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Full text of "Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik"

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ZEITSCHRIFT 

/// 

FÜR 

VOLKSWIRTSCHAFtMALPOLITlK 


UND 


VERWALTUNG. 


ORGAN  DER  GESELLSCHAFT  ÖSTERREICHISCHER 

Volkswirte. 


HERAUSGEGEBEN 

VON 

Eugen  v.  Böhm-Bawerk,  Karl  Theodor  v.  Inama- Sternegg, 

Ernst  v.  Plener. 

Zehnter    Band. 


WIEN  UND  LEIPZIG. 

WILHELM    BRAUMÜLLER 

K.  u.  K.  Hof-  u.  Universitäts-Buchhändler. 

1901. 


620839 

5 


Druck  von  Rudolf  M.  Rohrer  in  Brunn. 


Inhalt  des  X.  Bandes. 


Seite 

Frh.  V.  Schwartzenau:  Zur  Keform  der  österreichischen  Arbeiter- Wohnungs- 
gesetzgebung        1 

Dr.  K.  Letb:  Der  Checkverkehr  der  österreichischen  Postsparcasse 21 

G.  Seidler:  Die  theoretischen  Grundlagen  der  doppelten  Buchhaltung 53 

Dr.  0.  Jaeger:  Die  Lohnfonds-Theorie 145 

Dr.  W.  Eosenberg:  Der  Spieleinwand  bei  Börsen-Spcculationsgeschäften 163 

Prof.  A.  Oelwein:  Der  wirtschaftliche  Wert  der  Wasserstrassen 233 

Dr.  A.  Schwoner:  Die  Bewegung  der  Werte 257 

Prof.  Dr.  M.  Grub  er:  Der  VIII.  internationale  Congress  gegen  den  Alkoholismus 

in  Wien  9.  bis  14.  April  1901 333 

Dr.  G.  Lippert:  Die  Entwicklung  der  österreichischen  Handelsmarine 347 

Dr.  J.  Buzek:  Das  Auswanderungsproblem  und  die  Eegelung  des  Auswanderungs- 
wesens in  Oesterreich 441,  553 

Verhandlungen  der  Gesellschaft  österreichischer  Volkswirte 192,  267 

Dr.  J.  Ullmann:   Die  Budgets  der  bewaffneten  Macht  Oesterreich-Ungarns  für  das 

Jahr  1900 66 

Dr.  G.  Lippert:  Ein  Eückblick  auf  die  Entwicklung  der  Triester  Lagerhäuser     .    .    98 
Dr.  G.  D.  Creangä:  Der  Bauernstand  in  Eumänien^  seine  geschichtliche  Entwicklung 

und  gegenwärtige  Lage 194 

Dr.  F.  Hawelka:  Fürst  Peter  Krapotkin  und  der  Anarchismus 289 

E.  Stefan:  Vierzig  Jahre  Lebensversicherung 299 

Dr.  Millanich:  Die  österreichische  Seemannsordnung 406 

E.  Bernatzky:  üeber  das  Gesetz  vom  8.  Juli  1901,  E.-G.-B.  Nr.  86,  betreffend  die 
Erhöhung  der  Brantweinabgabe  und  Zuwendung  eines  Theiles  des  Ertrages 
dieser  Abgabe  an  die  Landesfonde  der  im  Eeichsrathe  vertretenen  Königreiche 

und  Länder 416 

Dr.  J.  Winckler:   Die   cumulativen  Waisencassen   als  Förderer  der  Volkserziehung  424 
Gesetz  vom  11.  Juni  1901,  E.-G.-B.  Nr.  66,  betreffend  den  Bau  von  Wasserstrassen 

und  die  Durchführung  von  Flussregulierungen 428 

Prof.  Dr.  J.  V.  Eoschmann-Hörburg:   Vorschlag    einer  Eeform   der   rechts-   und 

staatswissenschaftlichen  Studien  in  Oesterreich 512 

Entwurf  eines  Gesetzes,  womit  eine  Seemannsordnung  für  die  österreichische  Handels- 
marine erlassen  wird 527 

Dr.  E.  Eeisch  und  Dr.  J.  C.  Kreibig:    Noch    ein    Wort   über   die   theoretischen 

Grundlagen  der  doppelten  Buchhaltung 542 

Dr.  A.  Frh.  v.  Odkolek:  Die  österreichische  Gebürennovelle  vom  18.  Juni  1901  .    .  596 
K.  Th.  V.  Inama-Sternegg:  Das  Gesetz  vom  1.  Juli  1901  über  die  Arbeitszeit  der 

beim  Kohlenbergbaue  in  der  Grube  beschäftigten  Arbeiter 626 


Literatur: 

Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften,  IV.  Band,  Schiff 139 

Die  Wohlthätigkeitsvereine   der  k.  k.   Eeichshaupt-   und  Eesidenzstadt  Wien,  S.  .    .  143 

Grundriss  des  österreichischen  Eechtes,  S 143 

Launhardt:  Am  sausenden  Webstuhl  der  Zeit,  S 144 

Das  Getreide  im  Weltverkehr,  F.  — k 221 


Seite 

S.  Koczynski:  Untersuchungen  über  ein  System  des  österreichischen  Gebürenrechtes, 

Odkolek 225 

Geschichte  der  Stadt  Wien,  J 309 

Wörterbuch  der  Rechts-  und  Staatswissenschaften,  S — i.  . 310 

R.  Pöhlmann:  Geschichte  des  antiken  Communismus  und  Socialismus,  J.  Jung    .    .  310 

E.  V.  Zenker:  Die  Gesellschaft,  Hawelka 315 

Dr.  P.  Eltzbacher:  Der  Anarchismus,  Hawelka 316 

0.  T,  Z wi e d in ek- Südenhorst,  Lohnpolitik  und  Lohntheorie  mit  besonderer  Berück- 
sichtigung des  Minimallohnes,  S , 317 

Der   Arbeiterschutz    bei   Vergebung   öiFentlicher   Arbeiten   und   Lieferungen,  S.        .  317 
Dr.  F.  Frh.  v.  Oppenheimer:    Die  Wohnungsnoth  und  Wohnungsreform  in  Eng- 
land   mit  besonderer  Berücksichtigung    der   neueren  Wohnungsgesetzgebung, 

J.  Redlich 319 

Dr.  Abele:  Weiträumiger  Städtebau  und  Wohnungsfrage,   Oppenheimer     ....  320 

J.  Hogge:  La  Serbie  de  nos  jours,  C.  Grünberg 322 

Dr.  J.  Kraus:  Deutsch-türkische  Handelsbeziehungen  seit  dem  Berliner  Vertrage  unter 

besonderer  Berücksichtigung  der  Handelswege,  C.  Grünberg 322 

Dr.  phil.  I.  K.  Drenkoff:  Die  Steuerverhältnisse  Bulgariens,  C.  Grünberg    .    .    .    .322 

Reisch  und  Kreibig:  Bilanz  und  Steuer,  G.  Seidler 325 

A.  Aal:  Das  preussische  Rentengut,  seine   Vorgeschichte  und  seine  Gestaltung  in 

Gesetzgebung  und  Praxis,  S 327 

A.  Menger:  Le  droit  au  produit  integral  du  travail,  C.  Grünberg 329 

Antikritik,  A.  Manes 329 

Entgegnung,  Schiff 330 

Dr.  F.  Walter:    Die  Propheten  in  ihrem  socialen  Beruf  und  das   Wirtschaftsleben 

ihrer  Zeit,  C.  Grünberg 432 

J.  B.  Clark:   The  distribution   of  wealth,  a  theory  of  wages,  interest  and  profits, 

Schullern 434 

J.  Conrad:  Grundriss  zum  Studium  der  politischen  Oekonomie, 435 

E.  V.  Böhm-Bawerk:   Capital  und  Capitalzins 435 

Annuaire    de    la  l^gislation   du  travail,   public  par  l'office   du  travail  de   Belgique, 

Schullern 435 

Les  Industries  ä  Domicilc  en  Belgique,  Schullern      436 

J.  Jaures:  Action  socialiste,  — rg — 436 

Beiträge  zur  neuesten  Handelspolitik  Oesterreichs,  J 436 

Beiträge  zur  neuesten  Handelspolitik  Deutschlands.  J 438 

A.  G.  Raun  ig:  Der  Zolltarif  und  die  Reciprocitäts-Verträge  der  Vereinigten  Staaten 

von  Amerika,  J 438 

\.%.  Zucker:    Lose    Blätter  über  die   österreichische  Zoll-  und  Handelspolitik  nebst 

einein  Blicke  auf  die  inneren  Verhältnisse,  J 438 

Dr.  H.  Dietzel:  Weltwirtschaft  und  Volkswirtschaft,  Schullern 439 

B.  v.  Nostiz:  Das  Aufsteigen  des  Arbeiterstandes  in  England,  Plener 631 

Löon  Say:  Les  finances  de  la  France  sous  la  troisieme  Republique,  Plener   .    .    .  634 
V.  F.  V.  Kraus:  Wirtschafts-  und  Verwaltungspolitik  des   aufgeklärten  Absolutismus 

im  Gmundner  Salzkammergut,  J 634 

L.  Bittner:  Das  Eisenwesen  in  Innerberg-Eisenerz  bis  zur  Gründung  der  Innerberger 

Hauptgewerkschaft  im  Jahre  1625,  J 635 

Zeitschriften-Uebersicht 231,331,551 

Generalindex  für  die  Bände  I  bis  X 636 

Autorenregister 644 


^ 


ZUR  REFORM  DER  ÖSTERREICHISCHEN  ARBEITER- 
WOHNUNGSGESETZGEBUNG. 


VON 


SECTIONSCHEF  FREIHEEKN  v.  SCHWARTZENAU. 


Die  Ungunst  der  Wohnungs Verhältnisse,  unter  welcher  die  weniger 
bemittelten  Classen  der  Bevölkerung  namentlich  in  grossen  Städten,  zu 
leiden  haben,  ist  während  der  letzten  Decennien  in  der  Oeffeutlichkeit  viel- 
fach erörtert  worden.  Im  Laufe  der  Zeit  hat  sich  über  diese  Frage  eine 
reiche  Specialliteratur  herausgebildet,  mehrere  internationale  Congresse  beschäf- 
tigten sich  mit  derselben  und  auch  die  Parlamente  der  europäischen  Cultur- 
staaten  verabsäumten  nicht,  der  Lösung  dieses  in  wirtschaftlicher,  wie  in 
socialpolitischer  Kichtung  gleich  wichtigen  Problemes  volle  Beachtung  zu 
schenken.  Unter  den  vielen  ungünstigen  Erscheinungen,  welche  die  Ent- 
wicklung unserer  socialen  Organisation  an  der  Wende  des  Jahrhunderts 
aufzuweisen  hat,  wird  es  nur  wenige  geben,  die  mit  der  Wohnungsfrage 
nicht  in  einen  mehr  oder  weniger  unmittelbaren  Zusammenhang  gebracht 
werden  könnten.  Die  heutigen  Wohnungsverhältnisse  bedeuten  thatsächlich 
eine  ständige  Gefahr  für  breite  Schichten  der  Bevölkerung ;  eine  Wandlung 
zum  Besseren  in  denselben  herbeizuführen,  gehört  mit  Kecht  zu  den  wich- 
tigsten und  dringendsten  Postulaten  der  modernen  Socialökonomie. 

Die  Wohnung,  welche  in  ihren  ursprünglichsten  Anfängen  nur  bestimmt 
war,  Schutz  gegen  die  Unbilden  der  Witterung  und  die  von  aussen  drohenden 
Gefahren  überhaupt  zu  bieten,  wurde  schon  früh  in  ihrer  grossen  Bedeutung 
für  die  culturelle  Entwicklung  des  Menschengeschlechtes  erkannt  und  nach 
Maassgabe  der  fortschreitenden  Gesittung  auch  zunehmend  gewürdigt.  In 
ihr  befindet  sich  der  häusliche  Herd,  die  uralt  geheiligte  Stätte,  an  der  das 
Familienleben  sich  abspielt,  und  deren  Wichtigkeit  für  das  Gesaramtwohl 
schon  das  alte  deutsche  Recht  auf  die  ihm  eigene  sinnige,  tiefinnerliche 
Weise  in  verschiedenen  Sonderrechten  treffend  zum  Ausdrucke  zu  bringen 
wusste.  Die  Anforderungen,  die  an  die  Wohnung  in  ethischer  und  in  hygie- 
nischer Beziehung   zu    stellen   sind,  wechseln  mit   den  Zeiten  und  mit  den 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpulitili  und  Verwaltung.  X.  Hand.  1 


2  Schwartzenau. 

Bedürfnissen,  welche  diese  mit  sich  bringen;  niemals  aber  darf  vergessen 
werden,  dass  die  Wohnung  den  Hort  und  die  Pflanzstätte  der  Familie  bildet, 
wo  die  kommenden  Generationen  heranwachsen  sollen :  geistig  und  körperlich 
gesunde  Kinder  ebensolcher  Eltern.  Die  Pflege,  welche  ein  Volk  seinen 
Wohnungen  angedeihen  lässt,  ist  der  sicherste  Maasstab  seines  allgemeinen 
culturellen  Niveaus. 

Dem  österreichischen  Keichsrathe  gebürt  das  Verdienst,  sich  schon 
in  einem  verhältnismässig  frühen  Zeitpunkte  eingehend  mit  der  Wohnungs- 
frage befasst  und  einen  Gesetzentwurf  beschlossen  zu  haben,  der  dahin  ab- 
zielte, die  Errichtung  geeigneter  Arbeiterwohnhäuser  zu  begünstigen  und 
zu  erleichtern.  Auf  Grund  dieses  Entwurfes  kam  das  Gesetz  vom  9.  Fe- 
bruar 1892  zustande,  durch  welches  Neubauten  mit  Arbeiterwohnungen 
unter  gewissen  Voraussetzungen  die  Befreiung  von  der  Hauszinssteuer  und 
von  der  nach  dem  Gesetze  vom  9.  Februar  1882  von  steuerfreien  Gebäuden 
zu  entrichtenden  Steuer  auf  einen  Zeitraum  von  24  Jahren  eingeräumt  wurde. 

So  lobenswert  auch  die  Tendenzen  dieses  Gesetzes  sind,  so  hat  es 
sich  doch  in  der  Durchführung  leider  nicht  bewährt.  Der  praktisch  am 
meisten  zur  Geltung  kommende  Mangel  ist  in  der  Bestimmung  des  §  5 
gelegen,  in  welcher  der  für  Wien  einerseits  und  für  Orte  mit  mehr  oder 
weniger  als  10.000  Einwohnern  anderseits  per  Quadratmeter  [bewohnbaren 
Raumes  festgesetzte  Maximalzinsfuss  so  nieder  bemessen  ist,  dass  mit  dem 
dieser  Verzinsung  entsprechenden  Capitale  Gebäude,  welche  auch  nur  einiger- 
maassen  selbst  den  bescheidensten  Anforderungen  in  Bezug  auf  bauliche 
und  hygienische  Beschaffenheit  der  Wohnräume  entsprechen,  thatsächlich 
nicht  hergestellt  werden  können. 

Abgesehen  hievon  weist  das  geltende  Gesetz,  sowohl  in  seiner  grund- 
sätzlichen Veranlagung,  als  auch  in  den  Details  seiner  Bestimmungen  zahl- 
reiche, sehr  wesentliche  Mängel  auf,  welche  die  Regierung  bestimmten,  die 
Brlassung  eines  neuen  Gesetzes  über  Arbeiterwohnungen  anzubahnen.  Der 
Entwurf  dieses  Gesetzes,  welcher  im  Einvernehmen  der  Ministerien  des  Innern 
und  der  Finanzen  ausgearbeitet  wurde,  wird  dermalen  einer  interministe- 
riellen Berathung  unterzogen  und  soll  dem  Reichsrathe  bald  nach  dessen 
Zusammentritte  zur  verfassungsmässigen  Behandlung  vorgelegt  werden. 

Bei  der  Wichtigkeit  der  Vorlage  dürfte  eine  Darlegung  der  Grundsätze 
und  Absichten,  von  welchen  bei  Verfassung  dieses  Gesetzentwurfes  aus- 
gegangen  wurde,  für  weitere  Kreise    von    actuellem  Interesse  sein. 

Der  Gesetzgeber  hat  in  Bezug  auf  Arbeiterwohnungen  vor  allem  drei 
Gesichtspunkte  als  das  Ziel  seiner  Aufgabe  ins  Auge  zu  fassen  und  an  den- 
selben unentwegt  festzuhalten: 

In  erster  Linie  müssen  die  Wohnungen  gesund  sein;  das  heisst, 
sie  müssen  so  veranlagt  sein,  dass  sie  ihre  Bewohner  gegen  die  Gefahren 
schützen,  welche  sich  für  deren  körperliches  und  seelisches  Gedeihen  aus  dem 
Aufenthalte  in  überfüllten,  licht-  und  luftlosen  Räumen  und,  aus  der  Promis- 
cuität  der  Geschlechter  und  Altersstufen  ergeben. 


Zur  Eeform  der  österreichischen  Arbeiter-Wohnungsgesetzgebung,  3 

In  zweiter  Linie  inüssen  die  Wohnungen  billig  sein,  d.  h.  ihr  Preis 
muss  mit  der  ökonomischen  Lage  der  dabei  in  Betracht  kommenden  Be- 
völkerungsschichten im  Einklänge  stehen. 

Endlich  in  dritter  Linie  muss  dafür  gesorgt  werden,  dass  solche  ge- 
sunde und  billige  Wohnungen  in  genügender  Anzahl  vorhanden 
seien.  Durch  die  Herstellung  einzelner  Mustergebäude,  welche  dem  Gemein- 
sinne der  Staats-  oder  Gemeindeverwaltung  oder  sonstiger  Stifter  zu  aller 
Ehre  gereichen,  ist  zwar  für  einzelne  Bevorzugte  sehr  viel,  für  das  öftent- 
liche  Interesse  aber  verhältnismässig  noch  wenig  gethan.  Es  genügt  daher 
nicht,  das  der  Wohlthätigkeit  gewidmete  Vermögen  zu  solchen  Unter- 
nehmungen heranzuziehen,  sondern  es  muss  durch  die  Gesetzgebung  viel- 
mehr auch  dahin  gewirkt  werden,  dass  bei  möglichster  Wahrung  der  An- 
forderungen der  Hygiene  einerseits  und  der  Billigkeit  anderseits  doch  auch 
dem  anlagesuchenden  Capitale  nicht  jeder  Anreiz  benommen  werde,  sich 
auf  diesem  Gebiete  zu  bethätigen. 

Es  zeigt  sich  auf  den  ersten  Blick,  wie  ausserordentlich  schwierig  es 
ist,  zwischen  diesen,  einander  diametral  entgegenstehenden  Gesichtspunkten 
wenigstens  einigermaassen  den  nöthigen  Einklang  herzustellen.  Der  Gesetz- 
geber darf  sich  jedoch  durch  diese  Schwierigkeit  nicht  abhalten  lassen,  der 
Lösung  des  Problems  näher  zu  kommen,  indem  er  bei  jeder  einzelnen  Be- 
stimmung alle  drei  Gesichtspunkte  gleichzeitig  ins  Auge  fasst,  sie  sorgfältig 
gegeneinander  abwägt  und  endlich  dasjenige  verfügt,  was  im  Interesse  der 
Allgemeinheit  und  namentlich  im  Interesse  derjenigen  geboten  und  erreichbar 
erscheint,  zu  deren  Gunsten  das  Gesetz  erlassen  werden  soll. 

Hier  ergibt  sich  nun  zunächst  die  Frage,  zu  wessen  Gunsten 
das  Gesetz  erlassen  wird,  beziehungsweise  wer  als  der 
eigentliche  Träger  der  darin  vorgesehenen  materiellen 
Begünstigungen  zu  betrachten  ist. 

Das  Gesetz  vom  Jahre  1892  hat  diese  Frage  sehr  einfach  beantwortet, 
indem  es  als  den  Träger  der  gesetzlichen  Begünstigung  den  Erbauer,  be- 
ziehungsweise dessen  Kechtsnachf olger  im  Besitze  des  Gebäudes  behandelte 
und  der  arbeitenden  Classe  der  Bevölkerung  nur  insoferne  einen  mittelbaren 
Antheil  an  dieser  Begünstigung  einräumte,  als  es  deren  Zuerkennung  an 
die  Bedingung  knüpfte,  dass  das  Gebäude  ausschliesslich  an  Arbeiter  ver- 
mietet werden  soll,  um  denselben  gesunde  und  billige  Wohnungen  zu  bieten. 
Gerade  in  dieser  Auffassung  ist  aber  einer  der  principiellsten  Fehler  des 
geltenden  Gesetzes  gelegen. 

Träger  der  Begünstigung  im  eigentlichen  Sinne,  mit  Kücksicht  auf 
den  ethischen  Zweck  des  Gesetzes  sind  nicht  die  Hausbesitzer,  sondern  viel- 
mehr die  Mietparteien,  die  arbeitende  Bevölkerung,  in  deren 
Interesse  das  Gesetz  erlassen  werden  soll.  Praktisch  genommen  stellt  sich 
die  Sachlage  allerdings  theilweise  anders  dar.  Im  Augenblicke,  da  das  Haus 
gebaut  und  die  Begünstigung  zuerkannt  wird,  sind  deren  künftige  concrete 
Träger  noch  nicht  bekannt;  der  einzige  Factor  der  in  diesem  Zeitpunkte 
bereits  gegeben  ist,  ist  der  Erbauer  des  Hauses,  und  dieser  Umstand  allein 


^  Scliwartzeuau. 

schon  sichert  diesem  von  vorneherein  nicht  bloss  die  Eigenschaft  des  for- 
mell en  Träger  s  der  Steuerbegünstigung,  sondern  auch  einen  mate- 
riellen Antheil  an  derem  Werte.  Diese  Participation  des  Erbauers,  be- 
ziehungsweise dessen  Eechtsnachfolgers  im  Besitze  des  Gebäudes  ist  nicht 
Selbstzweck,  sondern  Mittel _^zum  Zwecke,  soferne  ohne  dieselbe  der  gerade 
im  Interesse  der  eigentlich  Begünstigten  erforderliche  Anreiz  zur  Inve- 
stierung von  Privatcapitalien  in  billigen  und  gesunden  Arbeiterwohnungen 
verloren  gienge.  Hier  treten  zwei  der  oben  als  maassgebend  bezeichneten 
Gesichtspunkte  —  die  Billigkeit  der  Arbeiterwohnungen  einerseits  und  deren 
möglichste  Vermehrung  anderseits  —  in  directen  Widerstreit.  Aufgabe  der 
Gesetzgebung  ist  es,  dafür  zu  sorgen,  dass  der  Erbauer  des  Hauses,  als 
der  formelle  Träger  der  Begünstigung,  gehalten  werde,  dieselbe  auf  deren 
materielle  Träger,  die  Mietparteien,  durch  Verbilligung  der  Wohnungen 
zu  überwälzen,  für  sich  aber  nur  jenen  Antheil  zurückzubehalten,  welcher 
erforderlich  ist,  um  die  Erbauung  von  Häusern  mit  gesunden  und  billigen 
Arbeiterwohnungen  gegenüber  derjenigen  anderer  Zinshäuser  unter  sonst 
gleichen  Bedingungen  privilegiert  erscheinen  zu  lassen. 

Das  geltende  Gesetz  ist  in  dieser  Kichtung  zu  weit  gegangen,  indem 
es  durch  Festsetzung  zu  niederer  Mietzinse  ausschliesslich  das  Moment  der 
Billigkeit  berücksichtigte,  dagegen  das  der  nothwendigen  Vermehrung  solcher 
Gebäude  gänzlich,  das  des  Hygiene  grossentheils  ausseracht  Hess.  Abgesehen 
hievon  ist  es  aber  auch  an  sich  verfehlt,  den  jährlich  zulässigen  Mietzins 
unterschiedslos  nach  dem  Quadratmeter  bewohnbaren  Raumes  zu  bemessen, 
wie  es  in  §  5  dieses  Gesetzes  geschieht.  Wenn  die  Ueberwälzung  der  Steuer- 
begünstigung von  dem  Vermieter  auf  den  Mieter  in  einer  für  beide  Theile 
gerechten  und  billigen  Weise  erfolgen  soll,  muss  im  neuen  Gesetze  die 
Möglichkeit  geboten  werden,  je  nach  der  Lage  (Stockwerk,  Gassen-  oder 
Hofseite  etc.)  und  der  sonstigen  Beschaffenheit  der  Wohnung  praktische 
Unterschiede  in  der  Bemessung  der  Mietzinse  eintreten  zu  lassen.  Ausserdem 
bringt  auch  die  gesetzliche  Festsetzung  des  Mietzinses  nach  Maassgabe  des 
bewohnbaren  Raumes  den  Nachtheil  mit  sich,  dass  späteren  Veränderungen 
in  der  durchschnittlichen  Höhe  der  Baurente  nicht  Rechnung  getragen 
werden  kann. 

Um  diesen  Uebelständen  nach  allen  Richtungen  abzuhelfen,  soll  im 
neuen  Gesetze  das  Gesammt-Zinserträgnis  des  steuerbegün- 
stigten Gebäudes  einer  percentuellen  Beschränkung 
unterworfen,  dagegen  aber  dem  Vermieter  überlassen  werden,  innerhalb 
des  zulässigen  Gesammterträgnisses  den  Zins  der  einzelnen  Wohnungen 
festzusetzen.  Der  Percentsatz,  nach  welchem  sich  das  für  Baugrund  und 
Baukosten  aufgewendete  Capital,  nach  Abzug  der  Amortisationsrate,  sämmt- 
licher  Realsteuern,  Zuschläge  und  Umlagen,  sowie  der  Gebäudeerhaltungs- 
und Administrationskosten  verzinsen  darf,  soll  jedoch  nicht  durch  das  Gesetz 
selbst,  sondern  im  Rahmen  desselben  im  Verordnungswege  festgesetzt  werden. 
Gerade  die  Frage  des  Percentsatzes,  d.  h.  die  Frage,  bis  zu  welchem  Aus- 
maasse  der  Vermieter  verhalten  werden  soll,  den  Wert  der  Steuerbegünstigung 


I 


Zur  Reform  der  östen-eichischen  Arbeiter-Wohnungsgesetzgebang.  ^ 

auf  den  Mieter  zu  iiberwälzen,  gehört  zu  den  schwierigsten  der  bevor- 
stehenden gesetzlichen  Eeform;  auf  die  unzutreffende  Lösung  derselben  im 
geltenden  Gesetze  sind  die  Misserfolge  bei  dessen  praktischer  Durchführung 
hauptsächlich  zurückzuführen.  Vom  Standpunkte  der  Billigkeit  der'Wohnungen 
aus  müsste  der  in  Rede  stehende  Percentsatz  möglichst  nieder  bemessen 
werden,  während  anderseits  der  Grundsatz,  dass  im  Interesse  der  Vermehrung 
gesunder  und  billiger  Arbeiterwohnungen  auch  dem  Vermieter  ein  Antheil 
an  der  gesetzlichen  Begünstigung  gesichert  werden  muss,  dem  Bestreben 
nach  einer  möglichst  weitgehenden  Verbilligung  der  Wohnungen  natürliche 
Grenzen  setzt.  Letzterer  Gesichtspunkt  verdient  umsomehr  Berücksichtigung, 
als  der  Besitzer  solcher  steuerbegünstigter  Gebäude  sowohl  durch  das 
Gesetz  als  durch  die  behördliche  Controle  vielfachen  Beschränkungen  und 
Belästigungen  unterworfen  werden  muss,  welche  bei  Bemessung  seines 
Antheiles  an  der  Steuerbegünstigung  —  wenn  auf  die  Heranziehung  des 
Privatcapitals  nicht  gänzlich  verzichtet  werden  soll  —  gleichfalls  billige 
Berücksichtigung  zu  finden  haben. 

Die  fachmännischen  Gutachten  schwankten  hinsichtlich  der  zulässigen 
Maximalverzinsung  des  aufgewendeten  Capitales  zwischen  3V2  und  4  Proc. 
Thatsächlich  würde  jedoch  jede  derartige  Fixierung  durch  das 
Gesetz  selbst  dessen  Zwecke  empfindlich  beeinträch- 
tigen. Bei  den  namhaften  Schwankungen,  welchen  der  Zinsfuss  nicht  nur 
zeitlich,  sondern  auch  örtlich  unterworfen  ist,  können  die  hier  maassgebenden 
Literessen  nur  dann  entsprechend  gewahrt  werden,  wenn  den  Vorschriften 
über  die  zulässige  Maximalverzinsung  des  in  Arbeiterwohnungen  investierten 
Capitales  die  nöthige  Beweglichkeit  gesichert  bleibt,  um  sich  den  jeweiligen 
concreten  Verhältnissen  möglichst  enge  anschliessen  zu  können.  Dieser  Zweck 
aber  ist  nur  dadurch  zu  erreichen,  dass  die  Festsetzung  des  fraglichen 
Percentsatzes  im  Rahmen  des  Gesetzes  der  Vero  rdn  un  gs  gewalt  über- 
lassen wird.  Bei  dieser  Festsetzung  wird  naturgemäss  auf  den  in  einzelnen 
Ländern  oder  Landestheilen  jeweilig  ortsüblichen  Zinsfuss,  insbesondere  auf 
den  Hypothekarzinsfuss  der  Sparcassen  und  der  sonst  maassgebenden  Credit- 
institute  in  der  Weise  Rücksicht  zu  nehmen  sein,  dass  die  Investierung  des 
Capitals  in  Gebäuden  mit  gesunden  und  billigen  Arbeiterwohnungen  anderen 
ähnlichen  Capitalsanlagen  gegenüber,  wenn  auch  nur  in  beschränktem 
Maasse,  doch  immerhin  noch  privilegiert  erscheint.  Ein  Zinsfuss,  welcher 
sich  um  0-15  bis  0-30  Proc.  über  die  nach  den  obigen  Grundsätzen  er- 
mittelte Durchschnittsverzinsung  erhebt,  kann  im  allgemeinen  als  ausreichend 
angesehen  werden,  um  bei  möglichster  Wahrung  des  Grundsatzes  der  Billigkeit 
der  Wohnungen  dem  Vermieter  doch  einen  angemessenen"  Antheil  an  dem 
Werte  der  Steuerbegünstigung  zu  sichern. 

Bei  Festsetzung  der  zulässigen  Maximalverzinsung  muss  übiigens  nicht 
allein  auf  die  Heranziehung  des  Privatcapitals,  sondern  namentlich  auch 
darauf  Rücksicht  genommen  werden,  dass  öffentliche  Anstalten,  welche  in 
irgend  einer  Weise  die  Zwecke  des  allgemeinen  Besten  zu  fördern 
berufen  sind,  wie  Kranken-   und  Ünfall-Vers  icher  ungsanstal- 


g  Schwartzenau. 

ten,  Landes-Creditinstitute,  Sparcassen  etc.,  angeregt  werden 
sollen,  ihre  verfügbaren  Capitalien  in  zunetinaendem  Maasse  in  Arbeiter- 
wohnhäusern zu  investieren.  Hier  ist  es  Aufgabe  des  Gesetzes,  neben  seinen 
eigenen  Zwecken  auch  den  gleichfalls  öffentlichen  Interessen  dienenden 
Zwecken  jener  Anstalten  Kechnung  zu  tragen:  es  geschieht  dies  am  besten 
durch  eine  Bestimmung,  in  welcher  die  Executive  ermächtigt  wird,  solchen 
gemeinnützigen  Anstalten  fallweise  eine  höhere,  als  die  sonst  zulässige  Ver- 
zinsung des  in  Arbeiterwohnungen  investierten  Capitales  zu  bewilligen. 

Der  weiter  oben  erwähnte  Mietzinstarif  über  sämmtliche  im  Hause 
befindlichen  Wohnungen  muss  behördlich  genehmigt  sein  und  an  einer  für 
jedermann  ersichtlichen  Stelle  des  Hauses  angebracht  werden.  Aufgabe  der 
Behörde  ist  es,  hiebei  die  Controle  darüber  zu  üben,  dass  der  Gesammt- 
mietzins  aller  Wohnungen  eines  Hauses  nach  Abzug  der  im  Gesetze  aus- 
drücklich bezeichneten  Posten  die  zulässige  Maximalverzinsung  nicht  übersteige. 

Wenn  in  einem  steuerbegünstigten'  Gebäude  einzelne  Wohnungen  den 
Arbeitern  unentgeltlich  oder  gegen  ziffermässig  nicht  festgesetzte  Anrechnung 
auf  den  Arbeitslolin  überlassen  werden,  ist  der  Zinswert  derselben  nach 
Maassgabe  des  auf  den  Quadratmeter  wirklich  vermieteter  Bodenfläche  durcli- 
schnittlich  entfallenden  Einheitszinses  im  Parificationswege  zu  ermitteln 
und  in  das  Gesammt-Zinserträgnis  des  Gebäudes  einzurechnen.  Der  so  er- 
mittelte Mietzinsvvert  solcher  Wohnungen  muss  im  Mietzinstarife  gleichfalls 
ausgewiesen  werden.  Durch  diese  Bestimmungen  wird,  wenigstens  in  Bezug 
auf  die  steuerbegünstigten  Gebäude,  jenen  Missbräuchen  vorgebeugt,  die 
sich  aus  der  angeblich  unentgeltlichen  oder  gegen  ziffermässig  nicht  fest- 
gesetzte Anrechnung  auf  den  Arbeitslohn  erfolgende  Ueberlassung  von  Woh- 
nungen an  Arbeiter  häufig  ergeben.  Der  Arbeiter  wird  dadurch  künftig  in 
der  Lage  sein,  sich  in  allen  solchen  Fällen  über  den  Wert  der  ihm  einge- 
räumten Wohnung  volle  Klarheit  zu  verschaffen. 

Aus  dem  Grundsatze,  dass  der  Mieter  der  eigentliche  Träger  der 
Steuerbegünstigung  ist,  ergibt  sich  noch  eine  Reihe  anderer  Consequenzen, 
welche  im  neuen  Gesetze  sorgfältige  Berücksichtigung  finden  müssen. 

Zunächst  entbehrt  es  jeder  Begründung,  dass  das  geltende  Gesetz  in 
§  1,  lit.  a) — c),  die  Steuerbegünstigung  auf  bestimmte  Kategorien  von  Bau- 
führern beschränkt.  Gegenüber  den  weitgehenden  Forderungen  einzelner 
Socialökonomen,  welche  die  Pflicht  der  Fürsorge  für  den  Bestand  einer  hin- 
länglichen Anzahl  von  Gebäuden  mit  gesunden  und  billigen  Arbeiterwohnungen 
der  öffentlichen  Gewalt  (Staat,  Land  oder  Gemeinde)  aufbürden  wollen,  hat 
der  Verfasser  schon  auf  dem  im  Jahre  1897  zu  Brüssel  abgehaltenen  inter- 
nationalen Congresse  über  billige  Wohnungen  die  Anschauung  vertreten, 
dass  diese  Fürsorge  in  erster  Linie  der  privaten  Initiative  zu  überlassen 
sei,  während  der  öffentlichen  Gewalt  die  Aufgabe  zufalle,  die  privaten  Be- 
strebungen auf  diesem  Gebiete  durch  entsprechende  Gesetze  oder  sonstige 
angemessene  Einrichtungen  nach  Kräften  zu  fördern.^) 

')  Actes  du  congres  international  des  habitions  a  bon  marche,  tenu  k  Bruxelles 
(Juillet  1897). 


Zur  Reform  der  österreichischen  Arheiter-Wohnungsgesetzgebung.  7 

So  wichtig  auch  die  Frage  der  Beschaffung  geeigneter  Arbeiter- 
wohnungen ist,  kann  doch  nicht  übersehen  werden,  dass  es  sich  hier  nur  um 
eine  der  zahlreichen  Erscheinungen  handelt,  welche''  sich  als  ein  Product 
unserer  gesamraten  socialen  und  wirtschaftlichen  Verhältnisse  darstellen.  Die 
Wohnungsnoth  der  minder  bemittelten  Classen  ist  lediglich  ein  Folgeübel, 
unter  dessen  verschiedenen  Ursachen  namentlich  die'^IJnregelmässigkeit  des 
Zuzuges  der  Bevölkerung  nach  den  grösseren  Centren^^hervorgehoben  zu 
werden  verdient.  Diese  Volksbewegung  vollzieht  sich  keineswegs  nach  den 
Principien  der  Nationalökonomie,  nach  dem  Grundsatze  des  Anbotes  und 
der  Nachfrage,  sondern  nach  augenblicklich  maassgebenden  unberechenbaren 
Conjuncturen ;  jeder  Nachfrage  steht  in  der  Regel  ein  zehnfach  stärkeres 
Anbot  gegenüber,  der  geringste  wirtschaftliche  Aufschwung,  oft  nur  ein  vor- 
übergehender Bedarf  an  Arbeitern  auf  einem  beschränkten  Gebiete,  genügt, 
um  einen  neuen  Menschenstrom  den  grossen  Städten  zuzuführen.  Ungleich 
unempfindlicher  erweist  sich  dagegen  die  Bevölkerung  gegenüber  den  Folgen 
des  wirtschaftlichen  Niederganges,  des  andauernden  Ueberwiegens  des  Arbeits- 
anbotes gegenüber  der  Nachfrage.  Einmal  an  das  ungebundene  Leben,  an 
die  unbestimmten  Aussichten  auf  bedeutenderen  Gewinn,  an  die  wechselnden 
Zufälligkeiten  der  Grosstadt  gewöhnt,  entschliesst  sich  das  Individuum  nur 
schwer,  zu  den  patriarchalischeren  Gebräuchen  des  flachen  Landes  zurück- 
zukehren, wo  ein  mit  harter,  angestrengter  Arbeit  ausgefülltes  Leben  alle 
Illusionen  zerstört,  die  über  den  regelmässigen  Erwerb  des  täglichen  Brotes 
hinausgehen.  Dem  Wolinungsbedarfe  dieser  stets  wachsenden  Bevölkerung 
durch  Errichtung  von  Gebäuden  seitens  des  Staates  oder  der  Gemeinde  zu 
genügen,  erscheint  von  vorneherein  ausgeschlossen,  abgesehen  davon,  dass 
dies  nur  dazu  beitragen  könnte,  dem  wirtschaftlich  ungerechtfertigten  Zudrange 
der  Bevölkerung  nach  den  grossen  Centren  neue  Anregung  zu  geben  und 
dadurch  den  Eintritt  jener  Katastrophen  zu  beschleunigen,  welche  die  unaus- 
bleibliche Folge  einer  namhaften  Ueberbevölkerung  sind. 

Aber  auch  auf  dem  flachem  Lande  ist  für  den  Staat,  das  Land  oder 
die  Gemeinde  die  Möglichkeit  nicht  geboten,  dem  Bedarfe  der  Bevölkerung 
nach  billigen  und  gesunden  Wohnungen  durch  Errichtung  solcher  Gebäude 
Rechnung  zu  tragen.  Dieser  Bedarf  ist  je  nach  den  augenblicklichen  Verhält- 
nissen eines  Ortes,  je  nachdem  dort  eine  Industrie  entsteht,  blüht  oder 
zugrunde  geht,  steten  Schwankungen  unterworfen,  welchen  die  öffentliche 
Gewalt  durch  ihre  eigenen  Einrichtungen  nicht  zu  folgen  vermöchte,  ohne 
gegen  ihre  sonstigen  dauernden,  ungleich  wichtigeren  Verpflichtungen  zu 
Verstössen. 

Dagegen  ist  es  bekannt,  welche  bedeutenden  Erfolge  in  England,  Frank- 
reich und  Belgien  dadurch  erzielt  wurden,  dass  gemeinsinnige  Private  (meist 
solche,  deren  Wohlstand  auf  industrielle  Unternehmungen  zurückzuführen  ist) 
ohne  auf  jedes  Einkommen  aus  ihren  investierten  Capitalien  verzichten  zu 
wollen,  sich  doch  mit  einem  geringeren  Percentsatze  begnügten,  um  an 
dem  philantropischen  Unternehmen  der  Beistellung  gesunder  und  billiger 
Arbeiterwohnungen    activen  Antheil   zu    nehmen.     Wenn  schon    die  Bauten 


8'  Schwartzenau. 

der  grösseren  Pabriksunternehmungen  auch  in  der  nächsten  Zukunft 
voraussichtlich  noch  einen  sehr  grossen  Theil  der  Arbeiterwohnungen  in 
Oesterreich  bilden  werden,  so  würde  es  doch  den  hauptsächlichsten  Prin- 
cipien  des  neuen  Gesetzes  widerstreiten,  das  sonstige  Capital  —  wie  es  das 
Gesetz  vom  Jahre  1892  gethan  hat  —  von  dieser  Art  der  Anlage  auszu- 
schliessen.  Demgemäss  muss  im  neuen  Entwürfe  jede  Beschränkung  mit 
Eücksicht  auf  die  verschiedenen  Kategorien  von  Bauführern  grundsätzlich 
entfallen. 

Ebenso  wichtig  wie  die  Frage,  ob  der  Kreis  der  zu  begünstigenden 
Vermieter  gesetzlich  zu  beschränken  sei,  ist  die,  ob  rücksichtlich 
des  Kreises  der  zu  begünstigenden  Mieter  eine  solche 
Beschränkung  platzzugreifen  habe. 

Das  geltende  Gesetz  hat  diese  Frage  in  bejahendem  Sinne  entschieden, 
indem  es  sowohl  in  seiner  üeberschrift,  als  auch  in  seinem  Texte  ,Ar- 
beiter"  als  die  Bewohner  der  steuerbegünstigten  Gebäude  bezeichnet, 
allerdings  ohne  einerseits  den  „Arbeiter" -Begriff  in  diesem  Sinne  näher  zu 
umschreiben  und  anderseits  irgendwelche  Garantien  dafür  zu  schaffen,  dass 
die  fraglichen  Gebäude  auch  thatsächlich  nur  von  Arbeitern  bewohnt  werden. 

Lediglich  von  ethischen  und  hygienischen  Gesichtspunkten  aus  be- 
trachtet, ist  zuzugeben,  dass  alle  Bevölkerungskreise,  deren  Einkommen 
unter  einem  gewissen  Betrage  zurückbleibt,  welcher  ihnen  unter  den  ge- 
gebenen Verhältnissen  die  Miete  einer  den  zulässigen  Minimalanforderungen 
entsprechenden  Wohnung  gestattet,  des  gesetzlichen  Schutzes  bedürftig  sind, 
mit  anderen  Worten:  dass  in  Bezug  auf  den  Kreis  der  begünstigten  Mieter 
ein  allenfalls  örtlich  und  zeitlich  zu  differenzierendes  Maximaleinkommen 
die  einzig  zulässige  Beschränkung  zu  bilden  hätte.  Das  kommende  Gesetz 
hätte  demnach  nicht  ein  „Arbeiter-",  sondern  ein  „Volks- Wohnungsgesetz" 
zu  sein.  Wirtschaftspolitische  Rücksichten  allgemeiner  Natur,  sowie  auch 
finanzpolitische  Erwägungen  lassen  es  jedoch  geboten  erscheinen,  in  dieser 
Richtung  nur  schrittweise  vorzugehen.  Ein  Sprung  ins  Ungewisse  muss 
umso  sorgfältiger  vermieden  werden,  als  das  neue  Gesetz  noch  eines  prak- 
tischen Vorbildes  ermangelt  und  gerade,  wenn  es  —  wie  wir  hoffen  —  sich 
als  wirksam  erweist,  durch  eine  allzuweit  gehende  Ausdehnung  seines  An- 
wendungsgebietes nach  anderen  Richtungen  leicht  zu  Consequenzen  führen 
könnte,  die  auch  im  Interesse  derjenigen  vermieden  werden  müssen,  zu 
deren  Gunsten  es  erlassen  wird.  Die  Gesetzgebung  kann  es  jedenfalls  nicht 
als  ihre  Aufgabe  betrachten,  durch  ein  unvermitteltes  Eingreifen  bestehende 
Gebäude  in  grösserem  Umfange  zu  entwerten  oder  zur  plötzlichen  Ent- 
völkerung ganzer  Stadttheile  beizutragen.  Der  Uebergang  zu  einer  allgemein 
durchgreifenden,  der  Volkshygiene  entsprechenden  Wohnungsreform  muss 
allmählich  und  mit  grundsätzlicher  Vermeidung  gewaltsamer  Erschütterungen, 
durch  welche  mittelbar  auch  die  zu  schützenden  Bevölkerungskreise  empfind- 
lich getroffen  würden,  angebahnt  werden. 

In    diesem  Sinne   ist   das  neue  Arbeiter-Wohnungsgesetz   nur  als  ein 
Vorläufer  eines  allgemeinen  Volks- Wohnungsgesetzes  anzusehen.  Einstweilen 


I 


Zur  Reform  der  österreichischen  Arbeitfir-Wohnungsgesetzgebung.  P 

aber  sprechen  gewichtige  Gründe  dafür,  die  fragliche  legislatorische  Action, 
unter  Aufrechthaltung  der  bisherigen  Schranken,  grundsätzlich  auf  das  Gebiet 
des  Arbeiter  Schutzes  zu  verweisen  und  deren  Vortheile  vor  allem 
denjenigen  zuzuwenden,  welche  bei  geringem  Einkommen  mit  ihrer  Hände 
Arbeit  productiv  thätig  sind. 

Zu  diesem  Zwecke  ist  es  jedoch  erforderlich,  dass  der  Arbeiterbegriff 
in  Bezug  auf  das  neue  Gesetz  entsprechend  weit  umschrieben  werde.  Die 
österreichische  Gesetzgebung  weist  keine  nach  allen  Richtungen  entsprechende 
Definition  dieses  Begriffes  auf,  wenigstens  keine,  welche  weit  genug  wäre, 
um  den  hier  in  Betracht  kommenden  Zwecken  zu  genügen.  Mit  Rücksicht 
auf  die  letzteren  werden  als  Arbeiter  im  Sinne  des  neuen  Gesetzes  alle  die- 
jenigen Personen  aufzufassen  sein,  welche  in  einem  gewerblichen,  landwirt- 
schaftlichen oder  sonst  auf  Erwerb  gerichteten,  gleichviel  ob  öffentlichen 
oder  privaten,  Unternehmen  gegen  Lohn  in  Verwendung  stehen,  und  deren 
Jahreseinkommen  jenen  Betrag  nicht  erreicht,  von  welchem  anzunehmen  ist, 
dass  er  ihnen  auch  ohne  besonderen  gesetzlichen  Schutz  die  Miete  einer 
den  zulässigen  Minimalanforderungen  entsprechenden  Wohnung  gestattet. 
Um  hiebei  den  praktischen  Bedürfnissen  möglichst  nahe  zu  kommen,  wird 
es  erforderlich  sein,  den  Maximalbetrag  des  jährlichen  Einkommens  einerseits 
nach  der  Zahl  der  Familienmitglieder,  anderseits  nach  den  Preisverhältnissen 
in  kleineren  und  grösseren  Ortschaften  zu  differenzieren. 

Selbstverständlich  wird  schon  das  Gesetz  selbst  dafür  Vorsorge  zu 
treffen  haben,  dass  weder  aus  dieser  Begriffsbestimmung,  noch  auch  über- 
haupt aus  dem  Grundsatze,  wonach  nur  die  arbeitende  Bevölkerung  als 
die  Trägerin  der  gesetzlichen  Begünstigung  anzusehen  ist,  kleinliche  Er- 
schwerungen in  der  praktischen  Durchführung  erwachsen. 

Zu  diesem  Zwecke  wird  namentlich  zu  verfügen  sein,  dass  durch  vor- 
übergehende Unterbrechungen  in  der  regelmässigen  Verwendung  die  Eigen- 
schaft als  , Arbeiter"  nicht  berührt  wird,  dass  solchen  Personen,  welche 
eine  Wohnung  unter  den  gesetzlichen  Bedingungen  bezogen  haben,  bei  spä- 
teren Veränderungen  in  der  Höhe  des  Gesammteinkommens  oder  in  der 
Zahl  der  Familienmitglieder  die  weitere  Benützung  dieser  Wohnung  gestattet 
werden  kann,  und  dass  Unternehmer  als  Besitzer  steuerbegünstigter  Gebäude 
bei  der  Aufnahme  der  in  ihrem  eigenen  Unternehmen  beschäftigten  Arbeiter 
an  das  gesetzliche  Höchstausmaass  des  jährlichen  Einkommens  dieser  letz- 
teren nicht  gebunden  sind.  Um  schon  dermalen  den  Uebergang  zu  einem 
allgemeinen  Volks-Wohnungsgesetze  anzubahnen  und  gleichzeitig  auch  den 
Besitzern  begünstigter  Gebäude  eine  Erleichterung  in  der  Vermietung  der 
Wohnungen  zu  gewähren,  soll  im  neuen  Gesetze  gestattet  werden,  dass  ein 
Theil  der  Wohnungen,  jedoch  nicht  mehr  als  ein  AHertheil  des  bewohnbaren 
Raumes  eines  solchen  Gebäudes,  nicht  an  Arbeiter,  sondern  an  andere  Per- 
sonen vermietet  (oder  unentgeltlich  überlassen)  werde,  deren  jährliches  Ein- 
kommen das  in  Bezug  auf  Arbeiter  gesetzlich  festgesetzte  Höchstausmaass 
nicht  übersteigt.  Ebenso  soll  auch  die  unentgeltliche  Ueberlassung  einzelner 
Wohnungen  an  die  mit  der  Verwaltung  oder  Beaufsichtigung  des  Gebäudes 


IQ  Schwartzenau. 

betrauten  Organe,  sowie  die  Vermietung  von  Räumen  an  Inhaber  solcher 
Gewerbe  für  zulässig  erklärt  Averden,  deren  Betrieb  in  den  betreffenden  Ge- 
bäuden  zur  Approvisionierung   der   dort  Wohnenden  nothwendig    erscheint. 

Wenn  der  Grundsatz  als  richtig  anerkannt  wird,  dass  eigentlich  nicht 
der  Vermieter,  sondern  der  Mieter  als  Träger  der  gesetzlichen  Begünstigung 
anzusehen  ist,  erweisen  sich  auch  die  Bestimmungen  des  §  6  des  geltenden 
Gesetzes  als  durchaus  verfehlte. 

Dass,  wenn  der  Kreis  der  in  Bezug  auf  das  neue  Gesetz  in  Betracht 
kommenden  Hausbesitzer  nicht  mehr  auf  bestimmte  Kategorien  von  Personen 
beschränkt  wird,  auch  die  Vorschrift  entfallen  muss,  wonach  die  Begün- 
stigung bei  Eigenthumsübertragungen  von  dem  Erbauer  auf  dritte  Personen 
erlisclit,  versteht  sich  von  selbst.  Ebenso  unhaltbar  vom  Standpunkte  des 
erwähnten  Grundsatzes  aus  sind  aber  auch  die  übrigen  Bestimmungen  des 
citierten  Paragraphen,  vermöge  welcher  bei  Nichtbeachtung  der  gesetzlichen 
Vorschriften,  insbesondere  bei  Feberschreitungen  der  zulässigen  Mietzins- 
beträge die  Hausbesitzer  durch  Entziehung  der  Begünstigung  bestraft  werden. 
Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  diese  Strafen  nicht  sosehr  den  schuldtragenden 
Vermieter,  als  vielmehr  die  durch  dessen  üebertretung  ohnedies  bereits 
geschädigten  Mietparteien  trifft.  Der  Hausbesitzer  übernimmt  infolge  der 
Zuerkennung  der  gesetzlichen  Begünstigung  formell  dem  Staate,  materiell 
seinen  Mietparteien  gegenüber  eine  Reihe  von  Verpflichtungen,  denen  er 
sich  nicht  entziehen  kann,  ohne  diese  Parteien,  oder  doch  die  Gesammtheit 
derjenigen  zu  schädigen,  welche  hinsichtlich  der  Beschaffung  geeigneter 
Wohnungen  des  gesetzlichen  Schutzes  bedürfen.  Er  wird  sich  diesen  Ver- 
pflichtungen in  der  Regel  solange  unterziehen,  als  er  in  seinem  Antheile  an 
dem  Werte  der  Steuerbegünstigung  ein  Aequivalent  für  dieselben  erblicken 
kann,  in  dem  Augenblicke  aber,  da  dies  aus  irgendwelchen  Gründen  nicht 
mehr  der  Fall  ist,  selbst  absichtlich  zum  Mittel  der  üebertretung  greifen, 
um  sich  durch  die  willkommene  Strafe  der  lästig  gewordenen  Verpflichtungen 
zu  entledigen.  Um  solche  Consequenzen  zu  vermeiden,  wird  das  neue  Gesetz 
daran  festzuhalten  haben,  dass  die  Zuerkennung  der  Begünstigung  die 
dauernde  Widmung  des  Gebäudes  zu  Arbeiterwohnungs-  und  -Wohl- 
fahrtszwecken zur  Folge  hat,  und  dass  sowohl  der  Erbauer,  als  dessen  Rechts- 
nachfolger im  Besitze  des  Hauses  zur  Beobachtung  der  gesetzlichen  Vor- 
schriften verpflichtet  bleiben.  Vorsichtshalber  empfiehlt  es  sich,  diese  dauernde 
Widmung  als  Reallast  zu  Gunsten  des  Staates  grundbücherlich  sicherstellen 
zu  lassen.  Es  werden  sich  allerdings  auch  in  Zukunft  Fälle  ergeben,  in 
welchen  das  Erlöschen  einer  solchen  Widmung  zugestanden  werden  muss. 
Dies  kann  jedoch  selbstverständlich  niemals  strafweise,  sondern  nur  dann 
geschehen,  wenn  infolge  geänderter  Verhältnisse  das  Interesse  der  gesetzlich 
begünstigten  Arbeiterkreise  an  dem  aufrechten  Bestände  der  Widmung  auf- 
gehört hat,  also  die  Voraussetzungen,  unter  welchen  dieselbe  begründet 
wurde,  thatsächlich  entfallen  sind.  Solche  Fälle,  wie  z.  B.  der  Niedergang  oder 
das  gänzliche  Aufhören  einer  früher  blühenden  Industrie  an  einem  bestimmten 
Orte,  werden    sich    unter   normalen  Verhältnissen    nur   selten    ergeben,  und 


Zur  Reform  der  österreichischen  Arbeiter-Wohnungsgesetzgebung.  H 

bleibt  die  ausnahmsweise  Bewilligung  zur  Löschung  der  grundbücherlieben 
Vormerkung  den  höchsten  administrativen  Instanzen  vorbehalten. 

Eine  rationelle  Bestrafung  des  Hausbesitzers  in  Fällen  von  Ueber- 
tretungen  kann  nur  darin  gelegen  sein,  dass  demselben  die  Zahlung  eines 
mehrfachen  Betrages  des  Wertes  der  während  der  Dauer  der  ungesetzlichen 
Widmung  genossenen  Steuerbegünstigung  aufgetragen  wird.  Eine  Strafe, 
durch  welche  die  Mietparteien  mittelbar  oder  unmittelbar  mitbetroffen  werden, 
muss  unter  allen  Umständen  ausgeschlossen  bleiben.  Hat  sich  der  Haus- 
besitzer einer  üebertretiing  speciell  dadurch  schuldig  gemacht,  dass  er  einen 
höheren  als  den  gesetzlich  zulässigen  Mietzins  einhob,  so  triift  ihn  ausser 
der  strafweisen  Entrichtung  eines  Mehrfachen  des  über  das  gesetzliche 
Ausmaass  hinaus  eingehobenen  Mietzinsbetrages  auch  die  Verpflichtung  zur 
Eückerstattung  dieses  Mehrbetrages  an  die  geschädigte  Mietpartei. 

Wenn  in  den  vorstehenden  Ausführungen  die  Frage,  wer  als  der  eigent- 
liche Träger  der  gesetzlichen  Begünstigung  anzusehen  ist,  und  die  sich 
hieraus  unmittelbar  ergebenden  Consequenzen  erörtert  wurden,  so  erübrigt 
noch,  die  weitere  Frage  zum  Gegenstande  einer  eingehenden  Untersuchung 
zu  machen,  worin  nach  dem  neuen  Gesetze  die  fragliche  Be- 
günstigung zu  bestehen  haben  wird. 

Principiell  ist  die  volkswirtschaftliche  Bedeutung  der  einzuleitenden 
legislatorischen  Action  darin  gelegen,  dass  für  die  breiten  arbeitenden 
Schichten  der  Bevölkerung  die  Herstellung  und  Benützung  solcher  Woh- 
nungen von  Staatswegen  begünstigt  werde,  deren  Preise  einerseits  mit  dem 
Einkommen  dieser  Bevölkerungsclassen  im  Einklänge  stehen,  und  deren 
Bestimmung,  Anlage  und  Benützung  anderseits  wenigstens  jenen  Anfor- 
derungen genügen,  die  im  öffentlichen  Interesse  in  Bezug  auf  die  Voraus- 
setzungen für  das  körperliche  und  seelische  Gedeihen  der  Bewohner,  sowie 
auf  das  erwünschte  allgemeine  Niveau  der  Lebensführung  als  unabweislich 
nothwendig  zu  betrachten  sind.  Hierdurch  ist  auch  nach  doppelter  Richtung 
das  Wesen  der  Begünstigung  charakterisiert,  welche  im  neuen  Gesetze  den 
durch  dasselbe  zu  begünstigenden  Bevölkerungsclassen  gewährt  werden  soll: 
die  Billigkeit  und  die  Gesundheit  der  Wohnungen. 

Auch  das  geltende  Gesetz  hat  es  sich  bereits  zur  Aufgabe  gemacht, 
nach  diesen  beiden  Richtungen  hin  Vorsorge  zu  treffen,  indem  es  in  §  1 
die  Zuerkeniiung  der  Begünstigung  davon  abhängig  macht,  dass  die  Er- 
bauung des  Hauses  zu  dem  Zwecke  erfolgt,  um  den  Arbeitern  „gesunde 
und  billige  Wohnungen  zu  bieten". 

Was  zunächst  die  Gesundheit  der  Arbeiterwohnungen  betrifft,  so 
enthält  das  Gesetz,  abgesehen  von  dem  obigen,  ganz  allgemeinen  Passus 
nur  die  Bestimmungen,  dass  der  Fussboden  der  Wohnungen  in  steuer- 
begünstigten Gebäuden  nicht  unter  der  Strassenoberfläche  gelegen  sein  darf 
(§  3),  und  dass  der  bewohnbare  Raum  von  Wohnungen  mit  einem  oder 
mehreren  Gelassen  nicht  unter  dem  dort  normierten  Minimalausmaasse  ziu'ück- 
bleiben  darf  (§  4,  Abs.  1).  Aber  selbst  von  diesen,  den  Grundsätzen  einer 
rationellen  Wohnungshygiene    in   keiner  Weise    genügenden   Anforderungen 


12  Schwarfzenau. 

kann  der  Erbauer  ganz  oder  theilweise  entbunden  werden,  „wenn  der  zweck- 
entsprechende und  gemeinnützige  Charakter  der  Bauführungen  in  anderer 
Weise  sichergestellt  ist"  (§  4,  Abs.  2). 

Es  versteht  sich  von  selbst,  dass  durch  derartige  Vorschriften  weder 
dem  öffentlichen  Interesse,  noch  dem  Interesse  derjenigen,  die  durch  das 
Gesetz  geschützt  werden  sollen,  auch  nur  annäherungsweise  Rechnung  ge- 
tragen wird.  Der  Gesetzgeber  muss  sich  bei  diesen  Fragen  stets  die  grosse 
Bedeutung  gegenwärtig  halten,  welche  die  Wohnung  speciell  für  die  Familie 
besitzt,  die  selbst  wieder,  als  die  primäre  Form  der  menschlichen  Gemein- 
schaft, seit  Jahrtausenden  berufen  war  und  jedenfalls  noch  auf  eine  unab- 
sehbare Zukunft  hinaus  berufen  sein  wird,  eine  der  wesentlichsten  Grund- 
lagen unseres  gesammten  privaten  und  öffentlichen  Lebens  zu  bilden. 

Der  Sinn  für  die  Ausschmückung  der  Wohnungen  mit  den  Erzeugnissen 
der  Kunst  und  allem,  was  den  Aufenthalt  dortselbst  erfreulich  und  angenehm 
gestaltet,  hat  in  den  wohlhabenden  Kreisen  von  altersher  bestanden.  Zwischen 
den  Häusern  der  Eeichen  und  den  Hütten  der  Armen  lag  jedoch  eine  Kluft, 
die  zu  überbrücken  den  ausgleichenden  Tendenzen  der  modernen  Wohlfahrts- 
gesetzgebung mit  Hilfe  der  fortgeschrittenen  Entwicklung  der  hygienischen 
Disciplinen  vorbehalten  blieb.  Bereits  macht  sich  in  den  verschiedenen 
Staaten  Europas  eine  sehr  nachhaltige  Bewegung  geltend,  welche  dahin  ab- 
zielt, der  Wohnungsfrage  in  der  Gesetzgebung  jene  Stellung  einzuräumen, 
die  sie  sowohl  aus  hygienischen,  als  aus  ethischen  Rücksichten  mit  vollem 
Rechte  beanspruchen  darf.  In  dieser  Beziehung  verdienen  namentlich  die 
kräftigen  Impulse  hervorgehoben  zu  werden,  welche  unmittelbar  aus  der 
Bevölkerung  des  benachbarten  Deutschen  Reiches  hervorgehen  und  dahin 
gerichtet  sind,  den  Reichstag  zur  Erlassung  eines  Reichs-Wohnungsgesetzes 
zu  bestimmen.  Vorläufig  darf  allerdings  noch  gezweifelt  werden,  ob  die 
wirtschaftliche  Entwicklung  Deutschlands  —  so  grosse  Fortschritte  dieselbe 
auch  in  den  letzten  Jahren  gemacht  hat  —  bereits  auf  jener  Höhe  ange- 
langt ist,  welche  es  der  dortigen  Gesetzgebung  gestattet,  durch  eine 
den  modernen  Anforderungen  entsprechende,  umfassende  und  tief  in  das 
Privatleben  eingreifende  Wohnungsreform  den  übrigen  Culturvölkern  bahn- 
brechend voranzueilen. 

Darüber  dürfen  wir  uns  jedenfalls  nicht  täuschen,  dass  ein  solches 
allgemeines  Wohnungsgesetz,  wenn  es  nicht  bloss  ein  Scheindasein  auf  dem 
Papiere  führen  soll,  eine  ausserordentliche  Entwicklung  der  wirtschaftlichen 
Kräfte  im  Staate  voraussetzt,  und  dass  bei  uns  in  Oesterreich  schon  ver- 
möge der  ungleichmässigen  ökonomischen  Entfaltung  einzelner  Länder 
und  Landestlieile  dieses  nichtsdestoweniger  anstrebenswerte  Ziel  vorerst 
nicht  erreicht  werden  kann.  Zunächst  werden  unsere  theils  veralteten,  theils 
wenn  auch  neuen,  so  doch  unzulänglichen  Bauordnungen  unter  specieller 
Berücksichtigung  der  Wohnungsfrage  einer  gründlichen  Reform  zu  unter- 
ziehen sein;  in  zweiter  Linie  bedarf  unsere  Gewerbeordnung,  welche  nur 
eine  einzige,  höchst  dürftige  Bestimmung  über  Arbeiterwohnungen  enthält, 
einer  zeitgemässen  Ausgestaltung.    Vor   allem  aber  muss  dasjenige  Gesetz, 


I 


I 


Zur  Kcl'oriu  der  österrcichisclioa  xirbuitor-AVolinuiigsgesetzgebung.  13 

welches  es  sich  zur  speciellen  Aufgabe  macht,  wenigstens  einem  geringen 
Theile  der  Bevölkerung  entsprechende  Wohnungen  zu  bieten,  und  zu  diesem 
Zwecke  der  Gesammtheit  nicht  unbeträchtliche  Lasten  auferlegt,  in  dem  so 
beschränkten  Anwendungsgebiete  alle  Bedingungen  in  sich  vereinen,  um  das 
physische  und  seelische  Gedeihen  der  begünstigten  Bevölkerungsclassen  zu 
fördern:  In  diesem  Sinne  wird  das  Arbeiter- Wohnungsgesetz  berufen  sein, 
nicht  allein  —  wie  bereits  bemerkt  —  ein  Gesetz  über  gesunde  und  billige 
Volksw'ohnungen,  sondern  in  der  weiteren  Folge  auch  ein  allgemeines 
Wohnungsgesetz  anzubahnen. 

Die  bei  Erlassung  des  neuen  Gesetzes  in  hygienischer  und  ethischer 
Kichtung  zu  beobachtenden  Grundsätze  beziehen  sich 

1.  auf  den  Zweck  und  die  bauliche  Anlage  der  Häuser, 

2.  auf  die  Beschaffenheit  und  Eintheilung  der  Wohnungen  und 

3.  auf  die  Benützung  der  letzteren. 

Dem  Zwecke  nach  ist  zu  unterscheiden  zwischen  Gebäuden  zur  Auf- 
nahme von  Familien;  solchen  zur  Aufnahme  einzelner  Personen  und  Wohlfahrts- 
gebäuden im  engeren  Sinne,  welche  nicht  zu  Wohnungszwecken,  sondern 
in  anderer  Weise  zur  gemeinsamen  Benützung  der  Bewohner  anderer  steuer- 
begünstigter Häuser  bestimmt  sind. 

Was  zunächst  die  F  a m  i  1  i  e  n  -  W  o  h  n  u  n  g  s  g  e  b  ä  u  d  e  betrifft,  so 
wäre  aus  ethischen  und  hygienischen  Rücksichten  die  Erbauung  kleinerer, 
zur  Aufnahme  von  ein  bis  zwei  Familien  bestimmter  Gebäude  zu  bevor- 
zugen. Die  Durchführung  dieses  Princips  wird  auf  dem  flachen  Lande  in 
der  Regel  keinen  wesentlichen  Schwierigkeiten  begegnen,  wohl  aber  in  dichter 
bevölkerten  Orten,  wo  —  abgesehen  von  zahlreichen  anderen  Momenten  — 
schon  der  grössere  Wert  des  Baugrundes  eine  intensivere  Ausnützung  der 
Bodenfläche  bedingt.  Wenn  daher  auch  in  Bezug  auf  die  Zahl  der  Familien, 
welche  in  einem  und  demselben  Gebäude  aufzunehmen  sind,  gesetzliche 
Beschränkungen  nicht  vorgesehen  und  sogenannte  „ Mietkasernen "  von  der 
Begünstigung  des  Gesetzes  grundsätzlich  nicht  ausgeschlossen  werden  können, 
so  wird  doch  durch  entsprechende  Bestimmungen  dafür  vorzusorgen  sein, 
dass  in  solchen  Gebäuden  durch  geeignete  Anlagen  (genügende  Anzahl  von 
Stiegen,  entsprechende  Lage  der  Wohnungen  und  Wohnungseingänge,  ge- 
sonderte Nebenräume,  Küchen,  Aborte  etc.)  jeder  einzelnen  Familie  die 
Möglichkeit  ihres  Sonderdaseins  gewahrt  und  die  Nothwendigkeit  der  gegen- 
seitigen Berührungen  thuulichst  verringert  werde.  Das  verderbliche  Eindringen 
fremder  Elemente  in  das  Familienleben  wird  namentlich  durch  das  Verbot 
der  Aftervermietung  und  der  Aufnahme  von  Bettgehern  in  Familienwohn- 
häusern wirksam  hintangehalten  werden  können.  Dagegen  soll  es  bei  ent- 
sprechender Anlage  solcher  Gebäude  dem  Hausbesitzer  nicht  verwehrt  sein, 
einzelne,  vollkommen  abgesonderte  Zimmer  je  nach  deren  Grösse  an  ein 
bis  zwei  einzelstehende  Personen  desselben  Geschlechtes  unmittelbar  zu 
vermieten.  Im  allgemeinen  aber  empfiehlt  es  sich,  bei  grösseren  Wohnungs- 
gebäuden für  die  Aufnahme  von  Familien  und  für  jene  von  einzelstehenden 
Personen  gesonderte  Abtheilungen  einzurichten.  Einzelpersonen  verschiedenen 


14  Schwaitzenau. 

Geschlechtes  sollen  überhaupt  nicht  in  demselben  Gebäude,  wo  dies  aber 
ausnahnoisweise  für  zulässig  erklärt  wird,  stets  nur  in  vollkommen  von  ein- 
ander gesonderten  Abtheilungen  untergebracht  werden. 

Ausser  den  Familienhäusern  sind  auch  Schlaf-  und  L  o  g  i  e  r^ 
h  ä  u  s  e  r,  sowie  ähnliche,  zur  gemeinsamen  Beherbergung  einzelnstehender 
Personen  bestimmte  Gebäude,  soferne  sie  den  hiebei  besonders  in  Betracht 
kommenden  gesundheitlichen  und  sittlichen  Anforderungen  entsprechen  und 
namentlich  auf  der  Grundlage  einer  vollständigen  Trennung  der  beiden 
Geschlechter  errichtet  sind,  von  der  gesetzlichen  Begünst.gung  keineswegs 
grundsätzlich  auszuschliessen.  Hinsichtlich  dieser  Kategorie  von  Gebäuden 
kommen  jedoch  in  einer  Richtung  wesentlich  andere  Gesichtspunkte  in 
Betracht,  als  bezüglich  der  übrigen  Arbeiterwohnungshäuser.  Während  sich 
nämlich  weiter  oben  im  allgemeinen  principiell  dagegen  ausgesprochen 
wurde,  den  Kreis  der  gesetzlich  zu  begünstigenden  Erbauer  oder  Besitzer 
von  Arbeiterwohnungsgebäuden  auf  bestimmte  Kategorien  von  Personen  zu 
beschränken,  kann  speciell  hinsichtlich  der  Schlaf- und  Logierhäuser  die  Zweck- 
mässigkeit einer  solchen  Beschränkung  nicht  in  Abrede  gestellt  werden.  Es 
folgt  dies  daraus,  dass  bei  dieser  Art  von  Gebäuden  deren  gemeinnütziger 
Charakter  nicht  so  sehr  durch  ihre  Anlage  und  Einrichtung  an  sich,  als 
vielmehr  durch  die  Art  ihres  Betriebes  und  ihrer  Benützung  in  jedem  ge- 
gebenen Augenblicke  bedingt  ist,  und  dass  von  den  Personen,  welche  sich 
zu  speculativen  Zwecken  mit  dem  Betriebe  solcher  Massenquartiere  be- 
schäftigen, in  der  Regel  nicht  jenes  Maass  der  Rücksichtnahme  auf  öffent- 
liche Interessen  vorausgesetzt  werden  kann,  ohne  welches  die  Zuerkennung 
der  gesetzlichen  Begünstigung  thatsächlich  unzulässig  wäre.  Eine  so  gründ- 
liche und  unausgesetzte  Ueberwachung,  wie  sie  hier  zur  Sicherung  des 
gesetzlichen  Zweckes  unbedingt  nöthig  wäre,  vermöchte  aber  staatlicherseits 
nicht  gewährleistet  zu  werden.  Aus  diesen  Erwägungen  empfiehlt  es  sich, 
die  Begünstigung  grundsätzlich  nur  solchen  Schlaf-  und  Logierhäusern  zu- 
zuerkennen, welche  von  öffentlichrechtlichen  Corporationen,  gemeinnützigen 
Vereinen,  Stiftungen  oder  Genossenschaften  oder  von  Arbeitgebern  für  die 
eigenen  Arbeiter  errichtet  werden.  Li  Fällen,  in  welchen  der  Besitz  des 
Gebäudes  später  an  andere  als  die  oben  bezeichneten  Personen  übergeht, 
müsste  es  der  Entscheidung  der  betheiligten  Ministerien  vorbehalten  bleiben, 
ob  und  unter  welchen  Bedingungen  die  Begünstigung  und  damit  auch  die 
Widmung  des  Gebäudes  ferner  noch  fortzubestehen  hat. 

Unter  den  oben  erwähnten  Wohlfahrtsgebäuden  im  engeren 
Sinne  sind  Lesehallen,  Badehäuser,  Waschanstalten  oder  andere  zur  gemein- 
samen Benützung  und  zum  geistigen  oder  körperlichen  Wohle  der  Bewohner 
eines  oder  mehrerer  Häuser  bestimmte  Anlagen  zu  verstehen.  Da  das  neue 
Gesetz  kein  Volks-,  sondern  speciell  nur  ein  Arbeiter-Wohnungsgesetz 
sein  soll,  können  in  Ansehung  desselben  nur  solche  Wohlfahrtsgebäude  in 
Betracht  kommen,  welche  zu  einem  Complexe  von  nach  diesem  Gesetze 
begünstigten  Ar  b  eit  er  Wohnhäusern  gehören.  Selbstverständlich  muss  es 
auch  gestattet  sein,  Wohlfahrtseinrichtungen  der  erwähnten  Art,  sowie  Speise- 


Zur  Reform  ier  österreichischen  Arbeiter-Wohiiuiigsgesetzgebuiig.  15 

Säle,  Bibliothekszimmer  u.  a.  in  den  steuerbegünstigten  Arbeiterwolingebäuclen 
selbst  unterzubringen. 

Hinsichtlich  der  Beschaffenheit  und  Einrichtung  der  Wohnungen  kommt 
vor  allem  die  Zahl  und  die  Grösse  der  Wohnräume  in  Betracht.  Von 
ethischen  und  hygienischen  Gesichtspunkten  aus  sind  Familienwohnungen 
mit  mehreren,  wenn  auch  kleineren,  solchen  mit  weniger,  obzwar  grösseren 
Räumen  entschieden  vorzuziehen.  Wohnungen,  welche  nur  aus  einem  einzigen 
Wohnräume  bestehen,  sind  zur  Aufnahme  von  Familien  grundsätzlich  un- 
geeignet. Wie  günstige  Erfolge  in  dieser  Richtung  erzielt  werden  können, 
zeigt  die  Statistik  der  Schweizer  Fabrikswohnhäuser,  von  deren  Gesammtzahl 
im  Jahre  1896  nur  VI  Proc.  auf  Wohnungen  mit  einem,  dagegen  31-2  Proc.  aut 
Wohnungen  mit  drei  und  42*5  Proc.  auf  solche  mit  vier  Wohnräumen  entfielen. 

Die  Herstellung  von  Wohnungen  mit  mehreren  Wohnräumen  wird  in 
zweckmässiger  Weise  dadurch  zu  fördern  sein,  dass  für  dieselben  im  Gesetze 
ein  relativ  niederes  Mindest-  und  ein  relativ  hohes  Höchstausmaass  fest- 
gesetzt wird.  Abgesehen  hievon,  bezweckt  die  Festsetzung  eines  Mindest- 
•ausmaasses  die  Sicherung  der  geringsten  Anforderungen,  welche  in  dieser 
Richtung  vom  ethischen  und  hygienischen  Standpunkte  aus  an  eine  Wohnung 
überhaupt  gestellt  werden  können,  während  in  dem  gesetzlich  zulässigen 
Höchstausmaasse  der  Gedanke  zum  Ausdrucke  gelangt,  welcher  auch  bei 
der  weiter  oben  erörterten  Umschreibung  des  Arbeiterbegriffes  für  die  Fest- 
setzung eines  Maximums  des  Jahreseinkommens  maassgebend  und  darin 
gelegen  ist,  dass  das  Gesetz  nur  den  unter  durchschnittlich  normalen  Ver- 
hältnissen thatsächlich  bestehenden  Wohnungsbedürfnissen  minder  bemittelter 
Arbeiterkreise,  nicht  aber  darüber  hinausgehenden  Anforderungen  Rechnung 
zu  tragen  hat.  Der  oberste  Sanitätsrath  und  das  Hochbau- Departement  des 
Ministeriums  des  Innern  haben  in  dieser  Beziehung  für  die  Bodenfläche  der 
bewohnbaren  Räume  (Wohnzimmer,  Kammern  und  Küche)  der  einzelnen 
Wohnungen  folgende  Ansätze  beantragt: 

a)  Bei  einräumigen  Wohnungen  mindestens  16  Quadratmeter, 

b)  bei  zweiräumigen  Wohnungen  mindestens  22  Quadratmeter, 

c)  bei  drei-  und  mehrräumigen  Wohnungen  mindestens  30  Quadratmeter. 

d)  bei  einräumigen  Wohnungen  höchstens  24  Quadratmeter, 

e)  bei  zwei-  und  mehrräumigen  Wohnungen  höchstens  75  Quadratmeter. 
Es    dürfte  jedoch  fraglich  erscheinen,    ob  in  der  Begünstigung  mehr- 

räumiger  Wohnungen  nicht  noch  weiter  gegangen  werden  könnte,  als  hier 
beantragt  wurde. 

In  den  vorstehenden  Ausführungen  wurden  selbstverständlich  bei 
weitem  noch  nicht  alle  Gesichtspunkte  berücksichtigt,  welche  in  Bezug  auf 
die  Anlage  der  zu  begünstigenden  Gebäude  und  die  Beschaffenheit  der 
Wohnungen  in  denselben  aus  ethischen  und  hygienischen  Gründen  zu 
beobachten  sind.  Das  Gesetz  hat  auch  dafür  zu  sorgen,  dass  die  Lage  der 
Fussböden  in  den  Erdgeschosswohnungen  zur  Strassenoberfläche  in  das 
richtige  Verhältnis  gebracht  werden,  dass  die  bewohnbaren  Räume  hinlänglich 
lioch  und  entsprechend  eingetheilt  seien,  dass  sie  in  ausreicliendem  Maasse 


\^  Sclnvartzonau. 

mit  Licht,  Luft  und  Wasser  versorgt,  dass  die  Abtallstofie  in  geeigneter 
Weise  beseitigt,  in  Bezug  auf  Keller-  und  Bodenräume  berechtigte  Ansprüche 
der  Parteien  berücksichtigt  werden  u.  s.  w. 

Wie  schon  aus  diesen  Andeutungen  hervorgeht,  sind  die  hier  in 
Betracht  kommenden  Vorschriften  so  mannigfaltige  und  umfassende,  dass 
es  schon  deshalb  schwer  möglich  wäre,  alle  hiebei  maassgebenden  Gesichts- 
punkte vollkommen  erschöpfend  und  ohne  Beeinträchtigung  anderer  wichtiger 
Zwecke  in  dem  knappen  Kahmen  eines  Gesetzes  zur  Geltung  zu  bringen, 
üeberdies  ist  aber  auch  nicht  zu  übersehen,  dass  alle  Bestimmungen  über 
die  Anlage  der  Gebäude,  über  die  Grösse  und  Beschaftenheit  der  Wohnungen 
vollkommen  wertlos  wären,  wenn  sie  nicht  durch  entsprechende  Vorschriften 
über  die  zulässige  Art  der  Benützung  solcher  Wohnungen 
ergänzt  würden.  Eine  Wohnung,  die  für  eine  Familie  von  drei  Personen  genügt, 
wird  für  eine  solche  von  sechs  Personen  durchaus  ungenügend  sein ;  ebenso 
kann  ein  an  sich  für  Wohn-  oder  Schlafzwecke  ganz  entsprechendes  Zimmer 
in  gesundheitlicher  Beziehung  durchaus  ungeeignet  werden,  wenn  es  gleich- 
zeitig zum  Baden  oder  zum  Waschen  oder  Trocknen  der  Wäsche  benützt 
wird.  Namentlich  aber  wird  es  in  dieser  Eichtung  Aufgabe  des  Gesetzes 
sein,  die  Voraussetzungen  dafür  zu  schaffen,  dass  eine  aus  Gesundheits- 
und Sittlichkeitsrücksichten  unzulässige  Ueb  erfüll  ung  der  Wohnräume 
nachdrücklich  hintangehalten  werden  könne.  Durch  diese  Gesichtspunkte 
wird  für  die  im  Gesetze  vorzusehenden  Dispositivnormen  ein  neues,  ausser- 
ordentlich vielseitiges,  in  seinen  verschiedenen  VoraussetzungcH  und  Con- 
sequenzen  kaum  im  vorhinein  übersehbares  Gebiet  eröffnet. 

Für  diese,  ebenso  wie  für  die  früher  erörterte  Gruppe  von  Vorschriften  ist 
der  Rahmen  des  Gesetzes  jedenfalls  ein  viel  zu  enger.  Die  hiebei  in  Betracht 
kommenden  ethischen  Kücksichten  sind  zwar  allerzeit  und  allerorts  dieselben ; 
es  hängt  jedoch  in  verschiedenen  Ländern  undLandestheilen  von  der  culturellen 
und  ökonomischen  Entwicklung  der  Bevölkerung  ab,  wie  weit  diese  Rücksichten 
durch  concrete  Anordnungen  praktisch  zur  Geltung  gebracht  werden  können. 

Noch  ungleich  grösseren  Schwierigkeiten  begegnet  es  aber,  die  hier 
maassgebenden  hygienischen  Rücksichten,  welche  je  nach  dem  augenblicklichen 
Stande  der  fortschreitenden  Wissenschaft  vielfachen  Schwankungen  unter- 
worfen sind,  in  die  starre  Form  gesetzlicher  Vorschriften  zu  kleiden.  Das 
Gesetz  wird  sich  praktisch  umsomehr  bewähren,  je  grössere  Beweglichkeit 
es  in  Bezug  auf  die  Details  den  in  Rede  stehenden  Vorschriften  sichert. 
Alle  diese  Erwägungen  scheinen  nachdrücklich  dafür  zu  sprechen,  hinsichtlich 
der  beiden  letzterwähnten  Gruppen  von  Vorschriften  der  Verordnungs- 
gewalt der  Executive  einen  weiten  Spielraum  zu  eröffnen. 

Specielle  Verordnungen  der  Regierung  werden  die  Anlage,  die  Ein- 
richtung und  den  Betrieb  von  Schlaf-  und  Logierhäusern,  sowie  von  Wohl- 
fahrtsgebäuden im  engeren  Sinne  zu  regeln  haben. 

Wie  bereits  bemerkt,  besteht  das  Wesen  der  Begünstigung,  welche 
den  durch  das  neue  Gesetz  zu  schützenden  Bevölkerungskreisen  eingeräumt 
werden    soll,   neben   der    Gesundheit  in  dei-»  Billigkeit  der  Wohnungen. 


I 


Zur  Reform  der  österreichischen  Arbeiter- Wohnungsgesetzgebung.  17 

Auch  in  dieser  Beziehung  hat  bereits  das  geltende  Gesetz  Vorsorge 
zu  treffen  gesucht.  Der  Gesetzgeber  hatte  richtig  erkannt,  dass  ein  Gesetz, 
welches  es  sich  zur  Aufgabe  macht,  der  arbeitenden  Bevölkerung  ihren 
Bedürfnissen  entsprechende,  gesunde  Wohnungen  zu  bieten,  vor  allem 
J]rleichterungen  in  Bezug  auf  die  Entrichtung  der  öftentlichen  Abgaben  vor- 
sehen und  in  dieser  Beziehung  zunächst  als  ein  Steuergesetz  aufgefasst 
werden  müsse.  Demgemäss  wurde  auch  im  §  1  des  Gesetzes  vom  Jahre  1892 
bestimmt,  dass  jenen  Wohngebäuden,  Avelche  ihrer  Anlage  und  ihrem 
Zwecke  nach  den  gesetzlichen  Anforderungen  entsprechen,  die  Befreiung  von 
der  Hauszinssteuer,  sowie  von  der  gemäss  §  7  des  Gesetzes  vom  9.  Februar  1882, 
K.-G.-Bl.  Nr.  17,  von  steuerfreien  Gebäuden  zu  entrichtenden  Steuer  ein- 
geräumt wird,  soferne  diese  Gebäude  in  dem  betreffenden  Lande  im  Wege 
der  Landesgesetzgebung  auch  die  Befreiung  von  allen  Landes-  und  Bezirks- 
zuschlägen, sowie  eine  Ermässigung  der  Gemeindezuschläge  zu  den  genannten 
Staatssteuern  gemessen.  Nach  §  2  erstreckt  sich  diese  Steuerfreiheit  auf  24  Jahre 
vom  Zeitpunkte  der  Vollendung  des  Gebäudes  an.  Endlich  sollte  in  §  5  durch 
Festsetzung  von  Maximalzinsbeträgen  pro  Quadratmeter  des  bewohnbaren 
Kaumes,  wie  bereits  angedeutet,  die  Ueberwälzung  der  gesetzlichen  Begünsti- 
gung von  dem  Hausbesitzer  auf  die  Mietsparteien  herbeigeführt  werden. 

An  diesen  Principien  wird  auch  das  neue  Gesetz  im  allgemeinen  fest- 
zuhalten haben;  auch  dieses  wird  seinem  Wesen  nach  in  dem  obenerwähnten 
Sinne  den  Charakter  eines  Steuergesetzes  nicht  verlieren  und  wird  zunächst 
eine  Befreiung  von  der  Hauszinssteuer  und  von  der  vom  Ertrage  steuer- 
freier Gebäude  zu  entrichtenden  Steuer  vorzusehen  haben.  Hier  ergibt  sich 
jedoch  sofort  die  Frage,  weshalb  das  geltende  Gesetz  in  der  Bestimmung 
des  §  1  neben  der  Hauszinssteuer  nicht  auch  auf  die  Hausclassen- 
Steuer  Rücksicht  genommen  hat. 

Die  Gesichspunkte,  w^elche  nach  §  1  des  Gesetzes  vom  9.  Februar  1882 
für  die  Einbeziehung  einzelner  Ortschaften  und  Gebäude  in  die  Hauszins- 
steuer maassgebend  sind,  sind  durchaus  verschieden  von  jenen,  die  in 
Anbetracht  der  durch  das  Arbeiterwohnungsgesetz  vorzusetzenden  Steuer- 
begünstigung in  Betracht  zu  kommen  haben.  Die  grundsätzliche  Ausschliessung 
der  Hausclassensteuer  von  dieser  Begünstigung  wäre  im  neuen  Gesetze 
umsoweniger  begründet,  als  dasselbe  den  Arbeiterbegriff  wesentlich  erweitern 
und  dadurch  auch  solche  Personen  in  den  Kreis  seiner  Schutzbestimmungen 
einbeziehen  soll,  welche  in  der  Kegel,  oder  doch  sehr  häufig,  Hausclassen- 
steuerpflichtige  Gebäude  bewohnen. 

Ein  weiterer  Mangel  des  geltenden  Gesetzes  ist  darin  gelegen,  dass 
dasselbe  auf  das  Gebüren  äquivalent  keine  Kücksicht  nahm,  welchem 
im  Sinne  der  Gesetze  vom  9.  Februar  1850,  bezw.  vom  13.  December  1862 
die  Gebäude  der  Stiftungen,  Beneficien,  Kirchen,  geistlichen  und  weltlichen 
Gemeinden  etc.  unterliegen.  In  Ansehung  der  allgemeinen  Vermögens- 
übertragungsgebüren,  für  welche  die  erwähnte  Abgabe  das  Aequivalent  zu 
bilden  hat,  erschiene  die  Statuierung  einer  Begünstigung  allerdings  nicht 
gerechtfertigt,  da  vom  Standpunkte  des  Arbeiterwohnungsgesetzes  aus  kein 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  X.  Band.  2 


X8  Schwartzeiiau. 

Anlass  gegeben  ist,  die  Vermögensübertragung  rücksiclitlich  solcher  Gebäude 
zu  fördern.  Ganz  anders  verhält  es  sich  dagegen  beim  Gebürenäquivalent, 
welches,  als  eine  regelmässig  wiederkehrende  Abgabe,  für  den  Besitzer  that- 
sächlich  den  Charakter  einer  Eealsteuer  hat.  Wenn  berücksichtigt  wird,  wie 
grosses  Gewicht  auf  die  vermehrte  Errichtung  von  Gebäuden  mit  gesunden 
und  billigen  Arbeiterwohnungen  speciell  durch  wohlthätige  Stiftungen  gelegt 
werden  muss,  erscheint  es  dringend  geboten,  solchen  Gebäuden  in  Ansehung 
ihres  gemeinnützigen  Zweckes  eine  möglichst  weitgehende  Begünstigung  in 
der  Entrichtung  des  Gebürenäquivalentes  zuzuerkennen.  Schon  der  Charakter 
dieser  Abgabe  bringt  es  mit  sich,  dass  eine  gänzliche  Befreiung  von  der- 
selben kaum  in  Aussicht  zu  nehmen  ist;  es  wird  zunächst  von  finanz- 
politischen Erwägungen  abhängen,  bis  zu  welchem  Maasse  eine  Begünstigung 
in  dieser  Kichtung  zugestanden  werden  kann.  Vom  Standpunkte  der  Arbeiter- 
wohnungsgesetzgebung aus  müsste  jedoch  angestrebt  werden,  an  die  Erfüllung 
der  gesetzlichen  Bedingungen  das  Zugeständnis  einer  wenigstens  50proc. 
Ermässigung  dieser  Abgabe  zu  knüpfen. 

Eine  Keihe  von  Bestimmungen  des  neuen  Gesetzes  wird  sich  mit  der 
Controle  der  steuerbegünstigten  Gebäude  zu  befassen  haben,  wobei  im 
allgemeinen  von  dem  Grundsatze  auszugehen  ist,  dass  ZAvar  rücksichtlich 
der  Verwaltung  und  Benützung  solcher  Gebäude  die  Zwecke  des  Gesetzes 
strengstens  gewahrt  werden  müssen,  dass  jedoch  im  übrigen  alle  nicht 
unbedingt  gebotenen  Eingriffe  in  das  Privatleben  und  in  das  Selbstbestimmungs- 
recht der  Mieter  sowohl,  als  der  Vermieter,  möglichst  hintanzuhalten  sind. 
Diese  Bestimmungen  stehen  mit  der  wichtigen  und  vielfach  erörterten 
Frage  der  Wohnuugsinspection  im  engsten  Zusammenhange.  Es  versteht 
sich  von  selbst,  dass  diese  Frage  schon  wegen  des  beschränkten  Anwendungs- 
gebietes des  Arbeiterwohnungsgesetzes  hier  nicht  ihre  Lösung  finden 
kann.  Immerhin  wird  jedoch  dem  Gesetze  auch  in  dieser  Beziehung  die 
Bedeutung  eines  Vorläufers  des  allgemeinen  Wohnungsgesetzes  zufallen  und 
wird  dasselbe  dafür  vorzusorgen  haben,  dass  den  mit  der  Durchführung 
betrauten  Behörden  im  Falle  des  Bedarfes  eine  hinlängliche  Zahl  geeigneter 
Controlorgane  zur  Verfügung  stehe. 

Unter  der  Wirksamkeit  des  Gesetzes  vom  9.  Februar  1892  ist  eine 
Keihe  von  Arbeiter- Wohngebäuden  entstanden,  die  zwar  im  allgemeinen  den 
an  solche  Gebäude  zu  stellenden  Anforderungen  entsprachen,  wegen  der  zu 
engen  Bestimmungen  des  Gesetzes  aber  der  angesprochenen  Begünstigung 
nicht  theilhaftig  werden  konnten.  Für  solche  Fälle  sollen  die  Minister  des 
Innern  und  der  Finanzen  ermächtigt  werden,  den  fraglichen  Gebäuden,  wenn 
sie  den  Anforderungen  des  neuen  Gesetzes  genügen,  auf  Grund  des  letzteren 
die  vorgesehene  Begünstigung  ausnahmsweise  nachträglich  zuzuerkennen. 
Ebenso  kann  auch  die  Ermässigung  des  Gebürenäquivalentes  rücksichtlich 
solcher  Häuser  bewilligt  werden,  welche  bereits  auf  Grund  des  geltenden| 
Gesetzes  die  in  demselben  vorgesehene  Steuerfreiheit  geniessen. 

Die  in  §  1  des  Gesetzes  vom  9.  Februar  1892  enthaltene  Bestimmung^ 
wonach  die  Befreiung  von  den  staatlichen  Abgaben  nur  in  jenen  Ländern  ii 


Zur  Keforni  der  üstorrcichischeii  Arbeiter-Wohiiungsgesetzgebuiig.  19 

Kraft  tritt,  wo  im  Wege  der  Landesgesetzgebung  den  betreffenden  Gebäuden 
auch  die  Befreiung  von  allen  Landes-  und  Bezirkszuschlägen,  zu  den 
fraglichen  Steuern  gewährt  wird,  muss  auch  im  neuen  Gesetze  aufrecht 
erhalten  bleiben,  da  bezüglich  dieser  Abgaben  für  die  Zwecke  des  Gesetzes 
ganz  dieselben  Gesichtspunkte  maassgebend  sind,  wie  bezüglich  der  staat- 
lichen Steuern  selbst. 

Obgleich  das  neue  Gesetz,  wie  weiter  oben  bemerkt,  wegen  des  Wesens 
der  darin  vorgesehenen  Begünstigungen  den  Charakter  eines  Steucrgesetzes 
nicht  vollständig  verliert,  tritt  doch  bei  demselben  das  früher  ausschliesslich 
entscheidende  finanzpolitische  Moment  in  dem  Maasse  zurück,  als  die 
hygienischen  und  ethischen  Zwecke  in  den  Bestimmungen  selbst  zu  erhöhter 
Bedeutung  gelangen.  Wenn  in  dieser  Kichtung  die  Zuerkennung  der  gesetz- 
lichen Begünstigungen  künftig  nicht  mehr  bloss  an  einige,  mehr  oder  weniger 
formelle,  sondern  an  weitgehende  materielle  Bedingungen  geknüpft  werden 
soll,  muss  selbstverständlich  nicht  allein  in  Bezug  auf  die  Erlassung  der 
in  Betracht  kommenden,  überwiegend  sanitäts-,  sittlichkeits-  und  baupolizei- 
lichen Durchführungsvorschriften,  sondern  auch  in  Bezug  auf  alle  Fragen 
der  Handhabung  des  Gesetzes  neben  dem  Kessort  der  Finanzen  demjenigen 
des  Innern  und  der  dem  letzteren  unterstehenden  politischen  Verwaltung 
eine  vollkommen  paritätische  Einflussnahme  gesichert  werden.  Aufgabe  des 
Gesetzgebers  ist  es  hiebei,  die  Wirkungskreise  der  beiden  betheiligten 
Ressorts,  ihren  natürlichen  Grenzen  gemäss,  in  allen  Bestimmungen  so  klar 
voneinander  zu  scheiden,  dass  das  Zusammenwirken  beider  Zweige  der 
staatlichen  Verwaltung  praktisch  keinen  Schwierigkeiten  begegnet  und  die 
doppelte  Corapetenz  nur  die  Zwecke  des  Gesetzes  fördert,  ohne  der  raschen  und 
prompten  Durchführung  desselben  in  den  einzelnen  Fällen  Abbruch  zu  thun. 

Wenn  das  neue  Gesetz  den  modernsten  Anforderungen  nach  allen 
Richtungen  entspricht  und  gleichzeitig  der  Verordnungsgewalt  einen  hin- 
länglichen Spielraum  eröffnet,  um  in  wirtschaftlicher  und  in  hygienischer 
Beziehung  allfälligen  künftigen  Veränderungen  Rechnung  zu  tragen,  darf 
auf  eine  Beschränkung  der  Wirksamkeit  dieses  Gesetzes  auf  die  Dauer  von 
10  Jahren,  wie  sie  im  geltenden  Gesetze  vorgesehen  ist,  mit  voller  Beruhigung 
verzichtet  werden.  Sollte  sich  dessenungeachtet  früher  oder  später  die  Noth- 
wendigkeit  einer  Abänderung  ergeben,  so  wird  hiefür,  wie  dies  eben  jetzt 
geschieht,  im  legislativen  Wege  vorzusorgen  sein.  Das  einzige  Moment, 
welches  für  die  Beibehaltung  der  fraglichen  Beschränkung  geltend  gemacht 
werden  könnte,  wäre  in  der  impulsiven  Wirkung  gelegen,  die  in  Absicht 
auf  eine  beschleunigte  Erreichung  der  gesetzlichen  Zwecke  mit  einer  zeit- 
lichen Begrenzung  der  Wirksamkeit  des  Gesetzes  verbunden  ist.  Auch 
dagegen  Hessen  sich  vom  wirtschaftspolitischen  Standpunkte  aus  vielleicht 
nicht  unbegründete  Bedenken  erheben;  in  jedem  Falle  aber  müsste  die 
zweifellos  zu  kurz  bemessene  Frist  des  geltenden  Gesetzes  in  den  neuen  Vor- 
schriften eine  wesentliche  Ausdehnung  erfahren. 

Mit  der  Erlassung  eines  zeitgemässen  Gesetzes  über  Arbeiter- 
wohnungen, sowie  mit  Wohnungsgesetzen  überhaupt,   ist   die   Aufgabe  des 

2* 


20  Schwartzenau. 

Staates  in  Bezug  auf  die  Wolinungsnoth  der  minder  bemittelten 
Bevölkerungsclassen  noch  keineswegs  erfüllt.  Es  hat  sich  schon  im  Laufe 
dieser  Ausführungen  die  Gelegenheit  geboten  darauf  hinzuweisen,  dass  die 
Ungunst  der  Wohnungsverhältnisse  nicht  als  ein  selbständiges  wirtschaft- 
liches Phänomen,  sondern  als  ein  nothwendiges  Product  unserer  gesammten 
socialen  und  ökonomischen  Verhältnisse  zu  betrachten  ist.  Wohnungsgesetze 
stellen  sich  stets  nur  als  Palliativmittel  dar,  welche  an  actueller  Bedeutung 
in  demselben  Maasse  verlieren,  als  es  einer  klugen  und  umsichtigen  Gesetz- 
gebung gelingt,  das  Uebel  an  der  Wurzel  zu  fassen  und  dort  erfolgreich 
zu  bekämpfen.  Als  eine  der  hauptsächlichsten  Ursachen  dieses  Uebels  stellt 
sich  der  den  rationellen  nationalökonomischen  Grundsätzen  widersprechende 
Zug  nach  den  grossen  Städten  und  die  damit  zusammenhängende  unrichtige 
Vertheilung  der  wirtschaftlichen  Kräfte  im  Staate  dar.  Ein  Gesetz  über  eine 
von  einheitlichen  Gesichtspunkten  geleitete  Arbeitsvermittlung  wird 
die  Bewegung  der  Bevölkerung  im  Innern,  ein  bisher  schwer  vermisstes 
Gesetz  über  die  Auswanderung  jene  nach  aussen  in  Bahnen  lenken, 
welche  die  lebendige  Kraft,  die  dieser  Bewegung  innewohnt  und  bisher 
ziellos  verschwendet  wurde,  dem  Interesse  der  Gesammtheit  dienstbar  macht. 
Wenn  es  auf  diese  Weise  gelungen  sein  wird,  eine  wirtschaftlich  richtigere 
Vertheilung  der  Bevölkerung  anzubahnen,  und  wenn  im  Zusammenhange 
damit  die  fortschreitende  Ausgestaltung  der  Arbeiterschutzgesetzgebung  zu 
einer  wesentlichen  Förderung  der  ökonomischen  Lage  der  arbeitenden  Classen 
beigetragen  haben  wird,  wird  uns  jenes  Endziel  ungleich  näher  gerückt 
erscheinen,  in  Bezug  auf  dessen  Erreichung  selbst  das  beste  Arbeiter- 
wohnungsgesetz nur  ein  dürftiges  Surrogat  zu  bilden  vermag. 

Einstweilen  darf  jeder  neue  Schritt,  den  die  Gesetzgebung  auf  dem 
langen  Wege  nach  fernen  hohen  Zielen  zurücklegt,  mit  Genugthuung  begrüsst 
werden.  Das  neue  Wohnungsgesetz  wird  in  dieser  Kichtung  seine  Aufgabe 
erfüllt  haben,  wenn  es  ihm  gelingt,  einerseits  das  Capital  in  umfassendem 
Maasse  zur  Investierung  in  Arbeiterwohnungsgebäuden  anzuregen  und  die 
Bethätigung  des  Wohlthätigkeitssinnes  auf  diesem  Gebiete  zu  fördern, 
anderseits  den  arbeitenden  Classen  in  zunehmender  Anzahl  gesunde  und 
billige  Wohnungen  zur  Verfügung  zu  stellen  und  dieselben  —  was  nicht 
zu  unterschätzen  ist  —  allmählich  daran  zu  gewöhnen,  ihren  Wohnungen 
jenes  Maass  der  Pflege  angedeihen  zu  lassen,  welches  in  deren  ethischer 
und  hygienischer  Bedeutung  begründet  ist. 

Mehrere  berufene  Factoren  haben,  von  gemeinsamen  Zielen  geleitet, 
an  dem  Zustandekommen  dieses  Entwurfes  mitgewirkt.  Er  ist  unabhängig 
von  ausländischen  Vorbildern,  auf  heimischen  Boden  entstanden  und 
heimischen  Verhältnissen  angepasst.  Möge  es  ihm  auch  gegönnt  sein,  in 
der  Heimat  feste  Wurzel  zu  fassen,  sich  ergänzend  in  die  Kette  unserer 
wirtschafts-  und  socialpolitischen  Gesetzgebung  einzufügen  und  auf  diesem 
Gebiete  nutzbringend  zu  bewähren,  nicht  in  letzter  Linie  auch  in  seiner 
erziehlichen  Bedeutung. 


DER  CHECKVERKEHR  DER  ÖSTERREICHISCHEN 

POSTSPARCASSE. 


VON 
DR-  KARL  LETH. 


Im  Zahlungswesen  —  wie  auf  allen  Wirtschaftsgebieten  —  haben  die 
vielgestalteten  Formen  des  modernen  Verkehrslebens  tief  einschneidende 
Aenderungen  und  Erweiterungen  verursacht.  Uebergabe  des  Geldes  von  Hand 
zu  Hand  oder  Sendung  von  Bargeld  konnte  bei  dem  heutigen  Stande  der  wirt- 
schaftlichen Entwicklung  nicht  mehr  genügen.  Die  Zahl  der  geschäftlichen 
Betriebe  und  die  Menge  der  in  selben  auszugleichenden  Forderungen  und 
Gegenforderungen  hatte  sich  ja  zufolge  der  fortsclireitenden'Arbeitstheilung 
ins  Ungemessene  gesteigert.  Ueberdies  wurden  durch  ein  sich  stets  aus- 
dehnendes Netz  von  Verkehrsadern  die  Grenzen  früherer  Absatzgebiete  mehr 
und  mehr  hinausgeschoben.  So  erhölite  sich  denn  im  commerziellen  Betriebe 
das  Bedürfnis,  die  cassenmässigen  Agenden  aus  dem  Bereiche  der  Einzeln- 
unternehmung auszuscheiden  und  an  ausschliesslich  damit  betraute  Institute 
zu  übertragen.  Gleiche  Tendenz  machte  sich  vielfach  selbst  auf  dem  Gebiete 
privater  Wirtschaftssphäre  geltend.  Dies  eröffnete  ein  weites  Feld  für  das 
Wirken  von  Institutionen,  welche  den  Zahlungsverkehr  vermitteln  und  die 
Ausgleichung  der  gegenseitigen  Forderungen  auf  creditwirtschaftlicher  Basis 
zu  selbständigem  Geschäftszweige  ausbildeten. 

Von  eminenter  Bedeutung  war  hiebei  die  Schaffung  einfacher,  eine  Er- 
sparung von  Barmitteln  herbeiführender  Vollzugsformen.  Zurückgreifend  auf 
das  bereits  seit  Jahrhunderten  erprobte  Check-  und  Giro  verfahren,  fand  man 
in  diesem  die  Basis  für  die  Ausgestaltung  des  Zahlungsverkehrs  in  einer 
dem  gegenwärtigen  Stande  des  Wirtschaftslebens  entsprechenden  Weise. 

In  Ländern  mit  hochentwickeltem  Bankensysteme  haben  die  Träger 
desselben  die  Organisation  des  Zahlungsprocesses  auf  checkmässigem  Wege 
angebahnt.  Die  betreffenden  Einrichtungen  des  Auslandes  —  in  ihrem  Wesen 
als  Giro-  und  Bankclearing  gekennzeichnet  —  können  als  bekannt  voraus- 
gesetzt werden,  und  genügt  es  wohl,  aus  der  bezüglichen  reichhaltigen 
Literatur  die  auf  dem  gedachten  Gebiete  grundlegenden  Untersuchungen  von 
Prof.  Rauchberg  („Der  Clearing-  und  Giroverkehr  in  Oesterreich-Ungarn 
und  im  Auslände")  hervorzuheben. 

Auf  erweiterter  Basis  hat  sich  in  Oesterreich  die  Popularisierung  des 
creditwirtschaftlichen  Zahlungsverkehrs  vollzogen.  Ausser  den  daselbst  wir- 
kenden Bankorganismen  wurden  für  diesen   Zweck  auch   die  PJinrichtungen 


22  I^eth. 

der  Postsparcasse  herangezogen.  Gleiches  geschah  in  Ungarn.  Ebenso  trägt 
man  sich  auch  im  Deutschen  Eeiche^)  mit  dem  Gedanken,  nach  österreichi- 
schem Muster  das  Checkverfahren  zu  verallgemeinen.  Die  Thronrede,  mit 
welcher  der  Keichstag  am  6.  December  1898  eröffnet  wurde,  verkündet:  „Um 
den  breiten  Schichten  der  Mittelclassen,  die  kein  Giroconto  bei  der  Eeichs- 
bank  halten  können,  einen  billigen  und  bequemen  Weg  für  die  Ausgleichung 
kleiner  Zahlungen  zu  schaffen,  wird  beabsichtigt,  ein  Check-  und  Ausgleichs- 
verfahren durch  Vermittlung  der  Postanstalten  einzurichten."   Durch  dessen 


*)  Nach  Beendigung  der  vorliegenden  Studie  wurde  im  Deutschen  Eeiche  der  Ein- 
führung des  Postcheckverkehrs  nach  österreichischem  Vorbilde  näher  getreten;  es  basiert 
der  von  den  verbündeten  Kegierungen  vorgelegte  Entwurf  einer  Postcheckordnung  auf 
folgenden  Principien.  Für  mehrere  Ober-Postdirectionsbezirke  wird  ein  Postcheckamt 
errichtet,  bei  dem  für  jedermann  gegen  Erlag  einer  unverzinslichen  Stammeinlage  von 
200  Mark  ein  Checkconto  eröffnet  werden  kann.  Auf  das  Conto  eines  jeden  Theilnehmers 
können  bei  allen  Eeichspostanstalten  Beträge  sowohl  vom  Contoinhaber  als  auch  von 
anderen  Personen  eingezahlt  und  von  dem  angesammelten  Guthaben  durch  den  Conto- 
inhaber jederzeit  Beträge  zur  sofortigen  Auszahlung  an  sich  selbst  oder  an  eine  andere 
Person  oder  zur  Gutschrift  auf  das  Conto  eines  anderen  Theilnehmers  angewiesen  werden. 
Die  Einlagen  erfolgen  mittels  „Zuschriftskarten",  oder  durch  Postanweisungen  oder  auch 
durch  Gutschriften  im  Ausgleichsverkehr.  Für  die  Berechnung  der  von  den  Parteien  zu 
entrichtenden  Gebüren  soll  der  Grundsatz  gelten,  dass  die  durch  das  Verfahren  der 
Eeichspostverwaltung  entstehenden  Kosten  gedeckt  sind.  Als  Zinsen  für  die  ausser  der 
Stammeinlage  gemachten  weiteren  Einlagen  werden  1"2  Proc.  pro  anno  vergütet. 

Diese  Modalitäten  fanden  nicht  die  Zustimmung  des  Reichstages,  und  wurden 
von  letzterem  die  Grundzüge  für  die  Postcheckordnung  folgendermaassen  geändert:  1.  eine 
Verzinsung  der  auf  den  Conten  gebuchten  Einlagen  darf  nicht  statttinden,  2.  für  die 
Einzahlungen  und  Rückzahlungen  im  Checkverkehr  werden  Gebüren  nicht  erhoben.  3.  das 
aus  dem  Checkverkehr  sich  ergebende  Saldo  ist,  soweit  nicht  aus  ihm  die  Cassonmittel 
zur  Durchführung  des  Checkverkehrs  zu  verstärken  sind,  an  die  Reichsbank  gegen  täg- 
liche Kündigung  abzuführen.  In  dem  Abkommen  mit  der  Reichsbank  ist  zur  Bedingung 
zu  machen,  dass  das  Capital  von  ihr  mit  3  Proc.  unter  ihrem  jedesmaligen  Wechseldiscont, 
mindestens  jedoch  mit  IVj  Proc.  und  höchstens  mit  3  Proc.  der  Reichspostverwaltung 
verzinst  wird. 

Damit  würde  der  Character  des  Postcheckverkehrs,  wie  er  sich  in  Oesterreich 
entwickelt  hat  und  auch  von  der  deutschen  Reichsregierung  beabsichtigt  wurde,  völlig 
verändert,  und  es  kämen  rücksichtlich  der  Benützung  der  Einrichtungähnliche  Grundsätze 
zur  Anwendung,  wie  im  bankmässigen  Checkverkehr  Englands.  Ob  dies  bei  den  Ver- 
hältnisssen  der  Bevölkerungskreise,  für  welche  das  Postcheckverfahren  vornehmlich  bestimmt 
ist,  zweckentsprechend  wäre,  ist  fraglich.  Man  darf  nicht  übersehen,  dass  es  sich  im 
englischen  Bankcheckverkehr  um  Beträge  handelt,  welche  aus  den  verschiedensten  Arten 
von  Creditgescbäften  resultieren  und  vielfach  auch  internationalen  Zahlungszwecken 
dienen.  Bei  ähnlichen  Bestimmungen  im  Betriebe  eines  Postcheckamtes  ist  wohl  nicht 
auf  derartig  hohe  Bestände  zu  rechnen,  dass  durch  deren  Verzinsung  eine  active 
Gebarung  gesichert  bezw.  der  Ausfall  im  Erträgnisse  an  Gebüren  gedeckt  wäre. 

Unter  solchen  Umständen  ist  es  begreiflich,  dass  der  Staatssecretär  des  Reichs- 
schatzamtes bei  der  3.  Lesung  erklärte:  „Sofern  die  Beschlüsse  aufrecht  erhalten  bleiben, 
wird  die  Einführung  des  Checkverkehrs  unter  solchen  Verhältnissen  und  Bedingungen 
vom  Standpunkte  der  finanziellen  Interessen  des  Reiches  ernsten  Bedenken  unterliegen,- 
und  ich  muss  den  verbündeten  Regierungen  die  volle  Freiheit  der  Entschliessung  darüber! 
wahren,  ob  von  den  im  Etatsgesetz  und  im  Etat  selbst  ertheilten  bezüglichen  Ermächtigungen^ 
Gebrauch  zu  machen  sein  wird." 


Der  Checkverkehr  der  österreichischen  Postsparcasse.  23 

Verbindung  mit  der  Postanstalt  sollen  „die  Vortheile  des  Ausgleichs- 
verkehrs, in  welchem  der  Austausch  der  Schulden  und  Forderungen  durch 
einfache  Last-  und  Gutschrift  ohne  Anwendung  irgend  welcher  Barmittel 
geschieht,  den  Mittelclassen  erschlossen  werden".  (Motive  zur  Einführung 
des  Postcheckverfahrens  im  Deutschen  Keiche.)  Desgleichen  besteht  in  anderen 
Staaten  (Belgien,  Schweiz,  Frankreich)  die  Absicht,  das  Checkwesen  nach  dem 
Vorbilde  des  österr.  Postsparcassenamtes  auszubilden.  So  ist  denn  durch  das 
bei  letzterem  entstandene  System  der  Anstoss  für  eine  neue  Gestaltung  der 
creditwirtschaftlichen  Organisation  des  Zahlungsprocesses  auch  auswärts 
gegeben  und  gewinnt  dieses  Verfahren  allgemeines,  über  die  Grenzen  des 
ürsprunglandes  hinausgehendes  Interesse.  Es  dürfte  daher  zeitgemäss  erscheinen, 
die  wichtigeren  einschlägigen  Fragen  zu  erörtern.  Hiebei  soll  insbesondere 
die  wirtschaftliche  Function,  welche  der  Postcheckverkehr  in  Oesterreich 
erfüllt,  sowie  dessen  Rückwirkung  auf  die  Verminderung  der  Barmittelbewe- 
gung  beleuchtet  werden. 

Der  in  den'  Formen  des  Creditverkehrs  vollzogene  Zahlungsprocess 
läuft  in  Oesterreich  in  drei  nach  Clientel  und  wirtschaftlichen  Functionen 
verschiedenen  Knotenpunkten  zusammen.  In  der  Reihenfolge  ihres  Entstehens 
sind  dies  die  österreichisch-ungarische  Bank,  der  Wiener  Giro-  und  Cassen- 
verein,  endlich  die  Checkabtheilung  des  Postsparcassenamtes, 

Der  Giroverkehr  der  österreichisch-ungarischen  Bank^)  ist  auf  den  in 
Oesterreich  kleinen  Kreis  von  Firmen  beschränkt,  welche  regelmässige  Bank- 
verbindungen unterhalten.  Vorwiegend  handelt  es  sich  bei  ihm  um  die  Ge- 
barung mit  Geldern,  welche  aus  den  verschiedenen  Zweigen  des  Bankgeschäftes 
herrühren  oder  solchen  zugeführt  werden  sollen,  vielfach  auch  um  die  Capi- 
talien  des  Grossverkehrs.  Wohl  geschahen  manche  zum  Theil  erfolgreiche  Ver- 
suche, die  Bankeinrichtimgen  weiteren  Schichten  der  Volkswirtschaft  zugänglicli 
zu  machen,  doch  bisher  vermochte  man  noch  keineswegs  die  Menge  kleiner  Leute, 
welche  an  eine  bankmässige  Vollziehung  ihrer  Credit-  und  Zahlungsgeschäfte 
nicht  gewöhnt  sind,  der  Bank  als  Clientel  zuzuführen.  Nach  wie  vor  stehen 
sie  derselben  ferne ;  ob  hierin  Wandel  geschaffen  werden  kann,  ist  eine  noch 
ungelöste  Frage.  Doch  scheint  die  bisherige  Entwicklung  darauf  hinzuweisen, 
dass  nicht  in  der  extensiven  Pflege  des  Giroverkehrs,  sondern  in  der  zweck- 
entsprechenden Verbindung  des  Checkwesens  mit  dem  im  Centralinstitute 
concentrierten  bankmässigen  Betriebe  der  Schwerpunkt  für  das  Girogeschäft 
der  österreichisch-ungarischen  Bank  und  dessen  Bedeutung  für  die  geldlose 
Ausgleichung  der  Forderungen  zu  suchen  ist. 

Auch  dem  Giro-  und  Cassenvereine  fallen  nach  der  bisherigen  Ent- 
wicklung im  Zahlungsprocesse  ähnliche  Aufgaben  zu;  dann  aber  auch  ganz 
specifische  Functionen:  das  Börsearrangement,  sowie  die  damit  zusammen- 
hängenden Zahlungsagenden  auf  der  einen,    die  localen  Incasso-  und  Zahl 


^)  Bei  der  Hauptanstalt  Wien  und  den  österreichischen  Filialen  bestanden  Ende 
1898  2676  Contoinhaber  mit  einem  Giroguthaben  von  13'9  Mill.  Kronen;  der  Umsatz 
während  des  genannten  Jahres  betrug  19.734  Mill.  Kronen.  Die  durchschnittliche  Höhe 
der  Gebarung  auf  einem  Conto  rund  7  Mill.  Kronen. 


24  Leth. 

lungsgeschäfte  —  insbesondere  im  Wechselverkehr  —  für  den  Wiener  Platz 
auf  der  anderen  Seite,  wobei  er  als  Central-Incassostelle  für  die  übrigen 
Banken,  welche  Giroabtheilungen  haben,  fungiert. 

Im  Börseverkehr  ist  die  geldlose  Ausgleichung  durch  die  Organisation 
des  Giro-  und  Cassenvereines  schon  jetzt  fast  vollständig  erreicht.  Hierin 
erfüllt  dieses  Institut  derzeit  bereits  die  ihm  zugedachte  Function  als  den 
Barverkehr '^minderndes  Glied  im  Zahlungsprocesse.  Gleiches  war  leider 
beim  Incassogeschäfte  trotz  bezüglicher  Bemühungen  bisher  nicht  zu  errei- 
chen. Auch  derzeit  noch  bewegen  sich  die  Wechselzahlungen  vorwiegend  in 
den  Formen  des  Barverkehrs  und  wäre  bei  selben  ein  grösseres  Ersparnis 
an  ümlaufsmitteln  wohl  nur  dann  zu  erzielen,  wenn  sich  die  Kaufmannschaft 
daran  gewöhnt,  ihre  Wechsel  entweder  bei  einem  Giroinstitute  zahlbar  zu 
stellen,  oder  aber  die  Wechselvaluta  doch  wenigstens,  wie  es  derzeit  geschieht, 
nicht  aus  dem  Giroguthaben  vor  Fälligkeit  in  Barem  abzuheben,  sondern 
durch  Uebergabe  von  Checks  die  Zahlung  zu  leisten.  Hiezu  böten  die  Checks 
des  Postsparcassenamtes  für  weitere  Kreise  erhöhte  Gelegenheit. 

Die  Mehrzahl  der  Wiener  Banken  pflegt  gleichfalls  den  Giroverkehr 
und  zeigt  sich  bei  selben  ein  entschiedenes  Streben,  diesen  Geschäftszweig 
zu  grösserer  Bedeutung  zu  bringen.^) 

Den  vorstehend  erwähnten  Gliedern  zur  Vermittlung  des  Zahlungs- 
verkehrs reiht  sich  seit  dem  Jahre  1883  die  Checkabtheilung  des  k.  k.  Post- 
sparcassenamtes an,  welche  das  Checkwesen,  wie  erwähnt,  auf  neue  Grund- 
lage stellte  und  breiteren  Kreisen  erschloss.^) 

*)  Die  Entwicklung  des  Checkverkehrs  bei  den  wichtigeren  Wiener  Banken  war 
1897  folgende: 

Girobestände  Verwendete  Checks 

Durcb- 
Revirement        Bestände  ,        ,  ,  schnitts- 

Zalil  Anzahl  betrag 

in  1000  Kronen  in  Kronen 

N.-Oc.  Escompte-Gesellschaft    .    .     2.953        595.246         16.820  16.223        14.716 
Creditanstalt  für  Handel  und  Ge- 
werbe (Hauptanstalt) 484        327.814          3.992  5.184        15.418 

Anglo-Oesterreichische  Bank      .    .        299        286.144  8.182  15.865  8.966 

Allgemeine  Depositenbank      ...        232  55.516  1.062  —  5.048 

Länderbank 997        411.376  5.556  34.410  5.968 

Wiener  Bankverein 3.664      1,081.968        24.938  88.000  6.678 

2)  Die  ziffermässigen  Resultate  des  Postcheckverkehrs  sind  bekannt.  Der  üeber- 
sichtlichkeit  halber  bringen  wir  selbe  für  das  Geschäftsjahr  1899  im  nachfolgenden. 

Oesterreich 

Zahl  der  Contoinhaber ' 40.271 

hierunter  Theilnehmer  am  Clearingverkehr  31.358,  d.i.  78  Proc. 

Anzahl  der  Transactionen 19,938.579 

Summe  der  Einlagen 4.769,565.873  K 

„    Rückzahlungen 4.769,321.538  X 

„       des  Umsatzes 9.538,887.411  K 

hierunter  im  Clearing 3.585,051.607  K,  d.  i.  38  Proc. 

Einlagensaldo 203,379.581  K 

Die  Zahl  der  effectuierten  Checks  betrug  4,035.833,  der  Durchschnittsbetrag  eines 
Checks  1088  K. 


Der  Checkverkehr  der  österreichischen  Postsparcasse.  25 

Bei  dem  bis  dahin  nur  für  einzelne  Wirtschaftssphären  ausgebildeten 
Check-  und  Giroverfahren  musste  die  Eeform  durch  Einbeziehung  neuer 
Betriebsstellen  erfolgen.  Die  bestehenden  Banken  pflegten  ja  den  Check- 
verkehr nur  für  einen  verhältnismässig  engen  Kreis  von  Firmen  und  waren 
überdies  auch  nicht  zahlreich  genug,  um  die  Ausgestaltung  der  Check- 
einrichtungen allein  durchführen  zu  können.  Dem  Bankorganismus  erst  die 
Entwicklung  zu  geben,  welche  für  ein  ähnliches  Checksystem  wie  in  Eng- 
land ^)  die  Voraussetzung  bildet,  wäre  vergebliches  Bemühen  gewesen,  zumal 
die  wirtschaftlichen  Bedingungen  für  intensivere  Pflege  der  übrigen  Zweige 
des  Bankgeschäftes  mangelten.  Diesem  Umstände  Kechnung  tragend,  betraute 
das  Postsparcassenamt  das  weitverzweigte  Netz  von  Postämtern  —  derzeit 
fast  6000  —  mit  dem  ausübenden  Dienste  im  Checkverkehr. 

Dadurch  schuf  es  mit  einem  Schlage  einen  über  das  ganze  Staats- 
gebiet verbreiteten  Organismus  von  Checkstellen,  welche  im  Verkehr  mit 
den  Parteien  die  Bargeldbewegung  vermitteln,  während  dem  Centralamte  die 
Durchführung  auf  den  Contis,  die  Ueberwachung  der  Gebarung  .bei  den 
Postämtern,  sowie  überhaupt  alle  administrativen,  intern'^betriebsdienstlichen 
und  rechnungsmässigen  Agenden  obliegen. 

Die  wichtigsten  Bestimmungen  für  den  Postcheckverkehr  sind  folgende: 
Seitens  der  Postsparcasse  wird  die  Theilnahme  über  Ansuchen  der  Partei 
gegen  Erlag  einer  Stammeinlage  (gegenwärtig  200  K)  mit  oder  ohne  Be- 
theiligung am  Clearingverkehr  bewilligt.  Jedem  Mitgliede  ist  ein  separates 
Conto  eröffnet,  welches  bei  der  Direction  in  Wien  geführt  wird. 

Für  die  auf  Checkconti  eingezahlten  Summen  inclusive  der^ Stamm- 
einlage werden  den  Contoinhabern  2  Proc.  per  Jahr  vergütet.  Die  Verzin- 
sung beginnt  vom  1.  oder  16.  Monatstage,  welcher  der  Einlage  folgt  und 
endet  mit  dem  letzten  oder  15.  Tage  des  Monates,  in  welchem  die  Kück- 
zahlung  geleistet  wird.  Beträge  von  weniger  als  2  K  bleiben  ohne  Verzin- 
sung. Mit  31.  December  eines  jeden  Jahres  werden  die  Interessen  dem 
Capital  zugeschlagen  und  von  diesem  Momente  an  gleichfalls  verzinst. 

Bei  Benützung  des  Checkverkehrs  wird  ausser  dem  Ersätze  der 
Herstellungskosten  für  abgegebene  Drucksorten  vom  Postsparcassenamte 
eine  Manipulationsgebür  von  4  h  für  jede  an  dem  Conto  vorzunehmende 
Amtshandlung  und  von  den  nicht  im  Clearing  vollzogenen  Lastschriften  eine 
Pro\ision  von  V4  pro  Mille  bis  zum  Betrage  von  6000  K  und  von  ^'^  pro 
Mille  bezüglich  des  diese  Summe  übersteigenden  Betrages  im  Wege  der 
Abschreibung  vom  Conto  eingehoben. 

Im  Clearing  —  worunter  im  Postsparcasseverkehr  die  buchmässige 
üebertragung  der  angewiesenen  Beträge  von  Conto  auf  Conto  zwischen 
Clearingmitgliedern  verstanden  wird  —  sind  die  Durchführungen  provisions- 
frei. Die  technischen  Mittel  zur  Gebarung  auf  den  Conti  der  Checktheil- 
nehmer   sind    die    ,Empf  ang-Erlags  ch  ein  e"    sowie   die   „Checks". 

^)  1897  bestanden  580Y  Bankstellen  mit  Depositen  per  660  Mill.  Pf.  Sterl.  Abgerechnet 
wurden  im  London  Bankers  Clearing  House  7491  Mill.  Pf.  Sterl.,  in  den  Pronvincial 
Clearing  Houses  459  Mill.  Pf.  Sterl.  (Details  im  7.  Heft  der  Tabellen  zur  Währungsfitastitik. ) 


26  Leth. 

Die  Empfang-Erlagscheine^)  dienen  dazu,  Beträge,  welche  bei  dritten, 
und  insbesondere  bei,  dem  Checkverkehr  nicht  angehörenden  Personen  aus- 
stehen, unter  Benützung  der  Checkeinrichtungen  begleichen  zu  lassen. 
Mittels  derselben  kann  die  Einzahlung  bei  beliebigem  Postamte  in  jeder 
Höhe  bar  geleistet  werden.  Weitere  Gelegenheit,  Greldbeträge  auf  das  Check- 
conto  zu  erhalten,  ist  dadurch  eröffnet,  dass  sich  jeder  Checkbüchelbesitzer 
von  Parteien,  welche  gleichfalls  Contoinhaber  des  Postsparcassenamtes  sind, 
Summen  zur  Gutschrift  auf  sein  Conto  mittels  Check  überweisen  lassen  kann. 

üeber  das  in  solcher  Weise  angesammelte  Guthaben  verfügt  der 
Contoinhaber  durch  Ausstellung  von  Checks.  Diese  werden  entweder  bei  der 
Casse  des  Postsparcassenamtes  an  den  Ueberbringer  bei  Sicht  in  Barem 
honoriert,  oder  mittels  Zahlungsanweisung  bei  beliebiger  Sammelstelle  zur 
baren  Erfolgung  angewiesen,  oder  wenn  der  Assignatar  gleichfalls  Conto- 
inhaber des  Postsparcassenamtes  ist,  auf  dessen  Conto  mittels  Gutschrift 
vollzogen.^)   Voraussetzung  für  die  letzterwähnte  Art  der  Durchführung  ist 

')  Mittels  der  Empfang-Erlagscheine  wurden  vollzogen 

1883 892  Posten  per  644.568  K 

1885 1,008.970       „  „        434,218.286  K 

1890 4,787.103       ,.  „     1.184,178.500  K 

1895       8,815.891       „  „     1.938,958.434  K 

1896 9,900.184       ,.  „     2.125,441.282  K 

1897 10.634.495       „  „     2.344,404.980  K 

1898 11,714.671       „  „     2.659,195.778  A' 

1899 12,821.501       „  „     2.834,382.991  A' 

2)  Die  Hauptvollzugsarten  der  Checks  waren 

a  vista  bei  der  Cassa  des  Amtes 

1883 229  per  182.600  A 

1885 69.546     „       156,751.244  A 

1890 162.135     „       543,320.538  A 

1895 255.452     „       827,737.194  A  (27-8  Proc.) 

1896 277.618     „       905,984.648  K  (27-4     „     ) 

1897 298.429     „    1.010,017.168  A  (26*9     „     ) 

1898 330.278     „    1.247,910.855  A  (28-4     „     ) 

1899 350.462     „     1.350,315.510  7i  (28-3     „     ) 

Zahlungsanweisungen 

1883 736  per  25.704  A 

1885 402.398     „       264,071.040  71 

1890 805.917     „       670,587.792  A 

1895 1,395.210     „    1.048,425.596  A  (35  3  Proc.) 

1896 1,552.515     „    1.125,609.588  A  (34-4     „     ) 

1897 1,709.667     „    1.217,950.828  A  (32-5     „     ) 

1898    ......    1,948.095     „    1.324,959.157  A  (29-2     „     ) 

1899 2,181.202     „    1.404,916.595  Jl  (29  5     „     ) 

Lastschriften 

1885 116.508  per   80,543.760  A 

1890 592.280  „   528,524.592  A 

1895 997.852  „   964,063  900  A  (324  Proc.) 

1896 1,082,494  ,  1.102,566.496  A  (33-4  „  ) 

1897 1,192.061  „  1.318,835.012  Jl  (34-6  „  ) 

1898 1.308.668  „  1.618,778.050  Ji  (36-3  „  ) 

1899 1,424.114  „  1.792,525.803  7t  (37-6  „  ) 


m 


Der  Checkverkehr  der  österreichischen  Postsparcasse.  27 

eine  bezügliche,  vom  Aussteller  des  Cliecks  auf  der  liückseite  fallweise  bei- 
gefügte Erklärung  oder  aber  die  vom  Assignatar  ein  für  allemal  abgegebene 
Zustimmung,  dass  alle  für  ihn  einlangenden  Checks  ohneweiters  zur  Gut- 
schrift auf  sein  Conto  gelangen  sollen  (Beitritt  zum  Clearing). 

Aus  der  vorstehenden,  nur  in  grossem  Umrisse  gehaltenen  Darstellung 
des  Postcheckverfahrens  geht  hervor,  dass  selbes  in  sich  vereinigt: 

einen  Ueberweisungsverkehr,  bei  welchem  die  Theilnehmer  die  auf 
ihrem  Conto  gutgebrachten  Summen  nach  Bedarf  zum  Ausgleiche  ihrer 
Schuldigkeiten  an  dritte  Personen  unter  Vermeidung  der  für  sie  lästigen 
und  gefahrvollen  Barmittelbewegung  verwenden; 

und  zweitens  einen  Bargeldverkehr,  darauf  abzielend,  die  ausstehenden 
Beträge  von  den  Schuldnern  auf  das  eigene  Conto  in  Barem  einzahlen  zu 
lassen  und  bei  Erreichung  einer  gewissen  Höhe  wieder  an  sich  zu  ziehen, 
beziehungsweise  zu  Barzahlungen  zu  benützen. 

Der  erst  erwähnte  Verkelir  bewirkt  die  Concentrierung  des  Bargeldes 
und  dessen  Belassung  beim  Postsparcassenauite,  sowie  die  Uebertragung  dpr 
gesammten  Geldgebarung  an  dieses  Institut.  In  seiner  höchsten  Entwicklungs- 
phase führt  er  zur  Vollziehung  des  ZahlungsprocesSes  ohne  Inanspruch- 
nahme jedweder  Barmittel.  Der  Barmittelverkehr  hingegen  intendiert  bloss 
eine  möglichst  einfache  und  rasche  Einziehung  der  ausstehenden  Gelder  und 
Tilgung  der  eingegangenen  Verbindlichkeiten  unter  Beibehaltung  der  baren 
Zahlungsweise.  So  verschieden  auch  beide  Verfahren  ihrem  Wesen  nach 
und  in  den  Voll/ugsformen  sind  —  Clearing  auf  der  einen,  Zahlungsanwei- 
sungen sowie  Empfangscheine  auf  der  anderen  Seite  — ,  fliessen  sie  doch 
in  der  Praxis  beständig  in  einander.  Deren  Verbindung  zu  einem  organischen 
Ganzen  war  bei  der  in  Oesterreich  so  tief  wurzelnden  Neigung  zur  Barzah- 
lung wohl  eine  der  Hauptursachen,  dass  der  Clieckverkehr  bei  der  Post- 
sparcasse in  kurzer  Zeit  grosse  Volkskreise  erfasste.  Nur  dadurch,  dass  es 
die  Postsparcasse  verstand,  die  technischen  Elemente  des  creditwirtschaft- 
lichen  Zahlungsprocesses,  wie  sie  im  Auslande  sich  bewährten,  in  einer  den 
specifisch  österreichischen  Verhältnissen  angepassten  Weise  auszugestalten, 
war  es  möglich,  zum  Ziele  zu  gelangen. 

Hiebei  war  in  Oesterreich  auch  nach  einer  anderen  Kichtung  hin  auf 
bestehende  Verhältnisse  Rücksicht  zu  nehmen.  Es  fehlt  daselbst  jene  innige 
Verbindung  des  gesammten  Geschäfts- und  Creditverkehres  auch  der  kleineren 
Unternehmungen  mit  den  bankmässigen  Agenden,  wie  sie  beispielsweise  in 
England  allgemein  ist.  Damit  mangelte  aber  auch  die  Vorbedingung  für 
gleiche  Lösung  des  Problemes.  Indem  nun  das  System  der  Postsparcasse 
das  Checkwesen  von  den  übrigen  Zweigen  des  Bankbetriebes  loslöste  und 
zu  einem  Specialzweige  der  staatlichen  Gebarung  ausgestaltete,  amalga- 
mierte  es  auch  jene  noch  weniger  entwickelten  Kreise  der  Volkswirtschaft, 
für  welche  sich  lediglich  hinsichtlich  der  Cassegebarung  das  Bedürfnis  zur 
Abwicklung  in  höheren  creditwirtschaftlichen  Formen  ergibt.  Die  damit 
erfolgte  Trennung  des  Zahlungs-  vom  Creditverkehr  war  für  die  Einbürge- 
rung und  Vertiefung  des  Checkwesens  in  Oesterreich  von  eminenter  Bedeu- 


28  Leth. 

tiing.  Nachdem  sie  vollzogen,  wird  es  sich  nunmehr  darum  handeln,  in 
weiterer  Folge  die  Verbindung  zwischen  den  Gassen-  bezw.  Zahlungsagenden 
und  dem  Creditvvesen,  eventuell  unter  Anlehnung  an  die  letzteres  pflegenden 
Institutionen  enger  zu  gestalten  und  damit  auch  in  Oesterreich  zu  sach- 
dienlicher'] Vereinigung  beider  zu  gelangen.  Doch  eine  derartige  Reform  des 
Creditverkehrs  gehört  wohl  einer  späteren  Phase  der  Entwicklung  an.  Im 
derzeitigen  Stadium  des  Werdeprocesses  erscheint  es  vor  allem  erforderlich, 
dass  das  Zahlungswesen  auf  creditwirtschaftlicher  Grundlage  sich  weiter 
ausgestalte  und  in  allen  Wirtschaftssphären  die  bare  Zahlungsweise  soweit 
als  möglich  der  buchmässigen  Abwicklung  im  Clearing  weiche. 

Die  Vortheile  dieser  Durch führungsform  in  Ansehung  der  allgemeinen 
wirtschaftlichen  Verhältnisse  und  in  Bezug  auf  das  für  die  angestrebte  Rege- 
lung der  Valuta  so  wichtige  Ersparnis  an  Zahlungsmitteln  lassen  deren 
Verallgemeinung  als  nächstes  Ziel  erscheinen.  Hierin  liegt  im  gegenwärtigen 
Momente  der  Kernpunkt  des  Problemes  derWeiterbildung  des  Postcheckwesens. 

Günstig  in  solcher  Beziehung  ist  die  räumliche  Ausbreitung  der  Post- 
sparcasseninstitution,  sowie  die  Einfachheit  und  allgemeine  Zugänglichkeit 
der  für  die  weitesten  Kreise  berechneten  Vollzugsmodalitäten.  Dazu  kommt, 
dass  die  Realisierung  der  Checks  über  Anweisung  der  Centralstelle  erfolgt, 
bei  dieser  daher  Checks  aus  allen  Punkten  zusammenströmen.  Dies  eröffnet 
<lie  Möglichkeit  zur  geldlosen  Ausgleichung  aller  Forderungen,  welche 
innerhalb  des  Kreises  der  am  Checkverkehr  theilnehmenden  Wirtschafts- 
letriebe  entstehen. 

Auch  wirkt  noch  der  Umstand  fördernd  ein,  dass  die  im  Barverkehr 
berechnete  Abhebungsprovision  bei  Lastschriften  im  Clearing  entfällt. 

Dank  der  den  Clearing  begünstigenden  Momente  hat  sich  seit  dessen 
Einführung  ein  fortdauernder  Aufschwung  in  der  buchmässigen  Vollzugs- 
weise gezeigt.^) 

Die  bisherige  Entwicklung  lässt  auch  für  die  Zukunft  eine  Steigerung 
erwarten.    Doch  die  geldlose  Ausgleichung  von  Forderungen  ist  nicht  bloss 

')  Die  Clearingumsätze  betrugen  in  Oesterreich: 

1884 G  4  Mill.  Kronen,  d.  i.  3-9  Proc.   der  Gesammtuinsätze 

1885 160  „  „  „  15-9  „ 

1886  . 208  „  „  „  21-9  „ 

1887 600  ,.  „  „  24-6  „ 

1888 710  ,  „  „  27-6  „ 

1889  . 866  „  „  „  28-8  „ 

1890 1056  ,.  ,.  „  30  0  „ 

1891 1240  ,  „  „  3M  „ 

1892  • 1440  „  „  „  31-6  „ 

1893 1658  „  „  „  333  „ 

1894 1782  „  „  „  32-5  „ 

1895 1928  „  „  „  32-5  „ 

1896 2204  „  „  „  33-4  „ 

1897 2626  „  „  „  35-2  „ 

1898 3238  „  ,.  „  37-0  „ 

1899 3585  „  „  „  376  , 


Der  Checkverkelir  der  österreicliiscllen  Postsparcasse.  29 

Folge  technischer  Maassnahraen.  Sie  hängt  auch  mit  der  Frage  zusammen, 
ob  und  inwieweit  die  wirtschaftlichen  Verhältnisse  in  den  einzelnen  Gruppen 
von  Contoinhabern  eine  solche  überhaupt  möglich  erscheinen  lassen. 

Zur  Klärung  der  Anschauungen  über  die  Entwicklungsfähigkeit  des 
Ausgleichsverfahrens  sollen  im  nachstehenden  die  einzelnen  Kichtungen 
des  Wirtschaftslebens,  für  welche  die  creditwirtschaftliche  Organisation  des 
Zahhingsprocesses  in  Betracht  kommt  und  'ein  Barmittelersparnis  platzgreifen 
kann,  näher  beleuchtet  werden.  Zunächst  ist  in  solcher  Richtung  der  rein 
kaufmännische  Verkehr  von  Belang.  Die  geschäftlichen  Beziehungen  bringen 
das  Bedürfnis  zur  Benützung  des  Checkverfahrens  in  erhöhtem  Maasse  mit 
sich,  und  bilden  Kaufleute  und  Fabrikanten,  wie  die  Berufsstatistik  der 
Contoinhaber  zeigt,  die  Hauptclientel  der  Postsparcasse.^)  Es  liegt  dies  in 
der  Natur  der  Sache.  Ausserdem  aber  eignet  sich  der  Check  Clearingverkehr 
auch  für  andere,  auf  breiterer  Basis  ruhende  und  regelmässige  Zahlungen 
empfangende,  beziehungsweise  leistende  Wirtschaftsbetriebe,  sei  es  von 
öffentlichem  oder  privatem  Charakter. 

Darum  wird  die  Betrachtung  der  Formen  und  Functionen  des  Aus- 
gleichsverfahrens sich  an  die  dreifache  Gliederung  des  Zahlungsprocesses, 
und  zwar  des  kaufmännischen  Betriebes,  der  staatlichen,  beziehungsweise 
öffentlichen  Verwaltungen  und  der  privatwirtschaftlichen  Cassegebarung  an- 
lehnen müssen. 


Seitens  der  Kaufmannschaft  ist  die  Benützung  des  Pustcheck- 
verkehrs  schon  jetzt  eine  lebhafte.  Die  solchem  Berufe  angehörenden  Conto- 
inhaber nehmen  der  Zahl  nach  die  erste  Stelle  ein.  Auch  die  Intensität  in 
der  Gebarung  weist  darauf  hin,  dass  in  diesen  Kreisen  die  Erkenntnis  von 
den  Vortheilen  der  checkmässigen  Vollziehung  von  Zahlungen  mehr  und 
mehr  platzgreift.  Zufolge  der  erhöhten  Theilnahme  erweitert  sich  die  Ge- 
legenheit zum  clearingweisen  Ausgleiche,  welcher  im  cjmmerziellen  Ver- 
kehre mehr  als  auf  einem  anderen  Gebiete  des  Zahlungsprocesses  die  Grund- 
form für  die  Abwicklung  zu  bilden  berufen  ist.  Die  wirtschaftliche  Basis 
hiezu  ist  dadurch  gegeben,  dass  der  Geschäftsverkehr,  so  vielgestaltig  er 
auch  sein  mag,  sich  doch  als  einheitliches  Ganzes,  als  ein  Complex  von 
Lebensäusserungen  einer  Reihe  von  Einzelnunternehmungen  darstellt,  welche 
miteinander  coherieren  und  sich  wechselseitig  befruchten.  Trotz  oder  viel- 
mehr zufolge  der  weitgehenden  Arbeitstheilung  stehen  die  verschiedenen 
Betriebe  in  stetiger  geschäftlicher  Beziehung.  Der  Kreislauf  im  wirtschaft- 
lichen Organismus,  die  Herstellung  und  der  Vertrieb  der  Güter  bringen  es 
mit  sich,  dass  Rohproduction,  Handel  und  Industrie  und  innerhalb  derselben 
die  verschiedenen  Branchen  in  vielverzweigten  Geldverkehr  treten  müssen. 
Dies  bedingt  eine  Reihe  von  Forderungen  und  Gegenforderungen,  bis  das 
Rohproduct  als  Fabrikat  m  die  Hände  des  Grosskaufmannes  und  endlich 
des   Detaillisten   gelangt,  und   letzterer   es   den  Consumenten  zuführt.    Und 


*)  Mehr  als  26.000  Personen,  d.  i.  70  Proc.  der  Contoinhaber, 


30  Letb. 

je  mehr  die  Arbeitstheilung  fortschreitet,  desto  grösser  wird  die  Kette  der 
auszugleichenden  Forderungen,  von  einander  abhängig,  doch  unübersehbar 
für  die  ganze  Menge  der  Berechtigten  und  Verpflichteten.  Alle  solchen  For- 
derungen des  kaufmännischen  Zahlungsprocesses,  welche  bei  directer  Be- 
gleichung seitens  der  Interessenten  immense  Summen  von  Bargeld  erfordern 
würden,  lassen  sich  bei  entsprechender  Benützung  der  Clearingeinrich- 
tungen ^)  ohne  jede  Verwendung  von  Münze  vollziehen  und  erscheint  daher 
die  Popularisierung  dieser  Zahlungsweise  im  geschäftliclien  Verkehre  als 
das  wichtigste  Mittel  zur  Kestriction  der  Umlaufsmittel. 

Eine  Geldbewegung  würde  sodann  nur  theilweise,  und  zwar  in  jenen 
Fällen  unvermeidlich  sein,  in  denen  es  sich  um  ausserhalb  des  eigentlichen 
Geschäftsbetriebes  liegende  Zahlungen  handelt.  Letztere  —  mittels  der 
Empfangs-Erlagscheine  und  der  Zahlungsanweisungen,  beziehungsweise  Casse- 
checks  vollzogen  —  gehören  vorwiegend  dem  privaten  Zahlungsverkehr  an 
und  sind  daher  an  bezüglicher  Stelle  erörtert 

Ausser  dem  Clearing  fördern  im  Postsparcassenverkehr  auch  noch 
andere  für  kaufmännische  Kreise  berechnete  Einrichtungen  die  Ersparnis  an 
Barmitteln. 

Zunächst  kommen  in  dieser  Richtung  das  Incasso  von  Schuklurkunden, 
Wechseln  etc.,  die  Eincassierung  von  Postanweisungen  und  das  P]in7.iehungs 
verfahren  von  Schuldurkunden  in  Betracht. 

Das  Incasso,-)  unter  den  im  Bankverkehr  allgemein  üblichen  Formen 
sich  abwickelnd,  berührt  die  in  Discussion  stehende  Frage  insoweit,  als 
seine  Tendenz  dahin  geht,  die  Zahlungsagenden  aus  der  Einzelnwirtschaft 
in  den  Bereich  der  Postsparcasse  zu  übertragen  und  der  hiebei  bestehende 
Gutschriftszwang  —  die  Valuta  muss  auf  dem  Conto  des  Einreichers  gut- 
gebracht werden  —  dazu  beiträgt,  die  eincassierten  Summen  in  den  credit- 
wirtschaftlichen  Zahlungsverkehr  überzuleiten. 

üie  Ersparnis  an  Bargeld  ist  hiebei  in  der  Eegel  beschränkt.  Ein 
solches  ergibt  sich  zumeist  bloss  auf  Seite  des  Berechtigten,  und  zwar  erst 
bei  der  Weiterbegebung  der  eincassierten  Beträge.  Entfallen  könnte  die  Ver- 
wendung von  ümlaufsmitteln  in  diesem  Geschäftszweige  nur,  falls  der  durch 


^)  Ueber  den  Cloaringverkehr  enthält  die  vom  Postsparcassenanite  herausgegebene 
Belehrung  über  den  Checkverkehr  folgende  Bemerkungen :  Die  grössten  Vortheile  bietet  jedem 
Contoinhaber  die  Einrichtung  des  Clearingverkehrs.  In  demselben  erfolgt  der  gegen- 
seitige Austausch  von  Schuldigkeiten  und  Forderungen  durch  einfache  Ab-  und  Zuschreibung 
der  mittels  Check  angewiesenen  Beträge,  ohne  Aufwand  von  Zeit,  da  die  Ab-  und 
Zuschreibung  im  Postsparcassenamte  gleichzeitig  geschieht  und  beide  Contoinhaber 
mittels  der  Contoauszüge  gleichzeitig  verständigt  werden  —  mit  der  geringsten 
Mühe,  denn  die  gegenseitige  Uebertragung  erfolgt  im  Postsparcassenamte  selbst,  also 
ohne  Intervention  eines  Postamtes  oder  einer  Partei  —  und  fast  ohne  Kosten,  da 
das  Postsparcassenamt  für  die  Lastschriften  in  diesem  Verkehr  keine  Provision,  sondern 
einzig  und  allein  eine  Manipulationsgebür  von  4  h  für  die  Gutschrift  und  Lastschrift 
berechnet. 

2)  Das  Incassogeschäft  besteht  beim  Postsparcassenamte  erst  seit  1898  und  sind  die 
bezüglichen  Resultate  nicht  bekannt. 


Der  (Jlieckverkehr  der  österreicliisclicn  Postsparcasse.  31 

die  Urkunde  Verpflichtete  bei  Präsentation  nicht  in  Barem,  sondern 
mittels  Check  die  Zahlung  leistet.  Welche  Schwierigkeiten  einer  solchen 
Abwicklung  sich  im  geschäftlichen  Verkehr  gegenüberstellen,  zeigt  sich 
in  der  Gebarung  der  österreichisch-ungarischen  Bank,  sowie  des  Giro-  und 
Cassenvereines. 

Gleichfalls  nur  auf  einer  Seite  —  auf  jener  des  Zahlungsempfängers  — 
wird  eine  Barmittelbewegung  bei  der  vom  Pcstsparcassenamte  für  Kechnung 
seiner  Contoinhaber  vorgenommenen  Eincassierung  von  Postanweisungen 
vermieden.  Die  P^stanweisungsbeträge  werden  den  Adressaten  auf  ihrem 
Checkconto  gutgebracht.  ^) 

Ganz  ohne  Inanspruchnahme  von  Barmitteln  kann  sich  die  Gebarung 
beim  Einziehungsverfahren  von  Urkunden  vollziehen.  Dieser  Geschäftszweig 
eröffnet  den  Contoinhabern  die  Möglichkeit,  durch  Beisetzung  einer  bezüg- 
lichen Ordre  auf  der  Kückseite  des  Checks  die  Einlösung  von  Verpflich- 
tungsurkunden durch  das  k.  k.  Postsparcassenamt  in  Wien  zu  bewirken. 
Derartige  Checks  sind  vor  dem  Verfallstage  der  Urkunde  an  das  Postspar- 
cassenamt einzusenden  und  gelten  als  Aviso.  Sie  können  aber  auch  an  den 
Inhaber  der  Urkunde  übermittelt  und  von  diesem  gleichzeitig  mit  letzterer 
beim  Postsparcassenamte  präsentiert  oder  an  dasselbe  eingesendet  werden. 
Die  Kealisierung  erfolgt  durch  Barauszahlung,  beziehungsweise  üebersendung 
des  Geldes  mittels  Postanweisung  oder  aber  durch  Gutschrift  des  Betrages 
auf  dem  Conto  des  Ueberreichers  der  Urkunde.  Durch  letztere  Vollzugsart 
ist  der  Anstoss  zu  einerweiteren  entwicklungsfähigen  Keform  der  Wechsel- 
zahlungen gegeben.  Vorbedingung  hiefür  wäre  allerdings,  dass  die  in  der 
Geschäftswelt  noch  vorherrschende  Gepflogenheit  der  Selbsthonorierung  von 
Wechseln  der  um  vieles  bequemeren  Zahlbarstellung  weiche.  Sind  die  Wechsel 
beim  Postsparcassenamte  zu  honorieren,  s)  würden  die  Wechselgläubiger, 
wenn  sie  zugleich  Contoinhaber  dieses  Amtes  sind,  durch  ihr  eigenes 
Interesse  dazu  gebracht,  die  Urkunden  an  das  Postsparcassenamt  zur  Keali- 
sierung und  Gutschrift  der  Valuta  auf  ihr  Conto  zu  senden.  Auf  solche 
Weise  könnte  man  zufolge  der  centralen  Stellung  des  Postsparcassenamtes 
zu  intensiverem  Ausgleiche  der  Wechselforderungen  ohne  Inanspruchnahme 
von  Geldmitteln,  gelangen.  Eine  derartige  Popularisierung  des  Wechselclearing 
scheint  umso  wichtiger,  als  ja  in  Oesterreich,  wie  berührt,  das  Incasso  der 
Wechsel  sich  auch  bei  Banken  vorwiegend  in  den  Formen  der  Barauszahlung 
bewegt.  Zudem  ergibt  sich  hiedurch  ein  neuer  Berührungspunkt  für  die  Ver- 
schmelzung der    im  Wechsel    verkörperten    Cieditgeschäfte    mit    dem    zur 

')  Die  Zahl  der  eincassierten  Postanweisungen  betrug: 

1885 127.717  per  12,799.138  fl. 

'     1890 680.780     „  44,699.188  „ 

1895 1,211.358     „  58,483.866  , 

1896 1,286.518     „  58,607  526  „ 

1897 1,350  870     „  57,274.293  „ 

1898 1,487.271     „  61,299.314  . 

1899 1,604.188     „  63,226.272  „ 


32  I^ßth. 

schliesslichen  Ausgleichung  der  Verbindlichkeiten  dienenden  Postsparcassen- 
V  er  kehr.') 

Ein  weiteres  Mittel  zur  Ersparung  von  Umlaufsmitteln  im  commer- 
ziellen  Verkehr  bildet  das  mit  anderen  Geldinstituten  bestehende  Ueber- 
weisungsverfahren,  welches  üebertragungen  von  Geldbeträgen  zwischen  den 
beiderseitigen  Contoinhabern  im  buchmässigen  Wege  ermöglicht. 

Wohl  ist  innerhalb  des  Kreises  der  Theilnehmer  am  Checkverkehr  und 
in  den  Grenzen  der  in  letzterem  vollzogenen  Geldbewegung  das  durch 
die  Postsparcasse  eingeführte  System  der  buchmässigen  Ausgleichung 
ein  in  sich  abgeschlossenes  Ganzes,  durch  welches  auf  einheitlicher 
Basis  und  in  einfacher  Weise  die  Tilgung  der  Forderungen  ohne 
Verwendung  von  Barmitteln  erreicht  wird.  Doch  die  räumliche  Beschränkung 
der  Postsparcasse  auf  das  Gebiet  der  diesseitigen  Eeichshälfte,  sowie  die 
Gliederung  des  Zahlungsprocesses  nach  wirtschaftlichen  Zwecken  bei  Con- 
centrierung  in  mehreren  durch  die  Art  der  Agenden  verschiedenen  Knoten- 
punkten hat  einen  beständig  steigenden  Verkehr  zwischen  den  Contoinhabern 
des  Postsparcassenamtes  und  den  Kunden  anderer  Checkinstitute  zur  Folge. 
So  kommt  es,  dass  bei  Vermittlung  des  Zahlungsprocesses  in  der  grossen 
Gesamrntheit  sich  vielfach  Forderungen  ergeben,  welche  im  Kahmen  des 
Postsparcassenamtes  sich  nicht  mehr  ausgleichen  lassen.  Um  auch  diese 
buchmässig  behandeln  zu  können,  bedarf  es  zwischen  dem  Postsparcassen- 
amte  und  anderen  gleichfalls  dem  Zahlungsverkehr  dienenden  Instituten  einer 
Verbindung,  welche  über  die  Grenzen  des  eigenen  Geschäftsbetriebes  hinaus 
die  checkmässige  Gebarung  auf  den  Conti  der  anderen  Anstalten  gestattet. 

In  mehrfacher  Richtung  wurde  eine  solche  Erweiterung  der  Agenden 
bereits  angebahnt. 

Zunächst  durch  den  wechselseitigen  üeberweisungsverkehr  zwischen 
der  österreichischen  und  der  ungarischen  Postsparcasse.  Die  Vereinbarung 
über  denselben  stammt  aus  dem  Jahre  1896;  sie  ermöglicht  den  Clearing- 
mitgliedern des  Postsparcassenamtes  Beträge  aus  ihrem  verfügbaren  Gut- 
haben auf  irgend  welche  Clearingconti  bei  dem  ungarischen  Institute  zu 
übertragen,   wie  auch    umgekehrt    Clearingtheilnehmer  der  königlich  unga- 


% 


^)  Ueber    die    bisherige    Entwicklung    des    Einziehungsverfahrens    (begonnen    im 
Jahre  1885)  gibt  die  nachstehende  Uebersicht  Aufschlüsse: 

Etagezogen.  Uriunden  ^'"""autSS  '"* 

1885 426  per       812.902  K                              — 

1890 4.422     „      6,873.588  K  1.728  per    3,023.644  K 

1895 9.780     „    17,637.994  K  4.344     „      8,602.530  K 

1896 11.901     „    20,895.490  K  5.298     „     10,090.006  K 

1897 13.558     „    24,689.220  A'  6.135     „    11,710.474  JT 

Hievon  im  Saldierungs- 
Vereine  vollzogen 

1898 14.429  per  28,472.230  K  10.316  per  20,875.057  K 

1899 15.814     „    31,986.473  K  13.377     „    28,391.151  K 


Der  Checkverkelir  der  östcrreichisclien  Postsparcasse.  33 

rischeu  Postsparcasse  auf  Conti  bei  der  österreicliischen  Schwesteranstalt 
Ueberweisungen  bewirken  können. 

Durch  den  wechselseitigen  üeberweisungsverkehr  kommen  die  Conto- 
inhaber in  die  Lage,  ihre  von  den  Handelsbeziehungen  mit  Ungarn  bedingten 
Zahlungsgeschäfte  im  Wege  des  Checkverfahrens  zu  realisieren.  Die  Art 
dieser  Beziehungen  bestimmt  auch  die  Structur  der  Geldbewegung  im 
Ueberweisungsverkehre.  Dieser  schliesst  mit  einem  bedeutenden  Activsaldo 
zu  Gunsten  des  österreichischen  Institutes  und  umfassen  die  Ueberweisungen 
an  dieses  nicht  bloss  höhere  Summen,  sondern  auch  eine  grössere  Anzahl 
von  Posten.^)  Zufolge  der  Einseitigkeit  in  der  Bewegung  resultieren  für 
das  österreichische  Institut  namhafte  Forderungen,  denen  nur  geringe  Passiv- 
posten zu  Gunsten  der  ungarischen  Postsparcasse  gegenüberstehen.  Die 
hiernach  verbleibenden  Saldi  werden  aber  durch  das  Giroconto  der  öster- 
reichisch-ungarischen Bank  ausgeglichen. 

Die  Bedeutung  des  Wechselverkehres  zwischen  den  beiderseitigen  Post- 
sparcassen  besteht  in  der  Erweiterung  der  checkmässigen  Zahlungsweise 
über  das  räumliche  Geltungsgebiet  der  Postsparcasse  und  in  der  damit  ge- 
botenen Anregung  zu  internationaler  Ausgestaltung  des  Postcheckwesens. 
Einer  solchen  wird,  sobald  erst  der  Checkverkehr  auch  bei  anderen  Post- 
sparcassen  sich  bewährt  hat,  mit  der  zunehmenden  Entwicklung  allgemein 
näher  zu  treten  sein. 

Weitere  Ausdehnung,  und  zwar  über  die  sachlichen  Grenzen,  welche 
dem  Clearing  der  Postsparcasse  zufolge  der  speciellen  Function  im  Orga- 
nismus des  Zahlungsprocesses  gelegen  sind,  erfährt  das  Ausgleichsverfahren 
durch  die  Vereinbarung,  welche  mit  der  österreichisch-ungarischen  Bank 
seit  1889  besteht.  Nach  derselben  können  Contoinhaber  im  Checkverkehr 
Ueberweisungen  aus  ihrem  Guthaben  auf  die  Giroconti  bei  der  öster- 
reichisch-ungarischen Bank  veranlassen,  beziehungsweise  von  den  Girokunden 
der  genannten  Bank  auf  ihr  Postsparcassenconto  erhalten.  Ursprünglicher 
Zweck  dieser  Vereinbarung  war  die  Ermöglichung  eines,  wenn  auch  auf 
die  Girokunden  der  österreichisch -ungarischen  Bank  beschränkten  Ueber- 
weisungsverkehrs  nach  der  jenseitigen  Reichshälfte.  Seitdem  jedoch  das 
Verfahren  der  directen  Uebertragungen  zwischen  den  Contoinhabern  der  öster- 
reichischen und  der  ungarischen  Postsparcasse  activiert  ist,  tritt  beim  Ver- 
kehr mit  der  Bank  der  frühere  Zweck  zurück  und  dient  derselbe,  ab- 
gesehen vom  Ausgleich  der  Forderungen  der  beiderseitigen  Postsparcassen, 
vorwiegend  zur^  Ueberleitung  der  im  Zahlungsdienste  der  letzteren  vor- 
kommenden Gelder  in  den  Bankbetrieb  und  umgekehrt.  Das  Bedürfnis  nach 
einer  solchen  Uebertragung  ergibt  sich  zufolge  des  durch  die  Verschiedenheit 
der  wirtschaftlichen  Function  bedingten  Unterschiedes  zwischen  den  Giro- 
beständen   der   österreichisch-ungarischen  Bank  und  den  Checkguthabungen 

1)  Im  Üeberweisungsverkehr  zwischen  dem  Postsparcassenarate  und  der  königlich 
ungarischen  Postsparcasse  haben  1899  stattgefunden: 

7.628  Ueberweisungen  per  29,394.745  K  an   die  ungarische  Postsparcasse, 
49.514  „  „     78,650.969  K    „      „     österreichische  Postsparcasse. 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  and  Verwaltung.  X.  Band.  3 


34 


Leth. 


der  Postsparcasse.  Das  diesem  Banküberweisungsverkehr  ^j  zugrunde  liegende 
Princip  erscheint  von  weittragender  Bedeutung  und  könnte  wohl  den  Ausgangs- 
-punkt  für  eine  Verschmelzung  der  creditwirtschaftlichen  Agenden  des  Bank- 
geschäftes mit  dem  durch  die  Postsparcasse  vermittelten  Zahlungsprocesse 
bilden.  Die  Weiterausgestaltung  dieser  Einrichtung  durch  Verbindung  der 
Postsparcasse  mit  anderen  Organismen  des  Geld-  und  Creditwesens  wurde 
im  allgemein  wirtschaftlichen  Interesse  angeregt;  sie  würde  für  eine  grosse 
Zahl  von  Forderungen,  welche  sich  ohne  solche  nur  unter  Inanspruchnahme 
von  Barmitteln  ausgleichen  lassen,  die  Möglichkeit  zu  geldloser  Durch- 
führung erschliessen. 

Wie  der  Verkehr  mit  der  österreichisch-ungarischen  Bank,  bezweckt 
auch  die  Angliederung  des  Postsparcassenamtes  an  den  Saldierungsverein 
eine  engere,  Barmittel  sparende  Verbindung  des  Zahlungswesens  mit  dem 
durch  die  Banken  vermittelten  Creditverkehre.  üeber  die  Kückwirkung  dieser 
Angliederung  auf  das  Abrechnungswesen  lässt  sich  bei  der  Kürze  der  Zeit, 
während  welcher  die  Postsparcasse  dem  Saldierungsverein  angehört  —  seit 
1898  —  noch  kein  abschliessendes  Urtheil  fällen.  Nach  den  bisherigen  Erfah- 
rungen dürfte  die  Bedeutung  der  Betheiligung  der  Postsparcasse  vornehmlich 
in  der  Vereinfachung  der  Vollzugsweise  hinsichtlich  jener  Inhaberchecks 
gelegen  sein,  die  mit  zunehmender  Verbreitung  des  Postsparcassenwesens 
in  steigender  Zahl  in  den  Besitz  der  Banken  gelangen.  Indem  diese  zur 
Bareinlösung  beim  Postsparcassenamte  bestimmten  Checks  nicht  mehr  an 
den  Gassen  des  letzteren  präsentiert,  sondern  im  Saldierungsvereine  ein- 
gereicht und  realisiert  werden,  entfällt  das  Incasso  der  Checks  durch  die 
Mitglieder  des  genannten  Vereines  und  concentrieren  sich  die  früher  noth- 
wendigen  Einzelnabhebungen  in  einigen  wenigen  Transactionen. 

Die  geschilderten  Einrichtungen  (Postclearing,  Intervention  bei  Ein- 
ziehung von  Forderungspapieren,  Verbindung  mit  dem  von  Banken  ver- 
mittelten Zahlungscreditverkehr)  sind  es,  welche  die  kaufmännische  Zahlungs- 
weise von  der  tief  wurzelnden  Gepflogenheit  des  Barverkehres  loslösen  und 
zu  den  höheren  Formen  creditwirtschaftlicher  Organisation  zu  bringen  berufen 
erscheinen.  Für  eine  solche  Keform  sind  die  technischen  Grundlagen  gegeben. 
Das  weitere  Wirken  des  Postsparcassenamtes  zu  Gunsten  des  kaufmännischen 
Zahlungsverkehres  kann  sich  in  der  nächsten  Zeit  daher  nicht  so  sehr  in 
neuen  organisatorischen  Massnahmen,  als  vielmehr  in  der  Anwendung  und 
in  dem  Einleben  des  bereits  Bestehenden  in  breiteren  Schichten  der  Ge- 
schäftswelt bewegen.  Hiebei  gilt  es,  althergebrachte  Gewohnheiten  zu 
ändern  und  durch  Förderung  des  Verständnisses  für  die  Vortheile  der  buch- 
mässigen  Ausgleichung  eine  Vertiefung  des  Checkverfahrens  zu  erzielen. 
Dies  ist  wohl  nur  bei  Entwicklung  des  Checkwesens  in  der  bisherigen 
Kichtung  und  unter  Aufrechthaltung  der  in  deli  thatsächlichen  Verhältnissen 
wurzelnden,  nach  Wirtschaftssphären  erfolgten  Gliederung  der  Checkorgani- 

*)  1899  wurden  20.901  Ueberweisungen  per  176  Mill.  Kronen  vom  Postsparcassen- 
amte an  die  Oesterreichisch-ungarische  Bank  und  17.880  Ueberweisungen  per  18  Mill. 
Kronen  von  der  Oesterreichiscli- ungarischen  Bank    au    das  Postsparcassenamt   vollzogen. 


I 


Der  Clieckverkehr  der  österreichischen  Postsparcasse.  35 

sationeu  zu  erwarten.  Allerdiags  wird  dabei  auf  eine  möglichst  weitgehende 
Verbindung  des  Postsparcassenamtes  mit  den  übrigen  Checkinstituten  Be- 
dacht zu  nehmen  sein.  Doch  muss  bei  Fortbildung  der  -bezüglichen  Ein- 
richtungen wohl  dem  allmählich  Gewordenen  Rechnung  getragen  werden. 
Jede  auf  anderer  Basis  versuchte  Reform,  mag  sich  selbe  auch  auf  auswärts 
erprobte,  für  die  österreichischen  Verhältnisse  jedoch  nicht  anwendbare 
technische  Formen  gründen,  oder  aber  eine  künstliche  Verschiebung  im 
Wirkungskreise  der  einzelnen  Checkinstitute  bezwecken,  würde  den  Keim 
des  Verfalles  an  sich  tragen;  ja  noch  mehr,  sie  könnte  überhaupt  die  Ent- 
wicklung behindern. 

