von  den  Pinsen  (so  in  den  Bächen  und  Seen 
gemeiniglich  wachsen)  darein,  das  brennet  fein  rathlich.  Man  schabet  aber 
nur  ein  wenig  das  grüne  von  den  Pinsen  ab,  darnach  streicht  man  das 
ander  vollend  mit  einem  Messer  herauß,  das  ist  darnach  wie  die  langen 
Spulwürme,  das  binden  darnach  arme  Leute  in  Bündlein  zusammen  und 
hängens  darnach  auff,  daß  es  fein  dürr  wird,  so  brennets  desto  lieber, 
darnach  legt  man  eins  oder  drey  ins  Fette  oder  Oel,  oder  wie  viel  man 
will  "  Wahrscheinlich  haben  noch  andere  Pflanzen  derartige  Verwertung 
gefunden. 

Czernowitz. 


Die  Krankheitsdämonen  der  Balkanvölker. 

Von  K.  L.  Lübeck. 

(Fortsetzung  von  Zeitschrift  VIII,  389.) 


Die  Gesamtheit  in  ihrer  Stellung  zur  Krankheit. 

Ausser  den  angeführten  Mitteln,  die  Krankheit  zu  heben,  existiert  noch 
ein  letztes:  die  gemeinsame  Verehrung  des  Krankheitsdämous  durch  das 
gesamte  Volk  an  einem  bestimmten  Tage  im  Jahr.  Dem  Krankheitsgeist 
wird  ein  bestimmter  Tag  geweiht,  an  welchem  durch  animalische  oder 
vegetabilische  Opfer  seine  Gunst  gewonnen  werden  soll,  so  dass  die  ihn 
verehrende  Gemeinschaft  von  ihm  verschont  bleibt. 

Es  ist  wirklich  eigentümlich  zu  sehen,  was  für  ein  mächtiges  Interesse 
nicht  nur  der  Einzelne,  sondern  auch  die  Gesamtheit  der  Gesundheit  und 
Krankheit  auf  Schritt  und  Tritt  entgegenbringt.  Über  alles  spricht  man 
sich  aus,  aber  man  vermeidet  ängstlich  Gespräche  über  Krankheit  und 
Tod,  wenn  man  nicht  durch  einen  bestimmten  Krankheits-  oder  Todesfall 
darüber  zu  sprechen  genötigt  wird.  Es  ist  dies  eine  Beobachtung,  die  wir 
in  sämtlichen  Schichten  der  hiesigen  Bevölkerung  machen  mussten. 
Eigentümlich  genug  spricht  sich  dieses  Interesse  für  die  Gesundheit  auch 
in  den  hiesigen  Sprichwörtern,  Glückwünschen  u.  s.  w.  aus,  doch  ganz 
besonders  in  den  Begrüssungsformeln  und  Wohlseinserkundigungen.  Ähnlich 
dem  Türken,  der  nach  dem  „Innern  Wohlbehagen  und  der  Wonne",  dem 
gleichzeitigen  seelischen,  geistigen  und  physischen  Wohlsein,  dem  „Kef^ 
fragt,  aber  doch  nicht  so  weltvergessen  wie  er,  hat  die  hiesige  Bevölkerung 
als    erste  Frage    stets:    „Wie    steht's  mit  deiner   Gesundheit?"     Sich  ganz 


Die  Krankheitsdämonen  der  Balkanvölker.  59 

fremde  Menscheu,  die  der  Zufall  zusammengeführt  hat,  werden  doch  niemals 
unterlassen,  diese  Frage  zu  stellen.  Und  ganz  bezeichnend  ist  dabei,  dass 
die  einfache  Antwort:  „gut"  oder  „sehr  gut",  die  doch  nichts  zu  wünschen 
übrig  lässt,  den  Fragenden  gar  nicht  zufrieden  stellt,  sondern  ihn  stets  zu 
der  höchst  sonderbaren  Frage:  „Wie  ist  dir  noch?"  (=  wie  gehfs  dir  noch?) 
weiterführt,  eine  scheinbar  überflüssige,  ja  geradezu  unvernünftige  Frage, 
welche  indes  darthut,  wie  tief  eingewurzelt  das  Interesse  für  gegenseitiges 
Wohlbefinden  ist.  Wir  können  aus  eigener  Erfahrung  berichten,  dass  uns 
diese  Frage  noch  immer  höchst  sonderbar  anmutet,  obwohl  wir  sie  Tag 
für  Tag  jahraus  jahrein  unzählige  Male  zu  vernehmen  und  zu  beant- 
worten haben. 

Bei  diesem  so  allgemeinen  Interesse  für  die  Gesundheitslage  jedes 
einzelnen  kann  es  nicht  befremden,  dass  dieses  Interesse  im  Laufe  der 
Zeit  eine  hochgradige  Entwicklung  erfuhr,  die  schliesslich  in  Festtagen, 
die  zur  Besänftigung  der  verschiedensten  Krankheitdämoninnen  eingeführt 
und  vom  gesamten  Volke  mit  gleicher  Teilname  begangen  wurden,  ihren 
vollendetsten  Ausdruck  fand. 

Wer  nur  immer  einen  Blick  in  die  Nomenklatur  der  hiesigen  Kalender- 
namen wirft,  wird  sofort  durch  die  eigentümliche  Benennung  einer  ganzen 
Reihe  von  Tagen  in  nicht  geringe  Verwunderung  geraten.  Da  giebt  es 
einen  „Mäusetag'',  einen  „Elfenmittwoch",  einen  „Mütterleinstag",  zwei 
verschiedene  „Seelentage'',  einen  „schwarzen  Dienstag",  zwei  „Blitztage", 
einen  „Pferdetag",  einen  „Schlangentag'',  einen  „Feuertag",  einen  „Donner- 
tag-', einen  „verrückten  Mittwoch",  einen  „Bärentag",  einen  „Schmetter- 
lingstag", einen  „reinen  Montag",  einen  „Hundetag",  einen  „Bienentag", 
eine  ganze  „Hühnerwoche",  einen  ganzen  „Elfenmonat"  u.  s.  w.  u.  s.  w. 
Wer  die  hiesigen  Verhältnisse,  die  heutigen  real  -  mythologischen  An- 
schauungen, die  im  Balkangebiet  gang  und  gäbe  sind,  nicht  kennt,  wird 
solche  Kalendertage  unbegreiflich  finden  und  sie  auf  ganz  andere  Umstände 
beziehen  als  sie  bezogen  werden  dürfen;  man  wird  schwerlich  verstehen 
können,  wie  heute  noch  im  Volke  dem  Meister  Petz,  dem  Isegrimm,  dem 
schlauen  Reinecke,  der  tanzenden  Sonne,  den  furchtbaren  Elfen,  den  ver- 
heerenden Mäusen,  den  unter  der  Erde  hüpfenden  Schätzen  u.  s.  w.  be- 
stimmte Tage  geweiht  sind,  die  alle  durch  eine  bestimmte  Begehungsart 
sich  voneinander  unterscheiden. 

Viele  dieser  Tage,  ja  geradezu  die  meisten,  sind  Feiertage  zu  Ehren 
der  Geister  der  Krankheit  und  des  Todes.  Ihre  Zahl  beläuft  sich  an 
manchen  Orten  auf  dreissig  und  selbst  noch  mehr.  Das  Volk,  das  niemals 
darauf  kam,  die  Krankheiten  methodisch  zu  beobachten  und  bis  au  ihre 
Quellen  zurückzuverfolgen,  war  auch  nicht  imstande,  bei  Zeiten  die  zur 
Abwehr  einer  Epidemie  notwendigen  Vorkehrungen  zu  treffen.  Indessen 
war  das  Volk  nicht  ohne  alle  Kenntnis  der  Einflüsse  von  Ort  und  Zeit 
auf  die  Entstehung  der  Seuchen.    Dies  beweist  schon  die  zeitliche  Ordnung 


60  Lübeck: 

der  Krankheitstage,  die  nur  hin  und  wieder  durch  das  Eindringen  kirch- 
licher Elemente  geändert  erscheint.  Es  geht  aus  der  Anordnung  jedenfalls 
hervor,  dass  mau  wenigstens  die  auf  Krankheit  bezüglichen  Begriffe  von 
Ursache  und  Folge  wenn  auch  noch  nicht  durch  den  Ausdruck  „weil",  so 
doch  durch  einen  bestimmten  Jahrestag  miteinander  vermittelte  und  ver- 
knüpfte. Man  darf,  um  letzteren  Satz  seinem  ganzen  Inhalt  nach  zu  ver- 
stehen, nicht  vergessen,  was  über  die  feste  Gesundheit  dieses  Menschen- 
schlages einleitend  gesagt  wurde:  dass  die  Krankheit  meist  eine  ausser- 
gewöhnliche  und  plötzlich  eintretende  Erscheinung  ist.  Die  unsichtbaren, 
verheerenden  Überfälle,  die  die  Krankheiten  in  der  hiesigen  Bevölkerung 
urplötzlich  ausführten,  wodurch  ein  massenhaftes  Sterben  in  kurzer  Zeit 
und  zwar  meist  in  bestimmten  Jahresabschnitten  verursacht  wurde,  steigerte 
den  Schrecken  und  die  Furcht  so  sehr,  dass  man  begreifen  kann,  wie  fast 
jede  Krankheit  ihren  eigenen  Festtag  hatte,  an  dem  sie  verehrt  wurde, 
und  dass  somit  die  Zahl  dreissig  jedenfalls  zu  niedrig  gegriffen  ist.  Man 
erkennt  aus  diesen  Krankheitstagen  und  ihrer  Dauer  leicht,  was  für 
Krankheiten  hauptsächlicli  im  Yolke  so  mächtiges  Grauen  erweckt  haben: 
<lie  nachhallendste  Wirkung  scheinen  Wahnsinn  und  Pest  hinterlassen  zu 
haben. 

Der  allgemeine  Charakter  der  Krankheitsfeste  ist  folgender.  Au  allen 
diesen  Tagen  werden  entweder  eine  oder  mehrere  Brotarten  gebacken,  die 
für  jeden  Feiertag,  dem  sie  dienen,  eine  besondere  unabänderliche  Form 
oder  Zeichnung  aufweisen.  In  dieser  Form  bemerkt  man  ein  symbolisches 
Prinzip;  ausgeschlossen  ist  die  Verwendung  von  menschlichen,  tierischen 
oder  Pflanzenformen  oder  Ornamenten,  welcher  Mangel  sich  vielleicht 
aus  türkisch-religiösen  Einflüssen  erklären  lässt.  Man  hat  es  da  mit  sehr 
sonderbaren  Punkt-  und  Linienzeichnungen  zu  thun,  die  ihre  Erklärung 
wohl  in  uralten  Vorstellungen  finden.  Dass  diese  Zeichnungen  und  Formen 
noch  heute  einem  bestimmten  Prinzipe  folgen,  lässt  sich  au  einigen 
von  ihnen  nachweisen,  auf  welche  wir  später  zurückzukommen  haben 
werden.  Andere  Züge  der  Krankheitsfeste  sind:  die  Segnung  der  Speisen: 
die  gründliche  Reinigung  des  Hauses,  wovon  wir  schon  Andeutungen  in 
einer  Bannformel  fanden;  der  Genuss  und  das  Verbot  bestimmter  Speisen: 
die  Arbeitsruhe;  eine  deutlich  zu  Tage  tretende  grössere  Bedeutung  der 
Frau;  das  Aussprechen  von  Segens-  oder  Bannsprüchen,  verbunden  mit 
einer  Reihe  mehr  oder  weniger  verständlicher  Ceremonien:  das  Aufsuchen 
von  Heilkräutern  und  die  Aufführung  symbolischer  Spiele. 

Einige  dieser  Tage  haben  nur  lokale  Bedeutung,  einige  werden  durch 
das  ganze  Land  von  der  gesamten  Bevölkerung  (insbesondere  in  den 
bäuerlichen  Distrikten)  mehr  oder  weniger  feierlich  begangen,  w^obei  die 
sinnliche  Vorstellung  eines  Krankheitsdämons  in  einigen  Gegenden  sich 
zum  Teil  verwischt  und  mit  christlichen  Elementen  ununterscheidbar  ver- 
schmolzen  hat.     In   anderen   Gegenden  dagegen  hat  sich  die  ursprüngliche 


Die  Krankheitsdämonen  der  Baikauvölker.  61 

Kraft  der  Yorstellung  erhalten  und  eine  Reihe  interessanter  Ceremonien 
und  Gebräuche  entwickelt. 

Je  nach  den  Verlusten  oder  Schädigungen,  die  dem  Menschen  durch 
die  Krankheitsgeister  zugefügt  werden,  muss  man  zwei  Gruppen  unter- 
scheiden: zunächst  die,  welche  den  Menschen  ganz  direkt  betreffen;  dann 
die,  welche  seine  Haustiere  berühren.  Einige  der  Haustiere  haben  eine 
so  mächtige  Bedeutung  für  das  Volksleben  erlangt,  dass  dieses  nicht  bloss 
ihrer  nicht  entbehren  kann,  sondern  von  ihrem  Zustand  abhängig  wird. 
Solche  Tiere  sind  Pferd,  Kuh,  Huhn,  Biene  u.  s.  w.  Die  ungeheure 
Bedeutung  der  Erkrankung  derselben  für  das  landwirtschaftliche  Leben,  die 
als  Verbündete  des  Menschen  ebenso  leicht  den  Zorn  mächtiger  unsicht- 
barer Wesen  auf  sich  herabbeschwören  können  wie  der  Mensch  selbst, 
erklärt  ohne  weiteres,  wie  es  kam,  dass  die  Hälfte  der  den  Krankheits- 
geistern bestimmten  Festtage  zur  Verehrung  der  die  Haustiere  heim- 
suchenden Krankheiten  veranstaltet  wird.  In  diese  Gruppe  von  Tagen 
sind  jene  jedoch  nicht  mitinbegriffen,  die  zum  Schutze  der  Haustiere  vor 
Wolf,  Schlange,  Bär  u.  s.  w.  festlich  begangen  werden. 

Indem  wir  nun  auf  die  den  Krankheitsdämonen  der  einzelnen  Tiere 
angesetzten  Festtage  zu  sprechen  kommen,  müssen  wir  gleiclizeitig  bemerken, 
dass  in  ihnen  sich  nicht  äussert,  ob  man  es  mit  weiblichen  oder  männ- 
lichen Krankheitswesen  zu  thun  hat.  Aus  der  Analogie  der  Gebräuche 
und  der  Tage  an  sich  glauben  wir  aber  schliessen  zu  dürfen,  dass  auch 
die  Krankheitsgeister  der  Tiere  weiblichen  Geschlechtes  sind. 

Wir  erwähnen  nun  zunächst  den  Hundetag.  Die  zeitliche  Bestimmung 
dieses  Tages  hängt  von  dem  zeitlichen  Eintreffen  der  Ostern  ab;  doch 
fällt  die  Begehung  immer  auf  einen  Montag.  —  Der  Hund,  dieser  uralte 
und  uneigennützige,  dem  Menschen  so  notwendige  Freund,  hat  einen 
mächtigen  Feind,  das  ist  der  Geist  des  Wahnsinns.  In  bäuerlichen  Be- 
zirken und  Gebieten,  wo,  wie  hier  zu  Land,  der  Hund  viel  w-ichtiger  ist 
als  in  den  Städten,  und  Häuser  ohne  Hund  etwas  Undenkbares  sind  (Wohn- 
stätten mit  zehn  und  noch  mehr  Hunden  sind  bei  uns  gewöhnlich),  geniesst 
der  Hund  einer  ganz  besonderen  Achtung.  „Kein  Hund  ist  vor  seiner 
Thür"  sind  verächtliche  Ausdrücke,  die  auf  einen  grundschlechten  Menschen 
angewandt  werden.  Bei  dem  grossen  Wert,  den  der  Hund  für  Bauer, 
Hirten  und  Jäger  hat,  ist  begreiflich,  dass  der  Verlust  eines  solchen  Tieres 
sehr  schmerzlich  empfunden  wird. 

Die  Verehrung  des  Wahnsinngeistes  des  Hundes,  welchem  Geist  so 
viele  dieser  Tiere  zum  Opfer  fallen,  ist  sehr  eigentümlich  und  muss,  wenn 
wir  sie  mit  anderen,  europäischen  Erscheinungen  vergleichen,  von  grauen 
Zeiten  her  sich  erhalten  haben.  An  jenem  Montagsmorgen  nun  errichten 
die  jungen  Burschen  des  Dorfes  auf  ausserhalb  desselben  gelegenen  Plätzen 
mächtige  Schaukeln  verschiedener  Konstruktion,  von  denen  einige  den 
schweizer.  „Gigampfe"  gleichen,  nur  mit  dem  Unterschied,  dass  der  Schaukel- 


Q'2  Lübeck: 

balken  dieser  letzteren  in  einer  und  zwar  durch  die  Einhängevorrichtung 
bestimmten  Yertikalebene    auf-    und    niedersteigt,    während  der  Schaukel- 
balken   der    hiesigen   sich   nach  allen  Seiten,    nach  oben  und  unten,    nach 
rechts    und  links  frei  bewegen  kann.     Es  kommen  ausserdem  Galgen  und 
Seilschaukeln  zur  Verwendung,  welch  letztere  von  einer  ganz  1)eträchtlichen 
Höhe    sind.     Wir    sahen    solche   von  10—15   und  noch  mehr  Meter  Höhe. 
Auf   solche  Schaukeln    wird    nun    der  Hund    gebracht,    festgebunden    und 
einigemale  tüchtig  hin-  und  hergeschaukelt,  wobei  das  Trittbrett,  an  welches 
er  geknebelt  ist,  ganz  gehörige  Kreisbogen  beschreibt.     Hierauf  wird  der 
Hund    losgebunden    und    sich    selber    überlassen.     Das    drollige  Gebahren 
desselben  nach  dieser  Prozedur  mag,  da  ihm  wohl  schlimm  genug  gewesen 
sein  mochte,  viel  zu  der  Ansicht  beigetragen  haben,  dass  ein  geschaukelter 
Hund  nicht  vom  Wahnsinne  geschlagen  werde,  sondern  den  möglicherweise 
in  ihm  hausenden   doch  noch  nicht  sich  äussernden  Gast  von  sich  schüttle. 
Es    scheint    uns    diese   Prozedur,    die    wir    leider    noch    nicht    beobachten 
konnten,  nur  ein  Yorbeugungsmittel  zu  sein  und  nicht  sowohl  an  kranken 
als  an  ganz  gesunden  Hunden  ausgeführt  zu  werden.    Daher  wird  sie  denn 
auch    mit    möglichst  vielen  Hunden  vorgenommen.     Sind  in  einem  Hause 
mehrere  Köter,  so  wird  das  Schaukeln  nur  an  einem  vollzogen.     Bloss  die 
Hirten    bringen    alle  ihre  Hunde  durch  die  Bank  auf  die  Schaukel.     Man 
darf  dabei  nicht  vergessen,  dass  diese  Tiere  bei  uns  oft  eher  einem  grossen 
Wolf  oder  einem  zottigen  Bären  gleichen  denn  einem  Hunde,  wodurch  wir 
nur    andeuten  wollen,    dass   mau  es  hier  nicht  etwa  mit  einem  kindischen 
Spiel  zu  thun  hat,  sondern  mit  einem  bedeutungsvollen  Akt.    Es  lässt  sich 
dies  auch  noch  aus  folgendem  ersehen:  Die  Seilschankel  wird  ihrer  Höhe 
wegen  meist  an  Bäumen  angebracht,  aber  nicht  jeder  Baum  kann  zu  diesem 
Akt  benutzt  werden.    Ein  treibender  Baum  soll  z.  B.  sehr  rasch  absterben, 
wenn  die  Wahnsinnsschaukel  an  ihm  befestigt  wurde.     Ja  sogar  das  ganze 
Dorf,  das  sich  dieser  Benutzung  eines  treibenden  Baumes  schuldig  machte, 
soll    von    allerhand  Kalamitäten    heimgesucht    werden.    —    Zur  Erklärung 
dieses  Schaukelspiels    müssen    wir   zunächst    in  Erinnerung  bringen,    dass 
hier  zu  Land  eine  ausserordentliche  Mannigfaltigkeit  in  Dreh-  und  Schwing- 
schaukeln besteht,  die  man  umsonst  im  europäischen  Westen  suchen  würde; 
dass  das  Schaukeln  auch  den  Menschen  einer  uralten  Gewohnheit  zufolge 
an    bestimmten   Tagen    im  Jahr    vorgeschrieben  wird;    dass    besonders  zu 
Ostern,    d.  h.    wenn    die  Tage   bereits   wärmer  werden.    Gross  und  Klein, 
Jung  und  Alt,  Reich  und  Arm,  Ledig  und  Verheiratet,  Männer  und  Weiber 
die  Schaukel    besteigen;    dass    alte  Lieder  die  Schaukel  in  sehr  nahe  Be- 
ziehung   zur  Sonne    bringen:    die  Sonne    (männl.  Wesen)  lässt  sich  sogar 
am  Ostertage    an    einer  unsichtbaren  Schaukel  herab,    oder  besser  gesagt, 
lässt    sich    in  Wolken    verhüllt,    wie  ein  Volkslied  ausführt,    bis  nahe  auf 
die  Erde  hinab  und  zieht  die  sich  schaukelnde  Grosdanka,  die  sie  sich  als 
Braut  ausgesucht  hat,    samt  ihrer  Schaukel  von  der  Erde  in  den  Himmel, 


Die  Krankheitsdämonen  der  Balkanvölker.  63 

um  sich  mit  ihr  zu  verheiraten.  Die  Sonne  selbst  scheint,  wie  das  Volks- 
lied lautet,  die  Schaukel  und  die  schaukelnde  Bewegung  zu  lieben:  auch 
zieht  das  Volk  an  einem  gewissen  Tag  im  Jahr  hinaus  ins  Freie,  um  den 
vor  Sonnenaufgang  stattfindenden  Sonnentauz  zu  sehen:  wir  sahen  selbst 
an  einigen  Orten  etwa  '/^ — V2  Stunde  vor  Aufgang  einen  ganz  beträcht- 
lichen Saum  des  Osthorizontes  durch  die  Lichtstrahlen  in  eiue  wenigstens 
7-2  Stunde  andauernde  äusserst  heftige  Wellenbewegung  versetzt,  als  wenn 
der  ganze  Osthorizont  wie  siedendes  Wasser .  aufbrodelte.  Wären  wir  nicht 
am  Ende  des  19.  Jahrhunderts,  wer  weiss,  ob  wir  nicht  die  Erklärung  der 
tanzenden  oder  schaukelnden  Sonne  äusserst  richtig  und  zutreffend  befunden 
hätten.  So  seltsam  uns  nun  auch  diese  noch  heute  hier  empfundene  Be- 
ziehung zur  Sonnenbewegung  anmutet,  so  finden  wir  diese  doch  noch 
anderswo  wieder.  Wir  erinnern  an  das  Diskuswerfen,  an  das  Herabrollen- 
lassen  von  Rädern  von  Berghöhen  in  die  Tiefe,  an  die  Gebetmühlen  der 
Chinesen,  an  die  Kreistänze  der  Griechen,  Bulgaren,  Rumänen,  —  vielleicht 
auch  an  die  indogermanischen  und  anderen  Völkerwanderungen  nach  dem 
Westen  u.  s.  w.  Lassen  wir  hier  das  Wort  dem  geistreichen  Forscher 
A.  Geiger:  „Die  gegenwärtigen  Menschen  pflegen  bei  Handlungen  und 
Ceremonien  wo  nicht  nach  dem  Zweck,  doch  nach  der  Bedeutung  zu 
fragen.  Allein  für  das  älteste  Handeln  ist  diese  Betrachtungsweise  nicht 
ganz  zutreffend,  ihre  Gebräuche  bedeuten  nichts,  sie  wollen  mit  ihnen 
nichts  sagen,  keine  Gedanken  ausdrücken.  Sie  sind  nicht  Symbol,  sie 
sind  Instinkt.  Was  wir  in  dem  Halbdunkel  der  Urgeschichte  von  dem 
geheimnisvollen  Wirken  und  Weben  der  Menschheit  gewahren,  es  zeigt 
uns  unser  eigenes  Bild  seltsam  verändert,  ja  von  fast  schauerlicher  Fremd- 
artigkeit. Wenn  durch  das  Herumgehen  im  Kreise,  durch  kreisförmige 
Prozessionen  oder  Wettläufe,  durch  rotierende  Drehung  von  Gegenständen 
mancher  Art,  die  Bewegung  des  Himmels  nachgeahmt  wird,  so  sind  dies 
Ausbrüche  eines  gewaltigen  Instinktes,  eines  Nachahmungstriebes,  der  das 
Menschengeschlecht  auf  einer  gewissen  Stufe  seines  Daseins  mit  unwider- 
stehlicher Macht  beherrscht  haben  muss.''  ^)  —  Diese  Beziehung  der  Schaukel 
zur  Sonne  erklärt  nun  auch,  warum  dieselben  möglichst  hoch  angebracht 
oder  aufgerichtet  werden.  Es  existiert  übrigens  am  selben  Tage  noch  ein 
Gebrauch,  der  gleichfalls  mit  dem  Licht  in  Beziehung  tritt:  Mancherorts 
begeben  sich  die  Leute  an  diesem  Tage  an  den  Bach  oder  Fluss  und 
waschen  sich  daselbst  die  Augen  aus.  Es  soll  nämlich  das  Wasser  dieses 
Tages  augenheilende  Kraft  haben. 

Der  Tag,  an  dem  der  Krankheitsdämon  der  Pferde  gefeiert  wird, 
ist  der  St.  Theodorstag,  dessen  zeitliche  Bestimmung  gleichfalls  vom 
zeitlichen  Ausgang  der  Osterfeiertage  abhängt.  Das  Pferd  spielt  im  Lande 
eine    ganz   aussergewöhnliche  Rolle.     Es  giebt  bei  dem  Mangel  der  aller- 


1)  A.  Geiger,  Zur  Entwicklungsgeschichte  der  Menschheit,  S.  107  f. 


(j4  Lübeck: 

einfachsten  Verkehrsmittel,  dem  fast  totalen  Fehlen  für  Wagen  passierbarer 
Wege  und  der  notwendigen  Brücken  kaum  ein  wichtigeres  Verkehrs-  und 
Trausportmittel  als  das  Pferd.  Es  sei  auch  zur  besseren  Orientierung  die 
Angabe  der  „Gazette  de  Lausanne"  vermerkt,  dass  in  der  Schweiz  auf 
700  Menschen  ein  Postbüreau  kommt  und  hier  nur  eines  auf  19  000.  — 
Am  St.  Theodorstage  werden  zwei  Brotformen  gebacken,  von  denen  die 
eine,  das  sogen.  St.  Theodorsbrot,  zerschnitten  und  teils  in  die  benach- 
barten Häuser  verteilt,  teils  im  Hause  genossen  wird.  Die  das  Gebäck 
ausgebende  Frau  wiehert  bei  dieser  Ceremonie  wie  ein  Pferd,  schlägt  mit 
dem  Fusse  aus  und  sagt  einen  Segensspruch  her,  der  auf  die  Fruchtbarkeit 
der  Pferde  zielt.  Während  der  ganzen  Festwoche  (vom  Montag  bis  Freitag 
einschliesslich)  werden  keinerlei  Hülsenpflauzen  in  irdenen  Gefässen  zu- 
bereitet, nicht  Erbsen,  noch  Lauch,  noch  Bohnen,  noch  Zwiebeln  u.  s.  w., 
damit  die  Pferde  nicht  von  der  Krankheit  befallen  werden.  Diese  lange 
Dauer  spricht  deutlich  genug  die  Furcht  vor  dem  fraglichen  Krankheits- 
dämon und  die  Wichtigkeit  des  Pferdes  im  Haushalt  des  Bauern  aus. 

Auch  die  Bienen  haben  Krankheitsdämoneu,  die  sie  heimsuchen. 
Die  Einsetzung  einer  festlichen  Verehrung  derselben  zum  Schutze  gegen 
die  vernichtende  Gewalt  der  Krankheiten,  denen  sie  ausgesetzt  sind,  erklärt 
sieh  wiederum  aus  der  grossen  Bedeutung  dieser  Tiere  für  den  Menschen. 
Der  Festtag  fällt  auf  den  8.  Juli,  an  welchem  gleichfalls  verschiedene 
Brotformen  gebacken  und  in  die  benachbarten  Häuser  verteilt  werden. 
Ausserdem  wird  früh  am  Morgen  dieses  Tages  ein  Honigstock  angeschnitten, 
dessen  Honig  gegen  verschiedene  stechende  Schmerzen  wie  Seitenstechen, 
Insektenstich  u.  s.  w.  und  auch  gegen  Halsleiden  zur  Verwendung  gelangt. 

Weitaus  das  wichtigste  Verehrungsfest,  das  in  diese  Feiertage  ein- 
zureihen ist,  ist  das  St.  Martinsfest,  hier  im  Lande  „Mratinzi"  genannt. 
Die  „Mratinzi"  sind  Feiertage,  die  an  einigen  Orten  vom  11. — 13.  November, 
an  anderen  vom  11. — 17.  November  dauern.  Auch  hier  spricht  die  lange 
Dauer  für  die  aussergewöhnliche  Bedeutung  dieses  Festes,  das,  wie  mau 
sieht,  dem  europäischen  Martinsfest  zeitlich  entspricht.  Die  Benennung 
Mratinzi  hat  aber  direkt  nichts  mit  dem  hl.  Martin  zu  thun.  Es  liegt  hier, 
unserer  Meinung  nach,  nur  eine  geschickte  Anlehnung  oder  selbst  Deckung 
eines  christlichen  Feiertages  mit  einem  heidnischen  vor.  In  dem  slavischen 
Wort  Mratinzi  zeigt  sich  nämlich  deutlich  der  Begriff  des  Zermalmens, 
Verfeinerns,  Zerstörens,  der  sich  ja  noch  in  gar  manchen  Wörtern  der  so 
ergiebigen  Wurzel  mr  sehr  verständlich  erhalten  hat.  Wir  erwähnen  bloss 
mit  Bezug  auf  die  slavischen  Sprachen,  dass  die  Wörter  des  Sterbens, 
Zersetzens,  Verfaulens,  Stinkens  und  Beschmutzens  zu  nicht  kleinem  Teil 
von  der  besagten  Wurzel  herrühren,  ohne  die  grosse  Zahl  Begriffe  in  Er- 
wähnung zu  ziehen,  die  andere  europäische  und  asiatische  Sprachen,  alte 
oder  neue,  aus  dieser  Wurzel  bildeten.  —  Somit  bezeichnet  der  Ausdruck 
Mratinzi  eigentlich  die  Tage,    die   dem   Zerstörer,    Zerbeisser,    Mörder 


Die  Krankheitsdänionen  der  Balkanvölker.  (j5 

(der  (resuudheit  und  des  Lebens  namentlich  des  Geflügels)  zur 
Verehrung  bestimmt  sind.  Nach  hiesiger  Auffassung  ist  das  Geflügel 
Eigentum  der  Hausfrau,  und  da  das  Huhn  unter  demselben  die  erste  Stelle 
einnimmt,  so  hat  dieser  Vogel  auch  eine  ganz  besondere  Bedeutung  und 
geniesst  einer  speciellen  Obhut.  Zur  Abwehr  seines  schrecklichsten  Feindes, 
eines  das  gesamte  Hausgeflügel  binnen  kurzer  Zeit  hinraffenden  bösen 
Krankheitsgeistes  Namens  Mratinik  wird  die  Martinswoche  gefeiert.  Dieser 
Krankheitsgeist  wird  als  „kohlrabenschwarzes",  grauses,  geflügeltes  Huhn, 
mit  unheimlichen,  mächtig  grossen  Augen  dargestellt;  es  scheint  nämlich, 
dass  den  Krankheitsdämonen  oft  die  Körper  derjenigen  Wesen  zugeschrieben 
werden,  die  von  ihnen  am  meisten  heimgesucht  werden.  Ob  diese  Er- 
scheinung allgemeine  Geltung  beansprucht,  bleibt  freilich  der  weiteren 
Untersuchung  offen. 

Der  Versöhnungsakt  nun  mit  dem  Krankheitsdämon  Mratinik  geht 
folgenderweise  vor  sich:  Nachdem  von  der  Hausfrau  (Gattin)  das  schönste 
schwarze  Huhn,  und  zwar  ein  Hähnchen,  ausgesucht  worden  ist,  wird  das- 
selbe von  zwei  männlichen  Personen  geschlachtet.  Ein  Volksgebrauch 
verbietet  den  Frauen  streng  jedwede  solche  Tötung.  Die  Schlachtung 
geschieht  am  Martinsabend.  Das  Hähnchen  wird  auf  die  Hausthürschwelle 
gelegt,  von  einer  der  beiden  Personen  an  den  Füssen,  von  der  anderen 
am  Kopf  gepackt,  doch  so,  dass  notwendigerweise  einer  der  Männer  ausser- 
halb der  Schwelle,  d.  h.  vor  der  Thür,  der  andere  innerhalb,  d.  h.  im  Hause 
selbst  sich  befindet.  Der  letztere  zückt  nun  das  Messer,  während  der  andere 
ihn  fragt:  „Was  schlachtest  du?"  (d.  h.  „was  opferst  du?",  da  „Weihnachten" 
und  „schlachten"  im  bulgarischen  gleicher  Wurzel  sind).  „Ich  schlachte 
den  Mratinik",  antwortet  der  auf  der  inneren  Seite  der  Schwelle  befindliche, 
und  schneidet  im  selben  Augenblick  dem  Huhn  den  Kopf  ab.  Mit  dem 
Ausruf:  „Nicht  schlachten  wir  dich,  dich  schlachtet  der  Mratinik!"  drückt 
er  dem  abgeschnittenen  Kopf  den  Schnabel  zu,  da  ein  Glaube  im  Lande 
herrscht,  dass,  wenn  der  Schnabel  zu  ist.  auch  der  Kachen  der  Wölfe 
während  des  Jahres  geschlossen  bleibe,  d.  h.  dass  man  von  ihnen  nichts 
zu  befürchten  haben  werde.  Nach  der  Schlachtung  des  Huhns  wird  das- 
selbe den  Frauen  zur  Rupfung  überlassen.  Die  Federn  werden  sorgsam 
aufbewahrt  und  als  Heilmittel  für  die  Wöchnerin  und  ihr  Kind  verwandt. 
Auch  bedient  mau  sich  der  Federn  am  zweiten  Tage  der  Martinswoche, 
am  12.  November,  zum  Räuchern  gegen  den  Dämon  einer  „Stich"  ge- 
nannten Krankheit.  Ausser  dem  Federwerk  bewahrt  man  noch  Kopf, 
Füsse  und  Magen  des  Huhnes  auf.  Sie  werden  an  einem  schwarzen  Faden 
aufgeschnürt  und  zur  Abwehr  von  Unheil  hinter  die  Eingangsthür  gehängt. 
Manchenorts  legt  man  noch  eine  glühende  Kohle  in  den  Schnabel  —  viel- 
leicht ein  Rest  der  früheren  Verehrung  des  Feuers.  Das  Fleisch  des 
Huhns  mit  Herz  und  Leber  wird  dann  zubereitet  und  verzehrt.  Das 
geopferte  Huhn  erhält  den  Namen  Martinchen. 

Zeitschr.  d.  Vereius  f.  Volkskunde.    1899.  *1 


66 


Lübeck : 


Dies  wären  im  grossen  Ganzen  die  Krankheitsfesttage  der  Haustiere. 
Wir  wollen  nur  noch  zum  Schluss  erwähnen,  dass  die  oben  berührte  Ver- 
ehrung des  Feuers  noch  bei  einem  anderen  Krankheitsheilverfahren  der 
Tiere  wiederkehrt:  Wird  das  Yieh  von  einer  gewissen  Krankheit  ergriffen, 
so  wird  in  den  betroffenen  Dörfern  in  sämtlichen  Häusern  das  Herdfeuer 
ausgelöscht  und  durch  Reiben  zweier  Hölzer  neues  angemacht.  Nützt  dies 
Verfahren  nichts,  so  ist  die  Bevölkerung  überzeugt,  dass  irgend  jemand 
im  Dorf  das  Feuer  nicht  ausgelöscht  habe,  welche  „Überzeugung"  dann 
oft  zu  heftigen  Scenen  veranlasst.  —  Nebenbei  bemerkt  war  das  Feuer- 
anzünden bei  Vieherkrankung  ja  auch  in  Deutschland  Sitte  und  hat  noch 
heute  daselbst  Spuren  hinterlassen  (Ulr.  Jahn,  Die  deutschen  Opfergebräuche 
bei  Ackerbau  und  Viehzucht,  Breslau  1884,  S.  26—49).  Bemerkt  sei 
übrigens,  dass  nur  ein  kleiner  Bruchteil  des  hiesigen  Volkes,  und  zwar  der 
roheste,  die  sogen.  Schopen,  jenen  Gebrauch  kennt. 

Ehe  wir  auf  die  Krankheitsfesttage  der  Menschen  zu  sprechen  kommen, 
sei  ein  kleiner  Exkurs  über  die  übrigen  mächtigen  Feinde  der  Haus- 
tiere erlaubt:  über  die  wilden  Tiere,  den  Wolf,  den  Bär,  die  Schlange  u.  s.w., 
denn  auch  diese  haben  ihrer  Macht  wegen  Tage  geweiht  bekommen,  an 
denen  sie  verehrt  werden.  Dem  Volksglauben  zufolge  ist  die  Martinswoche 
die  Paarungswoche  der  Wölfe.  Dieselbe  beginnt  mit  der  Nacht  des 
11.  Novembers  und  dauert  nach  allgemeinem  Dafürhalten  die  ganzen 
folgenden  sechs  Tage,  während  welcher  Zeit  die  Wölfe  furchtbar  in  den 
undurchdringlichen  verschneiten  Wäldern  herumheulen  und  damit  dem 
Bauer  von  der  ihm  bevorstehenden  Gefahr  deutlich  Kenntnis  geben.  Des- 
wegen eben  schliesst  er,  wie  ausgeführt,  dem  Martinshuhn  den  Schnabel 
bei  Zeiten.  Der  Schaden,  den  die  wilden  Tiere  noch  heutzutage  unter 
dem  Vieh  anrichten,  ist  ungemein  gross,  aber  bei  weitem  nicht  so  gross 
wie  ehedem,  als  die  Türken  noch  nicht  jene  schrecklichen  Waldfrevel 
verübt  hatten,  deren  traurige  Spuren  man  überall  wahrnimmt.  Freilich 
geschahen  diese  Frevel  im  Interesse  der  türkischen  Politik,  die  zur  Er- 
stickung der  revolutionären  Bewegungen  kein  anderes  Mittel  fand,  als  die 
Schlupfwinkel  der  Verschworenen,  der  sogen.  Chaiduten,  die  finsteren, 
pfadlosen,  unzugänglichen  Wälder  mit  Eisen  und  Feuer  zu  zerstören. 
Leidet  das  Volk  auch  heute  in  hohem  Masse  an  den  Folgen  dieser  Ver- 
nichtungen, so  waren  doch  dadurch  dem  wilden  Getier  Schranken  gesetzt 
und  dasselbe  in  andere  Gegenden  verwiesen.  Es  ist  begreiflich,  dass  zu 
der  Zeit,  als  dem  Bären  in  jedem  Haus  sein  Lieblingsgericht,  gekochter 
Mais,  bereitet  und  aufgetischt  wurde  und  er  stündlich  als  Gast  erwartet 
war,  während  man  glaubte,  er  werde  die  Rinder  derjenigen  Leute  auf- 
fressen, die  nichts  für  seinen  Empfang  vorbereitet  hatten,  der  Schrecken 
vor  diesem  und  ihm  ähnlichen  Unholden  kein  gelinder  war,  um  so  mehr, 
als  der  Mangel  an  Schloss  und  Riegel,  der  noch  heute  tief  fühlbar  ist, 
diesem  Getier  die  Möglichkeit  gab,  den  Volksglauben  nicht  selten  zu  ver- 


Die  Krankheitsdämonen  der  Balkanvölker.  (>7 

Nvirklicheu.  So  begreift  sich  denn  auch  die  Einführung  der  noch  heute 
fortbestehenden  Festtage  zu  Ehren  von  Wolf.  Bär,  Fuchs.  Schlange  u.  s.  w. 
als  Bärentag.  Wolfstag  u.  s.  w. 

Wenden  wir  uns  nun  wieder  dem  eigentlichen  Thema  zu. 

Ungleich  interessanter  als  die  vorigen  sind  die  Tage,  die  den  Krank- 
heitsdämonen der  Menschen  als  Feste  bestimmt  sind.  Manche  der 
menschlichen  Krankheiten  haben  zwar  heutigen  Tages  bereits  wesentliche, 
selbst  offizielle  Heilmittel  gefunden,  so  dass  die  zu  ihrer  Austreibung  er- 
forderlichen Ceremonien  unwesentlich  geworden  sind  und  nur  ihr  Name 
im  Kalender  des  Volkes  an  den  Schrecken  erinnert,  der  vor  den  betr. 
Krankheiten  einherraste  und  ihnen  nachstürmte.  Von  den  nur  durch  ihre 
Benennung  auffallenden  und  namhaften  Krankheitstagen  bemerken  wir 
kurz  den  schwarzen  Dienstag,  den  verrückten  Mittwoch  und  den 
Kopfschwindeltag. 

Der  schwarze  oder  ussowski-Dienstag  wird  zu  Ehren  der  Krank- 
heit „Ustrow"  oder  „Ustrel"  begangen,  die  sehr  gefährlich  und  mit  heftigen 
stechenden  und  bohrenden  Schmerzen  verbunden  ist,  oft  auch  von  Fluss 
begleitet  wird.  Unserer  Meinung  nach  scheint  die  Benennung  „schwarz" 
{tschern)  dafür  zu  sprechen,  dass  man  es  ursprünglich  mit  einer  schweren 
Krankheit  zu  thun  hatte,  die  den  Tod,  d.  h.  die  aschfahle  (=  schwarze) 
Verfärbung  des  Körpers  zur  Folge  hatte,  was  auch  die  steten  Ausdrücke 
,.schwarze  Pest",  „schwarze  Sorgen"  u.  s.  w.  zu  belegen  scheinen.  Es 
liesse  sich  zur  Erhärtung  dieser  Meinung  auch  die  Bezeichnung  ustrel 
lieranziehen,  wenn  man  das  Wort  von  strelja.  strahlen,  pfeilen,  im  Aorist 
—  mit  Pfeilen  erlegen,  herzuleiten  das  Kecht  hat,  ohne  dabei  eine  Volks- 
etymologie zu  verbrechen.  Ausser  den  allen  Krankheitstagen  gemeinsamen 
Merkmalen  weist  dieser  Tag  keine  Absonderlichkeit  auf. 

Der  verrückte  Mittwoch,  der  erste  Mittwoch  in  den  grossen  Fasten, 
isr  der  Beschwichtigung  des  Gottseibeiuns  geweiht,  da  dieser  die  Ursache 
des  menschlichen  Wahnsinns  sein  soll.  Dieser  Tag  ist  deshalb  interessanter 
als  der  vorhergeliende.  weil  kirchliclie  Anschauungen  und  Elemente  in 
desselben  Begehung  eintraten  und  ilmi  durch  ihren  Konservativismus  etwas 
von  seiner  ursprünglichen  Eigentümlichkeit  erhielten.  Dieses  Element 
besteht  namentlich  in  dem  Cflauben,  dass  alles,  was  der  vom  Wahnsinns- 
teufel Besessene  wirkt,  als  schwere  Sünde  zu  begreifen  sei.  eine  Ansicht, 
in  welcher  aus  geistiger  Beschränktheit  ein  psychisch  unnormales,  jedoch 
notwendiges  Geschehen  mit  einem  moralisch  bedauerlichen  Akte,  einem 
sittlichen  Postulat,  verwechselt  wird.  —  eine  Vertauschung,  die  für  sich 
zwar  reich  an  erschütternden  Folgen,  doch  in  so  vergessenen  und  von 
aller  Kultur  so  fernen  Landstrichen  um  so  entschuldbarer  wird,  je  mehr 
sie  in  den  Katechismen  civilisierter  Länder  systematisiert  wird.  —  Einen 
solchen  vom  Wahnsinn  geschlagenen,  d.  h.  mit  Sünden  angefüllten  Un 
glücklichen  meidet  nach  dem  Volksglauben  sogar  der  Erzengel,  der  sogen. 

5* 


(^g  Weinliuld: 

„öeelenausreisser"  und  überlässt  ihn  (leni  Dämon,  der  in  ihn  gefahren  ist. 
Die  Beschwichtigung  und  Bannung  dieses  letzteren  geschieht  dem  kirch- 
lichen Element  des  „verrückten  Mittwochs"  entsprechend,  namentlich  durch 
strenges  Fasten,  dann  auch  durch  Besteigung  von  Schaukeln,  durch  Be- 
sprechung, Besingung  u.  s.  w. 

Der  Ko])fschwindeltag  ist,  wie  der  Name  schon  besagt,  zu  Ehren 
der  den  Kopfschwindel  verursachenden,  Menschen  und  Tiere  gleicherweise 
heimsuchenden  Krankheit  eingeführt.  Der  tötliche  Einfluss  derselben  macht 
sich  nur  bei  Tieren  geltend,  wogegen  3[enschen  bloss  die  Kraft  zu  denken 
oder  sich  an  etwas  zu  erinnern  verlieren.  Auch  bei  diesem  Feiertage  be- 
schränken sich  Begehung  und  Heilung  auf  die  den  sämtliclien  Feiertagen 
gemeinsamen  AVeisen. 

Eigentümlicher  als  die  drei  vorhergehenden  Tage  ist  der  Haartag, 
hier  zu  Lande  „Lisso^'  genannt.  Seine  Begehung  fällt  auf  den  14.  Juni 
und  bezweckt  die  Verehrung  jener  Krankheit,  derentwegen  die  Kopfhaare 
ausfallen.  Gilt  schon  in  Europa  der  Haarausfall  für  Männer  und  Frauen 
als  grosses  Übel,  so  ist  dies  noch  vielmehr  in  den  Balkanländern  der  Fall, 
wo  körperliche  Gebrechen  auf  spartanische  Weise  in  Betracht  gezogen 
werden,  so  dass  ein  kahlköpfiger  Mensch  z.  B.  nach  dem  Volksglauben 
überhaupt  nicht  melir  unter  die  Menschen  zählt.  Kahlköpfige  Männer  und 
Frauen  können  sich  deshalb  auch  nicht  verheiraten:  so  blieb  ein  etwa 
110  Jahr  altes  Weiblein,  das  neben  uns  im  Nachbarhause  wohnte,  auch  die 
ganze  jahrhundertlange  Zeit  seines  irdisclien  Lebenswandels  seiner  ewigen 
Kahlköpfigkeit  wegen  „Jungfer''  (um  uns  des  schweizerischen,  zutreffenderen 
Ausdrucks  zu  bedienen).  Auch  der  Haartag  w^eist  keine  erwähnenswerten 
speciellen  Ceremonien  auf. 

Gabrovo  in  Bulgarien. 

(FortsctzuDi;-  folgt.) 


Die  alte  Grericlitsstätte  (il  Baiico  de  la  Resön) 
zu  Cavalese  im  Fleimser  Thal  in  Südtirol. 

Von  Karl  Weinhold. 
(Mit  Tafel  II.) 

An  der  Südostseite  des  Marktes  Cavalese,  des  Hauptortes  im  Fleimser 
Thale  in  Südtirol,  erhebt  sich  ein  Hügel,  von  dem  man  weitliin  Thal  und 
Berge  überschaut,  bis  Predazzo  aufwärts  und  bis  zur  Mündung  des  Avisio 
in  die  Etsch  abwärts.  Auf  dem  Hügel  steht  die  alte  Pfarrkirche  des  Thals, 
die  ecclesia  S.  Mariae  plebis  Flenii,    und    neben    ihr    auf  der  Kirchwiese. 


Die  alte  Gerichtsstätte  zu  Cavalese  im  Fleimser  Thal  in  Südtirol. 


69 


]1  Prä.  sind  von  einer  lebenden  Hecke  umfriedet  und  von  zum  Teil  uralten 
Linden  bescdiattet,  die  noch  gut  erhaltenen  Reste  der  alten  Dingstätte  zu 
schauen,  die  nicht  bloss  für  die  Dorfgemeinde  Cavalese  diente,  sondern 
die  für  die  ganze  politische  Fleimser  Thalgemeinde,  die  communitas  vallis 


Flemmarum.  den  politischen  Mittelpunkt 
bildete.  In  der  Mitte  des  Platzes  steht  eiu 
gemauerter,  mit  Por)>hyr[>latten  gedeckter 
Tisch;  ihn  umschliesst  ein  etw.is  niedrigerer 
Bankkreis,  der  durch  zwei  Zugäuge  in  zwei 
ungleiche  Hälften  geteilt  ist,  und  um  diesen 
Mittelpunkt  zieht  sich  konzentrisch  in  einigem 
Abstände  ein  äusserer  Bankkreis,  der  durch 
die  Zugänge  in  vier  Bänke  zerfällt,  alle 
wie  der  Tisch  gemauert  und  mit  Por])hyr- 
platten  gedeckt  (vgl.  nebenstehenden  Auf- 
riss  ö.  /'  und  Tafel  H). 

Die  politische  Thal-  und  Gerichtsgemeinde  Fleims^).  eine  alte  auf 
Gesamteigentum  beruhende  Markgenossenschaft  hat,  bis  Tirol  an  Bayern 
durch  Napoleon  1.  fiel,  bestanden.  Die  bayerische  Regierung  löste  sie  auf 
und  an  die  Stelle  trat  eine  private  Wirtschaftsgemeinde  des  Thals,  während 
die  einzelnen  Dorfmarken  politische  Dorfgemeinden  wurden. 

Die  Grafschaft  Trient  wurde  durch  K.  Konrad  1027  von  der  Mark 
Yeroua  abgetrennt  und  dem  Bischof  Tlrich  II.  von  Trient  und  dessen 
Nachfolgern  verliehen.  So  kam  auch  die  freie  Bauerugemeinde  Fleims 
unter  den  Trienter  Bischof  als  ihren  Grafen;  über  die  Ausübung  der 
Gerichtsbarkeit  im  Thale  und  über  die  Steuern  traf  ein  1111  und  llTi 
abgeschlossener  Vertrag  zwischen  dem  Bischof  Gebhart  und  der  communitas 
Tallis  Flemmarum,  die  sogen.  Patti  Gebardini.  die  Bestimmungen,  welche 
<ler  Thalgemeinde  bis  zur  bayerischen  Besitzergreifung  als  ihr  Rechts- 
und Freiheitsbrief  gegolten  haben. 

Die  langgestreckte  Thalgemeinde,  die  den  mittleren  Teil  des  langen 
Flusslaufs  des  Avisio  einnimmt,  war  schon  1245  in  vier  Quartiere  geteilt, 
die    aber   nur   für  die  Nutzung  der  Gemeindeländereien  Bedeutung  hatten. 


1)  Dieser  Skizze  liegt  zu  (irunde  das  Bncli  von  Tullio  von  Sartori-Montecroce:  Die 
Thal-  und  Gerichtsgemeinde  Fleims  und  ihr  Statutarrecht.  Innsbruck  1891.  Vgl.  auch 
Notizie  storico-statistische  sulla  Valle  di  Fiemmc  di  S.  G.  Delvay.  Trento  1891.  Fräulein 
M.  Ejsn  in  Salzburg  verdanken  wir  die  Vorlage  für  unsere  Bildtafel  und  manche  Notizen. 


70  Weinhold : 

insofern  die  Waldungen  und  das  meiste  Weideland  diesen  Vierteln  dauernd* 
zur  Sondernutzung  überwiesen  ward,  während  das  übrige  Land  in  vier 
gleiche  Lose  (sorti)  geteilt,  zu  jährlichem  Wechsel  unter  die  Quartiere 
verlost  wurde.  1654  verwandelte  man  die  jährliche  Losung,  die  sich  als 
schädlich  erwiesen  hatte,  in  eine  vierjährige,  was  bis  1847  Bestand  gehabt  hat. 
An  der  Spitze  der  Thalgemeinde  stund  (zuerst  1245  erwähnt)  der 
Scarius  Episcopi,  ital.  Scario,  der  am  1.  Mai  jeden  Jahres  aus  den  Thal- 
genossen (vicini)  von  dem  abtretenden  Scario,  dessen  Räten  (den  Regolani 
de  Comun)  und  von  den  Vorstehern  der  einzelnen  Dörfer  (den  Regolani 
delle  Ville)  frei  gew^ählt  wurde.  Der  Scario  war  ursprünglich  und  auch 
nachher  im  wesentlichen  der  Rent-  oder  Steuerbeamte  des  Gastaldio,  des 
Bischofs  von  Trieut;  ausserdem  übte  er.  unterstützt  von  den  Regolani  de 
Comun  die  niedere  Gerichtsbarkeit  der  Thalmark,  insofern  als  er  über 
Streitigkeiten  entschied,  welche  die  Nutzung  der  Mark  betrafen,  und  über 
Zwistigkeiten  unter  den  einzelnen  Dorfgemeinden  (den  regole)  oder  unter 
den  Quartieren.  Gegen  die  Entscheidung  des  Scario  konnte  bei  der  Thal- 
gemeinde Berufung  eingelegt  w^erden.  welche  dann  von  dem  Scario  zu- 
sammenberufen werden  musste.  Von  der  Entscheidung  dieser,  zu  der  in^ 
älterer  Zeit  Einstimmigkeit,  später  Mehrheitsbeschluss  gehörte,  stund  Be- 
rufung an  das  Vikariatsgericht  frei. 

Die  Regolani  de  Comun  wurden  am  1.  Mai  von  den  Vorstehern  der 
Dorfgemeinden  gewählt,  je  zwei  aus  den  Quartieren  Cavalese-Varena  und 
Tesero,  je  einer  aus  den  Quartieren  Castello,  Trodena.  Carano  und  Daiono, 
also  zusammen  acht^).  Gleichzeitig  wählten  sie  die  Saltari  de  Comun 
(Aufsichtsbeamte),  den  Cancelliere  (Gemeindeschreiber)  und  die  Cavedolari 
(Alpmeister). 

Die  Wahl  des  Scario  ward  in  Cavalese  vollzogen:  der  Saltar  von 
Cavalese  läutete  dann  die  grosse  Glocke  der  Marienkirche,  zum  Zeichen, 
dass  der  neue  Scario  gewählt  sei.  Darnach  wurden  die  neuen  Regolani 
de  Comun  und  die  anderen  Beamten  der  (lesamtgemeiude  erkoren.  Da- 
gegen wird  die  Wahl  der  Regolani  delle  Ville  wohl  in  ihren  Dörfern 
geschehen  sein.  Die  regola  da  Cavales  hatte  drei  Vorsteher.  In  jeder 
Dorfgemeinde  gab  es  zahlreiche  Saltari,  über  die  Felder,  den  Bannwald, 
den  Markthandel  u.  s.  w.  Die  Vorsteher  vertraten  die  Dorfgemeinde  ia 
ihren  Rechten  und  Interessen  und  entschieden  in  den  wirtschaftlichen 
Streitigkeiten  der  Dorfgenossen  untereinander. 

Zweimal  im  Jahre  trat  die  Thalgemeinde  zum  coniune  ordinäre  in 
Cavalese  zusammen:  am  1.  Mai  in  der  einst  auf  dem  Dorfplatze  befindlichen; 
Gemeindehalle  (la  Loza)  an  der  Kirche,  und  am  15.  August  unter  freiemi 
Himmel    auf    der  Kirchwiesß,    dem  Prä,    den  wir  oben  geschildert  haben. 

1)  Die  ältesten  nachweislichen  Quarteria  (1-J45)  waien  das  Quarterium  de  Cavalesio- 
Cadrubbio -Varena,  das  Qu.  Tesidi,  Qu.  de  Cadrano-Aiano  und  Qu.  Castelli.  1318  fand  die 
neue  Gruppierung  statt:  v.  Sartori-Montecroce  S.  7(). 


Die  alte  Gerichtsstätte  zu  Cavalesa  im  Fleimser  Thal  in  Südtivol.  71 

auf  der  Dingstätte,  auf  dem  Banco  de  la  Res*in.  Die  gebotenen  Dinge, 
comuni  straordinari,  berief  der  Öcario,  indem  er  sie  durch  die  Saltari  in 
jeder  regola  ansagen  liess. 

Die  Inhaberin  der  Gemeinderechte  war  die  communitas  vallis  Flem- 
marum,  die,  wenn  man  alles  zusammenfasst  (v.  Sartori-Montecroce  S.  136) 
ilie  Autonomie  der  Thalgenossenschaft  zu  wahren  hatte  und  die  Verhand- 
lungen darüber  mit  dem  Grafen-Bischof  von  Trient,  später  mit  der  Inns- 
brucker Kegieruug  führte.  Bei  ihr  stund  ferner  die  Verfügung  über  die 
gemeine  Mark  und  das  Genossenschaftsgut,  die  Entscheidung  über  Streit- 
sachen des  Coraune,  die  Aufnahme  in  die  Genossenschaft  und  die  Ordnung 
der  kirchlichen  Umzüge  der  Thalgemeinde. 

Auch  bei  der  Ausübung  der  öffentlichen  Gerichtsl)arkeit,  welche  dem 
Bischof  von  Trient  als  Grafen  zustund,  hatte  die  Thalgemeinde  ein  Auf- 
sichts-  und  Mitwirkungsrecht  sich  ausdrücklich  bei  den  Unterhandlungen 
mit  Bischof  Gebhard  1110  ausbedungen.  Sie  übte  dasselbe  durch  das 
consilium  Juratorum,  die  Giurati  (v.  Sartori-Montecroce  S.  13i>if.),  bei 
denen  in  älterer  Zeit  die  Urteilsfindung  allein  stund.  Aber  der  ständige 
bischöfliche  gelehrte  Richter,  der  Vikar  des  Gastaldio,  der  dann  auch  seinen 
Wohnsitz  im  Tlial  genommen,  beschränkte  die  Mitwirkung  der  Schöifen  oder 
(iiurati  in  Civilsachen  allmählich  auf  das  stärkste,  während  in  Strafsachen 
das  Geschworenenconsil,  unter  einigen  Änderungen,  im  wesentlichen  die 
J\ritwirkung  bis  in  den  Beginn  iles  19.  Jahrh.  beliauptet  hat. 

Die  ordentlichen  Gerichtstermine  unter  Leitung  des  bischöflichen 
Richters  waren  jeden  Samstag  (nur  im  Mai  jeden  P^reitag)  im  Gemeinde- 
hause von  Cavalese;  ausser  den  Giurati  wohnte  ihnen  auch  der  Scario  bei. 
l)ei  den  ausserordentlichen  Terminen,  welche  der  Vikai-  nach  Belieben 
ansetzte,  verhandelte  wenigstens  später  d(n-selbe  ohne  Zuzieliung  der  Ge- 
schworenen und  des  Scario. 

Die  beiden  alten  Placita  (Piaidi)  dauerten  daneben  fort,  eins  im 
Frühjahr,  das  andre  im  Herbst.  In  ältester  Zeit  war  der  Gastaldio  selbst 
dazu  in  das  Thal  gekommen.  In  Cavalese  fielen  die  Piaidi  auf  den  ersten 
Freitag  im  Mai  und  auf  den  ersten  Samstag  nach  Martini,  in  Moena  auf 
den  Montag  nach  dem  Cavaleser  Placitum. 

In  der  Nähe  von  Cavalese  wurden  auch  die  Leibes  und  Lebensstrafen 
vollzogen.  Auf  dem  Doss  de  la  forca  (Gralgenbühel),  zwischen  Cavalese 
und  Castello,  henkte,  räderte  und  vierteilte  der  Henker;  der  Besitzer  der 
Galgen  wiese  hatte  alle  Instrumente  dafür  zu  liefern.  Auf  dem  Doss  de 
le  streghe  (Hexenbühel)  ward  geköpft  und  verbrannt.  Der  Pranger  stund 
bei  dem  banco  de  la  reson. 

Unleugbar  liat  die  Gemeindeverfassung  des  Fleimser  Thals  germanische 
Grundzüge.  Auch  in  der  Gerichtsverfassung  sind  dieselben  vorhanden 
gewesen,  wurden  aber  durch  römisches  und  kanonisches  Recht   überdeckt. 


72  Landau : 


Holekreiscli. 

Von  Dr.  A.  Landau. 


Von  altersher  war  es  bei  den  Juden  Sitte,  dem  neugeborenen  Kinde 
zwei  Namen  zu  geben:  den  „heiligen"  (meist  hebräischen  Ursprungs),  der 
bei  den  rituellen  Funktionen  in  der  Synagoge  im  Gebrauche  war.  und 
einen  „deutschen",  profanen  Rufnamen,  dessen  man  sich  im  bürgerlichen 
Leben  bediente.  Der  erstere  wurde  in  der  Synagoge  beigelegt,  mit  der 
Erteilung  des  zweiten  war  und  ist  noch  heute  bei  den  Juden  Mitteldeutsch- 
lands eine  häusliche  Feier  eigener  Art  verbunden. 

Am  Xaclnnittag  des  Sabbats,  an  dem  die  Wöchnerin  zuerst  die  Syna- 
goge besucht,  versammeln  sich  die  Kinder  der  Gemeinde  in  ihrer  AVohnung, 
und  zwar  je  nach  dem  Geschlechte  des  Neugeborenen  die  Knaben  oder 
die  Mädchen.  Sie  stellen  sich  um  die  Wiege  des  Kindes  und  heben  diese, 
nachdem  der  Kantor  einige  Bibelverse  recitiert  hat,  dreimal  in  die  Höhe 
mit  dem  jedesmaligen  Rufe:  „Holekreisch!  wie  soll  das  Kindche  heisse?" 
„N."  Hierauf  werden  sie,  sowie  die  anwesenden  Gäste  mit  allerhand 
Süssigkeiten  bewirtet. 

Von  dem  Ausruf  Holekreisch  (auch  Holkräsch,  Cholkreisch)  hat  die 
Feier  ihren  Namen  erhalten.  Brauch  und  Name  sollen  auch  bei  den 
Juden  Hollands  und  Frankreichs  bekannt  sein,  sicher  bezeugt  sind  sie 
jedoch  nur  aus  Weilburg.  Mainz,  Frankfurt  a.  M.,  der  Provinz  Starkenl)urg, 
dem  Eisenacher  Oberlande  und  aus  Fürth  ^).  In  Ostdeutschland  und  Öster- 
reich ist  der  Braucli  ganz  unbekannt. 

Der  älteste  bekannte  Versuch,  das  Wort  Holekreisch  zu  erklären, 
stammt  aus  dem  14.  Jahrliundert.  Der  Rabbiner  Moses  Minz  aus  Mainz, 
der  um  die  Mitte  des  15.  Jahrhunderts  lebte,  überlieferte  als  Erklärung, 
die  sein  Vater  von  seinen  Lehrern  empfangen  habe,  dass  das  Wort  aus 
dem  liebräischen  chol,  profan,  und  kreischen  zusammengesetzt  sei.  Spätere 
Etymologien  übergehend  erwähne  ich  nur,  dass  Ferles  a.  a.  O.  das  Wort 
znerst  mit  Holle,  Hulda  in  Verbindung  gebracht  hat.  Güdemann  a.  a.  O. 
vernmtet,  dass  die  Hulden  angerufen  wurden  oder  dass  der  dem  Kin(U' 
beigelegte  Name  ein  „holder",  von  guter  Vorbedingung  sein  sollte. 

In  der  That  hat  der  ganze  Akt,  wenn  mau  von  der  Hersagung  der 
Bibelverse  absieht,  die  ja  in  späterer  Zeit  zugefügt  sein  kann,  um  ihm 
eine  religiöse  Weihe  zu  geben,  nichts  Jüdisches  au  sich,  so  dass  die  Ver- 
mutung   nahe    liegt,    man   habe   es  mit  einem  alten  deutschen  Brauche  zu 

1)  S.  die  Litteratur  bei  Low,  Die  Lebensalter  in  der  jüd.  Litteratur,  Szegedin  1.ST5, 
S.  ]04f.  Pcrles  in  der  Jubelschrift  [zum  70.  Geburtstag  des  Prof.  Grätz,  Breslau  1887, 
:-'.  2(;.     Güdemann.  Gesch.  d.  Erziehungswesens  u.  d.  Kultur  d.  Juden,  Wien  18SS,  S.  104  f. 


Holekreisch.  73 

tlmn,  der  vielleicht  noch  in  die  heidnische  Zeit  zurückreicht.  Bei  den 
Juden  konnte  sich  ein  solcher  Brauch  leichter  erhalten,  weil  bei  der  Sitte 
der  Doppelnamen  neben  der  rituellen  Namengebung  noch  Platz  für  eine 
häusliche  war,  wogegen  sich  neben  dem  kirchlichen  Taufakte  eine  zweite 
Xamengebungsfeier  nicht  behaupten  konnte.  Wenn  aber  auch  der  Brauch 
in  christlichen  Kreisen  ganz  erloschen  scheint  so  ist  doch  nicht  jede  Spur 
von  ihm  verschwunden:  im  Kinderliede  glaube  ich  eine  solche  zu  finden. 
Am  deutlichsten  spricht  ein  Reitliedchen  aus  Nieder-Österreich: 

Hop,  hop,  HeserlmAfi!  Kiz'l  oda  GoassM. 

Unsa  Kaz  h:id  Schtiferhi  nn.  ,,Wea'  soll's  heb'n?" 

Rennt  damid  af  HoUabrunn.  D'  Softer]  mid  da  Reb'n. 

Firul't  a  Kind'I  in  da  Sunn.  „Wea''  soll  d'  Wind'l  wasch'nV^ 

.,Wiä  soll's  hoass'n'?"  D'  Wabel  mid  da  Blaudadasch'n.^) 

Hier  ist  der  Brunnen  der  Frau  Holle,  aus  dem  die  Kinder  kommen, 
das  Heben  des  Kindes,  die  Frage,  wie  das  Kind  heissen  soll,  und  die 
Antwort,  also  alh'  Einzelheiten,  die  die  jüdische  Feier  enthält. 

Häutiger  sind  minder  vollständige  Reitliedchen.  in  denen  der  Holle 
und  des  Hebens  keine  Erwähnung  geschieht: 

Hist  Hood  Edelmann!  Hat  ein  Kindlein  (unnen. 

D"  Katz  leit  d'  Stiefeln  an,  Wie  soll's  heissen? 

Springt  in  den  Brunne,  Endle  bendle  Geissen. 

Hat  e  Kind  gefunde.  Wer  soll  die  Windeln  waschen? 

..Wie  soll  es  heisse?"  Drei  alte  Plaudertaschen.*) 

D'  Mäckcr  mit  den  Gaise. 

„Wer  soll  d'  Windle  wasche'?''  I^e>^-  ^'^it'  Ja"lmaa". 

Du.  du  alte  Lumpedäsche.-^)  Katz  haut  Stiefl  aa", 

Reift  si  üwan  Brunna, 

Hopp  hopp  Edelmann.  g.j^t  gje  .^  Kinn'l  g'funna. 

D'  Katz  hat  Stiefel  an,  ^öj  solPs  haiss'n? 

Reitet  über'n  Bronna.  ß^^^  ^it  ^a  Schhiiss'nl- 

Hat  a  Kindle  gfunna.  (o^je,..  Zucka'  af  da  Gaiss'n). 

Wie  soirs  heisse?  Wea^  soll  d'  Wind'ln  wasch'n? 
Böckle  oder  Geissle.  ;^t    j^    ^^^  ^^  Bücksenasch'n!" 

Wer  soll  d'  Windle  wasche?  ^^^^j..  .^^  ^^  Rumpltasch'n). 
D"  Anna  mit  der  schmotzige  Tasche.'')         Wea'  soll  sie  büag'ln? 

Hist  host  Edelmann.  „N.  N.  mit  sein  Niag'ln!^ 
Die  Katz  legt  die  Stiefel  an.  (Plan.)^) 

Springt  in  den   Brunnen, 

1)  Ziska  u.  Schottky,  Österr.  Volksl ,  12.  Böhme,  Kinderlied  u.  Kiiiderspiol,  Kö.  ".74, 
S.  83.     Unvollständig  bei  Simrock,  Rind  erb -,  No.  175  a,  S.  3-26. 

2^  Aus  Stöber,  Elsäss.  Volksbüchl.,  1.  Aufl.  (in  der  2.  Aufl.  nicht  enthalten)  bei  Böhme 
No.  378,  S.  84.    Var.  bei  Firmenich  II,  511. 

3)  Aus  Meier,  Kinderreimc  a.  Schwaben  bei  Böhme  No.  377. 

4)  Simrock,  Kinderbuch,  2.  Aufl.,  No.  170,  S  47.     Böhme  No.  375. 

5)  Hruschka  u.  Toischer,  Deutsche  Volkslieder  aus  Böhmen,  No.  W,  S.  3Sl>. 


74 


Landau: 


wer  Solls  wign? 
da  Engel  mit  da  Geigen. 
wer  soll  d'  Windeln  waschen? 
die  alte  W;uva  mit  Flücheltaschen. 
(Iglau.)^) 


Hopp  hopp,  Knedelmo. 
da  Baur  zigt  se  d'  Stifeln  6, 
get  zum  Brünnl, 
gfindt  a  Ninnl  (=  Kind), 
wie  solls  iiässen? 
Zucker  oder  Gaschen. 

Dagegen  ist  wieder  vom  Heben  des  Kinde 
der  Reime,  in  denen  an  die  Stelle  der  Katze, 
der  in    den  Kinderliedern  so  oft  wiederkehrenden  „drei  Jungfrauen'"  tritt: 

Die  dritte  geht  ans  Brünnchen, 
Findt  ein  goldig  Kindchen. 
Wer  Solls  heben? 


die  Rede  in  der  Mehrzahl 
die  das  Kind  findet,    eine 


Sunnche,  Sunnche,  komm  eriwwer! 
Wendche,  Wendche,  bleib  driw^we. 
Driwwe  stier  e  Gotteshaus, 
Gucke  drei  scheue  Boppe  eraus. 
Dei  a(n)  wickelt  Weire, 
Dei  anner  spennt  Seire, 
Dei  dritt,  dei  gieht  ohn  Bronne, 
Horre  Kennche  funne. 
Wer  solls  hewe? 
„Dei  Mahd  aus  'em  Lewe."' 
Wie  solls  hasse? 
„Meckele,  meckele  Gase." 
Wer  soll  dei  Wennele  wesche? 
„Dei  Mahd  met  der  Khapperdesche.' 
(Königshofen.    Amt  Idstein.)-) 

Putsche,  putsche,  Rösschen, 

Fahr  übers  Schlösschen, 

Fahr  übers  Glockenhaus, 

Gucken  drei  schöne  Puppen  heraus. 

Die  eine  spinnt  Seide, 

Die  andre  wickelt  Weide, 

Die  dritte  geht  an  Brunnen, 

Die  hat  ein  Kindlein  l'unden; 

Wie  soll  das  Kindlein  heissen? 

„Ämeline  Geisel" 

Wer  solls  heben? 

„Die  Tochter  aus  dem  Löwen.'' 

(Caub.)^') 
Sonn,  Sonn,  scheine. 
Fahr  über  Rheine, 
Fahr  übers  Glockenhaus, 
Gucken  drei  schöne  Puppen  heraus. 
Eine  die  spinnt  Seide, 
Die  andre  wackelt  Weide, 


Die  Tochter  aus  dem  Löwen. 
Wer  soll  die  Windeln  waschen? 
Drei  alte  Schneppertäschen.*) 

Reite,  reite  Rössche. 
Zu  Cöln  ist  ein  Schlössche, 
zu  Cöln  ist  ein  gülden  Haus, 
da  schauen  drei  schöne  Jungfrauen 
die  eine  spinnt  Seide,  [raus, 

die  andre  wickelt  Weide, 
die  dritte  geht  an  Brunnen, 
hat  ein  Kindche  glünnen. 
wie  soll's  heisse? 
Böckle,  Böckle  Geisse. 
wer  soll's  hebe? 
die  Tochter  aus'm  Löwe, 
wer  soll  die  Windle  wüsche? 
der  muss  auch  den  Dreck  wegfresse- 
(Am  Rhein.)  "^) 

Inche  Binche,  Zuckerbinche, 

Fahr'  iiber'n  Rhein, 

Fahr'  üwer  Gottes  Haus, 

Gucke  drei  schöne  Poppe  heraus. 

Die  eine  spennt  die  Seid', 

Die  anner  wackelt  die  Weid', 

Die  dritt  ging  längs  du  Bronne, 

Hat  e  Kinnche  gefonne. 

Wie  soll  et  heisse? 

Inche  Binche  Geissei 

Wer  soll  die  Wennele  wüsche? 

Dau  sollst  du  Dreck  fresse.*^) 

1)  Feifalik,  Kinderl.  a.  Mähren.     Ztschr.  f.  dtsche.  Mythol.  IV,  346,  No.  67  a. 

2)  Kelirein,  Yolksspr.  in  Nassau,  II,  S.  81,  No.  13. 

3)  Ebenda  S.  81,  No.  14. 

4)  Simrock  No.  169,  S.  46.     Wunderhorn  (Reclam)  S.  819      Panzer,  Beitrag  z.  dlsch. 
Mythol,  II,  545. 

5)  Panzer,  Beiträge  zur  deutschen  Mythologie,  II,  546. 

6)  Wegeier,  Koblenzer  Mundart,  64. 


Holekreisch. 


75 


Reite  Reite  Ressje! 

Dodrowwe  steht  e  Schlessje, 

Dodrowwe  steht  e  Herrehaus, 

Do  gucke  drei  scheene  Jumfre  eraus: 

Die  En  spinnt  Seide, 

Die  Anner  wickelt  Weide, 

Die  Dritt  die  spinnt  e  roode  Rock 

For  unsre  liewe  (Karel  u.  s.  w.)  Bock. 

Dazu  bildet  wohl  die  Portsetzung  das 
Liedchen: 

Die  Maad  geht  uff'  de  Brunne, 

Hat  e  Kinnche  funne. 

Wie  soll's  heisse? 

Zickel  oder  Geisse. 

Wer  soll  die  Windle  wasche? 

Unser  alti  Schlappertäsche. 

(Mittel-Saar.)  0 

Shtork.  Shtork.  Shtane 
Vlieg  iwer  Haue  (=  Hanau), 
Vlieg  iwer'sh  Beckersh-Haus, 
Gucke  drai  Bobbe  'raus. 
Die  Aan'  shpinnt  Saihre, 
Die  Anner  wickelt  Waihre, 
Di  Dritt  gibt  on  Brunne, 


Wie  soH'ss  hasse  y 

„Hockele,  Hockelc  Gasse." 

Wer  soU'ss  hewe? 

„Der  Becker  oder  der  Peder." 

Wer  soll  di  Winnele  wesche? 

„'ss  Katche  mid  der  Labberdesche." 

Shtork,  Shtork,  Shtork! 

(Am  Melibocus  und  um  Aisbach 
im  Odenwald.)-) 

Am  Glockenbach 

sind  drei  Poppelen  drinnen, 

die  eine  spinnet  Seide, 

die  andre  wickelt  Weide, 

die  dritte  sitzt  am  Brunnen, 

hat  ein  Kindlein  gfunnen. 

wie  soll  das  Kindlein  heissenV 

Laperdon  und  Dida. 

wer  soll  das  Kindlein  waschen? 

der  mit  seiner  Rlappertaschen. 

hängt  ein  Engelein  an  der  Wand, 

hat  ein  Eielein  in  der  Hand; 

wenn  das  Eielein  herunterränd, 

so  hätt  die  Sonn  ein  End. 

(München.)^) 


Hot  e  Kintche  vunne. 

In  den  christlich  gefärbten  Fassungen,  die  man  wohl  als  die  jüngeren 
ansehen  darf,  wird  das  Kind  von  der  Jungfrau  Maria  gefunden,  vom 
Pfarrer  getauft  und  von  den  Taufpaten  aus  der  Taufe  gehoben.  Daneben 
hat  sich  in  einem  Liedchen  noch  der  Brunnen  der  Holle  erhalten 

Es  fuhren  drei  Doggen  durchs  Thor, 


Stork  Stork  Steine 

mit  de  lange  Beine 

mit  de  korze  Knie! 

Jungfrau  Marie 

hat  c  Kind  get'unne 

in  dem  kleine  Brunne. 

Wer  Solls  hebe? 

Der  Petter  mit  der  Gese. 

(Der  Pate  mit  der  Gote,  Taufpatin.) 

Wer  soll  die  Winnel  wasche? 

De  Mäd  mit  der  Plapperdäsche. 

(^Dietzenbach,  Kr.  Offenbach. 
Gh.  Hessen.)*) 


Die  erste  Wilhelmine, 

Die  zweite  Karoline, 

Die  dritte  Klementine. 

Wer  will  sie  taufen? 

Der  Pfarrer  zu  Laufen. 

Wer  will  sie  heben? 

Die  Wirtin  in  der  Eben. 

Wer  will  die  Windl  waschen? 

Der  Bauer  in  der  Pumpertaschen.«) 


1)  Firmenich  II,  555.  556. 

2)  Ffister,  Chattische  Stanimeskunde,  146.     Finneuich  II,  34. 

3)  Panzer  II,  546. 

4)  Mannhardt,  Germ.  Mythen,  •212;  nach  Ztschr.  f.  d.  Myth.  I,  475. 

5)  Süss,  Salzburg.  Volkslieder.  No.  38,  S.  10. 


Landau:  Holekreisch. 


Hotthotthott  Dieserlmonn, 
's  Katzerl  hat  Stiefel  on, 
Fohr  ma's  über  Gmunden. 
A  kloan  s  Kindel  hob  ma  g't'unden. 
Der  Pfarrer  von  Laufen, 
Der  wirds  taufen; 
Wer  wird  Windel  waschen? 
'n  Pfarrer  sei  Tant,  die  Plaudertaschen. 
(Aussee,  Ennsthal.)^) 


Hopp  hopp  hopp  Beserlm:r, 
die  Katz  hat  rote  Stiferln  ä~, 
sie  reitt  mit  mir  nach  Ollersbrunn, 
ligt  a  kloans  Kind  in  der  Sunn. 
wer  wirds  taufa? 
der  Pfarra  mit  de  laufa. 
wer  wird  d'  Windeln  wascha'.-* 
d'  Kindsdiern  mit  do  guldau  Tascha. 
(Matzen,  Nieder-Österreich.)  -) 


Endlich    seien    noch    einige  fragmentarische  oder  entstellte  Fassungen 
angeführt : 

Eins,  zwei,  drei. 

In  der  Dechantei 

Wird  ein  kleines  Kind  geboren. 

Wie  soll's  heissen? 

Katharina  Rumplkast'nl 

Wer  wird  d'  Wiiid'I  wasch' n? 

D'  Lena  mit  da  Zuckatasch'n. 

Eine  schöne  schwarze  Kuh  — 

Drass  bist  du!  (Plan.)^'J 


In  Ollersbrunn  is  Kirita. 
sitzt  a  krumper  Schneider  da. 
Schneider,  lass'n  Beudl  da. 
sunst  schlag  i  di  himmelbla. 
himmelbla  ist  nit  gnui, 
krumpe  Haxen  ä  dazui. 

(Matzen.)-^) 


Eins,  zwei  drei. 

Auf  der  Polizei 

Ist  ein  kleines  Kind  geboren; 

Wie  soll  es  heissen? 

Karl  oder  Rumpeltaschen. 

Wer  wird  die  Windel  waschen? 

Ich  oder  du, 

Die  grösste  Sau  bist  du. 

(Anger,  Steiermark.).^) 

Hopp  hopp  Beserlma^ 

die  Katz  hat  rote  Stiferln  a~, 

sie  reitt  mit  mir  nach  Ollersbrunn, 


Fleddermuus,  wa  is  dien  HuusV 

Bovven  up  dat  Kathuus. 

Wat  dööst  du  dar? 

Ik  komm  mien  Har, 

(Will)  morgen  met  dat  Kindken  gan. 

Wu  sali  dat  Kindken  heiten? 

Ann'  Mariksken  Greitken. 

Wel  (=  wer)  sali  dat  Kindken  weigen? 

De  Müggen  un  de  Fleigen. 

Wel  sali  dat  Kindken  waaren? 

De  Apen  un  de  Baaren. 

Wel  sali  dat  Kindken  begraven? 

De  Köster  un  de  Raven. 

(Koesfeld,  Westfalen.)") 


Die  angeführten  Kinderreime  zerfallen  in  zwei  ("n-tlich  getrennte  Gruppen. 
Das  Gebiet  der  einen  umfasst  Schwaben,  Elsass.  Hessen  südlich  vom  3Iain 
und  Westfalen,  rahmt  also  das  mitteldeutsche  Gebiet,  wo  nach  allgemeiner 
Annahme^)  der  Holdakultns  besonders  heimisch  war,  im  Westen  und  Süden 
ein.  Die  zweite  Gruppe,  der  man  noch  den  isolierten,  stark  entstellten 
Kinderreim  aus  München  zuzählen  kann,  stammt  aus  den  österreichischen 
Ländern  Böhmen,  Mähren.  Erzh.  Österreich,  Salzburg  und  Steiermark,  wo 


1)  Schlossar,  Kinderreimc  a.  Steiermark  in  dieser  Ztschr.  V,  i'TS,  No.  17. 
•2)  Feifalik  a.  a.  0.  IV,  345  f,  No.  67. 
H)  Hruschka  und  Toischer,  433,  No.  332. 

4)  Schlossar  a.  a.  0.  282,  No.  6. 

5)  FeifaUk  a.  a.  0.  S.  347,  No.  67  b. 

6)  Firmenich  I,  286. 

7)  Mogk  i.  Gundr.  d.  gerni.  Philol.  I,  1106.     Golther,  Handb.  d.  gcrni.  Myth.'l .  491. 


Raff:  Geschichten  aus  dem  Etschhmd  und  aus  dem  Stubai.  77 

sich  uur  vereinzelte  Spuren  der  Hold  averehr  uni»,'  ünden  sollen.  Ich  be- 
schränke mich  jedoch  darauf,  diese  Thatsache  zu  konstatieren,  ohne  aus 
ihr  Schlüsse  zu  ziehen,  denn  ich  halte  es  für  sehr  unsicher,  die  Verbreitung- 
eines  Volksglaubens  aus  der  von  allerhand  Zufälligkeiten  abhängigen  Zahl 
der  gedruckten  Zeugnisse  erschliessen  zu  wollen.  Hat  doch  gerade  für 
Deutsch-Österreich,  wo  Frau  Holle  so  selten  vorkommen  soll,  Vernaleken 
kürzlich  (Zeitschr.  f.  österr.  Volkskunde  IV,  1)  mehr  als  ein  Dutzend  mit 
Holle  zusammengesetzte  Ortsnamen  nachgewiesen.  Aus  demselben  Grunde 
unterlasse  ich  es,  die  Verbreitung  des  jüdischen  Holekreisch.  für  welclie 
so  wenige  Ortsangaben  vorliegen,  mit  der  der  Holdasagen  oder  der  Kinder- 
reime zu  vergleichen.  Die  Herkunft  des  jüdischen  Brauches  von  einer 
vorcliristlichen  Xamengebungsfeier  glaube  ich  durch  den  Hinweis  auf  die 
auffallende  Übereinstimmung  mit  den  Einzelheiten  der  angeführten  Kinder- 
reime wahrscheinlich  gemacht  zu  haben.  Die  Etymologie  bleibt  freilich 
noch  dunkel,  denn  wenn  auch  der  Xame  der  Holle  als  erster  Bestandteil 
nicht  zu  bezweifeln  ist,  so  ergiebt  doch  eine  Verbindung  desselben  mit 
dem  Imperativ  von  kreischen  keinen  befriedigenden  Sinn. 

Wien. 


Geschichten  aus  dem  Etschlaiid  und  aus  dem  Stubai, 

Mitgeteilt  von  Helene  Jvatt'. 

1.    Der  Teufel  in  der  „Sonne"'  in  .Meran. 

In  Meran  auf  dem  Rennweg  steht  das  Gasthaus  zur  Sonne;  du  sind 
einmal  nach  Aveläuten  noch  zwei  Spielhansln  beieinand  gehockt  und  haben 
nix  gethan  als  wie  Kartin  und  Fluchen.  „Der  Teufel  soll  di  hol'n!"  — 
„Die  Höir  soll  di  einischling'n!"  —  so  ist's  in  einer  Tour  fortgegangen. 
Mittendrin  aber,  wie's  aufschaun,  so  steht  mit  eins  der  Leidige  vor  ihnen, 
grinst  von  einem  Ohr  zum  andern  und  sagt:  „Enk  zwoa  hob  i  mir  scho 
lang  g'wunschn  —  iatz  müassts  dacht  mit  mi  fürt."  —  Die  zwei  im  höchsten 
Schrecken  habens  Zittern  und  Plärren  anfangen  wollen,  aber  keiner  hat 
sich  rühren  können;  da  ist  der  Wirt  aus  Erbarmen  hinübergesprungen  zu 
den  Kapuzinern  und  hat  um  einen  Pater  gebeten  mit  Weihkessel  und 
Sprengwedel.  Der  Pater  hat  sich  geschleunt  und  gleich  bei  der  Stuben- 
thür  hineingerufen:  „Teufelsschw^anz.  mach,  dass  d"  weiter  kimmst!"  — 
„Du  Rotzbua",  sagt  der  Teufel,  „willst  mi  aussatreibn  un  host  sehn  amol 
a  Ruabn  vom  Fehl  gstohln  "  —  „Hob  i  a  Ruab"n  g'stohln",  sagt  der 
Kapuziner,    „so    thua   i  "s   frei   einbstelui   —    es  war   in'n  hoassen  Summa. 


7S  Raff: 

koa  Tröpfei-l  Wasser  iimadum  und  i  am  Weg  ziia  an  krankn  Kind."  — 
„Laugna  tliuast  net'%  hat  jetzt  der  Teufel  kleinlaut  gesagt  „aft  bist  leicht 
<lo  besser  wia  n'  i  denkt  hob."  —  Jetzt  hat  der  Kapuziner  fest  zum  Beten 
und  Beschwören  angefangen,  da  hat  der  Teufel  ausfahren  müssen  und  ein 
grosses  Loch  in  der  Decke  gelassen:  die  zwei  Spielhansln  aber  haben 
seinen  Namen  nimmer  mehr  in"n  Mund  genommen. 

Von  einem  Mädchen  in  Obermais. 

2.  Märchen  von  der  Distel. 
Ein  Bauernbua  ist  früh  aus  seiner  Stadelthür  herausgangen,  um  am 
Feld  nach  dem  Plenten  (Mais)  zu  sehn,  da  wäre  er  beinahe  über  eine 
schöne  rote  Distel  gefallen,  die  da  stand.  Wie  er  sie  noch  anschaut, 
.kommt  sein  Nachbar  dazu.  „Grüass  Gott,  Loisl,  was  schaugst?"  —  „Dank 
dir  Gott,  Seppl,  siehgst  was  a  schiane  Distl  steht  da."  —  „Loisl",  sagt  der 
Nachbar,  „thua  iei  a  Fezzele  nachgrabn  —  woasst's  net:  wo  a  Distl  wachst, 
is  a  Schatz  vergrabn,  der  muass  blüah"n."  —  „Ja,  Nachbar,  wia  tiaf  muass 
i  naeha  gra1)n,  dass  i  'n  Schatz  find'?"  —  „Bis  an  d'  unterste  Wurz'u  muasst 
kemnia;  aft  werd'  der  Schatz  scho  daliag'n."  —  Der  Nachbar  ist  weiter- 
gangen, und  der  Loisl  hat  zum  Graben  angefangt.  Wie  er  mannstief 
drinn  in  der  Erden  war,  sieht  er  aber,  dass  die  Würzen  sich  teilt  und 
lauter  Fasen  dahin  und  dorthin  laufen.  Jetzt  ist  ihm  Angst  worden. 
„A¥ia  dakenn'  i"s  iatz"  —  sagt  er  zu  sich  selbst,  —  „dia  welle  Wurz'n  die 
recht'  is?  Un  dawisch'  i  die  unrecht',  na  kunnt'  i  mi  vairrn  un  in  d'  Höll' 
einikemma.  I  trau  mer  nit  —  z'wui  soll  i  mei  arme  Seel'n  vaspieln?"  —  Da 
ist  er  mit  einem  Satz  aus  der  Gruben  heraus,  hat  wieder  zugeschaufelt 
und  die  Distel  hat  er  geköpft,  dass  nun  Ruhe  war. 

Yon  einem  Schlossergesellen  in  Girlan  im  Überetsch. 

'S.  Der  falsche  Hochzeiter. 
Ein  Schmied  in  Vulpmes  hat  ein  Töchterl  gehabt,  die  war  so  viel  ein 
liebes  und  frommes  Kind,  und  wie  sie  so  mannbar  geworden  ist,  hat  sie 
alle  Abend  zum  Bild  ihrer  Namenspatronin,  der  hl.  Katharina,  gesprochen: 
„Heilige  Kathrina,  ich  bitt'  gar  schön  um  einen  braven,  frommen  Mann." 
—  Über  eine  Zeit  ist  zu  dem  Schmied  ein  sauberer  junger  Mann  gekommen, 
der  das  Madl  zur  Frau  hat  haben  wollen.  „Ja",  sagt  der  Schmied,  „heirathen 
muss  meine  Gitsche,  aber  was  habt  Ihr  für  ein  Gewerb'?"  —  „Ich  bringe 
Güter  und  Leut'  hinüber",  sagte  der  andere.  —  „Wohl  ins  Oetz"  —  meinte 
der  Schmied  und  der  Verspruch  wurde  gehalten.  —  Acht  Tage  vor  der 
Hochzeit  erschien  der  Braut  im  Traum  die  hl.  Katharina  und  sagte  zu  ihr: 
„Geh'  morgen  früh'  in  den  Wald  und  such'  einen  schönen  Buschen  für 
mich."  AVie  das  Madl  früh  aufwachte,  dachte  sie  gleich  an  ihren  Traum, 
that  sich  geschwind  an  und  ging  in  den  Wald.  Beim  Hin-  und  Her- 
schauen   nach    schönen  Blumen    kam    sie    aber    ganz    vom  Weg,    und   als 


Geschichten  aus  dem  Etschland  und  aus  dem  Stubai.  79 

€s  ischon  zum  Därnmrig werden  anfing,  stund  sie  da  und  kannte  sich  gar 
nimraer  aus.  Jetzt  war's  zum  Weinen;  sie  lief  in  der  Angst  immer  bolzen- 
o-erad  weiter,  bis  sie  an  ein  Ideines  Häusel  kam.  Wie  sie  anklopft,  ruft 
ihr  niemand:  „Herein^  —  da  drückt  sie  die  Thür  auf  und  geht  in  die 
Stube,  wo  alles  voll  Gold  und  teurer  Steine  lag.  Aber  mittendrin  ist  ein 
grosser  Block  gestanden  und  ein  blutiges  Beil  dabei,  und  wie  das  Madl 
in  die  Kammer  schaut,  liegen  lauter  tote  Leut  da  aufeinand.  Weil  sie  sich 
noch  am  Thürpfosten  hebt,  ganz  ohnmächtig  vor  Schrecken,  hört  sie 
Sehritte,  da  springt  sie  geschwind  in  die  Ecke  hinter  ein  grosses  Fass  und 
hält  sich  mäuserlstad.  Wie  nun  jemand  hereinkommt,  so  ist  es  ihr  künftiger 
Hochzeiter,  der  eine  schöne  Jungfrau  an  den  Haaren  hereinzerrt,  gerad 
auf  den  Block  hin  —  die  hat  geschrieen,  geweint  und  gebettelt  aber  alles 
für  nichts:  ihr  Kopf  hat  herunter  müssen.  Derweil  sind  die  andern  Räuber 
und  Mörder  gekommen,  die  haben  geholfen,  die  Jungfrau  in  lauter  kleine 
Stückeln  zerteilen,  nachdem  sie  zuvor  allen  Schmuck  und  die  gestickten 
Kleider  ihr  vom  Leib  gerissen  hatten.  Der  Hauptmann  hieb  ihr  einen 
Finger  ab.  an  dem  ein  goldner  Ring  sass,  der  rollte  ihm  aus  der  Hand 
und  hinter  das  grosse  Fass  —  da  wollte  er  ihn  suchen,  aber  die  anderen 
Räuber  sagten:  „Lass  doch  bis  morgen  —  im  Finstern  suchen,  die  Müh' 
zahlt  sich  nicht  aus"  und  da  liess  er  es  gehn,  sonst  hätte  er  seine  Braut 
hinterm  Fass  gefunden.  Darauf  machten  sie  sich  lustig  und  tranken  so  viel 
roten  Wein,  bis  sie  schläfrig  wurden  und  einer  nach  dem  andern  auf  den 
Boden  zu  liegen  kamen.  Als  sie  alle  fest  schliefen,  kroch  die  Schmieds- 
tochter zitternd  hinterm  Fass  hervor,  hob  sich  auf  die  Zehen  und  stieg 
ganz,  ganz  sacht  über  die  Räuber  weg  zur  Thür  hinaus.  Draussen  aber 
fing  sie  an  zu  laufen,  was  sie  nur  laufen  konnte,  und  wie  es  Tag  wurde, 
sah  sie  ihres  Vaters  Haus,  da  fiel  sie  auf  ihre  Kniee  und  dankte  Gott  und 
ihrer  heiligen  Schutzpatronin.  Daheim  erzählte  sie  dem  Vater  alles,  zeigte 
ihm  auch  den  Finger  mit  dem  Goldring,  der  zu  ihr  hinters  Fass  gekugelt 
war,  und  den  sie  aufgehoben  hatte.  Der  Schmied  war  gescheit:  er  liess 
ganz  ruhig  zur  Hochzeit  herrichten  als  ob  nichts  geschehen  wäre;  wie  aber 
der  Hochzeitstag  da  war  und  der  falsche  Hochzeiter  ins  Haus  kam,  um 
seine  Braut  zur  Kirche  abzuholen,  da  erwischten  ihn  die  Soldaten,  die  der 
Schmied  bestellt  hatte,  und  er  wurde  samt  seinen  Gesellen  gerichtet. 
Von  einem  Mädchen' aus  Vulpmes  im  Stubaithal. 

4.  Das  fromme  Weibets. 
Vor  Zeiten  war  in  ganz  Stubaithal  noch  keine  Pfarrkirche  als  wie 
nur  die  von  Telfes,  und  die  Leut  mussten  zur  heiligen  Mess  oft  weit  her- 
gehn.  Da  war  in  einem  Häusel,  so  ungefähr  zwischen  Medratz  und  Neu- 
stift, ein  altes  Weibets,  wie's  im  ganzen  Thal  kein  frömmeres  gab.  Alle 
Tage  machte  sie  den  langen  Weg  nach  Telfes,  ob  sie  es  schon  oft  kaum 
Verkraften  konnte:  die  ganze  Zeit  aber,  weil  sie  ging,  betete  sie  und  zwar 


^0  Rait:  Geschichten  aus  dem  Etschland  imd  aus  dem  Stubai. 

nur  ein  einziges  Vaterunser.  Sie  betete  ganz  langsam  und  herzinnig,  auch 
däuchte  ihr  das  Vaterunser  so  viel  fein,  dass  sie  immer  darüber  ins 
Sinnieren  geriet  und  fast  mit  dem  weiten  Gang  ehnder  fertig  war  als  mit 
der  Betrachtung.  Der  Pfarrer  und  der  Mesner  von  Telfes  aber,  ob  sie 
zwar  die  Alte  schon  kannten  und  wussten.  sie  lasse  keinen  Tag  die  Messe 
aus,  sprachen:  „Sollen  wir  leicht  alle  Tag  mit  der  heiligen  Mess  warten, 
bis  die  Alte  hergewackelt  kommt?!  Wir  heben  zur  gewohnten  Zeit  an, 
und  ist  sie  nicht  da,  so  mag  sie  selbst  dazu  schauen."  —  Also  fingen  sie 
richtig  andern  Tags  die  Messe  rechtzeitig  an;  wie  sie  aber  kaum  begonnen 
hatten,  sagte  der  Messner:  „Ach  Ilochwürden,  die  Schellen  geht  mir  ab, 
und  eben  stund  sie  noch  da."  Da  mussten  sie  halt  die  Schelle  suclien, 
und  sie  fand  sich  nicht  eher,  als  bis  das  alte  Mutterl  da  war  und  die 
Messe  mit  anhören  konnte.  Den  nächsten  Morgen  ging  es  wieder  so,  da 
fehlte  das  Kauchfass  —  aber  wie  die  Alte  hereingehumpelt  kam.  stund  es 
da.  Beim  drittenmal  fehlte  der  iMesswein,  und  auch  der  war  nicht  früher 
wieder  da  als  das  Mutterl.  Da  erkannten  der  Pfarrer  und  der  Mesner, 
dass  die  fromme  Alte  vor  Gott  Gnade  gefunden  und  er  nicht  wollte,  dass 
sie  um  die  heilige  Messe  gebracht  werde;  also  zügelten  sie  ihre  Ungeduld 
und  warteten  künftighin  immer  auf  sie. 

Vom  Stolzenbauer  in  Oberschönberg. 


Zwei  GescMchten  aus  Eyrs  (Vintschgaii). 

1.  Die  Katze. 
Auf  einem  Bauernhof  in  Eyrs  haben  sie  viele  Jahre  eine  Katz  gehabt, 
recht  ein  liebs  anhängliches  Tierl;  die  hat  dreimal  im  Jahr  junge  Katzin 
gebracht.  Desweeen  ist  der  Bauer,  der  sich  selbst  nichts  vergunnt  hat  — 
wie  dann  erst  einem  Yieh  —  ihr  aufsätzig  worden  und  hat  zur  Bäurin 
gesagt:  „Morgen  muss  die  Katz  hin  sein."  —  Die  Bäurin  war  gutherzig 
und  meinte:  „Geh,  lass  sein,  z'wegen  den  Fezzeln  Milli  derhungern  wir 
ja  nit;  hascht  nit  zuag'lost,  wenn  d'  Muada  selig  uns  g  lernt  hat,  s'  Viech 
und  erseht  noch  d'  Katzn  soll  der  Mensch  guat  halt'n:  wia  er's  denen 
'macht,  so  gang's  eahm  selber?"  —  Jetzt  hat  sich  aber  der  Bauer  erst  recht 
versteift,  dass  die  Katz  fort  muss;  und  wie  keins  von  den  Knechten  und 
Mägden  sie  hat  ins  Wasser  tragen  wollen,  ist  er  selbst  gangen  und  hat 
sie  hineingeschmissen.  Als  er  aber  lieimkam,  lag  seine  schönste  Kalbin 
tot  im  Stall  —  das  war  der  Lohn  für  die  Katze. 

2.    Die  Hand  auf  dem  Grab. 

Ein  Mann    hatte    sich    umgebracht    aus    lauter  Kränkung   über  seinen 

Sohn,    der    voller  Liederlichkeit    gewesen    und    zuletzt    in  die  weite  Welt 

gelaufen    war.     Nach   ein  paar  Jahrin  kam  der  Sohn  zurück;    da  hörte  er 

erst,  dass  sein  Vater  tot  sei,  fing  zum  Weinen  an  und  ging  auf  den  Kirchhof. 


Beck:  Niederdeutsche  Sprüche  und  Redensarten  aus  Nordsteimke. 


81 


Wie  er  sich  lüederliockte,  um  die  Nesseln  am  Grabe  auszureissen,  schien 
ihm's  gerade  so,  als  ob  eine  Hand  sich  dazwischen  bewegte.  Er  schaute 
scharf  liin  und  da  war  nichts,  aber  gleich  nachher  war's  ihm  wieder  als 
sähe  er  die  Hand.  Da  ging  er  voller  Schreck  zum  Kuraten  und  erzählte 
ihm  alles;  der  sagte  ihm:  „Die  Seel  von  Dein'  Vätern,  der  durch  Dich  in 
Sund  und  Schand  keramen  ist,  macht  Dir  Zeichen,  Du  sollst  in  Dich  gehn." 
—  Das  hat  dem  Sohn  doch  ans  Herz  gegriffen:  er  ist  still  und  fleissig 
worden,  hat  viel  an  den  Armen  gethan  und  der  armen  Seele  seines  Vaters 
so  lang  Messen  lesen  lassen,  bis  sie  zur  ewigen  Freude  eingehen  konnte. 


Niederdeutsche  Sprüche  und  Eedeusarten 
aus  Nordsteimke  in  Braunschweig. 

Von  H.  Beck. 


1.    Sprüche  des  Bauern  über  sich  selbst  und  seinen  Nächsten. 


Ja,  von  eier  itte  büre  'n  haun?  —  Wenne 

krank  is  öcr  wen't  haun  krank  is. 
Ja,  ja,  —  sechte  büre;  denne  wette  nist  mcr. 
Klump 

fült')  'n  bürcn  'n  rump. 
Ein  nä  'n  andern  spisete  büre  dei  wöste. 
Ünimcr  bi  lütgen  halte  büre  dei  wost  von 

bodden. 
Wenne  wut  'n  knüst  allcne  riwen, 
moste  6k  'n  plauch  allene  driwen. 
(Das  sagt  der  Bauer  zu  seiner  Frau,  wenn 

sie    auf   seine  Anordnungen    im   Hause 

nicht  hört.) 
Slank  un  snär, 
dat  let  rar. 
Kort  un  dik 

hat  nein  geschik  (oder:  is  büern  geschik). 
Awer  sön  muken  von  miner  mäte, 
dat  zirte  gansse  (Steimksche)  sträte. 

Dei  küsters  gät  fri  üt,    dei  het  'n  bullen 

eslacht. 
'n  schauster  is  't  ämens  de  hert  warm  un 
't  morgens  de  stert. 

1)  Auch:  stopt.     2)  rothaarige  Mädchen. 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskumle.    ls'J9. 


Wen  'n  snider,  'n  linewewer  un  'n  mölder 
in  'n  sak  stecket  un  von  bärge  wöltert, 
denne  lit  ümraer  'n  erlich  spizbüwe 
bowen. 

Ses  däe  schaste  arbeien  un  an  sewweten. 
scheren  un  tindreien.      (Leineweber.) 

Morgen  is  Micheilich, 
den  shicht  üse  väer  'n  bok, 
den  danst  üse  mudder, 
den  flüchte  roe  rok. 

Vösse-)  het  nücken. 

Sonne  öle  lue  dei  sunt  op  'n  wolsten 
hindern  spin-räe. 

Sonne  jungens  dei  sunt  ümmer  büwisch. 

Dei  milkens  sunt  man  ümmer  tau  'n  stat. 
Dei  past  man  ümraer  op,  wer  't  finste 
klet  anne  hat. 

Ackermans  titel  is  beter  ar  koters 

middegaft. 
Ik  trecke  mik  nich  eier  üt  ar  ik  mik  te 

bedde  legge. 


82 


Beck: 


2.    Regeln  über  Wind  und  Wetter. 


Wanne  wint  kürat  siit, 

renget  't  morgen  6er  noch  hüt. 

Wenne  wint  kümt  vonne  Säl, 

renget  't  allemal. 

Vorn  daum  (Tauwind)  geite  hirschbulle 

te  schüre. 
Wen  't  üt  hellen  wölken  renget  un  dei 

ölen  wiwer  dansset,   denne  is  'r  nein 

ophören. 
Mattis 
brikt  IS  ; 

finte  nist,  sau  mäkte  wat. 
Bartelmei  sunt  neggen  fielen  sau  ar  'n 

fet  raphaun. 
Bartelmei  sünte  fielen  ripe. 

Morgengästen  büt  'n  neinen  staul,  d.  h.  der 
Regen  am  Morgen  hält  nicht  lange  an. 


Hüte  is  ^n  heiten  dach,  hüte  wart  'n 
fülen  bange. 

Lichtmessen  hei  un  klär 
bringt  'n  gut  fläs-jär. 

'n  punt  märz-stof  is  'n  dükäten  wert. 

Fäbejän,  Sebi'istejän 

let  'n  saft  inne  büme  gän. 

Pängte  däge  an  te  lengen, 
fängto  winter  an  te  strengen. 

Lichtmessen  künte  herren  bi  däge  wat 
eten  un  dei  narren,   wen  se  wat  het. 

Schinte  sunne  op  'n  natten  pal, 
renget  't  balle  noch  emäl. 

Wenne  blau-wäen-stertge^)  kümt,  mot 
se  'n  dimmen  heu  middebringen. 


3.    Redensarten  bei  Saat  und  Ernte. 


Slumpkoren  is  plumpkoren. 

Dei  schauster-swäwen  holt  I2jär   (d.  h. 

die  Schuhsohlen,  die  unter  dem  Dünger 

in  den  Acker  kommen,    vergehen  erst 

in  12  Jahren). 
Wer  't  koren  oppe  änewennige  besüt 
un  dei  makens  bin  danssen  frit,  — 
dei  wart  bedrogen. 
Wer  'n  stiwen  acker  hat 
un  'n  Stumpen  plauch 
un  da  'n  bösen  ker(d)el  tau,  — 
is  dat  nich  plage  nauch? 
Wer  sonnen  dummen  Krischän  hat 
un  den  'n  stumpen  plauch 
un  da  'n  tröpken  kinder  tau,  — 
is  dat  nich  plage  nauch? 
Kort  fias  let  neinen  minschen  näkich 

gän,  wer  man  nauch  hat! 
Wo  krut  is,  da  is  ök  gut. 
Op  'n  groten  folget  'n  bloten.     (Auf  ein 

ertragreiches  folgt  ein  mageres  Jahr.) 

Wen  sik  de  gaus  Lafrun-dach  dicke  freten 
kan  un  't  schäp  Peiters-dach,  denne 
hatte  kau  Mai-dach  ok  enauch. 


Op  'n  müsejär 
folget  'n  liisejär. 

Meddel 

bringt  'n  büren  an  'n  beddel; 

drespe 

let  ne  noch  in  neste. 

Dei  gasten  is  sau  lütgich  eblewen,  dei 

is  küme  üte  hose  kömen. 
Die  Gerste  hat  nach  dem  Mähen  nötig: 
neggen  daue  (d.  i.  Taumorgen),  neggen 

raue  (d.  i.  Ruhetage),  6er  'n  güen  reen. 

'n  happen  raue 

is  beter  ar  'n  happen  kaue. 

(Nämlich  für  die  Pferde.) 

Wenn  auf  dem  Getreidefelde  nur  noch 
einige  Schwaden  abgemäht  zu  werden 
brauchen: 

Nu  motte  häse  balle  rüt  lopen. 

Zu  einem,  der  beim  Korn  hacken  auf 

Disteln  loskommt: 
Du  hast  esläpen  inne  korke. 

Ebenso: 

Da  hatte  diiwel  sin  läkcn  üt  ebreiet. 


1)  Baclistelze. 


Niederdeutsche  Sprüche  und  Redensarten  aus  Nordsteimke.  80 

4.    Apolog'ische  Sprichwörter. 

Wenne  bri  zap,  zap  secht,  niudder,  isse  den  gär?     Har  jünne  brüt  6k  esecht. 
(Als  sie  auf  dem  Kistenwagen  sass  und  von  ihrer  Mutter  Abschied  nahm.) 

Wo  wat  is,  da  riset  wat,  —  har  jünne  bäemudder  6k  esecht  un  't  kint  mit  "n 
esten  bäewater  wech  eg6ten. 

Dat  hat  awer  luft  egewen,    —    sä  jün  't  mäken  6k,    donne  hat  't  twei  kinder 
op  'n  mal  ekrejien. 

Ja,  dat  is  sau  ar  Hannichen  secht:  Vader,  köp    n  bullen,  denne  brük  wi  nich 
te  melken. 

^'t  hat  mid  allen  sin  gr6te  wunder",  sä  öle  Ruraschulte  von  Heiich  ^),  „min  väer 
kön  vor  mes  nich  ploi.üen  un  ik  vor  qucken  nich." 

Kan  ik  6k,  secht  T6ren. 

Über  die  Herkunft  dieser  Redensart  berichtet  folgende  Geschichte: 
Die  Hehlinger^)  mussten  früher  ihrem  Pastor  Herrndienste  leisten  und 
bekamen  dafür  von  ihm  jedesmal  eine  Mahlzeit.  Er  gönnte  keinem 
Menschen  etwas  als  sich  selbst.  Deshalb  nahmen  sich  die  Bauern  vor,  ilm 
gelegentlich  tüchtig  anzuführen.  Wie  sie  ihre  Absicht  ausführten,  erzählt 
sich  besser  in  der  Mundart:  Se  maket  bi  ne  tehope  'ne  mächtige  maltit, 
vornüt  dei  ole  Toren.  Hei  smert  sicke  bottere  nich,  hei  lacht  sicke  schiwen 
man  ünmier  sau  oj).  Dei  paster  sit  vonne  ferens  un  sut  ne  wat  tau.  Est 
ärgerte  sik  in  stillen.  An  lösten  enne  kan  't  awer  nich  mer  owerkrigen; 
donne  plazte  rüt  und  secht:  „Toren,  die  Butter  muss  man  schmieren." 
„Kan  ik  ök",  secht  Toren  und  smert  sik  awer  fingerdicke  op.  Donne 
sechte  paster:  „Toren,  die  Butter  muss  man  schräpen."  „Kan  ik  ök", 
secht  Toren.  Ar  't  awer  doch  nich  anders  wart  un  Toren  ümmertau  snit  un 
it,  sechte  paster:  „Toren,  man  kan  auch  zu  viel  essen,  dass  man  davon 
stirbt."  Donne  antwört  Toren:  „'t  is  man  gut,  her  paster.  Ik  hewwe 
noch  sonne  öle  grössmudder  in  hüse,  dei  wol  ik  j-eren  lös  sin.  Denne  wil 
ik  dei  man  'n  döchdich  stücke  middeneraen."  Dabi  snitte  sik  'u  döchdigen 
ranken  af  un  stecket  ne  in  'n  schupsak  un  nimt  ne  midde  hen  hüs. 

Ik  wet  't  von  hor-sägen,  ar  Miittis  dei  kranke-däge. 

Es  hat  wirklich  ein  Mann  Namens  Matthias  gelebt.  Derselbe  war 
Zimmermann  in  Yorsfelde  ^)  und  hatte  einst  keine  Lust  zu  arbeiten.  Seine 
Mitgesellen  redeten  ihm  vor,  er  sei  krank.  Seine  missmutige  Miene  er- 
klärte sich  der  Meister  als  Wehgefühl  und  schickte  ihn  nach  Hause.  Als 
ihn  nun  seine  Frau  fragte,  w^as  denn  mit  ihm  los  sei,  erwiderte  Matthias, 
er  fühle  sich  krank,  die  Gesellen  und  der  Meister  hätten  es  gesagt. 


1)  Hehlingeu  liegt  eine  Viertelstunde  von  Nordsteimke. 

2)  eine  Stunde  nordwärts  von  Nordsteimke. 


,S4  Polte: 

« 

Staiifes  Sammlimg  rumänischer  Märchen 
aus  der  Bukowina. 

Von  Johannes  Bolte. 


In  der  von  J.  W.  Wolf  herausgegebenen  Zeitschrift  für  deutsche 
Mythologie  erschienen  in  den  Jahren  1853—55  zehn  romanische.  Märchen 
aus  der  Bukowina,  denen  Wilhelm  Grimm  (Kleine  Schriften  4,  347)  das 
Prädikat  'alles  Lobes  wert'  erteilte.  Der  Sammler  und  Übersetzer  w^ar 
ein  junger  österreichischer  Schriftsteller  Ludwig  Adolf  Staufe-Simigino- 
wicz,  der,  als  Sohn  eines  rutenischen  Vaters  und  einer  deutschen  Mutter 
am  28.  Mai  1832  zu  Suczawa  in  der  Bukowina  geboren,  in  Wien  studiert 
hatte  und  sich  dem  journalistischen  Berufe  widmete.  Später  erhielt  er 
ein  Lehramt  am  römisch-katholischen  Obergymnasium  zu  Kronstadt  und 
war  seit  1875  als  Professor  am  Lehrerseminar  zu  Czernowitz  thätig.  Dort 
ist  er  am  19.  Mai  1897  verstorben^).  Es  darf  an  dieser  Stelle  hervor- 
gehoben werden,  dass  sich  Staufe,  obwohl  seine  schriftstellerische  Wirk- 
samkeit hauptsächlich  der  Belletristik  angehörte,  auch  mehrfach  um  die 
Volkskunde  seiner  engeren  Heimat  verdient  gemacht  hat.  Neben  zahl- 
reichen Gedichten  und  Novellen,  deren  noch  einige  ungedruckt  der  Bekannt- 
machuDg  harren,  veröffentlichte  er  eine  gute  und  zuverlässige  Übersicht 
über  „Die  Völkergruppen  der  Bukowina"  (Czernowitz  1884),  eine  fleissige 
Sammlung  der  anter  den  Deutschen,  Polen,  Kleinrussen,  Rumänieru  und 
Armeniern  des  Landes  verbreiteten  „Volkssagen  der  Bukowina"  (Czernowitz 
1885;  120  Nummern)  und  eine  geschmackvoll  ausgewählte  und  trefflich 
verdeutschte  Lese  „Kleinrussischer  Volkslieder"  (Leipzig  1888;  290  Volks- 
lieder und  39  Dichtungen  von  Danilo  Mlaka). 

Den  eigentlichen  Anlass  aber,  über  die  Leistungen  des  unlängst  ver- 
storbenen Forschers  zu  reden,  bietet  mir  eine  bisher  von  den  Fachgenossen, 
wie  es  scheint,  übersehene  Handschrift  der  Wiener  Hof  bibliothek  (No.  13571), 
die  Staufe  1852  dem  Kaiser  Franz  Josef  I.  überreicht  hatte.  Sie  enthält 
auf  67  Folioblättern  „romanische  Volksmärchen"  aus  der  Bukowina, 
und  zwar  nicht  nur  jene  10  vorhin  erwähnten,  die  in  der  Zeitschrift  für 
deutsche  Mythologie  gedruckt  sind,  sondern  ausserdem  38  weitere  Märchen, 
die  manches  interessante  Seitenstück  zu  den  Überlieferungen  anderer  Völker 
enthalten.  Wenn  auch  ein  vollständiger  Abdruck  der  Sammlung  unthunlich 
erscheint,    so    wird    doch    eine    kurze  Inhaltsübersiclit    und   die  Mitteilung 


1)  Icli  entue^me  diese  Daten  ans  C.  v.  Wurzbachs  Biographischem  Lexikon  des 
Kaisertums  Österreich  37,  212  f.  i,l">78)  und  aus  F.  Brummers  Lexikon  deutscher  Dichter 
des  19.  Jahrh.,  4.  Aufl.,  4,  8'.)  (,KS'J(J),  sowie  aus  einem  Briefe  des  verdienten  Litterar- 
historikers  Dr.  Rudolf  Wolkan  in  Czernowitz. 


Staufes  Sammlung  rumänischer  Märchen  aus  der  Bukowina.  85 

einiger  Proben,  zu  der  die  Witwe  des  Herrn  Btaufe-Öimiginowicz  gütigst 
ihre  Zustimmung  erteilt  hat,  den  Lesern  dieser  Zeitschrift  nicht  unwill- 
kommen sein.  Aus  der  zu  Czernowitz  im  Dezember  1852  datierten  Widmung 
hebe  ich  nur  hervor,  dass  Staufe  sich  darin  durch  die  Bestrebungen  der 
Brüderpaare  Grimm  und  Zingerle  zur  Bergung  der  Yolksüberliefernngen 
angeregt  bekennt^).  Den  Überschriften  füge  ich  eine  durchgehende  Nume- 
rierung und  die  nötigsten  Verweise  bei. 

1.  Der  gescheite  Zigeuner.     Bl.  5a.     (Er    will  Eisen  in  Wasser  erweichen.) 

2.  Warum  haben  die  Zigeuner  keine  Kirche?  Bl.öa.  (Sie  haben  ihre  aus  Käse  und 
Speck  erbaute  Kirche  aufgegessen.)  —  Vgl.  Schott,  Walachische  Märchen  1845,  No.  4Ü. 

3.  Wie  die  Zigeuner  einmal  einem  Fürsten  huldigten.  Bl.  5a.  (Der  erste 
ruft,  als  ihm  die  Käseschüssel  entfällt:  „Fluch  dir!"  Darauf  die  andern,  wie  vorher 
verabredet  war:  „Auch  der  Frau  Fürstin"'.)  —  Dieser  rumänische  Schildbürgerstreich 
wird  aus  anderer  Quelle  auch  in  der  Neuen  Freuss.  Zeitung  1898,  18.  August, 
No.  384  erzählt. 

4.  Wer  ist  mehr  zu  fürchten,  der  Wind  oder  die  Kälte  oder  die  Hitze?  Bl.  5  b. 
—  Abgedruckt  unten  No.  1.  —  Vgl.  Schott  No.  3«;  Revue  des  trad.  pop.  1,  327 
(Chaud,  Froid,  Vent)  und  zu  dem  Streite,  wem  der  Gruss  gegolten  habe,  Dubois, 
Pantchatantra  p.  351;  Thorburn,  Bannü  187(i,  p.  192.  203. 

5.  Der  Grieche  und  der  Zigeuner.  Bl.  6a.  (Beim  Regen  befiehlt  der  Grieche: 
„Kuliba",  d.  h.  Mache  eine  Hütte!  Der  Zigeuner  versteht  „Kulimba"  und  schnattert 
wie  eine  Gans.) 

6.  Der  Zigeuner  mit  dem  Kürbis.  Bl.  (ia.  (Stutenei  bebrütet,  rollt  fort;  ein 
Hase  springt  auf.)  —  A^gl.  Bolte  zu  Frey,  Gartengesellschaft  189G,  S.  214  zu  No.  1. 

7.  Der  närrische  Prinz.  Bl.  Ob  =  Ztschr.  f.  dtsch.  Myth.  2,  389,  No.  lü.  — 
Vgl.  Grimm  KHM.  57:  „Der  goldene  Vogel"  und  R.  Köhler,  Kleinere  Schriften 
1,  265  (1898). 

8.  Der  Drachentöter.  Bl.  IIa  =  Zeitschr.  f.  dtsch.  Myth.  2,  206,  No.  9.  — 
Vgl.  R.  Köhler,  Kl.  Sehr.  1,  304.     Obert,  Ausl.  1857,  287,  No.  19. 

9.  Die  zwei  Knechte.     Bl.   13a  =  Ztschr.  f.  dtsch.  Myth.  2,  49,  No.  3. 

10.  Der  glückliehe  Abenteurer.  151.  13b.  (Der  beste  Jüngste  reitet  an  drei 
Tagen  zu  der  vom  Könige  errichteten  Stange  und  erbeutet  drei  Ringe.  Als  er 
nachher  in  Bettlerkleidern  erscheint,  verschmähen  ihn  die  beiden  älteren  Prin- 
zessinnen, aber  die  jüngste  nimmt  ihn  zum  Gatten).  —  Hat  einige  Verwandtschaft 
mit  dem  Grindkopf  bei  Köhler,  Kl.  Sehr.   1,  330. 

11.  Vom  kleinen  Teufel.  Bl.  16a  =  Ztschr.  f.  dtsch.  Myth.  1,  48,  No.  2.  - 
(Er  lässt  sich  gleich  dem  Däumling  bei  Grimm  No.  37  an  einen  Bojaren  verkaufen 
und  entllieht  aus  dessen  Tasche.) 

12.  Die  beiden  Töchter.  Bl.  16b  -  Ztschr.  f.  dtsch.  Myth.  1,  42,  No.  1.  — 
Vgl.  Grimm  No.  24:  „Frau  Holle''. 

13.  Der  Pfarrer  und  der  Mesner.  Bl.  18  b.  (Der  Mesner  klebt  den  Krebsen 
Kerzen  auf  und  hält  einen  Strick,  an  dem  der  Pfarrer  zum  Himmel  steigen  soll.) 
—  Vgl.  Simrock,  Deutsche  Märchen,  lSb4,  S.  253,  No.  54:  „Die  Himmelfahrt". 

1)  Nebenher  erinnere  ich  an  die  rumänischen  Märchen,  die  zur  selben  Zeit  R.  0. 
Waldburg  (Ztschr.  f.  dtsch.  Mythol.  1,  178.  358:  Gevatter  Tod;  Vom  Zigeuner  und  dem 
Bären)  in  der  Bukowina  und  F.  Obert  in  Siebenbürgen  (Ausland  1856—1858:  35  Nummern) 
gesammelt  liaben. 


80  ß^'lte: 

14.  Von  der  Ziege.  Bl.  19a  =  Ztschr.  f.  dtsch.  Myth.  L  469,  No.  4.  —  Vgl. 
Grimm  No.  ö:  „Der  Wolf  und  die  Geiserchen". 

15.  Die  zwölf  Häuser  im  Walde.  Bl.  20  a.  —  Vgl.  Grimm  No.  40:  „Der 
Räuberbräutigara  " . 

16.  Die  Stute,  der  Fuchs  und  der  Kürschner.  Bl.  2!a.  (Lügenmärchen  von 
einer  grossen  Stute.) 

17.  Mann  und  Weib.  Bl.  22a.  (Sie  erfüllt  ihres  bösen  Mannes  Gebot,  weder 
im  Zimmer  noch  draussen,  weder  mit  den  Füssen  noch  mit  dem  Kopfe  auf  der 
Erde  zu  sein,  indem  sie  sich  auf  eine  Hutsche,  d.  h.  Schaukel,  in  der  offenen  Thür 
setzt.    Die  vom  Manne  weggenommenen  Halsperlen  findet  sie  im  Pischleibe  wieder.) 

—  Vgl.  im  allgemeinen  Köhler,  Kl.  Sehr.  1,  447. 

18.  Christus  in  der  Bauernhütte.  Bl.  22b  =  Ztschr.  f.  dtsch.  Myth.  1,  471,  No.  5. 

—  Vgl.  Bolte,  Ztschr.  f.  vgl.  Littgesch.  7,  454.    11,  69,  No.  IL 

19.  Der  Märchenerzähler.  Bl.  :^3a  =  Zeitschr.  f  dtsch.  Myth.  2,  201,  No.  7. 
(Der  jüngste  der  drei  Brüder  erzählt  dem  Drachen  ein  Lügenmärchen  und  zieht 
ihm  die  Haut  ab.)  —  Vgl.  den  Vertrag  wegen  der  Reue  bei  Köhler,  Kl.  Schriften 
1,  261.  32G  und  die  Lügenwette  ebenda  1,  322. 

20.  Der  Bursche  mit  dem  Schafe.  Bl.  24a  ==  Ztschr.  f.  dtsch.  Myth.  2,  197,  No.  6. 

—  Vgl.  Grimm  No.  64:  „Die  Goldgans". 

21.  Der  geschickte  Dieb.  Bl.  25b.  (Er  soll  dem  Bojaren  Pferd  und  Ochsen 
stehlen.)  —  Vgl.  Grimm  No.  192:  „Der  Meisterdieb". 

22.  Der  Furchtlose.  Bl.  27  a.  (Abenteuer  im  Spukzimmer,  wo  eine  Leiche 
zu  einem  Kessel  mit  Dukaten  wird,  und  bei  zwölf  Drachen,  die  mit  einer  Schlange 
im  Kampf  leben;  er  erlegt  die  Schlange  und  deren  Mutter,  die  sie  nachts  wieder 
beleben  will;  mit  dem  damals  erbeuteten  Lebenswasser  erweckt  ihn  später  sein 
Vater  vom  Tode.) 

23.  Der  listige  Bauer.  Bl.  31a.  (Er  verkauft  seine  tote  Frau  und  soll  im 
Sack  ertränkt  werden.)  —  Vgl.  Bolte  zu  Val.  Schumanns  Nachtbüchlein  1893,  No.  6 
und  Freys  Gartengesellschaft  1896,  S.  278. 

24.  Der  Mann  unter  den  Drachen.  Bl.  32a  =  Ztschr.  f.  dtsch.  Myth.  2,  203, 
2^0.  8.  —  Vgl.  Grimm  No.  30  „Das  tapfere  Schneiderlein";  Montanus'  Schwank- 
bücher ed.  Bolte  1899,  S.  560;  Köhler  1,  563. 

25.  Kuhsohn.  Bl.  33a  =  unten  No.  H.  —  Hier  sind  vereinigt  a)  das  Märchen 
A^on  Einäuglein,  Zweiäuglein,  Dreiäuglein;  vgl.  Grimm  No.  130;  Bolte  zu  Montanus, 
1899,  S.  591.  —  b)  das  von  den  drei  befreiten  Königstöchtern  und  den  treulosen 
Gefährten,  die  den  Helden  unter  der  Erde  lassen;  vgl.  diese  Zeitschrift  6,  163  zu 
Gonzenbach  No.  58;  Köhler  1,  437  (Jagic  42)  und  543;  teilweise  auch  Schott  No.  10: 
„Petru  Firitschell".  Vereinigt  finden  sich  beide  Erzählungen  auch  bei  Haltrich, 
Volksmärchen  in  Siebenbürgen,  1885,  No.  18:  „Der  starke  Hans". 

26.  Der  Mönch  und  der  Teufel.  Bl.  39  b.  (Der  Mönch  lässt  sich  nicht  vom 
Gebete  abbringen,  und  der  Teufel  muss  48  Stunden  lang  die  Mühle  drehen.) 

27.  Eine  Wette.  Bl.  40a.  (Mensch  und  Teufel  wetten,  wer  stärker  pfeifen 
kann.  Der  Mensch  verbindet  dem  Teufel  den  Kopf  und  schlägt  ihn  mit  der  Hacke 
ins  Auge.)  —  Vgl.  Waldburgs  Erzählung  aus  der  Bukowina,  Ztschr.  f.  dtsch.  Mythol. 
1,  182. 

28.  Der  Mann  mit  dem  Zauberring.  Bl.  40b.  (Das  Kleinod  wird  von  der 
treulosen  Frau  und  einem  Araber  entwendet,  aber  von  Hund  und  Katze  wieder- 
geholt.) —  Vgl.  Köhler,  Kl.  Sehr.   1,  63.  437.  440. 


Staufes  Sammlung  rumänischer  Märchen  aus  der  Bukowina.  87 

29.  Die  Zigeuner  während  eines  Feiertages.  Bl.  42b.  (Ein  Einfältiger  sagt 
dem  begegnenden  Bauern,  wo  sein  Thürschlüssel,  Kuchen  und  Braten  stecke,  er 
solle  aber  nichts  davon  nehmen.     Natürlich  raubt  dieser  alles.) 

30.  Der  Bräutigam  und  der  Wolf.  Bl.  43  a.  (Ein  Barsch,  der  einem  alten 
Ehepaare  die  geraubten  Augen  wiederbringt,  erhält  zum  Lohn  ein  zauberkräftiges 
Polster.  Ein  Wolf  will  ihn  zum  Lohne  für  seine  Hilfe  an  seinem  Hochzeitstage 
fressen.  Vom  heiligen  Sonntag  erhält  er  eine  Bürste,  Schnupftuch  und  drei  Haare, 
die  sich  in  Wald.  Mauer  und  Fuchs,  Hund  und  Bär  verwandeln.  Die  treulose 
Mutter  stellt  ihm  als  Buhlin  des  Wolfes  nach  dem  Leben,  aber  die  drei  Tiere 
retten  ihn.)  —  Vgl.  zum  letzten  Teil  diese  Zeitschrift  6,  C9  zu  Gonzenbach  No.  26: 
auch  unten  No.  33. 

31.  Der  Schwur  des  Zigeuners.  Bl.  45a.  (Er  stiehlt  Teile  eines  Pfluges  und 
gesteht  beim  Reinigungseide  in  der  Kirche  alles.) 

32.  Das  Schwein  im  Walde.  Bl.  45  a.  (Vom  Wolfe  gepackt  bittet  es,  noch 
einmal  schreien  zu  dürfen:  darauf  kommen  ihm  die  anderen  Wildschweine  zu 
Hilfe.)  —  Vgl.  Pauli,  Schimpf  und  Ernst  No.  173  ed.  Oesterley. 

33.  Sohngottes.  Bl.  45b.  (Der  Held  wird  geboren,  nachdem  seine  Mutter 
ein  Pfefferkorn  verschluckt  hat.  Er  besitzt  nach  anderthalb  Jahren  ungeheure 
Stärke  und  überwindet  den  Drachen,  der  seine  Schwester  geraubt  und  seine  älteren 
Brüder  getötet  hatte.  Die  Mutter  aber  lässt  sich  von  einem  verschonten  Draclien 
verführen  und  sendet  ihren  Sohn  auf  gefährliche  Abenteuer  aus.  Als  er  diese  mit 
Hilfe  des  heiligen  Sonntags  bestanden,  ermordet  ihn  der  Drache  im  Bade.  Der 
heilige  Sonntag  belebt  ihn  wieder  und  holt  als  Spielmann  verkleidet  seine  Augen, 
Herz  und  Adern.)  —  Teilweise  verwandt  mit  No.  30.  Vergleiche  Schott  No.  27: 
„Florianu".     Obert,  Ausland  1856,  2120,  No.  15:  ^Prundse  wärdje". 

34.  Vom  Pferde.  Bl.  52a.  (Es  heisst  den  Wolf  einen  Dorn  aus  seinem 
Hinterfusse  ziehen,  und  tötet  ihn.)  —  Vgl.  Oesterley  zu  Kirchhof,  Wendunmut  7,  43. 

35.  Christus  und  der  Teufel.  Bl.  52  a.  (Brot  für  den  Menschen,  Disteln  für 
den  Teufel) 

36.  Der  junge  Gärtner  und  die  Fürstentochter.  Bl.  52  b.  (Der  Jüngling  wacht 
drei  Nächte  am  Grabe  des  Vaters,  gewinnt  als  Gärtner  die  Liebe  der  Prinzessin 
und  durch  drei  Siege,  die  er  unerkannt  erringt,  die  Achtung  seines  Schwiegervaters.) 
—  Vgl.  Köhler  zu  Kreutzwald,  Ehstnische  Märchen  1869,  No.  13  und  Kl.  Schriften 
1.  551. 

37.  Der  Geistliche  und  sein  Knecht.  Bl.  54b.  —  Verbindung  der  Märchen 
vom  Vertrage  wegen  des  Ärgers  (oben  zu  No.  19)  und  vom  Tanze  des  Mönches 
im  Dornbusch;  vgl.  Grimm  No.  110  und  Bolte,  Festschrift  des  5.  Neuphilologen- 
tages 1892,  S.  1;  Archiv  f.  neuere  Sprachen  90,  289.  Dieselbe  Verbindung  begegnet 
bei  Schott  S.  229:  „Bakäla"  No.  6. 

38.  Wie  ein  Zigeuner  zu  Geld  kam.  Bl.  55  a.  (Er  lässt  die  Pferde  des  Bo- 
jaren von  den  Wölfen  fressen  und  schlägt  ihm  vor,  das  Sattelzeug  zu  verkaufen, 
prügelt  ihn  aber  auf  dem  angeblichen  Jahrmarkte.) 

39.  Der  überwundene  Drache.  Bl.  55b.  (Der  Mann  drückt  Wasser  aus  einem 
Käse,  während  der  Drache  Steine  zu  Staub  presst.)  —  Vgl.  Grimm  No.  20:  „Das 
tapfere  Schneiderlein".     Kremnitz,  Rumänische  Märchen  lö82,  No.  I. 

40.  Der  Bauer  am  Tische  des  Gutsherren.  Bl.  56  a.  (Er  giebt  beim  Zerlegen 
des  Hahns  den  Kopf  dem  Herrn,  den  Hals  der  Frau,  die  Flügel  den  Söhnen,  die 
Füsse  den  Töchtern,  den  Rumpf  sich  selber;  fünf  Kapaunen  teilt  er  unter  sieben 
Tischgäste,    so    dass   jedesmal    eine    Dreifaltigkeit  herauskommt.)  ~   Vergl.   diese 


88  Bolte:  Staufes  Sammluug  rumänischer  Märchen  aus  der  Bukowina. 

Zeitschrift  6,  59  zu  Gonzenbach  No.  1;  Köhler,  Kl.  Schriften  1,  354.  499.  582  und 
Montanus,  Schwankbücher,  S.  595  (G.  14).i) 

41.  Der  Zigeuner  im  Kloster.  Bl.  57  b.  (Als  er  in  der  Fastenzeit  hört,  das 
Kirchenbuch  befehle  das  Krautessen,  steckt  er  es  ins  Krautfass.) 

42.  Der  wahrsagende  Geistliche.  Bl.  5Sa.  —  Vgl.  Grimm  No.  9<s:  „Doktor 
Allwissend".     Köhler  1,  39.  68. 

43.  Wie  ein  Zigeuner  einmal  starb.  Bl.  59b.  (Der  Bauer,  an  dessen  Tisch 
er  sich  ungeladen  einfindet,  reicht  ihm  eine  Weinkanne  voll  Wagenschmiere.} 

44.  Die  Geschichte  von  der  weissen  Taube.  Bl.  60a.  (Dem  jüngsten  der  drei 
Prinzen,  die  für  den  erblindeten  Vater  die  Taube  holen  wollen,  hilft  sein  schnelles  und 

atgebendes  Pferd.  Er  bricht  von  dem  Walde  von  Kupfer,  Silber,  Gold  und  Diamant 
einen  Zweig  ab,  den  er  wieder  ansetzen  muss,  und  ergreift  im  Judenlande  nicht 
bloss  die  Taube,  sondern  auch  deren  goldenen  Käfig.  Gefangen  verpflichtet  er 
sich  die  Stuten  des  Meeres  zu  holen.  Sein  Pferd  kämpft  mit  dem  Hengst  und 
verwandelt  sich  in  ein  Schiff,  in  das  er  als  Kaufmann  gekleidet  drei  Königstöchter 
lockt.  Mit  einer  Zaubergeige  führt  er  die  vierzig  Wächter  der  Taube  und  viele 
andere  Menschen  zu  seinem  Vater.)  —  Vgl.  Grimm  No.  97:  „Das  Wasser  des 
Lebens";  Köhler  1,  412.  437  über  Kupfer,  Silber,  Gold;  ebenda  1,  469  über  den 
Kampf  der  Pferde;  Schott  No.  '2i3  zum  Diebstahl  des  Vogels  und  Pferdes  und  zur 
Verwandlung  des  hilfreichen  Wolfes  in  ein  Schiff. 

45.  Das  Ferkel  im  Walde.  Bl.  6;)b  =  unten  No.  III.  —  Vgl.  die  Häufungs- 
lieder bei  Erk-Böhme,   Liederhort  No.   1743,   wozu  noch  vieles  nachzutragen  wäre. 

46.  Der  Zigeuner  bei  einem  Heiratsantrag.  Bl.  64a.  (Er  hilft  dem  Freiwerber 
durch  Übertreibung:  der  Jüngling  habe  nicht  etwas,  sondern  viel  Geld,  nicht  junge, 
sondern  Melkkühe  und  sehe  mit  einem  Auge  nicht  wenig,  sondern  gar  nichts.) 

47.  Wie  eine  Katze  zur  Herrschaft  kam.  Bl.  64  b.  (Im  Räuberhause  über- 
nachten Katze,  Krebs,  Maus,  Ei,  Hahn,  Gans,  Hund  und  Ochse.)  —  Vgl.  Grimm 
No.  27:  „Die  Bremer  Stadtmusikanten'-.  Bolte,  Ztschr.  f.  vgl.  Littgesch.  7,  454.  11,  69. 
Köhler  1,   187.  424. 

48.  Die  gute  und  die  böse  Tochter.  Bl.  65  b.  (Das  gute  Mädchen  liebkost 
unterwegs  eine  Katze  und  einen  Hahn  und  verlangt,  als  sie  sich  in  einer  leeren 
Hütte  eingeschlossen  hat  und  der  Teufel  Einlass  begehrt,  auf  den  Rat  der  Katze, 
er  solle  ihr  ein  schönes  Kleid,  dann  Schuhe,  darauf  einen  Rock,  Hemd,  Geld 
bringen.  Darüber  vergeht  die  Nacht,  der  Hahn  kräht,  und  der  Teufel  verschwindet. 
Als  sie  daheim  ankommt,  will  die  böse  Schwester  auf  gleiche  Weise  reich  werden; 
aber  sie  weist  Katze  und  Hahn  zurück,  fordert  in  der  Hütte  vom  anpochenden 
Teufel  die  schönen  Dinge  nicht  einzeln,  sondern  auf  einmal,  muss  dann,  weil  sie 
nichts  mehr  zu  wünschen  weiss,   die  Thür   öffnen  und  wird  jämmerlich  zerrissen.) 

1)  Beide  Teilungen  erscheinen  vereint  schon  bei  Johannes  Junior,  Scala  cell,  Ulmae 
1480,  fol.  37  a  „de  clerico":  „Legitur,  qiiod  clericus  quidam  pnuper  in  domo  iidlltis  hospitatus 
requiritur,  quid  Parisius  didicisset,  qui  respondit:  Scientiam  naturalem  et  divinitatis.  Tum 
dominus  habens  unserem  et  voluit,  quod  clericus  divideret  secundum  scientiam  naturalem;  qui 
renuens,  sed  coacius  ita  divisit:  caput  dedit  domino,  collum  et  alas  fdiabus,  pedes  famulis,  crura, 
filiis,  et  ait:  Mihi  clerico  debetur  ecclesia.  Tunc  in  crastino  retentus  a  domino^  cum  in  prandio 
quinque  liaberet  perdices,  voluit,  ut  secundum  scientiam  divinitatis  eos  divideret.  Tunc  clericus: 
In  divinitate  trinitas  est  principium,  et  ideo  vobis  et  dominae  do  unam,  et  sie  estis  tres ;  duahus 
ßliabus  unam,  et  sie  sunt  tres;  duobus  filiis  unam,  et  sie  sunt  tres;  mihi  sali  daas,  et  sie  sumus  tres." 

Berlin. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Weinhold:  Das  englische  Kinderspiel  Sally  Water.  89 

Das  englische  Kinderspiel  Sally  Water. 

Von  K.  Weinhold. 


Mrs  Alice  Bertha  Gomme  hat  in  ihrem  gross  angelegten  Werke  The 
traditional  games  of  England,  Scotland  and  Ireland,  auf  das  wir  in  unserer 
Zeitschrift  IV,  223  bereits  aufmerksam  machten  und  dessen  zweiten  Band 
wir  in  diesem.  Hefte  weiter  unten  besprechen  wollen,  auch  ein  Kinderspiel 
genauer  behandelt  (11^  149 — 179.  453),  das  über  die  englischen  Grafschaften 
verbreitet  ist  und  das  wir  mit  der  gelehrten  Verfasserin  jenes  Buches  nach 
den  Schlagworten  des  Anfangs  Sally  Water  nennen  können.  Den  Aus- 
führungen von  Mrs.  Gemme  wollen  wir  hier  eine  Besprechung  widmen. 

Die  Kinder  bilden  bei  diesem  Spiel  einen  Kreis  mit  geschlossenen 
Händen,  in  dessen  Mitte  ein  Mädchen  kniet  oder  sitzt,  das  scheinbar 
weinend  sein  Gesicht  mit  den  Händen  bedeckt.  Die  übrigen  tanzen  herum 
und  singen  die  Worte,  die  in  50  Varianten  mitgeteilt  werden.  Das  Mädchen 
steht  auf  gegebenen  Befehl  auf  und  wählt  sich  aus  dem  herumtanzenden 
Ringe  einen  Knaben  oder  ein  Mädchen,  das  zu  ihm  in  den  Kreis  tritt. 
Sie  küssen  einander,  sobald  in  den  Versen  das  gefordert  wird,  und  wechseln 
dann  miteinander  den  Platz.  Es  ist  also  an  sich  ein  gewöhnlicher  Ringel- 
tanz, dem  nur  die  gesungenen  Worte  (sieben  Melodien  auf  S.  149 — 151) 
seinen  Charakter  geben.     Wir  können  hier  nur  einen  Text  mitteilen: 

Sally  Sally  Water,  sprinkle  in  the  pan, 

Rise  Sally,  rise  Sally,  and  choose  a  young  man. 

Choose  to  the  east,  choose  to  the  west 

And  choose  the  prctty  girl,  that  you  love  best. 

And  now  you're  married,  I  wish  you  joy, 

First  a  girl  and  then  a  boy, 

Seven  years  after  son  and  daughter, 

And  now,  young  people,  junip  over  the  water. 

(Symondsburg,  Dorsetshire.) 

Mrs  Gomme  führt  S.  ITlifT.  aus,  dass  diese  Worte  eine  Heiratsceremonie 
begleiteten  und  dass  ein  Hauptstück  derselben  mit  einem  Ritus  zusammen- 
hing, der  zum  Wasserkultus  gehörte.  Sie  bezieht  sich  dabei  auf  den  esth- 
nischen  pjrauch,  bei  der  Verheiratung  dem  Wassergeist  ein  Opfer  zu  bringen, 
ein  Gefäss  mit  Wasser  im  Hause  umzustürzen  und  den  Bräutigam  mit 
Wasser  zu  besprengen;  ferner  auf  die  Sitte  der  Hindus,  dass  die  Braut 
ein  Opfer  in  ein  Gefäss  mit  Wasser  wirft,  und  den  Hof  sowohl  als  den 
Bräutigam  mit  Wasser  bespritzt.  Über  diese  Wassersitten  bei  der  Ehe- 
schliessung wäre  nun  ein  weit  reicheres  ^Material  zur  Hand  gewesen 
(L.  V.  Schröder,  Die  Hochzeitsbräuche  der  Esthen  und  einiger  anderer 
finnisch-ugrischer  Völkerschaften    in  Vergleichung    mit    denen    der    indo- 


;<()  Schell: 

germanischen  Völker,  Berlin  1888,  Ö.  133  —  140),  aus  dem  sich  ergiebt,  dass 
Inder,  Slaven,  Römer,  Deutsche  und  nicht  bloss  die  nicht-arischen  Völker 
Wasseropfer  und  Wasserlustration  bei  der  Heirat  verwendeten,  so  dass 
Mrs  Gonimes  Meinung,  das  Kinderlied  Sally  water  weise  auf  eine  vor- 
keltische Periode  Englands  zurück,  gleich  der  ihres  gelehrten  Gatten 
G.  L.  Gomrae  (Ethnology  of  folklore  79—105),  die  V^asserverehrung  über- 
haupt sei  nicht-arischen  Ursprungs,  durchaus  in  der  Luft  schwebt.  Über 
den  arischen  Wasserkult  will  ich  hier  nur  auf  meine  Abhandlung:  Die 
Verehrung  der  Quellen  in  Deutschland  (Berlin  1898)  hinweisen. 

Ich  verstehe  auch  nicht,  wie  die  Hindeutung  auf  die  Fruchtbarkeit 
der  Ehe  in  dem  betreffenden  Kinderliede  als  Beweis  für  die  vorkeltische 
Kulturperiode,  in  der  jene  Reime  wurzeln  sollen,  verwandt  werden  kann. 
Dann  würden  z.  B.  die  zahllosen  Hochzeitgedichte,  welche  die  deutsche 
Litteratur  des  16—19.  Jahrh.  besitzt,  auch  in  vorarischer  Kultur  ihren 
«rrund  suchen  müssen.  Mit  Dank  wollen  wir  dagegen  die  Notizen  aus 
(Miglischer  heutiger  Volksmeinung  (Ö.  177 f.)  verzeichnen,  dass  eine  Ehe 
nicht  für  immer  bindend,  sondern  nur  für  eine  bestimmte  Zeit,  sieben 
Jahre,  giltig  sei,  und  auch  dass  ein  Mann,  wenn  die  Ehe  unfruchtbar  bleibt. 
eine  andere  Frau  heiraten  oder  zur  Konkubine  nehmen  dürfe. 

Für  ihre  Ansicht  über  den  vorkeltisclien  Kulturzustand,  der  sich  in 
jenem  Kinderspiel  spiegele,  hebt  Mrs  Gomme  auch  die  freie  Wahl  des 
Bräutigams  hervor,  die  dem  Mädchen  gestattet  ist.  8ie  setzt  es  also  in 
die  vielumstrittene  Periode  des  Mutterrechts.  Diese  Wahl  steht  aber  in 
dem  Spiel  nicht  bloss  den  Mädchen,  sondern  auch  den  Knaben  zu,  und 
wir  werden  jene  öfter  vorkommende  freie  Wahl  durch  ein  Mädchen  einfach 
darauf  zurückleiten  dürfen,  dass  diese  Kinderspiele  ganz  überwiegend  von 
Mädchen  nicht  bloss  gespielt,  sondern  auch  geleitet  w^erden. 


Kleine  Mitteilim2:en. 


Dreikönigslieder  vom  Niederrhein. 

Bis    vor    wenigen   Jahren    war    es   Sitte,    dass    die   Kinder    aus    den    ärmeren 
Gegenden    von    Gevelsberg   gleich    nach    Neujahr    für    einige  Wochen    nach    dem 
Wupperthal  wanderten  und  in  allen  Häusern  das  Dreikönigslied  anstimmten.    Meist 
sonderten    sich    drei    und    drei  Knaben    ab,    einen   mehr  oder  minder  gelungenen, 
selbstgefertigten  Stern  mit  sich  führend.     Das  Lied  hatte  folgenden  Wortlaut: 
MirwoU'n  einmal  singe,  Gott  zu  Lob  und  Ehrn,     Alhvo  die  Sonne  am  höchsten  stand, 
Die  heiligen  drei  Könige  mit  ihrem  Stehrn!       "Wir  hab'n  gehört,  es  ist  uns  neu. 
Zu  Bethlehem  im  jüd'schen  Land,  Allda  ein  Kioind  geboren  sei, 


Kloine  Mitteilungen. 


91 


Ein  kleines  Kind,  ein  grosser  Goht, 
Der  Himmel  und  Erd  geschaffen  hot  I 
Sie  kamen  wohl  vor  Herodis  Haus, 
Herodis  schaut  zum  Fenster  hinaus. 
Herodis  fragt  mit  Schimpf  und  Spott  — 
Ach  Gott,  was  weist  das  dritte  Wort?  — 
Das  dritte  Wort  ist  uns  wohlbekannt, 
Es  sind  die  drei  Weisen  aus  dem  Morgenland. 

In  Delling-  bei  Wipperfürth  hat  das 
Da  kommen  drei  Weisen  aus  Morgenland, 
Sie  haben  den  Stern  wolil  in  der  Hand  — 
Der  Stern  ist  gross  und  wunderschön  — 
Sie  haben  den  lieben  Gott  gesehn. 
Sie  kletterten  schnell  den  Berg  hinauf 
Und  kamen  vor  Herodes  Haus 
Hcrodes,  der  im  Fenster  lag. 
Der  die  drei  Weisen  wohl  kommen  sah, 
Herodes  schrie: 

.,Was  ist  sicli  der  3.  Mann  doch  so  schwarz!" 
..„Der  -■>.  Mann  ist  uns  wohlbekannt, 

Im  Überhessischon  hat  das  Lied  lol 

^Vir  kommen  daher  ohn  allen  Spott: 
Ein'n  scbön"n  guten  Abend  geb"  euch  Gott, 
Ein^n  schön"n  guten  Abend,  eine  fröhliche  Zeit, 
Die  uns  der  Herr  Christus  hat  bereit. 
Wir  kommen  daher  von  Gott  gesandt 
Mit  diesem  Stern  aus  Morgenland. 
Wir  zogen  daher  in  grosser  Eil  — 
In  dreissig  Tagen  vierhundert  Meil, 
In  dreissig  Tagen  vierliundert  Meil. 

Wir  konmicn  vor  Herodes  Haus. 
Herodes  schaut  zum  Fenster  heraus 
„Ihr  lieben  Weisen,  wo  wollt  ihr  liin?" 
..Nach  Bethlehem  steht  unser  Sinn: 
Nach  Bethlehem  in  Davids  Stadt, 
AUwo  der  Herr  Christ  geboren  ward."" 
„Ihr  lieben  drei  Weisen,  bleibt  heute  bei  mir. 
Ich  will  euch  geben  gut  Quartier, 
Ich  will  euch  geben  gut  (Quartier. 

Elberfeld. 


Sie  gingen  wohl  in  den  Stall  hinein. 

Da  fanden  sie  Maria  und  das  Kindelein. 

Sie  thäten  ihre  Schätze  auf 

Und  schenkten   dem  Kind  Gold,  Weiherauch, 

Gold,  Weiheranch,  Gold,  Mvrr  und  Wein, 

Das  Kind  soll  unser  König  sein, 

Das  Kind  soll  unser  König  sein. 


Dreikönigslied  folgende  Fassung: 

Es  ist  der  heilige  König  aus  Morgenland."" 

„Drei  Weisen,  drei  Weisen,  avo  wollen  sie  hin?'' 

„„Nach  Bethlehem  .steht  unser  Sinn."" 

Zu  Bethlehem  wohl  auf  dem  Plan, 

Da  blieb  der  Sterne  stille  stahn. 

Sic  haben  uns  was  zu  Ehren  gegeben: 

Der  liebe  Gott  lass'  euch  in  Frieden  leben. 

In  Frieden  lebt  wohl  immerdar, 

Das  wünschen  wir  euch  zum  neuen  Jahr, 

Den  Vater,  die  Mutter  und  auch  das  Kind, 

Dazu  das  ganze  Hausgesind. 

genden  Wortlaut: 

Ich  will  euch  geben  Heu  und  Streu 
lind  will  euch  halten  in  Zehrung  frei." 
„Ach.  lieber  Herodes,  das  kann  nicht  geschehn, 
Wir  müssen  den  Tag  noch  weiter  gehn. 
Wir  zogen  zusammen  den  Berg  hinaus, 
Wir  sahen  den  Stern  wohl  über  dem  Haus. 
Wir  zogen  zusammen  das  Thal  hinein, 
Und  fanden  das  Kind  im  Krippelein. 
Und  fanden  das  Kind  im  Krippelein. 

Wir  fanden  das  Kind,  war  nackend  und  bloss, 

Maria  nahm's  auf  ihren  Schoss: 

Und  Josef  zog  sein  Hemdlein  au.s, 

Maria  machte  Windeln  draus. 

Wir  thaten  unsre  Schätze  auf 

Und  schenkten  dem  Kinde  Gold,  Weihraucli 

Gold,  Weihrauch  und  Myrrhen  fein. 

Dies  Kindlein  soll  unser  König  sein, 

Dies  Kindlein  soll  unser  König  sein. 

0.  Schell. 


Einige  Fastnachtlieder  vom  Niederrliein. 

I.    Aus  Kaiserswerth  und  Umgegend.') 

Die  Bettler  in  Kaiserswerth  und  Umgegend  spannen  Fastnacht  eine  Schweins- 
blase straff  über  einen  steinernen  Topf,  stecken  ein  hohles  Rohrstöckchen  oder 
einen  Gänsekiel  hindurch,  streichen  mit  den  Fingern  auf  und  ab  an  diesem  vorbei 
und  bringen  dadurch  ein  starkes  Getöse  hervor.     Der  Topf   heisst  der  Pastnacht- 


1)  Nach  schriftlichen  Mitteilungen  des  y  Job.  v.  Trostorff  in  Krefeld. 


92  Schell: 

E-ummelspott^).     Drei    Tajic    lang    ziehen  sie    so    umher,    Gaben    heischend    und 

folgendes  Lied  singend: 

Fastelovend  kömmt  hier  an  Schmaken  die  kotten  am  basten. 

Mit  dem  linne  Kedel:  Auch  lot  dat  Mätzke  sinken 

Götz  sett  die  Ledder  au  die  Wank,  En  die  dickste  Schinken. 

Audi  morgen  komm  ich  weeder.  0  Mohn!  tast  an  dat  Eierfät, 

So  steht  die  Ledder  an  die  Wank,  So  wöt  auch  euch  die  Hank  nitt  nät. 

Dan  nehmt  die  Brotwosch  en  die  Hank.  Föll  Eier  mott  er  noch  geven, 

Lott  die  kotten  hangen,  So  er  wellt  lange  leven; 

Gefft  mech  hüt  die  langen.  Hongert  Johr  on  ene  Dag, 

So  die  laugen  sind  gegäten,  So  schnitt  mech  och  en  Stock  Speck  äff. 

2.    Aus  dem  Jülich'schen. 

Fastelovend  Kliugboss,  kling  wal  ob  de  Bosse, 

Hej  ne  Schtohl  on  doli  ne  Schtohl,  op  jeden  Stohl  en  Kösse. 

Sett  dat  Ledderke  an  de  Wank,  schnij  die  Brotwuscht  dor  de  Hank: 

Lott  dat  Metzke  senke  in  die  fette  Schenke, 

Lott  dat  Metzke  hange  in  die  fette  Hamme  (Vorderschinken). 

Schnije,  schnije  Prüme,  schnij  deck  nett  en  de  Düme. 

Fastelovend.  Stubbdewupp,  die  Waffele  sind  gebakke. 

Spar  die  Botter  on  äet  der  Ki«'s,  moer  kömmt  der  Krämmer  wehr. 

3.   Aus  Werden. 

Fasseluweud  komm  heran,  Lot  die  kotte  hange. 

Kling  up  die  Bosse,  Woffuer?  Doffuer; 

Sett  dat  Here-Stoelsche  drsln  Für  die  libe  Frau  sin  duer. 

Met  dem  goule  Kosske,  Wat  sali  der  wasse? 

Sett  die  Ledder  an  die  Wand,  Kö'n  oder  Flasse, 

Gef  mi  un  Brotwurscht  in  die  Hand,  Kö'n  oder  Linnesot 

Gef  mi  die  lange,  Iss  der  Frau  ir  Hüsgerot. 

Der  Grundton  dieser  drei  Fastnachtslieder  ist  derselbe,  weicht  aber  entschieden 
von  dem  in  Köln  gebräuchlichen  (Pirmenich,  Germaniens  Völkerstimmen,  I,  S.  467) 
ab,  wie  auch  von  den  Dülkener  Pastnachtliedern  (Zurmühlen,  Niederrheinische 
Volkslieder,  S.  129). 

Elberfeld.  0.  Schell. 


Der  Kulischwanz  an  der  Thüre. 

Der    König    vom  Odenwalde,    ein    ostfränkischer  Dichter  (s.  Germ.  23,  193  ff. 
und  292  ff.)  sagt  im  Gedichte  von  der  Ktiewe  V.  172: 

man  sieht  den  zagel  in  die  tür, 
da  mite  man  ziuhet  üf  und  zuo. 

Diese  Verwendung    des  Kuhschwanzes    lernen    wir    auch    anderwärts  kenneu. 
In  Boners  Fabel  von  einem  törechten  schuolpfaffen  heisst  es  V.  31: 

nu  sach  er  an  die  stubentür;  min  herz  groz  wunder  hat  genomen, 

da  war  ein  loch  geboret  dür,  wie  dur  daz  loch  diu  kuo  si  komen 

da  was  ein  kuosweif  in  geslagen.  und  in  der  tür  beliben  ist 

do  geriet  der  hohe  phaffe  sagen:  der  sweif  u.  s.  w. 

1)  Man  vergl.  dazu  Firmenich,   Germaniens  Völkerstimmen,  I,  S.  425  (Dat  Rompel- 
Leedschen). 


Kleine  Mitteilung-en.  9o 

Und  Fischart  äussert  sich  in  der  Geschichtsklitterung  c.  48:  Vnd  wann  sie  so 
haßlich  wer  als  die  Praw  Gerpina  in  der  höUen,  noch  ist  sie  bei  dem  toten  Blut 
vor  den  Hirtzbriinstigen  Mönchen  nicht  sicher,  sie  giengen  ein  Geyß  an,  die  ein 
Schleier  auf  hat:  Ja  brechen  ein  Thor  auf,  da  ein  Kiischwanz  vorhieng;  s.  auch 
Grimm,  D.  Wörterb.  V,  1582  unter  Kuhschwanz. 

Darnach  brachte  man  den  Kuhschwanz  sowohl  an  Thüren  wie  Thoren  an. 
Bei  Boner  erscheint  er  nicht  einfach  an  die  Stubenthüre  genagelt,  sondern  es  ist 
durch  diese  ein  Loch  gebohrt  und  der  Schwanz  hineingeschlagen.  Es  ist  nur 
fraglich,  ob  er  durch  Verkeilung  oder  anderswie  befestigt  oder  durchgezogen  wurde, 
so  dass  er  sowohl  innen  als  aussen  als  Handhabe  benutzt  werden  konnte.  Die 
Angabe  im  Gedichte  von  der  küewe  da  mite  man  ziuhet  üf  und  zuo,  scheint 
mir  auf  letzteres  zu  deuten,  obwohl  eine  andere  Auffassung  nicht  ausgeschlossen  ist. 
Vielleicht  ist  eine  derartige  Vorrichtung  hier  und  dort  noch  gebräuchlich.  Mir  ist 
sie  nirgends  zu  Gesicht  gekommen. 

Czernowitz.  Oswald  v.  Zingerle. 


Notizen  zum  Geldwerte  im  18. 19.  Jahrhundert  im  Braunscliweigischen. 

a)  Korn. 

Im  Jahre  1717  galt  in  Nordsteimke  1  Himten  Roggen  18  mg,  vor  50  Jahren 
der  Wispel  Roggen  im  Durchschnitt  20  thlr..  Weizen  dgl.  25  thlr. 

b)  Vieh. 

Im  Jahre  1799  wurde  ein  Ochse  mit  8  thlr.  abgeschätzt,  eine  Kuh  mit  5  thlr., 
ein  Rind  mit  2V2thlr.,  ein  Stier  mit  2V2thlr.  Vor  50  Jahren  verkaufte  man  die 
Rühe  mit  16—20  thlr ,  die  Pferde  kosteten  30  -40  thlr.  Die  Ferkel  waren  ge- 
wöhnlich so  billig,  dass  sie  niemand  umsonst  haben  wollte;  manchmal  kamen  sie 
aber  auch  bis  auf  7  thlr.  das  Paar. 

c)  Butter  und  Eier. 

Vor  50  Jahren  kostete  die  Butter  3—4  ggr.  a  Pfund,  das  Schock  Eier  8—10  ggr. 

d)  Baumaterialien. 

Im  Jahre  1756  wurde  der  Wert  für  dieselben  wie  folgt  angegeben: 

Eichenholz,  Süll-  und  Ständerholz  a  Fuss  1  ggr.  Platen-  und  Riegelholz 
a  Fuss  8  Pfg.  1). 

Tannenholz  gab  es  in  Nordsteimke  nicht  und  wurde  aus  der  Heide  geholt. 
Latten  kamen  auch  daher,  das  Schock  galt  nach  Güte  und  Stärke  2— 2V2  thlr. 

Barn-  und  Ziegelsteine  aus  Wolfsburg,  100  Stück  =  10  ggr.  —  1  thlr. 

Kalkstein  a  Quadratrute  auf  der  Stelle  3  thlr.  Gips  aus  Deren,  a  Wispel 
(=40  Zuber)  2V2  thlr. 

e)   Löhne. 

Der  Grossknecht  bekam  in  Nordsteimke  jährhch  12  thlr.  an  barem  Gelde, 
für  das  erste  Jahr  einen  Rock  aus  Beiderwand  ('n  beilewänder),  für  das  zweite 
and  folgende  einen  Kittel  aus  Fünfkamm,  3  weisse,  linnen  Hosen,  3  Hemden, 
1  Paar  neue  Schuhe,  1  Paar  besolte  Schuhe  und  1  Himten  Lein  gesät. 

Der  kleine  Knecht  fing  mit  1  thlr.  und  V2  Himten  Lein  gesät  an  und  erhielt 
dazu  auch  Zeug,  Hemden  und  Schuhe. 


1)  8  Pfg.  =  1  mgT. 


<)4:  Stiele: 

Die  Grosstnagd  empfing  jährlich  7  thlr.,  einen  gestreiften  Rock,  eine  gestreifte 
Schürze,  1  Vz  Stiege  Leinewand  (alles  selbst  gesponnen),  ein  Paar  neue  Stiümpfe, 
ein  Paar  angestrickte  Strümpfe,  ein  Paar  neue  Schuhe,  ein  Paar  neue  Pantoffeln 
und  V2  Himten  Lein  gesät. 

Die  kleine  Magd  fing  auch  mit  1  thlr.  und  ferner  mit  1  Vierfass  Lein  gesät 
an  und  bekam  dazu  ein  ganzes  Kleid,  zu  dem  Rock,  Wams,  Tuch  und  Schürze 
gehörte,  ein  Paar  neue  Schuhe,  ein  Paar  neue  Pantoffeln  und  1  Stiege  Leinewand. 

Der  Tagelöhner  verdiente  im  Sommer  täglich  auf  dem  Gute  4ggr.  (=  5  Silber- 
groschen), beim  Bauern  o  ggr.  und  Essen.  In  der  Ernte  erhielt  der  Tagelöhner 
für  1  Morgen  Somraerkorn  abzumähen  3  ggr.  und  für  jede  Stiege  Winterkorn  1  ggr. 
Beim  Dreschen  bekam  der  Tagelöhner  den  16.  Himten  als  Lohn,  gleichviel  ob  das 
Korn  billig  oder  wohlfeil  war.  Für  seine  Wohnung  musste  er  gewisse  Tage 
umsonst  arbeiten. 

Die  Ernteknechte,  welche  etliche  Bauern  sich  zu  Hilfe  nahmen,  erhielten 
wöchentlich  V2  thlr. 

Die  Frauen  verdienten  auf  dem  Gutshofe  täglich  3  ggr.,  beim  Bauern  ausser- 
dem noch  Beköstigung. 

Die  Boten  erhielten  im  Jahre  17ÜG  für  einen  Weg  nach  Marienthal  4  mg.  4  pfg.. 
für  zwei  Wege  nach  Wolfenbüttel  1  mthlr.  10  mg.  Lu  Jahre  17öO  betrag  der 
Botenlohn  ä  Meile  2  ggr.,  die  Stellung  eines  Gespannes  kostete  ä  Meile  1  thlr. 

H.  Beck. 


Aus  einer  Polizeiverordnung  vou  1786. 

Eine  Verordnung  des  Königlich-Mährisch-Schlesischen  Guberniums,  verschiedene 
Polizeyanstalten  in  der  Stadt  Brunn  und  in  den  Vorstädten  betreffend,  d.  d.  Brunn 
12.  Junius  1786,  unterfertigt  von  Ludwig  Graf  von  Cavriani,  enthält  eine  Reihe 
auf  Aberglauben  und  Volksbrauch  Bezug  nehmende  Stellen,  die  allgemeineres  volks- 
kundliches Interesse  erregen  können.     Diese  Stellen  mögen  hier  folgen: 

.  .  .  wird  verordnet,  dass  den  Kindern  das  Anhängen  auf  die  Wägen  nicht 
gestattet  werden  sollte. 

.  .  .  sind  das  Singen  und  Harfenspielen  herumziehender  Musikanten,  dann 
die  Quacksalber  nicht  zu  gestatten. 

...  ist  das  Anheften  und  Ausstreuen  der  Pasquille,  sowie  alle  unflätige 
Bilder  und  Gesänge  und  deren  Ausrufen  .  .  .  verboten. 

.  .  .  müssen  Tanzhütten  mit  gehöriger  Vorsicht  beleuchtet;  und  nie  ohne 
besondere  Wache  sein. 

...  Ist  die  Beschädigung  der  Laternen  unter  Strafe  von  5  Reichsthalern 
verboten. 

.  .  .  Bleibt  die  türkische  und  andere  Musik  zur  Nachtzeit  ohne  vorherige 
Erlaubnis  .  .  .  verboten. 

.  .  .  Wird  das  Spielen  der  Krügelspieler  an  Kirchtagen  bei  Lichtern  .  .  . 
untersaget. 

...  ist  das  Baden  der  Kinder,  und  auch  erwachsenen  Leuten  in  den  Flüssen, 
Bächen  etc.,  sowie  das  Spielen  der  Kinder  nahe  am  Wasser  und  auf  öffentlichen 
Strassen,  besonders  bei  der  Dämmerung  und  zur  Nachtzeit  verboten. 

.  .  .  Sind  späte  Andachten  auf  der  Gasse  und  in  den  Privathäusern  nicht 
erlaubt. 

.  .  .  Wird  das  Schleifen  auf  dem  Eise  in  Gassen  und  auf  Plätzen  .  .  . 
verboten. 


Kleine  Mitteilungen.  95 

.  .  .  Sind  gezahlte  Hauskomödien,  sowie  die  zu  haltenden  Bälle  an  öffent- 
lichen und  Privatorten  ohne  erhaltene  Erlaubnis  verboten. 

.  ,  .  Müssen  abergläubische  Missbräuche,  als  Sonnenwendfeuer  am  St. 
Johannvorabend;  und  in  Lässlnächten  allerlei  Unfug  auf  Kirch-  und  Kreuz- 
wegen, nicht  minder  das  Nikolai-Dreikönigspiel,  und  alle  Schatzgräbereien 
und  Beschwörungen  nicht  gestattet  .  .  . 

...  Ist  die  Setzung  der  Bäume  in  dem  Monat  May,  dann  bei  den  Hütten, 
Kirchen  und  Prozessionen  .  .  .  verboten. 

...  Ist  bei  starkem  Winde  das  Kastanien-  und  Bratelbraten,  oder  Kochen 
auf  der  Gasse  verboten. 

.  .  .  Das  Evangelienbeten  der  Kinder  auf  Gassen  und  in  Häusern  ist  nicht 
zu  gestatten. 

...  Ist  am  Palmsonntag  der  Verkauf  der  Palmzweige  .  .  .  verboten. 

.  .  .  Können  Lebzelten  und  Wachs  vor  und  nach  dem  Gottesdienst,  der 
Meth  aber  erst  nach  demselben,  Kerzen  hingegen  im  Sommer  um  (J  und  im 
Winter  um  4  Uhr  Nachmittag  (an  Sonn-  und  B'eiertagen)  verkauft  werden. 

.  .  .  Können  am  Allerheiligen-  und  Lichtmesstag  die  Wachshändler  oder 
Wachskerzler  offen  halten,  doch  ohne  Auslage. 

R.  V.  Strele. 


Franz  Magnus  Böhme  -{• 

Am  18.  Oktober  1898  ist  Professor  Franz  M.  Böhme  zu  Dresden  gestorben. 
der  rastlose  Sammler  und  Herausgebor  der  deutschen  Volkslieder  alter  und  neuer 
Zeit  in  Wort  und  Weise.  Böhme  war  am  11.  März  18-27  zu  Willerstedt  bei  Weimar 
geboren,  Avidmete  sich  dem  Schulfach,  war  Lehrer  und  Kantor  in  Thüringen, 
studierte  drei  Jahre  bei  M.  Hauptmann  in  Leipzig  Musik  und  schrieb  im  strengen 
kontrapunktischen  Styl  Motetten,  die  von  dem  Thomanerchor  in  Leipzig,  dem 
Kreuzkirchenchor  in  Dresden  und  auch  sonst  in  deutschen  Kirchen,  besonders  in 
Würtemberg  gesungen  wurden  und  werden.  Seine  Hauptliebe  aber  w^ar  und  blieb 
(las  deutsche  Volkslied.  Er  setzte  nicht  bloss  alte  und  neue  volUsmässige  Melodien 
für  Männerchöre,  die  im  Deutschen  Reich,  in  Österreich  und  darüber  hinaus  ge- 
sungen werden,  sondern  sammelte  schon  früh  mit  grösstem  Pleisse  für  seinen 
Zweck,  und  hat  in  jahrzehntelanger  opferwilliger  Hingabe  jene  Werke  zu  stände 
gebracht,  die  als  unentbehrliche  Magazine  des  deutschen  Liedes  gelten  müssen. 
Böhme  wusste  sehr  wohl,  dass  ihm  für  die  litterargeschichtliche  und  sprachliche 
Bearbeitung  der  Texte  die  germanistische  Schulung  abging  und  dass  er  sich  dafür 
nicht  immer  zuverlässiger  Hilfsmittel  bedienen  musste.  Aber  gerechte  Urteiler 
haben  immer  anerkannt,  dass  die  Mängel  seiner  Bücher  von  ihren  grossen  Vor- 
zügen sehr  überwogen  werden.  Für  die  Geschichte  der  Melodien  vornehmlich, 
dieses  so  ungemein  wichtigen  Bestandteils  der  Lieder,  sind  Böhmes  Arbeiten  un- 
schätzbar. 

Seine  Hauptwerke  sind  sämtlich  im  Verlage  von  Breitkopf  &  Härtel  in  Leipzig 
in  trefflichster  Ausstattung  erschienen. 

Altdeutsches  Liederbuch.  Volkslieder  der  Deutschen  in  Wort  und  Weise 
aus  dem  12    bis  zum  17.  Jahrhundert.    1877.     S.  LXXII.    832. 

Geschichte  des  Tanzes  in  Deutschland.  Mit  alten  Tanzliedern  und  Musik- 
proben herausgegeben.     1886.     S.  VIL    339.221. 

Deutscher  Liederhort.  Auswahl  der  vorzüglicheren  deutschen  Volkslieder 
nach  Wort    und  Weise    aus    der  Vorzeit    und  Gegenwart  gesammelt  und  erläutert 


96 


Weinhold: 


von  Ludwig  Erk.  Im  Auftrage  und  mit  Unterstützung  der  K.  Preuss  Regierung 
nach  Erks  handschriftlichem  Nachlass  und  auf  Grund  eigener  Sammlung  neu- 
bearbeitet und  fortgesetzt  von  Fr.  M.  Böhme.  1893.  1894.  I.  S.  LX.  656.  11. 
S.  800.     III*.    S.  919. 

Volkstümliche  Lieder  der  Deutschen  im  18.  und  19.  Jahrhundert.  Nach 
Wort  und  Weise  aus  alten  Drucken  und  Handschriften,  sowie  aus  Volksmund 
zusammengebracht  und  mit  historisch -kritischen  Anmerkungen  versehen.  1895. 
S.  XXII.    628. 

Deutsches  Rinderlied  und  Rinderspiel.  Volksüberlieferungen  aus  allen 
Landen  deutscher  Zunge,  gesammelt,  geordnet  und  mit  Angabe  der  Quellen,  er- 
läuternden Anmerkungen  und  den  zugehörigen  Melodien  herausgegeben.  1897. 
S.  LXVI.    756. 

Professor  Böhme  lebte  seit  1885  in  Dresden,  wohin  er  von  Frankfurt  a.  M. 
übergesiedelt  war.  Dort  hat  nun  der  liederkundige  fleissige  Thüringer  seine  letzte 
Ruhestätte    gefunden.     Seine  Arbeiten  werden   sein  Andenken  am  Leben  erhalten. 

R.  Weinhold. 


Büclieranzeken. 


Die  Donauländer.     Zeitschrift  für  Volkskunde.    Mit  Berücksichtigung 

von  Handel,  Industrie  und  Verkehrswesen  in  den  Ländern  der  unteren 

Donau.    Herausgegeben  von  Adolf  S trau sz.    L    L  Heft.    1899.  Verlag 

von  Carl  Graeser.     Wien,  Leipzig,  Budapest.     S.  88.     8°. 

Eine    neue  Zeitschrift  für  Volkskunde   liegt  mit  diesem  ersten  Hefte  vor  uns; 

sie  ist,  wie  der  Titel  schon  sagt,  den  Donauländern  gewidmet,  d.  i.  dem  Rönigreich 

Ungarn,  Serbien,  Bulgarien  und  Rumänien.     Herr  Ad.  Strausz  ist  der  Herausgeber, 

der  Verfasser  des  Buches  über  die  Bulgaren,  das  wir  in  unsrer  Zeitschrift  VIII,  357 

anzeigten.     Er  scheint  ganz  geeignet  dazu,  der  Vermittler  zwischen  der  Volkskunde 

der  Balkan-  und  Donaustaaten  und  der  Westeuropa  sehen  Wissenschaft  zu  werden. 

Aber    die  Zeitschrift    will    auch    eine    praktische  Richtung  verfolgen   und  in  ihren 

monatlich  erscheinenden  Heften  über  die  industriellen  und  merkantilen  Verhältnisse 

jener  Staaten   berichten,    um  dadurch  den  kapitalkräftigen  Unternehmungsgeist  des 

Westens  auf  die  nach  materieller  Entwickelung  begierigen  und  ihrer  sehr  bedürftigen 

Länder    des  Ostens    aufmerksam    zu    machen.     In  wie  weit  es  möglich  sein  wird, 

jenen    volkskundlichen    und    diesen    nationalökonomischen    Zweck    zu    verbinden, 

müssen    wir    abwarten.     In    diesem  1.  Heft  steht  der  politisch-wirtschaftliche  Teil 

hinter  dem  volkskundlichen  sehr  zurück. 

In  diesem  treten  drei  bedeutende  Pfleger  der  Volkskunde  des  Südostens  auf: 
Dragomanov,  Russe  von  Geburt,  aber  ein  Hauptkenner  des  bulgarischen  Volkes; 
der  Serbe  Milicevic  und  der  Rumäne  Saineanu.  Dragomanov  beginnt  eine  Ab- 
handlung: Die  slavischen  Sagen  über  das  Opfern  des  eigenen  Rindes;  Milicevic: 
Der  serbische  Bauer  in  der  Jugend  und  über  die  Jugend;  Saineanu:  Die  Jele  oder 
die  bösen  Geister  im  rumänischen  Volksglauben.    Dann  schildert  Ignaz  Riinos  ein 


Bücheranzeigeü.  9  < 

Fest  auf  der  kleinen  Donauinsel  A.da-Kale  (Neu-Orsova),  und  es  folgen  Berichte 
über  kroatische,  rumänische,  bulgarische  und  ungarische  Museen  und  Institute. 
Politische  Berichte  aus  Serbien  und  Bulgarien,  sowie  zwei  Bücheranzeigen  schliessen 
das  Heft.  Gelingt  es  Herrn  A.  Strausz,  das  Programm  der  neuen  Zeitschrift  ge- 
schickt durchzuführen  und  die  richtigen  Mitarbeiter  unter  den  Schriftstellern  der 
Donauländer  zu  gewinnen,  so  kann  er  den  Interessen  jener  Staaten  recht  schätzbare 
Dienste  leisten  und  zugleich  die  Volkskunde  sehr  fördern.  Wir  wünschen  ihm 
alles  Glück  auf  den  Weg.  K.  W. 


Zibrt,  Oenek,  Literatm-a  kultiiriie  liistorickii  a  ethnograficka  1807 — 1898.  I. 
Prag,  F.  Simacek,  1S98.     S.  92.  XXXI.     8^ 

Herr  Dr.  C.  Zibrt  giebt  in  seiner  trefflichen  Zeitschrift  Cesky  lid.  die  der 
Runde  vom  tschechischen  Volksleben  in  Böhmen,  Mähren,  Schlesien  und  Ungarn 
gewidmet  ist,  in  jedem  Hefte  eine  bibliographische  Übersicht  über  die  laufenden 
kulturhistorischen  und  ethnographischen  Litteraturerscheinungen,  natürlich  nicht 
beschränkt  auf  die  in  tschechischer  Sprache  gedruckten.  Er  beginnt  nun  diese 
dankenswerte  Bibliographie  in  Sonderausgaben  weiteren  Kreisen  zugänglich  zu 
machen  und  hiervon  liegt  Heft  I  von  1897/98  vor.  Die  Textsprache  ist  die 
tschechische,  wodurch  der  Herr  Verfasser  natürlich  die  Verbreitung  seiner  Arbeit 
nicht  fördert,  unsere  Zeitschrift  hat  bekanntlich  in  ihren  beiden  ersten  Jahrgängen 
(1891.  1892)  eine  von  Dr.  M.  Laue  sorgfältig  gearbeitete  Übersicht  über  die  volks- 
kundliche Litteratur  der  Jahre  1890  und  1891  gebracht.  Aus  Raummangel  mussten 
wir  sie  leider  aufgeben.  K.  W. 


Zweck,  Alb.,  Litauen.  I']iiie  Landes-  und  A^olkskimde.  Mit  (i6  Abbildungen, 
S  Kartenskizzen  und  einer  grossen  Karte  der  Kurisehen  Nehrung. 
Stuttgart,  Hobbing  cV   Ibiclilc,  1898.     S.  VTIL  452.     8°. 

Unter  dem  Titel  Deutsches  Land  und  Leben  in  Einzelschilderungen 
beabsichtigt  die  Verlagsbuchhandlung  Hobbing  &  Büchle  in  Stuttgart  eine  Reihe 
von  Landeskunden  und  Städtegeschichten  herauszugeben.  Von  der  ersten  Abteilung 
-Landeskunden"  liegt  der  erste  Band  vor,  der  die  nordöstlichste  Landschaft 
Preussens  und  des  Deutschon  Reichs,  Litauen,  schildert.  Verfasser  ist  Dr.  Albert 
Zweck,  Gymnasiallehrer  in  Memel.  Der  Inhalt  des  Buches  liegt  zum  grösseren 
Teil  ausser  der  Grenzen  unsers  Gebietes,  da  die  Beschreibung  der  Oberflächen- 
gestaltung, der  Siedelungen,  des  Erwerbs-  und  Verkehrslebens,  der  Pflanzen-  und 
Tierwelt  im  Vordergrund  steht.  Indessen  ist  doch  ein  grösserer  Ausschnitt  (S.  127 
bis  19.3)  den  Bewohnern  gewidmet.  Hier  spricht  der  Herr  Verfasser  gedrängt  über 
den  Körperbau,  die  Sprache,  Kleidung  und  Wohnung  der  Litauer,  über  ihre  Reli- 
giosität und  Moralität  und  ihre  Poesie.  Das  Buch  ist  mit  zahlreichen,  gut  aus- 
geführten Abbildungen  geschmückt  und  mit  mehreren  Kartenskizzen,  sowie  einer 
Karte  der  kurischen  Nehrung  ausgestattet.  Die  Nehrung  ist  gleich  dem  Memeldelta 
in  besonderen  Abschnitten  behandelt.  Der  Herr  Verfasser  hat  sich  seiner  Aufgabe 
mit  sichtlicher  Liebe  »■ewidmet.  K.  W. 


Zcitscbr.  d.  Vereins  f.  Volkskiiiidt' 


08  Pflei  derer: 

W.  Robertson  Smith:  Die  Religion  der  Semiten.  Autorisierte  deutsche 
Übersetzung-  aus  dem  Englischen  nach  der  zweiten  Auflage  der  ^Lectures 
on  the  Religion  of  the  Semites"  von  Dr.  R.  Stübc.  Freiburg,  Mohr, 
1899.     1.  Lieferung.     S.  1—48.     gr.  8°. 

Diese  Übersetzung  von  Rob.  Smith'  Lectures  on  the  Religion  of  the  Semites, 
von  welcher  bis  jetzt  die  erste  Lieferung  vorliegt,  ist  als  ein  sehr  verdienstliches 
und  zeitgemässes  Unternehmen  zu  begrüssen.  Das  Werk  des  leider  zu  früh  ge- 
storbenen englischen  Gelehrten  war  alsbald  nach  seinem  Erscheinen  in  England 
und  Deutschland  als  eine  ausgezeichnete,  in  mancher  Hinsicht  epochemachende 
Leistung  auf  dem  Gebiet  der  vergleichenden  Religionswissenschaft  anerkannt  worden. 
Neben  der  gründlichsten  und  ausgebreitetsten  Kenntnis  des  gelehrten  Stoffes  ist 
es  besonders  die  geniale  Methode  der  Forschung,  die  diesem  Werk  seine  hervor- 
ragende Bedeutung  giebt.  Die  frühere  Religionsforschung  war  vorzugsweise  von 
den  Mythen  ausgegangen  und  hatte  diese  auf  etymologischem  und  sprachver- 
gleichendem Wege  zu  deuten  versucht,  war  aber  dabei  weder  zu  gesicherten  Er- 
gebnissen im  einzelnen,  noch  zu  einem  befriedigenden  Verständnis  der  Motive  des 
religiösen  Handelns  oder  der  Gesetze  der  religiösen  Entwicklung  gelangt.  R.  Smith 
hingegen  ging  von  der  Überzeugung  aus.  dass  die  Mythen  überall  sekundär  und 
von  den  in  den  einzelnen  Kulturgebieten  herrschenden  religiösen  Bräuchen  ab- 
hängig seien,  und  dass  also  auch  die  Erforschung  der  alten  Religionen  von  den 
Thatsachen  der  traditionellen  Riten  auszugehen  habe,  in  denen  die  religiösen  An- 
schauungen sich  am  bestimmtesten  verkörperten  und  von  denen  aus  allein  ein 
sicherer  Anhalt  zur  Deutung  der  Mythen  zu  gewinnen  sei.  Wie  politische  In- 
stitutionen älter  sind  als  politische  Theorien,  so  sind  auch  i-eiigiöse  Institutionen 
älter  als  religiöse  Theorien.  Zwischen  den  ältesten  politischen  und  religiösen 
Institutionen  besteht  aber  nicht  bloss  eine  genaue  Analogie,  sondern  auch  der 
engste  Zusammenhang:  beide  sind  Teile  derselben  socialen  Gesittung  eines  be- 
stimmten Gemeinschaftskreises.  Die  Religion  war  für  die  Alten  nicht  eine  Sache 
der  persönlichen  Überzeugung,  sondern  ein  Stück  des  öffentlichen  bürgerlichen 
Lebens,  der  auf  die  Gottheit  bezügliche  Teil  der  volkstümlichen  Lebensordnung. 
Hiermit  ist  für  die  Religionsforschung  der  überaus  fruchtbare  Grundsatz  aufgestellt, 
dass  sie  vor  allem  auf  die  religiösen  Institutionen  zu  achten  und  deren  Entwicklung, 
die  mit  der  der  bürgerlichen  Institutionen  Hand  in  Hand  geht,  zu  untersuchen 
habe.  Die  Religicnsgeschichte  wird  hiernach  zu  einem  Ausschnitt  der  socialen 
Kulturgeschichte  und  gewinnt  in  diesem  Zusammenhang  eine  viel  festere  Basis  für 
ihre  Forschung  als  sie  früher  hatte,  so  lange  sie  von  der  problematischen  Mythen- 
deutung ausging.  —  Wie  fruchtbar  diese  Methode  für  das  Verständnis  dessen  ist, 
was  den  eigentümlichen  Charakter  jeder  Religion  ausmacht:  ihrer  Auffassung  des 
religiösen  Verhältnisses  zwischen  der  Gottheit  und  ihren  Verehrern,  das  zeigen 
sofort  die  grundlegenden  Ausführungen  des  zweiten  Kapitels  über  den  Zusammen- 
hang der  religiösen  und  socialen  Entwicklung:  von  der  auf  Blutsverwandtschaft 
begründeten  engbegrenzten  Gemeinschaft  des  Stammes  fortschreitend  zu  dem 
rechtlich  geordneten  Gemeinwesen  des  Staates;  jener  Entwicklungsstufe  entspricht 
die  Auffassung  der  Gottheit  als  „Vater"  im  eigentlichen  Sinn  des  Erzeugers,  dieser 
die  Auffassung  als  „König'';  nebenbei  wird  darauf  hingewiesen,  dass  den  Vater- 
göttern in  vorgeschichtlicher  Zeit  des  Matriarchats  die  Muttergottheiten  noch  voran- 
gingen, deren  Nachwirkung  sich  in  den  naturalistischen  Zügen  mancher  Riten  noch 
lange  bemerken  lässt.  Sehr  fein  ist  der  Nachweis,  wie  die  Attribute  des  göttlichen 
Vaters  und  Königs  genau  entsprechen  der  jeweiligen  socialen  Stellung  des  mensch- 


Bücheranzeigeu.  99 

liehen  Familienhauptes  und  Yolkshauptes.  Höchst  beachtenswert  sind  auch  die 
l'.emerkung-en  über  den  sittlichen  "Wert,  den  schon  die  primitive  Religion  trotz  ihrer 
naturalistischen  Anschauungsweise  hatte,  und  der  sie  vom  Aberglauben  specifisch 
unterschied  (S.  38  f.)  —  Bemerkungen,  mit  welchen  Smith  (ähnlich  wie  Fustel  de 
Coulanges)  dem  heute  fast  allgemein  herrschenden  A'^orurteil  von  der  ursprünglichen 
Trennung  von  Moral  und  Religion  mit  gutem  Recht  und  auf  Grund  unbestreitbarer 
Thatsachen  entgegentritt. 

Schon  aus  dem  Inhalt  der  bis  jetzt  erschienenen  ersten  Lieferung  der  Über- 
setzung lässt  es  sich  ersehen  und  die  später  folgenden  gründlichen  Untersuchungen 
über  das  Opferwesen  der  Semiten  werden  es  noch  weiter  bestätigen,  wie  viel  die 
Historiker,  Ethnologen,  Philosophen  und  Theologen  aus  diesem  trefflichen  Werk 
lernen  können.  Die  Übersetzung  ist  gut  und  fliessend,  und  ein  besonderes  Verdienst 
hat  sich  der  Übersetzer  noch  dadurch  erworben,  dass  er  die  Citate  in  den  An- 
merkungen noch  vermehrt  und  teilweise  durch  kurze  Inhaltsangabe  für  die,  denen 
die  betreffende  Litteratur  nicht  selbst  zur  Hand  ist,  verständlicher  gemacht  hat. 
Auch  der  Verlagshandlung  von  C.  B.  Mohr  (Freiburg)  gebührt  Dank  dafür,  dass 
sie  im  Interesse  der  weiten  Verbreitung  des  klassischen  Werkes  den  Preis  der 
deutschen  Ausgabe  verhältnismässig  niedrig  (8—9  Lieferungen  a  1  Mark)  ange- 
setzt hat.  0.  Pf  leiderer. 


Paul  Herriuaiin,  Deutsclie  Mythologie  in  gemeinverständlicher  Darstellung. 

Mit  II  Abbildungen  im  Text.  —  Leipzig,  W.  Engelmann,  1898.    S.  YIII 

und  545.     8°. 

Den  Versuch,  die  deutscjie  Mythologie  für  Schule  und  Haus  wiederzuerobern, 
unternahm  vor  sieben  Jahren  schon  einmal  ein  Autor,  dessen  Name  dem  des  jetzt 
zu  würdigenden  merkwürdig  ähnlich  war:  Paul  Herraanowski;  und  ein  Sachkenner 
wie  Heusler  konnte  (Deutsche  Litteraturzeitung  1891,  S.  1101  f.)  das  patriotische 
Unternehmen  loben,  wenn  er  gleich  zweifelte,  .^ob  einer  solchen  Walhalla  der 
Deutsche  die  gleiche  Pietät  entgegenbringen  könne,  wie  der  Grieche  seinem  Olymp." 
Es  ist  dennoch  gewiss  nicht  überflüssig,  wenn  von  neuem  ein  Buch  „in  gemein- 
verständlicher Form,  frei  von  allem  kritischen  Apparat,  ein  Bild  von  den  über- 
sinnlichen Vorstellungen  unserer  Vorfahren  zu  entwerfen  versucht.''  Denn  jene 
Schrift  dachte  vor  allem  an  die  Verwertung  der  alten  Götterlehre  in  Kunst  und 
Dichtung;  diese  will  einfach  eine  populäre  Darstellung  geben.  Hermanowski  hatte 
..aus  der  Not  eine  Tugend  gemacht  und  die  leeren  Räume  des  deutschen  Götter- 
himmels mit  den  skandinavischen  Dämonen  bevölkert":  Herrmann  dagegen  ist, 
„um  jede  falsche  Analogie  zu  vermeiden",  auf  die  nordische  Mythologie  nicht  ein- 
gegangen. Er  hofft,  sie  in  einem  eigenen  Buch  von  gleicher  Anlage  in  nicht  zu 
ferner  Zeit  zu  schildern. 

Der  Verfasser  hatte  unter  diesen  Umständen  vor  allem  die  volkstümliche 
Überlieferung  der  „niederen  Mythologie"  auszubeuten  und  man  darf  ihm  zugestehen, 
dass  er  es  mit  Eifer  und  Glück  that.  Stützt' er  sich  auch,  mit  vollem  Recht,  auf 
bewährte  Werke,  so  hat  das  doch  der  Selbständigkeit  seiner  Arbeit  keinen  Eintrag 
gethan.  Besonders  ist  es  anzuerkennen,  dass  er  der  Versuchung  widerstand,  die 
jeweiligen  „neuesten  Errungenschaften"  der  Mythologie  eilig  und  unbesehen  zu 
übernehmen,  wie  es  fast  üblich  ist;  er  hat  sich  weder  Tiwas-Tyr  (S.  288)  noch 
Balder  (S.  o5ü)  rauben  lassen  und  ist  bei  der  alten  guten  Erklärung  von  „Werwolf" 
(S.  31)  geblieben.  Über  die  meisten  Gesamtdarstellungen  gehen  die  hübschen 
Betrachtungen  über  die  Entwickelung  der  Göttergestalten  (S.  207)  und  der  Mythen- 

7* 


100  Wcinholfl: 

bildimg  (S.  208)  hinaus.  Auch  der  Kultus,  dessen  Vernachlässigung  K.  Woinhold 
—  allerdings  vor  dem  Erscheinen  von  Golthers  Buch  —  zu  rügen  halte,  linde 
ausreichende  Darstellung  unter  Berücksichtigung  der  Inschriftenfunde  (Abbildung 
der  Dea  Nehalennia  S.  377);  seine  Portdauer  in  „bildlichen  Opfern",  Festgebäck 
und  dergl.  (S.  437  f.)  knüpft  das  Alte  glücklich  an  das  Neue  an.  So  fehlen  denn 
auch  nicht  hübsche  Citate  aus  Goethe  (S.  3)  oder  Rosegger  (S.  52). 

Etwas  zu  stark  huldigt  auch  H.  noch  der  althergebrachten  Neigung  unmittel- 
barer Deutung;  es  wäre  doch  erst  zu  untersuchen,  ob  das  ilackernde  Feuer  wirklich 
jemals  einem  unbefangenen  Gemüt  die  Vorstellung  des  Lahmens  und  Hinkens 
(S.  230)  erweckt  hat.  Besonders  hat  es  mich  dagegen  gefreut,  meine  (sich  auf 
Müllenhoff  und  Liliencron  stützenden)  Anschauungen  über  die  Bedeutung  der 
Runen  (S.  4.S5  f.)  in  gefälliger  Darstellung  zu  allgemeinerer  Kenntnis  gebracht  zu 
sehen. 

Das  hübsch  ausgestattete  und  klar  gedruckte  Buch,  dem  es  auch  an  Ansätzen 
zu  ganz  selbständiger  Deutung  nicht  fehlt,  darf  für  seinen  Zweck  wohl  empfohlen 
werden.  Auch  der  Darstellung  der  nordischen  Mythologie  sehen  wir  mit  gutem 
Vertrauen  entgegen. 

Berlin.  Richard  M.  Meyer. 


Notes  on  the  folklore  of  the  Fjort  (French  Con^o).  ßy  R.  E.  Demiett, 
author  of  Seven  years  among  the  Fjort.  AVith  an  iutroductiou  by 
Mary  H.  Kiugsley.  Illustrated.  London  (published  for  the  Folklore 
Society)^  by  David  Nutt,  1898.     S.  IV.  XXXII.    169.     8^ 

Den  eigentlichen  Inhalt  dieses  interessanten  Buches  bilden  die  Aufzeichnungen 
des  Missionars  Dennett,  der  siebzehn  Jahre  unter  den  Stämmen  des  KaCongo  und 
Loango  gewirkt  hat.  in  den  zwei  Küstenprovinzen  des  französischen  Congo  nördlich 
des  grossen  Stromes  Congo  oder  Zaire.  Er  begreift  dieselben  unter  dem  Namen 
Fjort  (nach  Herrn  E.  S.  Hartland  in  englischer  Aussprache  durch  Feeaught  wieder- 
zugeben) und  hat  sich  bemüht,  mit  den  Sitten  und  den  religiösen  Anschauungen 
dieser  Stämme,  die  er  bekehren  wollte,  sich  genau  bekannt  zu  machen.  Die 
Früchte  dieser  Bemühungen  schickte  er  wenig  oder  gar  nicht  geordnet  an  die 
Folklore  Society  in  London,  welche  die  sichtende  und  ordnende  Zusammenstellung 
und  was  sonst  zur  Herausgabe  gehört  der  Miss  Kingsley  anvertraute,  die  sich  mit 
den  Westafrikanern  bereits  beschäftigt  hatte.  jMiss  Kingsley  hat  eine  Einleitung 
geschrieben  und  in  zwei  Anhängen  zusammengestellt,  was  sich  aus  den  zerstückelten 
Aufzeichnungen  Mr.  Dennetts  über  die  Religion  der  Fjorts  und  ihre  Lieder  ge- 
winnen liess.  Den  eigentlichen  Hauptstock  des  Buches  bilden  die  Geschichten 
und  Märchen  nach  der  Niederschrift  des  Missionars.  Unter  denselben  machen  sich 
Tiersagen,  wie  auch  sonst  bei  den  afrikanischen  Naturvölkern  sehr  bemerklich, 
dann  Geschichten,  die  man  den  mittelalterlichen  Beispielen  vergleichen  kann, 
anekdotenartige  Stücke,  und  die  wichtigste  Gruppe:  Erzählungen  von  geisterhaften 
Wesen,  von  weiblichen  besonders,  die  zu  den  Menschen  Beziehung  suchen.  Es 
ergiebt  sich,  dass  die  Fjorts  durchaus  nicht  in  Fetischismus  beschränkt  sind,  sondern 
dass  ihre  Religion  mit  der  Natur  verbundene  göttliche  Wesen  kennt,  die  auch 
ethische  Elemente  aufweisen.  Und  dadurch  hat  dieses  Buch  für  die  zu  erforschende 
Religionsgeschichte  der  afrikanischen  Völker  den  Wert  einer  wichtigen  Quelle.  — 
Fünf  Bildtafeln  sind  eine  willkommene  Beigabe.  K.  W. 


Büdieranzeio-en.  101 

Eleauor  Hüll,  The  Ciiclnilliii  Saga  in  Irish  Literature  (=  Grimm  Library 
Xo.  8).     London,  David  Nutt,  1898.     S.  LXXIX.   316.     8°. 

Die  Herausgeberiii  darf  auf  den  Dank  aller  derer  rechnen,  die  Interesse  für 
die  irische  Heldensage  haben,  die  Quellen  selbst  aber  nicht  einsehen  können. 
Das  Buch  enthält  folgende  14  'Tales':  The  Birth  of  Oonachar  (=  mittelir.  Concho- 
i)ar),  How  Conachar  gained  the  Kingship  over  Ulster,  The  Origin  of  Cuchullin, 
Tragical  Death  of  the  Sons  of  Usnach,  The  Woving  of  Emer,  The  Siege  of  Howth, 
The  Debility  of  the  Ultonian  Warriors,  The  Appearance  ofthe  Monign  to  Cuchullin, 
The  Tiiin  bo  Cuaiigne,  The  Instruction  of  Cuchullin  to  a  Prince,  The  Great  De  feat 
on  the  Piain  of  Muirthemne,  The  Tragical  Death  of  Cuchullin,  The  Tragical  Death 
of  King  Conachar,  The  Phantom  Chariot  of  Cuchullin.  Von  diesen  Erzählungen 
lagen  zum  Teil  bereits  l'bersetzungen  vor,  zum  Teil  nicht,  hier  konnte  sich  dann 
die  Herausgeberin  der  Hilfe  namhafter  Keltisten  bedienen.  Mit  besonderer  Freude 
darf  man  die  sehr  ausführliche,  stellenweise  deradezu  in  den  Charakter  einer  Über- 
setzung verfallende  Analyse  der  Tain  bö  Cuaiigne,  dieser  wichtigsten  mittelirischen 
Sage,  begrüssen.  Sio  hat  Standish  llayes  O'Grady  zum  Verfasser,  ist  übrigens 
nicht  auf  das  Buch  von  Leinster  basiert,  sondern  auf  eine  moderne  Handschrift, 
die  allerdings  sehr  genau  zu  jenem  stimmt. 

Von  der  Hcrausgeberin  des  ganzen  Buches  rührt  eine  Einleitung  her,  welche 
den  Leser  über  den  Charakter  und  die  Elemente  der  irischen  Heldensage  in  grossen 
Zügen  zu  orientieren  bestimmt  ist.  Atkinson  hat  bekanntlich  der  irischen  Sage 
Dürftigkeit  der  Erfindung,  Mangel  an  jeglichem  höheren  Schwung  und  dergl.  vor- 
geworfen. Dagegen  wendet  sich  Miss  Hüll.  Über  den  ästhetischen  Wert  der 
irischen  Sage  ein  abschliessendes  Urteil  abgeben  zu  wollen,  erscheint  mir  verfrüht. 
Dazu  fehlt  noch  die  Grundlage,  eine  (statistische)  Untersuchung  ihrer  Kunstmittel 
und  Technik,  etwa  im  Stile  der  Heinzelschen  Abhandlung  über  den  Charakter  der 
nordischen  Sage.  Bis  jetzt  urteilt  man  wesentlich  nach  dem  subjektiven  Eindruck, 
der  aus  fortgesetzter  Lektüre  resultiert.  So  viel  scheint  mir  jedoch  ausgemacht, 
dass  die  begreifliche  Liebe  der  Verfasserin  zu  ihrem  Gegenstand  ihr  Urteil  ge- 
legentlich bedeutend  zu  günstig  gefärbt  hat.  Wie  kann  man  nur  behaupten,  dass 
die  irische  Sage  sich  durch  verhältnismässige  Freiheit  von  unsittlichen  Bestand- 
teilen vorteilhaft  von  den  anderen  mittelalterlichen  Litteraturen  unterscheide'? 
Zimmer  hat  auf  Grund  aktenmässigen  Materials  genau  das  Gegenteil  erweisen 
wollen:  vielleicht  geht  er  zu  weit,  sicher  aber  waren  die  Iren  kein  Haar  besser 
und  anständiger  als  ihre  kontinentalen  Zeitgenossen.  Für  Miss  HuU  besitzen  die 
irischen  Liebesgeschichten  'a  purity,  a  tenderness,  and  a  charm  hardly  to  be 
found  eise  where'.  Nun.  nach  einer  iiischen  Damayanti  oder  SfivitrT  sehe  ich  mich 
vei'geblich  um. 

In  der  p]rklärung  der  Personen  und  Begebenheiten  der  irischen  Heldensage 
operiert  die  Verfasserin  meiner  Überzeugung  nach  viel  zu  viel  mit  Naturmythen. 
Cuchullin  ist  auch  für  sie  ein 'Sonnenheros'.  Seine  in  normaler  Verfassung  kleine, 
unscheinbare  Gestalt  wächst,  wenn  die  'Wutverzerrung'  über  ihn  kommt,  zu  aben- 
teuerlichen Dimensionen  an  und  verändert  sich  überhaupt  zu  einem  schreckhaften 
Gebild  Das  reflektiert  nach  der  Verfasserin  den  Unterschied  zwischen  der  Sonne 
an  gewöhnlichen  Tagen  und  'when  bursting  forth  in  summer  glory'.  Nach  langem, 
ununterbrochenem  Kampfe  schläft  C  einen  lethargischen  Schlaf  =  Eklipse.  Seine 
innere  Glut  wird  durch  gewaltsam  verabreichte  kalte  Bäder  gelöscht  =  Untergang 
der  Sonne  im  Meere.  Der  Kampf  der  Tain  ist  ein  Kampf  zwischen  den  Mächten 
des  Lichts  und  der  Dunkelheit,  die  beiden  Stiere  sind  'symbolical  cattle'  u.  s.  w. 
Das  erinnert  stark  an  die  Anschauungsweise,    die  einst  Buddha  zu  einem  Sonnen- 


102 


Weinhold: 


mythus  verflüchtigen  wollte.  Einer  der  originellsten  Geister  Englands,  Rudyard 
Kipling,  hat  sie  in  einem  höchst  gelungenen  Gedicht  (Giffens  Debt)  sehr  hübsch 
persifliert.  Ob  CuchuUin  ein  vermenschlichter  Gott  oder  Heros  oder  ein  empor- 
geschraubter menschlicher  Held  ist,  wer  will  es  entscheiden?  Die  mythologische 
Ausdeutung  der  Einzelheiten  ist  jedenfalls  durchaus  abzulehnen.  Die  beiden  Stiere 
der  Tain  sind  offenbar  höchst  irdische  Geschöpfe,  wie  sie  in  primitiven  Zeiten  oft 
Streitobjekte  gewesen  sein  werden.  Die  Dimensionen,  die  der  Kampf  annimmt, 
sind  auf  Rechnung  der  irischen  Phantasie  zu  setzen,  die  in  Vergrösserung,  Über- 
treibung, auch  freier  Erfindung  recht  Bedeutendes  leistet.  Ihr,  nicht  einem  etwa 
nur  zum  Teil  verarbeiteten  mythischen  Gehalt,  ist  es  zuzuschreiben,  dass  die  irische 
Heldensage  (im  Gegensatz  z.  R.  zur  deutschen)  etwas  so  Unreales,  Märchenhaftes 
an  sich  hat.  Mitten  darunter  steht  dann  von  Zeit  zu  Zeit  ein  Stück  echtester 
Sittenschilderung,  wie  etwa  das  Motiv  des  curadmir,  des  'Heldenanteils",  wozu 
man  die  bekannte  Stelle  des  Diodor.  Sic    (V,  28)  vergleiche.  E.  Zupitza. 


Kleinere  Schriften  von  Heinhold  Köhler.     I.  Band.     Kleinero   Schriften 

zur  Märchenforscliung.  Herausgegeben  von  Johannes  Bolte.    Weimar, 

E.  Felber,  1898.     S.  XL    (i08.     8". 

Die  ausgedehnte  und  fruchtreiche  litterarische  Thätigkeit  Rcinliold  Köhlers 
hat  Erich  Schmidt  in  der  liebevollen  Schilderung  des  trefflichen  Weimarschen 
Gelehrten  den  Lesern  unserer  Zeitschrift  (Zeitschr.  11,  41.S— 4o7)  dargelegt.  Es 
musste  bald  der  lebhafte  Wunsch  weiter  Kreise  im  In-  und  Auslände  sich  erheben, 
eine  Sammlung  der  in  vielen  Zeitschriften  verstreuten  Aufsätze  und  Recensioneii 
Köhlers  zur  Litteraturgeschichte  und  Volkskunde  zu  besitzen.  Nach  mancherlei 
Schwierigkeiten  hat  nun  der  berufenste  Besorger  dieser  Hinterlassenschaft,  Dr. 
Johannes  Bolte,  einen  ersten  Band  der  kleineren  Schriften  Reinhold  Köhlers  her- 
ausgeben können,  der  die  Beiträge  zur  Märchen forschung  enthält.  Auf  diesem 
Gebiete  war  R.  Köhler  wie  kein  anderer  daheim.  Seine  wunderbare  Belesenheit, 
seine  grosse  Sprachenkenntnis,  der  Umstand,  dass  infolgedessen  von  überall  hei' 
Mitteilungen  und  Nachrichten  in  seinem  Netze  eingingen,  sein  Sammelgenie  und 
dann  die  Besonnenheit  und  Gewissenhaftigkeit  bei  der  Behandlung  und  Verwertung 
seiner  Schätze  machten  ihn  zum  ersten  Kenner  der  Märchenstoffe  und  zum  zuver- 
lässigsten Berichterstatter  darüber.  Die  Beweise  dafür  geben  die  kleinen  Aufsätze 
und  Artikel  dieses  Bandes.  Die  ursprünglichen  Texte  hat  .1.  Bolte  durch  hand- 
schriftliche Nachträge  Köhlers  und  durch  eigene  Zusätze  ergänzt,  die  er  sehr 
bescheiden  nicht  besonders  bezeichnet  hat.  Sehr  dankenswert  ist  das  vom  Heraus- 
geber gearbeitete  Register. 

In  dem  2.  und  3.  Bande  dieser  Sammlung  sollen  die  Arbeiten  R.  Köhleis 
über  Volkspoesie,  über  Sagen  und  Legenden  des  Mittelalters  und  über  Dichter 
des  16.  und  18.  Jahrhunderts  erscheinen.  Mögen  sie  nicht  zu  lange  auf  sich  warten 
lassen!  Möge  aber  auch  der  Absatz  des  Buches  den  Verleger  zur  P'ortsetzuiig 
ermuntern!  K.  Wein  hold. 

Sagen,   Gebräuche,    Sprichwörter   des  AUgäus.     Aus   dem  .Mimdo    des 
Volkes  gesammelt,  von  Dr.  Karl  Heiser.     Kempten,  Köselsclio  r.iicli- 
liandlung.     11  —  18.  Heft  (mehr  nicht  geliefert). 
Seit    unserer    letzten  Anzeige  dieses  verdienstlichen  Werkes  (unsro  Zeitschrift 

\  II.   ;).■;;;)  sind  drei  neue  llelb'  ('rschien<Mi.   welche  in  der  Schilderung  der  Gebräiiclic 


Bücheranzeigen.  108 

fortfahren.  Zuerst  werden  die  Festlichkeiten,  die  sich  an  den  Jahreskalender  an- 
lehnen, beschrieben,  von  Neujahr  bis  Andreasabend.  Im  2.  Abschnitt  lernt  man 
die  Kinder-  und  Volksfeste  kennen,  besonders  das  Tänzelfest  in  Kaufbeuren  und 
das  Kinderfest  in  Memmingen.  Dann  beginnt  der  dritte  Abschnitt,  welcher  die  an 
Treburt.  Hochzeit  und  Tod  sich  knüpfenden  Sitten  und  Meinungen  vorträgt.  In 
den  Hochzeitbräuchen  bricht  das  lo.  Heft  ab.  Auch  hier  müssen  wir  den  Samrael- 
lleiss  Dr.  Reisers  rühmen,  und  das  Verständnis  fär  das  Leben  und  Meinen  des 
Volkes.  Auch  diese  Hefte  bringen  kleine  aber  deutliche  Bilder  von  Orten  des 
Allgäus  oder  erläutern  einzelne  Sitten  und  Feste.  Erwünscht  wäi-e  ein  raschei'er 
Fortgauir  des  Werkes.  K.  W. 


Festschrift  zum  fünfuii(lzwauzig:jährigeii  Jubiläum  des  Horrn  (lyninasial- 
(liroktor  Prof.  Lemke  als  Vorsitzender  der  Gesellschaft  für  Ponimersclie 
Geschichte  und  Altertumskunde.     Stettin  1898. 

Auf  zwei  Beiträge  zu  dieser  Festschrift  mag  hier  aufmerksam  gemacht  werden: 
Plattdeutsche  A^olkslieder  aus  Pommern,  von  Dr.  Aug.  Brunk  (31  S.)  und 
Ein  Kapitel  aus  dem  Volksglauben  und  Volksbrauch  in  Pommern,  von 
Dr.  .Vlfr.  Haas  (25  S.).  Im  ersten  Aufsatz  teilt  Herr  A.  Brunk  zwölf  plattdeutsche 
Liedei-  mit,  zum  Teil  mit  vergleichenden  Bemerkungen:  Das  sogen.  Verwunderungs- 
lied; De  Growschmed:  De  Besäuk;  Xich  den  Bcngel;  Hans  und  Grete;  De  Junker 
im  dat  Mäken;  De  Jüd  un  dat  Mäken;  Wenn  dat  regnet,  da  is  dat  natt;  De  Bicht 
verhöre:  Klein  Mann  un  grot  Fru;  Wat  nehm  ick  mi  vö  enen  Mann;  De  Schinner 
is  de  Best.  Mit  Ausnahme  des  dritten  und  siebenten  sind  diese  Lieder  auch  sonst 
in  Norddeutschland  nachzuweisen.  Sehr  dankenswert  sind  die  beigegebenen 
Melodien. 

Herr  Dr.  A.  Haas  hat  in  seinem  Beiti-age  alles  zusammeng(.\stellt,  was  sich 
in  Pommern  an  Volksglauben  und  Volksbrauch  bei  Tod  und  Begräbnis  vorfindet, 
oder  ihm  bekannt  geworden  ist  Es  ist  kaum  ein  ganz  unbekannter  Zug  aus  diesem 
reichen  Kapitel  der  Volkskunde  darunter;  aber  diese  pommersche  Sammlung  ist 
jedenfalls  dankenswert,  weil  manch  Selteneres  darin  vorkommt  und  es  jedenfalls 
mtei(>ssaiit  ist.  ans  einer  geschlossenen  Provinz,  wie  Pommern,  diesen  \'orstelliings- 
kreis  und  die  dai'in  wui'zelnden   Bräuche  zuverlässig  vor  sich  zu   luilieii. 

K.  W. 


The  Tratlitional  Games  of  England.  Öcotland  and  Treland,  witli  tunes. 
sinoing-rhymes  and  methods  of  playing  according  to  the  variants  extant 
and  rocorded  in  different  parts  of  the  kingdom,  collected  and  annotated 
by  Alice  Bertha  Gomme.  Vol.  IL  Oats  and  beans  —  Would  you 
know%  together  with  a  memoir  on  the  study  of  childrens  games.  London. 
David  Nutt,  189S.     S.  XV.    53 L     8^ 

Mr.  G.  Lawrence  Gomme,  der  Vicepräsident  der  englischen  Folklore  Society, 
und  seine  gelehrte  Gattin,  Mrs  Alice  Bertha  Gomme  haben  seit  fünfundzwanzig 
Jahren  der  Sammlung  und  Durchforschung  der  britischen  A^olksüberlieferungen 
sich  gewidmet  und  die  Ergebnisse  ihrer  Studien  in  einem  gross  angelegten  Dictionary 
of  British  Folk-Lore  im  Verlage  von  David  Niitt  zu  veröffentlichen  begonnen. 
Von  dem    1.  Teil:    The  Traditional  Games   erschien  der  1.  Band   lsD-1;    nnvnrhcr- 


]04  Weinliold: 

gesehene  Hindernisse  verzögerten  die  Ausgabe  des  zweiten  bis  1898.  Beide  Bände 
sind  das  Werk  von  Mrs  Gomme.  Die  eingetretene  Verzögerung  ermöglichte  die 
Ergänzung  des  ersten  durch  leiche  Nachträge.  Aufgegeben  ward  aber  die  Ver- 
gleichung  der  ausländischen  Kinderspiele,  die  später  besonders  aufgeCührt  werden  soll. 

England  hat  durch  diese  Traditional  Games  eine  ausgezeichnete  Arbeit  erhalten. 
Dieselbe  legt  nicht  bloss  die  Beschreibung  der  britischen  Spiele  nebst  den  dabei 
gesungenen  Liedern  in  Texten  und  Melodien  vor,  wenigstens  für  die  englisch- 
i'cdenden  Landschaften  so  vollständig  als  möglich,  sondern  in  dem  Memoir.  das 
der  2.  Band  S.  458—031  bringt,  sowie  in  den  Ausführungen  zu  den  einzelnen 
Spielen  wird  der  Beweis  angetreten  für  den  reichen  Lihalt  an  alten  Sitten  und 
altem  Glauben,  den  diese  Kinderspiele  enthalten.  —  Sie  sind  gleich  den  Sagen, 
Märchen,  Gebräuchen  und  dem  Aberglauben  füi-  die  Urgeschichte  des  civilisierten 
Menschen  eine  bedeutende  Fundgrube. 

Der  geringe  Raum,  den  wir  dieser  Anzeige  gönnen  dürfen,  verbietet,  auf  die 
Abhandlung  von  Mrs  Gomme  näher  einzugehen.  Wir  liönnen  nur  den  allgemeinen 
Gang  derselben  angeben.  Die  gelehrte  Verfasserin  legt  ein  besonderes  Gewicht 
auf  die  „method  or  form"  des  Spiels  als  auf  das  bleibendere,  während  die  Te.xte 
der  dazu  gesungenen  Lieder  sich  ändern  können.  Nach  der  Form  sind  es  drama- 
tische Spiele,  oder  Spiele,  die  körperliche  Geschicklichkeit  fordern  und  auf  Gewinn 
und  Verlust  gehen  (games  of  skill  and  chance).  Die  dramatischen  Spiele  leiten 
sich  von  den  Sitten  einer  längst  vergangenen  Kulturstufe  her;  aber  auch  die  Spiele, 
die  auf  Gewinn-  und  Verlust  gehen  (Leben  und  Tod)  spiegeln  die  Vorgänge  aUei' 
Zeiten  ab,  sowie  die  Auszählreime  (counting  out  rhymes)  für  das  alte  Zählen 
wichtig  sind. 

In  Bezug  auf  die  Methode  unterscheidet  Mrs  G.  fünf  Arten:  die  Form  in  zwei 
Reihen,  deren  jede  Hand  in  Hand  sich  singend  oder  sprechend  gegen  die  andere 
hin  und  her  bewegt;  die  Kreisform  (Rundtanz  mit  Gesang);  die  individuelle  Form, 
wo  jedes  Kind  eine  besondere  Rolle  hat;  die  Bogenform,  wo  zwei  Kinder  mit 
ihren  Armen  einen  Bogen  bilden,  durch  den  die  anderen  kriechen;  die  winding-iip- 
form,  wo  zwei  Kinder  mit  ineinander  gehakten  Händen  sich  um  die  anderen 
Spieler  winden,  bis  alle  umfasst  sind  und  dann  alle  wieder  sich  aufrollen  i^wir 
nannten  das  in  Schlesien  die  Tonne  binden.)  Jede  dieser  Formen  lässt  sich  wieder 
in  Unterformen  zerlegen.  Mrs  G.  untersucht  dann,  woher  diese  verschiedenen 
Formen  gekommen  sind  an  einzelnen  dieser  Spiele,  deren  Abkunft  aus  alten  Sitten 
sie  dabei  zu  erweisen  sucht.  Besonders  zahlreich  sind  die  Heiratspiele  (marriage 
games). 

Das  Bemühen  von  Mrs  G.  geht  vorzüglich  auf  den  Nachweis  vorhistorischer 
Sitten  und  Anschauungen,  daher  auch  heidnischer  Kultgebräuche.  In  dem  Spiel 
Draw  a  pail  of  water  (I,  100—108)  z.  B.  findet  sie  einen  Rest  der  Quellenverehrung, 
und  man  kann  dem  tim  so  eher  beistimmen,  als  im  britischen  Königreich  so  gut 
als  in  Deutschland  und  anderswo  die  Verehrung  ausgezeichneter  altheiliger  Quellen 
noch  fortlebt.  Die  Spiele,  bei  denen  die  Kinder  durch  einen  Bogen  hindurch- 
kriechen, bringt  Mr.  G.  mit  dem  bekannten  Heilbrauch  des  Durchziehens  durch 
Steinlöcher  und  hohle  Bäume  in  Zusammenhang  (S.  5071".),  obschon  die  Spieltexte 
dafür  keine  Stütze  geben;  auch  den  Eid  unter  dem  Rasenstreifen  (J.  Grimm. 
Rechtsaltertümer,  118ff.)  zieht  sie  herbei. 

Die  dramatischen  Spiele  teilt  Mrs  G.  in  zwei  Klassen,  je  nachdem  sie  aus 
gesungenen  Texten  mit  Handlung  oder  aus  gesprochenem  Dialog  mit  Handlung 
bestehen.  In  diesem  Abschnitt  geht  die  Verfasserin  auch  auf  die  Tänze  ein  und 
bespricht,    mit    einer  Abschweifung    auf  die  Tänze  wilder  Völker,    die  Bedeutung 


Bücheranzeigen.  105 

des  Tanzt'S  in  den  religiösen  Riten,  (überall  bewährt  Mrs  G.  eindringende  Studien, 
und  \ven)i  man  ihr  auch  nicht  in  jedem  Falle  beistimmen  kann,  Anregung  findet 
man  reichlich.  (Über  die  Auslegung  des  Sally  Water  Spiel  haben  wir  oben  8.  89 
genauer  gesprochen.) 

Die  Fortsetzung  dos  Dictionary  oC  British  Folk-Lore  soll  die  Mairiage  Rite» 
and  Custoras  of  the  British  Isles  in  wahrscheinlich  zwei  Bänden  bringen.  Wir 
sehen  dem  mit  grossem  Interesse  entgegen,  aber  auch  mit  dem  Zweifel,  ob  die 
Wörterbuchform  sich  dafür  empfehle.  K.  Weinhold. 


Kinder- Reime,    -Lieder  imd  -Spiele.     Gesammelt  von   Otto  Frömmel. 
Erstes  Heft.     Berlin  1899.     S.  48.     s'. 

Das  kleine  Heft,  wie  es  scheint,  ein  Privatdruck,  bringt  KiO  Rinderreimc,  die 
der  Herausgeber  in  Berlin  aus  Kindermund  gesammelt  hat.  Unbekanntes  findet 
sich  kaum  darin.  Aus  dem  Vorwort  möchte  man  schliessen,  dass  Herr  0.  Fr.  von 
der  ganzen  Litteratur  der  Kinderspiele  und  -Reime  nichts  weiss.  Da  er  ein  Freund 
dieser  volkstümlichen  Liedchen  ist,  würde  er  gewiss  viel  Genuss  finden,  wollte  er 
sich  mit  dem  Gegenstand  seiner  Neigung  näher  bekannt  machen.  K.  W. 


Schweizerisches  Idiotikon.  AVin-tcrbuch  der  schweizer-deutschen  Sprache. 
Gesammelt  auf  Veranstaltung-  der  Antiquarischen  Gesellschaft  in  Zürich 
unter  Beihilfe  aus  allen  Kreisen  des  Schweizervolkes.  Begonnen  von 
Friedrich  Staub  und  Ludwig  Tobler.  Heft  81-36.  Bearbeitet  von 
A.  Bachniann.  K.  Schoch,  H.  l^ruppacher  und  E.  Hoifmann-Krayer. 
Frauenfeld,  J.  Huber,   1896-98.     4°. 

Die  vorliegenden  ersten  sechs  Hefte  vom  vierti'n  Band  des  grossen  schweizer- 
deulschen  Idiotikon  bringen  die  Worte  mit  den  Anlauten  M,  N  und  von  B,  P  die 
Worte  von  Ba  Be  Bi  Bo  ßu  —  Bak.  Über  die  Bedeutung  des  Weikes  und  über 
seine  vortreffliche  Ausführung  haben  wir  uns  wiederholt  in  unsrer  Zeitschrift 
(I,  221.  III,  107.  IV,  3o8.  VI,  226)  ausgesprochen.  Die  zweite  Generation,  die 
nach  dem  Hingang  der  unvergesslichen  Begründer  des  nationalen  Unternehmens, 
Fr.  Staub  und  L.  Tobler,  in  die  Nachfolge  eingetreten  ist,  bemüht  sich  mit  Erfolg 
in  dem  alten  Geiste  weiter  zu  arbeiten.  Wortkunde  und  Volkskunde  sehen  wir 
in  gleichem  Masse  gefördert.  Wir  Reichsdeutschen  freuen  uns  des  Schatzes,  der 
hier  von  den  Schw^eizerdeutschen  aufgebaut  wird,  denn  er  ist  doch  schliesshch  ein 
gemeinsames  Vermögen.  K.  W. 


üachler,  A.,  Das  Bauernhaus  in  Xieder-Österreich  und  sein  Ursprung. 
Mit  3  Tafeln    und   einer  Karte.     Wien,   L.  W.  Seidel  &  Sohn,    1897. 

S.  55.     s«. 

Diese  lleissige  AbhandUiug,  die  zuerst  in  den  Blättern  des  Vereins  für  Land es- 
kunile  von  Nieder-Österreich  erschienen  ist,  untersucht  die  Gehöftformen  des  Landes. 
Der  Verfasser  stellt  das  vorwiegende  Vorkommen  des  Einzelhofes  im  Westen,  des 
Dorfes  im  Osten  fest  und  sondert  dann  drei  Typen:  den  Frankenhof,  das  bajuvarisch- 


106  Rocdiger: 

steirische.  und  il.is  bajuvarisch-oberösierreichischc  Gehül'l  auf  Gruiullage  der  Stellung 
des  Stalls  zum  Wolingebäude  und  der  Einteilung  dieses  letzteren.  In  jeder  der 
drei  Hauplgruppen  werden  wieder  Unterabteilungen  geschieden.  Die  Erklärung 
für  das  A'orkommen  der  drei  Typen  wird  aus  der  Geschichte  des  Landes  geschöpft. 
Eine  gute  Karte  gewährt  einen  leichten  Überblick  über  die  gewonnenen  Ergebnisse 
des  Verfassers. 


Kaindl,  ßaim.  Fr.,  Ethnographische  Ötreifzüge  in  den  Ostkarpathen. 
Beiträge  zur  Hausbauforschnng  in  Österreich.  Mit  74  Illustrationen. 
Wien  18^)8.  (Sep.-Abdr.  aus  den  Mitteilungen  der  Anthropologischen 
Gesellschaft  in  Wien.     XXYIII.     S.  •223—249.)     4°. 

Die  vorliegende  Abhandlung  ist  nach  Angabe  des  Herrn  Verf.s  „so  ziemlich" 
der  Abschluss  seiner  Forschungen  über  das  Völkchen  der  Huzulen.  Er  teilt  die 
Ergebnisse  seiner  Reisen  mit  zu  den  Rusnaken  1.  im  Rikathale  und  2.  an  der 
Theiss,  dann  3.  zu  den  Huzulen  an  der  galizischen  goldenen  Bystrzyca,  bei  denen 
die  Westgrenze  des  huzulischen  Stammes  liegt,  ferner  4.  zu  den  Bojken,  die  nicht 
mehr  zu  den  Huzulen  gehören.  Tn  dem  3.  Abschnitt  handelt  Herr  K.  im  besonderen 
über  die  Entwickelung  des  Ofens.  Ergreifend  sind  die  Mitteilungen  über  das 
Elend  der  Rusnaken  im  Rikathale.  K.  W. 


Aus  den 


Sitziiiii>s-Protokollen  des  Vereins  für  Volkskunde. 


Freitag,  den  25.  November  1898.  Fräulein  Lehmann -Pilhes  legt  aus 
Island  stammende  Geräte  ziu- Brettchen  wcberei  und  auf  diese  Weise  hergestellte 
Borten  vor.  Unsere  Zeitschrift  bringt  den  Vortrag  oben  S.  -24—33.  Frau  Rech- 
nungsrat Bloem  stellt  zwei  Tücher  mit  Kunststopferei  aus  dem  Jahre  1730 
aus.  Fräulein  E.  Lemke  spricht  über  die  rote  Farbe.  Die  Zauberkraft  der 
roten  Farbe  wird  sich  auf  eine  naheliegende  Beobachtung  zurückführen  lassen, 
nämlich  auf  die  Ähnlichkeit  der  roten  Farbe  mit  Blut.  Zugleich  oder  in  weiterer 
Beobachtung  wird  die  rote  Farbe  zum  Sinnbild  des  Feuers  (des  Blitzes  und  der 
Gestirne);  und  in  sich  begegnenden  und  ergänzenden  Anschauungen  bildete  sich 
der  Glaube  an  die  Feuerbeschaffenheit  der  Seele  aus.  Die  rote  Farbe  wird  zum 
Zeugnis  göttlicher  Kraft  und  Macht;  sie  bekundet  Grösse,  Würde,  Pracht  und 
Freude;  sie  ist  die  Farbe  der  Leidenschaft  (daher  der  Liebe  und  des  Zornes) 
sowie  der  —  Schreckliches  mit  sich  führenden  —  Gewalt.  Rot  ist  die  Farbe  der 
bei  allen  Indogermanen  am  höchsten  verehrten  Gottheit,  der  des  Gewitters.  Im 
Hinblick  darauf  kommen  zur  Erörterung:  Thor-Donars  Hammer,  Blitzsymbole, 
sodann  Hochzeitsgebräuche,  die  mit  Thor  (dem  Schützer  der  Ehe)  in  Zusammen- 
hang stehen,  noch  heute  anzutreffender  Brauch  in  Bezug  auf  Hammer  oder  Axt, 
glühende  Kohlen  u.  s.  w.,  der  Glaube  an  Wetterhexen,  die  elbischen  Wesen, 
Gestirne,  Feuerbeschaff'enheit  der  Seele  u.  s.  w.;  die  rote  Farbe  für  Zwerge  u.  s.  w. 


Protokolle.  107 

das  Zeichen  ihrer  Sternabkunft,  Seele  und  Blut,  Opfer,  Krieg  u.  s.  w.,  das  rote  Tuch 
bei  Priestern,  B^eldherren  u.  s.  w.,  der  rote  Faden,  rote  Haare  u.  s.  w.  Schliesslich 
werden  einige  hier  in  Betracht  zu  ziehende  Tiere  und  Pflanzen  sowie  ein  buntes 
Allerlei  moderner  Vorkommnisse  besprochen,  z^  B.  der  rote  Auer-Licht-Löwe.  — 
In  der  an  den  Vortrag  sich  knüpfenden  Erörterung  weist  Herr  Prof.  Roediger 
darauf  hin.  dass  der  rote  Bart  des  heiligen  Olaf  vom  Gotte  Thor  entlehnt  sei 
und  dass  nach  Jostes  aus  einer  altsächsischen  Glosse  hervorgehe,  dass  rote  Erde 
die  gerodete  Erde,  die  Bodung  im  Walde,  wo  Gericht  gehalten  wurde,  bedeute. 
Herr  Geheimrat  Meitzen  zeigt  an  einem  isländischen  Geschichtchen,  wie  leicht 
das  Hammerzeichen  in  das  Kreuzeszeichen  übergehen  konnte,  und  Herr 
Geheimrat  Schwartz  erinnerte  an  den  Zusammenhang  zwischen  den  Bienen  im 
napoleonischen  Wappen  und  dem  Fund  eines  goldenen  Stierkopfes  unter  Hunderten 
von  goldenen  Bienen  im  Grabe  des  fränkischen  Königs  Childerich  in  Doornik 
(Grimms  Mythol.^^  S.  659). 

Freitag",  den  16.  Dezeuiber  1898.  Zu  dem  Vortrage  des  Herrn  Prof.  Di-. 
Karl  Frey  über  Kirchengebäude  und  ihre  Einrichtung  hatte  der  Herr  Rektor 
der  Universität  dem  Verein  das  Auditorium  für  Kunstgeschichte  mit  seinem 
Skioptikon  zu  benutzen  gestattet.  Herr  Prof.  Frey  behandelte  den  Bau  der 
Basilika  und  gab  als  Erläuterungen  zu  seinem  kunstgeschichtlichen  Vortrage  mit 
Hilfe  des  Skioptikons  eine  grosse  Reihe  von  Bildern,  welche  die  Entwickelung  der 
Basilikaanlage  bis  zu  den  grossartigsten  Kirchen  des  Mittelaltei's  verdeutlichten. 
In  einem  späteren  Vortrage  gedenkt  Herr  Prof.  Frey  die  Portsetzung  zu  geben. 
Auf  Vorschlag  des  Herrn  Geheimrat  Friedel  wird  der  Vorstand  des  Vereins 
auch  für  das  Jahr  1899  durch  Zuruf  wiedergewählt. 

Freitag,  den  27.  Januar  1890.  Herr  Bankrepräsentant  Waiden  weist  eine 
altertümliche  Weihnachts-Pyramidc  vor.  Sie  trägt  mehrere  Zettel  mit  frominen 
Sprüchen,  sogen.  Lexe  (Lex,  Lekse,  Lekz  aus  lat.  lectio).  Älter  als  die  Pyramide 
ist  der  Lichterbaum,  ein  dreieckiges  Holzgestell  mit  7  Lichtern,  das  Herr 
Waiden  durch  einen  Chodowieckischen  Stich  veranschaulicht.  —  Herr  Zeichenlehrer 
Mielke  legt  vor:  1.  einen  zierlichen  Desemer  oder  Besemer  aus  China,  mit 
einer  doppelten  Skala.  Vgl.  unsere  Zeitschrift  s,  113;  2.  einen  Bindepflock, 
wie  sie  zum  Anziehen  der  Strohseile  um  Garben  in  Braunschweig  sehr  verbreitet 
sind;  3.  eine  Totenkrone  mit  Puppen  aus  Seeren  in  der  Neumark.  Er  hat  sie 
in  dieser  Ausstattung  nur  dort  gefunden;  vgl.  seinen  Vortrag  in  dieser  Zeitschrift 
.'j,  354.  —  Herr  Sanitätsrat  Dr.  M.  Bartels  beantwortet  die  Frage:  Was  können 
die  Toten?  Viele  Völker  nehmen  von  ihnen  an,  dass  sie  sich  ebenso  gebaren 
können,  wie  die  Lebenden,  dass  also  das  Leben  ihres  Körpers  und  ihrer  Seele  — 
oder  ihrer  Seelen:  bis  zu  vier  werden  dem  Menschen  zugestanden  —  mit  dem 
irdischen  Tode  noch  nicht  aufhört.  Eine  der  ersten  Äusserungen  des  Fortlebens 
ist  es,  wenn  der  Tote  ein  freundliches  Gesicht  macht:-  es  folgt  ihm  dann  bald  ein 
Angehöriger.  Öffnet  er  die  Augen  wieder,  so  sucht  er  jemand,  der  ihm  folgen 
soll  oder  einen  nicht  vorhandenen  Lieben.  Die  Arbeit  ruht,  so  lange  der  Tote  im 
Hause  ist,  damit  er  nicht  gestört  werde.  Man  stellt  Speisen  und  Getränke  für  ihn 
hin,  er  erhält  in  den  Sarg  Gebrauchsgegenstände  und  Lieblingsstücke.  Gegen  die 
Langeweile  giebt  man  ihm  sein  Gesangbuch  mit  oder  etwa  dem  Fischer  ein  Fisch- 
netz, von  dem  er  jedes  Jahr  eine  Masche  auflöst.  Der  Tote  hört  das  ihm  ge- 
spendete Lob,  hört,  wenn  man  sich  von  ihm  verabschiedet.  Er  kann  Krankheiten 
anderer  mit  ins  Grab  nehmen.  Ist  er  bestattet  worden,  so  geht  er  neben  dem 
Totengräber  her,  wenn  dieser  das  Grab  verlässt.  Er  vermag  wiederzukommen, 
namentlich  in  der  ersten  Zeit;  junge  Mütter  versorgen  ihr  Kindchen  sechs  Wochen 


](),S  Roodiger:  Protokolle. 