Auch  für  Zwecke  der  staatlichen  C  a  s  s  e  v  e  r  w  a  1 1  u  n  g  wird  der 
Checkverkehr  des  Postsparcassenamtes  in  weitgehendem  Maasse  benüzt.  Die 
Verbindung  der  Cassengeschäfte  des  Staates  mit  dem  Checkwesen  wurde 
nach  dem  Vorbilde  der  englischen  Einrichtungen  auch  in  Oesterreich  seit 
langem  angestrebt;  doch  kam  es  erst  in  jüngster  Zeit  zu  einer  diesbezüg- 
lichen Reform,  wobei  der  Anweisungsverkehr  derPostsparcasse  zum  Ausgangs- 
punkt genommen  wurde. 

Der  Beitritt  der  staatlichen  Gassen  und  Institute  zum  Check  verkehr 
erfolgte  in  den  verschiedenen  Ressorts  voneinander  unabhängig,  und  wurde 
die  Postsparcasse  je  nach  Bedarf  in  grösserem  oder  geringerem  Umfange 
bei  den  einzelnen  Stellen  für  die  Zwecke  der  Cassengebarung  herangezogen. 
Deshalb  kann  bei  Angliederung  des  staatlichen  Cassenwesens  an  die  Post- 
sparcasse von  einem  einheitlichen  Aufbaue  nicht  die  Rede  sein.  Die  heutige 
Organisation  beruht  auf  einer  Reihe  von  Einzelbestimmungen,  welche  ge- 
legentlich des  Beitrittes  zum  Checkverkehr  an  die  Aerater  fallweise  entstanden. 
Diesem  Entwicklungsgange  muss  die  Schilderung  des  Wirkens  der  Post- 
sparcasse auf  diesem  Gebiete  wohl  folgen.^) 

Der  erste  Versuch,  denselben  in  den  staatlichen  Betrieb  einzuführen, 
wurde  im  Ressort  des  Acker  bauministeriums  gemacht.  Er  fällt  in  das 
Jahr  1885  und  erfolgte  bei  der  Bergdirectionscasse  in  Pfibram.  Weitere 
Ausdehnung  erfuhr  der  Checkverkehr  bei  den  Forst-  und  Domänendirectionen 
seit  1891.  In  ihrem  Bereiche  wurden  die  Checkeinrichtungen  zur  Einzahlung 
der  Kaufschillinge  und  Einhebung  von  Nebenbenützungsgebüreo,  Pacht- 
zinsen etc.  benützt.  Der  manipulative  Theil  vollzieht  sich  mittels  der  Empfang- 
erlagscheine, auf  deren  Rückseite  die  im  Forstdienste  übliche  Material- 
abgabsanweisung vorgedruckt  ist.  Solche  Documente  werden  von  den  Forst- 
verwaltern  nach  Ausfüllung  und  Beifügung  der  Nummer  der  betreffenden 
Materialabgabsanweisung  an  den  Holzkäufer  behufs  Einzahlung  des  Betrages 
bei  beliebigem  P^stamte  hinausgegeben.  Falls  die  Abgabe  der  Forstproducte 
gegen  sogleiche  Bezahlung  des  Kaufschillinges  erfolgt,  bilden  die  post- 
ämtlich saldierten  Scheine  im  Verein  mit  der  auf  ihrer  Rückseite  befind- 
lichen Materialanweisung  des  Verwalters  die  Belege  für  die  Ausfolgung  des 


^)  Dem  Checkverkehr  gehören  Ende  1899  1296  Behörden  und   Gassen  an. 

3* 


3G  Letli. 

Materiales  durch  die  Förster,  Ein  Vergleich  derselben  mit  den  Posten  der 
Contoauszüge  ermögliclit  hinsichtlich  der  Geld-  und  Materialgebarung  die 
Controle  bei  den  Rechniingsdepartements  der  Forst-  und  Domänendirectionen. 
Monatsweise  erfolgt  die  Abfuhr  der  im  Checkverkehr  eingezahlten  Beträge 
mittels  Checks  zu  Gunsten  der  Forstperceptionscasse,  an  welche  die  Zahlung 
geleistet  werden  soll. 

Weiters  wurden  auch  die  zum  Ackerbauministerium  ressortierenden 
Versuchsanstalten  in  das  Postcheckverfahren  einbezogen.  Deren  Gebarung 
vollzieht  sich  unter  den  allgemeinen  Formen  dieses  Verfahrens. 

Im  Betriebe  der  Staatseisenbahnverwaltung  sind  die  Hauptcasse, 
sowie  die  Staatsbahndirectionscassen  seit  1887  dem  Checkverfahren  des  Post- 
sparcassenamtes  angegliedert  und  benützen  dessen  Einrichtungen  im  internen 
Dienste  zu  Abfuhren,  dann  aber  auch  zu  Auszahlungen  an  Parteien.  In 
letzterer  Richtung  besteht  für  die  Hauptcasse  und  die  Staatsbahndirections- 
cassen folgende  Vorschrift;  Soweit  von  der  Partei  ein  Erlagscheinbüchel 
vorliegt  oder  von  Fall  zu  Fall  Erlagscheine  eingesendet  werden,  kann  die 
Zahlung  des  liquiden  Betrages  auf  Grund  dieser  Erlagscheine  bei  der 
nächsten  Sammelstelle  des  Postsparcassenamtes  bewirkt  werden.  Sind  Erlag- 
scheine nicht  vorhanden,  können,  wenn  die  Partei  dem  Clearingverkehr  an- 
gehört, über  den  Zahlungsbetrag  Checks  zur  Gutschrift  im  Clearingverkehr, 
eventuell  auch  auf  das  Giroconto  der  österreichisch-ungarischen  Bank  aus- 
gefertigt werden.  Wenn  weder  ein  Erlägschein  vorliegt,  noch  die  betrettende 
Partei  dem  Clearingverkehr  angehört,  kann  ebenfalls  ein  Check  —  jedoch 
zur  Veranlassung  der  Zahlungsanweisung  durch  das  Postsparcassenamt  an 
die  Partei  —  ausgestellt  werden.  Derartige  im  Wege  der  Postsparcasse  zur 
Realisierung  gelangende  Zahlungen  an  fremde  Parteien  unterliegen  dem 
Abzüge  der  im  Postsparcassenverfahren  eingehobenen  Gebüren  (Instruction 
Nr.  10/A,  betreffend  die  Gebarung  der  Hauptcasse  etc.  §  28). 

Die  bei  den  Cassen  überschüssigen  Gelder  concentrieren  sich  auf  dem 
Conto  des  Eisenbahnministeriums.  Diesbezüglich  besagt  ein  im  Verordnungs- 
blatte der  Eisenbahn  Verwaltung  Nr.  61  ex  1888  publiciertes  Circulare:  Nachdem 
mit  der  Einführung  des  Postsparcassenverkehres  bei  den  Bahncassen  nur  eine 
einfachere  und  billigere  Zahlungsmanipulation  bezweckt  ist  und  ein  Zurück- 
halten disponibler  Betriebsgelder  seitens  der  k,  k.  Eisenbahnbetriebs-Direc- 
tionen  dem  Interesse  der  Bahnanstalt  zuwiderläuft,  sind  alle  über  den  voraus- 
sichtlichen nächsten  Eigenbedarf  reichenden  Guthabungen  stets  ungesäumt 
im  Sinne  des  §  19  der  Instruction  Nr.  X  in  runden  Summen  per  Clearing- 
verkehr zu  Gunsten  des  Conto  Nr.  806.936  der  k.  k.  Generaldirection  der 
österreichischen  Staatsbahnen  beim  k.  k.  Postsparcassenamte  in  Wien  unter, 
Documentenwechsel  mit  der  Hauptcasse  abzuführen. 

Für  Zwecke  der  Justizverwaltung   dient  der  Checkverkehr  des 
Postsparcassenamtes  seit  1.  Jänner  1898,  Seine  Benützung  wurde  mit  Justiz- 
ministerial-Verordnung  vom  5.  Mai  1897  für  die  Oberlandesgerichts-Präsidien, 
die  Gerichtshöfe  erster  Instanz  und   für  die  Bezirksgerichte   von  grösserem^ 
Umfange   bei  der  Gebarung   mit  Parteiengeldern    sowolil  im  Ein-  als  aucl 


II 


Der  Checkverkehr  fler  östorreichisclien  Postsparcasse.  37 

im  Auszahlungsdienste  vorgeschrieben.  Hiebei  gilt  als  Grundsatz,  dass  die 
Führung  von  Barvorräthen  an  Parteiengeldern  mit  Ausnahme  der  zur  Fructi- 
ficierung  bestimmten  Summen  möglichst  vermieden  werden  soll.  Für  letztere 
ist  die  Benützung  des  Checkverkehres  ausgeschlossen  und  hat  die  Veranlagung, 
falls  die  Postsparcasse  für  eine  solche  in  Aussicht  genommen  wird,  im 
Sparverkehre  zu  erfolgen,  wobei  allerdings  die  gerichtlich  zugewiesenen 
Antheile  an  den  Kesultaten  der  Fructificierung  entfernt  wohnenden  Perci- 
pienten  nach  vorheriger  Uebertragung  auf  das  Gericlitsconto  im  Check- 
verfahren ausbezahlt  werden  können. 

Zur  Concentrierung  der  Parteiengelder  auf  den  Gerichtsconten  sind 
allen  Zahlungsaufträgen  und  Aufforderungen  an  die  Parteien  entsprechend 
ausgefertigte  Empfang-Erlagscheine  beizuschliessen,  auf  Grund  welcher  die 
bare  Einzahlung  bei  beliebigem  Postamte  zu  leisten  ist.  Auch  können 
Zahlungen  an  Gerichte  insoweit  durch  Gutschrift  erfolgen,  als  der  Geldbetrag 
keinen  Gegenstand  der  Depositen  oder  waisenämtlicher  Gebarung  bildet. 
Werden  von  Parteien  Betiäge  bei  den  Gerichten  bar  erlegt,  so  sind  sie  in 
der  Regel  sogleif'h  oder  wenigstens  am  selben  Tage  von  Amtswegen  mittels 
Erlagscheines  an  das  Checkconto  abzuführen. 

Auszahlungen  werden  zumeist  mittels  Checkzahlungs- Anweisungen 
bewirkt;  Ueberbringerchecks  dürfen  nur  auf  Anlangen  der  bezugsberechtigten 
Person  und  gegen  gleichzeitige  Bestätigung  des  Empfanges  ausgestellt  und 
dieser  Person  eingehändigt  werden. 

Behufs  Orientierung  des  Zahlungsverpflichteten,  beziehungsweise  des 
Empfängers  wird  auf  den  Erlagscheinen  und  auf  den  Checks  und  Zahlungs- 
anweisungen die  Geschäftszahl  ersichtlich  gemacht,  aus  welcher  die  Bestim- 
mung der  Geldsendung  erhellt. 

Die  bei  dem  Anweisungsverkehre  erwachsenden  Spesen  fallen  den  Parteien 
zur  Last  und  müssen  durch  die  Einzahlungen  der  letzteren  und  durch  Abzug 
von  dem  anzuweisenden  Betrage  vollkommen  gedeckt  werden.  Sie  sind  mit 
je  6  h  für  die  Einziehung  der  Zahlungen  mittels  Empfangscheines  und 
für  die  mit  Check  erfolgenden  Auszahlungen  festgesetzt.  Die  Benützungs- 
gebüren  werden  nach  Ablauf  jedes  Jahres  von  den  Conten  der  einzelnen 
Gerichte,  auf  welchen  sie  überschüssig  verbleiben,  auf  das  Conto  des  Justiz- 
ministeriums für  Parteiengelder  mittels  Check  überwiesen.  Letzteres  ist  ein 
Centralconto  für  alle  Drucksortenkosten,  Manipulations-  und  Provisions- 
gebüren,  sowie  für  die  Zinsenerträgnisse  sämmtlicher  Conti  und  wird  das 
schliessliche  Resultat  der  Gebarung,  beziehungsweise  der  hieraus  sich  er- 
gebende Betrag  mit  Jahresschluss  ausgeglichen.  Die  Verrechnung  über  die 
eingezahlten  Beträge  erfolgt  auf  Grund  der  den  Gerichten  vom  Sparcassen- 
amte  zukommenden  Belege  und  der  Vormerke  auf  den  Coupons  der  Check- 
büchel.  Mit  Ablauf  jedes  Jahres  ist  eine  Nachweisung  über  den  Checkverkehr 
zu  verfassen  und  dem  Oberlandesgerichte  vorzulegen.  Dieses  überprüft  die 
Ziffern  und  lässt  eine  Zusammenstellung  für  sämmtliche  am  Checkverkehr 
betheiligten  Gerichte   seines  Sprengeis    an    das  Justizministerium  gelangen. 


38  Leth. 

Im  Dienste  der  Finanzverwaltung  werden  die  Checkeinrichtiingen  der 
Postsparcasse  seit  1896]^in  Niederösterreich  und  seit  1898  in  sämmtlichen 
im  Reichsrathe  vertretenen  Königreichen  und  Ländern  benützt.  Für  den 
Verkehr  bei  den  Unterbehörden  bildet  gegenwärtig  die  Ministerialverordnung 
vom  26.  November  1897,  R.-Gr.-Bl.  272,  die  Grundlage,  welche  gestattet, 
dass  alle  Zahlungen,  mit  Ausnahme  der  Zollzahlungen,  an  sämmtliche  Steuer- 
ämter und  an  die  sonstigen  in  den  Anweisungsverkehr  des  Postsparcassen- 
amtes  einbezogenen  Perceptionsämter^)  auch  im  Checkverkehr  der  Post- 
sparcasse mittels  eines  „Einzahlungsscheines"  geleistet  werden  können.  2)  Der 
Erlag  erfolgt  entweder  in  Barem  bei  der  Gasse  des  Postsparcassenamtes, 
beziehungsweise  bei  einem  beliebigen  Postamte  oder  aber  unter  Einsendung 
eines  Ghecks  und  ausgefüllten  Einzahlungsscheines  behufs  Gutschrift  auf 
dem  Gonto  der  betreffenden  Perceptionscasse.  Die  Einzahlungsscheine  sind  den 
Empfang-Erlagscheinen  nachgebildet,  enthalten  aber  ausser  den  anf  letzteren 
vorkommenden  Vordrucken  auch  noch  die  Vorschreibungsmerkmale,  als: 
Gattung  und  Art  der  Abgabe,  Datum  und  Nummer  des  die  Zahlungspflicht 
begründenden  amtlichen  Documentes  etc.  TJeberdies  ist  ihnen  eine  zur  Ab- 
sendung an  die  Parteien  bestimmte  Gorrespondenzkarte  angeheftet,  welche 
zur  amtlichen  Bestätigung  über  die  erfolgte  Zahlung  dient.  Ist  die  Ein- 
zahlung geringer  als  die  Schuldigkeit,  so  ist  die  Partei  mittels  der  Gorre- 
spondenzkarte auf  diesen  Umstand  ausdrücklich  aufmerksam  zu  machen 
und  ihr  der  Betrag  des  Eückstandes  ziffermässig  anzugeben. 

Ueber^nachträgliches  Verlangen  einer  Partei  ist  die  in  der  amtlichen 
Bestätigung  ausgewiesene  Zahlung  gegen  Einziehung  dieser  Bestätigung  in 
das  Steuerbüchel,  den  Zahlungsauftrag  etc.  zu  übertragen. 

Solchermaassen  gebildete  Postsparcasseguthaben  fliessen  zur  Gänze  der 
Steuercasse  zu.  Wenn  eine  im  Anweisungsverkehre  geleistete  Zahlung  nicht 
dieser,  sondern  einer  anderen  rücksichtlich  ihres  Geldbestandes  in  besonderer 
Evidenz  zu  führenden  Gasse  eines  und  desselben  Perceptionsamtes  zufällt, 
ist  der  für  die  andere  Gasse  verrechnete  Betrag  aus  der  Steuercasse  in 
Barem  zu  entnehmen  oder  in  der  betreffenden  Gasse  zu  hinterlegen.  Zu 
selbständiger  Anweisung  und  Abhebung  von  Barbeträgen  sind  die  Steuer- 
ämter nicht  befugt.  Das  ganze  Guthaben  ist  allmonatlich  bis  auf  die  Stamm- 
einlage mittels  Ghecks  auf  das  Gonto  der  zuständigen  Ländercasse  zu  über- 
weisen, und  zwar  derart  rechtzeitig,  dass  die  vom  Postsparcassenamte  dies- 
falls vorzunehmende  Gutschrift  auf  dem  Gonto  der  Ländercasse  spätestens 
am  letzten  Monatstage  erfolgen  kann.  Erreicht  das  Guthaben  schon  im 
Laufe  des  Monates  einen  die  Stammeinlage  von  200  K  um  4000  K  über- 
steigenden Betrag,  so  hat  die  Ueberweisung  des  letzteren  an  die  Ländercasse 
sofort  zu  erfolgen. 

1)  Bisher    sind    in    den  Anweisungsverkehr  einbezogen:    sämmtliche    Hauptsteuer- 
ämter  und    Steuerämter,    die    Finanz-    und    gerichtlichen   Depositencassen    in  Wien,  diej 
Taxamtscasse  in  Wien  für  Stempeltaxen  und  Gebürenzahlungen,  das  Centralsteueramt  der) 
Stadt  Wien  für  Zahlungen  von  directen  Steuern  sammt  Zuschlägen. 

2^  Im  Wege  des  Checkverkehrs  wurden  im  Laufe  des  Jahres  1890  181.907  Steuer- 
oinzahlungen  per  49,510  584  K  geleistet. 


I 


Der  Checkverkehr  der  österreichischen  Postsparcasse.  39 

Tn  der  Kegel  soll  das  durch  die  Abfuhren  der  Perceptionsämter  auf 
dem  Conto  der  Lairdescasse  erwachsende  Guthaben  von  letzterer  auf  das 
Conto  der  Staatscentralcasse  überwiesen  werden.  Nur  zu  Barabhebungen 
für  den  Bedarf  der  Landescasse,  sowie  zur  Anweisung  von  baren  Geld- 
verlägen  an  Aemter  und  Cassen  steht  der  vorgesetzten  Finanzlandesbehörde 
das  Verfügungsrecht  über  den  Bestand  am  Postsparcassenconto  zu.  Directe 
Zahlungen  an  Parteien  dürfen  von  Landescassen  nicht  geleistet  werden,  wie 
auch  Zahlungen  von  Parteien  an  die  Landescassen  im  Checkverkehr  nicht 
zulässig  sind.  Die  Abfuhren  an  die  Staatscentralcasse  sind  von  den  Landes- 
cassen in  der  Regel  zweimal  im  Monate  (medio  und  ultimo),  ausserdem 
aber  sobald  das  Guthaben  den  Betrag  von  einer  Million  Kronen  übersteigt, 
durch  Ausstellung  eines  Gutschriftschecks  zu  bewirken. 

Seit  1.  Jänner  1897  nimmt  auch  die  Staatscentralcasse  am  Check- 
verkehr theil.  Auf  deren  Conto  gelangen  ausser  den  Eingängen  auf  den 
Conti  der  Lande.scassen  auch  die  Guthabungen  der  Staatsbahnen,  Forst- 
und  Domänendirectionen  und  sonstigen  dem  Checkverkehr  angegliederten 
Staatsverwaltungskörper  zur  Abfuhr,  lieber  das  Guthaben  der  Finanz- 
verwaltung bei  der  Postsparcasse  ist  dem  Finanzministerium  das  alleinige 
Verfügungsrecht  vorbehalten.  Daher  dürfen  weder  Abhebungen  noch  Ueber- 
weisungen  auf  andere  Conti  ohne  specielle  Weisung  der  Centralstelle  erfolgen. 
Die  über  Auftrag  des  Finanzministeriums  auszufertigenden  Checks  sind  von 
den  Functionären  der  Staatscentralcasse  zu  unterzeichnen  und  dem  Ministerial- 
Rechnungsdepartement  behufs  Vormerkung  vorzulegen.  Letzterem  müssen  auch 
die  Contoauszüge  zur  Constatierung  des  jeweiligen  Guthabens  über  Verlangen 
vorgewiesen  werden;  ebenso  auch  die  Checkbüchel.  Die  Controle  geschieht 
in  der  Weise,  dass  das  in  den  Contoauszügen  verzeichnete  Guthaben  mit 
dem  Saldo  verglichen  wird,  welcher  in  dem  täglich  an  das  Finanzministerium 
gelangenden  Cassestandsausweise  der  Staatscentralcasse  namhaft  gemacht 
erscheint. 

Demnach  ist  das  Checkwesen  im  staatlichen  Cassendienste  bei  folgenden 
Stellen  eingeführt: 

a)  Unterbehörden:  Steuer-  und  Finanzcassen,  Eisenbahncassen,  Forst- 
und  Bergverwaltungen,  Bezirksgerichte  von  grösserem  Umfange  (rücksichtlich 
der  Parteiengelder); 

b)  Ländercassen  und  sonstige  den  vorstehend  erwähnten  Stellen  über- 
geordnete Aemter; 

c)  Staatscentralcasse. 

Hiebei  wird  der  Postsparcassenverkehr  vorwiegend  (Ausnahmen 
kommen  bei  den  Eisenbahnen,  Gerichten,  Ländercassen  vor)  zur  Einziehung 
von  Geldern  benützt  und  liegt  die  Bedeutung  der  gegenwärtigen  Betheili- 
gung der  Staatscassen  an  demselben  nicht  so  sehr  im  Gebrauche  von 
Checks  bei  Vollziehung  der  internen  staatlichen  Cassengebarung  und  dem 
damit  verbundenen  Ersparnis  der  Barmittelbewegung,  als  vielmehr  in  der 
Bequemlichkeit,  welche  die  vereinfachte  Form  der  Einzahlungen  für  das 
Publicum  gewährt.     In    dieser  Bezieliung  enthält  eine  amtliche   Publication 


40  Leth. 


des  k.  k.  Finanzministeriums  (7.  Heft  der  Tabellen  zur  Währungsstatistik) 
die  nachstehende  Bemerkung:  „Mit  diesem  Beitritte  ist  im  wesentlichen 
den  Wünschen  und  Bedürfnissen  des  Publicums  hinsichtlich  der  Erleichterung 
von  Zahlungen  an  die  Staatscassen  genügt  worden.  Im  übrigen  ist  aber  der 
Beitritt  der  Finanzcassen  und  Aemter  zum  Credit\  erkelir  der  Postsparcasse 
in  dem  Sinne^kein  vollständiger,  als  den  sämmtlichen  Aemtern  nicht  ge- 
stattet ist,  ihre  Contoguthabungen  zur  Leistung  von  Zahlungen  an  dritte 
oder  auch  nur  zur  Barabhebung  für  ihr  eigenes  Bedürfnis  zu  benützen. 
Nur  den  k.  k.  Landescassen  ist  über  Anweisung  der  vorstehenden  Finanz- 
behörde gestattet,  ausnahmsweise  im  Bedarfsfalle  das  Guthaben  für  den 
eigenen  Bedarf  zu  verwenden  und  für  die  Staatscentralcasse  ist  die  Ingerenz 
des  k.  k,  Finanzministeriums  maassgebend.  Für  das  amtliche  Interesse 
ergibt  sich  darnach  aus  dieser  Einführung  nur  eine  sehr  vereinfachte  und 
schnelle'Verfügbarmachung  der  eingezahlten  Beträge  für  die  Centralstellen, 
da  die  Abfuhren  im  Ueberweisungswege  der  Postsparcasse  zweimal  im  Monate 
vorgeschrieben  sind." 

In  der  weiteren  Entwicklung  wird  es  sich  darum  handeln,  im  Staats- 
haushalte auch  nach  der  anderen  Richtung  des  Zahlungsprocesses  (bezüglich 
der  Auszahlung  der  Gelder)  von  den  Einrichtungen  des  Postsparcassenamtes 
intensiveren  Gebrauch  zu  machen.  Hiebei  wäre  das  bisher  nur  theilweise  ver- 
wirklichte Princip  der  geldlosen  Ausgleichung  allgemeiner  zur  Geltung  zu 
bringen.  Zum  Theile  Hesse  sich  eine  derartige  Verwendung  der  auf  den 
Staatscassenconti  eingehenden  Beträge  wohl  im  Rahmen  des  Postclearing 
durchführen,  so  durch  Ueberweisung  liquidierter  Verdienstbeträge  an  die 
dem  Checkverfahren  angehörenden  Contrahenten,  durch  facultative  Gutschrift 
von  Gehalten  und  Pensionen  auf  den  Conti  der  Percipienten  u.  s.  w.  Doch 
ist  es  fraglich,  ob  bei  zunehmender  Benützung  des  Postsparcassenverkehres 
durch  Behörden  sämmtliche  Eingänge  auf  den  Conti  der  Staatsverwaltung 
sich  in  solcher  Weise  an  Theilnehmer  des  Postcheckverfahrens  weiter  be- 
geben lassen  und  ob,  selbst  wenn  dies  möglich  sein  sollte,  der  Verbleib 
derartiger  Beträge  im  Kreislauf  giromässiger  üeberweisungen  gesichert  wäre. 
Bei  einer  grösseren  Gruppe  von  Auszahlungen  —  bei  Pensionen  und  Ge- 
halten —  wäre,  abgesehen  von  jenen  Fällen,  in  denen  Beamte  eine  über  die 
laufenden  Bedürfnisse  der  Hauswirtschaft  hinausgehende  Geldgebarung  haben, 
und  die  Bezüge  bloss  einen  Theil  der  zur  Dotierung  des  Conto  dienenden 
Beträge  bilden,  in  der  gegenwärtigen  Entwicklungsphase  des  Checkwesens 
eine  Barabhebung  wohl  kaum  zu  vermeiden,  da  die  Dienstesbezüge  fast 
ausschliesslich  zu  Zahlungen  des  Kleinverkehres  verwendet  werden  und  letzterer 
sich  derzeit  noch  in  den  Formen  barer  Vollzugsweise  abwickelt.  Für  jene 
Zahlungen  der  Staatsverwaltung  aber,  welche  in  grösseren  Summen  zu  leisten 
sind  (Couponsauszahlungen  an  Banken  etc.)  ist  an  maassgebender  Stelle 
die  Benützung  anderer,  ihrer  wirtschaftlichen  Structur  mehr  angepasster 
Checkorganismen  in  Aussicht  genommen,  zumal  die  Gegenwerte  zum  ' 
grossen  Theile  (bei  Couponszahlungen  etc.)  in  den  Verkehr  der  Banken 
eintreten. 


n 


I 


I 


Der  Cheekverlcehr  der  österreichischen  Postsparcasse.  41 

Zur  Abwicklung  solcher  Zahlungen  bestehen  sclion  jetzt  für  die  Finanz- 
verwaltung sowohl  bei  der  österreichisch-ungarischen  Bank  als  auch  beim 
Giro-  und  Cassenvereine  Giroconti. 

So  gewinnt  es  denn  den  Anschein,  dass  die  Weiterausgestaltung  der 
creditwirtschaftlichen  Zahlungsorganisation  auch  im  staatlichen  Cassen- 
geschäfte  sich  unter  Anlehnung  an  die  oben  berührte  Theilung  des  Check- 
wesens nach  wirtschaftlichen  Functionen  vollzieht  und  käme  bei  solcher 
Entwicklung  die  Postsparcasse,  abgesehen  vom  Einzahlungsdienste,  haupt- 
sächlich für  Transactionen  von  geringer  Höhe  und  im  Verkehr  mit  der  den 
Banken  fern  stehenden  Clientel  in  Betracht.  Hiebei  könnte  auch  in  An- 
sehung des  im  Postsparcassenverkehr  nicht  weiter  begebbaren  Theiles  des 
Guthabens  der  Staatscassenverwaltung  die  Barabhebung  vermieden  werden 
und  die  Ueberleitung  desselben  in  den  Bankbetrieb  im  Wege  der  Check- 
begebung erfolgen. 

Gleichwie  für  die  staatliche  Casseverwaltung  wird  der  Checkverkehr 
des  Postsparcassenamtes  auch  für  andere  öffentliche  Zwecke  (Landes-,  Com- 
munalverwaltung,  gemeinnützige  Institutionen)  benützt.  So  werden  beispiels- 
weise seit  1891  von  der  Verwaltung  der  niederösterreichischen  Landes- 
Gebär-  und  Findelanstalt  in  Wien  die  Kostgelder  für  die  Findlinge  vierteljährig 
an  die  Gemeindeämter  behufs  Ausfolgung  an  die  Pflegeparteien  im  Wege 
des  Checkverkehres  angewiesen  (circa  400  Gemeinden  mit  8600  Findlingen), 
die  Cassenagenden  der  Commune  Wien  im  Checkverkehr  vollzogen   u.  s.  w. 

Auch  im  socialen  Versicherungswesen  kommt  dem  Postcheckverkehr  eine 
wichtige  Rolle  zu.  Sowohl  in  dem  Musterstatute  für  die  Arbeiter-Ünfall- 
versicherungsanstalten  als  auch  in  den  für  die  Krankencassen  ergangenen 
Vorschriften  ist  die  Benützung  dieses  Verfahrens  vorgesehen.  Die  Durch- 
führung vollzieht  sich  im  allgemeinen  innerhalb  der  für  alle  Contoinhaber 
geltenden  Vorschriften ;  doch  geniessen  die  erwähnten  Anstalten  und  Cassen 
die  Befreiung  von  der  Checkstempelgebür.^)  Weiters  hat  sich  im  Aus- 
zahlungsdienste, und  zwar  im  Verkehr  mit  den  Arbeiter-Unfallversicherungs- 
anstalten hinsichtlich  der  Flüssigmachung  von  Renten  eine  wichtige  Er- 
weiterung der  regelmässigen  Functionen  des  Checkverfahrens  ergeben. 

Im  Rentenverkehr  bedurfte  es  zunächst,  um  die  Auszahlung  an  die 
bezugsberechtigten  Personen  zu  sichern,  erhöhter  Cautelen  bei  Zustellung  der 
Zahlungsanweisungen  und  musste  anderseits  auch  Vorsorge  getroffen  werden,  dass 
für  jene  Fälle,  in  denen  der  Bezug  an  gewisse  Bedingungen  (Witwenstand, 
Leben  minderjähriger  Descendenten,  Dürftigkeit  der  Ascendenten)  gebunden 
ist,  die  Erfüllung  dieser  Bedingung  vor  Erfolgung  der  Rente  geprüft  werden. 
Diesen  Gesichtspunkten  wurde  durch  den  Ausschluss  jeder  Postvollmacht 
für  die  bezüglichen  Zahlungsanweisungen,  sowie  dadurch  Rechnung  getragen, 
dass  die  Auszahlung  nur  gegen  gemeinde-  oder  pfarrämtliche  Bestätigung 
der  Fortdauer  der  den  Bezug  bedingenden  Verhältnisse  erfolgen  darf. 

')  So  die  Ärbeiter-Unfallversicherungsanstalten  durch  Gesetz  vom  28.  December  1887; 
die  Bruderladen  durch  Gesetz  vom  28.  Juli  1889;  die  Krankencassen  durch  Gesetz 
vom  30.  März  1888. 


42  Leth. 

.  üeberdies  handelte  es  sich  darum,  die  periodisch  wiederkehrende  An- 
weisung der  Rentenbeträge  allmonatlich  zu  vermeiden.  Es  wurde  daher  die 
Anweisung  derselben  mittels  eines  bis  auf  Widerruf  geltenden  Checks  ge- 
stattet und  wird  vom  Postsparcassenamte  am  Fälligkeitstage  jeweilig  die 
bezügliche  Zahlungsanweisung  an  den  bezugsberechtigten  Rentner  insolange 
hinausgegeben,  als  seitens  der  Arbeiter- Unfallversicherungsanstalt  keine 
andere  Disposition  getroffen  wurde.  Die  den  Arbeiter-Unfallversicherungs- 
anstalten in  solchen  Fällen  zustehende  Gebürenfreiheit  der  Checks  erleichterte 
die  Durchführung. 

Die  Einbürgerung  des  creditwirtschaftlichen  Zahlungsverkehres  auf  den 
bisher  geschilderten  Zweigen  des  Wirtschaftslebens  würde  für  sich  allein 
wohl  kaum  dazu  führen,  den  Kreis  der  checkmässigen  Transactionen  zu 
schliessen  und  die  buchweise  Ausgleichung  der  Forderungen  und  Schuldig- 
keiten auf  die  höchst  erreichbare  Stufe  zu  bringen. 

Soferne  das  Checkverfahren  auf  die  Zahlungen  der  Geschäftswelt  und 
auf  die  öffentliche  Casseverwaltung  beschränkt  bleibt,  sind  seiner  Entwicklung 
Grenzen  gesetzt,  welche  dessen  Bedeutung  für  die  Gesammtwirtschaft  nicht 
zu  voller  Geltung  kommen  lassen.  Vielfache  Zahlungen,  welche  bei  Ein- 
bürgerung des  Checkwesens  im  privaten  Wirtschaftsleben  ohne  Inanspruch- 
nahme von  Barmitteln  zu  leisten  sind,  müssen,  solange  eine  derartige  Ver- 
tiefung desselben  mangelt,  in  Barem  bewerkstelligt  werden.  Es  ist  daher 
für  die  Ausgestaltung  der  creditwirtschaftlichen  Organisation  des  Zahlungs- 
processes  von  ausserordentlicher  Wichtigkeit,  dass  der  Gebrauch  von  Checks 
auch  in  der  Sphäre  der  Privatwirtschaft  thunlichst  allgemein  platzgreife. 
Trotz  vielversprechender  Ansätze  war  es  in  Oesterreich  zu  einem,  das  private 
Wirtschaftsleben  umfassenden  Systeme  des  Checkverkehres  bis  zur  Einführung 
des  Postcheckverfahrens  nicht  gekommen.  Erst  letzteres  hat  hiefür  die 
Grundlage  geschaffen.  Derzeit  werden  dessen  Einrichtungen  nicht  bloss  bei 
der  Geldgebarung  in  ausserhalb  des  eigentlichen  Geschäftsbetriebes  gelegenen 
Berufszweigen,  sondern  auch  bei  Zahlungen  mit  rein  privatwirtschaftlichem 
Charakter,  für  Haushaltungszwecke  etc.  gebraucht.^)  Wohl  macht  sich  dabei 
noch  immer  die  in  der  Bevölkerung  tief  wurzelnde  und  nur  allmählich 
wandelbare  Gewohnheit  der  baren  Zalilungsweise  fühlbar.  Doch  tiitt  selbe 
mehr  und  mehr  zurück  und  ist  nicht  zu  verkennen,  dass  das  Bewusstsein 
von  den  Vortheilen  einer  bankmässigen  Führung  der  im  Hauswesen  vorkom- 
menden Zahlungsgeschäfte  weitere  Kreise  erfasst.  Damit  ist  die  Vorbedingung 
für  die  geldlose  Vollziehung  des  Zahlungsverkehres  in  der  privatwirtschnft- 
lichen  Sphäre  geschaffen. 

Für  diesen  Zweck  erscheint  es  von  grösster  Bedeutung,  dass  der  dem 
Checkverkehr"nicht   angehörende  Theil    des  Publicums    doch  wenigstens  in 


I 


I 


*)  Die  Berufsstatistik  der  Contoinhaber  im  Checkverkehr  des  Postsparcassenamtes 
weist  unter  anderen  aus:  Advocaten  1293,  Aerzte  365,  Geistliche  185,  Gelehrte,  Künstler  259, 
Gutsbesitzer  1168,  Militärs  155,  Notare  250,  Privatbeamte  616,  Privatpersonen  723, 
Staatsbeamte  342,  Vereine  2384  u.  s.  w. 


Der  Checkverkehr  der  österreichischen  Poatsparcasse.  "  43 

Fällen,  in  denen  er  bei  Zahlungen  mit  Contoinhabein  in  Berührung  kommt, 
an  den  Einrichtungen  des  Checkverfahrens  participieren  kann. 

Die  Mittel,  welche  im  Systeme  der  Postsparcasse  diesem  Zwecke 
dienen,  sind,  wie  an  früherer  Stelle  erwähnt,  die  Empfang-Erlagscheine  und 
die  Zahlungsanweisungen,  beziehungsweise  Inhaberchecks.  Erstere  bieten 
Gelegenheit  zur  Einziehung  von  Forderungen,  letztere  zur  Ausgleichung 
von  Verbindlichkeiten  im  Verkehr  mit  Personen,  welche  kein  Postsparcassen- 
conto  besitzen.  Je  mehr  es  auf  solche  Weise  gelingt,  derartige  auf  einer 
Seite  mit  ßargeldbewegung  verbundene  Transactionen  im  Postsparcassen- 
verkehr  zu  vollziehen  und  die  Gegenwerte  in  den  letzteren  überzuleiten, 
beziehungsweise  aus  demselben  zu  entnehmen,  desto  vollkommener  wird 
sich  die  Organisation  des  Zahlungsverkehres  und  in  weiterer  Folge  die  Er- 
sparnis an  Barmitteln  gestalten. 

Ein  wichtiger  Schritt  auf  solchem  Gebiete  ist  durch  die  oben  erörterte, 
in  das  Volksleben  tief  eingreifende  Angliederung,^  staatlicher  Gassen  und 
anderer  Institutionen  mit  gemeinnützigem  Charakter  an  den  Checkverkehr 
geschehen.  Durch  selbe  wird  ja  hinsichtlich  eines  grossen  Complexes  von 
Zahlungen  die  Benützung  der  Einrichtungen  des  Postsparcassenamtes  auch 
für  Fälle  erschlossen,  in  welchen  die  Zahlungspflichtigen  kein  Checkconto 
besitzen  und  daher  eine  rein  checkmässige  Durchführung  ;^ nicht  platz- 
greifen kann. 

Weitere  Förderung  des  creditwirtschaftlichen  Zahlungsverkehres  steht 
durch  die  im  Zuge  befindliche  Eegelung  der  Rechtsverhältnisse  im  Check- 
wesen zu  erwarten.  Nach  dem  Inslebentreten  des  Checkgesetzes  wird  ja  im 
Kleinverkehr,  in  welchem  die  Beurtheilung  der  Veitrauenswürdigkeit  des 
Checkausstellers  für  den  Empfänger  nur  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
möglich  ist,  die  Bereitwilligkeit  zur  Annahme  von  Checks  vermehrt,  die 
Verkehrsfähigkeit  der  letzteren  gesteigert  und  damit  für  die  am  Checkver- 
fahren nicht  activ  Tlieilnehmenden  die  Möglichkeit  erhöht,  durch  Weiter- 
begebung erhaltener' Checks  ohne  Verwendung  von  Bargeld  Zahlungen  zu 
leisten. 

In  der  Folge  dürfte  sich  aber  die  Rückwirkung  einer  solchen  Berüh- 
rung weitere]-  Kreise  mit  der  Postsparcasse  auch  in  dem  Beitritte  neuer 
Theilnehmer  äussern.  Sicherlich  werden  sich  hiedurch  zahlreiche  Privat- 
wirtschaften zur  Eröffnung  von  Checkconti  und  zu  erweiterter  Benützung  der 
Einrichtungen  des  Postsparcassenamtes  veranlasst  finden,  wodurch  vermehrte 
Gelegenheit  zu  intensiverem  Ausgleiche  von  Zahlungen  ohne  Inanspruch- 
nahme von  Barmitteln  sich  bietet.  Damit  scheint  denn  der  Entwicklungs- 
gang des  Checkwesens  auch  in  der  privaten  Wirtschaftssphäre  zur  Voll- 
ziehung im  Clearing  durch  Gut-  und  Lastschrift  zu  führen.  Doch  während 
im  Verkehr  der  Geschäftswelt  diese  Durchführungsweise  die  Barauszahlung 
fast  ganz  zu  ersetzen  vermag,  ist  ihr  im  Privatleben  durch  die  ökono- 
mischen Verhältnisse  des  letzteren  eine  zwar  erweiterungsfähige,  aber  niemals 
zu  beseitigende  Grenze   gezogen. 


44  T-ieth. 

Die  Theilnahme  am  Check  verkehr,  welclie  für  die  buchniässige  Aus- 
gleichung die  Grundlage  bildet,  setzt  stets  eine  gewisse  Stufe  der  Entwick- 
lung im  Wirtschaftsbetriebe  voraus.  Nur  wenn  das  Wirtschaftssubject  von 
verschiedenen  Seiten  Zahlungen  zu  empfangen  und  über  die  erhaltenen 
Summen  wieder  auf  mehrfache  Weise  und  insbesondere  im  interlocalen 
Verkehr  zu  verfügen  hat,  ist  das  Bedürfnis  für  den  Beitritt  zum  Check- 
verfahren vorhanden.  Bei  einseitiger  Bewegung  aber  und  falls  die  Einnahme 
nur  in  fixen  Bezügen,  die  Ausgabe  hingegen  in  zumeist  localen  Zahlungen 
für  Haushaltungszwecke  besteht,  ist  eine  active  Betheiligung  am  Check- 
verkehr wertlos  und  genügt  es  für  solche  Wirtschaftsbetriebe,  wenn  sie  an 
der  durch  dieses  Verfahren  bewirkten  Vereinfachung  des  Zahlungsprocesses 
durch  Benützung  der  Empfang-Erlagscheine,  beziehungsweise  durch  Ein- 
cassierung  von  Zahlungsanweisungen  oder  Inhaberchecks  participieren. 

So  lässt  sich  denn  die  typische  Form  für  die  Benützung  des  Post- 
checkwesens im  privaten  Verkehr  folgendermaassen  skizzieren : 

Einzahlung  der  aus  den  untersten  Schichten  des  Wirtschaftslebens 
herrührenden  Gelder  auf  Empfang-Erlagscheine; 

üeberweisung  der  auf  diese  Weise  angesammelten  Gelder  im  Clearing 
bei  höher  entwickelten  Wirtschaftskörpern; 

Auszahlung  in  Barem  mittels  Zahlungsanweisung  oder  Inhaberchecks 
in  Fällen,  in  welchen  die  Gelder  aus  dem  Checkverkehr  in  den  Bereich  von 
am  Checkverkehr  nicht  theilnehmenden  Wirtschaften  rückfliessen. 

Je  nach  der  ICntwicklungsphase  des  Checkwesens  wird  die  eine  oder 
die  andere  Vollzugsform  grössere  Verbreitung  finden,  jede  derselben  aber 
bildet  im  System  des  Postcheckverkehres  ein  nicht  zu  missendes  Glied. 

In  den  vorstehenden  Ausführungen  wurde  die  als  Folge  des  bisherigen 
Werdeprocesses  sich  ergebende  Ausgestaltung  des  Postsparcassenbetriebes, 
insofern  beleuchtet,  als  es  sich  hiebei  um  die  Vertiefung  des  Checkwesens 
und  um  die  Verallgemeinung  der  buchmässigen  Vollziehung  der  Zahlungen 
ohne  Inanspruchnahme  von  Barmitteln  handelt. 

Aber  auch  in  anderer  Richtung  scheint  der  Entwicklungsgang  des 
Postsparcassenamtes  zu  einer  Erweiterung  bestehender  Einrichtungen  zu 
führen.  Diesbezüglich  kommen  vornehmlich  zwei  Gebarungszweige  in 
Betracht. 

Einer  derselben  ist  Ankauf  und  Verwaltung  von  Effecten  für 
Rechnung  der  Contoinhaber.  Bekanntlich  wird  dieser  Geschäftszweig —  derzeit 
auf  Staatspapiere  beschränkt  —  vom  Postsparcassenamte  nicht  bloss  für  die 
Spareinlagen,  sondern  auch  im  Anschlüsse  an  den  Checkverkehr  gepflegt. 
Kaufsgesuche  können  von  jedem  Orte  aus  mittels  Checks,  welche  auf  den 
Nominalbetrag  der  zu  erwerbenden  Papiere  lauten,  an  das  Postsparcassenamt 
gerichtet  werden  und  geschieht  die  Verrechnung  zum  amtlichen  Waren- 
course  der  Wiener  Börse  unter  Zuschlag  einer  geringen  Provision  (2  pro 
Mille).  Die  angekauften  Effecten  werden  auf  Verlangen  des'Contoinhabers 
auf  seine   Kosten   und    Gefahr   an    die   im    Check   eventuell    anzugebende 


^1 


Der  Clieckv erkehr  der  üäteiTcicliisclien  Postsparcasse.  45 

Adresse  versendet  oder  von  Amtswegen  kostenfrei  verwahrt.  Ueber  die  depo- 
nierten Papiere  erfolgt  die  Ausfertigung  eines  ßentenbücliels. 

Die  einfachen  Vollzugsformen  dieses  Geschäftszweiges  eröffnen  Gelegen- 
heit zur  Benützung  der  bezüglichen  Einrichtungen  sowohl  für  Privatpersonen 
als  auch  bei  Verwaltung  von  Vermögensbeständen  mit  öffentlichem  oder 
gemeinnützigem  Charakter. 

In  letzterer  Hinsicht  zeigt  sich  bei  den  betheiligten  Stellen  das  Streben 
nach  engerem  Anschluss  der  Fondsgebarungen  an  die  bezüglichen  Einrich- 
tungen des  Postsparcassenamtes  und  intensiverem  Gebrauch  derselben  iür 
den  gedachten  Zweck.  Bemerkenswert  ist  in  dieser  Beziehung  die  in  Aussicht 
genommene  Veranlagung  der  von  den  Depositenämtern  für  den  laufenden 
Dienst  entbehrlichen  Beträge  durch  Ankauf  von  Staatspapieren  und  Depo- 
nierung der  letzteren   bei    der  Effectenabtheilung   des  Postsparcassenamtes. 

Mit  dem  weiteren  Ausbau  dieses  Gedankens  würde  das  Depotgeschäft 
auch  in  Oesterreich  in  eine  Phase  der  Entwicklung  treten,  welche  ander- 
wärts, so  insbesondere  in  Frankreich,  zu  weitgehender  Concentrierung  der 
staatlichen  und  öffentlichen  Fondsgebarung  geführt  hat.  Auf  solchem  Gebiete 
wirkt  bekanntlich  in  Frankreich  die  Caisse  des  depöts  et  des  consignations 
mit  grossem  Erfolge.  Diese  Gasse  war  ursprünglich  dazu  bestimmt,  jene 
Summen,  welche  zufolge  eines  Judicates  oder  einer  administrativen  Ent- 
scheidung zu  Gunsten  eines  Dritten  zu  hinterlegen  sind,  bis  zur  Nachwei- 
sung der  Ansprüche  zu  verwahren  und  zu  verzinsen.  Auch  derzeit  hat  sie 
diese  Aufgabe  und  ist  selbe  die  alleinige  gesetzliche  Depotstelle,  S)  zwar, 
pBSS  Hinterlegungen  bei  anderen  Instituten  von  der  Zahlungspflicht  nicht 
befreien  und  dem  Director  der  Depositencasse  sogar  Zwangsmaassregeln 
gegen  die  Zuwiderhandelnden  zustehen.  Ueber  diesen  Wirkungskreis  hinaus 
ist  die  Caisse  des  depöts  im  Laufe  der  Zeit  zu  einem  centralen  Verwahrungs- 
und Verwaltungsorgane  für  die  Vermögensgebarung  öffentlicher  Institute 
und  Fonds  geworden.  Sie  besorgt  beispielsweise  die  Veranlagung  der  Post- 
sparcassengelder,  die  Elocierung  der  Einlagen  bei  den  Privatsparcassen,  die 
Vermögensverwaltung  für  die  Organismen  des  socialen  Versicherungswesens 
etc.  etc.  In  diesen  Geschäftszweigen  liegt  der  Schwerpunkt  des  heutigen 
Wirkens  der  Depositencasse.  \)  Bei  der  steigenden  Bedeutung  der  socialen 
Versicherung  dürfte  es  von  praktischen  Werte  sein,  eine  kurze  Schilderung 
der  bezüglichen  Einrichtungen  der  Caisse  des  depöts  an  dieser  Stelle  ein- 
zuschalten, zumal  selbe  als  Vorbild  dienen  könnten,  um  das  Effecten- 
geschäft  der  Postsparcasse  innerhalb  des  Eahmens  der  bestehenden  Normen 
für  gleiche  Zwecke  zu  benützen. 

Die  Intervention  der  Caisse  des  depöts  et  des  consignations  in  An- 
sehung des  Versicherungswesens  bezieht  sich  zunächst  auf  die  Vermögens- 
gebarungen der  Societes  de  secours  mutuels.  Dieselben  sind  ermächtigt, 
die  Summen,    welche    sie   zur  Gründung  eines    Altersversorgungsfonds   für 

')  Der  von  der  Depositencasse  verwaltete  Vermögenbestand  belief  sich  1896  auf 
.S3.'>4  Millionen  P'rancs. 


46  ^'^*^'- 

ihre  Mitglieder  gewidmet  haben,  bei  der  Caisse  des  depöts  et  consignatious 
auf  ein  in  Paris  centralisiertes  Conto  des  Fonds  des  retraites  einzulegen. 
Letzteres  wird  überdies  durch  die  Einzahlung  der  Societäre,  durch 
Subventionen,  Interessen  etc.  alimentiert.  Die  eingegangenen  Gelder 
werden  mit  i^/^  Proc.  verzinst.  Sie  können  weder  in  der  Gesammtheit,  noch 
zum  Theile  zurückgezogen  werden  und  müssen,  vom  Palle  der  Auflassung 
der  Gesellschaft  abgesehen,  stets  ihrer  Bestimmung  —  der  Sicherung  von 
Pensionen  —  erhalten  bleiben.  Der  Stand  des  Contos  jeder  Societät  wird 
von  der  Caisse  des  depöts  dem  Minister  des  Innern  alljährlich  bekannt- 
gegeben, welcher  selben  im  Wege  der  Präfecturen  den  einzelnen  Societäten 
mittheilt.  Das  Organ,  welches  den  Anspruchsberechtigten  die  Pensionen  und 
Leibrenten  zuerkennt,  ist  die  Vollversammlung  der  Societäre.  Nach  Schluss- 
fassung seitens  der  Letzteren  wird  eine  Abschrift  des  Protokolles  unter  Bei- 
gabe der  Geburtsdocumente  der  zur  Pension  vorgeschlagenen  Mitglieder 
durch  die  Präfecturen  dem  Minister  des  Innern  vorgelegt,  welcher  endgiltig 
über  die  Liquidierung  der  Pensionen  entscheidet.  Im  Genehmigungsfalle 
überträgt  die  Caisse  des  depöts  die  für  die  Pensionen  nothwendigen  Summen 
aus  dem  „Fonds  des  retraites"  der  Hilfscassen  an  die  von  ihr  verwaltete, 
staatliche  Altersrentencasse  (Caisse  nationale  des  retraites).  Die  Renten  werden 
stets  mit  Vorbehalt  des  eingezahlten  Capitals  fundiert  und  fällt  letzteres 
nach  dem  Tode  des  Anspruchberechtigten  wieder  an  die  Hilfscasse  zur 
Stärkung  des  „Fonds  des  retraites"   zurück. 

Weiters  ist  der  Caisse  des  depöts  die  Gebarung  von  Pensionsfonds 
für  eine  Reihe  von  öffentlichen  Instituten,  wie:  Staatsdruckerei,  Versatzamt, 
Nationaltheater,  Communalämter  etc.  (Fonds  des  retraites  et  pensions  diverses) 
übertragen. 

Der  administrative  und  versicherungsmässige  Theil  der  Agenden  obliegt 
dem  Institute,,  von  welchem  die  betreffende  Casse  dependiert,  während  die 
Verwahrung  und  Gebarung  mit  den  Vermögensbeständen  —  selbe  sind  in 
Staatsrenten  angelegt  —  durch  die  Caisse  des  depöts  erfolgt.  Die  Pensionen 
sind  vierteljährig  in  Paris  bei  der  Caisse  des  depöts  und  in  den  De- 
partements bei  den  Tresoriers  payeurs  generaux  und  den  Reccoeurs  parti- 
culiers  des  finances  zahlbar. 

Wohl  ist  der  Umfang  dieser  Agenden  dadurch  verringert,  dass  im 
Jahre  1853  eine  grosse  Zahl  von  Fonds  zur  Versorgung  staatlicher  Organe 
eingezogen  und  der  Pensionsanspruch  auf  den  allgemeinen  Staatsetat  über- 
nommen wurde.  Doch  verliert  dadurch  die  Einrichtung  nicht  ihre  principielle 
Bedeutung. 

Endlich  werden  auch  die  gesammten  cassa-  und  betriebsdienstlichen 
Agenden  der  staatlichen  Versicherungsinstitute  (Caisse  des  retraites,  Caisse 
d'assurance  en  cas  de  deces,  Caisse  d'assurance  en  cas  d'accidents)  von  der 
Caisse  des  depöts  et  consignations  geführt.  Die  Caisse  des  retraites  ist  eine 
eminent  demokratische  Einrichtung,  durch  welche  zu  Gunsten  der  Arbeiter- 
classen  mit  Hilfe  eines  geringen  Abzuges  vom  Lohne  Rentenansprüche  sich 
erwerben  lassen,  die  bei  Erreichung   eines    gewissen  Alters  liquid  werden. 


Der  Checkverkehr  der  österreichisclien  Postsparcasse.  47 

Das  Wirken  und  die  Kesultate  dieser  Anstalt  wurden  im  IV.  Heft  des 
VI.  Handes  dieser  Zeitschrift  geschildert.  Die  beiden  anderen  Gassen  —  für 
Lebens-  und  Unfallversicherung  —  sind  gleichfalls  für  die  minder  bemittelten 
Classen  berechnet  und  bezwecken,  der  Familie  beim  Tode  des  Ernährers 
ein  kleines  Capital  zu  sichern  und  durch  Unterstützungen  die  pecuniäre 
Lage  der  durch  Unfälle  Betroffenen  zu  erleichtern.  Durch  sie  wurde  das 
System  der  vom  Staate  betriebenen  Versicherung,  welches  durch  die  Alters- 
rentenanstalt inauguriert  wurde,  vervollständigt  und  beabsichtigte  man  damit 
—  bisher  allerdings  ohne  durchschlagenden  Erfolg  —  eine  Lücke  auszu- 
füllen, welche  im  socialen  Versicherungswesen  bestand. 

In  den  vorstehend  angeführten  Agenden  der  Caisse  des  depots  tritt 
ein  doppeltes  Princip  zutage.  Bei  der  einen  Gruppe  ist  die  gesammte 
Gebarung  —  die  Gasse-  und  Vermögensverwaltung  einschliesslich  der 
administrativen  und  versichernngstechnischen  Durchführungen  —  der  Depo- 
sitencasse  überwiesen  und  obliegen  letzterer  ähnliche  Functionen,  wie  sie 
anderen  Versicherungsinstituten  mit  gemeinnützigem  Charakter  zukommen. 
In  solcher  Richtung  unterscheidet  sich  die  Caisse  des  depots  et  consignations 
ihrem  Wesen  nach  wohl  kaum  von  den  Versicherungsabtheilungen  der  aus- 
ländischen Postsparcassen.  In  der  anderen  Gruppe  aber  wird  der  versiche- 
rungstechnische Theil  der  Geschäftsführung  nicht  von  der  Caisse  des  depots, 
sondern  von  selbständigen  Versicherungsorganisationen  besorgt  und  ist 
lediglich  nur  die  rein  cassemässige  Gebarung  mit  Bargeld  und  Effecten 
unter  Ausscheidung  derselben  aus  dem  Bereiche  der  Versicherungsagenden 
an  die  genannte  Gasse  übertragen. 

Eine  Scheidung  zwischen  Gassen-  beziehungsweise  Vermögensverwal- 
tung und  Versicherungsbetrieb  ist  auch  in  Oesterreich  theilweise,  in  Ansehung 
des  baren  Geldverkehres,  bereits  vollzogen.  Bei  vielen  Versicherungs- 
instituten wickelt  sich  letzterer  schon  jetzt  in  den  Formen  des  Gheck- 
verfalirens  unter  Vermittlung  des  Postsparcassenamtes  ab.  Ein  grosser 
Theil  finanzieller  Agenden  wird  aber  auch  gegenwärtig  noch  von  den 
betreffenden  Instituten  selbst  besorgt,  und  zwar  sind  dies  alle  jene  Trans- 
actionen,  welche  sich  auf  die  Veranlagung,  sowie  auf  die  Verwahrung  und 
Verwaltung  der  Effectenbestände  beziehen.  Für  grössere  Versicherungsorga- 
nismen ist  die  selbständige  Führung  dieser  Agenden  wohl  mit  keinen 
Schwierigkeiten  verbunden,  zumal  bei  denselben  der  ganze  Verwaltungs- 
apparat für  eine  sachgemässe  und  den  Marktverhältnissen  angepasste  Effecten- 
gebarung  eingerichtet  ist.  Anders  aber  verhält  sich  die  Sache  bei  manchen 
der  kleineren  Anstalten.  Bei  diesen  erfordert  die  Verwaltung  und  Controle 
der  geringfügigen  Vermögensbestände  vielfach  einen  mit  dem  Erreichten 
nicht  in  Einklang  stehenden  Aufwand  von  Zeit  und  Arbeit  und  bringen  es 
die  localen  Verhältnisse  mit  sich,  dass  die  betreffenden  Institute  von  den, 
den  TCff'ectenmarkt  beeinflussenden  Momenten  sich  nicht  immer  Kenntnis  ver- 
schatfen  können. 

Diese  Umstände  geben  denn  zu  der  Erwägung  Anlass,  ob  nicht  auch 
in  Oesterreich,    ähnlich  wie   dies   in  Frankreich  der  Fall    ist,   rücksiclitlich 


48  Letli. 

verschiedenem  Betriebe  den  Versiclieruiigswesens,  insbesondere  der  Hilfs- 
cassen  und  Versicherungsvereine,  die  Uebergabe  der  Effectenverwaltung  an  eine 
gemeinsame  Depotstelle,  als  welche  das  Postsparcassenamt  fungieren  könnte, 
im  Interesse  der  Geschäftsvereinfachung  gelegen  und  behufs  Erzielung  einer 
grösseren  üebersichtlichkeit  und  einheitlichen  Gestaltung  der  Fondsgebarung 
anzustreben  wäre. 

Die  von  jedem  Orte  aus  zugänglichen,  nahezu  kostenlosen  Einrich- 
tungen der  Postsparcasse  böten  hiezu  reichlich  Gelegenheit  und  wäre  deren 
Benützung  für  die  gedachten  Zwecke  umso  zweckdienlicher,  als  die  Fonds- 
verwaltung mit  der  im  Checkverkehre  sich  vollziehenden  baren  Cassegebarung 
in  engstem  Zusammenhange  steht. 

Das  zweite  Gebiet,  auf  welchem  die  bestehenden  Einrichtungen  den 
Keim  zu  weiterer  Ausgestaltung  in  sich  bergen,  ergibt  sich  zufolge  der 
Bestimmungen  des  Gesetzes  vom  19.  November  1887,  E.-G.-Bl.  Nr.  133, 
über  die  Veranlagung  des  Einlagesaldos. 

Auf  Grund  des  §  7  des  citierten  Gesetzes  erfolgt  die  Elocierung  der 
Guthabungen  des  Checkverkehres  gegenwärtig  bezüglich  des  eine  dauernde 
Investierung  zulassenden  Theiles  in  Staatswerten  oder  anderen  pupillar- 
sicheren  Effecten  und  bezüglich  der  eine  mobile  Veranlagung  erfordernden 
Capitalien  durch  Ankauf  vun  Partial-Hypothekaran Weisungen,  sowie  durch 
Einlage  im  Conto  corrente  bei  Banken.  Das  Procentverhältnis  der  beiden 
letzterwähnten  Anlageformeu  hat  seit  der  Postsparcassennovelle  vom  Jahre 
1886  sich  namhaft  gesteigert  und  beträgt  bei  Berücksichtigung  der  übrigen 
jederzeit  mobilisierbaren  Werte  ungefähr  ein  Drittel  der  gesammten  Be- 
stände. Darauf  hinweisend,  dass  durch  die  Salinenscheine  und  Conto  corrente- 
Einlagen  die  Liquidität  der  Checkbeträge  nur  zum  Theil  gesichert  erscheint, 
erheben  sich  Stimmen,  welche  den  übrigen  im  Gesetze  vom  19.  November  1887 
vorgesehenen  Anlagearten,  dem  Keescompte  von  Wechseln,  welche  durch 
eine  Bank,  Sparcasse  oder  durch  einen  auf  Grund  des  Gesetzes  vom  9.  April 
1873,  K.-G.-Bl.  Nr.  70,  registrierten  Vorschuss-  oder  Creditverein  bereits 
escomptiert  sind  und  der  Gewährung  von  Darlehen  gegen  Verpfändung  von 
pupillarsicheren  Effecten  zur  Erzielung  einer  möglichst  mobilen  Veranlagung, 
sowie  vom  Standpunkte  der  wirtschaftlichen  Interessen  das  Wort  reden. 

Die  bezüglich  des  Escomptes  bisher  geäusserten  Vorschläge  gehen 
von  dem  Grundsatze  aus,  dass  für  die  Verwendung  der  Bestände  eines 
Geldinstitutes  die  Provenienz  derselben  maassgebend  sein  müsse  und  die 
Gelder  soweit  als  thunlich  wieder  den  Kreisen,  welchen  sie  entstammen, 
zugute  kommen  sollen.  Unter  diesem  Gesichtspunkte  wird  im  Betriebe  des 
Postsparcassenamtes  die  Kückleitung  der  zahlreichen,  aus  der  Geschäftswelt 
herrührenden  Checkbestände  in  den  Verkehr  der  letzteren  durch  Escomptie- 
rung  von  Bankwechseln,  als  wünschenswert  hingestellt;  dann  aber  auch  die 
Zuwendung   der   von  gewerblichen  und   landwirtschaftlichen    Kreisen^)    bei 

^)  In  dieser  Beziehung  wird  insbesondere  darauf  hingewiesen,  dass  die  bestehenden 
Bankinstitute,  sollen  sie  nicht  andere,  gleich  wie  tige  Aufgaben  hintansetzen,  mit  der 
Creditgewährang   an   breitere  Schichten   der  Volkswirtschaft   sicli   nur    schwer   befassen 


Der  Checkverkehr  der  österreichischen  Postsparcasse,  49 

der  Postsparcasse  belassenen  Gelder  an  die  derzeit  noch  wenig  entwickelten 
Creditorganisationen  dieser  beiden  Wirtschaftssphären.  Die  hauptsächlichsten 
Desiderien,  welche  in  letzterer  Richtung  behufs  Kräftigung  der  bezüg- 
lichen Organisationen  durch  gering  verzinsliche  Darlehen  aus  den  Mitteln 
des  Postsparcassenamtes  laut  werden,  lassen  sich  folgeudermaassen  zusammen- 
fassen ; 

Zuwendung  von  Crediten  an  die  Schulze-Delitzsch'schen  Vorschusscassen 
im  Anschlüsse  an  die  im  Zuge  befindliche  Reform  des  Gesetzes  über  die 
Erwerbs-  und  Wirtschaftsgenossenschaften,  von  welcher  eine  Stärkung  der 
bestehenden  und  das  Inslebentreten  neuer  Gassen  zu  erwarten  ist,  welche 
den  specifischen  Creditverhältnisseii  der  kleinen  Handwerker  und  Kaufleute 
dienen ; 

Gewährung  von  verzinslichen  Darlehen  an  die  durch  das  Gesetz  vom 
23.  Februar  1897,  R.-G.-Bl.  Nr.  63,  in  ihrer  Entstehung  begünstigten  wirt- 
schaftlichen Untern^ehmungen  der  Gewerbegenossenschaften;  und 

die  Förderung  des  landwirtschaftlichen  Personalcredites  durch  Ueber- 
lassung  von  Postsparcassegeldern  an  die  Raiffeisen'schen  Gassen  und  ähnliche 
Vereinigungen. 

Ob  und  inwieweit  solchen  Anregungen  im  Postsparcassenbetriebe  mit 
Rücksicht  auf  die  Höhe  der  disponiblen  Gelder  und  deren  Liquiderhaltung 
entgegengekommen  werden  kann,  ist  wohl  in  erster  Linie  eine  interne  Ver- 
waltungsangelegenheit des  Postsparcassenamtes  und  würde  die  Erörterung 
dieser  mehr  betriebsdienstlichen  Seite  der  Frage  auch  den  Umfang  der 
vorliegenden  Studie  überschreiten.  Nur  auf  zwei  in  der  Regel  nicht  genug 
beachtete  Momente  möge  an  dieser  Stelle  hingewiesen  werden,  und  zwar 
rücksichtlich  des  Reescomptes  von  Bankwechseln  auf  die  Schwierigkeit,  in 
solcher  Weise  grössere  Summen  jederzeit  zu  placieren,  und  rücksicht- 
lich der  Credite  für  gewerbliche  und  landwirtschaftliche  Kreise  auf 
die  gesetzliche  Bestimmung,  dass  auch  diesen  Wirtschaftszweigen 
die  Postsparcassengelder  nur  gegen  kurzfristige  Wechsel  zur  Verfügung 
gestellt  werden  könnten. 

In  ersterer  Hinsicht  ist  damit  zu  rechnen,  dass  es  bei  der  gedrückten 
Geschäftslage  und  der  darniederliegenden  Unternehmungslust  gerade  in 
Perioden  flüssigen  Geldes,  in  welchen  sich  auch  die  Postsparcassenbestände 


können.  Hiezu  sei  ihr  Organismus  weniger  geeignet.  Es  fehle  ihnen  der  Apparat  zur 
Erforschung  der  persönlichen  Verhältnisse,  ohne  welchen  eine  Creditgewährung  in  solchen 
Kreisen  unmöglich  wird.  Die  wirtschaftliche  Lage  des  kleinen  Mannes  bleibe  für  die  Bank 
fast  unergründlich.  Leichtigkeit  der  Verschuldung  und  deren  Geheimhaltung,  Verschieden- 
heit des  Domicils  und  ähnliche  Umstände  erschweren  den  directen  Verkehr  des  einzelnen 
mit  der  Bank  und  erfordern  das  Dazwischentreten  von  Mittelgliedern,  welche  für  die 
Zuwendung  des  Darlehens  persönlich  und  solidarisch  die  Verantwortung  tragen.  Deshalb 
wird  der  Aufbau  der  Creditorganisation  des  kleinen  Mannes  auf  genossenschaftlicher  Basis 
angestrebt,  als  der  dem  heutigen  Stande  der  Technik  allein  entsprechenden  Form,  das 
Creditbedürfnis  der  grossen  Masse  mit  den  im  Interesse  des  Capitales  aus  Gründen  der 
Sicherheit  zu  stellenden  Forderungen  in  Einklang  zu  bringen. 

Zeitschrift  ftlr  Volks wirtscliaft,  Sooialpolitik  und  Verwaltung.  X.  Band.  4 


50  Leth. 

vermehren,  an  geeignetem  Wecliselmateriiile  mangelt  und  die  lohnende  Ver- 
wertung grösserer  zur  Verfügung  stehender  Mittel  durch  Keescomptierung 
von  Bankwechseln  wohl  nicht  immer  möglich  werden  dürfte.  Bezüglich  der 
Creditgewährung  für  gewerbliche  und  landwirtschaftliche  Zwecke  aber  kommt 
in  Betracht,  dass  die  Zuwendung  von  Geldern  auch  an  Vorschusscassen 
nach  den  Bestimmungen  des  Gesetzes  vom  19.  November  1887  nur  im 
Wege  des  Eeescomptes  von  längstens  drei  Monate  laufenden  Wechseln  er- 
folgen kann. 

Ob  nun  aber  mit  solchen  kurzfristigen  Darlehen  den  Interessen  der 
gewerblichen  und  landwirtschaftlichen  Productionszweige  gedient  ist,  erscheint 
zum  mindesten  zweifelhaft.  Denn  der  für  diese  Kreise  gewährte  Credit 
unterscheidet  sich  seinem  Wesen  nach  von  den  Geldbeschaffungen,  wie  sie 
durch  Escomptierung  von  Wechseln  im  kaufmännischen  Betriebe  vorkommen. 
Bei  letzterem  handelt  es  sich  in  der  Regel  um  wirklichen  Zahlungscredit 
und  wird  mit  denselben  lediglich  der  Ausgleich  in  der  zeitlichen  Ver- 
schiedenheit von  bereits  fälligen  Verbindlichkeiten  und  erst  später  einge- 
lienden  Forderungen  bezweckt.  Diese  Natur  des  Escomptes  sichert  das 
Rückströmen  der  Gegenwerte  nach  Fälligkeit  der  Wechsel  und  die  rasche 
Flüssigmachung  der  solchermaassen  veranlagten  Gelder  im  Falle  des 
Bedarfes. 

Anders  verhält  es  sich  aber  bei  der  Creditgewährung  in  gewerblichen 
und  landwirtschaftlichen  Kreisen.  Das  rein  formelle  Moment,  dass  auch 
diese  im  Wege  des  Escomptes  bei  dreimonatlicher  Laufzeit  der  Wechsel 
durchgeführt  werden  müsste,  kann  für  die  Liquidität  der  Gelder  wohl  nicht 
als  entscheidend  erachtet  werden.  Bei  einem  grossen  Theile  derartiger  Dar- 
lehen wäre  es,  sollen  sie  für  die  Interessenten  überhaupt  Wert  haben,  un- 
vermeidlich, dass  sie  durch  jeweilige  Escomptierung  neuer  Wechsel  immer 
wieder  ergänzt  und  in  solcher  Weise  ständig  auf  ungefähr  der  gleichen 
Höhe  gehalten  Averden. 

Es  darf  eben  nicht  übersehen  werden,  dass  bei  den  in  Rede  stehenden 
Productionszweigen  der  eigentliche  Zahlungscredit  nur  wenig  ausgebildet  ist 
und  im  Verkehr  der  Vorschusscassen  Darlehen  mit  diesem  Charakter  von 
jenen  für  Investitionszwecke,  Ameliorationen  nicht  strenge  auseinander- 
gehalten werden.  Bei  letzteren  ist  aber  eine  dreimonatliche  Zahlungsfrist  zu 
gering  und  strömen  daher  die  Gegenwerte  trotz  kurzer  Laufzeit  der  Schuld- 
documente  doch  nur  in  den  seltensten  Fällen  sofort  nach  Fälligkeit  wieder 
in  die  Gassen  der  Genossenschaft  zurück,  werden  vielmehr  von  letzterer  den 
Schuldnern  gegen  Prolongation  oder  Neuausstellung  von  Wechseln  auch 
weiterhin  belassen.  Unter  solchen  Umständen  könnte  es  für  die  noch  wenig 
gekräfteten  Creditorganisationen  gewerblicher  und  landwirtschaftlicher  Pro- 
duction  von  folgenschweren  Störungen  begleitet  sein,  wenn  ihnen  die  im 
Reescompte  zur  Verfügung  gestellten  Mittel  alsbald  wieder  entzogen  würden 
und  müsste  zur  Vermeidung  solcher  PJventualitäten  schon  bei  Gewährung 
der  Darlehen    mit   dem    dauernden   Charakter  derselben    gerechnet  werden. 


Der  Clicckvcrkuhr  der  österreichiscliou  Pdatspareayse.  51 

Bios  widerspricht  aber  dem  Geiste  des  Gesetzes  vom  19.  November  1887, 
welches  mit  dem  Escomptegeschäfte  eine  bloss  vorübergehende  und  möglichst 
Üottunte  Veranlagung  des  momentan  entbehrlichen,  doch  jedei'zeit  der  Rück- 
zahlung ausgesetzten  Theiles  der  Einlagen  beabsichtigte. 

Bei  dieser  Sachlage  kommen  für  eine  eventuelle  Escomptierung  durch 
das  Postsparcassenamt  wohl  nur  solche  Wechsel  von  Vorschusscassen  in 
Betracht,  bei  welchen  es  sich  thatsächlich  um  einen  Zahlungscredit  handelt, 
und  erscheint  es,  da  die  Clientel  der  Vorschussvereine  vornehmlich  andere 
Credite  benöthigt.  fraglicli,  ob  sich  innerhalb  des  Rahmens  des  Postspar- 
cassengesetzes  vom  19.  November  1887  das  vom  wirtschaftlichen  Stand- 
punkte allerdings  wichtige  Problem  der  Geldbeschaffung  für  die  geweiblichen 
und  landwirtschaftlichen  Classen  in  einer  deren  Bedürfnissen  angepassten 
Weise  durchführen  lässt.  Für  Fälle  kurzfälliger  Zahlungscredite  bietet  das 
citierte  Gesetz  die  Grundlage  zur  PJscomptierung.  Hiebei  würde  durch  das 
Dazwischentreten  einer  die  Organisation  des  genossenschaftlichen  Credites 
bezweckenden  Institution  —  ähnlich  der  deutschen  Reichsgenossenschafts- 
bank —  die  Durchführung  wesentlich  erleichtert  werden  können. 

Ausser  dem  Escompte  ist,  wie  erwähnt,  im  Postsparcassengesetze  als 
leicht  realisierbare  Anlageform  die  Creditge Währung  gegen  Verpfändung 
von  Wertpapieren  vorgesehen.  Die  Pflege  derselben  im  Betriebe  des  Postspar- 
cassenamtes  wäre  vom  wirtschaftlichen  Standpunkte  wünschenswert,  haupt- 
sächlich für  den  Kleinverkehr,  In  letzterem  vermochte  sich  bisher  das  Lombard- 
geschäft noch  nicht  einzubürgern.  Die  grösseren  Posten  überwiegen,  zumal 
für  den  in  bescliränkten  Verhältnissen  Lebenden  und  die  breiteren  Schichten 
des  Mittelstandes  im  allgemeinen  die  Vorbedingungen  für  die  Inanspruch- 
nahme des  Lombardcredites  fehlen.  Zum  Theil  hängt  dies  wohl  damit 
zusammen,  dass  Staatswerte  und  Effecten  in  der  grossen  Masse  des  Publicums 
bisher  nur  geringe  Aufnahme  fanden.  Weniger  capitalskräftige  Personen  ent- 
scliliessen  sich  eben  nur  schwer,  die  Ersparnisse  in  Wertpapieren  zu  inve- 
stieren und  ziehen  eine  leicht  und  ohne  Rücksicht  auf  den  Ooursstand 
realisierbare  Veranlagung,  insbesondere  bei  Sparcassen,  dem  Besitze  an 
Effecten  vor.  In  dieser  Beziehung  hat  die  Postsparcasse  durch  Angliederung 
des  Eftectengeschäftes  an  den  Sparverkehr  wenigstens  rücksichtlich  der 
Staatspapiere  theilweise  Wandel  geschaffen  und  auch  den  minder  Bemittelten 
die  Anregung  zur  Erwerbung  solcher  Titres  geboten,  wodurch  für  die  Be- 
lehnung von  Effecten  kleiner  Leute  die  Basis  gegeben  erscheint. 

Das  für  die  Lombardierung  in  Betracht  kommende  Effectenmateriale 
würde  sich  nach  Eröffnung  dieses  Geschäftszweiges  voraussichtlich  noch 
vermehren,  da  erfahrungsgemäss  in  der  Möglichkeit,  jederzeit  unter  einfachen 
Modalitäten  einen  Vorschuss  zu  erhalten,  für  die  grosse  Masse  der  Sparer 
ein  mächtiges  Agens  liegt,  ihre  Ersparnisse  in  Staatswerte  umzuwandeln. 
Das  Beispiel  der  belgischen  Caisse  generale  d'epargne  zeugt  hiefür,  und  ist 
CS  gewiss  kein  zufälliges  Zusammentreffen,  wenn  bei  diesem  Institute, 
welches  das  Lombardgeschäft  in  ausgedehntem  Maasse  pflegt,  der  Stand  der 


52  Leth. 

für  Kechnung  der  Einleger  angekauften  Eflfectendepots^)  jenen  bei  den  übrigen 
Postsparcassen  weitaus  übersteigt. 

Audi  ein  weiterer  Umstand  beeinträchtigte  bisher  die  Entwicklung 
des  Lombardgeschäftes:  die  bei  kleinen  Beträgen  unverhältnismässige  Höhe 
der  Gebarungskosten.  Infolge  der  letzteren  wächst  im  allgemeinen  der  Zinsfuss 
in  umgekehrtem  Verhältnisse  zu  der  entlehnten  Summe.  Unter  solchen 
Umständen  erscheint  bei  geringfügigem  Effectenbesitze  und  insbesondere  bei 
nicht  verlosbaren  Titres  in  Fällen  des  Geldbedarfes  der  Verkauf  vielfach 
vortheilhafter  als  die  Belehnung.  Diesem  Momente  müsste  jede  auf  die 
Popularisierung  des  Lombardgeschäftes  gerichtete  Action  Rechnung  tragen. 
Es  würde  sich  darum  handeln,  bei  der  Verpfändung  kleiner  Titres  die  Spesen 
herabzumindern  und  hiedurch,  sowie  durch  Einfachheit  der  Belehnungs- 
modalitäten  die  Lombardierung  weiteren  Kreisen  zu  erschliessen.  In  dieser 
Richtung  wirkt  beim  Postsparcassenamte  der  Umstand  fördernd  ein,  dass 
im  Verkehr  mit  den  „Rentenbüchelbesitzern",  welche  für  das  Lombard- 
geschäft wohl  besonders  in  Betracht  kommen,  die  Durchführung  in  einfacher 
Weise  in  den  Vormerken  des  Amtes  erfolgen  könnte,  was  nur  geringe 
Kosten  verursacht. 

Bei  der  bisherigen  raschen  Entwicklung  der  Postsparcasse  und  ihrer 
Heranziehung  zu  verschiedenen,  der  ursprünglichen  Bestimmung  als  Spar- 
institut fern  gelegenen  Agenden  konnte  es  nicht  fehlen,  dass  über  die 
Functionen,  welche  ihr  im  wirtschaftlichen  Organismus  zufallen,  vielfach 
divergierende  Anschauungen  platzgreifen.  Demgegenüber  scheint  es  nicht 
ohne  Belang,  am  Schlüsse  der  vorliegenden  Studie  darauf  hinzuweisen,  dass 
auf  dem  Wege  rein  theoretischer  Untersuchungen  die  schliessliche  Aus- 
gestaltung einer  die  wirtschaftlichen  Verhältnisse  fördernden  Institution 
sich  wohl  kaum  vorausbestimmen  lässt.  Die  Vervollkommnung  einer  solchen 
Schöpfung  muss  den  wechselnden,  oft  nicht  vorhersehbaren  Bedürfnissen  der 
Zeit  zu  folgen  wissen. 

Darum  haben  wir  uns,  dem  Gewordenen  Rechnung  tragend,  darauf 
beschränkt,  von  dem  Ausbau  der  Postsparcasse  insofern  ein  Bild  zu  entwerfen, 
als  der  Geist,  welcher  aus  dem  bisherigen  Wirken  spricht,  Schlüsse  auf  die 
Richtung  gestattet,  in  welcher  die  Fortentwicklung  sich  in  nächster  Zeit 
bewegen  könnte  und  vielleicht  auch  sollte.  Hiebei  würde  auch  weiterhin 
die  vornehmste  Aufgabe  des  Postcheckinstitutes  in  der  creditwirtschaftlichen 
Organisation  des  Zahlungsprocesses  und  in  der  Veraligemeinung  des  Ausgleichs- 
verfahrens in  breiteren  Schichten  der  Volkswirtschaft  zu  suchen  sein. 


0  Umsatz  im  Lombard  im  Jahre   1897  ....      94,408.200  Frcs. 

Höhe  der  Lombarddarlehen  Ende  1897  ....      25,639.030     „ 

Umsatz  im  Staatspapiergeschäft     1897  ....      54,993.900     „ 

Depots  im  Staatspapiergeschäft      1897  ....  139,931.700    „ 


DIE  THEORETISCHEN  GRUNDLAGEN  DER 
DOPPELTEN  BUCHHALTUNG. 


VON 


PROFESSOK  GUSTAV  SEIDLEE. 


u  0  e  t  h  e  lässt  seinen  WilhelmMeister  die  doppelte  Buchhaltung 
als  eine  der  schönsten  Erfindungen  des  menschlichen  Geistes  preisen.  Und 
zwar  gehört  sie,  wie  sofort  hinzugefügt  werden  soll,  zu  jenen  Erfindungen, 
die  mit  einemmale  fertig  vor  uns  stehen,  ohne  dass  wir  wissen,  wie  'sie 
entstanden  und  woher  sie  gekommen,  und  bei  denen  die  menschliche 
Intuition,  ohne  sich  um  theoretische  Gründe  zu  kümmern,  rein  von  prak- 
tischen Bedürfnissen  geleitet,  das  Kichtige  getroffen  hat.  Schon'  die  erste 
Bearbeitung,  welche  sich  selbst  die  Aufgabe  stellt,  eine  Beschreibung  der 
bereits  in  Uebung  befindlichen  Kunst  der  Kaufleute  Italiens  zu  geben,  zeigt 
uns  die  doppelte  Buchhaltung  wesentlich  in  denjenigen  Formen,  die  heute 
noch  in  allgemeiner  Anwendung  stehen.^)  So  auffallend  dies  auf  den  ersten 
Blick  erscheinen  mag,  so  ist  es  doch  ganz  erklärlich,  wenn  man  erwägt, 
dass  die  Grundtypen  der  doppelten  Buchhaltung  von  Zeit  und  Ort  unab- 
hängige logische  Kategorien  sind.  Viel  merkwürdiger  ist  es  dagegen,  dass 
auch  die  Methode  der  Behandlung  des  Gegenstandes,  die  bei  P  a  c  i  o  1  i  in  der 
blossen  Darstellung  der  Buchhaltungsregeln  besteht,  in  den  Werken  über 
doppelte  Buchhaltung,  deren  Zahl  in  allen  Cultursprachen  eine  unübersehbare 
ist,  sich  im  grossen  und  ganzen  nur  wenig  geändert  und  dass  man  erst  in 
unseren  Tagen  das  Bedürfnis  empfunden  hat,  das  Kind  der  Praxis  auch 
theoretisch  zu  erklären.  Allein,  da  es  bisher  nicht  gelungen  ist,  eine  befrie- 
digende theoretische  Erklärung  zu  finden,  hat  man  die  Theorie  mehr  als 
Beiwerk  und  Aufputz  behandelt  und  ist  wacker  in  den  überkommenen  Bahnen 
weiter  gewandelt,  praktische  Buchungsregeln  ohne  innere  Beziehung  zu  den 
theoretischen  Grundlagen  zu  geben. 2) 

*)  Es  ist  dies  das  1494  erschienene  Werk  des  Franziskaners  Luca  Pacioli  aus 
Burgo  di  San  Sepulcro  „Summa  de  arithmetica,  geometria,  proporzioni  e  proporzionalita", 
welches  in  einem  Abschnitt  die  doppelte  Buchhaltung  nach  jener  Methode,  wie  sie  in 
Venedig  in  Uebung  stand,  enthält. 

^)  Hiefür  bietet  das  sonst  sehr  verdienstvtdle  Werk  von  Reisch  und  Kreibig 
über  Bilanz  und  Steuer  ein  überaus  lehrreiches  Beispiel.  Obgleich  das  Werk  vornehmlich 


54 


Seidler. 


Der  eben  gerügte  Mangel  hat  weit  grösseres  Unheil  angerichtet,  als 
man  auf  den  ersten  Blick  vermuthen  möchte.  Einmal  in  pädagogischer 
Beziehung.  Ausserstande,  die  Avissenschaftliche  Erklärung  der  Buchungs- 
regeln zum  Ausgangspunkte  zu  nehmen,  sah  sich  die  Lehre  der  doppelten 
Buchhaltung  auf  den  dornenvollen  Weg  der  praktischen  Eoutine  gedrängt, 
der  trotz  grosser  Opfer  an  Zeit  und  Kräften  doch  niemals  den  sicheren 
Erfolg  eines  theoretisch  fundierten  Könnens  zu  gewährleisten  vermag. 
Zweitens  in  der  Auffassung  des  Gegenstandes  selbst.  Zum  Zwecke  einer 
leichteren  Darstellung  der  in  ihrem  Wesen  unverstandenen  buchhalterischen 
Formen  sah  man  sich  genöthigt,  zu  Fictionen  zu  greifen,  die  man  sich 
und  anderen  solange  vordeclamierte,  bis  man  sie  für  Wirklichkeit  hielt, 
wodurch  eine  heillose  Verwirrung  der  elementarsten  Begriffe  hervorgerufen 
wurde.  Von  dieser  Verwirrung  hat  sich  auch  die  praktische  Juristenwelt, 
wenn  sie  beruflicli  gezwungen  war,  dem  Gegenstande  näher  zu  treten, 
nicht  frei  zu  halten  vermocht.  So  konnte  sich,  um  einen  besonders  crassen 
Fall  hervorzuheben,  in  Berlin  im  Jahre  1888  das  Unglaubliche  ereignen, 
dass  ein  Gerichtsliof  das  Actiencapital,  weil  es  auf  der  Passivseite  der 
Vermögensbilanz  zu  stehen  kommt,  thatsächlich  als  ein  Passivum  angesehen 
und  eine  Gesellschaft  deshalb  in  Concurs  erklärt  hat,  weil  bei  Einrechnung 
des  Actiencapitales  unter  die  Passiven  die  letzteren  in  den  Activen  keine 
Deckung  mehr  fanden.^) 

Dieser  Zustand  der  Lehre  hat  in  den  weitesten  Kreisen  die  Vorstellung 
hervorgerufen,  dass  das  Verständnis  der  doppelten  Buchhaltung  nur  mit 
Ueberwindung  grosser  Schwierigkeiten  erworben  werden  könne,  deshalb  vor 
dem  Studium  abgeschreckt  und  so  auf  die  Verbreitung  der  Lehre  geradezu 
hemmend  gewirkt.  Und  doch  ist  die  doppelte  Buchhaltung,  wenn  man  einmal 
das  Wesen  derselben  erfasst  hat,  eine  ebenso  klare  und  zweckmässige,  wie 
interessante  und  geistvolle,  praktische  Erfindung. 

Die  folgenden  Ausführungen  haben  sich  die  Aufgabe  gesetzt,  die 
Einrichtungen  der  doppelten  Buchhaltung  überall  auf  ihre  letzten  Gründe 
zurückzuführen,  um  hiedurch  ein  sicheres  Fundament  zu  schaffen,  auf  dem 
die  praktische  Lehre  in  leicht  fasslicher  Weise  aufgebaut  werden  kann, 
und  um  auch  denjenigen  Kreisen  das  volle  Verständnis  des  Gegenstandes 
zu  erschliessen,  welche,  ohne  in  der  Buchführung  praktisch  thätig  zu  sein, 
sich  doch  auf  Grund  eigener  Erkenntnis  ein  Urtheil  bilden  wollen.  Es  handelt 


für  ein  juristisch  geschultes  Lesepublicum  geschrieben  ist,  bilden  die  theoretischen 
Darlegungen  doch  nicht  das  Fundament  der  ganzen  Lehre,  sondern  folgen  der  Dar- 
stellung der  Buchungsregeln  als  „nähere  Erläuterungen  theoretischen  Inhaltes"  nach,  über 
welche  die  Autoren  selbst  die  Meinung,  aussprechen,  dass  sie  „allerdings  zur  flüchtigen 
Erfassung  und  praktischen  Handhabung  der  Buchungsregeln  nicht  unbedingt  erforderlich 
sind  und  von  diesem  Gesichtspunkte  aus  daher  auch  einfach  überschlagen  worden  können". 
Welche  Verkennung  des  Verhältnisses  zwischen  Theorie  und  Praxis!  Eine  zutreffende 
theoretische  Grundlegung  muss  der  Schlüssel  des  wahren  Verständnisses  sein,  dessen 
Benützung  unter  allen  Umständen  geboten  ist,  und  dessen  Beiseitesetzung  von  keinem 
Gesichtspunkte  aus  gerechtfertigt  werden  kann. 

')  H.  V.  Simon,  Die  Bilanzen  der  Actiengesellscliaften  etc.  '2.  Aufl.  S.  .ST. 


Die  theoretischen  Grundlagen  der  doppelten  Buchhaltung.  55 

sich  hiebei  nur  um  die  Formenlehre  der  Buchhaltung  in  engerem  Sinne. 
Die  Lehre  von  der  Schätzung  der  Güter  bei  Aufstellung  der  Bilanz  bleibt 
als  selbständiges  wissenschaftliches  Problem  von  der  folgenden  Darstellung 
ausgeschlossen. 

Die  doppelte  Buchhaltung  ist  eine  specifisch  gestaltete  Methode  der 
Buchführung,  und  es  ist  daher  geboten,  vorerst  sich  über  das  Wesen,  die 
Zwecke  und  die  Bedeutung  der  Buchfülirung  im  allgemeinen  klar  zu  werden. 
Ihren  ursprünglichsten  Grund  findet  die  Buchführung  in  dem  primitivsten 
Zwecke  aller  Aufschreibung,  d.  i.  die  Festhaltung  von  Thatsachen  durch 
die  Schrift,  um  sie  vor  Vergessenheit  zu  bewahren.  Diesen  Zweck  könnte 
die  Buchführung  durch  eine  einfache  chronologische  Registrierung  der 
Gescliäftsfalle  erreichen.  Die  eigentliche,  weit  höhere  Aufgabe  derselben  ist 
aber  darin  gelegen,  die  Aufschreibung  der  Geschäftsfälle  in  der  Weise 
methodisch  und  systematisch  zu  ordnen,  dass  man  daraus  auch  bei  einem 
complicierten  Wirtschaftsbetriebe  Einsicht  in  die  Grösse  der  verschiedenen 
Kategorien  des  Vermögens,  den  Gang  des  Betriebes  und  die  wirtschaftliche 
Leistungsfähigkeit  der  einzelnen  Betriebszweige  wie  des  ganzen  Unternehmens 
zu  gewinnen  imstande  ist.  Unabhängig  von  den  Formen  irgend  eines 
speciellen  Systems  hat  demnach  jede  Buchführung  das  in  dem  Unternehmen 
verwendete  Capital  in  der  Art  zur  Nachweisung  zu  bringen,  dass  in  Ueber- 
einstimmung  mit  der  Organisation  und  Gliederung  des  Unternehmens  die 
bei  jedem  Betriebszweige  in  Function  stehenden  Vermögensbestandtheile 
ersehen  und  in  einer  mit  dem  Betriebe  selbst  gleichmässig  fortschreitenden 
Weise  alle  Geschäftsfälle  (d.  h.  Thatsachen,  welche  eine  Veränderung  des 
Vermögens  bewirken)  in  einer  solchen  systematischen  Ordnung  verzeichnet 
werden,  dass  das  System  des  Wirtschaftsbetriebes  gleichzeitig  das  System 
der  Buchführung  bildet.  Es  leuchtet  ein,  dass  die  Einrichtung  des  Systemes 
der  Buchführung  der  wichtigste,  aber  auch  der  schwierigste  Theil  jeder 
Buchhaltung  ist,  und  dass  diese  Aufgabe  nur  von  demjenigen  gelöst  werden 
kann,  der  das  System  des  Betriebes  vollkommen  beherrscht.  Die  Führung  der 
Bücher  im  Rahmen  des  einmal  festgestellten  Systems  ist  dann  eine  relativ 
weit  leichtere  Aufgabe. 

IL 

Als  oberstes  Princip  der  doppelten  Buchhaltung,  von  dem  das  ganze 
System  den  Namen  führt,  erscheint  der  Satz,  dass  jeder  Geschäftsfall  in 
doppelten  Posten  zu  verrechnen  ist.  Der  letzte  Grund  dieser  Buchungsmethode 
ist  darin  gelegen,  dass  jeder  Geschäftsfall  ökonomisch  die  Umänderung 
einer  Wertform  (A)  in  eine  andere  Wertform  (B)  bedeutet,  woraus  sich  von 
selbst  für  die  Buchführung  die  Folgerung  ergibt,  jeden  Geschäftsfall  in  der 
Rechnung  beider  Wertformen  in  Evidenz  zu  halten,  oder  was  dasselbe  ist, 
in  doppelten  Posten   zur  Aufschreib img  zu  bringen.^)   Li  der  Rechnung 

^)  Diese  Erkenntnis  des  Grundes  der  doppelten  Verrechnung  jedes  Geschäfts- 
falles wurde  wohl  schon  wiederholt  ausgesprochen.  So  in  der  französischen  Literatur  von 
Ltiautey.   Giiilbault,   Gomberg,   welche   darin  das  wissenschaftliche  Grundgesetz  der 


56 


Seidler. 


der  einen  Wertform  ist  eine  Vermehrung,  in  der  Rechnung  der  andern  eine 
Verminderung  zu  verzeichnen.^)^) 

Während  dieser  Erklärungsgrund  bei  der  Anschaffung  und  Veräusserung 
von  Sachgütern  von  selbst  einleuchtet,  scheint  er  bei  Betriebsausgaben  und 
Einnahmen  an  Arbeitslohn,  Miete,  Capitalzins  etc.  zu  versagen.  Allein 
bei  näherer  Ueberlegung  ist  es  ausser  Frage,  dass  es  sich  auch  bei  diesen 
um  Anschaffung  und  Veräusserung  von  ökonomischen  Werten  nicht  sachlicher 
Natur,  wie  Arbeitskräfte,  Mietrecht,  Capitalsnutzung  u.  dgl.  m.  handelt. 

in. 

Von  rein  formaler  Bedeutung  ist  es  hiebei,  dass  die  Rechnungen  der 
einzelnen  Wertformen  als  Rechnungen  personificierter  Wesen  dargestellt 
werden,  welche  für  die  empfangenen  Werte  als  Schuldner  belastet  (debitiert), 
für  die  abgegebenen  Werte  als  Gläubiger  gutgeschrieben  (creditiert) 
werden.^)  Soll  und  Haben  als  die  beiden  Seiten  jedes  Conto  sind  daher 
nichts  anderes,  als  specifische  Formen  der  Quantitätsverrechnung  der 
bezüglichen  Werte. 

In  Uebereinstimmung  mit  dieser  formalen  Beschaffenheit  der  Conti 
erscheint  in  der  doppelten  Buchhaltung  jeder  Geschäftsfall  als  Empfang 
eines  gewissen  Wertes  seitens  eines  Conto  von  einem  andern,  beziehungs- 
weise als  L  e  i  s  t  u  n  g  des  letzteren  an  den  ersteren.  Die  in  dem  empfangenden 
Conto  repräsentierte  Person  wird  Schuldnerin  der  in  dem  leistenden  Conto 
repräsentierten,  beziehungsweise  die  letztere  Gläubigerin  der  ersteren.  Man 
unterscheidet  demnach  bei  jedem  Geschäftsfall  einen  Conto-Debitor  und 
einen  Conto-Creditor.*)    Eine  Folge    der  Buchung  jedes    Geschäftsfalles   im 


Comptabilität  (das  sogeuannte  „loi  digraphique")  erblicken.  Ferner  ist  es  wohl  derselbe 
Gedanke,  wenn  Goldschmidt,  System  des  Handelsrechtes,  4.  Aufl.,  S.  108,  das  Princip 
der  doppelten  Buchhaltung  in  der  „Idee  der  Aequivalente"  findet.  Allein  es  wurde  bisher 
noch  nicht  der  Versuch  gemacht,  wie  es  im  folgenden  geschieht,  diesen  Erklärungsgrund 
bei  allen  Kategorien  der  Conten,  insbesondere  auch  bei  den  Erfolgsconten  aufrecht- 
zuhalten. Einige  Schriftsteller  haben  denselben  ausdrücklich  auf  die  Conten  der  Ver- 
mögensbestandtheile  eingeschränkt  und  für  die  übrigen  Conten  nach  einem  andern 
Erklärungsgrund  gesucht.  So  insbesondere  auch  Reisch  und  Kreibig  a.  a.  0. 

^)  Aus  dem  gekennzeichneten  Wesen  der  Geschäftsfälle  ergibt  sich,  dass  jedes 
vollständige  System  der  Buchführung  in  doppelten  Posten  verrechnen  muss.  Dies  ist  auch 
thatsächlich  bei  dem  zweiten  System  der  Buchführung,  das  neben  der  doppelten  Buch- 
haltung existiert,  bei  der  sogenannten  cameralistischen  Verrechnung  der  Fall,  nur  in 
anderen  Formen.  Es  würde  zu  weit  führen,  dies  hier  im  einzelnen  nachweisen  zu  wollen. 
Die  sogenannte  einfache  Buchhaltung  ist  kein  selbständiges  System  der  Buchführung, 
sondern  unvollständige  doppelte  Buchhaltung. 

2)  Aus  dem  in  der  Anmerkung  ^)  angeführten  Grunde  ist  der  Name  der  doppelten 
Buchhaltung  eigentlich  kein  berechtigter,  weil  nicht  ausschliesslich  dieses  System  in 
doppelten  Posten  verrechnet.  Allein  die  doppelte  Buchhaltung  hatte  diesen  Namen  schon, 
ehe  die  cameralistische  Buchführung  entstanden  war. 

^)  Für  Rechnung  ist  in  der  doppelten  Buchhaltung  allgemein  der  italienische 
Ausdruck  „Conto"  üblich  und  soll  daher  im  folgenden  überall  gebraucht  werden. 

*)  Dieser  Zusammenhang  der  beiden  Conti  kommt  formal  darin  zum  Ausdruck, 
dass  bei  Eintragung  eines  Geschäftsfalles   auf  der  Sollseite   des  Conto-Debitor  der  cor- 


Die  theoretischen  Grundlagen  der  doppelten  Buchhaltung.  57 

Soll  und  Haben  je    eines  Conto    ist  die   Gleichheit   der  Soll-   und  Haben- 
summe des  ganzen  Hauptbuches. 

IV. 

Es  ist  das  Wesen  jedes  Wirtschaftsbetriebes,  durch  Umgestaltung  der 
vorhandenen  Werte  einen  Ertrag  zu  erzielen.  Dieser  Vorgang  vollzieht  sich 
ganz  allgemein  in  der  Weise,  dass  Werte  im  Betriebe  der  Wirtschaft 
consumiert  und  an  ihrer  Stelle  neue  Werte  produciert  werden , 
wobei  das  Plus  der  producierten  über  die  consumierten  Werte  den  Kein- 
ertrag  ausmacht.  Naturgemäss  muss  dieser  Vorgang  in  den  Conten,  in 
welchen  die  Werte  verrechnet  werden,  einen  sichtbaren  Ausdruck  finden. 
Werte,  die  bei  ihrer  Erwerbung  in  das  Soll  der  betreffenden  Conten  ein- 
gestellt wurden,  verschwinden,  neue  Werte,  die  im  Wirtschaftsbetriebe 
produciert  werden,  kommen  im  Haben  der  betreffenden  Conten  zum  Vor- 
schein. Je  nach  dem  Antheil,  welchen  die  verschiedenen  Kategorien  der 
Wertformen  an  diesem  Vorgange  haben,  sind  die  folgenden  Kategorien  von 
Conten  zu  unterscheiden : 

1.  Die  Conten  zur  Verrechnung  solcher  Werte,  die  im  Betriebe  der 
Wirtschaft  gänzlich  consumiert,  beziehungsweise  vollständig  neu  pro- 
duciert werden.  Zu  diesen  Werten  gehören:  a)  die  Kohstoffe  und  Mate- 
rialien, welche  einem  Productionsprocesse  mit  ihrer  Substanz  zugesetzt  werden, 
beziehungsweise  die  im  Productionsprocesse  erzeugten  Güter;  h)  persönliche 
Arbeitskräfte  und  Nutzungen,  die  für  den  Betrieb  erworben,  beziehungsweise 
von  demselben  veräussert  werden.  Da  die  consumierten  und  producierten 
Werte  die  unmittelbaren  Elemente  des  Eeinertrages  sind,  so  ist  die 
Bezeichnung  dieser  Kategorie  von  Conten  als  Ertrags-  oder  Erfolgs- 
conti  ganz  passend.^)  Die  einzelnen  Conti  zur  Verrechnung  der  sub  a)  ange- 
führten Werte  werden  nach  dem  Productionsprocesse  als  Fabricationsconto, 
Ackerbauconto  u.  dgl.  m.,  die  Conti  der  sub  h)  angeführten  Werte  entweder 
gleichfalls  nach  dem  Productionsprocesse,  beziehungsweise  allgemeiner  nach 
dem  Betriebszweige,  zu  welchem  sie  gehören,  oder,  falls  sie  auf  besonderen 
Conten  verrechnet  werden,  nach  dem  Eechtsgrunde  ihrer  Erwerbung,  bezw. 
Veräusserung  als  Lohnconto,  Mietzinsconto,  Interessenconto  u.  dgl.  m.  benannt.^) 


respondierende  Conto-Creditor  unter  Vorsetzung  des  Wörtchens  „an''',  hei  Eintragung  auf 
der  Habenseite  des  Conto-Creditor  der  correspondierende  Conto-Dehitor  unter  Vorsetzung 
des  Wörtchens  „per"  an  die  Spitze  des  zu  buchenden  Textes  gestellt  wird.  Es  ist  dies 
nichts  anderes,  als  die  summarische  Ausdrucksweise  dafür,  dass  der  Conto-Debitor  an 
den  Conto-Creditor  schuldet,  beziehungsweise  dass  der  Conto-Creditor  bei  dem  Conto- 
Debitor  zu  fordern  hat.  Form  und  Inhalt  eines  Conto  haben  daher  allgemein  folgendes 
Schema. 

Conto : 


Haben 
Wertabgcänge  =  Forderungen  des  Conto 
bei  dem  correspondierenden  Conto-Debitor 
^)  Auch  die  Bezeichnung  „Betriebsconti"  steht  vielfach  in  Anwendung. 
2)  Der  Umstand,  dass  die  im  Soll  der  p]rfolgsconti  verrechneten  Werte  im  Betriebe 
consumiert   werden    und    demgemäss    von    ihren  Conten   verschwinden,  ohne  dass  sie  an 


Soll 
Wertzugänge  =  Schulden  des  Conto  an 
den  correspondierenden  Conto-Creditor 


58  Seidler. 

2,  Die  Conten  zur  Verrechnung  solclier  Werte,  deren  Bestände  im 
Wirtschaftsbetriebe  weder  eine  Wertsteigeriing,  noch  eine  Wertverringerung 
erfahren.  Sie  bilden  den  diametralen  Gegensatz  zu  den  Erfolgsconten,  und 
als  ihr  Hauptvertreter  erscheint  das  Conto  des  Bargeldes,  das  sogenannte 
Cassaconto. 

Diese  Conti  werden  mit  Rücksicht  darauf,  dass  sie  ausschliesslich 
die  Quantitäten  (die  Bestände)  ihrer  Wertformen  zur  Nachweisung  bringen, 
zutreftend  als  Besta  n  ds  conti  bezeichnet.^)  Nur  der  Cassaconto  gehört 
absolut  in  diese  Kategorie  der  Conten,  weil  nur  beim  Gelde  Quantität 
und  Wertgrösse  sich  immer  decken.  Bei  allen  andern  Werten  ausser  dem 
Bargeld  ist  die  Möglichkeit  gegeben,  dass  sie  im  Verhältnis  zum  Gelde, 
als  dem  allgemeinen  Wertmesser,  im  Laufe  der  Betriebsperiode  eine  Wert- 
steigerung oder  eine  Wertverringerung  erfahren.  Es  ist  daher  die  Zuge- 
hörigkeit zu  den  Bestandsconten,  abgesehen  vom  Cassaconto,  eine  nur 
relative,  die  im  concreten  Falle  festgestellt  werden  muss.  Die  Benennung 
der  einzelnen  Bestandsconten  erfolgt  nach  dem  Namen  der  in  ihnen  verrechneten 
Sachen  und  sonstigen  Vermögensbestandtheile. 

3.  Die  Conten  zur  Verrechnung  solcher  Werte,  «leren  Bestände  im 
Laufe  der  Betriebsperiode  eine  Wertsteigerung,  beziehungsweise  eine  Wert- 
verringerung erfahren.  Sie  vereinigen  in  sich  die  Function  der  Bestandsconten, 
die  Quantitätsverrechnung  der  betreifenden  Wertformen  nachzuweisen,  und 
die  Function  der  Erfolgsconten,  consumierte  beziehungsweise  producierte 
Werte  zur  Nachweisung  zu  bringen.  Sie  führen  daher  mit  Eecht  den  Namen 
vereinigte  Bestands-  und  Erfolgsconti  oder  auch  kurz  gemischte 
Conti.  Wie  schon  im  vorhergehenden  bemerkt  wurde,  ist,  abgesehen  vom 
Cassaconto,  die  Zugehörigkeit  eines  Conto  zu  dieser  Kategorie  oder  zu  den 
reinen-)  Bestandsconten  im  concreten  Falle  festzustellen.   Die  wichtigsten 

einen  andern  Conto  abgegeben  worden  wären,  beziehungsweise  dass  die  im  Haben  dieser 
Conti  verrechneten  Werte  im  Betriebe  produciert  werden  und  deragemäss  in  ihren  Conten 
zum  Vorschein  kommen,  ohne  dass  sie  von  einem  andern  Conto  übergeben  worden 
wären,  hat  den  oben  angegebenen  Erklärungsgrund  der  doppelten  Verrechnung  der 
Geschäftsfälle  bei  diesen  Conten  verdunkelt.  Man  erblickte  in  den  Betriebsausgaben  nicht 
erworbene  Werte,  sondern  von  vorneherein  Capitalsvcrminderungen,  beziehungsweise  in 
den  Betriebseinnahmen  nicht  veräusserte  Werte,  sondern  von  vorneherein  Capitalsver- 
mehrungen,  und  sah  sich  deshalb  gezwungen,  die  mehrfach  angeführte  Buchungsregel, 
dass  die  Wertzugänge  im  Soll,  die  Wertabgänge  im  Haben  zu  verrechnen  seien,  bei  den 
Erfolgsconten  in  ihr  Gegentheil  umzukehren.  So  insbesondere  nach  dem  Vorgange  von 
Hügli  auch  E  ei  seh  und  Kreibig  a.  a.  0.  Sobald  man  aber  erkannt  hat,  dass  die  im 
Soll  dieser  Conti  verrechneten  Werte  im  Betrieoe  consumiert,  die  im  Haben  derselben 
verrechneten  Werte  im  Betriebe  produciert  werden,  so  stimmt  die  allgemeine  Buchungs- 
regel auch  für  diese  Conti.  Im  Soll  werden  die  im  Betriebe  zu  consumierenden  Wert- 
zugänge, im  Haben  die  im  Betriebe  produtierten  Wertabgänge  gebuclit. 

')  Die  Bezeichnung  „Sachenconti",  die  bisweilen  angewendet  wird,  ist  nicht 
zutreffend,  weil  auch  nicht  sachliche  Vermögensbestandtheile  in  dieser  Kategorie  von 
Conten  verrechnet  werden. 

^)  Im  Gegensatze  zu  den  vereinigten  Bestands-  und  Erfolgsconten  spricht  man 
von  reinen  ncstanilsconton  einerseits,  von  reinen  Erfolgsconten  anderseits. 


Die  theorotischcn  Grundlagen  der  doppelten  Bnehlialtnng-.  59 

Conti  (lieser  Art  sind  die  Warenconti.  bei  denen  die  Verschiedenheit 
des  Einkaufs-  und  Verkaufspreises,  sowie  die  durch  die  Conjunctur  bewirkten 
Preisschwankungen  Wertsteigerungen  oder  Wertverminderungen  hervorrufen, 
und  die  Conti  zur  Verrechnung  solcher  Gebrauchsgegenstände,  welche  durch 
Abnützung  eine  Werteinbusse  erleiden. 

4.  Eine  besondere  Unterabtheilung  der  Bestandsconti  sind  die  Conti 
zur  Verrechnung  von  Forderungen  und  Schulden,  bei  welchen,  wie  gleich 
bemerkt  werden  soll,  für  die  Person  jedes  Gläubigers  und  Schuldners  ein 
besonderes,  mit  dem  Xaraen  derselben  bezeichnetes  Conto  errichtet  wird, 
woher  diese  Art  von  Conten  die  Benennung  „Personenconti"  führt. 

Es  ist  logisch  nicht  gerechtfertigt,  die  Personenconti  als  eine  besondere 
Kategorie  der  Conti  darzustellen,  da  sie  nichts  anderes  sind,  als  eine 
Unterabtheilung  der  Bestandsconti,  und  es  geschieht  hier  nur  im  Ausschluss 
an  die  allgemeine  Uebung. 

Insoferne  Personenconti  durch  Insolvenz  der  Schuldner  eine  Wertver- 
minderung erleiden,  gehören  sie  in  die  Kategorie  der  gemischten  Conti, 
beziehungsweise  bei  gänzlicher  Uneinbringlichkeit  der  Forderungen  in  die 
Kategorie  der  reinen  Erfolgsconti. 

Eine  eigenthümliche  Verquickung  von  Erfolgs-  und  Bestandsconten 
beziehungsweise  von  Erfolgs-  und  Personenconten  entsteht  dadurch,  dass 
auf  Erfolgsconten  Dienstleistungen  und  Nutzungen  nicht  nur  der  laufenden, 
sondern   auch   künftiger  Betriebsperioden  zugleich  verrechnet  werden. 

Man  nehme  den  Fall  einer  für  mehrere  Jahre  im  vorhinein  entrichteten, 
beziehungsweise  erhaltenen  Miete,  welche  auf  Mietzinsconto  gebucht  wird. 
Insoferne  in  dem  Conto  die  Miete  des  laufenden  Jahres  verrechnet 
wird,  ist  es  Erfolgsconto,  insoferne  in  demselben  die  Miete  der  folgenden 
Jahre  verrechnet  wird,  ist  es  Bestands-,  beziehungsweise  Personenconto,  das 
den  Anspruch  auf  die  Nutzung,  beziehungsweise  das  die  Verpflichtung  zur 
Gewährung  der  Nutzung  für  die  folgenden  Jahre  nachweist.^) 


Es  wurde  bereits  an  früherer  Stelle  bemerkt,  dass  die  Einrichtung  des 
Systems  der  Buchführung,  d.  i.  die  Feststellung,  welche  Conten  zum  Behufe 
einer  entsprechenden  Gruppierung  der  einzelnen  Geschäftsfälle  zu  eröffnen 
sind,  in  Uebereinstimraung  mit  dem  System  des  Wirtschaftsbetriebes  zu 
erfolgen  und  sodann  die  Grundlage  der  Verrechnung  zu  bilden  hat.  So 
verschieden  das  System  des  Wirtschaftsbetriebes,  so  verschieden  ist  daher 
auch  das  System  der  Conten  des  Hauptbuches,  das  sogenannte  Conten. 
Schema.  Insoferne  die  Buchhaltung  die  Quantitätsverrechnung  der  ver- 
schiedenen Wertformen  enthält,  ist  das  Princip  der  Contenbildung  von  selbst 
gegeben.  Für  jede  besondere  Gattung  von  Vermögensbeständen,  beziehungs- 


^)  Das  wichtigste  Beispiel  derartiger  Conten,  die  man  als  Anticipationsconten 
bezeichnet,  bietet  das  Prämienconto  bei  Lebensversicherungsanstalten.  Die  gleiche  Höhe 
der  Prämie  während  der  ganzen  Versicherungsdauer  trotz  Ungleichheit  der  Gefahr 
bedeutet  nichts  anderes,  als  Vovansbez;ihlung  eines  'J'heiles  der  Prämien  künftig 'v  .Ta^rf^. 


60 


Seidler. 


weise  für  jede  Person,  die  als  Gläubiger  oder  Schuldner  mit  dem  Unternehmen 
in  Beziehung  tritt,  ist  ein  besonderes  Conto  zu  eröffnen,  wobei  es  selbst- 
redend keinen  Unterschied  macht,  wenn  diese  besonderen  Conti  in  Hilfsbüchern 
geführt  werden,  deren  Ergebnisse  im  Hauptbuche  summarisch  zusammen- 
gefasst  werden.^) 

Anders  verhält  es  sich  mit  der  Schematisierung  der  Erfolgsconti.  Da 
diese  die  Elemente  des  Eeinertrages  enthalten,  so  hängt  es  von  dem  Maasse 
der  Specialisierung  derselben  ab,  inAvieferne  die  Buchhaltung  die  Leistungs- 
fähigkeit der  einzelnen  Betriebszweige  neben  dem  Gesammtertrage  des  Unter- 
nehmens zur  Nachweisung  zu  bringen  imstande  ist.  Hier  müssen  vor 
allem  die  generellen  Erfolgsconti,  welche  den  Gesammtbetrieb  der 
Wirtschaft  betreffen,  von  den  speciellen  geschieden  werden,  die  sich  auf 
einzelne  Betriebszweige  erstrecken.  Die  speciellen  Erfolgsconti  sind  wieder 
einerseits  nach  der  Verschiedenheit  der  einzelnen  Betriebsstadien  innerhalb 
eines  Betriebszweiges,  anderseits  nach  der  Verschiedenheit  der  consumierten 
und  producierten  Wertformen  unterabzutheilen.  Allgemeine  Kegeln  für  die 
Art  und  das  Maass  der  Specialisierung  lassen  sich,  wie  von  selbst  einleuchtet, 
nicht  aufstellen.  Es  ist  Sache  der  Erfahrung,  im  individuellen  Falle  die 
richtige  Mitte  zu  finden,  welche  ebenso  weit  entfernt  ist  von  der  Nivellierung 
belangreicher  Verschiedenheiten  durch  zuweit  gehende  Generalisierung,  wie 
von  der  Auflösung  jeder  übersichtlichen  Gruppierung  durch  zuweit  gehende 
Specialisierung. 

Ein  selbständiges  Princip  für  die  Gliederung  der  Kechnungsbücher  ist 
in  der  Organisation  der  Wirtschaftsleitung  gegeben.  Die  Theilung  der  Ver- 
waltung der  einzelnen  Betriebszweige  unter  mehrere  selbständige,  verantwortliche 
Organe  bringt  naturgemäss  auch  eine  entsprechende  Gliederung  der  Rechnungs- 
bücher mit  sich,  deren  Resultate  von  der  Centralbuchhaltung  zusammen- 
gefasst  werden  müssen. 


I 


VI. 

Im  Soll  und  Haben  jedes  Conto  befinden  sich  gleichartige,  einander 
entgegengesetzte  Grössen,  und  zwar,  wie  dargethan  wurde,  Wertzugänge  und 
Wertabgänge  einerseits,  positive  und  negative  Elemente  des  Reineitrages 
anderseits.  Die  Difterenz  der  Soll-  und  Habensummen  der  Conten  zeigt 
daher  einerseits  Quantitäten  der  verschiedenen  Wertformen,  anderseits 
positive,  beziehungsweise  negative  Elemente  des  Reinertrages  der  verschiedenen 
Betriebszweige  und  ihrer  ünterabtheilungen.  Die  Ermittlung  dieser  Differenzen 
wird  naturgemäss  nach  Ablauf  jeder  Betriebsperiode  erfolgen  müssen,  wenn 
es  sich  darum  handelt,  die  Ergebnisse  des  Betriebes  in  der  Verrechnung 
aufzuweisen.  Hiebei  geschieht  die  Darstellung  der  Differenzen  in  den  ein- 
zelnen ContenTganz  allgemein  in  der  Form,  dass  diese  Differenzen  unter 
der  Benennung  „Saldo"  als   letzter  Posten    auf   die    Seite    der    kleineren 


1)  Solche  Hilfsbücher  werden  regelmässig  für  die  Conti  der  verschiedenen  Gattungen 
von  Waren,  sowie  für  die  Conti  der  einzelnen  Geschäftsfreunde  geführt. 


Die  theoretischen  Grundlagen  der  doppelten  Buchhaltung.  Ql 

Summe  eingestellt  werden,  wodurch  die  Gleichheit  der  Summen  beider 
Seiten  herbeigeführt  wird.^) 

Offenbar  bilden  diese  Saldoposten  die  Elemente  zur  Aufstellung  von 
Uebersichten  des  Gesaramtvermögens  und  des  Gesammtertrages  des  Unter- 
nehmens nach  Ablauf  der  Betriebsperiode,  in  gleicher  Weise,  wie  die 
anfänglichen  Wertbestände  der  Bestands-  und  Personenconten  die  Elemente 
des  anfänglichen  Gesaramtvermögens  ausmachen.  Es  bedeutet  nämlich  der 
Saldo  eines  Bestandsconto  den  schliesslichen  Bestand  der  betreffenden 
Vermögenskategorie,  der  Saldo  eines  Personenconto  die  schliessliche  Forderung, 
beziehungsweise  Schuld  gegenüber  der  betreffenden  Person,  der  Saldo  eines 
Erfolgsconto  '  den  Ertrag  oder  die  Einbusse  des  betreffenden  Betriebs- 
zweiges.^) 

Es  erübrigt  nunmehr,  die  Art  und  Weise,  in  welcher  die  zusammen- 
fassenden Uebersichten  des  Gesaramtvermögens  und  des  Keinertrages  aus 
den  Saldoposten  der  Particularconten  aufgestellt  werden,  ins  Auge  zu  fassen. 

VII. 

Es  ist  eine  rein  formale  Eigenthüralichkeit  der  doppelten  Buch- 
haltung, die  Uebersichten  des  Gesaramtvermögens  und  des  Gesammtertrages 
des  Unternehraens  innerhalb  des  Hauptbuches  in  Gestalt  von  in  Soll  und 
Haben  getheilten  Conten  zu  gewähren^,)  Man  kann  diese  Conten,  weil  sie 
zur  Darstellung  des  Totalvermögens  und  des  Totalerfolges  des  Betriebes 
bestimmt  sind,  mit  S  ch  rott*)  passend  als  Totalität  s conten  bezeichnen. 
Es  sind  dies:  1.  das  Capitalconto  zur  Darstellung  des  anfänglichen  Ver- 
mögens, 2.  das  Bilanzconto  zur  Darstellung  des  Vermögens  nach  Ablauf 
der  Betriebsperiode  und  3.  das  Verlust-  und  Gewinnconto  zur  Darstellung 
des  Keinertrages. 

Es  muss  aber  noch  einmal  mit  allem  Nachdrucke  betont  werden,  dass 
diese  Conten,  im  Gegensatze  zu  den  im  vorhergehenden  behandelten 
Kategorien  von  Conten  (den  sogenannten  Particularconten),  nicht  zur 
Verrechnung  von  Geschäftsfällen  bestimmt,  sondern  nur  zusamraenfassende 
Uebersichten  der  Ergebnisse  jener  sind.  Ihre  Soll-  und  Habeneintragungen 
sind  daher  auch  nicht  Wertzugänge  und  Wertabgänge,  sondern  nur  die 
Elemente  zusammenfassender  Uebersichten. 


*)  Man  nehme  das  Beispiel  eines  Cassaconto. 

Cassacouto 


Soll 

Anfänglicher  Cassarest 400 

An  diverse  Creditoren 800 

1200 


Haben 

Per  diverse  Debitoren 700 

Saldo 500 


1200 


-)  Nach  dem  oben  sab  IV,  al.  3.  Auseinandergesetzten  ist  es  einleuchtend,  dass 
die  vereinigten  Bestands-  und  Erfolgsconti  einen  Bestands-  und  einen  p]rfolgssaIdo 
aufweisen. 

^)  Man  könnte  diese  Uebersichten  auch  ausserhalb  des  Hauptbuches  in  selbständigen 
Rechnungen  aufstellen,  wie  dies  in  der  cameralistischen  Buchhaltung  geschieht. 

^)  Lehrbuch  der  Verrechnungswissenschaft. 


ß2  Seidler. 

Alle  Uiiklarkeit  über  die  Bedeutung  dieser  Conteii  rührt  daher,  dass 
man  diesen  ihren  Charakter  übersehen  und  auch  sie  als  personificierte  Träger 
bestimmter  Werte  zu  erklären  für  nothwendig  gefunden  hat.  Die  formale 
Einrichtung  dieser  Uebersichten  als  Conti  bringt  es  mit  sich,  dass  die  in 
ihnen  zu  vereinigenden  Grössen  überhaupt  als  Soll-  und  Habenposten 
erscheinen.  Ohne  Zweifel  wäre  es  viel  klarer,  dieselben  als  das  zu  bezeichnen, 
was  sie  ihrer  Natur  nach  sind,  als  Activa  und  Passiva,  beziehungsweise 
als  positive  und  negative  Elemente  des  Keinertrages,  wie  es  in  der  Praxis 
der  Actiengesellschaften  der  Deutlichkeit  halber  auch  bisweilen  geschieht. 
Bei  der  Verrechnung  der  einzelnen  Geschäftsfälle  ergibt  sich,  wie  im 
vorhergehenden  an  gehöriger  Stelle  bemerkt  wurde. ^)  infolge  der  der  doppelten 
Buchhaltung  eigenthümlichen  Buchungsweise,  dass  jeder  Geschäftsfall  im 
Soll  und  Haben  zweier  correspondierenden  Conten  eingetragen  wird,  dass  die 
Soll-  und  Habenseite  des  ganzen  Hauptbuches,  einander  gleich  sein  müssen. 
Offenbar  wurde  die  formale  Einrichtung  der  in  Rede  stehenden  Uebersichten 
als  Conten  ganz  instinctiv  aus  dem  Grunde  gewählt,  um  jene  Ueberein- 
stimmung  der  Soll-  und  Habensummen  des  Hauptbuches,  in  welcher  man 
von  jeher  eine  wertvolle  Controle  der  ziftermässigen  Richtigkeit  der  doppelten 
Buchhaltung  erblickt,  nicht  zu  stören.  Denn  indem  die  Saldoposten  der 
Particularconten  auf  die  entgegengesetzte  Seite  der  Totalitätsconten  über- 
tragen werden,  bleiben  die  Soll-  und  Habensummen  des  Hauptbuches  ein- 
ander gleich. 

VIII. 

Das  C  apit  alconto,  welches  die  Uebersicht  des  anfänglichen  Vermögens 
zu  bieten  hat,  enthält  vermöge  seiner  formalen  Natur  als  Conto  im  Soll 
alle  Passiven,  im  Haben  alle  Activen  zu  Anfang  der  Betriebsperiode.  Es  ist 
eine  allgemein  beliebte  Fiction,  dass  man  dem  Capitalconto  die  Repräsen- 
tation des  Unternehmers  zuschreibt,  welcher  für  die  den  Particularconten 
übergebenen  Activen  creditiert,  für  die  von  denselben  übernommenen  Passiven 
debitiert  wird.  Man  muss  sich  jedoch  davor  hüten,  aus  dieser  Fiction  irgend 
welche  Consequenzen  zu  ziehen,  und  insbesondere  kann  davor  nicht  genug 
gewarnt  werden,  daraus  ein  Schuldverhältnis  zwischen  dem  Unternehmer  und 
seinem  Unternehmen  zu  construieren.^) 

In  Wahrheit  ist  das  Capitalconto,  wie  wiederholt  betont  wird,  nichts 
anderes,  als  eine  zusammenfassende  Uebersicht  der  anfänglichen  Activen  und 
Passiven.  Die  Stellung  der  Passiven  im  Soll,  der  Activen  im  Haben  des 
Capitalconto  beruht  ausschliesslich  auf  dem  formalen  Grunde,  dass  diese 
Grössen  sich  in  den  Particularconten  (Bestands-  und  Personenconten)  auf  der 
entgegengesetzten  Seite  befinden,  und  dass  mit  Rücksicht  auf  die  zu 
wahrende  Uebereinstimmung  der  Soll-  und  Habensummen  des  ganzen 
Hauptbuches   die  in   den  Totalitätsconten  zusammenzufassenden  Grössen  in 


^ 


*)  Siehe  oben  III.  Schlussatz. 

')  Auf  diese  Weise  gelangt  man   dann   schliesslich  dazu,  wie  Lorenz  von  Stein 
die  Möglichkeit  eines  Betruges  des  Unternehmens  durch  den  Eigenthümcr   auzuuehmcu. 


Die  theoretischen  Grundlagen  der  doppelten  Buchhaltung.  63 

diesen  auf  der  entgegengesetzten  Seite  stehen  müssen  wie  in  den  Particular- 
conten.  ^) 

IX. 

Ganz  analog  ist  das  Bilanzconto  eine  zusammenfassende  Uebersicht 
der  Activen  und  Passiven  nach  Al)lauf  der  Hetriebsperiode,  als  deren 
liesultierende  sich  das  schliessliche  reine  Capital  ergibt.-)  Es  ist  wieder  nur 
von  rein  formaler  Bedeutung,  dass  hier  die  Activen  auf  der  Soll-,  die 
Passiven  auf  der  Habenseite  sich  befinden.^) 

X. 

Das  Verlust-  und  Gewinnconto  endlich  ist  die  zusammenfassende 
Uebersicht  der  consumierten  und  producierten  Werte,  als  deren  Kesultierende 
der  Keinertrag  des  Unternehmens  sich  ergibt.  Die  Uebertraguiig  der  ein- 
zelnen Positionen  von  den  Erfolgs-  und  den  vereinigten  Bestands-  und 
Erfolgsconten  geschieht  nach  den  gleichen  formalen  Grundsätzen  wie  bei 
Bilanzconto. 

Demgemäss  vereinigen  sich  im  Soll  des  Verlust-  und  Gewinnconto  die 
negativen,  im  Haben  die  positiven  Elemente  des  Keinertrages. 

XL 

Wenn  man  die  drei  Totalitätsconten :  Capitalconto,  Bilanzconto  und 
Verlust-  und  Gewinnconto  in  ihrem  Verhältnisse  zu  einander  betrachtet,  so 
ergibt  sicii,  dass  man  aus  den  Saldoposten  zweier  dieser  Conten  den  Saldo 
des  dritten  Conto  berechnen  kann.  Es  bedeutet  nämlich,  wie  sich  im  vorher- 
gehenden gezeigt  hat,  der  Saldo  des  Capitalsconto  das  anfängliche,  der  Saldo 
des  Bilanzconto  das  schliessliche  reine  Capital,  der  Saldo  des  Verlust-  und 


^)  Es  kann  die  Darstellung  des  anfänglichen  Vermögens  auch  in  der  Weise 
erfolgen  —  und  dies  ist  in  der  Praxis  der  regelmässige  Vorgang  —  dass  auf  dem 
Capitalconto  nicht  das  ganze  Bruttovermögen,  sondern  nur  das  reine  Vermögen 
nachgewiesen  wird.  Man  kann  sich  hiebei  zur  Darstellung  des  anfänglichen  Bruttover- 
mögens des  Eingangsbilanzconto  bedienen,  in,  derselben  Form  und  mit  demselben  Inhalt, 
wie  dies  im  vorhergehenden  hinsichtlich  des  Capitalconto  dargethan  wurde.  Der  Saldo 
des  Eingaugsbilanzconto,  welcher  das  anfängliche  reine  Vermögen  darstellt,  wird  sohiii 
auf  die  entgegengesetzte  Seite  des  Capitalconto  übertragen.  Erscheint  dieser  Saldo  auf 
der  Habenseite  des  Capitalconto,  so  bedeutet  er  das  anfängliche  reine  Activvermögen, 
auf  der  Sollseite  das  anfängliche  reine  Passivvermögen.  Die  Uebereinstimnmng  der 
Soll-  und  Habensummeu  des  ganzen  Hauptbuches  wird  auch  bei  dieser  Buchungsweise 
gewahrt,  und  sie  bietet  den  Vortheil,  das  anfängliche  reine  Vermögen  in  einer  Ziffer  auf 
Capitalconto  aufzuweisen. 

2)  Auch  hier  wird  eine  Fiction  beliebt,  und  zwar  das  Bilanzconto  repräsentiere  den 
Liquidator  des  schli  es  suchen  Vermögens,  der  für  die  empfangenen  schliesslichen  Activen 
belastet,  für  die  Passiven  gutgeschrieben  wird.  Auch  diese  Fiction  ist  irreführend  und 
daher  zu  vermeiden. 

^)  Weil  die  Saldoposten,  welche  die  schliesslichen  Activen  bedeuten,  in  den 
Particularconten  (Bestands-  und  Personenconten)  auf  der  Habenseite  sich  befinden,  deshalb 
werden  sie  auf  die  Sollseite  des  Bilanzconto  übertragen,  und  umgekehrt  erscheinen  die 
Passiven  auf  der  Habenseite  des  Bilanzconto,  weil  die  ihnen  correspondicrenden  Sakli)- 
posten  der  Personenconten  sich  auf  der  Sollseite  dieser  Conten  befinden. 


64 


Seidler. 


Gewinnconto  den  Eeinertrag  des  Unternehmens.  Diese  drei  Grössen  stehen 
in  dem  Verhältnisse  der  Gleichung:  Anfängliches  Capital  +  Reinertrag  = 
Schliessliches  Capital. 

Die  doppelte  Buchhaltung  bringt  dieses  Verhältnis  in  der  Weise  zum 
formalen  Ausdruck,  dass  sie  die  Saldoposten  des  Bilanzconto  und  des 
Verlust-  und  Gewinnconto  auf  die  entgegengesetzte  Seite  des  Capitalconto 
überträgt. 

Das  Capitalconto  hat  sohin  im  Soll  das  schliessliche  reine  Capital, 
im  Haben  das  anfängliche  reine  Capital  und  den  Eeinertrag,  woraus  sich 
die  Identität  der  Summen  beider  Seiten,  die  Selbstsaldierung  des  Capitalconto 
ergibt.  Es  leuchtet  von  selbst  ein,  dass  das  Verhältnis  der  Gleichung,  in 
welchem  die  angeführten  drei  Grössen  zu  einander  stehen,  statt  im  Capital- 
conto, auch  im  Bilanzconto  oder  im  Verlust-  und  Gewinnconto  zum  Ausdruck 
gebracht  werden  kann,  indem  die  Saldoposten  der  beiden  andern  auf  einen 
dieser  Conten  übertragen  werden. 

Bei  Actiengesellschaften  ist  es  nun  allgemeine  Uebung,  in  manchen 
Staaten  ausdrückliche  Vorschrift  des  Handelsgesetzes,  die  Uebertragung  der 
Saldoposten  des  Capitalconto  und  des  Verlust-  und  Gewinnconto  auf  das 
Bilanzconto  vorzunehmen.  Das  Bilanzconto,  das,  wie  sich  im  vorhergehenden 
ergeben  hat,  die  von  den  Bestands-  und  Personenconten  übertragenen  Activen 
und  Passiven,  und  zwar  die  ersteren  im  Soll,  die  letzteren  im  Haben  vereinigt, 
erhält  sohin  zu  diesen  Grössen  im  Haben  das  anfängliche  Capital  und  den 
Eeinertrag,  beziehungsweise  im  Haben  das  anfängliche  Capital,  im  Soll  den 
Eeinverlust.  ^)  Die  beiden  Seiten  des  Bilanzconto  müssen  dann  in  Gemässheit 
der  oben  aufgestellten  Gleichung  identische  Summen  haben,  sich  von  selbst 
saldieren.  Denn  anfängliches  Capital  -|-  Reinertrag,  beziehungsweise  anfängliches 
Capital  —  Reinverlust  ^  Schliessliches  Capital.^)  Actiencapital,  Reservefonde 
und  Reinertrag  auf  der  Habenseite,  beziehungsweise  Actiencapital,  Reserve- 
fonde auf  der  Habenseite,  Reinverlust  auf  der  Sollseite  sind  daher  nicht 
Passiva,  beziehungsweise  Activa  des  Unternehmens,  sondern  die  Compo- 
nenten  des  schliesslich  en  reinen  Vermögens. 

Statt  diese  Grösse  in  einer  Ziffer  als  Saldoposten  des  Bilanzconto 
nachzuweisen,  wird  dieselbe  durch  die  mit  ihr  identischen  Grössen  (anfäng- 
liches Capital  +  Reinertrag),  (beziehungsweise  anfängliches  Capital  —  Rein- 
verlust) ersetzt.  So  wenig  der  aus  den  Activen  und  Passiven  gebildete 
Saldoposten,  welcher  das  schliessliche  reine  Vermögen  bedeutet,  zu  den 
Passiven,  beziehungsweise  Activen  des  Unternehmens  gehört,  so  wenig  ist 
dies  mit  den  an  die  Stelle  dieses  Saldopostens  tretenden  Componenten 
(anfängliches  Capital,  Reinertrag,  beziehungsweise  Reinverlust)  der  Fall. 

^)  Nach  allgemeiner  Uebung,  beziehungsweise  in  manchen  Staaten  nach  gesetzlicher 
Vorschrift  bilden  das  anfängliche  Capital  (hier  Actiencapital)  den  ersten  Posten,  der 
Reinertrag  den  letzten  Posten  auf  der  Habenseite,  ein  eventueller  Reinverlust  den  letzten 
Posten  auf  der  Sollseite  des  Bilanzconto. 

2j  Besitzt  eine  Actiengesellschaft  einen  oder  mehrere  Reservefonde,  d.  h.  Capital 
neben  und  ausser  dem  Actiencapital,  so  besteht  naturgemäss  das  anfängliche  Capital  aus 
dem  Actiencapital  und  den  Reservefonden. 


Die  theoretischen  Grundlagen  der  doppelten  Buchhaltung.  65 

XII. 

Ausser  den  normalen  Geschäftsfällen,  welche,  wie  eingangs  dieser 
Erörterungen  dargethan  wurde,  die  Umänderung  einer  Wertform  in  eine 
andere  bedeuten  und  aus  diesem  Grunde  in  doppelten  Posten  verrechnet 
werden,  können  bei  einem  Unternehmen  Ereignisse  eintreten,  welche  ein- 
seitig Wertzugänge  oder  Wertabgänge  hervorrufen.  Es  sind  dies  entweder 
Capitalveränderungen,  welche  von  dem  Unternehmer  bewusst  vorgenommen 
werden,  oder  zufällige  Ereignisse,  wie  etwa  ein  Diebstahl,  welche  einseitig 
einen  Wertabgang  bewirken  (Wertzugänge  wider  den  Willen  des  Unter- 
nehmers sind  nur  schwer  denkbar.)  Logischerweise  können  derartige  einseitige 
Vermögensänderungen  auch  nur  auf  dem  einen  Conto  gebucht  werden,  welches 
den  Wertzugang  oder  Wertabgang  erfahren  hat.  Allein  anderseits  erfordern 
diese  Vermögensänderungen  auch  eine  Correctur  auf  dem  Capitalconto  als 
dem  Uebersichtsconto  des  anfänglichen  Vermögens.  Wurde  Bargeld  gestohlen, 
so  muss  der  Wertabgang  nicht  nur  auf  Cassaconto,  sondern  auch  auf 
Capitalconto  in  Rechnung  gestellt  werden,  weil  dieser  sonst  ein  um  den 
gestohlenen  Betrag  zu  grosses  Activvermögen  enthielte.  So  ergibt  sich 
auch  hinsichtlich  derartiger  einseitiger  Vermögensänderungen  eine  Verrechnung 
in  doppelten  Posten,  auf  dem  Particularconto  derjenigen  Wertform,  welche 
die  Veränderung  erfahren  hat,  und  auf  Capitalconto,  als  Uebersichtsconto 
des  gesammten  Vermögens.  Nur  ist  der  Grund,  aus  dem  die  Verrechnung 
hier  in  doppelten  Posten  erfolgt,  durchaus  verschieden  von  dem  Grunde 
dieses  Vorganges  bei  der  Verrechnung  normaler  Gescliäftsfälle.  Es  ist  ganz 
unwesentlich,  wenn  man  derartige  Geschäftsfälle  nicht  unmittelbar  auf  Capital- 
conto, sondern  vorerst  auf  einem  Subconto  desselben,  etwa  einem  Conto  der 
ausserordentlichen  Vermögensänderungen  verbucht. 


Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  X.  Band. 


n 


DIE  BUDGETS  DER 

BEWAFFNETEN  MACHT  ÖSTERREICH-UNGARNS 

FÜR  DAS  JAHR  1900. 

EINE  BUDGETTECHNISCH-STATISTISCHE  STUDIE 

VON 

DR.  JOSEPH  ULLMANN. 


Juines  der  hervorragendsten  Momente  in  der  Entwicklung  des  Staatslebens 
in  den  letzten  Decennien  bildet  die  Einführung  der  allgemeinen  Wehrpflicht,  die 
Aufstellung  der  grossen  Volksheere. 

Sowie  die  militärische  Dienstpflicht  immer  grössere  Ansprüche  an  die 
wehrfähige  Bevölkerung  macht,  ebenso  steigt  in  den  europäischen  Militärstaaten 
die  finanzielle  Last  der  grossen  Heeresbudgets  ;  die  ganze  Finanzpolitik  wird 
wesentlich  durch  das  Bedürfnis  beeinflusst,  den  immerwährend  steigenden  Ausgaben 
die  ausreichende  Deckung  zu  verschaffen,  —  das  Militärbudget  ist  einer  der  wichtigsten 
und  interessantesten  Theile  des  ganzen  Staatshaushaltes  geworden.  Die  grosse 
öffentliche  Meinung  interessiert  sich  aber  gewöhnlich  nur  um  die  absoluten 
Gesammtziffern  und  um  den  Vergleich  mit  früheren  Jahren,  welcher  das  gewaltige 
Anschwellen  der  Militärausgaben  aufzeigt.  Das  System,  die  Gliederung  des  Militär- 
budgets wird  in  der  Regel  weniger  beachtet,  und  doch  verlohnt  es  sich  auch, 
die  technische  Structur  der  Militärbudgets  einmal  zu  untersuchen,  um  die  einzelnen 
Bedürfnisse  und  ihr  Verhältnis  zu  einander  kennen  zu  lernen.  Die  einzelnen 
Aufwandsgruppeu  haben  ja  auch  ihre  volkswirtschaftliche  Bedeutung,  denn  die 
Kriegsverwaltung  ist  einer  der  grössten  Consumenten  der  ganzen  wirtschaftlichen 
Ordnung,  und  die  Art  und  Höhe  dos  gemachten  Aufwandes  erregt  begreiflicher- 
weise das  lebhafte  Interesse  zahlreicher  Producentenkreise. 

Die  Elemente  für  eine  solche  Untersuchung  sind  in  dem  Budget  selbst 
enthalten,  dessen  Publicität  einen  integrierenden  Bestandtheil  der  Constitution  eilen 
Einrichtungen  und  zugleich  eine  Bürgschaft  für  eine  geordnete  Verwaltung  bildet. 
Es  ist  aber  auch  kein  anderes  Document  geeigneter,  über  die  Standes-,  über  die 
persönlichen  und  sachlichen  Erfordernisse  des  Militärorganismus  Auskunft  zu 
ertheilen,  als  das  Budget,  denn  obschon  es  in  seiner  Hauptfunction  einen  bloss 
provisorischen   Charakter  besitzt,    so    bietet    es    doch    infolge   seiner    nothwendig 


Die  Budgets  der  bewaffneten  Macht  Oesterreich-Ungarns  für  das  Jahr  1900.        67 

reichen  Gliederung  und  seiner  Details  für  die  Kenntnis  der  Verwaltung  ein 
vollständigeres  Bild,  als  die  wesentlich  den  finanziellen  Erfolg  darstellende  Schluss- 
rechnung. 

Die  hauptsächlichste  Forderung,  welche  an  ein  gutes  Budget  gerichtet 
werden  muss,  besteht  in  seiner  Klarheit  und  Ueb ersichtlichkeit.  Diese  Eigenschaften 
hängen  nun  in  erster  Linie  von  dem  formellen  Aufbaue  ab,  hiebei  aber  handelt 
es  sich  um  die  Beachtung  zweier  Momente,  nämlich  des  subjectiven  der 
Darstellung  der  Erfordernisbeträge  nach  einzelnen  Heeresthcilen,  und  des  objec- 
t  i  V  e  n   der  Darstellung  nach  Bedavfskategorien. 

Das  richtige  Verhältnis  zwischen  diesen  beiden  Momenten  ist  die  wichtigste 
Voraussetzung  für  den  übersichtlichen  Aufbau  eines  Voranschlages,  denn  es  ist 
klar,  dass  ein  solcher  umsomehr  an  Ueb  ersichtlichkeit  verliert,  je  mehr  er  in  Theil- 
voranschläge  zersplittert  wird,  oder  anderseits,  je  weniger  zu  erkennen  ist,  für 
wen  die  einzelnen  Erforderniskategorien  angesprochen  werden.  Die  in  der 
einen  oder  anderen  Eichtung  mangelhafte  Sichtung  und  Eintheilung  der  grossen 
Materie  der  Erfordernisse  birgt  aber  auch  stets  die  Gefahr  der  Vornahme 
unstatthafter  Virements  in  sich,  denen  somit  schon  bei  Errichtung  eines  Voran- 
schlages die  Spitze  geboten  werden  kann. 

Betrachtet  man  nun  vom  Standpunkte  des  formellen  Aufbaues  die  Voran- 
schläge der  bewaffneten  Macht  Oesterreich-Ungarns,  nämlich  jenen  des  gemeinsamen 
Heeres  und  der  gemeinsamen  Kriegsmarine,  dann  jene  der  beiderseitigen  Land- 
wehren, so  zeigt  sich  schon  in  Hinsicht  auf  die  Berücksichtigung  dieser  beiden 
Momente  eine  Verschiedenheit  in  der  Anlage  derselben.  Während  die  Budgets  der 
Kriegsmarine  und  der  ungarischen  Landwehr,  besonders  aber  das  erstere,  die 
einzelnen  Gattungen  der  materiellen  Erfordernisse  als  Einheiten  behandeln  und 
innerhalb  dieses  Eahmens  neben  der  materiellen  Gruppierung  auch  die  Beträge 
darstellen,  welche  die  einzelnen  Theile  von  dem  in  Einzelnerfordernisse  zerlegten 
Gesammterfordernisse  in  Anspruch  nehmen,  stellt  das  Heeresbudget  das  subjective 
Moment  in  den  Vordergrund  und  beschränkt  die  Darstellung  nach  Bedarfskategorien 
auf  nur  wenige  Titel  (Sammeltitel). 

Die  Gegenüberstellung  der  Haupttitel  der  Budgets  des  gemeinsamen  Heeres, 
der  Kriegsmarine  und  der  beiden  Landwehren  zeigt  diese  Verschiedenheit  des 
Budgetaufbaues.  (Siehe  Tabelle  S.  68.) 

Die  27  Titel  des  Heeres-Ordinariums  sind  insoferne  in  Budgetposten  unter- 
theilt,  als  das  Budget  zu  jedem  dieser  Titel  eine  oder  mehrere  Detailnachweisungen 
enthält,  welche  mit  Postnummern  versehen  sind  und  für  je  einen  bestimmten 
Ileerestheil  ausser  den  bei  den  betreffenden  Titeln  präliminierten  persönlichen  und 
sachlichen  Auslagen,  also  ausser  dem  Haupterfordernisse,  auch  die  in  eigenen 
Sammeltiteln  präliminierten  Erfordernisse  an  Naturalien  Verpflegung  (Titel  XXII), 
Mannschaftskost  (Titel  XXIII),  Monturen,  Rüstung  und  Betten  (Titel  XXIV), 
Unterkunftsauslagen  (Titel  XXV),  Remontierungsauslagen  (Titel  XXVI)  und  Unter- 
officiers-Dienstprämien  (Titel  XXVII)  dargestellt  ist.  Die  auf  diese  Weise  darge- 
stellte Erfordernisziffer  umfasst  jedoch  durchaus  nicht  immer  das  Gesammterforderiiis 
für  den  betreffenden  Heerestheil,  da  namentlich  in  Bezug  auf  die  persönlichen 
Gebüren    an  Gage,    Löhnung    und    dergleichen    die  Inconsequenz    herrscht,    dass 


68 


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Die  Budgets  der  bewaffneten  Macht  Oosterreich-Ungarns  für  das  Jahr  1900.        69 

dieselben  für  gewisse  Standesgruppen  (wie  z.  B.  für  die  höheren  Commanden 
und  Stäbe,  für  Officiere  in  Localanstellungen  u.  s.  w.)  bei  anderen  Titeln  ange- 
fordert werden.  So  werden  die  Gebüren  der  beim  Kriegsministerium  zum  Concepts- 
dienste  zugetheilten  Officiere  des  Generalstabes,  des  Geniestabes,  des  Arraeestandes, 
dann  der  zugetheilten  Auditore,  Militärärzte  u.  s.  w.  nicht  beim  Titel  I,  Central- 
leitung,  sondern  bei  den  Titeln  II,  V,  VI,  XVIII  u.  s.  w.  präliminiert,  so  dass 
beim  Titel  I  (Post  1,  Kriegsministerium)  nicht  das  gesaramte  Aufwandserfordernis 
des  Kriegsministeriums  ersichtlich  ist.  Aber  auch  dio  Sammeltitel  zeigen  nicht  die 
wirkliche  Summe  der  in  den  einzelnen  Detailnachweisungen  dargestellten  bezüglichen 
Erfordernisgattungen,  sondern  den  thatsächlich  angesprochenen  Gesammtbedarf 
des  ganzen  Verwaltungszweiges,  wie  er  sich  nach  Berücksichtigung  verschiedener 
Zuschlags-  und  Abzugsposten  gestaltet,  die  in  den  Detailnachweisungen  überhaupt 
nicht  enthalten  sind.  Derartige  Zuschlagsposten  sind: 

Das  Erfordernis  an  Bettensorten  und  Bettenstroh  für  in  Naturalquartieren 
untergebrachte  Personen  (Titel  XXII  und  XXIV),  das  Mehrerfordernis  an  Service 
für  die  Marodenhäuser  (Titel  XXII),  das  Erfordernis  an  Frühstück  und  Nachtmahl 
der  Mannschaft  (Titel  XXII  und  XXIII)  und  für  Brot-  und  Futterzubussen  (Titel 
XXII),  dann  das  Erfordernis  für  die  contractlichen  Vergütungen  für  Unterkünfte, 
Uebungsplätze,  Eeit-  und  Schwimmschulen,  für  Vergütung  für  die  auf  Grund  der 
Einquartierungsgesetze  beigestellten  Unterkunftsobjecte  sammt  Nebenerfordernissen 
und  für  bleibende  Einquartierung  (Titel  XXV).  Derartige  Abzugsposten  sind : 

Die  Gebürsrücklässe  der  Kranken  (Titel  XXII  und  XXIII),  das  Erfordernis 
an  Kasernservice  und  Bettenabnützung  für  die  in  gemieteten  oder  auf  Grund  der 
Einquartierungsgesetze  beigestellten  Kasernen,  dann  für  bleibende  Einzelbequar- 
tierungen  (Titel  XXII,  XXIII  und  XXIV),  die  Ersparung  durch  Naturalien-Reluie- 
rungen  und  Surrogierungen  (Titel  XXII),  die  Ersparung  an  Brot,  Menage  und 
Montur  infolge  der  Verabfolgung  von  7400  Officiersdiener-Aequivalenten  statt 
der  Zuweisung  ebensovieler  Diener  (Titel  XXII,  XXIII  und  XXIV),  das  Menagegeld 
der  zur  Spitalsdienstleistung  in  den  Truppenspitälern  commandierten,  im  Genüsse 
der  Spitalskost  stehenden  Mannschaft  (Titel  XXIII),  der  Wert  der  in  Benützung 
stehenden  Naturalunterkünfte  (Titel  XXV),  die  Ersparung  infolge  vertragsmässiger 
Preisnachlässe  bei  verschiedenen  Materiallieferungen  (Titel  XXIV),  die  Inter- 
kalarien  u.  s.  w. 

Alle  übrigen  Titel,  beziehungsweise  Posten  des  Ordinariums  vereinigen  in 
sich  die  verschiedenartigsten  Erfordernisse,  und  zwar  häufig  genug  in  der  Art, 
dass  die  Mittel  zur  Deckung  verschiedener  Erfordernisse  in  einem  einzigen  Betrage 
angesprochen  werden.  So  z.  B.  betrifft  der  im  Ord.  Titel  VII,  Post  49,  ange- 
sprochene Erfordernisbetrag  per  3,700.000  K  für  Waffenübungs-  und  Concen- 
trierungsauslagen  Erfordernisse  an  Marsch-,  Eeise-,  Vorspanns-,  Transports-, 
ünterkunftsauslagen,  an  verschiedenen  Zulagen,  Munitionszuschuss  u.  s.  w.  Der 
bei  Post  39  desselben  Titels  präliminierte  Betrag  von  36.000  K  für  verschiedene 
Erfordernisse  der  Artillerieschiesschule  betrifft  Uebungszulagen,  Reise-  und  Marsch- 
auslagen, dann  Vergütung  für  vorübergehende  Einquartierung. 

Die  Darstellung  der  im  Voranschlage  für  das  Ordinarium  präliminierten  B  e- 
d  e  c  k  u  n  g  erfolgt  derart,  dass  ein  Theil  der  Einnahmen,  nämlich  die  sogenannten 


70 


Uli  mann. 


„eigenen  Einnahmen"  und  die  Erträgnisse  der  in  der  Verwaltung  des  gemeinsamen 
Finanzministeriums  stehenden  Fonds  der  Heeresverwaltung,  auf  Grund  einer 
besonderen  Detailnachweisung  selbständig  präliminiert  und  die  Summe  derselben 
von  der  Gesammtsumme  der  ordentlichen  Heereserfordernisse  abgezogen,  ein 
anderer  Theil  aber,  wie  z.  B.  die  Kostgelder  der  Zöglinge  der  Bildungsanstalten, 
bei  den  betreffenden  Erfordernistiteln  nachgewiesen  und  dortselbst  gleich  vorweg 
in  Abzug  gebracht  wird.  Durch  eine  derartige  Vorwegnahme  von  Einnahmen 
wird  die  der  Votierung  zu  unterziehende  Ausgabeziffer  geringer,  als  das  thatsächliche 
Erfordernis  des  betreffenden  Verwaltungszweiges,  zugleich  wird  durch  die  Ein- 
führung solcher  Nettobudgetelemente  der  sonst  vorwaltende  Charakter  des  Budgets 
als  eines  Bruttobudgets  durchbrochen. 

Durch  eine  Betrachtung  der  Heeresvoranschläge  von  1861  ab  soll  nun 
die  Entwicklung  der  Formen  des  Heeresbudgets  bis  zur  Gegenwart  in  grossen 
Zügen  dargethan  werden.  Die  Budgets  der  Heeresverwaltung  waren  in  den 
Jahren  1861  bis  1868  ihrem  Wesen  nach  sogenannte  Pauschalbudgets,  welche 
bloss  mit  der  Hauptsumme  ihres  ordentlichen  Erfordernisses  votiert,  und  bei 
welchen  eventuelle  Kürzangen  der  Erfordernisansprüche  nur  durch  General- 
abstriche von  der  Gesammtsumme  bewirkt  wurden,  üeberdies  blieb  dem  Kriegs- 
rainister  das  Virement  zwischen  den  einzelnen  Erfordernissen  überlassen. 

Interessant  wegen  der  in  denselben  sich  widerspiegelnden  äusseren  politischen 
Verhältnisse  war  der  Voranschlag  des  „k.  k.  Armeeobercommandos"  für  das  Jahr 
1861,  ein  Theil  des  auf  Grund  der  kaiserlichen  Verordnung  vom  5.  März  1860 
dem  verstärkten  Eeichsrathe  „zur  Prüfung  überwiesenen"  „Staats Voranschlages 
des  Kaiserstaates  Oesterreich"  für  das  Jahr  1861.  Das  Ordinarium  desselben 
bestand  der  Hauptsache  nach  aus  fünf  Erfordernisgruppen,  und  zwar:  1.  Central- 
leitung  und  Armeeauslagen  mit  den  Erfordernissen  der  Armeebehörden,  Armee- 
anstalten und  Truppen,  2.  Pensionen,  Provisionen  und  Gnadengaben  zumeist  für 
Militärwitwen  und  -Waisen  (die  Pensionen  der  Heeresangehörigen  waren  in  dem 
Erfordernisse  an  allgemeinen  Armeeauslagen  enthalten),  3.  Beitrag  zur  Erhaltung 
und  Approvisionierung  der  deutschen  Bundesfestungen,  4.  p]rfordernis  für  die 
Instandhaltung  einiger  Dikasterialgebäude  (die  Erfordernisse  für  die  Gruppen 
2  bis  4  waren  aus  den  Cameralcassen  zu  bestreiten),  5.  Erfordernis  für  Freiwillige 
und  Stellvertreter. 

Der  Summe  dieser  Erfordernisse  war  die  Bedeckung  durch  die  Steuern  in 
der  Militärgrenze  und  durch  andere  Militäreinnahmen,  dann  durch  Zuschüsse  aus 
den  Finanzen  gegenübergestellt,  hierauf  folgte  ein  die  Erfordernisse  der  unter 
1  bezeichneten  Organe  und  Truppen  betreffendes  Extraordinarium.  Von  der 
Gesammtsumme  wurde  ein  „behufs  Abrundung  des  Gesammterfordernisses  auf 
100  Millionen  Gulden  mit  dem  Armeeobercomniando  vereinbarter  Abstrich"  in 
Abschlag  gebracht. 

Ausser  diesem  Erfordernisse  wurde  ein  „eventuelles  ausserordentliches  Er- 
fordernis" (welches  jedoch  in  den  Hauptvoranschlag  nicht  eingestellt  wurde)  ange- 
sprochen, das  jene  Mehrauslagen  betraf,  welche  sich  „durch  die  aus  Anlass  der 
damaligen  politischen  Verhältnisse  bestehenden  höheren  Truppenstände  in  Italien 


I 


Die  Budgets  der  bewaffneten  Macht  Oesterreich- Ungarns  für  das  Jahr  1900.        71 

und  Ungarn,  durch  die  infolge  dessen  gesteigerten  Erfordernisse  einiger  Armee- 
anstalten und  durch  die  von  der  Friedensdislocation  abweichende  Verlegung  der 
Truppen"  ergaben.  Dieses  .,eventuelle  ausserordentliche  Erfordernis"  betrug  „bei- 
läufig" 12  Millionen  Gulden,  wozu  „eventuell  noch  das  Erfordernis  für  die 
herzoglich  modenesischen  Truppen  1,019.092  Gulden  zu  rechnen"  war.  An  das 
Budget  schloss  sich  eine  Darstellung  des  Personalstandes. 

Der  Voranschlag  des  mittlerweile  neu  creierten  „Ministeriums  des  Krieges" 
für  das  Jahr  1862  gründete  sich  auf  das  erste,  in  Gemässheit  des  Grundgesetzes 
vom  26.  Februar  1861  den  beiden  Häusern  des  Keichsrathes  vorgelegte  Finanz- 
gosetz.  Dieser  und  die  Voranschläge  für  die  Jahre  1863  und  1864  waren  in 
der  Form  jenem  pro  1861  wesentlich  gleich,  doch  wurde  schon  pro  1862  eine 
sachliche  Zergliederung  der  gesammten  Erfordernisse  des  Ordinariums  und  des 
Extraordinariums,  sowie  eine  Darstellung  der  Einkünfte  des  Heeres  eingeführt, 
welch  erstere  von  1863  an  durch  Detaildarstellungen  der  kopfweisen  Gebüren 
der  einzelnen  Commanden,  Truppen  und  Anstalten  erläutert  wurde.  Das  Erfor- 
dernis für  die  modenesischen  Truppen  war  weggefallen,  da  Modena  noch  im 
Jahre   1860  Italien  einverleibt   worden  war. 

Das  Budget  pro  1865  brachte  zuerst  eine  titelweise  Zergliederung  der 
Erfordernisse  für  die  Landarmee;   die  einzelnen  Titel  lauteten: 

1.  Administration,  2.  Truppen,  3.  Naturalien,  4.  Montur,  Verpflegung  und 
Bettenwesen,  5.  Remontierung,  Fuhrwesen  und  Militär-Hengstendepöts,  6.  Gestüt^ 
wesen,  7.  Zeugsartillerie  und  Pulverwesen,  8.  Militär-Bauwesen,  9.  Sanitätswesen, 
10.  Militär-Bildungsanstalten,  11.  Militär- Witwen-  und  Waisen- Versorgung,  13. 
Beitrag  zu  den  Bundesfestungen.  Hierauf  folgte  das  Erfordernis  der  Militärgrenze, 
dann  die  Bedeckung. 

Einen  bereits  sehr  umfangreichen  Theil  des  Budgets  nahmen  nun  schon, 
infolge  der  stetigen  Organisierungen  des  Heeres,  die  bereits  erwähnten  Detail- 
nachweisungen ein,  deren  Einzelerfordernisse  zunächst  in  einem  „titelweisen", 
sodann  in  einem   „rubrikenweisen"   Summar  zusammengefasst  wurden. 

Das  rubrikenweise  Summar  bedeutet  eine  klare,  bis  ins  Detail  gehende 
und  nach  gleichen  Erfordernisgegenständen  derart  gegliederte  Uebersicht  aller 
Erfordernisse  der  einzelnen  Commanden,  Truppen  und  Anstalten,  dass  hiedurch 
ermöglicht  war,  ohne  Schwierigkeit  festzustellen,  welcher  Betrag  für  ein  bestimmtes 
Erfordernis,  z.  B.  für  Gagen,  sowohl  bei  jeder  einzelnen  Post,  als  auch  bei 
jedem  Titel  und  im  ganzen  Budget  angesprochen  wurde. 

Diese  Einrichtung  erweist  sich  in  statistischer  Hinsicht,  nämlich  im  Hin- 
blicke auf  die  hiedurch  gebotene  Möglichkeit,  die  Summen  der  gleichartigen 
Erfordernisse  mehrerer  Jahre  zu  vergleichen  und  zu  den  sie  beeinflussenden 
äusseren  Verhältnissen  in  Beziehung  zu  bringen,  als  sehr  vortheilhaft  und  sollte, 
in  irgendwelcher  Form,  in  keinem  modernen  Voransctilage  fehlen. 

Die  folgende  Tabelle  zeigt   eine    Skizze    dieses   „rubrikenweisen   Summars": 


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Die  Budgets  der  bewaifneten  Macht  Oesterreich-Uugams  für  das  Jahr  1900.        73 

Dieses  Summar  bot  in  einem  einzigen  Tableau  einen  raschen  üeberblick 
über  Naturalgebüren,  deren  Beköstigung,  über  die  mannigfachen  Arten  der  Geld- 
gebüren  des  Ordinariums,  über  den  Stand  und  über  die  Gliederung  des  ganzen 
Vervvaltungszweiges,  und  war  —  in  Verbindung  mit  einer  „titelweisen  Ver- 
theilung"  —  ein  das  Verständnis  des  Budgets  erleichterndes  Bindeglied  zwischen 
dem  die  Haupttitel  und  deren  Erfordernisziffern  enthaltenden  „Summarium" 
und  den  vorerwähnten  Detailnachweisungen.  Die  „titelweise  Vertheilung"  enthielt 
die  aus  dem  rubrikenweisen  Summar  entnommenen  Gesammterfordernisbeträge 
der  in  13  Hauptgruppen  zusammengefassten  Detailwirtschaften  des  Verwaltungs- 
zweiges für  die  hauptsächlichsten  Erforderniskategorien.  Diese  letzteren  bildeten 
gleichzeitig  die  Bezeichnung,  beziehungsweise  den  Inhalt  der  einzelnen  bereits 
erwähnten  Budgettitel  (von  welchen  der  Titel  13  „Beitrag  zu  den  Bundes- 
festungen" mit  dem  Ausscheiden  Oesterreichs  aus  dem  deutschen  Bunde  (1866) 
gegenstandslos  wurde).  Die  „titelweise  Vertheilung"  erfolgte  auf  Grund  folgenden 
Formulars: 


Laut 
Gesainmt- 

Er- 
fordernis 


Seite 
Post 


Titelweise  Vertheilung. 
Armeebehörden  .... 

Kriegscasse 

Verpflegsmagazine     .    . 
u.  s.  w. 


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Die  Heeresbudgets  der  nächstfolgenden  Jahre  gleichen  in  ihrem  formellen 
Aufbaue  jenem  für  das  Jahr  1865,  und  auch  das  Budget  für  das  Jahr  1868, 
das  erste  nach  dem  Ausgleiche  zwischen  Oesterreich  und  Ungarn  den  Delegationen 
vorgelegte  Budget  trägt  noch  die  alten  Formen  und  den  Charakter  eines  Pauschal- 
budgets. Erst  dem  Budget  für  das  Jahr  1869   wurde   eine   neue   Form  gegeben. 

Die  wesentlichste  Aenderung,  welche  damals  an  der  Form  des  Heeres- 
voranschlages vorgenommen  wurde,  ist  die  Abtheilung  des  Erfordernisses  in  23 
—  nach  Bezeichnung  und  Inhalt  von  den  bisherigen  zumeist  verschiedene  — 
Titel,  zu  dem  Zwecke,  damit  dasselbe  auch  von  den  Delegationen  nach  diesen 
Titeln  festgestellt  und  votiert  werden  könne.  Die  Bezeichnung  der  Titel  war 
folgende:  1.  Centralleitung,  Behörden  und  besondere  Verwaltungszweige,  2.  beim 
Allerhöchsten  Hofe  in  Dienstleistung  stehende  Generale  u.  s.  w.  auf  Rechnung 
des  Heeresetats,  3.  Höhere  Commanden  und  Stäbe,  4.  Truppenkörper  und 
allgemeine  Truppenauslagen,    5.  Militär-Fuhrwesen,    6.  Militär-Bildungsanstalten, 


74  Ulimann. 

7.  Verpflegsmagazine,  8.  Bettenmagazine,  9.  Monturs-Commissionen,  10.  Artillerie- 
Zeugswesen,  11.  Fuhrwesen-Materialdepöts,  12.  Pionnier-Zeugsmateriale,  13.  Mil.- 
Bauverwaltungen.  14.  Mil.-geographisches  Institut,  15.  Mil.-Sanitätsanstalten, 
16.  Versorgungswesen,  17.  Mil. -Strafanstalten,  18.  Verschiedene  Ausgaben, 
19.  Militärgrenze,  20.  Naturalienverpflegung,  21.  Mannschaftskost,  22.  Montur- 
und  Bettenwesen,  28.  Kemontierung.  Die  bisherige  Pauschalierung  des  ganzen 
Heereserfordernisses  wurde  als  unzulässig  erkannt  und  als  ein  Vorgang 
bezeichnet,  welcher  „der  Verwaltung  ihre  natürliche  Grundlage  entzieht,  jede 
Leitung  und  Controle  unsicher  macht  und  endlich  in  seiner  stricten  Anwendung 
bei  ungünstiger  Configuration  der  variablen  Factoren,  z.  B.  der  Consumtions- 
artikol,  zu  bedenklichen  Schwankungen  in  der  Heeresorganisation  selbst,  ja  zu 
förmlicher  Desorganisation  des  Verwaltungszweiges  führen  müsste."  Die  Abtheilung 
des  Erfordernisses  in  mehrere  Titel  wurde  als  ganz  unausweichlich  nothwendig 
bezeichnet,  „wenn  nicht  jene  mit  einer  rationellen  Gebarung  vollkommen  unver- 
einbaren Verwickelungen  und  Verlegenheiten  wiederkehren  sollten,  welche  durch 
die  bei  den  Pauschalbudgets  vorgenommenen  General  abstriche  veranlasst  worden 
sind".  Diese  Generalabstriche  und  das  Virement  zwischen  den  einzelnen  Titeln 
wurden  denn  auch  abgeschafft. 

Die  erwähnte  „titelweiso  Vertheilung"  und  das  „rubrikenweise  Summar" 
wurden  zwar  beibehalten,  jedoch  mit  Rücksicht  auf  die  neuen  Titel  modificiert, 
das  Summar  überdies  durch  Zusammenziehung  der  detaillierten  Erfordernisse 
unter  allgemeinere  Gesichtspunkte  stark  gekürzt  und   somit   unklarer  gestaltet. 