Jan^''.  Etwas  anderes  ist  die  durch  Unthaten  und  dergleichen  hervorgerufene  Ruhe- 
losigkeit im  Grabe,  die  sich  vielfach  mit  Seelenwanderungen  vermischt.  An  die 
Totentänze  knüpft  Goethes  Gedicht  an.  Der  Talmud  kennt  ein  Umherfliegen  der 
Toten.  Auch  körperliche  Veränderungen  gehen  am  Toten  vor:  Nägel,  Haare, 
Zähne  wachsen  ihm.  Wer  die  Hand  gegen  seine  Eltern  erhoben  hat,  dem  wächst 
sie  aus  dem  Grabe,  vorschwindet  aber,  wenn  sie  bis  zum  Bluten  geschlagen  wird. 
Der  Tote  kann  einen  Sohn  zeugen.  In  gewissen  Kirchen  findet  ein  Gottesdienst 
der  Toten  statt.  Der  Tote  empfindet  auch  körperliche  Schmerzen  im  Grabe,  z.  B- 
den  Druck  der  Erde,  daher  der  Wunsch:  Die  Erde  sei  ihm  leicht!  Hier  und  da 
findet  eine  dauernde  Zuführung  von  Speise  und  Trank  statt,  was  wahrscheinlich  schon 
prähistorisch  ist.  Der  Tote  kann  denken  und  hat  seelisches  Empfinden,  daher  die 
Totenopfer  —  jetzt  Totenkränze  — ,  die  ihn  erfreuen  sollen.  Die  Toten  können 
sich  im  Grabe  mit  ihren  Nachbarn  unterhalten,  ziehen  deshalb  ihnen  angenehme 
Leute  nach  sich.  Sie  geben  Rat  an  Lebende,  indem  sie  sprechen.  Gottselige 
Tote  heilen  und  spenden  Segen.  A"on  den  Sorgen  und  Nöten  der  Hinterbliebenen 
wissen  sie  nichts,  doch  hegt  man  auch  die  entgegengesetzte  Ansicht  (im  Talmud 
beides).  Sie  können  Lebenden  das  Blut  aussaugen:  die  Vampyre  verlassen  dazu 
das  Grab,  die  Totensauger  (Totenlecker,  Doppelsauger,  Nachzehrer)  thun  es  vom 
Grab  aus.  Schutz  gegen  diese  gewährt  eine  zwischen  die  Zähne  gesteckte  Münze, 
an  der  sie  saugen  können;  dem  Vampyr  aber  muss  man  den  Kopf  abtrennen  und 
einen  Pfahl  durch  die  Brust  treiben.  Man  darf  Toten  nichts  von  Lebenden  mit- 
geben, weil  diese  sonst  sterben  müssen;  auch  darf  man  den  Toten  nichts  weg- 
nehmen, z.  B.  keine  Blumen  von  ihrem  Grabe  pflücken,  weil  das  dem  Nehmenden 
den  Tod  bringt  oder  doch  den  Toten  Unruhe.  Ist  der  Tote  unzufrieden,  so  kommt 
er  wieder,  wirft  auch  Mitgegebenes  fort,  wenn  es  ihm  nicht  zusagt.  Ungehörige 
Gesellschaft  (Selbstmörder,  Hingerichtete)  lassen  die  Toten  nicht  auf  den  Kirchhof, 
wandern  lieber  an  einen  anderen  Platz.  Die  Toten  können  Geschenke  spenden, 
z,  B.  können  Frauen,  die  vor  der  Geburt  ihres  Kindes  starben,  es  an  Unfruchtbare 
überlassen  (südslavisch).  Man  kann  auch  eine  Wahlbruderschaft  mit  Verstorbenen 
eingehen,  die  einem  dann  helfen  (südslavisch).  Der  beleidigte  Tote  bringt  Unglück 
und  muss  besänftigt  werden;  der  bekümmerte  dreht  sich  im  Grab  um  aufs  Gesicht. 
Tote  können  Aufträge  an  Lebende  geben  und  Sterbende  ihnen  das  Gewünschte 
mitbringen.  —  Der  Vorsitzende  erstattet  den  Jahres-  und  Kassenbericht. 
Letzterer  fällt  günstig  aus,  aber  nur  dank  der  wiederum  gewährten  Unterstützung 
des  hohen  Unterrichtsministeriums.  In  den  Ausschuss  werden  gewählt  Fräulein 
Lemke  und  die  Herren  Friedel,  Bartels,  Mielke,  Sökeland,  Bastian,  Voss,  Bolte, 
Erich  Schmidt,  Moebius,  Waiden,  Marelle.  Da  Herr  Waiden  eine  W^iederwahl 
ablehnt,  so  tritt  an  seine  Stelle  Herr  Kossinna.  Die  Gewählten  ernennen  Herrn 
Friede!  zu  ihrem  Obmann.  Max  Roediger. 


Zeitschrift  des  Vereins  für  Volkskunde 


Taf.  I. 


abc  Bänder  aus  Island,  d  aus  Jütland,  efg  aus  Tiflis.     (f  goldener  Gurt 
mit  silbernen,  schwarzen  und  roten  Verzierungen.) 


Zeitschrift   des  Vereins  für  Volkskunde   1899. 


Das  Hiittlerlaiifen. 

Von  Dr.  Wilhelm  Hein. 

(Mit  8  Abl)ilduiig-en.i) 


Ini  Jahre  1892  erwarb  das  städtische  Museum  Caroliuo-Augusteum  in 
Salzburi;-  eine  Auzahl  von  sogenannten  Perchtenlarven,  die  aus  Holz  ge- 
schnitzt verschiedenartige,  oft  abenteuerlich  ausgestaltete  Menschen-  und 
Tierkö])fe  darstellen.  Der  Direktor  des  Museums  Herr  Regierungsrat  Dr. 
Alexander  Fetter  Hess  die  Larven  photographieren  und  sandte  eine  Samm- 
lung von  solchen  Aufnahmen  auch  an  die  Anthro])ologische  Gesellschaft  in 
Wien,  deren  Sekretär-Stellvertreter  ich  damals  war.  Die  grosse  Ähnlichkeit 
dieser  Masken  in  Form  und  Auffassung  mit  den  Tanz-,  Beschwörungs-  und 
Teufelslarven  -verschiedener  A'ölker  verleiht  ihnen  nicht  bloss  eine  öster- 
reichisch- oder  mitteleuropäisch -volkskundliche  Bedeutung,  sondern  stellt 
sie  in  eine  Linie  mit  jenen  Erzeugnissen,  in  welchen  sich  allerorts  der 
Menschengeist  in  gleicher  Weise  offenbart;  sie  bilden  daher  ein  unent- 
behrliches Glied  in  der  Gesamtheit  der  Gesichtsvermummungen,  wie  sie 
bei  allen  Völkern  des  Erdballs  geübt  werden.  Von  diesen  Gedanken  ge- 
leitet, machte  mir  der  Sekretär  der  Gesellschaft,  zugleich  auch  Leiter  der 
anthropologisch  -  ethnograi)hischen  Abteilung  des  k.  k.  natnrhistorischen 
Hofnmseums,  Herr  Gustos  Franz  Heger  den  Vorschlag,  eine  Reise  in  die 
Alpenländer  zu  unternehmen,  um  w^omöglich  noch  einige  dieser  höchst 
seltsamen  Masken  aufzusammeln  und  deren  Bedeutung  im  Volksleben  fest- 
zustellen. Diesem  Zwecke  galten  mehrere  Reisen,  die  ich  in  den  Jahren 
LS9o  bis  1897  machte  imd  auf  welchen  ich  teils  für  das  Hofmuseum,  teils 
für  den  im  Dezember  1894  von  mir  im  Vereine  mit  Herrn  Dr.  Michael 
Haberlaudt  gegründeten  Verein  für  österreichische  A^olkskunde  ziemlich 
ansehnliche  Belegstücke  älplerischer  Volksbelustigungen  sammelte.  Von 
meinem  Kollegen  Herrn  Gustosadjunkten  Fritz  Siebenrock  auf  das  eigen- 
tümliche Huttlerlaufen  in  und  bei  Hall  in  Tirol  aufmerksam  gemacht, 
lenkte  ich  meine  Schritte  auch  dorthin  und  fand  in  Rum  bei  Hall  dieses 
seit    alten   Zeiten    übliche   Laufen    noch    in    vollem  Schwange.     Von    dem 

1)  Die  Abbildungen  wurden  von  Herrn  Robert  Karl  Lischka  in  Wien  teils  nach  Photo- 
graphien, teils  nach  Originalen  gezeichnet. 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.     1899.  ° 


110  Hein: 

(lamaligeii  Saiirweinwirt  Herrn  Joliaini  Rescli  geleitet,  konnte  ich  bereits 
am  5.  September  1894  beim  Hölblingbauern  die  dort  auf  dem  Boden  auf- 
bewahrten Anzüge  der  Zottler  mit  den  aus  Holz  geschnitzten  Larven  sehen, 
und  einem  der  Banernknechte  machte  es  grossen  Spass,  sich  auf  mein  Er- 
suchen hin  in  ein  derartiges  zottiges  Gewand  zu  hüllen  und  die  üblichen 
Zottlersprünge  zu  machen.  Ich  lernte  damals  auch  den  Sebastian  Rainer 
kennen,  der  heute  noch  die  Masken  schnitzt;  allerdings  ist  seine  Arbeit 
nicht  zu  vergleichen  mit  den  fast  künstlerisch  ausgeführten  Larven  früherer 
Zeiten.  Dann  kam  ich  erst  im  Jahre  1896  am  '21.  September  nach  Rum, 
als  ich  in  Vils  für  das  Museum  für  österreichische  Volkskunde  die  grosse 
Krippe  um  4r)0  fl.  kaufte;  damals  wurde  ich  dort  mit  dem  Hauptmann  Viktor 
Läse  hau  Edl.  v.  Solstein  bekannt,  der  von  Alt  und  Jung  hoch  in  Ehren 
gehalten  wird  und  mir  es  erst  ermöglichte,  etwas  tiefer  in  das  V^esen  des 
alten  Volksbrauches  zu  blicken,  auf  den  die  Bauern  der  rechtsseitig  vom  Tun 
o-elegenen  Dörfer  nur  scheu  hinblicken;  ja  der  ehrliche  Simon  Jauffenthaler 
in  Vils.  von  dem  ich  die  Krippe  kaufte,  bezeichnete  geradezu  das  Huttier- 
laufen als  Teufelswerk,  an  dem  sich  kein  Christ  beteiligen  dürfe.  Endlich, 
am  Sonntag,  den  7.  Februar  1897,  war  es  mir  durch  die  Vermittlung  des 
Herrn  Hauptmann  v.  Laschan  vergönnt,  selbst  einem  Huttlerlaufen  bei- 
wohnen zu  können  und  bei  dieser  Gelegenlieit  für  das  obenerwähnte 
3Iuseum  einige  der  bes'ten  Stücke  zu  erwerben,  die  man  sonst  nicht  erhalten 
kann,  weil  sie  eben  imr  für  das  Laufen  selbst  zusammengestellt  werden, 
vor  allem  zwei  Altartuxerkappen. 

Die  älteste  Nachricht  über  diesen  Brauch  fand  ich  bei  Franz  Ziska; 
„Das  Hudlerlaufen"'),  der  folgendes  mitteilt:  „In  der  Umgegend  des 
kleinen,  im  nördlichen  Tyrol  liegenden  Städtchens  Hall  wird,  vom  ersten 
Tage  nach  Maria  Reinigung  angefangen,  (mit  Ausnahme  des  Freitages  und 
Sonnabends)  bis  einschliesslich  Fastnacht-Dienstag  täglich  Hudel  gelaufen. 
Die  Männer  und  Buben  ^)  versammeln  sich  zu  diesem  Zwecke  schon 
um  ein  Uhr  Nachmittag  vor  der  Dorfschenke,  wohin  sich  schon  früher  der 
Hndler  (gewöhnlich  ein  reicher  Bauer)  begeben  hat,  um  sich  zu  verkleiden. 
Diese  schreien  sonach,  wie  der  Hudler  sie  beim  Wirthshausfenster  begrüsst, 
aus  vollem  Halse: 

1)  In  ., Wöchentliche  Naclunchten  für  Freunde  der  Geschichte,  Kunst  und  Geliihrtlieit 
des  Mittelalters  von  Dr.  Johann  Gustav  Bus ching".  Vierter  Band.  Breslau  1819.  S.  69 
bis  71.  —  Das  Wort  Hudlerlaufen  leitet  Ziska  von  hudeln  =  plagen,  quälen  ab.  Das  Wort 
Hudler  oder  Huttier  bedeutet  nach  Grimm,  Deutsches  Wörterbuch,  IV.  Bd,  2.  Abt ,  einen 
Menschen  von  lumpigem  Äusseren,  abgeleitet  von  hudel,  m.,  Lumpen,  Lappen,  zerfetztos 
Stück  Zeug.  Vgl.  dazu  Schmeller,  Bayerisches  W'örterbuch,  L  Bd  :  Huderwät,  zerlumpte 
Kleidung.  Da,  wie  mir  Hauptmann  v.  Laschan  mitteilt,  die  Bekleidung  der  Huttlei- 
„Hütten"  genannt  wird,  so  dürfte  Ziskas  Ableitung  eine  irrige  sein,  wenn  auch  das  Wort 
hudeln  in  der  Bedeutung  von  quälen  nachweisbar  ist:  vgl.  auch  lobhudeln,  mit  Lob  plagen 
(Grimm  a.  a.  0.}. 

2)  „In  Tyrol,  wie  in  Österreich  heisst  jode  unverheuratetc  Mannsperson  olin(>  Unter- 
schied des  Alters  —  Bube." 


Das  Huttlcrlaufen.  111 

, Unter  der  Bettjschtodt  schiebt  a  Raiter  (Tragekorb), 

,Wer  si  nit  ausser  traut,  iseh  a  Haiter.    (Bärenhäuter,  fauler  Mensch) 

,Uans,  zwa,  drai  —  Hud'l  ho ! ! ' 

Diese  HerausforderuDg  lässt  sich  der  Hudler  nicht  zweimal  sagen^ 
sondern  begiebt  sich  imverweilt  in  seiner  sonderbaren  Verkleidung^)  aus 
4.1er  Schenke,  indem  er  mehr  denn  50  Brezeln,  die  an  seiner  langen  Peitsche 
hangen,  unter  die  Buben  auswirft,  und  dann,  wenn  sie  sich  um  die  Brezeln 
rappeln  (herumbalgen),  dieselben  mit  seiner  Peitsche  tüchtig  schlägt.  Waxe 
(grossmüthige)  Hudler  werfen  wohl  auch  Silbergroschen  aus. 

Nun  durchgeht  er  die  Reihen  der  Bauern,  die  sich  inzwischen  in  einer 
langen  Gasse  gelagert  haben  und  sucht  sich  einen  heraus,  der  ihm  vorlaufen 
soll.  Indem  sich  nun  dieser  dazu  anschickt,  eilt  ihm  der  Hudler  nach  und 
sehlägt  ihm  ununterbrochen  so  lange  unter  die  Füsse,  bis  er  ihn  eingeholt 
hat.  Sonach  führt  er  den  Ereilten  in  die  Schenke,  wäscht  ihm  bei  dem 
Brunnen  das  Gesicht,  bewirthet  ihn  liebreich  mit  einer  Semmel  und  einem 
i  ilas  Wein  und  beginnt  von  neuem  seinen  Lauf  mit  einem  andern  Bauern. 

Dieses  Hudlerlaufen  dauert  immer  bis  Sonnenuntergang,  wo  sich  der 
Hudler  entlarvet,  und  alsdann  im  Wirthshause  den  Tanzreihen  anführt.^) 

Bisweilen,  besonders  am  unsinnigen  Donnerstag  (Donnerstag  vor 
FaschingstagJ  laufen  in  manchem  Dorfe  bis  an  etliche  30  Hudler,  und 
<lann  pflegen  auch  o  bis  4  Hexen  (in  der  Kleidung  tyrolerischer  Bäuerinnen 
A'tn-muminte  Männer)  mitzulaufen.  Manchmal  reiten  sie  auch  auf  Kehrbesen, 
mit  ihren  Popeln  (Popanz,  Windelkind  aus  Lumpen)  auf  dem  Arm,  einher 
und  treiben  die  muthwilligsten  Possen. 

Auffallende  Ähnlichkeit  hat  diese  Erlustigung  mit  den  römischen 
Luperealien,  indem  auch  die  Luperci  ebenso  toll  herumliefen,  und  jedem 
<ler  ihnen  begegnete,  mit  Geissein  auf  die  Schulter  schlugen.  Tyrol  hatte 
römische  Colonisten.  ^[an  weiss  auch,  dass  die  Römer  die  Strasse  nach 
Aquileja  durch  Tyrol  bahnten.  Sollten  wohl  die  alten  Einwohner  dieses 
Fest  von  ihnen  entlehnt  liaben?" 

Eine  fast  wörtliclie  Wiederholung  dieser  Schilderung  giebt  F.  Nork'), 

1)  „Sein  Anzug  besteht  in  ehier  buntsclieckigen  Papagenokleidung  in  der  Form,  wie 
sie  die  Matrosen  tragen,  nemlich:  ein  langes  Beinkleid  über  die  Stiefel  und  eine  kurze 
Jacke,  welche  an  das  Beinkleid  angeknüpft  ist.  Vor  dem  Angesichte  hat  er  eine  hölzerne 
Larve  (die  eben  nicht  unangenehm  wäre,  würde  sie  nicht  durch  einen  darauf  geschnittenen 
Käfer  oder  gar  eine  Maus  verunstaltet);  und  um  den  Kopf  ein  Tuch  gewickelt,  welches 
über  den  Nacken  hinab  läuft  und  unter  dem  Halse  zusammengebunden  ist,  so  zwar,  dass 
die  Larve  davon  rings  umgeben  ist.  Ein  grüner  flacher  Hut  nach  Landesart  mit  ein  paar 
Huifedern  (Hahnenfedern)  und  Gemsebart  geziert,  und  ein  Gurt  um  die  Lenden,  der  mit 
Semmeln  besteckt  ist,  machen  seine  Maske  vollständig." 

2)  Vgl.  dasselbe  bei  J.  Gebhard,  Österr.  Sagenbuch.  Pest  lg(V2.  S.  471  ff.  (Nach 
"SVilh.  Mannhardt,  Der  Baumkultus  der  Germanen  und  ihrer  Nachbarstämme.  Berlin 
1875.    S.  268-269.) 

3)  F.  Nork,  Der  Festkalender,  enthaltend:  Die  Sinndoute  der  Monatszeichen,  die 
Entstehungs-  und  Umbildungsgeschichte  von  Naturfesteu  in  Kirchenfeste  u.  s.  w.    Stuttgart 

ind  Leipziii-  1S4T.    S.  793—800.     [Das    Kloster.     AVeltlich    und    geistlich.     Meist    aus    der 

8* 


112  Hein: 

der  sich  zum  Öelilusse  'j;egen  die  Yergleichung  des  Hiidlerlaufeiis  mit  den 
römischen  Lupercalieu  wendet,  indem  er  ausführt:  „Es  fragt  sich  aber,  ob 
die  römischen  Feste  auch  in  den  entlegensten  Theilen  des  Eeiches  begangen 
wurden?  Ferner,  welche  Ähnlichkeit  soll,  wenn  der  Hudler  mit  einer 
gewöhnlichen  Peitsche  die  Dorfjugend  schlägt,  mit  jenen  Schlägen  der 
Luperci  aufzufinden  seyn,  welche  zum  Zwecke  haben,  weibliche  Unfrucht- 
barkeit zu  beseitigen,  daher  nur  den  Frauen  galten?  Endlich,  was  soll 
die  Mausmaske,  die  Hahnenfeder  und  das  Hexengefolge?  Erinnert  mau 
sich  aber,  dass  der  Volksglaube  in  Thüringen  an  diesem  Tage  den  Einzug 
des  wilden  Heeres  in  den  Hörselberg  stattfinden  liess,  so  ist  die  Frage  am 
einfachsten  erklärt." 

Eine  etwas  andere  Darstellung  giebt  Dr.  J.  E.  Waldfreund'):  JVm 
anderer  Zeitpunkt,  wo  sich  das  Yolk  an  seinen  lustigen  gebrauchen  orfreut, 
ist  die  fastnacht.  am  lautesten  geht  es  zu  am  -usinning  pfindstag",  be- 
sonders in  der  salinenstadt  Hall,  schon  am  vormittag  lassen  sich  bunt- 
verkleidete, mit  besen  und  peitschen  versehene  jungen  auf  der  gasse  sehen 
—  hexen  und  huttler  genannt,  allein  das  rechte  spektakel  geht  erst  gegen 
abend  los  auf  dem  untern  stadtplatz,  schon  l)ei  zeiten  kommen  die  neu- 
gierigen zusammen,  um  das  fasserröszl  zu  sehen,  dasselbe  ist  aus  holz  eben 
nicht  täuschend  verfertigt,  darauf  sitzt  ein  frischer  bursch  —  meist  ein  fasz- 
bindergesell  —  der  freilich  sich  und  sein  röszl  zugleich  fortbewegen  mnss. 
sein  gefolge  besteht  aus  einer  anzahl  von  4iuttlern\  welche  sich  das  ver- 
gnügen machen,  mit  den  peitschen  zu  knallen  und  die  Zuschauer  mit  kotigen 
besen  tüchtig  abzufegen,  so  ziehen  sie  gewöhnlich  zu  einigen  wirthshäusern. 
wo  ihnen  vor  der  thür  wein,  schnaps  etc.  geboten  wird,  zuletzt  kehren 
sie  selbst  in  irgend  einem  gasthaus  («in  und  entziehen  sich  der  schaulustigen 
menge,  eine  gleiche  lebhaftigkeit  findet  man  im  fasching  in  den  <lr.rfern 
um  Hall  und  Innsbruck.'' 

Ignaz  V.  Zingerle  fügt  diesem  Berichte,  den  er  vollständig  abdruckt"), 
noch  folgende  Angaben  bei: 

„Die  Huttler,  welche  am  unsinnigen  Pfinztag  oder  in  den  folgen<hMi 
Tagen  umlaufen,  heissen  Schleicher.  Sie  wie  auch  die  Teufel  in  den 
Faschingskomödien  sollen  sich  etwas  Geweihtes  in  die  Stiefel  tliun,  denn 
sonst  hat  der  Teufel  Gewalt  über  sie.  :\lehrere,  die  dies  nicht  thaten, 
wurden  schon  vom  Teufel  vertragen.     (Rangen.)"^) 


I 


älteren  deutschen  Volks-,  Wunder  Curiositäten-,  und  vorzugsweise  komischen  Literatur. 
Zur  Kultur-  und  Sittengeschichte  in  Wort  und  Bild.  Von  J.  Scheible.  Siebenter  Band: 
25-28  Zelle.] 

1)  Dr.  J.  E.  Waldfrcund,  Volksgebräuclie  und  Aberglaube  in  Tirol  und  dem  Salz- 
burger Gebirg.  (Zeitschrift  für  deutsche  Mythologie  und  Sittenkunde.  Begründet  von  Dr.  J. 
W.Wolf.    Herausgegeben  von  Dr.  W.  Mannhardt.    Dritter  Band.    Göttingen  1855.    S.  337.] 

2)  Sitten,  Bräuche  und  Meinungen  des  Tiroler  Volkes.  Gesammelt  und  herausgegeben 
von  Ignaz  v.  Zingerle.     Zweite  vermehrte  Auflage.     Innsbruck  1871.     S.  135,  No.  1196. 

3)  Zingerle,  a.  a.  0.  S.  136,  No.  1197.  Rangen  ist  ein  Ort  im  Gerichtsbezirk  Telfs 
bei  Innsbruck. 


Das  Huttlerlaufen.  113 

..Wenn  man  nicht  Huttler  lauft,  gedeiht  der  Flachs  nicht.  Je  mehr 
Huttier  laufen,  desto  schöner  wird  derselbe.     (Götzens.)"^) 

.,Wenn  viele  Huttler  gehen,  gedeiht  der  Türken  (Mais)  gut.  (xVmbras.)'-  ^) 

Im  vorstehenden  stellte  ich  alle  Nachrichten  zusammen,  die  uns  bis 
jetzt  gedruckt  vorlagen.  Eine  h()chst  anschauliche  Schilderung  des  Treibens 
der  Huttler  vor  dem  grossen  Laufen  lieferte  mir  Herr  Hauptmann  Viktor 
Laschan  Edler  von  Solstein,  der  seit  Jahren  im  Huberschen  Gasthause  zu 
Rum  seinen  ständigen  Wohnsitz  hatte,  in  einem  Briefe  vom  13.  Februar  1897, 
<lem  ich  folgendes  entnehme: 

„Es  war  Nacht:  idyllische  Kühe  breitete  sich  über  das  ganze  Dorf. 
Da  und  dort  sah  man  noch  die  ebenerdigen  Stuben  beleuchtet:  aber  viel- 
seits  verschwanden  auch  diese  Lichter,  und  man  konnte  dann  aus  den  in 
die  o})eren  Schlafkammorn  übertragenen  Lichtern  und  deren  schnellem 
Verschwinden  sicher  schliessen,  dass  die  Einwohner  von  den  Mühen  des 
Tages  übermannt  sich  ganz  zur  Ruhe  begeben  haben. 

Seitwärts  des  Huber-Hauses  stehend  und  dieses  betrachtend,  höre  ich 
Flüsterti'me,  und  es  tauchen  6 — S  dunkle  Gestalten  vor  mir  auf.  ohne  mich 
7Ai  beinciken.  Eine  von  diesen  s])ringt  mit  wenigen  Sätzen  voraus  zu  den 
Fenstern  der  beleuchteten  Stube  und  schaut  durch  eine  vom  ,Vorhangl'- 
■offen  gelassene  Ecke  in  dieselbe.  Schlägt  ihm  höher  das  Herz?  Ist  es 
die  Nanno'),  die  Moidlo,  die  es  ihm  angethan?  0,  diese  kleine  Fenster- 
ecke ist  sicher  niclit  ohne  Absicht  offen  geblieben! 

Ich  eile  von  rückwärts  ins  Haus,  in  die  Stube  und  setze  mich  wortlos 
in  eine  I'.cke  in  stiller  Erwartung  <ler  Dinge. 

Selbst  die  Kleinen  sind  trotz  der  Aufforderung  der  .Mutter,  schlafen 
zu  gehen,  nocli  da  und  verhalten  sich  ungewöhnlich  still.  Das  ganze  Ge- 
sincU'  ist  nunmehr  mit  wenigen  Xachbargästen  versammelt:  die  Hausmutter 
«pinnt.  die  alte  Geliadl,  mit  einer  grossen  Brille,  flickt,  die  Nanno  strickt 
und  die  Moidlo  häkelt. 

Da  erfolgt  draussen  ein  mächtiger  Schlag  des  plötzlich  aufgerissenen 
und  an  die  Mauerwand  geschlemlerten  Hausthores,  und  ein  polterndes 
Gestrampfe  lässt  sich  hören.  Die  Wirtin  schreit:  ,Jessas,  die  .Matschgerer, 
die  Muller!  Nehmts  die  Gläser  weg,  stellts  die  Flaschen  ins  Kastl  und 
die  zwoa  Taller,  hängts  die  Lampen  aus,  damit  in  Winkel  übrü*  Rasch 
nimmt  sie  vom  Spinnrad  den  Rocken  samt  dem  Stabe  ab  und  legt  dies 
liinter  sich.  Im  Nu  war  alles  Zerbrechliche  weg:  auch  die  Kleinen  hatten 
mittlerweile  den  Ofen  erklettert  und  sich  auf  der  Ofendörre  in  Sicherheit 
gebracht.     Die    anderen    nehmen    wieder    ihre  Plätze    auf    den    längs    der 


1)  Ziiigo.rlo,  a.  a.  0.  S.  139,  Ko.  1211.    Götzens  ist  ein  Ort  im  Gericlitsbozirk  Innsbruck. 

2^  Zingrrle,  a.  a.  0.  S.  139,  No.  1212. 

3)  Wie  mir  Herr  Hauptmann  v.  Laschan  in  einem  Briete  vom  9.  März  1897  schrieb, 
gehen  die  Namen  auf  ein  h^nge;,  fast  gesungenes  ö  aus:  Luisö,  Nanno,  Moidlo,  Hannsö, 
Jörglö,  Sopplö,  Barblö  (^Barbara),  Franzö,  Andrö:  nur  der  Name  Judith  wird  ohne  das 
Schluss-ö  gesprochen.     Auch  Vatrö,  Muttrö  hört  man  rufen. 


114  Hein: 

Mauer  sich  hinziehenden  Bänken  ein  und  schauen  gespannt  auf  die  ge- 
schlossene Thür. 

Mittlerweile  hat  das  Gestranijjf  und  das  Aufsclilagen  der  schwer  ge- 
nagelten Scluihe  auf  den  hölzernen  Dielen  des  Hausganges  immer  mehr 
zugenommen.  Deutlich  hört  man  einen  bestimmten  Rythmus  heraus,  indem 
stets  einer,  der  Vordermann,  beginnt  und  die  anderen  dann  im  Takte 
einfallen,  wie  beim  Dreschen  des  Kornes  der  Yordrescher  den  Takt 
bestimmt. 

Das  ganze  Haus  dröhnt  unter  diesem  mächtigen  Gepolter.  Mit  dem 
schwereren  und  leichteren  Aufhauen  der  Schuhe  auf  den  Dielen,  abwechs- 
lungsweise bald  mit  dem  einen  .tarn  tani  täm\  dann  mit  dem  anderen 
Fusse  ,täm  tarn  täm'  und  den  einzelnen  Nachschlägen  ,täm  täm"  ver- 
einen die  Strampfenden  das  ,Schnaggeln',  das  sie  mit  Lippen  und  Zunge 
durch  Einziehen  der  l^uft  ebenfalls  im  Takte  hervorbringen. 

Das  nun  schon  2—3  Minuten  andauernde  Getrampel  hat  seinen  Hölie- 
punkt  erreicht;  es  sind  alle  dicht  angeschlossen,  einer  hinter  dem  anderen. 
—  da  fliegt  die  Stubenthür  auf,  und  der  erste  Zottler,  ein  Riese  von  einem 
Menschen,  springt  gebückt  durch  die  Thür  in  die  Mitte  der  Stube,  mit 
dem  zweiten  Satz  hinauf  auf  den  viereckigen  Kichentisch  und  beginnt 
sofort  das  Schuhgestrampf.  Ein  zweiter  folgt  ihm,  springt  gleichfalls  auf 
den  Tisch  und  strampft  mit.  Zugleich  hat,  noch  im  Hausgange,  der  letzte 
mit  dem  Fotzhobel  (Mundharmonika)  einen  Walzer  zu  spielen  begonnen. 
Die  anderen  Zottler  und  Muller  ergehen  sich  in  allen  denkbaren  Sprüngen. 
strampfen  und  .schnaggeln'  dazu.  Das  Stubenlicht  wirft  nur  noch  einen 
matten  Scliein  und  ist  vor  Dunst  und  Tabakrauch  dem  Verlöschen  nahe; 
man  ist  in  einer  Hölle,  wo  alle  Teufel  los  sind.  Die  kluge,  kleine  Judith 
hatte  nach  dem  Einzüge  der  Masken  das  Spinnrad  der  Mutter  hinter  deren 
Rücken  glücklich  hinaus  in  Sicherheit  gebracht,  kommt  zurück  und  patscht 
vor  Freude  mit  den  Händen;  der  Spinnrocken  aber  fiel  in  die  Gewalt  der 
Muller,  wurde  angezündet  und  im  Triumph  in  der  Stube  herumgetragen, 
bis  er  abgebrannt  erlöschte.  Nach  ungefähr  einem  halben  Stündchen  ist 
dieser  erste  Akt  beendet  und  der  Fotzhobel  schweigt.  Bald  aber  beginnt 
der  zweite  Akt,  das  ,Abmullen\  Sämtliche  Masken,  eine  nach  der 
anderen,  steigen  da  und  dort  auf  die  Bänke,  zwingen  jeden  der  Insassen 
sich  vorzuneigen  und  schlagen,  immer  mit  flacher  Hand,  auf  seine  Sclmltern. 
Steigt  dann  die  Maske  auf  den  Nächsten  zu,  zum  neuen  Schlage  ausholend, 
hat  sich  der  bereits  geschlagene  Vordermann  schon  vom  Sitze  erhoben, 
sich  umgedreht  und  den  Schlag  zurückgegeben.  So  fällt  Schlag  auf  Schlag, 
kein  Wort  wird  gesprochen.  Je  ärger  der  Schlag,  je  stärker  der  Rück- 
schlag, desto  mehr  wird  gelacht;  je  lieber  den  Masken  eine  Person  ist. 
umsomehr  Schläge  bekommt  sie. ')     Dabei  lacht  aus  aller  Mund  die  wahr- 


1)  Kommt    ein  Muller    der  Pflicht    des  Abraullens    nicht    nach,    so   wird  er  ans  dem 
Mullerverband  ausgeschlossen:  er  ist  kein  Muller  mehr. 


Das  Huttlerlaufen.  115 

hafteste  Herzensfreude.  Nur  dann  und  wann  schreit  ein  Mädchen,  enipfindlicli 
getroffen,  auf:  „ja  hoi!''  und  giebt  resolut,  die  ganze  Kraft  einsetzend,  den 
Sehlag  zurück.  Ist  ein  den  Burschen  gutbekannter,  liebgewordener  Städter 
in  der  Stube,  so  wird  auch  die  Hand  wie  weit  zum  Schlage  ausgeholt, 
berührt  aber  im  letzten  Augenblick  gerade  noch  sanft  die  Schulter.  Ist 
eine  den  ^lasken  ganz  unbekannte  oder  gar  unliebsame  Person  in  der 
Stube,  so  wird  diese  als  gar  nicht  anwesend  übergangen,  also  nicht  ab- 
liemullt.  Als  nun  wieder  der  Fotzhobler  zu  blasen  anhub  und  der  Tanz 
begann,  fragte  ich  den  Huber-Luis,  der  als  allseits  beliebter  Bursche  von 
den  Masken  gar  arg  gedroschen  worden  war,  was  sein  Buckel  mache? 
,0!'  antwortete  er  lachend,  .dös  san  gar  Narren,  aber  i  hab  mir  schon 
gliolfen,  hab  mir  in  aller  Eil  vom  hintern  Ofen  meine  schafwollenen  Berg- 
strümjif  und  a  Schneiztüchel  unter  der  Joppen  hinten  aufi  gsteckt  und  mir 
denkt,  so,  jetzt  hauts  nur  zua!' 

Dem  ersten  ergiebig  langen,  wirklich  flott  getanzten  Sechsschrittwalzer, 
woljei  die  Tänzer  ihre  Tänzerinnen  wiederholt  in  die  Höhe  schützten, 
folgte  uimiittelbar  eine  ,bairisch  Polkas  Hierauf  nahmen  sie  ihre  schweren 
Hüte  mit  den  Holzmasken  ab,  boten  aus  ihren,  hinter  den  Leibgurt  ge- 
steckten flachen  Fläschchen  allen  AbgemuUten,  aber  nur  diesen,  Branntwein, 
liessen  sich  ihre  Fläschchen  nachfüllen,  setzten  sich  zu  Tische  und  stillten 
ihre)i  Durst  mit  Bier  und   Wein. 

Nach  kurzer  Rast  maskierten  sie  sich  wieder,  sagten  allen:  ,l*fi  di 
(lottl-,  besprengten  sitdi  noch  aus  dem  Weihwasserkrügel,  das  bei  der 
Stubenthür  hängt,  —  und  fort  gings  in  die  dunkle  Nacht  hinaus,  entgegen 
einer  neuen  Flamme.  Es  waren  ja  ihrer  acht  der  schönsten  Burschen  im 
ganzen  Dorfe.  Hat  ein  3Iä<lchen  im  Ärger  über  das  Zuspätkommen  der 
Huttier  die  Hausthürt^  gesperrt,  die  Lichter  gelöscht  und  sich  zur  Ruhe 
begeben,  so  kennt  ihr  Liebster  doch  alle  Wege  und  Stege  zu  ihr.  Gehf  s 
nicht  eben  hinein,  so  gehfs  über  Leitern  und  Dächer,  Tennen  und  Stiegen  — 
und  ehe  sie  noch  ganz  erw^acht.  geht  schon  das  Gestrampfe  im  Hause  los: 
ila  giebt  es  kein  AViderstreben. 

Die  Stube  hatte  sich  so  ziemlich  geleert  —  und  noch  schienen  die 
Mädchen  etwas  zu  erwarten,  und  richtig  ging  der  Rummel  von  neuem  los. 
Es  waren  aber  ihrer  nur  vier  Burschen,  darunter  der  Liebling  aller 
Mädchen,  der  ,Ziachbalgspieler-  (Ziehharmonikaspieler)  und  Schuhplattler 
Maxi.  Diesmal  spielte  sich  der  ganze  Vorgang  bedeutend  kürzer  ab;  doch 
wurde  mit  einer  Leidenschaft  getanzt  und  geplattelt,  dass  allen  das  Herz 
im  Leibe  lachte." 

Leider  hatte  ich  nicht  Gelegenheit,  Zeuge  eines  derartigen  Mullabends 
zu  werden,  und  kann  daher  aus  eigenem  Augenschein  nur  über  das  Huttler- 
laufen berichten,  das  am  Sonntagnachmittag  des  7.  Februar  1897  in  Rum  statt- 
fand. Zu  diesem  hatte  ich  auch  den  Photographen  A.  Stockhammer  aus  Hall 
kommen  lassen,  damit  einige  der  wichtigsten  (iruppen  aufgenommen  würden. 


IKi 


Hein: 


Den  Zug,  der  sich  in  den  ersten  Nachmittagstunden  durch  das  ganze 
Dorf  bewegte,  eröffnete  eine  Schar  von  vier  Zottlern.  Auf  dem  Haupte 
trägt  der  Zottler  einen  niedrigen  breitkrärapigen,  grün  ausgeschlagenen 
Hut.  von  dem  ein  Fuchsschwanz  herabhängt;  die  rechte  oder  auch  die 
linke  Seite  der  Krampe  ist  aufgestülpt  und 
der  Stulj)  selbst  mit  einem  kleinen  Spiegel, 
mit  Kunstblumen  und  mit  einigen  Hahnen- 
federn verziert:  das  Gesicht  verhüllt  eine  aus 
Zirbenholz  geschnitzte  und  bemalte  Larve  mit 
Schnurrbart  und  halbgeöffnetem  Mund,  der  die 
obere  Zahnreihe  zeigt;  die  Augenpu])illen  sind 
ausgeschnitten,  um  dem  Träger  als  Gucklöcher 
zu  dienen.  Mit  der  Larve  ist  eine  den  Hinter- 
kopf umhüllende  Perrücke  aus  Rosshaar  fest 
verbunden,  welche  ein  kleines  geblümtes  Tuch 
aus  Seide  oder  ^Yolle  mit  kurzen  Fransen  nach 
unten  zu  rundum  abschliesst.  Hut,  Larve. 
Perrücke  und  Tuch  bilden  ein  Ganzes.  Rock 
und  Hose  sind  mit  einem  Behang  aus  spiralig 
aufgenähten  gefärl)ten  Leinenfransen  verseilen, 
die  teilweise  in  sogen,  flachen  Knoten  geknüpft 
sind.  Um  den  Leib  schliesst  sich  ein  mit  Zinn- 
stiften beschlagener  Ledergürtel,  „]S[agelgurt^\ 
unter  dem  eine  flache  Branntweinflasche 
steckt,  aus  welcher  der  Zottler  guten  Bekannten 
den  Bescheidtrunk  bietet.  Auch  stecken  hinter 
dem  Leibgurt  ringsum  Brotkügelchen  („Brot- 
paarlen"),  welche  unter  die  Kinder  ausgeworfen 
werden.  DieFüsse  stecken  inschwerbenagelteu 
Schuhen.  Einer  von  den  Zottlern  trug  eine 
kurzgestielte  Peitsche  mit  sehr  lauger  Schnur, 
die  sich  gegenwärtig  zusammen  mit  einem 
ganzen  Zottleranzug  im  Museum  für  öster- 
reichische Volkskunde  befindet,  während  die 
übrigen  ein  Stäbchen  aus  spanischem  Rohr 
für  ihren  persönlichen  Schutz  gebrauchten. 
Die  Abbildung  Fig.  1  zeigt  einen  Zottler  in 
vollständiuer  Tracht,  Fig.  2  eine  Zottlerlarve. 


Die  Zottler,    wie    auch 
unverheiratete  Burschen 


le  übrigen  Teilnehmer  am  Huttlerlaufen,  waren 
alle  in  Rum  gebürtig  und  wohnhaft.  Ich  halte 
es  für  nützlich,  für  etwaige  spätere  Forschungen  die  Burschen,  welche  als 
Zottler  mitliefen,  besonders  anzuführen:  Der  erste,  welcher  die  Peitsche 
hatte,  hiess  Rupert  Hölbling,  vnlgo  „Stöppen-Ru])ert'\   war  Bauernknecht, 


Das  Huttlerlaufen. 


117 


29  Jahre  alt  und  wohnte  im  Hause  No.  71;  die  drei  anderen  waren  Ludwig 
Hahndl,  Pferdekneclit  „Rosser",  16  Jahre  alt,  wohnhaft  im  Elternhaus  No.  67; 
Romed  Klotz,  vnlgo  „Klotzen-Medl",  Bahnarbeiter,  25  Jahre  alt,  und  Alois 
Grubhofer,  Bauer  und  Uhrmacher,  22  Jahre  alt,  wohnhaft  im  Hause  No.  48.^) 
Der  erste  Zottler  sprang  dem  Zuge  w^eit  voran,  Hess  seine  Peitsche 
knallen,  überschlug  sich,  ging  auf  den  Händen,  sprang  wieder  zurück, 
wieder  vor,  schlug  Rad,  knallte  wieder  und  so  fort:  ihm  zur  Seite  foly-teu 


Fig.  3. 


Fio-.  4. 


die  übrigen  drei  Zottler,  hauptsächlich  darauf  bedacht,  die  reclite  und  die 
linke  Seite  frei  zu  halten.  Kamen  ihnen  zu  viel  Buben  unter  die  Füsse, 
so  warfen  sie  einige  Brotkügelchen  weit  fort,  denen  die  Kinder  nachliefen 
und  um  deren  J^esitz  sie  sich  auf  dem  Boden  herumbalgten.  Da  und  dort 
reichten  die  Zottler  unter  lebhaften  Geberden  den  Bescheidtrunk  aus  ihrer 
Branntweiuflasche,  sprachen  jedoch  kein  Wort,  stranipften  aber  auch  nicht, 


1)  Diese    genauen  Angaben  verdanke  ich  Herrn  Hauptmann  von  Laschan,    der  mir 
auch  sonst  viele  Kinzelnhoiton  mitteilte,  die  mir  entgangen  waren. 


118 


Hein: 


Aveil    der    weiche  Strasseiiboden  —   es   hatte  vormittags  geregnet  —  dazu 
nicht  geeignet  war. 

Die  Hauptgruppe  bildeten  die  „Alpler",  welchen  die  acht  Mann  starke 
Dorfmusikkapelle  voranmarschierte.  Die  Musikanten  hatten  vermutlieh 
wegen  des  nicht  besonders  schönen  AVetters  nur  ihre  gewöhidiche  Kleidung 
genommen:  sonst  tragen  sie  bei  festlichen  Gelegenheiten  zwei  Hahnenfedern 


i^'i^'.  5. 


Fi>.  (;. 


grünen  Aufschlägen. 


auf  dem  grüjien  Filzhut  und  eine  graue  Joppe  mit 
Vor  der  Kapelle  trug  ein  maskierter  Bursche  eine  Tafel  mit  der  Aufschrift: 
„Einigkeit  macht  stark.''  Hinter  ihr  kamen  drei  sogenannte  „Altartuxer'\ 
die  eigentlichen  Schaffer  auf  der  Alm,  welche  auf  dem  Tnxerhute  einen 
mächtigen  Aufbau  (Altar)  aus  Kunstblumen  trugen,  in  dessen  Mitte  sich 
ein  Spiegel  befand;  ringsum  war  dieser  Altar  mit  etwa  15  Schildhalmstössen 
und  mit  50—60  weissen  Hahnenfedern,    dem   tirolischen  Wahrzeichen   un- 


Das  Huttlorlaufen.  119 

gebeugten  Mannesmutes  besteckt  (siehe  Abb.  3).  Ein  Altartuxer  hatte 
statt  der  Schildhalnistösse  und  der  weissen  Hahnfedern  prächtige  Pfauen- 
federn verwendet  (siehe  Abb.  4).  Die  ganze  Rückseite  des  Altars  war 
mit  herabwalleuden  bunten  Seidenbändern  behangen  (siehe  Abb.  5).  Mit 
dem  Altarhut  fest  verbunden  trugen  sie  vor  dem  Gesichte  eine  aus  Zirben- 
holz  geschnitzte  und  bemalte  Larve,  wie  sie  die  Abbildungen  6  und  7 
zeigen.  Die  rote  Brustweste  („Bruststück")  war  ganz  mit  silbernen  Ketten 
mit  echten  Thalern  behängt;  darüber  sass  eine  graue  Jopi)e  mit  grünen 
Aufschlägen,  auf  deren  Rückenseite  ein  buntes  Seidentuch  festgenäht  war. 
Ein  Ledergurt  (Bauchranzen  und  Geldkatze  zugleich)  mit  grossem  spitz- 
ovalen Schild,  der  mit  Pfauenfederkielen  ausgestickte  Sprüche  („Sei  fröhlich" 
und  dergl.)  zeigte,  eine  gemslederne,  unten  an  den  Seiten  ausgestickte 
Xniehose,  Wadenstutzen  und  ganz  moderne  Stiefletten  vervollständigten 
den  Anzug.  In  der  Hand  trugen  sie  zur  persönlichen  Verteidigung  ein 
Stäbchen. 

Sowohl  der  reiche  Silberschmuck  auf  der  Brustweste,  als  auch  die 
verschiedenen  Blumen,  Bänder  und  Federn  der  Altaraufsätze  waren  nicht 
das  Eigentum  der  betreffenden  Träger,  sondern  von  den  Burschen  des 
Dorfes  für  diesen  Zweck  entlehnt  worden.  Man  kann  daher  einen  Altar- 
tuxer nur  während  des  Huttlerlaufens  sehen;  sobald  das  Laufen  beendet 
ist,  wird  der  Altar  auseinander  genommen,  und  jeder  der  Burschen  erhält 
sein  Eigentum  wieder  zurück.  In  der  Regel  besitzt  ein  Bursche  einen 
Schildhahnstoss  und  zwei  weisse  Hahnenfedern,  die  er  sorgsam  eingehüllt 
zu  Hause  für  l)esondere  Gelegenheiten  bereit  hält.  Als  icli  nach  dem 
Huttlerlaufen  zwei  Altartuxer -Ausstattungen  für  das  Museum  für  öster- 
reichische Volkskunde  zu  erwerben  wünschte,  musste  zuvor  die  Einwilligung 
der  verschiedenen  Burschen  eingeholt  werden.  Da  die  weissen  Hahnen- 
federn ziemlich  teuer  sind  —  etwa  1  Krone  das  Stück  —  und  ein  Schild- 
hahnstoss allein  schon  mehr  als  3  Kronen  kostet,  so  musste  ich  für  einen 
Hahnenfedern- Altar  rund  100  Kronen  bezahlen.  Der  Pfauenfedern- Altar 
stellte  sich  um  die  Hälfte  billiger.  Eine  gemslederne  Hose,  zu  welcher 
man  zwei  Gemsfelle,  jedes  zu  8  Kronen,  benötigt,  kostet  20  Kronen. 

Es  ist  selbstverständlich,  dass  die  drei  Altartuxer  infolge  ihrer  hohen 
und  schweren  Aufsätze  nicht  eine  so  freie  Beweglichkeit  entfalten  konnten, 
als  die  Zottler;  doch  leisteten  sie  in  massigen  Sprüngen  ihr  Möglichstes. ^ 

Die  beiden  Hahnenfedern- Altartuxer  waren  Franz  Klotz,  Bauer,  27  Jahre 
alt,  wohnhaft  in  Rum  No.  55  und  Sebastian  Hahndl,  Bahnarbeiter.  29  Jahre 


1)  Auf  meine  Veranlassung  traten  bei  dem  alpinen  Feste,  das  am  30.  Juni  1898  auf 
dem  AViener  Schützeu-Fostplatze  stattfand,  unter  Hauptmann  von  Lasclians  Führung- 
einige  Huttier  vou  Rum  (Altartuxer  und  Zottler)  auf,  von  welchen  eine  photographische 
Aufnahme  in  der  Kaiser- Jubiläums -Schützen-Zeitung  (Festausgabe  der  „Wiener  Bilder"), 
No.  12  vom  9.  Juli  1898,  S.  6,  mit  der  irrigen  Bezeichnung  „Meraner  Winzertrachten" 
erschien. 


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Hein: 


alt,  wohnhaft  in  Rum  No.  67.  Der  Pfauenfeder  -  Altartuxer  hiess  Franz 
Hölbling,  vulgo  „Mössmer-Hausen-Franz",  war  Bahnarbeiter,  25  Jahre  alt 
und   wohnte  in  Kum  I^o.  52. 

Den  Altartuxern  foliiten  ihre  Gehilfen,  die  Senner  oder  „Melcherbuben" 
mit  einigen  Sennerinnen.  Sie  trugen  den  spitzen  Fügnerhut  mit  Federn, 
»'ine  kurze  Zwickelhose  mit  grüngestickten  Hosenträgern,  um  die  Mitte 
den  Ledergurt  und  Wadenstutzen.  Weste  und  Joppe  fehlten  ihrer  Be- 
kleidung,   da    die  Senner    nur    in  iremdärmeln    erscheinen.     Hinter   ihnen 

gingen    gemessenen    Schrittes    und 
Fi""    8  .      . 

'^'    '  lautlos  ein  junges  Ehepaar,  ein  altes 

Ehepaar  und  das  sogen.  Türkenpaar 
(siehe  Abb.  8).  Alle  hatten  Holz- 
larven: nur  die  Türkin  trug  eine 
Papierlarve.  Sie  hiess  Andreas 
Mader,  war  Knecht,  21  Jahre  alt 
und  wohnte  in  Pvum  No.  73;  den 
Türken  stellte  der  19jährige  Balni- 
arbfMter  Alois  Schieferegger  dar, 
der  sonst  „Türken-Luis"  genannt 
wird:  er  wohnte  im  Elternhaus, 
Kum  Xo.  77.  Die  anderen  Teil- 
nehmer am  Zuge,  welche  ohne  Aus- 
nahme unverheiratete  Burschen 
waren,  konnte  ich  nicht  erfahren. 
Eine  sehr  wichtige  (:irupi)e  beim 
Huttlerlaufen  bilden  die  Huttier, 
welche  mit  verschiedenen  ,,Hutten" 
bajazzoartig  bekleidet  sind  und 
allen  möglichen  Schabernack  treiben. 
Sie  scdilagen  den  Umstehenden 
mehlige  Säcke  herum  oder  schmieren 

_^  ihnen    ein    russiges   Pfannholz    ins 

Gesicht  u.  dgl.  Wie  mir  Hauptmann 
v.  Laschan  schrieb,  gaben  sie  auch  spasshafte  A'orstellungen,  z.  B.  wie 
ein  Bauer  mit  einem  riesigen  Speckbrocken  eine  Katze  in  einen  grossen 
Tjaubsack  fängt  und  diesen  zur  Bäuerin  trägt;  aber  unterwegs  entwischt 
ihm   die  Katze  beim  rückwärtigen  Sackloch. 

Wie  schon  bemerkt,  beteiligt  sich  das  weibliche  Geschlecht  bei  der- 
artigen Yermummungen  grundsätzlich  nicht,  weder  innerhalb  noch  ausser- 
halb des  Hauses,  und  es  müssen  daher  alle  weiblichen  R(dlen  durch 
Burschen  darg<'stellt  werden. 

Lange  vor  Untergang  der  Sonne  war  der  ganze  Zug  im  Huberschen 
Gasthause    eingerückt,    wo   ich   dann  die  Hau]itteilnehmer  photographieren 


Das  Huttierlaufen.  121 

liess.  Bis  11  Uhr  nachts  wurde  flott  lietaiizt  und  g'etruiikeii.  und  aucli 
meine  Frau  machte  mit  dem  Larvenschnitzer  Sebastian  Rainer  einen  Freitanz. 
an  den  er  noch  immer  mit  Freuden  denkt. 

Wie  man  aus  der  vorstehenden  ftchihlerung  ersieht,  hat  das  Huttier- 
laufen seit  den  Berichten  Ziskas  (1819)  und  Waldfreunds  (1855)  einige 
Wandlungen  durchgemacht,  die  sich  aber  nur  auf  unwesentliche  Dinge 
erstrecken.  So  sind  die  Larven  mit  den  daraufgeschnittenen  Käfern  und 
Mäusen  längst  verschwunden.  Diese  urwüchsigen  Ausbrüche  derben  A^olks- 
witzes  liaben  sich  lieute  mehr  in  das  innere  Leben  zurückgezogen  und 
treten  kaum  mehr  öffentlich  zu  Tage.  Nur  in  den  Museen  findet  man  ab 
und  zu  dergleichen  Larven,  besonders  köstliche  im  Germanischen  National- 
museum zu  Nürnl)erg,  die  im  Ausdruck  der  Bauernkomik  zum  besten 
gehören,  was  ich  je  gesehen  habe.  Das  Fasserrössel,  das  im  Pfiugstesel 
sein  Gegenstück  findet,  ist  ebenso  wie  dieser  heute  unsichtbar  geworden. 
Auch  die  Hexen  habe  ich  nicht  mehr  gesehen;  aber  vor  wenigen  Jahren 
haben  sie  nocli  ihr  für  manche  Dorfbewohner  recht  peinliches  Wesen 
getrieben,  wie  mir  von  Einheimischen  berichtet  wurde.  Einmal  wurde 
eine  alte  Dorfinsassin  von  einer  solchen  Hexe  derart  naturwahr  zum  Aus- 
druck gebracht  und  solcherart  zum  allgemeinen  Gespötte  gemacht,  dass 
die  Sache  ein  für  den  DarstelhM-  dieser  Hexe  s(dir  bedauerliches  gericht- 
liclies  Nachspiel  fand. 

Dagegen  werden  die  Altartuxer  von  den  früheren  Berichterstattern 
nicht  erwähnt,  und  es  scheint,  dass  sie  erst  in  S])äterer  Zeit  als  ein  neues 
Glied  dem  Huttlerlaufon  eingefügt  wurden.  Das  Wesentliche  in  diesem 
Laufen,  das  innner  bcn-iclitet  wird  und  das  auch  von  mir  beobachtet  wurde, 
beruht  in  dem  Schlagen  mit  der  Peitsche  oder  mit  den  Stäbchen  oder 
auch  mit  der  flachen  Hand,  in  dem  sogenannten  „Müllen".  Damit  stellt 
sich  das  Huttlerlaufen  in  eine  Linie  mit  dorn  vielfach  geübten  Schmeck- 
ostern, das  wieder  denn  Auf  kindein  oder  Fitzeln  am  Pfeffertag  entspricht.^) 
Auch  das  Auswerfen  der  Brotkügelchen,  bei  Ziska  von  Brezeln,  das  dem 
Werfen  der  Hochzeitskügelciien  an  die  Seite  zu  stellen  ist.  spricht  dafür, 
dass,  abgesehen  von  den  ausdrücklichen  Angaben  bei  Zingerle.  das 
Huttlerlaufen  das  Wachstum  von  Pflanzen  und  Menschen  befördern  soll, 
welches  durch  das  Müllen  bei  letzteren  noch  erheblich  verstärkt  wird. 
Verjüngung  und  Fruchtbarkeit  liezwecken  fast  alle  Yolksbräuche,  welche 
zwischen  dem  Jnl-  und  dem  Osterfeste  geübt  werden.  Nichts  kennzeichnet 
besser  diese  Absicht,  als  das  Mitführen  der  Putz-  oder  Altweibermühle  bei 
dem  Perchtenlaufen,  das  ab  und  zu  im  Pongau  stattfindet:  die  alten  Weiber, 
die  in  diese  Mühle  gesteckt  werden,  verlassen  dieselbe  in  voller,  blühender 

1)  Die  Litteratur  über  diese  Bräuche  ist  so  reich,  dass  eine  Angabe  des  Quellen- 
nachweises hier  füglich  unterbleiben  kann.  Fast  in  jedem  volkskundlichen  Buche  kann 
man  die  betreffenden  Beispiele  nachlesen.  Vgl.  übrigens  Dr.  Sepp,  Die  Eeligion  der  alten 
Deutschen,  München  1890,  S.  39-42. 


122  Hein:  Das  Huttlerlaufen. 

Jugendkraft.  Das  Schlagen  mit  der  Lebensrute  hat  Mannhardt  in  seinem 
grundlegenden  Werke  über  den  Baumkultus  der  Germanen  so  ausführlich 
behandelt,  dass  hierüber  nichts  mehr  weiter  zu  sagen  bleibt.  Wenn  Nork 
gegen  die  von  Ziska  gebrachte  Vergleichung  des  Huttlerlaufens  mit  den 
römischen  Luperealien  Einsprache  erhebt,  indem  er  eine  Vbertragung  dieses 
Brauches  von  den  Römern  nach  Tirol  bezweifelt,  so  hat  er  damit  wohl 
vollkommen  Recht.  Das  Huttlerlaufen  ist  gewiss  in  Tirol  bodenständig 
und  nur  ein  Glied  '  in  der  Kette  der,  ich  möchte  sagen,  allmenschlichen 
Frühlings-  und  auch  Hochzeitsfeste,  die  mit  Schlagen  und  Peitschen  ver- 
bunden sind.  Dass  das  Huttlerlaufen,  sowie  alle  ähnlichen  Volksbräuche, 
die  Fruchtbarkeit  bedingen  und  daher  auch  die  weibliehe  Unfruchtbarkeit 
beseitigen  soll,  bezeugt  Zingerle  ausdrücklich;  die  Mausmaske,  die  Hahnen- 
federn und  das  Hexengefolge  sind  zwar  in  ihrer  Art  unwesentliche,  aber 
zur  A'ermummung  notwendige  Beigaben,  die  je  nach  Zeit  und  Ort  wechseln. 
Die  Yermummung  als  solche  ist  aber  bei  all  diesen  Volksbräuchen,  wenn 
sie  nicht  gerade  bei  Hochzeiten  geübt  werden,  unerlässlich.  Da  Mädchen 
oder  Frauen  niemals  mitwirken  dürfen,  weil  sie  eben  mit  Ursache  des 
Laufens  sind,  so  müssen  alle  notwendigen  weiblichen  Rollen  durch  ver- 
mummte Burschen  dargestellt  werden:  daraus  ergiebt  sich  die  Verlarvung 
der  übrigen  Rollen  von  selbst. 

Als  Beweis,  dass  das  Huttlerlaufen  eine  allmenschliche  Erscheinung 
ist,  möchte  ich  auf  ähnliche  Volksbräuche  hinweisen,  wie  sie  von  den 
Indianern  in  Nordamerika  geübt  wurden  und  zum  Teile  noch  in  Übung 
sind.  J.  Walter  Fewkes  hat  mit  besonderer  Hingabe  als  Augenzeuge 
diese  verschiedenen  Bräuche  aufgenommen  und  uns  darunter  einige  Regen- 
tänze von  Neu-Mexiko  beschrieben,  die  mit  der  Maisreife  in  Verbindung 
stehen.  Bei  einem  von  diesen  Tänzen  trägt  jeder  der  Teilnehmer,  die 
ebenfalls  durch  Larven  vermummt  sind,  ein  Bündel  von  Stöcken,  mit 
welchen  sie  sich  gegenseitig  schlagen.^)  Bei  einem  anderen  Tanze,  dem 
J.  W.  Fewkes  bei  den  Tusayan-Indianern  am  27.  Februar  1893  beiwohnte, 
trugen  15  als  alte  Weiber  verkleidete  Männer  mit  grotesken  Masken  in 
jeder  Hand  Weidenbündel,  mit  welchen  sie  paarweise  sich  schlugen  ") 
Die  „certain  phallic  observances",  die  Fewkes  leider  nicht  mitteilt,  lassen 
über  die  Bedeutung  dieses  Tanzes  keinen  Zweifel  zu.  Da  ich  mich  in 
eine  weitere  Ausführung  dieser  indianischen  Tänze,  die  mit  unserem 
Huttlerlaufen  auch  sonst  viele  Ähnlichkeiten  aufweisen,  an  dieser  Stelle 
nicht  weiter  einlassen  kann,  so  möchte  ich  zum  Schlüsse  nur  kurz  auf 
eine   Schilderung    einer   Hochzeitsfeierlichkeit    im    oberen  Nilgebiete    ver- 

1)  J.  Walter  Fewkes,  A  few  Summer  Ceremonials  at  Zufii  Pueblo,  in  der  Zeitschrift: 
A  Journal  of  American  Ethnology  and  Archa'ology,  Vol.  I,  Boston  and  New  York  1891,  p.  .'59. 

2)  J.  Walter  Fewkes  and  A.  M.  Stephen,  The  Pä-lü-lü-kon-ti:  A  Tusajau  Cerc- 
mony,  S.  13.     [Journal  of  American  Folk-Lore,  1893. J 


Schwartz:  Heidnische  Überreste  in  der  norddeutschen  Tiefebene.  123 

weisen,  die  Casati^)  berichtet,  bei  welcher  von  einer  Jungtrau  einem 
Jüngling-  eine  Peitsche  überreicht  wird,  mit  welcher  dieser  einen  anderen 
Jüngling  schlägt  und  dann  von  letzterem  selbst  geschlagen  wird.  Diese 
Beispiele  mögen  genügen,  um  darzutliun,  dass  gerade  das  Schlagen,  dann 
das  Bewerfen  mit  Kügelchen  oder  Getreide,  wozu  manchenorts  noch  das 
Begiessen  mit  Wasser  tritt,  Erscheinungen  sind,  deren  ursäcldicher  Zu- 
samnieuhang  mit  der  Absicht,  Fruchtbarkeit  and  damit  Glück  und  Wohl- 
stand zu  erzielen,  zweifellos  ist.  Deshalb  wird  das  Müllen  ja  auch  nur  au 
Personen  geübt,  die  man  liebt  oder  schätzt;  Fremde  oder  Missliebige 
w^erden  der  Auszeichnung  des  Mullens  nicht  gewürdigt. 

Wenn  auch  heute,  wie  leicht  begreiflich  ist.  die  Huttier  von  der  Be- 
deutung ihrer  Kolle  keine  klare  Vorstellung  mehr  haben,  da  ihnen  selbst 
die  bezeiclinenden  Xamen,  wie  sie  die  Indianer  noch  gebrauchen  (z.  B. 
Maiswesen  u.  dgl.),  fehlen,  so  befürchten  sie  doch  durch  die  Unterlassung 
des  Laufens  Misswachs  zu  verursachen.  Für  den  alten  Ursprung  des 
Laufens  spricht,  dass  die  Bewohner  anderer  Dörfer,  die  nur  mehr  mit  ihrem 
Pfarrer  die  Bittgänge  auf  die  Felder  hinaus  machen,  es  als  Teufelswerk 
betrachten  und  nichts  davon  wissen  w^oUen.  Wir  aber  haben  in  dem 
Huttlerlaufen  ein  für  die  Yolkskuude  kostbares  Vermächtnis  zu  betrachten, 
das  uns  die  Vorfahren  hinterlassen  haben,  wenn  es  auch  nicht  mehr  in  der 
alten  Ivoiniieit  erhalten  geblieben  ist. 

Floritlsdorf  bei  Wien. 


Heidnische  Überreste  in  den  Volksüberlieferungen 
der  norddeutsclien  Tiefebene. 

Von  Wilhelm  Schwartz. 

(Fortsetzung  von  Zeitschrift  IX,  18.) 

Die  (olle)  Fricke,  Frick,  Fuik. 
Ehe  ich  auf  die  uckermärkische  Fricke,  Frick  und  Fuik  eingehe, 
gegen  die  Herr  Knoop  in  gleicher  M^eise  wie  gegen  die  Frau  Harke  vor- 
gegangen ist  (Veckenstedts  Zeitschr.,  H.  Bd.  v.  J.  1890,  S.  449—460),  gebe 
ich  erst  noch  eine  Übersicht  über  die  in  der  norddeutschen  Tiefebene 
weiter  hervortretenden,  landschaftlichen  Gruppierungen  der  mythischen 
Sturm-  und  Gewitterwesen,  mit  denen  wir  es  hier  zu  thun  haben,  aus 

1)  Gaetano  Casati,  Zehn  Jahre  in  Äquatoria.     I.  Bd.,  Bamberg  1891,  S.  64—65. 


124  Schwartz: 

deren  Mitte  sicli  dann  die  Fricke,  —  aber  uiclit  bloss  liier  isoliert  sondern 
auch  zu  einer  weiteren,  analogen  Gruppierung  noch  im  Westen  gehörend, 
—  in  charakteristischer  Weise  abhebt. 

Von  Schleswig  herunter,  in  Holstein,  Lauonlmrg.  Mecklenburg  und 
Vorpommern  mit  seinen  Inseln  machen  sich  zunächst  noch  in  Sage  und 
Gebrauch  Reminiscenzen  an  die  alte  Sturm-  und  Gewittergottheit  des 
Wodan  in  reicher  Fülle  bemerkbar.  Lässt  man  gleich  dem  Wode  nicht 
mehr,  wie  noch  im  XVI.  Jahrb.,  bei  der  Ernte  auf  dem  Felde  einen  Busch 
für  sein  Ross  —  das  Donnerross  —  als  eine  Art  Abfindung,  bezw.  Opfer 
dafür  stehen,  dass  er  nicht  mit  demselben  im  Gewitter  die  Frucht  auf  dem 
Acker  zertrete,  so  weiss  man  doch  noch  von  seinen  Umzügen,  wo  alle 
Arbeit  ruhen  müsse.  •  und  hält  zu  gewissen,  ihm  einst  geweihten  Z<>iten 
noch  daran  fest. 

Vor  allem  lebt  er  noch  in  der  Sage  als  wilder  Jäger  in  wald- 
i-eicherer  Gegend  fort,  wo  der  Sturm  am  wildesten  rast  und  immer  wieder 
alte  Erinnerungen  weckt,  namentlich  an  das  Gebot  mahnt,  wenn  die  wilde 
Jagd  in  der  Luft  über  einem  fortziehe,  sich  hübsch  mitten  auf  dem  Wege 
zu  halten,  ja  sich  platt  auf  die  Erde  zu  werfen,  dann  kömie  dieselbe  einem 
nichts  anhaben  oder  gefährlich  werden:  eine  altmythische  Form  für  die 
noch  jetzt  bei  einem  Gewitter  geltende  Warnung,  aus  dem  Bereiche  der 
Bäume  zu  treten,    zumal  wenn    ein   solches   unmittelbar  über  einem  stehe. 

Eine  Fülle  typisch  meist  ähnlicher  Sagen,  in  denen  noch  immer  die 
alten  mythischen  Bilder  wiederklingen,  mit  denen  man  einst  die  so  wunderbar 
sich  entfaltenden  Gewitterscenerien  unter  dem  angeblichen  Reflex  eines 
gespensterhaften  „Umzugs"  oder  einer  wilden  in  der  Luft  dahinziehenden 
„Jagd"  fasste,  leben  bis  auf  den  heutigen  Tag  hier  noch  in  den  Traditionen 
fort,  ja  in  den  Namen,  die  noch  in  einzelnen  Kreisen  dem  wilden  Jäger 
beigelegt  werden,  haben  sich  hier  auch  noch  Anklänge  an  den  Xamen 
„Wodan"  selbst  erhalten. 

Sind  es  doch  auch  annähernd  dieselben  Gegenden,  aus  denen  im 
V.  Jahrh.  die  Angelsachsen  den  Vöden  mit  seiner  Gemahlin  Frea  als  ihre 
Hauptgötter  mit  nach  England  hinüber  nahmen.^)  Wurde  doch  auch  an 
den  angrenzenden  Ostseeküsten  dann  noch  Jahrhunderte  lang  in  Parallele 
zum  Vöden,  als  dem  himmlischen  Sehimmelreiter  in  der  Gewitternacht, 
der  dänische  und  schwedische  Odin  wie  auch  andererseits  auf  Arkona  der 
slavische  Swantewit  als  ein  ähnliches,  geheimnisvolles,  himmlisches  Wesen 
bis  ins  XII.  Jahrh.  verehrt^),  so  dass  auch  leicht,  selbst  wo  slavische 
Herrschaft  hier  und  an  den  gegenüberliegenden  Küsten  sich  inzwischen 
festgesetzt  hatte,  in  einzelnen  deutschgebliebenen  Bevölkerungsstrichen  sich 
noch  entsprechende  Erinnerungen  an  den  Wodan  im  Volksglauben  erhalten 
konnten. 

1)  J.  Grimm,  Mytb.-*  lOG. 

2)  s.  unsere  Zeitschrift  Bd.  VI,  S.  237  f. 


Heidnische  Überreste  in  der  norddeutschen  Tiefebene.  125 

Eutsin-ecliend  dein  lassen  sich  auch  dann  weiter  vom  XVI.  Jahrh.  an, 
wo  Zeugnisse  über  das  hiesige  Volkstum  in  der  Litteratur  aufzutreten  an- 
fangen, in  einer  immer  wieder  anknüpfenden  Kontinuität  noch  bis  jetzt, 
wie  schon  angedeutet,  Namensformeu  wie 

Wod,  Wand,  Wor,  Waur 
für  das  betreffende  männliche,  und 

Frau  Gode,  Gaude,  die  Gör  und  Gaur 
für  das  entsprechende  w^eibliche  Wesen  in  der  Tradition  verfolgen.^) 

Bilden  die  letzteren  schon  in  unmittelbarer  Beziehung  zum  Wode  als 
ein  ihm  entsprechendes  weibliches  Wesen  einen  Übergang  zur  Fria  oder 
Frea,  „der  Gemahlin  Wodans"  auf  dem  Gebiet  einer  schon  in  weiteren 
Kreisen  nationaler  sich  entwickelnden  Mythologie,  so  knüpft  auch  noch  die 
Fr  icke  oder  Fr  ick,  welche  Kuhn  und  ich  zunächst  in  der  Uckermark 
entdeckten,  —  wo  sie  sowohl  als  wilde  Jägerin  auftritt  als  auch  der  Frau 
Holle,  Harke  und  Gode  u.  s.  w.  sich  zur  Seite  stellt,  wenn  sie  bei  ihrem 
Umzug  Einstellung  der  Arbeit  fordert  und  besonders  den  Flachs,  den  sie 
noch  auf  dem  Wecken  findet,  zerzaust  und  besudelt,  —  direkt  auch  in 
ihrem  Namen  eine  Erinnerung  an  die  Fria  an  und  steht  auch  in  dieser 
Hinsicht  nicht  allein  da.  Fanden  wir  doch  auch  bei  weiteren  Wande- 
rungen dann,  gleichfalls  auf  niedersächsischem  Gebiet  am  Nordrande  des 
Harzes,  noch  neben  der  „Frau  Freke",  die  schon  Eccard  dort  im  Jahre  1750 
in  Parallele  zur  Frau  Holle  erwähnt ^\  auch  noch  Namensanklänge  an  sie 
in  den  primitiveren  Formen:  Fnl  Freen  und  Frü  Frien,  was  alles  sich 
gegenseitig  stützt  und  trägt  und  auf  Frea  oder  Fria  hinweist,  indem  Freke 
und  Fricke  nur  als  Diminutivformen  sich  ergeben,  wie  eine  solche  auch 
Frau  Harke  in  ihrer  Art  aufweist. 


Doch    nun   zuerst  Genaueres  von  der  Auffindung  der  (ollen) 
Fricke  in  der  Uckermark. 

Ich  kann  noch  jetzt  nach  55  Jahren  von  der  Wanderung,  auf  der 
Kuhn  und  ich  zuerst  die  Fricke  unter  der  Form  Fuik,  bezw.  Frick  dort 
entdeckten  und  den  Grund  zu  den  weiteren  Untersuchungen  legten,  ziemlich 
genau    berichten,    da  neben  dem  Privatbericht,    den  Kuhn  sofort  über  die 

1)  s.  J.  Grimm,  Myth.  —  Kuhn  u.  Schwartz,  Nordd  Sagen  1848.  l^artsch,  Mccklenb. 
Sagen,  Wien  1879.  —  Der  Rostocker  Prof.  Pet.  Schmidt  lässt  in  seinen  Fastel-Abends- 
sauinilungen  Rostock  1742  um  Weihnachten  und  Fastelabend  neben  dem  wilden  Jäger  den 
sogen.  Woor  und  die  Goor  ziehen,  ausserdem  hat  er  die  Bezeiclmungen  Wodens-  oder 
Goodensheer.  An  das  Auftreten  desselben  zu  Fastnacht  reiht  sich  auch  bei  Adelung  der 
Name  „Fastuachtsheer". 

2)  de  origiue  Germ.  11,  398:  Uxorem  Odini  Fream  vel  Friggam  faciunt  ex  communi 
traditionc  pupularium  Paulus  Diaconus  et  Edda  septemtrionalis.  celebratur  in  plebe  Saxonica 
frü  Freke,  cui  eadem  munia  tribuuntur,  quae  superiores  Saxones  Holdae  suae  adscribunt, 
s.  weiter  über  die  Namensform  im  Nachtrag  unter  Frau  Freke. 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1899.  "^ 


126  Schwartz: 

Kesiilrate  dieser  Wanderung  an  M.  Haupt  abstattete*),  dieselbe  mir  durcli 
verseliiedene  Umstände  mit  allen  Einzelheiten  fest  im  Gedächtnis  geblieben 
ist.  und  tlme  es  ausführlicher,  um  gleich  vorweg  so  auch  in  den  verschiedenen 
Berichten  Kuhns  über  diese  Sache  einzelnes  Nebensächliche,  woran  sich 
Herr  Knoop  stellenweise  gestossen  hat,  festzustellen. 

In  einer  gewissen  gehobenen  Stimmung  hatte  ich  mich  beim  Beginn  der 
Michaelisferien  des  Jahres  1844  meinem  Schwager  Kuhn  zu  der  nach  der 
Uckermark  projektierten  Fahrt  angeschlossen,  da  ich  kurz  vorher  mein 
01)erlehrerexamen  glücklich  bestanden  hatte  und  für  den  neuen  Schulaufang 
mein  Eintritt  als  Cand.  prob,  am  Werderschen  Gymnasium  in  Berlin  schon 
gesichert  war.  Aber  gleich  am  Anfang  unserer  Wanderung  traf  uns  ein 
böser  Unfall  im  ersten  Nachtquartier  Gramzow,  indem  man  den  Ofen  zu 
früh  (von  aussen,  wie  es  Sitte  war)  zugesetzt  hatte,  so  dass  wir  Gott  nur 
danken  konnten,  dass  wir.  nach  Mitternacht  durch  einen  besonderen  Zufall 
geweckt,  noch  unserer  Lage  uns  bewusst  wurden  und  sie  ändern  konnten. 
Bedrückt  unter  heftigen  Kopfschmerzen  zogen  wir  am  Morgen  aus.  die 
Richtung  nach  Buchholz  einschlagend,  indem  wir,  während  wir  früher  schon 
gelegentlich  die  Uckermark  gestreift  hatten,  diesmal  quer  durch  dieselbe 
nacli  dem  Mecklenburgischen  den  Marsch  richten  wollten.  Allmählich  er- 
frischte uns  wieder  die  Wanderung  und  in  Buchholz  konnten  wir  schon 
voller  uns  wieder  dem  Verkehr  mit  den  ]^euten  zuwenden. 

Ich  habe  schon  ein  jiaarmal,  in  der  Anthrop.  Berl.  Zeitschrift  v.  Jahre 
1885,  S.  527  und  in  der  Berliner  Brandenburgia  v.  J.  1894,  S.  149  f..  die 
Scene  erzählt,  die  hier  zur  Entdeckung  der  Fuik  führte,  wie  auch  Kuhu 
schon  in  den  Nordd.  Sagen  XVII  auf  sie  hingewiesen  hat.  Ich  wiederhole 
die  Schilderung  hier  als  ein  Zeichen  der  Möglichkeit  eines  unbefangeneren 
Verkehrs  mit  den  Leuten  auch  in  einem  Falle,  wie  dem  vorliegenden,  wo 
Herr  Knoop  eine  solche  sich  nicht  denken  kann,  indem  es  ihn  jedesmal 
verdriesst,  w^enn  auf  das  Besudeln  des  auf  dem  Wecken  beim  Umzug  der 
betreffenden  mythischen  Wesen  noch  vorhandenen  Flachses  die  Rede  kommt, 
und  er  meint,  es  hätte  die  Sache  bei  den  Leuten,  wenn  selbige  berührt 
worden,  stets  ein  Ärgernis  abgeben  müssen,  so  dass,  wie  wir  weiter 
unten  sehen  werden,  er  schliesslich  sogar  es  versucht,  eine  eigene  Ety- 
mologie des  Xamens  Fuik  „auf  ein  Scheltwort  hin",  das  uns  bei  solcher 
Gelegenheit  von  den  Leuten  angeblich  zugerufen  worden  sei  und  das  wir 
missverstanden  hätten,  zu  begründen! 

Die  erwähnte  Scene  spielte  sich  aber  in  Buchholz  ganz  gemütlich  an 
einem  Waschfass  ab,  bei  dem  ich  Mädchen  beschäftigt  fand,  indem  ich  mit 
ihnen  ein  Gespräch  anknüpfte  —  ich  war  damals  23  Jahr  alt!  —  und  es 
darauf  überspielte,  dass  es  auch  Zeiten  gäbe,  in  denen  man  nicht  waschen 
dürfe,  z.  B.  an  den  Zwölften.    Man  lachte  darüber,  aber  eines  der  Mädchen 


1)  Im  November  1844:  s.  Haupts  Zeitschrift  für  deutsches  Altertum,  V,  873  ff. 


Heidllische  Überreste  in  der  norddeutschen  Tiefebene.  127 

meinte,  dann  dürfe  man  ja  auch  nicht  spinnen,  sonst  käme  „de  Pfui"  in  den 
Wocken.  Ich  that.  als  wäre  mir  derartiges  neu,  und  fragte,  was  denn  das 
heisse,  und  sie  meinte,  der  Wecken  würde  sonst  beschmutzt,  dass  es 
„ein  Ekel"  sei 

Für  den  Augenblick  musste  ich  mich  damit  begnügen:  als  ich  aber 
dann  der  Sache  weiter  nachforschte,  hörte  ich  bald  deutlich  statt  „de  Fui" 
die  Form  „Fuik".  so  dass  wir  nun  energisch  die  Spur  aufnahmen  und 
auch  sie  glücklich  durch  alle  Dürfer.  die  wir  weiter  berührten,  verfolgen 
konnten,  wobei  die  Leute  auch  niemals  Anstand  nahmen,  zumal  unter  vier 
Augen,  selber  von  dem  Besudeln  des  Flachses,  den  die  Fuik*)  noch  vor- 
fände, zu  reden  und  ruhig,  wie  wir  es  auch  stets  bei  dem  ähnlichen 
Aberglauben,  der  sich  an  die  Frau  Harke  und  Gode  knüpft,  gehört  hatten, 
den  für  das  Beschmutzen  „landesüblichen"  primitiven  Ausdruck  „wenngleich 
etwas  grienend"  zu  gebrauchen.^) 

Die  Krönung  übrigens  der  von  uns  gemachten  Entdeckung  war,  dass 
wir  zuletzt  noch,  ehe  wir  hinter  Boitzenburg  das  Mecklenburgische  betraten, 
auf  einen  alten  Thomsdorfer  Bauer  stiessen,  mit  dem  wir  etwa  eine  Meile 
zusammen  gingen,  und  dieser  uns  u.  a  eine  Sage  und  ein  Märchen  erzählte, 
in  welchen  das  von  uns  «mtdeckte  mythische  Wesen  als  wilde  Jägerin, 
bezw.  Hexe  auftriit. 

Wir  kamen  erst  spät  unter  Begen  ins  Quartier  und  konnten  so  erst 
„den  folgenden  Tag"  das  übliche  Protokoll^)  über  die  auf  der  erwähnten 
Strecke  eingeheimsten  Resultate  abfassen,  und  da  stellte  sich  nun  in  betreff 
des  alten  Thomsdorfer  Bauern  eine  Differenz  in  unserer  Auffassung  darüber 
heraus,  ob  er  „die  alte  Fuik"  oder  „Frick"  gesagt  habe;  über  den  stets 
von  ihm  gebrauchten  Zusatz  ^alte".  und  dass  er  sie  als  des  Teufels  Gross- 
mutter bezeichnet  hatte,  darüber  waren  wir  einig.  Der  Yerkehr  meist  auf 
der  Landstrasse  mit  ihm  liatte  sich  so  schon  nicht  gerade  immer  ver- 
ständnisbequem gemaclit.  und  nun  sprach  er  noch,  wie  meist  derartige 
Leute  zumal  im  ludieren  Alter  die  Wörter  recht  verschleifend  und 
„priemte"  noch  obenein  (kaute  Tabak),  so  dass  Kuhn  und  ich  froh  waren, 
ihm  zunächst  in  den  Erzählungen  folgen  zu  können,  und  daran  uns  für 
den  Augenblick  genügen  lassen  und  die  Entscheidung  über  das  r  oder  u 
in  der  Templiner  Gegend,  wo  der  Alte  zu  Hause  war,  einer  neuen 
Wanderung  anheimstellen  mussten.    Hielt  doch,  ebenso  wie  ich  entschieden 

1)  In  Buchholz  blieb  das  Genus  bei  ^de  Pfui"  noch  zweifelhaft,  auf  dem  weiteren 
Marsche  hörten  wir  aber  überall  die  Fuik,  wenngleich  Einzelne  in  der  üblichen  Mischung 
zwischen  Dialekt  und  Hochdeutsch  öfter  zwischen  „die"  und  „de"  schwankten.  Wenn 
Kuhn,  Nordd.  Sagen,  S.  414,  179  „de"  anführt,  so  zeigt  daselbst  Z.  10.,  dass  er  es  auch 
nur  weiblich  fasste,  indem  der  Fui  ausdrücklich  dann  als  Ausnahme  angeführt  wird. 

•2)  Vgl.  auch  hinten  im  Kachtrag  den  Bericht  des  Herrn  Kantor  A.  Hörn  aus  Lasse 
im  Braunscliweigischen. 

3)  Über  die  von  uus  gehandhabte  Weise  bei  der  Abfassung  eines  solchen  Protokolls  s. 
im  Archiv  der  „Brandenburgia"  den  Aufsatz  „vom  Sagensammelu",  S.  156. 

9* 


128  Schwartz: 

für  r  eintrat,  Kuhn  mit  Energie  «las  u  fest,  zumal  er  schon  während  de* 
übrigen  Marsches  die  Form  Fuik  nur  als  eine  dialektische  Nebenform  für 
Frick  gefasst  und  dahinter  die  Frigg  gesucht  hatte,  wie  er  auch  weiter 
noch,  dem  entsprechend,  in  seinem  Privatbericht  an  Haupt  vom  November 
desselben  Jahres  die  Sache  darstellte  und  speciell  nach  damaliger  Auf- 
fassung der  mythischen  Gestalten  des  deutschen  Volksglaubens  die  Fuik 
direkt  von  Frigg  ableitete.^)  Die  analogen  vermittelnden  Formen  mit  der 
Fria  und  Frea  am  Harz  (s.  verlier)  hatten  wir  eben  damals  noch  nicht 
aufgefunden. 

Als  nun  aber  bei  weiteren  Wanderungen  in  der  Uckermark  in  den 
folgenden  Jahren  Kuhn  sich  üljerzeugte,  dass  namentlich  im  Templinschen 
deutlich  vom  Besudeln  des  Flachses  von  selten  der  Frick  (mit  r)  gesprochen 
wurde*),  und  wir  nun  ausserdem  auch  die  vollere  Form  Fr  icke  noch  dort 
fanden,  gab  er  das  erste  oben  erwähnte  Bedenken  in  betreff  des  Thomsdorfer 
Alten  mir  gegenüber  auf  und  schrieb  z.  B.  in  einem  neuen  Aufsatz  bei 
Haupt  vom  Februar  des  Jahres  1847  (Ztschr.  YI.  131)  ohne  weiteres  „von 
der  in  dem  Aufsatz  Y,  373  über  die  Frick  mitgeteilten  Sage  von  den 
mehlfressenden  Hunden  derselben"  u.  s.  w. 

YVar  für  uns  dieser  Punkt  so  nun  in  Übereinstimmung  erledigt,  so 
kam  derselbe  doch  noch  einmal  zwischen  uns  zur  Sprache  bei  der  Redaktion 
der  „Norddeutschen  Sagen"  im  Jahre  1848,  als  ich.  bei  Anfertigung  des 
Index,  den  ich  übernommen  hatte,  fand,  dass  namentlich  nach  den  er- 
Avähnten,  in  dieser  Hinsicht  divergierenden  beiden  Privatberichten  Kuhns  der 
in  den  Nordd.  Sagen  in  erster  Linie  auch  weiter  festgehaltene  Gebrauch  des 
Namens  Frick  dort  noch  zu  motivieren  sei.  Denn  abgesehen  davon,  dass 
Kuhn  in  dem  H.  Bericht  in  Haupts  Zeitschrift  YI.  ohne  jede  Motivierung 
die  Form  Frick  nach  den  oben  erwähnten  inzwischen  gemachten  Er- 
fahrungen substituiert  hatte,  gebrauchte  er  sie,  wie  gesagt,  auch  in  den 
Nordd.  Sagen  ohne  eine  solche  ganz  unbefangen  weiter,  meist  an  erster 
Stelle.     Die  Überschrift    von  Sage  70    lautete  z.  B.   „Die  alte  Frick",    im 


I 


1)  ^Der  ganze  Strich"  [wo  wir  die  Fuik  fanden),  sagt  Knlin  a.  a.  0.  „hat  kein  linguah^s, 
sondern  nur  ein  gutturales  r,  weshalb  die  Silbe  er  auslautend  stets  a  wird:  der  Übergang 
von  diesem  gutturalen  r  zu  u  ist  aber  nach  dem  gehauchten  Lippenlaut  leicht  erklärlich."  — 
Ich  glaube  übrigens,  dass  Kuhn  mit  seiner  Erklärung  das  Verhältnis  der  strichweis  „neben- 
einander" auftretenden  Formen  Fuik  und  Frick  ül)erhaupt  richtig  getroffen  hat,  wenn 
gleich  Herr  Knoop  (Veck.  II,  457)  dazu  sagt:  „Das  ist  unrichtig"  und  als  Grund  anführt, 
dass  sich  bei  Nerger,  Grammatik  des  „mecklenburgischen"  Dialekts  nichts  von  dieser  „land- 
schaftlichen Eigentümlichkeit"  finde.  Es  zeigt  sich  eben  hier  wieder,  wie  öfter,  dass  Herr 
Knoop  nicht  weiss,  dass  fast  jede  von  den  ostelbischen  Landschaften  ihre  besonderen  Eigen- 
tümlichkeiten auch  im  Dialekt  hat  und  gerade  die  von  Kuhn  herangezogenen  Erscheinungen, 
wie  sie  z.  B.  in  mölla  (für  Müller),  feiabursch,  vatelt,  vanunftig  auftreten,  den  ucker- 
märkischen  Dialekt  besonders  charakterisieren:  s.  Beispiele  bei  Engelien  u.  Lahn,  Der 
Volksmund  in  der  Mark  Brandenburg,  Berlin  1868,  z.  B.  S.  66ff. 

2)  Der  Templiner  Kreis  hat  auch  sonst  seine  Eigentümlichkeiten,   z.  B.  puks  für  das 
sonst  meist  auch  in  der  Uckermark  übliche  drak,  s.  Archiv  der  Brandenburgia,  I,  S.  150. 


Heidnische  Überreste  in  der  norddentsclien  Tiefebene.  129 

Text  aber  standen  gemäss  dem  nach  der  Wanderung  sofort  aufgenommenen, 
oben  erwähnten  ersten  Protokoll,  welches  Kuhn  ohne  weiteres  abgedruckt 
liatte.  beide  Formen  nebeneinander,  indem  der  Anfang  lautete:  „Die  alte 
Frick  oder  Fuik  ist  des  Teufels  Grossmutter  gewesen"  u.  s.  \y.  Ebenso 
war  S.  414  bei  den  Gebräuchen  das  Protokoll  aus  der  Zeit  der  ge- 
schilderten ersten  Wanderung  mehr  als  nötig  in  den  Vordergrund  gestellt, 
hingegen  waren  die  späteren  ülter  das  wiederholte  Auffinden  der  Frick 
bei  den  AVanderungen  nach  1844  nicht  besonders  aufgenommen  worden, 
indem  überhaupt  nur  die  Fassung  des  Ganzen  und  besonders  des  Anfangs 
verallgemeinert  war.  —  Meine  Bemerkungen  darüber  veranlassten  Kuhn, 
da  das  andere  schon  gedruckt  war,  noch  8.  478  in  der  Anm.  zu  Sage  70 
den  Znsatz  hinzuzufügen:  „die  Form  Frick  mit  r  ist  jetzt  hier  aufgenommen, 
da  wir  dieselbe  seitdem  aus  anderen  Teilen  der  Uckermark  so  hörten" ; 
womit  er  die  Angelegenlieit  für  abgethan  erachtete. 

Zu  den  erwähnten  Kesultaten  hatten  sich  also  unsere  Wanderungen  in  der 
Uckermark  in  den  Jahren  1844—47  zugespitzt.  Dieselben  sind  dann  neben 
den  beiden  Privatberichten  von  Kuhn  in  Haupts  Zeitschrift  V.  YI.  ge- 
meinsam von  uns  in  den  Xordd.  Sagen  im  Jahre  1848  abgeschlossen  und 
veröfi'entlicht  worden,  ebenso  wie  icli  in  meiner  Schrift  vom  Jahre  1849/50 
„Vom  heutigen  V(dksglauben  und  (h'in  alten  Heidentum"  sie  in  ihrer, 
mvthischen  Bedeutung  behandelt  und  wiederholt  dann  in  meinen  Volks- 
ausgaben der  ,,Sagen  der  Mark  Brandenburg"  von  ihnen  Xotiz  genommen 
liabc.  Ein  AVidersprucli  ist  nie  ans  dei-  Uckermark  in  irgend  einem  Punkte 
erfolgt,  wie  dann  die  angeführten  Thatsachen  auch  allgemein  in  ihrer 
wissenschaftlichen  Bedeutung  für  den  deutschen  Volksglauben  erkannt  und 
verwertet  worden  sind. 

Statt  vieler  Zeugnisse  (hifür  führe  ich  in  letzterer  Hinsicht  imr  3Iüllen- 
hoff  an.  Während  derselbe  nach  seiner  Übersiedelung  nach  Berlin  im 
Jnhre  1S5S  dem  Folkloristischen  sich  mehr  abwandte  und  eher  geneigt  war, 
Kuhn  und  mir  in  derartigem  entgegenzutreten^),  trat  er  doch  noch  im  Jahre 
1S(;4  in  seineu  mit  Scherer  herausgegebenen  „Denkmälern  deutscher  Poesie 
und  Prosa"  nicht  bloss  für  die  betreffenden  Resultate  ein.  sondern  fasste  sie 
auch  im  Anschluss  an  die  Frau  Frien,  Freen  und  Freke  am  Nordrand  des 
Harzes  in  ihrer  Beziehung  zur  Fria,  bezw.  Frea.  —  Gegenüber  J.  Grimms 
Annahme  nämlich  von  einer  besonderen,  der  nordischen  Freyja  ent- 
spreclienden  deutschen  (Jöttergestalt  (neben  der  Frigg)  wies  Müllenhoff'  auf 
den  Mangel  sicherer  Spuren  und  Zeugnisse  speciell  für  eine  solche  im 
deutscheu  Volksglauben  sowie  in  älteren  Quellen  hin,  „während",  wie 
er  hinzufügte,  „das  Volk  nach  A.  Kuhn  und  W.  Schwartz.  Xordd. 
Sagen  S.  414  die,  [zur  Fria,  bezw.  Frea  sich  stellenden]  Frü  Frien  oder 
Vreen,  Fricke  und  Freke  noch  „ganz  w^ohl"  kennt". 

1)  S.  Protokolle  der  Generalversammlung  des  Gesamtvereins  der  deutschen  Geschichts- 
und Altertumsvereine  v.  J.  1S90,  Berlin,  S.  188  f. 


y^Q  Schwartz: 

So  hat  ('S  auch  weiter  gegolten,  und  Herr  Knoop  ist  der  erste  gewesen, 
der  wie  gegen  die  Frau  Harke,  so  auch  gegen  die  Fricke  Bedenken  zu 
erregen  versuchte,  indem  er  über  die  verschiedenen  Yarianten  in  ihrer  Be- 
nennung die  wunderlichsten  Hypothesen  aufstellt  und  damit  die  einheitliche 
und  mythische  Bedeutung  des  ganzen  Wesens  beseitigt  zu  haben  glaubt.  In 
Bezug  auf  die  oben  gegebene  Darstellung  von  unserem  Auffinden  der  Fuik, 
Frick  und  Fricke  seinerzeit  wird  es  genügen,  zur  unbefangenen  Erwägung 
des  Lesers  im  folgenden  darzustellen,  mit  welcher  Yoreingenommenheit 
und  mit  welchen  Phantasiebildern  Herr  Knoop  auch  hier  den  That Sachen 
gegenüber  Stellung  nimmt,   bezw.  mit  ihnen  verfährt. 

Wie  derselbe  (in  Yeckenst.  Zeitschr.  H,  452  ff.)  zunächst  gegen  Ulrich 
Jahn,  welcher  der  Fricke  sowie  der  Fria  Spuren  unter  allerhand  von  ihm 
zum  Teil  neu  beigebrachtem  und  nach  seiner  Ansicht  dafür  sprechendem 
Material  auch  in  Pommern  zu  verfolgen  suchte  *),  heftig  vorgeht  und  nament- 
lich dabei  Misstrauen  erregen  will  gegen  die  Art  desselben  überhaupt  Sagen 
und  Ähnliches  zu  sammeln,  trachtet  er  im  Anschluss  daran  auch  darnach,  die 
von  Kuhn  und  mir  schon  ein  paar  Generationen  früher  in  betreff  der  Fricke 
gesammelten  Thatsachen  nach  Möglichkeit  gleichfalls  zu  verdächtigen, 
wobei  er  seiner  Phantasie  die  freiesten  Zügel  schiessen  lässt  über  die  Art, 
wie  sie  nach  seiner  Meinung  zu  stände  gekommen  sein  könnten. 
Ebenso  Avie  bei  der  Frau  Harke  kommt  bei  der  Behandlung  der  Fricke 
von  Seiten  des  Herrn  Knoop  die  mythische  Seite  derselben,  die  sie  wie  die 
anderen  entsprechenden  Wesen  in  ihrer  Beziehung  zur  wilden  Jagd  gleich- 
falls als  ein  Sturm-  und  Gewitterwesen  hinstellt,  ganz  in  Wegfall,  trotzdem 
die  von  ihr  in  dieser  Hinsicht  erzählte  Sage  gerade  für  Norddeutschland 
höchst  eigentümlich  sich  abhebt  und  sie  noch  in  besonderer  Weise  als  eine 
Art  „Windgottheit"  charakterisiert,  wenn  in  derselben  der  Bauer,  der  auf  die 
Frick  stösst,  ihren  (Feuer  schnaubenden)  Hunden  „seine  Mehlsäcke",  damit 
er  nur  glücklich  davonkomme,  zum  Frass  ausschütten  muss.  Denn  gerade 
dieser  Zug  stellt  sich  zu  analogen,  anderweitig  auftretenden  mythischen  Bildern, 
wenn  man  z.  B.  in  Süddeutschland  den  Aberglauben  hatte,  das  Stillen  des 
Windes  „durch  ausgeschüttetes  Mehl"  erzielen  zu  können,  ja  in  einem 
norwegischen  Märchen  bei  Asbjitrnsen  No.  7  dreimal  der  Nordwind  einem 
Kerl  „das  Mehl"  wegnimmt,  ihn  aber  nachher  dafür  durch  kostbare  Geschenke 
begütigt^),  gleichwie  auch  der  uckermärkische  Bauer  am  folgenden  Morgen 
seine  Säcke  sämtlich  wieder  durch  Zauber  voll  vor  seinem  Hause  stehend 
findet. 

Nur  die  Thatsache,  dass,  wenn  in  den  Zwölften  oder  Sonnabends 
nicht  alles  abgesponnen  sei,  man  drohe,  das  lietreffende  Wesen  werde 
kommen    und    allen  Flachs,    den  es  noch  auf  dem  Wocken  vorfinde,    zer- 

1)  Dahin  gehört  uamcntlich  die  an  die  Fuik  erinnernde  Form  ..Fu",  sowie  „dei  Fujjen", 
dann  aus  anderen  Redensarten  mit  anderem  Sinn  „de  Fik-'  und  ..de  Frie". 

2)  J.  Grimm,  Myth.^  S.  529. 


Heidnische  Überreste  iu  der  uorddeutschen  Tiefebene.  131 

zausen  und  besudeln,    <i;iebt  Herr  Knoop  auch  für  die  Uckermark  zu,    wie 
ja  auch  selbst  in  seiner  hinterpommerschen  Heimat  ein  Verbot  des  Spinnens 
zu    ähnlichen  Zeiten    üblich    ist,    nur    dass  die  Bestrafung  für  ein  Fehlen 
•lageo-en  dem  Teufel  zugeschrieben  wird.    Während  Herr  Knoo])  aber  nun 
das  Besudeln,  welches  neben  dem  Zerzausen  und  Verbrennen  des  Flachses 
doch  bei  den  betreffenden  Wesen,    wie  schon  erwähnt,  merkwürdigerweise 
durch  ganz  Deutschland  geht,  sonst  imr  für  einen  groben  Spinnst  üben - 
witz  erachtet,  von  dem  eigentlich  weiter  keine  Notiz  zu  nehmen  sei^}.  lässt 
er  es  in  der  Uckermark  bei  seinen  Angriffen  gegen  die  Fricke  daselbst  und 
bei  der  von  ihm  versuchten  Sondererklärung  der  Varianten  des  Namens,  die 
im  Volke    auftreten,    mit    einem    Mal    eine    besondere  Rolle  spielen. 
Denn  wie    bei  der  Frau  Harke   löst  ev  auch  hier  die  Tradition  möglichst 
auf,    indem    er,    wie    schon    angedeutet,    für    die  einzelnen  Namensformen, 
die    für  die  Fricke   auftreten,    nach  besonderen  Erklärungen  sucht  und  so 
statt  eines    einheitlichen  Bildes  wieder  verschiedene,    anekdotenartige  Ge- 
schichten giebt,    mit  denen  er  die  ganze  Sache  beseitigt  zu  haben  glaubt. 
Herr  Knoop  hebt  dies  Verfahren  auch  noch  selbst  deutlich  S.  454  hervor, 
wenn  er,  ehe  er  an  die  Deutung  der  Namen  geht,  sagt:  „Sind  Frau  Holle,  Frau 
Harke,  Frau  (iodo  der  Freia  gleichzusetzen,  so  ist  es  auch  unsere  [?]  Frick 
oder  Fuik,    das  ist  klar,    und   Kuhn  hat  sicli  deini  auch   in  Haupts  Zeit- 
schrift V,  373  ff.  bemüht,  den  Zusammenhang  der  Namen  zunächst  mit  der 
nordischen  Frigg,  die  ja  mit  Freia  identisch  ist,  nachzuweisen.    Wir  werden 
uns  um  diese  verfehlte  Deutung  [?|  nicht  kümmern  [!],  sondern  auf  anderem 
Wege  das  Gegenteil  zu  erweisen  suchen  [?].'^  —  Mit  diesem  anderen  Wege 
meint  Herr  Knoop   eben   seine    luin    folgenden   höchst  eigentümlichen  Er- 
klärungen   der  Namen,    durch    die    er    sie    ähnlich  wie  bei  der  Harke  als 
Fiktionen    oder  augebliche  Missverständnisse  hinstellen  will. 

Von  den  Namen  Fui.  l'uik.  Frick  und  Fricke  aber,  wie  wir  dieselben 
naelieinander  festgestellt  haben,  tritt  ihm  besonders  die  Fuik  in  den 
Vordergrund,  obwohl  er  vor  derselben  auch  der  Form  .,Fui''  eine  selbständige 
Deutung  der  eigensten  Art  widmet,  während  diese  Form  doch  nur  ganz  ver- 
einzelt auftritt  und  gleichwie  die  Form  Fn  bei  Jahn  nur  als  eine  einfache 
Abschwächung  der  Form  „Fuik"  sich  ergiebt.  Denn  der  Deutungsversuch 
des  Mädchens  in  Buchholz  für  die  Ausdrucksweise  „sonst  komme  [wenn  nicht 
abgesponnen]  de  Fui  in  den  Wocken^'  war  zwar  für  sie  eine  nicht  ungeschickte 
Antwort  auf  meine  Frage,  aber  doch  nur  ein  individueller  Einfall  ohne  weitere 
Bedeutung.  Sie  dachte  doch  eben  nur  daran,  dass  man  oft  ,,pfui-'  sage,  wenn 
einem  etwas  ein  Ekel  werde,  wie  hier  das  Beschmutztw^erden  des  Wockens. 

1)  Mythisches  dahinter  zu  suchen,  davor  warnt  Herr  Knoop  sogar  ernstlichst,  — 
und  doch  weist  die  Sache  auf  Ähnliches  in  der  niederen  Mythologie  der  Deutschen  wie  der 
Grieclien  hin  und  erhält  dadurch  auch  hier  seine  Bedeutung  und  erklärt  die  Allgemeinheit 
des  Aberglaubens,  s.  Bd.  VII  unserer  Zeitschr.,  S.  4,  Anm.  „Der  Schwefelgeruch  des 
Blitzes  knüpft  eben  an  die  Gewitterwesen  ein  mephitisches  Element." 


132  Sclnvartz: 

Ähnlich  fast,  aber  doch  in  einer  anderen,  systematischeren  Entwicklung 
knüpft  Herr  Knoop  nun  zunächst  die  Form  „de  Fui"  an  die  Interjektion 
,,pfui"  an.  aber  in  der  oft  üblichen  Verbindung  derselben  mit  dem  Namen 
des  Teufels,  indem  sie  nach  seiner  Theorie  in  einer  solchen  leicht  den 
Charakter  „einer  Substantivierung"  und  damit  den  „einer  Persönlichkeit" 
bekam. 

Die  Sache  wird  von  ihm  indessen  so  kunstvoll  ausgebaut  und  bewegt 
sich  fortwährend  in  so  komplizierten  Annahmen,  indem  z.  B.  das  Ausspucken 
beim  Xamen  des  Teufels  oder  eine  Ausübung  desselben  sogar  „als  Ersatz 
für  den  Namen",  den  man  sich  zu  scheuen  aussprach,  eine  bedeutsame 
Rolle  spielt,  dass  ich  es  wieder  für  das  Geeignetste  halte,  schon  um  jedes 
Missverständnis  zu  vermeiden,  Herrn  Knoop  selbstredend  einzuführen, 
dabei  aber  durch  Fortlassung  von  allem  Nebensächlichen  die  Beurteilung 
zu  erleichtern  denke. 

Herr  Knoop  geht  auch  hier  zunächst  von  der  Annahme  aus,  —  Gründe 
bringt  er  dafür  nicht  bei,  —  dass  auch  in  der  Uckermark  bei  dem  Aber- 
glauben wegen  des  Nichtspinnens  zu  Zeiten  der  Teufel  im  Hintergründe 
gestanden  habe  und  statt  eines  Dämon  eingetreten  sei.  Nachdem  er  dann 
weiter  auseinander  gesetzt,  wie  man  in  seiner  Heimat  sich  oft  gescheut 
liabe.  den  Namen  des  Teufels  direkt  zu  nennen  und  ihn  mit  „hei"  oder 
„dieser  und  jener"  umschrieben  und,  damit  er  einem  nicht  schaden  könne, 
„ausgespuckt"  habe,  fährt  er  fort:  „Ja  noch  mehr:  der  Erzähler  selbst 
|d.  h.  derjenige,  der  vom  Teufel  redete]  spuckte,  anstatt  den  Teufels- 
namen zu  nennen,  aus  und  sagte  „fui".  so  dass  also  in  Wirklichkeit  her- 
auskam: de  (ausgespuckt  oder  doch  die  Gebärde  des  Ausspuckens  gemacht) 
fui!"  —  „Ich  kann  mich",  sagt  Herr  Knoop  weiter,  „für  das  damalige  Vor- 
handensein des  Gebrauchs  verbürgen;  ich  habe  bis  zu  meinem  16.  Lebens- 
jahre ununterbrochen  und  später  viel  auf  dem  Lande  gelebt,  im  Verkehr 
mit  den  Landleuten.  Aber  auch  andere  Herren  haben  mir  den  Gebrauch 
des  „Ausspuckens"  und  des  „Pfuirufens"  bestätigt,  wie  mein  langjähriger 
Mitarbeiter  Archut^).  Lehrer  in  Wusseken,  Kreis  Bütow,  und  ein  alter 
Lehrer,  Herr  Luchert  in  Waldow." 

„Es  ist  nun  sicher  [?!]  anzunehmen",  heisst  es  dann  weiter,  „dass 
dieser  Gebrauch  [also  doch  die  Form:    de  —  ausgespuckt  —  fui]  auch  in 


1)  Aus  einer  Anmerkung  zu  def  Stelle  ergiebt  sich  aber,  dass  Herr  Archut  eigentlicli 
nicht  als  Zeuge  für  die  von  Herrn  Knoop  aufgestellte  Specialgestaltung  der  Dinge  dienen 
könne.  Denn  nach  ihm  wird  das  pfui  nicht  nach,  sondern  vor  „Teufel"  gestellt  und 
speciell  bei  demselben  ausgespuckt,  wie  es  auch  sonst  üblich  ist;  auch  l'asst  er  die  Be- 
deutung des  Ausspuckens  anders.  Herr  Knoop  führt  nämlich  folgende  Äusserung  von 
Herrn  Archut  an:  ..Wenn  ein  Kind  sich  auf  der  Strasse  sehr  schmutzig  gemacht  hat,  so 
schilt  die  Mutter:  Fui  Deiwel,  wo  siehst  du  ut!  —  Ist  die  Entrüstung  sehr  gross,  so  winl 
bei  dem  Worte  „fui"  ausgespuckt."  —  Herr  Knoop  fügt  zwar  hinzu:  „Das  ist  nicht  ganz 
richtig;  das  Ausspucken  geschieht  nicht  der  Entrüstung  wegen,  sondern  weil  hinterher 
der  Name  des  Teufels  genannt  wird";  er  übersieht  aber  dabei,  dass  die  von  ihm  be- 
hauptete Form  und  die  des  Herrn  Archut  überhaupt  einen  verschiedenen  Charakter  haben. 


Heidnische  Überreste  in  der  norddeutschen  Tiefebene.  133 

anderen  Gegenden,  auch  in  den  von  Kuhn  und  Schwartz  bereisten  vor- 
lianden  gewesen  ist  |wäre  doch  erst  noch  zu  beweisen],  und  es  unter- 
liegt keinem  Zweifel  [?],  dass  die  beiden  gelehrten  AYanderer  dieses 
fui  [d.  h.  doch  de  Fui]  gehört  haben,  es  aber,  weil  sie  den  Gebrauch  des 
Pfui-Rufens  [d.  h.  doch  nur  den  hier  eigentümlich  entwickelten!]  nicht 
kannten,  falsch  deuteten;  denn  [!]  das  Ausspucken  konnte  auch  unterbleiben 
und  ist  unterblieben,  denn  der  Pfuiruf  genügt  schon  allein,  um  vor 
dem  Bösen  zu  schützen."  —  „Und  so  konnte",  schliesst  dann  Herr  Knooj) 
seinen  sogenannten  Beweis,  „da  der  Teufel  als  Rockenbesudler  etwa  für 
Frau  Harke,  Frau  Gode  eingetreten  war*):  der  Ausdruck  de-fui  substan- 
tivisch gefasst:  de  Fui,  selbst  zu  einem  wockenbesudelnden  Wesen 
werden. " 

Wenn  nacli  der  ersten  Entwicklung  der  ganzen  Idee  diese  ünthat 
ursprünglich  Kuhn  und  mir  zugedacht  erschien,  so  streifen  die  letzten 
Worte  doch  den  Gedanken,  als  hätte  sich  jene  Substantivierung  schon  vorher 
bei  den  Uckermärkern  selbst,  als  statt  des  Dämon  der  Teufel  eingetreten 
wäre,  vollzogen,  so  dass  uns  hiernach  nur  die  Schuld  träfe,  dabei  dann  an 
ein  mythisches  Wesen  gedacht  zu  haben.  Es  bleibt  das  freilich,  wie  so 
vieles  bei  Herrn  Knoo]).  unbestimmt.  Der  Gedanke  muss  ihm  indessen 
doch  nicht  fern  gelegen  haben,  du  er  im  nächsten  Absatz,  zur  Fnik  über- 
gehend, sagt:  „Hat  sich  uns  so  der  Fui")  als  eine  Substantivierung  der 
Interjektion  ergeben,  so  könnte  man  nun  geneigt  sein,  Fuik  als  eine 
Deminutivbildung  zu  fassen",  welche  Wendung  doch  die  Auffassung  anregt, 
als  hätte  sich  eine  solche  sclion  im  Volke  selbst  vollzogen,  nicht  als  ob 
sie  erst  „nachträglich"  von  uns  erfnnchMi  und  in  der  Uckermark  verbreitet 
worden  wäre.  Da  indes  Herr  Knoop  selbst  die  angeregte  Vermutung  auf- 
giebt.  weil  ihm  ein  pikanterer  Einfall  für  die  Deutung  der  Fuik  kommt, 
so  mag  jenes  in  seiner  Unbestimmtheit  verbleiben. 

Herr  Knoop  findet  nämlich  schliesslich  in  dem  Namen  Fuik  etwas 
Ähnliches  zu  (i runde  liegen,  wie  bei  der  (ollen)  Haksch  am  Ebii  angeblich 
nach  ihm  stattfand.  Der  angebliche  Unwille  der  Leute  über  die  in  dem  Aber- 
glauben beim  Spinnen  unter  Umständen  in  Aussicht  gestellte  Besudelung  des 
Flachses  sollte  ja  ihnen  bei  Erwähnung  der  Sache  dort  ein  Haksch,  d.  h.  den 
Ausruf  „Zote"  oder  „Schwein"  auf  die  Lippen  gerufen  haben,  den  Kuhn 
und  icli  dann  nicht  verstanden  und  daraus  eine  Frau  Haksch  oder  „mit 
sanfter    Umbiegung"     Frau    Harke    gemacht    hätten!      Aus    „Fuik"    ent- 

1)  Mit  einem  Male  ersclieinen  hier  Frau  Harke,  bezw.  Frau  Gode,  von  denen  doch 
sonst  in  dieser  Hinsicht  Herr  Knoop  niclit  recht  etwas  wissen  will,  als  die  vielleicht  im  Hinter- 
grunde stehenden  Urdämouen  und  zumal  in  der  Uckermark,  wo  keine  Spur  von  ihnen  ist. 
So  werden  die  verschiedenen  ostelbischen  Landstriche  immer  durcheinander  gewürfelt. 

2)  Herr  Knoop  gebraucht  hier  das  männliche  Geschlecht,  das  ich  oben  nur  als  aus- 
nahmsweise vorkommend  angeführt  habe,  absichtlich;  der  Fui  passt  ihm  besser  zu  seinem 
Teufel. 


1,'H  Schwartz: 

wickelt  Herr  Knoop  nun  ähnlich  wieder  mit  ebensoviel  Kunst  wie  apo- 
diktischer Sicherheit  einen  Zuruf  „Schäme  dich",  der  in  der  ganzen 
Uckermark  jedem  von  uns  angeblich  entgegengeschallt  sei.  wenn  wir  daa 
Gespräch  auf  den  erwähnten  Aberglauben  und  damit  auf  das  böse  Besudeln 
des  Flachses  gebracht.  Ich  habe  schon  oben  bei  dem  Mädchen  in  Buchhok 
ein  Beispiel  angeführt,  wie  man  derartiges,  auch  ohne  die  Leute  zu  reizen, 
in  einem  kleineren  Kreise  —  vor  einer  Yolksversammlung  wird  man  es 
natürlich  nicht  thun  —  ganz  harmlos  aus  denselben  herausbringen  kann  ^); 
denn  beim  Sagensammeln  muss  man  sieli  in  erster  Linie  persönlich  das  Ver- 
trauen der  Leute  zu  erwerben  suchen,  zumal  mau  die  Unterhaltung  aus  prak- 
tischen Gründen  sogar  so  zu  führen  hat^  dass  sie  nicht  bloss  „ja"  oder  „nein" 
zu  sagen  in  der  Lage  sind,  sondern  die  Thatsachen  und  namentlich  Namen 
selbst  aussprechen  müssen.'')  Ich  versichere  hier  aber  noch  ausdrücklich, 
dass  Kuhn  und  ich  in  den  11  Jahren,  wo  wir  fast  in  allen  Ferien  unter- 
wegs w^aren,  nie  ein  unfreundliches  AVort,  geschweige  denn  ein  „Schäme 
dich"  erfahren,  sondern  üljerall  die  angenehmsten  I]indrücke  mit  fort- 
genommen haben. 

Die  Idee  mit  dem  „Schäme  dich"  ist  aber  Herrn  Knoop  gekommen, 
weil  ihm  zufällig  das  altmärkische  „fudikan"^)  aufstiess.  welches  diese 
Bedeutung  hat,  und  er  nun,  wie  er  bei  der  Fui  sich  einen  Zusammenhang 
mit  de-Fui  konstruierte,  so  auch  die  Form  Fuik  mit  „fudikan''  vermittelte. 

„Wir  wissen  nämlich",  sagt  Herr  Knoop  S.  457,  „dass  ebenso  au(di 
[für  fudikanj  ein  blosses  „Pfui  dich"  gebraucht  wird,  z  B.  Ev.  .Alarcus  15.  29, 
also  plattdeutsch  „fu  dik" ;  man  spreche  nun  die  beiden  Wörter  zusammen, 
so  ergiebt  sich  für  die  plattdeutsche  Aussprache  fast  von  seihst  der 
Ausfall  des  zwischen  zwei  Yokalen  stehenden,  dem  Laute  des  i-  sich 
nähernden  d", 

[also  Fuik  aus  Fu(d)ik!J 

Zwei  Parteien  gab  es  also  nach  Herrn  Knoop  in  der  Uckermark,  wenn 
man  die  Konsequenzen  seiner  Phantasien  zieht.  Hie  einen  sagten,  wenn 
das  Gespräch    auf    das  Nichtspinnen  und  das  Besudeln  des  Flachses  kam: 

1)  Herr  Kiioo]»  nmss  in  seiner  Heimat  dem  Volke  gegenüber  stets  eine  sehr  reser- 
vierte Stellung  eingenommen  haben,  dass  er  von  einer  gewissen,  auf  dem  Laude 
herrschenden  Natürlichkeit  keine  VorstelluDg  hat.  Ich  habe  über  dieselbe  in  unserer 
Zeitschrift  I,  ;>4  gehandelt.  —  Deim  Drak  oder  Puks  hat  man  uns  z.  B.,  gleichzeitig  mit 
dem  Besudeln  des  Flachses  von  selten  der  Fuik,  ganz  ruhig  in  der  Uckermark  ähnliches 
erzählt,  dass.  wenn  man  dem  am  Himmel  hinziehenden  Dämon  ein  „halbpart"  zugerufen 
und  nicht  maclic,  dass  man  unter  Dach  komme,  er  einen  mit  seinem  Unrat  be- 
schmutze, so  dass  man  den  fürchterlichen  Gestank  lange  nicht  los  werden  könne.  Nordd. 
Sagen,  Gebr.  207.    Sage  <;8,  I.     Vergl.  Bartsch,  Meckl.  Sagen,  Wien  1879,  II,  2ö6f. 

2)  S.  meine  Schrift  „Vom  Sagensammeln"  in  der  ..Brandeuburgia"  v.  J.  1S94,  S.  148, 
Vgl.  „Eine  kulturhistorisch-pädagogische  Miscelle":  Präliist.-anthrop.  Studien,  Berlin  1884, 
S.  179  f. 

8)  Zusammengesetzt  aus  fu  (pfui)  dik  (für  di)  an.     Danueil. 


Heidnische  Überreste  iu  der  norddeutschen  Tiefebene.  135 

angeblich  de-fui  mit  oder  oliiie  Ausspucken,  die  anderen  riefen  jedem 
von  uns  ärgerlich  ein  „fu(d)ik''  zu! 

Wer  aber  den  Leuten  für  den  Fall  der  Besprochung  des  betreffenden 
Aberglaubens  diese  Antworten  —  und  namentlich  die  letztere  nach  Ev. 
Marcus  15,  29  —  beigebracht  habe  und  wie  es  in  allen  Dörfern  jahrelang 
organisiert  geblieben  sei,  je  nachdem  wir  die  einzelnen  berührten,  das  sagt 
freilich  Herr  Knoop  nicht.  Auch  Herr  Veckenstedt  nicht,  obgleich  er  sonst 
in  der  Sache  sehr  orientiert  zu  sein  scheint,  wie  denn  er  auch,  sogar  dem 
Auslande  gegenüber,  das  fudikan-fuik  des  Herrn  Knoop  als  einen  Sieg  über 
die  bisherigen  f(dkloristisch-n)ythologischen  Forschungen  feiert,  die  darin  in 
der  Uckermark  eine  Fuik  als  eine  dialektische  Form  für  Frick.  bezw.  Frigg 
gefunden  hätten.  Indem  er  nämlich  (HI,  358)  den  damals  in  Aussicht 
stehenden  Londoner  anthropologischcMi  Kongress  auffordert  nach  Deutsch- 
land zu  kommen  und  auch  ihn  und  seine  Gesinnungsgenossen  zu  besuchen, 
sichert  er  den  Herren  zu:  „Es  würde  dann  auch  Pseudo-Friggstudien 
anzustellen  dem  nmtvoUen  Forscher  Gelegenheit  gegeben  werden  können, 
der  Neigung  habe,  ein  altes  Weib  so  zu  reizen,  dass  er  das  Schimjjfwort 
derselben:   „Pfui  dik  an",   „ick  fuie  di  an"  zu  hören  im  stände  sei!" 

Doch  ich  kann  wohl  au(di  mit  der  Fuik  abbrechen,  zumal  Herr 
Knooj>  mit  der  Fricke,  die  docli  in  Parallele  zu  den  übrigen  Analogien  als 
die  Hauptform  sich  ergiebt,  sich  nicht  weiter  aufhält  und  auch  in  betreff' 
der  Form  Frick  (S.  459)  so  freundlich  ist,  Kuhn  und  mir  einstweilen  [!| 
noch  Glauben  schenken  zu  wollen,  und  es  nui-  für  unumgänglich  [!]  not- 
wendig erachtet,  dass  an  verscliiedenen  (3rten  des  Frickgebietes  bei  zu- 
verlässigen alten  Leuten  noch  einmal  Xachforschungen  angestellt  werden, 
„denn  ein  Verhören  der  Sammler",  sagt  er  noch  relativ  wohlwollend,  „halten 
wir  nicht  für  ausgeschlossen"  u.  s.  w.  Dem  letzteren  Yerlangen  bin  ich 
schon  zufällig,  wie  ich  oben  augedeutet  habe,  in  der  Lage  entgegen- 
zukommen, da  ich  noch  nachträglich  in  den  letzten  Jahren  sowohl  über 
die  uckermärkische  Frick,  als  auch  über  fast  alle  von  Herrn  Knoop 
misshandelten  mythischen  AVesen  durch  die  freundliche  Teilnahme  der 
Geistlichen  und  Lehrer  im  Lande,  wenngleich  hiebt  mehr  viele,  so  doch 
immer  noch  einzelne  bestätigende  Berichte  habe  einziehen  k()mien.  welche 
ich  in  einem  Artikel  des  nächsten  Heftes  anreihen  werde. 

(Schluss  folgt.) 


]  ;5(!  Aiualü 


Quellen  und  Parallelen  zum  „Novellino" 
des  Salernitaners  Masuccio. 


Von  Dr.  Gaetano  Ainalfl. 

(Scliluss  von  Zeitschrift  IX.  41.) 


17.  Nov.  Schauplatz  der  Beg'(d)enlieit  ist  Bologna.  Liello  de  Cecco 
und  Andreuccio  di  Yallemontone  hintergehen  den  Rechtsgelehrten  Herrn 
Florian  von  Castell  San  Piero. 

Es  ist  Sacchettis  221.  Novelle;  diese  erzählt,  wie  Herrn  Hilarius  Doria. 
der  für  den  Kaiser  von  Konstantinopel  als  Gesandter  nach  Florenz  ge- 
kommen ist,  von  jemandem,  der  sich  für  den  Diener  eines  florentiner 
Bürgers  ausgiebt,  durch  einen  schlauen  Streich  eine  silberne  Schale  im 
Werte  von  dreissig  Gulden  gestohlen  wird. 

Masuccios  Erzählung  ward  zum  A^orbild  für  die  17.  ]S[ovelle  xingelonis, 
in  der  sich  ein  Spitzbube  bei  der  Frau  eines  Arztes  einführt,  der  er  vor- 
redet, von  ihrem  Gatten  geschickt  worden  zu  sein,  um  ein  silbernes  Gefäss 
zu  holen,  das  er  darauf  erhält.  Vgl.  Marchesi.  Per  la  stör,  de  IIa  nov. 
iral.  u.  s.  w.,  Pom,  Loescher,   l<s;)7.  S.   110. 

unter  dem  Titel  J)"un  medecin  qui  avoit  achete  une  oonpe,  et 
par  Tastuce  de  deux  compagnons  perdit  Targeiit  et  la  coupe 
(Xo.  -JJ:)  hat  Saint-Denis  die  Novelle  französisch  bearbeitet. 

18.  Nov.  Der  Yorfall  ereignete  sich  .Valtro  anno  del  niese  di  jennaro' 
in  Cerignola. 

Man  vergleiche  Masuccios  vierte  Novelle,  in  der  auch  von  einem  er- 
dichteten Wunder  die  Pede  ist. 

Die  Geschichte  steht  auch  bei  Sercambi,  Novelle  inedite  (hsg.  von 
Renier,  Turin,  Loescher  1<S89,  S.  218—221,  No.  62)  unter  dem  Titel:  De 
malvagitate  ypocriti.  Kommentiert  haben  sie  P.  Koehler,  Giorn.  Stör, 
della  Lett.  Ital.  1890,  S.  115  und  Rua,  Einige  Erzählungen  des  (f. 
Sercambi  in  Yeckenstedts  Zeitschr.  f.  Volkskunde,   Bd.  II,  Leipzig  1890. 

Im  Keime  begegnet  sie  auch  bei  Firenzuola,  Asino  d'oro  d"Apulejo, 
Buch  YHL 

Eine  metrische  Bearbeitung  rührt  her  von  C'inzio  delli  Fabbrizi.  Saint- 
Denis'  übliclie  Übertragung  führt  den  Titel  De  la  ruse  d"un  religieux 
de  Saint  Anthoine,  qui  amassoit  les  bribes  de  la  confrairie  (No.  22). 
Die  beiden  Fassungen  gehen  aber,  wie  Tokio  a.  a.  0.  S.  18  bemerkt,  nicht 
nur  da,  wo  der  Mönch  das  Linnen  in  Brand  steckt,  auseinander,  sondern 
unterscheiden  sich  auch  dort  durch  den  verschiedenen  Grad,  in  dem  die 
beiden  Erzähler  gegen  die  Geistlichen  zu  Felde  ziehen.  Der  französische 
Autor  ist  bei  diesen  Angriffen  weit  kühner  als  unser  Salernitaner. 


Quellen  und  Parallelen  zum  „Novellino"  des  Salernitaners  Masuccio.  137 

Fernere  Varianten  lassen  sich  aus  Pratos  Buch,  Quelques  contes 
litteraires  dans  la  tradition  populaire,  Paris,  Laval,  1889  entnehmen. 

19.  Nov.  Der  Schauplatz  ist  in  die  Umgebung  von  Neapel,  nach  Torre 
und  Ponte  Riccardo,  verlegt. 

Imbriani  hat  in  der  Nuova  Crestomazia,  Bd.  II,  S.  223ff.  diese 
Novelle  trefflich  kommentiert.  Dorther  entlehne  ich  folgende  Varianten- 
augaben:  Heinrich  Bebel  (1472 — 1516):  Facetiarum  u.  s.  w.,  Tübingen 
1542,  Buch  III,  fol.  82  (Cujusdam  terribile  factum);  Anton.  Francesco 
Grazzini,  genannt  Lasca,  Cena  1.  Nov.  9  (Brancazio  Malespini,  passando 
innauzi  giorno  di  fuori  della  porta  alla  Giustizia  .  .  .  ");  Tommaso 
Stigliani,  Mondo  Nuovo  XXIV  (Duo  di,  dopol  castigo.  ando  il  ger- 
mano  .  .  .);  Le  Moyen  de  pervenir,  ein  dem  Beroald  de  Verville  zu- 
geschriebenes Werk,  in  dem  die  Erzählung  gleichlautend  steht  (No,  83), 
während  Ijasca's  Erzählung  mit  einigen  Veränderungen  einer  Sammlung- 
pädagogischer  Geschichten  vom  Ab.  Taverna  einverleibt  wurde.  Bebeis 
Erzählung  hat  Hans  Wilh.  Kii-chhof  in  seinem  Wendunmut,  den  Oesterley 
für  den  Stuttg.  Litt.  Verein  neu  herausgegeben  hat.  Buch  I,  Gesch.  279 
nacherzählt  und  ausgeführt:  letzterer  verweist  auch  auf  eine  Schrift  des 
berühmten  deutschen  Kanzelredners  und  Augustiner-Barfüssers  Ulrich  Jacob 
Megerle,  bekannter  unter  dem  Namen  Abraham  a  Santa  Clara.  Wortgetreu 
übergegangen  ist  sie  in  die  Nugae  venales  sive  Thesaurus  ridendi 
et  jocandi.  Editio  ult.  auctior  et  correctior,  s.  1.  1G89,  S.  75  (mit  Aus- 
lassung des  Namens  Basel),  und  in  die  Doctae  nugae  Gaudentii  Jocosi, 
Solisbaci  1713,  S.  79. 

20.  Nov.  Die  Geschichte  spielte  in  Salern  ,giä  pochi  anni  })assati'. 
Das  Versprechen,  durch  Hexerei  die  begehrte  Frau  zu  verschaffen,  ist 
etwas  ganz  Gewöhnliches;  noch  heutzutage  glaubt  das  Volk  sich  durch 
Zaubermittel  das  Wohlwollen  jemandes  erwerben  zu  können.  Scaranmre 
im  Candelajo  Giordano  Brunos  (I,  10  ff.)  verheisst  dem  Bonifazius  seinen 
Beistand  und  spricht  da  von  natürlicher  Zauberei,  Behexung  und  ähnlichen 
Dingen  (s.  Imbrianis  Ausg.  des  Candelajo,  Neapel,  Marghieri,  1880,  S.  21  ff.). 
Vgl.  auch  Bertis  Ausführungen  in  der  Schrift  Giordano  Bruno  da  Noia, 
sua  vita  e  sua  «lottrina,  Pavia  1889,  Cap.  VIII,  S.  140ff.  Mancherlei 
über  diesen  Punkt  lässt  sich  auch  aus  Ostermann,  La  vita  in  Friuli, 
Udine,  Del  Bianco,  1894,  Cap.  X,  S.  r)07ff.  (Malefici  e  stregonerie, 
Santi  e  loro  virtii)  ersehen. 

Versuche,  jemanden  zum  Lieben  zu  veranlassen,  begegnen  auch  bei 
Teocrito.  idillio  11:  L'incantatrice.  bei  Lasca,  Cena  II,  Nov.  1,  wo 
man  dem  Mützenmacher  Gian  Simone  einredet  ,di  fargli  per  forza  d'incanti 
andar  dietro  la  sua  innamorata',  und  vgl.  auch  Bandello  IH,  20  (,Una  solen- 
nissima  beffa  fatta  da  una  donna  al  marito.  con  molti  accidenti  per  via 
d'incatagioni'). 


]38  Amalli: 

Was  das  Motiv  von  der  iMitrückiing  des  Mädchens  dureli  magische 
Kunst  betrifft,  so  vergleiche  man  E.  Cosquin,  Contes  populaires  de 
Lorraine.  No.  XXXI:  Andersen,  Contes  danois,  traduits  en  francais 
par  D.  Soldi.  Paris,  Hachette,  1876,  S.  89—51  (Lebriquet);  die  Geschichte 
von  Aladin  und  der  Wunderlampe  und  endlich  Auguste  Donzon, 
Contes  albanais,  Paris,  E.  Leroux.  1881,  Xo.  11  (Le  coffre  mer- 
veilleux). 

21.  Xov.  Die  Begel)enheit  spielt  in  Xeapel  und  fällt  in  die  Zeit,  als 
Manfred  von  Karl  I.  besiegt  und  getötet  wurde. 

Einen  ähnlichen  Stoff  hatte  vorher  Giovanni  Fiurentinu  in  seinem 
Pecorone  I,  1  behandelt:  Galgano  liebt  Frau  Minoccia,  die  Gemahlin  Herrn 
Striccas.  Sie  will  nichts  von  ihm  wissen;  wie  sie  aber  von  ihrem  Gatten 
Worte  des  Lobes  über  ihn  vernimmt,  will  sie  nicht  länger  spröde  gegen 
ihn  sein.  Als  Galgano  nun  aber  im  Begriffe  ist,  sich  mit  ihr  zu  Bett  zu 
legen,  fasst  er  plötzlich  einen  tugendhaften  Entschluss. 

Eine  verwandte  Erzählung  trifft  man  bei  Walter  Mapes.  De  nugis 
curialium,  London  1859,  Distinctio  III,  Cap.  Y,  S.  135,  worin  Liebrecht, 
Zur  Volkskunde  S.  43  und  Germania  V,  S.  58ff.  die  direkte  und  indirekte 
Quelle  für  den  Pecorone  erblickt. 

Wenigstens  ein  Motiv  zu  dieser  Novelle  ist  ferner  im  Lai  de  Graelant 
(s.  Fabliaux,  ed.  Barbazan-Meon,  Y,  S.  57 — 80)  enthalten.  Nichts  aber  hat 
trotz  des  äusseren  Anscheines  die  Erzählung  von  Hitopadesa,  s.  Loiseleur- 
Deslongchamps,  Essai  sur  les  fables  indiennes  S.  74,  mit  der  unsrigen 
gemein,  wie  Gorra  in  seiner  Abhandlung:  II  Pecorone  (in  den  früher 
citierten  Studj  S.  201—208)  anmerkt. 

Masuccios  Novelle  findet  sich  auch  im  Novellin o,  Teil  III,  Nov.  1 
und  wird  hier  von  G.  Francesco  Loredano  erzählt:  Aleria,  die  die  Dienst- 
wiliigkeit  und  die  Bitten  des  Marchese  Arderico  nicht  gerührt  haben,  lässt 
sich  erst  herab  ihn  zu  lieben,  als  ihr  Gatte  sich  lobend  über  ihn  ausspricht; 
wie  der  Marchese  hingegen  merkt,  dass  er  den  Lohn  seiner  Liebe  ernten 
soll,  verzichtet  er  hierauf. 

Im  Anschluss  an  Masuccio  hat  jüngst  Adolfo  Albertazzi  die  Geschichte 
nochmals  erzählt;  sie  steht  unter  dem  Titel  Ijiberalitä  di  Messer 
Bertrando  d'Aquiuo  in  seinen  Parvenze  e  Sembianze,  Bologna, 
Zanichelli  1892.  Die  grossmütige  Handlungsweise  des  Liebhabers  und  die 
Hauptscene  in  Loredanos  Novelle  kehren  in  folgender  anderer  Erzählung 
(s.  G.  B.  Bertranni,  Schluss)  wieder:  Bella  verliebt  sich  in  Oderisi  d'Egubbio 
und  darum  weigert  sie  sich,  sieh  zu  vermählen;  doch  zwingt  sie  der  Vater 
Gerlando  zu  heiraten;  die  Liebenden  klagen;  Oderisi  findet  Zutritt  bei 
Bella,  da  er  aber  Gerlandos  Freund  geworden  ist,  sträubt  er  sich,  ihn  in 
seiner  Ehre  zu  verletzen. 

Wie  gewöhnlich  hat  Saint-Denis  Masuccios  Novelle  ins  Französische 
übertragen,    und    zwar  mit  der  Überschrift:    Comme    nn    ca)) itaine  par 


Quellen  und  Parallelen  zum  „Novellino"  des  Salernitaners  Masuccio.  139 

la    louange    d'un    sien    amy    delaissa    la    poursuite    de    sa    femme 
(s.  Xo.  37). 

22.  Xov.  Der  Schauplatz  ist  nach  Trapani  und  in  die  Berberei  ver- 
legt: es  finden  Ans])ielungen  auf  die  fortwährenden  Einfälle  der  Berber 
statt,  an  die  auch  ein  Volkslied.  Airarmi.  alTarnii,  la  campana  sona. 
So'benute  li  Turche  a  la  marina  u.  s.  w.  erinnert. 

Diese  Novelle  ist  der  bereits  erwähnten  Geschichte  von  Paganino 
(Dekam.  II,  10)  recht  nahe  verwandt,  mag  diese  auch  im  Anfange  etwas 
und  im  Schlüsse  ziemlich  stark  von  ihr  abweichen. 

2:\.  Xov.  Die  Begebenheit  trug  sich  kurze  Zeit  zuvor  in  Palermo  zu; 
doch  hat  die  Geschichte,  von  geringfügigen  Veränderungen  abgesehen,  ein 
sehr  hohes  Alter. 

Sie  begegnet  schon  in  den  Liebesabenteuern  des  Parthenios  von  Xicaea 
(No.  17),  wo  sie  den  Titel  Die  Mutter  des  Periandros  führt.  Auch 
Diogenes  Laertius  I,  9G  und  Antoninus  Liberalis  in  seinen  Metamor- 
phosen Cap.  34  Smyriia  erwähnen  sie.  Sie  steht  in  Beziehung  mit  der 
Tradition  von  der  Blutschande  des  Oedipus,  mit  der  sich  Prato  in  der 
Zeitschrift  La  Tradition  VI.  No.  2.  S.  49—51  (Le  crime  d'CRdipe)  be- 
schäftigt hat. 

Weitere  Varianten  sind:  Les  chansons  serbes  sur  Simeon,  l'en- 
fant  trouve,  übers,  von  Talvi,  Volkslieder  der  Serben,  2.  Aufl.,  I, 
S.  71  —  77;  Recit  bulgare  sur  St.  Paul  de  Cesaree,  übers,  v.  Schiefuer. 
Germania  XV;  Hist.  russes  de  St.  Andrea  et  de  St,  Gregoire,  ana- 
lysiert von  Diderichs  in  seinem  Aufsatz,  Russische  Verwandte  der 
Legende  von  Gregor  auf  dem  Steine  und  der  Sage  von  Judas 
Ischariot,  Russische  Revue  1880.  Bd.  IX;  Seelisch,  Die  Gregorius- 
Legende,  Zeitschr.  für  Deutsche  Philologie  1887,  Bd.  XIX:  eine  finnische 
Erzählung,  übers,  in  Ermans  Archiv  für  wiss.  Kunde  von  Russland  XVII, 
S.  14—20;  eine  koptisch-arabische  Geschichte,  übers,  von  Amelinau,  Contes 
et  romans  de  rEgy])te  chretienne  I,  165  —  189;  eine  mündliche 
armenische  Sage,  russisch  veröffentlicht  im  Recueil  des  materiaux  sur  les 
peuples  et  les  contrees  du  Caucase  IX,  184,  u.  s.  w. 

Nachahmungen  liegen  vor  seitens  der  Königin  von  Xavarra,  Heptameron 
No.  30  und  Bandellos  II,  35. 

24.  Nov.  Begab  sich  vor  nicht  langer  Zeit  in  einer  ,famosa  citta 
dltalia\ 

Anzutreffen  bei  Morlini,  Nov.  24:  Demoniali  in  fraganti  cum  auriga 
reperta,  und  in  den  Cent.  nouv.  nouv.  No.  54  und  No.  57.  Eine  Nach- 
ahmung ist  die  20.  Geschichte  des  Heptameron:  Un  gentilhomme  est 
inopinement  guari  du  mal  d'amour,  trouvant  sa  damoiselle  rigou- 
reuse  entre  les  bras  de  son  palafrenier. 

25.  Nov.     Die  Geschichte  passierte  nicht  lange  vorher  in  Ancona. 
Sie  sieht  den  in  den  Novellen  22,  24  und  28  erzählten  ziemlich  ähnlich. 


140  Ainalfi: 

Saint- Denis  hat  wiederum  eine  französische  Übertragung  geliefert: 
diese  ist  überschrieben:  D"une  ieune  fille  qui  suit  toute  la  discretion 
de  ses  amours  en  la  puissance  d'uu  more  (s.  No.  21).  Doch  ist  er 
weniger  grausam  als  Masuccio,  denn  er  lässt  die  3Iöglichkeit  zu,  dass  es 
auch  gute  Frauen  gebe. 

Dass  Frauen  sich  ganz  niedrigen  Männern  hingeben,  denen  oft  die 
ausgezeichnetsten  weichen  müssen,  ist  in  der  Novellistik  eine  sehr  häufige 
Erscheinung.  Beispiele  für  diese  bieten  auch  die  Cent  nouY.  nouv.  Xo.  54 
und  No.  r)S:  der  Heptameron  Xo.  20,  eine  Erzählung,  die  aus  Masuccios 
Novelle  gezogen  zu  sein  scheint,  und  Ariost,  Orlando  Furioso. 

'2(j.  Nov.  Die  Geschichte  spielt  zur  Zeit  des  ,Pistolese",  eines  Mönches. 
von  dem  wir  nichts  näheres  wissen,  in  Neapel. 

Es  ist  ein  ganz  gewönliches  Thema,  das  sie  behandelt:  eine  Dame 
gewährt  einem  jungen  Manne  heimlich  ihre  Gunst;  als  dieser  sich  jedocli 
einem  Freunde  anvertraut  und  sie  in  Gefahr  gerät  entdeckt  zu  w^erden, 
lässt  sie  ihn  nicht  wieder  in  ihre  Kammer  führen.  Wie  oft  kommt  der- 
gleichen nicht  im  Leben  vor!  Ein  jeder  prüfe  einmal  sein  Gedächtnis  und 
von  zahllosen  ähnlichen  Fällen  w^ird  er  sofort  zu  erzählen  wissen. 

Enger  dem  wirklichen  Leben  angelehnt,  menschlicher  geartet  ist  im 
Grunde  das  Märchen  von  Amor  und  Psyche,  dem  sich  aus  dem  Xovellen- 
schatz  des  Volkes  eine  Fülle  verwandter  Erzählungen  zur  Seite  stellen 
lassen.  Bekanntlich  erzählt  es  uns  Apulejus  im  4. — 6.  Buche  seiner  Meta- 
morphosen, dem  w^ahrscheinlich  ein  griechisches  Muster  vorgeschvrebt  hat. 
Über  den  an  sich  höchst  bedeutsamen  Vorwurf  kann  ich  mich  hier  leider 
nicht  verbreiten.  Ich  verweise  zu  näheren  Aufschlüssen  auf  Pitres  Aus- 
führungen in  der  Vorrede  zu  seinem  Buche  Novelle,  Fiabe  u.  s.  w..  nuf 
Menghinis  Einleitung  zu  seiner  Schrift  Psiche  u.  s.  w.,  Bologna,  Komagnoli 
1889,  und  auf  die  Auslassungen  aller  der  anderen,  die  über  den  Gegenstand 
gearbeitet  haben. 

Auch  das  Moment  von  dem  Liebhaber,  der  mit  verbundenen  Augen 
und  niedergepresster  Mütze  in  das  Zimmer  der  Liebsten  geführt  wird, 
entbehrt  der  Parallelen  nicht.  Verwandt  ist  eine  Geschichte  bei  Malespini 
II,  ]'.>,  in  der  jemand  drei  Nächte  die  Geliebte  beschläft,  ohne  dass  er  sie 
kennen  gelernt  hat,  und  sie  ihn  nachher  nicht  wiedersehen  will. 

Eine  Nachahmung  des  Schwankes  ist  die  43.  Novelle  des  Heptameron, 
auch  ging  er  in  Bandellos  26.  Geschichte  des  4.  Teiles  über,  die  erzählt, 
wie  eine  reiche,  vornehme  und  gar  schöne  Witwe  unschlüssig  ist,  was  sie 
thun  solle,  da  sie  sich  nicht  wiedervermählen  will  aber  auch  nicht  entsagen 
kann,  und  durch  welche  List  sie  für  die  Befriedigung  ihrer  Wünsche  sorgt. 

Saint-Denis  hat  unsere  Novelle,  mit  Abänderung  des  Schlusses  jedoch, 
wieder  ins  Französische  übertragen;  er  überschrieb  sie  De  l'hipocrisie 
d'une  dame,  qui,  pour  iouyr  de  son  amy,  de  crainte  d'estre  des- 
couverte,  le  faisoit  masquer  (Nov.  36). 


Quellen  und  Parallelen  zum  ..Novellino''  des  Salernitaners  Masuccio.  141 

27.  Nov.  Sie  begiinit:  L'altro  ieri  fii  al  serenissimo  mio  Sigiiore  Prin- 
cipe per  verissimo  ricontato  come  in  questi  di  fii  in  Napoli  un  giovine 
mercante  .  .  .  und  behandelt  ein  ganz  gewöhnliches  Thema:  das  Mädchen 
ist  von  ihrem  Liebhaber  verlassen  worden,  sucht  diesen  zu  töten  und  wird 
von  der  öffentlichen  Gewalt  davon  zurückgehalten. 

Was  die  Verkleidung  betrifft,  so  vgl.  oben.  Im  übrigen  verläuft  die 
Erzählung  in  herkömmlicher  Weise,  sie  kann  thatsächlich  so  passiert  sein. 

Saint-Denis'  übliche  Übertragung  führt  den  Titel  De  l'e stränge 
ialousie  d'une  ieune  fille,  qui  sous  l'opinion  que  sou  amy  allast 
au  c hange,  le  voulut  tuer  (Nov.  15).  Der  Schauplatz  ist  hierin  von 
Neapel  nach  ,une  des  villes  de  Anjou'  verlegt  und  das  neue  Liebesverhältnis 
des  jungen  Mannes  bleibt  unerwähnt.  Es  handelt  sich  nur  um  Liebende, 
die  wieder  versöhnt  werden,  und  hieraus  entspringt  dies  vou  selbst. 

28.  Nov.     Schauplatz  der  Begebenheit  ist  Marseille. 

Das  Sujet  ist  ungefähr  dasselbe  wie  in  den  beiden  früheren  Novellen 
22  und  24.  Es  fällt  unter  das  Thema  von  der  Ertappung  und  Bestrafung 
des  ungetreuen  Weibes  (s.  Pecorone  VII,  1;  vgl.  Gorra,  a.  a.  O.  S.  219ff.). 

Ausser  den  beiden  Fabliaux:  Le  Chevalier  qui  faisoit  parier  les 
c  .  .  .  et  les  .  .  .  (bei  Barbazan-Meon,  Fabliaux  III,  429)  und  De  Conne- 
bert  (bei  Montaiglon-Raynaud,  Rec.  gen.  des  fabliaux,  Bd.  V,  166)  sind 
zu  erwähnen  Cent.  nouv.  nouv.  No.  49:  Le  cul  d'escarlate,  Sabbadino 
degli  Arientis  Porretane  No.  52  und  eine  in  den  Kovmdöia  (I,  S.  94, 
Anm.  35)  veröffentlichte  russische  Version.  In  diesen  Schwänken  ist  die 
Züchtigung  keine  natürliche,  sondern  eine  verzerrte.  Anders  in  den 
folgenden,  die  stofflich  eng  mit  unserer  Novelle  zusammengehören  und  in 
denen  die  Ehemänner  ihre  ganze  Strenge  offenbaren. 

Mehrere  Versionen  zieht  Benfey  in  seiner  Einleitung  zum  Pantscha- 
tantra,  Leipzig  1859,  I,  S.  443 ff.  heran,  darunter  die  Erzählung,  wie  das 
ungetreue  Weib  zur  Strafe  von  der  eigenen  Kaste  Verstössen  wird.  In 
dem  Buch  von  den  Vierzig  Veziren  wird  erzählt,  dass  eine  sehr  schöne 
Frau,  die  mit  einem  schwarzen  Sklaven  ihren  Gatten  hintergangen  hat, 
dazu  verurteilt  wird,  mit  einem  Hunde  in  einem  Winkel  des  Zimmers 
zusammen  zu  essen.  Die  gleiche  Form  der  Strafe  begegnet  auch  in  einem 
armenischen  Märchen,  das  vielleicht  aus  Persien  stammt  (s.  ibid.  S.  445 
bis  448).     Auch  an  entsprechenden  abendländischen  Texten  fehlt  es  nicht. 

In  den  Gesta  Romanorum,  ed.  Oesterley,  Cap.  56  (De  memoria 
mortis)  ist  von  der  bildschönen  Frau  eines  Kaufmanns  die  Rede,  die 
dazu  gezwungen  wird,  aus  dem  Schädel  ihres  Verführers  zu  essen  und  in 
einer  Kammer  zu  schlafen,  in  der  zwei  Leichname  aufgehängt  sind.  Der 
Heptameron  enthält  die  Geschichte  von  einer  Frau,  die  zur  Strafe  dafür, 
dass  sie  ihrem  Manne  die  Treue  gebrochen  hat,  immer  Trauerkleider  tragen, 
mit  o-eschorenem  Haar  gehen,  aus  dem  Schädel  des  Ehebrechers  trinken 
und    dessen    Skelett    bei    sich    im  Schlafgemach    haben    muss.     Auch    bei 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1899.  1^ 


1^2  Amalfi: 

Bandello,  Teil  II,  Nov.  1'2  liest  man:  Der  Gatte  ertappt  seine  Frau  beim 
Ehebruch  und  knüpft  den  Verführer  sofort  auf,  sie  aber  lässt  er  immer  in 
der  Kammer  bleiben,  wo  ihr  Buhle  aufgehängt  war. 

Im  übrigen  verweise  ich  auf  Gorra  in  seiner  erwähnten  Studie,  der 
diese  Geschichten  zu  klassifizieren  und  die  einzelnen  Grundformen  fest- 
zustellen sucht. 

29.  Nov.  Sie  beginnt  folgendermasseu :  II  prossimo  passato  Jenuaro 
fe'  un  anno  che  in  Napoli  fu  un  bon  omo  lignaiuolo  .  .  .  und  bestellt  aus 
zwei  Teilen  oder  vielmehr  aus  zwei  verschiedenen  Stoffen.  Der  eine 
handelt  von  der  Frau,  die  sich  mehreren  Liebhabern  verspricht,  von  denen 
ein  jeder  den  anderen  hindert  sein  Ziel  zu  erreichen  und  nur  der  letzte 
vom  Glücke  begünstigt  ist.  Der  andere  handelt  von  dem  Liebhaber,  der 
in  dem  Wahne  ist,  er  küsse  die  Geliebte,  dabei  aber  etwas  anderes  für 
deren  Mund  nimmt. 

Das  erstere  Thema  finden  wir  in  Tausend  und  eine  Nacht  (Contes 
Persans,  trad.  en  francais  par  Petis  de  Lacroix  u.  s.w.,  Paris,  Desrez, 
1850,  S.  190—198)  bearbeitet.  Die  Frau  des  Bann,  die  schöne  Aruya,  ist 
dem  Doktor  Danischmende,  dem  Kadi  und  noch  zwei  weiteren  Anbetern 
scheinbar  zu  Willen  und  empfängt  sie  nach  kurzen  Zwischenräumen;  indes 
sperrt  sie  sie  in  einen  Koffer  ein  und  lässt  sie  am  andern  Morgen  vom 
Yezir  erwischen  und  bestrafen  (s.  meine  Abhandlung  Zwei  orientalische 
Episoden  in  Voltaires  Zadig,  Zeitschr.  des  Vereins  für  Volkskunde,  A, 
S.  73  ff.,  in  der  ich  verschiedene  Varianten  angegeben  habe).  A'gl.  auch 
Bandello  II,  11  und  Landau,  Quellen  S.  80  und  öfters. 

Das  letztere  Thema  sodann,  wie  der  Zudringliche  durch  die  Thür- 
öffnuug  statt  Violas  Backe  den  Hinteren  des  Mönches  küsst  und  als  er  die 
Täuschung  gemerkt  hat,  diesem  mit  einem  glühend  gemachten  Eisenstab 
den  Schabernack  gehörig  heimzahlt,  ist  eine  Volksschnurre,  die  man  sich 
überall  erzählt.  Unter  den  verschiedenen  Redaktionen  hebe  ich  eine  un- 
edierte  neapolitanische  hervor,  die  den  Titel  L'Amante  e'l  Missionar io 
führt.  Eine  ähnliche  Fassung  trifft  man  bei  Sercambi,  S.  19—21:  De 
malvagitate  et  malitia,  auch  bei  Lasca,  Cena  L  2  u.  a. 

Beispiele  für  Verwechselungen  ähnlicher  Art  Hessen  sich  in  Menge 
anführen.  Im  Dulcitius  der  Nonne  Hrotsvitha  (10.  Jahrh.)  küsst  der 
Held  statt  kleiner  Mädchen,  die  er  umarmen  will,  Pfannen,  Töpfe  und 
dero-leichen  Dinge  mehr.  Es  giebt  auch  ein  kleines  neapolitanisches 
Scherzlied  über  denselben  Gegenstand.  S.  auch  Rua,  Intorno  alle  P.  N. 
dello  Str.,  Turin  1890,  S.  51;  desgleichen  Mambriano,  Nov.  II,  S.  43  ff.; 
Dekam.  VIII,  4;  P.  Regio,  Nov.  10  (Cariuello  e  la  Mattiuccia);  Sac- 
chetti,  Nov.  28;  Ortensio  Lande,  Novelle,  Lucca  1851,  No.  XI,  S.  78—81; 
Caro.  Apologia,  ed.  Sonzogno,  S.  56. 

30.  Nov.  Ort  der  Handlung  ist  Neapel  zur  Zeit  Don  Ferrandos  von 
Arragouien,  den  er  seinen  ,serenissimo  signore  Principe  di  Salerno'  nennt. 


Quellen  und  Parallelen  zum  ..Novcllino"  des  Salernitauers  Masuccio.  143 

Eine  ähnliche  Xovelle  lesen  wir  bei  Boccaccio,  Dekameron  III,  3. 

Die  Liebesgeschichte  an  sich  bietet  nichts  Merkwürdiges.  Der  Schlich 
des  jungen  Mädchens  heimlich  zu  dem  Geistlichen  ihre  Zuflucht  zu  nehmen, 
der  dann  die  Rolle  des  Vermittlers  spielt,  erinnert  an  ein  ähnliches  Ge- 
bahren  in  folgender  Yolksschnurre:  Eine  junge  Witwe  hatte  einen  Nachbar, 
mit  dem  sie  in  ein  vertraulicheres  Verhältnis  zu  gelangen  wünschte.  Eines 
Tages  nahm  sie  zum  Beichtvater  ihre  Zuflucht,  um  ihm  zu  sagen,  dass 
jener  einen  Anschlag  auf  ihre  Tugend  gewagt  habe,  und  sich  gegen  ihn 
zu  beschweren.  Im  einzelnen  gab  sie  an,  er  habe  über  einen  gemein- 
schaftlichen Brunnen,  der  sich  zwischen  beiden  Häusern  befinde,  ein  Brett 
legen  lassen  und  auf  diesem  AVege  zu  ihr  zu  gelangen  versucht.  Der  junge 
Mann  hatte  die  Witwe  niemals  auch  nur  beachtet  und  geriet  in  nicht 
geringe  Verwunderung,  als  der  Priester  ihn  rufen  Hess  und  ihm  heftige 
Vorwürfe  machte.  Er  beteuerte  seine  Unschuld  und  erlaubte  sich  ein- 
zuwenden, dass  er,  selbst  wenn  er  irgend  eine  unlautere  Absicht  gehabt 
hätte,  der  Mittel  entbehrt  haben  würde  sie  auszuführen,  da  es  keine  Ver- 
bindung zwischen  ihren  Häusern  gäbe.  Ärgerlich  sagte  der  Priester: 
Suchtest  du  nicht  etwa  bei  ihr  einzudringen,  als  du  über  den  Brunnen 
hinweg  gingest?  und  setzte  ihm  das  Verfahren  auseinander.  Da  begriff  er 
den  geheimen  Sinn  des  Ganzen  und  von  nun  ab  machte  er  sich  das  Mittel, 
das  ihm  nahegelegt  worden,  zu  imtze  und  handelte  so,  dass  die  junge 
Witwe  nie  wieder  Grund  hatte  sich  zu  beklagen  und  am  allerwenigsten 
zu  ihrem  Beichtvater  zu  flüchten. 

Entfernt  ähnelt  Masuccios  Novelle  auch  der  23.  Novelle  von  Gentile 
Sermini,  Livorno  1878,  S.  27.'):  La  Pellegrina  e  il  vescovo  di  Lucca. 
Der  Inhalt  ist  der:  die  Pellegrina  ist  in  den  Bischof  von  Lucca  verliebt, 
sie  benutzt  ihre  Mutter  als  Mittelsperson  und  diese  bewirkt  unter  dem 
Schleier  der  Beichte,  dass  Bischof  und  Tochter  in  wohlgefälliger  Reue 
Seele  und  Leib  vor  Sünde  bewahren. 

31.  Nov.  Schauplatz  ist  Nancy  in  Französisch-Lothringen  und  es  ist 
■die  Zeit,  in  der  die  .Jungfrau'  in  Frankreich  sich  erhob. 

Unsere  Novelle  sieht  ausser  im'  Schlüsse  Boccacios  3.  Novelle  des 
5.  Tages  ziemlich  ähnlich;  diese  erzählt:  Pietro  Boccamazza  flieht  mit 
Agnolella  und  stösst  auf  Räuber;  das  Mädchen  flüchtet  sich  in  einen  Wald 
und  wird  dort  nach  einer  Burg  geführt;  Pietro  fällt  gefangen  in  die  Hände 
der  Räuber,  entgeht  ihnen  aber  wieder  und  gelangt  endlich,  nachdem  er 
noch  andere  Gefahren  überstanden,  in  dieselbe  Burg,  wo  Agnolella  sich 
schon  befindet;  dort  vermählt  er  sich  mit  ihr,  und  beide  kehren  nach  Rom 
zurück.  Die  Geschichte  zweier  Liebenden,  die  miteinander  fliehen  und 
seltsame  Schicksale  erleben,  schliesslich  aber  häufig  ein  Paar  werden,  ist  ja 
ein  ganz  gewöhnliches  Thema.  Vgl.  so  Cortese,  Li  travagliuse  ammuri 
di  Ciullo  e  Perna;  Comptes  du  monde  adventureux  von  Saint-Denis, 
No.  20  und  auch  No.  27;  Pitre,  Fiabe,  Novelle  u.  s.  w.,  No.  14;  Imbriani, 

10* 


144  Amalfi: 

in  den  Nachträgen  zu  dem  oben  erwähnten  Werk,  Bd.  IV,  S.  374;  ders.^ 
Novellaja  fiorentina,  Livorno  1877,  Nov.  36.  Masuccios  Novelle  hat 
La  Säle  in  No.  98:  D'ung  Chevalier  de  ce  royaulme  u.  s.  w.  nachgeahmt. 

32.  Nov.     Ort  der  Begebenheit  ist  Venedig. 

Die  Novelle  besteht  aus  verschiedenen  Thematen  und  mehreren  Motiven: 

a)  Die  Frau,  die  allen  Anstürmen  ihrer  Verehrer  Trotz  bietet;  vergl. 
Penelope  und  die  Freier;  den  ersten  Teil  der  Novelle  vom  Vivi- 
comburio  von  Imbriani  u.  s.  w. 

b)  Betrug  zur  Erreichung  des  Zieles.  Eine  endlose  Reihe  von  Bei- 
spielen bei  unseren  Novellisten.  Ich  erwähne  von  ungefähr  Ban- 
dello  II,  42;  48;  54  u.  s.  w. 

c)  Kupplerische  Thätigkeit  einer  Alten.  Ist  das  übliche  Motiv  von 
der  Kupplerin;  Beispiele  sind  zu  leicht  anzutreffen  und  zu  alltäglich^ 
als  dass  ich  deren  anzuführen  nötig  hätte. 

d)  Der  Brand,  der  im  Hause  ausbricht.  Vgl.  Deseriers,  Contes  u.  s.  w., 
Paris  1887,  Nov.  19:  Du  jeune  fils  qui  fit  valoir  le  beau  latin 
que  son  eure  lui  avoit  montre. 

Dann  folgt  eine  Novelle,  die  wir  weit  besser  in  einer  alten  Erzählung^ 
entwickelt  finden,  wie  ich  sogleich  ausführen  werde. 

Bei  Gelegenheit  der  Feuersbrunst  trifft  einer  von  den  ,Signori'  in  jenem 
Hause,  das  einem  florentiner  Kaufmann  gehört,  die  Giustina,  die  er  früher 
geliebt  hat  ohne  Gegenliebe  zu  finden.  Er  lässt  sie  in  den  Kerker  bringen 
und  giebt  Befehl  sie  bis  zum  Morgen  zu  bewachen,  wo  er  dann  ihre  Schuld 
darthun  will.  Aber  die  Alte  dringt  unter  dem  Verwände  Speisen  unter 
die  Gefangenen  verteilen  zu  wollen  in  die  Zelle  derselben  und  findet  so 
Gelegenheit  die  Dame  in  Verkleidung  fliehen  zu  lassen.  Am  anderen 
Morgen  trifft  mau  dann  statt  der  Jungen  die  Alte  und  der  Ankläger  schaut 
verdutzt  und  beschämt  drein  (S.  355). 

Diese  Erzählung  deckt  sich  mit  einer  mongolischen  Geschichte,  die 
ich  unter  dem  Titel,  Spergiuro,  ins  Italienische  übersetzt  habe;  ins  Deutsche 
hat  sie  Bernhard  Jülg  übertragen  und  zwar  hat  er  sie  in  doppelter  Ausgabe, 
das  eine  Mal  mit  dem  Urtext  gegenüber,  das  andere  rein  in  der  Über- 
tragung veröffentlicht. 

Hier  überrascht  ein  Gartenwächter  mit  hundert  Bewaffneten  den  Minister 
Sarau  im  königlichen  Parke  beim  traulichen  Beisammensein  mit  der  Tochter 
des  Königs  Narau.  Trotz  ihrer  Entschuldigungen  steckt  er  sie  ins  Ge- 
fängnis, um  ihnen  die  verdiente  Strafe  zu  teil  werden  zu  lassen.  Doch 
die  Frau  des  Sarau  (die  Alte  bei  Masuccio),  die  ihr  zu  der  Begegnung 
verhelfen  hatte,  dringt  unter  falscher  Kleidung  in  den  Kerker,  indem  sie 
vorgiebt,  sie  wolle  Almosen  unter  die  armen  Gefangenen  verteilen,  und  lässt 
die  Prinzessin  in  ihre  Kleider  schlüpfen.  So  macht  diese  sich  denn  eiligst 
davon,    ohne   dass  man  Verdacht  schöpft,    und  als  nun  der  König  befiehlt 


Quellen  und  Parallelen  zum  „Novellino"  des  Salernitaners  Masuccio.  145 

ihm  seine  Tochter  aus  der  Haft  vorzuführen,  bringt  man  statt  ihrer  die 
Frau  Saraus  und  somit  fällt  die  Anklage  in  sich  zusammen.  Was  diese 
^Novelle  und  die  Varianten  zu  ihr  betrifft,  so  verweise  ich  auf  die  An- 
merkungen in  meiner  erwähnten  Übersetzung,  die  im  Helios,  Castelvetrano, 
n,  24  erschienen  ist. 

33.  Nov.  Der  Schauplatz  ist  nach  Siena  verlegt.  Die  Erzählung  ist, 
wenn  auch  indirekt  die  Quelle  zu  Shakespeares  unsterblichem  Drama 
Romeo  und  Julia. 

Den  ersten  Keim  derselben  findet  man  nach  Douce  schon  bei  Xenophon 
von  Ephesus  (s.  Dunlop-Liebrecht,  a.  a.  0.  S.  26  und  269).  Es  unterliegt 
aber  jedenfalls  keinem  Zweifel,  dass  Masuccios  Novelle  Nachahmer  gefunden 
hat  und  sogar,  wie  man  durch  Vergleichung  der  beiden  Texte  festgestellt 
hat  (Papanti  in  seinem  Buche  G.  B.  Passano  e  i  suoi  novellieri  italiani 
in  prosa  etc'.,  Livorno,  Vigo,  1878,  S.  18/19),  wörtlich  abgeschrieben  worden 
ist,  nämlich  von  Luigi  da  Porto:  Guilietta  e  Romeo  (s.  da  Porto,  Lettere 
storiche  etc.,  Florenz,  Le  Monnier  1857,  S.  335).  Der  einzige  Unterschied 
zwischen  beiden  Fassungen  besteht  in  folgendem:  während  bei  Masuccio 
Mariotto  enthauptet  wird  und  Giannozza  in  einem  Kloster  ihr  lieben  voll- 
endet, lässt  da  Porto  Guilietta  über  dem  Leichnam  ihres  Geliebten  Romeo 
sterben.  An  dieser  Abweichung  trägt  jedoch,  wie  Papanti  bemerkt,  das 
,Argomento'  zu  der  Novelle  des  Salernitaners  schuld.  Thatsächlich  schliesst 
nämlich  dasselbe  im  AYiderspruch  mit  dem  Ausgang  der  Erzählung  (den 
dann  der  Verfasser  wohl  abweichend  von  seinem  ursprünglichen  Entwürfe 
vorgezogen  hat  zu  gestalten)  folgendermassen:  La  donna  nol  trova  in 
Alessandria,  ritorna  a  Siena,  e  trova  l'amante  decollato,  et  ella  sopra  '1 
suo  corpo  per  dolore  se  more.  Ich  will  hinzufügen,  dass  auch  in  der 
voraufgehendeu  31.  Novelle  Masuccios  .ucciso  l'amante,  la  giovane  sopra  il 
corpo  di  quelle  volontaria  si  uccide'. 

Aus  beiden  Erzählungen  aber  schöpfte  allem  Anschein  nach  Bandello  seine 
9.  Nov.  des  2.  Teiles,  die  dann  dem  englischen  Dramatiker  als  Vorbild  diente 
(s.  Simrock,  Quellen  des  Shakspeare,  Bonn  1870,  Bd.  I,  S.  31  ff. 

Über  die  zahllosen  Streitfragen  und  Erörterungen,  die  sich  an  diesen 
Gegenstand  geknüpft  haben,  sowie  über  die  Litteratur  zu  demselben  gehe 
ich  hinweg,  ich  verweise  nur  auf  Dunlop,  auf  das  obige  Buch  von  da  Porto, 
das  auch  die  Briefe  Todeschinis  enthält,  und  auf  einen  Artikel  Chiarinis 
in  der  Nuova  Antologia.  Anmerken  will  ich  jedoch  noch,  dass  Tode- 
schini, a.  a.  0.  S.  386 — 88  schon  im  Jahre  1829  ausgesprochen  hat,  dass 
da  Porto  den  Masuccio  nachgeahmt  habe,  eine  Thatsache,  deren  Entdeckung 
man  dem  Marchese  Giovan  Jacopo  Trivulzio  zu  verdanken  habe,  der  schon 
im  Juni  1824  dem  Dr.  Francesco  Testa  darüber  geschrieben. 

Teilweise  stimmt  mit  Masuccios  Erzählung  auch  Bargaglis  Novelle  1: 
Dopo  grave  u.  s.  w.  überein  (s.  Novelle  di  aut.  senesi,  Bd.  H,  S.  148 ff.); 
auch  vgl.  Nov.  3  (ibid.  S.  188  ff.). 


146  Amalfi: 

Bandellos  Novelle  gab  auch  Pierre  Camus  zu  seiner  Cleoreste  (1826) 
die  Anregung.  Nacherzählt  ist  die  Geschichte  auch  im  Page  disgracie 
(1642  oder  1643)  von  Tristan  THermite  und  bei  anderen  französischen 
Autoren  (s.  L.  Fränkel,  Zur  Entwickehingsgeschichte  des  Stoffes 
von  Romeo  und  Julia,  Ztschr.  f.  vgl.  Litt.,  I,  S.  170—180). 

Von  Saint-Denis  fehlt  wiederum  die  übliche  Übertragung  ins  Fran- 
zösische nicht;  sie  führt  den  Titel:  De  la  violence  amoureuse  d'une 
fille  de  Sienne  qui  alla  chercher  son  favorit  iusques  en  Alexandrie, 
et  de  leur  pitoyable  fin  (s.  No.  10).  Im  Schlüsse  entfernt  sie  sich  von 
Masuccios  Fassung;  sie  giebt  das  rührende  Ende  von  Guilietta  und  Romeo 
in  der  Weise  wieder,  wie  wir  es  bei  da  Porto  erzählt  finden,  und  kann 
hierzu  von  Bandellos  Version  angeregt  worden  sein,  auf  die  auch  die  Ähn- 
lichkeit in  der  Figur  des  Mönches  hinweist  (s.  Toldo,  a.  a.  0.  S.  116). 
34    Nov.     Die  Geschichte  spielt  in  Giovinazzo. 

Vielleicht  haben  wir  in  dieser  Novelle  eine  frühere  Redaktion  der 
40.  Novelle  zu  erblicken,  da  sie  einander  stark  verwandt  sind.  Und  beide, 
mehr  freilich  die  zweite  als  die  erste,  hatte  Saint-Denis  vor  Augen,  als  er 
seine  44.  Erzählung  dichtete,  die  überschrieben  ist  De  la  piteuse  fortune 
d'un  marchand  qui  presse  de  l'amour  d'une  ieune  dame  de  Naples, 
l'avoit  secrettement  enlevee.  Viele  Berührungspunkte  mit  beiden  hat 
auch  Sercambis  Novelle  De  furto  unius  mulieris,  vgl.  auch  die  Entführung 
in  den  Sieben  Weisen  (s.  Landau,  Beiträge  S.  55;  Dunlop-Liebrecht  S.  11)7). 
35.  Nov.  Schauplatz  der  Begebenheit  ist  Perugia. 
Man  hat  diese  Novelle  mit  der  31.  unseres  Autors  zu  vergleichen  un<l 
ich  verweise  auf  die  Erläuterungen  zu  derselben. 

Saint-Denis  hat  sie  unter  dem  Titel:  De  la  fortune  malheureuse 
d'un  pauvre  gentilhomme  qui  menoit  sa  dame  sur  le  chemin  de 
Venise  ins  Französische  übertragen  (s.  No.  20). 

Das  Thema,  im  allgemeinen  betrachtet,  ist  recht  geläufig:  das  Mädchen 
verschmäht  den  edleren,  trefflicheren  Anbeter  und  wendet  sich  dem  minder- 
wertigen zu.  Das  gleiche  pflegt  man  der  Fortuna  vorzuwerfen.  In  seiner 
Komödie  L'Emilia  (Neapel,  Raimondi,  1792,  Akt  4,  Sc.  8)  ruft  ferner 
Francesco  Mario  Pagano  aus:  .  .  .  Alvile  |  Amante  di  un  sol  di  quella 
mercede,  ;  Per  tant'anni  da  me  con  taute  pene  |  Meritata,  concedi .  .  . 
Und  bei  Ariost  weist  Angelica  den  Orlando  zurück,  um  sich  einem  Mauren 
in  die  Arme  zu  werfen.  So  wandelbar  ist  die  menschliche  Laune!  Doch 
hier  hat  der  Fall  einen  praktischen  Nutzen.  Der  Maure  zerstört  sein 
Glück,  wenn  er  nur  jenem  närrischen  Verliebten  Erlösung  schaffen  kann, 
so  zeigend,  wie  unwürdig  der  Gegenstand  seiner  Liebe  war,  wie  wenig 
diejenige,  die  er  zur  Herrin  seiner  Gedanken  gemacht,  seiner  wert  war. 
So  stirbt  sie  denn,  nachdem  sie  aus  dem  Becher  des  Glückes  gekostet,  vor 
Kummer,  als  das  Geheimnis  enthüllt  ist,  oder  giebt  sich  selbst  den  Tod, 
um  ihre  Schande  nicht  zu  überleben. 


Quellen  und  Parallelen  zum  „Novellino"  des  Salernitauers  Masuccio.  147 

36.  Nov.  Die  Aiifangsworte  sind:  ,Non  molto  lontano  da  le  nostre 
contrade  e  un  luoco  poco  noto  e  meno  frequentato,  .  .  . 

Es  ist  eine  Nachahmung  der  6.  Novelle  des  3.  Tages  im  Dekameron, 
die  zum  Inhalt  hat:  ,Ilicciardo  Minutolo  liebt  die  Frau  des  Filipello  Fighi- 
nolfi.  Er  erfährt,  dass  sie  eifersüchtig  sei,  und  bringt  es  dahin,  dass  sie, 
weil  er  ihr  vorspiegelt,  Filipello  werde  am  anderen  Tage  mit  seiner  Frau 
in  einem  Bade  zusammenkommen,  dorthin  geht,  und  während  sie  der 
Meinung  ist,  mit  ihrem  Manne  zusammen  zu  sein,  findet  sich,  dass  sie  dem 
Ricciardo  sich  hingegeben  hat. 

Auch  aus  der  8.  Geschichte  des  8.  Tages  hat  er  einige  Züge  entlehnt; 
diese  erzählt:  Zwei  Freunde  verkehren  miteinander;  der  eine  schläft  bei 
der  Frau  des  anderen;  dieser  merkt  es  und  nötigt  seine  Frau,  den  ersteren 
iu  einen  Kasten  zu  sperren,  auf  dem  er  dann,  während  jener  darin  ist, 
dessen  Frau  beschläft.  Manni  glaubt  im  Anschluss  an  Fontanini,  dass  diese 
Geschichte  auf  eine  Erzählung  zurückgehe,  die  sich  in  den  Lebens- 
beschreibungen u.  s.  w.  altfranzösischer  Dichter  von  Claude  Fauchet  finde, 
wenn  auch  senesische  Namen  eingeführt  worden  seien. 

2Vuch  bei  Parabosco,  Diporto  '),  steht  die  Erzählung. 

Die  ursprüngliche  Quelle  ist  aber  das  Fabliau  von  dem  Müller  von 
Aleux  (s.  Legrand  II,  418). 

37.  Nov.  Die  Begebenheit  ereignete  sich  in  Fano  zur  Zeit  der  Herr- 
schaft ^Malatestas.  Der  Vorwurf  ist  höchst  einfach.  Zwei  Freunde  verlieben 
sich  in  eine  und  dieselbe  Dame;  sie  kämpfen  zusammen  und  finden  beide 
iiiren  Tod.  Die  Dame  stirbt  vor  Schmerz  und  alle  drei  werden  in  der 
gleichen  Gruft  begraben. 

Auch  Boccaccio  erzählt  in  der  10.  Novelle  des  7.  Tages  von  zwei 
Senesern,  die  dieselbe  Frau  lieben;  doch  löst  sich  hier  der  Knoten  in 
anderer  Weise.  Vgl.  Nov.  44;  Loredano,  Dianea  ,1  due  figliuoli  del  Re 
di  Greta';  Heine,  Zwei  Brüder  u.  s.  w. 

38.  Nov.  Schauplatz  der  Begebenheit  ist  Venedig,  wo  sie  kurze  Zeit 
vorher  stattgefunden. 

Es  erinnert  hierin  an  die  34.  Novelle,  dass  der  Ehemann  durch  Betrug 
veranlasst  wird  seine  Frau  selber  dem  Galan  zuzuführen. 

Die  Anknüpfung  des  Liebesverhältnisses  giebt  nichts  zu  bemerken;  wir 
haben  dies  Moment  auch  schon  frülier  besprochen.  Dass  der  Ehemann  infolge 
der  erlittenen  Schande  stirbt,  ist  gleichfalls  reichlich  zu  belegen,  und  ebenso 
auch,   dass   die  Frau  ihren  Umgang  mit  dem  Liebhaber  nachher  fortsetzt. 

Von  Saint-Denis  giebt  es  wiederum  die  übliche  französische  Bearbeitung; 
diese  führt  den  Titel:  Comme  un  gentilhomme  Venetien  jouist 
de  l'amour  d'une  jeune  basteliere,  par  la  mesme  conduite  de 
son  mari  (s.  No.  31). 

39.  Nov.  Schauplatz  der  Begebenlieit,  die  sich  ,poco  avanti  la  morte 
del  re  Lanzilao'  zutruff,  ist  Gaeta. 


148  Amalfi: 

Mutatis  mutandis  zum  guten  Teile  mit  der  bekannten  Erzählung- 
Boccaccios  von  Paganino  verwandt,  auch  mit  der  bereits  angezogenen  8. 
des  Parthenios,  vgl.  auch  die  Yarianten  an  der  betreffenden  Stelle.  Nur 
unternimmt  in  diesen  Versionen  allemal  der  Mann  die  Befreiung  der  Frau. 
Vgl.  auch  Bandello  III,  50,  worin  erzählt  wird,  wie  Petriello  seiner  Frau, 
die  ihm  geraubt  worden,  über  das  Meer  folgt  und  später,  dank  der  edlen 
Gesinnung  des  Königs  von  Tunis,  fröhlich  und  reich  beschenkt  mit  ihr 
nach  Hause  zurückkehrt. 

Saint-Denis  hat  die  Novelle  unter  dem  Titel:  Les  discours  des  amours 
d'Antoine  et  sa  dame,  et  de  la  malheureuse  fortune  qui  leur  advint 
en  la  poursuite  du  petit  archer  (s.  No.  42)  ins  Französische  übersetzt. 

40.  Nov.  Der  Vorfall  ereignete  sich  in  Salern  ,nel  tempo  che  fra 
Napoli  e  le  castelle  fieramente  si  guerreggiava'. 

Die  Erzählung  begegnet  auch  bei  Sercambi,  Novelle,  hsg.  v.  D'Ancona, 
Bologna,  Romagnoli  1871,  No.  13.  Übrigens  ist  sie  merkwürdigerweise 
eine  Nachbildung  der  34.  Novelle  Masuccios,  die  ich  oben  besprochen  habe. 

41.  Nov.  Der  Schauplatz  ist  Florenz,  die  Zeit  da  der  ,Duca  Ranieri 
d'Angioia  .  .  .  f u  da  Napoli  e  dal  Regno  cacciato'. 

Ging  über  in  Paraboscos  Diporti  (2)  und  in  den  Heptameron 
(No.  16  und  No.  18).  Vgl.  auch  Dunlop-Liebrecht,  a.  a.  0.  S.  268.  Die 
Geschichte  von  dem  falschen  Diamanten  kehrt  ähnlich  bei  Rabelais,  Pantagr., 
lib.  II,  Cap.  24  wieder,  wie  Tokio  a.  a.  O.  S.  127  hervorhebt. 

Saint-Denis  giebt  die  Novelle  unter  dem  Titel:  Le  discours  des 
amours  de  deux  gentilhommes  Francois,  et  l'issue  favorable 
qu'ils  receurent  de  leur  dame  (s.  No.  49);  auch  Desperiers  ahmt  sie 
in  seinen  Joyeux  Devis,  No.  128  nach.  Vgl.  La  Fontaine,  Le  Gascon  pun'i. 

42.  Nov.     Bezieht  sich  auf  die  Gattin  des  Germino  Re  di  Polonia. 
Saint-Denis  hat  die  Geschichte  in  seiner  50.  Novelle,   De  la  piteuse 

adventure  d'une  malheureuse  dame,  qui  pour  iouyr  de  Tamour 
d'un  jeune  gentilhomme,  fit  une  infinite  de  maux,  dont  a  la  fin 
le  mal  tomba  sur  eile,  nacherzählt.  Die  französische  Form  ist,  wie 
Toldo,  a.  a.  0.  S.  127  anmerkt,  gegen  Schluss  etwas  verwirrt,  vielleicht 
weil  der  Autor  sein  Muster  nicht  recht  verstanden  hat. 

Der  Ursprung  der  Geschichte  liegt,  geringe  Veränderungen  zugestanden, 
wohl  in  der  Volkstradition;  es  sind  verschiedene  Motive  in  ihr  enthalten, 
die  in  unseren  Volkssagen  wiederkehren.  Seit  der  Aussetzung  Moses',  der 
in  einem  Weidenkorbe  in  den  Fluss  geworfen,  aber  durch  göttliche  Vor- 
sehung aus  diesem  errettet  worden  war,  sind  Kindesaussetzungen  ein  häufiges 
Motiv.  Ich  habe  mich  über  dieses  an  anderer  Stelle  ausgelassen,  in  meiner 
Schrift:  Di  alcune  novellette  del  Capaccio,  Castelvetrano,  Lentini, 
1898,  S.  27—29,  auf  die  ich  den  Leser  hiermit  verweise.  Auch  bei  Ban- 
dello m,  52  Schluss,  heisst  es,  Pandora  bringe  ,aus  Eifersucht  gegen  ihren 
Geliebten,  der  sich  verheiratet  hat',  das  eigene  Kind  um. 


Quellen  und  Parallelen  zum  „Novellino"  des  Salernitaners  Masuccio.  149 

43.  Nov.  Die  Begebenheit  vollzieht  sich  zum  grössten  Teile  in  Salern, 
Nocera  und  Neapel  und  zwar  zur  Zeit  Karls  IL;  der  Verfasser  sagt,  sie 
sei  ihm  von  seinem  ,vetusto  avolo'  erzählt  worden. 

Um  Parallelen  feststellen  zu  können,  zerlegt  man  die  Novelle  am  besten 
in  ihre  einzelnen  Elemente. 

a)  Der  Yater  überrascht  Tochter  und  Liebhaber  ,nel  colmo  di  lor 
piacere'.  Ein  gewöhnliches  Motiv.  Vgl.  Boccaccio,  Dekam.  V,  4, 
worin  erzählt  wird,  wie  Ricciardo  Manardi  von  Messer  Lizio  da 
A^allona  bei  der  Tochter  des  letzteren  betroffen  wird,  wie  er  dann 
das  Mädchen  heiratet  und  sich  mit  ihrem  Vater  wieder  aussöhnt; 
ebenda  auch  die  Geschichte  von  Gian  von  Proeida  V,  6  in  ihrem 
ersten  Teile  und  auch  die  Novelle  II,  10. 

b)  Durch  zwei  seiner  Diener  will  er  die  schuldbeladene  Tochter  um- 
bringen lassen.  Er  beauftragt  jene  sie  fortzuschaffen,  in  einen 
Nachen  zu  setzen  und  mehrere  Meilen  vom  Ufer  ins  Meer  zu  stossen. 
Wir  haben  dieses  Motiv  bereits  im  Vorhergehenden  besprochen, 
brauchen  also  hier  nicht  auf  dasselbe  zurückzukommen. 

c)  Von  Mitleid  ergriffen  geben  sie  ihr  nur  scheinbar  den  Tod.  Sie 
verkleiden  sie  als  Mann  und  schenken  ihr  die  Freiheit.  Nach  ihrer 
Rückkehr  sagen  sie  aus,  sie  hätten  sie  umgebracht:  mit  Hilfe  eines 
schweren  Steines  hätten  sie  sie  ungefähr  10  Meilen  vom  Ufer  ins 
Meer  gesenkt.  Die  logische  Entwickelung  des  voraufgehenden 
Motives;  beide  Motive  zusammen  bilden  eine  Einheit. 

d)  Sie  gelangt,  ohne  erkannt  zu  werden,  in  das  Haus  ihres  Geliebten. 
Das  Geheimnis  enthüllt  sich  und  sie  heiraten  einander.  Der  Vater 
war  bereits  gestorben  und  der  Liebhaber,  den  er  ohne  zu  wissen, 
dass  es  der  Verführer  seiner  Tochter  gewesen,  an  Sohnesstatt  an- 
genommen hatte,  war  Erbe  seines  ganzen  Besitzes  geworden.  Ver- 
gleicht sich  zum  Teil  mit  der  7.  Geschichte  des  3.  Tages  im 
Dekameron,  die  erzählt,  wie  Tebaldo  nach  einiger  Zeit  als  Pilger 
gekleidet  zurückkommt  und  zuerst  nicht  erkannt  wird,  dann  aber 
sich  entdeckt  und  sich  mit  seiner  Geliebten  erfreut. 

Saint-Deuis  hat  die  Novelle  in  französischer  Sprache  bearbeitet  (No.  51) 
und  sie  betitelt:  Le  discours  des  amours  du  seigneur  Antoine  et 
Lorette,  et  la  fin  de  leurs  passiones  amours. 

44.  Nov.  Der  Schauplatz  liegt  im  Gebiet  von  Pisa;  es  ist  die  Zeit 
des  Herzogs  Alphons  von  Calabrien. 

Die  Novelle  ist  von  Saint-Denis  unter  dem  Titel:  Comme  un  grand 
seigneur  amoureux  pour  l'amitie  qu'il  portoit  a  son  serviteur, 
le  rendit  possesseur  de  sa  dame  (No.  2ä)  ins  Französische  übertragen 
worden. 

45.  Nov.     Schauplatz  ist  Bologna. 


150  Amalfi: 

Die  Erzählung-  ging  über  in  den  Grand  paragon  des  nouvelles 
nouvelles  No.  55:  D'un  jeune  gallent  de  marchant  u.  s.  w.  und  gab 
die  Anregung  zu  der  34.  Geschichte  der  Comptes  du  Monde  Adven- 
tureux,  die  den  Titel  führt:  De  Tavarice  d'une  danie  qui  cherement 
fit  acheter  a  un  escolier  le  don  de  l'amoureuse  pitie.  Teilweise 
entspricht  auch  Pecorone  I,  2. 

4().  Nov.  Die  Begebenheit  knüpft  sich  an  die  Person  des  Königs 
Alphons  von  Portugal,  als  dieser  in  Afrika  Krieg  führte. 

Wahrscheinlich  ist  irgend  eine  spanische  Erzählung  oder  die  Über- 
lieferung einer  solchen  die  Quelle  dieser  Geschichte.  Zur  Zeit  der  ara- 
gonischen Herrscher  in  Italien,  deren  Stammland  Spanien  war,  das 
bekanntlich  die  Mauren  bekriegte,  konnten  Reminiscenzen  derartiger 
Erzählungen  leicht  nach  Neapel  dringen;  und  gerade  auf  diese  Kämpfe 
bezieht  sich  unsere  Geschichte.  Der  Kern  derselben  ist  übrigens  nicht 
neu:  der  König  (mutatis  mutandis  Koriolan)  beugt  sich  vor  der  Liebe  der 
]\Iutter.  Dieses  edle  Gefühl  bezwingt  den  festen  Sinn  des  Herrschers. 
Um  die  Gestalt  des  letzteren  zu  vervollkommnen,  wird  ausgeführt,  wie  er 
jedes  Geschenk  zum  Loskauf  des  Sohnes  zurückweist  und  ihm  gänzliche 
Freiheit  schenkt.  Solcher  Grossmut  gegenüber  hätte  die  Figur  des  Arabers 
zu  unfreundlich  gewirkt;  daher  drückt  er  Empfindungen  aus,  die  ihn  hoch 
ehren  und  des  Königs  Bewunderung  erregen.  Dieser  lässt  ihn  darauf  frei. 
Er  seinerseits  erscheint  dann  a  la  novella  stagione  mit  einem  grossen  Heere, 
mit  dem  er  ihn  auf  eigene  Kosten  im  Felde  unterstützen  will. 

Einige  leichte  Berührungspunkte  zeigt  unsere  Erzählung  mit  einer 
Novelle  Bandellos,  H,  52;  hier  will  der  Afrikaner  Mohammed,  Herr  von 
Dabdü,  dem  Könige  von  Fez,  Saich,  eine  Stadt  wegnehmen;  der  König 
belagert  ihn  in  Dabdü  und  offenbart  eine  ausserordentlich  edle  Gesinnung 
gegen  ihn.  Der  König  von  Fez  bemerkt  nämlich,  dass  Mohammed  auf- 
richtige Reue  empfindet:  er  verzeiht  ihm  nicht  nur,  als  dieser  ihn  um 
Entschuldigung  bittet,  dass  er  die  Waffen  gegen  ihn  erhoben  habe,  sondern 
giebt  sogar  seine  beiden  Töchter  zwei  Söhnen  Mohammeds  zu  Frauen  und 
lässt  die  Hochzeit  mit  grossem  Gepränge  feiern. 

Zur  Mohammedtradition  vergleiche  D'Ancona,  La  leggenda  di  M.  in 
Occidente,  Giorn.  Stör,  della  Lett.  Ital.  1889,  Bd.  XHI,  S.  199;  Bd.  XIV, 
S.  '204ff.:  Graf,  Spigolature  per  la  leg.  di  M. 

47.  Nov.     Schauplatz  der  Begebenheit  ist  Yalladolid  in  Castilien. 

Für  den  ersten  Teil  der  Novelle  vergleiche  man  Matteo  Spinelli, 
Diurnali,  J.  1258,  wo  er  erzählt,  Messer  Amelio,  Neffe  des  Grafen  von 
Molise,  sei  bei  einem  Fräulein  überrascht  und  dann  von  König  Manfred 
gezwungen  worden  sie  zu  heiraten.  Derartiges  ereignet  sich  im  täglichen 
Leben  oft,  nur  nehmen  die  Stelle  des  Königs  die  Eltern  u.  s.  w.  ein. 

D'Ancona,  La  Poes.  pop.  S.  119 — 124  hat  über  dieses  Thema  ge- 
handelt.   Wo  er  die  ,Canzone  della  Bella  Cecilia'  bespricht,  von  der  er 


Quellen  und  Parallelen  zum  „Novellino"  des  Salernitaners  Masuccio.  151 

verschiedene  Lesarten  giebt,  setzt  er  hinzu,  man  dürfe  sich  durch  gewisse, 
mehr  äussere  Ähnlichkeiten  mit  anderen  Erzählungen,  wie  beispielsweise  mit 
einer  Novelle  von  G.  B.  Giraldi  Cintio,  Ecatommiti  VIII,  5:  Juriste  u.  s.  w. 
nicht  irre  führen  lassen.  Aus  dieser  hat  George  Whetstone  den  Stoff  zu 
seiner  Komödie  Promos  und  Cassandra,  lange  bevor  der  Oberst  Kick, 
der  zur  Zeit  Jakobs  IL  gelebt  hat,  eines  derartigen  Vergehens  angeklagt 
wurde  (s.  Dunlop-Liebrecht,  a.  a.  0.  S.  27<S_279  und  S.  493),  und  Shake- 
speare den  Stoff  zu  seinem  Drama  Measure  for  Measure  gewonnen. 

Auch  ein  ungarischesLied  bei  Widter- Wolf  S.  109,  ist  mit  der  Giraldischen 
Erzählung  verwandt.  Aber  D'Ancona  meint,  die  Quelle  des  italienischen 
Gedichtes  seien  einige  AA'orte,  die  das  Argument  einer  französischen 
Tragödie  von  Claude-Rouillet,  Philanire  (gedruckt  im  J.  1563),  bildeten: 
Quelques  annees  u.  s.  w.  (s.  Parfait,  Hist.  du  Theätre  franeais, 
Paris  1745,  Bd.  IIL  S.  342). 

Ohne  den  tragischen  Schluss  liest  man  die  Erzählung  bei  Bandella 
II,  15;  Alessandro,  Herzog  von  Florenz,  setzt  in  dieser  durch,  dass  Pietra 
eine  Müllerin  heiratet,  die  er  entführt  hatte,  und  lässt  sie  gar  reich  aus- 
statten. Vgl.  auch  Doni,  Novelle  21;  Dunlop-Liebrecht  S.  289.  Einen 
ähnlichen  Vorfall  erzählt  auch  Busoni,  Le  curiosissime  novelle  amo- 
rose, Venedig,  1655,  Buch  III,  Nov.  4:  La  forza  castigata.  Ein  Kavalier 
schändet  ein  junges  Mädchen  und  schwängert  sie;  nach  mancherlei  merk- 
würdigen Fügungen  wird  er  darum  zum  Tode  verurteilt. 

Unsere  Novelle  ist  auch  von  Groce,  Nap.  Nobil.  I,  S.  14715".:  L'Arco 
di  S.  Eligio  e  una  leggenda  ad  esso  relativa,  besprochen  worden. 
Eine  fast  gleiche  Begebenheit  erzählt  Summonte,  Hist.  di  Nap.,  1640, 
Bd.  III,  S.  540  unter  dem  Titel:  Giustizia  esemplare;  er  giebt  an,  die 
aus  weissem  Marmor  gefertigten  Köpfe  der  beiden  Gatten  seien  auf  den 
Bogen  über  der  Uhr  des  heiligen  Eligius  gestellt  worden.  Er  verlegt  das 
Faktum  in  das  Jahr  1500;  das  Urteil  wurde  von  Isabella  von  Aragonien, 
der  Tochter  Alphons  II.  und  der  Herzogin  von  Mailand,  gesprochen.  Mit 
fast  denselben  Worten  findet  sich  diese  Geschichte  in  dem  bekannten^ 
unter  dem  Namen  Coronas  umlaufenden  Manuskript  von  den  Successi 
tragici  e  amorosi.  Obige  Erzählung  bildet  auch  den  Kern  eine»  Kapitel» 
in  Alexandre  Dumas'  Corricolo  mit  der  Überschrift  Le  mariage  sur 
Techafaud,  der  bekanntlich  von  Pierangelo  Fiorentino  bei  diesem  Werk 
sehr  unterstützt  wurde. 

Der  Stoff  erfuhr  noch  weitere  Bearbeitung.  In  dem  Omnibus  pitto- 
resco  vom  J.  1839  begegnet  eine  Novelle  von  Pietro  C.  Ülloa  mit  dem 
Titel:  L'orologio  di  S.  Eligio  (1499)  und  in  derselben  Zeitschrift  vom 
folgenden  Jahre  eine  solche  von  Vaccaro  Matonti:  Giustizia  d"Isabella 
d'Aragona.  Im  Jahre  1838  hatte  bereits  Achille  Rossi  ihn  zu  einem 
Drama,  das  in  Florenz  erschienen  ist,  ausgesponnen. 


152  Amalfi: 

Croce  spricht  der  Begebenheit  mit  Recht  jeden  geschichtlichen  Hinter- 
grund ab;  er  beweist,  dass  es  sich  nur  um  ein  novellistisches  Sujet  handele, 
und  erwähnt  verschiedene  Parallelen.  Unter  den  Varianten,  die  er  ausser 
der  Bella  Cecilia  heranzieht,  hebe  ich  hervor:  Domenichi,  Scelta  di 
motti,  burle  et  facetie,  Florenz  1566  (Pochi  giorni  etc.);  Landau, 
Beiträge  u.  s.w.  S.  120f.  In  dem  vom  Yisconde  De  Almeida  Garret  an- 
gelegten portugiesischen  Romanceiro,  Lissabon  1875,  11,  S.  295—305 
steht  eine  Justi<ja  de  Dens  betitelte  Romanze,  die  Ettore  Toci  in  der 
Lusitania,  Canti  popol.  portoghesi,  Livorno  1888,  S.  119 — 127  auch 
ins  Italienische  übertragen  hat. 

Mit  Ausnahme  des  Schlusses  ähnelt  Masuccios  Erzählung  im  grossen 
und  ganzen  einer  Novelle  des  Dom.  Caramella  (Novelle  degli  Inco- 
gniti  etc.,  Teil  III,  Nov.  35),  in  der  Wilhelm  der  Gute  seine  Tochter  und 
seinen  Sekretär  Gottfried,  die  ertappt  worden  waren,  wie  sie  beisammen 
lagen,  zum  Tode  verurteilt,  dann  aber  begnadigt  und  miteinander  ver- 
heiratet, ein  A^erlauf,  der  an  die  4.  Novelle  des  5.  Tages  im  Dekameron 
erinnert. 

48.  Nov.     Die  Geschichte  spielt  in  Tunisund  in  Pisa. 

Zur  Auffindung  von  Varianten  ist  es  nötig,  die  Novelle  in  ihre  einzelnen 
Teile  zu  zerlegen. 

a)  Entführungen  seitens  der  Korsaren  auf  ihren  Raubfahrten.  Auf 
dieses  Motiv  bin  ich  bereits  im  vorhergehenden  eingegangen,  doch 
füge  ich  hier  noch  einige  Angaben  hinzu.  So  sei  verwiesen  auf 
Boccaccio,  Dekam.  IV,  4,  worin  erzählt  wird,  dass  man  die  Tochter 
des  Königs  von  Tunis  zu  rauben  sucht,  sowie  auf  ebenda,  V,  1, 
woselbst  von  der  Entführung  Iphigenias  und  Kassandras  erzählt 
wird.  Auch  kehrt  diese  Idee  in  der  Geschichte  von  Otinel  und  Julia 
wieder,  vgl.  D'Ancona,  Poemetti  popol.  ital.,  Bologna  1889. 

b)  Der  Herr  gewinnt  seinen  Sklaven  lieb  und  schenkt  ihm  die  Frei- 
heit. In  diesem  Zuge  berührt  sich  unsere  Erzählung  einigermassen 
mit  einer  Novelle  Bandellos  (I,  58),  in  der  Fra  Filippo  Lippi,  ein 
Maler  aus  Florenz,  von  den  Mauren  gefangen  genommen  und  zum 
Sklaven  gemacht  wird,  dank  seiner  Kunst  dann  aber  zu  Freiheit 
und  Ehren  gelangt. 

c)  Aus  Dankbarkeit  giebt  er  ihm  seine  Schwester  zur  Frau  und  be- 
schenkt ihn  mit  reichen  Schätzen.  Teils  eine  natürliche  Weiter- 
entwickelung des  vorigen  Motivs,  teils  eine  wohlangebrachte 
Variierung  des  Themas. 

49.  Nov.  Betrifft  Friedrich  Barbarossa.  Eine  ähnliche  Erzählung  wird 
auch  von  Jacopo  della  Lana  in  seinem  Kommentar  zur  Göttlichen  Komödie 
berichtet,  aber  mit  Beziehung  auf  Kaiser  Friedrich  II.  (s.  Zambrini,  Libro 
di  novelle  antiche,   Bologna  1868,  No.  47;    vergleiche  Landau,  Beiträge 


Quellen  und  Parallelen  zum  „Novellino"  des  Salemitaners  Masuccio.  153 

S.  55  f.).  Die  gleiche  Erzählung  begegnet  auch  im  Exemplum  der  43.  Äsop- 
fabel  von  F.  del  Tuppo  (s.  de  Lollis,  a.  a.  O.  S.  318  und  S.  324  f.)  und 
es  scheint,  als  sei  sie  aus  Masuccio  entlehnt  worden.  Jedoch  ist,  wie  Rua, 
Di  alcune  novelle  etc.  S.  7,  Aum.  hervorhebt,  zu  bedenken,  dass  dieser 
Erzählungsstoff  auch 'ausserhalb  Italiens  bekannt  gewesen  ist,  vgl.  Köhler, 
Über  ein  Meisterlied  von  dem  roten  Kaiser,  Germania  1879,  S.  13 — 15. 
50.  Nov.  Auch  diese  Novelle  geht  auf  eine  fremde,  und  zwar  wahr- 
scheinlich eine  spanische  Quelle  zurück. 

Es  ist  ein  ganz  einfaches  Sujet.  Die  Tochter  eines  Grafen  verliebt 
sich  in  einen  Edelmann,  der  mit  Rücksicht  auf  das  Widerspruchsvolle  seiner 
Lage  ihre  Einladung  zurückweist,  worauf  der  Graf  aus  Erkenntlichkeit  sie 
ihm  zur  Frau  giebt.  Es  handelt  sich  hier  um  einen  Sagenstoff  aus  der 
Geschichte,  nicht  eigentlich  um  ein  novellistisches  Motiv,  und  daher  wird 
es  schwer  gelingen  Varianten  nachzuweisen. 

Nun  noch  einige  Schlussworte.  Genau  festzustellen,  woraus  ein  Autor 
dieses  oder  jenes  Thema  geschöpft  habe,  ist,  wie  Marchesi  S.  18  treffend 
bemerkt,  eine  der  schwierigsten  Aufgaben;  Märchen  haben  nach  Jacob 
Grimm  Flügel  und  die  Aufsuchung  ihrer  Quellen  gehört  zu  den  mühseligsten 
Arbeiten.  Auch  zu  den  Novellen  Masuccios  vermögen  wir,  um  ihr  Ver- 
hältnis zu  diesem  allgemeinen  Satze  zu  bestimmen,  nur  ähnliche  Formen 
oder  Spielarten  und  gelegentlich  wohl  Nachbildungen  zu  verzeichnen,  aber 
Mühe  hätten  wir,  zumal  da  einige  Themata  unter  seiner  gewandten  Feder 
abgeändert  oder  ganz  umgeformt  worden  sind,  die  Quelle,  aus  der  er 
eigentlich  geschöpft,  anzugeben. 

Nur  das  eine  lässt  sich  sagen,  dass  ihn  Boccaccio  hin  und  wieder  zu 
einer  Novelle  angeregt  hat;  der  Versuchung  diesen  nachzuahmen  hat  er  sich 
nicht  entziehen  können,  jedoch  ahmte  er  ihn  in  freier  Weise  nach,  er  gab  den 
Stoffen  ein  eigenartiges  Gepräge  und  passte  sie  einem  bestimmten  Zwecke  an. 
Eine  Quelle  bilden  auch  die  Fabliaux,  ferner  Poggio,  Sacchetti  und 
mittelbar  auch  einige  orientalische  Märchen;  aber  die  Vorläufer  dieser 
anderen  Novellen  sind  nicht  leicht  zu  bezeichnen,  da  der  blosse  Schein 
oft  auf  falsche  Bahnen  leitet.  Kurz,  trotz  aller  Worte,  die  wir  gemacht 
haben,  bietet  die  Herkunftsstatistik  ein  recht  trostloses  Bild. 

Täusche  ich  mich  jedoch  nicht,  so  hat  Masuccio  weniger  aus  Büchern 
als  aus  der  mündlichen  Überlieferung,  die  heute  freilich  bei  derartigen 
Fragen  eine  Art  Universalmittel  zu  bilden  pflegt,  geschöpft,  —  aus  zum 
Teil  auch  andere  Nationen  betreffenden  Geschichten,  die  man  sich  im 
Volke  und  am  Hofe  (und  dem  Hofe  wehte  auch  aus  Spanien  manch  eine 
zu)  erzählte  und  die  dann  die  lebhafte  Phantasie  des  Salemitaners  um- 
formte und  ausschmückte. 
Avelliuo  (Neapel). 


154  l^y^n: 

Das  Frautragen  im  Salzburgischen. 

Von  Marie  Eysii. 
(Mit  Tafel  III.) 


Fast  in  jedem  Bauernhause  des  Pinzgaus  findet  man  ein  altes  ge- 
schriebenes Heft,  zuweilen  ein  dickes  Buch,  das  geistliche  und  weltliche 
Lieder  enthält.  Grösstenteils  sind  es  Weihnachts-,  Hirten-  und  Marien- 
lieder. Erkundigt  man  sich,  wann  letztere  gesungen  werden,  so  heisst  es 
„d'  Frauliader"  werden  in  der  Kirche  oder  beim  „Frauträg^n'"  gesungen. 
Meist  wird  mit  Bedauern  beigefügt,  dass  dasselbe  seit  zwei  Jahrzehent 
verboten  ist  und  dass  es  „gnr  so  lusti"  war. 

Ist  es  schon  befremdend  in  einem  katliolischen  Lande,  in  welchem 
so  oft  Madonnen-  und  Heiligenstatuen  in  feierlicher  Prozession  getragen 
werden,  von  einem  Yerbot  zu  hören,  so  fällt  es  noch  mehr  auf,  dass  stets 
die  Lustbarkeit  dabei  hervorgehoben  wird,  von  der  man  wohl  bei  welt- 
lichen, niemals  aber  bei  kirchlichen  Umzügen  hört. 

In  jedem  Weiler,  jedem  Dorfe  im  Pinzgau  ist  eine  Familie,  die  eine 
„Frautafel"  besitzt,  ein  Madonnenbild,  Mariae  Heimsuchung  darstellend, 
meist  ein  Ölgemälde  des  17.  und  18.  Jahrhunderts.  Solch  ein  Bild,  welches 
das  ganze  Jahr  über  in  der  besten  Kammer  im  oberen  Geschoss  des 
Hauses  aufbewahrt  war,  ward  in  die  Stube  herabgebracht  und  in  einer  mit 
Fichtenzweigen  und  künstlichen  Blumen  geschmückten  Ecke  aufgestellt. 
Spät  abends  versammelten  sich  davor  die  Dorfbewohner,  es  ward  ein  Psalter 
gebetet  und  „Frauenlieder"  gesungen,  dann  das  Bild  auf  einer  Kraxe  (Trag- 
gestell) befestigt  und  spät  in  der  Nacht,  begleitet  von  fackeltragenden 
Burschen  und  Mädchen,  Männern  und  Frauen,  unter  Gesang  frommer  Lieder 
nach  dem  Gehöft  eines  wohlhabenden  Bauern  getragen,  zuweilen  weit  ent- 
fernt oder  hochgelegen,  wo  es  freudig  erwartet  wurde.  Nachdem  es  auf 
seinen  vorgerichteten,  gezierten  Platz  gebracht,  wiederholten  sich  Gebet 
und  Lieder;  dann  wurden  alle  Angekommenen  mit  Brot  und  Käse,  Schnaps 
und  gedörrtem  Obst,  „Kuacheln"  und  Krapfen,  je  nach  den  Vermögens- 
verhältnissen des  Bauern  bewirtet,  und  fröhliche,  zuweilen  aber  auch  mehr 
als  übermütige  Tänze  schlössen  die  Feier. 

Das  Bild  blieb  bis  zur  nächsten  Nacht,  in  welcher  es  in  ebensolcher 
Weise  wieder  abgeholt  und  in  ein  anderes  Gehöft  gebracht  wurde,  das 
sich  glücklich  schätzte  es  zu  beherbergen,  denn  wohin  es  kam  brachte  es 
Segen,  Gedeihen  und  Fruchtbarkeit. 

Diese  Umzüge  des  Bildes  dauerten  bis  zur  Christnacht,  in  welcher 
diese  „Frautafeln"  in  ebenso  feierlicher  Weise  zur  Pfarrkirche  getragen 
und  auf  den  Seitenaltären  aufgestellt,  nach  der  Christmette  aber  wieder  an 
ihren  Ort  in  dem  ursprünglichen  Hause  zurückgebracht  wurden. 


Das  Frautragen  im  Salzburgischen. 


155 


Unsre  Tafel  III  zeigt  ein  bis  in  die  neuste  Zeit  zum  Frautragen  ver- 
wendetes Bild  aus  Rauris  im  Pinzgau,  einem  Parallelthale  des  bekannten 
Gasteinerthales. 

Wer  denkt  bei  diesen  Umzügen,  in  welchen  Heidnisches  und  Christ- 
liches seltsam  verschmolzen  ist,  nicht  an  die  Schilderung  des  Tacitus 
(Germ.  c.  40)  von  den  Nerthusumfahrten,  worin  es  heisst:  „Das  sind  dann 
Freudentage  und  Feste  werden  an  jedem  Orte  gefeiert,  den  die  Göttin 
ihres  Besuches  und  gastlichen  Yerweilens  würdigt."  Ferner  an  die  winter- 
liche Umfahrt  des  Freysbildnis  in  Schweden,  „wo  die  Priesterin  mit  der 
leben sgrossen  Bildsäule  Freys  an  entfernte  Orte  zu  Gaste  fuhr  und  der 
Gastbesuch  des  Gottes  und  seiner  Frau  vermeintlich  die  Wirkung  hatte, 
dass  die  Witterung  milde  wurde  und  eine  gute  Ernte  sich  zeigte.  Als 
einst  die  Frau  des  Freys  schwanger  wurde,  hielten  die  Schweden  das  für 
ein  sehr  gutes  Zeichen.  Ob  man  jedesmal  zum  Tempel  zurückkehrte  oder 
von  einer  Gilde  zur  anderen  fuhr  ist  nicht  ersichtlich."^) 

Trotzdem  aber  die  Kirche  gegen  diese  Umzüge  eifert,  die  Polizei  sie 
verbietet,  erfährt  man  zur  Adventzeit  im  Pinzgau  doch  alljährlich  noch,  in 
welcher  Nacht  das  Fraiibild  von  diesem  zu  jenem  Gehöft  getragen  wird; 
selbst  in  der  Stadt  Salzburg  wird  das  Bild  Mariae  Heimsuchung  zu  jenen 
gebracht,  die  es  wünschen. 

Einige  der  Lieder,  die  beim  Frautragen  gesungen  werden,  seien,  zwei 
mit  ihren  Weisen,  hier  mitgeteilt. 


Frauenlieder  aus  der  Rauris. 

I. 


0  Himmelsfrau! 
Von  Herzen  wir  dich  grüssen. 
Ach,  lasse  auf  uns  fliessen 

Dein  Gnadentau! 
Denn  dich  hat  Gott  bestellet 
Mit  seinem  heiligen  Wort, 
Zur  Zuflucht  auserwählet 
Und  sichern  Gnadenport. 

2. 

Als  Heirscherin 
Des  Himmels  und  der  Erden 
Soll  dir  gedienet  werden, 

0  Königin! 
Der  Heilig  Geist  mit  Gnaden 
Dich  seine  reinste  Braut 
Hat  gänzlich  überschattet, 
Da  er  sich  dir  vertraut. 


Wir  ehren  dich. 
Weil  ruht  in  deinem  Schosse, 
Der  über  alle  Grosse 

Erhoben  dich. 
Aus  allen  Adams  Töchtern 
Gettelst  du  ihm  allein, 
Darum  von  all'n  Geschlechtern 
Du  wirst  gepriesen  sein. 

4. 

0  sieh  uns  an 
Mit  Mutters  Gnaden  Blicken! 
Dein  Vorbitt  wollest  schicken 

Zum  Himmel  dann. 
Und  jedermann  erkenne, 
Sein  Hilfe  kommt  von  dir, 
Dich  seine  Schutzfrau  nenne, 
Dich  lobe  für  und  für. 


1)  (Fornmannasögur  II,  73.)     Wilh.  Mannhardt,    Der  Baumkultus  der  Germanen  und 
ihrer  Nachbarstämme,  589. 


15C. 


Eysn:  Das  Frautragen  im  Salzburgischcn. 


Und  obschon  wir 
Dem  Leib  nach  von  dir  weichen, 
Bleibt  doch  zum  Liebeszeichen 

Das  Herz  bei  dir. 
Dies  wird  dann  stets  versenken 
In  deinem  Herzen  sich, 
Und  anders  nichts  mehr  denken 
Als  nur  zu  heben  dich. 


So  bleibe  dann 
Der  Liebsbund  aufgerichtet, 
Dass  ewig  wir  verpflichtet 

Dir  und  dei'm  Sohn, 
Dich  unsre  Mutter  nennen 
Und  lieben  inniglich, 
Als  Kinder  uns  erkennen, 
WoU'st  b'schützen  ewiglich! 


I 


1.     0    Ma  -  ri  -  a       schönste  Ro  -  sen,     o  Ma  -  ri  -  a     reinster  Nam' 
Von  dem  Him-mel  bist  ent-sprossen,    die  so  reinste  Liebes -flamm: 


^m^^^^^M 


-j^=t- 


PS 


Al-le  Wun-der  müssen  schweigen,    alle  Schönheit  werden  stumm,  avo  sich 


* 


^S=S^ 


• — 'ä 


ä^^^^^^E^= 


thut    Ma  -  ri  -  a  zei  -  gen,  das  so  rein  -  ste  Hei-lig-tum. 

2.  S'  ist  ein  Garten  voll  der  Freuden,  eine  Festung  ohne  End, 
Wo  sich  thut  alle  Wollust  zeigen,   wo  die  Himmelsfreuden  sind. 
Und  Maria  thut  regieren,  auf  dem  höchsten  Thron,  bei  Gott, 
Sie  thut  Krön  und  Scepter  führen,  hilft  uns  allen  aus  der  Not. 

3.  Wenn  der  Feind  mit  uns  will  prahlen,  uns  gewaltig  unterdrückt, 
Wenn  wir  wirklich  sind  gefallen,  muss  er  weichen  noch  zurück. 
Wenn  wir  nur  Maria  nennen  und  sie  herzlich  rufen  an. 

Wird  sie  all'  seine  Macht  zertrennen  und  erhalten  nach  Pardon. 

4.  Sind  wir  krank  oder  sonst  in  Nöten,  in  Pest,  Krieg  und  Hungersnot, 
Wird  Maria  uns  erretten,  wird  uns  helfen  aus  der  Not. 

Sie  wird  allzeit  uns  bewahren,  auch  die  Früchte  auf  dem  Feld, 

Vor  den  Feur-  und  Wassersgfahren  bist  du  ein  Schutz  der  ganzen  Welt. 

5.  Kommet  her,  ihr  Adamskinder,  lauft  zur  Himmelskönigin, 

Sie  verlasset  keinen  Sünder,  der  bei  ihr  seine  Zuflucht  nimmt. 
Sie  ist  allzeit  voller  Liebe,  will  uns  helfen  zuj^der  Zeit, 
Drum,  o  Sünder,  sie  nicht  betrübe,  mache  dich  zur  Buss  bereit. 


ni. 


Sei  gegrüsst 


schönster  Morgenstern, 


Bist  ge-ziert    mit  Tugendstrahlen,  glänzest  wunderschön  von  fern. 


Auf  der 


Tienken:  Kulturgeschichtliches  aus  den  Marschen. 


15' 


Et^-r~3 — ^— >-h-^   ,    1    r3-t-j-— j— r-^-f— t— ! ^i 

^L_f=iL_j  _;__,_H^— J—J/-.  .-f — i^ — J— ; — j^-_-^,^j_^ 

ganzen  Welt   nur    ei  -  ne    ist    von  Gott  selbst  aus  -  er  -  wählt.     Nur   Ma- 


ri -  a     und    sonst  kei  -  ne     ist    zu    sei  -  ner   Mut  -  ter    b'stellt. 

2.  Du  allein  bist  auserkoren,  abzuhelfen  unsrer  Not, 

Du  hast  Gottes  Sohn  geboren,  der  zugleich  ist  Mensch  und  Gott. 
Du  bist  heilig,  ohne  Schulde,  ja  kein  Engel  ist  dir  gleich, 
Ewig  fest  in  Gottes  Hulde,  Königin  im  Himmelreich. 

3.  Alle  G'schöpf  und  Kreaturen,  was  die  ^V^elt  nur  bringt  herfür, 
Sind  nur  leise  schwache  Spuren,  o  Maria,  gegen  dir. 

Du  trittst  auf  mit  weiten  Schritten,  bringst  der  ganzen  Welt  nur  Trost, 
Hast  die  alte  Schlang'  bestritten  und  hast  ihr  den  Kopf  zerstosst. 

4.  Alle  Schönheit  dieser  Erden,  die  Planeten,  Sonn  und  Mon 
Können  nicht  verglichen  werden  gegen  dich  und  deinen  Sohn: 
Du  hast  grosse  Gnad'  erhalten  bei  dem  höchsten  Königsthron. 
Wie  ein  Esther  thust  du  walten,  er  hört  deine  Bitten  an. 

Salzburg. 


KiilturgescMclitliches  aus  den  Marschen 
am  recliten  Ufer  der  Unterweser. 

Von  A.  Tienken. 

(Fortsetzung  von  S.  55.) 


Das  Haus  und  seine  Umgebung. 

Es  macht  einen  imposanten  Eindruck,  so  ein  echtes  Bauernhaus  unserer 
Marschen!  Lang  streckt  es  sich  dahin,  traulich  beschützt  von  mächtigen 
Bäumen.  In  fast  regelmässigen  Abständen  schmiegen  sich  die  Dörfer  an 
den  Deich.  Einsame,  in  der  Mitte  ihrer  Ländereien  liegende  Gehöfte  trifft 
man  nur  ganz  vereinzelt  an. 

Das  Bauernhaus  der  älteren  Zeit  hatte  noch  keine  massive  Mauern, 
erst  in  unserem  Jahrhundert  haben  diese  hier  Eingang  gefunden.  Auch 
die  steilen  Giebel  kannte  man  früher  nicht:  man  zog  sie  oben  ein,  so  dass 
das  Dach  immer  kürzer  war  als  die  Mauern.  Das  auf  diese  Weise  ent- 
stehende Giebeldreieck,  der  sogen.  „Dachwalm",  war  wie  das  übrige  Haus 
mit  einem  dicken  Keit-  (Rohr-)  dache  belegt.     Nur   das  Wurster  Bauern- 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.     1899.  ü 


158  Ticnken: 

haus  macht  hiervon  eine  Ausnahme,  indem  das  Giebeldreieck  aus  einer 
senkrechten  Dieleubekleidung  besteht.  Diese  Dachwalmen  dürfen  jetzt 
nicht  mehr  aufgeführt,  ja  nicht  einmal  grössere  Reparaturen  daran  vor- 
genommen werden,  ohne  dass  den  Besitzern  aufgegeben  wird,  sie  durch 
steile  und  massive  Giebel  zu  ersetzen.  So  will  es  die  Baupolizeiordnung. 
Wie  im  Äusseren,  so  ist  auch  im  Innern  des  Marschenhauses  der 
friesische  Stil  gänzlich  verschwunden.  Der  Marschbauer  lebte  von  jeher 
mit  seinem  Yieh  und  dem  grössten  Teil  des  Futters,  welches  „oppn  Balken'^ 
untergebracht  ist,  unter  einem  Dache.  Wenn  wir  das  Haus  vom  stein- 
gepflasterten Hof  aus  durch  die  mächtige  Einfahrtsthür,  deren  Rundbogen 
mit  drei  oder  fünf  Sandsteinen  geziert  ist,  betreten,  gelangen  wir  zunächst 
auf  die  grosse  Dreschdiele,  deren  Boden  ein  Gemisch  von  festgestampftem 
Lehm  und  Thon  ist.  Rechts  und  links  von  der  Diele  befinden  sich  die 
Ställe,  über  ihr  ruhen  auf  gewaltigen  Balken  die  Puttervorräte.  Dort  liegen 
sie  trocken  und  wärmen  in  strenger  Winterkälte  das  Haus.  Hinten  auf 
der  Diele  brannte  in  früherer  Zeit  das  offene  Herdfeuer.  Zu  beiden  Seiten 
desselben  befanden  sich  die  sogen.  Howände  (Bremisch-niedersächs.  Wörter- 
buch 2,  663),  und  in  ihnen  die  „Kojen",  das  sind  mit  Schiebethüren  ver- 
sehene Bettstellen  für  das  Gesinde.  Über  dem  Herde  war  der  „Speck- 
wiemen",  d.  h.  ein  Hängeboden  für  rauchbedürftige  Würste,  Schinken  und 
Speckseiten.  Schornsteine  haben  erst  relativ  spät  Eingang  gefunden,  in 
den  Häusern  der  sogen,  kleinen  Leute  fehlen  sie  auch  heute  noch  vielfach. 
Zu  den  Seiten  des  Herdes  hatten  an  den  Wänden  mächtige  Truhen  und 
Schränke  Platz  gefunden,  von  denen  grosse,  schwere  Zinn-  und  Messing- 
Geräte  herabblitzten.  Der  Herd  war  für  Alt  und  Jung  der  gemeinsame 
Sammelpunkt  und  der  gewöhnliche  Aufenthaltsort.^)  Hinter  dem  Herde 
kamen  die  Stuben,  mit  Ausnahme  der  Wohnstube,  welche  mit  der  an- 
stossenden  Kammer  unmittelbar  an  die  Stallungen  grenzte. 

Yon  allem  diesen  haben  allein  Diele  und  Stallungen  im  wesentlichen 
ihre  alte  Gestalt  und  Anlage  beibehalten;  das  übrige  Haus  aber  hat  innen 
wie  aussen  grosse  Änderungen  erfahren.  Die  Howände  sind  in  den  Wind- 
fang umgewandelt,  indem  man  von  der  Wohnstube  aus,  so  dass  diese  neben 
die  Diele  zu  liegen  kam,  eine  Mauer  quer  durch  das  Haus  zog.  In  den 
Windfang  oder  Hausflur,  der  mit  der  Diele  durch  eine  grosse  Flügelthür 
in  Verbindung  steht,  münden  die  Thüren  aller  daranstossenden  Zimmer. 
Auch  führt  von  ihm  eine  oft  mit  fein  geätztem  Glas  ausgestattete  Thür  in 
den  Garten.  Der  offene  Herd  aber  ist  in  einen  besonderen  Raum,  in  die 
Küche,  zurückgedrängt  und  der  Rauch  entweicht  nunmehr  durch  einen 
Schornstein.     Verschwunden  sind  in  neueren  Häusern  auch  die  Kojen:  das 


1)  Eine  nähere  Darstellung  der  ebenso  praktischen  wie  poetischen  Bedeutung  dieser 
Herdanlage  ist  wohl  nicht  nötig,  denn  wer  kennt  nicht  des  alten  Mosers  klassische 
Schilderung?! 


Kulturgeschichtliches  aus  den  Marschen.  159 

männliche  Gesinde  schläft  an  der  Diele  oder  über  dem  Vieh  auf  der  Hille 
(Doornkaat-Koolman,  Ostfries.  Wörterb.,  2,  85),  auf  der  man  sonst  Stroh, 
Brennmaterialien  u.  a.  aufbewahrt.  Das  weibliche  Gesinde  aber  schläft  in 
der  sogen.  „Leutestube",  welche  sich  durchweg  neben  der  Küche  befindet. 
Auch  das  Äussere  der  Häuser  hat  sich,  wie  gesagt,  ausserordentlich 
geändert.  Die  Mauern  werden  jetzt  bis  zur  Höhe  der  Balkenlage  auf- 
geführt. Selbstverständlich  sind  sie  massiv.  Und  die  Zöglinge  der  Bau- 
gewerbeschulen suchen  in  allerlei  Zierrat  ihr  Wissen  und  Können  an  ihnen 
zum  Ausdruck  zu  bringen. 

Da  der  wohlhabende  Bauer  es  gar  zu  gern  dem  reichen  Städter  gleich- 
thun  möchte,  so  genügt  ihm  in  allerneuester  Zeit  sein  ehrwürdig-stroh- 
gedecktes Haus  nicht  mehr:  er  baut  ein  „Schweizerhaus",  ohne  zu  bedenken, 
welch  unerquicklichen  Kontrast  der  dicht  vor  der  Thür  lagernde  Dünger- 
haufen dazu  bildet.  Das  Schweizerhaus  lässt  sich  von  allen  Modethorheiten, 
die  unser  Jahrhundert  dem  Bauernstande  gebracht  hat,  am  wenigsten  mit 
dem  Wesen  und  dem  Berufe  des  Bauern  in  Einklang  bringen.  Durch  den 
Umstand,  dass  das  Yieh  in  dem  Schweizerhause  gewöhnlich  keinen  Platz 
findet,  sondern  in  einer  daranstossenden  Scheune  untergebracht  wird,  geht 
eine  ebenso  gemütliche,  wie  praktische  Einrichtung  verloren.  Denn  es  ist 
doch  etwas  Angenehmes,  wenn  der  Hausherr  von  der  Stube  aus  mit  wenigen 
Schritten  die  „vom  lustigen  Rythmus  der  Dreschflegel"  erfüllte  Diele 
erreichen  kann,  oder  gar,  wie  es  auch  wohl  der  Fall  ist,  durch  ein  kleines 
Fenster  das  Leben  und  Treiben  auf  derselben  vom  warmen  Ofen  aus  über- 
Avachen  kann.  —  Hoffentlich  finden  die  Schweizerhäuser  nicht  zu  viel 
Nachahmung.  Unsere  Marschen  würden  sonst  eine  nicht  zu  ihrem  Vorteil 
veränderte  Physiognomie  erhalten. 

Dass  aber  mehr  und  mehr  den  hygienischen  Rücksichten  bei  einem 
Neubau  Rechnung  getragen  wird,  dass  besonders  darauf  gesehen  wird,  eine 
trockene  Wohnung  zu  bekommen,  ist  sehr  zu  loben,  namentlich  da  unsere 
Marschen  an  sich  so  ausserordentlich  feucht  sind.  Auch  das  ist  als 
praktische  Neuerung  sympathisch  zu  begrüssen,  dass  der  Speicher,  in  dem 
sich  der  Backofen,  aucli  wohl  .  noch  ein  Waschraum  befindet,  mit  dem 
Hause  verbunden  wird.  Dazu  kommt  noch,  dass,  da  der  Speicher  eine 
harte  feste  Bedachung  haben  muss,  den  Bewohnern  des  Hauses  im  Falle 
eines  Brandes  auch  dann  der  Weg  ins  Freie  offen  steht,  wenn  das 
Haus  schon  von  dem  Feuergürtel  des  heruntergefallenen  Rohrdaches  um- 
geben ist. 

Die  „Mittelstube'\  so  genannt  weil  sie  zwischen  zwei  anderen  Stuben 
liegt,  ist  fast  immer  zugleich  auch  die  „beste"  Stube.  Sie  dient  vorzugs- 
weise als  Lagerort  für  die  Luxus-  und  Prunkgegenstände  des  Hauses. 
Schon  früh  finden  wir  in  ihr  schön  geschwungene  Möbel,  darunter  auch 
das  Sofa,  welches  in  die  Wohnstube  etwa  um  das  Jahr  1810  Eingang  fand. 
Später  kam   ein  farbenreicher  Teppich  hinzu,    schneeweisse  Gardinen  und 

11* 


160  Tienken: 

prunkendes  Tischgerät  und  weiter  wurde  die  einfache  Stelilampe  mit  einer 
teuren  Majolika-Hängelampe  vertauscht. 

Von  grosser,  fast  möchte  man  sagen,  revolutionärer  Bedeutung  für  die 
Wohnräume  des  Bauernhanses  ist  die  Rückkehr  der  Tochter  des  Hauses 
aus  der  Pension:  die  alten  Möbel  werden  rücksichtslos  entfernt  —  sie 
sind  alt,  damit  ist  ihnen  das  Urteil  gesprochen;  weiter  werden  die  eisernen 
Öfen  durch  vornehme  Kachelöfen  ersetzt  und  in  der  Küche  tritt,  sofern 
es  nicht  schon  geschehen  ist,  an  die  Stelle  des  Feuerherdes  mit  dem 
„Feuerstülpen"  ^)  und  dem  über  der  Feuerstelle  hängenden  „Kesselhaken"  ^) 
der  Sparherd. 

Als  eine  weitere  Folge  des  Pensionats  sind  n^ch  die  Unmenge  der 
feineren  Handarbeiten  zu  betrachten,  welche  nun  überall  angebracht  werden : 
an  Wäsche,  Gardinen  und  Betten,  Sofas  und  Stühlen.  Ferner  wird  dann 
ein  Klavier  angeschafft  —  hauptsächlich  aber  der  Repräsentation  halber, 
denn  das  Spiel  kommt  durchweg  erst  in  zweiter  Linie  und  erhebt  sich 
nur  sehr  selten  über  die  landläufigsten  Salonstücke  und  Tänze.  Ganz 
zuletzt  kommen  dann  auch  die  Beweise  und  Anzeichen  eines  inneren, 
geistigen  Fortschrittes  an  die  Reihe:  die  brutal  -  farbenreichen  Wand- 
dekorationen —  ich  kann  mich  nicht  überwinden,  sie  Bilder  zu  nennen  — 
werden  durch  relativ  gute  und  geschmackvolle  Kupferstiche  und  Bilder 
verdrängt,  auf  Etageren  werden  einige  Büsten  angebracht  und  der  blitzblank 
polierte  Bücherschrank  mit  den  klassischen  Werken  unserer  Geistesheroen 
als  Inhalt  darf  nun  auch  nicht  länger  fehlen.  Das  freilich  ist  eine  andere 
Frage,  ob  nämlich  diese  Werke  auch  benutzt  werden,  oder  ob  sie  nur  dazu 
dienen  sollen,  einen  gebildeten  Anstrich  zu  verleihen  und  in  ihren  Pracht- 
bänden zu  repräsentieren. 

Die  Einrichtung  des  Wohnzimmers  hielt  sich  stets  in  bescheideneren 
Grenzen:  die  winzigen  Fähnlein  vor  den  Fenstern  wurden  erst  spät  durch 
wirkliche  Gardinen  und  die  binsengeflochteneu  Stühle  aus  Eschenholz  durch 
Polsterstühle  ersetzt,  welche  aber  in  neuester  Zeit  bereits  wieder  von  den 
modernen  Rohrstühlen  verdrängt  werden.  Erst  in  den  60er  und  70er 
Jahren  erhielten  die  bis  dahin  einfach  geweissten  Wände  den  Schmuck 
der  Tapete.  Und  erst  in  den  letzten  Jahren  beginnt  der  Fussbodenlack 
den  bisher  üblichen  Sand  aus  dem  Wohnzimmer  zu  verdrängen.  Matten 
oder  Teppiche  aber  findet  man  auch  heute  nur  vereinzelt  in  dem  Wolin- 
zimmer  des  Bauernhauses,  dagegen  aber  fast  immer  eine  Nähmaschine. 
Wie  uns  diese  in  Bezug  auf  das  W^ohnzimmer  wieder  an  den  Einfluss  der 
Tochter  des  Hauses  erinnert,  so  die  Wasch- Wringmaschine,  zum  Teil  auch 
Centrifugen  und  Buttermaschinen  in  Bezug  auf  die  Wirtschaftsräume. 


1)  Ein  Gefäss  aus  eisernen  Stäben,  welches  während  der  Nacht  über  das  glimmende 
offene  Herdfeuer  gesetzt  wird. 

2)  Ein   von  der  Decke  herabhängender  verstellbarer  Haken,  au  dem  die  Töpfe  über 
dem  Feuer  hängen. 


Kulturgescliichtliches  aus  den  Marschen.  161 

Umg-eben  ist  das  Haus  oder  die  ganze  Hausstelle  von  der  Graft,  d.  li. 
einem  breiten  Graben.  Ein  fester  Damm  darüber,  der  jederzeit  abgesperrt 
werden  kann,  dient  dem  Wagenverkehr.  Für  die  Fussgänger  ist  meistens 
noch  ein  zweiter  Übergang  vorhanden,  oft  eine  Zugbrücke,  die  uns,  auf- 
gezogen, an  das  stolze  Wort:  „My  house  is  my  Castle"  erinnert. 

Der  Garten  befindet  sieh  stets  in  möglichst  geschützter  Lage.  Er 
erfährt  eine  vorzügliche  Behandlung,  infolgedessen  er  auch  reiche  Erträge 
abwirft.  Gewöhnlich  untersteht  er  dem  Kommando  der  Hausfrau,  deren 
grösster  Ehrgeiz  darin  besteht,  die  besten  Früchte  zu  ziehen.  In  über- 
wiegendem Masse  dient  er  dem  Gemüsebau.  Für  Blumen  und  andere 
Zierpflanzen  giebt  der  materielle  Marschbauer  ungern  vom  fetten  frucht- 
baren Boden  her,  —  bis  auch  hier  die  Tochter  des  Hauses  eingreift  und 
die  Anlage  von  poetischen  Rasen,  die  in  oft  wenig  schöner  Symmetrie 
mit  Blumenbeeten  durchsetzt  werden,  erzwingt,  ebenso  die  Anlage  einiger 
lauschiger  Lauben  u.  s.  w.  Erst  später  schreitet  man  zu  einer  geschmack- 
vollen Zusammenstellung  der  Blumen,  zur  schwungvollen  Liniierung  der 
Gartenwege  und  zur  sorgfältigen  Li  standhaltung  der  Easen  vor. 

Gleich  hinter  dem  Hause  fand  man  früher  oft  eine  Reihe  flach  ge- 
schorener Linden,  die  nach  holländischer  Art  oben  kleine  runde  Büschel 
trugen.  Li  neuerer  Zeit  verschwinden  sie.  da  man  immer  mehr  einsieht, 
dass  sie  dem  Hause  ausserordentlich  schaden,  weil  sie  es  nie  recht  trocken 
werden  lassen,  indem  sie  es  gegen  die  Sonne  absperren.  Hinter  diesen 
Linden  kommt  dann  der  Obstgarten. 

Zu  einer  Art  Fest  wird  allemal  das  Legen  der  Balken  und  Aufrichten 
der  Sparren  bei  einem  Neubau.  Zu  einer  solchen  „Husbörje"  sind  eine 
Menge  tüchtiger,  gewandter  und  mutiger  Leute  erforderlich,.  Leute,  die 
unter  keinen  Umständen  wieder  fahren  lassen,  was  sie  einmal  erfasst  haben. 
Und  wie  die  Bauern  schon  bei  der  Anfuhr  der  Baumaterialien  sich  gegen- 
seitig Hilfe  leisten,  so  bedarf  es  auch  in  diesem  Falle  nur  der  Bitte,  um 
die  nötigen  Hände  für  die  Husbörje  zusammenzubringen.  Die  Gebotenen 
folgen  der  Bitte  aber  um  so  lieber,  als  sie  wissen,  dass  ihnen  bei  der 
Gelegenheit  ein  festliches  Mahl,  Spirituosen  in  Hülle  und  Fülle  und  sonst 
noch  allerlei  Schönes  winkt. 

Eingeleitet  wird  die  „Husbörje"  durch  die  Bewirtung  des  gesamten 
Richt-Personals  mit  Kaffee  und  Butterbrot  mit  kaltem  Aufschnitt.  Dann 
geht  alles  an  die  Arbeit,  die  zunächst  in  dem  Legen  der  Balken  besteht. 
Diese,  oft  wahre  Waldrieseii,  werden  durch  Pferde  aufgewunden.  Mittags 
wird  aufgetragen,  was  Küche  uud  Keller  nur  zu  leisten  vermögen.  Doch 
kommt  es  dabei  nicht  so  sehr  auf  die  Qualität  als  die  Quantität  an.  Es 
ist  nicht  selten,  dass  bei  einer  Husbörje  ein  ganzes  Schaf  auf  einmal,  in 
Portionen  zerlegt,  auf  den  Tisch  kommt,  und  zwei  bis  drei  dieser  Tiere 
überhaupt    ihr  Leben    lassen    müssen.     Ausserdem  aber  giebt  es  Pudding, 


162  Tieuken: 

fette  Sauce,  allerlei  Kompot  und  Bier  als  Tiscligetränk.  Abends  besteht 
die  Mahlzeit  wieder  aus  Kaffee  oder  Bier  mit  Butterbrot. 

Sind  auch  die  Dachsparren  aufgerichtet  und  genügend  befestigt,  so 
steigt  der  älteste  Zimmergeselle  in  deren  Spitze,  um  seinen  Spruch  zu 
sagen.  In  diesem  dankt  er  zunächst  für  den  bisherigen  glücklichen  Verlauf 
des  Baues,  wünscht  dann  dem  neuen  Hause  und  seinen  Bewohnern  auch 
ferner  alles  Gute,  fragt  den  Bauherrn,  wie  ihm  der  Bau  gefalle  und  schliesst 
endlich  mit  einem  Hoch  auf  den  Bauherrn.  Darauf  wirft  er  die  Branntwein- 
Flasche,  der  er  während  seiner  Eede  hin  und  wieder  zugesprochen  hat, 
über  die  Schulter.  Und  es  wird  allgemein  als  ein  böses  Zeichen  angesehen, 
wenn  die  Flasche  nicht  zerschellt:  das  Haus  wird  dann  keinen  Bestand 
haben.  Nunmehr  wird  dem  Gesellen  ein  mit  vielen  bunten  Bändern  ge- 
schmückter Kranz  zugereicht,  von  ihm  befestigt  und  bis  zur  Bedachung 
des  Baues  dem  fröhlichen  Spiel  der  Lüfte  überlassen.  Der  Bauherr  aber 
niuss  dem  Sprecher  für  die  Zimmerleute  noch  ein  angemessenes  Trinkgeld 
überreichen. 

Nach  dem  Abendessen  und  also  nach  Beendigung  des  Richtens  gefällt 
sich  die  Jugend  gewöhnlich  noch  in  mancherlei  Kurzweil,  die  meistens 
erst  spät,  nicht  selten  erst  am  anderen  Morgen  ein  Ende  findet. 

Die  Wirtschaft  mit  ihren  Festen  und  Bräuchen. 