Das  Heeresbudget  für  das  Jahr  1869  ist  auch  deshalb  bemerkenswert^  weil 
demselben  bereits  das  mit  diesem  Jahre  in  Kraft  getretene  neue  Wehrsystem  der 
allgemeinen  Wehrpflicht  zugrunde  lag,  mit  welchem  gleichzeitig  auch  eine  Reihe 
organisatorischer  Aenderungen  in  der  Heeresverwaltung  eingeführt  wurde,  welche  in 
erster  Linie  auf  die  innere  Gestaltung  der  neuen  Erfordernisgruppe  des  Titels  I 
von  Einfluss  waren,  wie  z.  B.  der  Ersatz  der  bisherigen  Hilfsbehörden  des  Kriegs- 
rainisteriums  durch  blosse  Hilfsorgane,  die  Neuerrichtung  der  Militär-Intendanz 
anstatt  der  bisher  mit  der  Leitung  und  Controle  der  ökonomischen  Geschäfte 
betrauten  Branchen,  die  Theilung  der  bisherigen  grossen  administrativen  Terri- 
torien in  kleinere  Bezirke,  die  Reorganisation  der  Militär-Seelsorge,  Militär- Justiz- 
verwaltung, der  Militär-Rechnungscontrole  u.  s.  w.  Die  anderweitigen  organi- 
satorischen Aenderungen  waren  nur  von  geringerer  Bedeutung  für  die  formelle 
Beschaffenheit  des  Heeresvoranschlages,  welche  seitens  der  Delegationen  als 
sachgemäss  und  entsprechend  anerkannt  wurde,  mit  dem  gleichzeitigen  Wunsche, 
dass  auch  in  Hinkunft  der  Heeresvoranschlag  in  ganz  gleicher  Weise  abzufasseii 
sei.  Thatsächlich  blieb  die  Eintheilung  desselben  in  den  nächstfolgenden  Jahren 
der  Hauptsache  nach  unverändert,  nur  wurde  im  Jahre  1870  der  bisherige  Titel 
II  (Erfordernis  für  die  beim  Allerhöchsten  Hofe  in  Dienstleistung  stehenden 
Generäle,  Stabs-  und  Oberofficiere,  dann  Garden  und  kgl.  ung.  Kronwache  auf 
Rechnung  des  Militäretats)  hinweggelassen,  die  Anzahl  der  Titel  somit  von 
23  auf  22  reduciert.  Im  Budget  pro  1872  wurde  gegenüber  dem  Vorjahre  die 
Aenderung  vorgenonmen,  dass  das  Erfordernis  für  die  Dienstprämien  unter  einem 
besonderen  Titel  22  in  das  ordentliche  Erfordernis  eingestellt,  dagegen  der  frühere 


Die  Budgets  der  bewaffneten  Macht  Oesteireich-Ungarns  für  das  Jahr  1900.        75 

Titel  18  „Militär-Grenze"  als  solcher  dem  damaligen  Stande  der  Uebergangs- 
verhandluiigen  gemäss  nicht  mehr  aufgenommen  wurde,  indem  von  dem  Erforder- 
nisse für  die  Grenzverwaltung  ganz  abgesehen  worden  war  und  das  Präliminare 
für  die  Grenztruppen  nicht  als  Titel,  sondern  für  sich  abgesondert  als  eigene 
Gruppe  am  Schlüsse  des  Voranschlags  zur  Darstellung  gelangte,  demzufolge  die 
Erfordernistangenten,  mit  welchen  die  Militärgrenze  bei  anderen  Titeln  bisher 
mitbetheiligt  war,  bei  diesen  durchgehends  wegfielen.  Was  übrigens  dieses  Erfor- 
dernis für  die  Grenztruppen  anbelangt,  so  wurde  dasselbe  im  Budget  pro  1874 
—  über  Verlangen  der  Delegationen  —  nicht  mehr  im  Ordinarium,  sondern 
im  Extraordinarium  dargestellt.  Mit  dem  weiteren  Verlaufe  der  Grenzreformen 
wurde  dasselbe  überhaupt  nicht  mehr  angesprochen. 

Erst  das  Heeresordinarium  für  das  Lahr  1875  erfuhr  dadurch  eine  — 
grösstentheils  aus  den  Wünschen  der  Delegationen  hervorgegangene  —  Aenderung 
in  seiner  Einrichtung,  dass  das  Heereserfordernis  nunmehr  in  27  Titel  gruppiert 
wurde.  Die  Vermehrung  der  Etattitel  gründete  sich  darauf,  dass  zunächst, 
entsprechend  dem  Wunsche  der  Delegationen,  die  im  bisherigen  Titel  1  (Central- 
leitung,  Behörden  und  besondere  Verwaltungszweige)  enthaltenen  verschiedenen 
Erfordernisposten  in  mehrere  nach  den  Gegenständen  abgegrenzte  Titel  eingetheilt 
und  überdies  die  Erfordernisse  des  administrativen  und  technischen  Militärcomit^s, 
sowie  die  gesammten  ünterkunftsauslagen  als  selbständige  Titel  dargestellt, 
hingegen  die  Erfordernisse  für  das  Militär-Fuhrwesenscorps  im  Interesse  einer 
concentrierten  Uebersicht  aller  Trnppenauslagen  zu  diesen  letzteren  übertragen 
wurden.  Die  durch  die  Zertheilung  des  Titels  1  entstandenen  neuen  Titel  lauteten: 
1.  Centralleitung,  2.  Territorial-  und  Local-Militär-Commanden,  3.  Militär- 
Intendanzen   und  Fachcontrole,    4.  Militär-Seelsorge,    5.  Militär-Justizverwaltung. 

Mit  dem  Voranschlage  für  das  Jahr  1882  entfielen  die  vorhin  besprochenen 
Darstellungen  des  Heeresbudgets,  nämlich  die  ^titelweise  Vertheilnng"  und  das 
„rubrikenweise  Summar",  welche  —  wie  erwähnt  —  zur  Gewinnung  einer  um- 
fassenden Uebersicht  über  die  Heereserfordernisse  sehr  viel  beigetragen  hatten. 
Gegenwärtig  werden  wohl  die  für  die  einzelnen  Herresthelle  entfallenden  Theil- 
erfordernisse  aus  den  verschiedenen  Budgettiteln  in  die  früher  erwähnten  Budget- 
posten zusammengefasst,  wodurch  zwar  ein  Detailbild  des  betreffenden  Heeres- 
theiles  entsteht,  eine  Gesammtdarstellung  nach  Aufwandsgruppen  für  die  ganze 
Armee,  wie  ehemals  aber  wird  hiedurch  nicht  mehr  geboten. 

Was  das  Extraordinarium  des  Heeresbudgets  anbelangt,  so  bringt  es 
schon  der  Charakter  desselben  als  Voranschlag  der  vorübergehenden  Bedürfnisse 
mit  sich,  dass  wie  der  Inhalt,  so  auch  die  Form  eine  mehr  oder  minder 
variable  ist. 

Der  formelle  Aufbau  des  Heeres-Extraordinariums  hat  mit  jenem  des 
Ordinariums  keinerlei  Aehnlichkeit,  schliesst  sich  auch  an  den  Aufbau  des 
Ordinariums  gar  nicht  an,  sondern  ist  eine  ganz  selbständige  Darstellung  einer 
beträchtlichen  Eeihe  von  zwar  in  einige  sachliche  Gruppen  eingetheilten  summa- 
rischen Erfordernisansprüchen,  deren  Gruppierung  aber  ein  einheitliches  System 
nicht  zugrunde   liegt. 


76  Üllmaiin. 

Die  Eintheilung  der  extraordinären  Erfordernisse  ist  gegenwärtig  die  folgende : 

I.  Completierung  der  Kriegsvorräthe  (Titel  1 — 3);  II.  Bau-  und  Unter- 
kunfts-Erfordernisse, üebungs-,  und  ScMessplätze  (Titel  4  und  5);  III.  Transi- 
torisches  ausserordentliches  Erfordernis  A)  Bauten  (Titel  6 — 11),  B)  Erfordernis  des 
militär-geographischen  Institutes  für  Herstellung  von  neuen  Karten  und  Ausführung 
eines  Präcisions-Nivellements  (Titel  12),  C)  Erfordernis  für  überzählige  Personen 
(Titel  13),  Mehrerfordernis  für  die  in  Süd-Dalmatien  zur  Sicherung  der  Grrenze 
erforderlichen  Truppen  (Titel  14),  Completierung  von  20  Infanterie-Bataillonen 
auf  den  erhöhten  Friedensstand  (Titel  15),  Ankauf  von  12  Reitpferden  für  jedes 
Cavallerieregiment  (Titel  16),  Erfordernis  zur  Erhaltung  von  1632  übercompleten 
Artilleriepferden  und  1494  Soldaten  (Titel  17),  Erfordernis  für  die  Hinausgabe 
von  200  minderjährigen  Eemonten  in  die  Privataufzucht  (Titel  18);  IV.  ausser- 
ordentliches Erfordernis  zur  Durchführung  organisatorischer  Aenderungen  (Titel 
19 — 29);  die  letzteren  beziehen  sich  wesentlich  auf  Standeserhöhungen  und 
Neuformationen,  welche  eigentlich  thatsächlich  eine  Erhöhung  des  Ordinariums 
bedeuten  und  nur  für  die  ersten  Anschaffungen  im  Extraordinariura  eingestellt 
werden,  um  alsdann  nach  Durchführung  der  Organisation  im  Ordinarium  auf- 
zugehen. 

Da  hier  die  den  wichtigsten  Theil  des  Voranschlages  für  das  Heeres- 
ordinarium  bildenden  „Detailnachweisungen''  fast  ganz  fehlen,  und  die  beiden 
weiter  oben  besprochenen  Budgetbehelfe,  nämlich  das  „rubrikeu weise  Summar" 
und  die  „titelweise  Vertheiiung",  in  welchen  vor  dem  Jahre  1868  nicht  nur 
das  Ordinarium,  sondern  auch  das  Extraordinarium  übersichtlich  zergliedert  worden 
war,  wie  vorhin  erwähnt,  in  ihrer  ursprünglichen  so  übersichtlichen  Form  in 
den  neueren  Heeresbudgets  nicht  mehr  vorkommen,  so  sind  für  die  Beurtheilung 
der  einzelnen  Ansätze  im  Zusammenhalte  mit  den  denselben  zugrunde  liegenden 
administrativen  Voraussetzungen  nur  spärliche  —  theilweise  in  den  wenigen  vor- 
handenen Details,  theilweise  in  den  zumeist  sehr  knappen  Begründungen 
enthaltene  —  Anhaltspunkte  gegeben. 

Eine  übersichtliche  Entwicklung  der  Erfordernisse  und  eine  klare,  syste- 
matische Eintheilung  in  Titel  und  Eabriken  zeigt  hingegen  der  Voranschlag  des 
ausserordentlichen  Heereserfordernisses  für  die  Comman- 
den,  Truppen  und  Anstalten  im  Occupationsgebiete. 

Die  Kosten  für  diese  Heerestheile  setzen  sich  Zusammen  aus  den  normalen 
Friedensgebüren  und  aus  den  infolge  höherer  Stände^)  und  infolge  höherer  oder 
besonders  systemisierter  Gebüren  oder  Gebürsaufbesserungen  erwachsenden  Mehr- 
auslagen. Da  aber  die  normalen  Friedensgebüren  im  Ordinarium  des  Heeres- 
budgets enthalten  sind,  so  ist  es  lediglich  das  Erfordernis  für  eben  diese  Mehr- 
auslagen, was  den  Gegenstand  der  Präliminierung  im  Voranschlage  für  den 
Occupationscredit  bildet.  Dieses  im  Friedensetat  nicht  bedeckte  Mehrerfordernis 
wird  nun  in  der  Weise  angesprochen,  dass  zunächst  auf  Grund  einer  Reihe  von 
Detailnachweisungen  das  Gesammterfordernis  an  Personalgebüren   und   sachlichen 

^)  Mit  Ausnahme  des  Erfordernisses  für  die  Completierung  von  17  der  in  Bosnien 
und  in  der  Herzegowina  dislocierten  Infanterie-Bataillone  auf  den  erhöhten  Friedens- 
stand,  welches  beim  ausserordentlichen  Heereserfordernisse  präliminieit  ist. 


Die  Budgets  der  bewaffneten  Macht  Oesterreicli-Ungarns  für  das  Jahr  1900.  ,     77 

Ausgaben,  dann  die  im  Heeresordinariiini  bedeckte  Quote  desselben  für  einen 
Monat  berechnet  und  in  je  einer  besonderen  Darstellung  übersichtlich  nach- 
gewiesen wird,  in  welcher  auch  die  Erfordernisse  an  Naturalienverpflegung  und 
Mannschaftskost  zum  Ausdrucke  kommen.  In  einer  besonderen  Nachweisung  wird 
sodann  die  im  Friedensetat  bedeckte  Quote  für  zwölf  Monate  vom  thatsächlichen 
Gosammterfordernisse  für  zwölf  Monate  in  Abzug  gebracht;  die  Differenz  bildet 
dann  die  für  Eechnung  der  Occupation  zu  veranschlagende  Quote  der  Personal- 
gebüren  und  sachlichen  Ausgaben,  bezw.  an  Naturalienverpflegung  und  Mannschafts- 
kost, Der  eigentliche  Voranschlag  enthält  zunächst  das  thatsächliche  Gesammt- 
erfordernis  aller  Titel,  dann  die  im  Friedensetat  bedeckte  Quote  desselben  und 
die  das  anzusprechende  (im  Friedensetat  nicht  bedeckte)  Erfordernis  darstellende 
Differenz,  welche  schliesslich  mit  dem  für  das  Vorjahr  bewilligten  Mehrerfordernisse 
verglichen  wird.  Die  Haupterfordernisgruppen  sind  folgende: 

Geldverpflegung,  Naturalienverpflegung  und  Mannschaftskost,  Pferdebeschaf- 
fung, Wafifenwesen,  Trainwesen,  Genie-  und  Bauwesen,  Montur,  dann  Rüstung  und 
Betten,  Sanitätswesen,  allgemeine  Auslagen. 

Unter  den  allgemeinen  Auslagen  werden  auch  jene  der  Militärbahn 
Banjaluka-Doberlin  und  für  das  Militär-Post-  und  Telegraphenwesen  in  Bosnien 
und  in  der  Herzegowina  dargestellt;  bei  diesen  wird  jedoch  gleichzeitig  auch 
die  volle  Bedeckung  des  Erfordernisses  durch  die  aus  den  genannten  Verwaltungs- 
zweigen fliessenden  Betriebs-  und  sonstigen  Einnahmen,  sowie  durch  Zuschüsse 
aus  den  Betriebseinnahmen  der  Eisenbahn  Brod-Zenica  und  aus  dem  Budget  der 
Verwaltung  von  Bosnien  und  der  Herzegowina  (dann  die  Ersparungen  durch 
Beistellung  von  Bespannungen  für  gewisse  Postämter  seitens  der  Traintruppe) 
präliminiert,  so  dass  für  das  Budget  der  genannten  Verwaltungszweige  eigentlich 
keine  Geldanforderung  gestellt  wird. 

Sowohl  dem  Gegenstande  der  Erfordernisse,  als  auch  der  Form  nach  vom 
Voranschlage  des  Heeres  gänzlich  verschieden  ist  der  Voranschlag  der  gemein- 
samen Kriegsmarine.  In  seiner  ursprünglichen  Form  im  Budget  für  das  Jahr  1861 
zerfiel  derselbe  in  zwei  Abtheilungen,  nämlich  in  den  Voranschlag  für  die 
Marine  und  in  jenen  für  die  Flottille.  Beide  Theile  bestanden  aus  je  einer 
„Hauptübersicht",  welche  einerseits  die  Hauptgruppen  der  Marineverwaltung 
(Titel),  anderseits  die  rubrikenweise  gegliederten  sachlichen  Erfordernisse  dar- 
stellte, weiters  aus  einer  Nachweisung  der  kopfweisen  Erfordernisse  innerhalb 
der  einzelnen  Verwaltungsgruppen.  An  beide  Theile  schloss  sich  eine  Darstellung 
des  Personalstandes  und  eine  Liste  der  Fahrzeuge  unter  Angabe  der  Bestimmung 
und  des  Bemannungsstandes  der  einzelnen  Objecto  an,  den  Schluss  bildete  das 
Präliminare  der  eigenen  Einnahmen  der  Marineverwaltung  und  der  Flottille. 

Es  bestanden  damals  folgende  Titel: 

Gewöhnlich  wiederkehrende  Auslagen: 
d)  Centralleitung, 
h)  Isolierte^), 

1)  Personen,  welche  weder  zum  Verbände  eines  Schiffs-  oder  Trupp en-Commandos, 
noch  zu  demjenigen  einer  Anstalt  gehören,  und  demnach  zur  Ergänzung  des  Flotten- 
personals disponibel  sind. 


78  Ullmann. 

c)  Truppen  und  Branchen  ; 

Ausgerüstete  see-  uud  arsenaisbereito  Schilfe, 

Naturalien-  und  Servicebeschaffung, 

Materialanschaffung, 

Land-  und  Wasserbauten, 

Euhegenüsse, 

Allgemeine  Marineauslagen, 

In  den  Marinevoranschlägen  der  nächsten  Jahre,  insbesondere  aber  in  dem 
in  die  Aera  Tegetthoff  fallenden  Voranschlage  für  das  Jahr  1869,  sprach  sich 
deutlich  das  Bestreben  aus,  die  Erfordernisse  unter  Zugrundelegung  der  organischen 
Gliederung  in  einer  Weise  nach  wirtschaftlichen  Gruppen  einzutheilen,  „wie  es 
zur  Erleichterung  der  üebersicht  und  zu  einer  besseren  Beurtheilung  der  ökono- 
mischen Thätigkeit  der  leitenden  Verwaltungsbehörde  als  zweckmässig  betrachtet 
werden"  musste.  Das  Marine-Budget  wurde  nunmehr  (1869)  in  folgende  10  Titel 
eingetheilt: 

Centralleitung, 

Behörden  und  Aemter, 

Ausgerüstete  und  Reserve-Schiffe, 

Truppen  und  Anstalten, 

Isolierte, 

Schiffbau  und  Maschinen, 

Artillerie, 

Land-  und  Wasserbauten, 

Besondere  Marineauslagen, 

Versorgungsauslagen, 

Diese  Eintheilung  wurde  in  den  folgenden  Jahren  zunächst  beibehalten  „und 
nur  jene  Vereinfachung  und  Zusammenziehung  in  der  Form  der  verschiedenen 
Beilagen  angestrebt,  welche  ohne  Verminderung  der  Klarheit  die  üebersicht  nur 
noch  mehr  erleichterte." 

Mittelst  der  Resolution  vom  16.  August  1869  wurde  die  Marineleitung 
seitens  der  Delegationen  aufgefordert,  „zur  Vermeidung  von  Transpositionen 
einzelner  Posten  zu  verschiedenen  Titeln  das  Marin epräliminare  derart  zu  ordnen, 
dass  die  Titel  und  Posten  dem  sachlichen  Zusammenhange  und  der  leichteren 
üebersicht  vollends  entsprechen".  Dieser  Resolution  wurde  seitens  der  Marino- 
verwaltung,  an  deren  Spitze  noch  der  auf  militärischem  und  administrativen 
Gebiete  gleich  hervorragende  Viceadmiral  Tegetthoff  stand,  bereits  bei  der 
Zusammenstellung  des  Marinevoranschlages  pro  1871  vollkommen  Rechnung 
getragen,  welchem  eine  von  der  bisherigen  gänzlich  abweichende  Form  gegeben 
wurde.  Die  neue  Form  war  in  den  Hauptumrissen  den  Navy  estimates,  dem 
Budget  der  englischen  Kriegsmarine,  nachgebildet  und  ist  der  Hauptsache  nach 
noch  im  gegenwärtigen  Voranschlage  der  k.  und  k.  Kriegsmarine  in  Geltung.  Die 
Anzahl  der  Titel  des  Ordinariums  war  zwar  dieselbe  geblieben  wie  vorher 
(10  Titel),  der  Inhalt  derselben  aber  wich  zum  Theile  von  jenen  der  früheren 
Jahre  ab. 


Die  Budgets  der  bewaffneten  Macht  Oesterreich-Ungarns  für  das  Jahr  1900.        79 

Durch  eine  scharfe  AJbgrenzung  der  Aufgahen  nach  ihren  verschiedenen 
Hauptrichtungen  wurde  im  Marinebudget  pro  1871  nicht  nur  eine  verlässliche 
Verbuchungsgrundlage  gewonnen,  sondern  auch  die  Möglichkeit  geschaffen,  mit 
jedem  Jahresabschlüsse  die  Gebarungsresultate  sowohl  in  grossen  Schlussziffern, 
als  auch  in  kleinen  Detailposten  den  Ansätzen  des  Präliminares  entgegenstellen 
zu  können. 

lieber  die  neugeschaffenen  Titel  enthält  das  Expose  des  letztgenannten 
Marinevoranschlages  äusserst  instructive  Ausführungen,  wovon  hier  nur  Folgendes 
erwähnt  sei: 

„Die  Titel  I  bis  V  umfassen,  wie  früher,  die  Erfordernisse  für  das  Personal, 
sowie  jenen  Aufwand  für  Kanzleiauslagen  und  dergleichen,  der  sich  am  besten  dazu 
eignet,  unter  einem  mit  dem  Personal  ausgewiesen  zu  werden,  nur  weicht  das 
Präliminar  pro  1871  von  den  früheren  darin  ab,  dass  in  demselben  die  einzelnen 
Gebürskategorien  als  Titel,  Subtitel  u.  s,  w.  erscheinen  und  die  Nachweisung 
der  Verwendung  des  Personals,  und  mithin  der  Aufwand  für  die  verschiedenen 
Behörden,  Aemter  und  dergleichen  aus  den  Beilagen  zu  entnehmen  ist,  während 
noch  im  Jahre  1870  der  Aufwand  für  die  verschiedenen  Personalgebüren  und 
sonstigen  Erfordernisse  nach  Behörden  und  Aemtern  ausgewiesen  war."  Diese 
letztere  Methode  aber  habe  zur  Folge  gehabt,  dass  sich  die  heterogensten  Posi- 
tionen aneinander  reihten,  deren  Summen  Ziffern  ergaben,  welche  jedes  praktischen 
Wertes  entbehrten,  da  sie  nie  entnehmen  Hessen,  welche  Ursache  einem  sich 
ergebenden  Mehr-  und  Minderaufwande  zugrunde  lag. 

Weiters  enthält  das  Expose'  eingehende  Aufschlüsse  über  den  Inhalt  der 
einzelnen  Voranschlagstitel,  deren  Posten  nach  der  neuen  Budgetgliederung  nur 
homogene  Gegenstände  behandeln. 

Den  vorstehenden  Ausführungen  entsprechend  sind  nun  auch  im  gegen- 
wärtigen Marin  evor  an  schlage  die  Erfordernisse  in  scharf  umrissenen,  nach  den 
Erfordernisdetails  klar  und  übersichtlich  gegliederten  Gruppen  dargestellt  (objec- 
tives  Moment),  und  werden  ebenso  klar  die  an  den  Erfordernissen  participierenden 
Verwaltungszweige,  beziehungsweise  Organe  ersichtlich  gemacht  (subjectives  Moment). 
Zwar  ist  bei  der  Gruppierung  der  Marineerfordernisse  infolge  des  zweifachen 
Dienstes  der  Kriegsmarine  zu  Lande  und  zur  See  eine  Zersplitterung  in  der 
Darstellung  gewisser  Bedürfniskategorien  (z.  B.  der  Verpflegung  der  Mannschaft) 
unvermeidlich,   doch  ist  dieselbe  für  die  Uebersichtlichkeit  von  keinem  Nachtheile. 

Ordinarium  und  Exfcraordinarium  sind  im  Marinevoranschlage  nach  gleichen 
Gesichtspunkten  gegliedert,  das  ausserordentliche  wird  immer  zu  einem  bestimmten 
Titel  (Post)  des  ordentlichen  Erfordernisses  angefordert.  Sowohl  in  der  Darstellung 
des  ordinären,  als  auch  in  jener  des  extraordinären  Erfordernisses  ist  im  Marine- 
budget für  die  Vergleichung  der  Präliminaransätze  des  laufenden  mit  jenen  des 
Vorjahres  Vorsorge  getroffen. 

So  legt  denn  der  musterhafte  Aufbau  des  gegenwärtigen  klaren  und  über- 
sichtlichen Marinebudgets  den  Gedanken  nahe,  dass  durch  eine  ähnliche  Gestaltung 
des  Heeresbudgets  für  die  Uebersichtlichkeit  und  Verständlichkeit  des  letzteren 
erhebliche  Vortheile  erreicht  werden  könnten. 


80 


Ullmann. 


Der  Voranschlag-  des  k.  k.  österreichischen  Landesverthei- 
digungs-Ministeriums  besteht  aus  den  bereits  eingangs  vorgeführten 
6  Titeln,  von  denen  der  Titel  2  das  Erfordernis  der  k.  k.  Landwehr  enthält, 
welches  wieder  aus  einer  —  gleichfalls  aus  dem  vorgeführten  Titelschema 
ersichtlichen  —  Reihe  von  Erfordernisgruppen  zusammengesetzt  ist.  Gegenstand  und 
Darstellung  der  Erfordernisdetails  sind  hier  fast  dieselben  wie  im  Heeresbudget; 
anders  gestaltet  sich  nur  die  Bedeutung  der  Eintheilung  nach  Budgetposten, 
unter  welchen  hier  die  Details  der  einzelnen  Erfordernisgruppen  zu  verstehen  sind, 
dann  die  Darstellung  der  Stände  an  Gagisten,  Mannschaft  und  Pferden,  welche  hier 
nicht  wie  im  Heeresbudget  in  einer  einzigen  Gesammtübersicht,  sondern  in  speciellen, 
den  bezüglichen  Erfordernisgruppen  beigefügten   Theilübersichten  dargestellt  sind. 

An  das  Ordinarium  schliesst  sich  das  nur  aus  wenigen  Posten  bestehende 
Extraordinarium  an.  Bemerkenswert  ist  das  Erfordernis  für  die  Neubauten 
mehrerer  Landwehrkasernen,  wofür  ein  eigenes  Investitionspräliminare  aufgestellt 
ist,  dann  der  Umstand,  dass  im  Budget  des  k.  k.  Landesvertheidigungs-Ministeriums 
nicht  das  gesammte  Erfordernis  der  Landwehr  enthalten  ist,  da  das  Präliminare 
für  die  Versorgungsgenüsse  im  Budget  des  allgemeinen  Pensionsetats  dargestellt 
Avird.  Hievon  wird  noch  an  anderer  Stelle  die  Rede  sein. 

Was  endlich  das  Präliminare  des  k.  ungar.  Landesvertheidigungs-Ministeriums 
für  die  k.  ungarischen  Landwehr  (Honve'dtruppen)  anbelangt,  so  ist  das 
ordentliche  Erfordernis  desselben  der  Hauptsache  nach  im  CapitelXXIII,  und  insoweit 
es  sich  auf  die  Landwehrpensionen  und  auf  die  Ressortanlehen  bezieht,  in  den 
Capiteln  VI  und  IX  des  Staatsvoranschlages  präliminiert;  das  ausserordentliche 
Erfordernis  und  das  Investitionspräliminare,  endlich  die  ordentlichen  und  ausser- 
ordentlichen Einnahmen  gehören  wieder  anderen  Capiteln  des  Staatsvoranschlages 
an.  Die  Erfordernisse  aller  dieser  Theile  des  ungar.  Staatsvoranschlages 
stellen  in  ihrer  Vereinigung  das  Budget  des  k.  ungar.  Landesvertheidigungs- 
Ministeriums  dar.  Hinsichtlich  der  specifischen  Landwehrauslagen  auf  ähnlichen 
organisatorischen  und  administrativen  Voraussetzungen  basierend,  wie  die  Budgets 
des  gemeinsamen  Heeres  und  der  k.  k.  österr.  Landwehr,  behandelt  das  ungar. 
Landwehrbudget  auch  die  gleichen  ökonomischen  Erfordernisse  wie  diese,  nur  ist 
—  wie  aus  dem  über  den  Umfang  des  Budgets  Gesagten  hervorgeht  —  die 
Darstellung  dieser  Erfordernisse  eine  umfassendere  wie  im  österr.  Landwehrbudget; 
hauptsächlich  aber  ist  es  die  Art  der  Zusammenfassung  und  Gliederung  der 
Erfordernisse,  worin  sich  das  Honvedbudget  von  allen  anderen  bisher  besprochenen 
Voranschlägen  unterscheidet. 

Das  Charakteristische  dieses  Budgets  liegt  im  Aufbaue  der  Haupterforderiiis- 
gruppe,  nämlich  des  ordentlichen  Erfordernisses  sämmtlicher  Landwehrtruppen 
(Cap.  XXIII,  Titel  6),  welches  folgendermaassen  dargestellt  wird.  Zunächst  zeigt 
eine  summarische  Uebersicht  die  Präliminarbeträge  für  die  Erfordernisse  an  Geld- 
gebüren,  Unterkunft,  Verpflegung,  Pferdefutter,  Montur  und  Rüstung,  Kranken- 
pflege, Munitionsbeschaffung  und  Remontierung.  Eine  weitere  Darstellung  weist 
das  Präliminare  der  einzelnen  Gebürsgattungen  innerhalb  dieser  Erfordernisgruppen 
nach,  z.  B.  zur  Gruppe  „Geldverpflegung"  das  Präliminare  an  Gagen,  Officiers- 
diener-Relutum,  Pferdepauschal  u.  s.  w.,  schliesslich  bietet  eine  dritte  Nachweisung 


I 


Die  Budgets  der  bewaffneten  Macht  Oesterreich-Ungarns  für  das  Jahr  1900,       81 

eine  Uebersicht  der  Einzelerfordernisse  unter  Anführung  der  bezüglichen  Standes- 
ziffern und  kopfweisen  Gebüren.  Die  rubrikenweise  Gliederung  ist  in  den  beiden 
letzteren  Nachweisungen  dieselbe  und  lautet  I.  Infanterie  ( Activ-  und  Reservestand, 
Landsturm,  Ersatzreserve,  Schulen),  II.  Kronwache,  ni.  Cavallerie  (Activ-  und 
Reservestand,  Landsturm,  Ersatzreserve,  Schulen). 

Als  eine  praktische,  die  Uebersichtlichkeit  fördernde  Einrichtung  ist  zu 
erwähnen,  dass  bei  den  einzelnen  Titeln  des  Ordinariums  auch  die  etwa  mit 
denselben  correspondierenden  Titel  des  Extraordinariums  und  überdies  die  zu  dem 
betreffenden  Erfordernisse  präliminierte  Bedeckung  durch  ordentliche  oder  ausser- 
ordentliche Einnahmen  ersichtlich  gemacht  sind. 

Wenn  nun  auch  durch  den  geschilderten  Aufbau  nicht  im  gleichen 
Maasse  wie  durch  den  Aufbau  des  Marinevoranschlages  ein  Ueberblick  über  den 
Gesammtcomplex  der  gleichartigen  Erfordernisse  aller  Voranschlagsgruppen  ermöglicht 
wird,  so  ist  doch  wenigstens  der  Ueberblick  über  die  Erfordernisse  des  Haupt- 
titels, nämlich  über  die  Truppenerfordernisse  ein  sehr  klarer.  Dennoch  müsste 
das  im  Aufbaue  des  Honvedbudgets  zum  Ausdrucke  kommende  System  als  für 
einen  umfangreicheren  Verwaltungszweig  minder  geeignet  erscheinen,  weil  in 
einem  solchen  —  vermöge  der  reicheren  Gliederung  der  Administration,  beziehungs- 
weise der  grösseren  Anzahl  der  Behörden,  Anstalten  und  anderweitigen  Organe  — 
auch  die  Anzahl  der  neben  der  Hauptgruppe  der  Truppenerfordernisse  noch  zur 
Darstellung  gelangenden  Einzelbudgets  eine  zu  grosse  wäre  und  daher  die  Ueber- 
sichtlichkeit bedeutend  verringern  würde. 

II. 

Es  wurde  nun  der  Versuch  unternommen,  die  erwähnten  Voranschläge  für 
die  bewaffnete  Macht  —  und  zwar  an  der  Hand  der  Budgets  für  das  Jahr  1900 
—  in  der  Richtung  zu  bearbeiten,  dass  die  Erfordernisse  jedes  einzelnen  in 
ihre  Bestandtheile  zergliedert  und  diese  sodann  nach  gleichen  Gesichtspunkten 
gruppiert  wurden.  Nach  dieser  bei  allen  vier  Budgets  in  gleicher  Weise  durch- 
geführten Sichtung  und  Eintheilung  können  nun  die  gewonnenen  neuen  Gruppen 
nicht  nur  innerhalb  eines  und  desselben  Voranschlages,  sondern  auch  mit  den 
gleichartigen  Gruppen  der  übrigen  Voranschläge  verglichen  werden,  wodurch  sich 
eine  Reihe  bisher  unbekannter  Resultate  erzielen  lässt,  welche  eine  Grundlage 
für  verschiedene  statistische  Betrachtungen  bieten.  Es  mögen  jedoch  hier  die  bei 
diesem  Versuche  zutage  getretenen  mehrfachen  Schwierigkeiten  nicht  unerwähnt 
bleiben,  weil  dieselben  in  vielen  Fällen  die  Gewinnung  genauer  Resultate 
unmöglich  machten.  Solche  Schwierigkeiten  ergaben  sich  z.  B.  bei  Zergliederung 
der  Extraordinarien,  da  hiebei  zumeist  nur  spärliche  Behelfe  zur  Verfügung 
standen  und  daher  zu  umfangreichen  Berechnungen  geschritten  werden  musste, 
welche  oft  schliesslich  nur  annäherungsweise  richtige  Resultate  liefern  konnten. 
Weiters  bei  Behandlung  solcher  Erfordernisbeträge,  in  welchen  Erfordernisse  ver- 
schiedener Art  cumuliert  sind,  und  für  deren  Zerlegung  zum  Zwecke  der  Eintheilung  in 
die  entsprechenden  sachlichen  Erfordernisgruppen  eine  Handhabe  nicht  gegeben 
war,  z.  B.  hinsichtlich  des  bereits  erwähnten  Präliminarbetrages  per  3,700.000  K 
für  die  Erfordernisse   der  Waffenübungen    und   Concentrierungen,    übrigens   auch 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  X.  Band.  6 


32  TJUmann. 

hinsichtlich  vieler  extraordinären  Erfordernisbeträge  und  anderer  summarischen 
Präliminarien.  Diese  Beträge  konnten  daher  nur  in  eine  Erfordernisgruppe  ein- 
getheilt  werden,  wodurch  selbstredend  das  Bild  der  in  dieser  Gruppe  darzAistellenden 
gleichartigen  f]rfordernisse  getrübt  wurde  Endlich  bei  Berücksichtigung  gewisser 
Interkalarien,  welche  von  ganzen,  verschiedenartige  Erfordernisse  umfassenden 
Titelsummen,  oder  wie  es  sich  hinsichtlich  des  österr.  Landwehrvoranschlages 
ergab,  von  der  Summe  des  gesammten  ordentlichen  Landwehrerfordernisses  abzu- 
ziehen sind. 

Die  Hauptgruppen,  in  welche  die  Erfordernisse  der  Voranschläge  des  gemein- 
samen Heeres,  der  gemeinsamen  Kriegsmarine,  der  k.  k.  österr.  und  der  k.  ungar. 
Landwehr  eingetheilt  wurden,  sind  folgende  : 

Gruppe  I.  Persönliche  Auslagen : 

a)  Activitätsbezüge : 

1.  Besoldungen. 

2.  Andere  Activitätsbezüge, 

b)  Versorgungsbezüge. 

Gruppe  II.  Sachliche  Auslagen: 
d)  Für  Verköstigung: 

1.  der  Personen, 

2.  der  Pferde, 

b)  Für  Montur  und  Rüstung, 

c)  „  Unterkünfte, 

d)  „  Bettenwesen, 

e)  ,,  Heizung  und  Beleuchtung, 
/)  „  Sanitätserfordornisse, 

g)     „    Waifenwesen, 

h)     „     militärische  Hebungen  und  Vorsuche, 
i)     „     Verwaltung  und  Betrieb, 
/i*)     „    Materialinstandhaltung, 
1)     „     Bauten  und  bauliche  Instandhaltungen, 
m)     „    Remontierung. 

Hinsichtlich  des  Inhaltes  dieser  Gruppen  wäre  Folgendes  zu  erwähnen: 
Unter  Besoldungen  sind  die  Gagen  (Gageergänzungen)  der  Officiere, 
Beamten  und  sonstigen  Angestellten,  Adjuten,  Dotationen  der  Militär-  und  Marine- 
Attaches  bei  den  auswärtigen  Missionen,  Löhnungen.  Löhnungsdifforenzen  und 
dergleichen  zu  verstehen,  während  die  anderen  Activitätsbezüge  die 
verschiedenen  Zulagen  für  Officiere  und  Mannschaft,  Beiträge,  die  Unterofficiers- 
dienstprämien,  Remunerationen,  Belohnungen  u.  s.  w.  betreffen. 

Die  Versorgungsbezüge  werden,  wie  schon  weiter  oben  angedeutet, 
in  den  vier  Militärbudgets  verschieden  präliminiert.  Im  Heeresbudget  werden 
nämlich  nebst  den  Pensionen,  Sustentationen,  Gnadengaben  und  sonstigen  Ver- 
sorgungsbezügen für  die  Personen  dos  Heeres  auch  die  Pensionen,  beziehungsweise 
Pensionsquoten  für  diejenigen  Personen  der  beiden  Landwehren  angesprochen, 
welche  einen  Theil  ihrer  Dienstzeit  beim  gemeinsamen  Heere  zurückgelegt  haben. 


II 


Die  Budgets  der  bewaffneten  Macht  Oesterreich-Ungarns  für  das  Jahr  1900.        83 

Das  Marinebudget  enthält  die  anf  Grund  der  thatsächlichen  Standesverhältnisse  der 
Pensionisten  erforderlichen  Versorgungsbezüge.  Die  Pensionen  der  k.  k.  österr. 
Landwehr  sind  im  Landwehrvoranschlage  überhaupt  nicht,  sondern  im  Voranschlage 
für  den  allgemeinen  Pensionsetat  (Capitel  31  des  österr.  Staatsvoranschlages) 
präliminiert.  Im  Voranschlage  für  die  k.  ungar.  Landwehr  endlich  sind  alle 
Versorgungsbezüge  der  Landwehrpensionisten  —  in  welchen  auch  der  oberwähnte 
Zuschuss  der  Heeresetats  inbegriffen  ist  —  und  ausserden  die  Witwen-  und 
Waisenpensionen  enthalten. 

Die  Auslagen  für  die  V  e  r  k  ö  s  t  i  g  u  n  g  der  P  e  r  s  o  n  e  n  betreffen  beim 
Iloore  und  bei  den  Landwehren  die  Erfordernisse  an  Brot,  Menagegeld,  Durch- 
zugskost, Subsistenzulagen  der  Mannschaft  u.  s.  w. ;  bei  der  Kriegsmarine  die 
Auslagen  für  die  Brotgebür,  Eationen,  Menagebeiträge  und  Sanitätszulagen  der 
Mannschaft,  an  Schiffskostgeldern,  Beschaffung  von  Trinkwasser  u.  s.  w. 

Die  Auslagen  für  das  Sanitätswesen  betreffen  Medicamente,  Instru- 
mente und  die  verschiedenen  ärztlichen  Bedürfnisse  der  Truppen,  Spitäler,  Apo- 
theken und  Laboratorien. 

Die  Gruppe  Waffenwesen  umfasst  die  Auslagen  für  Erzeugung  und 
Beschaffung  der  verschiedenen  Artillerie-Materialsorten  und  Handwaffen,  Munitions- 
erzeugung und  -Beschaffung  und  dergleichen. 

In  die  Gruppe  militärische  Hebungen  und  Versuche  wurden  eingetheilt: 
Die  Waffenübungs-  und  Concentrierungs- Auslagen,  die  Auslagen  für  die  Uebungen 
der  Artillerieschiesschule,  der  Artillerietruppen,  der  praktischen  Uebungen  überhaupt, 
für  die  Erfordernisse  des  feldmässigen  Schiessens  u.  s.  w.;  die  Auslagen  für  die 
Versuche  in  allen  Zweigen  des  Waffenwesens,  auf  dem  Gebiete  des  Geniewesens, 
der  Verpflegung,  für  chemische  Probeversuche  u.  s.  w. 

Bei  der  Kriegsmarine  tritt  an  die  Stelle  dieser  Gruppe  jene  der  „Schiffbau- 
und  besonderen  Marineauslagen". 

Hieher  gehören  die  Auslagen  des  hydrographischen  Amtes  für  die  Stern- 
warte, das  InstrumentendepOt,  die  Marinebibliothek,  die  Abtheilung  für  Geophj^sik, 
die  Auslagen  für  Feuerungsmaterial,  für  Instandhaltung,  Anstrich  und  Beleuchtung 
etc.  der  in  Dienst  gestellten  Schiffe,  für  Schiffsbauten  und  Maschinen,  für  Schifl'ahrts- 
canaltaxen  und  Entlohnung  von  Lootsen  u.  s.  w. 

Zu  den  Verwaltungs-  und  Betriebsauslagen  gehören  im  allgemeinen 
die  Wirtschaftspauschalien  der  Truppen,  Kanzlei-,  Drucksorten-,  Reise-,  Wagen-, 
Post-  und  Telegraphenauslagen,  verschiedene  Pauschalien  der  Truppen  und  Anstalten, 
Recrutierungsauslagen,    Feldschadenvergütung,    Münzbewertungsdifferenz    u.  s.  w. 

Im  Ungar.  Landwehrbudget  auch  die  Zinsen,  Capitalstilgung  und  andere 
Auslagen  für  die  das  Landwehr-Portefeuille  belastenden  Anlehen,  dann  die  Auslagen 
für  Brandschadenversicherung. 

Zu  den  Materialinstandhaltungs-Auslagen  gehören  im  allgemeinen  die 
Auslagen  für  die  Instandhaltung  und  Conservierung  der  Werkzeuge,  Requisiten, 
Geräthe,  der  Vorräthe  der  Artillerie-,  Pionnier-  und  Trainzeugsdepöts  und  der- 
gleichen; aus  dem  Marinebudget  die  Auslagen  für  Ersatz  und  Reparatur  von 
Dampfkesseln  für  Schiffe  und  Torpedoboote,  die  Arbeitslöhne  d(s  Seonrsenals  sammt 


84  Ullmann. 

Kranken-  und  Unfallversicherung,  die  Auslagen  für  das  Arbeits-,  Verbrauchs-  und 
Betriebsmaterial  u.  s.  w. 

Die  Auslagen  für  Remontierung  betreffen  im  allgemeinen  die  Kosten  der 
Pferde-(Remonten-)Beschaffung,  die  Aufzahlungen  beim  Eemonten ankaufe,  das 
Remontenaufstellungspauschal,  die  Mehrkosten  für  die  an  mittellose  Officiere 
um  den  gewöhnlichen  Preis  überlassenen,  zu  höheren  Preisen  angekauften 
Remonten  u.  s.  w. 

Diese  sachlich  gegliederte  Heb  ersieht  gestaltet  sich  nun  hinsichtlich  der 
im  Ordinarium  und  im  Extraordinariura  des  k.  und  k.  Heeres  und  im  Voran- 
schlage für  das  ausserordentliche  Heereserfordernis  für  die  Commanden,  Truppen 
und  Anstalten  im  Occupationsgebiete  für  das  Jahr  1900  präliminierten  Ausgaben 
und  Einnahmen  —  von  welchen  die  ersteren  ohne  Berücksichtigung  der  in  den 
Budgets  von  den  betreffenden  Titeln  in  Abzug  gebrachten  Einnahmen  dargestellt 
werden  —  folgendermaassen.  (Siehe  Tabelle  S.  85.) 

Wie  aus  dieser  Tabelle  ersichtlich,  wird  der  weitaus  grösste  Theil  der 
Heereserfordernisse  (circa  92  Proc. )  im  Ordinarium  angesprochen ;  ungefähr 
5Proc.  des  Gesammterfordernisses  entfallen  auf  das  Extraordinarium  und  3  Proc. 
auf  die  Erfordernisse  der  Commanden,  Truppen  und  Anstalten  im  Occupations- 
gebiete. Das  Verhältnis  dieser  drei  Theile  des  Heeresbudgets  zu  einander  ist 
natürlich  infolge  des  schwankenden  Charakters  des  Extraordinariums  ein  stets 
variables,  und  zwar  sind  es  in  der  Regel  die  Auslagen  für  das  Waffenwesen  und 
für  Bauten,  welche  das  Bild  des  Extraordinariums  bestimmen. 

Im  vorliegenden  Heeresbudget  sind  z.  B.  für  das  Waftenwesen  überhaupt 
keine  extraordinären  Erfordernisse  angesprochen,  da  gegenwärtig  erst  die  Versuche 
zur  Schaffung  eines  neuen  Feld-  und  Gebirgsgeschützsystems  im  Gange  sind. 

Der  für  diesen  Zweck  präliminierte  Betrag  von  80.000  K  ist  hier  bei  den 
Erfordernissen  für  militärische  Hebungen  und  Versuche  eingestellt. 

In  allen  drei  Theilvoranschlägen  für  das  k.  u.  k.  Heer  überwiegen  die 
Auslagen  für  die  sachlichen  Erfordernisse  über  die  persönlichen  Auslagen.  Die 
Summe  der  gesammten  sachlichen  Erfordernisse  beträgt  rund  63  Proc,  jene  der 
persönlichen  rund  37  Proc.  des  Heereserfordernisses. 

Den  Hauptfactor  der  persönlichen  Auslagen  bilden  die  Besoldungen.  Nach 
den    angestellten  Berechnungen  belaufen  sich  diese  auf  rund  75*1  Millionen  oder 
66*5  Proc.   aller  Activitätsbezüge   oder  circa  25  Proc,   der   Gesammterfordernisse 
des  Heeres,    stellen  sich   daher   als  das  Haupterfordernis  des  ganzen  Heeresvor- 
aiischlages  dar.  Dieses  Haupterfordernis  gliedert  sich  in  das  Erfordernis  für  Gagen 
und  in  jenes  für  Löhnungen,  wovon  das  erstere  circa  55"74  Millionen  =  19  Proc, 
(las  letztere  circa  19"18  Millionen  =  6  Proc.  vom  Gesammterfordernisse  beträgt. 
Die   im   ordentlichen  Erfordernisse  veranschlagten  Gagen  wurden    für  21.151    im 
Gagebezuge  stehende  Personen  berechnet,  unter  denen  sich 
16.378  Generale,  Stabs-  und  Oberofficiere, 
129  Militärgeistliche, 
167  Auditore, 
1.214  Militärärzte, 
529  Truppenrechnungsführer, 


Die  Budgets  der  bewaffneten  Macht  Üesterreich-Ungarus  für  das  Jahr  1900.       85 

Sachlich  gegliedente   Uebensicht 

der  im 

Hceresvoraii schlage  des  Ordinariunis,  Extraordiiiariums  und  Occupationscreditos  für 

das  Jahr  1900  präliminierten  Ausgaben  und  Einnahmen. 


s 

i 

udpräliminiert:                    | 

OJ 

1       .       _              11      im  Voran-      II                                1 

3. 

Für 

im           j 

im  Extra-   'sehlaee  für  den       r/ 

ordinarium  ,  Occupations-  ü     Zusammen 

Ö 

Ordinarium 

o 

Credit                                         | 

K        \h 

K         h 

K         h          K        \ 

h 

I 

Persönliche  Auslagen 
(Geldgebüren). 

a   '' 

Activitätsbezüge : 

; 

1.  Besoldungen 

73,208.756 

— :      354.837 

— ; 

1,5.33.190 

-    75,096.783 

— 

2.  Andere  Activitätsbezüge 
Summe    der    Activitätsbe- 

11,768.736 

-       128.652 

— ;      602.280 

—    12,499.668 

— 

;' 

1' 

züge  j 

84,977.492 

—       483.489 

—    2,135.470 

-    87,596.451 

— 

b           i 

Versorgungsbezüge     ... 
Summe     dei*^    persönlichen 

24,771.824 

— 

— 

—  !               — 

-    24,771.824 

— 

1 

11 

Auslagen 

109,749.316 

— 

483.489 

— 

2,135.470 

— 

112,368.2:5 

— 

11                i 

Sachliche  Auslagen 

a 

Für  Verküstigung: 

1.  der  Personen 

.57,899.042 

— 

2,785.388 

1 

1,440.2.58 

-1   62,124.688 

— 

2.  der  Pferde 

Summe  der  Auslagen    für 

22,493.560 

—       604.278 

—       696.144 

— ;   23,793  982 

— 

!i 

Verköstigung 

80,392.602 

—    3,389.666 

-    2,136.402 

-    85,918.670 

— 

h 

Für  Montur  und  Rüstung  . 

17,808.356 

-       319.418 

-':     202.792 

—  ■  18,330.566 

— 

c 

Für  Unterkunft 

29,423.520 

—       462.155 

—  \      154.348 

— 

30,040.023 

— 

d 

Für  Bettenwesen    .... 

2,648.292 

— 1        43.180 

—  1       42.604 

— 

2,734.076 

— 

<i 

Für  Heizung  und  Beleuch- 

i| 

tung  

3,728  3.34 

— ,1       33,041 

— 

80.640 

-      3,842.015 

— 

f 

Für  Sanitätserfordernisse  . 

691,300 

— 

— 

19.800 

-:        711. ICO 

— 

0 

Für  Waffenwesen    .... 

6,395.160 

— 

— 

30.280 

— 

6,425.440 

— 

h 

Für  militär.  Uebungen  und 

Versuche 

5,454.752 

— 

80.000 

— 

— 

5,534.752 

— 

i 

Für  Verwaltungs-  und  Be- 

triebs-Erfordernisse    .    . 

11,039.690 

—       253.121 

-i  3,935.326 

-    15,228.137 

— 

k 

Für  Materialinstandhaltung 

636.200 

— [i       48.218 

-i      112.980 

-:,       797.398 

— 

l 

Für  Bauten   und   bauliche 

li 

t 

i 

Instandhaltungen    .    .    . 

5,822.900 

— i  8,030.410 

-!     926.000 

— [i  14,779.310 

— 

m 

Für  llemontierungswesen  . 
Summe  der  sachl.  Auslagen 
Gesammt-Erfordernis      .    . 

5,707.836  -       929.830 

-\        79.056 

—      6,716.722 

_^ 

169,748.942 

—  13,-589.039 

— ;:  7,720.228 

-  191,058.209 

— 

279,498.258 

—,14,072.528 

— 

9,855.698 

-303,426.484 

— 

ill 

Hievon  die  Bedeckung, 

ii 

und  zwar: 

1.  Einnahmen,  welche   im 

Budget  selbständig  nach- 

gewiesen und  vom   Ge- 

sammterfordernisse  abgC' 

zogen  werden 

8,470.778 

— 

— 

— 

80.000 

— 

8,550.778 

— 

2.   Einnahmen,  welche   im 

Budget  bei   den  betref- 

fenden   Titelerfordernis- 

sen    nachgewiesen    und 

i      von     denselben     vorweg 

'i 

abgezogen  werden  .    .    . 

1,841.304 

1        — 

—    2,473.698 

—  1    4,315.002 

— 

Summe  der  Bedeckung  .    . 

1  10,312.082 

—  ■        — 

— 1   2,553.698 

— !  12,865.780 

— 

j  Daher  unbedecktes  Erfor-  ;i 

1 

\      dernis  (laut  Budget)  .    . 

«269,186.176 

i 

14,072.528 

— 

1  7,302.000 

~ 

290,560.704 

86  Ullmauu, 

2.327  Beamte, 
48  Lelirpersonon, 

140  Hilfs-  und  Auföichtsor^ane  und 
219  Armeediener 
boiindon.  Demnach  stellten  die  Officiere,  Militärgeistlichen,  Auditore,  Aerztc  und 
Truppenrechnungsführer  ungefähr  87  Proc,  die  Beamten  und  Lehrpersonen 
ungefähr  11  Proc,  die  übrigen  Organe  zusammen  ungefähr  2  Proc.  des  obigen 
Gagistenstandes,  und  entfällt  auf  einen  Gagisten  eine  Kopfquote  von  rund  2635  K.'^) 
Die  im  Ordinarium  präliminierten  Löhnungen  gründen  sich  auf  einen  Stand  von 
283.877  Unterofficieren  und  Soldaten,  vrovon  die  ersteren  ungefähr  10*75  Proc. 
der  gesammten  Mannschaft  bilden.  Die  Kopfquote  der  Löhnung  stellt  sich  auf 
rund  70  K.  Von  der  Gesammtsumme  der  Activitätsbezüge  entfallen  auf  einen  Kopf 
der  Gagisten  rund  2727  K,  auf  einen  Mannschaftskopf  rund  94  K. 

Unter  den  sachlichen  Auslagen  ist  die  bedeutendste  Gruppe  jene  der 
Auslagen  für  die  Beköstigung  der  Mannschaft,  welche  sich  auf  ungefähr 
62*12  Millionen  oder  20*5  Proc.  des  Gesammterfordernisses  belaufen;  auf  Grund 
des  erwähnten  Mannschaftsstandes  resultiert  an  Erfordernissen  dieser  Gruppe 
eine  Kopfquote  von  circa  206  K.  Mit  Hinzurechnung  der  Auslagen  für  die 
Verköstigung  der  Pferde  (unter  denen  58.475  ärarische)  erhöht  sich  das 
Erfordernis  für  Ernährungsartikel  auf  85*92  Millionen,  gleich  28"3  Proc.  des 
Gesammterfordernisses. 

Nach  dem  Erfordernisse  an  Verköstigungsauslagen  wären  weiters  hervorzu- 
heben: Die  Elfordernisse  an  Unterkunftsauslagen  per  30  04  Millionen  mit  fast 
10  Proc.  an  (Unterkunftsauslagen  entfallen,  und  zwar  bei  Berücksichtigung  des 
Wertes  der  Naturalunterkünfte  per  Kopf  bei  den  Gagisten  circa  1048  K,  bei 
der  Mannschaft  circa  34  K).  Dann  die  Versorgungsauslagen  per  24*77  Millionen 
mit  fast  8  Proc,  das  Erfordernis  für  Montur  und  Eüstung  per  18*33  Millionen 
mit  6  Proc  des  Gesammterfordernisses  und  einer  Kopfquote  von  ungefähr  58  K, 
für  Verwaltungs-  und  Betriebsauslagen  von  15*23  Millionen  und  für  Bauten  und 
bauliche  Instandhaltungen  von  14*78  Millionen  mit  je  ungefähr  5  Proc,  an 
Auslagen  für  das  Waffenwesen  von  6*42  Millionen,  für  militärische  Uebungen 
und  Versuche  von  5*53  Millionen,  endlich  für  Eemontierung  von  6*71  Millionen 
mit  je  rund  2  Proc.  des  Gesammterfordernisses.  Die  anderen  geringeren  Erfordernis- 
beträge stellen  nicht  viel  mehr  oder  weniger  als  1  Proc.  des  gesammten  Heeres- 
erfordernisses dar. 

Eine  Zusammenstellung,  beziehungsweise  Vergleichung  der  von  den  wichtigsten 
Erfordernissen  der  einzelnen  Budgets  auf  einen  Kopf  entfallenden  Quoten  wird 
weiter  unten  folgen. 

Bei  der  Kriegsmarine  gestaltet  sich  der  Ueberblick  der  sachlichen 
Gliederung  folgendermaassen : 


I 


I 


*)  Die  angeführten  Kopfquoten  beziehen  sich  nur  auf  das  ordentliche  Erfordernis 
Bei  Berechnung  derselben  wurden  nur  die  auf  dem  Gagisten-  beziehungsweise  Mannschafts- 
stande basierenden  Erfordernisse  in  Betracht  gezogen,  während  die  auf  dem  Stande  an 
Zöglingen  und  an  Invaliden  beruhenden  Präliininarbeträge  unberücksichtigt  blieben. 


J)io  Budgets  der  bewaffnetou  Macht  Oesterreich-Uiiganis  für  das  Jalir  1900.        87 

Sachlich   gegliederte   Uebersicht 
der  im 
Ordiiiarium  und  Extraordiiiarium  des  Jahres   1900    für   die   k.   und  k.    Kriegs- 
marine präliminierten  Ausgaben  und  Einnahmen. 


sind    p  r  ä  1  i  m  i  n  i  e  r  t 


O 


Für 


im 
Ordinarium 


K 


im  Extra- 
ordinarium 


K 


Zusammen 


K 


II 


HI 


Persönliche  Auslagen  (Geldgebüren). 

Activitätsbezüge : 

1.  Besoldungen '  5^966.355 

2.  Andere  Activitätsbezüge 928.849 

Summe  der  Activitätsbeziige 6^895.204 

Versorgungsbezüge 1,866.560 

Summe  der 'persönlichen  Auslagen     .    . 

Sachliche   Auslagen. 

Kur  Verköstigung 

Für  Montur  und  Eüstung 

Für  Unterkunft 

Für  Bettenwesen 

Für  Heizung  und  Beleuchtung    .... 

Für  Sanitätserfordernisse 

Für  Waffenwesen 

Für   Schiffbau,   dann    specielle   Marine-  \ 

auslagen i 

Für  Verwaltungs-  und  Betriebserforder-  j 

nisse      \ 

Für  Material-Instandhaltung 

FürBauten  und  bauliche  Instandhaltungen 

Summe  der  sachlichen  Auslagen     .    .    .  17,228.770 

Gesammt-Erfordemis     

Hievon  ab: 
Bedeckung,  und  zwar: 

1.  Einnahmen,  welche  im  Budget  selbst- 
ständig nachgewiesen  u.  vomGesammt- 
erfordernisse  des  Ordinariums  abge- 
zogen werden j,     430.000 

2.  Eigene  Einkünfte  der  Marineschulen,  a 
welche  beim  Titel  1,  K  des  Ord.  für  '! 
die  Zahlung  der  Gebüren  des  an  dm  |j 
Parallelclassen  angestellten  Lehrperso-  ! 

nals  beigezogen  werden 4.48U 

Summe  der  Bedeckung 434.480 

Daher  unbedecktes  Erfordernis    ....  125,556.054 
Unbedecktes  Erfordernis  laut  Budget    .  :25,556.050 

Differenz  infolge  Abruudung ;  -f-  "^ 

ü 


8,761.764 


3,434.544 

721.528 

1,069.622 

38.868 

132.810 

45.700 

736.800 

4,374.420 

1,533.338 

4,737.800 

403.340 


5/J66.355 

928.849 


6,895.204 
1,866.560 


25,990.534 


3,800.000 
7,655.800 

1,852.850 
601.800 


—  18,910.450 


il3,910.450 


8,761.764 


I  3,434.544 

I      721.528 

j  1,069.622 

38.868 

132.810 

45.700 

4,536.800 

|l2,030.220 

I  3,386.188 

'  4,737.800 

1,005.140 


,31,139.220 


39,900.984 


13,910.450 
13,910.450 


—  I     430.000 


4.480 


434.480 


j39,466.504 
,39,466.500 


+  4 


gg  Ullmann, 

Im  Budget  der  Kriegriuiarine  betragen  die  sachlichen  Ertordernisse  circa 
31"14  Millionen,  also  ungefähr  78  Proc,  die  persönlichen  Auslagen  8*76  Millionen, 
also  ungefähr  22  Proc.  dos  gesammten  Marineerfordernisses.  Was  zunächst  diese 
letzteren  betrifft,  so  sind  auch  bei  der  Kriegsmarine  das  bedeutendste  Erfordernis 
derselben  die  Gagen,  welche  mit  dem  Betrage  vun  4'25  Millionen  (und  mit 
Hinzurechnung  der  Gagen  des  Arsenal-Meisterpersonals  mit  dem  Gesammtbetrage 
von  4*30  Millionen)  circa  11  Proc,  und  die  Löhnungen,  welche  mit  1*87  Millionen 
circa  5  Proc.  des  Gesammterfordernisses  darstellen.  Biese  ersteren  vortheilen  sich 
mit  circa  54  Proc.  auf  die  Seeofficiere  und  Seecadetten,  Geistliche,  Auditore  und 
Aerzte  und  mit  circa  46  Proc.  auf  die  übrigen  im  Gagebezugc  stehenden 
Personen. 

Veranschlagt  war  pro  1900  ein  Stand  von 

660  Seeofficieren  und  Seecadetten, 
68  Officieren  in  Localanstellung 
9  Marinegeistlichen, 
8  Auditoren, 
62  Marineärzten, 
453  Beamten, 
53  Lehrpersonen, 
13  Hilfs-  und  Aufsichtsorganeu, 
108  Marinedienern, 
108  Stabsunterofficiercn  und  überdies 
77  Arsenals-Meistern  und  -Obermeistern. 
Demnach    beträgt    der   Gesammtstand    an   Gagisten  —   ohne    das  Meister- 
personale —  1542  Personen,    von   welchen    circa  52  Proc.    auf   die  Seeofficiere, 
Seecadetten,    Geistliche,    Auditoren  und  Aerzte,    circa   33  Proc.  auf  Beamte   und 
Lehrpersonen,    der  Rest  (15  Proc.)  auf  die  übrigen  Organe  entfallen.    Die  Kopf- 
quote der  Gagen  stellt  sich   auf  ungefähr  2755  K  und  jene  der  Löhnungen  — 
bei  einem  Stande  von  7803  Mann  —  auf  ungefähr  240  K.  Von  den  gesammten 
Activitätsbezügen  beträgt  die   erstgenannte  Quote  ungefähr  3195  K,    die  letztere 
ungefähr  279  K. 

Als  das  Haupterfordernis  unter  den  sachlichen  Auslagen  erscheint  hier 
jenes  für  Schifinjauten  und  an  speciellen  Marineauslagen  im  Betrage  von 
12*03  Millionen  mit  mehr  als  30  Proc.  des  gesammten  Marineerfordernisses, 
wovon  ungefähr  ^/g  im  Extraordinarium  präliminiert  sind  und  die  zur  Vermehrung 
des  Flottenstandes  zu  erbauenden  Schiffe  betreffen. 

Unter  den  speciellen  Marineauslagen  sind  jene  für  Feuerungsmaterialien 
der  Schiffe  und  für  Utensilien  der  Kohlendepots  hervorzuheben,  wofür  pro  1900 
ein  Erfordernisbetrag  von  0*80  Millionen  angesprochen  wurde,  der  ungefähr 
2  Proc.  des  Gesammterfordernisses  gleichkommt. 

Die  nach  diesen  Erfordernissen  zunächst  in  Betracht  kommende  Theilgruppe 
der  sachlichen  Auslagen  sind  jene  für  Material-Instandhaltung  mit  4*73  Millionen, 
also  circa  12  Proc.  des  gesammten  Marineerfordernisses,  was  in  der  grossen 
Menge  an  Materialvorräthen  und  Instandhaltungsobjecten   seine  Erklärung  findet; 


Die  Budgets  der  bewaffneten  Macht  Oesterreich-Unganis  für  das  Jalir  1900.        89 

Aveitors  die  mit  dein  Erfordernisse  für  Schiffbauten  correspondierendcn  Auslagen 
für  Waffenwesen,  das  ist,  in  erster  Linie  für  die  Armierung  der  neuerbauten 
Schiffe  und  für  Munitionsbeschaffung  mit  dem  Betrage  von  4*53  Millionen,  also 
circa  11  Proc.  des  Marineerfordernisses;  dann  die  ungefähr  8'5  Proc.  des 
Gesammterfordernisses  darstellenden  Verwaltungs-  und  Betriebsauslagen  im  Betrage 
von  3'39  Millionen  Kronen.  Der  grösste  Theil  der  ersteren  betrift"t  die  für 
Zahlungen  in  Gold  präliminierte  Münzbewertungsdifferenz,  von  welcher  sich  circa 
0*86  Millionen  auf  die  im  Ordinarium  veranschlagten  und  circa  TS  Millionen 
auf  die  im  Extraordinarium  veranschlagten  Beschaffungen  (Schiftsbauten)  beziehen; 
weiters  die  Unterkunftsauslagen  von  circa  TG?  Millionen  und  die  Bauauslagen 
von  circa  1  Million.  Diese  betragen  je  2*5  bis  3  Proc.  des  Gesammterfordernisses. 
Von  den  Unterkunftsgebüren  der  Gagisten  entfällt  pro  Kopf  ein  Betrag  von 
ungefähr  676  Z^. 

Einen  auffallend  niedrigen  Procentsatz  (1*8  Proc.  des  Gesammterforder- 
nisses) nehmen  die  Erfordernisse  für  Montnr  und  Rüstung  mit  072  Millionen  in 
Anspruch,  obgleich  das  auf  einen  Kopf  der  Mannschaft  entfallende  Erfordernis 
circa  S7  K —  also  um  27  K  mehr  als  beim  Heere  —  beträgt,  ein  Umstand,  welcher 
in  der  Art  der  bei  der  Kriegsmarine  bestehenden  Monturwirtschaft  nach  dem 
Massa-Pauschalsysteme,  insbesondere  aber  in  der  besseren  Qualität  und  in  den 
höheren  Preisen  der  Marine-Monturssorten  seinen  Grund  findet. 

Die  geringen  Erfordernisse  für  Heizung  und  Beleuchtung  (0*13  Millionen  = 
0*3  Proc.)  und  für  das  Bettenwesen  (0-04  Millionen  =  0*1  Proc.  des  Gesammt- 
erfordernisses) dürften  wohl  in  den  eigenartigen  Lebensverhältnissen  bei  der 
Kriegsmarine  ihre  Erklärung  finden. 

Ein  Ueberblick  über  die  in  den  Voranschlägen  für  die  b  e  i  d  o  n  L  a  n  d- 
wohren  enthaltenen,  sachlich  gegliederten  Erfordernisansätze  wird  in  folgenden 
zwei  Uebersichten  gegeben.    (Siehe  Tabellen  S.  90  und  91.) 

Diese  beiden  Uebersichten  enthalten  nur  die  Erfordernisse  an  rein  militä- 
rischen Auslagen;  die  Erfordernisse  für  die  Gendarmerie,  für  die  Militär-Polizei- 
wache, für  die  Civilorgane  (mit  Ausnahme  des  die  Landwehr-Rechnungscontrole 
ausübenden  Eechnungsdepartements  des  k.  k.  Landesvertheidigungs-Ministeriums), 
dann  im  Budget  der  ungar.  Landwehr  das  Erfordernis  an  Witwen-  und  Waisen- 
pensionen wurden  nicht  berücksichtigt. 

Das  Gesammterfordernis  der  österr.  Landwehr  stellt  sich  nach  dem  Budget 
auf  circa  39*54  Millionen,  jenes  der  ungar.  Landwehr  auf  circa  40'10  Millionen, 
nach  Abrechnung  der  beiderseitigen  Bedeckungssiimmen  auf  39'29  Millionen, 
beziehungsweise  38*16  Millionen.  Nach  Hinzuzählung  der  im  Landwehrbudget 
nicht  enthaltenen,  im  allgemeinen  Pensionsetat  veranschlagten  Landwehrpensionen 
beträgt  das  Erfordernis  der  k.  k.  österr.  Landwehr  40*7  Millionen  und  nach 
Abzug  der  Bedeckung  40*4  Millionen. 

Der  Stand  der  ungar.  Landwehr  ist  ein  etwas  höherer  als  jener  der  österr. 
Landwehr.  Nach  den  Daten  der  Budgets  zählt  nämlich  die  erstere  3356  Gagisten 
und  27.469  Unterofficiere  und  Soldaten,  zusammen  30.825  Mann,  die  letztere 
3132  Gagisten  und  26.777  Unterofficiere   und  Soldaten,    zusammen  29*909  Mann 


90 


Uli  11  um  u. 


Sachlich  gegliederte   Uebersicht 

der  im 

Ordiiiariuiii  und  Extraordiiiariuin,  dann  im  Investitionspräliminar  des  Jahres  1900  tür  die 

k.  k.    österreichisclie  Landwehr    veranschlagten  rein    militärischen    Ausgaben  und 

pjinnahmen. 


Für 


sind     p  r  ä  1  i  m  i  11  i  e  r  t 

Zusammen 


im  Extra- 


Ordinarium      ordinarium 


Investitions- 
i  Präliminare 


K 


h 


K 


h 


h 


K 


h 


II 


III 


Persönliche  Auslagen 
(Geldgebüren). 

Activitätsbezüge: 

1.  Besoldungen 

2.  Andere  Activitätsbezüge 
Summe  der  Activitätsbezüge 
Versorgungsbezüge  .... 
Summe  der  persönl.  Auslagen 

Sachliche  Auslagen. 

Für  Verküstigung: 

1.  der  Personen 

2.  der  Pferde 

Summe  der  Auslagen  für  Ver- 
köstigung  

Für  Montur  und  Rüstung 

Für  Unterkunft 

Für  Bettenwesen 

Für  Heizung  und  Beleuchtung 

Für  Sanitätserfordernisse  .    . 

Für  Waffenwesen 

Für  militär.  Uebungen  und 
Versuche 

Für  Verwaltungs-  und  Be- 
triebs-Erfordernisse    .    .    . 

Für  Materialinstandhaltmig  . 

Für  Bauten  und  bauliche 
Instandhaltungen    .... 

Für  Kemontierung  ..... 

Summe  der  sachl.  Auslagen  . 
Gesammt-Erfordernis 

Hievon  ab: 
die  Bedeckung,  und  zwar: 

1.  Eückerstattete,  vom  Land- 
wehretatvorschuss weise  be- 
strittene Landesaufzahlun- 
gen für  Bequartierungs- 
und  Vorspannauslagen  .    . 

2.  Eigene  Einnahmen  der 
Landwehr 

Summe  der  Bedeckung      .    . 

Daher  unbedecktes  Erforder- 
nis      


10,446.771 
2,906.710| 


10,446.771 

2.906.710 


18,353.481' 

'31.183.209, 


14,536.690!  - 


7,072.118 
1,376.648 


8,448.766 

2,373.903 

6,005.729 

234.692 

439.917 

143.400 

1,571.570 

1,022.352 

3,274.451 

78.212 

110.792 
1,074.236 


24,778.020 


39,314.710 


194.000 
47.800 


241.800 


39,072.910 


135.200 


400.000 


4.000 
7.370 


546.570 


546.570 


546.570 


13,353.481 
1,183.209 


14,536.690 


7.072.118 
1,376.648 


x.äO.OOO 


850.000 


850.000 


850.000 


8,448.766 

2,373.903 

6,140.929 

234.692 

439.917 

143.400 

1,971.570 

1,022.352 

3,274.451 

78.212 

964.792 
1.081.606 


26,174.590 


40,711.280 


194.000 

47.800 


241.800 


40,469.480 


')  In  diesem  ßetrage  sind  die  im  allgeaieiuen  Pcusiousetat  präUmiulerteu  Pensionen  f  jr  Landwehr- 
augehörige  inbegriffen. 


Die  Bucigets  der  bewaffneten  Macht  Oesterreich-Ungarns  für  das  Jahr  1900.        91 

Sachlich  gegliedente   Uebepsicht 

der  im 

Ordinarium  und  Extraordinarium,   dann  im  Investitionspräliminar  des  Jahres  1900 

für  die  k.  ungarische  Landwehr   (Honved-Truppe)   veranschlagten    rein  unlitär- 

rischen  Ausgraben  und  Einnahmen. 


o 


Für 


sind     präliininiert 


im 
Ordinarium 


K 


im  Extra- 
ordinarium 


K 


im 
Investitions- 
präliminar 


K 


Zusammen 


K       \h 


II 


III 


Persönliche  Auslagen 
(Geldgebiiren). 

Activitätshezüge: 

1.  Besoldungen 

2.  Andere  Activitätsbeziige 
Summe  der  Activitätsbeziige 
Versorgungsbezüge  .  .  .  . 
Sunmio  der  persönl.  Auslagen 


Sachliche  Auslagen. 

Für  V^erköstigung: 

1.  der  Personen 

2.  der  Pferde 

Summe  der  Auslagen  für  Ver- 
küstigung 

Für  Montur  und  Rüstung 

Für  Unterkunft 

Für  Bettenwesen 

Für  Heizung  und  Beleuchtung 

Für  Sanitätserfordernisse  .    . 

Für  Waffenwesen 

Für  militär.  Uebungen  und 
Versuche 

Für  Verwaltungs-  und  Be- 
triebs-Erfordernisse   .    .    . 

Für  Materialinstandhaltung  . 

Für  Bauten  und  bauliche 
Instandhaltungen     .    .    .    . 

Für  Remontierung 

Summe  der  sachl.  Auslagen  . 

Gesammt-Erfordernis      .    .    . 

Hie von  ab: 
die  Bedeckung,  und  zwar: 

Einnahmen     der    Landwehr- 
Truppen  und  -Anstalten   . 
Daher  unbedecktes  Erforder- 


11,443.886 
2,.J91.799 


14,035  686 
')1,756.389 


1.5,792.0^5 


5,604.096 
1.907.229 


7,511.326 

2.600.583 

3,240.155 

231.941 

362.900 

369.695 

1,302.659 

690.000 

3,296  035 
7.000 


47 


148.640 


47 


148.640 


11,443.886 
2.740.439 


148.640 


54 


1,382,. 504  02 
1,364.352  50 


167.000- 


20.000 


22,359.155 


38,151.231 


541.376 


37,609.855 


98 


45 


45 


48.200 


235.200 


1,570.000 


1,570.000 


383.840 


1,400.000 


1,016.160 


1,570.000 


1,570.000 


14,184.326 
1,756.389 


15,940.715 


5,604.096 
1,907.229 


7,511.326 

2,767.583 

3,240.155 

231.941 

362  900 

369.695 

1,322.659 

690.000 

3,296.035 

7.000 

2,952.504 
1,412.552 


24,164.355 


40,105.071 


1,941.376 


38,163.695 


47 


54 


45 


')  Nach  Abzug  der  Penstonen   etc.   fler  Witwen   und  Waisen  nach   Landwehrpersonen   und  d*r  im 
Heeresbtidget  präliminierteu  Pensionsquoten. 


92  UUmami.  • 

Hiedurcli  erklärt  sich  zum  Theile  das  höhere  Erfordernis  der  uiigar.  Landwehr 
an  Besoklungen,  an  persönlichen  Auslagen  überhaupt  und  bei  einigen  anderen 
Gruppen.  Für  Besoldungen  veranschlagt  nämlich  die  österr,  Landwehr  rund 
10"44  Millionen  =  25*4  Proc.  die  ungar.  Landwehr  rund  11*44  Millionen  = 
28*8  Proc;  an  anderweitigen  Activitätsbezügen  die  österr.  Landwehr  2*90  Mil- 
lionen =  7*1  Proc,  die  ungar.  Landwehr  2*74  Millionen  =  6*7  Proc.  des 
Gesammterfordernisses.  Die  rein  militärischen  Versorgungsbezüge  der  österr. 
Landwehr  betragen,  mit  Berücksichtigung  der  im  Capitel  31,  Allgemeiner 
Pensionsfond,  des  österr.  Staatsvoranschlages  veranschlagten  Landwehrversorgungs- 
bezüge circa  1*18  Millionen  =  4*1  Proc.  des  Gesammterfordernisses,  jene  der 
ungarischen,  und  zwar  mit  Hinweglassung  der  Witwen-  und  Waisenpensionen 
und  der  im  Heeresbudget  präliminierten  Pensionsquote  circa  1*75  Millionen  = 
4*8  Proc.  des  Gesammterfordernisses.  Die  persönlichen  Landwehrauslagen  im 
allgemeinen  stellen  sich  für  Oesterreich  auf  rund  13*36  Millionen  =  15*03  Proc. 
und  mit  Berücksichtigung  der  erwähnten  beim  Pensionsfond  des  österr.  Staats- 
voranschlages präliminierten  Landwehrpensionen  auf  circa  14*53  Millionen  = 
36*6  Proc.  vom  Gesammterfordernisse. 

Die  Verköstigung  der  Mannschaft  stellt  sich,  wie  es  scheint,  in  der  ungar. 
Landwehr  billiger,  als  in  der  österr.,  da  für  diesen  Zweck  in  der  ersteren  trotz 
des  höheren  Mannschaftsstandes  nur  5*t)0  Millionen  =  13*9  Proc,  in  der 
letzteren  hingegen  7*07  Millionen  =  17*2  Proc.  der  Landwehrerfordernisse  ange- 
sprochen werden. 

Für  Pferdefutter  präliminiert  die  österr.  Landwehr  1*37  Millionen  = 
3*3  Proc,  die  ungar.  1*90  Millionen  =  4*7  Proc.  des  Gesammterfordernisses. 
Der  Activstand  an  ärarischen  Pferden  beträgt  bei  der  ersteren  2077,  bei  der 
letzteren  3634;  hiezu  kommen  noch  in  Oesterreich  4435,  in  Ungarn  6915 
Eeservepferde,  welche,  obschon  Eigenthum  des  Aerars,  bei  Privaten  in  Benützung 
stehen  und  nur  zu  Waffenübungen  einberufen  werden. 

Als  Folge  des  höheren  Mannschaftsstandes  der  ungar.  Landwehr  dürfte  auch 
anzusehen  sein,  dass  die  Montursauslagen  derselben  mit  2*76  Millionen  = 
6*9  Proc,  jene  der  österr.  Landwehr  bloss  mit  2*37  Millionen  =  5*8  Proc,  die 
Verwaltungsauslagen  der  ersteren  mit  3*30  Millionen  =  8*1  Proc.  jene  der 
letzteren  3*27  Millionen  =  7*9  Proc.  des  Landwehrerfordernisses  präliminiert 
wurden.  Auf  die  billigeren  Mannschafts-Bequartierungsverhältnisse  der  ungar. 
Landwehr  scheint  der  Umstand  hinzuweisen,  dass  die  Auslagen  für  Unterkunft 
und  für  Betten wesen  der  Landwehr  trotz  des  höheren  Mannschaftsstandes  sich  für 
Ungarn  bedeutend  niedriger  stellen  als  die  gleichen  Auslagen  der  österr.  Land- 
wehr. Für  diese  Erfordernisse  präliminiert  nämlich  Oesterreich  circa  6*14  Millionen 
oder  14*9  Proc,  Ungarn  nur  circa  3*24  Millionen  oder  8  Proc  vom  Gesammt- 
erfordernisse. Hiebei  kommt  jedoch  in  Betracht,  dass  pro  1900  für  Instandhaltung 
und  Bau  von  ünterkunftsobjecten  für  die  ungar.  Landwehr  um  das  Dreifache 
mehr,  als  für  die  österreichische,  nämlich  circa  2*95  Millionen  =  7*3  Proc.  des 
Gesammterfordernisses  veranschlagt  sind,  davon  für  Neubauten  von  Kasernen 
1*57  Millionen  im  Investitionsbudget  (unter  gleichzeitiger  Nachweisung  des  zur 
Bedeckung  dieses  Erfordernisses    aufgenommenen  Darlehens  als    ausserordentliche 


Die  Budgets  der  bewaffneten  Macht  Oesterreich-Ungarns  für  das  Jahr  1900.        93 

Einnahme).  Für  die  österr.  Landwehr  werden  pro  1900  für  Bauten  und  hanliche 
Instandhaltungen  nur  circa  0*96  Millionen  =  2*3  Proc.  —  darunter  0*85  Mil- 
lionen für  Kasernenbauten  im  Investitionsbudget  —  präliminiert. 

Die  ßemontierungs-  beziehungsweise  Pferdebeschaffungs-Auslagen  stellen 
sich  für  die  österr.  Landwehr  auf  circa  1'08  Millionen  oder  2'6  Proc,  für 
die  Ungar.    Landwehr   auf  circa    1'41    Millionen    oder    3'5  Proc.    des   Gesammt- 

erfordernisses. 

Die  auf  einen  Kopf  der  Mannschaft,  beziehungsweise  der  G-agisten  ent- 
fallenden Erfordernisse  gestalten  sich  in  den  beiden  Landwehren  folgender- 
maassen: 

Die  vom  Gesammterfordernisse  an  Gagen  auf  einen  Kopf  entfallende  Quote 
ist  in  der  österr.  Landwehr  annäherungsweise  dieselbe  wie  im  gemeinsamen 
Heere  und  beträgt  in  der  ersteren  circa  2625  K,  im  Heere,  wie  erwähnt,  circa 
2635  K.  Die  gleiche  Kopfquote  stellt  sich  in  der  ungar.  Landwehr  auf  ungefähr 
2760  K,  ist  also,  um  rund  130  K  höher  als  die  beiden  genannten.  An  Löhnung 
entfällt  in  der  österr.  Landwehr  ungefähr  85  K  (im  Heere  ungefähr  70  K),  in 
der  Ungar.  Landwehr  circa  80  K  auf  einen  Kopf.  Die  höheren  Besoldungsquoten 
in  der  Honvedarmee  lassen  sich  etwa  durch  das  ungünstigere  Verhältnis  der  Zahl 
der  niederen  zu  jenen  der  höheren  Chargen  erklären. 

Die  Verköstigung  stellt  sich,  wie  schon  erwähnt,  in  der  ungar.  Landwehr 
billiger  als  in  der  österreichischen;  es  betragen  die  hiefür  auf  einen  Mann  ent- 
fallenden Auslagen  in  der  ersteren  circa  185  K,  in  der  letzteren  circa  188  K. 
Hingegen  kostet  das  Monturserfordernis  pro  Mann  in  der  ersteren  circa  86  K, 
in  der  letzteren  61  ^. 

Fast  gleich  sind  in  beiden  Landwehren  die  pro  Kopf  entfallenden  Erforder- 
nisse für  Heizung  und  Beleuchtung,  dann  für  Betten.  Das  erstere  beträgt  für 
beide  Landwehren  je  13  Ä",  das  letztere  für  die  österr.  Landwehr  9  K,  für  die 
Ungar.  8  K. 

Die  Pro  Kopf-Quote  des  Erfordernisses  für  Unterkunft  endlich  stellt  sich  in 
der  österr.  Landwehr  bei  den  Gagisten  auf  circa  825  K,  bei  der  Mannschaft  auf 
66  K  und  mit  Hinzurechnung  der  vorschussweise  bestrittenen  Landesaufzahlungen 
von  circa  5'5  K  per  Kopf  bei  der  ersteren  auf  circa  830  K,  bei  den  letzteren 
auf  circa  1\  K. 

Für  die  ungar.  Landwehr  stellen  sich  mit  Eücksicht  auf  die  billigere  Be- 
quartierung  auch  die  kopfweisen  Unterkunftsauslagen  niedriger  als  für  die 
österr.  Landwehr.  Es  entfällt  —  bei  Berücksichtigung  des  Wertes  der  dem  Aerar 
gehörigen  Natural-Unterkunftsobjecte  —  auf  einen  Gagisten  ein  Durchschnitts- 
erfordernis von  ungefähr  807  K,  auf  einen  Mannschaftskopf  ein  solches  von 
circa  24"5  K. 

Die  im  Vorstehenden  erwähnten  kopfweisen  Durchschnittsauslagen  für  die 
wichtigsten  Erfordernisse  zur  Erhaltung  der  Truppen  des  Heeres,  der  Kriegs- 
marine und  der  beiden  Landwehren  sind  in  der  folgenden  Zusammenstellung 
übersichtlich  dargestellt : 


94 


UUmann. 


A     n 


entfällt  pro  Kopf  ein  Erfordernis 


bi-im 
gemein 

Heere  Kriegs- 

marine 


bei  der 
gemein- 
samen 


bei  der         bei  der 
k.  k.  österr.    k.  ungar. 


Landwehr 


von  Kronen  rund 


Persönlichen  Ausladen : 

a)  Gagen      .... 

b)  Löhnungen     .    . 


cj  Andere  Activitätsbezüge  für 
Zusammen,  und  zwar  für  .    . 


Gagisten 
Mannschaft 

(  Gagisten 
(  Mannschaft 


Sachliche  (Verwaltung8-)Auslagen  der  Truppen : 

f  Gagisten 

und  zwar  für ' 

[  Mannschaft 

,T    ,  ,1  (  Gagisten 

Verköstigungsauslagen,  und  zwar  für  '. 

{  Mannschaft 

(  Gagisten 
Monturauslagen,  und  zwar  für  .    .  ^ 

l  Mannschaft 

(  Gagisten 
ünterkunftauslagen,  und  zwar  für    \ 

V  Mannschaft 

(  Gagisten 
Bettenauslagen,  und  zwar  für    .    .  > 

V  Mannschaft 

Heizungs-  und  Beleuchtungsauslagen, 

/  Gagisten 

und  zwar  für i^  ,    ., 

l  Mannschaft 

Rs    entfällt    daher    ein  Durchschnittserfordernis: 

auf  einen  Gagisten  von 

„       ,.       Mannschaftskopf  von 


2635 
70 
92 
24 


2727 
94 


122 
122 

206 


58 

1048 
34 


3897 
531 


2755 

240 

440 

30 


3195 
279 


1014 
1014 

671 

304 

87 
G76 


5556 
1694 


2625 

85 

275 

42 


2900 
127 


143 
143 

188 


61 

830 
71 


13 


3873 
612 


2760 

80 

180 

67 


2940 
147 


183 
183 

185 


86 

807 
24-5 


13 


3930 
646-5 


II 


Die  folgende  Tabelle  bietet  einen  Ueberblick  der  Eesultate  der  sachlichen 
Gliederung  und  zugleich  eine  Zusammenstellung  des  gesammten  Gelderfordernisses 
der  bewaffneten  Macht  Oesterreichs  und  Ungarns.  Ueberdies  sind  aus  derselben 
die  Procentverhältnisse  der  einzelnen  Erfordornisgruppen  zum  Gesammterfordernisse 
ersichtlich.  (Siehe  Tabellen  S.   96  und  97.) 


Die  Budgets  der  bewaffneten  Macht  Oesterreich-Ungarns  für  das  Jahr  1900.        95 

Hienach  stellt  sich  das  Gesammterfordernis  für  die  bewaffnete  Macht  Oester- 
reichs  und  Ungarns  —  nach  Abzug-  der  Bedeckung  —  auf  circa  408*66  Millionen 
Kronen,  und  mit  Hinzurechnung  der  im  Voranschlage  der  Landesregierung  für  Bosnien 
und  die  Herzegowina  veranschlagten  Auslagen  für  die  Erhaltung  der  bosnisch- 
herzegowinischen  Truppen  per  4*65  Millionen  auf  circa  413*32  Millionen  Kronen. 

Wird  nun  das  Gresammterfordernis  (ohne  die  Auslagen  für  die  letzt- 
erwähnten Truppen)  dem  gesammten  Activstande  des  gemeinsamen  Heeres,  der 
gemeinsamen  Kriegsmarine,  der  österr.  und  der  ungar.  Landwehr  in  der  Stärke 
von  circa  400.000  Mann  entgegengestellt,  so  entfällt  auf  einen  Kopf  eine  Gesammt- 
erfordernisquote  von  circa  1022  K. 

Auf  die  beiden  Theile  der  Monarchie  vertheilt  sich  dieses  Gesammt- 
erfordernis, wie  folgt: 

Auf    Oesterreich     entfallen     die     Landwehrauslagen     im 

Betrage  von  circa 40*47  Millionen 

dann    die    65*6 proc.    Quote    der    gemeinsamen    Heeres-    und 
Marineauslagen  im  Betrage  von  circa 216*50  „ 

zusammen  .    .    ,  256*97  Millionen 
Auf  Ungarn   entfallen  die  Landwehrauslagen  im  Betrage 

von  circa 38"16  Millionen 

und    die  34*4proc.  Quote    an    den    gemeinsamen  Heeres-    und 
Marineauslagen  im  Betrage  von  circa 113*53         „ 

zusammen  .    .    .  151*69  Millionen 
Aus  dem  Zusammenhalte   dieser  beiderseitigen  Antheile  mit  den  Gesamrat- 
erfordernissen  der  beiderseitigen  Staatsvoranschläge,  und  zwar  des  österr.  Staats- 
voranschlages mit   der  Erfordernissumme  von  rund     ....  1655*96  Millionen 
und  des  ungar.  mit  der  Erfordernissumme  von  rund   ....  1060*94  ,, 

zusammen  per  .  .  .  2716*09  Millionen 
ergibt  sich,  dass  auf  die  Auslagen  für  die  bewaffnete  Macht  (ohne  Gendarmerie, 
Militärpolizeiwache  und  Civilorgane)  in  Oesterreich  circa  15*5  Proc,  in  Ungarn 
circa  14*3  Proc.  des  Gesammterfordernisses  entfallen,  beziehungsweise,  dass  in 
Oesterreich-Ungarn  für  das  Jahr  1900  rund  15  Procent  aller  Staatsauslagen 
für  die  Erfordernissse  der  bewaffneten  Macht  veranschlagt  wurden.  In  Bosnien 
und  der  Herzegowina  entfallen  ungefähr  11*2  Proc.  der  gesammten  Auslagen  des 
Landesbudgets  auf  militärische  Erfordernisse. 

Wird  die  Einwohnerzahl  Oesterreichs  approximativ  mit  26  Millionen,  jene 
Ungarns  mit  19  Millionen  angenommen,  so  entfällt  auf  einen  Einwohner  in 
Oesterreich  von  dem  Erfordernisse  des  Gesammtbudgets  von  1655*96  Millionen 
eine  Kopfquote  von  rund  63*5  K  und  in  Ungarn  von  dem  Erfordernisse  des 
Gesammtbudgets  von  1060*94  Millionen  eine  Kopfquote  von  rund  56  K,  wovon  — 
bei  Berücksichtigung  der  früher  erwähnten  beiderseitigen  Militärerfordernissummen  — 
auf  die  Auslagen  für  die  bewaffnete  Macht  ein  Theilbetrag  in  Oesterreich  von 
rund  10  K,  in  Ungarn  von  rund  8  K  zu  rechnen  ist.  In  Bosnien  und  der 
Herzegowina  beträgt  die  auf  einen  Einwohner  entfallende  Quote  des  Erfordernissos 
für  die  Erhaltung  der  Truppen  circa  2*5  K. 


96 


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Zeitschrift  für  Volkswirtscliaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.    X.  Band. 


EIN  EÜCKBLICK 


AUF  DIE 


1 


ENTWICKLUNG  DER  TßlESTER  LAGERHÄUSER. 


VON 


DK-  GUSTAV  LIPPERT. 


Die  Nothwendigkeit  öffentlicher  Lagerhäuser  bestand  in  Triest  lange  Zeit 
nicht,  da  für  die  Aufnahme  der  zur  See,  sowie  zu  Lande  ankommenden  Waren 
durch  zahlreiche,  den  Kaufleuten  gehörige  Niederlagen  gesorgt  war.^)  Mit  dem 
Bau  der  Südbahn  (1857)  sind  die  ersten  grösseren  öffentlichen,  Bahnzwecken 
dienenden  Magazine  entstanden,  deren  ansehnlichstes  der  Frachtenbahnhof  war. 
an  dessen  Stirnseite  befand  sich  ehemals  ein  Getreideschüttboden,  weshalb  dieser 
Theil  des  Gebäudes  mit  der  Bezeichnung  Silos  2)  belegt  wurde.  Späterhin  baute 
die  Südbahn  auf  dem  Anschüttungsgebiete   im   neuen  Hafen   das  Magazin  Ä  für 


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1)  In  der  kurzen  Zeit  der  französischen  Herrschaft  (1811 — 1813)  wurde  vorüber- 
gehend das  System  des  Entrepöt  fictif  und  Entrepöt  röel  eingeführt.  Das  kaiserliche 
Decret  über  die  Organisation  lUyriens  vom  15.  April  1811  verfügt  im  §  174:  „L'entrepöt 
fictif  est  accorde  k  la  ville  de  Tiieste."  Das  kaiserliche  Decret  vom  20.  September  1812 
bestimmt  in  Art.  I.:  „Toutes  les  marchandises  refues  dans  Tentrepöt  röel  de  Trieste 
paieront  indistinctenient  un  raagasinage  qui  demeure  provisoirement  rögle,  aiusi: 
pour  le  premier  raois  de  leur  mise  en  entrepöt     .  Francs  0'50 

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Art.  II.  Suivant  l'usage  actuel,  les  marchandises  et  denre'es  provenant  de  l'Empire 
fran9ais  et  de  notre  royaume  d'ltalie  ne  paieront  que  la  moitie  des  droits  de  magasinage 
fixes  par  l'article  precedent." 

(Das  Entrepöt  reel  steht  unter  zollämtlicher  Mitsperre,  das  Entrepöt  fictif  nicht; 
bei  letzterem  müssen  die  auf  den  eingelagerten  Waren  haftenden  Zölle  sichergestellt 
werden.) 

*)  Seit  1891  befindet  sich  zu  ebener  Erde  im  Frachtenbahnhofe  das  provisorische 
Spiritus-Freigebiet,  Magazine  von  2778  m'  Ausdehnung,  welche  die  Lagerhausverwaltung 
von  der  Südbahn  um  jährlich  9720  fl.  mietete.  Im  März  1899  hat  die  Lagerhausvervvaltung 
wegen  Eaummangels  den  Silos  um  jährlich  16.000  fl.  in  Miete  genommen.  Die  hierdurch 
erhaltenen  Belegräume  sind  zu  ebener  Erde  und  im  ersten  Stocke  zusammen  7245  w^. 
Sie  dienen  zur  Einlagerung  von  über  die  ZoUinie  gegen  Ausfubrsbonification  austretendem, 
unversteuertem  Zucker,  dann  von  Häuten,  Baumwollsamenöl  u.  s.  w. 


Ein  Eückblick  auf  die  Entwicklung  der  Triester  Lagerhäuser.  90 

freie  Güter,  das  Magazin  13  für  Ansagegüter  und  ein  Petroleummagazin,  die  auch 
heute  noch  fast  unverändert  bestehen. 

Der  Gedanke,  in  Triest  ein  öffentliches  Lagerhaus  zu  errichten,  trat  zum 
erstenmale  Ende  der  siebziger  Jahre  in  den  Vordergrund,  als  die  Einbeziehung 
Dalmatiens  und  Istriens,  oowie  auch  der  occupierten  Länder  in  das  allgemeine 
Zollgebiet  vorbereitet  wurde.')  Man  fasste  damals  den  Bau  einer  Zollgebietsniederlage 
im  ehemaligen  Zollausschlusse  von  Triest  ins  Auge,  welche  die  Bestimmung  haben 
sollte,  den  vom  Inlande  nach  Dalmatien  versendeten  Waren  ohne  Schwierigkeiten 
und  lästige  Controle  ihren  Charakter  als  im  freien  Verkehre  des  Zollgebietes 
befindlich  zu  wahren.  Als  Muster  schwebte  vor  die  1870  im  Hamburger  Frei- 
hafen durch  eine  Actiengesellschaft  mit  einem  Capitale  von  einer  Million  Thalern 
auf  einem  vom  Staate  billig  überlassenen  Grunde  im  Ausmasse  von  492  ha 
errichtete  Hamburger  Zollvereins-Niederlage,  deren  Aufgabe  war,  den  Hamburger 
Zwischenhandel  mit  Erzeugnissen  des  deutschen  Zollgebietes  nach  Holstein, 
Mecklenburg  und  Lauenburg  zu  vermitteln. 

Vom  Zeitpunkte  der  Aufhebung  des  Freihafens^)  angefangen  würde  die  für 
Triest  geplante  Zollgebietsniederlage  als  solche  selbstverständlich  überflüssig 
geworden  sein,  weshalb  ihre  Räumlichkeiten  und  Einrichtungen  von  da  an  als 
Niederlagen  für  ausländische  Einfuhrgüter  zu  verwenden  gewesen  wären. 

Dass  der  Verkehr  inländischer  Waren  nach  Dalmatien  und  den  occupierten 
Ländern  über  Triest  vermöge  seines  nicht  sehr  bedeutenden  ümfanges  —  im 
jährlichen  Durchschnitte  bei  150.000  Metercentner  zollpflichtiger  Artikel  —  den 
Bau  eines  grossen  Warenhauses  allein  nicht  rechtfertigen  konnte,  lag  auf  der 
Hand.  Die  Niederlage  hätte  daher,  um  eine  vollwertige  Aufgabe  zu  erfüllen, 
auch  einer  erweiterten  Bestimmung,  nämlich  der  Einlagerung  von  Losungs-  und 
Manufacturwaren,  dann  von  ausländischem  Tabake,  inländischem,  zur  Ausfuhr 
bestimmten  Zucker,  Dalmatiner  und  Istrianer  Oelen  dienen  sollen. 

Nach  einer  ungefähren  Schätzung,  wobei  auch  die  zukünftige  Bestimmung 
als  Freilager  in  Betracht  gezogen  war,  erschien  für  das  etwa  aus  drei  Gebäuden 
bestehende  neue  Lagerhaus  ein  Belegraum  von  16.000  m'  erforderlich.  Der  Kosten- 
aufwand wurde  auf  400.000  —  480.000  fl.  bei  Aufführung  von  Steinmauern,  Riegel- 


1)  Bosnien  und  die  Hercegowina  sind  durch  das  Gesetz  vom  20.  Decemher  1879, 
U.-G.-Bl.  Nr.  136,  mit  dem  1.  Jänner  1880  in  das  auf  Grundlage  des  Zoll-  und  Handels- 
bündnisses vom  27.  Juni  1878,  R.-G.-Bl.  Nr.  62,  bestehende  allgemeine  Zollgebiet  der 
österreichisch-ungarischen  Monarchie  aufgenommen  worden.  Mit  dem  gleichen  Zeitpunkte 
wurden  durch  das  Gesetz  vom  20.  Decemher  1879,  R.-G.-Bl.  Nr.  137,  die  bis  dahin  als 
Zollausschlusse  behandelten  Theile  der  Markgrafschaft  Istrien  mit  den  quarnerischen 
Inseln  und  das  ein  besonderes  Zollgebiet  bildende  Königreich  Dalmatien  einbezogen. 

2)  Der  Artikel  IV  des  Gesetzes  vom  27.  Juni  1878,  R.-G.-Bl.  Nr.  62,  betreifend 
die  Vereinbarung  eines  Zoll-  und  Handelsbtindnisses  zwischen  den  im  Eeichsrathe  ver- 
tretenen und  den  Ländern  der  ungarischen  Krone  enthielt  die  ganz  allgemein  gefasste 
Bestimmung:  „Die  bestehenden  Zollausschlüsse  sollen  aufgehoben  werden."  Der  §  2  des 
Gesetzes  vom  21.  Mai  1887,  R.-G.-Bl.  Nr.  48,  verfügte  sodann,  dass  die  Einbeziehung 
der  Freigebiete  von  Triest  und  Fiume  in  das  allgemeine  Zollgebiet  spätestens  mit  dem 
31.  Decemher  1889  stattzufinden  habe,  eine  Frist,  welche  durch  das  Gesetz  vom 
30.  April  1889,  R,-G.-Bl.  Nr.  63,  endgiltig  bis  zum  1.  Juli  1891  verschoben  wurde. 

7* 


100  Lippert. 

wänden  und  Eisenbedachung,  beziehungsweise  auf  mehr  als  500.000  fl.  bei  Ver- 
wendung eiserner  Riegel  und  Traversinen   voranschlagt. 

Schon  damals  (Frühjahr  1879)  wurde  die  Frage  des  staatlichen  oder 
privaten  Betriebes  aufgeworfen  ;  man  neigte  sich  aber  letzterem  zu.  Unter  Zugrunde- 
legung einer  ziemlich  massigen  Warenbewegung,,  etwa  einem  (alle  zwei  Monate 
sich  erneuernden)  Stocke  von  20.000  Metercentner  wurden  jährlich  40.000 — 
50.000  fl.  als  voraussichtliche  Lagerzinseinnahmen  berechnet,  worin,  nachdem 
die  Deckung  der  Eegieauslagen  durch  die  Manipulationsgebüren  erfolgen  sollte,  die 
erforderliche  Verzinsung  und  Tilgung   des  Baucapitals  weitaus  enthalten  war. 

Zur  Errichtung  dieser  eben  besprochenen  Niederlage  kam  es  nun  allerdings 
nicht.  Nach  mehreren  im  Frühjahre  1879  erst  in  Wien,  hierauf  in  Triest  unter 
Zuziehung  der  betheiligten  Kreise  und  im  Beisein  der  Vertreter  der  Behörden 
abgehaltenen  Berathungen  und  Besprechungen  wegen  Baues  einer  Zollgebiets- 
niederlage, sowie  von  Freilagern  in  Triest  fand  die  ganze  Frage  in  erweiterter 
und  vergrösserter  Form  vorläufig  den  Abschluss,  dass  man  die  Verwirklichung 
eines  umfangreicheren,  namentlich  den  Verkehr  im  Grossen  und  die  fernere 
Zukunft  des  Eeichshafens  berücksichtigenden  Projectes  ins  Auge  fasste.  Es  wurde 
betont,  dass  die  Errichtung  der  öffentlichen  Lagerhäuser  eine  Ersparung  der 
Auslagen  für  die  Gütermanipulation  im  Gefolge  haben  werde,  die  rascheste,  weil 
bloss  figürliche  Uebertragung  der  Waren  durch  Indossierung  der  Lagerscheine 
ermögliche  und  den  Vortheil  der  Abhaltung  von  Märkten  und  Versteigerungen 
biete.  Der  Triester  Hafen,  obwohl  in  neuerer  Zeit  bedeutend  verbessert,  entbehre, 
im  Gegensatze  zu  den  übrigen  grossen  Häfen,  immer  noch  jener  Anlagen,  welche 
seine  Leistungsfähigkeit  im  Wettbewerbe  erhöhen,  daher  ausgeführt  werden 
müssen,  um  den  Wettkampf  aufnehmen  zu  können.  Schon  mit  Rücksicht  auf  Fiume 
sei  die  Errichtung  grösserer  Warenhäuser  für  den  grossen    Weltverkehr   geboten. 

Von  Seite  der  damaligen  Vertreter  der  Handels-  und  Gewerbekammer  wurde 
übrigens  der  Standpunkt  eingenommen,  dass  im  Interesse  der  Inhaber  der  Stadt- 
magazine die  Einlagerung  ausländischer,  unverzollter  oder  zollfreier  Waren  in 
die  neuen  Lagerhäuser  nicht  zuzulassen  sei,  indem  durch  diese  Gestattung  die 
Aufhebung  des  Freihafens  angebahnt  werde,  eine  Maassnahme,  für  welche  sich 
die  Kammer  nicht  aussprechen  könne. 

Die  Pläne  für  die  auf  Grund  der  Commissionsbeschlüsse  vorzunehmenden 
Bauten  wurden  vom  Inspector  der  General-Inspection  der  Eisenbahnen  Hein  dl 
in   der  Schlussitzung  am  15.  Mai   1879  vorgelegt. 

Zur  Ausführung  des  Projectes  schritt  jedoch  die  Regierung  nicht  selbst, 
da  es  angemessener  erschien,  das  ganze  Lagerhausunternehmen  nicht  in  die 
Hände  der  zu  wenig  beweglichen  staatlichen  Verwaltung  zu  legen,  sondern  einer 
streng  commerziellen  Leitung  zu  unterstellen,  welche  die  Lage  des  Augenblickes 
ausnützen  kann,  durch  jeweils  zugestandene  Begünstigungen  Waren  anzuziehen 
und  dem  Wettbewerbe  anderer  Pfötze  zu  begegnen  versteht. 

Mitte  des  Jahres  1879  wurden  demnach  durch  den  Erlass  des  Handels- 
ministeriums vom  28.  Juni  1879,  Z.  20.487,  die  Ausschreibungsbestimmungen 
für  die  Offertverhandlung  behufs  Erlangung  der  Concession  zum  Baue  und 
Betriebe  von  öffentlichen  Lagerhäusern   in   Triest   verlautbart  und   darin   bekannt 


Ein  Rückblick  auf  die  Entwicklung  der  Triester  Lagerhäuser.  101 

gegeben,  die  Regierung  beabsichtige,  im  neuen  Hafen^)  von  Triest  den  Bau  und 
Betrieb  öffentlicher  Lagerhäuser  zu  gestatten.  Dieselben  würden  theils  Freilager 
für  nationale  Waren  im  Sinne  des  §  2,  Punkt  1  h,  theils  Warenhäuser  für  zoll- 
und  steuerfreie  oder  bereits  verzollte  und  versteuerte  Waren  im  Sinne  des  §  2, 
Punkt  2  der  Verordnung  vom  19.  Juni  1866,  E.-G.-Bl.  Nr.  86,  endlich  Güter- 
schoppen (Hangars)  sein. 

Mit  dem  Zeitpunkte  der  Aufhebung  des  Freihafenprivilegiums  von  Triest 
würden  diese  Freilager,  Warenhäuser  und  Güterschoppen  ganz  oder  theilweise  in 
Freilager  für  unverzollte  ausländische  Waren  im  Sinne  des  §  2  Punkt  1  a  der 
bezogenen  Verordnung  umgewandelt  werden. 


')  Der  Grund  und  Boden  für  die  neuen  Lagerhäuser  war  durch  Anschüttung  an 
jener  Stelle  des  Meeres  entstanden,  wo  sich  ehemals  Triests  freie  Rhede  und  das  von 
der  Kaiserin  Maria  Theresia  zufolge  Entschliessung  vom  15.  Jänner  1765  im  März 
jenes  Jahres  begonnene,  am  26.  Juli  1769  mit  einem  Gesammtkosten-Aufwande  von 
306.402  fl.  vollendete  neue  See-Lazareth,  dann  der  späterhin  eriichtete  Eisenbahnhafen 
befunden  hatte. 

Der  Hafenbau  war  in  dem  denkwürdigen,  vielumstrittenen  üebereinkommen  (das- 
selbe trägt  die  Unterschriften:  Wüllerstorf.  Für  das  Finanzministerium  in  Vertretung 
des  Ministers  Lakenbacher;k.k.  priv.  SüdbahngesellschaftHopfen,  Elio  de  Morpurgo) 
vom  13.  April  1867,  R.-G.-Bl.  Nr.  69,  welches  in  Gemässheit  Allerhöchster  Ermächtigungen 
vom  30.  Juni  1866  und  vom  9.  April  1867  zwischen  den  k.  k.  Ministerien  der  Finanzen 
und  des  Handels  einerseits  und  der  k.  k.  priv.  Südbahngesellschaft  andererseits 
geschlossen  wurde,  vom  Staate  der  Südbahn  übertragen  worden,  Die  Gesellschaft  ver- 
pflichtete sich,  das  von  ihrem  Inspector  Friedrich  Bömches  unter  Oberaufsicht  des 
Inspecteur  genöral  des  Ponts  et  Chausse'es  H.  Pascal  in  Paris  geleitete  Werk  nach 
den  Plänen  des  französischen  Ingenieurs  Talabot,  des  Erbauers  des  Hafens  von  Marseille, 
bis  zum  31.  December  1878  gegen  eine  in  zwölf  Jahresraten  zu  bezahlende  Pauschal- 
summe von  13,500  000  fl.  ö.  W.  sammt  Verfallszinsen  fertigzustellen.  Die  Südbahn 
war  rücksichtlich  der  Hafenbauten  lediglich  wie  ein  Bauunternehmer  für  Rechnung  des 
Staates  anzusehen.  Alle  ausserhalb  der  Bahnhofgrenzen  ausgeführten  Arbeiten  giengen 
daher  unmittelbar  in  das  Eigenthum  des  Staates  über. 

-  Der  der  Vollendung  des  Baues  gesetzte  Zeitpunkt  wurde  mehrmals,  anfänglich  bis 
31.  December  1878  (Gesetz  vom  19.  Mai  1874,  R.-G.-BL  Nr.  84),  dann  bis  31.  De- 
cember 1880  (Gesetz  vom  6.  Jänner  1878,  R.-G.-Bl.  Nr.  10)  hinausgeschoben  und  auch 
die  Ziffer  des  Entgeltes  etwas  geändert. 

Nach    dem    ursprünglichen    Tilgungsplane    betrug    die    Gesammtschuldigkeit    des 

Staates  an  die  Südbahn  sammt  Verfallszinsen 14,713.750  fl. 

wovon 230.000  „ 

wegen  theilweiser  Einschränkung  der  ursprünglich  geplanten  Ausführungen 

in  Abzug  zu  bringen  sind,  verbleiben  somit 14,483.750  fl, 

Eine  Vergrösserung  der  Hafenanlagen  auf  Staatskosten  (um  4,880.000  fl.)  bewilligte 
das  Gesetz  vom  4.  Juni  1887,  R.-G.-BL  Nr.  83,  und  zwar  zur  Verbreiterung  der  Ufer- 
fläche  nordseits  sowie  zum  Bau  eines  vierten  Hafenbeckens  südseits  des  neuen  Hafens, 
für  die  Erweiterung  der  Uferfläche  nächst  dem  Molo  S.  Teresa,  endlich  zur  Herstellung 
von  Hafen-  und  Bahnanlagen  in  der  Bucht  von  Muggia  für  den  Petroleumhandel. 

Demnach  sind  in  runder  Summe  nahezu  I9Y2  Millionen  Gulden  „ins  Meer 
geworfen". 

Die  im  Falle  des  Baues  einer  zweiten  Bahnverbindung  zu  gewärtigende  Verkehrs- 
steigerung, dann  die  schon  jetzt  fühlbare  Beengtheit  des  Raumes  haben  Anlass  gegeben. 
Erweiterungen  der  Hafenanlage  durch  Herstellung  des  Sanitätsmolos,  Verbreiterung  der 
Riven  im  alten  Hafen,  ferner  durch  Bau  eines  Molos  und  einer  Riva  für  ein  Hafenbassin 


]  02  Lippeit. 

Die  Inbetriebsetzung  der  Lagerhäuser  und  Güterschoppen  habe  längstens 
am   1.  Jänner  1880  in  allen  Theilon  zu  erfolgen. 

Der  Gesammtflächenraum  der  sechs  in  Aussicht  genommenen  Lagerhaus- 
gebäude (mit  Ausschluss  der  Perrons)  sollte  22.577  in^,  jener  der  beiden  Güter- 
schoppen am  Molo  II  je  1349  m^,  zusammen  2698  m^,  betragen.  Nach  der 
Baubeschreibung  und  den  derselben  beigegebenen  Plänen  waren  sämmtlicbe 
Gebäude  als  ebenerdig  gedacht,  woil  sich  die  Aufführung  von  Stockwerken  wegen 
der  Natur  des  hoch  nicht  zur  Ruhe  gekommenen  Untergrundes  nicht  empfahl. 
Die  Regierung  behielt  sich  das  Recht  vor,  die  concessionsmässige  Ausführung 
zu  überwachen  und  eine  Ueberprüfung  der  Gesammtanlage  vorzunehmen.  Zwei 
Gebäude  sollten  ausschliesslich  als  Freilager  für  die  aus  dem  Zollgebiete  unter 
Wahrung  ihrer  Nationalität  ausgeführten  Waren  dienen,  zwei  andere  als  Waren- 
häuser für  Einfuhrgüter  mit  Ausnahme')  von  Colonialwaren  (ausschliesslich  des 
Zuckers)  und  Südfrüchten,  ferner  mit  Ausnahme  von  Bau-,  Brenn-  und  Werk- 
holz, Kohlen,  Kalk,  Gips,  Cement,  Ziegeln,  gewöhnlichem  Töpfergeschirr,  rohen, 
unbearbeiteten  Steinen  und  Hadern.  Die  Bestimmung  des  fünften  Gebäudes  sollte 
von  der  Regierung  nach  Vernehmung  des  Concessionärs  festgestellt  werden.  In 
dem  sechsten  Gebäude  waren  Cabinen  zur  Manipulation  und  zum  Verkaufe  von 
inländischen  Erzeugnissen  thunlichst  in  dem  von  Parteien  gewünschten  Flächen- 
maasse  einzurichten. 

Für  die  Niederlage  oder  die  hinterlegten  Waren  schädliche  Gegenstände, 
namentlich  feuersgefährliche,  durften  nicht  in  die  Lagerhäuser  gelangen. 

Für  die  zu  verbauende  Grundfläche  sollten  der  Staatsverwaltung  jährlich 
500  fl.  als  Grundzins  zu  entrichten  sein  und  nach  Ablauf  der  Concessionsdauer 
alle  auf  der  ärarischen  Grundfläche  aufgeführten  Baulichkeiten  nebst  den  zum 
Lagerhausbetriebe  vorhandenen  Einrichtungen  unentgeltlich  in  das  Eigenthum  des 
Staates   übergehen. 

Die  Staatsverwaltung  behielt  sich  überdies  das  Recht  vor,  auch  vor  Ablauf 
der  Concessionsdauer,  jedoch  nicht  früher  als  fünf  Jahre  vom  Tage  der  Betriebs- 
eröffnung angefangen,  nach  vorausgegangener  Kündigung  sämmtliche  oder  ein- 
zelne  Baulichkeiten    mit    ihren  Betriebseinrichtungen   gegen    Ersatz    der  gehörig 


bei  der  Spitze  von  S.  Andrea  im  Anschlüsse  an  den  Holzlagerplatz  um  die  Gesammt- 
sumnie  von  6  Millionen  Gulden  ins  Auge  zu  fassen.  Zur  Bestreitung  dieser  Kosten 
gedachte  die  Staatsverwaltung,  von  der  Stadtgemeinde  ein  Darlehen  von  6  Millionen  Gulden 
gegen  Rückzahlung  in  Jahresraten  von  500.000  fl.  und  Verzinsung  der  ausständigen 
Beträge  mit  374  Pi'oc.  jährlich  aufzunehmen.  Die  betreffende,  dem  Abgeordnetenhause 
in  der  XVI.  Session  am  22.  November  1899  überreichte  Regierungsvorlage  ist  infolge 
des  Stillstandes  der  parlamentarischen  Maschine  unaufgearbeitet  geblieben.  Neuerdings 
(Herbit  1900)  hat  die  Stadtgemeinde  sich  bereit  erklärt,  der  Staatsverwaltung  jenen 
Betrag  behufs  Inangriffnahme  der  Erweiterungsbauten  zur  Verfügung  zu  stellen,  welcher 
das  Opfer  darstellt,  das  die  Stadt  im  Falle  der  legislativen  Genehmigung  des  Gesetz- 
entwurfes zu  bringen  gehabt  hätte,  nämlich  den  Betrag  von  500.000  fl.  In  dem  in 
Aussicht  genommenen  üebereinkommen  ist  als  letzte  Frist  für  den  Beginn  der  Arbeiten 
der  1.  Jänner  1901  festgesetzt. 

^)  Angesichts  des  Misstrauens,  welchem  das  Unternehmen  in  der  Triester  Bevölkerung 
begegnete,  wurde  den  Lagerhäusern  für  den  Anfang  eine  beschränktere  Aufgabe  gestellt 
und  eine  Reihe  Artikel  von  der  Aufnahme  in  dieselben  ausgeschlossen. 


Ein  Rückblick  auf  die  Entwicklung  der  Triester  Lagerhäuser.  103 

nachzuweisenden  Anschaifungskosten,  nach  Abzug  einer  vereinbarten  jährlichen 
Tilgungsquote  von  der  Lagerhausunternehmung  an  sich  zu  bringen  und  über 
die  weitere  Betriebsführung  frei  zu  verfügen.  Die  Concessionswerber-  hatten  die 
Zeitdauer  anzugeben,  für  welche  sie  die  Concession  erlangen  wollten ;  dieselbe 
durfte  25  Jahre  nicht  überschreiten. 

Die  Concessionswerber  hatten  gleichzeitig  mit  ihrem  Gesuche  den  Entwurf 
eines  La^erhausreglements  und  der  Lagerhaustarife  für  Lagerzinse,  Versicherung 
allgemeine  Manipulationsgebüren  und  besonders  bestimmte  Leistungen,  dann  für 
den  Betrieb  der  Güterschoppen  ein  gesondertes  Betriebsreglement  sammt  Tarif 
vorzulegen,  bei  dessen  Verfassung  der  Grundsatz  maassgebend  zu  sein  hatte, 
dass  die  Güterschoppen  hauptsächlich  zur  vorübergehenden  Aufnahme  von  seewärts 
ankommenden  Gütern  dienen  und  den  letzteren  eine  dreitägige  Lagerfreiheit 
gewährt  werde. 

Die  im  Handelsministerium  und  bei  der  Finanzdirection  in  Triest  auf- 
liegenden Ausschreibungsbestimmungen,  die  allgemeinen  Bedingnisse  und  Situations- 
pläne wurden  z^ar  von  zahlreichen  Bewerbern  eingesehen,  jedoch  nur  vom 
Bürgermeister  als  Vertreter  der  Gemeinde  und  vom  Präsidium  der  Handelskammer 
in  Triest  gefertigt.  Somit  waren  diese  beiden  Körperschaften  allein  zu  berück- 
sichtigen und  es  wurde  ihnen  nach  den  mit  ihren  Vertretern  im  Handelsministerium 
gepflogenen  Verhandlungen,  deren  Ergebnis  im  Protokolle  vom  14.  August  1879 
niedergelegt  erscheint,  durch  den  Erlass  des  Handelsministers  Korb  vom 
3.  December  1879,  Z.  36.897,  mit  Zustimmung  des  Finanzministeriums  die 
Bewilligung  zur  Errichtung  und  zum  Betriebe  von  öffentlichen  Lagerhäusern  und 
Güterschoppen  im  neuen  Hafen  von  Triest  ertheilt. 

Aus  der  betreffenden  Urkunde  seien  zur  Ergänzung  obenerwähnter  Aus- 
schreibungsbedingnisse noch  folgende  Punkte   hervorgehoben : 

Die  Concessionsdauer  wurde  auf  25  Jahre  vom  1.  Jänner  1880  angefangen 
festgesetzt,  wobei  der  Lagerhausunternehmung  kein  Recht  zur  Kündigung  oder 
üebertragung  der  Bewilligung  zustand. 

Im  allgemeinen  hatten  die  Bestimmungen  der  Ministerialverordnung  vom 
19.  Juni  1866,  R.-G-Bl.  Nr.  86,^)  über  die  Ertheilung  von  Bewilligungen  für 
öffentliche  Lagerhäuser  (Freilager  und  Warenhäuser)  zu  gelten. 

')  Diese  Ministerialverordnung  theilt  die  öffentliclien  Lagerhäuser  je  nach 
ihrer  Bestimmung  ein: 

1.  In  Freilager,  welche  dazu  dienen: 

a)  im  Zollgebiete  ausländische,  unverzollte  Waren  bis  zur  EinfuhvsverzoUung,  Weiter- 
sendung, Wiederausfuhr  u.  dgl., 

b)  im  ZoUausschlusse  die  aus  dem  Zollgebiete  ausgeführten  Waren  unter  Festhaltung 
ihrer  Nationalität  bis  zum  Uebertritt  in  den  freien  Verkehr  oder  bis  zur  Rück- 
einfuhr ins  Zollgebiet, 

c)  in  den  hinsichtlich  der  Verzehrungssteuer  als  geschlossen  erklärten  Städten  steuer- 
pflichtige Waren  bis  zur  Versteuerung  oder  Ausfuhr  aus  der  Stadt  aufzubewahren; 

2.  in  Warenhäuser,  welche  zur  Aufbewahrung  zoll-  und  steuerfreier  oder  bereits 
verzollter  oder  versteuerter  Waren  dienen. 

Das  Gesetz  vom  28.  April  1889,  R.-G.-Bl.  Nr.  64,  betreffend  die  Errichtung  und 
den  Betrieb  öffentlicher  Lagerhäuser  und  die  von  denselben  ausgestellten  Lagerscheine 
gebraucht  den  Ausdruck  „Warenhäuser"  nicht  mehr,   sondern  bestimmt,  dass  öffentliche 


104  Lippert. 

Die  zu  verbauende  Grundfläche  wurde  um  einen  jährlichen  Zins  von 
100  fl.  überlassen.  Für  die  Ausführung  der  Gesammtanlage  war  eine  Summe 
von  718.000   fl.  veranschlagt. 

Die  Eegierung  stellte  in  Aussicht,  nach  Zulässigkeit  der  Bodenverhältnisse 
und  nach  Maassgabe  des  Bedürfnisses  seinerzeit  gegen  besondere  Vereinbarung 
auch  die  Herstellung  und  den  Betrieb  weiterer  Magazine  zu  gestatten,  behielt 
sich  aber  andererseits  auch  vor,  jederzeit,  sobald  sie  es  für  zweckmässig  erachte, 
die  gänzliche  oder  theilweise  Umwandlung  der  Warenhäuser  in  Freilager  aus- 
zusprechen. 

Zum  Zwecke  der  Hinterlegung  von  Waren  im  Freien  wurden  abgesonderte, 
nicht  für  den  allgemeinen  Verkehr,  den  Hafen-  oder  Bahnhofbau  benöthigte  Grund- 
flächen zur  unentgeltlichen  Benützung  gegen  Kündigung  überlassen. 

lieber  Antrag  der  Lagerhausverwaltung  war  das  Handelsministerium  bereit, 
die  Einlagerung  der  von  der  Aufnahme  in  die  Warenhäuser  ausgeschlossenen 
Artikel  (Colonialien,  Südfrüchte)  zu  bewilligen.^) 

Für  Getreide,  Hülsenfrüchte,  Oelsaat,  Mehl  und  Mahlerzeugnisse  war  durch 
14  Tage  Lagerzinsfreiheit  zu  gewähren ;  in  das  diesen  Artikel  zugewiesene 
Magazin  konnten  andere  Waren  nur  gelangen,  wenn  die  Getreide-  oder  Mehl- 
conjunctur  dies   ohne  Nachtheil  für  den  Frucht-  oder  Mehlhandel  zuliess. 

Die  im  Tarife  für  die  Lagerzinsen  und  anderen  Gebüren  aufgestellten  Sätze 
durften  nicht  überschritten  werden ;  Veränderungen  innerhalb  dieser  Grenze 
waren  gestattet,  mussten  jedoch  dem  Handelsministerium  angezeigt  werden. 
Abänderungen    der    Betriebsreglements    unterlagen    der   Kegierungs-Genehmigung. 

Die  Lagerhausunternehmung  verpflichtete  sich,  sobald  als  möglich  die 
Abhaltung  regelmässiger  Versteigerungen  in  wichtigeren  Stapel artikeln  zu  ver- 
anstalten. 

Die  Eegierung  hatte  das  Kecht,  in  das  leitende  Verwaltungs-Comite  einen 
Vertreter    zu  entsenden. 

Aus  alledem  ist  zur  Genüge  ersichtlich,  dass  der  Staat  sich  einen  grossen 
Einttuss  auf  die  ganze  Gebarung  des  Lagerhausunternehmens  vorbehielt, 
namentlich  insoweit  handelspolitische  Gesichtspunkte   in  Betracht  kamen. 

Die  Gemeinde  und  die  Handels-  und  Gewerbekammer  trafen  ihrerseits  das 
Uebeieinkomraen,  dass  die  ganze  Lagerhausanlage  ungetheiltes  Eigenthum  sei 
und  demnach  nicht  nur  alle  Rechte,  sondern  auch  alle  Verpflichtungen  zu  gleichen 
Theilen  getragen  werden  sollten. 


Lagerhäuser,  das  ist  jene  Unternehmungen,  welche  auf  Grund  besonderer  Bewilligung 
die  Aufbewahrung  von  Waren  für  fremde  Rechnung  geschäftsmässig  betreiben  und  über- 
tragbare Lagerscheine  auszustellen  berechtigt  sind,  nach  Maassgabe  ihrer  Bewilligung 
auch  öffentliche  Freilager  errichten  können,  die  sich  mit  den  oben  unter  a),  b),  c) 
bezeichneten  Aufgaben,  dann  (d)  mit  der  Aufbewahrung  steuerpflichtiger  Waren  im  Inlande 
bis  zur  Versteuerung  oder  Ausfuhr  ins  Ausland  befassen. 

Die  unter  b)  beschriebenen  Freilager  nennt  das  mit  der  Ministerialverordnung  vom 
23.  Juni  1891,  R.-G.-Bl.  Nr.  78,  erlassene  Zollregulativ  für  das  Freigebiet  beim  neuen 
Hafen  in  Triest  „Zollgebietsniederbigen"  (§  27  ff.). 

1)  Dies  geschah  mit  Erlass  des  Handelsministeriums  vom  23.  October  1880, 
Z.  33.358. 


Ein  Rückblick  auf  die  Entwicklung  der  Triester  Lagerhäuser.  105 

Die  beiden  Körperschaften  giengen  für  die  Concessionsdauer  einen  Gesellschafts- 
veitrag  ein  und  Hessen  das  Unternelimen  unter  der  Firma  .,Lagerhäuser  der  Gemeinde 
und  der  Handels-  und  Gewerbekammer  in  Triest"  beziehungsweise  gleichzeitig 
italienisch  „Magazzini  generali  del  Municipio  e  della  Camera  di  commerclo  e 
d"  indnstria  in  Trieste"  handelsgerichtlich  protokollieren. 

Die  oberste  Leitung  sämmtlicher  Geschäfte  wurde  einem  aus  zwölf  Mitgliedern 
zusammengesetzten  Verwaltungscomite  anvertraut,  welches  seinen  Vorsitzenden 
und  seinen  Stellvertreter  für  je  5  Jahre  wählte,  die  Vermögensverwaltung  und 
den  ganzen  Geschäftsbetrieb  zu  überwachen  und  die  hierfür  allgemein  geltenden 
Grundsätze  zu  erlassen  hatte. 

Den  Mitgliedern  oblag  die  Erfüllung  ihrer  Aufgabe  unter  Beobachtung  und 
Anwendung  der  Sorgfalt  eines  ordentlichen  Kaufmannes. 

Im  Sinne  des  erwähnten  Uebereinkommens  wurde  das  für  das  Lagerhaus- 
unternehmen erforderliche  Capital  einer  Million  Gulden  Nominale  mittels  eines 
am  1.  Juli  1880  von  der  Firma  Eeyer  &  Schlik  zu  5proc,  gewährten  Darlehens 
beschafft  und  bis  zum  Betrage  von  820.000  begeben. 

Die  ursprünglich  ausgeworfene  Summe  von  718.000  fl.  ist  im  grossen 
und  ganzen  eingehalten  worden.  Nach  dem  von  der  Lagerhausverwaltung 
veröffentlichten  Geschäftsberichte  des  Jahres  1882  betrugen  die  Gesammtauslagen 
(ür  den  Bau  der  Lagerhäuser  sammt  Nebengebäuden,   sowie   allen  Einrichtungen 

und  Wasseranlage 770.880  fl. 

beziehungsweise  sammt  den  Nachtragsbauten  der  Folgejahre     .    .    .     785.000  fl. 

Am  20.  April  1880  wurde  der  Betrieb  eröffnet. 

Wie  nothwendig  die  Errichtung  neuer,  der  allgemeinen  Benützung  zugänglicher 
Warenniederlagen  für  die  Triester  Handelswelt  war,  geht  aus  der  Thatsache 
hervor,  dass  im  Februar  1882  und  im  Winter  1883/84  der  Warenverkehr  im 
Reichshafen  ohne  Lagerhäuser  gar  nicht  hätte  bewältigt  werden  können.  Schon 
die  Berathungen  zu  dem  neuen,  mit  Gesetz  vom  25.  Mai  1882  erlassenen  und 
am  1.  Juni  1882  in  Kraft  getretenen  Zolltarife,  welcher  ausser  Zollerhöhungen 
zum  erstenraale  die  Unterscheidungszölle  auf  Colonialien^)  einführte,  hatten  sehr 
grosse  Einlagerungen  von  Kaffee,  iSetreide  und  Mehl  zur  Folge  gehabt. 

Ende  Mai  1882  waren  die  Lagerhäuser  bei  einem  Bestände  von  13,000.000  kg 
fast  vollständig  gefüllt.  Der  Platztiandel  zog  damals  grossen  Vortheii  aus  dieser 
Einrichtung,  ohne  welche  die  Wareneinfuhr  ins  Zollgebiet  nur  mit  beträchtlichen 
Auslagen,  sowie  zahlreichen  und  grossen  Schwierigkeiten  verbunden  gewesen 
wäre.^) 

Im  Geschäftsberichte  des  darauffolgenden  Jahres^)  heisst  es,  das  Unter- 
nehmen erfreue  sich  der  Gunst  der  Handelswelt  und  müsse  als  bedeutender 
Hilfsfactor  des  Triester  Handels  angesehen  werden.  Der  Warenandrang  nahm 
1883    mehrmals    solchen   Umfang    an,    dass    zeitweise    die   Aufnahme    eingestellt 


*)  Der  Zolltarif  vom  27.  Juni  1878  belegte  Kaffee  roh  mit  einem  Eingangszolle 
von  24  fl.  Gold  für  100  Tcg.,  der  Zolltarif  vom  25.  Mai  1882  den  zu  Lande  eingeführten 
Kaflfee  mit  40,  bei  Einfuhr  zur  See  mit  37   fl.  Gold. 

2)  Resoconto  per  la  gestione  dell'  anno  1882,  Seite  4. 

3)  „  .     „        «  «         »      1883,  Seite  3. 


106  Lippert. 

werden  musste.  1884  stetiges  Herbeiströmen  von  Waren.  1885  entstand  sogar 
die  Besorgnis,  dass  die  verfügbaren  Eäume  den  Bedürfnissen  nicht  entsprächen. 
Ende  März  1885  und  noch  später  in  einigen  Monaten  waren  nämlich  infolge 
grosser  Zuckerausfuhr  die  Lagerhäuser  vollständig  gefüllt;  vorübergehend  mussten 
sogar  Aushilfsmagazine  in  der  Stadt  gemietet  werden,  um  diesen  Artikel  nicht 
von  Triest  abzulenken.^) 

Auch  der  Lagerscheinverkehr  hatte  sich  rasch  eingelebt. 

1882  waren   341  Scheine   über  einen  Versicherungswert  von  1,299.955  fl. 

1883  „       975        „  „        „  „  „     2^837.431  „ 
'1884      „       740        „          „        „                  „                 „     3,207.090  „ 

1885       „     1729        „  „        „  „  „     5,379.380  „ 

ausgegeben  worden. 

Die  dringende  Nothwendigkeit,  an  die  Vergrösserung  der  Lagerhäuser  zu 
denken,  hatte  sich  somit  bald  erwiesen. 

Aber  auch  die  innere  Einrichtung  entsprach  den  Verhältnissen  nicht.  Die 
noch  Senkungen  unterworfenen  Anschüttungsgründe  des  neuen  Hafens  liessen 
seinerzeit  die  Aufführung  solider  Bauten  nicht  zu.  Die  dünnen  Umfassungsmauern, 
der  Umstand,  dass  das  Dach  unmittelbar  auf  den  Lagerräumen  ruhte,  die  verhältnis- 
mässig zahlreichen  Thore  in  Verbindung  mit  den  eigen thümlichen  klimatischen  Ver- 
hältnissen, welche  sich  bekanntlich  durch  heftige  Winde,  grosse  Hitze  und  plötzliche 
Wetterumschläge  charakterisieren,  hielten  die  atmosphärischen  Einflüsse  nicht  genug- 
sam von  den  Waren  ab  und  bewirkten  ein  erhebliches  Calo.  Darunter  litten  namentlicli 
mehrere  wichtige  Artikel  des  Triester  Handels,  wie  Kaffee,  Agrumen,  Gewürze  u.  s.  w. 

So  war  denn  auch  schon  im  Schosse  der  mit  Erlass  des  Handelsministeriums 
vom  19.  März  1883,  Z.  ~^,  einberufenen  Commission  behufs  Feststellung  der 
zur  Aufhebung  des  Freihafens  von  Triest  nöthigen  Vorkehrungen  ausgesprochen 
worden,  dass  die  Errichtung  genügend  grosser,  gut  eingerichteter  und  billiger  Lager- 
häuser ein  unabweislich  dringendes  Bedürfnis  des  Triester  Handels  sei,  so  zwar, 
dass  dieselben,  auch  wenn  der  Freihafen  nicht  aufgehoben  würde,  erbaut  werden 
sollen,  dass  sie  aber  andernfalls  sofort  erbaut  werden  müssen.^) 

Der  mitunter  genährte,  ursprüngliche  Gedanke,  die  Auskunftsmittel  der 
Zollcontierung,  der  Zollborgung,  sowie  der  Fiduciarmagazine  zu  benützen,  um 
die  sofortige  Ausführung  der  Lagerhäuser  in  grossem  Stile  zu  umgehen,  hatte 
sich  als  völlig  unhaltbar  erwiesen.  Die  Bedeutung  der  Lagerhäuser  bestand  eben 
gerade  darin,  dass  dem  Triester  Handel  durch  den  Uebergang  zum  Niederlags- 
system das  wichtigste  und  unentbehrlichste  moderne  Mittel  zu  seiner  Hebung 
und  Kräftigung  geboten  werden  sollte,  und  dies  zu  einer  Zeit,  wo  durch  die 
Freihafenaufhebung  der  Mittelpunkt  des  Handelsverkehres  naturgemäss  in  den 
neuen  Hafen  verlegt  werden   musste. 

Ueber  den  Umfang  der  neu  zu  errichtenden  Bauten  zwecks  Deckung  des 
Lagerraumerfordernisses  für  die  nächsten  zehn  Jahre  konnten  bei  den  erwähnten 
Verhandlungen  des  Jahres  1883  selbstredend  nur  Schätzungen  aufgestellt  werden. 


')  Eesoconto  per  la  gestione  dell'  anno  1885,  Seite  3. 

2)  Seite  7  des  in  der  k.  k.  Hof-  und   Staatsdruckerei    erschienenen   Commissions- 
berichtes  vom  23.  Mai  1888. 


Ein  Rückblick  auf  die  Entwicklung  der  Triester  Lagerhäuser.  107 

Ausgehend  von  einem  durchschnittlichen  Lagerstand  von  832.500^)  Meter- 
centnern  in  der  ganzen  Stadt  wurden  500.000  Metercentner  für  die  Bergung  in 
den  Lagerhäusern  und  der  Eest  von  332.500  Metercentner  für  die  theilweise 
weiter  zu  benützenden  Stadtmagazine  gerechnet.  Bei  Annahme  eines  den  Erfahrungs- 
thatsachen  entsprechenden  Durchschnittsmaasstabes  von  7  Metercentner  auf  einen 
Quadratmeter  oder,  mit  Einschluss  des  Manipulationsraumes,  3  Metercentner  für 
einen  Quadratmeter  war  demnach  zur  Bewältigung  des  Lagerverkehres  eine 
verbaute  Lagerfläche  von  rund  167.000  ni^  erforderlich.^)  Die  damaligen  Lager- 
häuser stellten  aber  nur  einen  verbauten  Grund   von  22.577  ni^   dar. 

Da  von  der  Neuanlage  eines  Hafens  und  Ereibezirkes  in  der  Bucht  von 
Muggia,  wie  sie  die  städtischen  Körperschaften  befürwortet  hatten,  nicht  die  Rede 
sein  konnte,  und  damals  nur  der  neue  Hafen  am  nördlichen  Ende  der  Stadt  mit 
einer  verbaubaren  Fläche  von  68.592  ni^  zur  Verfügung  stand,  so  war  damit 
die  weitere  Frage  der  Erbauung  von  Stockwerken  gegeben,  deren  Zulässigkeit  von 
technischer  Seite  bejaht  wurde.  Für  den  Ausbau  der  alten  und  die  Errichtung 
neuer  Lagerhäuser  rechnete  man  einen  Aufwand  von  5,500.000  fl.,  für  die 
Betriebsanlagen  500.000  fl.,  somit  zusammen  6,000.000  fl. 

Jedenfalls  war  es  nothwendig,  das  ursprünglich  als  Petroleumhafen  gedachte 
Gebiet  beim  Bassin  I  auch  für  Lagerzwecke  zu  verwenden  und  ersteren  anderswo 
einzurichten.  Als  geeignete  Oertlichkeit  erschien  S.  Sabba;  die  Kosten  für  die 
Anlage  dortselbst  wurden  mit  2,500.000  fl.  veranschlagt. 

Es  dürfte  hier  am  Platze  sein,  den  Standpunkt  zu  kennzeichnen,  von  welchem 
aus  die  1833er  Commission  ihre  Aufgabe  betrachtete;  in  ihrem  an  den 
Handelsminister  Pino  erstatteten  Berichte^)  heisst  es,  eine  nähere  Erwägung  der 
einzelnen  Bedürfnisse  Triests  ergebe,  dass  dieselben  insgesammt  in  der  höheren 
staatlichen  Aufgabe  ihren  Schwerpunkt  finden,  den  lange  genug  stagnierenden 
Hafen,  seinen  Handel  und  seine  Schiffahrt  mit  den  unerlässlichen  Hilfsmitteln  des 
modernen  Verkehres  auszustatten  und  einem  neuen  grossen  Aufschwung  zuzuführen, 
wozu  er  alle  Bedingungen  vereinige  und  eben  im  gegebenen  Zeitpunkte  alle  Um- 
stände günstig  seien. 


')  Von  der  Triester  Handelskammer  aufgestellte  Ziffer. 

2)  Zur  Beleuchtung  des  bezifferten  Erfordernisses  wurde  auf  die  Stadtmagazine 
hingewiesen;  nach  den  auf  Grund  der  Hauszinssteuer- Bekenntnisse  gepflogenen  Erhebungen 
waren  Ende  1882  1108  Magazine  mit  einem  Flächenraume  von  349.500  m^  im  Stadt- 
gebiete zu  Handelsuntemehmungen  benutzt  (wobei  die  anderen  Zwecken  dienenden,  sowie 
die  leerstehenden  nicht  berücksichtigt  erschienen). 

Unter  Zugrundelegung  eines  durchschnittlichen  Jaliresniietzinses  von  2500  fl.  für 
je  1000  m^  würde  die  gesammte  vermietete  Magazinsfläche  von  rund  350.000  m"^  ein 
Koherträgnis  von  875.000  fl.  darstellen.  "Wenn  nun  beispielsweise  durch  Zunahme  des 
Belegraumes  der  Lagerhäuser  in  den  Stadtmagazinen  200.000  m^  Flächenraum  verfügbar 
und  einer  anderweitigen,  weniger  einträglichen  Benützung  zugeführt  wurden,  wobei  der 
hiedurch  entstehende  Zinsenausfall  allenfalls  mit  2/^  des  Zinswertes  anzunehmen  ist, 
dann  beträgt  die  Einbusse  2/3  von  500.000  =  rund  330.000  fl.  jährlich.  Letztere  Ziffer 
wäre  also  schätzungsweise  als  der  den  Triestiner  Hauseigenthümern  erwachsene  Schaden 
anzusehen. 

3)  Derselbe  trägt  die  Unterschriften  Bazant,  Schuck,  Kalchberg,  Haardt 
V  e  r  i  d  a. 


108  Lippert. 

Die  Freihafenfrage  trete  gegenüber  der  Nothwendigkeit  einer  grossen  staat- 
lichen Action  für  Triest  mehr  in  den  Hintergrund.  Denn  es  bedürfe  wohl  keiner 
Hervorhebung,  dass  die  Gewinnung  eines  Stadtgebietes  mit  145.000  Einwohnern 
für  das  Zollgebiet  und  die  Zollcassa  nicht  annähernd  die  schweren  Opfer  auf- 
zuwiegen verm()ge,  welche  die  angedeuteten  Investitionen  erheischen. 

Der  Nutzen  und  Zweck  dieser  Investitionen  liege  vielmehr  in  der  Erhaltung 
und  Kräftigung  des  einzigen  und  grossen  Seehandelsemporiums  von  Triest,  welches 
ausnehmende  Bedeutung  für  den  internationalen  Handel  Oesterreichs,  für  dessen 
Unabhängigkeit  von  Nachbarstaaten,  für  die  Erschliessung  des  Verkehres  mit  dem 
gesammten  Erdball  besitzt  und  andererseits  von  Fiume,  Genua  und  den  Nordsee- 
häfen  ernstlich  bedroht  werde. 

Es  müsse  besonders  betont  werden,  dass  in  anderen  Staaten  unter  einem 
minderen  Druck  unmittelbarer  Nothwendigkeit  und  mehr  vom  Gesichtspunkte 
weitblickender,  staatlicher  Fürsorge  weit  grössere  Opfer  für  den  Bestand  und  die 
Entwicklung  der  Seeplätze  gebracht  werden  und  auch  der  Vorgang  zumeist  beob- 
achtet wurde,  dass  Investitionen,  wie  die  Lagerhäuser,  welche  sich  selbst  verzinsen 
und  amortisieren,  den  zunächst  berufenen  Körperschaften,  wie  z.  B.  der  Handels- 
kammer, unter  Zugestehung  einer  entsprechend  langen  Amortisationsfrist  zuge- 
wiesen wurden. 

März  1884  wurde  eine  eigene  Commission')  zum  Studium  der  Hafenein- 
richtungen, der  Hangars  und  Lagerhäuser  in  Marseille  entsendet  und  dem  Ingenieur 
der  Compagnie  des  Docks  et  Entrepöts  L.  Barret  im  Briefe  des  Handelsministers 
Freiherrn  v.  Pino  vom  9.  Juni  1884  an  der  Hand  eines  vom  Ministerialrathe  Dr. 
Bazant  ausgearbeiteten,  mit  den  Plänen  des  Triester  Hafens,  statistischen  Daten 
u.  s.  w.  belegten  Promemorias  die  Aufgabe  gestellt,  abgesehen  von  den  bereits 
vorhandenen  Bauten  eine  Fläche  von  40.000m^  für  Hangars,  180.000  w^  für  Lager- 
häuser und  12.000  m-  für  freie  Lagerung  zu  schaffen.  B  a  r  r  e  t  hat  Triest  auf  kurze 
Zeit  besucht.  Sein  umfassendes,  den  Bedürfnissen  des  Seehafens  jedoch  nicht 
vollkommen  angepasstes  Project  (vom  20.  März  1885)  hätte  einen  Kostenaufwand 
von  IßVa  Millionen  Franken  (8Y4  Millionen  Gulden)  beansprucht.  ^) 

Es  fand  daher  auch  bei  den  Verhandlungen  der  mit  Erlass  des  Handels- 
ministeriums vom  7.  September  1885  Z.  31.512,  nach  Triest  einberufenen  Commission 
zur  Berathung  der  definitiven  Ausgestaltung  des  neuen  Triester  Hafens  keinen  Beifall 
und  wurde  als  im  wahren  Interesse  des  Handels  und  der  Zukunft  der  Stadt  nicht 
annehmbar  bezeichnet. 

Den  damaligen  Besprechungen  lag  ausserdem  vor  ein  Project  des  Südbahn- 
Oberingenieurs  Friedrich  Bömches,  drei  Projecte  der  k.  k.  Generalinspection 
der  österreichischen  Staatsbahnen,  sowie  ein  im  Auftrage  der  Börsedeputation 
von  den  Ingenieuren  L.  Dr.  Buzzi  und  F.  Krause  verfasstes  Project. 


n 


1)  Dieselbe  bestand  aus  Ministerialrath  Dr.  Bazant,  Inspector  Heindl,  Inspector 
Setz,  Vicepräsident  des  Lagerhauscomit^s  Teuschl,  Kaufmann  Schadeloock. 

2)  Die  sehr  ausführliche  Arbeit  erschien  im  Druck:  „Port  de  Trieste.  Travaux 
complementaires.  Am^nagement  et  Outillago.  Projet."  Marseille,  Typographie  et  Litho- 
graphie J.  Coyer  1885. 


Ein  Rückblick  auf  die  Entwicklung  der  Tiiester  Lagerhäuser.  109 

Die  Billigung  erhielt  das  vom  eingesetzten  technischen  Ausschusse  vorge- 
schlagene Compromiss-Project,  welches  sich,  anlehnend  an  die  Gesaramtanordnung 
der  Hafenanlage,  den  Ausbau  und  die  Ausnützung  der  vorhandenen,  sowie  der 
sich  als  nothwendige  Ergänzung  anschliessenden  Grundflächen,  ferner  die  Ver- 
mehrung der  Anlegestellen,  dann  die  Herstellung  eines  neuen  Holzplatzes  in  S. 
Andrea  und  eines  neuen  Petroleumhafens  in  S.  Sabba  als  Aufgabe  stellte.  Zur 
Ausnützung  des  vorhandenen  Eaumes  waren  längs  der  Quais  Hangars  mit  einem 
Stockwerke,  hinter  denselben  zwei  Keihen  von  Magazinen  mit  zwei  Stockwerken 
zu  errichten. 

Der  auf  diese  Weise  gewonnene  Belegraum  betrug  an  reinen  Magazinsflächen 
145.000  m^;  für  Kohlenlager  und  Lagerplätze  im  Freien  waren  Flächen  von 
21.000  m^  vorgesehen. 

Nach  Verwertung  des  durch  die  Commissionsverhandlungen  gewonnenen 
Materiales,  welches  als  Grundlage  für  die  Ausarbeitung  eines  zur  Ausführung 
geeigneten  Detail-Projectes  diente,  lud  das  Handelsministerium  mit  dem  im  Wege 
des  Triester  Statthalterei-Präsidiums  erlassenen  Eescripte  vom  10.  October  1886, 
Nr.  45.679  ex  1885,  die  Gemeinde,  sowie  die  Handels-  und  Gewerbekammer  ein, 
ihre  Bedingungen  für  die  Uebernahme  der  neuen  Lagerhausbauten  um  die  veran- 
schlagte Summe  von  6,567.000  fl.  bekannt  zu  geben. 

Im  Antwortschreiben  vom  24.  December  1886  erklärten  sich  beide  Körper- 
schaften hierzu  grundsätzlich  bereit,  worauf  Mitte  März  1887  in  Wien  die  näheren 
Vereinbarungen  stattfanden  und  am  28.  März  1887  das  verbindliche  Schluss- 
protokoll unterfertigt  wurde.  Mit  dem  Erlasse  vom  19.  Juli  1887  Nr.  25.287 
ertheilte  das  Handelsministerium  einvernehmlich  mit  dem  Finanzministerium  die 
unübertragbare,  auf  90  Jahre  lautende  Concession,  welche  auch  die  bereits  beste- 
henden Lagerhäuser  Inbegriff,  die  giltigen  Reglements  und  Tarife  beliess  und  das 
Verlangen  ^)  der  Concessionäre,  die  Manipulationsgebür  für  ein-  und  ausgehende 
Waren,  sowie  das  Waggeld  und  die  Hangar-Tarife  erhöhen  zu  wollen,  einer 
Ueberprüfung  vorbehielt. 

In  dem  Rechtsverhältnisse  der  beiden  Unternehmer,  sowie  in  der  Organi- 
sation der  Lagerhausverwaltung  trat  keine  wesentliche  Aenderung  ein. 

Gemäss  §  3  der  Concessionsurkunde  waren  zunächst  und  unmittelbar  nach 
Abschluss  des  Uebereinkommens  14  Lagerhäuser  und  Hangars  sammt  Nebengebäuden 
und  Anlagen  nach  den  von  der  Regierung  genehmigten  Plänen  zu  errichten. 

Ausserdem  behielt  sich  die  Staatsverwaltung  vor,  der  Dampfschiffahrtsgesell- 
schaft des  österreichisch-ungarischen  Lloyd  den  Molo  III  oder  einen  andern 
Quai  zur  ausschliesslichen  Benützung,  namentlich  zur  Errichtung  von  Hangars 
zuzuweisen  und  eine  diesbezügliche  Vereinbarung  zwischen  Lloyd  und  Concessio- 
nären  herbeizuführen. 

Ein  Theil  der  Bauten,  und  zwar  die  10  Magazine  und  Hangars  Nr.  6,  7, 
9,  10,  17,  18,  19,  20,  21,    22    sammt  Nebenanlagen,    hatte    bis  1.  December 


*)  Dasselbe  wurde  damit  begründet,  dass  die  Gebüren  niedriger  als  anderswo, 
insbesondere  in  Marseille,  seien  und  kaum  zur  Deckung  der  Auslagen  hinreichten,  jeden- 
falls aber  nicht  genügten,  wenn  die  Waren  mittelst  Erahnen  in  die  oberen  Stockwerke 
hinauf  und  hinunter  befördert  werden  müssen. 


110  Lippert. 

1889,  die  Magazine  und  Hangars  Nr.  24,  25,  26  bis  1.  Juli  1890  fertig 
gestellt  zu  sein;  das  Spiritusmagazin  und  Kohlenlager  erst  ein  Jahr  nach  üeber- 
gabe  der  als  baufähig  erkannten  neuen  Anschüttungsfläche  im  nördlichen  Hafen- 
theile.  Auf  die  bereits  bestehenden  Lagerhäuser  Nr.  8,  11.  14,  15,  16  sollten 
Stockwerke  aufgesetzt  oder,  wenn  dies  unzweckmässig,  an  ihrer  Stelle  neue 
Gebäude  aufgeführt  werden. 

Schliesslich  war  bis  1.  December  1889  eine  von  der  Zollverwaltung  zu  bestim- 
mende Abschliessung  des  Freigebietes  mittels  einer  bei  4  m  hohen  Mauer  oder 
eines  Gitters  sammt  Thoren  und  Wachhütten  zu  errichten  (§  6). 

Die  Staatsverwaltung  erbot  sich  zu  einer  Beitragsleistung  von  jährlich 
4800  fl.  durch  10  Jahre  zur  Herstellung  der  elektrischen  Beleuchtung  und  von 
jährlich  10.000  fl.  zu  deren  Betrieb  (Zusatz-  und  Uebergangsbestimmungen 
zu  §  7). 

Die  Ziffer  des  durch  ein  Anlehen  zu  deckenden  Anlagecapitals  unterlag 
der  Genehmigung  des  Handelsministeriums. 

Interessieren  dürfte  die  Anordnung  des  §  18  der  Urkunde,  dass  aus  einem 
Thoile  der  Ertragsüberschüsse  ein  besonderer  Fond  für  Beitragsleistungen  zum 
Zwecke  von  Erweiterungen  des  Hafens  von  Triest,  insbesondere  wegen  Erbreiterung 
der  Eiva  und  Erbauung  von  Molis  im  alten  Hafen,  Ausbau  des  Holzhafens  bei 
S.  Andrea  u.  s.  w.  zu  bilden  sei. 

Von  den  in  Aussicht  genommenen  Lagerhäusern  wurden  jedoch  nicht  alle 
ausgeführt,  da  namentlich  das  Jahr  der  Freihafen-Aufhebung  für  den  Handels- 
verkehr und  den  Geschäftsgang  nicht  von  günstigem  Einflüsse  war.  So  wurde 
mit  dem  Erlasse  des  Handelsministeriums  vom  1.  April  1892,  Z,  13514,  eine 
Einschränkung  der  Bauten  im  Freihafen  gestattet. 

Die  Gesammtauslagen  erreichten  dem  Geschäftsberichte  des  Jahres  1893 
zufolge  «ine  Summe  von  8,795.800  fl.,  zu  deren  Bestreitung  das  auf  Grund 
Allerhöchster  Entschliessung  vom  28.  Februar  1889  aufgenommene  11  Millionen- 
Anlehen  diente. 

In  dieser  hohen  Ziffer  ist  auch  die  Ursache  der  späterhin  so  ungünstigen 
Gebarung  der  Lagerhäuser  zu  suchen. 

Hatte  schon  das  im  Jahre  1880  aufgenommene,  in  25  Jahren  zu  amorti- 
sierende Anlehen  von  820.000  fl.  der  Unternehmung  eine  jährliche  Belastung 
von  rund  57.000  fl.  für  Verzinsung  und  Amortisation  auferlegt,  so  erheischte 
das  zum  Curse  von  94*5  begebene,  zu  4  Proc.  verzinsliche  11  Millionen  Darlehen 
zum  Zwecke  der  erst  am  1.  Juli  1975  endenden  Tilgung  eine  weitere  Jahresaus- 
lage von  etwa  454.000  fl.,  derart,  dass  diese  Schuldenlast  von  511.000  fl., 
oder  nach  Abzug  der  Intercalarzinsen  mit  rund  100.000  fl.  für  die  nicht- 
behobene  Anlehensquote  411.000  fl.,  wie  eine  schwere  Fessel  jede  freie  Regung 
des  Unternehmens  hemmte. 

Da  dasselbe  von  vornherein  nicht  darauf  angelegt  war,  den  Concessionären 
einen  Gewinn  abzuwerfen,  so  können  die  Rechnungsabschlüsse  der  ersten  Betriebs- 
jahre bis  zur  Aufhebung  des  Freihafens  als  vollkommen  befriedigend  angesehen 
werden.  Dieselben  ergaben  nämlich  einen  Reingewinn  von  zusammen  138.988  fl. 
98  kr.  Dieser  Reingewinn  bezieht  sich  nur  auf  die  Gebarung  der  alten  Magazine ; 


I 


Ein  Rückblick  auf  die  Entwicklung  der  Triester  Lagerhäuser.  Hl 

die  Erträgnisse,    welche    die    neuen    Magazine    1889,    1890  und    in    der    ersten 
Hälfte  1891  abwarfen  (50.775  fl.),  wurden  auf  die  Baurechnung  übertragen. 

Das  erste  Halbjahr  1891  wies  noch  einen  geringen  Ueberschuss,  etwas  über 
5000  fl.,  auf;  im  zweiten  Halbjahre  1891,  unmittelbar  nach  der  Aufhebung  des 
Freihafens,  stellte  sich  jedoch  ein  Ausfall  von  113.226  fl.  heraus  und  die  Ver- 
hältnisse lagen  so,  dass  für  die  Folgezeit  nur  noch  eine  Verschlechterung  zu 
gewärtigen  war,  zumal  die  Benützung  der  Lagerhäuser  nicht  in  dem  gehofften 
Maasse  stattfand. 

Es  lässt  sich  nicht  leugnen,  dass  der  Hauptfehler  in  der  theuren  Anlage 
zu  suchen  war.  Mitwirkten  zu  grosse  Ausgaben  für  die  Verwaltung,  dann  eine 
Eeihe  beträchtlicher  Auslagen,  die  eigentlich  nicht  Lagerhauszwecken  dienten,  wie 
die  Pflasterung  und  Erhaltung  der  Strassen  und  Geleise,  der  Beleuchtungs-  und 
Wasseranlagen.  In  Fiume  war  beispielsweise  der  Zollabschluss  ^)  und  das  Haupt- 
zollamtsgebäude von  der  Zollverwaltung  selbst  gebaut  worden. 

Unbestreitbar  ist  auch,  dass  die  Gebüren  verhältnismässig  zu  hohe  waren. 
Die  Nebengebüre^  waren  zu  zahlreich  und  es  führte  die  Anwendung  des  Tarifes 
zu  Auseinandersetzungen  zwischen  den  Hinterlegern  und  der  Unternehmung.  Es 
ist  zweifellos  besser,  sich  mit  einer  geringeren  Miete  zu  begnügen,  als  einen 
grossen  Theil  der  Lagerhäuser  leer  stehen  zu  lassen.  Die  Concessionäre  schienen 
aber  zu  befürchten,  dass  billige  Lagerzinse  im  Freigebiete  zu  sehr  auf  die  Miet- 
zinse der  als  Verschluss-  und  Contierungsmagazine  verwendeten  Stadtmagazine 
drücken  würden. 

Mitte  1892  waren  von  dem  Gesammtbelagraum  von  80.973  m^ 

vermietet    ...         ■ 19.804  in^ 

zu  gemeinsamer  Lagerung  benützt 18.100  w'"^ 

zusammen      .    .    .     37.904  m'^ 
sonach  standen  leer 43.069  m^ 

Noch  ungünstiger  gestaltete  sich  die  Lage  im  April  1893: 
Von  dem  verfügbaren  Lagerraum  von  94.000  m^ 

waren  vermietet 19.000  m^ 

in  Betrieb  der  Lagerhausverwaltung      15.000  m^ 

zusammen      •     .    .     34.000  m^ 
leer 60.000  m'^ 

Im  monatlichen  Durchschnitte  waren  1892  33  Proc,  189']  43  Proc.  der 
Gesammtlagerfläche  benützt,  die  übrigen  Lagerräume,  1892  67  Proc  ,  1893  57  Proc. 
standen  leer. 

Diese  Erscheinung  war  umso  beklagenswerter,  als  bis  zur  Aufhebung  des 
Freihafens  ungefähr  ^4 — Ve  des  gesammten  Triester  Warenbestandes  in  den 
Lagerhäusern  untergebracht  war. 

Die  Gebarungsverluste  wurden  bedenklich,  vom  1.  Juli  1891  angefangen 
bis  Ende  1893  zusammen  437.834  fl. 

In  maassgebenden  Kreisen  bildete  sich  die  Ueberzeugung,  dass  die  Lager- 
hausunternehmung, beziehungsweise  die  beiden  Körperschaften  nach  dem  Stande  ihrer 

')  In  Triest  kostete  das  Abschlussgitter  des  Freihafens  138.190  fl.  (Geschäfts- 
bericht der  Lagerhausverwaltung  über  das  I.  Trimester  1894). 


112  Lippert. 

Einkünfte,  aus  eigener  Kraft  nicht  imstande  seien,  eine  active  Bilanz  zu  erzielen, 
da  für  die  nächsten  Jahre  ein  Betriehsausfall  von  beiläufig  200.000  fl.  jährlich 
zu  decken  war.  Für  das  Gedeihen  des  Handelsplatzes  erschien  die  Uebernahme 
der  Lagerhäuser  in  staatlichen  Betrieb  mit  Ausschluss,  einer  einmaligen  Hilfeleistung 
in  Form  von  Darlehensvorschüssen  gegen  Rückzahlung  oder  durch  mehrjähriges 
Aufkommen  für  die  Betriebsabgänge  von  besonderer  Bedeutung  und  Wichtigkeit. 
Nur  dann  konnte  durch  Erleichterungen  der  Einlagerungsbedingnisse  der  Verkehr 
gehoben,  die  angestrebte  Gleichheit  mit  Fiume  hergestellt  und  eine  mit  so  kostspieligen 
Mitteln  ins  Werk  gesetzte,  dem  Handel  des  ganzen  Reiches  förderliche  Einrichtung 
vor  dem  Verfalle  bewahrt  werden. 

Aus  den  Triester  Kreisen  selbst  erhob  sich  der  Ruf  nach  staatlicher  Hilfe. 
Am  20.  Jänner  1894  überreichte  eine  Deputation  der  Triester  Handels-  und 
Gewerbekammer  dem  Handelsminister  Gundaker  Graf  Wurmbrand-Stuppach, 
der  nach  Triest  gekommen  war,  um  die  Handelsverhältnisse  aus  eigener  Anschauung 
kennen  zu  lernen,  eine  Denkschrift  über  die  Verkehrslage  Triests,  worin  der 
Lagerhausfrage  ausführlicher  gedacht  und  namentlich  hervorgehoben  wird,  dass 
durch  die  günstigeren  Lagerhausbedingungen  in  Fiume  die  Concurrenzfähigkeit 
Triests  wesentlich  beeinträchtigt  wurde.  An  der  Hand  von  zahlreichen  Beispielen 
scheint  darin  ziffermässig  nachgewiesen,  wie  durch  die  jenseitigen  billigeren  Lager- 
gebüren,  durch  längere  Freilagerfrist,  durch  die  Erleichterungen,  beziehungsweise  den 
Wegfall  der  Gebüren  für  die  Zustreifung,  Krahnbenützung,  Abwäge,  Zollbehandluiig 
u.  s.  w.  Fiume  allmählich  einen  grossen  Theil  des  Triester  Verkehrs  an  sich 
ziehen  müsse,  und  wird  dann  der  Stand  der  Triester  Lagerhausfrage  im 
allgemeinen  gekennzeichnet  und  hervorgehoben,  dass  infolge  aller  der  angeführten 
misslichen  Umstände  die  Lage  der  Unternehmung  eine  sehr  beunruhigende 
geworden  sei  und  sie  deshalb  dringendst  die  Hilfe  des  Staates  anrufen  müsse, 
damit  er  —  sei  es  durch  Zinsengarantie  oder  in  anderer  den  Handel  nicht 
benachtheiligender  Weise  —  die  beiden  städtischen  Körperschaften  von  der  sie 
erdrückenden  Last,  die  sie  wahrlich  nicht  in  eigennütziger  Absicht,  sondern  nur 
im  Interesse  des  Triester  Verkehres  auf  sich  genommen  hatten,  befreie  und  der 
durch  die  Errichtung  der  Lagerhäuser  beabsichtigte  Zweck  durch  Ermöglichung 
billiger  Tarife  erreicht  werden  könne.  ^) 

Der  Handelsminister  nahm  sich  der  Sache  angelegentlichst  an  und  erklärte 
im  Erlasse  vom  19.  Februar  1894  die  Geneigtheit  der  Regierung,  dem  von  beiden 
Körperschaften  gestellten  Ansuchen  um  staatliche  Unterstützung  in  der  Weise 
zu  entsprechen,  dass  die  Erwerbung  der  Lagerhäuser  durch  den  Staat  ins  Auge 
gefasst  werde. 

Das  Ergebnis  der  hiemit  angebahnten  Verhandlungen  war  das  mit  den 
Concessionären  zu  Triest-Wien,  am  27./28.  Februar  1894  abgeschlossene  Ueberein- 
kommen.  Hiernach  erhielt  der  Staat  mit  1.  April  1894  die  gesammte  Anlage  von 
Lagerhäusern  und  Hangars  nebst  allem  beweglichen  und  unbeweglichen  Zubehör 
in  sein  schulden-  und  lastenfreies  Eigenthum  und  trat  in  alle  Rechte  und  Verbindlich- 
keiten des  Unternehmens  ein.    Insbesondere    übernahm    der  Staat   die  Verzinsung 


*)  Seite  4  in  dem  von  der  Börsedeputation  herausgegebenen  Berichte  über  Triests 
Handel  und  Schiffahrt  im  Jahre  1894. 


Ein  Rückblick  auf  die  Entwicklung  der  Triester  Lagerhäuser.  113 

Und  Tilgung  der  von  den  beiden  Körperschaften  aufgenommenen  Anlehen,  von 
welchen  das  erste  Sproc.  (vom  1.  Juli  1880)  damals  noch  im  Nominalbetrage 
von  590.000  fl.,  das  zweite  vierprocentige  (vom  20.  Juli  1889)  noch  im 
Nominalbetrage  von  9,176.400  fl.  im  Umlaufe  sich  befand. 

Gleichzeitig  schloss  die  Regierung  mit  der  Dampfschiffahrtsgesellschaft  des 
österreichischen  Lloyd  das  Uebereinkommen  vom  2.  März  1894,  betreffend  den 
Ankauf  des  Lloydhangars  am  Molo  III  durch  den  Staat  und  Ueberlassung  des 
commerziellen  Betriebes  dieses  Hangars  an  die  Gesellschaft.  Der  Kaufschilling 
betrug  1,083.000  fl.  und  war  vom  1.  April  1895  angefangen  in  90  gleichen  Raten 
zu  je  44.G28  fl.  zu  zahlen,  wogegen  der  Lloyd  dem  Staate  eine  jährliche  Ver- 
gütung von  44.000  fl.  zu  leisten  hatte,  so  dass  also  —  abgesehen  von  der 
seitens  der  Dampfschiffahrtsgesellschaft  übernommenen  Verpflichtung,  die  Summe 
von  1,083.000  fl.  zum  Baue  von  Schiffen  im  Inlande  zu  verwenden  —  die  Annui- 
täten und  das  Benützungsentgelt  sich  nahezu  ausgleichen. 

Beide  Uebereinkommen  haben  durch  das  Gesetz  vom  9.  Mai  1894,  R.-G.-Bl. 
Nr.  84,   die  legislg,tive  Genehmigung  erhalten.  ^) 

Zur  Bestreitung  der  für  das  Jahr  1894  sich  ergebenden  Auslagen  wurde 
der  Regierung  ein  Credit  von  200.000  fl.  eingeräumt;  vom  1.  Jänner  1895, 
angefangen  erscheinen  die  Einnahmen  und  Ausgaben  des  Lagerhausunternehmens 
(einschliesslich  des  Lloydhangars)  alljährlich  in  den  Staatsvoranschlag  eingestellt. 