Die  wirtschaftliche  Folge  der  verheerenden  Weihnachtsflut  von  1717 
gipfelte  in  der  Realisierung  des  alten  Wortes:  „Wer  nich  kann,  de  mutt 
wieken."  Zum  letztenmale  trat  das  Spatenrecht  in  Kraft.  Manche  Grund- 
besitzer konnten  oder  wollten  die  jetzt  schier  unerschwinglichen  Deichlasten 
nicht  leisten,  sie  steckten  nach  altem  Brauch  einen  Spaten  in  ihre  Grund- 
stücke und  deuteten  damit  an,  dass  sie  sich  derselben  zu  entledigen  be- 
absichtigten. Umgekehrt  aber  galt  das  Herausziehen  des  Spatens  als 
Zeichen,  dass  der  Spatenzieher  die  betreffenden  Grundstücke  gegen  Über- 
nahme der  Deichlasten  in  Besitz  zu  nehmen  geneigt  sei.  Rüstige  Arbeiter 
haben  manchen  Spaten  gezogen  und  sich  damit  in  den  Stand  der  Grund- 
besitzer aufgeschwungen;  ja,  in  manchen  der  heute  zur  Bauernaristokratie 
zählenden  Familien  glaubt  man  mit  Sicherheit  die  Nachkommen  ehemaliger 
Spatenzieher  erkennen  zu  können. 

Überall  wurden  die  Deiche  jetzt  doppelt  so  hoch  und  stark  gemacht, 
als  sie  vor  der  Flut  gewesen  waren.  Die  hölzernen  „Siele",  das  sind  die 
unter  dem  Deich  liegenden  Schleusen,  wurden  erst  gegen  Ende  des  vorigen 
Jahrhunderts  durch  steinerne  Schleusen  ersetzt. 

Indes  hatte  die  Weihnachtsflut  auch  wieder  ihr  Gutes:  konnte  man 
vorher  nur  mit  sechs  Pferden  pflügen,  so  ging  es  jetzt  schon  mit  vier  Pferden, 
so  sehr  hatte  das  Meerwasser,  welches  volle  zwei  Jahre  auf  dem  Lande 
stand,  dieses  verbessert,  ^)    Immer  noch  freilich  ist  der  Marschboden  ausseiest 


1)  Wisbeck,  Die  Nieder-Weser  und  Osterstade.    Hannover  1798.     S.  129. 


Kulturgeschichtliches  aus  den  Marschen.  163 

zähe  und  schwer  zu  bearbeiten;  —  „päksch"  (pechisch)  nennt  ihn  der 
Marschbauer.  Die  Ackergeräte  müssen  stark  und  schwer  sein,  falls  sie 
den  Boden  überwinden  wollen.  In  Rücksicht  auf  diese  Schwierigkeiten 
baute  man  in  der  Marsch  von  jeher  nur  das  an  Korn,  was  für  den  eigenen 
Bedarf  ausreichte  und  wandte  sich  dafür  der  bequemeren  Viehzucht  zu. 
Doch  war  auch  diese  im  vorigen  Jahrhundert  immer  sehr  unsicher,  da 
verheerende  Seuchen  den  Yiehstand  oft  um  zwei  Drittel  verringerten.  Im 
Lande  Wursten  scheinen  die  Seuchen  nicht  ganz  so  heftig  aufgetreten  zu 
sein,  da  die  Osterstader  zum  Teil  dort  Vieh  aufkauften,  um  ihre  Weiden 
und  Ställe  wieder  zu  füllen.  Der  Viehhandel,  meistens  ein  Exporthandel, 
war  mit  unendlichen  Scherereien  verknüpft;  auf  jedes  Stück  Vieh  kamen 
etwa  8— lOpCt.  Unkosten.  Mit  geringen  Ausnahmen  hielt  und  hält  jeder 
Marschbewohner  mindestens  eine  Kuh,  die  grösseren  Bauern  sechs  und 
mehr.  —  Die  Pferdezucht  wurde  meistens  nur  soweit  betrieben,  um  den 
gewöhnlichen  Abgang  des  Pferdematerials  zu  ersetzen.  Im  übrigen  aber 
brachte  man  schon  als  Saugfohlen  auf  den  Markt,  was  nur  voraussichtlich 
zu  entbehren  war.  In  neuerer  Zeit  erst  wird  mehr  Gewicht  auf  die  Pferde- 
zucht und  ein  gutes  Pferdematerial  gelegt.  —  Die  Schafzucht  war  nicht 
bedeutend,  da  man  die  Durchwinterung  der  Schafe  scheute.  Auch  heute 
steht  es  noch  so.  Ebenso  wurde  die  Schweinezucht  vernachlässigt.  Damit 
ist  es  heute  freilich  besser  geworden,  durchweg  findet  man  in  jeder  Wirt- 
schaft, auch  der  kleinsten,  ein  oder  zwei  Schweine,  die  fett  gemacht  werden. 
Dagegen  scheint  die  Gänsezucht  früher  in  hoher  Blüte  gestanden  zu  haben 
und  besonders  ein  wichtiger  Erwerbszweig  für  die  sogen,  kleinen  Leute 
gewesen  zu  sein,  trotzdem  die  Gänsepest  alljährlich  grossen  Schaden  an- 
richtete. 

Nur  in  Zeiten,  wo  die  Seuche  unter  dem  Yiehstande  aufgeräumt  hatte, 
gelangte  der  Ackerbau  zu  grösserer  Ausdehnung.  Hauptsäclilich  wurden 
Hafer  und  Weizen  gebaut,  Roggen  nur  in  beschränktem  Masse,  Sommer- 
o-erste  und  Bohnen  wieder  mehr.     Auch  der  Flachsbau  wurde  allenthalben 

o 

betrieben.  Der  Rapsbau  stand  um  die  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  in 
voller  Blüte,  nahm  aber  gegen  Ende  desselben  ab  und  hörte  dann  bald 
ganz  auf. 

Das  Dreschen  des  Rapses  bot  immer  Anlass  zu  echter  Lustigkeit. 
Es  geschah  unter  freiem  Himmel  auf  grossen  Segeltüchern,  welche  auf 
dem  Felde  ausgebreitet  wurden.  Die  fröhlichste  Ausgelassenheit  herrschte 
dabei:  jeder  hinzukommende  Fremde  wurde  „gehögt"  ^),  ebenso  der  Haus- 

1)  „Dieses  Högen-,  sagt  Herrn.  Allmers  (Marschenbuch  S.  257),  „ist  in  manchen 
Marschen  Sitte  und  besteht  darin,  dass  man  sich  mit  mehreren  die  Hände  reicht,  den  zu 
Ehrenden  nötigt,  sich  darauf  zu  setzen  und  ihn  unter  lautem  Jüchen  sieben-  bis  achtmal 
sanft  in  die  Höhe  hebt.  Ältere  Leute  und  Damen  bögt  man  auch  wohl  auf  einem  Lehn- 
stuhl und  besonders  behutsam  und  respektvoll.  Mit  jungen  Leuten  aber  oder  mit  seines- 
gleichen macht  man  nicht  viel  Umstände;  man  packt  sie,  ehe  sie  sich  dessen  versehen, 
ohne  'weiteres  beim  Kragen,    wirft  sie,    wie  man  einen  Fuchs  prellt,    mit  gellendem,    aus- 


164  Tienken: 

lieiT  und  seine  Familie.  Am  Scliluss  des  Dreschens  wurde  der  Arbeitsherr 
„in't  Seil  (in  das  Segel)  genommen,  wofür  er  den  Leuten  Bier  und  Brannt- 
wein, auch  wohl  Musik  spendete.  Zum  Abendessen  kam  Pudding  und 
Braten  auf  den  Tisch. 

Ebenso  war  auch  die  Bohnenernte  in  früheren  Zeiten  stets  mit 
allerlei  Belustigung  verbunden.  Die  tagelöhnernden  Binder  und  Binde- 
rinnen erhielten  am  Schluss  des  Bindens  der  Bohnen  in  Garben  einen 
sogen.  Binderhocken  (=  10  Garben)  zum  Eigentum.  Die  Abendmahlzeit 
am  letzten  Tage  des  Bindens  aber  verlaugte  allemal  einen  gebratenen 
Hahn.  Nach  dem  Essen  wurde  bei  dieser  Gelegenheit  von  zwei  Männern 
noch  der  landesübliche  „Siebensprung",  ein  grotesker  Schautanz,  auf- 
geführt. 

Beide  Erntebelustigungen  haben  aufgehört.  Allein  mit  dem  Roggen- 
mähen ist  noch  etwas  derartiges  verbunden.  Am  grössten  und  aus- 
gelassensten ist  die  allgemeine  Freude  am  letzten  Tage  des  Mähens.  Da 
werden  zur  Heimfahrt  die  Pferde  mit  bunten  Bändern  und  Blumen  ge- 
schmückt, die  oft  allein  zu  diesem  Zwecke  schon  des  Morgens  von  Hause 
mitgenommen  werden.  An  Spirituosen  fehlt  es  natürlich  nicht  und  die 
Folgen  ihres  reichlichen  Genusses  zeigen  sich  nicht  selten  bei  beiden 
Geschlechtern.  Abends  wird  auf  der  Heimfahrt  aus  Leibeskräften  gesungen 
und  gejucht.  Lied  und  Worte  sind  freilich  nicht  sehr  fein  und  wenig  für 
zarte  Ohren  geeignet,  aber  die  derben  Mägde  können  in  dieser  Beziehung 
schon  etwas  vertragen.  Jede  Magd,  die  bei  ihrer  jeweiligen  Herrschaft 
zum  erstenmale  am  Eoggenmähen  teilnimmt,  wird  gehögt  und  muss  dafür 
eine  Flasche  Branntwein  zum  Besten  geben.  Ein  gleiches  Opfer  muss 
jeder  bringen,  der  eine  Arbeit  verrichtet,  die  nicht  seines  Amtes  ist.  Zu 
Hause  erwartet  abends  wieder  der  übliche  Festpudding  und  Festbraten 
die  ausgelassene  Gesellschaft,  die  sich  auch,  nachdem  sie  sich  durch  Högen 
der  Hausfrau  und  der  Töchter  einige  weitere  Flaschen  Branntwein  gesichert 
hat,  weidlich  daran  zu  Gute  thut. 

In  den  letzten  Jahrzehnten  hat  auch  diese  Erntebelustigung  viel  an 
Inhalt  verloren,  ohne  damit  anständiger  und  gesitteter  geworden  zu  seiu. 
Das  erste  aber  ist  wohl  als  eine  Folge  des  Heranziehens  von  fremden, 
„bäb^nlaudschen"  Gesindes  zu  betrachten,  das,  unbekannt  mit  einheimischem 
Brauch  und  Lied,  keine  Freude  an  ihnen  findet  und  sich  nur  in  derben 
Scherzen  und  unmässigem  Branntweingenusse  gefällt. 

Aus  schon  angegebenen  Gründen  haben  unsere  Marschen  wohl  immer 
dasselbe  Landschaftsbild  gezeigt,  nämlich  eine  einzige  grüne  Weidefläche, 
die  mit  Tausenden  buntgefleckter  Rinder  besäet  ist.  Nur  das  Land  Wursten 
treibt  etwas  mehr  Ackerbau,    —    vorzugsweise  baut  es  Weizen  — .     Sonst 


gelassenem  Jucheu  hoch  in  die  Luft,  fängt  sie  wieder  und  schleudert  sie  von  neuem  in 
die  Höhe,  dass  ihnen  Hören  und  Sehen  vergeht."  Allmers  erblickt  in  diesem  Högen  den 
Rest  der  uralten  germanischen  Sitte  des  Aufden-Schild-Hebens. 


Kulturgeschichtliches  aus  den  Marschen.  165 

hat  in  allerneiiester  Zeit  der  Ackerbau  in  der  Marsch  an  Bedeutung  und 
Umfang  verloren,  sich  dafür  aber  mehr  die  benachbarten  Moore  unter- 
worfen. Ungern  bricht  der  Marschbauer  einen  alten  Hamm^)  auf,  da 
immer  Jahre  vergehen,  ehe  der  „unter  dem  Pflug"  gewesene  Hamm  wieder 
in  den  Besitz  seiner  vollen  Kräfte  gelangt.  Je  länger  ein  Hamm  seit  dem 
letzten  Pflügen  als  AVeideland  gelegen  hat,  desto  grösser  ist  seine  Kraft. 
Und  es  giebt  hier  Hämme,  die  seit  undenklichen  Zeiten  nicht  vom  Pfluge 
berührt  sind.  Der  Yolksmund  nennt  sie  bezeichnenderweise  Jungfern- 
hämme. 

Der  A^iehstand  unserer  Marschen  zeigt  eine  grosse  Ähnlichkeit  mit 
der  holländischen  Rasse.  Vielleicht  ist  dies  noch  eine  Folge  der  Einführung 
holländischen  Zuchtviehs,  die  im  vorigen  Jahrhundert  mehr  als  einmal 
nötig  war,  um  den  einheimischen,  von  Seuchen  zerstörten  Yiehstand  zu 
ersetzen  und  zu  verbessern.  Das  Vieh,  durchweg  schwarz  und  weiss  ge- 
fleckt, auch  wohl  ganz  schwarz,  selten  aber  ganz  weiss,  ist  gross  und  von 
kräftigem  Knochenbau.  Seine  Höhe  beträgt  —  von  der  Hinterklaue  bis 
zur  Schulterspitze  gemessen  —  oft  fünf  Fuss  und  seine  Länge  ebenso  oft 
—  von  den  Hörnern  bis  zur  Schwanzwurzel  gemessen  —  acht  bis  neun 
Fuss.  Ein  dreijähriger  Ochse  erreicht  nicht  selten  ein  Gewicht  von  1800 
bis  2000  Pfund.  Die  Kühe  werden  gut  bezahlt  und  vielfach  als  Zucht- 
material in  die  ostelbischen  Gegenden  ausgeführt,  um  dort  zur  Hebung 
der  Viehzucht  beizutragen. 

Trotzdem  die  Marschkühe  treffliche  und  reichliche  Milch  geben,  ist 
die  Milclnvirtschaft  doch  nicht  sehr  bedeutend.  Im  vorigen  Jahrhundert 
wurde  die  Käsebereitung  ziemlich  rege  betrieben,  und  besonders  Osterstade 
leistete  darin  Bedeutendes  und  war  in  dieser  Beziehung  den  anderen 
Marschen  weit  überlegen.''')  Jetzt  hat  die  Käsebereitung  jede  Bedeutung 
verloren;  höchstens,  dass  noch  der  eigene  Bedarf  gedeckt  wird.  Der 
jährliche  Buttergewinn  von  einer  Kuh  wird  auf  100—140  Pfund  geschätzt; 
die  Butter  wird,  soweit  sie  über  den  eigenen  Bedarf  geht,  durchweg  in 
den  nahen  Hafenstädten  auf  den  Markt  gebracht. 

Es  giebt  keinen  anderen  Zweig  der  Landwirtschaft,  der  so  wenig 
Mühe  macht  als  die  Viehzucht  in  der  Weise,  wie  sie  hier  in  den  Marschen 
durchweg  betrieben  wird  und  der  dazu  unter  den  gegenwärtigen  agrarischen 
Verhältnissen  relativ  so  einträglich  wäre;  einträglich  und  bequem  vor 
allem  für  den,  der  über  genügenden  Grundbesitz  verfügt:  er  treibt  sein 
Vieh  im  Frühjahr  zum  Teil  als  Magervieh  in  die  fetten  Weiden  und  ver- 
kauft es  im  Herbst,  nachdem  es  fett  geworden  ist.  Der  Grundbesitz 
freilich  ist  ja  auch  stets  mit  allerlei  und  zum  Teil  bedeutenden  Abgaben 
belastet,    trotzdem    aber    kann    der  Marschbauer    unmöglich    von   sich  be- 

1)  Mit  ..Hamm"  bezeichnet  mau  jedes  mit  einem  Wassergraben  umzogene  Acker- 
oder Weideland.     Doornkaat-Koolraan,  Ostfr.  Wb..  2,  21. 

2)  Pratje,  a.  a.  0.  II,  S.  37. 


Ißß  Tienkeu: 

haupteii,  dass  er  zu  den  notleidenden  Landwirten  gehöre.  Die  für  das 
Fettvieh  im  Herbst  erzielten  Preise  bestimmen  für  das  ncächstfolgende 
Jahr  den  Paehtpreis  der  Weiden.  Dieser  wird  nach  „Juck"  (Joch)  be- 
rechnet. Ein  Jüek  ist  etwa  1 7^  Morgen  gross  und  der  Pachtpreis  stellt 
sich  dafür  in  guten  Jahren  auf  78—90  Mark,  der  Kaufpreis  auf  2400  bis 
3000  Mark.     Manche  Hausleute  besitzen  hundert  und  mehr  Juck. 

Viele  schöne  Marscliwei<len  sind  leider  den  Händen  der  Marschbauern 
entglitten  und  zum  grössten  Teil  durch  Kauf,  Erbschaft  oder  auch  als 
Mitgift  an  auswärtige  Landwirte  gefallen.  Doch  haben  die  Einwohner 
der  Marschdörfer  immer  noch  vielen  Nutzen  und  Vorteil  davon,  denn  jeder 
Hamm  hat  seine  Deiche,  seinen  Anteil  an  den  Gemeindewegen,  an  den 
Flethen  und  Gräben  zu  unterhalten.  Die  fernen  Grundeigentümer  aber 
können  diese  Arbeiten  nicht  gut  selbst  leisten,  weil  zu  viel  Zeit  damit 
verloren  gehen  würde;  sie  lassen  sie  also  durch  einen  Ortsangesessenen 
ausführen.  Ferner  bedarf  ihr  in  der  Marsch  weidendes  Vieh  einer  sorg- 
fältigen Aufsicht  und  die  Grundstücke  der  Reinigung  von  allerlei  Un- 
kraut, sowie  die  umgebenden  Gräben  mindestens  alle  drei  Jahre  von 
wuchernden  Sumpf-  und  Wasserpflanzen  gesäubert  werden  müssen,  die  sie 
sonst  im  Laufe  der  Zeit  gänzlich  ausfüllen  würden.  Diese  Aufsicht  nennt 
man  „Buwahr"  (Bewahrung)  und  die  damit  beauftragte  Person  einen  „Bu- 
wahrsmann".  Dieser  hat  auch  die  auf  dem  betr.  Grundbesitz  lastenden 
Steuern  auszulegen  und  den  auswärtigen  Grundeigentümer  in  Gemeinde- 
angelegenheiten zu  vertreten.  Durch  alle  diese  Umstände  aber  wird  der 
Marschbevölkerung,  namentlich  den  kleinen  Leuten  manche  lohnende  Arbeit 
eröffnet. 

So  früh  wie  nur  irgend  angängig  wird  das  Vieh  im  Frfüijahr  auf  die 
Weide  gebracht  und  im  Herbst  so  lange  wie  möglich  draussen  gelassen. 
Ist  die  Witterung  ausnahmsweise  günstig,  so  günstig,  dass  die  Kühe  noch 
am  Weihnachtsabend  auf  der  Weide  sind  und  dort  gemolken  werden,  so 
erhält  die  .Melkerin  ein  Kleid  als  Extra -Weihnachtsgeschenk.  Ein  Fall, 
der  nur  äusserst  selten  eintritt!  Ungünstige,  rauhe  Witterung  und  Gras- 
mangel zwingen  meistens  schon  um  Martnii  zum  Aufstallen  des  Yiehs. 

Hinsichtlich  des  Ackerbaus  kennt  die  .Marschbevölkerung  keinen 
Aberglauben,  hat  ihn  auch  vielleicht  niemals  gekannt,  weil  der  Ackerbau 
ihr  stets  ferner  lag  und  immer  von  geringerem  Interesse  für  sie  war.  Das 
Vieh  dagegen  glaubte  man,  zum  Teil  auch  heute,  durch  allerlei  symbolische 
Handlungen  gegen  alles  Unheil  sichern  zu  können  und  zu  müssen.  So 
legte  man  dem  Yieh,  wenn  es  im  Frühjahr  auf  die  Weide  getrieben  wurde, 
ein  Beil  vor  die  Schwelle.  Das  schützte  vor  Hexerei.')  Ein  anderes 
Mittel  bestand  darin,  dass  das  Vieh  auf  Stirn  und  Kreuz  mit  Salz  bestreut 

1)  Kuhn,  Westfäl.  Sagen,  2,  154.     Allmers,  Marscheubuch,  S.  KIT. 


Kulturgeschichtliches  aus  den  Marschen.  167 

wurde,  wozu  dann  allerlei  geheimnisvolle  Sprüche  gemurmelt  wurden. 
Diese  beiden  Prozeduren  geschahen  in  vielen  Häusern  stets,  sobald  das 
Vieh  den  Stall,  wenn  auch  nur  vorübergehend,  verlassen  musste.  Hatten 
mehrere  Eigentümer  ihre  Kühe  in  einer  Weide,  so  durfte  keiner  von  ihnen 
seine  Kuh  besonders  füttern,  so  lange  es  nicht  auch  die  anderen  thaten. 
Man  glaubte  nämlich,  dass  die  besonders  und  besser  gefütterten  Kühe  den 
Rahm  der  anderen  an  sich  zögen.  Derselbe  Glaube  herrscht  auch  in  den 
holsteinischen  Eibmarschen.  So  konnte  man  vor  wenigen  Jahren  in  den 
„Itzehoer  Xachrichten"  folgendes  Inserat  eines  Landwirtes  aus  Krummen- 
diek  lesen:  „Wer  mir  den  nachweisen  kann,  der  behauptet  hat,  ich  habe 
meine  Kühe  auf  der  Weide  mit  Brot  gefüttert,  erhält  eine  Belohnung." 
Dieser  Aberglaube  lässt  sich  übrigens  weit  zurückverfolgen.  *)  Wenn  man 
eine  Kuh,  die  eben  gekalbt  hat,  über  den  Henkel  des  Eimers  saufen  lässt, 
dann  ist  das  nächstfolgende  Kalb  unfehlbar  weiblichen  Geschlechtes,  was 
in  Hinsicht  auf  die  Aufzucht  oft  gewünscht  w^ird.  Hat  ein  Pferd  gefohlt, 
so  wird  die  Nachgeburt  in  einen  Baum  gehängt,  unter  den  das  betreffende 
Füllen  durchgeführt  wird,  wenn  es  zum  erstenmale  mit  seiner  Mutter  auf 
die  Weide  gebracht  wird.  Wenn  es  bei  dieser  Gelegenheit  nun  den  Kopf 
hebt  und  die  Nachgeburt  im  Baum  sieht,  trägt  es  zeitlebens  den  Kopf  hoch. 
Der  Umstand,  dass  in  den  letzten  Jahrzehnten  viele  Bauernsöhne  die 
näherliegenden  landwirtschaftlichen  Lehrinstitute,  besonders  die  Ackerbau- 
schule in  Bremervörde,  besuchen,  hat  für  manchen  Bauernhof  grosse  Um- 
wälzungen zur  Folge  gehabt:  zuuächst  fällt  dem  von  der  Schule  zurück- 
gekehrten Sohn  der  Maschinenmangel  schwer  aufs  Herz.  Zwar  findet  er 
die  Häckselschneidemaschine  wohl  immer  vor,  —  sie  fand  schon  in  den 
40er  und  50er  Jahren  Eingang  — ,  aber  sie  genügt  ihm  nicht,  umsoweniger 
als  das  Arbeiten  mit  derselben  eine  beschwerliche  und  zeitraubende  Arbeit 
ist.  Mit  Göpelbetrieb  würde  sich  das  alles  viel  anders  und  besser  machen. 
Und  so  wird  denn  der  Vater  so  lange  bestürmt,  bis  er  in  die  Anschaffung- 
eines  Göpels  einwilligt.  Der  Göpel  aber  bewirkt  seinerseits  direkt  und 
indirekt  mit  einem  Schlage  eine  grosse  Vervollkommnung  der  bäuerlichen 
Maschinerie.  Die  alten  Maschinen  erweisen  sich  in  der  Regel  wenig  oder 
gar  nicht  geeignet  für  den  Göpelbetrieb;  es  müssen  bessere,  stärkere, 
neuerer  Konstruktion  angeschafft  werden  und  ihnen  folgen  viel  andere 
Maschinen,  an  die  der  Bauer  bisher  gar  nicht  dachte,  nach,  mit  magischer 
Kraft  vom  Göpel  herangezogen,  mit  dem  sie  ja  sämtlich  in  bequemster 
Weise  verbunden  werden  können.  So  giebt  es  denn  bald  Dreschmaschinen, 
Rübenschneider,   Schrotmühlen  u.  a.  mehr.     Möglichst  viele  Maschinen  zu 

1)  Nach  der  Gildebeliebung  von  Krerapdorf  (Holstein)  vom  Jahre  16fi7  soll  „keiner 
im  Dorffe  seine  Ferde  mit  Knoblauchbrodt  oder  Malz  füttern,  damit  seines  Nachbarn 
Ferde  dadurch  nicht  gestenget"  (unlustig  zum  Fressen)  „-sverden".  Der  Zuwiderhandelnde 
soll  „den  Schaden  bessern  undt  daneben  der  Gilde  eine  Tonne  Hamburger  Bier  straffe 
geben." 


Ißg  Tionken: 

liaben,  gehört  in  den  Marsclien  zum  guten  Ton.  Wer  sich  ihnen  gegen- 
über passiv  und  ablehnend  verhält,  gilt  für  zurückgeblieben  und  altmodisch. 
Kein  Bauer  aber  mag  solches  von  sich  sagen  lassen,  am  allerwenigsten  in 
seiner  Jugend. 

Der  Kinfluss  des  Ackerbauschülers  aber  zeigt  sich  nicht  allein  auf 
dem  Gebiete  des  Maschinenbetriebes,  er  äussert  sich  auch  in  der  vermehrten 
Anwendung  künstlicher  Dünger  und  Futtermittel.  Auch  der  Obstgarten 
erfährt  jetzt  eine  sorgfältigere  Behandlung,  das  Ausputzen  der  Bäume 
geschieht  zweckmässiger  und  rechtzeitiger,  ebenso  die  Düngung.  Der 
Obstgarten  ist  in  guten  Jahren  für  die  Marschen,  mit  Ausnahme  des 
Landes  Wursten,  dessen  Bäume  zu  scharf  von  den  rasenden  salz- 
geschwängerten Seestürmen  mitgenommen  werden,  zum  Teil  eine  bedeutende 
Einnahmequelle.  Auch  eines  abergläubischen  Gebrauches  ist  an  dieser 
Stelle  noch  zu  gedenken :  in  der  Sylvesternacht  bringt  man  die  Obstbäume 
vielfach  „bi'n  Bullen",  d.  li.  man  umwindet  sie  unter  tiefstem  Schweigen 
mit  einem  Seil.  Diesem  schreibt  man  eine  befruchtende  Wirkung  zu,  die 
nach  der  Meinung  vieler  nie  ausbleibt.^)  Wenn  ein  Obstbaum  in  einem 
Jahre  zweimal  blüht,  so  mnss  nach  dem  Volksglauben  im  nämlichen  Jahre 
eine  Person  aus  dem  Hause  sterben.  Mehrmals  ist  dies  in  der  That  ein- 
getroffen. Alljährlich  werden  im  Frühjahr  die  Obstgärten  nach  Blutläusen 
untersucht.  Yor  einigen  Jahren  mussten  die  Stämme  der  Obstbäume  von 
Moos  und  anderem  sauber  gereinigt  und  sodann  mit  Kalkmilch  bestrichen 
werden.  Trotzdem  die  Behörde  es  mit  dieser  Massregel  so  gut  meinte, 
erregte  sie  doch  heftigen  Widerwillen:  „Wat  geiht  anner  Lür  dat  an,  ob 
ick  Appeln  heff  oder  nich",  konnte  man  oft  sagen  hören. 

Im  vorigen  Jahrhundert  und  auch  im  ersten  Viertel  des  jetzigen  noch 
war  die  Schiffahrt  als  lohnender  Erwerbszweig  sehr  beliebt.  In  Oster- 
stade konnte  man  im  18.  Jahrhundert  auf  fast  jedes  Haus  einen  Seefahrer 
rechnen,  und  das  Gleiche  wird  wohl  auch  für  die  übrigen  Marschen  zu- 
treffen. Zu  Anfang  des  vorigen  Jahrhunderts  wurden  die  Seereisen  von 
Amsterdamer  Kaufleuten  unternommen  und  von  Amsterdam  aus  auch  an- 
getreten; gegen  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  erst  gingen  sie  direkt  von 
Osterstade  aus.  Das  „Fahren"  brachte  viel  Geld  ins  Land,  namentlich 
holländisches,  welches  aber  bald  nach  Holland  wieder  abfloss,  da  es  an 
den  inländischen  öffentlichen  Kassen  nicht  in  Zahlung  genommen  wurde.  ^) 
Jetzt  hat  das  „to'r  See  gähn"  seine  Bedeutung  zum  grössten  Teil  verloren. 
An  die  frühere  Seefahrtslust  aber  wird  noch  oft  erinnert  durch  gewaltige 
Walfischrippen  die  noch  in  manchen  Dörfern  zu  finden  sind. 

Auch  die  Flussschiffahrt  verliert  mehr  und  mehr  an  Bedeutug.  Sie 
ist    den    vielen  Dampfern,    welche    die  Weser    zwischen  Bremen  und  den 


1)  Vgl.  Kuhn  und  Schwartz,  Norddeutsche  Sagen,  S.  407. 

2)  Visbeck  a.  a.  0.  S.  204 ff. 


Kulturgeschichtliches  aus  den  Marschen.  169 

Hafenorten  an  der  Unterweser  dnrchpflügen ,  nicht  länger  gewachsen. 
Ebenso  ergeht  es  auch  den  Fischern.  Der  Fischfang  kann  in  guten  Jahren 
erheblich  reich  sein,  aber  trotzdem  ist  wohl  noch  kein  Fischer  reich  ge- 
worden. Ausserdem  schaden  die  vielen  Dampfer  den  Fischen  ausser- 
ordentlich, und  endlich  ist  auch  die  Konkurrenz  der  Hochseefischerei  zu 
stark,  als  dass  sie  von  den  Flussfischern  ertragen  werden  könnte.  Das 
Land  Wursten  dagegen  geniesst  einen  bequemeren  und  grösseren  Nutzen 
von  den  Gaben  des  Meeres:  barfuss  und  hochgeschürzt  eilen  Männer  und 
Frauen  zur  Zeit  der  Ebbe  auf  die  Watten,  um  in  den  Prielen  die  wohl- 
schmeckende Garnele,  den  Butt  u.  a.  zu  erhaschen.  Die  Beute  wird  dann 
gewöhnlich  in  den  nahen  Hafenorten  an  den  Mann  gebracht.  Auch  der 
Seehund  sonnt  sich  nicht  selten  auf  dem  Sande  der  Watten  und  bildet 
dann  einen  Gegenstand  eifriger  Jagd. 

Einen  anderen,  zweifelhafteren  Erwerb,  der  auf  die  Marschbewohner 
nicht  das  beste  Licht  w^irft,  fanden  sie  im  vorigen  Jahrhundert  im  Strand- 
raub und  im  Schmuggel.  Das  Antreiben  vieler  und  wertvoller  Strand- 
güter empfanden  sie  als  einen  vom  Himmel  kommenden  Segen,  nannten 
ihn  auch  offen  Strandsegen  und  beteten  um  ihn.^)  Der  Schmuggel  aber 
dauerte  noch  länger  fort,  zum  Teil  sogar  bis  in  den  Anfang  der  80  er  Jahre 
dieses  Jahrhunderts. 

Fast  jedes  Dorf  hat  eine  oder  mehrere  Ziegeleien,  die  ihre  gewaltigen 
Kauchwolken  gen  Himmel  senden.  Andere  industrielle  Anlagen  findet  man 
hier  nicht.  Die  ältesten  Ziegeleien  dürften  aus  der  Mitte,  einige  auch 
wohl  schon  aus  der  ersten  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts  stammen.  Ob 
auch  damals  bereits  die  Ziegelarbeiter  aus  Lippe  kamen,  wie  es  jetzt 
meistens  der  Fall  ist,  ist  nicht  festzustellen,  da  jede  Nachricht  hierüber 
fehlt.  Die  festen,  dauerhaften  Steine  werden  durchweg  auf  dem  Wasser- 
wege versandt  und  werden  gut  bezahlt.  Die  aufstrebenden  Hafen-  und 
Handelsstädte  sind  die  hauptsächlichsten  Abnehmer.  Der  Boden  hat  in 
der  Nähe  einer  solchen  Ziegelei  mehr  als  den  doppelten  Wert  des  ge- 
wöhnlichen Landes,  da  sie  abgebrochen  werden  muss,  sobald  er  ihr  fehlt. 
Als  letzte  Einnahmequelle  ist  noch  die  Rohr-  oder  Reiternte  zu 
erwähnen.  Auf  dem  schmalen  Landstrich  zwischen  dem  Deiche  und  dem 
Flussufer  ziehen  sich  die  dichten,  mächtigen  Rohrfelder  entlang.  Das 
dunkelgrün,  fast  blau  belaubte  Rohr  erreicht  oft  eine  Höhe  von  8— lOFuss. 
Die    festen  harten  Halme  sterben  im  Herbste  ab  und  die  Blätter  nehmen 


1)  Teige,  Die  alte  Eeligiousgeschichte  von  Osterstade  in  Henkes  neuem  Magazin  für 
Religiousphüosophie,  Exegese  und  Kirchengeschichte,  Helmstädt  1798.  —  Im  Jahre  1772 
erliess  die  Regierung  zu  Stade  eine  Verordnung  bezüglich  des  Strandgutes,  und  erneuerte 
sie  1796  Ausserdem  wurde  sie  von  diesem  Jahre  ab  am  21.  Trinitatissonntage,  also 
zu  einer  Zeit,  da  die  schweren  Herbststürme  einzusetzen  püegen,  von  den  Kanzeln  publiziert. 
„Recht  absichtlich",  meint  naiv  der  alte  biedere  Teige,  Pastor  in  Büttel,  „war  daher  schon 
in  dem  vorigen  Kirchengebetsformular,  sowie  in  dem  jetzigen  die  Bitte  eingerückt,  dass 
Gott  ein  ehrliches  und  gewissenhaftes  Gewerbe  segneu  möchte." 


170  Tienken:  Kulturgeschichtliches  aus  den  Marschen. 

eine  hellgraue  Farbe  an.  Das  Reit  ist  reif  und  es  beginnt  nun,  sobald 
der  erste  Frost  eintritt  und  den  sumpfigen  Boden  härtet,  ein  reges  Leben:  mit 
kurzklingiger  Sense  wird  das  Rohr  geschnitten,  dann  gebunden  und  auf  dem 
Kopfe  an  den  Deich  getragen,  um  von  dort  aus,  wenn  irgend  möglich, 
sogleich  zur  Achse  nach  Hause  geschafft  zu  werden.  Hier  wird  es  dann 
im  Laufe  des  Winters  A'om  Laube,  von  zerbrochenen  Halmen  und  anderen 
überflüssigen  Bestandteilen  gereinigt,  in  kleine  Bunde,  Schöfe  genannt, 
gebunden  und  bis  zum  Verkauf  in  Schober  zusammengelegt.  —  Das  Rohr 
liefert  ein  dauerhaftes  Material  zum  Dachdecken,  wozu  es  auch  weit  und 
breit  benutzt  wird.  —  Feststehende  und  besondere  Speisen  giebt  es  bei 
der  Reiternte  nicht,  und  abgesehen  von  dem  Högen  der  das  Mittagessen 
bringenden  Magd,  auch  keine  besonderen  Gebräuche. 

Interessant  ist  der  Wirtschafts-Individualismus,  wie  er  zwischen  den 
osterstadischen  Nachbardörfern  Rechtenfleth  und  Sandstedt,  die  kaum  eine 
nalbe  Stunde  voneinander  entfernt  liegen,  zu  Tage  tritt.  Vor  allem  macht 
er  sich  in  folgenden  drei  Punkten  bemerkbar: 

1.  Der  Sandstedter  setzt  immer  nur  sechs  Garben  in  einem  Hocken 
zusammen  und  umschnürt  die  Spitze  dieses  leicht  mit  einem  Stroh- 
seil, dem  sogen.  „Hockseel".  Der  Rechtenflether  dagegen  setzt 
stets  zehn  Garben  zusammen  und  denkt  nicht  daran,  sie  zu  „hock- 
seelen". 

2.  Werden  im  Herbst  die  Geest-  oder  Moorkartoffeln  eingefahren,  so 
setzt  der  Sandstedter  immer  nur  eine  Seitenleiter  auf  den  Wagen. 
Der  Rechtenflether  benutzt  dagegen  stets  zwei,  obgleich  die  Sand- 
stedter Manier  den  Vorzug  hat,  dass  die  schweren  Säcke  sich  be- 
quemer auf-  und  abladen  lassen. 

3.  Wenn  im  Frühjahr  oder  Frühsommer  die  Milchkälber  auf  die  Weide 
gebracht  werden,  aber  ihre  Milch  noch  weiter  beziehen  sollen,  so 
werden  sie  in  Sandstedt  zunächst  vielfach  „getüdert".  Das  Tüdern 
besteht  darin,  dass  an  einer  mit  schönem  Gras  bestandenen  Stelle 
ein  kräftiger  Pfahl  in  die  Erde  geschlagen  und  an  diesem  ver- 
mittelst eines  laugen  Strickes  das  Kalb  angebunden  wird.  Natürlich 
wird  dann  der  Pfahl  nach  Bedarf  umgesetzt.  In  Rechtenfleth  findet 
dieses  Tüdern  so  gut  wie  keine  Anwendung. 

Ein  eigentümlicher  Rest  des  alten  Agrarkommunismus  hat  sich  bis  vor 
wenigen  Jahren  in  der  Gemeinde  Weddewarden  hinsichtlich  der  Aussen- 
deichsländereien  erhalten.  Herr  Hofbesitzer  Harrs  in  Weddewarden  teilt  mir 
darüber  folgendes  mit:  „Mit  der  Beweidung  unseres  Aussendeiches  stand 
es  früher  so:  im  Frühjahr,  sobald  die  Witterung  es  erlaubte  und  der 
Aussendeich  trocken  genug  war,  hatte  jeder  Besitzer  das  Recht,  so  viel 
Vieh  auf  den  Aussendeich  zu  bringen  als  ihm  beliebte.  Alles  Vieh  weidete 
darauf  bis  zum  1.  ^lai.     An  diesem  Tage  wurde  das  Rindvieh  abgetrieben. 


Bartels:  Eiu  Paar  mprk\yürdige  Kreaturen.  171 

während  <lie  Schafe  noch  acht  Tage  länger  gehen  durften.  Ausserdem 
waren  die  Besitzer  von  Arbeitspferden  berechtigt,  diese  in  der  Mittagspause 
(von  11 — IV2  Uhr)  auf  dem  Aussendeiche  grasen  zu  lassen.  Mit  dem 
•J.  Juni  erlosch  aber  auch  dieses  Recht. 

Als  dann  aber  vor  einem  Jahrzehnt  etwa  die  Milchwirtschaft  sich  zu 
entwickeln  begann,  war  es  den  Milchwirten  nicht  mehr  recht,  dass  das 
Yieh  schon  so  früh  und  in  so  grosser  Anzahl  auf  den  Aussendeich  getrieben 
wurde.  Sie  wussten  denn  auch  durchzusetzen,  dass  die  Beweiduug  des 
Aussendeiches  erst  am  15.  April  beginnen  und  auch  nur  in  bestimmtem 
Masse  stattfinden  durfte,  insofern,  als  ein  Kötner  nur  noch  drei  Stück,  ein 
Hansmann  aber  zwölf  Stück  Rindvieh  auftreiben  durfte. 

Gegen  die  Mitte  des  Monats  Juli  wird  dann  der  Anssendeich  auf- 
gemessen, wobei  auf  eine  Kötner-Gerechtigkeit  ein,  auf  eine  Hausmanns- 
Gerechtigkeit  vier  Stock  entfallen.  (Ein  Stock  =  10  Fuss  Deichmass.  Der 
Fuss  Deichmass  ist  etwas  grösser  als  der  gewöhnliche  hannoversche  Fuss.) 
Der  ganze  Aussendeich  wird  zunächst  in  fünf  „Klüfte"  eingeteilt  und  in 
jeder  Kluft  erhält  jeder  Hausmann  acht,  jeder  Kötner  zwei  Stock. 

Die  Heuernte  auf  dem  Aussendeich  zieht  sich  oft  bis  in  den  September 
hinein.  Nur  zu  oft  machen  die  Sturmfluten  bei  dieser  Arbeit  einen  Strich 
durch  die  Rechnung,  indem  sie  den  Ertrag  ganzer  Kluften  auf  Nimmer- 
wiedersehen fortschwemmen.  Daher  der  Angstruf :  „Jan  Blank  de  kummt!" 
Gemäht  wird  nur  einmal  im  Jahre.  Nach  der  Aberntung  wird  der  Aussen- 
deich wieder  beweidet,  und  zwar  früher  mit  beliebiger  Stückzahl,  jetzt  nach 
dem  letzterwähnten  Masse. 

(Im  Dezember  1895    ist    ein  Antrag   auf  Aufteilung  des  Aussendeichs 
eingegangen  und  mit  einigen  Stimmen  Mehrheit  angenommen  worden.) 
(Fortsetzung-  fol<jt.) 


Ein  Paar  merkwürdige  Kreaturen. 


Von  Dr.  Max  Bartels. 


Ein  Paar  absonderliche  Tiere  sind  es,  von  denen  ich  hier  zu  sprechen 
beabsichtige:  das  eine  von  ihnen  lebt  unter  der  Erde.  Hier  wühlt  es  sich 
seine  Gänge  und  Strassen,  wie  die  Maikäferlarve,  der  Engerling,  oder  auch 
wie  der  Regenwurm;  und  dennoch  ist  es  ein  Säugetier.  Wenn  man  doch 
einmal  seiner  ansichtig  wird,  dann  bemerkt  man,  wenigstens  wie  das  Volk 
fest  glaubt,  dass  es  keine  Augen  hat.  Wozu  sollte  es  diese  auch  wohl 
unter    der  Erde  gebrauchen?     Es  fiele  ihm  ja  doch  nur  Sand  hinein.     An 


172  Bartels: 

seinem  dicht  behaarten,  einer  kurzen  dicken  Wurst  ähnlichem  Leibe, 
sitzen  ein  Paar  merkwürdig  gestaltete  Yorderextremitäten,  welche  an  eine 
breite,  menschliche  Hand  erinnern,  die  mit  langen,  starken  Krallen  bewehrt 
sind.  Dieses  unterirdisch  lebende  Tier  ist  der  Maulwurf,  der  Moll  oder 
Mulwarp,  MuUworm,  Winnworp  oder  Wöhler,  wie  er  im  Plattdeutschen 
heisst,  der  Scher  oder  die  Schaermaus,  wie  ihn  die  Süddeutschen  nennen. 
Das  andere  Wesen,  von  dem  ich  zu  sprechen  habe,  ist  nicht  minder 
absonderlich.  Der  Bereich  seiner  Lebensthätigkeit  ist  die  Luft,  wo  es  sich 
gleich  den  Vögeln  unter  dem  Himmel  tummelt.  Aber  die  Fledermaus 
—  denn  von  ihr  ist  hier  die  Rede  —  hat,  wie  Konrad  von  Megenberg^), 
der  gelehrte  Regensburger  Domherr  (f  14.  April  1374)  schrieb  (S.  226): 
„kain  vedern  an  dem  leib  noch  an  den  flügeln.  si  ist  ainer  maus  aller 
ding  geleich,  der  vogel  under  allen  vögeln  gepirt  allain  seineu  kint  als 
ain  geperndez  gendez  tier  und  säugt  seineu  kint  an  daz  er  fleugt  sam  ain 
vogel  und  die  flügel  haben  ain  häutel  daz  spannt  sich  und  streckt  sich  in 
dem  flug." 

Georg  Horstius,  welcher  im  17.  Jahrhundert  Konrad  Gesners^) 
Yo gelbuch  neu  bearbeitete,  sagt: 

„Dieser  Yogel  wird  eine  Speckmauß  genennet^  weil  er  den  Speck  isset, 
und  die  Schweineseiten  durchnaget." 
Später  fährt  er  dann  fort: 

„Die  Fledermauß  ist  ein  Mittelthier  zwischen  dem  Yogel  und  der 
Mauß,  also  dass  man  sie  billich  eine  fliegende  Mauß  nennen  kan,  wiewohl 
sie  weder  unter  die  Yögel,  noch  unter  die  Mäuß  kan  gezehlet  werden,  die- 
weyl  sie  beyder  Gestalt  an  sich  hat." 

In  der  Liste  der  Tiere,  welche  Moses')  den  Israeliten  als  unreine 
zu  essen  verbot,  wird  auch  zweimal  die  Fledermaus  unter  den  Yögeln  auf- 
geführt. Hier  ist  sie  zwischen  den  Uhu  und  die  Rohrdommel  gestellt  worden. 
Die  Fledermaus  sowohl,  als  auch  der  Maulwurf  sind  daher  Geschöpfe, 
welche  nach  der  kindlichen  Anschauung  des  Yolkes  ein  für  Tiere  ihrer 
Ordnung  ganz  ungewöhnliches  Leben  führen  und  sich  durchaus  nicht  in 
ihrem  Elemente  befinden.  Und  dass  ihre  absonderliche  Gewohnheit,  am 
Tage  zu  ruhen  und  erst  mit  dem  Beginne  der  Dunkelheit  sich  für  den 
Menschen  bemerklich  zu  machen,  wohl  auch  noch  mit  dazu  beigetragen 
hat,  dass  sie  als  besonders  merkwürdig  erscheinen,  das  werden  wir  sicherlich 
glauben  müssen. 

Auch  in  dem  Alten  Testamente  übrigens  werden  schon  der  Mauhvurf 
und  die  Fledermaus  in  eine  gewisse  Parallele  gestellt.  Der  Prophet 
Jesaias*)  weissagt: 


1)  Konrad  von  Megenberg,  Das  Buch  der  Natur;  herausgegeben  von  Franz  Pfeiffer. 
Stuttgart  1861.  —  2)  Gesneri  redivivi  aucti  et  eraendati  Tomus  II  oder  vollkommenes 
Vogel-Buch  etc.    Franckfurt  am  Mäyn  16G9.   —   3)  15.  Mos.  11,  18.    5.  Mos.  14,  16.    — 

4)  Jes.  2,  20. 


Ein  Paar  merkwürdige  Kreaturen.  173 

„Zu  der  Zeit  wird  Jedermann  wegwerfen  seine  silbernen  und  goldenen 
Götzen,  die  er  ihm  hatte  machen  lassen,  anzubeten,  in  die  Löcher  der 
Maulwürfe  und  der  Fledermäuse." 

Wer  nun  die  Regungen  der  Volksseele  kennt,  den  wird  es  nicht  über- 
raschen können,  dass  an  diese  beiden  wunderbaren  Tiere  sich  mancherlei 
abergläubische  Anschauung  knüpft.  Und  von  besonderem  Interesse  ist  es, 
dass  dieser  Glaube  an  übernatürliche  Kräfte  bei  unseren  beiden  Tieren 
eine  Reihe  von  merkwürdigen  Übereinstimmungen  darbietet. 

•  Hierhin  gehört  es  in  erster  Linie,  dass  uns  der  Maulwurf  sowohl,  als 
auch  die  Fledermaus  als  Yerkünder  des  nahe  bevorstehenden  Todes  be- 
gegnen. 

So  heisst  es  nach  von  Alpenburg^)  bei  den  Tirolern: 

„Wenn  ein  Scheer  an  Deiner  Hausmauer  einen  Erdhaufen  aufwirft, 
da  mag  sich  einer  g'fasst  machen  im  Hause  —  es  wird  eins  bald  sterben." 

Den  gleichen  Glauben  finden  wir  in  Steiermark^),  in  Bayern^),  in 
Mecklenburg*),  in  der  Mark  Brandenburg''),  in  Masuren^)  und  ebenso 
auch  bei  den  Magyaren^).  In  Bosnien  und  der  Hercegovina®)  glaubt 
man,  dass  im  selben  Jahre  eine  grosse  Sterblichkeit  einträte,  wenn  die 
Maulwürfe  den  Boden  sehr  aufwühlen. 

An  manchen  Orten  weiss  man  es  auch,  wem  die  Todesbotschaft  gelten 
soll.  In  Fresdorf  in  der  Mark^)  sagt  man:  Je  näher  am  Gehöfte  der 
Maulwurfshügel  ist,  um  so  schmerzlicher  wird  der  Todesfall  sein.  In 
Bosnien  und  der  Hercegovina")  herrscht  die  Ansicht,  dass,  wenn  ein 
Maulwurf  sich  bis  in  das  Haus  durchwühlt,  dies  den  baldigen  Tod  des 
Hausherrn  bedeute.  Und  Montanus*^)  berichtet  aus  Deutschland,  ohne 
den  Bezirk  näher  anzugeben:  „Hebt  der  Maulwurf  in  der  Stube  auf,  so 
stirbt  die  Grossmutter." 

Bei  den  Schwaben^^)  ist  es  ein  zufälliges  Zusammentreffen  mit  dem 
Maulwurf,  welches  die  üble  Vorbedeutung  hat.  Es  bedeutet  nämlich  bald 
eine  Leiche  im  Hause,  wenn  man  auf  dem  Gang  zur  Kirche  über  einen 
Maulwurfshaufen  schreiten  muss.     Die  Magyaren")  machen  den  Versuch, 


1)  .T.  N.  von  Alpenburg,  Mythen  und  Sagen  Tirols.  Zürich  1857.  S.  384.  — 
2)  V.  Fossel,  Volksmedizin  und  medizinischer  Aberglaube  in  Steiermark.  Graz  lh86.  169. 
—  3)  Fr.  Panzer,  Bayer.  Sagen  u.  Bräuche.  München  1848.  I,  262.  —  4)  K.  Bartsch, 
Sagen,  Märchen  und  Gebräuche  aus  Mecklenburg.  Wien  1S79.  II,  175.  —  5)  Prahn, 
Glaube  und  Brauch  in  der  Mark  Brandenburg.  Ztschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.  Berlin 
1891.  Bd.  I,  184.  —  6)  M.  Toeppen,  Aberglauben  aus  Masuren.  Danzig  1867.  104.  — 
7)  H.  von  Wlislocki  A.:  Volksglaube  und  religiöser  Brauch  der  Magyaren  Münster  i.  W. 
1893.  75.  —  8)  E.  Lilek,  Volksglaube  und  volkstümlicher  Kultus  in  Bosnien  und  der 
Hercegovina.  Wissenschaftl.  Mitteil,  aus  B.  und  der  H.;  herausg.  v.  b.-h.  Landcsrauseum 
in  Sarajevo.  Wien  1896.  Bd.  IV,  471.  —  9)  Prahn  184.  —  10)  Lilek  471.  -  11)  Mon- 
tanus,  Die  deutschen  Volksbräuche,  Volksglaube  und  mythologische  Naturgeschichte. 
Iserlohn  1858.  171.  —  12)  A.  Birlinger,  Aus  Schwaben.  Sagen,  Legenden,  Aberglauben, 
Sitten,  Rechtsbräuche,  Ortsneckereien,  Lieder,  Liederreime.  Wiesbaden  1874.  I,  396.  — 
13).  V.  Wlislocki  A.  75. 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1899.  12 


174  Bartels: 

das  böse  Omen  unwirksam  zu  machen.  Wenn  der  Maulwurf  nahe  dem 
Hause  seinen  Hügel  aufgeworfen  hat,  dann  soll  man  so  viel  glühende 
Kohlen  in  den  Maulwurfshügel  scharren,  als  Bewohner  im  Hause  sind. 
Auch  der  Graschberger^)  Simmal  aus  Tirol  hat  sich  und  anderen  aus 
dieser  Gefahr  herausgeholfen: 

„Er  hat  sogleich  in  den  Scheerhaufen  ein  Stück  Teufelsdreck  gegeben 
und  es  zngestampft  und  will  dadurch  manchen  vom  Tode  gerettet  haben." 

Wie  man  dazu  gekommen  ist,  den  Maulwurf  als  einen  Todes- 
Propheten  zu  betrachten,  das  vermögen  wir  uns  unschwer  vorzustellen. 
Dieses  kleine  Wesen  im  dunklen  Wamms,  welches  in  der  Erde  wühlt, 
musste  dem  Volke  begreiflicherweise  eine  Ideen  -  Association  mit  dem 
Totengräber  vermitteln.  Und  die  von  dem  Tiere  aufgeworfenen  kleinen 
Erdhügel  konnten,  wie  sich  leicht  denken  lässt,  nur  als  Abbilder  des 
Grabhügels  erscheinen.  Wurden  solche  Grabhügel-Modelle  mm  also  in 
der  nächsten  Kähe  von  einer  menschlichen  Behausung  aufgeworfen,  so  lag 
es  doch  ganz  klar  auf  der  Hand,  dass  dieses  das  nahe  bevorstehende  Sterben 
eines  Insassen  des  Hauses  bedeuten  musste. 

So  sehen  w^ir  auch,  dass  Wilhelm  von  Kaulbach  in  seinen  Blu- 
strationen zu  Goethes  Keinicke  Fuchs^)  ein  paar  Maulwürfe  als  Toten- 
gräber auftreten  lässt,  welche  sich  gerüstet  haben,  um  die  brave  Henne 
Kratz efuss  zu  begraben,  und  auch  auf  einem  zweiten  seiner  Bilder  er- 
scheint noch  einmal  der  mit  dem  Grabscheit  ausgerüstete  Maulwurf. 

Bei  der  Fledermaus  ist  es  uns  schon  nicht  so  leicht,  den  Zusammen- 
hang herauszufinden.  Yielleicht  haben  wir  uns  denselben  so  vorzustellen, 
dass  das  Volk  die  Fledermaus  als  ein  Symbol  der  Nacht  betrachtet  und 
dass  ihm  hiermit  die  Gedankenverbindung  an  die  Todesnacht  aufgetaucht  ist. 

Die  Zigeuner^)  haben  den  Glauben,  dass,  wenn  eine  Fledermaus  an 
die  Fensterscheiben  fliegt,  oder  sogar  in  die  Stube  hineinschwirrt,  dieses 
eine  baldige  Krankheit  und  den  nahe  bevorstehenden  Tod  eines  der 
Familienglieder  bedeute.  Bei  den  Magyaren*)  sowohl,  als  auch  bei  den 
Siebenbürger  Sachsen^)  hat  dieses  Benehmen  der  Fledermaus  aber  nur 
dann  etwas  zu  bedeuten,  wenn  sich  ein  Kranker  im  Hause  befindet.  Der 
w^eiss  dann,  dass  sein  Stündlein  geschlagen  hat. 

Ähnlich  wie  es  die  Magyaren  bei  dem  Herannahen  des  Maulwurfs 
thun,  suchen  sich  die  sesshaften  Zigeuner®)  von  Siebenbürgen  vor  dem 
bösen  Omen  der  Fledermaus  zu  schützen.  Sie  werfen,  wenn  die  Fleder- 
maus ins  Zimmer  fliegt,  auch  so  viel  glühende  Kohlen  zum  Fenster  oder 
zur  Thüre  hinaus,  als  das  Haus  Familienglieder  zählt. 


1)  V.  Alpenburg  384.  —  2)  W.  v.  Goethe,  Eeinicke  Fuchs  mit  Zeichnungen  von 
W.  V.  Kaulbach.  Stuttgart  1857.  11.  —  3)  H.  von  Wlislocki  B.,  Aus  dem  inneren 
Leben  der  Zigeuner.  Berlin  1892.  115.  —  4)  v.  Wlislocki  A.  71.  —  5)  H.  v.  Wlislocki 
C,  Volksglaube  und  Volksbrauch  der  Siebenbürger  Sachsen.  Berlin  1893.  S.  1G2.  — 
6)  V.  Wlislocki  B.  115. 


Eiu  Paar  merkwürdige  Kreaturen.  175 

Wie  weit  es  mit  diesen  Anschauungen,  dass  das  Herannahen  der 
Fledermaus  den  Eintritt  eines  Todesfalles  bedeute,  in  Verbindung  zu 
bringen  ist,  dass  bei  den  Südslaven^)  die  Pest,  die  mau  sich  als  ge- 
spenstisches Weib  denkt,  unter  Umständen  auch  die  Gestalt  von  Fleder- 
mäusen annehmen  soll,  das  müssen  wir  dahingestellt  sein  lassen. 

Es  muss  uns  nun  in  hohem  Grade  überraschen,  dass  sowohl  der 
Maulwurf,  als  auch  die  Fledermaus  auch  als  glückbringende  Tiere  betrachtet 
werden.  Wie  reimt  sich  das  zusammen,  dass  dieselben  Kreaturen  einmal 
den  herannahenden  Tod  anzeigen  und  ein  anderes  Mal  dem  Menschen 
Glück  verheissen?  Darin  scheint  doch  keine  Logik  zu  liegen.  Nun,  wir 
finden  aber  auch  auf  anderen  Gebieten  des  Yolksaberglaubens,  dass  das 
logische  Denken  nicht  gerade  die  stärkste  Seite  der  Volksseele  ist,  und 
so  werden  wir  uns  auch  hier  bescheiden  müssen.  Aber  vielleicht  giebt  es 
doch  eine  Brücke,  die  wenigstens,  was  den  Maulwurf  betrifft,  uns  auf  die 
Gedankenbahnen  des  Volkes  hinüberzuleiten  vermag.  Das  ist  wiederum 
die  Thätigkeit  des  Maulwurfs  als  Durchwühler  der  Erde.  Was  thut  er 
hier  anderes,  als  der  Schatzgräber  auch?  Und  sollte  es  nicht  denkbar 
sein,  dass  er  die  Schätze,  auf  welche  er  stösst,  in  irgend  einem  geheimen 
Verstecke  zusammenbringt?  Durch  diese  Ideenassociation,  möchte  ich 
meinen,  ist  es  gekommen,  dass  man  mit  dem  Maulwurfe  den  Erwerb  von 
Geld  und  Gut  in  Verbindung  bringt. 

Eine  Bestätigung  findet  diese  Annahme  vielleicht  durch  folgenden 
Glauben  der  Sieben  bürg  er  Sachsen  ='):  „Trinkt  man  Maulwurfsblut  zu 
geeigneter  Stunde,  die  aber  niemand  weiss,  so  kann  man  verborgene 
Schätze  sehen." 

In  Mecklenburg^),  Pommern*)  und  der  Mark  Brandenburg^) 
glaubt  man,  dass  ein  Geldbeutel,  aus  dem  Fell  eines  Maulwurfs  gefertigt, 
niemals  leer  werde.  Montanus®)  kennt  diesen  deutschen  Volksglauben 
auch,  aber  er  ist  der  Meinung,  dass,  um  die  rechte  Wirkung  zu  entfalten, 
auch  noch  der  Kopf  eines  Wiedehopfes  in  diesem  Maulwurfsfellbeutel 
getragen  werden  muss.  Wenn  dem  Maulwurfe  aber  die  Kraft  innewohnt, 
dem  Menschen  Glücks  gut  er  zu  verschaffen,  dann  ist  der  Sprung  zu  dem 
Glauben  nicht  mehr  sehr  weit,  dass  er  ihm  auch  Glück  im  allgemeinen  zu 
bringen  vermöge.  Nach  dem  Glauben  der  Pommern'')  kann  man  dieses 
Glückes  teilhaftig  werden,  wenn  man  einen  Maulwurf  in  seiner  Hand 
sterben  lässt;  und  Montanus^)  berichtet  den  alten  Glauben  der  Deutschen, 
dass  demjenigen,  welcher  eine  abgebissene  Maulwurfspfote  bei  sich  trägt, 
das  Glück  im  Handel  nicht  fehlen  könne.     In  Zielenzig  und  Landsberg 


1)  Friedrich  S.  Krauss,  Volksglaube  und  religiöser  Brauch  der  Südslaven.  Münster 
i.  W.  1890.  64.  —  2)  v.  Wlislocki  C.  176.  —  3)  Bartsch  II,  175.  —  4)  Ulrich  Jahn, 
Hexenwesen  und  Zauberei  in  Pommern.  Stettin  1886.  181.  —  5)  A.  Kuhn  u.  W.  Schwartz: 
Is'ord deutsche  Sagen,  Märchen  und  Gebräuche.  Leipzig  1848.  464.  —  6)  Montanus  172. 
7)  Jahn  181.  —  8)  Montanus  171. 

12* 


176  Bartels: 

ia  der  Mark  Brandenburg^)  sichert  die  abgebissene  Maulwurfspfote  dem 
Besitzer  das  Glück  im  Kartenspiele. 

Wie  kommt  nun  aber  die  Fledermaus  dazu,  dass  sie  den  Tod  ver- 
kündend und  doch  gleichzeitig  auch  glückbringend  ist?  Hier  erscheint  es 
mir  sehr  schwer  oder  besser  gesagt,  unmöglich,  in  den  europäischen 
Yolksanschauungen  den  Schlüssel  zu  finden.  Aber  es  drängt  sich  uns  die 
Frage  auf,  sollte  hier  vielleicht  eine  uralte  Übertragung  aus  dem  fernen 
Osten  vorliegen?  Bei  den  Chinesen  ist  die  Fledermaus  ein  sehr  häufig 
dargestelltes  Tier.  Ihr  Name  Fu  ist  gleichzeitig  das  Wort,  mit  welchem 
unser  Begriff  Glück  ausgedrückt  wird;  und  so  ist  das  Bild  der  Fledermaus 
dazu  gekommen,  das  symbolische  Zeichen  für  Glück  abzugeben.  So  ge- 
wagt es  nun  vielleicht  auf  den  ersten  Anblick  auch  erscheinen  mag,  eine 
Übertragung  volkstümlicher  Anschauungen  auf  so  unermessliche  Entfernungen 
hin  anzunehmen,  so  würde  diese  Thatsache  doch  keineswegs  vereinzelt 
und  ohne  Analogien  dastehen.  Aus  der  Vorgeschichte  und  Frühgeschichte 
lernen  wir  täglich  von  neuem,  dass  der  geistige  Austausch  zwischen  den 
verschiedensten  Yolksstämmen  auf  sehr  weite  Entfernungen  hin  stattgefunden 
hat  zu  Zeiten,  wo  man  das  vor  kurzem  für  eine  Unmöglichkeit  angesehen 
hatte.  Und  dass  namentlich  auch  in  den  astronomischen  und  astrologischen 
Anschauungen  Europas  vieles  auf  uraltem  Import  aus  China  beruht,  das 
hat  der  Leidener  Gelehrte  Schlegel  nachgewiesen.  Zur  Zeit  der 
Römerherrschaft  unterhielten  die  Chinesen  Handelsbeziehungen  bis  an 
die  östlichen  Grenzen  von  Europa  hin,  wie  von  Friedrich  Hirth  fest- 
gestellt worden  ist.  Yielleicht  ist  die  Hypothese  dalier  doch  nicht  eine  zu 
gewagte,  dass  auch  die  Fledermaus  als  Glücksspenderin  chinesischen 
Anschauungen  ihren  Ursprung  verdankt. 

Dennys^)  berichtet  a'ou  der  Fledermaus: 

„Fledermäuse  werden  in  China  als  ein  glückliches  Vorzeichen  be- 
trachtet. Der  chinesische  Name  für  dieses  Tier  ist  Fuk-schii  im 
Cantonesischen  Dialekt,  das  bedeutet  Ratte  des  Glücks.  Ihre  un- 
regelmässigen Flüge  in  einem  Zimmer  oder  einem  Sommerhause  hält  man 
für  ein  Augurium  bevorstehenden  Glückes  für  den  Besitzer." 

Herrn  Prof.  Arendt  verdanke  ich  die  Mitteilung,  dass  es  im  nörd- 
lichen China  sehr  gebräuchlich  ist,  fünf  Fledermäuse,  um  einen  Kreis 
gruppiert,  darzustellen.  Der  Kreis  bedeutet  die  sogen.  Mondthür,  d.  h.  eine 
kreisförmige  Thüröffnung,  durch  welche  das  Haus  versinnbildlicht  werden 
soll.  Das  ganze  Bild  ist  eine  Allegorie  für  den  häufig  angewendeten 
Segenswunsch:  „Mögen  die  fünf  Arten  des  Glückes  Deine  Thüre  um- 
schweben!" Diese  fünf  Arten  des  Glückes  sind:  „Langes  Leben,  Reichtum, 
Gesundheit,  Liebe  zur  Tugend  und  ein  ruhiges,  natürliches  Ende." 


1)  Prahn  188.  —  2)  N,  B.  Dennys:  The  Folk-Loift  of  Cbiua.    London  1870.    31. 


Ein  Paar  merkwürdige  Kreaturen.  177 

Herr  Arendt  giebt  in  seinem  Werke  „Einführung  in  die  nord- 
chinesische  Umgangssprache"^)  die  Abbildung  eines  Menüs,  auf  welchem 
sich  zwei  derartige  Mondthüren,  von  den  fünf  Fledermäusen  umflattert, 
finden.  Auch  von  chinesischen  Theetassen  berichtet  er  mit  ähnlichen 
Darstellungen. 

Chinesische  Schuhe  tragen  bisweilen  auf  der  Spitze  ein  Stück  von 
schwarzem  Sammet  aufgenäht,  das  die  Form  eines  Fledermausflügels  besitzt. 
Diese  Schuhe  heissen  Fu-tsze-li  „Glücksschuhe";  auf  den  Fledermaus- 
flügel ist  dann  noch  in  andersfarbiger  Seide  das  Schriftzeichen  für  Fu, 
(Jlück,  aufgestickt. 

Das  königliche  Museum  für  Völkerkunde  in  Berlin  besitzt  eine  Anzahl 
chinesischer  Fahnen,  auf  welchen  sich  in  jeder  Ecke  <las  Bild  einer 
fliegenden  Fledermaus  befindet. 
Auch  auf  den  figürlichen  Stickereien 
einer  alten  chinesischen  Altar- 
decke (s.  Abbild.)  finden  wir  die 
Fledermaus  vertreten.  Auch  hier- 
bei kann  es  keinem  Zweifel  unter- 
liegen, dass  die  hier  dargestellten 
Fledermäuse  als  Symbole  des  Glücks 
aufgefasst  werden  müssen;  das  be- 
weist ein  anderes  symbolisches 
Zeichen,  das  von  ihnen  umflattert 
wird.  Dieses  Zeichen  ist  das  Haken- 
kreuz, das  Svastikakreuz  mit  dem  Sanskritnamen,  welches  ebenfalls  als  ein 
glückverkündendes  Zeichen  gilt. 

Dass  unsere  Tiere,  welche  dem  Volke  als  wunderbare  erscheinen 
mussten,  nun  auch  als  Wunder  wirkend  betrachtet  wurden,  das  werden 
wir  ganz  natürlich  finden.  Und  so  hat  sich  auch  die  Volksmedizin,  welche 
alles  Merkwürdige  und  Absonderliche  in  den  Bereich  ihrer  Machtsphäre 
zu  ziehen  pflegt,  des  Maulwurfs  und  der  Fledermaus  bemächtigt.  Von 
beiden  Tieren  wird  dem  Blute,  andererseits  aber  auch  der  Asche  des  ver- 
brannten Tieres  eine  besondere  Heilwirkung  zugeschrieben. 

„Frisch  Blut  von  einer  Schärmaus  angestrichen",  sagt  Horstius^), 
„macht  Haar  wachsen  an  denen  Orten,  so  glatz  worden  sind." 

Konrad  von  Megenberg®)  giebt  das  Gleiche  an: 

„Wer  sein  pluot  streicht  an  die  stat,  da  ainz  enploezt  ist  seins  härs, 
so  wehst  im  daz  liär  wider." 


1)  Karl  Arendt,  Einführung  in  die  nordcMnesische  Umgangssprache.  Lehrbücher 
des  Seminars  für  orientalische  Sprachen  in  Berlin.  Bd.  XII.  Abt.  I.  Stuttgart  u.  Berlin 
1894.  559.  —  2)  Gesnerus  redivivus  auctus  et  emendatus  oder  Allgemeines  Tierbuch  etc. 
Franckfurt  am  Mayn.     1669.     I,  260.  —  3)  Konrad  von  Megenberg  160. 


178  Bartels:  Ein  Paar  merkwürdige  Kreaturen. 

In  Mecklenburg^)  werden  auch  heute  noch  die  Warzen  vertrieben, 
dadurch,  dass  man  sie  mit  dem  Blute  eines  Maulwurfs  bestreicht. 

Von  der  Fledermaus  sagt  Horstius^): 

„Wann  man  ihr  den  Kopf  abschneidet  unter  den  Ohren,  und  das 
Blut  also  warm  herfürrinuend  aufstreichet,  vertreibet  es  das  Haar  eine 
Zeitlaug,  oder  machet,  dass  es  garnicht  mehr  wachse,  wann  man  es  otFt 
einreibet." 

Die  absonderliche  Kahlheit  der  Flügel,  wie  sie  sich  bei  der  Fleder- 
maus findet,  hat  hier  also  wieder  dem  Volksglauben  genügt,  um  dem  Tiere 
eine  AVirksamkeit  auf  die  künstliche  Enthaarung  zuzusprechen. 

Horstius^)  fährt  dann  weiter  fort:  „Für  das  Grimmen  soll  das  Blut 
einer  zerrissenen  Fledermauß  dienen,  wann  es  auff  den  Bauch  gestrichen 
wird."  Er  führt  ausserdem  noch  einige  andere  Zustände  an,  für  welche 
sich  das  Fledermausblut  bewährt,  aber  hier  muss  es  jedesmal  noch  einen 
Zusatz  von  allerlei  anderen  wirksamen  Dingen  erhalten. 

Nach  Plinius^)  dient  das  Fledermausblut,  mit  Carduum  gemischt,  als 
ein  Heilmittel  gegen  den  Schlangenbiss. 

Die  Zigeuner*)  giessen  es  auf  schwarze  Hühnerfedern  und  binden  es 
auf  den  Nacken  der  Frau,  welche  unter  bestimmten  Lebensumständen  ihre 
Genickmuskeln  sehr  stark  hatte  anstrengen  müssen. 

Konrad  von  Megenberg^)  berichtet: 

„Weune  man  den  scheru  prennet  ze  pulver  und  sprenget  in  mit  aini 
Weizen  ains  ais  auf  des  siechen  antlütz,  daz  ist  guot  für  den  auzsetzel." 

Hör  st  ins®)  geht  noch  etwas  w^eiter.     Er  giebt  an: 

„Asche  von  einem  gebrandten  Schärmaus  mit  Honig  bestriclien,  ist  gut 
für  den  Aussatz,  für  Kröpffe  und  Fistel-  oder  Röhr- Wunden." 

Wenn  man  in  Mecklenburg^)  einen  lebenden  Maulwurf  in  einem 
wohlverdeckten  Topfe  zu  Asche  verbrennt  und  diese  dem  Krauken  innerlich 
verabreicht,  so  vermag  man  ihn  von  den  Skrofeln  zu  heilen. 

In  Pommern^)  schüttet  man  Asche  von  dem  verbrannten  Maulwurf  in 
die  Wunden  der  am  Wurme  leidenden  Pferde,  um  sie  wieder  herzustellen.  — 
Auch  die  Fledermaus  wird  zu  Asche  verbrannt.  Nach  Mo  schien^)  genossen 
die  römischen  Damen  solche  Asche  in  Wein,  um  sich  reichliche  Nalirung 
für  ihre  Säuglinge  zu  schaffen. 

Bei  dem  schwäbischen  Volke")  gilt  das  Schmalz  der  Fledermaus 
als    ein    schlafbringendes    Mittel,    wenn    man    es    in    die  Schläfe   einreibt. 


1)  ßlauck,  Aus  der  Volksheilkunde  Mecklenburgs.  Bearbeitet  von  Wilhelmi. 
Arch.  d.  Ver.  d.  Fr.  d.  Naturgesch.  in  Mecklenburg  50.  189G.  225.  —  2)  Gesnerus  II, 
125.  —  3)  Caji  Plinii  Secundi  Historiae  naturalis  Libri  XXXVI.  Lipsiae  1830.  üb.  29. 
c.  26.  —  4)  V.  Wlislocki  B.  79.  —  5)  Konrad  v.  Megenberg  160.  —  6)  Gesnerus  I, 
260.  —  7)  Blanck  220.  —  8)  Jahn  181.  —  9)  H.  Ploss,  Das  Weib  in  der  Natur-  und 
Völkerkunde.  Bearbeitet  von  Max  Bartels.  Leipzig  1897.  II,  396.  —  10)  G.  Lammert, 
Volksmedizin  und  medizinischer  Aberglaube  in  Bayern.     Würzbui'g  18G9.    91. 


Bolte:  Staufes  Sammlung  rumänischer  Märchen  aus  der  Bukowina.  179 

Auch  Horstius^)  führt  noch  allerlei  arzneiliche  Wirkungen  der  Fleder- 
maus an,  bei  denen  entweder  das  ganze,  auf  besondere  Weise  gekochte 
Tier,  oder  sein  Grehirn,  seine  Milch,  seine  Leber  u.  s.  w.  in  Anwendung 
kommen;  auch  weiss  er  von  einem  Fledermäuß-Oel,  „dienlich  für  das 
Gliederwehe",  zu  berichten,  das  aus  zwölf  Fledermäusen  bereitet  werden 
muss,  welche  mit  verschiedenen  Ingredienzien  gesotten  werden.  Von  dem 
Maulwurfe  wird  ebenfalls  noch  allerlei  gebraucht.  Die  Wander-Zigeuner^) 
kochen  das  ganze  Tier  mit  Katzenpfoten  zusammen  zu  einem  Brei,  trocknen 
diesen  und  geben  das  Pulver  mit  der  Mistel  von  der  Eiche  gemischt  den 
Epileptischen  ein.  Die  Siebenbürger  Sachsen^)  der  Kronstadter 
Gegend  mischen  zu  Asche  verbrannte  Maulwurfshaare  mit  Honig  und  ver- 
ordnen dieses  als  unfehlbares  Mittel  gegen  die  Halsübel.  Die  Pommern*) 
und  die  Schw^aben^)  kochen  das  Tier,  um  die  Haare  damit  zu  bestreichen, 
wenn  sie  deren  Farbe  ändern  wollen. 

Becherus^),     welchen    Horstius     citiert,     besingt    die    arzneilichen 
Tugenden  des  Maulwurfs  folgen dermassen: 

„Schär-Maus,  so  ins  gemein  man  Holt  und  Maulwürfe  nennet, 
Ist  gut  in  Fistuln,  so  man  sie  zur  Aschen  brennet. 
Das  Hertz  getrocknet,  und  gepulvert  eingenommen, 
Es  hilfft  und  heylet,  so  man  einen  Bruch  bekommen. 
So  man  mit  Maulwurffs-Blut  den  kahlen  Kopff  thut  schmieren, 
Mit  frischen  Haaren  kan  es  solchen  wieder  zieren.'- 
(Schluss  folgt.) 


Staufes  Sammlung  rumänischer  Märclien 
aus  der  Bukowina. 

Von  Johannes  Bolte. 

(Schluss  von  S.  88.)') 

I.   Wer  ist  mehr  zu  fürchten,  der  Wind  oder  die  Kälte  oder  die  Hitze? 

(No.  4.) 
Einmal  stritten  ein  ])aar  Bauersleute,  was  am  ärgsten  wäre,  der  Wind, 
die  Kälte  oder  die  Hitze.     Darauf  ging  ein  Mann  weit  über  das  Land  und 
beo-eo-nete    drei  Männern;    der   eine  war  der  Wind,    der  andere  die  Kälte, 


1)  Gesnerus  II,  125.  —  2)  Heinrich  von  Wlislocki  D.  Vom  wandernden 
Zigeunervolke.  Hamburg  1890.  102.  -  3)  v.  Wlislocki  C.  95.  -  4)  Jahn  181.  - 
5)  Lammert  189.  —  6)  Gesnerus  I,  260. 

7)  Zu  der  oben  S.  84,  1  angeführten  Litteratur  über  Ludwig  Adolf  Staufe-Simiginowicz 
kommt  noch  ein  Nekrolog  F.  Brummers  im  Biographischen  Jahrbuch  2,  101  f.  (Berlin 
1898).  —  Die  ursprünglich  zum  Abdrucke  bestimmte  No.  25  der  Märchensammlung  fällt 
wegen  Raummangels  hier  fort. 


180  Bolte:  Staufes  Sammlung  rumänischer  Märchen  aus  der  Bukowina. 

und  der  dritte  war  die  Hitze.  Da  grüsste  der  Mann  und  sagte:  „Guten 
Tag  einem  von  euch  dreien."  Drauf  gingen  die  drei  einige  Schritte 
weiter;  aber  auf  einmal  hielt  die  Kälte  an  und  fragte:  „Was  hat  der  Mann 
gesagt?"  Die  Hitze  antwortete:  „Er  hat  gesagt:  Guten  Tag  einem  von 
euch  dreien."  Da  sagte  die  Kälte:  „So  hat  er  darunter  mich  gemeint. '^ 
—  „Nein",  sagte  die  Hitze,  „darunter  hat  er  mich  gemeint."  Sprach  darauf 
der  Wind:  „Er  hat  weder  dir  noch  dir  guten  Tag  gesagt,  sondern  mir 
allein."  So  stritten  die  drei  eine  geraume  Weile,  bis  die  Hitze  den  Mann 
zurückrief  und  ihn  fragte:  „Mensch,  Mensch,  wem  hast  du  gesagt  Guten 
Tag?"  Sprach  der  Mann:  „Dem  Wind".  —  „Warum?"  fragte  alsdann  die 
Kälte.  „Weil  ich  den  am  meisten  fürchte,  euch  aber  gar  wenig."  — 
„Warte,  warte,  ich  will  dir  schon  heiss  im  Sommer  machen",  sagte  die 
Hitze.  „Warte,  warte,  ich  will  dich  schon  im  Winter  frieren  lassen",  sagte 
die  Kälte.  Aber  der  Wind  streichelte  freundlich  den  Mann  und  sprach: 
„Fürchte  nichts;  ich  bin  dein  Freund." 

Bald  darauf  war  es  Winter,  und  die  Kälte  drückte  so  stark,  dass  die 
Bäume  entzwei  sprangen.  Aber  der  Wind  blies  nicht  dazu,  und  dem  Mann 
war  gerade  nicht  warm,  aber  auch  nicht  kalt.  Drauf  kam  der  Sommer, 
und  die  Hitze  brannte  entsetzlich  heiss.  Aber  dem  Mann  war  sie  gar 
leicht  zu  ertragen;  denn  da  kam  der  Wind  und  kühlte  nicht  weit  von  ihm 
die  Luft  ab. 

Hatte  der  Mann  nicht  recht,  nur  den  Wind  zu  fürchten? 

II.   Das  Ferkel  im  Walde. 

(No.  45.) 

Ein  Bauer  hatte  ein  Ferkel  und  band  ihm  um  den  Hals  ein  Glöcklein. 
Das  Ferkel  hat  sich  einmal  aufgemacht  und  lief  in  den  Wald.  Dort  kam 
es  an  einem  Baum  vorbei,  und  das  Glöcklein  blieb  daran  hängen.  Das 
Ferkel  sagte  zum  Baume:  „Baum,  gieb  mir  mein  Glöcklein!'"'  Der  Baum 
wollte  aber  das  Glöcklein  nicht  geben.  Das  Ferkel  sagte  darauf:  „Feuer, 
verbrenne  den  Baum!"  Das  Feuer  wollte  aber  den  Baum  nicht  verbrennen. 
Da  sagte  das  Ferkel:  „Regen,  lösch  das  Feuer  aus!"  Aber  der  Regen 
sagte:  „Ich  will  nicht."  Sprach  darauf  das  Ferkel:  „Ochse,  trink  das  ganze 
Wasser  weg!"  Aber  der  Ochs  wollte  nicht  trinken.  Das  Ferkel  sagte 
weiter:  „Wolf,  friss  den  Ochsen  auf!"  Aber  der  Wolf  wollte  davon  nichts 
wissen.  Sprach  dann  das  Ferkel:  „Gewehr,  schiess  den  W^olf  tot!"  Das 
Gewehr  wollte  aber  nicht  schiessen.  Dann  sagte  das  Ferkel:  „Maus,  zer- 
nage das  Gewehr!"  Aber  auch  die  Maus  gehorchte  nicht.  Endlich  befalil 
das  Ferkel:  „Katze,  friss  du  die  Maus!"  Und  die  Katze  gehorchte  und 
sprang  auf  die  Maus  zu,  um  sie  zu  fressen.  Aber  die  Maus  schrie:  „An- 
statt dass  ich  soll  gefressen  werden,  will  ich  lieber  das  Gewehr  zernagen." 
Das  Gewehr  sagte:  „Anstatt  zernaat  zu  werden,  will  ich  den  Wolf  schiessen." 


Lelimann-Filhcs:  Über  „höfdaletur".  181 

Sprach  der  Wolf:  „Ich  will  nicht  geschossen  werden;  lieber  fress  ich  den 
Ochsen  auf."  Der  Ochs  meinte:  „Anstatt  dass  mich  der  Wolf  frisst,  will 
ich  das  W^asser  aussaufen."  Das  Wasser  lärmte:  „Anstatt  dass  mich  der 
Ochs  sauft,  will  ich  das  Feuer  löschen."  Aber  das  Feuer  sagte:  „Ich  will 
nicht  gelöscht  werden  und  verbrenne  lieber  den  Baum."  Und  der  Baum 
schrie  darauf:  „Anstatt  dass  ich  vom  Feuer  soll  verbrannt  werden,  will  ich 
lieber  das  Glöcklein  geben,"  Und  der  Baum  gab  das  Glöcklein,  und  das 
Ferkel  ging  weiter. 


Über  „höfdaletur". 

Von  Brynjülfur  Jönsson. 

Aus  dem  Isländischen  übersetzt  von  Margarete  Lehmann-Filhes. 


[Die  Jahrbücher  der  isländischen  Altertümer  -  Gesellschaft  (islenzka 
fornleifafelag)  bringen  zuweilen  Abbildungen  alter  Holzschnitzereien,  die 
sich  in  der  Alt^rtümersammlung  (forngripasafn)  in  Reykjavik  befinden. 
Auch  das  Dänische  Volksmuseum  (Dansk  Folkemuseum)  in  Kopenhagen, 
sowie  das  Nordische  Museum  (Nordiska  Museet)  in  Stockholm  bergen  eine 
beträchtliche  Anzahl  geschnitzter  isländischer  Gebrauchsgegenstände:  Be- 
hälter für  Speisen  und  Butter,  Kästchen  für  Löffel  und  Stricknadeln, 
Schatullen,  Mangelhölzer  und  Bettstellenbretter,  die  auf  die  vordere  Wand 
der  Bettstelle  aufgesetzt  worden,  um  sie  zu  erhöhen.  Fast  alle  diese 
Stücke,  die  zum  Teil  auch  neueren  Datums  sind,  tragen  eingeschnittene 
Inschriften,  z.B.:  „Gudridur  Björnsdottir  besitzt  dies  Holz  mit  Recht,  aber 
niemand  anders"  —  „Helga  Narvadottir  besitzt  dieses  Holz  mit  Recht  und 
ist  wohl"  (d.  h.  auf  gute  Art)  „zu  demselben  gekommen"  —  „Olafur 
Jönsson  besitzt  diesen  Kasten"  —  „Ich  weiss,  dass  mein  Erlöser  lebt"  — 
„Ehre  sei  Gott  in  der  Höhe''  —  u.  s.  w.  u.  s.  w.  Von  einigen  Inschriften 
heisst  es  aber  im  Kataloge  des  Dänischen  Volksmuseums,  sie  seien  in 
„unleserlicher  Geheimschrift''  abgefasst,  von  den  Isländern  „höfdaletur"^) 
genannt.  Aus  dem,  was  der  verdiente  Altertumsforscher  Brynjülfur  Jönsson 
(zu  Minni-Nüpur,  Arnessysla,  Island)  über  das  „höfdaletur"  schreibt  und 
aus  den  von  ihm  angefertigten  Abbildungen  ersieht  man  jedoch,  dass  es 
sich  hierbei,  streng  genommen,  uicht  um  eine  Geheimschrift  handelt,  sondern 
um  alte  deutsche  Buchstaben,  die  sich  unter  den  Händen  vieler  Generationen 
von  Knochen-,  Hörn-  und  Holzschnitzern  in  einer  ganz  eigenartigen  Weise 
ausbildeten,    bis  sie   nicht   nur  dem  Aussehen  nach,    sondern  auch  im  Be- 


1)  höfda  =  gen.  plur.  von  höfud,  Haupt,  Kopf:  letur  =  Schrift,  Buchstabe. 


182  Lehmann-Filhes: 

wusstseiii  der  sie  darstellenden  Künstler  vollständig  den  Charakter  eines 
für  sich  bestehenden  Alphabetes  und  in  den  Augen  des  Laien  den  einer 
unleserlichen  Geheimschrift  annahmen. 

Ich  lasse  nun  die  Ausführungen  des  isländischen  Altertumsforschers  in 
deutscher  Übersetzung  folgen.] 

Ich  war  noch  ein  Kind,  als  ich  zuerst  „höfSaletur"  sah.  ]Meine  Gross- 
mutter hatte  einen  geschnitzten  Stricknadelkasten,  den  mein  Grossvater 
für  seine  erste  Frau,  Jarngerdur  Jousdöttir,  angefertigt  und  auf  dessen 
Deckel  er  ihren  Xamen  geschnitzt  hatte.  Auch  meine  Mutter  besass  einen 
Stricknadelkasten,  auf  dessen  Deckel  ihr  Name  geschnitzt  war.  Sie  lehrte 
mich  diese  Schrift  lesen  und  sagte  mir,  dass  sie  „höfdaletur"  genannt 
werde.  Weshalb  sie  so  genannt  wurde,  wusste  sie  nicht  bestimmt,  doch 
glaubte  sie  oder  hatte  sogar  gehört,  es  geschehe  aus  dem  Grunde,  weil 
die  „leggir"  (plur.  von  „leggur"  =  Bein,  Stengel  *)  der  Buchstaben  an  den 
Enden  Köpfe  haben.  Frühzeitig  sah  ich  „höfd:aletur"  auch  auf  Löffelstielen, 
doch  besonders  an  älteren  Löffeln.  Die  neueren  Löffel,  die  damals  in 
meinem  Bezirk  und  in  der  Nachbarschaft  in  Gebrauch  waren,  trugen  meist 
eine  besondere  Schrift,  die  „sponaletur"^)  hiess  und  von  „höfd:aletur"  ganz 
verschieden  war.  Am  meisten  abweichend  waren  die  Buchstaben:  a,  m,  n 
und  u,  auch  entsinne  ich  mich  ihrer  am  besten.  In  den  Worten  aber,  die 
ich  auf  Löffeln  eingegraben  sah,  kamen  lange  nicht  alle  Buchstaben  des 
Alphabets  vor;  ich  kann  daher  nicht  viel  über  sie  sagen  und  weiss  nicht 
einmal,  ob  von  dieser  Schrift  ein  vollständiges  Alphabet  vorhanden  gewesen 
ist.  Besonders  wendeten  berühmte  Löffelschmiede ^)  es  an,  die  in  meinen 
jüngeren  Jahren  in  der  Kangärvallasysla  lebten,  und  der  bedeutendste  von 
ihnen  war  der  geniale  Bauer  Jon  porsteinsson  zu  Yindäss  in  der  Landsveit. 
In  ihren  späteren  Jahren  begannen  sie  jedoch  diese  Schrift  zu  vernach- 
lässigen und  gruben  auf  den  Löffenstielen  entweder  die  Jahreszahl  oder 
die  Eigentumsmarke  des  Besitzers  mit  grossen  lateinischen  Buchstaben  ein. 
Nach  ihrer  Zeit  weiss  ich  von  niemandem,  der  diese  Schrift  eingeschnitten 
hätte,  und  es  ist  nun  ziemlich  lange  her,  seit  ich  sie  gesehen  habe.  Da 
begann  in  meiner  Gegend  wieder  „höfSaletur"  auf  Löffelstielen  ^[ode  zu 
werden;  der  Bauer  Asmundur  Benidiktsson,  der  aus  der  pingeyjarsysla 
LS70  nach  Hagi  im  Gnüpverjahreppur  zog,  verfertigt  noch  jetzt  Löffel  mit 
dieser  Schrift.  Das  Löffelschnitzen  ist  aber  jetzt  überhaupt  im  Nieder- 
gange begriffen,  denn  Esslöffel  sind  im  Handel  so  billig  zu  bekommen, 
dass  man  (hörnerne  und  knöcherne)  Löffel  für  einen  so  niedrigen  Preis 
nicht  herstellen  kann. 


1)  Mit  den  Beinen  oder  Stengeln  sind  die  Grundstriche  gemeint. 

2)  „spunn",    pl.    „spcjenir"  =  Löffel    aus  Hörn    oder  Knochen:    andere  Lölfel    heissen 
„skeid",  pl.  „skeidar";  auch  „matskeid''  =  Speiselöffel. 

3)  „sponasmidir":  jeder  Handwerker  heisst  in  Island  ein  Schmied,  z  B.  „skosmidur", 
Scliuhmacher. 


über  „höfdaletur-'.  183 

Als  ich  anfing  ausziirudern^),  lernte  ich  verschiedene  Leute  kennen, 
die  geschickt  im  Holzschnitzen  waren,  und  darunter  einige,  die  „höfdaletur" 
schnitzten.  Da  begann  ich  es  aucli  selbst  zu  schnitzen.  Bald  aber  ver- 
blüffte es  mich,  dass  die  meisten  Buchstaben  des  sogenannten  „höfdaletur" 
mehr  als  eine  Form  hatten;  nur  m,  n  und  u  blieben  sich  immer  ziemlich 
gleich,  die  übrigen  hatten  mehr  oder  weniger  verschiedene  Formen.  Be- 
sonders erregten  die  Buchstaben  a  und  e  meine  Aufmerksamkeit  wegen 
der  Mannigfaltigkeit  ihrer  Formen.  Aus  diesem  Grunde  begann  ich  dem 
„höfclaletur"  mehr  Beachtung  zu  schenken  und  seine  verschiedenen  Formen, 
die  ich  hier  und  da  antraf,  miteinander  zu  vergleichen.  Es  wurde  mir 
klar,  dass  das  „höfdaletur"  trotz  aller  Yerschiedenartigkeit  doch  stets  sein 
Hauptmerkmal  beibehielt:  die  „Beine"  (siehe  oben)  der  Buchstaben  hatten 
Kopfe  an  den  Enden,  die  durch  eine  eingeschnittene  Furche  von  ihnen 
abgegrenzt  waren;  diese  Furche  lief  immer  in  schräger  Richtung  und  war 
zuweilen  doppelt,  häufiger  aber  einfach.  Überhaupt  blieben  die  Buchstaben- 
fornien,  wenn  man  sie  recht  beobachtete,  stets  mehr  oder  weniger  sich 
selber  gleich.  Es  schien  mir  daraus  hervorzugehen,  dass  der  Unterschied 
zum  grössten  Teile  oder  ganz  davon  herrührte,  dass  die  Arbeiter  das  ur- 
sprüngliche Alphabet  des  „höfdaletur"  nicht  genau  genug  kannten.  Welches 
aber  war  dieses  Alphabet?  Wie  sah  es  aus?  So  fragte  ich  mich  selbst, 
doch  wurde  es  mir  schwer,  die  Antwort  zu  finden.  Ich  hatte  hierüber  eine 
Unterredung  mit  dem  verstorbenen  Maler  SigurSur  Gudnmndsson^ .  Er 
sagte,  die  ersten  Buchstabenformen,  die  man  hier  zu  Lande  (in  Island)  in 
Holz  schnitzte,  seien  ohne  Zweifel  nach  dem  gotischen  „settletur",  der 
Mönchsschrift "),  gemacht  worden  und  wahrscheinlich  seien  die  Buchstaben 

1)  Auf  die  See  hiuaus  ziun  Fischfang. 

2j  Über  ihn  teilt  Dr.  Valtyr  Gudmundssnn  mir  brieÜich  mit:  Sigurdur  Gudinimdsson 
wurde  am  13.  März  1833  zu  Helluland  im  Skagafjördur  als  Sohn  blutarmer  Bauersleute 
geboren.  Als  er  Vieh  hüten  musste,  begann  er  Figuren  zu  schnitzen  und  zu  feilen,  und 
als  er  bei  der  Heuarbeit  war,  hatte  er  schon  angefangen  zu  zeichnen.  Um  die  Zeit  semer 
Konfirmation  hatte  er  bereits  Federzeichnungen  nach  Bildern  in  einer  Zeitschrilt  angefertigt, 
die  für  einen  so  jungen  Burschen  merkwürdig  gut  waren.  Mit  der  Spitze  einer  Feile  ver- 
fertigte er  aus  Basalt  ein  Basrelief  von  Gisli  Konradsson,  dem  Vater  des  Professors  Konriid 
Gislason,  welches  in  der  Altertümersammlung  in  Reykjavik  zu  sehen  ist.  Ferner  begab  er 
sich  nach  Holar  im  Hjaltadalur  und  machte  dort  Federzeichnungen  nach  einigen  Bildern 
in  der  Kirche.  Alles  dies  erregte  Aufmerksamkeit,  und  mit  Hilfe  von  guten  Menschen 
segelte  er,  IG  Jahre  alt,  nach  Kopenhagen  und  besuchte  dort  einige  Jahre  die  Kunst- 
akademie. Er  wollte  Historienmaler  werden  und  begann  deshalb  isländische  Archäologie 
und  Kulturgeschichte  zu  studieren:  hierdurch  verfiel  er  jedoch  gänzlich  auf  die  Archäologie. 
P]r  Hess  sich  I8.08  in  Reykjavik  nieder,  lebte  dort  in  Armut  und  starb  am  8.  September 
1874,  41  Jahre  alt.  —  In  Reykjavik  war  er  sehr  bemüht,  Theateraufführungen  zu  stände 
zu  bringen  und  malte  selbst  die  Kulissen  dazu.  Ausserdem  untersuchte  und  san)melte  er 
Altertümer;  er  ist  der  eigentliche  Begründer  der  Altertümersammlung  in  Reykjavik  und 
der  beste  Archäologe,  den  Island  besessen  hat;  ein  sehr  begabter  Mann,  wenn  auch  etwas 
excentrisch,  von  vielen  gehasst,  aber  auch  von  vielen  geliebt  und  von  allen  besseren 
Menschen  sehr  betrauert.    M.  L.-F. 

3)  „settletur",  gesetzte  Schrift,  von  setja  =  setzen?  Wahrscheinlich  ist  stehende, 
also  Fraktur-Schrift  gemeint.  —  Auch  im  Text  zu  den  ,,Afbildningar  af  föremäl  i  nordiska 


184  Lehiuann-Filhesi 

anfänglich  im  Holz  vertieft  geschnitzt  worden.  Dann  aber  seien  die  Leute 
darauf  verfallen,  sie  erhaben  wie  Bildschnitzerei  herzustellen,  und  er  hielt 
es  für  wahrscheinlich,  dass  sie  da  zuerst  die  Gestalt  gehabt  hätten,  die 
man  „Bandschrift"  („bandletur")  nennen  könne,  denn  so  geformte  Buch- 
staben Hessen  sich  leicht  in  der  Weise  entwerfen,  dass  man  Einfassungs- 
band oder  schmale  Borte  auf  bestimmte  Art  so  umbreche,  dass  Buchstaben- 
formen,  nicht  unähnlich  dem  „settletur",  zu  stände  kämen.  Diese  Schrift 
hatte  er  auf  alter  Schnitzerei  gesehen.  Er  zeigte  mir  an  einigen  Buch- 
staben das  Verfahren,  mit  Band  solche  Zeichen  auf  die  erwähnte  Weise 
zu  bilden.  Aus  diesem  „bandletur"  glaubte  er,  dass  das  „höfdaletur"  sich 
nach  und  nach  ausgebildet  habe.  Auch  befinden  sich  in  der  Altertümer- 
sammlung (in  Keykjavik)  einige  Gegenstände,  welche  von  einer  solchen 
Umgestaltung  oder  Überführung  Zeugnis  ablegen.  Er  wies  mich  darauf 
hin,  dass,  um  die  richtigen  Buchstabenformen  des  „höfdaletur"  festzustellen, 
man  sowohl  dessen  ursprüngliches  Alphabet  herausfinden  müsse,  das  wahr- 
scheinlich zunächst  auf  das  „bandletur"  gefolgt  sei,  und  ebenso  dasjenige 
Alphabet,  zu  welchem  es  sich  allmählich  ausgewachsen  habe  und  das  man 
das  vollausgebildete  nennen  könne.  Habe  man  diese  beiden  Alphabete 
bestimmt,  was  wohl  gelingen  möchte,  wenn  die  Sammlung  reicher  an  ge- 
schnitzten Gegenständen  werde,  so  würden,  wie  er  annahm,  alle  die  nicht 
unterzubringenden  und  oft  unschönen  Nebenformen,  die  unter  das  „höfda- 
letur" geraten  seien,  abgeschafft  werden.  Dass  der  Name  „höfdaletur" 
zwischen  uns  besprochen  worden  wäre,  erinnere  ich  mich  nicht.  Er  hatte 
die  Absicht,  das  „höfdaletur"  zu  studieren  und  dessen  Alphabet  ausfindig 
zu  machen,  auch  wäre  wohl  kaum  ein  anderer  so  befähigt  dazu  gewesen, 
wie  er.  Doch  hatte  er  nur  noch  ein  oder  zwei  Lebensjahre  vor  sich,  als 
wir  jenes  Gespräch  führten. 

Nach  seinem  Tode,  als  ich  von  ihm  keine  Aufschlüsse  mehr  zu  er- 
warten hatte,  begann  ich  von  neuem  meine  Bemühungen,  ein  Alphabet  des 
„höfdaletur"  herauszufinden,  indem  ich  diejenigen  Formen,  die  mir  ein- 
ander zu  entsprechen  schienen,  auswählte  und  zusammenstellte.  Das  war 
jedoch  nicht  leicht,  denn  die  Nebenformen,  die  Veränderungen  sind  so 
mannigfaltig  und  im  „höfdaletur"  so  häufig,  dass  ich  zeitweise  an  der 
Möglichkeit  verzweifelte,  der  Sache  auf  den  Grund  zu  kommen.  Doch  kam 
ich  endlich  zu  der  Überzeugung,  dass  man  zwei  beinah  vollständige  Alpha- 
bete finden  könne:  ein  kleineres  und  einfacheres,  das  häufiger  war  auf 
Löffelstielen,  und  ein  grösseres,  künstlicheres,  das  sich  besonders  auf  Holz- 
schnitzereien findet.  Doch  getraue  ich  mich  nicht,  irgend  einen  geschnitzten 
Gegenstand  zu  nennen,  der  ausschliesslich  einem  dieser  beiden  Alphabete 


museet",  herausgegeben  von  Arthur  Hazelius,  heisst  es  betreffs  der  Inschriften  au  isländischen 
Holzgeräten:  „Hierzu  wird  meist  ein  eigentümliches  Alphabet  angewendet,  isländisch 
„höfdaletur",  welches  eine  besondere  Abart  der  sogenannten  Mönchsschrift  ausmacht." 


über  „höfdalctur".  185 

folgte;  meist  finden  sich  die  ihnen  angehörenden  Buchstabenformen  ver- 
einzelt unter  (ihnen  nicht  entsprechenden)  Nebenformen.  Besonders  ist 
dies  jedoch  mit  dem  grösseren  Alphabet  der  Fall.  Auch  sind  viele  Buch- 
stabenformen in  ihnen  beiden  höchst  selten  und  die  eine,  nämlich  k,  habe 
ich  noch  auf  keiner  Schnitzerei  gefunden.  Das  ist  nicht  so  zu  verstehen, 
als  käme  der  Buchstabe  k  im  höfdaletur  niemals  vor;  er  kommt  häufig 
vor,  aber  in  verschiedenen  Gestalten,  die  ich  in  die  Alphabete  nicht  auf- 
nehmen konnte,  weil  ich  keine  derselben  den  übrigen  Formen  in  den 
Alphabeten  entsprechend  fand.  Und  wenn  ich  sagte,  dass  einige  Buch- 
stabenformen selten  seien,  so  meinte  ich  damit  nicht  die  Buchstaben  selbst, 
sondern  nur  diejenigen  ihrer  Formen,  die  nach  meiner  Meinung  in  die 
Alphabete  aufzunehmen  sind.  Ich  habe  hier  alle  die  Formen,  die  ich 
nicht  in  eines  der  Alphabete  bringen  konnte,  zusammengefasst  und  mit 
einem  Namen  „Nebenformen"  (aukarayndir)  genannt.  An  ihnen  ist  das 
„höfdaletur"  ziemlich  reich,  und  das  ist  ganz  natürlich:  viele  schnitzten 
„höfdaletur",  aber  die  meisten  thaten  es  ohne  Anleitung  und  ganz  auf 
eigene  Hand  oder  hatten  im  besten  Fall  verschieden  gute  Vorbilder  oder 
Unterricht  von  solchen,  die  selbst  nicht  ganz  kundig  waren.  Es  ist  also 
ganz  natürlich,  dass  jeder  Buchstabenschnitzer  seine  eigene  Schnitzhand 
hatte,  wie  ja  auch  jeder  Schreiber  seine  eigene  Hand  schreibt,  wenn  es 
sich  mit  diesem  auch  etwas  anders  verhält.  Aber  ebenso,  wie  einige 
wenige  Vorschriften  für  viele  Handschriften  typisch  sind,  so  möchte  ich 
auch  die  beiden  oben  erwähnten  Alphabete  als  typisch  für  das  „höfdaletur" 
ansehen.  Eine  Zeitlang  glaubte  ich,  einiger  vorkommenden  Formen  wegen, 
noch  ein  drittes  Alphabet  aufstellen  zu  müssen,  nämlich  das  vom  Latein 
herstammende;  ich  habe  aber  davon  Abstand  genommen,  weil  es  doch 
verhältnismässig  wenige  Buchstaben  des  Alphabets  sind,  die  in  diesen 
Formen  vorkommen,  diese  wenigen  aber  so  häufig  und  so  verschieden 
gestaltet  sind,  dass  ich  sie  vorläufig  unter  die  Nebenformen  aufgenommen 
habe.  Auch  glaube  ich,  dass  die  lateinischen  Buchstabenformen  nicht 
ursprünglich  dem  „höfdaletur"  angehört  haben,  sondern  erst  später  hinein 
geraten  sind. 

Dem  Winke  des  Malers  Sigurdur  zufolge  hat  mir  stets  der  Gedanke 
vorgeschwebt,  dass  von  den  beiden  Alphabeten,  die  ich  für  das  „höfda- 
letur" typisch  nennen  möchte,  das  kleinere  als  das  ursprüngliche,  das 
grössere  als  das  vollausgebildete  angesehen  werden  könne.  Ich  wage  es 
jedoch  nicht  bestimmt  zu  behaupten,  da  die  Buchstabenformen  beider  sich 
unter  Nebenformen  zerstreut  vorfinden,  sowohl  auf  älteren  als  auf  jüngeren 
Gegenständen.  Allerdings  kann  ich  nicht  annehmen,  dass  irgend  etwas 
von  dem  jetzt  vorhandenen  „höfdaletur"  sehr  alt  sei,  denn  es  ist  natürlich, 
dass  das  älteste  verschwunden  ist,  auch  kann  man  von  den  lateinartigen 
Buchstaben  annehmen,  dass  sie  eher  einen  jüngeren  als  einen  älteren  Ur- 
sprung der  Gegenstände  bezeugen,  auf  denen  sie  sich  finden.    Jahreszahlen 


186 


Lehmann-Filhes: 

„Höfctaletur." 

n)    Das  grössere  Alphabet. 
b  <•  d  .■  f 


1 


m  n 


1 


^ 

^ 

^ 


^y 


b)    Das  kleinere  Alphabet. 

a  b  c  (1  e  f  ü'  li  i 

HS  sEiaaEiiaH 

k  1  m  n  0  p  r  s  t 


über  „höfdaletur". 

c)    Proben  von  Bandsclirift. 

IC  d  c  f 


\b'i 


afatnu&n 


(1)    Proben  von  Nebenformen  des  „liöfSaletur 


mm  UM 


vmvm 


lEKEl 


V  h  ". 


^iral^ 


e)    Proben  von  Löffelschrif't. 
a  111  n  o  r  u  V  t 


HCKreBKcsa'? 


18g  Lehmanii-Filhes:  Über  „höfdalfttur". 

sind  sehr  selten  auf  Stücken  mit  „höfctaletur"  und  die  wenigen,  auf  denen 
ich  solche  gesehen  habe,  sind  besonders  aus  diesem  Jahrhundert,  einige 
aber  auch  aus  dem  späteren  Teile  des  17.  Jahrhunderts.  Ich  zweifle  nicht 
daran,  dass  verschiedene  der  Jahreszahl  entbehrende  Sachen  älter  sind. 
Es  ist  nicht  leicht,  das  Alter  der  Stücke  danach  zu  bestimmen,  wie  gut 
sie  gearbeitet  sind,  denn  an  denen,  welche  Jahreszahlen  tragen,  kann  man 
sehen,  dass  die  neuere  Arbeit  nicht  immer  die  bessere  ist;  gleichalte 
Stücke,  jedes  von  einem  anderen  Arbeiter,  sind  immer  ungleich,  das  sah 
ich  an  jenen  meiner  Zeitgenossen,  die  „höfdaletur"  schnitzten,  während 
ich  ausruderte.  Jetzt  haben  leider  die  meisten  damit  aufgehört,  weil 
sie  keine  Zeit  mehr  dazu  haben. 

Dafür,  dass  das  grössere  Alphabet  jünger  ist,  spricht  auch  der  Umstand, 
dass  es  künstlicher  ist,  indem  es  z.  B.  die  Köpfe  („höfud")  von  den 
„Beinen"  („leggir")  mit  einem  doppelten  Einschnitte  abteilt.  Diese  Eigen- 
tümlichkeit könnte  allerdings  jünger  sein  als  das  Alphabet  im  übrigen. 
Und  wenn  es  sich  so  verhält,  dass  —  wie  der  Rektor  Dr.  Jon  porkelsson 
meint  —  der  Name  „höfdaletur"  dasselbe  bedeutet  wie  Hauptbuchstaben  ^) 
=  Anfangsbuchstaben  =  Prunkbuchstaben,  so  könnte  man  daraus  den  Schluss 
ziehen,  dass  das  grössere  Alphabet  das  ursprünglichere  sei.  Mau  kann 
aber  auch  sagen,  dass  das  kleinere  Alphabet  durchaus  nicht  kunstlos  sei, 
und  sein  Aussehen  weist  gerade  darauf  hin,  dass  es  dem  grösseren  zu 
Grunde  liegt.  Es  könnte  daher,  selbst  wenn  Dr.  Jon  porkelssons  Ansicht 
hinsichtlich  des  Namens  richtig  wäre,  was  ich  nicht  entscheiden  will, 
dennoch  das  ursprüngliche  sein.  Noch  eine  dritte  Vermutung  habe  ich  in 
dieser  Beziehung  gehört:  „Höfdi"^)  habe  vielleicht  das  Gehöft  geheissen, 
wo  diese  Schrift  erfunden  worden  sei  oder  von  wo  sie  sich  ausgebreitet 
habe,  doch  ist  mir  keine  Überlieferung  zu  Ohren  gekommen,  die  dies 
bestätigt.  Es  sind  überhaupt  keinerlei  Aufschlüsse  über  das  „höfdaletur" 
zu  erlangen  gewesen  und  in  der  Landesbibliothek  ^)  haben  selbst  die  Leute, 
die  daselbst  am  besten  orientiert  sind,  nichts  darauf  Bezügliches  finden  können. 


1)  Mit  „Hauptbuchstaben",  isl.  ,.höfudstafir",  sind  jedenfalls  Kapital  -  Buchstaben 
gemeint  und  diese  Auslegung  hat  viel  für  sich.  „Höfdaletur"  heisst  aber  „Häupter- 
schrift", also  —  da  die  isländische  Sprache  bei  der  Hervorbringung  zusammengesetzter 
Wörter  ungemein  feine  Unterschiede  zwischen  Einzahl  und  Mehrzahl  macht  —  eine 
Schrift,  die  zu  ihren  Bestandteilen  Häupter  zählt,  eine  Schrift  mit  Häuptern.  Die 
von  Brynjülfur  Jonsson  eingangs  geäusserte,  von  seiner  Mutter  ihm  überlieferte  Auslegung 
scheint  daher  die  natürlichste  zu  sein;  es  braucht  dabei  nicht  jeder  einzelne  Buchstabe, 
sondern  nur  die  Schrift  im  allgemeinen,  also  die  Mehrzahl  der  Buchstaben,  mit  Köpfen 
geschmückt  gewesen  zu  sein,  möglicherweise  mit  den  in  der  Ornamentik  des  skandinavischen 
Nordens  so  beliebten  Tierhäuptern.  Einige  der  Abbildungen  isländischer  Holzschnitzereien 
im  Nordischen  Museum  in  Stockholm  weisen  Buchstaben  auf,  die  mich  in  dieser  Ver- 
mutung bestärken,  doch  bleibt  mir  ungewiss,  ob  man  sich  unter  diesen  kleinen  Aus- 
schmückungen Pferde-,  Vogel-  oder  Drachenhäupter  zu  denken  habe.     M.  L.-F, 

2)  „Höfdi"  —  „Vorberg"  —  kommt  als  Gehöftname  mehrfach  in  Island  vor. 

3)  Die  Landesbibliothek  („landsbokasafnid")  befindet  sich  in  Reykjavik. 


Prato:  Vergleichende  Mitteilungen  zu  Hans  Sachs  Fastnachtspiel.  189 

Beide  Alphabete  —  das  grössere  und  das  kleinere  —  habe  ich  auf- 
gezeichnet und  lege  sie  hier  bei  (s.  S.  186).  Erwähnen  muss  ich  dabei, 
dass  ich  die  Form,  in  welcher  der  Buchstabe  k  hier  erscheint,  selber  den 
übrigen  Buchstaben  entsprechend  erdacht  habe.  Dagegen  findet  sich  weder 
j  noch  z,  weil  das  „höMaletur"  dafür  dieselben  Zeichen  hat  wie  für  i  und  s.  — 
Ausserdem  folgen  hier  (S.  187)  einige  Proben  von  „Bandschrift"  („bandletur"), 
ferner  von  Nebenformen  und  endlich  von  „Löffelschrift"  („spönaletur"); 
diese  mit  dem  „höfdaletur"  zu  vermischen,  halte  ich  nicht  für  richtig,  da 
ich  aber  weiss,  dass  es  vorgekommen  ist,  wollte  ich  sie  mit  hier  aufnehmen. 


Vergieichentle  Mitteilungen  zu  Haus  Sachs 
Fastnachtspiel  Der  Teufel  mit  dem  alten  Weib. 

Von  Dr.  Stanislaus  Prato  in  Arpino. 


A.   Vier  Geschichten  aus  Italien. 
I. 

Mir  am  7.  April  1896  von  dem  K.  Universitäts-Bibliothekar  Franc.  Prudenzano  in  Neapel 

erzählt,  der  sie  in  seiner  Jugend  (1839)  in  der  Hauptkirche  von  Manduria,  Provinz  Lecce, 

in  der  Missionspredigt  des  Ligurianer  P.  Nie.  Tortala  gehört  hatte  (unediert). 

Der  Teufel  ist  allezeit  darauf  bedacht,  in  den  Häusern  der  Menschen 
auf  jede  nur  mögliche  Art  Zwietracht  zu  stiften.  Als  er  nun  einst  in  einer 
Stadt  ein  Paar  Eheleute  sieht,  die  einander  Zcärtlich  lieben,  wendet  er 
zuerst,  wohl  dreissig  Jahre  lang,  alle  erdenklichen  Mittel  an,  sie  zu  ent- 
zweien, aber  vergebens.  Schon  ist  er  im  Begriff,  seinen  thörichten  Plan 
aufzugeben,  da  trifft  er  eine  alte  Waschfrau.  Er  giebt  sich  ihr  zu  erkennen 
und  verspricht  ihr  für  den  Fall,  dass  sie  es  vermöge,  die  beiden  Gatten  zu 
veruneinigen,  ein  Paar  neue  Schuhe.  Sie  übernimmt  es,  seinen  Wunsch 
zu  erfüllen.  Zunächst  geht  sie  zu  der  Frau,  erregt  in  ihr  den  Argwohn, 
dass  ihr  Mann  sie  mit  einer  anderen  betrüge,  und  sagt  ihr,  wenn  sie 
wünsche,  dass  ihr  Mann  sie  wieder  lieb  habe  wie  zuvor,  müsse  sie  ihm  im 
Schlafe  mit  dem  Schermesser  drei  Barthaare  am  Halse  abschneiden.  Dem 
Manne  wiederum  redet  sie  ein,  sein  Weib  sei  ihm  untreu  und  trachte  ihm 
nach  dem  Leben.  Um  ihm  zu  beweisen,  dass  sie  die  Wahrheit  sage,  giebt 
sie  ihm  cten  Rat,  sich  in  der  folgenden  Nacht  schlafend  zu  stellen;  er 
werde  dann  sehen,  wie  seine  Frau  mit  dem  Messer  in  der  Hand  zu  ihm 
ans  Bett  komme,  um  ihn  zu  töten.  Das  trifft  ein;  indessen  gelingt  es  der 
Gattin  sich  zu  rechtfertigen,   und,   sobald  sich  der  wahre  Sachverhalt  her- 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1S39. 


lOO  Prato: 

ausgestellt  hat,  söhnen  sich  die  Eheleute  wieder  aus.  Als  schliesslich  der 
Teufel  zu  der  alten  Waschfrau  geht,  um  ihr  den  Lohn  für  ihr  schurkisches 
Werk  zu  bringen,  gerät  er  bei  dem  Gedanken,  dass  sie  in  zwei  Tagen 
fertig  gebracht  hat,  was  er  selbst  nicht  einmal  in  dreissig  Jahren  erreichen 
konnte,  in  Angst,  dass  sie  auch  ihm  noch  ein  Leid  zufügen  werde.  Er 
befestigt  daher  die  neuen  Schuhe  an  einen  Spiess,  dreht  sich  um  und 
reicht  sie  so  von  hinten  über  einen  Fluss  hinweg  der  alten  Waschfrau  zu. 

IL 

n  Spoleto  den  16.  März  1880  von  dem  nun  verstorbeneu  (jöjährigeu  Fräulein  Maria  Getti 
aus  Viterbo  gehört. 

Es  war  einmal  ein  Schreiner;  der  hatte  seine  Frau  sehr  lieb  und 
wurde  von  ihr  ebenso  geliebt,  obgleich  sie  schon  ziemlich  lange  miteinander 
verheiratet  waren.  Niemals  hatten  sie  Streit  unter  sich  gehabt,  lebten 
vielmehr  stets  in  Frieden  und  Eintracht  beisammen.  Da  nun  dem  Teufel 
der  Friede  in  dieser  Welt  aufs  äusserste  verhasst  ist,  so  sann  er,  als  er 
merkte,  wie  gut  die  beiden  Ehegenossen  sich  vertrugen,  darüber  nach, 
wie  er  wohl  am  besten  Zwietracht  zwischen  ihnen  stiften  könne.  Da  kam 
ihm  eines  Tages  eine  ihm  bekannte  alte  Frau  in  den  Sinn,  die  ihm  sehr 
willfährig  war,  und  er  beschloss,  sich  ihrer  bei  dieser  Gelegenheit  zu  be- 
dienen. War  es  ihm  doch  selbst  die  ganze  Zeit  hindurch  in  keiner  Weise 
möglich  gewesen,  Zank  zwischen  den  beiden  Gatten  hervorzurufen.  Er 
ging  also  zu  der  Alten  und  sagte  ihr:  „Wenn  du  im  stände  bist.  Streit 
zwischen  den  beiden  Eheleuten  zu  erregen,  so  sollst  du  zum  Lohne  ein 
Paar  neue  Schuhe  von  mir  bekommen."  Die  alte  Frau  antwortete  ihm, 
sie  hoffe,  darin  Erfolg  zu  haben,  und  machte  sich  alsbald  ans  Werk.  Sie 
dachte  nach,  welche  List  sie  am  besten  anwenden  solle.  Zuerst  ging  sie 
zu  dem  Ehemann  und  horchte  ihn  über  seine  Frau  aus;  dann  sprach  sie: 
„Euer  Weib  ist  ohne  Zweifel  sehr  gut,  indes  hat  sie  auch  ihre  Fehler;  sie 
liebt  einen  anderen  Mann,  wenn  ihr  es  auch  nie  wahrgenommen  habt", 
und  sie  fügte  noch  viel  anderes  hinzu  und  behauptete,  die  Schelmin  thäte 
nur,  als  liebe  sie  ihn:  in  Wirklichkeit  liebe  sie  ihn  ganz  und  gar  nicht; 
er  würde  bald  finden,  dass  sie  sich  ihm  immer  mehr  entfremde,  dass  sie 
immer  kühler  und  gleichgültiger  zu  ihm  werde.  Darauf  verpflichtete  sie 
sich,  ihm  einen  Beweis  zu  liefern,  dass  sie  die  Wahrheit  sage.  Schliesslich 
bemerkte  sie:  „Ich  bin  eine  alte  Frau;  deshalb  könnt  ihr  mir  alles  Ver- 
trauen schenken.  Auch  bin  ich  von  Natur  unfähig  zu  lügen,  wie  ihr  selbst 
hernach  einsehen  werdet,  und  überdies  kenne  ich  eure  Frau  schon  sehr 
lange",  und  dabei  zeigte  sie  sich  ihm  gegenüber  in  trügerischer  Weise 
fortwährend  zärtlich  und  schmeichlerisch.  Der  arme  Mann  war  wie  be- 
täubt, als  er  das  alles  von  seiner  Frau  hörte,  die  er  doch  so  herzlich  liel)t('. 
Hierauf  verliess  die  Alte  den  Mann  und  begab  sich  zu  seiner  Frau.  Auch 
diese    befragte    sie   über   ihren  Mann,    worauf  sie  zu  ihr  sagte:    „Ihr  liel»t 


Vergleichende  Mitteilungen  zu  Hans  Sachs  Fastnachtspiel.  lill 

euren  Mann  sehr,  er  aber  liebt  euch  nur  zum  Schein.  In  Wahrheit  ist  er 
nämlich  ein  Betrüger,  denn  er  liebt  eine  andere,  wenn  ihr  es  auch  nicht 
wisst,  und  ihr  werdet  ihn  bald  immer  ungehaltener  gegen  euch  und  auch 
nachdenklicher  finden;  ich  kenne  ihn  schon  lange  ganz  genau  und  weiss, 
dass  er  ein  berüchtigter  Weiberknecht  ist.  Ihr  könnt  volles  Vertrauen  zu 
mir  haben  und  meine  Ratschläge  annehmen;  denn  ich  bin  ganz  unfähig 
euch  zu  hintergehen.  Jetzt  gehe  ich  fort,  und  in  kurzem  werdet  ihr  mir 
berichten  können,  ob  ich  euch  die  Wahrheit  gesagt  habe  oder  nicht." 
Sprach's  und  entfernte  sich.  Gegen  Abend  sah  die  Ehefrau  ihren  Mann 
wirklich  ungehalten  nach  Hause  zurückkehren,  woraus  sie  schloss,  dass 
alles,  was  die  Alte  ihr  hinterbracht  hatte,  auf  Wahrheit  beruhe,  und  gerade 
ebenso  dachte  ihr  Mann.  Infolgedessen  sprachen  sie  kaum  noch  zusammen 
und  sahen  sich  mit  scheelem  Auge  an.  Ton  nun  an  waren  sie  beide  alle 
Abend  schlechter  Laune.  Selten  wechselten  sie  miteinander  ein  paar 
Worte  und  dann  gewöhnlich  geringschätzige,  und  jeder  von  ihnen  dachte 
seinerseits,  dass  die  Alte  mit  dem,  was  sie  gesagt,  völlig  Recht  gehabt 
hätte.  Einige  Tage  verharrten  sie  in  solcher  Zwietracht;  der  Teufel  al)er, 
dem  es  endlich  gelungen  war,  sein  höllisches  Bein  zwischen  sie  zu  stellen, 
jauchzte  deshalb  vor  Freude.  Als  sich  nach  einiger  Zeit  die  Vettel  zu 
der  Frau  begab  und  sie  über  das  Verhalten  ihres  Mannes  befragte,  erfuhr 
sie,  dass  jene  alles,  was  sie  ihr  gesagt,  bestätigt  gefunden  hätte.  Dann 
versetzte  die  Alte:  „Wenn  ihr  wollt,  dass  euer  Mann  euch  wieder  lieb 
hal)e  wie  früher  und  keine  andere  Frau  mehr  lieben  soll,  dann  müsst  ihr 
ihm  die  Haare  an  dem  Muttermal,  das  er  auf  der  Backe  nahe  am  Halse 
hat,  mit  diesem  Federmesser  (und  sie  gab  ihr  ein  solches)  abschneiden; 
ihr  werdet  bald  sehen,  ilass  er  euch  wieder  gut  sein  wird  wie  zuvor,  und 
alle  Feindschaft  wird  ein  Ende  haben."  Darauf  verabschiedete  sich  die 
Alte  von  ihr  und  ging  zu  dem  Manne.  Sie  fragte  ihn,  wie  sich  seine  Frau 
ihm  gegenüber  benommen  hätte,  worauf  er  erwiderte,  alle  ihre  Worte 
hätten  sich  bewährt.  Da  sprach  die  Alte:  „Passt  diese  Nacht  gut  auf; 
eure  Frau  w'ird  nämlich  versuchen  euch  mit  einem  Federmesser  zu  töten, 
sol)ald  es  ihr  scheint,  dass  ihr  eingeschlafen  seid.  Thut  also,  als  ob  ihr 
schliefet,  aber  schlafet  nicht!  Ich  habe  euch  jedenfalls  gewarnt,  damit  ihr 
wisst,  was  ihr  zu  thun  habt  "  Am  Abend  ging  der  Mann  nach  Hause  und 
legte  sich  zeitig  hin,  der  Dinge  harrend,  die  da  kommen  sollten.  Sogleich 
stellte  er  sich  schlafend.  Als  nun  die  Frau  glaubte,  dass  er  wirklich  ein- 
geschlafen sei,  kam  sie  mit  dem  Messer  in  der  Hand  an  sein  Bett,  um 
ihm,  wie  ihr  geraten  worden  war,  die  Haare  vom  Muttermal  abzuschneiden. 
Kaum  sah  *der  Mann  seine  Frau  mit  dem  Messer  herankommen,  so  stand 
er  in  dem  Glauben,  dass  sie  ihn  töten  wolle,  auf,  schlug  sie  halb  tot  und 
sagte  ihr,  mit  der  Liebe  zwischen  ihnen  sei  es  nun  für  alle  Zeiten  aus, 
denn  er  w^erde  nie  vergessen  können,  dass  sie  versucht  hätte,  ihm  die 
Kehle    abzuschneiden.     Die  Folge    davon    war,    dass    sie    sich    ihr  ganzes 

13* 


192  l'ra^o: 

Lebeu  lang  unversöhnlich  hassten.  Eines  Morgens  Hess  nun  der  Teufel 
die  alte  Frau,  vor  deren  Ränken  er  jetzt  grosse  Furcht  hatte,  kommen, 
hielt  sich  aber  in  einer  gewissen  Entfernung  von  ihr  und  reichte  ihr  die 
ihr  als  Lohn  für  ihre  Cbelthat  versprochenen  neuen  Schuhe,  die  an  einer 
langen  Gabel  befestigt  waren,  hin,  mit  den  Worten:  „Du  bist  tüchtiger 
gewesen  als  ich;  denn  du  hast  es  in  einem  Augenblick  fertig  bekommen, 
Zwietracht  zwischen  jenen  beiden  Gatten  zu  stiften,  während  ich  mich. 
Jahre  lang  vergebens  damit  abgemüht  hatte."  So  bewährt  sich  das  ital. 
Sprichwort:  La  donna  sa  -pei-jino  dovö  il  diavolo  tiene  la  coda  oder  La  donna 
ha  un  punto  piü  del  diavolo  stesso. 

m. 

Von  dem  Lycealschüler  Ant.  Nicoletta  in  Tuovo  bei  Roccamonfina,    Bez.  Sessa  Auiunca, 
am  18.  April  1895  aufgezeichnet  und  mir  mitgeteilt  (nuediert). 

Der  Teufel    ging    einst    zu    einer    alten  Frau  und  sagte  zu    ihr:    „In 
deiner  Nachbarschaft    w-ohnen    die  Eheleute  Peter  und  Johanna,    die  sich, 
sehr  lieb  haben.    Stifte  Zwietracht  zwischen  ihnen,  so  sollst  du  zum  Lohne 
eine  grosse  Summe  Geldes  von  mir  bekommen!"     Sie  antwortete:  „Wenn 
du    wirklich    dies  Versprechen    halten    willst,    werde  ich  dir  den  Gefallen 
thun."     Darauf  ging  sie   zur  Johanna  und  sagte  zu  ihr:    „Diese  Nacht  ist 
mir    dein  Yater    im  Traume   erschienen  und  hat  mir  gesagt,    es  sei  nötig, 
dass  man  für  seine  Seele  Messen  lese.     Dann  ersuchte  er  mich,    das  Geld 
dazu  zum  Mesner  zu  tragen,    damit  dieser  es  dem  Geistlichen  einhändige, 
der    die  Messen  lesen  soll."     Die  Alte  trug  das  Geld  für  die  Messen  zum 
Mesner  und  begab  sich  darauf  zu  Peter  und  sagte  ihm:  „Dass  deine  Frau 
den  Mesner  gern  hat,  weisst  du  wohl  gar  nicht?    Wenn  du  ordentlich  acht 
giebst,    wirst    du    sie  bei   ihm  sehen."     Peter  sah  in  der  That  seine  Frau 
zum  Mesner  gehen,  gab  jedoch  nicht  viel  darauf  und  glaubte  keineswegs, 
was  die  Alte  ihm  gesagt  hatte;  auch  sprach  er  mit  seiner  Frau  kein  Wort 
darüber.    Als  die  Alte  das  merkte,  nahm  sie  ihre  Zuflucht  zu  einem  anderen 
Mittel,  sie  ging  wieder  zu  Johanna  und  sagte  zu  ihr:    „Ich  weiss,  dass  du 
dir    ein  Kleid    machen    willst;    daher  mache  ich  dich  darauf  aufmerksam, 
dass    ein    gewisser    Kaufmann    (und  sie   nannte  ihr  denselben)    sehr    gute 
Sachen  hat."     Darauf  ging  sie  wieder  zu  Peter  und  sagte  zu  ihm:    „Gieb 
wohl    acht,    deine  Frau   hat    sich    mit   dem  und  dem  Kaufmann  ein  Stell- 
<lichein    gegeben!     Du    brauchst    es    nicht    zu  glauben,    falls  du  sie  nicht 
hingehen    siehst."     Peter    sah    wirklich    seine  Frau  zum  Kaufmann  gehen 
und  wollte  zwar  gern  an  nichts  Böses  glauben,  aber  er  begann  doch  gegen 
sie  Argwohn    zu    schöpfen.     Er   wusste    endlich  nicht,    ob  er  sie  aus  dem 
Hause   jagen    solle  und  sah   sie  nicht  mehr  an.     Da  ging  Johanna  zu  der 
•  Alten  und  sagte:    „Nachdem  du  mir  solche  Ratschläge  gegeben  hast,  gieb 
mir  nun  einen  anderen!     Peter  sieht  mich  seit  einiger  Zeit  nicht  mehr  an: 
was  ist  da  zu  thun?"     Die  Alte  antwortete:  „Wenn  du  seine  Liebe  wieder- 


Vergleichende  Mitteilungen  zu  Hans  Sachs  Fastnachtspiel.  193 

gewinnen  willst,  nimm  ein  Scliermesser  und,  sobald  er  eingeschlafen  ist, 
musst  du  ihm  ein  Barthaar  am  Halse  abschneiden."  Dann  ging  sie  zu 
Peter  und  sprach:  „Ja,  ja,  deine  Frau  will  dich  heute  Xacht  ermorden; 
Pass  gut  auf!  Thue,  als  ob  du  schläfst  und  schnarchst,  aber  schlafe  nicht! 
denn  deine  Frau  will  dir  den  Hals  mit  einem  Schermesser  abschneiden." 
Er  stellte  sich  nun,  als  ob  er  fest  schliefe,  blieb  aber  wach,  indem  er  bei 
sich  dachte:  „Ich  will  doch  einmal  sehen,  ob  das  wahr  ist,  was  die  Alte 
mir  gesagt  hat."  Die  Frau  nahm  das  Messer  und  näherte  sich  Peter 
wirklich,  um  ihm  das  Barthaar  am  Halse  abzuschneiden.  Da  packte  sie 
ihr  Mann  mit  den  Worten:  „Du  wolltest  mich  also  in  der  That  ermorden?" 
Dann  brachte  er  sie  zu  ihren  Brüdern  und  sprach:  „Behaltet  sie  euch: 
denn  heute  Nacht  wollte  sie  mich  töten.  Ich  will  sie  nicht  mehr  bei  mir 
haben!"  Da  entgegnete  seine  Frau:  „Aber  jene  Alte  hat's  mir  gesagt,  £ie 
hat  mir  gesagt:  Schneide  deinem  Manne  ein  Barthaar  am  Halse  ab!  So 
hat  sie  gesagt."  Sie  erzählten  sich  nun  alles,  was  die  Alte  ihnen  hinter- 
bracht hatte,  der  es  nun  nicht  weiter  gelang,  sie  zu  entzweien. 

IV. 

Von  dem  Lycealschüler  Ant.  di  Paolo  am  20.  Mai  1895  zu  Cellole-Fasani,  im  Bezirk 
Sessa-x\urunca,  aufgezeichnet  und  mir  mitgeteilt  (unediert). 

Es  war  einmal  in  einem  Lande  ein  Mann  und  eine  Frau,  die  in  grosser 
Eintracht  mitsammen  lebten.  Der  Teufel  that  wohl  alles  mögliche,  um  sie 
zu  entzweien,  konnte  es  aber  durchaus  nicht  erreichen.  Daher  wandte  er 
sich  an  eine  alte  Frau,  die  ihm  versicherte,  es  werde  ihr  leicht  gelingen, 
seinen  Wunsch  zu  erfüllen.  In  der  That  begab  sie  sich  eines  schönen 
Tages,  als  sie  sah,  dass  der  Ehemann  das  Haus  verliess,  um.  ins  Geschäft 
zu  gehen,  in  das  Haus  jenes  glücklichen  Paares  und,  nachdem  sie  tausendmal 
die  Namen  „Jesus"  und  „Maria"  ausgerufen  hatte,  fragte  sie  die  arme 
Frau,  ob  ihr  Mann  sie  liebe.  Diese  antwortete,  dass  er  sie  gern  hätte. 
Da  sprach  die  Alte:  „Glaubt  ihr  das  wirklich?  Euer  Mann  hat  doch  eine 
Liebschaft  mit  einem  jungen  Frauenzimmer?"  Sprach's  und  ging  stracks 
zu  dem  Mann  ins  Geschäft.  Erst  sagte  sie  dies  und  jenes  und  dann  fragte 
sie  ihn,  ob  seine  Frau  ihn  liebe.  „Sehr",  antwortete  er.  „Glaubt  ihr  das 
wirklich?"  fragte  die  Alte  wieder;  „es  ist  aber  nicht  alles  Gold,  was  glänzt!" 

Dann  liess  sie  sich  von  ihm  ein  wenig  bitten  und  fügte  schliesslich 
hinzu:  „Wenn  ihr  euer  Haus  verlasset,  um  ins  Geschäft  zu  gehen,  lässt 
eure  Frau  gewöhnlich  ihren  Gevatter  kommen  und  .  .  .  weiter  darf  ich 
nichts  sagen."  Der  3Iann  wollte  es  allerdings  zuerst  nicht  recht  glauben: 
die  Alte  aber  wandte  alle  Mittel  an,  bis  sie  ihn  fast  davon  überzeugt  hatte. 
Mittags  schloss  der  Mann  den  Laden  und  ging  ganz  aufgebracht  nach  Hause. 
In  der  Küche  traf  er  seine  Frau  sehr  verstimmt  an.  Sie  setzten  sich  dann 
beide  zu  Tisch,  sprachen  aber  auch  nicht  ein  Wort  zusammen,  und  so 
ging    es    ein    paar  Tage.     Nach    drei  Tagen   kam   die  Alte  wieder  zu  der 


1«:)4  Lübeck: 

Frau  und  sagte:  „Wollt  ihr,  dass  euer  Mann  euch  wieder  treu  werde,  so 
müsst  ihr  thun,  w^as  ich  euch  sage.  Sobald  er  heute  Nacht  fest  eingeschlafen 
ist,  nehmt  ein  Messer,  schneidet  ihm  ein  Haar  ab  und  dann  verbrennt  es!" 
Die  Frau  versprach,  ihren  Rat  zu  befolgen.  Die  Alte  that  nun  so.  als 
ginge  sie  nach  Hause,  in  Wirklichkeit  ging  sie  aber  zu  dem  Manne  und 
sagte  zu  ihm:  „Ich  rauss  euch  auf  etwas  aufmerksam  machen.  Während 
ihr  schlafet,  wird  euer  Weib  sich  daranmachen,  euch  zu  ermorden.  Seid 
also  auf  eurer  Hut!  Stellt  euch  schlafend;  wenn  ihr  aber  sicher  sein  wollt, 
schlafet  nicht  ein!"  Als  der  Manu  sich  am  Abend  zurückgezogen  und 
hingelegt  hatte,  that  er,  als  ob  er  schliefe  und  schnarchte.  Seine  Frau 
nahm  nun  das  Messer,  um  der  Aufforderung  der  Alten  nachzukommen. 
Der  Mann  war  jedoch  wach;  er  richtete  sich  schnell  im  Bett  auf,  riss  ihr 
das  Messer  aus  der  Hand  und  tötete  sie.  —  Man  sieht  also,  dass  sich  ein 
altes  Weib  verschlagener  zeigt  als  der  Teufel.  Während  dieser  sich  sehr 
lange  vergeblich  abgemüht  hatte,  gelang  es  ihrer  Schlauheit  in  ganz  kurzer 
Zeit  seinen  Wunsch  zu  erfüllen. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Die  Krankheitsdänionen  der  BalkanYölker. 

Yen  K.  L.  Lübeck. 

(Fortsetzung  von  Zeitschr.  IX,  S.  G8.) 


Auf  den  Haartag,  der  den  Übergang  zu  den  interessanteren  Tagen 
bildet,  lassen  wir  den  eigentümlichen  Tag  der  hl.  Spass  folgen.  Dieser 
merkwürdige  Tag  fällt  auf  Christi  Auffahrt.  In  der  vorhergehenden  ^Fitter- 
nacht  sucht  man  das  sogen.  Taublümchen,  welches  wie  kein  zweites  von 
den  weiblichen  Geistern  der  Luft,  den  Elfen,  die  um  12  Uhr  nachts  vor 
dem  Auffahrtstage  wieder  unter  den  Menschen  erscheinen,  geliebt  wird. 
Es  ist  ein  Pflänzchen,  etwa  eine  Elle  hoch,  mit  roter  Blüte  und  schwert- 
lilienartigen Blättern,  das  verhältnismässig  selten  ist,  aber  haufenweise  auf 
einzelnen  Plätzen  vorkommt.  Die  Elfen  lieben  es  als  Schmuck.  Für  den 
Kranken  haben  die  Blüten  dieser  Pflanze  Heilkraft.  Die  ihrer  bedürfen, 
verabreden  sich  zu  gemeinsamem  Aufbruch  und  zu  gemeinsamer  Suche, 
wobei  jeder  Kranke  zunächst  die  Sitte  der  Verbrüderung,  ■  die  im  Lande 
herrscht  und  die  in  diesem  Fall  mit  einer  Person  des  entgegengesetzten 
Geschlechts  eingegangen  werden  muss,  zu  beachten  und  zu  befolgen  hat. 
Wenn  der  Kranke  nun  auf  diesem  Auszuge  ein  solches  Pflänzchen  findet, 


Die  Krankheitsdämouen  der  Balkanvölker.  195 

lässt  er  sich  dort  nieder,  stellt  eine  Schale  Wasser  neben  sich  und  geniesst 
etwas  von  dem  mitgebrachten  Gebäck.  Darauf  nehmen  allesamt  das  Mahl 
ein  und  warten  den  Einbruch  der  Nacht  ab,  da  der  Auszug  nach  Sonnen- 
untergang, doch  noch  in  heller  Zeit  erfolgte.  Darauf  legt  sich  der  Kranke 
schlafen,  und  zwar  so,  dass  der  Kopf  bei  der  Pflanze  zu  liegen  kommt. 
Der  (oder  die)  Verbrüderte  der  (oder  des)  Kranken  zündet  alsdann  eine 
Kerze  an,  stellt  sie  zu  Häupten  des  Kranken  bei  der  Schale  auf  und  wacht 
neben  dem  (oder  der)  Kranken.  Die  Verbrüderten  können  wohl  mitein- 
ander flüstern,  aber  sobald  die  „geheimnisvolle  Stunde"  naht,  wo  die  Elfen, 
die  „Russalkinnen",  zum  erstenmale  im  Jahre  wieder  unter  den  Menschen 
erscheinen  sollen,  hört  alles  Gespräch  auf.  Die  Russalkinnen  erscheinen, 
sammeln  die  geliebten  Blumen,  verweilen  bei  dieser  Arbeit  etwa  eine  Stunde 
und  ziehen  schliesslich  von  dannen.  Die  wachen  Verbrüderten  bedecken 
nun  die  Schüssel  mit  einem  weissen  Tuch.  Wenn  die  Hähne  zum  zweiten- 
male  krähen,  erheben  sich  die  Kranken,  bespritzen  sich  mit  dem  Wasser 
der  Schale,  nippen  aas  ihr  und  giessen  den  Rest  in  den  mitgebrachten 
Krug.  Ist  in  die  Schale  ein  Taublümchen  gefallen,  so  wird  der  Kranke 
unfehlbar  gesund.  Nach  diesen  Zeremonien  kehrt  man  nach  Hause  zurück, 
indem  man  aber  am  betreffenden  Orte  die  leere  Schale,  den  mitgebrachten 
Brotkuchen,  den  Wein  und  Geschenke  wie  Schürzen  u.  dergl.  zurücklässt. 
Zu  Hause  bespritzt  sich  der  Kranke  mit  dem  Wasser  und  wäscht  sich  mit 
einem  Teil  desselben.  Den  übrigen  Inhalt  muss  er,  um  ganz  zu  gesunden, 
mit  allem,  was  in  der  Geisterstunde  in  das  Becken  hatte  fallen  können, 
austrinken,  sei  nun  das  Hineingefallene  Blüte,  Blatt,  Gewürm  oder  sonst 
etwas.  —  Vor  dem  Wegzug  von  der  Lagerstätte  wird  der  (die)  Kranke 
von  dem  (der)  Verbrüderten  aufgefordert,  den  Ort,  wo  er  lag,  zu  besprengen 
und  die  Russalkinnen  um  Verzeihung  zu  bitten.  Er  thut  dies  mit  den 
Worten:  „Verzeiht,  wenn  wir  gefehlt  haben!"'  Beim  Fortzug  wagt  niemand 
sich  zurückzuwenden.  Einmal  fort,  sammeln  die  Hirten  das  auf  dem  Platz 
Zurückgelassene,  worauf  sie  als  „Lieblinge  der  Russalkinnen"  alleiniges 
Anrecht  haben.  —  Die  auf  diesen  Tag  hin  Verbrüderten  haben  kein  Recht, 
miteinander  eine  Ehe  einzugehen.  —  Der  übrige  Teil  des  Tages  wird 
durch  grosse  Märkte,  verbunden  mit  Spiel  und  Tanz,  gefeiert. 

Von  noch  grösserem  Interesse  ist  der  Blatterntag,  im  Volke  Mladenzi 
genannt.  Dieser  Tag  verdankt  seine  Entstehung  der  Krankheit  Sipaniza 
(von  sipwam  streuen,  ausstreuen;  einige  Zusammensetzungen  dieses  Zeit- 
wortes haben  noch  die  Bedeutung  „zerstören",  „zertrümmern",  Bedeutungen, 
die  für  die  Erklärung  des  Ausdrucks  Sipaniza  wichtig  und  von  Belang 
sind.  Diesem  Ausdruck  nähert  sich  übrigens  das  früher  erwähnte  „ustrel", 
indem  es  gleichfalls  „ausschütten",  „entsenden  (von  Pfeilen)"  und  „pfeilen", 
d.  i.  vernichten,  zerstören  bedeutet).  Für  diese  Krankheit  findet  sich 
ausserdem  der  viel  üblichere  und  volkstümlichere  Name  Baba  Scharka, 
d.  h.  Färbe-    oder  Malgrossmütterlein.     Sie   gehört  mit  unter  jene  Krank- 


l[)Q  Lübeck: 

heiteii,    von    denen  der  Volksmund  sagt,    dass  jeder  einmal  an  ihnen  dar- 
niederliegen  niuss,    und  wird  als  eine  Dreilieit  von  Schwestern  aufgefasst. 
welche  aus  der  drallen,  der  mittleren  und  der  schmächtigen  gebildet  wird, 
von    denen    die    letztere    namentlich   die  Kinder  heimsucht.     Die  Blattern 
selbst  sind  nach  dem  Volksglauben  Körner,  die  diese  drei  Schwestern  den 
Menschen    zuschleudern.     Über    die    Entstehung    der  Blattern    glaubt    das 
Volk    folgendes:    Die  Türken    hatten   die  schlechte  Sitte  und  Gewohnheit, 
mehr    als    erlaubten  Gefallen   an  den  jungen  Mädchen  dieses  Landstriches 
zu    finden,    weil  diese  alle  anderen  Frauen  an  Schönheit  und  Anmut  weit 
übertrafen.     Da    dem  Übel    kein  Ende   zu  macheu  war,    schickte  Gott  die 
furchtbaren  Blattern,  um  die  hübschen  Mädchen  ihrer  Schönheit  zu  berauben 
und    dadurch    den  Türken    ihr  Verlangen    nach   den  letzteren  zu  nehmen. 
Das    verfing.     Die  Blattern    stürmten    wie    ein  Wirbelwind    allverheerend 
durch  die  Lande  und  verunstalteten  grausig  die  hübschen  Gesichter.     Un- 
verwindbarer  Ekel  und  furchtbares  Grausen  bemächtigte  sich  der  Türken, 
als   sie  nicht  nur  die  Verunstaltungen  sahen,    sondern  nun  auch  selbst  von 
der  Krankheit  zu  Tausenden  gekennzeichnet  und  dem  Tode  geopfert  wurden. 
Von    da    an  gaben   sie  ihre  Nachstellungen  nach  den  Mädchen  auf.     Nach 
diesem  eigentümlichen  und  wirksamen  Mittel  Hess  Gott  Ärzte  werden,  die 
das  Volk  von  den  Blattern  erlösten.  —  Die  Blattern  können  bald,  wie  der 
Volksausdruck    sagt,    sachte,    unbemerkt  in  menschliche  Wohnstätten  ein- 
ziehen,   ohne   grossen  Schaden  anzustiften,    bald  wie  eine  furchtbare,    sich 
heranwälzende  und  aufbrausende  Sturmflut  durch  die  Lande  jagen,  alles  mit 
sich    reissend,    was    ihnen  Lebendiges  begegnet.     Dieses  letztere  hat  aber 
nur    statt,    wenn    sie   erzürnt  sind.     Sobald  man  nur  von  ihrem  Anrücken 
unterrichtet  ist,  wird  alles  zu  ihrer  Versöhnung  und  Beschwichtigung  vor- 
bereitet, namentlich  die  diesem  Tage  zukommenden  Brotsorten  oder  Brot- 
formen.   Diese  werden  teils  mit  Honig  überstrichen,  teils  sonst  schmackhaft 
gemacht  und  rasch  in  die  Nachbarhäuser  und  zu  den  näheren  älteren  Ver- 
wandten   getragen.     Doch    wird    ausserdem  noch  ein  Backwerk  gebacken, 
das    einzig    und  allein  diesem  Tage  zukommt.     Dasselbe  hat  Puppenform 
und  ist  von  mehreren  Löchelchen  durchbrochen.     Dieses  Gebäck  hat  eine 
doppelte  Bedeutung.     Einmal    soll    —    so    scheint    uns  wenigstens  —   die 
Baba  Scharka,  das  Färbegrossmütterlein,    durch  die  Brotform  mit  Mitleid 
und  Nachsicht  gegen  die  Jugend  erfüllt  werden;  sodann  dient  es  als  Schild 
in  eigentlichster  Bedeutung  des  Wortes,  ja  geradezu  als  Talisman,  die  von 
dem  furchtbaren  Blatternweibe  geschleuderten  Blatternkörner  abprallen  zu 
lassen.     Da    nun    dieses  Weib   ohne  Opfer  niclit  vom  Orte  zu  bannen  ist. 
sind   eben  die  Löchelchen  in  den  Kuchen  gemacht,    um  wenigstens  einige 
Blatterukörner  hindurchzulassen.   ]3amit  aber  diese  einen  möglichst  geringen 
Schaden    anrichten,    werden    die  Kuchen    mit    möglichst    kleinen  und   mit 
möglichst    wenigen  Löchelchen  versehen,    so  dass  von   den   geschleuderten 
Blatterkörnern  nur  ganz  wenige  und  zwar  nur  die  allerkleinsten,  also  auch 


Die  Krankheitsdänion  eil  der  Balkanvölker.  197 

die  uuschädlichsteu  den  Kuchen  durchdringen  und  den  Menschen  treffen 
können.  Je  nach  dem  Alter  wird  jedem  Familiengliede  ein  solches  Back- 
werk mit  mehr  oder  weniger  Löchern  verabreicht.  Die  kleinsten  und 
jüngsten  Familienglieder  erhalten  solches  mit  vier  Löchern,  die  älteren 
und  ältesten  solches  mit  vielen  und  grösseren,  damit  das  Blattern  weih  seine 
Todesgeschosse  zunächst  den  schwer  überwindbaren  gestählteren,  wider- 
stauilsfähigeren  oder  zum  Leben  schon  so  wie  so  untauglichen  zu  schleudere, 
die  widerstandslose,  schwache  Jugend  aber  möglichst  von  ihr  verschont 
bleibe.  Es  scheint  dies  ein  Zug  von  Selbstlosigkeit  ganz  besonderen 
Charakters.  Aber  eine  solche  Auslegung  widerspräche  dem  Yolkscharakter, 
in  dem  die  Selbstlosigkeit  sich  noch  nicht  ausgebildet  hat.  Der  scheinbare 
Edelmut  ist  nicht  Ursache,  sondern  nur  Folge  und  verrät  vielmehr  die  dem 
Bauernstande  aller  Länder  nachzurühmende  Yerschlagenheit  und  Gerieben- 
heit, die  zwei  Fliegen  mit  einer  Klappe  schlägt.  —  Da  das  bereitete 
Gebäck  namentlich  der  Jugend  als  Talisman  dient,  wird  es  mladenzi  (von 
mlad  =  jung)  genannt,  woher  auch  der  Krankheitstag  seinen  Namen  hat. 
Jedes  Haus  übersendet  auch  von  diesem  Gebäck  je  ein  Stück  an  sämtliche 
ältere  Verwandte,  an  die  Baba  (Grossmutter),  die  Gevattern  u.  s.  w. 

Eine  der  furchtbarsten  Krankheitsdämoninnen  ist  die  Pest.  Der  Tag, 
an  dem  ihr  Verehrung  gezollt  wird,  fällt  auf  den  des  Märtyrers  Chara- 
larabij,  welcher  unter  den  Kirchenikonen  als  Pestvernichter  dargestellt 
wird,  woraus  die  materielle  Auffassung  der  griechischen  Kirche  von  dieser 
schrecklichen  Krankheit  sofort  erhellt.  Das  Entsetzen,  das  der  Pest  all- 
überall voranjagt  und  nachstürmt,  mag  vielleicht  die  Ursache  sein,  dass 
die  heidnisch  zu  nennende  Vorstellung  eines  Pestdämons  sich  in  ihrer 
ganzen  Kraft  und  in  allen  Einzelheiten  bis  heute  erhalten  hat.  Nur  die 
versuchte  Deckung  dieses  Tages  mit  dem  Tage  des  Märtyrers  Charalambij 
hat  dieser  heidnischen  Auffassung  etwas  von  ihrer  Kraft  genommen,  jedoch 
nicht  viel,  da  die  Kirche  durch  ihre  bildliche  Darstellung  des  Heiligen  als 
Pesttöters  die  Personifikation  der  Pest  wesentlich  unterstützte. 

Die  Begehung  und  Bedeutung  dieses  Tages  verdient  eine  eingehendere 
Darstellung  und  ein  allgemeineres  Interesse,  und  dies  um  so  mehr,  als  ja 
selbst  Europa  alljährlich  vor  der  Ankunft  dieses  furchtbaren,  unsichtbaren 
Feindes  zittert  und  nicht  weiss,  wie  ihn  zu  entwaffnen  oder  wohin  vor  ihm 
zu  entfliehen. 

An  ihrem  Festtag,  der  heutzutage  ziemlich  bescheiden  ausfällt,  wird 
früh  am  Morgen  Stall.  Keller,  Hof  u.  s.  w.  gereinigt  und  gefegt,  ein  3Iahl 
und  Brot  bereitet  und  eine  bestimmte  Art  Kuchen  gebacken.  Zur  Mittags- 
essenzeit  wird  der  Tisch  bestellt.  Essen  und  Brot  gesegnet,  von  dem  Kuchen 
je  etwas  in  die  Nachbarhäuser  getragen.  Die  Segnung  besorgt  jedoch 
nicht  der  Priester,  sondern  die  älteste  Frau  im  Hause.  Nach  der  Ver- 
teilung des  Brotes  vereinigen  sich  die  Hauseinwohner  zum  :\lahl.  —  Am 
selben  Tage  wird  keinerlei  Arbeit  von  den  Frauen  verrichtet. 


198  Lübeck: 

Das  Volk  stellt  sich  die  Pest  als  ein  Weib  vor,  das  mit  ewigem  Leben 
begabt,  mit  ihrem  kleinen  Wickelkinde  wie  eine  Zigennerin  die  ganze 
Welt  rnh-  und  rastlos  auf-  und  abstürmt.  AYie  dieses  entsetzliche  Weib 
auf  die  Welt  kam,  erzählen  sich  die  Einwohner  von  Prilej)  (.Macedonieu) 
auf  folgende  Weise: 

Vor  vielen  Jahren  lebte  einmal  ein  mächtiger  König;  doch  dieser 
König  war  schlecht  und  zu  allem  Nichtswürdigen  fähig.  „Dreihundert 
Schlechtigkeiten  hatte  er  an  seinen  ünterthanen  verübt,  und  was  ihm  Böses 
zu  Sinn  kam,  verübte  er."  Doch  seine  grösste  Nichtswürdigkeit  bestand 
darin,  dass  er  jedwede  Frau,  die  er  zu  sehen  bekam,  entehrte.  —  Einmal 
bemerkte  er  in  der  Kirche  zwei  Gott  tief  ergebene  Frauen.  Mutter  und 
Tochter,  und  da  die  letztere  ihm  gefiel,  liess  er  sie  vor  sich  führen.  Alle 
seine  Überredungskünste,  sie  seinen  Gelüsten  geneigt  zu  machen,  schlugen 
fehl,  auch  Martern  halfen  nichts.  —  Das  Mädchen  starb  schliesslich  an  den 
grausamen  Qualen,  die  die  Henkersknechte  des  Wüstlings  ihr  bereiteten. 
Und  da  der  König  an  der  Lebenden  sein  Gelüst  nicht  stillen  konnte,  be- 
friedigte er  es  am  Leichnam  und  warf  denselben  in  einen  Raum  seines 
Palastes.  Wichtige  Ereignisse  Hessen  ihn  den  toten  Körper  vergessen;  ein 
Krieg,  in  dem  er  die  Hälfte  seines  Reichs  und  seiner  Leute  verlor,  brach 
aus.  Nur  neun  Monate  nach  seiner  grausen  That  erinnerte  er  sich  des 
toten  geschändeten  Mädchens.  Er  begab  sich  in  den  Raum,  in  den  er 
den  Körper  geworfen  hatte  und  wo  er  ihn  noch  liegen  fand.  Der  Körper 
hatte  nichts  von  seiner  Schönheit  eingebüsst,  kein  Glied  war  in  Verwesung 
übergegangen.  Dem  König  schien,  als  sei  das  Mädchen  inzwischen  sogar 
schöner  geworden.  Als  er  so  auf  den  toten  nackten  Körper  hiublickte, 
sah  er,  wie  der  Leib  aufgedunsen  war  und  sich  heftig  hob  und  senkte, 
als  bewege  sich  etwas  in  ihm  und  als  sei  er  gar  nicht  tot,  sondern  lebend. 
Da  staunte  der  König  und  sann  über  die  sonderbare  Erscheinung  nach. 
Aber  er  konnte  sie  sich  nicht  erklären.  Doch  um  nicht  lange  im  Zweifel 
zu  bleiben,  schlug  er  roh  mit  dem  Fuss  auf  den  hingestreckten  Leib  und 
mit  einem  Male  war  die  Pest  geboren.  Sie  erhob  sich  vor  ihm  auf  die 
Füsse  mit  den  Worten:  „Von  einem  verworfenen  A^ater  ward  ich  gezeuget, 
von  einer  toten  Mutter  ward  ich  geboren,  darum  werde  ich,  wen  ich  auch 
sehe,  verfolgen  und  *an  den  geheimsten  Orten  auffinden  und  ermorden. 
Dich  sah  ich  zuerst,  Väterchen,  und  über  dich  werde  ich  herfallen,  dass 
du  mit  einem  Male  hinsinkest,  denn  du  hast  mich  gefunden."  Und  damit 
mordete  sie  ihren  Vater  und  zog  hinaus  ins  Freie  und  schlug,  was  ihr 
Lebendes  zu  Gesichte  kam,  nieder.  —  Eine  andere,  etwas  nüchterne  Über- 
lieferung aus  demselben  Ort  führt  die  Pest  gleichfalls  aus  toten  Körpern 
her,  nämlich  aus  verfaulenden  Fischen,  die  rom  Flusse  Nil  nach  seinen 
Überschwemmungen  am  Ufer  zurückbleiben.  Diese  Erklärungsweise,  sowie 
der  Mangel  eines  moralischen  Untergrundes  in  derselben  sprechen  dafür, 
dass  sie  nicht  volkstümlich  ist. 


Die  Krankhcitsdämoiien  der  Balkanvölkcr.  199' 

In  der  Volkspoesie  wird  die  Pest  stets  you  dem  Epitheton  „die  schwarze" 
begleitet.  Zu  ihren  Wanderungen  giebt  ihr  Gott  ein  Bflchelchen,  in  dem 
die  Namen  derer  stehen,  denen  auf  sein  Geheiss  die  Seele  geraubt  werden 
soll.  Öfters  ist  in  diesem  Buch  nur  die  Zahl  der  dahinzuraffenden  an- 
gegeben, während  es  der  Pest  überlassen  bleibt,  die  Opfer  selbst  zu  wählen. 
In  einigen  Orten  wütet  sie  mehr,  in  anderen  weniger,  „wie  es  ihr  gerade 
zu  Sinn  kommt".  Wo  man  sie  freundlich  empfängt,  da  geht  sie  ohne 
Opfer  vorüber,  doch  wo  nicht,  da  erwürgt  sie  das  ganze  Dorf.  Deswegen 
wird  alles  für  einen  freundlichen  Empfang  vorbereitet,  sobald  man 
nur  ihre  Ankunft  erfährt.  Das  ganze  Haus  wird  von  oben  bis  unten 
gekehrt,  gereinigt,  getüncht,  alle  Decken  ausgestäubt  und  ausgeklopft. 
Kein  Winkelchen  bleibt  unberücksichtigt.  Sobald  nun  die  Pest  ins  Dorf 
kommt,  werden  folgende  Vorbereitungen  getroffen:  In  der  Abenddämmerung 
wird  ein  Kessel  Wasser  gewärmt,  die  Waschwanne  zurechtgestellt,  die 
Umä,  ein  die  Seife  vertretendes  Waschmittel,  im  Feuer  erhitzt,  dann  in  ein 
zu  diesem  Zweck  speciell  vorbereitetes  Gefäss  gelegt  und  schliesslich  mit 
Essig ^)  Übergossen.  Ausserdem  wird  noch  ein  Kamm  und  weiche,  ge- 
waschene Wolle  hinzugelegt.  Dies  alles  lässt  man  an  einem  bestimmten 
Ort  im  Hause,  denn  des  Nachts  kommt  die  Pest  mit  ihrem  Kinde,  wäscht 
sich  das  Gesicht,  badet  ihr  Kind  und  hüllt  es  in  die  Wolle.  Da  man 
nicht  zum  vorherein  weiss,  in  wessen  Haus  sie  treten  wird,  werden  diese 
Zurüstungen  in  jedem  Hause  und  an  jedem  Abend  getroffen. 

W^ährend  der  Anwesenheit  der  Pest  im  Dorfe  hört  jeder  Diebstahl 
auf:  nicht  ein  winziges  Federchen  wird  entwendet.  Ganze  Fässer  Gold 
könnten  am  Wege  unbewacht  stehen,  niemand  wird  sie  berühren.  Wenn 
jemand  weiss,  dass  er  im  Hause  irgend  etwas  von  einer  AVaise,  einer 
Witwe  oder  aus  der  Kirche  ^hereingebracht"  hat,  wirft  er  es  bei  Erscheinen 
der  Pest  augenblicks  fort.  Dieses  „Herein-  oder  Heimgebrachte"  führt 
den  höchst  eigentümlichen  Namen  „das  Verdunkelte",  welches  sich  mit 
-Inlehnung  an  den  ursprünglichen  Sinn  des  uralten  deutschen  Wortes 
„hehlen"  besser  mit  „das  Verhehlte"  übersetzen  lässt.  Ist  nun  dieses 
„Verdunkelte"  oder  „Verhehlte"  irgendwie  aufgebraucht,  d.  h.  vertrunken, 
aufgezehrt,  zerrissen,  abgetragen,  daraufgegangen  u.  s.  w.,  so  wird  der  ihm 
entsprechende  Geldbetrag  aus  dem  Fenster  auf  die  Strasse  geworfen,  so 
dass  man  während  der  Pestzeit  auf  den  Wiegen  Gold-,  Silber-,  Kupfer- 
stücke, Kostbarkeiten  verschiedener  Art  liegen  sehen  kann,  doch  wagt 
niemand,  sie  zu  berühren:  ihre  Berührung  hätte  den  unbedingten  Tod  zur 
Folge.  Es  würde  solchen  Menschen  ergehen,  wie  in  Manzonis  Verlobten 
dem  Halunken  Griso,  der  nach  dem  Überfall  auf  den  pestkranken  Don 
Rodrigo  dessen  Hosen  nach  Geld  ausschüttelt  und  am  folgenden  Morgen 
an  dessen  Berührung  stirbt.  —  Während  der  Pest  muss  sich  ein  jeder  vor 

1)  Die  Frauen  waschen  die  Haare  mit  Essig  und  mit  der  Uma  oft. 


-200  Lübeck: 

geschlechtlichem  Verkehr  liüteii,  denu  die  Pest  hasst  dergleichen  und  rafft 
alle  hin,  die  dem  trotzen.  Ganz  besonders  setzt  sie  aber  den  Ausschweifenden 
zu,  und  denjenigen,  die  die  eheliche  Treue  verletzten.  Welches  Geschlechts 
der  Schuldige  auch  sei,  er  muss  sterben.  Ebenso  sind  der  Pest  auch  alle 
-die  verhasst,  die  sich  irgend  welcher  Lüge,  Bestechung,  Hintergehung  u.  s.  w. 
-schuldig  machen  oder  schuldig  gemacht  haben.  Deshalb  hüten  sich  in 
Pestzeiten  alle  Kaufleute,  Bäcker,  Schmiede  u.  s.  w.  irgend  welchen  Betrug 
zu  verüben.  Die  Pest  hasst  auch  die  Räuber  des  Balkans,  die  bereits 
erwähnten  Chaidüten.     Daher  fordert  sie  grosse  Opfer  von  ihnen. 

Der  Weg  der  Pest  ist  gerade.  Ihr  Weg  ist  die  breite  Landstrasse, 
sie  liebt  die  Steige  und  Pfade  nicht  und  meidet  die  von  Gestrüpp  und 
Dornen  besetzten  Wege.  Wem  daher  gelingt,  einen  solchen  Pfad  zu  finden 
oder  sich  in  das  Gestrüpp  und  Buschwerk,  in  den  Wald  zurückzuziehen, 
vrenn  sie  naht,  dem  kann  sie  nichts  thun,  selbst  wenn  sie  ihn  in  ihrem 
Merkbuch  verzeichnet  hat.  Wo  sie  auch  immer  einherzieht,  lässt  sie  tiefe 
grause  Spuren  zurück,  die  Erinnerung  an  sie  dauert  deshalb  Generationen 
und  wird  in  Liedern  lieferschütternden  Inhalts  in  ihrem  ganzen  grauen- 
haften Schrecken  und  Entsetzen,  den  sie  dem  Volke  einflösst,  vorgeführt, 
so  dass  sie  eine  grosse  Litteratur  geschaffen  hat.  Aus  dem  zur  Zeit  noch 
zerstreuten,  nicht  gesammelten  noch  auch  gesichteten  Material  füge  ich 
hier  am  Schlüsse  meiner,  die  Pest  betreffenden  Ausführungen  einige  Pest- 
lieder bei,  die,  teils  bulgarischen,  teils  macedonischen  Ursprungs  mir  in 
die  Hände  gerieten.  Die  Lieder  habe  ich  beinahe  buchstäblich  genau 
übersetzt,  um  dem  Leser  auch  gleichzeitig  eine  Probe  dieses  orientalischen 
poetischen  Stils  zu  geben;  nur  selten  habe  ich  eine  freiere  Ausdrucksweise 
gewählt. 

I.    Georgis  Begegnung  mit  der  Pest. 

1     Alles  für  'ne  Maid  hat  Georg  hergerichtet, 

Fortzog  Georg,  Hochzeit  nun  zu  machen, 

Zog  mir  fern  hin  in  die  weite  Fremde 

Ziemlich  lange  Zeit,  an  die  drei  Jahre, 
5     Und  gewann  mir  ziemlich  viele  Ware, 

Und  gewann  drei  Wagenlasten  Schätze. 

Fortzog  Georg,  heim  sich  zu  begeben. 

Auf  dem  Wege  traf  er  eine  klare  Quelle, 

An  dem  Quell  ein  Mütterlein,  ein  altes. 
10  „Baba,  ach!  ach,  Baba,  alte  Baba! 

Was  ich  dich  befrage,  wahr  dass  du  mir  kündesti 

Was  ist  Scopie^),  Baba,  mir  verschlossen, 

Warum  Scopie,  Baba,  allverödet? 

Reinen  Hund  giebt's,  Baba,  der  da  bellet, 
15     Keinen  Hahn  giebt's,  Baba,  der  da  krähet, 

Keinen  Menschen,  Baba,  der  einher  dort  gehet." 


1)  V.  12  Scopie  oder  Isküb,  Stadt  in  Macedonicn. 


Die  Kranklieitsdämonen  der  Balkaiivölker.  201 

„„Ach,  oh  Söhnchen,  Söhnchen,  oh  du  Fremdling! 
Reine  Baba  bin  ich,  Baba,  alte  Baba, 
Sondern  bin  die  Pest,  die  Pest,  die  schwarze, 
Welche  hat  verheert  ein  ganzes  Scopie! 

„Öffne  denn,  oh  Baba,  deine  Büchlein, 
Dass  du  siehst,  wie  lang  mir  bleibt  zu  leben? 

„„Leben  hast  du.  Söhnchen,  bis  zum  heut'gen  Abend!"" 

„Lass  dich,  Baba,  alte  Baba,  bitten. 
Mir  zu  geben,  Baba,  Frist  nur  auf  drei  Tage, 
Frist  drei  Tage,  Baba,  und  dazu  drei  Nächte, 
Dass  ich  kehre  heim  zu  meiner  Mutter." 

Fort  dann  zog  er  bis  in  Waldesmitte, 
Wo  er  gellte  wie  die  Schlang  im  Zorne. 
Eine  Nachtigall  von  Mitleid  ward  beweget^). 
Flog  mir  heimwärts  fort  zu  seiner  Mutter. 

„Eilig,  eilig,  Mutter,  alte  Mutter, 
Dein  Georgi  auf  dem  Weg  verscheidet. 
Denn  die  schwarze  Pest  hat  ihn  geschlagen." 

Als  nun  hinging  seine  alte  Mutter, 
Höret  sie,  wie  ihr  Georgi  stöhnet: 

„Hör,  oh  Mutter,  meine  liebe  Mutter, 
Lasten  Goldes  drei  hab'  ich  erworben: 
Eine  Last  sei  meiner  holden  Liebe, 
Eine  and're  meiner  lieben  Schwester, 
Doch  die  dritte  meiner  lieben  Mutter. 
Lebe  wohl,  oh  Mutter,  denn  ich  sterbe!" 

11.    Die  Pest  erbaut  eine  Kirche. 

1     Übernommen  hatte  Gott  es  selber, 

Sich  zu  bauen  eine  grosse  Kirche 

Zwischen  zweien  Bergen,  hochgewölbten, 

Unter  zweien  dünnen,  zarten  Wolken, 
5     Rief  herbei  die  Wilen,  Samodiven: 

„Geister  ihr  der  Winde,  Stürme,  Lüfte, 

Euch  hab'  ich  gerufen,  euch  zu  sagen. 

Eine  Kirche  habe  ich  begonnen 

Zwischen  zweien  Bergen,  hochgewölbten, 
10     Unter  zweien  dünnen,  zarten  Wolken, 

Nicht  am  Himmel,  noch  auch  auf  der  Erden. 

Darum  will  ich  nun  euch  all  befragen. 

Wer  von  euch  wird  mir  am  schnellsten  dienen. 

Um  zum  Bau  die  Ziegel  mir  zu  schaffen, 
15     Ziegel  und  auch  Kalk  zu  gutem  Mörtel, 

Pfähle  ferner  ringsher  um  die  Mauern, 

Und  zum  Flechtwerk  gute  lange  Aste, 

Saubre  Bretter  für  die  Innenwände, 

Balken  auch  noch  für  die  Giebelwände, 


1)  V.  30    „ward    beweget"    ungefähre  Übersetzung    des    im    macedonischen   Original 
gebrauchten  Verbums,  welches  selbst  Macedonier  nicht  erklären  konnten. 


202  Lübeck: 


Vür  die  Rirchenthüren  hohe  Schwellen, 
Starke  Deckung^)  für  des  Daches  Balken?" 

Sieh!     Die  Pest  war  schneller  mir  als  alle. 
Sie  ergriff  den  Bogen  und  die  Pfeile, 
Alt  und  Jung  mit  ihnen  hinzuraffen, 
Hinterher  sich  Gross  und  Klein  zu  schleppen. 
Für  die  Ziegel  mordet  sie  die  Alten, 
Kalk  zu  Mörtel  geben  ihr  die  Mütter, 
Pfähle  sind  ihr  jung  verlobte  Burschen, 
Und  zum  B'lechtwerk  nimmt  sie  schlanke  Mädchen, 
Für  der  Kirche  Dielen  schmucke  Bräute, 
Und  zu  Balken  hübsche  Kmetenfrauen-), 
Priester,  Knieten  taugen  ihr  zu  Schwellen. 


III.    Die  Pest  im  Laude  ßo 


snien. 


"Wie  flammte  mir  Bosnien  auf! 

Ob  in  Bosnien  lohend  Feuer  lodert, 

Oder  Schafe  ihren  Lämmern  blöken, 

Oder  Bosnien  tosend  Wasser  führet? 

Weder  loht  in  Bosnien  lodernd  Feuer, 

Noch  auch  führet  Bosnien  tosend  Wasser, 

Noch  auch  blöken  Schafe  ihren  Lämmern. 

Aber  rings  in  Bosnien  rast  die  Pest,  die  schwarze, 

Sie  erschlug  fünfhundert  led'ge  Burschen 

Und  erschlug  fünfhundert  Angetraute 

Und  verwüstet  dann  fünfhundert  Läden ^), 

Doch  erkannt  hat  Bosnien  sich  trotzdem  nicht !^) 

Jungfrau'n  raffte  hin  sie  dann  fünfhundert, 

Leer  macht  sie  fünfhundert  Stickgestände -5), 

Doch  erkannt'  auch  diesmal  sich  nicht  Bosnien! 

Mordete  dann  fünfmalhundert  Bräute 

Und  verwaist  fünfhundert  Webestühle. 

Doch  auch  diesmal  nicht  erkannt  sich  Bosnien! 

Da  schlug  sie  den  einz'gen  Sohn  der  Mutter! 
Nun  hebt  l'osnien  an  sich  zu  erkennen! 
Morgens,  abends  seufzet  bang  die  Mutter, 
Seufzet,  bis  zum  Himmel  wird's  gehöret: 

„Weh,  oh  weh!  oh  einz'ger  Sohn  der  Mutter, 
0,  oh  weh,  oh  einziger  Sohn,  oh  teurer, 
Ist  dir  weich  dein  Bett  aus  harter  Erde, 
Ist  dir  weich  dein  steinern  hartes  Kissen, 
Ist  dir  warm  die  holzgedeckte  Decke?" 

So  vernahm  sie  Gott  im  hohen  Himmel, 
Und  dem  Sohn  verlieh  er  Kraft  zu  reden. 
Zu  entgegnen  seiner  armen  Mutter: 


1)  V.  21  „Deckung".  Als  Dachbelegiuag  kommen  mächtige  Sandsteinplatten  zur  Ver- 
wendung, —  2)  V.  31  „Kmet"  türk.  =  Bürgermeister.  —  3)  V.  11  „Läden"  =  Magazine.  — 
4)  V.  12  der  Sinn  ist:  „Und  doch  erkennt  Bosnien  seine  Lage  nicht,  weiss  nicht,  dass  die 
Pest  in  ihm  haust.  —  5)  V.  14  der  Sinn  ist:  sie  vereinsamt  die  Stickrahmen,  indem  sie 
die  Stickerinnen,  die  in  jedem  Hause  sind,  heimsucht  und  fünfhundert  von  ihnen  hinrafft. 


Die  Krankheitsdämoneu  der  Balkanvölker.  203 

Weich  ist  mir  mein  Bett  aus  harter  Erde, 
Weich  ist  mir  mein  steinern  hartes  Kissen, 
Warm  ist  mir  die  holzgedeckte  Decke, 
Aber  etwas  martert  mich  gar  heftig: 
Schlangen  nisten  drei  in  meinem  Haupte, 
Meine  schwarzen  Augen  haben  sie  getrunken!" 

lY.    Die  Rache  der  Pest. 
(Buchstäbliche  Übersetzung.) 

Die  Pest  würgt  im  Dorfe, 

Die  Pest  würgt  im  Dorfe,  Freund! 

Das  ganze  Dorf  ist  auf  und  davon  geflohen. 

Die  weisse  Neda  floh  nicht. 

Sie  sitzt  am  Webstuhl  und  webt  ein  Tuch, 

Über  ihrem  Haupte  (ist)  die  schwarze  Pest: 

„Schnell,  Neda,  weisse  Neda, 
Ich  bitte  dich,  gieb  mir,  Neda, 
Gieb  mir,  Neda,  vom  Tuche, 
Gieb  mir,  Neda,  anderthalb  Ellen, 
Mein  Pestkind  einzuhüllen!" 

„„Heb'  dich  hinweg,  schwarze  Pest. 
Nicht  gebe  ich  dir  eine  halbe  Elle, 
Geschweige  denn  anderthalb!"" 

..Schlagen  werde  ich  deine  Brüder, 
Deine  Brüder,  alle  neune!" 

„„Heb'  dich  hinweg,  schwarze  Pest! 
Meine  Brüder  sind  auf  der  Flucht,  ' 
Auf  der  Flucht,  auf  dem  ^%  Berg."" 

Noch  hatte  sie  das  Wort  nicht  vollendet. 
Da  ballte  sich  finstrer  Nebel  zusammen, 
Finstrer  Nebel  und  wirbelnder  Staub, 
Im  Nebel  Nedas  Brüder, 
Nedas  neun  Brüder, 
Von  weither  rufen  sie  mit  lautem  Ruf: 

„Auf,  auf!  liebe  Schwester! 
Breite  uns  ein  breites  Lager  aus. 
Lege  das  Kissen  nach  oben. 
Wir  werden  kommen  (die)  neun  Brüder, 
Alle  die  Häupter  umbunden. 
Uns  schlug  die  schwarze  Pest!'' 

„„Ich  bitte  dich,  mir  zu  lassen. 
Mir  zu  lassen  den  jüngsten. 
Den  jüngsten,  den  neunten, 
,    Denn  ich  habe  auf  ihn  gesehen, 
Und  (zwar)  ohne  Vater  und  Mutter  i), 
Dann  werde  ich  dir  fünf  Ellen  geben !"" 
Die  schwarze  Pest  antwortete  ihr: 
„Ich  begehre  nicht  dein  gesamtes  Tuch, 
)     Ich  habe  sie  dir  geschlagen  —  ich  werde  sie  morden!" 


1)  V.  36  ich  vertrat  bei  ihm  Vater  und  Mutter. 


•)()4.  Weinhold: 

Von  diesen  vier  Gedichten  ist  bisher  nur  No.  2  tibersetzt  worden,  und 
zwar  von  Dozon  ins  Französische.  Alle  sind  bulgarische  oder  macedonische 
Volkslieder.  Man  wird  mir  wohl  Recht  geben,  wenn  ich  diesen  Pestliedern 
Tiefe  des  Gefühls  und  Schönheit,  Kraft  und  Stärke  des  Ausdrucks  zuschreibe. 

Gabrovo  in  Bulgarien. 

(Schluss  folgt.) 


Kleine  Mitteiliiii2:en. 


Nocli  einmal  die  Amsterdamer  Ausstellung  nationaler  Trachten 
vom  August  bis  November  1898. 

Durch  die  Güte  von  Fräulein  M.  Th.  Hering'  in  Scheveningen  habe  ich  den 
Katalogus  van  de  Tentoonstelling  van  Nationale  Kleederdrachten  bijeengebracht  ter 
Gelegenheid  van  de  Inhuldiging  van  Hare  Majesteit  Koningin  Wilhehiiina  1898 
(schmal  8^  S.  62)  zur  Einsicht  erlangt  und  komme  daher  noch  einmal  (vgl.  unsre 
Zeitschr.  VIIl,  458)  auf  jene  interessante  Ausstellung  zurück.  Ich  stelle  aus  dem 
von  Herrn  J.  E.  van  Someren  Brand  verfassten  Katalog  kurz  zusammen,  was  für 
den  Leser,  der  die  Trachten  nicht  sehen  konnte,  allgemeineres  Interesse  an- 
sprechen darf. 

Von  den  drei  Volksstümmen  des  Königreichs  der  Niederlande,  den  Friesen, 
Sachsen  und  Pranken  wird  im  Katalog  eine  kurze  Schilderung  gemacht. 

Die  Friesen  sind  lang  und  schlank,  haben  feine  Knochen,  feines  blondes 
Haar  und  eine  sehr  weisse  Haut.  Mit  Vorliebe  sind  sie  Viehzüchter,  Schiffer, 
Fischer  und  Handelsleute. 

Die  Sachsen  haben  einen  gedrungenen  Körperbau,  breiten  Schädel  und  stark 
abgeplattete,  sehr  breite  Schläfe.  Sie  sind  mehr  Ackerbauer  als  Viehzüchter  und 
betreiben  gern  Weben  und  Spinnen.  Ihre  Dörfer  sind  rund  um  einen  Hügel 
gebaut  und  für  ihren  Feldbau  ist  das  Eesch  charakteristisch,  d.  h.  die  Äcker  der 
einzelnen  liegen  nicht  abgesondert  für  sich,  sondern  im  Gemenge  mit  gemeinschaft- 
lichem Weiderecht. 

Die  Franken,  welche  den  Süden  Niederlands  bewohnen,  haben  dunkelere 
Hautfarbe  als  Sachsen  und  Friesen,  braune  Augen,  schlichte  Haare,  starke  Gesicht- 
züge. Sie  sind  gutmütig  und  angenehm  im  A^erkehr,  hängen  am  Alten,  sind  mehr 
Ackerbauer  als  Viehzüchter,  nicht  zu  Schiffahrt  und  Handel  geneigt,  sondern  zu 
Handwerken  und  schönen  Künsten,  und  sind  unter  den  Beamten  und  Soldaten  des 
Staates  stark  vertreten. 

Mischungen  der  drei  Stämme  sind  häufig.  Besonders  stark  ist  fränkisches  und 
friesisches  Blut  gemischt;  in  Drenthe  und  Overijssel  auch  friesisches  und  sächsisches. 
In  der  Provinz  Holland  stammt  die  Bevölkerung  überwiegend  aus  friesischem  Blut, 
doch  ist  früh  fränkisches  dazu  gekommen.  Hier  wie  sonst  ausserhalb  Westfrieslands 
ist  aber  die  friesische  Sprache  untergegangen,  nicht  minder  bei  den  Strandfriesen, 
das  ist  bei  den  bis  Dünkirchen  reichenden  friesischen  Küstenbewohnern. 


Kleine  Mitteilungen.  205 

Die  alten  Volkstrachten  sind  verschwunden;  nur  in  städtischen  Waisenhäusern 
und  in  der  Amtsti-acht  der  protestantischen  Kirchenbeamten  dauern  sie  fort.  Ausser- 
dem haben  sich  Einzelheiten  bei  den  friesischen  und  sächsischen  Frauen  erhalten. 

Namentlich  die  Friesinnen  bewahren  ihre  nationale  Kopftracht  in  dem  ühreisen 
(oorijzer)  und  der  Haube.  Das  Ohreisen,  das  aus  einem  ursprünglich  eisernen 
Stirnband  zum  Festhalten  des  losen  Haares  entstund,  indem  man  dasselbe  zum 
bequemeren  Anlegen  vorn  durchschnitt  und  die  Enden  dann  umbog,  wobei  mancherlei 
Verzierungen  der  Enden  eintraten,  ist  ein  friesisches  Kennzeichen.  Bei  der  Arbeit 
legen  die  Weiber  wohl  die  Haube  oder  Mütze  ab,  aber  nicht  das  Ohreisen.  Nur 
beim  Wettlauf  auf  Schlittschuhen  wird  dasselbe  abgenommen  und  mit  losen  Haaren 
gelaufen.  Dienstmädchen,  die  kein  Ohreisen  trugen,  fanden  bis  vor  kurzem  keinen 
Platz.  Verliert  ein  solches  Mädchen  ihr  gewöhnlich  silbernes  Ohreisen,  so  wird 
zuweilen  eine  Sammlung  von  gutthätigen  Leuten  gemacht,  um  ihm  ein  neues  an- 
zuschaffen, ohne  das  es  nicht  sein  kann.  Reiche  Frauen  tragen  goldene.  Die 
einzigen  Friesinnen  ohne  Ohreisen  sind  die  Marker,  welche  im  übrigen  gerade  an 
der  alten  Tracht  festhalten.  Auf  der  reinfriesischen  Insel  Terschelling.  die  politisch 
zu  Nordholland  gehört,  tragen  Frauen  und  Mädchen  Sonntags  die  nordholländische 
Form  des  hoofdijzer  mit  der  Spitzenhaube.  Werktags  setzen  sie  nur  eine  Mütze 
(inuts)  auf.  Auch  die  Scheveningerinnen  tragen  nur  Sonntags  das  Eisen,  in  der 
Woche  eine  kleine  weisse  Haube.  Auf  den  drei  Inseln  Terschelling,  Vüeland  und 
Texel  ist  noch  die  Kragenhaube  (kraagkap)  im  Brauch,  die  einst  allgemein 
friesisch  war. 

Die  Tracht  der  oben  genannten  Marker  ist  wegen  der  alten  Stoffe  und  der 
guten  Arbeit  kostbar,  ferner  wegen  einiger  Nebenstücke.  So  werden  die  kleinen 
Quasten  der  Halstücher  auf  den  Jahrmärkten  oft  mit  15  11.  das  Stück  bezahlt.  Sie 
sollen  alte  Klosterarbcit  sein.  Von  den  Brautpaaren  werden  dort  gern  alte  Erb- 
stücke von  Kleidern  getragen,  nicht  bloss  an  der  Hochzeit,  sondern  auch  am 
Sonntag  darauf,  an  dem  sie  den  Verwandten  und  Freunden  ihren  Besuch  machen. 

Manche  vornehme  Friesinnen  sind  der  alten  Sitte  treu  geblieben.  Andere 
legen  das  Ohreisen  und  die  friesische  Haube  wenigstens  bei  Feierlichkeiten  und 
Volksfesten  an.  Die  eigentümliche  Stirnnadel  (voorhoofdsnaald)  wird  nur  genommen, 
wenn  sie  mit  Diamanten  besetzt  ist. 

Kennzeichen  sächsischer  Frauen  ist  die  Kniphaube  und  der  kleinen  Mädchen 
eni  schwarzes,  das  Gesicht  eng  umschliessendes  Häubchen  mit  einer  echten  oder 
nachgemachten  Straussfeder. 

Die  sächsische  Kniphaube  wurde  im  vorigen  Jahrhundert  durch  ganz  Nieder- 
land von  den  Predigerfrauen  getragen.  Bis  vor  einiger  Zeit  sah  man  sie  noch  bei 
den  Amsterdamer  Dienstmädchen.  Nun  stirbt  sie  auf  den  Köpfen  ehrbarer  älterer 
Kinderfrauen  ab.  1^-    "'• 


Die  Spelte  und  die  Drihe. 

Zur  Geschichte  der  WeT)erei. 

Wenn  Fräulein  Margarete  Lehmann -Filhes  am  Schluss  ihres  Aufsatzes  über 
Brettchenweberei  (Unsre  Zeitschr.  IX,  33)  die  Vermutung  ausspricht,  die  von  ihr 
beschriebene  sehr  alte  Art  des  Webens  werde  sich  wohl  bald  überall  nachweisen 
lassen,  namentlich  könne  das  Studium  alter  Litteraturdenkmale  manches  ergeben, 
so    dürfte    sie    recht    bekommen.     Im   folgenden    will  ich  aus  mittelhochdeutschen 

Zeitschr.  d.  Verein-  f.  Volkskunde.    1899.  1* 


2()ß  Weinhold: 

Gedichten  des  lo.,  14.  Jahrhunderts  diese  Technik  für  die  Verfertio^ung'  von  Gürteln 
(Borten),  aber  auch  von  Gewandstoffen  zu  belepen  suchen. 

Wir  finden  als  Gerät  beim  Weben  nicht  selten  in  jenen  Quellen  das  Wort 
Spelte  (f.).  Dasselbe  entspricht  dem  gotischen  Femininum  spilda,  das  ein  Schreib- 
täfelchen (7nva.y.l6Lov)  Lukas  1,  60,  eine  Tafel  überhaupt  2.  Kor.  3,  3  bezeichnet, 
und  gleich  dem  nahe  verwandten  altnord.  Neutr.  spjald  ursprünglich  einen  Splitter, 
ein  irgendwie  geformtes  Holzstück  bedeutet.  Im  Oberdeutschen  hat  sich  die  Spelte 
oder  Spelten  für  Span,  Scheit,  Zaunstecken,  Schindel,  auch  für  Splitter  noch  er- 
halten (Schmeller  2,  668.  Birlinger,  Schwäb.-Augsburg.  Wb.  407).  Da  wir  durch 
die  Ausführungen  von  Frl.  Lehmann-Filhes  wissen,  dass  Holzbrettchen  oder  Täfelchen 
(auch  viereckige  Pergament-  oder  Rartenblätter)  beim  Weben  von  Bändern  in  alter 
und  neuer  Zeit  in  den  verschiedensten  Gegenden  als  Werkzeug  benutzt  wurden 
und  werden,  so  dürfen  wir  die  Spelten  der  mittelhochdeutschen  Epen,  gleich  den 
spjold  des  2.  Gudrunliedes,  für  Holzbrettchen  erklären,  mit  deren  Hilfe  die  auf 
einen  Rahmen  gespannten  Fäden  ineinander  gewürkt  (gewurket)  oder  geflochten 
(gedrungen)  wurden. 

Die  Stellen  mögen  zunächst  folgen:  Die  gute  Frau  sagt  ich  bin  von  werke 
wise.  mit  drihen  und  mit  spelten  kan  ich  es  wol  vergelten,  g.  Frau  1705.  mit 
Spindel  nädel  spelten  hästu  gewunnen  hie  din  nar,  Suchenwirt  41,  882.  ouch  was 
sin  wäpenroc  gedrungen  mit  den  spelten,  Engelh.  2581.  ir  kleit  was  gedrungen 
üz  siden  mit  den  spelten,  Konr.  troj.  Kr.  32645.  darinne  er  (Got)  sich  gedrungen 
hat  mit  den  spelten  an  der  ram,  Gold.  Schmiede  351.  Hier  ist  das  Gleichnis  der 
mystischen  Vereinigung  Gottes  mit  Maria  dem  Weben  mit  der  Spelte  entnommen. 
Bei  Hug  von  Langenstein  in  seiner  Martina  wird  in  der  Schilderung  der  Bekleidung 
dieser  Heiligen  auch  der  Gürtel  oder  Borte  ausführlich  behandelt,  der  ungleich 
den  gewöhnlichen  äne  spelten  und  äne  ringgen  geworht  war  (22,  88),  noch  ge- 
wurket in  der  rame  noch  gewurket  mit  spelten  (22,  21).  Wenn  derselbe  Hug 
frowen  äne  schäme  den  spelten  äne  rame  vergleicht,  so  ergiebt  sich,  dass  das 
Holzgestell  (diu  rame)  notwendig  zu  dem  Weben  mit  der  Spelte  gehörte. 

Mit  der  spelte  zusammen  wird  an  einigen  Stellen  die  Drihe  genannt:  ein 
wäfenroc,  der  was,  als  ich  horte  sagen,  mit  drihen  unde  spelten  —  mit  frowinen 
henden  —  voUebräht,  Gotfr.  Tristan  6559.  diu  Minne  entwirfet  unde  stricket  vil 
spa?h,  noch  baz  dan  spelten  unde  drihen,  Wolfr.  Tit.  91,  4.  si  worhte  oder  nsete 
mit  spelte  od  mit  der  drie  (:  vrie),  Gräzer  Marienl.  377. 

Die  Drihe  wird  w^ohl  ein  hölzernes  Stäbchen  zum  Festschlagen  des  Schuss- 
fiidens  oder  eine  hölzerne  Nadel  gewesen  sein,  vgl.  eine  Stelle  in  Rudolfs  Welt- 
chronik (5.  a):  mit  nadeln  und  mit  drihen  naejen,  briten,  rihen;  mit  der  drihen 
werden  auch  die  Fäden  zu  einem  Borten  geslagen  (Wolfr.  Tit.   137,  2). 

Das  Substantiv  diu  drihe  gehört  zu  einem  alten  ablautenden  Zw.  drihan,  got. 
p  reih  an,  drängen,  drücken.  Im  Mhd.  ist  nur  ein  jüngeres  schwaches  Zw.  drihen 
erhalten,  das  als  technischer  Ausdruck  für  das  würken  eines  Borten  sich  findet: 
der  borte  was  niht  gestricket  noch  gedrihet.  Maitina  22,   17. 

Das  alte  drihan  ward  auch  als  technisches  Wort  durch  dringan  verdrängt. 
Wie  die  folgenden  Stellen  beweisen,  bezeichnete  es  das  Verflechten  der  Fäden  zu 
einem  Gewebe: 

ei  wie  künde  dringen  sin  frouwe  borten  an  der  ram,  Engelh.  2864.  mit  werken 
und  mit  werten  drungen  sie  den  borten,  Altd.  Blatt.  1,  239.  der  gotheite  borte 
gedrungen  ist  an  urhap,  g.  Schm.  357.  ir  kleider  stuonden  wol  geweben  und  wären 
listen  unde  reben  von  golde  rot  gedrungen  drin,  Konr.  tr.  Kr.  1219.  lop  den  eren 
gernden  iungen  wirt  gewebet  und  gedrungen,  mit  der  klmgen  von  der  zungen  wirk 


Kleine  Mitteilungen.  207 

ich  lobes  bilde,  Herman  Damen  (MSH.  3,  168  b).  Auch  vom  Korbtlechten  ward 
dringen  gebraucht:  ein  wol  gezünet  korbelin  sach  man  wol  geflöhten  sin,  gedrungen 
nahe  als  ein  krebe,  Rudolfs  Weltchronik  72a. 

Gleichbedeutend  mit  diesem  dringen  finden  wir  dann  stricken,  das  heute 
aber  in  etwas  eingeschränkterer  Bedeutung  fortlebt,  und  ferner  ricken,  das  mit 
stricken  im  Reime  gebunden  wird,  Liedersaal  No.  25,  114.  84,  6G.  Martin.  22,  12. 
Es  ist  eine  Ableitung  von  der  ric:  Band,  Schleife,  Knoten.  K.  Weinhold. 


Fledermaus  und  Maulwurf.^) 

In  der  Auvergne  wird  erzählt,  dass  auf  dem  Puy-de-Prechonnet  vor  Zeiten 
"Feen  lebten,  die  in  der  ganzen  Gegend  wegen  ihrer  Güte  und  Wohlthätigkeit  geliebt 
und  gesegnet  waren.  Bei  Geburten  und  Hochzeiten  erschienen  sie  und  brachten 
Hilfe  und  Glück  und  niemand  bat  sie  vergebens.  Aber  sie  wurden  neidisch  auf 
den  benachbarten  stolzen  Puy-de-Döm.e,  dass  der  höher  in  die  Lüfte  ragte  als  ihr 
Puy-de-Pn'chonnet,  und  sie  begehrten  ein  Erdbeben,  damit  der  Puy-de-D6me  zu- 
sammenstürze und  durch  seine  Massen  den  Puy-de-Prechonnet  zu  einem  der  mäch- 
tigsten und  höchsten  Berge  mache. .  Da  wurden  sie  in  B'ledermäuse  verwandelt 
und  iiiussten  in  der  Feenhöhle  (wir  könnten  übersetzen  dem  Wildfrauenloch)  des 
Prechonnet  ihren  Stolz  und  Neid  büssen. 

P.  Sebillot,  der  in  seiner  Litterature  orale  de  L" Auvergne  (Paris  1898,  S.  191  f.) 
aus  den  Tablettes  historiques  de  l'Auvergnc  des  Abbe  Cohadon  II,  201  diese  Sage 
mitteilt,  weist  aus  anderen  Quellen  den  Volksglauben  in  Prankreich  und  England 
nach,  dass  stolze  übermütige  Frauen  in  Maulwürfe  verwandelt  worden  seien. 
So  verwandelte  Gott  die  Feen  der  Landschaft  le  Forez,  die  an  die  Auvergne  grenzt, 
als  sie  sich  gegen  ihn  empörten,  in  Maulwürfe,  die  verdammt  sind,  das  Licht  nicht 
sehen  zu  können.  Als  die  Feen  der  Vogesen  gezwungen  wurden  das  Land  zu 
verlassen,  weil  die  Priester  das  Evangelium  nach  dem  Text  des  hl.  Johannes  ver- 
lasen, baten  sie  in  Maulwürfe  verwandelt  zu  werden.  Eine  englische  Sage  weiss, 
dass  der  erste  Maulwurf  die  Verwandlung  einer  sehr  stolzen  Frau  war.  Die 
menschenähnlichen  Füsse  und  Händchen  des  Maulwurfs  gelten  der  Volksphantasie 
als  Beweise  seines  Ursprungs  aus  verwandelten  Menschen  oder  menschenartigen 
Geistern.  Eine  andere  Legende  aus  der  Umgebung  von  Ambert  in  der  Auvergne 
erzählt,  dass,  als  Gott  den  Menschen  erschaffen  hatte,  er  in  der  Freude  über  sein 
Werk  sich  zum  Teufel  kehrte  und  ihm  sagte:  „Mache  auch  so  etwas!"  Da  arbeitete 
Satan  lange  Zeit,  aber  er  brachte  nur  einen  Maulwurf  zu  stände  mit  kleinen  Pfötchen, 
ähnlich  kleinen  Menschenhänden. 

Weil  die  Maulwürfe  Teufelswerk  sind,  werden  sie  verfolgt  und  getötet  (Sebillot, 
Litterature  orale  de  l'Auvergne.  S.  118).  K.  W. 


Das  Sommertags-  oder  Stabaus-Fest  in  der  Pfalz. 

Eine  der  ältesten  und  volkstümlichsten  Feiern  der  Pfalz,  das  auf  den  Sonntag 
Lätare  fallende  Soramertags-  oder  Stabausfest,  soll,  nachdem  es  in  den  letzten 
Jahrzehnten  mehr  und  mehr  verflacht  war  und  in  den  letzten  Jahren  nur  noch  von 
der  Jugend  begangen  wurde,  wieder  zu  Ehren  gebracht  werden.  Das  Fest  wurde 
noch    um    die  Mitte    dieses  Jahrhunderts    in   einzelnen  pfälzischen  Orten  in  gross- 

1)  Vgl.  M.  Bartels,  Ein  Paar  merkwürdige  Kreaturen:  Unsre  Zeitsclir.  IX,  171  ff. 


20^  VVeiuhold: 

artigster  Weise  begangen.  So  weiss  eine  Lokalchronik  zu  erzählen,  dass  in  dem 
kleinen  Städtchen  Lamprecht  einstens  zum  Sommertagsl'este  Teilnehmer  und  Zu- 
schauer aus  der  ganzen  Pfalz,  aus  Baden,  Hessen,  Elsass-Lothringen  u.  s.  w.  zu- 
sammenströmten. In  den  letzten  zwanzig, Jahren  wurde  die  ebenso  originelle  als 
schöne  Feier,  wie  schon  gesagt,  nur  noch  von  der  Jugend  begangen.  Die  Kleinen 
begnügten  sich  damit,  dass  sie,  mit  Fahnen,  Schärpen  und  den  unentbehrlichen, 
mit  Bretzeln,  Bändern  u.  s  w.  verzierten  Sommertagsstecken  ausgestattet,  in  grösseren 
und  kleineren  Zügen  die  Festorte  durchzogen.  Dieses  Jahr,  am  12.  März  1«99. 
ist  die  alte  Volksfeier  in  einzelnen  Orten  zum  erstenmale  wieder  in  alter  Weise 
begangen  worden.  So  wurde  in  Neuleiningen  ein  den  absterbenden  Winter  sym- 
bolisierender, 10  m  grosser,  mächtiger  Strohmann  von  Burschen  und  Mädchen  unter 
dem  Jubel  und  Gesang  von  Jung  und  Alt  durch  den  Ort  getragen  und  auf  einem 
freien  Platze  unter  Absingung  des  alten  Stabausliedes  feierlich  verbrannt.  Gleich- 
zeitig wnrde  unter  allgemeiner  Zustimmung  beschlossen,  Vereine  —  sogenannte 
Stabausvereine  —  ins  Leben  zu  rufen,  denen  die  Erhaltung  und  regelmässige  Be- 
gehung der  alten  Volkssitte  obliegen  soll.^) 

Aschaffenburg.  Ludwig  Fränkel. 


Chajim  Steinthal  t- 

Am  14.  März  1899  starb  nach  längerer  Krankheit  in  Berlin  Dr.  Chajim  Stein- 
thal, a.-o.  Professor  an  der  Universität,  der  bei  der  Gründung  des  Vereins  für 
Volkskunde  und  seiner  Zeitschrift  einen  hervorragenden  Anteil  hatte,  und  seine 
nicht  bloss  äusserliche  Mitgliedschaft  durch  mehrere  Beiträge  zu  der  Zeitschrift, 
noch  zuletzt  im  8.  Bande  bezeugt  hat.  Geboren  am  16.  Mai  1823  zu  Gröbzig  in 
Anhalt,  studierte  er  in  Berlin  besonders  Philosophie  und  Sprachwissenschaft,  habili- 
tierte sich  auch  für  letztere  1850  an  unserer  Universität  als  Privatdocent  und  ward 
1863  zum  a.-o.  Professor  ernannt.  Eine  Reihe  scharfsinniger  und  geistvoller 
Schriften:  Der  Ursprung  der  Sprache  im  Zusammenhang  mit  den  letzten  Fragen 
des  Wissens,  Einleitung  in  die  Psychologie  und  Sprachwissenschaft,  Die  Ent- 
wicklung der  Schrift,  Philologie,  Geschichte  und  Psychologie  in  ihrer  gegenseitigen 
Beziehung,  Geschichte  der  Sprachwissenschaft  bei  den  Griechen  und  Römern. 
Charakteristik  der  hauptsächlichen  Typen  des  Sprachbaus,  haben  ihn  als  einen  von 
den  Ideen  Wilh.  v.  Humboldts  ausgehenden,  selbständig  weiter  forschenden  Geist 
gezeigt,  der  das  sprachliche  Leben  in  den  engsten  Zusammenhang  mit  den  psychischen 
Vorgängen  in  dem  Menschen  und  den  Völkern  setzte.  Mit  seinem  Schwager  M. 
Lazarus  gründete  er  als  Organ  des  gemeinsamen  Strebens  die  Zeitschrift  für  Völker- 
psychologie und  Sprachwissenschaft,  welche  mit  dem  20.  Bande  l^^Ol  abschloss. 
und  an  deren  Stelle,  allerdings  mit  Änderung  mehrerer  Zielpunkte,  unsere  Zeitschrift 
getreten  ist. 

Was  Lazai'us  und  Steinthal  unter  Völkerpsychologie  verstanden,  hat  der  letztere 
in  dem  einleitenden  Aufsatz  zu  unserer  Zeitschrift  I,  10—17  „An  den  Leser"  ge- 
drängt zusammengefasst.  Er  bestimmt  sie  als  eine  psychologische  Disciplin,  die 
von  vier  Ausgangspunkten  sich  bewegt:  1.  der  Psychologie  als  empirische  Disciplin 
gefasst,  2.  der  Ethnologie,  3.  der  Geschichte  der  Entwicklung  des  menschlichen 
Geistes,  4.  der  Sociologie,  die  im  Grunde  eine  auf  die  praktischen  Verhältnisse 
der  Gesellschaft  beschränkte  Völkerpsychologie  sei.    Völkerpsychologie  und  wissen- 


1)  Über    die    -wiederbelebte   Sommerverkündigung  Lietare  1893    in  Heidelberg  vergl. 
uiisre  Zeitschrift  III,  228. 


Kleine  Mitteiluug-eii.  '209 

schaftliche  Volkskunde  seien  nur  durch  die  Methode  verschieden:  ist  diese  syn- 
thetisch, so  könne  man  von  Völkerpsychologie  sprechen;  ist  sie  analytisch  von 
Volkskunde. 

Es  begreift  sich  dadurch,  Avie  bei  dem  Aufhören  der  Lazarus-Steinthalschen 
Zeitschrift,  das  mit  der  Gründung  des  Vereins  für  Volkskunde  zusammentraf. 
Steinthal  und  Lazarus  den  Zusammenhang  mit  unserm  Verein  und  seinem  neuen 
Organ  fest  ergriffen  und  sich  uns  wohlwollend  und  thätig  anschlössen,  was  in 
unserer  konstituierenden  Versammlung  im  November  1890  durch  Lazarus,  in  den 
Verhandlungen  über  das  Verhältnis  der  alten  zur  neuen  Zeitschrift  durch  Steinthal 
zum  schönsten  Ausdruck  kam. 

Der  eine  dieser  beiden  ist  nun  für  immer  von  uns  gegangen,  aber  sein  Ge- 
dächtnis ist  bei  uns  geblieben,  das  Gedächtnis  dieser  reinen  edlen  Natur,  dieses 
tiefsittlichen  Menschen,  der  eine  schöne  Versöhnung  zwischen  dem  ihm  angestammten 
jüdischen,  dem  griechischen  und  dem  deutschen  Geiste  in  sich  vollzogen  hatte. 
Seine  Allgemeine  Ethik  (18>55)   bezeugt  diesen  von  Steinthal  ausgeführten  Prozess. 

Karl  Wein  hold. 


Von  einem  Lnheimlicheu. 

Beitrag  zum  .Aberglauben  im  Altenlnirgischen. 

Der  Glaube  an  Zauberkünste  ist  hier  zu  Lande  immer  noch  nicht  ganz  aus- 
gestorben, wenn  er  auch  nicht  mehr  in  so  ausgeprägter  Form  auftritt,  wie  vor 
ungefähr  fünfzig  Jahren.  In  diese  Zeit  muss  man  sich  auch  das  Nachstehende 
zurückgestellt  denken. 

Der  alte  S.  war  in  der  Gemeinde  und  in  der  ganzen  LTmgegend  eine  gefürchtete 
und  zugleich  gesuchte  Persönlichkeit.  Der  Volksglaube  behauptete  nämlich  von 
ihm,  dass  er  „etwas  könne",  d.  h.  durch  Verbindung  mit  dem  Rosen  übernatürliche 
Kräfte  besitze. 

Dieses  unheimliche  Gerücht  wurde  durch  das  menschenscheue  Wesen  genährt, 
das  er  geflissentlich  zur  Schau  trug,  und  durch  den  Umstand,  dass  er  den  Gottes- 
dienst nicht  besuchte,  sich  überhaupt  von  jeder  kirchlichen  Handlung  fernhielt. 

Kein  Mensch  wagte  es,  seine  Grundstücke  unbefugterweise  zu  betreten,  aus 
Furcht,  sich  mindestens  einen  lahmen  Fuss  zu  holen,  wenn  nicht  gar  „festgemacht" 
zu  werden. 

Letzteres  kann  nun  aber  leicht  schlimm  ablaufen,  da  der  Gefangene  sich  wie 
eine  Fliege  an  der  Leimrute  zu  Tode  zappelt,  wenn  der  Bann  nicht  vor  Sonnen- 
untergang gelöst  wird.  Aus  diesem  Grunde  verschmähte  es  der  alte  Hexenmeister 
wahrscheinlich  auch,  von  diesem  Teile  seiner  Kunst  Gebrauch  zu  machen,  aber 
Beispiele,  wie  er  Vorwitzige  zu  bestrafen  wusste,  haften  heute  noch  im  Gedächt- 
nisse der  Leute: 

Zwei  Mägde  kehrten  nachts  vom  Tanze  heim.  Als  sie  an  seinem  Garten  vor- 
übergingen, pflückte  die  eine,  trotz  der  Abmahnungen  ihrer  Freundin,  einige 
Pflaumen  von  den  überhängenden  Zweigen.  Kaum  hatte  sie  dieselben  verzehrt, 
als  die  Oberlippe  anschwoll  und  sich  ein  Auswuchs  in  Gestalt  der  gestohlenen 
Frucht  bildete.  Auf  Anraten  ihrer  Herrschaft  begab  sie  sich  des  andern  Morgens 
zum  alten  S.  und  bat  um  „gut  Wetter".  Dieser  lachte  sie  tüchtig  aus  und  er- 
mahnte sie,  künftig  ihre  Hände  von  seinem  Eigentum  zu  lassen.  Dann  ging  er  in 
seine  geheime  Kammer,  und  als  er  nach  einiger  Zeit  wieder  zum  Vorschein  kam, 
befahl  er  ihr,  nach  Hause  zu  gehen.  Schon  auf  dem  Heimwege  setzte  sich  die 
Geschwulst,  und  als  sie  in  ihrem  Gehöfte  ankam,  war  das  Gesicht  wieder  alatt. 


210  Pfeifer: 

So  bestrafte  er  auch  einen  Knecht,  welcher  sich  erdreistete,  ihn  zu  verspotten. 

S.  war  nämlich  gerufen  worden,  um  seine  Kunst  an  einem  erkrankten  Viehe 
zu  versuchen.  Das  Tier  war  beschrieen.  Wie  er  nun  sein  Sprüchlein  murmelnd, 
gähnend  und  spuckend  —  das  Zeichen  für  den  Erfolg-  der  sympathetischen  Kur  — 
um  den  Düngerhof  herumläuft,  beobachtet  ihn  der  Knecht  von  der  Scheune  aus. 
Ihm  kam  dieses  Gebaren  so  komisch  vor,  dass  er  nicht  unterlassen  konnte,  es  nach- 
zuahmen. Da  drohte  der  Alte  mit  dem  Finger  und  meinte:  „Die  Sache  wird  dir 
schlecht  bekommen."  Und  richtig!  „Die  Geister,  die  er  rief,  ward  er  nicht  mehr 
los."  Es  würgte  und  schüttelte  den  Spötter  so  furchtbar,  dass  er  Gott  dankte,  als 
ihn  der  Verhöhnte  durch  seinen  Maclitspruch  aus  dem  unseligen  Zustande  erlöste. 

Kranke  suchten  in  grosser  Anzahl  bei  ihm  Hilfe,  besonders  Freitags.  Der 
Karfreitag  galt  für  den  günstigsten  Tag  für  eine  erfolgreiche  Kur. 

Geld  verlangte  er  nie,  doch  flössen  die  freiwilligen  G:>ben  so  reichlich,  dass 
man  die  damals  üblichen  Viergroschenstücke  in  Schüsseln  sammelte. 

Die  Hilfesuchenden  empfing  er  häufig  mit  den  Worten:  „Ich  wusste,  dass  du 
heute  kommen  würdest",  was  natürlich  sehr  verblüffend  wirkte  und  den  Glauben 
an  seine  Unfehlbarkeit  bestärkte. 

Diesen  prophetischen  Blick  verdankte  er  seinem  ..Erdspiegel",  den  er  in  einem 
besonderen  Zimmer  aufbewahrte,  zu  welchem  niemand  Zutritt  hatte. 

Mit  Hilfe  desselben  vermochte  er  auch  Diebe  zu  entdecken.  Ein  Blick  in 
denselben  zeigte  ihm  nämlich  die  Person,  welche  den  Raub  ausgeführt  hatte,  und 
mit  seinen  Zaubersprüchen  konnte  ei-  sie  zwingen,  die  Beute  herauszugeben. 
Machtlos  war  er  nur  dann,  wenn  das  Gestohlene  bereits  über  ein  fliessendes  Ge- 
wässer gebracht  worden  war.  Für  den  Misserfolg  seiner  Bemühung  war  also  stets 
ein  Grund  vorhanden,  doch  mögen  auch  Fälle  vorgekommen  sein,  in  denen  der 
Dieb  aus  Furcht  vor  dem  Gewaltigen  das  geraubte  Gut  heimlich  wieder  an  Ort 
und  Stelle  brachte. 

Als  Geisterbanner  hat  er  sich  ebenfalls  bewährt. 

In  einem  Gute  hatte  sich  der  Besitzer  entleibt  und  beunruhigte  die  Hinter- 
bliebenen allnächtlich  als  Gespenst.  Diese  wandten  sich  in  ihrer  Not  an  S.  und 
diesem  gelang  es  auch,  den  Geist  in  ein  nahes  Gehölze  zu  bannen. 

Eine  arme  Frau,  welche  nach  einiger  Zeit  mit  ihrer  Tochter  dort  Holz  auflas, 
bemerkte,  als  sie  zufällig  von  ihrer  Beschäftigung  aufblickte,  wie  das  Kind  mit 
geschlossenen  Augen  rücklings  einem  Baume  zuschritt.  Unter  diesem  stand  ein 
Mann  in  Hemdsärmeln  mit  der  Schaufel  auf  der  Achsel,  in  welchem  sie  den 
Selbstmörder  erkannte.  Auf  ihren  angstvollen  Ausruf:  „Herr  Jesus!"  kam  das  Kind 
zur  Besinnung  und  das  Gespenst  war  verschwunden. 

Dem  Mädchen,  das  in  den  Bannkreis  geraten  war,  wäre  ohne  Zweifel  der  Hals 
umgedreht  worden,  wenn  der  heilige  Name  den  Zauber  nicht  gebrochen  hätte. 
Die  Frau  hat  das  Ereignis  wohlweislich  neun  Tage  verschwiegen,  denn  ein  schiefer 
Mund  ist  die  geringste  Strafe,  die  auf  dem  vorzeitigen  Ausplaudern  solcher  Sachen . 
ruht. 

Aus  welchen  Quellen  schiipfte  nun  der  alte  S.  seine  unheimliche  Weisheit? 

Einige  behaupten,  er  wäre  im  Besitz  des  sechsten  und  siebenten  Buches  Mosis 
gewesen.  Bei  seinen  Lebzeiten  hat  niemand  Gewissheit  darüber  erlangt,  und  nach 
seinem  Tode  hat  man  den  schriftlichen  Teil  seines  Nachlasses  aus  Vorsicht  ver- 
brannt. 

Nur  einmal  ist  eins  seiner  Zauberbücher  an  die  Öffentlichkeit  gekommen, 
freilich  ohne  Wissen  und  Willen  des  Eigentümers  und  dann  auch  nur  auf  ganz 
kurze  Zeit:  Der  jugendliche  Kuhhirte,  welcher  auf  dem  Gute  diente,  hatte  zufällig 


Kleine  Mittoiliinyen.  211 

ein  solches  erwischt  und  mit  zur  Schule  genommen.  Vor  Beginn  des  Unterrichts 
las  er  in  demselben  und  allmählich  füllte  sich  das  Zimmer  mit  schwarzen  Vögeln. 
Als  der  Lehrer  eintrat  und  das  Unheil  bemerkte,  befahl  er  dem  Jungen,  rückwärts 
zu  lesen.  Dies  geschah,  und  das  Getier  verschwand  nach  und  nach,  wie  es  ge- 
kommen war.  Die  Strafe,  welche  der  naseweise  Bursche  von  seinem  Brotherrn 
erhielt,  dürfte  diesmal  die  allgemein  gebräuchliche  gewesen  sein. 

Als  ein  Bekannter  einst  im  Scherze  den  Wunsch  aussprach,  S.  möge  ihm 
einmal  den  Teufel  —  seinen  Teufel  —  zeigen,  zog  er  ruhig  ein  Säckchen  von  der 
Grösse  eines  Tabakbeutcls  aus  der  Tasche  und  liess  ihn  einen  Blick  hineinthun. 
„Was  er  allda  gesehen  und  erfahren,  hat  seine  Zunge  nie  bekannt.'-  Zwar  ,,seines 
Lebens  Heiterkeit  war  nicht  auf  ewig  dahin",  aber  auf  alle  Fragen  nach  dem  Er- 
schauten hatte  er  die  Antwort,  dass  er  den  ausgestandenen  Schreck  seinem  ärgsten 
Feinde  nicht  gönne. 

Das  Ende  des  Hexenmeisters  war,  wie  es  bei  Leuten  seines  Schlages  stets 
der  Fall  ist,  ein  sehr  schweres.  Er  konnte  nicht  „ersterben",  und  erst  als  man  den 
mit  dem  Tode  Ringenden  auf  einen  Düngerhaufen  brachte,  wurde  er  von  seinem 
Leiden  erlöst.  Reichtümer,  die  man  erwartet  halte,  hinterliess  er  nicht;  der  Teufel 
ist  ja  bekanntlich  ein  Schelm,  der  selbst  seine  Günstlinge  betrügt. 

Alten  bürg  i.  S.-A.  E-  Pfeifer. 


Wie  mau  giftic:e  Schlangen  anfasst. 

Dass  mau  giftige  Schlangen  ohne  Schaden  anfassen  könne,  war  mir  bisher 
unbekannt.  Erst  vor  einiger  Zeit  habe  ich  diesen  Kunstgriff  —  denn  daraufkommt 
es  an  —  von  einem  „Impresario'',  der  verschiedene  Schlangen  in  den  hiesigen 
Schulen  zeigte,  gesehen.  Er  drückte  einer  Kreuzotter  den  Kopf  mit  einem  Stock 
fest  auf  den  Boden  und  fasste  die  Otter  mit  der  Linken  an  der  äussersten  Schwanz- 
spitze und  hielt  sie  empor.  So  war  es  der  Schlange  nicht  möglich,  ihren  herab- 
hängenden Kopf  soweit  emporzuheben,  dass  sie  die  Hand  des  Haltenden  erreichte. 

Interessant  war  es  mir  nun,  als  ich  fand,  dass  dieser  Kunstgriff  schon  den 
Alten  bekannt  war.  Dies  ergiebt  sich  aus  einer  Stelle  des  Kirchenvaters  Clemens 
von  Alexandrien,  in  dessen  „Paedagogos"  III,  6  es  heisst:  „der  Reichtum  scheint 
mir  einer  Schlangen  zu  gleichen.  Wenn  jemand  diese  von  ferne  nicht  richtig  an- 
zufassen weiss,  indem  er  sie  an  der  Schwanzspitze  gefahrlos  in  der  Luft 
hält,  so  wickelt  sie  sich  um  seine  Hand  und  beisst  ihn."!)  Namentlich  dürfte  im 
alten  Ägypten,  wo  ja  in  dem  Abrichten  und  in  der  sogen.  Beschwörung  der 
Schlangen  Grosses»  geleistet  wurde-'),  auch  jener  Kunstgriff  allgemein  bekannt 
gewesen  sein.  Dies  scheint  sich  zu  bestätigen  durch  die  Schriftstelle  "2.  Mos.  4, 
'2—4,  wo  Gott  an  Moses,  der  sich  vor  der  aus  seinem  Stabe  gewordenen  Schlange 
fürchtet  und  vor  ihr  flieht,  die  Aufforderung  richtet:  „Erhasche  sie  beim 
Schwänze"!  —  „Da  streckte  Moses  seine  Hand  aus  und  hielt  sie."  Wie  später 
unter  den  Plagen,  die  Moses  auf  Gottes  Geheiss  über  die  Ägypter  und  ihr  Land 
heraufbeschwört,  sich  solche  befanden,  die  mit  der  Natur  des  Landes  zusammen- 
hingen und  den  Ägyptern  nicht  unbekannt  waren,  so  werden  wir  auch  aus  dem 
obigen  Geheiss,  die  Schlange  beim  Schwänze  zu  erhaschen,  auf  einen  bei  den 
Ägyptern  bekannten  Kunstgriff,  den  sie  bei  giftigen  Schlangen  an- 
wandten, schliessen  dürfen. 


1)  Bibliothek  der  Kirchenväter  iu  deutscher  Übersetzung  von  Dr.  Valentin  Thalhofer. 

2)  Vgl.  2.  Mos.  7,  11  f. 


•_>!■_>  Krüger:  Kleiin'  Mittcilungpii. 

In  Brehms  Tierleben  wird  an  der  Stelle,  wo  er  von  der  Kreuzotter  spricht, 
nicht  gerade  ausdrücklich  von  dieser  Art  des  Fangens,  dass  man  ihren  Kopf  mit 
einem  Stock  herabdrückt  und  sie  am  Schwänze  emporhebt,  gesprochen.  Aber  man 
kann  es,  wie  mir  scheint,  aus  folgenden  Worten  entnehmen:  „Fast  ohne  Ausnahme 
speit  sie  entweder  sogleich  (nachdem  sie  gefangen  ist)  oder  doch  nach  Stunden 
oder  Tagen  die  genossene  Nahrung  wieder  aus,  selbst  wenn  man  sie  so  behutsam 
fing,  dass  sie  chibei,  ausser  am  Schwanzende,  gai'  nicht  j^edrückt  wurde.  Zu- 
weilen speit  sie  schon,  indem  man  sie  um  Schwanzende  aufhebt." 

In  Bezug  auf  die  Kreuzotter  möchte  ich  hier  noch  etwas  erwähnen,  was  sich 
nicht  gerade  auf  dns  Anfassen  desselben,  aber  doch  auf  den  Schutz  gegen  ihren 
Biss  bezieht.  Ich  erinnere  mich,  dass  in  meiner  pommerschen  Heimat  die  Knaben, 
wenn  sie  auf  die  Kreuzotter  zu  sprechen  kamen,  sich  folgendes  erzählten:  Die 
Kieuzotter  rühmte  sich  einst:  „Ich  beisse  durch  Eisen  und  Stahl!"  Gott  aber 
sagte  zu  ihr:  „Du  sollst  nicht  einmal  durch  einen  Wollfaden  beissenl"  Dass 
man  durch  Wolle,  etwa  wollene  Strümpfe,  wirklich  gegen  die  schädlichen  Folgen 
ihres  Bisses  geschützt  sei,  ist  mir  bei  der  Beschaffenheit  des  Giftzahns  nicht  wahr- 
scheinlich. Vielleicht  ist  die  Wolle  nur  in  abergläubischer  Weise  als  Zaubermittel 
gedacht.  Die  Bedeutung  eines  Zaubermittels  gegen  Schlangenbiss  wird  der  Wolle 
auch  anderweitig  beigelegt.  So  heisst  es^)  in  einer  Beschwörung  der  Schlange  bei 
den  Letten:  Die  ehrliche,  gnädige  Frau  Schlange  schläft  am  Wegrande  auf  dem 
Sande,  der  Mund  ist  voll  Wolle;  die  ehrliche,  gnädige  Frau  schläft  im  Sumpfe 
auf  einem  Erdhügel,  der  Mund  ist  voll  mit  Wolle;  die  ehrliche,  gnädige  Frau 
schläft  im  Walde  unter  der  Wurzel,  der  Mund  ist  voll  mit  Wolle."  Und  in  einer 
Schlangenbissbesprechung  der  Esthen  findet  sich  die  Stelle-): 

..Wo  11  in  den  Mund  Dir! 

Wo  11  aufs  Haupt  Dir! 

AVollenhaar  da.s  Züuglcin  Dir! 

Wolle  werde  Dir  Dein  Hut! 

Wolle  ganz  und  gar  Du  selber! 

Flirdie  von  hinnen.  Du  Feind  und  Gegner!" 

Bromberg.  K.  Krüger. 


1 


Spruch  des  Nachtwächters  in  Hindelaiiü;  (Algäu). 

Stellet  auf  im  Namen  Jesu  Christ! 

Der  lielle  Tag,  der  schon  vorhanden  ist, 

Der  helle  Tag  der  thut  herschleicheu 

Dem  Armen  wie  dem  Reichen. 

Der  helle  Tag  vertreibt  die  finstre  Nacht. 

Liebe  Christen!     Seid  fröhlich  und  v/ach, 

Lobet  Gott  und  IMaria! 


Marie  v.  Whm. 


l)  Zcitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde,  b.  Jahrg.,  S.  "i"* 
y>  a    a.  0.  S.  •2(;. 


Brückner:  Bnclieranzei<?en.  21o 


Büclieraiizeiaen. 


Slavisclie  Tolkskunde.     Übersicht  periodischer  Publikatioiieii  bei  Böhmen, 
Bulgaren.  Kleinrussen,  Polen,  8erbokroateu,  Slovaken,  Slovenen. 

Wir  beginnen  mit  den  Polen,  weil  ihre  Publikationen  die  zahlreichsten  und 
ältesten  sind  und  von  anderen  mehrfach  nachgeahmt  worden  sind:  die  Warschauer 
Wisla,  Adalbergs  grosses  Sprichwörterlexikon  (1804.  SOf)  Ss.  gr.  4^),  die  Publi- 
kationen der  Krakauer  Akademie,  zumal  der  Sammlungen  Oskar  Kolbergs  haben 
förmlich  Schule  gemacht  oder  sind  an  umfang  und  Fülle  des  Materials  unerreicht 
geblieben. 

Der  in  Lemberg  erscheinende  Lud  (das  Volk),  als  Organ  der  dortigen  Gesell- 
•sciiaft  für  Volkskunde,  unter  der  Redaktion  von  Prof.  Dr.  A.  Kaiina,  entwickelt 
.sich,  aus  sehr  bescheidenen  Anfängen,  immer  besser.  Der  vierte  Jahrgang  ist 
bereits  ein  stattlicher  Band  von  454  Ss.  geworden  und  auch  das  erste  Heft  des  V. 
(104  Ss.)  bietet  manches  Beachtenswerte.  Hauptarbeiten  waren:  von  St.  Zdziarski 
ül)er  das  volkstümliche  Element  bei  Mickiewicz,  zumal  in  dessen  Balladen  und 
Ronumzen,  eine  erschöpfende  Zusammenstellung  alles  einschlägigen  Mateiials;  und 
Jan  Witoi'l.  Grundriss  des  litauischen  Gewohnheitsrechtes,  dargestellt  aus  den 
RechtsanschauLuigen  des  Volkes  und  den  Entscheidungen  der  Dorfgerichte,  die 
.sich  an  die  staatlichen  Gesetze  wenig  zu  kehren  pflegen.  Derselbe  Witort 
schildert  auf  Grund  vicljähriger  persönlicher  Erfahrung  die  Bräuche  der  Steppen- 
kirgisen, die  immer  erheblicher  durch  den  Einfluss  mohamedanischen  Glaubens 
und  russischer  Rechtsnormen  an  Ursprünglichkeit  einbüssen.  Dr.  P.  Krcek  hat 
Umfragen  in  ganz  Galizien  über  den  Brauch  der  Ostereier  (Bemalen,  Zeichnungen, 
Spiele)  und  der  Johannisfeuer  (Sobötka,  d.  i.  der  kleine  Sonnabend,  Zobten) 
angestellt  und  erörtert  die  Resultate.  Es  kommen  hinzu  allerlei  Materialiensamm- 
lungen u.  dgl:  der  bibliographisch-kritische  Teil  ist  unbedeutend. 

Die  Publikationen  der  Krakauer  Akademie  haben  einen  neuen  Titel  bekommen; 
aus  dem  vielbändigen  Zbiör  wiadorao-^ci  u.  s.  w.  sind  es  Materyaly  antropologiczno- 
archeologiczne  i  etnograficzne  geworden,  von  denen  zuletzt  der  HI.  Band  1898 
erschienen  ist  (die  verschiedenen  Abteilungen  mit  besonderer  Paginierungj.  Genannt 
srieii  nur  die  ausführlichsten  Angaben  über  das  litauische  Sprachgebiet  in  Russland, 
als  Ergänzung  der  kurzen  Angaben  Dr.  Tetzners  über  litauisches  Sprachgebiet 
in  Preussen  (Globus  LXXI).  Von  Sonderausgaben  der  Akademie  sei  genannt. 
M.  B^ederowski,  lud  bialoruski  na  Rusi  litewskiej  (Weissrussen;  Materialien, 
gesammelt  1877—1891)  Bd.  I.  XX  und  509  Ss.,  1897,  enthält  eingehende  Auf- 
zeichnungen über  Glauben  und  Leben  des  Volkes  in  dessen  eigenen  Worten,  in 
phonetischer  Transskription  der  weissrussischen,  auch  schwarzrussischen  Texte,  die 
dadurch  auch  als  Sprachproben  wichtig  werden;  ausserdem  J.  Swi^tek,  lud  nadrabski 
(das  Volk  an  der  Raba,  im  Krakauischen),  IX  und  728  Ss.,  1893,  eine  wohl  dis- 
ponierte und  erläuterte  Materialiensammlung  von  allem,  was  auf  Sprache,  Sitten, 
Lieder,  Erzählungen  u.  dgl.  der  betreffenden  Gegend  Bezug  hat;  dann  die  Publi- 
kationen von  St.  Ramult  über  das  Kassubische.  Vorausgegangen  war  desselben 
A^erfassers  kassubisches  Wörterbuch  (189:3),  für  welches  er  allerdings  einen  ganz 
verfehlten  Titel  gebraucht  hatte,  in  welchem  von  einer  angeblichen  selbständigen 
„pommcrischen  Sprache^^  die  Rede  war;  jetzt  folgte  eine  „Statystyka^  (der  kassu- 


0]^4  Brückner: 

hischen  Bevölkerung,  mit  einer  ethnographischen  Karte,  1891),  "290  8s.),  in  welcher 
zum  erstenmale  zuverlässige  Angaben  über  Dichte  und  Verbreitung  der  Kassuben 
zu  finden  sind;  diejenigen  der  officiellen  Statistik  von  1890  sind  nämlich  so  ziemlich 
wertlos,  weil  ganz  unvollständig.  Die  Angaben  des  Verfassers  beruhen  auf  dem 
allergenauesten  Nachforschen  von  Ort  zu  Ort  und  Hof  zu  Hof,  auf  Grund  eigener 
Reisen  oder  eingehender  Korrespondenz.  Als  Gesamtzahlen  ergeben  sich  über 
200  000  für  Europa,  an  130  000  für  Amerika,  d.  h.  ungleich  höhere,  als  die  bis- 
herigen es  waren.  Posen  (wenn  man  von  den  älteren  Arbeiten  0.  Kolbergs  und 
der  Sagenpublikation  von  0.  Knoop,  in  deutscher  Sprache,  1892,  absieht),  sowie 
West-  und  Ostpreussen  (wo  nach  dem  Tode  Töppens  Sembrzycki  allein  einiger- 
massen  thätig  ist)  weisen  grosse  Lücken  auf;  die  Posener  und  Thorner  gelehrten 
Gesellschaften  haben  sich  bisher  zur  Pflege  der  Volkskunde  nicht  entschliessen 
können.  Aus  Schlesien  werden  jetzt  die  noch  von  1869  her  stammenden  Auf- 
zeichnungen des  jüngst  verstorbenen  Prof.  Malinowski  von  der  Akademie  ver- 
öffentlicht. Im  IV.  Bande  der  Materjaty  etc.  (S.  1—80)  sind  herausgegeben  Sagen, 
Märchen  etc.  aus  dem  Teschenschen,  denen  die  aus  Preuss.  Schlesien  folgen  werden; 
diese  Aufzeichnungen  gemischtesten  Inhaltes  sind  streng  dialektlich  gehalten  und 
in  erster  Reihe  für  den  Sprachforscher  wichtig;  es  ist  das  „Wasserpolakische" 
gemeint,  d.  h.  Polnisch  vom  reinsten  Wasser,  wie  hier  gegen  falsche  landläufige 
Anschauungen  hervorgehoben  werden  kann.  In  Warschau  wandelt  die  bereits 
mehrfach  genannte  Wisla  und  ihre  Bibliothek  auch  unter  deiner  neuen  Redaktion 
in  der  von  Dr.  J.  von  Karlowicz  vorgezeichneten  Richtung  weiter.  Die  15  Bände 
ihrer  Bibliothek  umfassen  Materialiensammlungen,  z.  B.  Bd.  XII  und  XIII  Saino- 
gitische  Sagen  (echte,  d.  h.  andere  als  die  Veckenstedts),  X  Lettische:  besprechen 
das  Leben  und  Treiben  einzelner  Gegenden  oder  Orte  (Jagodne,  Bd.  IV,  Rudawa, 
Bd.  IX),  bringen  auch  Skizzen  (das  Weib  im  Volksliede,  Bd.  VIII;  Medizin  und 
medizinischer  Aberglaube  des  polnischen  Volkes,  Bd.  VII) ;  Bd.  XIV  und  XV  füllt 
eine  Übersetzung  der  Grimmschen  Haus-  und  Kindermärchen  aus.  Die  Zeitschrift 
selbst  ist  jetzt  bei  ihrem  XII.  Bande  angelangt  (jeder  Band  umfasst  8—900  Ss. 
gr.  8-*);  aus  dem  reichen  Inhalte  des  letzten  Bandes  sei  hervorgehoben  die  Arbeit 
von  L.  Krzywicki  aus  dem  Gebiet  der  Völkerpsychologie,  über  die  Grundlagen 
von  Kannibalismus  und  Lykanthropie  (XII,  100 — 130)  —  der  unnatürliche  Blutdurst 
wird  im  letzten  Grunde  auf  sexuelle  Entartung  einzelner  Individuen  zurückgeführt, 
das  „Jemand  zum  Pressen  lieb  haben"  wäre  also  einst  keine  Metapher  gewesen; 
ich  möchte  dagegen  Einspruch  erheben,  obgleich  Krzywickis  Arbeiten  immer  durch 
die  Schärfe  und  Selbständigkeit  des  Urteils,  sowie  die  ganz  immense  Belesenhcit 
des  Verfassers  bestechen.  Derselbe  hat  unlängst  einen  „Systematischen  Kursus  der 
Anthropologie''  (I.Teil:  die  physischen  Rassen,  Warschau  1897)  zu  veröffentlichen 
begonnen.  Ign.  Radlinski  schreibt  über  die  judaistisch-christlichen  Apokryphen, 
aber  für  eine  blosse  Einleitung  in  die  polnische  Apokryphenlitteratur  ist  die  Sache, 
die  auf  vielen  Seiten  kaum  mit  den  sybillinischen  Weissagungen  fertig  wird,  zu 
weit  ausgesponnen.  Karlowicz  berichtigt  die  Annahmen  Ramults  über  eine 
Sonderstellung  des  Kassubischen;  Cernys  Darstellung  des  „sorbischen"  Volksmythus 
wird  hier  übersetzt;  andere  Materialien  werden,  besonders  auch  in  der  Form  von 
Anfragen  u.  dgl.  gesammelt;  die  litterarische  Chionik  ist  nur  für  einzelne  Gebiete 
erschöpfend  (Nalkowski,  Geographische  Chronik  für  das  Jahr  1896;  Majewski, 
Vor-  und  urgeschichtliche  Litteratur  des  verflossenen  Decenniums;  die  Materialien 
zur  polnischen  volkskundlichen  Bibliographie  für  die  Jahre  1878 — 1894,  alphabetisch 
yeordnet,  von  A.  Strzelecki  reichen  bis  zum  Buchstaben  S).    Erwähnung  verdient 


Bücheranzeigeü.  215 

auch  die  Studie  von  E.  Majewski  über  die  Rolle  des  Kuckuclcs  im  Lied  und 
Glauben  des  polnischen  Volkes. 

Schon  aus  dieser  flüchtigen  Übersicht  erhellt  zur  Genüge,  welch  bedeutenden 
Raum  volkskundliche  Arbeiten  und  Sammlungen  in  der  polnischen  wissenschaft- 
lichen Litteratur  einnehmen;  sie  beschränken  sich  zudem  nicht  auf  das  eigene 
Volkstum,  sondern  bezichen  auch  russisches  und  litauisches  ein. 