Die  k.  k.  Lagerhäuser  unterstehen  laut  §  6  des  Statutes  unmittelbar  dem 
Handelsministerium;  letzteres  übt  im  Einvernehmen  mit  dem  Finanzministerium 
die  oberste  Leitung  und  Ueberwachung  des  Geschäftsbetriebes.  Die  Aufsicht  über 

^)  In  der  parlamentarischen  Verhandlung  über  die  Verstaatlichungsfrage  (283.  Sitzung 
der  XI.  Session  am  1.  Mai  1894)  sind  widerstreitende  Anschauungen  vertreten  worden. 
Dr.  Kaizl  hielt  die  Gewährung  jeder  Art  von  staatlicher  Unterstützung  für  den  Hafen 
von  Triest  als  eine  zweck-  und  erfolglose  Maassnalime,  welche  nicht  imstande  sei,  das 
allmähliche  unabwendbare  Herabgleiten  der  Seestadt  von  ihrem  ursprünglich  einge- 
nommenen Range  aufzuhalten.  Man  müsse  das  Bestreben  aufgeben,  gegen  natürliche 
Verhältnisse  —  dass  z.  B.  nach  Hamburg  von  Nordböhmen  näher  sei,  als  nach  Triest  — 
gegen  die  unaufhaltsame  Entwicklung  des  Weltverkehres  in  irgendeiner  erkünstelten 
Weise  anzukämpfen,  insbesondere  in  einer  Weise  anzukämpfen,  welche  nur  bedeute, 
jährlich  so  und  so  viele  Millionen  des  Staatsschatzes  eigentlich  für  nichts  aufzuwenden. 
Unter  staatlicher  Verwaltung  würden  die  bereits  ansehnlichen  Betriebsabgänge  (massig 
gerechnet  jährlich  ungefähr  160.000  fl.)  eben  wegen  der  Herabsetzung  der  Gebüren  sicher 
noch  bedeutend  (voraussichtlich  auf  400  000 — 500.000  fl.)  anschwellen.  Mit  Beschliessung 
des  Gesetzes  übernehme  der  Staat  eine  ganz  beträchtliche  Deficitquelle.  Den  Lager- 
häusern werde  es  schlecht  gehen,  ihre  Gebarungsabgänge  immer  grösser  werden  und 
Triest  mit  seinem  Handel  und  seiner  Stellung  unter  den  Häfen  Europas  von  seinem 
jetzigen  secundären  Range  weiter  nicht  mehr  sich  heraufarbeiten.  Der  Staat  solle  da,  wo 
sein  eigentliches  Industrie-  und  Handelsemporium  liege,  nämlich  in  den  weiten  Gebieten 
der  nordwärts  von  der  Donau  gelegenen  Provinzen  auf  Hebung  des  Verkehrswesens  durch 
Eisenbahnen  und  Canalbauten,  die  Verstaatlichung  der  Bahnen  inbegriffen,  bedacht  sein, 

Handelsminister  Graf  Wurmbrand  bezeichnete  diese  Ausführungen  der  Animosität 
gegen  Triest  entsp.ungen  und  betonte,  dass  der  Grund,  warum  die  Lagerhäuser  nicht 
activ  geworden  seien,  einerseits  in  ihrer  luxuriösen  und  zu  soliden  Bauart,  andererseits 
in  den  stationären  Verkehrsverhältnissen  von  Triest  liege;  er  glaube  an  die  Zukunft  des 
Hafens,  weil  er  die  geographische  günstige  Lage  für  sich  habe  und  Triest  sich  seit 
Jahrhunderten  als  Handelsstadt  bewährte. 

Zeitschrift  für  Vollisvrirtsehaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  X.  Band.  8 


114  Lippert. 

die  Lagerhansverwaltung  wird  vom  Lagerhauscomite  besorgt;  demselben  werden 
zur  Berathung  wirtschaftlicher  und  commerzieller  Fragen  Vertreter  der  Gemeinde 
und  der  Handels-  und  Geworbekammer,  sowie  der  Kaufmannschaft  beigegeben, 
welche  im  Verein  mit  den  Mitgliedern  des  Comit^s  dis  Lagerhauscommission 
bilden. 

Es  war  eine  der  ersten  Aufgaben  des  Lagerhauscomit^s,  beziehungsweise  der 
Commission,  die  Eeglements  und  Tarife  einer  genauen  Prüfung  zu  unterziehen 
und  die  nach  der  Sachlage  gebotenen  Aenderungen  zu  beantragen. 

In  erster  Linie  waren  Ermässigungen  der  Mietzinse,  der  Lagerzinse  für 
einige  Massenartikel,  die  Erstellung  besonderer  Tarife  für  concurrenzierte  Artikel, 
ferner  Herabsetzungen  der  Ein-  und  Auslagerungsgebüren,  der  Umschlagsspesen, 
der  Aufzugs-  und  Krahngebüren  beabsichtigt. 

Vor  allem  waren  eben  die  leerstehenden  Eäume  zu  füllen.  Dass  dies  durch 
die  Tarifherabseztungen  grossentheils  wirklich  gelang,  zeigen  die  Thatsachen.  Am 
Schlüsse  der  der  Verstaatlichung  vorausgehenden  3  Jahre  betrug  die  vermietete 
Fläche  durchschnittlich  20.000  tu-;  hernach  jeweils  mehr  als  das  Doppelte. 

Der  Durchschnittslagerstand  in  den  gemeinsamen  Lagerräumen  während  der 
Jahre  1890 — 1893  erhob  sich  bloss  auf  149.743  Metercentner;  gleich  in  den 
ersten  3  Jahren  nach  der  Einführung  des  Staatsbetriebes  stellte  er  sich  auf 
284.584  Metercentner,  was  eine  Zunahme  um  90  Proc.  bedeutet.  ^)  Sein  jetzige 
Durchschnittshöhe  beträgt  bei  300.000—350.000  Metercentner. 

Besonderes  Augenmerk  richtete  die  Regierung  auf  die  Abschaffung  einer 
bisher  in  Triest  bestandenen  Uebung,  ganze  Hangars  an  einen  ein  bestimmtes 
Schiff  vertretenden  Mäkler  (Raccommandatar)  zu  überlassen.  Dieser  erhielt  für  die 
Vermittlung  mit  dem  Schiffseigner  besondere  Gebüren,^)  welche  ebenso  wie  die 
Krahn-  und  Hangargebüren  vom  Warenempfänger  getragen  werden  mussten. 
Es  hätte  sicherlich  nicht  den  allgemeinen  Handelsinteresson  entsprochen,  wenn 
die  zugestandenen  wesentlichen  Ermässigungen  der  Lagorhausgebüren  nicht  in 
vollem  Maasse    dem  Warenempfänger  zugute  gekommen  wären.    Somit  wurde  der 


')  Geschäftsbericht  des  Jahres  1897. 

2)  Der  nun  aufgehobene  §  32  der  Triester  Platzusancen  bestimmte:  „Der  Eaccom- 
mandatar  einer  Ladung  was  immer  für  Provenienz,  ausgenommen  kleine  Küstenfahrt,  ist 
befugt  von  dem  Betrage  der  ganzen  Fracht  die  Provision  von  2  Proc.  einzuheben  in 
allen  jenen  Fällen,  in  welchen  der  Frachtvertrag  nicht  die  ausdrückliche  Clausel  «die 
Ladung  fianco  Provision  abzuliefern»  oder  eine  andere  gleichbedeutende  Clausel  enthält"; 
und  §  33:  „Die  von  den  Empfängern  an  die  Raccommandatare  auswärtiger  Dampfer  für 
Lßschungsspesen  und  Assistenz  zu  zahlenden  Gebiiren  sind  durch  den  von  der  Handels- 
und Gewerbekammer  in  der  Sitzung  vom  17.  August  1869  und  11.  November  1870,  vor- 
behaltlich späterer  Abänderungen  genelimigten  Prospect  geregelt."  Letzteres  geschah  in 
der  Sitzung  vom  3.  März  1884.  Nach  diesem  Tarif  erhielt  der  Raccommandatar  beispiels- 
weise für  einen  Metercentner  Kaifee  .5  kr.,  Zucker  in  Fässern  und  Säcken,  Wein  in 
Fässern,  Felle  und  Häute  in  verschnürten  Ballen,  Oele  4  kr.,  Colophonium  4  kr.,  gepresste 
Baumwolle  2  kr.  u.  s.  w.  Nur  bei  Partien  über  200  Tonnrn  jeder  beliebigen  für  einen 
und  denselben  Empfänger  bestimmten  Ware  konnte  sich  letzterer  von  Fall  zu  Fall  mit 
den  Raccommandataren  wegen  der  Gestattung  ins  Einvernehmen  setzen,  ohne  Gebüren- 
entriclitung  mit  eigenen  Leuten  und  auf  eigene  Kosten  löschen  zu  dürfen.  Hievon  ist 
jedoch  thatsächlich  nie  Gebrauch  gemacht  worden. 


Eiu  Eückblick  auf  die  Entwicklung  der  Triester  Lagerhäuser. 


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Ein  Eiickblick  auf  die  Entwicklung  der  Triester  Lagerhäuser. 


117 


Mäkler  bei  Seite  g-eschoben  und  die  Lagerhausverwaltung,  welche  den  Hangar- 
dienst bisher  entgegen  ihrer  Aufgabe  nur  ausnahmsweise  selbst  besorgt  hatte, 
damit  betraut,  die  Quai-Arbeiten  ausschliesslich  durch  ihre  Angestellten  vornehmen 
zu  lassen. 

Ein  an  der  Hand  der  wichtigsten  Platzartikel  skizzierter  Ueberblick  über 
die  „Lagerhaustarif-Politik"  möge  durch  eine  Gegenüberstellung  der  Tarife 
aus  dem  Anfange  der  achtziger  Jahre,  jener  zur  Zeit  der  Ereihafen-Aufhebung 
und  endlich  der  vorbesprochenen  staatlichen  Tarife  gegeben  werden.  (Seite  115 
und  116.) 

Die  ersten  Tarife  müssen  namentlich  im  Hinblicke  auf  eine  Eeihe  von 
Specialbegünstigungen  als  massig  bezeichnet  werden,  welche  aufgehoben  zu  haben 
ein  Fehler  des  unmittelbar  vor  dem  1.  Juli  1891  erlassenen  Lagerhaustarifes 
ist;  die  Waren  blieben  aus  und  suchten  andere  billigere  Stapelplätze  auf.  Hier 
hat  die  Verstaatlichung  eingegriffen,  die  Grundgebüren  der  Lagerzinse  wesentlich, 
und  zwar  bei  Waren 

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für  einen  Metercentner  und  eine  Woche  herabgesetzt,  die  Miethen  von  Lagerhaus- 
räumen bedeutend  (mehr  als  die  Hälfte)  ermässigt,  den  wichtigsten  Artikeln  (Kaffee, 
Baumwolle,  Oel,  Wein,  Colophonium)  besondere  Bevorzugungen  zutheil  werden 
lassen,  die  Ausfuhrwaren  (Zucker)  durch  ausgedehnte  Lagerzinsfreiheiten  und 
Gebürenermässigungen  herangezogen  und  namentlich  den  unmittelbaren  Umschlag 
begünstigt. 

Wiederum,  etwa  zur  Hebung  der  Lagerhauseinnahmen,  eine  Gebüreii- 
erhöhung  zu  versuchen,  scheint  nicht  rathsam.  Eine  solche  Maassnahme  kann 
leicht  das  Gegentheil  des  ins  Auge  gefassten  Zweckes  herbeiführen  und  die 
Wiederholung  einer  einmal  gemachten  schlimmen  Erfahrung  bedeuten.  Der  Wett- 
kampf im  Welthandel  erfordert  heutzutage  eine  derartige  Anspannung  aller  Kräfte 
und  Leistungen,  dass  auch  der  kleinste  Vortheil  ausgenützt  werden  muss,  indem 
bei  den  in  riesigen  Massen  beförderten  Gütern  jeder  von  der  Zwischenhand 
an  einem  Metercentner  eingehobene  Heller  als  erheblicher  Factor  in  der  Schluss- 
abrechnungssumme  zum  Ausdrucke  kommt. 

Als  die  nächste  „Gefahr"  für  Triest  wird  immer  Fiume  genannt,  dessen 
(seit  1.  October  1898  in  Wirksamkeit  stehende)  Gebüren  in  folgender  Uebersicht 
mit  jenen  unseres  Eeichshafens  in  Vergleich  gestellt  werden : 


118 


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Ein  Rückblick  auf  die  Entwicklung  der  Triestev  Lagerhäuser.  \{\) 

Hieraus  lässt  sich  ersehen,  dass  die  Fiumauer  Lagerziuse  bei  den  in  Betracht 
gezogenen  Artikeln  zumeist  gleich,  theilweise  sogar  niedriger  sind  und  dass  vor 
allem  die  durchwegs  zugestandene  21tägige  Lagerfreiheit  einen  grossen  Vorsprung 
gewährt.  Ganz  erstaunlich  niedrig  sind  drüben  die  Mietzinse  für  Lagerhausräume. 
Die  Gebüren  für  die  Abwäge  dürften  im  Durchschnitte  sich  diesseits  und  jenseits 
gleich  hoch  gestalten.  Die  Kosten  der  Ein-  und  Auslagerung  müssen  in  Fiume 
angesichts  der  Specialbegünstigungen  für  Kaffee,  Zucker,  Wein,  Baumwolle,  Oel 
bei  Auf-  und  Abladung  von  und  zur  Bahn  (vom  Waggon  frei)  als  erheblich 
niedriger  betrachtet  werden.  Da  die  Löschung  und  Verschiffung  mit  Zustreifung 
in  Fiume  in  einen  Satz  zusaramengefasst  wird,  während  dies  in  Triest  nicht  der 
Fall  ist,  so  liegt  in  dio?eni  Punkt  für  drüben  gerade  auch  kein  Nachtheil.  Für 
Triest  ist  somit  keine  Veranlassung  gegeben,  aus  einem  etwa  zu  hoch  gespannten 
Fiumaner  Tarifsatze  einen  Vortheil  zu  ziehen. 

Während,  wie  oben  erwähnt,  im  Jahre  1892  eine  Einschränkung  der 
Bauthätigkeit  stattgefunden  hatte,  schritt  die  Staatsverwaltung  daran,  die 
Lagerhausanlage  den  Bedürfnissen  des  Handelsverkehres  entsprechend  zu 
erweitern. 

1894  wurde  der  Weinhangar  am  Molo  IV  (im  Zollgebiete)  erbaut;  1895 
die  Hangars  Nr.  12  b  und  Vd  b  am  Kopfe  des  Molo  II;  1897  die  Hangars 
Nr.  1  a  und  3  hinter  der  Riva  IV  mit  einem  vorläufigen  neuen  Frei- 
gebietsabschluss ;  1899  ist  der  Grund  zu  dem  der  Kattee-Einlageruug  dienenden 
Magazine  Nr.  2  gelegt  worden.  In  allerjüngster  Zeit  (September  1900)  wurde, 
nördlich  vom  Bassin  I  der  Bau  eines  neuen  Magazines  mit  5139  m^  nutz- 
barer Lagerfläche  und  40.000  Metercentner  Fassungsraum  zur  Aufnahme  des  für 
die  Ausfuhr  bestimmten  Zuckers  vollendet. 

Die  seit  der  Verstaatlichung  aufgewendeten  Summen  und  die  Zweckbestim- 
mung derselben  lässt  folgende  kurzsefasste  Zusammenstellung  ersehen : 

1894  Hangar  Nr.  1 25.166  fl. 

1894/5  Pflasterungsarbeiten 86.897    „ 

1895  Hangars  Nr.  12  b  und  13  h 51.005    „ 

1897  „       Nr.     1  a     „      3 135.257  „ 

elektrische  Beleuchtung 2.683  „ 

Freigebietsabschluss 10.582  „ 

Canäle  für  die  Hydraulik 1.584  ,, 

Strassenherstellung 11.543  ,, 

1898  Brückenwage  Nr.  III 3.071  „ 

1899  Magazin  Nr.  2  Fundament      40.385  „ 

Bogenlampenbeleuchtung  auf  den  Moli  I  und  II    ...    .  1.644  „ 

acht  hydraulische  Fahrkrahne 76.650  „ 

Rohrleitungen  hierzu 25.000  „ 

1900  Neues  Zuckermagazin 97.500  „ 

zusammen     .    .    .     568.967  fl. 
Der  Aufbau  des  neuen  Magazines  Nr.  2   sammt  Einrichtung  wird   voraus- 
sichtlich 580.000  fl.  kosten. 


120  Lippert. 

Das  gesammte  Anlagecapital  der  Lagerhäuser  beträgt  somit: 

alte  Lagerhäuser 785.000  fl. 

neue         „ 8,795.800    „ 

Erweiterungen  nach  der  Verstaatlichung  einschliesslich  des  neuen 

Kaffeemagazines  rund 1,149.000    „ 

1Ä729.800  fl. 

Wird  noch  die  für  den  Hafenbau  aufgewendete  Summe  von  19  Va  Millionen 

Gulden  hinzugefügt,  so  erscheinen  im  Laufe  der  letzten  drei  Jahrzehnte  alles  in 

allem  in  runder  Ziffer  30  Millionen   Gulden  von  Seiten    des   Staates    für    seinen 

ersten  und  grössten  Hafen  ausgegeben. 

Um  in  dieser  Hinsicht  vergleichsweise  auch  anderer  Häfen  Erwähnung  zu 
thun,  hat  die  ungarische  Eegierung  in  Fiume  in  den  20  Jahren,  von  1872  bis 
1892  eine  Summe  von  17,251.000  fl.  für  Hafenanlagen  und  Magazine  verbaut.^) 
Die  von  1815  bis  Ende  1889  berechneten  Gesammtauslagen  für  die 
Errichtung  und  Verbesserung  des  Hafens  von  Marseille  sammt  dessen  Aus- 
rüstung und  den  Werften,  sowie  für  den  Quarantaine-Hafen  von  Frioul  betrugen 
119"3  Millionen  Francs,    wovon 

der  Staat 77-75  Mill.  Francs 

die  Stadt  Marseille O'H      „  „ 

die  Handelskammer 7*45     „  „ 

und  die  Compagnie  des  Docks  et  Entrepöts  .       33'95     „  „ 

übernahm. 

Die  Kosten  des  neuen  gegen  Norden  gelegenen  Bassin  de  la  Pinede 
werden  ausserdem  auf  20  Millionen  Francs  veranschlagt,^)  wozu  die  Handelskammer 
mit  einem  Drittel  beiträgt. 

In  Genua  wurden  in  der  Zeit  von  1871  bis  1891: 

Für  den  Bau  der  Moli  und  Quaiufer  .     33*2  Mill.  Lire 
für  die  Hangars  und  die  Ausrüstung    .     18'6     „        „ 

für  die  Eisenbahnanlagen 11*  —    ,,        „ 

zusammen  .  .  .  62  8  Mill.  Lire 
verwendet,  wovon  20  Millionen  aus  der  Schenkung  des  Duca  di  Galliera  gedeckt 
und  der  übrige  Betrag  nach  und  nach  von  der  Eegierung  zu  80  Proc,  der  Gemeinde 
Genua  und  den  betheiligten  Provinzen  zusammen  zu  20  Proc.  getragen  worden  ist.^) 
Im  Jahre  1898  haben  ferner  Regierung,  Stadt  und  Provinz  Genua,  sowie  die 
Verwaltung  der  italienischen  Mittelmeerbahnen  einen  auf  18  Jahre  zu  vertheil enden 
Credit  von  18  Millionen  Lire  zur  Vergrösserung  der  Hafenanlagen  bewilligt.   Um  die 

')  Nachdem  der  fertige  Grundplan  im  Auftrage  der  ungarischen  Eegierung  durch 
den  französischen  Ingenieur  Pascal  überprüft  worden  war,  wurde  der  einen  Kosten- 
aufwand von  13,120.000  fl.  beanspruchende  Bau  durch  die  Gesetzgebung  mittels  des 
XIX.  Gesetzesartikels  vom  Jahre  1871  genehmigt  und  im  folgenden  Jahre  begannen  die 
Arbeiten.  In  der  Folge  erweiterte  man  den  Plan  und  bewilligte  neue  Mittel. 

2)  Aus  dem  von  der  Association  fran9aise  pour  l'Avancement  des  Sciences 
(XX.  Sfession  septombre  1891)  herausgegebenen  Werke  über  Marseille. 

3)  II  porto  di  Genova  1891,  Veröffentlichung    des    Corpo    reale    del   Genio    civile. 


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Ein  Rückblick  auf  die  Entwicklung  der  Triester  Lagerhäuser. 


121 


Jahr 


Betriebsergebnisse  in  Gulden 
(Ordinarium) 


Ein- 
nahmen 


Ausgaben 


Ueberschuss-(- 
Abgang  — 


Entrichtete 

Steuern 
in  Gulden 


Warenbewegung  in  Metercentnern 


Ein- 
lagerung 


Aus- 
lagerung 


Mittlere 
Tages- 

Be- 
wegung 


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1880 

1881 

1882 

1883 

1884 

1885 

1886 

1887 


1888 
1889 
1890 


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1891 

1892 
1893 

l.,l.-31./3. 
1894 

1./4.-31./12. 

1894 
1895 

1896 

1897 


1898 

1899 
1900 


13.783 
46.994 
81.467 
120.701 
137.554 
143.308 
132.715 
148.437 


126.013 
127.252 

164.707 

115.452 
253.799 

514.473 
456.078 

106.502 

392.927 

[934.840] 
903.290 

[995.760] 
890.840 

[487.940] 
524.605 


[491.010] 
525.110 

[539.130] 
519.051 

[585.100] 


39.491  —  25.708 

82.881  —  35.887 

88.541  —  7.074 

108.971  4-  11.730 

111.675  -f  25.879 

108.684  +  34.622 


108.844 
114.725 


108.055 

112.865 

139.577 

110.082 
367.025 

683.831 
611.328 

158.350 

328.059 

[764.430] 
800.528 

[861.450] 
733.046 

[358.190] 
357.898 


[358.970] 
358.584 

[394.130) 
444.854 

[473.240] 


+  23.871 
+  33.712 


+  17.958 
-f-  14.387 
+  25.130 

+     5.370 

—  113.226 

—  169.358 

—  155.250 

—  51.848 

-f   64.868 

[+170.4101; 
4-102.762 


EinKommen- 
IjSteuer  sammt 
II  Zuschlägen 

684 

945 

I    945 

945 

945 

j    974 

1   1.681 

1.527 

j  Einkommen 
Steuer,  5proc 
!    Gebäude- 
steuer sammt 
Zuschlägen 

7.192 

I        7.882 
I       8.281 


in  den  gemein- 
samen und  veruiietetirD 
Lagerräumen 

104.723 


16.447 

10.582 
24.632 

1.418 
1.047 


152.233 
308.764 
600.480 
1,152.570 
1,356.512 
1,231.662 
1,212.068 
1,206.208 


1,065.955 
1,227.306 
1,370.191 

831.286 


319.487 
486.854 
1,027.268 
1,159.838 
1,191.157 
1,240.093 
1,181.010 


1,181.802 
1,217.176 
1,240.933 

939.539 


in  den  gemeinsamen 
Lagei  räumen 

1,083.417  1,048.044 
1,278.901  1,268.911t 


1.053 
1.053 


[+  134.310] 
+  157.794 

[+  129.750] 
+  166.707    1 

Ervverb- 
steuer, öproo 

Hauszins- 
steui  r  sammt 
Zuschlägen 


[+ 132.040] 
+  166.526 

[+ 145.000] 
+    75.797 

[+  111.760] 


34.779 


29.427 
28.116 


I    985.200 

I 

1,299.820 
1,047,278 
1,519.062 

1,469  951 
1,384.433 


964.872 

1,092.507[ 
1,184.963 
1,381.257 

1,574.650 
1,381.589 


368 
1602 
2354 
4534 
5155 
4630 
4881 
4838 


5140 
6386 
6803 

4652 


142.615 
177.023 
142.691 
185.325 


135.540 

118.426 

185.553 

246.553 
112.093 


5840  112.746 
6980  157.159 


5322  149.925 


6554 
6116 
7946 

8341 

7578 


317.904 
348.233 
322.282 

338.663 
289.399 


|21.648 

19.375 
27.461 

47.775 

53.075 
53.556 
57.194 

61.869 
67.647 


Die  Ziffern  in  Klammern  sind  in  den  Staatsvoianschlag  eirgestellt,  die  anderen  Zahlen  stellen  d'n 
thatsächlichen  Erfolg  dar.  In  d>^r  Nachweisung  der  Jahre  1895  und  18'J6  ist  auch  eine  durchlaufende  Post  von 
380.000— 3"J0.0Ü0  fl  (Land-  und  Seefracht,  Verzollung)  inbegriffen,  welche  seit  1.  Jänner  1897  c..nto,-corrente- 
mässig  durchgeführt  wird,  somit  in  den  Voranschlägen  und  Gebarungsausweisen  nicht  mehr  'erscheint. 
Hieraus  erklärt  sich,  dass  die  Kinnihmen  und  Ausgaben  der  Jahre  1895  und  1896  scheintjar  höher  sind. 


122 


Lippert. 


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Ein  Kückblick  auf  die  Entwicklung  der  Triester  Lagerhäuser. 


123 


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124  Lippert. 

erforderlichen  Neubauten  schleuniger  durchführen  zu  können,  streckt  die  Stadt 
Genua  die  ganze  Summe  vor,  und  so  hofft  man,  dass  die  Ausgestaltung  des 
Hafens  schon  in  sechs  bis  sieben  Jahren  vollendet  sein  werde. 

Der  Gesammtkostenaufwand  für  den  Hamburger  Hafen  beläuft  sich  auf 
ungefcähr  126  Millionen  Mark;  hiervon  entfallen  40  Millionen  auf  den  Eeichs- 
beitrag,  79"5  Millionen  auf  Hamburg  und  6"5  Millionen  sind  beim  Zollanschluss 
Hamburgs  an  das  deutscl^e  Zollgebiet  am  15.  October  1888  als  Reinertrag  der 
Nachsteuer^)  der  im  früheren  Hamburger  Freihafengebiete  vorhanden  gewesenen 
Vorräthe  aufgebracht  worden.^) 

Da  sich  in  letzter  Zeit  die  Nothwendigkeit  einer  Erweiterung  der  dem 
Verkehre  nicht  mehr  genügenden  Freihafenanlagen  ergab,  bewilligte  die  Stadt- 
vertretung im  Jänner  1899  auf  den  Antrag  des  Senates  hin  sofort  die  hierfür 
erforderliche  Summe  von  20  Millionen  Mark. 

Wenn  das  Schicksal  der  Lagerhäuser  während  des  langen,  zwei  Jahrzehnte 
umfassenden  Zeitraumes  vom  Tage  ihres  Betriebsbeginnes,  dem  20.  April  1880, 
angefangen  durch  alle  die  geschilderten  Wechselfälle  hindurch  in  Ziffern  seinen 
Ausdruck  finden  soll,  —  und  erst  ein  Ueberblick  über  längere  Zeitläufte  er- 
möglicht die  richtige  Beurtheilung  der  Einzelerscheinung  —  so  wird  das  statistische 
Bild  durch  die  Zahlenreihen  der  Tabellen  auf  Seite  121  dargestellt  werden  können: 

Nach  Ueberwindung  der  Betriebsabgänge  der  ersten  drei  Jahre  1880, 
1881  und  1882  arbeitete  das  Unternehmen  mit  jährlichen  Ueberschüssen  von 
10.000—30.000  fl.;  vom  Jahre  der  Freihafen-Aufliebung  (1891)  bis  zur  Verstaat- 
lichung (1894)  ergeben  sich  namhafte,  den  kostspieligen  Neubauten  zuzu- 
schreibende Ausfälle  von  150.000 — 170.000  fi.,  welche  erst  nach  Einführung 
des  Staatsbetriebes  jährlichen  Ueberschüssen  von  130.000  —  150.000  fl.  gewichen 
sind.  (Das  Herabsinken  des  Ueberschusses  der  Betriebseinnahmen  auf  rund 
76.000  fl.  im  Jahre  1899  rührt  von  verschiedenen  Ursachen  her:  Rückgang 
der  Lagerzinseinnahmen,  erhebliche  Mehrauslagen  für  die  elektrische  Beleuchtung 
des  Silos,  für  Lohnaufbesserung,  für  Kohle  u.  s.  w. ;  dann  von  einem  Erwerb- 
steuernachtrag, weil  die  Voraussetzung,  dass  die  Erwerbsteuer  für  den  Lagerhaus- 
betrieb nach  den  Bestimmungen  des  Gesetzes  vom  25.  October  1896,  E.-G.-Bl. 
Nr.  220,  nicht  zur  Einhebung  gelangen  werde,  durch  eine  Finanzministerial- 
Entscheidung  als  nicht  zutreffend  erklärt  wurde.) 

Wird  einerseits  in  Betracht  gezogen,  dass  die  Vergütung  des  Lloyd  an  den 
Staat  für  Ueberlassung  des  commerciellen  Betriebes  der  Hangars  auf  dem  Molo  III 
um  jährlich  44.000  fl.  sich  mit  der  staatlicherseits  geleisteten  jährlichen  Ablös- 
summe von  44.630  fl.  ausgleicht,  andererseits  die  vom  Staate  übernommene 
Selbst-  nnd  Alleinzahlung  der  Zinsen  und  der  planmässigen  Tilgung  der  beiden 
Lagerhausanlehen  das  eigentliche,  sich  nach  dem  Tilgungsplane  allerdings  von 
Jahr  zu  Jahr  vermindernde  Passivum  von  rund  450.000  fl.  bildet,  so  ist  gewisser- 


1)  In  Triest  gelangten  in  runder  Summe  3,000.000  fl.  Nachverzollungs-  und  Nach- 
versteuerungsgebüren   zur  Vorschreibung. 

2)  Historische  Topographie  der  freien  und  Hansestadt  Hamburg  von  1880 — 1895 
von  W.  Melhop,  Baumeister  der  Baudeputation  (Hamburg,  W.  Mauke  Söhne  1895) 
Seite  40. 


Ein  Rückblick  auf  die  Entwicklung  der  Triester  Lagerliäusei*.  125 

maassen  ein  jährlicher  Betrag  von  300.000  fl.  auf  und  ab  sammt  den  jeweiligen 
Auslagen  für  neue  Bauten  als  das  Opfer  anzusehen,  welches  in  dieser  Beziehung 
Oesterreich  seinem  einzigen  grossen  Seehafen  bringt. 

Die  entrichteten  Steuern,  anfänglich  die  Einkommensteuer,  seit  1898  die 
Erw^erbsteuer  nach  dem  II.  Hauptstöcke  des  Gesetzes  vom  25.  October  1896, 
R.-G.-Bl.  Nr.  220  (ein  geringfügiger  Betrag  an  5  proc.  Hauszinssteuer  für  einige 
vermietete,  kleine  Räumlichkeiten  kommt  kaum  in  Betracht)  waren  zuweilen  ganz 
erheblich  und  bildeten  in  beiden  Jahrzehnten  eine  Gesammtleistung  von  rund 
150.000  fl.  Die  Hangars  und  Lagerhäuser  wurden  durch  die  Gesetze  vom 
25.  März  1880,  R.-G.-Bl.  Nr.  39,  und  vom  30.  Mai  1889,  E.-G.-Bl.  Nr.  89, 
für  30  Jahre,  beziehungsweise  durch  das  Gesetz  vom  9.  Mai  1894,  E.-G.-Bl.  Nr.  84, 
für  solange  von  der  Gebäudesteuer,  sowie  von  der  5proc.  Steuer  vom  reinen 
Zinsertrage  befreit,  als  sie  ihrer  Bestimmung  gemäss  benützt  werden  und  im 
Eigenthume  des  Staates  stehen. 

Die  Gesammtwarenbewegung  hat  je  lY^  Millionen  Metercentner  sowohl  in 
der  Ein-  als  ^,uch  in  der  Auslagerung,  zusammen  3  Millionen  Metercentner 
erreicht  und  ist  seit  dem  Anfang  der  achtziger  Jahre  um  je  1  beziehungsweise 
um  2  Millionen  Metercentner  gestiegen.  Die  niedrigere  Ziffer  des  Jahres  1899 
erklärt  sich  daraus,  dass  das  eigentliche  Lagerhausgeschäft  etwas  zurückblieb, 
und  zwar  einmal  deshalb,  weil  in  den  unmittelbar  vorausgehenden  Jahren  recht 
günstige  Conjuncturen  für  einige  ausländische  Einfuhrartikel  (Eoheisen,  Getreide, 
Schweinefett)  obwalteten,  die  längere  Zeit  aufgestapelt  lagen,'  dann  weil  mehr 
Eäume  fest  vermietet  wurden,  und  vor  allem  lenkte  sich  die  Zuckerausfuhr 
immer  mehr  zum  unmittelbaren  Umschlag,  was  aus  dem  Umstände  hervorgeht, 
dass  von  den  1899  mit  der  Bahn  angekommenen  1,608.400  Metercentnern  Zucker 
nur  654.913  Metercentner  auf  Lager  giengen. 

Die  wichtigsten  zur  Einlagerung  gelangenden  Artikel  sind  Export-Zucker, 
Kaffee,  Südfrüchte  und  italienischer  Wein,  in  Zeiten  ungünstiger  Inlandsernte  auch 
Getreide;  Einlagerungszunahme  weisen  im  verflossenen  Jahrzehnt  auf  Kaffee,  Süd- 
früchte, Oele  und  Fette,  Felle  und  Häute,  einen  Eückgang  Valloneen  und  Mira- 
bolanen.  Colophonium  wäre  dem  Platze  beinahe  verloren  gegangen,  ist  aber  durch 
die  Tarifermässigungen  des  Jahres  1894  wieder  festgehalten  worden.  Den  Wein 
hat  die  Weinzollclausel  mit  Italien  nach  Triest  gelenkt,  in  den  letzten  Jahren 
begann  ihn  Fiume  etwas  mehr  an  sich  zu  ziehen.  Die  Kohle  erscheint  erst  seit 
Benützung  der  Magazine  auf  dem  Kohlen-Molo  seitens  des  Lloyd  in  grossen 
Mengen. 

Die  stetig  wachsenden  Ziffern  des  unmittelbaren  Umschlages  —  1894  über 
2  Millionen,  1899  i'^J^  Millionen  Metercentner  —  lassen  die  Bedeutung  der 
Hangars  für  den  Transitoverkehr  erkennen. 

Der  mittlere  Tagesumsatz  nahm  fortwährend  zu,  stieg  von  rund  2000 
Metercentner  anfangs  der  achtziger  Jahre  auf  ungefähr  das  Vierfache  gegen  Ende 
des  letzten  Jahrzehntes. 

Wie  die  Durchschnittsziff'erti  des  täglichen  Lagerstandes  in  den  gemeinsamen 
Lagerräumen  zeigen,  ist  nach  der  Verstaatlichung  des  Betriebes  eine  Verdop- 
pelung im    Vergleich    zu    früher   eingetreten    und   der   Stock   seither   auf  gleicher 


126  Lippert. 

Höhe  geblieben  (die  besonders  hohe  Ziffer  [246.553  Metercentner]  im  ersten 
Halbjahre  1891  ist  auf  die  rege  Speculation  unmittelbar  vor  der  Freihafen- 
Aufhebung  7Airückzuführen.    somit    als   Ausnahme  zu  betrachten.) 

Das  Ausmaass  der  vermieteten  Lagerflächen,  1891  rund  20.000  m^,  hatte 
sich  1894  verdoppelt  und  hob  sich  in  den  letzten  Jahren  auf  das  Dreifache 
und  darüber. 

Die  ebenerdigen  Lagerhäuser  und  Hangars  I — VI  der  alten  Bauperiode 
haben  einen  Belegraum  von  16.833  m^  und  6509  m^,  zusammen  23.342  m^ 
gehabt.  Nach  Fertigstellung  der  hauptsächlichsten  neuen  Bauten,  am  1.  Juli  1891, 
waren  verfügbar 

in  den  Hangars .     13.209  m- 

zu  ebener  Erde  in  den  Magazinen 11.655  m- 

•     ^      o.    1       1        ,      ^,        •      /   I-  Stock    ....     26.028  m^ 
in  den  Stockwerken    der  Magazine  ^  ^^    „,     ,  . ,  o^o      9 

(  II.  Stock    ....     11.888  m^ 

in  den  Dachböden 26.581  m^ 

zusammen 89.361  mr 

Dazu    kam    noch  das  1891    im    Frachtenbahnhof   der    Südbahn    gemietete 

provisorische  Spiritusfreigebiet  von  2778  in^  Belagfläche. 

Am   31.  December    1894,    'Y^  Jahre    nach    der  Verstaatlichung,    war    die 

BeTagfläche 

in  den  Erdgeschossen  der  Hangars 21.241  m^ 

„     „     Kellern  der  Lagerhäuser 5.233  m'^ 

„      „     Erdgeschossen  der  Lagerhäuser 37.381  m^ 

,,     „     ersten  Stockwerken  der  Lagerhäuser 33.821  m^ 

„     „     zweiten         „  „  „  18.064  m^ 

„      „     Dachböden  der  Lagerhäuser 34.332  m^ 

,,  ,     ..^^     )  Erdgeschoss     .    .       4.956  m^ 
„    dem  Lloydhangar  am  Molo  III     >   ,    „,    ,  oi-/.      9 

\\.  Stock   ....       8.1  oO  w/ 

„      „     Spiritusfreilager .       2.778  w^ 

♦zusammen 165.962  m- 

Mit  Ende  des  Jahres  1899  standen  zur  Verfügung: 

in  den  Hangars  (einschliesslich  des  Lloydhangars)    .    .     46.012  w^ 

„      „     Lagerhäusern 127.860  in^ 

ferner    die    im    März    1899    im    Silos    der    Südbahn 

gemieteten  Eäume 7.245  m'^ 

sowie  das  provisorische  Spiritusfreilager  ebendaselbst     .       2.778  m^ 

zusammen 183.895  m^; 

somit  wird  nach  Verlauf  von  nicht  einmal  einem  Jahrzehnt  über  das  Doppelte 
der  früheren  Belagfläche  geboten  und  —  diese  auch  völlig  ausgenützt.  (Das 
1891  von  der  Staatsbahn  in  Miete  genommene  Magazin  V  ist  nun  wieder  — 
seit  Jänner  1900  —  Lagerhauszwecken  zurückgegeben.) 

Es  ist  nun  wiederum  eirr  Zeitpunkt  gekommen,  wo  die  vorhandenen  Lager- 
räume nicht  mehr  genügen  und  dringend  an  die  Bescliaffung  neuer  Belagflächen 


Ein  Rückblick  auf  die  Entwicklung  der  Triester  Lagerhäuser.  127 

gedacht  werden  mnss.^)  Bereits  1898  waren  die  Anlagen  des  neuen  Hafens  bis 
auf  ihre  Maxim  alle!  stung  in  Anspruch   genommen. 

Der  ausserordentliche  Andrang  von  Waren,  insbesondere  Zucker,  hat  im 
Winter  1899/1900  alle  Magazine  und  Hangars  dergestalt  gefüllt,  dass  Mitte 
Jänner  1900  mittels  Kundmachung  an  alle  Kaufleute,  Spediteure  und  Industriellen 
des  Inlandes  die  Einstellung,'  weiterer  Warenaufnahme  bekannt  gegeben  werden 
musste. 

So  erfreulich  einerseits  die  Thatsache  ist,  dass  die  Lagerhausanlagen 
vollkommen  ausgenützt  werden,  so  bedenklich  erscheint  diese  Beengung  für 
den   Handel. 

Die  ins  Auge  gefasste  Errichtung  des  oben  besprochenen  Kaffeemagazins 
und  der  September  1900  vollendete  Bau  eines  neuen,  bloss  für  Zucker  bestinimten 
Magazines  nordseits  können  nur  vorübergehend  Abhilfe  schaffen.  Der  l;aldigste 
Ausbau  des  Hafens^)  stellt  sich  als  unabweisbare  Nothwendigkeit  dar  und  es 
wäre  lebhaft  zu  wünschen,  dass  die  von  der  Regierung  im  Parlamente  eingebrachte 
Vorlage,  welche  einen  Theil  der  Aufgabe  zu  lösen  unternimmt,  ehestens  zur  Aus- 
führung gelange.  Die  Ausdehnungsfähigkeit  der  Hafenanlagen  in  der  Bucht  von 
Muggia,  welche  in  dem  1885  vom  Stadtbauamte  über  das  Barret'scho  Project 

^)  Die  Anzahl  der  Triester  Privatmagazine  hat  seit  der  Preihafen-Aufhebunj,  beträcht- 
lich abgenommen;  unmittelbar  vor  dem  1.  Juli  1891  wurden  114  Conticrungsmagazine 
und  125  Verschlussmagazine  bewilligt,  dann  bestanden 

„     ,.  ,,        . ,  Transitomagazine 

Contierungs-  Verschlusi-  für  verzehrun|ssteu«r- 

magaz-me  magaz.ne  pfljchtige  Gegongtände 

1891 101  92  9 

1892 97  76  9 

1893 88  55  8 

1894 78  39  8 

1895 69  26  1     ' 

1896 69  25  6 

1897 57  25  6       ^ 

1898 56  24  7 

1899 55  24  5 

1900 58  29  7 

Jedenfalls  müssen  sie  insbesondere  in  Anbetracht  ihres  nicht  sehr  hohen  Miet- 
zinses von  ungefähr  2 — 5  fl.  für  1  m'^  (je  nach  der  Lage)  dermalen  noch  als  eine 
nothwendige  Ergänzung  der  Lagerhäuser  angesehen  werden.  Es  betrug  nämlich  die 
Gesammteinlagerung  in  die 

1896  1897  1898  1899 

Conticrungsmagazine  .  377.940  M.-C.  351.194  M.-C.  332.036  M.-C.  319.257  M.-C. 
Verschlussmagazine     .      67.539      „  93.264      .  155.877      „  126.695     „ 

zusammen    .    .    445.479  M.-C.       444.458  M  -C.      487.913  M.-C.      445.952  M.-C. 

Dies  ist  durchschnittlich  ein  Drittel  der  Einlagerung  in  den  Lagerhäusern.  Hiebei 
ist  noch  zu  berücksichtigen,  dass  in  diesen  Mengen  lediglich  der  zollpflichtige  Verkehr 
erfas.st  wurde  ohne  Bedachtnahme  auf  bedeutende  Vorräthe  zollfreier  Artikel  (Agrumen, 
Mirabnlanen  und  Valloneen  n.  s.  w.). 

2)  Neue  überdachte  Lagerräume  sollen  auf  dem  zukünftigen  Sanitätsmolo,  dann 
auf  dem  Molo  bei  S.  Andrea  errichtet  werden.  (Regierungsvorlage,  Nr.  335  der  Beilagen 
zu  den  stenographischen  Protokollen  des  Abgeordnotenhausos,  XVI.  Session  1899.) 


12Ö  Lippert. 

abgegebenen  G-utacliten  „als  die  einzige  Oertlichkeit  bezeichnet  wurde,  wo  einstens 
naturgemäss  ein  ausgedehnter  Hafen  von  Triest  erstehen  kann,  der  sowohl  den 
wirklichen  Bedürfnissen  des  grossen  Welthandels,  als  den  besonderen  Interessen 
der  Stadt  Genüge  zu  leisten  vermag",  lässt  die  beiliegende  Skizze  des  vom  Ingenieur 
Dr.  E.  Geiringer^)  im  Auftrage  der  Gemeinde  sowie  der  Handels-  und 
Gewerbekammer  schon  1897  entworfenen  Planes  ersehen.-) 

Um  die  Verhältnisse  der  Triester  Lagerhäuser  durch  Vergleiche  ins  richtige 
Licht  zu  setzen,  soll  noch  in  gedrängter  Kürze  von  den  Lagerhausunternehmungen 
anderer  Seestädte   gesprochen  werden,    soweit   das  Interesse    hiezu   vorliegt. 

Die  am  7.  März  1885  gegründete  Hamburger  Freihafen-Lagerhaus  Gesellschaft 
hat  mit  einem  Capitale  von  9  Millionen  Mark  auf  den  vom  Staate  gepachteten,  zum 
Theile  neu  gewonnenen  Grundflächen  des  Freibezirkes  Speicher  gebaut.  Als 
Grundlage  für  das  Pachtverhältnis  wurden  die  Bebauungskosten  auf  300  Mk,  für 
einen  Quadratmeter  und  der  Bodenwert  für  diese  Pachteinheit  mit  500  Mk. 
geschätzt.  Der  Pachtpreis  beläuft  sich  durchschnittlich  auf  I7V2  ^^-  f^^'  ^^^^ 
Quadratmeter ;  ausserdem  ist  der  Staat  an  den  Dividenden  betheiligt,  sobald 
dieselben  5  Proc.  überschreiten,  und  zwar  wie  3  :  5,  wobei  3  die  Lagerhaus- 
gesellschaft und  5  den  Staat  bedeutet  (ßaucapital  :  Grundcapital).  Die  Dauer  des 
Pachtverhältnisses  beträgt  50  Jahre ;  wenn  nach  Ablauf  dieser  Zeit  kein  neuer 
Vertrag  zwischen  Staat  und  Gesellschaft  zustande  kommt,  so  übernimmt  der  Staat 
die  Speicher  nach  Abschätzung.  Die  Speicherbauten  wurden  unter  Staatsaufsicht 
aufgeführt  und  die  Baupläne  durch  die  Baudeputation  statisch  geprüft.  Auch 
steht  die  Verwaltung  der  Gesellschaft  unter  staatlicher  üeberwachung.^) 

Ursprünglich  wurde  der  Gesellschaft  ein  Gebiet  von  rund  30.000  m^  über- 
lassen. 1898  betrug  dasselbe  62.400  m^,  die  verfügbaren  Regielagerräume  auf 
dem  nördlichen  Elbeufer  80.000  m^.  Gegenwärtig  (1900)  stehen  15.000  tn^ 
Contore  und  315.000  m^  Lagerräume  mit  einer  durchschnittlichen  Tragfähigkeit 
von  ungefähr  1800  hg  auf  einem  Quadratmeter  zur  Verfügung.  Im  Jahre  1899 
erreichte  die  in  Bauten  verausgabte  Summe  rund  16  Millionen  Mark. 

Wie  die  Entwicklung  der  Verhältnisse  sich  von  5  zu  5  Jahren  gestaltet  hat» 
crgiebt  nachstehende  Uebersicht: 


^)  Ing.  Dott.  E.  Geiringer,  Eelazione  intorno  alla  Sistemazione  del  Porto  di 
Trieste  presentata  dalla  Commissioiie  mista  del  Municipio  e  della  Camera  di  Commercio, 
Trieste  Stabilimento  artistico    Tipografico  G.  Caprin  1898. 

2)  Der  Hauptvorzug  der  Hamburger  Hafeiianlage  besteht  in  ihrer  ausgedehnten 
Quaientwicklung,  welche  die  denkbar  unmittelbarste  Berührung  von  Schiflf  und  Eisenbahn 
gestattet.  Der  Ausbau  dieses  Plusshafens  je  nach  den  Bedürfnissen  des  Verkehres  ist 
verhältnismässig  nicht  schwierig  und  auch  nicht  sehr  kostspielig.  Bremen  befindet  sich 
in  gleicher  Lage.  Anders  die  Seehäfen.  Der  fast  zu  einem  Kreise  geschlossene  Genueser 
Hafen  sucht  in  der  Eichtung  nach  Sampierdarena  Raum  zu  gewinnen;  Marseille  muss 
gegen  Norden  dem  Meere  neues  Gebiet  abringen.  Fiumes  Ausdehnung  findet  Schranken 
in  h3'drographischen  Verhältnissen;  eine  Verlängerung  des  von  42 — 46  m  Tiefe  herauf- 
geführten Molo  S.  Teresa  kostet  für  den  laufenden  Meter  bei  40.000  fl.  Die  Bucht  von 
Muggia  ist  gegen  die  Mitte  zu  nicht  über  19  m  tief. 

3)  Historische  Topographie  der  freien  und  Hansestadt  Hamburg  von  1880 — 1895 
von  W.  Melhop,  Baumeister  der  Baudeputation  (Hamburg,  W.  Mauke  Söhne  1895), 
Seite  69. 


ßin  Rückblick  auf  die  Entwickluiig  der  Triester  Lagerhäuser.  129 

a)  Vermietungen:  1888  1893  1898 

Contor-   und  Lagerrcäume  .    .       m^  180.500  212.700  223. 600 

Mieteerträgnis Mark  632.751  1,506.534  1,632.324 

h)  Lagergeschäft: 

Contor-   und  Lagerräume  .    .       m^  38.700  50.300  111.400 

Einnahme  an  Lagermiete  .    .      Mark  120.528  310.270  628.892 

f  Colli  517.497  1,343.838  1,695.062 

Waren-Eingange |    ^^  32,476.000  88,745.000  110,886.000 

Gesammtgewicht  der  im  Frei- 
hafengebiete eingelagerten 
Waren kg    134,000.000    254,000.000    305,000.0001) 

Die  Verkehrszunahme  in  den  Speichern  der  Lagerhausgesellschaft  hat  somit 
gleichen  Schritt  mit  dem  Gesammtverkehr  gehalten  und  der  Stand  sich  von  1888 
bis  1893  ungefähr  verdoppelt,  in  dem  Jahrzehnt  von  1888  —  1898  mehr  als 
verdreifacht. 

Dementsprechend    gestalten    sich    auch    die    Betriebseinnahmen    andauernd 
günstig;  beispielsweise 
Jahr  Einnahmen  Ausgaben  Reingewinn 

1888 Mark   1,055.038       744.549       310.489 

1889 „    2,013.284      066.596     1,046.688 

1808 „    2,992.386     1,943.525     1,048.861 

1899 „    3,217.930     2,165. o83     1,052.547 

Die  Gesellschaft  ist  in  der  glücklichen  Lage,  für  leerstehende  Räumlichkeiten 
keine  nennenswerte  Einbusse  zu  erleiden,  da  stets  nach  Fertigstellung  weiterer 
Bauten  die  neugeschaffenen  Räume  rasch  vermietet  waren. 

Die  Baukosten  für  ihren  Speicher  D  am  Moldauhafen,  welcher  am 
15.  October  1898  fertiggestellt  wurde,  konnten  sogar  den  laufenden  Einnahmen 
entnommen  w^erden.  Die  Gesellschaft  besitzt  am  Moldauhafen  drei  eigene  Schuppen 
(A,  B,  C)  mit  einem  Gesammtlagerraum  von  16.328  m'^. 

Staatlicher  Speicherbetrieb  besteht  in  Hamburg  seit  1.  Jänner  1895  nicht 
mehr ;  die  staatliche  Quaiverwaltung  nimmt  keine  Güter  zur  längeren  Lagerung  auf. 

Staatsseitig  waren  1899  die  nur  Lösch-  und  Ladezwecken  dienenden  Quai-, 
schuppen  mit  einem  überdachten  Lagerraum  von  264.369  m^,  dann  der  Quai- 
speicher A  am  Kaiserhöft  mit  17.384  m'^  Lagerfläche  in  sechs  Geschossen,  sowie 
der  Quaispeicher  B  am  Brookthorhafen  mit  14.980  m^  Lagerfläche  in  zwölf 
Geschossen  ausgebaut.  Die  Schuppen  26 — 29  am  Petersenquai,  dann  43 — 47 
am  Oswaldquai  sind  der  Hamburg-Amerikalinie,  der  Quaispeicher  A  seit  Jänner 
1895  an  die  Lagerhausgesellschaft  verpachtet.^) 

An  den  im  staatlichen  Betrieb  befindlichen  Quaianlagen  sind  1898  4407 
Schiffe,  1899  4359  Schiffe  mit  3,186.166,  bezw.  3,242.008  Registertonnen 
abgefertigt  worden.  Aus  diesen  Schiffen  wurden  gelandet  1898  1,848.788  Tonnen 

^)  Aus  den  Jahresberichten  der  Freihafen-Lagerhausgesellschaft. 
^)  Aus  der  vom  Wasserbau director  Chr.  Nehls  zusammengestellten  Statistik  über 
Wasserflächen,  Uferstrecken,  Lagerräume  und  Hebezeuge  im  Freihafen   und  Zollgebiete. 

Zeitschrift  für  A'^olkswirtscli.ift,  Socialpolitik  und   Verwaltung.  X.  Band.  9 


130  Lippert. 

1899  1,940.348  Tonnen;  es  wurden  1898  178.732  Tonnen,  1899  216.116  Tonnen 
zu  Lande  abgeführt,  1,421.459  Tonnen,  bezw.  1,451.383  Tonnen  zu  Wasser 
abgesetzt  und  248.597  Tonnen,  bezw.  272.849  Tonnen  mit  der  Bahn  verladen. 
Verschifft  wurden  1898  281.408  Tonnen,  1899  301.510  Tonnen.  Die 
Gesammt-Güterbewegung  beziffert  sich  1898  auf  2,274.357  Tonnen,  1899  auf 
2,425.409  Tonnen. 

Die  Gesammt-Einnahmen  aus  dem  staatlichen  Quaibetriebe  für  1898  und 
1899  stellen  sich  auf  5,943.465  Mark,  bezw.  6,321.068  Mark,  die  Ausgaben, 
soweit  sie  aus  den  Betriebseinnahmen  gedeckt  werden,  betragen  3,693.232  Mark, 
bezw,  3,952.565  Mark,  so  dass  sich  ein  Ueberschuss  von  2,250.233  Mark  bezw. 
2,368.504  Mark  ergibt,  oder  nach  Abzug  der  Gehalte,  Pensionen  u.  s.  w.  ein 
Keinüberschuss  von  1,700.326  Mark,  bezw.  1,850.265  Mark.^)  Dies  ist  ein  ansehn- 
liches, ungefähr  3Proc.  betragendes  Erträgnis  des  auf  rund  57  Millionen  Mark  sich 
beziffernden  Gesammt-Anlagecapitales  für  Quaimauern,  Schuppen,  Geleiseanlagen, 
Krahne  u.  s.  w. 

Die  Bremer  Lagerhausgesellschaft  wurde  am  29.  Mai  1888,  also  nicht 
lange  vor  dem  Eintritte  Bremens  in  den  deutschen  Zollverein^  15.  October  1888, 
mit  einem  Actiencapitale  von  1  Million  Mark  gegründet.  Auf  Grund  des  mit 
dem  Bremer  Staate  1888  abgeschlossenen  und  bis  1904  gegen  stillschweigende 
Verlängerung  auf  je  5  Jahre  geltenden  Betriebsüberlassungsvertrages  hat  die 
Gesellschaft  den  Betrieb  der  im  Freibezirke  und  am  Sicherheitshafen  befindlichen 
Verkehrsanstalten  und  Lagereinrichtungen  nebst  Zubehör  zu  führen.  Der  Staat 
behält  sich  das  Eigenthumsrecht  vor.  1899  betrug  das  vom  Bremer  Staate  veraus- 
gabte Anlagecapital,  das  sind  die  Ausgaben  für  die  Verkehrsanstalten  und  Lager- 
einrichtungen ohne  die  Kosten  für  Grunderwerb  und  Hafenanlagen,  rund  12/^2 
Millionen  Mark,  -)  Die  Gesellschaft  verpflichtete  sich,  den  Betrieb  in  einer  dem 
allgemeinen  Verkehrsinteresse  entsprechenden  Weise  zu  führen ;  sie  bestreitet  aus 
den  Betriebseinnahmen  die  Betriebsauslagen  und  bei  Unzulänglichkeit  der  ersteren 
hat  der  Staat  den  Fehlbetrag  zuzuschiessen.  Von  den  Betriebsüberschüssen  erhält 
die  Gesellschaft  2Proc.  (jedoch  nicht  mehr  als  15.000  Mark)  zur  Vertheilung  als 
Tantiemen  an  ihre  Beamten,  Die  weiteren  Beträge  werden  verwendet  zu  Gunsten 
des  Staates  als  (4  proc.)  Verzinsung  für  das  Anlagecapital,  als  Ersatz  für 
etwa  geleistete  Fehlbeträge.  Vom  Rest  erhält  der  Staat  bis  zur  Höhe  von 
50.000  Mark  75  Proc,  von  weiteren  50,000  Mark  80  Proc,  von  dem  100.000  Mark 
übersteigenden  Gewinn  85  Proc,  das  übrige  die  Gesellschaft.  Hiernach  ist  das 
Princip  der  kaufmännischen  Organisation  des  Unternehmens  gewahrt,  jedoch  die 
finanzielle  Kraft  des  Staates  in  Anspruch  genommen, 

*)  Aus  den  Berichten  der  staatlichen  Quai  Verwaltung. 

Die  Abrechnungen  der  Baudeputation,  welche  die  Erhaltung  der  Quaianlagen  zu 
besorgen  hat,  sind  eigentlich  noch  mit  in  Betracht  zu  ziehen.  Hierfür  werden  jährlich 
ungefähr  300.000  Mark  ausgegeben,  so  dass  die  Eeineinnahmen  des  staatlichen  Quai- 
Verwaltungsunternehmens  sich  in  runder  Summe  auf  2,000.000  Mark  belaufen.  Auf  dieser 
Höhe  stehen  sie  schon  seit  1897. 

2)  Für  die  Hafen-Erweiterungsanlagen  betrugen  die  aufgewendeten  Kosten  bis  zum 
Schluss  des  Jahres  1898  rund  17,650.000  Mark.  Bremer  Handelsbericht  für  das  Jahr  1898, 
deutsches  Handelsarchiv  1899,  II,  Seite  492. 


Ein  liückblick  auf  die  Entwicklung  der  Triester  Lagerhäusei*.  131 

Dem  Kajeverkehre  dienen  zehn  Kajeschuppen  und  ein  Stückgutschnppen 
mit  zusammen  81.080  m^  Lagerfläclie  im  Freibezirke,  dann  die  Kajescliuppen  am 
Siclierlieitsliafen  mit  6480  m^;  dem  Lagerverkelire  fünf  Speicher  und  ebensoviele 
Lagerschuppen  im  Freibezirke  mit  122.900  m^  Lagerfläche  und  die  Lagerhäuser 
am  Sicherheitshafen  mit  8280  m^,  das  ist  zusammen  87.560  m^  für  den  Kaje- 
verkehr  und  131.180  m^  für  den  Lagerverkehr. 

In  den  zehn  Betriebsjahren  von  1889 — 1898  ist  die  Schiffsgüterbewegung 
im  Freibezirke  von  rund  254.000  Tonnen  auf  rund  1,063.000  Tonnen,  also  auf 
das  Vierfache  gestiegen;  die  durchschnittliche  Jahreszunahme  betrug  81.000  Tonnen, 
daran  sind  die  ersten  fünf  Jahre  mit  durchschnittlich  79.500,  die  letzten  mit 
102.000  Tonnen  betheiligt. 

Der  Betrieb  hatte  immer  Ueberschüsse;  1898  waren  die  Einnahmen  2,442.997, 
die    Ausgaben    1,731.100,    der    Betriebsüberschuss    711.897    Mark,    wovon    der 

Staat  als  Zinsen 486.743  Mark 

als  Gewinnantheil 171.779      „ 

zusammen  .    .    .     658.522  Mark 

das    ist    rund    92  Yg  Proc.    und   die    Gesellschaft   als    Antheil   für   ihre   Beamten 
14.238  Mark  (2  Proc),  als  Gewinnantheil  39.137  Mark  (5V2  Proc.)  erhält. 

Im  Jahre  1899  betrugen  die  Einnahmen 2,424.129  Mark 

die  Ausgaben 1,796.036      „ 

der  Betriebsüberschuss     .    .    .        628.093  Mark 

Die  Docks  und  Entrepöts  in  Marseille  waren  ursprünglich  nach  dem  Gesetze 
vom  10.  Juni  1854  ein  Unternehmen  der  Stadtgemeinde,  welche  dasselbe  mittelst 
Vertrages  vom  14.  October  1856  an  eine  anonyme  Gesellschaft  abtrat;  die  Con- 
cession  gilt  für  99  Jahre,  nach  deren  Ablauf  die  Docks  Eigenthum  der  Stadt 
werden.  Während  der  ersten  30  Jahre  hatte  die  Gesellschaft  der  Stadt  jährlich 
50.000  Francs,  dann  100.000  Francs  zu  zahlen. 

Das  Actiencapital  der  Compagnie  des  Docks  et  Entrepöts  betrug  1860 
20  Millionen  Francs  und  wurde  1871  auf  52  Millionen  erhöht;  unter 
Berücksichtigung  der  seither  durchgeführten  Einlösung  beziehungsweise  Tilgung 
war  der  Actienfond  nach  dem  Stande  vom  31.  December  1898  536  Mil- 
lionen Francs. 

Die  Gesellschaft  besitzt  ein  Areal  von  211.046  irr  und  verfügt  über 
eine  Quailänge  von  3270  m]  die  Belagflächen  in  den  Hangars  und  Maga- 
zinen zusammen  betragen  137.457  tn^;  die  Docks  vermögen  je  nach  der 
Beschaffenheit  der  Waren  160,000 — 180.000  Tonnen  zu  fassen.  Ein  Hangar 
am  südlichen  Quai  der  Traverse  de  la  Joliette  ist  an  die  Messageries  Maritimes 
vermietet. 

Ein  Bild  der  Gesammt- Warenbewegung  im  Verlaufe  der  letzten  zehn  Jahre 
gibt  folgende  Uebersicht: 


132 


Lippert. 


Annees 

Mouvemeut  des   Docks 
(noii  coiripris  le  mouvenient  des  Messa- 
geries Maritimes) 

Mouvement  des 
Messageries  Maritimes 

Impottations 

Exportations 

Totaux 

Importations 

Exportations 

Totaux 

t  0  n  n  e  s 

t  0  n  n  e  s 

1889 
1890 
1891 
1892 
1893 
1894 
1895 
1896 
1897 
1898 
1899 

1,277.784 
1,383.478 
1,441.834 
1,140.037 
1,491.342 
1,335.048 
1,312.059 
1,441.451 
1,343.776 
1,595.928 
1,444.736 

247.453 
236.832 
214.693 
239.633 
260.3:5 
277.809 
235.359 
257.026 
284.712 
308.721 
316.475 

1,525.237 
1,620.310 
1,656.527 
1,379.670 
1  751.697 
1,662.857 
1,547.418 
1,698.477 
1,628.488 
1,904.649 
1,761.211 

193.173 
203.829 
183.616 
116.516 
122.368 
155.773 
169.516 
185.334 
200.899 
187.096 
144.751 

103.943 

81010 

81.215 

90.156 

37.427 

88.823 

92.616 

120.375 

122.238 

116.183 

133.665 

297.116 
284.839 
264.831 
206.672 
■^09.795 
244.596 
262.132 
305.709 
223.137 
303.279 
278.416 

Die  Zunahme  ist  also  nur  eine  langsame;  es  hat  sogar  manche  ziemlich 
ungünstige  Jahre  gegeben ;  1884 — 1887  erhob  sich  die  Gesammt-Ein-  und -Ausfuhr 
in  den  Docks  nur  wenig  über  1   Million  Tonnen  jährlich. 

Die  Einnahmen  bev/egen  sich  im  Jahre  zwischen  8 — O^'g  Millionen  Francs, 
die  Ausgaben  zwischen  572  ^^^  ^Va  Millionen,  der  Eeingewinn  beläuft  sich 
demnach  durchschnittlich  auf  2V2 — 3  Millonen.  Im  Jahre  1898  waren  die  betref- 
fenden Ziffern : 

Francs  Francs  Francs 

recettes   9,356.428   depenses  4,163.593   produits  nets  3,192.835 
1899       „         8,201.135         ,         5,543.305        „  „     2,657.830 

Der  Umfang  des  Unternehmens  ist  daher  ein  sehr  bedeutender. 

Im  Hafen  von  Marseille  hat  auch  die  Handelskammer  Hangars  erbaut 
(Belagfläche  54.316  m^)  und  deren  Betrieb  selbst  übernommen. 

Die  Fiumaner  Lagerhäuser  standen  ursprünglich  im  Betrieb  der  ungarischen 
Escompte-  und  Wechslerbank  in  Budapest.  Mit  dem  1.  October  1898  hat  die  vom 
erwähnten  Institut  als  führender  Hand  gegründete  Fiumaner  öffentliche  Lager- 
haus-Actiengesellschaft  alle  im  Freigebiete  gelegenen  Magazine,  welche  von  der 
Seebehörde  erbaut  wurden,  dann  die  Magazine  der  ungarischen  Staatsbahnen 
(auch  die  im  Zollgebiete  gelegenen)  in  Betrieb  übernommen.  Das  Eigenthum  an 
sämmtlichon  Magazinen  (Belagfläche  117.597  m^)  steht  nun  den  Staatsbahnen  zu. 
Das  Actiencapital  beträgt  500.000  fl.,  der  Staat  sichert  eine  bestimmte  Mindest- 
einnahme (5Proc.).  Die  commercielle  Bethätigung  des  Unternehmens  soll  die 
Verkehrsbank  in  Fiume  beeinflussen,  abgesehen  von  weitgehendsten  Förderungen 
seitens  der  Staatsbahn-Direction,  mit  welcher  ein  nicht  öffentlich  bekannter 
Vertrag  abgeschlossen  wurde. 


Ein  Rückblick  auf  die  Entwicklung  der  Triester  Lagerhäuser.  133 

Man  trug  sich  eine  Zeitlang  mit  dem  Gedanken,  einen  staatlichen  Betrieb 
einzurichten,  jedoch  hat  man  den  Privatbetrieb  geschaffen,  weil  ein  Privatunter- 
nehmen viel  loichter  einzelne  Begünstigungen  gewähren  kann. 

Die  Erfolge  des  Unternehmens  im  Jahre  1899  müssen  als  sehr  befriedigende 
bezeichnet  werden,  da  auf  jede  Actie  eine  Dividende  von  9'25  Proc,  im  ganzen 
46.250  fl.  als  Gewinst,  vertheilt  wurde.  Yon  letzterer  Summe  erhalten  die  königl.- 
ungar.  Staatsbahnen  den  Theilbetrag  von  18.754  fl.  und  ebensoviel  der  Ver- 
waltungsrath.  ^) 

Das  Roherträgnis  des  Betriebes  war  167.841  fl.,  die  Auslagen  betrugen 
93.110  fl.  der  Reingewinn  74.731  fl. 

DieEinlagerungindieMagazineundimElevatorerreichte  1,541.749  Metercentner 
im  Freien  lagerten 474.020  „ 

zusammen  .    .    .2,015.769  Metercentner 
im  Versicherungswerte  von  rund  25"7  Millionen  Gulden. 

Die  Gesammt-Auslagerung  aus  den  überdachten  und  freien  Lagerräumen  stieg 
auf  1,948.902  Metercentner. 

Von  den  in  den  Lagerhäusern  untergebrachten   Waren  entfielen  auf 

Zucker 368.377 

Wein 327.685 

Getreide 212.722 

Mehl  und  Kleie 192.579 

Reis  und  Hülsonfrüchte  .  .  187.028 
Im  Freien  lagerte  Wein  in  einer  Menge  von  369.908  Metercentner. 
Aus  dem  Geschäftsberichte  der  Fiumaner  Lagerhausgesellschaft  verdienen 
die  Worte  hervorgehoben  zu  werden,  dass  bei  Einhebung  des  Mietzinses  für  die 
Magazine  und  Keller  die  grösstrnöglichste  Coulanz  gewährt  und  stets  das  allgemeine 
Verkehrs-  und  Handelsinteresse  im  Auge  behalten  wurde.  Für  erhebliche  Be- 
günstigungen in  den  Tarifsätzen  war  der  Grundsatz  massgebend,  die  Platzspesen 
möglichst  zu  verringern,  um  den  Verkehr  in  Fiume  nach  Möglichkeit  zu  heben. 
Es  vermochte  auch  die  Direction  mit  Freuden  das  in  den  Handelskreisen  zuneh- 
mende Vertrauen  zu  dem  Unternehmen  zu  verzeichnen.  ^) 

Während  der  Triester  Hafen  vorzüglich  ausgerüstet   ist,    hat   der  Fiumano 
fast  gar  keine  maschinellen  Einrichtungen;  das  Löschen  und  Laden  besorgen  die 
Schiffskrahne,  mit  Handaibeit  geschieht  die  Beförderung  der  Waren  in  die  Stock- 
werke.   Eine  Besonderheit    des   Fiumaner  Freihafens    ist    ein    riesenhafter,    1891 


>  Metercentner 


*)  Aus  dem  Geschäftsberichte  der  Fiumaner  Lagerhausverwaltung. 

^)  Als  Gegenstück  hierzu  sei  Folgendes  erwähnt: 

Die  Fiumaner  Börse  hat  (Februar  1900)  über  Aufforderung  des  Handelsministers 
Hegedüs  einen  umfangreichen  Berieht  verfasst,  in  welchem  zur  Ermöglichung  der  freien 
Entwicklung  und  gesunken  Concurrenz  des  Handels  verlangt  wird,  dass  die  dem  Platze 
gewährten  Begünstigungen  behufs  Vermeidung  einer  Monopolisierung  nicht  einzelnen 
Unternehmungen  eingeräumt,  sondern  für  jedermann  gleich  zugänglich  gemacht  werden. 
Infolgedessen  und  nachdem  die  für  den  Hafenverkehr  nothvvendigen  Opfer  von  einer 
rrivatunternehmung  billigerweise  nicht  beansprucht  werden  können,  wird  mit  Hinweis 
auf  de  Triester  Verhältnisse  die  Verstaatlichung  der  Lagerhausunternehmung  beantragt. 


184  Lippert. 

erbauter  Gretreideelevator  mit  einem  Laderaum  von  1000  Waggons  (10.000  Tonnen), 
der  je  nach  Bedarf  als  Zollgebietsniederlage  unter  zollämtlicher  Mitsperre  gehalten 
oder  freigegeben  wird.  Besonders  ausgiebige  Verwendung  findet  er  jedoch  nicht. 
Ein  grundsätzlicher  Unterschied  zwischen  Hangar  und  Lagerhaus  wird  nicht 
aufgestellt. 

In  Genua  befremdet  auf  den  ersten  Anblick  der  scheinbare  Mangel  grösserer 
Lagerhäuser.  Auf  den  Molis  und  an  den  Quais  stehen  bloss  Hangars,  die  sogenannten 
ebenerdigen  Capannoni  oder  Tettoje,  deren  Verwaltung  und  Betrieb  seit  1.  Mai  1888 
die  Handelskammer  besorgt.  Durch  diese  gehen  die  gewaltigen  Massen  des  Durch- 
zugsverkehres, der  sich  in  einer  Jahresmenge  von  beiläufig  3  Millionen  Tonnen 
bewegt.  Die  bedeckte  Lagerfläche  beträgt  46.020  w^;  zur  Lagerung  im  Freien 
können  172.710  ni^  verwendet  werden. 

Eine  zweite  Linie  um  den  Hafen  bilden  die  Bahnmagazine;  sie  sind 
gewöhnlich  gleichzeitig  Magazzini  doganali  di  temporanea  custodia. 

Im  Eigenthum  des  Municipiums  stehen  die  Magazzini  della  Darsena,  zugleich 
Emporio  doganale  und  Deposito  civico,  d.  h.  zur  Aufnahme  zollpflichtiger,  aber 
auch  nationaler  oder  nationalisierter,  noch  der  Verzehrungssteuer  unterliegender 
Waren  bestimmt  und  die  Unterdrückung  der  Fiduciarmagazine  in  der  Stadt  vor- 
bereitend. Der  1891  beschlossene  Umbau  der  ehemaligen  Marine-Kaserne  zu  dem 
gedachten  Zwecke  erforderte  6  Millionen  Lire.  Die  Belagfläche  in  den  Magazinen 
beträgt  47.500  m^. 

Das  unter  zollämtlicher  Mitsperre  befindliche  und  der  Einlagerung  auslan- 
discher Waren  dienende  Deposito  franco,  in  Eigenthum  und  Verwaltung  der 
Handelskammer,  hat  11.860  m^  nutzbare  Lagerfläche.  Die  Warenbewegung 
wechselt;  zeitweise  übersteigen  die  verzollt  austretenden  oder  wiederum  ins  Ausland 
ausgeführten  Waren  jährlich  700.000  Metercentner.  ^) 

Auf  dem  Molo  vecchio  wurden  von  einem  privaten  Consortium  Magazzini  generali 
(anfänglich  nicht  sehr  grossen  Umfanges)  erbaut,  deren  Ausbau  und  Ausnützung 
(sammt  den  Werften)  eine  englische  Finanzgruppe  im  Sommer  1898  übernommen  hat.^) 
In  Venedig  vermochte  das  Lagerhauswesen  wohl  nie  eine  besondere  Bedeutung 
zu  erlangen.  Es  sei  hier  gleich  von  vornherein  erwähnt,  dass  die  italienische 
Regierung  der  Stadt  anlässlich  der  mit  1.  Jänner  1874  erfolgten  Freihafen-Auf- 
hebung eine  nach  den  Bedürfnissen  der  Handelsinteressen  zu  verwendende  Summe 
von  1,800.000  Lire  als  Entschädigung  bewilligte.  Jedoch  dauerte  es  geraume 
Zeit,  bis  dieselbe  ihrer  Zweckbestimmung  zugeführt  wurde. 

Das  erst  in  den  Jahren  1887 — 1891  mit  einem  Aufwände  von  1,120.000  Lire 
erbaute,  am  1.  Juni  1892  dem  Betrieb  übergebene  und  unter  der  Verwaltung  der 

')  Nach   den  Eesoconti  statistici  del   commercio   e    della  navigazione  di   Genova. 

2)  Die  räumliche  Beschränktheit  der  Genueser  Magazine  ist  ein  Uebelstand,  welcher 
Ursache  war,  dass  viele  Transporte  (besonders  Getreide)  auf  das  mit  Entrepöts  in  viel 
reicherem  Maasse  versehene  Marseille  abgelenkt  wurden. 

Iin  Herbste  1900  hat  sich  übrigens  in  Genua  eine  Gesellschaft  „Silos"  mit  einem 
Actiencapitale  von  5  Mill.  Lire  gebildet,  welche  es  sich  zur  Aufgabe  setzt,  den  Getreide- 
handel im  Grossen  durch  rasches  Aufladen,  Lagerung  des  Getreides  in  grossen  Speichern, 
modernste  Ladevorrichtungen,  Weiterbeförderung  ins  Innere  u.  s.  w.  zu  heben  und  so 
Genua  zu  einem  Getreide- Em porium  für  Italien  zu  machen. 


Ein  Rückblick  auf  die  Entwicklung  der  Triester  Lagerhäuser.  135 

Handelskammer  stehende  Deposito  franco  bedeckt  eine  Gresammtfläche  von  14.283  m^ 
und  besteht  aus  einer  Eeihe  von  Gebäuden,  deren  Magazine  eine  für  die  Warenein- 
lagerung verwendbare  Fläche  von  12.328  w^  aufweisen.  ^)  Die  durchschnittliche 
Wareneinlagerung  schwankt  zwischen  30.000  und  40.000  Metercentner  jährlich 
wovon  beinahe  die  Hälfte  auf  Kaffee  entfällt.  ^) 

Die  gleich  dem  Punto  franco  unweit  der  Stazione  marittima  gelegenen 
Magazzini  generali^)  wurden  von  einem  Consortium  um  1,250.000  Lire  erbaut 
und  bedecken  eine  Fläche  von  37.527  w^;  die  nutzbare  Lagerfläche  beträgt 
8330  ni^,  ihre  Aufnahmsfähigkeit  bei  150.000  Metercentner.  Der  Versuch,  diese  Ein- 
richtung lebensfähig  zu  machen,  ist  der  Handelskammer  und  Gemeinde  nicht 
gelungen.  Im  Sommer  1898  bildete  sich  eine  Gesellschaft  zur  Herstellung  und 
Ausnützung  von  Silos,  die  300.000  Metercentner  Getreide  fassen  sollen.  Ein  solches 
Magazin  ist  bereits  erbaut. 

Schliesslich  seien  noch  ein  paar  Worte  über  die  Leistungsfähigkeit  der 
Häfen  in  Absicht  auf  die  Bewältigung  der  zu  Schiff  und  mit  der  Bahn  einlangenden 
Warenmengen  hinzugefügt. 

Einer  dem  VII.  internationalen  Schiffahrtscongress  in  Brüssel  1898  über- 
reichten Abhandlung'^)  des  französischen  Ingenieurs  Guerard  zufolge  kann  angenommen 
werden,  dass  der  Nettotonnengehalt  der  ein-  und  auslaufenden  Schiffe  400  Re- 
gistertonnen für  den  laufenden  Meter  Quailänge  im  Jahre  überschreiten  dürfe. 
Man  stellte  diese  Ziffer  für  Liverpool  auf  z.  B.   1890     .    .    .  403  Registertonnen 

1896     ...  413       „ 

Marseille  hingegen  hatte .    1893     ...  880       „ 

1895     ...  870       „ 

Bei  Berücksichtigung  des  Gewichtes  der  gelöschten  und  verschifften  Waren 
kamen  1895  im  Marseiller  Hafen  auf  den  laufenden  Meter  482  Gewichtstonnen. 
An  den  der  Compagnie  des  Docks  zur  Verfügung  stehenden  Quais  erreichte  der 
Vorkehr  605  Tonnen;  —  1896  613  Tonnen,  1897  599  Tonnen,  1898 
675  Tonnen  für  1  m.  Die  Messageries  Maritimes,  welche  über  eine  Quailänge 
von  285  m  verfügt,  bewältigte  allein  in  ihrem  Hangar  in  jedem  der  drei  Jahre 
1896  —  1898  durchschnittlich  über  je  1000  Tonnen.  So  hohe  Ziffern  sind  nun 
freilich  nur  im  Hinblicke  auf  die  rasche  Bewegung  des  in  Marseille  besonders 
regen  Getreide-  und  Kohlenverkehres  möglich. 

Niedrigere  Durchschnittsmengen  schätzten  Sachverständige  für  Genua-'*) 
Hiernach  könnte  ein  gut  eingerichteter  Hafen  bequem  und  mit  aller  Oekonomie 
eine  jährliche  Warenbewegung  von  500  Tonnen  für  den  laufenden  Meter  bewäl- 


^)  II  Porto  di  Venezia  von  Professor  Primo  Lanzoni,    1895. 

-)  Navigazione  e  Commercio  di  Venezia.  Rapporti  della  Camera  di  Commercio 
ed  Arti. 

^)  Der  Unterschied  zwischen  Deposito  franco  und  Magazzini  generali,  welche  auch 
ausländische  Waren  unter  zollämtlicher  Ueberwachung  aufnehmen,  ist  darin  gelegen,  dass 
in  ersterem  freie  Hantierung  mit  den  Waren  gestattet  wird,  in  letzteren  jedoch  nur  die 
Hinterlegung  bis  zur  Weiterbeförderung  zulässig  ist. 

^)  Surfaces  relatives  des  diverses  parties  d'un  port.  Eapport  par  Ad.  Guerard, 
Ingenieur  en  chef  des  Ponts  et  Chaussöes  ä  Marseille,  avril  1898. 

■')  II  Porto  di  Genova,  herausgegeben  vom  Corpo  reale  del  Genio  civile  1892. 


136  Lippert. 

tigen,  eine  Ziffer,  die  in  Genua  zuweilen  überschritten  wurde.  Bei  einer  zum  Aiilegen 
benutzbaren  Quailänge  von  ungefähr  9800  m  könnte  der  Genuesor  Hafen  im 
Jahre  leicht  4,450.000  Tonnen  bezwingen.  In  den  letzten  Jahren  überschritt 
diese  Ziffer  5  Millionen  Tonnen  und  man  rechnet  darauf,  dass  nach  Vollendung  des 
Simplondurchstiches  die  Warenbewegung  sich  auf  10  Millionen  Tonnen  erhöhen 
werde. 

Die  Bahnbewegung  leistet  einen  täglichen  Durchschnitt  von  1200  Waggons, 
der  aber  auch  auf  1500  Waggons  gesteigert  zu  werden  vermag.  Allerdings  ist  es 
ein  wunder  Punkt  Genuas,  dass  die  Bestellung  der  Eisenbahnwägen  hinter  dem 
thatsächliclien  Bedürfnisse  sehr  zurückbleibt.  Die  Bahnverwaltung  konnte  beispiels- 
weise im  Winter  1897/98  nur  mit  grösster  Mühe  800 — 900  Wägen  täglich  zur 
Verfügung  stellen;  dieser  Mangel  an  rollendem  Material  ist  für  den  Handels- 
verkehr ein  empfindlicher  Nachtheil.  ^) 

Im  Hamburger  Freihafen  wurden  1896  an  den  Quais  bei  12.417  m  benutzter 
Längenausdehnung  von  4033  Seeschiffen  im  ganzen  rund  2,500.000  Tonnen 
doppelt  bewegt,  einmal  zur  Einfuhr  von  See  oder  Binnenland,  das  zweitemal  zur 
Ausfuhr  nach  Binnenland  oder  See,  somit  für  den  laufenden  Meter  rund 
200  Tonnen  Waren  zweimal  abgefertigt.^)  Auf  den  Maasstab  obiger  Vergleich- 
ziffern gebracht,  ergibt  dies  400  Tonnen  im  Jahre. 

Ein  grosser  Vortheil  für  die  Abwicklung  des  Verkehres  im  Hamburger  Hafen 
liegt  in  der  Scheidung  der  Ein-  und  Ausfuhr  nach  gesonderten  Anlageplätzen. 

In  Triest  stellen  sich  die  betreffenden  Ziffern  in  folgender  Weise  : 

Bei  einer  nutzbaren  Quailänge  von  rund  3000  m  im  neuen  Hafen  (aus- 
schliesslich des  im  Zollgebiete  gelegenen  Molo  IV)  entfallen  von  dem  Seeverkehre 
(gesammte  gelöschte  und  verschiffte  Gütermenge  mit  Inbegriff  des  Lloydmolo): 

1896  mit  791.896  Tonnen  auf  den  laufenden  Meter    264  Tonnen 

1897  „     887.498       „         „      „  „  „      296       „ 

1898  „     956.051       „         „       „  ,  „      319       „ 

1899  „    949.913       „         „       „  „  „       317       „ 

An  verschiedenen  Stellen  der  Quais  gestaltet  sich  übrigens  das  Löschen 
und  Laden  sehr  verschieden.  Es  kann  mit  gutem  Grunde  angenommen  werden, 
dass  im  Triester  Hafen  auf  dem  laufenden  Meter  auch  eine  Warenbewegung  von 
500  Tonnen  ^)  im  Jahre  bewältigt  zu  werden  vermag.  Diese  Ziffer  ist  insoferne 
von  Bedeutung,    als  sie  ausdrückt,    in  welchem  Tempo    das  Löschen    und  Laden 


1)  Bedeutende  Transitgeschäfte  mit  Getreide  nach  der  Schweiz  giengen  Genua 
dadurch  verloren  und  es  bedurfte  grosser  Anstrengungen,  dieselben  wenigstens  theilweise 
zurückzuerobern. 

2)  Aus  der  dein  VIL  internationalen  Schiffahrtscongress  in  Brüssel  1898  über- 
reichten Abhandlung:  „Ueber  die  Grösse  und  das  Verhältnis  der  einzelnen  Theile  eines 
Seehafens"  von  M.  Buchheister,  Wasserbau-Director  der  freien  und  Hansestadt  Hamburg. 

3)  Barret  sagte  in  seinem  1885  der  österr.  Eegierung  überreichten  Projecte 
(Seite  13)  „On  peut  estiiner  que  les  ouais  desservis  par  une  surface  süffisante  de  terre- 
pleins  couverts  ou  ä  de'couyert,  par  un  outillage  hydraulique  et  un  developpement  de 
Toies  ferrees  et  charretieres  assez  grand  pour  eviter  les  encombrements,  peuvent  per- 
mettre  de  transborder  annuellement,  au  minimum,  500  tonnes  de  marchandises  iniportöes 
ou  exportees  par  metre  courant." 


Waggonladungen  abgefertigt  worden. 


Ein  Eückblick  auf  die  Entwicklung  der  Triester  Lagerhäuser,  137 

vor  sich  geht  und  es  nicht  gleiehgiltig  ist,  wie  lange  die  Schiffe  vor  den 
Hangars  liegen  müssen.  Wenn  ein  Lloyddampfer  von  120  m  Länge  und  3000 
Nettotonnengehalt  binnen  einer  Woche  eine  volle  Ladung  löscht  und  zugleich 
aufnimmt,  so  ist  dies  eine  gute  Durchschnittsleistung.  ^) 

Was  den  Bahnverkehr  anbelangt,  so  sind  unter  Zugrundelegung  von  rund 
300  Arbeitstagen  im  Jahre 

1896  durchschnittlich   141 

1897  „  178 

1898  ^  192 

1899  „  194 
Hiebei  kommt  zu  berücksichtigen,  dass  der  Verkehr  in  den  Sommermonaten 

nicht  sehr  rege  ist;  im  Winter  1899/1900  wurden  zuweilen  täglich  400  Waggons 
mit  10.000  oder  15.000  kg  Tragfähigkeit  verladen  und  im  Jahre  1897  wurde 
sogar  die  Ziffer  von  600  Eisenbahnwägen  erreicht.  ^) 

Die  staatliche  Fürsorge  für  die  Triester  Lagerhäuser  hat  sich  als  erfolg- 
reich erwiesen.  Die  Lage  des  Unternehmens  ist  als  keine  ungünstige  zu  bezeichnen, 
indem  die  Einnahmen  allmählich  steigen,  die  Warenbewegung  zunimmt  und  die  ehe- 
mals leeren  Eäume  zuweilen  so  gefüllt  sind,  dass  sie  den  Anforderungen  des  Verkehres 
nicht  mehr  genügen.  Diese  auf  Ziffern  gestützte  Behauptung  scheint  in  Wider- 
spruch zu  stehen  mit  den  häufig  vom  Triester  Handelsstande  geführten  Klagen 
über  schlechten  Geschäftsgang.  Hierfür  folgende  Erklärung :  Beobachtet  man 
nämlich  bei  den  Ergebnissen  des  Bahnverkehres  im  Freigebiete  die  gewaltige 
Betheiligung  des  unmittelbaren  Umschlages  und  stellt  dieselbe  in  Vergleich  mit 
dem  eigentlichen  Lagerhausverkehre,  in  welchem  sich  die  locale  Handelsthätigkeit 
zum  Theile  widerspiegelt,  so  erhellt,  dass  letztere  thatsächlich  gegenüber  dem 
Umschlag  und  Durchfuhrverkehre  eine  untergeordnetere  Eolle  spielt.  Der  Eigen- 
handel ^)  muss  eben  nach  dem  Zuge  unserer  Zeit,  welche  die  möglichst  unmittelbare 
Verbindung  zwischen  Erzeugungsstätte  und  Absatzgebiet  mit  Ausschliessung  der 
Zwischenhand  anstrebt,  naturgemäss  zurücktreten. 

Die  zur  Förderung  des  heimischen  Seehandelsverkehres  und  zur  Hebung 
des  Triester  Platzes  insbesondere  unternommene  staatliche  Intervention,  welche 
in  erster  Linie  bezweckte,  „das  Freigebiet  unter  möglichst  günstigen  Bedingungen 
dem  Handel  und  der  heimischen  Industrie  zugänglich  zu  machen  und  zu  einer 
Stätte  regen  Schaffens,  sowie  zum  Mittelpunkte  der  eifrig  zu  pflegenden  Interessen 
unserer  überseeischen  Handelsbeziehungen  heranzubilden,"*)  bedeutet  aber  nur 
einen  Schritt  vorwärts. 


')  Es  wird  in  Triest  viel  bei  Nacht  gearbeitet,  was  in  anderen  Häfen  nicht  in 
dem  Maasse  der  Fall  ist. 

2)  Barret  (Seite  22):  „U  arrive  asscz  fiequomment,  aux  Docks  de  Marseille, 
d'expedier  au  chemin  d^  fer,  dans  24  heures,  500  wagons  chargäs  et  d'en  de'charger 
300  dans  le  meme  temps,  ce  qui  fait  un  total  de  800  wagons  par  jour."  Für  Triest  hält 
er  eine  Bahnanlage    zur   Bewältigung  von    700   bis    750  Waggons    täglich   nothwendig. 

^)  Der  Eigenliandel,  worunter  man  den  Ankauf  von  Waren  zum  Zwecke  gewinn- 
bringenden Wiederverkaufes  versteht,  beschränkt  sich  in  Triest  auf  Kaffee,  Agrumen, 
Scliwämme  u.  s.  w. 

*)  Aus  einem  Erlasse  des  Handelsministers  vom  11.  Mai  1894  an  den  Bürger- 
meister und  die  Handels-  und  Gewerbekamraer  in  Triest. 


138  Lippert,  ' 

Die  staatlicherseits  getroffenen  Maassnalimen  zar  Verwirklichung  dieses 
Zieles  können  allein  nicht  ausreichen.  Es  ist  vorzugsweise  Sache  der  betheiligten 
Kreise  selbst,  stets  und  unausgesetzt  neue  Beziehungen  anzuknüpfen,  grössere 
Warenmengen  heranzuzielien  und  namentlich  die  Pflege  der  vornehmlichsten 
Stapelartikel  für  den  Bedarf  der  heimischen  Industrie,  sowie  die  zur  See  zu 
versendenden  Erzeugnisse  derselben  sich  angelegen  sein  zu  lassen. 

Dann  wird  ein  reger  Verkehr  zwischen  inländischer  Industrie  und  aus- 
ländischen Absatzgebieten  angebahnt  werden  und  immer  mehr  zu  Tage  treten, 
welche  Bedeutung  für  den  Grosshandel  Lagerhäuser  am  Seehafen  besitzen,  wie 
die  Speculation,  die  ausgiebige  Benützung  der  Conjuncturen  und  rascher  Umsatz 
nur  dort  möglich  sind,  wo  wohleingerichtete  Warenniederlagen  fast  ohne  Spesen 
die  leichte,  mehrmalige  Begebung  der  Ware  und  deren  Belehnung  ermöglichen 
und  damit  die  kaufmännische  Betriebskraft,  den  Capitalumsatz,  die  Creditausnützung 
zu  steigern  vermögen. 

Es  liegt  in  der  Natur  der  Sache,  dass  die  Conjuncturen  des  Welthandels 
fortwährend  veränderliche  Gestalt  zeigen,  dass  Wechsel  in  Angebot  und  Nachfrage, 
vor  allem  aber  der  Wettbewerb  ein  fortwährendes  Auf-  und  Abwogen  in  den 
Preisen  der  Welthandelsartikel  bewirken  und  in  deren  Beförderungswegen 
Verschiebungen  eintreten  lassen.  Jede  Neuerung  in  den  Verkehrseinrichtungen, 
jeder  neue  Bahnbau  vermag  die  Warenmassen  in  eine  andere  Richtung  zu  drängen. 

Solche  Schwankungen  hat  jedes  grosse  Unternehmen  zu  erfahren.  Die  Docks 
von  Marseille^)  hatten  ebenso  wie  die  Triester  Lagerhäuser  böse  Zeiten,  deren 
Ueberwindung  gerade  Kraft  und  Lebensfähigkeit  bekundet. 

Eines  sei  jedoch  immer   gegenwärtig: 

Das  zum  Bau  des  Triester  Hafens  und  der  Lagerhausanlage  bisher  auf- 
gewendete Capital  von  30  Millionen  Gulden  ist  nicht  für  diese  Stadt  allein  aus- 
gegeben ;  es  ist  eine  Summe,  die  dem  Handel  des  Reiches  zugute  kommt,  welcher 
der  Vermittlung  der  Hangars  und  Warenhäuser  beim  Uebertritt  der  Güter  von 
der  Bahnbeförderung  in  den  Seeverkehr  und  umgekehrt  unumgänglich  noth- 
wendig  bedarf;  so  ist  diese  Anlage  ein  wichtiges  Verbindungsglied,  ein  wichtiger 
Factor  in  dem  Antheile,  den  Oesterreich  am  Welthandel  nimmt. 

Wie  auch  immer  die  Zukunft  die  Handelsbedingungen  Triests  ändert,  seine 
geographische  Lage  wird  jederzeit  einen  beträchtlichen  Theil  des  Welthandels 
herbeizuziehen  imstande  sein.  Stets  aber  ist  es  geboten,  schon  bei  Zeiten  jene 
Verbesserungen  und  Vorkehrungen  zu  treffen,  welche  den  Hafen  wirksam  befähigen, 
jene  Stelle   einzunehmen,    die  ihm   unter   den    andern  Seestädten   Europas  gebürt. 

Unsere  Zeit  steht  im  Zeichen    des  Verkehres ! 


')  Die  Marseiller  Entrepöts  rentierten  sich  infolge  der  grossen  Schuldenlast 
anfänglich  nur  mit  2  Proc,  1898  jedoch  mit  5"6  Proc.  (53*6  Millionen  Francs  Actien- 
capital  und  3  Millionen  Francs  Reingewinn). 

Die  Triester  Lagerhäuser  tragen  für  das  Anlagecapital  von  10-7  Millionen  Gulden 
und  bei  einem  durchschnittlichen  Betriebsüberschuss  von  130.000  fl.  (ohne  Berücksichtigung 
der  Amortisation)  1-2  Proc. 

Der  Gewinn  der  Hamburger  Freihafon-Lagerhausgesellschaft  ist  6*3  Proc;  jener 
des  Bremer  Lagerhausuntemehmens  5-6  Proc.  (16  beziehungsweise  12-5  Millionen  Mark 
Anlagecapital,  1  Million  beziehungsweise  700.000  Mark  Reinertrag). 


LITERATURBERICHT. 


Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften,  Herausgeben  von  J.  Conrad,  L. 
Elster,  W.  Lexis  und  E.  Löning.  2.  Auflage,  IV.  Band.  Jena,  Gustav  Fischer.  1900. 

Das  über  die  früheren  Bände  dieses  Werkes  Gesagte  ')  gilt  zumeist  auch  von  dem 
vorliegenden,  der  die  Schlagwörter  Galvani  bis  v.  Justi  umfasst.  Die  Anlage  des 
Ganzen  ist  die  nämliche,  wie  in  der  ersten  Auflage,  neue  Schlagwörter  sind  nur  in  geringer 
Zahl  hinzugekommen.  Die  meisten  Artikel  sind  entweder  ganz  unverändert  geblieben  oder 
doch  nur  durch  Ergänzung  bis  auf  die  neueste  Zeit  fortgeführt.  Leider  ist  auch  hier 
wieder  das  "Verhältnis  zu  den  beiden  Supplementbänden  unklar  und  inconsequent.  Bald 
sind  die  in  den  letzteren  enthalteneu  Beiträge  in  der  2.  Auflage  wörtlich  reproduciert, 
bald  muss  man  die  ersteren  zur  Ergänzung  heranziehen,  ohne  dass  doch  in  dem  Haupt- 
werke ein  Hinweis  auf  den  älteren  Supplement  enthalten  ist.  Dass  diese  Verweisungen 
fehlen,  muss  die  leichte  Benutzbarkeit  dieses  Werkes  nicht  wenig  schmälern.  Diesem 
Mangel  könnte,  wenn  auch  nur  theilweise,  dadurch  abgeholfen  werden,  dass  die  Heraus- 
geber wenigstens  am  Schlüsse  des  ganzen  Werkes  ein  Verzeichnis  aller  jener  Artikel 
der  Supplementbände  geben  würden,  die  in  die  2.  Auflage  nicht  aufgenommen  worden  sind, 
sowie  derjenigen,  die  zur  Ergänzung  der  2.  Auflage  herangezogen  werden  müssen. 

Im  Folgenden  sollen  die  wichtigsten  Veränderungen  der  2.  Auflage  gegenüber  der 
ersten  besprochen  werden. 

Das  Schlagwort  Gefängnisarbeit  umfasst  jetzt  16  (früher  2)  Seiten.  Krohme 
skizziert  hier  in  interessanter  Weise  die  Geschichte  der  Gefängnisarbeit,  ihre  Entstehung 
im  17.  Jahrhundert  in  den  Niederlanden;  er  erörtert  die  Postulate  der  Strafpolitik  und  der 
Wirtschaftspolitik  an  die  Gefängnisarbeit  und  zeigt,  dass  der  Conflict  zwischen  beiden 
kein  unlösbarer  ist;  unter  den  verschiedenen  Systemen  der  Arbeitsorganisation,  die  hier 
dargestellt  und  gewürdigt  werden,  wird  dem  Betriebe  durch  die  Anstalt  für  fremde 
Rechnung  sowie  dem  eigentlichen  Eegiebetriebe  für  eigene  Rechnung  der  Anstalten  der 
Vorzug  gegeben. 

Karl  Mengers  so  bedeutende  Abhandlung  über  das  Geld  ist  an  Umfang  noch 
wesentlich  gewachsen  und  ist  dadurch  noch  fesselnder  geworden.  In  einem  eigenen  Para- 
graphe  wird  untersucht,  welche  Aufgaben  die  Theorie  des  Geldes,  welche  die  Wirtschafts- 
geschichte zu  lösen  habe.  Ausführlicher  und  anschaulicher  wird  jetzt  der  Ursprung  des 
Geldes  dargestellt,  werden  jene  Umstände  aufgezeigt,  die  in  primitiven  Verhältnissen  die 
besonders  hohe  Marktgängigkeit  einzelner  Waren  verursachen.  In  noch  klarerer,  präclserer 
Weise  als  in  der  ersten  Auflage  wird  hier  die  Tauschmittelfunction  als  das  ausscliliessliche 
Charakteiistikon  für  das  Geld  gegenüber  allen  anderen  Waren  hingestellt;  alles,  was  sonst 
von  Theoretikern  als  Merkmale  des  Geldes  angeführt  zu  werden  pflegt,  wird  als  secundäre, 
unwesentliche  Folge  der  Tauschmittelfunction  dargethan.  Neu  ist  ferner  die  Behandlung 
des  Unterschiedes  zwischen  Geld  und  Waren  in  der  Jurisprudenz  und  des  Streites  der 
Wirtschaftstheoretiker  über  die  Frage,  ob  Geld  auch  eine  Ware  sei  oder  nicht.  In  besonders 
plastischer  Weise  werden  jene  wirtschaftlichen  Momente  hervorgehoben,  die  noch  vor 
der  Einführung  einer  staatlichen  Währung  zur  Ausmünzung  der  Metalle  führen  raussten.  Die 
praktische  Bedeutung  dieses  Ueberganges  hält  Menger  für  viel  grösser,  als  sonst  die 
meisten  Schriftsteller.  Erst  durch  die  Ausmünzung  entstehe  die  wirkliche  Circulations- 
fähigkeit,  die  ökonomische  Vertretbarkeit  der  einzelnen  Stücke.  Sehr  wichtige  Umgestal- 


1)  Siehe  VIII.  Jahrgang  Seite  530  if,  IX.  Jahrgang  Seite  315  und  315  ff. 


140  Literaturbericht. 

tungen  hat  endlich  der  Abschnitt  „das  Geld  als  Maasstab  des  Tauschwertes  der  Güter" 
erfahren,  wobei  besonders  der  Gegensatz  von  innerem  und  äusserem  Tauschwerte  viel 
schärfer  herausgearbeitet  ist  als  früher. 

In  dem  Artikel  Gemeindefinanzen  (Eheberg)  ist  jetzt  auch  Oesterreich  z.  Th. 
berücksichtigt.  Desgleichen  in  dem  Artikel  Gemeinheitstheilung  (Grossmann);  doch 
entbehrt  man  hier  gar  sehr  jede  zahlenmässige  Angabe,  geschweige  denn  eine  Statistik. 
Starke  Veränderungen  zeigt  der  Artikel  Gesellschaft  und  Gesellschaftswissenschaft. 
(Gothein)  Abgesehen  davon,  dass  eine  Auseinandersetzung  mit  Stammler  neu  ist, 
und  dass  die  Auffassungen  von  Schäffle,  Eümelin,  Dilthey,  Spencer,  Ranke, 
Marx  und  Engels  eingehender  gewürdigt  werden,  so  ist  der  streng  ablehnende  Stand- 
punkt in  der  Frage  nach  der  Möglichkeit  einer  Gesellschaftslehre  und  socialer  Gesetze 
jetzt  wesentlich  gemildert. 

Neu  ist  der  Artikel  über  öffentliche  Gesundheitspflege  von  M.  und  K.  Fl  e  seh, 
wodurch  eine  sehr  emplindliche  Lücke  der  ersten  Aullage  ausgefüllt  ist.  Leider  würde 
man  in  dem  Abschnitte  über  die  Organisation  der  Gesundheitspflege  Angaben  über  Oester- 
reich vergeblich  suchen. 

Die  mit  „Getreide"  zusammenhängenden  Schlagwörter  nehmen  einen  ausserordentlich 
breiten  Raum  ein.  Lexis  (die  ältere  Getreidehandelspolitik  und  Allgemeines) 
vertritt  wie  in  der  ersten  Auflage  so  auch  jetzt  wieder  den  Standpunkt,  dass  die  Getreide- 
börsen nur  die  durch  die  volkswirtschaftliche  Geschäftslage,  durch  die  Productions-  und 
Transportbedingungen  bestimmten  Preistendenzen  zum  Ausdruck  bringen;  er  niissbilligt 
daher  entschieden  die  gegen  das  Getreidetermingeschäft  gerichtete  Bewegung.  lieber  die 
Technik  und  den  gegenwärtigen  Stand  des  Getreidehandels  in  Deutschland 
bringt  die  2.  Auflage  einen  giossentheils  schon  im  1.  Supplementband  enthaltenen  Artikel 
von  Wiedenfeld,  der  insbesondere  dem  Getreideabsatze  des  kleinen  Landwirtes  seine  Auf- 
merksamkeit zuwendet.  Er  constatiert,  dass  der  kleine  Verkehr  zumeist  von  der  Notierung 
an  der  nächsten  Provinzialbörse  —  im  Osten  vielfach  direct  von  jener  in  Berlin  —  abhängig 
ist;  es  gelte  vielfach  direct  im  voraus  der  jeweilige  Berliner  Cours  abzüglich  der  Fracht 
und  einer  Risicoprämie.  Die  letztere  sei  früher  nicht  bedeutend  gewesen,  seit  der  Erschwerung 
des  Termingeschäftes  aber  vielfach  erhöht  worden,  so  dass  das  Verbot  des  Terminhandels 
den  Landwirten  statt  einer  Steigerung  eine  Senkung  des  Preisniveaus  gebracht  habe. 
Auch  sei  dadurch,  dass  nun  in  Berlin  keine  amtlichen  Preise  mehr  notiert  werden,  die 
Abhängigkeit  des  Getreidebauers  von  den  Händlern  und  den  HandelsniüUern  noch  gesteigert 
worden.  Ebenso  habe  dadurch  auch  im  Grosshandel  die  Abhängigkeit  des  deutschen  Getreide- 
marktes vom  ausländischen,  vor  allem  vom  amerikanischen  nicht  ab-,  sondern  zugenommen, 
und  es  sei  die  Concentrationstendenz  im  Getreidehandel  wegen  der  im  grossen  Geschäfts- 
umfange  gelegenen  Selbstversicherung  beschleunigt  worden.  Hinsichtlich  des  Getreide- 
handels in  den  Vereinigten  Staaten  hebt  jetzt  Sering  besonders  die  Mängel  des 
Gradierungsverfahrens,  die  grossen  Misstände  in  der  Getreidehandelsorganisation,  die 
rücksichtslose  Ausbeutung  ihrer  Monopolsstellung  durch  die  grossen  Elevatoren-Unter- 
nehmungen hervor.  Interessant  ist,  dass  die  lange  Zeit  hinduich  als  Ideal  betrachtete 
amerikanische  Organisation  allmälig  verlassen  zu  werden  scheint.  „In  ziemlichem  Umfange 
sind  die  Farmer  dazu  übergegangen,  sich  Scheunen  zu  bauen.  Ja  man  kehrt  hie  und  da 
zur  Versendung  in  Säcken  zurück."  Dass  wir  es  aber  hier  mit  einer  allgemeinen 
Entwicklungstendenz  zu  thun  haben,  darf  wohl  bezweifelt  werden. 

Auch  nach  Conrad  (Getreidepreise)  vermag  die  Börsenspeculation  die  Preise 
umso  weniger  dauernd  zu  beeiflussen,  je  ausgedehnter  der  Markt  ist,  da  dann  die  in 
Betracht  kommenden  Massen  viel  zu  gross  sind,  als  dass  sie  durch  einzelne  beherrscht 
werden  könnten.  Derselbe  Autor  constatiert  in  dem  neuem  Abschnitte  über  Getreide- 
zölle in  England,  dass  hier  auch  die  höchsten  Zollsätze  nicht  im  Stande  gewesen  sind, 
die  Preise  über  dem  Weltmarktpreise  zu  halten  oder  die  heimische  Production  derart  zu 
fördern,  dass  sie  auch  nur  annähernd  mit  dem  Wachsthum  der  Bevölkerung  Schritt  hielte. 
Sehr  interessant  ist  auch  das  bisher  ziemlich  unbekannt  gebliebene  portugiesische  Getreide- 
gesetz   vom    Jahre    1899,    das    im    „Schutze    der   heimischen  Landwirtschaft"   wohl  das 


Literaturbericlit.  14:1 

Aeusserste  leistet.  Im  ganzen  herrscht  in  diesem  Artikel  ein  wesentlich  anderer  Standpunkt, 
als  in  dem  früheren  von  P  aas  che  über  den  nämlichen  Gegenstand.  Das  gilt  namentlich 
von  der  Beurtheilung  des  Einflusses  der  Getreidezölle  auf  den  landwirtschaftlichen  Betrieb, 
auf  andere  Productionszweige  und  auf  die  Consumenten.  Als  interessiert  an  den  Getreide- 
zöllen betrachtet  Conrad  nur  die  1-2  Millionen  Betriebe  von  mehr  als  5  ha;  d.  h.  etwa 
6  Millionen  Menschen  oder  12  Proc,  der  Bevölkerung  (mit  Einschluss  der  Betriebe  von 
2 — 5  ha  11  Millionen  Menschen  oder  21  Proc);  Vs  ^^^  Bevölkerung  ist  an  der  Frage 
überhaupt  nicht  betheiligt,  weil  es  Getreide  weder  kauft  noch  verkauft,  während  ^/^ 
vor  allem  die  Arbeiterbevölkerung^  die  Lasten  zu  tragen  haben.  Conrad  berechnet,  dass 
eine  städtische  Arbeiterfamilie  von  5  Köpfen  an  Getreidezöllen  durchschnittlich 
12—15  Mark  zahlt. 

Seinem  berühmten  Artikel  „Gewerbe"  hat  Buch  er  einen  neuen  Abschnitt  „Gewerbe- 
zweige und  Gewerbearten"  eingeschaltet.  Er  skizziert  jetzt  auch  den  Beginn  der  stoflF- 
umwandelnden  Thätigkeit  in  der  Entwicklung  der  Völker  und  die  schon  von  allem  Anfange 
her  bestehende  Trennung  der  Arbeitsfunctionen  der  beiden  Geschlechter  und  verwertet  auch 
sonst  die  Resultate  der  ethnographischen  Forschung  in  viel  höherem  Maasse  als  früher. 
Die  Kritik,  welche  seine  Theorie  über  die  Wirtschaftsstufen  seit  der  ersten  Auflage  von 
gewichtiger  Seite  erfahren  hat,  bleibt  im  Texte  wie  in  der  Literatumachweisung  leider 
unerwähnt. 

Der  Artikel  „Gewerbegerichte"  (Stieda)  musste  umgestaltet  werden,  da  seit  der 
ersten  Auflage  der  Stand  der  Gesetzgebung  sich  sehr  geändert  hat.  Insbesonders  ist  das 
damals  erst  erlassene  deutsche  Gesetz  v.  J.  1890,  welches  die  Gewerbegerichtsbarkeit  neu 
ordnete,  inzwischen  ein  Jahrzehnt  lang  in  Ausführung  gewesen.  Die  seither  immer  stärker 
werdenden  Eeformbestrebungen  betreffen  insbesondere  die  Einführung  des  obligatorischen 
Charakters  dieser  Institution,  die  Ausdehnung  ihrer  Competenz,  die  Aenderung  des 
Wahlverfahrens,  der  Wahlberechtigung,  die  Vergrösserung  des  Kreises  der  Unternehmungen. 
In  Italien  ist  im  Jahre  1893  das  Institut  der  Probiviri  geschaffen  worden,  in  Oesterrei  h 
hat  das  Gesetz  vom  Jahre  1896  die  Errichtung  von  einer  Anzahl  neuer  Gewerbegerichte 
zur  Folge  gehabt. 

Der  Gewerbegesetzgebung  sind  über  80  Seiten  gewidmet;  in  9  Specialartikeln 
werden  die  Gesetzgebungen  Deutschlands  (Georg  Mayer),  Oesterreichs  (Freiherr  v. 
Call),  Ungarns  (Földes),  Frankreichs  (Mataja),  Grossbritanniens  (Bauer),  Italiens 
(Ferraris),  d^rSchweiz  (Schollenberger),  Skandinaviens  (Bioraberg)  und  Russlands 
(Mueller)  behandelt.  Relativ  die  grössten  Veränderungen  seit  der  ersten  Auflage  sind 
auf  diesem  Gebiete  in  Deutschland  durch  das  neue  Arbeiterschutzgesetz  von  1890,  die 
Novelle  zum  Gewerbegesetze  von  1896  und  das  Gesetz  über  die  Handwerksorganisation 
von  1897  eingetreten.  In  Oesterreich  ist  inzwischen  nur  die  Sonntagsruhe  geregelt 
(Gesetz  von  1895)  und  die  Einführung  von  Gewerbegerichten  normiert  worden.  Merkwürdiger 
Weise  erachtet  der  Verfasser  auch  jetzt  noch  die  Zeit  der  Geltung  österr.  Gewerberechtes 
für  zu  kurz,  als  dass  man  „die  an  sich  recht  unbefriedigenden  Daten  über  die  Wirkungen 
der  Novelle  vom  Jahre  1883  als  entscheidend"  ansehen  könne.  Wie  lange  Call  wohl  noch 
warten  will,  um  sich  hierüber  ein  Urtheil  zu  bilden?  Jedenfalls  steht  er  mit  seiner 
Ansicht,  dass  die  Ergebnisse  der  Genossenschaitsstatistik  „zum  grösseren  Theile  nicht 
unbefriedigend  sind",  ganz  allein.  Dass  die  Ziele,  die  sich  die  Gesetzgebung  gesteckt 
hatte,  auch  nicht  annähernd  erreicht  worden    sind,  muss   er  selbst  übrigens   zugestehen. 

In  dem  Artikel  „Gewerbekamraern"  (früher  Maresch,  jetzt  Thilo  Hampke 
wird  speciell  die  in  Oesterreich  bemerkbare  Bewegung  nach  Errichtung  eigener  Gewerbe- 
kammern, getrennt  von  den  Handelskammern  eingehend  gewürdigt,  die  Schwierigkeiten 
dieser  Trennung  hervorgehoben.  Eine  sorgfältige  Darstellung  der  Ergebnisse  der  Betriebs- 
zählung des  Deutschen  Reiches  enthält  der  sehr  erweiterte  Artikel  „Gewerbestatistik" 
von  Kollmann.  In  dem  Artikel  „Gewerbesteuer"  (Burkhard)  wird  die  österreichische 
Reform  der  directen  Steuern  vom  Jahre  1896  mit  wenigen,  ganz  dürftigen  Bemerkungen 
abgethan. 


142  Literaturbericht. 

Der  Artikel  Gewerk vereine  hatte  in  der  ersten  Auflage  nur  49  Seiten;  jetzt 
ist  er  auf  105  Seiten  angewachsen,  wozu  noch  40  Seiten  in  dem  ersten  und  63  Seiten 
im  zweiten  Supplementbande   hinzukommen. 

Allerdings  finden  sich  hiebei  auch  manche  Wiederholungen.  Die  dogmatisch-kritische 
Einleitung  Brentanos  ist  stark  umgearbeitet.  Stärker  als  früher  wird  die  physische 
Abhängigkeit  des  Arbeiters  vom  Unternehmer  und  die  durch  den  modernen  Grossbetrieb 
geschaffene  Gemeinsamkeit  der  Arbeitsbedingungen,  welche  dem  Einflüsse  des  einzelnen 
Arbeiters  gänzlich  entzogen  sind,  betont.  Brentano  hat  ferner  eine  Geschichte  des  Coalitions- 
rechtes  hinzugefügt  und  setzt  sich  dafür  ein,  das  den  Verabredungen  der  Arbeiter  über 
ihre  Arbeitsbedingungen  derselbe  Rechtsschutz  zutheil  werde,  den  alle  anderen  nicht 
gegen  die  guten  Sitten  verstossenden  Verträge  gemessen.  Fast  in  allen  Culturstaaten 
hat  die  Gewerkvereinsbewegung  in  den  letzten  Jahren  einen  bedeutenden  Aufschwung 
genommen.  Besonders  interessant  ist  die  Darstellung  der  englischen  Entwicklung  von 
Brentano.  Bei  Behandlung  der  deutschen  Gewerkschaften  hat  Kollmann  die  neueste 
Phase  der  Entwicklung,  die  alhnählige  Losreissung  der  Gewerkvereinsbewegung  von  der 
politischen,  noch  nicht  berücksichtigt.  Herkner  übt  scharfe,  aber  gewiss  berechtigte 
Kritik  an  den  übertriebenen  Centralisationsbestrebungen  bei  den  leitenden  Persönlichkeiten 
der  österreichischen  Gewerkschaften,  wie  sie  insbesondere  in  der  Gründung  der  „Unionen" 
zutage  getreten  sind.  Mahaim  verfolgt  die  neuere  Entwicklung  sowohl  der  Syndicate 
als  auch  der  Arbeitsbörsen  in  Frankreich,  sowie  die  Bestrebungen  nach  weiteren  gesetz- 
lichen Reformen  auf  diesem  Gebiete.  In  Belgien  (Mahaim)  wurde  im  Jahre  1894  ein 
Gesetz  vom  zweifelhaftem  Werte  zur  Regelung  der  rechtlichen  Stellung  der  Gewerkvereine 
gegeben.  In  der  Schweiz  (Herkner)  ist  eine  der  deutschen  analoge  Bewegung  bemerkenswert, 
welche  die  Gewerkvereine  auf  einen  politisch  und  religiös  neutralen  Boden  stellen  will. 

In  dem  Artikel  Haftpflicht  (Elster  undLexis)  ist  zwar  die  Veränderung  dargestellt, 
die  in  Deutschland  durch  das  Einführungsgesetz  zum  bürgerlichen  Gesetzbuche  verursacht 
worden  ist;  dagegen  wird  hinsichtlich  der  Haftpflichtgesetze  in  ausserdeutschen  Ländern 
auf  das  Schlagwort  Unfallversicherung  verwiesen. 

Neu  eingefügt  ist  das  Schlagwort  „Haftpflichtversicherung"  (Man es),  ein 
Versicherungszweig,  der  in  der  That  erst  in  den  letzten  Jahren  grosse  Bedeutung  erlangt 
hat.  Einige  merkwürdige  Behauptungen  finden  sich  in  dem  kurzen  Artikel;  so,  dass  diese 
Versicherung  „jedes  Objectes  entbehre";  dass  ihre  Wirkungen  in  jedem  Falle  „ausser- 
ordentlich gute,  social  wertvolle  sind",  dass  „keine  andere  Versicherungsart  einen  derart 
altruistischen  Charakterzug"  besitze.  Gerade  das  Gegentheil  triff't  zu.  Die  Haftpflichtver- 
sicherung wird  geradezu  als  Mittel  gebraucht,  um  sich  von  den  Entschäd'gungspflichten 
zu  befreien,  welche  die  sociale  Gesetzgebung  statuiert  hat,  sie  ist  daher  direct  antisocial, 
sichert  die  Unternehmer  gegen  die  ökonomischen  Folgen  grober  Fahrlässigkeit,  so  dass 
sehr  wohl  gefragt  werden  kann,  ob  der  Staat  diese  Versicherungsart  unbeschränkt, 
zulassen  solle. 

Erweitert  sind  ferner  die  Beiträge  „Handel"  von  Mataja,  „Handelsbilanz" 
von  Schell,  „Handelsgesellschaften"  von  Laband,  „Handelsrecht"  von  Gold- 
schmidt und  Pappen  he  im.  Hingegen  ist  der  unzureichende  Artikel  „Handelsverträge" 
von  Oncken  nicht  vervollständigt  worden;  die  Ereignisse  der  letzten  Jahre  hätten 
zweifellos  eine  ausführlichere  Besprechung  verdient.  Zum  Theile  ist  eine  solche  im 
1.  Supplementbande,  Schlagwort  Handelspolitik,  zu  finden. 

Im  Artikel  „Handwerk"  bespricht  Stie da  die  neuere  Handwerkerbewegung  und  das 
deutsche  Gesetz  vom  Jahre  1897.  Zur  Ergänzung  müssen  die  Schlagworte  „Handwerk" 
aus  dem  1.  und  „Gewerbegesetzgebung"  aus  dem  2.  Supplementband  herangezogen 
werden.  Interessant  ist,  was  über  die  geringfügigen  Wirkungen  jenes  Gesetzes  gesagt  wird. 

Sehr  gewonnen  hat  die  Behandlung  des  Schlagwortes  „Haushaltungsstatistik-* 
(Zahn,  früher  Schumann).  Sombart  hat  seinen  Artikel  „Hausindustrie"  völlig 
umgearbeitet  und  eine  durchaus  selbstständige  Darstellung  des  Gegenstandes  geliefert. 
Hervorzuheben  ist  die  Schilderung  des  Schwitzsystemes,  die  Verarbeitung  der  Resultate 
der  Berufs-  und  Betriebszählung  des  Jahres  1895,  die  zu  dem  Ergebnisse  führt,    „dass 


Literaturbericht.  143 

sich  in  unserer  Zeit  der  Sphäre  in  der  Hausindustrie  eine  Art  von  Erneuerungsprocess 
vollzieht,  an  die  Stelle  absterbender  Hausindustrien  fast  gleich  stark  besetzte  neuauf- 
kommende  treten".  Der  Abhandlung  ist  ein  Literaturverzeichnis  von  11  Seiten  beigegeben. 

Wesentlich  bereichert  ist  der  Artikel  „Hof  vom  Wittich.  In  der  ersten  Auflage 
waren  nur  einzelne  specielle  Gebiete  (Niedersachsen.  Hannover)  in  Betracht  gezogen  worden, 
während  jetzt  ein  allgemeiner  Ueberblick  über  die  Entstehung  der  Hofverfassung 
geboten  wird. 

Der  äusserst  interessante  Artikel  „Individualismus"  von  Dietzel  hat  jetzt 
wesentliche  Erweiterungen  erfahren.  Nunmehr  lässt  Dietzel  die  sehr  anfechtbare 
Bezeichnung  aller  nicht  auf  dem  Individualismus  basierten  Systeme  als  „sociaUstische" 
fallen  und  nennt  sie  in  zutreffenderer  Weise  „organische".  Sein  Grundgedanke,  dass  die 
nämlichen  praktischen  socialpolitischen  Forderungen  nicht  selten  aus  den  entgegengesetzten 
ethischen  Grundanschauungen  entspringen,  nämlich  sowohl  aus  individualischen  als  auch 
aus  organischen  Principien,  tritt  jetzt  noch  schärfer  hervor  als  in  der  ersten  Auflage. 
Sehr  zu  bedauern  ist  es,  dass  das  Gegenstück  zu  diesem  Artikel  fehlt,  nämlich  die  Dar- 
stellung der  „organischen"  Systeme. 

In  dem  Artikel  „Invalidenversicherung"  (Woedtke)  ist  zwar  das  Gesetz  von 
1899  bereits  berücksichtigt,  dagegen  die  reiche  Statistik  leider  ganz  unverwertet  geblieben. 

Schiff. 

Die  Wohlthätigrkeitsvereine  der  k.  k.  Reichshaupt-  und  Residenzstadt  Wien. 
Ein  Nachschlagebuch  für  die  Zwecke  der  öffentlichen  und  privaten 
Armenpflege,  herausgegeben  vom  Armendepartement  der  Stadt  Wien.  Wien, 
1901.  (337  S.) 

Die  Armenpflege  befindet  sich  in  Wien  in  einem  so  desorganisierten,  zerfahrenen 
Zustande,  dass  alles  mit  Freude  begrüsst  werden  muss,  was  irgend  wie  als  ein  Schritt 
zur  Behebung  der  auf  diesem  Gebiete  herrschenden  Verwirrung  betrachtet  werden  kann. 
Das  gilt  denn  auch  von  der  vorliegenden  Publication.  Leider  hat  das  anerkennenswerte 
Streben  des  Magistrates,  sich  Klarheit  über  die  bestehenden  Wohlthätigkeitsvereine  und 
über  deren  Wirksamkeit  zu  vei schaffen,  bei  einem  grossen  Theile  dieser  Vereine  nicht 
die  nöthige  Unterstützung  gefunden,  so  dass  ein  vollständiges  Material  nicht  erlangt 
werden  konnte  und  auch  die  Daten,  soweit  sie  geliefert  worden  sind,  sich  nicht  auf  das 
nämliche  Jahr  beziehen.  Die  beabsichtigte  statistische  Verarbeitung  musste  deshalb 
unterbleiben.  Es  zeigt  indessen  schon  die  vorliegende  Zusammenstellung  trotz  ihrer 
Lückenhaftigkeit,  welche  Verschwendung  an  Arbeitskräften  und  an  Verwaltungskosteu 
dadurch  verursacht  wird,  dass  —  nicht  eingerechnet  das  sociale  Hilfswesen,  die  geist- 
lichen Wohlfahrtseinrichtungen  und  das  Stiftungswesen  —  mehr  als  580  Wohlthätigkeits- 
vereine nebeneinander  bestehen  und  wirken,  ohne  miteinander  Fühlung,  ja  voneinander 
Kenntnis  zu  haben.  So  unentbehrlich  die  Mitwirkung  der  Privaten  für  eine  rationelle 
Armenpflege  zweifellos  ist,  so  schädlich  und  hemmend  wirkt  eine  derartige  Zersplitterung 
ohne  jede  Verbindung  der  einzelnen  Theile.  Sie  macht  eine  Evidenz  und  Controle  der 
Unterstützten  unmöglich,  befördert  auf  der  einen  Seite  das  Wohlthun  aus  Gründen  der 
Eitelkeit,  vernichtet  auf  der  anderen  Seite  bei  den  Armen  die  Scham  und  züchtet 
geradezu  das  Erschwindeln  von  Unterstntzungen.  Hierin  Wandel  zu  schaffen,  ist  ein 
dringendes  Bedürfnis.  Die  vorliegende  Publication  wird  hoffentlich  nicht  ohne  Wirkung 
in  dieser  Richtung  bleiben.  S. 

Grundriss  des  österreichischen  Rechtes.  Unter  Mitwirkung  vieler  namhafter 
Rechtsgelehrter  herausgegeben  von  den  Professoren  Dr.  A.  Finger,  Dr.  0.  Frank  1, 
Dr.  D.  Ulimann.  Leipzig  Duncker  &  Humblot  1899  und  1900. 

Dieses  neue  Unternehmen  ist,  obgleich  es  in  erster  Linie  bloss  juristischen 
Charakter  besitzt,  doch  auch  vom  Standpunkte  dieser  Zeitschrift  mit  Freude  zu  begrüssen. 
Hängen  doch  die  ökonomischen,  vor  allem  aber  die  socialpolitischen  und  Verwaltungs- 
fragen so  enge  mit  den  Fragen  des  geltenden  positiven  Rechtes  zusammen,  dass  alles, 
was  die  allgemeine  juristische  Bildung  erhöht,  auch  direct  oder  indirect  beiträgt  zur 
Stärkung    der   staatswissenschaftlichen    Bildung.    In    besonders    hohem    Grade    gilt    das 


\^l  Literaturbericht. 

von  den  Theilen  des  Werkes,  die  das  öifentliche  Recht  behandeln;  hieher  zählen  das 
bereits  erschienene  und  auch  in  dieser  Zeitschrift  angezeigte  Heft  Mataja?  „Gewerbe- 
recht und  Arbeiterversicherung",  ferner  die  in  Vorbereitung  befindlichen  Arbeiten 
Zuckerkandis  über  Agrarrecht,  Ritter  Beck  von  Managettas  über  gewerb- 
liches Urheberrecht,  Freiherr  von  Wiesers  über  Pinanzrecht,  Spiegels  über 
Verwaltungsrecht.  Ira  ganzensind  bisher  10  von  den  in  Aussicht  genommenen 
28  Abtheilungen  erschienen,  mit  einem  Gesammtumfang  von  über  61  Bogen.  Die  für 
das  ganze  Werk  in  Aussicht  genommenen  100  Bogen  werden  daher  zweifellos  sehr 
bedeutend  überschritten  werden  müssen.  Besonders  da  sehr  zu  wünschen  ist,  dass 
einzelne  ungemein  wichtige  Zweige,  die  bisher  in  der  österreichischen  Literatur  arg 
vernachlässigt  worden  sind,  wie  Verwaltungsrecht,  Agrarrecht,  Finanzrecht,  keine  allzu 
knappe  Darstellung  erfahren. 

Die  bisher  erschienenen  Hefte  —  Demelius  Sachenrecht,  Schuster  von  Bonnott 
Obligationenrecht,  Anders  Familienrecht,  Grünhut  Wechselrecht,  üllmann  Civil- 
process,  v.  Hussarek,  Staatskirchenrecht,  und  Mataja  (s.  o.) —  erbringenden  Beweis, 
dass  die  Verlagsbuchhandlung  in  ihrer  Anzeige  mit  Recht  behauptet,  dass  „das  Werk 
sowohl  für  die  Studierenden  behufs  leichterer  Aneignung  des  Rechtsstoffes,  als  für  jene 
—  Theoretiker  und  Praktiker  —  brauchbar  sein  wird,  die  eines  Nachschlagewerkes  bedürfen, 
das  sie  über  das  heute  in  Oesterreich  geltende  Recht  rasch,  verlässlich  und  vollständig 
unterrichtet."  Es  wird  damit  eine  sehr  fühlbare  Lücke  unserer  österreichischen  Literatur 
ausgefüllt  sein.  S. 

Launhardt.  Am  sausenden  Webstuhl  der  Zeit,  üebersicht  über  die 
Wirkungen  der  Entwicklung  der  Naturwissenschaften  und  der  Technik  auf  das  gesammte 
Gulturleben.  Leipzig  B.  G.  Teubner  1900.  (Aus  Natur-  und  Geisteswelt.  23  Bändchen.) 

Eine  anregend  und  leicht  fasslich  geschriebene  Darstellung  dessen,  was  die 
Menschheit  auf  dem  Gebiete  der  Technik,  insbesondere  aber  der  Verkehrstechnik  bisher 
geleistet  und  erreicht  hat.  Insoferne  kann  das  Büchlein  als  ein  vorzüglicher  Beitrag  zur 
Volksbildung  bezeichnet  werden.  Andererseits  wird  aber,  wie  dies  bei  Schriften  von 
Technikern  —  allerdings  keineswegs  nur  bei  solchen  —  sehr  häufig  ist,  der  Einfluss  der 
technischen  Fortschritte  auf  das  Gulturleben  ungebürlich  überschätzt  —  man  möchte  nach 
diesem  Buch  Rafael  und  Michelangelo,  Shakespeare  und  Goethe,  Voltaire 
und  Kant  bemitleiden,  dass  sie  in  so  barbarischen  Zeiten  gelebt  haben,  die  weder  Eisen- 
bahnen, Telegraph  und  Telephon  noch  Krupp'sche  Riesenkanonen  und  Torpedos  kannten— , 
und  es  trägt  dadurch,  vielleicht  ohne  Absicht,  zur  Verbreitung  von  materialistischen 
Lebens-  und  Weltanschauungen  bei,  die  in  der  Gegenwart  wohl  kaum  einer  weiteren 
Stärkung   bedürfen.  ö. 


DIE  LOHNFONDS-THEORIE. 


VON 


DR-  OSKAE  JAEGEE, 

DOCENT  DER  NATIONALÖKONOMIE  AN  "DER  UNIVERSITÄT  ZU  CHRISTIANIA. 


Die  sogenannte  Lohnfonds-Theorie,  der  es  ein  langes  Menschenalter 
hindurch  vergönnt  war,  ihren  Platz  in  dem  wissenschaftlichen  System  der 
Nationalökonomie  einzunehmen,  die  das  Denken  vieler  bedeutender  Männer 
beherrscht  hat  und  Träger  weitreichender  praktischer  Schlussfolgerungen 
gewesen,  ist  in  Wirklichkeit  eine  nunmehr  abgethanene  ökonomische  Lehre. 
Sie  hat  ihren  Ursprung  in  England,  wo  sie  zum  erstenmale  von  dem 
bekannten  Philosophen  und  Nationalökonomen  James  Mill  klar  formuliert 
wurde,  in  seiner  im  Jahre  1821  herausgegebenen  Schrift:  „Elements  of 
Political  Economy".  Eigentlich  en  vogue  kam  sie  jedoch  erst  etwas 
später,  als  sie  ausführlicher  in  M'C  u  1 1  o  c  h  s  Darstellung  der  National- 
ökonomie entwickelt  wurde,  die  man  infolge  ihres  flüssigen  Stiles  und  ihrer 
Fasslichkeit  viel  als  nationalökonomisches  Lehrbuch  benutzte;  und  nach- 
dem sie  dann  auch  im  Jahre  1848  von  John  Stuart  Mill  in  seinen 
später  so  berühmten  Werk:  „Principles  of  Political  Economy" 
aufgenommen  und  eingereiht  worden  war,  ein  Werk,  das  man  viele  Jahre 
hindurch  als  etwas  fast  unangreifbares  betrachtete,  wurde  sie  unter  die 
begründetsten  Theorien  der  Wissenschaft  gerechnet,  deren  Wahrheit  allzu 
auffallend  war,  um  bezweifelt  werden  zu  können. 

I. 

Um  eine  klare  Darstellung  der  Lohnfonds-Theorie  zu  geben,  die  so 
lange  Zeit  die  herrschende  Lehre  vom  Arbeitslohn  bildete,  müssen  wir  erst 
darlegen,  was  eigentlich  unter   der  Bezeichnung  „Arbeitslohn"  gemeint  ist. 

Arbeitslohn  im  weitesten  Begriffe  umfasst  jede  Ver- 
gütung für  Anstrengungen,  die,  zu  ökonomischen  Zwecken  unternommen, 
Mittel  zur  Befriedigung  der  menschlichen  Bedürfnisse  schaffen  sollen,  wenn 
diese  Mittel  durch  die  Natur  nicht  selbst  gegeben  sind.  Aber  als  man  die 
sogenannte  Lohnfonds-Theorie  aufstellte,  dachte  man  nicht  daran,  sondern 
an   Arbeitslolin    im    engeren  Begriffe,    d.  h.  an    den   Lohn,    der 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltunff.  X.  Band.  10 


146  Jaeger. 

für  im  Dienste  anderer  verrichtete  Arbeit  empfangen  wird,  und  besonders 
für  körperliche  Arbeit,  Diejenigen,  die  solche  Arbeit  ausführen,  nennt 
man  ja  auch  schlechthin  Arbeiter,  und  sie  bilden  zudem  in  der  Wirk- 
lichkeit in  einer  gewissen  Art  eine  Classe  für  sich,  zuförderst  weil  ihre 
Lohnverhältnisse,  ökonomisch  betrachtet,  besondere  Eigenthüm.lichkeiten 
darbieten,  und  ferner,  weil  diese  sogenannten  Arbeiter  in  allen  Ländern 
sowohl  den  zahlreichsten,  als  auch  leider  den  ökonomisch  schlechtest 
situierten  Theil  der  Bevölkerung  ausmachen,  so  dass  die  Verbesserung  ihrer 
Lage  allen  Menschenfreunden  besonders  am  Herzen  liegt. 

Von  dem  Lohne  dieser  eigentlichen  Arbeiter  ist  also  in  der  Lohnfonds- 
Theorie  allein  die  Eede.  Dieser  Lohn  wird  ihnen  von  den  Arbeitsgebern 
ausgezahlt  und  besteht  in  der  Kegel  entweder  in  Subsistenzmitteln  — 
Nahrung,  Wohnung,  Kleidern  u.  s.  w.  —  oder,  was  die  Eegel  bildet,  in 
Geld.  Es  liegt  nun  natürlich  kein  Hindernis  vor,  die  iSumme  dessen,  was 
auf  diese  Weise  im  Laufe  des  Jahres  den  Arbeitern  eines  Landes  aus- 
bezahlt wird,  als  „Lohnfonds*  zu  bezeichnen.  Es  wäre  unzweifelhaft  eine 
durchaus  unbestreitbare,  aber  sicher  auch  ziemlich  nichtssagende  Wahrheit, 
auszusprechen,  dass  der  durchschnittliche  Arbeitslohn  eines  Landes  auf  der 
verhältnismässigen  Grösse  dieses  „Lohnfonds"  beruhe.  Dann  müsste  aber 
erst  die  Frage  erörter  werden,  wodurch  die  Grösse  dieses  Lohnfonds 
bestimmt  wird. 

Der  erste  nationalökonomische  Schriftsteller,  bei  dem  man  diesen 
Ausdruck  trifft,  ist,  soweit  bekannt,  Adam  Smith,  der  in  dem  Capitel 
seines  Werkes,  worin  er  speciell  den  Arbeitslohn  behandelt,  erklärt,  dass 
dessen  Höhe  abhängt  von  der  Grösse  des  Fonds,  der  bestimmt  ist, 
Löhne  zu  zahlen,  oder,  wie  er  es  auch  ausdrückt,  des  Fonds,  der  zum 
Arbeitsunterhalte  bestimmt  wird.  Aber,  wohlbemerkt,  Adam  Smith  fasst 
den  „Lohnfonds"  durchaus  nicht  als  eine  zu  jeder  Zeit  genau  voraus- 
bestimmte Grösse  auf. 

Anders  dagegen  sein  erster  grosser  Nachfolger  Thomas  Eobert 
Malthus,  der  im  Jahre  1798  seine  berühmte  und  epochemachende 
„Abhandlung  über  das  Bevölkerungsprincip"  herausgab.  In  der  Zeit  als 
Malthus  schrieb,  hatte  England  eine  Reihe  schlechter  Jahre  gehabt, 
und  man  konnte  zu  dieser  Zeit  nur  sehr  kleine  Vorräthe  von  Getreide  und 
andern  Lebensmitteln  aus  dem  Auslande  eingeführt  bekommen.  Es  schien 
sich  in  Wirklichkeit  zu  jener  Zeit  im  Lande  eine,  praktisch  gesprochen, 
fest  bestimmte  Menge  von  Lebensmitteln  vorzufinden,  während  die  Anzahl 
der  Einwohner  wuchs.  In  dem  Jahre  1800 — 1801  stiegen  in  England  die 
Weizenpreise  auf  den  enormen  Betrag  von  annäherd  6  Lstr.  per  Quarter, 
also  für  nicht  ganz  3  Hektoliter!  Wieviel  Geld  man  dem  Arbeiter  auch 
als  Lohn  gibt,  sagte  Malthus,  es  kann  ihm  doch  nicht  wirklich  helfen,  denn 
dadurch  kann  unmöglich  die  im  Lande  vorhandene  Menge  von  Nahrungs- 
mitteln vermehrt  werden,  und  diese  macht  ja  den  allerwichtigsten  Theil  des 
zum  ünterlialt  der  Arbeiter  bestimmten  Fonds  aus.  Eine  Erhöhung  des 
Geldarbeitslohnes  muss  den  Preis  der  Nahrungsmittel  nur  noch  höher  steigen 


Die  Lohnfonds-Theorie.  147 

lassen.  Das  einzige  effective  Mittel,  den  wirklichen  Arbeitslohn  zu  erhöhen, 
liege  deshalb  darin,  die  Zahl  der  Arbeiter  zu  vermindern;  denn  die  Höhe 
des  Lohnes  hänge  in  letzter  Instanz  von  dem  Verhältnis  zwischen  den  vor- 
handenen Subsistenzmitteln  und  der  Grösse  der  Bevölkerung  ab. 

Wenn  auch  Malthus  nicht  geradezu  die  später  so  bekannte  Lohnfonds- 
Theorie  formulierte,  so  muss  doch  unzweifelhaft  gesagt  werden,  dass  er 
eigentlich  ihr  Urheber  war. 

Später  setzte  man  nämlich  nur  den  Begriff  Capital  statt  des  Begriffes 
Subsistenzmittel   und  stellte  die  Lehre  auf,  dass    der  Arbeitslohn  von  dem 
Verhältnis  zwischen  Capital  und  Bevölkerung  abhänge,  bei  welch  letzterem 
Ausdrucke  man  zunächst  an  die  Arbeiterbevölkerung  dachte.   Unter  Capital 
verstand   man    damals    alles,    was    von    den  Unternehmern    zur  Production 
verwandt  Avurde,  und  man  schloss  darin  die  Lebens-  und  Genussmittel  ein, 
die  von  den  Arbeitern  consumiert  wurden.  Es  bildete  sich  danach  die  Vor- 
stellung, dass  die  Nachfrage  nach  Arbeitskraft  genau  durch  denjenigen  Theil 
des  Vermögens  der  Arbeitsgeber  bestimmt  sei,  dessen  diese  nicht  zu  ihrem 
eigenen  Verbrauche  bedürften.    Mit   diesen  Mitteln  kauften   sie  Maschinen, 
Materialien,  bezahlten  Arbeitslöhne  u.  s.  w.  Aber  da  der  Lohn  den  Arbeitern 
regelmässig  ausbezahlt  werde,    noch    ehe    die  Producte  fertig  sind,    so    sei 
der    durchschnittliche   Arbeitslohn    von   vorneherein    durch    das   Verhältnis 
zwischen  dem  vorhandenen  Capital  und  der  Arbeiteranzahl  bestimmt.  Denn 
die  Arbeiter  könnten  ja  nicht  von  den  Producten  leben,  die  noch  nicht  fertig 
sind.  Man  finde,  mit  andern  Worten,  in  der  Gesellschaft  eine  gewisse  Menge 
Capital  zum  Bestreiten  der  Bedürfnisse  der  Arbeiter:  soviel  Nahrung,  soviel 
Behausung,  soviele  Kleider,  Stiefel,  Hüte  u.  s.  w.  Die  Höhe  des  Geldlohnes 
selbst  sei  verhältnismässig  gleichgiltig;  wenn  er  stiege,  würde  daraus  nicht 
eine  Vermehrung  der  Gegenstände,  welche  die  Arbeiter  consumieren,  resul- 
tieren, sondern  nur  eine  Erhöhung  des  Preises  dieser  Gegenstände,  und  die 
Arbeiter  würden  also  in  Wirklichkeit  dadurch  nicht  mehr  an  Lohn  erhalten. 
Das  in   der  Gesellschaft  zu  jeder  Zeit  existierende  Capital,    das  ver- 
wendet werden  könne,  um    die  Bedürfnisse   der  Arbeiter  zu  befriedigen  — 
der   eigentliche   Lohnfonds    —    besitze,    so  meinte    man,   stets    eine    zuvor 
bestimmte  Grösse,  und  die  durchschnittliche  Höhe  des  Arbeitslohnes  beruhe 
darauf,  wie  viele  Arbeiter  sich  darein  theilten. 

Es  ist  nämlich  klar,  sagte  man,  dass  der  durchschnittliche  Antheil, 
den  jeder  Arbeiter  an  dem  zur  Bezahlung  des  Arbeitslohnes  bestimmten 
Capital  erlangt,  von  dessen  Grösse  und  der  Anzahl  derer  abhängen  muss, 
zwischen  die  es  getheilt  werden  soll.  Der  Arbeitslohn  kann  deshalb  nur 
steigen,  wenn  entweder  mehr  Capital  oder  weniger  Arbeiter  vorhanden  sind; 
er  kann  nur  fallen,  wenn  es  entweder  weniger  Capital  oder  mehr  Arbeiter 
gibt.  Der  Arbeitslohn  hat,  so  behauptete  man  weiters,  seine  natürliche  Höhe 
in  einem  Lande  erreicht,  wenn  der  gesammte  Lohnfonds  zwischen  sämmtlichen 
Arbeitern  vertheilt  wird.  Ist  die  Concurrenz  nun  frei,  so  kann  der  Lohn  sich 
nicht  lange  über  diesem  Punkte  erhalten;  denn  falls  dies  geschähe,  würden 
einige  Arbeiter  beschäftigungslos  werden,   und  deren  Concurrenz  liesse  den 

10* 


148  Jaeger, 

Lohn  wieder  auf  dessen  natürliche  Höhe  sinken.  Der  Lohn  kann  auch  nicht 
lange  unter  diesem  Punkte  stehen;  denn  sonst  würde  ein  Theil  des 
Capitales  ohne  Verwendung  bleiben,  und  die  Concurrenz  der  Unternehmer 
würde  den  Arbeitslohn  wieder  auf  dessen  natürliche  Höhe  stellen. 

Ueber  die  Art,  wie  man  den  sogenannten  Lohnfonds  begriffsmässig 
begrenzen  und  bestimmen  sollte,  äusserten  sich  die  verschiedenen  Schrift- 
steller ungleichmässig ;  nach  ihren  unvollständigen  und  oft  widerspruchs- 
vollen Auslassungen  zu  urtheilen,  waren  sie  sich  darüber  kaum  im  klaren. 
Aber  über  Eine  Frage  herrschte  Einigkeit  zwischen  Allen :  dass  der  Lohn- 
fonds in  sich  selbst  immer  ein  wirklich  vorausbestimmter  Betrag  sei, 
aus  dem  man  den  durchschnittlichen  Arbeitslohn  finden  könne,  indem  man 
ihn  durch  die  Anzahl  der  Arbeiter  dividiere.  Es  wurde,  wie  Mi  11  später 
schrieb,  „vorausgesetzt,  dass  es  in  jedem  gegebenen  Moment  eine  Ver- 
mögenssumme gebe,  die  unbedingt  der  Bezahlung  von  Arbeitslohn 
geweiht  sei.  Diese  Summe  wurde  freilich  nicht  als  unveränderlich  betrachtet, 
denn  sie  wurde  durch  Aufsparen  vermehrt  un4  wuchs  mit  dem  steigenden 
Keichthum;  aber  man  gieng  davon  aus,  dass  sie  zu  jedem  Zeitpunkte 
einen  voraus  bestimmten  Betrag  ausmache.  Mehr  als  diesen  Betrag  könne 
die  lohnarbeitende  Classe  unmöglich  unter  sich  theilen;  aber  diesen  ganzen 
Betrag  müsse  sie  auch  ohne  irgend  welche  Verminderung  nothwendig  als 
Lohn  erhalten.  Da  also  die  Summe,  die  getheilt  werden  solle,  voraus 
bestimmt  sei,  beruhe  der  Lohn  jedes  Arbeiters  ausschliesslich  auf  dem 
Divisor,  auf  der  Anzahl  der  Arbeiter. 

So  sah  die  sogenannte  Lohnfonds-Theorie  aus. 

n. 

Dass  diese  Theorie  falsch  sei,  wurde  allmählich  von  so  gut  wie  allen 
wirklichen  Nationalökonomen  erkannt.  Aber  die  üunrichtigkeit  der  Theorie 
ist  es  nicht,  was  hier  das  grösste  Literesse  bietet;  denn  dass  in  einer 
Wissenschaft  unrichtige  Theorien  aufgestellt  werden,  die  eine  Zeitlang 
allgemeine  Anerkennung  gewinnen,  ist  an  und  für  sich  nichts  merkwürdiges. 
Aus  dieser  Theorie  aber  Hessen  sich  die  verderblichsten  Consequenzen 
ziehen,  und  sie  werden  auch  thatsächlich  gezogen. 

Die  Zeit,  in  der  die  Lohnfonds-Theorie  zuerst  aufkam  und  allgemein 
verkündet  wurde,  fiel  nämlich  nahe  zusammen  mit  dem  Aufblühen  der 
Grossindustiie  in  England.  Dieses  Aufblühen  wurde,  wie  bekannt, 
wesentlich  durch  die  ausserordentlichen  Erfindungen  auf  dem  Gebiete  des 
Maschinenwesens  herbeigeführt,  die  am  Schlüsse  des  vorigen  und  zu  Beginn 
dieses  Jahrhundeits  gemacht  wurden.  Die  Industrie  gieng  nun  allmählich 
von  der  Werkstattarbeit  zur  Fabrik-  und  Maschinenindustrie  über.  Die 
neuerfundenen  arbeitersparenden  Maschinen  machten  eine  Menge  von  Ar- 
beitern überflüssig,  so  dass  der  Arbeitslohn  sank,  während  der  Ertragswert 
der  Production  stieg  und  den  Capitalisten  und  Unternehmern  kolossale 
Einnahmen  brachte.  Gleichzeitig  litten  die  Arbeiter  auch  unter  den  Nach- 
wirkungen  langwieriger   Kriege,   unter   einer   Reihe    schlechter   Jahre    und 


Die  Lohnfünds-Theoiie.  -^  149 

einer  im  hohen  Grade  verderblichen  Armengesetzgebung,  so  dass  sie  vielfach 
nahe  dem  Verhungern  waren.  Die  Arbeiter  geriethen  stets  mehr  in  die 
Gewalt  des  Capitales,  der  Arbeitstag  erhielt  immer  mehr  und  mehr  Stunden, 
und  in  Fulge  der  enormen  Coneurrenz  der  überzähligen  Arbeitern  gelang 
es  den  Unternehmern,  den  Lohn  auf  ein  so  niedriges  Niveau  hinabzuschrauben, 
dass  nicht  nur  der  Arbeiter  selbst,  sondern  auch  zuerst  seine  Frau  und 
dann  seine  Kinder,  sowohl  die  grossen  als  die  kleinen,  in  den  Gruben  und 
Fabriken  während  der  ganzen  Zeit,  deren  sie  nicht  gerade  zum  Essen  und 
Trinken  und  dem  allernothwendigsten  Schlaf  bedurften,  arbeiten  mussten. 
Auf  diese  Weise  wurde  das  Leben  und  die  Gesundheit  der  Arbeiter  vom 
frühesten  Kindesalter  an  untergraben,  und  trotz  der  unmenschlicli  langen 
Arbeitszeit  wurde  ihre  Lage  stets  erbärmlicher.  Um  das  Jahr  1830  hatte 
die  Noth  und  die  Verzweiflung  unter  den  Arbeitern  eine  so  grauen- 
erregende Höhe  erreicht,  dass  die  englische  Gesellschaft  am  Bande  der 
Revolution  stand. 

Wie  erklärten  jetzt  die  Nationalökonomen  den  Zustand  dieser  Dinge? 
Ja,  sagten  sie,  da  durch  Anlage  von  Fabriken,  Bauen  von  Maschinen  u.  s.w. 
soviel  umlaufendes  Capital  zu  stehendem  umgebildet  wurde,  ist  der  eigent- 
liche Lohnfonds  vorläufig  verringert  worden;  von  den  Gegenständen,  welche 
die  Arbeiter  als  Lohn  theilen  können,  ist  weniger  übrig  geblieben.  Vorläufig 
sind  demnach  die  Arbeiter,  im  Verhältnis  zum  gegenwärtigen  Lohnfonds 
überzählig  geworden.  Aber  hierin  ist,  erklärten  die  Nationalökonomen,  in  der 
Wirklichkeit  wenig  oder  nichts  anderes  für  sie  zu  thun,  als  zu  warten  und 
die  Dinge  ihren  eigenen  Weg  gehen  zu  lassen;  denn  die  Unternehmer 
können  mit  dem  besten  Willen  unmöglich  höheren  Lohn  zahlen,  solange  der 
Lohnfonds  nicht  grösser  als  jetzt  ist.  Aber  sowohl  dadurch,  dass  der  Preis 
der  Gegenstände,  die  durch  die  Grossindustrie  produciert  wurden,  jetzt  ge- 
fallen ist,  als  dadurch,  dass  die  Einnahmen  der  Capitalisten  und  Unternehmer 
erhöht  worden  sind,  werde  Anlass  gegeben,  mehr  Capital  zusammenzusparen, 
so  dass  der  Lohnfonds  allmählich  zu  seiner  alten  Grösse,  ja  noch  mehr 
anwachsen  könne.  Der  Arbeitslohn  würde  deshalb  wohl  wieder  steigen, 
wenn  die  Arbeiter  nur  warten  und  inzwischen  darauf  achten  würden,  ihre 
Anzahl  zu  begrenzen. 

Eine  Aufforderung  an  die  nothleidenden  und  verhungerten  Arbeiter, 
ihre  Anzahl  nicht  zu  erhöhen,  war  ungefähr  das  einzige,  was  die  National- 
ökonomen zur  Abhilfe  dieser  entsetzlichen  Noth  zu  bieten  hatten!  Wir 
sagen  nicht,  dass  dieser  Rath  an  und  für  sich  nicht  gut  war;  denn  das 
Vermindern  der  Arbeiteranzahl  ist  unzweifelhaft  immer  ein  sicheres  Mittel, 
um  den  Arbeitslohn  zu  heben.  Aber  man  kann  freilich  nicht  darauf  rechnen, 
dass  eine  in  äusserste  Armut  und  Elend  herabgesunkene  Arbeiterbevölke- 
rung Vorsicht  in  Bezug  auf  das  Schliessen  von  Ehen  und  das  In-die-Welt 
setzen  von  Kindern  üben  werde. 

Hätten  also  die  Lohnfonds-Theoretiker  Recht  gehabt,  so  hätte  man 
den  Zustand  in  Wirklichkeit  hoffnungslos  nennen  müssen.  Als  hoffnungslos 
wurde    er   auch  von    den  Socialisten  dargestellt,  die  in  allem  Wesentlichen 


150  Jaeger. 

die  Lehre  der  Nationalökonomen  acceptierten  und  daraus  den  Schluss  zogen, 
dass  nichts  anderes  helfen  könne,  als  ein  vollständiger  Umsturz  der  ganzen 
bestehenden  Gesellschaftsordnung,  die  Beseitigung  des  Privateigenthums, 
der  freien  Concurrenz  u.  s.  w.  Aber  die  Arbeiter,  —  die  der  Schuh  selbst 
drückte,  —  empfanden,  dass  die  Lohnfonds-Theorie  nicht  wahr  sei.  Sie 
waren  mit  Recht  davon  überzeugt,  dass,  wenn  der  Arbeitslohn  zu  einem 
so  erbärmlichen  Betrag  herabgedrückt  war,  der  Grund  nicht  darin  liege, 
dass  die  Unternehmer,  wie  die  Nationalökonomen  behaupteten,  ganz  unmög- 
lich höhere  Löhne  geben  könnten. 

Das  wirkliche  Verhältnis,  für  das  die  Arbeiter  in  England  in  der  ersten 
Hälfte  dieses  Jahrhunderts  ein  mehr  oder  minder  klares  Verständnis  hatten, 
besteht  darin,  dass  die  Arbeit  unter  der  ökonomischen  Ordnung  unserer 
Gesellschaft  gewiss  eine  Ware  ist,  deren  Wert,  wie  der  aller  anderen  Waren, 
durch  Angebot  und  Nachfrage  bestimmt  wird.  Aber  weil  die  Arbeiter  in 
der  Regel  arm  und  ohne  Capital  sind,  sind  sie  gezwungen,  diese  ihre 
Ware  immer  auf  dem  Markte  auszubieten,  und  sind  dadurch  in  der 
Wirklichkeit  ganz  ausser  stand,  ihr  Angebot  der  vorhandenen  Nach- 
frage anzupassen.  Wenn  die  Nachfrage  sinkt,  können  sie  das  Angebot  nicht 
vermindern;  sie  müssen  leben  und  sind  deshalb  genöthigt,  zu  jedem 
Preise  zu  verkaufen.  Ja,  beim  Sinken  der  Nachfrage  kann  schon  deshalb 
das  Angebot  sich  nicht  vermindern,  weil  dadurch  im  Gegentheil  die  Arbeiter 
gezwungen  werden,  einander  rücksichtslos  zu  unterbieten^  also  das  Arbeits- 
angebot zu  steigern  und  dadurch  den  Arbeitslohn  weiter  zu  drücken. 

Dies  alles  gilt  jedoch  nur  dort,  wo  die  Arbeiter  vereinzelt,  isoliert 
ihren  Arbeitsgebern  gegenüberstehen.  Solange  dies  der  Fall  ist,  werden 
die  Arbeitsgeber  oft  einseitig  die  Arbeitsbedingungen  dictieren,  während  die 
einzelstehenden  Arbeiter  nur  die  Wahl  haben,  anzunehmen,  was  ihnen  geboten 
wird,  oder  zu  hungern.  Das  Verhältnis  gestaltet  sich  jedoch  anders,  wenn 
die  Arbeiter  sich  zur  Wahrung  ihrer  gemeinsamen  Interessen  in  Gewerk- 
schaften zusammenschliessen.  Wenn  diese  Vereine  durch  ständige  Bei- 
träge ihrer  Mitglieder  ein  entsprechendes  Capital  gesammelt  haben,  glückt 
es  den  Arbeitern  vielfach,  sich  im  Lohnkampfe  mit  den  Arbeitsherren  auf 
gleichen  Fuss  zu  stellen. 

Die  Arbeiter  haben  dann  Mittel,  von  den  Orten  fortzuziehen,  wo  die 
Arbeitsnachfrage  im  Abnehmen  ist,  und  dorthin  zu  gehen,  wo  sie  steigt. 
Ausserdem  sind  sie  durch  die  Unterstützung  der  Gewerkschaftscasse  in  der 
Lage,  ihr  Angebot  gegenüber  einer  sinkenden  Nachfrage  zu  vermindern. 
Und  endlich  können  sie  schlimmsten  Falles  sogar  ganz  die  Arbeit  nieder- 
legen, striken,  um  vermittelst  einer  vollständigen  Stockung  des  Angebotes 
die  Arbeitsherren  zu  zwingen,  eine  Erhöhung  des  Lohnes  zu  bewilligen,  Es 
versteht  sich  von  selbst,  dass  besonders  dieses  letzte  Mittel,  der  Strike, 
eine  äusserst  gefährliche  Waffe  ist,  die  in  unkundigen  Händen  den  Arbeitern 
selbst  den  grössten  Schaden  zufügen  kann.  Wenn  dagegen  Gewerkschaften 
mit  Einsicht  und  Massigkeit  von  Leuten  geführt  werden,  welche  die  wechselnden 
Conjuncturen    richtig  zu   beurtheilen   und   alle  übereilten  Schritte  zu  ver- 


Die  Lohnfonds-Theorie.  151 

hindern  verstehen,  so  sind  sie  sicherlich  in  hohem  Grade  geeignet,  das  öko- 
nomische Wohl  der  Arbeiter  zu  fördern  und  ihnen  einen  höheren  Lohn  zu 
verschaflfen,  als  sie  sonst  in  den  meisten  Fällen  erhalten  hätten,  wenn 
sie  vereinzelt  und  arm  ihre  Contracte  mit  den  grossen  Arbeitsherren  hätten 
abschliessen  müssen. 

Nach  den  Lehren  der  Lohnfonds -Theorie  wäre  es  dagegen  für  die 
Arbeiter  einfach  unmöglich,  irgendeine  dauernde  Erhöhung  ihres  Lohnes 
zu  erlangen,  Aveder  durch  Zusammenschluss,  noch  durch  Strike,  noch  über- 
haupt auf  eine  andere  Weise  als  durch  Beschränkung  ihrer  Anzahl.  Falls 
es  ihnen  wirklich  einmal  glücke,  höhere  Arbeitslöhne  zu  erzwingen,  so  liege 
es  daran,  dass  der  Lohnfonds  eben  schon  vorher  erhöht  worden  sei ;  sie 
erhielten  daher  nur,  was  sie  ohnedies  sehr  bald  ohne  besondere  Anstrengung 
durch  die  gegenseitige  Concurrenz  der  Unternehmer  erreicht  hätten.  Aller- 
dings, so  räumte  man  ein,  könnten  die  Arbeiter  innerhalb  eines  einzelnen 
Eiwerbszweiges  eine  Zeitlang  höhere  Löhne  durchsetzen,  indem  sie  einen 
grösseren  Theil  des  gewöhnlichen  Lohnfonds  erkaperten;  aber  in  solchem 
Falle  geschehe  dies  ausschliesslich  auf  Kosten  ihrer  übrigen  Kameraden, 
für  die  nun  um  ebensoviel  weniger  zum  Theilen  übrig  bliebe;  mit  anderen 
Worten;  eine  solche  Erhöhung  des  Lohnes  einer  Classe  von  Arbeitern 
bedeute  in  Wirklichheit  für  die  übrigen  Arbeiter  eine  genau  entsprechende 
Verminderung  ihres  Lohnes.  Der  durchschnittliche  Arbeitslohn  trete  nämlich 
immer  mit  der  ünveränderlichkeit  eines  Naturgesetzes  hervor.  Er  sei  mit 
der  Höhe  des  Lohnfonds  und  der  Anzahl  der  Arbeiter  zu  jeder  Zeit  uner- 
bittlich gegeben  und  könne  folglich  weder  durch  die  Gesetzgebung  noch 
durch  den  Druck  der  Arbeitergewerkschaften  erhöht  werden.  „Es  ist," 
schrieb  Professor  Perry,  einer  der  amerikanischen  Anhänger  der  Lohn- 
fonds-Theorie, , nutzlos  gegen  eine  der  vier  Fundamentalregeln  der 
Arithmetik  zu  polemisieren.  Die  Lohnfrage  ist  eine  Divisionsfrage.  Man 
klagt  darüber,  dass  der  Quotient  zu  klein  ist.  Gut,  auf  wie  viele  Arten 
kann  man  einen  Quotient  grösser  machen?  Auf  zwei  Arten.  Erhöhe  den 
Dividend  und  der  Quotient  wird,  wenn  der  Divisor  derselbe  bleibt,  grösser 
werden;  vermindere  den  Divisor  und  der  Quotient  wird,  wenn  der  Dividend 
derselbe  bleibt,  grösser  werden." 

Es  ist  klar,  dass  diese  Auffassung  der  Lohnfrage  seitens  der  wissen- 
schaftlichen Nationalökonomie  denjenigen  im  hohen  Grade  willkommen  war, 
in  deren  Interesse  es  lag,  die  bestehenden  Verhältnisse  zwischen  Arbeitern 
und  Arbeitsgebern  aufrechtzuerhalten.  Und  als  man  in  England  den  fürchter- 
lichen Zuständen  abzuhelfen  versuchte  —  theils  durch  A  r  b  e  i  t  e  r  s  c  h  u  t  z- 
ge  setze,  welche  nach  und  nach  besonders  den  Missbrauch  von  Frauen- 
und  Kinderarbeit  in  Fabriken  und  Gruben  beseitigten,  theils  durch  das 
Errichten  der  bekannten  Trade-unions  — ,  da  wurde  sowohl  in  der 
Presse  als  im  Parlament  erklärt,  die  Wissenschaft  habe  längst  die  voll- 
ständige Nutzlosigkeit,  ja  geradezu  die  Schädlichkeit  dieser  Veranstaltungen 
als  ungebürlicher  Eingriffe  in  die  freie  Concurrenz  bewiesen.  In  den  folgenden 
heftigen  socialpolitischen  Kämpfen  wurden  denn  auch  die  Nationalökonomen 


152  Jaeger. 

von  den  Socialisten  als  im  Solde  der  Unternelimer  und  der  Bourgeoisie 
stehend  geschildert,  sie  wurden  von  den  Arbeitern  geradezu  gehasst  und 
mit  den  gröbsten  Schimpfvvorten,  wie  „herzlose  und  unmenschliche  Kinder- 
mörder *  belegt.  Man  irrt  gewiss  nicht,  wenn  man  behauptet,  dass  vor  allem 
die  Lohnfonds -Theorie  die  Schuld  an  dem  bei  den  Arbeitern  so  beklagens- 
werten Misstrauen  und  Unwillen  gegen  die  Wissenschaft  der  National 
Ökonomie  und  ihre  Pfleger  trägt. 

in. 

Die  Unrichtigkeit  der  Lohnfonds-Theorie  und  deren  Nichtüberein- 
stimmung mit  klaren  Thatsachen  konnte  auf  die  Dauer  doch  nicht  unbe- 
achtet gelassen  werden.  Schon  im  Jahre  1832  hatte  Hermann  in  seinen 
„Staatswirtschaftliche  Untersuchungen"  deren  Unhaltbarkeit  nachgewiesen. 
Der  Fonds,  aus  dem  der  Arbeitslohn  bestritten  wird,  sei  in  Wirklichkeit 
nicht  das  Capital  sondern  das  Einkommen;  man  könne  dies  am  deutlichsten 
an  dem  Lohn  für  persönliche  Dienste  ersehen;  so  werde  z.  B.  der  Gesinde- 
lohn stets  direct  aus  den  Einnahmen  des  Hausherrn  entrichtet.  Handelt 
es  sich  jedoch  um  die  von  den  eigentlichen  Unternehmern  beschäftigten 
Arbeiter,  so  sehe  es  freilich  auf  den  ersten  Blick  aus,  als  werde  deren 
Lohn  aus  dem  Betriebscapital  geschöpft;  aber  in  der  Wirklichkeit  sei  dies 
nicht  der  Fall,  da  ja  die  Unternehmer  für  ihre  Auslage  an  Arbeitslohn 
vollen  Ersatz  durch  den  Verkauf  ihrer  Producte  erhalten.  Welchen  Lohn 
die  Unternehmer  ihren  Arbeitern  bieten  können,  beruhe  also  nicht  auf  der 
Grösse  ihres  Capitals,  sondern  auf  dem  Preise,  den  die  Consumenten  für 
die  Producte  zu  zahlen  gewillt  sind ;  die  Consumenten  sind  es,  die  zuletzt 
den  Arbeitslohn  bezahlen  müssen;  deren  Einnahmen  oder  —  da  ja  alle 
Gesellschaftsglieder  Consumenten  sind  —  das  gesammte  Nationaleinkommen 
mache  den  Fonds  aus,  woraus  in  Wirklichkeit  der  Arbeitslohn  geschöpft  wird. 

Diese  Lehre  Hermanns  war  unzweifelhaft  in  der  Hauptsache  richtig; 
sie  blieb  jedoch  vorläufig  unbeachtet,  weil  zu  jener  Zeit  die  englischen 
Nationalökonomen  den  Ton  angaben,  diese  aber  damals  überhaupt  keine 
deutschen  Bücher  lasen,  wenn  sie  nicht  ins  Französiche  oder  Englische 
übersetzt  waren.  Die  sogenannte  Lohnfonds-Theorie  blieb  deshalb,  trotz 
Hermanns  Angriff,  die  herrschende  Lehre  vom  Arbeitslohne. 

Ein  ganzes  Menschenalter  später,  nämlich  im  Jahre  1866,  erschien 
endlich  in  England  selbst  eine  Schrift  mit  dem  Titel:  „Eine  Widerlegung 
der  Lohnfonds-Theorie  der  modernen  Nationalökonomie,  wie  sie  von  den 
Herren  Mill  und  Fawcet  dargelegt  ist.  Von  Francis  D.  Lon  ge,  Advocat." 
Dieses  Buch  ist  mir  nicht  zugänglich  gewesen;  aber  aus  verschiedenen 
daraus  anderwärts  veröffentlichten  Auszügen  geht  deutlich  hervor,  dass 
dessen  Angriffe  die  Lohnfonds-Theorie  vollständig  vernichtet  hätten,  falls  das 
Buch  überhaupt  gelesen  und  beachtet  worden  wäre.  Es  lenkte  jedoch  nicht 
die  geringste  Aufmerksamkeit  auf  sich. 