Neben  dem,  den  Lesern  unsrer  Zeitschrift  wohl  bekannten  (,'esky  Lid  ist  ein 
neues  Organ  für  Volkskunde  geschaffen  worden,  der  Närodopisny  Sboinik  Cesko- 
slovanskv  (ethnographische  böhmisch-slavische  Sammelschrift),  herausgegeben  von 
der  ethnographischen  Gesellschaft  und  Museum,  drei  Hefte,  unter  der  Redaktion 
von  Prof.  Dr.  Fr.  Pastrnek.  F]s  ist  dies  kein  Konkurrenzunteinehmen;  im  An- 
schluss  an  die  gelungene  Ausstellung'  von  1895  bildeten  sich  Komitee  und  Gesell- 
schaft eines  ethnographischen  Museums  und  begannen  seit  lö97  mit  Rechenschafts- 
berichten und  Publikationen  hervorzutreten.  Während  der  C.  L.  unter  der  be- 
währten Redaktion  von  Dr.  C.  Zibrt  seinem  ursprünglichen  Programme  gemäss 
durch  bunte  Mannigfaltigkeit  und  zahlreiche  Illustrationen  für  weitere  Kreise  wirkt, 
wendet  sich  der  Sbornik  an  einen  enger  gewählten  Kreis,  in  umfänglicheren 
Abhandlungen  und  einer  erschöpfenden,  äusserst  systematischen  Bibliographie 
(keine  slavische  Zeitschrift  kann  eine  gleich  reiche  und  wohlgeordnete  aufweisen). 
Zu  den  Hauptmitarbeitern  zählt  Prof.  Dr.  J.  Polivka:  von  ihm  stammt  die  Ab- 
handlung über  vergleichendes  Studium  der  Volkstraditionen,  II,  1 — 49  und  der 
Hauptteil  der  Bibliographie.  Prof.  l'olivka  ist  ein  ausgezeichneter  Kenner  der 
traditionellen  Litteratur  aller  \'ölker:  aus  seinen  reichen  Sammlungen  stattet  er 
jede  Nummer  der  von  ihm  besprochenen  Märchen  mit  Varianten  oder  Parallelen 
aus;  nur  manchmal  vermisse  ich  den  Hinweis  auf  das  nächst  liegende,  wichtigste, 
z.  B.  bei  der  Besprechung  einer  kaukasischen  Märchensammlung,  II,  105  wird  bei 
einer  tatarischen  Erzählung  von  der  ungetreuen  Frau  gerade  nicht  das  identische 
und  älteste  zugleich  aus  den  (apokryphen)  Urteilen  Salomonis  angeführt,  anderswo 
fehlt  die  Nennung  des  Fortunatus  u.  dgl.  m.  Was  jene  Abhandlung  betrifft,  so 
wird  darin  über  die  bisherigen  Forschungswege  von  Grimm  und  v.  Hahn  an  bis 
ISedier  des  fabliaux-  1895)  klar  gehandelt;  eines  sei  hierzu  bemerkt:  zum  alten 
Eisen  gehört  nicht  nur  die  „mythische'  und  die  „anthropologische'",  sondern  auch 
die  „indische''  Herleitung  der  Märchen;  für  das  phantastische  Märchen  sind  nämlich 
mythische  und  ursociale  Elemente  gerade  so  unorganisch  und  zufällig,  wie  die 
sogen,  indischen  Beziehungen  (Liebe  für  die  niederen  Geschöpfe,  Seelen  Wanderung); 
die  Feldzüge  Alexander  d.  Gr.,  die  Kreuzzüge,  die  Zigeuner  endlich  helfen  uns 
als  angebliche  Vermittler  urindischer  Stoffe  nach  dem  Westen  blutwenig.  Aller- 
dings scheide  ich  die  Migrationstheorie  von  der  specifisch  „indischen''  Theorie 
vollständig  ab;  letztere  konnte  längst  in  ihrer  Allgemeinheit  abgethan  werden  durch 
den  ersten  besten  Hinweis,  z.  B.  auf  die  Märchen  der  Odyssee  und  andere  griechische 
Märchen  (Midasohren,  Psyche  u.  s.  w.),  um  von  ägyptischen  u.  dgl.  zu  schweigen. 
Der  Verf.  hat  sich  meines  Erachtens  von  der  ,.indischen"  Theorie  noch  zu  wenig 
frei  gemacht,  sie  spukt  noch  immer  in  seiner  Vorstellung.  H.  Mächal,  Über 
einige  Volksbücher,  weist  das  Eindringen  italienischer  und  anderei-  Stofl'e  aus  der 
Litteratur  in  die  Tradition  nach;  doch  geht  Verf.  zu  weit  in  der  Forderung,  die 
traditionelle  Litteratur  selbst  nach  derlei  Stoffen  einzugliedern.  Auf  anderes,  Über- 
lieferungen der  Slovaken  z.  B  ,  wo  man  das  Volk  noch  ganz  im  Banne  der  alten 
Schlangensagen  sehen  kann,  ist  hier  nicht  mehr  einzugehen,  doch  sei  noch  wegen 
einer  ethnographischen  Streitfrage  der  mährischen  Walachen  gedacht:  sind  es,  wie 
Miklosich    annahm,    shivisierte  Rumänen    oder  Slaven?     In    der  Litteratur    über 


"216  Brückner: 

dieselben,  die  III,  49— .M)  aufgezählt  wird,  fehlt  das  älteste  und  interessanteste, 
eine  im  Privatbesitz  in  Lcmberg'  befindliche  Handschrift  aus  dem  vorigen  Jahr- 
hundert mit  Trachten bildern  u.  dgl.  A.  Cerny  gieht  einen  kurzen  Auszug  seiner 
Lausitzer  Mythologie  u.  s.  w. 

Der  Cesky  Lid  ist  bei  seinem  achten  Jahrgange  angelangt  (Bd.  VI,  XXYI 
und  GOO  Ss.,  1897;  Bd.  YII,  zweierlei  Register,  468  Ss.  und  92  Ss.,  bibliographischer 
Bericht  von  894  Nummern,  1898;  Bd.  VIII,  Heft  1—4,  288  Ss.  und  48  Ss.  Biblio- 
graphie, 728  Nummern).  Aus  dem  überreichen  Inhalt  einzelnes  hervorzuheben 
fällt  schwer;  besonders  sei  hingewiesen  auf  die  eingehenden  Erörterungen  über 
Hausindustrie,  Kleidung,  Nahrung,  Spiele  des  Volkes,  Ornamentierung  seiner  Tücher 
und  Gesangbücher  u.  s.  w  ,  auf  die  vielen  Beiträge  zur  Kulturgeschichte  aus  Hand- 
schriften, Prozessakten,  Memoiren,  Reisebeschreibungen.  Das  ist  eine,  oder  besser 
gesagt,  die  Hauptrichtung  des  C.  I^.,  eines  Organes  fast  mehr  für  Kulturgeschichte, 
als  für  engere  Volkskunde,  unter  der  man  gemeiniglich  (aber  nicht  mit  Recht) 
die  Sammlung  und  Deutung  der  traditionellen  Litteratur  zu  verstehen  pflegt.  Doch 
auch  diese  ist  reich  vertreten,  durch  Mitteilungen  von  Sagen,  Märchen,  Liedern, 
Rätseln  u.  s.  w.  aus  alter  und  neuer  Zeit,  letztere  mit  Wahrung  des  Lokaldialektes; 
dann  durch  Studien,  z.  ß.  von  H.  Mächal  über  die  Verbreitung  des  Stoffes  von 
La  belle  et  la  bete,  VII,  249 ff.,  329 ff.;  von  V.  Tille  vergleichende  Studien  zu  einer 
ganzen  Reihe  kleinerer  Motive  und  eine  besondere  über  Rübezahl,  speciell  über 
die  Sagen  bei  Prätorius,  die  geprüft  werden  (Bd.  VII)  auf  ihren  Inhalt,  Entstehen 
der  Sagen  vom  Berggeiste  und  Verquickung  derselben  mit  fremden  Motiven. 
Podlaha  druckt  aus  einer  Hds.  Litermedien,  komische  Zwischenspiele,  des  V. 
Kozmanecius  aus  den  Jahren  1644 — 1646  ab,  für  Kulturgeschichte  nicht  uninter- 
essant (Bd.  Vn  und  VIII).  Auf  der  Grenze  zwischen  Kulturgeschichte  und  Volks- 
kunde bewegen  sich  auch  drei  Werke  aus  dem  Anfange  unseres  Jahrhunderts,  in 
denen  nach  der  Art  von  Heidenreich  und  Eckartshausen  die  Grundlosigkeit 
u.dgl.  des  Aberglaubens  dargethan  wird:  es  excerpiert  sie  Zibrt  (Bd.  Vll  u.  A^III) 
und  ergänzt  so  das  Werk  von  Grohmann,  Aberglauben  und  Gebräuche  aus 
Böhmen  und  Mähren  (1864).  Der  rastlose  Fleiss,  die  Umsicht  und  Arbeitskraft 
des  Herausgebers,  wie  sie  namentlich  in  der  Fortführung  der  überreichen  Rubrik 
Bibliographie  sich  bekunden,  ist  allgemein  anerkannt:  ich  verweise  dafür  nur  auf 
Weinhold,  Zeitschrift  1899,  S.  ii7. 

In  beiden  genannten  Zeitschriften  wird  das  Slovakische  vielfach  mit  berück- 
sichtigt; von  selbständigen  Publikationen  sei  hier  nur  genannt,  die  von  der  Prager 
Akademie  herausgegebene  grosse  Sprichwörtersaramlung  (A.  P.  Zaturecky,  slo- 
venskä  pi-islovi,  porekadla  a  üslovi,  1896.  VI  u.  3«9  Ss.  lex.  8"),  an  13000  Nummern 
umfassend,  mit  Hinweisen  auf  verwandte  Sammlungen,  etwas  allzu  freigebig  mit 
Erklärungen,  von  denen  die  eine  und  die  andere  nicht  immer  Stich  halten.  Grosse 
Mühe  verwandte  der  Sammler  auf  die  Sichtung  des  Stoffes  nach  den  bekannten 
Kategorieen,  innerhalb  derselben  alphabetische  Folge  beobachtend  und  zwischen 
Sprichwörtern  und  blossen  Redensarten  streng  scheidend:  ein  erschöpfender  Index 
(Ss.  296ff.),  nach  Stichworten  geordnet,  erleichtert  die  Auffindung;  es  ist  dies 
freilich  doppelte  und  doch  noch  nicht  alles  erschöpfende  Arbeit.  Adalbergs 
Methode  (alphabetische  Ordnung  nach  dem  Stichworte  und  im  Index  alphabetische 
Aufführung  aller  anderen  Hauptworte  mit  Rückverweisungen)  ist  praktischer. 

Von  akademischen  Publikationen  seien  noch  erwähnt  Novaks  Ausgabe  der 
böhmischen  Gesta  Romanorum  (nach  drei  Hdss.  des  XA'.  Jahrh  ,  das  latcin.  Original 
gehört  derjenigen  Klasse  an,  auf  welche  auch  die  deutschen  Übersetzungen  zurück- 
gehen),  1895;  Zibrts  vollständige  Bibliographie  des  böhm.  Volksliedes  u.  s.  w. 


Bücheranzeigen.  '2  1  < 

Unter  den  Südslaven  beginnen  wir  mit  Bulgaren.  Nur  eine  wichtige  Publi- 
kation sei  hier  genannt:  der  Sbornik  za  narodni  umotvorenija,  nauka  i  kniznina  des 
Ministeriums  der  V'olksaufklärung  (Sammlung  für  traditionelle,  wissenschaftliche 
und  kritische  Litteratur),  die  1898  zum  XV.  Folianten  (je  über  U'dO  Ss  Lex.  8") 
gediehen  ist.  Innerhalb  jeden  Bandes  ist  die  traditionelle  Litteratur  ans  Ende 
gerückt,  enthaltend  Aufzeichnungen  von  Märchen  u.  s.  w.  bis  zu  Kinderreimen  hin- 
unter: den  kritischen  Teil  übergehen  wir,  ebenso  aus  den  wissenschaftlichen 
Arbeiten  die  über  bulgarische  Flora  und  Fauna,  Archäologie  (auch  klassische,  Avegen 
der  Funde  wichtig)  und  Geschichte,  Grammatik  und  Litteratur.  Aber  eine  Specialität 
des  Sbornik  sind  Sachen,  welche  Volkskunde  aufs  engste  berühren,  Abhandlungen 
von  dem  verstorbenen  Dragomanov,  in  dessen  Stelle  jetzt  ein  anderer  Klcinrusse, 
der  begabte  Dr.  J  Franko  eingetreten  ist,  von  Sismanov  und  von  Prof.  J.  Polivka, 
sämtlich  vergleichender  Märchenkunde  u.  dgl.  gewidmet. 

An  die  Spitze  dieser  Arbeiten  sei  gestellt,  sowohl  wegen  ihrer  Methode  als 
wegen  der  Stofffülle,  die  Abhandlung  von  Dr.  J.  Sismanov  über  den  Lenorenstoff 
(Bd.  XIII,  S.  474—569  und  XV,  S.  449—600  und  1—186,  Texte,  139  Nummern, 
davon  68  zum  erstenmale  veröffentlicht).  Dabei  handelt  es  sich  nur  um  die  Balkan- 
lassung  dieses  Motivs,  wonach  der  tote  Bruder  die  Schwester  der  verzweifelnden 
Mutter  zuführt,  eine  so  eigenartige  Fassung,  dass  man  sogar  jeglichen  näheren 
Zusammenhang  mit  dem  westlichen  Lenorenstoffe  hat  leugnen  wollen,  wogegen 
sich  der  Verf.  mit  Recht  verwahrt.  Zur  Entscheidung  kommt  die  Frage,  wo  die 
Heimat  dieser  Fassung  zu  suchen  ist:  bei  den  Serben,  wie  einst  Wollner,  Psichari 
und  heute  noch  Sozonovir  in  seiner  fast  250  Ss.  umfassenden  Arbeit  (jetzt  zum 
zweitenmalc  herausgegeben,  Warschau  1898,  russ.)  behaupten,  oder  beiden  Griechen, 
wie  Politis  und  Destunis  annahmen.  Der  Verf.  schlägt  den  einzig  richtigen 
Weg  ein:  er  zerlegt  die  Ballade  in  ihre  einzelnen  Bestandteile  (Namen,  Zahl  u.  s.  w.) 
und  bei  jedem  einzelnen  sämtliche  Texte  vergleichend,  sucht  er  nach  Kriterien  für 
die  ursprüngliche  Fassung.  Es  ergiebt  sich,  dass  die  griechischen  Texte  trotz  ihrer 
verhältnismässigen  Kürze  die  ursprünglichen  und  aus  Kleinasien  (Bithynien  etwa) 
auf  doppeltem  Wege  nach  der  Balkanhalbinsel  gewandert  sind;  den  ersten  Teil 
dieses  Satzes  halte  ich  für  unbedingt  richtig;  hoff'entlich  wird  Verfasser  seine 
Forschungen  auch  in  einer  der  Weltsprachen  resümieren,  hat  er  doch  schon  1894 
in  den  Indogermanischen  Forschungen  IV  den  Lenorenstoff  in  der  bulgarischen 
Volkspoesie  deutsch  besprochen  gehabt. 

Dragomanov  behandelte  kosmogonische  Mythen,  den  Ödipusmythus  u.  a.  mit 
besonderer  Berücksichtigung  der  slavisehen  Fassungen,  mit  Aufwerfen  der  Fragen 
vom  event  Anteil  der  Bogomilen-Catharer  u.  s.  w.;  ebenso  bespricht  Dr.  Franko 
die  Einhornparabel  (Bd.  XIII,  570—620);  Polivka  (XV,  393—448)  das  Märchen 
vom  Zaubermeister  und  seinem  Schüler,  von  dem  unsre  Zeitschrift  eine  Grazer 
Variante  (VI,  320)  gebracht  hat:  er  verfolgt  das  Motiv  in  allen  seinen  Ver- 
sehlingungcn  bis  nach  Indien,  ohne  erweisen  zu  können,  dass  das  Motiv  selbst  aus 
Indien  stammen  müsse.  Andere  Publikationen  müssen  wir  übergehen,  doch  sei 
noch  erwähnt:  A.  Strauss,  Bulgarische  Volksdichtungen,  Wien  und  Leipzig,  1895, 
VIII  und  518  Ss.,  auch  wegen  der  ausführlichen  Einleitung,  in  der  die,  sonst  zu 
Gunsten  der  allerdings  schöneren  und  zarteren  serbischen  herabgesetzte  bulgarische 
Volkspoesie  gerechter  gewürdigt  wird:  besondere  Hervorhebung  verdient  die  An- 
deutung über  Grundverschiedenheit  (?)  bulgarischer  Melodieen  von  den  übrigen 
slavisehen,  z.  B.  serbischen,  was  auf  Einfluss  altgriechischer  Weisen  zurückgeführt 
wird.  Dasselbe  Thema  behandelt  etwas  anders  im  XIV.  Bande  (S.  641—664)  der 
Specialist    auf   diesem  Gebiete,    L.  Kuba,    und   weitere  Arbeiten   sind  in  Aussicht 


218  Brückner: 

gestellt  —  die  Hauptpunkte  selbst  scheinen  noch  strittig,  die  Frage  nicht  spruchreif 
zu  sein. 

Des  Volksliedes  wegen  schliessen  wir  die  Slovenen  an.  Alle  zerstreuten 
Publikationen  und  reiches  handschriftliches  Material  vereinte  Prof.  Dr.  K.  Strekelj. 
um  im  Auftrage  und  auf  Kosten  der  Slovenska  Matica  einen  Thesaurus  slovenischer 
A''olkslieder  herauszugeben,  von  welchem  der  erste  Teil,  epische  Lieder  (Balladen. 
Romanzen,  Legenden),  abgeschlossen  vorliegt:  Slovenske  narodne  pesmi,  iz  tiskanih 
in  pisanich  virov  zbral  in  uredil  Dr.  K.  S.,  Laibach  1895—1898,  XXIV  u.  820  Ss. 
8",  nicht  weniger  als  lOiWy  Nummern  umfassend.  Die  Sammlung  ist  von  muster- 
gültiger Genauigkeit  in  der  Wiedergabe  der  Texte,  Bezeichnung  ihrer  Provenienz 
u.  s.  w.,  nur  über  Anordnung  könnte  man  hier  und  da  streiten.  Warum  steht  z.  B. 
der  (König  Matthias)  Sänger  vor  der  Hölle  (das  Orpheusmotiv,  nur  Mutter  statt 
Frau)  nicht  gleich  bei  den  übrigen  Matthiasliedern  (Befreiung  seiner  Frau  aus 
türkischer  Gefangenschaft;  sein  Tod)'?  Auf  die  Matthiaslieder  folgt  das  bekannte 
„Turnier  zwischen  dem  Kitter  Lamberg  und  Pegam"  —  Lieder,  die  schon  im 
XVI.  Jahrhundert  gesungen  wurden.  Die  frommen  Legenden  überwiegen  sehr 
stark.  In  Aussicht  gestellt  sind  noch  zwei  Bände  von  gleicher  Stärke,  welche  die 
lyrischen  u.  a.  Lieder  umfassen  sollen;  es  wird  sich  damit  Prof.  Strekelj  ein 
bleibendes  Verdienst  errungen  haben. 

Von  serbischen  Publikationen  wäre  in  erster  Reihe  der  Neudruck  sämtlicher 
Werke,  Aufsätze,  Sammlungen  von  Vuk  auf  Staatskosten  zu  nennen,  von  dem 
bereits  eine  Reihe  von  Bänden  vorliegt.^)  Unter  den  Kroaten  unternimmt  die  kroa- 
tische Matica  eine  sehr  gross  angelegte  Volksliedersammlung;  andererseits  hat  die 
Agramer  Akademie  eine  periodische  Publikation  für  Volkskunde,  unter  der  Redaktion 
von  Dr.  Ant.  Radir,  begonnen,  von  welcher  jetzt  der  dritte  Band  erschienen  ist: 
Zbornik  za  narodni  zivoti  obiraje  juznih  Slavena,  Agram  1898,  zwei  Hefte,  334  Ss. 
Der  Herausgeber  ist  sehr  energisch  und  temperamentvoll,  wie  aus  seinen  Anzeigen 
deutlich  erhellt;  weniger  glücklich  ist  er  in  seinen  Etymologieen,  die  samt  und 
sonders  falsch  sind.  Der  schon  oben  genannte  L.  Kuba  behandelt  die  Tonalität 
des  dalmatinischen  Volksliedes  (S.  1—16  und  167—182):  ein  sehr  interessanter 
Aufsatz,  der  den  Unterschied  zwischen  dem  modernen,  ins  Volk  eindringenden 
Lied,  Gassenhauer  u.  dgl.  und  dem  echten  Volksliede  in  der  Melodie  u.  s.  w.  fest- 
stellt; auch  hier  wird  auf  das  Fortwirken  altgriechischer  Weisen  hingewiesen.  Den 
Hauptraum  nehmen  Pul)likationen  von  Materialien  ein,  Beschreibungen  von  Land 
und  Leuten,  in  Trebarjevo  (Dorf  in  der  Posavina,  an  der  Save)  von  einer  dortigen 
Frau,  Kata  Jajncerova,  im  heimischen  Dialekt  aufs  eingehendste  dargestellt 
(S.  55—139  und  211—251),  in  Otok  (Totenbräuche,  S.  26—54),  in  Kola  (Herce- 
govina,  interessante  Schöpfungssagen  u.  ä  ,  S.  252 — 264),  ebensolche  von  der  Insel 
Cres  u.  s.  w.  Zahlreiche,  nicht  üble  Trachtenbilder,  nach  der  Art  des  Cesky  Lid 
etwa,  sind  beigegeben  Auf  die  Dauer  wird  Belgrad  hinter  Agram  nicht  zurück- 
stehen wollen,  und  die  dortige  Akademie  wird  ebenfalls  an  ähnliche  Publikationen, 
denen  gegenüber  sie  sich  bisher  spröde  verhalten  hat,  herantreten  müssen,  was  im 
Interesse  jener  an  volkskundlichem  Material  überreichen  Länder  nur  zu  wünschen 
wäre. 

Der  Schwerpunkt  für  kleinrussische  gelehrte  Arbeiten  und  Publikationen 
ist    durch  Ungunst    der    politischen  Verhältnisse   aus  Riev  nach  Lemberg  verrückt 


1)  Vuks  Namen  (..Karadzic")  trägt  eine  in  Alekriiuac  in  Serbien  von  Professur 
Dj  ordjevic  herausgegebene  Sammelschrift  für  serbische  Volkskunde,  in  sehr  verschiedenem 
Umfange  erscheinend;  wir  bekamen  sie  nicht  zu  Gesicht. 


Bücheranzeigen.  219 

worden.  Der  sehr  rühri^je  Sercenko-Verein  giebt  zweimonatlich  seine  Zapysky 
(Memoiren)  heraus,  Abhandlungen  und  Tlecensionen  enthaltend,  sowie  unter  der 
bewährten  Redaktion  des  scharfsinnigen,  kenntnisreichen  und  unermüdlichen 
Forschers  Dr.  J.  Franko,  eine  Reihe  volkskundlicher  Schriften.  Zu  diesen  gehört 
zuerst  der  Etnograficnyj  Zbirnyk,  Band  1~V  (1898,  VI  und  267  Ss.  8°),  ]n 
welchem  besondere  Aufmerksamkeit  den  abgetrennten,  unter  den  drückendsten 
politischen  Verhältnissen  in  Ungarn  kümmerlich  vegetierenden  Stammesbrüdern 
gewidmet  wird;  so  enthält  z.  B.  der  ganze  3.  und  4.  Band  nur  das  einschlägige, 
von  V.  Hnatjuk  gesammelte  Material  aus  Ungarn  (Märchen,  Sagen,  Legenden 
u.  s.  w.).  Mannigfacher  ist  der  Inhalt  des  ö.  Bandes;  besonders  interessant  sind 
hier  die  aus  dem  Volksmunde  geschöpften,  durch  die  Zarenkrönung  bewirkten 
Erzählungen  und  Sagen:  man  sieht,  wie  die  Phantasie  des  Volkes  sich  jeglichen 
dankbaren  Stoffes  bemächtigt  und  wie  sie  in  einer  ganz  bestimmten  Richtung 
schafft:  es  handelt  sich  hier  vor  allem  um  Laudschenkungen  und  Unterdrückung 
der  Fany  (Herren)  und  Popen,  die  das  Volk  vom  Zaren  erhofft  und  sich  bereits 
ausmalt.  Andere  Arbeiten  betretTen  den  Glauben  (Aberglauben)  ganz  bestimmter, 
engumgrenzter  Gegenden;  Kaindi  steuert  aus  seinen  Bukovinaer  Erfahrungen 
und  Sammlungen  mancherlei  bei;  Sammlungen  von  Beschwörungsformeln  bei  den 
Huzulen  sind  besonders  interessant  wegen  der  Genauigkeit  der  Aufzeichnung,  der 
Einzelnheiten  der  Prozedur  u.  s.  w.  Ziemlich  überflüssig,  meines  Erachtens  wenigstens, 
ist  die  abgesonderte  Publikation  „Ethnologischer  Materialien",  von  denen  ein  Band 
erschienen  ist:  der  Unterschied  beruht  darauf,  dass  nicht  mehr  blosse  Materialien- 
sammlungen, sondern  Bearbeitungen,  Aufsätze  darüber  u.  dgl.  geboten  werden;  der 
Band  enthält  auch  Berichte  über  prähistorische,  paläolithische  Funde  (in  Kiev), 
über  Hausindustrie.  Fischerei,  Bauten.  Volksnahrung  u.  dergl.  Dragomanovs 
Arbeiten  über  Sagenkunde,  die  uns  im  bulgarischen  Sbornik  begegnet  sind,  werden 
jetzt  kleinrussisch  zusammen  abgedruckt  werden.  Auf  zwei  Bände  ist  berechnet 
die  Publikation  von  J.  Franko,  Apokryphe  und  Legenden  aus  ukrainischen  Hand- 
schriften, wovon  der  erste  Band,  alttestamentliche  Apokryphen,  bereits  erschienen 
ist  (Lemberg  1S96,  LXVI  und  394  Ss.  8")-  In  der  sehr  ausführlichen  Einleitung 
werden  alle  einschlägigen  Fragen  (Bedeutung  des  Namens,  Geschichte,  Litteratur, 
handschriftliche  Überlieferung,  Einwirkung  auf  die  traditionelle  Litteratur)  klar 
besprochen,  worauf  die  einzelnen  Abschnitte,  auf  Schöpfung,  Adam  u.  s.  w.  bezüglich 
folgen  und  jedem  eingehende  Litteraturnachweise  beigegeben  werden.  Zu  Grunde 
gelegt  ist  eine  Krechower  Palea  (altes  Testament)  aus  dem  XV.  (oder  XVI.?) 
Jahrb..  doch  sind  auch  andere,  jüngere  Handschriften  zur  Ergänzung  herangezogen 
worden.  Die  Reichhaltigkeit  der  Überlieferung  fällt  auf,  manche  Sage  oder  Legende 
wird  hier  überhaupt  zum  erstenraale  bekannt.  Die  Register  sind  sehr  ausführlich 
und  genau.  Der  zweite  Band,  im  Drucke  befindlich,  wird  die  neutestamentlichen 
Apokryphen  bringen. 

Das  eben  mitgeteilte  mag  den  deutschen  Leser  von  der  Fülle  der  Arbeiten 
auf  diesem  Gebiete  bei  den  Slaven^)  überzeugen:  mit  Recht  fürchtet  man  das 
baldige  Versiegen  vieler  jetzt  noch  fliessender  Quellen  für  immer  und  beeilt  sich, 
das  noch  Vorhandene,  Erreichbare  zu  sammeln:  denn  das  Hauptg-wicht  dieser 
Arbeit  liegt  eben  im  blossen  Sammeln  des  Materials,  weniger  in  seiner  kritischen 
Verwertung. 

1)  Grossrussische  lodcr  russische)  Litteratur  konnte  nicht  berücksichtigt  werden,  wofür 
jedoch  weder  die  Redaktion  noch  der  Recensent  Verantwortung  tragen. 

März  1899.  A.  Brückner. 


•220  Weinhold: 

Volksscliauspiele  aus  dem  Böhmerwalde.  Cüsamiuclt,  wisseuschaftlich 
untersucht  und  herausgegeben  von  J.  J.  Annuann.  '1.  Teil.  (Beiträge 
zur  deutsch-böhmischen  Yolkskunde,  geleitet  von  Prof.  Dr.  A.  Hauffeii. 
II,  -2.)     Prag  1899.     S.  XL    1(;8.     8°. 

Dem  ersten  Hefte  dieser  von  Prof.  Ammann  in  Krummau  in  Böhmen  heraus- 
gegebenen Böhmerwaldspiele  (ünsre  Zeitschr.  VIII,  233)  ist  nun  das  zweite  gefolgt, 
das  sechs  weitere  Stücke  bringt:  Eustachius,  Alexius,  der  türkische  Sultan,  Geno- 
vefa,  Hirlanda,  Heinrich  von  Eichenfels,  sämtlich  zur  Aufführung  auf  den  Volks- 
bühnen des  Böhmerwaldes  bestimmte  Bearbeitungen  legendarischer  oder  fromm- 
novellistischer Stoffe.  Dreien  von  ihnen,  Eustachius,  Hirlanda,  Heinrich  v.  Eichen- 
fels, liegen  die  volkstümlichen  Erzählungen  Christoph  v.  Schmids  zu  Grunde.  Es 
sind  sämtlich  naive  Machwerke  unstudierter  Leute,  die  von  den  Gesetzen  drama- 
tischer Kunst  nichts  wissen  und  Scene  an  Scene  reihen,  so  weit  der  Erzählungs- 
stoff' reicht.  Der  lustigen  Person  ist  das  Mitspiel  nicht  verwehrt,  die  Zuschauer 
verlangen  sie.  —  Ein  drittes  Heft  soll  noch  ähnliche  Spiele  bringen.  In  dem 
vierten  will  dann  Prof.  A.  genauere  Mitteilungen  und  Untersuchungen  geben. 

K.  W. 


Georg  M.  Kilffner,  Die  Deutsdien  im  Sprichwort.     (Heidelberger  Doktor- 
arbeit.)    1899.     93  S.     8". 

Was  die  Deutschen  selbst  und  ihre  Nachbarn  in  ihren  Sprichwörtern  alter  und 
neuer  Zeit  deutscher  Art  und  Unart  zu  Liebe  und  Leide  ausgesprochen  haben,  hat 
K.  mit  grossem  Pleisse  aus  mannigfachen,  ihm  nicht  immer  leicht  zugänglicben 
Quellenwerken  zusammengetragen  und  aneinander  gereiht.  Eine  eigentliche  Vor-- 
arbeitung  des  reichen  Materials  fehlt,  eine  Hervorhebung  etwa  der  immer  wieder- 
kehrenden Züge,  die  nachbarlicher  Neid  zur  Verzerrung  des  Bildes  anderer  benutzt: 
es  fehlt  auch  an  einer  systematischen  Ausnutzung  der  älteren  deutschen  Litteiatur: 
einige  Stellen  aus  dem  Gudrunliede  sind  am  Schlüsse  angeflickt.  Aber  wo  finden 
wir  die  bekannte  Stelle  Wolframs  von  Eschenbach  (Lachm.  121 -^  ff'.)? 

„ein  pris  den  wir  Beier  tragu, 

muoz  ich  von  Wäleisen  sagn: 

ilie  sint  toerscher  denue  beiersch  her, 

unt  doch  bi  manlicher  wer: 

swer  in  den  zweiu  landen  wirt, 

gefuoge  ein  wunder  an  im  birt." 

Auch  hält  K.  echtes  Volksgut  und  Citate  aus  Dichtermund,  die  er  übrigens 
nicht  immer  als  solche  erkennt  (vgl.  No.  16  und  17),  nicht  recht  auseinander  und 
namentlich  da,  wo  seine  Quellen  „briefliche  Mitteilungen"  sind,  bringt  er  viel 
.,Zurechtgemachtes"  vor.  Seine  litterarischen  Quellen,  „76  Werke  mit  103  Bänden", 
nennt  er  im  Anfange  des  Buches,  leider  in  alphabetischer  Reihenfolge,  so  dass  die 
verschiedenen  Sprachen  und  Zeiträume  durcheinander  geworfen  werden.  Wir 
wären  ihm  dankbar,  wenn  er  auch  die  5U  „erfolglos  durchgearbeiteten"  Sammlungen 
mitverzeichnet  und  das  Ganze  nicht  mechanisch,  sondern  systematisch  angeordnet 
hätte.  Hinzufügen  möchte  ich  noch  die  recht  brauchbare  Sammlung:  „Sapienza 
italiana  in  bocca  aleraanna"  von  L.  C.  M.  Giani  (Stuttgart,  P.  Nefi",  1876),  worin 
sich  manches  gute,  hergehörige  Sprichwort  findet,  das  K.  anderwärts  nicht  entdeckt 
hat,    z.  B.  (No.  1610):    J  Tedeschi   intendono  piii  che  non  sanno  esprimere  („Die 


I 


Biiflicraiizeig-en.  221 

Deutschen  hiibcn  mehr  Wissen  im  Kojjf,  als  Worte  im  Munde'').  Leider  ist  die 
Anordnung  des  Stoffes  bei  K.  ebenfalls  höchst  schematisch.  Voran  stehen  die 
Sprichwörter,  die  das  ganze  Volk  der  Deutschen  angehen,  dann  die  Urteile  über 
die  einzelnen  Stämme.  Diese  Stämme  aber  sind  alphabetisch  (!)  aneinander  gereiht, 
der  Gegensatz  zwischen  Nord  und  Süd  u.  ä.  somit  völlig  verwischt.  Innerhalb 
dieser  Gruppen  nun  wird  jedesmal  A.  Günstiges,  B.  Ungünstiges,  C.  Verschiedenes 
aufgeführt  und  in  diesen  Unterabteilungen  höchst  willkürlich  nach  den  dem  betr. 
Stamme  zugeschriebenen  Eigenschaften  angeordnet. 

Tm  einzelnen  möchte  ich  noch  folgendes  bemerken.  Zu  No.  1 :  die  in  Prank- 
reich ehemals  sprichwörtliche  Schönheit  der  Deutschen  („le  bei  Aleman")  spielt 
noch  im  „Simplicissimus",  Buch  IV,  Kap.  4  ihre  Rolle.  No.  3:  „Der  Deutsche 
singt  nicht  gern  im  Moll"  ist  sicher  nicht  volkstümlich.  Als  Quelle  giebt  K.  eine 
„briefliche  Mitteilung"  an.  fügt  aber  nicht  hinzu,  aus  welchen  Kreisen  und  aus 
welcher  Gegend  dies  „Sprichwort"  stamme,  ein  methodischer  Fehler.  Übrigens 
ht  die  Neigung  des  deutschen  Volksliedes  zu  den  Molltonarten  sattsam  bekannt. 
Aus  gleicher  „Quelle"  stammt  No.  28: 

„das  dcutsclie  Herz  verzaget  nicht, 
es  thut,  Avas  sein  Gewissen  spricht." 

Die  wahre  Quelle  brauche  ich  wohl  dem  Leser  nicht  zu  nennen. 

No.  34  ist  eigentlich  kein  Sprichwort,  sondern  eine  Scherzfrage  aus  dem  Jahre 
1871:  „Wer  waren  die  drei  Kranken  des  letzten  Jahres?"  —  »König  Wilhelm 
nahm  ein,  Napoleon  musste  sich  übergeben,  und  der  Papst  sass  auf  seinem  Stuhl 
und  konnte  nichts  machen.''  Wenn  der  Amerikaner,  und  er  durchaus  nicht 
allein  (No.  38),  von  „deutschen  Bären"  redet  (übrigens  schon  von  Lessing  im 
„Nathan"  iitterarisch  verwertet),  so  meint  er  damit  nicht  unsere  „unablässige 
Arbeitskraft",  sondern  deutsche  Geradheit  und  Grobheit.  Wenn  K.  No.  51  anführt, 
dass  der  Ausdruck:  „das  A^olk  der  Denker  und  Dichter"  zuerst  von  einem  Eng- 
länder gebraucht  ward,  so  hätte  er  hinzufügen  können,*  dass  man  uns  jenseits  des 
Kanals  auch  minder  liebenswürdig,  aber  nicht  minder  gern  als  „dreamers"  oder 
gar  als  —  Wurstfresser,  ähnlich  wie  in  Russland  (No.  "207)  bezeichnet.  Hübsch 
i.st  auch  No.  108,  ebenfalls  aus  Russland:  „Gott  belehrt  den  Menschen,  der  Teufel 
aber  den  Deutschen."  Der  Deutsche  giebt  das  übrigens  dem  Slaven  zurück,  wie 
eine  tirolische  Inschrift  (Dreselly,  Marterln,  Grab-  und  Hausinschriften,  Salzburg, 
No.  2(;-_')  zeigt: 

„[in  kalten  Jahr  ISL^  sind  hior 

Zwei  Menschen  und -zwei  Böhmen  ertiunken." 

Zu  No.  83,  wo  der  Engländer  fremde  Nationen  in  ihren  typischen  Vertretern 
vorführt  und  ihrer  jedem  etwas  anhängt,  verweise  ich  auf  einen  französischen 
Volksreim  ans  den  Niederlanden,  wie  er  sich  hier  und  da  auf  alten  Delfter  Fayencen 
findet: 

,.l]ii  Senuor  eu  Espagiic, 

Uu  Milord  cn  Angleterre, 

Un  Monsieur  de  France, 

Un  Hidalgo  de  Portugal, 

Un  eveque  en  Italic, 

Un  Comte  en  Germanie,  — 

Sollt  pauvre  Compagnie." 

Eine  höchst  primitive  Art,  sich  die  Nase  zu  reinigen,  die  der  Franzose  als 
„moucha'de    des    Allemands"     bezeichnet    (No.   HO),    nennt    der    Berliner    fieund- 

ZeHsrlir.   d.   Vereins   f.   Volkskiiii.le-.    IS'.iil.  15 


222  Petscii: 

nachbarlich  „Charlottenburger''.  Ebendort  hat  das  berühmte:  „Die  alten  Deutschen 
tranken  immer  noch  eins"  (No.  163)  eine  Umbiegung  erfahren :  „Die  alten  Deutschen 
tranken  immer  das  vorletzte";  endlich  ist  dort,  wohl  im  Hinblick  auf  die  Parlaments- 
sitzungen, das  alte  Wort  (No.  166):  „Die  Deutschen  sind  schwer  unter  einen  Hut 
zu  bringen"  umgestaltet  worden:  „Wo  drei  Deutsche  zusammen  sind,  haben  sie 
mindestens  vier  verschiedene  Meinungen",  was  sich  mit  dem  Londoner  Strassenwitz 
berührt,  dass  von  den  fünf  Millionen  Einwohnern  zur  Lord-Mayors-Shovv  mindestens 
sieben  Millionen  unterwegs  seien.  So  kehren  die  Typen  wieder.  Wenn  auswärts 
(No.  183)  „deutsch"  für  „fremd"  gebraucht  wird,  so  ist  auf  das  deutsche:  „es 
kommt  mir  spanisch  vor"  hinzuweisen.  No.  235:  „Hotto,  hotto;  Rossle,  z'  Baden 
steht  ein  Schlössle"  ist  freilich  bloss  der  Anfang  eines  sehr  bekannten  Kinder- 
reimes, und  „Baden"  ist  nicht  das  Land,  sondern  wohl  die  Stadt,  wie  denn  in 
diesem  Liedchen  fast  überall  der  Name  der  jeweils  nächsten  grossen  Stadt  ein- 
gesetzt wird. 

Wenn  K.  die  „geographischen  Reime",  die  er  als  besondere  Kategorie  hätte 
zusammenfassend  behandeln  sollen,  zu  den  Sprichwörtern  rechnet,  so  hätte  er  auch 
den  bekannten  Reim  auf  Helgolands  Farben  einreihen  können.  Zu  den  „historischen 
Sprichwörtern"  geholt  wohl  No.  337:  „So  schnell  schiessen  die  Preussen  nicht"; 
wenigstens  erklärte  Heinrich  von  Treitschke  in  seinen  Vorlesungen,  dies  Wort  sei 
während  der  trüben  Zeit  von  „Olmütz"  in  Österreich  und  Süddeutschland  ent~ 
standen  und  habe  sich  dort  „trotz  des  Gegenbeweises  von  1866"  erhalten.  Es  ist 
übrigens  auch  in  Berlin  sehr  bekannt.  Wenn  sich  K.  übrigens  wundert,  dass  kein 
deutscher  Stamm  so  stark  in  den  Sprichwörtern  vertreten  sei,  als  die  Schwaben, 
so  ist  er  daran  zu  erinnern,  dass  „Schwaben"  oft  genug  gleichbedeutend  mit 
„Deutsche"  gebraucht  wurde  und  wohl  noch  wird.  Da  er  übrigens  auch  die 
Litteratur  öfters  heranzieht,  so  hätte  er  wohl  auch  Wilh.  Schlegels  böse  Gehässig- 
keiten gegen  die  Schwaben  erwähnen  können,  unter  denen  namentlich  Gustav 
Schwab  zu  leiden  hatte.  .  („Ich  heisse  Schwab  und  —  bin  ein  Schwab",  womit 
doch  auf  die  umlaufender!  Sprichwörter  hingedeutet  wird.) 

Im  grossen  und  ganzen  ist  K.s  Büchlein  eine  nützliciie  Matcrialsammlung, 
aber  keine  methodische  Musterarbeit. 

Würzbur»'.  Robert  Petsch. 


retscli,  Kobert,  Neue  Px-iträge  zur  Koiintiiis  des  Volksrätsels  (Palaostrn, 
IV,  Untersuchungen  und  Texte  aus  der  deutschen  und  englisclien 
Philoh)gie,  herausgegeben  von  AI.  Bran<ll  und  Kricli  Schmidt).  Berlin, 
Mayer  &  Müller,  1899.     S.  152.     8°. 

Der  Verfasser  dieser  Untersuchung  über  das  deutsche  und  englische  Volks- 
rätsel ist  ein  rüstiger  junger  Freund  der  Volkskunde,  der  mit  Eifer  und  Verständnis 
an  seine  Aufgabe  herangetreten  ist.  Um  in  das  Wesen  des  Rätsels  einzudringen, 
dieses  durch  alle  Völker  und  Zeiten  beliebten  Kindes  des  Volkswitzes  (witz  in 
alter  Bedeutung  genommen),  wendet  Hr.  P.  die  beschreibende  oder  descriptive 
Methode  an,  die  durch  R.  Heinzel  unter  den  Germanisten  zu  Ansehen  gelangt  ist. 
Nach  einem  kurzen  Eingange  über  ältere  deutsche  Rätselbücher  teilt  er  die  Masse 
der  Rätsel  in  zwei  Hauptgruppen,  wie  das  auch  andere  schon  gethan,  nur  nennt 
er  sie  unwirkliche  und  wirkliche  Volksrätsel,  statt  der  gewöhnlichen  Bezeichnung 
eigentliche    und    unei"entliche.     Bei    seinen    unwirklichen    findet  er  die  Merknuile 


l?iicli('ninzoi<]:eii  223 

dreiiT  Untcriibteiluniicn  heraus:  ^yeishcitspl•oben,  HalsUisungsnitscK  Scherzfragen. 
Für  die  wirklichen  Rätsel  erkennt  er  als  die  normalen  Bestandteile  1.  einführendes 
Rahmenelement,  2.  benennendes  Kerneleraent,  3.  beschreibendes  Rernelement, 
4.  hemmendes  (spannendes)  Element,  5.  abschliessendes  Rahmenelement.  Freilich 
sind  diese  normalen  Rätsel  höchst  selten,  und  es  fehlt  gewöhnlich  das  eine  oder 
andere  Stück  aus  dem  Schema.  Sehr  ausführlich  werden  nun  die  als  Benennungen 
und  Beschreibungen  wieder  gespaltenen  „Kernelemente"  behandelt,  eine  mühsame 
formalistische  Arbeit,  die  auch  mühsam  zu  durchlesen  ist.  Von  der  Untersuchung 
der  metrischen  Formen  hat  Hr.  P.  vor  der  Hand  abgesehen.  Als  Anhang  giebt  er 
einen  Abdruck  des  zur  alten  Jahrmarktslitteratur  gehörigen  Rocken-Büchlein,  und 
einen  kleinen  Aufsatz  über  die  beste  Anordnung  von  Rätselsammlungen,  worin  er 
sich  für  die  Ordnung  nach  dem  Inhalt  als  für  die  verhältnismässig  beste  ausspricht. 
Bei  solchen  stilistischen  Untersuchungen  löst  sich  notwendig,  wie  bei  den 
anatomischen  Zerfaserungen  der  Körper,  das  Ganze  im  kleinsten  Einzelnen  auf. 
Aber  für  die  gründliche  Kenntnis  sind  sie  nötig.  Zur  Erquickung  kann  man  dann 
eine  so  treffliche  Arbeit  wie  die  von  G.  Pitre:  Degli  indovinelli  lesen,  die 
'209  S.  lange  Einleitung  zu  seiner  sizilianischen  Rätselsammlung  (Unsere  Zeitschr. 
VII,  333),  oder  auch  den  kürzer  und  allgemeiner  gehaltenen  Aufsatz  von  H.  E. 
Feilberg:  Gäder,  in  dem  Aarbog  for  Dansk  Kulturhistorie.  Aarhus  1898. 
S.  10— 7(i.  K-  ^^'• 


Srbillot,  Vaul,    T.ittorature    orale    «le    rAuvergne.     (Les  litteratures 

|)opulaires  de  toutes  les  ii:iti(.ns  toiiie  XXXV.)    Paris,  J.  Maisouneuve, 

1898.     S.  XL    343.     8°. 

Herr  P.  Sebillot  hat  seinen  vielen  Verdiensten  um  französische  Volkskunde 
tliirch  die  Sammlung  der  ihm  zugänglichen  Überlieferungen  der  Auvergne  ein  neues 
zugefügt.  Der  grösste  Teil  des  hübschen  Buches  ist  gedruckten,  zerstreuten  Quellen 
entnommen;  das  bisher  ungedruckte  verdankt  Hr.  S.  einigen  Auvergnaten  in  Paris. 
Das  Buch  zerfällt  in  zwei  Abteilungen:  1.  Contes  et  legendes.  2.  Chansons,  Devi- 
nettes.  Blasen  populaire.  Vielen  Märchen,  Sagen  und  Legenden  fügt  der  Heraus- 
geber vergleichende  Naehweisungen  bei.  Nützlich  ist  auch  das  Register  (table 
analytique).     Den   12  Liedern  sind  mit  einer  Ausnahme  die  Melodien  beigegeben. 

Die  ziemlich  abgelegene,  zum  Teil  sehr  gebirgige  Auvergne,  mit  einer  von 
den  Nachbarn  sich  abschliessenden,  etwas  rauhen  Bevölkerung,  die  mancherlei 
Spott  und  Xachicdc  in  den  angrenzenden  Provinzen  erleidet  (vgl.  le  blason  popu- 
laire), ist  gewiss  an  alten  Volksüberlieferungen  reich;  Hr.  Sebillot  stellt  sie  darin 
der  Bretagne  zur  Seite.  Aber  sie  ist  noch  Avenig  darnach  durchforscht  und  Hr.  S. 
will  mit  seiner  Sammlung  vornehmlich  anregen,  das  Versäumte  nachzuholen.  Die 
meisten  der  contes  et  legendes  haben,  wie  schon  angedeutet,  ihre  Parallelen  in 
der  volkstümlichen  Litteratur  der  anderen  französischen  Landschaften  und  auch 
anderer  Länder.  Aber  es  sind  doch  meist  interessante  Varianten,  und  einzelnes 
scheint  dem  Boden  der  Auvergne  eigen  zu  sein.  Auch  wir  würden  uns  daher 
freuen,  erreichte  Herr  Paul  Sebillot  seine  Absicht.  .   K-  ^^• 


15* 


224  Weinhold:  Bücheranzeiticn. 

Traditions  of  the  Thompson  Kiver  Indians  of  British  ("olunibia,  colkcted 
and  aiiiiotated  by  James  Teit,  with  introduction  by  Franz  Boas. 
(Menioirs  of  the  Anierican  Folk-Lore  Society,  YI.)  Boston  and  New 
York,  Houghton  Mifflin  and  Comp.,  1898.     S.  137.     8°. 

Die  Indianer  vom  Thompson  River  gehören  zu  den  Sabshstämmen,  die  weite 
Strecken  der  Staaten  Washington,  Idaho,  Montana  und  der  Provinz  Britisch  Columbia 
bewohnen.  Sie  zerfallen  selbst  wieder  in  fünf  Gruppen,  von  denen  es  die  Nkanit- 
cinemux  am  oberen  Thorapsonflusse  und  die  Cawaxamux  im  Nicolathale  sind,  unter 
denen  Mr.  James  Teit  während  langer  Zeit  die  uns  vorgelegten  Überlieferungen 
gesammelt  hat.  Dieselben  sind  grösstenteils  mythischen  Inhalts  und  geben  die 
Vorstellungen  der  Indianer  über  die  Entstehung  der  Weltordnung  und  der  auf  der 
Erde  lebenden  Wesen  wieder;  hier  und  da  begegnet  auch  eine  Geschichte  der  Art. 
welche  die  Indianer  selbst  Geschichten  des  weissen  Mannes  (white  man's  stories) 
nennen.  Herr  Franz  Boas  hat  in  einer  Einleitung  (S.  1  —  18)  den  wesentlichen 
Inhalt  der  Sammlung  gedrängt  ausgezogen  und  auch  darauf  hingewiesen,  dass  diese 
Indianerstämme  Jäger  und  Fischer  sind,  die  von  Wild  und  Fischen  leben  und  von 
den  Beeren  und  Wurzeln,  welche  die  Weiber  sammeln.  Ihre  ganzen  Verhältnisse 
sind  die  ursprünglichsten  und  einfachsten,  und  so  ist  auch  ihr  Kultus  sehr  wenig 
entwickelt.  Wir  können  nur  auf  dieses  oder  jenes  hinweisen,  um  die  Bedeutung 
der  Teitschen  Sammlung  für  religionsgeschichtliche  vergleichende  Studien  anzu- 
deuten. 

Während  die  meisten  Indianer  nur  ein  Wesen  kennen,  das  in  die  Welt 
Ordnung  und  die  Bedingungen  menschlichen  Lebens  brachte,  erzählen  die  Stämme 
am  Thompsonflusse  von  vieren:  dem  Coyote,  den  drei  Brüdern  Qoäqlqal,  die 
gewissermassen  dreieinig  waren,  dem  Kokwela  und  dem  Alten  Mann.  Der  be- 
deutendste war  der  Coyote,  der  indessen  seinerseits  als  Vorläufer  und  Bote  des 
Alten  Mannes  erscheint. 

Auf  der  ältesten  Erde  gab  es  keine  Bäume,  wenig  Pflanzen,  keine  Fische  und 
Beeren  (also  keine  Nahrung).  Es  lebten  zauberkundige  Tiere  von  menschlicher 
Gestalt,  ein  unheimliches  kannibalisches  Volk.  Da  erschienen  allmählich  andere 
Wesen,  die  hin  und  her  wanderten,  Wunder  wirkten  und  alles  veränderten.  Sie 
verjagten  das  alte  Volk  oder  verwandelten  es  in  Vögel,  Fische,  Vierfüssler  und 
Bäume.  Der  grösste  dieser  Verwandler  (transformersj  war  der  vom  Alten  Mann 
gesandte  Alte  Coyote.  Nachdem  er  das  seine  gethan,  verschwand  er  und  der 
Alte  Mann  kam  darauf  selbst  und  schied  die  Guten  und  die  Bösen.  Die  letzteren 
verwandelte  auch  er  in  Vögel  und  Tiere,  die  guten  aber  siedelte  er  in  verschiedenen 
Ländern  an  und  es  war  von  nun  ab  wie  ungefähr  noch  jetzt.  Die  Indianer  sind 
Nachkominen  des  guten  Volkes  (S.  20 f.). 

Vor  Zeiten  war  Sonne  (the  Sun)  ein  grosser  und  reicher  Häuptling,  der  eine 
junge,  wunderbar  schöne  Tochter  hatte,  um  die  aber  niemand  zu  freien  wagte. 
Da  erfuhr  ein  grosser  Zauberer  im  fernen  Osten  durch  seinen  Schutzgeist  von 
dem  schönen  Mädchen  und  machte  sich  nach  Lk;tmtcin  auf,  wo  der  grosse  Häupt- 
ling in  einem  unterirdischen  Hause  wohnte.  Er  ward  zuerst  rauh  abgewiesen, 
fand  aber  nach  und  nach  Gnade  beim  Vater  und  nach  reichen  Geschenken  gab 
ihm  dieser  die  Tochter  zum  Weibe.  Nach  einiger  Zeit  kehrte  der  Mann  mit  seiner 
Gattin  in  sein  Land  zurück.  Sonne  sagte  beim  Abschied  der  Tochter,  sie  solle 
wieder  kommen  und  ihn  besuchen.  Aber  sie  that  es  jahrelang  nicht.  Doch  nach 
der  Geburt  des  zweiten  Kindes  verliess  sie  ihr  Gemahl  und  sprach,  sie  wäre  ihm 
zu    heiss;    sollte    er    länger    mit   ihr  leben,    würde  er  sterben.     Da  nahm  sie  ihre 


Rocdiger:  Protokolle.  225 

Kindor  und  ging  in  ihre  Heimat  zurück.  Aber  als  sie  der  Vater  kommen  sah, 
sprach  er:  „Sie  war  mir  ungehorsam.  Was  soll  ich  sie  aufnehmen,  wenn  sie  vorher 
nicht  kommen  wollte?  Sie  wird  mich  nimmer  finden  und  mein  Haus  nicht  be- 
treten." Und  er  verwandelte  sie  in  die  Sonne,  die  wir  jetzt  sehen,  die  immer  von 
Ost  nach  West  wandert  und  ihren  Vater  sucht.  Ihre  Kinder  sieht  man  gelegentlich 
als  Sonnenhunde  (sun-dogs)  (S.  54). 

Der  Mond  war  vor  Zeiten  ein  Indianer,  aber  er  ward  in  das  verwandelt,  was 
er  nun  ist.  Sein  Gesicht  war  früher  noch  strahlender  als  die  Sonne,  aber  seine 
jüngere  Schwester  setzte  sich  hinein  und  verdunkelte  es.  Der  Mond  baut,  wenn 
es  schneien  will,  sich  ein  Haus  und  geht  in  dasselbe,  ebenso  wenn  es  regnet. 
Er  ist  ein  starker  Eaucher,  die  Wolken  sind  der  Rauch  seiner  Pfeile.  Wenn  das 
Wetter  noch  so  heiter  ist,  der  Mond  aber  zu  rauchen  beginnt,  steigen  die  Wolken 
auf.  Er  legt  die  Pfeife  nicht  aus  der  Hand,  das  sieht  man  im  Monde,  und  ebenso 
den  Korb,  den  er  als  Hut  sich  aufsetzt  (S.  91.  ILS). 

Einmal  machte  der  Muskito  einen  Besuch  bei  dem  Donner.  Als  dieser  sah, 
dass  der  Muskito  die  Kehle  voll  Blut  hatte,  fragte  er,  woher  er  das  habe,  er  hätte 
sich  das  schon  lange  gewünscht.  Da  sprach  Muskito:  y,Ich  habe  es  irgendwoher." 
Aber  Donner  grollte  und  sagte:  „Wie  kannst  du  mir  so  antworten?  Weisst  du  nicht, 
dass  ich  dich  schiessen  und  töten  kann?"  Da  sprach  Muskito  ganz  erschreckt: 
„Ich  sauge  es  aus  den  Baumwipfeln. ^  Durch  diese  Lüge  rettete  er  die  Menschen, 
und  sie  ist  der  Grund,  dass  der  Donner  bis  heute  die  Baumwipfel  trifft.  Hätte 
Muskito  die  Wahrheit  gesagt,  so  würde  der  Donner  nach  Menschen  und  Tieren 
schiessen  statt. nach  den  Bäumen  (S.  5G). 

Diese  Proben  müssen  genügen,  um  die  Teitsche  Sammlung  dieser  Indianer- 
geschichten den  Forschern  zur  Benutzung  zu  empfehlen.  K.  W\ 


Aus  den 

Sitziiiigs-Protokolleii  des  Vereins  für  Volkskunde. 


Freitag-,  den  24.  Februar  1891).  Herr  Fabrikant  Sökeland  bemerkte  zu 
dem  von  Herrn  Mielke  im  Januar  vorgelegten  chinesischen  Besemer  (oben  S.  lütj), 
dass  diese  Wage  vielmehr  eine  Hebelwage  sei,  bei  der  der  Aufhängepunkt  fest 
und  das  Gewicht  verschiebbar  ist.  Der  Redner  hat  26  Desemer  zusammengebracht, 
wozu  4  im  Museum  für  Volkstrachten  befindliche  kommen.  Sie  sind  noch  in 
Gebrauch  in  Schleswig-Holstein,  Mecklenburg,  Pommern,  West-  und  Ostpreussen, 
Posen,  Brandenburg.  Die  Gewichtsskala  ist  nicht  nur  7-  und  lOteilig,  sondern 
auch  5-,  (i-,  15-,  21teilig.  Manche  besitzen  eine  doppelte  Skala,  für  zwei  Systeme. 
Man  benennt  das  Instrument  in  Schleswig-Holstein  und  Ostpreussen  Besmer  und 
Besemer,  sonst  überall  Desemer.  Das  anlautende  /'  führt  Herr  Sökeland  auf  russ. 
besmeri  „Schnellwage'-  und  dän  hismn-  zurück.  Herr  Kustos  Höft  hält  an  der 
Ableitung  von  lat.  decon  fest:  man  habe  mit  dem  Desemer  den  Zehnten  abgewogen. 
Die  vers°chiedenen  Skalen  führt  er  auf  alte  Gewichte  zurück,  [d  aus  altem  b  finden 
wir  in  dem  anklingenden  niederdeutschen  Desem  für  f>esint  nisai».]    -  Herr  Professor 


•22()  Rocdig-er: 

Eugen  Bracht  legte  einige  merkwürdige  StiUkc  vor.  u.  a.  feine  FerlensiricKcriNeii 
—  nicht  Stickereien!  —  aus  dem  Jahre  1838;  Rauernhauben,  die  dem  Traehten- 
museum  von  Bäuerinnen  des  Landes  Stargard  geschenkt  worden  sind,  und  sprach 
dann  über  die  Trachten  der  nordfriesischen  Inseln,  die  er  durch  Original- 
stücke und  Nachahmungen  sowie  durch  reichliche  Bilder  zur  Anschauung  brachte, 
ja  sogar  durch  ein  lebendes  Modell.  Auf  Sylt  lässt  sich  nur  noch  sehr  wenig 
von  alten  Trachten  auftreiben :  das  Vorhandene  ist  im  Besitze  reicher  Familien, 
wird  kaum  gezeigt,  geschweige  denn  veräussert.  Eine  vortreffliche  Hilfe  gewährt 
das  Buch  des  Lehrers  Jensen  auf  Pöhr  über  die  nord friesischen  Liseln  (Hamb.  1^91). 
Der  Redner  konnte  ein  Leihchen  ohne  Ärmel  vorlegen,  zu  dem  13  Ellen  ganz  eng 
gefältelter  Stoff  verwendet  waren  und  das  sich  wie  eine  Harmonika  ausziehen  Hess. 
Einen  gewebten  Gürtel  fügte  er  hinzu.  Verfolgen  wir  die  Kleidung  rückwärts,  so 
ergiebt  sich,  dass  von  IGÜO  — IbOO  eine  ziemlich  einheitliche  Tracht  vorhanden 
war.  Es  giebt  gute  Bilder  davon  aus  dem  vorigen  Jahrhundert,  die  man  vollständig 
im  Thaulow-Museum  zu  Kiel  finden  kann.  Nicht  durchweg  zuverlässig  sind  die 
Bilder  in  der  Chronik  des  Ernst  Joachim  von  Westphalen.  Merkwürdig  bunt  ist 
die  Kleidung,  die  die  Frauen  bei  Trauer,  zur  Kommunion  und  während  der  Ab- 
wesenheit des  Mannes  anlegten.  Als  Kopfbedeckung  für  die  Frauen  diente  früher 
eine  Zipfelmütze,  woraus  sich  die  Hüf,  Hüw  (Haube)  entwickelte,  ein  turban-  oder 
trichterartiges  Gebilde,  das  oben  mit  silbernen  Döpkes  (Hütchen,  Kapseln)  besetzt 
ist.  Für  bestimmte  Gelegenheiten  besass  die  Sylter  Frau  ein  schwarzes,  goldenes, 
brokatenes,  rotes  Kleid.  —  Föhr  zeigt  eine  ganz  zusammenhängende  Entwickelung 
der  Frauentracht.  Sie  ist  sehr  kostbar  und  verwendet  viel  Silberfiligran,  hat  im 
übrigen  Ähnlichkeit  mit  der  Sylter.  Dagegen  weichen  Rom  und  Fanö  ab.  Die 
Tracht  der  Halligen  lässt  ein  feines  Bild  des  Thaulow-Museums  erkennen;  vor- 
handen ist  davon  nichts  mehr.  —  Der  Vortrag  des  Herrn  Bracht  wird,  mit  Ab- 
bildungen ausgestattet,  in  den  Mitteilungen  aus  dem  Museum  für  deutsche  Volks- 
trachten erscheinen. 

Freitag-,  den  25.  3Iäi'z  1899.  Der  Vorsitzende  widmete  dem  am  14.  März 
d.  J.  verstorbenen  Mitbegründer  des  Vereins  und  seiner  Zeitschrift,  Herrn  Prof. 
Dr.  H,  Steinthal,  einen  warmen  Nachruf  (s.  oben  S.  "20.S).  Darauf  legte  Herr 
Fabrikant  Sökeland  einige  neue  Erwerbungen  des  Museums  für  Volkstrachten 
aus  der  Gegend  von  Lenzen  an  der  Elbe  vor.  Zunächst  vier  Gnidclsteine  (in 
der  Altmark  Gnibbsteene)  oder  Nahtklopfer,  die  gebraucht  werden,  um  die  Nähte 
an  Leinenzeug  zu  plätten,  weil  es  nicht  mit  dem  heissen  Eisen  in  Berührung  ge- 
bracht werden  darf.  Dieser  Aberglaube  geht  vielleicht  auf  Richter  16,  9  zurück; 
„Wie  eine  flächsene  Schnur  zerreisst,  wenn  sie  ans  Feuer  riecht."  Übrigens  zcr- 
reisst  oder  verbrennt  ein  Zw-irnfaden  trotz  Berührung  mit  einer  Flamme  nicht, 
wenn  man  ihn  um  einen  Stein  windet.  Deshalb  wollte  ein  Bauer  dem  Redner 
ein  Steinbeil  nicht  ablassen,  da  er  unter  Vorführung  des  Experimentes  behauptete, 
es  schütze  ihn  gegen  Feuer  und  Blitz.  —  Ein  mit  Diessen,  d.  h.  verschieden- 
artigen Flechten  aus  Flachsfäden  behängter  Wocken  wird  der  Braut  mit  einem 
erläuternden  Gedicht  übergeben.  Die  Flechten  beziehen  sich  auf  den  neuen  Haus- 
stand, u.  a.  den  Kindersegen.  —  Bretzettel,  d.  h.  Zettel  mit  einem  Heilung 
bringenden  Spruche  legt  man  ins  Gesangbuch  und  nimmt  sie  mit  in  die  Kirche, 
um  Krankheiten  zu  vertreiben.  Im  Notfall  muss  die  Schrift  in  fliessendes  Wasser 
abgeschabt  und  dies  getrunken  werden.  —  Der  Führer  einer  Schmugglerbande, 
die  Teufelsbrüder  genannt,  besass  einen  Siegelstempel  mit  einer  menschlichen 
Figur  darauf,  durch  den  er  meinte,  sich  und  seine  Leute  unsichtbar  machen  zu 
können.    Als  man  ihn  trotzdem  beinah  erwischte,  warf  er  ihn  fort.    Herr  Sanitätsrat 


Protokolle.  227 

Dr.  Bartels  erkennt  in  der  Figur  den  Teufel  und  macht  auf  den  analogen  Ge- 
brauch der  Bo-tzettel  bei  den  Muhamedanern  aufmerksam.  —  Herr  Zeichenlehrer 
Mielke  behandelte  die  mittelalterliche  Granitbaukunst  in  Norddeutsch- 
land und  erläuterte  seinen  Vortrag  durch  eine  Fülle  von  Zeichnungen  und  Photo- 
graphien. Der  uralten  Holzbaukunst  folgte  der  Bau  mit  Hausteinen,  neben  die  der 
Backstein  als  Ergänzung  trat,  ohne  bis  heut  auf  dem  Lande  den  Feldstein  zu  ver- 
drängen. Das  Verbreitungsgebiet  des  Granitbaues  reicht  von  Ostfriesland  und 
Westfalen  bis  in  die  ostelbischen  Provinzen,  von  der  Meeresküste  bis  an  die 
mitteldeutschen  Gebirge.  Nach  dem  Osten  zu  wächst  die  Zahl  der  Fachwerkbauten; 
in  Posen,  West-  und  Ostpreussen,  Oberschlesien  herrscht  der  vollendete  Blockstil. 
Mag  auch  der  Ziegelbau  ziemlich  gleichzeitig  mit  dem  Granitbau  aufgekommen 
sein,  so  ist  doch  der  Granitbau  das  landesübliche,  und  der  Volksmund  spricht 
auch  den  „Felsenkirchen"  fast  immer  ein  sehr  hohes  Alter  zu.  Dennoch  ist  der 
Granitbau  nicht  landgeboren,  sondern  eingeführt,  und  zwar-  im  12.  lo.  Jahrhundert, 
als  der  Osten  Deutschlands  den  heidnischen  Slaven  wieder  abgenommen  wurde. 
Die  crston  Bearbeiter  müssen  auswärtige  Techniker  gewesen  sein,  wie  denn  auch 
schon  zu  früher  Zeit  ausländisches  Baumaterial  eingeführt  wurde,  auf  der  Elbe, 
dem  Rhein  und  der  Weser  (Kalksteinfassade  des  Havelberger  Domes  aus  dem 
12.  Jahrb.,  Bauglieder  des  Brandenburger  Domes  aus  Kalkstein,  in  den  Weser- 
marschen und  in  Schleswig-Holstein  viele  Kirchen  aus  Tuff  und  Trass  von  den 
Brüchen  des  Brohlthales).  Gerade  die  zuerst  kolonisierten  Gebiete  Schleswig, 
Holstein,  Mecklenburg,  Vorpommern,  Brandenburg,  Niederschlesien  besitzen  roma- 
nische Kirchen  der  ältesten  Zeit  in  dem  reinen  Granitstil,  der  sich  schon  um  1200 
in  technisch  so  vollendeter  Weise  entwickelt  hatte,  dass  man  von  einer  besonderen 
Epoche  des  Granites  in  der  Baugeschichte  wird  sprechen  dürfen  Die  Geschick- 
lichkeil der  Werkleute  zeigt  sich  auch  an  den  granitenen  Grab-  und  Taufsteinen. 
Die  Mauern  bestehen  bei  den  ältesten  Kirchen  aus  regelmässig  behauenen  Quadern; 
\m  Innern  sind  sie  durch  Gusswerk  aus  Mörtel  und  unregelmässigen  Steinen  ver- 
stärkt, das  schon  sehr  frühe  mit  Stuck  xmd  Farbe  bekleidet  war.  In  Fiiesland 
benutzte  man  es  auch  für  die  Aussenseite  und  überall  für  Wölbungen,  was  beweist, 
dass  man  den  bequemeren  Ziegel  noch  nicht  kannte.  Aber  unter  dem  Einlluss 
des  Ziegelbaues  .wird  die  Technik  mit  der  Zeit  lässiger  und  im  14.  Jahrh.  bleibt 
nuf  noch  rohes  Gusswerk  übrig,  worein  man  bisweilen  Quadern  ritzt  oder  das  man 
mit  Sgraffito  ausschmückt.  Der  Grundriss  der  ältesten  Kirchen  ist  der  übliche 
der  damaligen  Zeit:  Turm,  Langhaus,  Chor  mit  halbrunder  Apsis.  Turm  oder 
Apsis  oder  beide  fehlen  auch;  statt  des  Turmes  ist  dann  ein  hölzerner  Glocken- 
stuhl vorhanden,  der  häufig  abseits  steht.  Wir  dürfen  geradezu  eine  turmlose 
Epoche  und  nach  ihr  eine  mit  breitem  Westturm,  der  ebenso  breit  oder  breiter 
als  das  Mittelschiff  ist,  ansetzen,  etwa  zu  Ende  des  12.  Jahrh.  Vorbild  war  hier 
die  städtische  Kathedralkirche.  In  der  gotischen  Zeit  wird  dieser  schwere,  massive 
Turm  zu  dem  quadratischen  eingeschränkt  und  damit  die  dritte  und  letzte  Urform 
der  Dorfkirche  erreicht.  —  Der  Vortragende  ging  nun  auf  die  Pfeiler,  die  Durch- 
l)ildung  der  Mauern  und  Wände,  der  Portale  und  Fenster  ein  und  besprach  dann 
die  geographischen  Gruppen.  Die  älteste  ist  vielleicht  die  ostfriesische,  wo  aber 
bald  Tull'stein  und  Ziegel  den  Granit  .ablösten.  In  Schleswig  und  Holstein  wirkt 
rheinischer  Einlluss  auf  die  Anlage,  die  einheimische  Holzskulptur  auf  die  Einzel- 
heiten. Auch  Dänemark  wirkte  ein.  Man  erreichte  hier  ungleich  höheres  als  irgendwo 
sonst  und  es  bildete  sich  ein  ungemein  skidpturfreudiger  Provinzialstil  aus.  Die 
schönsten  Kirchen  besitzt  Angeln,  namentlich  Sörup  in  seiner  Marienkirche.  Südlich 
dv\-    p]lbe    that    der    Zies'cl    dem  Granit  Eintrag,    bis    er    auf    die  Granitkunst   des 


•228 


Pr<.tokollf 


FKimin-s  slies.^,  die  von  Zinna  ausgOi^angen  war.  Krsi  im  Nordosten  und  Osten 
der  Elbe  gewann  der  Granit  wieder  Ausdehnung.  Die  ältesten  mecklenburgischen 
Kirchen  sind  aus  Backsteinen  erbaut,  erst  östlich  der  Linie  Parchim-Dobcran  finden 
wir  alte  Granitkirchen,  die  unter  dünischem  Einflüsse  zu  stehen  scheinen,  der  über 
Rügen  eindrang.  Dänisch  ist  auch  eine  eigenartige  Verbindung  des  Ziegels  mit 
dem  Granit  an  den  Fenstern  (und  Portalen),  die  auf  die  beiden  Mecklenburg  und 
die  Ukermark  beschränkt  ist.  Vori)oniniern  hängt  mit  M.-Schwerin  zusammen. 
M.-Strelitz  mit  der  Ukermark.  Hier  fehlt  meist  Apsis  und  Turm.  In  der  Mark 
Brandenburg  haben  wir  drei  Striche  ältester  Rauten:  vom  Fläming  nach  dei- 
Lausitz,  durch  die  mittlere  Priegnitz  nach  der  Ukermark,  in  der  Mittelmark  über 
Brandenburg  und  Berlin  nach  der  Warthe.  Der  nördliche  Teil  des  Landes  leistet 
im  ganzen  weniger  als  der  südliche,  von  den  obersächsischen  Bergländern  beeinflusste, 
doch  ist  die  Technik  fast  durchgehends  gut.  Die  Grundrisse  sind  sehr  verschieden 
gestaltet.  Blenden,  Gesimse,  dreifach  gegliedei'te  Portale  sind  hervorzuheben.  Vom 
14.  Jahrh.  an  sinkt  die  Technik,  während  die  Verwendung  des  Granits  bis  in 
unsere  Zeit  gestiegen  ist.  Schlesien  zog  die  im  Lande  gebrochenen  Steine  vor. 
Eigentümlich  sind  der  Gegend  am  Zobten  vier  Löwen  von  1  V2  "'  Länge,  möglicher- 
weise aus  dem  12.  Jahrhundert. 

Sonutaj;-.  den  30.  April  1899.  An  Stelle  des  Vortragabends,  der  auf  den 
28.  April  gefallen  wäre,  hatt&der  Vorstand  zu  einer  Besichtigung  des  Museums 
für  deutsche  Volkstrachten  und  Erzeugnisse  des  Hausgewerbes  (Kloster- 
slrasse  3G)  auf  Sonntag,  den  30.  April,  mittags  12  Uhr  eingeladen.  Im  Namen  des 
Komitees  des  Vereins  für  dieses  Museum  begrüsste  Herr  H.  Sökeland  die  er- 
schienenen Mitglieder  unsers  Vereins  und  übernahm  gütig  die  Führung.  Wir 
hatten  somit  die  beste  Gelegenheit,  die  reichen  und  schönen  Bestandteile  des 
Museums  kennen  zu  lernen:  die  Kostümfiguren,  die  Modelle  von  Haus  und  Hof 
verschiedener  Landschaften,  die  Herrichtungen  ganzei'  Bauerstuben  (Spreewälder, 
Elsässer,  Schweizer,  Lüneburger.  Hindelooper),  die  schönen  Schränke  und  andere 
kleinere  geschnitzte  und  geschnittene  Truhen  und  Geräte,  die  reichen  Sammlungen 
von  Stickereien,  Spitzen,  Bändern,  Hauben,  Gewandstoffen  und  Kleidungsstücken, 
allerlei  Gebrauchsstücke  in  Haus  und  Feld  u.  s.  w.  Belehrt  und  erfreut  sind  wir 
mit  dem  lebhaften  Wunsche  geschieden,  dass  sich  für  das  Museum  recht  bald 
zusammenhängende,  ausreichende  und  selbständige  Räume  finden  mögen.  Unser 
Verein  steht  mit  dem  Trachtenmuseum  in  einem  so  genauen  inneren  Zusammen- 
hange, dass  die  Erfüllung  dieses  Wunsches  auch  für  uns  vom  höchsten  Werte 
sein  würde. 

Max  Roediger. 


Zeltschrift   des  Vereins  iür  Volkskunde 


Taf.  II 


Marienbild  aus  dem  Pinziiau 
beim  Fraueiitragen  umgeführt. 


Volksastronomie  und  Volksmeteorologie 
in  Nordthüringen. 

Von  K.  Reichhardt. 


1.  Sonne.  Die  Sonne  als  Licht-  und  Lebensspeiiderin  wird  vom 
YoJko  die  „liebe  Sonne"  oenaiint.  „So  wahr  die  liebe  Sonne  scheint", 
liört  man  als  I5eten<'run,i;sforniel.  Anch  tue  Bezeichnnni;'  „Frau  Sonne" 
findet  sicli  hin  und  wiedci'.  Der  heitere  Untertan«;-  der  Sonne  ist  ein 
Anzeichen  i'iii'  i^iitcv  WCtter.  Da,<;'e;;-en  hört  nnin  liei  trübem,  von  Wolken 
verscldeiertem  Unterfange  sagen:  Die  Sonne  geht  im  Sumpfe  unter,  es 
giebt  morgen  Regen,  oder:  Die  Sonne  geht  in'n  Bnsch.  morgen  giebt's  'neu 
Husch.  ,.l)ie  Sonne  geht  ym  Bett*'  ist  im  allgeuHMiHMi  ilie  Bezeichnung 
tnr  (hMi  Sonnenuntergang.  „Die  Sonne  guckt  dni-cli  die  Luke"  heisst  es, 
wenn  sie  /.wischen  \\'olken  untergeht.  Zeigen  die  Wolken  lU'ben  (h^r 
Sonne  goldige  Ränder,  so  sagt  man:  „Das  sind  der  Sonne  ihre  Taschen- 
tüclier,  mit  ihnen  wischt  sie  sich  den  Sfhweiss  ab."  Geht  die  Sonne  in 
feuriger  MorgfUiriUe  auf.  so  folgt  Wind  und  Regen.  Dasselbe  trifft  zu. 
wenn  die  Sonne  hleicli  scheint;  nuiii  nennt  das:  Die  Sonne  scheint  „gälstern" 
oder  „geistern"'.  Brennt  die  Sonne  nach  dem  Regen,  so  pflegt  man  zu 
sagen,  sie  „sticdif  und  wird  nudir  Regen  hervorrufen;  zieht  die  Sonne 
Wasser,  so  soll  es  am  nTudisten  Tage  regnen.  An  jedem  Sonnabend  muss 
einmal  am  Tage,  und  sei  es  mii-  einen  Augenblick,  die  Sonne  scheinen. 
Man  begründet  diese  Ers(  heiming  damit,  dass  nuin  sagt:  „Die  Mutter  Maria 
trocknet  M'indtdir'.  Li  der  nordthüringisclien  Grafschaft  Hohenstein  sagt 
man  „die  ^lütter  .Maria  trocknet  ihren  Schleier"  und  zwar  auf  den  Zweigen 
der  wilden  Rose,  daher  die  Blätter  derselben  sich  dnridi  einen  besonders 
]i<d)lichen  Geruch  auszeichnen  sollen.  Scheint  die  Sonne  im  Regen,  so 
freuen  sich  die  Kinder  und  stellen  sich  in  den  „Sonnenregen",  welcher 
das  Wachstum  befördern  soll.  Hin  und  wieder  hört  nnin  auch  die  Redens- 
art „der  ^ix  tauft". 

Ton  der  Wintersonnenwende  ab  wächst  das  Tageslicht  täglich  um 
„einen  Hahnenschrei".  Scludnt  die  Sonne  am  heiligen  Dreikönigstage,  so 
bedeutet  das  Frieden  im  kommenden  Jahre.  Yincenz  (22.  Januar)  Sonnen- 
schein verheisst  vicd  Obst  un<l  AVein.    Besonders  am  Lichtmesstage  (2.  Febr.) 

Zeitschr.  d.  Verein.;  f.  Volkskitiide.    I8.i9.  1^ 


•2;}0  Reichhardt: 

Jiiit  die  Sonne  Einflnss  anf  Natnr  nnd  Wetter.  Sieht  an  diesem  Tai^c  «Icr 
Daelis  seinen  Schatten,  dann  zieht  er  sich  wieder  in  seine  Höhle  znriick. 
denn  es  folijt  ein  starker  Naclnvinter.  Im  anderen  Falle  ist  ein  zeitiges 
Frühjaln-  zn  (M-\varten.  Der  Schäfer  hat  zu  Lichtmess  lieber  den  AVolf  als 
die  Sonne  im  StaHe.  Lichtmess  dunkel,  wird  der  Schäfer  ein  Junker  nnd 
<hM'  Bauer  ein  Edelnmnn.  Doch  heisst  auch  ein  anderes  Sprichwort:  Licht- 
mess hell  und  klar,  gieht  insgemein  ein  gutes  Jahr.  Sonnenjahre  sind 
Wonuenjahre.  Scheint  die  Sonne  am  Fastnachtstag-e  auf  den  Altar,  so 
gerät  der  Flachs  gut.  Scheint  die  Sonne  im  Winter  zu  tanzen,  so  g-ie))t 
es  grosse  Kälte.  Am  Ostertage  thnt  die  Sonne  hei  ihrem  Aufgange  drei 
Freudensprünge:  man  sagt  auch:   „Das  Osterlamm  hüpft  in  die   Sonne". 

Die  Sonne,  die  so  frühe  lacht, 
Wird  sicherlich  am  Abend  weinen. 

Oder  in  anderer  V(>rsion: 

Die  Sonn'  die  morgens  früh  aufgeht, 
Pflegt  nur  selten  spät  zu  scheinen, 
Das  Glück,  was  morgens  früh  schon  lacht, 
Das  thut  am  Abend  weinen. 

2.  Mond.  Der  Mond  heisst  scherzweise  ,, Eulenspiegels  Sonne".  In 
Hamburg  und  Holstein  nennt  man  ihn  „der  Mecklenburger  Sonne".  Über 
die  dunklen  Flecke  im  Mond  herrschen  verschiedene  Sagen.  Das  Gebihle 
im  Mond  ist  ein  Mann,  welcher  am  Sonntage  Holz  stahl  und  zur  Strafe 
von  Gott  in  den  Mond  versetzt  wurde.  Ein  Bauer  schlich  sich  nachts  in 
Nachbars  Garten,  um  Kohl  zu  stehlen.  Kaum  hatte  er  die  Stauden  um- 
gebrochen, als  ihn  der  Mond  ergriff  nnd  samt  dem  Raube  hinaiifzog.  Die 
dunklen  Flecke  sind  der  Dieb  und  der  Kohlstrunk.  Eine  Frau  spann  am 
Sonntage.  Da  kam  zu  ihr  der  Herrgott  und  sprach:  Weisst  du  nicht,  dass 
heute  Sonntag  ist?  Du  sollst  von  jetzt  ab  im  Monde  sitzen.  Und  sie  sitzt 
dort  von  der  Zeit  ab  mit  ihrem  Spinnrade  und  spinnt.  Geht  der  Mond 
anf.  so  sagen  die  Kinder:  Der  liel)e  Gott  steckt  das  Altendlicht  an.  Ist 
der  Mond  halb,  so  hört  man  sagen:  Die  wilden  Schweine  haben  den  Mond 
angefressen;  ferner,  wenn  er  auf  dem  Rtlcken  zu  liegen  scheint:  Der  Mond 
fährt  Kahn,  es  giebt  Frostwetter.  Steht  ein  grosser  Stern  beim  Monde. 
so  heisst  es:  Der  Mond  luvt  seinen  Verräter  bei  sich.  Scheint  der  Mond 
blass  und  gelb,  so  pflegt  bald  Regen  zu  folgen;  scheint  er  rot,  so  deutet 
dies  auf  Wind;  ist  er  weiss  und  hell,  so  hat  nmn  gutes  Wetter  zu  erhoffen. 
Bei  abnehnuMulem  Monde  darf  man  keine  Ehe  schliessen  und  kein  Getreide 
säen.  Bei  zunehmendem  Monde  gesäet  blühen  die  Erbsen,  ohne  Schoten 
anzusetzen.  Derjenige  Monat,  in  welchem  zweimal  Vollmond  eintritt,  soll 
Mänseplageu  mit  sicli  bringen.  Der  .Mond  „drückt"  die  Wolken,  frisst  sie 
auf,  sagt  man,  d.h.  pflegt  bei  seinem  Aid'gange  die  AVolken  zu  vertreiben. 
Zahllos  sind  die  Sympathiebräuche  des  Volkes  hei  zu-  oder  abnehmendem 
Monde.     Es    seien    hier    imr    zwei    erwähnt.     Warzen    soll    num   entferm-n 


Volksastroiioinie  und  Volksmeteorologie  in  Nordtliüringen.  231 

können,    wenn    man    l)ei   almelnnencleni  Monde  mit  dem  Fin^-er  nach  dem 
Monde  zeij^-t  nnd  die  Warzen  <la.nii   mit  den  Worten  beriiln-t: 
Du  Mond  stehst  am  Himmel, 
Du  Warze  verschwindest.     Im  Namen  u.  s.  w. 

ZaluiscduinTzeii  vertreibt  man.  wenn  man  bei  znnehmendem  Monde 
haltlos  zn  einer  alten  Weide  ,u(dit  und  ihr  folgenden  Spruch  vorträg-t: 

Guten  Abend,  liebe  alte  Weide, 
Ich  bringe  dir  meine  Zahnschmerzen  heute 
Und  wünsche,  dass  sie  bei  dir  bestehn 
und  bei  mir  vergehn.     Im  Namen  u.  s.  w. 

Bei  diesen  Worten  maelit  man  drei  Knoten  in  die  Zweige  der  Weide 
und  entfernt  sich.  —  Der  Hof  um  (h-n  Mond  verkündet  Wind  und  Keg-en. 
Mit  Neumond  ändert  sich  das  Wetter  gern:  diese  Erfahrung  haben  unsere 
Landlentc  schon   hinge  vor  Falb  gemacht. 

'6.  liegenbogen.  Regenbogen  nach  langer  Dürre  verkündet  einen 
Hingeron  Regen;  ist  aber  lange  Nässe  vorausgegangen,  so  folgt  gewöhnlich 
s(  hönes  Wetter.  Regenl)0gen  am  Morgen,  des  Hirten  Sorgen;  Regenbogen 
am  Alx'iid.  den  Hirten  lalx'nd.  Der  Wiederschein  des  Regenhogens  oder 
ciu  unvollkommen  ausg(d)ildeter  Regenl)0gen  lieisst  im  Yolksmunde  eine 
Wettergalh'.     Diese  lässt  auf  weiteren  Regen  schliessen. 

4.  Sterne.  Der  gTOsse  Bär  h(Msst  allgemein  der  „Wagen",  der  Orion 
i\vY  ..l^'tersstalt'^  Die  Milchstrasse  hört  man  von  gebildeteren  Landleuten 
die  „Wild-  oder  Welt])ahn"  nennen.  Auf  Sterne  soll  man  nicht  mit 
Fingern  /.eigini.  auch  nicht  lästernd  von  ihnen  reden,  sonst  geschieht  ein 
Un-hick.  Ih'im  Anbl.i(ds:  einer  fallenden  Sternschmippe  soll  man  sich  etwas 
wünschen.  Ks  wird  in  Frfüllung  gehen.  Er>cheiiit  ein  Komet,  so  ist  Krieg 
oder  die  I^'st  im   Anzüge. 

5.  ^\■(•lken.  Wenn  plötzlich  Itei  hellem  Himmel  Wolken  von  Süd 
oder  West  aufsteigen,  so  entsteht  l)ald  Sturm.  Wölkchen,  welche  kleiner 
werden,  bringen  gutes  Wetter,  vergrössern  sie  sich,  dann  folgt  Regen. 
Wetterliäunu'  sind  lang  an  dem  Himmel  hingestreckte  Wolkengebilde 
(cirro-stratus-AVolken  der  Meteorologie),  welche  zu  allen  Tageszeiten  er- 
scheinen nnd  eine  Änderung  des  Wetters  zur  Folge  haben  sollen.  Einem 
Baume  in  der  Natur  gleichen  sie  nicht,  sie  werden  Bäume  genannt,  wie 
man  von  .Mastbaum  und  Schlagbauni  redet.  Die  AVurzel  des  Bainnes  soll 
nach  der  Riclitung  zeigen,  aus  welcher  Regen  zu  erwarten  ist.  Ist  der 
Stannn  des  Wetterbaunu's  besonders  dunkel,  so  ist  der  Eintritt  des  Regens 
nahe  bevorstehend.  Auch  die  Schäfchen  sollen  Regen  bringen,  doch  ist 
der  Beweis  dafür  noch  nicht  erbracht.  Die  finster  drohende  Regenwolke 
nennt  man  wohl  einen  „schw^arzen  Bären",  einen  schwarzen  Mann.  Braun- 
rote Wolken  im  Sonnner  In-ingen   oft  Hagelwetter. 

(i.  Ge^Yitter.  Das  Grollen  des  Donners  ist  das  Schelten  Gottes. 
„Es  donnert,    der   liebe  Gott  schilt"   belehren   die  Mütter  ihre  Kinder.     In 

16* 


232  Reichliardt: 

Nordthü ringen  hetrant  man  mit  der  Aumübnng-  di^s  Donnerns  vielfach  den 
Apostel  Petrus.  Man  will  darin  eine  Übertragnng  dieser  Funktion  vom 
Donar  auf  Petrus  durch  das  Christentum  erblicken.  Gewittertage  sind: 
Karfreitag-,  Ostern,  Pfingsten.  Johannis.  Beim  ersten  Donnerschlage,  diMi 
man  im  Jahre  hört,  muss  man  sich  niederwerfen,  um  sich  vor  Krankheiten 
zu  schützen.  Beim  Gewitter  soll  man  nicht  essen.  Ein  Sprichwort  in 
Nordthüringen   huitet  diesbezüglich: 

Den  Beter  lass  beten, 

Den  Schläfer  lass  schlafen, 

Den  Esser  schlag  tot. 

Gewitter  bringen  Kälte;  man  si(dit  es  nicht  gern,  wenn  sie  vor  Wal- 
purgis  (1.  Mai)  kommen.  Donnerts  übern  dürren  AVald.  wird's  in  der 
Regel  wieder  kalt.  Gewitterreiche  Jahre  machen  fruchtbar.  Man  spricht 
vom  „lieben"  Wetter  und  w^ünscht,  dass  es  gnädig  komme.  Aus  der 
Himmelsgegend,  woher  das  erste  Gewitter  kommt,  kommen  sie  gemeiniglich 
alle  im  Jahre.  Früher  wurden  beim  Gewitter  die  Glocken  geläutet.  Man 
meinte  auch,  die  Wolken  durch  Böllerschüsse  und  durch  Anzünden  von 
Feuer  aus  grünem  Holze  vertreiben  zu  können.  Man  schützt  sich  vor  dem 
Einschlagen  des  Blitzes,  wenn  man  Hauslauch  (sempervivum  tectorum)  auf 
die  Dächer  pflanzt.  Auch  die  Kornra«le  (agrostemma  githion)  soll  vor  Blitz- 
schaden schützen.  Ein  Stück  Holz  aus  einem  vom  Blitze  getroffenen 
Baume  schützt  vor  allerhand  Krankheit. 

Beim  Gewitter  fallen,  so  nudnt  man.  oft  Steine  zur  Enle.  Wer  im 
Besitze  solch  eines  Steines  ist,  hat  den  Blitz  nicht  zu  für(diteu.  Federn 
sind  schlechte  Blitzleiter.  Darum  legen  sich  die  nordthüringer  Landleute 
beim  Gewitter  zu  Bett.  Das  vom  Blitz  entstandene  Feuer  nennt  man 
„wildes  Feuer".  Es  besteht  die  Volksmeinung,  dass  sich  dieses  nur  mit 
Milch  oder  Jauche  löschen  lasse. 

7.    Regen.     Regenmorgen   bringen  Sonnentage.     Frühregen.    Kinder- 
schrei und  alter  Weiber  Tänze  dauern  nicht  lange.    Regnets  am  Sonntage 
vor  der  Messen,  kann's  die  ganze  Woche  nicht  vergessen. 
Ragent's  dan  Paster  ufs  Buch, 
Härt's  de  ganze  Woche  nich  wädder  uf, 
sagt    der  Nordthüringer.     Färbt    die  Sonne    die  kleinen  Federwolken  hell 
und  rosa,  so  sagt  man:   Der  Regen  blüht.     Der  meiste  Regen  kommt  aus 
Südwest.     Daher    nennt    man   jene  Himmelsrichtung    die  Regenecke,    den 
Regenwinkel,    das    Regenloch.      Kleiner    Regen     dämpft    grossen    AVind. 
Regnet    es  Blasen,    dann    hält    der  Regen    an.     Wenn   Januar  viel  Regen 
bringt,    werden    die  Gottesäcker   gedüngt.     Interessant  ist  die  Anschauung 
des  Volkes  vom  Karfreitage.     Während  man  in  anderen  Gegenden  der  An- 
sictit  ist,  dass  Regen  an  diesem  Tage  ein  fruchtbares  Jahr  bringe,  sagt  der 
Nordthüringer:    „Wenn's    am  Karfreitage    ins    offene   Grab    des  Heilandes 
reo-net,  dann  versengt  der  Rasen  im  Jahre  siebenmal.     Er  deutet  also  den 


Volksastronomie  und  Volksmeteorologie  in  Nordthüringen.  23H 

Karfreitagsregen  auf  koniiiiende  Troeknis.  Mai  kühl  und  nass  füllt  dem 
Bauer  Scheuer  und  Fass.  Vor  Johannis  bet'  um  Regen,  nachher  kommt 
er  ungebeten.  Vor  Johannis  soll  die  ganze  Gemeinde  den  lieben  Gott  um 
Regen  bitten,  nachher  „zwingt's"  ein  altes  Weib  allein.  Am  1.  Sonntage  nach 
Trinitatis.  an  welchem  das  Evangelium  vom  reichen  Manne  und  dem  armen 
Lazarus  handelt,  achtet  man  aufs  AA'etter.  Ist  trockenes  Wetter  an  diesem 
Tage,  so  deutet  man  dies  auf  grosse  und  anhaltende  Dürre  im  Sommer. 
Ähnlich  beim  Evangelium  des  zweiten  Adventssonntages,  in  welchem  es 
heisst:  „Und  das  Meer  und  die  Wasserwogen  werden  brausen."  Regnet's 
an  diesem  Tage,  so  ist  ein  feuchter  und  milder  Winter  vor  der  Thür.  — 
Überall  bekannt  ist  die  Siebenschläferregel;  Regen  auf  Margaretentag 
(lo.  Juli),  wohl  viele  Wochen  dauern  mag.  —  Regnet's  der  Braut  in  den 
Kranz,  so  giebt  es  Thränen  und  Unglück  in  der  Ehe.  Anzeichen  für  bald 
eintretendes  Regenwetter  sind:  das  unruhige  Umherspringen  der  Schafe, 
das  Niedrigfliegen  der  Schwalben,  das  Schreien  der  Raben  und  Elstern. 
Liegen  im  Frühjahr  am  Atiend  weisse  Wolken  auf  den  AViesen,  so  sagt 
man:  Die  Milch  lagert  sich  auf  den  Wiesen,  der  „Wiesenwachs"  wird  gut 
im  konmienden  Jahre  werden.  Lagern  sich  hellgraue  Wolken  über  den 
Wäldern,  so  wird  bald  Regen  eintreten;  in  der  Grafschaft  Höllenstein  sagt 
man  dann  im  Anblick  des  damj)fenden  Harzes:  Der  Harz  braut.  Wenn 
über  dem  Hagen  bei  Günzerode  weisse  Wolken  lagern,  so  pflegt  man  zu 
sagen:  „Der  alte  Barthel  raucht  Tabak."  Der  alte  Barth el  war  ein  Förster 
in  Günzerode,  zu  dessen  Revier  der  Hagen  gehörte.  Ähnliches  spricht  der 
bekannte  Vers  in  Bezug  auf  den  Kytt'häuser  aus: 

Sieht  man  den  Kaiser  mit  dem  Hut, 

Bleibt  selten  nur  das  Wetter  gut. 

Ist  der  Kaiser  ohne  Hut  zu  seh'n, 

So  bleibt  das  Wetter  meistens  schön. 
Bekannt  ist  auch  in  Nordthüriugen  der  Wetterspruch: 

Treibt  die  Esche  vor  der  Eiche, 

Hält  der  Sommer  grosse  Bleiche; 

Treibt  die  Eiche  vor  der  Esche, 

Hält  der  Sommer  grosse  Wäsche. 

<S.  Nebel.  Fallender  Nebel  1  »ringt  klares,  steigender  regnerisches 
Metter.  Winternebel  bringt  Tauwetter  bei  Ostwind,  Kälte  bei  Westwind. 
Viele  Nebel  im  Herbste  deuten  auf  einen  schneereichen  Winter.  Hundert 
Tage  nach  einem  Märzennebel  treten  Regen  und  Gewitter  ein.  Bei  dicken, 
schweren  und  ungesunden  Nebeln  sagt  man  wohl,  es  habe  jemand  ein 
gewisses  Gefäss  ausgeschüttet.  Nebelregen  (Neffentau)  im  Juni  verdirbt 
<li<-  Bhiten  der  Erbsen  und  Bohnen  und  schadet  dem  Getreide  und  den 
Kartoffeln.  Den  Höhenrauch  nennt  man  ebenfalls  Nebel,  sein  Auftreten 
deutet  auf  trockene  Luft  und  schönes  Wetter. 

it.  Reif,  Schnee  und  Eis.  „Der  Reif  wird  wieder  abgewaschen", 
saut  der  nordthüringei-  Landmann.  d.  h.  nach  eintretendem  Reif  wird  bald 


234  Eeichhardt: 

Regen  folgen.  —  \\'('iiii  es  schneit,  so  sagt  niati:  Die  Mutter  Maria  liat 
ihr  Bett  zerrissen  oder  macht  ihr  Bett.  Audi  die  Frau  Holle  lässt  schneien. 
Sit>  schüttet  ihre  Betten  aus,  davon  die  Flockini  in  der  Luft  fliegen.  Der 
Februar  heisst  auch  Weihernionat  oder  alter  AVeibernionat,  denn  beim 
Februarschnee  heisst  es  im  Volksglauben:  Die  alten  Weiber  schütteln  ihre 
Pelze  oder  ihre  Betten  aus,  oder  wettern  die  Betten  aus.  Fallen  i'(^c]it 
grol)e  Flocken,  so  sagt  man:  „Jetzt  schneit's  für  die  Reichen".  b(d  kleinen 
Flocken  schneit's  für  die  Armen.  Wenn  zwischen  Weihnachten  und  Neu- 
jahr grosse  Schneeflocken  fallen,  so  sterben  im  nächsten  Jahre  v^orzüglich 
alte  Leute,  fallen  kleine  Schneeflocken,  so  sucht  der  Tod  vorzüglich  junge 
Leute  heim.     Beim  Schneetreiben  hat  man  auf  lange  andauernden  Schne(> 

zu  rechnen : 

Treibeschnee 

Ist  Bleibeschnee; 

Liegt  er  erst  drei  Tage, 

So  liegt  er  auch  drei  Wochen. 

Am  1.  ]\[ai  ziehen  die  Hexen  auf  den  Brocken  auf  Ofengabeln  und 
Besen;  mit  letzteren  kehren  sie  den  Schnee  vom  Brocken-Gipfel.  Ist  diestM- 
im  Herbst  zum  erstenmale  mit  SchiUK*  bedeckt,  so  sagt  der  Nordthüringer: 
Der  Brocken  hat  seine  Nachtmütze  aufgesetzt.  Märzenschnee  thnt  der 
Saat  weh.  Wenn  das  Evangelium  vom  3.  Sonntage  nach  Epiphanias  in 
der  Kirche  verlesen  wird,  so  pflegt  man  hier  zu  Lande  nacli  -einen  An- 
fangsworten zu  sagen:  „Der  Herr  kommt  vom  Berge  herab,  die  (.iewalt 
von  Schnee  und  Eis  ist  gebrochen."  St.  Dorothee  (6.  Fel»r.)  bringt  den 
meisten  Schnee.  Es  ist  kein  April  so  gut,  er  beschneit  dem  Ackermann 
den  Hnt.  Schneefall  auf  Baumblüte  lässt  rei(dn'ii  Obstsegen  erhoffen.  St. 
Uallen  (16.  Okt.)  lässt  Schnee  fallen.  Die  Schäfer  treiben  so  lange  ihre 
Herden  aus,  bis  der  „weisse  Mann"  oder  der  Mann  „mit  dem  W(Mssen 
Barte"  kommt. 

St.  Martin  kommt  nach  alten  Sitten 

Zumeist  auf  einem  Schimmel  geritten. 

Weihnachten  grün  und  ohne  Eis, 
Wird  Ostern  gerne  rauh  und  weiss; 
Liegt  aber  Schnee,  ist's  kalt  und  klar, 
Giebt's  Frucht  und  Wein  im  nächsten  Jahr. 

Liegt  Schnee  dranssen,  so  dürfen  nach  dem  Hohensteinschen  Aber- 
glauben die  Mütter  ihre  Kinder  nicht  entwöhnen,  weil  diese  sonst  früh- 
zeitig weisses  Haar  bekomnuMi   sollen. 

10.  Wind  und  Wetter.  Wenn  in  einem  Hause  grosse  Wäsche  statt- 
flndet,  müssen  alle  Faniiliengliechn-  freundliche  Gesichter  zeigen,  damit 
das  Wetter  gut  bleil)e.  „Reine  Schüssel  zu  machen",  damit  das  Wetter 
gut  wird,  ist  eine  stehende  Aufforderung  der  Hansfrau.  Wenn  die  Fran 
des  Manni^s  Hose  wäscht,  wird  das  AVetter  schön.  Das  AVetter  ändert  sich 
gern  am  Freitage;  wie  der  Freitag  sich  gestaltet,  so  wird  der  Sonntag  s(dn. 


Volksastroiiomie  und  Volksmeteorologie  in  Novdthüriugeu.  235 

Wind  imd  stürmisches  Wetter  giebt  es,  wenn  die  Schafe  auf  der  AVeide 
lebhaft  umherspringen,  die  Böcke  sich  stossen,  das  Vieh  auf  dem  Fehle 
unruhig  wird.  W^enn  der  Wind  ein  Roggenfeld  wolkenartig  bewegt,  so 
sagt  man:  Es  sind  wilde  Sauen  im  Korn.  Wenn  in  der  Christnacht  die 
Bäume  „sich  rammeln",  d.  h.  der  Wind  sie  heftig  hin  und  her  wnrft,  dann 
tragen  sie  im  nächsten  Jahre  viel  Obst.  AV^eht  der  AVind  nicht,  so  muss 
man  in  den  Garten  gehen  und  die  Bäume  fleissig  schütteln. 

Dass  die  Richtung  des  Windes  von  wesentlichem  Einfluss  auf  die 
\Mtterung  ist,  lehrt  die  Meteorologie,  aber  auch  der  Volksmund  weiss  die 
nach  dieser  Richtung  gemachten  Erfahrungen  auszulegen.  In  der  Graf- 
schaft Hohenstein  haben  die  AVinde  besondere  Namen.  Der  von  Nord- 
westen aus  der  Gegend  des  Ravenberges  wehende  Wind  heisst  Ravens- 
herger,  der  Nordwind  ßrockenwind,  der  scharfe  Ostwind  „Stoiberger  Zain- 
schinger,  d.  i.  Ziegenschinder,  der  Südost  Saalwind,  der  Südwind  ünterluft, 
der  Südwestwind  Schneckenkehrer,  Regen-  und  Tauwind.  Vom  AVest- 
winde  heisst  es  oft,  er  wehe  „plud(Terig",  auch  nennt  man  ihn  und  den 
Südwestwind  wohl  „verkehrten"  Wind,  der  den  Rauch  nicht  aus  den 
Schornsteinen  lässt  und  Regen  verheisst.  Geht  der  Wind  durch  Nord 
nach  Ost,  so  bleibt  er  stehen,  geht  er  aber  durch  Süd  nach  Ost,  so  springt 
er  bald  zurück.  AVie  der  NN'ind  am  Quatember  steht,  so  bleibt  er  vor- 
herrschend das  ganze  A^ierteljahr.  Wenn  um  Michaelis  die  Nord-  und 
Ostwinde  wehen,  so  giebt's  einen  kalten  AVinter.  Die  AVitterung  des 
ganzen  Jahres  wii-d  in  der  Zeit  der  ,, heiligen  Zwölf"  bestimmt  und  zwar 
in  der  Weise,  dass  jeder  Tag  der  Zwölf  die  Witterung  eines  Monats  vor- 
aussagt: der  "25.  Dezember  für  den  Januar,  der  26.  Dezember  für  den 
Februar  u.  s.  w.  Ein  wichtiger  Tag  fiir  die  Volkswitterungskunde  ist  St. 
A'incent  (22.  Januar),  denn 

Wie  das  Wetter  am  Vincent  war, 

So  wird  CS  sein  im  ganzen  Jahr. 

Vincenz  Sonnenschein  verheisst  viel  Korn  und  AV^ein.  Dahin  gehören 
ferner  der  Medardustag  (S.Juni)  und  Ägidiustag  (1.  Se])t.).  Das  AVetter  des 
April  ist  durch  seine  Unbeständigkeit  sprichwörtlich  geworden:  Der  April 
macht's,  wie  er  will;  der  April  kann  narren,  wen  er  will.  Der  gottes- 
fiirchtige  nordthüringische  Landmann  stellt  aber  über  alle  AVetterprognosen 
der  Meteorologie  und  alle  A^olkswetterregeln  das  alte  Sprichwort:  ,,Den 
Kalender  maclien  die  Mänder  (Männer),  aber  das  AA'etter  der  liebe  Gott." 

Rotta  bei  Kemberg. 


286  Sieger: 


Nichtdeutsche  Marterln. 

Von  Prof.  Dr.  Robert  Sieger  in  Wien. 

Das  Wort  „Marter^'  hat  in  bildlicher  Anwendimg  die  allgemeine  Be- 
deutung eiues  Kreuzes,  Cruzifixes  oder  Christusbildes,  also  jedes  Erinnerungs- 
zeichens an  die  Leiden  des  Heilandes  angenommen.*)  Das  Diminutiv 
„Marterl"  aber  wird  von  den  Einheimischen  in  katholischen  Alpengegenden 
Österreichs  fast  ausschliesslich  in  einem  abweichenden,  aber  scharf  begrenzten 
Sinne  angewendet  zur  Bezeichnung  von  kleinen  Gedenktafeln  eines 
Unfalles,  die  sich  an  der  Unfallstelle  selbst  oder  dem  ihr  nächst- 
liegenden Wege  befinden  und  in  eine  bildliche  Darstellung  des  Ereig- 
nisses, sowie  eine  Inschrift  sich  gliedern.  AVir  sind  berechtigt  und  ver- 
pflichtet, das  Wort  nur  in  diesem  konkreten  Sinne  in  der  Wissenschaft 
anzuwenden  und  die  Ausdrucksweise  vieler  Touristen  und  Stadtleute  abzu- 
lehnen, welche  jedes  .,Bildstöckr%  jede  „Totenrast^^  oder  kleine  Kapelle 
mit  dem  Namen  „Marterl"  belegen  und  diese  Unklarheit  des  Ausdrucks 
im  Gebirge  selbst  einbürgern.  Die  angegebene  Definition  ist  jedoch  nicht 
pedantisch  festzuhalten,  da  Übergänge  zu  anderen  Arten  von  Gedenkmaien 
nicht  fehlen  und  von  den  charakteristischen  Bestandteilen  der  „Marter- 
taferhr^  —  das  sind  a)  Bild.  1.  himmlische  Personen,  2.  irdischer  Vorfall. 
3.  (eventuell)  arme  Seelen'im  Fegefeuer,  b)  Inschrift.  1.  Schilderung  des 
Unfalls,  2.  Reflexion  und  3.  Bitte  um  Gebet")  —  der  eine  oder  andere 
fehlen  kann,  ohne  dass  der  allgemeine  Typus  dabei  verloren  geht. 

Das  Vorkommen  der  Marterln  ist  gewöhnlich  scharf  abgegrenzt  gegen 
solche  Gebiete,  in  denen  sie  durch  andere  Geilenkzeichen  an  Unglücks- 
stätten vertreten  werden,  wie  Kreuze  und  Kreuzsteine.  Da  es  sich  um 
eine  geographisch  und  möglicherweise  ethnographisch  begrenzte 
Eigentümlichkeit  handelt  und  eine  Prüfung  der  herrschenden  Auf- 
fassung wünschenswert  ist,  welche  ohne  weiteres  in  den  Marterln  eine 
bajuwarische  oder  doch  deutsche  Sitte  erblickt,  ist  auch  eine  genaue 
Feststellung  der  Grenzen  ihres  Vorkommens  überhaupt,  sowie  der  Ver- 
breitung ihrer  einzelnen  Typen  wünschenswert.  Kur  als  vorläufige  Mit- 
teilungen und  insbesondere  als  Anregungen  zu  systematischem  Sammeln 
sind    eine  Anzahl   von   kleinen  Aufsätzen  und  Notizen  anzusehen,    die  ich 

1)  Beiiecke-Müller,  Mittelhochdeutsches  Wörterbuch,  II,  1,  83  a,  marter  2  (=  Kreuz)  und 
martel.  M.  Eysu,  Ztschr.  f.  österr.  Volkskunde,  TIL  69  und  A.  John,  ebenda  80  („Kreuz 
und  Marter"),  v.  Hörmann,  Wanderungen  in  Tir.d  199  (Christusbild,  das  von  brennendeu 
Kerzen  umgeben  das  „hl.  Grab"  vertritt).  „An  der  Marter"  Flurname  bei  Stadt  Priesen  in 
Böhmen,  Generalstabskarte  Z.  4  C.  IX. 

2)  Sieger,  Mitteil.  d.  Dtsch.  u.  Österr.  Alpenvereins  1897,  39f.,  Zeitschr.  f.  österr.  Volks 
künde  III,  19 f. 


iNichtdeutsche  Marterln.  237 

in  der  Zoitschrift  für  österr.  Volkskunde^)  veröffentlicht  habe.  Es  ergab 
sich  das  Hinausgreifen  der  Marterln  aus  den  Alpen  über  das  ganze  deutsche 
Alpenvorland  bis  in  den  Schwarzwald  und  in  die  Randgebirge  Böhmens, 
iusbesondere  aber  auch  ihr  Hinausgreifen  über  die  deutsche  Sprach- 
grenze auf  italienischen  Boden.  Hierzu  fügte  W.  Hein  den  Nachweis 
ihres  Vorkommens  im  cechischen  Mähren^)  und  neuerdings  bestätigt  mir 
Herr  Mil.  -  Lehrer  Hofmann  in  Fischau  (N.-Österr.)  das  Auftreten  von 
Marterln  in  seiner  Heimat  im  niährisch-schlesischen  Gesenke.^)  Im  Sommer 
1S98  endlich  konnte  ich  eine  grössere  Anzahl  slovenischer  Marterln 
sammeln.  Im  folgenden  soll  nur  von  den  nichtdeutschen  Marterln  im 
Süden  der  Alpen  die  Hede  sein. 

Die  italienischen,  die  ich  a.  a.  0.  bereits  näher  besprochen,  scheinen 
in  iln-er  Verbreitung  auf  das  Eindringen  der  Sitte  aus  deutschem  Gebiete 
hinzuweisen.  Man  findet  sie  in  Kegionen,  wo  deutscher  Einfluss  wirksam 
war,  im  Primör,  Fassathal,  Gröden,  an  der  Mendel;  sie  werden  im  Adamello- 
gebiete.  der  Valsugana  und,  wie  ich  nun  hinzufügen  kann,  in  Teilen  Priauls 
durch  einfache,  meist  inschriftlose  Holzkreuze  an  der  Unfallstelle,  in 
anderen  Teilen  der  Welschtiroler  Alpen  durch  steinerne  Gedenktafeln  und 
dergl.  ersetzt.  Dagegen  fand  ich  1898  bei  einer  Wanderung  über  den 
Pleckenpass  von  Kärnten  nach  Friaul  nur  ein  einziges  Marterl,  auf  der 
Kärntnerseite  des  Passes,  dieses  jedoch  italienisch.  Die  Malerei  (eine 
Landschaft    mit   einer  Toten)   war  schwer  kenntlich,    die  Inschrift  lautete: 

Domenica  Morocutti  di  Tausia,  d'anni  42 

moriva  sul  Monte  Valentina  addi  14  Gennajo 

1869  ed'ogata  dall'  inteniperie.     Fregate 

pace  all  anima  sua.     0.  C.  F.  F.  1869. 

Da  Tausia  bei  Ligosullo  östlich  von  Paluzza  im  S.  des  Passes  liegt, 
hoffte  ich  nunmehr  in  dem  deutschen  Sprachinselchen  von  Tischlwaiig 
(Timau)  ebenfalls  Marterln  zu  finden.  Statt  dessen  traf  ich  dort  überall 
die  schmucklosen  Holzkreuze  ohne  Inschrift,  selten  mit  einer  eingeschnittenen 
Jahreszahl.  An  dem  Passwege  bei  der  Örtlichkeit,  die  man  in  Tischlwang 
„am  alten  Markt"  nennt,  ist  ein  kleines  Eisenkreuz  mit  drei  Querarnien 
aufgestellt:  in  den  frischen  Lackül)erzug  des  längsten  Querarmes  ist  „147P' 
und  „1898  K"    eingekratzt.     Nach  Herrn  Mattiz   in  Timau  sind  hier  1471 


V  I.  292ff.,  H.  ^)5,  383f.,  III.  19f.  (Fragebogen).  127 f.,  304ff.  —  Abbildungen  von 
Marterln,  die  den  Bildstöckl-Typus  zeigen,  s.  Ztschr.  d.  D.  u.  Ost.  Alpenvereins  1898,  145 
(A.  Kubier). 

2)  Zeitschr.  f.  österr.  Volkskunde  III,  288. 

3}  Er  sah  sie  dort  1876  deutscn  und  cechisch  als  Wegkreuze  mit  Bild  und  Inschrift, 
namentlich  „gegen  den  Kreuzberg  zu".  Herr  Prof.  W.  Boguth  schrieb  mir  1898,  dass  in 
Braunsdorf  l)ei  Jägerudorf  ein  ganz  typisches,  deutsches  (nicht  mehr  vorhandenes)  Marterl 
sich  befand,  so  viel  ihm  als  geborenem  Braunsdorfer  erinnerlich,  das  einzige.  Der  Wald- 
besitzer hatte  längere  Zeit  in  Tirol  gelebt,  es  läge  also  hier  unmittelbare  Übertragung 
der  Sitte  vor. 


288  Sieger: 

drei  Holzknechte  umgekoiiiineii.  Das  ist  wohl  ein  Beweis,  dass  in  diesem 
dentschen,  von  Kärntnern  und  Kraiuern  besiedelten  Winkel  von  Friaul  die 
Sitte  der  Marterln  schon  vor  längerem  nicht  üblich  war.  Die  grosse  Armut 
der  Bevölkerung  mag  beigetragen  haben,  sie  zu  beseitigen,  wenn  die  Ein- 
wanderer sie  überhaupt  mitbrachten.  Da  auch  auf  der  Kärntner  Seite  des 
Passes  alle  deutschen  Marterln  fehlen,  so  ist  das  vorerwähnte  isolierte 
Vorkommen  einer  italienischen  Tafel  auf  derselben  gewissermassen  als  ein 
„versprengtes"  anzusehen. 

Ganz  eigentümlich  aber  ist  das  massenhafte  Vorkommen  slovenischer 
Marterln  in  Oberkrain,  über  welches  bisher  in  der  Litteratur  keine  Daten 
vorlagen.  Obwohl  Südkärnten  an  Marterln  sehr  arm  ist,  glaube  ich  aus 
der  Verbreitung  der  slovenischen  Marterln  ebenso  wie  aus  ihrer  besonderen 
Armseligkeit  und  Einförmigkeit  bei  grosser  Zahl  doch  die  Vermutung  ab- 
leiten zu  dürfen,  dass  der  Brauch,  sie  aufzustellen,  aus  Kärnten  über  die 
Pässe  nach  Krain  eindrang.  Ich  habe  sie  an  der  Ratschacher  Höhe  (Save- 
quelle),  dem  Wurzenpass,  Loibl  und  Seebergsattel  verfolgt.  An  der  Rat- 
schacher Höhe  ist  das  erste  Krainer  Dorf,  Weissenfeis,  noch  deutsch. 
Hier,  in  Greuth  und  Weissenfeis  selbst,  fand  ich  drei  alte,  recht  undeut- 
liche, deutsche  Marterln,  deren  eines,  das  ziemlich  knappgehaltene  für 
.,Aggness  Frauzin-'  die  Jahreszahl  1776,  ein  anderes  die  Zahl  1799  trägt. 
Die  Verunglückten  haben  auf  ihnen  rote  oder  schwarze  Kreuzchen  als 
Kennzeichen  über  dem  Haupte  —  ich  nenne  diese  der  Kürze  halber 
„Totenkreuze"  — ;  als  Vertreter  der  Heiligenwelt  treten  drei  verschiedene 
Marientypen  (Madonna,  Pietä,  Maria  das  Cruzifix  anbetend)  auf.  Der 
Unfall  ist  jedesmal  dargestellt.  Oberhalb  Weissenfeis  betrat  ich  die  Strasse 
erst  wieder  beim  Bahnhofe  Ratschach-Weissenfels  und  nun  begann 
die  Reihe  slovenischer  Marterln,  die  meine  Begleiter  bis  Ober- Würzen 
und  am  Südabhange  der  „Würzen"  blieben.  Ich  zählte  auf  dieser  Strecke 
ihrer  15.^)  Es  sind  durchaus  Holztafeln,  meist  an  einem  grossen  Holz- 
kreuze befestigt,  zum  Teil  auch  an  Kapellenwänden  angebracht.  In  letzterem 
Falle  finden  sich  zumeist  mehrere  beisammen,  so  z.  B.  vor  dem  Thore  des 
Kirchhofes  von  Oberwurzen  (Podkoren)  drei  Tafeln,  von  denen  zwei  (11 
und  13)  sich  auf  solche  Verunglückte  beziehen,  die  weit  draussen  —  „in 
Steiermark"  und  „in  Kärnten"  umkamen.  Ebenso  ist  ein  Marterl  (5)  für 
einen  im  Weissenfelser  See  Ertrunkenen  mit  einem  anderen  an  einer 
Kapelle  am  Westende  von  Ratschach  vereinigt.  Wir  sehen  hier  die  Grenz- 
linie zwischen  Marterln  und  blosser  Erinnerungstafel  verwischt;  ebenso 
möchte  ich  vermuten,  dass  die  fast  unleserliche  Tafel  (3)  an  einer  Kapelle 
bei  Ratschach  sich  auf  dasselbe  Ereignis  bezieht,  wie  die  grosse  Gedenk- 
tafel am  Unglücksorte  inmitten  des  Dorfes  (7).  Solche  Häufigkeit  der 
Übertragung  von  Marterln  an  nahgelegene  Andachtstätten,    bezw.    der  Er- 


1)  Im  folgenden  mit  1—15  bezeichnet. 


Nichtdeutsche  Marterln.  239 

richtmig  von  Tafeln  für  auswärts  Verunglückte  an  solchen  Stellen  zeigt, 
dass  hier  der  tiefe  Gedanke,  an  der  Unheilstätte  selbst  den  Wanderer  der 
Vergänglichkeit  alles  Irdischen  zu  mahnen,  in  den  Hintergrund  tritt,  während 
auf  unseren  deutschen  Marterln  gerade  dieses  Moment  oft  in  ergreifender 
Weise  betont  wird,  und  dass  der  Wunsch,  durch  die  der  Örtlichkeit  an 
sich  innewohnende  Heiligkeit  gleichsam  Gebete  zu  profitieren,  stärker 
hervortritt,  als  anderw^ärts.  wo  er  doch  nicht  völlig  fehlt.  Man  mag  darin 
einen  Hinweis  erblicken,  dass  die  Sitte.  Marterln  zu  errichten,  hier  jung, 
mehr  äusserlich  übernommen,  als  innerlich  erfasst  sei.  Doch 
spricht  es  gegen  solche  Auffassung,  dass  (wie  mir  der  eifrige  Sammler 
Herr  Hans  Schnetzer  in  Kufstein  mitteilt)  auch  im  bayrischen  Inngebiete. 
wo  die  Marterln  sicherlich  seit  langem  zu  Hause  sind,  marterlartige  Gedenk- 
tafeln an  Friedhöfen,  Kirchen  und  Kapellen,  namentlich  für  Ertrunkene, 
sehr  üblicli  sind.  Hier  wie  dort  dürften  sie  einen  Ausweg  der  Pietät  in 
Fällen  darstellen,  in  welchen  die  Errichtung  eines  eigentlichen  Grab- 
denkmals für  den  in  der  Ferne  begrabenen  oder  gar  nicht  gefundenen 
Toten  unthunlich,  die  Unfallstelle  selbst  aber  <len  Angehörigen  zu  ent- 
legen war. 

Auffallend  ist  die  Trockenheit  und  Gleichförmigkeit  der  Inschriften, 
während  auf  das  Bild  meist  mehr  slavische  Farbenfreudigkeit,  als  zeich- 
nerische Sorgfalt  verwendet  wurde.  In  den  Inschriften  fehlt  jeder  höhere 
Schwung,  ja  jede  Betrachtung,  sie  sind  rein  formelhaft.  Am  höchsten  steht 
noch  diejenige  (7)  eines  ungewöhnlich  grossen,  etwa  1  m  hohen  und  7,i  "' 
breiten  Bildes  inmitten  von  Ratschach.  Es  zeigt  drei  Heilige,  links  Johannes 
den  Täufer,  in  der  Mitte  unter  dem  Auge  Gottes  und  Engelsköpfeu  den 
Johann  von  Nepomuk,  rechts  wohl  Petrus.  ^)  Darunter  sind  viele  Menschen 
mit  der  Ausgrabung  Verschütteter  beschäftigt.  Der  Text  lautet:  Skosi 
nadloge  tega  sivljena  snio  mi  poklizani  od  Gospoda;  Kir  on  nam  pravi 
pridte  vi  brumni  inu  svesti  |  hlapci  v  sivlejne  moje  kir  jest  vam  imam  se 
od  vekoma  perpraulenu.  Tudi  usi  memgredioci  Bratje  ino  |  Sestri  prosmo 
mi  vas  molite  ino  prosite  Gospoda  sa  nas,  tudi  mi  bomo  sa  use  vas.  | 
Tukej  so  bli  nesrecni  Janes  Petric,  Janes  Kavalar,  inu  Peter  Benet,  ta 
:i  dan  Susce  1852.  —  d.  h.  „Durch  die  Unglücksfälle  dieses  Lebens  sind 
wir  vom  Herrn  abberufen  worden,  denn  er  sagt  uns:  „Kommet,  ihr  frommen 
und  treuen  Knechte  in  mein  Leben,  welches  ich  schon  von  Ewigkeit  für 
euch  bereitet  habe."  Auch  euch  alle  vorübergehenden  Brüder  und  Schwestern 
bitten  wir,  betet  und  bittet  Gott  für  uns.  auch  wir  werden  für  alle  (beten). 
Hier  verunglückten  Joliann  Petric,  Johann  Kavalar  und  Peter  Benet  am 
;}.  März  1852."^) 


1)  Reste  der  Namen  und  Ähnlichkeit  der  Abbildungen  lassen  vermuten,  dass  auf 
dasselbe  Ereignis  sich  die  stark  verblasste  Tafel  (3)  beziehe,  in  der  neben  Nepomuk  Petrus 
mit  dem  Hahn  und  der  Täufer,  die  Namenspatrone  der  drei  Gestorbenen,  unverkennbar 
sind.     Sie  trägt  die  Jahreszahl  1853. 

2)  Die  Übersetzung  der  nur  selten  korrekt  geschriebenen  Texte  danke  ich  Hrn.  F.  Lex. 


-240  Sieger: 

Die  anderen  Alarterln  beginnen  mit  ,,8pomin  (auch  tukej  je  spomin, 
in  4  tukej  je  snanile)  rajnciga  X.  N.''  d.  h.  ,, Andenken  (oder  „hier  ist 
das  Andenken,  hier  ist  der  Bildstock'')  des  verstorbenen  N.  N/'  Dann 
wird  in  einem  Relativsatz  der  Unfall  mitgeteilt,  meist  auch  das  Alter  des 
Yerunglückten.  das  jedoch  einmal  (4)  ganz  am  Schlüsse  nachgetragen, 
einmal  (13)  ins  Bild  selbst  ül)er  den  Kopf  des  Opfers  hineingeschrieben 
isr.  Und  dann  folgt  die  Öchlussformel:  ,.prosim  uas  mimo  gredoceja  sa  en 
ocenas  in  cesena  Marija  sa  moja  uboga  dusa  (oder  za  njegovo  duso). 
,.Ich  bitte  euch  Vorübergehende  um  ein  Vaterunser  und  ein  Avemaria  für 
meine  arme  (seine)  Seele.'-  Die  Varianten,  d.  h.  Bezeichnung  der  Vorüber- 
gehenden als  Pilger  (romarje)  in  No.  4  o<ier  als  Wanderer  (15),  die  Er- 
setzung des  ,, Vaterunser  und  Ave"  durch  eine  allgemeinere  Wendung  (Bitte 
um  Gebet)  in  No.  6  und  15  u.  dergl.,  sowie  die  Einschiebung  des  Satzes 
..Gott  gebe  ihm  das  ewige  Licht"  oder  „Gott  gebe  ihm  den  ewigen  Frieden 
und  Ruhe!''  in  No.  8  und  5  sind  so  gering,  dass  man  hier  wohl  von  einer 
feststehenden  Formel  der  Texte  sprechen  kann. 

Die  Bilder  sind  mannigfacher  und  individueller,  selbstredend  in  der 
meist  sehr  unbeholfenen  Darstellung  des  Unfalles,  aber  auch  in  der  Ver- 
wendung verschiedener  Heiliger.  Vorherrschend  ist  jedoch  entschieden  der 
l'ruzifixus  mit  zwei  (einmal  drei)  heiligen  Frauen  (1,  4,  6,  12,  13,  14,  15); 
daneben  erscheinen  die  Dreifaltigkeit  ('2),  Dreifaltigkeit  mit  Maria  (8), 
Gott  Vater  (5),  eine  grössere  Heiligengruppe  (9),  dann  die  Namens- 
patrone (3  und  7  s.  oben,  Josef  in  9,  Simon  in  11);  einmal  ist  St.  Anna 
iils  Namenspatronin  nur  im  Schutzdache  des  Marterls  dargestellt  (4).  Die 
Brettchen  dieser  Schutzdächer  sind  durchaus  an  den  Innenseiten  bemalt, 
meist  mit  Blumen  in  recht  bunten  Farben,  mitunter  tragen  sie  auch  Al)- 
bildungen  Gott  Vaters,  des  „Auges  Gottes"  u.  s.  w.,  in  einem  Falle  (11) 
eine  kürzere,  deutsche  Inschrift,  während  die  slovenische  unter  dem  Bild 
steht.  ^)  Dies  Bemalen  des  Schutzdaches  ist  keine  slavische  Besonderheit; 
so  sah  icli  es  auf  dem  Marterl  des  J.  Schifer  v.  J.  1879  in  Renuweg  im 
Lieserthal  u.  a.  —  Vom  Bild  sei  noch  bemerkt,  dass  die  Verstorbenen 
hier  durchaus  schwarze  Totenkreuze  tragen  und  dass  in  einem  Falle  (5) 
der  Maler  das  Bild  unterzeichnet  hat.  Irgend  eine  bestimmte  als  slavisch 
anzusprechende  Besonderheit  fehlt;  doch  ist  in  der  grellen  Farbengebung 
ein  Unterschied  von  den  Marterln  anderer  Gebiete  fühlbar. 

Während,  wie  erwähnt,  die  Weissenfelser  deutschen  Marterln  alt 
sind,  die  Sitte  dort  auszusterben  scheint,  ist  das  älteste  slovenische 
Täfelchen,  das  ich  hier  sah,  1843  entstanden;  zwei,  wohl  auf  dasselbe  Er- 
eignis bezüglich,  stammen  aus  den  Jahren  185'2/53,  die  anderen  sind  jünger. 
Die  Sitte  ist  also  in  lebendiger  Übung  bei  den  Slovenen;  ich  halte  sie, 
wie    erwähnt,    hier    für   jung    und    mehr    äusserlich   übernommen,    als  im 


Ij  Doppelspi-achig  (deutsch-italienisch)  ist  auch  ein  Marterl  auf  der  Seiser  Alp. 


Nichtdeutsche  Marterln.  241 

Volksgemüt  eingewurzelt.  Die  grosse  Zahl  der  Marterln  bei  mangelnder 
Individualität  scheint  dies  zu  bestätigen,  ebenso  die  meist  geringe  Sorgfalt 
in  ihrer  Ausführung  und  der  Umstand,  dass  verfallende  Tafeln  nicht 
restauriert  werden.  Wenigstens  linden  wir  nirgends  ein  Renovierungsdatum 
vermerkt  und  auch  am  Ijoibl  und  Seeberg  fand  ich  ein  solches  unter  '2Q 
beobachteten  AFarterln  nur  ein  einziges  AFal  (Loibl  No.  8  aus  1853,  renov. 
1892). 

Auch  hier  ist  das  benachbarte,  sprachlich  gemischte  Gebiet  marterlarm. 
Ich  sah  kein  Marterl  auf  dem  Wege  von  Klagenfurt  bis  zum  „kleinen 
Loibl".  Erst  dort  finden  wir  das  slovenische  Marterl  des  Ignac  Oraze 
1882  (1)  neben  der  Strassen-Inschrift  von  1615,  dann  folgt  bei  der  Teufels- 
brücke das  deutsche  Marterl  des  1809  verstorbenen  J.  Pecz  aus  Gottschee 
(2)  mit  gotischer  Schrift.  Von  da  sah  ich  auf  der  Strasse  über  den  Loibl 
nach  Neumarktl  noch  13  weitere  Marterln  (3—15),  davon  6  ohne  Inschrift. 
Das  eine  oder  andere  der  letzeren,  das  nicht  recht  deutlich  ist,  mag  auch 
bloss  ein  Votivbild  sein.  Den  weiteren  Weg  (von  Neumarktl  nach  Krain- 
burg)  legte  ich  abends  im  Wagen  zurück,  ging  aber  von  Krainburg  an 
der  Save  zu  Fuss  über  den  Seeberg  nach  Eisenkappel.  Da  fand  ich 
7  km  von  Krainburg  noch  ein  Gedenkkreuz,  9  kit)  von  Krainburg  am  Ge- 
birgsrande  aber  das  erste  Marterl  (16),  dann  folgten  bis  Eisenkappel  noch 
zehn  w^eitere,  meist  sehr  zerstörte,  von  denen  möglicherweise  das  letzte 
keine  Inschrift  besessen  hatte.  Die  anderen  alle  Hessen  Spuren  einer 
Inschrift  erkennen.  Auf  die- Nordseite  des  Loibl  entfallen  No.  1 — 9,  auf 
jene  des  Seebergs  23 — 26. 

Das  völlige  Fehlen  der  Inschrift  stempelt  eine  Anzahl  von  Marterln 
(4,  7,  10,  13,  14,  15)  hier  zu  blossen  Gedenkbildern;  es  ist  für  diese 
Gegend  kennzeichnend.  In  deutschen  Gegenden  fehlt  eher  das  Bild,  wie 
z.  B.  auf  der  Tafel  für  Friedrich  Mitterer  bei  Reichenau  im  Winkel  oder 
für  Martin  Kreil  in  Tweng;  doch  kenne  ich  bei  Tweng  am  Radstädter- 
Tauern  auch  ein  Marterl  ohne  Text  und  ohne  Jahreszahl.  Bei  den  slove- 
nischen  Marterln  ohne  Text  ist  dagegen  in  der  Regel  die  Jahreszahl  bei- 
gesetzt. Bild  und  Jahreszahl  ersetzen  hier  den  Bericht.  Aber  auch  wo 
dieser  gegeben  ist,  ist  er  am  Loibl  und  Seeberg  überaus  knapp,  noch 
kürzer,  als  am  Save-Ursprung:  es  heisst,  wie  in  No  2:  „Hier  ist  Joseph  Pecz 
von  Gottschee  47  Jahre  |  alt  .  .  .  .  15.  Ju  .  .  1809  in  Gott  verschieden",  so 
in  den  slovenischen  Marterln  in  der  Regel  nur:  „N.  N.  tukej  smert  storil" 
(hier  starb  N.  N.)  mit  beigesetzter  Jahreszahl  oder  gar,  wie  in  9:  „18  Neza 
potisk  vsaktir  mimgre  nato  duso  najse  spomene  86"  (Agnes  Potisk.  Ein 
jeder  Vorübergehende  gedenke  ihrer  Seele).  Das  Wie  des  Unfalls  ist  ja 
aus  dem  Bilde  zu  ersehen.  Es  ist  schon  eine  relativ  breite  Darstellung, 
wenn  es  heisst  (No.  6):  Tukej  Seje  Strahov  peter  Vbov  pr(o)si  zanocanas 
t  1883  (hier  hat  sich  der  Peter  von  Strah  erschlagen.  Bittet  um  ein 
Vaterunser!),    oder    (No.  21):    Tukej    Lorenc  Povsner    iz    Kokre  17  dan  |, 


•)42  Sieger: 

Soptenibra  1864  v  vodo  pade"  —  (hier  fiel  Lorenz  Povsner  von  Kanker  den 
17.  Sept.  1864  ins  Wasser).  Daran  schliesst  sich  mitunter  eine  Bitte  um 
(lebet,  wie  in  den  oben  angeführten  Beispielen  und  im  folgenden  (No.  25): 
Prijatel!  Tukaj  je  smert  storil  |  .lakob  Bukovnik,  spomini  se  njegove  duse. 
(Freund,  hier  starb  Jakob  Bukovnik,  erinnere  dicli  seiner  Seele!)  —  Ebenso 
selten  ist  eine  andere  fromme  Wendung:  No.  11:  Yecna  lue  naj  mu  sveti! 
(das  ewige  Licht  leuchte  ihm).  No.  16:  Bog  bodi  milostliv  njegovi  dusi 
(Gott  sei  seiner  Seele  gnädig!).  Sonst  beschränkt  sich  die  Inschrift  auf 
die  Mitteilung  des  Unfalles.*)  Die  meisten  dieser  Inschriften  sind  unter 
oder  neben  dem  Bilde  in  Kursivschrift  eilig  und  nachlässig  in  nichts 
weniger,  als  geraden   Zeilen  hingepinselt. 

Hauptsache  ist  eben  das  Bild.  Neben  der  realistischen  Darstellung 
des  Unfalles  spielen  hier  heilige  Personen  eine  besondere  Rolle,  auf  vielen 
Bildern  ganze  Gruppen  von  Heiligen,  ja  mehrere  Gruppen  oder  gesonderte 
Handlungen.  Besonders  häufig  erscheinen  unter  ihnen  die  folgenden:  eine 
Madonna  mit  langem,  steifem  Kleid.  Zepter  und  Krone  (das  Kind  ebenso 
gekleidet),  die  jener  von  Luschari  ähnlich  ist,  doch  in  den  meisten  Fällen 
das  Kind  auf  dem  rechten  Arme  hält  (4,  5,  19,  20,  26;  mit  Kind  auf  dem 
linken  Arm  17,  18),  daneben  eine  anmutigere  sitzende  Madonna  (2,  16), 
die  Dreifaltigkeit  (14,  16,  Maria  krönend  7),  der  Cruzifixus  mit  Maria  und 
Johannes  (10,  23,  24)  oder  mit  einer  anderen  Gruppe  (25).  Deutlich  erkennbar 
sind  ferner  die  in  bestimmten  Gegenden  verelirten  Kirchenpatrone  und 
Lokalheiligen:  so  erscheint  Leonhard  mit  der  Kette,  bald  als  Priester,  bald 
als  Mönch  dargestellt,  auf  der  iS^ordseite  des  Loibl  (3,  4,  6.  7.  8,  9).  wo 
die  Örtchen  Alt-  und  Neu-St.  Leonhard  von  seinen  Kapellen  benannt  sind: 
Laurentius  mit  einem  Diminutiv-Rost,  ebenfalls  bald  Priester,  bald  Mönch 
in  derselben  Gegend  (3.  4,  7),  doch  auch  sonst  (26);  an  Bildstöckeln  und 
in  Kapellen  findet  man  beide  oft  beisammen.  Im  Bereich  des  Dorfes  St. 
Anna  und  seiner  Wallfahrtskirche  oberhalb  Neumarktl  finden  wir  die  an- 
mutige Darstellung  der  „Mutter  Anna"  mit  der  kleinen  Maria  (11,  12,  13), 
daneben  einnuil  die  hl.  Familie  (13).  Einmal  (8)  ist  Leonhard,  der  Vieh- 
patron, sinngemäss  zusammengestellt  mit  Anton  dem  Schweinepatron 
(Parggentoni),  der  hier  das  Schwein  und  den  Glockenstab  als  Kenn- 
zeichen führt.  iMit  dem  Stab  allein  erscheint  letzterer  einmal  als  Nameus- 
patron  (12),  mit  St.  Urbau  zusammen.  Sicher  als  Namenspatrone  fand  ich 
ferner  dargestellt:  Petrus  (6)  mit  dem  Schlüssel  und  Agnes  mit  dem  Lamm  (9). 
Wenn  die  beiden  Heiligen,  deren  einer  als  Wandersmann,    der  andere  als 

1)  No.  12  unterhalb  des  Juri  Wirtshauses  der  Sp.  K.  in  St.  Annathal  zeigt  gar  nur 
die  Inschrift:  Urhan  Kavar  umeru  12  dan  |  Grudna  1865  in  Anton  Kavar  |  umerl.  8  dan 
Prosinec  1866.  (Urhan  Kavar  f  12.  Dec.  1865  und  Anton  Kavar  f  8.  Jan.  1866.)  Da  es 
auch  kein  Bild  eines  Geschehnisses,  sondern  nur  die  Bilder  der  hl.  Anna  und  der  Namens- 
patrone Urban  (mit  der  Traube)  und  Anton  Einsiedler  (mit  Glockenstab)  zeigt,  ist  fraglich, 
ob  man  es  noch  als  Marterl  ansehen  kann. 


Nichtdeutsche  Marterln.  243 

Kreuzträger  erscheint,  vor  dem  Cruzifixus  in  No.  '2^)  nicht,  wie  ich  an  Ort 
und  Stelle  meinte,  Paulus  und  Petrus,  sondern  Jakobus  und  Philippus 
darstellen  sollten  (was  eine  interessante  Verwechslung  der  beiden  Jakobe 
in  sich  schlösse),  wäre  liier  Jakob  als  Namenspatron  anzusehen,  ebenso  der 
Heilige  mit  dem  Herzen  in  No.  16,  falls  in  ihm  Franciscus  Salesius  zu 
erkennen  ist.  Ein  paar  andere  Figuren  (No.  13  heilige  Nonne,  No.  18 
König  mit  Wage,  No.  2(1  Pabst  oder  Bischof)  kann  ich  nach  meinen  Notizen 
nicht  mehr  identifizieren.  Wir  finden  hier  den  Satz  bestätigt,  dass  neben 
den  eigentlich  lokalen,  für  die  Gegend  charakteristischen  Figuren  allent- 
halben auch  die  Namenspatrone  und  andere  Heilige  in  den  Marterlbildern 
auftreten.  Lokalheilige  und  Patrone  sind  aber  gerade  an  den  besprochenen 
Pässen  in  recht  charakteristischer  Häufigkeit  vertreten. 

Über  den  Inhalt  des  unteren,  die  Unfälle  darstellenden  Biidteiles  und 
seine  Form  lässt  sich  der  Natur  der  Sache  nach  wenig  sagen.  Man  gewinnt 
den  Eindruck,  als  ob  er  für  die  Marterlmaler  an  Wichtigkeit  gegenüber 
den  himmlischen  Figurengruppen  in  den  Hintergrund  getreten  wäre,  doch 
darf  man  sein  völliges  Fehlen  auf  No.  12  nicht  als  Beweis  hierfür  ver- 
wenden (siehe  S.  242  Anm.  1).  Bemerkt  sei,  dass  einmal  ('))  die  Malerei 
auf  die  Innenbretter  des  Schutzdaches  übergreift.  Als  lokale  Besonderheit 
im  Gegensatz  zum  Wurzener  Savethal  ist  das  Fehlen  der  Totenkreuze 
über  den  Köpfen  der  Verunglückten  hervorzuheben;  in  dieser  Hinsicht  kann 
man  auch  stmst  in  den  Alpen  von  Gau  zu  Gau  Verschiedenheiten  bemerken. 

Auch  am  Loibl  und  Seeberg  ist  die  Sitte  des  Marterlsetzens  eine  noch 
lebendige,  ich  traf  die  .Jahreszahlen  ISOO  (4)  und  1801)  (2),  dann  solche 
von  1848—1896. 

Nach  Mitteilung  «ler  Herren  Prof.  Dr.  A.  Hauffen  in  Prag  und  Üocent 
Dr.  M.  Murko  in  Wien,  die  ich  befragte,  sind  Marterln  in  Oberkrain 
überaus  häufig.^)  In  Unterkrain^)  und  auch  im  deutschen  Gott- 
scheer  Lande  fehlen  sie  vollkommen.  Die  von  mir  begangenen 
Wege  stellen  also  nur  einen  Teil  ihres  Verbreitungsgebietes  dar;  wenn  ich 
Eigenheiten  der  slovenischen  Marterln  gegenüber  den  deutschen 
konstatiere,  kann  dies  nur  mit  Reserve  geschehen.  Doch  lässt  der 
Umstand,  dass  die  zwei  Gebiete,  das  der  Thalwasserscheide  am 
Save-Ursprung  und  das  der  Gebirgsthäler  an  den  Karawanken- 
pässen, sehr  deutliche  Verschiedenheiten  zeigen,  die  Annahme 
zu.  dass  das  ihnen  Gemeinsame  auch  noch  für  ein  weiteres  Ge- 
biet gelten  mag.     Solche  Verschiedenheiten  sind,  a))gesehen  von  dem 

1)  Ich  konute  keine  einheimiscbe  Bezeichnung  für  sie  erfahren.  Der  Wirt  zum 
Deutschpeter  am  Loibl,  Herr  Albin  Tschauko,  der  mir  sagte,  sie  seien  über  das  ganze 
Gebirge  verbreitet,  sagte,  man  nenne  sie  einfach  tabla  (Tafel).  Znamenje  (znamle)  s.  S.  240. 

2)  Nach  A.  Müllner  in  der  „Argo"  1895,  S.  53  findet  man  dort  an  Unfallstclleu 
mertvicii  oder  8tein-,  bezw.  Reisighaufen  zum  Gedenken,  auf  die  jeder  Vorbeigehende 
<'inen  neuen  Stein  oder  Zweig  wirft. 


244  Sieger:  Nichtdeutsche  Marterln. 

deutlicheren  Hervortreten  der  Lokalheiligen  in  den  mehr  abgeschlossenen 
Gebirgsthälern  die  verschiedene  Stilisierung  und  die  abweichenden  Formeln 
des  Textes,  die  Verwendung  der  Kursivbuchstaben  und  das  Fehlen  der 
Totenkreuze  am  Loibl  und  Seeberg,  endlich  das  Vorkommen  textloser 
Marterln  in  diesem  Gebiete,  wohingegen  sie  hier  enger  an  die  Unfallstelle 
gebunden  erscheinen,  als  die  Marterln  am  Save-Ursprung.  Gemeinsame 
Züge  aber  sind  vor  allem  die  Kürze  und  der  formelhafte  Charakter  der 
Inschriften  gegenüber  dfenjenigen  in  deutschen  Gegenden,  insbesondere  das 
völlige  Fehlen  der  [dort  bei  aller  Unbeholfenheit  oft  so  rührenden,  oft 
wieder  so  komischen]  Verse,  aber  auch  das  Fehlen  der  Reflexionen,  in 
welchen  das  Gemütsleben  der  Bauern  sich  ausspricht.  Es  fehlt  das  Indi- 
viduelle —  deshalb  tritt  auch  der  Text  gegen  das  Bild  und  innerhalb 
des  Bildes  der  erzählende  Teil,  wenn  ich  so  sagen  darf,  gegen  den  sym- 
bolischen, die  Unfallsgeschichte  gegen  die  Heiligenfiguren  zurück.  Die 
Marterln  sind  daher  auch  hier  weniger  scharf  gesondert  von  anderen  Arten 
religiöser,  zum  Gebet  auffordernder  Darstellung,  als  in  nördlicheren  Ge- 
bieten, sie  sind  sozusagen  nur  eine  besondere  Art  von  Heiligenbilder)i. 
Mit  dem  individuellen  Zug,  mit  dem  Bestreben,  die  eigenen  Reflexionen 
über  das  grosse  Geheimnis  des  Todes  kurz  und  innig  auszudrücken  und 
sie  mit  dem  besonderen  Ereignis  wirksam  zu  verknüpfen,  fällt  aber  für 
den  Verfertiger  der  Gedenktafel  ein  Anreiz  hinweg,  der  ihji  zu  einer 
grösseren  Sorgfalt  der  Arbeit  mitbestimmt.  Die  meist  wenig  sorgsame 
Ausführung  der  slovenischen  Marterln  mag  damit  zusammenhängen.  Ich 
bin  so  kühn,  aus  dieser  mehr  äusserlichen  Aneignung  des  Gehrauches  die 
Folgerung  zu  ziehen,  dass  er  in  diese  Gegenden  relativ  spät  (natürlich  nur 
relativ  spät)  eingedrungen,  im  Volksgemüt  noch  nicht  so  sehr  eingewurzelt 
sei.  Die  geographische  Verbreitung  scheint  dies  zu  bestätigen:  sie  lässt 
erkennen,  dass  er  nicht  etwa  mit  älteren  deutschen  Kolonisten  als  lieb- 
gewonnene Heimatsitte  ins  Land  kam,  sondern  durch  den  Verkehr  über 
die  trennenden  Gebirgsketten  längs  der  Strassenzüge  verpflanzt  wurde. 
Dass  dies  der  Fall  war,  zeigen  wohl  auch  die  Verschiedenheiten  der  Typen 
in  jenem  Gebiete,  in  welchem  dies  Eindringen  nach  meiner  Auffassung  aus 
dem  Kanalthal  und  in  jenem,  in  welchem  es  aus  dem  Rosenthal  erfolgt 
sein  müsste.  Leider  ist  in  diesen  deutschen  und  halbdeutschen  Nachb.ir- 
gebieten  die  Zahl  der  mir  bekannten  Marterln  viel  zu  gering,  die  Sitte  zu 
sehr  im  Erlöschen  begriffen,  als  dass  ich  für  meine  immer  noch  sehr 
hypothetische  Auffassung  Vergleichsobjekte  ^)  anführen  könnte,  die  allein 
Beweiskraft  hätten.  — 

Znsatz:  In  Svenska  Turistföreningens  Arsskrift  1899,  S.  301  finde  ich 
Angaben  über  eine  bei  Oviken  in  Jämtland  (Nordschweden)  vor  kurzem 
noch  vorhanden  gewesene  „Holztafel  mit  eingeschnittenen  Buchstaben'',  deren 

1)  Vgl.  Weissenfelser  Marterl  der  Franzin  und  Loibl  No.  2. 


Bartels:  Ein  Paar  merkwürdige  Kreaturen.  245 

Inhalt  SO  sehr  zum  Yergleich  mit  den  alpinen  Marterln  auffordert,  dass  ich 
sie  hier  mit  der  Bitte  mitteile,  eventuelle  weitere  Analoga  aus  Skandinavien 
bekannt  zu  geben.     Die  in  Majuskeln  geschriebene  Inschrift  lautet: 

Ahr  1809    den    ättonde  dag  uti  Julii  „Im  J.  1809,  den  18.  Tag  im  Juli  starb 

en  man  här  hastigt  döde.    Hans  namn  hier  plötzlich  ein  Mann.     Sein  Name 

det  var  Sven  Bang,  bonde  i  Ovikens  war  Sven  Bang,  Bauer  in  der  Pfarre 

socken  Öfvergärdes  gard.  Oviken  auf  dem  Hofe  Öfvergärd. 

(Zu  singen,  wie: 

sjunges  som:  Ret  hjertelig  jag  längt,  i)  „Recht  herzhch  sehnt'  ich  mich  ..  ") 

Det  sällskap  som  hau  hade  Die  Gesellschaft,  die  er  hatte, 

nur  hau  di'og  vagen  frara  Als  er  zog  den  Weg  fürbass, 

sa  var  det  just  hans  svager  Das  war  gerad  sein  Schwager, 

liäller  hans  systers  man.  Nämlich  sein  Schwestermann, 

de  foro  pa  sin  resa  Die  fuhren  auf  ihrer  Reise 

och  tankte  bege  hem  Und  dachten  beide  heim, 

men  just  pä  detta  stelle  Doch  just  an  dieser  Stelle 

slog  äskan  honom  hjäl.  Schlug  ihn  der  Blitz  zusammM" 

Wir  sehen  hier  die  charakteristische  Gliederung  in  prosaischen  Bericht 
und  betrachtende  Verse.  Der  Hinweis  auf  ein  frommes  Lied  vertritt  die 
Bitte  um  ein  Gebet.  Bild  ist  keines  dabei.  Als  Erinnerungszeichen  ist  bloss 
der  Schädel  des  mit  umgekommenen  Pferdes  an  einem  Baum  befestigt.  Doch 
hat  sich  an  das  Ereignis  eine  Lokalsage  geknüpft,  nach  welcher  Bang  dem 
Gewitterhimmel  die  lästerliche  Aufforderung  zurief,  ihm  die  Pfeife  anzuzünden 
(„eftersom  du  har  sä  godt  om  eld,  kau  du  väl  ock  tända  min  pipa")  und 
dafür  den  Tod  fand. 


Ein  Paar  merkwürdige  Kreaturen. 

Von  Dr.  3Iax  Bartels. 

(Schluss  von  IX,  179.) 


Die  Einwirkungen  der  beiden  Tiere  oder  bestimmter  Teile  derselben, 
welche  ich  bis  jetzt  besprochen  habe,  sind,  wenn  auch  immer  wunderbare, 
so  doch  nur  rein  medikamentöse  gewesen.  Es  sind  Medizinen  im  wahren 
Sinne  des  Wortes,  welche,  wie  alle  anderen  Arzneien  auch,  entweder  zu 
innerlichem  Gebrauche  oder  in  äusserer  Applikation  verwendet  werden. 
Aber  das  genügte  dem  Volksglauben  nicht,  und  so  treffen  wir  auch  auf 
mystische,  auf  übernatürliche  Heilkräfte,  welche  mit  diesen  Tieren  in  Ver- 
bindung gebracht  werden.     Sie  erhalten  die  Bedeutung  von  Anmieten  und 

1)  Diese  Zeile  in  kleinerer  Schrift. 

Zeitschr.  (I.  Vereins  f.  Volkskunde.    1S'.)9.  1' 


•)46  Bartels: 

bestimmte  Teile  von  iliueu  werden  als  Schutz-  und  Heilmittel,  gegen 
gewisse  Leiden  am  Körper  angehäugt,  öffentlich  oder  im  Geheimen  getragen. 
In  Mecklenburg^)  und  in  der  Bayerischen  Pfalz^)  lässt  man  die 
Kinder  Maulwurfszähne  tragen  —  in  der  Pfalz  müssen  es  drei  sein  — 
um  sie  vor  dem  „Gefrais",  den  Zahnkrämpfen,  zu  schützen.  In  Bayern^) 
wird  auch  eine  in  Silber  gefasste  Maulwurfspfote  als  Amulet  angehängt, 
um  den  Kindern  das  Zahnen  zu  erleichtern.  Solche  Anhängsel  zur  Be- 
förderung der  Zahnung  werden  als  Familienheiligtümer  von  einer  Gene- 
ration zur  anderen  aufbewahrt. 

Als  ein  Schutzmittel  gegen  Diphtherie  lassen  die  Sachsen  in  Sieben- 
bürgen*) ein  Beutelchen  am  Halse  tragen,  in  welchem  sich  die  abge- 
schnittenen Yorderfüsse  eines  Maulwurfs  befinden.  Das  gleiche  Mittel  ist, 
wie  Frischbier ^)  berichtet,  in  Ostpreussen  bekannt. 

Die  Amulet- Wirkung  der  Fledermaus  beschränkt  sich,  soviel  ich 
sehe,  in  Deutschland  darauf,  dass  sie  der  Schlafsucht  entgegenwirkt. 

Darum  soll  der  Gamsjager  in  Tirol®)  eine  Fledermaus  bei  sich  tragen, 
dann  bekommt  er  keinen  Schlaf.  Und  so  glaubt  man  auch  in  Schwaben 
und  Franken'),  dass  man  nicht  ruhig  zu  schlafen  vermöge,  „wenn  man 
das  Herz  oder  den  Kopf  einer  Fledermaus  ohne  Wissen  bei  sich  trägt". 
Dieses  in  der  Nacht  ruhelose  Tier  wird  hier  also  mit  dem  Mangel  an 
Schlaf  in  eine  mystische  Verbindung  gebracht,  während,  wie  wir  sahen, 
gerade  ihr  Schmalz  eine  schlafbringende  Wirkung  besitzen  soll. 

Im  nördlichen  Indien  benutzt  man  nach  Crooke^)  einen  Fledermaus- 
knochen als  Amulet.  Man  bindet  ihn  mit  einem  Faden  an  das  Fussgelenk, 
um  sich  vom  Rheumatismus  zu  befreien. 

Abgesehen  von  der  medikamentösen  Wirkung  und  derjenigen  als 
Amulet  stossen  wir  namentlich  bei  dem  Maulwurf  auf  den  Glauben  an 
eine  übernatürliche  Kraft,  welche  einen  Übergang  bildet  von  der  äusserlich 
applizierten  Arznei  zu  dem  wirklichen  Zaubermittel.  Wir  finden  nämlich 
bei  einer  Anzahl  von  Volksstämmen  die  Anschauung  verbreitet,  dass  die 
dem  Maulwurfe  innewohnenden  Kräfte  erst  dann  zu  ordentlicher  AVirkung 
und  Entfaltung  gelangen,  wenn  man  ihn  fängt  und  ihn  darauf  so  lange 
mit  der  Hand  festhält,  bis  er  seinen  Tod  gefunden  hat.  Dieses  Verfahren, 
das  an  ganz  ähnliche  Massnahmen  erinnert,  die  mit  dem  unglücklichen 
Frosche  vorgenommen  werden,  finden  wir  in  Pommern,  Mecklenburg. 
Bayern  und  Schwaben  und  bei  den  Sachsen  in  Siebenbürgen. 

In  Mecklenburg^)  werden  hierdurch  die  Warzen  geheilt,  in  Pom- 
mern^")   die  unangenehme  Feuchtigkeit  der  Hände  und  in  Schwaben") 


1)  Blanck  193.  —  2)  Lammert  123.  -  3)  Lainmert  127.  —  4)  v.  Wlislocki  ('. 
95.  —  5)  H.  Frischbier,  Hexcnspruch  und  Zauberbann.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  des 
Aberglaubens  in  der  Provinz  Preussen.  Berlin  1870'.  65.  —  6)  v.  Alpenburg  360.  — 
7)  Lammert  91.  —  8)  W.  Crooke:  An  Introdiiction  to  the  Populär  Religion  aud  Folklore 
of  Northern  India.  Allahabad  1894.  212.  —  9)  Blanck  225.  —  10)  Jahn  181.  — 
11)  Birlinger  I,  444. 


Ein  Paar  merkwürdige  Kreaturen.  247 

<ler  Wurm  am  Finger,  d.  h.  die  Krankheit,  die  wir  „Akeley"  nennen. 
Wir  sehen,  dass  es  sich  hier  immer  noch  um  krankhafte  Affektionen  der 
Hände  handelt,  welche  mit  dem  sterbenden  Maulwurf  sich  in  unmittelbarer 
Berührung  befinden.  In  dem  Glauben  des  deutschen  Volkes  gesellt  sich 
zu  der  örtlichen  nun  auch  schon  die  Fernwirkung  hinzu.  Denn  Montanus^) 
berichtet,  wer  einen  Maulwurf  in  seiner  Hand  sterben  lässt,  dem  wird  nicht 
nur  die  Feuchtigkeit  der  Hand,  sondern  auch  das  entsprechende  Leiden 
der  Füsse  geheilt.  An  eine  Fernwirkung  glaubt  man  auch  in  Mecklen- 
burg^), weil  man  durch  das  angegebene  Verfahren  die  Sommersprossen 
zu  vertreiben  vermag. 

Noch  weiter  in  dem  Wunderglauben  sehen  wir  imn  aber  unter  anderen 
die  Pommern,  die  Bayern  und  die  Sachsen  in  Siebenbürgen  gehen. 
Denn  sie  nehmen  an,  dass  die  Hand,  welche  auf  solche  Weise  den  Maul- 
wurf tötet,  eine  völlig  gesunde  sein  kann.  Wenn  sie  das  wunderwirkende 
Tier  nun  aber  so  lange  umfasst  hält,  bis  er  sein  Leben  ausgehaucht  hat, 
oder  wenn  sie  ihn  gewaltsam  erdrückt,  dann  hat  sie  Zauberkraft  gewonnen, 
sie  ist  nun  zu  einer  Heilhand  geworden;  und  wenn  diese  Hand  Krank- 
haftes berührt,  dann  muss  die  Krankheit  endgültig  weichen. 

So  lautet  in  Pommern^)  in  den  Kreisen  Bütow  und  Neustettin 
<lie  Vorschrift: 

„Fange  einen  Maulwurf,  umspanne  denselben  mit  der  Hand  und  lass 
hn  also  sterben,  so  wirst  du  mit  dieser  Hand  durch  blosses  Bestreichen 
alle  Krankheiten  heilen  können." 

Wenn  die  Siebenbürger  Sachsen*)  ihn  so  lange  in  die  Sonne 
halten,  bis  er  stirbt,  dann  vermögen  sie  mit  ihrer  Hand  Milchknoten  zu 
heilen. 

Most"),  der  über  die  sympathetischen  Mittel  handelt,  verlangt,  dass 
es  die  rechte  Hand  sein  muss.  Diese  erhält  sodann  die  Kraft  „Krebs- 
beulen, ehe  sie  aufbrechen,  gänzlich  verschwinden  zu  machen,  wenn  er 
mehrere  Male  mit  der  Hand  darüber  fährt. '^ 

Auch  in  Dölzig  in  der  Mark  Brandenburg**)  behauptet  man: 

„Die  Hand,  in  der  ein  Maulwurf  verendet  ist,  heilt  alle  Wunden." 

In  Bayern')  finden  wir  die  Variante,  dass,  wer  vor  seinem  siebenten 
Jahre  den  Maulwurf  auf  diese  Weise  tötet,  anderen  durch  blosse  Be- 
rührung den  Wurm  am  Finger  zu  heilen  vermag. 

Ist  aber  einmal  erst  der  Glaube  durchgedrungen,  dass  solche  Amulete 
zu  Heilzwecken  dienen  können,  dann  ist  es  ganz  gewöhnlich  der  nächste 
Schritt,  den  gleichen  oder  ähnlichen  Stücken  auch  heilbringende  Wirkung 
im  allgemeinen  oder  eine  glückbringende  Kraft  für  bestimmte  Zwecke  zu- 
zuschreiben.    Das  finden  wir  auch  hier  wieder  bestätiot. 


1)  Montanus  171.  —  2)  Blanck  224.  —  3)  Jahn  181.  —  4)  v.  Wlislocki  C.  176. 
—  5)  G.  F.  Most,  Die  sympathetischen  Mittel  und  Kurmethoden.  Rostock  1842.  116.  — 
6)  Prahn  192.  —  7)  Panzer  I,  266. 

17* 


^248 


Bartels: 


„Wer  eine  Fledermaus  bei  sich  trägt,  der  wird  Glück  haben,  heisst 
es  in  Bosnien  und  der  Hercegovina^),  und  die  Kaufleute  daselbst 
hängen  eine  in  Schildkrütenplatten  gewickelte  Fledermaus  in  ihrem  Laden 
auf,  damit  ihnen  die  Kunden  wie  blind  zuströmen.  Hier  blickt  der  Glaube 
des  Volkes  durch,  dass  die  Fledermaus  ein  blindes  Wesen  sei. 

Montanus^)    führt    folgenden    Aberglauben    aus    Deutschland    an: 
Bindet    der  Spieler    das  Herz    einer  Fledermaus   mit  seidenem  Faden  an 
den  rechten  Arm,  so  gewinnt  er  jedes  Spiel." 

Auch  in  Pommern^)  und  im  Voigtlande  benutzt  man  nach  Köhler*) 
das  getrocknete  Herz  einer  Fledermaus  als  glückbringendes  Amulet  im 
Spiel,  während  die  Oberbayern^)  sich  zu  dem  gleichen  Zwecke  des 
Fledermauskopfes  bedienen. 

Die  Schwaben^)  glauben,  ilass  man  sich,  wenn  man   ein  der  Fleder-^ 
maus  ausgestochenes  Auge  bei  sich  trägt,  unsichtbar  maclien  könne. 

Die  Magyaren^)  stellen  aus  der  Fledermaus  das  „Flugfett"  her.  „AVer 
sich  mit  diesem  die  Fusssohlen  einreibt,  der  setzt  bei  jeder  Wanderung 
über  die  grössten  Hindernisse  leicht  hinüber  und  weicht  jeder  Gefahr  aus." 
Das  Flugfett  ist  das  Fett  von  solchen  Fledermäusen,  welche  in  der  Woche 
vor  dem  Tage  des  hl.  Georg  aus  dem  Winterschlafe  erwacht  sind.  Auch 
die  Schatzgräber  bedienen  sich  dieses  Zaubermittels  und  das  Gebet  eines 
solchen  Schatzgräbers  aus  Szent  Ivan  in  Siebenbürgen,  das  er  an  den 
Beschützer  der  Schatzgräber,  an  den  heil.  Christoph,  richtete,  hat  in  der 
Übersetzung  folgenden  Wortlaut: 

„Mächtiger  Herr,  Du  heiliger  Held,  gütiger  Christoph,  erbarme  Dich 

meiner   und    bewahre    mich    vor    den    Bösen!     Ich    will  Dir    dienen  und 

Deiner  gedenken,  sobald  Du  meinen  Puss  durch  das  Flugfett  zum  Schatze 

hingeleitet  hast!     Ich  will  Dir  treu  dienen,    wenn  ich  den  Karfunkelstein 

gefunden  habe,    der  Deines  goldenen  Hammers  Funke  ist.     Hilf  mir,    Du 

der  Helden  Herrlichster,  Du!    Gebenedeit  sei  Dein  Name  ewighch,  Amen!" 

-In  Pommern^)  wird  die  Fledermaus  zur  Herstellung  von  Freikugeln 

benutzt.     Die  Vorschrift  lautet:    „Giesse    zwölf  Kugeln   in  der  Nacht  vom 

Freitag  zum  Sonnabend  in  der  Mitternachtstunde  bei  zunehmendem  Monde, 

und    mische  vorher   unter  das  Blei  das  Herz  und  die  Leber  einer  Fleder- 


maus. 


Der  Maulwurf  steht  in  dieser  Beziehung  <ler  Fledermaus  ganz  erheblich 
nach.  Allerdings  soll  bei  den  Bayern  nach  Ilöfler")  sein  Kopf  als 
Amulet  getragen  sein.  Nach  Plinins'")  vermag  derjenige  den  Erfolg  der 
Dinge    vorauszusehen,    der  das  noch  zuckende  Herz  eines  Maulwurfs  ver- 

1)  Lilek441.  —  2)  Montanus  172.  -  3)  Jahn  176.  —  4)  J.  A.  E.  Köhler,  Volks- 
brauch, Aberglauben,  Sagen  und  andere  alte  Überlieferungen  im  Voigtlande.  Leipzig  lS(i7. 
417  _  5)  M.  Höller,  Volksmedizin  und  Aberglaube  in  Oberbayerns  Gegenwart  und  Ver- 
gangenheit. München  1888.  150.  -  6)  Birliuger  I,  435.  -  7)  H.  von  Wlislocki  E., 
Aus  dem  Volksleben  der  Magyaren.  München  1893.  90.  -  8)  Jahn  175.  -  9)  Hofler 
150.  —  10)  Plinius  lib.  30,  c.  7. 


Ein  Paar  merkwürdige  Kreatiu-en.  249 

schlingt.  Sonst  erfahren  wir  nur  noch  aus  Pommern^),  dass  man  das 
Glück  an  sich  zu  fesseln  vermöge,  wenn  man  einen  Maulwurf  in  der  Hand 
sterben  lässt. 

In  dem  sogenannten  Liebeszauber  findet,  wie  es  den  Anschein  hat, 
der  Maulwurf  keinerlei  Verwendung.  Um  so  weiter  verbreitet  ist  aber 
die  Zauber-Manipulation    mit  der  Fledermaus.     In  Pommern^)  heisst  es: 

„Gefönt  Dir  ein  hübsches  Mädchen,  und  sie  will  Dich  nicht  haben, 
dann  nimm  eine  Fledermaus,  verbrenne  ihr  Herz  zu  Pulver  und  gieb  es 
ihr  ein,  dann  kann  sie  nicht  mehr  von  Dir  lassen." 

In  Ostpreuss»?n^)  berührt  das  Mädchen  ihren  Geliebten  heimlich  mit 
einer  Fledermauskralle,  um  sich  seiner  Liebe  zu  versichern.  Sie  muss 
<labei  aber  einen  Zaubersegen  murmeln. 

In  Bosnien  und  der  Hercegovina*)  giebt  die  Maid  dem  Jünglinge 
heimlich  drei  Haare  einer  Fledermaus  im  Kaffee  zu  trinken.  Auch  wird 
es  für  sehr  wirksam  gehalten,  wenn  das  Mädchen  mit  einer  Fledermaus, 
die  hier  ebenfalls  für  ein  blindes  Tier  gilt  —  sie  heisst  slijepi  mis,  die 
blinde  Maus  —  den  Burschen  unbemerkt  dreimal  umkreist.  Auf  diese 
Weise  wird  er  geblendet. 

In  Foca  in  Bosnien  tötet  man  die  Fledermaus  und  lässt  einige 
Tropfen  von  dem  Blute  in  den  Katt'ee  desjenigen  fallen,  welchen  man  zu 
bezaubern  wünscht. 

Von  den  .Marokkanern  werden  nach  Quedenfeldt^)  Fledermaus- 
Bälge  zum  Liebeszauber  benutzt. 

Als  Liebesorakel  bedienen  sich  die  magyarisclien^)  Mädchen  der 
Fledermaus. 

„Wenn  die  Kalotaszeger  .Maide  wissen  wollen,  ob  sie  dieser  oder 
jener  Bursche  liebt,  so  werfen  sie  ein  Tuch  hinauf  in  die  Luft  und  denken 
dabei  an  einen  bestimmten  Burschen.  Fliegt  die  Fledermaus  dem  Tuche 
nach,  so  wird  die  Maid  von  dem  Betreffenden  geliebt." 

Hat  sich  unsere  Fledermaus  das  reiche  Gebiet  des  Liebeszaubers 
glücklich  erobert,  so  geht  die  fruchtbringende  Phantasie  des  Volkes  nun 
wiederum  gleich  uoch  einen  Sehritt  weiter.  Denn  was  die  Liebe  eines 
begehrten  Wesens  vom  anderen  Geschlechte  vermitteln  kann,  das  könnte 
doch  leicht  auch  die  Kraft  besitzen,  bei  den  Mitmenschen  im  allgemeinen 
beliebt  zu  machen.     So  heisst  es  denn  in  Bosnien'): 

„Wenn  ein  Diener  einen  bösen  Herrn  hat,  so  blicke  er  ihn  durch 
einen  Fledermausflügel  an,  und  der  Herr  wird  gut  sein." 

1)  Jahn  LSI.  —  2)  0.  Knoop,  Volkssagen,  Erzählungen,  Aberglauben,  Gebräuche 
und  Märchen  aus  dem  östlichen  Hinterpomraern.  Posen  188.5.  168.  —  3)  Ploss-Bartels 
I^  466.  —  4)  Lilek  479.  -  5)  M.  Quedenfeldt,  Aberglaul)e  uud  halbreJigiöse  Bruder- 
schaften bei  den  Marokkanern.  Yerhandl.  d.  Berl.  antbrop.  Gesellsch.  Zeitschr.  f.  Etbno- 
lo.ne,  Bd.  XVIII.    Berlin  1886.     S.  ((;83).  -  (i)  v.  Wlislocki  A.  71.  —  7)  l.ilek  441. 


250  Bartels: 

Auch  als  AYetterpropheteu  gewinnen,  wie  so  viele  andere  Tiere,  der 
Maulwurf  und  die  Fledermaus  ihre  Bedeutung.  Aber  das  gehört  nicht 
eigentlich  in  den  Volksaberglauben  hinein.  Wie  ich  in  einem  früheren 
Vortrage  schon  einmal  auseinandergesetzt  habe,  handelt  es  sich  hier  viel- 
mehr um  sehr  genaue  naturwissenschaftliche  und  meteorologische  Beob- 
achtungen, für  welche  das  Auge  der  Landbevölkerung  sich  als  ganz  be- 
sonders geschärft  erweist. 

lu  den  Bereich  unserer  Betrachtungen  gehört  es  auch  nicht,  weiter  zu 
verfolgen,  wie  man  die  Maulwürfe  und  die  Fledermäuse  fängt,  wie  man 
sie  zu  vernichten  sucht  und  wie  man  ihnen  zu  schaden  bestrebt  ist.  Das 
ist  für  uns  von  keiner  Bedeutung,  wenn  sich  auch  allerdings  darin  hier 
und  da  ein  mystischer  Zug  nachweisen  lässt.  Dass  es  in  Indien  und 
Südamerika  grosse  Fledermäuse  giebt,  welche  dem  schlafenden  Menschen 
einen  zarten  Biss  beibringen  und  ihm  dann  das  Blut  aussaugen,  das  dürfte 
w^ohl  allgemein  bekannt  sein.  Natürlicherweise  knüpfen  sich  auch  an  diese 
Tiere  allerlei  abergläubische  Geschichten  und  fabelhafte  Erzählungen,  die 
ich  hier  aber  nicht  weiter  erörtern  kann.  Wir  kämen  sonst  auf  das 
unerschöpfliche  Gebiet  des  sogenannten  Vampyr-Aberglaubens.  Ich  kehre 
daher  lieber  wieder  zu  unseren  heimischen  Tieren  zurück.  Dass  die  zu- 
fällio-e  Begegnung  mit  so  wunderwirkenden  Geschöpfen  auch  nicht  als 
bedeutungslos  betrachtet  wird,  das  muss  uns  als  selbstverständlich  er- 
scheinen. Ja  selbst  dem  nur  scheinbaren  Zusammentreffen  mit  ihnen,  wie 
es  durch  ein  lebhaftes  Traumbild  der  leicht  erregbaren  Phantasie  der  kind- 
lichen Volksseele  vorgegaukelt  wird,  werden  ganz  besondere  Bedeutungen 
und  prophezeiheude  Wirkungen  zugeschrieben. 

Wenn  einen  Zigeuner  des  südlichen  Ungarns^)  eine  Fledermaus  einige 
Male  umkreist,  dann  soll  er  wohl  auf  seiner  Hut  sein,  denn  in  allernächster 
Zukunft  wird  ihm  ein  Feind  Schaden  bereiten.  Er  vermag  das  Vbel  da- 
durch abzuwenden,  dass  er  seinen  Weg  nicht  fortsetzt,  sondern  dass  er 
umkehrt  oder  sich  in  Bewegung  setzt,  falls  er  steht,  oder  dass  er, sich, 
falls    er   sitzt   oder  liegt,    beim  Herannahen  der  Fledermaus  sofort  erhebt. 

Fliegt  bei  den  Siebenbürger  Sachsen^)  eine  Fledermaus  nahe  bei 
einem  Menschen  vorbei,  so  glaubt  er,  dass  seine  Feinde  Übles  von  ihm 
reden. 

Liebende  sollen  bei  den  Magyaren'')  nicht  mitsammen  dem  Finge 
der  Fledermäuse  zuschauen,  sie  hetzen  sonst  die  Neider  gegen  ihr  Ver- 
hältnis auf. 

Wenn  eine  Zigeuner-Braut*)  Fledermäuse  erblickt,  dann  soll  sit 
ausspeien.  Der  Auswurf  fällt  dann  als  siedendes  Pech  auf  die  Zunge  der- 
jenigen Leute,  welche  ihr  die  Heirat  missgönnen. 


1)  V.  Wlislocki  B.  114.  —  2)  v.  Wlislocki  C.  162.  —  3)  v.  Wlislocki  A.  71. 
6)  v.  Wlislocki  B.  115. 


Ein  Paar  merkwürdige  Kreaturen.  251 

Die  Zigeuner-Weiber  sollen,  wenn  sie  Fledermäuse  sehen,  sich  den 
Mund  mit  der  Hand  verdecken,  denn  sonst  hauchen  diese  Tiere  ihnen 
Bosheit  in  den  Leib. 

Wer  bei  den  Siebenbürger  Sachsen^)  von  Fledermäusen  träumt, 
der  kann  versichert  sein,  dass  ihm  bald  ein  Verlust  bevorsteht.  AVenn  er 
aber  von  einem  Maulwurfe  träumt,  so  wird  er  mit  Feinden  zu  thun  be- 
kommen. Auch  bei  den  Magyaren^)  bedeutet  der  Traum  von  einem 
Maulwurf  nahe  bevorstehenden  Streit. 

Die  Zigeuner^)  haben  eine  Sage,  derzufolge  die  Fledermaus  teuf- 
lischer Abkunft  ist.  Heinrich  von  Wlislocki  erzählt  diese  Sage  folgender- 
massen: 

„Als  der  oberste  Teufel  oder  Teufelskönig  noch  jung  war,  so  verfolgte 
er  nur  die  Männer,  den  Weibern  aber  that  er  nichts  zu  Leide,  denn  er 
hatte  die  Frauenzimmer  gar  lieb.  Allnächtlich  wanderte  er  in  der  Welt 
herum  und  stiftete  nichts  Böses  an,  sondern  küsste  nur  die  schlafenden 
A\'eiber.  Darüber  ärgerte  sich  seine  Grossmutter  gar  sehr  und  machte  ihm 
Vorwürfe.  Aber  nichts  half;  der  Teufelskönig  trieb  seine  Liebeleien  fort. 
Da  frass  einmal  seine  Grossmutter  eine  Maus  und  schmierte  dann  dem 
schlafenden  Teufelskönig  Unrat  auf  die  Lippen.  Als  dieser  nun  bei  Ge- 
legenheit ein  schlafendes  Weib  küsste,  so  entstand  aus  diesem  Kusse  die 
eiste   Fledermaus." 

„Fledermaus! 
Komm  heraus! 
Reiss'  mir  alle  Haare  aus!" 
singen    in  Berlin    die   Kinder    in    der  Abenddämmerung    auf  der  Strasse. 
Dabei    halten    sie    aber    wohlweislich  ihre  Mütze  in  der  Hand  bereit,    um 
ihren  Kopf   sofort    zu    bedecken,    wenn    eine  Fledermaus  auf  sie  zufliegt. 
Der  absonderliche  Glaube,    dass   die  Fledermaus  demjenigen  in  die  Haare 
fliege,    der    sich    des  Abends  unbedeckten  Hauptes  im  Freien  sehen  lässt, 
ist  ein  sehr  weit  verbreiteter.     Wir  finden  ihn,  abgesehen  von  der  Mark, 
in  Mecklenburg*),  in  Bayern^),  in  der  Schweiz^)  und  bei  den  Sachsen 
in  Siebenbürgen^). 

Der  Aberglaube  der  Bayern  und  der  Mecklenburger  stellt  einfach 
die  Thatsache  fest,  ohne  sich  weiterhin  auf  eine  Erörterung  darüber  ein- 
zulassen, was  es  denn  für  einen  Schaden  bringt,  wenn  jemandem  die 
Fledermaus  in  die  Haare  fliegt.  Die  Berliner  Bevölkerung  hat  den 
Glauben,  dass  die  Fledermaus  sich  in  den  Haaren  derartig  fest  und.  un- 
lösbar anklammere,  dass  sie  nur  zu  entfernen  ist,  wenn  man  sie  gewaltsam 
vom  Kopfe  abreisst.  Hierbei  werden  dann  aber  gleichzeitig  auch  alle 
Haare  ausgerissen.    In  der  Schweiz^)  glaubt  man,  dass  man  dadurch  einen 

1)  V.  Wlislocki  C.  162.  116.  -  2i  v.  Wlislocki  A.  75.  —  3)  v.  Wlislocki  B.  115. 
-  4)  Bartsch  II,  176.  —  5)  Panzer  I,  268.  —  6)  Hans  Zahler,  Die  Krankheit  im 
Volksglauben  des  Simmenthals.  Bern  1898.  23.  —  7)  v.  Wlislocki  C.  162.  -  8)  Zahler -23. 


252  Bartels: 

„offenen  Kopf'',  d.  h.  eine  Anzahl  eiternder  Benlen  am  Kopfe  erhalte.  Bei 
den  Siebenbürger  Sachsen  ist  die  Gefahr  eine  noch  grössere;  denn  die 
Fledermäuse  verwickeln  sich  oft  in  die  Haare  des  Menschen  und  bewirken 
dadurch  seinen  baldigen  Tod. 

Wir  müssen  jetzt  noch  einmal  zu  dem  Maul  würfe  zurückkehren. 
Denn  hier  verdient  noch  ein  fernerer  Gesichtspunkt  unsere  Beachtung. 
Nicht  nur  er  selber  besitzt  nach  dem  Volksglauben  übernatürliche  Eigen- 
schaften, sondern  allerlei  magische  Kräfte  kommen  auch  dem  von  ihm 
aufgeworfenen  Erdhügel  zu.  Wir  sahen  ja  schon  im  Anfange  dieser  Be- 
sprechung, wie  die  Zahl  und  die  Lage  der  aufgeworfenen  Maulwurfshaufen 
allerlei  übernatürliche  Bedeutung  gewinnt.  Es  kommen  ein  paar  Punkte 
noch  hinzu. 

In  der  bayerischen  Oberpfalz^)  fürchten  die  Landleute  den  Biel- 
mann,  der  dort  sein  Unwesen  treiben  soll.  „Er  ist  ein  langes,  hageres, 
äusserst  hässliches  Gespenst,  welches  in  einer  Berghöhle  wohnt.  Wird  der 
Bielmann  nicht  durch  grosse  Kuchen  oder  durch  ein  lebendiges  weisses 
Huhn,  welches  man  in  seine  Höhle  laufen  lässt,  versöhnt,  oder  wird  er 
nicht  durch  Zaubersprüche,  durch  Osterbrände  und  gesegnete  Palmzweige, 
welche  man  auf  die  vier  Ecken  der  Felder  steckt,  oder  durch  einen  Schuss, 
den  man  am  Pfingstag  morgens  vor  Aufgang  der  Sonne  über  seine  Felder 
macht,  zurückgedrängt  und  abgehalten,  so  durchwatet  er  die  hochstehenden 
Saaten  mit  Messern  an  den  Füssen  und  verdirbt  imd  durchschneidet  die- 
selben.    Man  nennt  dies  den  Biel schnitt." 

„Einem  Manne,  der  viele  Verluste  durch  den  Bilmerschnitt  (J.  Grimm. 
Deutsche  Mythologie,  S.  443fF.,  2.  A.)  zu  erleiden  hatte,  wurde  geraten,  die 
Rasendecke  eines  Maulwurfshaufens  auszuschneiden  und  verkehrt  auf  den 
Kopf  zu  setzen,  so  dass  die  Wurzeln  des  Grases  aufwärts,  die  Halme  ab- 
wärts stünden.  Er  dürfe  aber  nicht  sprechen,  wenn  er  dem  Bockreiter 
nicht  am  Leben  schaden  wolle.  Als  er  aber  den  Bockreiter  sah,  rief  er: 
Nachbar,  thust  du  das?  Da  schwoll  der  Bockreiter  und  starb  am  dritten 
Tage." 

Dass  hier  in  dieser  Erzählung  mit  einem  Male  aus  dem  Bielmann- 
Gespenst  der  als  Bockreiter  schädliche  Zauberkunst  treibende  Nachl)ar 
wird,  das  ist  auch  solch  kleiner  unlogischer  Zug.  wie  sie  uns  im  Volks- 
glauben öfter  begegnen. 

Auch  noch  anderen  Zauber  vermag  der  Maulwurfshügel  zu  vermitteln. 
Bei  den  Pommern^)  findet  sich  die  Vorschrift: 

„Wenn  der  Mond  an  einem  Donnerstage  aufgehet,  so  gehe  vor  Sonnen- 
aufgang zu  einem  Stock,  den  Du  Dir  vorher  ausgesucht  hast;  stelle  Dich 
mit  dem  Gesicht  gegen  Sonnenaufgang  und  sprich: 

Stock  ich  schneide  Dich  im  Namen  Gottes,  des  Vaters,  des  Sohnes 
und  des  heiligen  Geistes. 

1)  Panzer  II,  '210.  bm.  —  2)  Jahn  C^. 


Ein  Paar  merkwürdige  Kreatm-en.  253 

Hierauf  nimm  ein  Messer  und  sprich  zum  Stock: 

Ich  schneide  Dich  im  Namen  Gottes  des  Vaters,  des  Sohnes  und  des 
heiligen  Geistes,  dass  Du  mir  sollst  gehorsam  sein,  welchen  ich  prügehi 
will,  wenn  ich  seinen  Namen  anrufe. 

Alsdann  schneide  auf  beiden  Seiten  des  Stockes  folgende  drei  Worte  ein: 
Abia  obio  fabia. 

Willst  Du  nun  jemand  prügeln,  so  lege  Deinen  Rock  auf  einen  Scher- 
haufen und  nenne  dabei  die  Person,    welche  die  Schläge  bekommen  soll. 
Darauf  schlage   mit  dem  Stocke  tapfer  zu,    so  wird  die  Person  dieselben 
Hiebe  erhalten,  die  Du  auf  Deinen  Rock  thust." 
Ganz  älmlich  lautet  folgende,  ebenfalls  von  Jahu^)  berichtete  Anweisung: 

„Wenn  der  Neumond  an  einem  Dienstag,  so  gehe  morgens  früh  vor 
Sonnenaufgang  zu  einem  Haselnuss-Stecken,  welcher  in  einem  Jahre  ge- 
wachsen ist,  richte  das  Gesicht  gegen  den  Morgen  und  schneide  diesen 
Stecken  auf  drei  Schnitt  in  den  drei  höchsten  Namen  und  sprich  nach- 
stehende Worte: 

Hohl  Noa  Massa. 

Wenn  Du  nun  zu  einem  Maulwurfshaufen  kommst,  lege  Deinen  Kittel 
darauf  und    schlage    tapfer  zu,    so   wird  kein  Maulwurf  mehr  aufstossen. 
Auch   kannst  Du  einen  Menschen  mit  diesem  Stecken  prügeln,    wenn  Du 
seinen  Namen  nennst,  auf  die  nämhche  Art." 
Die  Niederländer^)    bedienen    sicli    der  Manhvurfshügel   als  sympa- 
thetisches Mittel    zur  Vertreibung    der  Warzen.     Zu  diesem  Zwecke  mnss 
man  die  Warzen  beim  Neumonde  mit  der  Erde  eines  frisch  aufgeworfenen 
Maulwurfsliügels    einreiben    und    dabei    die    folgende    Bescliwörungsformel 

sprechen: 

„Mit  dem  Aufgehen  von  dem  Mond 
Bin  ich  frei,  alles  ist  vergangen.'" 

In  Lebbeke^)  soll  man  zu  dem  gleichen  Zwecke,  während  die  Toteu- 
glocke  geläutet  wird,  die  Hand  in  einen  Maulwurf shügel,  so  tief  es  irgend 
angängig  ist,  hineinstecken.  Dabei  muss  mau  sprechen:  „Ich  will  meine 
Warzen  mit  dem  Toten  begraben. 

Die  Sachsen  in  Siebeubürgeu*)  haben  den  Glauben,  dass  der 
Wolf,  wenn  er  der  Herde  nicht  beikommen  kann,  sich  daranmache,  Maul- 
wurfshügel zu  fressen.  „Dann  hat  er  Mut  und  reisst  alles  zusammen,  was 
ihm  vorkommt." 

Die  Zigeuner^)  sagen,  wenn  die  Maulwürfe  in  einer  Nacht  au  vielen 
Stelleu  den  Erdboden  aufwühlen:  DiePhuvushe,  das  sind  ihre  Erdgeister, 
bauen  sich  eine  neue  Stadt  und  brauchen  W'asser. 

Einer  sehr  eigentümlichen  Sitte  habe  ich  noch  zu  gedenken,  welcher 
die  arme  Fledermaus  zum  Opfer  fällt.  Es  ist  das  der  hier  und  da  sich 
findende  Gebrauch,  dieselbe  am  Hause  anzunageln.  Diese  Unsitte  vermag 
übrigens  schon  auf  ein  beträchtliches  Alter  zurückzublicken,  denn  sie  wird 

1)  Jahn  CA.  —  2)  A.  de  Cuck,  Volksgeneeskunde  iu  Vlauderen.  Gent  1891.  210. 
211.  —  3)  de  Cock  211.   -    4}  v.  Wlislocki  C.  lü.5.  -  5)  v.  Wlislocki  B.  156. 


254  Bartels: 

hereits  von  Plinius^)  erwähnt,  der  allerdings  ihre  Wirksamkeit  in  Zweifel 
zieht.  Der  von  ihm  berichtete  Volksglanbe  besteht  darin,  dass  eine  Fleder- 
maus, welche  man  lebendig  dreimal  um  das  Haus  herumgetragen  und 
darauf  mit  dem  Kopfe  nach  unten  an  dem  Fenster  anheftet,  nun  zu  einem 
Amuletum  würde. 

ßirlinger^)  citiert  aus  der  Zimmerischen  Chronik,  dass  eine  grosse 
Fledermaus  „mit  iren  Flügeln  zu  langwiriger  gedechtnus  ans  Thor  geheftet 
worden". 

Auch  aus  dem  zu  Esthland  gehörigen  Wierland  berichtet  Boeder^), 
dass  es  dort  eine  gewöhnliche  Sitte  sei,  an  die  Stallthüre  oder  in  den 
Ställen  selbst  an  die  Streckbalken  eine  geschossene  Fledermaus  anzunageln. 
Das  geschieht,  weil  die  Esthen  den  Fledermäusen  eine  besondere  Schutz- 
kraft auf  das  Gedeihen  der  Pferde  zuschreiben.  Hier  haben  wir  die 
Fledermaus  also  wiederum  als  Glückspenderin.  Auch  in  Bosnien  und 
der  Hercegovina*)  glaubt  man,  wenn  eine  Fledermaus  beim  Rauchfang 
hineinfällt,  dass  dies  einen  reichen  Yiehstand  für  den  Bauern  bedeute- 
Überhaupt  gilt  es  für  glückbringend  für  ein  Haus,  wenn  sich  darin  Fleder- 
mäuse mit  Jungen  befinden;  diese  letzteren  dürfen  nicht  getötet  werden. 
In  Sarajevo^)  geht  man  noch  etwas  weiter;  denn  dort  glaubt  man. 
und  namentlich  die  Mädchen,  dass  ein  jedes  Haus  glücklich  sei,  in  welchem 
sich  eine  Fledermaus,  ob  lebend  oder  tot,  befindet. 

Wie  man  sich  nun  die  stete  Anwesenheit  einer  Fledermaus  im  Hause 
sichert,  diese  Frage  haben  die  Slavonier*')  und  die  Siebenbürger 
Sachsen')  in  sehr  einfacher  Weise  gelöst,  indem  sie  sie  als  Bauopfer 
benutzen.  In  Slavonien  gräbt  man  zuweilen  eine  lebende  Fledermaus 
in  den  Grundstein  eines  zu  erbauenden  Hauses  ein,  um  den  Bau  vor  einem 
Einstürze  zu  bewahren.  Yon  den  Siebenbürger  Sachsen  berichtet 
von  Wlislocki:  „Baut  man  einen  Stall,  so  vergräbt  man  an  manchen 
Ortschaften  in  den  Grund  eine  Fledermaus  und  legt  unter  die  untersten 
Balken  oder  Backsteine  etwas  Salz  und  Brot  und  ferner  Kohlen  aus  einem 
Backofen,  um  die  Hexen  vom  Gebäude  fernzuhalten." 

Die  an  dem  Thorflügel  angenagelte  oder  sonstwie  dem  Hause  gesicherte 
Fledermaus  wird  also,  wie  es  hier  deutlich  ausgesprochen  ist,  als  ein  Apo- 
tropeion,  als  ein  die  Dämonen  abwehrendes  Mittel  verwendet. 

In  dem  sicilianischen  Volksglauben  ist  die  Fledermaus  nun  aber 
selber  ein  Dämon.  Gubernatis^)  berichtet,  dass  die  Sicilianer  der 
Taddarita,  wie  sie  die  Fledermaus  nennen,  nachstellen  und  sie  zu  fangen 


1)  Plinius  Hb.  XXIX,  cap.  26.  —  '-i)  Birliuger  II,  378.  -  3)  .1.  W.  BoeckT, 
Der  Esthen  abergläubische  Gebräuche,  Weisen  und  Gewohnheiten.  Mit  auf  die  Gegenwart 
bezüglichen  Anmerkungen  erläutert  von  Fr.  R.  Kreutzwald.  St.  Petersburg.  1854.  113. 
-  4)  Lilek  471.  —  5)  Lilek  441.  -  6)  Krauss  160.  -  7)  v.  Wlislocki  C.  16'2.  - 
S)  Angelo  de  Guberuatis,  Die  Tiere  in  der  indogermanischen  Mythologie.  Aus  dem 
Englischen  übersetzt  von  M.  Hartmann.     Leipzig  1874.    497. 


Ein  Paar  merkwürdige  Kreatureu.  255 

suchen.  Ich  möchte  vermuten,  dass  das  mit  Hilfe  eines  geschickt  über 
die  Strasse  ausgespannten  langen  Fadens  geschieht,  wie  ich  es  vor  einer 
Keihe  von  Jahren  in  Tivoli,  im  Sabiner  Gebirge,  beobachten  konnte, 
dass  die  Strassen  Jugend  auf  diese  Weise  Schwalben  fing.  Bei  dem  Fleder- 
mausfange wird  folgender  Vers  gesungen : 

Taddarita,  'ncanna,  'ncanna, 
Lu  dimonio  ti  'ncanna 
E  ti  'ncanna  pri  li  peni, 
Taddarita,  veni,  veni. 

Dichtungen  des  Volkes  lassen  sich  schwer  übertragen.  Ungefähr  wird 
aber  folgende  Übersetzung  den  richtigen  Sinn  wiedergeben: 

Taddarita,  fan^'  Dich,  fang'  Dich, 
Deine  Teufelei,  die  fang'  sich, 
Bist  Du  gefangen,  kommt  die  Strafe, 
Taddarita  komm',  o  komm'. 

Wenn  man  das  unglückliche  Tier  gefangen  hat,  so  wird  es  durcli 
Feuer  getötet  oder  an  ein  Kreuz  genagelt. 

Nach  dem  deutschen  Volksglauben,  den  Montanus^)  berichtet,  flogen 
bisweilen  die  Hexen  als  Fledermäuse  umher.  Hier  möge  auch  noch  einmal 
an  die  ebenfalls  manchmal  unter  der  Gestalt  von  Fledermäusen  auftretenden 
dämonischen  Pestfrauen  der  Süd-Slaven  erinnert  werden. 

Das  ist  nun  alles,  was  ich  von  abergläubischen  Anschauungen  über 
den  Maulwurf  und  die  Fledermaus  zusammenzubringen  im  stände  war. 

Konrad  von  Megenberg^)  schliesst,  nachdem  er  von  indischen 
Fledermäusen  berichtet  hat,  die  dem  schlafenden  Menschen  die  Nase  ab- 
beissen,  sein  Kapitel  über  die  Fledermaus  oder  die  Vespervliegerinne 
mit  folgender  allegorischen  Betrachtung: 

„Pei  der  fledermaus  versten  ich  die  valschen  nachreder,  die  den  läuten 
in  der  vinster,  daz  ist  haimleichen,  ir  er  abpeizent  luid  verderbent  in  daz 
antlütz  irs  guoten  leumundes  und  irs  löbleichen  namen.  We  den  ver- 
vluochten  fledermäusen,  war  umb  vliegent  si  niht  an  daz  lieht?" 

Nun,  wir  können  wohl  nicht  umhin,  dem  alten  Konrad  recht  zu  geben 
und    uns    seiner    Klage    anzuschliessen.      Mögen    wir    vor    dieser  Art    d 
Vesperfliegerinnen  immerdar  glücklich  behütet  bleiben! 


er 


1)  Montanus  172.  —  2^  Koiuaa  v.  Megenberg  227. 


)5f)  Dörler: 


Tiroler  Teufelsglaube. 

Von  Adolf  F.  Dörler. 


Bin  a  lebfrischer  Bue 
Loss  'n  Tuifl  koa  ßueh 
Und  die  Englan  im  Himmel, 
Doe  lochn  derzue! 

So  lautet  ein  bekanntes  Tiroler  Gsangl.  Wie  sich  aber  im  folgenden 
zeigen  wird,  ist  mit  dem  Teufel  doch  nicht  so  leicht  umzuspringen  und  es 
niuss  einer  schon  ein  passionierter  Eaufer  sein,  wenn  er  mit  ihm  einen 
Hosenlupf  wagen  darf.  Das  Misslichste  dabei  ist,  dass  man  oft  mit  dem 
Teufel  anbandelt,  ohne  auch  nur  eine  Ahnung  davon  zu  haben,  dass  man 
den  Zweihörndler  vor  sich  hat.  Er  vermeidet  nämlich  wohlweislich,  sich 
bei  solchen  Gelegenheiten  in  seiner  wahren  Gestalt  zu  zeigen,  sondern 
tritt  als  lustiger  Jägerbursch  auf  mit  breiten  grünen  Aufschlägen  an  seiner 
Joppe,  einer  langen,  braunroten  Habichts-  oder  weissen  Hahnenfeder  auf 
dem  Hute  und  einem  schrägen  Pfeiflein  ^)  im  Munde,  das  er  stets  mit 
grossem  Behagen  zu  rauchen  scheint.  Manchmal  kommt  er  auch  als  harm- 
loser Handwerksbursche  daher  oder  als  vornehmer,  in  schwarze  oder  grüne 
Seide  gekleideter  Herr.  Manchmal  verwandelt  er  sich  in  die  Gestalt 
eines  schwarzen  Geissbockes  oder  eines  Gemsbockes  mit  goldenen  Hörnern 
und  lockt  dadurch  die  ihn  verfolgenden  Jäger  oder  Wildschützen  auf  die 
bösesten  Schrofen,  wo  sie  in  ihrem  Jagdeifer  sicher  abstürzen  und  der 
Hölle    zur  Beute  werde»,    wenn  sie  auf  den  Tod  nicht  vorbereitet  waren. 

Wie  mannigfaltig  aber  auch  die  Verstellungen  des  Teufels  sein  mögen, 
ein  Zeichen  mnss  er  doch  an  sich  haben,  an  dem  er  erkannt  werden  kann, 
wenn  man  überhaupt  die  Gnade  dazu  hat.  Natürlich  bedient  sich  der 
Teufel  nur  dann  dieser  Verstellungen,  w^enn  sie  überhaupt  einen  Zweck 
haljen,  damit  man  ihn  also  entweder  gar  nicht  erkennen  oder  wenigstens 
an  seinem  Anblick  nicht  allzu  sehr  erschrecken  soll.^)  Ist  er  aber  seines 
Opfers  ganz  sicher,  so  holt  er  es  ohne  viel  Umschweife  in  seiner  wahren 
Gestalt,  und  wie  er  dabei  die  Leute  schindet,  zeigen  schon  die  vielen 
Steinblöcke,  an  denen  man  menschliche  Eindi'ücke  sieht. 

So  steht  z.  B.  auf  dem  Kreuzkogel  bei  Meran  ein  Felsen,  an  dem 
man  noch  deutlich  die  Abdrücke  eines  menschlichen  Fusses,  einer  mensch- 
lichen Hand  und  mehrerer  Teufelsklauen  erkennen  kann.  Es  ist  klar, 
dass    der  Teufel    einen  Menschen   gegen  diesen  Steinblock  gepresst  haben 


1)  Dieses  Pfeiflcin  suclit  der  „Verstellte"  oft  bei  den  Burschen  gegen  ein  anderes 
einzutauschen,  wohl  um  demjenigen,  der  auf  den  Handel  eingeht,  dadurch  irgend  einen 
Schaden  anthun  zu  können. 

2)  In  dem  bekannten  Kinderspiel  vom  „Engel  mit  dem  goldnen  Schwert"  kommt  der 
Teufel  sogar  mit  99  Knödeln  daher. 


Tiroler  Teufelsglaube.  257 

muss  und  zwar  mit  solcher  Gewalt,  dass  der  Stein  nachgeben  musste.  Da 
nun  die  Passeirer  und  die  Schönnaer  schon  seit  alter  Zeit  einen  Hass  auf 
einander  haben,  so  behaupten  die  Passeirer,  der  Teufel  hätte  dazumal 
einen  Schönnaer  Senner  geholt,  und  die  Schönnaer  erklären  auf  das  be- 
stimmteste, es  sei  dies  ein  Passeirer  Bauernbursch  gewesen. 

Wenn  man  von  Starkenbach  im  Oberinnthal  nach  Kronburg  geht, 
kommt  man  an  einem  Felsen  vorüber,  an  dem  man  die  Umrisse  einer 
menschlichen  Gestalt  herausfindet.  Hier  hat  der  Teufel  einen  Mann  er- 
drückt, der  bei  seinen  Lebzeiten  an  keinen  Gott  und  keinen  Teufel  glauben 
wollte.  An  denjenigen  Körperteilen,  wo  ihn  der  Teufel  mit  seinen  Krallen 
ge])ackt  hatte,  sieht  man  noch  heutzutage  die  roten  Blutspuren  am  Felsen.^) 
Eine  ähnliche  Passion  hat  auch  das  wilde  Mandl,  nur  dass  es  nicht 
andere,  sondern  sich  selber  gelegentlich  gegen  einen  Felsblock  presst,  um 
den  Eindruck  seiner  Gestalt  daran  zu  sehen.  An  einem  Schrofen  im 
Kreiter  Walde  zeigt  man  sogar  die  Fussspuren  der  wilden  Fräulein. 

Übrigens  bringen  andere  Züge  den  Teufel  in  noch  viel  nähere  Be- 
ziehung zu  den  wilden  Leuten  und  Bergriesen,  so  das  Ausführen  von 
gewaltigen  Steinwürfen  und  Tragen  mächtiger  Felsblöcke,  wie  in  der 
wilden  Krimmel  beim  Langsee  einer  liegt,  den  er  auf  das  Salveldrchlein 
schleudern  wollte  und  nur  durch  das  vorzeitige  Betläuten  daran  gehindert 
wurde.  Auch  an  diesem  Steinte  sieht  man  die  Klauen  und  den  Kopfein- 
druck des  Teufels,  weil  er  ihn  auf  dem  Kopfe  hergetragen  hat. 

Der    Teufel    kann    übrigens    auch    anderen  Leuten    seine  Riesenkraft 
verleihen,  wenn  man  sich  ihm  verschreibt  oder  ihn  zu  bannen  versteht: 
Vgl.  Alpenburg,    Mythen   und  Sagen  Tirols,    S.  278    „Die  Teufelsplatte  zu 
Cialthür." 

In  der  Mitte  zwischen  den  „Wilden"  und  dem  Teufel  steht  der 
„Klaubauf"  (in  Vorarlberg  „Schmutze"  oder  „böser  Klos"  im  Gegensatz 
zum  „guten  Klos").  Er  hat  wie  der  Teufel  Bockshörndeln  auf  dem  Grind 
und  hält  sich  in  den  unwegsamsten  Felsschluchten  auf,  besonders  gern  in 
der  Kranebitter  Klamm  bei  Innsbruck,  an  der  Stelle,  wo  die  überhängenden 
Felswände  das  sogenannte  Hundskirchl  bilden,  welches  in  früherer  Zeit 
auch  vielen  Wilden  zum  Aufenthalt  diente.  Am  St.  Nikolaustag  ist  er 
bekanntlich  der  ständige  Begleiter  des  heiligen  Mannes  und  hat  dabei 
einen  mächtigen  Sack  auf  dem  Buckel,  wo  er  die  faulen  und  ungehorsamen 
Kinder  hineinsteckt. 

Jatz  kimmt  dr  heilige  Nikolaus, 

Ist  Votr  und  Muetr  nit  zu  Haus, 

Er  thuet  die  Kinder  fleissig  ausfrogn, 

"Wenn  se  nix  kennen,  losst  er  se  'n  Klaubauf  vertrogn! 

Das  schärft  man  den  Kindern  vorher  noch  tüchtig  ein,  damit  sie  ja 
recht    fleissig   lernen.     Auch    über  Ungewaschene    kann  der  Klaubauf,   ja 

1)  Andere  diesbezügliche  Sagen  s.  J.  Zingerle,  Sagen  aus  Tirol,  2.  A.,  S.  396f.  u.  680. 


258  Dörler: 

sogar    der    Teufel    Macht    liekommen,    seien    sie  Kinder   oder  Erwachsene 
(Zingerle  S.  379).     Daranf  deutet  auch  der  Spruch: 

0  Girgl,  0  Girgl,  i  steck  die  in  Sock, 

Uzwoglte  Fock.     (Ungewaschene  Sau.) 

Was  einem  geschieht,  sobald  man  in  seinem  Sack  steckt,  sagt  nach- 
stehender Kinderreim : 

Dr  Klaubauf  ä  dr  Klomm 

Prisst  Buebmen  und  Madlar  zomm! 

Näheres  über  den  Klaubauf  siehe  bei  Alpenburg  S.  60fP.  und  75. 

Vom  Teufel  könnte  man  im  allgemeinen  nicht  sagen,  dass  er  sonder- 
lichen Appetit  auf  Menschenfleisch  bekunde;  aber  auf  den  Hochederspitz 
oberhalb  Pfaffenhofen  hat  er  doch  einmal  einen  Gestorbenen  hinauf- 
geschleppt, das  beste  von  ihm  verspeist  und  die  Knochen  oben  liegen  lassen. 

Wir  sehen  also,  dass  der  Teufel  in  diesem  Falle  zum  Menschenfresser 
geworden  ist.  Im  Gegensatze  hierzu  hört  man  nicht  selten,  dass  der  Teufel 
die  ihm  verfallenen  Seelen  in  einer  eleganten  Equipage  zur  Hölle  kutschiert, 
wie  dies  bei  der  alten  Strählin  von  Imst  der  Fall  war.  Dieselbe  wurde 
allgemein  als  die  reichste  Witwe  des  Ortes  angesehen,  hatte  aber  das  Geld 
auf  sehr  unredliche  Weise  erworben.  Ein  Imster  Knecht,  der  mit  einem 
Fuhrwerk  aus  dem  Oberland,  wo  er  für  seinen  Herrn  Wein  verhandelt 
hatte,  zur  Pontlatzner  Brücke  kam,  sah,  wie  am  jenseitigen  Ufer  eine  mit 
vier  Pferden  bespannte  Kutsche,  die  ein  schwarz  gekleideter  Herr  lenkte, 
ihm  entgegen  fuhr.  Da  zwei  Fuhrwerke  einander  auf  der  Brücke  nicht 
ausweichen  können,  glaubte  er  bei  der  Brücke  warten  zu  müssen,  bis  die 
Kutsche  dieselbe  passiert  hätte.  Wie  das  Gefährt  näher  kam,  erkannte 
er,  dass  die  alte  Strählin  drinnen  sass,  erstaunte  aber  nicht  wenig,  als  die 
Kutsche  nicht  über  die  Brücke  fuhr,  sondern  unmittelbar  vor  derselben  in  den 
Felsen  hinein  schoss,  der  sich  für  einen  Augenblick  geöffnet  hatte  (Zingerle 
279).  Der  Knecht  wusste  nicht,  was  er  sich  davon  denken  sollte,  fuhr 
über  die  Brücke  und  setzte  seinen  Weg  nach  Imst  fort.  Daselbst  erzählte 
man  ihm,  dass  die  alte  Strählin  kurz  vor  seiner  Ankunft  gestorben  sei. 
Anfangs  wollte  er's  nicht  glauben ;  als  er  sie  aber  selbst  auf  dem  Schrägen 
liegen  sah,  musste  er  wohl  einsehen,  dass  der  Teufel  die  Seele  der  Alten 
zur  Hölle  gefahren  hatte. 

In  einem  Bauernhause  zu  Terfens  im  Unterinnthal  schaute  einst  ein 
Weib  zufällig  zum  Fenster  hinaus.  Zu  ihrem  nicht  geringen  Erstaunen 
sah  sie  eine  leere,  mit  glänzendem  Gold  und  Silber  beschlagene  Kutsche, 
die  mit  zwei  Rappen  bespannt  war,  drunten  vor  der  Hausthüre  stehen. 
Sofort  rief  sie  ihr  Kind  herbei,  es  solle  auch  hinausschauen,  so  was  habe 
es  noch  nie  gesehen.  Kaum  hatte  dasselbe  aber  einen  Blick  auf  die 
Kutsche  geworfen,  als  es  schreiend  vom  Fenster  weglief,  denn  es  hatte 
den  Teufel  drinnen  sitzen  gesehen.    Der  schlaue  Zweihörndler  hatte  offenbar 


Tiroler  Teufelsglaube.  259 

geglaubt,    es    werde    jemand    aufsitzen,    was  Gott  sei  Dauk  durch  das  un- 
schuldige Kind  verhütet  wurde.  ^) 

Wie  sehr  es  den  Teufel  nach  Seelen  gelüstet,  beweist  schon  der  Um- 
stand, dass  er  überall,  wo  es  nicht  ganz  kauscher  zugeht,  heranschleicht, 
sich  in  die  Gesellschaft  einmischt  und  dann  nur  noch  mit  äusserster  Mühe 
von  einem  Geistlichen  vertrieben  werden  kann. 

So  waren  z.  B.  beim  Wirt  in  Seilrain  mehrere  recht  liederliche  Tücher 
beisammen,  denen  nichts  gescheiteres  einfiel,  als  sich  mit  „Kruntholar 
aufkloff'n"  zu  unterhalten.  Es  sollte  nämlich  derjenige  einen  Kronthaler 
gewinnen,  der  den  unflätigsten  Witz  zu  reissen  verstand.  Wie  sie  mitten 
in  diesem  sauberen  Wetteifer  begriffen  waren,  trat  ein  schmucker  Jäger 
mit  einem  doppelten  Spielhahnschweif  auf  dem  Hut  herein,  grüsste  die 
Burschen,  setzte  sich  zu  ihnen  und  sagte:  „Wia,  wos  hobt's  denn  do  fr  a 
G'spiel?  Losst's  mi  a  mitthien!"  Die  Kerle  merkten  sofort,  dass  sie  es 
mit  dem  Verstellten  zu'thun  hatten  und  getrauten  sich  kein  Glied  mehr 
zu  rühren.  Die  „Trinkin"  (Kellnerin)  lief  aber  flugs  zum  Herrn  Kuraten 
und  holte  ihn  in  die  Wirtsstube  herüber.  Dieser  begann  nun  mit  dem 
Teufel  zu  unterhandeln  und  fragte  ihn:  „Woast  denn  nit,  dass  Jugend  koa 
Tugend  hot?"  Allein  der  Blauhütlcr  verstand  keinen  Spass  und  wollte 
durchaus  den  Gewinner  des  Kronenthalers  gleich  mitnehmen.  Da  jedoch 
der  Kurat  ein  sehr  gottesfürchtiger  Herr  war,  der  weit  und  breit  ob  seines 
lieiligmässigen  Lebenswandels  in  hohem  Ansehen  stand,  brachte  er  den 
Teufel  schliesslich  doch  zum  Weichen.  Derselbe  ging  aber  nicht  mehr  zur 
Thüre  hinaus,  wo  er  heriüngekojnmen  war,  sondern  schoss  in  seiner  Wut 
geradewegs  durch  die  Mauer  ins  Freie.  Seitdem  ist  dort  ein  grosses  Loch 
geblieben,  das  sich  jedoch  noch  nie  vermauern  oder  verstopfen  Hess,  so 
oft  man  es  auch  versuchte.^) 

Auf  einem  anderen  Anwesen  in  Sellrain,  „beim  Schwab"  genannt,  war 
<'in  Dirndl  zu  Haus,  dem  der  gute  Ruf  nicht  sonderlich  am  Herzen  lag 
und  das  gern  recht  leichtfertige  Burschen  bei  sich  im  „Hoangert"  (Heim- 
garten) sah.  Als  man  nun  eines  Abends  wieder  gemütlich  in  der  Stube 
beisammen  sass  und  selbstverständlich  nicht  gerade  die  saubersten  Reden 
geführt  wurden,  kam  ein  Hausierer  herein,  der  schöne  seidene  Tüchlein 
feilbot.  Die  Burschen  kauften  ihm  eines  ab  und  machten  nun  ebenfalls 
aus,  dass  derjenige  das  Tüchlein  gewinnen  sollte,  der  das  „Schiechste  vir- 
bringen"  könnte.  Kaum  hatten  sie  aber  damit  begonnen,  als  auch  schon 
der  Satan   in  Gestalt  eines  schwarzen  Hundes^)  zur  Thüre  herein  drängte 


1)  Vgl.  Vonbun,  Sagen  Vorarlbergs,  2.  A.,  S.  24  und  Zingerle  S.  120  über  einen 
goldenen  Wagen.  Nachts  fährt  der  Teufel  auch  gern  in  einem  Bocksgespann  herum 
Siehe  Dörler,  Sagen  aus  Innsbrucks  Umgebung,  S.  122f. 

2)  Löcher,  durch  die  der  Teufel  oder  irgend  ein  Putz  gefahren,  lassen  sich  überhaupt 
nie  mehr  zumachen. 

3)  Der  Teufel,  Pütze,  Schatzhüter  und  die  Pest  erscheinen  oft  als  Hunde. 


260  .  Dörler: 

und  sich  hinter  den  Ofen  setzte,  von  wo  er  fortwährend  zu  den  Burschen 
hinüber  schielte.  Natürlich  wurde  so  schnell  ds  möglich  um  einen  Geist- 
lichen gesprungen,  der  den  Hund  auch  hinausbrachte  und  nachher  den 
Burschen  eine  tüchtige  Strafpredigt  hielt.  Mehrere  Wochen  später  kam 
eines  Abends  ein  alter  Bettellotter  unbemerkt  in  die  Stube  und  legte  sich, 
um  nicht  gesehen  zu  werden,  auf  die  Dürr  (den  Ofen).  Bald  nachher  trug 
man  zum  Abendessen  herrliche  Küchel  auf,  deren  blosser  Duft  dem  Lotter 
schon  das  Wasser  im  Munde  zusammenzog.  Wie  man  eben  das  Tisch- 
gebet verrichten  wollte,  fing  es  auf  der  Dürr  plötzlich  schrecklich  zu  poltern, 
heulen  und  „schiech  thien"  an.  Alles  glaubte,  der  Teufel  sei  wieder  herin 
und  stürzte  entsetzt  zur  Thüre  hinaus.  Flugs  schlüpfte  der  Bettellotter 
von  der  Dürr  herab,  fasste  die  Küchlein  in  seinen  Brotsack  ein  und  suchte 
das  Weite. 

Auf  der  Alpe  Stöcklen  im  hintersten  Oberbergthal,  wo  man  über  den 
Alpeiner  Ferner  ins  Ötzthal  hinüber  geht,  war  vor  Zeiten  ein  Senner, 
Köbel  mit  Namen,  der  die  schlimme  Gewohnheit  hatte,  auch  beim  geringsten 
Anlass  ganz  schrecklich  zu  fluchen.  Als  nun  wieder  einmal  etwas  nicht 
nach  seinem  Kopfe  ging,  begann  er  aber  derart  zu  sakramentieren,  dass 
es  die  übrigen  Senner  nicht  mehr  anhören  konnten  und  sich  eiligst  aus 
der  Hütte  flüchteten.  Als  sie  die  Hütte  ein  Stück  hinter  sich  hatten,  ge- 
wahrten sie,  dass  es  auf  einmal  auf  der  Alpe  lebendig  geworden  und  im 
Nu  die  Hütte  von  einer  Schar  abscheulicher  Teufelsgestalten  umringt  war, 
so  dass  kein  Mensch  mehr  hätte  aus-  und  eingehen  können.  Schnell  lief 
einer  der  Senner  nach  Neustift  hinunter  und  verständigte  dort  einen  Geist- 
lichen, der  auch  bald  mit  dem  hochwürdigsteu  Gute  auf  der  Alpe  erschien 
und  die  schwarze  Bande  auseinander  jagte.  Den  Köbel  hat  aber  später 
doch  noch  der  Teufel  erwischt,  denn  wie  er  im  folgenden  Jahr  die  Alpe 
wieder  bezog  und  eine  Zeitlang  gewirtschaftet  hatte,  war  er  eines  Tages 
spurlos  verschwunden.  ^) 

Sehr  schlecht  wäre  es  bald  in  Götzens  einem  Bauernbuben  Namens 
Kuen  ergangen,  der  den  Leuten  dadurch  einen  Schrecken  einjagen  wollte, 
dass  er  sich  mit  einigen  Schulkameraden  am  Martinsabend,  als  es  bereits 
dunkelte,  vermummt  auf  die  Strasse  schlich  und  dort  mit  Kuhschellen  und 
Geissglöcklein  einen  Heidenspektakel  machte,  so  dass  man  im  ganzen  Dorfe 
glaubte,  das  Kasermandl  fahre  mit  seinem  Geistervieh  und  Geisskunter 
von  der  Alm  ab.^)  Plötzlich  aber  hörten  die  Buben  einen,  der  noch  viel 
lauter  „gschellt  und  gschnellt"  hat  und  in  wenig  Augenblicken  stand  wahr- 
haftig ein  Kasermandl,  das  aber  Hörner  aufhatte,  vor  dem  Anstifter  des 
Spektakels.  In  wilder  Flucht  stoben  die  Jungen  auseinander  und  liefesen 
sich  ihr  Lebtag  nicht  mehr  einfallen,  mit  dem  „Martinsgstempf"  ihren 
Spass  zu  treiben. 

1)  Vgl.  Zingerle  S.  390f.,  wo  ebenfalls  Flucher  vom  Teufel  geholt  werdeu. 

2)  Vgl.  Zingerle  S.  8Gf.    Dörler  S.  23 ff. 


Tiroler  Teufelsglaiibe.  261 

Überhnupt  ist  es  auch  in  der  Fasching  eine  sehr  betrogene  Sache,  verhirvt 
auf  die  Strasse  zu  gehen,  denn  es  ist  schon  oft  passiert,  dass  die  „Huttier" 
(]\[asken)  dann  die  Larve  nicht  mehr  vom  Gesicht  herunter  brachten  oder 
dass  sie  auf  einmal  einen  Überzähligen  in  ihrer  Mitte  bemerkten.^) 

So  gingen  einst  mehrere  Burschen  von  Telfes  nach  Mieming  hinauf 
.,marschgernlaufen".  Auf  der  Tannenwiese  legten  sie  sich  die  Larven  an. 
Da  bemerkten  sie  richtig,  dass  plötzlich  einer  mehr  unter  ihnen  war,  der, 
sobald  sie  die  Masken  wieder  abnahmen,  verschwand.  Wie  sie  dieselben 
abermals  aufsetzten,  war  er  augenblicklich  wieder  da.  Jetzt  liessen  sichs 
die  Burschen  aber  gesagt  sein  und  gingen  kleinlaut  nach  Hause. 

Natürlich  ist  der  Teufel  auch  überall  da  zu  finden,  wo  zu  einer  un- 
rechten Zeit  oder  in  recht  ausgelassener  Weise  getanzt  wird. 

Bei  einem  Bauern  in  Kum  tanzte  man  einmal  sogar  in  der  Christnacht 
bevor  man  zur  Mett(>  ging.  So  ein  Frevel,  wie  er  nicht  einmal  bei  den 
Heiden  vorkommt,  war  für  den  Teufel  gerade  das  richtige  Fressen.  A'or 
Lüsternheit  fiebernd  schaute  er  in  Gestalt  des  stinkenden  Höllenbocks  mit 
feuerrot  glühenden  Augen  durch  das  Fenster  in  die  Stube,  indem  er  sich 
mit  beiden  Yorderfüssen  auf  das  Fensterbrett  stützte.  Alle  Beteiligten 
sahen  ihn  mit  Entsetzen  und  hielten  sofort  im  Tanz  inne.  Ja  sie  getrauten 
sich  nicht  einmal  mehr  vors  Haus  zu  gehen,  geschweige  denn  in  die 
3lette,  w^eil  der  Teufel  noch  immer  nicht  vom  Fenster  wich.  Acht  Tage 
darauf  starb  die  Bäuerin  am  erlittenen  Schrecken. 

Einem  Fuhrmann  blieb  einst  nächtlicherweile  in  der  Xähe  von  Sterzing 
das  Fuhrwerk  stecken.^)  Im  nahen  Wirtshaus  sah  er  Licht  und  hörte  eine 
lustige  Musik  herausschallen.  Wie  er,  um  Hilfe  zu  holen,  auf  dasselbe 
zuschritt,  bemerkte  er  drinnen  eine  fröhliche  Tanzgesellschaft.  Aber  er 
sah  auch,  dass  mitten  im  Gewühl  der  Tanzenden  der  Teufel  wollüstig 
herumsprang  und  mit  seinem  Schwanz  nach  allen  Seiten  herumschlug. 
Der  Fuhrmann  rief  darauf  den  Wirt  heraus  und  sagte,  indem  er  mit  dem 
Peitsclicnstiel  durch  das  Fenster  auf  den  Teufel  deutete:  „Do  hobts  koan 
schlechtn  Kumerodn  nit  drein!"  Der  Wirt  hatte  den  Teufel  bisher  nicht 
erkannt  gehabt  und  war  nun  nicht  w^enig  überrascht.  Auch  den  Tanzenden 
wurde  er  im  selben  Augenblick  sichtbar  und  man  kann  sich  ihren  „Schrickn" 
leicht  vorstellen.  Zum  Glück  traf  bald  ein  Geistlicher  ein,  der  den  Teufel 
davonjagte.  Der  Fuhrmann  aber  brachte  jetzt  den  Wagen  anstandslos 
weiter. 

Vom  Ziegelbrenner  bei  Brixlegg  ging  einst  ein  sauberes  Dirndl  ganz 
allein  zu  einer  Tanzunterhaltung  nach  Kramsach.  Als  sie  an  der  Weg- 
kapelle vorüberkam,  sah  sie  auf  der  Bank  hinter  derselben  einen  schmucken 

1)  Vergl.  Alpeubin-g  S.  281  f.,  Zingerle  S.  396,  Vonbuu-Sander  S.  81  f.  Was  beim 
Bercbtenlaufen  einmal  passiert  ist,  siehe  Zingerle  S.  24  f.  —  Vgl.  oben  S.  123. 

2)  Sobald  nämlich  etwas  Unrechtes  in  der  Nähe  ist,  sind  Pferde  nicht  mehr  weiter 
zu  bringen.     Kommt  ihnen  nach  Betläuten  eine  Hexe  entgegen,  so  bäumen  sie  sich  sogar. 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskiinilp.    1899.  18 


"262  Dörler: 

Jäger  sitzen.  Es  war  ein  schlanker,  bildschöner  Bnrsch  mit  einer  „tollen" 
(tüchtigen)  Habichtsfeder  auf  dem  Hütl  und  rauchte  ein  kleines  Nasen- 
brennerl.  Er  grüsste  das  Dirndl  freundlich  und  fragte  dasselbe,  wo  es 
hingehe.  Nachdem  sie's  ihm  gesagt  hatte,  bat  er  um  die  Erlaubnis,  sie 
begleiten  zu  dürfen.  Die  Dirn  willigte  freudig  ein,  denn  sie  hatte  sich 
schon  gedacht,  wenn  sie  allein  hinkomme,  werde  sie  schwer  einen  Tänzer  . 
finden.  Nun  aber  war  sie  überzeugt,  dass  sie  den  „ergstn"  von  allen  hatte. 
In  Kramsach  zeigte  sich  der  Jägerbursch  auch  wirklich  als  der  beste  Tänzer 
und  schneidigste  Schuhplattler,  und  die  anw^esenden  IMädchen  begannen 
schon  das  glückliche  Dirndl,  dass  einen  so  prächtigen  Buben  hatte,  mit 
neidischen  Blicken  zu  verfolgen.  Da  bemerkte  man  plötzlich,  dass  der 
vermeintliche  Hubertusjünger  Geissfüsse  bei  den  Hosen  unten  aushänge. 
Wie  der  Tschuggau  gewahrte,  dass  er  entlarvt  sei,  drückte  er  das  Dirndl 
einen  Augenblick  so  fest  an  sich,  dass  es  ohnmächtig  zu  Boden  stürzte  und 
lange  kein  Zeichen  mehr  gal). 

Eine  beim  „Riesen  Heimon"  in  Wilteu  angestellte  Kellnerin  wollte 
einst  eine  Tanzunterhaltung  beim  „Gamperwirt"  (Gasthans  „zur  Krone") 
in  Innsbruck  besuchen.  Da  sie  aber  gerade  von  ihrem  Geliebten  verlassen 
worden  war,  hatte  sie  niemanden,  der  sie  dorthin  geführt  hätte.  In  ihrem 
Zorn  rief  sie  ein  über  das  andere  Mal:  „Ummi  geah  i  und  w^enn  i  mit'n 
Tuifl  tonzn  miesset!"  Da  kam  ein  fremder  Bursche  in  der  alten  schmucken 
Zillerthaler  Tracht  mit  einem  hohen  Stotzenhut  auf  dem  Kopf  zu  ihr  her- 
ein, brachte  ihr  —  es  war  um  Kathreini!  —  eine  frische  Kirsche  und  nahm 
sie  mit  zum  Tanz.  Auf  dem  Wege  zum  Gamperwirt  begegnete  den  beiden 
ein  Geistlicher,  welcher  der  Dirn  auf  die  Seite  winkte  und  in  eindring- 
lichem Tone  sagte:  „Madl,  i  sog  dr  moch  di  weck,  des  ist  koa  rechter 
Mensch  nit!"  Aber  die  Dirn  hörte  nicht  auf  die  Warnung  und  so  konnte 
sie  der  Teufel  nun  ganz  „in  Bsetz"  nehmen.  Wie  nämlich  der  erste  Tanz 
zu  Ende  war,  liess  er  die  Dirn  nicht  los,  sondern  tanzte  mit  ihr  in  einem 
fort  weiter,  obwohl  die  J\Iusik  nicht  mehr  spielte.  Schon  dies  kam  den 
Leuten  sehr  kurios  vor,  aber  ihr  Erstaunen  wandelte  sich  in  blasses  Ent- 
setzen, als  der  Zillerthaler  auf  einmal  einen  garstigen  Teufelsschwanz  aus 
den  Hosen  hervorstreckte.  Natürlich  stürzte  alles  zu  den  Thüren  hinaus: 
man  versäumte  aber  nicht,  ins  benachbarte  Servitenkloster  zu  schicken 
und  einen  Pater  zu  holen,  dem  es  denn  anch  gelang,  die  Kellnerin  aus 
den  Klauen  des  Satans  zu  entreissen.  ^) 

Eine  Wiltener  Dienstmagd,  die  spät  abends  noch  einen  Gang  zu  machen 
hatte,  sah  einst  den  Teufel  in  der  Leopoldstrasse  spazieren  gehen.  Er 
hatte  einen  schwarzen  Schnurrbart,  funkelnde  Augen,  trug  einen  breit- 
krempigen  Unterinnthaler    Hut,    Glacehandschuhe,    einen    weissen    Mantel 


1)  Andere  Sagen,   wie  der  Teufel  Mädchen   zum  Tanze  führt  und  selbst  tanzt,  vergl. 
Alpenburg  S.  277  f.,  Ziiigerle  S.  383,  Dörler  S.  90  f. 


Tiroler  Tcufelsglaube.  263 

und  hohe  Stiefel  mit  g-elbeu  Stulpen,  wie  sie  früher  Mode  waren.  Offenbar 
hatte  er  die  Absieht,  in  diesem  Kostüm  auf  Eroberungen  auszugehen. 

Am  Ausgang  des  Zillergrundes  steht  hoch  oben  im  Bergwald  gegen- 
über Brandberg  ein  einsamer  Weiler,  „auf  der  Burg"  genannt.  Hier  soll 
vor  Zeiten  eine  starke  Ritterburg  gestanden  haben.  Der  Burgherr  hatte 
eine  wunderschöne,  aber  sehr  eigensinnige  Tochter,  die  er  oft  dringend 
bat,  sich  doch  einmal  zu  verheiraten.  Yiele  edle  Freier  kamen  auf  die 
Burg  geritten  und  warben  um  das  Ritterfräulein,  aber  es  passte  ihr  keiner 
und  sie  erklärte  endlich  auf  neuerliches  Drängen  seitens  des  Vaters,  sie 
bleibe  ledig,  so  wahr  sie  selig  werden  wolle.  Da  kam  eines  Tages  ein 
bildhübscher  junger  Tagwerker  auf  das  Schloss  und  bat  um  eine  Stelle 
als  Knecht,  die  ihm  auch  bewilligt  wurde.  Das  Ritterfräulein  bekam  all- 
mählich Gefallen  an  dem  Burschen  und  beschloss  trotz  ihres  Schwures  ihn 
zu  heiraten.  Am  Vorabend  des  Hochzeitstages  wurde  ein  glänzendes  Fest 
gefeiert.  Die  Burg  war  hell  erleuchtet  und  von  fern  und  nah  fanden  sich 
eine  Menge  Gäste  ein.  Unter  ihnen  aber  sass  ein  schwarzgekleideter 
Mann,  von  dem  niemand  wusste,  ob  er  überhaupt  eingeladen  worden  war 
oder'  nicht.  Er  musterte  beständig  die  bunte  Gesellschaft  und  jeden,  der 
ihn  sah,  überkam  ein  heimliches  Gruseln.  Als  es  12  Uhr  schlug,  bat  er 
die  Braut  um  einen  Tanz,  drehte  sich  mit  ihr  anfangs  langsam,  dann 
immer  schneller  und  schneller,  zuletzt  so  geschwind  wie  ein  Dozen  (Kreisel) 
und  war  dann  auf  einmal  samt  der  Braut  verschwunden.  Selbstverständlich 
waren  Vater  und  Bräutigam  in  einer  furchtbaren  Angst  um  die  Ver- 
schwundene und  versuchten  alles  mögliche,  um  sie  ausfindig  zu  machen, 
aber  alle  ihre  Bemühungen  waren  vergebens.  Da  träumte  dem  Vater 
einmal,  er  solle  thaleinwärts  wandern  bis  zum  Ferner,  dort  finde  er  etwas, 
was  ihn  sehr  freuen  werde.  Gleich  am  andern  Morgen  machte  er  sich 
auf  den  Weg  und  traf  wirklich  im  hintersten  Zillergründl,  wo  sich  das 
Kees  vom  Rauchkofel  und  Kleinspitz  gegen  den  Jochsteig  herabsenkt,  eine 
halb  verfallene  Schäferhütte,  die  er  früher  noch  nie  bemerkt  hatte.  Wie 
er  aber  eintrat,  sass  bloss  ein  schieches  altes  Weib  drinnen,  das  ihn  wild 
anschaute.  Der  Ritter  fragte  die  Alte,  warum  sie  denn  ein  solches  Gesicht 
mache  und  erzählte  ihr  von  der  Entführung  seiner  Tochter  und  von  seinem 
Traum.  Da  sagte  das  Weib,  er  solle  heim  gehen  auf  seine  Burg,  sein 
halbes  Vermögen  unter  die  Armen  verteilen  und  dann  wieder  kommen. 
Der  Ritter  that,  wie  ihm  geraten  wurde  und  kehrte  hierauf  zur  Hütte 
zurück.  Anstatt  der  alten  Kuntin  fand  er  aber  jetzt  seine  liebliche  Tochter, 
denn  der  Bann  des  Teufels  war  durch  die  Wohlthiit  des  Ritters  gebrochen 
worden. 

Einer,  der  sehr  viel  mit  dem  Teufel  zu  thun  hatte,  war  der  Geiner 
Veitl,  tröst'n  Gott,  der  gefürchtetste  Raufer  im  ganzen  Zillerthal  und  ein 
wahrer  Riese  an  Körpergestalt.  Er  hatte  mit  seinem  Bruder  ]\[ichlei  vom 
Vater  einen  grossen  Hof  am  Hainzenberg  übernommen,  denselben  aber  in 

18* 


264  Dörler: 

wenigen  Jahren  verlumpt  und  vertrunken.  An  langen  Winterabenden 
erzählten  sie  nun  auf  den  Höfen,  wo  sie  Unterkunft  suchten,  zur  Belustigung 
der  Zuhörer  ihre  Raufereien  und  Abenteuer.  Einmal  sei  der  Yeitl  in 
stichdunkler  Nacht  aus  der  Gerlos  nach  Hainzenberg  gegangen.  Wie  er 
gerade  mitten  drin  im  Zaberwald  gewesen  sei,  habe  er  von  fern  einen 
Gfschnallsjuchzer^)  vernommen.  Natürlich  sei  der  Veitl  mit  der  Antwort 
nicht  hinten  geblieben.  Da  sei's  ihm  auf  einmal  gewesen,  wie  wenn  ein 
Lotter  auf  ihn  zuspringen  würde  und  im  nächsten  Augenblick  habe  er  sich 
gepackt  gefühlt.  „Soggara  hintn",  habe  er  sich  gedacht,  „dear  pockt's 
amöl  güet  ü!"  und  habe  den  Kerl  bei  den  Füssen  erfasst,  um  ihn  nach 
rückw^ärts  über  seinen  Kopf  hinauszuwerfen.  Das  sei  ihm  jedoch  nicht 
geglückt.  Derweil  habe  ihn  der  Lotter  mit  Riesenkraft  niederzuringen 
versucht,  aber  im  Geiner  Yeitl  habe  er  sich  doch  verrechnet.  Beide  seien 
zu  Boden  gestürzt,  der  Geiner  sei  jedoch  gleich  wieder  oben  auf  gewesen 
nnd  habe  schon  den  Daumen  angesetzt,  um  dem  Gegner  zum  Zeichen  des 
Sieges  ein  Auge  auszudrücken,  da  habe  sich  der  Lotter  wieder  aufzuraffen 
vermocht.  „Dr  Deixl  eih'n",  habe  er  unwillkürlich  keuchend  vor  An- 
strengung zu  sich  selber  gesagt,  „dass  i  obr  den  nit  odrmagg,  in  Götts 
Num!"  Kaum  habe  er  die  letzten  Worte  ausgesprochen  gehabt,  da  sei 
der  Lotter  fort  gewesen  wie  vom  Erdboden  verschluckt  und  jetzt  sei  ihm 
klar  gewesen,  dass  er  mit  niemand  anderem  als  mit  dem  „Gabachn"-  (dem 
Verkehrten  =  Teufel)  selber  gerauft  habe. 

Ein  andermal  haben  beide  Geiner  spät  abends  beim  Ghristlwirt  in 
Hippach  „gstiecht"  (gezecht).  Da  kam  ein  fremder  Lotter  herein  und 
begann  mit  fünf  hölzernen  Löffeln  das  Klöpfigspiel,  das  er  sehr  gut  los 
hatte.  Zufällig  fiel  dem  einen  der  Burschen  ein  Geldstück  auf  den  Boden. 
Als  der  Wirt  mit  der  Kerze  unter  den  Tisch  leuchtete,  gewahrte  er,  dass 
der  Lotter  „Kloa  und  Goassbiege"  "(Klauen  und  Geissfüsse)  hatte.  Obwohl 
sich  jetzt  der  Teufel  flugs  aus  der  Stube  machte,  war  doch  keinem  nichts 
mehr  ums  Trinken  und  der  Wirt  meinte  auch;  „Büebmiu,  es  miesst's  schue 
hoam  züe,  iatz  is  ninimar  's  Rechte!"  Als  sie  aus  der  Wirtsstube  traten, 
sahen  sie  den  Teufel  unter  der  Hausthüre  lehnen  und  der  Veitl  sagte: 
„A,  nö  is  nit  gor  sövl  spate,  weil  dr  Toifl  a  nö  do  steaht!"  Michal  lief 
aber  blindlings  fort,  durch  Dick  und  Dünn  und  verlor  auf  seiner  Flucht 
beide  Knoschben  (Holzschuhe). 

Wir  haben  schon  im  vorstehenden  mehrmals  gesehen,  dass  der  Teufel 
nnfreiwilligerweise  oft  besser  als  ein  Bussprediger  wirkt,  indem  manche 
von  denen,  die  den  Teufel  einmal  in  der  Nähe  zu  sehen  Itekommen  haben, 
sich   diese  Begegnung  merken  und  fortan  ein  gottgefälliges  Leben  führen. 


1)  Vgl.  Alpenburg-  S.  ^Töf.,  Dörler  S.  88  u.  86.  Überhaupt  ist  es  eine  Specialität 
der  Zillerthaler,  mit  dem  Teufel  zu  raufen  oder  ihn  durchzuprügeln;  vgl.  auch  Zeitschr. 
f.  österr.  Volkskunde  S.  293,  III.  Jahrg.  Auch  Pütze  lassen  mitunter  Gschnallsjuchzer 
vernehmen.     Vgl.  Hauser,  Sagen  aus  dem  Paznaun,  S.  94,  Dörler  S.  49. 


Tiroler  Teufelsglaube.  265 

So  waren  z.  B.  in  Arzl  bei  Innsbruck  ein  Bauer  und  eine  Bäuerin, 
die  miteinander  in  beständigem  Unfrieden  lebten.  Eines  Abends  nach 
Betläuten  waren  sie  wieder  einmal  „z'krotzfecht'n  kemmen"  (im  Streit 
handgreiflich  geworden),  worauf  der  Bauer  verdrossen  das  Haus  verliess 
und  in  den  Wald  hinauf  oberhalb  Arzl  spazieren  ging.  Auf  einmal  hörte 
er  Tritte  hinter  sich  und  als  er  sich  umwandte,  gewahrte  er,  dass  ihm  der 
Teufel  auf  den  Fersen  war.  Anfangs  war  der  Bauer  starr  vor  Schrecken, 
dann  aber  lief  er,  von  Todesangst  getrieben,  so  schnell  er  konnte  über  die 
Felder  zurück  und  erreichte  das  Wegkreuz  zwischen  Mühlau  und  Arzl. 
Dieses  umklammerte  er  und  gelobte,  den  Herrgott  erneuern  zu  lassen  und 
gewiss  nicht  mehr  zu  streiten,  wenn  er  noch  mit  dem  Leben  davonkonnne. 
Die  Nähe  des  Kreuzes  und  die  inständigen  Gebete  des  Bedrängten  konnte 
der  Teufel  nicht  aushalten  und  suchte  alsbald  das  Weite.  Der  Bauer  hielt 
sein  Wort  und  war  seitdem  der  beste  Ehemann,  den  man  sich  denken 
konnte. 