Ein  umso  grösseres  Aufsehen  erregte  dagegen  ein  drei  Jahre  später 
veröffentlichtes  Werk :    „  0  n   L  a  b  o  u  r   i  t  s  W  r  o  n  g  f  u  1   C  1  a  i  m  e  s    and 


Die  Lolmfonds-Theorie.  153 

K  i  g  li  t  f  u  1  D  11  e  s " ,  von  William  Thornton.  Der  Angriff,  den  er  darin 
gegen  die  Lohnfonds-Theorie  richtete,  war  von  wissenschaftlichen  Stand- 
punkte  aus  unzweifelhaft  viel  weniger  gewichtig  als  derjenige,  mit  dem  ihm 
Longe  zuvorgekommen  war;  aber  er  übte  nichtsdestoweniger  die  ausser- 
ordentlichste  Wirkung  aus. 

Kurze  Zeit,  nachdem  Thorntons  Buch  erschienen  war,  wurde  nämlich 
die  Welt  dadurch  überrascht,  dass  kein  geringerer  als  John  Stuart  Mill,  der 
vornehmste  wissenschaftliche  Fürsprecher  der  Lohnfonds-Theorie  und  der 
berühmteste  Nationalökonom  seiner  Zeit,  in  der  ,F  ortn  ightlj^  KevicAv" 
eine  eingehende  Abhandlung  über  Thorntons  Werk  veröffentlichte,  Avorin  er 
mit  der  ihm  eigenen,  fast  möchte  man  sagen  phänomenalen  Wahrheitsliebe, 
ohne  irgendwelchen  Vorbehalt  erklärte,  dass  er  dadurch  ganz  von  der  voll- 
ständigen Unhaltbarkeit  der  Lohnfonds-Theorie  überzeugt  worden  sei. 

Diese  Erklärung  begleitete  er  mit  einer  Kritik,  welche  die  alte  Lohn- 
fonds-Theorie sowohl  durch  die  Stärke  der  Argumente  als  durch  die 
grosse  Autorität  ^des  Verfassers  definitiv  sozusagen  aus  der  Wissenschaft 
verjagte.  ' 

Der  Gedankengang  der  allgemeinen  Lohnfonds-Theorie  ist,  sagt  Mill, 
folgender:  Die  Mittel  der  Unternehmer  bestehen  aus  zwei  Theilen :  aus 
seinem  Capital  und  seinem  Gewinn  oder,  seiner  Einnahme.  Sein  Capital 
ist,  was  er  zu  Beginn  des  Jahres  oder,  wenn  er  eine  Productionsperiode 
beginnt,  einlegt,  seine  Einnahme  erhält  er  nicht  vor  Ausgang  des  Jahres 
oder  der  Productionsperiode.  Das  Capital  mit  Ausnahme  des  Theiles,  der 
zum  Kaufe  von  Gebäuden,  Maschinen  und  Materialien  verwandt  wird,  macht 
die  Summe  aus,  womit  der  Arbeitslohn  bezahlt  werden.  Der  Unternehmer 
kann  den  Arbeitslohn  niclit  von  seiner  Einnahme  bezahlen,  denn  er  hat 
diese  noch  nicht  erhalten.  Wenn  er  sie  empfängt,  kann  er  zwar  einen  Theil 
davon  zum  Capital  schlagen,  und  als  solches  wird  er  dann  ein  Bestand- 
theil  des  nächsten  Jahres;  aber  das  hat  nichts  mit  dem  Lohnfonde  dieses 
Jahres  zu  thuii. 

Dieser  Unterschied  zwisclien  dem  Verhältnis  des  Unternehmers  zu 
seinem  Capital  und  dem  Verhältnis  zu  seiner  Einnahme  ist  jedoch,  schrieb 
Mill  weiter,  vollständig  immaginär.  Er  fängt  zu  Beginn  mit  all  seinen 
ersparten  Mitteln  an,  die  sich  alle  als  Capital  verwenden  lassen,  und  daraus 
entrichtet  er  vorschussweise  die  Ausgaben  für  sich  und  seine  Familie  genau 
in  gleicher  Weise,  wie  er  seinen  Arbeitern  den  Lohn  entrichtet.  Er  beab- 
sichtigt natürlich,  diese  Vorschüsse  vermittelst  seiner  Einnahme,  sobald  er 
sie  erhält,  zurückzuzahlen,  und  er  zahlt  sie  factisch  auch  täglich  zurück, 
wie  er  es  mit  all  seinen  übrigen  vorgeschossenen  Auslagen  macht;  denn 
es  braucht  kaum  nachgewiesen  zu  werden,  dass  seine  Einnahmen  in 
Wirklichkeit  einlaufen,  je  nachdem  seine  Geschäfte  gehen,  und  nicht  nur 
zu  Weihnachten  oder  St.  Johannis,  wenn  er  seine  Bücher  abschliesst.  Li- 
soweit  seine  eigene  Einnahme  verbraucht  oder  ausgegeben  wird,  wird  sie 
auch  vorschussweise  von  seinem  Capital  entrichtet  und  von  seinem  Verdienste 
pari  passu  erstattet  mit  den  Löhnen,  die  er  bezahlt. 


154  Jaeger. 

Wenn  wir  Lohnfonds  alles  nennen  wollen,  was  der  Unternehmer 
zur  Zahlung  des  Arbeitslohnes  verwendet,  so  fällt  dieser  Fonds,  erklärt 
Stuart  Mill,  mit  der  ganzen  Ausbeute  des  Geschäftes  zusammen  abzüglich 
dessen,  was  zur  Erhaltung  der  Gebäude,  Maschinen  und  Materialien  und  zur 
Ernährung  der  Familie  vei braucht  wird,  und  er  wird  insgesammt  für  den 
Unternehmer  und  seine  Arbeiter  verwendet.  Je  weniger  er  auf  die  eine 
Weise  verwendet,  urasomehr  vermag  er  für  die  andere  auszulegen  und 
umgekehrt.  Nicht  die  Vertheilung  des  Ertrages  bestimmt  die  Höhe  des 
Arbeitslohnes,  sondern  es  bestimmt  im  Gegentheil  die  Höhe  des  Arbeits- 
lohnes diese  Vertheilung.  Kauft  der  Unternehmer  die  Arbeit  billig,  so  kann 
er  sich  selbst  mehr  aneignen;  muss  er  sie  dagegen  höher  bezahlen,  so  wird 
die  Erhöhung  des  Lohnes  eine  Verminderung  seiner  eigenen  Einnahme. 

Mill  zog  hieraus  das  Kesultat,  dass  kein  Naturgesetz  den  Arbeits- 
lohn hindert,  so  hoch  zu  steigen,  dass  er  sowohl  die  Mittel,  womit  der 
Unternehmer  sein  Geschäft  zu  führen  beabsichtigt,  als  auch  alles,  was  er 
für  seine  privaten  Ausgaben  über  den  nothwendigen  Lebensunterhalt  berechnet 
hat,  verschlingt.  Die  wirkliche  Grenze  für  das  Steigen  des  Arbeitslohnes 
liege  nicht  in  den  unerbittlichen  Schranken  der  Lohnfonds-Theorie,  sondern 
in  praktischen  Erwägungen,  inwiefern  durch  solches  Steigen  der  Unternehmer 
ruiniert  oder  veranlasst  werden  kann,  sein  Geschäft  aufzugeben. 

Die  aus  der  Lohnfonds-Theorie  abgeleitete  Behauptung,  dass  es  für 
die  Arbeiter  unmöglich  sei,  vermittelst  ihrer  Gewerkschaften  einen  höheren 
Lohn  zu  erzwingen,  als  sie  durch  die  freie  Concurrenz  ganz  von  selbst 
erhalten  hätten,  erklärte  Stuart  Mill  für  ganz  unhaltbar,  und  er  zollte 
überdies  in  seiner  Kritik  den  Trade-unions  volle  Gerechtigkeit. 

Mills  Widerruf  der  von  ihm  so  viele  Jahre  vertretenen  Lohnfonds- 
Theorie  war  so  rückhaltslos  und  vollständig,  wie  möglich.  Seine  neue 
Lehre,  dass  die  Unternehmer  zu  jeder  Zeit  all  ihre  vorschussweisen  Aus- 
lagen durch  ihre  Einnahmen  erstattet  bekommen,  so  dass  also  diese  und 
nicht  ihr  Capital  den  Fonds,  woraus  der  Arbeitslohn  genommen  wird,  aus- 
machen, ist  richtig,  soweit  sie  reicht.  Aber  wenn  wir  fragen,  welcher  Fonds 
schliesslich  den  Arbeitslohn  tragen  muss,  so  müssen  wir  unzweifelhaft  mit 
Hermann  antworten,  da&iS  es  regelmässig  die  Einnahmen  der  Consumenten 
sind.  Nur  unter  einer  Voraussetzung  hat  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
weder  Mills  noch  Hermanns  Lehre,  sondern  die  alte  Lohnfonds-Theorie 
das  Recht  auf  ihrer  Seite,  nämlich  wenn  die  Unternehmer  bei  dem  Verkauf 
ihrer  Producte  wider  Erwarten  ihre  Ausgaben  an  Arbeitslohn  nicht  gedeckt 
bekommen;  denn  insoweit  dies  der  Fall  ist,  müssen  sie  das  Fehlende  ihrem 
Capital  entnehmen,  das  demnach  verringert  wird. 

Wir  sagten,  dass  Stuart  Mill  die  alte  Lohnfonds-Lehre  aus  der 
Wissenschaft  verbannt  habe.  Das  ist  jedoch  insoferne  nicht  ganz  genau^ 
als  sein  hervorragendster  Schüler,  der  feine  und  geistvolle  Denker 
John  Elliot  Cairnes  einige  Jahre  darauf  in  seinem  nationalökonomi- 
schen Hauptwerke:  ,Some  Leading  Principles  of  Political 
Economy,  n  e  wly  exp  ounded",  die  alte  Theorie  aufrecht  zu  erhalten 


Die  Lohnfonds-Theorie.  155 

versuchte,  wenn  auch  in  einer  etwas  veränderten  und  modificierten  Gestalt. 
Aber  trotz  des  grossen  Talentes,  womit  dies  geschah,  gewann  sie  doch 
keinen  weiteren  Anklang.  Die  Lohnfonds-Theorie  Hess  sich  in  der  Wirklich- 
keit nicht  mehr  beleben. 

IV. 

Schon  Adam  Smith  hatte  sein  Capitel  über  den  Arbeitslohn  mit  dem 
bekannten  Satze  eingeleitet,  dass  das  Arbeitsproduct  die  natür- 
liche Vergütung  oder  den  Lohn  der  Arbeit  ausmache,  und 
sowohl  er  als  Eicardo  hatten  ausdrücklich  hervorgehoben,  dass  der  Ar- 
beitslohn in  Ländern  mit  kleinem  aber  schnell  wachsendem  Capital,  wie 
z.  B.  in  Nordamerika,  höher  sei  als  dort,  wo  das  Capital  grösser  sei, 
jedoch  langsam  anwachse,  wie  z.  B.  in  England  und  allen  alten,  dichtbevöl- 
kerten Staaten.  Auf  diese  Thatsache,  die  ja  in  dem  offenbarsten  Wider- 
streit mit  der  Lohnfonds-Theorie  stand,  wurde  von  deren  Anhängern  jedoch 
keine  Kücksicht  genommen.  Nur  Cairnes  widmete  ihr  eine  nähere  Betrachtung 
und  stellte  die  scharfsinnige  Erklärung  auf,  dass  in  den  sogenannten  neuen 
Ländern,  wo  die  productive  Thätigkeit  wesentlich  in  Landwirtschaft  besteht, 
immer  ein  geringerer  Theil  des  Betriebscapitales  der  Unternehmer  in 
Gebäuden,  Maschinen  u.  s.  w.  festgelegt  werde,  als  in  den  alten  Staaten, 
wo  die  Fabriksindustrie  weit  mehr  hervortritt,  so  dass  dort  dennoch  — 
ungeachtet  des  geringer  angesammelten  Capitals  —  ein  grösserer  Betrag 
zur  Bezahlung  des  Arbeitslohnes  verfügbar  sei. 

In  Wirklichkeit  liegt  jedoch  hierin  nicht  die  Ursache.  Der  Irrthum, 
welcher  der  Lohnfonds-Theorie  zugrunde  liegt,  und  der  ihr  so  gut  wie 
jeden  wissenschaftlichen  Wert  raubt,  war  ja,  wie  wir  gesehen  haben,  ihr  Aus- 
gangspunkt, dass  nämlich  der  Arbeitslohn  nothwendigerweise  aus  dem  in 
der  Gesellschaft  zu  Beginn  des  Productionsprocesses  schon  angesammelten 
Capitale  genommen  werden  müsse.  Wie  wenig  nothwendig  dies  ist,  hat  der 
amerikanische  Nationalökonora  Francis  Walker  in  einigen,  höchst 
interessanten  Beispielen  dargestellt,  in  denen  er  schilderte,  wie  der  Lohn  in 
den  verschiedenen  Gewerben,  besonders  im  Ackerbau,  an  vielen  Orten  Nord- 
amerikas ausbezahlt  worden  ist.  Hier  geschah  es  oft,  dass  die  Arbeitsgeber 
nicht  so  viel  Capital  besessen  oder  sicli  zu  leihen  vermochten,  als  nöthig 
gewesen  wäre,  um  den  Arbeitern  ihren  ganzen  Lohn  vorschussweise  zu 
geben.  Diese  mussten  sich  damit  begnügen,  während  der  Dauer  der  Arbeit 
nur  einen  Theil  des  Lohnes  zu  erhalten,  und  der  Kest  wurde  erst  aus- 
bezahlt, nachdem  die  Producte  fertig  und  verkauft  waren. 

Dies  beweist  klarer  als  irgendetwas  anderes,  dass  die  Frage,  welchen 
Lohn  die  Unternehmer  zu  bezahlen  vermögen,  nichts  wie  die  Lohnfonds- 
Theorie  lehrte,  von  der  Grösse  ihres  Capitals  sondern  von  dem  Werte 
des  Productionser träges  abhängt,  oder,  wie  man  es  auch  ausge- 
drückt hat,  von  der  Productivität  der  Arbeit.  Die  ersten,  welche  dies  klar 
aussprachen,  waren  die  englischen  Nationalökonoraen  Hearn  und  Jevons; 
aber  erst  der  eben  erwähnte  Amerikaner  Francis  Walker  legte  daraus   den 


156  Jaeger. 

Grund  zu  einer  neuen  Lehre  des  Arbeitslohnes,  die  in  einer  etwas  entwickel- 
teren Form  jetzt  als  die  vorherrschende  in  der  Wissenschaft  betrachtet 
werden  miiss.^) 

Die  Hauptzüge  dieser  Lehre  sind  folgende.  Man  ist  schon  seit 
langem  darüber  im  klaren,  dass,  wenn  auch  der  Arbeitslohn  ganz  oder 
theilweise  vom  Betriebscapitale  vorgeschossen  zu  werden  pflegt,  er 
doch,  wenn  die  Production  nicht  aus  irgendeinem  Grunde  technisch  oder 
ökonomisch  missglückt,  und  der  Unternehmer  also  einen  directen  Verlust 
erleidet,  schliesslich  durch  den  Wert  der  Prodücte  gedeckt  wird. 

Die  Höhe  des  Lohnes,  den  die  ünternelimer  überhaupt  werden  geben 
können,  hängt  deshalb  in  letzter  Instanz  nicht  von  der  Grösse  des  Betriebs- 
capitales  ab,  sondern  von  der  muthmaasslichen  Höhe  des  Wertes  der  Pro- 
dücte. Je  höher  der  Wert  des  Productionsertrages  sein  wird,  einen  umso 
höheren  Lohn  werden  die  Unternehmer  nöthigenfalls  ihren  Arbeitern  geben. 
Für  diese  handelt  es  sich  deshalb,  wie  schon  angegeben,  darum,  sich  durch 
Zusaramenschliessen  zur  Wahrnehmung  gemeinsamer  Interessen  in  dem 
Lohnkampfe  auf  gleichen  Fuss  mit  den  Unternehmern  zu  stellön'Tind  sich 
dadurch  den  Lohn  zu  sichern,  auf  den  sie  zu  jeder  Zeit  b'^reöhtigten 
Anspruch  haben.  Insoweit  ist  die  Frage  über  die  Höhe  des  Arbeits- 
lohnes eine  Ver  t  h  eilu  n  gsfr  a  ge. 

Aber  sie  ist  auch  —  und  ebensosehr  —  eine  Productions- 
frage.  Denn  es  ist  klar,  dass  es  selbst  bei  der  für  die  Arbeiter  denkbar 
günstigsten  Vertheilung  des  Productionsertrages  unmöglich  ist,  dass  der 
Arbeitslohn  wirklich  hoch  sein  kann,  falls  der  "Wert,  der  vertheilt  werden 
soll,  in  sich  selbst  klein  ist. 

Nun  ist,  wie  bekannt,  der  objective  Tauschwert  jedes  ökonomischen 
Gutes  immer  durch  das  Verhältnis  zwischen  der  effectiven  Nachfrage  und 
der  Menge  des  Gutes  bestimmt,  die   auf  dem  Markte  ausgeboten  wird.   Je 


^)  Wir  benützen  hier  den  Anlass,  auch  einen  anderen  Amerikaner  zu  erwähnen, 
nämlich  Henry  Georges.  Er  griff  1879  heftig  die  alte  Lohnfonds-Theorie  an, 
die,  wie  wir  gesehen  haben,  damals  schon  seit  10  Jahren  von  Stuart  Mill  widerrufen  und 
später  von  fast  allen  theoretischen  Nationalökononien  aufgegeben  war.  Bei  George  heisst 
es  jedoch  wörtlich:  In  ihrem  wesentlichen  Gedankengange  ist  die  Lohnfonds-Theorie 
ünbestritteti.  Sie  ist  von  den  grössten  Namen  unter  den  Pflegern  der  Nationalökonomie 
anerkannt,  und  obgleich  sie  Angriffen  ausgesetzt  gewesen  ist,  sind  diese  doch  mehr 
formell,  als  sachlich  gewesen.  Das  nennt  man  einen  Nationalökonomen,  der  mit  seiner  Zeit 
Schritt  hält!  Nachdem  er  dann  mit  viel  Geschick  diese  Theorie  begraben  hatte,  obgleich 
sie,  wie  wir  gesehen  haben,  von  der  Wissenschaft  schon  seit  langem  abgethan  war, 
stellte  er  seine  eigene  Lehre  auf,  die,  soweit  sie  richtig  ist,  schon  mehrere  Jahre  zuvor  durch 
seinen  Landsmann  Francis  Walker  den  Sieg  errungen  hatte.  Und  diese  Lehre  wird  nicht 
hur  als  vollständig  neu  ausgegeben,  sondern  sie  bildet  nach  seiner  Meinung  einen  so  epoche- 
machenden Fortschritt  der  Nationalökonomie,  dass  sie  ihren  Urheber  — Henry  George  — 
neben  den  Begründer  dieser  Wissenschaft,  neben  Adam  Smith  stellte,  als  einen  Erneuerer 
der  Wissenschaft!  „Der  Unterschied  zwischen  der  herrschenden  (Lohnfonds)-Theorie, 
schreibt  George,  und  der  von  mir  aufgestellten  kann  in  der  Wirklichkeit  mit  dem  Unter- 
schied verglichen  werden,  der  zwischen  dem  Mercantilsystem  und  der  Theorie  lag,  womit 
Adam  Smith  jenes  verdrängte." 


Die  Lohnfonds-Theorie.  157 

weniger  von  einer  einzelnen  Ware  erzeugt  wird,  desto  grösseren  Wert  wird 
sie  deshalb  unter  sonst  gleichen  Verhältnissen  besitzen ;  und  wird  um- 
gekehrt eine  Ware  in  einer  zu  grossen  Menge  im  Verhältnis  zur  Nach- 
frage produciert,  so  wird  deren  Wert  so  stark  fallen,  dass  die  Production 
sich  nicht  lohnt.  Dieses  —  und  nicht,  dass  die  Unternehmer  einen  voraus 
bestimmten  Lohnfonds  besitzen  —  ist  .der  wirkliche  Grund,  weshalb  jeder 
Unternehmer  gewöhnlich  eine  geringere  Anzahl  Arbeiter  nach  einem  höheren 
Lohnsatz  zu  bezahlen  vermag,  als  eine  grössere  Anzahl.  In  jedem  Pro- 
ductionszweig,  wo  die  Arbeiter  in  verhältnismässig  geringer  Anzahl  sind, 
können  sie  sich  kostbar  machen,  wohingegen  sie  bei  grosser  Anzahl 
gezwungen  werden,  ihre  Arbeitskraft  billig  zu  verkaufen,  falls  sie  alle 
Beschäftigung  haben  wollen.  Dieser  Wahrheit  gab  Richard  Cobden  den 
geflügelten  Ausdruck,  dass  , der  Arbeitslohn  niedrig  wird,  wenn  zwei  Arbeiter 
einem  Arbeitsherrn  nachlaufen,  aber  hoch,  wenn  zwei  Arbeitsherrn  einem 
Arbeiter  nachlaufen*.  Und  diese  Wahrheit  erklärt  dann  auch,  weshalb  die 
Productivität  und  dadurch  der  Arbeitslohn  stets  in  all  den  Erwerbszweigen 
die  sozusagen  jedem  offen  stehen,  verhältnismässig  äusserst  niedrig  bleibt, 
und  umso  hölier  wird,   je   schwieriger  zugänglich    die  Erwerbsgebiete   sind. 

Es  liegt  uns  jedoch  hier  nicht  ob,  die  Ungleichheiten  dös  Lohnes  in  den 
verschiedenen  Arbeitsarten  zu  erklären.  Es  eihebt  sich  vielmehr  in  diesem 
Zusammenhange  die  Frage,  was  eigentlich  —  vorausgesetzt,  dass  die  Arbeiter 
ihre  berechtigten  Interessen  zu  wahren  und  sich  dadurch  eine  gerechte 
Verth eilung  des  Production sertrages  zu  sichern  vermögen  —  die  Höhe  des 
durchschnittlichen  Arbeitslohnes  in  einem  Lande  bestimmt. 

Wir  haben  schon  gesehen,  dass  unter  dieser  Voraussetzung  der  durch- 
schnittliche Arbeitslohn  zuvörderst  auf  der  Grösse  des  Tauschwertes  des  Pro- 
ductionsertrages  beruht,  mit  anderen  Worten,  auf  der  Productivität 
der  ökonomischen  Wirksamkeit,  Aber  hiermit  ist  in  Wirklichkeit  das 
Problem  noch  nicht  vollständig  gelöst,  weil  jetzt  die  Frage  entsteht,  wovon 
denn  die  Productivität  der  ökonomischen  Wirksamkeit  abhängt. 

Untersucht  man  diese  Frage  genauer,  so  gelangt  man  zum  Ergebnis, 
dass  die  Productivität  oder  die  Ta  u  seh  werte  rzeugung 
der  ökonomischen  Wirksamkeit  —  worauf  also  die  durchschnitt- 
liche Höhe  des  Arbeitslohnes  unter  einer  gerechten  Vertheilung  beruht  — 
im  grossen  und  ganzen  immer  von  deren  technische 
Ergiebigkeit  oder  Effectivität  bedingt  sein  wird,  oder 
von  deren  Fähigkeit,  viele  und  gute  ökonomische  G  ü  t  e  ]• 
hervorzubringen,  so  dass  eine  grosse  durchschnittliche  Effectivität 
eine  grosse  durchschnittliche  Productivität  erzeugt,  und  dass  umgekehrt 
eine  kleine  durchschnittliche  Effectivität  von  einer  kleinen  entsprechenden 
Productivität  begleitet  wird.^)     Ist  nämlich   die    ökonomische  Wirksamkeit 


')  Da  es  vielleicht  Leser  gibt,  für  welche  die  hier  vorgenommene  Unterscheidung 
zwischen  den  Begriffen  Effectivität  und  Productivität  neu  und  ungewohnt  ist,  wollen  wir 
durch  ein  concretes  Beispiel  deren  Unterschied  näher  beleuchten.  Ein  Schuhfabrikant 
f. roduciert  z.  B.  jährlich  800  Paar  Schuhe,   die   auf  dem  Markte   einen   Preis   von  10  K 


158  Jaeger. 

als  Gesammtheit  betrachtet  sehr  effectiv,  so  wird  jeder  Prodncent,  der  seine 
specielle  Production  nicht  in  einer  verkehrten  Richtung  geleitet  hat,  stets 
Consiimenten  gegenüber  stehen,  die  ihrerseits  auch  viel  produciert  haben 
und  folglich  im  Austausche  seiner  Producte  sowohl  viel  geben  können 
als  geben  werden.  Die  Erträge  all  der  einzelnen  productiven  Wirksam- 
keiten werden  mit  anderen  Worten  durchschnittlich  einen  hohen  Tausch- 
wert erreichen,  was  also  besagt,  dass  die  Productivität  durchgehends  gross 
und  der  durchschnittliche  Arbeitslohn  unter  Voraussetzung  einer  gerechten 
Vertheilung  folglich  hoch  wird.  Ist  hingegen  die  Eflfectivität  der  öko- 
nomischen Wirksamkeit  durchgehends  klein,  so  werden  die  einzelnen 
Producenten  durchgehends  wenig  gegen  die  Producte  der  anderen  auszu- 
tauschen haben;  der  Tauschwert  der  einzelnen  Erträge  und  dadurch  also 
die  Productivität  der  Wirksamkeiten  wird  durchschnittlich  klein  werden,  so 
dass  selbst  die  für  die  Arbeiter  günstigste  Vertheilung  des  Productions- 
ei träges  ausserstand  sein  wird,  ihnen  einen  hohen  Lohn  zu  sichern.  Innerhalb 
eines  beliebigen  einzelnen  Productionszweiges  kann  ganz  gewiss  die  Pro- 
ductivität oder  mit  anderen  Worten  die  Werterzeugung  gross  sein  und  der 
Arbeitslohn  hoch,  selbst  wenn,  ja  sogar  oft  eben  weil  die  Eflfectivität  oder 
die  Productmenge  des  betreffenden  Productionszweiges  klein  ist.  Aber  die 
Möglichkeit  eines  hohen  durchschnittlichen  Arbeitslohnes  ist  nur 
vorhanden,  wenn  und  wo  die  ökonomische  Wirksamkeit  als  Ganzheit 
betrachtet  eine  grosse  technische  Ergiebigkeit  oder  Efifectivität  besitzt. 

V. 

Wie  schon  angedeutet,  unterschieden  die  alten  Lohnfonds-Theoretiker 
zwischen  dem,  was  sie  Geldlohn  nannten,  und  dem  reellen  oder  wirk- 
lichen  Arbeitslohn,   worunter   sie   die   Menge    der  Verbrauchsgegen- 

per  Paar  erlangen.  Der  Geldwert  des  Productionsertrages  ist  also  9000  K.  Ermöglicht  er 
es  nun,  z.  B.  vermittelst  verbesserter  Maschinen,  mit  derselben  Arbeits-  und  Capital- 
anwendung  anstatt  900  Paar  1000  zu  producieren,  so  ist  damit  die  Effectivität  gestiegen. 
Aber  ist  zugleich  der  Preis  der  Schuhe  gefallen,  z.  B.  von  10  auf  8  K  per  Paar,  so  wird 
der  Gesammtwert  des  Ertrages  sich  dennoch  nicht  auf  mehr  als  8000  K  belaufen,  was 
besagt,  dass  ungeachtet  der  gestiegenen  Effectivität,  die  Produclivität  gesunken  ist. 
Vorausgesetzt,  dass  der  besondere  Wert  des  Goldes  in  beiden  Fällen  derselbe  ist,  wird 
nämlich  jetzt  der  Production sertrag  des  Schuhfabrikanten,  trotz  seiner  grösseren  Masse, 
nur  mit  ^/g  der  Menge  anderer  ökonomischen  Güter,  womit  er  sich  früher  umtauschen 
Hess,  umgetauscht  werden  können,  und  dessen  Tauschwert  ist  also  um  7o  vermindert  worden. 
Dass  die  Effectivität  und  die  Productivität  innerhalb  der  einzelnen  Productions- 
zweige  nicht  zusammen  zu  gehen  brauchen,  ist  demnach  wohl  einleuchtend.  Aber  wenn 
wir  uns  denken,  dass  das  Steigen  in  der  Effectivität  der  Schuhfabrication  von  einem 
ähnlichen  Steigen  in  der  Effectivität  der  ökonomischen  Wirksamkeit  auf 
sämmtlichen  anderen  Gebieten  der  Production  begleitet  wird,  so  gestaltet  sich 
das  Verhältnis  ganz  anders.  Denn  unter  dieser  Voraussetzung  würde  natürlich  das  Mengen- 
verhältnis, worin  sich  jedes  Paar  Schuhe  gegen  alle  anderen  ökonomischen  Güter  aus- 
tauschen Hesse,  nicht  eine  wesentliche  Veränderung  erfahren  müssen,  mit  andern  Worten, 
der  objective  Tauschwert  jedes  Paares  würde  ungefähr  derselbe  bleiben,  und  die 
eingetretene  Vermehrung  der  Menge  der  Schuhe  oder  der  Effectivität  würde  dann  folglich 
eine  entsprechende  Vermehrung  des  Ertragstauschwertes  oder  der  Productivität  bezeichnen. 


Die  Lohnfonds-Theorie.  159 

stände  verstanden,  welche  die  Arbeiter  für  ihren  Geldlohn  erkaufen  konnten. 
Sie  giengen  nämlich  davon  aus,  dass  der  Arbeitslohn  nie  mehr  als  aus- 
reichend für  den  Unterhalt  der  Arbeiter  sei,  so  dass  der  Geldlohn  immer 
unmittelbar  zum  Einkaufe  von  Lebens-  und  Genussmitteln  verwandt  werde; 
die  den  Arbeitern  davon  zugängliche  Menge  wurde  von  ihnen  als  reeller 
Arbeitslohn  betrachtet. 

Hätten  sich  nun  die  Lohnfonds-Theoretiker  begnügt,  daraus  abzuleiten, 
dass  eine  Erhöhung  des  Geldlohnes  keine  Verbesserung  der  Stellung  der 
Arbeiter  bezeichnet,  falls  sie  für  alle  die  ökonomischen  Güter,  die  sie 
consumieren,  einen  entsprechend  erhöhten  Preis  zahlen  müssen,  so  wären 
sie  unzweifelhaft  in  ihrem  guten  Kecht  gewesen.  In  Wirklichkeit  giengen 
sie  dagegen,  wie  wir  schon  gesehen  haben,  davon  aus,  dass  die  Erhöhung 
des  Geldlohnes  nie  ein  anderes  Kesultat  herbeiführen  könne,  indem  sie 
nämlich  annahmen,  dass  alle  die  den  Arbeitern  zugänglichen  Lebens-  und 
Genussmittel  sich  in  der  Gesellschaft  stets  schon  beim  Beginne  derProductions- 
periode  vorfinden,  müssten  und  demnach  unmöglich  in  Menge  vermehrt 
werden,  sondern  nur  im  Preise  durch  eine  stärkere  Nachfrage  seitens  der 
Arbeiter  erhöht  werden  könnten. 

Dass  indessen  dies  nicht  der  Fall  ist,  zeigt  sich  am  deutlichsten, 
insoweit  die  consumierten  ökonomischen  Güter  in  persönlichen  Dien- 
sten bestehen.  Die  persönlichen  Dienste  existieren  ja  doch  niemals  im 
voraus,  sondern  werden  immer  in  einer  der  Nachfrage  genau  entsprechender 
Menge  geleistet  und  lassen  sich  in  jedem  Augenblick  vermehren.  Aber 
auch  die  z.  B.  im  Laufe  eines  Jahres  consumierten  materiellen 
Gegenstände  liegen  niemals  schon  zu  Beginn  dieses  Zeitraumes  fertig 
vor,  sondern  werden  alle  während  dessen  Verlaufes  ökonomisch  fertig  pro- 
duciert.  Die  Production  einzelner  von  diesen  Gegenständen  ist,  praktisch 
genommen,  zu  Beginn  des  Jahres  noch  nicht  einmal  angefangen,  die  anderen 
existieren  nur  als  Capital;  sie  alle  befinden  sich  mit  anderen  Worten  in  einem 
mehr  oder  minder  vorgerückten,  aber  ökonomisch  noch  nicht  vollendeten 
Stadium  ihrer  Production.  Jeden  Tag  werden  die  verschiedenen  Productions- 
processe  zu  Tausenden  angefangen,  fortgesetzt  oder  zu  Ende  gebracht,  und 
weil  die  zur  Herstellung  der  endgiltigen  Comsumtionsgüter  nöthigen 
Productionsraittel  (Arbeit,  Naturkräfte  und  Capitalsgegenstände),  theils 
wegen  ihrer  meist  sehr  vielseitigen  technischen  Verwendbarkeit  und  theils 
auf  dem  Wege  des  ökonomischen  —  nationalen  und  internationalen  -- 
Tausches  in  kurzer  Frist  zur  Befriedigung  der  allerverschiedenartigsten 
Bedürfnisse  benützt  werden  können,  ändert  sich  die  Kichtung  der  ganzen 
Production  in  Wirklichkeit  sehr  rasch  nach  der  Kichtung  der  Nachfrage. 
Eine  jede  Vermehrung  des  Geldlohnes  der  Arbeiter,  die  nicht  einfach  durch 
ein  allgemeines  Sinken  des  Geldwertes  hervorgerufen  ist,  sondern  eine 
wirkliche  Vermehrung  deren  Kauffähigkeit  bedeutet,  wird  deshalb  sofort 
ihren  Einfluss  auf  die  Productionsrichtung  üben,  eine  verminderte 
Production  der  Luxusgegenstände  und  eine  vermehrte  Production  der  Gegen- 
stände,   deren    die  Arbeiter   bedürfen,  zur  Folge   haben.     Auf  diese   Weise 


160  Jaeger. 

wird  die  erhöhte  Geldeinnahme  der  Arbeiter,  die  unter  sonst  gleichen 
Verhältnissen  eine  entsprechende  Verminderung  der  Geldeinnahme  und  der 
Kauffähigkeit  der  Unternehmer  und  Capitalisten  zu  Folge  hat,  den  Arbeitern 
wirklich  auch  einen  grösseren  Wohlstand  verschaffen,  indem  sie  thatsächlich 
eine  Veränderung  der  Vertheilung  des  Productionsertrages  zu  Gunsten  der 
Arbeiter  bezeichnet. 

Die  oben  genannte  Begriffsbestimmung  der  Lohnfonds- Theoretiker  ist 
jedoch  verfehlt.  Was  die  Arbeiter  als  Lohn  erhalten,  sind  in  Wirk- 
lichkeit nämlich  nicht  die  Lebens-  und  Genussmittel,  die  sie  consumieren, 
sondern  das  Geld  und  andere  Gegenstände  von  Geldwert,  die  sie  von  ihren 
Arbeitsherren  erhalten.  In  welcher  Weise  die  Arbeiter  den  erhaltenen  Lohn 
verwenden,  ist  eine  andere  Sache.  Ganz  gewiss  liegt  es  zumeist  so,  dass 
sie  genöthigt  sind,  beinahe  ihren  ganzen  Lohn  unmittelbar  in  der  Form 
von  Lebens-  und  Genussmitteln  zu  verbrauchen;  aber  es  liegt  auch  natu  dich 
kein  Hindernis  vor,  dass  sie,  insofern  sie  dazu  Gelegenheit  haben,  einen 
Theil  des  Lohnes  entweder  in  Geldform  sparen,  oder  dass  sie  sich  für  das 
Ersparte  andere  Capitalsgegenstände  kaufen,  die  für  sie  eine  Einnahme  ab- 
geben können.  Man  muss  also  erkennen,  dass  die  Höhe  des  Arbeitslolmes 
ebenso  wie  die  Höhe  jedes  anderen  Einkommens,  nicht  allein  nach  dessen 
Fähigkeit,  unmittelbar  Verbrauchsgegenstände  zu  kaufen,  geraessen  werden 
darf,  sondern  nach  dessen  Fähigkeit,  ökonomische  Güter  jeder  Art  zu 
kaufen,  mit  anderen  Worten,  nach  dessen  allgemeiner  Kaufkraft  oder  dessen 
Tauschwert,  wie  dieser  zu  jeder  Zeit  im  Geldwerte  des  Lohnes  seinen 
Ausdruck  findet.  Dagegen  versteht  es  sich  natürlich  von  selbst,  dass,  insofern 
der  besondere  TauschAvert  des  Geldes  variiert,  ein  und  derselbe  Geldlohn 
zu  verschiedenen  Zeiten  und  an  verschiedenen  Orten  eine  grössere  oder 
kleinere  allgemeine  Kaufkraft  bezeichnet  und  folglich  einen  verschiedenen  — 
höheren  oder  niederen  —  Arbeitslohn. 

Ein  wirklich  hoher  Aibeitslohn  ist  also  ein  solcher  Lohn,  dessen 
Tauschwert  gross  ist,  und  kann  von  den  Unternehmern  auf  die  Dauer 
nur  ausbezahlt  werden,  insofern  der  Tauschwert  des  Productionsertrages, 
oder  mit  anderen  Worten  die  Productivität  gross  ist.  Ein  hoher  durch- 
schnittlicher Arbeitslohn  setzt  folglich  eine  grosse  durchschnittliche 
Productivität  voraus,  und  eine  solche  kann,  wie  wir  schon  nachgewiesen 
haben,  nur  platzgreifen,  wenn  und  wo  die  ökonomische  Wirksamkeit,  als 
Ganzes  betrachtet,  eine  grosse  technische  Ergiebigkeit  oder  Effectivität 
besitzt. 

Wie  weit  jene  Bedingung  eintritt,  beruht  jedoch,  wie  bekannt,  auf 
der  Stärke  der  drei  Productionsfactoren:  der  Arbeit,  der  Natur  und  des 
Capitales.  Jede  Erhöhung  der  Erzeugungsfähigkeit  dieser  Factoren  vermehrt 
direct  die  Effectivität  der  Production  und  eröffnet  dadurch,  wie  wir  gesehen 
haben,  die  Möglichkeit  für  eine  Erhöhung  des  durchschnittlichen  Arbeitslohnes. 

Nun  sind  innerhalb  jedes  einzelnen  Landes  die  zwei  ursprünglichen 
Productionsfactoren:  die  Arbeitstüchtigkeit  der  Bevölkerung 
und    die    E  rt  r  a  g  s  f  ä h  i  g  k  e  i  t    des    Erdbodens    nicht    nur    etwas 


Die  Lolinfonds-Theorie.  161 

ZU  jeder  Zeit  Gegebenes,  sondern  auch  etwas  relativ  Stabiles,  nur  langsam 
Veränderliches,  wogegen  der  dritte  Factor:  das  Capital  —  dessen 
einzige  Function  eben  darin  besteht,  die  Effectivität  der  ökonomischen 
Wirksamkeit  zu  erhöhen,  indem  es  in  der  Form  von  stehendem  Capital 
alle  Productionsgeräthscbaften  schafft  und  in  der  Form  von  umlaufendem 
Capital  die  ganze  Arbeitstheilung  ermöglicht  —  immer  weit  schnelleren  und 
häufigeren  Veränderungen  unterworfen  ist.  Innerhalb  der  einzelnen  Länder 
wird  die  Erhöhung  oder  Verminderung  der  Effectivität  der  ökonomischen 
Wirksamkeit,  worin  ein  erhöhter  oder  verminderter  durchschnittlicher  Arbeits- 
lohn unter  einer  gerechten  Vertheilung  zuletzt  seinen  Grund  hat,  als  über- 
wiegende Kegel  durch  eine  Vergrösserung  oder  Verminderung  des  Capitales 
verursacht,  und  insofern  liegt  also  ein  Kern  von  Wahrheit  in  der  unrich- 
tigen Lehre  der  Lohnfonds-Theorie:  dass  die  Höhe  des  Arbeitslohnes  von 
dem  Verhältnisse  zwischen  der  Grösse  des  Capitales  und  der  Zahl  der 
Arbeiter  bestimmt  wird.  Dass  die  Grösse  des  Capitales  eines  Landes  tief- 
greifenden Einfluss  auf  die  Höhe  des  durchschnittlichen  Arbeitslohnes  ausübt, 
ist  ja  überhaupt  eine  sichere  Thatsache,  und  deren  Augenscheinlichkeit  hat 
vielleicht  unter  allem  am  meisten  dazu  beigetragen,  so  lange  Zeit  hindurch 
die  Lohnfonds-Theorie  plausibel  zu  machen. 

Es  versteht  sich  indessen  von  selbst,  dass  auch  durch  einen  Zuwachs 
in  den  zwei  übrigen  Productionsfactoren,  wie  z.  B.  durch  grössere  Tüchtig- 
keit und  erhöhten  Fleiss  bei  der  Bevölkerung  oder  durch  einen  reichlicheren 
Zugang  fruchtbaren  und  günstig  gelegenen  Bodens,  ganz  dieselbe  Wirkung 
auf  die  Effectivität  der  ökonomischen  Wirksamkeit  und  auf  die  durchschnitt- 
liche Höhe  des  Arbeitslohnes  ausgeübt  wird,  wie  durch  eine  Vermehrung 
des  Capitales,  So  können  civilisierte  Europäer  kraft  ilirer  überlegenen 
Arbeitstüchtigkeit  mit  demselben  Vorrath  an  Boden  und  Capital  stets  eine 
weit  ergiebigere  Production  bewerkstelligen  und  einen  weit  höheren  Lohn 
erlangen,  als  wilde  oder  halbcivilisierte  Völkerschaften.  Und  in  derselben 
Weise  zeigt  sich  die  ökonomische  Wirksamkeit  in  den  von  den  Europäern 
bewohnten  erdreichen  aber  relativ  capitalarmen  Ländern  in  den  neuen 
Welttheilen  oft  effectiver  und  der  Arbeitslohn  höher,  als  in  den  alten  capital- 
reichen,  aber  relativ  erdarmen  Staaten  Europas,  wo  das  Gesetz  des 
abnehmenden  Bodenertrages  durch  den  Druck  der  Bevölkerung  auf  die 
Erzeugungsfähigkeit  des  Erdbodens  in  die  Erscheinung  getreten  ist 
und  seinen  hemmenden  Einfluss  auf  die  Effectivität  der  Production  aus- 
geübt hat,  und  wo  folglich  jede  Vermehrung  nicht  nur  der  Anzahl  der 
Arbeiter,  sondern  überhaupt  der  Anzahl  der  Bevölkerung  die  Tendenz  hat, 
den  durchschnittlichen  Arbeitslohn  zu  drücken,  indem  sie  den  wichtigen 
Productionsfactor:  die  Leistungsfähigkeit  des  Bodens  relativ  verringert. 

Die  Frage  des  durchschnittlichen  Arbeitslohnes,  von  dessen  Höhe  das 
ökonomische  Wohl  so  vieler  Gesellschaftsglieder  abhängt,  ist  also,  wie  schon 
angegeben,  eine  doppelte:  nicht  nur  eine  Vertheilungsfrage,  bei  deren  Lösung 
die  Interessen  der  Arbeiter  und  Unternehmer  fast  immer  widerstreitende  sind, 
sondern  auch  eine  Productionsfrage,  in  welcher  ihre  Interessen  harmonieren. 

Zeitschrift  für  Volksvvirtaehaft,  Socialpoütik  und  Verwaltung.  X.  Band.  \\ 


162  Jaeger. 

Die  alten  Nationalökonomen  legten  fast  alles  Gewicht  einseitig  auf 
die  Vermehrung  der  Production,  weil  sie  glaubten,  dass  die  Vertheilung  des 
Ertrages  mit  der  Unerbittlichkeit  eines  Naturgesetzes  vor  sich  gehe.  In 
der  von  ihnen  irrig  aufgestellten  Lohnfonds-Theorie,  die  wir  in  dieser 
Abhandlung  dargestellt  und  kritisiert  haben,  drückte  sich  dieser  ihr  Glaube 
in  harter  und  abstossender  Weise  aus;  denn  ihrer  Lehre  gemäss  wurden,  wie 
wir  gesehen  haben,  die  Arbeiter  ihrem  Schicksale  Oberlassen  und  für  unfähig 
erklärt,  direct  etwas  zur  Erhöhung  ihres  Lohnes  und  zur  Verbesserung 
ihrer  Stellung  ausrichten  zu  können,  weder  durch  Entwicklung  ihrer  Fähig- 
keiten, durch  Tüchtigkeit,  FJeiss  und  Energie,  noch  durch  Zusammen- 
schliessen  zur  Wahrnehmung  ihrer  berechtigten  Interessen  den  Unter- 
nehmern gegenüber. 

Dass  die  Arbeiter  sich  mit  Unwillen  und  Misstrauen  von  einer  AVissen- 
schaft  abwandten,  deren  vornehmste  Vertreter  eine  solche  Lehre  predigten, 
ist  nicht  erstaunlich.  Aber  jetzt,  da  die  Unhaltbarkeit  der  Theorie  seit 
langem  bewiesen  wurde,  hat  man  einsehen  gelernt,  dass  die  ökonomische 
Lage  der  Arbeiterclasse  durchaus  nicht  so  hoffnungslos  ist,  wie  sie  nach  der 
Lohnfonds-Theorie  aussah.  Und  hierdurch  ist  nicht  nur  die  nationalökono- 
mische Wissenschaft  einen  Schritt  in  der  Erkennung  der  Wahrheit  vorwärts 
gerückt,  sondern  es  ist  auch  die  Möglichkeit  für  ein  innigeres  Verhältnis 
zwischen  ihr  und  der  Arbeiterclasse  eröffnet. 


DER  SPIELEINWAND 
BEI  BÖRSEN-SPECULATIONSGESCHÄFTEN. 


VO>f 


DR.  WILHELM  ROSENBERG. 


JDjs  ist  eine  eigenthtimliche  Erscheinung,  welche  der  Kechtsphilosophie 
reichlichen  Stoff  zur  Nachforschung  bieten  könnte,  dass  gerade  die  Börsen- 
geschäfte von  Anbeginn,  seitdem  auf  den  Börsenmärkten  ein  regerer  Umsatz 
sich  entfaltete  und  ihr  Einfluss  auf  so  zahlreiche  Wirtschaftsverhältnisse 
deutlich  sichtbar  ward,  unter  der  grössten  rechtlichen  Unsicherheit  gelitten 
haben.  Während  man  jedoch  von  dem  Handelsverkehre  im  allgemeinen 
behauptet,  dass  er  sich  nur  unter  der  Einwirkung  einer  sichern  und  schnellen 
Judicatur  zu  voller  Blüte  entfalten  könne,  hat  die  Entwicklung  des  Börsen- 
verkehrs trotz  der  feindlichen  Stellung  der  Gesetzgebung  und  theilweise 
auch  der  Judicatur  einen  so  sichtbaren  Fortschritt  genommen,  dass  die  Börsen 
heute  bereits  die  wirtschaftlichen  Verhältnisse  i»  den  Culturländeru  zu 
beherrschen  scheinen,  und  die  meisten  Eeformen,  welche  unserer  Volks- 
wirtschaft zugute  kommen  sollen,  zuerst  mit  einer  Keform  des  Börsenrechtes 
einsetzen  wollen. 

Die  Geschichte  der  die  Börsengeschäfte  betreffenden  Gesetzgebung  ist 
zugleich  eine  Geschichte  der  Nutzlosigkeit  dieser  Gesetze,  soweit  sie  den 
Börsenverkehr  beschränken  wollten.  Schon  in  den  holländischen  General- 
staaten bestanden  Verordnungen,  welche  den  Terminhandel  ä  la  baisse  in 
Actien  verboten,  aus  einem  Grunde,  der  noch  heute  in  der  Agitation  gegen 
den  Terminhandel  eine  grosse  Kolle  spielt:  wegen  der  angeblichen  Tendenz 
desselben,  die  Preise  zum  Sinken  zu  bringen.^)  In  den  Actien  der  ostindischen 
Compagnie  hatte  sich  neben  einer  Hausse-  auch  eine  lebhafte  Baisse- 
Speculation  entfaltet  und  diese  sollte  getroffen  werden,  indem  es  verboten 
wurde,  Actien  auf  Zeit  zu  verkaufen,  ohne  dass  sie  der  Verkäufer  bereits 
zur  Zeit  des  Kaufabschlusses  wirklich  besässe.  Die  Wirkung  dieses  Erlasses 


^)  Ehrenberg,  „Die  Fondsspeculation."  S.  5. 

Gustav    Cohn,  „Zeitgeschäfte  und  Differenzgeschäfte"   in  Hildebrands    Jahr- 
büchern VII.,  S.  395  if. 

Jacobsen,  „Terraijiihandel  in  Goederen",  Rotterdam  1889,  S.  53  ff. 

11* 


164  Roseuberg. 

war   wohl   eine    sehr   geringe.    Die  Regierung  selbst   gestand   in  jeder  der 
folgenden  diesen  Gegenstand  betreffenden  Verordnungen  zu,  dass  die  Börse- 
speculanten  ihre  gute  Absicht  vereiteln,  ja  dass  sie  sogar  in   ihre  Verträge 
ausdrücklich  eine  Clausel  aufnehmen,  wonach  die  Parteien  darauf  verzichten, 
die  ihnen  durch  jene  Edicte  der  Generalstaaten    erwachsenen  Rechte    gegen 
einander  geltend  zu  naachen.  Trotzdem  thut  ein  aus  jener  Zeit  stammendes 
Werk  Josephs  de  la  Vega^)  dieses  Einwandes  der  üngiltigkeit  des  Geschäftes 
in  einer  Art  Erwähnung,  welche  beweist,  dass  derselbe  dennoch  in  praktischer 
Geltung  stand.  Man  nannte  ihn   „hazer  Federique"  nach  dem  Urheber  jener 
Verordnungen,  dem  Prinzen  Friedrich  Heinrich  von  Oranien.   Es  kam  nicht 
selten    vor,    dass    die    Contremineure,    wenn    ihre    Position    nach    langer 
Speculation  in  sich  selbst  zusammenbrach,   hinter   diesem   Einwand    Schutz 
suchten.^)  Von  grösserer  praktischer  Bedeutung  war  er  jedoch  jedenfalls  nicht. 
Ebensowenig  gelang  es  in  England,  des  Differenzspiels  und  des  Termin- 
handels Herr  zu  werden.  Auch  dort  finden  wir  nach  der  allgemeinen  Formel 
der  Bubbles-Äcte  vom  Jahre  1720,  welche  den  Handel  in  Actien  schädlicher 
Unternehmungen   untersagt,    ein   Gesetz   vom   Jahre    1734,    die  sogenannte 
Barnarils  Acte  nach  dem  Namen  ihres  Urhebers,  des  Vertreters  der  Londoner 
City,    welcher    gegen    die    infamen    Praktiken    der    Effectenspeculation    im 
Parlamente  eine  donnernde  Philippica  hielt   Nach  dieser   Acte   sollten    alle 
Prämiengeschäfte  in  Fonds   untersagt,    die  Regelung   irgendwelcher  Fonds- 
geschäfte   durch    blosse    Differenzzahlung    ohne    wirklichen-  Vollzug   jedes 
einzelnen  Kaufes  verboten  sein  und  endlich  jeder  Verkauf  von    Actien,    die 
der   Verkäufer   nicht   zur   Zeit    des    Geschäftsabschlusses    besass    (Verkauf 
ä  decouvert),  für  ungiltig  erklärt  und  mit  Strafe  bedroht  werden.  Man  findet 
demnach  hier  das  Verbot  des  Differenzgeschäftes  und  das  Verbot  der  Baisse- 
Speculation   in    Fonds.    Alle    Berichte    stimmen   jedoch    darin   überein,  dass 
diese  Verbote  nahezu  gänzlich  wirkungslos    geblieben    sind.    Einerseits    galt 
schon  damals  unter  den  Angehörigen  der  Fondsbörse    der   Grundsatz,    dass 
sie  ihr  Recht  nicht  bei  den  staatlichen  Gerichten,  sondern  vor  einem  Standes- 
Sondergerichte  suchten,  vor  welchem  dieser  Einwand  niemals  erhoben  wurde. 
Er  war  demnach  nur  im  Verhältnisse  zwischen  Makler  und  Privatspeculanten 
von  Bedeutung.  Ausserdem  aber  wurde  die  Verbotsbestimmung  einschränkend 
dahin    interpretiert,  dass  sie  sich  bloss  auf  englische  Staatspapiere  beziehe. 
In  dieser  beschränkten  Wirkung  galt  die  Acte  formell  allerdings   bis  1860. 
Sie    wurde    jedoch    praktisch    nicht    strenge     gehandhabt,    schon    deshalb, 
weil  die  Regierung  bald  nach  der  Erlassung  des  Gesetzes  zu  den  kollossalen 
Finanzoperationen,  zu  welchen  sie  damals  durch  zahllose  ausländische  Kriege 
genöthigt   war,    eines    lebhaften  Börsenspiels  bedurfte,  um  die  Course  ihrer 
Papiere  zu  behaupten  und  eine  kräftige  Fondsspeculation  zu  erhalten,  welche 


')  Don  Joseph  de  la  Vega,  „Confusion  de  confusiones"^  Amsterdam  1688;  liieriiber 
Ehren berg.  , Zeitalter  dt-r  Fugger",  IL,  S.  366  ff. 

-)  Don  Joseph  de  la  Vega  a.  a.  0.,  S.  30  f.;  Ehrenberg,  „Fondsspeculation", 
S  59,  60,  141  ff.;  Gustav  Cahn  a.  a.  0.,  S.  402  ff;  „Report  of  the  London  Stock 
exchaiige  Commission",  Appendix. 


Der  Spieleinwand  bei  Börsen- Speculationsgeschäften.  165 

imstande  war,  ein  gewisses  Eentenmaterial  als  flottierend  aufzunehmen,  bis 
es  in  den  festen  Besitz  des  Privatpublicums  übergieng.  Aus  dem  Jahre  1867 
stammt  die  Leemans  Acte,  nach  der  Panik  des  Jahres  1866  erlassen, 
welche  alle  Geschäfte  in  Bankactien  für  nichtig  und  rechtsungiltig  erklärt, 
bei  denen  der  Verkäufer  nicht  sofort  beim  Geschäftsabschluss  ein  voll- 
ständiges Niimmernverzeichnis  mitliefern  würde.  Dieses  Gesetz  ist  jedoch 
ohne  jeden  Erfolg  geblieben.  So  bildet  auch  heute  noch  die  einzige  Rechts- 
grundlage bei  der  Beurtheilung  der  sogenannten  Differenzgeschäfte  eine  Bill 
aus  der  Zeit  der  Königin  Victoria  vom  Jahre  1845,  welche,  ohne  speciell 
Börsengeschäfte  zu  nennen,  alle  Spiel-  und  Wettverträge  für  null  nnd  nichtig 
erklärt.  Dieses  Gesetz  —  und  es  ist  interessant,  dass  in  dieser  Richtung 
die  Rechtsentwicklung  aller  modernen  Staaten  den  gleichen  Weg  genommen 
hat,  —  über  die  Ungiltigkeit  von  Spiel-  und  Wettverträgen  ist  das  einzige 
noch  in  Kraft  befindliche  englische  Gesetz,  Avonach  die  Giltigkeit  von 
Differenzgeschäften  angefochten  werden  kann.  Auch  hier  finden  wir  die  Ent- 
wicklung, dass  die  Angehörigen  der  Börse  untereinander  von  diesem  Gesetze 
niemals  Gebrauch  machen.  Sie  sind  ihren  eigenen  Sondergerichten  unter- 
worfen, welche  die  Einwendung  nicht  zulassen  würden,  und  sie  sind  nicht 
nur  durch  die  Rücksicht  der  geschäftlichen  Ehre,  sondern  auch  durch  die 
Rücksicht  auf  ihre  geschäftliche  Stellung  unbedingt  davon  abgehalten,  einen 
solchen  Einwand  zu  erheben.  Aber  auch  die  staatlichen  Gerichte,  welche 
früher  vielfach  geneigt  waren,  sich  gegen  die  Klagbarkeit  der  Differenz- 
geschäfte auszusprechen,  haben  in  neuerer  Zeit  mehr  der  Auffassung  hin- 
geneigt, dass  selbst  bei  der  Speculation  eines  Outsiders  der  Einwand  von 
Spiel  und  Wette  nicht  zulässig  ist,  wenn  der  Broker  das  Geschäft  that- 
sächlich  an  der  Börse  ausgeführt  hat.  In  diesem  Falle  kann  der  Broker 
seinen  Clienten  zur  Zahlung  seines  Aufwandes  gerichtlich  belangen.*) 

Eine  ähnliche  formelle  gesetzgeberische  Entwicklung,  welche  dennoch 
zu  ganz  andern  Ergebnissen  in  der  Judicatur  geführt  hat,  zeigt  das  französische 
Recht ^),  dessen  Rechtsprechung  tonangebei.d  für  die  gesammte  festländische 
Judicatur  in  Börsengeschäften  geworden  ist  und  in  der  That  eine  bis  ins 
kleinste  Detail  ausgearbeitete,  von  der  Blüte  juristischen  Scharfsinnes  erfüllte 
Auseinandersetzung  darstellt.  In  Frankreich  wurde  die  Börsenspeculation 
unter  Patronanz  des  Hofes  und  des  hohen  Adels  des  Landes  eingeführt. 
Der  Schotte  John  Law  brachte  Pläne  eines  noch  nicht  dagewesenen  wirt- 
schaftlichen Aufschwunges  nach  Frankreich,  unternahm  es,  die  grössten 
Capitalien  aus  dem  Nichts  zu  schaffen  und  ist  wie  der  Erfinder  der  Inhaber- 
actie  zugleich  der  erste  grosse  Börsenspeculant  im  modernen  Sinne  des 
Wortes    genannt  worden,  der  es  auch  insbesondere  verstand,  das  Publicum 

^)  Wiener,  „Differenzgeschäft  und  Rechtssprechung." 

2)  Gareis,  „Klagbarkeit  der  Differenzgeschäfte."  Ehrenberg,  „Fondsspeculation." 
Veit  Simon,  „Klagbarkeit  der  sog.  Differen/.geschäfte"  in  Goldschmidts  Zeitschrift, 
41  S.  465  f.  Griinhut,  „Börsengeschäfte"  in  Endemanns  Handbuch,  III.,  S.  8  ff.  „Com- 
missionsbericht  der  französischen  Abgeordnetenkammer"  (erstattet  von  Alfred  Naquet). 
Docum.  Parlam,  III.,  S.  403  ff. 


1G6  Rosenberg. 

in  grossen  Massen  zur   Börsenspeculation    heranzuziehen.    Als    er   und   sein 
System  zusammengebrochen  waren,  und  breite  Schichten    der   französischen 
Gesellschaft  in  das  finanzielle  Missgeschick  verflochten  waren,    da   erschien 
die  bekannte  Verordnung  des  Jahres  1724,  welche  eine  staatlich  anerkannte 
Börse  schuf,    das    ausschliessliche  Maklerprivilegium  der  agents    de  change 
bestätigte  und  insbesondere  alle    Zeitgeschäfte   in    Fonds   untersagte.   Nach 
wie  vor  wurde  jedoch  weiter  speculiert,  wenn  auch  im  schwächerem  Maass- 
stabe, da  die  Zeit   der    Speculation    nicht   günstig   war.  Als  jedoch   immer 
zahlreicher  die  Staatsanlehen  aufgelegt  wurden,  welche  der  Krieg  mit  England 
erforderlich  machte,  und  die  Speculation,  insbesondere  die  ä  la  baisse,  einen 
kräftigen  Aufschwung  nahm,  kam  es  zu  dem   Edict   vom    7.  August  1785, 
das  jeden  Verkauf  von  Fonds  welcher  Art  immer  auf  Zeit,    wenn   der  Ver- 
käufer sie  nicht  eftectiv  besass,  für  ungiltig  erklärte,  ein  Verbot  das  in  den 
folgenden  Jahren  (1785,  1786  und  1787)  wegen  seiner  Nutzlosigkeit  neuerlich 
eingeschärft   wurde.   Mirabeau,    der   Autor   der  berühmten  Streitschrift  und 
Anklage   gegen  die   Agiotage,  stellte  sie  öffentlich  an  den  Pranger  und  die 
französische  Kevolution,  welche  in  der  Baissespeculation  in  Assignaten  eines 
der   gefährlichsten    Mittel   zur   Erschütterung  des  öffentlichen  Credites  sah, 
gieng   noch   weit   schärfer   gegen    die    Speculanten    vor.    Das    Gesetz    vom 
28.  vendemiaire  IV.    erklärte,    dass    der   Handel  mit   Species    auf  Zeit   ein 
verbrecherischer   sei,    dass    diejenigen,    welche  Operationen  solcher  Art  vor- 
nehmen, verbrecherische  Agioteure  seien,  die  ihr  Interesse  ihrer  Pflicht  vor- 
ziehen und  sich  zum  Schaden  des  Gemeinwesens  Gewinn  verschaffen  wollen. 
Es  verordnet,  dass  bei  Gold-  und  Silberspecies  die  Lieferung  und  Bezahlung 
binnen  24  Stunden  stattfinden  müsse,  und   gieng   so  weit,    die   Uebertreter 
des    Gesetze^   mit   zwei   Jahren  Gefängnis  und  öffentlicher  Ausstellung  mit 
einem    Schild    auf  der   Brust,    in    welches    „Agioteur"   eingegraben  werden 
sollte,  zu  bedrohen.^)  Auch  hier  hat  die  Gesetzgebung  diesen  den   Termin- 
handel einfach  für  nichtig  erklärenden  Standpunkt  nicht  lange  festgehalten. 
Die  Macht  des  Handelsverkehres  erwies  sich  stärker  als  die  gesetzgeberischen 
Bestimmungen.  Als  unter  Napoleon  der  Staat  wieder  feste  Formen  angenommen 
hatte  und  man  an  die  Codificierung  des  Rechtes  schritt,  war  auch  weniger 
von  Speculationslust  zu  bemerken.  Es  blieb  civilrechtlich   nur   eine    einzige 
Bestimmung  übrig,  welche  sich  auf  Spiel  und  Wette  im  allgemeinen  bezog, 
ohne  der  Differenzgeschäfte  an  der  Börse  im  besondern  Erwähnung  zu  thun. 
Spiel  und  Wette  wurden  für  nicht  klagbare  Obligationen    erklärt.    Daneben 
finden  sich  allerdings  im  Code  penal  (Artikel  421  und  422)  Bestimmungen, 
welche   es   für    strafbar   erklären,    Fonds  ä  decouvert  zu   verkaufen,  jedoch 
in  der  Praxis  kaum  beachtet  wurden,   zum   mindesten   nicht   zu   strafrecht- 
licher Verfolgung  führten. 

Die  strafrechtlichen  Bestimmungen  geriethen  also  bald  in  Vergessenheit, 
aber  auf  einfachen,  civilrechtlichen  Bestimmungen  über  Spiel  und  Wette  hat 
die   französische   Jurisprudenz    ein    kunstvolles    Gebäude    aufgerichtet,    das 


I 


1)  Später  wurde  sogar  auf  die  Agiotage  in  Assignaten  die  Todesstrafe  gesetzt. 


Der  Spieleiuwand  bei  Börsen- Speculationsgeschäften.  167 

noch  heute,  wie  bereits  erwähnt,  die  gesammte  continentale  Eechtssprechung 
beherrscht.  Zeitgeschäfte  waren  im  Princip  zugelassen,  und  bis  zum  Jahre  1822 
anerkannten  die  Gerichtshöfe  die  Eechtsbeständigkeit  dieser  Geschäfte  und 
das  Recht  der  agents  de  change,  gerichtlich  ihre  Forderungen  einzutreiben. 
Erst  im  Jahre  1823^)  erklärte  man  jene  alten  Verordnungen  als  noch  insoferne 
giltig,  als  ein  Spiel  anzunehmen  sei,  wenn  nicht  gleichzeitig  mit  dem 
Geschäftsabschlüsse  der  Kaufpreis  oder  die  Effecten  erlegt  wurden.  Später, 
seit  1831,  unterschied  man  in  Anlehnung  an  Art.  422  Code  penal  zwischen 
der  speculation  ä  la  baisse,  die  stets  als  verboten  galt  (illicite),  und  der 
speculation  ä  la  hausse,  die  erlaubt  war.  Noch  später  endlich  wurden  die 
Geschäfte  dann  für  Spiel  und  Wette  erklärt,  wenn  sie  nicht  den  thatsäch- 
lichen  Bezug  der  Effecten  zum  Gegenstande  hatten,  sondern  lediglich  auf 
Abwicklung  durch  Zahlung  von  Differenzen  hinzielten.  So  kam  es  zur 
richterlichen  Untersuchung  über  die  Intentionen  der  Parteien  beim  Geschäfts- 
abschluss,  welche  naturgemäss  bald  eine  bestimmte  Richtung  annahm.  Es 
handelte  sich  darum,  zu  beweisen,  dass  die  Parteien  nicht  beabsichtigt  hatten, 
die  scheinbar  gekauften  Papiere  wirklich  zu  beziehen,  bezw.  zu  übergeben, 
sondern  dass  es  ihnen  sich  nur  darum  handelte,  einen  bestimmten  Stichtag 
abzuwarten,  welcher  ihr  Spiel  oder  ihre  Wette  auf  den  Coursunterschied  ent- 
scheiden sollte.  Der  Verlierende  zahlte  dann  jenen  Betrag,  um  welchen  der 
Curs  des  Stichtages  den  contrahierten  Preis  überstieg.  Es  ist  klar,  dass 
sich  die  Rechtssprechung,  da  ja  die  Parteien  formelle  Kaufgeschäfte  abge- 
schlossen hatten,  genöthigl  sah,  die  von  beiden  wohlverstandene  Absicht 
der  Parteien  nicht  zu  beziehen  bezw.  zu  liefern,  aus  irgendwelchen  äussern 
Umständen,  aus  Indicien  zu  erschliessen,  und  da  ist  es  vor  allem  die  Ver- 
mögenslage der  Parteien,  Avelche  ein  solches  Indicium  bot.  Mit  wechselnder 
Strenge  wurden  die  Voraussetzungen  festgestellt  und  allmählich  zu  prätorischem 
Rechte  herausgebildet,  durch  welche  in  der  rechtlichen  Auffassung  die 
Operation  serieuse,  das  reelle  Kaufgeschäft,  sich  von  der  Operation  fictive, 
dem  Differenzgeschäfte,  unterschied.  Das  Missverhältnis  der  Geschäfte  zum 
Vermögen  der  Parteien,  welches  eine  wirkliche  Auslieferung  ausgeschlossen 
erscheinen  liess,  der  Umstand,  dass  keines  der  abgeschlossenen  Geschäfte 
effectiv  erfüllt  wurde,  die  regelmässige  Abwicklung  derselben  durch  Differenzen- 
zahlung, die  Häufung  der  Geschäfte,  die  Verknüpfung  derselben  mit  Report- 
geschäften und  sonstigen  Prolongationen  boten  der  Judicatur  Anlass,  das 
Vorhandensein  eines  Spieles  zu  bejahen.  Eine  gewisse  Präsumption  des 
Spieles  bestand  dann,  wenn  das  Geschäft  nicht  durch  einen  Agent  de  change 
ausgeübt  worden  war,  und  insbesondere  dann,  wenn  der  Commissionär  selbst 
in  das  Geschäft  eingetreten  war  und  die  Contrepartie  seines  Auftraggebers 
gemacht  hatte.  Dann  jedoch,  wenn  der  Kläger  im  begründeten  Glauben 
gehandelt  hatte,  dass  die  Operationen  des  Beklagten  reelle,  das  heisst  (^wenn 
auch  nur  uoter  Umständen)  auf  wirkliche  Lieferung  gerichtet  seien,    wurde 


^)  Im    Processe    des    agent   de    change   Perdonnet,   welcher    seinen   Auftraggeber 
den  Grafen  Foibin-Janson  auf  Zahlung  von  341.000  Francs  Diiferenzen  belangte. 


"[ßg  ,  Eosenberg. 

ihm  die  Klage  gegeben,^)  Durch  das  Mitspielen  des  Streites  gegen  die 
gesetzlich  nicht  anerkannte  Coulisse,  welche  doch  einen  so  grossen  Theil  der 
Geschäfte  des  Pariser  Marktes  vermittelte,  bewegte  sich  die  Eechtsentwicklung 
in  Zickzacklinien  fort.  ^)  Schliesslich  fand  ein  Eingreifen  der  Gesetzgebung 
statt.  Es  ist  eine  allgemeine  Bemerkung,  dass  jeder  grosse  Börsenkrach  eine 
Aenderung  der  Gesetzgebung  mit  sich  führt.  Waren  früher  die  Börsen- 
geschäfte klagbar,  so  werden  sie  nach  dem  Krach,  insbesondere  soweit  sie 
Baissespeculation  sind,  verboten,  weil  man  in  der  frühern  Gestattung  solcher 
Geschäfte  einen  Hauptgrund  der  Grösse  des  Unheils  erblickte.  Ereignet  sich 
dagegen  der  Krach  in  einer  Zeit,  in  welcher  solche  Geschäfte  unklagbar 
sind,  so  nimmt  der  unheilvolle  Einfluss  eines  jähen  Niederganges  der  Course 
auf  das  gesammte  Wirtschaftsleben  ungeahnte  Dimensionen  an.  Während  in 
normalen  Zeiten  auch  unklagbare  Börsengeschäfte  redlich  und  treu  erfüllt 
werden,  entsteht  nunmehr  bei  ganz  enormem  Verluste  in  jedem  einzelnen 
Speculanten  das  Problem,  ob  es  nicht  besser  sei,  seine  geschäftliche  Ehre 
preiszugeben,  statt  sein  ganzes  Vermögen  zu  opfern,  eine  Frage  die  von 
vielen  Speculanten  bejaht  wird.  So  geschah  es  auch  in  Prankreich  nach 
dem  Krach  der  durch  Bontoux  gegründeten  Union  generale,  an  welchem  weite 
Kreise  der  nicht  beruflichen  Börsenspieler  betheiligt  waren,  die  sich  nunmehr 
ihrer  Verpflichtung  entzogen  und  dadurch  auch  ihre  Mittelsmänner  an  der 
Börse  zahlungsunfähig  machten.  So  haben  damals  beispielsweise  sämmtliche 
Agenten  der  Lyoner  Börse  sich  ausserstande  erklärt,  ihre  Verpflichtungen  zu 
erfüllen,  und  es  schien  unumgänglich,  dass  die  Gesetzgebung  eingreife,  um 
die  Wiederkehr  ähnlicher  geradezu  tragischer  Erschütterungen  des  öffent- 
lichen Credits  zu  verhindern. 

Diesem  Vorfall  verdankt  das  neueste  französische  Gesetz  vom  Jahre 
1885  seinen  Ursprung,  Avelches  alle  Termingeschäfte  in  Effecten  oder  Waren 
für  legal  erklärt  und  ausdrücklich  bestimmt,  dass  niemand,  um  sich  seinen 
Verpflichtungen  aus  solchen  Geschäften  zu  entziehen,  den  Einwand  des  Ar- 
tikels 1965  gebrauchen  dürfe,  selbst  wenn  sich  diese  Geschäfte  in  Zahlung 
einer  Differenz  auflösen  sollten.  Es  schien,  dass  damit  dem  Differenz-  oder 
Spieleinwand  in  Frankreich  ein  definitives  Ende  bereitet  sei,  und  dass  selbst 
das  sogenannte  „reine"  Differenzgeschäft  als  gesetzlich  anerkannt  sei.  In  dem 
Berichte,  der  von  dem  Antragsteller,  dem  Deputierten  Alfred  Naquet, 
der  Kammer  erstattet  wurde,  finden  sich  breite  Erörterungen  über  die  histo- 
rische Entwicklung  des  Differenzeinwandes  in  Frankreich,  verbrämt  mit  volks- 
wirtschaftlichen Ausführungen  über  die  Nützlichkeit  des  Terminhandels.  Aber 


^)  Die  Cour  de  Paris  räumte  in  der  Beurtheilung  der  Thatumstände  den  untern 
Gerichten  ein  pouvoir  discretionnaire  ein.  Franz.  Comm.  Ber.  8.305.  Die  von  Kauf- 
leuten besetzten  Handelsgerichte  erklärten  übrigens  consequent  alle  diese  Operationen 
für  serieuse  zur  seihen  Zeit,  in  welcher  die  staatlichen  Gerichte  sie  für  ungiltig  erklärten. 
Erstere  wurden  auch  deshalb  im  Senate  wegen  Gesetzesverletzung  heftig  angegriffen 
vgl.  a.  a.  0.,  S.  306. 

^)  Lapradelle  et  Levy-Ullmann,  „Les  negociations  de  valeurs  cotees  effectuees 
par  l'intermediaire  des  coulissiers  devant  la  jurisprudence",  Paris  1896. 


Der  Spieleinwand  bei  Bürsen-Speculationsgescbäften.  169 

der  Weisheit  letzter  Schluss  ist  dennoch  der  einfa:che  Satz,  dass  es  jeder- 
manns Sache  sei,  sich  selbst  vor  unüberlegten  Handlungen  zu  schützen  und 
dass  die  Gesetzgebung  allzuviel  zu  thun  hätte,  wenn  sie  jedermann  vor  den 
Folgen  seiner  eigenen  Dummheit  bewahren  wollte,  ^) 

Trotzdem  die  Frage  solcher  Art  klargestellt  schien,  kam  sie  in  Frank- 
reich noch  lange  nicht  zur  Kühe.  Die  Gerichte  hielten  an  der  alten  Auf- 
fassung mit  einer  Lebhaftigkeit  und  Zähigkeit  fest,  welche  am  besten  Zeugnis 
von  der  Thatsache  ablegt,  die  aus  der  Geschichte  des  Differenz-Einwandes 
mit  voller  Deutlichkeit  erhellt:  dass  nämlich  die  ausnahmslose  Klagbarkeit 
aller  Börsengeschäfte  dem  Rechtsbewusstsein  des  Volkes  und  der  gelehrten 
Richter  geradezu  widerspricht,  dass  an  jedem  solchen  Gesetze  solange  ein 
Angriffspunkt  gesucht  wird,  bis  der  Differenzeinwand  wieder  eindringen  kann 
und  dass  die  Gerichte  es  mit  der  Ehre  und  mit  der  Würde  des  Gesetzes 
nicht  vereinbar  finden,  ihre  Hand  zur  Einbringung  von  Forderungen  zu  bieten, 
welche  nach  ihrer  Anschauung  unsittlichen  und  volksverderbenden  Geschäften 
ihren  Ursprung  verdanken.  Nirgends  tritt  dies  mit  solcher  Deutlichkeit 
hervor,  wie  in  der  französischen  Jurisdiction  seit  1885.  Die  Gerichte  er- 
klären kurz  und  bündig,  Termingeschäfte,  Käufe  in  Waren  oder  Etfecten  auf 
Zeit  seien  zwar  giltig,  aber  eben  nur  wirkliche  Käufe  und  nicht  Spiele, 
welche  sich  lediglich  in  die  Form  des  Kaufes  einkleiden  Hessen,  und  ob- 
wohl sich  diese  Auffassung  mit  der  strengen  Fassung  des  Gesetzes  schlechter- 
dings nicht  vereinbaren  Hess,  fand  sie  doch  an  allen  Tribunalen  des  fran- 
zösischen Reiches  eifrige  Verfechter.  Die  Frage  stand  noch  im  Jahre  1897 
so  und  selbst  1898  erflossen  üriheile,  welche  diesen  juristischen  Standpunkt 
einnahmen.^)  Der  Cassationshof  zu  Paris  scheint  allerdings  diese  Auffassung 
nicht  zu  theilen,  denn  nach  einem  Berichte  Crepons,  ^)  Rathes  am  Cassa- 
tionshof zu  Paris,  hat  dieser  Gerichtshof  1898  (22.  Juni)  eine  grundlegende 
Entscheidung  gefällt,  wonach  er  erklärt,  dass  durch  jenes  Gesetz  der  Spiel- 
einwand bei  allen  Geschäften  ausgeschlossen  sei,  welche  auch  nur  die  Form 
des  „marche  ä  terme"  angenommen  hätten,  und  dass  demnach  durch  das  Gesetz 
direct  untersagt  sei,  die  Intention  der  Parteien  auf  wirkliche  Lieferung  zu  er- 
forschen, vielmehr  allen  solchen  Geschäften  das  Klagerecht  durch  die  „termes 
essentiellement  imperatifs"  des  Gesetzes  gegeben  sei.  Crepon  bemerkt, 
dass  nach  dieser  Entscheidung  „completement  et  absolument**  der  DiflFerenz- 
einwand  für  solche  Geschäfte  beseitigt  und  es  nicht  mehr  den  Speculanten 
schlechten  Glaubens  gestattet  sei,  diesen  Versteck  bei  einem  Fehlschlagen 
ihrer  Operationen  aufzusuchen. 

Wenige  Jahre,  nachdem  in  Frankreich  durch  Gesetz  der  Spieleinwand 
bei  Termingeschäften  ausgeschlossen  worden  war,  wanderte  die  französische 
Judicatur   in   ihrer   reichen    casuistischen   Ausbildung  über  den  Rhein  und 


^)  „La  loi  aurait  trop  a  faire  a  vouloir  garantir  les  humains  contre  leur  propre  sottise." 

2)  Vgl.  die  in  Holdheims  Zeitschrift  1897,  abgedruckten  französischen  Urtheile. 

^)  T.  Crepon,  „Les  marches  ä  terme  et  l'exception  de  jeu  en  France"  (Congres 

international  des  valeurs  mobilieres  Paris  1900,  Documents  etc.,  L  Nr.  29),  siehe  auch 

Andre  E.  Sayous,    „Les    ope'rations   we  bourse  et  l'exceptijin   de  jeu",    ebenda   Nr.  30. 


170  Eosenberg. 

machte  sich  in  Deutschland  heimisch,  gleichwie  sie  Italien  und  Belgien  er- 
obert hatte,  eine  Eroberung  friedlicher  Art,  die  dennoch  auch  vom  Stand- 
punkt der  Kechtsgeschichte  das  grösste  Interesse  verdient.  Im  Deutschen 
Eeich,  und  zwar  speciell  in  Preussen  ^)  hatte  man  es  auch  ursprünglich  mit 
dem  Verbot  des  Terminhandels  in  Fonds  versucht,  zunächst  mit  Verordnung 
vom  19.  Jänner  1836  bloss  für  spanische  Staatsanlehen,  weil  das  Publicum 
durch  die  willkürliche  Schuldverkürzung  des  spanischen  Staates  einen  grossen 
Schaden  erlitten  hatte.  Die  Verordnung  hatte  Wirkung;  freilich  kann  man 
wohl  nicht  sagen,  ob  das  Publicum  nicht  auch  ohne  dieselbe,  durch  bedeutsame 
Verluste  abgeschreckt,  den  Handel  in  spanischen  Papieren  aufgegeben  hätte. 
Im  Jahre  1840  wurden  überhaupt  Zeitgeschäfte  in  ausländischen  Papieren 
für  ungiltig  erklärt,  und  als  das  grosse  P]isenbahnfieber  begann,  wurden 
durch  eine  Verordnung  vom  24.  Mai  1844,  alle  Zeitgeschäfte  in  Actien- 
antheilscheinen  vor  Berichtigung  des  voll  einzuzalilenden  Betrages  für  null 
und  nichtig  erklärt.  Alle  aufmerksamen  Beobachter  sind  aber  darüber  einig, 
dass  die  verbotenen  Geschäfte  zuerst  auf  Umwegen,  bald  offen  und  unge- 
scheut  weiter  betrieben  wurden,  und  im  Jahre  1860  entschloss  sich  auch 
die  Kegierung,  den  Bitten  der  Kaufmannschaft  folgend,  nach  eingehenden, 
überaus  gründlichen  Berathungen  die  Verordnungen  aufzuheben.  2)  Der  Zweck 
dieser  Verordnungen,  betonte  bei  diesen  Berathungen  der  Handelsminister, 
sei  nicht  erreicht  worden,  der  Verkehr  in  diesen  Papieren  aber  sei  auf  solche 
Personen  übergegangen,  die  sich  im  ungünstigsten  Falle  hinter  die  Unklagbarkeit 
verstecken,  während  sie  auf  die  Ehrenhaftigkeit  ihrer  Contrahenten  speculierten. 
Damit  war  man  wieder  auf  dem  Boden  des  gemeinen  Kechtes  gelangt. 

Man  kann  sagen,  dass  in  der  deutschen  Judicatur  von  Anfang  an  kaum  ein 
Zweifel  darüber  bestand,  dass  das  sogenannte  reine  Differenzgeschäft  allerdings 
als  Spiel  oder  Wette  zu  gelten  habe.^)  Das  Keichsoberhandelsgericht  in  Ham- 
burg spricht  diesen  Rechtsgrundsatz  aus,  und  auch  über  den  Begriff  des  reinen 
Differenzgeschäftes  bestand  eigentlich  keinerlei  Meinungsverschiedenheit. 
Es  ist  „ein  Vertrag,  bei  welchem  eine  Quantität  Ware,  deren  Preis,  und 
eine  Zeit  festgesetzt  ist  und  beide  Contrahenten  versprechen,  dass  je  nach- 
dem die  Veränderung  des  Preises  (Courses)  zu  dieser  Zeit  die  eine  oder 
andere  Richtung  gewonnen  haben  sollte,  der  eine  oder  der  andere  die  Differenz 
der  Preise  von  dem  Mitcontrahenten  ausgezahlt  erhalten  solle." ^) 


^)  Ehrenberg,  „Fo'.idsspeculation",  S.  125  ff.  Simon,  a.  a.  0.,  S  464.  Gustav 
Cohn,  a.  a    0.,  S.  414. 

2)  Die  wesentlichsten  Citate  aus  den  Motiven,  siehe  bei  Cohn  a.  a.  0.,  S.  414  ff. 

^)  Die  Thef>rie  war  allerdings  anderer  Meinung.  Thöl,  ,,Der  Verkehr  mit  Staats- 
papieren", S.  237.  Griinhut,  a.  a.  0.,  S.  10.  Gerber  D.  Pr.  R  §  193  f.  Dernburg, 
Pr.  Pr.  R.  II  §  158.  Goldschmidt,  („Börsen  und  Banken"  in  den  Preuss.  Jahrbüchern 
Bd.  68,  S.  878)  bezeichnet  das  reine  Differenzgeschäft  als  ein  eigenartiges,  wenngleich 
dem  Spi'.de  verwandtes  aleatorisches  Geschäft,  und  behauptet  mit  den  anderen  hervor- 
ragenden deutschen  Handelsrechtslehrern  dessen  Giltigkeit  mangels  entgegengesetzter 
particularrechtlicher  Normen. 

■*)  Dies  die  vom  deutschen  Reichsgerichte  angenommene  Definition  Thüls  (Handels- 
recht, §  389). 


Der  Spieleinwand  bei  Börsen-Speculationsgescliäften.  171 

Man  sah  dies  bald  als  Spiel,  bald  als  Wette  an,  während  Thöl  in 
solchem  Vertrage  eine  Sponsion^  Goldschmidt  einen  Glücksvertrag 
eigenthümlicher  Art  erblickten.  Die  Judicatur  erklärte  solche  reine  Differenz- 
geschäfte für  unklagbar,  allein  sie  Hess  sich  nur  dann  dazu  überreden,  das 
Vorhandensein  eines  solchen  Geschäftes  anzunehmen,  wenn  der  Ausschluss 
jeder  effectiven  Erfüllung  ausdrücklich  v  er  ein  b  art  war. 
Damit  war  der  Unklagbarkeit  solcher  Geschäfte  die  wirtschaftliche  Bedeutung 
genommen,  denn  der  ausdrückliche  Ausschluss  der  effectiven  Erfüllung  findet 
ja  niemals  statt;  „derartiges  kommt,"  wie  das  hanseatische  Oberlandesgericht 
bemerkt,  „in  der  Praxis  nicht  vor;  es  würde  etwas  ganz  Thörichtes  sein-^O 
In  Wirklichkeit  vollziehen  sich  ja  die  Geschäfte  so,  dass  der  Speculant  von 
seinem  Gegenpartner  Actien  oder  Waren  kauft,  oder  sie  ihm  verkauft,  oder 
den  Banquier  als  Commissionär  beauftragt,  für  ihn  Waren  oder  Wertpapiere 
zu  kaufen.  Auch  das  deutsche  Reichsgericht  stellt  sich  auf  diesen  Stand- 
punkt und  erklärte  daher  in  allen  Fällen  die  Klage  für  statthaft,  in  welchen 
nicht  von  den  Contrahenten  nachgewiesen  war,  dass  die  effective  Lieferung 
vertragsmässig  ausgeschlossen  und  dahin  von  den  Parteien  contrahiert  sei. 
Noch  im  Jahre  1888  hiess  der  deutsche  Juristentag  diese  Auffassung  gut 
und  vertlieidigte  die  Klagbarkeit  der  Börsengeschäfte,  soweit  sie  nicht  ver- 
tragsmässig reine  Differenzgeschäfte  seien,  auf  das  entschiedenste  mit  grosser 
Majorität.  Damals  wurde  noch  von  dem  Referenten  hervorgehoben,  dass  selbst 
das  reine  Differenzgeschäft  wirtschaftlich  berechtigten  Functionen  dienen  müsse, 
dass  die  Scheidung  zwischen  loyaler  Speculation  und  Spiel  unmöglich  sei 
und  dass  es  am  besten  sei,  Handel  und  Verkehr  frei  gewähren  zu  lassen. 
In  diesen  Verhältnissen  trat  eine  Aenderung  erst  ein,  als  die  Krise  vom 
Jahre  1891  durch  die  Anzahl  nunmehr  auftauchender  Börsenprocesse  dem 
Reichsgerichte  Einblick  bot  in  die  maasslose  Ausdehnung  der  Börsenspecu- 
lation  von  Seite  des  unberufenen  Publicums  und  in  die  schweren  Schäden, 
welche  dadurch  die  Spieler  und  mit  ihnen  die  ganze  Volkswirtschaft  er- 
litten.^) Das  Reichsgericht  trat  nun  als  Reformator  auf  und  bildete  im  An- 
schluss  an  die  französische  Jurisprudenz  eine  Art  prätorischen  Rechtes  heraus, 
dessen  Scharfsinn  und  Geist  nicht  verkannt  werden  kann,  gleichwie  die  maass- 
volle Tendenz  des  Reichsgerichtes  und  seine  feste  Haltung  auf  der  einmal 
betretenen  Bahn  durch  mehrere  Jahre,  geradezu  Staunen  einflössen  muss.^) 
Das  Reichsgericht   argumentiert   nunmehr   dahin,    dass    der   Ausschluss  der 


^)  Ent:>ch.  dieses  Gerichtes  v.  11.  Nov.  1892  (Wochenschrift  f.  Actienrecht  II.,  S.  97). 

2)  Wiener,  a.  a.  0. 

^)  Vgl.  die  der  deutschen  Börsenenquete  vorgelegte  amtliche  Zusammen- 
stellung, „Die  Eechtssprecliung  des  Eeichsgerichtes,  betreifend  den  Einwand  des  Differenz- 
gescliäftes"  (vom  Jahre  1884  bis  Juli  1893),  für  die  folgende  Periode  bis  April  1897 
Weishut,  „Der  Effectenumsatz  und  die  Börsengeschäfte,  sowie  deren  Besteuerung", 
2.  Auflage,  Wien,  1892.  S.  82—96,  ferner  für  diese  und  die  folgende  Zeit:  Hold  heim  8 
Zeitschrift,  Riesser,  „Die  handelsreclitlichen  Lieferungsgeschäfte",  Berlin,  1900,  Carl 
Adler,  „Zum  Eechte  des  Termingeschäftes"  in  Kohlers  Archiv  und  die  daselbst  citierte 
Literatur,  Staub's  Cotnmentar  S.  961,  derselbe  in  Holdheims  Monatsschrift  1897, 
S.  69  ff.  Fleck,  ebenda  1899,  S.  157  ff.  u.  a. 


172  Eosenberg. 

effectiven  Erfüllung  nicht  bloss  durch  ausdrückliche,  sondern  auch  durch  die 
stillschweigende  Willenserklärung  erfolgen  könne.  Diese  stillschweigende 
Willenserklärung  aber  nimmt  es  dann  als  vorhanden  an,  wenn  die  Handlungen 
von  Umständen  begleitet  sind,  die  eine  andere  Deutung  niclit  zulassen,  oder 
diese  Deutung  nach  der  Lebenserfahrung  als  die  regelmässige  erscheinen 
lassen  oder  endlich,  wenn  aus  den  Handlungen  auf  die  Absicht  der  Handeln- 
den mit  Zuverlässigkeit  geschlossen  werden  kann. 

Die  Rechtssprechung  des  deutschen  Reichsgerichtes  hat  in  zweifacher 
Richtung,  zunächst  von  den  Gerichten  selbst  Anfechtung  erfahren.  Vor  allem 
erschien  sie  manchen  Gerichten  als  zu  milde,  und  da  ist  insbesondere  ein 
Urtheil  des  Oberlandesgerichtes  zu  Jena  bemerkenswert,  welches  die  Frage 
gewissermaassen  dahin  zuspitzt,  dass  ein  Rechtsgeschäft  nicht  durch  seinen 
äusserlichen  formellen  Charakter  zum  Spiel  gestempelt  werde,  sondern  dass 
es  vornehmlich  auf  die  Absicht  der  Contrahenten  ankomme,  ein  Geschäft, 
welches  keinen  wirtschaftlichen  Zweck  verfolge,  lediglich  zur  Fröhnung  der 
Spielsucht,  animo  lucri  faciendi,  erfolge,  abzuschliessen.^)  Dieses  Gericht 
meint,  dass  jedes  solche  Geschäft  von  vornherein  als  ein  verbotenes  Glücks- 
spiel ungiltig  sei,  und  auch  dann  ungiltig  sei,  wenn  es  nur  auf  Seite 
eines  der  beiden  Contrahenten  ein  solches  Glücksspiel  darstelle  und  dies 
dem  andern  Contrahenten  bekannt  sei.  Bei  dieser  weitgehenden  Auffassung, 
welche  freilich  die  Aufgaben  der  Rechtssprechung  weit  überschreitet,  aber 
doch  vielleicht  die  eigentliche  Triebfeder  enthält,  von  welcher  die  Judicatur 
geleitet  war,  hatte  das  Gericht  zu  entscheiden,  ob  ein  Geschäft  wirtschaft- 
lichen Zwecken,  also  etwa  dem  Umsatz  einer  Ware  u.  s.  w.  diene;  im  andern  Fall 
dagegen,  wenn  es  bloss  dem  wildesten  Glücksspiel  dienstbar  sein  sollte,  es  für 
ungiltig  zu  erklären.  Mit  Recht  wies  das  Oberlandesgericht  Jena  darauf  hin, 
dass  die  Rechtsprechung  des  deutschen  Reichsgerichtes  wegen  ihres  for- 
malen Charakters  Geschäfte  als  Spiele  erklären  müsse,  welche  lediglich 
einen  versicherungsteclinischen  Charakter  haben,  wie  wenn  z.  B.  ein  deutscher 
Exporteur,  welcher  nach  Russland  Ware  liefere,  mit  einem  Importeur,  welcher 
nach  Russland  zu  zahlen  habe,  ein  Differenzgeschäffc  in  Rubel  vertragsmässig 
abschliesse,  ohne  wirklichen  Bezug  im  Auge  zu  haben,  also  das  Diflferenz- 
geschäft  in  seinem  versicherungsartigen  Charakter. 

Gegen  diese  Auffassung  verwahrte  sich  nun  freilich  das  Reichsgericht 
auf  die  entschiedenste  Art.  indem  es  das  Urtheil  des  Oberlandesgerichtes 
Jena  wegen  Gesetzesverletzung  aufhob.^)  Es  hielt  an  dem  Grundsatz  fest, 
dass  es  nicht  Sache  des  Richters  sei,  die  wirtschaftlichen  Motive  der 
Contrahenten  zu  erforschen,  sondern  dass  es  lediglich  darauf  ankomme,  ab- 
gesehen vom  wirtschaftlichen  Zweck  und  der  gewinnsüchtigen  Absicht,  den 


^)  Vgl.  zu  dieser  Frage  Schuster,  „Das  Spiel,  seine  Entwicklung  und  Bedeutung 
im  deutschen  Rechte",  Wien  1878,  S.  207—209,  218,  219.  Auch  er  erblickt  in  dem  Dif- 
ferenzgeschäfte ein  eigenes  gewinnsüchtiges  Geschäft,  welches  p"r  analogiam  als  ver- 
boten, unklagbar  und  ungiltig  betrachtet  werden  müsse.  Krügelstein,  „üeber  den  be- 
gritriiuhen  Unterschied  von  Spiel  und  Wette",  Leipzig  1869,  S.  70  ff. 

^)  „Die  Rechtssprechung  des  Reichsgerichtes  etc."  S.  36  if. 


Der  Spieleinwand  bei  Bürsen-Speculationsgescliäften.  173 

Vei'tragsinhalt   herauszuschälen    und    darnach  zu   beurtheilen,  ob    ein  Spiel 
oder  ein  legaler  Vertrag  vorliege. 

Von  der  anderen  Seite  hatte  das  Reichsgericht  den  heftigsten  Kampf  mit 
anderen  Anschauungen  zu  bestehen,  welche  an  der  Klagbarkeit  der  Börsen- 
geschäfte nicht  rütteln  lassen  wollte.  Insbesondere  war  es  das  von  kauf- 
männischem Geiste  und  kaufmännischen  Anschauungen  durchtränkte  hanse- 
atische Oberlandesgericht  ^),  welches  sich  zugleich  durch  die  eingehendste 
Beherrschung  der  einschlägigen  Verhältnisse  auszeichnet,  das  dem  deutschen 
Eeichsgerichte  klar  zu  beweisen  versuchte,  dass  ein  solches  Geschäft,  wie 
es  den  Parteien  zumuthe,  ein  Geschäft  mit  Ausschluss  der  effectiven  Liefe- 
rung, nicht  von  denselben  beabsichtigt  sein  könne,  dass  vielmehr  Vertrags- 
erklärung und  Vertragsinhalt  in  allen  diesen  Fällen  sich  decken.  Die  Argu- 
mentation des  hanseatischen  Oberlandesgerichtes,  welche  zuletzt  in  einem 
scharfsinnigen  Aufsatz  von  Bendixen^)  vertheidigt  worden  ist  und  in 
mehreren  ausgezeichneten  Abhandlungen  der  deutschen  Juristenwelt  eine 
Stütze  gefunden  hat,  geht  dahin,  dass  selbst  derjenige  Speculant,  dem  es 
nur  um  Erzielung  einer  Coursdiflferenz  zu  thun  sei,  keineswegs  die  effective 
Lieferung  ausschliessen  wolle,  weil  ihm  das  Recht  zur  effectiven  Lieferung 
oder  Abnahme  Vortheile  biete,  die  ihm  das  Differenzgeschäft  versage.  Walte 
bei  ihm  die  Absicht  ob,  nicht  effectiv  zu  übernehmen  oder  zu  liefern  und 
durch  ein  Gegengeschäft  seinen  Gewinn  zu  machen,  so  könnte  er  hiezu  beim 
reinen  Differenzgeschäft  seinen  Gegencontrahenten  niemals  bereitfinden,  da  ja 
dieser  doch  nicht  auf  denselben  Lieferungstermin  ä  la  hausse  oder  ä  la  baisse 
zu  speculieren  gewillt  sein  wird.  Er  wolle  also  das  Recht  auf  effective 
Lieferung,  um  in  jedem  Momente  an  der  Börse,  also  auf  einem  Markte,  wo 
er  sofort  Personen  findet,  welche  seine  Meinung  über  das  voraussichtliche 
Steigen  oder  Fallen  der  Papiere  theilt,  jemand  finden  zu  können,  dem  er 
das  Geschäft  übertragen  könne.  Dass  er  demnach  die  Absicht  habe,  dass 
Geschäft  schliesslich  nur  durch  Ausgleichung  von  Differenzen  zu  liquidieren, 
lasse  noch  nicht  den  Schluss  zu,  dass  er  auf  die  effective  Erfüllung,  die  für 
ihn  ein  wertvolles  Recht  sei,  weil  sie  ihm  ermögliche,  aus  dem  Engagement 
jederzeit  herauszukommen  oder  dasselbe  zu  prolongieren,  kurz  und  gut  seine 
Operation  nach  der  Gestaltung  der  Verhältnisse  zu  ändern  oder  weiterzu- 
führen, verzichte. 

Trotz  dieser  Argumente,  welche  wohl  den  Juristen,  für  die  Mehrzahl 
der  Fälle  wenigstens,  völlig  überzeugen  müssen,  blieb  das  deutsche  Reichs- 
gericht unerschütterlicii  bei  seiner  sich  immer  n  ehr  festigenden  Jurisdiction, 
die  denn  auch  in  der  That  auf  dem  deutschen  Juristentage  des  Jahres  lb93 
feierlich  gebilligt  wurde.  Schnell  hatte  sich  die  Meinung  der  deutschen  Ju- 
risten geändert;  so  fest  war  in  ihnen  die  Ueberzeugung  geworden,  dass  es 
gegenüber  den  Ausschreitungen  der  Börsenspeculation  einen  Damm  geben 
müsse,  welcher  die  Staatsbürger  vor  maassloser  Ausbeutung   schütze. 


1)  Bondi,  in  Holdheims  Monatsschrift  1897,  S.  133  ff. 

2)  Bendixen  in  Holdheiras  Monatssclirift  1897,  S.  105  ff. 


174  Roseuberg. 

Die  Umstände  nun,  aus  welchen  das  deutsche  Keichsgericht  den  Ver- 
tragsinhalt, die  stillschweigende  Willenserklärung  auf  Ausschluss  der  eifec- 
tiven  Erfüllung  folgerte,  präsentierten  sich  bald  in  einer  Art  von  Katalogi- 
sierung, wobei  freilich  zu  bemerken  ist,  dass  nicht  aus  einem  oder  dem 
andern  dieser  Umstände  allein,  sondern  nur  aus  einem  Zusammenwirken 
mehrerer  die  Absicht  des  reinen  Differenzgeschäftes  geschlossen  wurde.  Sie 
decken  sich  so  ziemlich  mit  denjenigen  der  französischen  Judicatur,  nur 
dass  in  sehr  scharfsinniger  Weise  auf  die  Lebensstellung  der  Contrahenten 
das  grösste  Gewicht  gelegt  wurde. 

Das  wichtigste  Moment  war  natürlich  die  Vermögenslage  des  Specu- 
lanten.  Gestattete  ihm  diese  notorisch  nicht,  die  gekauften  Papiere  wirklich 
zu  beziehen,  so  lag  die  Vermuthung  nahe,  dass  er  nur  ein  Differenzgeschäft 
mit  Ausschluss  der  effectiven  Erfüllung  habe  eingehen  wollen,  ein  Schluss, 
der  allerdings  von  L  e  i  s  t  ^)  scharf  kritisiert  wurde,  indem  er  sagt,  dass  ähnlich 
der  Schluss  wäre,  dass  jemand,  der  bei  Aufnahme  eines  Darlehens  nicht 
die  Aussicht  hat,  bei  Ablauf  der  Kückzahlungsfrist  die  Summe  in  seinem 
Vermögen  zu  haben,  in  Wahrheit  niclit  ein  Darlehen,  sondern  ein  Geschenk 
zu  empfangen  beabsichtige.  Dabei  hat  sich  jedoch  das  deutsche  Keichs- 
gericht von  jeder  Einseitigkeit  ferngehalten,  indem  es  als  wichtiges  Mittel 
zur  Erkenntnis  der  wahren  Absichten  der  Contrahenten  auch  ihre  Berufs- 
steilung  berücksichtigte  und  aus  ihr  schloss,  ob  der  Speculant,  trotzdem 
seine  Vermögensverhältnisse  ihm  den  effectiven  Bezug  nicht  gestatteten, 
nicht  dennoch  damit  rechnen  konnte,  dass  er  durch  ein  Gegengeschäft  seine 
Verpflichtungen  vor  Eintritt  des  Stichtages  regeln  könnte.  In  allen  Fällen, 
in  Avelchen  die  wirtschaftliche  Lebenstellung  des  Contrahenten  zu  diesem 
Schlüsse  berechtigte,  wenn  also  der  Speculant  ungeachtet  seines  geringen 
Vermögens  sich  zur  effectiven  Erfüllung  der  Geschäfte  imstande  glaubte 
und  dazu  erforderlichenfalls  bereit  gewesen  wäre,  sei  es  durch  Abwicklung 
eines  Gegengeschäftes,  sei  es  durch  Inanspruchnahme  des  Credites,  wurde 
die  Klage  auf  Zahlung  für  zulässig  erklärt,  die  Annahme  eines  Spieles  ver- 
worfen. Daraus  ergibt  sich  klar  und  deutlich,  dass  die  Judicatur  des  Reichs- 
gerichtes von  einer  bestimmten,  zweifellosen,  energischen  Tendenz  geleitet 
war,  nämlich  von  der  Absicht,  das  Börsenspiel  Unberufener  zu  verhindern, 
den  Börsenspeculationen  erfahrener  und  berufener  Elemente  dagegen  keinerlei 
Hindernis  in  den  Weg  zu  legen.  Es  liegt  im  Charakter  einer  solchen  Ju- 
dicatur, dass  sie  die  einzelnen  Fälle  individuell  behandeln  muss,  obgleich 
freilich  die  Gefahr  sehr  nahe  liegt,  dass  zumal  die  untern  Gerichte  die  Ent- 
scheidung der  obersten  Stelle  gewissennaassen  mechanisch  und  schablonen- 
haft anwenden.  Das  Missliche  einer  solchen  Rechtsprechung  für  die  Sicher- 
heit des  Handels  liegt  eben  in  der  Möglichkeit,  dass  durch  schablonen- 
hafte Anwendung  jener  Indicien,  aus  welchen  unter  Umständen  die  Spiel- 
absicht   geschlossen    werden    kann,    auch    loyale   Geschäfte   oder   Geschäfte 


')  Lei  st,  „Differenzgoschäft  und  Differenzclausel"  in  Conrads  Jahrb.,  III.  Fulge 
Bd.  I,  S.  808  Aniu. 


Der  Spieleinwaiid  bei  Börsen-Speculationsgeschäften.  175 

vollkundiger,  fachkundiger  und  sachkundiger  Personen  unter  die  Eubrik  des 
Differenzspieles  gebracht  werden. 

Aus  der  Rechtsauffassung  des  Reichsgerichtes  ergab  sich  mit  Rück- 
sicht auf  die  Gesetzgebung  des  Deutschen  Reiches  als  natürliches  Ergebnis 
die  Unklagbarkeit  des  Geschäftes  selbst,  die  üngiltigkeit  jeder  auf  ein 
solches  gegründeten  Anerkennung,  jedes  Pfandrechtes,  jeder  Bürgscliaft, 
jeder  Novation.  Nur  das  bereits  Gezahlte  konnte  nicht  zurückgefordert 
werden,  und  insoferne  befanden  sich  die  Banken  gegenüber  ihren  Committenten 
in  einer  Rechtsstellung,  welche  selbst  die  Rückgabe  der  sogenannten  „Depots" 
nach  dem  Stande  speciell  der  preussischen  Gesetzgebung  unumgänglich  noth- 
wendig  machte.  Denn  selbst  Bareinschüsse  konnten  zurückgefordert  werden, 
da  das  preussische  Landrecht  nur  das  „verlorene  und  wirklich  bezahlte"  gelten 
Hess,  wenn  nicht  der  Wettpreis  bei  einem  Dritten  hinterlegt  war.  Die 
künstliche  Construction,  dass  in  dem  sogenannten  Einschuss  eine  suspensiv 
bedingte  Vorauszahlung,  nämlich  für  den  Fall  des  Wettverlustes  gelogen 
sei  Avurde  vom  deutschen  Reichsgerichte  wohl  mit  voller  juristischer  Con- 
sequenz  zurückgewiesen.  Das  Börsenspiel  Unberufener  sollte  eben  hintan- 
gehalten werden.  Allein  das  deutsche  Reichsgericht  konnte  andererseits 
nicht  soweit  gehen,  auch  in  jenen  Fällen  Spiel  und  Wette  anzunehmen,  in 
welchen  aus  der  Geschäftsverbindung  hervorgieng,  dass  thatsächlich  ein- 
oder  das  anderemal  ein,  wenn  auch  nur  geringfügiger  Theil  der  Actien  be- 
zogen worden  sei,  oder  dass  thatsächlich  ein-  oder  das  anderemal  der  Spe- 
culant  sich  als  Besitzer  von  Actien  betrachtet  hatte,  indem  er  den  Banquier 
anwies,  das  Bezugsrecht,  welches  diese  Actien  für  neuauszugebende  gewährt, 
auszuüben  u.  ä.  m.  ^)  In  solchen  Fällen  konnte  es  das  Reichsgericht  offen- 
bar mit  seinem  juristischen  Gewissen  nicht  mehr  vereinbaren,  die  Verein- 
barung des  Aussciilusses  effectiver  Lieferung  und  damit  Spiel  und  Wette 
anzunehmen.  Es  musste  die  Klage  zulassen,  obgleich  es  für  den  unbefan- 
genen Beurtheiler  klar  sein  musste,  dass  die  Wirkung  eines  solchen  zufäl- 
ligen Ereignisses  während  einer  Geschäftsverbindung  doch  immerhin  die 
Gerechtigkeit  dieser  ganzen  Judicatur  in  einem  ziemlich  sonderbaren  Lichte 
erscheinen  lassen  müsse.-)  Die  wildeste  Speculation  Unberufener  in  Actien 
musste  für  legal  gelten,  wenn  sich  solche  oder  ähnliche  Umstände  im  Laufe 
der  Geschäftsverbindung  ereignet  hatten. 

Auf  seinem  Wege,  die  Unberufenen  vor  Börsenspiel  zu  schützen,  fand 
das  Reichsgericht  ein  schweres  juristisches  Hindernis  in  der  eigenthümlichen 
Art,  in  welcher  die  Geschäfte  gerade  der  Unberufenen  in  der  überwiegen- 
den Mehrzahl  der  Fälle  sich  abspielen.  Die  Outsider  ertheilen  nämlich 
finem  Bankhause  den  Commissionsauftrag,  also  den  Auftrag  Effecten  oder 
Waren  für  sie  zu  kaufen  oder  zu  verkaufen.  Es  war  naheliegend,  dass  die 
Commissionäre  in  solchen  Fällen  sich  darauf  stützten,  dass  sie  bloss  den 
Auftrag   ihres    Coramitenten    ausgeführt    hätten,    und  nichts  als  den  Ersatz 


*)  „Kechtssprechung  des  Eeichsgeiiehtes",  U.  v.  16.  December  1892,  S.  21. 
2)  Wiener,  a.  a.  0. 


276  Eosenberg. 

ihrer  Barauslagen  aus  diesem  Auftrage  nebst  der  Provision  des  Commis- 
sionärs  verlangten.  Ebenso  klar  schien  es  jedoch,  dass  die  Judicatiir  geradezu 
wirkungslos  bleiben  müsse,  wenn  solche  Fälle  nicht  von  ihr  getroffen  würden. 
Das  Reichsgericht  half  sich  auf  zweierlei  Art  in  sehr  resoluter  Weise,  die 
theoretisch  vielleicht  schwer  begriffen  Averden  kann  und  nur  dann  klar  er- 
scheint, wenn  man  sich  die  wirkliche  Abwicklung  solcher  Geschäfte  mit 
Benützung  der  Commission  vergegenwärtigt.  Das  Reichsgericht  anerkennt 
zunächst,  dass  die  wirkliche  Ausführung  des  Auftrages  des  Committenten  an 
der  Börse,  da  bei  dieser  der  effective  Bezug  bei  keinem  Geschäfte  aus- 
geschlossen sei,  in  der  That  ein  gewisses  Indiz  gegen  die  Annahme  eines 
reinen  Differenzgeschäftes  bilden  könne.  Doch  sei  dies  auch  nur  dann  der 
Fall,  wenn  der  Commissionär  die  Geschäfte  wirklich  für  den  Committenten 
an  der  Börse  ausgeführt  habe  und  nicht  als  Selbstcontrahent  eingetreten 
sei.  ^)  Sobald  er  nämlich  als  Selbstcontrahent  gehandelt  habe,  trete  er  im 
Verhältnis  zu  seinem  Committenten  als  Spieler  und  Speculant  auf,  und  es 
sei  gleichgiltig,  ob  er  zu  seiner  Deckung  mit  Dritten  überhaupt  ent- 
sprechende Geschäfte  abschliesse,  und  ob  diese  Geschäfte  wieder  Differenz- 
geschäfte oder  Effectivgeschäfte  seien.  Der  „Commissionär"  erscheint  in  allen 
diesen  Entscheidungen  unter  Anführungszeichen;  er  ist  nicht  Commissionär, 
sondern  Contrepartie  des  Speculanten,  und  die  Geschäfte,  welche  er  an  der 
Börse  zu  seiner  eigenen  Deckung  etwa  abschliesst,  sind  nicht  die  beorderten, 
sondern  eigene,  mit  einem  Hintermann  abgeschlossene  Geschäfte.  Allein 
auch  ein  zweites  Argument  hat  das  Reichsgericht  in  Bereitschaft.  Wenn 
nämlich  trotz  der  wirklichen  Ausführung  an  der  Börse  das  Reichsgericht 
dennoch  zur  Ueberzeugung  gelangt,  dass  der  Committent  den  wirklichen  Bezug 
ausgeschlossen  habe,  so  habe  eben  der  Commissionär  einen  Auftrag  aus- 
geführt, der  hier  nicht  als  solcher  gemeint  war.  Er  habe  etwas  gethan» 
wozu  er  in  Wirklichkeit  gar  nicht  beauftragt  gewesen  und  könne  aus  einem 
solchen  nur  scheinbar,  in  Wirklichkeit  aber  nicht  beorderten  Geschäfte, 
keinen  Ersatz  seiner  Auslagen  fordern. 

Dieser  Rechtsprechung  mussten  sich  schliesslich  alle  deutschen  Ge- 
richte, etwa  mit  alleiniger  Ausnahme  des  hanseatischen  Oberlandesgerichtes, 
und  auch  die  Literatur  beugen.  Sie  galt  im  Reiche  als  geltendes  Recht  und 
wurde  im  §  764  des  neuen  bgl.  Gesetzbuches  recipiert.  Inzwischen  hat 
freilich  die  deutsche  Börsenreform  das  Börsenrecht  von  Grund  auf  geändert 
und  eine  ganz  neue  Gestaltung  der  Verhältnisse  hervorgerufen. 

Gleichzeitig  wie  im  deutschen  Reiche  hatte   auch  bei  uns  die  Recht- 
sprechung eine  jähe  Aenderung  vollzogen.  Auch  in  Oesterreich  wurden  wohl' 
Differenzgeschäfte  häufig  als  Spiel  und  Wette  angesehen.    Auch  wir  hatten 
und  zwar   mehr  als   jeder  andere  Staat,   unter  der  vollkommenen  Unsicher- 
heit der  Rechtssprechung  zu  leiden,  als  die  Krise  des  Jahres  1873  herein- 


1)  A.  a.  0.  U.  V.  17.  Juni  1893,  S.  38,  „Der  rechtliche  Charakter  der  Geschäfte, 
die  der  Kläger  festgestelltermaassen  als  Commissionär  abgeschlossen  und  reell  ausge- 
führt hat,  kann  durch  den  etwaigen  unlauteren  Bewegungsgrund,  aus  welchem  der  Be- 
klagte, Auftrag  zu  den  Geschäften  gegeben  haben  will,  überhaupt  nicht  beeinflusst  sein." 


Der  Spieleinwaiid  bei  Börseii-Speculationsgeschäften.  I77 

brach  und  die  Speculanten,  vor  die  Alternative  gestellt,  ihr  ganzes  Ver- 
mögen oder  ihre  geschäftliche  Ehre  preiszugeben,  sich  häufig  für  das  Letztere 
entschieden.  Die  beispiellose  Erschütterung  von  Treu  und  Glauben,  welche 
sich  unter  anderm  darin  zeigte,  dass  an  einem  einzigen  Tage  sich  damals 
an  der  Wiener  Börse  120  Speculanten  für  insolvent  erklärten^),  zeigt,  in 
welcher  Weise  damals  die  Unsicherheit  der  Judicatur  zur  Verschärfung  des 
üebels  beitragen  musste.  So  schritt  die  Regierung  zur  Vorlage  eines 
Börsengesetzes,  dessen  wichtigste  Bestimmung  dahingeht,  dass  bei  Börsen- 
geschäften, das  heisst  Geschäften,  welche  von  Börsenbesuchern  an  der  Börse 
zur  Börsenzeit  über  an  der  betreffenden  Börse  notierte  Verkehrsgegenstände 
abgeschlossen  wurden,  der  Einwand,  dass  ein  als  Spiel  oder  Wette  zu  be- 
urtheilendes  Differenzgeschäft  vorliege,  gänzlich  unstatthaft  sein  solle.  -) 
Die  Motive  und  die  Debatte  in  den  beiden  Häusern  des  Parlamentes 
bieten  wenig  des  Interessanten.  Bei  dieser  wichtigen  Vorlage  war  offenbar 
der  Eindruck  ihrer  absoluten  Nothwendigkeit  ein  so  tief  empfundender, 
dass  man  kaum  ,eine  eingehende  Erörterung  ihrer  Principien  versuchte. 
Im  Abgeordnetenhause  sprachen  zur  Sache  bloss  Dr.  K  r  0  n  a  w  e  1 1  e  r, 
der  Abgeordnete  N  e  u  w  i  r  t  h  und  der  Referent  Dr.  Max  M  e  n  g  e  r.  Die 
Judicatur  des  österreichischen  obersten  Gerichtshofes  blieb  bis  zum  Jahre 
1892  so  ziemlich  dieselbe,  ^)  Unter  dem  Einflüsse  des  Börsengesetzes  machte 
sich  bald  die  Auffassung  geltend,  dass  die  Speculation  der  Outsider  nur 
einen  Auftrag  zur  Ausführung  von  Börsengeschäften  im  technischen  Sinne 
begründe,  einen  Auftrag  zum  Absehluss  eines  Geschäftes  also,  dem  der 
Einwand  von  Spiel  und  Wette  schon  infolge  gesetzlicher  Bestimmung  nicht 
entgegengehalten  werden  kann,  und  dass  daher  der  Committent  immer  dann 
die  wahre  Aufwendung  des  Commissionärs  vergüten  müsse,  wenn  dieser  den 
Nachweis  erbringe,  dass  er  die  Pflicht  eines  ordentlichen  Commissionärs 
erfüllt  habe.  Wenn  der  Speculant  habe  spielen  und  nicht  die  gekauften 
Effecten  wirklich  beziehen  wollen,  so  habe  dies  den  Commissionär  nicht 
zu  bekümmern,  welcher  lediglich  den  ihm  gewordenen  Auftrag  aus- 
führt. Es  wurde  von  dem  Committenten  der  Nachweis  solcher  that- 
sächlicher  Umstände  der  beiderseitigen  Abmachung  verlangt,  welche  die 
Annahme  rechtfertigt,  dass  es  sich  zwischen  den  beiden  Streittheilen  nur 
um  ein  Spiel  auf  Börsendifferenzen  gehandelt  habe.  Auch  dem  Umstände, 
dass    der  Commissionär   in    das    Geschäft   selbst   eintrat   (gemäss  Art,  376 


^)  Neuwirth,  Speculationskrisis  S.  98. 

'^}  §§  12,  13,  Gesetz  vom  1.  April  1875,  Nr.  67  E.-G.-B.,  betreffend  die  Organisierung 
der  Börsen.    Das  Gesetz  hat  sich  ausgezeichnet  bewährt. 

^)  Krainz-Pfaft'-Ehren zweig,  System,  IL  §  390.  Stubenrauch,  Commentar  III., 
S,  479  f.  Grünhut  in  Endemann  a.a.O.  Grünhut,  „Börsen-  und  Maklerrecht"  in  seiner 
Zeitsclirift,  Bd.  II.,  9.  550  ff,,  Grünhut  in  der  „Neuen  freien  Presse",  v.  15.  Jan.  1895, 
Canstein,  „Lehrbuch  des  österr.  Handelsrechts"  L,  S.  85  ff.,  129  ff.  IL,  S,  246  ff.  Pisko, 
in  derGorichtshalle,  1861,  Nr.  48.  Horowitz,  ebenda  1897,  Nr.  41  ff.  Pisko,  ebenda  1898, 
Nr.  49,  50.  Bruno  Mayer,  „Effectenbörsen",  S.  71  ff.,  „Zusammenstellung  der  einschlägigen 
Entscheidungen  des  k.  k.  obersten  Gericlitshofes"  in  "Weishut,  a.  a.  0.,  S.  66 — 81  in  Gellers 
„Centralblatt",  XVII  S.  122  ff,  Dr.  Leop.  Spitzer  jun.  in  Grünhuts  Zeitschr.  Bd.  XXIIL 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  X.  Band.  12 


]^78  Eosenberg. 

H.-G.-B.),  wird  kein  entscheidendes  Gewicht  beigelegt,  dem  Commissionär 
nicht  die  Beweislast  dafür  auferlegt,  dass  er  thatsächlich  mit  Dritten,  und 
zwar  in  Ausführung  seines  Auftrages  und  nicht  bloss  zu  seiner  Deckung 
ein  Börsengeschäft  abgeschlossen  habe,  und  Gewicht  darauf  gelegt,  dass 
beide  Theile  mit  gleichem  Maasse  gemessen  werden  müssen,  und  es  doch 
sicherlich  keine  ernste  Beachtung  finden  würde,  wenn  der  Banquier  sich 
der  Zahlung  des  Guthabens  an  den  Committenten  unter  dem  Vorgeben  ent- 
schlagen wollte,  dass  es  sich  nur  um  ein  Spiel  gehandelt  habe. 

Unter  solchen  Umständen  hatte  der  k.  k.  oberste  Gerichtshof  eigentlich 
keine  Gelegenheit  in  die  Frage  einzutreten,  wann  denn  ein  Spiel  bei  Diflferenz- 
geschäften  vorhanden  sei,  weil  er  schon  in  der  Einkleidung  des    Geschäftes 
in  ein  Commissionsgeschäft  genügenden  Grund  sah,  um  von  vorneherein  die 
Klagbarkeit  desselben  anzunehmen,  so  dass  die  eigentliche  Frage  kaum  oder 
doch  nur  flüchtig  zur  Erörterung  gelangte.  Das  änderte  sich  als  —  zweifellos 
unter  dem  Eindrucke  der  Kechtsprechung  des  deutschen  Eeichsgerichtes  — 
auch  in  Oesterreich  die  neue  Aera  in  der  Judicatur  begann,  im  Frühjahr  des 
Jahres  1892,  gestützt  auf  §  916  des  allgemeinen  bürgerlichen  Gesetzbuches, 
welcher  besagt,  dass,  Avenn  ein  Geschäft  von  gewisser  Art  nur  zum  Scheine  ver- 
abredet sei,  es  nach  denjenigen  gesetzlichen  Bestimmungen  zu  beurtheilen    se 
nach  denen  es  vermöge  seiner  wahren  Beschaffenheit  beurtheilt  werden  müsse. 
Aus    dieser   Bestimmung   des  österreichischen  Kechtes  ergab  sich  die  klare 
Lösung  vieler  Schwierigkeiten,  insbesondere  der  Frage,  ob  denn  die  Absicht 
der  Parteien,  ein  klagbares  Geschäft  zu  begründen,  es  rechtfertigen  lasse,  dass 
der  Kichter  ungeachtet  des  Wortlautes   des  Vertrages   eine  Willensüberein- 
stimmung zum  Abschlüsse  eines  unklagbaren  Geschäftes  annehme.  Der  ver- 
stellte Vertrag  musste  nach  seiner  wahren  Beschaffenheit  beurtheilt  werden. 
Während    das    deutsche   Eeichsgericht   allerdings  den  grössten  Theil  seiner 
Kraft   darauf  verwendete,    nachzuweisen,    dass   die   Absicht   des  einen  oder 
beider  Contrahenten,  den    effectiven   Bezug   auszuschliessen.    zum   Vertrags- 
inhalt geworden  sei,  findet  man  in  den  österreichischen  Urtheilen  über  diesen 
Umstand   geringere    Erörterung.     Sie    sind   insoferne    strenger  als    die   des 
deutschen  Reiches,  als  sie  den   vertragsmässigen  Ausschluss   der   effectiven 
Erfüllung   schon    damit   gegeben  erachteten,  dass  die  Absicht  eines  oder 
beider  Theile  nur  auf  Erzielung  von  Coursdifferenzen  ohne  effectiven  Bezug 
gerichtet  sei.  Unter  solchen  Umständen  ist  es  naturgemäss  weitaus  leichter, 
ein  reines  Differenzgeschäft  zu  construieren,  und  sobald  sich   die   Judicatur 
mehr   der   Frage    zuwendet,    ob    das    Geschäft  an  sich  ein  ]  eines  Differenz- 
geschäft  sei,    die   Beurtheilung  der  ihr  unterbreiteten  Fälle  also  von  innen 
heraus  versucht,  gelangt  sie  auch  leicht  dazu,  den  Wall  des    Commissions- 
geschäftes  umzuwerfen,  welcher  sich  um  das  Differenzgeschäft  gleichsam  zu 
seinem    Schutze   erhoben  hatte.  In  dieser  Beziehung  ist  der  österreichische 
oberste  Gerichtshof  nicht  so  radical   wie   das   deutsche   Reichsgericht.   Zur 
Auffassung,  dass,  da  ein  Spielvertrag  vorliege,  der  angebliche  Commissionär, 
der  das  Geschäft  an  der  Börse  ausführte,  wider  den  Auftrag  gehandelt  und 
etwas  gethan  habe,  wozu  er  gar  nicht  bevollmächtigt  sei,  hat   sich,    soweit 


Der  Spiel  einwand  bei  Börsen- Specalationsgesctiäften.  179 

aus  den  vorhandenen  Urtheilen  ein  Schluss  gezogen  werden  kann,  der  oberste 
Gerichtshof  nicht  zu  bekennen  vermocht.  Er  operiert  vielmehr  damit,    dass 
der  Commissionär  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  durch  den  Selbsteintritt  in  das 
bestehende    Spiel   als    Selbstcontrahent    eingetreten    sei,    an    diesem    Spiele 
theilgenommen    habe    und   daher   als    Mitspieler   angesehen   werden  müsse. 
Wer   die    Dinge   vom   theoretischen    Standpunkt   aus   beurtheilt,  wird 
diese  Kechtssprechung  nicht  sofort   begreifen    können.    Sie    wird   erst   dann 
klar,  wenn  man  mit  den  Thatsachen  rechnet  und  sich  vergegenwärtigt,    wie 
in    der   Mehrzahl   der   zur   gerichtlichen  Austragung  gelangenden  Fälle  der 
Commissionär  die  ihm  gegen  den  Committenten  erwachsene  Forderung  beweisen 
will,  oder  zu  beweisen  versucht.  Da  bieten  die  Entscheidungen  des  obersten 
Gerichtshofes   reiches   Material.    In    der  grossen  Mehrzahl  der  verhandelten 
Processe    rückt    der    Commissionär    nicht    mit    der    Wahrheit    heraus.    Er 
behauptet   einerseits,    dass    er   den   ihm    gewordenen  Auftrag  an  der  Börse 
ausgeführt  habe,  ohne  jedoch  anzuführen,  an  wen  und   zu   welchem    Curse 
er  gekauft  oder  verkauft  habe  und  behauptet  anderseits,  er  sei  zur  genauen 
Kechnungslegung   darüber   nicht   verpflichtet,    weil   er  gemäss  Art.  376  des 
H.-G.-B.  als  Selbstcontrahent  zu  gelten  habe,  und  deshalb   nur   nachweisen 
müsse,  dass  der  Börsencours  des  betreffenden  Tages   in    seiner   Kechnungs- 
legung  von   ihm    eingehalten  sei.    Unter  solchen  Umständen  musste  in  den 
verhandelten   Fällen    der  Gerichtshof  die  Ueberzeugung  gewinnen,  dass  der 
Commissionär  in  der  That   nicht  so   sehr  als  Commissionär  wie  als  Selbst- 
contrahent  fungierte   und   in    seiner   Tendenz    das   Börsenspiel  Unberufener 
hintanzuhalten,    verstand   es    der   oberste    Gerichtshof  nun   sehr   wohl,    den 
Commissionär  an  seiner  schwachen  Stelle  zu  fassen.    Er   stellt   ihn  vor  die 
Alternative:    entweder    dem    Committenten    genaue   Rechnung   über  die  ab- 
geschlossenen Geschäfte  zu  legen,  oder  es  sich  gefallen  zu  lassen,   dass    er 
als    Contrepartie    seines    Committenten    angesehen   wird,  und  dass  dann  die 
von  ihm  etwa  an  der  Börse  abgeschlossenen  Geschäfte  als  Geschäfte  gelten, 
die  er  für  sich  in  seinem  eigenen  Interesse,  um  sich  bei  seinem  Hintermann 
zu    decken,    abgeschlossen   hat.    Diese   Judicatur  wird  somit  erst  dann  ver- 
ständlich, wenn  der  mit   dem    natürlichen   Eechtsgefühl   und   allen    Rechts- 
grundsätzen   des    codificierten   Rechtes    in    vollem  Widerspruch    stehenden 
Haltung  Rechnung  getragen  wird,  die  der  Commissionshandel  beim  Ein-  und 
Verkauf  von  Börseneffecten  oft  einnimmt.  Aus  der  Rechtssprechung  des  obersten 
Gerichtshofes  würde  man  wohl  mit   Unrecht   schliessen,    dass    er  jedesmal, 
wenn  nicht  der  Commissionär  mit  der  Anzeige  von  der  Vollführung  des  Auf- 
trages auch  die  weitere  Anzeige  verbindet,  mit  wem  er  diesen  Auftrag   ab- 
geschlossen  hat,    annehme,    dass    er   als    Selbstcontrahent   in    das  Geschäft 
eingetreten  sei  und  daher  die  Grundsätze  von  Spiel  und  Wette  auch  gegen 
sich  gelten  lassen  müsse.  In  Wirklichkeit  ergibt  sich  aus  den  Entscheidungen 
des    obersten    Gerichtshofes,  *)   welcher   es  z.  B.  in    einem    concreten   Falle 

1)  Entscheidung  V.  7.  April  1892,  Z.  1767,  Sammlung  Adler-Clemens  Nr.  1659.  Die 
zweite  Instanz  hebt  hervor,  dass  „Kläger  mit  sich  selbst  in  Widerspruch  geräth,  indem  er 
zwar  behauptet,  er  hätte  die  in  Rede  stehenden  Käufe  und  Verkäufe  stets  sofort  an  der 

12* 


180 


Kosenberg. 


bemängelt,  dass  der  Comraissionär  den  wirklichen  Vollzug  statt  durch  die 
Führung  seiner  Gegencontrahenten  an  der  Börse  durch  den  Haupteid  beweisen 
wolle,  oder  dass  der  Commissionär  nicht  die  Schlusszettel  vorlege,  seine  Con- 
trahenten  nicht  namhaft  mache  u,  s,  w.,  dass  der  Beweis  des  effectiven  Vollzuges 
den  obersten  Gerichtshof  allerdings  nicht  gleichgiltig  lassen  werde.  In  einem 
concreten  Falle,  in  welchem  der  Commissionär  thatsächlich  den  Nachweis 
des  wirklich  erfolgten  Kaufes  und  Verkaufes  von  Wertpapieren  für  Rechnung 
des  Auftraggebers  nachgewiesen  hat,  wurde  auch  in  der  That  die  Ein- 
wendung von  Spiel  und  Wette  für  ausgeschlossen  erklärt.  Damit  stimmt 
auch  die  Tendenz  der  österreichischen  Judicatur  vollkommen  überein.  Als 
die  ersten  Entscheidungen  über  die  Unklagbarkeit  von  solchen  Geschäften 
sich  häuften,  wurde  von  der  „Neuen  Freien  Presse"  der  damalige  Präsident 
des  obersten  Gerichtshofes  Dr.  von  Stremayr  über  die  Frage  interviewt. 
Der  Präsident  erklärte  damals,  allerdings  nur  für  seine  Person,  dass  es  ihm 
scheine,  als  ob  die  Absicht  des  obersten  Gerichtshofes  bloss  dahingienge, 
gewissen  Ausbeutungsmanövern  der  Börsencomptoirs  ein  Ende  zu  bereiten, 
keineswegs  aber  dahin,  das  loyale  Commissionsgeschäft  zu  unterbinden.  Das 

Börse  effuctuiert,  es  aber  unterlässt,  den  Kaufs-,  resp.  Verkaufspreis  anzuführen."  Die 
dritte  Instanz  beme.kt  u.  a.,  „dass  die  Buchung  und  Rechnung  des  Klägers  keineswegs 
jene  Eintragungen  aufweist,  welche  der  commissionsweisen  Durchführung  von  Käufen  und 
Verkäufen  tntsprechen,  dass  lediglich  zur  Rechtfertigung  die  Coursnotierungen  der 
betreffenden  Börsentage  hei  angezogen  werden,  dass  Kläger,  welcher  behaupte,  dass  er  in 
Vollziehung  der  ihm  ertheilten  Aufträge  die  Käufe  und  Verkäufe  auf  der  Börse  effectiv 
ausgeführt  habe,  über  das  thatsächliche  Ergebnis  und  die  hiebei  erzielten  Preise  ordent- 
lich Rechnung  zu  legen  gehabt  hätte."  —  Entscheidung  v.  22.  October  1895,  Z.  9645  Adler- 
Clemens,  Nr.  1854.  Der  Commissionär  behauptete  selbst,  als  Selbstcontraheit  eingetreten 
zu  sein,  und  dass  er  nur  nachweisen  müsse,  dass  er  den  Börsenpreis  eingehalten  iiabe. 
Der  Kläger  ist  nicht  einmal  Commissionshändler  in  Börseneffecten,  sondern  lediglich 
Börsebesucher,  der  Br-klagte  Arzt  und  Hausbesitzer.  Kläger  speculierte  für  ihn  nach  Gut- 
dunken und  konnte  nicht  einmal  nachw>'isen,  dass  und  an  wen  er  die  Papiere  schliess- 
lich verkauft  hatte.  Diese  Entscheidung  wird  in  der  Literatur  als  principielle  bezeichnet!  — 
Eine  p]ntscheidung  vom  12.  Juni  1894.  (Adler  Clemens  Nr.  179:^  und  1794)  führt  aus, 
dass  Kläger  sich  selbst  als  Käufer  oder  Verkäufer  erklärt  habe  und  nicht  in  der  Lage 
gewesen  sei,  mehr  als  5  Schlussnoten  vorzulegen,  während  weit  mehr  Geschäfte  abgeschlossen 
wurden.  —  Die  Entscheidung  v.  10.  November  1896,  Beilage  zum  J.-M.-V.-Bl.  Nr.  1342  führt 
aus,  dass  B,  ein  Commissionshändler  in  Schafwolle,  4000  Sack  Mehl  kaufte,  für  einen  Kauf- 
preis von  200.000  Francs.  Vereinbart  war,  dass  bei  Realisierung  des  Geschältes  gegenseitig 
bar  reguliert  wird,  also  auch  auf  Seite  des  Oommissionärs.  Die  Klagsfirma  behauptete 
zwar,  sie  habe  das  Mehl  von  X  gekauft  und  später  an  Y  wieder  verkauft,  ohne  aber  durch 
X  oder  Y  Zeugenbeweis  zu  führen  oder  die  Vertragsbriefe  vorzulegen.  Sie  bietet  nur  den 
Haupteid  an,  der  ndt  Recht  abgelehnt  wurde.  —  Im  Falle  der  Entscheidung  v.  10.  April 
1896,  Z.  2-^51,  (Links  Nr.  4572j  wurde  einmal  behauptet,  dass  die  Käufe  oder  Verkäufe 
an  der  Börse  aus^reführt  wurden,  dann  wurde  sich  wieder  auf  Art.  376  berufen.  —  In  der 
Entscheidung  v.  16.  Mai  1899,  Jur.  Bl  lf:99,  Nr.  36,  heisst  es  wieder,  die  Einwendung  des 
Commissionsgescliäftes  kön  e  nicht  berücksichtigt  werden,  weil  Klager  nicht  einmal 
anführe,  mit  wt-m  <r  an  der  Börse  abgeschlossen  habe  —  Dagegen  enthält  die  Ent- 
scheidung vom  9.  Janner  1896  (A  Iler-Clemens  1865),  das  richtige  formulierte  Princip: 
„Wenn  der  wirklich  erfolgte  Kauf  oder  Verkauf  von  Wertpapieren  seitens  des  Com- 
missionär»« für  Rechnung  des  Auftraggebers  nachgewiesen  wird,  so  ist  die  Einwendung 
des  Spiels  ausgeschlnssen," 


Der  Spieleinwand  bei  Börsen-Speculationsgeschäften.  181 

scheint  auch,  soweit  man  wenigstens  nach  den  publicierten  Entscheidungen 
schliessen  kann,  bis  zum  heutigen  Tage  die  Rechtsauffassung  und  die  eigent- 
liclie  Tendenz  der  Judicatuv  des  obersten  Gerichtshofes  zu  sein.  Wenn  das 
loyale  Commissionsgeschäft  so  selten  vor  der  Judicatur  unseres  obersten 
Tribunals  erscheint,  so  ist  das,  so  sollte  man  meinen,  nicht  die  Schuld  des 
letzteren.  Es  ist  hier  freilich  an  eine  Bemerkung  zu  erinnern,  die  schon 
Otto  Michaelis^)  über  die  Judicatur  in  Börsenprocessen  gemacht  hat, 
dass  nämlich  im  allgemeinen  doch  nur  die  pathologischen  Fälle  vor  den 
Eichter  kommen.  Die  Fälle  aber,  welche  in  den  letzten  Jahren  vor  die 
höchsten  österreichischen  Richter  kamen,  waren  oft  in  der  That  ziemlich 
pathologischer  Art,  indem  der  Commissionär  fast  niemals  in  der  Lage  war, 
die  Ausführung  der  Geschäfte  zu  jenem  Course  nachzuweisen,  den  er  seinem 
Committenten  bekannt  gegeben  hat.  Unter  solchen  Umständen  war  der  oberste 
Gerichtshof  nicht  geneigt,  die  Rechtssätze  über  die  Commissionsverhältnisse 
anzuwenden,  sondern  behandelte  den  Commissionär,  der  mit  gutem  Grund 
durchaus  in  das  Geschäft  selbst  eingetreten  sein  will,  in  der  That  so,  wie 
wenn  er  die  Contrepartie  seines  Committenten  gewesen  wäre. 

Es  gibt  im  grossen  und  ganzen  drei  Sorten  von  Commissionären:  Die 
erste,  nicht  allzu  häufige,  stellt  der  unredliche  Commissionär  dar,  welcher 
in  der  That  die  Contrepartie  seines  Committenten  bildet,  z.  B.  jemanden  ver- 
anlasst, in  Effecten  ä  la  hausse  zu  speculieren  und  das  Geschäft  „in  sich" 
macht,  weil  er  meint,  dass  diese  fallen  werden,  ein  Fall  über  dessen  Un- 
redlichkeit ja  wohl  zumal  dann  allgemeine  Uebereinstimmung  herrscht,  wenn 
er  den  Committenten  zur  Speculation  veranlasst  und  ihn  beräth.  ^)  Die  zweite 
Art  ist  die  des  ehrlichen  Commissionärs,  welcher  den  Auftrag  zum  Ankauf 
von  Effecten  erhält,  an  die  Börse  geht,  sie  anschafft  und  seinem  Auftrag- 
geber den  wdrklich  erzielten  Cours  anrechnet,  indem  er  selbst  nur  die  redliche 
Provision  des  Commissionärs  dabei  erwerben  will.  Endlich  gibt  es  eine 
dritte  Sorte,  welche  man  wohl  die  des  „pathologischen"  Commissionärs 
nennen  kann.  Ein  solcher  schliesst  zwar  das  Geschäft  an  der  Börse  ab,  benimmt 
sich  aber  seinem  Committenten  gegenüber  so  als  hätte  er  kein  solches 
Geschäft  abgeschlossen.  Er  stellt  ihm  andere  Course  als  die  erzielten  in 
Rechnung  und  gewinnt  solcherart  den  sogenannten  „Schnitt".  Es  ist 
begreiflich,  dass  dieser  Commissionär,  gezwungen,  den  Nachweis  seiner 
Forderung  vor  Gericht  zu  führen,  mit  der  Wahrheit  nicht  herausrücken 
will.  Denn  wenn  die  Geschäfte,  die  er  mit  dritten  an  der  Börse  abgeschlossen 
hat,  solche  waren,  die  er  im  Auftrage  seines  Committenten  schloss,  er  aber 
dem  Committenten  trotzdem  höhere  Course  in  Rechnung  stellte,  so  hat  er 
etwas  begangen,  was  leicht  als  strafbare  Handlung  aufgefasst  w^erden  könnte. 
Er  muss  vor  Gericht  behaupten,  dass  er  jene  an    der   Börse    abgewickelten 


1)  Otto  Michaelis,  „Die  wirtschaftliche  Eolle  des  Speculationshandels"  in  der 
Vierteljahresschrift  für  Volkswirtschaft  und  Culturgeschichte,  zweiter  Jahrgang,  1864. 

-)  Ein  der  Börse  wohlwollend  gegenüberstehender  Schriftsteller,  Bendixen,  a.  a.  0. 
s;igt:  „Der  Commissionär  ist  regelmässig  der  Berather  seines  Committenten.  Ich  würde 
nicht  anstehen,  es  für  einen  Betrug  zu  erklären,  wenn  er  die  Contrepartie  macht." 


182 


Kosenberg. 


Geschäfte  für  sich  selbst  abschloss  und  dem  Contrahenten  gegenüber  als 
Selbstkäufer  oder  Selbstverkäufer  fungierte.  Damit  aber  ist  selbstverständlich 
jeder  Einwand  von  Spiel  und  Wette  zugelassen,  das  Commissionsverhältnis 
ist  dann  nach  den  eigenen  Angaben  des  Commissionärs  nur  der  Mantel,  der 
die  wahren  Thatsachen,  dass  er  mit  seinem  Committenten  gespielt  hat,  und 
die  an  der  Börse  abgeschlossenen  Geschäfte  nur  Deckungsgeschäfte  des 
Commissionärs  waren,  verhüllen  soll.  Dann  ist  die  die  Klage  abweisende  Ent- 
scheidung der  Gerichte,  vorausgesetzt,  dass  überhaupt  ein  reines  Differenz- 
geschäft vorliegt,  eine  vollauf  gerechtfertigte.  Es  ist,  das  muss  betont 
werden,  nicht  die  Schuld  unseres  obersten  Gerichtshofes,  wenn  die  Geschäfte 
der  letzteren  Art  die  Mehrzahl  jener  bilden,  die  seiner  Judicatur  unterbreitet 
werden,  und  wohl  auch  einen  grossen  Theil  jener  Börsencommissions- 
geschäfte  darstellen,  welche  in  Oesterreich  thatsächlich  abgeschlossen  werden. 
Das  pathologische  Börsencommissionsgeschäit  beherrscht  das  Verhältnis 
zwischen  Outsider  und  Broker  in  Oesterreich  oft  in  sehr  bedauerlicher  Weise. 

Wenn  man  diese  thatsächlichen  Verhältnisse  berücksichtigt,  so 
erscheint  die  Judicatur  unseres  obersten  Gerichtshofes  in  einem  ganz  andern 
Lichte.  Sie  ist  nicht  mehr  so  sehr  eine  künstliche  zu  Tendenzzwecken  vor- 
genommene Zusammenfassung  der  Thatsachen,  sondern  gewissermaassen  ein 
Auskunftsmittel  gegenüber  dem  Lug  und  Trug,  der  Unmoral,  die  das 
Commissionsgeschäft  häufig  umgibt.  Hier  ist  wohl  auch  der  Punkt,  wo  der 
Ansatz  für  eine  gesetzliche  Eegelung  der  ganzen  Frage  gegeben  ist. 

Fragen  wir  nach  den  praktischen  Folgerungen,  die  sich  aus  der 
Judicatur  des  obersten  Gerichtshofes  ergeben,  so  herrscht  heute  über  viele 
Fragen  keine  Meinungsverschiedenheit  mehr.  Es  ist  feststehend,  dass  die 
unklagbare  Spielschuld  nicht  die  Basis  einer  Anerkennung,  einer  Novation, 
einer  Bürgschaft  geben  könne,  dass  einem  zur  Berichtigung  ausgestellten 
Wechsel,  die  Einwendung  der  nicht  empfangenen  Valuta  entgegengesetzt 
werden  könne,  und  dass  selbst  Notariatsacte,  welche  eine  Anerkennung  dieser 
Schuld  enthalten,  für  rechtsunwirksam  betrachtet  werden  müssen.  Ein  gericht- 
licher Vergleich  erscheint  dagegen  wirksam.  In  höchstem  Maasse  aber 
streitig  ist  die  Beurtheilung  der  Frage,  ob  und  in  wieweit  ein  Pfandrecht 
für  solche  Forderungen  giltig  begründet  werden  kann,  welche  auf  das 
innigste  mit  der  Beurtheilung  der  sogenannten  Depotfrage  zusammenhängen. 

Das  österreichische  allgemeine  bürgerliche  Gesetzbuch  hat  in  der  Be- 
urtheilung von  Spiel  und  Wette  eine  mildere  Haltung  eingenommen  als  die  aus- 
ländische Gesetzgebung,  insbesondere  das  französische  und  das  preussische 
Kecht.  Während  nach  französischem  Rechte,  abgesehen  von  Wetten  und  Spielen, 
die  die  Bethätigung  körperlicher  Geschicklichkeit  zum  Zwecke  haben,  nur 
das  wirklich  zur  Berichtigung  der  Spielschuld  Bezahlte  nicht  zurückgefordert 
werden  kann,  gilt  im  Gebiete  des  preussischen  Landrechtes  der  Satz,  dass 
das  im  erlaubten  Spiel  „verlorene  und  wirklich  Bezahlte"  nicht  zurück- 
gefordert werden  könne  und  bei  Wetten  eine  gerichtliche  Klage  nur  alsdann 
zulässig  sei,  wenn  sogleich  gesetzt  und  entweder  gerichtlich  oder  in  die 
Verwahrung   eines   Dritten   niedergelegt   worden   ist.  Nach  österreichischem 


I 


Der  Spieleinwand  bei  Börsen-Speculationsgeschäften.  183 

Kechte  dagegen  sind  Wette  und  Spiel  insoweit  verbindlich,  als  der  bedungene 
Preis  nicht  bloss  versprochen,  sondern  wirklich  entrichtet  oder  hinterlegt 
worden  ist.  Die  Berathungsprotokolle  des  bürgerlichen  Gesetzbuches  ^)  gestatten 
keinen  Zweifel  darüber,  dass  bei  der  Berathung  die  Bestimmungen  des 
preussischen  Landrechtes  vorgelegen  sind.  Man  kann  es  also  nicht  einem  Zufall 
zuschreiben,  dass  die  Worte  „bei  Dritten"  vi^eggefallen  sind,  sondern  muss  auch 
die  Hinterlegung,  welche  der  eine  Wettende  bei  dem  andern  Wettenden  vor- 
nimmt, für  durchaus  rechtgiltig  erklären,  wenn  man  nicht  dem  Gesetze 
gewaltsam  Zwang  anthun  will.  Die  dagegen  erhobenen  Einwendungen,  dass  ja  in 
der  Kegel  nur  einer  im  Commissionsverhältnis  einsetze  und  doch  für  beide 
Theile  dieselben  Kechtsregeln  herrschen  müssten,  können  nicht  verfangen. 
Denn  selbst  nach  preussischem  Kecht  gilt  es  als  zweifellos,  dass,  wenn  auch 
nur  ein  Theil,  dort  allerdings  gerichtlich  oder  in  Verwahrung  eines  Dritten, 
hinterlegt  hat,  die  Klage  zulässig  sei.  Der  Grund  aus  welchem  die  Bestimmung 
des  bürgerlichen  Gesetzbuches  floss,  ist  übrigens  ganz  klar  und  eigentlich 
bereits  von  Zeiller  mit  voller  Schärfe  ausgesprochen  worden.  Das  Gesetz 
will  verhindern,  dass  der  leichtsinnige  Spieler  über  seine  Kräfte  spielt  und 
sich  in  Schulden  stürze;  was  er  aber  wohl  überlegt  gewagt  hat,  damit  soll 
er  haften:  mit  dem  also,  was  er  einsetzt  oder  bei  einem  Dritten  hinterlegt. 
Ein  weiteres  Argument,  dass  es  sich  hier  ja  nicht  um  einen  bedungenen 
Preis  handle,  macht  sich  einer  gewissen  Doppelzüngigkeit  schuldig.  Denn 
daraus,  dass  bei  dem  sogenannten  reinen  Differenzgeschäfte  ein  bestimmter 
Preis  überhaupt  nicht  bedungen  ist,  könnte  am  Ende  doch  nur  geschlossen 
werden,  dass  man  es  hier  weder  mit  Spiel  noch  mit  Wette  zu  thun  habe. 
Wenn  man  aber  solche  Geschäfte  als  Wette  oder  Spiel  betrachtet,  so  muss 
man  implicite  zugestehen,  dass  zum  Begriff  derselben  ein  bestimmter  Preis 
nicht  erforderlich  ist,  und  dass  Spiele  insoweit  verbindlich  sind,  als  eben 
der  Preis  hinterlegt  worden  ist.^) 

Führt  nun  diese  Auffassung  zunächst  zu  dem  in  den  erst  in  der  neuesten 
Zeit  publicierten  Entscheidungen  des  obersten  Gerichtshofes  festgestellten 
Ergebnis,^)  dass  bei  Cautionen,  welche  in  Barem  als  sogenannte  Deckung 
gegeben  werden,  ein  Rückforderungsrecht  des  Spielers  nicht  stattfinden  kann, 
so  bietet  sie  doch  auch  einen  wichtigen  Anhaltspunkt  zur  Beantwortung 
der  Frage,  ob  andere  als  Barcautionen,  insbesondere  Wertpapiere  und  Lose, 
zurückgefordert  werden  können.  Auch  diese  Frage  dürfte  nach  geltendem 
Rechte  aus  doppeltem  Grunde  zu  verneinen  sein.  Einmal  sind  diese  Wertpapiere 
und  Effecten  eben  in  den  concreten  Fällen  das,  was  der  eine  Spieler  einsetzt, 

^)  Ofner,  Urentwurf  des  österr.  a.  b.  G.-B. 

2)  Zeiller,  Commentar  III.,  S.  670,  IV.,  S.  16.  S.  160.  Stubenrauch  u.  Hasen- 
ohr], Obl.  E.,  I.,  S.  47.  Kirchstetter,  Commentar,  S.  258,  Note  13.  H.  M.  Schuster, 
G.-Z.  1900.  „Juristische  Blätter",  Wochenschau  1900,  Nr.  17,  Nr.  25.  Dr.  Raum  an  n  in  den 
„Jur  Bl."  1900,  Nr.  28.  Dr.  Hollerstein,  in  den  „Jur.  Bl."  1900,  (Nr.  30).  Horowitz 
in  der  „Neuen  freien  Presse"  vom  27.  April  1900.  —  Allgemeines:  Unger,  in  der  „Ger.-Ztg." 
1888,  Nr.  33.  Exner,  „Oesterr.  Hypolhekenrecht",  S.  137. 

3)  Entscheidung  des  obersten  Gerichtshofes  vom  19.  October  1898,  Z.  9611,  Gl.-U. 
Neue  Folge,  I.,  843. 


184  Eosenberg. 

und  insoweit  ein  solcher  Einsatz  vorhanden  ist  und  soweit  er  reicht,  sollen 
ja  Spiel  und  Wette  giltig  und  klagbar  sein.  Selbst  wenn  man  jedoch  dieser 
Auffassung  nicht  beipflichtet,  so  müsste  man  zum  mindesten  zugestehen,  dass 
nach  der  Auffassung  unseres  bürgerlichen  Gesetzbuches  die  Spiel-  und  Wett- 
schuld eine  sogenannte  Obligatio  naturalis  darstelle,  welche  gewisse  Kechts- 
wirkungen  entfalten  kann.  Wie  weit  diese  Eechtswirkungen  gehen,  ist  an 
der  Hand  des  Gesetzes  zu  beurtheilen,  und  da  scheint  es  doch  zweifellos 
zu  sein,  dass  das  Kecht  in  Wahrung  von  Treu  und  Glauben  im  Verkehr 
von  der  Auffassung  ausgieng,  dass  der  Schuldner  das,  was  er  an  Vermögen 
in  den  Besitz  seines  Gläubigers  übergeben  hat,  von  welchem  er  also  damit 
rechnen  muss,  dass  es  nicht  mehr  in  seine  Hände  zurückkommt,  nicht  mehr 
zurückverlangen  könne,  dass  also  die  natürliche  Obligation  einer  Bestärkung 
durch  ein  Pfandrecht  insoweit  fähig  ist,  als  durch  die  Bestellung  des  Pfand- 
rechtes zugleich  ein  Vermögensstück  aus  der  Verfügungsgewalt  des  Schuldners 
in  die  des  Gläubigers  gelangt.  Daraus  ergibt  sich  für  das  österreichische 
Recht  die  Giltigkeit  des  Faustpfandes  an  wirklichen  Vermögensstücken  des 
Schuldners,  dagegen  aber  auch  die  Richtigkeit  der  mit  Unrecht  so  oft  gegen 
die  Depotfrage  ins  Treffen  geführten  Anschauung  Einers  von  der  Ungiltigkeit 
der  Hypothek,  weil  durch  eine  solche  hypothekarische  Pfandbestellung  noch 
keineswegs  ein  Vermögensobject  aus  der  Gewalt  des  Schuldners  in  die  des 
Gläubigers  gelangt,  demnach  der  Schuldner  bei  der  Ausstellung  einer 
Hypothekarurkunde  keineswegs  im  vollen  Bewusstsein  der  Sachlage  gehandelt 
haben  muss. 

Damit  wären  die  Rechtsfolgen  der  modernen  Judicatur  in  den  Börsen- 
differenzprocessen  so  ziemlich  klar  gelegt.  Offen  bleibt  aber  die  Frage  nach 
den  wirtschaftlichen  Folgen,  welche  ungleich  wichtiger  zu  sein  scheinen. 

Die  grosse  Frage  ist  die,  ob  zunächst  die  Tendenz  der  Judicatur,  die 
Abschreckung  Unberufener  vom  Börsenspiel,  erreicht  wird.  Hier  muss  man 
unterscheiden.  In  ruhigen  Zeitläuften,  namentlich  in  denjenigen,  in  welchen 
•solche  Börsenoperationen  kaum  häufig  zu  tragischen  Ergebnissen  führen, 
wird  durch  die  Unklagbarkeit  derselben  wohl  nur  ein  verschwindend  geringer 
Theil  von  Commissionären  abgeschreckt,  solche  Geschäfte  zu  machen,  und 
die  Geschäfte,  welche  von  jenen  Vorsichtigem  nicht  gemacht  werden,  dürften 
zum  weitaus  grössten  Theile  in  scrupellosere  Hände  übergehen.  Das  Ver- 
trauen auf  Treu  und  Glauben,  auf  Einhaltung  des  gegebenen  Wortes  ist 
etwas,  was  aus  dem  Rechtsleben,  man  muss  wohl  sagen,  glücklicher  Weise, 
nicht  zu  verbannen  ist.  Den  Spieleinwand  erheben  auch  erfahrungsmässig 
nur  wenige  Personen,  und  auch  diese  nur  dann,  wenn  sie  bereits  so  namhafte 
Verluste  erlitten  haben,  dass  ihr  Vermögen  ohnedies  kaum  mehr  ausreichen 
würde,  um  dem  Ansturm  aller  andrängenden  Börsengläubiger  standzuhalten. 
Diese  vollziehen  dann  die  capitis  deminutio  und  wollen  sich  mit  den  Resten 
ihres  Vermögens  zurückziehen,  oder  vielmehr  sie  drohen  jene  capitis 
deminutio  an.  Die  Einwendung  von  Spiel  und  Wette  wird  in  der  ungeheuren 
Mehrzahl  der  Fälle  gar  nicht  gerichtlich  erhoben,  sondern  nur  angedroht, 
um    zu    einem   Ausgleich    zu   gelangen.  Das  Börsenspiel  wird  dadurch  aber 


Der  Spieleinwand  bei  Börsen-Speculationsgeschäften.  I85 

kaum  vermindert,  zumal  wenn  die  Deckung,  wie  nach  österreichischem  Kecht 
kaum  anders  möglich,  nicht  zurückgefordert  werden  kann.  Die  Unklagbarkeit 
dient  dann  nur  dazu,  den  Commissionär  wachsam  zu  erhalten,  bis  die 
Deckung  erschöpft  ist,  so  dass  er  dann  auf  sofortigem  Nachschuss  besteht, 
und  wenn  dieser  nicht  geleistet  wird,  umso  schneller  seinen  Committenten, 
wie  der  bekannte  Ausdruck  lautet,  „aus  dem  Engagement  wirft."  In  scheinbar 
günstigen  volkswirtschaftlichen  Perioden,  in  welchen  die  Course  in  die  Höhe 
gehen,  und  das  Geld  sozusagen  auf  der  Strasse  zu  liegen  scheint,  werden 
alle  Dämme  durchbrochen,  welche  der  Betheiligung  des  Publicums  an  der 
Speculation  im  Wege  stehen.  Ein  Theil  des  speculierenden  Publicums  würde 
es  geradezu  als  Unrecht  betrachten,  würde  es  ihm  verwehrt  an  jenen 
Operationen  theilzunehmen,  durch  welche  zur  Zeit  einer  glücklichen  Conjunctur 
die  Börseleute  grosse  Reichthümer  anhäufen  können.  Es  betrachtet  das 
Eecht  auf  Zulassung  zum  Börsenspiel  gewissermaassen  als  angeborenes 
Menschenrecht,  das  sich  verkümmern  zu  lassen,  es  unter  keinen  Umständen 
gewillt  ist.  Anders  steht  freilich  die  Sache,  wenn  die  grosse  Baisse  ein- 
getreten ist  und  die  Operationen  liquidiert  werden  müssen.  Auch  hier  zahlen 
die  meisten  Schuldner,  solange  sie  irgend  können,  schon  aus  dem  Grunde, 
weil  sie  weiter  speculieren  wollen.  Erst  wenn  sie  nicht  mehr  können,  oder 
wenn  sie  in  Concurs  verfallen  sind,  wird  der  DifferenzeinAvand  so  recht 
eigentlich  erhoben,  abgesehen  von  jenen  in  der  That  verachtungswürdigen 
Individuen,  welche  den  empfangenen  Diflferenzgewinn  einstreichen,  und  wenn 
sie  verloren  haben,  den  Spieleinwand  erheben. 

Gerade  in  Zeiten  der  grossen  Baisse  aber  ist  dieser  Einwand  von 
allgemeiner  volkswirtschaftlicher  Gefahr.  Seine  Zulassung  hätte  nur  dann 
einen  Wert,  wenn  sie  vom  Spiele  abschreckte.  Wenn  aber  dies  nicht  geschah, 
verschärft  sie  nur  die  Krise.  Ein  classisches  Beispiel  bietet  der  in  Naquets 
Bericht  erwähnte  Verlauf  der  Bontoux-Krise,  Als  die  Course  abzubröckeln 
begannen  und  die  agents  sahen,  dass  ihre  Auftraggeber  die  exception  de 
jeu  entgegensetzten,  suchten  sie  ihre  Verluste  zu  beschränken.  Sie  wiesen 
neue  Aufträge  ä  la  hausse  ab  und  zwangen  jene  Haussiers,  welche  die 
Liquidierung  ihrer  Position  verweigerten,  dies  dennoch  zu  thun,  indem  sie  die 
Effecten  nicht  mehr  in  Kost  nahmen.  Dadurch  fand  die  Contremine  an  der 
Börse,  als  sie  sich  decken  wollte,  keine  Contrepartie  und  die  Course  fielen 
ins  Bodenlose,  weit  mehr  als  sie  sonst  gefallen  wären.  Der  Bericht  fügt  bei, 
dass  die  Verluste  des  Publicums  ungleich  geringer  gewesen  wären,  wäre 
das  Parquet  nicht  zu  solchem  Verhalten  gezwungen  gewesen.  Das  leuchtet 
auch  ein.  Wenn  zur  Bestürzung  und  Nervosität  der  Krise  sich  noch  die 
Untreue  gesellt,  so  muss  ein  allgemeines  Debäcle  die  Folge  sein,  das,  wie 
man  in  Oesterreich  aus  trauriger  Erfahrung  weiss,  sich  nicht  auf  die  Börse 
beschränkt,  sondern  die  gesammte  Volkswirtschaft  erfasst.  Eine  gute 
Gesetzgebung  muss,  zumal  hier,  sociale  Hygiene  und  nicht  Repression 
treiben. 

Die  Judicatur  über  das  Börsenspiel  ist  an  sich  juristisch  kaum  voll- 
kommen haltbar.    Denn    es   ist  kaum  anzunehmen,  dass  mit  Ausnahme  der 


186  Rosenberg. 

des  Börsenwesens  ganz  unkundigen  Personen  irgend  jemand,  der  sich  in 
solche  Speculationen  einlässt,  wirklich  glauben  könne,  dass  er  mit  den 
Papieren  selbst  gar  nicht  das  Mindeste  zu  thun  habe  und  dass  die  effective 
Lieferung  vertragsmässig  ausgeschlossen  sei.  Das  kommt  gerade  bei  den 
einigermaassen  eingeweihten  Speculanten,  wie  schon  das  hanseatische  Ober- 
landesgericht zutreffend  ausgeführt  hat,  in  der  That  gar  nicht  vor.  Damit 
fällt  aber  die  Theorie  von  Spiel  und  Wette  in  ihrer  Anwendung  auf 
Börsenspeculationen  vollkommen  hinweg.  Es  fehlt  ihr,  wenn  auch  durchaus 
nicht  an  einer  wirtschaftlichen,  so  doch  an  einer  juristischen  Kechtfertigung, 
sie  arbeitet  mit  einer  Fiction,  welche  den  Thatsachen  in  der  That  häufig 
entgegen  ist.  Sie  ist  nichts  anderes  als  ein  Act  der  Nothwehr  der  Judicatur 
gegenüber  den  Ausschreitungen  und  der  maasslosen  Ausbeutung  und  Ver- 
führung des  Publicums  durch  die  Börsenspeculation,  ein  Mittel,  durch 
welches  man  die  Commissionäre  dazu  zu  veranlassen  hofft,  dass  sie  wegen 
des  grossen  Eisicos  des  Geschäftes,  mit  Unberufenen  Börsengeschäfte  nicht 
nicht  mehr  eingehen.  Dass  diese  Speculation  verfehlt  ist,  zeigt  das  wirt- 
schaftliche Leben. 

Damit  muss  naturgemäss  die  Frage  aufgeworfen  werden,  ob  es  denn 
nicht  andere  Mittel,  sei  es  der  Gesetzgebung,  sei  es  der  Judicatur  gebe,  um  der 
Börsenspeculationen  Unberufener  Herr  zu  werden.  Die  Einschränkung  auf 
„Unberufene"  wird  man  wohl  machen  müssen,  wenn  man  von  dem  über- 
wiegenden Vortheile  der  legitimen  Fondsspeculation  für  die  Lenkung  der 
Capitalskraft  einer  Nation  überzeugt  ist^)  und  auch  den  Speculationshandel  in 
sonstigen  Gütern,  welche  einer  Weltconjunctur  unterliegen,  für  vortheilhaft  hält, 
um  die  Consumenten  nicht  bloss  der  Nachtheile,  sondern  auch  der  Vortheile 
dieser  Conjunctur  theilhaftig  werden  zu  lassen,  und  die  Bildung  schädlicher 
Cartelle  und  Einge  zu  verhindern.  Es  ist  aber  zweifellos  Aufgabe  der  Gesetz- 
gebung, das  Börsenspiel  Unberufener  zu  verhindern,  nicht  nur  weil  diese 
auf  die  Preise  einen  unberechtigten  Einfluss  ausüben,  sondern  vor  allem 
weil  es  Aufgabe  des  Staates  ist,  soweit  dies  ohne  allzugrosse  Eingriffe  in 
die  Freiheit  des  einzelnen  möglich  ist,  ihn,  insbesondere  aber  seine  Familie, 
vor  den  Folgen  seines  eigenen  Leichtsinnes,  welcher  sich  mit  besonderer 
Unerfahrenheit  in  unbekannte  Geschäfte  mengt,  zu  hüten.  Wer  es  praktisch 
mit  angesehen,  wie  ein  solcher  durch  Verführungskünste  zum  Börsenspiel 
Ueberredeter,  sein  Vermögen  und  das  seiner  Frau  und  Kinder  zum  Opfer 
bringt,  dabei  seiner  ehrlichen  Arbeit  nicht  mehr  mit  Euhe  nachzugehen 
weiss,  weil  ihr  Erträgnis  für  ihn  im  Vergleich  mit  den  Schwankungen  des 
Börsenspiels  nicht  mehr  in  Betracht  kommt,  der  wird  nicht  verkennen,  dass 
die  Pflicht  des  Staates,  hier  nach  Kräften  einzugreifen  eine  geradezu  unab- 
weisliche  ist.  Ein  Einschreiten  des  Staates  ist  nun  bereits  von  dem  deutschen 
Börsengesetz  versucht  worden,  welches,  soweit  es  nicht  den  Terminhandel 
aufheben  will,  auch  von  dem  hier  vertretenen  Standpunkt  aus,  nach  seinen 
Absichten   als   vollkommen   richtig   bezeichnet   werden   muss.    Drei   Mittel 


^)  Michaelis,  a.  a.  0.  Proudhon,  „Manuel  du  spcculateur  de  la  bourse." 


Der  Spieleinwand  bei  Börsen-Speculationsgeschäften.  .  187 

müssen  combiniert  zur  Anwendung  kommen,  um  die  Ausschreitungen  der 
Speculation  durch  Unberufene  zu  verhindern. 