Schlimmer  ist  eine  etwas  leichtfertige  Zillerthaler  Dirn  weggekommen, 
die  bei  einem  Bauern  am  Stummerberg  im  Dienste  stand.  Eines  Abends 
war  sie  wieder  einmal  in  Stumm  unten  bei  einer  Hochzeit,  wo's  recht 
lustig  und  kreuzfidel  zuging  und  die  C; eigen  und  Klankanetten  (Klarinetten) 
das  junge  Volk  gar  nicht  zur  Kühe  kommen  liessen.  Mit  schwerem  Herzen 
musste  die  Dirn  aber  bald  ans  Heimgehen  denken,  da  das  Anwesen  ihres 
Dienstgebers  hoch  am  Berg  oben  lag.  Ihr  Geliebter  wollte  jedoch  noch 
bleiben  und  dachte  sich,  sie  werde  wohl  Begleiter  genug  bekommen,  weil 
er  wohl  nicht  ihr  einziger  Schatz  sei.  Von  ihren  anderen  „Buebn"  wollte 
jedoch  auch  keiner  schon  jetzt  den  Tanzboden  verlassen  und  so  trat  die 
Dirn  allein  den  Heimweg  au.  Sie  war  noch  nicht  lang  durch  den  Wald 
bergauf  gegangen,  als  sie  plötzlich  auf  dem  schmalen  Steige  einen  kohl- 
schwarzen Geissbock  neben  sich  sah,  der  sie  beständig  gegen  den  Abhang 
zu  drängen  versuchte.  Durch  Tritte  und  Stösse  liess  sich  das  Vieh  nicht 
einschüchtern  und  wich  auch  der  Dirn  nicht  von  der  Seite,  als  sie  ihm 
durch  schnelles  Laufen  zu  entkommen  suchte.  Es  war  ihr  längst  der 
Verdacht  aufgestiegen,  dass  der  unheimliche  Bock  der  „Untere"  selber 
sein  könnte.  In  namenloser  Angst  eilte  sie  bergan  und  erreichte  endlieh 
ein  Wegkreuz,  das  sie  mit  beiden  Händen  erfasste.  Der  Höllenbock  hielt 
t's  natürlich  in  der  Nähe  des  Kreuzes  nicht  aus  und  umkreiste  dasselbe 
in  weitem  Bogen.  Zum  Glück  kam  bald  ein  nächtlicher  Wanderer  des 
Weges,  der  die  sterbensmatte  Dirn  zum  Ärger  des  Teufels  zum  nächsten 
Bam'rnhof,  genannt  „beim  grünen  Baunr%  führte,  wo  sie  aber  mit 
schrecklich  zerkratztem  Gesicht  anlangte  und  drei  Tage  krank  darnieder 
lag.  Das  hat  ihr  der  Teufel  also  doch  noch  anthun  können.  Von  Stund 
an  hat  sich  die  Dirn  gebessert  und  führte  nun  einen  makellosen  Lebens- 
wandel. 


266  Dörler: 

In  Axams  erscheint  der  Teufel  besonders  gern  als  „Habergeiss"  ^), 
nämlich  in  Gestalt  eines  Geisshockes,  der  auf  den  hinteren  Füssen  geht 
und  wie  eine  Nachteule  schreit.  Dadurch  hat  er  die  Axamer  bereits  so 
schreckig  gemacht,  dass  sie  sich  beinahe  schon  vor  jedem  gewöhnlichen 
Geissbock  fürchten.  So  ein  Yieh  traf  einst  der  Mesner  von  Axams,  als  er 
in  der  Frühe  Betläuten  ging,  mitten  in  der  Kirche^)  an.  Er  erschrak 
darob  über  die  Massen,  eilte  schleunigst  hinaus  und  schlug  Lärm  im  Dorfe. 
Alles  riss  bei  der  sonderbaren  Kunde  Ohren  und  Mäuler  auf.  Einige 
hielten  den  Bock  für  einen  verstellten  Schwarzkünster,  der  in  die  Kirche 
eingebrochen  sei,  die  meisten  aber  für  den  Teufel  selber.  Der  in  Eile 
zusammengerufene  Gemeinderat  beschloss  nach  vielem  Hin-  und  Herreden, 
dem  Bocke  Heu  und  Nudeln  vorzusetzen.  Fresse  er  das  Heu,  so  sei  es 
ein  harmloses  Vieh,  fresse  er  aber  <lie  Nudeln,  so  sei  es  entschieden  nichts 
Rechtes  mehr.  Ob  er  nun  die  Nudeln  oder  das  Heu  oder  gar  beides 
gefressen  habe,  darüber  gehen  die  Berichte  auseinander.  Nur  das  eine 
steht  fest,  dass  man  seitdem  diese  biederen  Leute  „Axamer-Böck"  benamst. 

Ein  Handwerksbursche  aus  Axams  kam  einst  auf  seiner  Wanderung 
ins  Münchner  Stadtl  und  geriet  dort  in  die  Gesellschaft  von  Hexen  und 
Hexenmeistern.  Ein  solcher  sagte  ihm,  er  sei  auch  einmal  in  Axams 
gewesen  und  „alsterlweis"  (als  Elster)  auf  dem  grossen  Kestenbaum  beim 
Schlössl  gesessen.  Wenn  der  Handwerksbursche  auch  wieder  einmal  einen 
Abstecher  nach  Axams  machen  wolle,  brauche  er  sich  nur  in  ihrem  Buche 
zu  unterschreiben,  sich  dann  auf  einen  Bock  setzen,  den  sie  ihm  zur  Ver- 
fügung stellen  würden  und  in  wenigen  Minuten  sei  er  in  Axams.  Er  dürfe 
aber  während  des  ganzen  Rittes  keinen  Laut  von  sich  geben.  Das  liess 
sich  der  Bursche  nicht  zweimal  sagen,  er  unterschrieb  sich  in  dem  ihm 
vorgelegten  Buche  und  setzte  sich  auf  den  inzwischen  herbeige1)rachten 
Bock').  Wie  der  Wind  sauste  das  Tier  mit  ihm  davon.  Als  das  sonder- 
bare Geritt  schon  die  Alpen  erreicht  hatte,  und  tler  Bock  von  einem  Berg 
auf  den  anderen  einen  Hupf  nehmen  wollte,  wobei  er  über  eine  tief- 
gähnende Thalschlucht  hinüberschnellte,  entfuhr  dem  Burschen  unwill- 
kürlich der  Ausruf:  „Jessas,  ist  des  a  Hupf  vun  an  Bouck!"  Jetzt  war 
aber  der  Bock  zwischen  seinen  Füssen  verschwunden,  und  der  Reiter 
stürzte  in  die  Klamm  hinunter,  wo  er  zu  seiner  eigenen  Verwunderung 
sich  nach  dem  Sturze  nicht  einmal  arg  verletzt  fühlte.  Aber  aus  dem 
Felsenloche  konnte  der  Bursche  gar  keinen  Ausweg  finden  und  irrte  lange 
von  Hunger  und  Durst  geplagt  herum.  Endlich  hörte  er  ein  Wasser  sausen, 
wo  er  wenigstens  seinen  Durst  löschen  konnte.  Später  bemerkte  er  zu 
seiner  Freude  einen  Gemsjäger,  der  hoch  oben  im  Geschröfe  herumkletterte 


1)  Die  Habergeiss  stellt  man  sich  sehr  verschieden  vor:  am  häufigsten  als  Nachteule. 
Vgl.  Zingerle  S.  179  und  628,  Vonbun-Sander  S.  187. 

2)  Andere  sagen,  man  habe  den  Bock  im  Spritzenmagazin  vorgefunden. 
3"!  Dieser  war  natürlich  der  Saggara  selber.     Vgl.  Zingerle  S.  iVö. 


Tiroler  Teufelsglaube.  267 

und  auch  bald  seineu  Hilferuf  vernahm.  Als  sich  nun  der  Jäger  zu  dem 
Handwerksburschen  heruntergeherpft  hatte,  erzählte  ihm  dieser  die  ganze 
Geschichte,  wie  er  in  die  Schlucht  hernntergeschmissen  worden  sei  mid 
bat  ihn,  ihm  zu  helfen.  Dem  Jäger  waren  schon  während  der  Erzählung 
die  Grausbir'n  aufgestiegen  imd  als  der  Bursche  geendet  hatte,  meinte  er 
abwehrend:  „Des  ist  Hexerei,  mit  dir  will  i  nix  z'  thoan  hobn!"  und  wollte 
gehen.  Allmählich  wurde  er  jedoch  durch  die  flehentlichen  Bitten  des 
Burscheu  gerührt,  stärkte  denselben  mit  seinem  Mundvorrat,  seilte  ihn  an 
und  brachte  ihn  glücklich  ausser  Gefahr  auf  eine  Alpenwiese.  Natürlich 
fiel  es  dem  Handwerksburschen  nie  mehr  ein,  mit  dem  Hexen-  und  Teufels- 
kunter  etwas  anzufangen. 

Zu  Gries  im  Sellrainthale  war  bei  einem  Bauern  eine  Stallmagd  an- 
gestellt, welche,  wie  die  Tochter  des  Bauern  bald  heraus  hatte,  alle  Pfinz- 
tage  (Donnerstage)  zum  Hexentauz  fuhr.  Da  bat  eines  Tages  das  Dirndl 
die  Magd  dringend,  auch  einmal  mitfahren  zu  dürfen.  Dieselbe  willfahrte 
gerne  und  erklärte  der  Bauerntochter  auch,  falls  es  ihr  bei  den  Hexen 
gefalle,  brauche  sie  sich  bloss  im  Teufelsprotokolle*)  mit  ihrem  eigenen 
Blute  zu  unterschreiben.  Gleich  am  nächsten  Donnerstag  abends  nach 
Betlänten  schmierten  sich  beide  mit  der  Hexensalbe  ein  und  fuhren  mit 
dem  bekannten  Ruf:  „Obn  aus  und  ninderscht  un!"  zum  Rauchfang  hin-» 
ans  und  durch  die  Luft  davon.  Auf  einmal  sassen  sie  in  einem  hell  er- 
leuchteten Saale  vor  einer  fürstlich  gedeckten  Tafel,  an  der  noch  viele 
andere  Frauen  und  Dirndln  uml  auch  einige  Burschen  versammelt  waren. 
Unser  Grieser  Dirndl  unterhielt  sich  hier  sehr  gut  und  trat  ohne  Zögern 
auf  einen  abseits  stehenden  Tisch  zu,  w^o  der  grüne  Jäger  vor  seinem 
Protokoll  sass.  .letzt  erst  merkte  das  Dirndl,  welch  greulicher  Bocks- 
gestank vom  Tschaderwarschtl  ausging.  Obwohl  sie  in  dessen  Nähe  er- 
sticken zu  müssen  glaubte,  schnitt  sie  sich  doch  mit  dem  dargereichten 
Messer  in  den  Finger,  tauchte  die  Feder  in  den  hervorquellenden  Bluts- 
tropfen und  wollte  sich  eben  hinsetzen  und  unterschreiben,  als  sie  es  auf 
einmal  in  dem  Gestank  nicht  mehr  aushielt  und  laut  ausrief:  „Jesses  Maria, 
i  kenn  nit!"  Bei  Nennung  der  heiligsten  Namen  war  Knall  und  Fall  der 
schöne  Saal  mit  seinen  vielen  Insassen  verschwunden  und  das  Dirndl 
befand  sich  bei  Nacht  und  Nebel  auf  der  höchsten  Spitze  des  dreigipfligen 
Saileberges  bei  Innsbruck,  einem  der  berüchtigsten  Hexenplätze  in  Nord- 
tirol.') 

Natürlich  ist  es  ganz  etwas  anderes,  ob  man  sich  in  einem  Hexenbund 
oder  ausserhalb  eines  solchen  dem  Teufel  verschreibt,  denn  im  ersteren 
Falle    ist    man    dann  ^Mitglied   eines  Hexenbundes,    verpflichtet  sich,    dem 

1)  Vgl.  Zingerle:  Über  das  „Hexenprotokull-S  S.  403f.  u.  42Bf.,  Dörler  S.  125. 

2)  Über  den  Teufel  bei  Hexengelageu  vgl.  Zingerle  S.  404  u.  406.  Dörler  8.  122  f. 
u.  12(;.  Wie  der  Teufel  beim  Hexentanz  „aufmacht"  (musiziert)  siehe  Al])enburg  S.  284 
„Der  Hexenspielmann". 


268  Dörler: 

Teufel  dienstbar  zu  sein  und  wird  später  selbst  je  nach  dem  Geschlecht 
Hexe  oder  Hexenmeister,  bis  man  eines  natürlichen  Todes  stirbt  und  der 
Teufel  die  Seele  in  Empfang  nehmen  kann.  Im  letzteren  Falle  aber  wird 
im  Vertrage  die  Zeit  immer  genau  bestimmt,  die  einen  der  Teufel  noch 
leben  lässt.  In  diesem  Zeitraum  muss  aber  der  Teufel  demjenigen,  der 
sich  ihm  verschrieben  hat,  alles  tlum,  was  er  nur  wünscht;  also  Kunst- 
fertigkeiten verleihen,  oft  die  schwersten  Arbeiten  für  ihn  verrichten  und 
vor  allem  Geld  bringen,  so  viel  man  will  und  brauchen  kann.  Ist  aber 
diese  Frist  verstrichen,  so  wird  man  vom  „Scheichen"  unbarmherzig  und 
bei  lebendigem  Leibe  zur  Hölle  geschleppt,  falls  nicht  noch  ein  Geistlicher 
im  letzten  Augenblick  rettend  eingreift. 

Beschworen  kann  der  Teufel  zu  jeder  Zeit  und  an  jedem  Orte  werden 
und  zwar  indem  man  entweder  die  hl.  Dreifaltigkeit  abschwört  oder  ihn 
einfach  mit  einem  tüchtigen  Juchzer  herbeiruft.  Manchmal  konmit  er 
auch  schon,  wenn  mau  bloss  den  Gedanken  hat,  mit  ihm  ein  Geschäftchen 
zu  machen  (Alpenburg  253). 

Unweit  von  Seilrain  waren  einst  mehrere  Tagwerker  und  Dirnen  ])eim 
Abmähen  einer  Bergwiese  beschäftigt,  an  deren  oberen  Ende  ein  kleiner 
Heustadel  stand.  Unter  ihnen  war  auch  ein  junger  Bursche,  der  mit 
Mähen  nicht  gut  zurecht  kommen  konnte  und  daher  von  den  anderen 
beständig  gefrotzelt  und  ausgelacht  wurde.  Das  verdross  ihn  endlich  und 
er  beschloss,  den  Spöttern  einen  Possen  zu  spielen.  Schweigend  legte  er 
die  Sense  weg,  ging  das  Mahd  hinauf  und  verschwand  hinter  dem  Stadel. 
Gleich  darauf  sah  man  einen  Jägerburschen  mit  langer  weisser  Hahnen- 
feder auf  dem  Hute  auf  den  Stadel  zukommen  und  gleichfalls  hinter  den- 
selben treten.  Es  dauerte  nicht  lange,  so  sah  man  den  Jäger  wieder  fort- 
gehen, aber  ohne  Hahnenfeder  und  bald  kam  auch  der  junge  Tagwerker 
wieder  herunter  und  zwar  mit  der  Hahnenfeder  des  Jägers  geschmückt. 
Zum  grössten  Erstaunen  der  übrigen  Mäher  wettete  er  nun  ein  hübsches 
Stück  Geld,  dass  er  schneller  als  alle  anderen  den  auf  ihn  entfallenden 
Feldstreifen  abgemäht  habe.  Alle  gingen  lachend  auf  die  Wette  ein;  aber 
siehe  da,  wie  der  Blitz  fuhr  jetzt  die  Sense  des  früher  so  langsamen 
Burschen  durch  das  Gras  und  im  Nu  war  die  ganze  Arbeit  fertig.  Er 
hatte  somit  die  Wette  glänzend  gewonnen.  Dass  er  sich  hinter  dem  Stadl 
dem  „Hoarner"  verschrieben  haben  könnte  und  zum  Zeichen  des  Bundes 
die  weisse  Hahnenfeder  trage,  fiel  keinem  ein.  Er  war  überhaupt  seinem 
ganzen  Wesen  nach  ein  Mordskerl  geworden  und  des  Sonntags  beim  Wirt 
warf  er  mit  den  Guldenstückeln  nur  so  herum.  Als  aber  Tag  und  Stunde 
herannahten,  an  dem  er  vom  Teufel  geholt  werden  sollte,  war  ihm  doch 
nicht  mehr  wohl  bei  der  Sache.  Er  ging  endlich  zum  Herrn  Pfarrer, 
beichtete  ihm  reumütig  die  ganze  Geschichte  und  bat  ilm  dringend  ihm 
zu  helfen,  wenn  er  könne.  Dieser  wusste  auch  gleich  Rat,  steckte  den 
Burschen  bis  zum  Hals  in  einen  vollen  Weihwasserpanzen  und  hielt  über 


Tiroler  Teufelsglaube.  269 

den  Kopf  desselben  die  Moostrauze.  80  konnte  ihm  der  Teufel  in  der 
Stunde  des  Vertrags-Ablaufs  nicht  beikommen  und  war  wieder  einmal  um 
eine  Seele  geprellt. 

Auch  in  Natters  hat  sich  einmal  ein  Bauernbursche  dem  Gangger  ver- 
schrieben. In  letzter  Stunde  ging  er  nun  zum  Prälaten  ins  Wiltener 
Kloster  und  bat  ihn  um  seinen  Beistand.  Da  nahm  der  Prälat  sein  Käpp- 
iein ab,  stülpte  es  um  und  setzte  es  so  dem  Burschen  für  einen  Augenblick 
auf.  Jetzt  konnte  der  Bursche  ruhig  heimgehen,  der  Teufel  vermochte 
nichts  mehr  über  ihn.  Man  sieht  also  da  so  recht,  was  dieser  Prälat  für 
ein  heiliger  Mann  gewesen  sein  niuss.  wenn  schon  sein  Käppiein  eine 
solche  Wunderkraft  besass! 

Der  Schmied  von  Polling  im  Oberinnthal  war  gleichfalls  mit  dem 
Teufel  im  Bunde.  Als  die  Lebensfrist,  die  ihm  der  Teufel  gelassen  hatte, 
sich  ihrem  Ende  zuneigte,  wurde  der  Schmied  immer  unruhiger  und  fuhr 
endlich  am  letzten  Abend  mit  seinem  Bruder  in  einem  Einspänner  zu  den 
Jesuiten  nach  Innsbruck,  wo  er  erst  spät  nachts  eintraf.  Diese  aber  er- 
klärten rundweg,  ihm  auf  keinen  Fall  helfen  zu  können.  In  seiner  Todes- 
angst baute  er  die  letzte  Hoffnung  auf  den  Pfarrer  von  Zirl.  Als  er  dort 
nach  Mitternacht  anlangte,  stand  ihm  der  Pfarrer  nicht  einmal  auf.  Jetzt 
ergab  sich  der  Schmied  willig  in  sein  Verhängnis  und  sagte  zu  seinem 
Bruder,  er  wolle  noch  heimzu  fahren,  so  Aveit  er  komme.  Wie  sie  übei- 
das  Inzinger  Moos  fuhren,  äusserte  der  Schmied,  nun  werde  der  Tschangl 
bald  da  sein.  Gleich  darauf  stürzte  das  Pferd  zu  Boden,  weil  es  den 
Teufel  gesehen  haben  nmsste.  Der  Bruder  des  Schmiedes  sprang  aus  dem 
Wagen  und  wollte  dem  Pferd  aufhelfen,  da  hörte  er  einen  Schrei,  der 
Teufel  hatte  den  Schmied  gepackt,  zerrte  ihn  aus  dem  ^^'agen  und  der 
Bruder  hörte  ihn  nur  noch  hoch  in  der  Luft  laut  aufschreien.  ^) 

Ich  will  hier  gleich  noch  das  Geschichtchen  vom  „rotzigen  Hansel"^) 
erzählen,  obwohl  es  nur  ein  Märchen  ist  und  keinen  Grund  hat  (nicht  auf 
Wahrheit  beruht).  Da  war  einmal  ein  armer  Bursch,  der  verschrieb  sich 
dem  Teufel,  weil  ihm  das  tägliche  Schanzen  und  Arbeiten  zu  sauer  vorkam. 
Der  Horner  erbot  sich  auch  ihm  Geld  zu  liefern  so  viel  er  wolle,  nur 
dürfe  er  sich  sieben  Jahre  lang  nicht  schneuzen,  kämmen  und  „ozwogln" 
(waschen).  Das  hielt  der  Bursche  getreulich,  denn  wenn  er  auch  in  kurzem 
ärger  als  ein  Strassenräuber  aussah,  das  Ungeziefer  truppweise  an  ihm 
herumkralte  und  ihm  die  Rotznase  lang  herunterhing,  klingelten  doch  in 
seinem  Sack  die  Thaler  und  er  konnte  sichs  gut  gehen  lassen.  Bald  hatte 
er    sich   in  die  ältere  von  zwei  bildsauberen  Bauerntöchtern  verliebt.     Als 

1)  Zahlreiche  Sagen  über  andere  Teufelspakte  siehe  Zingerle  S.  388,  433,  443  u.  s.  w. 
Ferner  Alpenburg  S.  288  „Der  Teufelsbrückenbau ".  Vonbun  S.  144  f.  Dörler  S,  80  f., 
83f.,  99.     Wetten  mit  dem  Teufel  s.  Schneller,  Märchen  und  Sagen  aus  Wälschtirol,  S.  '). 

2)  Ein  ganz  ähnliches  Märchen  s.  t?chneller  S.  90  „Zwei  für  Eine". 


270  Dotier: 

ihn  diese  jedoch  mit  Hohn  und  Spott  abgewiesen  hatte,  machte  er  sich 
an  die  jüngere  heran,  welche  ihn  trotz  seines  schreckbaren  Aufzuges  von 
Herzen  liebgewann.  Wie  die  sieben  Jahre  um  waren,  schneuzte  er  sich 
tüchtig  ab,  wusch  sich,  liess  sich  die  Haare  kolben  (schneiden)  und  den 
Bart  halbieren  und  war  jetzt  der  „deligste"  (prächtigste)  Bue,  den  man 
sich  denken  konnte.  Flugs  begab  er  sich  zum  Vater  seiner  Geliebten  und 
liielt  um  das  Dirndl  an,  das  ihm  auch  gern  zugesprochen  wurde  und  bald 
darauf  wurde  Hochzeit  gemacht.  In  der  älteren  Schwester  erwachten  aber 
Eifersucht  und  bittere  Reue  darüber,  dass  sie  den  Hansel  nicht  dazumal 
genommen  hatte,  als  er  noch  rotzig  und  dreckig  w^ar  und  erhängte  sich 
am  Abende  des  Hochzeitstages  ihrer  jüngeren  Schwester.  Da  rief  der 
Teufel  dem  Hansel  zum  Fenster  hinein:  „Host  oane?"  und  der  Bursch 
antwortete:  „Jo,  i  hun  oane!'^  „Und  i  hun  ä  oane!"  meinte  darauf  der 
Teufel  und  fuhr  mit  der  Selbstmörderin  zur  Hölle. 

Man  sielit  hier  recht  gut,  mit  welch  schlauer  Berechnung  der  Teufel 
bei  der  Ausführung  seiner  Pläne  zu  AVerke  geht,  und  dass  das  Schnada- 
hüpfl also  nicht  immer  Recht  hat: 

Vom  Unterlond  auffar 

A  Haftlklöckär 

Und  die  Gscheidheit  vun  Tuiil 

Ist  nit  gor  sövl  rar! 

Auf  den  wilden  Fels-  und  Eisbergen  der  Zillerthaler-  untl  Tuxer 
Alpen,  besonders  auf  der  Reichenspitze  ob  den  Wildgerlos -Seen,  dem 
Grossen  Greiner  im  Zemmgrund  und  dem  Glungezer  bei  Hall,  hausen 
übrigens  gewaltige  Bergschätze  bewachende  Schatzhüter,  denen  man  sich 
gleichfalls  für  Geld  verschreiben  kann,  wenn  man  sich  nichts  daraus  macht, 
nach  dem  Tode  unter  Erduldung  der  fürchterlichen  „kalten  Pein"  hüten 
helfen  zu  müssen.  Bekanntlich  fungiert  der  Teufel  auch  manchmal  selbst 
als  Schatzhüter  oder  sucht  wenigstens  die  Hebung  der  Schätze  auf  alle 
mögliche  Weise  zu  vereiteln,  wenn  er  auch  das  Schatzgeld  für  die  „höllische 
Cassa"  niemals  verwenden  darf.  Den  Venediger-Manndln  einen  Schatz 
abzujagen  hat  er  freilich  noch  nie  geprobiert,  weil  er  sie  ja  selbst  um  den 
Preis  der  Seele  eines  seiner  jeweiligen  Schüler  in  der  „schwarzen  Schule" 
zu  Venedig*)  unterrichtet  und  ganz  gut  weiss,  dass  sie  in  den  verschiedenen, 
bei  der  Schatzhebung  zur  Anwendung  kommenden  Künsten  und  Kniffen 
bald  ihrem  Lehrmeister  alle  Ehre  machen. 


1)  Nach  Zingerle  kommt  man  auf  dem  sogenannten  Eosswagner  Kreuzweg  am 
Ritten  in  die  SchwarzscJmle  und  kann  dieselbe  überhaupt  jeder  besuchen,  der  Lust 
hat.  Siehe  S.  428  und  431  f.,  wo  der  Barbianer  Schmied  von  der  Schwarzschule  verfolgt 
wird.  Verbreiteter  ist  die  Ansicht,  dass  die  Schule  wirklich  in  Venedig  ist  und  dass  in 
dieselbe  nie  mehr  als  zwölf  Hörer  aufgenommen  werden.  Siehe  Zingerle  S.  94.  Alpeu- 
burg  S.  273.     Uörler  S.  72. 


Tiroler  Teufelsglaube.  271 

Nicht  ZU  verwechseln  mit  einer  eigentlichen  Teufelsverselu'eibung  ist 
das  blosse  „Geld  bringen  machen",  zu  dem  uum  den  Graunzl  gleichfalls 
veranlassen  kann.  Es  geschieht  dies,  indem  man  entweder  mit  Kreide 
auf  dem  Stubenboden  oder  mit  einem  spitzigen  Stock  im  Freien  einen 
neun  Schuh  im  TJurchmesser  haltenden  Kreis  zieht,  in  denselben  hineintritt 
und  aus  einem  Gertraudibüchlein  die  entsprechenden  Formeln  zu  lesen 
beginnt.     So  z.  B.  folgende: 

Viele  Schätz   sind   versprochen,    verbunden  und  anvertraut  dem  Geiste 
der  Hölle.     So    komme    dan    uns    zu  bringen  die  verborgenen  Gütter  der 
Erden.     Ich    siehe    dich    ja    von  ferne  und  du  lachest,    aber  eben  darum 
förchte  ich  mich,  dann  ich  gedenke  du  lachest  zu  meinem  Verderben  und 
Untergang.     So    wohl    komme    eilends    herbei  ich  will  mich  mit  dir  ver- 
binden.    Darumen    wirst    du    alsobald  gehorsamen  mit  hervorbringen  der 
zeitlichen  Gütter. 
Gleich    wird    der  Teufel   in  seiner  gewöhnlichen  Jägertracht  kommen 
und    einen  mächtigen  Geldsack  mitbringen.     Er  bietet  jedoch  trotz  seiner 
Vermummung    einen    so  al)schreckenden  und  seelenlüsternen  Anblick  dar, 
dass    die    meisten    vor  Angst    beinahe    die    Besinnung    verlieren    und    zur 
weiteren  Beschwörung    nicht    mehr    fähig    sind.     Behält    man   jedoch   den 
Kopf   oben,    so  gelingt  es  oft  ganz  gut,    den  Teufel,    ohne  dass  er  seinen 
Geldsack    wieder   mitnimmt,    abzudanken    '^wegzubringen).     Auch   dies  ge- 
schieht mit  gewissen  Sprüchen  und  Formeln,  die  man,  falls  einem  dieselben 
gerade    nicht    erinnerlich    sind,    aus    dem    Gertraudibüchlein    oder    einem 
anderen    Teufelsbannerbuch    herauslesen    kann.     Eine    solche    Abdankung 
lautet: 

0    wie    traurig    und    betrübt    ist    meine  Seel!    da  sie  gedenket  an  die 

Gerechtigkeit  Gottes.     Ich  bruffe  die  Engel  des  ganzen  himmlischen  Hofs, 

kommet  mir  zugegen,  vertreibet  die  Geister.     Sonn  und  Mond  samt  allen 

Sternen    und  Pianetten    helfen    mir  loben  den  Namen   des  Herrn.     Jenen 

Weg    des  Verderbens   lasse   mich  nicht  führen,    sondern  den  bösen  Geist 

treibe    alsobald    von    mir!     Nicht  durch   unterschiedliche  Sprachen,    nicht 

durch  verkehrte  Buchstaben,  nicht  durch  Zeichen  oder  unbekannte  Zahlen, 

nicht  an  gewissen  Tagen  oder  Stunden,  nicht  durch  Afterglauben,  sondern 

allein    in    und   mit   dir,    durch  dein  heiliges  Wort  ist  alles  zu  erzwingen! 

Es  spräche  mein  Geliebter  am  Kreuz:  es  ist  vollbracht,  also  durch  seinen 

Mund  sage  ich  auch:    Es  ist  vollbracht,  eure  Gewalt  o  Geister  der  Erde! 

ist  hin!  weichet  von  dannen! 

Sehr  schlimme  Folgen  kann  es  haben,   wenn  Uneingeweihte  hinter  so 

ein  Büchel  kommen  und  darin  lesen,  wie  dies  im  Mühlthal  oberhalb  Patsch 

der  Fall  war.     Man  hörte  nämlich  schon  die  Teufeln  über  die  Kellerstiege 

herauftrampeln    und    sich    vor    der  Stubenthüre    ansammeln.     Zum  Glück 

wurde    man    noch    rechtzeitig    auf    die  Gefahr    aufmerksam    und  warf  das 

Buch    in    den  Ofen.     Aber  siehe   da!    ohne    dass  ihm  die  Flammen  etwas 

anhaben  konnten,  hüpfte  es  in  weitem  Bogen  wieder  beim  Ofenthürl  heraus. 

Als    man    es    abermals    hineinwarf,    wiederholte   sich  dies  ein  zweites  imd 


272  Dörler:  Tiroler  Teufel sglaulje. 

drittes  Mal,  Ms  es  endlich  verbrannte  und  das  Höllengesindel  sich  aus  dem 
Staube  machte.  ^) 

Versteht  man  aber  seine  Sache,  so  kann  man  sich  damit  das  schönste 
Geld  machen,  vorausgesetzt,  dass  man  sich,  wie  gesagt,  nicht  einschüchtern 
oder  gar  vom  Teufel  übertölpeln  lässt. 

Auf  der  Alpe  Durlassboden,  wo  sich  das  Wildgerlosthal  gegen  Süden 
wendet,  wollten  einst  vier  Melcher  diesen  Versuch  machen  und  dachten 
sich,  wenn  der  Scheiche  nur  erst  den  Geldsack  gebracht  habe,  werden  sie 
ihn  schon  wieder  abderdanken.  Nachdem  sie  bei  Anbruch  der  Nacht  in 
der  Mitte  des  Kaserraumes  auf  dem  Erdboden  einen  Kreis  gemacht  hatten, 
stellten  sich  drei  von  ihnen  hinein,  einer  blieb  draussen,  weil  ihm  die 
Geschichte  doch  zu  bedenklich  vorkam.  Kaum  hatten  sie  mit  der  Be- 
schwörungsformel begonnen,  als  auch  schon  der  grüne  Jäger  in  die  Hütte 
trat  und  sich  auf  den  mitgebrachten  Geldsack  niedersetzte.  Die  Älpler 
verloren  bei  seinem  Anblick  alle  zusammen  die  Fassung  und  derjenige 
von  ihnen,  der  nicht  in  den  Kreis  getreten  war,  eilte  sofort  nach  Gerlos, 
um  den  hochw.  Herrn  Vikar  zu  holen.  Wie  der  Teufel  den  Geistlichen 
mit  dem  Melcher  anf  die  Hütte  zukommen  sah,  meinte  er  lachend:  „Aha, 
iatz  kimmt's  Weinpanzl!''  und  rief  ihm  dann  zu:  „Hoi,  du,  geah  nar  hueme, 
deir  Hoisarin  ofloachn!"  (deiner  Häuserin  die  Flöhe  fangen).  Jetzt  sah 
der  Vikar  ein,  dass  er  dem  Teufel  nicht  gewachsen  sei  und  kehrte  unver- 
richteter  Dinge  nach  Gerlos  zurück.  Auch  andere  Priester,  die  man  aus 
,  den  umliegenden  Dörfern  herbeigerufen  hatte,  konnten  dem  Teufel  gegen- 
über nichts  ausrichten,  da  ein  Geistlicher,  wenn  er  dem  Blauhütler  unter 
die  Augen  treten  will,  ein  ganz  reines  Gewissen  haben  muss,  damit  ihm 
derselbe  ja  keinen  berechtigten  Vorwurf  über  dieses  oder  jenes  Vergehen 
machen  kann.  Endlich  holte  man  den  Pfarrer  des  weit  entfernten  Saal- 
felden  im  Salzburgschen,  der  allgemein  im  Kufe  der  Heiligkeit  stand. 
Obwohl  nun  der  Teufel  vor  diesem  Geistlichen  einen  gewaltigen  Kespekt 
hatte,  gab  er  seine  Sache  doch  noch  nicht  für  verloren.  Erstlich  machte 
er  ihm  zum  Vorwurf,  er  sei  einmal  mitten  durch  ein  Feld  gegangen  und 
habe  dadurch  den  Bauer  geschädigt.  Der  Priester  aber  erklärte,  er  sei 
damals  nur  deshalb  quer  liber  das  Feld  gegangen,  weil  es  galt,  die  Seele 
eines  Sterbenden  zu  retten.  Weiters  warf  er  dem  Geistlichen  vor,  er  habe 
einmal  unnützerweise  einen  Kaben  geschossen,  was  vom  Pfarrer  dahin 
richtig  gestellt  wurde,  dass  er  den  Raben  nicht  unnützerweise  erlegt  habe, 
sondern  um  sich  mit  seiiiem  Fleisch  den  Hunger  zn  stillen.  Der  letzte 
und  schwerste  Vorwurf  des  Teufels  war  der,  dass  der  Pfarrer  einmal  einem 
schmucken  Dirndl  lange  nachgeschaut  habe.  Auch  hier  war  der  Pfarrer 
nicht  verlegen  und  sa^te,  er  habe  bloss  deshalb  dem  Dirndl  nachgeschaut, 


1)  Vgl.  Ziugerle  S.  473  ..üas  Hexenbüchlein"  und  Zeitschrift  f.  österr.  Volkskunde, 
IL  Jahrg.,"  S.  153.  Beim  Vernichten  von  Bannbüchern  und  Zaubergeräten  zeigt  sich  häufig 
ein  ganz  unerwarteter  Spuk.     Siehe  Alpenburg  S.  3-24,  Ziugerle  S.  42>2,  Dörler  S.  109. 


Gerhardt  und  Petsch:  Uckermärkische  Kinderreime.  273 

weil  er  sich  recht  lebhaft  vergegenwärtigen  wollte,  was  doch  unser  Herrgott 
in  seiner  Allmacht  für  schöne  Geschöpfe  erschaffen  habe.  Jetzt  rausste 
der  Teufel  nun  seinerseits  dem  Pfarrer  Rede  stehen.  Zuerst  fragte  dieser, 
wo  der  Teufel  das  Geld  her  habe.  Er  erklärte,  ov  habe  es  einem  Kauf- 
mann in  Bozen  gestohlen,  der  so  reich  sei,  dass  er's  doch  nicht  merke. 
Da  das  Geld  von  einem  Diebstahl  herrührte,  schien  es  dem  Pfarrer  für 
die  Senner  doch  nicht  rätlich  zu  sein,  das  Geld  zu  behalten  und  sagte 
zum  Teufel,  er  könne  es  schon  wieder  mitnehmen.  Allein  damit  liess  sich 
der  Saggara  nicht  abspeisen  und  forderte,  dass  wenigstens  einer  aus  dem 
Kreise  treten  und  der  Hölle  gehören  müsse.  Der  Pfarrer  gestand  ihm 
dies  zu,  nur  dürfe  er  nicht  den  ersten  haben,  der  heraustrete,  sondern  den 
letzten,  der  im  Kreise  bleibe,  und  damit  war  der  Teufel  zufrieden.  Da 
liielt  der  Geistliche  eine  hl.  Hostie  in  den  Kreis  und  hiess  die  drei  Melcher 
herausgehen.  Jetzt  war  unser  Herrgott  selbst  der  letzte,  der  Teufel  sah 
sicli  geprellt  und  schoss  aus  der  Hütte.  Man  kann  sich  nun  leicht  denken, 
was  die  Melcher  ausgestanden  haben,  da  sie  während  der  ganzen  Zeit 
ruhig  im  Kreise  aushalten  mussten.  Wenn  sie  zu  früh  herausgetreten 
wären,  hätte  der  Teufel  Macht  ühor  sie  bekommen  und  sie  sicherlich  zu 
Laub  und  Staub  zerrissen. 

(Fortsetziuiy-  folgt.) 


Uckermärkische  Kiiiderreiine. 

Herauso-etjeben  von  M.  diei'liardt  imd  K.  Petsch. 


Die  folgenden  Spielreinn«  (die  als  Fortsetzung  unserer  Mitteilungen  im 
S.  Bande  dieser  Zeitschrift,  S.  407 — 415  gelten  sollen)  haben  wir  im  Herbst 
1S98  in  Joachimsthal  in  der  Uckermark  und  den  umliegenden  Ortschaften 
gesammelt.  Frau  Baronin  v.  Wedel  auf  Parlow,  Fräul.  Bredow  zu  Heeger- 
niühle  und  andere  treue  Mitarbeiter  haben  uns  bereitwilligst  geholfen,  so 
dass  wir  auch  zu  jener  ersten  Sammlung  manche  Nachträge  gefunden 
haben.  Unsere  Verweisungen  streben  keine  Vollständigkeit  an.  sondern 
wollen  im  wesentlichen  nur  zeigen,  wo  weitere  Nachweise  zu  finden  sind. 
Wir  geben  die  Reime  genau,  wie  wir  sie  gehört  oder  als  Kinder  selbst 
gesungen  haben,  bald  in  der  oft  stark  verwilderten  Mundart,  bald  in  der 
Schriftsprache.  Wir  geben  zunächst  einige  schwer  einzuordnende  Stücke, 
wie  sie  Eskuche  (Siegerländische  Kinderliedchen)  als  „Kinderdramen" 
bezeichnet  hat.  Wirklich  sind  sie  entweder  ganz  in  Gesprächsform  ge- 
halten   oder    flechten  Gespräche    in    die  Erzählung    ein.     Dann  folgen  die 


274  Gerhardt  und  Petsch: 

bei  den  Bewegungsspielen  üblichen  Reime,  in  der  Reihenfolge,  wie  sie 
bei  Fr.  M.  Böhme,  Deutsches  Kinderlied  und  Kinderspiel  (Leipzig  1897) 
verzeichnet  sind. 

X.    Kinderdramen  und  Verwandtes. 

44.    Doktor  Bär  schickt  mich  her, 
Ob  der  Kaffee  fertig  war. 
„Nein,  mein  Kind,  du  musst  noch  warten, 
Geh'  ein  bisschen  in  den  Garten.'^ 

B(>i  Eskuche  a.  a.  0.  No.  333  um  einige  Zeilen  länger,  die  aber  aus 
einem  anderen  Liedchen  in  das  unsere  eingedrungen  sein  mögen.  Sie 
sollen  das  Warten  als  unmöglich  darstellen:  „Uhr  neun,  Uhr  zehn  Muss 
ich  in  die  Schule  gehn.  Gestern  hab  ich  noch  gesessen''  u.  s.  w.  In  anderen 
Fassungen,  wie  der  Kasseler  (s.  Böhme  a.  a.  0.  S.  112,  No.  496)  werden 
unsinnige  Zeitangaben  gemacht:  „Morgen  früh  beim  Mondenschein  Soll 
der  Kaifee  fertig  sein."     Doch  ist  auch  der  Schluss  häufig: 

„Sagen  Sie  ein  Komphment, 

Der  Kaffee  is  angebrennt. 

Die  Milch  is  übergelaufen, 

Könn'n  mer  kenen  Kaffee  saufen." 

(So  bei  Dähuhardt,  Volkstümliches  aus  dem  Königreich  Sachsen  [im 
folgenden:  Dähnhardt,  Yolkst.],  Heft  I,  No.  17),  oder  höflicher:  „Müsst 
Madame  andern  kaufen."  Der  Name  in  der  Eingangszeile  ist  natürlich 
nur  durch  den  Reim  entstanden,  und  w^ir  haben  eine  Reihe  von  Varianten, 
die  mit  den  Worten:  „Meine  Mutter  schickt  mich  her"  beginnen  (z.  B. 
aus  Westpreussen  bei  Frischbier.  Preussische  Volksreime,  S.  100,  No.  448. 
wo  alier  das  Stück  mit  ganz  fremden  Elementen  versetzt  ist).  Damit 
dürften  die  Hauptformen,  die  das  Verschen  annimmt,  Verschmelzungen 
abgerechnet,  erschöpft  sein.  Es  ist  übrigens  nicht  gar  so  häufig  belegt 
und  Böhme  hätte  gut  gethan,  zu  No.  496  statt  des  „auch  anderwärts  ge- 
konnt" lieber  die  ihm  bekannten  Varianten  zu  notieren.  Ohne  Gegenrede, 
als    Tanzreim,    bei  Wegener,    Volkstümliche   Lieder  ans  Norddeutschland. 

S.  281,  No.  995: 

„Meine  Mutter  schickt  mich  her, 
Ob  der  Kaffee  fertig  war, 
"Wenn  er  noch  nicht  fertig  war. 
Sollt  er  bleiben,  wo  er  war." 

45.    Guten  Morjen,  Herr  Meier, 
Was  kosten  Ihre  Eier?  — 
„Einen  Dreier."  — 
Das  ist  zu  teuer.  — 
„Einen  Pfennig."  — 
Das  ist  zu  wenig. 

Das  weit  verbreitete  Verschen  (vgl.  z.  B.  Böhme  a.  a.  0.  S.  136.  No.  621) 
zeigt  häufig  die  Eingangszeilen:    „Ihr  Diener,   was  machen  Ihre  Hühner?" 


Uckermärkische  Kinderreime.  275 

Der  Reim  Meier  :  Eier    lie,nt    zu   nahe,    als   dass   ihn   das  Volk  iiielit  auf- 
iiehnieii  sollte.     Er  wird  auch  in  Spottversen  auf  den  Nanieu  verwandt: 

„Meier 

Legt  Eier 

Im  Bromelbeerbusch." 

Die  beiden  Schlussverse,  aus  dem  Streben  nach  Paranelisnius  ent- 
sprun^'en,  i.;ehören  wohl  eigentlich  nicht  her.  Ganz  unvolkstümlich  a))('r 
ist,  was  man  in  Kindergärten  so  oft  hören  kann:  „Einen  Zweer  —  das 
ginge  noch  eher."  Der  ursprünglichen  Form  am  nächsten  kommt  wohl 
die  vogtländische  bei  Dunger,  Kinderlieder  und  Kinderspieh-  aus  «lem 
Vogthmde,  2.  Aufl.  (Plauen  1894),  S.  64,  No.  55: 

„Ihr  Diener! 

Was  machen  Ihre  Hühner? 
Legen  sie  brav  Eier?  — 
Das  Dutzend  einen  Dreier." 

46.    Zwei  Mädchen  wolhcn  Wasser  holen, 
Zwei  Knaben  wollten  pumpen: 
Da  guckt  der  Herr  zum  Fenster  raus 
Und  sagt:   Ihr  alten  Lumpen! 
Ihr  habt  die  ganze  Nacht  gepumpt 
Und  habt  die  Pumpe  leer  gepumpt, 
Adje,  ihr  Lumpen-Pumpen. 

Die  Siegerländer  Fassung  (Eskuche  Xo.  X'>(\)  und  die  GiesseiU'r  (Böhme 
a.  a.  0.  S.  HG,  No.  517b)  sind  vierzeilig.  Unsere  siebenzeilige  Yersiou 
ist  die  ausführlichste  des  wenig  verbreiteten  Reimes:  datür  fehlt  aber  die 
Bestimmung:  „der  Herr  Pastor."  Das  Herausschauen  aus  (b'iu  Fenster 
wird  dadurch  angedeutet,  dass  man  die  Hände  faltet  und  den  einen  Daumen 
oben  herauslügen  lässt.  Die  Kinder  sagen  auch,  wenn  eines  ein  Loch  im 
Strumpfe  hat,  so  dass  eine  Zehe  herausragt:  „Da  guckt  der  Herr  Pastor 
zum  Fenster  raus."  Die  Schlusszeile  mag  ursprünglich  gelautet  haben: 
„Adje.  Adje,  ihr  Lumpen!"  und  dann  der  Assonanz  zum  Opfer  gefallen 
sein.  Statt  „Knal)en"  hiess  es  wohl  früher  „iMännclien"  (alliterierend  mit 
„Mädchen"  in  der  1.  Zeile),  wie  noch  heute  im  Siegerlande. 

47.    Frau  von  Hagen  Sie  getragen 

Darf  ich's  wagen  Vor  acht  Tagen 

Sie  zu  fragen,  Auf  dem  Wagen 

Welchen  Kragen  Auf  der  Fahrt  nach  Kopenhagen? 

Ein  Reimspiel,  mit  den  Schuellsprechübungen  verwandt.  Wird  auch 
verlängert  durch  neue  Reimwörter,  z.  B.:  „Als  Sie  lagen  krank  am  Magen." 
(Eskuche,  Siegerl.  Kinderl.  S.  89,  No.  330.)  In  Berlin  lautet  die  letzte 
Zeile:    „welcher  fuhr  nach  K." 

Als  halbdramatische  Spielerei  scldiessen  wir  hier  eine  Kinderpredigt 
an  und  lassen  ihr  einige  Gebete  folgen: 


■)7()  Gerhardt  und  I'etsch: 

48. 
Amen,  Sauer  wird  ihm  das  Leben, 

Der  Geist  reist  nacli  Samen.  Der  Weinstock  hat  viel  Reben. 

Xach  Samen  reist  der  Geist,  Viel  Reben  hat  der  Weinstock. 

Die  Suppe  ist  heiss.  Das  Kalb  ist  kein  Ziegenbock. 

Heiss  ist  die  Suppe,  Ein  Ziegenbock  ist  kein  Kalb. 

Die  Kuh  hat  ne  Schnuppe.  Jetzt  ist  meine  Predigt  halb. 

Ne  Schnuppe  hat  die  Kuh,  Halb  ist  meine  Predig, 

Aus  Leder  macht  man  Schuh.  Mein  Bauch  ist  ledig. 

Schuh  macht  man  aus  Leder,  Ledig  ist  mein  Bauch, 

Die  Gans  hat  viel  Federn.  Meine  Mütze  ist  rauh  (in  älterer  Form : 

Viel  Federn  hat  die  Gans,  Rauh  ist  meine  Mütze,        [,.rauch-')- 

Der  Fuchs  hat  'nen  langen  Schwanz.  Mein  Bruder  heisst  Fritze. 
Ein'  langen  Schwanz  hat  der  Fuchs,  Fritze  heisst  mein  Bruder, 
Der  Bauer  reist  nach  Luchs.  Ein  Schwein  ist  kein  Luder. 

Nach  Luchs  reist  der  Bauer,  Kein  Luder  ist  das  Schwein, 

Das  Leben  wird  ihm  sauer.  Jetzt  lass  ich  meine  Predigt  sein. 

Man  weiss,  wie  beliebt  diese  Kettenreiine  sind,  imd  dass  sie  bei  uns 
schon  in  alter  Zeit  gäng-  und  gäbe  waren,*  wie  denn  ans  einer  Handschrift 
des  14.  Jahrh.  Graff  in  seiner  Dintisca,  Bd.  I,  S.  314,  315  (nach  ihm 
Wackernagel  im  Altdeutschen  LesebucUe  S.  829—832,  2.  A.)  eine  solche 
„Kette"  veröffentlicht  hat.     Sie  beginnt: 

„Ez  reit  ein  herre"  („es  ritt  ein  Herr"), 
und    so   werden   auch  unsere  Versionen  ursprünglich  begonnen  haben,    bis 
dann  eine  Anrede:    „Ihr  Diener,   meine  Herrn",   oder  „]\[eine  Damen  und 
Herrn"  daraus  wurde.     Li  Berlin  lautet  die  „Predigt": 

„Meine  Damen  und  meine  Herrn,  Zwe  Zäppel  hat  de  Wurscht. 

Äppel  sind  keene  Bern',  Der  Bauer  hat  Durscht. 

Bern  sind  keene  Äppel,  Durscht  hat  der  Bauer, 

De  Wurscht  hat  zwee  Zäppel.  Das  Leben  wird  ihm  sauer. 

(u.  s.  w.  wie  oben;  dann:) 
Halb  ist  meine  Predig,  Das  Schwein  hat  'en  Rüssel. 

Die  Schüsseln  sind  ledig.  Ein'  Rüssel  hat  das  Schwein  — 

Ledig  sind  die  Schüsseln,  Jetzt  lass  ich  meine  Predigt  sein." 

Die  Litteratur    des    weitbekannten  Spiels    anzuführen    ist  nicht  nötig, 
ich  verweise  nur  auf  Böhme  a.  a.  O.  S.  306.     Unsere  Version  zeigt  ein(>n 
höchst   merkwürdigen  Anfang.     Di(>    zweite  Zeile    ist  ganz  unverständlich, 
aber  gerade  dies  erhöht  ja  bei  den  Kindern  die  feierliche  Stimmung. 
49.    Herr  Jesu  komm,  50.    Lieber  Gott, 

Sei  unser  Gast,  Mach  mich  fromm. 

Und  segne,  was  du  Dass  ich  auch  ^ 

Uns  bescheret  hast.  In'n  Himmel  komm. 

51.    Ich  bin  klein, 

Mein  Herz  ist  rein, 
Soll  niemand  drin  wohnen, 
Als  Jesus  allein. 
(Allerwärts  bekannt.) 


ückermärkische  Kinderreime.  277 

52.    Wenn  ich  abends  schlafen  geh,  Zweie,  die  mich  zudecken, 

Vierzehn  Engel  bei  mir  stebn.  Zweie,   die  mich  aufwecken, 

Zweie  rechts,  zweie  links,  Zweie,  die  mich  führen 

Zwei  zu  meinen  Häupten,  Ins  himmlische  Paradies. 
Zwei  zu  meinen  Füssen, 

XI.    Spiclreime. 

Zunächst  „Reigenspiele  mit  Niederfallen". 

53.    Ringel,  Ringel,  Reihen, 

Wir  sind  der  Kinder  dreien. 
Wir  sitzen  hinterm  Holderbusch, 
Und  rufen  alle  husch,  husch,  husch! 
Sitz  nieder,  sitz  nieder. 

Oft  treten  weitere  Strophen  hinzu  (vergl.  die  Varianten  bei  Böhme 
a.  a.  O.  S.  438  und  439),  die  aber  in  keinem  inneren  Zusammenhange  mit 
der  Stammstrophe  stehen,  sondern  wohl  der  gleichen  Melodie  wegen,  die 
eine  der  bekanntesten  ist,   „angesungen"   sind.     In  AVürzburg: 

„Ringle,  ringle,  Reihe, 

Sein  der  Kindle  zweie, 

Sitzen's  auf  e  Hollerbiisch, 

Schreien's  alle:  husch,  husch,  husch!" 

Interessant  ist  die  Umdichtung  bei  E.  Meier,  Deutsche  Kinderreime 
aus  Schwaben,  S.  97,  Xo.  367: 

.,Ringel,  Ringel,  Reihe, 
Hopfet  uf  de  Zeihe  (Zehen), 
Hopfet  uf  de  Holderstecken, 
Schreiet  alle:  Ja!" 

54.    Ringel-Ringel-Rosenkranz, 

Setz  ein  Töpfchen  Wasser  bei. 
Morgen  woll'n  wir  waschen. 
Kleine  Wäsche, 
Grosse  Wäsche, 
Kickerickiki! 

(Vgl.  Böhme  a  a.  O.  S.  442—443.)  Vor  der  Schlusszeilo  fehlt  eine 
andere,  die  diesen  Ausruf  erst  erklärt;  es  hiess  ursprünglich  (wie  noch  in 
den  50er  Jahren  zu  Berlin: 

..Bis  der  Hahn  wird  krähen, 

Kickerickicki!"  (d.  h.  es  wird  die  ganze  Nacht  gewaschen). 

Da  die  Zeile  sieh  auf  keine  andere  reimte,  so  fiel  sie  leicht  fort  (wie 
oben),  oder  ward  durch  eine  Reimzeile  ersetzt  (so  in  Brandenburg,  siehe 
Böhme  a.  a.  O.  Xo.  (59) : 

„Kleene  Wäsche,  groote  Wäsche, 
Allerhand  ser  scheene  W^äsche", 
oder    es  wurde   eine  neue  Reimzeile  hinzugedichtet,    und,    da  man  einmal 
im  Erw^eitern    war,    auch    zur    letzten  Zeile    ein  Reim  geschaffen,    und  so 
heisst  es  jetzt  in  Berlin  (Böhme  Xo.  71): 

Zeitschr.  d.  Verein-  f.  Volkskunde.    18y9.  19 


278  ■  Gerhardt  und  Pctscli; 

„Wenn  der  Hahn  wird  krähen, 
Werd'n  wir  früh  aufstehen. 
Die  ganze  Kompagnie 
Macht  Kikerikiki!" 

(Litter.  auch  bei  Treichel,  Volkslieder  und  Volksreime  aus  West- 
preiisseu.     Danzig  1895.     S.  101,  No.  86.) 

Eiue  Zusatzzeile  zeigt  das  böhmiseiie  Versehen: 
„Ringel,  Ringel,  Rosenkranz, 
Schliesset  euch,  zum  Jungferntanz." 

(Hruschka-Toischer,  Deutsehe  Volksl.  a.  Böhmen.  Prag  1891.  B.  442, 
No.  873.) 

55.    Ringel-Ringel-Rose 
Butter  in  de  Dose, 
Schmalz  in'n  Kasten, 
Morgen  müss'n  wir  fasten, 
Übermorgen  's  Lämmchen  schlachten. 
Lämmchen  ruft:  Mäh! 

Vgl.  Böhme  a.  a.  0.  S.  445,  No.  8o.  Nach  Massgabe  der  Varianten 
scheint  es  ursprünglich  „Zucker"  statt  „Butter",  und  „Salz"  statt  „Schmalz" 
geheissen  zu  haben.  In  dieser  Form  nicht  sehr  häufig.  S.  nocli  Eskuche 
a.  a.  0.  S.  86,  No.  314.     Viel  verbreiteter  ist  das  andere: 

„Ringel,  Ringel,  Rosen 

Schöne  Aprikosen, 

Veilchen  und  Vergissnieinnicht, 

Alle  Kinder  setzen  sich." 

(So  in  AVürzburg.     Vgl.  noch  Böhme  a.  a.  O.  S.  444,  No.   79  und  zur 
Litter.  Hruschka-Toischer  a.  a.  0.  S.  444,  No.  384,  Dunger  a.  a.  0.  2.  Aufl., 
No.  367  und  Dähnhardt  a.  a.  O.  Heft  I,  No.  305.) 
Mit  Umkehr  des  Kreises  wir«!  gespielt: 

56.    Wir  treten  auf  die  Kette,  Singt  so  klar,  wie  ein  Haai'. 

Dass  die  Kette  klingt.  Hat  gesungen  sieben  Jahr. 

Wir  haben  einen  Vogel,  Sieben  Jahr  sind  um  und  um, 

Der  so  schöne  singt.  Eiii  dreht  sich  um. 

Eines  der  allerbekanntesten  Spiellieder,  dessen  fast  unübersehbare 
Litteratur  hier  nicht  aufgeführt  werden  kann.     Vgl.  Böhme  S.  447  ff. 

Unsere  Fassung  ist  stark  verderbt.  Durch  das  „singen"  ist  ein  „Vogel" 
hineingebracht.  Das  alte  Motiv  vom  Seideuspinnen  ist  nicht  mehr  ver- 
standen.    Li  Berlin  hiess  es  in  den  fünfziger  Jahren: 

„Wir  spinnen  klare  Seide,  Jungfer  N.  N.  dreht  sich  um.  — 

So  klar,  wie  ein  Haar,  N.  N.  hat  sich  umgedreht. 

Es  vergingen  sieben  Jahr,  Der  Bräutgam  hat  ihr  'n  Kranz  beschert 

Sieben  Jahr  sind  um  und  um,  Und  eine  goldne  Kette." 

Dass  nicht,  wie  in  unserer  und  vielen  anderen  Versionen,  ursprünglicli 
der  Vogel  der  Sänger  war,  zeigt  die  recht  altertümliche,  wertvolh'  Fassung 
liei  ]\lüllenhofF  (Sagen  aus  Schleswig-Holstein  und  Lauen  bürg).  S.  484: 


Uckcrmärkisclie  Kinderreinie.  279 

„Trekke  (zieh)  my  de  Käd  up!"  — 
De  Käd  is  in  de  Klink. 
.  „Wat  is  dat  allerschönste?"  — 
Dat  Mäken  dat  dar  singt. 
Dat  is  Lene  Junker, 
De  steit  up  ären  Sprunker, 
ün  dreit  sik  mael  iierum." 

Dies  scheint  ursprünglich  ein  selbständiger  Vers  gewesen  zu  sein  und 
sich  erst  später  mit  der  „Spinnerstrophe"  verschmolzen  zu  haben.  Denn 
die  letztere  kommt  auch  gesondert  vor.  So  habe  ich  in  Würzburg  dem 
Liede  nachgefragt,  aber  den  ersten  Teil  nirgends  notieren  können.  Wohl 
aber  kommt  der  Schluss  vor  —  ganz  gesondert,  fast  unverständlich: 

„Eisenklaar, 

Wie  ein  Haar, 

Hat  gesponnen  sieben  Jahr. 

Sieben  Jahr  sind  rum, 

N.  N.  dreht  sich  um. 

Die  N.  N.  hat  sich  umgedreht, 

Und  hat  der  Braut  ihren  Kranz  beschert." 

Icli  bitte  alle  Leser,  uns  aus  allen  Teilen  Deutschlands  mundartliches 
Material  zu  diesem  höchst  merkwürdigen  Stücke  zukommen  zu  lassen, 
damit  wir  einmal  seiner  Geschichte  nachgehen  können^). 

57.    Wir  fahren  auf  dem  weissen  See, 
Wo  die  Fischlein  schwimmen. 
Freuet  Euch,  mein  ganzes  Herz 
Ist  lauter  Lust  und  Singen. 
Eli,  Eli,  wir  sind  hier! 
Der  Goldfisch,  der  Goldfisch 
Er  folge  mir. 

Die  Kinder  fassen  sich  dabei  an  den  Händen  und  gehen  im  Kreise 
herum.  Eines  befindet  sich  draussen  und  zieht  jedesmal  bei  den  Worten 
„der  Goldfisch,  er  folge  mir"  ein  anderes  aus  dem  Kreise  heraus.  Schliesslich 
ist  der  ganze  Kreis  anfgelöst  und  alles  geht  hintereinander.  Das  Spiel  ist 
weit  verbreitet.  Böhme  (a.  a.  0.  S.  468—469)  führt  vier  Fassungen  mit 
verschiedenen  Melodien  vor.  Die  Kassler  und  Mainzer  weichen  nicht  be- 
deutend voneinander  ab,  stimmen  auch  zu  unserem  Texte.  Der  Ruf,  der 
bei  uns  „Eli,  Eli"  heisst,  scheint  in  seiner  Urgestalt  nicht  mehr  herstellbar 
zu  sein.  Er  heisst  in  Kassel:  „Ehre,  Beere",  in  Mainz:  „Ihre,  bihre." 
Die  Schleswiger  und  rheinländische  Version  verändern  auch  die  zweite 
Zeile;  und  zwar  hat  die  erstere:  „Freuen  sich  das  ganze  Heer  und  die 
Bauern  singen"  (Rufwort:  „Ehre,  wehre"),  die  andere:  „Freut  sich  jeder 
Gottes  AVehn.  wird  mein  Herz  schon  singen."  Diese  beiden  haben  auch 
das    miteinander    gemein,    dass    sie  am  Schlüsse  das  herausgezogene  Kind 

1)  Einsendungen  erbeten  an  Dr.  phil.  Rob.  Petsch  in  Würzburg,  Mergentheimerstr.  24. 

19* 


280  Gerhardt  und  Petsch: 

nicht  als  „Goldfisch"  bezeichnen,  sondern  seinen  Namen  nennen.  Die 
Leipziger  Fassung,  die  ])iilnihardt  a.  a.  0.  Heft  11,  S.  65,  No.  289  auf- 
gezeichnet hat: 

,,Wenn  wir  fahren  auf  dem  See, 

Wo  die  Fischlein  schwimmen. 

Freuet  sich  mein  ganzes  Herz, 

Lauter  Lust  und  Singen! 

Eli,  Eli,  wir  sind  hier! 

Der  Goldfisch,  der  Goldfisch, 

Der  folge  mir." 

( —  mit  den  Fisclmamen  wird  gewechselt:  Hecht,  Karpfen  u.  s.  w.)  scheint 
der  Urfassung  sehr  nahe  zu  stehen.  Sie  hat  die  erste  Zeile  („Wenn 
wir  ....")  mit  der  Schleswiger,  den  Schluss,  der  im  Bilde  l)leibt  und 
nicht  die  prosaischen  Vornamen  einsetzt,  mit  den  allermeisten  Fassungen 
gemein.  Mit  mannigfachen  Verdrehungen  aus  dem  Urtext  abgeleitet  scheint 
die  Siegerländische  Version  (Eskuche  a.  a.  0.  S.  85,  No.  309): 

„Denn  wir  fahren  auf  der  See,  Ehre!  Ehre! 

Seht  die  Fischlein  schM'immen!  Wir  sind  hier! 

Fahren  wir  auf  Gottes  See,  0  Goldfisch,  o  Goldfisch, 

Lass  das  Herz  erklingen!  Dir  folgen  wir. 

ö.S.    Ich  ging  auf  einer  Wiese,  Es  sind  ja  schöne  Leute  hier. 

Und  die  war  nass.  Eilig,  ja  freilich, 

Begegnet  mir  'ne  Ziege,  Wo  ich  bin,  da  bleib'  ich. 

Und  die  frass  Gras  Bleib  ich,  wo  ich  bin, 

Ach  liebes  Mädchen,  tanz  mit  mir,  "  Ade  mein'  Spielerin. 

Das  Liedchen  besteht  aus  drei  Teilen,  die  gesondert  betrachtet  werden 
müssen,  wenn  wir  uns  <ler  Urgestalt  nähern  wollen.  Ich  gebe  zunächst 
einige  Litteratur,  die  ich  nachher  kurz  citiere.  Böhme,  Deutsches  Kinder- 
lied, S.  469—472  (No.  170-179),  Dunger  a.  a.  O.  2.  Aufl.,  S.  178—179 
(No.  360— 3Ü1),  Eskuche,  Siegerl.  Kinderl.,  S.  95,  No.  349.  Dähnhardt, 
Volkstüml.  a.  d.  Kgr.  Sachsen,  H,  S.  66—67,  No.  292.  Drosihn,  Deutsche 
Kinderreime  und  Verwandtes,  S.  127,  No.  309. 

Fassen  wir  nun  die  Überlieferung  ins  Auge,  so  ergiebt  sich  ungefähr 
folgendes  für  die  vier  ersten  Zeilen. 

Weitaus  die  meisten  Versionen  beginnen: 

a)  „Es  regnet  auf  der  Brücke 
(Und  es  ward  nass)." 

Die  zweite  Zeile  mannigfach  entstellt.  So  bei  Böhme  No.  170  (Sachsen 
und  Berlin),  172  (Niederrhein;  „und  ich  ward  nass",  ebenso  Nassau).  175 
(Sachsen;  „es  ist  schon  nass"),  177  (Elsass;  „das  war  nass"),  178  (Olden- 
burg; „und  Alles  das  war  nass");  Drosihn  a.  a.  0.,  Dähnhardt  a.  a.  0.; 
Dunger  No.  361  und  360  (doch  hier:  „und  ist  sehr  nass");  jünger  scheint 
eine  andere  Eingangszeile  zu  sein,  die  den  Anfang  gleich  persönlich  ge- 
staltet: 


Uckermärkische  Kiuderreime.  281 

b)  „Ich  ging  (mal)  über  die  Brücke 
Und  die  war  nass." 

Hier  fällt  der  Regen  fort,  die  Erwähnimg-  der  Brücke  lässt  das  über- 
schrittene Flüsschen  in  die  Erinnerung  treten,  das  die  Bretter  benetzt  hat; 

oder: 

c)  „Ich  ging  über  die  Brücke 
Und  wurde  nass'*. 

Schon  Böhme  17-2  zeigte  ja,  bei  wohl  erhaltener  Eingangszeile,  die 
persönliche  AYendung  „und  ich  ward  nass".  Zu  a)  stimmen:  Böhme  No.  173 
(Berlin).  174  (Prov.  Sachsen),  179  (Hessen);  zu  c):  Eskuche  a.  a.  0.  Das 
zweite  Zeileupaar  zeigt  in  allen  Fassungen,  die  überhaupt  auf  Alter- 
tümlichkeit Anspruch  erheben  können,  eine  Wendung  ins  Geistige,  eine 
Stimmungsangabe.  Die  Reimstellung  war  eben:  xbxb  und  nicht  ab  ab. 
Die  Zeilen  lauteton: 

d)  „Es  hat  mich  was  verdrossen,  — 
Ich  weiss  nicht  was." 

Die  zweite  dieser  Reihen  wird  aber  meist  verdreht: 

e)  „Ich  weiss  wohl,  was." 

Zu  d)  gehört  etwa:  Dähnhardt  No.  292  a),  zu  e)  aber:  Drosihn  a.  a.  0. 
(Ich  weiss  schon  was),  Böhme  No.   177.  178. 

AVie  kommt  nun  der  Regen  mit  der  Stimmungsbezeichnung  zusammen? 
Man  vergleiche: 

„Nit  lang  ist's,  üass  es  g'regnet  hat, 

Die  Läubles  tröpflet  noch;  — 

Ih  han  amal  a  Schatz  gehatt, 

I  wolt,  i  hätt'  ihn  noch!'^ 
Oder  ein  schönes  Liebeslied  mit  dem  Anfange: 

„Es  steht  ein'  Lind  in  jenem  Thal, 

Ist  oben  breit  und  unten  schmal, 

Ist  oben  breit  und  unten  schmal, 

Darauf  da  sitzt  Frau  Nachtigall." 
Es  ist  eben  für  alle  Yolkspoesie  (nicht  bloss  die  deutsche)  durchaus 
bezeichnend,  dass  sie  mit  liebevollem  Blicke  die  Natur  anschaut  und  in 
engen  Zusammenhang  mit  dem  eigenen  Leben  setzt.  Vor  allem  werden 
die  Seelenvorgänge  gern  in  Beziehung  zu  dem  Blühen  und  Wachsen  der 
Natur  im  Frühling,  zum  hellen,  wärmenden,  lachenden  Sonnenscheine  oder 
zum  Vergehen  und  Absterben  im  Herbste,  zu  rauhen  Winden,  zu  Schnee 
und  Regen  gesetzt.  Stehen  doch  dem  Volke  nicht  die  Mittel  zu  Gebote, 
über  die  der  Kunstdichter  verfügt,  um  uns  in  die  rechte  Stimmung  zu 
versetzen.  Die  unsichtbar  wirkenden,  aber  fühlbaren  Mittel  der  Sprache, 
damit  etwa  das  Märchen  arbeitet  („Brüderchen  nahm  sein  Schwesterchen 
bei  der  Hand  und  sagte:  Seit  die  Mutter  tot  ist,  haben  wir  keine  gute 
Stunde  mehr"  oder  vergl.  das  höchste  Meisterstück  deutscher  Volksprosa, 
den  Eingang  des  ^Märchens  vom  Machandelboom  in  der  Grimmsclien  Samm- 


282  Gerhardt  und  Petsch: 

lang),  diese  Mittel  gehen  dem  Volksliede  in  gebundener  Rede,  mit  seinem 
lleimzwange  und  seinen  Flickwörtern,  auch  leicht  verloren,  und  so  bleibt 
ihm  denn  nur  als  letztes,  aber  höchst  wirksames  Mittel,  die  rechte  Stimmung 
zu  erzeugen,  die  Anknüpfung  an  die  Natur.  So  auch  in  unserem  Liedchen. 
Das  Mädchen,  das  an  den  Ring  der  Tanzenden  tritt,  ist  in  trüber  Stinnnung; 
sie  kann  sich  nicht  besinnen,  was  sie  verdrossen  hat,  aber  in  ihrem  Innern 
sieht  es  so  trüb  aus,  wie  am  Himmel;  —  es  regnet,  und  auf  dem  Stege, 
der  zum  Anger  führte,  hat  sie  die  Nässe  empfunden. 

Soweit  führen  uns  die  vier  ersten  Zeilen.    Ehe  wir  aber  weiter  gehen, 
müssen  war  uns  umsehen,  was  aus  der  Strophe: 

„Es  regnet  auf  der  Brücke 

Und  ist  schon  nass;  — 

Es  hat  mich  was  verdrossen, 

Ich  weiss  nicht,  was."  — 
die    wohl  früher  von  Erwachsenen  gesungen  wurde,    im  Kindermunde  ge- 
worden   ist.     Zunächst    ist    das  „verdrossen"    dem  Kinde  zu  abstrakt.     Es 
wird  durch  „vergessen"  ersetzt  und  die  Zeile  lautet: 

„Ich  hab  etwas  vergessen." 
So  bei  Böhme  No.  170,  172,   175,  179,  Dunger  No.  361  (in  der  stark 
verderbten  No.  860  fallen  Zeile  3  und  4  überhaupt  aus),  Eskuche  a.  a.  0. 
Eine    sonderbare  Yerquickung    mit  unserer  No.  56   zeigt  ein  deutsch- 
böhmisches Yerslein  (bei  Böhme  No.  176): 

„Wir  treten  auf  die  Stätte, 

Die  Stätte,  die  ist  nass; 

Wir  haben  was  verloren, 

Und  wissen  nicht,  was." 

Die  Hauptveränderung  aber  verdanken  unsere  Zeilen  der  kindlichen 
Reimlust.  Zwei  reimlose  Zeilen  erscheinen  dem  Kinde  unkünstleriseh,  — 
ein  kurzes  Besinnen  schafft  zu  „Brücke"  den  wunderschönen  Reim:  „Zicke"; 
damit  fällt  die  Zeile:  „ich  weiss  nicht  was"  und  der  Begriff  „Ziege"  führt 
zu  dem  neuen  Reimwort:  „Gras". 
Jetzt  lautet  die  Strophe: 

„Ich  ging  über  eine  Brücke, 
Und  die  war  nass, 
Begegnet  mir  eine  Zicke 
Und  die  frass  Gras." 
So  Böhme  No.  173  (Berlin).    In  No.  174  (Prov.  Sachsen)  sind  es  sogar 
„zwei  Zicken"  und  im  Kgr.  Sachsen  (Dähnhardt)  „kam  'ne  alte  Ziege". 

Von  da  ist  es  nur  noch  ein  Schritt  bis  zu  unserer  nckermärkischen 
Version.  Wo  man  nicht  „Zicke",  sondern  „Ziege"  sagt,  stimmt  der  Reim 
nicht  mehr,  und  als  Assonanz  tritt  in  der  ersten  Zeile  die  „Wiese"  ein. 

Der  zweite  Teil  des  Liedes  umfasst  zwei  Zeilen,  die  im  Spieh-  eines 
der   im  Reigen  tanzenden  Kinder  zu  dem  draussen  stehenden  spricht;    sie 


Uckermärkische  Kinderreiine.  283 

enthalten    die  Auffol•^leru^,^■,    sich  dem  fröhlichen  Tauze  anzuschliessen,  — 
nach  der  Urfassung  also:  die  trübe  Stimmung  fahren  zu  lassen  — ,  und  in 
der  zweiten  Zeile  die  Begründung  dafür,  die  verschieden  überliefert  wird. 
Welches  die  älteste  Form  sei,  entnehmen  wir  dem  alten  Fragment  in  einem 
Quodlibet  vom  Jahre  1544,  das  Böhme  No.  171  abgedruckt  hat: 
„Jungfrau  in  dem  roten  Rock, 
Kommt  her  zu  mir. 
Es  sein  nit  hübscher  Leute  hie 
Denn  ich  und  ihr." 
Die  Vorstellung    also,    dass   Sprecher    und  Angeredete    zusammen   ein 
schönes  Paar    ergeben    würden,    ist    die  ursprüngliche.     Sie  herrscht  noch 
vor  bei  Böhme  No.  170  (die  überhaupt  der  Urfassung  nahe  steht): 
„Ach  schönster  Schatz,  komm  rein  zu  mir, 
Es  sind  (d.  h.  es  giebt)  kein'  schön're  Leut  als  wir", 
und  bei  Dünger  No.  361   (ebenso). 

Dagegen  muss  sehr  bald  eine  Verwirrung  eingetreten  sein,  indem  das 
Prädikat  „schön''    auf  die  umstehenden  Kinder  bezogen  und  der  „Schatz" 
damit  gelockt  wird,  dass  er  in  angenehme  Gesellschaft  komme.    („Schöne", 
.,hübsche"  Leute  im  Volksmund  =  „freundliche",  „liebenswürdige"  Leute.) 
So  in  unserer  Fassung;  ferner  in  Berlin  (Böhme  173): 
„Ach  schönster  Schatz,  komm  her  zu  mir! 
Es  sind  ja  schöne  Leutchens  hier."  — 
im  Elsass  (Böhme  Xo.   177): 

„Herzigor  Schatz,  komm'  rein  zu  mir. 
Sind  gar  schöne  Leut'  dahier." 
Die   weiteren  A^erderbnisse  dieser  Zeilen,    besonders  die  interessanten 
A'erschmelzungen  mit  anderen  Tanzliedern,  will  ich  hier  unterdrücken,  da 
sie  zur  Erklärung  unserer  Version  nicht  unmittelbar  beitragen. 

Für  den  dritten,  Schluss-Teil  des  Liedchens  endlich,  der  wieder  vier 
Zeilen  umfasst  und  von  dem  aussenstehenden  Mädchen  zu  sprechen  ist, 
giebt  uns  die  altertümliche  Strophe  bei  Dunger  No.  360  den  besten  Anhalt. 

Sie  schliesst: 

„Ja,  ja  freilich, 

Wo  ich  bin,  da  bleib  ich, 

Bleib  ich,  wo  ich  bin,  — 

Adjeu  mein  Schatz,  leb  wohl!" 
Die  Sängerin  besinnt  sich  also,  giebt  ihre  trübe  Stimmung  auf,  schliesst 
sich  dem  Tanze  an  und  vergisst  ihren  „Schatz",  der  ihr  wohl  das  Herz 
so  schwer  gemacht  hatte.  Die  erste  Zeile  erscheint  öfters,  wie  auch  in 
unserer  Fassung,  entstellt  („Hi,  ja,  freilich!"  Böhme  173,  „Juche,  freu  dich!" 
Böhme  177,  „Ei  so  eilig"  Böhme  179).  Dann  hat  man  die  Schlusszeilen 
durch  den  Reim  auszugleichen  versucht: 

„  —  —  —  —  —  —  bin, 

Adje  mein  schönes  Rind!" 
So  und  ähnlich  Böhme  170,  173,  Dunger,  Drosihn,  Dähnhardt  a.  a.  O. 


284  Wilhelm: 

Als  man  den  eig-entlicheu  Sinn  nicht  mehr  verstand,  wurden  auch  die 
zweite  und  dritte  Zeile  entstellt:  „AV'er  ich  bin  der  bleil)  ich"  n.  a.  (Böhme 
177  auch:  „Wem  ich  bin,  dem  bleib  ich").  Das  „Wo"  hat  ausser  unserer 
Fassung  nur  noch  Dungor,  Ko.  160. 

So  hal»en  wir  denn  an  der  Hand  der  Überlieferung  der  Urgestalt  unseres 
Liedchens  ziemlich  nahe  kommen  können  und  setzen  sie  etw'a  in  dieser 
Form  an: 

„Es  regnet  auf  der  Brücke 
Und  ist  schon  nass;  — 
Es  hat  tnich  was  verdrossen, 

Ich  weiss  nicht,  was!" 
„Ach  schönster  Schatz,  komm  rein  zu  mir, 
Es  sind  kein'  schönre  Leut  als  wir."  — 
„Ja  freilich,  ja  freilich, 

Wo  ich  bin  da  bleib'  ich! 
Bleib'  ich,  wo  ich  bin. 

Ade,  mein  Schatz,  leb  wohl!"^) 

(Schluss  folgt.) 


Haussprüche  aus  dem  Stubaithal  in  Tirol. 

Gesammelt  von  Friedrich  Wilhelm. 

Die  im  folgenden  von  mir  veröffentlichten  Haussprüche  habe  ich  im 
Sommer  1898  aus  dem  Stubaithal  gesammelt.  Die  Orte,  aus  denen  sie 
stammen,  sind  Schönberg,  Mieders  und  Vulpmes.  Der  grössere  Teil  der 
Sprüche,  so  wie  sie  sich  an  den  betreffenden  Häusern  aufgezeichnet  finden, 
geht  in  die  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  zurück.  Dabei  haben  sich  die 
Unbilden  der  Witterung  geltend  gemacht:  eine  Anzahl  von  ihnen  ist  ver- 
wischt oder  verblichen.  Andere  sind  übertüncht  und  mahnen  zu  sammeln, 
was  übrig  ist.  Was  der  Unverstand  vermag  und  wie  rücksichtslos  er  alles 
Alte  vertilgt,  hat  die  Niederlegung  des  von  Hans  Ardufer  mit  Fa(,'aden- 
malerei  und  Sprüchen  geschmückten  Hauses  in  Zillis  an  der  Yia  Mala 
bewiesen  (Abbildung  bei  Alw.  Schultz,  Kunstgesch  ,  Taf.  I). 


1)  Die    schlesische  Fassung  dieses  gesungenen  Kinderspiels,    wie  ich  sie  aus  meiner 
Kindheit  kenne,  ist  folgende: 

Es  regnet  auf  der  Brücke  |  Und  es  wurde  nass. 

Es  hat  mich  was  verdrossen  |  Und  ich  weiss  was. 

Komm  her  mein  Kind,  komm  her  mein  Kind, 

Wir  sind  ja  schöne  (gute)  Leute! 

Ach  ja  freilich,  |  wer  ich  bin  der  bleib  ich, 

Ich  bleibe  wer  ich  bin,  |  leb  wohl  mein  Kind.  (K.  W.) 


Haussprüche  aus  dem  Stubaitlial  in  Tirol.  285 

1.  In  allen  deinen  Werken  gedenk 
an  deine  letzte  ding. 

2.  Die  Freuden  dieser  Welt 
Wohllüsten  Ehr  und  Geld 
Vergehen  wie  Rauch 
Sieh  o  Mensch  werdu  bist 
und  was  in  kurze  würst 
die  Zeit  zum  guten  brauch. 

1  und  2  stehen  an  einer  kleinen  Kapelle  auf  dem  Scliönberger  Friedhof. 
Datum  fehlt.     Kapelle  renoviert. 

3. 
Man  baut  jetzt  häuser  hoch  u.  fest  Dieses  Haus  steht  in  Gottes  Hand 

Dabei  sind  wir  alle  fremde  Gast  Schönachhof  wird  es  genannt 

Wo  wir  wollen  ewig  sein  Der  liebe  Gott  möge  uns  beschützen 

Da  baut  gar  mancher  wenig  drein.  Von  Ungewitter  und  von  Blitzen. 

Ich  las  den  lieben  Herrgott  walten 
über  dies  Haus  und  Hof 
Er  möge  stets  den  Frieden  erhalten 
bis  er  uns  von  Daunen  ruf. 
o    an    einem    Erker    vom  Schönachhof   bei  Schönberg.     Datum   fehlt. 
Schönachhof   wurde    1618   erbaut,    ist  aber  renoviert  worden,    die  Sprüche 
ebenfalls.     Vgl.   übrigens   E.  H.  Meyer.    Deutsche  Volkskunde,    Strassburg 
1898,  S.  198. 

4.    Haus  vnd  Lebens  Regl. 
a)    Rueff  an  dein  gott  b)    Pfleg  deiner  gesundt  % 

Halt  Sein  gebott  Regier  dein  Mundt 

Sei  geduldig  in  Nott  Dreib  nit  böß  Findt 

Gib  Armen  brodt  Hiet  dich  Fir  Sint 

Shweig  Meid  vnd  Leid  Die  Alten  Ehr 

hab  acht  der  Zeit  Die  Jungen  Lehr 

auf  Preindt  nit  bau  Dein  _ Haus  Ernähr 

Nit  allen  Trau  Des  bößen  dich  wehr 

Auf  dich  Selbst  Shau  halt  dich  fein  Rein 

Sey  nit  zu  gnau.  Mach  dich  nit  zgmein 

Sey  gern  alein 
Treilich  ichs  (mein). 

5.  O  wollt  gott  (die  menshen)  W^usten  vnd  Erkhenten  Drey  ding  (so)  Ver- 
gangen sein  Das  gut  So  Sy  vnterlassen  Das  böße  So  Sye  begangen  Die  Todte 
Zeit  die  Sye  ivel  Angewendt.  0  volt  got  das  Alle  Menshen  verstunde(n)  drey  ding 
So  gegenwertig  Seyn  Die  chirge  des  Menshlichen  Lebens  wie  Shwerlich  man  Selig 
wirde  wie  wenig  deren  So  Selig  worden  (sein)  0  Wolt  (got  das  die  Menshen 
konnten)  Erforschen  drey  ding  So  Zukünfftig  Sein  den  Tod  dan  nichts  Erbärmliches 
Das  gericht  dan  nicht  Ersprißliches  der  Pein  der  Höllen  dan  nicht  unleidenliches 
Hin  Geht  die  Zeit  her  chomt  der  Todt  Mensh  Ihu  Büß  vnd  Forchte  Gott  kein 
Grosser  Gunst  ist  da  Erwerben  Alß  daß  man selig  Sterben. 

4  und  5  befinden  sich  an  einem  Haus  in  Mieders.  Datum  fehlt. 
Der  Text  der  Sprüche  ist  auf  zwei  an  die  vordere  Giebelwand  des  Hauses 


28t;  Wilhelm: 

gemalte  aufgeschlagene  Bücher  gezeichnet.  Zwischen  beiden  Büchern 
hefindet  sich  ein  ebenfalls  gemaltes  Kreuz.  Rechts  vom  Kreuz  4,  links  5. 
4  ist  gut  zu  lesen,  nur  im  letzten  Vers  ist  „mein"  übertüncht  und  von  mir 
ergänzt  worden.  Schlechter  ist  5  erhalten :  zum  Teil  übertüncht,  zum  Teil 
ist  die  Farbe  abgeblättert.  Das  von  mir  Ergänzte  ist  in  ()  gesetzt.  Nicht 
ganz  deutlich  ist  ob  ivel  oder  üvl  zu  lesen  ist,  ebenso  ob  alß  oder  alls. 
„Die  Todte  Zeit"  (das  Erdenleben)  im  Gegensatz  zur  lebendigen  Zeit  (dem 
LelxMi  der  Seele  im  Himmel)?  Vgl.  mhd.  Wb.  III,  911,  2SS.  „dan  nichts" 
ileutlich  getrennt  =  da  nichts. 

6. 

a)    Hr.  Anthoni  du  WunderMan  d)   Wer  Wil  Paven  An  die  straseii 

In  aller  Not  Nimb  dich  Vnser  an.  Mues  die  Leid  Roden  LASEN 


Rode  Ein  Jedeß  Waß  ES  Will 
Ich  Winshe  Ein  Jeden  drei  Mall 
So  Pill 
c)   Wer  mit  S.  Anna  in  Himl  Will  den  24.  10  (?)  ....  MDCCXXV  . 


b)  Mir  biden  durch  dein  dugent  Wert 
Mach  Vns  des  Himls  Freiden  Wert. 


Mues  Gott  zu  Lieb  Hie  Leiden  All. 

e)  0  Maria  milt  —  Unser  Trost  vnd 
Shilt 
Hilfe  Vns  in  der  Not  —  Absonderlich 
in  1725  den  Sott.     P  H  A  0. 

tia — e  aus  Mieders,  befinden  sich  auf  einem  geschmackvoll  bemalten 
Haus  au  dem  Wege  zu  Maria  Waldrast,  a,  b  und  c  sind  an  einen  drei- 
seitigen Erker  gemalt;  an  der  rechten  Seite  a,  an  der  Vorderseite  b  und 
an  der  linken  Seite  c.  Über  a  das  Bild  des  St.  Anthonius  v.  Padua.  über 
b  St.  Franziskus  und  über  c  St.  Anna,  d  von  einem  gemalten  Rokoko- 
rahmen begrenzt;  über  e  Maria  mit  dem  Jesuskind.  Über  den  Reim  Not: 
Sott  (=  hitzige  Krankheit,  Fieber)  siehe  mhd.  Wb.  IIb  862,  2£F.  Was  dies 
für  eine  Krankheit  war,  die  um  1725  Mieders  heimsucht«»,  konnte  ich  leider 
nicht  ermitteln.  Vergl.  übrigens  die  unter  No.  10  und  12  b  mitgeteilten 
Sprüche. 

7.  8. 

Maria  Maria  Hilf  in  Aller  gfar 

Hilf  in  aller  gfar  Vor  Allen  ivl  diß  Haus  bewar 

Vor  allen  übel  diß  Haus  bewahr  Absonderlich  von  der  Sind 

Die  darin  wohnen  vor  aller  Sindt  Mari(a)  Hilf  mit  Deinem  (Kind). 

Maria  hilf  mit  deinen  Kindt 
Ag.  1747. 

7  und  8  aus  Mieders.  7  an  einem  Haus  an  der  Hauptstrasse.  8  an 
einem  Haus  auf  dem  Weg  zur  AValdrast.  Bei  8  fehlt  das  Datum,  ausser- 
dem ist  bei  8,  4  das  zweite  a  in  „Maria"  abgestossen  und  „Kind"  verwischt. 
Über  beiden  Sprüchen  auffallend  ähnliche  Madonnenbilder.  Beide  Häuser 
wurden  wahrscheinlich  von  demselben  Maler  bemalt. 


Haussprüche  aus  dem  Stubaithal  in  Tirol.  287 

9.  Gelobt 

Sey  Jehsu  Christi  Namen 
vnd    die  vnbeflecthe  Em- 
pfenkhnus     Amen. 
1753. 
!)  ans  Mieders,  über  dem  Eingang  eines  Hauses  auf  dem  Weg  zur  Kirche. 

10.  Wer  will  baueii  an  der  Straßen 
der  mus  die  Leite  reden  lassen 
red  ein  jeder  was  er  nur  will 

ich  winsch  ein  jeden  noch  so  viel. 
1844. 

10  aus  Flieders,    ist    an  der  Hinterseite   eines  Hauses  auf  dem  Wege 
zu  <len  Gallhöfen  über  der  Thür  angebracht.     Ygl.  No.  6d  und  12b. 

11.  Müetter  gottes  stehüns  bey 
hilf  uns  in  den  losten  streit. 

1745. 

11  aus  Vulpmes,  darüber  ein  :Madonnenbild.     Ygl.  Xo.  12  a. 

12.     a)   0  Maria  hilff  uns  Jetzt  vnd  allezeit 
Absonderlich  in  Lezten  Streidt. 
b)  Wer  Will  Pauen  an  der  Straßen 

Mus  Narn  vnd  Gscheide  Roden  Lasßen 
Röd  Ein  ieder  wasß  er  Will 
Ich  wintsh  ein  Jeden  noch  soüil. 
1767. 
12a  und  b  aus  Vulpmes.    Haus  bemalt,  unverkennbar  dem  unter  6  a— e 
beschriebenen  nachgeahmt,     a  und  b  befinden  sich  an  der  Vorderseite  des 
Hauses.     Zu  b  vgl.  No.  6d  und  10. 

13.  hast  du  vill  güets  bei  saraen 
Wirst  deinen  lohn  entphangen. 

13  aus  A'ulpmes.     Datum  fehlt. 

14.  Alles  unter  deinen  Schutz 

Und  der  Schlange  nur  zum  drutz. 
1844. 
U  aus  Vulpmes.     Darüber    Maria    im   Rokoko-Kostüm    auf  die  Erd- 
kugel und  die  Schlange  tretend. 

15. 
a)   Da  es  mir  wohl  erging  auf  Erden!  b)  Trau  doch  nicht  der  Welt 

Da  wollten  alle  meine  Freunde  werden.  Trau  doch  nicht  den  Geld 

Da  ich  kam  in  der  Noth,  Trau  auch  nicht  den  Todt 

Da  wjihren  meine  Freunde  Todt.  Trau  nur  allein  auf  Gott. 

15a  und  b  aus  Vulpmes,  auf  einem  ziemlich  neuen  Haus.    Datum  fehlt. 

Jena. 


•>>-;g  Tieuken: 

KultiirgescMchtliclies  aus  den  Marschen 
am  rechten  Ufer  der  Unterweser. 

Von  A.  Tienken. 

(Schluss  von  Zeitschr.  IX,  171.) 

Essen  und  Trinken. 

Einfach,  derb  und  kräftig  war  von  jeher  die  Kost  in  den  Marschen. 
In  Osterstade  gab  es  im  vorigen  Jahrhundert  am  frühen  Morgen  bereits 
Warmbier  und  Bohnen  und  man  war  „gesund  und  stark"  dabei.  Gegen 
das  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  aber  wurde  diese  Morgenkost  schon 
durch  den  Kaffee,  den  namentlich  die  Schiffer  liebten,  verdrängt.  Anfangs 
fand  der  Kaffee  wohl  nur  bei  den  Wohlhabenderen  Eingang,  während  die 
ärmeren  Klassen  und  das  Gesinde  noch  länger  an  der  altgewohnten  Speise 
hielten  und  weiterhin  erst  in  süsser  Grütze  oder  gekochter  Milch,  in  die 
Schwarzbrot  gebrockt  wurde,  den  Übergang  zum  Kaffee  fanden,  der  jetzt 
dreimal  täglich  auf  dem  Tische  erscheint  und  bei  Jung  und  Alt,  Arm  und 
Reich  so  ausserordentlich  beliebt  ist,  dass  eine  Rückkehr  zur  alten  derben 
Kost  völlig  undenkbar  ist. 

Als  Zubiss  zum  Kaffee  kommt  in  allererster  Linie  das  Schwarzbrot, 
oder  wie  es  seinen  Bestandteilen  nach  gewöhnlich  genannt  wird,  das  Roggen- 
brot in  Betracht.  Dieses,  welches  so  oft  und  so  sehr  zu  Unrecht  eine  ab- 
fällige Kritik  erfahren  hat^),  ist  von  schwarzbrauner  Farbe  und  von  einer 
harten  Rinde  umgeben.  Seine  Dimensionen  sind  gewaltig,  sein  Gewicht 
beträgt  etwa  5—7  kg.  In  seiner  äusseren  Gestalt  ähnelt  es  einem  läng- 
lichen, an  allen  Seiten  plump  abgerundeten  Blocke.  Die  imposante  Grösse 
des  Brotes  wird  durch  zwei  Umstände  bedingt:  einmal  lässt  sich  das  Roggen- 
brot in  kleineren  Portionen  nicht  genügend  ausbacken  und  zweitens  ist  die 
Gefahr  des  schnellen  Austrocknens  eine  geringere.  Es  hält  sich  länger 
frisch,  so  dass  durchschnittlich  nur  alle  2 — 3  W^ochen  gebacken  zu  werden 
braucht. 

Bei  der  harten  Schale  ist  das  Brotschneiden  für  eine  etwas  zahlreiche 
Familie  ziemlich  anstrengend.  Es  gehören  Grossknechtshände  dazu.  In 
früheren  Zeiten  gehörte  das  Brotsehneiden  denn  auch  in  der  That  zu  den 
Rechten  und  Pflichten  des  Grossknechtes.  Und  man  wachte  so  eifrig  über 
diesem  Privileg,  dass  es  nicht  selten  kontraktlich  ausbedungen  wurde,  und 
die  Verletzung  desselben  einmal  sogar  zu  einer  erbitterten  Prügelei  zwischen 
zwei  Knechten  führte. 


1)  Kohl,  Nordwestdeutsche  Skizzen,  Bremen  18(U,  II,  S.  I(i3ff. 


Kulturgeschichtliches  aus  den  Marscheu.  289 

Das  Schwarzbrot  hat  einen  herrlichen,  etwas  säuerlichen  aber  reinen 
rieschniack.  Wer  es  längere  Zeit  hindurch  gegessen  hat,  wird  es  nur  un- 
gern wieder  entbehren.  Und  unsere  jMarschbewohner  lassen  sich  ohne 
dieses  Brot  nun  schon  gar  nicht  denken:  beide  gehören  unzertrennlich 
zusammen. 

Eine  etwas  feinere  Brotsorte  ist  das  „Feinbrot",  in  den  Marschen  ge- 
wöhnlich seiner  kleineren  Dimension  wegen  „Kleenbrot"  genannt.  Es 
wird  in  bedeutend  geringerem  Masse  gebacken,  da  nur  die  Herrschaften 
für  seine  Konsumtion  in  Betracht  kommen.  Es  besteht  ebenfalls  aus 
Roggenmehl,  jedoch  wird  dieses  gesiebt,  so  dass  die  harte  Schale  des 
Koggen  ausgesondert  wird.  Dadurcli,  wie  auch  durch  Beimischung  von 
etwas  Milch  erhält  das  Brot  eine  etwas  hellere  Farbe. 

Das  feinste  Brot,  welches  nur  zu  den  höchsten  Festtagen,  dann  aber 
auch  immer,  gebacken  wird,  ist  der  „Stuten".  Es  ist  ein  Weizenbrot,  das, 
wenn  es  ganz  was  Feines  sein  soll,  mit  Rosinen  und  Korinthen  durchsetzt 
wird.  Dass  Milch,  Eier,  Butter  u.  a.  daran  nicht  fehlen,  ist  selbstver- 
ständlich. 

Jeder  Haushalt  backt  das  benötigte  Brot  selbst,  nur  ausnahmsweise 
wird  es  vom  Bäcker  bezogen.  Hauptsächlicli  holt  man  von  diesem  nur 
die  feineren  Kuchen.  Und  auch  dieses  nimmt  in  den  feineren  Häusern 
mehr  und  mehr  ab,  da  man  vorzieht,  jene  ebenfalls  selbst  zu  backen. 

Bezüglich  des  Mittagessens  muss  ein  Unterschied  zwischen  Sommer 
und  Winter  gemacht  werden.  Im  Sommer  nehmen  die  „Klütjen"  (Klösse 
aus  Weizenmehl)  unstreitig  den  ersten  Rang  ein.  Die  Klütjenzeit  beginnt 
dann,  wenn  die  Wintervorräte  an  Erbsen,  Bohnen  u.  dgl.  m.  zur  Haupt- 
sache verzehrt  sind,  und  sie  endigt  wieder  mit  der  Reife  ebenderselben 
Früchte;  ja  schon  mit  <ler  frühreifen  Kartoffel  beginnt  die  Klütje  an  Be- 
deutung zu  verlieren.  Ganz  verschwindet  sie  zwar  niemals  —  so  finden 
wir  sie  im  Bauernhause  von  guter  alter  Art  mit  Ausnahme  der  hohen  Feste 
noch  Sonntag  für  Sonntag  auf  dem  Tische  —  aber  ihre  Konsumtion  wird 
in  gewissen  Jahreszeiten  erheblich  eingeschränkt.  Tm  Lande  Wursten 
freilich  erhält  das  Gesinde  jahraus  jahrein  schon  am  frühen  Morgen  Klütjen 
vorgesetzt,  die  in  Scheiben  geschnitten  und  in  der  Pfanne  mit  Schmalz 
gebratoTi  sind.  Und  die  Leute  sind  so  zufrieden  damit,  dass  sie  energischen 
Widerstand  leisten  würden,  wollte  man  ihnen  statt  der  Klütjen  Kaffee 
reichen. 

Wie  die  Klütje  in  ihrer  Einfachheit  und  Kompaktheit  ein  Pendant 
zum  Schwarzbrot  ist,  so  der  „Pudden"  (Pudding)  ein  solches  zum  Stuten. 
Der  Pudden  besteht  aus  Weizenmehl;  ausserdem  werden  ihm  aber  Eier, 
Butter  u.  a.  Ingredienzien  zugesetzt.  Gebacken  wird  er  in  einem  kegel- 
förmigen Behälter. 

Im  Winter  ist  dagegen  der  braune  Kohl  das  Nationalgericht,  in  dem 
der  Speck    und    die  Pinkelwurst    nicht    fehlen   dürfen.     Die  Vorherrschaft 


290  Tieuken. 

des  braunen  Kohls  beginnt  mit  dem  ersten  Winterfroste  —  „de  Kohl  mutt 
erst  Frost  hebben,  anners  smeckt  he  nich",  sagt  man  —  und  dauert  dann 
bis  zum  Gründonnerstage.  An  diesem  Tage  aber  giebt  es  vom  Nieder- 
rhein bis  an  die  Unterelbe  und  darüber  vielleicht  hinaus  noch  wohl  kaum 
ein  Haus,  in  dem  nicht  brauner  Kohl  im  Topfe  schmort.  Am  Anfang 
dieses  Jahrhunderts  wurden  am  Gründonnerstage  dem  braunen  Kohl,  dem 
Hauptbestandteil  der  Mahlzeit,  noch  acht  andere  Kräuter  beigegeben,  die 
indessen  auch  unter  sich  selbst  wieder  variierten.  Die  häufigste  Zusammen- 
stellung war  folgende :  1.  brauner  Kohl,  2.  Hirtentäschelkraut,  3.  Geissfuss, 
4.  Bienensaug,  5.  Kümmel,  6.  Brennessel,  7.  Johannisbeerblätter,  8.  Stachel- 
beerblätter, 9.  Raps.^)  Ton  diesem  gastronomischen  Potpourri  ist  allein 
der  braune  Kohl  übrig  geblieben,  auf  die  anderen  Bestandteile  wird  heute 
kein  Gewicht  mehr  gelegt. 

Auch  hinsichtlich  des  Abendessens  waltet  zwischen  Sommer  und  Winter 
ein  grosser  Unterschied  ob.  Im  ersteren  herrschen  die  Milchspeisen  vor, 
denen  als  Vorspeise  gewöhnlich  Bratkartoffeln  vorangehen.  Die  Milchspeise 
bestand  im  Anfang  dieses  Jahrhunderts  gewöhnlich  in  süsser  gekochter 
Milch,  in  welche  man  gekochte  Bohnen  that.  Jetzt  ist  diese  Speise. 
„Melkenl)ohnen"  genannt,  gänzlich  von  der  Abendtafel  verschwunden.  An 
ihre  Stelle  trat  eine  andere  Milchspeise,  der  „Schinngassen".  Sie  besteht 
aus  geschälter  (geschundener,  daher  die  Vorsilbe  „Schinn")  Gerste,  die 
in  Buttermilch  gekocht  wird,  und  zwar  so  dick,  dass  man,  wenn  sie  kalt 
geworden  ist,  kaum  abstechen  kann,  ohne  für  den  Löffel  fürchten  zu  müssen. 
Jeder  nimmt  sich  nach  Belieben  von  dem  Schinngassen  auf  den  Teller, 
wo  er  ihm  dann  gekochte  Milch  zusetzt.  Der  Schinngassen  ist  ein  an- 
genehmes, etwas  säuerliches  Gericht,  das  nach  einem  heissen  Tage  besonders 
erquickt.  Leider  scheinen  die  Zeiten  nicht  mehr  fern,  wo  auch  der  Schinn- 
gassen als  „überlebt"  und  „altmodisch"  den  Bohnen  folgen  und  vom  Tische 
verschwinden  wird. 

Im  Winter  dagegen  giebt  es  ein  eigentlich  vorherrschendes  Abend- 
gericht nicht.  Den  auch  jetzt  als  Vorspeise  dienenden  Bratkartoffeln  folgen 
bald  Kaffee  und  Butterbrot,  bald  aufgewärmte  Reste  der  Mittagsmahlzeit, 
bald  Milchsuppen. 

Für  die  vegetarische  Lebensweise  werden  die  Marschbewohner  sich 
nie  gewinnen  lassen;  sie  könnten  freilich  ohne  ein  tüchtiges  Stück  Fleisch 
oder  Speck  auch  nicht  auskommen,  denn  die  frische  Seeluft  zehrt.  Auf 
jedem  Bauernhofe  werden  denn  regelmässig  im  Herbst  ein  Ochse  oder 
eine  junge  fette  Kuh  und  im  Winter  ausserdem  nach  Bedarf  noch  einige 
Schweine  geschlachtet.  Das  Schlachtfest  bringt  immer  Leben  ins  Haus, 
allein  das  Wurstmachen  dauert  meistens  einen  ganzen  Tag.  trotzdem  mehr 
und    mehr    die  Wurstmaschinen    dabei    zu  Hilfe    gezogen    werden.      Eine 


1)  K.  Weiiihold,  Die  mystische  Neunzalil  Berlin  1897,  S.  10. 


Kulturgescliichtliches  aus  don  Marschen.  291 

schöne  Sitte  ist  es,  dass  man  die  Kachbarn  an  den  Genüssen  des  Öchlachtens 
teilnehmen  lässt,  indem  man  ihnen  stets  einige  frische  Würste  und  einige 
Stücke  frischen  Fleisches  sendet.  Auch  jeder  Häusler  schlachtet  ein 
Schwein,  besser  gestellte  auch  wohl  zwei.  —  Übrigens  dürfen  die  Schweine 
nur  bei  zunehmendem  Monde  geschlachtet  werden,  weil,  wie  man  vielfach 
glaubt,  sonst  der  Speck  und  das  Fleisch  beim  Kochen  nicht  genügend 
ausquellen. 

Kohl')  glaubt  aus  dem  Umstände,  dass  die  Schwarzlu-otländer  zugleich 
auch  die  hauptsächlichsten  Branntweinländer  sind,  auf  ein  gutes  Einver- 
nehmen zwischen  dem  Schwarzbrot  und  dem  Branntwein  schliessen  zu 
dürfen.  Ich  weiss  nicht,  ob  diese  Mutmassung  für  andere  Gegenden  zu- 
treffend ist,  für  unsere  Marschen  lässt  sie  sich  jedenfalls  nicht  aufrecht 
erhalten.  Früher  mag  es  freilich  anders  damit  gewesen  sein,  aber  in  der 
Gegenwart  nimmt  doch  der  Konsum  an  Branntwein,  sowie  die  Zahl  der 
Gewohnheitstrinker  ab.  Der  Branntweinkonsum  dürfte  schwerlich  erheb- 
licher sein,  als  er  in  den  Weissbrotländern  oder  in  den  Städten  ist.  In 
den  besseren  Kreisen  gilt  es  für  eine  Schande,  betrunken  gewesen  zu  sein. 
An  die  Stelle  des  Branntweinkonsums  tritt  der  Genuss  guter  Biere.  Nur 
bei  der  Feldarbeit  ist  der  Branntwein  noch  immer  absoluter  Herrscher. 
Als  anderes  Getränk  ist  dann  neben  ihm  fast  nur  schwarzer  Kaffee  ge- 
bräuchlich. 

Ol)  die  Sitte,  dass  nur  eine  einzige  grosse  Schüssel  auf  den  Tisch 
gestellt  wird  und  alle  Tischgenossen  unter  Ausschluss  des  Tellers  mit 
ihren  Löffeln  oder  Gabeln  hineinlangen,  auch  in  den  Marschen  l)estanden 
hat,  lässt  sich  nur  bezüglich  der  abendlichen  Bratkartoffeln  bejahen,  im 
üln-igen  aber  findet  sicli  kein  Anhalt  dafür.  Die  Bratkartoffeln  aber  werden 
noch  heute  vielfach  in  der  Pfanne  auf  den  Tisch  gebracht;  freilich  wird 
das  nicht  lange  mehr  dauern.  Das  Verschwinden  der  Pfanne  wird  auch 
von  den  Leuten  selbst  als  ein  Fortschritt  empfunden.  Bezeichnend  war 
in  dieser  Hinsicht  die  Äusserung  eines  alten  Bauern:  „Verdammt,  dat  is 
jo  n  Tied,  dar  mutt  de  Pann  jo  wedder  op'n  Disch."  Die  Zeit  war  nämlich 
wenio-  günstig  und  der  Bauer  wollte  mit  seinen  Worten  die  Notwendigkeit 
des  Einschräidvens  andeuten. 

Von  dem  Tischgebet,  das  im  vorigen  Jahrhundert  gäng  und  gäbe 
u-ewesen  zu  sein  scheint,  und  dass  sich  in  den  Ell)marschen  noch  länger 
erhielt,  findet  man  bei  uns  keine  Spur  mehr,  und  el)ensowenig  auch  von 
einer  bestimmten  Reihenfolge  der  Personen  bei  Tische. 

Hat  die  Hausfrau  Gäste  und  wird  diesen  Thee  oder  Kaffee  vorgesetzt, 
so  muss  sie  stets  mit  gespanntester  Aufmerksamkeit  den  Flüssigkeitsstand 
in  den  Tassen  ihrer  Gäste  verfolgen,  denn  diese  würden  es  als  eine  grosse 
Vernachlässigung    empfinden,    auch    nur    eine  Sekunde    trocken    sitzen   zu 


1)  a.  a.  0.  S.  191. 


292  Tienken: 

müssen.  Da  die  Wirtiii  al)er  auch  nicht  anf  den  Rest  schenken  darf,  so 
nimmt  das  Nötigen:  „Bitte,  trinken  8ie  doch  mal  aus!"  kein  Ende.  Andrer- 
seits würde  es  als  Mangel  an  Lebensart  aufgefasst  werden,  wenn  die  Gäste, 
falls  ihnen  Wein  vorgesetzt  wird,  die  Gläser  bis  auf  den  Boden  leeren, 
denn  beim  Wein  wird  eben  auf  den  Rest  geschenkt. 

Wenn  bei  einer  Mahlzeit  alle  Speisen  verzehrt  werden,  so  glaubt  man, 
wird  am  anderen  Tage  gutes  Wetter  eintreten.  Das  Anbieten  des  Restes 
geschieht  denn  auch  stets  unter  Hinweis  auf  das  kommende  gute  Wetter. 
Vielfach  stösst  man  auf  den  Glauben,  dass  den  Hunden  nicht  die  Knochen 
von  Hasen  oder  wildem  Geflügel  vorgeworfen  werden  dürfen,  da  sie  sonst 
leicht  auch  das  Hausgeflügel  anfallen  oder  auf  eigene  Faust  im  Felde 
umherstreifen  und  Jagd  auf  Hasen  und  anderes  Getier  machen  würden. 

Die  Kleidung. 

Ob  je  in  den  Wesermarschen  eine  eigentliche  Volkstracht  bestand, 
lässt  sich  mit  Sicherheit  nicht  feststellen.  Es  ist  aber  wohl  anzunehmen. 
Im  vorigen  Jahrhundert  war  Linnen  und  Tuch  der  fast  ausschliessliche 
Kleidungsstoff  für  die  männliche  Welt.  Als  Kopfbedeckung  trug  diese 
den  „Dreispitz",  im  Hause  aber  die  Zipfelmütze;  an  den  Beinen  Knie- 
hosen, die  am  Knie  durch  eine  Spange  zusammengehalten  wurden,  dicke 
kräftige  Strümpfe  umschlossen  die  Waden,  und  die  Füsse  endlich  steckten 
in  ledernen  oder  hölzernen  Futteralen.  Da  die  letzteren,  Pantinen  und 
Holzschuhe,  nicht  jedem  Leser  bekannt  sein  dürften,  ist  es  mir  wohl 
gestattet,  sie  etwas  eingehender  zu  schildern,  um  so  mehr  als  der  Marsch- 
bewohner ebensowenig  ohne  sie  als  ohne  sein  Schwarzbrot  fertig  werden 
kann,  oder  überhaupt  nur  zu  denken  ist. 

Die  Holzschuhe  sind  aus  einem  Stück  gearbeitet,  mithin  völlig  steif 
und  unelastisch.  Sie  verwandeln  den  Fuss  in  eine  dem  Pferdehuf  ähnliche 
Masse.  Trotzdem  kann  sich  der  Marschbewohner  relativ  schnell,  wenn 
auch  wenig  graziös,  in  diesen  kleinen  Schiffen  fortbewegen,  ja  sogar  — 
tanzen.  Freilich  einen  eleganten  Gang  und  zierliche  Bewegungen  darf 
man  nicht  erwarten:  die  Kniee  werden  vielmehr,  militärisch  gesprochen, 
„nach  der  Heimat  durchgedrückt",  d.  h.  überhaupt  nicht  durcligedrückt, 
der  Rücken  wird  gekrümmt  und  die  ganze  Bewegungsform  dem  bekannten 
„Schieben"  ähnlich.  Schon  auf  grössere  Entfernungen  hört  man  die  Holz- 
schuhe klappern,  weshalb  man  auch  von  einem  Menschen,  der  seine  Ab- 
sichten schlecht  zu  verbergen  versteht,  wohl  sprichwörtlich  sagt:  „Ick  hör 
di  gähn,  du  liest  Holschen  an." 

Nach  seiner  Anschauung  vermag  der  Landbewohner  sogar  Luxus  mit 
seinen  Holzschuhen  zu  treiben,  indem  er  Arbeits-Holzschuhe  und  solche, 
in  denen  er  „nur  zum  Plaisir''  geht,  unterscheidet.  Diese  sind  leichter, 
auch  von  weicherem  Holz  und  auf  dem  Halsfuss  wohl  gar  noch  mit  etwas 
Wolle  gepolstert.     Das  ist  aber  auch  der  einzige  Unterschied,   der  freilich 


Kulturgeschichtliches  aus  den  Marschen.  293 

dem  schon  recht  fühlbar  ist,  der  alle  Tage  in  Holzschuhen  geht.  Im 
allgemeinen  aber  wird  der  Holzschuh  nur  im  Winter  getragen,  also  dann, 
wenn  das  Wetter  kalt  und  der  Boden  nass  und  morastig  ist. 

Etwas  anders,  „civilisierter",  sind  schon  die  Holzpantinen.  Sie  be- 
stehen aus  einer  starken  Holzsohle,  die  um  die  Fersen  herum  einen  etwas 
erhöhten  Rand  hat,  während  die  Zehen  von  einem  ledernen  Dache  geschützt 
werden.  Schon  den  kleinen  Kindern  werden  solche  Pantinen  an  die  Füsse 
gesteckt  und  gar  bald  wissen  auch  sie  sich  rasch  und  sicher  darin  zu  be- 
wegen. 

Die  Holzschuhfabrikation  ist  in  den  Marschen  nie  heimisch  gewesen. 
Dagegen  wird  die  Herstellung  von  Pantinen  ziemlich  stark  betrieben. 
Schon  von  aussen  ist  die  Wohnung  eines  „Patinkenmäkers"  an  den  vor 
dem  Hause  stehenden  Geräten  zu  erkennen.  Das  Geschäft  kann  recht 
einträglich  sein;  oft  werden  die  in  der  Marsch  gefertigten  „Patinken"  weit 
versandt. 

Das  weibliche  Geschlecht  trägt  weder  Holzschuhe  noch  die  eben  ge- 
schilderten Patinken.  Sie  erscheinen  ihm  plump  und  unweiblich.  Und 
doch  ist  seine  Fussbekleidung,  „Klöuken"  genannt,  den  Pantinen  ganz 
ähnlich;  der  einzige  Unterschied  besteht  darin,  dass  an  den  Klönken  der 
um  die  Ferse  laufende  erhöhte  Rand  fehlt. 

Eine  dritte  Art  von  Fussbekleidung  zeigt  eine  Verbindung  von  Holz- 
schuh und  Stiefel,  indem  der  Fuss  im  ersteren  und  der  Unterschenkel  bis 
zum  Knie  in  einem  dicken  Lederschaft  steckt,  der  mit  Nägeln  oder  Drähten 
an  dem  Holzschuh  l»efestigt  ist.  Die  „Stewelholschen",  so  nennt  sich  diese 
Gattung,  werden  nur  bei  winterlichen  Arbeiten  an  der  Wasserkante  getragen, 
also  beim  Schiengeniegen,  Reitmähen  u.  s.  w.  Es  sind  ungefüge  Dinger, 
aber  sie  erfüllen  trefflich  ihren  Zweck:  sie  halten  den  Fuss  warm  und 
trocken.  Es  ist  zweifelhaft,  ob  der  derbe,  zum  Schleichen  untaugliche 
Holzschuh  aus  dem  geraden,  biederen,  Hinterlist  und  Meuchelmord  nicht 
kennenden  Sinn  der  Marschbewohner  hervorgegangen  oder  ob  dieser  durch 
jenen  grossgezogen  ist.  Jedenfalls  findet  die  Geradheit  und  Derbheit  der 
Marschbevölkerung  in  diesen  Fussbekleidungen  einen  trefflichen  Ausdruck.^) 
Die  herrschende  Fussbekleidung  ist  aber,  das  sei  ausdrücklich  betont, 
der  Lederstiefel  und  Schuh. 

Mit  dem  Anfang  dieses  Jahrhunderts  kamen  in  der  Männertracht  allerlei 
Neuerungen  auf:  der  Dreispitz,  auch  wohl  Dreimaster  genannt,  wurde  durch 
den  Hut  verdrängt,  die  Kniehose  durch  das  lange  Beinkleid;  das  Tuch 
und  Linnen  durch  den  Manchester,  der  bis  in  die  60  er  Jahre  die  Oberhand 
behielt.  Weisse  Wäsche  wurde  nur  in  den  wohlhabenderen  Kreisen  und 
von  diesen  auch  nur  Sonntags  getragen.  Am  Werktag  begnügte  sich  alles 
mit  dem  einfachen  Kittel,  und  auch  von  diesem  war  nicht  viel  zu  sehen, 
da  die  Westen  bis  an  den  Hals  geschlossen  wurden. 


1)  Vgl.  Kohl  a.  a.  0.  S.  83. 

•20 


Zeits-.-lir.  <l.  Vereins   f.   Vulkskmule.     isyy. 


294 


Tienken:  Kultui-o-eschichtliches  aus  den  Marscheu. 


Vom  Endo  der  60er  Jahre  ab  an  wurde  die  Männertracht  mehr  und 
mehr  modern.  Au  die  Stelle  der  Hosenklappe,  die  oben  am  Hosenbund 
festgeknöpft  wurde,  trat  der  senkrechte  Schlitz,  der  Manchester  wurde 
verdrängt  durch  Cheviot,  Kammgarn,  Bukskin  u.  a.  Stoffe.  Für  die  Arbeits- 
kleidung wurden  natürlich  derbere  Stoffe,  gewöhnlich  „Englisch  Leder" 
und  Köper  gewählt.  Auch  die  ärmeren  Klassen  tragen  an  den  Sonn-  und 
Festtagen  oder  bei  wichtigen  Gängen  in  benachbarte  Dörfer  und  Städte 
weisse  Wäsche. 

Hinsichtlich  der  Frauenkleidung  ist  zu  bemerken,  dass  alte  Frauen  in 
den  30  er  Jahren  dieses  Jahrhunderts  wohl  noch  kleine  weisse  Häubchen 
trugen,  deren  Boden  mit  Gold  und  Silber  durchwirkt  war,  ferner  eine  Art 
langschössiger  Kontusche  mit  vielen  plattgelegten  Falten,  und  endlich  einen 
schwarzen,  halbwollenen  Rock  mit  grünen  oder  roten  Streifen.  Diese 
Kleidung  wurde  besonders  zur  Kirche  und  zum  Abendmahl  angelegt. 
Eine  andere  Art  Kopfbedeckung,  die  sogen.  Kragenkappe,  wurde  nur  von 
den  Frauen  der  ärmeren  Klasse  getragen. 

Auf  die  Kragenkappe  folgte  die  ihr  ähnliche  Kapuze. .  Diese,  oben 
mit  den  Haaren  abschneidend,  wurde  unter  dem  Kinn  zugehakt.  Sie 
schützte,  da  sie  noch  über  den  Hals  herabfiel,  auch  diesen.  Sie  wurde 
nur  im  Winter  getragen.  Jetzt  sieht  man  die  Kapuze  nur  bei  älteren  und 
ärmeren  Frauen  und  bei  Dienstmädchen. 

Früher  trugen  die  jungen  Mädchen  auch  wohl  eine  Kopfbedeckung, 
die  man  „dröge  Mutz"  oder  nach  den  drei  Stücken,  aus  denen  sie  zu- 
sammengenäht war,  „dreepandte  Mutz"  nannte,  dazu  einen  halbwollenen 
Rock  und  ein  kurzärmeliges  „Kamisol". 

Bei  der  Feldarbeit  tragen  die  Frauen  den  „Weihhot"  (Wehhut).  Es 
ist  das  ein  Hut,  in  dessen  Boden  schmale  Pappstreifen  eingelassen  sind, 
welche  sich  der  Länge  nach  um  den  Kopf  legen.  Er  beschattet  das  ganze 
Gesicht.  Über  den  Nacken  fällt  ein  leichtes  Tuch  herab,  so  dass  auch 
dieser  gegen  Sonnenstrahlen  geschützt  ist.  Um  einen  freieren  Gebrauch 
der  Arme  und  Beine  zu  ermöglichen,  sind  die  Ärmel  sehr  kurz  gehalten; 
die  Röcke  aber  werden  so  weit  heraufgezogen,  dass  ihr  unterer  Rand  mit 
den  Waden  abschneidet.  Der  obere  überschüssige  Teil  der  Röcke  wird, 
in  grosse  Falten  gelegt,  durch  das  „Opschortels",  d.  i.  ein  langes,  schmales 
Band,  welches  mehrere  Male  um  den  Leib  geschlungen  wird,  über  den 
Hüften  festgehalten. 

Regen-  und  Wintermäntel  fanden  bei  den  jüngeren  Generationen  schon 
ziemlich  früh  Aufnahme,  die  älteren  sträubten  sich  lange  dagegen,  hart- 
näckig hielten  sie  an  den  grossen  geblümten  oder  karrierteu  Umschlage- 
tüchern fest.     Aber  sie  mussten  sich  schliesslich  doch  der  Mode  fügen. 


Lübeck:  Die  Krankheitsdämonen  der  Balkanvölker.  295 

Die  Krankheitsdäinoiieii  der  Balkanvölker. 

Ton  K.  L.  Lübeck. 

(Schlnss  von  TX,  20^.) 


Ist  der  Pesttag  auch  durch  den  Glauben,  den  Schrecken,  die  Litteratur 
u.  s.  w.,  die  sich  an  ihn  knüpfen,  auf  seine  Weise  der  hervorragendste 
Tag  unter  den  Krankheitstagen,  so  wird  er  in  Hinsicht  der  Zeremonien 
A'on  der  „Elfenwoche"  weit  an  Bedeutung  übertrofPen.  Die  Elfenwoche 
bietet  die  entwickeltsten  Zeremonien,  die  durch  ihre  aussergewöhnliche 
Eigentümlichkeit  ein  reges  Interesse  beanspruchen.  ^ 

Die  Elfen woche  wird  durch  den  „Elfenmittwoch",  dessen  ich 
schon  gedachte,  eingeleitet.  Wie  der  Name  beider  Festzeiten  besagt,  hat 
man  es  während  derselben  mit  Elfen  zu  thun,  die  im  Volke  unter  dem 
Namen  Russalki  (Sing.  Russalka)  ihr  Wesen  treiben.  Sie  sind  die 
Schwestern  der  grausamen  Geisterfrauen,  die  wir  bereits  unter  dem  Namen 
Samodiven,  Wilen,  Samovilen  kennen  gelernt  haben.  Beide  Geistergruppen 
sind  dem  Menschen  todfeind  und  bringen  Krankheit  und  Tod  über  ihn. 
Die  Russalken  erscheinen  unter  den  Menschen  nur  in  der  nach  ihnen 
benannten  Russalkawoche,  während  welcher  sie  der  Befruchtung  der  Natur 
•obliegen  sollen. 

In  frülierer  Zeit  war  die  Feier  dieser  Woche  zur  Verehrung  dieser 
mächtigen  Unholdinnen  des  Wahnsinns  sehr  streng:  niemand  wagte  zu 
arbeiten;  heute  feiert  man  nur  am  Montag,  Mittwoch,  Freitag,  an  den 
übrigen  Werktagen  wird  dagegen  bis  Mittag  gearbeitet.  Aber  auch  den 
Tag  über  zu  schlafen  ist  sehr  gefährlich  und  verhängnisvoll:  man  kann 
verzaubert  werden.  Daher  muss  jeder  das  Wermutpfläuzchen  als  Schutz- 
mittel gegen  die  Berührungen  der  Russalkinnen  bei  sich  tragen.  Wer  an 
einem  der  drei  Tage  Montag,  Mittwoch,  Freitag  arbeitet,  verfällt  in  die 
sogen.  Russalkakrankheit,  die  verschiedene  Formen  annehmen  kann.  Diese 
Krankheit  ist  nur  in  der  Russalkawoche  heilbar  und  zwar  nur  durch  die 
Russalinen.  Die  Russalkinnen  können  aber  auch  noch  andere  Krank- 
heiten verursachen,  wie  z.  B.  die  „Russa",  d.  h.  die  Rote.  Wer  jedoch 
die  Feier  der  besagten  Woche  innehält,  kann,  von  dieser  letzteren  Krank- 
Jieit  nicht  befallen  werden. 

Das  Einzige,  was  heute  von  der  früher  grossen  Begehung  der  Elfen- 
woche geblieben,  ist  die  Vereinigung  von  Leuten  zu  einer  Korporation, 
Russalinen  oder  Kaluscharen  genannt,  die  jene  von  den  Russalkinnen 
verursachten  Krankheiten  zu  heilen  bemüht  ist  und  sich  dabei  als  Heil- 
mittel des  Tanzes,  der  Beschwörung,  der  Be-  und  Verzauberung  bedient, 
.also  solcher  Mittel,  die  wir  heute  nur  von  den  Steppenbewohnern  des  fernen 
-Ostens  oder  von  wilden  afrikanischen  und  asiatischen  Völkern  erwarten. 

20* 


296  Lübeck: 

Diese  Kaluscharen    oder  Russalinen    üben    ihre  Heilthätigkeit    nur  in 
der    Elfenwoche    aus.    —    Ihr    Oberhaupt    heisst  Watafin.     Der  Watafin 
erhält    seine   Stellung    nicht    durch  AVahl,    sondern    durch  Yererbung    und 
Naturnotwendigkeit,  denn  sein  AVissen,  seine  Heilkraft,  welche  keiner  sonst 
in  gleichem  Masse  besitzt,  verleihen  ihm  diese  Stellung-     Er  allein  kennt 
die  zur  Heilung  notwendigen  Elfenkräuter  und  deren  verborgene  magische 
Kräfte,  nur  er  kennt  die  Bezauberungen  und  Geheimnisse  der  anzuwendenden 
Beschwörungen,    vor   welchem   selbst   die  sonst  unüberwindlichen  schreck- 
lichen Samodiven,  Russalkinnen  und  andere  unerbittliche  Geister  in  Andacht 
versinken    und    dem  Menschen    gehorsam  werden;    nur  er  ist  vertraut  mit 
der  übernatürlichen  Heilung  von  Krankheiten  durch  Zauberer  und  Hexen. 
Diese    ausserordentlichen   Gaben    verleihen    ihm    nicht    nur    seine  höchste 
Stellung    unter    den  Kaluscharen,    sondern   sogar  das   Recht,    die  letzteren 
selber    auszuwählen.     Nur    er    dingt    sie,    er    unterrichtet  und  beeidet  sie. 
Er  bestimmt  die  Personen,  welche  bei  der  Heilung  eines  Kranken  während 
des    Tanzes    die   Besinnung    verlieren    müssen.     Ohne    ihn    vermög-«n    die 
Kaluscharen  nichts,  kein  Kranker  wird  ohne  ihn  gesund,  denn  sein  Wissen 
und    Können    und    seine    Sehergabe    sind    übernatürlicher    Art,    zumal    er 
während    der  Elfenwoche    mit    überirdischen  Wesen  in  geheimer  Gemein- 
schaft lebt.     Dadurch  wird  seine  Stellang  den  Kaluscharen  gegenüber  fast 
eine    göttliche,    was    noch    durch    den  Umstand    gesteigert   wird,    dass    die 
Kaluscharen  Menschen    ganz    gewöhnlichen  Schlages    sind,    die   wegen  der 
mysteriösen  Gemeinschaft  des  AVatafin  mit  höheren  Wesen  ihm  blindlings 
gehorchen    und  seine  Gebote  buchstäblich  erfüllen.     Ausser  den  Gefühlen 
der    scheuen  Ehrfurcht    hegen    sie    für   ihn    daher  auch  noch  eine  heilige 
Verehrung.     K aluschar    kann   jeder    werden,    der  nur  einigermassen  ge- 
schmeidig,   leicht,    behend    und  abgehärtet  ist  und  Entbehrungen  ertragen 
kann.     Namentlich    muss    er    ein    tüchtiger  Tänzer    sein!     Gut   und   lange 
tanzen  können  ist  die  wesentlichste  Anforderung,  die  man  an  ihn  stellt.  — 
Die  Aufnahme  in  den  Kreis  der  Kaluscharen  geschieht  nach  persön- 
licher   Bewerbung    beim  AVatafin.     Dieser    letztere    berät    sich    dann    mit 
anderen  AA^atafinen  über  die  Aufnahme  und  zieht  ül)er  das  Leben  des  An- 
gemeldeten genaue  Erkundigungen  ein.     Ergiebt  sich,  dass  der  Betreffende 
ein  Trunken-  oder  Raufbold  ist,    so  wird  er  zurückgewiesen,   denn  solche 
Leute,  namentlich  Trunkenbolde,   können  ja  weder  ein  Geheimnis  wahren 
noch  einen  langen  Reigen  aushalten.  —  Die  A^orbereitungen  zur  Auf- 
nahme   sind    folgende:    Zunächst    hat    der  Betreffende   drei  Tage  lang  zu 
fasten,    darauf   wird    seine  Tanzkraft    geprüft.     A¥ährend   des  Tanzes  sind 
der  Watafin    und  einige  der  ältesten  Kaluscharen  anwesend.     Alsdann  hat 
sich    der  Neuling    während    einer  ganzen  Woche  unter  der  Aufsicht  eines 
der  alten  Kaluscharen  zu  üben.     Dieser  letztere  bleibt  dem  die  Aufnahme 
Begehrenden  bis  auf  weiteres  gewissermassen  Vormund  und  Lehrer.     Sind 
die  Ergebnisse  dieser  A^orbereitungen  befriedigend,    so    erfolgt  seine  Ein- 


Die  Krankheitsdämonen  der  Balkan  Völker.  297 

weihung  in  den  Verband.  Dieselbe  geschieht  vor  der  Fahne  und  dem 
Stab  des  Kaluseharen  unter  Nachsprechung  einer  vom  AVatafin  vorge- 
sprochenen Verfluchuugsformel  des  Krankheitsgeistes: 

„In  seinem  Hause  sei  keine  Feuerstätte,  kein  Kamin  rauche  darin, 
Schlangen  nur  und  Eidechsen  mögen  dort  hausen,  Eule  und  Uhu  nur 
sollen  ihr  Nest  dort  bauen.  Nicht  lebe  lang  ihm  sein  Weib,  keine  Wiege 
komme  vor  sein  Auge,  kein  Kind  weine  im  Hause.  In  seinem  Stalle 
blöke  kein  Schaf,  brülle  kein  Ochse,  keine  Kuh,  wiehere  kein  Pferd,  kein 
Füllen,  belle  kein  Hund.  Gras  und  Dornen  nur  mögen  dort  wachsen, 
leer  und  öde  sei  die  Stätte.  Er  selber  sei  blind  und  taub  und  stumm, 
nie  möge  er  Sättigung  finden,  nirgends  Friede  noch  Ende  finden.  Veröden 
möge  der  Ort.  den  er  betritt,  verdorren,  was  er  berührt,  vor  ihm  her  jage 
die  Pest  und  auf  seinen  Fersen  folge  die  Cholera,  nie  nehme  die  Erde 
seine  Gebeine  auf!" 

Nach  Hersagung  dieser  schrecklichen  Formel  küsst  der  Eingeweihte 
Fahne  und  Stah  und  wird  damit  Kaluschar.  Eine  ähnliche  Beschwörung 
findet  später  bei  jedem  Tanz  während  der  Elfenw^oche  statt. 

Von  grosser  Bedeutung  für  den  Erfolg  der  Kaluseharen  ist  die  Zahl  der 
Mitglieder,  namentlich  beim  Tanze.  Die  Anzahl  derer,  die  während  der 
Elfenwoche  an  den  Beschwörungstänzen  teilnehmen,  nmss  stets  eine  ungerade 
sein:  3,  5,  7,  9  u.  s.  w\  Die  gewöhnlichste  Zahl  ist  sieben.  Drei  oder 
fünf  Tänzer  haben  keine  Heilkraft,  sie  stellen  noch  keinen  thatsächlichen, 
wirksamen  Kaluscharenkreis  vor.  Magische  Kraft  haben  insbesondere  sieben 
oder  elf  Tänzer.  —  Ausser  der  Zahl  sind  von  hervorragender  Bedeutung 
für  das  Gelingen  der  Krankheitsbeschwörungen  Stab,  Fahne  und  Musik. 
Jeder  Kaluschar  hat  einen  Stab,  der  ihm  am  selben  Tage  vom  V^atafin 
überhändigt  wird,  an  dem  die  Fahnenweihe  stattfindet.  Dieser  Stab  ist 
aus  dem  Holz  eines  bestimmten  Baumes  geschnitten.  Er  ist  wenige  Milli- 
meter dünn  und  etwa  1  m  lang.  Sein  unteres  Ende  ist  spitz,  mit  Eisen 
beschlagen,  um  beim  Tanzen  leicht  in  die  Erde  gebohrt  werden  zu  können; 
am  oberen  Ende  sind  verschiedene  klingende  Gegenstände  angebracht,  um 
bei  der  Manipulierung  Lärm  zu  erregen.  Die  Empfangnahme  des  Stabes 
und  die  Einschwörung  der  Fahne  geschieht  etwa  4—5  Tage  vor  Anbruch 
der  Elfenwoche,  und  es  werden  sämtliche  Kaluseharen  zu  diesem  Zweck 
vom  Watafin  dazu  in  das  Haus  des  Watafins  einberufen.  Der  von  demselben 
vorbereitete  Stab  wird  dann  in  Gegenwart  der  Kaluseharen  mit  V^asser 
besprengt,  worin  verschiedene  Gräser  und  Kräuter  getaucht  worden  waren, 
und  hernach  vom  Watafin  mit  einer  Formel  besprochen.  Während  dem 
spielen  die  Musiker  ein  Geisterlied  (Samodivenlied),  die  Kaluseharen  aber 
umstehen  mit  verschränkten  Armen  ihren  Meister.  Hierauf  überreicht  der 
Watafin  jedem  Kaluseharen  seinen  Stab,  der  ausser  den  klingenden  Gegen- 
ständen noch  mit  verschiedenen  Gräschen  und  Blümchen  geschmückt  ist, 
denen  magische  Kraft  zukommt.  Bei  der  Verteilung  der  Stäbe,  die  den 
Kaluseharen  während  des  Tanzens  gleichsam  als  Lehne  dienen,  entscheidet 


298  Lübeck: 

das  Alter  die  Reihenfolge:  zuerst  erhält  seinen  8tab  der  Älteste,  zuletzt 
der  Jüngste.  Der  Kaluschare  hat  sich  zu  diesem  Zweck  dem  Watafin  zu 
nähern.  Er  lässt  sich  vor  ihm  auf  die  Kniee  nieder,  küsst  ihm  die  Hand 
und  spricht  ihm  den  vorgesagten  Spruch  nach.  Der  Watafin  bespritzt  nun 
auch  den  Kaluscharen  mit  jenem  selben  durch  Kräuter,  Blätter  u.  s.  w. 
wunderkräftig  gewordenen  Wasser,  mit  welchem  der  Stab  besprengt  worden 
war,  und  damit  ist  der  Kaluschar  im  Besitze  magischer  Macht  und  tritt 
nun  abseits.  —  Ohne  diesen  Stab  kann  der  Kaluschare  weder  tanzen  noch 
heilen.  Die  magische  Kraft,  die  nach  allgemeiner  Annahme  von  der  Be- 
schwörungsformel, dem  Wasser  und  den  Blumen  herrührt,  verbleibt  dem 
Stabe  jedoch  nur  während  der  Russalkawoche  eines  Jahres.  Jedes  Jahr 
müssen  daher  neue  Stäbe  geschnitten  werden.  Die  unbrauchbaren  werden 
entweder  in  die  Erde  vergraben  oder  zerbrochen. 

Nachdem  so  einer  nach  dem  anderen  seinen  Stab,  der  ihm  während 
des  Tanzens  als  eine  Art  Stütze  dient,  erhalten  hat,  schreitet  man  zur 
Weihung  der  Fahne. 

Die  Fahne  ist  für  die  Kaluscharen  ebenso  wichtig  wie  ihre  Stäbe, 
nur  übertrifft  sie  die  letzteren  an  Macht  und  magischer  Kraft.  Sogar  ihr 
Schatten  soll  magische  Kraft  besitzen.  Ihr  Eindruck  auf  die  Kaluscharen 
ist  so  gross  und  mächtig,  dass  niemand  ausser  dem  Watafin  sie  zu  berühren 
oder  zu  tragen  wagt.  Das  zur  Fahne  erforderliche  Tuch  ist  weiss  und 
entweder  im  Hause  gewoben  oder  auf  dem  Markte  eingekauft.  Auch  sie 
hat  der  Watafin  zu  bereiten:  er  schneidet  die  Fahnenstange,  er  giebt  dem 
Tuch  die  Form,  er  näht  sie  aus,  er  schnürt  das  Tuch  au  die  Stange,  an 
deren  Spitze  er  verschiedene  Elfenblumen  wie  Enzian,  Schlüsselblümchen 
u.  s.  w.  anbringt.  Hierauf  wird  die  Fahne  eingesegnet  und  wie  die  Stäbe 
mit  Wasser  besprengt.  Alsdann  verueigt  sich  der  Watafin  vor  ihr,  nimmt 
darnach  die  Fahne  in  die  Hand  und  pflanzt  sie  vor  den  bei  ihm  Erschienenen 
auf.  Während  dieser  Zeit  umtanzen  ihn  die  Kaluscharen,  die  Musikanten 
spielen  ununterbrochen  Elfenlieder.  Im  Moment,  wo  die  Fahne  erhoben 
und  aufgerichtet  wird,  fallen  alle  Kaluscharen  auf  die  Kniee.  Darauf  ruft 
sie  der  Watafin  allesamt  unter  die  Fahne  und  spricht  von  neuem  die  Be- 
schwörungsformel aus,  indem  er  beständig  die  Fahne  über  jedem  der  Reihe 
nach  hin-  und  herschwenkt.  Bei  der  Yerwünschungsformel  werden  gleich- 
zeitig noch  einige  Speisen,  Getränke  und  Verrichtungen  vermaledeit.  Dar- 
nach kommt  die  Fahne  in  den  Hof  des  Watafins,  wo  sie  von  jedem  Kalu- 
scharen der  Reihe  nach  bewacht  werden  muss. 

Diese  ganze  Zeremonie  mit  Stäben  und  Fahne  muss  bis  Samstag  Abend 
vor  der  Elfeuwoche  ausgeführt  sein.  Sonntag  früh  beginnt  dann  der  Aus- 
marsch in  die  Dörfer. 

Auch  die  Musik  hat  eine  bedeutende  Rolle  bei  all  dem,  denn  ohne 
sie  ist  kein  Reigen  und  ohne  Reigen  keine  Heilung  möglich.  Als  Musiker 
taugen    vorzüglich  jene  Personen,    welche  Samodiven-  und  Russalkalieder 


Die  Krankheitsdämonen  der  Balkaiivölker.  299 

zu  spielen  wissen.    Doch  muss  der  Musiker  nüchtern  sein  und  Geheimnisse 
hüten  können. 

Die  von  den  Kaluscharen  aufgeführten  Tänze  sind  zweierlei:  der  eine 
hat  nur  die  Neugierde  und  Kurzweil  der  Zuschauer  zu  befriedigen,  der 
andere  dient  zur  Heilung  der  Kranken.  Bei  der  Ausführung  des  ersten, 
gewöhnlichen  Tanzes  fallen  stets  verschiedene  Teilnehmer  in  Ohnmacht. 
Diese  werden  dann  von  ihren  Kameraden  wieder  zur  Besinnung  gebracht. 
Einem  solchen  Tanz  beizuwohnen,  ist  nur  gegen  eine  Geldleistung  gestattet. 
Man  zahlt  dafür  fünf  Frauken  und  für  jeden  einzelnen  Spieler,  den  man 
in  Ohnmacht  fallen  sehen  will,  je  einen  Franken. 

Ganz  etwas  anderes  ist  der  für  die  Heilung  der  Kranken  angeordnete 
zweite  Tanz.  Damit  dieser  seine  Wirkung  erreiche,  ist  notwendig,  dass 
die  Krankheit,  die  durch  ihn  geheilt  werden  soll,  von  Russalkinnen  her- 
rühre, d.  h.  russalkisch  sei.  Ob  eine  Krankheit  dies  sei  oder  nicht,  ent- 
scheidet der  Watafin.  Ist  sie  es  nicht,  so  hält  es  auch  der  Watafin  für 
ganz  nutzlos,  sich  mit  deren  Heilung  zu  befassen.  Gestattet  aber  eine 
aufmerksame  Diagnose  die  Annahme  einer  Russalkakrankheit,  so  wird 
sogleich  die  Summe  vereinbart,  welche  der  Kranke  für  die  Heilung  zu 
zahlen  hat.  Hiernach  scin-eitet  man  zur  Heilung,  d.  h.  zur  Betanzung 
des  Kranken  oder  seiner  Krankheit.  Zu  diesem  Zweck  wird  ein 
neuer  Topf  und  eine  neue  Schüssel  gekauft.  In  letztere  kommt  Essig,  in 
den  verschiedene  als  magisch  betrachtete  Heilkräuter  gelegt  werden.  In 
den  Topf  kommt  „unangefangenes"  (gerade  vom  Quell  geschöpftes)  Wasser 
mit  ähnlichen  Heil-  und  Zauberkräutern.  Dieses  W^asser  wird  mit  einem 
Tuch  überdeckt.  Den  Topf  mit  dem  Kräuterwasser  bringt  man  auf  eine 
Art  Tisch,  der  von  einem  nie  gebrauchten  Deckbrett  bedeckt  ist.  Den 
Kranken  selbst  bringt  man  auf  ein  Strohgeflecht,  doch  abseits  vom  Topf. 
Nun  fangen  die  Musiker  zu  spielen  und  die  Kaluscharen  zu  tanzen  an. 
Der  Reigen  bewegt  sich  anfangs  langsam  um  den  Kranken.  „Nach  der 
Sitte  der  Elfen"  ist  er  dem  Alter  nach  geordnet.  Er  folgt  streng  dem 
Takt  der  Musik,  die  angiebt,  wenn  mit  grösserer  Schnelligkeit  oder  Lang- 
samkeit „am"  oder  „vom"  Orte  getanzt  werden  soll.  Das  Tanzen  am  Ort 
kann  zweierlei  sein:  entweder  geschehen  die  Bewegungen  von  ein  und 
demselben  Punkte  aus,  in  welchem  Falle  sich  die  Tänzer  mit  dem  Rücken 
an  ihre  Stäbe  anlehnen,  oder  aber  in  gewissen  Linien  und  Richtungen 
innerhalb  einer  bestimmten  Strecke,  welche  Linien  sich  aber  stets  um 
einen  festen,  unveränderlichen  Punkt  fixieren.  Bei  der  dadurch  statt- 
findenden Yor-  und  Rück-,  Links-  und  Rechtsbewegung  um  einen  ange- 
nommenen Standpunkt  ergreifen  die  Kaluscharen  plötzlich  den  Saum  des 
Teppichs  oder  Strohgeflechts,  w-orauf  der  Kranke  kauert,  und  schleudern 
denselben  mit  dem  Rufe:  „Auf  zum  Kalusch!"  durch  einen  heftigen  Ruck 
dreimal  in  die  Höhe.  Darauf  treten  sie  zurück,  der  Watafin,  der  sie 
während  des  Tanzes  fortwährend  mit  dem  Wasser  aus  dem  Topf  besprengt 


300  Lübeck: 

hatte,  tritt  in  die  Mitte,  reiht  den  Kranken  mit  dem  Essig  der  Schüssel 
an  Stirn,  Händen  mid  Füssen  ein,  senkt  die  Fahne  über  ihn  herab,  schwenkt 
sie  dann  über  ihm  nach  den  vier  Himmelsrichtungen  und  tritt  schliesslich 
wieder  vom  Platze  zurück.  Der  Reigen  beginnt  von  neuem,  doch  heftiger, 
wobei  jeder  Kaluschar  der  Reihe  nach  den  Kranken  überspringt.  Dies 
geschieht  dreimal.  Die  Tänzer  verlassen  nun  ihre  Stellung  um  den 
Kranken  und  ums])ringen  den  abseits  vom  Kranken  befindlichen  Topf  mit 
dem  „unangefangenen"  Kräuterwasser,  während  der  Leidende  an  Ort  und 
Stelle  liegen  bleibt.  Die  Musikanten  spielen  wilder,  der  Reigen  wird 
immer  stürmischer.  Bei  jedem  Rundgang  um  das  Gefäss  besprengt  der 
Watafin  die  Tanzenden  von  neuem,  doch  diesmal  mit  dem  in  der  Schüssel 
enthaltenen  Essig.  Dies  geschieht  mehrere  Male.  So  lange  die  Kalu- 
scharen  um  den  Topf  tanzen,  befindet  sich  der  Watafin  stets  an  einem 
Ort,  von  wo  aus  er  über  die  Vorübertanzenden  die  Fahne  senkt.  Die- 
jenigen, welche  in  Ohnmacht  zu  fallen  haben,  lassen  sich  öfters  erst  mit 
dem  Wasser,  später  mit  dem  Essig  besprengen  als  die  anderen,  auch  lässt 
der  Watafin  die  Fahne  unmittelbar  vor  ihnen  als  vor  den  anderen  lierab- 
rauschen.  Inzwischen  haben  Essig  und  Wasser  nach  und  nach  magische 
Kraft  erhalten,  die  Russalkinnen,  in  deren  Grewalt  der  Kranke  sich  befindet, 
fangen  an  sich  zu  erweichen;  der  Abkauf.  die  Ablösung  von  ihnen  muss 
jeden  Augenblick  erfolgen.  Auf  ein  Zeiclien  des  Watafin  spielen  die 
Musiker  das  „Floritschika"  genannte  Elfenlied,  das  Ende  des  Tanzes  naht, 
die  Kaluscharen  ziehen  sich  mehr  und  mehr  vom  Wassertopf  zurück.  Auf 
ein  weiteres  Zeichen  des  Watafin  stösst  der  älteste  Kaluschar  mit  seinem 
Stabe  auf  den  Topf,  dass  er  in  Stücke  zerspringt.  Im  selben  Augenblick 
springt  auch  der  Kranke  auf,  reisst  seine  Strohdecke  an  sich  und  enteilt 
vollkommen  gesund.  Desgleichen  entfliehen  die  übrigen;  aber  für  jene, 
welche  bewusstlos  niederstürzen  sollen,  ist  nun  der  Augenblick  des  olm- 
mächtigen  Zusammenbruchs  gekommen.  Darauf  beginnt  ein  neuer  Reigen, 
genau  wie  zuvor,  nur  ohne  den  Topf  mit  Wasser;  die  sämtlichen  Zeremonien 
wiederholen  sich,  bloss  dass  an  Stelle  des  Kranken  nun  die  Ohnmächtigen 
übersprungen,  emporgeschleudert  und  mit  Essig  gerieben  werden,  wobei 
eine  grosse  Schnelligkeit  entwickelt  wird,  da  man  bei  grösserer  Zögerung 
die  Gefallenen  nicht  mehr  zur  Besinnung  zurückrufen  können  soll. 

Verschiedene  Erkundigungen  über  den  Zustand,  die  Gefühle  der 
Kaluscharen  haben  folgendes  ergeben  (ich  füge  hier  den  Bericht  eines 
Kaluscharen  bei):  —  „Indem  ich  den  Kranken  umtanze,  emi)finde  ich,  wie 
ich  ganz  allmählich  mich  verzaubere.  Beim  Essigschlürfen  fängt  mein  Kopf 
mir  zu  schwindeln  an;  wann  der  Watafin  die  Fahne  über  mir  flattern  lässt, 
senkt  sich  auf  meine  Augen  ein  tiefer  Nebel.  Sobald  man  das  Gefäss 
umtanzt,  fühle  ich  bereits  nichts  mehr  und  kann  mich  nicht  erinnern,  was 
wir  machen  und  was  der  Watafin  macht.  Im  Augenblick,  bevor  der  Topf 
zerschlao-en    wird,    übermannt    mich    eine    unbeschreibliche  Schwäche:    im 


Die  Krankheitsdämonen  der  Balkanvölker.  301 

Moment,  da  man  ihn  zerschlägt,  sinken  meine  Kniee  ein  und  ich  falle."  — 
Die  übrigen  Kahischaren,  welche  nicht  in  Ohnmacht  zu  fallen  haben,  sind 
sich  soweit  klar,  dass  sie  noch  bei  vollem  Bewusstsein  fliehen  können. 

Was  die  Kranken  betrifft,  so  fühlen  sich  dieselben  durch  die  um- 
ständlich dargestellte  Zeremonie  tliatsächlich  besser,  wie  aus  einigen  mir 
vorliegenden  Berichten  zu  entnehmen  ist.  Die  Gefühle  desselben  lassen 
sich  folgendermassen  beschreiben:  Auf  dem  Strohteppich  zusammengekauert 
empfindet  der  Kranke  eine  grosse  Schwäche.  Dann  überfällt  ihn  allmählich 
der  Schlaf.  So  lange  er  die  Kahischaren  um  sich  herumtanzen  sieht,  fühlt 
er  sich  zusehends  leichter.  Nach  jeder  Emporschleuderung  nimmt  sein 
Besserbefinden  zu.  Wenn  die  Kahischaren  ihn  überspringen,  ist  ihm  zu 
Mute,  als  nähme  ihm  ein  jeder  mit  der  Hand  etwas  von  der  Krankheit 
fort.  Wie  ihn  der  Watafin  mit  dem  Wasser  aus  dem  Topf  besprengt, 
fühlt  er  sich  yollstündig  wohl,  bloss  noch  sehr  schwach.  Beim  Zerbrechen 
des  Gefässes  hat  er  das  Gefühl,  als  werde  er  von  jemandem  emporgerissen, 
der  ihm  ins  Ohr  flüstere:  „Fliehe!"  Wie  dies  alles  vor  sich  gehe,  sei  ihm 
unklar  und  unbewusst.  —  Im  allgemeinen  lässt  sich  dazu  bemerken,  dass 
der  Glaube  des  Kranken  im  besonderen  und  der  Bevölkerung  im  allge- 
meinen an  <lie  Heilkraft  der  Kaluscharen  sehr  gross  ist,  was  für  den  glück- 
lichen Ausgang  der  Heilung  von  Belaug  ist. 

Am  letzten  Tage  der  Russalkawoche  (am  Sonntag)  begeben  sich 
am  Abend  alle  Kaluscharen  zum  Watafin,  wo  die  im  Hause  des  letzteren 
ausgeübten  Zeremonien,  wie  wir  sie  geschildert  haben,  sich  wiederholen, 
jedoch  in  umgekehrter  Reihenfolge:  Ward  in  der  ersten  Reihenfolge  magische 
Kraft  geschaffen  und  erteilt,  so  wird  durch  die  umgekehrte  zweite  Reihen- 
folge diese  Kraft  vernichtet.  Die  Musik  spielt,  der  Watafin  verneigt  sich 
dreimal  vor  der  Fahne,  nimmt  die  angehefteten  Kräuter  und  Gräser  herab, 
trennt  das  Tuch  von  der  Stange,  legt  es  unter  fortwährendem  Gemurmel 
und  Beschwören  bei  Seite,  zählt  alsdann  die  Stäbe  der  Kaluscharen  ein 
und  entäussert  die  letzteren  ihrer  magischen  Kraft.  Bei  diesem  Geschäft 
beginnt  er  mit  dem  jüngsten  Kaluscharen.  Dann  warten  alle  nach  dem 
Abzug  der  Musiker  die  Mitternacht  ab,  begeben  sich  zu  dieser  Stunde  auf 
einen  Elfenplatz  oder  an  ein  Flussufer.  An  der  Haltestelle  zerbricht  der 
Watafin  Fahnenstange  und  Stäbe,  schleudert  sie  in  das  vorüberfliessende 
Gewässer  oder  verscharrt  sie  in  die  Erde.  Die  Fahnenstange  wird  stets 
verscharrt.  Sollte  jemand  dieser  Szene  heimlich  beiwohnen,  so  verfällt  er 
in  Krankheit,  die  ihn  über  kurz  oder  lang  hinrafft.  Wenn  hinwiederum 
jemand  die  Fahnenstange  ausgräbt,  so  wird  er  stumm,  wahnsinnig  und 
stirbt  schliesslich  pach  langem  Leiden. 

Nach  Vollendung  dieses  letzten  Aktes  waschen  sich  alle  Gesicht  und 
Hände.  Der  Watafin  besprengt  dann  sämtliche  Kaluscharen  mit  einem 
für  diese  Szene  besonders  zubereiteten  Zauberwasser  (Rückversetzungs- 
wasser),  wodurch  dieselben  wieder  gewöhnliche  Menschen  werden.    Alsdann 


302  Lübeck: 

kehrt  man  in  das  Haus  des  Wataüns  zurück,  teilt  den  Gewinn  zu  gleichen 
Teilen  nnd  verbringt  den  Rest  der  Nacht  und  wohl  auch  den  folgenden 
Tag  in  Saus  und  Braus.  Mit  dem  gewonnenen  Gelde  werden  zunächst  die 
Kosten  für  Musik,  Gefässe  u.  s.  w.  bestritten.  Ausserdem  hat  jeder  Kalu- 
schar  dem  "Watafin  den  Zehnten  seines  Anteils  abzutreten.  —  Alle  mög- 
lichen Zwistigkeiten,  die  bis  dahin  entstehen  konnten  und  etwa  noch  am 
letzten  Abend  entstehen  könnten,  entscheidet  der  Watafin,  wobei  der  Be- 
merkung wert  ist,  dass  zur  Zeit  der  Türken  die  Zwiespältigkeiten  jener 
von  keinem  türkischen  Gericht  zur  Entscheidung  angenommen  wurden.  — 
Gesellschaften  von  Kaluscharen  giebt  es  heute  nur  noch  ganz  wenige,  doch 
sollen  sie  noch  in  Rumänien  vorkommen. 

Mit  diesen  Schilderungen  hätten  wir  im  grossen  Ganzen  alles  Er- 
wähnenswerte mitgeteilt.  Doch  habe  ich  vor  Abschluss  meiner  Skizze 
noch  eines  Tages  zu  gedenken,  der  mein  Bild  vervollständigt,  des  Eniow- 
tages,  der  eine  ganz  besondere  Stellung  unter  den  Krankheitstagen  ein- 
ninmit. 

Nach  einem  Yolksglauben  giebt  es,  wie  früher  erwähnt,  77 Va  ^^^'- 
schiedene  Krankheiten  in  der  Welt.  Der  Bruch  Va  ^^'^^  jedenfalls  keine 
weitere  Bedeutung  als  die,  dem  numeralen  Begriff  77  grösseren  magischen 
Geschmack  und  gefährlicheres  Aussehen  zu  verleihen.  Es  wäre  unrichtig, 
die  Grösse  Va  ^twa  mit  dem  Pestkinde  in  Beziehung  setzen  zu  wollen, 
zumal  unseres  Wissens  weder  in  hiesiger  noch  wohl  auch  in  einer  anderen 
Volkssprache  die  Anwendung  von  Bruchgrössen  volkstümlich  ist.  Wir 
wenigstens  erinnern  uns  keines  einzigen  nachweisbar  volkstümlichen  Aus- 
drucks in  den  Balkanidiomen  noch  auch  in  den  neuen  oder  alten  Sprachen 
Europas  u.  s.  w.,  wo  Bruchteile  selbständig  und  volkstümlich  aufträten. 
Selbst  in  den  zur  Zeit  aufgeschriebenen  Weistümern  hiesiger  Gegenden 
ist  uns  der  Ausdruck  77  Vg  niemals  begegnet.  Nur  eine  einzige  Volkssitte, 
auf  die  wir  sogleich  zu  sprechen  kommen  werden,  scheint  den  Begriff  ^/g 
in  der  Verbindung  77^2  als  volkstümlich  zu  erweisen.  Die  77  7o  Krank- 
heiten versammeln  sich  nach  dem  Glauben  des  Volkes  alle  Jahr  einmal 
und  zwar  am  24.  Juni.  An  diesem  Tage  leben  sie  in  grösster  Fröhlichkeit, 
baden  und  schmücken  sich,  wechseln  die  Kleidung  und  spielen  und  tanzen. 
Für  jede  Krankheit  der  Welt  giebt  es  nun  ein  besonderes  Heilmittel  und, 
wie  gezeigt,  besondere  Festtage.  Da  aber  der  Mensch  in  seiner  irdischen 
Unvollkomrnenheit  nicht  alle  Pleilmittel  noch  auch  die  Tage  aller  Krank- 
heiten kennt,  durch  welche  erstere  Heilmittel  und  an  welchen  letzteren 
Krankheitsfesttagen  die  gewünschte  Heilung  eintreten  kann,  da  selbst  das 
beste  Heilmittel  ohne  Erfolg  bleibt,  sofern  es  nickt  am  bestimmten 
Dämonentag  verabreicht  wird,  so  ist  dieser  Tag  des  24.  Juni  zum 
Sammeln  aller  Heilkräuter  und  zur  Verehrung  aller  Krankheitsgeister 
bestimmt,  damit  ja  kein  Krankheitsgeist  und  ja  keine  ihm  etwa  zugehörige 
Pflanze    vernachlässigt    werde.     Früh    vor    Morgendämmern    dieses    Tages 


Die  Krankheitsdämoneu  der  Balkanvölker.  303 

ziehen  die  jungen  ledigen  Leute,  Mädchen  und  Burschen,  hinaus  ins  Freie, 
in  Feld  und  Wald.  Oft  geschieht  solch  ein  Auszug  unter  Anführung  eines 
alten  Mütterleins,  einer  Babitschka,  denn  diese  ist  die  einzige,  die  durch 
ihre  ausserordentlichen  Kenntnisse  der  Heilpflanzen  die  Jugend  über  Fundort 
und  Verwendung  solcher  Pflanzen  unterrichten  kann.  Aber  nicht  nur  diese 
Kenntnis  ruft  diese  Mütterlein  unter  die  jugendliche  Schar,  nein,  auch 
eine  ihnen  bezeigte  Ehrfurcht.  Sie  spielen  namentlich  bei  der  Geburt  eine 
hochwichtige  Rolle,  da  sie  für  die  in  Wehen  liegende  Mutter  die  einzige 
Hülfe  sind.  Durch  die  Herbeiziehung  dieser  Babitschki  zum  Pflanzen- 
sammeln erkennt  die  Jugend  die  hervorragende  Bedeutung  dieser  Frauen  an 
und  erhält  der  Eniowstag  eine  besondere  Bedeutung,  indem  er  durch  die 
Teilnahme  der  Babitschki  mit  der  Geburt  in  engere  Beziehung  gesetzt 
wird,  daher  denn  auch  namentlich  solche  Blätter,  Blüten,  Wurzeln  u.  dgk 
gesammelt  werden,  deren  Verwendung  die  Geburt  erleichtern  und  den 
Lachussengeistern,  welche  der  Rodulja  (Wehnmtter)  und  des  Kindes  sich 
bemächtigen  wollen,  die  Angriffe  auf  das  Leben  erschweren  sollen. 

Auf  diesen  gemeinsamen  Ausflügen  flechten  die  jungen  Leute  Kränze, 
durch  welche  sich  nicht  nur  die  Kranken,  sondern  auch  die  Gesunden  „auf 
gegenseitiges  Wohlsein"  hindurchwinden,  in  welcher  Zeremonie  vom  Volke 
natürlich  eine  heilsame  Magie  oder  Bannung  angenommen  wird.  Dass  in 
diesen  Kranz  aucli  Zauberkräuter  wie  Enzian  u.  s.  w.  gewunden  werden, 
versteht  sich  von  selbst.  Während  des  Hindurchschlüpfens  singen  die 
Mädchen  gewöhnlich  folgendes,  teils  auf  den  Kranz,  teils  auf  die  Geburt 
bezügliche  sonderbare  Lied: 

1       Es  rühmte  sich  die  Maid  Angelinka,  Dann  werden  wir  zu  deinem  Vater  zu 

Angeliuka,  die  wimderschöne:  Gaste  gehen." 

..Ich  bin  eine  Maid,  ich  bin  eine  Maid  Am  Tage  trug  sie  die  Schuhe, 

Von  hohem  Geschlecht,  20  Am  Abend  begrub  sie  sie  im  Feuer, 

6  Mich  kann  kein  Bursche,  Am  Morgen  begoss  sie  sie  mit  (Zauber> 

Kein  Bursche  kann  mich  anführenl"  wasser. 

Als  dies  die  Schlange  auf  dem  Berge  Da  zerrissen  die  Schuhe,  da  gebar  sie  ein 

hörte,  Kind, 

Entfaltete  sie  zwei  rote  Büschel,  Und  sie  zogen  nun  zu  Vater  zu  Gaste. 

Nahm  zwei  süsstönende  Kawale^)  -Sie  begegneten  fünf  Wagen  mit  Heu, 

10  Und  setzte  sich  dem  Mädchen  zu  Füssen  25  Fünf  Wagen  mit  Garben. 

Und  spielte  bis  Mitternacht  Angelina  sagte  zur  Schlange: 

Und  belog  die  Maid  Angelinka.  ^Höre,  Schlange,  feurige  Schlange! 

Es  entfloh  die  Maid  Angelina,  Kannst  du  das  Heu  anzünden, 

Sie  [die  Schlange]  fühi-te  sie  auf  die  Das  Heu  anzünden  und  die  Garben  ver- 

Stara  Planina ^J  brennen?* 

15  Und  machte  ihr  eiserne  Schuhe.  30      Angelina  antwortete  die  Schlange: 

„Wenn  du  die  eisernen  Schuhe  zerreisst,  „Nicht  vermag  ich  das  Heu  anzuzünden. 

Wenn  du  ein  männliches  Kind  gebierst,  Noch  auch  die  Garben  zu  verbrennen, 


1)  V.  9  „Kawäl",    ein  sehr  weichtönendes,    flötenartiges  Instrument,    das  eigentliche 
Xationalinstrument  der  Bulgaren  und  Macedonen. 

•2)  V.  14  Stära  Planina  d.  i.  „alter  Berg",  der  ursprüngliche  Hännis,  heute  Balkan. 


304  Lübeck:  Die  Kraiikheitsdämonen  der  Baikauvölker. 

Denn  im  Heu,  im  grünen  Gras,  Aber  nimm  mir  den  Kranz  herab, 

Denn  zwischen  den  Garben  unter  den  Im  Kreuz  durchschreite  die  Wiese, 

Stengeln  Sammle  Schlangengekräut, 

35  Gähren  mächtig  heilkräftige  Kräuter,  Der  Schlange  verderbliche  Gräser, 

Schlüsselblume,  Wermut  und  Enzian,  so  Gräser,  Rainfarn,  Schlüsselblume, 
Heilsame  Gräser,  nichtswürdigeKräuter!"')        Wermut  und  Hirtenenzian. 

Als  sie  ans  Ende  des  Dorfes  kamen.  Mit  diesen,  oh  Mutter,  wasche  mich. 

Wandelte  sich  die  feurige  Schlange  Und  in  dem  Wagen  auf  der  Wagenstange 

in  einen  Kranz.  Bedecke  mich  mit  Büffelhaut." 

40  Als  Angelina  erreichte  55      Dies  wirkte  die  Mutter. 

Das  Haus  ihres  Vaters,  Als  Angelina  zurückkehrte^). 

Lief  herbei  ihre  Mutter,  Zu  sehen  die  Wiege  mit  dem  Kinde, 

Die  Wiege  zu  fassen.  Zu  sehen  nach  dem  Haken  mit  dem  Kranz, 

Angelina  sagte  der  Mutter:  Da  war  kein  Kind  mehr  in  der  Wiege 

45      „Rühr"  mir  die  Wiege  nicht  an,  co  Und  an  dem  Haken  kein  Kranz. 

Der  Kranz  wird  aufbewahrt  und  wenn  ein  Kind  an  der  „bösen  Krank- 
heit" erkrankt,  so  schwenkt  man  zur  Heilung  und  Beschwörung  der  Krank- 
heit das  Rauchfass  mit  brennenden  Kranzblättern  über  dem  Kinde. 

Die  Pflanzen,  die  teils  ganz,  teils  nur  in  Blättern,  Blüten,  Stengeln, 
Wurzeln  u.  s.  w.  Heilkraft  haben  und  an  diesem  Tage  gesucht  werden, 
sind  magisch  verwandte  Pflanzen.  Besonders  aber  wird  das  Eniowsblümchen 
gesucht  und  als  Heilpflanze  gegen  Röteln  (?)  verwendet.  Wer  persönlich 
keine  besonderen  Heilpflanzen  braucht  und  sucht,  sammelt  sich  Gräser 
und  Kräuter  und  zwar  77erlei  und  nimmt  von  einem  78sten  noch  die 
Hälfte.  Mit  diesen  77  Va  verschiedenen  Kräutern  und  Gräsern,  die  der 
Zahl  mich  den  77 Vg  existierenden  Krankheiten  und  Krankheitsgeistern 
entsprechen,  behandelt  man  die  verschiedensten  Krankheiten,  stets  in  der 
Hoffnung,  den  einen  oder  anderen  noch  unbekannten  Krankheitsdämon 
und  -tag  oder  seine  Heilpflanze  zu  finden.  An  diesem  selben  Tage  werden 
auch  Binsen  zu  Besen  gesammelt  und  gebunden,  womit  das  Haus  von  den 
bösen  Geistern  und  dem  Talassüm')  reingefegt  werden  kann.  Ausserdem 
werden  an  diesem  Tag  Kräuter  gesammelt,  die  die  Macht  haben.  Zu-  oder 
Abneigung  zwischen  Mädchen  und  Burschen  zu  erregen.  Am  gleichen 
Tage  begeben  sich  die  Kranken  in  Teiche,  Seen,  Sümpfe,  Flüsse  u.  s.  w., 
um  sich  durch  ein  Bad  zu  heilen.  Diese  Wasser  sind  heilkräftig,  weil  an 
diesem  Tage  die  Krankheiten  selber  sich  in  ihnen  gebadet  haben.  —  Der 
Eniowstag  ist  ferner  noch  der  Tag  der  Zauberer  und  Hexen  des  Feldes. 

1)  V.  37  „heilsam",  d.  i.  für  die  von  geisterhaften  Wesen  mit  Krankheit  Geschlagenen, 
„nichtswürdig",  d.  i.  in  Beziehung  auf  solche  Unwesen,  denen  durch  solches  Gekraut  die 
Macht  über  den  ihnen  verfallenen  Menschen  genommen  wird. 

2)  V.  56  ..zurückkehrte",  d.  h.  nachdem  die  Mutter  alles  mit  ihr  vorgenommen  und 
sämtliche  Aufträge  erfüllt  hatte. 

3)  Talassiim,  ein  äusserst  gefährlicher  Geist. 

Gabrovo  in  Bulgarien. 


Schwartz:  Heidnische  Überreste  in  der  norddeutschen  Tiefebene.  30 

Heidnische  Überreste  in  den  Volksüberlieferungen 
der  norddeutschen  Tiefebene. 

Von  Wilhelm  Schwartz. 

(Schluss  von  Zeitschrift  IX,  130.) 


[Vorbemerkung  des  Herausgebers.  Am  IG.  Mai  1899  starb  Wilhelm  Schwartz: 
auf  seinem  Schreibtische  lagen  Bogen,  Briefe  und  Postkarten,  welche  das  Material  für  den 
Schluss  seines  Aufsatzes  enthielten,  in  dem  er  die  angefochtenen  heidnischen  Gestalten 
der  Mark  und  ihrer  westlichen  und  südlichen  Nachbargaue  gegen  unüberlegte  Angriffe 
verteidigte.  Am  lö.  Mai  hatte  ich  noch  ein  kurzes  Gespräch  darüber  mit  ihm  führen 
können,  in  vier  Wochen  hoffte  er  mir  die  Arbeit  zu  übergeben,  er  war  scheinbar  in  der 
Genesung.  Aber  er  hatte  mehrere  der  von  ihm  beschriebeneu  Blätter  des  Entwurfs  mit 
meinem  Namen  bezeichnet,  um  für  jeden  Fall  den  zu  nennen,  der  sie  übernehmen  solle.  Die 
Familie  hat  mir  sie  zugestellt,  Vorarbeiten,  die  durchaus  nichts  fertiges  enthalten,  zumal 
W.  Schwartz  den  einzelnen  bestätigenden  Berichten,  die  er  über  Harke  und  Frick  neuer- 
dings hatte  einziehen  können  (oben  S.  135),  doch  noch  einige  Erörterungen  zufügen  wollte, 
wie  hingeworfene  schriftlicHe  Sätze  anzeigten.  Es  sind  Ansätze,  oft  für  dasselbe  in  drei- 
oder  vierfacher  Gestalt,  aber  nichts  fertiges.  So  ist  denn  das  Folgende,  was  ich  nach  dem 
Wunsche  des  feuern  Verstorbenen  vorlege,  nur  Bruchstück,  mehr  Bruchstück,  als  ich  hoffte 
und  wünschte.  Ich  selbst  habe  nichts  aus  eigenem  zugefügt,  sondern  nur  das  Vorhandene 
zu  ordnen  gesucht.  K.  Weinhold.  1 

Die  mir  über  alles  Erwarten  von  Geistlichen  und  Lehrern  auf  meine 
Anfragen  gewordenen  Mitteilungen  geben  nicht  bloss  Bestätigungen,  sondern 
auch  neue  Gesichtspunkte  für  die  betreffenden  Wesen  des  Volksglauben. 
A.  Kuhn  fasste  sie  unter  dem  Namen  der  Zwölftengottheiten  zusammen, 
und  ich  habe  mich  dem  angeschlossen,  weil  beim  Sammeln  uns  dieses 
Moment  in  den  Vordergrund  trat.  Aber  die  neuen  Erhebungen  bestätigen 
nur,  was  mir  immer  wahrscheinlicher  geworden,  dass  die  Beziehungen  zu 
den  Zwölften  nur  im  Norden  mehr  hervortreten,  und  dass  das  gebotene 
Unterlassen  des  Spinnens  nicht  bloss  in  den  Zwölften,  sondern  auch  zu 
Lichtmess,  zur  Fastnacht  und  an  jedem  Sonnabend,  wie  das  Verbot  auch 
anderer  Haus-  und  Hofarbeit  zu  diesen  heiligen  Zeiten  (was  schon  A. 
Wuttke,  Der  deutsche  Volksaberglaube,  §  619  nachwies)  die  Ansicht  be- 
stätigt, dass  jene  heidnischen  Gestalten  allgemeiner  zu  fassen  und  nicht 
bloss  auf  die  Zwölften  zu  beziehen  sind. 

Frau  Harke,  Herke»^) 

(Haake,  Arche,  Harfe.) 
Jerichow  I.  H. 
Saudau.  Camern  und  Umgegend,  Schollene,  Ferchel,  Neuermark,  Hohen- 
göhren  (Frau  Harke);  Boecke  (Haake,  Haak);  Rogäsen  (Arche),   Werbig, 
Jerchel,  Tucheim  (Frau  Harfe),  Viesen,  Mahlenzien  (freie  Harfe). 


1)  [Ich  mache  noch  einmal  darauf  aufmerksam,  dass  die  folgenden  Aufführungen  nur 
die  Ergebnisse  der  neuen  Nachforschungen  von  W.  Schwartz  sind,  nicht  das  ganze  vor- 
handene Material  über  Frau  Herke-Harke  geben  wollen.     K.  W.] 


306  Schwartz: 

Havelland  (Frau  Harke). 
Paretz,  Leiitzke,  Uetz.  Bariiewitz,  Hobennauen,  Gortz,  Perchesar,  Liepe. 

Zaiiche  (Frau  Harfe). 
Krahne,  Lehnin,  Nahniitz,  Xetzen,  Bliesendorf. 

Teltow. 
Dergischow,    Kummersdorf,    Christiuendorf,    Thürow    (Frau    Harke), 
Wittstock  (Frau  Arche);  Gadsdorf  (Frau  Herkster). 
Barnim  (Frau  Herkeu). 
Lanken,    Preuden,    Lichterfelde,    Chorinchen,   Biesenthal,   Goltze,  Alt- 
hüttendorf, Falkenberg',  Toruow  bei  Frauenthal,  —  Heiligensee  bei  Tegel 
(Frau  Harfen,  Herften). 

Ruppin  (Frau  Harke). 
Protzen,  Stöffin,  Küdow,  Dabergotz,  Falkenthal  (Kr.  Templin). 

Neumark  (Frau  Herke). 
Glasow,  Zollen  (Kr.  Soldin),  Döbbernitz  (Kr.  Weststernberg). 

Jüterbog;  Flämrng. 
Borgisdorf,  Wölmersdorf  (Frau  Herke);  Petkus,  Fröhdeu  (Frau  Harke); 
Märtensmühle  (Frau  Herksten). 

Nieder-Lausitz. 
Gr.  Krausnigk  (Kr.  Luckau,  die  faule  Harke).  Langengrassau  bei  Ukro 
(Hörke,  Hirke). 

Kreis  Schweinitz  (Prov.  Sachsen). 
Jessen,  Seyda;  Grochwitz  bei  Torgau  (Frau  Herke). 

Gebiet  der  ollen  Häksche. 
Hasslebeu,  Kreis  Halberstadt;  Lebenstedt,  Lesse,  Kreis  Wolfenbüttel; 
Seesen,  Ildehausen,  Sebaldshausen,  Kr.  Gandersheim. 

Als  Drohwort  beim  Spinnen  gebraucht  in  Abbenrode,  Aspenstädt,  Sarg- 
städt.  Kr.  Halberstadt;  Wernigerode,  Stapelburg,  Kr.  Wernigerode;  Harz- 
burg, Kr.  Wolfeubüttel;  Klipperkrug  bei  Wülperode,  Kr.  Goslar;  Bockenau, 
Kr.  Hildesheim;  Langeleben,  Königslutter  a.  Elm. 

Aus  diesen  Nachweisen  ergiebt  sich  nun  zunächst,  dass  das  Gebiet  der 
Prau  Herke  oder  Harke,  „die  Harkezone",  von  weit  grösserem  Umfange 
ist,  als  man  bisher  angenommen  hat.  Es  umfasst,  bloss  die  altmärkischen 
Kreise  Jerichow  L  IL  und  die  betreffenden  Teile  der  Mark  berechnet, 
14  778  qvi^  d.  h.  fast  so  viel  als  das  Königreich  Sachsen. 

Aus  der  Korrespondenz  folgt  eine  Auswahl,  welche  vornehmlich  das 
Unterlassen  des  Spinnens  zu  bestimmten  Zeiten  unter  Einwirkung  der  Frau 
Herke  oder  Harke  belegen  soll. 

Meiner  Mitteilung  von  neulieh  füge  ich  noch  hinzu,  dass  man  ausser  in  Stöffin 
und  Palkenthal    auch    in  Küdow    und  Dabergotz  Frau  Harke    noch    kennt.     Man 


Heidnische  Überreste  in  der  norddeutschem  Tiefebene.  307 

sagt:  Wenn  zu  Lichtmessen  die  Mädchen  die  Heede  nicht  abgesponnen  haben,  so 
kommt  Frau  Harke  und  „se  makt  en  wat  in  de  Hede".  Auf  diese  Redensart 
scheint  sich  heutzutage  die  Kenntnis  der  Frau  Harke  in  der  Grafschaft  (auch  in 
Falkentbal)  zu  beschränken.  Mehr  erzählt  man  sich  in  der  Gegend  von  Havelberg 
von  ihr,  wie  Ihnen  bekannt  ist. 

Neu-Ruppin,  den  -IS.  Juni  1893.  K-  E.  Haase. 

Das  Spinnen  hört  mit  Mareien  (Maria  Reinigung,  Lichtmess)  auf;  so  in  den 
meisten  Orten  der  beiden  Kreise  Jerichow  und  bei  Targermünde,  sonst  „kommt 
Marie  und  pustet  das  Licht  aus".  In  Wüsten-Rogäsen,  zwei  Stunden  südlich  von 
Tucheim,  muss  Lichtmess  fertig  gesponnen  sein,  was  teilweise  auch  hier  (in 
Tucheim)  Sitte  ist.  In  den  Zwölften  wird  in  hiesiger  Gegend  alle  Tage  gesponnen, 
nur  an  den  Sonn-  und  Feiertagen  und  am  Sonnabend  nicht.  (Bei  Salzwedel  darf 
auch  am  Donnerstag  nicht  gesponnen  werden.)  Wer  am  Sonnabend  seinen  Wocken 
nicht  abgesponnen  hat,  zu  dem  kommt  Frau  Harfe  (in  Wüsten-Rogäsen  Frau 
Arche)  und  verunreinigt  denselben,  oder  die  Worte  zu  gebrauchen,  wie  ich  sie 
hörte:  „Frau  Harfe  schitt  di  w^at."  Wer  mit  seinem  Wocken  zum  Sonnabend  nicht 
fertig  geworden  ist,  nimmt  ihn  vom  Spinnrad  und  verbirgt  ihn  bis  Montag. 

Tucheim  bei  Genthin,  den  30.  Juli  1894.  G.  Schäfer. 

In  hiesiger  Gegend  wurde  am  Sonnabend  und  in  den  Zwölften  früher  nicht 
gesponnen,  weil  man  annahm,  das  sonst  die  Hexen  mitspinnen  und  das  Garn 
nicht  halten  würde.  Spinnen  in  den  Zwölften  sollte  auch  bewirken,  dass  die 
Kinder  das  Sabbern  lernten.     Frau  Harke  ist  hier  gänzlich  unbekannt. 

Görzke  (Kr.  Jerichow  I),  den  5.  November  1894.  W.  Kerkau. 

Die  Reminiscenz  an  die  Frau  Harke  findet  sich  bei  uns  auch  noch,  doch 
lautet  der  Name  hiesigen  Orts  Harfe. 

Krahne  (Zauche),  den  L  Februar   bsyö.  Schinker. 

Die  Leute  wissen  noch  sehr  wohl,  dass  am  Tage  vor  Weihnachten  und  vor 
Neujahr  der  Wocken  abgesponnen  sein  muss,  wenn  nicht  Frau  Harfe  oder  de 
Marte  (Marder i)  ihn  besudeln  soll.  Es  dürfen  zwischen  Weihnachten  und  Neujahr 
keine  Hülsenfrüchte  gegessen  werden,  sonst  giebt  es  Geschwüre  oder  es  kommen 
Maden  in  den  Flachs. 

Netzen  bei  Lehnin,  den  7.  Januar  18'.'5.  Müller. 

Wenn  sie  den  Wocken  zu  Weihnachten  nicht  abkriegen,  kommt  die  olle  Frau 
Harke  und  macht  in  den  Wocken  (von  einer  TOjähr.  Frau  in  Kummersdorf,  Kr. 
Teltow;  eine  andere  ebendort  sagte:  in  de  Dretehn  kommt  die  Frau  Arche).  — 
Wenn  sie  zwischen  Weihnachten  und  Neujahr  den  Wocken  nicht  abgesponnen 
hatten,  kam  die  Frau  Herkster  und  hat  darin  gekackt  (ein  alter  Mann  in  Gads- 
dorf,  Kr.  Teltow).     Frau  Harfen  macht  was  in  den  Wocken  (Lüdersdorf;. 

W.  V.  Schulenburg. 

Wenn  einer  zu  Weihnachten  nicht  abgesponnen  hat,  dann  kommt  Frau  Hirke; 
dies  teilten  mir  zwei  Landfrauen  aus  Langen-Grassau  mit,  von  denen  eine  sehr 
alt  war.  W.  v.  Schulenburg. 

Über  die  Zwölften  darf  kein  Wocken  auf  dem  Spinnrade  bleiben,  sonst  kommt 
Frau  Harke  und  besudelt  ihn.  Ebenso  hielt  man  früher  darauf,  dass  während 
der  Zwölften  kein  Mist  aus  dem  Stall  geschafft  oder  aufs  Feld  gefahren  wurde, 
weil    sonst    der  Moll  (Maulwurf)    den  Acker  zu  sehr  zerwühle.     Das  Spinnen  hat 


1)  Missverständnis:  Mcarte,  Mär  ist  das  bekannte  nd.  Wort  für  Alp,  Eibin. 


308  Scht\'artz : 

hier  zwar  nachgelassen,  aber  es  wird  doch  immer  noch  recht  fleissig  gesponnen 
von  Frauen,  Mädchen  und  auch  Männern,  besonders  älteren.  Die  Mädchen  haben 
nach  wie  vor  im  Winter  ihre  Spinten.  Auch  eigene  Webstühle  haben  die  Leute 
noch,  doch  das  Weben  lässt  von  Jahr  zu  Jahr  nach.  Sie  lassen  sich  ihren  selbst- 
gesponnenen Flachs  vielfach  in  Fabriken  weben. 

Petkus  (Kr.  Jüterbog),  den  -2].  März  1809.  Feller. 

Es  wird  Sonnabends  nirgends  Spinnstube  gehalten,  weil  sonst  Frau  Hörke 
kommt  und  den  Rocken  verwirrt.  Über  Feiertag  darf  kein  halbabgesponnener 
Rocken  im  Hause  stehen  bleiben.  —  —  Im  übrigen  möchte  ich  bemerken,  dass 
die  Spinnstuben  mehr  florieren  als  je.  Durch  den  Zerfall  der  alten  Zucht  und  die 
schrankenlose  Zufuhr  von  Schnaps,  Grog  und  Bier  sind  sie  ein  Tummelplatz  Satanae 
geworden. 

Langengrassau  bei  Ukro,  den  10.  April   1899.  Kuhlmey. 

Frau  Harke  ist  nicht  ganz  unbekannt,  sie  existiert  in  der  Redensait:  sie  geht 
wie  Frau  Herke.  Doch  war  nicht  zu  ermitteln,  ob  damit  die  Tracht  oder  die 
Art  zu  gehen  bezeichnet  werde.  Eine  Schmeichelei  scheint  aber  die  Redensart 
nicht  zu  sein. 

Jessen  (a.  d.  schwarzen  Elster),  den  5.  April  1899.  Hosch. 

Ich  kann  nur  mitteilen,  dass  wohl  die  Sitte,  am  Sonnabend  Abend  nicht  zu 
spinnen  und  keinen  Flachs  auf  der  Diesse  zu  belassen,  hier  geherrscht  hat  und 
zum  Teil  noch  besteht,  der  Grund  dafür  aber  nach  Aussage  der  ältesten  Leute  nur 
in  den  Aufräumungsarbeiten  für  den  Sonntag  zu  suchen  sei.  Nur  einige  wollen 
von  einer  Hexe  etwas  gehört  haben,  wissen  aber  den  Namen  derselben  nicht  an- 
zugeben. 

Cochstedt  bei  Aschersleben,  den  1.  November  1898.  Tripler. 

So  lange  hier  in  Harsleben  gesponnen  wurde,  durfte  es  Sonnabends  nur  bis 
zum  Feierabendläuten  geschehen.  Dann  musste  der  Wecken  aus  der  Stube  entfernt 
und  durfte  erst  Montag  Morgen  wieder  hereingebracht  werden,  da  man  sonst  behext 
würde. 

Harsleben  bei  Halberstadt,  den  30.  September   1898.  O.  Sand. 

Die  älteste  Frau  hier  kann  sich  auf  nichts  mehr  besinnen.  Dagegen  hat  mir 
deren  aus  Veckenstedt  stammende  Schwiegertochter  erzählt,  dass  dort  das  von  der 
Spindel  abgenommene  Garn  Sonnabends  nicht  aufgehängt  werden  durfte  und  dass 
ihr  eigener  Grossvater,  ein  Schäfer,  sobald  er  diese  Unachtsamkeit  bemerkte,  das 
Garn  sofort  mit  einer  Schere  durchschnitt,  „damit  die  Lämmer  nicht  zu  früh  ge- 
boren würden". 

Minsleben,  Kr.  Wernigerode,  den  29.  Januar  1899.  Fr.  Wernicke. 

Unter  den  hiesigen  Bauern  hat  der  Aberglaube  geherrscht,  am  Sonnabend,  zu 
den  Zwölften  und  in  der  Fastnacht  dürfe  nicht  gesponnen  werden.  Die  alten 
Spinnerinnen  sagen  nur,  man  hätte  Strafe.  Unglück  in  der  Liebe  oder  ähnliches 
als  Grund  vorgeschoben. 

Silstedt  bei  Minsleben,  den  11.  Dezember  1898.  Hartmann. 

Die  meisten  der  Befragten  erinnerten  sich,  dass,  als  noch  gesponnen  wurde, 
am  Sonnabend  Mittag  die  Zahl  (de  Tal)  voll  und  die  Diesse  leer  sein  musste. 
Hatte  ein  Mädchen  de  Tal  nicht  voll,  so  wurde  ihm  gesagt:  „Du  kümmst  in  den 
Mänd,  klk  hen,  et  sitteter  all  wecke  inne!"  War  am  Sonnabend  Mittag  der  Wecken 
nicht  leer  und  ein  Topp  auf  der  Diesse,  dann  rief  man  dem  Mädchen  zu:  „De 
olle  Hak  sehe  kümmt  und  schitt  in  dinen  Topp." 


Heidnische  Überreste  in  der  norddeutschen  Tiefebene.  309 

Die  jungen  Mädchen  sind  in  Seesen  beim  Spinnen  vor  der  alten  Häksche  sehr 
auf  der  Hut  gewesen.  Noch  heute  werden  dort  unordentliche  und  faule  Kinder 
mit  dem  Ausrufe:  „Warte,  die  alte  H;lksche  muss  wohl  erst  kommen"  zur  Ordnung 
angehalten. 

Neugierigen  Mädchen  rief  man  in  Lesse  in  der  Spinnstube  zu:  „Du  bist  wie 
de  olle  Haksche!"  Noch  kürzlich  hörte  ich  hier  in  Lesse  abends  auf  der  Strasse,, 
(lass  ein  Mädchen  dem  anderen  zurief:  „Du  hast  wol  wedder  horchet,  du  olle 
Haksche."     Das  angeredete  Mädchen  rief  zurück:    „Rlk  mal  selvst  olle  Haksche." 

Lesse  in  Braunschweig,  d.   14.  Okt.  98.  i)    22.  Nov.  98.  A.  Hörn. 

In  Lebenstedt  (Braunschweig)  wurde  früher  darauf  gehalten,  dass  am  Sonn- 
abend die  Diesse  abgesponnen  war.  Auf  die  Frage  warum?  antwortete  eine  alte 
Frau:  „Ach  dann  kam  de  olle  Häksche  un  raakte  doa  wat  herin !" 

Lebenstedt,  den  22.  Oktober  1898.  (Undeutlicher  Name.) 

Die  hier  wohnende,  aus  der  Umgegend  stammende  78jähr.  Frau  "VV.  sagt,  im 
Scherz  habe  man  jungen  Leuten  gedroht:  „Wenn  deck  aber  de  olle  Haksche 
kriegt."  Der  79jährigen  Frau  V.  in  Sebaldshausen  bei  Gandersheim  ist  bekannt, 
Neujahr  durfte  die  Diesse  nicht  bewickelt  sein,  sonst  käme  de  olle  Haksche  und 
zerreisse  oder  besudele  sie.  Heute  noch  heisst  es  bei  der  Jugend  von  Sebalds- 
hausen „de  olle  Haksche  kummt",  wenn  es  gilt  jemand  bange  zu  machen.  Am 
Sonnabend  hat  Frau  V.  der  Sitte  des  ganzen  Dorfes  gemäss  nie  gesponnen,  weil 
man  sonst  kein  Glück  hätte,  auch  fürchtete,  dass  eine  Gestalt  erschiene.  Ob  diese 
de  olle  Haksche  sei,  wusste  sie  nicht.  Am  heil.  Dreikönigstage  hat  sie  nie  ge- 
sponnen, ihr  Vater  hat  sogar  den  ganzen  Tag  gefastet,  obgleich  er  lutherisch 
i^ewesen  ist.  Spinnen  thun  die  Leute  in  Sebaldshausen  noch  viel,  auch  die  Kinder. 
Die  Mädchen  erzählen,  dass  noch  heute  behauptet  wird,  die  olle  Haksche  käme, 
wenn  am  Sonntag  gesponnen  werde,  und  zerzause  den  Flachs.  „Am  Sonnabend 
spinnen  die  Faulen.'^ 

Gandersheim,  den  12.  Dezember  l.s98.  Brackebusch. 

Frau  Fricke,  Frick,  Fuik. 

I  Vornehmlich  in  der  Uckermark  bekannt  und  am  Nordrand  des  Harzes:  W.  Schwär tz  oben 

S.  123—125,    ferner  Norddeutsche  Sagen  S.  414  f.,    sowie   die  Mythologisch -ethnologische 

Üliersichtskarte    zu  W.   Schwartz,    Zur    Stammbevölkerungsfrage    der   Mark    Brandenburg. 

(Märkische  Forschungen.    Berlin  1887.)] 

De  olle  Frick:  Diese  Kamensform  ist  bezeugt  worden  aus  Storkow 
i.  (1.  Uckermark,  12.  Aug.  1896,  aus  Röpersdorf  i.  d.  Uckermark,  9.  Nov. 
1898,  aus  Torgelow  in  Pommern,  15.  Dezbr.  1898;  Fru  Fregge  und  Fru 
Flicke  aus  Langenstein  b.  Halberstadt,  10.  Okt.  1898,  Fru  Frieseke  (macht 
in  de  Dieseke)  Zilly  b.  Halberstadt,  15.  Sept.  1898.  Die  Form  Fuik  aus 
Prenzlau  (mehrfach,  8.  März,  21.  Mai,  2.  Juni  1896,  10.  Januar  1899),  aus 
Hellmitz  b.  Prenzlau,  24.  April  1896,  aus  Welsow  b.  Angermünde,  25.  März 
1896,  aus  Brietzig  bei  Nechlin  (Ende  des  Briefes  mit  Datum  und  Namen 
des  Berichterstatters  fehlt);  de  Fuike  aus  der  nördlichen  Uckermark, 
21.  November  1898. 


1)  [Für  das  Braunschweigische  bezeugt  auch  R.  Andree  in  seiner  Braunschweiger 
Volkskunde  (1896)  noch  das  Vorkommen  der  spottweisen  Bezeichnung  irgend  eines  Frauen- 
zimmers mit  de  olle  Häksche.] 


Zeitsctir.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1S99. 


21 


310  Sclnvnrtz:  lleiduischc  Überreste  in  der  iiorddoutselien  TiefobcüC. 

Fui  wird  neben  Fuik  von  Herrn  J.  Bertram  am  3.  August  189G  aus 
Prenzlau  bezeugt,  ist  aber  von  ihm  nur  bei  einer  einzigen  Familie  gefunden, 
die  angab,  dieser  Name  bedeute  so  viel  als  pfui,  weil  der  Kobold  den 
Wecken  besudele.  Sie  fasste  das  Wesen  männlich,  ebenso  wie  auch  der 
Zeuge  aus  Brietzig  bei  Nechlin  von  dem  Fuik  sprach,  „dat  is  en  Düwel'^ 

In  den  Zwölften  und  Sonnabends  durfte  nicht  gesponnen  werden,  Vietmanns- 
dorf  bei  Teraplin  (Uckermark),  auch  nicht  in  Storkow,  wo  es  bis  in  die  letzten 
Jahre  hiess,  sonst  kommt  de  olle  Frick.  12.  Aug-.  96  (Schönian).  In  den  Zwölften 
war  es  nicht  üblich  zu  spinnen.  In  einem  Fall  war  von  der  Frigg  die  Rede. 
15.  Dez.  1898  (F.  Sauer). 

Von  Weihnachten  bis  Neujahr  blieb  der  Flachs  nicht  auf  dem  Wecken,  sonst 
holte  ihn  de  Puike  (von  einer  Frau  aus  der  nördl.  Uckermark  gehört)  von  R.  Ohle 
in  Golzow,  südl.  Uckermark.     21.  Nov.   1-S98. 

Wenn  die  eine  oder  andere  beim  Spinnen  ein  Versehen  machte,  rief  man  ihr 
in  Hellmitz  bei  Prenzlau  zu:  „Du,  die  oll  Fuik  kömmt  de  Nacht  un  räufelt  alles 
wedder  uf."  Nach  Mitteilung  der  Frau  Lüdke  in  Boizenburg,  einer  Hellmitzerin. 
24.  April  1896. 

Von  Weihnachtabend  bis  Dreikönig  w^ard  das  Spinnrad  bei  Seite  gestellt  und 
nicht  gesponnen,  sonst  kam  de  Fuik,  verwirrte  das  Garn  und  riss  es  herunter, 
brachte  auch  der  Spinnerin  noch  anderes  Böses.  Prenzlau,  8.  März  96  (Name  nicht 
erhalten,  unvollständiger  Brief). 

In  den  Zwölften  durfte  nicht  gesponnen  werden,  sonst  käme  de  Fuik.  Velsow 
bei  Angermünde,  25.  März  96  (Kirchner). 

Am  Jahresschluss  mussten  die  Rocken  leer,  auch  andere  weibliche  Arbeiten 
fertig  sein,  süs  schitt  de  Fuik  in,  sagten  die  Mütter  zu  den  Töchtern  (Brietzig  bei 
Nechlin). 

„Nun  spinnen,  dass  der  Flachs  nicht  verdirbt,  zur  Fastnacht  ist  es  gar  (d.  i. 
hört  das  Spinnen  auf)'\  sagten  in  Langenstein  bei  Halberstadt  Mütter  zu  den 
Töchtern  oder  Mägden,  dabei  nannte  man  die  Fru  Fricke,  ohne  zu  wissen,  was  es 
für  ein  Wesen  sei.     10.  Okt.  98  (Wendt). 

Sylvester  durfte  kein  Garn  aufgespult,  kein  Wecken  aufgesteckt,  kein  Leinen 
aufgespannt  sein;  sonst  kommt  Frau  Frieseke  und  macht  in  die  Dieseke,  hiess  es 
in  Zilly  bei  Halberstadt.     15.  Sept.  9S  (Sperling). 

An  den  Vorabenden  zu  Sonn-  und  Pesttagen  durfte  nicht  gesponnen  w^erden; 
„sonst  kommt  die  Hexe  oder  de  Dübel  und  beschmutzt  den  Flachs'-,  sagte  man 
in  Derenburg  bei  Halberstadt.     17.  Mai  99  (Moldenhauer). 

An  den  Sonnabenden  der  Sonn-  und  Festtage  wird  noch  jetzt  nicht  gesponnen: 
von  Fru  Frien  keine  Spur  mehr.     Veckenstedt  bei  Halberstadt  (Lehmann). 

Ebenso  nicht  in  Wasserleben  bei  Halberstadt,  „weil  kein  Segen  darauf  ruhe''. 
23.  Jan.  99  (Wackernagel). 


Prato:  Ver-leiclioiidp  Mitteilungen  zu  Hans  Sachs  Fastnachtspiel.  311 

Vergleichende  Mitteilungen  zu  Hans  Sachs 
Fastnachtspiel  Der  Teufel  mit  dem  alten  Weib. 

Von  Dr.  Stauislaus  Prato  in  Arpino. 
(Zcitschr.  IX,  189-194.) 


Eine  volkstüniliclie  römische  Fasssuiig  der  obigen  Erzählnng  aus  Viterbo 
(S.  190)  findet  sieh  in  Tlie  Folk-Lore  of  Ronie,  collected  by  word  of 
mouth  froni  the  people  by  R.  H.  Busk,  London  1874,  p.  411—16:  The 
happy  Couple;  eine  gleichfalls  römische  Version  besitzt  auch  mein  Freun<l 
Fr.  Sabatini,  wie  er  mir  mitteilt,  in  seiner  noch  unedierten  Sammlung 
römischer  Geschichten.  Von  litterarischen  Versionen  vergleiche  man:  Das 
Fastnachtspiel  von  Hans  Sachs,  Der  Teufel  mit  dem  alten  AVeib  (Sämtliche 
Fastnachtspitde  von  Hans  Sachs,  herausgegeben  von  E.  Götze  II,  59—69). 
Ferner  H.  W.  Kirchhoffs  Wendnnmut,  I,  366,  Tübingen  1<S69,  mit  den 
Nachweisungen  vou  Oesterley,  V,  60. 

Eine  französische  Version  steht  im  Grand  Farangon  des  nouvelles 
nouvelles,  compose  p.  Nie.  de  Troyes,  publie  p.  E.  Mabil,  Paris  1869, 
p.  l-_)8 — 34,  no.  32:  D'uue  vieille,  a  qui  le  diable  donna  or  et  argent  pour 
faire  que  ung  homme  et  sa  fomme,  (pii  bien  s'eutr'aymoient,  eussent  noise 
ensemble,  la  quelle  chose  eUe  lit  et  gagna  son  argent^);  s.  auch  La  Vita 
et  le  Opere  dl  Giulio  Cesare  Croce  von  0.  Guerrini,  Bologna,  S.  217,  wo 
die  betreffende  deutsche  Erzählung  aus  Salonion  und  Markolf  917 — 1008 
(v.  d.  Hagen  und  Büsching,  (ied.  d.  Mittelalt.  I.)  sich  wiederfindet.  Zwei 
spanische  Versionen  enthält  ilas  Libro  de  los  enxemplos  von  einem  unge- 
nannten Verfasser,  no.  370:  Vetula  prava  deterior  est  diabolo  (Peor  que 
diablo  es  mala  vieja  Su  aquijon  mas  dauna  que  de  abeja)  p.  536  in  der 
Bibl.  de  los  ant.  espaü.  desde  la  formacion  del  lenguaje  hasta  nuestros  dias, 
t.  LI  (Escritores  en  prosa  anteriores  al  siglo  XV  recogidos  e  ilustrados  por 
Don  Pascual  de  Gayangos,  Madrid  1859);  Libro  de  Patronio,  e  el  Conde 
Lucauor  de  Don  Juan  Manuel;  Obras  de  Don  Juan  Manuel,  p.  410—11; 
Enxemplo  42^)  De  lo  que  contesciö  ä  una  falsa  beguina  (in  einigen  Hss.: 
De  lo  que  contesciö  al  diablo  con  una  mujer  pelegrina).  Zu  den  spanischen 
Versionen  vgl.  noch:  Patranuelo  (Novellenbuch)  des  Juan  Timoneda  vou 
Alcala,  no.  1576,  no.  48  und  Ferd.  Wolf,  Komanzensammlung  Rosas,  p.  196. 


1)  Die  folgende  Erzählung,  No.  33,  beweist  sogleich,  wie  begründet  das  ungünstige 
Urteil  über  die  Frau  ist;  auch  sie  dreht  sich  um  die  ungeheure  Verschmitztheit  der  Frau, 
worin  sie  selbst  den  Teufel  übertrifft.  Der  Inhalt  ist  folgender:  D'ung  jeune  compaignon 
qui  se  donna  au  diable  pour  avoir  une  jeune  fille  en  mariage,  et  comme  il  fut  rescous  du 
diable  en  luy  monstrant  a  l'adveu  de  sa  femme  une  beste  qu'il  ue  cognoissoit  point. 

2)  (jlrimm  (a.  a.  0.)  citiert  fälschlich  No.  48  statt  42. 

21* 


312  Prato: 

Hinsichtlich  der  speciell  gerniaiiischen  Hagiogvaphie  vgl.  die  folgenden 
Schriften:  Theatrum  historicum,  sive  promptuarinm  illustrium  exemploruni 
initio  (juidem  a  rev.  viro  D.  A.  Hondorffio,  idiomate  Germanico  conscriptuni, 
iam  vero  labore  et  industria  Philipp!  Leoniceri  .  .  .  latinitate  donatuni, 
Francforti  1633,  p.  534:  Exempla  sexti  praecepti:  De  odio  et  invidia  diaboli 
erga  couiugatos^);  Speculnm  exemploruni  omnil)us  cliristicolis  salubriter 
inspiciendum,  ut  exemplis  discant  disciplinam,  1481,  f.  IX,  uo.  93:  Invidia 
(die  Erzählung  lehnt  sich  an  diejenige  in  der  soeben  erwähnten  Scala  celi 
an);  Pomerium  sermouum  quadragesimalium  auctore  Pelbarto  de  Temes- 
var  II:  De  vitiis  in  genere  et  specie;  Joh.  Herolt,  Serniones  Discipuli  de 
Tempore  et  de  Sanctis  cum  exemploruni  promptuario,  Venetiis  161'2:  Sermo 
96.  Editio  nova  Axiomatum  oeconomicorum  accessione  ninltarum  novaruni 
Regularum  multarumque  Sententiarum  et  Exemploruni  aucta  et  locupletata 
a  Greg.  Richterio  Gorlicio,  Gorlicii  1615,  p.  236,  Exempla  II;  Luthers  Tisch- 
reden 1566,  Kap.  36,  S.  447,  Leipzig  1621  (s.  auch  303b,  437b  zuMatth.): 
Historia  wie  der  Teufel  durch  ein  altes  Weib  zwei  Eheleut  wider  einander 
verhetzet;  P.  H.  Drexelii,  S.  J.,  Opera  omnia  t.  II:  Aurifodina  artium  et 
scieutiarum  omniuni,  III,  c.  II:  Altera  singularis  industria:  Lusus  urbani^ 
facetiae,  sales  et  joci,  p.  774  (Erzählung  des  10.  Gastes). 

Bei  Hans  Sachs  erzählen  sich  die  Eheleute  einen  hässlichen  Traum; 
dem  Manne  erscheint  darin,  dass  die  Frau  ihm  die  Augen  auskratze,  und 
als  er  davon  erwacht,  fühlt  er  einen  tiefen  Hass  gegen  sie;  die  Frau  sagt 
zu  ihrem  Manne:  der  Traum  ist  nur  eine  im  Kopfe  aufsteigende  Phantasie. 
Nun  möchte  ich  auf  die  Beziehung  der  betreffenden  Geschichte  zur 
Hauptfabel  des  ersten  Buchs  des  indischen  Pan(,'atantra  hinweisen.  Diese 
ist  überschrieben  Mitra-bheda  oder  Buch  der  Freundschaft  und  entspricht 
dem  5.  Buch  von  Kaiila  und  Dimna  (einer  arabischen  Übersetzung  oder 
besser  Überarbeitung  des  Panyatautra)  und  dem  2.  Buch  der  Hitopadesa 
oder  Freundlichen  Unterweisung,  einer  Nachahmung  des  nämlichen  Werkes. 
Betitelt  ist  dieses  Buch  Souliridbheda  oder  Uneinigkeit  der  Freunde.  Die 
Überschrift  der  Fabel  im  Pan(,'atantra  sowohl  wie  in  der  Hitopadesa  lautet: 
Der  Stier,  die  beiden  Schakale  und  der  Löwe;  dafür  heisst  sie  in  Kaiila 
und  Dimna:  Der  Löwe  und  der  Stier.  Das  Buch,  dem  die  betreffende 
Fabel  als  Rahmen  dient,  bezweckt  die  Könige  vor  den  ruchlosen  Anschlägen 
und  Ränken  der  Schurken,  welche  zwischen  einem  Fürsten  und  seinen 
vertrautesten  Freunden  Zwietracht  säen  wollen,  zu  warnen.  Die  Per- 
sonen der  Fabel  sind  der  Löwe  Pingalaka  als  König;  sein  Vertrauter,  der 
Stier  Sandjivaka,  und  die  beiden  Höflinge  des  Löwen,  die  Schakale  Kara- 
taka  (Krähe;  Plünderer)  und  Damanaka  (Bezwinger).  Diese  beiden,  be- 
sonders der  zweite,  eifersüchtig  auf  die  Gunst,  die  Sandjivaka  beim  Löwen 


1)  Betreffs  der  Sucht,  die  Predigten  mit  seltsamen  Erzählungen  anzufüllen,  vergl. 
Dante,  Div.  com.,  Parad.,  c.  29,  v.  103—11  und  v.  llöff.  Auch  T.  F.  Graue,  Mediaeval 
Sermon-Books  and  Stoiies  1883,  p.  57  führt  diese  Dantesche  Stelle  an. 


Vergleichende  Mitteilungen  zu  Hans  Sachs  Fastnachtspiel.  313 

erlangt  hat,  bringen  es  mit  ihren  verleumderischen  Berichten  dahin,  den 
Löwen  zu  überzeugen,  dass  der  Stier  Yerschwörungen  gegen  ihn  anzettele, 
den  Stier  aber,  dass  der  Löwe  ihm  nach  dem  Leben  trachte.  Der  Tod 
des  unglücklichen  Güustlings,  der  von  seinem  Herrn  getötet  wird,  ist  die 
natürliche  Folge  dieses  Verrates.  Zu  dieser  Fabel  vergleiche  Mongolische 
Märchen,  Die  neun  Nachtrags-Erzählungen  des  Siddhi-Kür,  aus  dem  Mon- 
golischen übersetzt  mit  Einleitung  und  Anmerkungen  von  B.  Jülg,  Innsbruck 
1668,  No.  20:  Der  Fuchs,  der  Löwe  und  das  Rind,  S.  35—40,  und  die 
englische  Übersetzung  der  Miss  Busk,  Sagas  from  the  Far  East,  London 
1873:  The  Perfidious  Friend.  Li  dieser  Fabel  macht  der  Fuchs,  der  hier 
die  Stelle  des  Schakals  vertritt  (desjenigen  Tieres,  das  in  den  orientalischen 
Fabeln  meist  die  Rolle  jenes  übernimmt),  der  Onkel  der  beiden  Brüder, 
des  Löwen  und  des  Stieres  (die  von  einer  Löwin  mit  derselben  Milch 
geniihrt  sind),  den  Löwen  glauben,  der  Stier  w^olle  ihn  ermorden,  indem 
er  hinzufügt,  dass  der  Stier  demnächst  an  einem  Morgen,  indem  er  mit 
den  Hörnern  gegen  den  Boden  schlage  und  dumpfes  Gebrüll  ertönen  lasse, 
dadurch  anzeigen  werde,  dass  er  seine  Absicht  zur  Ausführung  bringen 
w^olle.  Darauf  sagt  der  Fuchs  zum  Stier,  dass  der  Löwe  einen  ähnlichen 
Anschlag  gegen  ihn  itn  Schilde  führe.  Als  am  Morgen  die  beiden  Brüder, 
der  Löwe  und  der  Stier,  an  dieselbe  Quelle  gehen,  um  Wasser  zu  trinken, 
nähern  sie  sich  einander  misstrauisch,  fangen  an  sich  zu  raufen  und  fallen 
dann  beide  tot  zu  Boden.  A.  De  Gubernatis  erkennt  hierin  eine  Form 
des  Märchens  von  den  beiden  Dämmerungen  (den  Acvin).  ^)  Diese  Fabel 
begegnet  auch  im  Kathämritsägara,  X,  c.  60,  p.  111;  sie  ist  dann  natürlich 
auch  in  den  verschiedenen  Übersetzungen  dieses  Werkes  zu  finden.  Auch 
giebt  es  eine  veränderte  Nachbildung  derselben  in  der  fab.  IX  des  Alter 
Aesopus  von  Baldo  und  im  Conde  Lucanor  por  D.  Juan  Manuel,  Sevilla 
1577  (Le  Comte  Lucanor,  apologues  et  fabliaux  du  XIV "  siecle,  trad.  de 
Tesp.  j).  j\[.  A.  de  Puibusque,  Paris  185-4).  Zu  diesen  Angaben  s.  Pantcha- 
tantra,  ou  les  cinq  livres;  recueil  d' apologues  et  de  contes,  trad.  du  sanscrit 
en  franeais  p.  E.  Lancereau,  Paris  1871:  Sources  et  Imitations,  p.  357. 
Pantschatantra :  Fünf  Bücher  indischer  Fabeln,  Märchen  und  Erzählungen. 
Aus  dem  Sanskrit  übersetzt  mit  Einleitung  und  Anmerkungen  von  Th. 
Benfey,  Leipzig  1859,  I,  Einl.,  S.  91  ff.;  A.  Loiseleur-Deslongchamps,  Essai 
sur  les  fables  indiennes  et  sur  leur  introduction  en  Europe  etc.,  Paris, 
Techener,  1838,  p.  32 f. 

Was  die  innige  Beziehung  zwischen  der  orientalischen  Fabel  und  unserer 
Erzählung  anbetrifft,  so  geht  dieselbe  aus  der  Betrachtung  des  Anstifters 
der  Zwietracht  in  beiden  ohne  w^eiteres  hervor.  In  jener  ist  es  Dama- 
naka  (der  Bezwnnger),    der  Schakal,    der  es    mit    der  Yerschlagenheit  des 


1)  Mythologie    zoologique    ou    les  legendes  auimales  par  A.  de  Gubernatis,    trad.  de 
l'anglais  etc.,  Paris  1!S74,  I,  p.  145—46. 


314  Prato: 

Fuchses^),  dessen  Stelle  er  eiuniranit,  mittels  Yerleumdungen  fertigbringt, 
seinen  Rivalen,  den  Stier  Sandjivaka,  zu  bändigen,  d.  h.  zu  besiegen  und 
zu  unterdrücken.  Ein  einziges  Mal  nur  ist  nach  De  Gubernatis  a.  a.  0. 
im  Rigveda  die  Rede  vom  Fuchs  unter  dem  Xamen  lopaca  (d/uojn]^). 
Dieses  Wort,  welches  das  Petersburger  Sanskrit-Wörterbuch  als  eine  Art 
Schakal  deutet,  scheint  nach  Prof.  A.  Weber  eigentlich  „Zerstörer,  Aas- 
fresser" zu  bezeichnen.  (Im  Sanskrit  begegnet  auch  das  Diminutiv  lopäcikä 
im  Sinne  von  „weibl.  Schakal"  und  „Fuchs".)  Der  Schakal,  der  caiiis 
aureus  der  Zoologen,  lieisst  vancaka  und  mrigadhürtaka,  d.  h.  der  „Betrüger 
der  Tiere",  aber  das  sind  mehr  moderne  Ausdrücke.  „Der  Fuchs  (Gul)er- 
natis  129)  ist  mit  seiner  roten  Farbe  ursprünglich  das  Bild  der  in  der 
Abenddämmerung  rötlichen  Farbe  des  Himmels.  Als  diese  Erscheinung 
ein  allegorisch-tierisches  Aussehen  annahm,  eignete  sich  kein  anderes  Tier 
besser  hierfür  als  der  Schakal  und  der  Fuchs,  wegen  ihrer  Farbe  und  ihrer 
betrügerischen  Eigenschaft;  denn  die  Dämmerstunde  ist  die  Zeit  der  Un- 
gewissheit  und  Betrügerei."  De  Gubernatis  fügt  noch  hinzu:  „Musste  nicht 
also  wirklich  eine  Yermengung  des  canis  vulpes  (des  roten  Fuchses)  und 
des  canis  aureus  (des  Schakals)  eintreten,  die  sich  beide  beim  Einbruch 
der  Nacht  zeigen,  sich  beide  von  kleinen  Tieren  nähren  und  welche  die 
Farbe  des  Haares,  den  Glanz  der  Augen  und  andere  Eigenschaften  ge- 
meinsam haben?  Sie  sind  die  natürlichen  Feinde  der  Menschen,  sind 
Tiere  von  dämonischer  Art  (so  dass  man  von  ihnen  leicht  zum  Teufel 
und  dem  alten  teuflischen  Weibe,  den  Hauptpersonen  der  hier  behandelten 
Geschichte,  übergehen  könnte)  und  gelten  als  gierig  und  verräterisch 
(gleichwie  der  Teufel  und  die  Alte)  und  als  das  Bild  des  roten  Abend- 
himmels." Die  Schurkereien  des  Fuchses  (S.  14(5 f.)  sind  besonders  im 
Occident  bekannt.  Ein  italienisches  Sprichwort  sagt:  wollte  man  alle 
Gemeinheiten  des  Fuchses  aufschreiben,  so  würde  alles  Tuch,  das  man  in 
Gent  fabriziert,  wenn  es  sich  in  Pergament  verwandelte,  dazu  nicht  hin- 
reichen. Die  Griechen  und  Lateiner  heben  gleichfalls  seine  Hinterlist, 
Schlauheit  und  Treulosigkeit  hervor.  Machiavelli  versichert  im  18.  Kapitel 
des  Principe,  ein  guter  Herrscher  müsse  sich  zwei  Tiere  zum  Vorbild 
nehmen,  den  Fuchs  uml  den  Löwen  (d.  h.  er  soll  listig  und  stark  sein), 
vor  allem  aber  den  Fuchs.") 


1)  Vgl.  die  Worte  des  Guido  von  3Ioutefeltro,  Dante,  Inf.  27,  73—78: 

2)  E.  Eolland,  Faune  populaire  de  la  France,  Mammiferes  sauvages  (Noms  vulgaires, 
dictons,  proverbes,  contes  et  superstitions,  Paris  1877,  I,  IGl  sagt,  dass  im  Französischen 
renarder  (renard  -  Fuchs)  ..listig,  verschlagen  sein"  und  renardie  ebenso  wie  regnarderie, 
regnerdise  „Verschlagenheit"  bedeutet;  in  der  Normandie  heisst  renace  „schlau  wie  der 
Fuchs" ;  vergl.  it.  volpoue  =  durchtriebener  Mensch  und  arti  volpine  =  Verschmitztheiten. 
Der  Fuchs  ist  auch  das  Symbol  des  Heuchlers,  weshalb  man  in  Toscana  sagt:  Quando  la 
volpe  predica,  guardatevi,  galline;  von  ähnlichen  Sprichwörtern,  die  sich  auch  bei  E.  E. 
p.  108  finden,  sei  jenes  deutsche  erwähnt:  "Wenn  der  Fuchs  predigt,  so  hüte  man  die  Gänse. 


Vei'gleich<Mi(fe  Mitteilungen  zu  Haus  Sachs  Fastnachtspiel.  315 

In  Toseaiia  sagt  man  gewöhnlich: 

Con  l'arte  e  con  l'inganno  oder:  Con  l'arte  e  con  Tingegno 

Si  vive  metä  l'anno;  S'ottiene  mezzo  regno; 

Con  Tinganno  e  coa  l'arte  Con  l'ingegno  e  con  l'arte 

Si  vive  l'altra  parte.  S'ottiene  l'altra  parte. 

Die  Hauptperson  miserer  Geschichte  ist  der  Teufel,  der  böse  Geist. 
Hans  Sachs  lässt  am  Anfang  seines  Sch^Yankes  den  Teufel  sagen:  Ich  bin 
der  Geist,  der  Zwietracht  stiftet  zwischen  den  treuen  Eheleuten.  In  No.  9 
■der  Geschichten  von  Adolphus  in  Wriglit  Selection  of  Latines  Stories  be- 
gegnet am  Ende  das  lat.  Sprichwort:  Mulier  mala  peior  Esse  solet  Sathanae 
plus  tribus  ut  liquet  hac.  Die  oben  erwähnte  Version  des  Otto  Melander 
schliesst  mit  folgenden  AYorten  des  Teufels,  die  er  an  die  Alte  richtet:  Me 
ipso  omnes  in  partes  peior  es  et  consuleratior;  Herolt  sagt  am  Ende  seines 
Werkes  Sermones  discipuli:  Trista  femina  tribus  assibus  est  mala  peior; 
auch  Richters  kleine  Erzählung  schliesst  so.  Dem  entsprechend  heisst  es 
am  Ende  der  Volkserzählung  von  Viterbo:  So  hat  sich  das  Sprichwort: 
"La  donna  sa  perfino  dovo  il  diavolo  tiene  la  coda'  oder  'La  donna  ha  un 
l)unt(>  piii  del  diavolo"  völlig  bewahrheitet.  In  gleicher  Weise  schliesst 
die  kampanische  Erzählung  von  Cellole-Fasani:  So  hat  sich  denn  die  Alte 
verschmitzter  gezeigt  als  der  Teufel.  In  zwei  Versionen,  jener  kampa- 
nischen von  Tuoro,  die  ich  besitze,  aber  noch  nicht  ediert  habe,  und  einer 
antleren,  der  Buskschen  römischen  gelingt  es  der  Alten  anfangs,  die  Ehe- 
gatten uneinig  zu  machon;  nachdem  diese  aber  einander  von  den  Listen 
der  Alten  erzählt  haben,  versöhnen  sie  sich  wieder  und  lieben  sich  mehr 
als  zuvor.  In  der  zweiten  Erzählung  bindet  der  Teufel,  als  er  dies  sieht, 
die  der  Alten  bereits  zugesagten  Schuhe  an  eine  lange  Stange  und  pflanzt 
dieselbe  auf  dem  Gipfel  eines  Berges  auf;  dort  fliegen  sie  vor  ihren  Augen 
hin  und  her,  olnie  dass  sie  den  Mut  hat,  sie  zu  holen.  Die  beiden  er- 
wähnten Fassungen  weichen  also  am  Schlüsse  betleutend  von  allen  übrigen, 
die  wir  hier  kennen  lernen,  ab.  In  der  Buskschen  Darstellung  begegnet 
am  Anfang  ein  sprichwörtlicher  Ausdruck  für  „Zwietracht  säen",  der  Er- 
wähnung verdient;  es  heisst  dafür  symbolisch:  rompere  uova  nel  paniere- 
Das  Sprichwort  guastare  o  rompere  le  uova  nel  paniere  altrai  und  auch 
das:  acconciare  le  uova  nel  panieruzzo  ad  uno,  sind  Redensarten,  w^elche 
bedeuten:  jemandem  das  Konzept  verderben,  die  Kreise  stören  (lat.  spem 
alicuius  frustrare,  griech.  t))v  ßovh'jv  dialveiv  oder  Ttiv  ävaßdoiv  jiQoÄajußd- 
yeiv;  man  sagt  auch  rompere  o  guastare  altrui  l'uovi  in  bocca)  und  jemandes 
Angelegenheiten  ordnen  (lat.  rem  alicuius  ampliare  oder  augere,  o-nech. 
rrg<iyf.iaTa  jivog  av^dven'). 

Dieser  Charakter  des  Teufels  wird  durch  seine  verschiedenen  Namens 
angezeigt.  Im  Hebräischen  heisst  der  Teufel  schedh,  „Zerstörer,  Plünderer"  .•; 
er  heisst  auch  Abbadon,  d.  i.  „Verderber,  Zerstörer".  Das'Wort  Satan, 
hebr.  Sathan,  bedeutet  „Feind"  (besonders  der  Eintracht  und  des  Friedens). 


:316  Prato: 

Der  Teufel  lieisst  „Drache",  weil  er  dazu  verleitet,  andere  böswillig 
Schaden  zuzufügen;  denn  der  Drache,  eine  Art  mythischer  Schlange,  ist 
das  Symbol  der  Tücke,  wie  die  Schlange  selbst.  Diabolus  (griech.  didßoÄo^) 
bedeutet  Verleumder  {diaßoh)  =  Verleumdung),  criminator^  d.  i.  Anstifter 
von  Verleumdungen,  Schmähungen,  Zwistigkeiten,  aus  denen  so  viel  Übel 
hervorgeht.  Der  Teufel  und  die  Frau,  zumal  die  alte  (die  Katze  lässt  das- 
Mausen  nicht:  il  lupo  perde  il  pelo,  ma  non  il  vizio;  il  lupo  e  come  il 
mondo,  che  peggiorando  invecchia  e  cosi  la  donna)  stehen  nach  alter  Über- 
lieferung in  enger  Beziehung  zu  einander.  Vgl.  den  bekannten  Schwank 
von  Hans  Sachs  (Sämtliche  Fabeln  und  Schwanke,  herausg.  von  E.  Götze, 
1,  502)  46.  Schwank:  Der  Teufel  nahm  ein  alt  Weib  zu  der  Ehe;  ferner 
Machiavelli,  Belfagor  arcidiavolo;  dazu  meine  Bemerkungen  in  der  Ab- 
handlung: Quelques  contes  litteraires  dans  la  tradition  populaire  (Rev.  des 
trad.  pop.  IV)  no.  3:  Un  conte  de  Hans  Sachs.  Von  den  vielen  Aversionen 
dieser  Erzählung  vgl.  die  von  Feruan  Caballero,  Cuentos  y  poesias  popu- 
läres andaluces,  Leipzig  1866:  La  Suegva  del  diablo;  Grimm,  Kinder-  und 
Hausmärchen,  Ko.  125:  Der  Teufel  und  seine  Grossmutter;  M.  Gaster, 
Ijiteratura  pop.  rom.,  cu  un  apend. :  versava  garamantilor  cu  Alexandru 
Machedon  de  Nie.  Costin,  Bukarest  1883,  S.  132 — 37:  Dracul  si  feniea. 

Nicht  nur  die  Volkserzählungen,  sondern  auch  die  Sprichwörter,  be- 
sonders die  das  Wetter  betreffenden  gefallen  sich  darin,  dieses  Band 
zwischen  dem  Teufel  und  der  Frau  hervorzuheben  (in  unserer  Erzählung 
haben  sie  sich  zum  Schaden  des  Ehepaares  zusammengethan  und  stören 
gemeinschaftlich  den  häuslichen  Frieden).  Das  ist  ein  Beweis  dafür,  wie 
fest  das  Volk  an  die  Beziehungen  zwischen  dem  Teufel  und  der  Frau, 
besonders,  wie  gesagt,  der  alten,  glaubt.  Wenn  die  Sonne  scheint  und  es 
gleichzeitig  regnet,  sagt  man  in  Italien  II  diavolo  hatte  sua  moglie^),  in 
Frankreich  auch  Le  diable  bat  sa  femme  oder  Le  diable  marie  sa  fiUe 
oder  C'est  le  diable  qui  bat  sa  femme  et  qui  marie  sa  fille  (Oudin,  Curio- 
sitez  franQoises  1640),  in  Mons:  El  diape  va  marier  s' file,  in  der  Piccardie 
C'est  le  diabe  qui  bot  s'  femme  (Corblet,  Glossaire  1851),  im  Wallonischen 
Li  diale  niareye  si  feye^),  in  Deutschland  Der  Teufel  hat  Hochzeit  oder 
der  Teufel  bleicht  seine  Grossmutter  (Müllenhoff,  Sagen,  Märchen  und 
Lieder  d.  Herzogt.  Schlesw. -Holstein  und  Lauenburg,  Kiel  1845,  Xo.  601; 
Wolf,  Wodana,  II,  221);  in  der  deutschen  Schweiz  Der  Teufel  schlägt 
seine  Mutter,  in  Holland  De  duivel  slaat  zyn  wyf,  in  England  It  rained 
and  the  sun  shone  at  the  same  time  why  then,  the  devil  was  beating  his 
wife  behind  the  door  with  a  Shoulder  of  nmtton.     Auch    in  Portugal   sagt 


D  In  Livorno  sagt  das  Volk  beim  Gewitter:  II  diavolo  fa  alle  zoccolate  con  la  moglie, 
d.  h.  der  Teufel  und  seine  Frau  hauen  sich  mit  Holzpantoffeln. 

2)  Dictionu.  des  Spots  ou  Prov.  wallous  p.  J.  Dejardin,  precede  d"une  etude  sur  Ics 
l)rov.  p.  J.  Stecher,  2.  Aufl.,  Liege  I,  p.  272,  no.  965. 


"Vergleichende  Mitteilungen  zu  Hans  Sachs  Fastnachtspiel.  317 

man  nach  Leite  de  Vasconcellos.  Tradirües  populäres  de  Portugal,  Porto 
1882,  p.  15  f.  0  diaho  esta  a  bater  na  mulher  (Povoa  de  Lanhoso)  oder 
na  mae  (Porto),  Sta  o  Diabo  a  bater  na  mulher  Co  rabo  da  colher  (No 
concelho  de  Penafiel),  Cando  chove  e  fai  sol.  Anda  o  demo  per  Ferrol, 
Don  un  saco  d'alfileres  Para  pical  as  miilleres  (Cantos  gallegos  apud  Par- 
naso  mod.  de  Th.  Braga,  p.  284);  in  Jalhay  im  Wallonischen  sagt  man: 
D'an  cop  l'poyette  on  l'amaliee,  Duso  l'grise  banse  avou  '1  cocjuai.  Et  Tdiale 
es  mitou  d'one  nulee  Marier  s"fee  enne  on  clos  banstai  (Xhoffer,  Les  deux 
soroche  L  n.  3,  1861).^) 

AVas  das  Bündnis  zwischen  dem  Teufel  und  der  Frau  angeht,  die,  wie 
man  im  Italienischen  sagt  ha  un  punto  piii  del  diavolo  und  sa  dove  il 
diavolo  tiene  la  coda,  besonders  wenn  sie  schon  alt  ist  (woraus  das  Sprich- 
wort zu  erklären  ist  il  diavolo  e  cattivo  perche  recchio,  d.  h.  Alter  und 
Erfahrung  machen  schlau  und  listig  und  das  lat.  callidi  veteratores  senes) 
und  das  griech.:  öoXeooi,  jicAi/xßoloi  '/igoiTsg,  so  braucht  man  sich  darüber 
nicht  zu  wundern,  da  die  Verschlagenheit  beiden  in  Fleisch  und  Blut  über- 
gegangen ist.  Mit  Recht  hätte  die  alte  Betrügerin  unserer  Erzählung  zu 
dem  bösen  Geist  gemäss  dem  bekannten  ital.  Sprichwort  sagen  können: 
Quando  il  tuo  diavol  nacque,  il  mio  andava  dritto  alla  panca,  um  damit 
auszudrücken,  dass  sie,  eine  Frau  und  bejahrt,  erfahrener  und  verschmitzter 
sei  als  der  Teufel  selbst,  was  sie  doch  dadurch  zur  Genüge  bewies,  dass 
sie  die  beiden  treuen,  einträchtigen  Gatten  in  kurzer  Zeit  entzweite,  was 
jenem  nie  gelungen  war.  In  einer  Yolkserzählung  bei  De  Gubernatis,  Le 
novelline  di  Santo  Stefano  di  Calcinaja  (Turin,  Xegro  1869,  no.  35):  Le 
donne  ne  sanno  un  punto  piu  del  diavolo  verwandelt  sich  die  Frau  eines 
Vogelstellers,  um  ihren  Mann  vom  Teufel  zu  befreien,  dem  er  sich  für 
reichliche  Jagdbeute  ergeben  hatte  (sie  waren  nämlich  übereingekommen, 
dass  dieser  das  Recht  auf  ihn  verlieren  sollte,  wenn  der  Vogelsteller  einen 
Vogel  fände,  den  der  Teufel  nicht  kenne),  mit  Hilfe  von  Schiffstheer,  Talg 
und  Bettfedern  in  einen  garstigen  Vogel;  so  kommt  sie  aus  einer  Grotte 
hervor  und  flösst  dem  Vogelsteller  ebenso  viel  Furcht  ein  wie  dem  Teufel, 
der,  als  er  sich  verloren  sieht,  sich  schleunigst  aus  dem  Staube  macht. 
Sobald  ihr  Mann  nach  Hause  zurückkehrt,  entdeckt  die  Frau  ihm  sofort 
den  Betrug,  den  sie  mit  so  gutem  Erfolge  am  Teufel  verübt  hatte.  In 
Livorno  sagt  das  Volk  von  der  Frau:  Chi  disse  donna,  disse  danno  Era 
un  malanno,  Era  un  tormento,  Era  un  lamento  di  questo  cor;  Chi  disse 
donna,  disse  guai,  Perö  di  donna  non  ti  fidar  mai.  Gegen  das  Ende  seiner 
franz.  Erzählung  sagt  Xic.  de  Troyes:  La  femme  scait  ung  art  plus  que 
le  diable  ähnlich  dem  ital.  la  donna  ha  un  punto  piü  del  diavolo  und  Hans 
Sachs  lässt  ziemlich  am  Schlüsse  seines  Fastnachtspiels  den  Teufel  zu  der 
Alten    sagen:    Du    bist    tausendmal  verschmitzter  als   ich.    der  Teufel  der 


1)  Dictionn.  des  Spots  etc.  a.  a.  0. 


318  Prato: 

Hölle;  deslialb  nehme  ich  dicli  zum  Spür-  und  Jagdhuml;  was  mir  in 
30  Jahren  nicht  gelungen  ist,  das  hast  du  au  einem  Tage  vollbracht,  indem 
du  die  treuen  Gatten  entzweit  hast.  Dieser  Hinweis  auf  die  Schlauheit 
der  Alten  kommt  auch  in  einigen  anderen  Fassungen  unserer  Geschichte 
vor,  und  nicht  mit  Unrecht  sagt  die  Alte  am  Anfange  des  Fastnachtspiels 
zu  dem  Teufel,  der  sich  trotz  seiner  Verschlagenheit  diesmal  unfähig  er- 
wiesen hatte,  sein  Ziel  zu  erreichen:  „Ich  bin  die  diese  kunst  wol  kann, 
ich  mach  durch  meine  list  und  renk  zwischen  dem  Ehvolk  ein  gezäuk, 
sie  sind  so  einig  als  sie  wollen,  dass  sie  einander  schlagen  sollen,  noch 
den  Tag  bey  scheinender  sonnen." 

Das  1.  Buch  des  Pancatantra  enthält  verschiedene  Aussprüche,  in  denen 
auf  die  Verschmitztheit  und  Bosheit  der  Frauen  angespielt  wird.  Selbst 
bei  der  Schilderung  ihrer  Schönheit  sind  die  betr.  sloka  doppelsinnig 
(S.  51  der  franz.  Übersetzung  des  Lancereau);  so  zeigt  die  Festigkeit  des 
Busens  die  Hartherzigkeit  an,  die  Kleinheit  des  Mundes  die  Falschheit, 
das  Wallen  des  Haares  die  Hinterlist,  die  verführerische  Erscheinung  die 
List.  Sie  sprechen  mit  einem  lieblichen  Munde,  verwunden  mit  ihrem 
Scharfsinn,  haben  den  Honig  auf  der  Zunge  und  im  Herzen  das  Gift 
hälahala;  daher  muss  man  sie  meiden  wie  die  Aschenkrüge  der  Kirchhöfe. 

Ein  franz.  Sprichwort  sagt:  Finesse  n'est  cju'en  fenime  ne  soit  (Anc. 
prov.  franc.  1568);  ein  anderes  lautet:  La  femme  sait  un  art  avant  le  diable 
(cf.  Quitard.  Proverbes  sur  les  femmes,  p.  20);  die  Wallonen  sagen:  Les 
feumme  ont  treus  tour  pus  qui  Tdiale  oder  Les  femmes  out  sept  (eint) 
tour  pe"qui  Tdiale);  Gera:  Et  quoiqu'ätoü  d"nos  ante,  eile  fesse,  mame, 
mamour,  Elles  ont  pa  nos  tromper  po  d'  la  1'  diale  trinte  six  tour  (Ed. 
Remouchamps,  Les  araour  d"ä  Gera,  I,  sc.  16,  1875);  Servas:  Les  foumme 
sont  CO  pe  qu'  des  macralle,  elles  ont  les  sejtt  tour  apres  1'  diale  (Braliy, 
Li  bouquet,  H,  sc.  2,  1878);  in  Jalhay  (Wallonenhand):  Thiodor  ä  Garitte: 
Taihez-v",  vos  avez  turtote  treus  tour  pus  cj[uu  1"  diale  (Xhoffer,  Les  deux 
soroche.  H.  sc.  1-4,  1862);  in  Jodoigne:  Les  femme  sont  pe  nialenne  que 
r  diale.  ^)  —  Im  Wallonischen  sagt  man  noch:  I  qua  treus  malin,  feumme, 
marticot  (singe)  et  diale;  ce  proverbe  est  sonvent  figure  sur  des  enseigues 
portant  pour  inscrigtion:  A  la  botte  pleine  de  malice.^) 

In  betreff  der  Art,  wie  der  Teufel  die  alte  Hexe  für  seine  Zwecke 
gewann,  ist  es  wohl  überflüssig  viel  auszuführen.  Er  baut  auf  die  Habgier 
der  Alten  und  gilt  im  allgemeinen  für  sehr  reich,  wie  ich  in  meinem  Auf- 
satz Le  dodici  parole  della  verita  p.  50f.  ausgeführt  habe. 

Xach  meiner  Meinung  kann  man  daraus,  dass  der  Teufel  der  Alten 
ein  Paar  neue  Schuhe  verspricht,  seine  Zuversicht  erkennen  hinsichtlich 
der  raschen  Erledigung,  welche  die  Angelegenheit,  um  die  er  sich  so  viele 


1)  Dictionn.  des  Spots  ou  proverbes  Wallons  par  J.  Dejardiu,  2.  edit.,  I,  355 f.,  no.  1249. 

2)  Ebenda  II,  50,  no.  1740. 


VergluichoKcle  Mitteilungeu  zu  Hans  Saclis  Fastnaclitspiel.  319 

Jahre  vergeblich  bemüht  hat,  durch  sie  finden  würde,  und,  indem  er  ihr 
die  Schuhe  giebt,  belohnt  er  den  ihm  so  schnell  erwiesenen  Dienst,  alle- 
gorisch damit  anspielend;  denn  der  Fuss  (und  auch  der  ihn  kleidende 
Schuh)  ist  das  ^Yerkzeug  der  Fortbewegung  und  wenn  das  bekannte  ital. 
Sprichwort  sagt:  II  bisogno  fa  trottare  la  vecchia,  so  trieb  in  unserem 
Falle  die  Begierde  sie  zur  Eile  an,  durch  Verleumdung  zwischen  den 
beiden  Gatten  Zwietracht  zu  säen,  um  so  mehr  als  in  der  Überlieferung 
die  sogenannten  schnellfliegenden  Schuhe  begegnen,  die  in  wenigen  Minuten 
fünf,  zehn  und  mehr  Meilen  zurücklegen. 

Eine  Eigentümlichkeit,  die  beachtet  zu  werden  verdient,  ist  der  Eat, 
den  die  Alte  der  Ehefrau  giebt,  ein  oder  mehrere  Haare  vom  Barte  des 
Mannes  abzuschneiden  und  zu  verbrennen  oder  sie  beim  Trinken  zu  ver- 
schlucken u.  dergl.,  um  die  Liebe  des  Gatten  wiederzuerlangen,  über 
solchen  Yolksaberglauben  braucht  man  sich  keineswegs  zu  wundern,  er  ist 
uralt  und  weit  verbreitet. 

Die  Alten  glaubten,  keiner  könne  sterben,  ohne  dass  Proserpina  ihm 
zuvor  ein  weisses  Haar,  das  jeder  Lebende  auf  dem  Haupte  trage,  ab- 
schnitt (Vergil.  Aen.  4,  698 f.).  Wie  vor  dem  Opfern  dem  Opfertier  einige 
Haare  aus  dem  Kopfe  ausgerissen  (cf.  Aeneis  6,  2-icb  Summas  carpens  media 
inter  cornua  saetas)  und  zum  Beginn  des  Opferns  ins  Feuer  geworfen 
wurden,  so  machte  es  nach  ihrer  Ansicht  Proserpina  auch  mit  dem  zum 
Tode  bestimmten  Menschen.  Nach  anderen  pflegte  Proserpina  den  Toten 
die  Haare  abzuschneiden,  wie  es  mit  den  Sklaven  geschah.  In  der  Yolks- 
überlieferung  haben  die  Haare  eine  besondere  Kraft;  wie  in  gewissen 
Varianten  unserer  Erzählung  das  Verbrennen  der  dem  Manne  abgeschnittenen 
Haare  die  Kückkehr  seiner  Liebe  zur  unmittelbaren  Folge  hat,  so  sieht 
jener  Jüngling,  nachdem  er  das  Haar  eines  Pferdes,  von  dem  er  sich 
trennen  muss,  verbrannt  hat,  das  Tier  sofort  wieder  zum  Vorschein  kommen 
(v.  Hahn,  Griech.  u.  albanes.  Märchen,  Leipzig  1864,  No.  6:  Vom  Prinzen 
und  seinem  Fohlen).  Bei  Miss  Freie,  Old  Decean  Days,  London  1870 
hängt  in  der  Geschichte  von  Punchkine  dessen  Leben  von  einer  grünen 
Perücke  ab;  diese  befindet  sich  in  einem  kleinen  Käfig,  welcher  in  einem 
Gefässe  steht;  das  Gefäss  aber  ist  mit  fünf  anderen  seiner  Art  an  einem 
bestimmten  Orte  in  einem  durch  Palmen  gebildeten  Kreis  aufgestellt.  So 
werden  auch  in  einigen  Versionen  des  Märchens:  Die  Söhne  des  Fischers 
die  drei  Haare,  die  eine  Vettel  sich  aus  dem  Kopfe  gerissen  und  die  sie 
einem  jungen  Prinzen  zugleich  mit  drei  Ringen  gegeben  hat,  damit  er 
seinen  Hund,  sein  Pferd  und  sich  selbst  daran  befestige,  alle  in  Figuren 
von  schwarzem  Marmor  verwandelt;  vgl.  zu  diesem  Märchen:  Contes  ligures, 
traditions  de  la  Riviere  recueillis  entre  Menton  et  Genes  par  J.  Bruyn 
Andrews,  avec  notes  et  index,  Paris,  E.  Leroux,  no.  -39:  Les  fils  du 
pecheur,  p.   175. 


320  Prato: 

Schliesslich  ist  noch  zu  beachten,  dass  der  Teufel  aus  Vorsicht  die 
Schuhe  au  dem  Ende  einer  langen  Stange  befestigt  und  sie  so  aus  der 
Entfernung  der  Alten  hinreicht.  Er  fürchtet,  dass  sie,  die  sich  in  der 
Trennung  der  Eheleute  um  so  viel  tüchtiger  und  listiger  erwiesen  hatte 
als  er,  auch  ihm  noch  ein  schweres  Leid  zufügen  könne.  Diese  Besonderheit 
der  Furcht  des  Teufels  vor  der  Alten  und  der  Umstand,  dass  er  ihr  die 
Schuhe  von  weitem  mittels  einer  Stange  übergiebt,  begegnet  in  unserer 
Fassung  von  Viterbo  (oben  S.  192),  in  derjenigen  von  Apulien  (oben  S.  11>0), 
sowie  in  dem  Fastnachtspiel  und  der  Erzählung  von  Hans  Sachs;  ferner 
in  den  Versionen  von  Otto  Melander,  Joh.  Herolt  (Sermones  Discipuli), 
Greg.  Richter,  in  der  von  K.  Goedeke  in  der  Sammlung:  Schwanke  des 
16.  Jahr h.  unter  Ko.  55  veröffentlichten.  Bei  Hans  Sachs  findet  sich  dann 
noch  die  Eigentümlichkeit,  dass  der  Stock,  an  dem  die  Schuhe  befestigt 
sind,  abgerindet  ist,  damit  es  der  Hexe  mit  ihren  Zauberkünsten  nicht 
gelinge,  nachdem  sie  sich  unendlich  klein  gemacht,  sich  unter  der  Rinde 
zu  verstecken  und  so  zwischen  Rinde  und  Holz  zu  dem  Teufel  zu  gelangen; 
es  ist  das  also  eine  Yorsichtsmassregel,  die  der  Teufel  der  Alten  gegenüber 
aus  Furcht  ergreift.  Auch  in  der  Erzählung  von  Adolfus  bedient  sich  der 
Teufel  aus  demselben  Grunde  einer  Lanze,  die,  wie  in  der  Fassung  von 
Yiterbo,  auch  eine  Verteidigungswaffe  gegen  die  alte  Hexe  sein  kann,  was 
dann  abermals  seine  Angst  bestätigte;  aber  er  befestigt  da  am  Ende  eine 
Börse  mit  Geld,  die  er  ihr  anfangs  anstatt  der  sonst  als  Lohn  ausgesetzten 
Schuhe  versprochen  hatte.  In  der  zweiten  Fassung  von  G.  Herolt  im  Promptu- 
arium  exeraplorum  hebt  der  ängstliclie  Teufel  jenseits  eines  Flusses  die 
Hände  empor,  welche  das  ihr  versprochene  Geld  halten;  als  sie  ihn  er- 
sucht, zu  ihr  zu  kommen,  antwortet  er,  er  wage  es  nicht,  aus  Furcht,  von 
ihr  getötet  (sie!)  zu  werden,  wie  sie  ja  die  gute  Hausfrau  auch  getötet 
hätte. 

Der  Schluss  kommt  also  demjenigen  in  der  römischen  Fassung  bei 
Miss  Busk  nahe,  jedoch  mit  dem  Unterschiede,  dass  es  sich  dort  um  Geld 
handelt,  hier  dagegen  um  das  gewöhnliche  Paar  Schuhe;  dort  hält  der 
Teufel  aus  Furcht  vor  der  Nähe  der  Alten  das  Geld  hoch  in  der  Hand 
und  lässt  sich  nicht  dazu  herbei,  den  Fluss  zu  überschreiten,  die  Alte  aber 
sieht  sich  schliesslich  in  ihrer  Erwartung,  den  Lohn  für  ihre  Nichts- 
würdigkeit einzuheimsen,  getäuscht.  In  der  römischen  Version  erhält  sie 
gleichfalls  nichts,  aber  aus  dem  Grunde,  dass  ihre  Bemühung,  da  die  Ehe- 
leute nach  Erkenntnis  des  Betruges  der  Alten  sich  wieder  aussöhnen  und 
mehr  lieben  als  vorher,  den  vom  Teufel  gewünschten  Erfolg  schliesslich 
nicht  gehabt  hat.  Hier  kommt  dann  zum  Schaden  für  die  Alte  noch  der 
Spott  hinzu.  Der  Teufel  bindet  nämlich  die  Schuhe  an  eine  lange  Stange 
und  stellt  diese  auf  dem  Gipfel  eines  Berges  auf;  vom  Winde  bewegt 
schwanken  sie  da  hin  und  her  vor  den  Augen  der  Alten,  die  nicht  imstande 
ist,  sich  die  Schuhe  zu  verschaffen.     In  dieser  Weise  bewährt  sich  das  lat. 


Vergleicheude  Mitteilungen  zu  Hans  Sachs  Fastnachtsi^el.  321 

Sprichwort  ]\[ale  parta  male  dilabmitur,  und  auch  im  Italienischen  heisst 
es:  La  fariua  del  diavolo  va  sempre  in  crusca.  Der  Umstand,  dass  der 
Teufel  aus  Furcht  jenseits  des  Flusses  stehen  bleibt,  findet  sich  auch  in 
unserer  apulischen  Fassung  (oben  S.  190),  indessen  kann  in  der  Heroltschen 
Erzählung  die  Frau  das  ihr  vom  Teufel  versprochene  Geld  nicht  erlangen, 
während  hier  die  alte  Waschfrau  das  am  Ende  einer  langen  Stange  be- 
festigte und  ihr  über  den  Fluss  gereichte  Paar  Schuhe  erhält;  dabei  wendet 
sich  der  Teufel  hier,  wie  in  einer  anderen  Version,  ab,  damit  sein  Blick 
nicht  dem  der  Zauberin  begegne,  ein  neuer  Beweis  seiner  Angst  vor  der- 
selben. Nur  in  drei  Fassungen  fürchtet  sich  der  Teufel  vor  der  Alten 
nicht,  bestraft  sie  vielmehr  noch  für  ihre  Missethat,  obwohl  er  ihr  eine 
Börse  mit  Geld  versprochen  hatte;  eingedenk  dessen,  dass  sie  schon  in  drei 
Tagen  bei  den  Ehegatten  fertig  bekommen  hatte,  was  ihm  selbst  in  dreissig 
Jahren  nicht  gelungen  war,  und  dass  sie  eine  höllische  Zunge  besass,  er- 
greift er  sie  und  führt  sie  zur  Hölle.  Die  eine  dieser  drei  Versionen  steht 
in  der  Scala  cell,  die  andere  im  Speculum  exemplorum  omnibus  christi- 
colis  etc.  und  die  dritte  im  Pomeriuni  sermonum  quadragesimalium  von 
Pelbart  von  Temesvar;  die  Erzählung  in  den  letzten  beiden  Werken  lehnt 
sich  au  die  in  der  Scala  celi  an. 

Was  die  Furcht  des  Teufels  vor  der  Alten  betrifft,  so  sei  noch  erinnert 
an  eine  kleinasiatische  Fassung  des  Märchens  vom  Teufel,  der  sich  ein 
Weib  nimmt,  betitelt  Les  demons  eux-memes  ont  peur  des  femmes;  vgl. 
dazu  Henry  Carnoy  et  J.  Nicolaides,  Traditions  populaires  de  TAsie-Mineure, 
Paris  1889,  I:  Contes,  p.  172,  uo.  12.  Zu  erwähnen  ist  auch  eine  buddhi- 
stische Erzählung,  die  Th.  Benfey  vom  Prof.  Anton  Schiefer  erfahren  und 
in  den  Anmerkungen  zu  der  soeben  erwähnten  Geschichte  mitgeteilt  hat. 
Diese  Furcht  des  Teufels  vor  der  Frau  ist  eine  Besonderheit,  die  auch  in 
einer  die  Heirat  des  Teufels  betreffenden  Erzählung  von  Hans  Sachs  und 
in  einigen  nichtitalienischen  Fassungen  derselben  vorkommt,  und  zwar  in 
folgender  Weise:  Bei  der  fälschlichen  Nachricht  von  der  Ankunft  seiner 
Fi-au  entscliliesst  sich  der  Teufel,  der  sich  von  ihr  wegen  ihres  unerträglich 
höllischen  Charakters  hat  trennen  müssen,  furchtsam  geworden,  gern,  den 
Körper  einer  Person,  in  die  er  gefahren  war,  zu  verlassen.  Diese  Eigen- 
tümlichkeit begegnet  auch  in  einer  comaskischen  Erzählung,  die  sich  in 
meiner  Sammlung  noch  unedierter  Teufelsgeschichten  vorfindet.  Vgl.  auch 
Quelques  contes  litteraires  dans  la  tradition  populaire  par  Stanislas  Prato 
(Auszug  aus  der  Revue  des  Traditions  populaires  IV,  no.  3),  Paris  1889, 
p.  9_14,  no.  HI:  Un  conte  de  Haus  Sachs:  Der  Teufel  nahm  ein  alt  Weib 
zur  Ehe,  die  ihn  vertrieb:  Sämtliche  Fabeln  und  Schwanke  von  H.  Sachs. 
Herausgegeben  von  E.  Götze,  I,  502  f. 


32: 


Weinh« 


Sanct  Kummeriniss. 


Von  Karl  Weinliold. 


Über  die  heilige  Kurnmeruuss,  diese  niemals  kirchlich  anerkannte, 
aber  vom  Volke  in  Belgien  und  von  da  bis  in  die  Schweiz  und  in  Tirol 
sehr    Terehrto  Heilige    will    ich   hier  nicht  breiter  handeln,    sondern  eines 

ihrer  Bilder  bekannt  machen. 
Dasselbe  befindet  sich  in 
der  alten  Kapelle  von  8t. 
Georgen  über  Schenna  bei 
Meran  in  Südtirol.  Auf  einem 
flachen  Kreuze  aus  schwar- 
zem Holz,  dessen  unterer 
Teil  abgebrochen  ist,  hängt 
die  etwa  63  cm  lauge  be- 
kleidete Gestalt,  aus  bräun- 
lichem Holze  geschnitzt. 
Bart  und  Schuhe  sind  dunkel 
angetuscht;  der  linke  Schuli 
ist  etwas  grösser  und  anders 
geformt  als  derrechte.  Nicht 
bloss  der  Bart,  sondern  auch 
die  Bekleidung  und  das 
ganze  Bild  machen  einen 
durchaus  männlichen  Ein- 
druck. Der  freundschaft- 
lichen Güte  von  Fräulein 
Helene  Raff  in  München 
verdanke  ich  diehier  wieder- 
gegebene Zeichnung,  die  sie 
am  18.  Mai  d.  J.  in  dem 
Kirchlein  aufgenommen  hat. 
Die  St.  Georger  Kummer- 
nuss  gehört  zu  der  Klasse 
der  Bilder  dieser  Volks- 
heiligen, die  den  vor  der 
Gekreuzigten  knieenden  Spielmann,  dem  der  eine  Schuh  geschenkt  ist, 
nicht  kennt.  Sie  gehört  ferner  zu  den  Bildern,  welche  an  den  alten  Typus 
des  gekreuzigten  Heilands  sichtlich  erinnern.  Wir  sehen  die  Gestalt  ganz 
bekleidet,   die  Füsse    ohne  Nagelung  nebeneinandergestellt  und  beschuht. 


Saiict  Kummernuss.  323 

wie  auf  den  ältesten  Kruzifixen.  Ich  trete  daher  der  von  anderen  schon 
ausgesprochenen,  aber  immer  wieder  abgewiesenen  Ansieht  bei.  dass  die 
Kummernussbilder  a,uf  einem  sehr  alten  Crucifixus  1)eruhen. 

Auch  die  Krone  l)estätigt  diese  Ansicht,  denn  die  Dornenkrone  des 
Gekreuzigten  ist  von  <ler  Kunst  erst  im  13.  Jahrh.  aufgenommen  worden. 
Vorher  ward  Christus  als  der  Himmelskönig,  der  König  iler  Könige,  der 
Kreuzesfürst  mit  einem  Diadem  oder  einer  Krone  dargestellt,  wie  Wilhelm 
Grimm  in  seiner  schönen  Abhandlung  „Die  Sage  vom  Ursprung  der  Christus- 
Idlder"  näher  gezeigt  hat.  ^) 

Dio.se  Königskrone  ward  befrennllich,  als  im  16.  Jahrh.  die  Dornen- 
krone als  Attribut  <les  leidenden  Heilands  allgemein  durchgedrungen  war 
und  leitete  zu  einer  Umdeutung  der  in  alter  Art  gemachten  Darstellungen 
des  Gekreuzigten.  Das  Volk  sah  in  diesen  Kruzifixen  eine  gekreuzigte 
Königstochter.  Es  kannte  auch  die  Legenden  von  den  heiligen  Jungfrauen 
Paula  und  Galla,  die  zum  Schutz  ihrer  Jungfräulichkeit  bärtig  wurden  und 
erklärte  sich  den  Bart  der  Königstochter  ebenso.  So  waren  die  Grundzüge 
der  Wilgefortis-  oder  Kummernuss-Sage  leicht  vereinigt. 

Das  bärtige  Gesicht  den-  TTeiligen  hat  den  luM-bcn  männliclien  Ausdruck 
l)is  in  die  Rokokkozeit  behalten,  wo  wenigstens  auf  einigen  Genu'ilden  die 
Gekreuzigte  als  ein  schönes  elegantes  Mädchen  mit  glattem  Gesicht  dar- 
gestellt ward,  so  auf  denn  aus  Kastelrutt  in  Südtirol  stammenden,  auf 
Leinwand  gemalten  Bilde  im  Tnns1»rucker  Ferdinandeum.  Bartlos  wenigstens 
war  auch  die  heilige  Onrkoiinm'r  von  172-2  im  Bcginciilinusc  von  ]\[echeln 
(Jos.  Bergmann  in  den  .Mirteihmuen  der  k.  k.  Centralkommission  in  Wi(Mi, 
I,  132  f.). 

Es  i'vhh  nicht  au  Beweisen,  dass  die  für  Kummernussbilder  geltenden 
noch  im  Ki.  Jahrh.  als  Darstellungen  Christi  verehrt  worden  sind.  So 
hatte  (his  Saalfelder  Steinldld  von  1516  die  Beischrift  Salvator  mundi. 
Ferner  sind  auf  dem  aus  der  ältesten  Kirche  auf  Saeben  stammenden,  1469 
genullten  Holztafelbilde  (jetzt  im  Innsbrucker  Museum),  das  als  Kummer- 
nuss später  verehrt  worden  ist,  nach  der  gütigen  Mitteilung  des  Herrn 
Prof.  Dr.  Franz  v.  Wieser,  des  Direktors  des  Ferdinandeum,  Inschriften 
von  Wallfahrern  eingekratzt  oder  aufgeschrieben,  die  beweisen,  dass  die 
Gläubigen  es  im  ganzen   Ki.  Jahrh.  als  Christusbild  nahmen,  so  z.  B.: 

Got  pis  mein  ingedenk  1500.  15  IHS  32.  Tirgo  Maria  fis  nolns 
benigna  1536.  Gott  geb  gnadt  1565.  Ich  hoff  zu  gott  Caspar  Riedl  1568. 
Gott  allain  die  Ehr  1599.     ihs  jps  1600.     Ich  Befelch  Gott  dem  herrn. 

Auf  diesem  hierdurch  als  ursprüngliches  Heilandsbild  erwiesenen 
Saebener  Gemälde  erblicken  wir  den  Geiger  nebst  dem  goldenen  Schuh; 
ebenso  auf  dem  noch  älteren  Steinbild  von  Oberwinterthur.     Daraus  folgt, 

1)  Kleinere  Schriften  von  VV.  Grimm,  herausgegeben  von  G.  Hinrichs,  Berlin  1883, 
III,  184.  187 :  vgl.  auch  die  Goldene  Schmiede  von  Konr.  v.  "Würzburg,  herausgegeben  von 
W.  Grimm  S  XLYII. 


324 


Hein: 


(lass  aiu'li  (licso  Sage  niclit  von  der  heiligen  Kummernuss  ausgegangen  ist, 
sondern  eine  Kruzifixlegende  war,  die  erst  auf  jene  übertragen  wurde. 
Von  verwandten  Kruzifixsagen  will  ich  anführen  die  von  dem  Kreuz  in 
der  Krypta  des  Neumünsters  in  Würzhurg.  Der  Heiland  hält  hier  die 
beiden  Arme  über  der  Brust  gekreuzt.  Er  hatte  sie  einmal  von  den  Nägeln 
des  Querbalken  gelöst,  um  einen  inbrünstig  betenden  Sünder  zu  umarmen 
(Baader  in  Mones  Anzeiger  1839,  S.  61).  Nach  der  Legende  von  der  hl. 
Luitgart  löste  das  Schnitzbild  des  Erlösers  einst  den  einen  Arm  vom 
Kreuz,  um  die  heissbetende  Blinde  zu  umarmen  (Görres,  Geschichte  der 
Mystik,  IV,  2,  319).  Der  braune  Christus  zu  Löwen  in  Belgien  hat  einen 
Arm  lose  herabhangen.  Mit  demselben,  als  er  ihn  frei  gemacht  vom  Nagel- 
balken, fasste  er  einen  Kirchendieb  an  den  Haaren  und  hielt  ihn  fest  bis 
zum  Morgen,  als  Leute  kamen  (J.  AV.  Wolf,  Niederländische  Sagen,  No.  351). 

Endlich  ist  auch  der  Kelch  zu  Füssen  der  vermeintlichen  Kummernuss 
ein  Beweis  für  das  ursprüngliche  Heilandsbild.  Er  findet  sich  auf  belgischen 
Gemälden,  auf  dem  Saebener  Bilde  von  1469,  auch  auf  dem  von  Ellersdorf 
l)ei  Erlangen,  und  wohl  noch  auf  anderen.  Er  gehört  aber  zu  den  Attri- 
buten des  gekreuzigten  Erlösers,  namentlich  auf  frühmittelalterlichen  Bildern 
steht  er  oft  am  Fusse  des  Kreuzes.  AVenn  der  Volto  Santo  in  Lucca  mit 
prächtigem  Gewände  bekleidet  und  beschuht  wird  zur  öffentlichen  Schau- 
stellung, dann  wird  ilnn  auch  der  Kelch  zu  Füssen  gesetzt  (Baron  Sloet, 
de  heilige  Ontkommer  of  AVilgefortis.     's  Gravenhage  1884.    Tafel  13.  14). 

Auf  anderes  einzugehen,  verzichte  ich  wenigstens  für  diesmal.  AVie 
wenig  ich  Lust  haben  kann,  gegen  die  verkehrten  Deutungen  der  Kummer- 
nuss auf  nordgermanische  Gottheiten,  unter  andern  auf  Thor,  einen  Speer 
zu  verstechen,  kann  man  aus  dem  Ausgeführten  ermessen. 

Li  dem  Bildwerk  aus  dem  St.  Georgenkirchlein  über  Schenna  besitzen 
wir  unter  allen  Umständen  ein  sehr  altes  Mittel  für  die  Geschichte  und 
Kritik  der  heiligen  Kummernuss. 


Eiserne  Weihefigiireu. 

Von  Dr.  Wilhelm  Hein. 

(Mit  3  Abbildungen!).) 


Ln  Jahre  1897  berichtete  mir  Herr  Dr.  Eugen  Frischauf,  der  jetzt  in 
Eggenburg  eine  sehenswerte  Sammlung  von  volkskundlichen  Gegenständen 
auiTNiede^r-Österreich    besitzt,    dass   sich  in  der  Kapelle  zu  Schwarzensee 


[)  Die  Abbildungen  wurden  von  Herrn  Eobert  Karl  Lischka  in  Wien  gezeichnet. 


Eiserne  Weihefiffuren. 


325 


74  natürl.  Grösse. 


Eiserne  Weihekuh. 


natürl.  Grösse. 


bei  Baden  eine  grosse  Zahl  von  eisernen  Weihefiguren  befände.  Da  ich 
damals  noch  Geschäftsführer  des  Vereins  für  österreichische  Volkskunde 
war,  beschloss  ich  für  sein  Museum  einige  von  diesen  Figuren  zu  erwerben 
und  wandte  mich,  da  Schwarzensee  zum  Pfarrsprengel  des  Stiftes  Heiligen- 
kreuz gehört,  an  den  Cisterzienser-Ordeuspriester  Hrn.  Universitätsprofessor 
Dr.  Wilhelm  Neumann  um  seine  gütige  Vermittlung.  Von  ihm  an  den 
Herrn  Pfarrer  von  Raisenmarkt  empfohlen, 
machte  ich  am  14.  Oktober  1897  die  Wan- 
derung von  Baden  nach  Raisenmarkt  und 
hatte  das  Glück,  nicht  nur  den  Herrn  Pfarrer, 
sondern  auch  den  Herrn  Oberförster  Josef 
Weiss  von  Mayerling  zu  treffen,  der  als 
ein  warmer  Freund  von  urgescliichtlichen 
und  volkskundlichen  Forschungen  mich  in 
dankenswerter  Weise  unterstützte.  Er 
übergab  mir  als  Geschenk  für  das  Museum 
drei  AVeihefiguren,  die  den  Kindern  in  der 
Sclnile  abgenommen  worden  waren  und  die 
liier  abgebildet  sind.  Die  Nummer  11  des 
„Anzeigers  des  Vereins  für  österreichische 
Volkskunde"  vom  November  1897  führt 
unter  den  Erwerbungen  des  Museums  ein 
Geschenk  des  Herrn  Oberförsters  an,  ohne 
die  Art  desselben  zu  bezeichnen.  Am 
nächsten  Tage  machte  ich  einen  S])azier- 
gang  zu  der  alten,  halbverfallenen  Kapelle 
des  hochgelegenen  Ortes  Schwarzensee,  wo 
der  Mesner,  den  ich  von  der  Feldarbeit 
heimholen  musste,  in  der  Sakristei  75  eiserne 
Weihefiguren  aus  einem  Korbe  hervorholte 
und  mir  zeigte.  Die  Kapelle  ist  dem  heil. 
Ägydius  geweiht,  an  dessen  Festtage,  am 
1.  September,  die  Bewohner  von  weit  und 
breit  nach  Schwarzensee  wallfahren,  wobei 

die  Figuren,  die  Rinder,  Pferde,  Schafe  und  Schweine  vorstellen,  von  ihnen 
auf  den  Altar  gestellt  werden.  In  der  Kapelle  befindet  sich  auch  eine 
Statue  des  heil.  Leonhard;  doch  hat  sie  merkwürdigerweise  mit  den  Weihe- 
figuren an  diesem  Orte  nichts  zu  thun,  da  sie  erst  vor  kurzem  auf  An- 
ordnung des  Herrn  Pfarrers  aus  Raisenmarkt  oder  Mayerling  hinaufgebracht 
worden  war.  Über  die  Figuren  selbst  brauche  ich  nichts  weiter  zu  sagen; 
die  Abbildungen  sprechen  deutlich  genug.  Ich  möchte  nur  hervorheben, 
dass  mir  kein  anderes  Vorkommen  von  solchen  Eisenfiguren  in  Nieder- 
österreich bekannt  ist,  ebensowenig,  dass  sonst  irgendwo  der  heil.  Ägydius 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1899.  22 


Eiserner  Woiheochs 


Fie:. 


V4  natürl.  Grösse. 


Eisernes  Weihepferd. 


826 


Hein: 


als  Yiehbeschützer  auftritt.  Über  die  Herkunft  der  Figuren  konnte  mir 
der  Mesner  keinerlei  Auskunft  geben;  sie  sind  seit  Menschengedenken  in 
der  Kapelle;  leider  werden  ihrer  alljährlich  immer  weniger,  weil  sie  selbst 
die  Kinder  als  Spielzeug  gebrauchen.  Mit  Rücksicht  darauf,  dass  die 
Fiiiureu  noch  alljährlich  in  Yerwendung  kommen,  machte  ich  keinen  Ver- 
such, deren   Anzahl  zu  verkleinern. 

Einen  beachtenswerten  Beitrag  zu  dem  besprochenen  Gegenstande 
brachte  kürzlich  der  Lehrer  Josef  Blau  von  Rothenbaum  im  Böhmerwalde 
unter  dem  Titel  „Der  Typus  einer  Bauernkirche:  St.  Leonhard  bei  Neuern 
im  Böhmerwalde"  in  der  „Zeitschrift  für  österreichische  Volkskunde'\ 
Y.  Jahrg.  (1899),  S.  70  ff.  In  dieser  Leonhardkirche  befindet  sich  eine 
oTosse  Menge  von  eisernen  Votivtieren,  welche  wie  gewöhnlich  Pferde. 
Rinder,  Ziegen  und  Schafe,  ausserdem  aber  auch  achtbeinige  Bienen  vor- 
stellen. Das  Museum  für  österreichische  Volkskunde  in  Wien  erwarb 
durch  die  Vermittlung  des  Herrn  Blau  zehn  derartige  AVeihetiere,  unter 
welchen  alle  Arten,  selbst  die  Biene  vertreten  ist  (vgl.  Xo.  19  des  Er- 
werbuno-s-Verzeichnisses  in  der  oben  genannten  Zeitschrift  S.  96,  das  in 
der  Mai-Nummer  1899  des  „Anzeigers  des  Vereins  für  österreichische 
Volkskunde"  zum  AViederabdruck  kam). 

In  Ergänzung  seiner  oben  gedachten  Mitteilung  schrieb  mir  Herr  Blau 
in  einem  Briefe  vom  2.  .Inni  1899  folgendes: 

„Die  Weihetiere  sind  uralt;  es  erinnert  sich  hier  kein  Schmied,  je  aus 
der  Überlieferung  etwas  von  der  Anfertigung  derselben  gehört  zu  haben. 
Bezüplich  einer  Verwendung  dieser  Votivtiere  kann  ich  sonst  nichts  mit- 
teilen, als  was  mir  die  Schmiedin  von  Flecken,  eine  geborene  Kohlheimeriu, 
darüber  mitgeteilt  hat.  Am  Ostersonntage  nämlich  gehen  die  Kohlheimer, 
die  überhaupt  jeden  Sonntag  da  eine  Nachmittagsandacht  halten,  in  die 
Kirche  hinauf,  um  darin  den  Heiligen  den  jährlichen  Tribut  zu  zollen.  Die 
Bäuerin  oder  das  Mädchen,  wer  halt  geht,  nimmt  ein  solches  geschmiedetes 
Tier  und  geht  damit  zum  Altare.  Da  wird  es  auf  dem  Altartische  auf 
beide  Seiten  umgedreht,  dann  liegen  gelassen.  Hierauf  wird  eine  Münze 
geopfert:  4,  5,  10  Kreuzer.  (Die  Kohlheimer  zahlen  weniger  als  die  Aus- 
wärtigen.) Nach  Verrichtung  eines  kurzen  Gebetes  giebt  man  das  Tier, 
meist  eine  Kuh,  wieder  auf  den  Tisch",  der  unter  dem  Chor  steht  und 
zur  Aufbewahrung  der  AVeihetiere  dient.  In  einem  Nachsatze  fügt  Herr 
Blau  bei,  dass  die  Schmiedin  von  Flecken  bei  Rothenbaum,  Maria  Leiter- 
mann, geborene  Schmeißl  aus  Kohlheim,  selbst  zu  mehreren  Malen  die 
erwähnte  Opferung  vorgenommen  hat. 

Es  sei  mir  gestattet,  hier  auf  eine  überraschende  Parallele  bei  den 
Indianern  in  Arizona  hinzuweisen,  die  J.  Walter  Fewkes  im  Dezember  1897 
o-eleoentlich  der  Winter-Sonnenwende  beobachtete.')     Auf  dem  Boden  der 


1)  The  Winter  Solstice  Ceremony  at  Walpi.    By  J.  Walter  Fewkes.    Reprinted  from 
The  American  Anthropologist,  Vol.  XI  (Washington  1898),  p.  8  und  11. 


Eiserne  Weihefiguren.  327 

Riva  (einer  Art  Tempelstätte)  des  Asa-Stanimes  bemerkte  er  in  Korb- 
sehüsseln  eine  Anzahl  von  kleinen  Thonfignren,  welche  Yierfüsser  dar- 
stellten. Zwei  von  diesen  Figuren  waren  mit  Hörnern  ausgestattet,  und 
deren  Eigentümer  erzählte  ihm,  dass  er  «ie  gebracht  hätte,  weil  er  Ochsen 
wünsche.  Andere  Thonfiguren  hatten  die  Gestalt  von  Schafen,  wieder 
andere  von  Pferden,  je  nachdem  jemand  Tiere  dieser  oder  jener  Gattung 
zu  erbitten  hoffte.  In  der  Riva  des  Häuptlings  Päutiwa  stand  vor  dem 
würfelartigen  Steinaltare  dessen  Tiponi  (ein  symbolisches  Zeichen),  von 
dem  aus  strahlenförmige  hölzerne  Tierfiguren  angeordnet  waren.  Dieses 
Tiponi  war  nach  Päutiwas  Erklärung  die  Mutter  der  vier  Haustiere  (Rind, 
Pferd,  Schaf  und  Esel)  und  die  hölzernen  Figuren  sollten  Darstellungen 
von  <liesen  Haustieren  sein.  Ton  allen  Seiten  kamen  die  Indianer  herbei 
und  begrüssten  Päutiwa  als  den  Chef  der  Herden  (nicht  der  Jagdtiere, 
was  Fewkes  ausdrücklich  betont)  und  knüpften  besondere  Embleme  (nak- 
wäkwoci)  an  den  Hals  des  einen  oder  anderen  Tieres.  Manche  machten 
Pahos  (symbolische  Darstellungen),  ungefähr  5  Zoll  lang  in  der  Form  von 
Kreuzen,  mit  verschiedenen  Farben  bemalt,  mit  Federn  verziert  und  mit 
Augen  versehen.  Das  waren  die  Gebetstäbchen  für  Schafe,  Rinder  und 
Pferde.  Nach  übereinstimmenden  Behauptungen  der  Indianer  geht  die 
Kreuzesform  nicht  auf  spanisch-christlichen  Einfluss  zurück.  Derjenige, 
der  sein  kreuzförmiges  Paho  mit  Flecken  l)emalte,  wünschte  sich  gefleckte 
Pferde,  und  weiss  bemalte  Pahos  sollten  zu  weissen  Schafen  verhelfen. 
„These  small  wooden  crosses",  schliesst  Fewkes  seinen  höchst  bedeutsamen 
Bericht  über  diese  indianischen  Votivtiere,  „were  simply  primitive  aninial 
effigies,  and  there  is  no  reason  to  doubt  the  great  antiquity  of  this  form 
of  prayer-stick."  Den  Gebrauch  von  solclien  Yotivstäbchen  erwähnt  bereits 
Castaneda  in  seinem  Berichte  über  C'oronados  Expedition  1540 — 42  (Anm. 
l)ei  Fewkes  p.  12).  Es  ist  demnach  zweifellos  christlicher  Einfluss  voll- 
ständig auszuschliessen  und  die  Verwendung  von  A^otivfiguren  bei  der 
Winter-Sonnenwende  zum  Zwecke  der  Erlangung  von  Yiehsegen  ein  ur- 
alter indianisclier  Brauch. 

Im  Zusanniienhalt  mit  dem  Berichte  des  Herrn  J.  W.  Fewkes  gewinnt 
die  kurze  Bemerkung  Blaus,  dass  die  Opferung  der  Votivtiere  am  Oster- 
sonntage geschieht,  eine  besondere  Bedeutung;  denn  Winter-Sonnenwende 
und  Ostern  sind  die  beiden  Festzeiten,  zwischen  welchen  alles  Leben  neu 
erwacht  und  <lie  naturgemäss  dem  Menschen  Anlass  geben,  seine  Wünsche 
nach  Kinder-,  Vieh-  und  Erntesegen  in  sichtl)arer  Weise  zum  Ausdruck 
zu  bringen.  Prof.  Dr.  Rudolf  Meringer  hat  sich  wiederholt  und  ein- 
gehend mit  den  eisernen  Votivtieren  beschäftigt  und  eine  grosse  Zahl  von 
solchen    zur  Darstellung  gebracht*);    doch  ging  er  dem  Wesen  der  Sache 

1)  Mitteilungen  der  Anthropologischen  Gesellschaft  in  Wien,  Band  XXIII  (1893), 
S.  179—181  (woselbst  auch  einige  Litteraturangaben  zu  finden  sind),  und  Bd.  XXV  (1895), 
S.  63-68. 

22* 


328  Weinhold: 

nicht  weiter  nach.  Ich  möchte  hier  weniger  auf  die  mehr  oder  weniger 
primitive  Art  der  Herstellung  von  solchen  Figuren  Wert  legen,  als  zunächst 
dem  Vorstellungskreise  näher  treten,  der  zum  Brauche  der  Opferung  von 
Votivfiguren  führte,  seien  sie  nun  aus  Thon,  Holz,  Eisen  oder  Wachs.  Ich 
möchte  es  auch  für  ganz  zweifellos  halten,  dass  in  früheren  Zeiten  in 
unseren  Gegenden  ebenfalls  hölzerne  oder  thönerne  Figuren  geopfert 
wurden  und  hoffe,  dass  eine  spätere  Forschung  dies  bestätigen  wird.  Einst- 
weilen müssen  wir  uns  daran  genügen  lassen,  diese  Tiere  im  allgemeinen 
als  Symbole  für  erbetenen  Viehsegen,  in  zweiter  Linie  erst  als  Opfertiere 
für  glücklich  abgewendete  Seuchen  zu  betrachten,  was  nicht  nur  der  Ver- 
gleich mit  dem  fast  identischen  Brauch  bei  den  Indianern  Arizonas  lehrt, 
sondern  auch  die  Thatsache,  dass  der  heilige  Leonhard,  der  bekannte 
Lebensförderer,  der  Empfänger  der  Weihetiere  ist.  Diesbezüglich  verweise 
ich  darauf,  was  Sepp  über  den  Leonhardsnagel  beigebracht  hat*),  wodurch 
die  Stellung  des  heiligen  Leonhard  als  Spender  des  Kinder  und  Vieh- 
segens hinreichend  gekennzeichnet  ist.  Ich  möchte  daher  den  Ausdruck 
„Votivtiere"  in  Zukunft  ablehnen  und  ihn  durch  das  Wort  „Weihetiere" 
ersetzen,  weil  sie  doch  zunächst  und  zumeist  nicht  in  Erfüllung  eines 
Gelübdes,  sondern  als  Ausdruck  eines  Wunsches,  einer  Bitte  dem  heiligen 
Leonhard  oder  sonst  einem  gütigen  Lebensspender  geweiht  werden.  Was 
nun  die  eingangs  besprochenen  Weihetiere  von  Schwarzensee  anbelangt, 
so  stehen  sie  scheinbar  ausser  allem  Zusammenhang  mit  dem  hier  be- 
sprochenen Vorstellungskreis,  da  sowohl  der  Weihetag  (1.  Sept.)  als  auch 
der  viehsegenspendende  Heilige  Ägydius  ganz  vereinzelt  dastehen.  Doch 
dürfte  diese  Erscheinung  sich  bei  weiterem  Zusehen  und  Nachforschungen 
noch  harmonisch  in  den  Bau  der  Frühlingsbräuche  einfügen  lassen. 
Floridsdorf  bei  Wien,  Anfang  Juni  1899. 


Kleine  Mitteilungen. 


Wühelm  Schwartz  t« 

(Mit  Bildnis,  Taf.  IV.) 

Der  Verein  für  Volkskunde,  der  vor  wenig  Wochen  den  Tod  Prof.  Dr.  Ch. 
Steinthals  zu  beklagen  hatte,  ist  abermals  durch  den  schweren  Verlust  eines  be- 
deutenden und  thätigen  Mitgliedes  betroffen:  am  16.  Mai  verschied  der  Geheime 
Regierungsrat  Prof.  Dr.  Wilhelm  Schwartz,    bis    vor    wenig   Jahren  Direktor    des 


1)  Dr.  Johannes  Sepp,  Internationale  Hochzeits-,  Tauf-  und  Totengebräuche,  München 
1891,  S.  78-Ö2. 


Kleine  Mitteilungen.  329 

hiesigen  K.  Luisengymnasiums.  Seit  Gründung  unsers  Vereins,  an  der  er  lebhaften 
Anteil  nahm,  gehörte  der  Verstorbene  unserm  Vorstande  an;  durch  Vorträge  und 
durch  seine  fleissige  Mitarbeit  an  unsrer  Zeitschrift  hat  er  für  unsere  Zwecke 
redlich  gearbeitet. 

Wilhelm  Schwartz  war  am  4.  Sept.  1821  in  Berlin  geboren.  Nachdem  er  auf 
dem  Grauen  Kloster  das  Reifezeugnis  erworben,  studierte  er  in  Berlin  und  Leipzig 
Philologie  und  ward  in  Berlin  am  19.  Dez.  1843  zum  Dr.  phil.  promoviert.  Böckh, 
Lachmann,  Zumpt,  Bopp,  J.  Grimm  waren  hier,  G.  Hermann  und  M.  Haupt  in 
Leipzig  seine  Lehrer.  Von  1844  ab  wirkte  er  am  hiesigen  Priedrich-Werderschen 
Gymnasium  zwanzig  Jahre.  Dann  erhielt  er  das  Direktorat  des  Gymnasiums  in 
Neuruppin,  einige  Jahre  später  das  des  Priedrich-Wilhelms-Gymnasiums  in  Posen 
und  kehrte  1882  nach  Berlin  zurück,  berufen  zur  Leitung  des  neugegründeten  K. 
Luisengymnasiums.  Nach  fünfzigjähriger  gesegneter  Arbeit  schied  er  1894  frei- 
willig aus  seinem  Amte  und  zog  sich  in  wissenschaftliche  Müsse  zurück,  bis  zu 
seinem  Ende  mit  den  Aufgaben  beschäftigt,  die  seines  Lebens  Freude  gewesen 
waren. 

Diese  Aufgaben  lagen  in  der  mythologischen  Forschung,  zu  der  er  sich 
öffentlich  zuerst  in  seiner  Doktordissertation  De  antiquissima  Apollinis  natura  (1843) 
bekannte,  die  er  aber  schon  1837  als  Sammler  der  Sagen  und  Sitten  der  märkischen 
Landbevölkerung  an  der  Seite  seines  späteren  Schwagers  Adalbert  Kuhn  begonnen 
hatte.  Welche  Verdienste  sich  diese  beiden  Männer  um  die  Feststellung  der  alten 
Überlieferungen  in  der  Mark  Brandenburg  und  in  grossen  Strichen  des  nordwest- 
lichen Deutschlands  erworben  haben  durch  gewissenhafte  sachkundige  Sammlung 
und  durch  wissenschaftliche  Verwertung  des  eingeheimsten  Stoffes,  sei  nur  ange- 
deutet. An  den  Märkischen  (1843)  und  den  Norddeutschen  Sagen  und 
Märchen  (1848)  waren  beide  fast  gleich  beteiligt.  Schwartz  hat  dann  für  sich  noch 
die  Sagen  und  alten  Geschichten  der  Mark  Brandenburg  (1871.  3.  A. 
1895)  erscheinen  lassen  und  über  sein  Sagensammeln  lehrreich  berichtet  in  den 
Erinnerungen  aus  meinen  Wanderungen  in  den  Jahren  1837 — 1849  im  Archiv 
der  Gesellschaft  für  Heimatskunde  der  Prov.  Brandenburg  (I,  14.3—157.  Berlin  1894). 

Seine  Grundanschauungen  über  den  noch  fortlebenden  Volksglauben  entwickelte 
Schwartz  zuerst  1849  in  einer  Programmabhandlung  des  Werderschen  Gymnasiums: 
Der  heutige  Volksglaube  und  das  alte  Heidentum,  die  in  erweiterter 
2.  Aull.  Lsß2  erschien.  Eingehend  begründete  er  dann  seine  Stellung  zu  den  Fragen 
der  Mythologie  in  den  Büchern:  Ursprung  der  Mythologie,  1860;  Die  poe- 
tischen Naturanschauungen  der  Griechen,  Römer  und  Deutschen  in  ihrer 
Beziehung  zur  Mythologie.  L  Sonne,  Mond  und  Sterne,  1864.  H.  Wolken 
und  Wind,  Blitz  und  Donner,  1879;  Indogermanischer  Volksglaube. 
Ein  Beitrag  zur  Religionsgeschichte  der  Urzeit.  1885.  Eine  Sammlung  seiner 
kleinen  Aufsätze  veranstaltete  er  1884  in  den  Prähistorisch-anthropologischen 
Studien,  denen  wir  noch  die  Nachklänge  prähistorischen  Volksglaubens 
im  Homer,  1.S94  anreihen  wollen. 

Die  Titel  der  zuletzt  angeführten  Bücher  bezeichnen  schon  die  Stelle,  die 
unserem  Schwartz  in  der  Geschichte  der  Mythologie  zukommt.  Während  sein 
Freund  und  Schwager  Adalbert  Kuhn  die  germanischen  Mythen  in  genaue  Ver- 
wandtschaftsbeziehung zu  den  wedischen  und  den  griechischen  zu  bringen  und 
eine  vergleichende  Mythologie  in  Art  der  indogermanischen  Grammatik  aufzubauen 
suchte,  stellte  W.  Schwartz  der  Mythenforschung  eine  anthropologische  Aufgabe. 
Er  fasste  die  Mythenbildung  als  einen  psychologischen  Prozess,  der  sich  unter 
den  Eindrücken    entwickelte,    die    in    einer    vorhistorischen  Zeit  die  Himmel-  und 


330 


Weiidheim: 


Lufterscheinungen,  namentlich  die  Stürme  und  Gewitter,  auf  den  in  niederer  Kultur 
stehenden  Menschen  gemacht  haben.  Dieser  Prozess  erfolgte  nach  allgemein  mensch- 
lichen Gesetzen  und  seine  Ergebnisse  gehören  nicht  einem  einzelnen  Volke  oder 
einer  einzigen  Völkerfamilie  an,  sondern  der  Menschheit  überhaupt.  Es  entstunden 
so  dämonische,  tiergestaltige  Wesen  als  Gegenstände  gläubiger  A\^rehrung,  dann 
auch  Dämonen  in  menschlicher  Bildung.  Beides  sind  die  Urkeime,  die  Proto- 
typen für  die  höheren  Göttergestalten,  sind  aber  keineswegs  in  der  fortgeschrittenen 
heidnischen  Religionsperiode  verschwunden,  sondern  haben  sich  in  ihr,  wie  nach 
dem  Untergang  des  Heidentums  bis  zum  heutigen  Tage  in  dem  Volksglauben  oder 
Aberglauben  behauptet.  Gewisse  Vorstellungen  kann  man  daher  von  ihrer  rohesten 
Urform  bis  zur  entwickeltsten  Ausbildung  verfolgen.  So  entdeckte  W.  Schwartz 
die  niedere  Mythologie,  wie  er  diese  uralte  und  urlebenskräftige  Stufe  natürlicher 
Religion  nannte,  noch  in  dem  heutigen  Volksglauben  Deutschlands. 

Mag  man  auch  die  Ansichten  unseres  Freundes  nicht  in  ihrer  Durchführung 
auf  die  ganze  Mythologie  vertreten  können,  ein  unleugbares  und  bleibendes  Ver- 
dienst hat  er  sich  durch  die  prähistorisch-anthropologische  Grundidee  um  die 
mythologische  Forschung  erworben.  Er  hat  in  der  Geschichte  derselben  eine  her- 
vorragende Stellung.  Die  Genauigkeit  und  die  zuverlässige  Ehrlichkeit  seiner  Er- 
hebungen aus  dem  Volksglauben  kann  überdies  nur  von  Leichtfertigkeit  und  von 
Trivialität,  die  jetzt  in  unserer  Mythologie  leider  Anklang  finden,  geleugnet  oder 
angefochten  werden:  seine  letzte  Arbeit  über  die  heidnischen  Überreste  in  der 
norddeutschen  Tiefebene  bewies  wieder  gründlich  jene  guten  Eigenschaften. 

W.  Schwartz  hat  nun  die  fleissige  Feder  für  immer  niederlegen  müssen;  aber 
seine  Arbeiten  w^erden  weiter  anregen  und  nicht  vergessen  werden.  Die  Treue, 
die  er  seinem  Schulamte  und  seiner  Lieblingswissenschaft,  seiner  märkischen 
Heimat  und  seinen  Freunden  bezeugt  hat  in  langem  Leben,  die  soll  ihm  durch 
Treue  über  den  Tod  vergolten  werden! 

Berlin,  den  22.  Mai  l.s99.  Karl  Wein  hold. 


Die  Steckuadel  im  Yolksaberglauben. 
Von  Marie  von  Weiidheim. 

Die  Stecknadel  spielt  im  Volksaberglauben  eine  grosse  Rolle.  Unter  gewissen 
Bedingungen  gilt  sie  als  ebenso  Unheil  verkündend,  wie  das  Zerbrechen  eines 
Spiegels,  das  Heulen  eines  Hundes  oder  das  Verschütten  von  Salz.  In  einigen 
Gegenden  Englands  heisst  es^),  man  müsse  jede  Stecknadel  aufheben,  die  man 
auf  dem  Boden  sieht;  unterlässt  man  dies,  so  stösst  einem  bestimmt  ein  Unglück 
zu.     Der  folgende  Spruch  ist  noch  immer  gebräuchlich: 

„Sieh  eine  Nadel  und  heb  sie  auf,  See  a  pin  and  pick  it  up, 

Glück  bringt  dir  dein  Tageslauf;  All  the  day  youll  have  good  lack; 

Lass  die  Nadel  liegen,  die  du  gesehen,  See  a  pin  and  let  it  lic, 

Thräuen  tagsüber  dir  im  Auge  stehn."  All  the  day  you'll  have  to  cry.^) 

Nicht  auf  England  beschränkt,  sondern  in  allen  Ländern  verbreitet  ist  der 
Aberglaube,    dass    es  Unglück  bringt,    eine  Stecknadel  zu  verschenken.     „Sie  zer- 


1)  Harpers  Bazar  Vol.  XITI,  No.  52.    New-York  1880. 

2)  Ganz  nahe  verwandt  zwei  Sprüche  aus  dem  östlichen  Massachusetts  (N,  A.)  und 
aus  New-York  in  den  Currcnt  Superstitions  collected  from  the  oral  traditiou  of  english 
speaking  folk  cdited  by  Fanny  D.  Bergen.     Boston  und  New-York  1896.     No.  (iST.  638. 


Kleine  Mitteilungen.  331 

sticht  die  Freundschaft  und  die  Liebe."  Ist  man  trotzdem  genötigt,  einer  befreun- 
deten Person  eine  Stecknadel  zu  geben,  so  müssen  beide  Teile  dabei  lachen, 
dadurch  wird  der  Zauber  gebrochen  (A.  AVuttke,  Deutscher  Volksaberglaube  der 
Gegenwart.     2.  A.     Berlin  1869.     §  553.  625). 

In  Bezug  auf  die  von  der  Braut  am  Hochzeitstage  getragenen  Stecknadeln 
giebt  es  in  den  verschiedenen  Grafschaften  Englands  völlig  widersprechenden 
Aberglauben.  An  manchen  Orten  muss  die  Braut  sofort  nach  der  Trauung  jede 
Stecknadel,  die  sie  an  sich  hatte,  entfernen,  sonst  bringt  es  ihr  Unglück,  i)  Ebenso 
müssen  die  Brautjungfern  sich  hüten,  auch  nur  eine  einzige  von  der  Braut  benutzte 
Stecknadel  an  sich  zu  nehmen;  ihre  Verheiratung  würde  dadurch  sehr  in  Frage 
c^estellt  und  keinesfalls  dürften  sie  hoffen,  vor  dem  nächsten  Pfingstfeste  zu  heiraten. 
In  Sussex  jedoch  wird  die  Braut  nach  der  Heimkehr  von  der  Kirche  von  ihren 
ledigen  Freundinnen  sogleich  aller  Stecknadeln,  die  sie  an  ihrem  Kleide  trug, 
beraubt,  im  festen  Glauben,  dass  die  Besitzerin  einer  solchen  Nadel  im  Laufe 
eines  Jahres  heiraten  werde. 

Die  Nadeln  werden  auch  zur  Heilung  mancher  Krankheiten  verwendet.  In 
Missouri  sticht  man  eine  Stecknadel  durch  die  Warze  und  wirft  sie  auf  den  Weg. 
Der  Finder  der  Nadel  bekommt  die  Warze.  In  Bruynswick  im  Staat  Neu-York 
wickelt  man  so  viel  gestohlene  Nadeln  als  man  Warzen  hat,  in  ein  Papier  und 
wirft  es  auf  den  Weg.  Wer  die  Nadeln  aufhebt,  bekommt  die  Warzen.  h\  West- 
New-York  reibt  man  die  Warze  mit  dem  Knopf  der  Nadel  und  versteckt  dann  die 
Nadel  irgend  wohin,  ohne  einen  Blick  darauf  zu  thun.  Dann  vergeht  die  Warze 
(Berget!  No.  914—916).  In  Leicestershire  in  England  führt  man  den  an  Warzen 
Leidenden  zu  einer  Esche;  dort  wird  mit  einer  Stecknadel  zuerst  in  die  Rinde 
des  Baumes  gestochen  und  dann  in  die  Warze,  worauf  die  Nadel  wieder  in  den 
Baum  gesteckt  wird.  Jede  so  behandelte  Warze  vergeht  nach  kurzer  Zeit.  Noch 
vor  einigen  Jahren  sollen  dort  manche  Bäume  mit  Stecknadeln  geradezu  gespickt 
gewesen  sein.  In  Gloucestershire  wird  eine  Schnecke  mit  einer  Nadel  so  oft 
durchstochen  als  der  Patient  Warzen  hat,  und  diese  werden  dann  mit  dem  Safte 
der  Schnecke  eingerieben. 

Gegen  Zahnschmerzen  hilft  ein  in  eine  Eiche  getriebener  Nagel.  In  Japan') 
wird  ebenfalls  manchen  Bäumen  die  Kraft  zugeschrieben  Zahnschmerzen  zu  heilen. 
Zu  diesen  gehört  auch  die  Weide,  in  die  an  Zahnschmerzen  Leidende  Nadeln 
stecken,  damit  der  Schmerz,  den  sie  dem  Baumgeiste  verursachen,  diesen  dazu 
bewegt  ihren  eigenen  Schmerz  zu  heilen.  Auch  in  Ober-Österreich  werden  Zahn- 
schmerzen vernagelt  (Huemer  in  der  Zeitschr.  f.  österr.  Volkskunde,  II,  363).  Das 
Nageln  ist  überhaupt  ein  uraltes  und  zur  Beseitigung  des  Bösen  und  besonders 
der  Krankheiten  viel  verwandtes  Mittel  (Andree,  Braunschweiger  Volkskunde  i^b. 
306.  A.  Kuhn,  Märkische  Sagen,  384.  Reiser,  Sagen  a.  d.  Allgäu  2,  114.  Zahrer, 
Die  Krankheit  hn  Glauben  des  Simmenthals  33.  60.). 

Man  glaubt  in  Sussex,  dass  die  Epilepsie  von  einer  Hexe  verursacht  werde 
und  geheilt  werden  könne,  wenn  man  eine  Flasche  mit  Nadeln  füllt  und  diese 
auf  den  Herd  stellt,  bis  die  Nadeln  glühend  sind.  Dann  sollen  sie  das  Herz  der 
Hexe  durchstechen  und  sie  zwingen  den  Zauber  zu  lösen.  Solche  mit  Stecknadeln 
gefüllte  Flaschen  werden  in  jener  Grafschaft  oft  unter  dem  Herde  gefunden,  wenn 
ein  Haus  niedergerissen  oder  umgebaut  wird.  An  einem  Ort  fand  man  auch  bei 
solcher  Gelegenheit    das  Herz    eines  Schweines,    das    über    und    über  mit  Dornen 

1)  Derselbe  Glaube  auch  in  Alabama,  N.  A..  Bergen  No.  341. 

2)  Lafcadio  Hearn,  Glimpses  of  unfamiliar  Japan. 


332  Wendheini: 

bespickt  war.  Man  vermutete,  dass  dies  einen  Racheakt  gegen  eine  vermeintliche 
Hexe  bedeutete,  der  in  dem  Glauben  geschah,  dass  ihr  Herz  in  gleicher  Weise 
zerstochen  und  durchbohrt  und  schliesslich  leblos  wie  das  Schweineherz  werden 
würde.  In  der  Oberpfalz  rächt  sich  ein  verlassenes  Mädchen  an  dem  ungetreuen 
Schatz,  indem  es  um  Mitternacht  in  eine  unter  Zauberformeln  angezündete  Kerze 
einige  Nadeln  sticht  und  spricht:  „Ich  stich  das  Licht,  stich  das  Licht,  ich  stich 
das  Herz,  das  ich  liebe."  Der  Untreue  muss  dann  sterben  (Schönwerth,  Aus  der 
Oberpfalz,  1,   127). 

Wenn  eine  Kuh  plötzlich  die  Milch  verliert,  also  behext  ist,  wirft  man  in  Ost- 
preussen  Nadeln  in  eine  Pfanne,  worin  etwas  Milch  von  jener  Kuh  siedet.  Damit 
wird  die  Hexe  gepeinigt  (Wuttke,  Aberglaube  §  701).  In  Oldenburg  werden  bei 
Behexung  des  Viehes  die  edlen  Eingeweide  eines  dem  kranken  Tiere  gleichartigen 
Tieres  oder  einer  schwarzen  Henne  über  und  über  mit  Nadeln  besteckt  und  bei 
verschlossenen  Thüren  und  Penstern  in  fest  verdecktem  Gefässe  über  das  Feuer 
gestellt.  Wenn  das  Herz  kocht,  muss  die  Hexe  erscheinen  und  um  Erlösung  bitten 
(Strackerjan,  Aberglauben  und  Sagen  aus  Oldenburg,  1,361).  Auch  wird  das  Herz 
eines  durch  vermeintliche  Verhexung  gefallenen  Tieres  mit  Nadeln  bespickt  und  in 
einem  Beutel  vor  Sonnenaufgang  in  ein  fliessendes  Wasser  geworfen  (ebenda). 

Eine  andere  Art  von  Zauberei  bestand  darin,  dass  eine  Gestalt  aus  Lehm 
oder  Wachs  geformt  wurde,  der  man  die  Namen  desjenigen  gab,  der  geschädigt 
werden  sollte,  und  die  man  dann  entweder  mit  Stecknadeln  durchstach  oder  ver- 
brannte. ^)  In  gleicher  Weise  wie  diese  Figur  musste  die  verzauberte  Person  auch 
zu  Grunde  gehen.  Marie  von  Medicis  und  ihre  Freundin  Leonora  Concini  standen 
im  Verdacht,  das  Leben  Ludwig  XIII.  von  Frankreich  gefährdet  zu  haben,  indem 
sie  eine  Gestalt  aus  Lehm  formten,  ihr  seine  Namen  gaben  und  sie  dann  mit 
Stecknadeln  durchbohrten.  Unter  der  Regierung  Heinrich  VI.  von  England  wurde 
die  Herzogin  von  Gloucester  eines  ähnlichen  Verbrechens  angeklagt.  Shakespeare 
spielt  auf  diesen  Aberglauben  in  Richard  HL,  Akt  III,  Scene  4  an,  wo  er  den 
Herzog  von  Gloucester  zu  Hastings  sagen  lässt: 

„Sei  denn  eu'r  Auge  ihres  Unheils  Zeuge: 

Seht  nur,  wie  ich  behext  bin!  Schaut,  mein  Arm 

Ist  ausgetrocknet,  wie  ein  welker  Spross. 

Und  das  ist  Eduards  Weib,  die  arge  Hexe, 

Verbündet  mit  der  schandbarn  Metze  Shore, 

Die  so  mit  Hexenkünsten  mich  gezeichnet." 
Noch  im  Jahre  1869  wurde  in  der  Grafschaft  Inverness  ein  solcher  „Corps 
cre"  oder  „Criardt"  in  einem  Flusse  aufgefunden.  Der  Körper  war  aus  Lehm,  in 
welchem  menschliche  Nägel,  Vogelkrallen  und  Stecknadeln  staken.  Er  stellte  eine 
bestimmte  Person  dar,  deren  Feind  ihren  Tod  wünschte  und  der  daher  diese  Lehm- 
gestalt in  fliessendes  Wasser  gelegt  hatte,  damit,  sowie  das  Wasser  die  Gestalt 
auflöste,  das  Leben  aus  dem  menschlichen  Körper  entfliehen  sollte.  Auf  der 
nordfriesischen  Insel  Amrum  lag  ein  Mann  lange  krank  darnieder  und  kein  Mittel 
wollte  ihm  helfen.  Da  beobachtete  eines  Tages  ein  Bauer  ein  Weib,  wie  sie 
etwas  im  Sande  vergrub.  Nachdem  sie  fortgegangen  war,  forschte  er  nach  und 
fand  eine  kleine  Wachsfigur  mit  einer  Stecknadel  im  Herzen.  Er  zog  die  Nadel 
heraus,  verbrannte  die  Gestalt  und  der  kranke  Mann  erholte  sich. 

Auch  in  Indien  spielen  Stecknadeln  eine  Rolle,  wie  die  folgende  Erzählung 
beweist:    Eine  Zauberin    verliebte    sich    in    einen  Prinzen,    der   jedoch  ihre  Liebe 


1)  J.  Grimm.    D.  Mythol.,  2.  A  ,    S.  1045  f.    4.  A.,    B,  iUö.     Auch  Puppen    wurden   zu 
diesem  Zwecke  gemacht  und  durchstochen,  Wuttke,  D.  Volksabergl.  §  396. 


Kleine  Mitteilungen.  333 

4 

verschmähte.  Um  sich  zu  rächen,  belauschte  sie  ihn,  wie  er  das  Bad  verliess  und 
blies  aus  einem  Beutel  eine  Menge  Stecknadeln  über  ihn.  Sie  hafteten  an  seinem 
Körper  und  er  verlor  die  Besinnung.  Viele  Jahre  später  verirrte  sich  eine  Prin- 
zessin im  Dschungel  und  entdeckte  eine  zerfallene  Stadt  und  die  Ruinen  eines 
Palastes.  Dort  fand  sie  den  Prinzen  auf  einem  Lager  ausgestreckt;  sie  zog  die 
Stecknadeln  aus  seinem  Körper  und  löste  den  Zauber. 

Wenn  in  Italien  eine  Frau  entdeckt,  dass  das  Herz  ihres  Geliebten  oder  ihres 
Gatten  sich  einer  anderen  zugewandt  hat,  begiebt  sie  sich  zu  einer  Wahrsagerin, 
nachdem  sie  sich  einen  kleinen  Teil  irgend  eines  Kleidungsstückes  ihrer  Neben- 
buhlerin verschafft  hat.  Die  Wahrsagerin  befestigt  den  Lappen  mittels  eines 
Nagels  und  mehrerer  Stecknadeln  an  einer  frischen  Citrone.  Diese  wird  dann  von 
der  hilfesuchenden  Frau  in  den  Brunnen  des  Hauses  ihrer  Nebenbuhlerin  geworfen. 
Jede  Stecknadel  bringt  dieser  einen  Kummer,  und  der  Nagel  einen  nagenden 
Schmerz  im  Herzen,  der  sie  nie  wieder  verlässt  (Math.  Serao,  II  paese  di  Cuc- 
cagna.     1-^91). 

An  vielen  Orten  werden  auch  Nadeln  in  Brunnen  geworfen,  und  aus  der 
Richtung,  in  der  sie  fallen,  gewahrsagt.  Im  Norden  Englands  giebt  es  bestimmte 
„Wunschbrunnen'',  in  die  der  Vorübergehende  nur  eine  verbogene  Stecknadel  zu 
werfen  braucht,  um  der  Erfüllung  seines  Wunsches  gewiss  zu  sein.^) 


Kinderpuppeiigräber  (Oredlgräber)  in  Nietler-Österreich. 

Im  August  189s  wurde  von  Herrn  Gustav  Calliano  bei  Baden  (Nieder-Öster- 
reich)  ein  sogenanntes  Faijagredigrab  aufgefunden.  Ein  kreisrunder,  40  cm  tiefer 
und  breiter,  im  Erdreich  eingebetteter  Aschenraum,  an  der  Oberfläche  durch  einen 
Kreis  von  gewöhnlichen  Kalksteinen  markiert,  barg  an  seiner  tiefsten  Stelle  eine 
in  mehrere  Stücke  zerbrochene  kleine  Thonfigur,  die  bäuerliche  Fajagredl  (Feuer- 
gretel).  Es  war  ein  förmliches  Grab,  in  welchem  nach  der  Volksüberlieferung 
diese  menschliche  Nachbildung  von  Kindern,  die  Leichenbrände  der  Grossen  nach- 
ahmend, bestattet  wurde. 

Diese  Lämdocka  (Laimtotken),  wie  die  Bauern  die  Thonfigürchen  nennen, 
sind  etwa  eine  Spanne  hoch,  haben  einen  glockenartigen  Unterrock  und  am  Ober- 
leibe sieht  man  deutlich  die  Hand  angelegt.  Sie  erinnern  an  die  Ödenburger  und 
Fischauer  Mondidole.  Bisher  sind  diese  durch  die  runde  Steinsetzung  nach  aussen 
gekennzeichneten  Gredlgräber  in  Nieder-Österreich  noch  nicht  beobachtet  worden. 

(Nach  dem  Jahresbericht  des  Präsidenten  der  Anthropologischen  Gesellschaft 
für  1898.     Wien  l.s99.     S.  5b.)  K-  W- 


Niedersächsische  „Zaiiberpuppeii". 

Von  Richard  Andrea  iu  Rraunschweig. 

Ob  die  Überschrift  richtig  gewählt  ist,  ich  weiss  es  nicht.  In  Ermangelung 
einer  besseren  setze  ich  sie  vorläufig  hierher;  würde  es  sich  um  ähnlich  aus- 
sehende Gegenstände  aus  Afrika  handeln,  so  hätte  ich  mich  mit  dem  vieldeutigen 
-Fetisch"  behelfen  können.     Es  handelt  sich  hier  um  Dinge,    die,  wie  ich  glaube, 


1)  über  die  pinwells  in  Schottland.  Irland,    Cormvales,   der  Bretagne:    K.  Weinhold, 
Die  Vert^hrung  der  Quellen  in  Deutschland,  Berlin  1898,  S.  59,  über  Nagelquelleu  S.  601'. 


334 


Andree : 


zum  erstenmale  in  der  niedersächsischen  Volkskunde  zu  Tage  treten  und  zu  denen 
ich  Gegenstücke  nicht  nachzuweisen  vermag. 

Die  hier  abgebildeten  Figuren  befinden  sich  im  Museum  zu  Celle,  das  besonders 
reich  an  niedersächsischen  bäuerlichen  Altertümern  ist  und  unter  der  sachkundigen 

Leitung  des  Herrn  Wilhelm  Bomann 
sich  eines  gedeihlichen  Aufschwungs 
erfreut.  Herr  Bomann  hat  auch  die 
fraglichen  .,Zauberpuppen"  aufge- 
funden und  ihm  verdanke  ich  es 
auch,  dass  ich  sie  hier  beschreiben 
und  abbilden  kann. 

Der  Fundbericht  ist  kurz  folgen- 
der. Ich  gebe  ihn  genau  nach  den 
mündlichen  Mitteilungen  des  Herrn 
Bomann,  da  er  auch  die  einzigen 
Anhaltspunkte  für  die  Bestimmung 
des  Zwecks  der  ,,Zauberpuppen'' 
enthält. 

Im  Jahre  1898  forschte  Herr 
Bomann  in  einem  alten  nieder- 
sächsischen Hause  des  nahe  bei 
Celle  gelegenen  Dorfes  Bockeiskamp 
nach  bäuerlichen  Altertümern.  Der 
Besitzer  des  Hauses,  Bodenstat  ge- 
nannt, öffnete  dabei  auch  eine  alte 
Truhe,  „Lade",  in  welcher  früher 
die  Bauern  Kleider,  Leinenzeugu.s.w. 
aufbewahrten  und  noch  aufbewahren. 
Diese  Truhen  enthalten  fast  immer 
noch  eine  kleine  biia'e.  Beilade,  ein  besonderes,  an  einer  Seite  angebrachtes  und 
mit  eigenem  Deckel  versehenes  Fach,  in  welchem  das  bare  Geld,  Schmucksachen 
und  dergl.  geborgen  wurden.  Herrn  Bomann  fiel  dabei  auf,  dass  die  betreffende 
Beilade  sehr  flach  war  und  beim  weiteren  Nachforschen  erkannte  er  einen  doppelten 
Boden.  Er  wurde  geöffnet  und  darin  lagen  die  vier  „Zauberpuppen"  (von  denen 
hier  drei  abgebildet  sind)  zum  grossen  Erstaunen  des  Besitzers,  der  von  deren 
Vorhandensein  keine  Ahnung  hatte  und  dem,  wie  auch  Herrn  Boraann,  der  Zweck 
dieser  Gebilde  völlig  rätselhaft  war.  Niemand  im  Hause  oder  im  Dorfe  wusste 
irgend  welchen  Bescheid  über  die  offenbar  nach  allen  Kennzeichen  sehr  alten 
Figuren,  doch  gelang  es  Herrn  Bomann  bei  weiterem  Nachforschen,  durch  den 
siebzigjährigen  Bauern  Krüger  im  Dorfe  Brodel  wenigstens  einige  Kunde  zu  er- 
halten. 

Solche  „Sympathie-  oder  Zauberraittel",  erklärte  der  alte  Krüger,  seien  in 
seiner  Jugend  wohl  noch  hier  und  da  bei  den  Bauern  in  der  Umgegend  Celles 
angewendet  worden  und  zwar  zu  zweierlei  Zwecken:  einmal,  um  die  Empfängnis 
der  Frauen  zu  hindern  und  zweitens  um  die  Fruchtbarkeit  steriler  Frauen  hervor- 
zurufen. 

Also  dieselben  Dinge  sollten  zweierlei  ganz  entgegengesetzte  Zwecke  verfolgen. 
Wie  weit  nun  in  dieser  Beziehung  der  alte  Krüger  recht  hat,  lasse  ich  dahin- 
gestellt. Aber  sehr  wohl  denkbar  ist  es,  dass  bei  unsern  Bauern,  im  Hannoverschen 
sowie  im  Braunschweigischen,    wo  die  Majorate  herrschten,    gegen  ein  Zuviel  des 


Kleine  Mitteilungen.  335 

Kindersegens  gewirkt  wurde.  Das  bekannte  Zweikindersystem  war  auch  hier  bei 
den  reicheren  Bauern  allgemein  verbreitet  und  da  ist  es  möglich,  dass  neben 
bekannten  Abortivmitteln  auch  einmal  Zauber-  und  Sympathiemittel  angewendet 
wurden,  eben  in  der  Form  der  jetzt  entdeckten  „Puppen",  wiewohl  über  die  Art 
ihrer  Anwendung  nichts  verlautet  und  diese  uns  daher  unbekannt  bleibt,  falls  nicht 
durch  Analogien  Licht  darauf  geworfen  wird. 

Die  vier  in  der  Beilade  aufgefundenen  „Puppen"  haben  eine  Länge,  welche 
zwischen  20  und  28  cm  wechselt;  sie  sind  sehr  flach  und  2—4  cm  breit.  Der 
Körper  derselben  besteht  aus  einem  mürbe  gewordenen,  die  Zeichen  des  Alters  an 
sich  tragenden  Holzspan  von  wenigen  Millimetern  Dicke.  Dieser  ist  mehrfach  mit 
einem  „plünnen"  (Lappen)  von  grober,  weisser  Bauernleinwand  umwickelt,  gleichsam 
bekleidet  und  mit  kreuzweis  angelegten  Fäden  überbuaden.  Die  Figuren  sind 
ungleich  gearbeitet,  wie  schon  aus  den  Abbildungen  hervorgeht;  am  sorgfältigsten 
ist  die  grösste  (in  der  Mitte),  bei  welcher  durch  die  Wickelung  der  Leinwand  und 
die  Umschnürung  mit  dem  Faden  eine  Art  Kopf  hergestellt  ist.  Ein  Exemplar, 
das  ich  öffnen  durfte,  enthielt  ausser  dem  Holzspan  am  oberen  Ende  desselben 
eine  schwarze,  bituminöse,  brennbare  Mas-^e;  auch  war  ein  roter  Farbenfleck  von 
der  Grösse  eines  Zehnpfennigstückes  an  dem  Spane  bemerkbar. 

Wiewohl  ich  mit  dem  Leben  und  dem  Aberglauben  unserer  niedersächsischen 
Bauern  genau  bekannt  bin,  stehen  diese  „Zauberpuppen"  für  mich  doch  als  ünica 
und  ohne  Analogie  da.  Vielleicht  tragen  aber  diese  Zeilen  dazu  bei,  weitere  Auf- 
klärung herbeizuführen.  Die  Deutung  des  Zweckes  beruht  einzig  auf  der  Aussage 
des  alten  Krügers  in  Brodel  und  diese  müssen  wir,  ehe  anderes  erwiesen,  vor  der 
Hand  achten.  Ich  will  aber  noch  eine  Vermutung  hier  anführen:  Die  Puppen 
wurden  in  der  Beilade  der  Truhe  gefunden,  wo  der  Bauer  sein  Geld  aufbewahrt. 
Könnten  sie  da  nicht  als  eine  Art  von  .,Heckemännchen"  zur  Vermehrung  und 
Bewahrung  des  aufgestapelten  Schatzes  gedient  haben? 


>Vie  im  Liineburgischeu  Pferdekolik  gelieilt  wird. 

„Düsse  Geschichte  is  lögenhaft  to  verteilen  —  aber  wahr  is  se  doch."  Mit 
diesen  Worten  wird  die  bekannte  Geschichte  vom  Wettlaufen  des  Hasen  und 
Swinegels  eingeleitet  und  ich  möchte  sie  auch  der  nachfolgenden  kurzen  Mitteilung 
voranstellen,  die  vollkommen  belegt  ist  und  die  ich  bei  einer  meiner  Heidfefahrten 
im  Sommer  189L)  in  dem  Städtchen  Wittingen  (Kreis  Isenhagen)  wiederholt  von 
verschiedenen  glaubwürdigen  Leuten  erzählen  hörte.  Man  versteht  sie,  wenn  man 
mit  dem  Glauben  der  Landbevölkerung  rechnet,  dass  es  sovyohl  Menschen  giebt 
„dei  annern  wat  andaun  könnt"  (böser  Blick  u.  s.  w.),  als  auch  solche,  denen 
Heilkraft  innewohnt,  entweder  von  Natur  aus,  oder  auch  durch  eine  besondere 
Handlung  erworben.  Um  den  letzteren  Fall  handelt  es  sich  hier  und  der  Vorgang 
der  Erwerbung  spielt  in  den  sechziger  Jahren  in  dem  Heidedörfchen  Gannerwinkel, 
das  etwa  7  km  nördlich  von  Wittingen  liegt. 

Dort  stand  um  jene  Zeit  die  Frau  des  Bauern  Alpers  kurz  vor  ihrer  Nieder- 
kunft; ihr  Mann  hatte  gehört,  dass  Neugeborene  durch  ein  besonderes  Verfahren 
die  Eigenschaft  erwerben  könnten,  die  Pferdekolik  zu  heilen  und  er  beschloss 
dasselbe  bei  dem  zu  erhofl"enden  Kinde  in  Anwendung  zu  bringen,  weil  damit  sich 
ein  Geschäft  machen  liess,  d.  h.  die  Kurkosten  bezahlt  werden  mussten.  Die 
Sache  verlief  nun  folgendermassen:  Sobald  das  Kind,  ein  Mädchen,  zur  Welt  kam, 
wurde  ein  Pferd  aus  dem  Stalle  in  die  Stube  der  Wöchnerin  geführt  und  das  noch 


336  Zacliariae: 

ungewaschene  neugeborene  Wesen  rittlings  auf  dasselbe  gesetzt;  dadurch  erhielt 
das  Mädchen  die  Kraft  nun  fürderhin  Pferdekolik  heilen  zu  können,  und  diese 
vermeintliche  Heilkraft  ist  denn  im  Laufe  der  Jahre  oft 'genug  ausgeübt  worden; 
von  weither  brachten  die  Landleute  nach  Gannerwinkel  kolikkranke  Pferde.  Das 
Mädchen  wurde  dann  vollständig  entkleidet  und  auf  den  Rücken  des  kranken 
Pferdes  gesetzt.  Im  übrigen  galt  dabei  der  niederdeutsche  Spruch:  „bat't  et  nich, 
so  schat't  et  nich."  Als  Witwe  K.  wohnt  das  mit  der  Heilkraft  begabte  Mädchen 
noch  heute  in  Wittingen;  dass  sie  aber  noch  jetzt  Pferdekolik  heile,  wird  nicht 
gesagt,  denn  es  scheint,  als  ob  mit  der  Verheiratung  die  Kraft  erloschen  sei.^) 
Braunschweig.  Richard  Andree. 


Zur  15.  Erzählung  des  Siddhi-Ktir. 

In  seiner  Abhandlung  über  die  Kraniche  des  Ibykus  in  der  Sage  (diese  Zeit- 
schrift 6,  115ff.)  hat  Gaetano  Amalfi  S.  121  ff.  eine  Erzählung  aus  dem  mongolischen 
Siddhi-Kür^)  mitgeteilt.  Die  Erzählung  führt  den  Titel:  Abaraschika,  das 
vielbedeutende  Wort.  Amalfi  bezeichnet  dieses  'vielbedeutende  W^ort'  als  ein 
erfundenes;  ebenso  nennt  es  Bernhard  Jülg  in  der  kleineren,  nur  die  Übersetzung 
enthaltenden  Ausgabe  der  Mongolischen  Märchen  S.  120  ein  erdichtetes  Wort. 
Allerdings  ist  das  Wort  erfunden  oder  erdichtet:  wie  es  aber  zu  stände  kam, 
kann  man  nur  verstehen,  wenn  man  die  Sanskritversion  der  Abaraschika-Geschichte 
vergleicht,  die  Julius  Eggeling  vor  nicht  langer  Zeit  im  Auszug  bekannt  gemacht 
hat  (siehe  GurupüjfikaumudT;  Festgabe  zum  fünfzigjährigen  Doktorjubiläum  Albrecht 
Weber  dargebracht  von  seinen  Freunden  und  Schülern;  Leipzig  1896,  S.  123,  wo 
auf  Jülgs  Mongolische  Märchen  S.  11  f.  verwiesen  wird).  Die  indische  Geschichte 
findet  sich  in  dem  Kathäprakäsa  des  Misra  Jagann ätha  und  führt  den  Titel 
Brähmanakathä.     Ihr  Inhalt  wird  von  Eggeling  wie  folgt  angegeben: 

'Zu  Zeiten  des  Bhojaräja  lebte  in  UjjayinT  ein  Brähmane,  der,  weil  ihm  nicht 
gleiche  Ehre  wie  dem  Kfilidäsa  erwiesen  wurde,  sich  mit  seinem  Diener  gleicher 
Kaste  auf  Reisen  begab.  So  kommt  er  zum  König  von  Kälanjara,  macht  ihm 
seine  ehrfurchtsvolle  Aufwartung  (taswai  ükhn  daitä)  und  wird  von  demselben 
reich  beschenkt  wieder  entlassen.  Auf  der  Heimreise  legt  er  sich  in  der  Hitze 
des  Tages    unter    einen  Feigenbaum    und    schläft  ein.     Da  wird  die  Geldgier    in 

1)  [In  Mecklenburg  begegnen  gleiche  Bräuche:  aus  üambeck  bei  Grabow  ist  berichtet, 
dass,  wenn  einem  Bauern  ein  Knabe  geboren  ist,  sogleich  ein  (mit  einer  Decke  belegtes) 
Pferd  in  die  Stube  geführt  und  der  Kuabo  für  einige  Augenblicke  darauf  gesetzt  wird. 
Er  bekommt  dadurch  die  Kraft,  Pferde,  welche  Kolik  haben,  zu  kurieren,  indem  er  sie 
reitet:  K.  Bartsch,  Sagen,  Märchen  und  Gebräuche  aus  Mecklenburg,  2,  42.  Ackermann 
berichtet  in  der  Monatsschrift  1T92,  S.  345:  Ein  eben  geborenes  (männliches)  Kind  setzt 
man  nackt  auf  ein  Pferd  und  führt  es  mit  demselben  auf  dem  Hofe  herum :  dadurch  haben 
alle  Pferde,  die  ein  solcher  Knabe  besteigen  wird,  das  beste  Gedeihen  und  selbst  kranke 
kuriert  er,  wenn  er  darauf  reitet.  Bartsch  2,  41.  -  Über  die  Macht  der  Nacktheit  über 
Tierkrankheiten  nach  nordindischeu  Gebräuchen  vgl.  meine  akademische  Abhandlung  Zur 
Geschichte  des  heidnischen  Eitus,  Berlin  1896,  S.  b<^.  K.  Weinhold.] 

2)  Die  Angabe  Amalfis,  der  Siddhi-Kür  sei  eine  Paraphrase  der  Sanskrit-Sammlung 
Simhäsanadvätrimsati,  beruht  auf  einer  Verwechslung.  Der  mongolische  Siddhi-Kür  ent- 
spricht der  indischen  Vetälapaucavimsati.  Zu  Amalfis  Aufsatz  über  zwei  orieutaHsche 
Episoden  in  Voltaires  Zadig  (oben  5,  71  ff.)  vergleiche  übrijjens  die  Doktordissertation  von 
Wilhelm  Seele,  Voltaires  Eoman  Zadig  ou  la  destinee.  Eine  Quellenforschung.  Leipzig 
1891,  bes.  S.  40  ff.  54  ff. 


Kleine  Mitteilungen.  337 

dem  Diener  wach;  und,  mit  dem  Fusse  auf  die  Skalplocke  des  Schlafenden  tretend, 
zieht  er  sein  Schwert,  um  dem  Schläfer  den  Kopf  abzuschlagen.  Von  dem  Schmerz 
erwacht  indes  der  Herr,  und  als  er  sieht  was  vorgeht,  bietet  er  dem  Diener  all 
sein  Gold  und  verspricht,  für  immer  ausser  Landes  gehen  zu  w^ollen.  Da  aber 
dieser  darauf  nicht  eingeht,  bittet  er  ihn,  wenigstens  seinem  Vater  eine  Botschaft, 
bestehend  aus  den  Silben  apra^ikhäh,  zu  überbringen.  Der  Bösewicht  willigt  ein 
und  versetzt  ihm  den  Todesstreich.  Der  Vater  aber  weiss  nun  mit  der  erhaltenen 
Botschaft  nichts  anzufangen  und  sucht  sich  beim  König,  als  dem  raturda.sarid'iäni- 
dhänam  [d.  h.  dem  Beherrscher  der  vierzehn  Zweige  des  Wissens],  Rats  zu  er- 
holen; aber  weder  er  noch  Kälidfisa  und  die  übrigen  Weisen  können  ihm  helfen. 
Da  wird  der  König  schwermütig  und  verschmäht  jedwede  Nahrung.  Ein  Weiser 
aber,  Namens  Vararuci,  der  sich  nicht  der  Verachtung  aussetzen  will,  dass  der 
König  auch  um  seiner  Unwissenheit  willen  stirbt,  verlässt  die  Stadt.  Während 
er  auf  einem  Feigenbaume  übernachtet,  erfährt  nun  auch  er  das  Geheimnis  von 
einem  Schakalweibchen,  das  seinen  sieben  Jungen  unter  den  bekannten  Umständen 
die  Geschichte  erzählt  und  wie  das  bewusste  Wort  aus  den  Anfangssilben  der 
pädas  [d.  h.  der  Versviertel]  des  verräterischen  Verses  bestehe: 

aneva  tava  pntrasi/a  jirasuptasya  vanäntare, 

.sikhäUl  äkramiju  pädena  k/iadgetia  nihatam  sh-afj, 

—  'Durch  diesen,  indem  er  mit  dem  Fusse  auf  dessen  Haarlocke  trat,  ist  deinem 
Sohne,  während  er  im  Walde  schlief,  mit  dem  Degen  das  Haupt  abgeschlagen 
worden.'  So  kommt  die  Unthat  an  das  Licht,  und  der  Mörder  wird  seiner  Habe 
für  verlustig  erklärt  und  des  Landes  verwiesen,  —  die  höchste  Strafe,  die  ihm  als 
Brfihmanen  widerfahren  kann.' 

Der  Kathäprakfitia,  dem  diese  Erzählung  entnommen  ist,  ist  nach  Eggelings 
Schätzung  (a.  a.  0 ,  S.  121)  nur  etwa  200  Jahre  alt.  Es  kann  keinem  Zweifel 
unterliegen,  dass  Jagannätha,  der  Kompilutor  der  Sammlung,  diese  Erzählung,  sowie 
sieben  andere  von  Eggeling  mitgeteilte  Erzählungen,  einem  weit  älteren  Werk 
entlehnt  hat.  Bis  jetzt  ist  dieses  Werk,  soviel  mir  bekannt,  noch  nicht  wieder 
aufgefunden  worden. 

Halle  a.  d.  S.  Theodor  Zachariae. 


Zweideutige  Fabeltiere.  —  Eine  Umfrage. 

Herr  Dr.  Bartels  hat  uns  in  seiner  Abhandlung  über  die  Fledermaus  und  den 
Maulwurf  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  diese  Tiere  eine  zweideutige  Rolle  im 
Volksaberglauben  spielen.  In  England  tritt  dieser  Gegensatz  noch  schärfer  hervor; 
in  der  Grafschaft  Shropshire  nach  Burne  (Shropshire  Folklore)  werden  Fledermäuse 
im  Süden  für  heilig  gehalten,  im  Norden  gar  getötet. 

Dieser  Fall  ist  aber  gar  nicht  vereinzelt,  und  es  scheint  mir  deswegen  zweifel- 
haft, ob  wir  die  Theorie  der  Einwandening  von  fremden  Ideen  für  eine  hin- 
reichende Erklärung  halten  können.  In  Wales  ist  z.  B.  nach  Owen  (Welsh  Folk- 
lore, S.  340)  ein  Bienenschwarm  von  übler  Bedeutung,  wenn  er  in  ein  Haus  kommt; 
dagegen  wird  dies  in  Haferfordwest,  Hawarden,  anders  ausgelegt.  Krähen,  Grillen, 
weisse  Pferde  etc.  sind  ebenfalls  zweideutig. 

Wie  sollen  wir  diese  Gegensätze  erklären?  Nicht  unwichtig  ist  die  Thatsache, 
dass  einige  Tiere,  z.  B.  der  Hase,  örtlich  für  heilig  gehalten  werden;  anderswo 
werden  sie  ohne  Umstände  getötet  und  gegessen.  Als  dritte  Thatsache  kann  viel- 
leicht hinzugefügt  werden,  dass  einige  Tiere,  welche  gewöhnlich  geschont  werden, 


338 


Schütte: 


doch  einmal  im  Jahre  wie  der  Zaunkönig  in  England,   Frankreich  u.  s.  w.  gejagt 

werden. 

Ura  eine  genügende  Erklärung  zu  finden,  müssen  wir  diese  drei  Klassen  be- 
rücksichtigen, und  eine  möglichst  grosse  Anzahl  Beispiele  zur  Verfügung  haben. 
Ich  möchte  also  Sachverständige  um  Auskunft  über  folgende  Punkte  bitten: 

1.  Sind  folgende  Tiere  jemals  von  guter  Bedeutung  und  wo?  Dohle,  Eule, 
Gans,  Hase,  Katze,  Krähe,  Kiebitz,  Schimmel,  Schwein,  Wiesel. 

2.  AVas  ist  die  Bedeutung  folgender?  Biene,  Elster,  Fledermaus,  Fuchs, 
Grille,  Maulwurf,  Schaf,  Schlange,  Schwalbe,  Wolf. 

3.  Werden  obige  oder  andere,  welche  gewöhnlich  geschont  werden,  einmal 
im  Jahre  gejagt,  getötet  oder  mit  besonderen  Umständen  gegessen?  Oder 
werden  sie  für  heilig  gehalten? 

4.  In  welchen  Fällen  spielt  die  Farbe  eine  grosse  Rolle?  Sind  z.  B.  schwarze 
Katzen,  Schafe  u.  s.  w.  willkommene  Gäste? 

Denjenigen,  die  bereit  sind,  mir  noch  weiter  behilflich  zu  sein,  will  ich  auf 
Wunsch  einen  besonderen  Fragebogen  über  Tieraberglauben  zuschicken.  Ich 
möchte  aber  alle  bitten,  die  mir  über  die  Bedeutung  auch  nur  eines  einzelnen 
Tieres  im  Volksaberglauben  Auskunft  geben  wollen,  dies  mit  A^igabe  des  Ortes, 
wo  der  Aberglaube  herrscht,  zu  thun. 

Kiel,  Feldstr.41.  N.  W.  Thomas. 


Eine  l)raunschweigische  Fastnachtfeier  vor  fünfzig  Jahren. 

Die  Feier  der  Fastnacht  in  Nord-Deutschland  hat  heutiges  Tages  viel  von 
ihrem  früheren  Glänze  eingebüsst.  In  den  Städten  des  Herzogtums  Braunschweig 
merkt  man  gar  nichts  mehr  davon  und  auf  dem  Lande  wenig.  Grössere  Feiern 
sind  mir  nur  aus  Wahrstedt  bei  Öbisfelde  und  den  Ortschaften  am  Hilse  bekannt. 
Das  war  vor  fünfzig  Jahren  noch  anders.  Damals  feierte  man  den  Abschied  von 
der  freudenvollen  Zeit  mehrere  Tage  lang.  So  thaten  sich  in  Grasleben  bei  Helm- 
stedt die  Spinnklubs  zu  gemeinsamer  Feier  zusammen.  Die  jungen  Burschen 
kauften  ein  Kalb,  das  in  Gesellschaft  der  jungen  Mädchen  in  der  Wirtschaft  ver- 
zehrt wurde.  Ausserdem  ass  man  dort  die  Würste,  die  man  auf  dem  Bittgange 
bei  den  Bauern  gesammelt  hatte,  i)  Denn  jeder  derselben  gab  gern,  man  suchte 
sogar  eine  Ehre  dann,  die  beste  Mettwurst  herzugeben.  Neben  der  Jugend  nahmen 
auch  die  älteren  Besitzer  willig  an  der  Feier  teil.  Zwei  Nächte  wurden  ganz  dem 
Tanze  gewidmet,  die  Tage  aber  mit  Lust  und  Freude  hingebracht.  Da  tneb  man 
ohne  Rücksicht  auf  das  Wetter  unter  allgemeiner  Teilnahme  der  Bewohner  auf 
der  offenen  Dorfstrasse  seinen  Mummenschanz.  Verkleidete  Leute  zogen  unter 
anderm  umher,  die  fremde  Vögel  zum  Verkaufe  anboten.  Sie  ahmten  dabei  die 
Art  der  Verkäufer  auf  den  Märkten  nach,  indem  sie  ihre  gefärbten  Spertinge  wegen 
ihrer  Kunst  im  Singen  lobten.  Andere  zeigten  als  Seltenheit  weisse  Mäuse  und 
gefärbte  Kaninchen  vor,  die  angeblich  aus  fernen  Erdteilen  bezogen  waren.  Auch 
Orgelmänner  fehlten  nicht.  Als  Orgeln  dienten  Käsebauer,  die  mit  einer  Sofadecke 
verhüllt  waren.  Einen  Krickel  (Gnff)  hatte  man  sich  selbst  dazu  gemacht  und 
schlug  damit  an  Glocken  von  verschiedenem  Klange,  die  man  im  Bauer  aufgestellt 
hatte.  Es  wurden  auch  Bilder  gezeigt  und  erläutert.  Bei  einem  dieser  nef  der 
Erklärer  begeistert  aus: 


1)  R.  Andree,  Brauiischweiger  Volkskunde.     Brauuschweig  1896.     S.  237. 


Kleine  Mitteilungen.  339 

„Hier  rüsten  sich  die  deutschen  Soldaten 
Zum  Schutze  ihrer  Staaten. 
Sie  wagen  mit  fröhlichem  Mut 
Für  ihren  Landesherrn  das  Blut." 

Allgemeine  Heiterkeit  erregte  die  russische  Schlittenfahrt,  die  bei  Schnee  durch 
das  ganze  Dorf  gemacht  wurde.  Den  Schlitten  stellte  man  sich  dadurch  her,  dass 
man  in  das  Ende  eines  langen  Leiterbaumes  ein  Loch  schlug,  eine  Stange  darein 
steckte  und  auf  diese  ein  Wagenrad  legte,  das  mit  einer  Seite  die  Erde  berührte. 
Zwei  Männer  setzten  sich  darauf,  vor  den  Baum  wurde  ein  Pferd  gespannt,  und 
die  lustige  Fahrt  begann. 

Beim  Tanze  abends  auf  dem  Saale  durchdrang  plötzlich  die  Menge  der  Ruf, 
es  sei  einer  krank  geworden.  Man  schickte  nach  einem  Arzte.  Dieser  eilte  sofort 
herbei  und  nahm  eine  Untersuchung  vor.  Dabei  stellte  sich  heraus,  dass  der  Er- 
krankte an  einem  Bandwurme  leide.  Dies  festzustellen  war  nicht  schwierig,  denn 
der  angeblich  Kranke  hatte  aus  der  etwas  aufgetrennten  hinteren  Hosennaht  ein 
kleines  Ende  weisses  Band  heraushängen,  dessen  Knäuel  in  seiner  Hose  verborgen 
war.  Der  Bandwurm  musste  entfernt  werden,  wenn  der  Kranke  gerettet  werden 
sollte.  Zu  dem  Zwecke  wurde  ein  Haspel  herbeigeschaft  und  der  Wurm  auf- 
gehaspelt.^) Doch  der  Kranke  überstand  die  Operation  nicht,  er  starb  und  musste 
begraben  werden.  Zu  der  Beisetzung  erschien  ein  Pastor  und  hielt  ihm  folgende 
Grabrede-): 

„Hier  unter  diesem  Leichonstciu,  Denn  seine  Saat  war  ringsumher 

Da  ruiit  der  Doktor  Klapperbein,  Auf  guten  Grund  gefalltMi, 

Gesegnet  von  uns  allen.  Für  Hass,  Neid  und  Hader, 

Sein  Tod  allhier  ward  ihm  nicht  scliwer,        Für  Doktor,  Feldscher  und  für  Bader. 
Dieser  Eingang  steht  geschrieben  im  fünften  Buche  der  Lehmklicker: 
David  und  Salomo  waren  grosse  Sünder. 
Sic  liebten  hübscl)e  Weiber  und  hatten  viele  Kinder. 

Was  nun  unseren  alten  verstorbenen  Mitbruder  anbelangt  und  anbet.nfft,  so 
hatte  derselbe  vorn  eine  Flasche  und  hinten  ein  Saufhaus.  Sein  Vater  war  der 
ehr-  und  werteste  Hans  Steffen,  Schweineschneider  hierselbst;  seine  Mutter  war 
die  brave  Rauwaldstochter  aus  Vogelsdorf.  Diese  beiden  Eltern  haben  einen  vor- 
trefflichen Sohn  gezeugt,  so  dass  er  aufs  hundertste  Mal  abgebildet  worden,  weil 
er  so  schön  war,  denn  er  war  wie  eine  gewälzte  Sau  und  wie  ein  abgebleichter 
Kulkrabbe.  Summa:  seine  Gestalt  war  wie  ein  Schweinigel.  Als  er  nun  ein  wenig 
herangewachsen  und  zu  Verstände  gekommen  war,  haben  ihn  seine  Eltern  auch 
fleissig  zur  Kirche  und  Schule  gehalten.  Da  hat  er  denn  das  ABC-Buch  wohl 
drei-  bis  viermal  durchstudiert  bis  an  den  Hals,  aber  in  den  Kopf  war  nichts 
hineingekommen.  Hierauf  haben  ihn  seine  Eltern  in  ein  Dorf  gebracht  beim 
Schweinehirten,  um  allda  das  Handwerk  zu  erlernen.  Da  hat  er  sich  auch  recht 
treu  und  fleissig  gehalten,  so  dass  der  Knüppel  keine  Klage  über  ihn  geführt  hat. 
Nun  ist  er  krank  geworden  und  hat  sich  Knall  auf  Fall  niedergelassen  auf  das 
linke  Ohr  und  die  rechte  Arschbacke.  Da  hat  man  es  ihm  an  kräftiger  Medizin 
nicht  fehlen  lassen,  nämlich:   Glockenklang  und  Vogelgesang,   das  Eingeweide  aus 


1)  [Da  im  medizinischen  Volksaberglauben  den  Würmern  im  Menschen  sehr  viele 
Krankheiten  zugeschrieben  wurden,  bilden  die  Wurmsegen  einen  grossen  Teil  der  Heilsegen. 
Der  operative  Eingriff  gegen  die  dämonischen  Würmer,  das  Wurmschueiden,  ist  Satire.    K.  W.J 

2)  [Die  travestierten  Predigten  sind  alt  und  volkstümlich,  waren  namentlich  zur  Fast- 
nacht beliebt  bei  dem  Begräbnis  der  Fastnacht  oder  des  Fasching  und  waren  meist  nicht 
sauber.    K.  W.] 


340  Hein: 

einer  Mücke  und  das  Gerumpel  von  einer  Brücke.  ^)  Dies  alles  hat  man  in  einem 
hörnernen  Mörser  mit  einem  rauhen  Fuchsschwänze  zu  Pulver  gestossen  und  dem 
Patienten  fein  nüchtern  drei  Wochen  vor  Michaelis  eingegeben.  Als  nun  alle  diese 
kräftige  Medizin  nicht  anschlagen  wollte,  liess  er  sein  Testament  machen.  Seinem 
Vater  vermachte  er  seine  alte  geflickte  Hose,  der  Köchin  die  Lauseharke  und  der 
Magd  ein  paar  alte  Zähne  und  ein  paar  alte  Schuhschnallen." 

So  vergnügte  sich  ehemals  das  Volk,  und  die  Alten  erinnern  sich  mit  vieler 
Freude  des  lustigen  Spieles. 

Braunschweig.  Otto  Schütte. 


Büclieraiizeigen. 


Das  deutsche  Volkslied.  Zeitschrift  für  seine  Kenntnis  und  Pflege.  Unter 
der  Leitung-  von  Dr.  Josef  P omni  er  und  Hans  Fraungruber.  Her- 
ausgegeben von  dem  Deutschen  Volksgesang-Vereine  in  Wien.  1.  Jahrg. 
1.  und  2.  Heft.     Mai  1899.     8».     S.  1—20. 

Soeben  erschien  das  erste  Doppelheft  dieser  neugegründeten  Zeitschrift,  welche 
den  Freunden  des  deutschen  Volksliedes  eine  bisher  schwer  vermisste  Führerin 
zur  Erkenntnis  echten  Volksgesanges  werden  soll.  Der  als  Herausgeber  genannte 
Verein,  der  gerade  vor  einem  Jahrzehnt  gegründet  wurde,  hat  schon  durch  eine 
Reihe  von  Plugschriften  das  Verständnis  für  unverfälschte  Volksweisen  in  weiteren 
Kreisen  zu  wecken  verstanden  und  sich  in  der  kurzen  Zeit  seines  Bestandes  auch 
in  der  wissenschaftlichen  Welt  eine  anerkannte  Stellung  errungen.  Die  Zeitschrift 
wird,  wie  Dr.  Pommer  im  Begleitworte  „Was  wir  wollen"  verspricht,  ausserdem 
Liede  auch  lyrisch-epische  Volksballaden,  Sagen  und  Märchen  behandeln,  da  sie 
doch  den  Nährboden  bilden,  aus  dem  der  lebensfrohe  Quell  des  Volksliedes  ent- 
springt. „Und  wenn  sichs  gerade  ergiebt,  wird  vielleicht  auch  einmal  ein  Wörtlein 
über  volkstümliche  Musikinstrumente  (Hackbrett,  Schwegel),  über  Tanz  und  Tracht, 
über  Brauch  und  Sitte,  über  Sprache  und  Leben  unseres  Volkes  gesagt  werden 
dürfen  — ."  Der  Begriff  des  Deutschtums  soll  so  weit  als  möglich  gefasst  werden, 
so  dass  auch  das  Lied  der  nordischen  Germanenstämme,  der  Dänen,  Schweden, 
Norweger  und  Angelsachsen  ab  und  zu  eine  Besprechung  erfahren  wird.  Sollte 
diesen  Leitgedanken  thatsächlich  in  jeder  Hinsicht  entsprochen  werden,  woran  zu 
zweifeln  gar  kein  Grund  vorliegt,  so  wird  diese  neueste  Zeitschrift  auch  von  den 
volkskundlichen  Forschern  eine  volle  Beachtung  finden  müssen. 

Die  Reihe  der  grösseren  Aufsätze  eröffnet  Hans  Fraungruber  mit  einer  Ab- 
handlung: „Wie  der  Steirer  singt",  die  mit  viel  Wärme  und  wahrem  Gefühl  ge- 
schrieben ist.  Die  doppelte  Aufgabe  der  Zeitschrift,  nicht  nur  der  Kenntnis,  sondern 
auch  der  Pflege  des  Volksliedes  zu  dienen,  kommt  gerade  in  den  Ausführungen 
Fraungrubers  schön  zum  Ausdrucke,  und  es  sei  gestattet,  besonders  auf  den 
Schluss  derselben  zu  verweisen:  „Um  der  Verfälschung  des  echten  Volksgesanges 


1)  [Derartige  immögliche  Rezepte  sind  ein  alter  Volkswitz.] 


Bücheranzeigen.  341 

im  Volke  selbst  wirksam  zu  begegnen,  sollten  die  Landschulen  fleissig  das  echte 
Volkslied  und  gute  Lieder  im  Volkstone  pflegen.  Da  die  hochdeutsche  Sprache 
im  Lese-  und  Realienunterricht  genugsam  zu  ihrem  Rechte  kommt,  lasse  man  die 
Jugend  ohne  Bedenken  im  Dialekte  singen."  Von  den  übrigen  Mitteilungen  dürfte 
die  merkwürdige  Akkordfolge  eines  Jodlers  von  Gross-Hollenstein  in  Nieder-Öster- 
reich  am  meisten  Beachtung  verdienen,  weil  sie  einen  tieferen  Einblick  in  das 
Wesen  derartiger  Jodler  gestattet.  Von  grossem  Nutzen  endlich  wird  die  ver- 
dienstliche Zusammenstellung  von  Fundorten  und  Quellen  sein,  in  welcher  vorerst 
Orte  und  Liedkundige  angeführt  werden,  welche  Dr.  J.  Po  mm  er  sich  bei  seinem 
zweijährigen  Aufenthalte  (1889  und  1891)  in  Tirol  angemerkt  hat. 

Floridsdorf.  Dr.  Wilhelm  Hein. 


Mitteilungen  der  Gesellschaft  für  jüdische  Volkskunde.  Herausgegeben 
von  M.  Grunwald.  Heft  2  und  3.  Hamburg,  Selbstverlag-  der  Ge- 
sellschaft, 1898.     SS.  89.  90.     8». 

Dem  im  vorigen  Jahre  besprochenen  1.  Hefte  sind  schnell  zwei  andere  gefolgt. 
Der  Herausgeber,  Herr  Rabbiner  Dr.  Grunwald,  giebt  in  denselben  eine  Anzahl 
„Märehen  und  Sagen  der  deutschen  Juden"  aus  den  alten  Maasch  (Ge- 
schehnis) Büchern.  Dieselben  sind  in  das  Hochdeutsche  übertragen  und  zum  Teil 
stark  verkürzt.  Geht  dadurch  allerdings  der  Reiz  der  ursprünglichen  naiven  Dar- 
stellung einigermassen  verloren,  so  ist  es  doch  —  wie  in  der  vorigen  Besprechung 
hervorgehoben  wurde  —  günstiger,  als  wenn  nur  der  nicht  allzuleicht  verständliche 
Urtext  gegeben  würde.  Ein  jüdisch-deutsches  Gedicht  aus  Galizien  und  ein  alter- 
tümliches Lied  aus  Süd-Deutschland  werden  ebenfalls  mitgeteilt.  Der  Herausgeber 
bildet  das  Eigenschaftswort  von  der  ersteren  Landschaft  stets  „galizianisch";  uns 
scheint,  dass  dies  Wort  mehr  für  das  spanische  Galizien  üblich  ist,  während  man 
für  das  polnische  Königreich  „galizisch"  zu  gebrauchen  pflegt,  i)  Leo  Wiener 
(Harvard  üniversity)  bringt  eine  Sammlung  von  Wiegenliedern,  Abzählversen  und 
dergl.  „aus  der  russisch-jüdischen  Kinderstube".  Sollte  er  dieselben  in  Amerika 
bei  Einwanderern  gesammelt  haben?  Für  Volkstrachten  und  Sitten  ist  wichtig  ein 
Auszug  aus  der  Gemeinde-Ordnung  der  „Drei-Gemeinden",  d.  i.  Hamburg,  Wands- 
beck und  Altona  1726:  ^Einer  Kindbetterin  soll  es  untersagt  sein,  in  ihrem  Zimmer 
oder  um  dem  Bette  herum  allerhand  Silberzeug  oder  golden  Geschirr  auszuzieren 
oder  auch  sich  selbst  mit  Diamanten  oder  Perlen  zu  schmücken."  „Frauenspersonen 
sollen  überhaupt  nicht  in  die  Opera  gehen."  „Bei  Verlöbnissen,  Hochzeiten  und 
dergl  sollen  keine  Kapphühner,  Konfekturen,  Mandeln  und  Prünellen-Torten,  Pleven 
und  dergl.  übermässig  kostbare  Speisen  aufgesetzt  werden."  Dr.  Löwenstein  bringt 
einige  Kalloh-Lieder  (Hochzeitcarmina)  aus  dem  vorigen  Jahrhundert,  wie  sie  der 
Marschallik  (Spassmacher)  improvisierte.  Dr.  A.  Landau  schildert  Kinderspiele 
aus  Ostgalizien.  Unserem  früher  ausgesprochenen  Wunsche  nach  Beifügung  von 
Erklärungen  und  Verdeutschungen  ist  der  Herausgeber  in  reichlichem  Masse  nach- 
gekommen. Auch  Rechtsurkunden  werden  abgedruckt,  z.  B.  Schutzbriefe  (wovon 
der  Ausdruck  „Schutzjude"  stammt)  aus  Schlesien  und  Baden  um  das  Jahr  1800. 
An  Abbildungen  findet  sieh  unter  anderem  eine  von  Herrn  Justus  Brinkmann  aus 
dem  Hamburger  Museum  für  Kunst  und  Gewerbe  mitgeteilte  Seder-Schüssel,  wie 
sie  beim  Familienmahl  am  Vorabend  des  Oster-  (Pessach)  Festes  gebraucht  wird. 


1)  [In  Österreich  ist  galizianisch  übhch.    K.  W.J 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1899. 


342  Weinhold: 

Die  Mitgliederzahl    des  Vereins    ist  in   erfreulichem  AVachstum  begriffen,    be- 
sonders in  Hamburg. 

Berlin,  Georg  Minden. 


Höfler,  M.,  Dr.,    Deutsches  Kranklieitsnamen-Bucli.     Müncheu,  Piloty  und 
Loehle,  1899.     S.  XL  922.     Lex.  8°. 

Herr  Hofrat  Dr.  M.  Höüer  in  Tölz  ist  durch  seine  Arbeiten  über  Volksmedizin 
und  Volkskunde  längst  in  weiteren  Kreisen  geschätzt.  In  dem  grossen-  Buche, 
das  er  neuerdings  abgeschlossen  hat,  legt  er  die  Arbeit  langer  Jahre  vor,  mit  der 
er  „die  seit  ungezählten  Generationen"  im  Volke  üblichen  deutschen  Krankheits- 
namen den  gelehrten  Ärzten  deuten  und  auch  den  Sprach-  und  Mythenforschern 
und  den  Naturkundigen  Dienste  leisten  will.  Übrigens  hat  er  sich  über  die  Krank- 
heitsnamen hinaus  auf  die  volkstümlichen  Benennungen  der  körperlichen  Organe 
und  ihrer  Punktionen  ausgedehnt  und  mit  besonderer  Liebe  die  mit  heidnischem 
und  kirchlichem  Kultus  und  Zauber  zusammenhängenden  Krankheits-  und  Arznei- 
namen verfolgt.  Bemerkt  sei,  dass  auch  die  Tierarznei  berücksichtigt  worden  ist, 
schon  aus  dem  Grunde,  dass  der  volkstümliche  Wortschatz  hier  besonders  alt  und 
gut  erhalten  ist.  So  bietet  er  den  Ärzten,  den  Kulturhistorikern,  den  Volks-, 
Sprach-  und  Naturforschern  eine  ungemessene  Fülle  von  Belehrung  und  von  nutz- 
barem Stoff.  Mit  grosser  Gewissenhaftigkeit  hat  er,  der  Arzt  von  Beruf,  sich  be- 
strebt, der  sprachlichen  oder  philologischen  Seite  der  Aufgabe  gerecht  zu  werden, 
und  aus  guten  Büchern,  namentlich  aus  F.  Kluges  Etymologischem  Wörterbuche, 
sowie  durch  unmittelbare  Anfragen  bei  Kundigen,  zuverlässige  und  richtige  lexikale 
Auskunft  zu  gewinnen.  So  gewährt  er  einen  weiten  und  sicheren  Ausblick  in  die 
Entwicklung  der  in  der  Sprache  zum  Ausdruck  gekommenen  Vorstellungen  von 
den  Störungen  und  Vernichtungen  des  leiblichen  Lebens,  sowie  von  den  Mitteln 
sie  zu  mildern  und  heilen. 

Auffiel  mir,  dass  der  von  Dr.  H.  selbst  als  Krankheitspatron  genau  beob- 
achtete heilige  Leonhart,  ebenso  S.  Stephan  in  dem  Buche  fehlen,  während  S. 
Fiacrius  (S.  137),  S.  Valentin  (S.  764)  und  S.  Veit  (S.  765)  erwähnt  werden.  Ferner 
dass  die  Verwendungen  von  Nadel  und  von  Nagel  in  der  sympathetischen  Medizin 
keine  Stelle  im  Buche  fanden,  und  ebenso  dass  die  Nacktheit  bei  mystischen 
Heilgebräuchen  übergangen  ist.  Unter  Segen  (S.  631)  hätten  die  verschiedenen 
Arten  der  Segen,  z.  B.  Augensegen,  Blutsegen,  Fiebersegen,  Gichtsegen,  Viehsegen, 
Wundsegen,  Wurmsegen,  Zahnsegen  genauer  aufgezählt  werden  können.  —  Die 
Etymologie  von  Mais  (md.  nd.  Meise,  Mese)  vulva  S.  387b  wird  wohl  auf  die  W. 
mfgh  (vgl.  nd.  migen,  lat.  mejere,  mingere)  führen. 

Wir  können  dem  Herrn  Verf.  für  seine  grosse  und  wertvolle  Arbeit  nur  danken 
und  empfehlen  sein  Krankheitswörterbuch  auf  das  wärmste.         K.  Wein  hold. 


Schnurren,  Schwanke  und  Erzählungen  von  der  Insel  Rügen.  Ge- 
sammelt imd  herausgegeben  von  Dr.  A.  Haas.  Greifswald,  Jul.  Abel, 
1899.     S.  VIIL  139.     8°. 

Herr  Dr.  A.  Haas  in  Stettin  hatte  bei  der  2.  Auflage  seiner  Rügenschen  Sagen 
und  Märchen  (Stettin  1896)  nicht  alles,  was  er  gesammelt,  verwenden  können,  weil 
der  Umfang  des  Buches  sich  in  bestimmtem  Masse  halten  musste.  Inzwischen  ist 
sein  Vorrat    weiter  gewachsen  und  so  hat  er,    um  eine  3.  in  Aussicht  genommene 


Bücheranzeigen.  343 

Auflage  zu  entlasten,  sich  entschlossen,  einen  Teil  des  gesammelten,  der  durch 
den  schwankhaften  oder  an  das  komische  und  lustige  anstreifenden  Charakter  ein 
gewisses  Ganzes  bildet,  auszusondern  und  unter  obigem  Titel  für  sich  herauszu- 
geben. Eine  kleine  Sammlung  von  Rätseln  und  Ortsneckereien  ist  beigefügt.  Die 
Herkunft,  mündliche  und  zuweilen  schriftliche,  ist  angemerkt.  Wir  begegnen 
manchen  Varianten  verbreiteter  Geschichten,  anderes  ist  örtlich  rügisch.  Jedenfalls 
wird  das  Büchlein  den  Einheimischen  wie  den  Sommergästen  gefallen.  Mit  den 
Schwänken  und  Schnurren  aus  Bauernmund,  von  Ulrich  Jahn,  Berlin  1889, 
berührt  es  sich  nicht.  K.  W. 


Sebillot,  Paul,  Legendes  locales  de  la  Haut-Bretagne.  I.  Partie 
Le  Monde  physique.  Nantes,  Societe  des  Biblioj)hiles  Bretons,  1899. 
S.  XI.  186.     8°.     (Tire  ä  400  exemplaires  numerotes.) 

Das  vorliegende  Buch  ist  nach  des  Verfassers  eigenen  Worten  die  fast  logische 
Folge  seiner  Petite  legende  doree  (Unsre  Zeitschrift  VII,  450).  Wie  diese  die 
Sagen  von  den  Heiligen  der  Bretagne  unter  dem  Gesichtspunkte  ihrer  Anknüpfung 
an  bestimmte  Orte  sammelte,  so  wollen  die  Legendes  locales  de  la  Ilaute-Bretagne 
die  an  bestimmte  Stätten  gehefteten  Überlieferungen  über  eigentümliche  Erschei- 
nungen in  der  Natur  des  Landes  zusammentragen,  von  Ungeheuern,  die  in  der 
Vergangenheit  hier  Schrecken  verbreiteten,  von  alten  merkwürdigen  Bauten,  welche 
die  Phantasie  erregten,  auch  von  mehr  oder  minder  geschichtlichen  Ereignissen, 
die  in  der  Hoch-Bretagne  gespielt  haben  sollen.  Was  sonst  hier  ähnliches  erzählt, 
aber  nicht  lokalisiert  ist,  hat  Herr  P.  Sebillot  weggelassen. 

Der  erste  vorliegende  Teil  enthält  die  Erzählungen,  welche  aus  den  Ein- 
drücken entsprangen,  die  auf  einfache  Leute  die  Natur  ihrer  Heimat  hervorgebracht 
hat:  1.  das  Meer,  2.  die  Landschaft  (die  Heiden,  Felsen  und  Grabhügel,  Eindrücke 
in  Steinen,  Höhlen,  Berge,  AVälder  und  besondere  Bäume),  3.  die  Gewässer  (Quellen, 
Bäche,  Seen,  Moore,  Schluchten  und  Erdfälle),  zuletzt  4.  Drachensagen.  Der  Verf. 
konnte  zum  guten  Teil  aus  seinen  früheren  zahlreichen  Werken,  besonders  aus 
den  Traditions  et  Superstitions  de  la  Haute-Bretagne  (Paris  1882)  schöpfen;  doch 
ist  auch  einiges  neu  gesammelt  worden.  Paul  Sebillot  hat  seiner  geliebten  Heimat 
ein  neues  Zeichen  seiner  patriotischen  Anhänglichkeit  durch  dieses  Werk  gegeben. 

K.  W. 


Se'billot,  Paul,  LaVeillee  deNoel,  piece  en  un  acte.    Deuxieme  edition. 
Paris,  J.  Maisonneuve,  1899.     S.  30.     S". 

Auf  dem  Odeontheater  in  Paris  ist  am  Weihnachtabend  1898  das  kleine  Stück 
aufgeführt  worden,  das  für  uns  Deutsche  dadurch  von  besonderem  Interesse  ist, 
dass  es  zu  einer  Vergleichung  mit  unseren  volkstümlichen  Weihnacht-  oder  Christ- 
kindspielen auffordert.  Während  diese  ihren  Ursprung  in  der  mittelalterlichen 
Liturgie  haben  und  durch  Jahrhunderte  mit  mannigfachen  Veränderungen,  aber 
doch  mit  demselben  Grundplan  sich  erhielten,  jüngst  auch  wirkungsvolle  Erneuerung 
auf  Privatbühnen  erfuhren,  wie  im  letzten  Dezember  in  Breslau  durch  die  Schlesische 
Gesellschaft  für  Volkskunde,  hat  in  der  Veillee  de  Noel  aus  eigenstem  heraus 
unter  Verwertung  volkstümlicher  Überlieferungen  ein  gelehrter  Kenner  des  fran- 
zösischen und  bretonischen  Volkes  eine  dramatische  Scene  entworfen,  die  von 
Schauspielern  des  Odeon  dargestellt  worden  ist.     Herr  Paul  Sebillot  versetzt  uns  in 


344  Mlelke: 

ein  Dorf  der  Bretagne  auf  der  Sprachgrenze  von  Bretonisch  und  Französisch.  Der 
Grossvater  ist  mit  seiner  Familie  am  Weihnachtabend  vor  dem  Kamin  versammelt 
und  jeder  erzählt,  um  die  Zeit  vor  der  Christmesse  hinzubringen,  aus  dem  Sagen- 
haften, das  sich  an  diese  heilige  Nacht  in  der  Bretagne  geheftet  hat,  ein  Stück: 
der  Grossvater  von  dem  Tode,  der  in  der  Kirche  während  der  Messe  diejenigen 
mit  seinem  Ringe  berührt,  die  im  beginnenden  Jahre  sterben  sollen;  Francois  von 
den  sprechenden  Tieren  dieser  Nacht;  Jean  von  dem  Habgierigen,  der  bei  den 
dann  offenen  Schätzen  der  Erde  seinen  Tod  findet;  Marianne  dagegen  weiss  die 
Geschichte  eines  armen  braven  Burschen,  der  von  den  reichen  Eltern  seiner  Ge- 
liebten schroff  abgewiesen,  in  der  Christnacht  zu  heiliger  Stunde  in  das  offene 
Meerschloss  sich  wagt  und  einen  Wunderring  gewinnt,  der  ihn  in  den  Besitz  grosser 
Reichtümer  und  der  Meerprinzessin  bringt;  Yvan,  der  kleine  Hirtenjunge,  erzählt, 
wie  in  dieser  Nacht  ein  buckliger  Schneider  durch  Zwerge  von  seinem  Höcker 
befreit  wird,  den  dafür  ein  anderer  vorn  auf  die  Brust  bekommt,  so  dass  dieser 
nun  zwei  Höcker  hat.  Fanchette  endlich,  die  Enkelin,  erinnert  sich  der  Erzählung, 
dass  eine  arme  Witwe,  die  einen  grossen  verunglückten  Sohn  zu  ernähren  hatte, 
durch  Strürapfestricken  und  Muschelsammeln,  zum  Weihnachtsfeste  krank  wird 
und  nicht  weiss,  wie  sie  für  sich  und  den  Sohn  etwas  verdienen  soll.  Da  stellt 
der  kindische  Sohn  seinen  Holzschuh  in  der  Christnacht  in  den  Kamin  und  betet 
am  offenen  Fenster.  Und  er  sieht  eine  Art  Wolke  vom  Meer  herüber  kommen 
und  sich  über  die  Hütte  senken.  Es  ist  ein  Schwärm  der  schönsten  Muscheln, 
deren  Verkauf  den  Bedrängten  Hilfe  bringt.  —  Das  Stück  schliesst  mit  einem 
Liede  herumziehender  Kinder,  das  unseren  Liedern  von  den  Hirten  auf  dem  Felde, 
welche  dem  Jesuskinde  ihre  Gaben  bringen,  ganz  verwandt  ist.  K.  W. 


Franz  Zell,  Bauem-Möbel  aus  dem  bayerischen  Hochland:  30  Tafeln 
mit  Text.     Frankfm-t  a.  M.,  Heinrich  Keller,  1899. 

Der  Herausgeber,  ein  in  München  lebender  und  wirkender  Architekt,  verfolgt 
seit  Jahren  die  Bauernkunst  seiner  engeren  Heimat,  die  er  für  eine  neuzeitliche 
Weiterbildung  nutzbar  machen  möchte.  Diesem  Bestreben  sollen  auch  in  erster 
Linie  die  schönen  Tafeln  dienen,  welche  in  dem  vorliegenden  Werk  der  Öffentlich- 
keit übergeben  werden  und  in  der  Wiedergabe  der  buntbemalten  und  geschnitzten 
Möbel  wohl  zu  dem  Besten  gehören,  das  auf  diesem  Gebiete  erschienen  ist.  Da- 
neben enthalten  Tafeln  und  Text  noch  soviel  Beiträge  zur  Volkskunde,  dass  sie 
auch  für  diese  wertvoll  werden.  —  Die  Entstehung  der  besonders  um  Tölz  herum 
heimischen  Kunst  lässt  sich  in  das  16.  Jahrhundert  zurückverfolgen;  seit  dieser 
Zeit  wurde  sie  von  einigen  Familien  bis  in  die  sechziger  Jahre  unseres  Jahr- 
hunderts hinein  ausgeübt.  Zur  Zeit  ihrer  Blüte  hatten  die  „Tölzer  Kasten"  einen 
Ruf,  der  sie  auf  die  Jahrmärkte  (Dulte)  von  Freising,  Passau,  München,  selbst 
von  Linz  und  Wien  führte.  Die  Nachbarschaft  grossartiger  Kloster-  und  Kirchen- 
bauten, die  Kreuzung  deutscher,  italienischer  und  vereinzelt  auch  slavischer  Ein- 
flüsse hat  dieser  örtlichen  Kunstüberlieferung,  die  bei  aller  Entwicklungs-Möglich- 
keit doch  Bauernkunst  geblieben  war,  ihre  Eigenart  gegeben.  Obwohl  sie  auch 
von  den  verschiedenen  Geschmackströraungen  der  Renaissance,  des  Barocks  und 
des  Empire  berührt  ist,  blieb  doch  immer  dieselbe  Formen-  und  Farbenfreudigkeit 
vorherrschend,  die  schon  den  ältesten  Werken  eigen  war.  Das  ist  natürlich;  denn 
die  Verfertiger,  „Kistler"  genannt,  blieben  in  ihrem  Hauptberuf  Bauern  und  über- 
lieferten die  alte  Kunst,  die  Tischlerei,  Malerei,  selbst  Dichtkunst  umschloss,    von 


Bücheranzeigen,  345 

Generation  zu  Generation  nicht  nur  dem  Einzelnen,  sondern  der  gesamten  Familie 
mit  Einschluss  der  hauptsächlich  malenden  Frauen  und  Töchter.  Interessant  ist 
die  Nachricht,  dass  die  Möbel  meist  für  ganze  Ausstattungen  („Kammerwagen") 
hergestellt  und  nicht  nur  im  Hause,  sondern  auch  auf  der  „Stör",  neben  barem 
Gelde  auch  gegen  Leistungen  anderer  Art  hergegeben  wurden.  Dadurch  wurde 
das  Wirken  der  Kistler  so  mit  dem  bäuerlichen  Leben  verflochten,  dass  sie  bei 
Geburt,  Hochzeit  und  Tod  eine  grosse  Rolle  spielten.  Leider  wird  nicht  gesagt, 
worin  diese  Beziehungen  bestanden;  doch  ist  zu  hoffen,  dass  in  einer  weiteren, 
von  dem  Herausgeber  verheissenen  ausführlichen  Abhandlung  darüber  Mitteilungen 
gemacht  werden. 

Für  die  Geschichte  einer  bäuerlichen  lokalen  Kunstausübung  dürfte  die  Zellsche 
Verötfentlichung,  die  sich  neben  der  Gruppierung  der  den  einzelnen  F'amilien  ent- 
stammenden Stücke  auch  auf  die  dafür  gezahlten  Preise  erstreckt,  von  grossem 
Werte  sein.  Der  Fleiss  und  die  Sorgfalt  des  Autors  verdienen,  für  ähnliche  zu 
wünschende  Einzelschriften  als  Vorbild  hervorgehoben  zu  werden. 

Berlin.  Robert  Mielke. 


J.  Leite  de  Yascoucellos,  Religio  es  da  Lusitania  na  parte  que  princi- 
palnionte  se  refore  n  Portugal.  Volume  I.  Lisboa,  Impreusa  Nacioiial, 
lcS97.     XL,  440  pp.     gr.  .S°. 

Das  stattliche  Werk  ist  nach  dem  Titelblatt  erschienen  als  einer  der  Beiträge 
der  Lissaboner  geographischen  Gesellschaft  zum  Quarto  Centenario  do  descobri- 
mento  da  India  und  nach  der  Vorrede  war  es  schon  für  die  Memorias  des  1«92 
für  Lissabon  in  Aussicht  genommenen  10.  Liternationalen  Orientalistenkongresses 
bestimmt.  Da  es  sich  ausschliesslich  mit  den  religiösen  Vorstellungen  der  prä- 
historischen Bevölkerungen  von  Portugal  beschäftigt,  hat  es  allerdings  mit  der 
einen  Gelegenheit  so  wenig  zu  thun  wie  mit  der  anderen.  Wenn  man  indessen 
die  Schwierigkeiten  erwägt,  die  in  einem  Lande  wie  Portugal  der  Veröffentlichung 
umfänglicher  rein  gelehrter  Arbeiten  im  Wege  stehen,  kann  man  sich  nur  freuen, 
dass,  nachdem  das  Quarto  Centenario  der  Entdeckung  Amerikas  schon  durch  die 
Veröffentlichung  der  wichtigsten  Urkunden  der  Torre  de  Tombo  über  die  Ent- 
deckungsfahrten der  Portugiesen  gefeiert  worden  war,  nun  für  das  Jubelfest  ihres 
grössten  Erfolgs  verfügbare  Mittel  dieser  fernabliegenden  Publikation  zu  gute  ge- 
kommen sind.  Denn  das  vorliegende  Werk  ist  eine  dankenswerte  Gabe  und  ein 
neuer  Beweis  dafür,  dass  die  freilich  kleine  Gemeinde  ernster  Forscher  in  Portugal 
den  Pachgenossen  der  anderen  Länder  Vollwertiges  zu  bieten  vermag. 

Der  Verfasser  hat  den  grossen  Plan  gefasst,  eine  Geschichte  Lusitaniens  zu 
schreiben  bis  dahin,  wo  dieser  Name  dem  von  Portugal  Platz  macht,  d.  h.  bis  zum 
Anfange  des  Mittelalters.  Da  er  von  der  Wichtigkeit  durchdrungen  ist,  die  die 
Religion  für  jedes  Volkstum  hat,  unternimmt  er  zuerst  deren  Behandlung.  In  drei 
Bänden  sollen  die  Religionen  des  prähistorischen,  des  protohistorischen  und  des 
historischen  (von  dem  Erscheinen  der  Römer  bis  zur  Einführung  des  Christentums 
gerechnet)  Lusitaniens  dargestellt,  und  ein  Anhang  den  fortlebenden  Spuren  des 
Heidentums  gewidmet  werden.  Der  vorliegende  1.  Band  beschränkt  sich  auf  die 
prähistorischen  Epochen.  Um  nur  Gebiete  zu  behandeln,  die  er  vollkommen  kennt, 
legt  der  Verf.  weder  den  strabonischen  noch  den  augusteischen  Begriff  von  Lusi- 
tanien  zu  Grunde,  sondern  das  heutige  Portugal;  er  greift  daher  zum  Teil  in  die 
alte  Baetica  über,  begnügt  sich  aber  betreffs  jetzt  spanischer  Grenzgebiete  und 
Galicias  mit  gelegentlichen  Andeutungen. 


346  Scheppig: 

Da  die  einzigen  möglichen  Quellen  eines  Wissens  von  den  Religionen  vor- 
geschichtlicher Zeiten  die  materiellen  Funde  und  ihre  Deutungen  mit  Hilfe  des 
Folklore  und  der  ethnologischen  Analogien  sind,  bietet  das  "Werk  eigentlich  eine 
ganze  portugiesische  Prähistorik;  denn  auch  diejenigen  Überreste,  in  denen  eine 
religiös  geschichtliche  Bedeutung  nicht  einmal  gesucht  werden  kann,  sind  wenigstens 
in  der  vorausgeschickten  allgemeinen  Übersicht  der  vorhistorischen  Epochen  Portugals 
(p.  25 — 83)  behandelt,  die  die  für  den  Hauptzweck  des  Buches  zu  verwertenden 
Einzelnheiten  in  ihrem  Zusammenhange  vorführt. 

Mit  Recht  geht  der  Verfasser  in  derselben  über  den  Tertiärmenschen  als  trotz 
der  Behauptungen  Mortillets  und  Ribeiros  noch  nicht  nachgewiesen  rasch  hinweg. 
Die  paläolithische  Epoche  charakterisiert  er  als  in  der  Kunstfertigkeit  weit  hinter 
der  epoque  magdalenienne  BVankreichs  zurückstehend.  Eine  Übergangsperiode, 
die  durch  die  allgemeine  Rohheit  der  Formen  der  vorangehenden,  durch  das  Auf- 
treten polierter  Steine  der  folgenden  sich  verbindet,  zeigt  sich  in  den  kjökken- 
möddings  von  Mugem  im  Tejothale:  Töpferarbeiten  fehlen  ihr,  die  Werkzeuge  von 
Stein,  Knochen  und  Geweihenden  sind  unvollkommener  als  die  dänischen. 

Der  ncolithische  Befund  entspricht  dem  allgemein  europäischen,  zeigt  indessen 
einige  eigentümliche  Formen;  insbesondere  sind  die  im  Süden  gefundenen  placas 
de  schioto  specifiscb  portugiesisch.  Pfahlbauten  sind  bisher  nicht  nachgewiesen. 
Der  Verf  ist  nicht  geneigt,  den  technischen  Aufschwung  der  neolithischen  Epoche 
ausschliesslich  der  Evolution  zuzuschreiben,  hebt  aber  hervor,  dass  das  aufge- 
nommene Fremde  dem  Heimischen  angepasst  worden  ist.  Ganz  allmählich  ist  die 
Infiltration  des  Metalls,  dessen  erste  Spuren  schon  in  vollständig  neolithischer  Um- 
gebung auftreten.  Der  Verf.  erklärt  sich  für  die  Ansetzung  einer  besonderen 
Kupferzeit  und  giebt  auch  die  Möglichkeit  eines  einheimischen  Ursprungs  des 
Bronzegebrauches  zu.  Aber  er  findet  die  Übereinstimmung  der  Formen  der  Kupfer- 
und  Bronzeobjekte  mit  den  ausländischen  doch  so  gross,  dass  nur  Export  oder 
Import  sie  voll  erklären  kann.  Der  Süden  wie  der  Norden  des  Landes  weist 
Depotfunde  auf,  Gussformen  sind  aber  noch  nicht  angetroffen  worden.  W^ie  schon 
die  Kupfer-  und  Bronzezeit  zum  Teil,  so  gehört  die  Eisenzeit  ganz  und  gar  zu  der 
protohistorischen  Epoche,  deren  Behandlung  dem  2.  Bande  vorbehalten  bleibt. 

Das  1.  Kapitel  (p.  85—98)  des  Werkes  ist  der  Frage  der  Religiosität  des 
paläolithischen  Menschen  Portugals  gewidmet.  Sie  wird  behandelt  in  der  Form 
einer  Widerlegung  der  Beweiskraft  der  Argumente  Mortillets,  der  sie  bekanntlich 
negativ  beantwortet  hat.  Wer  eine  solche  Widerlegung  überhaupt  noch  für  nötig 
hält,  wird  sich  an  der  Gründlichkeit,  mit  der  der  Verf.  sie  vornimmt,  trotzdem  sie 
zu  einiger  Breite  führt,  nur  freuen  können.  Wenn  freilich  Mortillets  Argumente, 
dass  die  quaternäre  Epoche  eine  Leichenbestattung  zeige,  während  doch  der  Toten- 
kultus der  älteste  sei,  ausser  dem  völlig  genügenden  Nachweise  von  Bestattungs- 
formen, von  denen  keine  Spuren  haben  bleiben  können,  der  Satz  entgegengehalten 
wird,  dass  es  ein  Irrtum  sei,  den  Ursprung  der  Religion  in  einem  einzigen  Elemente 
zu  suchen,  da  der  Mensch  vielmehr  von  der  ganzen  komplexen  Natur  dominiert 
werde,  so  wird  nicht  jeder  Soziolog  so  leichten  Herzens  wie  der  Verf.  an  der 
tiefsten  Wurzel  des  Animismus  vorbeigehen.  Dies  ist  aber  ein  Problem,  das  auf 
diesem  Gebiete  sicher  nicht  zur  Lösung  gebracht  werden  kann.  Wie  unsicher  der 
l^oden  hier  überall  ist,  zeigt  nach  des  Verfassers  eigenem  Zugeständnis  der  Ver- 
such einer  Zusammenfassung  der  religiösen  Vorstellungen  der  paläolithischen 
Epoche,  der  den  Schluss  des  Kapitels  bildet. 

Das  kurze  2.  Kapitel  konstatiert  nach  der  geordneten  Lagerung  der  zahlreichen 
Skelette    der    kjökkenmöddings    und    dem    regelmässigen   Auftreten    von   Beigaben 


Bücheranzeigcn.  347 

reguläre  Bestattung  und  damit,  nach  der  Analogie  aller  Völker,  den  Totenkult 
dieser  Epoche. 

Im  3.  Kapitel,  dem  Hauptteile  des  "Werkes  (p.  103 — 406),  wird  darauf  das 
reichhaltige  neolithische  Material  in  fünf  Abschnitten  (1.  Culto  da  Natureza.  A 
Lua.  2.  Amuletos  e  objectos  congeneres.  3.  Trepanacäo  prehistorica  e  factos 
correlativos.  4.  Culto  dos  mortos.  5.  Signaes  insculpidos  em  pedras)  vorgeführt 
und  auf  seine  religionsgeschichtliche  15edeutung  geprüft  und  in  einem  sechsten  das 
Ergebnis  zusammengefasst.  Die  einzelnen  Abschnitte  sind  so  gegliedert,  dass 
zunächst  ein  allgemeiner  archäologischer  Überblick  über  den  Gegenstand  gegeben, 
darauf  der  Thatbestand  auf  portugiesischem  Gebiete  vorgelegt  und  endlich  die 
Deutung  versucht  wird.  Die  archäologischen  Überblicke  sind  mit  einer  bemerkens- 
werten Kenntnis  der  wissenschaftlichen  Litteratur  der  Kulturvölker  abgefasst. 
Dennoch  haben  sie  mehr  Interesse  für  den  portugiesischen  als  für  den  ausländischen 
Leser,  der  sie  vielfach  für  sein  Bedürfnis  allzu  breit  finden  wird.  Von  ganz  her- 
vorragendem Wert  für  den  letzteren  ist  aber  die  Vorführung  des  prähistorischen 
Materials  portugiesischer  Herkunft.  Zwar  fehlt  es  ims  nicht  an  umfänglichen  und 
hervorragenden  Werken  über  einzelne  Teile  desselben,  der  Verf.  aber  darf  sich 
rühmen,  aus  genauester  Kenntnis  des  ganzen  Gebiets  zu  sprechen.  Als  Direktor 
des  Museo  Ethnologico  Portugues  und  Herausgeber  des  Organes  desselben  0 
Archeologo  Portugues  (seit  1894),  wie  der  ethnologisch -philosophischen  Revista 
Lusitana  (seit  1889)  steht  er  in  einem  Mittelpunkte  der  portugiesischen  Altertums- 
forschung, von  dem  aus  ihm  nicht  leicht  etwas  auf  dem  Gebiete  der  Ausgrabungen 
oder  Veröffentlichungen  Geleistetes  entgehen  kann.  Wer  da  weiss,  welche  Schwierig- 
keiten es  hat,  auch  nur  bibliographisch  von  der  neueren  portugiesischen  Litteratur 
Kenntnis  zu  erhalten,  wird  für  die  umfassenden  und  genauen  Hinweise  auf  Bücher 
und  Zeitschriftenaufsätze  sehr  dankbar  sein.  Dazu  werden  Archivalien  und  brief- 
liche Mitteilungen  herangezogen.  Genaueste  Kenntnis  des  Inhalts  der  heimischen 
Sammlungen  verbindet  sich  mit  persönlicher  Vertrautheit  mit  den  Fundstätten  und 
eigener  Thätigkeit  in  der,  wenn  man  so  sag-en  darf,  Feldarchäologie.  Und  nirgends, 
gegenüber  fremden  oder  eigenen  Beobachtungen  vermisst  man  kritische  Prüfung 
und  gewissenhafteste  Ehrlichkeit  in  der  Hervorhebung  des  Bedenklichen. 

Die  Beschreibung  der  Objekte  geschieht  in  klarer  technischer  Sprachweise 
und  wird  reichlich  durch  gute  Abbildungen  unterstützt.  Die  genauen  geographischen 
Bestimmungen  würden  eine  kartographische  Aufzeichnung  des  Befundes  möglich 
machen,  der  vielfach  überhaupt  in  geographischer  Ordnung  aufgeführt  wird.  Wenn 
hier  einzelnes  hervorgehoben  werden  soll,  so  sei  auf  den  ausführlichen  Abschnitt 
über  die  Grabmonumente  und  denjenigen  über  die  für  Portugal  charakteristischen 
placas  hingewiesen.  Die  letzteren,  von  denen  schon  Estardo  da  Veiga,  w^enn 
auch  nach  damals  noch  unvollständigerem  Material  gehandelt  hat,  sind  in  den  drei 
Südprovinzen  und  in  einem  Teile  von  Beira  nachgewiesen.  Es  sind  .Platten,  meist 
aus  Schiefer,  gewöhnlich  von  trapezartiger  Gestalt  und  einseitig  verziert.  Bohr- 
löcher zeigen,  dass  sie  zum  Anhängen  bestimmt  waren.  Waren  es  blosse  Zierate 
oder  haben  sie  auch  eine  religiöse  Bedeutung?  Die  Schwierigkeit  der  Entscheidung 
in  diesem  einzelnen  Falle  zeigt  die  allgemeinen  Schwierigkeiten,  mit  denen  natur- 
gemäss  der  Verf.  zu  kämpfen  hat,  wenn  er  von  der  Beschreibung  der  Objekte  zu 
der  Frage  ihrer  etwaigen  religiösen  Bedeutung  übergeht.  Allerdings  tritt  er  sehr 
gut  vorbereitet  an  seine  Aufgabe  heran ;  denn  er  besitzt  nicht  nur  eine  umfassende 
Belesenheit  auf  ethnographischem  Gebiete,  sondern  ist  auch  ein  ausgezeichneter 
Kenner  des  portugiesischen  Folklore,  von  dessen  Studium  er  ausgegangen  ist  und 
dem    er    schon    1882    eine    besondere    Schrift    (Tradicoes    populäres   da  Portugal) 


348  Scheppig:  Bücheranzeigen. 

gewidmet    hat.     Doch    können    der    neuen  Resultate    bei    diesen  Deutungen  nicht 
viele    sein,    da    die  Beziehungen  entweder  so  einleuchtend  sind,    dass  sie  sich  auf 
allen    prähistorischen  Gebieten   aufgedrängt  haben,    oder  aber  in  strengerem  Sinne 
unbeweisbar.     Das    letztere    ist  besonders  der  Fall,    wenn  Schlüsse  aus  ganz  ver- 
einzelten oder  gar  aus  negativen  Fakten  gezogen  werden.     Ist  z.  B.  das  einmalige 
Vorkommen    einer    sichelförmigen  Figur  auf  einem  am  Fusse  der  Serra  de  Ciutra 
gefundenen  Kalksteinobjekt  eine  genügende  Grundlage  für  die  Annahme  neolithischer 
Mondverehrung,    selbst  wenn,   wie  der  Verf.  angiebt,    in  protohistorischer  Zeit  der 
Name  Mondgebirge    an    dieser  Serra    gehaftet   haben    sollte?     Denn   dass    der  für 
diese  Gegend  inschriftlich  bezeugte  Monddienst  erst  römischen  Ursprungs  ist,    das 
hebt  der  Verfasser  mit  gewohnter  Gewissenhaftigkeit  selbst  hervor.     Ist  es  ferner 
statthaft,  aus  dem  fast  vollständigen  Fehlen  von  Fisch-  und  dem  nur  unbedeutendem 
Vorkommen    von    Molluskenresten    in   der    an    der  Küste    von  Peniche    gelegenen 
Gruha    da  Furniuha   ganze    oder    teilweise  Nichtverzehrung  und  damit  Verehrung 
dieser  Meerestiere    zu    erschliessen?    Dies    letzte  Beispiel    zeigt    schon  ein  Über- 
wiegen   der    aus  der  Analogie  gewonnenen  Anschauungen.     Noch  mehr  muss  dies 
hervortreten    bei    dem  Versuche,    eine  Übersicht    des  ganzen  religiösen  Zustandes 
der  Epoche    in  Dogma    und  Kultus    zu    geben.     Die  Teile,    die   wir    in  der  Hand 
haben,  ermangeln  so  sehr  des  geistigen  Bandes,   dass  wir  bei  einem  solchen  Ver- 
suche   unwillkürlich    von    dem    Durchnittsbilde    lebender   Volksstämme    ähnlicher 
Kulturstufe  ausgehen  und  nichts  weiter  thun  können,  als  für  den  einen  oder  anderen 
Zug    desselben    einen  Beleg    in    dem    prähistorischen  Material  zu  suchen.     Dabei 
kann    aber    eine    wirkliche  Bereicherung    unseres  Wissens    nicht  erreicht  werden; 
denn  die  Annahme,  dass  die  religiösen  Vorstellungen  und  Praktiken  dieselben  ge- 
wesen   sein    werden    wie    bei  Völkerschaften  ähnlicher  äusserer  Kultur  haben  wir 
schon    mitgebracht,    wie   ja    auch    die  Voraussetzung    der  wesentlichen  Gleichheit 
menschlichen    Seelenlebens    den    Einzeldeutungen    zu    Grunde    gelegen    hat.      Das 
Kriterium  ist  eben,    dass  wir  nichts  ohne,    geschweige  denn  gegen  jene  Analogien 
zu    erschliessen    vermögen.     Auf   der    anderen  Seite    steht  dem  Versuche  gewisse 
Erscheinungen  zu  lokalisieren,  wie  ihn  der  Verf.  z.  B.  mit  der  Zoolatrie  nach  den 
isolierten  Funden    von  Tierbildern    macht,    die  völlige  Ungewissheit  entgegen,    ob 
die'  bisherigen  Funde    den    einst  vorhanden  gewesenen  Bestand  auch  nur  einiger- 
massen    repräsentieren.     Der  Verf.    ist  sich  der  Schwierigkeiten  der  Aufgabe,    die 
er  sich  gesetzt  hat,  wohl  bewusst;  er  spricht  es  selbst  aus,  dass  er  „per  una  selva 
oscura"  wandert  und  nichts  liegt  ihm  ferner,  als  die  Unzulänglichkeit  des  Materials 
zu   verschleiern.      Der   vorsichtig   hypothetischen  Redeweise    bei    den  Deutungen 
entspricht  es  daher,  dass  seine  zusammenfassenden  Abschnitte  nichts  anderes  sind 
als  an  der  Hand  einer  den  Analogien  entnommenen  Systematik  geordnete  Wieder- 
holungen   der  Einzeldeutungen.     Wenn    sie  auf  diese  Weise  auch  nicht  den  Wert 
haben,  der  ihnen  nach  dem  Gesamtplane  des  Werks  zukommen  müsste,  entsprechen 
sie    dagegen    in    ihrer  ehrlichen  Klarstellung  der  schmalen  Unterlage  der  Schluss- 
folgerungen dem  streng  wissenschaftlichen  Charakter  der  ganzen  Arbeit. 

Das  4.  Kapitel  (p.  407—22)  behandelt  nur  kurz  die  Metallzeit,  da  sie  schon 
halb  in  die  protohistorische  Epoche  hineingehört  und  eine  strenge  Scheidung  nicht 
möglich  ist.  Ihr  wird  der  folgende  Band  ganz  gewidmet  sein.  Möchte  es  dem 
Verf.  vergönnt  sein,  ihn  und  das  ganze  Werk  in  absehbarer  Zeit  zu  vollenden  und 
zu  veröffentlichen.  In  dem  Masse,  wie  er  im  Fortschritt  seiner  Arbeit  festeren 
Boden  imter  die  Füsse  bekommt,  wird  es  ihm  auch  gelingen,  über  die  Religionen 
Lusitaniens  festere  und  abgerundetere  Resultate  vorzulegen,  als  für  die  prähistorischen 
Epochen  möglich  war.     Für  diesmal  aber  haben  wir  ihm  zu  danken,    dass  er  uns 


Roediger:  Protokolle.  349 

in  dem  was  dem  Hauptzwecke  seines  Buches  nur  subordiniert  war,  nämlich  in 
der  Darstellung  des  g-rössten  Teiles  dos  prähistorischen  Befundes  in  Portugal, 
eine  sehr  wertvolle  Gabe  geboten  hat. 

Kiel.  Prof.  Dr.  Scheppig. 


Aus  den 

Sitziings- Protokollen  des  Vereins  für  Volksknnde. 


Freitag,  den  26.  Mai  1899.  Der  Vorsitzende,  Herr  Geheimrat  Wein  hold, 
weihte  dem  verstorbenen  Mitgliede  des  Vereins,  Herrn  Geh.  Regierungsrat  Prof. 
Dr.  Wilhelm  Schwartz  einen  Nachruf,  für  den  wir  auf  S.  328  verweisen.  Er 
legte  sodann  ein  sehr  selten  vollständig  aufzutreibendes  Buch:  Der  Ausruf  in 
Elambxirg,  dargestellt  in  einhundert  und  zwanzig  Blättern,  gezeichnet,  radiert  und 
geätzt  von  Prof.  Suhr,  mit  Erklärungen  begleitet  (von  K.  J.  Hübbe).  Hamburg 
1808.  S.  Vni.  14ü.  8".  in  einem  kompletten  Exemplar  vor  und  berührte  in  seinen 
Erläuterungen  verwandte  Werke  des  Auslandes.  Herr  Geheimrat  Fried el  teilte 
mit,  dass  auch  die  Strassenrufe  von  Berlin  in  einem  französisch  geschriebenen 
Buche  des  vorigen  Jahrhunderts  gesammelt  worden  sind.  —  Herr  Zeichenlehrer 
MieHvC  legte  das  Werk  von  Franz  Zell  über  bayrische  Bauernmöbel  vor,  das  er 
oben  S.  344  besprochen  hat.  —  Prof.  Max  Roediger  erörterte  das  Wesen  der 
deutschen  Heldensage.  Sie  hat  —  was  nicht  bei  jeder  Heldensage  der  Fall 
zu  sein  braucht  —  kriegerischen  Inhalt.  Sie  entsteht,  soweit  als  sie  geschichtliche 
Grundlage  hat,  bald  nach  den  thatsächlichen  Vorgängen.  Prosabericht  und  poe- 
tischer gehen  zuerst  nebeneinander  her,  doch  wird  der  Stoff  rasch  Eigentum  der 
Dichter  und  verfällt  denselben  Wandlungen,  wie  alle  anderen  poetischen  Stoffe. 
Das  Heldenlied  steht  in  Zusammenhang  mit  dem  Lob-  und  Scheltlied  und  dem 
religiösen  Lied.  Die  Helden  sind  entweder  Menschen,  dann  aber  von  der  Sage 
übernatürlich  begabt,  nicht  selten  mit  Dämonen  in  Verwandtschaft  gebracht;  oder 
von  Hause  aus  Dämonen,  die  leicht  zu  Menschen  werden  konnten,  weil  man  ihnen 
ja  menschliche  Gestalt  und  menschliches  Gebaren  beimass.  Historische  oder 
menschliche  und  mythische  Bestandteile  mischen  sich  in  jeder  Heldensage  und  es 
genügt  nicht,  von  märchenhaften  Elementen  in  ihnen  zu  reden.  An  eine  einheitliche 
Verschmelzung  beider  Bestandteile  schon  in  den  Liedern  zu  denken,  die  nach 
Tacitus  von  den  Thaten  des  Arminius  gesungen  sein  sollen,  geht  nicht  wohl  an, 
weil  damals  heidnische  Religion  und  Kultus  noch  in  Kraft  standen:  Arminius 
konnte  noch  nicht  selbst  göttlich  werden,  wenn  er  auch  göttlicher  Hilfe  genoss. 
Diese  Lieder  waren  noch  mehr  historische  Preislieder,  obwohl  keine  zuverlässigen. 
Die  Zeit  der  wirklichen  Heldensage,  des  echten,  von  einem  einzelnen  Sänger  zur 
Harfe  vorgetragenen  Heldenliedes,  ist  die  Zeit  der  Völkerwanderung. 

Max  Roediger. 


Zeitschr.  d.  Vereins   f.  Volkskunde.    1899.  2S* 


350  Heilig:  Scheibenschlagen. 

Zugabe. 
Sclieibensclilageu  im  nördlichen  Breisgau.  ^) 

Das  Scheibenschlagen  findet  allgemein  an  dem  auf  Fastnacht  folgenden  Sonntag 
statt.  Die  Burschen  fertigen  auf  diesen  Tag  runde  Holzscheiben,  in  deren  Mitte 
ein  Loch  gebohrt  wird.  Ein  jeder  ist  im  Besitze  von  20 — 30  Stück  solcher  Scheiben. 
Nachdem  alle  Mitspieler  versammelt  sind,  wird  ein  Feuer  angezündet.  In  Bom- 
bach, dessen  Spruch  wir  zunächst  mitteilen,  ist  dieser  Versammlungsort  ein  Berg, 
genannt  ,Scheibenbuck'.  Sodann  werden  zwei  Pfähle  in  den  Boden  geschlagen, 
auf  die  ein  Brett  gelegt  wird.  Sobald  es  Ave  Maria  läutet,  gehen  (in  Bombach) 
die  Burschen  im  Kreise  um  das  Feuer  herum.  Hierauf  beginnt  das  eigentliche 
Spiel.  Jeder  steckt  einen  mitgebrachten  Haselnussstock  in  das  Loch  einer  Scheibe, 
die  man  so  lange  über  das  Feuer  hält,  bis  sie  glüht.  •  Dann  schleudert  der  Bursche 
die  Scheibe  mit  den  Worten  in  die  Luft: 

Schiwi,  Schiwi!     Wem  soll  die  Scliiwe  si? 
Die  Schiwe  soll  der  Dreifaltigkeit  si. 
Die  nun  folgenden  Scheiben  werden  den  Dorfschönen  geweiht,  die  bei  ihrem 
Namen  genannt  werden;  also  z.  ß    die  Schiwe  soll  der  Anna  si. 

Nach  Beendigung  des  Scheibenschlagens  ziehen  die  Bombacher  Burschen  ins 
Dorf  und  , heischen'  Fastnachtsküechli  unter  Hersagen  des  folgenden  Spruches: 

Gebt  mir  1,  2,  3,  so  gang  ich  glei; 

Gebt  mir  vieri,  so  gang  i  ander  (früher); 

Gebt  mir  fünfi,  so  gang  i  g'schwinder. 

Gebt  mir  6,  7  oder  achti  heraus,  oder  ich  schlag  üch  e  Loch  ins  Haus! 

Gebt  mir-  e  Mässli  Bohne;  ich  Avills  üch  gut  belohne. 

Gebt  mir  e  Heckli  (=  4  Stücke)  Nuss:    ich  hol  sie  uff'm  Dolde  (=  mittlerer  Ast 

Gebt  mir  e  Seite  Speck;  ich  trag  sie  weithin  weg.  eines  Baumes)  uss. 

Gebt  mir  e  Böse  (=  Büschel)  Strau  (=  Stroh)  —  oder  ich  lieg  Ihn(e)  zur  Fron. 
Der  Scheibenschlagspruch  von  Wasser  bei  Emmendingen  lautet: 

Schiwi,  Schiwo!     Die  Schiwe  soll  em  Meili  (=  Schatz,  eigentlicli  Mario)  go! 

Mer  stehen  aufm  Damme;  die  grosse(n)  Funke(n)  fahre. 

Mer  gange  in  die  Haiser,  do  scheene  Jungfore  ware(n)  (=  sind). 

Der  Vater  mit  dem  Krügli  holt  auch  ein  Krug  voll  Wi, 

Die  Muetter  mit  dem  Körbli  die  holt  viel  Küachli  ri; 

Die  Tochter  mit  ihre  schwarzbraune(n)  Haare(n)  die  denkt  in  ilirem  Sinn: 

Die  KüachH  muss  mer  spare(n),  die  Nacht  ist  noch  nit  hin. 
Die  Burschen  von  Kö  ndrin  gen  sagen: 
Ich  hab  Eure  Döchdere  d'  Schiwe  g'schlage,     Hawi  beere  krache(n) 
Der  (=Ihr)  wäre  mer  d'  Küechli  nit  absage!     Küechli  in  der  Kachle; 
Dort  owe  uff  der  Matte,  Der  Schüssel  beer  i  klingle; 

Wu  grossi  Funke(n)  fahre(n),  I  ha(b)  denkt:  der  Vater  wird  guete  \Vi  bringe. 

1)  [Über  das  Scheibenschlagen  genüge  hier  zu  verweisen  auf  F.  Vogt  in  unsrer 
Zeitschrift  III,  ?.49-:^j69.  E.  Meier,  Deutsche  Sagen,  Sitten  und  Gebräuche  aus  Schwaben, 
S.  380ff.  Panzer,  Bayerische  Sagen  und  Bräuche,  2,  240  ö'.  Birlinger,  Volkstümliches 
aus  Schwaben,  2,  66.  105.  108.) 

Kenzingen.  Otto  Heilig. 


Berichtigung. 

Zeitschrift  IX,  S.  72,  Z.  8  v.  u.  Vorbedingung  1.  Vorbedeutung. 


Zeitschrift   des  Vereins  für  Voll<sl<uncle 


Taf.  IV, 


^^/-^hUp^»^ 


Volkskundliclies  aus  Johann  Wilhelm  Wolfs 
Kölner  Jiigenderinnerungen. 

Mitgeteilt  von  Ludwig  Fränkel. 


Johann  Wilhelm  Wolf,  am  23.  April  1817  zu  Köln  geboren,  vom  28. 
auf  den  29.  Juni  1853  umnachtet  erst  38jährig'  in  der  Heilanstalt  Hof- 
heim bei  Worms  gestorben,  ist  heute  in  der  Clermanistenwelt  so  gut  wie 
vergessen,  und  nur  die  Sammler  und  Forscher  auf  dem  Felde  der  Sagen-, 
sowie  der  Märchenkunde  greifen  noch  hie  und  da  auf  seine  überaus 
fleissigen,  sehr  sorgfältigen,  an  versteckten  Bezugsquellen  und  manchen 
vergleichenden  Notizen  reichen  Bücher  „Niederländische  Sagen"  (1843), 
„Deutsche  Märchen  und  Sagen"  (1845),  „Deutsche  Hausmärchen"  (1851, 
Titel-Auflage  1858),  „Hessische  Sagen"  (1853)  zurück,  während  seine 
„Beiträge  zur  deutschen  Mythologie"  (I.  1852,  H.  1857),  besonders  aber 
seine  eigenen  Mitteilungen  in  der  von  ihm  1853  begründeten  „Zeitschrift 
für  deutsche  Mythologie  und  Sitteukunde"  wegen  der  Fülle  der  zusammen- 
getragenen neuen  Materialien  und  Parallelen  bis  heute  vielfach  Rücksicht 
gefunden  haben.  In  der  „Allgemeinen  deutschen  Biographie"  habe  ich 
Bd.  43,  S.  765  —  777  (1898)^)  dem  unverwüstlichen  Idealisten,  der  die  kurze 
Spanne  seines  Mannesalters  rastlos  nach  Zeugnissen  deutschen  Volkstums 
grub,  ein  ausführliches  Lebens-  und  Charakterbild  mit  geziemendem  Ein- 
blicke in  die  bezügliche  Wirksamkeit  gewidmet  und  begnüge  mich  hier  darauf 
zu  verweisen.  Dort  habe  ich  nun  aus  einer  Anzahl  anonymer  und  pseudo- 
nymer Veröffentlichungen  Wolfs  geschöpft,  meist  den  unter  dem  Namen 
Johann(es)  Laicus  herausgegebenen  katholisch-christlichen  autobiographi- 
schen, erbauenden,  kultur-  und  litterarhistorischen  Gepräges.  Da  steht 
voran  die  Volksbibliothek  „Katholische  Trösteinsamkeit",  1852  mit  dem 
prächtigen  Memoirenausschnitte  „Aus  der  Kindheit"  eröffnet,  mit  dem 
wohlausgestatteten  „Schatzkästlein  für  Arme  im  Geist"  (2,  Aufl.  1864) 
fortgesetzt,  einem  kleinen  Speicher  „voll  Reliquien"  seiner  Notizmappe, 
religiösen,  in  der  Regel  ausgesprochen  katholischen  Volksmärchen,  -legenden, 
Marienliedern  u.  dergl.,  zumeist  alten  Ursprungs,  sowie  mit  den  „Bildern 
aus  dem  Bauernleben"  als  drittem  Bändchen  (1854),  welch  letztere  übrigens 


1)  Dazu  sei  hier  nur  nachgetragen,  dass  Prof.  Dr.  H.  Holland  mir  inzwischen  mit- 
geteilt hat,  er  könne  sich  nicht  mehr  erinnern,  ob  er  die  ihm  von  mir  zugeschriebene 
( — d  gezeichnete)  Skizze  Wolfs  als  Sammler  deutscher  Volkstümlichkeiten  i.  d.  Histor.- 
polit.  Blatt,  schrieb;  Wolfs  jugendliche  Verirrungen  in  Bonn  und  Flucht  von  da,  den  Aus- 
gang seines  volkskundlichen  Wirkens,  schiebt  H.  dem  berüchtigten  vagierenden  Litteraten 
Johann  Baptist  Rousseau  (L802 — 67)  in  die  Schuhe. 

Zcitschr.  d.  Vereins  I.  Vdlksktinde.     1S99.  24 


352 


Fränkel : 


auch  ein,  der  Öffentlichkeit  gegenüber  von  J.  L(aicus)  als  Herausgeber 
vertretenes  '  altertümliches  Weihnachtsspiel  in  der  anmutigen  Skizze  „Aus 
der  Spinnstube"  (S.  39—66)  enthalten. 

Das  erste  dieser  Kleinoktavbüclileiu,  die  Selbstschilderung  seiner 
Kölner  Knabenjahre,  ist  trotz  zweier  Neudrucke  längst  vergriffen  —  seit 
etwa  drei  Decennien  weder  neu  vom  Verleger  (Franz  Kirchheim  in  Mainz), 
noch  antiquarisch  zu  erhalten.  Selbst  Wolfs  betagte  Witwe,  Marie  geborene 
von  Plönnies,  der  Dichterin  Luise  Tochter,  des  Liebhaber-Germanisten 
Wilhelm  Schwester,  in  Darmstadt,  besitzt  kein  Exemplar  davon  und  auch 
auf  öffentliche  Bibliotheken  scheint  es  sich  nirgends  verirrt  zu  haben. 
Also  darf  man  es  heute  eigentlich  als  unzugänglich  bezeichnen.  Der  un- 
deutlichen, den  Litteraturkennern  meist  unbekannten  Verfasserschaft  wegen 
blieb  es  bisher  für  die  Forschung  unbeachtet,  und  von  den  darin  ver- 
steckten volkskundlichen  Originalberichten  dürfte  kein  Fachmann  etwas 
wissen.  Deshalb  seien  diese  letzteren  hier  grossenteils  ausgehoben,  ohne  dass 
die  öfters  breit  zur  Hand  liegenden  Motiv-  und  Wortlaut-Varianten  den 
geraden  Fluss  der  ungeschminkten  Äusserungen  eines  urwüchsig,  fast 
kindlich  natürlichen  Gemüts  unterbrechen  mögen. 

Zum  besseren  Verständnisse  nachfolgender  Auszüge  mögen  vorher  dem 
bezüglichen  Abschnitte    meiner  obgenannten  Biographie  Wolfs  die  Haupt- 
daten entnommen  sein.     Danach  war  Wolf  der  Sohn  eines  einfachen,  aber 
ziemlich    wohlhabenden    und    angesehenen  Gewerbsmannes,    der  zwar  aus 
dem  Jülichschen  eingewandert,  aber  in  der  alten  Reichs-  und  Erzbischofsstadt 
ganz    eingelebt    war.     Deren    mittelalterlich-volkstümliche   und  -kirchliche 
Nachklänge,    dazu    phantasievolle  Anlagen    mit  einem  Zuge  zur  Romantik 
sassen    tief   im  Gemüte    des  Knaben,    bei    dem    darum   so  gar  nichts  vom 
heiteren  Temperamente  des  Rheinländers  erwuchs.  Aus  diesem  mag  höchstens 
der    unwiderstehliche  Hang,    allenthalben  Volkspoesien,    ererbten  Glauben 
und  Brauch  u.  dergl.    aufzuwittern   und    zu  fixieren,    entkeimt  sein;    doch 
wog  hierbei  die  Sucht,  nach  religiöser  Saat  und  Bedeutung  darin  zu  stöbern, 
den  Segen  kirchlicher  Einflüsse  und  letztere  zu  fördern,  stets  vor,  und  wie 
ein  altes  Lied  des  Gottesdienstes  ihm  als   willkommenerer  Fund  galt,    als 
eins    aus    profanem  Wandermunde,    so   hat  er  unter  den  volkstümlich-ver- 
fasserlosen Litteraturgattungen  die  ihm  von  Kindesbeinen  vertraute  Legende 
zu  Ehren  zu  bringen,  mit  rastloser  Liebe  angesetzt.     Besonders  regte  sich 
in  dem  kaum  flüggen  Buben  der  Drang,  Monumente  kirchlicher  Kleinkunst, 
nicht    weniger    solche  volksmässiger  Epik  imd  Lyrik  zu  besitzen,    und  er 
begründete    nicht    nm-    für    erstere    ein    knabenhaftes    Museum    und    eine 
Bibliothek,    sondern    legte    auch    schriftliche   Sammlungen    von  Legenden, 
kurzen  lehrreichen  und  launigen  Lokalerzählungen,  Volksliedern  an,  ohne 
als    leicht    begeisterungsfähiger  Junge  die  Möglichkeit  eines  berufsartigen 
Betriebs    dieses  Geschäfts,    wie   es  später  seine  Existenz  ausfüllte,    nur  zu 
ahnen.     All    das    erzählt  uns  jenes  Büchlein  „Aus  der  Kindheit«,    die  Be- 


Volkskundliches  aus  Johann  Wilhelm  Wolfs  Kölner  Jugenderinnerungen.         353 

iiguiigen  seiner  EntwickluDg  und  die  Grundstimmungen  seiner  Seele, 
gleichsam  eine  socialpsychologische  Idylle  entwerfend.  Es  tischt  manchen 
Yolksschwank,  manch  heiliges  Geschichtchen,  Rätsel  und  Sprichwörter  auf, 
wie  sie  Wolf  aus  dem  Munde  von  Handwerksleuten,  Freunden  des  Eltern- 
hauses, niederschrieb,  und  malt  farbig  das  alte  Köln  anschaulich,  klar  und 
anmutig. 

„Aus  der  Kindheit.    Erinnerungen  von  Johannes  Laicus" 

{-  Katholische  Trösteinsamkeit.     Erstes  Bändchen). 
Dritte  Auflage.     Mainz.     Verlag  von  Franz  Kirchheim.     1862.^) 

In  dem  2.  Kapitel,  „Dämmernde  Erinnerungen",  heisst  es  S.  8^):  Von 
dem  modischen  Papa  und  Mama  war  keine  Rede  bei  uns,  denn  wir  nannten 
den  Vater  ehrlich  Yater  und  die  Mutter  Mutter,  aber  diese  schweren  Wörter 
lernte    ich  nicht  sobald.     Das  erste  Zusammenhängende,    worauf  ich  mich 
besinnen  kann,  war  das  schöne  Kindergebetchen: 
Jesukindchen  klein, 
Mach  mein  Herzchen  rein, 
Es  soll  niemand  drin  wohnen, 
Als  Jesus,  Maria,  Joseph  allein. 
S.   10:  In  ihrer  sinnigen,  einfachen  und  doch  so  tiefen  Weise  erzählte 
sie  [die  Mutter]    mir    die  Geschichten    des    alten  und  neuen  Testamentes, 
die  Geschichten  der  Heiligen,  besonders  auch  der  gnadenreichen  Jungfrau 
Maria;    sie  lehrte   mich   ilas  Glaubensbekenntnis,    das  Vaterunser  und  Ave 
Maria,    die    zehn  Gebote  Gottes    und   die  fünf  Gebote  der  heiligen  Kirche 
und  eine  Menge  frommer  Reime,  Sprüchlein  und  Gebete,  so  z.  B.: 
Im  Himmel,  im  Himmel  Die  springen,  die  singen, 

Da  sind  der  Freuden  so  viel,  Die  haben  frohen  Mut, 

Da  sitzen  all  die  Engelchen  Die  teilen  miteinander 

Und  haben  da  ihr  Spiel:  Das  allerhöchste  Gut. 

—  Oft  gab  sie  auch  ein  Märchen  zum  besten,  wenn  sie  gerade 

recht  heiter  gestimmt  war.  Eins  derselben  schwebt  mir  noch  so  lebendig 
vor,  dass  ich  meine,  es  fast  mit  ihren  Worten  wieder  erzählen  zu  können. 
Es  ist  das  folgende: 

Von  dem  Brüderchen  und  dem  Schwesterchen. 
Es  waren  einmal  zwei  Kinder,  ein  Brüderc)ien  und  ein  Schwesterchen. 
Eines  Tages  sprach  die  Mutter  zu  ihnen:  „Geht  in  den  Wald  und  holt 
Holz,  damit  wir  etwas  zu  brennen  haben",  denn  die  Mutter  war  eine  arme 
Frau.  Da  lief  das  Schwesterchen  sogleich  folgsam  in  den  Wald,  aber  das 
Brüderchen  war  uns-ehorsam  imd  brummte:  „Soll  ich  denn  schon  wiederum 


1)  Anmerkung  des  Herausgehers.  Ich  verdanke  die  Einsichtnahme  dem  ge- 
lehrten Benediktiner  Dr.  theol.  P.  Odilo  Rottmanuer,  Stadtpfarrprediger  in  München  und 
Stiftsbibliothekar  zu  St.  Bonifaz  daselbst  (Bücherei  des  St.  Bonifatiusklosters). 

2)  Winzige  orthographische  Absonderlichkeiten  sind  auf  den  folgenden  Seiten  überall 
normalisiert. 

24* 


354  Fränkel: 

in  den  Wald  gehen;  ich  muss  auch  immer  in  den  Wald";  so  ging-  es  zur 
Thür  hinaus  und  dem  Schwesterchen  nach. 

Als  sie  nun  beide  in  dem  Wald  Holz  lasen,  da  trat  eine  schöne  Frau 
in  weissen  Kleidern  mit  einer  goldenen  Krone  auf  dem  Haupt  zu  ihnen 
und  sprach  zu  dem  Brüderchen: 

„W^as  machst  du  denn  da,  mein  Kind?" 

„Was  geht  das  dich  an?"  antwortete  der  ungezogene  Bube. 

„Ich  würde  mich  schämen,  an  deiner  Stelle  so  zu  sprechen",  sagte  die 
schöne  Frau.  „Sieh  her,  da  hast  du  ein  Schächtelchen;  wenn  du  nach 
Hause  kommst,  dann  kannst  du  es  aufmachen,  und  was  darin  liegt,  gehört 
dein." 

Und  nachdem  sie  ihm  das  Schächtelchen  gegeben  hatte,  ging  sie  fort 
und  kam  zu  dem  Schwesterchen. 

„Was  machst  du  denn  da,  mein  Kind?"  fragte  sie  das  Schwesterchen, 
und  es  sprach  freundlich: 

„Ich  lese  Holz  für  meine  arme  Mutter." 

(S.  12)  „Du  bist  ein  braves  Kind",  sagte  die  schöne  Frau.  „Sieh 
her,  da  hast  du  ein  Schächtelchen;  wenn  du  nach  Hause  konmist,  darfst 
du  es  mit  deiner  Mutter  öffnen,  und  was  darin  ist,  das  gehört  euch." 

Da  wollte  das  Kind  sich  bei  ihr  bedanken,  aber  sie  war  schon  ver- 
schwunden, und  wo  sie  gestanden  hatte,  da  wuchs  ein  Gärtchen  von  Rosen 
und  Lilien. 

Als  das  Schwesterchen  nun  sein  Holz  zusammen  hatte,  rief  es  das 
Brüderchen  und  sagte: 

„Sieh  einmal,  welch  ein  schönes  Schächtelchen  ich  bekommen  habe."- 

^Ich  hab  auch  eins",  brummte  das  Brüderchen. 

„Dann  komm  jetzt  rasch  mit  dem  Holz  nach  Hause,  da  wollen  wir 
die  Schächtelchen  öffnen",  sagte  das  Schwesterchen. 

„Ich  mache  es  jetzt  schon  auf",  brummte  das  Brüderchen  und  Hess 
sich  auch  durch  keine  Warnung  davon  abbringen.  Als  es  das  Kästchen 
aber  öffnete,  da  sprang  eine  schwarze  Kugel  heraus,  die  lief  auf  der  Erde 
dahin,  und  da  sie  so  schön  glänzte,  so  hätte  das  Brüderchen  sie  gern  ge- 
habt und  lief  ihr  nach  und  immer  weiter  nach  bis  an  die  Hölle,  da 
sprang  der  Teufel  heraus  und  packte  das  Brüderchen  und  schleppte  es 
mit  sich  fort. 

Das  Schwesterchen  ging  unterdessen  nach  Hause  und  gab  folgsam 
das  Schächtelchen  seiner  Mutter.  Als  diese  es  öffnete,  sprang  eine  weisse 
Kugel  heraus  und  lief  auf  der  Erde  dahin,  und  weil  sie  so  schön  (13)  war, 
hätten  die  Mutter  und  das  Schwesterchen  sie  gern  gehabt  und  liefen  ihr  nach. 
Da  liefen  sie  immer  weiter  bis  vor  ein  goldenes  Thor,  und  als  sie  davor 
standen,  sprang  es  auf  und  die  Muttergottes  kam  heraus  und  nahm  sie 
alle  beide  mit  sich  in  den  Himmel.  Da  sah  das  Schwesterchen,  wer  die 
schöne  Frau    gewesen    war,    und  jetzt  singt  es  mit  seiner  Mutter  und  den 


Volkskundliches  aus  Johann  Wilhelm  Wolfs  Kölner  Jugenderinnerungen.         3ö5 

lieben  Engleiu  Gloria.     Da    kommt  die  Katz  mit    der  Maus  und  die  Ge- 
schieht ist  aus. 

Ö.  4!J:  Herr  Stamm  [ein  alter  ehrsamer  Hausgenosse  von  W.s  Eltern] 
wusste  vortrefflich  zu  erzählen,  und  er  hatte  dabei  keinen  so  aufmerksamen 
Zuhörer  als  Jacöbchen  und  mich.  —  —  Oft  brachte  er  in  früheren  Jahren 
Näschereien  mit,  ein  Stück  Johannisbrot,  ein  paar  Mandeln  oder  anderes. 
Das  bekamen  wir  vt^ohl  auch  von  anderen  Hausfreunden,  doch  schmeckte 
es  uns  nur  von  ihm  so  recht  gut,  denn  er  erzählte  immer  etwas  darüber 
und  wusste  so  auch  dem  Kleinsten  einen  grossen  Wert  zu  geben.  So  war 
das  Johannisbrot  von  der  schönen  Legende  begleitet,  der  zufolge  es  auf 
dem  Grabe  des  Jüngers  der  Liebe  zuerst  wuchs,  auf  dem  wunderbaren 
Grabe,  welches  sich  mit  der  Brust  des  nicht  gestorbenen,  sondern  darin 
schlafend  der  zweiten  Ankunft  Jesu  harrenden  Jüngers  hebt  und  senkt,  so 
wie  diese  bei  jedem  Atemzuge  sich  hebt  und  senkt.  Auf  diese  Weise 
genossen  wir  die  süsse  Frucht  mit  einer  Art  von  Andacht  und  prägte  sich 
uns  eine  besondere  Liebe  und  Verehrung  für  den  heil.  Johannes  ein,  die 
mich  (S.  50)  durch  mein  ganzes  Leben  bis  jetzt  begleitete.  Welch  ein  reicher 
StofP  für  die  mannigfaltigste  Unterhaltung  war  solch  eine  Schote  Johannis- 
brot! Es  wurde  z.  B.  die  Frage  aufgeworfen,  ob  denn  alle  Menschen  im 
Grabe  nur  schliefen  und  warum  der  Heilige  allein  nicht  mausetot  sei,  wie 
andre  Leute?  Da  liiess  es  denn,  sein  Körper  schlafe  nur,  aber  sein  Geist 
sei  bei  Jesus,  alles  zum  Lohn  dafür,  dass  er  den  Heiland  so  lieb  gehabt 
habe.  Und  dann  folgten  Legenden  von  dem  Heiligen  und  endlich  fügte 
der  Alte  den  immer  gespannteren  Knaben  auch  das  Nähere  über  Johannis 
(Jeburt  und   Lebensumstände  hinzu. 

Einem  alten  kölnischen  Kat  zufolge  soll  man  nie  ausgehen,  ohne  eine 
J^rotkruste  in  der  Tasche  mitzunehmen.  Herr  Stamm  hielt  daran  sehr  fest. 
Wenn  wir  nun  grössere  Spaziergänge  machten  und  vor  der  Stadt  irgendwo 
lagerten,  zog  er  das  Krustchen  Brot  heraus  und  teilte  es.  Dann  fragte  ich 
wohl:  „Woher  hast  du  das  Brot,  Herr  Stamm?" 

„Das  ist  Hasenbrot,  das  hat  mir  der  Hase  gebracht",  war  die  Antwort, 
und  auf  die  Frage,  wie  der  Hase  das  gemacht,  folgte  die  durch  Nach- 
ahmung seiner  Bewegungen  anschaulicher  gemachte  Beschreibung,  wie  er, 
das  Stück  Brot  im  Schnäuzchen,  herangelaufen  sei,  sich  auf  seine  Hinter- 
beine gesetzt  habe,  es  in  seine  Vorderpfoten  genommen  und,  nachdem  er 
einen  Diener  gemacht,  es  überreicht  habe.  (S.  51)  Dann  habe  Herr  Stamm 
gesagt:  „Schön,  Hasenhänschen,  jetzt  mach  noch  ein  Männchen",  und  er 
habe  die  possierlichsten  Männchen  von  der  Welt  gemacht.  Was  war  das 
für  eine  Würze  der  trockenen  Brotkruste!" 

S.  51:  Um  morgens  zur  rechten  Zeit  zu  erwachen,  half  das  Gebetchen: 

Heiliger  Sankt  Veit,  Nicht  zu  früh  und  nicht  zu  spät, 

Weck  mich  zu  rechter  Zeit,  Wenn  die  Glock  sechs  Uhr  schlägt. 


Bot)  Fränkel: 

S.  57:  Herr  Stamm  Hess  mich  aber  vorher  beten  ^): 

Wenn  ich  Abends  in  mein  Bettchen  Zwei  an  dem  Passende, 

Geh'  ich  in  Maria's  Schoss.         [geh,  Zwei  an  der  rechten  Seit, 

Maria  ist  meine  Mutter,  Zwei  an  der  linken  Seit, 

Johannes  ist  mein  Bruder,  Zwei,  die  mich  decken, 

Herr  Jesu  Christ  ist  mein  Geleitsmann,  Zwei,  die  mich  wecken. 

Der  mir  den  rechten  Weg  weisen  kann.  Jesus  in  meinem  Herzen, 

Zwölf  Engelchen  gehn  mit  mir,  Maria  in  meinem  Sinn, 

Zwei  an  dem  Hauptende,  In  Gottes  Namen  schlaf  ich  ein. 

S.  97 f.:  War  das  letzte  Evangelium  gelesen,  dann  erhob  der  Küster 
die  Stimme  zu  dem  schöneu  alten  Lied: 

Alles  meinem  Gott  zu  Ehren ^),  Meinem  Gott  allein  will  geben 

In  der  Arbeit,  in  der  Ruh!  Leib  und  Seel,  mein  ganzes  Leben. 

Gottes  Lob  und  Ehr  zu  mehren  Gib,  o  Jesu!     Gieb,  o  Jesu! 

Ich  verlang  und  alles  thu.  Gib,  o  Jesu,  Gnad  dazu! 

(Beim  niorgenlicJien  Kirchenbesuche,  dem  J.  W.  W.  seit  seinem  siebenten  Jahre,  d.  h.  1824, 

in  Köln  oblag.) 

S.  lOG:  Dann  ergriff  der  Meister  das  kleine  Stengelglas,  stiess  lächelnd 
an  und  sprach: 

„Also  auf  Sankt  Johaniiis  Segen,  Nachbar.  Auf  AViedersehen,  und 
damit  wir  uns  freudig  wiedersehn,  haltet  Gott  vor  Augen  und  vergesst 
die  Mutter  Gottes  nicht." 

S.  111 — 113:  [Der  alte  Glaser]  Veith  war  hauptsächlich  als  ein  Kätsel- 
mann  bekannt  und  diese  Rätsel  bildeten  auch  die  gewöhnliche  Unterhaltung- 
bei  den  fast  täglichen  Besuchen,  welche  ich  bei  ihm  machte.  Wenn  ich 
morgens,  mein  Zehinihrbrot  in  der  Hand,  zu  ihm  kam,  dann  fand  ich  ihn 
entweder  am  Bleiziehen,  denn  die  kleinen  bleigefassten  Scheiben  waren 
damals  noch  ziemlich  üblich,  oder  er  schnitt  Glastafeln  und  trieb  anderes. 
Meistens  rief  er  mir  schon  eine  Rätselfrage  entgegen,  sobald  ich  die  Tliüre 
öffnete.  Einiger  dieser  Fragen  entsinne  ich  mich  noch  und  ich  teile  sie 
in  ihrer  ganzen  schuldlosen,  neckischen  Naivetät  mit. 

Welche  Steine  finden  sich  zumeist  im  Rhein?  Die  nassen. 

Du  hast  doch  schon  von  Gottes  Grösse  gehört  und  es  steht  geschrieben,  dass 
der  Himmel  sein  Stuhl  sei  und  die  Erde  sein  Fussschemel. 


1)  Anmerkung  des  Herausgebers.  Variante  in  J.  L.  (=  Joh.  Laicus,  d.  i.  J.  W. 
Wolf)'s  Erzählung  „Aus  der  Spinnstube",  im  ^>.  Bändchen  seiner  „Kathol.  Trösteinsamkeit" 
(Bilder  aus  dem  Bauernleben.     1854),  S.  51: 

Abends,  wenn  ich  schlafen  geh,  Zwei  zu  meiner  Hnkeu  Seit, 

Vierzehn  Engel  um  mich  stehen,  Zwei,  die  mich  decken, 

Zwei  zu  meinen  Häupten,  Zwei,  die  mich  wecken. 

Zwei  zu  meinen  Füssen,  Zwei,  die  mich  weisen 

Zwei  zu  meiner  rechten  Seit,  Ins  himmlische  Paradeischen.    Amen. 

S.  53-  63  in  dieser  Geschichte,  die  stark  idyllisch  gefärbt  ist,  bringt  ein  vollständiges  altes 

„Weihnachtsspiel"  ohne  Quellenangabe  (s.  oben  S.  352). 

2)  Vgl.  auch  für  später  S.  151:  Das  „Alles  meinem  Gott  zu  Ehren"*,  welches  ich 
täglich  morgens  in  der  Kirche  sang  (Bemerkung  Wolfs). 


Volkskundliches  aus  Johann  Wilhelm  Wolfs  Kölner  Jugenderinnerungen.         357 

Wie  viel  Ellen  Tuch  gebraucht  er  nun  zu  einem  Rock? 

Nur  fünf  Ellen  und  nicht  mehr,  so  viel  als  ein  armer  Mann,  denn  Jesus  sagt: 
Was  ihr  dem  Geringsten  unter  meinen  Brüdern  thut,   das  habt  ihr  mir  gethan. 
Wie  viel  wiegt  der  Mond?  Ein  Pfund,  denn  er  hat  vier  Viertel. 

Hängt  der  Hund  am  Schwanz,  oder  der  Schwanz  am  Hund? 

Je  nachdem  man  den  Hund  aufhebt. 
Wer  hat  den  vierten  Teil  aller  Menschen,    die  auf  Erden  lebten,  umgebracht? 

Kain. 
Und  wer  hat  geschrieen,  dass  alle  Menschen  auf  der  Erde  es  hörten? 

Der  Esel  in  der  Arche  Noahs. 
In  welchen  Kleidern  geht  die  Sonne  unter?  In  Westen. 

Wer  es  macht,  der  braucht  es  nicht  ^), 
Wer  es  kauft,  der  will  es  nicht. 
Wer  es  gebraucht,  der  weiss  es  nicht. 
Was  ist  das?  Ein  Sarg. 

und  dgl.  mehr. 

8.  110:  Und  (lass  ich  eines  alten  herrlichen  Freundes  nicht  vergesse, 
(lesgleichen  ich  nie  und  nirgend  wiederfand,  des  ehrenhaften  alten  Herrn 
M  .  t  .  seh,  dieses  Mannes  nach  dem  Herzen  Gottes,  den  der  Herr  nun  vor 
anderthalb  Jahren  zu  sich  berief.  Er  gehört  zu  denen,  welche  auf  mich 
von  grossem  und  nachhaltigem  Einfluss  waren  und  denen  ich  dies  bis  zu 
meiner  letzten  Stuude  Dank  wissen  werde. 

(8.  117)  Nicht  weit  von  uns  stand  ein  kleines  Haus,  das  war  sein 
Eigentum,  da  wohnte  er  mit  seiner  Frau  und  zwei  lieben  Kindern.  Jeden 
Morgen  um  dieselbe  Minute  kam  er  an  unserer  Thüre  vorbei,  um  auf  sein 
Kontor  zu  gehen,  jeden  Mittag  genau  um  dieselbe  Zeit  kehrte  er  zurück.  — 

(8.  118)  Wenn  ich  wusste,  dass  er  zu  Hause  war,  in  den  Mittags- 
oder Abendstunden,  ging  icli  hin.  --   —  — 

An  Unterhaltung  fehlte  es  nie  und  deren  Seele  war  stets  der  liebe, 
alte  Herr  —  —  — 

(8.  119)  Auch  wenn  musikalische  Messen  in  den  Kirchen  waren,  kam 
Herr  M.    gern    mit    seiner  Geige   und  half  bei  der  Aufführung;    dann  war 

er    für    das   ganze  Orchester  ein  Bild  der  Erbauung. Oder  Frau  M. 

sang  mit  ihrer  feinen,  lieblichen  Stimme,  von  dem  Quartett  der  Männer 
begleitet,  schöne  Lieder;  ob  sie  gleich  keine  Noten  kannte,  hatte  sie  doch 
das  feinste  musikalische  Gehör  und  was  sie  einmal  hörte,  blieb  ihr  fest 
im  Gedäclitnis. 

Besonders  war  Herr  M.  mir  eine  grosse  Hilfe  für  meine  Sammlungen 
von  Liedern,  kölnischen  Geschichten  u.  dgl.  Er  war  an  ihnen  nicht  ärmer, 
als    der    selige  Herr  Stamm,    ich  fand   diesen   in  ihm  wieder.     Da  sass  er 

deun  abends  in  seinem  Schlafrock  in  dem  hölzernen  Sessel —  und 

liess  die  Geschichte   der  Stadt  und  ihre  Anekdoten  an  meinem  Auge  vor- 


1)  Anmerkung  des  Herausgebers.    Dies  Versrätsel  steht  auch  isoliert  am  Schlüsse 
von  Wolfs  ..Schatzkästlein  für  Arme  im  Geist"  (s.  oben  S.  B52)  S.  202. 


358  Fränkel: 

beiziehn,  ein  prächtiger,  reicher,  bunter  Zug,  [1-OJ  Ernst  und  Komik  im 
innigsten  Verein.  Wenn  er  einmal  anfing  zu  erzählen,  ging  der  Strom  fort  und 
fort  und  endete  oft  erst  bei  dem  herzlichen  Abschied  an  der  Hausthür, 

Von  den  alten  kölnischen  Studenten  wusste  er  manchen  Schwank,  aber 
auch  ernstere  Geschichten.  So  war  ein  Judenmädchen,  das  heimlich  Unter- 
richt in  dem  heiligen  Glauben  nahm  und  darum,  so  oft  es  konnte,  zu  den 
Franziskanern  ging.  Die -luden  waren  ihr  endlich  auf  die  Spur  gekommen 
und  sie  durfte  nur  selten  mehr  aus.  Das  erfuhren  die  Studenten,  und 
ebenfalls,  dass  es  ihr  sehnliches  Verlangen  sei,  in  einen  Orden  zu  treten. 
Als  sie  nun  das  nächste  Mal  auf  der  Strasse  erschien  mid  zwei  Juden 
hinter  ihr  drein  gingen,  um  sie  zu  bewachen,  fuhr  plötzlich  ein  längst  dazu 
bereitgehaltener  Wagen  heran,  zwei  Studenten  sprangen  heraus,  hoben  sie 
hinein  und  waren  bald  mit  ihr  verschwunden,  während  sich  die  Juden 
auf  der  Strasse  jammernd  die  Haare  rauften.  So  wurde  der  Wunsch  des 
armen  Mädchens  erfüllt  und  sie  starb  fromm  als  Nonne. 

S.  124f. :  Er  [S.  121:  der  gute  kindlich  fromme  vormalige  Kapuziner- 
pater —  — ]  sprach  eben  von  dem  heil.  Franziskus  und  erzählte  uns  dessen 
Geschichte,  wie  der  Heilige  durch  seine  Herrschaft  über  sich  selbst  und 
durch  sein  beständiges  Leben  in  Gott  auch  die  Natur  sich  unterworfen 
hatte  und  nahe  war  jenem  heiligen  Urzustand,  wo  die  Tiere  noch  nicht 
vor  den  Menschen  flohen  oder  ihn  mörderisch  überfielen,  wie  Franziskus 
vielmehr  gleich  vielen  andern  Heiligen  mit  der  Natur  im  vertrautesten 
Verkehr  gelebt  habe,  so  dass  die  scheue  Schwalbe  und  der  furchtsame 
Hase  sich  zutraulich  ihm  näherten  und  Schutz  bei  ihm  suchten.  Er  spracli 
von  seiner  einfach  erhabenen  und  rührenden  Weihnachtsfeier  und  schilderte 
den  Heiligen,  wie  er  die  Hirten  der  Gegend  von  Rom  um  die  Höhle  ver- 
sammelte, worin  er  eine  Darstellung  der  Krippe  errichtet  hatte  und  wo 
bei  dem  hell  die  heilige  Nacht  durchfunkelnden  Lichterschein  ein  Priester 
die  heilige  Messe  las,  die  Hirten  ihre  schönen  Lieder  sangen  und  Franziskus 
[125]  in  flammender  Rede  die  Wunder  dieser  Nacht  pries  und  die  ganze 
überflutende  Gottesliebe  seines  Herzens,  welche  Sonne  und  Mond,  Wasser 
und  Feuer,  ja  alle  Geschöpfe  zum  Lobe  des  Herrn  aufrief,  in  begeisterten 
Worten  ausströmte. 

S.  136:  Diese  Forschungen  dehnten  wir  bahl  auch  auf  die  Pfarrkirche 
aus  und  es  dauerte  nicht  lange,  so  legten  wir,  wie  denn  der  Sanimelgeist 
bei  Kindern  leicht  geweckt  ist,  eine  „Sammlung  von  Altertümern"  an. 
Welcher  Art  sie  war,  kann  man  sich  schon  denken.  Stücke  von  Steinen 
genügten,  wenn  auch  die  Spur  des  Meisseis  kaum  sichtbar  an  denselben 
war,  und  über  jedes  Stück  kam  mit  der  Zeit  ein  Zettel,  welcher  seine 
Nummer  und  die  Angabe  des  [S.  137]  Fundortes  enthielt. — 

S.  139:  Unterdessen  führte  mein  guter  Stern  mich  oft  zu  einem  Nach- 
bar und  Hausfreund,  der  alte  Gemälde,  Schnitzworke,  Becher,  Rüstungen 
u.  a.  ähnliche  sammelte. 


Volkskundliches  aus  Johann  Wilhelm  Wolfs  Kölner  Jugenderinuerungen.         359 

8.  1()H:  Er  [=  Hilgers,  ein  junger  Mann,  der  als  Verwalter  des  Kirchen- 
vermögens,  oder  vielmehr  als  Rechner,  oft  ins  Haus  kam  und  sich  dos 
Gärtchens  mit  Liebe  annahm]  kam  jeden  Tag  nach  Tisch  auf  eine  halbe 
Stunde  ins  Gärtchen  und  arbeitete  da  allerhand  —  —  wobei  ich  ihm  stets 
zur  Hand  ging  und  seinen  Erzählungen  von  den  Blumen  zuhorchte.  Wenn 
er  sich  dabei  so  ganz  gehen  liess,  dann  hatte  er  etwas  von  jenen  alten 
deutschen  [1631  Sängern  der  Minne,  und  ihrem  reinen  und  vollen  Xatur- 
gefühl.  von  ihrer  Freude  an  frischen  Bronnen  und  duftigen,  schattigen 
Linden,  an  Blumen  und  Vögeln,  an  Wald  und  Au  und  Laub  und  Gras, 
von  der  lieblichen  Naivetät,  der  blumenaugig  lächelnden  Kinderunschuld, 
von  dem  anschmiegsam  zutraulichen  Wesen,  das  uns  in  den  Minneliedern 
so  sehr  anzieht.  Als  ich  später  die  Bilder  dieser  Sänger  im  manessischen 
Codex ^)  sah,  musste  ich  an  den  jungen  Hilgers  denken,  wie  er  ein  schönes 
Volkslied  trällernd  oder  singend,  rittlings  oben  auf  der  hohen  Mauer  sass 
und  die  llebenzweige  schnitt  und  band. 

S.  165:  Die  Lieder,  welche  er  [Hilgers |  gesungen,  waren  mir  haften 
geblieben,  und  ich  fragte  nun  Drückchen ^)  oft,  ob  es  auch  so  schöne  Lieder 
wisse?  Es  bejahte  und  sang  sofort  zum  schnurrenden  Spinnrad  Lied  auf 
Lied,  und  ich  in  meiner  Sammellust  fing  an,  sie  mir  aufzuschreiben. 
Abends  gingen  wir  oft  zu  den  in  der  Nähe  wohnenden  Eltern  des  Kaplans 
und  dann  quälte  ich  stets  die  alte  Mutter,  mir  auch  Lieder  zu  singen, 
wofür  ich  ihr  zu  erzählen  vers})rach.  Für  jede  meiner  Legenden  und 
Geschichten,  Märchen  und  Sagen  gab  sie  ein  Lied  her,  und  als  mein  Vorrat 
zu  Ende  war,  da  fing  ich  an  welche  zu  ersinnen  und  damit  machte  ich 
so  viel  Glück,  dass  oft  die  Spinnräder  der  Mutter  und  Tochter  still  standen 
und  beide  Frauen  meinen  abenteuerlichen  Phantasien  horchten,  in  welchen 
sich  Elemente  aller  drei  genannten  Gattungen  der  Volkspoesie  wunderlich 
kreuzten.  Der  alte  Vater  des  Kaplans  —  —  lächelte  zu  den  kindischen 
Erfindungen.  —  —  Sowie  aber  des  Kaplans  Tritt  auf  [166]  der  Treppe 
erscholl,  floh  die  Märchen-  und  Wunderwelt      -    —  — 

Legenden!  Wie  sehr  spottet  man  über  sie  und  wie  wenig  versteht 
man  sie!  Indem  man  ihrer  spottet,  spottet  man  unser,  denn  man  ist  der 
Meinung,  dass  wir  alle  Legenden  für  unzweifelhafte  Wahrheit,  für  ein 
anderes  Evangelium  halten,  während  wir  doch  im  allgemeinen  ein  so 
richtiges  Gefühl  für  das  Echte  und  Unechte  in  ihr  haben.  Es  gibt  wahre 
Legenden,  d.  h.  beglaubigte  und  von  keiner  Kritik  (die  nicht  gerade  alles 
hinwegleugnet,  was  nicht  zu  bestimmten  vorgefassten  Meinungen  passt, 
unbekümmert  um  alle  Zeugnisse)    wegzufegende  Berichte   über  das  Leben 

1)  Die  berühmte  Handschrift  mittelhochdeutscher  Dichtungen,  die  früher  wohl  dem 
Züricher  Eatsherrn  Manesse,  dann  der  Pariser  Ribliotheque  nationale  gehörte  und  sich  seit 
18SS  wieder  (wie  seit  1G07)  auf  der  Heidelberger  Universitätsbibliothek  befindet. 

2)  Anmerkung  des  Herausgebers.  Die  erwachsene  Schwester  des  jungen  Kaplans, 
bei  dem  der  Knabe  W.  erzogen  wurde  (S.  159:  „Gertrud,  meist  nur  echtkölnisch  Drückchen 
genannt"). 


3()0  Fränkel:  Volkskundliches  aus  J.  W.  Wolfs  Kölner  Jugenderinnerungen. 

und  die  Wunder  der  Heiligen,  es  giebt  aber  auch  teilweise  erdichtete 
Legenden,  und  wenn  ihnen  auch  die  volle  Wahrheit  fehlt,  so  liegt  doch 
stets  eine  Wahrheit  in  ihnen. 

Jede  Zeit  hat  ihre  Interessen.  Die  der  unserigen  sind  leider  allzu 
irdische,  dem  Ideal  allzu  fernstehende,  der  Materie  allzusehr  zugewandte.^) 

(S.  1G7:)  Anders  waren  die  Interessen  unseres  Volkes  im  Mittelalter. 
Der  Angelpunkt,  um  den  sich  ihm  damals  alles  drehte,  war  Christus  und 
Seine  erlösende  Lehre  und  was  mit  ihm  zusammenhing,  darunter  denn 
vorzüglich  auch  die  Glorie  Seiner  heiligsten,  unbefleckten  Mntter'*)  und 
der  Heiligen,  die  durch  treue  Befolgung  Seiner  Lehre  Muster  und  Vor- 
bilder der  Tugend  wurden.  Wenn  darum  damals  ein  Dichter  nach  einem 
Vorwurf  zu  einer  Dichtung  oder  Erzählung  griff,  so  war  es  vorzugsweise 
ein  christlicher  Gegenstand.  Die  Feier  des  Heiligen  war  sein  Ziel,  die 
Belebung  des  christlichen  Sinnes  sein  Streben  und  dazu  wirkte  er  mit 
aller  Glnt  seiner  Phantasie,  mit  aller  Wärme  seines  Gefühls,  mit  derselben 
ganzen  tiefen  Innerlichkeit  seiner  Seele,  mit  der  Begeisterung,  die  Millionen 
anderer  auf  andern  Wegeu  dasselbe  erstreben  Hess,  die  den  Kreuzfahrer 
von  Vater  und  Mutter,  von  W^eib  und  Kind,  von  Haus  und  Hof  trieb,  um 
den  christlichen  Königsthron  am  heiligen  Grab  zu  gründen  und  den  Un- 
gläubigen die  teuerste  Stätte  der  Welt  zu  entreissen;  die  Fürsten  und  Könige 
und  Bürger  und  Bettler  ihre  Nacken  unter  dem  Stein  beugen  liess,  den 
sie  zum  Bau  des  Hauses  Gottes  trugen;  die  den  Reichen  aller  seiner  Habe 
(168)  sich  entäussern  liess,  um  dem  armen  Jesu  zu  dienen,  die  gerne  mit 
dem  bescheidensten  Hause  vorlieb  nahm,  wenn  nur  des  Höchsten  Tempel 
herrlich  und  majestätisch  in  die  Lüfte  wuchs,  der  Gott  und  Jesus  und  der 
Tröster  alles  waren.  Staub  und  Asche  der  Mensch,  die  darum  auch  gesegnet 
wirkend  dastand  und  gross  dasteht  auf  ewige  Zeiten. 

Wie  aber  damals  dem  Baumeister  und  dem  Maler  und  jedem  andern 
Künstler  kein  Schmuck  zu  schön  war,  der  Gottes  Ehre  galt,  so  ging  es 
auch  dem  dichtenden  Künstler,  so  lange  die  innere  Wahrheit  der  Sache 
nur  nicht  litt.  Wenn  wir  das  prächtige  Triumphthor  eines  Chores,  den 
Goldgrund  eines  Gemäldes  sehen,  so  wird  es  uns  nicht  einfallen  zu  fragen, 


1)  Anmerkung  des  Herausgebers.  Es  folgt  hier  ein  überaus  herber,  übrigens 
in  der  Allgemeinheit  ganz  ungerechter  Ausfall  wider  den  angeblich  unsittlichen  Geist  „des 
vollen  Antichristentums"  in  der  modernen  Poesie  und  Litteratur  {1852!),  der  sich  deckt 
mit  W.s  Auslassungen  andernorts,  wie  den  Allg.  dtsch.  Biogr.  43,  771  f.  von  mir  ver- 
zeichneten. 

2)  Anmerkung  des  Herausgebers.  Deren  Ruhm  und  Preis  ist  ein  Leitstern  in 
W.s  Jugend  und  letzten  Jahren;  vgl.  meine  Angaben  a.  a.  0.  S.  772.  Das  G.  Kapitel  der 
Jugendgeschichte,  S.  63-79,  ist  direkt  betitelt  „Maria"  und  nur  ihr  gewidmet.  Ins  volks- 
kundliche Revier  schlagen  seine  Aufsätze  „Der  Marienmonat  in  Belgien"  (Zeitschrift  „Der 
Katholik"  N.  F.  IH,  548),  .Lateinische  Lieder  über  die  Freuden  der  allerseligsten  Jung- 
frau" (ebenda  IV,  262),  „Mittelalterliche  bildliche  Ausdrücke  von  der  seligsten  Jungfrau 
Maria"  (ebenda  III,  84),  „Ein  Wort  für  unser  [=  das  katholische]  deutsches  Kirchenlied-^ 
(ebenda  III,  l'J3),  alle  bisher  unbeachtet  geblieben,  da  anonym. 


Dörler:  Tiroler  Teufelsglaube.  361 

ob  die  Himmelsthür  (denn  das  Chor,  in  dem  der  Heiland  wohnt,  bedeutet 
den  Himmel)  gerade  so  verziert  sei,  ob  die  Luft  im  Himmel  wirklich 
goldfarben  aussehe?  Ebensowenig  können  wir  aber  auch  bei  der  Legende 
fragen,  ob  denn  jedes  Wort  sich  genau  so  verhalte?  Wir  müssen  dem 
Dichter  sein  Recht  lassen  und  uns  seines  Werkes  freuen,  es  mit  offenem 
Herzen  empfangen  und  geniessen,  wie  es  jene  Zeit  genoss,  den  tieferen 
Grund  festhaltend. — 

S.  169:  Die  Liedersammlung  hatte  mich  sehr  beschäftigt  und  nun 
bald  andere  in  Folge.  Ich  zeichnete  jetzt  alle  Legenden  und  Sagen  und 
Geschichten  der  Stadt,  welche  ich  vom  Herrn  Stamm  und  anderen  gehört 
hatte,  auf  einzelne  Bogen  auf  und  nähte  sie  zusammen;  daraus  las  ich 
dann  abends  in  der  Familie  des  Kaplans  und  mitunter  auch  am  Tage 
meinen  Kameraden  vor.  Wie  dort,  so  erntete  ich  auch  bei  diesen  grossen 
Beifall  durch  mein  Werk  und  sie  baten  mich,  es  ihnen  zu  leihen,  um  es 
zu  Hause  vorzulesen.  Ich  gab  es  einem,  der  gab's  seinen  Eltern  und  ich 
sah  es  nie  wieder.  Unverdrossen  fing  ich  wieder  von  vorn  an  und  Hess 
es  jetzt  die,  welche  es  haben  wollten,  abschreiben:  da  sassen  und  lagen 
denn  mehr  als  einmal  ihrer  sechs,  sieben  schreibend  am  Boden,  während 
ich  ihnen  vordiktierte. 

Der  Schullehrer  merkte  bald  diese  poetisch-archäologische  Thätigkeit 
und  Hess  sich  von  ein  paar  Knaben  die  Hefte  zeigen,  die  jetzt  auch  in 
der  Schule  vorgelesen  wurden  und  mitunter  Schuld  waren,  dass  andere 
Aufgaben  ungemacht  blieben,  aber  er  liess  uns  um  so  mehr  gewähren,  als 
es  immerhin  eine  Übung  war  und  auch  sonst  keine  Klagen  über  uns  nötig 
waren. 

Notiz  des  Herausgebers;.  „Katholische  Trösteinsamkeit  Zweites  Bändchen. 
(Zweite  Auflage.  18G4.)  Schatzkästlein  für  Arme  im  Geist.  Von  Johannes  Laicus",  wor- 
über wir  oben  in  unserer  Einleitung  einige  Andeutungen  machten,  enthält  viele  Seiten- 
stücke zu  bekannten,  durch  die  Weltlitteratur  wandernden  volkstümlichen  Motiven.  Bei- 
spielsweise ist  „der  Marienritter",  S.  2b  f.,  mit  dem  Schillerschen  Fridolin  (Gang  nach  dem 
Eisenhammer)  und  einem  dazu  gehörigen  Passus  des  mittellateinischen  Ruodlieb-Romans 
zu  vergleichen,  „Zweierlei  Nüsse"',  S.  !)8f.,  mit  der  Kästchenfabel  der  „Gesta  Romanorum', 
die  durch  Shakespeares  „Merchant  of  Venice"  weiteste  Verbreitung  erfahren  hat. 

Aschaffenburg. 


Tiroler  Teufelsglaube. 

Von  Adolf  F.  Dörler. 

(Schluss  von  IX,  273.) 

Als  die  Brugger-Kirche  bei  Volders  im  Unterinnthal  im  Bau  begriffen 

,    ging  den  Bauunternehmern  das  Geld  aus  und  sie  wussten  sich  nicht 

anders  zu  helfen,    als  den  Teufel  zu  beschwören.     Nachdem  er  ihnen  die 


wai 


362  Dörlcr: 

verlangte  Siimine  gebracht  hatte,  dankten  sie  ihn  wieder  ah.  Bevor  jedoch 
der  Teufel  abzog,  rief  er  ihnen  drohend  zu:  „I  wear  enk  schun  no  an 
Spuk  sehn  lossn!"  Man  vollendete  nun  mit  dem  Gelde  des  Teufels  den 
Bau  der  Kirche  und  ein  Künstler  begann  die  Freskogemälde  am  Plafond 
zu  malen.  Aber  es  gelang  ihm  nicht,  den  einzelnen  Heiligeugestalten  die 
Augen  zu  malen.  Natürlich  berief  man  sofort  andere  Künstler,  jedoch 
auch  diese  brachten  es  nicht  zuwege.  Da  aber  jetzt  auf  sämtlichen  Fresko- 
gemälden in  der  Kirche  die  Heiligen  deutliche  Augen  haben,  so  muss  es 
sjiäter  wohl  gelungen  sein,  den  bösen  Zauber  zu  brechen.^) 

Auch  in  Thaur  versuchten  einst  drei  Burschen  mittels  eines  Gertraudi- 
büchels  den  Tschuggau  Geld  bringen  zu  machen.  Dies  brachten  sie  auch 
wirklich  zuwege  und  es  gelang  ihnen  auch,  den  Teufel,  nachdem  er  ihnen 
den  Geldsack  bereits  übergeben  hatte,  wieder  abzudanken.  Als  der  Teufel 
fort  war  und  die  Burschen  eben  den  Sack  öffnen  wollten,  um  das  Geld  zu 
zählen  und  unter  sich  zu  teilen,  trat  ganz  unvermutet  der  Herr  Pfarrer  in 
die  Stube  und  fragte  die  Burschen,  ob  er  nicht  den  Geldsack  zu  sich  ins 
Widum  nehmen  dürfe;  sie  könnten  dort  das  Geld  abholen  wann  sie  wollten. 
Die  Burschen  wagten  es  nicht,  dem  Herrn  Pfarrer  zu  widersprechen  und 
dieser  nahm  daher  den  Geldsack  mit.  Drei  Wochen  später  war  im  benach- 
barten Rum  drüben  eine  Festlichkeit  und  die  drei  hätten  jetzt  gern  ein 
paar  übrige  Groschen  in  der  Tasche  gehabt.  Wie  einer  von  ihnen  den 
Pfarrer  auf  der  Strasse  zufällig  traf,  bat  er  ihn,  er  möchte  ihnen  jetzt  das 
Geld  geben;  sie  könnten's  morgen  gerade  gut  brauchen.  Die  Augen  des 
Pfarrers  wurden,  w^ährend  der  Bursche  sprach,  immer  grösser,  und  als  der 
Bittsteller  geendet  hatte,  forderte  ihn  der  Pfarrer  auf,  ihm  die  ganze  Ge- 
schichte, wie  er  denn  zu  dem  Gelde  gekommen  sein  sollte,  zu  erzählen. 
Nachdem  dies  der  Bursche  gethan  liatte,  sagte  der  Geistliche,  es  sollten 
morgen  früli  acht  Uhr  alle  drei  zusammen  ins  Widum  auf  sein  Zimmer 
kommen,  dort  werde  er  ihnen  schon  geben  was  für  sie  gut  sei.  Wie  sie 
nun  genau  zur  angegebenen  Zeit  beim  Pfarrer  eintraten,  griff  dieser  nach 
einem  spanischen  Röhrl  und  hätte  entschieden  davon  ausgiebigen  Gebrauch 
gemacht,  wenn  die  drei  nicht  eilends  die  Flucht  ergriffen  hätten.  Es  hatte 
ilmen  nämlicli  nicht  der  Pfarrer  den  Geldsack  abgenommen,  sondern  sich 
der  Teufel  in  die  Gestalt  des  Pfarrers  verwandelt,  um  so  wieder  zu 
seinem  ihm  abgetrotzten  Gelde  zu  kommen.  Auch  ist  dem  Teufel  sehr 
viel  daran  gelegen,  wahrhaft  gottesfürchtige  Geistliche  bei  der  Bevölkerung 


1)  Berühmt  ist  diese  Kirche  durch  den  Stein  des  Gehorsams,  der  in  einer  Mauer- 
nische rechts  vom  Eingang  zu  sehen  ist.  Die  ursprüngliche  Sage  hierüber  s.  bei  Zingerle 
S.  490.  Eine  andere  Version  sagt,  der  Stein  hätte  im  Herabkollern  beinahe  einen  Fuhr- 
mann erschlagen.  Da  habe  aber  dieser  gelobt,  ein  Pfund  Kerzen  der  Kirche  zu  spenden, 
worauf  der  Stein  stehen  geblieben  sei. 

In  dieser  Kirche  packte  der  Teufel  einmal  eine  Nonne  und  zerrte  sie  zu  einem 
Kirchenfenster  hinaus.  Die  davon  herrührenden  Blutspuren  konnten  lange  nicht  übertüncht 
werden. 


Tiroler  Teufelsglaube.  363 

um    ihren    guten  Ruf    zu    bringen,    und    es  ist   ihm  hierzu  kein  Mittel  zu 
schlecht.  ^) 

So  war  z.  B.  in  Brandenberg  ein  Pfarrer  Namens  Winkler,  der  weit 
und  breit  ob  seiner  Frömmigkeit  in  hohem  Ansehen  stand.  Er  selbst  ging 
stets  in  schlechten  Kleidern  herum,  damit  er  von  seinem  kärglichen  Ein- 
kommen möglichst  viel  an  die  Armen  verteilen  konnte.  Auch  war  er  ein 
berühmter  Teufelsaustreiber  und  Geisterbanner  und  kein  Mensch  konnte 
ihm  eine  schlechte  Handlung  nachsagen.  Da  ging  einmal  ein  Bauer  spät 
nachts  beim  Huberwirt  vorbei,  schaute  durch  das  Fenster  ins  Herrenstübl 
und  bemerkte  dort  den  Pfarrer,  wie  er  neben  der  Kellnerin  sass  und 
zärtlich  den  Arm  um  ihren  Hals  geschlungen  hatte.  Das  ärgerte  den 
Bauer  sehr  und  er  beschloss,  dem  Pfarrer  eine  Verlegenheit  zu  bereiten. 
Er  ging  zum  Widum,  läutete  dort  und  verlangte  den  Herrn  Pfarrer  zu 
s})rechen.  Die  Häuserin  sagte,  sie  werde  ihn  sofort  rufen.  Gleich  darauf 
kam  der  Pfarrer  herunter.  Jetzt  war  der  Bauer  so  betroffen,  dass  er  auf 
die  Frage  des  Pfarrers,  was  er  wünsche,  keinen  Laut  hervorbringen  konnte. 
Da  fragte  ihn  der  Seelsorger  noch  einmal,  was  ihn  zu  ihm  führe.  Aber 
der  Bauer  blieb  immer  noch  stumm,  denn  er  konnte  ihm  doch  unmöglich 
sagen,  was  er  im  Wirtshause  gesehen  hatte.  Erst  auf  wiederholtes  Drängen 
erzählte  ihm  der  Bauer  alles  und  bat  ihn  um  Yerzeihung  wegen  des  gegen 
ihn  gehegten  Misstrauens.  Da  sagte  der  Pfarrer  halblaut  zu  sich  selbst: 
„A,  will  er  mi  iatz  also  kriegn  dr  Tuifl!"  und  bedeutete  dem  Bauer,  er 
könne  ruhig  nach  Hause  gehen  und  brauche  sich  nicht  zu  fürchten.  Dieser 
stand  aber  doch  auf  dem  Heimwege  damische  Ängsten  aus,  weil  er  glaubte, 
der  Teufel  könnte  sich  an  ihm  für  den  Verrat  rächen. 

In  einer  ähnlichen  Eage  hat  sich  auch  einmal  der  Pfarrer  von  Fliess, 
Namens  Alois  Maass^),  befuuden,  der  sich  gleichfalls  durch  seine  Teufels- 
austreibungen und  Wohlthateu  den  grimmigsten  Hass  des  Satans  zu- 
gezogen hatte.  In  Gestalt  des  Pfarrers  bandelte  auch  hier  der  Teufel 
mit  allen  minderen  Menschern  an,  machte  nächtliche  Spektakel  und  führte 
die  ärgsten  Sauereien  auf,  die  im  ganzen  Dorf  grosses  Ärgernis  erregten. 
Als  dem  Pfarrer  endlich  zu  Ohren  kam,  was  er  für  einen  Doppelgänger 
habe,  bannte  er  ihn  in  Anwesenheit  mehrerer  Gemeindeangehörigen  kurz 
nach  ßetläuten  auf  sein  Zimmer.  Sobald  der  Teufel  in  seiner  falschen 
Gestalt  eingetreten  war,  konnte  kein  Mensch  mehr  den  rechten  Pfarrer 
vom  falschen  unterscheiden,  so  ähnlich  waren  sie  einander.  Da  sprach 
der  eine  von  beiden: 

„Der  Tag  gehört  mein,  Die  Stund  ghört  uns  mitnonder 

Die  Nacht  gehört  dein,  Und  so  scheid  uns  Gott  vunonder!" 


1)  Über  das  Geldbringenmacben  vgl.  Zingerle  S.386,  Alpeuburg  8.267,  Hauser  S.  38, 
Dörler  S.  78  f. 

2)  Dieser  Pfarrer   war    ein   so  gottseliger  Herr,    dass  ihm  der  Teufel  nur  vorwerfen 
konnte,  er  habe  als  Bube  einmal  eine  Rübe  vom  Feld  gestohlen. 


364  Dörler: 

Diesem  Spruch  konnte  der  Teufel  nicht  Stand  halten  und  fuhr  pfauchend 
vor  Wut  zum  Fenster  hinaus.^) 

Wie  sehr  man  sich  vor  dem  Teufel  besonders  auf  Reisen  und  nächt- 
lichen Wanderungen  in  acht  nehmen  sollte,  damit  er  einem  an  Leib  und 
Seele  keinen  Schaden  anthun  könne,  beweist  folgender  Vorfall.  Ein  Be- 
sitzer des  vor  einigen  Jahren  abgebrannten  Eggelerhofes,  einer  der  Sillhöfe 
bei  Innsbruck,  war  vor  Zeiten  mit  einer  Fuhre  ins  Etschland  verreist. 
Eines  Abends  hörte  die  Bäurin  draussen  einen  Peitschenknall  und  rief 
ihrem  Bübl  zu:  „Geah  aussi,  es  schnellt  jo,  iatz  kimmt  dr  Votr!"  Als  der 
Bube  vor  das  Haus  getreten  war  und  niemanden  sah,  ging  er  in  den  Stall 
nachzuschauen,  ob  vielleicht  der  Yater  beim  Versorgen  der  Pferde  sei. 
Allein  er  war  auch  hier  nicht  zu  finden.  Bei  der  Gsottruhe  sah  dagegen 
der  Bube  ein  Mandl  lehnen,  das  hatte  eine  mächtige  weisse  Hahnenfeder 
auf  dem  Hute,  weisse  Hemdärmel  und  Kniehosen  mit  grünen  Hosenhebern. 
Das  Bürschl  fragte  nun  den  Eindringling:  „Wos  thuest  denn  du  do?" 
„Host  nicht  dernoch  z'  frogn!"  entgegnete  das  Mandl.  „Wort  nar,  dr  Votr 
kimmt!"  drohte  darauf  der  Bube,  aber  das  Mandl  lachte  höhnisch:  „Jo,  dr 
Votr  kimmt!  wear  woass  wo  dear  ist!"  und  war  im  selben  Augenblick 
verschwunden.  Der  Vater  kam  am  selben  Abend  nicht.  Am  folgenden 
Tag  aber  brachten  sie  ihn  „kloaverruckt"  (gänzlich  verrückt).  Das  hatte 
ihm  der  Teufel  angethan;  weiss  Gott  wie  er  über  ihn  Macht  bekommen 
hatte.  Man  wusste  sich  nicht  zu  helfen,  da  er  fürchterlich  tobte  und  kaum 
zu  bändigen  war,  bis  man  ihn  endlich  zum  Pfarrer  von  Fliess  hinauf  nahm. 
Der  richtete  ihn  wenigstens  so  zusammen,  dass  er  den  Leuten  nichts  mehr 
anthat,  aber  „narisch"  blieb  er  für  sein  Lebtag.  Als  er  starb,  that's  im 
ganzen  Hause  einen  schrecklichen  Rumpier,  was  ein  sehr  schlimmes  Zeichen 
ist.  Ich  will  zwar  nicht  sagen,  dass  ihn  gerade  der  Teufel  geholt  hat, 
aber  Rechtes  ist's  doch  nichts  gewesen. 

Der  Rederer  vom  Hattingerberg  im  Oberinuthal  und  noch  einige 
andere  Burschen  gingen  einst  zur  Hahnfalz  auf  den  Flaurlingerberg.  Lm 
möglichst  früh  am  Einfalz-Platz  zu  sein,  beschlossen  sie  im  Flaurlinger 
Ochsenhag  zu  übernachten  und  machten  sich's  auf  dem  Heu  bequem.  Es 
mochte  so  gegen  Mitternacht  gehen,  als  sie  plötzlich  durch  ein  wüstes 
Getrampel  auf  dem  Stadidach  geweckt  wurden.  Es  war  nämlich  der 
Teufel  auf  das  Dach  gesprungen  und  rannte  nun  oben  herum,  dass  man 
glauben  konnte,  es  seien  zum  wenigsten  ein  Dutzend  Geissböcke  auf- 
getrieben worden.  Die  Burschen  begannen  in  ihrer  Angst  laut  emen 
Rosenkranz  zu  beten,  denn  sie  hatten  gleich  gemerkt,  woher  der  Wind 
blies.  Das  konnte  der  Teufel  nicht  lange  vertragen,  hüpfte  vom  Dach 
herunter  und  machte  sich  aus  dem  Staube. 


1)  Vgl.  Dörler  S.  100,   wo    sich    ein    Ginzliuger    Burscli    den  Teufel    mit    demselben 
Spruch  vom  Halse  schafft. 


Tiroler  Teufelsglaube.  365 

Ein  früherer  Mesner  von  Götzens,  der  schon  oben  erwähnte  Kuen,  war 
einst  spät  nachts  auf  dem  Rückweg  vom  Edenhof  begriffen,  wo  er  seine 
schwerkranke  Schwester  besucht  hatte:  Er  war  bereits  im  Graben  des 
Geroldsbaches  angelangt  und  wollte  an  der  gegenüberliegenden  Böschung 
emporsteigen,  als  er  auf  einmal  einen  schwarzen,  mehr  als  mannshohen 
Panzen  (Fass)  in  der  geringen  Entfernung  von  beiläufig  zehn  Schritten 
vor  sich  hergleiten  sah.  Der  Mesner  fürchtete  sich  im  Vertrauen  auf  sein 
gutes  Gewissen  nicht  im  mindesten  und  wie  er  zu  dem  steinernen  Marterl 
an  der  Wegscheide  bei  Götzens  kam,  that  das  Fass  auf  einmal  einen 
fürchterlichen  Knall  und  einen  Sauser  und  war  verschwunden. 

Das  war  der  Alber*),  obwohl  er  nur  selten  in  der  eben  geschilderten 
Gestalt  auftritt,  sondern  meistens  als  feuriger  Mann  oder  feuriger  Yogel, 
manchmal  auch  als  glühender  Drache  oder  Beisswurm.  Immer  aber  ist  es 
der  verka])pte  Teufel  und  sein  Erscheinen  bedeutet  nie  etwas  Gutes. 

Ein  Bauer  ging  einst  spät  abends  vom  Schloss  Mentelberg  bei  Inns- 
bruck nach  dem  Dorfe  Völs.  Wie  er  das  kleine  Wäldchen  unweit  von 
Mentelberg  betrat,  sah  er  in  der  Dämmerung  den  Alber  in  Gestalt  eines 
riesigen  Lotters,  der  bald  über  und  über  glühend  war,  bald  wieder  kohl- 
schwarz wurde,  durch  den  Wald  herunterkommen  und  als  derselbe  die 
Strasse  erreicht  hatte,  vor  ihm  hergehen.  Es  dauerte  jedoch  nicht  lange, 
so  verschwand  der  Teufelsspuk  wieder. 

Das  Wiedner  Softal  von  Brück  im  Zillerthale  ging  einst  mit  ihrer 
Freundin  bei  Einbruch  der  Nacht  zum  Weiler  Imming.  Auf  einmal  sahen 
die  beiden  Mädchen  den  Alber  als  grossen  rotglühenden  Vogel  mit  langem 
Schweif  von  den  Abhängen  des  Kellerjochs  in  rasender  Schnelligkeit  über 
das  Thal  hinfliegen.  Vom  Wiederschein  der  Glut  wurde  die  ganze  Gegend 
hell  erleuchtet.  Er  schoss  gerade  auf  die  gegenüber  liegende  Berglehne 
zu  und  stürzte  sich  mit  solcher  Wucht  in  den  zum  Gehöfte  Guggenbichl 
gehörigen  Hochwald,  dass  die  Glunen  (Funken)  hoch  aufsprühten  und  wild 
durcheinander  stoben. 

Manchmal  fährt  ei-  auch  in  Gestalt  eines  feurigen  Lindwurms  vom 
Gipfel  des  Floitenturms  ins  Stilluppthal  hinab. 

Einmal  fuhr  er  vom  Hochederspitz  gerade  auf  den  Mucheler  Marti  zu, 
der  ruhig  vor  seinem  Haus  in  Pfaffenhofen  sass  und  sein  Pfeiflein  rauchte. 
Mit  einem  Satz  sprang  der  Mucheler  in  den  Hausgang,  schlug  die  Thüre 
zu  und  hörte  im  selben  Augenblick  das  feurige  Ungetüm  prasselnd  am 
Hause  vorbeisausen. 

Am  Martinsabend  zeigte  sich  einmal  der  Alber  mit  einem  riesigen 
feurigen  Schweif  hoch  in  den  Lüften  über  Thaur. 

Der  Pfarrer  von  Fliess  hatte  schon  lange  vorausgesagt,  dass  anfangs 
der  fünfziger  Jahre  über  Inzing  eine  verheerende  Mur  hereinbrechen  und 

1)  Vgl.  Alpenburg  S.  28r,f.,  Zingerle  S.  239  u.  402,  Dörler  S.  97. 


366  Dörler: 

dass  diese  der  Teufel  verschulden  werde,  fügte  aber  hinzu:  „Du  kriegst 
mr  dächt  koa  Seal  nit!"  Als  nun  der  See  im  Hundsthal  ausbrach  und 
sich  die  Wildwasser  auf  das  an  der  Einmündung  des  Hundsthaies  ins  Inn- 
thal  gelegene  Dorf  Inzing  stürzten,  fuhr  wirklich  der  Teufel  als  feuriger 
Beisswurm  beim  Thal  aus  auf  Inzing  zu,  während  dort  alles  mit  Stein- 
blöcken, Schlamm  und  Baumstämmen  verschüttet  wurde.  Wie  der  Pfarrer 
von  Fliess  vorausgesagt  hatte,  kam  dabei  ^vunderbarerweise  niemand  ums 
Leben.  Um  aber  der  Bevölkerung  doch  noch  extra  einen  Tuck  anzuthun, 
wälzte  der  Teufel  einen  ungeheuren  Steinblock  mitten  in  die  Kirche.  Wie 
er  das  zusammengebracht  hat,  weiss  man  heutzutage  noch  nicht,  denn  der 
Stein  war  selbst  für  das  Hauptportal  der  Kirche  viel  zu  gross.  Er  konnte 
auch  nicht  anders  fortgeschaift  werden,  als  dass  man  ihn  in  der  Kirche 
sprengte  und  dann  die  einzelnen  Trümmer  daraus  entfernte. 

Ein  Inzinger  ging  in  der  Frühe  desselben  Tages,  an  welchem  später 
die  Mur  losbrach,  nach  Seefeld  kirchfahrten.  Hinter  der  Ruine  Fragen- 
stein, wo  eine  kleine  Wegkapelle  steht,  in  welcher  unser  Herr  im  Elend 
abgebildet  ist,  sah  er  auf  der  Strasse  einen  grossen  Haufen  Rossmunggen 
(Pferdemist)  liegen.  Wie  der  Kirchfahrer  näher  herangekommen  war, 
fing  der  Haufen  auf  einmal  lebendig  zu  werden  an,  die  Rossmunggen 
flogen  auf  und  schössen  durch  die  Luft  Inzing  zu.  Dabei  hörte  er  be- 
ständig den  Ruf:  „Thol  zue,  Thol  zue!"  Zur  selben  Stunde  brachen,  wne 
der  Bauer  bei  seiner  Rückkehr  nach  Inzing  erfahren  hatte,  die  verheerenden 
Fluten  über  Inzing  herein.     Das  war  entschieden  auch  „ebbes  Teifels." 

Eine  andere,  gleichfalls  teuflische  Erscheinung  ist  das  „Wildgfahr"', 
ein  Zug  höllischer  Geister,  die  unter  greulichem  „Gsteapr"  nächtlicherweile 
daherfahren  und  jedem,  der  sie  absichtlich  beobachtet,  irgend  ein  Leid 
anthun,  dass  er  gewiss  sein  Lebtag  daran  denkt.  Hier  und  da  sieht  man 
an  der  Spitze  des  Zuges  den  grünen  Jager  oder  eine  andere  Teufelsgestalt 
auf  einem  Gaule  vorausreiten,  dem  dann  ein  unentwirrbarer  Knäuel  von 
Gespenster-  und  Hexenkunter  folgt.  Andere  sagen,  das  Wildgfahr  sei  ein 
Karren,  der  wie  der  Wind  dahersause  und  auf  dem  eine  Menge  kohl- 
schwarzer Vögel  sitzen.  Wieder  andere  halten  es  für  einen  achtfüssigen 
Gaul,  der  ein  ähnliches  Geräusch  verursache,  wie  wenn  man  mit  der  Hand 
über  einen  Pergamentbogen  streichen  würde,  nur  dass  es  einem  durch 
Mark  und  Bein  gehe.  ^)  Überhaupt  erscheint  das  Wildgfahr  beinahe  in 
jedem  Orte  und  in  jedem  Thale  anders.  Dagegen  werden  wieder  im  Inn- 
thale  die  Kasermanndln  und  Martinipützleu,  die  am  Martinsabend  von  den 
Alpen  abfahren,  ganz  ähnlich  als  krumme  Gänse  beschrieben,  die  in  Holz- 
schuhen daherwatscheln  wie  die  w^ilde  Fahrt  im  Vintschgau,  die  gleichfalls 
am  Martinsabend  sich  als  Gans  zeigt  oder  wenigstens  unter  Gänsegeschnatter 
daherfährt.  *'')     Die  Gans    in    der    wilden  Fahrt   verhängt    auch    über  Neu- 

1)  Vgl.  Alpenburg  S.  53  f.  u.  69  f.,  Zingerle  S.  6  f.,  10,  21,  333,  417  u.  s.  w. 

2)  Siehe  Zingerle  S.  8. 


Tiroler  Teufelsglaube.  367 

gierig;e,  die  sie  beobachten  wollen,  ganz  dieselben  Strafen  wie  das  in  die 
Gestalt  einer  Gans  verwandelte  Kasermanndl  oder  das  Nachtvolk  in  Vor- 
arlberg.^) Die  Strafen  der  Gebnacht-ßerchta  muss  dagegen  ihr  Kindlein 
ausführen,  obgleich  sie  auch  hier  die  nämlichen  sind.  Die  Berchta  und 
das  Nachtvolk  können  aber  auch  den  Menschen  Wohlthaten  erweisen  oder 
wenigstens  einen  guten  Rat  erteilen,  was  beim  Wildgfahr  niemals  der  Fall 
ist;  ja  letzteres  rächt  sich  sogar  an  Personen,  die  ihm  ganz  unfreiwillig 
begegnen.  Falls  dir  so  ein  Wildgfahr  bekommt  (begegnet),  ist  es  am  besten, 
du  wirfst  dich  platt  auf  die  Erde,  denn  drei  Schuh  über  dem  Erdboden 
hat  es  keine  Macht  mehr. 

Unweit  der  Pontzlatzener  Brücke  im  Oberinnthal  stehen  zwei  Bauern- 
höfe, an  denen  das  Wildgfahr  besonders  gern  vorbeifuhr,  wobei  es  war, 
als  wenn  ein  paar  Wagen  mit  einem  durch  Mark  und  Bein  gehenden  Ge- 
rassel des  Weges  daherkommen  würden.  Ein  Bauernbursch,  der  durchaus 
an  keinen  Spuk  glauben  wollte,  nahm  sich  einmal  vor,  zu  schauen  was  es 
denn  damit  für  eine  Bewandtnis  habe.  Als  er  das  Gerassel  von  ferne 
nahen  hörte,  steckte  er  den  Kopf  zu  einem  offenen  Stubenfensterl  hinaus, 
konnte  aber  mit  dem  besten  Willen  nichts  sehen.  Als  es  vorbeigesaust 
war,  wollte  er  wieder  vom  Fenster  zurücktreten,  aber  sein  Kopf  war  derart 
angeschwollen,  dass  er  im  Fensterrahmen  stecken  blieb  und  er  ihn  nur 
mit  äusserster  Mühe  und  grossen  Schmerzen  wieder  zurückbrachte. 

Auch  bei  der  Kohrer  Mühle  im  Zillerthale  hörte  man  es  oft  mit  einem 
schrecklichen  „Schalaus"  und  Gelärm  durch  die  Luft  ziehen,  dass  einem 
die  Ohren  davon  gellten.  Ein  alter  Mann  hat  es  dort  einmal  zu  sehen 
bekommen,  bemerkte  aber  nur  einen  Zug  von  Gestalten,  die  er  nur  un- 
deutlich unterscheiden  konnte. 

Ein  ganz  ähnliches  „Gevelke"  ist  die  „Tagwildnis",  nur  dass  sie,  wie 
schon  ihr  Name  sagt,  bei  hellem  Tage  ihr  Unwesen  treibt  und  mäuschen- 
still daherkommt.  Da  man  von  ihr  gar  nie  etwas  zu  sehen  bekommt,  so 
ist  es  schwer  ihr  auszuweichen.  Wenn  man  aber  „die  Gnade  hat",  bemerkt 
man  doch  einen  gewissen  bösen  Wind,  der  ihr  vorausgeht,  und  wird  da- 
durch gewarnt.  Merkt  einer  aber  dieses  Zeichen  nicht  und  begegnet  der 
Tagwildnis,  so  wird  er  augenblicklich  vom  Teufel  derart  besessen,  dass  ihn 
nur  der  Pfarrer  von  Fliess  oder  der  Grundner  BuggP)  wieder  austreiben 
konnte. 

Etwas  ganz  Widerwärtiges  ist  einmal  den  Tuxern  gepassiert.  An 
einem  hohen  Frauentage  haben  einst  vierundzwanzig  Weiberleut  und  un- 
gefähr ebensoviel  Mannsbilder  getanzt  und  geplattelt.  Da  fuhr  der  Teufel 
drein  und  vom  selben  Augenblick  an  waren  alle  beteiligten  Weibsbilder 
tanzbesessen. ^)     Sobald  sie  nun  irgend  eine  Musik  hörten,  mussten  sie  un- 

1)  Siehe  Vonbun  S.  28 11".,  Hauser  S.  1  ff. 

2)  Christian  Grunduer,  ehemaliger  Pfarrer  von  Gschnitz. 

3)  Eine  andere  Sage  hierüber  siehe  Dörler  S.  103  f. 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1899.  25 


368  Dörler: 

willkürlich   tanzen,    bis  sie  vor  Erschöpfung  umfielen  oder  die  Musik  auf- 
hörte. 

Ein  Tuxer  Bauer  reiste  nun  mit  seiner  Tochter,  die  auch  tanzbsessen 
war,  nach  Wilten  ins  Kloster  zum  Fürsten  Hohenlohe.  Da  letzterer  aber 
schon  nach  Salzburg  übersiedelt  war,  musste  er  unverrichteter  Dinge 
wieder  umkehren  und  jammerte  den  ganzen  Weg  hinein.  Da  hat  aber 
plötzlich  der  Teufel  aus  dem  Mädchen  geredet:  „Ich  wüsste  schon  einen, 
den  Grundner  Buggel."  ^)  Das  liess  sich  der  Bauer  nicht  zweimal  sagen 
und  trat  gleich  den  Weg  nach  Gschnitz  an,  obwohl  sich  sein  Madl  dabei 
schrecklich  ungeberdig  aufführte.  Der  Geistliche  nahm  es  oftmals  in  die 
Kirche,  wurde  aber  durch  das  Benehmen  des  Mädchens  immer  wieder 
gestört.  Endlich  aber  gelang  es  ihm  doch,  den  Teufel  auszutreiben  und 
das  Dirndl  konnte  geheilt  heimkehren. 

Die  Tuxer  konnten  es  kaum  glauben,  dass  dieses  Mädchen  so  schnell 
vom  Teufel  befreit  worden  war,  bis  ihnen  der  Pfarrer  von  Gschnitz  sagen 
liess,  sie  sollten  nur  samt  ihrem  Curaten  kommen  und  die  Tanzbsessenen 
mitbringen,  dann  könnten  sie  sich  selbst  hiervon  überzeugen.  Auf  das 
hin  begaben  sie  sich  meist  zu  zweien  (einmal  aber  auch  zu  vieren)  mit 
ihren  besessenen  Weiberleuten  zum  Grundner  Buggl  nach  Gschnitz,  der 
dann  auch  den  Teufel  aus  einer  nach  der  anderen  austrieb. 

Als  er  auch  einmal  zwei  Dirndlen  bei  ihm  hatte,  kamen  auch  mehrere 
Tuxer  Burschen,  um  der  Teufelsaustreibung  zuzuschauen.  Das  eine  der 
beiden  hatte  er  im  hinteren  Zimmer.  Dieses  Mädchen  konnte  er  vom 
Teufel  noch  nicht  befreien,  da  musste  er  erst  noch  lange  fasten  und  beten. 
Das  andere  aber  sahen  sie  im  vorderen  Zimmer  ganz  unter  dem  Bette 
des  Pfarrers.  Auf  den  Befehl  desselben  kroch  die  Dirn  hervor,  und  der 
Pfarrer  hiess  dann  den  Teufel  iu  ihren  rechten  Schuh  hineinschliefen. 
Die  Dirn  wollte  denselben  immer  abschütteln  und  der  Teufel  redete  aus 
ihr:  „Dieser  Schuh  ist  mir  zu  klein;  darf  ich  nicht  in  eine  Fliege?''  Als 
ihm  der  Pfarrer  dies  untersagte,  fragte  der  Teufel  abermals:  „Darf  ich 
nicht  in  einen  Strohhalm?"  Dies  liess  der  Pfarrer  ebensowenig  zu.  Da 
fragte  der  Teufel  zum  letztenmale:  „Darf  ich  nicht  in  eine  Trofrinn  (Dach- 
traufe)?"^) Auch  dies  verbot  ihm  der  Pfarrer  und  sprach  darauf,  indem 
er  mit  dem  Finger  auf  eine  Stelle  auf  dem  Stubenboden  deutete:  „Do 
muest  oh'n!  (abhin,  hinab)".  Ein  Rrauscher  und  ein  Krach  und  der 
„Bleckate''  fuhr  durch  dieses  Platzl  zur  Hölle. 