Das  erste  Mittel  richtet  sich  gegen  diejenigen,  welche  das  Publicum 
zum  Spiele  verlocken.  Die  Gesetzgebung  hat  in  diesem  Falle  Mittel  zu 
wählen,  welche  an  sich  nicht  unmoralisch  sind  und  zugleich  verliindern, 
dass  im  Falle  einer  ungünstigen  Conjunctur  sich  die  Schuldner  plötzlich 
ihrer  Verpflichtungen  zu  entledigen  suchen,  wodurch  die  die  Volkswirtschaft 
drohende  Krise  ungemein  verschärft  wird.  In  dem  Kampfe  gegen  die  Börse 
vergessen  ja  die  Gegner  derselben  so  häufig,  dass  mit  jedem  Euin  der  Börse, 
welche  die  allerdings  vielleicht  entartete  Krone  unseres  Wirtschaftsgebäudes 
darstellt,  auch  die  ganze  Volkswirtschaft  auf  das  empfindlichste  getroffen 
wird,  wie  alle  Erfahrungen  zeigen.  All'  diejenigen  Mittel,  welche  einen  Zu- 
sammenbruch der  Börse  herbeiführen  können,  sind  daher  von  vornherein 
höchst  gefährlich,  sind  ihrerseits  nichts  anderes  als  Glücksspiele  der  Gesetz- 
gebung, welche  zwar  gut  ausfallen  können,  aber  wenn  sie  schlecht  endigen, 
den  grössten  Schaden  stiften.  Die  Mittel,  Avelche  die  Gesetzgebung  ver- 
wendet, sollen  daher  den  Verkehr  nicht  belästigen  und  den  Börsenverkehr, 
soweit  er  irgend  auf  loyalem  Grunde  steht,  nicht  einschränken. 

unter  diesen  Voraussetzungen  ergibt  sich  ein  dreifaches  System  von 
Maassnahmen,  welche  die  Gesetzgebung  treffen  kann,  um  das  Börsenspiel 
Unberufener,  soweit  als  irgend  möglich,  einzuschränken.  Vor  allem  muss 
man  im  Wege  der  Gesetzgebung  auf  jene  Personen  einwirken,  deren  Ver- 
mittlung sich  das  Publicum  beim  Börsenspiel  bedient :  die  sogenannten 
Commissionshäuser  und  Banken.  Die  Gewinne,  welche  diese  aus  der  Be- 
friedigung der  Spielsucht  des  Publicums  ziehen,  sind  wie  ja  in  der  Literatur 
bereits  vielfach  nachgewiesen  worden  ist,  geradezu  ausserordentlich  hoch.  ^) 
Dabei  kann  man  von  der  gewiss  nicht  zahlreichen  Gruppe  derer  absehen, 
die  die  Geschäfte  pur  et  simple  in  sich  machen  und  den  erhaltenen  Auf- 
trag einfach  nicht  ausführen,  sondern  die  Contre-Partie  ihrer  Auftraggeber 
bilden.  Allein  auch  abgesehen  von  dieser  wenig  zahlreichen  Schar  der  Com- 
missionäre,  muss  man  erwähnen,  dass  der  Commissionär  mit  Hilfe  des 
Schnittes,  den  die  mathematisch  gebildeten  Banquiers  der  Berliner  Börse 
den  , goldenen"  Schnitt  zu  nennen  pflegen,^)  sich  auf  Kosten  des  bei  ihm 
spielenden  Publicums  in  geradezu  ungemessener  Weise  bereichern  kann. 
Er  braucht  dabei  das  Publicum  nicht  direct  und  sans  phrase  zu  betrügen, 
wie  es  immer  dann  der  Fall  wäre,  wenn  er  seinem  Committenten  einen 
höhern  Cours  anrechnet,  als  am  Börsentage  überhaupt  vorgekommen  ist, 
sondern  er  hat  in  den  täglichen  Schwankungen  der  Course  am  Börsentage 
eine  gewisse  Latitude  bei  der  Aufrechnung  von  Coursen,  innerlialb  welcher 
er  mit  grösserer  oder  geringerer  Freiheit  sich  bewegt,  je  nach  seinem  eigenen 
Charakter,  dem  Ansehen  seiner  Firma  und  der  Geschäftsgewandtheit  des- 
jenigen, für  den    er   Aufträge  vollführt.     Der  Gewinn,    den    solcherart   viele 

1)  Vgl.  die  Abhandlungen  Eschenbachs,  Grünhuts  a.a.O.  Goldscbmidts  a.a.O. 

2)  Lüb,  die  Wirkungen  des  Börsengesetzes  in  Conrads  Jahrbüchern,  III.  F., 
13.  B.,  S.  725. 


;l  38  •  Kosenberg. 

Commissionäre  einheimsen,  ist  im  Verhältnis  zur  Mühewaltung  bisweilen 
ausserordentlich  gross,  und  man  geht  gewiss  nicht  fehl,  wenn  man  annimmt, 
dass  die  Erwartung  solch  grösserer  mühelos  erzielter  Gewinne  sie  veranlasst, 
keine  Auslagen  der  Geschäftsregie  zu  scheuen,  um  das  Publicum  zum  Börsen- 
spiel zu  veranlassen  und  selbst  das  Risico  der  Klaglosigkeit  auf  sich  zu 
nehmen.  Der  mit  dem  Betriebe  der  Börse  unbekannte  Outsider  weiss  dabei 
nicht  einmal,  wieviel  der  Commissionär  an  ihm  verdient,  und  gibt  sich  oft 
sogar  dem  Glauben  hin,  dass  dieser  mehr  aus  Gefälligkeit,  als  um  die  ge- 
ringe Provision  zu  verdienen,  für  ihn  Geschäfte  an  der  Börse  entrierte.  Dieses 
Verhältnis,  das  von  durchaus  ungesunder  Art  ist,  muss  im  Wege  der  Gesetz- 
gebung geordnet  werden.  Es  muss  endlich  klar  werden,  dass  der  Commis- 
sionär zu  seinem  Committenten  in  einem  Treueverhältnis  steht,  dass  er  in 
der  That  und  nicht  bloss  im  Buchstaben  des  Paragraphen  das  Interesse 
seines  Committenten  mit  der  Sorgfalt  eines  ordentlichen  redlichen  Kauf- 
mannes zu  wahren  hat,  und  dass  auch  dann,  wenn  er  von  dem  Selbstein- 
tritte Gebrauch  macht,  ihm  damit  noch  nicht  die  Freiheit  gegeben  ist, 
welche  bei  Käufen  und  Verkäufen  nach  einer  in  letzter  Zeit  viel  citierten 
Pandectenstelle  den  Contrahenten  zusteht,  die  Freiheit  sese  circumvenire  et 
circumscribere.  Könnte  man  das  nach  Goldschmidt  sehr  bedenkliche 
Selbsteintrittsrecht  des  Commissionärs  gänzlich  aufheben  ^)  und  ihn  dazu 
verhalten,  erforderlichenfalls  durch  Vorlage  seiner  Handelsbücher  Rechen- 
schaft über  die  Ausführung  eines  jeden  Auftrages  zu  geben,  so  Aväre  ver- 
muthlich  das  Börsenspiel  in  kurzer  Zeit  gar  sehr  eingeschränkt,  zumal  in 
den  am  meisten  verabscheuungswürdigen  Fällen.  Denn  jeder  Commissionär 
würde  es  sich  sehr  überlegen,  unerfahrene  Frauen  oder  etwa  geschäftsunkun- 
dige Officiere  zum  Börsenspiel  zu  veranlassen,  wenn  er  wüsste,  dass  ihm 
für  diese  Handlungsweise,  denn  doch  nichts  anderes  als  eine  magere  Pro- 
vision in  Aussicht  stehe. 

Es  ist  nun  Aufgabe  der  Gesetzgebung,  welche  hier  nicht  mit  einem 
plötzlichen  Sprung  vorgehen  kann,  wenn  das  Selbsteintrittsrecht  des  Com- 
missionärs nicht  völlig  aufgehoben  werden  kann,  doch  die  Möglichkeit 
des  Coursschnittes  thunlichst  zu  benehmen,  was  nach  dem  Vorbilde  des  neuen 
deutschen  Handelsgesetzes  leicht  möglich  ist.  Der  Commissionär  ist  nach 
deutschem  Rechte  verpflichtet,  beim  Selbsteintritt  den  Nachweis  zu  führen, 
dass  der  zur  Zeit  der  Ausführung  der  Commisskn  bestandene  Börsen-  oder 
Marktpreis  von  ihm  eingehalten  wurde.  Als  Zeit  der  Ausführung  gilt  der 
Zeitpunkt  der  Abgabe  der  Anzeige  von  der  Ausführung.  Ist  die  Ausfflhrungs- 
anzeige  erst  nach  dem  Schlüsse  der  Börse  abgesendet,  so  darf  der  berech- 
nete Preis  für  den  Committenten  nicht  ungünstiger  sein  als  der  Schluss- 
cours.  Soll  die  Commission  zu  einem  bestimmten  Course,  erster,  Mittel- 
oder letzter  Cours,  ausgeführt  werden,  so  ist  der  Commissionär  ohne  Rück- 
sicht auf  die  Zeit  der  Absendung  der  Ausführungsanzeige  diesen  Cours  dem 


•     ^)  Vgl.  Grünhut,  Mäkler-  und  Coramissionsgeschäft  in  Endemanns  Handbuch, 
IlL,  S.  251  ff. 


Der  Spieleinwand  bei  Börsen-Speculationsgescliäften.  189 

Committenten  in  Kechnung  zu  stellen  verpflichtet.  Aus  dem  Gesetze  ergibt 
sich  aber  auch,  dass  der  Commissionär  dem  Committenten  den  günstigem 
als  den  Preis  zur  Zeit  der  Absendung  der  Ausföhningsanzeige  anzugeben 
hat,  wenn  er  bei  Anwendung  pflichtgemässer  Sorgfalt  die  Commission  zu 
diesem  günstigere  Preise  ausführen  konnte.  Wenn  der  Commissionär  endlich 
vor  der  Absendung  der  Ausführungsanzeige  aus  Anlass  der  ertheilten  Com- 
mission an  der  Börse  ein  Geschäft  mit  einem  dritten  abgeschlossen  hat,  so 
darf  er  dem  Committenten  keinen  ungünstigere,  als  den  hiebei  erzielten 
Preis  anrechnen.  Damit  soll  das  Speculieren  auf  dem  Rücken  des  Com- 
mittenten getroffen  werden;  der  Commissionär  kauft  ein  Papier  an  der  BörsQ 
und  erklärt  dann,  wenn  der  Cours  gestiegen  ist,  er  habe  dieses  Geschäft 
für  sich  gemacht  und  gebe  nunmehr  von  sich  seinem  Committenten  die 
Effecten  zum  gestiegenen  Course  ab.  Besonders  wichtig  ist  die  Bestimmung, 
dass  der  Commissionär,  der  die  Ausführung  der  Commission  anzeigt,  ohne 
ausdrücklich  zu  bemerken,  d;iss  er  selbst  eintreten  wolle,  hiemit  die  Er- 
klärung abgibt,  dass  die  Ausführung  durch  Abschluss  des  Geschäftes  mit 
einem  dritten  für  Rechnung  des  Committenten  erfolgt  sei.  Daraus  ergibt 
sich  die  Verpflichtung  des  Commissionärs,  die  Ausführung  des  Geschäftes 
im  etwaigen  Processe  ausdrücklich  nachzuweisen. 

Es  kann  einem  Zweifel  nicht  unterliegen,  und  wird  auch  allseitig  zu- 
gegeben, dass  durch  solche  Bestimmungen  die  Gewinne  aus  den  Commis- 
sionsgeschäften  gar  sehr  beschnitten  werden  ^)  und  damit  ist  von  selbst 
gesagt,  dass  ein  geringerer  Reiz  für  die  Commissionäre  besteht,  das  Publicum 
zum  Börsenspiel  zu  veranlassen.  Es  mag  ja  sein,  dass  die  Commissionäre 
unter  solchen  Umständen  die  Provision  erhöhen  würden,  die  heute  fast  nur 
mehr  decorative  Bedeutung  hat,  weil  sie  gegenüber  dem  Schnitt  oft  fast  keine 
Rolle  spielt.  Allein  eine  annähernd  so  hohe  Provision,  dass  sie  den  Ausfall 
am  Schnitte  zu  decken  vermöchte,  wird  das  Publicum  nie  bewilligen  und 
vor  allem  würde  das  Publicum  die  höhere  Provision  doch  zweifellos  nur 
den  solidem,  wohlangesehenen  Bankhäusern  bewilligen,  während  jetzt  das 
Umgekehrte  der  Fall  ist,  da  den  höhern  Schnitt  das  minder  solide,  minder 
anständige  Bankhaus  macht.  Schon  das  wäre  ein  wesentlicher  Fortschritt, 
da  hiedurch  das  Commissionsgeschäft  in  bessere  Hände  käme. 

Eine  zweite  gesetzgeberische  Maassnahme  ist  die  der  Bestrafung  der- 
jenigen, welche  andere  gewohnheitsmässig  in  gewinnsüchtiger  Absicht  unter. 
Ausbeutung  ihrer  ünerfahrenheit  oder  ihres  Leichtsinnes  zu  Börsenspecu- 
lationsgeschäften  verleiten,  die  nicht  zu  ihrem  Gewerbebetriebe  gehören. 
Die  Verleimng  der  Outsiders  soll  unter  Strafe  gestellt  werden,  wenn  sie 
in  der  angegebenen  Weise  geschieht.  Das  hat  schon  der  deutsche  Jinisten- 
tag  im  Jahre  1893  beantragt,  und  wenn  die  Vorschriften  des  Gesetzes 
scharf  und  präcise  formuliert  werden,  so  ist  <»uch  die  Gefahr  eines  Miss- 
brauches nicht  leicht  möglich. 

Doch  wäre  der  Hauptwert  auf  civilrochtliche  Bestimmungen  zu  legen. 
Hier    empfiehlt    sich    allerdings    wohl    kaum    das  Vorgehen    des    deutschen 

^)  Lob,  a.  a.  0.  •• 


190  Kosenberg. 

Gesetzes,  welches  aus  der  Eeihe  der  Volksgenossen  diejenigen  heraushebt, 
welche  Termingeschäfte  giltig  abschliessen  können,  und  eben  dadurch  diese 
mit  einem  gewissen  Stigma  behaftet.  Der  Grundgedanke  des  deutschen  Ge- 
setzes, dass  nämlich  solche  Speculationsgeschäfte  bei  gewissen  Personen 
etwas  vollkommen  Gestattetes  und  Erlaubtes  sein  sollen,  bei  andern  aller- 
dings höchst  bedenklich  erscheinen,  ist  aber  ein  durchaus  gesunder  Gedanke. 
Im  modernen  Staate  besteht  zwischen  den  einzelnen  Volksschichten  infolge 
der  Einwirkung  einer  verfeinerten  Cultur,  der  verschiedenartigen  Erziehung 
und  Lebensbeschäftigung  eine  Differenzierung  in  der  Erkenntnis  und  dem 
Verständnis  wirtschaftlicher  Dinge,  welche  die  früheren  staatlichen  Gemein- 
schaften und  daher  auch  ihre  Gesetzgebungen  wohl  kaum  in  ähnlichem  Maasse 
kannten.  Der  Grundsatz  der  allgemeinen  Kechts-  und  Handlungsfähigkeit 
und  der  Gleichheit  aller  vor  dem  Gesetze  kann  daher  nur  zu  häufig  dazu- 
führen,  dass  jene,  welche  von  Geschäften  bestimmter  Art  gar  nichts  ver- 
stehen, die  „rustici''  könnte  man  nach  dem  Vorbild  des  römischen  Rechtes 
sagen,  die  Opfer  der  in  solchen  Geschäften  Wohlbewanderten  werden,  die 
ihr  ganzes  Leben  dazu  verwenden,  die  Speculation  und  ihre  Anwendung 
praktisch  zu  erproben.  Wenn  nun  die  Gesetzgebung  erklärt,  dass  sie  jene 
„rustici"  von  derartigen  Geschäften  ausschliessen  wolle,  so  übt  sie  aller- 
dings damit  eine  Art  Vormundschaft  über  dieselben  aus,  aber  eine  durchaus 
Avohlthätige,  in  deren  eigenem  Interesse  gelegene,  da  von  den  zahlreichen 
Outsiders  zwar  schon  viele  ihr  ganzes  Vermögen  durch  solche  Geschäfte  einge- 
büsst  haben,  kaum  irgendjemand  aber  ein  Vermögen  an  denselben  auf  die  Dauer 
erworben  hat.  Es  ist,  das  lässt  sich  nicht  leugnen,  eine  Beschränkung  der 
Handlungsfähigkeit,  gleichwie  wenn  man  etwa  die  allgemeine  Wechselfähig- 
keit beseitigen  wollte,  aber  von  vornherein  kann  an  einem  solchen  Gedanken 
nichts  Absurdes  gefunden  werden,  und  es  kommt  hier  in  der  That  auf  den 
Culturzustand  eines  Volkes,  auf  sein  Verständnis  in  wirtschaftlichen  Dingen, 
auf  seine  kaufmännische  Schulung  an.  Die  Aufgabe  der  Gesetzgebung 
könnte  den  Kreis  derjenigen  Personen  auswählen,  welche  Börsenspeculations- 
geschäfte  nicht  abschliessen  dürfen.  Die  Kriterien  hiezu  sind  nicht  schwer 
zu  finden.  Zu  Börsenspeculationsgeschäften  sind  Personen  nach  ihrem  Ver- 
mögen oder  nach  ihrem  Berufe  geeignet,  wenn  sie  sonst  dazu  Lust  em- 
pfinden. Man  müsste  daher  Börsenspeculationsgeschäfte  für  ungiltig  erklären, 
wenn  sie  in  einem  offenbaren  Missverhältnis  stehen  zur  Berufsstellung  und 
zur  Vermögenslage  des  einen  der  Contrahenten,  und  wenn  dieses  Missver- 
hältnis dem  andern  Contrahenten  bekannt  war,  oder  bei  Anwendung  der 
Sorgfalt  eines  ordentlichen  und  redlichen  Kaufmannes  doch  hätte  bekannt 
sein  müssen.  Während  für  die  Effectenbörse  diese  Vorschriften  genügen 
dürften,  könnte  man  für  die  Warenbörsen  noch  weiter  gehen  und  alle  jene 
Geschäfte  für  ungiltig  erklären,  welche  mit  dem  Berufe  oder  dem  Umfange 
des  Betriebes  des  betreffenden  Contrahenten  in  einem  auffälligen  Missver- 
hältnisse stehen.  Dadurch  würden  mit  einem  Schlage  aus  dem  Kreise  der 
Speculatiten  diejenigen  ausscheiden,  welche  als  Unberufene  bezeichnet  werden 
müssen,  und  welche  daher  nicht  nur  ihr  eigenes  Vermögen  verlieren,  sondern 


Der  Spieleinwand  bei  Börsen-Speculationsgeschäften.  191 

auch  durch  ihre  unberechneten,  in  der  That  den  Charakter  eines  blossen 
Glücksspiels  tragenden  Operationen,  die  Preise  ohne  thatsächlichen  Hinter- 
grund beinflussen.  ^) 

Die  Gesetzgebung  darf  es  niemals  aufgeben,  die  Speculation  der  Un- 
berufenen an  der  Börse  zu  bekämpfen.  Es  liegt  in  der  Schwäche  der  mensch- 
lichen Natur,  indem  in  der  Bevölkerung  wohnendem  Spieltriebe,  der  zumal 
in  Oesterreich  ja  eigentlich  durch  Jahrhunderte  gezüchtet  wurde,  dass  das 
niemals  gänzlich  wird  gelingen  können.  Denn  je  geringer  der  Erfolg  der 
ehrlichen  Arbeit  ist,  desto  unbezähmbarer  wird  die  Sucht,  durch  Specu- 
lation mit  einem  Schlage  reich  zu  werden.  Wenn  die  Gesetzgebung  jedoch 
auf  der  angedeuteten  Bahn  fortschreitet,  so  darf  man  wohl  voraussagen,  dass 
ihre  Bestimmungen  gewiss  nicht  ein  Schlag  ins  Wasser  sein  würden,  weil 
sie  der  sittlichen  Anschauung  des  Volkes  und  insbesondere  auch  der  Börsen- 
kreise entsprechen  würden,  die  die  Speculation  Unberufener  officiell  stets 
als  schädlich  bezeichnet  haben.  Ein  solches  Gesetz  unter  strenge,  eventuell 
auch  strafrechtliche  Sanctionen  gestellt,  würde  wohl  auch  befolgt  werden. 
Seine  Erlassung  aber  liegt  im  wohlverstandenen  Interesse  der  Börse  selbst. 
Der  geltende  Zustand  kann  unmöglich  weiter  bestehen,  und  auch  die  Börsen- 
kreise müssen  wünschen,  dass  für  die  Outsider  und  für  sie  selbst  klares, 
unzweideutiges  Recht  geschaffen  werde.  Der  gesunde  Verkehr  aber  kann 
durch  solche  Rechtsvorschriften  nicht  beirrt  werden,  denn  gesund  ist  jeder 
Verkehr  nur,  soweit  er  auch  sittlich  erlaubt  ist. 


^)  Vgl.  die  Ausführungen  des  Experten  Dr.  Julius  Landesberger  in  der  von 
dem  k.  k.  Ackerbauministeriurn  im  Jahre  1900  einberufenen  Enquete,  betreffend  die 
Keform  des  börsemässigen  Terminhandels  mit  landwirtschaftlichen  Producten. 


VERHANDLUNGEN  DER  GESELLSCHAFT 
ÖSTERREICHISCHER  VOLKSWIRTE. 


C,  Cl.  und  eil.   Plenapvensammlung. 

Die  erste  Plenarversammlung  des  Jahrganges  1900/1901  (23.  October  1900) 
war  der  Tariffrage,  insbesondere  den  Kolilentarifen  und  der  Stellung  der 
Eisenbahntarife  in  den  Handelsverträgen  gewidmet.  Der  Vortragende, 
Üerr  Alexander  Freud,  zeigte,  um  wie  viel  höhere  Kohlentarife  die  österreichische 
Industrie  tragen  muss  als  die  deutsche.  Schuld  daran  sei,  abgesehen  von  den 
höheren  Einheitssätzen,  namentlich  die  Vielheit  der  für  einen  Transport  in 
Betracht  kommenden  Bahnverwaltungen,  da  die  Degression  des  Staffeltarifes 
beim  Wechsel  der  Bahn  jedesmal  unterbrochen  wird;  ferner  siei  in  Oesterreich 
nicht,  wie  in  Deutschland,  jeder  Verfrachter  vor  dem  Kohlentarif  gleich,  sondern 
es  haben  verschiedene  Tarife  Geltung;  je  nach  der  Bahn,  welche  benützt  werden 
muss,  und  je  nach  dem  Nachlasse,  der  vom  bezogenen  Quantum  abhängt.  Doch 
sei  es  schwer  gegen  diese  Uebelstände  anzukämpfen. 

Eine  lebhafte  Discussion  entfaltete  sich  am  6.  November  in  der  101.  Plenar- 
versammlung über  die  bosnischen  Bahnen.  Nach  kurzen  Ansprachen  des  Vor- 
sitzenden Herrn  Prof.  Dr.  v.  Philippovich  und  des  Herrn  Hofrath  Ritter 
V.  Viikovic  erstattete  Herr  Ingenieur  Czepelka  sein  Eeferat.  Er  warf  einen 
kurzen  Eückblick  auf  die  ersten  Anfänge  der  Eisenbahnen  Bosniens,  zeigte,  wie 
es  Ungarn  gelungen  ist,  das  ganze  bosnische  Eisenbahnnetz  ausschliesslich  nur 
an  die  ungarischen  Staatsbahnen  anzugliedern  und  dadurch  den  ganzen  Verkehr 
mit  Bosnien  an  sich  zu  reissen,  schilderte,  welch  entscheidende  Wichtigkeit  für 
Dalmatien  es  habe,  dass  diesmal  die  österreichische  Regierung  auch  österreichische 
Politik  treibe.  Da  auch  die  anderen  Redner,  Herrenhausmitglied  Graf  Harrach, 
Dr.  Rudolf  Kobatsch,  Dr.  Victor  v.  Kraus,  Hofrath  Prof.  Dr.  v.  Schrötter, 
Dr.  Skarica  und  H.  Dimitrievic  (Sarajevo),  wärmstens  für  die  Verbindung  der 
bosnischen  Bahnen  mit  Spalato  eintraten,  so  kann  die  Verhandlung  als  ein 
einstimmiger,  energischer  Protest  gegen  die  seither  wirklich  eingeschlagene 
Regierungspolitik  angesehen  werden. 

In    der    102.    Plenarversammlung    am    27.    November    1900    hielt    Herr 
Dr.  Wilhelm  Rosenberg   über   den   Spieleinwand   bei    Börsengeschäften 


C,  CI.  und  CIL  Plenarversammlung.  193 

einen  Vortrag,  der  in  etwas  erweiterter  Form  in  diesem  Hefte  der  Zeitschrift 
publiciert  ist. 

lieber  diesen  Vortrag  wurde  in  der  103.  Plenarversammlung  eine  eingehende 
Discussion  abgeführt. 

Herr  Director  Hamm  erschlag  wendet  sich  dagegen,  dass  reine  Diflferenz- 
geschäfte  als  Spiel  oder  Wette  aufzufassen  seien.  Es  fehle  durchaus  der  in  den 
Judicaten  immer  wieder  erscheinende  berühmte  „Stichtag'*.  Man  könne  zur  Unter- 
scheidung des  Differenz-  vom  reinen  Spielgeschäfte  weder  auf  die  Gattung  des 
Papieres,  noch  auf  die  Lebensstellung  des  Käufers,  noch  auf  dessen  Vermögen 
oder  die  Höhe  der  Umsätze  abstellen.  Die  Gerichte  gehen  immer  weiter  in  der 
Supposition,  es  liege  ein  dissimuliertes  Spiel  vor. 

Hammerschlag  bezeichnet  die  Judicatur  als  durchaus  nicht  maassvoll 
besonders  seitdem  die  Gerichte  den  Differenzeinwand  gegen  den  Commissionär 
auch  dann  zulassen,  w^enn  dieser  die  Ausführung  des  Auftrages  bei  einem  Dritten 
nachweist.    Der  Differenzeinwand  sei  unmoralisch,  gefährlich  und  nutzlos. 

Dr.  Horowitz  führt  aus,  man  müsse  das  Gebiet  für  den  Differenzeinwand 
genau  begrenzen.  Heute  habe  jedermann  eine  Freiprämie  auf  Gewinn  verbunden 
mit  einem  Eechtsschutz  für  Verlust.  Die  technischen  Börsengeschäfte  müssten 
stets  klagbar  bleiben.  Der  Differenzeinwand  sei  nur  zu  geben  :  1.  für  ausserhalb 
der  Börse  abgeschlossene  Geschäfte,  wenn  der  Contrahent  zwar  ein  Berufs- 
zugehöriger aber  weder  Börsenmitglied  noch  Händler,  Industrieller  oder  proto- 
kollierter Kaufmann  ist;  2.  für  Geschäfte  von  Berufsfremden. 

Dr.  Dorn  sieht  keinen  Grund,  den  Differenzgeschäften  die  Klagbarkeit  zu 
nehmen;  jedenfalls  aber  müsse  die  heutige  Unsicherheit  der  Rechtslage  beseitigt 
werden.  Es  solle  der  Differenzeinwand  für  jeden  ausgeschlossen  sein,  der  einmal 
aus  einer  Differenz  einen  Gewinn  bezogen  hat. 

Herr  Hugo  Goldschmid  vertrat  den  Standpunkt  der  Commissionäre,  deren 
Lage  durchaus  nicht  so  gut  sei.  Der  Referent  konnte  in  seinem  Schlussworte 
sagen,  dass  über  die  Nutzlosigkeit  des  Differenzeinwandes  so  ziemlich  alle 
einig  seien. 


Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  X.  Band.  13 


DER  BAUEENSTAND  IN  EUMÄNIEN, 

SEINE  GESCHICHTLICHE  ENTWICKLUNG   UND 

GEGENWÄRTIGE  LAGE. 


VON 


DR-  GEORGE  D.  CREANGA. 


1.  Geschichtliche   Entwicklung. 

Das  rumänische  Volk  leitet  seine  Abstaramnng  her  von  der  Vermischung 
der  durch  Trajan  im  Jahre  107  nach  Christi  Geburt  angesiedelten  römischen 
Colonisten  mit  den  Ureinwohnern  des  Landes  (Dacien).  Infolge  zahlreicher 
feindlicher  Angriffe  zogen  sich  die  Eumänen  allmählich  in  die  Gebirgsgegenden 
zurück,  und  man  sieht  noch  heut  in  Siebenbürgen  viele  Spuren  der  römischen 
Colonisation.  Der  Grund  und  Boden  wurde  bei  der  Colonisierung  an  die  Ansiedler 
als  Privateigenthum  vertheilt.^)  So  wurden  die  Kumänen  Ackerbauer,  und  sie 
blieben  es  auch  unter  der  wechselnden  Herrschaft  der  Hunnen,  Gepiden, 
Avaren  u.  a.,  die  sich  das  Land  zeitweilig  unterwarfen,  und  die  nach  der  Aus- 
sage des  Historikers  Marcelliu  kaum  den  Pflug  kannten.  Wegen  religiöser 
Bedrückungen  wanderten  die  Rumänen  1290  unter  ihrem  Führer  Radu  Negru 
aus  Siebenbürgen  (Bersaland,  Bezirk  Fagaras)  wieder  aus  und  gründeten  die 
Walachai.  Die  Moldau  wurde  um  1350  von  den  aus  Maramures  (Nordwest- 
Gegend  von  Siebenbürgen)  Ausgewanderten  gegründet.  In  beiden  Gebieten  hatten 
sich  schon  früher  Rumänen,  die  sich  von  den  Legionen  Trajans  abgesondert 
hatten,  sowie  Slaven  in  spärlicher  Anzahl  angesiedelt.^)    Die  Einwanderer  fanden 


^)  Balcescu.  „Istoria  Romänilor  sub  Micliai  Vit^zul"  (Die  Geseliiclite  der  Rumänen 
unter  Mihai  dem  Tapferen).  Inwieweit  seine  Behauptung  berechtigt  ist,  lässt  sich  infolge 
der  noch  mangelhaften  historischen  Quellen  nicht  mit  Sicherheit  feststellen. 

2)  Im  Jahre  1817  erklärte  die  Nationalversammlung  derMoldau  auf  Grund  historischer 
Angaben:  „Bei  dem  Einzug  der  siebenbiirgischen  Auswanderer  war  die  Moldau  bewohnt, 
der  Grund  und  Boden  war  Privateigenthum,  während  der  fürstliche  Besitz  nur  aus  öden, 
unbewohnten  Orten  bestand,"  Diese  letzte  Behauptung  bezeichnet  der  Historiker  Xenopol 
als  unbegründet.  (Xenopol:  „Ttoria  Romänilor"  [Geschichte  der  Rumänen,  l'Z  Bände].  liier 
findet  man  reichen  Stoff,  und  die  Verdienste  des  Autors  sind  in  dieser  Beziehung 
unleugbar.  Es  ist  jedoch  zu  beachten,  dass  viele  seiner  Behauptungen,  besonders  auf 
wirtschaftlichem  Gebiete,  nicht  überall  stichhaltig  sind.) 


Der  Bauernstand  in  Rumänien,  seine  geschichtliche  Entwicklung  etc.  195 

also  hier  Bewohner  vor  und  erhielten  dieselben  Rechte  und  Pflichten  wie  diese, 
da  sie  weder  als  Sieger  noch  als  Besiegte  hier  ankamen.  Infolge  dieser  grossen 
Einwanderung,  wurde  das  Feudalsystem  nicht  eingeführt.  Die  Einwanderer  suchten 
in  der  Moldau  ein  friedlicheres  und  sorgenfreieres  Leben,  in  der  Walachei  Freiheit 
der  Religionsübung.  Wegen  der  grosseren  Sicherheit  für  Leben  und  Besitz  wurden 
insbesondere  die  Gebirgsgegenden  bevölkert.  Das  Flachland  hingegen  blieb 
gewöhnlich  im  Besitze  des  Fürsten,  und  wurde  besonders  zu  Geschenken  an 
Klöster  und  an  Günstlinge  verwendet.  Die  Grösse  des  fürstlichen  Grundbesitzes 
kann  indes  nicht  bedeutend  gewesen  sein ;  denn  wenig  später  berichten  die 
Urkunden,  dass  die  Fürsten  Grundstücke  von  Privaten  ankauften,  um  sie  als 
Geschenke  und  Belohnungen  zu  verwenden,  eine  Thatsache,  die  für  die 
Entwicklung  des  Steuerwesens  von  grösster  Bedeutung  gewesen  ist.  Aber  auch 
das  Flachland  wurde  allmählich  bevölkert,  theils  infolge  der  starken  Vermehrung 
der  Gebirgsbewohner,  von  denen  viele  nach  der  Ebene  zogen,  theils  durch 
Colonisierung.  So  zogen  z.  B.  im  Jahre  1320  beim  Einfall  der  Türken  viele 
Rumänen  von  Thracien  nach  der  Walachei.  Ausserdem  bevölKerten  die  Grossgrund- 
besitzer der  Moldau  ihre  Güter  durch  die  aus  den  Nachbarländern  hergebrachten 
Ansiedler. 

Im  14.  Jahrhundert  finden  wir  im  heutigen  Rumänien  als  Grossgrund- 
besitzer die  vom  Fürsten  für  die  geleisteten  Dienste  mit  Grund  und  Boden 
belohnten  Bojaren,  die  Gemeinden,  die  Klöster  und  den  Staat  bezw.  den  Fürsten 
selbst.  Die  Landbevölkerung  theilte  sich  zur  selben  Zeit  in  zwei  Classen.  Viele 
Bauern  hatten  sich  infolge  feindlicher  Angriffe  ins  Gebirge  geflüchtet,  dort 
Grund  und  Boden  besetzt  und  bebaut,  und  dabei  ihre  Unabhängigkeit  bewahrt;  sie 
wurden  in  der  Walachei  „Mosneni"  oder  „Kneji"  und  in  der  Moldau  „Redesii'' 
oder  „Megiasi"  genannt.  Die  Bauern  hingegen,  die  entweder  auf  dem  flachen 
Lande  verblieben  oder  auf  die  Güter  der  Grossgrundbesitzer  gebracht  worden 
waren,  wurden  später  bei  der  Erklärung  der  Gutsunterthänigkeit  „Vecinii"  d.  h. 
Nachbarn  oder  „Rumäni'^  genannt.  Ihre  Lebenslage  war  nach  althergebrachter 
Sitte  zunächst  ungemein  günstig.  Vom  Gute  des  Grossgrundbesitzers  wurden  ihnen 
Yg  als  Eigenthum  zugewiesen,  während  nur  Yg  unmittelbares  Eigonthum  des 
Grossgrundbesitzers  blieb. ^)  Wenn  der  Bauer  dem  Grossgrundbesitzer  gegenüber 
seine  Pflicht  erfüllte,  d.  h.  wenn  er  das  dem  Herrn  reservierte  Drittel  dos  Grund 
und  Bodens  bearbeitete,  blieben  die  beiden  andern  Drittel  sein  Eigenthum,  das 
er  auch  seinen   Kindern  vererben  durfte.^) 

Dieser  für  die  Bauern  äusserst  günstige  Zustand  sollte  aber  nicht  von 
langer  Dauer  sein ;  denn  es  gelüstete  die  Türken  nach  der  Ausbeutung  der  von 
der  Natur  reich  gesegneten  Donaufürstenthümer.  Nach  langem  Widerstände  wurden 
die  vereinigten  Bulgaren,  Bosniaken,  Serben  und  Rumänen  von  Amurat  bei 
Cossova  im  Jahre  1389  geschlagen.  Die  Türken  machten  sich  die  Walachei 
tributpflichtig,  gaben  aber  die  Versicherung,  die  Einwohner  dieses  Landes  sollten 
immer  in  Ruhe  gelassen  werden,  wenn  sie  den  Tribut  im  Betrage  von 
3000  Galbeni  (ä  1"5  lei  =  26  Pfennig)  pünktlich  entrichteten.  Dies  Versprechen 

^)  Balcescu:  , Geschichte  der  Rumänen  unter  Mihai  dem  Tapferen." 
^)  Arion:  „L't^tat  da  paysan  Roumain." 

13* 


196  Creangä. 

-wurde  aber  nicht  lange  gehalten.  Die  Herrschaft  der  Türken  wurde  immer  härter 
lind  unerträglicher,  und  die  Fürsten  legten,  um  den  stetig  sich  steigernden  Tribut 
zahlen  zu  können,  den  Einwohnern  unerschwingliche  Steuern  auf.  Die  Bauern 
verliessen  ihre  Gehöfte,  immer  grössere  Bodenflächen  blieben  unbebaut,  das  Land 
verödete  immer  mehr,  so  dass  Mihai  der  Tapfere,  der  Fürst  der  Walachei 
und  vorübergehend  auch  der  Moldau  und  Siebenbürgens,  sich  genöthigt  sah,  um 
die  gänzliche  Entvölkerung  des  Landes  zu  verhüten,  in  der  Zeit  von  1593  bis  1601 
die  Gutsunterthänigkeit  der  Bauern  einzuführen.  Der  Landbewohner  durfte  das 
Grundstück,  auf  welchem  er  geboren  war,  nun  nicht  mehr  verlassen.  Diese  Be- 
stimmung galt  auch  für  die  „Mosneni"  und  „Redesii",  die  aber  doch  auf  ihrem 
Eigenthum  unabhängig  von  den  Grossgrundbesitzern  blieben,  während  die  „Nach- 
barn" —  „Vecinii"  oder  „Eumäni''  — ,  die  den  Grundbesitz  der  Bojaren  bear- 
beiteten, Gutsunterthänige,  zeitweise  sogar  Leibeigene  wurden.  Sie  wurden  mit 
dem  Gut,  auf  dem  sie  ansässig  waren,  als  ein  Zubehör  desselben,  später  auch 
getrennt  verkauft;  ja  bisweilen  werden  sie  sogar  in  den  über  die  Mitgift  aufge- 
nommenen Heiratsdocumenten  der  Bojaren  aufgeführt. 

Der  Bojar  bestimmte  selbst  die  Zahl  der  Tage,  die  der  Bauer  für  ihn  ar- 
beiten musste,^)  sowie  die  Höhe  des  Robots.  Er  gab  ihm  allerdings  auch  Getreide 
in  Zeiten  der  Noth  und  sorgte  für  ihn  bei  Krankheitsfällen;  denn  es  lag  ja  in 
seinem  eigenen  Interesse,  dass  es  dem  Bauern  gutgehe.  Der  Grundherr  beerbte 
seine  Gutsunterthänigen,  wenn  diese  keine  Nachkommen  hinterliessen.  Auch  die 
„Mosneni"  und  „Redesii"  wurden  infolge  ihrer  schlechten  materiellen  Lage  und 
der  drückenden  Steuerlast  immer  mehr  von  den  Grossgrundbesitzern  abhängig; 
ein  immer  grösserer  Theil  von  ihnen  verlor  seine  Unabhängigkeit^),  und  mit  dieser 
schwand  auch  die  Kraft  des  Landes  dahin. 

Die  Gutsunterthänigkeit  wurde  also  allmählich  eingeführt.  Zur  Zeit  Mihais 
des  Tapferen  befanden  sich  die  Bauern  auf  dem  Flachlande  schon  in  einem 
gewissen  Abhängigkeitsverhältnisse;  dieser  legte  den  Zustand  nur  gesetzlich  fest 
und  verschärfte  ihn  durch  das  Verbot  der  Auswanderung,  Nicht  die  Bojaren 
haben,  wie  Balcescu  ^)  und  andere  Historiker  behaupten,  den  Fürsten  gezwungen, 
die  Bauern  für  Leibeigene  zu  erklären,  sondern  der  Zweck  der  Einführung  der 
Gutsunterthänigkeit  war,  das  Land  vor  völliger  Entvölkerung  zu  schützen.  Lag 
es  doch  auch  ganz  besonders  im  Interesse  des  Fürsten,  möglichst  viel  Unter- 
thänige  und  dadurch  Steuerpflichtige  zu  haben,  da  er  bei  seinen  ununterbrochenen 
Kriegen  allein  für  die  Löhnung  der  Soldaten  98.000  lei  monatlich  zahlen 
musste.^) 

Dass  das  Land  infolge  der  stattgefundenen  Massenauswanderungen  sehr 
entvölkert  war,  bezeugt  übrigens  die  beglaubigte  Thatsache,-^)  dass  Mihai  von 
seinem  Zuge  gegen  die  Türken  aus  Bulgarien  und  aus  anderen  Nachbargebieten 
16.000  Menschen  mitbrachte,  welche  in  der  Walachei  angesiedelt  wurden.  Der 
dem  Fürsten  Mihai  gemachte  Vorwurf,  er  habe  den  Interessen  der  Bojaren  gedient, 

^)  Hurmusackis  Urkundensammlung:    „Der  Bauer  arbeitet  ohne   bestimmte  Zeit." 
2)    Zahlreiche  Beispiele   in    „Hurmusackis  Urkundensammlung"   und   in   Xenopols 
„Geschieht"  der  Rumänen." 

^)  Balcescu:  .Istoria  Eoinänilor  sub  Mihai  Vitezul". 


Der  Bauernstand  in  Rumänien,  seine  geschichtliche  Entwicklung  etc.  197 

ist  unbegründet.  Er  hat  sich  allerdings  um  den  Wohlstand  der  Bauern  im  all- 
gemeinen wenig  gekümmert,  hat  duich  die  Erhöhung  der  Steuern  die  wirtschaft- 
liche Lage  vieler  Freibauern  verschlechtert  und  den  Weg  zu  ihrer  Leibeigen- 
schaft angebahnt;  auch  stützte  er  seine  Macht  nicht  auf  das  Vertrauen  des 
Volkes,  sondern  suchte  sie  durch  politische  Combinationen  zu  festigen;  aber  es 
ist  darum  nicht  weniger  richtig,  dass  in  jener  Zeit  die  gesetzliche  Einführung 
der  Gutsunterthänigkeit  dem  Lande  nützlich  war. 

Die  Lage  der  Bauern  verschlimmerte  sich  noch  mehr,  als  im  Jahre  1716 
die  Pforte  sich  das  Eecht  anmaasste,  der  Moldau  und  der  Walachei  Fürsten  aus 
Fanar^)  zu  schicken.  Diese  Epoche,  die  bis  zum  Jahre  1822  dauerte,  bildet  ein 
trauriges  Blatt  der  Geschichte  Rumäniens  in  wirtschaftlicher,  politischer  und 
cultureller  Hinsicht.  Die  Nationalsprache  und  das  nationale  Heer  wurden  beseitigt. 
Das  Land  war  nun  nicht  mehr  in  der  Lage,  gegen  die  Türken  zu  kämpfen.  Der 
fremde  Fürst  und  alle  mit  ihm  gekommenen  Fanaiioten  beuteten  diejenigen  aus, 
die  am  leistungsfähigsten  waren,  also  die  einheimischen  Bojaren,  und  diese  hielten 
sich  dann  gewöhnlich  an  den  Bauern  schadlos.  Der  grösste  Theil  der  einhei- 
mischen Bojaren  wurde  entlassen  und  dafür  eine  fanariotische  Bojarenclasse  in 
Anlehnung  an  öffentliche  Aemter  geschaffen;  alle  höheren  Aemter  wurden  von 
jetzt  ab  nur  noch  Fremden  anvertraut. 

Nur  zum  Grosschatzmeister  —  Visternicul  —  wurde  fast  immer  ein  Rumäne 
ernannt,  und  zwar  deshalb,  weil  die  Stellang  des  Fürsten  von  der  Pünktlichkeit 
abhieng,  mit  der  er  der  Pforte  den  Tribut  entrichtete.  Infolgedessen  suchte  er 
sich  als  Grosschatzmeister  stets  einen  zuverlässigen,  landeskundigen  Mann  aus, 
der  Erfahrung  und  Gewandtheit  in  der  Steuererhebung  besass. 

In  dieser  Zeit  erreichte  die  Steuerlast  ihren  Höhepunkt.  Kaum  irgendwo  sonst 
waren  die  Steuern  so  hoch  und  vielseitig  wie  in  den  Donaufürstenthümern;^)  denn  nur 
hier  mussten  bisweilen  je  zehn  Einwohner  einen  Ochsen  und  später  sogar  jeder 
Einwohner  je  einen  Ochsen  liefei-n.  Die  Wirkung  dieser  ungeheuren  Steuerlast 
blieb  nicht  aus  ;  die  Auswanderung  nahm  immer  m^hr  zu.  Nach  dem  Berichte 
einer  Urkunde  erhielt  ein  fanariotischer  Fürst,  der  einige  nach  Bulgarien  aus- 
wandernde Bauerngemeinden  über  die  Ursache  ihrer  Auswanderung  befragen  Hess, 
die  Antwort:  „Wir  wandern  aus,  weil  wir  nicht  mehr  wissen,  woher  wir  soviel 
Geld  und  Naturalien  zur  Steuerzahlung  nehmen  sollen."^) 

Die  Steuererhebung  geschah  gewöhnlich  in  der  Erntezeit,  bezw.  in  der 
Zeit,  wo  das  Vieh  zum  Verkaufe  reif  und  der  Honig  fertig  war.  Um  zu  verhin- 
dern, dass  die  Bauern  ihre  Prodncte  auf  den  nächsten  Markt  brachten  und  das 
dafür  erworbene  Geld  anderweitig  verwandten,  verkaufte  die  Verwaltung  auf  in- 
directem  Wege  die  bäuerliche   Ernte,  bevor   die  Producte  vollständig   eingeerntet 


^)  Fanar  war  ein  mit  einer  Burg  versehener  Stadttheil  Constantinopels. 

2)  Näheres  im  Finanzarchiv:  „Die  Finanzen  Rumäniens"  von  G.  D.  Creangä 
Band  16,  Seite  118. 

3)Xenopol  sagt  mit  Recht:  „Es  kam  eine  Zeit,  in  der  die  Fürsten  alle  Vermögens- 
gegenstände mit  einer  Steuer  belegt  hatten,  und  in  der  sie  schliesslich  nur  noch  mit 
Hilfe  des  Wörterbuches  eine  Benennung  für  eine  neue  Steuer  finden  konnten;  sogar  eine 
Schornsteinsteuer  wurde   eingeführt." 


198  Creangä. 

waren.  Die  Regierung  bediente  sich  dazu  gewisser  Zwischenhändler,  die  etliche 
Tage  vor  dem  bestimmten  Steuertermin  mit  den  sich  in  äusserster  Noth  befin- 
denden Bauern  Kaufverträge  auf  spottbillige  Preise  abschlössen.  Dann  erschienen 
die  Steuererheber  und  forderten  Zahlung  der  fälligen  Steuer.  Wenn  nun  ein  Bauer 
dem  Zwischenhändler  das  geliehene  Geld  später  nicht  zurückerstatten  konnte,  so 
war  er  vielen  schlimmen  Folgen  ausgesetzt,  ja  er  konnte  sogar  von  ihm  verkauft 
werden,  was  auch  thatsächlich  mehrmals   vorgekommen  ist. 

Die  Steuern  belasteten  gewöhnlich  nur  die  unabhängigen  Bauern,  die  wirt- 
schaftlich ja  auch  verhältnismässig  besser  standen,  da  die  Gutsunterthänigen  nicht 
mehr  als  Menschen,  sondern  als  nothwendige  Werkzeuge  des  Gutes  betrachtet 
wurden.  Vom  Fürsten  und  seinem  Gefolge,  von  einheimischen  und  fanariotischen 
Bojaren  ausgebeutet,  mit  drückendensten  Steuern  belastet,  wurde  die  Zahl  der 
„Mosneni"  und  „Eedesii"  immer  kleiner,  sie  wurden  wirtschaftlich  immer  mehr 
von  den  Grossgrundbesitzern  abhängig  und  viele,  ja  der  grösste  Theil  gerieth  in 
Leibeigenschaft.  Nach  den  Angaben  des  Historikers  Bauer  wurden  im  Jahre  1741 
147.000,  im  Jahre  1746  nur  70.000  und  im  Jahre  1757  nur  noch  35.000 
Steuerpflichtige  gefunden.  Verkauften  sich  doch  viele  Freibauern  selbst  als  Leib- 
eigene, um  nicht  mehr  steuerpflichtig  zu  sein !  Constantin  Mavrocordat,  der  von 
1730 — 1769  zehnmal  als  Fürst  der  Walachei  und  der  Moldau  regierte,  versuchte 
eine  Reform  der  bäuerlichen  Verhältnisse,  um  damit  den  einheimischen  Bojaren 
einen  Streich  zu  spielen.  Er  erklärte  es  für  eine  Christenpflicht,  dass  die  Gross- 
grundbesitzer ihre  Leibeigenen  freiliessen;  und  wollten  sich  die  Bojaren  nicht 
freiwillig  dazu  bequemen,  so  wurden  sie  gesetzlich  dazu  gezwungen,  sobald  sie 
von  den  Bauern  eine  Entschädigung  im  Betrage  von  10  lei  erhalten  hatten.  Die 
Folge  war,  dass  60.000  Leibeigene  freigelassen,  aber  in  Wirklichkeit  Hörige  des 
Staates  bezw.  des  Fürsten  wurden.  Sie  wurden  „Scutelnici"  genannt  und  von 
Mavrocordat  an  seine  Günstlinge,  und  zwar  meistens  an  Fanarioten  vertheilt.  Den 
Bojaren  gab  er  je  nach  ihrem  Einflüsse  56,  20,  15,  10  oder  5  „Scutelnici".^) 
Ein  kleinerer  Theil  der  Freigelassenen,  „Poslujnici"  genannt,  wurde  zu  Knechts- 
diensten verwendet.  Diejenigen,  welche  Gutsunterthänige  geblieben  waren,  hatten 
für  die  Grossgrundbesitzer  jährlich  24  Tage  zu  arbeiten  und  ihnen  den  Zehnten 
aller  Bodenerzeugnisse  zu  liefern.  In  der  Moldau  setzte  Mavrocordat  die 
Zahl  dieser  Arbeitstage  auf  zwölf  fest.  Ausserdem  bestand  noch  eine  Classe  von 
Bauern,  „Laturalnici"  in  der  Walachei  und  „Plugari"  in  der  Moldau  genannt, 
die  aus  Nachbarländern  im  Laufe  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  gekommen  sind, 
und  für  welche  die  jährliche  Arbeitszeit  auf  12  Tage  festgesetzt  wurde,  wovon 
sie  sich  aber  durch  Naturallieferungen  an  den  Grossgrundbesitzer  befreien  konnten. 
Anfangs  waren  sie  nicht  Gutsunterthänige,  die  meisten  wurden  es  aber  allmählich, 
und  zahlreiche  Urkunden  berichten  von  ihren  Processen  gegen  die  Grossgrund- 
besitzer, welche  sie  zu  Leibeigenen  machen  wollten.  Im  Laufe  der  Zeit  wurden 
sie  unter  den  fremden  Fürsten  auch  gesetzlich  an  die  Scholle  gebunden,  aber 
der  Unterschied  von    den  wirklichen  Gutsunterthänigen    aus   früherer    Zeit  wurde 

')  Regnault  in  seiner  „Histoire  politique  et  sociale  des  principeautes  Danu- 
biennes"  sagt  mit  Recht:  „Jamals  on  n'imagina  resurce  plus  infame  pour  recorapenser 
Oll  cororapre". 


Der  Bauernstand  in  Rumänien,  seine  geschichtliche  Entwicklung  etc.  199 

immer  gewahrt,  und  bei  der  Aufhebung  der  Leibeigenschaft  vom  Jahre  1864 
recrutierten  sich  die  Bauern,  welche  nicht  Leibeigene  waren,  sondern  nur  in  einem 
gewissen  Abhängigkeitsverhältnisse  standen,  hauptsächlich  aus  diesen  „Laturalnici" 
und  „Plugari". 

Weit  schlimmere  Folgen  für  die  Bauern  hatte  die  Steuerreform  Mavrocordats. 
Die  Freigelassenen  brauchten  zwar  die  Staatssteuer  nicht  zu  zahlen,  mussten  aber 
den  Grossgrundbesitzern  jährlich  50 — 100  lei  entrichten;  zur  Zahlung  dieser 
Summe  waren  aber  nur  die  „Scutelnici"  und  nicht  auch  die  als  Knechte  ver- 
wendeten „Poslujnici"  verpflichtet.  Ausserdem  beseitigte  Mavrocordat  viele  indirecte 
Steuern,  welche  weniger  die  Bauern  als  vielmehr  die  Grossgrundbesitzer  belasteten. 
Dafür  führte  er  eine  directe  Steuer  ein,  die  Quartalen,  zu  5  lei  für  Familien- 
häupter und  zu  2Y2  lei  für  Unverheiratete;  die  Quartalen  sollten  ihrem  Namen 
und  Zweck  entsprechend  nur  viermal  jährlich  erhoben  werden,  sie  wurden  später 
aber  bis  zu  zwölfmal  (nach  Xenopol  sogar  bis  zu  26mal)  im  Jahre  erhoben.  Dieser 
Steuer  waren  gewöhnlich  nur  die  Freibauern  unterworfen,  sie  wurde  auf  die  Ge- 
meinden vertheilt,  und  diese  mussten  sie  von  den  Steuerpflichtigen  eintreiben. 
Die  Bojaren  waren  von  ihr  befreit,  weil  solche  Eepartierung,  „Cisla"  genannt,  als 
unwürdig  für  sie  galt;  sie  wurden  dafür  einer  speciellen  Kopfsteuer  unterworfen. 
Das  Ergebnis  dieser  Quartalen  war,  dass  die  Freibauern  noch  mehr  belastet 
wurden,  und  dass  sich  dadurch  ihre  Lage  nur  noch  verschlimmerte;  denn  auch 
später  wurde  diese  Steuer  beibehalten,  während  die  aufgehobenen  indirecten 
Steuern  von  Mavrocordats  Nachfolgern  wieder  eingeführt  wurden.^)  Den  Guts- 
unterthänigen,  sowie  den  Freigelassenen  war  es  ausserdem  verboten,  Grund- 
eigenthum  zu  erwerben. 

In  der  Moldau  war  die  Lage  der  Erbunterthänigen  noch  schlimmer  wie  in 
der  Walachei ;  sie  waren  oft  mit  den  Zigeunern,  die  Sclaven  waren,  vermischt, 
sie  wurden  früher  nur  mit  dem  Grundstück,  später  auch  getrennt  verkauft,  so 
dass  die  Nationalversammlung  der  Moldau  sich  im  Jahre  1745  genöthigt  sah, 
folgende  Verfügung  zu  erlassen:  „Es  ist  den  Grossgrundbesitzern  nicht  mehr  erlaubt, 
die  Erbunterthänigen  zu  verkaufen,  sie  bei  Vererbung  des  Gutes  zu  vertheilen, 
sie  als  Mitgift  zu  verwenden,  die  Kinder  von  den  Eltern  zu  entfernen  und  zu 
verkaufen."  Das  Recht  dazu  hatten  die  Grossgrundbesitzer  auch  bisher  nicht 
gehabt,  sie  hatten  es  sich  nur  angemaasst. 

Infolge  der  Reformen  Mavrocordats  verliessen  Hunderte,  ja  Tausende  den 
Pflug,  flohen  in  den  Wald  und  bildeten  die  Haiduckenbanden,  die  von  den  rumä- 
nischen Bauern  so  gern  in  ihren  Volksliedern  besungen  wnirden;  bezweckten  sie 
doch  hauptsächlich  die  Beseitigung  der  Fanarioten.  Das  Unternehmen  der  Hai- 
ducken blieb  auch  nicht  ohne  Erfolg.  Der  Sultan  selbst  befahl  den  beiden  Fürsten, 
gegen  sie  die  strengsten  Maassregeln  zu  ergreifen. 

In  der  Moldau  versuchte  Grigore  Ghika  eben  eine  Verbesserung  der  Lage 
des  Bauernstandes  —  er  gab  ihnen  die  Erlaubnis,  sich  da  niederzulassen,  wo 
sie  wollten,  reducierte  die  Zahl  der  Arbeitstage,  sah  sich  aber  unter  dem  Ein- 
flüsse der  Bojaren  genöthigt,    sie  wäeder  auf  14   im  Jahre  zu  vermehren  —   als 


^)  Xenopol:  ,^Istoiia  Romänilor". 


200  Creangä. 

er  wegen  seines  Protestes  gegen  die  Occnpation  der  Bukowina  von  den  Türken 
ermordet  wurde.  In  der  Walachei  hatte  infolge  der  zunehmenden  Auswanderung 
Mavrocordat  den  flüchtigen  Bauern  noch  grössere  Zugeständnisse  gemacht;  er 
hatte  die  Zahl  der  Frohntage  vermindert  und  ihnen  Steuerbefreiung  auf  ein  halbes 
Jahr  gewährt.  Aber  er  vergass,  dass  durch  allzugrosse  Zugeständnisse  an  die 
flüchtigen  Bauern  den  im  Lande  gebliebenen  ein  gefährliches  Beispiel  gegeben 
wurde.  In  "Wirklichkeit  hat  auch  die  Auswanderung  unter  seiner  Regierung  immer 
nur  zugenommen.  Daher  konnte  der  deutsche  Botschafter  Penkler  auch  mit  Recht 
an  den  österreichischen  Minister  Kaunitz  schreiben:  „C.  Mavrocordat  mit  seinen 
falschen  Reformen  ist  die  Ursache  aller  Unruhen."*) 

In  der  Moldau  unternahm  Alexandra  Moruzzi  (1802 — 1806)  auch  eine 
Reform  des  Bauernstandes.  Während  bisher  die  Bauern  nach  den  dem  Gross- 
grundbesitzer geleisteten  Frohntagen  soviel  Grund  und  Boden  für  ihren  eigenen 
Bedarf  erlangen  konnten,  als  sie  nothwendig  hatten,  setzte  das  Decret  des 
Fürsten  Moruzzi  für  jeden  Bauer  die  Höhe  des  zu  erlangenden  Grund  und  Bodens 
fest.  Zu  diesem  Zwecke  theilte  er  die  Bauern  in  vier  Classen  ein,  und  zwar  in 
solche  mit  mindestens  16,  8,  4  und  mit  weniger  als  4  Rindern.  Dieselben 
erhielten  4  Falci  (ä  1.13  ha)  Acker  und  8  Falci  Weide  und  Wiese,  3  Falci 
Acker  und  6  Falci  Grasland,  2  Falci  Acker  und  4  Falci  Grasland,  endlich 
1  Falci  Acker  und  2  Falci  Grasland. 

Der  in  das  Eigenthum  der  Bauern  gelangende  Grund  und  Boden  durfte 
aber  zwei  Drittel  des  ganzen  Gutes  nicht  übersteigen;  ein  Drittel  musste  dem 
Grossgrundbesitzer  unter  allen  Umständen  bleiben.  Als  Gegenleistung  mussten 
die  Bauern  im  Frühling  oder  Herbst  80  Ruthen  bearbeiten,  15  Ruthen  ausjäten, 
von  30  Ruthen  die  Ernte  besorgen,  auf  1  Falci  Heu  machen  und  dasselbe  ein- 
bringen, 2  Holzfuhren  leisten,  bei  Mühlen-  und  Deichausbesserungen  helfen  und 
dann  noch  den  Zehnten  von  allen  Bodenproducten  und  ein  Fünfzigstel  vom 
Honigertrag  abliefern. 

In  der  Walachei  war  die  Grösse  des  zu  erlangenden  Grundbesitzes  bis 
zum  Jahre  1832  (Reglement  organique)  nicht  gesetzlich  festgelegt.  Als  nun  hier 
der  Fürst  Caragea  zur  Regierung  kam,  gestaltete  er  das  Eigenthumsrecht  der 
Bauern  in  eine  Erbpacht  (emphiteuse)  unter  dem  Namen  ,, Glace"  um.  Das 
Verhältnis  zwischen  den  Bauern  und  Grossgrundbesitzern  war  jetzt  dasselbe,  wie 
das  der  ,,Laturalnici"  zu  ihren  Gutsherren.  Caragea  setzte  ausserdem  die  Zahl 
der  Frohntage  auf  zwölf  fest  mit  der  Bestimmung,  dass  eine  Abweichung  hiervon 
nicht  mehr  stattfinden  dürfe. 

Sein  Nachfolger,  Alexandra  Su|u  (1818  — 1821)  verschärfte  die  Maassregeln 
gegen  die  Bauern,  erhöhte  die  Steuern  und  erregte  durch  seine  Härte  gegen  die 
Freibauern  der  Stadt  Tergovistea  die  grösste  Unzufriedenheit  im  Lande,  die  auf 
den  Aufstand  von  1821  unter  Tudor  Vladimirescu  grossen  Einfluss  ausübte. 

Die  griechische  Revolution  (Eteria)  von  1821  unter  Ypsylantis  gegen  die 
Pforte  verlief  für  die  Donaufürstenthümer  insoweit  günstig,  als  die  Pforte  von 
nun   ab  auch  zu  den  griechischen  Fürsten   der  Walachei  und  Moldau  kein  Ver- 


^)  Xenopol:  „Geschichte  der  Rumänen." 


Der  Bauernstand  in  Eumänien,  seine  geschichtliche  Entwicklung  etc.  201 

trauen  mehr  hatte  und  infolgedessen  den  Rumänen  das  Eecht  gab,  nun  wieder 
einheimische  Fürsten  zu  wählen.  Mit  dem  Jahre  1822  endete  also  die  Regierung 
der  fremden,  fanariotischon  Fürsten.  Doch  war  diese  Freiheit  für  die  Donau- 
fürstenthümer  von  geringer  Dauer;  denn  im  Jahre  1828,  beim  Ausbruch  des 
russisch-türkischen  Krieges  rückte  der  russische  Commandeur  Wittgenstein  unter 
dem  Vorwande,  sie  schützen  zu  wollen,  mit  50.000  Kosacken  in  die  beiden 
Donaufürstenthümer  ein.  Nach  Beendigung  des  Krieges  trat  Kiseleff  an  Wittgensteins 
Stelle.  Er  führte  das  Eegulamentul  organic  ein,  das  in  Bezug  auf  die  Bauern 
folgende  Bestimmungen  enthält:  Jeder  Bauer  sollte  bekammen:  In  der  Walachei: 
1.  10  Präjini  (=  17.875  Ar)  für  Haus  und  Hof  als  Vollbesitz;  2.  3  Pogöne 
(=0*59  ha)  Weide  und  Wiese,  wenn  er  4  Ochsen  besass,  IY2  Pogone,  wenn  er 
2  Ochsen  besass;  3.  3  Pogone  Ackerland.  In  der  Moldau:  1.  10  Präjini  für 
Haus  und  Hof  als  Vollbesitz;  2.  17»  Falci  Ackerland,  40  Präjini  Wiese  und 
20  Präjini  Weide  für  jeden  Bauer,  gleichgiltig  ob  er  Ochsen  hat  oder  nicht; 
3.  derjenige,  der  2  Ochsen  hat,  sollte  60  Präjini  Wiese  und  60  Präjini  Weide, 
der  mit  4  Ochsen   120   Präjini  Wiese  und  120  Präjini  Weide   mehr  bekommen. 

In  welcher  Gegend  der  Bauer  seinen  Grund  und  Boden  zu  bekommen  hat, 
hatte  der  Grossgrundbesitzer  selbst  zu  bestimmen. 

Die  Freizügigkeit  wurde  zwar  aufrechterhalten,  aber  die  Uebersiedlung  eines 
Bauern  von  einem  Gut  auf  ein  anderes  wurde  von  der  Erlaubnis  des  Kreisvor- 
stehers abhängig  gemacht.  Wollte  der  Bauer  wegziehen,  so  musste  er  seinem 
Herrn  sechs  Monate  vorher  kündigen  und  der  Communalcasse  die  Jahressteuer  im 
voraus  bezahlen.  Ebenso  durfte  der  Grundbesitzer  den  Bauer  nur  mit  Bewilli- 
gung der  Regierung  fortjagen  und  musste  er  ihm  sechs  Monate  vorher  kündigen 
und  für  sein  aufgegebenes  Gehöft  entschädigen.  Für  diese  Erleichterungen  wurde 
der  Bauer  verpflichtet,  seinem  Herrn  ein  Zehnte)  von  allem  Bodenertrag  abzu- 
geben, ihm  12  Tage  Frohndienste  zu  leisten  und  dabei  auch  sein  Vieh  zur  Ver- 
fügung zu  stellen,  für  ihn  eine  Fuhre  bis  zu  16  Stunden  oder  zwei  von  je 
8  Stunden  (in  der  Moldau  sogar  eine  bis  zu  32  Stunden)  zu  machen;  ausserdem 
hatten  je  2.Ö  Familien  dem  Grossgrundbesitzer  einen  Mann  zu  stellen.  Im  Falle 
der  Nichterfüllung  dieser  Pflichten  war  der  Herr  berechtigt,  vom  Bauern  eine 
Geldentschädigung  zu  verlangen.  Die  jetzt  der  Theorie  nach  .^freien"  Bauern 
mussten  nun  auch  die  neu  eingeführte  Kopfsteuer  im  Betrage  von  30  lei,  sowie 
3  lei  Communalsteuern  und  5  Piastri  (=  2  Francs)  Militärsteuer  entrichten; 
diese  directen  Steuern  in  Verbindung  mit  den  indirecten  und  Naturalleistungen 
machten  eine  bedeutende  Summe  aus  (nach  Re'gnault  148  lei).  Während  das  Regle- 
ment in  verschiedenen  Beziehungen,  besonders  in  Verwaltungsreformen  glückliche 
Wirkungen  hatte,  so  verursachte  es  bei  den  Bauern  nur  Unzufriedenheit,  woraus 
schliesslich  Unruhen  entstanden,  die  jedoch  von  den  russischen  Soldaten  bald 
wieder  beigelegt  wurden.  Diese  Vorgänge  hatten  wieder  einmal  eine  grosse  Aus- 
wanderung zur  Folge.  Nach  Balcescus  Angabe  zogen  12.000  nach  Siebenbürgen, 
40.000  nach  der  serbischen  Grenze  und  100.000  nach  Bulgarien  und  Rumelien. 
Mir  scheinen  diese  Zahlen  jedoch  stark  übertrieben  zu  sein. 

1)  1  Pogöne  =  0,59  ha. 
1  Falci  =  1,13  ha. 
1  Präjinä  =  1,78  Ar. 


202  Creangä. 

Das  Revolutionsjahr  1848  zeitigte  auch  in  den  Donaufürstenthümern  Un- 
ruhen, infolge  deren  die  Bauern  nachstehende  Forderungen  aufstellten:  1.  Für  • 
die  Einwohner  des  Flachlandes  14  Pogöne  Acker,  und  zwar  V/^  Pogöne  für 
Haus  und  Garten,  S'/g  Pogöne  Weide,  3  Pogöne  Acker  für  die  Herbst-  und 
3  Pogöne  für  die  Frühjahrsernte,  3  Pogöne  Wiese.  2.  Für  die  Bewohner  weniger 
fruchtbarer  Gegenden  16  Pogöne  im  ganzen.  3.  Für  die  Bewohner  der  Wein- 
bergsgegenden 11  Pogöne,  und  zwar  nur  3  Pogöne  Acker.  4.  Für  die  Bewohner 
der  Gebirgsgegenden  nur  9  Pogöne,  und  zwar  IV2  Pogöne  für  Haus  und  Garten, 
2V2  Pogöne  Weide,  IV'2  Pogöne  Wiese,  2V2  Pogöne  Acker  und  2  Pogöne 
Wald.  Die  Bauern  konnten  ihre  Forderungen  aber  nicht  durchsetzen,  ja  allen 
ihren  Wünschen  zum  Hohne  führte  der  Fürst  Stirbey  im  Jahre  1851  ein  Gesetz 
ein,  welches  die  Lage  des  Bauernstandes  nur  noch  mehr  verschlimmerte,  da  es 
die  Grossgrundbesitzer  als  die  eigentlichen  Vollbesitzer  alles  Grund  und  Bodens, 
die  Bauern  dagegen  nur  als  Pächter  erklärte,  die  also  vom  Besitzer  jederzeit 
fortgejagt  werden  konnten.  Die  gegenseitigen  Verpflichtungen  der  Grossgrund- 
besitzer und  Bauern  wurden  von  nun  an  nur  vertragsmässig  geregelt.  Die  Zahl 
der  Frohntage  hatte  Stirbey  auf  22  erhöht. 

Die  Ideen  von  1848,  die  Verbindung  der  Walachei  mit  der  Moldau  (1859) 
und  das  Beispiel  anderer  Länder  (Russland)  mussten  aber  schliesslich  doch  die 
Aufhebung  der  Gutsunterthänigkeit  auch  der  rumänischen  Bauern  herbeiführen, 
die  denn  auch  durch  das  Gesetz  von  1864  vollzogen  wurde.  ^)  Das  Verdienst 
hiefür  gebürt  in  erster  Reihe  dem  damaligen  Fürsten  Alexandra  J.  Cusa  und 
seinem  eifrigen  Minister  Cogalniceanu.  Die  zu  diesem  Zwecke  einberufene  National- 
versammlung bestand  aus  zwei  Parteien;  die  einen  wollten  jedem  Bauer  5  Pogöne, 
die  andern  nur  2Y2  Pogöne  Landes  bewilligen.  Nach  grossen  Debatten  sprach  die 
Versammlung  mit  62  gegen  35  Stimmen  jedem  Familienhaupte  3  Pogöne  auf  dem 
Flachlande  und  2  Pogöne  im  Gebirge  zu.  Der  Fürst  war  im  Interesse  der  Bauern 
mit  diesem  Beschlüsse  nicht  zufrieden,  löste  infolgedessen  die  Versammlung  auf 
und  führte  einen  Volksbeschluss  herbei,  der  dann  das  Gesetz  mit  713.000  gegen 
57.000  Stimmen  in  seinem  Sinne  einführte. 

Der  Bauer  war  nun  endlich  frei.  Der  Zehnte,  Frohndienste  und  Natural- 
leistungen wurden  im  ganzen  Lande  verboten.  Die  weiteren  gesetzlichen  Bestim- 
mungen unterscheiden  zwischen  den  gutsunterthänig  gewesenen  Bauern  und  den- 
jenigen, die  nicht  gutsunterthänig  waren,  die  aber  doch  nur  eine  Stelle  für  Haus 
und  Hof  besassen. 

I.  Die  gutsunterthänig  gewesenen  Bauern  wurden  für  Vollbesitzer  des 
Grundstückes  erklärt,  auf  dem  sich  Haus  und  Hof  befanden.  Dazu  erhielt  jeder 
Bauer:  a)  mit  4  Ochsen  und  1  Kuh  in  der  Walachei  11  Pogöne  (==  672  ^'ö!)> 
in  der  Moldau  672  Falci  (zz:  6*22  Im);  h)  mit  2  Ochsen  und  1  Kuh  in  der 
Walachei  7*19  Pogöne  (=  4  Im),  in  der  Moldau  4  Falci  (=  4*52  ha);  c)  Bauern 
mit  weniger  als  2  Ochsen  und  1  Kuh  oder  mit  gar  keinem  Vieh  in  der  Walachei 
4-15  Pogöne  (=  272  ha),  in  der  Moldau  27«  Falci  (=  2-82  ha). 

^)  Die  Aufhebung'  der  Gutsunterthänigkeit  geschah  jedoch  nicht  aus  wirtschaft- 
lichen Gründen,  sondern  aus  psychologischen  Momenten,  und  darin  liegt  wahrscheinlich 
die  Hauptursache,  warum  das  Gesetz  niclit  die  gewünschte  Wiikung  hatte. 


Der  Bauernstand  in  Rumänien,  seine  geschichtliche  Entwicklung  etc.  203 

Der  in  den  Besitz  der  Bauern  gelangende  Grund  und  Boden  durfte  zwei 
Drittel  des  ganzen  Gutes  nicht  übersteigen;  ein  Drittel  sollte  unmittelbares  Eigen- 
thum  des  Grossgrundbesitzers  bleiben.  Die  Bauern,  die  infolgedessen  die  gesetzlich 
vorgeschriebene  Grösse  an  Ackerland  nicht  erhalten  konnten,  durften  sich  auf 
Staatsdomänen  ansiedeln.  Die  Gemeinde  ist  verpflichtet,  das  Gehöft  der  auf  die 
Staatsdomänen  übersiedelnden  Bauern  zu  kaufen. 

Die  Zahl  der  befreiten  Bauern  belief  sich  auf  550.000/)  von  denen  aber 
nur  402.000  mit  Land  bedacht  wurden.  Von  diesen  402.000  besassen  aber  nur 
80.000  4  Ochsen,  während  150.000  überhaupt  keinen  Viehbestand  hatten.  Es 
wurden  ungefähr  1,595.800  ha  in  beiden  Fürstenthümern  zusammen  vertheilt; 
von  den  ungefähr  150.000  nach  wie  vor  landlos  gebliebenen  Familien  wurden 
annähernd  40  Proc.  infolge  späterer  Gesetze  auf  Staatsdomänen  angesiedelt. 

Innerhalb  eines  Zeitraumes  von  30  Jahren  nach  Inkrafttreten  des  Gesetzes, 
also  bis  zum  .Jahre  1894,  durfte  der  Bauer  sein  Grundstück  weder  durch  Ver- 
fügungen unter  Lebenden  tioch  von  Todeswegen  veräussern,  ausser  an  die  Ge- 
meinde oder  an  einen  Bauer  desselben  Dorfes;  ebenso  durfte  er  es  nicht  dinglich 
belasten.  Wenn  ein  Familienhaupt  keine  gesetzlichen  Erben  hinterlässt,  ist  die 
Gemeinde  berechtigt,  das  Grundstück  des  Verstorbenen  an  sich  zu  ziehen,  wenn 
die  die  gesetzlich  bestimmte  Entschädigung  an  die  Grossgrundbesitzer  weiter 
zahlen  will.  Der  Minderjährige  darf  sein  Erbe  nur  antreten,  wenn  die  Mutter 
sich  verpflichtet,  die  erwähnte  Entschädigung  fernerhin  zu  zahlen.  Die  Gemeinde 
ist  berechtigt,  das  GrundstücJc  derjenigen  Bauern  einzuziehen,  die  die  festgesetzte 
Entschädigung  nicht  zahlen  wollen  oder  können,  wenn  sie  sich  zur  Weiterzahlung 
der  betreffenden  Summe  bereit  erklärt.  Die  Arbeitsverträge  zwischen  Grossgrund- 
besitzern und  Bauern  dürfen  höchstens  auf  5  Jahre  abgeschlossen  wtrden,  und 
der  Wert  des  Gegenstandes,  von  dem  im  Vertrage  die  Eede  ist,  muss  immer  in 
Geld  ausgedrückt  sein. 

Für  den  gewährten  Grund  und  Boden,  sowie  für  die  Aufhebung  des 
Zehnten,  der  Frohndienste  u.  dgl.  sind  die  Bauern  verpflichtet,  15  Jahre  lang 
jährlich:  in  der  Walachei  49"26,  bezw.  37"26,  bezw.  26'48  Francs,  in  der 
Moldau  34*91,  bezw,  2706,  bezw.  19*22  Francs  zu  zahlen,  je  nachdem  sie  der 
ersten  (mit  4  Ochsen  und  1  Kuh),  zweiten  oder  dritten  Classe  angehörten.  Die 
Entschädigung  wurde  ermittelt,  indem  man  den  schon  im  „Eeglement  organique" 
festgesetzten  Preise  der  Frohntage  mit  10  multiplicierte ;  infolgedessen  belief  sich 
die  Gesammtsnmme,  die  ein  Bauer  für  den  erhaltenen  Grund  und  Boden  im 
ganzen  zu  entrichten  verpflichtet  war,  in  der  Walachei  auf  563"43,  bezw.  42o*37, 
bezw.  302-22  Francs,  in  der  Moldau  398*52,  bezw.  308*90,  bezw.  209*28  Francs, 
je  nachdem  er  der  ersten  (mit  4  Ochsen  und  1  Kuh),  zweiten  oder  dritten  Classe 
angehörte.  Jeder  Grossgrundbesitzer  bekam  von  der  Gemeinde  einen  Schuldschein, 
welcher  seine  Eechte  den  Bauern  gegenüber,  sowie  deren  Gesammtschuld  enthielt. 
Diese  Schuldscheine  wurden  vom  Liquidationscomite  von  Bukarest  mit  Schuld- 
verschreibungen auf  den  Namen  der  betreffenden  Gemeinde  ausgetauscht.    Diese 


^)  Nach  einer  1900  von  Domänen-Ministerium  herausgegebenen  Statistik   beläuft 
sich  die  Zalil  der  befreiten  Bauern  nur  auf  511.896;  aber  auch  diese  Zahl  ist  nicht  sicher. 


204  Creangä. 

Obligationen  hatten  einen  Zinsfuss  von  10  Proc,  waren  jährlich  zweimal  fällig 
und  lauteten  auf  den  Inhaber  derselben.  Die  Gesammtsumme  der  Eural-Obliga- 
tionen  belief  sich  auf  289,569.000  lei  oder  107,247.851  Francs,  welche  in 
15  Jahren,  also  bis  1879/80,  getilgt  sein  raussten.  Die  Tilgung  geschah  durch 
Ziehungen.    Die  zu  diesem  Zwecke  zur  Verfügung  gestellten  Geldsummen  waren: 

1.  Die  jährliche  Entschädigung,  die  die  Bauern  entrichteten  (7,149.190  Francs). 

2.  Die  Summen  aus  dem  Verkauf  des  in  den  Eeservemagazinen  der  Dörfer 
befindlichen  Mais.  3.  Die  Summen  aus  dem  Verkauf  der  Staatsdomänen  behufs 
Ansiedlung  der  zweiten  Bauernclasse. 

IL  In  Bezug  auf  die  zweite  Bauernclasse  setzt  das  Gesetz  fest,  dass  Grund 
und  Boden  auf  Staatsdomänen  bekommen  können:  1.  Die  nicht  gutsunterthänig 
gewesenen  Bauern,  welche  nicht  mehr  als  Haus  und  Hof  besassen  (meistens  die 
,,Laturalnici").  2.  Die  gutsunterthänig  gewesenen  Bauern,  welche  die  gesetzlich 
vorgeschriebene  Grösse  an  Ackerland  nicht  bekommen  konnten.  3.  Die  neu 
Heiratenden  (Insuratei).  Auf  Staatsdomänen  durften  ferner  die  Arbeitsunfähigen 
und  die  kinderlosen  Witwen  angesiedelt  werden. ') 

Die  Eegierung  wurde  ermächtigt,  dieser  zweiten  Bauernclasse  Parcellen  aus 
Staatsdomänen  (jedoch  eine  Parcelle  nicht  grösser  als  12  Pogune  (=  7*08  ha) 
zu  verkaufen  und  die  Verkaufssumme  für  die  Tilgung  der  Rural-Obligationen  zu 
verwenden.  Der  Preis  wurde  auf  5  Dukat  (ä  11*75  Francs)  pro  Pogöne  fest- 
gesetzt, die  jährlich  in  Eentenform  zu  entrichten  waren;  eine  Ausnahme  bilden 
die  Arbeitsunfähigen  und  Witwen,  die  jährlich  einen  Dukat  oder  halbjährlich 
einen  halben  Dukat,  und  zwar  direct  an  den  Gutsbesitzer  zu  zahlen  verpflichtet 
waren.  Fast  alle  oben  schon  bei  der  ersten  Bauernclasse  erwähnten  Maassregeln 
und  Verfügungen  gelten  auch  hier. 

In  Wirklichkeit  siedelten  sich  auf  Staatsdomänen  zunächst  fast  nur  Schulzen 
und  Gerichtsboten,  Steuererheber  u.  dgl.  an,  während  den  Bauern  diese  Ver- 
günstigung unrechtmässigerweise  entzogen  wurde.  Die  dem  Sinne  des  Gesetzes 
nach  beabsichtigte  Ansiedlung  trat  erst  seit  1878  ein,  als  zwecks  gerechter 
Vertheilung  des  Grund  und  Bodens  eine  Commission  eingesetzt  wurde,  welche 
aus  dem  Bezirkspräfecten,  einem  Delegierten  des  Bezirksrathes  und  einem  Ver- 
treter des  landwirtschaftlichen  Ministeriums  bestand.  In  der  Zeit  von  1881  bis 
1889  wurden  an  53.168  Bauernfamilien  252.073  ha  im  Werte  von  22-086  Mil- 
lionen Francs  verkauft.  Das  Gesetz  von  1889  verfügte  den  Verkauf  der  Staats- 
domänen zu  5,  10  und  25  ha.  Zur  Beschleunigung  der  Ansiedlung  wurde  be- 
stimmt, dass  die  Käufer  von  5  ha  binnen  drei  Jahren,  vom  Tage  des  Kaufes 
an  gerechnet,  übersiedeln  mussten.  Um  diesen  eine  grössere  Erleichterung  zu 
verschaffen,  erhielten  sie  Vorschüsse  von  600  und  später  von  700  Francs  zur 
Bestreitung    der    Uebersiedlungskosten.     Diese    Summe    bekam    der    Bauer    vom 


^)  Mit  den  Freibauern  hat  sich  das  Gesetz  nicht  beschäftigt,  und  zur  Zeit  weiss 
man  weder  ihre  Zaiil  (die  nicht  unbedeutend  ist)  noch  die  Grösse  ihres  Eigenthums, 
welches  sich  —  infolge  der  Gleichberechtigung  der  Erben  an  Grund  und  Boden  —  zur 
Zwergwirtschaft  gestaltet  hat.  Zu  diesem  Ergebnis  kommt  zweifelsohne  bald  auch  der 
1864  und  später  den  Bauern  zugetheilte  Grund  und  Boden,  Der  grösste  Theil  der  Bauern 
besitzt  zur  Zeit  i  icht  mehr  als  '/, — 1  ha. 


Der  Bauernstand  in  Kumänien,  seine  geschichtliche  Entwicklung  etc.  205 

,,Creditul  agricol"  und  die  zweite  ünterabtheilung  dieser  Anstalt,  die  1892 
errichtet  wurde,  diente  ausschliesslich  diesem  Zwecke,  hatte  jedoch  nicht  den 
erwünschten  Erfolg. 

Die  Kaufsumme  ist  in  Eentenform  mit  einem  Zinsfuss  von  5  Procent  und 
1  Procent  Tilgung  zu  zahlen.  Der  Käufer  braucht  keine  Caution  zu  stellen  und 
kann  den  Acker  einfach  durch  eine  Commission  erwerben.  Die  Lose  zu  5  ha 
können  in  einem  Zeiträume  von  30  Jahren,  vom  Tage  des  Erwerbes  ab  gerechnet, 
nicht  weiter  veräussert  werden.  Die  Veräusserung  der  Lose  zu  10  und  25  ha 
geschieht  auf  dem  Wege  der  öffentlichen  Ausschreibung.  Die  Leitung  derselben 
ruht  in  den  Händen  einer  Commission  in  jeder  Bezirkshauptstadt,  die  sich  zu- 
sammensetzt aus  dem  Präfecten,  dem  Präsidenten  des  Bezirksausschusses  und  dem 
Steuerinspector  des  Bezirkes.  Jeder  Mitbieter  muss  eine  Caution  in  der  Höhe  des 
doppelten  Pachtschillings  des  betreffenden  Loses  hinterlegen.  Der  erzielte  Kauf- 
preis muss  mindestens  200  lei  pro  Hektar  betragen.  Von  dem  Kaufpreis  muss 
mindestens  ein  Zehntel  im  Laufe  eines  Monats  nach  Bestätigung  der  Veräusserung 
bezahlt  werden.  Die  Zahlung  der  übrigen  Summe  erfolgt  in  der  Form  einer  Kente 
auf  der  Grundlage  eines  Zinsfusses  von  5  Proc.  und  2  Proc.  Amortisation. 
Diese  Lose  können  erst  dann  weiterveräussert  werden,  wenn  der  gesammte  Kauf- 
preis durch  Amortisation  getilgt  ist. 

Durch  den  Verkauf  der  Staatsdomänen  in  grösseren  Parcellen  zu  10  und 
25  ha  glaubte  man  die  Gelegenheit  zur  Entwicklung  eines  kräftigen  Bauern- 
standes zu  geben,  was  ja  einen  grossen  wirtschaftlichen  Vortheil  bedeutet  hätte. 
In  Wirklichkeit  kauften  aber  nur  wenige  Bauern  solche  grosse  Parcellen,  weshalb 
auch  der  Verkauf  von  Parcellen  zu  10  und  25  ha  im  Jahre  1896  eingestellt 
wurde.  Waren  doch  nur  wenige  oder  gar  keine  Bauern  imstande  gewesen,  solche 
grosse  Parcellen  zu  bezahlen.  Sie  wurden  vielmehr  von  vielen  Personen  zum 
Zwecke  der  Speculation  gekauft,  die  dieselben  dann  in  kleineren  Parcellen  an 
Bauern  mit  höheren  Preisen  verpachteten.  In  der  Zeit  von  1889  bis  1894 
wurden  verkauft:  167  Parcellen  zu  25  ha,  541  zu  10  ha  und  45.151 
zu  5  ha,  zusammen  45.859  Parcellen  von  234.774  ha  im  Werte  von 
88,986.241  Francs. 

Der  hauptsächlichste  Mangel  des  Gesetzes  von  1864  ist,  dass  der  Bauer 
viel  zu  wenig  Acker  erhielt,  so  dass  er  selbst  in  guten  Erntejahren  sich  und 
seine  Familie  kaum  ernähren  kann,  aber  völlig  ausserstande  ist,  Ersparnisse  für 
die  Steuer  und  für  die  Entschädigung  der  Grossgrundbesitzer  zu  machen,  zumal 
der  Boden  auch  heute  noch  extensiv  bearbeitet  wird  und  die  Witterungsverhält- 
nisse sehr  veränderlich  sind,  so  dass  auf  drei  Jahre  höchstens  ein  gutes  Ernte- 
jahr kommt.  Der  Bauer  hatte  kein  Capital,  und  es  war  vorauszusehen,  dass  es 
ihm  bei  der  geringen  Grösse  seines  Ackers  unmöglich  sein  würde,  mit  seiner 
Arbeitskraft  ausser  seinem  nothwendigsten  Lebensbedarf  noch  eine  hohe  Steuer 
und  eine  noch  höhere  Entschädigung  aufzubringen;  es  konnte  daher  wirklich 
mit  Eecht  gesagt  werden,  dass  der  Bauer  nach  seiner  Befreiung  viel  ärmer  war 
wie  zuvor. 

Ein  weiterer  Fehler  liegt  darin,  dass  man  der  Ersparnis  halber  die  Ent- 
schädigung zugleich  mit  der  Steuer  erhob;   es  war  natürlich  für  den  Bauer  sehr 


206  Creangä. 

schwer,  ja  oft  unmöglich,  eine  so  bedeutende  Geldsumme  auf  einmal  zu  ent- 
richten. Die  Höhe  der  Entschädigung  war  in  der  Weise  ermittelt  worden,  dass 
man  den  im  ,,E<^glement  organique"  für  die  Arbeitstage  und  für  den  Zehnten 
festgesetzten  Preis  mit  10  multiplicierte.  Dieser  Preis  war  aber  im  ,, Reglement 
organique"  ziemlich  willkürlich,  und  zwar  für  den  Arbeitstag  eines  Bauern  mit 
4  Ochsen  auf  4  Piastri,  mit  2  Ochsen  auf  3  Piastri  und  ohne  Vieh  auf  2  Piastri 
festgesetzt.  Der  Zehnte  wurde  mit  15  Piastri  für  Korn,  mit  11  Piastri  für  Mais 
und  mit  18  Piastri  für  Gerste  in  Anrechnung  gebracht.  In  der  That  ist  die 
Entschädigung  grösser,  als  sie  sich  aus  diesen  Ansätzen  ergeben  würde. 

Der  Arbeitslohn  erscheint  zwar  etwas  niedrig,  aber  es  darf  nicht  vergessen 
werden,  dass  auch  heute  der  Tagelohn  der  von  den  Pächtern  engagierten  Bauern 
in  vielen  Gegenden  meist  nicht  über  40  bis  50  Centimes  hinausgeht.  Im  übrigen 
behaupten  viele  Schriftsteller,  der  grösste  Fehler  des  Gesetzes  vom  Jahre  1864 
liege  in  der  Thatsache,  dass  den  Grossgrundbesitzern  überhaupt  eine  Entschädi- 
gung gewährt  wurde.  (?) 

Wenige  Bezirke  ausgenommen,  bekam  der  Bauer  für  seinen  Holzbedarf 
keinen  Wald;  seine  kleine  Wiese  musste  er  in  Ackerland  verwandeln,  um  über- 
haupt existieren  zu  können.  Gegenwärtig  bekommt  der  Bauer  Holz  aus  den 
Waldungen  des  Grossgrundbesitzers  und  darf  sein  Vieh  auf  dessen  Weide  schicken, 
so  dass  er  in  Wirklichkeit  noch  heute  vom  Grossgrundbesitzer  in  wirtschaftlicher 
Beziehung  total  abhängig  ist.  Der  vom  Grossgrundbesitzer  für  die  Weide  verlangte 
Preis  war  so  hoch,  dass  die  Bauern  sich  kein  Vieh  mehr  halten  konnten,  aus 
dessen  Verkauf  sie  sich  die  Summe  für  Steuern  und  Entschädigung  hätten  ver- 
schaffen können.  Bis  zum  Jahre  1893  verpachtete  der  Grossgrundbesitzer  seine 
Weide  an  die  Bauern  gegen  einen  festen  Preis  pro  Stück  Vieh,  ohne  Rücksicht 
auf  die  Grösse  der  Weide,  so  dass  er  oft  auf  einer  kleinen  Weide  eine  ver- 
hältnismässig viel  zu  grosse  Zahl  Vieh  weiden  Hess.  Das  Gesetz  von  1893  besei- 
tigte diese  Misstände  dadurch,  dass  es  verfügte,  der  Preis  müsse  immer  im  Ver- 
hältnisse zur  Grösse  der  Weide  stehen. 

Das  Jahr  1866  brachte  eine  grosse  Hungersnoth,  durch  die  die  Bauern  in 
eine  sehr  schlimme  Lage  geriethen.  Die  Regierang  bat  die  Grossgrundbesitzer, 
die  Bauern  doch  für  diese  Zeit  zu  unterstützen  ;  die  barmherzigen  Grossgrund- 
besitzer erklärten  sich  hierzu  auch  bereit,  wenn  die  Bauern  sich  verpflichten 
würden,  den  Wert  des  erhaltenen  Getreides  abzuarbeiten.  Und  um  der  Hungers- 
noth vorzubeugen,  blieb  der  Regierung  nichts  anderes  übrig,  als  ein  Gesetz  im 
Sinne  der  Grossgrundbesitzer  einzuführen,  was  eine  Verletzung  jeglicher  Freiheit 
bedeutete.  Der  Bauer  konnte  von  jetzt  ab  manu  militari  zur  Arbeit  gezwungen 
werden,  zu  diesem  Zwecke  standen  jedem  Grossgrundbesitzer  einige  Gendarmen 
zur  Verfügung,  Nach  dem  Gesetze  von  1882  durfte  der  Grossgrundbesitzer  den 
Bauer  nicht  mehr  manu  militari  zur  Arbeit  zwingen,  sondern  der  Ortsschulze 
hatte  in  solchen  Fällen  von  nun  ab  zu  entscheiden.  Ausserdem  durfte  ein  Ar- 
beitsvertrag zwischen  Grossgrundbesitzern  und  Bauern  nur  noch  auf  die  Dauer 
von  einem  Jahre  (statt  wie  bisher  auf  fünf  Jahre)  abgeschlossen  werden.  Nach 
den  schlechten  Ernten  der  Jahre  1888  und  1900  bat  die  Regierung  nicht 
wieder  die  Grossgrundbesitzer  um  Unterstützung  für  die  Bauern,    sondern  kaufte 


Der  Bauernstand  in  Eumänien,  seine  geschichtliche  Entwicklung  etc.  207 

selbst  Mais  auf  und  vortheilte  ihn  unter  die  Bauern.  Im  J.  1895  unternahm  es 
König  Carol  L,  für  die  Bauern  einen  Unterstützungsfonds  im  Hinblick  auf 
kritische  Zeiten  zu  gründen,  indem  er  selbst  200.000  Francs  zu  diesem  Zwecke 
zeichnete,  die  Regierung  gab  500.000  Francs  und  viele  hervorragende  Per- 
sönlichkeiten steuerten  grosse  Summen  bei.  Zu  nennen  wären  besonders  D.  A. 
Sturdza,  P.  S.  Aurelianu  und  Calindero,  welche  —  die  ersten  zwei  als  Domänen- 
Minister  und  der  letzte  als  Verwalter  der  Krondomänen  —  für  die  Hebung  des 
Bauernstandes  sehr  viel  geleistet  haben  und  in  der  Bauernfrage  eine  hervorragende 
Eolle  spielen.  Dieser  Fonds  wird  ausserdem  von  der  Regierung  von  Jahr  zu  Jahr 
vermehrt. 

2.   Die  gegenwärtige   Lage. 

Berücksichtigt  man  die  traurige  Vergangenheit  des  rumänischen  Bauern- 
standes, die  vielen  Hindernisse,  die  seiner  Entwicklung  sich  entgegenstellten,  so 
wird  man  es  begreiflich  finden,  dass  auch  seine  gegenwärtige  Lage  wenig  befriedigend 
ist,  zumal  erst  36  Jahre  seit  seiner  Befreiung  verflossen  sind.  In  wirtschaftlicher 
Beziehung  sind  die  Bauern  auch  heute  noch  unselbständig  und  abhängig.  Un- 
genügende Wohnungen,  dürftige  Nahrung,  geringe  Bildung,  viel  Krankheiten,  das 
sind  die  Folgen  der  Gutsunterthänigkeit,  welche  die  gegenwärtige  Lage  der 
Bauern  charakterisieren. 

Die  Wohnungsverhältnisse  sind  die  denkbar  schlechtesten;  in  einem  ein- 
zigen, meist  feuchten  und  noch  dazu  selten  gelüfteten  Zimmer  wohnt  die  ganze 
Familie.  Nach  einer  Statistik  von  1889,  die  allerdings  keinen  Anspruch  auf 
völlige  Genauigkeit  macht,  gab  es  74.656  Häuser  aus  Stein,  296.220  aus  Holz, 
583.307  mit  Fachwerk,  dessen  Füllung  aus  Lehm  bestand,  und  54.772  Bordee 
(Erdhöhlen),  Die  583.307  Lehmhäuser  und  die  54.772  Bordee  können  keines- 
wegs als  Wohnungen  angesehen  werden,  die  den  Anforderungen  der  Hygiene 
entsprechen. 

Die  Dörfer  liegen  fast  immer  in  der  Nähe  von  Gewässern;  Fenster  und 
Thüren  sind  meist  an  der  Südseite  der  Häuser  angebracht;  das  ist  aber  auch 
der  einzige  Vorzug,  den  diese  Häuser  in  gesundheitlicher  Beziehung  aufweisen 
können,  und  im  Gebirge  fällt  auch  dieser  infolge  ungünstiger  Bodenbeschaffenheit 
oft  fort.  Die  Strassen  sind  bis  und  oft  über  12  Meter  breit,  auch  ziemlich  regel- 
mässig angelegt;  allerdings  versperren  einem  hin  und  wieder  ein  Brunnen,  ein 
vorspringendes  Gebäude,  Schlammpfützen  und  dergleichen  den  Weg. 

Nicht  selten  verpesten  herumliegende  Hunde-  und  Katzencadaver  die  Luft. 
Hier  sei  gleich  erwähnt,  dass  der  rumänische  Bauer  übermässig  viel  Hunde  hält, 
so  dass  einzelne  Gemeinden  deswegen  sogar  sprichwörtlich  geworden  sind.  Da 
die  Hunde  aber  nicht  zum  Ziehen  verwendet  werden,  stellen  sich  die  für  ihre 
Ernährung  aufgewendeten  Kosten  als  reine  Luxusausgaben  dar,  die  umsoweniger 
gerechtfertigt  sind,  als  sie  die  Bauern  daran  verhindern,  sich  nützlichere  Haus- 
thiere  anzuschaffen.  Eine  Hundesteuer  —  die  auf  einen  Hofhund  für  jedes  Gehöft 
natürlich  keine  Anwendung  finden  dürfte  —  würde  daher  in  jeder  Hinsicht 
segensreich  wirken. 


208  Creangä. 

In  Bezug  auf  die  gesundheitlichen  Verhältnisse  der  ländlichen  Gemeinden, 
sagt  Dr.  Manolescu,^)  dass  den  einzigen  hygienischen  Vorzug  die  in  der 
Nähe  der  Dörfer  befindlichen  Gehölze  bilden,  die  hauptsächlich  aus  Weiden 
bestehen. 

Das  Wohnhaus  der  Bauern  enthält  für  gewöhnlich  zwei  Zimmer,  von  denen 
aber  nur  das  eine  bewohnt  wird,  während  das  andere  stets  für  eventuellen  Besuch 
reserviert  bleibt.  Das  Dach  des  Wohnhauses  besteht  in  schilfreichen  Gegenden 
in  der  Eegel  aus  Eohr,  sonst  aus  Stroh,  in  manchen  Orten  auch  aus  Blech  und 
Holzschindeln.  Die  Grösse  einer  bäuerlichen  Wohnung  übersteigt  nie  75  Cubik- 
meter,  gewöhnlich  umfasst  sie  aber  nur  20  bis  30  Cubikmeter.  Die  Thür  ist 
1-55  bis  1-75  Meter  hoch  und  060  bis  0'80  Meter  breit;  bei  Aermeren  hat  sie 
eine  hölzerne,  bei  Eeicheren  eine  eiserne  Klinke.  Der  grösste  Nachtheil  besteht 
darin,  dass  die  Fenster  nicht  zu  öffnen  sind;  infolgedessen  kann  das  Zimmer  nie 
gelüftet  werden,  was  umso  ungesunder  ist,  als  im  Winter  noch  mancherlei  Vieh 
in  der  Stube  untergebracht  wird.  Meist  hat  jedes  Zimmer  nur  ein  Fenster,  das 
40  bis  50  Centimeter  hoch  ist,  und  durch  dessen  schlechtes  Glas  kaum  ein 
Sonnenstrahl  dringt;  oft  wird  sogar  statt  des  Glases  getrocknete  durchsichtige 
Thierblase  verwendet. 

Die  Bordee  sind  Erdhöhlen,  deren  Wände  durch  aufgeschütteten  Lehm  bis 
zu  IY2  oder  2  Meter  über  die  Erdoberfläche  herausragen  und  deren  Dach  aus 
Holzknütteln  und  Lehm  besteht.  In  der  einen  Ecke  befindet  sich  eine  Feuerstätte 
aus  Lehm.  Der  Eauch  entweicht  durch  einen  Schornstein  oder  einfach  durch  die 
Thür;  im  Winter  ist  der  Eaum  stets  mit  Eauch  gefüllt.  Als  Feuerung  verwendet 
man  Holz,  daneben  aber  auch  in  grösserem  umfange  Maisstroh,  getrocknete 
Pflanzen  und  getrockneten  Dung.  Eltern  und  Kinder  wohnen  und  schlafen  in 
ein  und  demselben  Zimmer,  ohne  Eücksicht  auf  das  Geschlecht,  auf  die  Anzahl 
oder  darauf,  ob  einer  von  ihnen  an  einer  epidemischen  Krankheit  leidet.  Im 
Winter  nimmt  man  sogar  noch  kleine  Hunde,  Katzen,  Lämmer,  Ferkel  und  andere 
Thiere  mit  ins  Zimmer.  Dadurch  wird  nun  eine  unerträgliche  Luft  erzeugt,  zumal 
der  Fussboden  zumeist  aus  festgestampftem  Lehm  und  Dung  besteht. 

Das  Haus  ist  umgeben  von  einem  Hof  und  einem  Obor;-)  einen  Hof 
haben  aber  nur  die  Eeicheren.  Im  Obor  befinden  sich  alle  Ackergeräthe,  sowie 
die  Ställe  für  die  Hausthiere. 

Der  frühere  Landwirtschaftsminister  Carp  errichtete,  um  den  Bauern  ein 
gutes  Vorbild  zu  geben,  und  um  die  Uebersiedelung  der  zweiten  Bauernclasse  zu 
erleichtern,  auf  dem  ,,Bärägan"^)  zwei  Musterdörfer  mit  189,  bezw.  205  Häusern 
und  später  noch  zwei  weitere  Dörfer,  insgesammt  754  Häuser,  deren  jedes  von 
den  Bauern  für  die  Summe  von  600  Francs  gekauft  werden  konnte.  Jedes  dieser 
Häuser  bestand  aus  zwei  Wohnzimmern,  Küche  und  Veranda.  Es  heisst  jedoch, 
dass  das  Eesultat  seines  Unternehmens  nicht  so  günstig  war,  wie  es  Carp  er- 
wartet   und    gehofft    hatte,  und    die    ganze    Einrichtung    ist    als    misslungen    zu 


1)  In  seinem  von  der  rumänischen  Akademie  prämiierten  Werk:  „Higiena  ^eranului 
roraän." 

'■')  Ein  nicht  eingezäunter  freier  Platz. 

3)  Eine  sehr  ausgedehnte,  meist  sandige  und  nur  wenig  bebaute  Steppe. 


Der  Bauernstand  in  Kuinänien,  seine  geschiclitliche  Entwicklung  etc.  209 

betrachten.  Am  rathsamsten  dürfte  wohl  sein,  wenn  die  Communalbehörden  bei 
jedem  Neubau  eines  Bauernhauses  darauf  drängen,  dass  die  Gebäude  den 
hygienischen  Anforderungen  entsprechend,  vielleicht  nach  Art  der  Häuser  in  den 
eben  erwähnten  Musterdörfern,  aufgeführt  und  eingerichtet  werden.  Sollten  dem 
Bauer  dazu  aber  die  nöthigen  Mittel  fehlen,  so  müssten  die  Behörden  ihm  die- 
selben aus  dem  ,,Creditul  agricol"  verschaffen. 

An  Hausthieren  hält  der  rumänische  Bauer  in  grosser  Anzahl  Binder  von 
derselben  Kasse,  die  auch  in  Ungarn  und  Eussland  sehr  verbreitet  ist;  Pferde 
besitzt  er  nur  wenige  —  besonders  in  der  Moldau  — ,  weil  sie  mehr  Arbeit  und 
Pflege  erfordern  als  die  Kinder;  im  Winter  müssen  sie  z.B.  unter  Dach  gebracht 
werden,  während  die  Kinder  meistens  unter  freiem  Kimmel  bleiben.  Im  Jahre  1890 
gab  es  in  ganz  Rumänien  1,250.590  Ochsen,  820.511  Kühe,  594,662  Pferde 
und  926.124  Schweine. 

Die  Kleidung  des  rumänischen  Bauern  lässt  auch  viel  zu  wünschen  übrig, 
jedoch  weniger  als  die  Wohnung.  Man  sieht  sehr  weite  und  sehr  enge  Bein- 
kleider und  dazwischen  die  verschiedensten  Abstufungen,  je  nach  den  örtlichen 
Gewohnheiten  und  je  nach  den  Einwirkungen  des  Verkehrs  mit  andern  Völkern. 
Im  Sommer  trägt  der  Bauer  ein  Hemd  aus  Linnen  oder  Hanf,  ein  Beinkleid, 
einen  Hut  mit  breiter  Krempe,  ferner  einen  Leibgurt  (Brau)  in  den  verschiedensten 
Farben,  als  Fussbekloidung  Sandalen,  bisweilen  auch  Stiefel,  ausnahmsweise  auch 
Schuhe;  im  Winter  trägt  er  statt  des  Hutes  eine  grosse  Mütze  aus  Schaffell  und 
einen  grossen,  dicken,  aus  Schafwolle  angefertigten  Mantel,  Cojoc  oder  Suman 
genannt.  Die  Bekleidung  der  Bäuerinnen  besteht  im  Sommer  gewöhnlich  aus 
Baumwolle,  im  Winter  aus  Schafwolle.  In  vielen  Bezirken  trägt  man  auch  die 
sogenannte  ,,Fota",  das  ist  ein  sehr  enger  Rock.  Das  rumänische  National- 
costume  ist  ohne  Zweifel  eines  der  schönsten  in  ganz  Europa.  Besonders  mangel- 
haft ist  die  Kleidung  der  Kinder  und  darin  liegt  vielleicht  der  Hauptgrund  der 
grossen  Kindersterblichkeit;  Fussbekleidung  kennen  sie  meist  nur  im  Winter. 

Gänzlich  unbefriedigend  sind  leider  die  Nahrungsverhältnisse  in  Rumänien. 
Die  Art  der  Speisen  ist  meistens  nicht  der  freien  Wahl  des  Einzelnen  anheim- 
gestellt, sondern  durch  religiöse  Sitten  bedingt.  Die  Fasttage  sind  für  den  Bauer 
so  zahlreich,  dass  sie  nur  schädliche  Wirkung  haben  können;  sie  sind  von  den 
Synoden  den  früheren  Zuständen  und  Verhältnissen  entsprechend  festgesetzt, 
passen  aber  nicht  mehr  für  die  gegenwärtige  Lage.  Dies  erkannte  auch  Papst 
Gregorius  als  richtig  an,  und  er  gestattete  daher  den  Katholiken  in  der  Fasten- 
zeit auch  Käse,  Eier  und  Milch  zu  geniessen.  Es  wäre  sehr  wünschenswert,  dass 
auch  die  orthodoxen  Synoden  in  Rumänien  diesem  Beispiele  folgten,  obwohl  es 
wahrscheinlich  nicht  geringe  Schwierigkeiten  machen  würde,  die  abergläubischen 
Bauern  zu  einer  Aenderung  ihrer  religiösen  Sitten  zu  bewegen.  Sehr  beachtens- 
wert ist  ferner  die  Thatsache,  dass  das  Fasten  gerade  in  die  Zeit  fällt,  wo  der 
Bauer  viel  zu  arbeiten  hat;  er  fastet  nämlich:  1.  Vor  Ostern  vom  14.  Februar 
bis  zum  5.  April,  eventuell  vom  20.  März  bis  zum  8.  Mai  (49  Tage);  2.  vor  St.  Peter 
vom  29.  Mai  bis  zum  9.  Juli  oder  vom  2.  Juli  bis  zum  10.  Juli  (42  bezw.  8  Tage); 
3.  vor  St.  Maria  vom  13.  bis  26.  August  (13  Tage);  4.  vor  dem  Weihnachtsfest 
vom  13.  bis  25.  November  bis  zum  25.  December  bis  6.  Jänner  (42  Tage).  Di© 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  X.  Band.  14 


210  Creangä. 

Gesammtsumme  beläuft  sich  also  auf  147  bezw.  113  Fasttage.  Kechnet  man  nun 
noch,  die  Septamäna  alba  (weisse  Woche),  in  der  man  nur  Eier,  Milch  und  Käse 
essen  darf,  auch  zur  Fastenzeit,  so  stellt  sich  die  Zahl  der  jährlichen  Fasttage 
auf  154  bezw.  120.  Ausserdem  verbieten  aber  die  religiösen  Sitten  den  Bauern  auch 
noch  Mittwoch  und  Freitag  Fleisch  oder  thierische  Producte  zu  essen,  ja  viel© 
fasten  auch  noch  Montags,  besonders  wenn  sie  vom  Priester  ein  ,, Canon"  be- 
kommen haben,  was  sehr  leicht  und  oft  vorkommt;  demnach  fastet  der  rumä- 
nische Bauer  bis  zu  220  Tage  jährlich,  d.  h.  er  nimmt  während  dieser  Zeit 
weder  Fleisch  noch  andere  kräftige  Nahrungsmittel  zu  sich,  da  es  nach  seiner 
Meinung  nur  so  möglich  ist,  Vergebung  seiner  Sünden  zu  erlangen.  Nach  Ablauf 
der  Fastenzeit  ist  der  Bauer,  namentlich  auch  infolge  der  angestrengten  Arbeit, 
natürlich  sehr  schwach  und  angegriffen,  und  zwar  ganz  besonders  im  Sommer. 
Daraus  erklärt  sich  die  Thatsache,  dass  die  Bauern  am  Abend  vor  Beginn  der 
Osterfastenzeit  sich  nach  alter  Gewohnheit  küssen  mit  den  Worten:  ,, Wer  weiss, 
wer  die  heiligen  Ostern  erleben  wird."  (Die  Osterfastenzeit  ist  nämlich  die  längste 
und  sehr  schwer  zu  halten,  da  die  für  diese  Zeit  erlaubten  Nahrungsmittel  nicht 
in  grösseren  Mengen  vorhanden  sind.)  Und  in  der  That  kann  infolge  der  dürf- 
tigen Nahrung,  der  angestrengten  Arbeit  und  der  verschiedenen  anderen  Um- 
stände, die  seiner  Gesundheit  nicht  gerade  dienlich  sind,  die  Hoffnung  auf  ein 
längeres  Leben  nicht  sehr  gross  sein.  Eine  Verminderung  der  Fasttage,  sowie 
deren  Verlegung  in  die  Zeit,  wo  der  Bauer  weniger  zu  thun  hat,  würde  eine 
wesentliche  Verbesserung  seiner  Lebenslage  bedeuten. 

Der  Bauer  verzehrt  in  grösseren  Quantitäten  weisse  Bohnen,  und  zwar 
wurden  im  Jahre  1890  für  den  inländischen  Consum  nicht  weniger  als  272  Mil- 
lionen Hektoliter  eingeerntet;  weiter  besteht  seine  Nahrung  aus  Erbsen,  Zwiebeln, 
Knoblauch,  Weisskohl,  Gurken  und  Fischen.  Ausserhalb  der  Fastenzeit  isst  er 
gewöhnlich  Schweinefleisch,  da  jede  Bauernfamilie  zu  Weihnachten  ein  oder  zwei 
Schweine  schlachtet,  ferner  viel  Hammelfleisch  und  Geflügel,  weniger  Rindfleisch. 
Meist  nimmt  der  Bauer  nur  zwei  Mahlzeiten  am  Tage  ein,  im  Sommer  dagegen, 
wenn  er  mehr  arbeiten  muss  und  die  Tage  länger  sind,  bringt  er  es  auf  drei, 
auch  vier  Mahlzeiten  täglich.  Die  jährliche  Verbrauchsmenge  für  einen  Bauer  wird 
auf  ungefähr  530  kg  geschätzt,  ^)  und  zwar  auf  360  leg  Getreide,  150  hg  Legum- 
mosen,  10  Ä;^  Schweinefleisch,  5//^  anderes  Fleisch  und  bhg  Schmalz.  Des 
Bauers  Lieblingsspeise  ist  die  Polenta,  ,,mämäliga".  Diese  Thatsache  sucht  man 
auf  verschiedene  Weise  zu  erklären;  man  behauptet,  der  Hunger,  unter  dem  der 
Bauer  oft  gelitten,  habe  ihn  an  den  Genuss  dieser  Speise  gewöhnt;  andere 
erklären  sie  aus  der  Leichtigkeit,  mit  der  diese  Polenta  zubereitet  werden  kann. 
Sicher  ist  jedenfalls  die  Thatsache,  dass  der  rumänische  Bauer  ohne  den  Genuss 
der  Polenta  ,,mämäliga"  sich  nicht  für  satt  hält.  Brot  wird  in  grösseren  Quanti- 
täten nur  in  Dobrogea  und  im  Heere  gegessen,  da  die  tägliche  Brotportion  der 
Soldaten  sehr  gross  ist.  Der  Bauer  verzehrt  durchschnittlich  1  leg  Maismehl  mit 
Y4  kg  Käse  am  Tage. 


*)    Nach  Dr.  Cräiniceanu:   „Locuinta,  imbräcämintca    si  nutrementul   feianului 
romän.  Bucuresci  1895." 


Der  Bauernstand  in  Eumänien,  seine  geschichtliche  Entwicklung  etc.  211 

Was  den  Preis  der  täglichen  Nahrung  eines  Bauern  anbelangt,  so  sind  die 
Ang'aben  darüber  verschieden;  Dr.  Cräiniceanu  berechnet  ihn  auf  20  Centimes 
(16  Pfennig),  andere  auf  30  bis  40  Centimes.  Der  Preis  von  40  Centimes  würde 
allerdings  eine  beinahe  genügende  Ernährung  bedeuten,  von  der  in  Wirklichkeit 
aber  nicht  die  Eede  sein  kann.  Wenn  das  Essen  vielleicht  auch  mehr  als 
20  Centimes  täglich  kostet,  so  übersteigt  der  Preis  doch  in  keinem  Falle  30  Centimes  ; 
zu  dieser  Summe  kommen  dann  noch  10  bis  15  Centimes  für  Alkohol  und 
10  Centimes  für  Tabak  täglich  hinzu. 

Eine  bessere  und  kräftigere  Nahrung  des  Bauern  ist  also  dringend  erfor- 
derlich. Kann  doch  infolge  ungenügender  Nahrung  auch  die  Arbeitskraft  der 
Bauern  nicht  gross  sein.  Dr.  Obedenariu  sagt  in  dieser  Beziehung:  Obwohl  der 
rumänische  Bauer  eine  sehr  kräftige  Natur  besitzt  und  täglich  dreimal  soviel 
arbeiten  kann  als  ein  bulgarischer  Bauer,  nimmt  seine  Kraft  doch  nach  drei 
Arbeitstagen  bedeutend  ab;  dies  kommt  wahrscheinlich  von  der  ungenügenden 
Nahrung  und  eine  Verbesserung  derselben  würde  sicherlich  eine  Erhöhung  seiner 
Arbeitskraft  und  namentlich  eine  grössere  Ausdauer  zur  Folge  haben;  denn  der 
Zustand  eines  Arbeiters  kann  im  allgemeinen  nicht  sowohl  durch  höheren  Lohn, 
als  durch  Verbesserung  seiner  Nahrung  gehoben  werden. 

Der  Arbeitslohn  ist  in  den  verschiedenen  Bezirken  verschieden.  Er  steigt, 
namentlich  für  Ausländer,  manchmal  auf  1*50,  2*50,  ja  sogar  3  und  4  Francs 
pro  Tag.  Doch  verstehen  es  die  Grundbesitzer  und  Pächter  vielfach,  die  Bauern 
dazu  zu  zwingen,  ihnen  schon    für  einen  Taglohn  von    50  Centimes  zu  arbeiten. 

Beachtenswert  ist  es  aber,  dass  viele  Arbeiter  und  Dienstboten  aus  den 
Nachbarländern,  besonders  aus  Ungarn,  nach  Rumänien  kommen,  da  es  der  rumä- 
nische Bauer  nicht  liebt,  für  andere  zu  arbeiten,  und  da  er  es  für  eine 
Schande  hält,  seine  Kinder  bei  anderen  dienen  zu  lassen.  Mit  der  intensiveren 
Bearbeitung  des  Bodens,  mit  der  Steigerung  der  Production  des  Landes  wird 
auch  der  Zuzug  fremder  Arbeiter  immer  grösser.  So  waren  z.  B.  im  Jahre  1888 
im  Bezirke  Jassy  4600  Arbeiter  einheimisch  und  nur  1650  aus  der  Bukowina, 
im  Bezirke  Tekuci  53.493  Arbeiter  einheimisch  und  nur  1344  aus  Galizien  und 
Bukowina,  während  jetzt  in  diesen  Bezirken  die  Zahl  fremder  Arbeiter  bedeutend 
überwiegt;  Mangel  an  einheimischen  Arbeitern  herrscht  auch  in  Dobrogea. 

Nach  officiellen  Angaben  kamen  im  Jahre  1887  auf  jeden  Bauer  30  bis 
100  Hektar  Acker  zur  Bearbeitung.  Das  jährliche  Einkommen  des  Bauern  ist 
infolge  der  in  grossem  Umfange  betriebenen  Naturalwirtschaft  schwer  festzu- 
stellen. Die  Angaben  darin  sind  infolgedessen  auch  verschieden.  Ghika  hat  es 
1875  auf  500,  andere  auf  875,  endlich  Dr.  Cräiniceanu  un  Arion  im  Jahre  1894 
auf  800  Francs  geschätzt.  Der  Bauernstand  hat  sich  bedeutend  gehoben  und 
gegenwärtig  kann  das  jährliche  Einkommen  eines  Bauern  nach  meinen 
Beobachtungen  und  auf  Grund  verschiedener  Merkmale  auf  900  Francs 
berechnet  werden. 

Die  Leistungsfähigkeit  des  rumänischen  Bauern  wird  nicht  nur  durch 
schlechte  Nahrung,  sondern  auch  durch  die  Ungunst  des  Klimas  sehr  beeinträchtigt. 
Im  Sommer,  wo  am  meisten  Arbeit  ist,  herrscht  oft  eine  unerträgliche  Hitze, 
während  im  Winter,  wo  mehr  geleistet  werden   könnte,    der  Bauer    keine   Arbeit 

14* 


212  Creangä. 

hat,  da  der  Ackerbau  natürlich  ruht  und  er  eine  andere  Beschäftigung  überhaupt 
nicht  kennt.  Ausserdem  wird  er  durch  die  Religion,  d.  h.  durch  die  zahlreichen 
Feiertage  von  der  Arbeit  abgehalten  und  zum  Nichtsthun  verleitet.  Eine  Vermin- 
derung der  Feiertage  wäre  daher  umsomehr  wünschenswerter,  als  viele  gar  keine 
oder  nur  äusserst  geringe  religiöse  Bedeutung  haben  und  nur  durch  die  Ueberlieferung 
aufrechterhalten  werden. 

Wie  schon  erwähnt,  kennt  der  Bauer  bisher  keine  Industrie,  die  er  im 
Winter  betreiben  und  sich  dadurch  seine  Existenz  erleichtern  könnte;  er  ist  also 
nur  auf  seine  im  Herbste  geernteten  Producte  angewiesen  und  befindet  sich  bei 
etwaiger  schlechter  Ernte  jedesmal  in  grösster  Noth.  Doch  wurden  in  letzter 
Zeit  Vorkehrungen  getroifen,  um  den  Bauern  auch  eine  Ausbildung  in  verschie- 
denen Industriezweigen  zu  ermöglichen. 

Leider  fehlt  es  in  der  Umgebung  des  Bauern  an  Menschen,  die  ihn  zu 
einem  ordentlichen  Lebenswandel  und  zu  grösserem  Fleisse  anspornen.  Der 
Schankwirt  muntert  ihn  in  eigenem  Interesse  zum  Trinken  auf,  und  nur  allzu 
häufig  ergibt  er  sich  der  Trunksucht,  was  natürlich  die  völlige  Erschlaffung  zur 
Folge  hat.  Selbst  der  Pfarrer,  dem  doch  die  Hebung  des  Bauernstandes  am 
Herzen  liegen  sollte,  thut  nichts  in  dieser  Beziehung.  Von  den  in  letzter  Zeit 
eingeführten  Neuerungen  betreffs  der  Pfarrverhältnisse  erhofft  man  auch  hierin 
eine  Besserung.  Die  gegenwärtige  Generation  der  Lehrer  lässt  ebenfalls  viel  zu 
wünschen  übrig  und  bekümmert  sich  so  gut  wie  gar  nicht  um  die  Bauern.  Auch 
die  Inamovibilität  des  Beamtenthums,  besonders  der  inneren  Verwaltung,  würde 
für  den  Bauernstand  von  grösstem  Nutzen  sein.  Die  Gutspächter  (fast  aus- 
schliesslich Griechen  und  Juden)  suchen  die  Hebung  des  Bauernstandes  sogar 
zu  hintertreiben,  da  sie  sonst  nicht  mehr  soviel  Nutzen  aus  ihm  ziehen  könnten. 
Denn  nur  so  ist  es  ihnen  möglich,  in  guten  Erntejahren  oft  einen  Reingewinn 
viermal  so  gross  als  die  Pachtsumme  zu  erzielen,  wobei  weniger  die  Ergiebigkeit 
des  Bodens  (infolge  der  extensiven  Bearbeitung)  als  vielmehr  die  Niedrigkeit  der 
Arbeitslöhne  eine  Eolle  spielt.  Ein  Abgeordneter  behauptete  im  Parlament,  die 
Grossgrundbesitzer  und  Gutspächter  erkauften  die  Arbeitskraft  des  Bauern  in  den 
meisten  Fällen  für  40  bis  50  Centimes  täglich.  Hieraus  erklärt  sich  auch  die 
Thatsache,  dass  in  Rumänien  —  im  Gegensatze  zu  England  und  Holland  —  das 
Pachtsystem  so  sehr  beliebt  und  verbreitet  ist.  Die  Grossgrundbesitzer  —  nur 
Rumänen,  da  es  verfassungsgemäss  den  Fremden  nicht  erlaubt  ist,  in  Rumänien 
Grundbesitz  zu  erwerben  —  deren  moralische  Pflicht  die  Erziehung  und  Hebung 
des  Bauernstandes  sein  müsste,  halten  sich  im  allgemeinen  nicht  auf  ihren 
Gütern  auf  und  kümmern  sich  am  allerwenigsten  um  die  Bauern  ;  sie  leben  meist 
im  Auslande  und  man  kann  es  nur  gutheissen,  dass  die  im  Auslande  sich  auf- 
haltenden Grossgrundbesitzer  seit  1886  dem  doppelten  Steuersatze  unterworfen 
sind  —  sie  müssen  12  statt  6  Proc.  zahlen.^) 

Zur  Zeit  der  Leibeigenschaft  war  die  Unthätigkeit  der  Bauern  erklärlich 
und  völlig  entschuldbar,    da  nur  ein  äusserst  geringer  Theil  des  Ertrages  seiner 


^)  Diese  vorzügliche  Einrichtung  geschah  auf  Vorschlag  des    berühmten  Staats- 
mann Rumäniens  Bräteanu. 


Der  Bauernstand  in  Eumänien,  seine  geschichtliche  Entwicklung  etc.  213 

Arbeit  ihm  zufloss.  In  der  Walachei  und  in  einigen  Bezirken  der  Moldau  haben 
die  Bauern  jetzt  auch  schon  einen  recht  erfreulichen  Unternehmungsgeist;  sie 
pachten  von  den  Grossgrundbesitzern,  bezw.  von  den  Gutspächtern  Grund  und 
Boden,  um  es  selbst  zu  bewirtschaften,  und  das  Gesetz  gewährt  ihnen  auch 
Befreiung  von  der  Gewerbesteuer,  um  sie  zu  grösserer  Thätigkeit  anzuspornen. 
Leider  sind  die  Grossgrundbesitzer  und  Gutspächter  auch  heutzutage  noch 
berechtigt,  die  Eückzahlung  des  dem  Bauern  geliehenen  Capitals,  Getreides  u.  dgl. 
durch  Arbeitsleistung  zu  verlangen.  Dieser  Thatsache  werden  immer  eine  Menge 
von  Misständen  und  -brauchen  entspringen,  und  eine  Abänderung  ist  hier  drin- 
gend geboten. 

Den  rumänischen  Bauern  geht  der  Sparsamkeitssinn  völlig  ab.  Bereits  in 
der  Mitte  des  Winters  sind  alle  im  Herbst  eingesammelten  Bodenprodncte  ver- 
zehrt, und  nun  bleibt  ihnen  nichts  anderes  übrig,  als  Anleihen  beim  „Creditul 
agricol"  oder  bei  anderen  zu  machen;  gewöhnlich  geht  der  Bauer  dann  aber 
zum  Grossgrundbesitzer  oder  Pächter,  verpfändet  für  eine  geringe  Quantität  Ge- 
treide seine  Arbeitskraft  zum  nächsten  Frühling;  zumeist  erkaufen  da  die  Pächter 
die  Arbeitskraft  des  Bauern  uin  40  bis  50  Centimes  pro  Tag.  Da  nun  der  Bauer 
von  dieser  Einrichtung  im  Laufe  des  Winters  öfters  Gebranch  macht,  so  schuldet 
er  dem  Pächter  oder  Grossgrundbesitzer  auch  eine  grosse  Zahl  von  Arbeitstagen. 
Diese  nehmen  aber  die  Arbeitskraft  des  Bauern  immer  nur  zur  günstigsten  Be- 
stellungs-  oder  Erntezeit  in  Anspruch,  so  dass  dem  Bauer  nur  die  schlechte, 
regnerische  Zeit  zur  Bearbeitung  des  eigenen  Grundstückes  bleibt.  Erlassen  wird 
dem  Bauer  natürlich  kein  Tag;  kann  er  seinen  Verpflichtungen  im  Frühling  nicht 
ganz  nachkommen,  so  muss  er  im  Herbst  weiterarbeiten,  und  reicht  auch  diese 
Zeit  noch  nicht  aus,  so  werden  die  übrigen,  sowie  die  im  neuen  Winter  eventuell 
noch  hinzukommenden  Tage  für  den  nächsten  Frühling  aufgespart;  so  kommt  es 
vor,  dass  der  Bauer  zu  mehr  Arbeitstagen  verpflichtet  ist,  als  die  Ackerbauzeit 
überhaupt  enthält. 

Wie  schon  erwähnt,  hat  die  Eegierung  in  Verbindung  mit  hervorragenden 
Personen,  um  den  Bauer  vor  diesen  Missbräuchen  zu  schützen,  im  Jahre  1881 
den  „Creditul  agricol"  errichtet,  welcher  den  Bauern  jederzeit,  namentlich  aber 
im  Frühling,  wo  sie  dessen  am  meisten  bedürfen,  Vorschüsse  zu  gewähren  hat. 
Diese  Einrichtung  hat  aber  leider  nicht  den  gewünschten  Erfolg.  Die  Ursache 
liegt  in  dem  zu  grossen  Zinsfusse,  in  der  Armut  des  Bauern,  der  die  Zinsen  und 
die  Schuld  nicht  zahlen  konnte,  umsomehr,  als  viele  das  Geld  für  unnützige  Be- 
dürfnisse verausgaben  —  ein  grosser  Theil  gieng  immer  in  die  Taschen  des 
Schankwirtes  —  so  dass  viele  Executionen  unvermeidlich  waren.  Auch  dem  Ver- 
waltungspersonal des  „Creditul  agricol"  soll  viel  Schuld  zur  Last  fallen.  Auch 
Sparcassen,  „Casede  econoraii",  besonders  für  die  Bauern,  wurden  errichtet.  Von 
1881  bis  1883  waren  in  diesen  Sparcassen  nur  2^/^,  1895  21 V2  Millionen 
Francs  eingelegt.  Um  die  Sparsamkeit  bei  den  Bauern  mehr  einzubürgern,  gründete 
man  auch  Schulsparcassen. 

Auch  der  Hang  zum  Trinken  hemmt  den  Bauer  in  seiner  moralischen, 
culturellen  und  ökonomischen  Entwicklung.  Schankwirte  waren  bis  zum  Jahre  1885 
fast  nur  Juden.     Wie   diese    die   Bauern    nach    allen    Richtungen    hin    aussogen, 


214  Creangä. 

schildert  der  Dichter  V.  Alexandri  in  seinem  Gedicht  „Blutegel  der  Land- 
gemeinden" vortrefflich.  Die  Schankwirte  suchten  bei  jeder  Gelegenheit  den  Bauer 
zum  Trinken  anzuregen,  waren  auch  stets  bereit,  ihm  Geld  zu  leihen,  und  zwar 
gegen  Zinsen,  die  binnen  kurzer  Zeit  mehr  betrugen  als  das  geliehene  Capital, 
und  verfälschten  ausserdem  die  Getränke  fast  immer  durch  schädliche  Substanzen. 
Ein  Gesetz  von  1885  suchte  diesem  Uebel  abzuhelfen;  es  bestimmte,  dass  die 
Schankwirtschaft  nur  diejenigen  ausüben  dürfen,  die  das  Wahlrecht  besitzen, 
d.  h.  nur  Kiimänen;  trotzdem  gelang  es  einigen  Juden,  ihr  altes  Gewerbe  noch 
lange  Zeit  weiter  zu  betreiben.  Ferner  versuchte  man,  den  Alkoholconsum  durch 
hohe  Steuern  zu  vermindern  —  durch  die  indirecte  Alkoholsteuer  und  durch  die 
directe  Schankwirtschaftsteuer,  die  sogenannte  „Licenzabgabe"  —  aber  ohne  Er- 
folg; ja,  Krupensky,  der  Directör  der  Statistik  Rumäniens,  hat  statistisch  nach- 
gewiesen, dass  mit  der  Erhöhung  der  Steuer  auch  der  Alkoholconsum  in  gleichem 
Maasse  zugenommen  hat. 

Die  Schankwirte  selbst  sind  hart  besteuert,  weniger  aus  finanziellen,  als 
vielmehr  aus  volkswirtschaftlichen  Rücksichten,  um  die  Zahl  der  Schankwirtschaften 
herabzumindern;  trotzdem  ist  ihre  Zahl  in  stetem  Wachsen  begriffen;  so  gab  es 
im  Jahre  1880  25.533,  1890  25.866  und  1893  27.111  Schankwirtschaften, 
und  zwar  17.520  in  Dörfern  und  9590  in  den  Städten;  es  kommt  also  eine 
Schankwirtschaft  auf  237  Dorf-  und  auf  86  Stadtbewohner.  Im  Jahre  1893 
wurden  im  Inland  310,945.295  Liter  Wein,  30,866.285  Liter  Alkohol  und 
3,247.990  Liter  Bier  consumiert,  d.  h.  56-42  Liter  Wein,  5-6  Liter  Alkohol 
und  0  6  Liter  Bier  pro  Kopf  der  Bevölkerung.  Nach  der  in  Conrads  Handwörter- 
buch aufgestellten  statistischen  Tabelle  nimmt  unter  den  europäischen  Ländern 
Rumänien  dem  Weinconsum  nach  die  siebente  und  dem  Alkoholconsum  nach  die 
dritte  Stelle  ein. 

Trotz  aller  dieser  Erfahrungen  und  Meinungsverschiedenheiten  halte  ich 
jedoch  an  der  Ansicht  fest,  dass  man  durch  weitere  Steuererhöhung  eine  Ver- 
minderung des  Alkoholconsums  erreichen  würde.  Die  hohe  Wein-  und  Biersteuer 
dagegen  erscheint  als  sehr  unbillig;  ihre  Herabsetzung  wäre  sehr  erwünscht, 
zumal  wahrscheinlich  dadurch  der  Alkoholconsum  vermindert  und  durch  diese 
Getränke  ersetzt  würde;  denn  gegenwärtig  trinken  die  Bauern  trotz  der  grossen 
Production  nur  sehr  wenig  Wein  und  fast  gar  kein  Bier,  dafür  aber  desto  mehr 
gesundheitsschädlichen  Alkohol.  Besonders  schädlich  war  der  Alkoholgenuss  vor 
dem  Gesetz  von  1893,  da  der  Alkohol  bis  dahin  meist  unraffiniert  in  den  Handel 
kam,  was  seither  verboten  ist.  Vielfach  wurde  auch  die  Einführung  des  Alkohol- 
monopols geplant  und  gegenwärtig  arbeitet  man  an  einem  Entwurf  zur  Verwirk- 
lichung dieses  Planes  nach  Alglave'schem  Muster;  und  man  beabsichtigt,  Alglave 
zu  diesem  Zwecke  aus  Paris  nach  Rumänien  zu  berufen.  Das  Alkoholmonopol 
kann  in  der  That  günstige  volkswirtschaftliche,  sowie  finanzielle  Wirkungen  zur 
Folge  haben.  Doch  würden  seiner  Einführung  grosse  Schwierigkeiten  entgegen- 
treten. Einmal  würde  die  sehr  entwickelte  Pflaumenindustrie  ungemein  darunter 
leiden,  weshalb  auch  die  Besitzer  der  Pflaumengärten  besonderen  Widerstand 
leisten;  anderseits  würde  die  Regierung  wohl  schwerlich  in  der  Lage  sein,  die 
gange  producierte  Alkoholquantität  kaufen   zu  können.     Den  Einwand,    dass   die 


Der  Bauernstand  in  Eumänien,  seine  geschichtliche  Entwicklung  etc.  215 

Einführung  des  Alkoholmonopols  nach  Alglave'schem  Muster  die  Vertreibung  der 
Trunksucht  aus  den  Schankwirtschaften  und  ihre  Einschleppung  in  die  Familie, 
sowie  ihre  Verbreitung  über  sämmtliche  Familienmitglieder  zur  Folge  haben 
würde,  halte  ich  für  unbegündet,  obwohl  er  auch  unleugbar  einen  Kern  "von 
Wahrheit  enthält. 

Die  Einführung  eines  Schankwirtschaftsmonopols  ist  bei  den  herrschenden 
politischen  Partei-  und  Wahlkämpfen  unmöglich ')  und  würde  nicht  die  gewünschten 
Wirkungen  haben.  Dagegen  halte  ich  die  gesetzliche  Beschränkung  der  Zahl  der 
Schankwirtschaften  für  sehrwohl  durchführbar  und  für  ungemein  vortheilhaft; 
vielleicht  in  der  Weise,  dass  dabei  die  Entfernung  der  Wirtshäuser  voneinander 
und  die  Einwohnerzahl  berücksichtigt  wird.  Ausserdem  müsste  man  sich  bemühen, 
die  Bauern  auch  an  andere  Getränke,  wie  Limonade,  Thee,  Kaffee  u.  dgl.  zu 
gewöhnen;  in  einigen  Bezirken  der  Moldau  hat  man  mit  Limonade  schon  einige 
Erfolge  erzielt. 

Als  weitere  Maassregeln  wurden  verlangt :  die  Gewährung  von  Prämien  für 
Obstwein-  und  Bierfabrikanten,  sowie  für  Alkoholexport  —  im  Jahre  1898/99 
im  Budget  400.000  Francs  —  eine  starke  Controle  der  Getränke,  das  Verbot, 
Kindern  Zutritt  zu  Gasthäusern  zu  gewähren  oder  ihnen  den  Alkoholgenuss  auf 
andere  Weise  zugänglich  zu  machen,  sowie  bereits  berauschten  Personen  noch 
weitere  Getränke  zu  verabfolgen  und  schliesslich  noch  die  Verfügung,  nur  gegen 
sofortige  Barzahlung  Alkohol  zu  verkaufen.  Ich  würde  auch  auf  die  Bildung  von 
Mässigkeitsvereinen  grosse  Hoffnungen  für  die  Hebung  des  Bauernstandes  setzen. 
Ein  vortreffliches  Beispiel  gibt  darin  die  Bukowina ;  dort  haben  sich  schon  viele 
Bauern  untei  Einwirkung  des  Pfarrers  und  Lehrers  fest  entschlossen,  sich  des 
Alkoholgenusses  gänzlich  zu  enthalten;  der  Erfolg  blieb  nicht  aus,  zahlreiche 
Schankwirtschaften  mussten  geschlossen  werden,  und  die  Zeitungen  berichten  auch 
jetzt  noch  des  öfteren  von  solch  erfreulichen  Vorkommnissen.  ^) 

Unter  den  Krankheiten,  an  denen  die  Bauern  am  häufigsten  zu  leiden 
haben,  ist  die  bekannteste  die  Pelagra.  Dass  diese  Krankheit  eine  Folge  des 
Maismehlgenusses  (des  unreifen  und  verdorbenen),  wird  auch  dadurch  bestätigt, 
dass  in  der  Dobrogea,  wo  fast  ausschliesslich  Brot  gegessen  wird,  diese  Krank- 
heit unbekannt  ist.  Leider  aber  ist  in  dem  grössten  Theile  Kumäniens  Mais  schon 
seit  Jahrhunderten  das  Hauptnahrungsmittel  der  Bauern.  Die  Zahl  der  Pelagra- 
kranken  belief  sich  im  Jahre  1888  auf  10.000,  1892  auf  16.488  und  1895 
auf  7531.  Ob  die  Abnahme  der  letzten  Jahre  eine  andauernde  oder  nur  eine  vor- 
übergehende Erscheinung  ist,  lässt  sich  nicht  mit  Sicherheit  feststellen.  In  letzter 
Zeit  sind  Maassregeln  gegen  diese  Krankheit,  sowie  verschiedene  Verfügungen 
betreffs  des  Genusses  von  nur  reifem  und  gutem  Maismehl  getroffen  worden. 

Ausserdem  leidet  die  Landbevölkerung  auch  viel  an  Sumpffieber.  Ursachen 
sind  die  zahlreichen  Sümpfe  in  der  Nähe  der  Ortschaften,  die  noch  zahlreicheren. 


•)  In  dieser  Parlaraentssession  (1900/1)  wird  jedoch  ein  Entwurf  für  das  Schank- 
wirtschaftsmonopol den  Kammern  vorgelegt,  aber  nur  für  die  ländlichen  Gemeinden.  Man 
beabsichtigt  nämlich,  viele  Wucherpflanzen,  die  die  Bauern  aussaugen,  zu  ersticken. 

-)  Neulich  wurde  endlich  in  Jassy  eine  Antialkoholliga  (Verein)  gegründet.  Man 
erwartet  sehr  günstige  Resultate. 


216  Creangä. 

seit  langer  Zeit  nicht  ausgetrockneten  Wasserpfützen  auf  den  Strassen,  die 
mangelhafte  Canalisation  und  der  Mangel  an  gutem  Trinkwasser  auf  dem  Lande 
wie  in  der  Stadt.  Die  Zahl  der  am  Sumpffieber  erkrankten  Personen  betrug  im 
Jahre  1894  181.993,  1895  149.065.  Eine  bei  den  Bauern  sehr  verbreitete 
Krankheit  ist  ferner  die  ägyptische  Augenkrankheit.  Sie  wurde  im  Jahre  1862 
nach  Kumänien  eingeschleppt,  fand  besonders  im  Heere  Eingang  und  wurde  von 
den  zur  Reserve  entlassenen  Soldaten  auf  die  ländliche  Bevölkerung  übertragen. 
Die  Zahl  der  an  der  ägyptischen  Augenkrankheit  leidenden  Personen  belief  sich 
im  Jahre  1894  auf  6000. 

Mit  Befriedigung  kann  constatiert  werden,  dass  in  letzter  Zeit  viele  und 
wohlthätige  Vorkehrungen  in  hygienischer  Beziehung  in  Rumänien  getroffen 
worden  sind.  Es  wurden  z.  B.  in  allen  Bezirken  Krankenhäuser  errichtet.  Im 
Jahre  1895  gab  es  schon  33  ländliche  Spitäler  mit  1167  Betten  und  gegen- 
wärtig beläuft  sich  die  Zahl  derselben  sogar  auf  40. 

Die  vielen  Krankheiten,  sowie  die  andern  erwähnten  Factoren,  die  auf  den 
Gesundheitszustand  der  Bevölkerung  ungünstig  einwirken,  machen  sich  natur- 
gemäss  auch  in  der  Aushebung  zum  Militär  geltend.  Es  wurden  nämlich  bei  der 
Aushebung  im  Jahre  1891  von  60.459  Stellungspflichtigen  3496,  also  5'8  Proc, 
für  untauglich  erklärt,  im  Jahre  1896  von  58.090  Stellungspflichtigen 
4132,  also  7*4  Procent.  Auch  die  Bevölkerungszunahme  war  infolge  der 
erwähnten  Factoren  nur  äusserst  gering.  Fast  alle  Schriftsteller,  die  sich  mit  der 
rumänischen  Bevölkerung  beschäftigten,  bezeichnen  als  Ursache  dieser  geringen 
Zunahme  die  vielen  Krankheiten.  So  betrug  von  1859  bis  1889  der  Ueberschuss 
der  Geburten  über  die  Todesfälle  nur  1,090.000,  also  durchschnittlich  nur 
36.300  in  einem  Jahre.  Die  Hauptursache  dieser  minimalen  Zunahme  liegt  meines 
Erachtens  in  der  hohen  Entschädigung,  die  die  Bauern  an  ihre  Gutsherren  zu- 
gleich mit  den  hohen  Steuern  zahlen  mussten.  Die  kleinste  Bevölkerungszunahme 
war  nämlich  von  1866  bis  1880,  also  gerade  in  der  Zeit,  als  die  Bauern  diese 
drückenden  Geldsummen  zahlen  mussten.  Von  1867  bis  1876  betrug  die  Zahl 
der  Geburten  30*1  pro  Mille  und  die  der  Sterbefälle  26*5  pro  Mille,  an  Ge- 
burten also  nur  ein  Ueberschuss  von  3*6  pro  Mille,  während  man  schon  das 
Land,  dessen  Bevölkerungszunahme  10  pro  Mille  nicht  übersteigt,  als  ein  zurück- 
gehendes bezeichnen  könnte.  Nach  allen  statistischen  Angaben  hat  die  Bevöl- 
kerungszunahme seit  1881  ihren  normalen  Gang  genommen  und  hat  sogar 
10  pro  Mille  auch  überstiegen.  Der  Ueberschuss  der  Geburten  betrug  im  Jahre 
1893  52.319,  1895  82.223.  Im  letzten  Jahre  belief  sich  also  die  Bevölkerungs- 
zunahme auf  15  pro  Mille  und  durchschnittlich  in  den  letzten  drei  Jahren  auf 
llYjj  pro  Mille,  so  dass  Rumänien  nur  noch  von  folgenden  Ländern  übertroffen 
wird:  Von  den  Niederlanden  (mit  14'5  pro  Mille),  Norwegen  (mit  13*9  pro 
Mille),  England  (mit  13'4  pro  Mille),  Deutschland  (mit  12*2  pro  Mille)  und 
Schweden  (mit  11*7  pro  Mille).  Gegenwärtig  ist  die  Natalität  in  Rumänien  sehr 
gross,  und  zwar  44"2  pro  Mille;  nur  Russland  (mit  48  pro  Mille)  und  Oesterreich- 
Ungarn  (mit  44*8  pro  Mille)  kommen  noch  höher.  Die  Mortalität  ist  aber  im 
Verhältnis  zur  Natalität  viel  grösser,  und  zwar  28'99  pro  Mille;  sie  wird  nur 
noch  von  Russland  (mit  34  pro  Mille)  und  Oesterreich-Ungarn  (mit  31  pro  Mille) 


Der  Bauernstand  in  Euniänien,  seine  geschichtliche  Entwicklung  etc.  217 

übertroifen.  Besonders  gross  ist  die  Sterblichkeit  bei  den  Kindern  der  ärmeren 
Classen;  die  Ursache  liegt  zweifellos  in  der  mangelhaften  Nahrung  und  Pflege. 
Ungemein  gross  ist  die  Sterblichkeit  auch  auf  dem  Lande.  Zweifellos  würde  eine 
Hebung  des  Bauernstandes  zugleich  auch  eine  grössere  Bevölkerungszunahme  zur 
Folge  haben.  Besteht  doch  die  Bevölkerung  Eumäniens  zu  82Y2  Pi'oc.  aus 
Landbewohnern  und  nur  zu  11^ /^  Proc.  aus  Städtern. 

Leider  bekümmert  sich  die  Bäuerin  wenig  oder  gar  nicht  um  ihre  oder 
ihrer  Kinder  Gesundheit.  Schon  als  Wöchnerin  fängt  sie  wieder  an  zu  arbeiten, 
erkrankt  dann  leicht  und  mit  ihr  das  Kind,  das  sie  nährt.  Ihre,  sowie  des  Kindes 
Kleidung  ist  sehr  dürftig  und  mangelhaft  und  die  Nahrung  noch  viel  unzurei- 
chender. Unter  diesen  Umständen  ist  die  Sterblichkeit  naturgemäss  eine  sehr 
grosse,  zumal  die  Kinder  ein  Drittel  der  gesammten  Bevölkerung  ausmachen. 
Erwähnenswert  ist  ferner,  dass  die  ländlichen  Hebammen  bisher  wenig  befriedi- 
gende Kesultate  erzielt  haben,  dass  man  aber  durch  ein  neues  Eeglement  bessere 
Erfolge  zu  erreichen  hoift.  In  letzter  Zeit  beobachtet  man  auch  auf  dem  platten 
Lande,  dass  viele  in  wilder  Ehe  lebten;  dies  ist  wohl  auf  die  Schwierigkeiten 
der  dortigen  Eheschliessung  zurückzuführen.  Die  Zahl  der  unehelichen  Kinder  ist  in 
Euraänien  aber  doch  verhältnismässig  geringer  als  in  den  meisten  andern  Ländern. 

Zur  Hebung  der  wirtschaftlichen  Lage  der  Bauern  würde  auch  die  Hebung 
ihres  geistigen  Niveaus  beitragen.  Der  rumänische  Bauer  ist  recht  intelligent ;  er  besitzt 
eine  leichte  Auffassungsgabe  und  ist  bei  einiger  Anleitung  fähig,  viel  zu  leisten. 
Nach  dem  Gesetze  von  1864  ist  nun  zwar  jedes  acht-  bis  zwölfjährige  Kind 
schulpflichtig.  Es  waren  aber  stets  mehr  Schulpflichtige  als  Schulplätze  da,  in- 
folgedessen konnten  sie  nicht  alle  aufgenommen  und  unterrichtet  werden.  So 
betrug  die  Zahl  der  Schulplätze  186.403,  die  Zahl  der  Schulpflichtigen  dagegen 
im  Jahre  1885  301.329,  im  Jahre  1894  634.342.  Besucht  waren  die  Schulen 
im  Jahre  1891/92  nur  von  137.580  Schülern,  im  Jahre  1894/95  nur  von 
246.000  Schülern.  Im  letzten  Jahre  waren  also  mehr  Schüler  als  Schulplätze. 
Es  gibt  114.446  Schulpflichtige,  in  deren  Geburtsort  und  dessen  Umkreise  von 
3  Kilometer  sich  noch  keine  Schule  vorfindet.  Die  Zahl  der  Schulen  auf  dem 
Lande  belief  sich  im  Jahre  188889  auf  2773,  im  Jahre  1894  auf  3147.  Die 
Schwierigkeiten  liegen  im  Mangel  an  ländlichen  Schulen,  in  der  grossen  Entfer- 
nung der  Schule  vom  Elternhaus,  was  besonders  im  Winter  fühlbar  wird,  wenn 
die  Kinder  sogar  mehr  als  6  Kilometer  zurücklegen  müssen,  ehe  sie  zur  Schule 
gelangen,  an  der  geringen  Energie  der  Eltern  und  Lehrer,  sowie  an  der  ungün- 
stigen Zeit,  in  der  der  Unterricht  stattfindet. 

Der  General-Unterrichtsinspector  der  ländlichen  Schulen,  Friedrich  Dame', 
will  mit  Eücksicht  auf  die  Zeit,  in  welcher  die  Eltern  ihre  Kinder  für  die 
häusliche  Arbeit  brauchen,  die  Unterrichtsstunden  zwischen  10  und  2/^^  Uhr 
(anstatt  von  8  bis  12  und  2  bis  4  Uhr)  verlegt  wissen,  ferner  verlangt  er 
für  die  Errichtung  von  2000  neuen,  sowie  für  die  Eeparierung  von  eben- 
soviel alten  Schulen  vom  Staate  im  Laufe  der  nächsten  15  Jahre  nicht  weniger 
als  80,000.000  Francs.  ^ 

Aus  diesen  statistischen  Angaben  wird  es  begreiflich,  dass  im  Jahre  1892 
von  29.950  Eecruten  nur  3115    lesen    und    schreiben    konnten,    also    mehr  als 


218  ■  Creangä. 

80  Proc.  überhaupt  keine  Elementarkenntnisse  besassen.  In  letzter  Zeit  sind  aller- 
dings strenge  Maassregeln  zur  Hebung  des  Schulunterrichtes  getroffen;  sie  wirken 
bereits  günstig  und  man  kann  für  die  Zukunft  das  Beste  hoffen.  Für  die  Errich- 
tung von  ländlichen  Schulen  ist  bereits  ein  Fond  von  30,000.000  Francs 
gegründet  und  daraus  schon  viele  Schulen  mit  dem  nothwendigen  Zubehör  gebaut 
worden.  Uebrigens  übt  auch  das  Heer  in  dieser  Beziehnng  einen  wohlthätigen 
Einfluss  auf  die  Bauern  aus;  denn  wer  nicht  lesen  und  schreiben  kann,  rauss  es 
hier  als  Eecrut  lernen,  und  wer  bereits  die  elementarsten  Kenntnisse  besitzt,  hat 
hier  Gelegenheit,  sich  weiterzubilden;  zu  diesem  Zwecke  ist  nämlich  in  jeder 
Kaserne  ein  Cursus  für  gewisse  Unterrichtsgegenstände  eingeführt. 

In  mehreren  Bezirken  wurden  auch  Landwirtschaftsschulen  errichtet,  um 
den  Bauer  mit  der  intensiven  Bodencultur  bekannt  zu  machen.  Ferner  gibt  es 
schon  mehrere  Handwerkerschulen,  die  die  Bauern  in  solchen  Industriezweigen 
unterweisen,  die  im  Winter  leicht  auszuüben  sind.  Ausserdem  sind  mehrere 
Staatsdomänen  zu  Mustergütern  umgestaltet,  die  dem  Grossgrundbesitzer  wie  dem 
Bauer  als  Beispiel  für  eine  ergiebige  Bebauung  des  Grund  und  Bodens,  den 
Schülern  nach  Absolvierung  der  landwirtschaftlichen  Schulen  zur  praktischen 
Weiterbildung  und  endlich  zur  besseren  Entwicklung  der  Viehzucht  dienen 
sollen. 

Die  ehemals  so  entwickelte  Bienenzucht  geht  jetzt  leider  sehr  zurück;  die 
Regierung  hat  aber  auch  in  dieser  Beziehung  schon  dankenswerte  Einrichtungen 
getroffen.  Sie  hat  Sachverständige  von  ausserhalb  kommen  und  von  diesen  mehrere 
Musterbienenzüchtereien  einrichten  lassen,  welche  dem  Bauer  zum  Vorbild  dienen 
sollen.  Ferner  sind  für  die  Seidenraupenculturen  Curse  mit  theoretischer  und 
praktischer  Anleitung  eingerichtet  worden.  Auf  Kosten  der  Regierung  schickt 
jeder  Bezirk  einen  Delegierten  zu  diesen  Cursen,  der  nach  der  Rückhehr  die 
erworbenen  Kenntnisse  an  die  Bauern  weiterverbreiten  muss.  Nach  Xenopol 
könnte  der  Bauer  aus  einer  gut  gepflegten  Seidenraupencultur  einen  jährlichen 
Nutzen  von  100  bis  150  Francs  erzielen. 

Während  die  Zahl  der  Tuchfabriken  sich  in  ganz  Rumänien  nur  auf  sechs 
beläuft,  ist  die  Schafzucht  dort  eine  ungemein  entwickelte;  so  gab  es  z.  B.  im 
Jahre  1892  6  Millionen  Schafe.  Um  deren  Zucht  zu  verbessern,  hat  die  Regierung 
Professor  Freitag  aus  Heidelberg  berufen. 

Weinbau  wird  in  grossem  Umfange  getrieben,  und  die  Regierung  lässt  es 
eich  sehr  angelegen  sein,  der  ländlichen  Bevölkerung  den  Weinbau  zu  ermög- 
lichen und  sie  dazu  anzuspornen,  zumal  dadurch  ja  auch  der  Alkohol  immer 
mehr  verdrängt  würde.  In  letzter  Zeit  hat  aber  die  Reblaus  den  Weinberg- 
besitzern grossen  Schaden  verursacht;  die  Regierung  Hess  die  amerikanische  Rebe 
in  verschiedenen  Bezirken  einführen  und  auf  Staatsdomänen  ungefähr  514  Hektar 
mit  amerikanischen  Reben  bepflanzen.  Leider  machten  in  dieser  Beziehung  von 
■der  Staatsunterstützung  aber  nur  die  Grossgrundbesitzer  Gebrauch,  während  die 
Bauern  sich  von  dieser  Cultur  fernhielten,  zumal  ihnen  ja  auch  die  nothwen- 
digsten  Kenntnisse  dazu  fehlten.  Im  ganzen  waren  im  Jahre  1895  189.104  Hektar 
mit  Wein  bebaut  und  die  Ernte  erzielte  in  demselben  Jahre  3,372.630  Hekto- 
liter Wein. 


Der  Bauernstand  in  Rumänien,  seine  geschichtliche  Entwicklung  etc.  219 

Sehr  viel  und  nützliche  Anregung  wurde  den  Bauern  durch  die  Kron- 
domänenverwaltung  gegeben;  indem  auf  diesen  Domänen  Musterwirtschaften 
errichtet,  ausserdem  30  Volksschulen  und  ebensoviel  Kirchen  gebaut  wurden. 
Ausserdem  wurde  in  jeder  Schule  ein  Cursus  für  Hausindustrie  eingerichtet,  in 
dem  die  Knaben  Tische,  Stühle,  Körbe  u.  dgl.  anfertigen  lernen,  während  die 
Mädchen  im  Nähen  und  Weben  unterwiesen  werden.  Auf  den  Krondomänen  wurden 
auch  in  grösserem  Umfange  Kartoffeln  gebaut,  die  bisher  nur  wenig  bekannt 
waren.  Zur  Hebung  der  Cultur  ist  auch  eine  Bibliothek  für  die  Bauern  gegründet, 
aus  der  sie  die  gewünschten  Bücher  unentgeltlich  entleihen  können.  In  jeder 
Schule  ist  eine  Nationalfahne  angebracht,  um  das  Nationalgefühl  unter  den 
Kindern  zu  heben,  und  die  Königin  Elisabeth  hat  sich  selbst  die  grösste  Mühe 
gegeben,  das  Nationalcostum  zu  erhalten  und  weiter  auszubilden.  Ausserdem 
wurden  zur  Hebung  des  Bauernstandes  von  hervorragenden  Personen  auch  einige 
Privatvereine  gegründet,  Volksbibliotheken  errichtet,  wozu  auch  die  Regierung 
200.000  Francs  beisteuerte;  ferner  werden  für  die  Bauern  Vorträge  gehalten 
und  periodische  Volksblätter  herausgegeben;  bisher  ist  jedoch  leider  mit  allen 
diesen  Maassnahmen  noch  kein  besonderer  Erfolg  erzielt! 

Die  Steuerlast  des  Bauern  ist  nur  in  Anbetracht  seiner  ungünstigen  wirt- 
schaftlichen Lage  und  der  wenig  gerechten  Vertheilung  eine  drückende  zu 
nennen.  An  Staatssteuern  zahlt  der  Bauer  die  Wegesteuer  (in  Wirklichkeit  eine 
Kopfsteuer)  im  Betrage  von  6  Francs,  die  mit  den  Bezirks-,  Communal-  und 
Erheb angszuschlägen  ungefähr  9*50  Francs  ausmacht.  Diese  Steuer  wird  in 
gleicher  Weise  vom  Grossgrundbesitzer  wie  vom  Bauer,  vom  Millionär  wie  vom 
Arbeiter  erhoben.  Der  Rentier  mit  100.000  Francs  Jahreseinkommen  zahlt,  da 
eine  Capitalrentensteuer  nicht  existiert,  für  die  Erhaltung  des  Staates  weniger 
als  der  Bauer  mit  einem  Besitze  von  6  Hektar.  Die  Ungerechtigkeit  der  Kopf- 
steuer ist  umso  grösser,  je  geringer  das  jährliche  Einkommen  des  Bauern  ist 
und  je  entwickelter  die  indirecten  Steuern  sind. 

Wenn  man  den  Ertrag  von  einem  Hektar  mit  25  Francs  annimmt,  so 
ergibt  sich,  dass  der  Bauer  mit  5  Hektar  6  Francs  und  der  mit  11  Hektar 
12^/2  Francs  als  Grundsteuer  zahlt;  rechnet  man  die  Kopfsteuer  dazu,  so  ergeben 
sich  ausser  der  umfassenden  Communalaccise  (168  Consumartikel  sind  mit  einer 
Steuer  belegt)  20  Francs.  Dazu  kommt  nun  noch,  dass  die  indirecten  Steuern 
zweifelsohne  am  meisten  die  Bauern  treffen,  und  zwar:  die  Salzsteuer  mit 
6V2.  die  Alkoholsteuer  mit  16  und  die  Tabaksteuer  mit  37*7  Millionen  Francs, 
während  die  directen  Steuern,  welche  eine  Ausgleichung  mit  den  indirecten  und 
daher  die  stärkere  Belastung  der  wohlhabenden  Classen  bilden  müssten,  nur 
29  Millionen  Steuerertrag  bringen.^)  Hieraus  kann  man  leicht  ersehen,  ob  der 
Bauer  schwer  oder  unbedeutend  durch  die  Steuern  belastet  wird,  ob  sein  jähr- 
liches Einkommen    von  höchstens  900   Francs   die   Gesammtsteuerlast  zu   tragen 


1)  Die  indirecten  Steuern  betragen  insgesammt  rund  118  Millionen  Francs.;  die 
Zölle,  Zuckersteuer,  Petroleumsteuer  und  das  Cigaretlenpapierraonopol  —  beide  letzteren 
1900  eingeführt  —  treffen  aber  die  ländliche  Bevölkerung  nicht  so  stark;  wohl  aber  die 
jetzt  (Octüber  1900)  eingeführte  Slivowitzsteuer. 


220  Creangä. 

fähig  ist  oder  nicht,  ob  die  Steuervertheilung  also  gerecht  oder  reform- 
bedürftig ist.  ^)^) 

Die  gegenwärtige  Lage  des  rumänischen  Bauernstandes  stellt  uns  ein  wenig 
erfreuliches  Bild  dar;  aber  man  darf  nicht  vergessen,  dass  zu  seiner  Hebung  bereits 
sehr  viel  Vorkehrungen  getroffen  sind,  die  theilweise  schon  mit  einigem  Erfolg 
gekrönt  waren;  man  muss  ferner  berücksichtigen,  dass  seit  seiner  Befreiung  erst 
36  Jahre  verflossen  sind,  und  dass  man  nach  dieser  kurzen  Zeit  kaum  glänzende 
Zustände  erwarten  darf. 

Wenn  nun  auch  die  Lage  des  Bauernstandes  gegenwärtig  noch  zu  wünschen 
übrig  lässt,  so  ist  der  Gesammtfortschritt  des  Landes  dafür  ein  unleugbar  grosser ; 
und  dieses  Fortschrittes  wird  man  sich  nur  dann  ganz  deutlich  bewusst  sein, 
wenn  man  einen  Vergleich  zieht  zwischen  den  Donaufürstenthümern  von  1859 
und  dem  heutigen  Eumänien.  Eine  einzige  Zahl  sei  hiefür  angeführt:  81  Proc. 
des  gesammten  Territoriums  sind  in  Eumänien  bebauungsfähig;  es  ist  darin  allen 
übrigen  Ländern  voraus;  denn  in  den  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika 
befinden  sich  nur  69  Proc.  in  Ungarn  67*35  Proc,  und  in  Frankreich  55'39  Proc. 
des  ganzen  Grund  und  Bodens  in  culturfähigem  Zustande. 

Während  nun  aber  im  Jahre  1862  nur  17"32  Proc.  des  gesammten 
Grund  und  Bodens  bewirtschaftet  und  aus  einem  Hektar  ein  Ertrag  von  9  Hekto- 
liter erzielt  wurden,  war  der  Ertrag  im  Jahre  1892  auf  15  Hektoliter  und  der 
Procentsatz  des  in  Cultur  befindlichen  Territoriums  auf  33  Proc.  des  Areales 
gestiegen. 

Allerdings  bleibt  die  Hebung  des  Bauernstandes  noch  eine  brennende 
Frage,  eine  Frage,  von  deren  Lösung  die  volkswirtschaftliche  Entwicklung  und 
sogar  die  Zukunft  Rumäniens  abhängt,  denn :  „Pauvre  paysan,  pauvre  royome, 
pauvre  pays"  und  umgekehrt:   „Hat  der  Bauer  Geld,  so  hat's  die  ganze  Welt."^) 


1)  Siehe  auch  mein  Werk:  „Die  directe  Basteuerung  in  Preus-en  und  Rumänien. 
Berlin." 

2)  In  dieser  Parlamentsession  wird  eine  Capitalrentensteuer  eingeführt  und  die 
Wegesteuer  in  ein  impöt  personel  et  mobilier  nach  französischem  Muster  umgewandelt. 

3)  Die  Ereignisse  der  allerletzten  Zeit  brachten  die  Bauernfrage  in  eine  neue 
Phase.  Die  liberale  Partei,  deren  früheren  Mitglieder  die  Bauernbefreiung  vollgezogen 
haben,  will  das  Werk  zur  Vollendung  bringen. 

Auf  Initiative  des  Herrn  D.  A.  Sturdza,  Chef  der  liberalen  Partei,  P.  S.  Aurelianu 
und  andere  sind  eine  Eeihe  vortreflflicher  Maassnahmen  in  Aussicht  genommen,  die 
sobald  die  Partei  zur  Eegierung  kommt,  sofort  verwirklicht  werden  sollen.  Man  hofft  die 
günstigsten  Resultate. 


LITEßATUßBERIOIlT. 


Das  Getreide  im  Weltverliehr.  Vom  k.  k.  Ackerbauministerium  vorbereitete 
Materialien  für  die  Enquöte  über  den  börsemässigen  Terminhandel  mit  landwirtschaftlichen 
Producten. 

I.  Statistische  Tabellen  über  Production,  Handel,  Consum, 
Preise,  Frachtsätze  und  Kündigungen.  —  II.  Graphische  Darstel- 
lungen der  Preisbewegung.  —  III.  Erläuternde  Bemerkungen.  — 
Wien.  Commissionsverlag  von  Wilhelm  Frick.  Aus  der  k.  und  k.  Hof  und  Staats- 
druckerei 1900.  I.  Bd.  XXIV  und  860  Seiten  Lex.  8".  —  III.  Bd.  IV  und  188  Seiten 
Lex.  8». 

Schon  seit  Jahren  hat  sich  das  österreichische  Ackerbanrainisterinm  mit  Unter- 
suchungen über  die  Eiickwirkungen  des  Getreideterminhandels  auf  die  österreichische 
Landwirtschaft  beschäftigt.  1898  nahmen  diese  Arbeiten  eine  festere  Gestalt  an,  und  man 
beschloss,  eine  umfassende  Enqufite  einzuberufen,  in  der  der  börsemässige  Terminhandel 
mit  landwirtschaftlichen  Producten  eine  eingehende  Erörterung  erfahren  sollte.  Wie 
späterhin  der  Vorsitzende  dieser  Enquöte  in  der  Eröffnungsrede  erklärte,  beabsichtigte 
die  Eegierung,  der  Frage  der  Reform  des  börsemässigen  Terminhandels  näherzutreten, 
hielt  es  aber  für  unbedingt  nöthig,  vorher  die  Vertreter  der  interessierten  Kreise  und 
insbesondere  auch  die  Vertreter  der  Wissenschaft  zu  hören.  Um  nun  diesen  Personen 
ihre  Aufgabe  zu  erleichtern  und  eine  vollkommenere  Klarstellung  der  Verhältnisse  zu 
erzielen,  als  sie  durch  die  Enquete  bewirkt  wurde,  welche  im  Januar  1897  vom  land- 
wirtschaftlichen Ausschusse  des  Abgeordnetenhauses  abgehalten  wurde,  trachtete  das 
Ackerbauministerium,  ein  umfassendes,  hauptsächlich  statistisches  Material  aus  allen  jenen 
Gebieten  des  Wirtschaftslebens  zu  beschaffen,  die,  wenn  auch  nur  indirect  und  entfernt, 
vom  Getreideterniinhandel  beeinflusst  werden.  Diesen  Zielen  und  Plänen  des  Ackerbau- 
ministeriunis verdankt  das  vorliegende  Werk :  Getreide  im  Weltverkehr  seine 
Entstehung. 

Es  besteht  aus  drei  Theilen.  Der  erste,  weitaus  umfangreichste  Theil  wurde 
von  der  österreichischen  statistischen  Centralcommission  hergestellt  und  enthält  aus- 
schliesslich statistische  Tabellen,  welche  die  Getreideproduction,  den  Getreidehandel, 
die  Frachtsätze  für  Getreide,  endlich  die  Consumtion  und  die  Preise  von  Getreide  aller 
Art  in  allen  für  diese  Momente,  wenn  auch  nur  einigerniaassen  wichtigen  Staaten  auf 
30,  40,  theilweise  60  Jahre  und  vereinzelt  bis  ins  vorige  Jahrhundert  zurück  darstellen. 
Selbstverständlich  ist  dem  Preiscapitel  der  grösste  Raum,  mehr  als  die  Hälfte  des  Bandes 
(490  Seiten)  gewidmet.  Ebenso  ist  unter  den  verschiedenen  Staaten  Oesterreich-Ungarn 
weitaus  am  meisten  (mit  433  Seiten)  berücksichtigt.  Hier  geht  die  Darstellung  bis  ins 
feinste  Detail.  So  sind  die  Preise  der  fünf  Getreidearten  an  der  Wiener  landwirtschaft- 
lichen Productenbörse,  und  zwar  wo  es  möglich  ist,  unter  Gegenüberstellung  der  Efifectiv- 
ware  einerseits  und  der  Terminwave  anderseits  für  jeden  Tag  der  Jahre  1894  bis  1899 
auf  300  Seiten  angegeben.  Danach  kann  man  die  Preisbewegung  und  die  Spannungsver- 
hältnisse zwischen  den  Tief-  und  Höchstpreisen  auf  dem  Effectivmarkte  und  auf  dem 
Terminmarkte  im  Detail  verfolgen  und  das  Verhalten  der  Preise  beider  Märkte  zu  ein- 
ander, insbesondere  die  sogenannte  signalisierende  Wirkung  der  Terminpreise  in  den 
verschiedenen  Zeitabschnitten,  speciell  bei  den  Terminausgängen  statistisch  studieren. 


222  Literaturbericht, 

Auch  andere  Staaten,  darunter  in  erster  Linie  das  Deutsche  Eeich,  dem 
83  Seiten  gewidmet  sind  und  von  dessen  Marktplätzen,  ebenso  wie  von  einer  Anzahl 
fremder  Börseplätze,  gleichfalls  Tagespreisnotierungen  vorgelegt  werden,  und  andere 
sachliche  Momente,  wie  in  dem  Capitel  vom  Getreidehandel  die  Zufuhr-  und  Absatzgebiete 
der  einzelnen  Staaten,  haben  eine  sehr  ausführliche  Darstellung  gefunden. 

Die  Darlegungen  sind  in   der  That  so  umfassend  und  detailliert,    dass  man  fast 
versucht  ist,  zu  sagen,  man  habe  weit  mehr  geboten,  als  nöthig  wäre.  Wer  aber  bedenkt, 
was  alles  unter  dem   Einflüsse  des  Terraiuhandels  leiden  soll;  wer  den  zum  Theil  schon 
veröffentlichten  Protokollen   der  Enquöte  zu   entnehmen  in   der  Lage  ist,    was  alles  von 
den  Experten  behandelt  und  besprochen  wird,    der  wird  gewiss  zugeben,    dass  die  stati- 
stische Centralcommission  zum  mindesten  sehr  vorsichtig  handelte,  indem  sie  den  Eahmen 
soweit  absteckte  und   dadurch  jedenfalls  dem  Vorwurf  entgieng,   ein  für  die  Fundierung 
der  Verhandlungen  nicht  ausreichendes  Material  geboten  zu  haben.    Sie  hat  aber  wohl 
noch    ein    anderes    erreicht,    nämlich   dass  ihr  Werk  über  den  speciellen  Zweck    hinaus 
Bedeutung  erlangt  und  behält.    So  wird   dasselbe  gewiss  auch  für  die    bevorstehenden 
Zollverhandlungen    grosse    Wichtigkeit    erlangen,     und    werm    die  Fragen    des    Termin- 
handels und  der  Zollvertiäge  längst  ihre  Lösung  gefunden  haben,  wird  man  noch  immer 
dieses  Tabellenwerk  als  eine  reiche  Fundgrube  statistischer  Daten  aus  dem  Wirtschafts- 
leben benützen.  Allerdings   enthält  es  keine  Originaldaten,   sondern  fast  nur  aus  fremden 
Quellen   Entlehntes;    aber    die  Auslese    die   Ordnung    und    Bearbeitung    dieses    grossen 
Materiales,  wie  die  Zurückführung  der  Daten  aus  aller  Herren  Länder  auf  gleiche  Maasse 
und  Gewichte,  die  Aufstellung  von  Summen  und  Relativzahlen  aller  Art,  dann  die  Grup- 
pierung all  dieser  Bearbeitungsergebnisse    in    zweckmässige  internationale  Uebersichten 
ist  mit  grossem  Geschicke  durchgeführt  und  hat  vielfach  den  rohen  Stoff  erst  handlich 
und   allgemein  verwertbar  gemacht,    so   dass  selbst  der  Besitzer  der  zahlreich  citierten 
Quellen  lieber  diese  Zusammenstellung  als  die  Quellen  benützen  wird.    Zu  bedauern  ist 
nur,    dass  infolge  der  verspäteten  Abhaltung  der  Enqu6te  das  Werk  im  Druck  offenbar 
viel  früher  fertig  gestellt  war,  als  es  in  den  Buchhandel  kam,  und  dass  deshalb  in  manchen 
Partien  die  Daten  für  1899  und  selbst  1898  fehlen,  welchem  Mangel  auch  dadurch  nicht 
vollständig  abgeholfen  werden  konnte,  dass  die  statistische  Centralcommission  auf  einigen, 
„Nachträge  und  Berichtigungen"  überschriebenen  Seiten  die  zwischen  der  Fertigstellung 
des  Werkes    und    seiner  späten  Veröffentlichung    erschienenen  Daten   neuer  Erhebungen 
oder  definitiver  Feststellungen  in  dankenswerter  Weise  dem  Leser  zur  Verfügung  stellte. 
Wenn  man  aus  diesem  Entgegenkommen  schliessen  dürfte,  dass  die  statistische  Central- 
commission resp.  das  Ackerbauministeriura  ihr  aus  besonderem  Anlasse  ins  Leben  gerufenes 
Werk  nicht  im  Stiche  lassen  und  durch  Neuauflagen  und  Fortsetzungen  für  sein  Fort- 
leben sorgen  werden,  so   würde    das  vom  Standpunkt   der    statistischen  Forschung   wie 
vom    Standpunkt    des    statistischer  Daten    bedürftigen  Publicums    besonders    lebhaft    zu 
begrüssen  sein.   Oesterreich  verdankt  ja  schon  eine  solche  fortlaufende  Compilation,    die 
Tabellen  zur  Währungsstatistik,  einer  ähnlichen  Gelegenheit,  dem  Bedürfnisse  der  Valuta- 
enquete; warum  sollte  es  nicht  auch  jetzt  die  Fortführung  dieses  grossangelegten  Werkes 
übernehmen    und    damit    der  internationalen  Agrar-  und  Handelsstatistik    einen    grossen 
Dienst  erweisen? 

Der  zweite  Theil  des  Werkes  enthält  zwei  Preisdiagramme,  von  denen  das 
eine  der  Preisbewegung  der  fünf  Getreidearten  an  der  Wiener  landwirtschaftlichen  Pro- 
ductenbörse  seit  1869,  das  andere  die  Weizenpreisbewegung  in  Wien,  Berlin,  London,  Paris, 
New- York  und  Odessa  seit  1886  durch  Angabe  der  Samstags-Höchstpreis-Notierungen  in 
Gulden  ö.  W.  per  Metercentner  darstellt.  Beide  Diagramme  werden  seit  langer  Zeit  von 
der  landwirtschaftlichen  Productenbürse  für  interne  Zwecke  fortlaufend  gearbeitet  und 
wurden  dem  Ackerbauministerium  aus  Anlass  der  Enquete  zur  Veröffentlichung  überlassen. 
Die  Diagramme  sind  sehr  übersichtlich  und  anschaulich  gearbeitet  und  wurden  auch  in 
den  Enqueteverhandlungen  vielfach  verwertet.  Es  wäre  nur  zu  bemerken,  dass  die  Er- 
klärung der  Preiscurven,  die  das  Kopfblatt  der  Diagramme  bietet,  speciell  für  den  Nicht- 
fachmann  nicht  ausführlich  genug  ist,  und  dass  diese  Erklärung  des  zweiten  Diagrammes 


Literaturbericht.  223 

(B)  einen  sinnstörenden  Druckfehler  enthält,  indem  es  die  Preisnotizen  für  Berlin  im 
Jahre  1898  als  Durchschnittspreise  angibt,  während  es  doch  Höchstpreise  des  Monates 
sind,  was  auch  für  das  Jahr  1888  gelten  dürfte,  üeberhaupt  mangelt  eine  Erklärung  der 
Curven  für  Berlin  und  Wien. 

Der  dritte  Theil  der  Materialien,  die  erläuternden  Bemerkungen  schildern 
theilweise  sehr  detailliert  die  Entwicklung  der  Getreideproduction.  des  Getreidehandels, 
des  Getreideconsums,  der  Getreidepreise  (Seite  2 — 113)  und  bieten  sodann  Beiträge  zur 
Geschichte  und  zum  Begriff  des  börseraässigen  Getreideterminhandels  (Seite  113 — 188).  Auch 
dieser  Theil  der  Materialien  ist  gross  angelegt,  aber  ungleich  behandelt  und  zum  Theil 
in  sich  gebrochen.  In  der  Einleitung  zu  den  Materialien  werden  vom  Ackerbauministerium 
selbst  diese  Erläuterungen  geschieden  in  eine  orientierende  Besprechung  des  vorangehenden 
statistischen  Materiales  und  in  eine  Uebersicht  der  Meinungen  über  den  Terminhandel, 
die  in  der  fachwissenschaftlichen  Literatur  Vertretung  gefunden  haben ;  und  in  der  That 
zerfallen  die  erläuternden  Bemerkungen  nach  diesen  Gesichtspunkten  in  zwei,  auch  in  der 
Behandlungsweise  sich  scharf  sondernde  Abschnittsgruppeu. 

Die  erste  Absihnittsgruppe  ist  in  der  That  ein  Leitfaden  für  die  Experten  bei 
Benützung  des  eben  besprochenen  Tabellenwerkes,  an  das  sie  sich  schon  durch  die  gleiche 
Inhaltsgliederung  vollständig  anschliesst.  Sie  berührt  kaum  den  Terminhandel  und 
bereitet  gewissermaassen  nur  den  Boden  für  dessen  Erörterung  vor.  Auf  Grund  des  vor- 
gelegten Materiales  und  unter  Heranziehung  noch  mancher  anderer  verbürgter  statistischer 
Daten  werden  hier  die  typischen  Erscheinungen  aus  den  individuellen,  die  allgemeinen, 
dauernden  Ursachen  aus  den  besonderen  herausgeschält  und  statistische  Allgemeinbilder 
geschaffen,  welche  offenbar  den  Hintergrund  bilden  sollten  für  die  Darstellung  des  Termin- 
handels und  seiner  Wirkungen.  Es  wird  hier  gezeigt,  dass  die  Getreideproducton  in  den 
letzten  Jahrzehnten  enorm  gewachsen  ist,  theils  infolge  der  wachsenden  Relativerträge, 
theils  infolge  der  ungeheuer  vcrgrösserten  Anbauflächen  besonders  in  den  durch  die 
verbesserten  Verkehrsmittel  der  Cultur  erschlossenen  überseeischen  und  asiatischen 
Gebiete,  dass  die  wirkliclie  Production  der  Erde  grösser  ist  als  die  statistisch  nachweis- 
bare^ weshalb  der  Bedarf  oft  eine  überraschende  Deckung  findet,  und  dass  die  Production 
gewissermaassen  stets  am  Sprunge  ist,  sich  durch  neue  Verbesserungen  der  Wirtschaft 
durch  neue  Landbesetzungen  noch  weiter  zu  vergrössern.  Während  früher  in  Ueberein- 
stimmung  mit  dem  M  al  t  h  u  s'schen  Gesetze  die  Bevölkerung  stets  bereit  war  die  Pro- 
duction zu  überspringen,  sclieint  jetzt  die  Production  bereit  die  Bevölkerungszunahme  zu 
überspringen.  Es  wird  gezeigt,  dass  der  Getreidehandel  infolge  der  Concentration  der 
Menschenmassen,  infolge  der  Steigerung  des  Getreidemangels  und  Bedürfnisses  an  den 
einen  Orten,  des  Getreideüberschusses  an  den  andern  Orten,  infolge  der  Beseitigung 
künstlicher  Hemmnisse  und  infolge  der  unvergleichlichen  Entwicklung  des  Verkehrswesens 
eine  ungeahnte  Ausdehnung  erlangte,  dass  die  europäischen  Culturstaaten,  welche  die 
Fälligkeit,  Getreide  zu  exportieren,  verlieren  und  aus  Exportstaateu  Iinportstaaten  werden, 
immer  zahlreicher  werden,  dass  Oesterreich-Ungarn  gerade  jetzt  an  diesen  Wendepunkt 
zu  gelangen  droht  und  dass  auf  diese  Weise  die  europäischen  Culturnationen  in  immer 
höherem  Maasse  auf  den  Getreidehandel  angewiesen  werden.  Hier  hätte  nach  unserer 
Meinung  der  Verfasser  darthun  sollen,  dass  der  Handel  zur  völlig  befriedigenden  Lösung 
seiner  Aufgaben  gewisser  Formen  bedarf,  die  gewiss  legitim  sind,  aber  leicht  der  Ent- 
artung verfallen. 

Es  wird  weiterhin  die  Schwierigkeit  und  Unzulänglichkeit  der  Berechnungen  des 
Getreideconsums  dargethan,  es  wird  aber  auch  gezeigt,  dass  man  trotzdem  in  den  letzten 
Jahren  eine  Zunahme  des  Getreideconsums  in  Europa,  speciell  in  den  Importstaaten,  eine 
Abnahme  desselben  in  den  Vereinigten  Staaten  annehmen  dürfe.  Hier  fehlt  wieder  der 
Nachweis,  dass  die  Hebung  des  Wohlstandes  in  den  tieferen  Volksschichten  eine  Ver- 
mehrung des  Consums  herbeiführen  musste,  und  dass  somit  in  erster  Linie  die  Hebung 
dieses  Wohlstandes  ins  Auge  zu  fassen  wäre.  Bei  der  Besprechung  der  Preisbildung  wird 
auf  den  Zusammenhang  des  Getreidepreisrückganges  mit  dem  allgemeinen  Preisrückgang 
aufmerksam  gemacht  und  sodann  gezeigt,    dass  der  Preisfall  der  letzten  Jahre  sich  voll- 


224  Literaturbericht. 

ständig  erklärt  durch  die  ausserordentlich  vergrösserte  und,  wie  oben  erwähnt,  stets  zu 
weiterem  Wachsthum  geneigte  Production,  durch  die  in  den  maassgebenden  Gebieten 
niedrigen  und  violleicht  sinkenden  Productionskosten,  durch  die  mit  der  Entwicklung  der 
Verkehrsverhältnisse  fortgesetzt  steigende  Erleichterung  der  Getreidezufuhr  in  jedes 
bedürftige  Gebiet  und  durch  die  nur  massig  sich  steigernde  Nachfrage. 

Nachdem  so  der  Verfasser  ein  Allgemeinbild  festgestellt  und  insbesondere  die  Ent- 
wicklung der  Preislage  im  grossen  Zuge  dargestellt  hat,  bemerkt  er,  dass  die  Preis- 
bestimmung im  einzelnen  Staate  zu  bestimmter  Zeit  noch  von  andern  Momenten,  speciell 
von  der  Speculation  abliiinge.  Hier  hatte  die  Erörterung  des  Terminhandels  einzusetzen 
und  seine  Wirkungen  womöglich  statistisch  zu  zeigen. 

In  der  That  schliesst  sich  hier  der  zweite  Theil  der  Erläuterungen  an,  aber  er 
bietet  nicht  die  Besonderheiten  auf  dem  allgemeinen  Hintergrund,  er  zeigt  nicht  das 
Individuelle  des  Terminhandels  in  objectiver  Darstellung,  sondern  er  bietet  wie  die  Ein- 
leitung sagt  nur  einzelne  Meinungen,  so  dass  man  versucht  ist,  das  Ganze  eine  Notizen- 
sammlung zu  nennen.  Merkwürdig  ist,  dass  sich  das  Ackerbauministerium  von  diesen 
Notizen  förmlich  lossagt.  In  der  Einleitung  zu  den  Materialien  heisst  es  nämlich:  Diese 
Erörterungen  bezwecken  nicht  eine  Darstellung  der  Entwicklungsgeschichte  des  Termin- 
handels, noch  weniger  sollen  sie  eine  Anschauung  der  Regierung  zum  Ausdruck  bringen 
oder  irgend  eine  Stellungnahme  für  oder  wider  enthalten;  sie  sind  lediglich  dazu  bestimmt,  die 
Aufmerksamkeit  der  Experten  darauf  zu  lenken,  dass  der  Terminhandel  nicht  nur  von 
einem  oder  dem  andern  Gesichtspunkte  und  nicht  als  vereinzelte  Erscheinung,  sondern 
als  ein  Glied  jener  wirtschaftlichen  Evolution  betrachtet  werden  muss,  welche  in  ihrer 
heutigen  Ausgestaltung  die  Lage  der  Landwirtschaft  beherrscht.  In  der  That  bringen  die 
beiden  Abschnitte  zur  Geschichte  und  zum  Begriff  des  Terminhandels  keine  in  sich 
geschlossene  Darstellung,  sei  es  dessen,  wie  er  sich  entwickelt,  sei  es  dessen,  was  man 
unter  dem  Namen  begreift,  sondern  überwiegend  Citate  von  Schriftstellern,  Notizen  über 
einschlägige  Thatsachen.  So  ausserordentlich  wertvoll  sie  oft  sind,  so  kann  'man  sich 
doch  nicht  des  Eindruckes  erwehren,  dass  die  Gegner  des  Terminhandels  bei  der  Auslese 
der  Citate  stärker  berücksichtigt  wurden  als  seine  Vertheidiger,  und  dass  diese  hauptsächlich 
mit  solchen  Stellen  Aufnahme  fanden,  mit  welchen  sie  die  Schwächen  und  Mängel  des 
Terminhandels  charakterisierten.  Daraus  erklärt  sich  vielleicht  auch  die  obenerwähnte 
Acusserung  des  Ackerbauministeriums  in  der  Einleitung  zu  den  Materialien;  es  wollte 
den  durch  diese  Auslese  erweckten  Schein  einer  Stellungnahme  nicht  auf  sich  zurück- 
fallen lassen. 

Wir  würden  es  allerdings  für  möglich  halten,  dass  auch  dieser  Theil  der  Erläu- 
terungen als  ein  Leitfaden  lür  die  Experten  hätte  abgefasst  werden  können,  wodurch 
ihnen  die  Beantwortung  der  Fragen  erleichtert  und  die  Präcision  der  Antworten  wesentlich 
erhöht  worden  wäre.  Man  hätte  ja  auch  hier  die  in  der  Literatur  vorhandenen  Anschauungen, 
u.  zw.  auch  die  entgegengesetzten  bringen  können,  nur  hätte  es  in  einer  objecdv  refe- 
rierenden Weise,  in  der  Art  geschehen  müssen,  dass  eine  in  sich  abgeschlossene  Auf- 
fassung zum  Ausdruck  kommt,  nicht  aber  in  der  beliebten  Manier  der  mosaikartigen 
Zusammenstücklung  einzelner  aus  dem  Zusammenhang  herausgerissener  Sätze,  die  an 
gewisse  Bilder  höchst  moderner  Kunst  erinnert.  So  würde  sich  wohl  haben  zeigen  lassen, 
wie  nach  der  Meinung  der  einen  der  börsemässige  Terminhandel  durch  die  Entwicklung 
des  modernen  Handels  mit  Naturnothwendigkeit  aus  dem  Zeitgeschäft  hervorgieng, 
während  er  nach  der  Meinung  der  andern  ein  besonderer  Auswuchs  des  DilFerenz- 
geschäftes  ist,  der  auf  den  Getreidehandel  künstlich  aufgepfropft  wurde;  so  hätten  sich 
wohl  alle  die  Merkmale  vorführen  lassen,  die  den  Terminhandel  nach  den  verschiedenen 
Auffassungen  in  der  Literatur  charakterisieren,  und  es  wären  damit  gewiss  manche 
missverständliche  Antworten  der  Experten  vermieden  worden;  so  hätte  man  wohl  zeigen 
können,  wie  der  Terminhandel  von  Haus  aus  zu  immer  schärferer  Abstraction  drängt,  so 
zwar,  dass  seine  Functionen  am  besten  gesichert  sind,  wenn  dass  usancemässige  Getreide 
nur  eine  ideale  Type    ist    u.   s.  f.   Selbstverständlich  hätte    das    alles  in    geschlossener 


tiiteraturbericht.  225 

objectiver  Darstellung  gesagt  werden  müssen,    ohne   dass  der  Autor  irgendwie  Stellung 
genommen  hätte  zum  Gegenstand. 

Da  dies  nicht  geschah,  so  können  uns  in  diesen  Abschnitten  die  erläuternden  Be 
merkungen,  trotzdem  sie  in  ihrer  Art  mit  den  zerhackten  Sätzen  ungemein  reichlich 
Material,  liefern  für  die  Beantwortung  der  an  die  Experten  gerichteten  Fragen  nicht 
befriedigen.  Eine  schöne  Gelegenheit,  die  Entwicklungsgeschichte  des  börsemässigen 
Terminhandels  zu  schreiben,  ist  hier  versäumt  worden;  wer  weiss,  ob  sie  auf  Grund  der 
reichen  Ergebnisse  der  eben  abgeführten  Enquete  wird  geschrieben  werden.       F.  — k. 

Stefan Koczynski: Untersuchungen  über  einSystem  des  österreichischen 
Gebürenrechtes.  (Schanz'  Finanzarchiv,  XV.  Jahrgang,  I.  Band.) 

Die  wissenschaftliche  Behandlung  des  positiven  Gebürenrechtes  steckt  in  Oesterreich 
noch  in  den  Kinderschuhen,  und  schon  aus  diesem  Grunde  darf  jeder  Versuch  auf  diesem 
Gebiete  auf  Dank  und  Beachtung  rechnen.  Koczynski  steht  übrigens  seinem  Stoffe  weder 
theoretisch  noch  praktisch  als  Neuling  gegenüber:  abgesehen  von  der  sehr  schätzbaren 
Monographie  „Armenrecht  im  gerichtlichen  Streitverfahren",  Innsbruck  1890,  welche 
infolge  der  Eegelung  dieses  Gebietes  durch  die  neue  Civilprocessordnung  und  durch  die 
Ministerialverordnung  vom  23.  Mai  1897,  R.-G.-Bl.  Nr.  130,  inzwischen  allerdings  zum 
Theile  überholt  ist,  besitzen  wir  von  ihm  das  Buch  „Die  Rechtsmittel  des  österreichischen 
Gebürenrechtes",  Wien  1897,  dessen  Inhalt  viel  umfassender  ist,  als  der  Titel  andeutet, 
und  welches  bereits  Anläufe  zu  einer  systematischen  Bearbeitung  des  gesammten  Gebüren- 
wesens  erkennen  lässt.  ^)  Die  vorliegende  Abhandlung  ist  nun  ganz  der  letzteren  Aufgabe 
gewidmet  und  erhält  durch  die  Heranziehung  eines  grösseren  historischen  Materials 
ein  eigenartiges  Gepräge;  sie  soll  aber,  wie  der  Herr  Verfasser  zu  verstehen  gibt, 
nur  als  Vorbereitung  zu  einem  grösseren  Werke,  gleichsam  als  Skizze  zu  dem  figuren- 
reichen Gemälde  dienen,  welches  er  von  dem  heimischen  Geblirenrechte  zu  entwerfen 
gedenkt. 

Der  Inhalt  der  zu  besprechenden  Abhandlung  dürfte  sich,  wie  folgt,  resümieren 
lassen.  Koczynski  beginnt  mit  der  Constatierung,  dass  unter  den  österreichischen  Gebüren 
eine  Vielheit  verschiedenartiger  Abgaben  begriffen  sei.  Dies  gelange  auch  in  dem  constant 
gebrauchten  Plural:  „Die  Gebüren"  zum  Ausdruck,  während  für  andere  einheitliche 
Abgabengattungen  der  Singular  üblich  sei,  wie:  „Die  Erwerbsteuer",  „Die  Einkommen- 
steuer" u.  s.  w.  Gemeinsam  sei  allen  Gebüren  nur,  dass  sie  durchgängig  eine  Besteuerung 
des  Rechtslebens  2)  bilden.  Ungeachtet  ihrer  Vielheit  lassen  sich  aber  die  Gebüren  an  der 
Hand  der  österreichischen  Finanzgeschichte  auf  eine  vierfache  Wurzel  zurückführen, 
nämlich:  1.  Die  Taxen;  2.  die  sogenannte  Stempelabgabe;  3.  die  Erbsteuer  und 
4.  die  Laudemialabgaben  (Besitzveränderungsgebüren  aus  dem  Unterthänigkeitsver- 
hältnisse).  Durch  das  Stempel-  und  Taxgesetz  vom  27.  Jänner  1840  habe  eine  Uniformierung 
der  unter  1—8  genannten  staatlichen  Rechtsabgaben  stattgefunden,  worauf  durch  das 
Gesetz  vom  9.  Februar  1850  nach  Beseitigung  der  Dominicalabgaben  (insbesondere  der 
Laudemien)  die  Schaffung  der  modernen  Gebürenabgabe  erfolgte.  Gleichwohl  führen  im 
heutigen  Gebürenrechte  die  vier  alten  Abgabengattungen  „ihre  selbständige  Sonder- 
existenz nebeneinander  fort",  und  zwar  die  Stempelabgabe  im  Fixstempel  und  den  Scala- 
gebiiren,  die  Erbsteuer  in  den  Bereicherungsgebüren,  die  Laudemien  in  den  Veränderungs- 
gebüren  und  die  Taxen  unter  ihrer  alten  Bezeichnung.  Nachträglich  hätten  dann  noch  in 
dem  durch  Gesetz  vom  9.  Februar  1850  geschaffenen  Gefüge  des  Gebürenwesens  Ver- 
schiebungen stattgefunden,  in  welcher  Beziehung  auf  die  Einführung  der  Stempelmarken, 
den  Sturz  des  Stempelclassensystems  (sie),  die  Anwendung  der  Marke  auf  verschieden- 
artige Gebüren  u.  s.  w.  hingewiesen  wird.  An  diesen  historischen  Theil  schliesst  sich  eine 
Besprechung  des  Systems  des  geltenden  Gebürengesetzes,  sowie  der  bisherigen  Versuche 


1)  Ein  specielles  Interesse  für  Fachleute  bietet  die  diesem  Buche  beigegebene  Tafel  mit  Ab- 
bildungen österreichischer  Stempelzeichen,  welche  bis  ins  17.  Jahrhundert  zurückreichen. 

^)  Wenn  Koczynslä  sich  diesfalls  auf  den  Ausdruck  „Rechtsgebüren"  beruft,  so  muss  darauf 
aufmerksam  gemacht  werden,  dass  derselbe  doch  nur  in  den  östlichen  Landestheilen  der  Monarchie 
allgemein  üblich  ist. 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  X.  Band.  .    15 


226  Literaturbericht. 

einer  Aufstellung  neuer  Systeme,   worauf  der  Herr  Verfasser  selbst  die  Grundzüge  eines 
solchen  entwickelt. 

Was  nun  den  historischen  Theil  anbelangt,  so  wird  man  sich  mit  den  obigen  Aus- 
führungen über  den  Werdegang  des  österreichischen  Gebürenwesens,  insbesondere  mit  der 
Zurückführung  desselben  auf  die  vierfache  Wurzel:  Taxen,  Stempel,  Erbsteuer  und 
Laudemien  bis  auf  einen  später  zu  erörternden  Punkt  im  grossen  und  ganzen  einver- 
standen erklären  können.  Wenn  auch  die  bezügliche  Partie  meist  nur  Bekanntes  enthält, 
so  muss  doch  anerkannt  werden,  dass  wir  in  ihr  die  erste  und  gleichzeitig  die  einzige 
zusammenhängende  Darstellung  dieses  Zweiges  österreichischer  Finanzgeschichte  zu 
erblicken  haben. ^)  Auch  fehlt  es  in  dem  historischen  Theile  der  Abhandlung  nicht  an 
bemerkenswerten  Einzelheiten,  so  z.  B.  wenn  Koczynski  feststellt,  dass  das  Mortuar  nicht 
etwa  als  Erbsteuer,  sondern  als  Taxe  für  die  obrigkeitliche  Intervention  bei  der  Ver- 
lassenschaftsabhandlung aufzufassen  ist,  weiters  die  Geschichte  der  österreichischen  Erb- 
steuer seit  ihrer  Einführung  während  des  siebenjährigen  Krieges,  dann  die  Bemerkungen 
über  das  Stempelclassensystem.  Man  erfährt  bei  dieser  Gelegenheit,  dass  es  drei,  später 
vier  Siegelclassen,  nämlich  zu  2  fl.,  1  fl.,  15  kr.  und  3  kr.  gab,  welche  mit  dem  Patente 
vom  5.  October  1802  auf  vierzehn  Stempelclassen  vermehrt  wurden,  wobei  für  die  Eiu- 
theilung  in  eine  Classe  nicht  nur  die  Beschaffenheit  der  Urkunde,  sondern  auch  der 
Stand  des  Ausstellers  maassgebend  war.  Weniger  einwandfrei  erscheint  meines  Erachtens 
dasjenige,  was  Koczynski  über  die  Entstehung  der  Stempelabgabe  vorbringt,  nämlich 
die  von  ihm  verfochtene  Auffassung  des  Stempels  als  einer  Consumabgabe  auf  Papier. 

Zu  dieser  Auffassung,  welcher  Originalität  und  Neuheit  jedenfalls  nicht  abzusprechen 
ist^)  und  welche  Koczynski  auch  in  mehreren  Aufsätzen  in  der  „Oesterreichischen  Zeit- 
schrift für  Verwaltung",  Jahrgang  1898,  Nr,  41  und  42  und  Jahrgang  1899,  Nr,  4  und  5, 
fortgesponnen  hat,  gelangt  er  durch  folgenden  Gedankengang. 

Den  Ausgangspunkt  der  Stempelabgabe  in  den  österreichischen  Erbländem  bilde 
der  im  Jahre  1556  aus  Anlass  der  Türkennoth  eingeführte  „allgemeine  Papierauf- 
schlag"  in  vier  Classen  von  6  fl.,  2  fl.,  1  fl.  oder  30  kr.  per  Eiss,  je  nach  der  Qualität 
des  Papiers,  in  welcher  wir,  wie  Koczynski  mit  Recht  bemerkt,  eine  Verzehrungssteuer 
mit  allen  ihren  charakteristischen  Merkmalen,  also  ein  vectigal  chartae,  zu  erblicken  haben. 

Das  nächste  Stadium  der  Entwicklung  ist  nach  Koczynski  die  sogenannte  Siegel- 
abgabe (Patente  von  1686  und  1692)  gewesen.  Durch  diese  Patente  wurde  für  die 
Anfertigung  gewisser,  speciell  als  steuerpflichtig  bezeichneter  Schriftacte  —  und  zwar 
ursprünglich  bei  sonstiger  Nullität  des  Actes  —  eine  bestimmte  Gattung  besonders 
bezeichneten  —  „gesiegelten"  —  Papieres  vorgeschrieben,  welches  zum  Preise  von  2,  15 
und  60  kr.  per  Bogen  bei  den  Siegelämtern  erhältlich  war;  gleichzeitig  wurde  der 
Papieraufschlag  aufgehoben.  Da  aber  die  Siegelabgabe  sich  als  zu  „beschwerlich"  erwies 
und  „viele  erhebliche  gravamina"  dagegen  bei  Kaiser  Leopold  I.  eingebracht  wurden,  so 
wurde  sie  mit  dem  Patente  vom  18.  Mai  1693  abgeschafft  und  der  Papieraufschlag 
wieder  eingeführt.  Es  dauerte  indessen  nicht  lange,  bis  der  Papieraufschlag  in  den  einzelnen 
Erbländern  durch  üebereinkommen  mit  den  Ständen  doch  ohne  erkennbaren  Zusammen- 
hang mit  der  Wiedereinführung  der  Siegelabgabe  beseitigt  wurde,  welch  letztere,  und 
zwar  theils  als  ständische,  theils  als  staatliche  Abgabe,  in  der  ersten  Hälfte  des  18.  Jahr- 
hunderts ihre  Auferstehung  feierte.  Weitere  Stadien  der  Entwicklung  der  Siegelabgabe 
bilden  das  Patent  vom  3.  Februar  1762,  durch  welches  sie  reformiert  und  in  allen  Erb- 
ländern in  Geltung  gesetzt  wurde,  die  josephinischen  Patente  vom  5.  Juni  1784  und  vom 
30.  Januar  1788  und  endlich  das  Stempelpatent  vom  5.  October  1802,  worauf  das  Stempel- 
wesen im  Stempel-  und  Taxgesetze  vom  27.  Januar  1840  den  Zenith  seiner  Entwickelung 
erreicht.  Den  Uebergang  vom  allgemeinen  Papieraufschlage,  dessen  verzehrungssteuerartiger 
Charakter  nicht  wohl  zu  leugnen  ist,  zur  Siegelabgabe,  welche  mit  dem  heutigen  Stempel- 

*)  V7iesers  im  übrigen  vorzüglicher  Artikel  „Gebürengesetz"  im  österreichischen  Staatswörterbuch 
von  Mischler  und  Ulbrich  gibt  nur  eine  kurze  Uebersicht  der  Geschichte  des  österreichischen  Gebürenwesens. 

»}  Nur  bei  Dalloz-Verg^,  Code  de  l'Enregistrement.  Paris  1878,  S.  532,  findet  sich  der  Satz :  L'impot 
du  timbre  est  un  impöt  de  consommation. 


Literaturbericht.  227 

Wesen  als  identisch  bezeichnet  werden  kann,  führt  Kozynski  auf  die  geringe  Einträglichkeit 
des  Papieraufschlages,  sowie  auf  die  Erkenntnis  zurück,  „dass  es  eine  gewisse  Art  der 
Verwendung  des  Papiers  gebe,  deren  Besteuerungsfähigkeit  durch  den  Papieraufschlag 
auch  nicht  im  entferntesten  ausgenützt  werde,  und  die  deshalb  mit  unverhältnismässig 
höheren  Abgabesätzen  belegt  werde  könne.  Dies  war  der  Gebrauch  des  Papiers  zur 
Aufnahme  rechtlich  bedeutsamer  Aufzeichnungen."  Auch  die  Alter- 
nierung der  Siegel-  oder  Stempelabgabe  mit  dem  Papieraufschlage  lege  für  die  Auf- 
fassung der  ersteren  als  Papierconsumsteuer  Zeugnis  ab,  desgleichen  die  Betrachtung» 
dass  der  Stempel  weder  als  Verkehrssteuer,  noch  als  Taxe  bezeichnet  werden  könne, 
ohne  mit  feststehenden  Ergebnissen  der  Forschung  über  das  Finanzwesen  des  16.  und 
17.  Jahrhunderts  in  Widerspruch  zu  gerathen;  nicht  als  Verkehrssteuer,  weil  er  eine 
landesfürstliche  Einnahme  bildete  und  zur  Zeit  seiner  Entstehung  Steuern  dem  Landes- 
herrn als  solchen  überhaupt  nicht  zugestanden  wurden,  und  nicht  als  Taxe,  weil  der 
Staat  den  Stempel  auch  dann  bezog,  wenn  die  Schriftacte  vor  nichtstaatlichen  Organen 
vorfielen.  Einen  weiteren  historischen  Beleg  für  seine  Theorie  findet  der  Verfasser  in  der 
Thatsache,  dass  der  noch  jetzt  als  Verbrauchsstempel  bezeichnete  Spielkarten-,  Kalender- 
und  Zeitungsstempel,  dessen  consumsteuerartigen  Charakter  doch  niemand  werde 
bestreiten  wollen,  von  der  österreichischen  Gesetzgebung  des  18.  Jahrhunderts  stets  im 
Zusammenhange  mit  der  eigentlichen  Stempelabgabe  behandelt  worden  sei. 

Aber  diesem  Versuch  Koczynskis,  die  Stempelabgabe  als  Consumsteuer  auf  Papier 
zu  construieren,  begegnet  sowohl  vom  Standpunkte  der  Finanzwissenschaft  als  auch  von 
jenem  der  speciellen  österreichischen  Finanzgesetzkunde  emsten  Bedenken.  Die  herrschende 
Doctrin  neigt  bekanntlich  dahin,  in  dem  modernen  Stempelwesen  überhaupt  nicht  eine 
selbständige  Abgabengattung,  sondern  nur  eine  Form  der  Entrichtung  für  eine  Menge 
der  verschiedenartigsten  steuerlichen  Gebilde  zu  erblicken.  Ein  besonders  ausgedehntes 
Anwendungsgebiet  hat  der  Stempel  sich  allerdings  mit  Bezug  auf  jene  Beiträge  zu  den 
öffentlichen  Lasten  erobert,  bei  welchen  das  Vorwalten  des  sogenannten  G  e  b  ü  r  e  n- 
principes  unverkennbar  ist,  so  z.  B.  in  neuester  Zeit  bei  den  Schulgeldmarken,  bei 
der  statistischen  Gebür.  Auch  die  Postmarke  als  Entrichtungsart  für  die  Portogebür 
gehört  füglich  einem  verwandten  Gedankenkreise  an.  Wird  vor  allem  der  derzeitige 
Zustand  des  österreichischen  Gebürenwesens  in  Betracht  gezogen  und  berücksichtigt,  dass 
die  Entrichtung  in  Stempeln  für  eine  stattliche  Anzahl  von  Abgaben  unseres  Gebüren- 
tarifes  angeordnet  ist,  denen  kaum  jemand  den  Charakter,  sei  es  einer  Verkehrssteuer,  sei 
es  einer  eigentlichen  Gebür,  sei  es  einer  Taxe,  wird  absprechen  wollen,  so  dürfte  es 
schwer  fallen,  den  einheitlichen  Charakter  des  österreichischen  Stenipelwesens  aufrecht 
zu  erhalten.  Man  denke  nur  an  die  Gebür  für  ämtliche  Ausfertigungen  (Tarifpost  7),  an 
die  Gebür  für  Gewerbeanmeldungen  (Tarifpost  43  b)  u.  s.  w.,  welche  mit  einer  Consum- 
steuer nicht  das  Geringste  zu  schaffen  haben.  Koczynski  will  nun  auch  nicht  bestreiten, 
dass  möglicherweise  Verkehrssteuern  und  Taxen  in  Form  von  Stempeln  entrichtet  werden 
konnten  und  können;  er  fasst  das  Problem  vielmehr  tiefer,  und  wenn  wir  ihn  recht  ver- 
stehen, so  soll  nur  die  Sterapelabgabe  in  einem  eingeschränkten  Sinne,  nämlich  dasjenige, 
was  der  Verfasser  als  „S  ch  r  i  f  t  s  t  e  u  e  r"  bezeichnet,  ursprünglich  nichts  anderes  als 
eine  Papierconsumsteuer  gewesen  sein,  und  nicht  in  Abrede  gestellt  werden,  dass  in 
späteren  Entwickelungsstadien  des  österreichischen  Finanzwesens  auch  andere  Arten  von 
Abgaben  in  das  Stempelwesen  eingedrungen  sind.  A  posteriori,  vom  Standpunkte  der 
lex  lata,  erscheint  also  Koczynskis  Theorie  —  wie  er  selbst  einräumen  dürfte  —  schwer 
haltbar;  aber  auch  mit  der  Deduction,  welche  für  das  Hervorgehen  der  ursprünglichen 
Stempelabgabe  aus  dem  vectigal  chartae  in  dem  eben  angedeuteten  eingeschränkten 
Sinne  den  Beweis  erbringen  soll,  konnte  Referent  sich  absolut  nicht  befreunden. 

Wie  Koczynski  feststellt,  sind  mit  der  Einführung  des  Stempelpapiers  voran- 
gegangen: Holland  1624,  Spanien  1636,  England  1671,  Köln,  Sachsen,  Brandenburg  1682 
und  Mainz  1684.  Die  ersten  österreichischen  Siegelpatente  erflossen  1686.  Diese  Daten 
führten  bisher  allgemein  zu  der  Annahme,  dass  Oesterreich  die  Stempelabgabe  nach  dem 
Vorbilde  der  genannten  Staaten,  vor  allem  Hollands,  bei  sich   eingeführt  habe.    Wie   ist 

15* 


228  Literaturbericht. 

riuii  aber  der  Stempel  in  Holland  entstanden?  Ein  Privatmann  soll  ihn  erdacht  haben, 
nachdem  die  Generalstaaten  einen  Preis  auf  Erfindung  einer  neuen,  nicht  drückenden 
und  doch  einträglichen  Abgabe  gesetzt  hatten.  Durch  V.  vom  13.  August  1624  wurde 
eine  im  reichen  Holland  recht  ergiebige  impost  van  bezegelte  brieven  eingeführt.  *)  Eine 
Verbindung  mit  einem  Papieraufschlage  erscheint  nicht  nachweisbar,  vielmehr  wurde  der 
Stempel  in  Holland  als  neue  Erfindung  betrachtet  und  sodann  in  anderen  europäischen 
Staaten  nachgeahmt. 

Ein  weiteres  Argument  Koczynskis,  nämlich  das  angebliche  Alternieren  des 
Papieraufschlages  mit  der  Siegelabgabe  erscheint  uns  gleichfalls  nicht  zwingend.  Denn 
mag  es  auch  feststehen,  dass  die  Siegelabgabe  anlässlich  ihrer  ersten  Einführung  mit 
dem  allgemeinen  Papieraufschlage  in  eine  gewisse  Wechselbeziehung  gebracht  worden  ist, 
so  war  dies  doch  nur  eine  vorübergehende  Erscheinung,  und  zwar  in  den  beiden  letzten 
Decennien  des  17.  Jahrhundeites,  wie  denn  der  Verfasser  auch  zugibt,  dass  späterhin  die 
Beseitigung  des  Papieraufschlages  um  die  Wende  des  Jahrhundertes  erfolgte,  „ohne  jetzt 
noch  in  Wechselwirkung  mit  dem  Siegelwesen  zu  stehen  und  dessen  Wiederaufleben  zur 
unmittelbaren  Folge  zu  haben."  Uebrigens  scheint  gerade  die  Thatsache,  dass  der 
Papieraufschlag  1686  förmlich  aufgehoben  und  an  dessen  Stelle  die  Siegelabgabe  ein- 
geführt wurde,  sowie  später  umgekehrt,  darauf  hinzudeuten,  dass  der  Gesetzgeber  sich 
der  wesentlichen  Verschiedenheit  beider  Abgaben  wohl  bewusst  war.  Was  die  finanz- 
politischen Erwägungen  betrifft,  welche  nach  Koczj'nski  den  Uebergang  vom  allgemeinen 
Papieraufschlage  zur  Siegelabgabe  veranlasst  haben  sollen,  so  mögen  dieselben  immerhin 
bestimmend  für  die  damaligen  Machthaber  gewesen  sein;  einen  mehr  als  äusserlichen 
Zusammenhang  zwischen  beiden  Abgaben  vermögen  sie  aber  meines  Erachtens  nicht  herzu- 
stellen. Denn  die  Erkenntnis,  dass  die  Siegelabgabe  vermöge  ihrer  grösseren  Einträglichkeit 
vor  dem  Papieraufschlage  den  Vorzug  verdiene,  beweist  doch  noch  nicht,  dass  man  diese 
beiden  Abgaben  für  etwas  generell  Gleichartiges  oder  auch  nur  Verwandtes  ansah.  In 
jenen  Zeiten  der  Finanznoth  pflegte  man  nicht  viel  nach  der  wissenschaftlichen  Brgründung 
einer  Abgabe  zu  fragen,  sondern  nahm  die  Mittel,  wo  man  sie  fand.  Dass  mit  der  Ein- 
führung der  Siegelabgabe  eine  neue  Besteuerungsgrundlage,  nämlich  der  rechtlich 
relevante  Inhalt  des  beschriebenen  Papieres,  geschaffen  wurde,  spricht  eben  dafür,  dass 
man  im  Siegelwesen  das  Gebiet  der  Consumbesteuerung  verlassen  und  die  Einführung 
einer  dem  Wesen  nach  neuen  Abgabe  vollzogen  hat.  Trotz  der  Ausführungen  Koczynskis 
klafft  also  zwischen  Papieraufschlag  und  Siegelabgabe  ein  unvermittelter  logischer 
Sprung.  Dass  es  sich  hier  wirklich  um  ganz  verschiedene  Dinge  handelt,  zeigt  auch 
folgende  Betrachtung.  Beim  Stempel  kommt  es  auf  den  rechtlich  relevanten  Inhalt  der 
Schrift,  bezw.  darauf  an,  dass  das  Papier  zur  Niederschrift  eines  rechtlich  relevanten  Aufsatzes 
verwendet  werde.  Die  Menge  des  verbrauchten  Stoffes  spielt  beim  Stempel  nur  eine 
nebensächliche  KoUe.  Nur  als  fiscalische  Schutzmaassregel  ist  es  aufzufassen,  wenn  die 
positiven  Gesetzgebungen  der  einzelnen  Staaten  Maximalmaasse  der  Papierbogen  für 
stempelpflichtige  Ausfertigungen  festsetzen  oder  die  Maximalanzahl  der  Zeilen  bestimmen, 
welche  eine  Bogenseite,  oder  gar  der  Worte,  welche  eine  Zeile  enthalten  darf.  Ganz 
anders  bei  der  Consumabgabe,  wo  es  vor  allem  auf  die  Menge  des  verbrauchten  Stoffes 
oder  gleichzeitig  auf  dessen  physische  Beschaffenheit  ankommt.  Der  Uebergang  vom 
Papieraufschlag  zur  Siegelabgabe,  das  Hervorgehen  der  letzteren  Abgabe  aus  der  ersteren, 
erscheint  also  auch  historisch  kaum  nachgewiesen.  Gemeinsam  ist  beiden  Abgaben  nur, 
dass  Papier  ihr  Substrat  bildet  und  die  Abgabenpflicht  an  den  Verbrauch  desselben 
anknüpft.  Darüber  hinaus  hört  jede  Analogie  beider  Abgaben  auf.  Insbesondere  ist  fest- 
zuhalten, dass  der  Papieraufschlag  das  Papier  schlechthin,  also  auch  dessen  mechanische 
Verwendung,  namentlich  für  die  Zwecke  des  gewerblichen  Lebens  (Druckerei,  Buchbinderei, 
Cartonnage)  und  des  Individualconsums  (Correspondenz,  Schreib-,  Zeichen  und  Noten- 
hefte, Manuscripte  u.  dgl.)  belastete,  was  beim  Stempel  nicht  zutrifft.  Auch  was 
Koczynski  über  den  Ursprung  der  Siegelabgabe  vorbringt,  scheint  mehr  gegen  als  für 


>)  Konrad' Lexis,  Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften,  Artikel:  Stempel,  gtempelabgaben. 


Literaturbericht.  .  229 

seine  Theorie  zu  sprechen:  er  constatiert  nämlich,  dass  die  Ausdrücke  „Siegel"  und 
„Stempel"  ursprünglich  promiscue  gebraucht  wurden,  dass  aber  in  älterer  Zeit  der  erste 
Ausdruck  der  häufigere  war.  Das  einer  Urkunde  beigedrückte  Siegel  vertrat  die  Stelle 
der  Unterschrift,  es  war  ein  Zeichen  der  Perfection  der  Urkunde.  Die  ältesten  Stempel- 
zeichen hatten  auch  eine  den  heutigen  Siegeln  ähnliche  Gestalt.  Die  Sterapelzeichen 
galten  als  anticipierte  Siegel  der  Staatsverwaltung,  gleichsam  als  Zeichen  „mehrerer 
Authentisierung"  oder  der  Zulassung  zur  staatlichen  Rechtshilfe.  Im  Wiener  Statute  vom 
12.  März  1526  war  bei  Veräusserungen  unterthäniger  Güter  die  Beidrückung  des  Siegels 
durch  den  Grundherrn  vorgeschrieben,  wofür  ein  „Siegelgeld"  zu  entrichten  war.  In  dem 
Versuche,  diese  Abgabe  in  eine  staatliche  umzuwandeln,  liege  wohl  der  älteste  Keim  des 
Stempelwesens.  Wo  bleibt,  so  muss  man  billig  fragen,  gegenüber  dieser  Darstellung  die 
Theorie  von  der  Papierverbrauchssteuer? 

Auch  der  Hinweis  darauf,  dass  die  ältere  österreichische  Finanzgesetzgebung  die 
Siegel-  oder  Stempelabgabe  bisweilen  in  äusserlichem  Zusammenhange  mit  dem  Ver- 
brauchsstempel von  Spielkarten,  Kalendern  und  Zeitungen  behandelte,  scheint  uns  nicht 
überzeugend  zu  sein,  weil  sich  ungezählte  Beispiele  aus  der  Finanzgeschichte  dafür 
anführen  lassen,  dass  in  einem  und  demselben  Gesetze  eine  ganze  Anzahl  der  hervor- 
ragendsten Abgaben  ihre  . Regelung  erfuhr.  Wie  weit  sich  übrigens  das  gegenwärtige 
österreichisclie  Stempelwesen  von  dem  Gedanken  einer  blossen  Verbrauchssteuer  auf  Papier 
entfernt  hat,  zeigt  unter  anderem  §  21  des  Gebürengesetzes  vom  9.  Februar  1850,  wonach 
bei  dessen  Anwendung  unter  „Papier"  nicht  nur  der  allgemein  so  genannte  Stoff,  sondern 
jeder  zur  Ausfertigung  sterapelpflichtiger  Urkunden  oder  Schriften  bestimmte  oder  ver- 
wendete Stoff  verstanden  wird.  Aber  auch  schon  in  seinen  Anfängen  zeigte  das  öster- 
reichische Stempelwesen  einen  schroffen  Gegensatz  zur  Consumsteuer,  weil  —  und  wir 
folgen  hier  dem  Verfasser  selbst  —  der  „Eintheilungsgrund  und  Maasstab  für  die  Ab- 
stufungen der  Abgabe"  in  den  ältesten  österreichischen  Siegelvorschriften  nicht  in  der 
Menge  des  verbrauchten  Stoffes,  also  in  der  Bogendimension,  sondern  in  der  inneren 
Verschiedenheit  der  einzelnen  Vorgänge  des  Rechtslebens,  die  schriftlich  aufgezeichnet 
werden,  gesucht  und  gefunden  wurde  und  die  Bogendimension  verhältnismäsig  spät, 
erst  in  den  Gesetzen  vom  9.  Februar  1850  und  vom  13.  December  1862,  und  auch  da 
nur  eine  nebensächliche  Berücksichtigung  fand.  —  Ein  weiteres  Kriterium  für  das  Fort- 
leben der  Papiersteuer  im  Stempel  findet  der  Verfasser  darin,  dass  weitere  Ausfertigungen 
desselben  Actes  einer  gleichen  Gebür  unterworfen  sind,  was  bekanntlich  nach  öster- 
reichischem Gebürenrechte  der  Fall  ist.  „Die  Auflage  tritt  ohne  weitere  Rücksicht  so 
oft  ein,  als  sich  der  steuerpflichtige  Consum  wiederholt.  Jede  Ausfertigung  ist  ein  neuer 
Verbrauch  von  Papier,  daher  abgabenpflichtig."  Allein  meines  Erachtens  lässt  sich  die 
Forderung  der  Abgabe  nach  der  Anzahl  der  Ausfertigungen  weit  einfacher  und  natürlicher 
mit  fiscalischen  Rücksichten  oder,  wenn  es  schon  einer  theoretischen  Begründung  bedarf, 
mit  der  Auffassung  des  Stempels  als  Schrift-  oder  Urkundensteuer  erklären,  bei  welcher 
aber  nicht  der  Verbrauch  eines  bestimmten  Stoffes,  wie  Papier,  sondern  der  Act  der  Be- 
urkundung, d.  i.  die  Niederschrift  behufs  Festhaltung  rechtlich  relevanter  Vorgänge  im 
menschlichen  Gedächtnisse  im  Vordergrunde  steht.  Beipflichten  wird  man  hingegen  dem 
Verfasser,  wenn  er  —  gleichfalls  bei  Besprechung  der  Stempelabgabe  —  die  Stempelscalen 
aus  den  Stempelclassen  hervorgehen  lässt. 

Der  übrigens  vom  Verfasser  selbst  als  Hypothese  bezeichnete  Versuch,  die 
Stempelabgabe  als  Papierconsumsteuer  zu  construieren,  kann  also  nach  dem  Gesagten 
wohl  kaum  als  gelungen  bezeichnet  werden.  Gerne  wird  der  Leser  jedoch  dem  vom  Ver- 
fasser aufgebotenen  Scharfsinn  und  der  mühseligen  Zusammentragung  finanzgeschichtlicher 
Details  für  eine  Theorie  seine  Anerkennung  zollen,  welche  selbst,  ihre  Richtigkeit  voraus- 
gesetzt, wohl  nur  ein  mehr  historisches  Interesse  beanspruchen  könnte. 

So  wenig  also  Referent  in  der  erwähnten  Hypothese  etwa  ein  v.zrl\i»  e'g  aet, 
eine  Errungenschaft  für  immer  erblicken  möchte,  so  schien  doch  eine  eingehende  Er- 
örterung derselben  am  Platze,  einerseits  um  ihrer  Neuheit  und  Originalität  willen,  sodann 
auch  weil  meines  Erachtens  darin  der  Angelpunkt  der  ganzen  Abhandlung  zu  suchen  ist. 


230  •  Literaturbericht. 

Den  weiteren  Gedankengang  des  Verfassers  im  einzelnen  darzulegen,  fehlt  es  an  Raum  und 
sei  nur  gestattet  heiTorzuheben,  dass  Koczynski  in  seine  Darstellung  eine  Anzahl 
zutreffender  kritischer  Apercus  über  das  österreichische  Gcbürenwesen  einfliessen  lässt,  welche 
allerdings  für  Fachleute  zum  Theile  nicht  neu  sind,  freilich  aber  noch  nie  gedruckt 
worden  sind.  Wenn  der  Verfasser  insbesondere  ausführt,  ein  gutes  Gebürengesetz  müsse 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  compliciert  sein,  weil  es  sich  andernfalls  den  vielgestaltigen 
Vorgängen  des  Rechtslebens  zu  wenig  anschmiegt  und  daher  zu  wenig  einträglich  ist, 
wird  man  ihm  wohl  beistimmen  können.  Weniger  einwandfrei  ist  schon  die  Behauptung, 
dass  nur  Theorie  und  Studium  die  in  der  Praxis  fühlbar  gewordenen  Mängel  der  Gesetz- 
gebung zu  heilen  berufen  sind.  Denn  ein  Gebürengesetz  soll  doch  nicht  nur  dem  Fach- 
manne und  dem  Theoretiker  verständlich  sein,  vielmehr  soll,  da  es  so  tief  in  das  Rechts- 
und Verkehrsleben  eingreift,  jedermann  sich  darin  zurechtfinden  können.  Dass  Koczynski 
Frankreich,  wo  noch  heute  die  Grundgesetze  des  Stempel-  und  Enregistrementswesens  aus 
dem  Jahre  VII  der  Republik,  erweitert  durch  „geradezu  zahllose  Novellen",  in  Geltung 
stehen,  das  Musterland  des  Gebürenwesens  nennt,  kann  wenigstens  vom  Standpunkte  der 
Praxis  nicht  unwidersprochen  bleiben.  Denn  die  Compliciertheit  der  französischen  Gebüren- 
vorschriften,  gegen  welche  die  allerdings  zahlreichen,  dickleibigen  Commentare  nur  eine 
unvollkonimene  Abhilfe  bieten,  und  die  daraus  entspringende  Rechtsunsicherheit  bildet 
in  Frankreich  ebenso  die  ständige  Klage  breiter  Schichten  der  Bevölkerung,  wie  — 
anderswo.  Wer  übrigens  je  vor  die  Aufgabe  gestellt  war,  den  Stand  der  französischen 
Gesetzgebung  in  einer  concreten  Gebürenfrage  festzustellen,  weiss  die  Schwierigkeiten 
zu  würdigen,  welche  die  Zersplitterung  des  Rechtsstoffes  einer  solchen  Feststellung 
bereitet. 

Gerade  das  Beispiel  Frankreichs  könnte  also  nicht  dazu  verleiten,  die  Behauptung 
Koczynski s,  dass  unser  heimisches  Gebürengesetz  der  Reform  nicht  bedürfe,  kritiklos 
hinzunehmen.  Die  wissenschaftliche  Durchdringung  des  Rechtsstoffes,  welche  der  Ver- 
fasser an  den  Franzosen  rühmt,  erscheint  gewiss  als  eine  Aufgabe,  des  Schweisses  der 
Edlen  wert.  Darüber  jedoch,  ob  in  ihr  die  Panacee  für  immer  fühlbarer  werdende 
Mängel  der  Gesetzgebung  zu  finden  ist,  sub  judice  lis  est.  Man  braucht  nicht  gerade  zu 
denen  zu  gehören,  welche  an  unserem  Gebürengesetze  kein  gutes  Haar  lassen;  man  kann 
auch  einräumen,  dass  es  für  die  Zeit  seiner  Erlassung  einen  bedeutenden  gesetzgeberischen 
Fortschritt  darstellt  und  kann  gleichwohl  sich  dessen  bewusst  sein,  dass  in  dem  halben 
Jahrhunderte  seines  Bestandes  die  Terminologie  zum  Theile  veraltete,  die  Gliederung  der 
Behörden  sich  änderte,  neue  Formen  der  wirtschaftlichen  Organisation  entstanden  oder 
schon  bestehende  Organisationen  eine  ungeahnte  Weiterentwicklung  erfuhren;  dass  auch 
die  sonstige  Gesetzgebung  nicht  stille  stand,  und  dass  namentlich  auf  dem  Gebiete  des 
Justizwesens  eine  umfassende  Reformthätigkeit  sich  entfaltete,  welche  nur  das  materielle 
Civilrecht  im  grossen  und  ganzen  unberührt  Hess.  Dass  auch  durch  die  Aufhebung  des 
Stempelpapieres  im  Jahre  1854  nicht  wenige  Bestimmungen  des  Gebürengesetzes  von 
1850  obsolet  geworden  sind,  ist  vollends  für  jeden  Kundigen  klar.  Was  nun  die  von 
Koczynski  proponierten  Grundzüge  eines  Systems  des  Gebürenwesens  anbelangt,  so  ist  zu 
beachten,  dass  dieses  System  nicht  etwa  dazu  bestimmt  ist,  in  der  Gesetzgebung  Geltung 
zu  erringen  —  Koczynski  bezeichnet  ja  die  Reform  des  geltenden  Gebürenrechtes  an 
einer  Stelle  direct  als  undurchführbar  —  sondern  didaktischen  Zwecken  dienstbar  sein 
soll.  Ob  nun  durch  die  diesfalls  vorgeschlagene  trichotomische  Eintheilung:  Schrift- 
steuer, Rechtshilfesteuer,  Verkehrssteuer  dem  durchschnittlichen  Auffassungs- 
vermögen der  Lernenden,  für  welche  der  Unterricht  im  Gebürenfache  berechnet  ist,  nicht 
zu  viel  zugemuthet  wird,  möchte  wohl  dahinstehen.  In  der  Sache  selbst  erregt  es  Bedenken, 
wenn  der  Verfasser  die  „Rechtshilfesteuer"  zu  Steuern  gewordene  Sporteltaxen  nennt  oder 
wenn  er  unter  „Verkehrssteuern"  auf  dem  Gebiete  der  Gebüren  lediglich  die  Bereicherungs- 
und Veränderungsgebüren  verstanden  wissen  will,  während  einerseits  doch  so  manche 
unserer  Gebüren,  wie  z.  B.  gleich  die  Eintr.ngungs-  und  Urtheilsgebüren  die  Begriffs- 
merkmale sowohl  der  Rechtshilfesteuer  als  auch  der  Verkehrssteuer  in  sich  vereinigen, 
andererseits  der  verkehrssteuerartige  Charakter  einer  ganzen  Reihe  von  fixen  und  Scala- 


Literaturbericht.  231 

gebüren  unseres  Tarifes  —  man  denke  nur  an  den  Wechselstempel  —  ausser  Frage 
steht.  Uebrigens  scheint  mit  der  hier  bemängelten  Eintheilung  die  vom  Verfasser  auf 
Seite  570  vorgenommene  Einreihung  der  Gebüren  der  einzelnen  Posten  des  Tarifes  unter 
die  drei  von  ihm  aufgestellten  Kategorien   nicht    durchgehends  im  Einklänge  zu    stehen. 

Und  noch  eine  Eigenthümlichkelt  der  Darstellung  Koczynskis  wäre  hervorzuheben, 
nämlich  das  an  sich  gewiss  berechtigte  Streben,  für  gewisse  Gegenstände  des  Gebüren- 
wesens,  deren  Bezeichnung  jetzt  im  Wege  einer  mehr  oder  weniger  schleppenden  Um- 
schreibung erfolgt,  knappe  Kunstausdrücke  ausfindig  zu  machen.  Ob  aber  der  Verfasser 
in  der  Wahl  dieser  Ausdrücke  immer  glücklich  war,  ob  Aussicht  besieht,  dass  sie,  sei 
es  in  der  Sprache  der  Wissenschaft,  sei  es  in  jener  der  Praxis,  das  Bürgerrecht  erlangen,  dürfte 
einigermaassen  zweifelhaft  erscheinen.  So  versteht  Koczynski  unter  „Trugstempel" 
jene  Gebüren,  welche  mit  der  eigentlichen  Stempelabgabe  nichts  zu  thun  haben,  gleich- 
wohl aber  kraft  besonderer  Anordnung  in  Stempelmarken  zu  entrichten  sind,  wie  die 
Gebüren  von  gewissen  kleinen  Mobilarnachlässen;  unter  dem  Ausdrucke  „denaturierte 
Stempel"  dasjenige  was  jetzt  unter  der  etwas  langathmigen  Bezeichnung:  „von  Gesell- 
schaften, Anstalten  und  Personen  unmittelbar  zu  entrichtende  Gebüren"  begriffen  wird; 
unter  „Comitivgebüv"  die  fixen  Gebüren  unter  dem  Gesichtspunkte  ihrer  Con- 
currenz  mit  den  Procentualgebüren ;  unter  „Substitution"  oder  „Substitutorischem 
Papierconsum"  die  Bestimmungen  zur  Verhütung  einer  Umgehung  der  abgabepflichtigen 
Urkundenerrichtung,  wie  die  Eechtsgeschäftsgebür  beim  ürtheile  oder  die  Behandlung 
der  Anmeldung  zum  Handelsregister  als  Beurkundung  des  Gesellschaftsvertrages  u.  dgl.  m. 

Ungeachtet  einzelner,  im  vorstehenden  besprochenen  Mängel  muss  Koczynskis 
Arbeit  auf  einem  von  der  Finanzwissenschaft  im  allgemeinen  etwas  stiefmütterlich 
behandelten  Gebiete  als  eine  äusserst  lesenswerte  bezeichnet  und  dem  Wunsche  Ausdruck 
verliehen  werden,  dass  es  dem  Verfasser  gegönnt  sein  möge,  seinen  Plan,  auf  den  von 
ihm  gebotenen  Grundlagen  eine  systematische  Darstellung  des  österreichischen  Gebüren- 
rechtes  aufzubauen,  zu  verwirklichen.  Hiebei  wird  wohl  auch  manches  historische  Bei- 
werk, manches  eimüdende  Detail  verschwinden,  dessen  der  Forscher  nicht  entrathen 
kann,  ohne  dass  es  gerade  bei  Darbietung  der  gewonnenen  Resultate  im  vollen  Umfange 
wiedergegeben  werden  müsste.  Die  Glätte  der  Darstellung  wird  hiedurch  gewinnen,  so 
weit  dieselbe  überhaupt  bei  einer  Arbeit  auf  dem  Gebiete  des  Gebürenwesens  erreichbar 
ist.  Denn  wessen  Sprachkunst  veiTnöchte  diesen  spröden  Stoff  zu  meistern? 

Dr.  August  Freiherr  v.  Odkolek. 


ZEITSCHRIFTEN-ÜBERSICHT. 

Jahrbücher  für  Nationalökonomie  und  Statl8tik,  hgg.  v.  Conrad,  Elster,  Loening,  Lexis,  111.  F. 
XX.   Band. 

6.  Heft.  December  1900:  A.  Tille:  Getreide  als  Geld.  —  G.  Cohn:  Ueber  die  Vereinigung  der 
Staatswisseuschaften  mit  den  Juristenfacultäten. 

Deutsche   Juristen-Zeltung,   hgg.  v.    /'.    Laband,   M.    Stenglein  und   //.  Staub.    VII.  Jahrg. 

Nr.  1:  Laband'.  Die  Anträge  auf  Errichtung  eines  Staatsgerichtshofes  für  das  Deutsche  Reich.  — 
Stranz:  Zum  ersten  Geburtstage  des  B.-G.-B.  —  van  Calker:  Unser  Strafgesetzbuch. 

Nr.  2 :  Holtze :  Der  18.  Januar  1701  in  der  Rechtsgeschichte  Preussens.  —  Stenglein :  Zum  Entwürfe 
eines  Gesetzes  über  das  Verlagsrecht. 

Journal  des  lücononiistes.  Revue  mensuelle  de  la  Science  economique  et  de  la  Statistique. 
GOe  annäe.   Rödacteur   en   chef:    G.  de  Molinari,  Correspondant  de  l'Institut. 

Molinarix  Le  XIXe  siecle.   —  Raffalovich :  Le  marcbä  flnancier  en  1900.  —  Domanski:  La  Charit^. 

La  lieforme  sociale,  bulletin  de  la  sociätä  d'economie  sociale  et  des  unions  de  la  paix  sociale; 
ond^es  par  P.  F.  Le  Play,  XXI  annee. 

Le  Roy:  Le  role  social  des  missions.  —  Hubert- Valier oux;  Les  immeubles  des  congregations  d'aprüs 
l'enquSte  ofdcielle. 

Annales  de  l'Institut  des  Sciences  sociales:  Comitö  de  direction:  G.  de  Greef,  H.  Denis,  E.  Solvay, 
P'.   Vandervelde.  VI.  ann^e ;  No.  4. 

E.  Solvay:  Comptabilisnie  et  Productivisme.  —  H.  Denis:  L'oeuvre  d' Auguste  Comte  et  son 
influence  sur  la  pensäe  contemporaine. 

The  Yale  Review,  Vol.  IX.  No.  3. 

Bascom :  The  alleged  facture  of  democracy.  —  Bacon  -.  American  international  indebtedness.  — 
Neweomb:  Observations  concerning  the  theory  of  railway  charges. 

The  Economic  Journal  of  the  British  Economic  Association.  Vol.  X.  No.  40. 

***  The  monetary  condition  of  Judia.  —  Chapman :  Some  policies  of  the  cotton  spinner's  trade 
unions.  —  Kershnw:  An  investigation  of  the  cause  of  trade  fluctuations.  —  Edgewortk:  The  incidence  of 
urbang  r.ites. 


232 


Zeitschriften-tJebersicht. 


AunaU   of  the   American   Acadeiiiy   of  pol.  and   soc.  science,  edit.   by  Seager.  Vol.  XVII.  No.  1. 

VVu  Ting-fang:  Causes  of  the  unpopularity  of  the  foreigner  in  China.  —  iVarne-.  The  anthracite 
coal  strike.  —  Allen:  The  election  of  1900. 

The  Journal  of  Political  Econoiny,  Vol.  IX.  No.  1. 

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PubIication8  of  the  American  Economic  Atsociation.  III.  Series,  Vol.  I.  No.  3. 

Essays  in  colonial  iinance. 

John  Hopliins  University  Stiidies  in  histor.  and  pol.  science,  ed.  by  ff.  B.  Adams,  XVIII.  .series. 

No.  10,  11,  12:   Taylor  Thom.:  The  struggle  for  religions  freedom  in  Virginia. 

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Kuczmshi:  The  registration  laws  in  the  colonies  of  Massachusets  Bay  and  New  Plymouth. 

Oiornale  degli  EcOnomlsti.   Direzione:    Vit i  de  Marco,   Mazzola,  FantaUotti,   Zorli  1901. 

Jänner:  P-uviani:  Sulla  ragione  dell'  imposta.  —  A.  Bertoline  e  A.  Graziadei:  La  rinnovazione  del 
trattati  di  commercio  e  gli  interessi  della  provincia  di  Bari.  —  Catassah  II  bonificamento  idraulico  dell' 
agro  r.ymano. 

Uivista  interna/.ionaie  di  scienze  sociali  e  discipline  ausiliarie.  Anno  VIII.  Vol.  XXIII.  Fase.  XCI. 

Talamoi  La  schiavitu  nella  civilta  romana  e  secondo  le  dottrine  del  cristianismo.  —  Sahioni:  II 
qnarto  censimento  della  populazione  italiana.   —  Bruno  -.  II  protezionismo  marittimo  in  Francia. 

La  Kiforraa  Sociale.   Direttori:   Fr.   S.  Niitl,  L.  Roux,  L.  Ehuiudi.   Anno   VIII.   Vol.  XL   Fase.  1. 

G.  Ptato:  Gli  Italiani  in  Inghliterra.  —  Presutti:  I  militari  nella  camera  elettiva.  —  Bonaiidi: 
Organisziamoci.  —  Benin:  11  problema  d'estremo  Oriente. 

Rivista  Italiana  dt  Sociologia.  Anno  IV.  Fase.  VI. 

E.  Westermarck:  L'elemento  morale  nelle  consuetudini  e  nelle  leggi.  —  Cicco'ti:  Pace  e  guerra 
nei  poemi  omerici  ed  esiodei.  —  Mazzarella'.  Nnove  ricerche  sulla  condizione  del  niarito  nella  famiglia 
primitiva. 

De  Economist,  fiO.  Jahrgang  1901. 

Jänner:  De  ontworpen  comptabilitettsregelen  van  Minister  Pierson.  Door  P.  ff.  van  der  Kem/>. 
De  Pruisische  wet  von  7  Maart  en  de  Diutscbe  Rijkswet  von  20.  Februari  1898  betrekkelijk  de  ophefflny 
der  ambtelijke  borgstellingen.  Door  P.  ff.  van  der  Ketnp. 


DER 

WIRTSCHAFTLICHE  WERT  DER  WASSERSTRASSEN. 


VON 

PEOP.  A.  OELWEIN, 

K.  K.  OBERHA-URATH. 


Entwicklung  den   Eisenbahnen   und   Wassenstnassen. 

Die  Entwicklung  des  Verkehrs  hängt  zu  einem  sehr  wesentlichen 
Theile  von  der  Höhe  der  Transportkosten  ab,  mit  denen  ein  Gut,  entsprechend 
seinem  Eigenwerte,  vom  Gewinnungsorte  bis  zur  Verbrauchsstelle  oder  bis 
zum  Markte  befördert  werden  kann.  Die  Verbilligung  der  Transportkosten 
für  Rohproducte  verringert  die  Kosten  der  Erzeugung  des  Kunstproducts, 
vermindert  die  Ungunst  weiter  Entfernungen  zwischen  den  J]rzeugungs-, 
Verarbeitungs-  und  Verbrauchsstätten,  erweitert  das  Absatzgebiet  und  erhöht 
dadurch  die  Concurrenzfähigkeit  der  eigenen  Erzeugnisse  auf  fremden  Märkten. 

Dadurch  werden  die  Transportkosten  in  weiterer  Wechselwirkung  auch 
raaassgebend  für  die  Hebung  der  industriellen,  gewerblichen  und  landwirt- 
schaftlichen Thätigkeit;  denn  je  billiger  die  Rohstoffe,  denen  vor  allem 
auch  die  Kohle  zuzurechnen  ist,  verfrachtet  werden,  desto  mehr  fördern  sie 
die  eigene  Industrie,  desto  mehr  stärken  sie  letztere  auch  gegen  den  unver- 
meidlichen Wettbewerb  des  Auslandes. 

Ein  Staat,  der  auf  oder  mit  seinen  Transportmitteln  wesentlich  billigere 
Transportkosten  zu  erstellen  in  der  Lage  ist,  kann  in  seinem  Exporte 
die  Einfuhrzölle  des  Nachbarstaates  ungleich  leichter  ertragen,  während 
auf  den  Einfuhrsartikeln  dieses  Nachbarstaates  neben  dem  Zoll  dann  noch 
die  Differenz  der  Transportkosten  lastet.  Daraus  ergibt  sich  für  letzteren 
auch  eine  wesentlich  ungünstigere  Lage  bei  Abschluss  neuer  Zoll-  und 
Handelsverträge. 

Eisenbahnen  und  Schiffahrt  sind  die  wichtigsten  Transport- 
mittel im  Fr  achten  verkehre  der  Gegenwart.  Das  Eisenbahnnetz  auf  dem 
Festlande  Europas  hat  sich  seit  dem  Bau  der  ersten  Eisenbahnlinie  Nürnberg- 
Fürth  im  Jahre  1835  ununterbrochen  erweitert.  Dank  der  Organisation  in 
der  Verwaltung,  ein  Verdienst  des  seit  mehr  als  50  Jahren  bestehenden 
Vereines  der  deutschen  Eisenbahn- Verwaltungen,  und  der  vorherrschend 
einheitlichen  Type,  konnten  sich  die  Eisenbahnen  zu  einem  zusammen- 
hängenden Netze  über  ganz  Europa  vereinigen.  Da  beim  Baue  und  Betriebe 
derselben  alle  Hilfsmittel  der  Technik  fortgesetzt  Anwendung  fanden,  ist 
auch  die  Leistungsfähigkeit  jeder  Eisenbahn  und  aller  Eisenbahnen  zusammen 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  VervvaUuttK-  X.  Band.  Iß 


234  Oelwein. 

stetig  gewachsen.  Dieses  Eisenbahnnetz  zerfällt  in  Hauptbahnen  und  Local- 
bahnen.  Letztere  dienen  vorwiegend  dem  Localverkehre  und  sind  die  Zufluss- 
arterien zu  ersteren.  In  weiterer  Folge  werden  nur  die  Hauptbahnen  ins 
Calcul  gezogen  werden. 

Der  Verkehr  auf  den  Was  s  er  s  tras  s  en  zerfallt  in  die  Schiffahrt 
auf  natürlichen  Binnengewässern,  die  von  Natur  aus  schiff'bar  oder  lediglich 
durch  Regulierung  erst  schiffbar  geworden  sind,  —  den  ersteren  ist  die 
Schiffahrt  auf  den  Binnenseen  zuzuzählen,  —  dann  in  die  Schiffahrt  auf  den 
künstlichen  Wasserstrassen,  den  canalisierten  Flüssen  und  Schiffahrtscanälen, 
endlich  in  die  Seeschiffahrt.  Letztere  wird  der  Binnenschiffahrt  nicht  mehr 
zugezählt,  wenn  sie  auch  im  Anschlüsse  an  dieselbe  auf  die  Entwicklung 
des  Binnenlandverkehrs  von  sehr  maassgebendem  Einflüsse  ist.  Ich  'verweise 
diesfalls  auf  die  ausgezeichneten  Publikationen  des  Dr.  Alexander  Fee  z^). 

Die  Transportkosten  hängen  sowohl  auf  den  natürlichen  wie  auf  den 
künstlichen  Wasserstrassen  vorwiegend  von  der  Tragfähigkeit,  beziehungs- 
weise von  der  Grösse  und  Tauchtiefe  der  Boote  ab.  Die  Selbstkosten  des 
Transportes  sinken  in  grösserem  Maasse,  als  die  Tragfähigkeit  der  Boote 
zunimmt  (wie  bei  der  Seeschiffahrt).  Die  Tauchtiefe  und  somit  auch  die 
Tragfähigkeit  der  Boote  hängt  aber  bei  der  Flusschiffahrt  noch  von  dem 
Wechsel  der  Wasserstände,  die  Zugkraft  von  den  mehr  oder  weniger  starken 
Gefällen  und  der  Ausgestaltung  der  Fahrrinne  ab.  Der  Wechsel  der  Wasser- 
stände bringt  es  daher  mit  sich,  dass  die  Boote  nicht  immer  die  ganze  Schiff- 
fahrtsdauer hindurch  mit  voller  Ladung,  sondern  oft  nur  mit  halber  und 
drittel  Ladung  verkehren  können.  Durch  fortgesetzte  Regulierung  eines  Flusses, 
namentlich  bei  Concentrierung  der  Niedrigwässer  erhöht  man  die  Tauchtiefe 
zur  Zeit  der  ungünstigen  Wasserstände,  daher  auch  die  Leistungsfähigkeit 
-der  Schiffahrt.  Die  Canalisierung  eines  Flusslaufes  erhöht  durch  künstlichen 
Aufstau  die  Tauchtiefe,  und  solcherart  können  auch  gar  nicht  oder  nur 
in  geringem  Maasse  schiffbare  Flüsse  in  gut  schiffbare  Wasserstrassen 
umgewandelt  werden.  Gegenwärtig  ist  auch  bei  uns  eine  Canalisierung  der 
Moldau  von  Prag  bis  Melnik  und  der  Elbe  von  Melnik  bis  Aussig  in 
Ausführung,  in  Zukunft  wird  die  Canalisierung  der  Moldau  von  Prag  bis 
Budweis  und  der  mittleren  Elbe  von  Melnik  bis  Pardubitz  beabsichtigt. 
Immerhin  sind  auch  die  canalisierten  Flussläufe  ebenso  den  Wirkungen  der 
Hochwässer  und  bei  starker  Geschiebeführung  und  grossen  Gefällen  der 
fortgesetzten  Veränderung  des  Flusschlauches  ausgesetzt,  wie  die  natürlichen 
Flüsse  und  Ströme.  Das  Ideal  einer  schiffbaren  Wasserstrasse  bleibt  stets 
der  Schiffahrtscanal,  der  bei  genügender  Wasserversorgung  stets  die  gleiche 
W.assertiefe   bietet  und  unabhängig  ist  von  den  Zufällen  der  Hochwässer 

*)  Der  wirtschaftliche  Wert  der  Binnenwasserstrassen,  Wien,  1886.  Er  sagt  darin: 
Ein  schiffbarer  Fluss  oder  Canal,  sofern  er  mit  der  See  in  Verbindung  steht,  gewährt 
eine  gewisse  Unabhängigkeit,  denn  die  Hochstrasse  des  Handels  bleibt  immer  das 
Weltmeer,  dessen  Schienen  überall  liegen,  wo  Salzwasser  ist,  und  deren  Bahnhöfe  überall 
stehen,  wo  Ebbe  und  Fluth  an  ein  Ufer  schlagen.  Wohlfeile  Circulation  der  Eohstoffe, 
die  Hauptwaffe  im  Concurrenzkampfe  der  Zukunft,  wird  für  den  Continent  nur  durch 
Wühlorgaiiisiertes  Zusammenwirken  zwischen  Eisenbahn  und  Wasserstrasse  zu  erlangen  sein. 


Der  wirtschaftliche  Wert  der  Wasserstrassen.  '235 

und    den    mit   letzteren    in    Zusammenliang    stehenden   Verändernngen    des 
Canalgerinnes. 

Die  Schiffahrt  auf  den  Flüssen  ist  so  alt,  wie  die  Cultur  der  Mensch- 
heit. In  China  und  Aegypten  wurden  schon  vor  Jahrtausenden  auch  schiffbare 
Canäle  gebaut.  In  Europa  begann  der  Canalbau  im  15.  Jahrhundert,  und 
die  Erfindung  der  Kammerschleuse  ermöglichte  es,  solche  Schiffahrts- 
canäle  auch  über  Wasserscheiden  hinweg  zur  Verbindung  von  getrennt- 
liegenden Flussgebieten  herzustellen.  Die  wichtigste  Voraussetzung  solcher 
Scheitelcanäle  war  die  genügende  Versorgung  der  Scheitelstrecke  mit  der 
vom  Gefälle  der  Schleusen  und  der  Grösse  des  Verkehrs 
abhängigen  Betriebswassermenge. 

Jede  Transportart  ist  dann  lohnend,  wenn  sie  bei  genügender  Leistungs- 
fähigkeit billiger  zu  befördern  vermag,  als  die  andern  mit  ihm  concurrierenden 
Transportmittel.  Vor  den  Eisenbahnen  gab  es  nur  eine  Concurrenz  zwischen 
Wasserstrassen  und  Landstrassen:  der  Umsatz  der  Güter  war  aber  damals 
ein  wesentlich  geringerer,  die  Handelsgüter  waren  meist  wertvolle  Industrie- 
erzeugnisse; Koh-  und  Massengüter  kamen  auf  grössere  Distanzen  gar  nicht 
in  Bewegung.  Für  einen  lohnenden  Schiffahrtsverkehr  genügten  schon  Boote 
von  20  bis  40  Tonnen  Tragkraft  mit  geringer  Tauchtiefe,  und  deshalb  war 
die  Binnenschiffahrt  damals  wesentlich  ausgebreiteter,  denn  sie  war  auch 
auf  Flüssen,  wie  der  Inn,  die  Salza,  die  Traun,  die  Moldau,  March  etc. 
in  Concurrenz  mit  dem  wesentlich  kostspieligeren  und  weniger  leistungsfähigen 
Strassentransporte  noch  lohnend.  Damals  vermittelte  auch  noch  unsere  Donau 
den  ganzen  Verkehr  vom  Westen  Europas  mit  der  Levante  und  vice  versa. 

Der  grösste  Theil  der  bis  zur  Aera  der  Eisenbahnen  erbauten  Canäle 
war  meist  nur  dem  localen  Bedürfnis  angepasst,  und  so  war  auch  von  einer 
einheitlichen  Type  im  Canalbau  keine  Rede.  Frankreich,  England,  Belgien, 
Holland,  Preussen  und  Russland  hatten  im  Anfange  des  verflossenen  Jahr- 
hunderts im  Anschluss  an  ihre  natürlichen  Wasserstrassen  und  an  die 
Seeschiffahrt  schon  ein  sehr  ausgedehntes  Netz  künstlicher  Wasserstrassen 
und  erstere  Staaten  verdankten  diesen  Wasserwegen  ihren  Wohlstand  und 
ihren  Rang  als  Industrie-  und  Handelsstaaten.  Die  Bibliothek  der  Stadt 
Wien  besitzt  noch  die  Pläne  für  ein  von  einem  belgischen  Ingenieur- Officier 
Maire  wahrscheinlich  im  Auftrage  des  Kaisers  Josef  II,  verfasstes  und 
grossgedachtes  Canalnetz,  das  den  Rhein  mit  der  Donau,  die  Donau  mit 
der  Oder,  Moldau  und  der  Theiss,  letztere  mit  dem  Poprad,  die  Save  mit 
der  Adria  etc.  verbinden  sollte.  Wäre  dieses  Project  für  Boote  von  etwa 
40  Tonnen  Tragvermögen  zur  Ausführung  gekommen,  so  hätte  sich 
Oesterreich-Ungarn  mit  Rücksicht  auf  seinen  Reichthum  an  Rohstoffen  und 
Bodenproducten  wahrscheinlich  als  mitteleuropäischer  Industrie-  und  Handels- 
staat mächtig  entwickelt. 

Die  Transportkosten  auf  der  damaligen  Schiffahrt  mögen  per  Tonne 
und  Kilometer  im  heutigen  Werte  etwa  im  Mittel  aller  Fracht  zwischen 
4  bis  10  Kreuzer  geschwankt  haben.  Bei  dem  damaligen  Zustande  der 
Flüsse  und  Ströme  und  bei  der  ausschliesslichen  Verwendung  der  thierischen 

16* 


236  Oelweiii. 

Zugkraft  hatte  die  Schiffahrt  in  der  Fahrt  mit  grossen  Schwierigkeiten  zu 
kämpfen.  Die  Beförderung  der  Fracht  war  eine  sehr  langsame,  von  einer 
bestimmten  Lieferfrist  sicher  keine  Kede.  Auf  den  deutschen  Flüssen  mit 
Ausnahme  des  Rhein  war  die  Schiffahrt  noch  mit  sehr  hohen  Schiffahrts- 
zöllen belastet,   die  erst  im  Jahre  1866  zur  Gänze  aufgehoben  wurden. 

Mit  der  Einführung  der  Eisenbahnen  erwuchs  der  Schiffahrt  ein  sehr 
wirksamer  Concurrent.  Der  geregelte  und  ununterbrochene  Betrieb  bot  den 
Vortheil  bestimmter  Lieferfristen.  Die  Beförderung  der  Fracht  war  eine 
raschere.  Die  Schiffahrt  war  dann  nur  mehr  in  jenen  Strecken  concurrenz- 
fähig,  wo  sie  noch  wesentlich  billiger  befördern  konnte  wie  die  Eisenbahnen, 
also  auf  den  grossen  Flüssen  und  Strömen,  wo  durch  fortgesetzte  Regulierungs- 
arbeiten auch  die  Schiffahrtsverhältnisse  fortgesetzt  gebessert  wurden,  wie 
am  Rhein,  der  Elbe  u.  s.  w.  Die  Schiffahrt  auf  den  vielen  kleinen  Flüssen 
hörte  ganz  auf,  jene  auf  den  geringdimensionierten  und  daher  wenig  leistungs- 
fähigen Canälen  beschränkte  sich  vorwiegend  auf  den  Localverkehr. 

Damals  waren   aber   auch    die   Transportkosten    auf  den  Eisenbahnen 
noch  wesentlich  höhere.  So  betrug  die  mittlere  Einnahme  aus  dem  Frachten- 
verkehr per  Tonne-Kilometer  auf  der  Kaiser  Ferdinand-Nordbahn: 
im  Jahre'  1850  etwa  6'00     kr. 

,       „      1860      ,     4-24      , 

„       ,      1865      „     3-69      , 
gegen  1898      ,     1-505     „ 

Mit  der  Entwicklung  der  Industrie  und  des  Handels  und  der  wachsenden 
Tendenz,  entferntere  Märkte  aufzusuchen  und  den  Export  zu  fördern,  wurde 
auch  allenthalben  die  Forderung  nach  Herabsetzung  der  Eisenbahntarife 
rege.  In  diesem  dann  folgenden  Kampfe  um  die  Verbilligung  der  Transport- 
kosten auf  den  Eisenbahnen,  die  damals  grösstentheils  Privatbahnen  waren, 
hatte  man  sich  wieder  der  vernachlässigten  Wasserstrassen  erinnert  und 
die  denselben  innewohnenden  Eigenschaften  studiert,  —  wie  die  ungleich 
geringeren  Widerstände  in  der  Bewegung  auf  Canälen,  daher  bei  gleicher 
Last  die  wesentlich  geringere  Zugkraft,  die  Möglichkeit,  an  jedem  Punkte  der 
Wasserstrasse  zu  laden  und  zu  löschen,  geringere  todte  Last  etc.;  man  erkannte, 
dass  sich  bei  entsprechender  Regulierung  der  schiffbaren  Flüsse,  bei 
Schaffung  des  grösstmöglichen  Tiefganges  der  Boote  —  bei  Steigerung  der 
Tragkraft  der  Boote,  daher  Anwendung  einer  grösseren  Wassertiefe  und 
grösserer  Type  für  die  Schleusen  und  Canalgerinne  —  bei  Anwendung  der 
Dampfkraft  als  Zugkraft,  Ausrüstung  der  Häfen  etc.,  in  der  That  die  Selbst- 
kosten der  Beförderung  auf  diesen  Wasserstrassen  wesentlich  billiger  stellen 
können,  als  auf  den  Eisenbahnen,  und  dass  die  Nachtheile  des  Wassertransports 
bei  Verfrachtung  von  Roh-  und  Massenproducten  durch  die  ungleich  billigeren 
Transportkosten  auf  den  Wasserstrassen  weitaus  aufgewogen  werden. 

Die  dann  folgenden  Maassnahmen  habe  ich  seinerzeit  in  zwei  Vorträgen^) 
näher  behandelt.  In  England,  wo  die  meisten  Canäle  für  eine  Tragfähigkeit 

^)  Ausbau  der  Wasserstrassen  in  Mitteleuropa  von  A.  Oelwein,  Voiträge  im 
österreichischen  Ingenieur-  und  Architektenvereiu  am  6.  December  1881  und  31.  Jänner  1882. 


Der  wirtschaftliche  Wert  der  Wasserstrassen.  237 

der  Boate  von  30  bis  70  Tonnen  erbaut  waren,  begnügte  man  sich  vornehmlich 
mit  einer  Vertiefung  der  Canäle,  Einführung  der  Dampfkraft  und  mit 
Verbesserungen  im  Betriebe,  Anlage  und  Ausrüstung  der  Häfen,  mechanischen 
Einrichtungen  für  die  Umladung,  Anlage  von  mechanischen  Hebewerken  etc. 
Dort  befinden  sich  die  Canäle  ebenso  wie  die  Eisenbahnen  in  den  Händen 
von  Privatgesellschaften.  In  Belgien  und  Kussland,  wo  die  Canäle 
Staatseigenthum  sind,  entschied  man  sich  schon  beim  Neubau  und  Umbau 
für  Bautypen,  die  den  Transport  von  Booten  mit  340  bis  400  Tonnen  Trag- 
fähigkeit ermöglichen.  In  Frankreich  begann  man  erst  nach  dem 
Jahre  1872  mit  dem  Umbau  der  Canäle  und  dem  Ausbaue  des  Wasser- 
strassennetzes  und  wurde  für  die  Hauptcanäle  im  Zuge  des  grossen  Verkehrs 
mit  Rücksicht  auf  die  schon  bei  vielen  Canälen^)  vorhandene  Type  eine 
Normaltype  für  Boote  von  240  Tonnen  Tragfähigkeit  festgesetzt.  In  Frank- 
reich sind  alle  Wasserstrassen  mit  Ausnahme  des  Canal  du  Midi  Eigenthum 
des  Staates.  In  Deutschland  waren  alle  Wasserstrassen  bis  auf  sehr 
geringe  Strecken  Eigenthum  des  Staates.  Bei  den  alten  Canälen  bewegte 
sich  die  Tragfähigkeit  der  Boote  zwischen  80  und  200  Tonnen.  Die  Agitation 
für  den  Ausbau  eines  deutschen  Wasserstrassennetzes  datiert  schon  vom 
Jahre  1875.  Die  preussische  Regierung  entschloss  sich  aber  erst  nach  dem 
Jahre  1880  zu  einer  durchgreifenden  Action  mit  dem  Hinweis  auf  den 
Ausbau  des  französischen  Wasserstrassennetzes,  und  zwar  nach  der  Verstaat- 
lichung der  Privatbahnen.  Sie  entschloss  sich  dann  aber  im  Jahre  1886 
beim  Dortmund  -  Ems  -  Canal  für  eine  Schleusentype  von  68  m  Länge  und 
8*6  m  Breite  bei  einer  Wassertiefe  im  Canal  von  2-2  m,  die  weit  über  alle 
in  den  anderen  Staaten  zur  Ausführung  gelangten  Schleusen-  und  Canal- 
dimensionen  hinausgieng  und  eine  Tragfähigkeit  der  Boote  von  600  Tonnen 
zuliess,  von  der  sehr  richtigen  Ansicht  ausgehend,  dass  diese  künstlichen 
Wasserstrassen  dann  auch  den  Zweck  erfüllen  würden,  noch  billiger  zu 
transportieren,  wie  jene  in  den  andern  Staaten.^)  Diese  Ausmaasse  wurden 
dann  als  Minimaltype  bei  dem  Umbau  und  Neubau  der  Ca-näle  im  Zuge  des 
grossen  Verkehrs  beibehalten,  und  nur  an  der  canalisierten  Oder  und  am 
Oder-Spree-Canal  wurden  vorläufig  und  mit  Rücksicht  auf  den  vorhandenen 
Bootspark  kürzere  Schleusen  für  Boote  von  400  Tonnen  Tragvermögen  aus- 
geführt, die  jederzeit  mit  geringen  Mitteln  verlängert  werden  können.  Auch  in 
der  neuesten  Canalvorlage  wurde  diese  Type  als  Minimalausmaass  beibehalten. 
In  Deutschland  hat  man  übrigens  schon  früher  grosse  Geldmittel  für 
die  Regulierung  der  schiffbaren  Flüsse  und  Ströme  und  für  die  Verbesserung 

*)  1872:  4753  Kilometer  Canäle  und  3323  Kilometer  canalisierter  Flüsse. 

2)  Minister  v.  Thielen  bei  der  ersten  Lesung  der  letzten  Canalvorlage  im 
preussischen  Landtage:  „Man  hält  uns  Canalländer  wie  Frankreich  und  Amerika  entgegen. 
Frankreich  hat  sich  in  der  Wahl  der  Construction  seiner  Canäle  vergriffen,  es  hat  viel  zu 
enge  Canäle  gebaut  und  infolge  der  geringen  Dimensionen  und  auch  der  ungünstigen 
Bodengestaltung  viel  zu  viele  Schleusen  nöthig  gehabt.  Amerika  hat  zum  grossen  Theil 
dieselben  Fehler  gemacht.  Gleichwohl  tritt  auch  in  Amerika  die  Ansicht  in  den  Vorder- 
grund, dass  mit  den  Schienen  allein  nichts  zu  machen  ist,  und  zum  Canalbau  zurück- 
gekehrt werden  müsse." 


238 


Oelwein. 


der  Scliiffahrtsverliältnisse  auf  denselben  verwendet.  So  wurden  für  den  Khein 
im  Laufe  von  70  Jahren  bei  400  Millionen  Mark  von  den  Uferstaaten  ausgegeben. 
Die  Schiffahrt  auf  den  deutschen  Strömen  ist  jetzt  durch  Staatsverträge 
ebenso  wie  jene  auf  der  Donau  abgabenfrei.  Das  französische  Parlament  hat 
im  Jahre  1884  diese  Abgabenfreiheit  auch  auf  die  Canäle  und  canalisierten 
Flüsse  ausgedehnt,  und  sollen  dieselben  den  Staatsstrassen  gleich  der  freien 
Benützung  dienen.  Dagegen  wurde  wiederholt  der  Einwurf  einer  ungerechten 
Bevorzugung  der  Binnenschiffahrt  erhoben,  weil  die  Eisenbahnen  aus  ihren 
Einnahmen  auch  das  in  ihnen  investierte  Anlagecapital  verzinsen  und  tilgen 
müssen.  In  Deutschland  bestand  früher  das  gleiche  System;  Finanzminister 
v.  Miquel  hob  jedoch  diese  Abgabenfreiheit  auf  den  neuerbauten  künstlichen 
Wasserstrassen  auf,  rangierte  dieselben  somit  e"benso  als  productive  Veikehrs- 
anlagen  wie  die  Eisenbahnen.  Bei  der  neuesten  Canalvorlage  ist  eine  Schiffahrts- 
abgabe für  Verzinsung  und  Tilgung  des  Anlagecapitals,  dann  zur  Deckung 
der  Erhaltungs-  und  Verwaltungskosten  im  Mittel  der  Fracht  per  Tonne- 
Kilometer  bei  den  Canälen  mit  0"360  kr.,  bei  den  canalisierten  Flüssen  mit 
O'ISO  kr.  vorgesehen. 

Güterverkehr  auf  den   Binnenwasserstrassen  und   Eisenbahnen. 
Ich    benütze    die  Verkehrsstatistik   Frankreichs^),  Deutschlands^)   und 
Oesterreich-Ungarns^),  um  die  Entwicklung  des  Wasserstrassen-  und  Eisen- 
bahnverkehrs in  diesen  Ländern  vergleichen  zu  können. 

Güterverkehr  Frankreichs  1875  bis  1895. 


Jahr 


1875 
1885 
189  Ü 


1875 
1885 
1895 


Länge 

in 

Kilometer 


Zunahme 

der  Länge 

gegen 

1875  in 

Proc. 


Güterverkehr 


m 

1,000.000 

Tonnen 


in 
1,000.000 
Tonnen- 
Kilometer 


Zu- 
nahme 
gegen 
1875  in 
Proc. 


Kilo- 
meterver- 
kehr in 
Tonnen 


Zu- 
nahme 
gegen 
1875  in 
Proc. 


Mittlere 
Transport- 
länge in 
Kilometer 


Ä.  Auf  den  Binnenwasserstrassen 


12.000 



15-7 

1.960 

. 

163.000 



12.400 

3 

19-5 

2.450 

25 

198.000 

21 

12.300 

3 

27-2 

3.770 

92 

307.000 

'88 

125 
126 
139 


B.  Auf  den  Eisenbahnen 


19.800 



589 

7.360 



372.000 



29.800 

51 

771 

9.790 

33 

328.000 

—  12 

36.300 

83 

105-1 

12.980 

76 

356.000 

—  4 

125 
127 
124 


*)  Album  de  Statistique  Graphique,  Paris,  1895—96. 

2)  Sympher,  Die  wirtschaftliche  Bedeutung  des  Rhein-Elbe-Canals,  Berlin,  Siemen- 
roth  und  Troschel  1899. 

3j  Schromm,  Wasserstrassenverkehr  Oesterreichs,  1892.  Bericht  am  internationalen 
Schiffahrtscongress  in  Paris.  Dann:  Statistische  Nachrichten  des  Vereines  deutscher 
Eisenbahn  -Verwaltungen. 


Der  wirtschaftliche  Wert  der  Wasserstrassen. 


239 


Das  Netz  der  französischen  Wasserstrassen  hat  sich  in  Summa  nicht 
wesentlich  vermehrt,  dagegen  ist  der  Verkehr  auf  vielen  nicht  leistungsfähigen 
Wasserstrassen  aufgelassen  worden,  während  neue  Wasserstrassen  erbaut  und 
ältere  im  Zuge  des  grossen  Verkehrs  umgebaut  und  erweitert  wurden. 

Der  Wasserverkehr  ist  binnen  20  Jahren  um  92  Proc,  der  Eisenbahn- 
verkehr nur  um  76  Proc.  gestiegen.  Der  Antheil  des  Wasserstrassenverkehrs 
am  Gesammtgüterverkehr  (16.750  Millionen  Tonnen-Kilometer)  betrug  im 
Jahre  1895  rund  22  Proc.  Dagegen  war  der  kilometrische  Verkehr  auf  den 
Wasserstrassen  geringer,  als  jener  auf  den  Eisenbahnen,  während  die  mittlere 
Transportlänge  der  beförderten  Fracht  auf  den  Wasserstrassen  und  Eisen- 
bahnen wenig  differierte. 

Die  grosse  Steigerung  des  Wasserverkehrs  datiert  erst  vom  Jahre  1885 
und  ist  vorwiegend  eine  Folge  der  einheitlichen  Gestaltung  des  Wasser- 
strassennetzes  im  Zuge  des  grossen  Verkehrs. 


Güterverkehr  Deutschlands  1875  bis  1895. 


Jahr 


Länge 

in 

Kilometer 


Zunahme 

der  Länge 

gegen 

1875  in 

Proc. 


Güterverkehr 


in 

1.000.000 
Tonnen 


1.000.000 
Tonnen- 
Kilometer 


Zu- 
nahme 
gegen 
1875  in 
Proc. 


Kilo- 

raeterver- 

kehr  in 

Tonnen 


Zu- 
nahme 
gegen 
1875  in 
Proc. 


Mittlere 
Transport- 
länge in 
Kilometer 


A.  Auf  den  Binnenwasserstrassen 


1875 
1885 
1895 


10.000 
10.000 
10.000 


20-8 
27-6 
467 


2.900 
4.800 
7.500 


66 
159 


290.000 
480.000 
750.000 


66 
159 


280 
350 
320 


JB.  Auf  den  Eisenhahnen 


1875 
1885 
1895 


26.500 
37.000 
44.800 


40 
69 


167-0 

2000 
331-0 


10.900 
16.600 
26.500 


52 
143 


410.000 
450.000 
590.000 


10 
44 


125 
166 
160 


Auch  in  Deutschland  hat  sich  in  dieser  Zeit  das  Wasserstrassennetz 
in  Summa  aus  gleichen  Gründen  nicht  vermehrt,  doch  ist  es  durch  Umgestaltung 
in  moderne  leistungsfähige  Verkehrswege  wesentlich  leistungsfähiger  geworden. 

Die  Keichsstatistik  gibt  den  Bestand  der  deutschen  Binnenwasserstrassen 
für  Ende  1894  an: 

freie  Flussläufe 9.091-79  km, 

canalisierte  Flüsse 2.184"15    „ 

Canäle .    2!237-64    „_ 

Summa     13.513-58  km 
Von  den  freien  Flussläufen  sind  nur  etwa  5.600  Kilometer  schiffbar. 

Der  Antheil  des  Wasserstrassenverkehrs  am  Gesammtgüterverkehr 
(34.000   Millionen    Tonnen  -  Kilometer)    betrug   im    Jahre    1895    auch    nur 


240 


Oelwein. 


22  Proc,  doch  war  der  Gesammtgüterverkehr  49  Proc.  und  der  Wasser- 
strassenverkehr  50  Proc.  grösser  als  in  Frankreich.  Der  Wasserstrassen- 
verkehr  ist  in  der  Zeit  von  20  Jahren  uni  159  Proc.  (92  Proc.  in  Frank- 
reich), der  Eisenbahnverkehr  um  143  Proc.  (76  Proc.  in  Frankreich)  gestiegen. 

Während  der  kilometrische  Verkehr  (Umlauf)  auf  den  Wasserstrassen 
Frankreichs  geringer  war  wie  auf  den  Eisenbahnen  (307.000  Tonnen  gegen 
356.000  Tonnen),  stieg  er  auf  den  deutschen  Wasserstrassen  bis  auf 
750.000  Tonnen  gegen  590.000  Tonnen  auf  den  Eisenbahnen  und  die  mittlere 
Transportlänge  auf  320  Kilometer  gegen  160  Kilometer  auf  den  Eisenbahnen, 
ein  Beweis,  dass  hier  die  Wasserstrassen  (Rhein,  Elbe)  von  der  Güterfracht 
auf  eine  ungleich  grössere  Transportdistanz  benützt  werden.  Dieser  Umstand 
charakterisiert  überhaupt  den  deutschen  Wasserstrassenverkehr. 

Vom  Jahre  1875  bis  1895  stieg  der  Verkehr  auf  der  Oder  von  154 
auf  634  Millionen  Tonnen-Kilometer,  auf  der  Elbe  von  435  auf  1952  Millionen 
Tonnen-Kilometer,  auf  dem  Rhein  von  882  auf  3030  Millionen  Tonnen- 
Kilometer.  Den  stärksten  kilometrischen  Jahresverkehr  wies  im  Jahre  1895 
der  Rhein  von  Köln  bis  Emmerich  mit  durchschnittlich  8,000.000  Tonnen 
aus.  Derselbe  wird  von  keinem  Binnenwasserwege  Europas  und  nur  noch  auf 
den  grossen  Seen  Noidamerikas  übertroffen. 

Die  volle  Wirkung  des  Umbaues  und  Ausbaues  des  deutschen  Wasser- 
strassennetzes  auf  moderner  Grundlage  drückt  sich  vollends  in  den  Verkehrs- 
ziffern der  nächsten  Jahre  aus,  die  für  die  Periode  von  1895  bis  1898 ') 
vorliegen. 

Frachtenverkehr   Deutschlands   1895  bis  1898. 


Jalir 


Verkehr  in 

1,000.000  Tonnen- 

Kiloineter 


Zunalime 

gegen  1895 

in  Proc. 


Zunahme 

gegen  1875 
in  Proc. 


A.  Auf  den  Binnenwasserstrassen. 


1895 
1898 


7.500 
10.700 


43 


270 


B.  Auf  den  Eisenbahnen. 


1895 

1898 


26.500 
32.600 


200 


Vom  Jahre  1875  bis  1895  betrug  die  Steigerung  des  Frachten- 
verkehrs im  Mittel  per  anno: 

beim  Wasserstrassenverkehr 800  Proc. 

-     Eisenbahnverkehr      7-16 


^)  Gesetzvorlage  der  preussischen  Regierung^  1901,  betreffend  die  Herstellung  und 
den  Ausbau  von  Canälen  und  Flussläufen  im  Interesse  des  Schiffahrtsverkehrs  und  der 
Landcscultnr. 


% 


Der  wirtschaftliche  Wert  der  Wasserstrassen. 


241 


Dagegen  von  1895  bis  1898  im  Mittel  per  anno: 

beim  Wasserstrassenverkehr 14"33  Proc. 

„     Eisenbahnverkehr 7-67      „ 

Aus  den  vorgenannten  Ziffern  muss  gefolgert  werden,  dass  selbst  zur  Zeit, 
als  der  Wasserstrassenverkehr  die  doppelte  Jahreszunahme  von  jener  der  Eisen- 
bahnen auswies,  der  Verkehr  auf  den  Eisenbahnen  gegen  die  vorangegangene 
Periode  von  1875  bis  1895  nicht  nur  nicht  abnahm,  sondern  ebenfalls  zunahm. 

Im  Jahre  1877  war  der  Bestand  der  deutschen  Binnenschiffahrt  570  Dampf- 
boote mit  31.000  Tonnen  Tragfähigkeit  und  17.083  Segler  und  Schleppfahrzeuge 
mit  1,350.000  Tonnen  Tragfähigkeit;  dagegen  im  Jahre  1897  1953  Dampfschiffe 
mit  104.000  Tonnen  Tragfähigkeit  und  20.611  Schleppfahrzeuge  und  Segler 
mit  3,270.000  Tonnen  Tragfähigkeit.  Die  Zahl  und  Tragfähigkeit  der  Dampfer 
haben  sich  also  in  20  Jahren  verdreifacht,  während  die  Zahl  der  Güterfahrzeuge 
sich  nur  um  21  Proc,  deren  Tragfähigkeit  aber  um  142  Proc.  vermelirt  hat. 

Der  Antheil  des  Wasserstrassenverkehrs  am  Gesammtfrachten- 
verkehre  ist  binnen  diesen  drei  Jahren  von   22  auf  25  Proc.  gestiegen. 

Eisenbahn-Frachtenverkehr  in  Deutschland  und 
Oesterreich-Ungarn  1878  bis  1898. 


Jahr 


Länge 
in  Kilometer 


Verkehr  in 
1,000.000  Tonnen- 
Kilometer 


.sc*« 

O 


Zunahme 

des  Verkehrs 

in  Proc. 


Kilometer- 
Verkehr 
in  Tonnen 


5^5 


Zunahme 
des  Kilometer- 
Verkehrs  in 
Proc. 


1878 
1888 
1898 


30.269 
39.169 
46.879 


17.097 
24.299 
32.772 


11.497 
20.203 
30.706 


4.937 

8.540 

13.535 


76 
167 


73 
174 


369.575 
517.260 
656.569 


276.899 
351.199 
435.139 


47 

77 


27 
56 


Der  Frachtenverkehr  auf  den  Eisenbahnen  ist  in  Deutschland  und 
Oesterreich-Ungarn  innerhalb  dieser  20  Jahre  fast  im  gleichen  Tempo  gestiegen, 
die  kilometrische  Verkehrsdichte  (Umlauf)  auf  den  deutschen  Eisenbahnen  war 
allerdings  im  Jahre  1878  um  33  Proc,  im  Jahre  1898  um  50  Proc.  grösser 
als  auf  den  österreichisch-ungarischen  Eisenbahnen,  ein  neuerlicher  Beweis, 
dass  der  fortgesetzt  steigende  Wasserstrassenverkehr  durch  die  Hebung  des 
Gesammtverkehrs   den  Eisenbahnverkehr  eher  befruchtete  als  schädigte. 

Mit  Bedauern  muss  constatiert  werden,  dass  eine  Wasserverkehrs- 
Statistik,  aus  der  für  die  einzelnen  Flussgebiete  und  in  Summa  der  Verkehr 
in  Tonnen  und  in  Tonnen-Kilometer  entnommen  werden  könnte,  bei  uns  nicht 
geführt  wird,  die  analogen  Vergleiche  zwischen  Wasser-  und  Eisenbahnverkehr 
und  die  Angaben  über  den  Umfang  und  die  Bewegung  dieses  Wasserverkehrs 
nicht  gegeben  werden  können.  Nur  die  k.  k.  Statthalterei  in  Prag  gibt  alljährlich 


242 


Oelwein. 


statistisch  correcte  Ausweise  über  den  Elbe-  und  Moldau  verkehr,   die  dann 
auch   in    der   Zeitschrift   des    österreichischen  Ingenieur-   und  Architekten- 
vereines ^)  jeweilig  veröffentlicht  werden.  Dieser  Elbeverkehr  trifft  Oesterreich, 
nur  von  Melnik  bis  zur  Grenze  auf  eine  Länge  von  109  Kilometer. 

Die  Länge  der  flossbaren  und  schiffbaren  Wasserstrassen  in  Oesterreich 
beträgt  rund  6800  Kilometer. 
Von  denselben  sind: 

mit  Booten  befahren 2.926  hm 

von  Dampfschiffen  befahren 1.138    „ 

Hievon  entfallen: 

auf  die  Binnenseen 211  /cm 

,      „     Donau 360    „ 

.      .     Elbe 109    „ 

„      «     Weichsel 300    „ 

lieber  die  Leistungsfähigkeit  dieser  Schiffahrt  ist  in  der  Geschichte 
der  österreichischen  Land-  und  Forstwirtschaft  und  ihrer  Industrien  1848 
bis  1898^)  ein  Ausweis  gegeben  worden. 

Die  folgenden  Ziffern  über  den  Verkehr  in  Tonnen  auf  der  Elbe  und 
aus  den  Jahresberichten  der  Donaudampfschiffahrts-Gesellschaft  (2862  Kilo- 
meter) dienen  einigermaassen  zur  Information  über  die  Entwicklung  dieser 
Schiffahrt. 

Verkehr   in   Tonnen. 


Elbe-Grenzverkehr 


1847 
1852 
1857 
1862 
1867 
1872 
1877 
1882 
1887 
1892 
1897 
1899 
1900 


136.800 

532.300 

844.700 

962.900 

1,014.600 

1,888.800 

1,341.900 

1,693.700 

2,105.600 

2,943.100 

3,576.300 

3,769.400 

3,135.800 


Donau- 

D  atn  p  f s  ch  i  ffah  rts  ■ 

Gesellschaft 


117.600 

314.800 

512.200 

871.700 

1,187.700 

1,150.000 

1,271.000 

1,674.900 

1,709.600 

1,830.400 

2,000.800 

1.797.300 

2,011.600 


0  Verkehr  1895  bis  1899  in  Nr.  41  der  Zeitschiift  des  österreichischen  Ingenieur- 
und  Architektenvereines.  1901. 

2j  Herausgegeben  zur  Feier  des  Eegierungs-Jubiläums  Sr.  Majestät  des  Kaisers, 
Wien,  1899,  Moritz  Perles. 


Der  wirtschaftliche  Wert  der  Wasserstrassen. 


243 


Die  Abnahme  des  Elbeverkehrs  im  Jahre  1900  ist  auf  den  Kohlen- 
stiike  in  Böhmen  zurückzuführen. 

Der  deutsch-österreichische  Grenzverkehr  der  Donau  betrug  im  Jahre 
1896  nur  291.400  Tonnen. 

Der  Verkehr  im  Stromgebiete  des  Rheins  betrug  1898  14,737.481  Tonnen. 
Unserer  Donau  mangelt  aber  die  Verbindung  mit  dem  deutschen  Wasser- 
strassennetze  und  den  Häfen  der  Nord-  und  Ostsee,  um  sich  zu  einem 
grossen  Verkehre  aufzuschwingen. 

Der  Schiffahrts - Gewerbeinspector,  Hofrath  A.  Schromm,  hat  für 
den  internationalen  Binnenschiffahrts  Congress  in  Paris,  1892,  durch  directe 
Erhebungen  eine  Zusammenstellung  des  Binnenwasserverkehrs  in  Oesterreich 
für  das  Jahr  1890  durchgeführt,  jedoch  nur  für  die  wichtigsten  Strecken 
in  der  Länge  von  1656  Kilometer.^)  Allerdings  dürfte  dies  nahezu  der 
ganze  Wasserverkehr  sein. 

Im  Jahre  1890  war  der  Frachten  verkehr  der  österreichischen  Eisen- 
bahnen, approximativ  ermittelt,  in  Millionen  Tonnen-Kilometer     .    .    6.380 

der  Wasserverkehr  in  Millionen  Tonnen-Kilometer 446 

Der  Gesammtfrachtenverkehr  in  Millionen  Tonnen-Kilometer  ....    6.826 

Der  Antheil  des  Wasserstrassen  Verkehrs  am  Gesammt- 
verkehre  beträgt  somit  in  Oesterreich  im  Jahre  1890  6-5  Proc,,  ist  jedoch 
seither  bei  der  ungleich  grösseren  Steigerung  des  Eisenbahnverkehrs  wesent- 
lich gesunken. 


»)  Siehe  nachfolgende  Tabelle  für  1890. 


Verkehrsgebiet 


Länge 

in 

Kilometer 


Güterverkehr 


Tonnen 


Tonnen- 
Kilometer 


Durchschnitts- 
Transportkosten 
per  Tonnen- 
Kilometer  in 
Kreuzern 


r  Inn  .  . 
Donau  mit  l  Traun    . 

l  Enns  . 
Elbe  mit  Moldau  .    .    . 

{Przemza 
Dunajec 
San  .  . 
Aussa  . 
Zermagna 
Kerka  . 
Narenta 


Küstenflüsse 


Binnenseen 


Summa  . 


3510 


4110 


>      66-5 


2108 
1.656-3 


3,658.611 


160.750 


20.758 


224.491 

5,238.005 


231,140.374 

196,070.922 
10,564.586 

385.168 

8,337.131 
446,498.181 


0-725 
0-385 
1-050 


0-737 


0-584 


244 


Oelwein. 


Transportkosten   auf  den    Eisenbahnen    und   auf  den   Binnen- 

Wassenstrassen. 

Mit  der  fortschreitenden  Entwicklung  der  Industrie  und  des  Handels 
und  der  zunehmenden  Concurrenz  am  europäischen  Markte  mussten  die 
Tarife  der  Eisenbahnen  auch  fortgesetzt  sinken.  Diese  Verbilligung  der 
Eisenbahntarife  stand  nicht  etwa  im  freien  Belieben  der  Eisenbahnen,  sondern 
war  eine  nothwendige  Folge  der  Wirtschafts-  und  Verkehrspolitik  der  Staaten. 
Die  Transportkosten  überhaupt  sind  eben  auch  ein  Object  der  Concurrenz 
geworden.  Der  Tarif  in  den  Händen  des  Staates  gibt  diesem  auch  die  Mittel 
in  die  Hand,  die  Wirkungen  der  Zoll-  und  Handelsverträge  im  Interesse 
einer  nationalen  Wirtschaftspolitik  gegebenenfalls  zu  corrigieren;  denn  selbst 
Verbandstarife  werden  nur  auf  kürzere  Fi'ist  vereinbart  und  können  gekündigt 
und  wieder  abgeändert  werden.  Das  übliche  System  der  Refaction  begünstigte 
diese  Art  der  Verkehrspraxis.  Die  hohen  Abgaben  am  Eisernen  Thor  sind 
doch  auch  nur  ein  Schutzzoll  für  die  ungarischen  Bodenproducte. 

Halten  wir  uns  übrigens  an  die  Thatsachen,  so  gibt  die  folgende 
Tabelle  die  mittleren  Einnahmen  per  Tonnen-Kilometer  aus  dem  Frachten- 
verkehr, umgerechnet  auf  Kreuzer  Goldwährung^)  bei  den  deutschen  und 
österreichisch-ungarischen  Bahnen,  somit  nach  Abschlag  aller  Refactien  den 
thatsächlich  eingehobenen  Tarifsatz. 

Einnahmen  aus  dem  Frachtenverkehr  per  Tonnen- 
Kilometer  in  Kreuzer  1878  bis  1898. 


Jahr 


Frachten 
im  allgemeinen 


Deutsch- 
land 


Oester- 

reich- 

Ungarii 


Wagenladungs- 
Güter 


Deutsch- 
land 


Oester- 
reich- 
Ungain 


Jahr 


Frachten 
im  allsremeinen 


Deutsch- 
land 


Oester- 

reich- 

Unfrarn 


Wagenladungs- 
Güter 


Deutsch- 
land 


Oester- 

reich 

Ungarn 


1878 
1880 
1882 
1884 
1886 
1888 


2-330 
2-397 
2-335 

2-047 
2035 
1-945 


2667 
2-506 
2-351 
2274 
2125 
2  003 


1-929 
1-954 
1-960 
1-736 
1-735 
1-715 


2-343 
2-305 
2084 
2-000 
1-842 
1-722 


1890 
1892 
1894 
1896 
1898 


1-925 
1-910 
1-905 
1-950 

1-885 


2-000 
1-925 
1-905 
1-945 
1-860 


1-700 
1-690 
1-680 
1-675 
1-605 


1-700 
1-615 
1-600 
1-645 
1-580 


Wenn   man    die    für   Güter   im    allgemeinen    per    Tonnen  -  Kilometer 
gezahlten   Frachtkosten   in    einem    Graphicon   ersichtlich  macht,   lässt  sich 


*)  Bei  den  deutschen  Eisenbahnen  1  Kreuzer 
ungarischen  Eisenbahnen  1  Gulden  =  1-70  Mark. 


2  Pfennig,  bei  den  österreichisch- 


Der  ■wirtschaftliche  Wert  der  Wasserstrassen. 


245 


eine  Curve  rr  (deutsche  Eisenbahnen)  und  ss  (österr.-ungar.  Eisenbahnen) 
für  den  Abfall  der  Transportkosten  construieren,  die  dann  die  Resultierende 
der  Wechselwirkung  zwischen  den  Transportkosten  und  der  Entwicklung  des 
Verkehrs  erffibt. 


Fig.  1. 


X^J^AaaX^ 


^^xjx.    lö/A    76    -79     SO     S1    8J+    a6    SS     9o     ^'L   9^    96    ^5 
•o       O       O        O — -  *---K Ä-?^--    . 

■     O    I i \ — i — kOh 1 1 1 *—&< 


Während  die  durchschnittlichen  Transportkosten  auf  den  österreichisch- 
ungarischen Bahnen  (Curve  ss)  im  Jahre  1878  um  14  Proc,  im  Jahre  1884 
um  10  Proc.  noch  höher  waren,  als  auf  den  deutschen  Bahnen  (Curve  rr), 
ist  der  Unterschied  vom  Jahre  1890  an  fast  ganz  verschwunden.  Im  Wagen- 
ladungsgüterverkehre transportierten  die  österreichisch-ungarischen  Bahnen 
vom  Jahre  1892  an  schon,  wenn  auch  um  ein  geringes,  billiger. 

In  den  Jahren  1875,  1885  und  1895  war  der  Antheil  der  Wasserstrassen 
am  deutschen  Gesammtverkehre  19,  22  und  22  Proc,  im  Jahre  1898  schon 
25  Proc.  Rechnet  man  die  Transportkosten  auf  den  deutschen  Wasserstrassen 
rund  per  Tonnen-Kilometer  mit  0"400  Kreuzer,  so  mussten  sich  die  Trans- 
portkosten im  Mittel  des  Gesammtgüter Verkehrs  zu  Bahn 
und  zu  Wasser  um  den  Antheil  des  wesentlich  billiger  befördernden 
Wasserstrassenverkehrs  am  Gesammtverkehr  gegen  die  Transportkosten  auf  den 
Eisenbahnen  vermindern.   Führt  man  diese  Rechnung  durch,  so  ergeben  sich: 


246 


Oelwein. 


Jahr 

Güterverkehr  in 
1,000.000  Tonnen-Kilometer 

Transportkosten 
per  Tonnen- 
Kilometer  in  Kreuzern 

ergeben  sich 

die  Durcli- 

schnitts-Trans- 

portko^iten  des 

Gesjimmtgüter- 

Verkehrs  in 

Kreuzern 

Ersparnis 
gegen  den 

Eisen- 
bahntarif 
in  Proc. 

auf  den 
Eisen- 
bahnen 

auf  den 
Wasser- 
strassen 

zusammen 

auf  den 
Eisen- 
bahnen 

auf   den 
Wasser- 
strassen 

1875 
1885 
1895 
1898 

10.900 
16.600 
26.500 
32.600 

2.900 

4.800 

7.500 

10.700 

13.800 
21.400 
34.000 
43.300 

2-450 
2-044 
1-900 

1-885 

0-400 
0-400 
0-400 
0-400 

206 
108 
167 
151 

160 
17-8 
17-4 
19  8 

Im  Graphicon  ist  dann  diese  Verbilligung  der  Transportkosten  per 
Tonnen-Kilometer  des  Gesammt-Güterverkehrs  durch  die  Ciirve  v  iv  ersicht- 
lich gemacht. 

Zieht  man  die  früher  bezifferten  Verkehrsverhältnisse  in  Oesterreich 
vom  Jahre  1890  ins  Calcul,  wo  die  Durchschnittstransporte  auf  den  Eisen- 
bahnen in  Oesterreich-Ungarn  mit  2-000  Kreuzer,  auf  den  Wasserstrassen  mit 
0-584  Kreuzer  ausgewiesen  wurden,  so  erhält  man  die  analogen  Durch- 
schnitts-Transportkosten des  Gesammtgüterverkehrs  per 
Tonnen-Kilometer  mit  1-910  Kreuzer,  gegen  die  mittlere  Einnahme  im  Eisen- 
bahnverkehr mit  2*000  Kreuzer  und  resultierte  im  Jahre  1890  dann  nur  eine 
Ersparnis  von  '^•64  Proc.  gegen  eine  solche  in  Deutschland  von  160 
bis  19'8  Proc.  Diese  Ersparnis  von  4*64  Proc.  hat  sich  jedoch  heute  aus 
den  früher  genannten  Gründen  schon  verringert, 

Um  diese  Differenz  der  Gesammttransportkosten  sind  die  deutsche 
Industrie  und  der  dortige  Handel  uns  gegenüber  infolge  der  Wasserstrassen 
wesentlich  günstiger  gestellt. 

'  Deutsche  Canalvoplage. 
Die  letzte  Regierungsvorlage  an  den  preussischen  Landtag  umfasste: 
I.  Wass  er  Strassen: 

1.  Die  Herstellung  eines  Canals  vom  Rhein  an  den  Dortmund-Ems- 
Canal  und  von  diesem  zur  Elbe; 

2.  einen  neuen  Canal  von  Berlin  an  die  Oder  (Berlin-Stettin-Canal); 

3.  den  Umbau  des  Bromberger  Canals  und  die  Schiffbarmachung  der 
Netze,  Warthe  und  Brahe; 

4.  Verbesserung  des  Schiffahrtsweges  zwischen  Schlesien  uud  dem 
Oder-Spree-Canal  mit  zusammen 329,015.700  Mark. 

II.  Für  Zwecke  der  Melioration  und 
Bodencultur: 

Eine  Betheiligung  des  Staates  mit 59,995,000  Mark 

zusammen     389,010.700  Mark.^) 


*)  Am  1.  März  d.  J.  unterbreitete  die  französische  Regierung  der  Deputiertenkammer 
einen  Gesetzesentwurf  für  nachfolgende  Wasserstrassen: 


^ 


Der  wirtschaftliche  Wert  der  Wasserstiassen.  247 

Sind  diese  Wasserstrassen  ebenfalls  ausgebaut,  so  besitzt  Deutschland 
ein  dichtes  Netz  moderner,  sehr  leistungsfähiger  Wasserstrassen  nach  allen 
Kichtungen  des  grossen  Verkehrs,  darunter  rund  5700  Kilometer  künstlicher 
Wasserstrassen.  Mit  der  Ausdehnung  dieses  Netzes  steigt  dann  auch  der 
Antheil  des  Wasserstrassenverkehrs  am  Gesaramtgüterverkehr  und  verwässern 
sich  auch  folgerecht  fortschreitend  die  durchschnittlich  per  Tonnen-Kilometer 
zu  zahlenden  Transportkosten,  ohne  Schädigung  des  Verkehrs  und  der 
Rente  der  Eisenbahnen,  denn  die  preussischen  Staatsbahnen  ergaben  bereits 
einen  Betriebsüberschuss  von  rund  7  Proc,  während  dieser  Ueberschuss  auf 
den  österreichisch-ungarischen  Eisenbahnen  sich  in  Summe  aller  Linien 
max.  um  4  Proc.^)  bewegt. 

Der  Motivenbericht  zu  der  vorgenannten  Canalvorlage  der  deutschen 
Regierung  enthält  sehr  schätzenswerte  Angaben  über  die  künftigen  Transport- 
kosten auf  diesen  Wasserstrassen,  verglichen  mit  den  Eisenbahntarifen  in 
den  analogen  Warenclassen. 

Getreu  dem  jetzt  geltenden  Grundsatze,  die  künstlichen  Wasserstrassen 
sollen  productive  Anlagen  sein  und  bei  voller  Freizügigkeit  der  Schiffahrt 
das  in  ihnen  investierte  Anlagecapital  auch  verzinsen  und  tilgen,  sind  die 
S  chif fahrt  s  abgaben,  die  jeder  Schiffer  zu  entrichten  hat,  am  Mittel- 
land-Canal  (325  Kilometer)  im  Durchschnitt  aller  Fracht  per  Tonnen- 
Kilometer  mit '.    .    .  • 0-360  Kreuzer 

bestimmt  worden. 

Rechnet  man  hiezu  die  Zugskosten  (inclusive  der  Verzinsung  und 
Tilgung    des   im    Bootspark    investierten    Capitals)    per    Tonnen-Kilometer 

mit      0-390  Kreuzer 

so  stellen  sich  die  Transportkosten  per  Tonnen-Kilometer  auf    0750  Kreuzer 


zusammen 203,530.000  fl. 


A.  Verbesserungsarbeiten 
für  Canäle  zwischen  Scheide  und   Seine,   die   Seine,  Ehone,  Canal  du 
Midi,  Garonne 20,500.000  fl, 

B.  Neubauten: 

1.  Canal  de  Chiers 

2.  Canal  von  der  Scheide  zur  Maas 

3.  Nordcanal 

4.  Verlängerung  des  Canal  de  l'Ourcq 

5.  Loire 

6.  Canal  Cambleux-Orleans 

7.  Canal  von  der  Loire  zur  Ehöne 

8.  Canal  von  Marseille  zur  Khone 

9.  Canal  von  der  Ehöne  nach  Cette 

in  Summe  ....       224,030.000  fl. 
*)  Nach  Hofrath  Konta  betrug  die  Verzinsung  des  in  den  Eisenbahnen  investierten 
Anlagecapitals  im  Jahre  1896: 

auf  den  deutschen  Eisenbahnen 5*665  Proc. 

„      „    preussischen  Staatsbahnen 6-76        „ 

„      „    bayrischen  Bahnen,  die  ohne  Concurrenz  der  Wasserstrassen  sind   .    3-16        „ 

„      „     österreichisch-ungarischen  Eisenbahnen 440        „ 

„      „     österreichischen  Staatsbahnen 2'89        „ 


248 


Oelwein. 


Für  die  canalisierten  Fliisstrassen,  wie  die  Weser,  Netze  etc.,  sind  die 
Schiffahrtsabgaben  per  Tonnen-Kilometer  nur  mit     ....    0-180  Kreuzer 

vorgesehen,  hiezu  Zugskosten       0-390        „ 

gibt  Transportkosten 0-570  Kreuzer 

Auf  den  freien  Flüssen  werden  keinerlei  Schiffahrtsabgaben  eingehoben 
und  variieren  z.  Z.  am  Khein  und  der  Elbe  die  Tarifsätze  per  Tonnen- 
Kilometer  zwischen  0-3  und  0-4  Kreuzer  ö.  W. 

Werden  drei  Warenclassen  angenommen,  so  stellen  sich  die  Transport- 
kosten am  Mittelland-Canale,  verglichen  mit  den  Tarifen  der  Eisenbahnen 
in  den  analogen  Warenclassen,  wie  folgt: 

Transportkosten  per  Tonnen-Kilometer  in  Kreuzern.^) 


Warenclasse 

Transportkosten 

am 
Mittelland-Canal 

auf  den 
Eisenbahnen 

I. 
IL 
III. 

niederster  Satz 

116 
0-86 
0-66 

2-178 
1-794 
1-572 
1-494 

in»  Mittel 

0-750 

1-645 

hiebei  wurde  der  Antheil  am  Gesammtverkehr  in  der  Warenclasse  I  mit 
10  Proc,  der  Warenclasse  II  mit  20  Proc,  der  Warenclasse  III  und  des 
niedersten  Satzes  mit  70  Proc.  eingestellt. 

Dass  in  Praxi  noch  eine  weitere  Differenzierung  der  Warenclassen  ein- 
treten kann,  ist  selbstredend.  Die  Transportkosten  am  Canal  wären  dann 
um  54  Proc.  niederer,  als  die  Tarifsätze  auf  den  Eisenbahnen.  Bei  Ein- 
rechnung  der  Differenz  in  der  Währung  erhöht  sich  noch  dieser  Procentsatz. 

Die  Zugskosten  am  Mittelland-Canal,  inclusive  Verzinsung 
und  Tilgung  des  im  Bootspark  angelegten  Capitals  betragen  per  Tonnen- 
Kilometer  0-390  Kreuzer. 

Kechnet  man  bei  dem  Wagenladungs-Güterverkehr  der  Eisenbahnen 
einen  Betriebscoefficienten  von  70  Proc,  so  betragen  die  Selbstkosten 
dieser  Wagenladungsgüter  im  Eisenbahntransporte,  exclusive  der  Ver- 
zinsung und  Tilgung  des  im  Fahrpark  investierten  Capitales  per  Tonnen- 
Kilometer  1*151  Kreuzer. 

Stellt  man,  roh  gerechnet,  diese  beiden  Zahlen  einander  gegenüber, 
so  stellen  sich  im  Mittel  dieser  Verkehre  die  Selbstkosten  des  Eisen- 


^)  Die  Transportkosten  auf  den  Eisenbahnen  erscheinen  in  Kreuzer  Gold,  jene  auf 
dem  Mittelland-Canal  sind  auf  österreichische  Währung:  umgerechnet  worden. 


4 


Der  wirtschaftliche  Wert  der  Wasserstrassen. 


249 


bahnt ransportes  um  67  Proc.  niedriger  als  die  Ziigskosten 
am  C  a n  a  1. 

Der    Uebersichtlichkeit   wegen    wurden    diese    Ziffern   wieder    in    ein 
Graphicon  eingetragen  und  bedeuten: 

Fig.  2. 


die  Linie  a  h  (0-750  Kreuzer)  die  Transportkosten  am  Mittelland-Canal  und 
die  Linie  e  f  (1-645  Kreuzer)  die  Transportkosten  auf  den  concurrierenden 
Eisenbahnen,  die  Linie  c  d  (0  390  Kreuzer)  die  Zugskosten  am  Mittelland- 
Canal  und  die  Linie  g  h  (1-151  Kreuzer)  die  Selbstkosten  im  Eisenbahn- 
transporte. 

Aus  der  Gegenüberstellung  der  Ziffern  im  Graphicon  ergeben  sich  mit 
Hinweis  auf  die  vorgezeichnete  Scala  von  00  bis  2-3  Kreuzer  nun  nach- 
stehende Folgerungen: 

1.  Nach  diesen  Durchschnittsziffern  per  Tonnen-Kilometer  beträgt  der 
Transportgewinn  beim  Canaltransport  0-750  —  0390  =  0-360  Kreuzer  oder 
48  Proc.  vom  Transportpreis;  beim  Eisenbahnbetrieb  1-645  —  1-151  = 
0-490  Kreuzer  oder  40  Procent  vom  Transportpreis. 

2.  Wenn  man  bei  beiden  Betrieben  auf  jeden  Gewinn  verzichtet,  so 
ist  die  unterste  Grenze  des  Tarifs  per  Tonnen-Kilometer  beim  Canal 
0-390  Kreuzer,  auf  der  Eisenbahn  1-151  Kreuzer. 

3.  Diese  unterste  Grenze  des  Eisenbahntarifsatzes  (1-151  Kreuzer)  liegt 
wesentlich  höher,  als  der  Transportpreis  am  Canal  inclusive  eines  48proc. 
Betriebsgewinnes,  und  würde  ein  Tarifsatz  von  1-151  Kreuzer,  der  auf  der 
Eisenbahn  keinerlei  Gewinn  mehr  ergibt,  am  Canal  angewendet,  einen  Betriebs- 


Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpcilitik  und  Verwaltung.  X.  Hand. 


17 


250  Oelwein. 

überschuss  per  Tonnen-Kilometer  von  0761  Kreuzer  oder  einen  Gewinn  von 
67  Proc.  des  Transportpreises  ergeben.  Eine  Eisenbahn,  die  aber  alle 
Frachten  mit  dem  noch  rentablen  Canaltarif  befördern  wollte,  würde  nur 
einen  Theil  der  Selbstkosten  decke'^n  können,  daher  passiv  werden. 

In  derFähigkeit,  auf  eine r  modernen  leistungsfähigen 
Was  s  erstras  se  bei  gleichem  Gewinn  wesentlich  billiger 
zu  transportieren,  als  auf  der  gleichwertigen  Eisenbahn, 
liegt  der  grosse  verkehrstechnische  und  wirtschaftliche 
Wert  der  Wasser  Strasse  n. 

Diesem  Vortheile  der  Wasserstrassen  stehen  dann  die  vielen  Vorzüge 
der  Eisenbahnen  im  Gütertransporte  gegenüber:  raschere  Beförderung  und 
ununterbrochener  Betrieb  zur  Zeit  der  Wintersperre. 

Die  normale  Fahrzeit  auf  Canälen  beträgt  rund  3"5  Kilometer  per 
Stunde;  dazu  kommen  noch  die  Verluste  an  Zeit  für  die  Durchschleusung  der 
Boote.  Für  die  Güterzüge  kann  die  Fahrzeit  auf  currenter  Strecke  mit  20  Kilo- 
meter per  Stunde  angesetzt  werden,  zu  der  dann  allerdings  alle  Verluste  für 
Rangierung  der  Züge,  Aufenthalte  in  den  Stationen,  Sammlung  der  Wagen 
in  Zügen  nach  der  Bestimmungsstation  und  andere  unfreiwillige  Aufenthalte 
zuzuschlagen  sind.  Bestellt  man  z.  B.  einen  Waggon  Kohle  in  Ostrau  für 
Wien  (274  Kilometer)  und  erhält  denselben  in  8  Tagen  geliefert,  so 
kann  diese  Tour  am  Donau-Oder-Canal  in  ISstündigem  Tagesbetriebe  bei 
Anwendung  von  Schleusen  in  8  Tagen,  bei  Anwendung  von  Hebewerken  in 
6  Tagen,  in  Tag-  und  Nachtbetrieb  bei  Anwendung  von  Schleusen  in 
5  Tagen,  bei  Anwendung  von  Hebewerken  in  SVg  Tagen  gemacht  werden. 
Die  Lieferzeit  ist  eben  nicht  die  Fahrzeit.  In  Ländern,  wo  man  sich  an  die 
Usancen  des  Wasserverkehrs  gewöhnt  hat,  hört  man  keine  Klage  über  die 
Wintersperre,  und  man  benützt  im  Winter  gerne  die  geladenen  Boote  als  billige 
Magazine.  Die  Versuche,  die  man  neuester  Zeit  in  Deutschland  mit  Eis- 
brechern^) gemacht  hat,  berechtigen  zu  der  Hoffnung,  dass  man  bei  Ver- 
wendung derselben  die  Eissperre  auf  Canälen  auf  Wochen  reducieren  kann. 

Wintschaftliche  Vortheile  den  Wassenstnassen. 
Den  billigen  Wassertransport  werden  vorwiegend  die  Roh-  und  Massen- 
producte  aufsuchen.  Wo  Eisenbahnen  und  Wasserstrassen  in  demselben  Ver- 
kehrsgebiete concurrieren,  wird  sich  naturgemäss  eine  Theilung  des  Verkehrs 
vollziehen,  doch  nicht  etwa  eines  Verkehrs,  den  die  Eisenbahn  vor  dem 
Bestände  der  Wasserstrasse  zu  bewältigen  hatte,  sondern  eines  ganz  andern 
und  ungleich  grösseren  Verkehrs;  denn  durch  die  ungleich  billigeren  Wasser- 
strassentarife  werden  ganz  neue  Güter  erst  in  Bewegung  gebracht,  die  mit 
den  Tarifen  der  Eisenbahnen  gar  nicht  oder  nur  auf  kurze  Distanzen  trans- 
portiert werden  konnten.  Auch  in  den  von  den  Eisenbahnen  beförderten 
Massengütern,  wie  Kohle,  tritt  eine  Vermehrung  des  Verkehrs  nach  Maass- 
gabe  der  Verbilligung   der  Frachtkosten   auf  der  Wasserstrasse   und  nach 

^)  Mittheilungen    des    Hofrathes  A.   Schromm    in    Nr.   16    der   Zeitschrift    des 
österreichischen  Ingenieur-  und  Architektenvereines,  1901. 


Der  wirtschaftliche  Wert  der  Wasserstrassen,  251 

Maassgabe  des  dann  erweiterten  Absatzgebietes  ein,  dann  aber  auch  eine 
Theilung  dieses  vermehrten  Verkehrs,  da  die  meisten  Abnehmer,  welche 
Kohle  waggonweise  beziehen,  abseits  vom  Canale  liegen,  Mangel  an  Depöt- 
raum  haben,  etc.  Der  grosse  Kohlenverkehr  zwischen  Belgien  und  Frankreich 
vertheilt  sich  mit  42  Proc.  auf  die  Wasserstrassen,  mit  58  Proc.  auf  die 
Eisenbahnen.  Der  Canal  de  St.  Quentin  beförderte  über  4-5  Millionen  Tonnen. 

Der  Verkehr  von  Berlin  vertheilte  sich  1898  auf  die  Eisenbahn  mit 
6,400.000  Tonnen,  auf  die  Wasserstrasse  mit  5,600.000  Tonnen. 

Wo  Eisenbahnen  und  Wasserstrassen  in  denselben  Verkehrsgebieten 
concurrieren,  werden  erstere  von  den  minderwertigen  und  geringtarifierten 
Waren  entlastet,  und  es  kann  die  Eisenbahn  bei  einer  zielbewussten  Verwaltung 
selbst  nach  dem  Ausbau  eines  Canals  in  demselben  Transportgebiete 
bei  vermindertem  Verkehre  eine  höhere  Kente  abwerfen  wie  früher.  Die 
deutsche  Verkehrsstatistik  lehrt,  dass  die  Eisenbahnen  dort,  wo  sie  mit 
leistungsfähigen  Wasserstrassen  concurrieren,  eine  grössere  Verkehrsdichte 
und  auch  eine  grössere  Verkehrszunahme  aufweisen,  ein  Beweis,  dass  durch 
die  Wasserstrassen  neue  Industrien  geschaffen  werden,  der  Handel  sich 
mächtig  belebt,  die  Production  sich  hebt  und  aus  der  Wechselwirkung 
beider  Transportarten  den  Eisenbahnen  auch  vermehrte  aber  höher  tarifierte 
Frachten  zufliessen. 

Wo  die  Eisenbahnen  allen  und  jeden  Verkehr  allein  zu  bewältigen 
haben,  müssen  sie  den  durch  die  fortgesetzt  gesteigerte  Concurrenz  am 
Markte  gerechtfertigten  Ansprüchen  des  Handels  und  der  Industrie  auf 
Ermässigung  der  Tarife  gerecht  werden,  wenn  sie  den  öffentlichen  Interessen 
genügen  sollen.  Selbst  wenn  sie  ihra  Tarife  nicht  herab- 
setzen, muss  fortgesetzt  eine  Verminderung  ihrer  Rente 
eintreten,  denn  die  normale  Zunahme  des  Verkehrs  tritt  in  wesentlich 
grösserem  Verhältnis  in  den  Gütern  der  untersten  Warenclassen  ein,  während 
die  Betriebskosten  zumindest  die  gleichen  bleiben,  —  eher  infolge  der  unaus- 
gesetzten Steigerung  der  Löhne  und  Gehalte  des  Personals  noch   zunehmen. 

Aus  diesem  Grunde  kann  auch  behauptet  werden,  das  die  höhere 
Rente  der  deutschen  Eisenbahnen  der  grossen  Entwicklung  des  Verkehrs 
durch  die  Wasserstrassen  zum  grossen  Teile  mit  zugeschrieben  werden  kann. 

Oesteppeichische  Canalvoplage. 
Die    neueste    Canalvorlage    der    österreichischen    Regierung    im    Ab- 
geordnetenhause umfasste  den  Bau 

a)  eines  Schiffahrtscanais  von  der  Donau  zur  Oder.    (274  Kilometer.) 

b)  eines  Schiffahrtscanais  von  der  Donau  zur  Moldau  nächst  Budweis 
nebst  der  Canalisierung  der  Moldau  von  Budweis  bis  Prag. 

c)  eines  Schiffahrtscanais  vom  Donau-Odercanal  über  Nordmähren  zur 
oberen  Elbe,  nebst  Canalisierung  dieser  Elbestrecke  bis  Melnik.  (346  Kilometer.) 

d)  einer  schiffbaren  Verbindung  vom  Donau-Odercanal  zum  Strom- 
gebiete der  Weichsel  und  bis  zu  einer  schiffbaren  Strecke  des  Dnjester. 
(480  Kilometer.) 

17* 


252  Oelwein. 

Für  den  sab  b  genannten  Elbe-Donaucanal  wäie  nur  die  Canalisation 
der  Moldau  von  Prag  bis  Budweis  (185  Kilometer)  feststehend,  denn  von 
Budweis  ab  ist  nur  der  Anschluss  der  Moldau  an  die  Donau  vorgesehen, 
ohne  den  Anschlusspunkt  selbst  zu  nennen.  Hier  concurrieren  vor  allem 
2  Projecte,  eines  von  Budweis  über  Gmünd  nach  Wien  (205  Kilometer) 
und  eines  von  Budweis  nach  Linz  (95  Kilometer). 

1.  Werden  beide  Anschlüsse  hergestellt,  so  umfasst  dieses  Netz  eine 
Länge  von  1.400  Kilometer. 

2.  Wird  nur  die  Strecke  Budweis — Wien  erbaut,  so  beträgt  die 
Länge  1.305  Kilometer. 

3.  Wird  nur  die  Strecke  Budweis — Linz  gebaut,  so  reduciert  sich  die 
Länge  auf  1.195  Kilometer. 

Die  approximativ  veranschlagten  Baukosten  stellen  sicli  dann 

ad  1.  auf 375  Millionen  fl. 

ad  2.     , 340  ,        „ 

ad  3 295  „        „ 

Von  diesen  Projecten  ist  jenes  für  den  Donau- Odercanal  schon  im 
Jahre  1873  den  gesetzgebenden  Körperschaften  vorgelegen,  und  die  Gesetzes- 
vorlage ist  auch  genehmigt  worden.  Im  Jahre  1894  wurde  dieser  Canal  von 
einer  französischen  Gesellschaft  für  Boote  von  600  Tonnen  Tragfähigkeit 
neu  traciert  und  projectiert.  Dieser  Canal,  der  die  gleiche  Länge  wie  die 
Nordbahn  hat,  274  Kilometer,  hat  als  Zufuhrsarterie  der  österreichischen  und 
preussischen  Steinkohlen  für  Inner-Oesterreich  besondere  Bedeutung.  Die 
Nordbahn  wies  im  Jahre  1900  einen  Frachtenverkehr  von  6,757.000  Tonnen 
auf.  Hievon  entfallen  auf  die  preussischen  Kohlen  1,853.000  Tonnen.  Wien 
und  das  Hinterland  beziehen  aus  diesem  Gebiete  etwa  2,500.000  Tonnen 
an  Kohle. 

Für  den  Donau  Moldau-Elbecanal  besteht  ein  Actionscomite,  die 
Projecte  für  die  Canalisierung  der  Moldau  und  der  Scheitelcanal  Budweis — 
Wien  sind  in  Arbeit. 

Für  alle  übrigen  Wasserstrassen  liegen  nur  sehr  generelle  Studien  vor. 
Unsere  Canäle  haben  nicht  die  günstigen  topographischen  und  hydro- 
logischen Verhältnisse  wie  jene  im  Tieflande  Deutschlands.  Während  der 
Mittellandcanal  nur  geringe  Gefälle  zu  überwinden  hat  und  von  wasser- 
reichen Flüssen  direct  gespeist  werden  kann,  betragen  die  zu  Oberwindenden 
Höhendifferenzen 

beim  Donau-Odercanal 205  Meter 

„      Canal  Budweis — Wien 535       „ 

„  „     Budweis — Linz 860       „ 

„     nordmährisch-böhmischen  Canal  bis  zur  Elbe    .411       „ 

„     Oder-Weichsel-Dnjestercanal 286       „ 

Wollte  man  diese  Canäle  nur  als  Schleusencanäle  erbauen,  so  könnte 
das  bei  diesem  System  erforderliche  Betriebswasser  nur  aus  höher  als  die 
Wasserscheiden    gelegenen    Niederschlagsgebieten    in    grossen    Thalsperren 


Der  wirtschaftliche  Wert  der  Wasserstrassen.  253 

aufgesammelt  werden.  Der  Verkehr  wäre  dann  jederzeit  von  der  erforderlichen 
und  verfügbaren  Betriebswassermenge  abhängig,  die  Fahrzeit  würde  aber 
infolge  des  Verlustes  durch  die  vielen  Schleusungen  eine  wesentlich  lang- 
samere sein,  als  auf  den  deutschen  Canälen. 

Da  die  Zugskosten,  wie  Löhne  der  Mannschaft,  Zinsen  für  das  im 
Bootspark  investierte  Capital,  etc.  zum  grossen  Theile  auch  von  der  Fahrt- 
geschwindigkeit abhängig  sind,  ist  man  bestrebt  gewesen,  in  jenen  Strecken, 
die  die  Wasserscheiden  und  das  bergige  Terrain  übersetzen,  die  Gefälle  an 
einzelnen  Punkten  zu  concentrieren,  lange  Haltungen  auszumitteln,  und 
die  Boote  statt  durch  eine  grosse  Zahl  von  Schleusen  nur  durch  wenige 
mechanische  Hebewerke,  in  eisernen  Trögen  schwimmend,  aufwärts  und 
abwärts  zu  befördern.  Die  Frage  dieser  mechanischen  Hebewerke,  die  für 
verticalen  Hub  schon  ausgeführt,  und,  über  geneigte  Ebenen  rollend, 
hier  projectiert  wurden  und  auch  auf  den  neuzuerbauenden  Canälen 
Deutschlands  in  Aussicht  genommen  sind,  wurde  schon  eifrig  studiert;  und 
es  ist,  da  auch  schon  anerkannt  gute  Projecte  vorliegen,  kein  wesentliches 
Hindernis  für  die  Inangriffnahme  des  Baues,  da  man  auch  dann  noch  genügende 
Zeit  hat,  diese  Anlagen  praktisch  zu  erproben. 

Dann  ist  der  Verkehr  auf  den  Canälen  unabhängig 
von  der  zu  beschaffenden  Betriebswasser  menge,  denn  die 
mechanischen  Hebewerke  bedürfen  nur  verschwindend  geringer  Mengen  an 
Betriebswasser.  Dann  werden  aber  auch  die  sehr  hohen  Kosten  für  derlei 
grosse  Thalsperren  erspart;  dann  werden  sich  auch  die  Transportkosten  auf 
unseren  Canälen  nicht  wesentlich  höher  stellen,  wie  auf  deutschen  Canälen. 
Letzteres  ist  aber  die  Grundbedingung  für  den  wirtschaftlichen  Wert  dieser 
Canäle. 

Nach  den  in  Frankreich  und  Deutschland  durchgeführten  Versuchen 
ist  es  zweifellos,  dass  die  elektrische  Kraft  bei  den  österreichischen  Wasser- 
strassen die  Zugkraft  der  Zukunft  ist,  und  dass  dann  die  vorhandenen 
Wasserkräfte  mit  grossem  Vortheil  ausgenützt  werden. 

Für  den  Bau  eines  Elbe  -  Donaucanals  und  eines  nordmährisch, 
böhmischen  Canals  muss  die  Regulierung  der  Moldau  von  Prag  bis  Budweis 
und  der  Elbe  von  Pardubitz  bis  Melnik  vorangehen,  da  diese  Flussstrecken 
dann  erst  canalisiert  werden  sollen. 

Ich  mache  hier  auf  die  sehr  interessanten  Studien  des  königl.  Bauamt- 
manns Faber  für  die  Herstellung  einer  Gross-Wasserstrasse  im  Mainthal 
zwischen  Aschaffenburg  und  Bamberg  im  Anschluss  an  den  neuen  Donau- 
Main-Canal  (München,  190L  „Bayrisches  Industrie-  und  Gewerbeblatt") 
aufmerksam,  der  das  Ziel  verfolgt,  hier  gleichzeitig  sehr  grosse  Wasser- 
kräfte zu  schaffen,  die  dann  dem  Schiffahrtsbetriebe  und  der  Industrie  zu 
dienen  hätten. 

Es  wäre  zu  wünschen  gewesen,  dass  der  Antrag  der  hohen  Regierung 
im  hohen  Abgeordnetenhaiise  nicht  nur  im  vollen  Umfange  Annahme  gefunden 
hätte,  sondern  dass  auch  der  Bau  selbst  nach  Thunlichkeit  beschleunigt 
werden  Avürde.    Der   Ausbau   eines    österreichischen    Canalnetzes   wird   eine 


254  Oelwein. 

vollständige  Wandlung  in  unseren  Verkelirsverhältnissen  zur  Folge  haben. 
Soweit  dann  die  Verbilligung  der  Transportkosten  auf  die  Hebung  der  Industrie, 
des  Handels,  der  Bodencultur  und  des  Haushaltes  einzuwirken  vermag, 
kann  diese  Wandlung  im  allgemeinen  öffentlichen  Interesse  nur  eine  günstige 
sein.  Mit  dieser  wesentlichen  Verbilligung  der  Transportkosten  begründen 
aber  auch  die  deutschen  Agrarier  ihre  Gegnerschaft  gegen  das  grosse  Canal- 
project  der  deutschen  Regierung,  weil  sie  besorgen,  dass  dann  die  Einfuhr 
fremder  Bodenproducte  gleichfalls  begünstigt  und  der  Preis  ihrer  eigenen 
Erzeugnisse  gedrückt  wird.  In  Wirklichkeit  sind  sie  jedoch  nicht  Gegner 
der  Canäle,  denn  sie  anerkennen  deren  hohen  Wert  für  den  Aufschwung  der 
Industrie,  des  Handels  und  auch  für  ihre  eigenen  landwirtschaftlichen  Er- 
zeugnisse, —  sie  wollen  nur  vorerst  die  denkbar  höchsten  Einfuhrzölle  auf 
diese  Bodenproducte,  obwohl  Deutschland  den  eigenen  Bedarf  nie  decken 
kann,  und  auf  die  Einfuhr  derselben  jederzeit  angewiesen  sein  wird. 

Die  grossen  Vortheile  der  Wasserstrassen  für  die  Landwirtschaft 
wurden  seinerzeit  am  bayrischen  Wasserstrassentage  in  Passau  1898  von 
dem  Prinzen  Ludwig  von  Bayern,  der  selbst  einer  der  grössten  Landwirte 
ist,  in  classischer  Weise  beleuchtet. 

Der  einseitige  Interessenstandpunkt  ist  leider  durch  den  alleinigen 
Hinweis  auf  die  allgemeinen  Interessen  nicht  zu  besiegen.  Der  eine  Landwirt 
aus  Böhmen  behauptet,  ein  Canal  von  der  Donau  zur  Elbe  sei  sein  Ruin, 
denn  das  ungarische  Getreide  werde  dann  trotz  der  grossen  Entfernung  von 
mehr  als  500  Kilometer  in  seiner  Heimat  billiger  verkauft  werden,  als  er 
es  zu  producieren  vermag.  Eine  Zollgrenze  zwischen  Oesterreich  und  Ungarn 
existiert  nicht,  er  kann  also  durch  einen  Getreidezoll  nicht  geschützt 
werden.  Sein  Nachbar-Landwirt  behauptet,  dieser  Canal  wäre  für  ihn  vom 
grössten  Vortheil,  denn  dann  könnte-  er  die  Düngstoffe  billiger  haben, 
intensiver  wirtschaften,  mehr  Rüben  bauen,  die  er  dann  zu  wesentlich  besseren 
Preisen  an  entferntere  Fabriken  verkaufen  kann,  während  er  heute  diese 
Rübe  nothgedrungeu  wegen  zu  grosser  Transportkosten  nur  der  nächsten 
Fabrik  zu  Schandpreisen  abgeben  muss.  Für  seine  vorzüglichen  Ziegeln 
erhält  er  heute  kaum  972  A-i  während  sein  Nachbar,  der,  nur  3  Meilen 
entfernt  nahe  der  Stadt  ist,  14  fl.  erhält.  Dies  sind  Nachbarn.  —  Ein 
Landwirt  Mährens  beklagt  sich  in  derselben  Gesellschaft,  dass  er  für  den 
von  ihm  producierten  Zucker  einerseits  die  Concurrenz  Ungarns  tragen,  und, 
um  zu  exportieren,  bis  Laube  einen  Frachtpreis  von  1.95  Kronen  "per 
100  Kilogramm  zahlen  muss.  Er  beglückwünscht  die  Zuckerfabrikanten 
Böhmens,  dass  sie  die  schiffbare  Elbe  haben. 

Bei  Besprechung  der  österreichischen  Canalvorlage  in  den  verschiedenen 
Vereinen  standen  sich  leider  die  Vertreter  der  Landwirtschaft  und  der 
Industrie  in  Vertretung  ihrer  Interessen  sehr  schroff  gegenüber.  Beide  haben 
weit  über  das  Ziel  geschossen.  Wo  der  Landwirt  die  Bodenproducte  aller 
Art  selbst  verarbeitet  und  dadurch  auch  Industrieller  wird,  erzielt  die 
Bewirtschaftung  des  Besitzes  erfahrungsgemäss  die  höchste  Rente.  Viele 
Grossgrundbesitzer  zählen  doch  auch  auf  andern  Productionsgebieten  zu  den 


Der  wirtschaftliche  Wert  der  Wasserstrassen.  255 

grossen  Iiidiistriellen.  Wo  die  Industrie  gedeiht,  gedeiht  auch  die  Land- 
wirtschaft, denn  letztere  nährt  die  erstere,  und  bleibt  dann  unberührt  von 
der  Conjunctur  der  entfernteren  Märkte.  Die  Verhältnisse  Oesterreichs  und 
Ungarns  im  Exporte  der  landwirtschaftlichen  Erzeugnisse  haben  sich  auch 
schon  infolge  der  Vermehrung  der  Bevölkerung  seit  10  Jahren  wesentlich 
verschoben,  wie  dies  aus  den  Ziffern   in   der  Anmerkung^)  zu    ersehen   ist. 


^)  Allgemeine  Zeitung  Nr.  41.  München  10.  Febiuar  1901.  Die  künftigen  Getreide- 
zölle von  Th.  Ehrenstein.  Die  veränderte  Situation  veranschaulicht  am  besten  die 
folgende  Tabelle  über  unsere  Getreide-Ein-  und  Ausfuhr.  Wir  hatten  in  Doppel- 
centnern  in 

Weizen  1890  1891  1892  1893  1894  1895 

Mehrausfuhr  ....      2,326.185     1,452.905       620.026       554.548       368.078       490.500 
Mehreinfuhr  ....  —  —  —  —  —  — 

Koggen 
Mehrausfuhr  ....  —  350.470       237.208  _  _  _ 

Mehreinfuhr  ....         135.484  —  —  61.778         30.129       271.511 

Gerste 
Mehrausfuhr.   .    .    .      3,682.554    3,259.175    3,197.678    4,882.695    3,378.770    2,322.362 

Hafer 
Mehrausfuhr ....  —  101.015       934.331       430.871  —  — 

Mehreinfuhr  ....        268.600  —  —  '      —  1,285.843       656.947 

Mais 
Mehrausfuhr  ....  —  321.270       533,291  _  _  _ 

Mehreinfuhr  ....        833.691  —  —  411.785    2,128.774    2,102.916 

Weizen  1896  1897  1898  1899  1900 

Mehrausfuhr  ....  429.097  _  _  _  _ 

Mehreinfuhr  ....  —  992.906        1,996.567  723.592  277.482 

Roggen 
Mehrausfuhr  ....  —  —  —  —  — 

Mehreinfuhr  ....  508.938         1,747.727        2,278.476  200.051  71.646 

Gerste 
Mehrausfuhr  ....  4,179.111         3,144.293        2,772.546        4,037.699        2,774.983 

Hafer 
Mehrausfuhr  ....  —  —  —  543.404  273.320 

Mehreinfuhr  ....  637.653  603.829  247.271  —  — 

Mais 
Mehrausfuhr  ....  —  —  —  —  — 

Mehreinfuhr  ....  982.973        2,123.371         6,621.439         1,515.714        1,785.236 

Daraus  erhellt,  dass  unser  Bedarf  in  Roggen  und  Mais  die  Production  schon  seit 
1893  überragt,  dass  wir  Hafer,  nur  noch  gute  Ernten  vorausgesetzt,  Gerste  aber  noch 
regelmässig  in  beträchtlichen  Mengen  ausführen  können.  Unsre  Weizenimporte  seit  1897 
sind  nur  eine  Folge  und  Nachwirkung  der  1897/98 er  Missernten.  Heuer,  nach  Jahren, 
bildeten  sich  wieder  Ansätze  zu  einer  Weizenausfuhr,  naturgemäss  mussten  sie  vermöge 
der  Unrentabilität  unserer  Preise  bald  aufhören.  Hinzuzufügen  ist  noch,  dass  unsere  früher 
gleichfalls  Millionen  Doppelcentner  betragende  Mehlausfuhr  successive  ganz  zusammen- 
schrumpfte und  1899  nur  mehr  38.000  Doppelcentner  betrug.  (Auch  hierin  ist  aber  heuer 
ausnahmsweise  ein  etwas  flotterer  Export  zu.constatieren.) 


526  Oelwein. 

Nach  dem  heutigen  Stande  der  Verhandlungen  im  Abgeordnetenhause 
überwiegt  bereits  der  von  den  Landwirten  Böhmens  gestellte  Antrag, 
dass  die  Eegulierung  der  riüsse  dem  Baue  der  schiffbaren  Canäle  an  wirt- 
schaftlichem Wert  voransteht,  und  es  sollen  von  dem  im  Gesetzentwurfe  für 
den  Ausbau  der  Canäle  seitens  des  Staates  zu  leistendem  Betrage  von 
250  Millionen  Kronen,  75  Millionen  Kronen  für  diese  Flussregulierungen 
abgetrennt  werden. 

Regelung  der  Wasserwirtschaft. 
Die  Regulierung  unserer  Flusse  ist  bei  uns  sehr  zurückgeblieben  — 
man  braucht  nur  auf  die  geradezu  trostlosen  Zustände  hinzuweisen,  die  z.  B. 
im  Marchthale  herrschen,  wo  die  ganzen  Kosten  einer  correcten  Sanierung 
dieser  Verhältnisse  sicher  weniger  betragen,  als  der  Schaden,  den  die  Hoch- 
wässer in  einem  Zeitraum  von  10  Jahren  anrichten.  Von  diesem  Standpunkte 
aus  wird  man  den  Anstoss  für  eine  Regulierung  unserer  Flüsse  nur  bestens 
begrüssen. 

Die  Ingenieur-  und  Architektenvereine  Oesterreichs  haben  sich  mit  dieser 
Frage  sehr  eingehend  beschäftigt.  Flussregulierungen  und  Wasserstrassen 
bilden  jedoch  nur  einen  Theil  einer  rationellen  Wasserwirtschaft,  die  wieder 
nur  dann  eine  zielbewusste  Durchführung  und  Förderung  finden  kann,  wenn 
alle  Agenden  auf  dem  grossen  Gebiete  der  Wasserwirtschaft,  die  heute  in 
drei  Ministerien  zergliedert  sind,  eine  entsprechende  Organisation  und  Ver- 
einigung finden.  Die  Delegiertenconferenz  des  IV.  österreichischen  Ingenieur- 
und  Architektentages  hat  diesfalls^)  alle  geeigneten  Vorschläge  eingehend 
behandelt,  und  es  befinden  sich  die  diesbezüglichen  Anträge  in  Händen  der 
hohen  Regierung  und  der  Mitglieder  der  verschiedenen  Vertretungskörper.  — 
Es  wäre  zu  wünschen,  dass  auch  diese  ernst  erwogenen  und  die  ganze  Wasser- 
wirtschaft Oesterreichs  umfassenden  Anträge  eine  wohlwollende  Aufnahme 
und  eine  zweckentsprechende  Erledigung  fänden. 


')   Punkt  6  k)    der   Tagesordnung:  Wasserwirtschaft   und  Regelung  der  Wasser- 
reclitsverhältnisse.  Wien,  1900. 


DIE  BEWEGUNG  DER  WERTE. 


VON 


DK   ALFRED   SCHWONEE. 


Meines  Wissens  ist  die  zeitliche  Bewegung  der  wirtschaftlichen 
Werte  noch  niemals  untersucht  worden.  Vielleicht  deshalb,  weil  vor  der 
Aufstellung  der  österreichischen  Werttheorie,  vor  der  Darlegung  des 
Zusammenhanges  zwischen  Gebrauch-  und  Tauschwert,  eine  solche  Unter- 
suchung gar  nicht  möglich  war.  Nun  sie  aber  möglich  ist,  darf  sie 
auch  nicht  unterlassen  werden,  da  sie  geeignet  ist,  die  Zinsfuss-  und 
die  Geldtheorie  zu  fördern,  und  namentlich  der  Krisentheorie  eine  Grund- 
lage zu  schaifen.  üeberhaupt  scheint  mir,  dass  von  der  neuen  Werttheorie 
noch  nicht  der  entsprechende  Gebrauch  gemacht  worden  ist.  Auf  die 
Marxistische  Werttheorie,  die  falsch  war,  wurde  das  mächtigste  wirt- 
schaftlich-politische Progi-amm  aufgebaut,  das  je  existierte.  Sollte  es  nicht 
gelingen,  auf  Basis  einer  richtigen  Werttheorie  auch  eine  richtige  praktische 
Lohntheorie  zu  finden?    Doch  nicht  dies  ist  heute  mein  Problem. 

Dem  Praktiker  scheint  es  selbstverständlich,  dass  der  Gesammtwert 
der  Güter  fortwährend  zunimmst,  da  doch  immer  mehr  und  mehr  produciert 
wird  und  er  überhaupt  in  jeder  Beziehung  a  priori  an  den  Fortschritt  glaubt. 
Der  Praktiker  dürfte  recht  haben,  aber  so  selbstverständlich  ist  seine 
Ansicht  nicht.  Wer  den  Zusammenhang  des  Werts  der  Dinge  mit  den 
Bedürfnissen  kennt,  aber  noch  nicht  genau  erfasst,  könnte  ganz  gut  glauben, 
dass  der  Gesammtwert  der  Güter  constant  bleibt,  da  der  Gesammtwert 
jeder  Güterart  abhängig  zu  sein  scheint  von  der  Bedflrfnisgattung,  der 
diese  Güterart  dient,  und  diese  Bedürfnisgattung  constant  erscheint.  Wieder 
einem  anderen  mag  die  völlige  Wertlosigkeit  aller  Güter  als  erreichbares 
Ideal  vorschweben,  eine  Wertlosigkeit  in  dem  Sinne,  wie  das  Wasser 
wertlos  ist,  weil  es  in  so  unerschöpflicher  Menge  existiert,  dass  in  der 
Kegel  von  der  Verfügung  über  eine  bestimmte  Quantität  die  Befriedigung 
unserer  Bedürfnisse  nicht  abhängig  ist.  Ist  es  nicht  dieses,  so  ist  es 
anderes  Wasser.  Schütten  wir  es  weg,  so  haben  wir  nichts  verloren.  Und 
mancher  träumt  vielleicht,  dass  mit  der  Zeit  die  Güterproduction  einen 
solchen  Umfang  gewinnen  wird,  dass  schliesslich  alle  Güter  in  Ueberfluss 
vorhanden  und  wertlos  sein  werden. 