Eine  gewisse  Matzler,  Kellnerin  in  Innsbruck,  die  vor  etwa  fünfzig 
Jahren  noch  lebte,  ging  einst  ahnungslos  mit  einem  flotten  Jägerburschen 
gegen    die  Hungerburg  hinauf  spazieren.     Dort  hat  sie  derselbe  aber  ent- 


1)  Der  Teufel   hat    sich    hier    offenbar   verschnappt.     Er  redete  übrigens  stets  hoch- 
deutsch aus  dem  Tanzbsessenen,  während  sie  selbst  natürlich  tuxerisch  sprachen. 

2)  Der  Teufel  wäre  nämlich  überall  lieber  hingefaliren  als  in  die  Hölle. 


Tiroler  Teufelsglaube.  369 

setzlich  zu  martern  und  peinigen  augefangen,  und  wie  sie  wieder  herunter- 
kam, war  sie  vom  Teufel  besessen.  In  diesem  Zustand  konnte  sie  sich  in 
allerlei  Gestalten  verwandeln;  bald  hatte  sie  einen  riesigen  Kopf,  bald  war 
sie  wieder  ein  kleines  Vöglein  und  verstand  überhaupt  perfekt  lateinisch 
zu  sprechen.  Ein  Priester  hat  aber  bald  darauf  mit  dem  Doktor  Pircher, 
dem  man  wegen  Zauberei  bald  die  Praxis  gesperrt  hätte,  den  Teufel 
wieder  ausgetrieben. 

Auch  in  Grinzens  bei  Axams  lebt  ein  Weiblein,  das  früher  einmal 
vom  Teufel  besessen  war.  In  jenem  Zustand  hatte  sie  der  Teufel  oft  auf 
einen  Schrofen  unweit  des  Dorfes  hinausgeführt  und  wollte  sie  von  dort 
in  die  Waldschlucht  der  Sellrainer  Ache  hinabstürzen.  Aber  jedesmal  hat 
sie  der  Himmel  doch  so  weit  in  Schutz  genommen,  .dass  dem  Unteren  die 
Ausführung  seines  schwarzen  Planes  nicht  gelang  und  er  endlich  von  dem 
vergebliehen  Beginnen  abliess.  Aus  Dankbarkeit  für  ihre  Rettung  erbaute 
sie  darauf  an  derselben  Stelle,  wo  sie  der  Teufel  hinunterstürzen  wollte, 
aus  einigen  Pfählen  und  Latten  ein  kleines  Kapellchen,  tapezierte  es  innen 
mit  schönen  Tapeten  und  Heiligenbilteln  aus  und  überdeckte  aussen  die 
ganze  Kapelle  mit  Moos,  weshalb  dieselbe  das  „Mooskirchl"  genannt  wird. 
Das  Weiblein  führte  mich  selbst  zu  dem  Kirchl  und  hat  mir  viel  von 
diesem  Mirakel  erzählt. 

Ist  man  im  Zweifel,  ob  jemand  besessen  ist  oder  nicht,  so  braucht 
man  ilmi  nur  ein  mit  dem  Stempel  von  Rom  versehenes  Bild  des  heiligen 
Angesichtes  zu  zeigen.  Das  geschah  auch  einmal  bei  einem  sterbens- 
kranken Trinser  Dirndl,  das  halt  alleweil  ein  bissele  stolz  gewesen  war. 
Durch  den  Anblick  des  Heiligenbildes  geriet  es  in  schreckliche  Raserei, 
sprang  aus  dem  Bette  und  tobte  so  fürchterlich,  dass  man  sofort  um  den 
Pfarrer  springen  musste.  Dieser  war  aber  ein  sehr  nachlässiger  Geist- 
lieher.  dem  der  Teufel  solche  Dinge  vorwerfen  konnte,  dass  er  sich 
schleunigst  wieder  entfernen  musste.  Ein  anderer  Geistlicher,  Namens 
Weiss,  der  vor  einigen  Jahren  in  Innsbruck  gestorben  ist  und  ein  sehr 
„fleissiger"'^  Herr  war,  hat  den  Teufel  gleich  ausgetrieben. 

Eine  sonderbare  Kur  hat  einmal  der  schon  oben  S.  363  erwähnte  Pfarrer 
Winkler  an  einem  wahrscheinlich  im  Teufelsnamen  getauften  Kinde  vor- 
genommen. Dieses  Kind  litt  nämlich  stets  an  einem  unersättlichen  Hunger. 
Nicht  nur  dass  es  für  sieben  Drescher  Mus  und  Nudeln  ass,  es  hätte  auch 
noch  einen  Gamsschlegel  und  eine  Pfanne  voll  Krapfen  vertragen.  Die 
Eltern  desselben  wussten  sich  nicht  zu  helfen,  denn  auf  die  Länge  hätte 
sie  das  Kind  von  Haus  und  Hof  gefressen.  Endlich  gingen  sie  zum  Pfarrer 
Winkler  nach  Brandenburg.  Dieser  hiess  die  Mutter  niederknien  und  das 
Kind  fest  in  den  Armen  halten,  aber  ja  nicht  loslassen.  Darauf  begann 
er  sonderbare  Gebete  zu  sprechen.  Das  Kind  wurde  während  dessen 
immer  schwerer  und  schwerer,  so  dass  es  die  Mutter  kaum  mehr  der- 
heben  konnte    und    ihr    der  Schweiss    nur    so   herunterbachelte.     Plötzlich 

25* 


370  Dörler: 

horte    der  Pfarrer    zu    beteu    auf,    das  Kind  wurde  wieder  leicht  und  war 
geheilt. 

Eine  ganz  unglaubliche  Thatsache  von  einem  im  Teufelsnamen  getauften 
Kinde  erzählt  uns  auch  Zingerle  S.  372. 

Leider  Gottes  gab  es  in  früheren  Zeiten  genug  gottvergessene  Priester, 
welche  die  Kinder  aus  blosser  Bosheit  im  Teufelsnameu  tauften.  So  ein 
Pfaffe  war  auch  einmal  in  Mils  bei  Hall  angestellt.  Auf  dem  sein  Hand- 
werk ist  man  durch  einen  fahrenden  Studenten  gekommen,  der  bei  einem 
Bübel  als  Taufpate  fungierte  und  die  lateinischen  Reden  des  Priesters 
verstand. 

Wie  unser  Herrgott  den  Petrus  am  Himmelsthor  angestellt  hat,  so 
hält  sich  auch  der  Teufel  am  Höllenthor  ein  Thorwartl  ^),  nur  muss  er  ein 
unschuldiger  Knabe  sein,  den  er  obendrein  nicht  länger  als  sieben  Jahre 
unten  behalten  darf.  Nach  Ablauf  dieser  Zeit  muss  er  ihn  wieder  auf  die 
Welt  lassen  und  sich  imi  Ersatz  umschauen. 

Einem  Oberlandler  Buben  waren  einst  Yater  und  Mutter  gestorben 
und  er  wanderte  hierauf  betrübt  aus  seiner  Heimat  in  die  Fremde,  um 
irgendwo  einen  Platz  zu  suchen,  wo  er  Arbeit  fände.  Wie  er  so  dahin- 
schritt,  begegnete  ihm  ein  vornehmer  in  grüne  Seide  gekleideter  Herr, 
der  ihn  freundlich  fragte,  wohin  er  gehe.  Als  ihm  der  Bube  gesagt  hatte, 
dass  er  ein  „Eartl"  (Plätzchen)  suche,  erbot  sich  der  Herr  gleich  ihn  an- 
zustellen. Dies  war  dem  Knaben  natürlich  recht,  denn  er  wusste  nicht, 
dass  er  es  mit  dem  Teufel  zu  thun  hatte.  Nun  war  er  aber  in  seiner 
Gewalt  und  musste  sieben  Jahre  bei  der  Hölle  Thorwartier  sein.  Nachher 
studierte  er  in  Innsbruck  Theologie,  wurde  zum  Priester  geweiht  und  in 
Oberperfuss  angestellt.  Bald  darauf  erhielt  er  eine  Einladung  zu  einem 
kirchlichen  Feste  nach  Sellrain  und  leistete  ihr  auch  gern  Folge.  Als  er 
dort  dem  Gottesdienste  anw^ohnte,  erklärte  ihm  plötzlich  der  Pfarrer,  der 
Kooperator,  der  die  Predigt  hätte  halten  sollen,  sei  daran  verhindert  und 
nun  solle  er  aushelfen;  auf  der  Kanzel  liege  schon  eine  kleine  Darauf hilfe. 
Da  alles  Sträuben  nichts  half,  bestieg  er  endlich  die  Kanzel.  Dort  lag 
wohl  ein  Blatt  Papier,  es  war  aber  auf  keiner  Seite  auch  nur  mit  einem 
Buchstaben  beschrieben.  Da  sprach  der  Priester,  indem  er  das  Blatt  um- 
wandte: „Da  steht  nichts  und  da  steht  nichts  und  aus  nichts  hat  Gott  die 
Welt  erschaffen!"  Darauf  fing  er  zu  predigen  an  und  zwar  von  Begeben- 
heiten aus  seinem  eigenen  Leben.  AVie  er  nämlich  höllischer  Thorwartier 
gewesen  sei,  seien  im  ganzen  nur  drei  Bauern  gekommen.  Der  erste  mit 
einem  Marchstecken^),  der  andere  mit  einem  Star^)  und  der  dritte  mit 
einer  Waoe.     Die  o-anze  Hölle  aber  sei  mit  Geistlichen  gewölmt  und  werde 


1)  Vgl.  Zingerle  S.  401:  „Der  Höllenpförtner",  und  unsre  Zeitschr.  VIII,  328. 

2)  Pfahl,  der  als  Markstein  dient. 

3)  Altes  Mass. 


Tiroler  Teufelsglaube.  371 

noch  mit  solchen  gepflastert  werden.  ^)  Nach  Beendigung  der  Predigt 
machten  ihm  die  übrigen  Geistlichen  Vorwürfe,  warum  er  denn  so  scharf 
gepredigt  habe;  es  sei  ja  doch  kaum  zu  glauben,  was  er  da  alles  erzählt 
habe.  Er  aber  entgegnete:  „Jedes  meiner  Worte  ist  wahr  und  ihr  brauchts 
nur  über  meine  rechte  Achsel  hinwegzuschauen,  so  seht  ihr  die  ganze 
Hölle  offen!"     Dazu  hatten  aber  seine  Amtsbrüder  keine  Schneid. 

Ein  alter  Kapuzinerpater  in  Innsbruck  war  auch  einmal  höllischer 
Thorwartier  gewesen  und  erzählte  oft,  es  seien  während  jener  Zeit  aller- 
dings auch  viele  Bauern  verdammt  worden,  aber  es  habe  ihnen  zur  Selig- 
keit so  wenig  gefehlt,  dass  sie  mit  ihren  Stotzenhüten  beinahe  am  Himmel 
angestossen  wären. 

Einst  kam  ein  Trupp  Zigeuner  in  die  Gegend  von  Mutters  und  verlor 
dort  einen  sechsjährigen  Buben.  Als  alles  Suchen  nach  seinen  Eltern 
vergeblich  war,  wanderte  er  traurig  gegen  die  Mutterer  Alpe  hinauf  und 
setzte  sich  auf  einem  Stein  ein  kleines  Stück  oberhalb  der  Alphütten 
nieder.  Plötzlich  kam  ein  schwarzer  Lotter  daher,  packte  den  Buben  und 
fuhr  mit  ihm  trotz  seines  mörderischen  Geschreies  durch  die  Luft  davon. 
Er  wandte  sich  gegen  das  Oberinuthal,  wo  man  ihn  mit  dem  Buben  in 
melireren  Dörfern  hoch  oben  daherschiessen  sah.  Zuletzt  hat  man  ihn 
von  Oberperfuss  aus  beobachtet.  Am  Höllenthore  angelangt,  setzte  der 
Teufel  den  Buben  nieder  und  machte  ihn  zum  Thorwartl.  Nach  Ablauf 
seiner  Dienstzeit  tri^b  er  sich  bald  da,  bald  dort  in  Tirol  herum  und  lebte 
vom  Schmuggeln,  Wildern  und  anderem  ähnlichen  Erwerbe,  wobei  es  ihm 
trefflich  zustatten  kam,  dass  er  beim  Teufel  am  Höllenthor  etwas  mehr 
gelernt  liatte,  als  Birnen  sieden  und  die  Stengel  nicht  nass  machen. 

Einst  wurde  er  bei  einem  Schmuggel  in  der  Scharnitz  von  zwei 
Finanzern  aufgegriffen.  Als  sie  auf  seiner  Eskortierung  an  einem  Wirts- 
hause vorbeikamen,  erklärte  der  Zigeuner,  vor  Ermüdung  nicht  mehr 
weiterzukommen,  ohne  dass  er  hier  eine  Erfrischung  zu  sich  nehmen  dürfe. 
Die  Finanzer  thaten  ihm  den  Willen  und  kehrten  ein,  zwangen  ihn  aber 
in  der  Mitte  zwischen  ihnen  Platz  zu  nehmen.  Nach  einer  Weile  setzte 
sich  eine  Fliege  auf  den  Bierkrug  des  einen  der  beiden  Finanzer  und  der 
Zigeuner  war  verschwunden.  Ob  der  Zigeuner  durch  diese  Fliege  die 
Macht  bekommen  hatte  zu  verschwinden  oder  ob  er  sich  selbst  in  die 
Fliege  verwandelt  hatte,  bleibe  dahingestellt.  Jedenfalls  spielen  Fliegen 
auch  beim  Unsichtbarwerden  der  Venediger-Mandln  eine  bedeutsame  Rolle. 
Für  den  letzteren  Fall  spricht  der  Umstand,  dass  der  Zigeuner  sich  und 
andere  in  allerhand  Tiergestalten  verwandeln  konnte.^) 


1)  Es  müssen  übrigens  auch  hübsch  viel  Landgerichtler  und  Advokaten  unten  sein, 
wie  das  bekannte  Geschichtchen  von  dem  Müller  beweist,  der  durchaus  mit  dem  Teufel 
Prozessen  wollte.     Siehe  unten  S.  374. 

2)  Hexenmeister,  Schwarzkünstler  und  der  Teufel  selber  verwandeln  sich  sehr  gern 
in  Fliegen,  Mücken  oder  Bremsen.    Vgl.  Zingerle  S.  458,  460  u.  462. 


372  üörler: 

Seinen  Freund,  den  Karler  von  Axams,  fragte  er  einmal,  ob  er  nicht 
ein  paar  Augenblicke  in  einen  Zaunkonkerl  (Zaunkönig)  verwandelt  werden 
wolle.  Dass  rauss  aber  dem  esellangen  Menschen  ganz  entsetzlich  vor- 
gekommen sein,  denn  er  bat  den  Zigeunerbub  flehentlich:  „Na,  der  Gotts- 
willn,  thue  mer  nu  krot  des  nit!" 

Ein  anderes  Mal  ritt  er  auf  einem  Schimmel  durch  das  Dorf  Zirl.  Da 
passte  ihm  aber  der  Pfarrer  auf,  stellte  und  bannte  ihn  und  nahm  ihm 
alle  Zauberbücher  und  Schriften  ab.  Da  wars  nun  freilich  ein  für  allemal 
aus  mit  seiner  schwarzen  Kunst. 

Natürlich  sind  die  „Zigideiner"  nicht  die  einzigen  und  wohl  auch 
nicht  die  liebsten  Bundesgenossen  des  Teufels.  Er  steckt  sich  mit  viel 
grösserem  Profit  hinter  die  Weiberleut  und  sorgt  stets  für  kräftigen  Nach- 
wuchs an  Goassweibelen,  Truden  und  Hexen.  Besonders  die  letzteren 
sind  ihm  ans  Herz  gewachsen.  Sie  werden  jedoch  erst  nach  einer  Reihe 
von  Probejahren  zu  eigentlichen  Höllenkuntinnen  gestempelt,  indem  er 
ihnen  seinen  Bocksfuss  aufs  Kreuz  drückt,  wodurch  sie  ein  schwarzes  Mal 
erhalten,  das  ihnen  für  ihr  Lebtag  bleibt.  Andere  sagen,  er  drücke  ihnen 
das  Mal  mit  seinem  Hinterling  auf.  Welche  von  beiden  Behauptungen 
wahr  ist,  kann  uns  ganz  gleichgiltig  sein,  da  es  ja  in  beiden  Fällen  ein 
untrügliches  Zeichen  ist,  an  dem  die  älteren  Hexen  sicher  zu  erkennen  sind. 
Das  wusste  auch  der  Clrünhäusler  von  Hall,  ein  berühmter  Wunder- 
doktor, der  wie  der  Pfarrer  von  Fliess  alle  Hexen  weit  in  der  Runde 
kannte.  Einmal  war  er  mit  einer  Hexe  in  Streit  geraten  und  diese  ver- 
klagte ihn  vor  Gericht.  Doch  der  Grünhäusler  war  nicht  verlegen;  er 
erklärte,  dass  das  Weib  eine  Hexe  sei  und  forderte  den  Richter  auf, 
selbst  nachzuschauen,  ob  sie  nicht  das  Teufelssiegel  auf  dem  Kreuze  habe. 
Die  Weibsperson  wollte  davon  absolut  nichts  wissen;  es  half  ihr  aber  kein 
Sträuben,  sie  wurde  untersucht  und  richtig,  da  war  das  Zeichen  ganz 
deutlich  zu  sehen,  und  der  Grünhäusler  wurde  freigesprochen. 

Wahre  Wollust  empfindet  der  Teufel  darin,  alte  Widumshäuserinnen, 
wenn  sie  unselig  sterben,  trotzdem  sie  in  beständiger  Gesellschaft  ihres 
Pfarrers  so  viel  Gelegenheit  zum  Guten  gehabt  hätten,  nach  ihrem  Tode 
in  Rösser  zu  verwandeln  und  sie  allnächtlich  so  lange  zu  reiten  und  herum- 
zuhetzen,  bis  sie  vor  Erschöpfung  zusammenbrechen.  Hier  und  da  findet 
man  ein  Hufeisen,  das  ein  solches  Ross  verloren  hat.  Dasselbe  ist  kleiner 
als  ein  gewöhnliches  Hufeisen  und  etwas  anders  gestaltet.  Wer  sich  daraus 
einen  Schlagring  machen  lässt,  ist  in  jeder  Rauferei  unüberwindlich. 

Auch  von  Teufelsweibelen  hört  man  hier  und  da,  wenn  auch  selten, 
im  Oberinnthal  erzählen.  Eines  Sonntags  kam  ein  Bursch,  der  in  einem 
Einzelhof  unweit  von  Zirl  zu  Hause  war,  ins  Wirtshaus  und  setzte  sich 
an  seinen  gewohnten  Platz  hinter  den  Tisch.  Ihm  gegenüber  in  einem 
dunklen  Winkel  sass  ein  fremdes  bildsauberes  Dirndl,  das  beständig  zu 
dem  Burschen  hinüber  blinzelte  und  ihm  ermutigende  Blicke  zuwarf.    Sofort 


I 


Tiroler  Teufelsglaube.  373 

hatte  der  Bursche  Feuer  gefaugen,  begann  mit  der  schönen  Unbekannten 
ein  Gespräch  und  setzte  sich  zu  ihr.  Die  beiden  wurden  bald  vertraulich 
und  der  Bursche  versäumte  nicht,  das  Dirndl  „toll  hear  z'menschern". 
Unterdessen  war  es  bereits  spät  geworden  und  sie  verliessen  miteinander 
das  Wirtshaus.  Wie  die  beiden  so  durch  die  Felder  dahinschlenderten, 
äusserte  sich  das  Dirndl  auf  einmal,  indem  es  auf  ein  Schnürchen  deutete, 
an  dem  der  Bursche  unter  dem  Leibchen  ein  Skapulier  hängen  hatte: 
„Den  Lausfleck  muest  weckthien!"  Der  Bursche  war  über  diesen  sonder- 
baren Wunsch  nicht  wenig  erstaunt  und  weigerte  sich  entschieden  es  ab- 
zulegen. So  stritten  sie  eine  Weile,  bis  sie  zu  einem  Wegkreuz  kamen. 
Dem  wich  das  Dirndl  in  weitem  Bogen  aus  und  blieb  endlich  ganz  zurück, 
indem  es  dem  Burschen  mit  erhobenem  Zeigefinger  drohte.  Jetzt  wusste 
der  Bursche,  dass  er  es  mit  einem  Teufelsweibele  zu  thun  gehabt  hatte 
und  was  ihm  geschehen  wäre,  wenn  er  sich  hätte  bewegen  lassen,  das 
Skapulier  wegzuthun,  war  ihm  auch  klar  geworden. 

Wir  brauchen  durchaus  nicht  anzunehmen,  dass  das  Teufelsweibele 
etw^a  die  Frau  oder  gar  die  Tochter  des  Teufels  gewesen  sei,  denn  an 
eine  Teufelsfamilie  glaubt  kein  Mensch  im  Ernste.  Natürlich  ist  auch  der 
bekannte  Spottreim: 

Weit  draussn  am  Gwiind 

Hot  se  'n  Tiiifl  sei  Schwoga  die  Schnauzn  verbrennt. 

nicht  ernst  gemeint  und  wnrd  nur  gebraucht,  wenn  jemand  etwas  recht 
schlau  einfädeln  wollte,  aber  dabei  gründlich  aufgesessen  ist. 

Sehr  gefährlich  ist  es  jedoch,  den  Teufel  durch  solche  Spottreime  und 
Trutzliedeln  reizen  oder  gar  zum  Raufen  herausfordern  zu  wollen,  was 
leider  besonders  im  Zillerthale  nur  zu  häufig  vorkommt.  Schon  die  nach- 
stehenden Gstanzeln  thun  dessen  mehr  als  rätlich  ist: 

Wenn  i  loch  aft  is  lustig-,  Sieben  Sunnseitn,  sieben  Kirchn, 

Wenn  i  schlog  aft  gcits  Bluet;  Koan  Tuifl  nit  firchtn. 

Soll  dr  Tuifl  nar  kemraen  Kimmt  er  iatz  gleigger  zwegn, 

Wenn  er  nii  nietler  derthuet!  Geit  mei  Schlogring  'n  Segn! 

An  wülleinen  Janggar 
'n  bleckatn  Ganggar 
A^u  dr  Hell  aussar  stiern, 
Seil  mächt  i  pröbiern! 

Auch  Redensarten  wie:  Nochbers  Diendl  kaft  (kauft)  alleweil  seile 
Teiflereien;  iatz  hot  se  schon  wieder  a  Herrgöttl  kaft!  sollte  man  nicht 
nachsprechen. 

Ganz  harmlos  ist  dagegen  das  Liedlein  vom  Schneidergsell: 

Ein  Schneider  ging  spazieren  .,0  du  Schneidergsell, 

Des  Morgens  in  der  Früh,  Du  muest  mit  mir  in  d'  Hell, 

Da  begegnet  ihm  der  Teufel,  Mir  brauchen  an  Schneider, 

Hat  weder  Strumpf  noch  Schuh.  Gehs  wies  wöll!" 


374  Dörler: 

Als  der  Schneider  in  die  Hölle  kam,  „0  du  Sehneidergsell, 

Nahm  ers  den  Ellenstab,  Du  muest  aus  der  Hell, 

Er  messte  den  Teufeln  die  Büggel  ab,  Wir  brauchn  koan  Schneider, 

Sie  hupften  vor  Ach  und  Weh  auf  und  ab.  Gehs  wies  wöll!" 

Der  wäre  also  glücklich  wieder  herausgekommen.  Ein  verstorbener 
Müller,  welcher  sein  ganzes  Leben  nichts  als  die  Leute  betrogen  hatte, 
wollte  aber  gar  nicht  hinein  und  beschloss,  gegen  den  Teufel  einen  Prozess 
anzustrengen.  Da  man  aber  dazu  einen  Advokaten  braucht,  und  der 
Teufel,  um  sich  selbst  nicht  zu  schädigen,  keinen  aus  der  Hölle  herausgab, 
wanderte  der  Müller  zum  Himmelsthor  und  verlangte  vom  hl.  Petrus,  dass 
er  ihm  einen  Advokaten  herausrufen  solle,  er  müsse  mit  dem  Teufel 
prozessen.  St.  Petrus  wollte  davon  absolut  nichts  wissen  und  entschloss 
sich  erst,  als  der  Müller  nicht  nachgab,  in  den  Himmel  zu  gehen  und 
einen  aufzusuchen.  Der  Müller  wartete  und  wartete  und  als  der  Heilige 
endlich  wieder  herauskam,  hatte  er  keinen  Advokaten  bei  sich  und  sagte: 
„Mei  lieber  Miliner,  i  hun  koan  Advokatn  uit'  im  gonz'n  Himmelreich 
gfuntn!" 

Es  war  dies  eigentlich  von  vornherein  zu  erwarten,  denn  wenn  einmal 
Advokaten  in  den  Himmel  kommen  würden,  so  müsste  jeder  Haderlurnji 
und  Banteljud  auch  selig  werden. 

Es  sind  aber  selbst  die  rechtschaffensten  Leute,  sofern  sie  sich  nicht 
im  Stande  der  Gnade  befinden,  vor  bösem  Ansinnen  des  Teufels  niclit 
sicher.  Den  besten  Schutz  gegen  ihn  und  seinen  Anhang  bilden  kräftige 
Sprüche  und  Formeln,  die  man  auf  einen  Zettel  aufgeschrieben  bei  sich 
tragen  muss.     Es  seien  hier  nur  einige  besonders  wirksame  angeführt: 

Das  Haupt  Christi,  das  Blut  Abels,  das  Herz  Elia,  die  Leber  und 
Lungel  Salomonis,  der  Grund  Davids,  die  Knie  Abrahams,  die  (inade 
Johannis  sei  zwischen  uns  beiden,  dass  wir  in  Ruh  und  Frieden  vonein- 
ander scheiden.  Im  Namen  Gottes  des  A^af  ters,  des  Sohf  nes  und  des 
heil,  f  Geistes,  Amen. 

Andere,  ebenfalls  sehr  vornehme  Bewahrungen  werden  so  geschrieben: 

y"*     N  KI     -^ 

o.   Ito,  alo,  Massa  Dant  Bando  III,  Amen  INRI. 

4.    Tragta,  gramontetta,  angtelä  f  f  f. 
Um  die  Kinder  des  Nachts  vor  dem  Einfluss  des  Teufels  zu  schützen, 
sollte  man  nicht  versäumen,  ihnen  recht  wirksame  Abendgebetlein  zu  lelireu, 
wie  z.  B.  das  nachstehende: 


s 

A 

T 

0 

R 

A 

R 

E 

P 

0 

T 

E 

N 

E 

T 

0 

P 

E 

R 

A 

R 

0 

T 

A 

S 

Tiroler  Teufelsglaube.  375 

„Heiliger  Schutzengel  mein, 
Stoass  'n  Tuifl  die  Rippen  ein, 
Jatz  und  den  und  olle  Stund 
Schlog  'n  niedr,  den  Golgnhund!" 

Noch  schöner  ist  folgendes: 

„Jatz  getnmer  gien  schloffn, 

Sex  Dreckhaifn  solln  wochn, 

Zwoa  z  Kopfn,  zwoa  z  Puessn,  zwoa  nebn  mein 

Und  wenn  dr  Tuiü  kimmt,  nor  greift  'r  drein!" 

Fromme  Bauern  zeichnen  sich  vor  dem  Schlafengeheu  mit  dem  Daumen- 
oagel  die  Buchstaben  INRI  auf  die  Stirn  oder  schreiben  sie  an  die  Thür 
ihrer  Schlaf  kämm  er. 

„Dass  einem  sein  Vieh  nit  verzaubert  kann  werden",  schreibt  ein 
Wippthaler  Bauerndoktor:  „nihni  Rauten,  waxkerzen  und  salz,  nihm  die 
Stuck  und  lass  sie  3  :  mal  weichen  zum  ersten  mal  an  unser  lieben  Frauen 
lichtmesstag,  das  2 :  mal  am  Palmtag,  das  3 :  mal  am  Ostertag,  darnach 
mach  3  :  Stuck  auss  den  kerzen  und  auss  dem  Rauten  und  Salz,  binds  in 
ein  tiechl,  bohrs  in  dem  Stall  in  den  thirschweller  ein,  so  das  Vieh  auss 
und  ein  gehet,  ist  gerecht." 

Wenn  man  eine  Kuh  vor  Hexerei  und  Teufelskunst  sicher  bewahren 
will,  so  schneidet  man  ihr  drei  Kreuzlein  in  die  Hörner,  kniet  neben  ihr 
nieder  und  betet  drei  Vaterunser. 

Beziehungen  der  eigentümlichsten  Art  unterhält  der  Teufel  mit  der 
Tierwelt.  Er  verwendet  nämlich  gewisse  Tiere  sozusagen  als  Spione,  die 
ihm  von  dem  Treiben  leichtfertiger  Früchteln,  auf  die  er  sein  Augenmerk 
gerichtet  hat,  Bericht  erstatten  müssen.  Darum  findet  man  oft  ein  Datter- 
mandl  (schwarzer  Alpensalamander)  mitten  auf  dem  Wege,  das  einen  mit 
seinen  listigen  Äuglein  durchdringend  anschaut.  Oft  schickt  er  auch  einen 
Raben,  um  in  unauffälliger  Weise  zu  erfahren,  was  dieser  oder  jener 
Senner  in  seiner  Käser  macht.  Aber  man  bemerkt  die  schlimme  Absicht 
dieser  Tiere  doch  und  weiss  sich  vor  ihnen  zu  hüten.  Ein  sehr  schlimmes 
Zeichen  ist  es,  wenn  mau  den  Kuckuck  des  Abends  nach  dem  Betläuten 
noch  zu  hören  bekommt.  Echte  Teufelsviecher  sind  auch  das  Wiesel,  der 
Ziegenmelker  und  sämtliche  Beisswürmer,  denn  sie  besitzen  alle  den  bösen 
Blick. ') 

Ein  sehr  gutes  Mittel  gegen  allerhand  Teufelskniffe  ist  ein  Stücldein 
geweihtes  Weiss-Elxenholz  (Prunus  padus),  wenn  man  es  im  festen  Glauben 
an  seine  Wunderkraft  bei  sich  trägt.  Es  sollte  auch  in  keinem  christlichen 
Haushalte  fehlen,  denn  es  bewahrt  nicht  nur  Vieh  und  Leute  vor  der 
schwarzen  Kunst  des  Teufels  imd  seines  Anhanges,  sondern  hält  auch 
Pestilenz    und  Feuersbrunst    vom  Hofe    ab.     Auch  wer  Sinngrün  bei  sich 


1)  Vgl.  Alpenburg  S. -250!. 


376  Dörler:  Tiroler  Teufelsglaube. 

trägt,  über  eleu  hat  der  Teufel  keiue  Macht  uud  iu  eiu  Haus,  in  dem  es 
aufgehängt  ist,  kommt  keine  Zauberei. 

Legt  man  am  Charfreitag  vor  Sonnenaufgang  ein  Stücklein  Eichenholz 
in  die  Stube,  in  den  Stall  oder  in  seine  Schlafkammer,  so  kann  einem 
dasselbige  Jahr  keine  Zauberei  des  Teufels  schaden. 

Zum  Schluss  sei  noch  ein  lustiges,  sich  gleichfalls  auf  die  Eiche  be- 
ziehendes Geschichtchen  erzählt^): 

Eines  Tages  verlangte  nämlich  der  Teufel  von  Gottvater  nichts  ge- 
ringeres, als  dass  er  ihm  für  einen  Tag  das  Regiment  über  die  Welt  ab- 
trete. Gottvater  ging  gern  darauf  ein,  nur  müsse  ihm  der  Teufel  zuerst 
noch  einen  Eichbaum  zeigen,  der  von  Natur  aus  keine  Blätter  mehr  habe. 
Jetzt  freute  sich  der  Teufel  über  die  Massen,  so  schnell  an  das  Ziel  seiner 
Wünsche  zu  kommen,  denn  er  dachte  sich,  einen  solchen  Eichbaum  werde 
er  wohl,  da  es  ohnehin  Spätherbst  war,  in  der  ersten  Yiertelstunde  gefunden 
haben.  Aber  er  flog  vergebens  thalaus,  thalein  und  durchsuchte  die  ent- 
ferntesten Länder,  überall  hingen  noch  die  alten  braunen  Blätter  zu  hun- 
derten  an  den  Zweigen.  Unterdessen  war's  Frühling  gew^orden.  Wie  nun 
der  Teufel  bemerkte,  dass  die  dürren  Blätter  erst  dann  abfielen,  wenn 
sich  schon  frische  gebildet  hatten,  packte  ihn  sinnlose  Wut,  er  zerzauste 
alle  Eichenbäume,  die  ihm  in  den  Weg  kamen  derart,  dass  noch  heutzutage 
die  Eichenl)lätter  einen  gezackten  Rand  aufweisen. 

Natürlich  ist  heutzutage  der  Glaube  an  das  körperliche  Dasein  des 
Teufels  schon  stark  im  Schwinden  begriffen  und  man  kann  den  grünen 
Jager  mit  seinem  schrägen  Pfeiflein  und  der  wackelnden  Hahnenfeder 
schon  bald  auf  allen  Gasselgspielen  und  Kasperltheatern  auftreten  sehen. 
Er  wird  sich  aber  in  der  Tiroler  Sage  trotzdem  länger  als  irgend  eine 
andere  Gestalt  halten,  da  der  Glaube  an  ihn  von  der  Geistlichkeit  unter- 
stützt und  gefördert  wird,  wodurch  sich  aber  immer  mehr  christliche  Züge 
einmischen,  die  den  alten  volkstümlichen  Glauben  verdrängen. 

Die  Litteratur-Citate  beziehen  sich  auf  folgende  Werke: 

Ziugerle,  Sagen  aus  Tirol,  Innsbruck,  Wagner  1891.    II.  Auflage. 
Alpenburg.  Mythen  und  Sagen  Tirols,  Zürich,  Meyer  &  Zeller  1857. 

Vonbun,  Die  Sagen  Vorarlbergs,  IT.  Aufl.,  bearb.  v.  H,  Sander.     Innsbruck,  Wagner  1889. 
Schneller,  Märchen  und  Sagen  aus  Wälschtirol.     Innsbruck,  Wagner  1867. 
Hauser,  Sagen  aus  dein  Paznaun  und  dessen  Nachbarschaft.     Innsbruck,  Wagner  1894. 
Dörler,  Sagen  aus  Innsbrucks  Umgebung  nnt  besonderer  Berücksichtigung  des  Zillerthales. 
Innsbruck,  Wagner  1895. 


1)  Varianten  derselben  Sage  siehe  Ziugerle  S.  371  f.  und  Alpeuburg  S.  391. 


Schukowitz:  Kriegs-  uud  Schlachtensagen  aus  dem  Marchfelde.  37 ( 

Kriegs-  und  Schlachtensagen  ans  dem  Marchfelde. 

Mitgeteilt  von  Dr.  Hans  Schukowitz. 


Seit  den  Zeiten  der  Kömer  und  Quaden  bis  in  unser  Jahrhundert 
herauf  ist  das  Marehfeld  der  ausgewählte  Schlachteuboden  Österreichs 
gewesen.  Seinen  armen  Bewohnern  haben  die  Feinde  Heim  und  Herd  nicht 
nur  einmal  geplündert.  Kein  Wunder  also,  dass  auch  die  Quellen  ihrer  Pfarr- 
und  Gemeindearchive  bis  kaum  in  das  16.  Jahrhundert  hinaufreichen.  Die 
wenigen  Sagen,  die  man  sich  noch  heute  im  Volke  vom  Yater  auf  das 
Kind  weiter  erzählt,  verdienen  aber  aufgezeichnet  zu  werden.  Eine  oder 
die  andere  hat,  wenn  nicht  geschichtlichen,  so  volkskundlichen  Wert. 
Ich  teile  sie  nun  im  folgenden  so  mit,  wie  ich  sie  im  Marchfelde  von  den 
Leuten  selbst  erzählen  gehört  habe. 

1.    Die  Schwedenmesse. 
Zur  Zeit  der  Schwedennot  hatten  die  Marchfelder  sehr  viel  zu  leiden. 
Die  armen  Dörfler  wurden  gezwungen,  Haus  und  Habe  im  Stich  zu  lassen, 
während  ihre  Häuser  ein  Raub  der  Flammen  wurden.    So  geschah  es  auch 
im  Markte  Gaunersdorf,  der  durch  seine  Wohlhabenheit  damals  in  gutem 
Rufe    stand.     Am  schwarzen  Sonntage  war  es,    da  stand  der  ganze  Ort  in 
Brand.     Die  Leute  hatten  sich  in  Erdhöhlen  geflüchtet  oder  in  den  Wild- 
nissen des  Junggebirges  versteckt,    um  nicht  ihr  Leben  zu  verlieren.     Sie 
hörten    von    dem    entsetzlichen  Jammer,    allein    keiner    getraute    sich   aus 
seinem  Verstecke    hervor,    weil    er    sich   vor  den  Mörderhänden  fürchtete. 
Und    so    griff  denn  der  Brand  ungehindert  um  sich,    und  schon  stand  das 
neuerbaute  Gotteshaus,    welches    den  Bewohnern  so  viel  Mühen  und  Geld 
gekostet  hatte,  in  Gefahr,  von  dem  Feuer  ergriff'en  zu  werden,  da  geschah 
etwas  Wunderbares:    Vom  Firste    der    alten  Klostermühle    erhob   sich   ein 
grosser  schw^arzer  Raubvogel,  der  in  seinen  Krallen  zwei  Wassereimer  trug. 
Er  liess  sich  über  das  Gotteshaus  nieder  und  löschte  das  Flugfeuer,  wenn 
es    dessen    Dach    berührte.      Etliche    von    den   Bauern    sahen    aber    diese 
wunderbare  Erscheinung    und    sie    betrachteten    dies    als    ein  Zeichen  des 
Himmels,  dass  sie  ihr  Heiligtum  schützen  sollten.     So  munterten  sie  denn 
die  Ihrigen  auf,  beherzt  aus  den  Verstecken  aufzubrechen  und  dem  Feinde 
mutig  entgegenzutreten.     Es  geschah,  und  viele  von  der  gottesräuberischen 
Horde    wurden    mit  Feldgeräten  getötet.     Zur  ewigen  Erinnerung  aber  an 
diese    wunderbare  Rettung    des   ehrwürdigen  Gotteshauses  wird  bis  heute 
daselbst  am  Tage  nach  dem  schwarzen  Sonntag  ein  feierliches  Amt  gehalten, 
das    die  Leute    die  „Schwedenmesse"  heissen.     Die  Klostermühle  ist  noch 
bis  in  die  20er  Jahre  unseres  Jahrhunderts  bei  den  Leuten  hoch  in  Ehren 
gestanden    und    hat    im  Giebel    einen    mächtigen  Aar    in  Stein  gemeisselt 


378  Schukowitz: 

gezeigt,    der  in  der  einen  Kralle  einen  Wassereimer,    in  der  anderen  eine 
lodernde  Pechfackel  getragen  hat. 

[Einer  Aufzeichnung  der  Decanatschronik  zu  Gaunersdorf  gemäss  stand  über  dem 
Eingänge  dieser  Mühle:  Nach  der  schwedisch  Belagerung  Brin  in  Mahren  ist  dise  Mihi 
genzlich  in  Aschen  gelegt  durch  mych  J.  M.  Menzler  von  Künigshofen  und  Elisabeth, 
geborne  Strasserin  von  Eeltzen,  mein  Ehewirtin  widerumb  durch  die  Genad  Gottes  erbawet 
worden  den  XX.  Sept.  1647.  Hauswirt,  Geschichte  d,  Bened.  Abtei  zu  den  Schotten. 
Wien  1858.     S.  118.] 

2.    Die  Tartarenkanzel. 

Unweit  der  „Preussenbrücke"  bei  Angern  stand  vor  Zeiten  eine 
Felsenkanzel,  welche  aus  den  Türkenzeiten  hergerührt  haben  soll.  Man  er- 
zählte sich  hierüber  folgendes:  Ein  Tartarenfürst  soll  von  dieser  Kanzel  herab 
seine  Horden  zu  Raub  und  Mord  angefeuert  haben.  Wenn  diese  die  armen 
Christenmenschen  herzlos  hinschlachteten,  wenn  da  und  dort  Feuerflammen 
zum  nächtlichen  Himmel  aufloderten  und  das  Wild  aus  den  brennenden 
Wäldern  floh,  da  hatte  der  barbarische  Anführer  seine  Freude  daran. 
Einmal  schleppten  sie  auch  einen  Priester  einher,  der  im  Messgewande 
vom  Altare  gerissen  worden  war.  Als  Gott  diese  argen  Greuel  gewahrte, 
schickte  er  eine  böse  Seuche  unter  die  feindlichen  Krieger,  so  dass  diese 
umfielen  wie  die  Fliegen  im  Herbste.  Diese  Kanzel  aber,  von  der  heral) 
zu  solchen  Thaten  angespornt  worden  war.  zerschmetterte  ein  Blitzstrahl, 
und  ihre  Trümmer  rissen  die  Wellen  der  March  hinweg. 

[Die  Stelle,  an  welcher  Emerich  Graf  Tököly  am  Tage  vor  Bartholomä  1683  mit 
20  000  Mann  die  March  übersetzte,  ist  seit  altersher  ein  strategisch  wichtiger  Punkt  ge- 
wesen. 1703  schlugen  da  die  aufständischen  Kuruzzen  ihre  Kriegsschanzen  auf.  1809 
wurde  hier  eine  Schiffsbrücke  gelegt  und  186G  sprengten  die  Preussen  die  hölzerne  Bogen- 
brücke  in  die  Luft.  Über  die  Greuclthaten  der  Tartaron  siehe  Keiblinger  in  den  Be- 
richten des  A.-V.  Wien,  11,2,  IGG.  Die  Pfarrchronik  von  Stillfried  verzeichnet  1675  die 
Ermordung  des  Pfarrers  Einslin  von  tartarischen  Piäubern.  Berichte  d.  A.-V.  Wien,  1873 
(XIV),  S.  34. 

3.  's  Türkenstübl. 
In  Eckartsau  soll  in  alter  Zeit  eine  kleine  verfallene  Schenke  unter 
dem  Namen  „Türkenstübl"  bekannt  gewesen  sein.  Die  Sage  erzählt:  Als 
einmal  Preibeuterscharen  in  diese  Gegend  einfielen  und  Kinder  und  Greise 
durch  „Bluthunde"  zerfleischen  Hessen,  versteckten  sich  etliche  Leute  in 
einem  kleinen  Schmiedehaus  am  Ende  des  Dorfes.  Vor  diesem  Hause  hatten 
aber  die  Türken  Respekt,  weil  just  über  der  Thüre  ein  bunter  Halbmond 
gemalt  war.  Ahnungslos  kehrten  sie  ein  und  nannten  die  Inwohner  gut 
Freund,  von  welchen  sie  sich  gern  bedienen  lassen  wollten.  So  setzte 
ihnen  denn  des  Schmiedes  Gattin,  ein  mutiges  und  schlaues  Weib,  Mais- 
kuchen vor,  in  welche  sie  Giftkräuter  eingebacken  hatte.  Als  die  Türken 
hiervon  gegessen  hatten,  wandelte  sie  plötzlich  Schlafsucht  an  und  Kopf- 
scheu^),   so    dass    sie    wie    entseelt  dalagen.     Nun  griff  der  Schmied  nach 

1)  Kopfscheu  =  Schwindel. 


Kriegs-  und  Schlachtensagen  aus  dem  Marchfelde.  379 

einer  Sense  und  schnitt  einem  nach  dem  andern  den  Kopf  vom  Leibe,  so 
dass  das  Stübchen  voll  Blut  war.  AYeil  dies  aber  gerade  die  Hordenführer 
getroffen  hatte,  so  war  es  jetzt  ein  Leichtes,  die  herrenlose  Schar  aus 
Eckartsau  zu  vertreiben  und  viele  zu  töten. 

4.  „Liebfrau  in  allen  IS^öten." 
Als  Schlosshof  von  den  Türken  geplündert  wurde,  drangen  die 
Soldaten  auch  in  die  alte  Marienkapelle  des  Schlosses  und  einer  vermass 
sich,  nach  dem  Gnadenbilde  seinen  Speer  zu  schleudern,  so  dass  des  Jesu- 
kindes Wange  durchbohrt  wurde.  Allsogleich  fioss  aber  warmes  Blut  aus 
der  Wunde  und  das  Bild  hing  tags  darauf  im  Walde  bei  Groissenbrunn^) 
an  einer  Buche.  Die  Stelle  war  aber  geweiht  seit  alters  her  und  es  quoll 
heilsames  Wasser  aus  dem  Hügel,  das  gegen  allerlei  Augenkrankheiten 
VOR  Nutzen  war.  Einmal  genas  durch  das  „Wunderbrünnl"  auch  eine 
sehr  vornehme  Frau  und  diese  Hess  an  dem  Orte  ein  würdiges  Gotteshaus 
erbauen,  das  genannt  wurde  „Liebfrau  in  allen  Xöthen".  Nun  kamen  in 
der  Folge  aus  allen  Orten  des  3Lirchfeldes  und  auch  weitherauf  aus  Ungarn 
fromme  Wallfahrer,  die  sich  Gnade  erflehten  von  der  Gottesmutter.  Das 
Jesukind  aber,  das  die  Liebefrau  auf  den  Armen  trägt,  blutet  noch  ab  und 
zu  aus  seiner  Wunde,  besonders  dann,  wenn  dem  Lande  Unglück  droht.  ^) 

[Prinz  Eugen,  der  1725  Schlosshof  gekauft  hatte,  Hess  aus  dem  Wald  einen  „Spazier- 
garten" machen  und  wollte  darin  auch  Springbrunnen  haben.  Hierzu  schien  ihm  die 
Quelle  auf  dem  Heidenhügel  verwertbar.  Als  er  hier  das  Liebfrauenbild  und  darüber  eine 
unvollendete  Kapelle  erblickte,  Hess  er  den  Bau  auf  seine  Kosten  zu  Ende  führen.  Am 
4.  Mai  1729  verzeichnet  die  Orther  Chronik  die  erste  Prozession  dahin.  1763  wurde  die  Kapelle 
aus  einer  kaiserlichen  Dotation  restauriert  und  mit  einem  Turme  versehen.  Bl.  d.  V.  f. 
Lkde.  V.  N.-Öster.  1889,   S.  233—235  und  Topogr.  v.  N.-Öster.    Wien  1893.    III,  S.  G9G.] 

5.    Armsünderrast. 
Bei  Matzen  steht  in  einer  Steinnische  eine  uralte  Marienstatue.    Knapp 
dabei    sprudelt    eine    Bergquelle    hervor.     Zur    Zeit    der    Kuruzzeneinfälle 
wurden    hier    die  Landesverräter    auf  dem  Richtplatze  geköpft.^)     Einmal 


1)  Groissenbrunn  ist  durch  die  Schlacht  zwischen  König  Ottokar  und  Bela  I\^  von 
Ungarn  (12.  Juli  12(30)  bekannt. 

2)  Ehedem  soll  auf  einem  Täfelchen  des  Bildes  die  Inschrift  gestanden  sein: 

Ach  Christenmensch,  hör  an,  was  ich  Dier  wil  sagen, 

So  sich  alhir  vor  alter  Zeit  hat  zu  getrageu: 

In  diese  Biltnus  wart  gotslesterlich  geschlagen 

Durch  frech  Tartarenhend,  woraus  geronen  rosenfarbnes  Bludt, 

Wie  solches  wahre  Aussag  Dir  bezeigen  tut. 

Der  grailich  Bösewicht  sothan  gefunden  ligend  auf  sein  Eucken, 

Anbei  der  Todt  und  von  den  Taifl  vielgerissen  in  Stucken. 

Solches  ist  gesehen  umb  das  böse  1683  jar, 

Als  der  Türkhisch  Hund  hir  zu  landen  war. 

3)  Matzen  ist  seit  1824  Sitz  eines  Bezirksgerichtes.  Den  alten  Richtplatz  mit  dem 
Pranger  verlegt  das  Volk  an  den  Fuss  des  Kinskyschen  Stammschlosses,  wo  heute  die 
alte  Pfarrkirche  steht. 


3g()  Schukowitz: 

bat  nun  ein  Gefangener,  unter  dem  Bilde  noch  beten  zu  dürfen.  Man 
gestattete  es  ihm,  und  er  liess  sich  im  Angesichte  der  Bedeckung  auf  seine 
Knie  nieder  und  faltete  fromm  die  Hände  zum  Gebete.  Da  geschah  es, 
dass  es  wie  Engelmusik  durch  die  Kronen  der  Bäume  klang,  es  rauschte 
wie  von  Sammet  und  Seide  und  die  Gerichtsleute  sahen,  wie  eine  schöne 
Frau  ihren  feuerstrahlenden  Wundermantel  um  den  Andächtigen  warf,  so 
dass  dieser  plötzlich  ihren  Augen  entschwand.  Zugleich  aber  drang  Wasser 
aus  der  Felsennische,  das  einen  himmlischen  Wohlgeruch  verbreitete.  Seit 
diesem  wunderbaren  Vorfalle  heisst  das  einsame  Andachtsplätzchen  die 
Armsünderrast,  und  die  schwarze  Liebfrauenstatue  im  Stein  hält  das  Volk 
für  sehr  wunderthätig. 

6.    Die  Marien  ei  che. 

Die  Eiche  zählt  im  Marchfeld  zu  den  Seltenheiten.  Kein  Wunder 
also,  dass  hier  diesem  Baume  von  Jung  und  Alt  besondere  Verehrung 
gezollt  wird.  In  den  fruchtbaren  Marchauen  bei  Zwerndorf  steht  so  ein 
majestätischer  Waldriese,  um  den  sich  im  Laufe  der  Zeit  eine  Reihe 
sinniger  Sagen  geschlungen  hat.  Eine  Soldatensage  will  ich  hier  wieder- 
erzählen. 

Es  war  in  den  traurigen  Zeiten,  die  den  argen  Kriegsjahren  der  Ku- 
ruzzen  folgten,  da  gab  es  grosse  Not  im  Lande.  Überall  waren  Missernten, 
das  Ackerland  war  dürr  und  voll  Sprünge,  das  Vieh  besenmager.  Da 
zog  ein  greiser  Invalide,  dem  man  einen  Fuss  abgeschossen  hatte,  bettelnd 
durch  das  Land.  Keins  hatte  Mitleid  mit  dem  Unglücklichen.  „In  so 
teueren  Zeiten",  riefen  die  Bäuerinnen  zum  Fenster  heraus,  „kommt  das 
Almosengeben  aus  der  Mode!"  Kopfhängerisch  und  mit  trauriger  Seele 
schlich  nun  der  Einfuss  in  die  Marchauen  und  sank  hier  an  einer  Eiche 
entkräftet  nieder.  Da  erschien  ihm  im  Traume  der  Tod  in  Begleitung 
zweier  unheimlicher  Gesellen.  Es  waren  klapperbeinige  Gestalten.  Sie 
trugen  Spaten,  Axt  und  Säge  und  gingen  daran,  die  Eiche  zu  fällen: 
„Gönnt  Ihr  mir  nicht  den  Schatten,  in  dem  ich  sterben  will?"  hauchte  der 
Invalide.  „Wir  wollen  Dir  den  Sarg  zimmern!  Bist  Du  dessen  zufrieden, 
so  mach'  uns  Platz!"  „Schau,  schau  dachte  der  Stelzfuss  bei  sich,  im 
Leben  musstest  Du  stets  mit  dem  Allerschlechtesten  vorlieb  nehmen,  im 
Tode  aber  zimmern  Dir  andere  den  Sarg!"  Kaum  scholl  der  erste  Axthieb 
durch  die  Au,  so  war  es  ihm,  als  hörte  er  Gewitterdonner.  Eine  wunder- 
schöne Frau  stand  plötzlich  vor  ihm;  sie  wehrte  die  Holzhacker  ab  und 
fügte  einen  blühenden  Pfirsichzweig  in  den  Rindenspalt.  Dann  entschwand 
sie  pfeilschnell  waldein.  Der  Invalide  erwachte,  und  wie  er  emporblickte, 
hingen  lachende  Früchte  über  seinem  Haupte.  Hastig  griff  er  darnach 
und  stillte  seinen  Hunger.  So  hat  Maria  den  hungrigen  Krieger  gesättigt. 
Das  Laub  der  Eiche  aber  sollen  unsere  Soldaten  seither  hoch  in  Ehren  halten; 


I 


Kriegs-  und  Schlachtensagen  aus  dem  Marchfelde.  381 

es  gilt  als  „Orden  Mariens",  der  braven  Vaterlandsverteidigern  vom  Himmel 
verliehen  wird. 

7.  Die  Hnngergrube. 
In  den  sechziger  Jahren  wnrde  gelegentlich  der  Abbrucharbeiten  de^ 
alten  Gasthofes  zum  „Franzosenwirt"  in  Esslingen  ein  verschütteter  Keller 
blossgelegt,  in  welchem  man  auf  eine  Menge  Menschengerippe  stiess. 
Auffallenderweise  fehlten  aber  allen  diesen  Skeletten  die  Finger  und  Zehen- 
knöchel, was  den  Leuten  Anlass  zu  mannigfachem  Gerede  gab.  Ein  greiser 
Yiehhirte  zu  Aderklaa  wollte  nun  das  einzig  richtige  an  der  ganzen 
Sache  wissen.  Im  Franzosenkrieg,  so  erzählte  er,  haben  sich  die  Leute 
aus  den  brennenden  Dörfern  in  ihre  Keller  geflüchtet,  um  der  viehischen 
Mordlust  der  Feinde  zu  entgehen.  Als  aber  diese  von  den  Verstecken 
erfuhren,  drangen  sie  in  die  abgelegenen  Erdräume  ein  und  nahmen  den 
armen  Gefangenen  nicht  bloss  alle  Waffen  und  Geräte,  sondern  auch 
alle  Nahrungsmittel  ab  und  dachten,  weil  sie  des  Blutes  bereits  satt  waren, 
daran,  die  Menschen  auf  andere  Art  zu  töten.  Sie  kamen  endlich  überein, 
den  Hungertod  zu  probieren,  und  so  vermauerten  sie  denn  die  Keller  mit 
Felsstücken  und  gössen  siedendes  Pech  darüber,  „Fresst  Euch  gegenseitig 
auf,  wie  die  Hechte!"  riefen  sie.  Dann  ritten  sie  von  daunen,  etliche 
Wächter  zurücklassend.  Die  unglücklichen  Gefangenen  sollen  sich  nun 
einander  vor  Hunger  die  Gliedmassen  vom  Leibe  genagt  haben  und  kamen 
so  elend  um.  Heute  ist  an  derselben  Stelle  ein  schilfiger  Morast.  Die 
Leute  gehen  an  ihm  nicht  gern  vorbei.  Knapp  dabei  erhebt  sich  ein 
„Ticberhügel"  ^),  der  das  Grenzgebiet  dreier  Ortschaften  scheidet.  Auf  die 
„Hungergrube"  will  aber  keine  Gemeinde  Anrecht  erheben.  Sie  liegt 
darum  herrenlos  da.  In  der  Sommerhitze  lassen  die  Feuerunken  ihren 
kläglichen  Gesang  weithin  hören.  Da  sagen  die  Bauern:  „Hört,  wie  sie 
immerfort  jammern:  Hunger!  Hunger!" 

8.  Kriegsheilige. 
Käuberisches  Gesindel  überfiel  jahrelang  die  Grenzbewohner  an  der 
March  während  der  Feldarbeiten,  tötete  die  Männer  und  stahl  ihnen  Korn 
und  AVein  ans  den  Kammern  und  Kellern,  so  dass  über  kurz  Not  und 
Hunger  im  Lande  herrschten.  Nichts  war  vor  diesen  Leuten  sicher,  nicht 
einmal  die  Milch  in  der  Ziege.  Zur  Zeit  dieser  Kriegsdrangsale  soll  es 
nun  vorgekommen  sein,  dass  fromme  Leute  durch  Heilige  gewarnt  worden 
sind  vor  dem  Überfalle  dieser  Eäuber.  Abends,  wenn  die  ersten  Sterne 
am  Himmel  erschienen,  erschollen  aus  dem  oder  jenem  Hause  im  Dorfe 
schrille  Trompetenstösse,  die  einem  durch  Mark  und  Bein  gingen.    Anfangs 


r  Leber,  lewer,  mhd.  lewer  =  Hügel.  Mit  Grenzhügeln  werden  im  Marchfelde  die 
Fluren  eingefangen.  Vgl.  Schmeller,  I,  1544  und  Graff,  IV,  1093.  Über  Grenzbegehungs- 
gebräuche  („Gmarischaun"  im  Marchfeld):  N.-öst.  Landesfreund  1893,  56  f. 


382  Schukowitz: 

wussten  sich  die  Leute  diese  sonderbaren  Zeichen  nicht  zu  deuten;  als 
sich  diese  aber  mit  jedem  neuen  Einfalle  wiederholten,  erkannten  sie  hierin 
den  Warnungsruf  des  Himmels  und  brachten  ihr  Hab  und  Grut  vorzeitig 
in  Sicherheit.  Zum  Gedächtnis  au  die  Hilfe  der  „Kriegsheiligen"  haben 
die  Anwohner  der  Marchebene  noch  in  den  fünfziger  Jahren  Hirtenpfeifen 
und  Schallhörner  über  ihren  Hausthoren  befestigt.  Heute  schwindet  dieser 
Brauch.  Der  Übername^)  „Trompetendörfler",  als  Spottbezeichnung  der 
Ostnachbarn  der  Marchfelder,  erinnert  aber  noch  daran. 

9.    Herrgottsgroschen. 

Die  kroatischen  Bewohner^)  des  mittleren  Marchfeldes  bezeichnen 
Geldstücke,  die  hier  und  da  in  den  Erdställen  ^)  gefunden  werden,  als 
Herrgottsgroschen  oder  Armsünderpfennige.  Man  erzählt  sich  hierüber 
folgendes :  In  den  harten  Zeiten  der  Feindesnot  flüchtete  sich  ein  frommer 
Seelenhirte  samt  seinen  Pfarrkindern  in  einen  tiefen  Erdstall.  Sie  blieben 
da  monatelang  versteckt,  bis  ihnen  alle  Lebensmittel  ausgingen.  Schon 
waren  sie  dem  Hungertode  nahe,  da  erbot  sich  der  Priester,  ihnen  Brot 
zu  besorgen.  Yorsichtig  stieg  er  aus  dem  Verstecke  empor.  Doch  siehe! 
Der  Ackergrund  lag  brach  da,  die  Behausungen  der  Menschen  standen  leer 
und  niemand  war  zu  finden,  der  auch  nur  ein  Scherz  Brot  geborgt  oder 
verkauft  hätte.  Voll  Seelentrauer  wanderte  der  Mann  Gottes  die  Kreuz 
und  die  Quer,  bis  er  ermattet  zu  einer  Mühle  kam,  in  der  die  Räder 
klapperten.  „Gebt  mir  um  Christi  willen  Brot  für  mich  und  meine 
hungrigen  Kinder!"  bat  er  den  Müller  und  schüttete  ihm  sein  ganzes  Geld 


l 


1)  Siehe  meine  Mitteilung  im  „Urquell",  Leyden  1897,  S.  119—121. 

2)  Nach  neueren  Untersuchungen  ist  es  ziemlich  sicher  verbürgt,  dass  die  kroatischen 
Ansiedelungen  im  Marchfelde  [Markthof,  Breitensee,  Bimersdorf,  Engelhartsteiten  u.  s.  w.] 
in  die  zweite  Hälfte  des  XVI.  Jahrh.  zu  setzen  sind.  Nachschübe  erfolgten  unter  Karl  VI. 
und  Maria  Theresia.  Der  Probst  Balthasar  Polzmann  z.  B.  wollte  das  öde  Dorf  Thiemen- 
thal-Neusiedel  bei  Pyrawarth  1584  mit  Kroaten  besiedeln,  musste  aber  wegen  des  Wider- 
standes der  benachbarten  Hohenruppersdorfer  davon  abstehen.  Niklas  Graf  Salm  besiedelte 
das  zerstörte  Dorf  Breitensee  mit  Kroaten.  Dass  aber  Kroaten  lange  vor  dem  Schweden- 
einfall (1646)  im  Marchfeld  ansässig  gewesen,  bezeugt  das  Urbarium  der  Herrschaft  Hof, 
das  schon  1639  von  den  „Krobatischen  Untertan"  spricht  (Bl.  V.  f.  Ldkde.  1889,  S.  91  ff.). 
In  Loimersdorf  kommen  1638  kroatische  Familiennamen  vor,  es  kann  also  nicht,  wie 
Schweickhardt  meint  (IV,  29  f.),  von  Kroaten  gegründet  worden  sein. 

3)  Die  Erdställe,  vom  Volke  auch  „versunkene  Schlösser"  geheissen,  sind  iu  Lehm- 
grand gegrabene  Gänge.  Soweit  deren  ursprüngliche  Anlage  erkennen  lässt,  führten  Erd- 
iöcher  mit  Steignischen  in  die  Höhlungen.  Diese  sind  meist  spitzbogenförmig.  Längs  der 
Wände  ziehen  sich  bankartige  Sitzreihen  hin,  die  gleichfalls  aus  Lehm  gestochen  sind. 
Grössere  Nischen  dienten  für  Vorräte  und  Geräte,  kleinere  Tastnischen  zur  Orientierung 
in  der  Dunkelheit  und  sprachrohrähnliche  Schlotte  zur-  Cernierung  nach  aussen  hin.  Es 
ist  ohne  Zweifel  sicher,  dass  die  Erdställe  dem  Volke  als  Zufluchtsstätten  bei  Feindes- 
gefahi-  gedient  haben.  Die  neuere  Forschung  sieht  in  ihnen  auch  Kultstätten  aus  prä- 
historischer Zeit.  (Vgl.  Much  in  den  Mittei'l.  der  Wiener  anthropol.  Gesellschaft,  V,  226. 
Karner  ebenda  VI,  180ff.  und  Bl.  Y.  f.  Ldkde.,  X,  173  u.  293.) 


Kriegs-  uufl  Schlachtensagen  aus  dem  Marchfeklc.  383 

in  die  Schürze.  Der  Müller  streifte  die  Münzen  in  ein  Mehlmass  und  er- 
widerte kalt:  „Seht,  das  wiegt  in  der  schweren  Zeit  weniger  als  ein  gleiches 
Mass  Mehl.  Bringt  mir  noch  fünfmal  soviel  nnd  ich  will  Euch  geben, 
was  gerecht  ist!"  Traurig  ob  der  harten  Rede  kehrte  der  Priester  zu  den 
Seinen  zurück  und  als  diese  von  dem  herzlosen  Menschen  erfuhren,  waren 
sie  zu  Tode  betrübt.  Ein  jedes  suchte  nach  seinem  letzten  Sparpfennige, 
aber  es  langte  nicht.  Nun  fielen  sie  in  ihrer  Not  auf  die  Knie  und  beteten 
im  Vereine  mit  ihrem  Seelenhirteu  inbrünstig  zu  Gott  im  Himmel  um  Kat 
und  Hilfe.  Und  siehe  da!  Kaum  hatten  sie  ihr  Gebet  vollendet,  so  glirrte 
und  glitzerte  es  in  den  Gängen  und  Erdkammern  gar  sonderbar.  Die 
Tauperlen  an  den  Lösswänden  liatten  sich  vor  aller  Augen  in  silberne 
und  goldene  Münzen  verwandelt  und  fielen  den  Ratlosen  in  den  Sclioss. 
Alle  aber  lobten  den  Herrn  ob  dieses  AYunders,  und  der  Priester  kaufte 
nun  Brot,  dass  sie  sich  daran  satt  essen  konnten,^) 

10.    Mörderhände. 

Die  bösen  Küruzzen  hatten  vor  gar  nichts  Scheu,  was  den  Christen 
heilig  war.  Einmal  drangen  sie  auch  in  die  Dreifaltigkeitskirche  zu  Drösing 
ein.  Die  Leute  sangen  gerade  zur  Messe.  Wie  wütend  stürzten  sich  die 
Räuber  auf  die  wehrlosen  Bauern  und  ermordeten  viele.  Dem  Priester 
aber  schnitten  sie  die  Zunge  aus  dem  Munde  und  riefen:  „Du  magst  stumm 
bleiben  wie  der  Fisch !  Euern  Kindeskindern  aber  wollen  wir  dies  zum  Denk- 
zeichen hinterlassen!"  Bei  diesen  Worten  drückten  sie  ihre  bluttriefenden 
Hände  an  die  Kirchenwände.  Und  wirklich!  Diese  Mörderhandspuren 
sind  bis  heute  geblieben.  Die  alten  Drösinger  haben  sie  schon  übertünchen 
lassen,  allein  die  Male  schimmern  noch  immer  durch.  Der  alte  Dorfmesner 
will  sogar  jüngst  die  Namen  jener  Gottlosen  in  den  Handspuren  gelesen 
haben. 

11.    Madonna  in  den  Schanzen. 

Von  Stammersdorf  bis  Esslingen  ziehen  sich  lange  Erdschanzen 
jTäben]  hin,  welche  Wien  schützend  in  weitem  Bogen  umrahmen.  Einmal 
lag  der  Feind  vor  den  Thoren  der  Hauptstadt  und  da  waren  diese  Schanzen 
die  verlässlichste  Wehr  für  unsere  Soldaten.  Am  Vorabende  der  blutigen 
Schlacht  bei  Aspern^)  soll  es  gewesen  sein,  da  stand  auf  der  Schanzenhöhe 


1)  Über  die  grosse  Hungersnot  im  Marchfeld:  Leeb,  Sagen  N.-Osterr.,  Wien  1892, 
S,  '.)9.  Aus  den  Halmen  des  Dachstrohes  schnitt  man  die  Glieder  heraus  und  stampfte  sie 
zu  Mehl.  Auf  den  Rasenplätzen  lagen  die  Menschen  umher,  den  Mund  voll  Gras  und  tot, 
andere  waren  an  den  Zäunen  und  Setzlingen  nagend  verhungert.  Eine  Wechselsage  leitet 
den  Ursprung  des  beliebten  „Kletzenbrotes"  von  einer  Hungersnot  her,  in  der  die  Menschen 
aus  allerhand  Abfällen  ein  Mischbrot  buken.  R.  Weissenhofer  in  ..Die  österr.  Monarchie 
in  Wort  und  Bild",  S.  216. 

2)  Pfingstsamstag,  20.  Mai  1809. 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1899.  26 


384  Schukowitz: 

beim  Rendezvous')  auch  ein  blutjunger,  aber  eichenstarker  Deutsch- 
meister auf  Wachposten.  Im  Herzen  loderte  ihm  Kampfgier,  in  der  Seele 
ruhte  felsenfestes  Gottvertrauen.  Sein  scharfes  Auge  überblickte  die 
knisternden  Wachfeuer  im  dunklen  flachen  Land.  Plötzlich  war  es  ihm, 
als  sähe  er  eine  schimmernde  Heldeiijungfrau  mit  flammendem  Krumm- 
säbel die  Böschung  heraufwallen.  Rasch  donnerte  er  der  Erscheinung  das 
Losungswort  entgegen,  allein  es  erfolgte  keine  Antwort.  Nun  legt  der 
Posten  die  Flinte  an  und  blitzschnell  steht  sie  gross  und  erhaben  vor  ihm, 
dass  ihm  vor  Angst  die  Sinne  schwinden.  „Habe  Mut,  kaisertreuer  Krieger", 
redet  sie  ihn  an,  „ich  will  Dir  einen  Schutzpfennig  geben,  der  Dich 
retten  soll!  Dein  Mütterlein  hat  ihn  Dir  erbeten!«  Mit  diesen  Worten 
reichte  sie  dem  Soldaten  einen  blinkenden  Gnadenthaler,  worauf  das  Bild 
der  Madonna  war.  Die  Erscheinung  verschwand.  Der  Wind  pfiff  über 
die  Erdwälle,  es  knisterten  die  Lunten,  die  Streitrosse  schüttelten  sich. 
Nun  graute  der  Morgen.  Kanonendonner  meldete  den  Schlachtbeginn. 
Die  Kugeln  summten  wie  Mücken,  unser  Krieger  wich  nicht  vom  Platze. 
Er  stand  in  den  ersten  Reihen.  Da  —  eia  Kugelanprall  und  seine  Hand 
hing  an  einer  Sehne.  Ein  Kamerad  schnitt  sie  ihm  weg  und  verband  ihm 
den  Stumpf.  Trotz  der  Wunde  blieb  der  Krieger  im  Feuer.  Wie  aber 
abends  die  Sonne  blutrot  niedersank,  hatte  der  Tod  reiche  Ernte  gehalten.^) 
Der  heldenmütige  Deutschmeister  hat  dann  einen  ehrenvollen  Abschied  er- 
halten. Seine  abgetrennte  Hand  und  die  Marienmünze  zeigte  er  seinem 
Obersten.  Mit  der  goldenen  Medaille  auf  der  Brust  ist  er  dann  heim- 
gekommen. „Zeig  mir  Deine  Rechte,  Kind!"  rief  ihm  sein  Mütterchen 
von  ferne  entgegen.  Der  Krieger  wies  ihr  den  vernarbten  Stumpf.  „0 
ich  hab'  davon  gewusst!"  fahr  sie  fort.  „Danke  der  lieben  Himmelsfrau, 
dass  Du  nicht  tot  bliebst  im  Felde."  Den  Madonnenthaler  aber  bewahrte 
der  Krieger  sorgsam  auf  und  heute  ist  er  im  Besitze  seiner  braven  Kindes- 
kinder. 

12.  Der  Teufel  als  Kanonier. 
Dass  der  Teufel  auch  im  Soldatenglauben  eine  Rolle  spielt,  wird 
mancher  nicht  wissen.  Die  folgende  Sage  hat  mir  aber  ein  Radetzkyveteran 
erzählt:  „Es  giebt  Geschütze",  sagte  er,  „die  in  allem  Ernste  von  selber 
feuern.  Wenn  man  so  mitten  drinnen  steht  im  Pulverdampf  und  einem 
Klingen  und  Kugeln  rund  um  die  Ohren  sausen,  als  thäten  die  Höllen- 
geister die  Winde  peitschen  mit  Ruten,  ei,  da  kann  man  sich  hiervon  am 
besten  überzeugen.    Wir  standen  dazumal  in  Schwarmlinien  vor  dem  Feind. 


1)  Rendezvous  heisst  das  alte  kaiserliche  .Jagdschloss  auf  der  Höhe  des  Loimerbühels 
im  oberen  Wald  bei  Staramersdorf.  Unter  Kaiser  Franz  I.  fanden  hier  die  grossen  Parforce- 
jagden statt  [„Austria",  Wien  1845,  S.  Ulf.]. 

2)  Auf  Seiten  der  Franzosen  fielen  gegen  11000  Mann,  über  35000  wurden  verwundet. 
Auf  Seiten  der  Österreicher  über  4000,  16  000  wurden  verwundet. 


Kriegs-  uud  Schlachtensagen  aus  dem  Marchfelde.  385 

Das  Gefecht  war  hitzig-,  die  Geschütze  knatterten,  dass  einem  Hören  und 
Sehen  verging.  Nun  hiess  es:  Yorwärts,  Kinder!  Wir  wussten,  es  gehe 
nun  um  Leben  und  Tod.  Wir  legten  uns  also  teuflisch  ins  Zeug.  Auf 
einmal  klopft's  mir  sachte  von  rücklings  auf  die  Schulter.  Ich  sehe  mich 
um.  Da  steht  der  Leibhaftige  vor  mir.  Es  war  ein  spindeldürrer  Mann, 
russig  wie  ein  Köhler,  auf  dem  Hut  eine  grüne  Falkenfeder.  Hups,  reitet 
der  Kerl  auf  unserem  Metallrohr  und  bläst  wie  nicht  gescheit  in  das  Zünd- 
loch. Himmeldonnerwetter,  war  das  ein  Krachen!  Ihr  hättet  es  hören 
sollen!  Ich  lehnte  nur  so  besinnungslos  daneben.  Der  Sieg  ist  unser! 
Hurrah!  Nun  schweigen  die  Geschütze.  Der  seltsame  Kanonier  ist  ent- 
schwunden. —  Ich  lass  mir's  nicht  nehmen,  es  war  der  Teufel.  Er  ist  ja 
der  Helfershelfer  der  Kanoniere!" 

13.  Die  Franzosenfalle. 
Dort,  wo  bei  Stillfried  der  Rochusberg  steil  abfällt  zur  March- 
niederung,  öffnet  sich  eine  tiefe  Erdschlucht.  Der  Sage  nach  soll  hier  vor 
Zeiten  eine  Römerveste  gestanden  sein,  in  der  ein  wüster  Ritter  hauste^). 
Tag  und  Nacht  lugten  seine  Mannen  über  den  Fluss  und  die  Fahrstrassen 
aus,  und  sobald  ein  fahrender  Kaufwagen  oder  ein  Warenfloss  in  Sicht 
kam,  stürmten  sie  hurtig  zu  Thal  und  plünderten,  was  zu  plündern  war. 
Die  Leute  aber  trieben  sie  in  die  Oclisenmühle,  wo  sie  arbeiten  mussten, 
dass  ihnen  das  Blut  aus  den  Poren  drang.  ^)  Endlich  war  dem  lieben 
Gott  das  Mass  der  Greuel  voll.  Ein  Blitzstrahl  tötete  den  Bösewicht  in 
seiner  Yeste  und  der  rote  Hahn  flog  über  das  Raubnest.  Lange  sollen  an 
der  Stätte  Mauerreste  sichtbar  gewesen  sein.  Aber  mit  der  Zeit  versanken 
auch  diese  in  die  lehmige  Erde  und  heute  sieht  man  einen  brunnentiefen 
Erdspalt.  Im  Franzosenkriege  sollen  unsere  Husaren  eine  falsche  Brücke  über 
die  Untiefe  geschlagen  haben.  Wie  nachts  die  feindlichen  Kürassiere  dar- 
überritteu,  stürzten  sie  mit  Rossen  und  Geschützen  hinab.  Zu  Zeiten  wollen 
hier  heute  die  Leute  ekeligen  Dampf  aufsteigen  sehen  aus  einem  schwarzen 
See"),  und  der  Lauscher  hört  aus  der  Tiefe  ein  entsetzliches  Fluchen  und 
Schnauben.     Der  Name  „Franzosenfalle"  aber  haftet  seither  der  Stelle  an. 

14.    Die  Bonapartenbuche. 
Im  Wald    ausser  Engelhartstetten   zeigt   einem  jedes  Kind  die  alte 
Bonapartenbuche,  einen  Riesenbauni,  dessen  Krone  aber  durch  Sturm  und 


1)  Über  die  Quadenburg  uud  Ariogais:  Kirchmayer,  Die  Quaden,  Brunn  1888, 
S.  Gl.  (Dio  Cassius  IIb.  71.)  Nicht  weit  von  dieser  Stelle  fand  ich  im  Vorjahre  Silber- 
denare  aus  der  Zeit  des  Augustus  (vgl.  Monatsbl.  d.  num.  Ges.  Wien  189G,  S.  447). 

2)  Im  untersten  Burgraume  trieben  Ochsen  die  Kornmühle  und  diesen  gab  man 
Menschenblnt  zu  trinken. 

3)  Solche  unterirdische  Seen  kennt  die  n.-österr.  Sage  noch  an  anderen  Orten,  wie  in 
Kelchbruun  bei  Hasbach,  in  Unterberg,  in  Spitzbrand  bei  Lilienfeld,  im  Pütten- 
gau  U.S.W.  (Calliano,  N.-öst.  Landfr.  1892). 

26* 


38H  Schukowitz: 

Blitz  viel  gelitten  hat.  In  seinem  Schatten  soll  im  Neunerjahre  die  fran- 
zösische Generalität  „gemahlzeit"  haben.  Napoleon  war  dabei.  Da  schlich 
durcli  das  Dickicht  eine  zerlumpte  Zigeunerin  herbei  und  drängte  sndi 
mitten  unter  <lie  Soldaten.  „AVas  will  das  AVeib?"  fragte  ein  Marschall. 
„Wahrsagen!  den  hohen  Herren  wahrsagen!"  wiederholte  die  Zigeunerin 
uneingeschnchtert.  Schon  funkelten  ein  paar  Degen,  da  winkte  der  Feld- 
herr, man  möge  es  ihr  gewähren  lassen.  Das  AVeib  näherte  sich  mid  sagte 
zu  Napoleon:  „Ich  kenn  Dich  nicht,  aber  Du  hast  viele  Gewalt!  Greh", 
zeig  mir  Dein  Pulverhorn!"  Der  Feldherr  reichte  es  ihr  lächelnd.  „Ei", 
sprach  sie  dann,  „für  morgen  wird  das  nicht  langen!"  Die  Offiziere  kicherten 
laut.  Napoleon  aber  schwieg.  „Nun,  heb'  mir  einer  den  Hinterfuss  seines 
Leibrosses",  bat  die  Zigeunerin  weiter.  Es  geschah.  „0",  rief  sie  ent- 
setzt aus,  „man  wird  ihm  das  arme  Tier  unter  dem  Leibe  töten!"  Und 
wiederum  lachte  die  Runde.  Napoleon  bliel)  ernst.  ,.Du  zweifelst?"  fuhr 
das  AVeib  kühn  fort.  „Nun  weiss  ich,  wie  Du  lieisst  und  wer  Du  bist. 
Reich  mir  Deine  Rechte!"  Willenlos  that  es  der  Kaiser.  Die  Zigeunerin 
besah  seine  Scliicksalslinien,  plötzlich  Hess  sie  seine  Hand  fahren  und  rief 
enteilend:  „Unglücklicher,  Du  verlierst  die  Schlacht!"  Napoleon  erfasste 
plötzlich  Zorn,  er  griff  hastig  nach  seinem  Dolch  und  schleuderte  ihn  der 
Fliehenden  nach.  Dieser  verfehlte  aber  sein  Ziel  und  blieb  in-  einem 
Buchenstamme  haften.  Tags  darauf  unterlagen  die  Franzosen  thatsächlich 
bei  Aspern  und  Esslingen.  Die  Dolchwunde  in  der  Baumrinde  will 
aber  bis  heute  nicht  vernarben. 

[In  der  Schlacht  bei  Aspern  und  Esslingen  am  21.  und  22.  Mai  1809  verlor  Napoleon. 
Über  15000  Franzosen  deckten  die  Wahlstatt,  darunter  der  Marschall  Lannes.  Um  den 
Hunger  zu  stillen,  schlachtete  man  Pferde,  den  Durst  löschte  man  mit  dem  schlammigen 
Wasser  der  Donau,  auf  dem  Tansende  von  Leichen  vorüberschwammen.  Über  deu  Napoleon- 
tisch in  Deutsch-Wagram  s.  diese  Zeitschr.  1898,  S.  48  und  über  Napoleonsitz  Beck,  Die 
röm.  Strassen  Regenburgs.     München  1894.     S.  17 f.] 

15.    Das  Franzosengrab. 

In  Matznerwald  am  „ Zwergackerl"  liegt  ein  niederer  Erdhügel. 
Der  Sage  nach  sollen  hier  französische  Soldaten  begraben  liegen,  welche  ein 
Bauer  im  Schlafe  meuchlings  getötet  und  heimlich  verscharrt  hatte.  Als 
seine  That  bekannt  geworden  war,  sollte  er  enthauptet  werden.  Man  legte 
ihm  einen  eisernen  Ring  um  den  Hals  und  band  ihn  geknebelt  an  die 
Marktsäule.  Allein  der  Bauer  entkam  auf  hinterlistige  Art  und  floh  aus 
dem  Lande.  Die  Kriegszeiten  waren  längst  vorbei,  da  kehrte  auch  der 
Soldatenmörder  zurück,  und  weil  ihm  der  Grabhügel  just  bei  seinem 
Fruchtgrund  ein  Dorn  im  Auge  war,  so  wollte  er  ihn  flach  schaufeln. 
Aber  kaum  hatte  er  den  ersten  Spatenstich  gethan,  so  stiegen  aus  der 
Grube  drei  hässliche  Totengerippe  enij)or,  die  auf  ihn  losschlugen,  so 
dass    der    Arme    tags    ilaranf,    am    ganzen    Leibe    mit    Wunden    bedeckt, 


Kriegs-  und  Schlachtensagen  aus  dem  Marchfelde.  387 

tot    aufgefunden    wurde.     Den  Verbrecherring  ^)    trug    er    noch   um  seinen 
Hals. 

IH.    Der  Kugelsegen. 

Ein  Invalide,  der  seinen  Lebensabend  in  Zwerndorf  verbringt,  be- 
walirt  ein  Amulet  auf,  das  er  hoch  in  Ehren  hält.  Es  ist  eine  Scheibe 
aus  Zinnblech,  etwa  12  cm  im  Durchmesser,  auf  welche  ein  gedruckter 
Kugelsegen  geklebt  ist,  der  also  lautet:  Es  seynd  drey  hl.  Blutstropfen 
Gott  dem  HEREN  über  sein  hl.  Antlitzen  geflossen,  die  3  H.  Blutstropfen 
seynd  vor  das  Zündloch  geschoben,  so  rein  als  unsre  liebe  Frau  von  allen 
^lännern  war:  ebensow^enig  soll  ein  Feuer  oder  Rauch  aus  dem  bösen 
Rohr  gehen;  Rohr  gieb  Du  weder  Feuer  noch  Flamm  noch  Hitze!  Jetz 
geh  ich  dem  Feind  entgegen  unverzagt,  unentwagt.  Chrysti  Fahn  gehet 
vor  mir,  Gott  Yatter  ist  vor  mir,  Gott  der  hl.  Geist  schwebt  vor  mir  und 
all  die  Cherubim  und  Seraphim,  so  flammend  Schwerter  tragen.  Dass 
gesegne  meinen  Leib  für  jetzuud  die  Zeit  f  f  f  Amen. 

Der  Invalide  erzählte  mir  hierüber  folgendes:  „Ich  stand  mit  den 
Kaiserjägern  im  Schlachtfeld,  da  hatte  ich  in  der  Nacht  vor  dem  Gefecht 
bei  Schön kirchen  einen  gar  sonderbaren  Traum,  wie  ich  einen  solchen 
mein  Lebtag  nicht  gehabt  hab\  Es  war  mir.  als  hätte  ich  Yorpostendienst. 
Der  Ort,  wo  ich  stand,  war  aber  ein  Friedhof  und  drinnen  lag  meine  gott- 
selige Mutter  begraben.  Yor  mir  sah  ich  schon  in  Rauch  und  Staub 
Bataillon  um  Bataillon  vorrücken,  und  es  knatterten  in  der  Ferne  die 
Geschütze.  Da  fasste  mich  Todesangst,  ich  wollte  weichen,  war  aber  wie 
gelähmt.  Ein  gespenstischer  Reiter  flog  über  die  Gräber,  die  Steine  und 
Kreuze  knickten  um.  Es  strich  eine  eiskalte  Luft.  Auf  einmal  streckte 
sich  aus  einem  Hügel  ganz  langsam  ein  hagerer  Arm  heraus;  der  fasste 
meine  Fahnenstange  und  bohrte  sie  fest  in  die  lockere  Erde.  Dann  langte 
er  nach  meinem  Tournister  am  Rücken  und  entnahm  demselben  die  Menage- 
schüssel. Willenlos  liess  ich  es  geschehen.  Plötzlich  flog  eine  Granate 
durch  die  Luft  und  ich  fühlte  eine  Todeswunde  auf  der  Brust.  Yor 
Schrecken  erwachte  ich  und  lag  rücklings  auf  dürrem  Baumlaub.  Die 
Kriegsfahne  flatterte  im  Morgenwinde.  Ich  betastete  meine  Brust.  Eben 
an  der  Stelle,  wo  ich  den  brennenden  Schmerz  verspürt  hatte,  lag  sonder- 
barerweise meine  Menageschüssel  und  darunter  dieser  Kugelsegen.  Wie 
das  Ding  dorthin  gekommen,  weiss  ich  mir  heute  noch  nicht  zu  erklären! 
Aber  ich  habe  darin  einen  Fingerzeig  meiner  gottseligen  Mutter  erkannt. 
So  schlug  ich  denn  an  jenem  Morgen  den  Boden  aus  meiner  Menage- 
schüssel, klebte  den  Zettel  darauf  und  schob  ihn  mir  unter  den  Waffenrock. 

1)  Mach  der  Anschauung  des  Volkes  wächst  Mördern,  die  ihre  Strafe  auf  Erden 
nicht  abbüssen,  im  Grabe  ein  eiserner  Ring  um  den  Hals  {yg\.  T  hu  dich  um  Friedr. 
Die  Rechtssprache  .  .  .  Stuttgart  1898,  S.  24).  Das  Gerippe  des  „Znaimer  Graseis"  wurde 
im  Pestfriedhofe  zu  Schrick  mit  einem  Eisenringe  um  den  Hals  gefunden.     (Y.  0.  M.) 


38<S  Schukowitz:  Kriegs-  und  Schlachtensagen  aus  dem  Marchfelde. 

Und,  Herr,  mögen  Sie  es  glauben  oder  nicht",  schloss  er  überzeugt,  „meine 
tote  Mutter  hatte  mich  recht  gewarnt!  Ich  kam  bald  ins  dichteste  Schar- 
mützel. Eine  Kugel  traf  mich  mitten  auf  die  Brust.  Ich  taumelte  rück- 
lings, blieb  aber  unversehrt.  Eben  an  der  Blechscheibe  war  sie  abgeprallt. 
Seit  dem  Tage  habe  ich  nun  ein  kindliches  Yertrauen  zu  dem  harmlosen 
Dinge.  Es  hat  mich  durch  alle  meine  Schlachten  begleitet  und,  so  ich 
heute  sterbe,  sollen  sie  es  mir  auch  mit  in  die  Truhe  geben!" 

17.    Die  Glückssporen. 

Der  Gemeindeschmied  zu  Wolkersdorf  bewahrt  seit  altersher  ein 
paar  Reitersporen  auf,  über  die  er  das  Folgende  erzählt:  „Anno  Neun  ist's 
gewesen  —  zwischen  Stripfing  und  Schönkirchen.  —  Da  is  mein  Yoda  — 
God  lass'n  selig  mahn  —  in  Gfecht  gstondn  gegen  d'  Rothkai)pla^).  D' 
Kugeln  habn  gsurrt  und  gsaust  wia  d'  Mucken.  —  Oft  hat  er"s  derzählt. 
D"  Blesirten  habn  g'achzt  und  d'  Strohdacher  und  d'  Schober  habn  prasselt 
in  Feuer,  's  Viach  ist  herrenlos  umagirrt,  der  Himl  feuerroth,  als  wan  's 
jüngst  Gricht  gwesn  war  und  a  Gschroa  und  a  Jammer  aufn  Feldern  schier 
wiarin  Fegfeuer.  Und  mitten  drin  in  Pulverdampf  steht  da  Yoda,  mauserl- 
gsund  und  bamstark.  Auf  oamal  stroaft  a  Kartätschn  sein  Oberst.  D' 
Schwadron  reteriert.  D'  Ros  über  d'  Leut  drüber,  's  is  a  heillos'  Durch- 
anander.  „Bruada",  schreit  oaner:  „Spalt  mr  'n  Schädl,  dass  i  net  leidn 
darf!"  „Grüass  mr  no  mein  alts  Müattarl  dahoam",  winselt  der  ander  und 
so  geht's  weida.  Und  der  Voda  flucht  si  in  oan  Ruabnkeller.  Er  bleibt 
am  Leben.  Hiazd  wird's  Xacht.  Der  Mond  hat  woanarlich  owagschaut 
auf  das  Jammerfeld.  Da  und  durt  ächzt  no  a  Sterbender,  d'  nieistn  san 
schon  still.  Und  durt  an  der  Freithofmauer  loahnt  sein  blesirter  Oberst, 
's  Bluad  sourlt^)  eahm  matt  übern  Waffenrock.  „Sühn",  sagt  er  da  röchelnd 
zu  mein  Voda:  „Sühn,  a  Tröpfl  Wasser!"  Blitzschnell  rennt  der  Yoda  zu 
da  nachstn  Schwemm^)  und  bringt  eahm  oan  Tschako  voll.  Der  Oberst 
trinkt  davon.  „Dank,  schön  Dank!"  sagt  er  drauf.  „Und  da  hast  meine 
Sporn  zum  Lohn;  sie  werdn  oans  vo  Deine  Kinar  zun  Glück  vahölfa!"  — 
Und  mir  san  unsar  drei  Brüadar  gwesn,  oana  kirzengrader  wie  da  ander. 
Oan  niadn  habns  bhaltn  zu  die  Kaiserlichen  und  a  niada  vo  uns  hat  "n 
Oberst  seini  Sporn  probirt:  'n  Michl  —  God  lass  'n  selig  mahn  —  sans 
z'  kloan  gwesn,  'n  Seppl  —  God  lass  'n  a  selig  mahn  —  saus  wieda  z' 
gross  gwesn,  nur  mir,  'n  Jüngstn,  hobns  passt,  passt  wiaram  Schnürl.  —  — 
Und  hiazd  wöllts  wissn,  zu  welchn  Glück  als  ma  vaholfa  habn?  Da  Michl 
und  da  Seppl  san  in  66  er  Jahr  am  Feld  bliebn  und  i,  i  hab  ma  mit  dö 
Sporn  a  mudlsaubri  Köuiggrätzerin  aufzwickt.  —  Heund  is  s'  mein  Weiberl. 


1)  „Eothkappla"  ist  Volksbezeichuuug  für  die  französischen  Soldaten. 

2)  sourln  =  herabträufeln. 

3)  Schwemm  =  Wassertümpel,  worin  das  Haiisvieh  badet. 


Gerhardt  und  Petscli:  Uckermärkische  Kinderreime.  389 

Also  viel  Glück,  oder  wenig  Glück,  wia  's  halt  oans  nehma  will.  Aber 
aufheba  tlma  is,  dö  Glückseisen;  leicht  brauchts  wieder  oans  von  meine 
Büabln!" 

18.  Das  Preussenkreuz. 
Zwischen  Weikendorf  und  Oberweiden  steht  im  freien  Ährenfeld 
ein  schmiedeeisernes  Kreuz,  um  das  herum  preussische  Soldaten  begraben 
liegen,  die  1866  an  der  Cholera  starben.  So  oft  nun  im  Marchfeld  Manöver 
gehalten  werden,  hört  man  aus  diesen  Soldatengräbern  Schlachtgesänge 
schallen,  sagt  das  Volk.  Es  ist,  als  ob  die  Krieger  hier  nicht  thatenlos 
ruhen  könnten.  Sie  werden  einmal  alle  bewaffnet  aufstehen,  wenn  es  an 
der  Zeit  ist.  Die  Landmädchen  legen  gern  Feldblumen  auf  diese  Hügel 
Über  Nacht  trägt  sie  aber  der  Wind  davon.  Auch  die  Gräberblumen  wollen 
hier  nicht  gedeihen.     Sie  müssten  wohl  von  heimatlicher  Erde  sein! 

Graz. 


Uckermärkisclie  Kiiiderreinie. 

Herausgegeben  von  31.  Gerhardt  und  K.  Petsch. 

(Schluss  von  Zeitschr.  IX,  2S-I.) 

59.    Petersil  und  Suppen  kraut  Oder: 

Wächst  in  unserm  Garten,  Rosmarin  und  Thymian 

Fräulein  Anna  ist  schon  Braut,  Wächst  in  unserm  Garten, 

Braucht  nicht  mehr  zu  warten.  Wer  mein  Mädchen  freien  will. 

Roter  Wein  und  weisser  Wein,  Muss  noch  lange  warten. 

Morgen  soll  die  Hochzeit  sein. 
In    diesen    oder    ganz   ähnlichen  Formen   sehr  weit  verbreitet.     Siehe 
Böhme  a.  a.  0.  No.  -200. 

60.    0  Jammer,  Jammer,  höre  doch. 
Was  ich  dir  einst  will  sagen, 
Ich  hab  verloren  meinen  Schatz, 
Mach  auf,  mach  auf  den  Laden. 
Schau  an,  schau  an,  hier  steht  mein  Mann, 
Hier  fall  ich  ihm  zu  Füssen, 
Und  den  ich  einst  geliebet  hab. 
Den  will  ich  auch  einst  küssen. 

Eines  der  vielen  Lieder,  die  mit  dem  Motive  vom  „verlorenen  Schatz" 
arbeiten,  wie  es  auch  in  kurzen  Yierzeilern  vorkommt,  z.  B.  Wegener  a.  a.  O. 

S.  287,  No.  1016: 

„Schatz  verloren,  Schatz  verloren 
In  den  groten  Regen. 
Loat'n  loopen,  loat'n  loopen, 
Is  nischt  dran  gelegen." 


390  Gerhardt  und  Petsch: 

Unsere  obige  Fassung  ist  aus  einem  ursprünglich  wohl  mehrstrophigen 
Liede  stark  verkürzt,  scheint  aber  die  Schlussverse  treuer  als  andere 
Fassungen  bewahrt  zu  haben.  Material  bei  Böhme,  S.  480 — 482  (No.  201 
bis  208)  und  etwa  noch  Frischbier  a.  a.  O.  No.  (179.  Die  Urfassung  wird 
sich  nicht  leicht  herstellen  lassen.  Ein  Mädchen  sucht  seinen  Schatz  und 
kommt  an  einen  Garten,  den  der  Kreis  der  Kinder  vorstellt.  Auf  ihre 
Bitte  öffnet  sich  dieser,  sie  tritt  ein  und  entdeckt  in  einem  der  Kinder 
den  entschwundenen  Geliebten,  dem  sie  zu  Füssen  fällt  und  die  Hand 
küsst. 

Aus  dem  „Garten",  einer  höchst  unvollkommenen  Assonanz  auf  „sagen" 
(ursprünglich  wohl  „klagen")  ist  bei  uns  das  näher  gelegene  „Laden" 
geworden.  Auch  anderswo  ward  die  Härte  empfunden.  Durch  Neuschaffung 
zweier  Reimzeilen  liilft  man  sich  z.  B.  in  Schleswig  (Böhme  Xo.  201): 

y,Jammer,  Jammer  hin  und  her, 

Über  mich  zu  klagen! 

Es  drückt  mein  Herze  gar  zu  sehr, 

Ich  kann  es  gar  nicht  sagen. 

Mach  auf,  mach  auf  den  Garten, 

Ich  kann  nicht  länger  warten." 

In  der  zweiten  und  der  letzten  Zeile  ist  „einst"  hässliches  Flickwort. 
(Ursprünglich  „jetzt"?  Oder  mit  anderer  Betonung:  „"Was  ich  dir  will 
sagen"  und  „den  will  ich  auch  küssen"?) 

Gl.    Hier  ists  grün  und  da  ists  grün 
Wohl  unter  meinen  Füssen, 
Ich  hab  verloren  meinen  Schatz, 
Werd  ihn  suchen  müssen. 
Dreh  dich  um,  dreh  dich  um, 
Ich  kenne  dich  ja  nicht; 
Bist  dus  oder  bist  dus  nicht? 
a)  Ach  nein,  ach  nein,  er  ist  es  nicht,         b)  Ach  ja,  ach  ja,  er  ist  es  ja. 

Ach  scher  dich  raus,  ich  mag  dich  nicht.         Der  mir  ein  Küsschen  schuldig  war- 

Die  Überlieferung  (vgl.  Böhme  S.  482—484,  No.  20i)— 213,  Eskuche 
a.  a.  0.  No.  34(')  und  Frischbier  a.  a.  O.  No.  675)  zeigt  mannigfache  Ver- 
schmelzung mit  anderen  Texten  (z.  B.  mit  unserer  No.  (50,  wie  ja  denn 
beide  das  gleiche  Thema  behandeln),  Zerdehnungen  u.  dgl.  Unser  Text 
ist  einer  der  besten  und  muss  der  Urform  sehr  nahe  stehen.  Ein  Kind 
tritt  in  den  Kreis  und  fragt  die  anderen  der  Reihe  nach,  lehnt  sie  ab  (a) 
und  entscheidet  sich  endlich  (mit  b)  für  eines,  dem  es  die  Hand  reicht; 
in  anderen  Fassungen   singen  dann  wohl  auch  beide  zusammen  noch  zwei 

Zeilen: 

„Dich  mein  Kind,  dich  will  ich  Hoben, 
Du  bist  mir  ins  Herz  geschrieben, 
::  Du  gefällst  mir  wohl  ::". 

(So  bei  Böhme  No.  212,  aus  dem  Rheinlande.) 


Uckormärkisclic  Kinderreime.  391 

62.    Rote  Kirschen  ess'  ich  gern,  Wenn  mir's  hundert  Thaler  kost, 

Schwarze  noch  viel  lieber;  Die  bezahl'  ich  alle. 

Junggesellen  küss'  ich  gern,  Hundert  Thaler  ist  kein  Geld, 

Alte  stoss  ich  nieder.  Wenn  mir  nur  mein  Schatz  gefällt. 

Fahre  mit  der  Extrapost,  Schätzchen  hin,  Schätzchen  her. 

Fahre  bis  nach  Halle.  Schätzchen  ist  ein  Zoddelbär. 

Das  Tauzliedclien  ist  aus  <len  verschiedensten  Bestandteilen  mosaikartig 
zusammengesetzt.     Lnmerhin  hat  es  diese  Bestandteile  besser  bewahrt,  als 
etwa  die  niederhessische  Fassung,  die  Böhme  (Ko.  2-21)  aufführt: 
„Kote  Kirschen  ess  ich  gern,  schwarze  noch  viel  lieber. 
Fahren  auf  der  Extrapost,  wenn  es  1000  Thaler  kost 
Tausend  Thaler  sind  kein  Geld,  wenn  es  meinem  Schatz  gefällt 
Schätzchen  hier,  Schätzchen  da,  Schätzchen  in  Amerika.'- 

Zum  einzehien  vgl.  etwa  AVcgener  a.  a.  0.  S.   187,  Xo.  (i48: 
„Wo  all  de  buntn  Blomen  stahn. 
De  blauen  plück  ick  af, 
De  gol'n  iaat  ick  stahn. 
De  jung'n  Herrn,  de  küss  ich  mal. 
De  ol'n  Iaat  ick  gähn." 

Dann    die   Deutung    des    österreichischen   Posthornsignals    bei  Böhme 
No.   118S: 

„1  fahr,  i  fahr,  i  fahr  auf  der  Post! 

Fahr  auf  der  Schneckenpost,  die  mir  kein  Kreuzer  kost.''  u.  s.  w. 

Oder  Dähnhardt  II,  S.  CO,  No.  -281: 

„Heute  schlachten,  morgen  backen, 
i'bermorgen  Hochzeit  machen I 
Komm'  ich  mit  der  Extrapost, 
und  wenn's  lOOH  Thaler  kost, 
1000  Thaler  ist  kein  Geld. 
Wenn  mir  nur  mein  Weib  gefällt'" 

Endlich  Frischbier  a.  a.  0.  S.  151,  No.  648: 
„Rote  Kirschen  ess'  ich  gern. 
Schwarze  noch  viel  lieber; 
Junge  Mädchen  küss'  ich  gern. 
Alte  stoss'  ich  nieder." 
Von    den  weit  verl)reiteten  „Nachahmungsliedern"    sei  hier  folgendes, 
bei  uns  nur  fragmentarisch  erhaltene,  aufgeführt: 

»33.    Wollt  ihr  wissen,  wie  der  Bauer  Wollt  ihr  wissen,  wie  der  Bauer 

Seinen  Samen  aussät?  Seinen  Weizen  abmäht? 

Seht,  so  macht's  der  Bauer,  Seht,  so  macht's  der  Bauer, 

Wenn  er  Samen  aussät.  Wenn  er  Weizen  abmäht. 

Wollt  ihr  wissen,  wie  der  Bauer 
Seinen  Weizen  ausdrischt? 
Seht,  so  macht's  der  Bauer, 
Wenn  er  Weizen  ausdrischt. 
Das  Nähere  bei  Böhme  S.  496,  No.  239. 


39*2  Gerhardt  und  Petscli: 

Yollständig  und  oliiie  wichtige  Neuerungen  kommen  vor: 
<.i4.    Alle  miene  Entekins, 
Schwimmen  aufn  See, 
Köpplein  in't  Wasser  und 
Schwanz  in  die  Höh.  (Böhme  S.  502,  No.  254.) 

Und  das  bekannte  Murmeltierlied: 

65.    Als  ich  einmal  reiste,  Um  zu  sehn  das  kleine, 

Reiste  ich  durch  Bayerland,  Das  kleine  Murmeltier. 

Da  war  ich  der  Reichste,  Murmeltier  kann  tanzen. 

Das  ist  der  Welt  bekannt.  1,  2,  3  und  4. 

Herrn  und  Damen  standen,  Prisst  auch  Pomeranzen, 

Standen  wohl  vor  meiner  Thür,  Mein  schönes  Murmeltier. 

Historisches  Material  bei  Böhme  S.  502  f.,  No.  "255.  Die  bisher  vor- 
liegenden Fassungen,  die  auf  ein  älteres  Gesellschaftsspiel  zurückzugehen 
scheinen,  gestatten  keine  sichere  Rekonstruktion. 

66.    Es  kommt  ein  Herr  aus  Wtirtemberg.     Juchheissa  fifelatus! 

Was  will  der  Herr  aus  Würtemberg"?  .,  „ 

Er  will  die  jüngste  Tochter  haben.  „  „ 

Die  jüngste  Tochter  kriegt  er  nicht!  .,  „ 

Er  will  sie  in  ein  Kloster  thun.  .,  „ 

In  einem  Kloster  war  sie  schon!  _,  „ 

Er  will  sie  kochen  und  braten  lehren.  .,  „ 

Kochen  und  braten  kann  sie  schon!  .,  „ 

Er  will  sie  stricken  und  nähen  lehren.  „  „ 

Stricken  und  nähen  kann  sie  schon!  „  „ 

Dann  stecken  wir  das  Haus  in  Brand.  „  „ 

Das  weit  bekannte  Liedchen  vom  „Herrn  von  Ninive",  das  Dr.  Holte 
im  4.  Bande  dieser  Zeitschrift,  S.  181  ff.  auf  seine  Quelle  zurückgeführt 
hat.  Sehr  nahe  verwandt  ist  unsere  Fassung  mit  der  Berlinischen  (Böhme 
No.  277),  doch  fehlt  der  Schluss: 

„Dann  machen  wir  die  Laden  zu."  — 

Ich  will  und  muss  die  jüngste  Tochter  hab'n.  — 

„Da  haben  Sie  die  jüngste  Tochter." 

Ebenso  weit  verbreitet,  wie  dieses,  aber  in  seiner  Entstehungsgeschichte 
noch  dunkler  ist  das  Brückenspiel. 

67.    Ziehe  durch,  ziehe  durch,  Mit  was?  —  mit  Gas; 

Durch  die  goldne  Brücke!  Mit  einerlei,  mit  zweierlei, 

Sie  ist  entzwei,  sie  ist  entzwei.  Der  Erste  kommt,  der  Zweite  kommt, 

Wir  woll'n  sie  wieder  flicken.  Der  Dritte  wird  gefangen. 

Da  ich  späterhin  einmal  die  weitverzweigte  Überlieferung  zusammen- 
zufassen gedenke,  so  weise  ich  vorläufig  nur  auf  Böhme  hin,  der  auf 
S.  522—533,  No.  289—322  eine  grosse  Reihe  von  Texten  beibringt. 

68.  Machet  auf  das  Thor, 
Machet  auf  das  Thor, 
Es  kommt  ein  grosser  Wagen. 


I 


Uckermärkische  Kinderreime.  393 

i|:  AVer  sitzet  denn  darin?  :||  |':  "Was  will  er  denn?  :|| 

Ein  Mann  mit  rotem  Kragen.  Er  will  die  N.  N.  holen. 

:  Was  hat  sie  denn  gemacht?  : ; 
Sie  hat,  sie  hat  gestohlen. 

Dabei  stellen  sich  die  Kinder  paarweis,  mit  angefassten  und  erhobenen 
Händen  hintereinander  auf.  Durch  die  Mittelgasse  geht  zuerst  das  letzte 
Paar,  dann  das  vorletzte  u.  s.  w.  Böhme  hat  S.  537/38,  No.  334  u.  335 
Texte  aus  Hessen-Nassau  und  den  Rheinlanden  beigebracht.  Sonst  ist  das 
Lied  auch  z.  B.  in  Berlin  bekannt,  wo  ich  es  1889  in  dieser  Form  hörte: 
i|:  Macht  auf  das  Thor,  :;  j!:  Was  will  er  denn  von  uns?  :;| 

Es  kommt  ein  goldner  Wagen.  Er  will  die  N.  N.  holen. 

||:  Wer  sitzt  denn  drin?  rlj  !:  Was  hat  sie  denn  gemacht?  :|| 

Ein  Mann  mit  goldnen  Haaren.  Sie  hat  ein  Kleid  gestohlen. 

69.    Der  Sandmann  ist  da! 

Er  hat  son'  schönen  weissen  Sand 
Und  ist  den  Kindern  wohlbekannt, 
Der  Sandmann  ist  da! 

Die  Ausführung  ist  ganz  ähnlich  der  des  vorigen.  Vergl.  Böhme 
S.  538—39,  No.  337—38. 

70. 
-Mariechen  sass  auf  einem  Stein,  Ach  weil  ich  heut  noch  sterben  muss, 

Und  kämmte  sich  die  Locken  fein.  Ach  weil  ich  heut  noch  sterben  muss. 

Und  als  sie  damit  fertig  war.  Da  kam  der  böse  Jäger  rein. 

Da  (ing  sie  laut  zu  weinen  an.  Und  stach  Mariechen  durch  das  Herz. 

Du  l<am  ihr  Bruder  Karl  zu  ihr.  Mariechen  war  nun  mausetot, 

Mariechen  warum  weinest  du?  Nun  schrieb  man  auf  des  Grabes  Stein: 

Mariechen  ist  ein  Engelein, 

Der  Jäger  ist  ein  Teufelein." 

Aus  einem  alten,  weit  verbreiteten  A^olksliede  hervorgegangen.  Unsre 
Fassung  zeichnet  sich  vor  den  meisten  anderen  (Böhme  S.  545  —  547)  da- 
durch aus,  dass  noch  keine  Verwirrung  in  den  Personen  eingetreten,  kein 
wesentlicher  Zug  verloren  gegangen  ist  und  der  Reim  nirgends  in  sinn- 
störender Weise  eingewirkt  hat.  Die  reiche,  knapp  und  energisch  durch- 
geführte Handlung  weist  darauf  hin,  dass  wir  es  nicht  mit  einem  eigent- 
lichen Kinderliede  zu  thun  haben. 

Ein  Haschespiel  mit  Fragen  ist  das  vom  Wolf  und  den  Gänsen.  Ein 
Kind  versteckt  sich  als  Wolf,  eines  stellt  die  Fragen  und  alle  anderen 
antworten  im  Chor.  Bei  der  letzten  Aufforderung  sucht  alles  dem  Wolfe 
zu  entfliehen,  denn  wen  er  fasst,  der  tritt  bei  der  Wiederholung  an  seine 
Stelle.  AVir  haben  viele  Texte  vom  Wolf  und  den  Gänsen,  Wolf  und 
Schafen,  Dieb  und  Gänsen  (so  bei  Eskuche  a.  a.  O.  No.  299);  unsere 
Fassung  hat  das  Eigentümliche,  dass  sie  den  Wolf  Blümchen  suchen  lässt, 
während  er  sonst  meistens  das  Messer  wetzt,  um  den  anderen  Tieren  die 
Kehle  abzuschneiden. 


:3<)4  Gerhardt  und  Petsch: 

71.    Alle  mine  Wulengünskins,  „Plückt  sich  Blömkins."  — 

koramt  na  Hus!  —  Wat  will  er  dormit?  — 

„Wie  können  nich!"   —  „Flecht  sich  'n  Kränzkin, 

Worum  denn  nich?  —  Ströpt  sich  up  't  Schwänzkin;''  — 

„De  Wulf  sitt  hinnern  Berch."  —              Alle  mine  Wulengünskins, 

Wat  mäckt  er  dor'?  —  kommt  na  HusI  — 

Vgl.  Böhme  S.  572—574. 

72.    Häschen  in  der  Grube 
Sass  und  schlief. 
Armes  Häschen  bist  so  blass, 
Dass  du  nicht  mehr  hüpfen  kannst. 
Häschen  hüpf!     Häschen  hüpf! 
Reichliche  Litteraturangaben  bei  Böhme  No.  409  (S.  577—578).     Die 
zweite  Zeile  lautet  sonst  meistens:   „Armes  Häschen,  bist  du  krank?"     Im 
übrigen    weichen    die  Melodien  der  verschiedenen  Versionen  stärker  von- 
einander ab,  als  die  Texte. 

73.    Ri  -  ra  -  rutsch, 

Wir  fahren  in  der  Rutsch: 
In  der  Kutsche  fahren  wir. 
Auf  dem  Esel  reiten  wir. 
Wir  fahren  in  der  Kutsch. 
Ri  -  ra  -  rutsch. 

Auch  mit  dem  Anfang: 

„Kommt  wir  wollen  wandern, 
Von  einem  Ort  zum  andern.'- 

Verhältnismässig  reine  und  vollständige  Fassung  dieses  Versehens,  das 
durch  seine  Anklänge  (z.  B.  an:  „Thaler  du  musst  wandern,  von  dem 
einen  zum  andern")  vielfachen  Verderbnissen  ausgesetzt  ist,  wie  die  Texte 
bei  Böhme  S.  594  und  595  beweisen. 

Beim  Ballspiel  rufen  die  Kinder  zwischen  den  einzelnen  Würfen,  indem 
sie  die  betreffenden  Bewegungen  pantomimisch  andeuten: 
74.    Anna  Marie  —  Und  wasch  deine  Hände  — 

Fall  auf  deine  Knie  —  Und  trockne  sie  ab  — 

Und  steh  wieder  auf  —  Und  steck  sie  in  die  Seite  — 

Und  mach  einen  Lauf  —  Ringel  -  Ringel  -  Reite. 

Siehe  Eskuche  a.  a.  0.  No.  297. 
Ül)rigeus  sind  solche  und  ähnliche  Verse  weithin  bekannt.    In  Berneck 
(Oberfranken)  singt  man: 

Ich  bin  ein  Student,  —  Und  bete  zu  Gott  — 

Ich  wasch  meine  Hand,  —  Und  steh  wieder  auf  — 

Ich  trockne  sie  ab  —  Und  fange  den  Ball  — 

Und  steck  sie  in  Sack  —  Mit  einer  Hand  auf. 

Ich  kniee  mich  nieder  — 

Von  dem  weitverbreiteten  Bliudekuhspiel  setzen  wir  die  uckermärkischo 
und  in  (  )  die  Abw^eichungen  der  berlinischen  Fassung  her: 


I 


Uckeriuärkische  Kinderreime.  395 

75.    Blinde  Kuh,  ick  leit  di  (ich  iÜhre  dich). 
„Wohin?" 
Xah'n  Kuh  stall. 
„Welt  soll  ick'n  da?" 
Dicke  Melk  äten.     (Suppe  essen.) 
„Ick  heff  keen'  Liipel." 
Sök  die  man  eeneii.     (Such  dich  eenen). 

Von  den  sehr  beliebten  „Ratspiel-Fragen"  (reiche  Litteratur  bei  Böhme, 
besonders  S.  635)  führen  wir  folgende  an.  Man  nimmt  einen  Gegenstand 
(Bohne,  Erbse  ii.  dgl.)  fest  in  die  geschlossene  Hand,  ohne  dass  der  andere 
sieht,  in  welche;  dann  schlägt  man,  den  Schmied  nachahmend,  mit  beiden 
Fäusten  anf  den  Tisch,  setzt  sie  schliesslich  aufeinander  und  spricht: 

76.  Pinke  pank, 

Der  Schmied  ist  krank, 
Wohnt  er  oben  oder  unten? 

Unter  den  Pfänderspielen  ist  besonders  beliebt: 

77.  Schneewittchen  auf'n  Dach, 
Wer  weint  oder  lacht, 
Wer  Zähnchen  lässt  sehn, 
Muss  Pfand  hergeben. 

Dabei  wird  der  andere  gekitzelt  und  muss,  wenn  er  lacht,  ein  Pfand 
geben. 

Dagegen  ist  das  Bewusstsein,  dass  man  es  mit  einem  Spiele  zu  thun 
habe,    verloren    gegangen    bei    einem    anderen,    dem  Bischofspiel.     Der 
erste  Teil  lebt  noch  als  Kinderreim  und  lautet: 
7,s.    Ich  ging  einst  übern  Kirchhof, 
Da  begegnete  mir  ein  Bischof; 
Der  Bischof  war  so  wunderschön, 
Er  wollte  gern  verheiratet  sein. 
Er  fasste  sich  an  seinen  Bart, 
Dass  du  sollst  heissen  Aribart. 

Ursprünglich  geht  das  Spiel  so  vor  sich  (s.  Böhme  S.  ()56— 657),  dass 
die  Kinder  um  ein  in  der  Mitte  sitzendes,  den  „Vater  Eberhard"  (bei  uns 
„Aribart")  herumzieht  und  dabei  etwa  die  ersten  vier  Zeilen  unseres  Textes 
singen.  Dann  klopft  V.  E.  mit  seinem  Stocke  auf,  die  Kinder  bleiben 
stehen  und  der  mit  dem  Stabe  Bezeichnete  tritt  vor  und  spricht: 

Alter  Vater  Eberhard, 

Ich  fasse  dich  an  deinem  ehrwürdigen  Bart. 

Wenn  du  mich  wii'st  sehen  lachen, 

Werd'  ich  an  deiner  Stelle  wachen. 

Beim  Zupfen  schneidet  V.  E.  Grimassen,  die  den  anderen  zum  Lachen 
bringen  imd  ihn  selbst  dadurch  frei  machen  sollen. 


396  Pi-er: 


I 


Eine  Primiz  in  Tirol. 

Von  Franz  Paul  Piger. 


Die  Primiz,  die  Feier  des  ersten  Messopfers,  ist  an  und  für  sich  kein 
Volksfest.  Das  ehelose  Priestertum  bleibt  dem  Bauer  trotz  aller  Achtung-, 
die  er  dem  geistlichen  Stande  entgegenbringt,  etwas  Fremdes,  Unverständ- 
liches. In  Volksliedern  und  Vierzeiligeu  wird  der  Geistliche  bedauert  und 
derjenige  glücklich  gepriesen,  der  das  geistliche  Gewand  abzustreifen  ge- 
wusst.  Manch  frohmütig  Bürschchen  singt  noch  als  Seminarist: 
Mei  Müattar  söcbats  geara,  Na,  na,  dös  thua  i  nit, 

I  sollt  a  Geistli  weära.  Der  Muattar  folg  i  nit, 

Sollt  ins  Klotistar  glah,  Kiiii  Geistli  welir  i  nit, 

Die  Madla  lossa  stfah.  Und  die  Madla  lass  i  earscht  röcht  nit. 

Hat  aber  der  Bauernsohu  seine  Gymnasialstudien  vollendet,  so  wird 
er  doch  meist  Geistlicher,  trotz  aller  Lebenslust.  Warum  er  dies  tluit, 
wollen  wir  hier  nicht  des  weiteren  erörtern. 

Um  nun  die  Primiz  mit  dem  Abglanze  eines  Volksfestes  zu  umgeben, 
stellt  man  selbe,  vielleicht  ohne  sich  der  Sache  recht  bewusst  zu  werden, 
als  eine  Hochzeit  dar,  die  der  hochwürdige  Primiziant  mit  der  katholischen 
Kirche  feiert,  zu  welchem  Behufe  sich  diese  durch  ein  mehr  oder  minder 
junges  Mädchen  vertreten  lässt. 

Schon  der  Einzug,  den  der  junge  Priester  in  seine  Heimatsgemeinde 
hält,  wo  regelmässig  die  Primiz  stattfindet,  ist  mit  grossen  Feierlichkeiten 
verbunden.  Triumphbogen  werden  errichtet,  auf  welchen  Willkommsprüche, 
öfter  lateinische  als  deutsche,  angebracht  werden,  und  das  ganze  Dorf  eilt 
dem  Ankömmling  entgegen,    um  von  ihm  den  heiligen  Segen  zu  erhalten. 

Bis  zum  Tage  des  ersten  feierlichen  Messopfers  ist  der  Primiziant 
Gegenstand  allgemeiner  Beachtung.  Man  sieht  es  nicht  gern,  wenn  er 
noch  das  Studentenröcklein  trägt  oder  gar  mit  den  Mädchen  freundlich 
thut.  Man  w^ürde  daraus  schliessen,  dass  er  sich  nur  gezwungen  dem 
Priesterstande  widme.  Wenn  er  aber  viel  mit  Geistlichen  umgeht,  im 
Chorgewande  bei  priesterlichen  Verrichtuugen  Beihilfe  leistet  oder  zur  Zeit 
des  Gottesdienstes  wenigstens  im  Chorstuhle  Platz  nimmt,  lobt  man  seinen 
geistlichen  Sinn.  Noch  verkehrt  man  mit  ihm  so  ziemlich  ohne  Scheu 
und  gebraucht  vielfach  noch,  zwar  schüchtern,  meist  die  bestimmte  Anrede 
vermeidend,  das  altgewohnte  „Du",  das  man  sich  nach  der  Primiz,  die  ihn 
so  unendlich  über  alle  Sterblichen  erhebt,  nicht  mehr  zu  gebrauchen 
getraut.  Freilich  will  das  Siesagen  nicht  immer  gelingen.  So  erklärte  einst 
ein  Paznauner  ganz  treuherzig  dem  Herrn  Bezirksrichter:  „Wiar  soga  zu 
alle  Leut'  „du",  nur  zu  Dir  und  dem  Herr'  Pfarrer  nit." 


Eine  Priiuiz  in  Tirol.  397 

Ist  der  Tag  der  Primiz  erschienen,  so  holt  die  ganze  Gemeinde  mit 
Fahnen  und  Musik  den  Neugeweihten  von  seinem  väterlichen  Hause  ab 
und  geleitet  ihn  in  die  festlich  gezierte  Kirche.  Vor  ihm  her  schreitet, 
ganz  weiss  gekleidet  und  geschmückt  mit  wallendem  Schleier,  die  Braut, 
den  Brautkranz  auf  einem  goldgestickten  Kissen  tragend,  neben  ihr  geht 
der  Brautführer,  der  regelmässig  ein  Geistlicher  oder  Theologe  ist.  Die 
Braut  begleiten  zwei  Nachjungfern  und  mehrere  Kranzeljungfern.  Die 
geistlichen  Herren  tragen  künstliche  Sträusschen  am  linken  Arme,  die 
weltlichen  Gäste  hal)en  selbe  im  Knopfloche  befestigt.  So  wallt  man, 
während  die  Dorfmusik  fröhliche  Märsche  aufspielt,  der  Kirche  zu.  In 
der  Kirche  erhält  die  Braut  einen  eigenen  Brautstuhl  in  der  Nähe  des 
Altars,  die  Verwandten  knien  vor  den  übrigen  Leuten  beim  Speisgitter.') 
Bevor  die  Festmesse  beginnt,  oft  auch  erst  nach  dem  Evangelium,  hält 
der  Ortspfarrer  oder  derjenige  Geistliche,  der  den  Primizianten  für  das 
Gymnasium  vorbereitet  hat,  die  Primizpredigt. 

Während  der  Festmesse  des  Primizianten  achten  die  Leute  besonders 
darauf,  ob  er  ein  schneller  oder  langsamer  Messeleser  sein  werde,  denn 
dem  Bauer  liegt  sehr  daran,  dass  er  ])ald  zu  seinem  Mittagsessen  kommt, 
das  er  Sonntags  bald  nach  dem  Hochamte  einnimmt.  Wie  sehr  dieser 
Gedanke  das  bäuerliche  Gemüt  selbst  in  der  Kirche  beschäftigt,  ersieht 
man  daraus,  dass  man  gern,  stets  besorgt  um  die  Lieblingsspeise,  auf  das 
„Douiinus  vobiscum"  reimt:  „Keahr'  die  Knödla  im  Hofa  (Hafen,  Topf) 
um."^)  Schnelligkeit  im  Messelesen  beweist  ül)rigens  auch  Gründlichkeit 
in  den  theologischen  AVissenschafteu.  Besonders  übel  vermerkt  wird  zag- 
haftes und  linkisches  Benehmen. 

Zur  Opferung  trägt  die  Braut  den  Brautkranz  auf  den  Altar,  um  an- 
zudeuten, dass  der  junge  Priester  seine  Keuschheit  und  Ehelosigkeit  Gott 
als  Opfer  darbringt.  Während  der  Wandlung  werden  auf  einer  Anhöhe 
Polier  al)gefeuert,  und  die  Glocken  verkünden  die  feierliche  Handlung 
allen,  die  zur  Kirche  nicht  kommen  konnten.  Nach  der  eigenen  Kommunion 
erteilt  der  Priniiziant  selbe  seinen  Verwandten,  voran  den  Eltern.  Selten 
kommt  es  vor,  dass  bei  dieser  heiligen  Handlung  der  priesterliche  Sohn 
seine  Rührung  völlig  zu  bemeistern  vermag. 

Nach  dem  Hochamte  findet  eine  feierliche  Prozession  statt.  Der 
Priniiziant  wandelt,  umhüllt  vom  gold-  und  blumendurchwirkten  Pluviale, 
unter  dem  „Himmel",  den  vier  ehrenfeste  Männer  tragen,  dahin  und  hält 
das  AUerheiligste  in  seinen  Händen.  Vor  ihm  her  schreitet  wieder  die 
Braut  und  eine  Schar  weissgekleideter  Mädchen,  geführt  von  einer  Fahnen- 


1)  Es  heisst  so,  weil  dort  „gespeist"  wird,  d.  h.  die  Kominuniou  erteilt  wird. 

2)  Man  reimt  auch  darauf:  „Die  Kuödla  schwimma  im  Hofa  um."  Nach  der  Meinung 
des  Volkes  weiss  sich  der  Pfarrer  bei  der  Predigt  durch  die  lateinischen  Citate  mit  seiner 
Hauserin  (Wirtschafterin)  zu  verständigen.  So  sagt  er  ihr,  wenn  er  die  richtige  Zeit  für 
gekommen  erachtet:  Leniventantum  (Leni,  weud'  d'  Ant'  [die  Ente]  um). 


35)8  Pigpr:  Eine  Priniiz  iu  Tirol. 

trägerin.  Die  kleinsten  unter  den  Mädchen  halten  Lilien  in  der  rechten 
Hand  und  eines  trägt  ein  künstlich  verfertigtes  Lämnilein  im  Arm,  welches 
das  Lamm  Gottes  vorstellen  soll. 

Auch  die  lieben  Heiligen  nehmen  Anteil  an  dem  Triumi)hzuge  des 
neugeweihten  Priesters.  Yier  Jünglinge  tragen  den  heiligen  Schutzengel, 
den  Patron  der  Junggesellen,  vier  Männer  den  heiligen  Josef,  den  Patron 
der  Ehemänner,  und  vier  Weiber  die  heilige  Anna,  die  Patronin  der  Ehe- 
frnuen.  So  wallen  sie  durch  die  Gassen  des  Dorfes,  und  diese  Gassen, 
die  der  neugeweihte  Priester  heute  unter  dem  „Himmel"  durchschreitet, 
waren  einst  der  Schauplatz  seines  jugendlichen  Übermutes  und  rufen  in 
ilnn  hundertfältige  Erinnerungen  wach.  Nachdem  man  an  den  mit  Reisig 
und  Blumen  geschmückten  Altären  die  Evangelien  gelesen  und  der  Primiziant 
jedesmal  den  Segen  erteilt,  wozu  die  Schützen  eine  Salve  abgeben,  kehrt 
man  wieder  in  die  Kirche  zurück. 

Von  da  geht  es  dann  endlich  unter  Musikbegleitung  ins  Gasthaus  zum 
Festmahle,  das  meist  die  „geistliche"  Braut  beistellt.  Hat  der  Primiziant 
keine  reiche  Braut,  so  legen  die  Gäste,  wie  dies  l)ei  mittelalterlichen 
Schenkhochzeiten  der  Fall  war  und  in  manchen  deutschen  Gegenden  bei 
Hochzeiten  heute  noch  Brauch  ist,  Geld  auf  einen  l)ereitgestellten  Teller. 
Oft  l)leiht  dem  Primizianten  nach  Begleichung  der  Rechnung  für  das  Fest- 
mahl ein  ansehnlicher  Notpfennig  übrig.  Geladen  werden  die  „Fruint" 
(Freunde  =  Verw-andten)  des  jungen  Geistlichen,  die  Priester  und  Theologen 
(Theologiestudierende)  der  Umgegend,  sowie  der  Lehrer,  der  die  auf  dem 
Chore  mitwirkenden  musikalischen  Kräfte  vorl)ereitet  und  eingeübt  und 
auch  bei  der  Ausschmückung  der  Kirche  und  Altäre  mitgewirkt  hat. 

Am  ersten  und  vornehmsten  Tische,  den  meist  auch  altes  Silbergeschirr 
ziert,  nimmt  der  hochwürdige  Primiziant  nebst  der  Braut  und  den  nächsten 
Anverwandten  Platz,  am  zweiten  die  geladenen  Geistlichen  und  Theologen 
und  am  dritten  die  übrigen  Gäste.  Vor  der  Braut  prangt  <ler  schönste 
Kuchen,  die  Brauttorte,  die  ganz  ihr  gehört. 

Der  erste  Trinkspruch,  den  gewöhnlich  der  Festprediger  ausbringt, 
gilt  dem  Primizianten;  hierauf  wird  auf  das  Wohl  des  Papstes,  des  Bischofs 
und  des  Kaisers  getrunken.  Auch  die  Braut  wird  mit  einem  meist  launigen 
Trinksi)ruche  bedacht,  <ler  mit  einem  Hoch  zu  schliessen  pflegt.  Der 
Primiziant  l)edankt  sich  bei  dieser  Gelegenheit  l)ei  allen  W^ohlthätern,  die 
es  ihm  ermöglicht,  Priester  zu  werden,  und  leert  auf  ihr  Wohl  sein  Glas. 
In  der  Nachahmung  der  Hochzeit  geht  man  so  weit,  dass  selbst  das  Braut- 
stehlen nicht  unterbleibt.  Einige  Burschen  führen  heimlich  die  Braut  in 
ein  anderes  Wirtshaus,  woselbst  man  sich  ein  Stündchen  ungestörterem 
Genüsse  hingiebt,  den  die  Anwesenheit  der  Geistlichkeit  bei  der  Festtafel 
nicht  recht  zur  Geltung  kommen  lässt.  Die  Brautführer  suchen  aber  diese 
Sitte  immer  mehr  zu  verdrängen,  da  sie  durch  Zahlung  der  Zeche  die 
Piraut  auslösen  müssen.     Manchmal  stehlen  auch  als  Gäste  geladene  Theo- 


Hein:  Mährische  Marterln  und  rumänische  Erinnerungskreuze.  39!) 

logen  die  Braut;  diese  führen  aber  selbe  auf  eine  Weile  in  den  Widum 
(Pfarrhaus). 

Bis  in  die  Nacht  hinein  währt  das  Festmahl,  das  sich  immer  fröhlicher 
gestaltet,  und  allenfalls  anwesende  Studenten  versuchen  bereits  Studenten- 
lieder anzustimmen,  in  welche  einzufallen  die  Theologen  nicht  wenig  Lust 
zeigen.  Doch  die  vorsorglichen  geistlichen  Herren  mahnen  zum  Aufbruche 
imd  jeder  verlässt,  für  die  Seinen  daheim  noch  ein  Stück  Torte  mit- 
nehmend, im  Bewusstsein  wohlerfüllter  Pflicht  den  Festraum.  Acht  Tage 
hindurch  erteilt  der  junge  Priester  nach  der  gottesdienstlichen  Verrichtung 
der  versammelten  Gemeinde  den  heiligen  Segen.  Er  wird  sodann  „Gesell- 
herr", Kooperator  und  endlich  Pfarrer.  Da  kann  es  sich  dann  treffen,  dass 
er  die  ehemalige  Braut  als  Hauserin  (Wirtschafterin)  zu  sich  nimmt.  Das 
Verhältnis  ist  aber  durchwegs  ein  sittliches,  denn  der  Geistlichen  Weib 
ist,  wie  sie  scherzhaft  zu  sagen  pflegen,  das  Brevier. 

lolau  in  Mähren. 


Mährische  Marterln  und  rumänische  Erinnerungkreuze. 

Von  Dr.  Wilhelm  Hein. 

(Mit  Tafel  V.) 


Prof.  Dr.  Kobert  Sieger  erwähnte  in  seiner  Abhandlung  über  „Xicht- 
deutsche  Marterln",  die  er  in  dieser  Zeitschrift  (Jahrg.  1899,  S.  236-245) 
veröffentlichte,  auch  jener  Marterln,  die  ich  im  tschechischen  Mähren  nach- 
gewiesen hatte.  ^)  Zwei  von  diesen  Marterln,  welche  sich  an  der  Strasse 
von  TJngarisch-Hradisch  nach  Neudorf  bei  Kunowitz  befinden,  sah  ich  selbst, 
während  der  Nachweis  von  tschechischen  Marterln  bei  Blansko  von  einem 
anderen  Gewährsmann  (Johann  Ziskal)  herrührt.  Seitdem  habe  ich  zwei 
weitere  jMarterln  mit  tschechischer  Inschrift  in  Mähren  aufgefunden.  Das 
eine  sah  ich  am  5.  Juli  1898  ebenfalls  in  der  Umgebung  von  üngarisch- 
Hradisch,  als  ich  von  dort  nach  AVelehrad,  dem  mährischen  Mekka,  ging, 
um  die  dörferweise  verschiedenen  Trachten  der  Slowaken,  die  am  Tage 
der  Slawenapostel  Kyrill  und  Methud  zu  Tausenden  dort  zusammenströmen, 
kennen  zu  lernen.  Beim  ersten  Keller  zwischen  Altstadt  und  Welehrad 
befindet  sich  auf  einer  Holzsäule  eine  viereckige,  durch  vorspringende 
Rahmen  geschützte  Blechtafel,  welche  einen  unter  einem  doppelspännigen 
Leiterwagen  liegenden  Mann  zeigt,  darüber  die  Muttergottes  und  zu  ihren 
Seiten    zwei  Heilige.     Die    einzeilige  Lapidar-Inschrift   meldet    kurz    und 


1)  Zeitschrift  für  österreichische  Volkskunde  III  (1807),  288. 


Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1S99. 


27 


400  Hein:  Mährische  Marterln  und  rumänische  Erinneruugskreuze. 

bündig:    „Smrt    15  leteho   Cyrila   Horohleda  v  roku   1860"    (Tod  des   15- 
jälirigen  Kyrill  Horohled  im  Jahre  1860).     Das    andere  Marterl    fand    ieli 
nahe  an  der  mährisch-niederösterreichisch-ungarischen  Grenze,    als  ich  am 
9.  Juni  1898  von  Landshiit,  wo  ich  dem  Fronleichnamsumzuge  der  dortigen 
kroatischen  Bevölkerung  beiwohnte,  nach  Rabensburg  ging.    Auf  der  Strasse 
von  Landshut    zur    ungarischen  Grenze    fand    ich   an   einem  Baume  rechts 
von  der  Strasse  zwischen  der  ersten  und  der  zweiten  Brücke  ebenfalls  eine 
viereckige  Blechtafel  mit  Seitenumrahniung,  welche  einen  von  einem  zwei- 
spännigen  Wagen  gefallenen  Mann  und  darüber  den  heiligen  Johannes  von 
Nepomuk  zeigte.     Die  Lapidarinschrift  meldete:    „J.  Hnat  v  Bi-ezuu  1881 
brozka"  (J.  Hnat  im  März  1881  ...  .     Das  Wort  „brozka"  mag  ich  wohl 
verlesen  haben,   da  ich  es  im  Wörterbuche  nicht  finde).     Das  Bemerkens- 
werte  an  diesen  tschechischen  Marterln  ist  der  kurze,    trockene  Wortlaut, 
der  bloss  den  Namen,    zuweilen  das  Alter  des  Verstorbenen,  und  die  Zeit 
des  Unglücksfalles,  jedoch  nie  dem  Tage  nach  angiebt;  auch  das  redseligste 
der  von  mir  gefundenen  Marterln,  jenes  bei  Kunowitz,  lautet  bloss:    „Jos. 
Ancik  z  Kunovic  16  let  stary  zemrel  byl  pi-ejet  r.  1875"   (Jos.  Ancik  von 
Kunowitz,    16  Jahre    alt,    wurde    durch  Überfahren    getötet.     1875).     Die 
sonst    übliche  Bitte    um   ein  Gebet  fand  ich  nicht.     Von  den  dargestellten 
Heiligen  glaube  ich  annehmen  zu  dürfen,  dass  sie  die  Namenspatrone  der 
Verunglückten  sind.     Auf  dem  Landshuter  Marterl  heisst  der  Verunglückte 
offenbar  Jan,  nach  dem  Johannes  von  Nepomuk  zu  schliessen,  und  auf  dem 
Welehrader    Marterln    sind    wahrscheinlich    die    Slawenapostel  Kyrill    und 
Methud    dargestellt,    weil  der  Verunglückte  Kyrill  hiess.     Auf  dem  Kuno- 
witzer  Marterl    sah    ich    nur    die  Muttergottes.     Deutschsprachige  Marterln 
habe  ich  in  Mähren  bis  heute  nicht  gefunden.    Dass  die  Marterln  in  Mähren 
so  selten  sind,  liegt  wohl  in  der  Natur  des  Landes,   dessen  zumeist  ebene 
Strassen    zu    Unglücksfällen    wenig  Veranlassung    bieten.     Das,    was  Prof. 
Sieger  von  den  slowenischen  Marterln  sagt,  lässt  sich  ebenso  gut,  ja  noch 
bess'er  von  den  tschechischen  behaupten.     Es  fehlt  ihnen  jeder  individuelle 
Zug,  jedes  Bestreben,  die  eigenen  Reflexionen  über  das  grosse  Geheimnis 
des"  Todes    kurz    und    innig    auszudrücken.     Es  mag  dies  wohl  im  Wesen 
der  slawischen  Völker  begründet  sein. 

Prof.  Sieger  berichtet  in  seiner  Abhandlung  auch  von  Holztafeln  auf 
Holzkreuzen  an  Kapellenwänden,  wo  sie  zumeist  ihrer  mehrere  zusammen- 
stehen und  von  welchen  sich  in  dem  Falle,  den  er  anführt,  zwei  Tafeln 
auf  Verunglückte  beziehen,  die  weit  draussen  —  „in  Steiermark"  und  „in 
Kärnten"  —  umkamen,  die  also  nicht  mehr  Marterln  in  unserem  Sinne, 
sondern  blosse  Erinnerungstafeln  sind.  Ich  bin  in  der  Lage,  eine  ausser- 
ordentlich interessante  Parallele  in  der  Abbildung  einer  grossen  Zahl  von 
solchen  Erinnerungstafeln  zu  geben,  die  aussen  an  der  Kirchhof-Kirchen- 
mauer in  Pojana  bei  Reusmarkt  (Siebenbürgen)  stehen.  Die  Abbildung 
wurde  von  Robert  Karl  Lischka  nach  einer  Photographie  gezeichnet,  die 


Kaindl:  Ruthenische  Märchen  und  Mythen  aus  der  Bukowina.  401 

im  Jahre  1888  der  damalige  Oberleutnant  Otto  Kfifka  aufgenommen  hat 
und  die  sich  unter  No.  2930  in  der  Photographien-Sanimlung  der  anthro- 
pologisch -  ethnographischen  Abteihmg  des  k.  k.  naturhistorischen  Hof- 
museums  in  Wien  befindet/)  Die  betreffende  Kirche  ist  ein  Gotteshaus 
des  griechisch-orthodoxen  Glaubensbekenntnisses  der  dortigen  rumänisch 
sprechenden  Grenzbevölkerung.  Herr  Oberleutnant  Ki-ifka  giebt  zu  der 
Photographie  folgende  Erklärung:  „Eine  merkwürdige  Grabstätte  ohne 
Tote;  denn  diese  liegen  begraben  im  fremden  Land,  zumeist  in  dem  an- 
grenzenden Rumänien,  wohin  sie  als  Hirten  oder  Herdenbesitzer  auszogen, 
um  drei  Vierteile  des  Jahres  dort  Erwerb  zu  finden  und  dann  auf  drei 
Monate  mit  ihren  Ersparnissen  nach  der  Lieben  Heimat  zu  wandern.  Viele 
sterben  über  der  Grenze,  und  aus  Pietät  werden  ihnen  von  ihren  Ange- 
hörigen zunächst  der  Kirchhof-Kirchenmauer  hölzerne  Kreuze,  wie  solche 
im  Bilde  sichtbar,  zu  ihrem  Angedenken  errichtet."  AYie  die  Abbildung 
zeigt,  tragen  die  Kreuze  viereckige  Tafeln  unter  einem  »Schutzdache;  welche 
Darstellung  und  welche  Inschrift  sich  auf  diesen  Tafeln  befand,  lässt  sich 
auf  der  Photographie  nicht  erkennen.  Hoffentlich  geben  diese  Zeilen  die 
Anregung  zu  einer  weitergehenden  Untersuchung  der  nichtdeutschen  Marterln 
und  vor  allem  der  von  Prof.  Sieger  bei  den  Slowenen  und  von  Ober- 
leutnant Ki-ifka  bei  den  Rumänen  Siebenbürgens  beobachteten  Erinnerungs- 
tafeln an  in  der  Fremde  Verstorbene  oder  Verunglückte. 

Zum  Schlüsse  erwähne  ich  noch,  dass  ich  in  der  Totenkapelle  zu  Alm 
bei  Hallein  (Salzburg)  schwarzgestrichene,  verstellbare  Kreuze  fand,  welche 
mit  Kränzen  behangen  waren  und  dem  Andenken  von  Ortsangehörigen 
galten,  die  in  der  Fremde  gestorben  waren;  ein  solches  Kreuz  trug,  so 
viel  ich  glaube,  die  Eriunerungs-Inschrift  an  einen  Soldaten,  der  als  Opfer 
seines  Berufes  fern  von  den  Lieben  gefallen  war. 

Floridsdorf. 


Euthenisclie  Märchen  und  Mythen  aus  der  Bukowina. 

Mitgeteilt  von  R.  F.  Kaindl. 

1.    Kein  Wort  Wahrheit. 

Vor  vielen,  sehr  vielen  Jahren  lebten  drei  Brüder.  Von  diesen  waren 
die  zwei  älteren  Jäger  oder  vielmehr  Wilddiebe,  während  dem  jüngsten 
keine  einzige  Liebhaberei  nachgerühmt  werden  konnte,  denn  er  galt  ja  als 


1)  Eine  andere  Photographie,  No.  2929,  zeigt  eine  Gesamtansicht  des  Gotteshauses 
in  Pojana  bei  Reusmarkt,  auf  der  ich  41  solcher  Erinnerungskreuze  zähle;  da  sie  sich  um 
die  eine  Ecke  herum  fortsetzen,  dürften  es  deren  noch  mehr  gewesen  sein. 


402  f  Kaiiull: 

ein  Blöder.  Die  beiden  älteren  Brüder  hatten  aber  die  ihren  Weibern 
besonders  unliebsame  Orewohnheit,  nie  etwas  von  dem  heimzubringen,  was 
sie  au  Wild  erlegt,  sondern  sie  thaten  sich  daran  immer  im  Walde,  am 
lustig  prasselnden  Feuer  für  die  Beschwerlichkeiten  des  Jägerlebens  recht 
gütlich.  Die  Frauen  der  beiden  Jäger  waren  aber  dieser  bösen  Gewohn- 
heit bereits  übersatt  und  kamen  nach  vielem  Herumdenken  überein,  ihre 
Männer  zur  Jagd  ohne  Feuerzeug  ausgehen  zu  lassen. 

Nach  wenigen  Tagen  machten  sich  die  beiden  älteren  Brüder  wirklich 
jagdbereit  und  gingen  auch  aus,  ohne  nur  zu  ahnen,  dass  das  Feuerzeug 
aus  den  Ledergurten  abhanden  gekommen  war.  Dic^smal  gesellte  sich 
auch  der  blöde  Iwan  den  beiden  Brüdern  bei,  was  ihnen  garnicht  unlieli 
war,  zumal  er  ihnen  viel  Belustigung  verschaffte. 

Der  Erfolg  der  Jagd  war  überaus  günstig,  und  die  drei  Brüder  hatten 
sich  tief  im  Walde  unter  einer  Rieseneiche  niedergelassen,  wo  sie  ein 
köstliches  Mahl  sich  bereiten  wollten.  Wie  gross  war  aber  ihr  Erstaunen, 
als  sie  in  den  breiten  Ledergurten  vergeblich  nach  dem  Feuerzeug  herum- 
stöberten! Alle  Mühe  und  aller  Unwille  half  nichts.  Das  Feuerzeug 
wollte  sich  durch  Schelten  und  Fluchen  in  die  Gurte  nicht  zaubern  lassen. 
Endlich  aber  ward  der  älteste  Bruder  Rauchwolken  gewahr,  woraus  er  mit 
Gewissheit  auf  Feuer  tief,  tief  im  Walde  schloss.  Erfreut  beredete  er 
seinen  jüngeren  Bruder  dahinzugehen,  was  dieser  auch  willig  that.  Der 
älteste  war  in  Gesellschaft  des  blöden  Iwan  zurückgel)]ieben,  der  teil- 
nahmslos in  den  nahen  Waldbach  hinstarrte. 

Der  Zweitgeborene  war  alsbald  an  die  Stelle  gekommen,  woher  sie 
den  Rauch  hatten  aufsteigen  sehen.  Hier  sass  auf  einem  riesigen  Holz- 
stamme ein  greises  Männchen,  dessen  Augen  hinter  den  buschigen  Brauen 
kaum  zu  bemerken  waren. 

„Grüss  Euch  Gott,  Alter!"  redete  ihn  der  Angekommene  an.  „Dank, 
lieber  Sohn!"  brummte  das  Männlein.  ,,Möchtet  Ihr  mir  nicht  ein  bisschen 
Feuer  geben?"  fragte  der  Jäger  bittend.  „So  viel  Du  willst,  aber  nur 
unter  der  Bedingung,  wenn  Du  mir  ein  Märehen  erzählst,  darin  kein  Wort 
Wahrheit  sein  soll." 

Der  Jäger  ging  den  Vorschlag  ein  und  begann  ein  drolliges  Märchen 
zu  erzählen.  Es  war  aber  nicht  nach  dem  Wunsche  des  Männleins  mit 
den  Schirmdachbrauen  und  der  Jäger  musste  statt  mit  Feuer  mit  einer 
Tracht  Prügel  abziehen.  Auf  der  Heimkehr  zu  den  beiden  Brüdern  durch- 
dachte er  sein  Erlebnis  und  sali  wohl  ein,  dass  es  nicht  ratsam  sei,  den 
wahren  Sachverhalt  zu  sagen.  Er  gab  daher  vor,  lange  heruuigeirrt  zu 
liaben,  ohne  die  bezeichnete  Feuerstelle  finden  zu  können. 

Die  Geduld  des  Ältesten  war  heute  ein  klein  wenig  mehr  auf  die 
Probe  gestellt,  als  er  sich  sonst  hatte  gefallen  lassen.  Er  machte  sieh 
daher  selbst  auf  den  Weg,  in  gerader  Richtung  auf  die  Rauchsäule  los- 
gehend.    Bald    kam   al)er  auch  er  ohne  Feuer  zurück,    und  wenn  er  aucli 


Ruthenische  Märchen  und  Mythen  aus  der  Bukowina.  403 

nichts  von  seinem  Unglück  verlanten  Hess,  so  wusste  der  jüngere  Bruder 
sehr  wohl,  wie  es  dem  Älteren  ergangen.  Drum  kamen  sie  überein,  dem 
blöden  Iwan  die  ihm  gebührenden  Prügel  auch  zu  teil  werden  zu  lassen. 
Wie  gross  war  ihre  Freude,  als  Iwan  unaufgefordert  sich  auf  den  Weg 
machte,  um  Feuer  zu  holen. 

Nach  wenigen  Minuten  begrüsste  auch  Iwan  das  greise  Männlein  nicht 
minder  artig,  wie  es  seine  beiden  Brüder  kurz  vorher  gethan,  und  bat,  der 
Greis  möchte  ihm  gestatten,   von   seinem  Herde  Feuer  nehmen  zu  dürfen. 

„Nicht  eher,  als  bis  Du  mir,  mein  Sohn,  ein  Märchen  wirst  erzählt 
haben,  darin  kein  AVort  Wahrheit  ist.  Wo  nicht,  erhältst  Du  statt  Feuer 
Schläge",  erhielt  Iwan  zum  Bescheide. 

Damit  war  Iwan  einverstanden,  er  stellte  sich  dem  Männlein  gegenü))er 
und  Itegann:  „Bevor  ich  noch  geboren  war,  schickte  mich  meine  Mutter 
aus,  damit  ich  ihr  einige  Spatzen  zum  Nachtmahl  bringe.  Ich  begab  mich 
in  den  Wald,  erblickte  bald  einen  hohlen  Baum,  wo  ich  Spatzen  zu  finden 
glaubte.  Als  ich  den  Baum  näher  betrachtete,  sah  ich  wirklich  eine  ganze 
Brut  junger  Spatzen.  Ich  kroch  mit  Mühe  durch  das  enge  Loch  in  den 
Baum,  nahm  die  Spatzen  in  meine  Taschen  und  versuchte  herauszukriechen; 
konnte  aber  nicht.  Ich  eilte  daher  nach  Hause  und  brachte  eine  Axt  mit, 
maclito  die  Öffnung  grösser  und  ging  nun  nach  Hause.  Auf  dem  Wege 
begegnete  mir  ein  Pferd.  Ich  setzte  mich  auf  dasselbe,  um  der  Mutter 
schneller  die  Spatzen  zu  bringen.  Während  ich  so  ritt,  hieb  die  Hacke, 
die  in  meinem  Riemen  war,  das  arme  Pferd  unter  mir  in  zwei  Stücke. 
Was  war  zu  machen?  icli  nahm  meine  Hacke  und  ein  Stück  Holz,  schlug 
die  beiden  Hälften  zusammen  und  ritt  weiter.  Als  ich  mich  plötzlich  um- 
schaute, sah  ich,  dass  aus  dem  Stückchen  Holz,  mit  dem  ich  die  beiden 
Hälften  zusammengenagelt  hatte,  ein  hoher  Baum  aufwuchs,  der  bis  zum 
Himmel  reichte.  Ich  kroch  den  Baum  hinauf  und  kam  im  Himmel  an, 
dort  besah  ich  mir  alles  und  wollte  heruntersteigen.  Als  ich  aber  zur 
Stelle  kam.  wo  ich  heraufgekommen  war,  sah  ich  zu  meiner  grössten  Be- 
stürzung, dass  das  Pferd  mit  dem  Baume  weg  war.  Ich  besann  mich  nicht 
hinge,  sondern  drehte  ein  Seil  und  liess  mich  damit  herunter.  Da  fehlte 
noch  ein  gutes  Stückchen  bis  zur  Erde;  ich  riss  daher  ein  Stück  von  oben 
ab  und  stückelte  unten  an^);  und  so  kam  ich  herab,  lief  schnell  nach 
Hause  und  brachte  der  Mutter  die  Spatzen.  Als  sie  sich  vollgegessen 
hatte,  gebar  sie  mich."     Er  erhielt  hierauf  Feuer  und  wurde  entlassen. 

2.    Der  Dumme  kann  das  Glück  nicht  nützen. 
Ein    steinaltes  Mütterchen    hatte   einen  Sohn,    der  nicht  alle  Sinne  zu 
Hause    haben  mochte.     Einmal  sagte  er  seiner  Mutter:    „Mutter,    ich  will 
zur  Tante  gehen,  damit  sie  mir  doch  etwas  schenke."    „Du  kannst  gehen". 


1)  Die  Ähnlichkeit  mit  dem  Abenteuer  Münchhausens  ist  unverkennbar;  aber  Münch- 
hausens  Witz  wird  hier  noch  übertroffen. 


404  Kaindl: 

antwortete  sie  ihm,  „nur  musst  Du  das  Geschenk  auch  heimbring-en." 
„Ich  will  es  thun",  sagte  er  und  ging  zur  Tante,  die  in  demselben  Dorfe 
wohnte.  Diese  schenkte  ihm  eine  Nähnadel.  Der  Sohn  fädelte  einen 
Faden  ein  und  warf  die  Nadel  über  den  Kücken,  als  wäre  es  eine  grosse 
Last.  Er  ging  so  nach  Hause,  und  als  er  an  einen  Bach  kam,  über  den 
er  zu  gehen  hatte,  schrie  er  einem  Bauern,  der  eine  Fuhre  mit  Heu  führte, 
zu:  „He!  warte,  dass  Du  meine  Nadel  über  das  AVasser  führst!"  Der 
Bauer  lachte  und  fuhr  w^eiter.  Der  Dumme  achtete  darauf  aber  nicht  und 
warf  seine  Nadel  auf  den  Heuwagen.  Als  sie  über  das  Wasser  gekommen 
waren,  stieg  der  Dumme  auf  den  Heuwagen,  suchte  und  stöberte  so  lange 
nach  seiner  Nähnadel  herum,  bis  ihn  der  Bauer  hinabwarf  und  derb  durch- 
prügelte. Weinend  kam  er  zur  Mutter  gelaufen  und  erzählte,  was  ihm 
begegnet.  „Du  Narr",  rief  entrüstet  das  Mütterchen,  „eine  Nadel  steckt 
man  in  den  Hemdbusen  und  bringt  sie  auf  diese  Art  nach  Hause."  Nach 
einigen  Tasen  o-ino-  der  Junoe  wieder  zur  Taute  und  bat,  sie  möcJite  ihm 
etwas  schenken.  Diese  schenkte  ihm  nichts  mehr,  nichts  weniger,  als  ein 
kleines  Hündlein.  Dieses  nahm  er,  steckte  es  auf  dem  Wege  nach  Hause 
in  den  Busen  und  drückte  es,  aus  Furcht  vor  neuem  Verluste,  so  lange 
und  so  gewaltig,  dass  es  notwendig  krepieren  musste.  So  brachte  er  es 
der  Mutter.  Diese  zankte  ihn  tüchtig  aus  und  sagte:  „Das  Hündlein  hättest 
Du  an  einer  Schnur  Dir  nachführen,  nach  ihm  pfeifen  und  ihm  immer 
rufen  sollen:  „So  komm  herein!"  Der  Sohn  besuchte  bald  darauf  wieder 
die  Tante,  um  etwas  zu  erhalten.  Diese  schenkte  ihm  ein  Stück  Speck. 
Der  Dumme  nahm  einen  Strick,  band  den  Speck  an  denselben  und  schleppte 
ihn  auf  der  Gasse  nach  sich.  Dabei  vergass  er  nicht  zu  thun,  wie  ihm 
die  Mutter  geraten.  Er  rief  unermüdet:  „So  komm  herein!"  und  lud  durch 
Pfeifen  die  Hunde  des  Dorfes  gar  artig  zum  Schmause  ein.  Diese  machten 
sich  geschäftig  über  den  Speck  her  und  setzten  den  Geschenknehmer  über- 
dies in  so  grossen  Schrecken,  dass  er  entfloh.  Als  er  zur  Mutter  kam, 
hatte  er  kaum  Atem  genug,  um  zu  erzählen,  mit  welcher  List  er  den 
Hunden  entlaufen.  Das  steinalte  Mütterchen  hatte  aber  nicht  rechte  Lust, 
über  die  Dummheit  des  Sohnes  zu  lachen,  sondern  belehrte  ihn:  „Du 
hättest  den  Speck  nach  Hause  bringen  und  ihn  im  Kauche  aufhängen 
sollen."  Wieder  versprach  der  Sohn,  alles  zu  thun,  wie  ihn  die  Mutter 
belehrt.  Bald  ging  er  auch  wieder  zur  Tante.  Diese,  um  sich  des  lästigen 
Gastes  auf  längere  Zeit  zu  entledigen,  schenkte  ihm  ein  Kalb.  Der  Dumme 
führte  es  nach  Hause,  und  da  die  Mutter  in  dem  Augenblicke  nicht  zu 
Hause  war,  knüpfte  er  das  Kalb  in  dem  Kamin  auf.  AVas  folgte,  ist  kein 
Rätsel.  Als  die  arme  Alte  nach  Hause  kam  und  das  Unglück  sah,  lärmte, 
schrie,  schimpfte  sie  und  sagte  dem  Solme:  „Narr!  Du  hättest  das  Kalb  in 
den  Stall  führen  und  ihm  Heu  geben  sollen."  „Mutter,  so  wahr  ich  Gott 
liebe,  will  ich  es  ein  anderesmal  thun",  versprach  er  feierlich.  Bald  maclite 
er  aber  aus  lanwer  Weile  bei  der  Tante  wieder  einen  Besuch  und  bat  um 


Ruthenische  Märchen  und  Mythen  aus  der  Bukowina.  405 

ein  Geschenk.  Diese  gab  ihm  ihre  Tochter.  Der  Dumme  freute  sich  über 
das  Glück,  denn  er  glaubte  schon  ein  Weib  zu  haben.  Er  führte  das 
Mädchen  mit  sich  und  brachte  es  in  den  Stall;  hier  legte  er  ihm  Stroh 
und  sonstiges  Futter  vor,  wie  es  die  Mutter  gesagt,  selbst  aber  lief  er  ins 
Haus,  um  der  Mutter  sein  Glück  zu  berichten.  Diese  war  über  und  über 
entrüstet  und  watschelte  in  den  Stall,  um  an  dem  Mädchen  gut  zu  thun, 
was  die  Dummheit  ihres  Sohnes  verbrochen.  Sie  fand  aber  die  Tochter 
nicht,  denn  diese  hatte  die  Abwesenheit  des  ^Narren  benutzt  und  war  zu 
ihrer  3Iutter  entlaufen.  Noch  einmal  besuchte  er  die  Tante  und  verlangte 
das  Mädchen  ausdrücklich  zum  Geschenke;  die  Tante  warf  ihn  aber  g-ar 
unsanft  zur  Thüre  hinaus,  und  nun  ging  der  Dumme,  nachdem  er  so  vieles 
verloren  hatte,  zuletzt  leer  aus. 

3.    Wie  ward  ein  Zigeuner  schnell  reich? 

Ein  Zigeuner,  der  sich  auf  Gottes  lieber  Welt  müssig  herumtrieb,  kam 
einmal  zu  einem  Bojaren  und  bat  diesen,  er  möge  ihn  in  den  Dienst 
nehmen.  Der  Bojare,  der  die  Trägheit  der  Zigeuner  kannte,  versagte  es 
ilim.  Der  Landstreicher  liess  aber  von  seinen  Bitten  nicht  eher  ab,  als 
bis  der  Bojare  ihn  doch  aufnahm.  So  ward  der  Zigeuner  dem  Hausgesinde 
angereiht,  doch  unter  der  Bedingung,  die  erste  Nacht  in  dem  hölzernen 
Stalle  in  Gesellschaft  mit  einem  Bären,  den  der  Bojare  hatte,  zuzubringen, 
wofür  dieser  ihm  den  Dienstlohn  eines  Jahres  zahlen  werde.  Auf  diese 
Weise  glaubte  nämlich  der  Herr  des  lästigen  Patrons  ledig  zu  werden. 

Da  es  noch  nicht  Abend  geworden  war,  ging  der  Zigeuner  in  die 
Stadt,  kaufte  wälsche  Nüsse  und  Branntwein  und  kam  gegen  Abend  in 
den  Bojarenhof.  Um  die  Zeit  des  Schlafengehens  führte  der  Bojare  selbst 
den  Zigeuner  in  den  Stall  und  schloss  hinter  ihm  die  Thür.  Der  Zigeuner 
trat  in  einen  Winkel  des  Stalles  und  knackte  g-anz  gemächlich  seine  Nüsse. 
Der  Bär  kam  zum  Zigeuner  und  forderte,  dass  er  ihm  auch  von  seinen 
Vorräten  mitteile.  Er  gab  ihm  eine  geknackte  Nuss,  die  sich  der  Herr 
Bär  recht  gut  schmecken  liess.  Dann  bat  er  den  Zigeuner,  er  möge  ihm 
eine  nichtgeknackte  Nuss  geben;  dieser  gab  ihm  aber  ein  Stück  Eisen. 
Der  Bär  biss  hinein,  dass  ihm  die  Zähne  brachen,  und  konnte  doch  nicht 
zum  Kern  kommen.  Er  forderte  daher  wieder  Nüsse,  aber  ohne  die 
Schalen,  was  ihm  der  Zigeuner  nicht  verwehrte.  Der  Vorrat  ging  aber 
bald  zu  Ende,  und  der  Bär  sagte:  „Jetzt  werde  ich  Dich  auffressen." 
,.Lass  uns  zuvor  zusammen  trinken",  antwortete  der  Zigeuner,  brachte  die 
gefüllte  Branntweinflasche  zum  Vorschein,  trank  selbst  und  gab  auch  seinem 
Gefährten,  der  einen  langen,  langen  Zug  aus  der  Flasche  that.  Der  Zigeuner 
wusste  wohl,  dass  der  Branntwein  seine  Wirkung  nicht  verfehlen  könne 
und  fing  jetzt  auf  seiner  Geige  zu  fiedeln  au.  Der  Bär  sprang  nacli 
Herzenslust  herum  und  als  er  das  Tanzen  satt  war,  nahm  er  vom  Zigeuner 
.  die  Geige  und  versuclite  selbst  einige  Striche  mit  dem  Fiedelbogen.     Die 


406  Kahl  dl: 

Uiigoschicklichkeit  aber,  mit  der  er  zu  Werke  ging,  fiel  ihm  selbst  auf, 
und  er  fragte  daher  den  Zigeuner,  ob  es  wohl  möglich  wäre,  dass  seine 
Prazen  flacher  und  zum  Geigenspiel  geeigneter  würden.  „Ja",  antwortete 
der  Zigeuner,  „siehst  Du  den  Keil  dort?  Bringe  ihn  her!"  Der  Bär  that 
es  mit  Freuden.  So  trieben  beide  die  Balken  der  Wand  mittels  des  Keiles 
auseinander  und  der  Zigeuner  hiess  dem  Bären  beide  Tatzen  in  die  Fuge 
hineinsstecken.  Der  Bär  hegte  keinen  Verdacht  und  that,  wie  ihm  geraten 
wurde.  Der  Zigeuner  zog  jetzt  aber  den  Keil  heraus  und  die  Vorderbeine 
des  Musikfreundes  befanden  sich  nun  unter  der  Presse.  Der  Bär  hatte 
schon  alle  Lust  verloren,  den  Fiedelbogen  zu  führen;  er  flehte  und  drohte, 
aber  es  lialf  nichts;  der  Zigeuuer  war  garnicht  aufgelegt,  ihn  von  den 
Martern  zu  befreien  und  nachher  sich  auffressen  zu  lassen.  Ja  er  traktierte 
den  Bären  mit  einer  Portion  Schläge,  dass  ihm  die  Sinne  schwanden.  Der 
Morgen  graute  bereits  und  bald  kam  der  Bojare  in  den  Stall  aus  Neugierde, 
was  mit  dem  Zigeuner  geschehen.  Er  staunte  nicht  wenig,  als  er  ihn 
wohl  behalten  und  das  Tier  in  der  Presse  fast  leblos  fand.  „Mit  dem", 
dachte  der  Bojare,  „ist  nichts  zu  beginnen",  zahlte  dem  Zigeuner  gleich 
die  bestinnnte  Summe,  und  so  erwarl)  der  braune  Landstreicher  in  einer 
Nacht  eine  Barschaft,  für  welche  jeder  aus  dem  Hausgesinde  des  Bojaren 
sich  ein  ganzes  Jahr  hindurch  abmühen  musste. 

4.    Schwer  ist  es,  sich  selbst  zu  kennen. 

Es  war  einmal  ein  mächtiger  König,  der  von  Geburt  eine  sehr  grosse 
Nase  hatte,  und  wie  wohl  er  wusste,  dass  ihn  dieselbe  entstelle,  bildete  er 
sicli  doch  immer  ein,  dass  es  blosser  Schein  sei.  Die  Unterthanen  und 
andere,  die  er  hierüber  befragte,  versicherten  ihn,  dass  ihm  die  Nase  gut 
stehe.  Wer  würde  sich  auch  getrauen,  einem  Höheren  über  derlei  Sachen 
die  AVahrheit  ins  Gesicht  zu  sagen? 

Zu  eben  derselben  Zeit  lebte  in  dieser  Stadt  auch  eine  buckelige 
Frau,  der  es  jedoch  Schmeichler  beteuerten,  dass  sie  die  erste  Schönheit 
der  Stadt  sei.  Als  diese  Frau  einmal  mit  irgend  jemandem  einen  Prozess 
hatte,  ging  sie  zum  Könige,  dass  er  ihr  Recht  spreche.  Da  die  Sache 
jedoch  nicht  nach  ihrem  Wunsche  ging,  machte  sie  ihren  Bitten  ein  Ende 
und  rief:  „Weh'  mir,  welche  Nase!"  —  Der  König  erwiderte  hierauf  nicht, 
sondern  stellte  sich,  als  hätte  er  nichts  geliört.  Als  die  buckelige  Frau 
solches  bemerkte,  wandte  sie  ihren  Blick  vom  Könige  weg  und  schrie, 
wie  wenn  sie  erschrocken  wäre:  „Wunder!  eine  ähnlich  grosse  und  häss- 
liche  Nase  habe  ich  noch  nie  gesehen!"  —  Der  König  wollte  nun  nicht 
mehr  schweigen,  sondern  antwortete:  „Frau!  weisst  Du  auch,  dass  Du  ein 
Wundergeschöpf  bist?  Während  Dir  meine  Nase  ungewöhnlich  erscheint, 
vergisst  Du  auf  den  Fleischhügel,  den  Du  auf  den  Rücken  trägst."  —  Die 
Frau  errötete  und  machte  sich  schweigend  davon.  Als  der  König  sich 
ohne  Zeugen    wusste,    trat    er    vor    den  Spiegel,    blickte  in  denselben  mit 


Ruthenische  Märchen  und  Mythen  aus  der  Bukowina.  407 

weniger  Wohlgefallen  denn  gewöhnlich  nnd  sprach:  „Es  ist  doch  keine 
Lüge,  was  irgend  jemand  gesprochen,  dass  es  keine  leichte  Sache  sei,  sich 
selbst  zn  kennen." 

Der  Mensch  lacht  über  den  Menschen,  und  der  Teufel  über  beide. 
Der  Teufel  spottet  der  schwarzen  Taube  und  vergisst  darüber  sich  selbst. 
Den  Mund  <ler  "Welt  verstopft  nur  die  Erde. 

5.    Eine  gute  Lehre. 

Zwei  .Jünglinge  gesellten  sich  zusammen  und  gingen  in  Handels- 
gescliäften  in  die  Welt.  Während  sie  von  Dorf  zu  Dorf  herumzogen, 
trafen  sie  an  einem  Abende  in  einem  auf  einer  Anhöhe  gelegenen  Dorfe 
ein  und  traten  in  ein  Haus,  welches  ihnen  das  beste  zu  sein  schien,  um 
daselbst  die  Nacht  zu  verbringen.  Sie  klopften,  und  es  kam  ihnen  ein 
alter  Mann  entgegen,  der  sehr  würdevoll  aussah.  Dieser  empfing  die 
beiden  Jünglinge  sehr  freundlich,  lud  sie  ins  Haus,  wo  sie  auch  gleich 
mit  aller  Offenherzigkeit  ihn  anredeten:  „Väterchen!  wir  haben  gewaltigen 
Hunger,  sei<l  so  gut  und  besorget  ein  Nachtessen."  —  „Seid  unbesorgt", 
erwiderte  der(ireis,  „ein  wenig  Essen  darf  uns  nicht  fehlen."  Ehe  jedoch 
der  Alte  ein  Essen  auftrug,  fragte  er  die  Fremden,  was  sie  wohl  Neues 
aus  der  Ferne  brächten?  Die  Jünglinge  erzälilten  ihm  allerlei  Unbedeu- 
tendes, wie  dies  auch  heute  der  Fall  ist,  wenn  Leute  zusammenkommen. 
Inzwischen  hatte  sich  einer  von  den  Jünglingen  aus  der  Stube  ins  Freie 
begeben.  Der  Greis  benützte  iliesen  Augenblick  und  fragte  den  in  der 
Stube  zurückgebliebenen  Jüngling:  „Junger  Herr!  seid  Ihr  vielleicht  Brüder, 
dass  Ihr  einander,  so  ähnlich  sehet?"  —  „Bewahre  der  Himmel!"  erwiderte 
der  Jüngling,  „solch  ein  Bruder  würde  mir  wahrlich  wenig  Fhre  machen! 
Zwar  sieht  er  einem  Menschen  ähnlich,  allein  der  Kerl  ist  ein  Ochse,  der 
aucli  mit  Stroli  vorlieb  nimmt." 

Kaum  liatte  der  Jüngling  ausgeredet,  als  auch  sein  Reisegefährte  in 
die  Stube  trat,  und  alsobald  nahm  das  Gespräch  eine  andere  Wendung. 
Nach  einer  Weile  entfernte  sich  <ler  andere  Jüngling  aus  der  Stube,  und 
der  Greis  fragte  den  jetzt  Zurückgebliebenen  aus  Neugierde,  ob  der  andere 
Jüngling  wohl  sein  Bruder  sei,  da  sie  doch  einander  w^ie  aus  dem  Gesicht 
geschnitten  zu  sein  seidenen.  Da  erwiderte  dieser  unwillig:  „Ihr  irret 
Luch.  Väterchen!  Ich  wollte  es  nimmer,  dass  er  mein  Bruder  wäre;  denn 
er  ist  ein  Esel,  der  keinen  Unterschied  zu  machen  weiss,  wenn  man  ihm 
auch  Grütze  zum  Speisen  vorlegen  würde." 

Als  der  Greis  merkte,  wie  wenig  einer  tles  anderen  Ehre  wahre, 
machte  er  sich  gleich  auf,  suchte  ein  Bund  Stroh  hervor,  füllte  eine 
Schüssid  mit  Grütze  und  legte  solches  auf  den  Boden  vor  die  beiden  Jüng- 
linge. Die  Fremdlinge,  so  dies  sahen,  fragten  den  Alten:  „Warum  uns 
solches  vorlegen?"  —  „Sollte  es  nicht  genügen",  antwortete  der  Greis,  „so 
halle  ich  Stroh  und  (irütze  noch  in  Fülle.    Führwahr!    Ihr  sollt  daran  nicht 


408 


Kaindl: 


Mangel  liabeii.  Oder  sollten  wohl  gar  der  Oclis  und  der  Esel  damit  nicht 
zufrieden  sein?''  —  Nun  sahen  sich  die  Jünglinge  gegenseitig  an  und  er- 
röteten. Da  begann  der  Greis:  „Junge  Männer!  Ihr  dürfet  mir  nicht 
zürnen,  dass  ich  solches  Spiel  mit  Euch  treibe;  denn  so  viel  der  Mensch 
auch  lernt,  so  ist  ihm  ihm  eine  I^ehre  doch  nie  überflüssig.  Bei  Euch  ist 
dies  auch  der  Fall,  wenn  Ihr  es  nur  willig  aufnehmen  würdet.  Wenn  ich 
auch  nicht  gar  klug  und  gelehrt  bin,  vermag  ich  doch  zwei,  drei  Worte 
zu  reden.  Ob  Ihr  Brüder  oder  bloss  Reisegefährten  seid,  ist  Eure  Sache; 
liierüber  könnt  Ihr  jedermann  nach  Gefallen  antworten.  Doch  —  ich  sage 
Euch  —  es  ist  nicht  gut,  seinen  Gesellen  zu  verleumden.  Denn  wisset. 
Ehre  gesellt  sich  mit  Schimpf  nie,  und  immer  wird  man  nach  dem  Gesell- 
schafter beurteilt." 

Hierauf  nahm  der  Greis  das  Stroh  und  die  gefüllte  Schüssel  bei  Seite, 
tischte  den  Fremdlingen  ein  Nachtessen  auf  und  behandelte  sie  fernerhin 
sehr  freundlich.  Sie  gingen  am  nächsten  Morgen  weiter,  dachten  jedoch, 
so  lange  sie  lebten,  an  den  Greis  und  seine  Lehre. 


6.    Wahrheit  findet  keine  Ohren. 

Ein  wenig  brauchbarer  Knecht  hatte  das  Unglück  bei  jedem  seiner 
Dienstgeber  seiner  uugezähmten  Zunge  wegen  mit  Prügel  derb  bedacht 
zu  werden.  Natürliche  Folge  war  es  daher,  dass  seine  Kleidung  in  Fetzen 
um  ihn  herumflatterte. 

Ein  Kaufmann,  der  diesen  Knecht  —  Georg  w^ar  sein  Name  —  seit 
früheren  Jahren  kannte,  begegnete  ihm  einmal  und  konnte  sich  nicht  satt 
wundern  über  dessen  lumpiges  Aussehen.  „Was  mag  die  Ursache  sein'-, 
fragte  ihn  der  Kaufmann,  „dass  es  Dir  so  leidig  ergeht?  Saufbold,  Ehe- 
brecher oder  Verschwender  bist  Du  nicht;  wie  gerätst  Du  in  diese  elende 
Lage?" 

„Herr",  antwortete  Georg,  „nichts  anderes  hat  mein  Unglück  ver- 
ursacht, als  weil  ich  jedermann  geradezu  die  AVahrheit  sage.  Die  Lüge 
ist  mir  fremd,  ich  rede  nur  Wahrheit;  deshalb  w^erde  ich  überall  hinaus- 
gestossen." 

„Mit  gebläutem  Buckel  als  Wegzehrung",  fügte  der  Kaufmann  hinzu: 
„Du  gefällst  mir,  denn  Leute  Deiner  Denk-  und  Handlungsweise  sind 
heute  selten.  Für  meine  Geschäfte  brauche  ich  gerade  einen  Mann  der 
Wahrheit." 

Georg  hatte  nichts  zu  entgegnen,  und  so  ward  er  Diener  im  Hause 
<les  Kaufmannes.  Da  er  als  ein  Anfänger  jedoch  bei  wichtigeren  (ie- 
schäften  nicht  verwendet  werden  konnte,  begleitete  er  den  Herrn  auf  den 
Marktplatz.  Nachdem  Futter,  Mehl  u.  a.  eingekauft  worden  waren,  gebot 
der  Kaufmann  dem  Knechte,  nach  Hause  zurückzukehren  und  alles  der 
Kauf mannsf ran  zu  übergeben. 


Ruthenische  Märchen  und  Mythen  aus  der  Bukowina.  409 

Als  Georg  zu  Hause  angelangt  war  und  vor  die  Hausfrau  trat,  um  ihr 
das  Eingekaufte  zu  überreichen,  blickte  er  ihr  mit  tölpelhafter  Miene  in 
die  Augen  und  rief  voll  Verwunderung  aus:  „Himmel!  Ihr  kommt  mir  vor 
wie  eine  Henne,  die  mit  einem  Auge  in  den  Garten,  mit  dem  anderen 
nach  der  Hausthür  blickt."  Als  solches  die  Hausfrau  hörte,  war  sie  sehr 
erzürnt,  ergriff  den  Stock  ihres  Mannes,  der  neben  der  Zimmerthür  stand, 
und  indem  sie  auf  den  Knecht  dreinschlug,  schrie  sie:  „Elender!  Du  willst 
mit  mir  Dein  Possenspiel  treiben?  Du  sollst  Dich  in  meinem  Hause  nicht 
mehr  blicken  lassen;  so  ist's!" 

Georg  hatte  genug.  In  Eile  verliess  er  das  Haus,  um  weiter  zu  gehen. 
Unterwegs  stiess  er  auf  den  Kaufmann,  der  ihn  anredete:  „Was  giebt's? 
Wohin  gehst  Du?" 

Georg  hatte  keine  Worte,  sondern  betastete  nur  mit  einer  wehmuts- 
vollen Miene  die  Stellen,  die  mit  dem  Stocke  unsanft  berührt  worden 
waren.  Erst  nach  einer  Pause  war  er  im  stände,  dem  Kaufmann  zu  ent- 
decken, dass  er  von  der  Hausfrau  fortgeprügelt  worden. 

„Warum?"  fragt  der  Kaufmann.  „Mir  erging  es",  antwortete  Georg, 
„wie  das  Sprichwort  sagt:  Wahrheit  findet  kein  Gehör!"  Sodann  erzählte 
er  seinem  Herrn  umständlich,  was  und  wie  es  sich  zugetragen. 

„I^u  hast  es  verdient",  antwortete  hierauf  der  Kaufmann;  „Dein  Läster- 
mund ist  .laran  schuld.  Dich  hat  Dein  Mund  geschlagen  und  wird  Dich 
noch  oft,  sehr  oft  schlagen." 

7.  Der  Kater. 
Bei  einem  gar  grossen  Herren  diente  ein  Bauernjunge.  Ein  Jahr  seiner 
Dienstzeit  war  bereits  um,  und  der  Herr  fragte  ihn,  welchen  Lohn  er 
dafür  verlange.  „Einen  Groschen"!  war  die  Antwort.  Der  Herr  mochte 
sich  mit  Gegenvorstellungen  abniüden,  so  viel  er  wollte,  es  half  nichts, 
und  dem  Knechte  musste  der  verlangte  Groschen  ausgezahlt  werden.  Mit 
diesem  machte  er  sich  auf  den  Weg  und  ging  lange,  lange  lierum.  bis  er 
einem  Bauern  begegnete,  der  einen  Sack  auf  dem  Rücken  trug.  „Was 
liast  Du  im  Sacke?"  fragte  der  Knecht.  „Einen  Kater,  den  ich  feilbieten 
will",  antwortete  der  Bauer.  Der  Knecht  bekam  Lust,  den  Kater  zu 
kaufen  und  trug  dem  Bauer  für  den  Kater  im  Sacke  seinen  einjährigen 
Dienstlohn  au.  Der  Yerkäufer,  im  AVahne  eine  namhafte  Summe  für  seine 
Ware  einzulösen,  ging  den  Vertrag  mit  Freuden  ein.  Der  Knecht  nahm 
den  Kater  und  zahlte  dem  Bauern  seinen  Groschen.  Der  Bauer  mochte 
sich  geberden,  wie  er  w^ollte,  es  half  nichts;  denn  was  er  gefordert,  hatte 
er  erhalten. 

Der  Kater  und  sein  neuer  Herr  gingen  nun  eine  Weile,  bis  sie  an 
den  Saum  eines  grossen  Waldes  gelangten.  Hier  zimmerte  der  Bauern- 
junge auf  Geheiss  des  Katers  eine  Hütte,  in  der  beide  Platz  genug  hatten. 
Ihr  Einsiedlerleben  währte  jedoch  nicht  lange,  und  der  Kater  kam  auf  den 


410  Kaindl: 

Gedanken,  im  Namen  seines  neuen  Herrn,  so  schmierig  und  zerlumpt  er 
auch  war,  um  die  Hand  der  Tochter  eines  grossen,  grossen  Bojaren  zu 
werben.  Auf  dem  Wege  zu  dem  Schlosse  des  Bojaren  begegnete  dem 
Brautwerber  Kater  ein  Hase,  der  ihn  nach  dem  Ziel  seiner  Reise  fragte. 
„Zu  unserem  Herrn",  war  die  Antwort,  „er  soll  mir  Recht  sprechen.  Der 
Verleumdungen  und  üblen  Nachreden  wäre  ich  schon  satt.  Welchen 
Schaden  immer  die  Katze  anrichten  mag,  heisst  es:  der  Kater  hat's  gethan, 
und  hallo!  geht  es  los  ans  Hetzen  mit  Hunden."  Dem  Hasen  dünkte  die 
Gelegenheit  gut,  sich  auch  Recht  sprechen  zu  lassen;  daher  bat  er  den 
Kater,  er  möchte  ihn  mitnehmen.  Der  Kater  aber  befahl  ihm,  alle  Hasen 
seines  Geschlechtes  zu  versammeln  und  so  vereint  an  den  Hof  zu  gehen. 
Der  Hase  brauchte  keine  Bedenkzeit,  und  im  Augenblicke  hatte  er  mehrere 
Hunderte  von  Hasen  versammelt,  um  unter  Führung  des  Katers  vor  den 
Stuhl  der  Gerechtigkeit  zu  treten. 

An  dem  Hofthore  des  Schlosses  angelangt,  bannte  des  Katers  gebiete- 
risches „Halt!"  die  Hasen  an  Ort  und  Stelle.  Er  selbst  trat  vor  den  Bo- 
jaren und  sprach:  „Hoher  Herr!  Mein  Gebieter,  der  Prinz  Iwaniewicz, 
sendet  Dir  diese  Herde  Hasen  zum  Geschenke.  Befiehl,  wohin  ich  sie 
Dir  führen  soll."  Der  Bojar  traute  kaum  seinen  Augen.  Der  Kater  kam 
zu  den  Hasen  und  sprach:  „Der  Herr  ist  geneigt.  Euch  Recht  zu  sprechen, 
nur  müsstet  Ihr  vorher  untereinander  Rat  pflegen  über  die  Art  und  Weise, 
wie  Ihr  die  Beschwerden  vorbringen  sollet.  Zu  diesem  Ende  hat  er  Euch 
gestattet,  in  jenen  Stall  zu  treten."  Und  er  führte  sie  in  eine  geräumige 
Stallung,  in  der  alle  Hasen  eingesperrt  wurden.  Der  Kater  trat  wieder 
vor  den  Bojaren  und  bat  um  die  Hand  seiner  Tochter  für  seinen  Herrn. 
Der  Bojare  dachte  bei  sich:  „Es  muss  doch  ein  grosser,  mächtiger  Herr 
sein,  der  mir  ein  solches  Geschenk  dargebracht  hat."  Dann  sagte  er  zum 
Kater:  „Ich  werde  mich  zur  Hochzeitsfeier  bereiten.  Dein  Herr  möge 
kommen,  die  Bitte  gewähre  ich  ihm  mit  Freuden."  Der  Kater,  hocherfreut 
über  den  Erfolg  seiner  Bemühungen,  lief  eiligst  zu  seinem  Herrn,  um  ihm 
die  freudige  Nachricht  zu  überbringen.  Auch  war  er  jetzt  gar  geschäftig, 
alle  Anstalten  zur  Abreise  zu  treÖen.  Er  hatte  vollauf  zu  thun,  seinem 
Herrn  eine  abgetragene  Offiziers-Uniform  zu  verschaffen  und  ihn  so  abzu- 
richten, dass  man  ihm  ein  klein  wenig  Lebensart  anmerke.  Dies  machte 
dem  Kater  nicht  wenig  ^Fühe.  Schliesslich  begaben  sie  sich  auf  den  Weg, 
und  der  Kater  lud  seinem  Herrn  zwei  Säcke  auf,  vollgestopft  mit  allerhand 
abgenützten  Soldatenmützen.  Als  unsere  Wanderer  den  Fluss,  der  in  der 
Nähe  des  Bojarengutes  floss,  im  Rücken  hatten,  hiess  der  Kater  seinem 
Gesellen  die  Mützen  aus  beiden  Säcken  auf  das  Wasser  schütten.  Nachdem 
dies  geschehen  war,  eilte  er  selbst  zum  Bojaren  und  klagte  über  den  Un- 
fall, der  ihnen  begegnet,  indem  ihr  stattliches  Gefolge  samt  und  sonders 
im  Flusse  ertrunken  sei.  Die  auf  dem  Wasser  schwimmenden  Soldaten- 
mützen bestätigten  seine  Aussage.     Der  Bojare  nahm  herzlichen  Anteil  an 


Euthenische  Märchen  und  Mythen  aus  der  Bukowina.  411 

ilirem  Unglücke  und  berief  die  besten  Schneider,  die,  ohne  Mass  zu  nehmen, 
auf  den  ersten  Blick  für  den  Prinz  Iwaniewicz  die  Kleider  verfertigten. 
Hierauf  wurde  die  Hochzeitsfeier  abgehalten,  und  nachdem  diese  zu  Ende 
war,  äusserte  der  Bojar  den  Wunsch,  seinen  neuen  Schwiegersohn  in  seiner 
Behausung  zu  besuchen.  Der  Kater  war  darüber  garnicht  verlegen  und 
flösste  auch  seinem  Herrn  Mut  ein.  Die  Reise  wurde  angetreten  und  der 
Kater  bildete  allein  den  Vortrab.  Sie  fuhren  durch  einen  grossen,  grossen 
Wald.  Der  Kater  hatte  indessen  einen  bedeutenden  Yorsprung  gewonnen 
und  stiess  auf  einen  Schafhirten.  Diesen  bewog  er  durch  Drohungen  und 
Versprechungen,  dass  er  dem  Festzuge  auf  die  Frage,  wem  diese  Herden 
angehören,  antwortete:  „Dem  Prinzen  Iwaniewicz."  GUeiches  that  der 
Kater  mit  anderen  Hirten,  die  er  unterwegs  antraf.  Alle  diese  Herden 
gehörten  aber  einem  steinalten  Mütterchen,  das  tief  in  dem  Walde  ein 
grosses  und  glänzendes  Schloss  als  alleinige  Herrin  bewohnte.  Der  Kater 
gelangte  bald  auch  zu  dem  Schlosse  und  zwang  die  alte  Frau  durch  Bitten 
und  Drohungen  dazu,  dass  sie  ihr  Schloss  mit  allen  Bequemlichkeiten  auf 
einige  Stunden  den  Ankömmlingen  abtrat,  und  sich  herbeiliess,  sich  durch 
diese  Zeit  in  einem  hohlen  Baume  neben  dem  Schlosse  verborgen  zu 
halten;  der  Kater  versprach,  sie  auf  das  Beste  zu  versorgen.  Der  Zug 
war  bei  den  Herden  vorüber  und  die  Hirten  hatten  ihr  AVort  gehalten. 
Im  Schlosse  ging  es  erst  recht  lustig  zu.  Die  Hochzeitsgäste  sangen  und 
sprangen,  dass  ihnen  die  Beine  weh  thaten.  Manches  Glas  ward  geleert 
und  mancher  Freudenschuss  abgefeuert.  Die  Feier  war  grossartig,  denn 
man  feuerte  sogar  Kanonen  los.  „Es  lebe  das  junge  Brautpaar!"  hörte 
man  aus  dem  Schlosse  den  Bojaren  rufen.  Der  Kater  war  jetzt  gar  ge- 
schäftig. „Habt  Hir's  gehört",  sagte  er,  „das  junge  Brautpaar  soll  leben! 
heisst  es,  —  nieder  mit  dem  halbfaulen  Baum!"  Und  mau  richtete  die 
Kanone  auf  den  Baum,  in  dem  das  steinalte  Mütterchen  die  Hochzeits- 
speisen sich  gut  schmecken  liess.  Die  Lunte  an  und  —  um  den  alten 
Baum  samt  dem  alten  Mütterchen  war  es  geschehen.  Der  falsche  Prinz 
Iwaniewicz  blieb  nun  ungestört  Besitzer  des  Schlosses  und  erinnerte  sich 
oft  des  Groschens  als  Dienstlohn  eines  Jahres,  um  welchen  er  den  gar 
klugen  Kater  gekauft  hatte. 

8.  Das  Elend. 
Es  war  einmal  ein  Edelmann,  der  einen  Sohn  hatte,  den  nichts  mehr 
befremdete,  als  wenn  er  die  Leute  sagen  hörte:  „0  welches  Elend!  o  Elend!" 
Er  verlangte  kennen  zu  lernen,  was  Elend  sei,  und  bat  seinen  Vater  um 
die  Erlaubnis,  in  die  weite  Welt  hinausgehen  zu  dürfen,  um  es  zu  erfahren. 
Alle  Gegenvorstellungen  des  Vaters  waren  fruchtlos,  und  der  .lüngling 
machte  sich  denn  mit  einem  schweren  Beutel  versehen  auf  den  Weg. 
Lange  ritt  er  dorfaus,  dorfein  herum,  fragte,  suchte,  spähete,  forschte  nach 
dem  Elend,    aber  alles  ohne  Erfolg.     Da  ritt  er  einmal  an  einem  grossen, 


412  Kainill: 

grossen  Teiche  vorüber,  wo  er  ein  steinaltes  Mütterchen  Wäsche  waschen 
sah.  „Gnten  Tag!"  sprach  zum  Weibe  der  junge  Edelmann,  „habt  ihr 
nirgends  das  Elend  gesehen."  „Ja",  erwiderte  sie,  „dort  in  dem  Schilf 
treibt  es  sein  Unwesen."  Sie  hatte  den  Nagel  auf  den  Kopf  getroffen, 
denn  der  Jüngling  stieg  gleich  vom  Pferde,  w^arf  eilig  seine  Kleider  von 
sich,  stürzte  in  den  Teich  und  schwamm  dem  Schilfe  zu.  Dort  stiess  er 
auf  eine  Brut  wilder  Enten.  In  wilder  Hast  setzte  der  Jüngling  ihnen 
nach,  trieb  sich  im  Schilf  lange  herum,  verkratzte  und  verschnitt  sich  den 
Leib  bis  zum  Bluten  und  konnte  das  vermeintliche  Elend  doch  nicht  er- 
wischen. Es  ward  Abend,  und  er  dachte  ans  Herauskommen.  An  das 
Ufer  gelangt,  wunderte  er  sich  nicht  wenig,  das  Pferd  und  alle  senie 
Kleider  nicht  zu  finden.  Das  alte  Mütterchen  kannte  seine  Leute  und 
hatte  diese  Gelegenheit  benutzt,  sich  in  den  Besitz  einer  nahmhaften 
Summe  samt  Pferd  und  guten  Kleidungsstücken  zu  setzen.  Der  arme 
Junge  kauerte  sich  in  einem  Winkel  am  Ufer  und,  weil  ein  kühler  Herbst- 
abend war,  hatte  er  nichts,  womit  er  sich  in  dieser  Einsamkeit  hätte  Kurz- 
weil schaffen  können,  als  Schnattern  und  Zähneklappen.  Jetzt  rief  er  aus: 
„Wie  elend  bin  ich  worden!" 

Der  Abend  war  inzwischen  hereingebrochen  und  der  Jüngling  benützte 
die  Dunkelheit  der  Nacht,  um  in  ein  in  der  Nähe  des  Teiches  gelegenes 
Haus  unbemerkt  zu  schleichen.  Der  Wirt  war  vom  Felde  noch  nicht 
heimgekehrt  und  die  Hausfrau  melkte  eben  die  Kühe.  Husch!  war  der 
junge  Edelmann  unter  das  Bett  geschlüpft.  Das  Weib  war  heute  recht 
geschäftig,  gute  Speisen  zu  bereiten,  denn  die  liebe  Hausfrau  erwartete 
ihren  Buhlen,  der  auch  wirklich  nicht  lange  auf  sich  warten  liess.  Nun 
ging  es  recht  herzlich  zu!  Manch  guter  Bissen  ward  verzehrt,  manches 
Glas  geleert,  alles  durch  einen  Kuss  verzuckert.  Dem  Edelmann  unter 
dem  Bette  mochte  es  gar  wunderlich  zu  Mute  gewesen  sein;  er  musste 
sich  aber  in  seinem  Elende  mit  dem  warmen  Verstecke  zufriedenstellen. 
Der  Saus  und  Braus  des  zärtlichen  Liebespaares  währte  nicht  lange,  denn 
man  hörte  im  Hofe  des  Hausherrn  Stimme,  der  den  Kettenhund  be- 
schwichtigte. In  der  Eile  wusste  das  Weib  nicht,  wie  ihr  geschah,  und 
ohne  sich  lange  zu  besinnen,  wies  sie  ihrem  Liebsten  ein  A^ersteck  unter 
dem  Bette  an.  Der  Jüngling  hatte  jetzt  Gesellschaft.  Der  Hausherr  trat 
ins  Haus  und  verlangte  sein  Nachtessen.  „Ich  war  unwohl",  entschuldigte 
sich  das  Weib,  „und  konnte  Dir  nichts  zum  Essen  bereiten."  Sie  holte 
Brot  und  Käse  hervor  und  legte  es  dem  Manne  vor.  Dieser  langte  nach 
seiner  Tasche,  brachte  eine  Flasche  mit  Branntwein  heraus,  trank  selbst 
und  gab  auch  dem  Weibe  zu  trinken,  das  krankheitshalber  sich  ins  Bett 
gelegt  hatte.  Die  liebe  Frau  trank  nicht  selbst,  sondern  steckte  es  dem 
Liebsten  unter  dem  Bette  zu.  Der  Jüngling  war  aber  geschäftiger,  er- 
wischte selbst  das  Gläschen  und  leerte  es  bis  auf  den  Grund.  So  ging  es 
auch  zum   zweiten-  und  auch  zum  drittenmale.     Der  junge  Edelmann,  der 


Ruthenische  Märchen  und  Mythen  aus  der  Bukowina.  413 

sich  dadurch  einen  Kausch  zugezogen,  sagte  hierauf  zu  seinem  Leidens- 
gefährten: „Icli  will  singen."  „Bist  Du  von  Sinnen",  antwortete  ihm  dieser, 
„wir  würden  beide  sehr  schlimm  dran  sein."  ,,Gieb  mir  Deine  AVäsche, 
sonst  singe  ich."  Der  Buhle,  dem  es  mit  der  Sache  ernst  war,  zog  sein 
Hemd  vom  Leibe  und  gab  es  ihm,  um  nur  Ruhe  zu  haben.  Nach  einer 
Weile  sagte  der  Jüngliag:  „Ich  will  pfeifen."  „„Schweig  Besoffener!"" 
„Oieb  mir  Deine  Kleidung,  oder  ich  pfeife  aus  Leibeskräften!"  „„So 
nimm  sie,  Du  Narr!""  Jetzt  war  der  Jüngling  bekleidet.  Der  Mann,  von 
der  Tagesarbeit  müde,  war  inzwischen  fest  eingeschlafen.  Das  Weib  nahm 
den  jungen  Edelmann,  den  sie  für  den  Geliebten  hielt,  bei  der  Hand  und 
führte  ihn  aus  dem  Hause. 

Der  Jüngling  fing  jetzt  im  Freien  eine  Nachteule,  nahm  sie  unter 
den  Arm  und  trat  ans  Fenster  des  Hauses,  in  dem  es  ihm  nach  Herzens- 
wunsch gegangen  war.  Hier  klopfte  er  an  und  bat  um  Nachtherberge. 
Der  ]VIann  verweigerte,  so  sehr  sich  auch  das  Weib  dagegen  sträubte,  ihm 
nicht  den  Einlass,  tischte  ihm  selbst  auf  und  bewirtete  ihn  nach  Möglich- 
keit auf  (las  Beste.  Der  Edelmann  drückte  nun  die  Nachteule  unter  dem 
Arme  so  unsanft,  dass  sie  schrie.  Der  Bauer  fragte  ihn:  „Was  hast  Du?" 
„„Meinen  Wahrsager  führe  ich  mit  mir.""  „Und  was  hat  er  jetzt  gesagt?" 
fragte  der  Bauer  weiter.  „„Er  meint,  in  jener  Truhe  wäre  eine  vollgefüllte 
Schnapsflasche.""  Der  Bauer  suchte  nach  und  fand  die  Flasche.  Das 
Weib  sah  dies  nicht  gern  und  entschuldigte  sich,  dass  die  Flasche  für  den 
Mann  bestimmt  gewesen,  dass  sie  aber  wegen  des  Kopfwehes  darauf  ver- 
gessen hätte.  Der  Hausherr  und  der  Gast  machten  sich  an  die  Flasche 
mit  dem  festen  Vorsatze,  sie  zu  leeren.  Der  Edelmann  wollte  aber  auch 
was  Gutes  essen,  und  weil  er  vorher  gesehen  hatte,  wo  das  Weib  in  Eile, 
um  vom  Manne  nicht  überrascht  zu  werden,  die  Speisen  versteckt  hatte, 
drückte  er  seinen  Vogel  wieder.  Dieser  schrie,  der  Bauer  fragte  wieder 
und  erhielt  zur  Antwort:  „Wie  der  Wahrsager  meint,  soll  im  Backofen 
ein  recht  guter  Braten  sich  befinden."  Der  Bauer  suchte  und  fand.  Beide 
Hessen  sich  es  gut  schmecken.  Als  der  Edelmann  satt  war,  drückte  er 
wieder  die  Nachteule.  Sie  schrie  und  der  Jüngling  stand  wie  erschrocken 
auf,  nahm  seine  Mütze  und  schickte  sich  an,  fortzugehen.  Als  ihn  der 
Hausherr  nach  der  Ursache  fragte,  antwortete  er:  „Der  Vogel  widerrät  mir 
unter  Deinem  Dache  zu  übernachten,  denn  Du  hast  ein  Ungeheuer  im 
Hause."  Der  Bauer  starrte  ihn  an  und  bat  ihn,  er  möchte  ihm  doch  einen 
Rat  erteilen,  wie  er  des  Ungeheuers  los  werden  könnte.  Der  Edelmann 
war  hierzu  bereit,  liess  Feuer  machen  und  in  grossen  Töpfen  Wasser  er- 
hitzen. Als  es  schon  recht  gut  zu  sieden  begann,  sammelte  er  aus  allen 
Winkeln  der  Stube  Lumpen  zusammen,  hiess  den  Hausherrn  mit  einem 
Prü^•el  bei  der  Thüre  wachen,  tauchte  die  Lumpen  in  siedendes  Wasser 
und  besprengte  das  Haus  nach  allen  vier  Winden  und  auch  den  Liebsten 
unter    dem  Bette.     Dieser    seufzte    kaum    hörbar  und  kauerte  sich  in  den 


4  14  Kaindl: 

Winkel.  „Hier  niuss  das  Ungeheuer  sein",  sagte  der  Edelmann  und  wies 
unter  das  Bett.  „Mau  muss  es  heraustreiben",  sprach  der  Bauer.  Der 
Jüngling  tauchte  die  Lumpeu  recht  tief  ins  siedende  Wasser  und  besprengte 
den  Armen  in  seinem  Verstecke  so  gewaltig,  dass  er  vor  Schmerzen  sich 
auf  die  Flucht  machte.  Er  wollte  zur  Thür  hinaus,  aber  der  flinke  Wirt  hieb 
so  fleissig  drein,  dass  das  Ungeheuer  mit  blauem  Leibe  davonkam.  Das  Weih 
war  durch  diesen  Yorfall  von  ihren  Liebeshändeln  geheilt.  Der  Edelmann 
fuhr  aber  am  nächsten  Morgen  zum  Vater  zurück  und  hatte  nicht  mehr 
Lust,  länger  herumzustreichen  und  zu  erfahren,  was  Elend  bedeute. 

9.    Aus  der  Schöpfungsgeschichte. 

Einst  war  nichts  als  oben  der  Himmel  und  unten  Gewässer.  Da 
schiffte  einmal  Gott  auf  dem  Wasser  umher  und  fand  ein  grosses,  grosses 
Stück  festen  Schaumes,  darin  der  Teufel  stak.  „Wer  bist  du?"  fragte  ihn 
Gott.  Der  Böse  antwortete:  „Ich  habe  nicht  Not,  Dir  Rede  zu  stehen, 
ausser  wenn  Du  mir  versprichst,  mich  auf  Dein  Fahrzeug  zu  nehmen." 
„Ich  will  es  thun!"  „Ich  bin  also  der  Teufel."  So  fuhren  beide  herum 
und  unterredeten  sich,  bis  der  Teufel  begann:  „Wie  gut  wäre  es,  wenn  es 
ein  Festland  gäbe?"  „Das  soll  werden",  antwortete  Gott;  „tauche  Du 
hinab  bis  auf  den  Meeresgrund  und  bringe  eine  Handvoll  Sand  herauf, 
daxaus  will  ich  ein  Festland  schaffen.  Wenn  Du  aber  hinabgelangt  bist  und 
nach  dem  Sande  greifst,  so,  vergiss  nicht  zu  sagen:  „Ich  nehme  Dich  im 
Namen  Gottes."  Der  Teufel  liess  es  sich  nicht  zweimal  sagen,  sank  in 
Eile  unters  Wasser  und  auf  dem  Grunde  angelangt,  griff  er  mit  beiden 
Händen  gierig  in  den  Sand  hinein,  mit  den  Worten:  „Ich  nehme  Dich  in 
meinem  Namen."  Als  er  auf  die  Oberfläche  gelangte  und  in  die  Hände 
hineinsah,  die  er  sich  fast  wund  gedrückt  hatte,  erstaunte  er  nicht  wenig, 
als  er  sie  leer  fand.  Was  in  ihm  vorging,  bemerkte  Gott  und  sprach: 
„Warum  hast  Du  nicht  gesprochen,  wie  ich  Dir  geheissen?"  Er  tauchte 
wieder  auf  den  Grund  des  Meeres  hinab,  langte  nach  dem  Sande  und 
sprach:  „Ich  nehme  Dich  in  seinem  Namen."  An  die  Oberwelt  brachte 
er  aber  nicht  mehr  Sand,  als  was  unter  den  Nägeln  Platz  gefunden  hatte. 
Gott  nahm  dieses  bisschen  Sand,  streute  es  aufs  Wasser,  und  es  war  Fest- 
land, nicht  grösser  jedoch  als  ein  Ruhebett.  Als  es  Nacht  wurde,  legten 
sich  Gott  und  Teufel  auf  das  Festland  nieder,  um  auszuruhen.  Unser 
Herrgott  war  kaum  eingeschlummert,  da  stiess  ihn  der  Teufel  gegen  Osten, 
damit  er  ins  Wasser  falle  und  untergehe.  Nach  welcher  Gegend  er  ihn 
gestossen,  in  dieser  Richtung  ward  w^eites,  weites  Festland.  Der  Teufel 
versuchte  es  mit  einem  Rippenstosse  nach  Westen,  und  auch  nach  dieser 
Himmelsgegend  dehnte  sich  das  Festland  gar  weit  aus.  Auf  gleiche  Weise 
wurde  die  Erweiterung  des  Festlandes  auch  nach  den  übrigen  Himmels- 
ü'eo'enden  veranlasst. 


Ruthenische  Märchen  und  Mythen  aus  der  Bukowina.  415 

Als  Gott  das  Festland  erschatfeii  hatte,  stieg  er  in  den  Himmel.  Der 
Teufel  wollte  aber  von  seiner  Gesellschaft  nicht  lassen  und  folgte  ilim  auf 
dem  Fusse.  Hier  hörte  er,  wie  die  Engel  Gott  Loblieder  sangen,  und  er 
wurde  traurig  darüber,  dass  er  niemand  habe,  der  sich  seiner  Ankunft 
freue.  Er  trat  zu  Gott  und  flüsterte  ihm  ins  Ohr:  „Was  soll  ich  machen, 
um  auch  ein  solches  Gefolge  zu  haben?"  Gott  antwortete  ihm:  „Wasche 
Dir  Hände  und  Gesicht  und  sprenge  mit  diesem  Wasser  rücklings."  Er 
that  es  und  es  entstanden  Teufel  in  so  grosser  Anzahl,  dass  die  Engel 
und  Heiligen  im  Himmel  kaum  mehr  Raum  hatten.  Gott  merkte  jetzt 
wohl,  welche  Gefahr  die  Seinigen  bedrohe.  Er  berief  den  heiligen  Elias 
zu  sich  und  befahl  ihm  zu  donnern  und  zu  blitzen.  Elias  freute  sich  der 
Gelegenheit  und  lärmte,  donnerte  und  blitzte  und  Hess  durch  40  Tage  und 
Nächte  regnen,  und  mit  dem  gar  grossen  Regen  fielen  auch  die  Teufel 
vom  Himmel  zur  Erde  nieder.*)  Endlich  war  der  Vorrat  an  bösen  Geistern 
erschöpft  und  es  fingen  auch  an  die  Engel  herabzufallen.  Da  befahl  Gott 
Elias  einzuhalten,  und  wo  ein  Teufel,  im  Fallen  begriffen,  in  diesem  Augen- 
blicke sich  gerade  befand,  dort  blieb  er  stehen.  Darum  fahren  jetzt  zur 
Nachtzeit  Liclitfunken  an  dem  Himmel  herum,  als  wenn  es  Sterne  wären. 
Es  sind  die  Teufel,  die  erst  jetzt  zur  Erde  niederfallen.^) 

10.  Die  drei  Brüder. 
Vor  lauger,  langer  Zeit  lebte  ein  Mann,  der  ein  grosses  Vermögen 
besass.  Da  er  aber  sehr  verschwenderisch  war,  büsste  er  in  kurzer  Zeit 
nicht  nur  dasselbe  ein,  sondern  vererbte  auf  seine  drei  Söhne  grosse, 
grosse  Schulden.  Kaum  hatte  der  Alte  ausgelebt,  so  fanden  sich  auch 
recht  zahlreich  die  Gläubiger  ein  und  schleppten  auch  das  bisschen  Habe 
fort,  das  etwa  im  Hause  sich  vorfand.  Als  die  drei  Söhne  schliesslich  ans 
Teilen  gingen,  da  erhielt  der  älteste  eine  Flöte,  der  mittlere  einen  Mühl- 
stein und  der  jüngste  ein  wenig  Flachs.  Der  Älteste  nahm  seine  Flöte 
und  ging  in  die  weite  Welt  hinaus,  um  sich  sein  Brot  zu  verdienen. 
Lange  zog  er  von  Dorf  zu  Dorf,  ohne  in  einen  Dienst  treten  zu  können. 
Da  kam  er  einmal  durch  einen  grossen,  grossen  Wald  und  traf  tief  in 
demselben  ein  Wirtshaus  an,  worin  niemand  wohnte.  Es  freute  ihn  nicht 
wenig,  denn  er  war  schon  wegen  eines  Nachtlagers  in  Besorgnis.  „Hier", 
dachte  er,  „werde  ich  ohne  Furcht  und  ungestört  ausruhen  können."  Er 
ging  hinein,  legte  sich  in  ein  Bett,  so  gut  er  es  fand,  und  entschlief  bald. 
In  der  Nacht  kamen  wilde  Tiere  herein.     Es  war  ein  Wolf  und  ein  Hase. 


1)  Vgl.  hierzu  die  Sagen  über  Elias  als  Donnerer  in  Kaindls  Schriften  „Die  Ru- 
thenen  in  der  Bukowina',  H,  S.  14  u.  49  (Czernowitz  1890)  und  „Die  Huzulen",  S.  79 
(Wien  1893). 

2)  Nach  anderer  Deutung  sind  es  Hexen,  was  mit  obiger  Überlieferung  im  Zu- 
sammenhange steht.  Vgl.  Kaindl,  Festkalender  der  Rusnaken  und  Huzulen  (Czernowitz 
1896),  S.-4P.3. 

Zcitsclir.  (J.  Vereins  f.  Volkskunde.     1899.  -^ 


416  Kaindl: 

Anfangs  erschrak  er  ein  klein  wenig,  fasste  aber  bald  Mut,  nahm  seine 
Flöte  und  blies  darauf  einige  Töne.  Der  Wolf  war  über  die  ungewöhn- 
liche Musik  erschrocken  und  fing  an  erbärmlich  zu  heulen;  der  Hase 
kauerte  sich  aber  ehrfurchtsvoll  in  einen  Winkel  der  Stube.  Nachdem 
der  Wolf  sich  satt  geheult  hatte,  dachte  er  au  den  Ausgang,  suchte  und 
kratzte  an  den  Wänden,  aber  vergeblich.  In  diesem  Augenblicke  war  ein 
Reisender  bei  dem  Wirtshause  angelangt.  Als  er  hineingehen  wollte  und 
eben  die  Thüre  aufthat,  machten  sich  der  AVolf  und  der  Hase  auf  und 
davon.  Der  Flötenbläser  aber  sprang  von  seinem  Lager,  packte  den 
Reisenden  bei  dem  Kragen  und  sagte:  „Wer  hat  Dich  geheissen,  diese 
Tiere  fortzulassen.  Du  musst  sie  jetzt  einfangen  oder  Du  wirst  es  mit 
dem  Leben  bezahlen.  Die  Tiere  gehören  dem  Könige,  für  den  ich  sie 
abrichte."  Der  Edelmann  war  garnicht  im  Zweifel,  dass  der  Mann  es 
ernsthaft  mit  der  Sache  meine.  Er  bat  und  flehte,  ihn  ungeschoren  fort- 
gehen zu  lassen.  Dies  half  aber  nicht;  erst  durch  eine  grosse  Summe 
Geldes  schaifte  er  sich  den  Tierlehrer  vom  Halse.  Der  älteste  der  drei 
Brüder  war  nun  in  den  Besitz  einer  namhaften  Summe  gekommen  und 
machte  sich  auf,  nach  der  Heimat  zurück. 

Auf  dem  Rückwege  begegnete  er  seinem  mittleren  Bruder,  der  auch 
mit  seinem  Erbteile,  dem  Mühlsteine,  in  die  Welt  hinausgezogen  war. 
Sie  begrüssten  sich  gegenseitig  und  der  Älteste  erzählte  ihm,  wie  er  sein 
Glück  gemacht  hatte. 

Ohne  viel  Zeit  zu  verlieren,  lud  der  Mittlere  den  Mühlstein  auf  sich 
und  ging  fort.  Das  Schicksal  wollte  es,  dass  auch  er  den  grossen  Wald 
durchwanderte.  Es  wurde  Nacht,  ohne  dass  er  ein  Dach  erreicht  hätte, 
und  so  fand  er  es  zweckmässig,  auf  einem  Baume  mit  seiner  Habe  die 
Nacht  zuzubringen.  Als  er  so  auf  dem  Baume  sass  und  wachte,  denn  das 
unbequeme  Lager  und  die  Besorgnis,  den  Mühlstein  zu  verlieren,  Hessen 
ihm  keine  Ruhe,  kam  eine  Räuberbande  und  lagerte  sich  gerade  unter 
diesem  Baume,  um  die  Beute  zu  verteilen.  Einer  von  den  Raubgenossen 
aber  schrie,  dass  ihm  bei  der  Yerteilung  Unrecht  geschehen  sei.  Da  rief 
der  Hauptmann:  „So  wahr  ein  Gott  lebt!"  blickte  zum  Himmel  hinauf 
und  wollte  den  Schwur  zu  Ende  schwören.  Allein  der  Mühlsteinbesitzer 
liess  ihm  dazu  nicht  Zeit.  In  Furcht,  auf  dem  Baume  bemerkt  zu  werden, 
begann  der  Bursche  zu  zittern;  da  entfiel  ihm  der  Mühlstein  und  tötete 
den  Hauptmann.  Die  Raubgesellen  erschraken  darob  so  sehr,  dass  sie 
samt  und  sonders  die  Flucht  ergriffen.  Als  die  Diebe  fort  waren,  stieg 
jener  vom  Baume,  steckte  Gold  und  Silber,  welches  die  Entflohenen  zurück- 
gelassen hatten,  in  seine  Reisetasche,  liess  den  Mühlstein  gern  zurück  und 
trat  den  Rückweg  an.  Zufällig  begegnete  er  seinem  jüngsten  Bruder,  der 
sich  bisher  ohne  Erfolg  herumgetrieben  hatte.  Diesem  erzählte  er,  wie 
er  sein  Glück  unverhofft  gemacht,  wünschte  ihm  Glück  in  allen  seinen 
Unternehmungen  und  ging  fort. 


Euthenische  Märchen  und  Mythen  aus  der  Bukowina.  417 

Der  jüngste  Bruder,  der  das  bisschen  Flachs  von  seinem  Vater  ererbt, 
ging  nun  so  lange  herum,  bis  er  in  einer  entlegenen  Gegend  zu  einem 
Sumpfe  kam,  an  dessen  Ufer  er  im  Schatten  eines  Baumes  ausruhte. 
Nachdem  er  genug  der  Ruhe  gepflogen  hatte,  holte  er  seinen  Flachs  hervor 
mit  dem  Gedanken,  daraus  Stricke  zu  machen  und  diese  zu  verkaufen. 
Gedacht,  gethan!  Eben  war  er  mit  seiner  Arbeit  beschäftigt,  als  ein 
Teufel  aus  dem  Sumpfe  zu  ihm  trat  und  ihn  fragte,  was  er  hier  thue. 
„Ich  habe  den  Auftrag",  antwortete  dieser,  „alle  Teufel  aufzuknüpfen, 
die  in  diesem  Sumpfe  hausen."  Der  Böse  erschrak  nicht  wenig  und  ging 
gleich  zum  Obersten,  um  zu  berichten,  welche  Gefahr  sie  bedrohe.  Nach- 
dem der  Herr  der  schwarzen  Schar  eine  Weile  nachgedacht  hatte,  befahl 
er  einem  von  seinen  Dienern  auf  die  Oberwelt  zu  gehen  und  mit  dem 
Fremdling  um  die  Wette  zu  pfeifen.  Der  Teufel  that,  wie  ihm  befohlen 
wurde.  Er  pfifP  und  von  dem  Baume  fielen  die  Blätter.  Doch  der  Wanders- 
niann  verlor  den  Mut  nicht  und  sagte  zu  dem  Teufel:  „Du  musst  Dir  die 
Augen  verbinden,  damit  sie  nicht  herausspringen,  wenn  ich  pfeife."  Der 
Böse  that  es,  und  der  Bauernjunge  schlug  ihn  mit  seinem  Wanderstabe 
so  gewaltig  über  die  Augen,  dass  er  ohne  weiteres  in  den  Sumpf  entfloh. 
Als  der  Oberste  vernommen,  wie  es  ihm  ergangen,  nahm  er  zu  einem 
anderen  Mittel  seine  Zuflucht  und  schickte  einen  leichtbeinigen  Teufel  zu 
dem  vorgeblichen  Henker,  dass  er  mit  diesem  um  die  Wette  laufe.  Als 
der  Böse  ihm  den  Antrag  gemacht  hatte,  lachte  er  und  sagte:  „Du  wirst 
nicht  einmal  meinen  kloinen  Bruder  überflügeln  können,  der  dort  im 
<Tebüsclie  ruht."  Dabei  wies  er  auf  einen  Hasen  und  weckte  diesen  mit 
einem  Steinwurfe,  so  dass  er  erschrocken  über  alle  Berge  entfloh.  Der 
Wettläufer  des  Sumpfes  kehrte  unverrichteter  Sache  zu  seinem  Gebieter 
zurück.  Dieser  beorderte  jetzt  einen  Starkgewachsenen  aus  seiner  Schar, 
dass  er  mit  dem  Bauernjungen  um  die  Wette  ringen  solle.  Er  ging  auf 
die  01)erwelt  und  forderte  den  Jungen  zum  Ringen  heraus.  Lächelnd 
sagte  dieser:  „Armer  Höllentropf!  Du  dauerst  mich,  denn  Du  musst 
sterben.  Gehe  aber  in  den  Wald,  dort  wirst  Du  meinen  Grossvater  unter 
einem  Baume  liegen  finden.  Gelingt  es  Dir,  ihn  zu  besiegen,  so  will  ich 
aus  reiner  Menschlichkeit  mir  Deinen  Sieg  auch  über  mich  gefallen  lassen." 
Der  Teufel  traute  dem  ehrlichen  Gesicht  und  ging  in  den  Wald.  Hier 
fand  er  unter  einem  Baume  einen  Bären  liegen.  Diesen  reizte  er  zum 
Kampfe.  Der  Bär  stand  auf,  packte  den  Teufel  und  warf  ihn  an  einen 
Baumstamm,  dass  ihm  Sehen  und  Hören  verging.  Es  kostete  ihm  nicht 
wenig  Mühe,  bis  er  sich  an  die  Möglichkeit  zu  verschwinden  erinnerte. 
Er  verschwand  und  rettete  sich  in  den  Sumpf.  Der  Sumpfgebieter  er- 
schrak, als  er  die  traurige  Nachricht  vernahm.  Jetzt  war  er  genötigt,  dem 
Wandersmann  einen  Sack  Geldes  auf  die  Oberwelt  zu  schicken.  Das 
brachte  ihn  aber  noch  nicht  von  dem  Vorhaben  ab,  alle  Teufel  aufzu- 
knüpfen    und    da    mussten    die  Teufel    sich   entschliessen,    ihm  den   Sack 

28* 


4.1g  Kaindl: 

bis    in    (las    Elternhnus    zu   sc}ilepi)t'n.     So  wurden  alle  drei  Brüder  reich, 
sehr  reich. 

11.  Der  Esel  und  sein  Herr. 
Ein  Mensch,  der  in  der  Welt  nicht  gar  viel  herum  gewesen,  bestieg 
einmal  seinen  Esel,  um  seinen  Oheim  zu  besuchen,  der  im  nächsten  Dorfe 
wohnte.  Der  Oheim,  welcher  seinen  Neffen  sehr  liebte,  war  hocherfreut, 
ihn  unter  seinem  Dache  bewirten  zu  können.  Fa-  empfing  ihn  mit  unge- 
wöhnlicher Herzensfreude,  sass  mit  dem  Neffen  abends  zu  Tische,  plauderte 
mancherlei  und  trank  ihm  so  lange  zu,  1)is  derselbe  einige  Gläser  übers 
Mass  getrunken  hatte.  Am  frühen  Morgen  des  anderen  Tags,  als  sie  auf- 
wachten, war  dem  Neffen  gar  ungewöhnlich  zu  Mute.  Es  war  ihm,  als  sei 
in  seinem  Kopfe  ein  Mühlrad  im  vollen  Gange.  Er  drehte  und  wendete 
den  Kopf  bald  hin,  bald  her,  bald  rechts,  bald  links;  es  half  nichts:  das 
Rad  sauste  und  brauste  fort.  Nachdem  er  sich  hübsch  lange  vergeblich 
abgemüht  hatte,  des  Sausens  ledig  zu  werden,  fiel  ihm  ein,  dass  sein  Esel 
noch  nicht  getränkt  worden  sei.  Er  führte  daher  das  Tier  zum  nächsten 
Bache.  Der  Esel  trank,  bis  er  endlich  genug  hatte.  Vergeblich  mühte 
sich  der  Neffe  ab,  das  Tier  durch  Pfeifen  einzuladen,  nocli  etwas  zu 
trinken.  Da  führte  er  den  Zeigefinger  zu  seiner  Stirn  und  sprach  mit 
bedeutungsvoller  Miene:  „Mein  liebes  Tier,  Du  scheinst  klüger  zu  sein, 
als  ich  bin.  Hätte  ich  am  gestrigen  Abende  gethan,  wie  Du  jetzt,  ich 
würde  heute  nicht  nötig  haben,  einen  Zentnerschädel  mit  Sausen  und 
Brausen  herumzutragen. " 

1-2.  Mein  Freund!  dreh  hin,  dreh  her  (Gevatter  Tod). 
Es  lebte  einmal  ein  Mann,  der  reich,  sehr  reich  war.  Alles  ging  nach 
'  seinem  Wunsche  von  statten,  alle  liebten  ihn,  er  hatte  viel  Freunde,  war 
angesehen  und  vernünftig,  denn  —  er  war  sehr  reich.  Es  dauerte  aber 
nicht  lange  und  er  wurde  arm,  sehr  arm.  Das  Vieh  ging  zu  Grunde, 
wurde  von  den  Wölfen  zerrissen  oder  gestohlen,  kurz  er  verarmte  sehr. 
Das  Mass  des  Unglücks  war  aber  noch  nicht  voll;  auch  das  Haus  brannte 
ihm  ab.  In  die  Welt  hinauszugehen  und  zu  betteln,  konnte  er  sich  nicht 
entschliessen,  umsoweniger  da  gerade  jetzt  sein  Weib  einen  Knaben  ge- 
boren hatte.  „AVenn  ich  das  Kind  ungetauft  lasse",  so  dachte  er  bei  sich 
selbst,  „wird  Gott  es  an  mir  rächen."  Er  machte  sich  daher  auf,  ging  zu 
seinen  früheren  Freunden  und  hid  sie  zu  Taufpaten  seines  neugeborenen 
Kindes.  Keiner  erkannte  ihn  aber  jetzt  und  wollte  sich  auch  nicht  herbei- 
lassen, diesen  Dienst  ihm  zu  erweisen.  Betrübt  ging  er  weiter  und  be- 
gegnete einem  Manne.  Dieser  wünschte  ihm  einen  guten  Tag.  Der  Arme 
war  in  Gedanken  vertieft  und  hatte  es  nicht  gehört.  Der  Fremde  kam 
näher,  betrachtete  ihn  schärfer  und  sprach:  „Ich  habe  Dich  gegrüsst  und 
keine  Antwort  erhalten.     AVarum  bist  Du  so  betrübt?"     „Warum  soll  ich 


Ruthenische  Märchen  und  Mythen  aus  der  Bukowina.  419 

mich  nicht  betrüben?  Ich  war  einmal  reich,  sehr  reich,  habe  mehr  Freunde 
gezählt  als  jeder  andere,  und  nun  ich  verarmt  bin,  schämen  sie  sich  meiner, 
so  dass  keiner  sich  erniedrigen  will,  mein  Kind  aus  der  Taufe  zu  heben." 
„Beruhige  Dich",  tröstete  ihn  der  fremde  Mann,  „ich  werde  Dir  diesen 
Dienst  erweisen."  Sie  gingen  beide  in  die  Hütte,  die  gar  ärmlich  war, 
und  nachdem  die  Taufzeremonien  vorüber  waren,  sagte  der  Fremdling  zu 
seinem  Wirte:  „Ich  will  Dich  lehren,  wie  Du  wieder  reich  werden  kannst. 
Gehe  ins  Gebirge,  sammle  alle  möglichen  Kräuter  und  wenn  Du  erfährst, 
dass  irgendwo  ein  grosser,  reicher  Herr  schwer  krank  darniederliegt,  gehe 
zu  ihm  und  gieb  vor,  Du  seiest  ein  bewährter  Arzt.  Wenn  Du  dann  den 
Kranken  zu  Gesicht  bekommst,  gieb  genau  acht,  wo  ich  stehe,  ob  bei  den 
Füssen  oder  bei  dem  Kopfe.  Siehst  Du  mich  zu  Füssen  des  Kranken 
stehen,  so  kannst  Du  unternehmen,  ihn  zu  heilen.  Im  Gegenteile  muss  er 
sterben."  „Und  wie  werde  ich  ihn  heilen  können?"  fragte  der  Bauer. 
„Koche  die  Kräuter,  die  Du  -  gesammelt  haben  wirst,  und  bereite  daraus 
für  den  Kranken  ein  Bad.  Überdies  werde  ich  stets  um  Dich  sein,  von 
niemandem  gesehen,  denn  ich  bin  der  Tod."  Kaum  hatte  der  Fremde  aus- 
geredet, als  er  auch  verschwand.  Anfangs  war  der  Mann  betrübt,  dass  er 
mit  dem  Tode  Brüderschaft  getrunken,  allein  die  Aussicht  auf  neuen 
Reichtum  tröstete  ihn  bald.  Er  zog  herum,  dorfaus,  dorfein,  behandelte 
viele  Kranke  glücklich  und  wurde  auf  diese  Weise  nicht  nur  berühmt, 
sondern  auch  wieder  reich,  sehr  reich.  ICr  trieb  dies  Geschäft  einige  Jahre 
mit  dem  besten  Erfolge.  Endlich  besuchte  abei-  —  es  geschah  nicht  so 
schnell,  wie  ich  es  erzähle  — ,  endlich  besuchte  einmal  auch  ihn  der  Tod 
und  sprach  mit  ernster  ]Miene:  „Dein  Stündlein  hat  geschlagen.  Du  musst 
auch  sterben."  Der  Mann  bat,  flehete,  weinte,  schluchzte,  und  nicht  ver- 
geblich, denn  Freund  Tod  vergönnte  ihm  noch  eine  Woche  Lebensfrist. 
Während  dieser  Zeit  Hess  sich  der  Mann  ein  Bett  verfertigen,  welches 
nach  allen  Seiten  in  der  Runde  gedreht  werden  konnte.  Die  Woche  war 
zu  Ende  und  der  Jammermann  legte  sich  mit  Todesangst  ins  Bett.  Alle 
Hoffnun-  gab  er  doch  nicht  auf;  denn  er  glaubte  durch  das  so  eingerichtete 
Bett  dem  Tode  sein  Geschäft  zu  verleiden.  Der  Tod  kam  wirklich,  wie 
er  versprochen,  und  stellte  sich  bei  dem  Kopfe  des  ^lannes.  Dieser  drehte 
das  Bett  und  wies  dem  hungrigen  Gaste  die  Füsse.  Dieser  trat  wieder 
an  den  Kopf,  und  der  Mann  drehte  wieder  das  Bett.  Beide,  jeder  in 
seiner  Art,  zeigten  sich  recht  geschäftig  und  ausdauernd.  Der  Mann  hätte 
seine  Verteidigung  nicht  sobald  aufgegeben,  denn  es  war  ihm  um  das 
Leben  zu  thun.  Der  Tod  war  aber  bald  des  Spieles,  das  der  Mann  mit 
ihm  trieb,  satt,  und  rief: 

„Mein  Freund,  dreh'  hin,  dreh'  her, 
Ich  bin  der  Tod,  komm  her!" 
streckte  seine  Knochenhand  aus  und  der  Mann  starb. 


420  Petak: 

Die  vorstehende  kleine  Sammlung-  rührt  aus  dem  Nachlasse  des  ,i;r.-or 
Weltpriesters  Alexander  Popowicz  her  und  dürfte  vor  etwa  50  Jahren 
entstanden  sein.  Sie  wurde  mir  durch  den  Sohn  des  Verstorbenen,  Herrn 
Bezirksschulinspektor  Prof.  Emilian  Popowicz  zur  Herausgabe  anvertraut. 

Czernowitz. 


Alte  deutsche  Weihnachtslieder  aus  dem  Luugau. 

Von  Dr.  Arthur  Petak  in  Klagenfurt. 


Die  im  folgenden  mitgeteilten  Lieder  stammen  aus  einer  Handschrift, 
welche  sich  gegenwärtig  im  Besitze  des  Herrn  Karl  Keldorfer^).  Lehrer 
zu  S.  Michael  im  Lungau  befindet.  Derselbe  erhielt  sie  von  einem  Bauer 
seines  Ortes,  dem  sie  als  Erbschaft  von  einem  Verwandten  Namens  Schlick 
zugefallen  war. 

Sie  ist  auf  14  starken  Blättern  in  Grossfolio  geschrieben,  die  Blätter 
sind  mit  einer  Zwirnnaht  verbunden.  Die  erste  Seite  enthält  den  Titel: 
„Anton  Schlick,  Weyhnacht-Lieder"  ^).  welcher  dann  am  Ende  der  dritten 
Seite,  nach  dem  ersten  Lied  wiederholt  ist.  In  beiden  Fällen  ist  die 
Tinte  verschieden  von  jener  der  Handschrift  un<l  bedeutend  jünger.  Anton 
Schlick  ist  also  nicht  der  erste  Besitzer  der  Sammlung  gewesen. 

Im  ganzen  sind  15  Lieder  enthalten.  Das  erste  und  das  letzte  sind 
unvollständig,  und  deshalb  sind  nur  die  Anfänge  hier  wiedergegeben. 
Jedem  Lied  ist  die  Melodie  im  Diskantschlüssel  beigegeben,  der  Bequem- 
lichkeit wegen  haben  wir  die  Noten  in  den  Violinschlüssel  übertragen. 
Die  Textzeilen  laufen  unter  den  Notenzeilen  fort  und  zwar  strophenweise 
wie  in  den  Gesangbüchern.  Nur  beim  14.  Lied  sind  die  letzten  drei 
Strophen  selbständig  angefügt,  nach  Verszeilen  abgeteilt,  wohl  aus  tech- 
nischen Rücksichten,  um  mit  dem  zugewiesenen  Räume  auszukommen. 

Die  ganze  Einrichtung  scheint  darauf  hinzuweisen,  dass  es  sich  um 
ein  Liederbuch  handelt,  welches  bestimmt  war,  beim  Kirchengesange 
Dienste  zu  thun.  Irgend  ein  Regens  chori  wird  dasselbe  zum  eigenen 
Gebrauch  oder  im  Auftrage  angelegt  haben;  denn  die  Niederschrift  stammt 
von  einem  schrift-  und  musikgewandten  Manne. 

Die  Sammlung  stellt  sich  ähnlichen  Texten  ebenbürtig  an  die  Seite 
(Nachweisungen  der  Parallelen  haben  wir  beigefügt). 


1)  D  vselbe  war  so  freundlich,  mir  dieselbe  zur  Veröffentlichung  zu  übergeben,  wofür 
ihm  an  dieser  Stelle  neuerdings  der  Dank  ausgedrückt  wird. 

2)  Das  letztere  Wort  zweimal  untereinander,  das  zweite  Mal  älteren  Datums. 


Alte  deutsche  Weihnachtslieder  aus  dem  Lungau.  421 

Bei  dem  Umstände,  dass  der  Lungau,  der  südöstlichste  Gau  des  Kron- 
lands Salzburg,  schon  durch  die  Natur  von  der  Aussenwelt  abgeschlossen 
ist,  erhalten  diese  volkstümlichen  Lieder  eine  erhöhte  Bedeutung.  Es 
lassen  sich  unschwer  da  und  dort  Reste  von  alten  Weihnachtsspielen  er- 
kennen, wenn  Redende  und  Handelnde  auftreten. 

Der  Text  wurde  im  folgenden  nicht  fortlaufend  wie  in  der  Hand- 
schrift wiedergegeben,  sondern  eine  Abteilung  in  Verszeilen  vorgenommen. 
An  der  Rechtschreibung  und  den  Satzzeichen  wurde  mit  gutem  Vorbedacht 
nichts  geändert;  dafür  wurden  gewisse  dialektische  Ausdrücke  und  Wen- 
dungen, welche  nicht  auf  allgemeines  Verständnis  rechnen  können,  erklärt. 

Was  die  Metrik  anbelangt,  so  ist  die  Mannigfaltigkeit  und  der  Reichtum 
der  Formen  überraschend.  2  Lieder  zeigen  rein  trochäische  (H,  VH), 
3  rein  jambische  Form  (I,  HI,  XH).  Überwiegend  ist  die  anapästische 
Verszeile  mit  jambischem  Anfang  (IV,  V,  XHI,  XIV,  XV).  Einmal  (im 
XL  Liede)  sind  die  Strophen  zweiteilig,  die  erste  Hälfte  jambisch,  die 
andere  (mit  Halbzeilen)  anapästisch.  Die  Länge  der  Strophen  ist  ebenso 
verschieden;  in  der  Regel  sind  dieselben  4 zeilig  oder  6-  (III,  XIII),  8- 
(VII),  10-  (I,  XII)  zeilig.  Interessant  sind  namentlich  die  4  Lieder  VI, 
VIH,  IX,  X.  Da  dies  zur  Würdigimg  der  betreffenden  Lieder  von  Belang 
sein  dürfte,  mögen  diese  4  Strophenformen  hier  folgen: 

VI.  VIIL  IX.  X.^) 


Bezüglich  der  Melodien  macht  mich  Herr  Musikvereinsdirektor  Reiter 
in  Klagenfurt,  ein  Kenner  auf  diesem  Gebiete,  darauf  aufmerksam,  dass 
es  durchwegs  solche  sind,  die  weniger  auf  liturgische  als  auf  volkstümliche 
Weisen  zurückzuführen  sind.  Manche  sind  allerdings  ohne  besonderen 
Wert,  andere  aber  zeigen  den  ausserordentlich  hübschen  Stil  der  Kärntner 
Volkslieder. 

I. 

Das  fünfstrophige  Lied  ist  in  der  Handschrift  verstümmelt,  wir  geben  daher  nur  die  erste 
Strophe  des  Textes. 

Dieß  ist  der  Tag  von  Gott  gemacht.  dem  sproß, 

Ich  will  mich  herzlich  freuen!  Ist  auch  für  mich  geboren. 

Auch  mich  hat  heut  der  Herr  bedacht!  Vor  seiner  Krippe  sink  ich  daü 

Ich  will  ihm  Lieder  weihen.  Und  bette  meinen  Heiland  an 

Das  Heil,  das  In  Wohne  ganz  verloren. 

1)  In  Zeile  1  und  2  ist  der  Daktylus  nicht  fix. 


422 


Petak : 


IL 


1.    Kleines  Kind-lein     gros-ser  Gott        wie  liegst  da,  es     ist     ein  Spott. 


=:frt: 


=it:— [1= 


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^ä^ 


Du  l)ist  ein  so    rei-cher  Bur,    rei-cher  Bur;  jetzt  hast  du  kaum  z'leben  gnug. 


Kommst  herab  vom  Himmelssaal 
Und  liegst  da  im  kalten  Stall. 
Wurden  ja  wohl  Häuser  seyn, 

Häuser  seyn, 
Wo  du  könntest  kehren  ein. 

Deine  Handlein  seyn  so  roth. 
Wie  ein  Krebs  ist  nach  dem  G'sot 
Und  die  Fuß  seyn  priegelstarr, 

priegelstarr, 
Daßs  bald  zum  erfrieren  war. 


4.  Wird  mir  in  mein  Haus  oft  kalt, 
Waii  ein  weng  ein  Prost  einfallt; 
Heitz  oft  etla  Scheiter  ein, 

Scheiter  ein, 
Was  wollt  Ochs  und  Esel  seyn. 

5.  War  kaum,  warst  a  Bauernbur, 
Often  wollt  ichs  lassen  zu. 
War  so  viel  nicht  Heiglichs  drum, 

Heiglichs  drum, 
Walgen  überall  gleich  um. 

6.  'S  Bett  setz  ich  zum  Ofen  hin. 
Sei  für  mich  ein  guter  Sinn, 
Schlaf  in  diesem  ruhig  ein,  ruhig  ein, 
Bis  mich  nimst  in  Himmel  ein. 

Weit  wertvoller  als  das  erste  Lied.  Der  treuherzige  Volkstou  schlägt  überall  durch. 
Die  Dialektform  ist  ohne  besondere  Änderungen  aus  dem  Volksmunde  übernommen.  Eine 
Einleitung,  wie  im  ersten  Lied,  fehlt;  das  Lied  setzt  gleich  mit  der  Anrede  ein. 

1.  Str.  Vgl.  Str.  4  des  ersten  Liedes:  gnug  wird  gnuä  gesproclieu,  reimt  in  der 
Aussprache  mit  Buä.  —  2.  Str.  Wurden  ist  die  feststehende  Dialektform  für  würden.  — 
3.  Str.  G'sot  das  Sieden;  priegelstarr,  starr  (fest)  wie  ein  Prügel  (Holzstock).  Hier  fällt 
die  naturalistische  Ansmalerei  auf:  sie  entspricht  jener  kräftigen  Empfindung,  wie  sie  aus 
sinnlicher  Anschauung  hervorgeht.  —  4  Str.  oft  steht  (in  diesen  Liedern  sehr  häufig 
angewendet)  für  aft,  aften,  after,  d.  i.  nachher.  —  5.  Str.  War  natüidich  statt  wäre.  Die 
1.  Zeile  heisst:  Es  wäre  kaum  (zu  ertragen  flu-,  dich.)  wenn  du  ein  Bauernbub  wärst, 
heiglich,  nach  der  Ausspräche,  für  heikel,  walgen,  wälzen.  Der  Sinn  der  Strophe  ist: 
Du  bist  ja  kein  abgehärtetes  Bauernkind;  denen  schadete  solches  Kälteleiden  nicht.  — 
6.  Str.  Dem  Jesuskind  wird  das  Bett  am  Ofen  zur  Erwärmung  angeboten,  eine  gute 
Absicht,  nützlich  für  den  Bauer,  der  in  diesem  Bett  einst  selig  zu  entschlafen  hoffen  darf. 

[Vgl.  M.  Lexer,  Kärntisches  Wörterbuch,  Leipzig  1862,  S.  326,  No.  XXV.  Schlossar, 
Deutsche  Volkslieder  aus  Steiermark,  Innsbruck  1881,  S.  115.  Paüler,  Weihnachtlieder 
aus  Ober-Österreich,  Innsbruck  1881.     I,  No.  125.J 


in. 


i^i^Hü 


p=p- 


E 


-^ 


üüg^i^gii^ 


Ich  wais  nit  was  heunt  ist,  dass  ich  heunt  gar  nit  schlafen  kann. 


ich 


-JH- 


flaub   es  wird  schon  Tag  oder  scheint  gleich  so  schön  der 


Mond?  Bin 


Alte  deutsche  Woihnachtslieder  aus  dem  Lmigau. 


423 


'^^3.^k^€^^^^ 


erst  a  mahl  vom  Schlaf  erwacht,  han  gmaint  es  sey  erst  Mit  -  ter- nacht  und 


'^^^^ 


scheint  die  Sonn  so      hell     und  schön  nicht  weit  von     Beth  -  le  -  hem. 


Oft  steh  ich  auf,  leg  d'  Joppen  an,      5. 

geh  außi  auf  die  Wait, 
Oft  sieh  ich  halt,  daß  sich  anfangt 

die  schönste  Frühlingszeit; 
Der  Wind,  der  geht  so  hübsch  und  fein, 
Die  Vögel  singen  Groß  und  Klein 
Der  Gugu  singt,  daßs  klingt  im  Wald 
Und  auch  die  Nachtigall. 

Geh  ich  und  weck  mein  Nachbarn       6. 

auf  den  Stöfl'el  und  den  Veit, 
Da  kam  a  schöner  Engel  her, 

verkündet  uns  groß  Freud: 
Erfreuet  euch,  ihr  Hirten  all, 
Gott  ist  kommen  vom  Himelssaal, 
Geborn  zu  Bethlehem  im  Stall, 
Wohl  weg  n  den  Adamsfall. 

0  Engel,  sag:  wie  heißt  das  Kind,       7. 

Vater  und  Mutter  sein? 
Der  Engel  sprach:  Herr  Jesu  Christ, 

Maria  Mutter  rein; 
Nährvatter  ist  ein  alter  Mann, 
Heißt  Joseph,  bet't  das  Kindlein  an, 
Liegt  in  ein  schlechten  Krippelein 
Bey  Ochs  und  Eselein. 

8.    Jetzt  komt  ihr  Sünder  Groß  und 
Und  grüßt  das  kleine  Kindelein, 


Jetzt  gehma  halt  in  Gottesnahm,  wir 
habn  schon  große  Zeit, 

Dem  Rind  nehmen  wir  a  was  mit, 
was  enk  an  jeden  g'freut. 

Der  Stoffel  hat  a  Lampel  hier, 

0  Veit,  nini  Milch  und  Eyr  mit  dir! 

Ich  nim  Butter  und  Mehl  schneeweiß. 

Davon  kriegts  Kind  a  Speis. 

Jetzt  komen  wir  mit  Freuden  her, 

Joseph,  Maria  mein. 
Wir  bitten  enk  zu  tausendmahl: 

zeigts  uns  das  Jesulein  I 
Wir  hab'n  halt  a  a  schlechte  Gab, 
Damit  das  Kind  was  z'  essen  hat. 
Es  seyn  halt  a  ganz  schlechte  Gab'n, 
Weil  wir  nichts  Bessers  habn. 

0  sey  gegrüßt  zu  tausendmahl, 
0  Jesu  göttlichs  Kind! 

Wir  bitten  dich  recht  ohne  Zahl: 
verzeih  uns  uns're  Sund 

In  unser  letzten  Sterbenszeit! 

Kom  führ  uns  in  die  ewig  Freud, 

Daß  wir  dich  loben  allezeit, 

Wohl  gar  in  Ewigkeit. 

Klein,  nach  Bethlehem  in  Stall, 
dankts  ihm  zu  tausendmahl, 


Dass  er  vom  hohen  Himraelssaal, 

Ist  kommen  zu  erlösen  all'. 

So  b'hüt  enk  Gott  und  bleibts  fein  gsund. 

Wir  gehn  nach  Haus  jezund. 

Ein  Hirte  erzählt,  also  epischer  Charakter  im  Gegensatz  zu  den  beiden  ersten  Liedern. 
Am  wichtigsten  ist  die  Einkleidung.  Wie  die  niederländischen  Maler  Joseph  als  hollän- 
dischen Zimmermann  und  die  Hirten  im  Stile  der  Zeitgenossen  darsteliteu,  so  wird  hier 
(und  überhaupt  im  volkstümlichen  Weihnachtsliede)  die  Anbetungsscene  im  Kostüme  des 
Gaues  vorgeführt. 

1.  Str.  Alle  Silben  mit  ie  werden  als  ier  gesprochen:  schlaffen,  die  Länge  wird  im 
Dialekt  gekürzt.  Charakteristisch  ist  der  Reim  schön  und  Bethlehem,  desgleichen  kann 
und  Mond,  was  im  Dialekt  Man  gesprochen  wird.  —  2.  Str.  Oft  =  aft,  nachher.  Nach  der 
unruhigen  Nacht  sieht  der  Hirte  die  Welt  im  Frühlingsglanz.  Gugu  nach  der  Aussprache,  Z.5/6 
unreiner  Eeim.  —  o.  Str.  Man  beachte  hier  und  in  der  folgenden  Strophe  die  Verwendung 
der  Schriftsprache  beim  Gespräch  mit  dem  Engel,  in  Nachwirkung  der  dialektfreien  Bibel. 


424  Petak: 

Die  versetzte  Betonung  in  Z.  4  zeigt,  dass  es  hier  einzig  und  allein  auf  die  Melodie  ankam. 
Solche  Freiheiten,  besser  gesagt,  Unempfindlichkeiten  gegen  den  Satzton  sind  bekanntlich 
ein  charakteristisches  Merkmal  der  Volkspoesie.  —  4.  Str.  Aus  der  unverstandenen  Liturgie 
stammt  der  Vokativ  Jesu  Christ  in  Z.  2  statt  des  Nominativ.  —  5.  Str.  grofse  Zeit  für 
hohe  Zeit;  enk  euch:  Lampel  ein  junges  Lamm.  Z.  5  versetzte  Betonung.  Volkstümlich 
die  Auswahl  der  Hirtengeschenke.  —  6.  Str.  Z.  3  fällt  durch  den  Reim  (Gab  —  hat),  wo 
der  Konjunktiv  hab  reinen  Reim  herstellt,  und  durch  die  Übereinstimmung  mit  Z.  5  auf. 
—  7.  Str.  Recht  volkstümlich  ist  der  Ausdruck  „recht  ohne  Zahl".  —  8.  Str.  Hier  wie  in 
der  7.  Strophe  zeigen  die  beiden  ersten  Zeilen  Cäsurreim.  fein  ist  im  Dialekt  als  Adverb 
gäug  und  gäbe  für  steigerndes  recht.  Der  Schluss  ist  etwas  gewaltsam.  Bedenklich  ist  die 
Echtheit  der  letzten  Zeile,  denn  das  Volk  spricht  nie  jezund,  sondern:  jezernd. 
[Vgl.  Pailler  Nr.  256.] 

IV. 


JE|E£ii^^g|Tf^;^^P^^=^^t3^g^^ 


1.    Viel  Glück  raei-ne  Hir-ten  seyd  mun  -  ter  und  wacht,      ihr  dürft  euch  nicht 


--f^ 
-* 


i^^^mmm^^^  ■ 


fürchten  wanns  gleich  Mitter-nacht,  ihr  habt  ja  vernom-men  die  eng  -  li  -  sehe 


Stimm,    steht  auf  und  geht       ei  -  lends  nach  Beth  -  le  -  hem  hin. 

2.  Ihr  meine  drey  Hirten,  merkt  auf!  es  ist  werth. 
Ein  so  schöne  Musik  hat  man  niemahls  g'hört. 
Es  heißt  in  der  Höhe:  Gott  seye  die  Ehr, 

Fried  auf  Erd  den  Menschen!     Was  woUn  wir  daii  mehr? 

3.  So  gehts,  meine  Hirten,  und  eilet  nur  gschwind, 
Dieweil  es  euch  heunt  von  dem  Engel  verkündt. 
Kein  einziger  Mensch  hat  heunt  Nacht  so  viel  Ehr; 
Weil  er  auch  schon  war  ein  großmächtiger  Herr. 

4.  Wir  wolln  dem  Rath  folgen,  und  aufmachen  rund, 
Nach  Bethlehem  gehen;  Was  ist  den  ein  Stund? 
Ein  Lain  wäll  ich  nemen,  nemt  ihr  was  ihr  wollt: 
Leer  mag  ich  nicht  köiSen,  weils  gar  arm  seyn  soll. 

5.  0  schauts  meine  Nachbarn,  dort  liegt  schon  das  Kind 
Eing' wickelt  im  Krippel,  wies  uns  ist  ankündt; 

Sein  Mutter  darneben,  die  kniet  auf  der  Erd; 
Der  Pflegvater  neigt  sich,  das  Kindlein  verehrt. 

6.  Jetzt,  da  wir  ankomen,  so  wolln  wir  vor  all'n 
Alldrey  ganz  demüthig  auf  d'  Knie  niederfaUn. 
Wir  grüßen  von  Herzen  dich,  goldenes  Kind, 
Und  bitten  zugleich:  Ach  verzeih  uns  die  Sund! 

7.  0  mein  herzigs  Kindlein,  nim  an  meine  Gab'! 
Das  einzige  Lammlein,  weil  ich  sonst  nichts  hab  . 
Wir  wollen  dir  dienen  alldrey  jederzeit: 

Gieb  uns  nur  dort  einmahl  die  hihilische  Freud! 


Alte  deutsclio  Weihnachtslieder  aus  dem  Lungau.  425 

Das  Lied  zeigt  Ähnlichkeit  mit  dem  vorangehenden.  Die  3  Hirten  treten  wieder 
auf.  Man  kann  deutlich  zwei  Teile  unterscheiden;  der  Engel  treibt  die  3  Hirten  an,  nach 
Bethlehem  zu  gehen  (Str.  1—3),  der  Führer  (wie  im  dritten  Liede)  antwortet  und  schildert 
den  Besuch  (St.  4—7). 

1.  Str.  seyd  munter  und  wacht,  Anklang  an  die  Bibel;  die  englische  Stimme  wie 
der  englische  Gruss.  —  2.  Str.  zeigt  ebenso  wörtliche  Anklänge  an  die  hl.  Schrift.  Z.  2 
und  4  haben  versetzte  Betonung.  —  3.  Str.  heunt  gebraucht  die  Hschr.  ebenso  oft  als  heut. 
—  4.  Str.  rund,  geschwind,  Schmeller,  B.  Wb.,  2,  118'1  In  der  zweiten  Hälfte  der  letzten 
Zeile  ist  natürlich  das  Jesukindlein  Subjekt.   —   5.  Str.    Typische  Situation  im  Stall.   — 

6.  Str.     alldrey    ist   hier    ein  Wort,    nach  Art    der    alten  Zusammensetzimgen  mit  all.  — 

7.  Str.    "Wieder  die  treuherzige  Entschuldigung  wie  im  dritten  Lied. 

V. 

1.    0  Mensch  sieh  die     Grösse    der  Wohl-tha  -  ten      an.        Und  was  doch  die 


^^^^ms^^^^^^^^^^0'' 


gütt  -  li  -  che    Lieb    zu    uns        kann.  Sie    zieht  vom  Hirn  -  mel  Gott 


gj^jggELfE^g^J^^^fjg^gü^^^ 


selbst  auf  die    Erd.  Ist  denn  der  Sündenmensch  die- ses  wohl  werth. 

2.  Nun  sieh  und  erstaune,  dan  sage  mir  auch: 
Ist  dafi  nicht  auf  Liebe  die  Liebe  der  Brauch? 
Rufft  nicht  ein  Gutthat  ein  andre  dafür? 
Sind  wir  erkennlich  nur?     Das  sage  mir? 

3.  0  undankbares  Bethlehem,  schäme  dich  doch! 
Was  Neues  dein  Heiland  erfahren  muß  noch?    . 
Er  will  dich  führen  ins  himmlische  Haus 
A^on  deinem  irdisch  und  weltlichen  aus. 

4.  0  seht  seine  Mutter,  die  göttliche  Braut! 
Wie  diese  mit  Thränen  die  Häuser  anschaut! 
Wo  man  auf  Bitten  kein  Mitleiden  trägt. 
Und  ihr  ganz  drocken  die  Herberg  abschlägt. 

5.  0  Menschen,  b  Himmel!  weit  fählt  ihr  im  Lauf. 
Warum  nemt  den  Herrn  ihr  als  Seine  nicht  auf? 
Er  wird  verwiesen  hinaus  vor  die  Stadt, 
Wo  kaum  das  Vieh  einen  Unterstand  hat. 

6.  0  sind  den  die  Menschen  verwandelt  in  Stein? 
Und  läßt  den  der  Sünder  den  Heiland  nicht  ein? 
Fällt  deii  die  G'sundheit  dem  Kranken  so  schwer? 
Und  will  der  Sterbende  leben  nicht  mehr? 

7.  Nun  komme,  o  Heiland!  ach  kome  zu  mir! 
Bey  mir  flndst  du  allezeit  offene  Thür: 
Zieh  in  meine  Wohnung,  genieße  mein  Kost! 
Und  füll  mein  Herz  an  mit  Hoffnung  und  Trost 


426 


Petak: 


Dieses  Lied  klagt  über  die  Verblendung  der  Einwohner  Bethlehems,  welche  Maria 
mit  dem  Kinde  keine  Herberge  gaben.  Der  stark  reflektierende,  belehrende  Inhalt  hat 
übrigens  mehr  Prediger-  als  Volkston, 

1.  Str.  dann  vertritt  zugleich  denn  —  2.  Str.  auf  Liebe  soviel  als:  gegenüber 
solcher  Liebe,  erkennlich  statt  erkenntlich,  die  Volkssprache  braucht  dieses  Wort  nicht. 
—  3.  Str.  Unter  Bethlehem  sind  die  Einwohner  der  Stadt  gemeint.  —  5.  Str.  fählt  der 
Aussprache  gemäss,  sowie  nemt.  —  G.  Str.  Die  Menschen,  welche  Jesum  nicht  aufgenommen 
haben,  haben  nicht  nur  ein  steinernes  Herz,  sondern  sie  gleichen  auch  dem  Kranken,  der 
die  Gesundheit  fortjagte,  dem  Sterbenden,  der  das  Leben  verschmähte;  denn  die  sündigen 
Menschen  könnten  vom  Heiland  Rettung  und  das  ewige  Leben  erlangen.  Diese  Gedanken 
weisen  deutlich  auf  den  Predigerstil.  —  7.  Str.  Die  Nutzanwendung,  die  der  einzelne 
machen  soll,  indem  er  sich  Gott  hingiebt. 

[Verwandten  Inhalts  Pailler  No.  4.] 

YI. 

I.  Schau  mein  Bur  schau  grad  zu,     geh  nur     her  -  ein.  Ich  hab   ein 


mMm^^^wjm 


En-gel  ghöit,    mein  was    be  -  deu-ten  werd?  Ey  was  niuss's  sein? 


Schau  nur!  sie  komen  schon 
zu  uns  herab 

:  Sie  singen  Fried  und  Freut: 

Daß  uns  geboren  heut 

Ein  Kind,  im  Stall.  : 

Schau  mein  Bur,  schau  grad  zu! 

siehst  du  ja  da! 
i:  Ist  wohl  ein  herzigs  Kind, 
Liegt  in  der  Krippe  drin, 

Erfriert  schir  gar.  : 

Gehma  nur  zuhi  bos, 

daß  wirs  recht  sehn, 
:  Ruck  dein  Hut,  zuck  dein  Fuß 
Und  leg  fein  ab  ein  Gruß, 

Fall  ihm  zu  Fuß! 


5.    Mari,  die  Jungfrau  rein 

soll  seyn  geehrt! 

\:  Weil  sie  im  kalten  Stall 

Das  Kind  geboren  hat, 

Das  uns  erlöst.  : 

ti.    Tausendschöns  Himmelskind! 

noch  eins  ich  bitt': 
;:  Waü  uns  der  Tod  angreift, 
Treib  ihn  von  dannen  weit, 

Verlaß  uns  nicht!  : 

7.    B'hüt  dich  Gott,  Tausendschatz! 

jetzt  reis'  ich  ab. 
':  B'hüt  dich  Gott,  bleib  fein  gsund, 
Daß  uns  der  Höllenhund 

Nit  schaden  mag!  : 


Durchaus  volkstümlicher  Ton:  auch  ist  das  Lied  trotz  der  knappen  Form  rhythmisch 
und  melodisch  stark  bewegt.  Der  Inhalt  ist  wieder  der  typische:  Zwei  Hirten  besuchen 
das  Kind  im  Stall. 

1.  Str.  Mein!  bekannter  Ausruf  der  Verwunderung  statt:  Mein  Gott!  Die  Gegen- 
überstellung eines  mutigen  und  zaghafteren  Hirten  kehrt  in  den  Liedern  oft  wieder.  — 
3.  Str.  Man  beachte  die  jedesmalige  Aufforderung  in  den  ersten  drei  Strophen:  Schau 
mei  Bur.  Schliesslich  schwinden  die  Bedenken  des  anderen  und  es  folgt  in  den  nächsten 
Strophen  der  Akt  der  Begrüssung.  gar  in  der  letzten  Zeile  hat  die  alte  Bedeutung:  völlig, 
ganz.  —  4.  Str.  bos  für  bass,  besser;  zuhi  für  Schriftdeutsch:  hinzu.  Z.  3  Ruck  dein 
Hut  ....  ohne  Auftakt.  —  5.  Str.  Abweichend  von  anderen  Liedern  wird  hier  zuerst 
Maria  angebetet.  —  6.  Str.  1,  2  volkstümlicher  Ausdruck;  3,  4  der  Heiland  soll  gegen 
den  Tod  schützen,  in  Str.  7  gegen  die  Hölle.  —  7.  Str.  Die  ersten  Verse  sind  aus  eiuem 
weltlichen  Volkslied  herübergenommen. 


Alte  deutsche  Weilmachtslieder  ans  dem  Lungau. 


427 


VII.     Die  aeternae  memoriae. 


1.    Mein!  wie     kunt    ich     enk      er  -  zäh -Jen     ei  -  ne  Gschicht  und  neu  -  e 


:i=di 


<^_. 


^ 


Mahr?        Wie    ich     hab     zum     Vieh  g'ehn    wöl-len,     da     wars  doch     so 
wun-der-rar!         Hat  die    Uhr    erst     zwöl-fe    gschlagen,  und  es    war   schon 


m^^mm 


-^■=.x 


lieh  -  ter  Tag.         Kein  Mensch  kunt    mir      das    recht       sa  -  gen,   was  mein 


Kopf  nicht     fas  -  sen    mag. 

I  sah  unt  beim  alten  Stalle 
Einen  Glanz  so  lieblich  schön, 
Hörte  laute  Musik-Schalle, 
Das  Ding  kont  i  nit  verstehn. 
Kaum  hab  i  mich  recht  erquicket 
Auf  dem  weiten  Haidefeld, 
Hat  ein  Engel  mich  erblicket, 
Und  hat  mirs  erst  recht  erzählt. 

Als  ich  dan  das  Ding  verstanden, 
Gieng  ich  flugs  zum  Kindlein  hin; 
Ochs  und  Esel  war  vorhanden 
In  dem  alten  Stalle  drin. 


Sey  gegrüßt  zu  tausend  mahlen, 
Schönstes  Kindlein  in  dem  Stall, 
Wir  dir  all  zu  Füssen  fallen. 
Weil  du  komst  vom  Hirnelssaal. 

Du  willst  hier  schon  für  uns  leiden 
Große  Kälte,  Frost  und  Wind, 
Bringen  uns  die  Hifnelsfreuden 
Und  vertilgen  auch  die  Sund. 
0  du  König  aller  Herren, 
0  du  wahrer  Gottessohn, 
Uns  den  Seegen  wollst  bescheren! 
In  dein  Nahm  geh  ich  davon. 


Ein  Hirt  erzählt  seine  Erlehuisse  in  der  heil.  Nacht.  Die  über  die  erste  Noteuzeile 
geschriebeneu  lateinischen  Worte  Die  aeternae  memoriae  unterstützen  die  Yermutung  eines 
g-ebildeteren  Schreibers  ebenso,  wie  die  mitunter  drolligen  Wiedergaben  der  Aussprache 
und  kleine  Missverständnisse  an  verschiedenen  Stellen  der  Handschrift  eine  nicht  immer 
ganz  genaue  Kenntnis  des  Dialektes  verraten. 

1.  Str.  Er  sagt,  ich  könnte  euch  erzählen,  erzählt  aber  auch  gleich.  Das  ist  echter 
Volkston.  Auch  sonst  ist  die  schlichte  Denkungsweise  und  das  ratlose  Erstaunen  gegenüber 
dem  wunderbaren  Sonnenschein  der  Mitternacht  sehr  gut  zu  erkennen.  Charakteristisch 
für  den  Lokaldialekt  ist  wollen.  —  2.  Str.  Er  spricht  vom  alten  Stall  als  von  einem  allen 
Zuhörern  bekannten  Ort.  unt  -  unten.  -  3.  Str.  Nach  Z.  4  ist  zu  ergänzen:  wie  es  der  Engel 
erzählt  hatte.  Von  Z.  5  bis  zum  Schluss  des  Liedes  reicht  die  Aussprache,  unvermittelt  an- 
geschlossen, wie  es  Brauch  des  Volksliedes.  Der  Hirnelssaal  ist  behebt  in  dieser  Sammlung. 
—  4,  Str.  Tu  Z.  7  ist  ein  Wunsch  ausgesprochen.  Die  Form  wollst  ist  zu  beachten. 
Ferner  hier  wieder  Kindheit  und  Gottheit  verschmolzen. 


428 


Petak: 


VIII. 


Ei: 


^=? 


1.    still,        still,     still,  wans  Kindlein     ru-hen  will.  Die  En -gel  thaint  schön 


itit: 


E 


mu  -  si  -  cie  -  ren    und  beim  Kripplein  ju  -  be  -  lie 


still. 


still,  wans  Kindlein         ru  -  hen  will. 
2.    Schlaf,  schlaf,  schlaf,  mein  liebes        5.    Groß,  groß,  groß,  dein  Lieb  ist 


Kindlein,  schlaf! 
Maria  thut  dich  niedersingen, 
ihre  reiche  Brüst  darbringen. 
Schlaf,  schlaf,  schlaf,  mein  liebes 

Kindlein,  schlaf! 

Auf,  auf,  auf,  ihr  Adamskinder,  auf! 
Und  fallet  Jesu  all  zu  Füssen, 
weil  er  unser  Sund  will  büssen. 
Auf,  auf,  auf  u.  s.  w. 

G'schwind,  g'schwind,  g'schwind, 

anbettet  's  liebe  Kind! 
"Wir  wollen  ihm  ein  Jubel  singen, 
unser  Herz  zum  Opfer  bringen. 
G'schwind  u.  s.  w. 


übergroß ! 
Du  hast  den  Himelssaal  verlassen, 
und  mußt  reisen  fremde  Strassen. 
Groß  u.  s.  w. 

Wir,  wir,  wir,  wir  ruffen  all  zu  dir. 
Da,  waii  wir  alle  sterben  müßen, 
thu  uns  s  Himelreich  aufschließen! 
Wir,  wir  u.  s.  w. 

Wari,  waii,  waii,  wir  kohien  vor 

den  Thron, 
Zertritt  die  böse  Höllenschlangen, 
lasse  uns  dan  Gnad  erlangen! 
Wan  u.  s.  w. 


Es  tritt  wieder  ein  Wortführer  auf.  Er  wendet  sich  bald  an  die  Volksgenossen 
(Str.  1,  3,  4),  bald  an  das  Jesukindlein  (Str.  2,  5,  6,  7).  Der  Inhalt  ist  wieder  eine  ge- 
drängte Darstellung  der  Anbetung  in  der  hl.  Nacht.  Beachtenswert  ist  der  ausserordentlich 
bewegliche  Rythnius  des  Liedes,  das  man  auch  sonst  zu  den  besten  der  Sammlung 
rechnen  darf. 

1.  Str.  Über  die  Form  thaint  =  thuent,  thun  vgl.  Weinhold,  Bayrische  Grammatik, 
§  301.  Was  die  Situation  betrifft,  so  ist  zu  denken,  dass  die  Hirtenschar  noch  auf  dem 
Felde  ist.  Durch  die  Verkündigung  des  Engels  weiss  sie  schon  von  der  Geburt  des  Kindes. 
—  2.  Str.  Sie  kommen  näher  und  sehen,  wie  Maria  das  Kind  stillt  und  einschläfert.  Sie 
lagern  sich  in  scheuer  Ehrfurcht.  —  3.  Str.  Das  Kind  ist  bereits  erwacht,  darum  springen 
alle  auf  den  Zuruf  des  Wortführers  auf.  unser  Sund  ist  plur.  —  6.  Str.  Die  Gaben  fehlen 
hier;  an  das  Motiv  des  Elends  im  Stall  schliesst  sich  gleich  die  ebenso  typische  Bitte  um 
ein  seliges  Lebensende. 

[Vgl.  Aug.  Hartmann,  Volkstümliche  Weihnachtlieder,  Leipzig  1884,  No.  107.  M.  V. 
Süss,  Salzburger  VolksHeder,  S.  30.  Die  Melodien  bei  Hartmann  und  Süss  weichen  ab, 
lassen  aber  auf  eine  gemeinsame  Grundweise  schliessen.] 


IX. 


?Eg 


:i^^: 


1 .    Nächst  bin    ich     gan  -  gen  spa  -  zie  -  ren    auf    Gassen         und  bin     gang 


Alte  deutsche  Weihnachtslieder  aus  dem  Lungau. 


429 


£e5e^ 


it: 


:t=t: 


schaan  wie    es    üeht  auf  der  Welt,    da    ha-bens     im     Himel  viel  En-gel  aus- 


m=i3Ei?Hlzg 


1 


gelassen,       köiiien         a     zwei     a  drei     Hundert  zu    mir.     Thaint   ja  schön 


^^^^l=?=ii='=^i 


:^^ 


sm  -  ga 


al  -  1er  -  lei  Stimma        Ju  -  he  Tic  -  to  -  ri 


Ex  -  cel  -  sis 


l^^- 


i:^ii^^i 


t--±~]==^ 


glo  -  ri  -  a,  das  gfiel      mir         a. 

2.    Allerhand  Musikspiel  thaint  sie  aufmachen, 
Was  zu  erdenken  ist,  recht  wunderschön, 
Daß  ein  das  Herz  recht  vor  Freude  möcht  lachen, 
Wie  wirds  den  oft  erst  im  Himel  zugehn! 
Der  alte  Jodel 
Fangt  an  a  z  prodeln. 
Sagt  liebe  Brüder  mein,  was  muß  das  lauter  seyn, 

Daß  so  thaint  schreyn? 

'6.    Als  ich  hab  reden  wöUn,  ist  einer  köma, 
Der  sagt:  ihr  Hirten  erfreuet  euch  all! 
Messias  hat  für  uns  Menschheit  angnoinen. 
Und  liegt  zu  Bethlehem  in  einem  Stall, 
Lampel  und  Kützel, 
Seme)  und  Stritzel, 
Aepfel  und  was  wir  hab'n,  dass  wölln  wir  klauben  zam 

Für  Gottessohn. 

4.  Buema,  waii  das  soll  seyn,  thut  nicht  verweilen 
Zu  suchen  dieses  Rind,  säumt  euch  nit  lang, 
Springts  nur  was  köots  und  mögts,  thuts  nachieilen. 
Das  wir  es  finden,  es  sey  uns  nit  bang! 

Thuts  was  mitnehma, 

Ist  a  viel  schöna, 

Begrüßt  das  Kindelein,  das  in  den  Windelein 

Ist  g'faschet  ein. 

5.  Grüßet  das  Jesulein,  herziges  Kindlein, 
Wie  bist  du  so  veracht  im  Krippelein, 

In  schlechtem  Heu  und  Stroh,  in  z'rißnen  Windlein 

Lieget  das  Kindelein  gefaschet  ein. 

Nim  an  die  Gaben 

Die  wir  da  haben. 

Laß  dirs  befohlen  seyn  die  armen  Gaben  mein, 

0  Jesulein! 


430 


Petak: 


Die  Ereignisse  werden  als  auf  einem  Spaziergange  eingetreten  erzählt;  der  Dialekt 
ist  sehr  ausgeprägt,  die  Darstellung  äusserst  lebendig,  der  Volkston  durchaus  glücklicli 
getroffen. 

1.  Str.  Der  Anfang  ist  wie  von  einem  weltlichen  Volkslied  stammend.  Man  beachte 
die  harmlose  Naivität  in  Z.  o.  Thaint  =  thuent.  Die  Zeilen  5  und  6  reimen  in  Str.  1,  2,  4 
durch  Assonanz.  Nicht  zu  übersehen  ist  die  Einmischung  von  bekannten  liturgischen 
Formeln  in  Z.  6  und  7.  —  2.  Str.  oft  =  aft.  Z.  6  prodeln,  lebhaft  werden,  unruhig  sich 
geberden.  Z.  8  lauter,  hier  etwa  =  doch.  Schmeller  P,  Ibo'J.  —  :>.  Str.  Drei  Personen 
treten  also  auf:  der  Erzähler,  der  alte  Jodl,  dem  der  Erzähler  antworten  wollte,  und  ein 
Engel,  der  in  Str.  .")  die  Botschaft  bringt  und  zur  Darbringung  von  Gaben  auffordert. 
Kützel,  besser  Kitzel,  junge  Ziege.  Die  drei  Endungen  hab'n  (besser  han),  zam  (zusammen), 
Sohn  geben  im  Dialekt  einen  ganz  erträglichen  Reim.  —  4.  Str.  Nun  wiederholt  der  Er- 
zähler die  Aufforderung  zur  Anbetung  und  Gabendarbringung,  aber  in  volkstümlicherer 
Derbheit.  Buema  giebt  den  Dialekt  nicht  genau  wieder  (Buäma):  einfaschen,  einfatschen, 
einwickeln.  —  5.  Str.  Der  Erzähler  giebt  den  Spruch  bekannt,  mit  welchem  jeder  das 
Jesukiudlein  begrüssen  soll.  Nach  Grüfset  das  Jesulein  ist  also  Doppelpunkt  und  An- 
fülirungsz eichen  zu  denken.  Im  Tone  des  Volksliedes  ist  der  Wortlaut  von  Z.  7,  8  der 
frühereu  Strophe  hier  wieder  aufgenommen  und  erweitert.  Und  so  fällt  denn  Z.  4  aus 
dem  Ton  der  Ansprache  heraus. 

[Der  ganzen  Anlage  nach  ist  das  Lied  bei  Aug.  Hartmann,  Volkstümliche  Weihuacht- 
lieder,  No.  84:  „Ich  ging  einmal  spazieren  durch  einen  grünen  Wald"  verwandt.] 


1.    In  Ju  -  de    -    a      der  Da  -  vids-stadt,  was       sich      dor  -  tan 


be  -  ge  -  ben     hat: 


ein     En  -  gel    mir  verkündt, 


ich     soll  -  te 


m^^^^i^^=ms=m=^^mm 


ei-len  gschwind.  Ich      er    -    wach  und    folg  sei  -  nem    Rath. 


Ich  fand  mich  zu  Bethlehem  ein, 
Liegt  ein  Kindlein  im  Stalle  fein; 
Weinet  gar  bitterlich, 
Ich  glaub,  es  weint  für  mich. 
Und  ich  glaub,  Messias  mußs  seyn. 

Viele  Engel  singen  dort  schon, 

Schöner  als  bei  Salonons  Thron, 

Singen  das  Gloria 

Und  musicieren  da; 

Sie  verdienen  göttlichen  Lohn. 

Viele  Engel  machen  ein  Kreis 
Musicieren  mit  größtem  Fleiß: 
Michel  und  Gabriel 
Verwundern  meine  Seel. 
Es  ist  lauter  Jubel  und  Preis. 


Liegt  ein  Kind  lein  im  Mutterschoos 
Ohne  Windlein  nackend  und  bloß, 
Sie  schauts  starreben  an 
Bindt  ihm  die  Handlein  zsam, 
Dan  ist  Schlaffen  sein  Trost  und  Loos. 

Schlaft  das  Kindlein  ein  kleine  Zeit 

Und  erwachet  zum  Himelsstreit; 

Es  ruft  sein  Vätern  an 

Eh'  als  es  reden  kann; 

Es  ist  schon  zum  Leiden  bereitt. 

Endlich  fall  ich  nieder  vor  dir. 
Und  die  Zäher  fließen  herfür; 
Vor  ihm  ist  Furcht  mein  Sin, 
Weil  ich  ein  Sünder  bin. 
Liebes  Kindlein  Verzeihe  mir! 


Alte  deutsche  Weihnachtslieder  aus  dem  Lungau. 


431 


1.  Str.     Der  Erzähler  hat  die  Ereignisse  von  Bethlehem  durch  einen  Traum  erfahren. 

—  4.  Str.  Interessant  ist  der  transitive  Gehrauch  von  verwundern.  —  5.  St.  In  dieser 
Strophe  erhebt  sich  die  Darstellung  zu  volkstümlicher  Einfachheit  und  schlichter  Gewalt. 
Das  Elend  des  Kindes  erscheint  in  seiner  wahren  Grösse  durch  den  stummen  Jammer  der 
Mutter.  Starreben,  gleichmässig  starr,  auffallende  Bildung  statt  ebenstarr.  Z.  4  soll  wohl 
das  Falten  der  Hände  bedeuten,  wie  es  Mütter  den  Kindern  zur  Nachtruhe  zu  thun  pflegen. 

—  6.  Str.  zeigt  im  Gegensatz  zur  5.  Strophe  viel  Gesuchtes  im  Ausdruck.  Z.  3.  4  malen 
etwas  aus,  worüber  sonst  hinweggegangen  wird,  ohne  den  Widerspruch  zwischen  Gottheit 
und  Kindheit  zu  berühren.  —  7.  Str.     Zäher,  alte  Form  für  Zähren. 

[Vgl.  Pailler  No.  138.] 

XI. 


1.    Auf  auf  mei-ne  Nachbarn,  was  schlaft  ihr  so  lang?       Ich    hör  schon  lang 


1.    Auf  auf  mei-ne  Nachbarn,  was  schl; 


?^£s=^ 


sin-gen     a     lieb  -  lichs  Gesan 


i     kanns  nit  vernehmn,  was  etwi 


^^^^^E^^^^^^^^ 


sein,    was     etwa  muss  sein?        Ist    doch  der  Himmel    um    und    um  voll 


Schein.  Was  ist  wer  schreyt,  der  kein  Ruh  geit?    Lasst  uns    mit    Ru  -  he 
schlaffn  allhier     bei      unsern      Schafen,      hier    bei      unsem    Schafen.     Wir 


I 


-sen  schlaf  -  fen. 

A  Knab  ist  ankommen,  er  ist  ja  voll  Schein; 

Was  wollt  unser  Kaisrin    :  ihr  junger  Bur  seyn?  :| 

Er  singt  ja  so  fröhlich  und  sagt:  Gloria, 

Ey  meine  Hirten!  stehts  auf  von  der  Strah. 

Auf,  auf  und  singts,  vor  Freude  springts. 

Wir  haben  schon  vernehmen,     warum  daß  er  ist  komen, 

daß  er  ist  komen. 

Ein  Engel  verkündt  uns  all  Hirten  zugleich. 
Daß  Gott  a  ist  komen  !:  vom  himlischen  Reich,  : 
Will  Menschheit  annehmen  für  uns  Sünder  all. 
Er  ist  geborn  zu  Bethlehem  im  Stall. 
Juhesa,  laufts!  hebts  Fuß  hoch  auf, 


Wir  wollen  was  mitnehmen, 


Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1899. 


Das  wir  nit  lar  hinkommen 

Und  bald  o^t  gehma! 
29 


432  Petak: 

4.  Gott  grüß  dich,  mein  Jesu!  ist  das  dein  Pallast? 
Wir  fallen  zu  Füssen    :  als  sündiger  Gast,  :■ 
Wir  woUn  dir  verehren  ein  Opfer  ganz  klein. 
Du  weißt  wir  arme,  arme  Hirten  seyn. 

Nun  sey  Gott  Lob,  seyn  wir  [froh]  darob, 

Daß  wir  dich  haben  g'funden,     in  Windlein  eingewunden 

Und  Gnad  gefunden! 

5.  Du  Joseph,  Maria,  gib  Achtung  aufs  Kind! 

Und  du,  o  mein  Jesu!  i:  verzeih  uns  die  Sund!  : 

Wir  müssen  austreiben,  es  ist  nun  schon  Zeit. 

So  b'hüt  dich,  Jesu!  bis  in  Ewigkeit. 

Jetzt  leg'n  wir  ab  die  Hirtengab. 

Wir  müßen  von  dir  scheiden       und  können  nit  da  bleiben 

Dir  Zeit  vertreiben. 

Die  ersten  vier  Zeilen  jeder  Strophe  spricht  immer  der  Wortführer,  das  übrige  d^r 
Chor  der  Hirten.  So  ergiebt  sich  eine  Lebendigkeit  der  Darstellung,  bei  welcher  auch 
die  Handlung  rasch  fortschreitet. 

1.  Str.  Der  Wortführer  weckt  die  Nachbarn,  weil  er  mitten  in  der  Nacht  Gesaug 
hört  und  den  Himmel  leuchten  sieht.  Jene  aber  wollen  ruliig  weiterschlafen,  geit,  noch 
wie  im  Mittelhochdeutschen  (git:  geit).  —  2.  Str.  Eine  Vermutung,  wer  unter  der  Kaiserin 
gedacht  war,  lässt  sich  schwer  aussprechen.  Man  könnte  an  Maria  Theresia  denken;  das 
Lied  kann  jünger,  aber  auch  älter  als  der  österreichische  Erbfolgekrieg  sein.  Strah,  die 
Streu,  das  Lager.  —  Auf  diese  Nachricht  hin  erheben  sich  alle,  der  Prophezeiungen 
eingedenk,  —  3.  Str.  Aus  dem  Munde  des  Wortführers  erfahren  wir,  dass  nun  ein  Plngel 
allen  Hirten  verkündet,  der  Geborene  ist  Gottes  Sohn.  Da  ernmntern  sich  alle  gegenseitig, 
nach  Bethlehem  zu  eilen  und  Gaben  mitzunehmen,  a  in  Z.  2  steht  hier  vielleicht  nicht 
für  auch  (wie  gewöhnlich),  sondern  für  ab,  herab.  Z.  5  lär,  leer.  —  4.  Str.  Die  ganze 
Hirtenschar  ist  bei  der  Krippe  angelangt,  Der  Wortführer  begrüsst  das  Kind,  die  übrigen 
freuen  sich,  den  Heiland  gefunden  zu  haben.  Li  Z.  5  seyn  wir  darob  ist  froh  zu  ergänzen, 
wie  der  steirische  Text  lehrt.  —  5.  Str.  Der  Führer  bittet  noch  die  Eltern,  das  Kindlein 
wohl  zu  behüten,  dann  reichen  sie  die  Geschenke  dar  und  nehmen  alle  zusammen  Abschied. 
Zu  Z.  3  ist  zu  denken,  dass  es  inzwischen  Morgen  geworden  ist;  austreiben,  die  Herden 
auf  die  Weide  hinaus  treiben.  In  Z.  4  ist  über  in  Ewigkeit  ein  die  geschrieben,  was  das 
Metrum  verletzen  würde.  Die  letzten  3  Halbzeilen  zeigen  starken  Anklang  an  weltliche 
Volkslieder. 

[Vgl.  Schlossar  No.  32.  Lexer,  Kämt.  Wörterb.,  Sp.  307  f.  —  Lieder  ganz  verwandten 
Inhalts  sind  zahlreich  vorhanden.] 

XIL 


Sligi^l^^Lf^^^li^i^^ 


l.    Es       blü  -  hen     die       May  -  en    bei     kalter      Win-ters  -  zeit.  Ist 


m^^^^"^ 


■-^^^^'^'.^-,,^1: 


al    -    les    voll        Freu  -  den    auf    un  -  ser    Schäffer   -    waid.        Und 
al  -  les     ist    in  schönster  Blüh'  die  Nacht  bringt  süssen  Gruch  herfür.  Viel 


Alte  deutsche  Weihnachtslieder  aus  dem  Lungau. 


433 


i=^= 


m 


singen, 


:1= 


:|: 


gen,        die    Flau  -  ten    bla-sen,     Harpfen  schlagn,  und 


^f3^=l 


ich  kann    es  nicht  alls     da  sagn,  was     sich  alls     zu    hat    tragn. 


Heut  ist  uns  geboren 

Der  Heiland  dieser  Welt, 

Und  Gott  ist  Mensch  worden, 

Wie  eine  Stirn  vermeldt. 

Es  schreyt  die  schöne  Nachtigall, 

Ich  sieh  vom  Hifnel  einen  Strahl 

Von  Fern  auf  die  Erd. 

Es  steigt  die  Son  vom  Himels-Saal 

Und  neiget  sich  auf  einen  Stall. 

Die  Engel  singen  all. 

Ein  Kindlein  in  Windlein, 

Es  liegt  auf  einem  Heu 

Eing'wickelt  in  Windlein, 

Zwei  Thiere  sind  dabey. 

Sie  schnaupfen  seine  Füßlein  an, 

Daß  ihm  der  Frost  nicht  schaden  kaf 

Laß  seyn  dein  Weinen. 

Ist  in  der  ganzen  Stadt  kein  Ort, 

Daß  Gott  ein'  Herberg  hätte  dort? 


5. 


Laß  sehen,  was  g'schehen. 

Daß  ich  in  voller  Freud 

Dich  einmal  werd'  sehen 

In  deiner  Herrlichkeit. 

Du  wirst  einmahl  mein  Richter  seyn. 

Und  ich  werd'  dir  zu  gring  erschein. 

Nun  wein'st  du  für  uns; 

So  gieb  mir  heut  noch  wahre  Reu, 

Weil  noch  die  Zeit  der  Gnaden  sey. 

0  Rindlein  steh  mir  bey! 

Ach,  ruhe!  ach,  schlaffe. 

Du  allerschönstes  Kind! 

Ach  wache  und  mache. 

Verzeihe  mir  die  Sund! 

Es  ist  ja  heut  die  letzte  Nacht, 

Daß  ich  in  Sünden  gschlaffen  hab. 

Ich  will  nun  büssen 

Ein  Zähervoiles  Angesicht. 

0  liebes  Kind!  verlaß  mich  nicht, 

Waii  jener  Tag  anbricht. 


0  welche  Schand  und  Spott! 

Der  Charakter  des  Liedes  ist  rein  lyrisch;  die  Geiühle  des  einzelnen  in  der  hl.  Nacht 
und  an  der  Krippe  kommen  zum  Ausdruck.  Volkstümlichkeit  in  der  Sprache  und  den 
Gedanken  macht  das  Lied  wertvoll. 

1.  Str.  Die  Welt  im  Frühlingsglanze.  Mayen,  Maiblumen.  Flauten,  Flöten.  Die 
Form  Harpfen  herrscht  im  Dialekt.  Assonanzreime  (Z.  1,  3,  5,  6)  zweimal.  —  2.  Str.  Die 
bewegte  Stimmung  des  Hirten  wird  gesteigert.  In  Z.  7  versetzte  Betonung.  Wieder 
Assonanzreim  (Z.  1,3).  —  3.  Str.  Das  Kind  im  elenden  Stall  weckt  tiefes  Mitleid,  schnaupfen, 
sehr  seltene  Form  für  schnaufen.  Eind  und  Esel,  die  beiden  typischen  Tiere,  an  Jesu 
Krippe.  Von  Z.  7  bis  zum  Schlüsse  des  Liedes  die  Anrede  an  das  Kind.  Z.  10  hat  Asso- 
nanzreim. —  4.  Str.  Vieles  ist  hier  formelhaft.  —  5.  Str.  Typischer  Abschluss  mit  dem 
Hinweis  auf  das  jüngste  Gericht.     Wieder  Assonanzen  statt  reiner  Eeime. 

[Vgl.  Aug.  Hartmann,  Weihnachtspiel  und  -Lied,  S.  73.    Pailler  No.  105.] 

XIII. 


Gott  grüss  enk    bei  -  sam-ma    verzeihts  mir    die  Frag!    Kens  nit  von  ain- 


ists    Nacht    o  -  der    Tag. 


Wie  dass  man  denn  heunt  kei  -  nen 

29* 


434 


Petak: 


ten  noch  sieht,      und  ist  jetzt  bey    enk  da    so 


lieh    und  licht. 


Es  niiut  mich  groß  Wunda, 

Daß  ihr  meine  Leuth 

Im  Stall  da  jetzunda 

Beysamen  da  seyd: 

Mein,  sagt  mir:  was  fällt  enk  im 

AVinter  jetzt  ein. 
Daß  ihr  mit  dem  Kind  in  der  Rält 

da  mögt  seyn? 
Kaust  dus  kaum  darleiden, 
Du  steinalter  Greiß! 
Hast  Haar  als  wie  Seiden 
Hübsch  w^enig  schneeweiß. 
Du  Mutter!  bist  a  ziinla  zart  und 

so  fein: 
Karist  a  von  kan  Hirt  oder  Bauern- 

g'schlecht  seyn. 

Ich  bleib  dafür  da  da, 

Weils  Rind  so  schön  lacht. 

0  Vater!  o  Vater, 

Gieb  du  fein  recht  Acht! 

Waü  dus  recht  erziehst,  so  wirds 

werden  zum  Herrn, 
Ein  schriftg'lerter  Man  muß  ein 

Richter  draus  wern. 


Hätt  ich  es  vernohma 

Und  eher  betracht, 

Hätt  ich  für  die  Kälte 

Ein  Kleid  mitgebracht; 

Ich  hätt  vor  die  Kalt  von  ein  Kützel 

a  Fehl; 
Zum  Essen  fürs  Kind  auch  ein  Ey 

und  ein  Mehl. 
Thuts  enk  nit  lang  sama 
Und  eilts  fein  a  wenk, 
Gehts  hin  in  mein  Kamer, 
Neints  Kindel  mit  enk, 
Geh,  Mutter  nims  Kindel  hinauf  auf 

die  Arm, 
Bey  mir  ists  schön  eing'heitzt,  auch 

windstill  und  warm. 

Waüs  soll  dazu  köina, 

0  herzig  liebs  Kind! 

Zu  dir  thu  mich  nehma, 

Und  laß  mich  nit  hint; 

Thu  mich  nit  verdamen  und  denk 

nur  fein  dran, 
Daß  ich  dich  beim  Krippel  drum 

betten  schon  hau. 


Unser  Lied  erhebt  sich  über  die  anderen  durch  eine  gewisse  Selbständigkeit.  Ein 
Hirte  kommt  nämlich  zufällig  in  der  hl.  Nacht  zum  Stall  und  findet  hier  zu  seiner 
Überraschung  die  Eltern,  Jesum  und  die  Hirten. 

1.  Str.  Die  Nacht  ist  zum  Tage  geworden  und  hat  ihn  verwirrt  gemacht.  In  Z.  4 
hat  die  Hs.  Ists  Tag  oder  Nacht.  Z.  1  und  3  Assonanzen.  —  2.  Str.  Z  G  Meiu,  wie  VI,  1. 
Die  vielen  da  und  das  enk  (für:  euch)  deuten  auf  die  Alltagssprache  des  Volkes.  —  3.  Str. 
Seine  besondere  Verwunderung  erregen  Josef,  der  alte  Mann,  sowie  die  Mutter,  därleiden, 
erleiden.  Das  Greisenhafte  an  Josef  ist  wieder  ein  selbständiger  Zug  unseres  Liedes, 
zimla  (ziemlich).  —  4.  !Str.  Das  Kind  gefällt  ihm  ausserordentlich,  es  lacht;  der  Vater 
soll  dasselbe  beschützen,  da  da  klingt  im  Dialekt  däder  (dahier).  —  5.  Str.  Er  bedauert, 
dem  armen  Kinde  nichts  gegen  die  Kälte  mitgebracht  zu  haben.  Z.  1  und  3  sind  hier 
reimlos.  ~  6.  Str.  Er  ladet  die  hl.  Familie  ein,  zu  ihm  zu  kommen,  sama,  säumen, 
a  wenk,  ein  wenig.  Vgl.  zu  dieser  Strophe  II,  6.  —  7.  Str.  Das  Kind  möge  ihm  das 
einst  vergelten,    ich  hann,  alte  Form,     betten,  part.  perf.  ohne  Präfix  ge,  nach  alter  Weise. 

[Das  Lied  ist  ein  sehr  verbreiteter  Weihnachtgesang,  vgl.  A.  Hartmann,  Volkstüml. 
Weihnachtlieder,  No.  128.  Tschiska,  Österreich.  Volkslieder,  2.  A.,  S.  42.  Pailler  No.  181. 
Schlossar  S.  98.    Lexer  Sp.  315.] 

XIV.    Am  Tage  der  hl.  drey  Könige. 


1.    Schau  schau  lie  -  ber  Nachbar,    was  körnen  für    Leut?    Ich  mein's  sind  Sol- 


Alte  deutsche  Weihnachtslieder  aus  dem  Lungau.  435 


da-ten,  sie  haben  gar    weit.       Viel  rei  -  ten,  viel  fah-ren,  die     meisten   thun 


gehn,  drei  sind     gros-se       Her  -  ren,  sind     möglich     gar       schön. 

2.  Ja  wahrla,  mein  Lippel!  was  dieses  bedeut? 
Ich  siehs  ja  schon  köma  alldort  unten  weit, 
Sie  scheinen  vom  Silber  und  Gold  a  so  rar, 
Als  wens  halt  schir  z'heißen  ein  Edelman  war. 

3.  Dort  haltons  all  stilla  beim  Kindlein  im  Stall, 
Möcht  ichs  gerne  wissen,  wass  dort  machen  all, 
Ich  mags  ja  nicht  graden,  muß  schaun  gehn  dazu; 
Willst  a  mit  mir  rennen,  so  eil  nur  mein  BurI 

4.  Da  sind  ja  drey  König',  ich  habs  ja  schon  g'hört. 
Es  hat  ja  ein  jeder  dem  Rind  was  verehrt: 

Gold  Weihrauch  und  Myhrhen,  a  so  habn  sies  g'nent; 
Ich  hab  ja  von  Weiten  das  Opfer  nicht  kent. 

5.  Gelt  Thomerl,  das  seyn  ja  recht  heilige  Leuth, 
Weil  sie  in  der  Killt  das  Herreisen  nicht  scheut; 
Sie  fallen  gar  nieder  auf  ihre  Knie  gschwind, 
Anbetten  vor  Freuden  das  göttliche  Kind. 

6.  Ich  sag  dirs,  mein  Lippel,  ich  hätt  mich  bald  geschreckt, 
Und  hat  mich  beym  Kind  in  die  Schupfen  versteckt: 
Ein  rußschwarzer  König  schaut  schir  a  so  aus, 

Als  wie  halt  der  Nikolopartel  zu  Haus. 

7.  Beleih  nit,  mein  Tonaerl,  was  fallt  denn  dir  ein? 
Das  kaii  ja  von  Weiten  der  Bartel  nit  seyn: 

Es  sind  nur  drey  Frome  und  mächtige  Herrn, 
Weil  ihnen  von  Weiten  her  leuchtet  der  Stern. 

8.  Mein  Lipp,  sey  nicht  launig,  mein  Lipp  sey  nur  gscheid! 
Ich  hab  a  nit  g'wußt,  daß  so  heilige  Leuth, 

Er  hat  ja  von  Weiten  so  schwarzbraun  ausgschaut, 
Ich  hätt  mich  ja  gleich  bald  nit  zuhi  z'gehn  traut. 

9.  Und  weil  sie  das  Jesukind  recht  habn  angschaut, 
Oft  habn  sie  bald  gelacht,  und  bald  g'weint  überlaut, 
Vor  Lieb  und  vor  Freuden,  als  sie  haben  gwißt, 
Daß  dieses  Messias  und  Gott  zugleich  ist, 

10.    Wir  bitten  dich  alle,  du  göttliches  Kind! 
Du  wollst  uns  verzeihen  all  unßerer  Sund, 
Wir  glauben,  wir  hoffen,  wir  lieben  all  dich 
Daß  du  uns  verschonest  beim  letzten  Gericht, 

Dialog  zwischen  zwei  Hirten,  Philipp  und  Thomas;  von  den  beiden  Redenden  ist 
Thomas  der  Mutigere,  Philipp  der  Klügere.  Thomas  spricht  die  Strophen  2,  4,  6,  8,  9, 
Philipp  1,  3,  5,  7.    Die  letzte  Strophe  ist  ein  Gebet  wie  öfter  in  diesen  Liedern. 


436  Eysn: 

1.  Str.  Z.4.  möglich,  steigernd,  Schmeller,  ß.Wb.  V,  1578.  —  3.  Str.  graden,  geraten, 
ich  kann  es  nicht  unterlassen.  —  4.  Str.  Beide  sind  mitsammen  zum  Stall  gelaufen. 
T  homas  erkennt  die  Könige.  —  5.  Str.  Weil  sie  die  Reise  nicht  scheut  =  weil  sie  sich  vor 
der  Reise  nicht  gescheut  haben.  —  6.  Str.  Der  Nikolupartel:  der  als  Teufel  vermummte 
Begleiter  des  hl.  Nikolaus  am  Nikolaustage  (6.  Dezember.).  —  7.  Str.  Beleib,  entstellt  aus 
beileibe,  Versicherungsadverb.  —  von  Weiten,  bei  weitem,  vgl.  Str.  4  u.  8.  —  8.  Str.  zuhi  — 
hinzu.  —  9.  Str.  Dies  erzählt  offenbar  Thomas  weiter;  es  ist  die  Darstellung  der  Jesu- 
Anbetung  durch  die  drei  Könige.  —  angsaut,  Schreibfehler  für  angeschaut.  —  gwißt,  vgl. 
W  einliold,  ßayr.  Gramm.,  S.  334. 

[Die  volkstümlichen  Dreikönigslieder  beginnen  nicht  selten  mit  der  Verwunderung 
über  den  fremdartigen  Aufzug  der  Morgenländer,  vgl.  Schlossar  No.  17,  18, 19,  21.  Pailler  1, 
No.  300,  301.    Aug.  Hartmann,  Weihuachtlieder,  No.  147.] 

XV.    Am  Christabend  das  Herberglied. 

0  edle,  liebreiche  erwünschlichste  Nacht! 

Die  uns  zu  der  schönsten  Gedächtnis  gebracht, 

Da  sie  uns  vorstellet,  den  Joseph  [wie  Joseph  der  Mann, 

Mit  der  Jungfrau  Maria  um  Herberg  klopft  an.] 

[Unvollständiger  Text  und  ebenso  unvollständige  Melodie.  Das  bekannte  Lied  steht 
mit  6  Strophen  bei  Weinhold,  Weihnachtspiele  und  -Lieder,  S.  142,  mit  7  Strophen  bei 
Hartmann,  Weihnachtlieder,  No.  76,  mit  8  Strophen  bei  Pailler  1,  No.  3,  4.  Unsere  Hand- 
schrift hat  nur  5  Strophen,  ausserdem  fehlt  durchaus  der  Schluss  der  3.  und  die  ganze 
4.  Zeile.] 


Kleine  Mitteilungen. 


Gestickte  Liebestüchlein. 

Begegnet  man  an  Sonntagen  im  salzburgischen  Flachgau  —  ausgenommen  in 
nächster  Nähe  der  Stadt  Salzburg  —  jungen  Bauernburschen,  die  zum  nach- 
mittägigen Gottesdienst  oder  in  das  Dorfwirtshaus  zum  Kegelschieben  gehen,  so 
wird  man  nicht  selten  bemerken,  dass  die  Ecke  eines  weissen  Tuches  auffallend 
weit  aus  der  Joppentasche  herausgezogen,  ja  wie  absichtlich  ausgebreitet  ist. 
Ganz  besonders  häufig  sieht  man  es  aber,  wenn  sie  zum  Tanz  oder  zur  Dult  (zum 
Jahrmarkt)  gehen.  Ein  aufmerksamer  Beobachter  wird  auf  dieser  Ecke  des  Tuches 
eine  Verszeile  oder  einen  Namen  oder  beides  finden  und  mit  einigem  Erstaunen 
sehen,  dass  es  stets  ein  Frauenname  ist. 

Es  ist  alter  Brauch  hier  zu  Lande,  dass  das  Mädchen  seinem  Liebsten  zu 
Ostern  3 — 9  rotgefärbte  Eier,  zur  Kirchweih  ebenso  viele  Krapfen  und  zu  Weih- 
nachten den  „Scherz",  das  ist  den  Anschnitt  des  Kietzenbrotes,  giebt.  Diese  Ge- 
schenke werden  zur  Übergabe  in  ein  weisses  Tuch  gebunden,  auf  dessen  vier 
Ecken  mit  rotem  Garne  Verse  und  der  Taufname  der  Geberin  schräg  eingestickt 
sind.  Solche  Tücher  sind  aber  nicht  käuflich,  sie  müssen  von  den  Mädchen  selbst 
„ausg'naht"  werden  und  zeigen  daher  meist  eine  rührende  Unbeholfenheit  bei  der 
Spenderin  üngewohnheit  mit  Nadelarbeit. 


Kleine  Mitteilungen. 


437 


Der  Zimmermann  des  Dorfes  ist  meist  der  Vertraute,  denn  er  versteht  es,  mit 
rotem  oder  blauem  Stift  den  gewünschten  Vers  auf  das  Tuch  vorzuschreiben. 

Obwohl  diese  Tücher  sich 
von  allen  anderen  hier  gebrauchten 
unterscheiden,  so  tragen  sie  doch 
keinen  eigenen  Namen;  mau  kennt 
sie  nur  als  „ausg'nahte  Tuachl". 
Die  Burschen  befestigen  sie  mit 
einigen  Stichen  oder  Nadeln  an 
der  Innenseite  ihrer  Tasche,  um 
sich  gegen  ihren  Verlust  zu 
schützen,  denn  sie  sind  stolz  auf 
den  Besitz  solcher  Tücher,  ver- 
raten doch  deren  Verse  die 
Herzensneigung  der  Spenderin, 
ihre  Sehnsucht  und  ihre  Wünsche, 
zuweilen  wohl  auch  ihren  Zweifel 
und  ihr  Misstrauen.  Eine  kleine 
Sammlung  wird  das  belegen; 
dem  vierten  Verse  ist  stets  der 
Name  des  Mädchens  hinzuge- 
geben. 


weil  mit  rosenroten  Faden  gestickt. 


1.  Mein  Herz  ist  klein  9. 
Hat  niemand  Platz 

Als  Gott  allein 

Und  du  mein  Schatz. 

2.  Ich  lieb  dich  so  fest  10. 
Wie  der  Baum  seine  Ast', 

Wie  der  Himmel  seine  Stern', 
Grad  so  hab  ich  dich  gem. 

3.  Wenn  dieses  Tuch  zerrissen  ist,  11. 
Zerreisst  doch  unsere  Liebe  nicht. 

4.  Dieses  Tücblein  verehr'  ich  dir 
Damit  du  etwas  hast  von  mir. 

Die  Lieb  ist  gross,  die  Gab  ist  klein,       i2. 
Ich  hoff  du  wirst  zufrieden  sein. 

5.  Die  Lieb  ist  gross,  die  Gab  ist  klein, 
Gott  weiss,  dass  ich  es  von  Herzen  mein. 

().    Vergiss  mein  nicht  im  Leben,  13. 

Vergiss  mein  nicht  im  Tod. 
Vergiss  mein  nicht  im  Wohlergehn 
Und  auch  nicht  in  der  Not. 

6.  Du  liegst  mir  im  Herzen,  14. 
Du  liegst  mir  im  Sinn, 

Du  kannst  mir  nicht  glauben, 
Wie  gut  ich  dir  bin. 

8.    Viel  tausend  Herzen,  15. 

Giebt  es  auf  der  Welt, 
Aber  eines  nur 
Das  mir  gefällt. 


Wenn  die  Rosen  verduften, 
Die  Veilchen  vergehn, 
So  bleibt  doch  das  Blüralein 
Vergissmeinnicht  stehn. 

Ich  lieb  dich  allein, 
Kein  And'rer  soll's  sein, 
Kein  Anderer  soll's  werden. 
So  lang  ich  leb  auf  Erden. 

Ich  hab  dir  in  die  Augen  g'schaut, 
Die  Augen  die  sind  ti'üb, 
Und  hab  dir  nicht  zu  sagen  traut, 
Dass  ich  dich  lieb. 

Ich  lieb  dich  im  Stillen, 
Doch  herzlich  dabei. 
Wer  braucht  es  zu  wissen? 
Bleib  mir  nur  treu. 

Freundlich  räum  ein  Plätzchen  mir 
In  diesem  Tüchlein  ein, 
Möcht  ich  doch  in  deinem  Herzen 
Auch  nicht  vergessen  sein. 

Eher  tragen  die  Mühlsteine  Rosen, 
Eher  das  Wasser  Blei, 
Bevor  ich  dich  verlasse 
Oder  dir  bin  nicht  treu. 

So  wie  die  Rosen  blühn. 

So  blüh  auch  dein  Glück, 

Und  so  oft  du  dies  Tüchlein  siehst, 

So  denk  an  mich  zurück. 


438 


Schütte: 


16. 


21. 


22. 


Dich  grüssen  die  Blumen 
In  Wald  und  Hain 
Und  rufen  dir  fröhlich: 
Gedenke  mein. 

Gedenke  meiner 
Nah  und  fern, 
Wie  ich  deiner 
Oft  und  gern. 

20. 


18.  Sollf  es  einst  geschehen, 
Dass  du  auf  mich  vergisst, 
Sü  schau  auf  diesen  Namen, 
Der  unterschrieben  ist 

19.  Der  Blick  ist  zwar  für  alle, 
Die  Lieb  doch  nur  für  dich, 
Und  wenn  ich  dir  gefalle. 
So  schmeichle  andern  nicht. 


Das  ich  dich  lieb,  das  kann  ich  dir  sagen, 
Ob  du  mich  liebst,  will  ich  dich  fragen; 
Wenn  du  mich  liebst,  musst  du  andere  meiden, 
Denn  das  Herumfahren  kann  ich  nicht  leiden. 


Deine  Lieb  die  wackelt,  23. 

Sie  ist  nicht  fest, 
Weil  du  von  der  Einen 
Zur  Ander'n  gehst. 

Wenn  die  Leute  ungern  sehen,  24. 

Dass  wir  miteinander  gehen, 
Nun  dann  halt  ich  mein  Versprechen, 
Es  muss  gehen  oder  brechen. 

Salzburg  1899. 


Was  nützt  mich  solches  Lieben 
Bei  der  Nacht,  wenn's  finster  ist. 
Bei  dem  Tag  da  thust  dich  schämen, 
Solche  Liebe  acht'  ich  nicht. 

Dass  ich  dich  lieb 
Ist  ohne  Zweifel, 
Wirst  du  mir  untreu. 
Hol  dich  der  Teufel! 

Marie  Eysn. 


Aus  dem  Herzogtum  Braunschweig. 

I.    Eine  Johannisfeier  in  Bortfeld  vor  fünfzig  Jaiiren. 

Die  Johannisfeiern  sind  im  Braunschweigischen  fast  ganz  verschwunden,  die 
Schützenfeste  und  Fahnenjagen  sind  an  ihre  Stelle  getreten.  Am  Hilse  findet  nur 
dann  und  wann  noch  ein  Kinderfest  statt.  Allein  im  Dorfe  Wendeburg  bei  Braun- 
schweig wird  das  Johannisfest  noch  von  den  Alten  gefeiert  und  auch  noch  der 
„Johannich"  begraben.  Vor  fünfzig  Jahren  aber  feierte  man  auch  in  Bortfeld, 
dessen  Bewohner  leider  ihre  alte  Tracht  i)  jetzt  mehr  und  mehr  aufgeben,  das 
Johannisfest  noch  nach  strengen  Regeln.  Die  Feier  begann  am  Mittwoch  und 
dauerte  bis  zum  Sonnabend  der  Johanniswoche.  Musikanten  bestellte  man  sich 
in  Braunschweig.  Wenn  diese  vor  dem  Dorfe  ankamen,  machten  sie  halt  und 
bliesen  erst  ein  Stück.  Das  war  das  Zeichen  zum  Beginn  des  Festes.  Man  eilte 
also  zum' Tanze,  der  auf  einer  Dreschdäle  stattfand.  Das  Tanzen  ging  alle  Tage 
pünktlich  an  und  zwar  dauerte  es  von  morgens  acht  bis  abends  zehn  Uhr,  aus- 
genommen die  Zeit,  in  der  gegessen  und  gefüttert  wurde.  Wer  nicht  zur  rechten 
Zeit  kam,  musste  2V2  Groschen  Strafe  bezahlen.  Die  Mädchen  erschienen  in 
kurzem  Rocke  und  blossem  Kopfe,  die  Flechten  hingen  lang  auf  dem  Rücken 
hinunter.  Dass  sie  nicht  „schimmelten",  dafür  war  gesorgt,  denn  es  war  ein 
„Achtsmann"  bestellt.  Dieser  ging  umher  und  fragte  die  Mädchen,  die  sassen,  wo 
sie  ihre  Tänzer  hätten.  Auf  ihre  Aussage  hin  holte  er  dann  diese  mit  der  Peitsche 
herbei.  Das  Bier,  das  man  trank,  hatte  man  sich  von  Nettelbecks  aus  Braunschweig 
selbst  geholt,  achtzehn  Achtel  Bitterbier  etwa,  ein  paar  Fuder.  Man  musste  daher 
dem  Wirte  Pfropfengeld  geben. 


1)  E.  Andi-ee,  Braunschweiger  Volkskunde,  Braunschweig  »1896,  S.  194.   —   Beiträge 
zur  Anthropologie  Braunschweigs,  Festschrift  1898,  S.  126  f. 


Kleine  Mitteilungen.  439 

An  dem  Sonntage  nach  dem  Feste  machte  man  Zeche,  man  bezahlte  ganz 
gleichmässig,  die  Mädchen  aber  nur  die  Hälfte  von  der  Summe,  die  die  Burschen 
bezahlten.  An  dem  Feste  dm-ften  aber  nur  Leute  über  achtzehn  Jahren  teilnehmen, 
gefallene  Mädchen  wurden  nicht  zugelassen.  Auf  Ordnung  wurde  gesehen.  Wer 
sich  in  sittlicher  Beziehung  verging  und  überführt  wurde,  erhielt  eine  peinliche 
Strafe.  Wurde  nämlich  ein  Bursche  dabei  gefasst,  dass  er  in  eines  Mädchens 
Kammer  stieg,  so  wurde  er  mit  ihm  am  anderen  Morgen  an  einen  Treppenpfosten 
gebunden  und  musste  an  dem  Schandpfahle  eine  halbe  bis  zu  einer  ganzen  Stunde 
stehen. 

2.    Aus  der  Spinnstube. 

a)   Störung  beim  Spinnen. 

Um  die  Mädchen  beim  Spinnen  zu  stören  und  zu  ärgern,  werfen  die  jungen 
Burschen  in  einigen  Dörfern  nordwestlich  von  Braunschweig  öfter  einen  weissen 
Flicken  vom  Hemde  und  einen  roten  vom  Unterrocke,  die  sie  an  einen  Stock 
gebunden  hatten,  mit  den  Worten  in  die  Spinnstube  hinein: 

,,Wi  bringet  jüch  et  ro  un  witte, 
Dat  leget  jüch  up  jue  Titte, 
Un  wer  nu  is  noch  brav  un  gut, 
Da  bring'  cn  Pott  vull  Water  rut." 

Darauf  liefen  sie  weg.  Die  Mädchen  aber,  die  sich  rein  fühlten,  liefen  hinter 
den  Mannsleuten  her  und  suchten  sie  zu  kriegen.  Fassten  sie  einen,  so  führten 
sie  ihn  gewaltsam  in  die  Spinnstube  und  machten  ihn  nass.  Die  Mädchen  aber, 
die  in  der  Stube  blieben,  wurden  als  angebrannt  betrachtet. 

Hierfür  rächten  sich  die  Mädchen  in  derselben  Weise,  indem  sie  den  Manns- 
leuten die  gleichen  Flicken  in  den  Stall  warfen,  wenn  sie  Futter  schnitten,  indem 
sie  zum  Spotte  sagten: 

„Wi  bringet  jüch  et  ro  un  witte 
ün  smit  et  op  jueu  Swarteutitten." 

b)    Stille  Hochzeit. 

Wenn  in  der  Spinnstube  „Blusterstunne"  gehalten  wurde,  so  wurde  unter  den 
Oesellschaftsspielen  auch  die  stille  Hochzeit  gefeiert.  Die  Mädchen  oder  Burschen 
verliessen  das  Zimmer.  Die  darin  Bleibenden  suchten  dann  eine  Person  aus, 
während  sie  auf  den  Stühlen  sassen  und  gaben  flüsternd  kund,  wer  die  Braut, 
bezw.  der  Bräutigam  sein  sollte.  Wenn  nun  einer  der  Burschen  das  Zimmer 
betrat,  stellte  er  sich  vor  ein  Mädchen  hin.  Hatte  er  das  richtige  getroffen,  so 
nickte  es,  und  der  Bursch  setzte  sich  auf  seinen  Schoss.  Anderenfalls  drehte  es 
sich  um,  und  der  Bursch  hatte  wieder  die  Stube  zu  verlassen.  So  ging  es  weiter, 
bis  jeder  sein  Mädchen,  oder  wenn  die  Mädchen  hinausgeschickt  waren,  jedes 
Mädchen  seinen  Burschen  gefunden  hatte. 

3.    Der  Feuerreiter. 

Die  Gründung  von  Feuerwehren  auch  in  ganz  kleinen  Dörfern  hat  der  Er- 
scheinung des  Feuerreiters  ein  Ende  gemacht.  Früher  spielte  dieser  eine  Rolle. 
Noch  vor  fünfzig  Jahren  gab  es  im  Braunschweigischen  Leute,  die  das  Feuer  be- 
sprechen konnten.  Wer  diese  Kunst  lernen  wollte,  musste  sich  aber  dem  Teufel 
verschreiben.     War  ein  Feuer  ausgebrochen,   so  bestieg  der  Feuerreiter  ein  Pferd, 


440  Schütte: 

nahm    einen  Teller    voll  Salz   in  die  Hand  und  ritt  dreimal  um  das  Feuer  herum, 
indem  er  es  mit  den  Worten^)  besprach: 

Feuer,  du  heisse  Flamm', 

Dir  gebeut  Jesus  Christ,  der  wahre  Mann, 

Dass  du  sollst  stille  stehn 

Und  nicht  weiter  gehn. 

Im  Namen  des  Vaters,  des  Sohnes  und  des  hl.  Geistes. 

Bei  dem  letzten  Male  warf  er  den  Teller  mit  Salz  in  das  Feuer  und  gab  dann 
schnell  seinem  Pferde  die  Sporen,  denn  das  Feuer  schlug  meterweit  hinter  ihm 
her.  Es  waren  aber  stets  Leute  aufgestellt,  die  sofort  hinter  dem  Reiter  Wasser 
hergossen,  wenn  er  den  Teller  mit  Salz  hineingeworfen  hatte,  damit  ihn  die  Flamme 
nicht  erreichen  könne. 

4.    Welchen  Text  legt  das  Volk  den  Glockentönen  unter? 

Wie  das  Volk  den  Signalen  des  Hornisten  und  des  Hirten  einen  Text  unter- 
legt, so  findet  es  auch  in  den  Tönen  der  Glocke  Worte  ausgedrückt.  Am  häufigsten 
geben  sie  seiner  Meinung  nach  die  Worte  „bim  bam  bcälam"  wieder,  die  oft  mit 
verschiedenen  Zusätzen  erweitert  werden,  z.B.: 

Bim  bam  bälam. 

In  Volzen  is  en  Mann  dot. 

De  heit  Sparbrot, 

Slaug  sine  Fru  mit  der  Küle  dot. 

InRümraer  tönt  ihr  Klang  wie  „pemperlempem,  pemperlempem";  in  Klein- 
Dahlum  hallt  die  kleine  Glocke  „Link  Bein",  die  grosse  „Lahm  Bein".  In  Leim 
spricht  die  grosse  Glocke  „Min  Dum",  die  mittlere  „Min  Ellbogen",  die  kleine 
„Min  Knie". 

Ähnlich  hört  man  in  Wolfenbüttel  aus  dem  Gebimmel  der  kleinen  Glocke 
„Lütje  Finger" 'heraus. 

„Man  Mauren,  man  Mauren"  fängt  die  kleine  Glocke  in  Offleben  an,  die 
grosse  aber  setzt  mit  den  Worten  ein:  „Ik  will  Klump".  Ebenso  ruft  die  Glocke 
in  Warberg:  „Mareik,  Rindfleisch".  Den  ansprechendsten  Sinn  aber  hat  das  Volk 
dem  Glockengeläute  in  Denstorf  untergelegt,    nämlich  „Heute  mir,  morgen  dir". 

Wie  das  Glockengeläute,  so  hat  auch  der  Trommelklang  seine  Bedeutung. 
Wohl  aus  der  Franzosenzeit  stammen  die  folgenden  Verse,  die  man  aus  dem 
Schalle  der  Trommel  zu  vernehmen  meint: 

„Kamerad  komm, 
Kamerad  komm, 
Kommst  du  nicht. 
So  hol'  ich  dich, 
'  So  kommst  du  ins  Frison." 

Dass  aber  das  Volk  schon  vor  Jahrhunderten  in  dem  Trommelklange  einen 
Sinn    fand,    möge    man    aus    einer  Braunschweiger  Urkunde    aus   dem  Jahre  1632 


1)  Nachweisungen  einiger  Feuersegen:  Grimm,  Myth.  d\  500.  50:).  Mone,  Anzeiger 
6,  465.  7,  422.  Germania  26,  240.  37,  119.  Bartsch,  Sagen  aus  Mecklenburg,  2,  355  ff. 
Müllenhoff,  Schlesw.-Holst.  Sagen,  S.  517.  U.  Jahn,  Hexenwesen,  S.  60.  E.  Köhler,  Vogt- 
land, 403.  407.  551.  Niederlausitzer  Mitteilungen  2,  44.  48.  A.  Peter,  Aus  Österreich- 
Schlesien,  2,  229.  A.  Baumgarten,  Aus  der  Heimat,  1,  22.  161—167.  Birlinger,  Volks- 
tümliches, 1,  211.     Aus  Schwaben,  1,  459. 


Kleine  Mitteilungen.  441 

ersehen.  In  ihr  wird  dem  Rate  von  den  Bürgern  die  Bitte  vorgetragen,  er  möchte 
den  hiesigen  Brauern  und  Krügern  befehlen,  des  Abends  nach  8  Uhr,  wenn  die 
Trommel  schlüge  „Zapfen  zu",  kein  Bier  den  Soldaten  mehr  zu  zapfen. 

Braunschweig.  Otto  Schütte. 


Die  Spinten  in  Gross-Krausnigk  (Kr.  Luckau,  N.-Laiisitz). 

In  Gross-Kraussnigk  bildeten  sich  früher  folgende  Spinten  (Spinngesellschaften): 
Die  älteren  Burschen,  die  älteren  Mädchen  (17  Jahr  bis  zur  Verheiratung),  die 
jüngeren  Burschen  und  Mädchen  (14 — 17  Jahr),  die  Schulkinder,  Knaben  sowohl, 
wie  Mädchen,  die  jungen  Frauen  und  auch  die  alten  P^rauen.  Die  Männer  blieben 
zu  Hause.  Seit  einigen  Jahren  sind  die  Spinten  und  die  Teilnehmerzahl  daran 
polizeilich  festgesetzt.  Gefallene  Burschen  und  Mädchen  dürfen  nach  altem  Ge- 
brauch nicht  daran  teilnehmen,  auch  nicht  an  den  Vergnügungen  (Tanz).  Die 
Spinten  fangen  am  Kirchweihfest  (Montag  vor  Totenfest)  an  und  dauern  bis  Freitag 
vor  Palmsonntag,  abends  bis  10  oder  II  Uhr.  Die  Teilnehmer  sitzen  nach  dem 
Alter  um  eine  Hängelampe  im  Kreise  herum.  Jeder  Neuaufgenommene  und  Ab- 
ziehende muss  seinen  An-  oder  Abzug  geben  (1  Jt  zu  Bier  und  Schnaps).  Burschen 
und  Mädchen  vertrinken  dann  das  Geld  gemeinsam  in  der  Mädchenspinte.  Vor 
Weihnachten  wird  das  Fest  der  „langen  Hinte"^  [?]  (wohl  längste  Nacht,  in  Fröhden: 
Fudenabend)  gefeiert.  Dazu  kommen  die  Burschen  in  die  Mädchenspinte.  Die 
Kosten  für  Bier,  Schnaps  und  auch  Grog  müssen  die  Mädchen  tragen.  Vor 
80  Jahren  ungefähr  spannen  sie  auch  dann  noch  die  ganze  Nacht  hindurch.  Am 
letzten  Spinnabend  im  alten  Jahre  wird  „Scheideabend"  gefeiert.  Hierzu  werden 
die  Kosten  von  Burschen  und  Mädchen  gemeinsam  getragen.  Etwa  vier  Wochen 
vor  Fastnacht  findet  „Zemper"  statt.  Dazu  müssen  die  Mädchen  die  Musik  in  der 
Schenke  bezahlen,  Kuchen  backen  und  Braten  und  Getränke  liefern.  Kuchen, 
Braten  und  Getränke  werden  im  Spinnhause  verzehrt,  wohin  mit  Musik  marschiert 
wird.  Dort  versammeln  sich  die  Mädchen  auch  vor  Beginn  des  Zempers  und 
werden  von  den  Burschen  mit  Musik  zum  Tanz  abgeholt.  Am  Fastnachtsmontag 
(2.  Tag)  gehen  die  Burschen  mit  Musik  durchs  Dorf  „zempern".  Einige  Burschen 
sind  verkleidet,  einer  hat  eine  Heugabel  zum  Empfang  der  Gaben  (Schinken, 
Speck,  Wurst,  Pfannkuchen),  ein  anderer  hat  einen  Kober  zu  Eiern  und  ein  dritter 
nimmt  Geld  in  Empfang.  Den  Gebern  wird  aus  einer  Schnapsflasche  zugetrunken 
und  diese  herumgereicht.  Mit  den  Mädchen  des  Hauses  und  auch  der  Hausfrau 
wird  mehreremale  in  der  Stube  herumgetanzt.  Mit  den  Frauen,  die  reichlich 
gegeben  haben,  wird  am  Abend  in  der  Schenke  noch  besonders  getanzt,  damit 
der  Flachs  gut  wächst.  Der  letzte  Spinnabend  vor  Ostern  heisst  wieder  Scheide- 
abend und  wird  meist  mit  einer  Abschiedsfeier  beschlossen. 

Jeden  Dienstag  und  Freitag  gehen  die  Burschen  in  die  Mädchenspinte.  Reisst 
ein  Faden  so  nimmt  ein  Bursche  dem  betr.  Mädchen  die  Wocke  weg,  er  „kieschelt". 
Um  sie  auszulösen,  muss  ihm  das  Mädchen  einen  Kuss  geben. 

Paul  Otto,  Lehrer  in  Fröhden. 


Gebräuche  und  Spiele,  sowie  Aberglauben  aus  Fröliden 
(Kr.  Jüterbogk-Luckenwalde). 

1.    Am  ersten  Christmarkt  verkleiden  sich  zwei  Burschen  und  Mädchen,  erstere 
als  Ruprecht,    letztere  in   weissen  Kleidern  (Engel?)    und    gehen  besonders  in  die 


442  Utto: 

Familien    mit  Kindern,    um   dort   zu   bescheren.     Die  Geschenke  worden  ihnen  im 
Hausflur  heimlich  von  den  betr.  Eltern  zugesteckt. 

2.  Am  Andreasabend  werden  aus  Holzklaftern  „Scheitchen  gezogen'-.  Uie 
Scheitchen  geben  die  Gestalt  des  oder  der  Zukünftigen  an,  gerade,  schlank,  dick, 
verkrüppelt  u.  s.  w.  —  Desgleichen  gehen  an  diesem  Abend  Burschen  und  Mädchen 
gesondert  auch  „Saathorchen".  AVer  nach  irgend  einer  Gegend  hin  Hundegebell 
oder  Musik  hört,  verheiratet  sich  nach  der  Gegend.  Wenn  Gesang  gehört  wird, 
stirbt  jemand  der  Spinnteilnehmer.  —  Auch  wird  an  dem  Abend  ein  Salzhering 
gegessen:  wer  im  Traum  dem  Betreffenden  zu  trinken  bringt,  der  wird  geheiratet. 

Von  Gesellschaftsspielen  ist  besonders  zu  erwähnen: 
»  3.  „Liebchenbrennen":  Von  Flachs  wird  ein  Halbkreis  gemacht.  In  die  Mitte 
desselben  werden  auf  den  Flachs  zwei  Stückchen  Holz  gelegt.  Jedes  der  beiden 
Stückchen  bezeichnet  einen  Burschen,  den  das  Mädchen  nennen  muss.  Dann  wird 
der  Flachs  an  beiden  Enden  zu  gleicher  Zeit  angebrannt.  Der  Bursche,  dessen 
Stäbchen  zuerst  vom  Feuer  erreicht  wird,    ist  der  zukünftige  Mann  des  Mädchens. 

4.  „Sterne  gucken":  Es  wird  jemandem  ein  Rock  über  den  Kopf  gehalten, 
durch  dessen  Ärmel  er  nach  den  Sternen  sehen  muss.  Andere  sehen  nach  dem 
Wetter.  Wenn  gesagt  wird  „es  regnet",  giesst  man  dem  Sternseher  Wasser  durch 
den  Ärmel  ins  Gesicht. 

5.  Ähnlich  ist  „Stecknadeln  sieben":  Über  einen  Uneingeweihten  wird  ein 
Durchschlag  gehalten,  durch  den  die  Stecknadeln  gesiebt  werden  sollen.  Der 
Betreffende  soll  nun  danach  sehen,  ob  welche  durchfallen.  Dabei  schüttet  man 
ihm  aber  durch  den  Durchschlag  Sand  ins  Gesicht. 

6.  „Das  Messer  aus  der  Tasche  hexen":  Ein  Eingeweihter  und  ein  Unein- 
geweihter haben  jeder  ein  Messer  in  der  Tasche.  Der  Eingeweihte  nimmt  das 
Seinige  unvermerkt  vorher  heraus.  Jeder  von  beiden  muss  sich  nun  in  eine  Ecke 
stellen  und  bekommt  ein  schwarzes  Tuch.  Mit  dem  soll  er  sich  dreimal  über  das 
Gesicht  wischen,  wobei  er  etwas  sagen  muss  (diese  Formel  weiss  ich  nicht  mehr). 
Das  Tuch  des  Uneingeweihten  ist  aber  vorher  mit  Russ  angeschwärzt.  Da  er 
sieht,  dass  der  andere  sich  mit  seinem  Tuche  über  das  Gesicht  wischt,  thut  er  es 
natürlich  auch  und  macht  sich  schwarz,  weshalb  er  tüchtig  ausgelacht  wird.  Der 
andere  sagt  natürlich,  sein  Messer  sei  verschwunden,  während  der  Gefoppte  das 
seinige  noch  hat. 

7.  Beim  „Holzhacken"  setzen  sich  zwei  der  Quere  nach  gegenüber  auf  eine 
Bank,  fassen  sich  mit  den  Händen  und  lassen  sich  mit  den  Beinen  bis  ins  Knie- 
gelenk herab,  so  dass  sie  bei  dem  nun  folgenden  Entgegenschwingen  mit  dem 
Gesäss  zusammenstossen.     Auch  unanständige  Spiele  kommen  vor. 

8.  Aberglauben.  In  den  12.  Nächten  muss  abgesponnen  sein,  sonst  kommt 
die  faule  (F^rau?)  Harke  hinein,  in  Gross-Kraussnigk  (im  Luckauer  Kreis)  die 
faule  (?)  Herke. 

9.  In  den  12.  soll  man  nichts  verborgen,  sonst  wird  das  Glück  aus  dem  Hause 
gegeben. 

10.  Auch  soll  man  nicht  den  Dünger  aus  dem  Stall  schaffen,  sonst  wird  das 
Glück  (beim  Vieh)  aus  dem  Stall  getragen. 

11.  In  den  12.  soll  keine  Waschleine  auf  dem  Boden  gezogen  sein,  nicht 
gewaschen  werden,  auch  nicht  Wäsche  auf  dem  Boden  aufgehängt  werden,  sonst 
kommt  Krankheit  ins  Haus. 

12.  Was  man  in  den  12.  Nächten  träumt,  das  widerfährt  einem  in  den  betr. 
Monaten. 

13.  Das  Wetter  der  Tage  in  den  12.  giebt  das  Wetter  für  die  12  Monate  an. 


Kleine  Mitteilungen.    •  443 

14.  In  den  12.  soll  man  sich  nichts  aus  Stall  und  Scheune  oder  vom  Hofe 
stehlen  lassen.  Wem  Futter  aus  Stall  oder  Scheune  gestohlen  wird,  dessen  Vieh 
nimmt  ab.  Wem  Dünger  gestohlen  und  über  die  Grenze  getragen  wird,  dessen 
Ernte  wird  gering. 

15.  Von  Hochzeiten:  Beim  Gange  zur  Kirche  darf  sich  keiner  der  Braut- 
leute umsehen,  sonst  stirbt  der  andere  Teil. 

16.  Das  Brautpaar  soll  sich  am  Trautage  Geld  in  den  Schuh  stecken,  damit 
es  ihm  nicht  später  daran  fehle. 

17.  Während  der  Trauung  soll  man  den  anderen  Teil  sich  nicht  mit  dem 
Ellbogen  vordrängen  lassen,  sonst  bekommt  er  die  Herrschaft  im  Hause. 

18.  Am  Hochzeitstage  soll  das  Brautpaar  immer  zusammenbleiben,  weil  sie 
sich  sonst  trennen  werden. 

19.  Man  soll  sich  nicht  in  den  Hundstagen  trauen  lassen,  sonst  lebt  man  wie 
Katze  und  Hund  zusammen. 

20.  Aus  gleichem  Grunde  soll  man  sich  auch  nicht  Donnerstag  trauen  lassen. 

21.  Wenn  es  der  Braut  am  Hochzeitstage  in  den  Kranz  regnet,  wird  sie  reich. 
Desgleichen,  wenn  die  Trauung  während  des  Vollmondes  stattfindet. 

22.  Den  Weg  zur  Kirche  mit  Getreideähren  bestreuen,  bringt  Reichtum,  mit 
Häcksel  Armut. 

23.  Viel  Scherben  —  viel  Glück  (am  Polterabend). 

24.  Die  Braut  soll  am  Hochzeitstage  auf  der  Brust  einen  Apfel  tragen,  den 
sie  mit  dem  Bräutigam  noch  vor  12  Uhr  nachts  teilen  rauss,  damit  sie  die  Kinder 
leicht  bekommt.  —  Aus  gleichem  Grunde  soll  der  Bräutigam  der  Braut  vor  dem 
Schlafengehen  die  Kleider  aufknöpfen. 

25.  Die  junge  Frau  soll  in  den  ersten  vier  Wochen  nicht  ins  Elternhaus  gehen, 
sonst  kehrt  sie  wieder  dahin  zurück. 

26.  Man  soll  den  Trauring  nicht  einem  anderen  Menschen  in  die  Hände  geben, 
sonst  lässt  man  ihn  Herrschaft  über  sich  gewinnen. 

27.  Eine  kinderlose  Frau  soll  man  nach  dem  Mahle  ins  Tischtuch  einwickeln. 
Das  bringt  ihr  Kindersegen. 

2'S.  Wenn  ein  Mädchen  aus  dem  Dorf  hinausheiratet,  so  muss  der  ganze 
Hochzeitszug  dreimal  um  die  Dorflinde  herumfahren,  sonst  muss  der  Bräutigam 
eine  Tonne  Bier  geben. 

29.  Der  Ehemann  soll  sich  dreimal  über  die  Wöchnerin  neigen  im  Namen 
der  heiligen  Dreieinigkeit.  —  Mittel  gegen  Milchfieber. 

30.  Eine  schwangere  Frau  soll  nicht  unter  einer  Waschleine  hinweggehen, 
weil  sich  sonst  der  Nabelstrang  dem  Rinde  um  den  Hals  wickelt.  —  Aus  dem 
gleichen  Grunde  soll,  wenn  die  Hausfrau  schwanger  geht,  die  ausgewrungene 
Wäsche  nicht  zusammengedreht  hingelegt,  sondern  erst  auseinander  geschüttelt 
werden. 

31.  Während  der  Entbindung  und  des  Wochenbettes  soll  keine  Waschleine 
oder  Wäsche  auf  dem  Boden  hängen,  sonst  kommt  Krankheit  oder  Unglück  ins  Haus. 

32.  Kleine  Kinder  unter  einem  Jahr  soll  man  sich  nicht  berühren  lassen,  sonst 
stirbt  eines  derselben.  —  Aus  gleichem  Grunde  soll  man  ihnen  keine  Blumen 
geben.  —  Auch  nicht  in  den  Spiegel  sehen  lassen,  sonst  sterben  sie  oder  werden 
graulich  (furchtsam).  —  Graulich  sollen  sie  auch  werden,  wenn  man  über  Nacht 
die  Windeln  im  Freien  lässt. 

33.  Man  soll  kleinen  Kindern  nicht  die  Haare  oder  Nägel  verschneiden,  sonst 
wachsen  die  Kinder  nicht. 


444  Höfler: 

34.  Mit  zunehmendem  Monde  soll  man  sich  die  Haare  schneiden  lassen,  damit 
sie  recht  wachsen. 

35.  Am  Vollmond  Levkojen,  Balsaminen  u.  s.  w.  säen,  damit  sie  recht  gefüllt 
blühen. 

36.  Wenn  Krebs  im  Kalender  steht,  soll  man  nichts  säen,  weil  es  sonst  damit 
rückwärts  geht. 

37.  In  dem  Jahre,  in  welchem  es  viel  Haselnüsse  giebt,  giebt  es  viel  unehe- 
liche Kinder. 

38.  Von  dem  gekauften  Vieh  darf  man  dem  Verkäufer  nicht  den  Strick  zurück- 
geben, sonst  nimmt  er  den  Nutzen  mit  hinweg. 

39.  Jüngling  und  Jungfrau,  die  zum  erstenmale  bei  demselben  Kinde  Gevatter 
stehen,  heiraten  sich. 

40.  Bei  einer  Beerdigung  wird  der  Sarg  beim  Hinaustragen  dreimal  auf  der 
Hausthürschwelle  aufgesetzt.  Dann  wird  auch  in  die  Ställe  hineingerufen  „der 
Herr  ist  tot",  selbst  zu  den  Bienen. 

41.  Am  Abend  wird  nichts  mehr  verborgt  oder  verkauft,  auch  nicht  an  dem 
Tage,  an  dem  Jungvieh  geboren  wurde,  z.  B.  eine  Kuh  kalbte. 

Froh  den.  Kr.  Jüterbogk.  Paul  Otto. 


Gebildbrote  und  Gebäckformen. 

Ein  Aufruf. 

Im  Interesse  der  Volkskunde  erlaubt  sich  der  Unterzeichnete  die  Bitte  zu 
stellen,  ihn  in  einer  Arbeit  über  sogen.  Gebildbrote,  d.  h.  Gebäckformen,  die  eine 
bestimmte  lokalübliche  Gestalt  haben,  durch  Zusendung  solcher  Original-Gebäcke 
zu  unterstützen.  Nur  durch  ein  grosses,  diesbezügliches  Material  aus  allen  Gauen 
unseres  deutschen  Vaterlandes  ist  es  möglich,  ein  aus  der  Übersicht  und  Ver- 
gleichung  der  Formen  sich  ergebendes,  für  die  Volkskunde  wichtiges  Resultat  zu 
erhalten.  Ausser  den  unten  angegebenen  Gebäckformen  können  noch  viele  andere 
da  und  dort  üblich  sein,  die  mir  noch  nicht  so  bekannt  sind.  Jeder  Beitrag-  wird 
dankbarst  angenommen;  etwaige  Kosten  für  Ankauf  der  Ware,  Verpackung  und 
Versendung  derselben  (möglichst  solid,   in  Watte!)  übernimmt  der  Unterzeichnete. 

Bad  Tölz  in  Bayern,   6.  XI.  1899.  Hofrat  Dr.  M.  Höfler. 

Altbayern:  Handel  (Händlein)  -Brot,  Michel-Brot,  Rauchwecken,  Weihnachts- 
Wecken.  Schaer-Baugen,  weizene  Bäugel,  Fastenbäugel.  Martinskrapfen,  Josefi  Kränz, 
Schüberl,  sog.  Zoll.  Maultaschen,  Ohrfeige,  Fensterküchel,  Lusküchel,  Abfahrtküchel, 
sog.  Haarnadeln,  Scheitenblattl,  Schabenblattl. 

Oberpfalz:  Gaenbrot  (Gaiibrot,  Jaenbrot).  Spiswecken.  Schupfnudeln.  Männl 
(Märilein).     Schoitla. 

Franken:  Golle-Semmel,  Urbansbrötle  (Kitzingen).  Michelvvecken,  Weckbuben, 
Rosenweck,  Spulwecken.  Hann-Ädämche  (Spessart),  Dürrbenerchen.  Hauswolf, 
Bandoli  (Aschaffenburg),  dürrer  Haug,  Löfel,  Wuchtel.  Bruchpflaster  (in  Goldbach}, 
Klärungswecken  (Ansbach).    Frangkuchen,  Schäferle,  Löslein,  Kaiserlein  (Nürnberg). 

Rheinpfalz:  Kümmelwecken,  Neujahrswecken,  Flammkuchen,  Fastnachts- 
küchel, Stabaus-Brezeln,  Falzer. 

Schwaben:  Spitzlaibe,  Mimminger  Brot,  Klausenbrot,  Schreiberbrot  (Kempten), 
Klausenzelten,  Augsburger  Wannl,  Fastenbrezel,  Seelenbrezel,  Maultasche  (Aders- 
berg), Kuchenmichel,  Quatemberküchle,  Hundsfutküchle,  Punkenring  (Biberach). 


Kleine  Mitteilungen.  445 

Württemberg:  Spindwecken,  Mättenbrot,  Gofen  (Kofern,  Guffen),-  Buben- 
spitzlen,  Seela,  Prügel,  Pfttzauf,  Bubenschenkl,  Martinswecken  (Esslingen),  Mutschel 
(Reutlingen),  Brezeln,  Gugelhopf. 

Baden:  Moppen  (Bentheim).  Hoi-Wölfl,  Dumbedei  (Schwarzwald).  Brezeln 
(Mannheim). 

Elsass:  Osterleible,  Schwabenbrötle,  Suppenbäugl,  Mehlbollen,  Mögel,  Flarara- 
kuchen,  Pauleweiberküchlein,  Hackküchel,  Fastnachtsküchel,  Hirschhornl. 

Rheinlande:  Speculatius,  Muetzen  (Köln),  Stutzwecken  (Koblenz,  Limburg). 
Osterstollen  (Elberfeld),  Rheinischer  Kringel,  Brezeln  (Burg),  Brezeln,  Mutzen, 
Mannelchen  (Düsseldorf),  Semmelvöglein  (Bonn),  Printen  (Aachen). 

Westfalen:  Königskuchen,  Korinthen-Stutzen  (Arnsberg),  Mopkenbrot,  Miti- 
winterbrot,  Antoniusbrötchen  (Ramsdorf  bei  Borken),  Knüppel  (Dülmen),  Han  und 
Greite. 

Main,  Neckar:  Christweck,  Bubenwecken,  Fochzen,  Geleitsbrezeln,  Vögelein, 
Oblatenstück,  Weckstotzen,  Bonameser  Bröderchen,  Motzenbrot,  Bubenbrot,  Brust- 
küchlein, Kraftküchlein,  Matzkuchen,  Bubenschenkel,  Tajamann. 

Hessen,  Thüringen,  Meiningen,  Fränkisch  -  Henneberg,  Anhalt: 
Martinshörner,  Hornaffe  (Erfurt),  Wuchtel,  Scheitchen,  Rückling,  Sechseraffe,  Laut- 
äffchen,  Scheren,  zerrissene  Hose  (Thüringer  Wald),  Marxbrötchen,  Forstmeister 
(Darmstadt),  Osterkuchen  (Fulda),  Schürzkuchen,  Pflngstkuchen,  dünne,  dicke 
Anhaltskuchen,  Ringelkuchen,  Standlerkuchen,  Faschingskrapfen,  Pfefferscheibe 
(Eisenach),  Gregoriuskügelchen,  Nickelzöpfe,  Hufeisen,  Stutenbrot,  Hallorrenkuchen, 
Haller  Wecken  (Halle  a.  S.),  Funsel  (Anhalt-Dessau),  Zwieck,  Blattergeschossenes, 
gal.  Wecke,  grosse  Wecke,  Scheideweck,  Borkelsweck. 

Lippe,  Braunschweig,  Hannover,  Mecklenburg:  Lippesches  Brot,  düime, 
dicke  Kuchen,  Timpen,  Stuten  (Etymologie?  Salzusel),  Martinshörner,  Löwenklaue 
(Nünburg  a.  W.),  Ranzelieschen  (Schwann). 

Nordsee-,  Ostsee  -  Küste:  Marschen:  Kleenbrod,  Eierman,  Schinngasse, 
Akenscher  Fladen,  Mchlbeutel.  Stralsund,  Rügen:  Baumbrot,  Flechte,  Fehmarsche 
Kröpeln,  Backe,  Rente,  Krümmen,  Krum,  Mahnkc,  Miggl,  Pülschen,  Kindsvot, 
Rlaewe,  Kruskoken,  Gasselkoke,  Westerwigskoke.  Kinjee,  Tolatschen.  Schleswig- 
Holstein:  Grapenbrot,  Saden,  Weihnachtskuchen,  Förtchen,  hete  Wecken,  Stut- 
wecken. Danzig:  Chrimsel,  Alexandrinchen.  Bremen:  Klöven.  Hamburg:  Brezeln, 
Rundstückchen,  Judasohren,  Klöven,  Schönräzchen.  Königsberg:  Räderkuchen, 
Strützel.     Insterburg:  Lochkuchen. 

Ostpreussen:  Schruppen,  Hahnchenbrot,  Boppert  (Etymologie  des  Wortes 
auch  erwünscht),  Sparbrot,  Gründonnerstag  -  Kringel,  Schieberplatz,  Plammplatz, 
Mohnsang  (Bromberg),  Aufläufer,  Schlafsack,  Hund,  Katze,  Katharinchen  (Thorn). 
Brandenburg:  Mohnpielen,  Kringel  (Berlin),  Franzbrot. 
Schlesien:  Franzbrot,  Kleinbrotel,  Galbrotel  (Gelbbrötchen),  Zeilenbrot,  Trog- 
scharre, Schurback,  Streuselkuchen,  Tünschelkuchen,  Kranzkuchen,  Afterkuchen, 
Aschenplatz,  Kringel  (Warthe),  Zeilensemmel,  Knöpfelsemmel,  Stösselsemmel, 
Ostersemmel,  Schleesack,  Tallsack  (Warmbrunn),  Kotsch,  Wuchtel,  Strumpfsohlen, 
Hobelspähne,  Mohnhörnchen,  Martinshörner,  Storchnester,  Knochen,  Judentullen, 
Bauerbissen,  Judenzopf,  Mehlweissen,  Babe  (Baba,  Buber);  Buchaniten,  Bukneten, 
Puchnitenbrot,  Baclinitzen;  Osterstrützel,  Splitter-Hörnchen. 

Sachsen:  Osterüaden,  Wullbrot  (Wittenberg),  Judasbrötchen,  Osterbrot,  warme 
weeche  Brezeln,  Konvictschinken,  Hillerchen  (Etymologie  des  Wortes  auch  erwünscht), 
Hohlhippen,  Schnellhupfer  (Leipzig),  Bauernhase,  Baebe,  Fummel  (Meissen),  Ruprecht 
(Dresden),  Katzenzungen  (Gohlis). 


446 


ieth: 


Aus  der  Grafschaft  Glatz. 

Aufzeichnungen  von  Franz  Wieth  aus  Tscherbeney  (1878  stud.  phil.  in  Breslau). 
1.    Der  Baucrnhimmel. 

Hopsa,  hopsa,  rüber  on  nüber 

Gl  mer  a  Guschel,  ich  gab  dersch  wieder.     Hopsa,  hopsa  .  . . 


Ei  dam  Himmel  is  gut  läba, 

Nischt  zu  frassa  als  Kucha  on  Bäba.  Hopsa. 

Honigschnita,  doss  se  klecka, 

Doss  ma  macht  die  Finger  lecka.     Hopsa. 

Lauter  Brota  warn  mer  assa, 

On  das  Geld  met  Vertaln  massa.     Hopsa. 

Jouger  kenn  nu  Toback  raucha, 

Sich  bekleckern  on  besaufa.    Hopsa. 

Soldota  derfa  ons  ne  kumma, 

Der  Säbel  is  au  weggenumma.     Hopsa. 

Ferm  Landroth  derf  mer  olles  macha, 

M'  Amtmonn  eis  Gesichte  lacha.    Hopsa. 


Do  hats  ken  Scholza  on  ken  Richter, 

Denn  dos  sein  ock  Flenngesichter.    Hopsa. 

Den  Hardenberg  den  hüllt  der  Geier 

Mit  seiner  verdammten  Vermögenssteuer.  Hopsa, 

Nu  kenn  mer  wie  die  Ferschta  läba 

Und  braucha  kene  Okzise  gäba.     Hopsa. 

Blosa  kenn  mer  wie  die  Esel, 

Kucha  frassa  mit  viel  Stresel.     Hopsa. 

Wenn  se  die  Trompeta  blosa, 

Zielin  wer  6  die  güda  Hosa.    Hopsa. 

Korz  ich  fre  mich  6f  a  Himmel, 

AVie  ofs  Futter  Nuquers  Schimmel.    Hopsa. 


Variante  des  in  Schlesien  weit  verbreiteten  Liedes,  bei  Hoffmann  und  Richter, 
Schlesische  Volkslieder,  No.  269  (mit  Melodie).  In  Troppauer  Mundart  bei  P.  Enns, 
Das  Oppaland  3,  73  f.,  Wien  1836;  in  Jauernick-Weidenauer  bei  A.  Peter,  Volks- 
tümliches aus  Österreich-Schlesien,  I,  S.  334 — 337,  Troppau  I<S65;  in  schlesisch- 
mährischer  bei  J.  G.  Meinert,  Alte  deutsche  Volkslieder  in  der  Mundart  des  Kuh- 
ländchens,  Wien  1817,  S.  99—102.  Unser  Text  weist  auf  die  Zeit  der  Harden- 
bergschen  Gesetzgebung. 


2.    Spottverse  auf  die  Bewohner  eines  Glätzischen  Dorfes. 


Bei  Eogan  is  die  Segerei, 

Bei  Kassnern  fällt  sei  Schloss  füllt  ei: 

Der  Motte  tut  'm  die  Hösa  flicka 

Und  tut  se  zum  Peickert  bijern  schicka; 

Der  Mottla  is  a  reicher  Bauer, 

Der  Peickert  frisst  gern  Kibelsauer; 

Der  Scholz  dos  ist  der  iberschte  Mdn, 

Er  tut  Höffma  Jos'fan  s'  Wosser  wegschlön; 

Bei  Tautzan  ist  das  Kaffeehaus,  [raus. 

Bei  Zimmer  Tonen  komma  die  verrächte  Leute 


Der  Axma  dar  schlachts  Kolb, 

Der  Grundma  dar  nimmts  holb, 

Die  Knoppen  nimmt's  Gekrise, 

Do  is  der  Herr  Dörner  ne  bise; 

Die  Bittnern  nimmt  die  Kälberknocha, 

Do  hots  der  Ullrich  Guste  bäle  gerocha: 

Bei  Ullrich  Gustan  hängts  Groe  für. 

Der  Dinter  ziehts  Gesinde  für: 

Bei  Gerbern  is  die  Schweinerei, 

Bei  Anders^han  fällt  der  Schuppa  ei; 

Axmann  ist  genötigt,  ein  verunglücktes  Kalb  zu  schlachten  und' bedeutend 
unterm  Preise  zu  verkaufen.  Dies  nehmen  seine  armen  Nachbarn  wahr,  um  sich 
den  seltenen  Fleischgenuss  billig  zu  verschaffen. 

Grundmann,  ein  armer  arbeitsloser  Schuster  und  Vater  einer  sehr  zahlreichen 
Familie,  nimmt  die  Hälfte; 

die  Witwe  Knoppe  das  Gekröse;  die  W^itvve  Bittner  muss  mit  den  Knochen 
zufrieden  sein. 

Groe.  Ullrich.  Seine  junge  Frau,  aus  dem  Glätzischen  gebürtig,  machte  Vor- 
hänge an  die  Fenster  an.  Diese  im  Dorfe  ungewohnte  Sitte  und  das  unreinliche 
Aussehen  „grau"  jener  veranlassten  die  Bemerkung. 

Dinter,  ein  kinderloser  Bauer,  behandelt  das  Gesinde  gut. 

Gerbern.  Drei  unverheiratete  Geschwister  betreiben  die  Gerberei;  ihre  Wirt- 
schaft wegen  Unsauberkeit  berüchtigt. 


Kleine  Mitteilungen.  447 

Anders  hat  einen  baufälligen  Schuppen. 

Rogel,  ein  armer  Pfuscher  in  Uhrmacherarbeiten  (Seger). 

Kassner,  Besitze^  eines  winzigen  Häuschens,  aus  einem  ehemaligen  Dörrhaus 
entstanden,  v/elches  sehr  baufällig  ist.     füllt  =  vollends. 

Motte,  Mottla  =  Mattern  Maternus. 

Scholz,  Bauer  am  obersten  Ende  des  Dorfes. 

Jos.  Hoffmann,  Nachbar  der  Vorigen,  der  grösste  Bauer  und  Scholze,  bezieht 
aber  vom  Obigen  das  Wasser  für  sein  Gehöft. 

Tautz  und  seine  Familie  leidenschaftliche  Kaffeetrinker. 

Anton  Hoffmann,  Zimmermann  seines  Zeichens,  daher  Zimmer  Tone.  Die 
Familie  unreinlich,  die  Wohnung  ärmlich,  mit  schadhaftem  Ofen,  daher  verrächt: 
verraucht. 

3.    Scene  eines  Heiratsantrages. 

Die  Besitzerin  eines  grossen  Bauerngutes  in  der  Ober-Grafschaft  ist  Witvpe 
geworden  (Lise).  Ihre  Mutter  und  ältere  unverheiratete  Schwester  (Pauline)  wohnen 
bei  ihr.  Der  Nachbar,  ein  reicher  Bauer  (Spiller),  hat  vor  kurzem  seine  Frau 
verloren  und  besucht  nun  die  junge  Witwe,  um  ihre  Hand  anzuhalten. 

Sp.:  Guda  O^mt! 

Mutter:  Guda  0''mt  Spellerl  —  nu  wo'"s  brengst'n? 

Sp.:  Ich  kumm  üf  de  Hairot. 

Mutter:  Nu  zu  wäm  denn,  arn  ze  mir? 

Sp.:  Nai  du  bist  mer  schon  ze  alt. 

Mutter:  Willst'n  die  Paullinn? 

Sp.:  Nai!  di  is  mr  zu  säusch!  ich  kumm  zu  der  Lise. 

Mutter:  Di  moi  dich  ne. 

Sp.:  Wart  sich  ju  weisa. 

Lise  tritt  ein:  Guda  O^Jmt  Speller,  neha!  siht  ma  dich  amol. 

Sp.:  Guda  O^mt  Lise.  —  Ich  kumm  zu'n  dr  of  di  Hairot. 

Lise:  Dich  moi  ich  ne. 

Sp. :  Nu  warum  ock  ne? 

Lise:  Du  bist  mer  zu  a  äler  Grajel! 

Sp.:  Taelsche  Kapse!  —  Sich,  mr  kenda  inse  beda  Gartlan  a  su  hisch  ze 
nander  schlo^n. 

Lise:  Nai,  ich  moi  dich  ne.  — 

Sp.:  Nu  do  war  ich  wieder  gihn. 

Lise:  Blei  ock  noch  sitza! 

Sp.:  Ei  Gots  Noma  (geht). 

Lise  ihm  nachgehend:  Du  Speller,  wie  werschen?  Sich  ich  ho'^  zwe  Jonga 
on  du  a  Mädla,  villecht  kennt  do^  arn  moi  wo^s  warn? 

Sp.:  Nu  nai,  do='  war  ich  dr  wo^s  scheissa! 


Internationaler  Kongress  für  Tolkskunde. 

Paris  1900  vom  10—12.  September. 

Gelegentlich  der  Welt- Ausstellung  von  1900  erlässt  ein  Organisationskomitee 
die  Einladung  zu  einem  Congres  international  des  Traditions  populaires.  Ehren- 
präsident ist  M.  Gaston  Paris;  Präsident  M.  Charles  Beauquier,  Vorsitzender  der 
Societe  des  Traditions  populaires;    Generalsekretär  M.  Paul  Sebillot,    an  den  alle 

Zcitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.     1899.  ^iO 


448 


Weiiiliold: 


Zuschriften  in  dieser  Angelegenlieit  zu  richten  sind  (Paris,  Boulevard  Saint-Marcel  80). 
Der  Kongress  wird  sich  in  zwei  Sektionen  teilen:  1.  Litterature  orale  et  art  popu- 
laire,  2.  Ethnographie  traditionelle.  Französisch  ist  die  officielle  Sprache  des  Kon- 
gresses, doch  sind  Mitteilungen  in  deutscher,  englischer,  italienischer  und  lateinischer 
Sprache  gestattet,  unter  der  Bedingung  eines  französischen  Resume.  Dieselben 
müssen  dem  Generalsekretär  vor  dem  1.  Juli  1900  zugeschickt  werden.  Kein 
Vortrag  darf  länger  als  eine  Viertelstunde  dauern.  Der  Mitgliedbeitrag  beträgt 
12  Francs,  wofür  die  Sitzungsberichte  und  die  etwaigen  Druckschriften  des  Kon- 
gresses unberechnet  geliefert  werden.  Die  Eröffnungs-Sitzung  findet  am  10.  Sept. 
1900  im  Palais  des  Congres  der  Welt-Ausstellung  statt. 


Sammlung  volkstümlicher  Überlieferungen  in  Würtemberg. 

Das  K.  Statistische  Landesamt  in  Stuttgart  und  eine  freie  Vereinigung  für 
Volkskunde  haben  sich  verbunden,  gemeinschaftlich  die  Sammlung,  Verarbeitung 
und  Veröffentlichung  volkstümlicher  Überlieferungen  in  Würtemberg  zu  veranstalten. 
Geschäftsführer  und  Vertreter  der  Würtembergschen  Vereinigung  für  Volkskunde 
ist  Prof.  Dr.  K.  Bohnenberger  in  Tübingen.  Zum  Zweck  der  Sammlungen  werden 
Fragebogen  in  sämtliche  Gemeinden  des  Landes,  besonders  an  deren  Geistliche 
und  Lehrer  durch  das  K.  Statistische  Landesamt  versandt  Die  erste  Verarbeitung 
des  Gesammelten  wird  durch  Herstellung  von  Sachregistern  von  der  Vereinigung 
übernommen.  In  den  Würtembergischen  Jahrbüchern  für  Statistik  und  Landes- 
kunde werden  von  den  Mitgliedern  der  Vereinigung  Mitteilungen  über  die  Samm- 
lungen und  deren  Verarbeitung  gemacht  werden:  doch  sollen  auch  Veröffentlichungen 
an  anderen  Stellen  zugelassen  sein,  wenn  das  Interesse  der  amtlichen  Jahrbücher 
nicht  im  Wege  steht. 

Die  Absicht  der  Sammlung  geht  zunächst  auf  die  noch  lebenden  Überliefe- 
rungen; doch  sollen,  wo  es  möglich  ist,  auch  die  „abgegangenen"  berücksichtigt 
werden.  Die  BVagebogen  betreffen:  I.  Sitte  und  Brauch;  II.  Nahrung  und  Kleidung, 
Wohnung  und  Geräte;  III.  Glaube  und  Sage;  IV.  Volksdichtung;  V.  Mundart 
(daraus  soll  nur,    was  die  Volkskunde  unmittelbar  angeht,   aufgenommen  werden). 


BüclieranzeiR'en. 


Allgemeine  Methodik  der  Volkskunde.    Berichte  ül)er  Ersc  heiiuiuüen 
in    den    Jahren    1890—1897.     Von    L.  Hcherman    und    Friedricli 
S.  Kraus s.     Erlangen,  Fr.  Jnn-e,  1899.     S.  IV.    134.     S». 
Das  vorliegende  Heft    ist    ein  in  100  Exemplaren  abgezogener  Soiiderabdruck 
aus  dem  Kritischen  Jahresbericht  über  die  Fortschritte  der  Romanischen  Philologie, 
herausgegeben  von  K.  Vollmöller,  Bd.  IV,  Heft  3.     „Da  das  Studium  der  Volks- 
kunde auch  für  die  Romanisten  mehr  und  mehr  an  Bedeutung  gewinnt,  so  erschien 
es  der  Redaktion  angemessen,    mit  vorstehendem  Artikel  eine  längere  Darstellung 
der  Grundprincipien    dieser    wissenschaftlichen  Disciplin    zu    geben,    um  auch  die 
romanistischen  Kreise    für    diese  Studien   besonders  zu  interessieren",    merkt  Herr 


Bücheranzeigen.  449 

K.  V.  am  Schlüsse  der  Arbeit  des  Herrn  Fr.  Krauss  S.  134  zur  Erklärung  der 
Aufnahmen  in  seinen  Jahresbericht  über  die  Romanische  Philologie  an.  Zuerst 
hatte  Herr  Lucian  Scherman  in  München  die  Aufgabe  übernommen;  nachdem  er 
aber  isOl  seinen  Bericht  über  die  volkskundlichen  Erscheinungen  des  Jahres  1^90 
abgeliefert  hatte,  trat  er  zurück  und  der  Herausgeber  wandte  sich  darauf  wegen 
der  Portsetzung  an  Herrn  Fr.  S.  Krauss  in  Wien,  „den  slavischen  Ethnologen" 
(S.  126),  der  „den  wiederholten  Aufforderungen  gegenüber"  (S.  21)  auch  nachgab 
und  einen  Bericht  über  die  Jahre  1891 — 97  geliefert  hat. 

Referent  kann  dem  Bericht  des  Herrn  Scherman  das  Lob  einer  klaren  objek- 
tiven Übersicht  über  die  betreffende  Litteratur  des  Jahres  1890  erteilen.  Er  führt 
gut  und  geschichtlich  in  die  Grundfragen  über  das  Wesen,  die  Ziele  und  die 
Methode  der  Volkskunde  ein  und  wo  er  seine  eigene  Meinung  äussert,  ist  dieselbe 
wohl  erwogen,  so  bei  dem  Gegensatze  zwischen  den  philologischen  oder  ver- 
gleichenden Mythologen  (A.  Kuhn,  M.  Müller,  Benfey)  und  den  Anthropo -Ethno- 
logen, wie  Tylor  und  Andrew  Lang,  den  Folkloristen,  wie  er  sie  nennt,  zwischen 
denen  er  eine  Vermittelung  wünscht. 

Herr  Scherman,  wie  sein  Nachfolger  Krauss  brauchen  das  1(S46  erfundene 
englische  Wort  folklore  als  Femininum,  was  falsch  ist.  Ganz  richtig  sagen  die 
Franzosen  le  folklore,  wenn  sie  das  Wort  überhaupt  brauchen,  das  keineswegs 
(vgl.  G.  Kossinna  in  unsrer  Zeitschrift  VT,  188  ff.)  den  Inhalt  und  die  Bedeutung 
unsrer  Disciplin  ausdrückt.  Wenn  sich  Herr  Krauss  rühmt  (S.  23),  dass  er  zu 
dessen  Einbürgerung  in  unseren  deutschen  Wortvorrat  nicht  wenig  beigetragen 
habe,  so  möge  er  diesen  zw^eifelhaften  Ruhm  dahin  haben. 

Herr  Kr.  hat  seinen  Bericht  in  10  Kapitel  geteilt,  die  sich  keineswegs  reinlich 
voneinander  sondern.  Über  die  Methode  der  Volkskunde  wird  z.B.  in  Kapitel  1, 
5,  b.  7,  8  gesprochen.  Die  Grundfragen,  die  Herr  Scherman  bereits  behandelte, 
werden,  was  wir  nicht  tadeln,  da  Herr  Krauss  seine  Auffassung  und  seine  Urteile 
über  Menschen  und  Bücher  vorzutragen  das  Recht  hat,  noch  einmal  aufgeworfen. 
Im  Vordergrunde  stehen  die  englischen  und  nordamerikanischen  „Folkloristen", 
zunächst  dann  die  slavischen.  Die  Kenntnis  der  deutschen  einschlägigen  Litteratur 
ist  merkwürdig  lückenhaft.  Das  tüchtige  Buch  von  E.  H.  Meyer,  Deutsche  Volks- 
kunde (Strassburg  1.S9S)  wird  selbst  nicht  in  einer  Anmerkung  erwähnt,  obschon 
sonst  hier  und  da  über  l'S97  hinausgegriffen  wird.  Mehr  als  seltsam  ist  die 
Litteratur  der  Märchen  und  Sagen  auf  S.  124,  wo  im  ganzen  neun  Bücher  auf- 
gezählt werden.  „Anbei  nenne  ich  nur  die  Sammlungen,  die  mir  für  den  Bericht 
übermittelt  worden  sind,  alle  die  nennenswerten  und  brauchbaren  Bücher  dieses 
Schlages  anzuführen,  hiesse  beinahe  eine  Bibliographie  der  Folklore  schreiben'^, 
sagt  in  Bezug  hierauf  Herr  Krauss!  Wer  in  seinem  Urquell  geschrieben  hat,  wird 
genannt  und  gerühmt;  ^.ausgezeichnet,  methodisch  mustergültig''  erhält  dieser  und 
jener  als  Lobzettel.  Von  Erk  und  Böhme  wird  gesagt,  dass  sie  eine  Schule  ge- 
bildet haben  (S.  104)!  Ich  habe  die  Verdienste  von  Fr.  M.  Böhme  stets  anerkannt 
und  den  fleissigen  Sammler  gelobt  in  seinen  Grenzen,  aber  ein  Muster  für  die 
Herausgeber  von  Volksliedern  konnte  er  nicht  sein,  weil  ihm  die  gelehrte  Schulung 
ganz  fehlte:  Herr  John  Meier  wird  sich  gerade  nicht  freuen,  aus  dieser  Schule 
nach  Herrn  Kr.  hervorgegangen  zu  sein.  Auf  derselben  Stufe  des  Urteils  steht, 
was  Kr.  über  .,den  Krimskrams"  unseres  unvergesslichen  Reinhold  Köhler  S.  54 
sich  zu  schreiben  erdreistet.  Das  bezeichnet  überhaupt  den  schlechten  Ton,  der 
in  diesen  Berichten  herrscht,  zum  Schaden  des  Richtigen  und  Brauchbaren,  das 
darin  geboten  wird.  K.  Weinhold. 


30* 


450  Plleiderer: 

Robertson  Smith:  Die  Religion  der  Semiten.  Autorisierte  deutsehe 
Übersetzung  aus  dem  Englischen  von  Dr.  R.  Stube.  Freiburg.  Mohr, 
1899.     S.  372.     8°. 

Dieses  Werk,  dessen  erste  Lieferung  in  dieser  Zeitschrift  IX,  98  von  mir  be- 
sprochen worden,  Hegt  nun  vollendet  vor.  Es  ist  ein  Werk  von  hervorragender 
Bedeutung  für  die  Religionsgeschichte,  gleich  wertvoll  für  Theologen,  Ethnologen, 
Kulturhistoriker  und  Orientalisten.  Die  eigentümliche  Methode,  die  das  Verständnis 
der  einzelnen  Religionen  und  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung  nicht  zunächst  von 
den  Lehren  und  Mythen,  sondern  von  den  Kultusbräuchen  und  religiös-sozialen 
Institutionen  ausgehend  zu  gewinnen  sucht,  erweist  sich  durch  das  ganze  Werk 
hindurch  als  ungemein  fruchtbar.  Überall  eröffnen  sich  neue  Gesichtspunkte  und 
verbreitet  sich  neues  Licht  über  dunkle  Probleme.  Ich  hebe  beispielsweise  hervor 
die  geistvolle  Parallele  zwischen  der  bürgerlichen  Verfassung  und  dem  Gottes- 
glauben im  Abend-  und  Morgenland:  den  aristokratischen  Staatswesen  dort  ent- 
spricht die  Götteraristokratie  des  Polytheismus,  dem  absoluten  Königtum  hier  ent- 
spricht die  monarchische  Machtstellung  der  semitischen  Nationalgottheiten,  die  den 
hebräischen  Propheten  den  Anhaltspunkt  bot  für  die  Ausbildung  des  ethischen 
Monotheismus.  Nicht  eine  natürliche  Tendenz  der  Semiten  zum  Monotheismus 
(Renan)  lässt  sich  behaupten,  sondern  nur  so  viel  ist  zu  sagen,  „dass  der  Osten 
in  höherem  Masse  vorbereitet  war,  die  Idee  eines  absolut  gerechten  Gottes  aufzu- 
nehmen, weil  seine  politischen  Verhältnisse  und  seine  Geschichte,  nicht  zum 
mindesten  weil  der  ungeheure  Abstand  zwischen  dem,  was  eine  menschliche  Herr- 
schaft ihrem  Ideal  nach  und  was  sie  in  der  Wirklichkeit  war,  den  menschlichen 
Geist  zur  Erkenntnis  der  Notwendigkeit  einer  strengeren  Gerechtigkeit  führte  und 
daran  gewöhnte,  als  deren  notwendige  Quelle  eine  Macht  monarchischer  Art  anzu- 
sehen. Während  die  Idee  der  Einheit  Gottes  in  Griechenland  eine  philosophische 
Spekulation  war,  die  in  der  wirklichen  Religion  keinen  bestimmten  Anhaltspunkt 
hatte,  stand  der  Monotheismus  der  hebräischen  Propheten  mit  den  Anschauungen 
und  Institutionen  der  semitischen  Rasse  im  Zusammenhang,  indem  er  den  einen 
wahren  Gott  als  den  absolut  gerechten  König  auffasste,  der  zugleich  der  Gott  der 
ganzen  Welt  war  oder  zu  werden  bestimmt  war,  nicht  nur  weil  seine  Macht  die 
Welt  umfasste,  sondern  weil  er  als  der  vollkommene  Herrscher  sich  alle  Völker 
dienstbar  machen  musste"  (S.  52  f.).  —  Über  das  Verhältnis  der  Götter  zu  den 
Halbgöttern  und  Dämonen  bemerkt  Smith  treffend,  dass  der  unterschied  nicht  in 
einer  anderen  Natur  der  Götter  lag,  sondern  nur  in  ihren  Beziehungen  zum  Menschen, 
genauer  zu  dem  bestimmten  Kreis  ihrer  Verehrer.  Sobald  diese  Beziehungen  an- 
erkannt waren  und  feststanden,  gaben  sie  den  Anlass  zur  Ausgestaltung  von  ge- 
ordneten religiösen  Institutionen.  Massgebend  war  dabei  vorzugsweise  das  Ver- 
hältnis der  bestimmten  Gottheit  zu  der  Stätte  ihrer  Wirksamkeit.  Welche  Motive 
ursprünglich  die  Menschen  veranlassten,  bestimmte  Orte  als  „heilig",  d.  h.  als 
Machtsphären  und  Wohnsitze  einer  Gottheit  zu  betrachten,  ist  trefTlich  erörtert 
(S.  65  ff.).  Sehr  scharf  und  kurz  wird  ferner  die  Ansicht  begründet,  dass  auch  die 
Semiten  einmal  die  Stufe  des  Totemismus  durchlebt  haben.  Die  Heiligtümer  der 
semitischen  Welt  waren  ursprünglich  identisch  mit  den  Sitzen  der  Ginnen  und 
diese  waren  nichts  anderes  als  Tiergeister;  dass  aber  in  der  geschichtlichen  Zeit 
direkte  Zeugnisse  für  den  Totemismus  der  Semiten  fehlen,  erklärt  sich  einfach 
daraus,  dass  Totems  oder  freundliche  dämonische  Wesen  sich  schnell  zu  Göttern 
entwickeln,  sobald  sich  die  Menschen  über  den  Zustand  der  reinen  Barbarei  er- 
heben; die  Verehrung  der  Totemtiere  konzentriert  sich  im  Kultus  des  Stammgottes, 
der  zunächst  noch  in  Tiergestalt  vorgestellt,  dann  aber  so  anthropomorphisiert  wird, 


Bücheranzeigen.  451 

dass  seine  Beziehungen  zu  den  Tieren  ganz  zurücktreten  (S.  96  ff.).  —  Zu  den 
Glanzpartieen  des  Werkes  gehört  die  Untersuchung  der  Begriffe  „Heilig"  und 
„Tabu"  (S.  110 — 119):  Mit  dem  Tabu  der  barbarischen  Völker  berühren  sich  die 
semitischen  Gesetze  über  Heiligkeit  und  Unreinheit  so  auffallend,  dass  kein  Zweifel 
über  die  Gemeinsamkeit  der  hierbei  zu  Grunde  liegenden  Vorstellungen  möglich 
ist;  ursprünglich  ist  Heiliges  und  Unreines  identisch  mit  dem  Tabu,  d.  h.  dem, 
was  mit  übernatürlichen  Mächten  zusammenhängend  für  den  Menschen  gefahr- 
drohend ist;  die  spätere  Unterscheidung  zwischen  Heiligem  und  Unreinem  be- 
zeichnet einen  Fortschritt  über  den  Zustand  kulturloser  Barbarei,  das  Heilige  wird 
in  Beziehung  gesetzt  mit  dem  Willen  eines  wohlthätigen  Gottes,  dessen  Gesetze 
die  Willkür  des  Einzelnen  im  Interesse  des  Gemeinwohles  einschränken  und  so 
die  Grundlage  sozialer  Ordnung  und  Sitte  werden.  „Im  antiken  Geraeinwesen  fiel 
das  religiöse  Ideal,  das  in  der  Ausübung  des  gemeinsamen  Kultus  zum  Ausdruck 
kam,  und  das  ethische  Ideal,  das  die  Haltung  des  täglichen  Lebens  bestimmte, 
gänzlich  zusammen,  und  alle  Sittlichkeit,  wie  sie  damals  aufgefasst  wurde,  erhielt 
durch  religiöse  Begründung  und  Sanktion  ihre  Weihe  und  ihre  Kraft"  (S.  205).  — 
Die  letzten  Kapitel  des  Werkes  untersuchen  den  Ursprung  und  die  Entwicklung 
des  Opferwesens.  Im  Unterschied  von  der  gewöhnlichen  Theorie,  nach  welcher 
das  Opfer  von  Anfang  ein  der  Gottheit  dargebrachter  Tribut  sein  soll,  verteidigt 
Smith  seine  Hypothese,  dass  die  Auffassung  des  Opfermahles  als  eines  Aktes  der 
heiligen  Gottheit  älter  sei  als  das  Opfer  im  Sinne  eines  Tributs,  und  dass  diese 
zweite  Anschauung  erst  mit  dem  Ackerbau  und  der  Auffassung  der  Gottheit  als 
Herr  des  Landes  zur  Geltung  gekommen  sei.  Die  Beweisführung  für  diese  These 
ist  ungemein  scharfsinnig  und  stützt  sich  auf  eine  Fülle  geschichtlicher  Details, 
deren  Deutung  im  einzelnen  wohl  da  und  dort  problematisch  sein  mag,  die  aber 
in  ihrem  Zusammenhang  und  Einklang  miteinander  eine  imponierende  Beweiskraft 
gewinnen.  Auch  von  den  Weihe-  und  Sühnebräuchen  wird  nachgewiesen,  dass 
sie  ursprünglich  auf  der  Vorstellung  einer  Erneuerung  und  Befestigung  des  göttlich- 
menschlichen  Gemeinschaftsverhältnisses  mittels  des  heiligen  Mahles  beruhten. 
A^on  dieser  gemeinsamen  Grundform  aus  differenzierte  sich  dann  mit  der  Zeit  das 
Opfer  in  zweierlei  Richtungen:  einerseits  zu  den  als  Ehrenbezeugung  dargebrachten 
Opfern,  andererseits  zu  den  ausserordentlichen  Sühnopfern  der  späteren  Zeit.  Bei 
den  letzteren  spielt  der  Gedanke  der  Stellvertretung  eine  wichtige  Rolle,  der  aus 
dem  uralten  Zusammenhang  der  Kriminaljustiz  mit  dem  Kultus  herstammt:  „W^enn 
ein  Mitglied  des  Stammes  für  eine  Frevelthat  hingerichtet  wird,  stirbt  es  um  der 
Gemeinschaft  willen,  um  zwischen  ihr  und  ihrem  Gott  wieder  normale  Beziehungen 
herzustellen,  so  dass  die  Analogie  zum  Opfer  hinsichtlich  des  Zweckes  wie  der 
Form  sehr  eng  ist.  Daher  werden  die  Fälle,  in  denen  der  Zorn  des  Gottes  auf 
das  Verbrechen  eines  Einzelnen  zurückgeführt  und  durch  seinen  Tod  gesühnt 
werden  kann,  naturgemäss  benutzt,  um  auch  solche  Fälle  zu  erklären,  in  denen 
die  Sünde  der  Gemeinschaft  nicht  auf  einen  Einzelnen  gelegt  werden  kann  und 
doch  eine  Sühnung  erforderlich  ist;  der  Tod  des  Opfers  konnte  dann  als  scenische 
Veranschaulichung  einer  Hinrichtung  gelten  und  somit  zum  Ausdruck  bringen,  dass 
sich  die  Gemeinschaft  von  jedem  Anteil  an  dem  zu  sühnenden  Verbrechen  frei- 
macht." Übrigens  bemerkt  Smith  mit  Recht,  dass  die  alte  Religion  derartige 
Deutungen  nicht  zu  offiziellen  Dogmen  gemacht,  sondern  sie  jedem  freigegeben 
habe.  Worauf  es  ankam,  war  nur  die  Ausübung  des  alten  Ritus,  dessen  Sinn  mit 
der  Zeit  wechselnden  Deutungen  unterlag.  Für  den  Religions-  und  Kulturhistoriker 
aber  liegt  gerade  darin  eine  Hauptaufgabe,  nachzuweisen,  wie  aus  ursprünglich 
einfachen  Grundgedanken    mit    der  Zeit    sich    komplizierte  Theorien,   Kultus-  und 


452  Weinhold: 

Glaubensformen  herausgebildet  haben,  in  welchen  die  schon  naturalistischen  An- 
schauungen der  Urzeit  zum  Gefäss  und  Symbol  ethischer  Ideen  geworden  sind, 
so  aber,  dass  doch  bei  aller  Vergeistigung  auch  die  alte  sinnliche  Vorstellungs- 
weise noch  immer  irgendwie  nachwirkt.  Zu  diesem  Verständnis  des  Entwicklungs- 
ganges menschlicher  Religion,  Sitte  und  Kultur  liefert  das  vorliegende  Buch  einen 
Beitrag  von  ausgezeichnetem  Wert.  Dank  der  Sorgfalt  des  Übersetzers  hat  es 
auch  noch  in  zahlreichen  Anmerkungen  und  in  einem  ausführlichen  Inhaltsregister 
eine  Bereicherung  erfahren,  die  seine  Brauchbarkeit  für  den  deutschen  Leser  erhöht- 
Möge  es  auch  bei  uns,  wie  schon  längst  in  den  Ländern  englischer  Zunge,  einen 
grossen  Leserkreis  finden!  Otto  Pf  leider  er. 


Max  Müller,  Nouvelles  etudes  de  Mythologie.  Traduites  de  TAnglais  par 
Leon  Job,  Prof.  au  Ljcee  de  Nancy.  Paris,  Fei.  Alcan,  18^»9.  S.  X. 
65L     8°. 

Das  vorliegende  Buch  ist  eine  auf  Veranlassung  von  M.  Victor  Henry.  Prof. 
des  Sanskrit  an  der  Sorbonne,  ausgeführte  Übersetzung  der  1.S97  erschienenen 
Contributions  to  the  science  of  mythologie  von  Max  Müller,  unter  "Weglassung  der 
langen  Vorrede  des  Verfassers.  Wir  wollen  die  Existenz  der  französichen  Über- 
tragung zur  Kenntnis  unsrer  Leser  bringen,  und  dabei  erwähnen,  dass  auch  eine 
gute  deutsche  Übersetzung  1898/1899  zu  Leipzig  (bei  Engelmann)  in  2  Bänden 
erschienen  ist:  „Beiträge  zu  einer  wissenschaftlichen  Mythologie.  Aus  dem  Eng- 
lischen übersetzt  von  Dr.  Heinrich  Lüders."  —  Der  mythologische  Standpunkt  Max 
Müllers  ist  hinreichend  bekannt.  Er  ist  ein  Hauptgründer  der  vergleichenden 
arischen  oder  indogermanischen  Mythologie  und  w^endet  vornehmlich  die  etymo- 
logische Analyse  an,  um  die  wedischen  und  griechischen  Mythen  zu  erklären,  lässt 
den  Mythus  gewissermassen  aus  der  Sprache  entstehen.  In  den  Contributions 
unternimmt  er  die  heftigen  Angriffe,  die  von  den  ethnologischen  Mythologen, 
besonders  von  Andrew  Lang,  gegen  ihn  gemacht  worden  sind  und  noch  gemacht 
werden,  abzuschlagen.  Max  Müller  steht  nach  wie  vor  auf  seinem  vergleichenden 
philologisch-mythologischen  Grunde,  und  da  er  aus  der  Sprache  seine  Auffassungen 
und  Deutungen  des  Wesens  der  arischen  Götter  zieht  und  die  Beweise  dafür  ent- 
nimmt, ist  es  begreiflich,  dass  er  die  Hauptschwäche  seiner  Gegner  in  ihrer  Un- 
kenntnis der  Sprachen  jener  „wilden"  Völker  findet,  auf  deren  Religionen  sich 
das  ethnologische  System  aufbaut.  Er  hält  nicht  alle  Behauptungen  aufrecht,  die 
er  früher  gemacht,  verteidigt  aber  tapfer  das  Kornwerk  der  alten  Festung  der  ver- 
gleichenden Mythologie. 

Das  Buch  zerfällt  in  sechs  Kapitel  verschiedenen  Umfangs:  1.  Rückblicke  auf 
die  vergleichende  Mythologie,  2.  Probleme  und  Methoden,  3.  Die  analogische 
Schule,  4.  Die  psychologische  Schule,  5.  Fragen  der  Lautlehre,  6.  Die  Mythologie 
der  Veden  (S.  318—597).  K.  AV. 


The  Home  of  tlie  Eddie  Poems  with  especial  reference  to  the  Helgi-Lays 
by  Sophus  Bugge.  Revised  edition  with  a  iiew  introduction  concerning 
Old  Norse  Mythology  by  the  Author.  Translated  by  W.  H.  8chofield 
London,  D.  Nutt,  1899.     LXXIX,  408.     [Grimm  Library  No.  XL] 

Das  Buch    ist  —  was  aus  dem  Titel  nicht  ohne  weiteres  hervorgeht  —  eine 
Übersetzung  des  zweiten  Bandes  von  S.  Bugges  Studien  über  die  Entstehung  der 


Bücheranzeigeu.  453 

nordischen  Götter-  und  Heldensagen,  der  im  Jahre  1<S96  unter  dem  Hnupttitel 
Helßedißtene  i  den  celdre  Edda,  deres  Hjem  og  Forbindeher  (Die  Helgilieder  der  älteren 
Edda,  ihre  Heimat  und  ihre  Verbindungen)  erschienen  ist.  Der  ganz  abweichende 
Titel  der  Übersetzung  Hesse  vermuten,  dass  das  Werk  auch  inhaltlich  durch  den 
Verfasser  eine  Umarbeitung  und  Erweiterung  nach  der  durch  den  Titel  angedeuteten 
Richtung  erfahren  habe;  doch  beschränken  sich  die  Abweichungen  vom  Original 
auf  unwesentliche  Kleinigkeiten  meist  redaktioneller  Natur,  sowie  auf  die  Beigabe 
der  Einleitung.  Der  Übersetzung  als  solcher  giebt  der  Verfasser,  der  sie  sowohl  in 
der  Handschrift  als  in  der  Korrektur  durchgesehen  hat,  das  Lob  der  Sorgfalt  und 
Treue  auf  den  Weg  mit.  Nach  seinem  berufenen  Zeugnis  kann  sie  somit  das 
Original  vollkommen  vertreten.  Legt  man  der  Titelfrage  überhaupt  irgend  welche 
Hedeutiuig  bei,  so  muss  allerdings  der  englische  Titel  als  nicht  ganz  zutreffend 
bezeichnet  werden.  Von  einem  Werke  über  die  Heimat  der  Eddalieder  erwartet 
man  doch  verschiedentliches  mehr  als  das  Buch  enthält,  das  anderseits  wieder 
vieles  bringt,  was  über  dieses  Titelprogramm  hinausgeht.  Doch  wäre  es  pedantisch, 
sich  darüber  aufzuhalten,  zumal  die  Frage  nach  der  Heimat  der  Helgilieder  im 
Vordergrunde  der  Untersuchungen  steht  und  der  Verfasser  sowohl  andere  Edda- 
lieder dabei  berücksichtigt,  als  auch  seine  Ansichten  über  die  Heimat  der  Edda- 
lieder überhaupt  ausspricht.  Diese  Ansichten  lassen  sich  kurz  dahin  zusammen- 
fassen, dass  die  eigentliche  Heimstätte  der  mythisch-heroischen  Dichtung  des  Nordens 
die  britischen  Inseln  seien,  wo  Skandinavier  mit  Angelsachsen  und  Iren  in  enge  Be- 
rührung kamen  und  Beeinflussungen  durch  sie  erfuhren;  dass  die  meisten  [S.  XVIII] 
Eddalieder  dort  gedichtet  seien,  oder  vorsichtiger  gefasst,  von  Dichtern  herrühren, 
welche  dort  ihre  Impulse  empfingen  [S.  XVIII],  und  dass  auch  die  älteste  hand- 
schriftliche Sammlung  solcher  Lieder  dort  veranstaltet  worden  sei  (S.  376).  Die  Be- 
weisführung wird  jedoch  nicht  auf  der  ganzen  Linie  angetreten,  vielmehr  stellen  diese 
Sätze  nur  eine  Art  Programm  auf,  dessen  Begründung  im  einzelnen  der  Verfasser 
in  künftigen  Arbeiten  zu  geben  verspricht.  Sein  eigentliches  Untersuchungsfeld 
sind  diesmal  die  Helgilieder,  an  denen  gewissermassen  vorbildlich  die  Richtigkeit 
dieser  Ansichten  dargethan  werden  soll,  wobei  patürlich  auch  andere  Eddalieder 
gestreift  und  allgemeinere  Fragen  berührt  werden. 

Die  theoretische  Möglichkeit  von  westlichen  Einflüssen  überhaupt  ist  durch 
die  historischen  und  kulturellen  Verhältnisse  der  Vikingerzeit  gegeben;  dass  solche 
wirklich  stattgefunden  haben,  ist  nicht  nur  möglich,  sondern  auch  wahrscheinlich, 
in  manchen  Einzelheiten  wie  in  allgemeineren  Zügen  der  geistigen  Physiognomie 
dieser  Zeiten  auch  nachgewiesen.  Gewiss  kann  eine  solche  Erweiterung  des 
geistigen  Horizontes,  wie  sie  die  Ausbreitung  der  Skandinavier  über  den  Nord- 
westen Europas  zur  Folge  hatte,  nicht  ohne  Einfluss  auf  ihre  litterarische  Produktion, 
ihre  geistige  Kultur  überhaupt  geblieben  sein,  und  wenn  Bugge  auf  diese  kultur- 
geschichtichen  Thatsachen  Gewicht  legt,  wenn  er  sich  bemüht,  Folgerungen 
daraus  zu  ziehen  und  bestrebt  ist,  mit  diesen  Möglichkeiten  zu  rechnen,  zu  erproben, 
ob  sie  nicht  einen  Schlüssel  an  die  Hand  geben,  der  bisher  verschlossene  oder 
unbeachtet  gebliebene  Pforten  der  Erkenntnis  öffnet,  so  bedeutet  der  Versuch  als 
solcher  gewiss  ein  theoretisches  Verdienst.  Aber  nicht  gegen  diese  allgemeine  These 
richtet  sich  die  Opposition  und  der  Unglaube,  auf  den  die  Studien  —  in  ver- 
schiedenem Ausmasse  und  mit  Abstufungen  —  gestossen  sind,  sondern  gegen  die 
positiven  Einzelaufstellungen  und  die  Methode,  mittels  welcher  derartige  Einflüsse 
als  wirklich  vorhanden  oder  wahrscheinlich  nachgewiesen  werden  sollen.  Sie  ist 
aus  dem  ersten  Bande  der  Studien  bekannt;  sie  ist  in  dem  zweiten  Bande  keine 
andere    geworden,    es    sei    denn,    dass    ihrer  Tragkraft  noch  grössere  Belastungen 


454  Jiriczek: 

zugemutet  werden,  so  grosse,  dass  nicht  viele  wagen  werden,  dem  Verfasser  bei 
seinem  schwindelnden  Flug  in  das  Reich  der  Möglichkeiten  zu  folgen.  Gewiss, 
die  Sagen forschung  muss  mit  Möglichkeiten  rechnen:  Beweise  von  mathematischer 
Sicherheit  lassen  sich,  sobald  man  das  vorliegende  Sagenmaterial  überschreitet  und 
zur  Rekonstruktion  der  Vorstufen,  zu  der  vorlitterarischen  Entwicklung  übergeht, 
kaum  jemals  beibringen;  Wahrscheinlichkeit  ist  in  den  meisten  Fällen  das  höchste, 
was  erreicht  werden  kann,  Möglichkeit  häufig  das  einzige,  was  wirklich  erreicht  wird. 
Aber  auch  die  Möglichkeit  hat  ihre  Grade;  und  sehr  viele  Aufstellungen  in  diesen 
Studien  lassen  sich  nur  insofern  als  Möglichkeiten  bezeichnen,  als  sich  ihre  Unmög- 
lichkeit nicht  handgreiflich  beweisen  lässt.  In  einer  Partie  der  Helgilieder  wird  eine 
Werbesage  erzählt;  in  dieser  spielt  ein  Jarl  Franmarr,  der  seinem  König  rät,  die 
Werbung  Hjörvards  um  die  Königstochter  abzuschlagen,  eine  Rolle;  er  verwandelt 
sich  in  einen  Adler  und  bewacht  die  Frauen.  In  den  Grundzügen  der  Werbesage 
glaubt  Bugge  eine  Ähnlichkeit  mit  der  Werbung  Chlodwigs  um  Chrodechildis  zu 
erkennen.  Von  dieser  Basis  aus  —  die  als  „unmöglich"  nicht  nachgewiesen  werden 
kann,  die  aber  auch  nicht  die  geringste  Wahrscheinlichkeit  für  sich  hat  —  operiert 
der  Verfasser  nun  weiter.  Nach  der  fränkischen  Geschichte  oder  Sage  rät  ein 
Ratgeber  dem  burgundischen  König,  die  Zusage  rückgängig  zu  machen;  er  heisst 
Aridius.  Aridius,  Arideus  konnte  von  Germanen  als  Adlermann  verstanden  werden: 
er  wird  bei  Fredegar  als  sainenn  und  pi'udentissimitn  bezeichnet;  ein  entsprechender 
Ausdruck  konnte  von  Skandinaviern  als  zaubergewaltig  aufgefasst  werden:  damit 
war  der  Impuls  gegeben,  nach  Analogie  mythischer  Erzählungen  und  Märchen  die 
Adlerverwandlung  des  Jarls  zu  erfinden.  Auch  sein  Name  erfährt  in  diesem  Zu- 
sammenhange einen  Erklärungsversuch.  Gregor  von  Tours  (und  Lib.  bist.  Franc.) 
nennt  den  Aridius  cirum  mlustrem.  Sobald  die  fränkische  Erzählung  zu  den  Angel- 
sachsen gedrungen  war,  konnte  dieses  Epitheton  durch  das  ags.  freänunre  oder 
fru-m'krc  ersetzt  werden,  und  dieses  kann  ein  nordischer  Dichter  wieder  durch 
Umdeutung  in  den  Namen  Franmarr  verwandelt  haben.  Aber  noch  ein  anderer 
Aridius  hat  bei  Franmarr  Gevatter  gestanden:  der  heilige  Aridius,  Abt  in  Limoges. 
Die  Taube,  die  sich  nach  Gregors  Erzählung  auf  den  Heiligen  niederliess  und  an- 
zeigte, dass  er  des  heiligen  Geistes  voll  war,  hat  mitgewirkt  zu  der  Vorstellung 
von  der  Verwandlung  des  Aridius-Franmarr  in  einen  Adler.  Die  vielen  Wunder 
des  heiligen  Aridius  mussten  natürlich  den  Glauben  an  die  Zauberkraft  des  Aridius- 
Franmarr  erhöhen.  In  der  nordischen  Werbesage  spielt  ein  wunderbarer  Vogel 
eine  Rolle;  er  bietet  sich  dem  Werber  an,  ihm  behilflich  zu  sein,  und  verlangt 
dafür  Tempel,  viele  Altäre  und  goldgehörnte  Kühe.  Wer  sich  hinter  diesem 
Vogel  birgt,  erfahren  wir  aus  unserer  Überlieferung  nicht;  Bugge  vermutet,  es  sei 
wieder  Franmarr,  der  den  Werber  zum  besten  hat,  und  glaubt  in  der  Rolle  des 
Aridius  I.  dafür  Stützen  zu  finden.  Aber  auch  Aridius  II.  ist  nicht  unbeteiligt, 
denn  von  ihm  wird  erzählt,  er  habe  als  einzige  Begünstigung  angestrebt  (oder  wie 
immer  man  die  Worte  unum  sibi  tantnm  jvivilefjium  cindicans  wiedergeben  mag), 
Kirchen  bauen  zu  können;  er  errichtete  Tempel  zu  Ehren  der  Heiligen  Gottes 
und  gründete  ein  Kloster.  Alles  das  wird  man  nicht  als  unmöglich  nachweisen 
können,  aber  die  Möglichkeit  dieser  Zusammenhänge  beruht  auf  so  vielen  Voraus- 
setzungen und  Hilfsannahmen,  die  wiederum  nur  vage  „Möglichkeiten"  sind,  dass 
der  wissenschaftliche  Wert  der  Hypothese  wohl  äusserst  gering  ist.  Diese  Hypothese 
ist  nicht  die  einzige  ihrer  Art,  auch  nicht  die  extremste;  sie  ist  nur  als  beliebiges 
Beispiel  für  die  Unmöglichkeit  einer  Widerlegung  solcher  Aufstellungen,  bei  denen 
alles  auf  den  Glauben  ankommt,  ausgehoben.  Mit  solchen  Ähnlichkeiten  lässt  sich 
eben    alles    beweisen   und   gegen    solche  Beweise  lässt  sich  nicht  kämpfen.     Man 


Büclieranzeigeu.  455 

kann  nur  an  sie  glauben  oder  seinen  Unglauben  erklären.  In  dieser  Lage  befindet 
man  sich  dem  grössten  Teil  der  Aufstellungen  Bugges  gegenüber,  darüber  kann 
der  Aufwand  von  Wissen  und  Gelehrsamkeit,  Scharfsinn  und  Geistesbeweglichkeit, 
mit  dem  Bugge  seine  Ideen  darlegt  und  verficht,  nicht  hinwegtäuschen.  Selbst- 
verständlich ist  er  nicht  fruchtlos  verschwendet;  in  Abschnitten,  wo  festerer  Boden 
berührt  wird,  wie  in  den  Kapiteln  HeUji  a  danish  King,  Helgi  in  Saxo,  Relation  to 
anqlosaxon  epics  u.  a.  m.  wird  man,  auch  ohne  in  allen  Details  zu  folgen,  eine 
Vermehrung  der  Erkenntnis  durch  treffende  Nachweise,  eine  Förderung  der  For- 
schung durch  Aufstellung  neuer  Gesichtspunkte  mit  weitem  Ausblick  begrüssen. 
Zerstreut  durch  das  Buch  hin  stehen  neben  gewagtesten  Thesen  und  Erklärungen 
wertvolle  philologische  und  sagenhistorische  Beobachtungen,  wie  es  tiberhaupt 
keiner  Hervorhebung  bedarf,  dass  auch  diese  Portsetzung  der  Studien  auf  jeder 
Seite  von  der  bekannten  Gelehrsamkeit  des  Verfassers  Zeugnis  ablegt.  Sofern  aber 
das  Buch  dem  Nachweise  irischer,  antiker  und  fränkischer  Bestandteile  in  den 
Helgiliedern  und  Helgisagen  und  der  Losreissung  der  Eddapoesie  von  ihrem  hei- 
mischen Boden  bestimmt  ist,  erreicht  es  sein  Ziel  nicht.  0.  Jiriczek. 


Karl  Bücher,  Arbeit  und  Tihythmus.    Zweite,  stark  vermehrte  Auflage. 

Leipzig,  B.  G.  Teubuer,  1899.     X.  412  S.     8°. 

Dass  die  ausgezeichnete  Schrift  Büchers  nicht  nur  gelobt,  sondern  auch  gelesen 
wurde,  zeigt  das  Erscheinen  dieser  zweiten  Ausgabe  nach  Ablauf  von  kaum  drei 
Jahren.  Das  Grundgerüste  des  Buches  ist  dasselbe  geblieben;  an  dem  von  emsiger 
Empirie  zugleich  und  starker  Intuition  getragenen  Gedankengang  hatte  der  Verf. 
nichts  zu  ändern.  Dagegen  hat  er  noch  einige  Fragen,  die  ihm  am  Wege  lagen, 
hereingezogen  und  zu  drei  neuen  Kapiteln  ausgestaltet:  V.  Die  Anwendung  des 
Arbeitsgesanges  zum  Zusammenhalten  grösserer  Menschenmassen;  VI.  Gesang  mit 
anderen  Arten  der  Körperbewegung;  VIII.  Frauenarbeit  und  Frauendichtung.  Von 
den  schon  früher  vorhandenen  Abschnitten  hat  ganz  besonders  der  über  die  ver- 
schiedenen Arten  der  Arbeitsgesänge  an  Fülle  gewonnen;  sein  Umfang  hat  sich 
mehr  als  verdoppelt,  indem  die  einzelnen  Gattungen  in  grösserer  Zahl  aufgestellt, 
vor  allem  aber  mit  reicheren  Proben  aus  fernen  und  nahen  Volksüberlieferungen 
begleitet  werden. 

Wie  sehr  gerade  der  Volkskunde  diese  Erweiterungen  zu  Gute  kommen,  braucht 
nicht  gesagt  zu  werden  Ausdrücklich  wollen  wir  nur  auf  jenes  Kap.  Y  verweisen 
mit  seinen  lehrreichen  Ausführungen  über  die  Bittarbeit,  das  Stück  der  mensch- 
lichen Arbeitsordnung,  -das  hinter  der  Stufe  der  Sklaverei  und  Leibeigenschaft 
weit  zurückliegt". 

Auch  im  übrigen  hat  der  Verf.  da  und  dort  einen  Satz  eingefügt,  ein  Ergebnis 
bestimmter  formuliert  oder  eine  Behauptung  eingeschränkt.  In  der  1.  Auflage,  S.  95 
war  dem  Leser  aufgefallen,  dass  B.  den  Beziehungen  der  epischen  Poesie  zur 
Körperbewegung  offenbar  nicht  gerecht  wurde.  Jetzt,  S.  5-29  ff.,  wird  diesen  Be- 
ziehungen etwas  mehr  eingeräumt,  aber,  wie  uns  scheint,  noch  nicht  genug.  Die 
epische  Dichtung  auf  der  Stufe  des  Tanzliedes  hat  ein  ausserordentlich  weites 
Gebiet  inne.  Man  denke  an  die  echte  Ballade,  deren  Vortragsweise  z.  B.  von 
Steenstrup  Vore  Folkeviser  (Kph.  1891)  S.  8ff.  anschaulich  behandelt  wird.  Die 
von  B.  erwähnten  Tanzlieder  der  Faeringer  stehen  nicht  so  vereinzelt  da,  sie  hatten 
früher  weit  und  breit  ihre  Gegenstücke.  Auch  an  die  isländischen  Rimur  ist  zu 
erinnern.  Mochten  bei  dem  getanzten  Heldenlied  auch  mimische  Elemente  ein- 
fliessen.  so  kann  uns  das  doch  nicht  hindern,  von  wirklicher  epischer  Dichtung  zu 


456  Heusler: 

sprechen.  „Bis  zur  Stufe  des  Tanzliedes  lüsst  sich  von  einer  epischen  Dichtung^ 
eigentlich  nicht  sprechen,  oder  vielmehr  ihre  Entwicklung  fällt  bis  dahin  mit  der- 
jenigen des  Dramas  zusammen";  „dass  die  Zwischenstufe  des  epischen  Tanzliedes 
hier  ausgeschlossen  werden  musste,  liegt  auf  der  Hand;  wo  es  vorkommt,  ist  es 
als  Vorstufe  des  Dramas  aufzufassen"  —  diese  Sätze  werden  gerade  durch  die 
germanischen  Balladen  nicht  bestätigt.  Der  Isolierungsprozess  der  drei  musischen 
Künste  lässt  sich  auf  dem  epischen  Gebiet  in  lückenloser  Vollständigkeit  und  an 
der  Hand  von  ungemein  reichem  Materiale  verfolgen. 

Zu  den  Liedern  an  der  Handmühle  möchte  ich  noch  bemerken,  dass  auch 
eine  isländische  Königsgeschichte  eine  norwegische  Magd  kennt,  die  allein  an  der 
Mühle  steht  (oder  sitzt)  und  mit  wunderschöner  Stimme  zum  Mahlen  singt  (Mor- 
kinskinna  S.  224.  B^ornmanna  sögur  7,  233).  Und  der  von  Bücher  S.  98  auch  kurz 
erwähnte  Valkyrjengesang  der  Niälssaga  regt  die  Vermutung  an,  dass  in  der 
stilistisch  auffallenden  Wiederholuugsfigur  Vindum,  vindum  ein  Stück  echter 
Webelieder  nachgebildet  sei. 

Berlin.  Andreas  Heusler. 


Kiinz  Kistener,  Die  Jakobsbrüder,  herausgegeben  von  K.  Euling.  (A.  n. 
d.  T.  Germauistische  Abhandlungen,  begründet  von  K.  Weinhold, 
herausgeg.    v.   Friedrich  Yogt,    16.  Heft.)     Breslau,    M.  &  H.  Marcus, 

1.S99.     130  S.     <s. 

Herr  Adam,  ein  reicher  bayerischer  Graf,  der  schon  zwölf  Jahre  mit  seiner 
Gemahlin  in  kinderloser  Ehe  lebt,  fleht  den  hl.  Jakobus  an,  ihm  zu  einem  Erben 
zu  verhelfen  und  gelobt,  diesen  auf  eine  Fahrt  zum  hl.  Jakobus  nach  Kompostella, 
dem  seit  dem  9.  Jahrhundert  stets  gern  besuchten  Wallfahrtsort  in  Spanien  zu 
senden.  Seine  Bitte  wird  erfüllt.  Als  der  Knabe  12  Jahr  alt  ist,  begiebt  er  sich 
zur  Betrübnis  der  Eltern  auf  die  Reise  und  schliesst  unterwegs  treue  Freundschaft 
mit  einem  jungen  Schwaben  aus  Heigerloh.  Noch  sind  die  beiden  Pilger  nicht  am 
Ziel,  als  der  Grafensohn  stirbt.  Seinem  letzten  Wunsche  folgend,  nimmt  der 
Freund  seine  Leiche  mit  nach  Kompostella,  und  auf  seine  unablässigen  Bitten 
weckt  der  hl.  Apostel  durch  ein  Wunder  den  Toten  auf.  In  die  Heimat  zurück- 
gekehrt nimmt  sich  der  Grafensohn  seines  Freundes  aufs  beste  an,  so  dass  dieser 
seinen  verarmten  Eltern  aufhelfen  kann.  Ja,  als  der  Schwabe  am  Aussatz  erkrankt, 
zögert  er  nicht,  das  Blut  seines  einzigen  Kindes  zu  opfern,  um  dem  Freunde,  dem 
er  das  Leben  verdankt,  zur  Heilung  zu  verhelfen.  Zur  Belohnung  für  seine  Treue 
wird  denn  auch  das  Kind  wieder  lebendig,  und  zum  Dank  wird  das  Kloster 
Gnadenau  gegründet. 

Dies  in  kurzen  Zügen  der  Inhalt  des  anmutigen  Gedichtes  von  den  ,.Jakobs- 
brüdern",  das  im  14.  Jahrhundert  Kunz  Kistener  im  Elsass,  vielleicht  zu  Strassburg, 
zum  Preise  des  hl.  Jakobus,  in  stofflicher  und  stilistischer  Anlehnung  an  Konrad 
von  Würzburg  verfasste  und  das  uns  Euling  hier  in  einer  neuen,  kritischen  Aus- 
gabe mit  reichen  litterarhistorischen,  sprachlichen  und  sachlichen  Beigaben  vorlegt. 
Uns  interessieren  besonders  die  Seiten  41 — 4.s  seiner  Einleitung,  wo  der  Heraus- 
geber über  die  zu  Grunde  liegende  mittelalterliche  Sage  von  der  Aufopferung 
zweier  Freunde  füreinander  (die  Amicus-  und  Ameliussage,  von  Konrad  von 
Würzburg  im  Engelhart  behandelt)  mit  grosser  Sachkenntnis  und  Beherrschung 
der  Legendenlitteratur  sich  verbreitet.  Im  deutschen  Volksmärchen  vom  „treuen 
Johannes"  erscheint  die  Sage  mit  alten  orientalischen  Motiven  eng  verknüpft,    wie 


Bücheranzeigen.  457 

Reinhold  Köhler  in  seinem  grundlegenden  Aufsätze^)  nachgewiesen  hat.  Auch 
über  die  Verehrung  des  hl.  Jakobus  im  deutschen  Mittelalter,  wie  sie  sich  in 
unserer  Litteratur  spiegelt,  sowie  über  die  poetische  Verwertung  alter  Motive 
(Wallfahrtsgelübde  bei  unfruchtbarer  Ehe  u.  dgl.)  iin  14.  Jahrhundert  belehrt  uns 
Eulings  Buch  in  ausgiebiger  Weise.  Die  Volkskunde  dankt  ihm  eine  gute  Grund- 
lage, auf  der  sie  weiterbauen  wird. 

Würzburg.  Robert  Petsch. 


Aus  den  Tiroler  Bergen.    Ein  AVanderbuch  von  Adolf  Pichle r.    Zweite 
Auflage.     Leipzig,  Georg  Heinrich  Meyer,  1899.     S.  oll.     S°. 

Adolf  Pichler,  der  am  4.  September  d.  J.  sein  achtzigstes  Lebensjahr  in  voller 
Frische  unter  allgemeiner  Teilnahme  vollendete,  der  grosse  Tiroler  Dichter,  ist 
auch  ein  tüchtiger  Professor  der  Mineralogie  an  der  Innsbrucker  Universität  ge- 
wesen, und  hat  von  Jugend  auf  den  Hammer  in  der  Hand  die  heimischen  Alpen 
durchstreift  und  bestiegen.  Von  kräftigen  Gliedern  und  straffen  Sehnen  erkletterte 
er  wiederholt  die  unzugänglichsten  Schroffen  und  kennt  so  die  Geheimnisse  der 
wildesten  Gebirge,  wie  nur  ein  Gemsjäger  und  kecker  Hirtenbub.  Von  diesen 
Wanderungen  erzählt  in  kurzen  Kapiteln  das  vorliegende  Buch  des  Ritters  von 
Rautenkar,  in  vortrefflicher  Sprache,  lebendig,  interessant  und  giebt  auch  an  vielen 
Stellen  Blicke  in  Leben,  Sitten  und  Meinungen  des  Tiroler  Volkes,  das  Adolf 
Pichler  durchaus  kennt  und  das  er  von  ganzer  Seele  liebt.  K.  Weinhold. 


Feilberg,  H.  F.,  Dansk  Bondeliv,  saaledes  soni  det  i  Mandes  Minde  fortes- 

navuiig    i  A'estjylland.'     Anden   Del.     Kjobenhavn,    i  Konnnission    hos 

G.  E.  C.  Gad,  1899.     S.  TV.    212.     8^ 

Im  Jahre  1889  erschien  der  erste  Teil  (2.  Aufl.  1898)  dieser  Schilderung  des 
dänischen  Bauernlebens,  namentlich  in  Westjütland,  entworfen  von  Dr.  H.  F.  Feil- 
berg, damals  Pastor  in  Bramming.  Er  hatte  eine  genaue  Bekanntschaft  mit  Land 
und  Leuten  im  Lande  selbst  erworben,  und  ward  durch  seine  Vertrautheit  mit  den 
litterarischen  Quellen  der  dänischen  Volkskunde  unterstützt.  Dieser  erste  Teil  be- 
handelte: 1.  Westjütland  nach  seiner  ärmlichen  Natur  unter  den  Weststürmen  und 
den  Einbrüchen  der  West(Nord)see.  2.  Der  Hausbau.  3.  Das  arbeitvolle  Leben 
des  Bauern.  4.  Das  innere  Leben,  ö.  Handel.  6.  Aus  der  Zeit  der  alten  Kom- 
muneverfassung. 7.  Zollgrenze  an  der  Königsau  und  Schmugglerei.  Hausierhandel 
und  Märkte.     8.    Feste.     9.    Aus  dem  Familienleben. 

Auf  diesen  ersten  Teil  ist  erst  jetzt  der  zweite  gefolgt,  welcher  im  ersten  und 
längsten  Abschnitt  (S.  1—135)  die  Familienfeste  eingehend  beschreibt:  Hochzeit, 
Geburt  und  Sechswochen,  Tod  und  Begräbnis.  Im  2.  Abschnitt  werden  die  Volks- 
sünden: Trunkenheit  und  geschlechtliche  Leichtfertigkeit  besprochen,  im  3.  Aber- 
glaube und  Volksmedizin,  in  einer  Beigabe:  Die  ungeschriebene  Volkshtteratur: 
Lieder,  Märchen,  Sagen,  Tiergeschichten,  Spott  und  Neckereien,  Rätsel. 

Ein  ungemein  reicher  Stoff  ist  hier  wohlgeordnet  und  zuverlässig  vorgelegt 
und  in  einer  sehr  geschickten  und  ansprechenden  Form,  so  dass  auch  die  Ver- 
breitung   des  Buches  unter  den  ungelehrten  Lesern,    für  welche  die  Schriften  be- 

1)  Aufsätze  über  Märchen  und  Volksheder,  herausg.  v.  J.  Rolte  und  E.  Schmidt  S.  24  ff. 


458  Weinhold: 

stimmt   sind,    die    das  Udvalg  for  Polkeoplysings  Fremme  in  Kopenhagen  heraus- 
S'iebt,  mit  Zuversicht  erwartet  werden  kann. 

Pastor  Dr.  Feilberg  hat  seinen  zahlreichen  A'^erdiensten  um  die  skandinavische, 
insbesondere  um  die  dänische  Volkskunde  ein  neues  zugefügt. 

K.  Weinhold. 


Folklore  Catalan.     Legendes    du    Roussilloii    par    Horace  Chauvet. 

Paris,    J.  Maisonneuve.     Perpignau,    Imprimerie  -  Librairie   de  l'Inde- 

pendant,  1899.     S.  119.     8°. 

üie  kleine  Sammlung  von  Sagen  aus  dem  Roussillon,  der  südöstlichsten 
Pyrenäenlandschaft  Frankreichs,  die  von  einer  catalonischen  Bevölkerung  bewohnt 
ist,  heissen  wir  willkommen.  Der  Herausgeber  H.  Chauvet,  Mitredakteur  des  Inde- 
pendant  des  Pyrenees-orientales,  hat  29  Sagen  gesammelt,  die  er  in  legendes  fan- 
tastiques,  1.  religieuses  und  1.  diverses  teilte.  Die  ersteren  sind  meist  Geschichten 
von  den  Berg-  und  Wasserfräulein  (fadas,  encantadas,  donas  d'aygua,  bruixas) 
und  ihren  Liebschaften  mit  den  Hirten  der  Berge  und  den  Fischern  der  See.  Der 
Übergang  dieser  geisterhaften  Schönen  in  die  Hexen  ist  in  mehreren  Geschichten 
vollzogen.  Berührungen  mit  unseren  deutschen  Sagen  von  den  elbischen  Frauen 
ergeben  sich  überall.     Eine  will  ich  kurz  mitteilen,  la  Grisette  de  Collioure. 

Die  Hexen  von  Collioure  waren  drei  reizende  Mädchen;  die  eine,  Grisette 
genannt,  hatte  sich  in  einen  hübschen  jungen  Fischer  verliebt  und  wollte  ihn 
heiraten.  Aber  ein  altes  Weib  verriet  diesem,  wie  es  um  seine  Braut  stund  und 
riet  zur  Vorsicht.  Er  verbarg  sich  also  in  ihrer  Stube  und  wartete  der  Dinge. 
Um  Mitternacht  öffnete  das  Mädchen  das  Fenster,  winkte  mit  einem  weissen  Tuche 
und  es  kamen  zwei  schöne,  schon  verheiratete  Frauen.  Die  drei  beschlossen,  auf 
die  Insel  S.  Vincent  zu  fahren,  um  für  das  morgende  Kirchweihfest  sich  Blumen 
zu  holen.  Grisette  nahm  aus  ihrem  Schranke  einen  Salbentopf,  in  den  jede  ihren 
Daumen  tauchte.  Darauf  sprachen  sie:  pet  sus  fuUa,  mena  nos  ä  la  barca,  schlugen 
neunmal  das  Kreuz  und  verschwanden.  Der  Bursch  machte  das  nach,  folgte  den 
bruixas  und  trat  vor  ihnen  in  das  Boot,  das  bereit  lag  und  verbarg  sich  darin. 
Darauf  rief  die  eine:  vara  per  un,  vara  per  dos,  vara  per  tres,  vara  per  cuatre! 
Das  Boot  fuhr  nun  rasch  nach  der  Insel;  während  dessen  sprach  Grisette:  ,.In 
meiner  Brautnacht  will  ich  meinen  Mann  in  einen  Fisch  verwandeln  und  er  soll 
an  der  ganzen  Küste  hinschwimmen.  Das  wird  sehr  drollig  sein!"  „Ich",  sagte 
die  andere,  „habe  meinen  Mann  damals  in  ein  Pferd  verwandelt,  und  er  musste 
alle  Strassen  durchtraben.  Am  anderen  Morgen  war  er  davon  ganz  elend."  Aber 
da  war  man  an  der  Insel,  die  drei  Weiber  stiegen  aus,  pflückten  die  seltenen 
Blumen,  und  der  Bauer  that  desgleichen,  verbarg  sich  aber  dann,  ehe  jene  zurück- 
kamen, im  Boot.  Die  Rückfahrt  ging  rasch  von  statten,  und  der  Mann  war  froh, 
nach  seiner  lehrreichen  Reise  wieder  daheim  zu  sein.  Er  erzählte  sein  Abenteuer 
den  Kameraden  und  teilte  ihnen  von  den  Blumen  der  Insel  S.  Vincent  mit.  Daran 
erkannte  die  Braut,  was  geschehen  war,  sie  gestand  und  um  ihre  Heirat  war  es 
geschehen. 

Aus  der  Abteilung  der  religiösen  Geschichten  sei  folgendes  (S.  69)  mitgeteilt: 
Am  Johannisabend  werden  auf  den  offenen  Plätzen  und  auf  den  Bergen  grosse 
Breuer  angezündet,  besonders  aber  charakteristisch  ist  la  cueillette  de  la  bonne 
aventure.  Die  jungen  Burschen  und  Mädchen  gehen  mit  der  Morgenröte  in  die 
Wiesen,  um  gewisse  neun  Pflanzen  zu  sammeln,  wenn  sie  noch  nass  vom  Tau 
sind:  Johanniskraut,  Verbena,  Grundheil,  Jasmin,  Camille,  Citronelle,  Farn,  Thymian 


Bücheranzeigen.  451  > 

und  Rosmarin.  Besonders  gesucht  sind  Verbena  und  Grundheil  (trescam),  weil 
sie  alle  Hautkrankeiten  heilen  und  die  Hautfarbe  verschönern.  Die  Blumensträusse 
bringen  die  Mädchen  im  Kreuz  an  Thüren  und  Fenstern  an,  um  den  bösen  Geistern 
den  Eintritt  zu  verwehren.     Man  erzählt  sich  darüber  folgendes: 

Ein  Mädchen  hatte  sich  in  einen  schönen  Burschen  vom  Gebirge  verliebt  und 
wollte  ihn  heiraten.  Am  Johannismorgen  hatte  sie  die  Glückskräuter  gesammelt 
und  aus  Zufall  einen  Thymian  und  einen  Rosmarinstrauss  kreuzweise  über  der 
Thür  angesteckt.  Als  ihr  Geliebter  kam,  konnte  er  nicht  in  das  Haus  eintreten, 
und  als  sie  ihn  fragte,  sprach  er:  „Ich  fürchte  mich  vor  dem  Strauss,  der  wie  eine 
Natter  aussieht."  „Das  ist  keine  Natter,  das  ist  ein  Kreuz  von  Blumen,  vor  dem 
sich  nur  die  Bösen  fürchten."  Und  nun  gestand  der  Bursche,  dass  er  der  Teufel 
sei,  der  ihre  Seele  haben  wollte  und  ohne  dieses  Kreuz  sie  bekommen  hätte. 
Seitdem  stecken  die  Mädchen  am  Johannistage  ein  solches  Kreuz  über  ihre  Thür. 
Sie  stellen  auch  am  Johannisabend  ein  Gefäss  mit  Wasser  vor  ihr  Fenster,  worin 
sie  Eiweiss  schlagen.  Aus  den  Bildungen,  welches  dieses  beim  Beginn  des  Tages 
angenommen  hat,  werden  die  guten  oder  schlechten  Eigenschaften  ihrer  Schätze 
gedeutet. 

Die  Erinnerungen  an  Roland,  den  Helden  Karls  des  Grossen,  leben  noch  in 
den  östlichen  Pyrenäen.  Seine  Pusstapfen  in  Steinen  werden  gezeigt,  Felsspalten 
hat  er  mit  seinem  Schwerte  gehauen,  grosse  Steinblöcke  hat  er  als  Wurfsteine 
gebraucht,  Vertiefungen  in  Felsen  bezeichnet  man  als  Krippen  seines  Rosses.  Er 
ist  zum  Riesen  gemacht,  und  Riesensagen,  die  den  unseren  gleichen,  wurden  auf 
ihn  übertragen  (S.  115—118). 

Auch  das  Gedächtnis  eines  anderen  Helden  Karls,  des  Markgrafen  Wilhelm 
von  Aquitanien,  Guillaume  d'Orange,  ist  nicht  erloschen.  In  der  S.  71  mitgeteilten 
Sage  wird  er,  der  am  Ende  seines  Lebens  Mönch  ward  und  dafür  den  Heiligen- 
schein bekam,  nur  als  Sieger  über  Hölle  und  Hexen  gerühmt.  Die  Einsiedelei  des 
hl.  Wilhelm  de  Combred  liegt  am  Fusse  des  Pic  de  Tretzevents.  K.  W. 


Gitte'e,  Aug.,  Curiosites  de  ia  Vie  enfantine.    Etudes  de  Folklore. 

Paris,   Verviers    (Pont  St.  Laurent  19),    1899.     (Bibliotheque   Gilon.) 

S.  126.     8°. 

Herr  Prof.  Aug.  Gittee,  z.  Z.  in  Pepinster  in  Belgien,  den  Freunden  der  Volks- 
kunde wohl  bekannt,  legt  in  diesem  Büchlein  eine  Reihe  kleinerer  Aufsätze  vor, 
die  er  vergleicht  ä  de  legers  bateaux  destines  ä  penetrer  dans  les  baies  les  plus 
etroites,  pour  approvisionner  toutes  les  parties  d'un  pays.  Er  will  also  in  den 
weitesten  Kreisen  seiner  Landsleute  damit  Interesse  für  die  Volkskunde,  le  folklore, 
erwecken,  teils  durch  allgemeinere  Darlegungen,  wie  in  den  Aufsätzen:  I.  le  Folk- 
lore, IL  un  Musee  de  Folklore,  teils  durch  Besprechungen  einzelner  Gebräuche, 
Vorstellungen,  Überlieferungen,  so  in  III.  la  Rime  d'Enfant,  IV.  le  Jeu  de  Madame 
la  Rose  (ein  im  Lüttichschen  unter  diesem  Namen,  in  Holland  als  das  Spiel  vom 
Kanonike,  in  Deutschland  vom  Herrn  von  Ninive  bekanntes,  über  viele  Völker 
verbreitetes  Kinderspiel,  das  auf  Brautwerbung  und  Brautkauf  zurückgeht);  V.  le 
trou  en  terre  (eine  mit  Wasser  gefüllte  kleine  Erdgrube  wird  mit  Zweigen  und 
Erde  bedeckt  und  ein  Kind  zum  Hineinfall  gebracht:  Lüttich,  Flandern);  VI.  Censes 
de  bapteme  (durchbohrte  Zweicentimstücke,  die  an  einem  Seidenbande  getragen 
werden  und  für  glückbringende  Amulete  gelten.  Gevatter  und  Gevatterin  schicken 
sie  Freunden  und  Bekannten);    VII.    Sind  Dj'han  enn'e  va  nin  sin  s'pehon  (Saint 


460  Petsch: 

Jean  nc  s'en  va  pas  sans  poisson;  über  den  Glauben,  dass  das  Wasser  am  Johannis- 
tage ein  Menschenopfer  verlange);  VIII.  Les  coups  de  feu  pendant  la  nuit  de  Noel 
(der  Gebrauch,  in  der  Christnacht  zu  schiessen,  ist  in  Belgien  nur  im  Lüttichschen, 
wie  es  scheint,  bekannt,  in  Deutschland  findet  er  sich  mehr  in  der  Neujahrsnacht. 
Herr  G.  deutet  ihn  im  Anschluss  an  volksmässige  Erklärungen  auf  das  Verscheuchen 
der  Gespenster  oder  bösen  Geister,  indem  er  auf  die  Erklärung  der  Weihnachten 
als  grosses  germanisches  Totenfest  sich  stützt);  IX.  Les  Mahometans  dans  le  folk- 
lore  beige  (im  Hennegau  nennt  das  Volk  Pelslöcher  creyas  de  Sarrasins,  und  er- 
zählt von  Schmieden,  die  darin  gewohnt  haben.  Daran  knüpft  Herr  G.,  was  er 
Verwandtes  aus  Flandern  kennt,  wo  die  Türken  an  Stelle  der  Sarazenen  treten). 
X.  Spectres  et  fantomes  (Spiritistisches).  XI.  Contes  et  fabliaux  (im  Anschluss  an 
das  Buch  von  J.  Bedier,  les  Fabliaux,  werden  die  verschiedenen  Theorien  über 
die  Verbreitung  der  Märchen-  und  Erzählungsstoffe  vorgeführt).  K.  W. 


Adolf  Flachs,  Rumänische  Hochzeits-  und  Totengebränchc.    Berlin,  Georg 
Minuth.     H''. 

Auf  Grund  gediegener  rumänischer  Quellen  und  eigener  Beobachtung  schildert 
uns  Herr  F.  in  lebhafter  Sprache  die  Fülle  von  Vorstellungen  und  Bräuchen,  die 
das  rumänische  Volk  mit  der  Hochzeit  und  dem  Tode  verknüpfen.  Allenthalben 
sind  auch  die  Lieder  und  Sprüche,  die  sich  auf  die  behandelten  Vorgänge  beziehen, 
herangezogen  und  im  wesentlichen  geschmackvoll  übersetzt.  Erfreulich  ist  es,  dass 
wir  keine  abgebrochenen  Einzelheiten  vorgeführt  bekommen,  sondern  zusammen- 
hängende, freilich  stellenweise  fast  novellistische  Schilderungen.  Auf  die  Herkunft 
und  die  Verbreitung  der  einzelnen  Gebräuche  geht  der  Verf.  nicht  ein,  weist  uns 
auch  nichl  nach,  wo  wir  uns  über  rumänische  Volkskunde  weiter  belehren  können: 
immerhin  bietet  das  populäre  Schriftchen  auch  dem  Fachmanne  des  Neuen  und 
Outen  manches. 

Würzburg.  Robert  Petsch. 

Bobert  Mielke,  Die  Bauernhäuser  in  der  Mark.    Berlin  1<S')9  (Stankiewicz- 
sclie  Druckerei).     40  S.     8°. 

Der  Herr  Verfasser  ist  ein  weitgereister  Freund  der  Volkskunde,  gründlicher 
Kenner  der  Mark  und  feinfühliger  Künstler,  hat  uns  schon  öfters  mit  Schriften 
über  volkstümliche  Kunst  erfreut.  Dies  neue  Büchlein  ist  um  so  dankbarer  auf- 
zunehmen, als  sich  Herr  M.  hier  an  reiches,  selbst  gesammeltes,  konkretes 
Material  hält  und  im  Anschluss  an  die  grundlegenden  Forschungen  von  Meitzen 
u.  a.  die  Bautypen  mit  ihren  Unterabteilungen  gegeneinander  abzugrenzen  sucht. 
Einige  Hausinschriften,  die  man  in  der  Mark  vollständig  sammeln  sollte,  sowie 
Litteraturangabeii  schliessen  das  Heft,  dass  sich  auch  ausserhalb  Brandenburgs  für 
die  deutsche  Hausforschung,  besonders  durch  seine  reichen  Abbildungen  nützlich 
•erAveisen  wird.  R.  Petsch. 


Paul  Wigand,  Der  menschliche  Körper  im  Munde  des  deutschen 
Volkes.  Eine  Sammlung  und  Betrachtung  der  dem  menschlichen 
Körper  entlehnten  sprichwörtlichen  Ausdrücke  und  Kedensarten.  — 
Johannes  Alt,  Frankfurt  a.  M..  1891).     119  S. 


Bücheranzeigen.  461 

Ungeschickt  wie  der  kannibalische  Haupttitel  ist  das  ganze  Büchlein:  im  Stil 
(_Eine  Komik  ists  z.  B.,  wenn  einer  ein  Auge  auf  ein  Mädchen  wirft",  S.  3),  in 
der  Anordnung  (die  fünfte  Gruppe  S.  56  f.  bringt  lauter  Redensarten,  die  ebenso 
gut  anderswo  unterzubringen  wären),  in  der  Auswahl  („bei  meinem  Barte",  S.  2ä, 
soll  eine  deutsche  Formel,  „Gesichtspunkt",  S.  29,  volkstümlich  sein  u.  dgl.  ra.). 
Trotzdem  hat  der  liebenswürdige  Eifer  eines  für  die  Sache  begeisterten  Dilettanten 
eine  lehrreiche  Sammlung  zustande  gebracht,  die  nur  unter  der  prüden  Auslassung 
alles  Geschlechtlichen  (S.  4)  leidet.  Und  die  Zusammenstellung  bleibt  doch 
schliesslich  die  Hauptsache.  Dass  „Buckel"  (S.  27)  nicht  bloss  verächtlich  und 
burschikos,  sondern  mit  einer  gewissen  liebkosenden  Lithotes  gebraucht  wird,  wie 
der  Bauer  von  einem  „Sümmchen"  spricht:  dass  „hitzige  Leber"  (S.  39)  aus  der 
Volksmedizin  und  „Pfahl  im  Fleisch"  (S.  59)  aus  der  Bibel  stammt,  kann  sich  der 
Leser  leicht  selbst  ergänzen;  die  Fülle  von  Redensarten  aber,  zu  denen  die  Körper- 
teile Anlass  geben,  bietet  an  sich  eine  lehrreiche  volkskundliche  Thatsache.  Be- 
sonders interessant  sind  die  „miraischen  Redensarten"  (S.  15  f.),  wie  ich  die  von 
^symbolischen  Bewegungen  des  menschlichen  Körpers"  (S.  13)  genommenen  nennen 
möchte:  fussfällig  bitten,  sich  auf  die  Lippen  beissen,  einen  schiefen  Mund  ziehen; 
sodann  die  sachlichen  Vergleiche  (S.  63  f.),  wie:  der  Arm  am  Kreuz,  das  Fettauge, 
das  Fischbein.  Hier  wäre  freilich  eine  Sichtung  in  Bezug  auf  wirklich  volkstüm- 
lichen Gebrauch  besonders  nötig,  Wigand  führt  sogar  rein  wissenschaftliche  Termini 
wie  „Thalsohle"  und  „Landzunge"  (S.  67)  an.  —  Auch  Familiennamen  (S.  70)  und 
symbolische  Redensarten  allgemeinerer  Art  (S.  113)  wie  „etwas  mit  ansehen"  und 
Metaphern  von  der  Kleidung  wie  (S.  115)  „aus  dem  Ärmel  schütteln"  werden  ver- 
zeichnet. So  kommt  ein  reichhaltiges  Material  zusammen,  das  sowohl  für  die 
Volkskunde  als  auch  für  die  Stilistik  wertvoll  ist.  Wir  wollen  deshalb  trotz  allen 
Bedenken  für  den  Sammler  keineswegs  die  erste  der  (S.  72)  nach  den  Körperteilen 
auch  alphabetisch  zusammengestellten  1030  Redensarten  „über  die  Achsel  ansehen" 
verwenden,  sondern  lieber  No.  554:  beim  Anblick  dieses  Reichtums  „geht  einem 
das  Herz  auf." 

Berlin.  Richard  M.  Meyer. 


Deutsche  Mundarteu.  Zeitschrift  für  Bearbeitung  des  Mundartlichen 
Materials,  herausgegeben  von  Dr.  Joh.  Willibald  Xagl  zu  Wien. 
Bd.  L  Heft  3.     Wien.  C.  Fromme,  1899.     S.  163—268.     8°. 

Wir  verweisen  auf  unsere  Zeitschrift  VI,  46.  VII,  454.  Das  Heft  enthält  im 
wesentlichen  Fortsetzungen  und  polemische  Auseinandersetzungen  des  Heraus- 
oebers.  Zu  beachten  sind  die  Worterklärungen  von  Valentin  Hintner.  Die  Rund- 
schau über  die  mundartliche  Litteratur  rührt  mit  geringer  Ausnahme  von  Herrn 
J.  W.  Nag]  her. 


Jakol)  Bächtold,  Kleine  Schriften.  Mit  einem  Lebensbilde  von  W. 
von  Arx.  Herausgegeben  von  Theodor  Vetter.  Mit  Porträt  und 
Bibliographie.     Frauenfeld,  J.  Huber,  1899.     ö.  330.     8». 

Jakob  Bächtold,  als  ordentlicher  Professor  an  der  Züricher  Universität  am 
■s.  August  1897  noch  nicht  fünfzigjährig  gestorben,  ist  nicht  bloss  den  Litteratur- 
historikern  und  germanistischen  Philologen  rühmlich  bekannt,  sondern  auch  weiteren 
Kreisen    durch   sein  treffliches  Werk  „Gottfried  Kellers  Leben.     Seine  Briefe  und 


462  Eoediger: 

Tagebücher",  und  seine  Veröffentlichungen  aus  Mörikes  Nachlass  vertraut  geworden. 
Das  vorliegende  Buch  bringt  eine  Auslese  kleinerer  Aufsätze  von  allgemeinem 
Interesse,  sodann  eine  warm  geschriebene  Biographie  Bächtolds  von  W.  v.  Arx, 
einem  genauen  Freunde  und  Wandergenossen  des  früh  Geschiedenen,  ein  anziehendes 
Lebensbild  des  schweizerdeutschen  Gelehrten,  dem  eitel  Mühe  und  Arbeit  beschieden 
war  und  der  erst  spät  und  kurz  für  seine  der  Heimat  gewidmete  rastlose  Thätigkeit 
einen  massigen  Lohn  daheim  empfing,  nachdem  Deutschland  ihn  der  Schweiz  hatte 
entziehen  wollen.  —  Weshalb  wir  dieses  Bächtoldbuch  in  unserer  Zeitschrift  an- 
zeigen? Hauptsächlich  wegen  der  Reisebilder  aus  dem  Wallis,  welche  die  Neue 
Züricher  Zeitung  Ende  August  1883  zuerst  gebracht  hat  und  die  von  der  lebendigen 
Frische  und  dem  feinen  Humor  des  Bächtoldschen  Stils  in  solchen  Schriftstücken 
Zeugnis  geben.  Vornehmlich  sind  für  uns  von  Wert  die  Walliser  Sagen,  die 
Bächtold  auf  Grund  der  Sagensammlung  von  Tscheinen  und  Ruppen  mitteilt,  und 
die  sich  um  den  Aletschgletscher  als  den  Aufenthalt  der  armen  Seelen,  angesetzt 
haben.  Die  rührendste  ist  die  im  Wallis  sehr  verbreitete  Sage  von  der  belle  reve- 
nante  oder  der  schönen  Mailänderin.  Es  ist  die  geisterhafte  Erscheinung  eines 
vornehmen  schönen  jungen  Fräuleins  aus  Mailand,  das  barfuss  und  im  blossen 
Kopfe  in  die  grauenhafte  Wildnis  der  Törbjeralpe  nahe  der  Grimsel  wegen  ihrer 
Verzärtelung  verbannt  ist.  Sie,  die  fast  nie  einen  Schritt  ging,  immer  fuhr,  nie 
dem  Wetter  sich  aussetzte,  vor  aller  Anstrengung  zurückbebte,  stets  sorgsam  be- 
gleitet wurde,  muss  nun  einsam,  mit  nackten,  starren  und  wunden  Füssen,  über 
Eis  und  scharfe  Steine,  den  schönen  Kopf  ungeschützt,  in  dem  Unwetter  des  Hoch- 
gebirges wandern,  bis  sie  diese  ihre  einzige  Sünde  der  Verweichlichung  gebüsst  hat. 

K.  Weinhold. 


Aus  den 

Sitzuiigs-Protokollen  des  Vereins  für  Volkskunde. 


Freitag,  den  27.  Oktober  1899.  Herr  Privatdocent  Dr.  Rieh.  M.  Meyer 
sprach  über  Goethe  und  die  Volkskunde.  Schon  dem  Knaben  Goethe  bot  die 
Vaterstadt  mancherlei  Eindrücke  und  Anregungen  durch  die  ihn  umgebenden 
Bauten,  verschiedenartigen  Volksklassen,  Sitten  und  Bräuche  und  durch  Festlich- 
keiten. Die  Beobachtung  im  allgemeinen  wurde  dadurch  geweckt,  ein  Sammeltrieb 
aber  nicht  angeregt.  Goethe  geht  mehr  auf  die  grossen,  durchgehenden  Züge  aus, 
das  Einzelne,  Lidividuelle  fesselt  ihn  minder.  So  waren  ihm  auch  die  Einzelheiten 
der  Geschichtsforschung  weniger  angenehm,  weil  sie  ihm  die  grossen  Gesamtbüder 
störten,  die  er  von  den  Vorgängen  in  sich  trug.  Selbst  der  Strassburger  Aufenthalt 
weckte  doch  in  ihm  nicht  so  viel  Lust  am  Volkstümlichen,  wie  man  zu  behaupten 
pflegt.  Er  nimmt  das  Volk  als  festen  Stand  im  ganzen  und  fragt  nicht  viel  nach 
den  landschaftlichen  Unterschieden.  Er  notiert  sich  einiges  als  Kuriositäten,  aber 
er  sammelt  nicht  systematisch  und  strenge,  selbst  nicht  bei  den  Volksliedern. 
Erst  in  Italien  packt  ihn  das  Volksleben  und  erscheint  ihm  überall  poetisch,  daher 
giebt  er  hier  viel  mehr  und  genauere  Beschreibungen  des  Äusserlichen.  Man  halte 
daneben   z.  B.,    wie    wenig    sich    für    die  Volkskunde  aus  Hermann  und  Dorothea 


Protokolle.  4ß3 

gewinnen  lässt!  In  den  Jahren  1811  — 18  findet  bei  Goethe  freilich  eine  Annäherung 
an  das  Volkstümliche  in  Deutschland  statt,  aber  die  Italiener  bleiben  ihm  doch 
das  eigentliche,  wirkliche  Volk,  eine  Nation  von  künstlerischer  Vollendung.  — 
Herr  Geheimrat  Wein  hold  hebt  Goethes  Interesse  am  Egerland  hervor,  das  ver- 
anlasst war  durch  die  Beziehungen  zum  Rat  Grüner.  Prof.  Roediger  meint, 
dass  es  Goethe  wohl  gegangen  sei,  wie  den  meisten  Menschen:  das  Fremdartige 
fällt  mehr  auf  und  erscheiftt  wertvoller,  als  das  gewohnte  Heimische.  Dass  aber 
Goethe  auch  deutsche  volkstümliche  Erscheinungen  nicht  übersah  und  nicht  für 
unwert  hielt,  lehre  die  Weisung,  die  er  1808  seinem  Sohne  nach  Heidelberg  gab: 
„Besonders  auch  bemerke  auf  deinen  Wallfahrten  das  Volk  der  verschiedenen 
Provinzen,  ihre  Gestalt  und  Art,  ihre  Sitten  und  Betragen.  Vergleiche  sie  mit 
denen,  die  du  schon  kennst,  und  bereite  dich  auch  hierdurch  zu  einer  weiteren 
und  breiteren  Erfahrung."  —  Herr  Geheimrat  Weinhold  legte  eine  grössere  An- 
zahl eiserner  Figuren  aus  St.  Leonhart  im  Lavantthal  in  Kärnten  und  einige 
aus  St.  Bartholomä  in  Bayern,  letztere  dem  Museum  für  Volkstrachten  gehörig, 
vor.  Sie  stellen  in  roher  kindlicher  Ausführung  zusammengejochte  und  einzelne 
Ochsen,  Kühe,  Kälber,  Pferde,  einen  Ziegenbock,  Schweine,  Lämmer  dar; 
Kröten,  die  alte  Bilder  des  Uterus  sind;  Menschen  und  menschliche  Gliedmassen. 
Es  handelt  sich  um  Weihgeschenke,  die  teils  beim  Aussprechen  des  durch  die 
Figur  angedeuteten  Wunsches,  teils  nach  seiner  Erfüllung  dargebracht  w^erden. 
Man  stellt  sie  auch  aus  Wachs  und  Holz  her;  das  Eisen  nimmt  ab.  Es  ist  noch 
gebräuchlich  in  Bayern,  im  Böhmervvald,  im  Salzbargischen,  in  Kärnten,  Steiermark. 
Gefunden  werden  diese  Bildwerke  in  Marienkirchen,  bei  Marienbildern  im  Freien,  in 
Kirchen  und  Kapellen,  die  dem  hl.  Leonhard,  Wolfgang,  Oswald,  der  hl.  Kummer- 
nuss  (über  sie  Zeitschr.  9,  322  ff.),  der  hl.  Edigna  (z.  B.  in  Puch  bei  Fürstenfeld- 
bruck, Oberbayern)  geweiht  sind  (auch  auf  den  Kirchhöfen,  wenn  es  Sitte  ist,  sie 
über  die  Mauer  zu  werfen).  St.  Leonhard  gilt  überwiegend  als  Viehpatron,  war 
aber  früher  Patron  der  Gefangenen,  die  ihm  nach  der  Befreiung  ihre  Ketten  dar- 
brachten. Diese  erinnerten  den  Viehzüchter  an  seine  Viehketten,  und  auf  diese  Weise 
änderte  der  Heilige  seinen  Wirkungskreis,  dehnte  ihn  auch  aus  und  ward  zum  all- 
gemeinen Schutzherrn  des  Viehs  und  der  viehzüchtenden  Bauern.  Der  Vortragende 
erwähnte  noch  die  Lienharte  oder  Würdinger,  schwere,  kopflose  Menschengestalten 
männlichen  oder  w'eiblichen  Geschlechts  aus  Eisen,  die  haben  zu  können  heil- 
bringend wirkt.  Er  gab  ferner  Nachrichten  über  die  Feier  bestimmter  Leonhards- 
feste  und  wies  aus  den  Vitae  patrum  des  Gregor  von  Tours  (6.  Jahrh.)  und  dem 
Indiculus  superstitionum  et  paganiarum  (N.  Jahrh.)  nach,  dass  schon  damals  hölzerne 
Gliedmassen  als  Weihegaben  in  den  Kirchen  niedergelegt  wurden,  jedoch  wider 
den  Willen  der  Geistlichkeit,  die  jetzt  Derartiges  wenigstens  duldet.  Entsprechende 
Weihgeschenke  finden  wir  bei  den  Griechen,  Römern  und  nordamerikanischen 
Indianern.  Vgl.  auch  Zeitschr.  9,  324  ff.  —  Herr  Waiden  bemerkte,  dass  er  die 
Zeitschr.  9,  333  ff.  behandelten  niedersächsischen  Zauberpuppen  nicht  für  solche, 
sondern  nur  für  Spielzeuge  halten  könne,  die  von  Kindern  angefertigt  und  zur 
Erinnerung  an  sie  aufbewahrt  worden  seien.     Herr  Sökeland  bestritt  das. 

Freitaj»',  den  24.  November  1899.  Der  an  Stelle  des  verstorbenen  Herrn 
Geheimrats  Schwartz  als  Beisitzer  in  den  Vorstand  gewählte  Herr  Fabrikant 
Sökeland  wird  eingeführt.  Er  erläuterte  darauf  einen  im  hiesigen  Antiquarium 
befindlichen  römischen  Desemer  aus  Bronze,  seine  Darlegungen  durch  Ab- 
bildungen grossen  Masstabes  unterstützend,  und  gab  hiermit  eine  Ergänzung  zu 
seinem  Vortrage  vom  24.  Februar  d.  J.  (oben  S.  225).  Er  benutzte  dabei  einen 
Vortrag,    den  Herr  Direktorialassistent  Dr.  Pernice  1898    in   der  Archäologischen 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.     1899.  31 


4()4  Roediger:  Protokolle. 

Gesellschaft  über  diesen  und  andere  bekannte  römische  Desemer  gehalten  hat. 
Griechische  lassen  sich  nicht  nachweisen.  Unsere  Wage  stammt  aus  dem  4.  oder 
3.  Jahrh.  y.  Chr.  und  ist  schön  gearbeitet  und  verziert.  Die  Grundlage  bildet 
eine  Säule,  aus  deren  einem  Ende  ein  Pantherkopf  als  Gegengewicht  hervorspringt, 
während  am  anderen  drei  Haken  hängen,  die  eine  Wageschale  trugen,  was  bei 
unseren  Desemern  nicht  vorkommt.  ,Parallel  zur  Säule  ist  ein  flacher  Steg  mit 
Skala  befestigt,  unten  der  Einteilung  entsprechend  gozähnt.  Beim  Wiegen  wird 
ein  Handgriff  mit  schlitzartiger  Öffnung  in  die  Einschnitte  eingestellt,  sodass  sich 
das  Gewicht  nach  Pfunden  und  Unzen  bequem  ablesen  lässt.  Es  geht  bis  zu 
40  Pfund.  Gegen  ganz  kleine  Gewichte  von  wenigen  Grammen  scheinen  unsere 
Desemer  empfindlicher  zu  sein,  doch  gestatten  sie  weder  hierbei  noch  bei  hohen 
Gewichten  ein  zuverlässiges  Wiegen,  weil  sie  nicht  so  ruhig  in  der  Hand  liegen, 
wie  die  römische  Wage.  Das  Princip  des  Wagens  ist  bei  beiden  das  gleiche. 
Zu  beachten  ist,  dass  in  der  viel  römische  Funde  liefernden  Altmark  die  Besemer 
oder  Desemer  Ünzel  heissen,  was  an  die  römische  Unzeneinteilung  gemahnt.  Und 
im  Hinblick  auf  die  römischen  Wagen  dürfte  die  Ableitung  der  deutschen  Be- 
nennung von  decem  sich  empfehlen  und  Desemer  älter  erscheinen  als  Besemer.  — 
Hierauf  sprach  Herr  Direktor  Dr.  Müllenhoff  über  die  Biene  in  deutscher 
Sage  und  Geschichte.  Der  Vortrag  wird  in  unserer  Zeitschrift  gedruckt  werden. 
Herr  Waiden  knüpfte  einige  Bemerkungen  an  über  die  Bienenzucht  in  der  Lüne- 
burger Heide,  die  Biene  als  Feindin  der  Vagabonden  und  Trunkenbolde  (deren 
Geruch  ihr  zuwider  ist),  die  beliebte  Verwendung  der  Biene  in  religiösen  Schriften, 
wobei  noch  heute  sehr  verkehrte  Ansichten  über  sie  zu  Tage  gefördert  werden. 
Herr  Bartels  weist  Kennzeichnung  von  häuslicher  Freude  und  Trauer  am  Bienen- 
Jvorb  aus  Frankreich  nach  und  erinnert  an  die  alte  Bienenzucht  der  Finnen  (Kale- 
wala),  Herr  Minden  an  die  Bienen  im  napoleonischen  Wappen  (oben  S.  107). 
Zur  Sprache  kam  noch  der  heilige  Martin  als  Schutzpatron  der  Bienen,  die  Biene 
als  Wappen  der  Barberini,  die  Biene  neben  dem  heil.  Bernhard  von  Clairvaux 
als  Symbol  seiner  honigsüssen  Beredsamkeit. 

Max  Roediger. 


Eegister. 


Abend  444. 

Aberglaube,    altenburgischer   209.     branden- 
bur^ischer,   lausitzer  442.    beim  Vieh  166. 
Abmullen  114. 

Achtfüssiger  Gaul  (wilde  Jagd)  366, 
Ackerhau  der  Marschen  162. 
Ackerbauschulen  167. 
Advokaten  371.  374. 
S.  Ägydius,  Viehpatron  325. 
Akelei  247. 
Alber  (Teufel)  365. 
Allgäuer  Sagen  102. 
Alpler  118. 
Altartuxer  118. 
Alter  Mann  der  Indianer  224. 
Altweibermühle  121. 
Amulet  24(). 

Amsterdamer  Trachtcnausstelluiig  204. 
Androasabend  442. 
Angelinka,  Lied  von  303. 
April  235. 

Arbeit  und  Rhythmus  455. 
Arbeitsruhe  7. '8. 
Arche,  Frau  305. 
Aridius  454. 
Armsünderrast  379. 
Aspcrn,  Schlacht  bei  383. 
Astronomie,  volkstümliche  229. 
Ausspeien  250. 
Aussendeich  170. 
Auvergne  207.  221. 
Axams  266. 

Baba  Scharka  196. 

Bächtold,  Jakob  461. 

Backwerk  196.  414. 

ßalkanvölker  58  f.  194  f.  295  f. 

Bandletur,  Bandschrift  184. 

Bandstuhl  2(>.  31.     -Weberei  17—33. 

Bannspruch  gegen  den  Teufel  363. 

Bär  und  Zigeuner  405. 

Bären  66.     Bärentag  67. 

Bartels,  M.  107. 

Bärtige  heil.  Jungfrauen  323. 

Basilika  107. 

Bauchranzeu  119. 

Bauer  bringt  Wasser  als  Geschenk  37. 

Bauernhaus,  märkisches  460.  niederösterreich. 

105.     in  den  Marschen  157  ff, 
Bauernhimmel,  schlesischer  446. 


Bauemieben,  dänisches  457. 

Bauernmöbel,  bayrische  344. 

Bauernstolz  47. 

Begräbnis  103.  444. 

Beleuchtungsmittel  55—58. 

Berchte,  Frau  7.  11.  367. 

Beschwörung   des  Teufes    77.   261.   269.  272 
362.  368  f.  374. 

Besemer  225.  463. 

Bettler  91. 

Bibliographie,  volkskundliche  97. 

Bielmann,  Bielmerschnitt,  Bielschnitt  252. 

Bienentag  64.     -zucht  464. 

Bindepflock  107.     Binderhocken  164. 

Binsenbesen  304.     -docht  58. 

Bittarbeit  455. 

Blank,  Jan  171. 

Blattern  195  f. 
j   Blauhütler  259.  272. 
I  Boccaccio  35. 

j  Bock  256.    Bockgespanu  259.     -reiter  252. 
I   Böhme,  ,J.  M.  95. 
j  Bohnen  288.  290.     Bohnenernte  164. 
1  Bolte,  J.  102. 
I   Bonapartenbuche  385. 
'   Bracht,  E.  226. 
I  Branntwein  291. 
!  Braunkohl  289. 

I  Braut,  geistliche  398.    Brautstehlen  388.    Br. 
I       vom  Teufel  geholt  263. 

Bräutigamswahl  97. 
t   ßrettchenweberei  24—33. 

Brikker,  Brikning  26. 

Brocken,  Berg  234. 

Brotperlen  116.  121. 

Brüder,  drei  (Märchen)  415. 

Bruggerkirche  bei  Volders  361. 

Bruixas  458. 

Bruiik,  A.  103. 

Bruststück  119. 

Brynjulfur  Jonsson  181. 

Buchel  56. 

Bücher,  K.  455. 

Buckliger  344. 

Bugge,  S.  453. 

Burns,  R.  41.  43. 

Camernsche  Berge  10. 
Cavalese  68  f. 
Cavedolari  70. 

31* 


4G6 


Register. 


Censes  de  baptume  45i).  1 

Cechische  Volkskunde  215  f. 

Chaiduteu  66.  j 

Oharalambij  197 

Chinesische  Fledermaus  176. 

Christmesse  und  der  Tod  344. 

Christiiacht  344. 

S.  Christoph  248. 

Civiltrauung  .51. 

Comuni  ordinari,  straordinari  70. 

Congo  100.- 

Coyote  (indian.  Mythenfigur)  224. 

Crucifixtypus,  ältester  32;^>. 

Cuchullinsage  101. 

Dachler,  A.  105. 

Dachwalni  151. 

Decanieron  des  Boccaccio  35. 

Demiett,  R.  E.  100. 

Desemer  107.  464. 

Deutsche  im  Sprichwort  220. 

Diele  158. 

Dienstag,  schwarzer  67. 

Dionysos  8. 

Distel  78. 

Docht  57. 

Donauländer  96. 

Donner  und  Muskito  225. 

Donnerstag  8.     Donnerwageu  7.  18. 

Dornenkrone  328. 

Doss  de  la  forca,  de  le  streghe  71. 

Dreikönigslieder  90.  435. 

Drenthe  204. 

Drihe,  drihan  206. 

Dringen  206. 

Dümmling  403. 

Eddalieder  453. 

Ehebruch  141.     -Schliessung  48. 

Ehrgefühl  48. 

Eiche  376. 

Eindrücke  von  Gliedmassen  256. 

Elend  411. 

Elfenblumen,  -lieder  298.    -mittwoch,  -woche 

295. 
Elias  der  Donnerer  415. 
Elxenholz  375. 
Eniowtag  302. 

Entrückung  in  die  Weite  266. 
Erdmutter  2.     -spiegel  210. 
Erdställe  382. 
Erinnerungskreuze  401. 
Es  regnetauf  der  Brücke  280. 
Esope"  des  F.  del  Tuppo  :>(;. 
Essen  und  Trinken  288  f. 
Etikette,  bäuerliche  47. 
Evangelium  Johannis  207. 

Fabeltiere,  zweideutige  337. 

Fadas  458. 

Fahne  der  Kaluscharen  298.  304. 

Fastnacht  geweihte  Zeit  124  f.  305. 

Fastnacht,  braunschweigische  338—340, 

Fastnachtiieder  91.     -predigt  339. 

Feen  207. 

Feiertage  der  Krankheitsdämonen  59. 

Feilberg,  H.  F.  457. 

Ferkel  im  Walde  180. 

Festmachen  209. 


Feuererzeugung  66. 

Feuerreiter  439      -stülpen  160.     -segen  440. 

Fewkes,  J.  W.  326. 

Fingerwurm  247. 

Fischfang  169. 

Fjort  lOi'. 

Fledermaus  171-179.  207.  245-255. 

Fleimser  Thalgemeiude  68. 

Fliege  368.  371. 

Fliess,  Pfarrer  von  367.  372. 

Fluchen  260. 

Fingfett  248. 

Fotzhobel  114. 

S.  Francisci  Hosen  39.     Weihnachtfeier  358. 

Franken  204. 

Franko,  J.  217.  219. 

Fränmarr,  .Jarl  454. 

Franzosenfalle  3^*5.     -grab  386. 

Fraubild,  -tafel,  -tragen,  Fraueulieder  154—56. 

Frau  Harkenberg  10.  12.  13. 

Frea  Fria,  Freen  Frien  2.  129. 

Freikugelu  248. 

Freitag  Hochzeittag  52. 

Freke  Erike,  Frick  Fricke  Fuik  123.  125.  127. 

129.  309  f. 
Freundschaftssage  456. 
Frey,  K. 

Freyr,  Freys  Umzug  155. 
Friedel,  E.  108. 
Friedrich  T.  II.,  Kaiser  152. 
Friesen  204.    Friesinnen  205. 
Frfimmel,  0.  105. 
Fruchtbarkeit  121. 
Fuchs  3 13. 
Fudenabend  441. 
Fudikan  134. 

Fui  131  f.  310.    Fuik  125-130.  309  f. 
Fussbekleidung  293. 

Gabriel.  Erzengel  39.  40. 

Games  traditional  103. 

Gangger  (Teufel)  269. 

Gänse  der  wilden  Jagd  366.    Gänsezucht  163. 

Garten  161. 

Gastaldio  70. 

Gebäcknamen  444. 

Gebetstäbchen,  indianische  327. 

Gebhart  von  Trient,  Bischof  69. 
1   Gebnacht-Berchta  367. 
!  Gebräuche,  brandenburgische  441  f. 
I   Geissbock  256.  265. 
1   Geldbringen  des  Teufels  271. 
I    Geldwerte  93. 
;   Gerichtsstätte  69. 

Gerichtstage  71. 

Gertraudibüchel  271. 

Geschichten    aus    Etschland    77.      Stubai  78. 
Vintschgau  80. 

Geschworene,  Giurati  71. 

Gesellschaftspiele  439.  442. 

Gesindelöhne  93. 
[   Gevatter  Tod  418. 
!   Gewitter  231. 

I    Gewittermythen  1  ff.     -wesen  7.  123  f. 
\   Gittee,  Aug.  459. 
i   Glatz,  Grafschaft  446. 
I   Glit,  glitofinn  25. 
,   Glockentöue  gedeutet  440. 
!   Glückmittel  175.  248.  254. 


Eegister. 


4G7 


Glücksporen  388. 

Gnidelsteine  226. 

Gode  5.  125. 

Gomme,  A.  B.  89.  103. 

Goethe  und  die  Volkskunde  462. 

Grauitbaukunst  227. 

Graunzl  (Teufel)  271. 

Gredelgräber  333. 

Grenzhügel  381. 

Grimm,  Jakob  3. 

Grozdanka  62. 

Grünes  zur  Hochzeit  52. 

Gudrünarquida  II.  29. 

Haake,  Frau  305. 

Haarmittel  178.     -opfer  319.     -tag  68. 

Haas,  A.  103. 

Habergeiss  266. 

Habichtfeder  256.  262. 

Hahnenfeder,  weisse  118.  268. 

Häksche,  olle  16.  133.  306-309. 

Hamm  165. 

Hand  aus  dem  Grabe  80, 

Hansel,  rotziger  (Märchen)  269. 

Harfe,  Frau  305-307. 

Harke,  Frau  6.  9—18.  130.  305-:'.09. 

Harre,  Frau  10.  15. 

Hase,  dreibeiniyer  11. 

Hasenbrot  353.^ 

Hausbau  s.  Bauernhaus. 

Hausinschriften  284  f. 

Hauslauch  232.     -richte  161. 

Haustaufe  54.     -trauung  49.  51. 

Heidnische  Volksüberlieferungon    1—18.    123 

bis  135.  ;i05— 310. 
Heilhand  247. 
Heilige  auf  Marterln  242. 
Heilkräuter  290.  302-304.  458. 
Heilwirkung   von  Fledermaus    und  Maulwurf 

177. 
Heiratantrag  447.     -ceremonie  89. 
Heldensage,  deutsche  349.     irische  101. 
Helgi  455.    Helgilieder  453. 
Helmolt,  H.  20.^ 
Herd  158. 
Herke,  Frau   10.  13.  14.  305-308.     Herksten 

306  f.     Herkster  306. 
Hermanowski,  P.  99. 
Herrgottsgroschen  382. 
Herrmann,  P.  99. 

Hexen  111.  121.  255.  266  f.  307.  372.  458. 
Hexenmeister  209.     Hexerei  1()6, 
Hille  159. 
Himmelsgötter  3. 
Hinterpommern  4. 
Hirke,  Frau  306  f. 
Hiunen  29. 
Hlad,  hlada  29.  30. 
Hochzeit  in  den  Wesermarscheu  49  f. 
Hochzeit,  stille  439. 
Hochzeitaberglaube  443.    -bitter  50.   -essen  .52. 

-geschenke  53. 
Höfdaletur  181-189. 
Hockeu,  hockseten  170. 
Högeu  (prellen)  163. 
Holekreisch  72. 
Holland  204. 

Holle,  Frau  5.  18.  72.  77.  234. 
Holzfiguren,  Weihgeschenke  327.  463. 


Holzlarven  109.  116.  121. 

Holzschuhe  292. 

Hosen  des  hl.  Franciscus  39. 

Howände  158. 

Hudlerlaufen  110. 

Huhn  65. 

Hüll,  E.  101. 

Hund  60.  259.  292. 

Hundekur  62. 

Hungergrube  381.     -sucht  369. 

Hünskar  meyjar  29. 

Huttierlaufen  109—123.  2(51. 

Huzulen  10(5. 

Ibykus,  Kraniche  336. 

Idiotikon,  schweizerisches  105. 

Indianer  von  Arizona  ^2Cy.    am  Thompson  river 

223. 
Indianerbräuche  122, 
Inzing  vermurt  vom  Teufel  365. 
Irische  Heldensage  101. 
Isabella  von  Arragonieu  151. 
Italienische  Marterln  237. 

Jacobsbrüder  456. 

Jacobsthal,  Prof.  31. 

Jagd,  wilde  1.  366. 

Jäger,  wilder  7.  124. 

Jägerbursch  (Teufel)  256.  262,  268.  272.  368. 

Johannisabend,  -tag  302.  458.  460. 

Johannisbrot  355. 

Johannis-Evangelium  207. 

Johannisfeier,  Bortfelder  438. 

Johannisfener  213.  458. 

J(5n  Thoroddsen  25, 

Jüdische  Namengebung  72.  J.  Volkskunde  341. 

Jungfrauen,  drei  74. 

Kaffee  53.  288. 

Kahlköpfigkeit  68. 

Kaindl,  Pt.  F.  106. 

Kaluscharen  295  f. 

Kamin  (Kömat)  5(5. 

Kanonierteufel  384. 

Kapuziner  77. 

Karfreitag  232. 

Karlowicz,  J.  214. 

Kartenblätter  beim  Weben  28-30. 

Kasermandl  260.  367. 

Kassuben  214. 

Kater,  kluger  409. 

Kathaprakäsa  336. 

S.  Katharina  41. 

Katze  80. 

Kelch  unter  dem  Kreuz  324, 

Kentel  56. 

Kerzen,  Kerzeschibe,  Kerzestal  56. 

Kettenreime  27(). 

Kienspäne  56. 

Kinder,  kleine  443.    K.aussetzung  148. 

Kinderpuppengräber  333. 

Kinderreime  73  f.  105.  273-84.  389-95. 

Kinderspiele,  englische  89.  103. 

Kingsley,  M.  H.  100. 

Kipling,  R.  102. 

Kirchenbau  107. 

Kirchhoff,  Alfr.  20. 

Klaubauf  257. 

Kleidung  in  den  Wesermarschen  292. 


468 


Eeffister. 


Kleinrussische  Volkskunde  218. 

Klönken  293. 

Klöpfelspiel  264. 

Kluft  ni. 

Klütjen  289. 

Kniphaube  205. 

Knoop,  0.  3.  5-11.  123  f. 

Köhler,  Eeinh.  102. 

Kojen  158. 

Kölnische  Studenten  358. 

Kongress  lüi*  Volkskunde  447. 

Königskerze  (verbascum)  57. 

Koptband  30.     Kopfschwindeltag  (JS. 

Kornrade  232. 

Körper  in  sprachlichen  Ausdrücken  460. 

K.istlin,  H.  A.  23. 

Kragenhaube  205.     -kappe  294. 

Krakauer  Akademie  213. 

Krankheiten  777,,  302. 

Krankheitdämonen  58-(;8. 194—204. 295—? 

Kraukheitfeste  60.  65.  67.  194  f. 

Krankheitnamenbuch  342. 

Kranz  durchkriechen  303. 

Kranzbinden  zur  Hochzeit  .52. 

Krauss,  Fr.  S.  449. 

Kreuz  265.  459. 

Kreuzform,  indianische  Gebetstäbchen  327 

Kriegsheilige  381. 

Kroaten  im  Marchfelde  382. 

Kroatische  Volkskunde  218. 

Kruzifixsagen  324. 

Krzywicki,  h.  214. 

Kuckuck  21.5. 

Kugelsegen  387. 

Kühe  165. 

Kuhn,  Adalbert  1.  9.  12(;  f. 

Kuhschwanz  an  der  Thür  92. 

S.  Kumniernuss  322—24. 

Kupplerin  144. 

Kuruzzen  383. 

Kuss  auf  den  Hintern  141  f. 

Laicus,  Joh.  351.  356. 

Lampen  57. 

V.  Laschan  110. 

Lazarus,  M.  209. 

Leber,  Lewer  =  Hügel  381. 

Legende  359.    L.,  bretanische  343. 

Lehmann,  C.  30. 

Lehmann-Filhes,  M.  106. 

Leichenbegängnis  .54.    -schmaus  55. 

Lemke,  E.  IOC. 

Lenorensage  217. 

S.  Leonhart  326.  328.  463. 

Leonhartsuagel  328. 

Lichter,  weissagende  17. 

Lichterbaum  107. 

Lichtmess  229.  307.    -tiegel  5(;. 

Liebestüchlein  436. 

Liebeszauber  137.  249. 

Liebfrau  in  allen  Nöten  379. 

Lisso  (Haartag)  68. 

Litauen  97. 

Lobe,  A.  22. 

Löffelschnitzer  182.    -schrift  187.  189. 

Löhne  93. 

Losstage  229.  235. 

Lud  (Zeitschrift)  213. 

Lügenmärchen  403. 


m. 


Luugauer  Weilmachtlieder  420 — 43<i 
Lusitanische  Altertümer  345. 
Lutscher  57. 
Lutze  57. 
Luxusverordnungen  339. 


Madonna  in  den  Schs 

Mahl-  oder  Mühllieder  456. 

Mahomedaner  in  der  Sage  460. 

Mailänderin,  schöne,  Sage  462. 

Märchen  vom  Brüder-  und  Schwesterchen  353. 

vom  treuen  Johannes  4.56. 
Märchen,  rumänische  84.     ruthenische  401. 
Märchentheorie  215.  460. 
Marchf eidsagen  377—389. 
Marker  Tracht  205. 
S.  Maria  234.     Marieneiche  380.      _  , 
Marschbauern  der  Unterweser  45— .55.  157  bis 

171.  288—294. 
Marschweiden  165. 
Märte  (Alp)  307. 

Marterln,    deutsche  240—214.     nichtdeutsche 
236—245.  mährische  399.   schwedische  244. 
Marterlbilder  238. 
Martinipützel  366. 
Martinsgstempf  260.  366. 
Martinstag  (U.  235. 

Masken  109.  114.  261.    Matschgerer  113. 
Masuccio  Salernitano  33-41.  136-153. 
Maulwurf  171—79.  207.  245-55. 
Maalwurfshügel  252. 
Maus,  Alois  363. 

Melcherbuben  120. 

Menschenfresser  257. 

Meteorologie,  volkstümliche  229. 

Meyer,  Hans  18.  20.     Meyer,  R.  M.  462. 

Mielke,  R.  107.  227.  340.  460. 

Milchstrasse  23L     -Wirtschaft  165. 

Mittwoch,  verrückter  67. 

Mladenzi  195. 

Mogk,  E.  9.  15.  21. 

Mond  225.  230. 

Monddienst  348.    -flecke  230.  308. 

Monotheismus  der  Semiten  450. 

Montag  61. 

Monskirchel  369. 

Mratiuik  65.    Mratinzi  64. 

Muller  113.    nmlien  114.  121. 

Müller,  Max  452. 

Mundarten,  deutsche  461. 

Museum  der  deutschen  Volkstrachten  228. 

Musik  der  Kussalinen  298. 

Muskito  225. 

Mütze  (Mutz)  205.  294. 

Mythen  abhängig  vom  Kultus  98. 

Nachtvolk  367. 

Nachtwächterruf  213. 

Nacktheit  in  Heilgebräuchen  336. 

Nagelgurt  116. 

Namengebung,  do; 

Narodpisny  Sborni 

Nebel  233. 

Nerthus  2.  1.55. 

Neun  212.     Neunkräuter  290.  4.58. 

Niederdeutsche  Sprüche  81. 

S.  Nikolaus  257. 

Ninive,  Herr  von,  Kinderspiel  392.  459 

Nordthüringische  Wetterkunde  229  f. 


,  der  Juden  72. 
Cechoslovansky  215. 


Register. 


4(59 


Nork,  F.  111. 

Notfeuer  66. 

Novellenstoffe  33-41.  136.  153. 

6  Auslaut  von  Namen  113. 

Obstbäume  168. 

Oedipus  139. 

Öl  57. 

Obreiseu  (oorijzer)  205. 

Opfergebäck  64.  166.    -wesen  451. 

Opschortels  294. 

Orakel  17. 

Orion  231. 

Ostereier  213. 

Ostermorgen  217. 

Pantinen  293. 

Pantschatantra  312. 

Passeirer  2.57. 

Patti  Gebardini  69. 

Pensionstochter  160. 

Perchte  7.  11.  367. 

Perchtenlaufen  109. 

Pest  197.     Pestfrau  198.     -lieder  200—204. 

Pfalz  207. 

Pfanne  291. 

Pfauenfedern  119. 

Pferde  63.  261.    Pferdokolik  33.'). 

Pflanzendochte  58. 

Pichler,  Adolf  457. 

Pinzgau  154. 

Placas,  portugiesische  347. 

Placita  ,Piaidi)  71. 

Polivka,  J.  215.  217. 

Polizeiverbote  94. 

Polnische  Volkskunde  213. 

Polterabend  52. 

Pommersche  Volkslieder  103. 

Portugiesische  Altertümer  345. 

Preussongrab  389. 

Priester  als  Liebesvermittler jl43. 

Primizfeier  396—99. 

Prototype  der  Götter  3. 

Psychefabel  140. 

Puppen,   niederösterr.  333.     uiedersächs.  334. 

Puy  de  Dome,  P.  de  Prechonnet  207. 

C^uarteria  der  Fleimser  Gemeinde  70. 

IX  zu  ü  128. 

Rapsdi-escheu  163. 

Rasen  166. 

Rätselfragen  356.     Ratspielfragen  395. 

Räubergeschichte  79. 

Raufer  2(53. 

Rauris  155 

Regen  232.    Regenbogen  231. 

Reffola.  Regolani  70. 

Reif  233. 

Reinigung  des  Hauses  304. 

Reiser,  K.  104. 

Reit  =  Riet,  Rohr  170. 

Ric,  ricken  207. 

Richtfest  161. 

Riesin  9—12. 

Riten  älter  als  Mythen  98. 

Roediger,  M.  107.  349.  463. 

Roggenbrot  288.    -ernte  164. 

Rohrernte  169. 


Roland  als  Riese  459. 

Romeo  und  Julia  145. 

Mad.  la  Rose,  Kinderspiel  459. 

Rote  Erde  107,  rote  Farbe  106. 

Roussillon,  Volksüberlieferungen  458. 

Rübezahl  216. 

Rum  bei  Hall  109. 

Rumänische    Gebräuche    460.     Märchen   84  f. 

179  f. 
Rummelspott  92. 
Rusnaken  106. 
Russalinen  295. 
Russalki  195.  295.  301. 
Ruten  zum  Schlagen  des  Viehes  17. 

Saat  und  Ernte  82. 

Sachs,  Hans  189-194. 

Sachsen  204. 

Sagen  aus  Roussillon  458.    aus  Wallis  462. 

Saint-Denis  138  f. 

Salamander  375. 

Sally  Water,  Kinderspiel  89. 

Saltari  70. 

Salz  167. 

Samodivenlied  297. 

Sbornik  cech.  215.    bulgar.  217.     kroat.  218. 

Scarius,  Scario  7. 

Schatzhüter  270. 

Schaub  56.     Schaubfackelu  57. 

Schaukeln  61. 

Scheibeuschlagen  350. 

Scheideabend  441. 

Scheiche,  der  (Teufel)  272. 

Scherer,  W.  18 

Scherman,  L.  449. 

Scheveningen  205. 

Schiff  (Wolke)  7.     Schiffahrt  168. 

Schimmelreiter  2.  7.  124. 

Schingassen  290. 

Schlaf  246. 

Schläge  machen  fruchtbar  121, 

Schlangen  fassen  211. 

Schmuggel  169. 

Schnaggeln  114. 

Schnee  234. 

Schneidergesell,  Lied  373. 

Schnurband  31. 
j    Schopen  66. 
1   Schöpfung  414. 

Schornstein  158. 

Schwanke,  rügische  342. 

Schwartz,  Wilh.  1  ff.  123  L  305.  328—30. 

Schwedenmesse  377. 

Schweiss  247. 

Schweizerhaus  in  den  Marschen  159. 

Schweizerisches  Idiotikon  105. 

Sebillot,  P.  207. 

Seen,  unterirdische  385. 
!    Selbstkenntnis  406. 

Seil,  K.  21, 

Settembrini,  L.  33. 

Settletur  183. 

Shakespeares  Mass  für  Mass  151. 

Siddhi-Kür  15.  336. 

Siebensprung  (Tanz)  164. 

Siegelstempel  226. 

Sigurdur  Gudmundsson  183. 

Singrün  375. 

Sismanov,  J.  217. 


lO 


Eefi-ister. 


Slavische  Volkskunde  213-219. 

Slovenisohe  Marterln  238.    Sl.  Volkskunde  218. 

Srnitli,  Robertson  98.  450. 

Sökeland,  H.  225.  228.  463. 

Sommer,  Eni.  10.  15. 

Sommertagsfest  207. 

Sonnabend  305. 

Sonne  224.  229.     Sonnengott  62.    -tanz  63. 

S.  Spass  194. 

Spatenrecht  162. 

Speckwiemen  158. 

Speicher  159. 

Sperrung  des  Hochzeitwagen  51. 

Spjald  24.  29. 

Spielreime  277.  390  f. 

Spinnen  8.  305—308.    Spiuustube,  Spinte  439 

bis  441. 
Spunaletur  182. 
Spottverse  44(i. 
Sprichwörter,  apologische  83. 
Sprüche,  niederdeutsche  81. 
Stab  der  Kaluscharen  297. 
Stab  ausfest  207. 
Stalkerze  56. 
Stalll)urschen  49. 
Stanfe,  L.  A.  84.  179. 
Stecknadel  im  Aberglauben  330—33. 
Steinthal,  Ch.  208. 
Sterne  231. 
Stewelholschen  293. 
Stirnnadcl  (voorhoofdsnaald)  205. 
Stöllensche  Berge  10. 
Strählin,  die  alte,  von  Imst  258. 
Strandraub  169. 
Strassenrufe  349. 
Strausz,  Ad.  96. 
Stricken  207. 
Strohkerl,  -wif  53. 
Stubai  78.  284. 
Stube,  beste  159. 
Sturm-  und  Gewitterwesen  123  f. 
Stuten  (Brot)  289. 
Sühnopfer  451. 

Tabu  451. 

Talassüm  304. 

Tagwildnis  367. 

Talg  56. 

Tanz  115.  261  (in  der  Christnacht).    296—299 

(T.  der  Kaluscharen). 
Tanzbesessenheit  367.  Tanzlieder,  epische  455. 
Tänzer  (des  Teufels  Freude)  261. 
Tatarenkauzel  378. 
Tatermannl  375. 
Taublümchen  194. 
Taufe  in  Teufels  Namen  369. 
Teidingsplatz  69. 
Terschelling  205. 
Teufel  4.  112.  211.  384.  414.  459. 
Teufel  mit  dem  alten  Weib  189-94.  311-21. 
Teufel  in  Pfarrergestalt  362. 
Teufelsbeschwörung,  -besessenheit  368. 
Teufelsblendwerk  365. 
Teufelsglaube,  Tiroler  256—273.  361-376. 
Teufelskönig,  Vater  der  Fledermaus  251. 
Teufelspakte  267—269. 
Teufelsschöpfung  415.    -segen  374.    -Stempel 

372.     -tiere   375.     -wagen   258.   365.   367. 

-weibele  372. 


Texel  205. 

S.  Theodorsbrot  64.    Th.tag  63. 

Thode,  H.  22. 

Thorkell  Biarnasou  24. 

Tieraberglaube  338. 

Tierfiguren,  eiserne  325.  hölzerne,  tönerne  327. 

Tierkultus  348. 

Tischgebet  291. 

Tod  103.     Gevatter  Tod  418. 

Torwart  der  Hölle  371. 

Tote,  was  sie  können  107. 

Totemismus  der  Semiten  450. 

Totenkreuze  auf  Marterlbildern  238.  24'). 

Totenkrone  107.     -kultus  346. 

Trachtenausstellung  204. 

Trauer  55. 

Treue,  deutsche  19. 

Trieut  69. 

Trösteinsamkeit,  kathol.  353.  361. 

Trou  en  terre,  Spiel  459. 

Trutzliedel  373. 

Tschirfe  57. 

Tschuggau  (Teufel)  262.  362. 

Tüchel,  ausgenähte  437. 

Tüdern  170. 

del  Tuppo  36. 

Türkenpaar  beim  Huttlerlauf  120. 

Türkenstübel  378. 

Tuxer  367. 

Überzähliger  unter  Masken  261. 

Uckermärkische  Kinderreime  273—84.  o^ll-  95- 

Umä  (Waschmittel)  199. 

Umzug  der  Gewitterwesen  7.  124. 

Ungewaschen  257.  269. 

Unheimlich  209. 

Unterer  (Teufel)  265. 

Ussowski-Dienstag  67. 

Ustret,  Ustrow  67. 

Valtyr  Gudmundsson  25. 

Veckenstedt,  E.  3.  5.  15. 

Venedigniauneln  270. 

Verbrüderung  194. 

Verfluchungsformel  297. 

Verkehrter  (Teufel)  264. 

Verkleidung  als  Rettung  144. 

Verstellter  (Teufel)  256. 

Vesperfliegerin  255. 

Viehpatrone  325.  463. 

Viehsegen  327.     -zucht  163.  165. 

Vincenttag  235. 

Vlieland  205. 

Volksglaube  1()3. 

Volkskunde,    Kongress    447.      Methodik    448. 

Würtembergische  448. 
Volkslied,  bulgar.  217.    dalmatin.  218.    pomin. 

103.    schles.  41.  446.     sloven.  218. 
Volksliedzeitschrift  340. 
V^olksmelodien,  slavische  217. 
Volksrätsel  222. 
Volksschauspiele  220. 
Volkstum,  deutsches  18. 
Volto  Santo  324. 
Votivfiguren  324-328.  463. 


1 


Wachskerzen  56. 
Wachstum  befördert  121. 
Wahnsinngeister  des  Hundes 


60. 


Kegist  er. 


471 


AVahrheit  i\iibeliebt  408. 

Walacheii,  mährische  21.j. 

Waiden  107.  463  f. 

Waldfreund,  J.  E.  112. 

Walther  von  Aquitanien  459. 

Walther,  Sam.,  Singul.  Magdeb.  17. 

Wandelkerze  56. 

Wanne  Thekla  7. 

AVarzen  231. 

Waschen  8. 

Wasserfrauen  458. 

Wasserpolakisch  214. 

Wasserritus  89. 

Watafin  296. 

Webekamm  30. 

Webelieder  456. 

Webetechnik,  alte  24—33. 

AVeib,  altes,  und  der  Teufel  189-194. 

Weiberrollen  durch  Männer  120.  122. 

Weihefiguren  324-28.  463. 

Weihhut  rWehhut)  294. 

Weihuachttlut    162. 

Weihiiaclitli.'drr  420-436. 

Weilmaciitpyramide  107. 

Weihiuichtschiessen  460. 

W^eihnachtspiel  von  Sebillot  343. 

Weihnachtumgani;-  305.  307.  441  f. 

Weinhold,  K.  463. 

Weise,  0.  21. 

Weisse  Frau  2.  6  f. 

Wermut  295. 

West-rmarschen  45  ff.  ir)7.  288. 

Wett.rbaum  231.    -berge  233.     -künde  229  f. 

Widumshäuserinueu  372. 

Wiesel  375. 

Wigand,  P.  461. 

Wildfeuer  232. 


Wildgfahr  (wilde  Jagd)  366  f. 

Wildmänner  257. 

Wind  179.  235.    Windfang  50.  54.    -opfer  130. 

Winkler,  Pfarrer  363.  369. 

Wisla  (Zeitschrift)  214. 

Wochenbett  443. 

Wodan  2.  124.     Wode  5.  125. 

Wohnzimmer,  bäuerliches  160. 

Wolf,  .1.  W.  351-61. 

Wölfe,  Wolfstag  66. 

Wolken  231. 

Wohlsein,  Erkundigung  darnach  58. 

Wurmbeschwörung  39. 

Wiu-ster  Bauern  47.     W.  Haus  157. 

Würtembergische  Sammlungen  448. 

Wychgram,  J.  23. 


Zahl,  ungerade  297. 
Zahnschmerzen  231. 
Zauberbuch  211.  372.     Z.puppen,  niedersächs. 

333  f. 
Zaubermeister  (Märchen)  217. 
Zemper,  zempern  441. 
Zibrt,  C.  97.  216. 
Ziehbalgspieler  115. 
Ziegeleien  169. 
Zigeuner  85  f.  371.  40."). 
Zingerle,  J.  v.  112. 
Ziska,  Frz.  110. 
Zotenreissen  259. 
Zottler  114.  116. 
Zweck,  \.  97. 
Zweideutige  Tiere  337. 
Zweihörndler  (Teufel)  256. 
Zwölften,  die  9  f.  130.  23.^.  305.  307.  442. 
Zwölftengottheiten  10.  305. 


Druck  von  Gebr.  Unger  in  Berlin,  Bernburger  Str.  30. 


Zeitschrift  des  Vereins  für  Volkskunde  1899, 


Taf.  V. 


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GR      Zeitschrift  Tür  Volkskunde 

1 

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Jg. 9 


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