258  Schwoner. 

Indes  zeigt  uns  eine  ökonomische  Erscheinung,  die  Zinsfusserscheinung, 
die  Richtung  der  Wertbewegung  unverkennbar  an.  Da  mit  wenigen  Aus- 
nahmen sämmtliches  Capital,  d.  h.  sämmtliche  Gegenwartsgüter  zinstragend 
angelegt  sind,  so  ergibt  sich  daraus,  dass  der  Gesammtwert  der  Güter 
unausgesetzt  steigen  muss.  Die  Verabredung  beim  Zinsengeschäft  geht  dahin, 
dass  für  gegenwärtige  Güter  von  bestimmtem  Geldwert  ein  Mehrwert  in 
künftigen  Gütern  gegeben  werden  muss.  Wäre  dieser  Mehrwert  nicht  vor- 
handen, so  könnte  er  auch  nicht  gegeben  werden,  darum  ist  das  stetige 
Anschwellen  der  Werte  eine  Voraussetzung  der  Zinsfusserscheinung.  Zwar 
werden  auf  jeden  Fall  gegenwärtige  Güter  höher  geschätzt  als  zukünftige 
von  künftig  gleichem  Werte.  Thatsächlich  ist  mir  die  Befriedigung  gegen- 
wärtiger Bedürfnisse  wichtiger  als  künftiger  gleicher  Bedürfnisse,  die  gleiche 
Rangordnung  der  Bedürfnisse  durch  alle  Lebensalter  vorausgesetzt.  Erstere 
werden  direct,  letztere  nur  durch  das  Medium  der  Vernunft  empfunden. 
Dies  alles  ist  ganz  richtig.  Aber  diese  Höherschätzung  der  Gegenwart  würde 
ohne  das  Anschwellen  des  Gesammtwerts  der  Güter  keinen  Ausdruck  finden 
können,  es  würde  der  Umtausch  gegenwärtiger  Güter  gegen  künftige  mit 
Agio  nur  in  sehr  geringem  Maasse  stattfinden  können.  Ohne  uns  in  eine 
detaillierte  Schilderung  eines  derartigen  Zustandes  einzulassen,  können  wir 
doch  sagen:  Jeder  Credit  bei  constantem  oder  abnehmendem  Güterwert 
wäre  Consumtivcredit  unter  erschwerten  Bedingungen.  Der  Borger  würde 
bei  grösseren  Zins  Verpflichtungen  dem  Untergang  entgegengehen,  jedes 
Zinsdarlehen  wäre  Wucher  und  müsste  verboten  werden. 

Findet  also  thatsächlich  in  der  Wirtschaft  ein  stetiges  Anwachsen  der 
Werte  statt  und  aus  welchem  Grunde?  Es  kann  sich  hier  natürlich  nur 
um  die  Tauschwerte  handeln,  welche  von  den  subjectiven  Wertschätzungen 
abgeleitet,  aber  mit  ihnen  nicht  identisch  sind;  sie  sind  immer  geringer 
als  die  subjectiven  Wertschätzungen,  weil  jeder  nur  kauft,  wenn  er  einen 
Vortheil  davon  hat.  Die  subjectiven  Werte  sind  nicht  constatierbar,  nicht 
messbar,  die  Tauschwerte  hingegen  sind  messbar  und  werden  in  Geld 
gemessen.  Es  handelt  sich  also  um  das  Anwachsen  der  Güterwerte  in  Geld 
ausgedrückt,  d.  i.  des  Gesammtpreises  aller  Waren.  Wir  gehen  hiebei 
wenigstens  vorläufig  von  der  Voraussetzung  aus,  dass  der  Geldwert  selbst 
constant  ist.  Den  Gesammtwert  einer  jeden  Warenkategorie,  die  einen  Markt- 
preis hat,  erhält  man,  indem  man  diesen  Preis  mit  der  Anzahl  aller  Güter, 
welche  dieser  Kategorie  angehören,  multipliciert.  Der  Preis  aber  wird 
bestimmt  durch  die  Wertschätzung  des  letzten  Käufers.  Diese  kurze,  nicht 
ganz  genaue  Formel  gebrauchen  wir  hier  nach  Böhm-Bawerk,  indem 
wir  die  bei  der  heutigen  Wirtschaftsordnung  zweifellos  gestattete  Annahme 
machen,  dass  der  Verkäufer  für  die  von  ihm  massenhaft  ausgebotenen  Waren 
gar  keine  subjective  Wertschätzung  mehr  hat  und  bereit  ist,  sie  im  Noth- 
falle  lieber  zu  jedem  Preise  loszuschlagen  als  sie  zu  behalten. 

Was  heisst  nun  das:  „Wertschätzung  des  letzten  Käufers?"  Bei 
allen  Gegenständen,  welche  wirtschaftlichen  Wert  haben,  ist  die  Nachfrage 
grösser  als  das  Angebot,    und   es   muss   unter  der  Nachfrage  eine  Auslese 


Die  Bewegung  der  Werte.  259 

getroffen  werden.  Es  wird  nun  von  der  Nachfrage  nur  ein  solcher  Theil 
berücksichtigt,  welcher  dem  Quantum  des  Angebots  gleichkommt,  und  zwar 
nur  derjenige  Theil,  welcher  die  Ware  im  Verhältnis  zur  Tauschware,  zum 
Geld,  am  höchsten  schützt.  Diese  Wertschätzungen  sind  total  verschieden, 
aber  sie  lassen  sich  in  eine  abfallende  Keihe  bringen,  und  die  niedrigste 
in  Betracht  kommende  Wertschätzung,  die  Schätzung  des  letzten  zum  Kauf 
noch  zugelassenen  Nachfragenden,  bestimmt  den  Preis.  Denn  es  gibt  auf 
dem  offenen  Markte  für  gleiche  Ware  nur  einen  einheitlichen  Preis,  und 
wäre  dieser  höher  als  die  Wertschätzung  des  letzten  Käufers,  so  bliebe 
ein  Theil  der  Ware  unverkauft,  was  bei  freiem  Verkehr  wenigstens  in  der 
Kegel  nicht  stattfinden  kann.  Es  kommt  also  an:  1.  auf  das  Quantum  des 
Angebots,  durch  welches  die  Zahl  der  Käufer  bestimmt  wird,  2.  auf  die 
subjective  Wertschätzung  der  beiden  Waren  durch  den  letzten  Käufer,  der 
Ware,  die  er  kaufen  will,  und  der  Ware,  die  er  dafür  gibt,  des  Geldes. 
Diese  subjective  Wertschätzung  der  Waren  hängt  wieder  ab  von  der  Anzahl 
und  Intensität  der  Bedürfnisse,  zu  deren  Befriedigung  diese  Waren  dienen, 
und  von  der  Art,  in  welcher  diese  Bedürfnisse  bei  dem  Kauflustigen  bereits 
bedeckt,  diese  Güter  bereits  vorhanden  sind.  Es  ist  z.  B.  klar,  dass  ein 
armer  Mann  eine  bestimmte  Quantität  von  Nahrungsmitteln  subjectiv  höher 
schätzen  wird  als  ein  reicher;  denn  bei  gleichem  Nahrungsbedürfnisse  ist 
er  mit  Nahrungsmitteln  viel  schlechter  versorgt,  für  ihn  hängt  von  dem 
Besitze  dieser  Nahrungsmittel  wirklich  die  Stillung  des  Hungers  und  die 
Erhaltung  des  Lebens  ab,  für  den  Reichen  nur  die  Befriedigung  höchst 
untergeordneter  Gaumenreize  oder  irgendwelcher  conventioneller  Bedürf- 
nisse. Aber  auf  der  andern  Seite  schätzt  der  arme  Mann  eine  bestimmte 
Geldquantität  noch  in  viel  grösserem  Grade  höher  als  der  Reiche.  Hat  er 
z.  B.  für  den  Tag  nur  einen  Gulden  zur  Verfügung,  der  Reiche  hingegen 
100  Gulden,  so  kann  der  Reiche  im  Nothfall  die  Befriedigung  desselben 
Bedürfnisses  in  Geld  100  mal  so  hoch  schätzen  als  der  Arme.  Aus  diesem 
Grunde  können  die  subjectiven  Wertschätzungen  des  Armen  gegenüber 
denen  des  Reichen  auf  dem  Markte  überhaupt  nur  selten  zum  Durchbruch 
gelangen,  nur  bei  jenen  Gütern,  die  in  sehr  grossen  Quantitäten  vorhanden 
sind,  in  denen  der  Bedarf  aller  Reicheren  bereits  soweit  gedeckt  ist,  dass 
für  sie  nur  mehr  die  Befriedigung  ganz  minimaler,  kaum  wahrnehmbarer 
Bedürfnisse  von  der  Verfügung  über  weitere  Güter  abhängt,  so  dass  ihre 
Geldschätzung  weiterer  Güter  sogar  unter  der  Geldschätzung  des  Armen 
steht.  Dies  muss  aber  bei  allen  Gütern  der  Fall  sein,  welche  zur  Erhaltung 
des  Lebens  unentbehrlich  sind,  von  diesen  müssen  die  nöthigen  Quanti- 
täten auch  den  Aermsten  zur  Verfügung  stehen.  Wo  nicht,  träte  eben  ein 
grosses  Sterben  ein.  Mit  dem  Vorstehenden  ist  nicht  gesagt,  dass  der  letzt- 
zugelassene Käufer  immer  der  Aermste  ist. 

Kurz  zusammengefasst,  ergibt  sich:  Der  Preis  eines  Gutes  hängt  ab 
von  der  verfügbaren  Quantität,  von  der  Zahl  und  Art  der  Bedürfnisse,  die 
in  dem  Gut  Befriedigung  suchen,  und  schliesslich  von  der  Art,  wie  die 
Kaufkraft,  also  das  Vermögen  in  der  Bevölkerung  vertheilt  ist.     Der  Wert 


260  Schwoner. 

der  Gesammtgüter  ist  eine  Summe,  deren  zahlreiche  Addenden  Producte 
sind  aus  Preis  und  Quantität  der  einzelnen  Warengattung.  Solange  also 
Quantität  der  Güter,  Zahl  der  Bedürfnisse  (Bevölkerungsziffer),  Art  der 
Bedürfnisse  und  Vertheilung  des  Keichthums  in  einem  Volk  unverändert 
bleiben,  solange  kann  sich  auch  der  Güterwert  nicht  ändern.  Mit  den 
Bestimmgründen  ändert  er  sich. 

Betrachten  wir  zunächst  eine  Veränderung  der  minder  wichtigen 
Bestimm  grün  de;  der  Art  der  Bedürfnisse  und  der  Vertheilung  des  Keich- 
thums. Es  ist  selten,  dass  die  Art  der  Bedürfnisse  bei  gleichbleibenden 
Gütersorten  und  -Quantitäten  sich  ändert.  Das  Auftauchen  qualitativ  neuer 
Bedürfnisse  (z.  B.  das  Aufkommen  des  Kauchens)  hat  gewöhnlich  seine 
Ursache  in  der  Entdeckung,  dass  gewisse  Dinge  bisher  unbekannte  Reize 
auf  unsere  Nerven  ausüben.  Dadurch  erhalten  diese  Dinge  Wert,  aber  sie 
werden  gleichzeitig  auch  zu  Gütern,  was  sie  früher  nicht  waren.  Die 
Quantität  der  Güter  mehrt  sich  von  selbst.  Nun  ist  aber  auch  der  Fall 
möglich,  dass  solche  neue  Qualitäten  an  Dingen  entdeckt  werden,  die  schon 
bisher  zur  Befriedigung  anderer  Bedürfnisse  geeignet  waren,  daher  Güter- 
cliarakter  hatten  (z.  B.  Spiritusbereitung  aus  Kartoffeln).  Gesetzt  nun  den 
Fall,  dass  diese  Güter  nicht  in  erhöhtem  Maasse  produciert  werden  können 
(ja  wir  lassen  vorläufig  die  Möglichkeit  und  Natur  der  Production  überhaupt 
ausser  Betracht),  so  würde  natürlich  auch  bei  unveränderter  Bevölkerungs- 
ziffer die  Wertschätzung  dieser  Güter  steigen.  Von  den  früheren  Käufern 
würde  eine  Anzahl  ausgeschlossen  werden,  diejenigen,  welche  das  neue 
Bedürfnis  nicht  empfinden  und  daher  die  Sache  nicht  höher  schätzen  als 
früher,  und  diejenigen,  welche  durch  geringes  Vermögen  verhindert  sind, 
ihrer  Höherschätzung  Ausdruck  zu  geben.  Der  letzte  Käufer  würde  aus 
einer  kaufkräftigem  Schichte  entnommen  werden  als  früher. 

Den  Einfluss  der  verschiedenen  Kaufkraft  auf  die  Preisbildung  haben 
wir  schon  oben  angedeutet.  Er  lässt  sich  folgendermaassen  präcisieren : 
Steht  die  Kaufkraft  aller  ungefähr  auf  dem  gleichen  Niveau,  wie  dies  z.  B. 
im  socialistischen  Zukunftsstaat  der  Fall  wäre,  so  würde  bei  der  Preis- 
bildung die  Resultante  der  individuellen  Wertschätzungen,  der  individuellen 
Rangordnungen  der  Bedürfnisse  ziemlich  rein  zum  Ausdruck  kommen.  Da 
man  annehmen  kann,  dass  diese  Rangordnung  der  Bedürfnisse  bei  den  ein- 
zelnen Individuen  nicht  sehr  verschieden  ist,  so  würde  möglicherweise  im 
grossen  und  ganzen  jeder  so  ziemlich  die  gleiche  Quantität  an  einzelnen 
Gütern  besitzen.  Gewiss  ist  aber,  dass  bei  gleicher  Quantität  die  Massen- 
bedarfsartikel relativ  höher  im  Preis  stehen  würden  als  gegenwärtig.  Denn 
jetzt  müssen  die  höchsten  Bedürfnisse  der  zahlreichen  Armen  vor  den 
niedrigsten  Bedürfnissen  der  wenigen  Reichen  zurückweichen,  die  höheren 
Wertschätzungen  der  Armen  für  die  gewöhnlichen  Gebrauchsartikel  kommen 
nicht  ganz  zur  Geltung.  Dagegen  müsste  der  Preis  von  Luxusartikeln  und 
seltenen  Gütern  ausserordentlich  zurückgehn,  weil  niemand  vorhanden  wäre, 
welcher  Preise,  den  heutigen  ähnlich,  bezahlen  könnte.  Vielleicht  übrigens, 
dass  derartige  Güter  von    ausserordentlicher  Schönheit  und   solcher  Selten- 


Die  Bewegung  der  Werte.  261 

heit,  dass  nicht  auf  jedes  Mitglied  der  Gemeinschaft  eines  entfallen  könnte, 
)Diamanten  etc.)  als  heilige  Steine  ausschliessliches  Eigenthum  der  Gesammt- 
heit  würden.  Dann  könnte  ihnen  eventuell  doch  ein  hoher  Wert,  wenn  auch 
kein  Marktwert,  zukonamen,  und  relativ  viel  Arbeit  auf  sie  verwendet  werden. 
Je  stärker  aber  der  Gesellschaftszustand  sich  von  diesem  Gleichheitsniveau 
entfernt,  desto  niedriger  wird  relativ  der  Preis  der  zum  Leben  unentbehr- 
lichen Güter,  desto  höher  der  Preis  der  entbehrlichen  und  seltenen  Güter. 

Die  zwei  Hauptbestimmgründe  des  Preises  sind  aber  die  Anzahl  der 
Bedürfnisse  (Bevölkerungsziffer)  und  die  Quantität  der  Güter.  Wenn  die 
Bevölkerungsziffer  steigt,  wird  die  Nachfrage  nach  den  (constant  gebliebenen) 
Gütern  selbstverständlich  grösser,  die  Zahl  der  Bedürfnisse  mehrt  sich.  Es 
fragt  sich  nur,  ob  auch  die  kaufkräftige  Nachfrage  grösser  wird,  ob  die 
neuen  Bedürfnisse  ihre  Befriedigung  durchsetzen  können.  Soweit  es  sich  um 
solche  Bedürfnisse  handelt,  in  welchen  sich  der  Trieb  der  Lebenserhaltung 
äussert,  ist  die  Befriedigung  selbstverständlich.  Die  neuen  Menschen  raüssten 
sonst  zugrunde  gehen,  ein  Anwachsen  der  Bevölkerung  wäre  nicht  möglich. 
Diese  Güter  müssen  also  aus  früheren  weniger  wichtigen  Verwendungsaiten 
herausgezogen  werden;  dies  kann  nur  geschehen,  indem  ein  erhöhter  Preis 
für  sie  bewilligt  wird,  welchen  eine  Anzahl  von  Leuten,  die  früher  grössere 
Quantitäten  dieser  Güter  an  sich  zogen  und  untergeordnete  Bedürfnisse  daraus 
befriedigten,  für  die  Befriedigung  dieser  niedrigeren  Bedürfnisse  nicht  mehr 
bezahlen  will.  Wären  die  letzten  Käufer  früher  unter  den  Aermsten  gewesen, 
so  dass  sie  bei  einer  Preiserhöhung  auf  die  Befriedigung  ihrer  unentbehrlichen 
Lebensbedürfnisse  verzichten  müssten,  so  wäre  gleichfalls  eine  Vermehrung 
der  Bevölkerung  nicht  möglich.  Eine  Vermehrung  der  Bevölkerung  bei 
gleichbleibender  Güterquantität  ist  nur  dann  möglich,  wenn  diese  Quantität 
wenigstens  so  reichlich  ist,  dass  die  niedrigste  Wertschätzung  der  Güter 
keinem  unentbehrlichen  Lebensbedürfnisse  entspringt,  sondern  bei  irgend 
einer  Wohlhabenheitsciasse  sich  auf  ein  Bedürfnis  bezieht,  das  eventuell 
auch  unbefriedigt  bleiben  kann.  Z.  B.  wenn  Nahrungsmittel  etwa  ziemlich 
allgemein  zur  Fütterung  von  Hausthieren,  Vögeln  etc.  verwendet  werden. 
Das  kann  eventuell  auch  wegfallen.  Die  niedrigste  Wertschätzung  wird  also 
bei  Bevölkerungszuwachs  höher,  als  sie  es  früher  war,  die  Preise  steigen, 
und  da  wir  die  Quantität  als  unverändert  annehmen,  auch  der  Gesammtwert 
dieser  unentbehrlichen  Güter.  Bei  Verminderung  der  Bevölkerung  findet  der 
umgekehrte  Process  statt.  Bezüglich  der  Luxuswaren  ist  diese  Wertsteigerung 
nicht  unbedingt  nothwendig,  hier  kommt  es  auf  die  Zunahme  der  wohl- 
habenden Bevölkerung  an,  was  mit  der  Zunahme  der  Bevölkerung  an  sich 
nicht  identisch,  ja  bei  unserer  Voraussetzung  der  constant  gebliebenen  Güter- 
quantität sogar  unwahrscheinlich  ist. 

Eine  Vermehrung  der  Güterquantitäten  unter  sonst  gleichen  Umständen 
muss  naturgemäss  die  Reihe  der  Käufer  vergrössern  und  daher  niedrigere 
Wertschätzungen  zur  Preisbestimmung  heranziehen.  Die  Preise  werden 
daher  sinken,  andererseits  steigt  die  Quantität.  Es  lässt  sich  nun  nicht  von 
vornherein  sagen,  ob  das  Product  von  Preis  uml  Quantität  nunmehr  grösser 


262  Schwoner. 

oder  geringer  ist  als  bisher.  In  Bezug  auf  die  subjective  Wertschätzung,  in 
Bezug  auf  die  Einzelwirtschaft  ist  es  allerdings  ein  Nonsens,  dass,  wenn 
zu  einem  Gütervorrath  neue  Güter,  die,  wenn  auch  einen  geringern,  so  doch 
irgend  einen  Wert  haben,  hinzutreten,  der  Gesammtwert  des  Götervorraths  hie- 
durch  abnehmen  könne.  Für  meine  Bedürfnisbefriedigung  ist  dadurch  doch 
besser  vorgesorgt  als  früher.  Und  hierin  scheint  ein  Argument  gegen  die 
B  ö  h  m  -  B  a  w  e  r  k'sche  Grenzwerttheorie  zu  wachsen,  nach  welcher  dies  mög- 
lich wäre.  Der  Widerspruch  dürfte  sich  dadurch  auflösen  lassen,  dass  in 
einer  isolierten  Wirtschaft  gleiche  Güter  nur  in  beschränktem  Sinne  gleichen 
Wert  besitzen.  Habe  ich  z.  B.  für  meinen  Jahresbedarf  fünf  Säcke  Getreide, 
von  denen  einer  zur  Stillung  des  Hungers,  einer  zur  reichlichen  Ernährung, 
einer  als  Saatgetreide,  einer  als  Reserve,  der  letzte  etwa  zur  Fütterung 
von  Thieren  verwendet  wird,  so  ist  allerdings  der  Wert  irgend  eines  dieser 
Säcke  durch  den  geringsten  Nutzen  bestimmt.  Denn  wenn  mir  irgend  einer 
der  Säcke  vernichtet  wird  oder  wenn  ich  irgend  einen  von  ihnen  entgeltlich 
oder  unentgeltlich  weggebe,  so  werde  ich  deshalb  nur  auf  den  geringsten 
Nutzen,  die  Thierfütterung,  verzichten,  und  es  ist  ganz  einerlei,  welcher 
Sack  mir  verloren  geht.  Die  Säcke  sind  gleichartig,  d.  h.  vertretbar.  That- 
sächlich  aber,  bei  ihrer  Verwendung,  sind  sie  nicht  gleichwertig;  der  eine 
Sack,  den  ich  zu  meiner  Nahrung  verwende,  —  ich  kann  allerdings  jedem 
beliebigen  diese  Rolle  zuweisen  —  ist  mir  mehr  wert  als  die  übrigen. 
Wenn  ich  den  Gesammtwert  der  fünf  Säcke  für  meine  Wirtschaft  bestimmen 
will,  so  muss  ich  die  fünf  verschiedenen  Werte  addieren,  ich  kann  nicht 
den  Grenzwert  mit  fünf  multiplicieren,  ich  werde  meine  fünf  Säcke  nicht 
um  das  Fünffache  desjenigen,  was  ich  für  einen  Sack  verlange,  hergeben. 
Anders  ist  es  auf  dem  Markte.  Da  ist  thatsächlich  die  niedrigste 
subjective  Wertschätzung  der  Käufer  für  alle  Waren  bestimmend,  nicht  die 
Durchschnittsschätzung.  Auch  wenn  z.  B.  jemand  mehrere  Quantitäten 
kaufen  will,  die  für  ihn  verschiedene  Bedürfnisbefriedigungen  bedeuten  und 
daher  verschiedenen  Wert  besitzen,  daher  er  einen  Durchschnittspreis 
bezahlen  könnte,  wird  er  jedesfalls  besser  herauskommen,  wenn  er  nur  die- 
jenigen Quantitäten  kauft,  die  für  ihn  mehr  wert  sind  als  der  Marktpreis, 
und  auf  die  anderen  ganz  verzichtet.  Auf  dem  Markte  also  ist  eine  Wert- 
verminderung bei  vermehrter  Quantität  an  sich  sehr  wohl  möglich  und 
kommt  auch  thatsächlich  vor.  Daher  die  Restrictionen  der  Production,  die 
doch  so  häufig  sind,  daher  die  Zurückhaltung,  Verheimlichung  und  selbst 
Vernichtung  von  Quantitäten  nützlicher  Güter,  ein  merkwürdiges  Schauspiel, 
das  bekanntlich  für  Proudhon  den  Anlass  zum  Studium  der  wirtschaft- 
lichen Verhältnisse  geboten  haben  soll,  das  sich  erst  vor  wenigen  Jahren 
in  Griechenland  anlässlich  einer  zu  reichlichen  Korinthenernte  wiederholte. 
Aber  schon  diese  Beispiele  beweisen,  dass  eine  solche  Wertverminderung 
durch  Qu  an  titäts  Vermehrung  auf  die  Dauer  nicht  möglich  ist.  Eine  wert- 
mindernde Quantitätsvermehrung  wird  eben  nicht  zugelassen.  Aber  auch 
dies  ist  nicht  so  selbstverständlich,  als  es  scheint.  Wenn  die  ganze  Wirt- 
schaft unter  einer  Leitung  stünde    oder  wenigstens  jeder  Productionszvveig 


J 


Die  Bewegung  der  Werte.  263 

cartellistisch  oder  monopolistisch  betrieben  würde,  dann  könnte  allerdings 
immer  der  grösstmöglichste  Wert  erreicht  werden,  es  würde  stets  diejenige 
Quantität  erzeugt  werden,  die,  mit  dem  Preis  multipliciert,  das  grösste 
Product  ergibt.  Aber  bei  dem  Mangel  einer  solchen  Organisation,  wo  liegt 
da  die  Gewähr,  dass  durch  die  Productionsvermehrung  nicht  eine  Wert- 
verminderung bewirkt  wird?  Was  kümmert  es  denn  die  Producenten  eigent- 
lich, ob  die  Güter  der  letzten  Productionsperiode  einen  höheren  Wert  hatten 
als  die  der  gegenwärtigen?  Für  die  Producenten  kommt  es  ja  nicht  auf 
dieses  Wertverhältnis  an,  sondern  nur  auf  das  Verhältnis  des  Wertes  der 
Güter  zu  ihren  Produetionskosten.  Dass  der  Wert  der  producierten  Güter 
grösser  sein  muss  als  der  Wert  der  gesammten  auf  die  Production  ver- 
wendeten Güter,  ist  wohl  unbestreitbar,  aber  gleichfalls  kein  Axiom.  In 
diesem  Satze  birgt  sich  eben  das  Zinsfussproblem,  auf  das  wir  hier  nicht 
näher  eingehen  wollen.  Unsere  Aufgabe  ist  es  nur,  zu  zeigen,  wie  dieser 
Mehrwert  überhaupt  möglich  ist,  welchen  der  Bestand  der  Zinsfusserscheinung 
verlangt.  Also,  der  Wert  der  gegenwärtigen  Güter  muss  jedesfalls  grösser 
sein  als  ihre  Produetionskosten.  Was  sind  aber  diese  Produetionskosten? 
Das  sind  nahezu  alle  Güter  der  früheren  Productionsperiode  (Rohproducte, 
Halbfabricate,  eigentliche  Productionsmittel  wie  Maschinen,  Bahnen, 
Feuerungsmittel,  schliesslich  die  Unterhaltsmittel  der  Arbeiter  und  Beamten). 
Produetionskosten  sind  das,  was  den  Leitern  der  Production,  also  gegen- 
wärtig den  Capitalisten,  bloss  Mittel  ist  und  nicht  Zweck,  das  sind 
also  alle  Güter  mit  Ausnahme  derer,  die  sie  selbst  consumieren.  Eventuell 
kann  der  Capitalist  noch  genauer  rechnen,  und  auch  seinen  eigenen  unent- 
behrlichen Lebensbedarf  zu  den  Productionsmitteln  rechnen.  Aber  was 
darüber  hinausgeht,  ist  jedesfalls  Zweck  seiner  Production,  nicht  mehr 
Mittel.  Daraus  geht  hervor,  dass  ein  ständiges  Anwachsen  des  Gesammt- 
werts  allerdings  nur  dann  nothwendig  eintritt,  wenn  von  Jahr  zu  Jahr  mehr 
in  die  Production  hineingesteckt  wird,  wenn  nicht  der  ganze  Ueberschuss 
der  Production  über  die  Produetionskosten  von  den  Capitalisten  verzehrt 
wird,  sondern  neues  Capital  gebildet  wird.  Aber  dieselben  Umstände,  welche 
die  Capitalsbildung  und  die  capitalistische  Wirtschaftsform  hervorgerufen 
haben,  bewirken  auch  heute  noch  eine  stete  Neu-  und  Fortbildung  des 
Capitals.  Eine  vermehrte  Quantität  hat  aber  fast  immer  eine  Erhöhung  der 
Produetionskosten  zur  Voraussetzung.  Bei  industriellen  Artikeln  ist  ja  bei 
gleichem  Stand  der  Technik  das  Verhältnis  zwischen  Produetionskosten  und 
Quantität  der  Production  ziemlich  constant,  nur  dass  die  Generalunkosten 
relativ  etwas  abnehmen.  Selbst  bei  der  Urproduction,  selbst  beim  Ackerbau, 
wo  doch  die  Quantität  der  Production  mehr  Zufallssache  ist,  geht  das  doch 
nur  soweit,  dass  z.  B.  die  gleichen  Vorarbeiten  ein  sehr  verschiedenes 
Resultat  haben  können,  jedesfalls  verursacht  aber  eine  grössere  Ernte 
grössere  Einbringungs-  und  grössere  Transportkosten. 

Wie  jedoch,  wenn  infolge  technischer  Neuerungen  die  Produetions- 
kosten eines  oder  vieler  Artikel  sich  abnorm  vermindern?  Wäre  da  nicht 
eine  Reduction  des  Gesammtwertes  möglich?    Z.   B.   Man  hat   bisher   ipit 


264  Scliwoner. 

Unkosten  von  100  Gulden  100  Quantitäten  erzeugt,  welche  einen  Preis 
von  110  Gulden  erzielt  haben,  Gewinn  10  Gulden.  Nunmehr  gelingt  es, 
die  Productionskosten  für  100  Stück  auf  50  Gulden  zu  reducieren.  Die 
Erzeugung  von  150  Stück  kostete  demnach  nur  75  Gulden.  Wenn  man 
also  150  Quantitäten  jetzt  um  100  Gulden  verkauft,  die  grössere  Quantität 
zu  geringerem  Tauschwert,  so  hat  man  noch  immer  einen  Vortheil  davon. 
Kann  nicht  auf  diese  Weise  der  Gesammtwert  herabgedrückt  werden? 
Nein,  denn  der  Capi talist  wird  auch  die  25  Gulden  nicht  brach  liegen 
lassen,  er  wird  entweder  nach  wie  vor  sein  ganzes  Capital  in  seinem 
Productionszweig  verwenden  und  etwa  200  Quantitäten  eventuell  auch  zu 
einem  Preise  von  130  Gulden  hergeben,  oder  wenn  er  den  Preis  seines  Artikels 
durch  allzugrosse  Production  zu  sehr  herabdrücken  würde,  das  freiwerdende 
Capital  anderswo  verwerten,  jedenfalls  aber  für  seine  100  Gulden  mehr  als 
110  Gulden  erzielen.  Allenfalls  kann  dieses  freiwerdende  Capital  bei  der  Neu- 
production  verwendet  werden,  welche  durch  diese  technische  Neuerung  ent- 
standen ist,  bei  der  Herstellung  der  betreffenden  Maschinen  etc.  In  den 
obenerwähnten  Productionskosten  von  50  Gulden  muss  wohl  schon  die 
Verzinsung  und  Amortisation  des  für  die  neuen  Maschinen  investierten 
Capitals  enthalten  sein,  sonst  wären  die  Productionskosten  eben  höher,  aber 
dieses  Capital  ist  nicht  darin  enthalten.  Es  ist  sehr  häufig,  ja  Böhm- 
B awerk  bezeichnet  es  sogar  als  die  Eegel,  dass  die  technische  Verbesserung, 
die  Erhöhung  des  Ertrags  nicht  capitalsparend,  sondern  capitalverbrauchend 
wirkt,  dass  die  capitalistische  Vorarbeit  vergrössert,  „die  Productionsdauer" 
verlängert  wird. 

Unser  Beweisgang  ist  vollendet:  das  Entstehen  qualitativ  neuer 
Bedürfnisse  und  die  quantitative  Vermehrung  der  Bedürfnisse  (der  Bevöl- 
kerung) sind  directe  Motive  der  Wertsteigerung.  Die  wachsende  Ungleich- 
heit der  Vermögensvertheilung  erhöht  den  Tauschwert  der  Luxusgüter, 
vermindert  den  Tauschwert  der  Massenartikel  und  dürfte  die  eine  ihrer 
Wirkungen  durch  die  andere  paralysieren.  Durch  Quantitätssteigerung 
ist  eine  Wertvermehrung  möglich,  aber  an  sich  nicht  nothwendig.  Die 
Möglichkeit  genügt  jedoch  dem  wirtschaftenden  Sinne,  dessen  richtung- 
gebende Tendenz  gerade  die  Wertvermehrung  ist,  um  daraus  eine  Wirk- 
lichkeit zu  schaffen. 

Bis  jetzt  haben  wir  aber  vorausgesetzt,  dass  der  Wertmaasstab  selbst, 
das  Geld,  einen  constanten  subjectiven  Wert  besitzt.  Ist  diese  Voraus- 
setzung gestattet?  Das  ist  keine  so  einfache  Frage.  Wenn  die  Werttheorie 
richtig  ist,  muss  sie  auch  für  das  Geld,  vor  allem  aber  für  das  Geld- 
metall gelten.  Es  muss  also  auch  beim  Geldmetall  —  sehen  wir  der 
Einfachheit  halber  von  allen  Complicationen  ab  und  setzen  als  einziges 
Geldmetall  das  Gold  —  der  Grenznutzen  den  subjectiven  Wert  bestimmen. 
Es  gibt  demnach  nicht  etwa  ein  fixes  Verhältnis  zwischen  dem  Gesammt- 
wert aller  Geldquantitäten  und  dem  Wert  der  Gesammtquantitäten  aller 
übrigen  Warengruppen,  sondern  der  kleinste  Nutzen  der  Quantitätseinheit 
deg   Goldes  bestimmt  dessen    subjectiven    Wert   und    später   dessen    Kauf- 


Die  Bewegung  der  Werte.  265 

krat't.  Wir  setzen  den  Fall,  der  Wert  der  Geldeinheit  bliebe  niclit  constant, 
sondern  ändere  sich  in  gleicher  Weise  mit  dem  Durchschnitt  der  übrigen 
Warengruppen.  Welch  ein  unverlässlicher  Wertmesser  wäre  dann  das  Geld! 
Steigt  es  z.  B.  bei  gleichbleibender  Güterquantität  und  zunehmender 
Population  mit  den  übrigen  Waren  gleichmässig  an  Wert,  so  ist  das,  was 
früher  eine  Unze  Gold  wert  war,  auch  jetzt  eine  Unze  Gold  wert,  obwohl 
dies  subjectiv  für  die  menschliche  W^ohlfahrt  mehr  zu  bedeuten  hat  als 
früher.  Sinkt  umgekehrt  bei  gleichbleibender  Population  und  zunehmender 
Güterquantität  der  subjective  Wert  des  Geldes  in  gleicher  Weise  wie  der  der 
übrigen  Waren,  so  bleibt  der  Geldpreis  der  "Wareneinheit  wieder  unver- 
ändert, obzwar  sich  ihr  subjectiver  Wert  verändert  hat,  und  es  würde  in 
diesem  Falle  jede  Quantitätsvermehrung  eine  scheinbare  Wertvermehrung 
mit  sieh  bringe.  Die  Wertmessung  wäre  gar  nichts  wert.  Es  wäre  ungefähr 
so,  wie  ein  Metermaass,  das  durch  Zauberkraft  immer  so  gross  wurde,  wie 
die  zu  messende  Ware.  Untersuchen  wir  also  die  Wertveränderungen  des 
Goldes  und  des  Geldes.  Wäre  das  Gold  nicht  auch  Geldmetall,  sondern 
nur  Schmuck  .und  Zierat,  so  würde  es  unzweifelhaft  ziemlichen  Wert- 
veränderungen unterliegen,  wenn  auch  vielleicht  niclit  so  grossen  wie  die 
unentbehrlichsten  Lebensgüter.  Denn  durch  die  Zunahme  der  Bevölkerung 
an  sich  würde  das  Gold  gleich  den  übrigen  Luxuswaren  keine  Wertsteigerung 
erfahren,  Wohl  aber  müsste  bei  verstärkter  Production  unter  sonst  gleichen 
Umständen  auch  auf  solche  Käufer  reflectiert  werden,  welche  ihr  Schmuck- 
bedürfnis geringer  einschätzen,  und  der  Preis  der  Goldeinheit  würde  sinken. 
Durch  die  Annalime  des  Goldes  als  circulierenden  Wertmessers  haben  sich 
jedoch  wichtige  Factoren  der  Wertbildung  geändert.  Erstens  findet  ein 
unmittelbarer  Austausch  des  Goldes  gegen  andere  Ware  in  der  Kegel  gar 
nicht  mehr  statt,  sondern  es  wird  das  Gold  nur  an  sich  selbst  gemessen. 
Ob  der  Goldproducent  nun  seine  Ausbeute  dem  Goldschmied  oder  der 
Münze  verkauft,  er  erhält  wieder  Gold  dafür,  wenngleich  in  geänderter 
Form  (geprägt)  und  in  etwas  geringerer  Quantität,  je  nach  dem  Schlag- 
schatz, welchen  sich  der  Staat  berechnet.  Der  Geldwert  des  Goldes  kann 
nur  mit  diesem  Schlagschatz  wesentlich  geändert  werden.  Weniger  durch 
die  industrielle  Verwendung.  Im  allgemeinen  —  die  freie  Prägung  als 
selbstverständlich  vorausgesetzt  —  wird  Gold  der  industriellen  Verwendung 
überhaupt  nur  zugeführt  werden,  wenn  der  Goldschmied  einen  kleineren 
Abzug  von  der  Goldquantität  macht  als  der  Staat.  Der  Schlagschatz  begrenzt 
die  Wertschwankungen  des  Goldes  gegenüber  dem  Geld.  Geht  die  industrielle 
Verwendung  des  Goldes  zurück,  kommt  Goldschatz  und  Goldzierat  aus  der 
Mode,  so  gelangt  eben  alles  neue  Gold  in  die  Münze,  eventuell  sogar 
alles  Goldgeräthe.  Wird  umgekehrt  Gold  zu  industriellen  Zwecken  sehr 
begehrt,  so  Avird  doch  niemals  für  eine  Quantität  ungemünzten  Goldes 
mehr  gegeben  werden,  als  die  gleiche  Quantität  gemünzten  Goldes,  denn 
da  ist  es  ja  einfacher,  die  Goldmünzen  einzuschmelzen.  Von  dem  grösseren 
oder  geringeren  industriellen  Goldbedarf  hängt  daher  nicht  der  Goldpreis, 
sondern  nur   eine  Verminderung,    beziehungsweise    Vermehrung    des    Gold- 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  un-l  Verwaltung;.  X.  Band.  18 


266  Schwoner. 

geldes  ab.  Wie  verhält  sich  aber  der  Wert  des  Geldes  zu  allen  anderen 
Waren?  Da  ist  festzustellen,  dass  das  Geld  gegenüber  den  andern  Waren 
einen  geradezu  unbegrenzte  Absatzfähigkeit  hat,  da  es  gegen  alle  andern 
Waren  umgetauscht  werden  kann,  während  jede  andere  Warenkategorie  das 
Geld  allein  als  Tauschobject  sich  gegenüber  hat.  Nothverkäufe  von  Geld 
kommen  wohl  auch  vor,  sind  aber  höchst  selten.  Stellen  wir  uns  das  praktisch 
vor.  Der  Goldgräber,  der  Minenbesitzer  hat  sein  Gold  prägen  lassen,  er 
hat  jetzt  seinen  ganzen  Bruttoertrag  nicht  den  Nettoertrag  allein,  in  Gold- 
Jetzt  ist  schwer  abzusehen,  wie  dieser  Umstand  preissteigernd  wirken, 
warum  die  Besitzer  gerade  jetzt  geneigt  sein  sollte,  mehr  Geld  für  andere 
Waren  zu  geben.  Er  wird  natürlich  an  und  für  sich  infolge  des  gemachten 
Gewinns  kaufkräftiger  sein,  die  Geldeinheit  wird  für  ihn  subjectiv  weniger 
wert  sein  als  vor  dem  Gewinn.  Aber  dass  er  mit  seinem  Gold  ver- 
schwenderischer umgehen  sollte,  als  wenn  er  auf  irgend  einem  anderen 
Productionsgebiete  einen  Gewinn  in  bereits  vorhandenem  Gelde  gemacht 
hätte,  ist  nicht  wahrscheinlich.  Kommt  das  neue  Gold,  wie  wahrscheinlich, 
in  eine  Notenbank,  so  mag  der  Leihpreis  des  Geldes  geringer  werden, 
aber  die  Kaufkraft  nicht.  Im  Gegentheile  der  billigere  Discont  erhöht  die 
Handelsthätigkeit,  die  Concurrenz  der  Kaufleute,  und  hat  eher  eine  Ver- 
billigung  als  eine  Vertheuerung  der  Waren  zur  Folge.  Es  soll  nicht 
behauptet  werden,  dass  mit  diesen  kurzen  Ausführungen  die  Constanz  des 
Geldwertes   endgiltig   entschieden   ist,   aber   wahrscheinlich   genug  ist   sie. 


VERHANDLUNGEN  DER  GESELLSCHAFT 
ÖSTERREICHISCHER  VOLKSWIRTE. 


In  der  am  26.  Februar  abgehaltenen  Plen  arvers  am  rahm  g  widmete  der 
Vorsitzende  Hofrath  Prof.  Dr.  v.    P  h  i  1  i  p  p^o  v  i  c  h  folgenden 

Nachruf  für  Otto  Witteishöfe r: 
Meine  Herren ! 

Die  Pflicht,  die  ich  heute  vor  Ihnen  zu  erfüllen  habe,  ist  für  mich  eine 
aussergewöhnlich  schmerzliche.  Das  Andenken  eines  Mannes  hier  zu  ehren,  der 
unserem  Vorstande  angehört  hat,  der  so  vielen  unter  uns  ein  treuer  Freund 
gewesen  ist,  der  ein  guter  und  edler  Mann  in  jeder  Beziehung  war,  in  einem 
Augenblicke  das  zu  thun,  wo  wir  noch  alle  von  dem  eingetretenen  Ereignis 
betäubt  sind,  ist  schmerzlich  und  ist  auch  schwierig :  denn  das  Streben,  das 
mich  beherrscht,  das  Bild,  das  wir  von  ihm  in  Erinnerung  haben,  und  die 
wesentlichen  Züge  seines  guten  und  tüchtigen  Wesens  vor  Ihnen  zu  zeichnen, 
ringt  mit  der  Empfindung  des  Schmerzes,  dem  rein  menschlichen  Gefühle  des 
grossen  Verlustes,  den  wir  und  den  ich  erlitten  habe. 

Wir  sehen  ihn  ja  noch  in  unserer  Mitte,  frisch,  voll  Lebenskraft  und 
Lebenslust,  immer  bereit  zu  einer  ernsten  Discussion  und  bereit,  das  fröhlichste 
Gespräch  mit  hellem  Lachen,  mit  heiterem  Vergnügen  zu  führen.  Wir  sehen  ihn 
noch  vor  uns  hier  sitzen,  wie  er  mit  seinem  kurzsichtigen  Auge  in  seinem 
Notizbüchlein  das  Wesentlichste  des  Vortrages  sich  vermerkt,  auch  wenn  .  er  nicht 
an  der  Discussion  selbst  theilnehmen  wollte,  weil  er  hier  in  diesem  kleinen  Saale 
wie  in  seinem  ganzen  Leben  stets  bestrebt  war,  bei  der  Sache  zu  sein,  das 
Wesen  der  Sache  zu  erfassen.  Auch  wenn  er  hier  nicht  gesprochen  hatte,  war 
doch  bei  der  nachträglichen  zwanglosen  Discussion,  die  sich  stets  beim  Glase 
Bier  abzuspielen  pflegte,  sein  Wort  von  uns  gerne  gehört,  weil  es  treffend,  weil 
es  scharfsinnig,  weil  es  stets  zugleich  auch  witzig   und  befreiend  war. 

Es  ist  ein  altes  Wort,  dass  wir  die  Grösse  eines  Besitzes  am  deutlichsten 
dann  empfinden,  wenn  wir  diesen  Besitz  verloren  haben.  So  ist  es  uns  auch  hier 
gegangen.  Ich  glaube,  jeder  einzelne  von  uns  hat  in  den  letzten  Tagen  wohl 
mit  Otto  Wittelshöfer  abgerechnet  und  hat  gefunden,  dass  er  sein 
Schuldner  war.  Auch  wir  in  der  Gesellschaft  österreichischer  Volkswirte  haben 
alle  Veranlassung,  uns  dessen  bewusst  zu  sein,  dass  wir  ihm  sehr  viel  zu 
verdanken  haben.    Ich  habe   in  den  Annalen  unserer  Gesellschaft  nachgeblättert 

18* 


268  Verhandlungen  der  Gesellschaft  österreichischer  Volkswirte. 

und  seinen  Namen  zum  erstenmale  im  Jahre  1888  gefunden,  wo  er  als  Scrutator 
bei  einer  Wahl  aufgetreten  ist,  und  dann  3  Jahre  später,  als  er  seinen  ersten 
Vortrag  über  die  Frage  „Capitalisation  und  Consumption"  hier  hielt,  ein  Vortrag, 
den  unser  damaliger  Vorsitzende,  Sectionschef  v.  Inama,  in  seinem  Schlusswort 
als  ausserordentlich  bedeutend  und  fesselnd  bezeichnete. 

In  demselben  Jahre  finde  ich  ihn  auch  als  Vorstandsmitglied,  und  während 
der  ganzen  zehn  Jahre  hat  er  im  Vorstande  der  Gesellschaft  für  die  Gesellschaft 
in  ganz  ausserordentlicher  Weise  gearbeitet.  Sie,  meine  Herren,  die  sie  in  die 
Vorbereitung  der  Vorträge  u.  dgl.  nicht  so  eingeweiht  sind,  wissen  nicht,  welch 
innigen  Antheil  Wittelshöfer  an  der  Organisation  des  ganzen  Werkes 
genommen  hat,  und  welche  grossen  Verdienste  er  sich  dabei  erwarb.  Er  war  ja 
ausserordentlich  glücklich  nach  dieser  Richtung  veranlagt.  Im  Besitze  eines 
reichen  theoretischen  Wissens,  war  er  immer  bestrebt,  dieses  Wissen  auf  der 
Höhe  der  Zeit  zu  erhalten,  fort  zu  arbeiten  und  fort  zu  studieren  und  so  jenem 
Bestreben  gerecht  zu  werden,  das  ihn  schon  von  Jugend  auf  beherrscht  hat.  Ich 
erinnere  mich,  dass  mir  vor  mehr  als  20  Jahren,  als  unsere  Lebenswege  sich 
bei  Lorenz  v.  Stein  kreuzten,  ein  Freund  von  ihm  sagte,  Wittelshöfer 
habe  mit  ihm  für  die  Rigorosen  studiert,  eine  Arbeit,  die  dem  damaligen  Buch- 
halter der  Escomptebank  gewiss  durch  seinen  Beruf  gar  nicht  nahegelegt  war, 
sondern  nur  durch  das  Streben,  sein  AVisson  zu  vermehren  und  seine  Gedanken 
nach  allen  Seiten  zu  stützen. 

In  dieser  praktischen  Thätigkeit,  die  seinen  Beruf  ausmachte,  hat  er  sich 
aber  eine  Kenntnis  des  wirtschaftlichen  Lebens  von  einer  Seite  erworben,  die  von 
uns  Theoretikern  nur  sehr  mühsam  zu  erreichen  ist.  So  war  er  eine  Doppelnatur, 
und  seine  ausserordentlich  kenntnisreiche  Bethätigung  auf  dem  Gebiete  der 
Wissenschaft  einerseits,  seine  Kenntnis  des  praktischen  Lebens  auf  der  anderen 
Seite  mussten  seine  Thätigkeit  zu  einer  so  ausserordentlich  wertvollen  für  unsere 
Gesellschaft  machen,  welche  gerade  in  der  Verbindung  dieser  beiden  Elemente 
ihre  Aufgabe  erblickt.  Dazu  kam  noch  seine  grosse  Personenkenntnis  und  seine 
Empfindung  für  das,  was  in  den  wirtschaftlichen  Aufgaben  der  Gegenwart  wichtig 
ist  und  zugleich  wertvoll  und  theoretisch  fruchtbar  sein  kann. 

So  war  auch  in  dieser  seiner  Arbeit  in  unserer  Gesellschaft  sein  Bemühen 
stets  darauf  gerichtet,  unsere  Thätigkeit  nach  der  socialen  Richtung  hin  zu 
erweitern.  Er  war  stets  der  Befürworter  der  Erörterung  solcher  Fragen,  welche 
mit  dem  socialen  Problem  in  Zusammenhang  gestanden  sind.  Denn  das  war  ja 
der  eigentliche  Kern  seines  ganzen  Wesens,  dafür  thätig  zu  sein,  dass  die 
socialen  Gegensätze  gemildert  werden,  nicht  in  irgend  einer  platten  Form, 
sondern  durch  den  Fortschritt  der  gesammten  staatlichen,  ökonomischen,  politischen 
Entwicklung.  Er  war  von  dem  Bewusstsein  durchdrungen,  dass  wir  Lebenskräfte 
genug  in  unserem  Volke,  in  unseren  gesellschaftlichen  Einrichtungen  haben, 
welche  es  einmal  ermöglichen  werden,  die  grossen  Massen  der  Bevölkerung  zu 
einem  vollkommeneren  Dasein  zu  führen,  ihren  Lebensinhalt  reicher  zu  machen, 
als  er  heute  ist.  Und  diese  Zeit  vorzubereiten,  die  Einrichtungen  zu  stützen,  die 
heute  in  dieser  Richtung  schon  bestehen,  neue  zu  fördern,  die  Geister  der 
Menschen  für  diesen  Gedanken   zu   gewinnen,    seine    ganze   Umgebung   mit    dem 


Verhandlungon  der  Gi\'^ellsfhaf<".  österreicliischer  Volkswirte.  969 

Bewusstsein  zu  orfüllon,  dass  das  die  eigentliche  Aufgabe  unserer  Zeit  ist,  machte 
den  Kern  seines  ganzen  Wesens  aus.  Von  da  aus  strahlten  seine  Gedanken, 
seine  Thätigkeiten,  hier  war  das  Centrum  seines  ganzen  Empfindens,  seines 
Denkens  und  seines  Lebens. 

Auch  seine  theoretischen  Arbeiten  stehen  damit  im  engsten  Zusammenhange. 
Der  früher  erwähnte  Vortrag  behandelt  dieses  Thema,  und  das  Buch,  das  er 
geschrieben  hat:  „Untersuchungen  über  das  Capital",  hat  den  gleichen  Zweck, 
zu  zeigen,  wie  unsere  geschichtlich  gewordenen  gesellschaftlichen  Einrichtungen 
auf  manchen  Gebieten  zu  einem  Missverhältnis  zwischen  den  objectiven  That- 
sachen  und  den  subjectiven  Berechtigungen  führen,  die  den  wesentlichen  Inhalt 
dessen  ausmachen,  was  wir  heute  Capital  zu  nennen  gewohnt  sind.  Dieses  Buch 
hat  nicht  den  äusseren  Erfolg  gehabt,  den  es  seinem  Inhalt  nach  verdiente.  Es 
ist  schwer  geschrieben  und  auf  einer  Höhe  des  abstracten  Denkens,  die  nicht 
von  jedermann  erreicht  werden  kann.  Es  ist  aber  eine  Fortführung  von  Gedanken 
der  besten  Denker  der  Nationalökonomie,  von  Gedanken,  die  Kodbertus  aus- 
gesprochen hat,  die  wir  bei  Marx  wiederfinden,  die  unter  unseren  österreichischen 
Nationalökonomen'  von  Böhm-Bawerk  und  M  e  n  g  e  r  vertreten  worden  sind, 
und  es  ist  eine  durchaus  glückliche  Charakterisierung,  die  einer  der  angesehensten 
Nationalökonomen  Deutschlands,  L  e  x  i  s,  dafür  gefunden  hat,  als  er  in  einer 
längeren  Besprechung-  dieses  Werkes  darüber  schrieb  :  „Es  ist  das  Ergebnis  eines 
eindringenden  selbständigen  Denkens,  ein  Werk,  in  dem  sich  zwar  manches  findet, 
was  Widerspruch  hervorruft,  das  aber  jedermann,  der  sich  für  theoretische 
Untersuchungen   interessiert,  Anregung  und  Förderung  gewähren  wird." 

Dieser  socialpolitischen  Seite  seines  Denkens  entspricht  ja  auch  seine 
praktische  Wirksamkeit.  Auf  diese  Seite  seines  Lebens  einzugehen,  ist  in  diesem 
Kreise  wohl  weniger  nöthig.  Doch  kann  nicht  unberührt  bleiben,  dass  er  auch 
hier  grosse  Verdienste  sich  erworben  hat,  und  dass,  wenn  heute  in  der  Wiener 
Gesellschaft  socialpolitische  Fragen  auf  grösseres  Verständnis  stossen,  als  es  in 
früheren  Jahren  der  Fall  war,  dies  zum  guten  Theile  Otto  W  i  1 1  e  1  s  h  ö  f  e  r 
zu  verdanken  ist,  der  in  geschickter  Weise  Abende  zu  veranstalten  wusste,  zu 
welchen  ein  grosser  Theil  der  Wiener  bürgerlichen  Gesellschaft  geladen  wurde 
und  auch  erschien,  um  der  Discnssion  socialpolitischer  Fragen  zuzuhören.  Dem- 
selben Geiste  und  derselben  Seite  seines  Wesens  entsprach  es  auch,  dass  er 
uns  in  dem  Bestreben  unterstützte,  die  Erörterung  socialpolitischer  Fragen  nicht 
auf  das  österreichische  Gebiet  zu  beschränken,  sondern  darüber  hinauszügreifen 
und  internationale  Beziehungen  zu  fördern,  um  durch  allseitige  Discussion  und 
allseitige  Anregung  derartiger  Probleme  den  Fortschritt  in  den  einzelnen  Staaten 
gleichmässig  zu  steigern:  denn  wir  sind  uns  bewusst,  dass  isoliert  heute  nur 
mehr  sehr  wenig  auf  dem  Gebiete  staatlichen,  wirtschaftlichen  Lebens  durch- 
geführt werden  kann,  dass  die  Abhängigkeit  eine  gegenseitige  ist  und  daher 
jede  Berührung  mit  fremden  gleichgesinnten  Elementen  wertvoll  sein  muss.  So 
hat  er  uns  im  Ausschuss  des  Vereines  für  Socialpolitik,  der  in  Deutschland  seinen 
Sitz,  aber  auch  liier  sehr  viele  Mitglieder  hat,  nach  Berlin,  nach  Köln,  nach 
Brüssel  und  im  letzten  Jahre  noch  nach  Paris  begleitet.  Diese  Fahrten  werden 
mir  persönlich  zu  den  angenehmsten  Erinnerungen  meines  Lebens  gehören,  gerade 


270  Verhandlungen  der  Gesellschaft  österreichischer  Volkswirte. 

mit  Eücksicht  darauf,  dass  Witteishöfe r  in  unserer  Begleitung  war,  der 
uns  ein  treuer  Freund,  ein  kluger  Berather  und  eine  wertvolle  Unterstützung  in 
unseren  Arbeiten  gewesen  ist.  Auch  diese  seine  Thätigkeit  ausserhalb  Oesterreichs 
war  reich  an  Anerkennungen  und  Erfolgen,  die  sich  wieder  nicht  nach  aussen 
hin  drängten,  die  aber  demjenigen  deutlich  geworden  sind,  der  gesehen  hat,  wie 
er,  der  unbekannte  Gelehrte,  der  Praktiker,  der  einfache  Privatmann,  mit  den 
angesehensten  Gelehrten  und  berufensten  Fachmännern  Deutschlands  über  Fragen 
in  einer  Weise  discutierte,  welche  diese  Gelehrten  zwang,  ihm  Eede  und  Antwort 
zu  stehen,  auf  seine  Einwendungen  einzugehen,  seinen  Anregungen  Gehör 
zu    geben. 

Seiner  Anregung  verdanken  wir  es,  dass  der  Verein  für  Socialpolitik  die 
Erhebungen  über  die  Heimarbeiter  veranstaltet  hat,  eine  Erhebung,  deren  Leitung 
ja  dann  in  Oesterreich  gelegen  ist,  so  dass  der  Antheil,  den  wir  an  dieser  Arbeit 
des  Vereines  genommen  haben,  dadurch  ein  ganz  bedeutender  wurde.  Ihm  ver- 
danken wir  es  mit,  dass  der  Verein  für  Socialpolitik  sich  mit  der  Frage  der 
Verkehrsbediensteten  zu  beschäftigen  begonnen  hat,  und  gerade  hier  hat  er 
wieder  einen  Erfolg  errungen,  den  jeder  zu  würdigen  versteht,  der  die  Verhältnisse 
näher  kennt.  Es  handelte  sich  darum,  Erhebungen  über  die  Verkehrsbediensteten 
in  Deutschland  anzustellen.  Da  war  es  nun  der  Präsident  der  Eisenbahndirection 
in  Cassel,  Ulrich,  der  dem  Ausschusse  des  Vereines  angehört  und  der  meinte, 
die  preussischen  Staatsbahnen  lieferten  alles  Material  zur  Beurtheilung  der  Lage 
ihrer  Bediensteten  in  den  Publicationen,  die  sie  dem  preussischen  Abgeordneten- 
hause unterbreitet  hätten.  Witteishöfe  r  bestritt  dies,  und  es  wurde  eine 
Commission  unter  dem  Vorsitze  des  früheren  preussischen  Handelsministers 
Freiherrn  v.  Berlepsch  eingesetzt,  der  Witteishöfe r,  Cohnin  Göttingen 
und  Präsident  Ulrich  angehörten.  In  dieser  Commission  führte  Wittelshöfer 
seine  Sache  so  erfolgreich,  dass  die  Commission  schliesslich  erklären  musste : 
Ja,  es  ist  richtig,  dieses  Material  entspricht  nicht  dem,  was  Eisenbahnminister 
Ulrich  davon  erwartet  hatte.  Und  noch  die  letzte  Arbeit,  die  der  Verein  am 
6.  Jänner  d.  J.  beschlossen  hat,  die  einzige,  mit  der  wir  für  die  nächste  Zeit 
uns  beschäftigen,  geht  auf  seine  Anregung  zurück:  eine  Erhebung  über  die 
Lage  der  Seeleute.  Sie  sehen  auch  da,  wie  weit  sein  Blick  war,  wie  wenig  er 
durch  die  engen  Verhältnisse  unseres  Heimatlandes  allein  beherrscht  war,  indem 
die  Frage  ja  für  uns  in  Oesterreich  nicht  von  so  grosser  Bedeutung  ist,  während 
sie  gerade  für  Deutschland  bei  seinem  aufstrebenden  Handel,  seiner  Entwicklung 
der  Flotte,  der  starken  Inanspruchnahme  des  Menschenmaterials  durch  die  Kriegs- 
marine geradezu  eine  Lebensfrage  werden  wird.  Und  diese  Frage  ist  nicht  von 
deutscher  Seite  angeregt  worden,  sondern  von  Wittelshöfer,  der  mit  Scharf- 
sinn erkannte,  dass  hier  ein    Gebiet   vorliegt,    das   der  Erörterung   bedürftig    ist. 

Ich  darf  daher  wohl  auch  als  Zeichen  der  Anerkennung,  welche  er  in 
Deutschland  gefunden  hat,  einige  Zeilen  verlesen,  die  mir  der  Vorsitzende  unseres 
Vereines,  Prof.  S  c  h  m  o  1 1  e  r,  über  ihn  geschrieben  hat.  Eedner  verliest  den 
Brief,  in  welchem  Prof.  S  c  h  m  o  1 1  e  r  in  den  wärmsten  Worten  die  Persönlichkeit 
Wi  ttelsh  öf  er  s  würdigt,  dem  Schmerze  über  seinen  Verlust  Ausdruck  gibt 
und  erklärt,  er  werde   dem   Vereine   für   Socialpolitik    sehr    fehlen.     Noch    mehr, 


106.  und  107.  Plenarversammlung,  271 

fährt  Prof.  v.  Philippowich  sodann  fort,  wird  er  gewiss  uns  hier  fehlen. 
Er  wird  uns  fehlen  bei  all  den  sachlichen  Erörterungen,  die  wir  zu  führen 
haben,  er  wird  uns  fehlen  bei  bei  der  Aufstellung  der  Programme  und  Arbeiten  in 
unserer  Gesellschaft,  er  wird  uns  jedem  einzelnen  fehlen,  die  wir  gewohnt  waren, 
mit  ihm  die  schwierigsten  Fragen  wirtschaftspolitischer  und  socialpolitischer 
Natur  gerne  und  angenehm  zu  discutieren.  Er  wird  uns  aber  noch  mehr  als 
Mensch  fehlen. 

Wir  Aelteren,  die  wir  die  Mittagshöhe  des  Lebens  überschritten  haben, 
werden  durch  seinen  Tod  einen  unersetzlichen  Verlust  zu  tragen  haben,  denn 
wir  werden  nicht  mehr  vielen  Menschen  auf  gemeinsamen  Lebenswegen  begegnen, 
mit  denen  wir  neue  Freundschaft  zu  schliessen  imstande  wären,  und  es  wäre 
ein  Grlücksfall  sondergleichen,  wenn  wir  noch  einmal  Einem  begegnen,  der,  so 
wie  er,  uns  durch  Liebenswürdigkeit  und  Frische,  durch  stete  Bereitwilligkeit  zur 
Unterstützung  jeder  Arbeit  zu  fördern  und  nahezustehen  imstande  wäre.  Den 
jüngeren  unter  uns  aber,  deren  Lebensweg  noch  von  vielen  gekreuzt  werden 
wird,  die  noch  mit  vielen  Menschen  gemeinsam  wandeln  und  neue  Bündnisse 
und  Freundschaften  zu  schliessen  in  der  Lage  sein  werden,  kann  ich  nur  den 
Wunsch  aussprechen,  dass  es  ihnen  gegönnt  sein  möge,  eine  solche  Persönlichkeit, 
eine  so  edle  und  tüchtige  Natur  auf  ihrem  Lebenswege  zu  finden  und  sich  zum 
Freunde  zu  machen.  Dieses  Bewusstsein  glaube  ich  nicht  nur  aus  mir  heraus 
sprechen  lassen  zu  dürfen.  Ich  glaube,  der  Empfindung  vieler  unter  Ihnen  Ausdruck 
zu  geben,  wenn  ich  meine,  dass  ich  damit  die  Stellung  Wittelshöfers  wenig- 
stens zu  der  grossen  Mehrzahl  von  uns  richtig  gekennzeichnet  habe. 

Nun  ist  er  zerstört,  sein  Dasein  verweht,  wie  der  Klang  meiner  Worte  von 
meinen  Lippen  verweht,  und  es  bleibt  uns  nichts  mehr  übrig,  als  seiner  zu 
gedenken  und  auszusprechen,  dass  wir  dies  stets  mit  dankbarer  Erinnerung 
thun  werden ! 

(Allseitige  Zustimmung  der  Versammelten,  die  sich  zum  Zeichen  der  Trauer 
von  den  Sitzen  erhoben  hatten.) 

106.   und  107.   Plenapvensammlung. 

Die  am  12.  Februar  d.  J.  unter  dem  Vorsitze  des  Präsidenten  Prof. 
Dr.  V.  Philippovich  abgehaltene  Plenarversammlung  der  Gesellschaft  öster- 
reichischer Volkswirte  war  einer  Erörterung  über  den  Muster  schütz -Gesetz- 
entwurf gewidmet,  nachdem  die  Gesellschaft  vom  Handelsministerium  zur 
Abgabe  eines  Gutachtens  über  diesen  Entwurf  eingeladen  worden  war.  Die 
Discussion  wurde  durch  einen  Vortrag  des  Vicedirectors  des  Oesterreichischen 
Museums  für  Kunst  und  Industrie,  Dr.  E.  Leisching,    eingeleitet: 

Meine  verehrten  Herren !  Mit  einem  gewissen  Gefühle  der  Zaghaftigkeit 
trete  ich  heute  vor  Sie,  um,  einem  freundlichen  Wunsche  Ihres  verehrten  Herrn 
Präsidenten  entsprechend,  einige  Bemerkungen  über  den  vorliegenden  Muster- 
schutz-Gesetzentwurf vorzubringen,  welche  dazu  dienen  sollen,  eine  Discussion 
über  diesen  Gegenstand  in  ihrem  Kreise  einzuleiten.  Diese  Zaghaftigkeit  entspringt 
nicht  meiner  Bescheidenheit  allein,  sondern  auch  der  sehr  naheliegenden 
Erwägung,  dass  ich  keiner  der   an   diesem   Gegenstande    unmittelbar  betheiligten 


272  Verhancllungen  der  Gesellschaft  österreicliischer  Volkswirte. 

Tnteressentengruppen,  weder  den  Industriellen,  noch  den  Juristen  angehörig,  von 
vorneherein  kaum  berufen  erscheinen  kann,  in  einem  solchen  Kreise  über  dieses 
Thema  zu  sprechen.  Es  hat  mich  daher  auch  gar  nicht  gewundert,  dass  ich,  als 
ich  in  diesen  Tagen  mit  einem  hochgeschätzten  Juristen  über  die  Angelegenheit 
sprach,  von  ihm  zu  hören  bekam,  dass  das  doch  eigentlich  ein  Gegenstand  sei, 
dessen  Behandlung  zunächst  den  Juristen  vorbehalten  bleiben  müsse,  welche 
nicht  nur  eine  grössere  Kenntnis  der  Gesetzestechnik  besitzen,  sondern  auch  viel 
weniger  einseitig  seien,  als  es  z.  B.  ein  Museumsbeamter  sein  werde,  der  von 
seinem  ganz  beschränkten  Standpunkte  der  Vertretung  kunstgewerblicher  Interessen 
einen  derartigen  Gesetzentwurf  beurtheilen  wolle.  W^enn  sie  mich,  obwohl  ich 
dieser  Anschauung  vollkommen  beipflichte,  und  obwohl  ich  ziemlich  ketzerische 
Ansichten  über  den  vorliegenden  Gegenstand  habe,  die  mich  höchst  wahrscheinlich 
mit  so  manchem  von  Ihnen  in  Widerspruch  setzen  werden,  trotzdem  an  diesem 
Platze  sehen,  so  haben  Sie  das  zunächst  mit  ihrem  Herrn  Präsidenten  aus- 
zumachen, welcher  allem  Anscheine  nach  eine  besondere  Vorliebe  für  derartige 
Ketzereien  hat.  (Heiterkeit.) 

Ich  betone  zunächst,  um  kein  Missverständnis  aufkommen  zu  lassen,  dass 
ich  ausschliesslich  meine  persönlichen  Anschauungen  hier  vertrete,  dass  ich 
nicht  auf  Grund  irgendeiner  Vereinbarung,  oder  gar  vielleicht  auf  Grund  irgend- 
eines Mandates  spreche.  Aber  selbstverständlich  ist  es  ja,  dass  ich  auf  Grund 
meiner  mehrjährigen  Erfahrung  über  die  Bedürfnisse  und  die  Entwicklung  unserer 
heimischen  Kunstindustrie  die  vorliegende  Materie  behandeln  werde.  Damit  will 
ich  gleich  einem  Einwurf  begegnen,  der  auch  in  dieser  Beziehung  gemacht  zu 
werden  pflegt,  dass  es  nämlich  nicht  angehe  und  sehr  einseitig  sei,  bei  einem 
solchen  Gesetze  in  erster  Linie  zu  fragen,  ob  es  der  Kunstindustrie  nütze  oder 
schade  ?  Ich  glaube,  indem  ich  das  Interesse  der  Kunstindustrie  in  dieser  Frage 
in  den  Vordergrund  stelle,  ganz  auf  dem  Boden  wenigstens  der  erläuternden 
Bemerkungen  zum  vorliegenden  Gesetzentwurfe  zu  stehen,  wo  es  ja  ausdrücklich 
heisst :  es  handle  sich  hier  um  ein  Gesetz,  das  in  allererster  Linie  zur  Entwicklung 
der  Kunstindustrie  dienen  soll.  Und  wenn  wir  uns  an  die  Verhandlungen  im 
deutschen  Eeichstage  anlässlich  der  Schaffung  des  deutschen  Musterschutzgesetzes 
vom  Jahre  1876  erinnern,  wenn  wir  die  Erläuterungen  zu  diesem  Gesetze  von 
D  a  m  b  a  c  h  lesen,  so  finden  wir  immer  und  überall  die  Interessen  der  Kunstindustrie 
bei  der  Schaffung  eines  derartigen  Gesetzes  in  den  Vordergrund  gestellt.  Es  ist 
Ihnen  ja  bekannt,  dass  das  deutsche  Musterschutzgesetz  vor  allem  mit  Rücksicht 
auf  die  beklagenswert  ungünstige  Stellung  geschaffen  M'urde,  welche  die  deutsche 
Kunstindustrie  auf  der  österreichischen  Weltausstellung  im  Jahre  1873  ein- 
genommen hat,  und  weiters  vor  allem  im  Interesse  der  kunstgewerblichen  Kreise 
von  Elsass  und  Lothringen  geschaffen  wurde,  welche  ja  bis  zum  Jahre  1870/71 
unter  dem  französischen  Gesetze,  also  einem  schon  lange  bestehenden  Muster- 
schutzgesetze, gestanden  sind  und  darauf  hindrängten,  in  dem  neuen  Verbände, 
dem  sie  einverleibt   waren,    ähnliche   gesetzliche    Schutzbestimmungen    zu    finden. 

Der  Referent  sprach  vor  allem  seine  volle  und  rückhaltlose  Bewunderung 
für  die  ausserordentlich  geistvolle,  geschlossene  und  gewiss  auf  dem  neuesten 
Standpunkt  der  theoretischen   Wissenschaft  stehende  Behandlung  aus,  welche  der 


106.  und  107.  Plenarversammlung.  273 

Verfasser  diesem  Gesetzentwurfe  hat  7Aitlieil  werden  lassen.  Zu  bewundern  sei  der 
ausserordentliche  Idealismus  und  Optimismus  in  Bezug  auf  das  künstlerische 
Schaifen  und  seine  Bedingungen,  der  in  diesem  Entwürfe  sehr  stark  zum 
Ausdruck  kommt.  Es  sei  daher  ganz  begreiflich,  dass  dieser  Gesetzentwurf  vor 
allem  die  rückhaltlose  Zustimmung  der  Theoretiker  gefunden  habe,  dass 
insbesondere  der  geistige  Führer  der  deutschen  Eechtschutz-Theoretiker,  Prof. 
K  0  h  1  e  r  in  Berlin,  dieser  Zustimmung  ausserordentlich  warmen  Ausdruck 
gegeben  habe.  Er  findet  iu  diesem  Entwürfe  die  Erfüllung  aller  von  ihm  seit 
Jahr  und  Tag  in  dieser  Angelegenheit  aufgestellten  Forderungen  und  bezeichnet 
ihn  als  einen  bedeutsamen  Fortschritt  gegenüber  allen  Musterschutzgesetzen  der 
ganzen  Erde. 

Nach  der  Ueberzeugung  Leischings  geht  jedoch  der  Entwurf  in  seinem 
Bestreben  nach  möglichst  ausgedehntem  Schutz  zu  weit  und  müsste  die  künst- 
lerische und  kunstgewerbliche  Production  selbst  lähmen,  die  nicht  darauf  ver- 
zichten kann,  an  fremden  Mustern  zu  lernen,  d.  h.  nachzuahmen. 

„Der  Künstler  nimmt,  er  nimmt,  was  er  findet,  und  wo  er  es  findet.  Ueberall 
sucht  er,  Anregungen  seiner  künstlerischen  Phantasie  zu  erlangen,  um  ähnliche 
und  womöglich  höhere  Worte  daraus  zu  schaffen.  Nicht  aber  in  neuen  Gedanken, 
sondern  lediglich  in  dem  neuen,  persönlich  gefärbten,  technisch  vollendeten 
Ausdruck  ewiger  Kunstwahrheiten  liegt  das  Wesen  des  künstlerischen  Schaffens. 
Nicht  so  sehr  in  der  äusseren  Formgebung,  sondern  in  dem,  was  man  die  innere 
Kunstform  nennt,  liegt  das  Original  der  künstlerischen  Schöpferthätigkeit.  Das 
Zusammenwirken,  das  Nachahmen,  das  gegenseitige  Geben  und  Nehmen  ist  von 
der  allerhöchsten  Wichtigkeit  für  den  allgemeinen  Fortschritt,  wie  vor  allem 
auch  für  die  Entwicklung  des  originalen  Künstlers,  und  es  ist  ein  schwerer, 
verhängnisvoller  Irrthum,  durch  einen  strengen,  auch  die  naive,  freie  Nach- 
ahmung beschränkenden  Musterschutz  die  künstlerische  Production  heben  zu 
wollen.  Es  ist  ein  falscher,  übel  angebrachter  Idealismus  und  Optimismus,  der 
gar  keine  leale  Basis  hat  und  keine  Eücksicht  auf  die  psychische  Organisation 
des  Menschen   nimmt." 

Auch  wirtschaftliche  Momente  eminentester  Art  kommen  hinzu,  welche 
einen  so  weitgehenden  Schutz,  wie  dieser  Entwurf  ihn  stipuliert  haben  will, 
durchaus  bedenklich  erscheinen  lassen.  „Gerade  in  unserer  Zeit  des  scharfen 
Kampfes  zwischen  der  historischen  Stilrichtung  und  dem  Streben  nach  einem 
neuen  Stil  gewahren  wir  am  allerdeutlichsten  eine  bestimmte  Ausdrucksform  und 
ausserordentliche  suggestive  Macht,  welche  diese  Ausdrucksform  auf  den 
schaffenden  Künstler  und  auf  das  Publicum  ausübt :  trotz  der  thatsächlich 
grossen  Zahl  von  Künstlern  doch  nur  eine  bestimmte  Zahl  gangbarer  Ideen  und 
gangbarer  Gestaltungen.  Auch  die  Zahl  der  wirklich  führenden  Künstler  ist  ja 
relativ  sehr  gering,  nicht  nur  im  Auslande,  auch  bei  uns.  Sie  alle  aber  zeichnet 
aus  ein  ausserordentlich  energischer  Wille,  ein  ausserordentlich  starkes  Temperament 
und  eine  höchst  charakteristische  gemeinsame  Formensprache.  Diese  Väter  der 
modernen  Kunst  haben  Söhne,  und  es  ist  heute  schon  eine  sehr  stattliche 
geschlossene  Familie.  Wie  dies  jedoch  bei  einem  kraftvollen,  starkracigen  Geschlecht 
ganz   begreiflich   ist,    haben    alle    diese    Leute    eine    ungemein    starke    Familien- 


274  Verhandlungen  der  Gesellschaft  österreichischer  Volkswirte. 

ähnlichkeit,   und   diese  Aelmlichkeit  auf  gesetzlichem  Wege   verbieten   zu  wollen, 
wird,    glaube  ich,    sehr  schwer  gehen." 

Es  kommt  hinzu  die  Wichtigkeit  der  Eroberung  des  Weltmarktes  oder 
wenigstens  die  Wichtigkeit,  auf  diesem  Weltmarkte  Fuss  zu  fassen.  Unsere  Kunst- 
industrie in  Oesterrreich  hat  eine  ausserordentlich  schwache  Grundlage.  Aber  die 
Schwäche  dieser  Kunstindustrie  beruht  nicht  etwa  in  einem  mangelhaften 
Können,  in  einem  mangelhaften  Formen-  und  Farbensinn,  in  einer  mangelhaften 
Entwicklungsfähigkeit,  sondern  vor  allem  auf  wirtschaftlichen  Ursachen,  Wir 
haben  in  den  letzten  30,  40  Jahren  eine  ganz  ausserordentliche,  vielfach  auch 
im  Auslande  vorbildlich  gewordene  Entwicklung  zu  verzeichnen.  Wir  haben 
Schulen  gegründet,  ganz  neue  Industrien  geschaffen  ;  auf  dem  Gebiete  der  Glas-, 
Bronze-,  Eisenschmiedekunst,  der  Lederarbeit  und  zahllosen  anderen  Gebieten  hat 
gerade  in  den  letzten  30,  40  Jahren  die  österreichische  Schule  Vorbildliches 
geleistet,  der  Formen-  und  Farbensinn,  die  technische  Solidität  ist  auf  das 
Höchste  entwickelt  worden.  Und  warum  sind  wir  ins  Hintertreffen  gerathen? 
Gewiss  nicht,  weil  unser  Musterschutzgesetz  vem  Jahre  1858  so  schlecht  ist, 
sondern  weil  wir  in  Oesterreich  einen  stets  sinkenden  Consum  zu  verzeichnen 
haben,  weil  wir  seit  1873  eine  wirtschaftliche  Depression  haben,  welche  vor 
allem  natürlich  auf  diesem  Gebiete  sich  besonders  fühlbar  macht,  weil  wir  dem 
Weltverkehre  gegenüber  wie  kaum  ein  anderer  Culturstaat  Europas  isoliert  da- 
stehen, und  vor  allem,  weil  gerade  in  den  industriellen  und  gewerblichen  Kreisen 
ein  so  ausserordentlich  mangelhafter  kaufmännischer  Sinn,  eine  so  mangelhafte 
kaufmännische  Bildung  vorhanden  ist.  Wissen  Sie,  was  wir  in  den  70er  und 
80er  Jahren  auf  kunstgewerblichem  Gebiete  am  meisten  exportiert  haben?  Nicht 
kunstgewerbliche  Erzeugnisse,  sondern  Absolventen  unserer  kunstgewerblichen 
Schulen !  Diese  sind  es  gewesen,  die  —  da  man  in  der  Heimat  keine  Verwendung 
für  sie  hatte  —  namentlich  auf  deutschem  Boden  die  Industrie  kräftig  zu  machen, 
redlich  mitgewirkt  haben.  Nicht  das  deutsche  Musterschutzgesetz  vom  Jahre  1876 
war  es,  welches  diesen  Aufschwung  der  deutschen  Industrie  hervorgerufen  hat ; 
da  kommen  eine  ganze  Keihe  viel  wichtigerer  anderer  Momente  in  Betracht:  Die 
politische  Concentration,  der  grosse  Zug  in  der  Führung  der  öffentlichen  Angelegen- 
heiten, die  ausserordentlichen  Hilfsquellen,  der  ins  Weite  gerichtete  kaufmännische 
Blick  und  die  rücksichtsloseste  Ausnützung  jedes  geschäftlichen  Vortheiles,  auch 
in  der  Beschaffung  und  Anpassung  der  gewerblichen  Muster. 

Referent  ist  weit  entfernt  von  unbedingter  Ablehnung  jedes  gewerblichen 
Eechtschutzes,  er  wünscht,  gerade  mit  Rücksicht  auf  die  moderne  Entwicklung 
des  Industriekampfes  einen  Rechtschutz.  Nur  komme  es  darauf  an,  wie  dieser 
Schutz  gestaltet  wird.  Man  dürfe  die  eigenthümlichen  psychologischen  Grundlagen 
des  künstlei'ischeu  Schaffens  und  die  ausserordentliche  Wichtigkeit  nicht  vergessen, 
die  der  Erziehung  des  ganzen  Volkes  zur  Kunst  innewohnt.  Eine  hohe  Entwicklung 
ist  auf  diesem  Gebiete  nur  möglich,  wenn  hier  das  freieste  Geben  und  Nehmen 
stattfindet. 

Entscheidend  sei  die  Frage :  sclavischo  Nachbildung  und  Nach- 
ahmung? Der  Code  pönal  vom  Jahre  1840  spricht  nur  von  „Contrefa9on". 
Von  „Imitation"  ist  überhaupt  nicht  die  Rede,  Contrefafon  ist  Nachmachen,  und 


n 


106.  und  107.  Plenarversammlung,  275 

zwar  betrügerisches  Nachmachen,  dasselbe  wie  Nachdruck;  Imitation  ist  Nachfolge, 
freie  Nachahmung.  Nur  die  Contrefa^on  also  wird  verfolgt  und  als  verfolgenswert 
betrachtet.  Das  englische  Gesetz  vom  Jahre  1883,  amendiert  1888,  spricht  allerdings 
von  „Imitation",  sagt  aber  ausdrücklich:  „fraiidulent  and  ohvious  imUation" .  Das 
schweizerische  Gesetz  vom  vorigen  Jahre,  das  im  höchsten  Grade  beachtenswert  ist, 
spricht  von  Nachmachen  und  allerdings  auch  vom  Nachahmen  (Absatz  3,  Art.  24) ;  es 
heisst  aber  dort :  „Wer  ein  hinterlegtes  Muster  oder  Modell  widerrechtlich  nachmacht 
oder  derart  nachahmt,  dass  eine  Verschiedenheit  nur  bei 
sorgfältiger  Vergleichung  wahrgenommen   werden  kann..." 

Was  sagt  nun  unser  Gesetzentwurf?  In  den  erläuternden  Bemerkungen 
zum  Entwürfe  ist  immer  und  immer  wieder  von  „neuen  Formerfindungen"  die 
Eede.  Es  wird  immer  wieder  gesagt :  Das  Musterrecht  hat  die  geistige  Schöpfung 
einer  neuen  Form  zum  Gegenstande.  Der  charakteristische  Paragraph,  der  diese 
Angelegenheit  im  Entwürfe  behandelt,  ist  §  85.  Dort  heisst  es :  „Ein  Eingriff 
wird  dadurch  nicht  ausgeschlossen,  dass  der  Eingriffsgegenstand  zwar  Abweichungen 
von  dem  geschützten  Muster  aufweist,  welche  aber  trotzdem  den  dem  Muster 
zugrundeliegenden  Formgedanken  in  dem  Eingriflfsgegenstande  deut- 
lich erkennen  lassen." 

Dieser  Paragraph  sei  durchaus  unannehmbar. 

Das  berühre  das  ganze  künstlerische  Schaffen,  und  gerade  dieser  Satz  sei 
die  Grundlage  des  ganzen  Entwurfes,  zugleich  auch  der  prägnanteste  Ausdruck 
jener  schwärmerischen,  idealistischen  Anschauung  der  Kohle  r'schen  Schule,  welche 
immer  davon  ausgeht,  dass  es  überhaupt  eine  absolute  Musterneuheit  gibt,  dass 
es  eine  Neuschöpfung  im  Sinne  einer  auch  in  den  Formelementen  neuen,  noch 
nicht  dagewesenen  That  gibt,  und  dass  es  sich  bei  dieser  That  nicht  hauptsächlich 
um  neue  Combinationen  gegebener  Formen  handelt.  Es  sei  förmlich  eine  Art 
mystischer  Auffassung,  die  in  diesen  Kohle  r'schen  Ansichten  steckt,  fast  wie 
die  sokratische  Auffassung  des  Dämons,  der  in  dem  künstlerisch  Schaffenden 
wirke.  Statt  dieses  al.  3,  §  85  müsste  es  heissen  :  „Als  Eingriff  in  das  Muster- 
schutzgesetz ist  nicht  anzusehen  die  Hervorbringung  eines  neuen  Musters  unter 
freier  Benützung  bereits  geschützter  Muster." 

Von  allerhöchster  Wichtigkeit  sei  ferner  §  5,  betreffend  die  Einschränkung 
des  Musterrechtumfanges  auf  jene  Warengruppen,  welche  in  das  Thätigkeitsgebiet 
des  Schutzwerbers  fallen. 

Referent  spricht  sich  ferner  unbedingt  gegen  die  Theilung  in  Geschmacks- 
und Gebrauchsmuster  aus.  Vom  kunstgewerblichen  Standpunkte  aus  kenne  er 
keinen  Unterschied  zwischen  Schönheits-  und  Gebrauchsmuster,  wenn  das  letztere 
dasjenige  Muster  ist,  das  dem  Gebrauchszwecke  darnach  hergestellter  Kunstindustrie- 
erzeugnisse dient.  Denn  es  sei  eine  durchaus  veraltete  Aesthetik,  welche  bei 
derartigen  Begriffsbestimmungen  immer  nur  den  traditionellen  Schönheitsbegriff 
im  Auge  hat.  Klarer  Ausdruck  der  Zwecksbestimmung  in  den  Formen  sei  auch 
schön,  und  das  sei  der  Gebrauchswert,  der  diesen  Industrieerzeugnissen  inne- 
wohne. Der  Redner  bemängelt  ferner  die  Geheimhaltung  von  2  Jahren  und  die 
hohen  Gebüren.  Sodann  kritisierte  er  die  Bestimmungen  des  Entwurfes  über  den 
Feststellungsantrag. 


276  Verhandlungen  der  Gesellschaft  österreichischer  Volkswirte. 

„Da  zahllose  Muster  geschützt  sind,  so  ist,  wenn  man  ein  neues  Muster 
auf  den  Markt  bringt,  die  Gefahr  eine  sehr  grosse,  mit  den  Besitzern  geschützter 
Muster  in  Conflict  zu  gerathen.  Es  soll  nun  die  Möglichkeit  geboten  werden, 
festzustellen,  ob  ein  Muster,  das  man  geschaffen  hat,  in  ein  bereits  geschütztes 
Muster  eingreift  oder  nicht.  Gerade  weil  ich  die  Gefahr  eines  zu  weit  gehenden 
Musterschutzes  für  sehr  gross  halte,  scheint  mir  dieser  Paragraph  höchst  wichtig. 
Er  stellt  für  mich  den  „Schutz  der  Nichtgeschützten"  dar.  Warum  kann  aber 
ein  solcher  Autrag  nach  dem  Entwürfe  nur  auf  Grund  eines  hergestellten,  bereits 
in  Verkehr  gebrachten  oder  feilgehaltenen  Erzeugnisses  erfolgen,  und  warum  nicht 
auf  Grund  eines  Musters  ?  V^arum  muss  der  Anfechter  sich  schon  allen  Herstellungs- 
kosten unterziehen,  um  sich  dann  der  Verfolgung  auszusetzen,  bezw.,  wenn  seine 
bona  fides  von  ihm  nachgewiesen  wird,  sich  doch  nach  §  86  dem  auszusetzen, 
dass  der  Eingriflfsgegenstand  beseitigt  wird,  dass  die  Eingriffsmittel  —  natürlich 
auf  seine  Kosten  —  umgestaltet  werden,  und  dass  er  zur  Entschädigung  oder 
Herausgabe  der  Bereicherung  verpflichtet  wird?  Und  wer  wird  denn  glauben, 
dass  die  bona  fides  bei  jemandem  vorhanden  war,  der  schon  einen  Anfechtungs- 
streit eingeht?  Da  wird  doch  gesagt  werden:  Den  treibt  sein  böses  Gewissen 
dazu,  und  in  den  meisten  Fällen  wird  er  aus  einem  solchen  Streite  doppelt 
geschädigt  hervorgehen.  Und  warum  muss  in  Musterschutzangelegenheiten,  wie 
es  ausdrücklich  heisst,  in  allen  Fällen,  auch  wo  der  Anfechter  obsiegt,  der  Antrag- 
steller die  Kosten  des  Feststellungsstreites  zahlen  ?  Ich  finde  das  nicht  schön. 
Auf  diese  Weise  wird  die  Wohlthat,  welche  dem  Nichtgeschützton  durch  diesen 
Paragraph  eingeräumt  wird,  vollkommen  illusorisch   gemacht." 

Referent  befürwortet  ferner  die  Einführung  eines  gewissen  Ausübungszwanges 
und  eine  Decentralisierung  des  Musterschutzwesens. 

In  der  am  26.  Februar  abgeführten  Discussion  über  vorstehenden  Vortrag 
trat  Patentanwalt  Ingenieur  Karmin  den  Anschauungen  des  Referenten  vielfach 
entgegen.  Allerdings  sei  der  Entwurf  vielfach  schlecht  stilisiert,  sein  Schöpfer 
habe  gewiss  den  „Formgedanken"  nicht  in  der  vom  Referenten  befürchteten 
Weise  schützen  wollen.  Dr.  Th.  Schuloff  erklärt  sich  im  grossen  und  ganzen 
mit  den  Gedanken,  die  in  diesem  Entwürfe  niedergelegt  sind,  einverstanden.  Gegen 
Herrn  Regierungsrath  Leisching  führt  er  aus,  dass  gerade  die  Nachahmung, 
nicht  die  factische  Nachbildung  das  Gefährliche  sei. 

Gegen  die  Nachbildung  gibt  es  sehr  leicht  einen  kräftigen  Schutz.  Das 
reine  Abschreiben,  das  factische  Durchpausieren  einer  Zeichnung,  das  Abgiessen 
eines  Modells  ist  etwas  leicht  Fassbares.  Der  Erfahrung  gemäss  kommen  auch 
diese  reinen  Diebstähle  auf  diesem  Gebiete  sehr  selten  vor.  Die  reine  Nachbildung 
des  in  der  Patentbeschreibung  niedergelegten  Gegenstandes  findet  sehr  selten 
statt.  Die  Gefahr  liegt  in  der  sogenannten  Nachahmung.  Nachahmung  heisst 
Nachbildung  des  Wesentlichen. 

Gegen  mehr  als  die  sclavische  Nachahmung  muss  der  Musterbesitzer  geschützt 
sein.  Wo  dieses  Mehr  anfängt,  das  ist  allerdings  manchmal  eine  schwierige  Frage, 
die  sich  aber  durch  keine  Terminologie  und  keine  Fassung  des  Gesetzes  in 
sicherer  Weise  lösen  lässt,  sondern  die  wir  dem  Richter  von  Fall  zu  Fall  zur 
rntscheidung  überlassen   müssen. 


106.  und  107.  Plenarversanmilung.  277 

Herr  Fis  chin  ois  te  r  bespricht  den  Gegenstand  vom  Standpunkte  des 
Industriellen  und  erklärt,  sich  den  Ausführungen  des  Kegierungsrathes  Dr.  Leise  hing 
vollkommen  anschliessen   zu  müssen. 

Der  Ausdruck  „Formgedanke"  bereitete  ihm  ein  gewisses  Missbehagen.  Das 
sei  ein  unendlich  dehnbarer  Begriff,  der  sich  in  keine  deutlich  erkennbaren 
(h'enzen  bringen  lässt.  Die  Anlehnung  an  Formgedanken  anderer,  sagt  Eedner, 
ist  nach  unseren  geschäftsmännischen  Begriffen  kein  geistiger  Diebstahl,  gegen 
den  wir  einen  Schutz  brauchen  würden.  Ja,  wir  wünschen  ihn  in  diesem  Sinne 
auch  gar  nicht,  denn  ein  sehr  weitgehender  Schutz  würde  eine  grosse  Gefahr 
auf  dem  Gebiete  unserer  Industrie  bedeuten. 

Man  muss  sich  sehr  oft  an  ein  fremdes  Muster  anlehnen,  nicht  etwa  weil 
man  selbst  nichts  erzeugen  kann,  sondern  weil  jenes  Muster  verlangt  wird.  Wenn 
man  nun  soweit  geht,  jede  Anlehnung  verbieten  zu  wollen  und  den  so  unendlich 
dehnbaren  Ausdruck  „Formgedanken"  hineinbringt,  so  muss  darin  eine  grosse 
Gefahr  für  unsere  Industrie  gesehen  werden,  vor  allem  für  die  moderne  Juwelier- 
kunst, die  erst  seit  zwei  Jahren  sich  dazu  aufgeschwungen  hat,  wirklich  modern 
zu  werden  und  aus  den  Grenzen  des  Herkömmlichen  herauszutreten. 

Die  Kunstgewerbetreibenden  fänden  im  Urhebergesetze  durch  Einfügung 
diesbezüglicher  Bestimmungen  einen  viel  zweckmässigeren  Schutz,  als  er  im 
Mustorschutz-Gesetzentwurfe  zu  suchen  ist. 

Eegierungsrath  Dr.  M  a  r  o  s  c  h  findet  es  charakteristisch,  dass  die  Kreise, 
welche  eigentlich  durch  das  Gesetz  in  allererster  Linie  geschützt  werden  sollen, 
nur  davon  sprechen,  das  Gesetz  möge  so  gemacht  werden,  dass  es  ihnen  nicht 
schade.  Das  machte  natürlich  misstrauisch  gegen  einige  Bestimmungen  des 
Gesetzes.  Einer  der  Hauptpunkte,  vor  dem  die  Industriellen  sich  am  meisten 
fürchten,  sei  der  vom  Vorredner  mit  Eecht  als  ungeheuer  dehnbar  bezeichnete 
Begriff  des  „Formgedankens".  Wenn  man  heute  einen  Musterbeirath  zusammen- 
setzt, in  welchem  die  Industrie  und  die  Kreise,  die  aus  diesem  Gesetze  Nutzen 
ziehen  sollen,  eine  bedeutende  Kolle  spielen,  und  ihm  sagt:  Du  hast  einerseits 
einen  Formgedanken  zu  beachten,  andererseits  aber  einen  zu  fixierenden  Muster- 
anspriich,  an  den  Du  Dich  auch  halten  musst,  dann  wird  die  ruhige  Ueberzeugung 
des  Fachmannes  erschüttert  werden.  Die  Suche  nach  dem  Formgedanken  wird 
natürlich,  in  der  Angst,  über  das  Gesetz  hinauszugehen,  sehr  viel  Unrecht 
stiften  können.  Wenn  ein  Geschmack  aufkommt,  arbeitet  alles  in  derselben 
Eichtung.  Betrachtet  man  ein  Muster  unabhängig  von  dem  anderen,  so  wird  es 
keinem  Menschen  einfallen,  zu  behaupten,  es  sei  dasselbe  Muster.  Hält  man  sie 
aber  nebeneinander,  und  ist  man  überdies  vorpflichiet,  speciell  den  Formgedanken 
'ZU  beachten,  so  liegt  er  sofort  darin. 

Der  Musteranspruch  ist  das  Zwillingskind  des  Formgedankens,  wir  dürfen 
ihn  nicht  glimpflicher  behandeln  als  jenen  :  er  gehört  in  ein  Geschmacksmuster- 
gesetz nicht  hinein.  Die  gebürenrechtliche  Seite  des  Gesetzes  hätte  der  Finanz- 
minister selbst  nicht  fiscalischer  machen  können.  Der  Gedanke  eines  Central- 
registers  ist  gewiss  ein  ausgezeichneter.  Aber  dem  Patentamt  und  dem  Muster- 
schutz und  der  Durchführung  des  Gesetzes  ist  viel  mehr  gedient,  wenn  eine  Eeihe 
von  Anmeldestellen  vorhanden  ist,   welche   die   erste   rein   formale    Prüfung   vor- 


278  Verhandlungen  der  Gesellschaft  österreichischer  Volkswirte. 

nehmen,  als  wenn  wir  unter  das  caudinische  Joch  des  Stempel-  und  Gebüren- 
gesetzes  uns  begeben. 

Dr.  Benies  sagt :  Der  springende  Punkt  bei  dem  ganzen  Gesetze  ist : 
Wie  nahe  darf  man  dem  geschützten  Mustor  kommen,  ohne  strafbar  zu  werden? 
Die  absolute  Identität  mit  dem  Mustor  ist,  wie  Dr.  Schul  o  ff  treffend  ausführte, 
von  ganz  geringem,  praktischem  Interesse.  Fraglich  ist :  Wo  fängt  der  Schutzrayon 
an  und  wo  hört  er  auf?  Da  wird  die  individuelle  Entscheidung  ungeheuer  schwer 
zu  treffen  sein. 

Die  Besorgnis  der  Herren  Kcgierungsrath  L  e  i  s  c  h  i  n  g  und  F  i  s  c  h  m  e  i  s  t  e  r, 
dass  in  der  Praxis  das  Gesetz  zu  scharf  gehandhabt  werden  wird,  sei  eine  über- 
triebene. Man  müsse  sich  da  auf  den  bon  sens  der  Leute  verlassen  können, 
welche  damit  zu  thun  haben  werden.  Die  Gefahr,  dass  in  den  ersten  Jahren 
Kinderkrankheiten  zu  überwinden  sein  werden,  bis  der  Begriff  der  Nachahmung 
in  seiner  Individualisierung  sich  für  jedes  Anmeldungsgebiet  scharf  herausgebildet 
haben  wird,  muss  man  mit  in  den  Kauf  nehmen.  Denn,  wenn  man  die  Nach- 
ahmung  ganz    frei    gibt,    dann  ist   das   Gesetz   wirklich   ein  Schlag  ins  Wasser. 

Nach  einem  Schlussworte  des  Keferenten  wird  die  Sitzung  durch  den 
Vicepräsident  v.  Lieben  geschlossen. 

108.  und  109.  Plenanvepsammlung. 

Die  beiden  letzten  Plenarversammlungen  des  Vereinsjahres  waren  dem  Problem 
„Bodenentschuldung,  Vorschuldungsgren  zcundHypoth  cke  n- 
m  onopol"  gewidmet.  Am  19.  März  hielt  über  diesen  Gegenstand  Regierungsrath 
Dr.  R.  V.  Hattingberg,  Director  der  Niederösterreichischen  Landos-Hypothekon- 
anstalt,  einen  Vortrag.  Der  Vortragende  schliesst  sich  eng  an  Grabmayrs  Vor- 
schläge für  Tirol.  Nicht  die  Beseitigung  des  Besitzcredites  sei  wünschenswert, 
sondern  die  Beschränkung  des  Hypothekarcredites,  der  Ausschluss  dieser  Credit- 
form  für  Zwecke  dos  Betriebes.  Als  Grenze  der  Verschuldbarkeit  soll  die  Pupillar- 
sicherheit (^3  des  Wertes)  gelten,  ein  Hypothekenmonopol  sei  nicht  zu  befür- 
worten. Ausserhalb  der  Verschuldungsgrenze  haben  die  Eaiffeisencassen  ein- 
zutreten. 

Bei  consequenter  Durchführung  der  Zwangstilgung,  unter  Anwendung  einer 
4Y2  proc.  Annuität,  werde  die  bestehende  Grundschuldonlast  eines  Landes  oder 
einer  bestimmten  Besitzkategorie  innerhalb  eines  Zeitraumes  von  fünfundfünfzig 
Jahren  abgezahlt,  und  an  deren  Stolle  träte  trotz  der  jährlich  in  gleicher 
Durchschnittshöhe  zuwachsenden  Neubelastung  eine  Schuld- 
ziffer, die  nur  Yg  der  Gesaramtsumme  der  jährlichen  Nouvorschuldungen  umfasst. 
„Nimmt  man  die  grundbücherliche  Belastung  eines  Landes  beispielsweise  mit 
255  Millionen  an  und  berechnet  die  jährliche  Neuverschuldung  mit  4  Millionen, 
so  ist  durch  die  Zwangstilgung  nach  55  Jahren  die  bei  Beginn  der  Amortisation 
bestandene  ursprüngliche  Belastung  verschwunden  und  an  ihre  Stelle  eine  constant 
bleibende  Schuldsumme  von  146,856.120  getreten.  Schon  im  24.  Jahre  ist  trotz 
des  jährlichen  Zuwachses  von  4  Millionen  die  bis  zu  292,597.570  ansteigende 
Verschuldungsziflfer  auf  292,557.500,  vorläufig  wohl  nur  um  einen  kleinen  Betrag 
vermindert,  und  fällt  von    da  ab   in  rascher  Folge,    so    dass   im  40.  Jahre    nur 


108.  und  109.  Plenarveisainmlung.  279 

mehr  258,313.690,  im  50.  Jahre  192,303.790,  im  55.  Jahre  zuletzt  146,856.120 
als  gleichbleibende  Schuldsumme  aushaften. 

Ohne  Amortisation  würde  im  24.  Jahre  die  Belastungsziflfer  351  Millionen, 
im  40.  Jahre  415  Millionen,  im  50.  Jahre  455  Millionen,  im  55.  Jahre 
475  Millionen  betragen. 

147  Millionen  gegenüber  475  Millionen  grundbücherliche  Belastung,  gewiss 
ein  glänzender  Erfolg.  Der  Einwendung,  dass  die  unregelmässigen  Erträge  der 
Landwirtschaft  es  nicht  gestatten,  ohne  die  wirtschaftlichen  Verhältnisse  derselben 
starken  Erschütterungen  auszusetzen,  die  obligatorische  Zwangstilgung  einzuführen, 
ist  leicht  durch  den  Hinweis  begegnet,  dass  bäuerliche  Darlehen  nicht  so  gross 
sind,  um  nicht  den  Aufschlag  von  V2  Pi"0c.  Amortisationsquote  zu  ertragen, 
dass  gegenüber  den  Waisencassen-  und  Hypothekenanstaltsdarlehen  unsere  Land- 
wirte für  Sparcassenhypotheken  an  Zinsen  soviel  bezahlen,  als  sie  bei  den  erst- 
genannten Creditstellen  an  Annuität  entrichten,  von  den  Darlehen  der  Contributions- 
fondscassen,  Bezirksvorschussvereinen  und  Spar-  und  Vorschusscassen  nicht  zu 
reden,  dass  deshalb  die  vernünftigen  Elemente  unter  unseren  Landwirten  die 
Annuitätentilgung  selbst  verlangen,  wie  die  facultative  Einführung  derselben  bei 
den  Waisencassen  beweist,  dass  endlich  die  entsprechende  Beweglichkeit  des 
Tilgungsplanes,  das  erforderliche  Entgegenkommen  der  Creditstellen  in  Stundung 
und  Aenderungen  der  Annuitäten,  sowie  bei  Rückzahlungen  der  Darlehen  bekannter- 
maassen  ausreichenden  Schutz  gegen  wirtschaftliche  Katastrophen  gewähren."  Der 
Vortragende  fordert  deshalb  als  erste  ohne  Verzug  zu  treffende  Maassregel: 
Die  Unterwerfung  aller  auf  ländlichen  Ee  alitäten  bereits 
haftenden  und  in  Zukunft  zur  Eintragung  gelangenden 
Forderungen  öffentlicher  Creditstellen  unter  das  System 
der  Zwangstilgung. 

Dadurch  würde  erreicht  werden:  die  Sanction  des  Annuitätensystems  durch 
staatliche  Autorität,  die  Erziehung  der  ländlichen  Bevölkerung  zu  Ordnung  und 
Pünktlichkeit,  zu  regelmässiger  Tilgung  contrahierter  Schulden  und  endlich  die 
Herabminderung  der  bestehenden  und  der  neu  hinzukommenden  Grundschulden 
um  erhebliche   Summen. 

Für  den  Landwirt  muss  man  unkündbaren  Rentencredit  verlangen.  Nur 
der  Pfandbrief  vermag  ihn  zu  bieten.  Die  zweite  sofort  erfüllbare  Forderung  sei 
daher,  dass  öffentliche  Creditstellen  (Sparcassen  und  Waisencassen)  von  nun  an 
neuer  Hypothekarcredit  nur  in  der  Form  von  Pfandbriefdarlehen  geben  dürfen. 
Redner  führt  weiters  aus,  dass  die  Organisation  des  Hypothekarcredites  gegen- 
wärtig noch  nicht  derart  ist,  dass  sie  dem  Verlangen  nach  Befriedigung  des 
legitimen  Hypothekarcredites  entsprechen  könnte.  Man  müsse  deshalb  weiter  gehen. 
Hinderlich  für  die  Entschuldungsaction  seien  insbesondere  die  theueren  zweiten 
und  dritten  Sätze  in  der  irrationellen  Form  kündbarer  Darlehen  mit  veränderlichem, 
in  der  Regel  steigendem  Zinsfusse.  Je  mehr  anderseits  die  bäuerliche  Wirtschafts- 
form in  den  Parcellenbesitz,  in  die  Gemenglage  sich  auflöst,  desto  mehr  huldigt 
der  Landwirt  der  nicht  zu  billigenden  Gewohnheit,  alle  erwirtschafteten  Gelder  in 
Grundbesitz  anzulegen,  ja  auf  Speculation  in  langfristigen  Raten  Culturgründe  zu 
erstehen. 


280  Verhandlungen  der  Gesellschaft  österreichischer  Volkswirte. 

Haben  die  Angehörigen  benachbarter  Gemeinden  sich  in  diesem  Bestreben 
überboten,  dann  findet  für  geraume  Zeit  oft  der  beste  Acker  keinen  Käufer, 
sind  ganze  Wirtschaften  vollständig  unveräusserlich.  Sollen  Landesanstalten, 
Waisencassen,  Sparcassen  den  legitimen  Hypothekarcredit  wirklich  befriedigen, 
dann  muss  in  irgend  einer  Form  ihnen  Dockung  gegen  derartige  Vorkommnisse 
geboten  werden. 

Die  ins  Leben  zu  rufenden  landwirtschaftlichen  Berufsgenossenschaften 
erscheinen  in  erster  Linie  geeignet,  hier  erziehlich  einzuwirken.  Zugleich  steht 
es  ihnen  zu,  die  in  Zwangsvollstreckung  befindlichen  und  um  zwei  Drittel  ihres 
Wertes,  also  um  den  Betrag  ihrer  pupillarsicheren  Belehnung  nicht  veräusser- 
lichen  Wirtschaften  an  denjenigen  Bewerber  gegen  ein  unkündbares  Kenten- 
darlehen  hinauszugeben,  der  durch  Tüchtigkeit  und  Betriebsmittel  seinen  Con- 
currenten  überlegen  ist.  Die  Haftung  für  etwaige  Ausfälle  an  Zinsen  und  Kosten, 
entstanden  während  der  Zeit  des  Ueberganges,  fiele  zu  gleichen  Theilen  auf  Staat 
und  Land.  Die  Verwaltung  des  Darlehensdienstes  übernimmt  die  Landesanstalt, 
die  eigene  Eentenbriefe  nicht  zu  emittieren  braucht,  sondern  die  Abwicklung 
mittels  ihrer  Pfandbriefe  zu  besorgen  imstande  ist. 

Auch  diese  dritte  Maassnahme  liesse  sich  nach  Einführung  der  landwirt- 
schaftlichen Berufsgenossenschaften  im  Einvernehmen  von  Staat  und  Land  treffen, 
ohne  berechtigte  Interessen  zu  verletzen. 

„Würden  wir  noch  die  Bestimmungen  des  §  151,  p],-0.  über  das  geringste 
Gebot  durch  Festsetzung  des  Hälftewertes  statt  der  zwei  Drittel  geändert  und 
das  Convertierungsgesetz  dahin  erweitert  haben,  dass  nicht  die  Zinsenspannung, 
sondern  Unkündbarkeit,  fester  Zinsfuss  und  Zwangstilgung  die  Gebürenbefreiung 
gewährleistet,  dann  hätten  wir  nach  unserem  Ermessen  für  den  Hypothekarcredit 
jene  Vorkehrungen  getroffen,  welche  die  Einführung  der  Einschuldbarkeitsgrenze 
in  absehbarer  Zeit  ermöglichen  würde."  Zugleich  müsse  aber  für  eine  noch 
bessere  Organisation  des  landwirtschaftlichen  Personalcredites  auf  genossenschaft- 
licher Grundlage  gesorgt  werden. 

Der  seit  1898  bestehende  allgemeine  Verband  landwirtschaftlicher  Genossen- 
schaften in  Oesterreich  umfasst  zwar  heute  nahezu  2000  auf  den  Grundsätzen 
gemeinwirtschaftlicher  Thätigkeit  aufgebaute  Genossenschaften,  die  hauptsächlich 
aus  Eaiffeisencassen  bestehen.  Ein  vielversprechender  Anfang,  aber  auch  nicht 
mehr.  Schon  hat  sich  die  Politik  dieser  neuen  Schöpfungen  bemächtigt  und 
weiters,  allerdings  nur  in  wenigen  Fällen,  der  „Geschäftsgeist"  seinen  Einzug  in 
diese  Kreise  gehalten.  In  vielen  Landstrichen  der  österreichischen  Kronländer 
sind  derartige  Gassen  nur  vereinzelt  zu  finden,  und  nicht  selten  haben  sie  eine 
scharfe  Anfeindung  seitens  jener  Elemente  zu  erdulden,  welche  in  ihnen  eine 
störende  Concurrenz  erblicken. 

Als  Spar-  und  Darlehenscassen  gegründet,  pflegen  ferner  unsere  Eaiffeisen- 
cassen das  Personalcreditgeschäft  mit  Einlagsgeldern;  gegen  Bürgschaft  und 
Schuldschein  gewähren  sie  für  zwei,  eventuell  4  Jahre  Darlehen,  deren  Sicherheit 
eine  vortreffliche,  deren  Liquitität  aber  eine  mehr  als  anfechtbare  ist.  In  der 
Regel    vorfügen    weder    die    Eaiffeisencassen    noch    deren    Centralverbände    über 


108.  und  109.  Plenarvcrsammlung.  281 

genügende  Barmittel,  um  auch  nur  dem  ersten  Anprall  Stand  zu  halten,  falls 
die  Einleger  ihre  Gelder  zurückverlangten.  Nicht  genug  daran. 

In  den  meisten  Kronländern  Oesterreichs  sind  aus  den  Raiffeisenverbänden 
heraus  Organisationen  für  den  Ein-  und  Verkauf  landwirtschaftlicher  Artikel 
entstanden.  Easch  hat  die  ländliche  Bevölkerung  begriffen,  dass  diese  Ver- 
einigungen bei  richtiger  Führung  nur  erspriesslich  und  fördernd  wirken  können. 
Winzerhänser,  Molkereien,  Getreidelagorhäuser,  Vereinigungen  zum  Absätze  anderer 
landwirtschaftlicher  Producte  wurden  ins  Leben  gerufen.  Die  Mittel  zu  ihrer 
Gründung,  zu  ihrer  Führung  hat  man  den  Eaiffeisencassen  entnommen.  Wo  anders 
M'äre  sonst  Geld  für  solche  Zwecke  verfügbar  gewesen? 

Die  Kunde,  wie  bedeutend  billiger  und  zweckentsprechender  durch  gemein- 
samen Grossbezug  alle  landwirtschaftlichen  Bedarfsartikel,  von  der  landwirtschaft- 
lichen Maschine  bis  zum  kleinen  Quantum  chemischen  Präparates  herab,  beschafft 
werden,  machte  Schule.  Auch  diesem  Zweige  kaufmännischer  Thätigkeit  wendeten 
sich  infolgedessen  unsere  Genossenschaften  zu  und  erzielten  bedeutende  Erfolge 
—  mit  den  Ein\agsgeldern  der  Eaiffeisencassen,  die  ohne  Eeserven,  ohne  Betriebs- 
fonde  all  diesen  Verwendungsansprüchen  gegenüberstehen. 

Wollen  wir  die  Betriebscredite  einerseits,  ja  andererseits  alle  Creditbedürf- 
nisso,  die  innerhalb  der  ^/g  des  ermittelten  Wertes  keine  Deckung  mehr  finden, 
auf  die  Eaiffeisencassen  weisen  —  dann  müssen  wir  vorerst  an  den  systematisch 
fundierten  Ausbau  ihrer  Organisation  schreiten.  Hiezu  sind  vor  allem  den  Wirt- 
schaftsgenossenschaften, respectivc  deren  Landesverbänden  gegen  sachgemässe 
Sicherung  die  nöthigen  Mittel  zu  bieten  und  hierdurch  die  Einlagsgclder  der 
Eaiffeisencassen  ihrer  natürlichen  Bestimmung,  der  Gewährung  von  Personal- 
darlehen, zurückzuführen.  Den  Eaiffeisencassen  selbst,  richtiger  deren  Centralcassen, 
aber  schaffe  man  die  nöthigen  Eeserven,  damit  sie  unter  allen  Umständen  die 
Einlagen  im  Bedarfsfalle  auch  wieder  zurückerstatten  können. 

Bei  Pflege  des  Personalcredites  zum  Zwecke  der  anzubahnenden  Entschuldung 
ist  das  Augenmerk  vorweg  auf  die  Eaiffeisencassen  zu  richten  und  die  anderen 
zur  Pflege  dieses  Creditzweiges  gegründeten  Creditstellen  nur  in  zweite  Linie  zu 
stellen.  Heute  bedeutet  auf  dem  Gebiete  des  ländlichen  Credites  das  Gut  alles, 
der  Mann  nichts  oder  höchst  wenig. 

Das  Capital  hat,  wenn  der  Bauer  dessen  Hilfe  in  Anspruch  nahm,  immer 
nach  der  realen  Unterlage  des  Darlehens  gefragt;  war  diese  Sicherung  durch 
vorhergehende  Posten  zweifelhaft  geworden,  dann  hat  sich  dem  Wirtschaftsmanne 
das  Darlehen  nur  in  der  Form  geboten,  welche  Handel  und  Industrie  für  ihre 
Bedürfnisse  entwickelten.  Entweder  die  Hypothek  oder  der  Wechsel.  Der  Schuld- 
scheincredit,  aufgebaut  auf  der  persönlichen  Tüchtigkeit,  zugemessen  dem  Manne 
und  nicht  dem  Gute,  ist  eine  vereinzelte  Erscheinung  geblieben. 

Insbesondere  herrscht  in  Oesterreich  allgemein  das  Bestreben,  alle  Spar- 
gelder, alle  den  Kreisen  unserer  producierenden  Stände  entstammenden  Mittel 
nicht  dem  gemein  wirtschaftlichen  Personaldarlehen,  sondern  dem  Hypothekar- 
geschäfte, der  Erworbung  von  Wertpapieren,  dem  Escompto  oder  Lombard  zuzu- 
wenden. 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  SooialpoUtik  und   Verwaltung.   X.   Band.  19 


282 


Verhandlungen  der  Gesellschaft  Österreichischer  Volkswirte. 


Es  ist  für  den  gewerblichen  Mittelstand  geradezu  eine  Existenzfrage 
geworden,  durch  gemeinwirtschaftliche  Geldsammelstellen  jene  Mittel,  die  seinen 
Kreisen  entstammen,  sich  unter  billigen  und  rationellen  Bedingungen  zu  erhalten. 
Aufgabe  dieser  Anstalten  wird  es  sein,  nicht  nur  durch  zweckentsprechende 
Verwaltung  die  Gelder  der  producierenden  Stände  für  deren  Bedarf  bereitzuhalten 
und  unter  jenen  Bedingungen  ihnen  zur  Verfügung  zu  stellen,  welche  ihren 
wirtschaftlichen  Entwicklungen  entsprechen,  sondern  auch  bei  vorübergehenden 
scharfen  Schwankungen  durch  ihre  Verbindung  mit  dem  grossen  Markte  die  Stösse 
auszugleichen  und  zu  mildern,  die  sonst  die  einzelne  wirtschaftliche  Existenz 
unvorbereitet  und  unberührt  treffen. 

Halten  wir  an  diesem  Gesichtspunkte  fest,  so  gelangen 
wir  neben  dem  Verlangen  nach  Ausbau  unserer  gemeinwirt- 
schaftlichen Genossenschaften  (ßaiffeisencassen,  Lagerhäuser  etc.)  z u 
dem  Begehren  nach  einheitlicher  länderweiser  Organisation 
aller  unserer  ländlicher  Per sonalcreditstellen,  durch  Aus- 
schluss jeglichen  Hypothekargeschäftes  und  möglichster 
Pflege  des  Schuldscheindärlehens. 

Dass  von  der  im  erforderlichen  Masse  gebotenen-  Creditmöglichkeit  jeder- 
zeit nur  der  richtige  verständige  Gebrauch  gemacht  und  eine  missbräuchliche 
Ausnützung  dieser  Möglichkeit  ferne  gehalten  wird,  ist  unbestritten  Aufgabe 
staatlicher  Creditorganisation.  Haben  v/ir  vor,  im  Interesse  der  Allgemeinheit  das 
Grundbuch  nur  in  beschränktem  Maasse  für  Hypotheken  offen  zu  halten,  dann 
müssen  wir  bei  Zeiten  das  Verständnis  für  die  richtigen  Formen  des  Personal- 
credites  bei  beiden  Contrahenten  wecken  und  pflegen,  und  zu  diesem  Behufe  auch 
für  die  Creditmöglichkeit  entsprechend  sorgen.  Die  Mittel  für  den  Person alcredit 
sind  demnach  an  gemeinwirtschaftlichen  Ausgleichsstellen  zu  concentieren.  Da 
diese  Anstalten  ihrerseits  in  steter  Verbindung  mit  dem  grossen  Markte  stehen 
müssen,  ist  jede  Besorgnis  beseitigt,  als  würde  hierdurch  das  von  den  Klein- 
producenten  nicht  benöthigte  Geld  der  Verwendung  für  industrielle  oder  commer- 
cielle  Zwecke  entzogen. 

Als  eine  weitere  Voraussetzung  der  von  uns  verlangten 
wirtschaftlichen  Schulung  fordert  der  Vortragende  die 
Beseitigung  der  Bestimmungen  des  §  208  der  E.-O.  So  lange  der 
f*ersonalgläubiger  durch  Anmerkung  der  Zwangsvollstreckung  zur  Einverleibung 
des  executiven  Pfandrechtes  für  seine  Forderung  gelangen  kann,  wird  kein  um 
sein  Darlehen  besorgter  Mann  es  unterlassen,  sich  die  Rangordnung  für  seine 
Ansprüche  grundbücherlich  zu  sichern.  Soll  durch  Einführung  der  Zwangstilgung 
aller  von  öffentlichen  Stellen  hinausgegebenen  Nachhypotheken  das  Grundbuch 
von  denselben  befreit  werden,  dann  darf  nicht  auf  kostspieligen  Umwegen  eine 
Jagd  nach  der  Rangordnung  sofort  vollstreckbaren  Nachhypothek  veranlasst 
werden. 

Die  Erfolge  der  ßaiffeisencassen  beweisen,  dass  auch  ohne  bücherliche 
Sicherstellung  unsere  ländliche  Bevölkerung  einen  entsprechenden  Credit  geniesst, 
und  es  nur  der  sorgsamen  Führung  aller  zur  Befriedigung  desselben  berufenen 
Organe  bedarf,  um  allmählich  auch   auf  diesem  hochwichtigen   Zweige   der  Wirt- 


108.  und  109.  Plenarversammlung.  283 

Schaftsordnung   der  persönlichen  Tüchtigkeit,  Strebsamkeit  und  Verlässlichkeit  die 
ihr  gebärende  Stellung  wieder  einzuräumen. 

Als  letzten  Schritt  sieht  es  der  Vortragende  an,  dass  verfügt  werde,  dass 
alle  Neubelehnungen  von  Grundwirtschaften,  welche  dem  landwirtschaftlichen 
Betriebe  dienen,  sich  nur  in  der  Form  des  Pfandbriefcredites  vollziehen  dürfen. 
Damit  ist  nicht  einer  Anstalt  —  sondern  dem  unkündbaren  Eentendarlehen  — 
dem  Ideale  landwirtschaftlicher  Wirtschaftsführung  das  Belehnungsmonopol  ertheilt. 
Dagegen  spricht  er  sich  gegen  das  Monopol  der  Anstalt  und  für  das  Monopol 
der  Darlehensform  aus,  geleitet  durch  die  in  langer  Praxis  gewonnene  Erfahrung, 
dass  die  beste  Gewähr  für  nie  rastende  Entwicklung  in  der  Concurrenz  gelegen 
ist.  Hinter  jeder  Sache  stehen  Menschen.  Menschen  sind  es,  die  sie  vertreten  — 
Menschen,  die  vergänglich  sind,  wie  jeder  Organismus  —  Menschen,  die  anderen 
Menschen  mit  anderen  Ansichten  das  Feld  räumen  müssen.  Schon  das  Beharren 
in  bestehenden  Formen  ist  Rückschritt;  sollten  wir  in  der  Organisation  unserer 
Landes-Hypothekenanstalten  heute  schon  an  der  Grenze  erreichbarer  Ausgestaltung 
stehen? 

Der  landwirtschaftlichen  Berufsorganisation  der  Länder  wäre  es  zu  über- 
lassen, den  Begriff  des  landwirtschaftlichen  Betriebes  festzustellen.  Nicht  getroffen 
sind  durch  diese  Maassnahnw3  alle  Taglöhner-  und  Häuslerstellen  —  alle  gewerb- 
lichen Betriebe  mit  diesem  untergeordneten  landwirtschaftlichen  Besitz.  Getroffen 
sind  alle  reinen  und  gemischten  landwirtschaftlichen  Betriebe. 

Als  Wirkung  der  geplanten  Creditbeschränkung  und  Monopolisierung  würde 
sich  ergeben,  dass  bei  jeder  Darlehensaufnahme,  also  auch  bei  jedem  Besitz- 
wechsel, der  eine  solche  nothwendig  macht  (Kauf,  Uebergabe,  Zwangsversteigerung, 
Erbgang),  nur  die  Einvorleibung  eines  unkündbaren  Eentendarlehens  mit  Zwangs- 
tilgung  erfolgen  kann,  wenn  innerhalb  der  zwei  Drittel  des  erhobenen  Wertes 
sich  überhaupt  Raum  für  ein  solches  Darlehen  findet,  und  dass  mit  dieser  Ein- 
verleibung sich  zugleich  die  Convertierung  theuerer  Satzposten  im  Rahmen  der 
Einschuldbarkeit  vollzieht.  Bereits  haftende  Nachhypotheken  bleiben  als  nach- 
stehende Posten  bis  zur  Tilgung  oder  eintretenden  Zwangsliquidation  bestehen. 
Im  Zinsfusse  billigere  Hypothekardarlehen,  deren  Convertierung  von  den  Schuldnern 
nicht  selbst  verlangt  wird  (Kindergelder,  Erbtheile,  Ausgedinge,  ohne  oder  mit 
geschenkten  verechneten  Zinsen),  bleiben  auch  innerhalb  der  Belehnungsgrenze 
bis  zu  ihrer  Abstossung  oder  Convertierung  unberührt.  Hiedurch  erscheint  das 
Wesen  der  Vorscaläge  Dr.  G  r  a  b  m  a  y  r  s  beibehalten  und  nur  in  der  Form 
gemildert. 

Die  Zwangsconvertierung  und  Zwangsliquidierung  ist  den  eingelebtcn 
Gewohnheiten  und  Sitten  unserer  landwirtschaftlichen  Bevölkerung  geopfert,  wie 
ich  glaube,  im  Interesse  der  Sache  selbst.  Verzögert  die  hier  gewählte  Abwicklungsart 
den  Gang  der  Entschuldung,  so  gewinnen  wir  andererseits  bedeutenden  Vorschub 
durch  Schonung  der  Gläubiger  und  Schuldner.  Beide  sind  nicht  dem  energischen 
Eingriffe  in  ihre  wirtschaftlichen  und  rechtlichen  Verhältnisse  ausgesetzt  und 
gewinnen  Zeit,  sich  den  geänderten  Verhältnissen  anzupassen.  Auch  die  Heran- 
ziehung wichtiger  Creditstellen  und  einflussreieher  Factoren  bei  Vermittlung 
grundbücherlicher  Belehnungen  wird  dem  Wesen  der  Sache  nicht  abträglich  sein. 

19* 


284  VerVianrllnnc^en  der  Gesellschaft  österreicliischer  Volkswirte. 

Der    Vortragende    fasst    schliesslich    den    Inhalt    seiner    Ausführungen     in 
folgende  Forderungen  zusammen: 

„Auf    dem    Gebiete    des    Hypothekar credites: 

Die  Zwangstilgung  aller  von  öffentlichen  Creditstellen  auf  ländliche  Eealitäten 
ausgegebenen  und  auszugebenden  Hypothekardarlehen; 

die  Pfandbriefdarlehen  der  Sparcassen,  eventuell  der  Waisencassen  neben 
jenen  der  Landes-Hypothekenanstalten; 

die  Sicherung  des  legitimen  13esitzcredites  durch  Schaffung  einer  Art  von 
Renten gütern ; 

die  Aenderung  der  Bestimmungen  des  Convertierungsgesetzes  und  der 
Bestimmungen  der  Executionsordnung  über  das  geringste  Gebot. 

Auf   dem    Gebiete    des    P  er  son  al  er  e  d  it  e  s  : 

Die  Schaffung  von  Betriebsfonden  und  Betriebsreserven  für  unsere  land- 
wirtschaftlichen "Wirtschaftsgenossenschaften  und  Raiffeisencassen; 

die  Einschränkung  des  Geschäftsbetriebes  unserer  Personalcreditstellen 
auf  die  Pflege  des  Personaldarlehens  unter  Ausschluss  der  Hypothek; 

die  Schaffung  und  Ausgestaltung  von  gemeinwirtschaftlichen  Geldausgleich- 
stellen in  den  einzelnen  Kronländern; 

die  Aenderung  des  §  208  der  Executionsordnung. 

Durch  keine  der  vorgeschlagenen  Maassregeln  werden  wirtschaftliche  Ent- 
wicklungen gestört  —  jede  der  ins  Auge  gefassten  Maassnahmen  ist  für  sich 
allein  geeignet,  den  Wohlstand  der  gesammten  ländlichen  Bevölkerung  und  daher 
auch  den  unserer  eigentlichen  Landwirte  zu  heben. 

In  ihrer  Gesammtwirkung  aber  versprechen  sie  die  Herabminderung  der 
heute  jährlich  anwachsenden  Grundschulden  um  bedeutende  Summen,  die 
Anbahnung  einer  rationellen  Wirtschaftsform,  die  ethische  Festigung  breiter 
Schichten  des  Volkes." 

Ueber  diesen  Vortrag  entspann  sich  am  23.  April  in  der  109.  Plenar- 
versammlung  eine  lebhafte  Debatte. 

Reichsrathsabgeordneter  Dr.  v.  Grabmayr  glaubt,  man  könne  schwerlich 
eine  Lösung  finden,  die  für  alle  Verhältnisse  und  für  alle  Länder  passt.  Es  sei  das 
einer  jener  Fälle,  wo  man  localisieren  und  die  Lösung  den  jeweiligen  besonderen 
Verhältnissen  der  einzelnen  Länder  anpassen  muss.  Dr.  v.  Hattingberg  habe 
sich  aber  zur  Aufgabe  gestellt,  den  Lösungsversuch,  den  Redner  für  Tirol  unter- 
nommen habe,  so  auszuweiten,  dass  er  für  alle  Länder  der  Monarchie  anwendbar 
sein  soll.  Selbstverständlich  habe  er  sich  dadurch  die  Aufgabe  ungleich  schwieriger 
gemacht. 

Mit  dem  weitaus  grössten  Theile  seiner  Darlegungen  ist  er  vollständig 
einverstanden.  Gewisse  Bedenken  beginnen  für  ihn  dort,  wo  Dr.  v.  Hatting- 
berg, über  den  ziemlich  eng  gesteckten  Rahmen  des  Reformwerkes  G-rabm  ay  rs 
hinausgreifend,  den  ganzen  landwirtschaftlichen  Besitz  einbeziehen  will.  Er  hat 
zwar  auch  gewisse  Ausnahmen  gemacht,  aber  immerhin  geht  seine  Tendenz 
dahin,  den  ganzen  landwirtschaftlichen  Besitz  unter  das  Regime  einer  Ver- 
schuldungsgrenze zu  stellen.  Da  entsteht  doch  das  Bedenken,  ob  es  sich  empfiehlt, 
auch  den  kleinen  Parcellenbesitz    dem    neuen   Credifcrechte    zu    unterwerfen.     Vor 


108.  und  109.  Plenarversammlung.  285 

allem  aber  wird  eine  grosse  Scliwierigkeit  jedenfalls  dadurch  entstehen,  dass 
irgend  eine  Ausscheidung  unbedingt  gemacht,  und  dass  diese  Ausscheidung 
doch  im  Grundbuche  ersichtlich  gemacht  werden  müsste.  Es  müsste  für  jeder- 
mann sofort  grundbücberlich  klar  sein,  ob  die  Liegenschaft  ^  dem  gemeinen 
Crcditrechte  oder  dem  beschränkenden  Creditrechte  der  Verschuldungsgrenze 
untersteht.  Man  müsste  zu  einer  ähnlichen  Einrichtung  wie  der  Höferolle  kommen, 
wie  sie  seinerzeit  in  der  in  verschiedenen  Landtagen  eingebrachten  Eegierungs- 
vorlage  in  Aussicht  genommen  war.  Von  Liegenschaft  zu  Liegenschaft  müsste 
festgestellt  werden,   ob  sie  zu  der  einen  oder  der  anderen  Realität  gehöre. 

Grabmayr  wendet  sich  sodann  gegen  das  von  Hattingberg  vorge- 
schlagene Pfandbriefmonopol:  „Worauf  es  ankommt,  das  ist,  dass  in  Zukunft 
auf  den  landwirtschaftlichen  Liegenschaften  nur  mehr  unkündbare  und  amorti- 
sierbare Schulden  haften  sollen.  In  welcher  Form  aber  der  Credit  gegeben  wird, 
was  der  Schuldner  zu  leisten  übernimmt,  aus  welchen  Quellen  das  Geld  fliesst, 
welches  dem  Landwirt  als  Darlehen  gegeben  wird,  ist  für  unsern  Zweck  ganz 
gleichgiltig.  Ob  dieses  Geld  durch  Emission  von  Pfandbriefen  beschafft  wird,  wie 
dies  allerdings  hnsere  Landesanstalt  macht,  oder  durch  Einlagen  der  kleinen 
Leute,  wie  es  in  der  Eegel  bei  den  Sparcassen  der  Fall  ist,  oder  durch  die 
Geldeinlagen  der  Mündel,  wie  bei  den  cumulativen  Waisencassen,  ist  für  unsern 
Zweck  völlig  indifferent.'^  Des  weiteren  bespricht  dann  der  Kedner  die  Aufnahme, 
die  sein  Eeformvorschlag  gefunden  hat. 

Hofrath  v.  Philippovich  weist  insbesondere  auf  den  Entschuldungsplan 
hin,  den  S  e  r  i  n  g  aufgestellt  hat. 

„Sering  geht  von  dem  Gedanken  aus,  dass  ehie  Verschuldungsgrenze 
als  eine  den  Landwirt  beengende  Maassregel  —  abgesehen  von  allen  Gründen, 
die  an  und  für  sich  dafür  zu  sprechen  scheinen  —  unbedingt  dort  gerechtfertigt 
erscheine,  wo  der  Staat  direct  oder  indirect  dem  Landwirt  besonders  grosse 
Vortheilo  gewährt,  worunter  er  auch  das  Anerbenrecht  anführt. 

Er  beschäftigt  sich  auch  mit  der  Frage,  ob  nicht  der  Person alcredit 
darunter  leiden  würde,  und  sagt  hierüber:  „Es  ist  ganz  falsch,  wenn  man  gegen 
die  Verschuldungsgrenze  eingewendet  hat,  sie  würde  den  Personalcredit  der 
Landwirte  schädigen.  Ganz  im  Gegentheil!  Dass  heute  so  viele  ungenügenden 
Personalcredit  haben,  geht  wesentlich  auf  die  Thatsache  ihrer  allzu  hohen 
Belastung  mit  Realschulen  zurück,  und  es  ist  ein  ganz  ungesunder  Zustand,  das 
Betriebscapital  so  oft  durch  Aufnahme  von  Hypothekenschulden  beschafft  wird, 
die  dann  als  dauernde  Last  auf  dem  Grundstück  haften  bleiben.  Ein  Besitzer, 
dem  eine  richtig  bemessene,  nicht  allzuweite  Verschuldungsgronze  auferlegt  und 
der  bis  zu  dieser  Grenze  verschuldet  ist,  steht  ähnlich  wie  ein  Pächter  mit 
massiger  Pacht,  und  es  ist  ja  bekannt,  dass  die  capitalintensivste  Wirtschaft 
vielleicht  der  Welt  auf  den  englischen  Pachtgütern  herrscht,  wo  eine  Verpfändung 
des  Bodens  für  Betriebszwecko  überhaupt  unmöglich  ist;  aber  allerdings  setzt 
die  f]inführung  der  Schuldbeschränkungen  eine  verbesserte  Organisation  des 
Personalcredites  voraus." 

Trotzdem  spricht  sich  S  e  r  i  n  g  gegen  eine  generelle  Verschuldungsgrenze 
aus.     Das    würde    eine  Krise    hervorrufen,   da    man    auf  die  Verschiedenheit  der 


286  Verhandlungen  der  Gesellschaft  österreichischer  Volkswirte. 

einzelnen  Güter  nicht  Rücksicht  nehmen  könnte:  Industriegüter,  einfache  Körner- 
wirtschaften, Grossgrundbesitz,  Parcellenbetrieb  müssten  der  gleichen  Regelung 
unterworfen  werden.  Ich  weiss  nicht,  sagt  Redner,  ob  diese  Bedenken,  die  Serin  g 
sich  selbst  macht,  eine  gar  so  grosse  Rolle  spielen.  Jedenfalls  nimmt  er  dann 
in  seinem  Vorschlag  auf  diese  Verschiedenheiten  keine  Rücksicht  mehr.  Nach 
diesem  hätte  man  unter  positiver  Unterstützung  seitens  des  Staates  eine  Ent- 
schuldungsaction  in  der  Richtung  durchzuführen,  dass  jene  Schulden,  welche  als 
Nachhypotheken  zu  bezeichnen  sind,  die  also  über  die  Zweidrittelgrenze  hinaus- 
gehen und  regelmässig  zu  einem  hohen  Zinsfuss  auf  dem  Gute  lasten,  von 
Creditcorporationen,  Landschaften,  Gassen  u.  s.  w.  übernommen  werden.  Ein  Gut 
im  Werte  von  120.000  fl.  ist  z.  B.  mit  100.000  fl.  belastet,  so  dass  also  die 
Sicherheitsgrenze  um  20.000  fl.  überschritten  ist,  die  etwa  zu  i^/^  oder  5  Proc. 
lasten.  Diese  übernimmt  die  Landschaft  und  gewährt  den  normalen  Satz  von 
4  Proc:  sie  erspart  also  dem  Schuldner  200  fl.  Zinsen.  Natürlich  übernimmt 
sie  damit  ein  Risico.  Dieses  soll  nun  einestheils  durch  eine  Zinsengarantie  des 
Staates  oder  dadurch  gedeckt  werden,  dass  der  Staat  eine  bestimmte  Summe 
zinslos  zur  Verfügung  stellt,  anderntheils  dadurch,  dass  sämmtliche  in  die  Land- 
wirtschaftskammer incorporierten  Landwirte  für  etwaige  Ausfälle  haften,  die  aus 
der  Uebernahme  dieser  Nachhypotheken  sich  herausstellen  sollten.  Die  Nach- 
hypotheken werden  dann  so  rasch  als  möglich  amortisiert.  Die  ersten  80.000  fl. 
innerhalb  der  Sicherheitsgrenze  werden  ja  entsprechend  den  Statuten  der  Land- 
schaft amortisiert.  Bei  diesen  80.000  fl.  M'äre  nun  die  Amortisation  zu  sistioren 
und  die  Landschaft  verwendet  die  Amortisationsquote  dieser  80.000  fl.  dazu, 
um  in  Verbindung  mit  der  Zinsenersparnis  bei  der  Nachhypothek  von  20.000  fl. 
die  letztere  möglichst  rasch  zu  tilgen. 

Allerdings  soll  das  nicht  generell,  sondern  nur  unter  gewissen  Voraus- 
setzungen geschehen.  Zunächst  soll  sich  derjenige,  dem  auf  diese  Weise  eine 
Entlastung  zutheil  wird,  gefallen  lassen,  dass  eine  Verschuldungsgrenze  auf  sein 
Gut  eingetragen  wird.  Ferner  soll  die  Action  nur  eintreten,  wenn  es  sich  darum 
handelt,  einen  Besitz  in  der  Familie  zu  erhalten,  weiters  erst  nach  einer  sorg- 
fältigen Prüfung  der  individuellen  Verhältnisse  durch  die  Organe  der  Landwirt- 
schaftskammer. Ist  der  Betreifende  ein  leichtsinniger  Wirt  gewesen,  ist  die 
Ueberschuldung  auf  sein  eigenes  Verschulden  zurückzuführen  oder  bietet  er  nicht 
genügende  persönliche  Garantien  dafür,  dass  er  tüchtig  zu  wirtschaften  vermag, 
so  wird  die  Hilfsaction  nicht  durchgeführt.  Endlich  hat  er  sich  noch  einer 
ständigen  Controle  seitens  der  Organe  der  Landschafton  zu  unterwerfen. 

S  e  r  i  n  g  berechnet,  dass  in  ganz  Preussen  etwa  400  Millionen  Mark  in 
Betracht  kämen,  wenn  von  den  Landschaften  jene  Schulden  übernommen  werden 
sollen,  welche  das  fünfte  Sechstel  des  Bodenwertes  belasten.  Die  jährlichen  Zinsen 
betrügen  12  Millionen  Mark.  Da  nun  nicht  alle  solche  Nachhypotheken  übernommen 
würden,  sondern  nur  ein  Theil,  würde  die  Last  des  Staates  —  vorausgesetzt,  dass  man 
ihm  einen  lOproc.  Zuschuss  für  den  Ausfall,  der  etwa  eintreten  könnte,  auferlegen 
will  —  alljährlich  700.000  bis  eine  Million  Mark  betragen.  Und  er  sagt  nun  nicht 
mit  Unrecht:  das  ist  eine  Summe,  welche  der  preussische  Staat  wohl  zur  Entlastungs- 
action  zuschiessen  kann,  wenn  man  ihre  grosse  Wirkung  in  Betracht  zieht." 


108.  und  109.  Pleiiarversammlung.  287 

Keichsrathsabgeordneter  Dr.  Licht  schildert  die  in  Deutsch-Mähren  ein- 
geleitete Action,  die  darauf  abzielt,  systematisch  durch  Vermittlung  der  Raiffeisen- 
cassen  und  der  Hypothekenbank  die  Verschuldung  der  Landwirte  in  die  Form 
des  unkündbaren,  der  Zwangsamortisation  unterliegenden,  möglichst  billigen 
Credites  der  gemeinwirtschaftlichen  Anstalten,  also  zunächst  der  Hypotheken - 
anstalt  überzuleiten.  Mit  dieser  Action  wurde  vor  ungefähr  6  Jahren  begonnen; 
sie  wird  von  einer  Stelle  aus,  daher  möglichst  billig  durchgeführt.  Dem  Land- 
wirt wird  klargelegt,  dass  die  Kosten  einer  solchen  von  der  Centralstelle  über- 
nommenen Durchführung  durch  die  1  oder  1 72jährige  Zinsenersparnis  schon 
hereingebracht  sind  und  er  die  ganze  Dauer  der  weiteren  Verschuldungsperiode 
hindurch  bereits  gewissermaassen  unentgeltlich  im  Vergleich  zu  seiner  früheren 
Verschuldung  die  auf  seinem  Gute  haftende  Schuld  abzuzahlen  in  der  Lage  ist. 
Bisher  sind  ungefähr  3  Millionen  Kronen  in  dieser  Weise  durch  die  Centralstelle 
convertiert  worden,  ein  relativ  gewiss  noch  nicht  bedeutender  Betrag.  An  der 
Verzögerung  in  dem  Fortgange  der  Action  in  den  letzten  Jahren  sind  aber 
hauptsächlich  die  Schwankungen  auf  dem  Geldmarkte  schuld.  Solange  die  Ver- 
hältnisse auf  dem  Geldmarkte  nicht  jene  Stabilität  wieder  annehmen,  die  sie  vor 
2  Jahren  zu  haben  schienen,  wird  die  ganze  Frage  überaus  schwierig  sein.  Die 
Convertierungsaction  wird  auch  insolange  keine  wesentlichen  Fortschritte  machen, 
als  wir  nicht  ein  Convertierungsgesetz  haben,  welches  die  Gebürenfreiheit  nicht 
bloss  für  die  Umwandlung  von  höher  in  niedriger  verzinsliche,  sondern  auch  für 
die  Umwandlung  in  unkündbare  und  der  Zwangsamortisation  unterliegende  Dar- 
lehen überhaupt  ausspricht.  Namentlich  sind  es  Erbengelder,  Kaufschillingsreste, 
die  auf  dem  Grund  und  Boden  vielleicht  zu  relativ  niedrigen  Zinsen  lasten,  aber 
sehr  gefährlich  sind  und  insbesondere  die  Durchführung  von  Convertierungen 
überaus  erschweren,  weil  diese  Hypothekenbesitzer  nie  bereit  sind,  in  jene  Grnnd- 
buchshandlungen  zu  willigen,  welche  eine  Convertierung  oft  überhaupt  erst 
möglich  machen.  Wenn  aber  die  erwähnten  gesetzlichen  Bestimmungen  erlassen 
werden,  dann  wird  das  Tempo  der  Convertierungsaction  sich  wesentlich 
beschleunigen. 

Eedner  erklärt,  er  sei  im  Grunde  für  das  Monopol  der  gemeinnützigen 
Pfandbriefanstalten,  weil  diese  von  jeder  Erwerbsabsicht  frei  sind  und  —  zum 
Unterschiede  z.  B.  von  den  Sparcassen  —  gar  keinen  anderen  Zweck  haben,  als 
das  Hypothekarcreditbedürfnis  der  betheiligten  Bevölkerungskreise  zu  befriedigen 
und  auch  eine  zweckmässige  Gewährung  ihres  Credites  garantieren. 

Endlich  spricht  sich  Eedner  für  ein  Gesetz  aus,  das  —  wenigstens  facul- 
tativ  —  die  Schaffung  von  Rentengütern  ermöglicht  und  hiebei  namentlich  die 
Gebürenfrage  befriedigend  regelt.  In  den  Sudetenländern,  wo  nicht  die  Ausnahms- 
verhältnisse Tirols  bestehen,  müsse  daran  gedacht  werden,  mit  der  Entschuldungs- 
action  vorwärts  zu  kommen  und  vor  allem  dem  guten  Willen,  den  die  Bauern- 
schaft ohnehin  schon  äussert,  und  den  Institutionen,  die  heute  schon  zu  Gebote 
stehen,  durch  entsprechende  gesetzliche  Maassnahmen  die  Wege  zu  ebnen. 

Reichsrathsabgeordneter  Dr.  Schöpfer  bezeichnet  sich  als  einen  Radicalen, 
der  auf  dem  Vogelsan g'schen  Standpunkt  stehe. 


2g3  Verhandlungen  der  Gesellschaft  öäkrreichischer  Volkswirte. 

Die  Vorschläge  Dr.  v.  Hattingbergs  passten  eigentlich  für  eine  Zeit, 
in  welcher  der  Bauernstand  schon  eine  gewisse  Gesundung  erlangt  hat,  sie  seien 
nicht  mehr  auf  normale  Verhältnisse  zugeschnitten.  Wir  haben  es  aber  gegen- 
wärtig mit  einem  unhaltbaren  Zustande  zu  thun,  der  sich  noch  immer  mehr 
verschlechtere,  wenn  nicht  mit   einer  gewissen  Energie  eingegriffen  werde. 

In  seinem  Schlussworto  brachte  der  Referent  Dr.  E.  v.  H  a  1 1  i  n  g  b  e  r  g 
Bedenken  gegen  den  Vorschlag  von  S  e  r  i  n  g  vor  und  vertritt  den  Standpunkt 
der  Zwangstilgung. 

Endlich  repliciert  der  Referent  auf  die  Bedenken  Dr.  v.  Grabmayrs 
bezüglich  der  Fixierung  einer  Verschuldungsgrenze  beim  ganzen  landwirtschaft- 
lichen Besitze.  Wir  können  zur  Entschuldung  überhaupt  kaum  kommen,  wenn 
wir  uns  nicht  entschliessen,  beim  landwirtschaftlichen  Betrieb  haV  exoclieu  anzu- 
fangen. Die  zu  schaffenden  landwirtschaftlichen  Berufsgenossenschaften  müssen 
sich  in  allen  Bezirkskörperschaften  darüber  klar  sein,  welches  Ausmaass  von 
Fläche  nothwendig  ist,  um  überhaupt  von  einer  Grundwirtschaft  zu  sprechen. 
Der  Referent  beschliesst  sodann  die  Discussion  mit  der  Versicherung,  dass  er 
nicht  ermangeln  werde,  die  erhaltenen  wertvollen  Anregungen  zu  seinem  Referate 
für  den  Landwirtschaftsrath  zu  verwenden. 


FÜRST  PETER  KRAPOTKIN  UND  DER  ANARCHISMUS. 


VON 


DR-  FEITZ  HAWELKA. 


Xrof.  G.  Jellinek  hat  in  seiner  jüngst  erschienen  allgemeinen  Staatslehre 
sein  Urtheil  über  die  Bedeutung  so  ciologischer  Theorien  in  folgende  charakte- 
ristische Sätze  zusaramengefasst : 

„Bei  allen  Arbeiten  dieser  Art  stellt  sich  daher  nothwendig  die  Individualität 
des  Autors  energisch  in  den  Vordergrund.  Maass  und  Umfang  der  Bildung,  Art 
der  Weltanschauung,  Adel  oder  Trivialität  der  Gesinnung,  Stärke  und  Schwäche 
des  Charakters  sind  für  die  Ergebnisse  sociologischer  Forschung  derart  von 
Bedeutung,  dass  man  billig  vorerst  nicht  nach  dem,  was  gelehrt,  sondern  nach 
dem  Lehrer  fragen  sollte." 

Dieses  Urtheil  lässt  sich  mutatis  mutandis  mit  noch  viel  mehr  Berechtigung 
auf  die  anarchistischen  Theorien  anwenden.  Die  Persönlichkeit  des  Autors  ist 
hier  geradezu  das  ausschlaggebende  Moment;  Phantasie  und  Empfindung  spielen 
in  den  anarchistischen  Lehren  eine  derart  hervorragende  Eollo,  dass  eine 
vorurthoilsfreio  Würdigung  derselben  nur  im  Zusammenhange  mit  der  Erkenntnis 
ihres  persönlichen  Charakters  denkbar  ist. 

Um  das  Uebergewicht  des  individuellen  Elementes  in  den  anarchistischen 
Theorien  zu  begreifen,  muss  man  sich  vor  Augen  halten,  welche  Umstände  zu 
ihrer  Entstehung  geführt  haben.  E.  V.  Zenker,  der  verdienstvolle  Kritiker  des 
Anarchismus,  hat  die  anarchistischen  Strömungen  der  Gegenwart  sehr  richtig  als 
eine  Abart  der  chiliastischen  Ideenrichtungen  bezeichnet,  welche  im  Laufe  der 
Geschichte  zu  verschiedenenmalen  aufgetaucht  sind  und  in  der  Erwartung  eines 
allgemeine  Glückseligkeit  verbürgenden  socialen  Zustandes  gipfelten.^)  Noth  und 
Elend  waren  der  Boden,  aus  welchem  sie  ihre  Nahrung  zogen,  das  tausend- 
jährige Reich  der  Verheissung  das  Ziel,  dem  sie  zustrebten.  Ihre  Anhänger 
entstammten  jener  Volksmasso,  welche,  decimiert  durch  den  unaufliörlichen 
Kampf   ums    Dasein,    in    bitterster    Noth    dahinlebt    und    unkundig    der    Gesetze 


^)   Vgl.    hinüber   E.  V.  Zenker:    „Der  Anarchismus.     Kritische    Geschichte    der 
anarchistischen  Theorie."  Jena,  G.  Fischer,  1895.  S.  7  if. 


290  Hawelka. 

socialer  Entwicklung  gieri»  nach  jenen  Ideen  greift,  welche  ihr  in  leuchtenden 
Farben  das  Paradies  auf  Erden  zeigen.  Dass  hier  der  Phantasie  die  führende 
Rolle  zufällt,  liegt  auf  der  Hand.  Die  Mühseligen  und  Beladenen,  welche  in  dem 
ihnen  durch  die  gesellschaftliche  Organisation  aufgedrängten  Existenzkämpfe 
fortwährend  unterliegen,  flüchten  verzweifelnd  in  das  lichte  Eeich  phantastischer 
Träume,  um  in  der  Anschauung  eines  eingebildeten  Glückes  die  Empfindung 
ihrer  absoluten  Hoffnungslosigkeit  zu  übertäuben. 

Aus  einer  ähnlichen  psychischen  Depression  in  den  social  am  tiefsten 
stehenden  Bevölkerungschichten  entwickelte  sich  der  moderne  Anarchismus.  Von 
den  chiliastischen  Ideen  des  Mittelalters  unterscheidet  er  sich  durch  die  wissenschaft- 
liche Form,  in  der  er  auftritt ;  er  gibt  sich  geflissentlich  den  Anschein  einer  auf 
wissenschaftlicher  Grundlage  aufgebauten  Reformbewegung,  ohne  aber  ein  ein- 
zigesmal  seinen  wahren  Ursprung,  die  Einbildungskraft,  verleugnen  zu  können, 
welcher  sich  vielmehr  in  der  grundsätzlichen  Verschiedenheit  der  maassgebenden 
anarchistischen  Lehren  deutlich  offenbart.  Jede  einzelne  Lehre  ist  streng  selb- 
ständig und  individuell ;  ausser  der  Verneinung  des  Staates  haben  sie,  wie 
Eltzbacher  in  seinem  vor  kurzem  erschienenen  Werke:  „Der  Anarchismus"^) 
treffend  nachgewiesen,  nichts  miteinander  gemein ;  keine  von  ihnen  hat  in 
irgend  nennenswerter  Weise  Schule  gemacht;  sie  tauchten  kometenartig  vor  den 
Augen  der  erstaunten  Menschheit  auf,  um  sehr  bald  wieder  anderen  Platz  zu 
machen  und  in  Vergessenheit  zu  gerathen.  Für  eine  nach  wissenschaftlichen 
Grundsätzen  operierende  Kritik  ist  es  ein  leichtes,  die  maassgebenden  anarchistischen 
Lehren,  von  Godwin  bis  herab  auf  Tolstoj,  zu  widerlegen;  was  sie  von  der  bis- 
herigen Entwicklung  der  Gesellschaft  und  von  der  zukünftigen  socialen 
Organisation  aussagen,  trägt  so  deutlich  den  Stempel  willkürlicher  Erfindung  an 
sich,  dass  es  durchaus  keine  Schwierigkeiten  bietet,  sie  an  der  Hand  ihrer  eigenen 
Argumente  ad  absurdum  zu  führen.  Hier  ist  unseres  Erachtens  auch  gar  nicht 
der  Punkt,  an  welchem  die  wissenschaftliche  Erforschung  des  Anarchismus  ein- 
zusetzen hat;  ihre  Aufgabe  wäre  sehr  bald  erledigt,  sie  müsste  sich  binnen 
kurzem  darauf  beschränken,  Selbstverständliches  zu  sagen.  Ihr  Bestreben  muss 
vielmehr  darauf  gerichtet  sein,  einerseits  die  anarchistischen  Lehren  in  ihrem 
Zusammenhange  darzustellen,  ihre  Grundlagen,  sowie  ihre  Stellung  zu  den  ein- 
zelnen socialen  und  politischen  Institutionen  zu  beschreiben,  wie  dies  Eltzbacher 
jüngst  in  erfolgreichster  Weise  versucht  hat,  andererseits  die  Entstehung  der 
anarchistischen  Theorien  culturhistorisch  zu  erklären  und  das  persönliche  Element, 
welches  ihnen  vermöge  ihrer  phantastischen  Natur  anhaftet,  blosszulegen. 

Das  letztgenannte  Ziel  ist  allerdings  schwerer  zu  erreichen,  als  es  vielleicht 
im  ersten  Augenblicke  scheinen  mag.  Die  Lebensgeschichte  der  hervorragenden 
Anarchisten  ist  noch  zu  wenig  bekannt,  als  dass  bereits  gegenwärtig  die 
Bedeutung  des  persönlichen  Elementes  in  der  Entwicklung  der  anarchistischen 
Ideen  entsprechend  gewürdigt  werden  könnte.  Aufzeichnungen  über  die  äusseren 
Schicksale  der  Anarchisten  sind  nur  spärlich  vorhanden;  noch  viel  seltener 
finden  sich  Anhaltspunkte  für  die  Erkenntnis  ihres  geistigen  Entwicklungsganges. 


')  Der  Anarchismus,  Von  Dr.  Paul  Eltzbacher.  Berlin,  J.  Guttentag,  1900. 


Fürst  Peter  Krapotkin  und  der  Anarchismus.  291 

Und  gerade  diese  Erkenntnis  ist  die  unerlässliche  Voraussetzung  für  die  richtige 
Beurthoilung  der  anarchistischen  Bewegung ;  erst  wenn  diese  gegeben  ist,  wird 
man  in  der  Lage  sein,  den  pathologischen  Zug,  welcher  dem  Anarchismus 
ebenso  wie  den  chiliastischen  Ideen  des  Miitelalters  eigenthümlich  ist,  in  voller 
Schärfe  zu  constatieren. 

Die  wissenschaftliche  Forschung,  welche  ihr  Hauptaugenmerk  auf  die 
Erkenntnis  des  persönlichen  Elementes  in  der  anarchistischen  Bewegung  richtet, 
hat  vor  kurzem  durch  die  Veröffentlichung  der  Memoiren  des  Fürsten  Krap  o  tkin, 
eines  der  hervorragendsten  Anarchisten,  eine  wertvolle  Unterstützung  erfahren.^) 
Mau  hat  dieser  bereits  seit  längerem  angekündigt  gewesenen  Selbstbiographie 
begreiflicherweise  mit  grosser  Spannung  entgegengesehen.  Alles,  was  schon  vor- 
her über  den  Lebenslauf  dieses  merkwürdigen  Mannes  bekannt  war,  bot  so  viel 
des  Interessanton,  dass  der  Wunsch,  Näheres  über  seinen  geistigen  Entwicklungs- 
gang zu  erfahren,  durchaus  berechtigt  erscheinen  musste.  Wenn  ein  Mann  aus 
den  untersten  Volksschichten  mit  einem  anarchistischen  Programme  auftritt,  so 
wird  man,  bei  allem  Interesse,  welches  jede  Lebensäusserung  der  anarchistischen 
Idee  hervorruft,  gleichwohl  mit  Leichtigkeit  seine  Entstehung  aus  dem  angeborenen 
Milieu  heraus  erklären  können.  Anders  bei  einer  Persönlichkeit,  welche  vermöge 
ihrer  Abstammung  mit  den  höchsten  Hofkreisen  in  nahen  Beziehungen  stand, 
vermöge  ihres  Talentes  und  umfassenden  Wissens  zu  den  kühnsten  Hoffnungen 
berechtigte  und  trotzdem  unter  die  Revolutionäre  gieng,  um  ihr  Leben  der 
Realisierung  eines  Phantasiegebildes  zu  widmen. 

Die  Hauptbedeutung  der  Memoiren  liegt  in  der  erschöpfenden  Darstellung 
jener  Motive,  welche  Krapotkins  Wandlung  zum  Anarchisten  herbeiführten. 
Krapotkin  hat  in  den  zwei  stattlichen  Bänden  die  Erfahrungen  eines  an 
äusseren  Eindrücken  reichen  Lebens  niedergelegt  und  in  meisterhafter,  oft 
vollendet  künstlerischer  Form  die  Verhältnisse  geschildert,  unter  denen  er  auf- 
gewachsen und  gross  geworden ;  er  entrollt  uns  mit  realistischer  Schärfe  ein 
Bild  des  zeitgenössischen  Russlands  und  der  grossen  Arbeiterbewegungen  im 
Westen  des  Continentes ;  das  hervorragendste  Interesse  beansprucht  aber  jenes 
Capitel  der  Memoiren,  in  welchem  Krapotkin  die  Gründe  seiner  inneren 
Wandlung  auseinandersetzt,  weil  es  den  Schlüssel  enthält  zum  Verständnisse 
seiner  Persönlichkeit. 

Krapotkin  war,  wie  aus  seinen  beiden  Hauptwerken,  den  Paroles  d'un 
r^volte  und  der  Conquete  du  pain  hervorgeht,  und  wie  seine  Selbstbiographie 
neuerdings  beweist,  von  jeher  eine  äusserst  feinfühlende,  friedferlige,  in  der 
allgemeinen  Menschenliebe  aufgehende  Natur.  Schon  als  Kind  zeigt  er  eine 
ungewöhnliche  Herzensgüte,  indem  er  den  Leibeigenen  schrankenlose  Sympathien 
entgegenbringt.  Er  stellt  sich  in  entschiedene  Oposition  zur  Ansicht  seiner  Zeit, 
welche  in  der  Leibeigenschaft  eine  naturnothwendige  Thatsache  erblickt,  und 
liebt  die  unglücklichen  und  missachteten  Geschöpfe  aus  dem  einzigen  Grunde, 
weil  sie  ebenso  Menschen  sind,  wie  er,  und  als  solche  ein  Recht  auf  menschen- 
würdige Existenz  haben.  Je  weiter  man  in  den  Memoiren  blättert,  umso  deutlicher 

')  Fürst  Peter  Krapotkin:  Memoiren  eines  Revolutionärs.  Autorisierte  üebor- 
setzung  von  Max  Pannwitz.  2  Bde.  Stuttgart,  Verlag  von  Robert  Lutz,    1900. 


292  Hawelka. 

tritt  dieser  Griindzug  seines  Wesens  hervor ;  ihm  gesellt  sich  eine  zweite  Eigen- 
schaft hinzu,  welche  gleichfalls  im  zarten  Kindesalter  zur  Geltung  gelangt  und 
im  Laufe  der  Zeit  immer  eindringlicher  ihre  Wirksamkeit  äussert.  Krapotkin 
zeigt  bereits  in  frühester  Jugend  eine  ungewöhnliche  Vorliebe  für  Beschäftigungen, 
welche  der  Einbildungskraft  entspringen ;  sein  Phantasieleben  ist  schon  frühzeitig 
ausserordentlich  stark  entwickelt  und  gewinnt  im  Verlaufe  der  Jahre  durch  eine 
intensive  Beschäftigung  mit  den  Künsten  und  der  Natur  fortwährend  an  Keich- 
haltigkoit;  selbst  die  wissenschaftlichen  Studien,  denen  er  obliegt,  vermögen 
nicht,  es  einzudämmen.  Als  etwa  achtjähriger  Knabe  insceniert  er  mit  Hilfe 
seines  Bruders  und  einiger  Diener  grosse  Theatervorstellungen,  in  welchen  die 
Phantasie  dem  Mangel  an  Personal  und  an  scenischem  Apparate  abhelfen  muss ; 
als  Zögling  des  Pagencorps  besucht  er  mit  Feuereifer  die  Aufführungen  im 
Petersburger  kaiserlichen  Opernhause  und  bildet  an  der  ausgezeichneten  Wieder- 
gabe italienischer  Opern  seinen  Geschmack  und  seine  Einbildungskraft ;  auf 
seinen  Spaziergängen  in  den  heimatlichen  Wäldern  zur  Ferialzeit  und  auf  seinen 
ausgedehnten  Wanderungen  über  die  sibirischen  Schneefelder  lauscht  er  mit 
gespannter  Aufmerksamkeit  den  geheimnisvollen  Stimmen  der  Natur  und  belebt 
diese  mit  seinen  Phantasiegestalten ;  und  als  gereifter  Mann  verabsäumt  er  es 
nie,  sich  von  seiner  der  agitatorischen  Thätigkeit  im  Dienste  des  Anarchismus 
gewidmeten  Zeit  soviel  abzusparen,  um  alle  grossen  Ereignisse  auf  dem  Gebiete 
der  Kunst  aufmerksam  zu  verfolgen.  Auf  diese  Weise  ist  seine  Phantasie  niemals 
zum  Stillstande  gekommen,  sie  hat  im  Gcgentheil  unaufhörlich  Anregungen 
aufgenommen  und  in  immer  reicherem  Ausmaasse  sich   entfaltet. 

Aus  der  angeborenen  Herzensgüte  und  dem  vielgestaltigen  Phantasieleben 
entwickelte  sich  inKrapotkins  Wesen  ein  dritter  charakteristischer  Zug:  sein 
altruistischer  Idealismus.  Er  zeigt  sich  in  voller  Schärfe  bereits  zu  jener  Zeit, 
in  welcher  sich  seine  Wandlung  vom  Gelehrten  zum  Anarchisten  vollzog. 
Krapotkin  hatte  durch  seine  gediegenen  Arbeiten  über  die  Orographie 
N  0  r  d  a  s  i  e  n  s  und  über  die  glaciale  Epoche  in  Finnland  das  gerechte 
Aufsehen  der  russischen  Geographen  erregt ;  die  Petersburger  geographische 
Gesellschaft  nahm  das  regste  Interesse  an  seinen  geologischen  Studien  und  bot 
ihm  im  Jahre  1871  die  einflussreiche  Stellung  eines  Secretärs  der  Gesellschaft 
an.  Damit  wäre  ein  langgehegter  Wunsch  Krapotkins  in  Erfüllung  gegangen. 
Zu  jener  Zeit  beschäftigte  er  sich  eingehend  mit  den  Plänen  zu  einer  erschö- 
pfenden physischen  Geographie  des  europäischen  Eusslands.  Er  beabsichtigte, 
„eine  gründliche  geographische  Schilderung  des  Landes  auf  Grund  der  Haupt- 
linien seiner  Oberflächenbeschaffenheit  zu  bieten  und  in  dieser  Beschreibung  die 
verschiedenen  Formen  des  wirtschaftlichen  Lebens  zu  entwerfen,  die  in  den 
einzelnen  Gegenden  ihrer  physischen  Beschaffenheit  nach  vorherrschen  sollten." 
Zu  einem  solchen  Werke  hätte  aber  Krapotkin  einerseits  einer  genauen  und 
steten  Bekanntschaft  mit  dem  bei  der  Geographischen  Gesellschaft  einlaufenden 
wissenschaftlichen  Ma.teriale,  andererseits  aber  eines  grossen  Ausmaasses  freier, 
für  Studienzwecke  verfügbaren  Zeit  bedurft.  Diese  beiden  Voraussetzungen  für 
die  geplante  geographische  Arbeit  wären  erfüllt  gewesen,  hätte  Krapotkin  die 
Stelle  des  Secretärs   angenommen.     Es   wäre   ihm   zweifellos  geglückt,  in  wn'ssen- 


I 


Fürst  Peter  Krapotkin  und  der  Anarchismus.  293 

schaftlichen  Kreisen  7ai  hohem  Ansehen  zu  gelangen ;  seine  eminente  Kenntnis 
der  geographischen  und  geologischen  Literatur,  seine  durch  die  Messübungen  in 
der  Militär-Alvademie  ausgebildete  grosse  Fertigkeit  in  geographischen  Aufnahmen, 
endlich  seine  hervorragende  Begabung  als  Mathematiker  hätten  ihn  sicherlich 
dazu  befähigt.  Gleichwohl  lehnte  er  das  verlockende  Anerbieten  ab.  Krapotkin 
befand  sich  zu  der  Zeit,  in  welcher  der  Antrag  der  Geographischen  Gesellschaft 
einlief,  auf  einer  Studienreise  in  Finnland.  Auf  seinen  weiten  Fahrten  über  die 
ausgedehnten  Landstrecken,  wo  die  menschlichen  Ansiedelungen  nur  dünn  gesäet 
waren  und  oft  Tage  vergehen  mochten,  ehe  er  zu  einer  grösseren  Ortschaft 
gelangte,  fand  er  Müsse,  über  sich  und  sein  Verhältnis  zur  Welt  nachzudenken. 
Die  sociale  Frage,  welche  seine  Aufmerksamkeit  bereits  in  seinem  Jünglings- 
alter auf  sich  gezogen  hatte  und  nur  unter  dem  Drucke  der  äusseren  Verhält- 
nisse in  seinem  Interesse  hinter  wissenschaftliche  Arbeiten  zurückgetreten 
war,  tauchte  neuerdings  vor  seinem  unermüdlich  thätigen  Geiste  auf.  Er 
beobachtete  den  finnischen  Bauer,  wie  er  angestrengt  und  ohne  sichtlichen  Erfolg 
den  Wald  rodete  und  den  harten  Boden  bebaute ;  er  sah  das  Elend,  das  in  den 
niedrigen  Hütten  herrschte,  die  Armuth,  welcher  selbst  beim  Aufgebote  äusserster 
physischer  Kraftanstrengung  nicht  beizukommen  war ;  und  von  den  Ebenen 
Finnlands  schweiften  seine  Gedanken  zu  den  öden  Landstrichen,  welche  die 
ehemals  unterthänigen  Bauern  seines  Vaters  nunmehr  ihr  Eigen  nannten,  welche 
sie  mühsam  bestellten,  und  die  ihnen  kaum  so  viel  eintrugen,  um  die  Nothdurft 
des  täglichen  Lebens  zu  stillen.  Die  Ackerlose,  welche  man  den  Bauern 
nach  Aufhebung  der  Leibeigenschaft  zugewiesen  hatte,  waren  fast  durchwegs 
unproductives  Land,  ungeeignet,  das  Existenzminimum  sicherzustellen  und  den 
Besitzern  die  Gewähr  für  ein  menschenwürdiges  Dasein  zu  bieten.  Und  seine 
geschäftige  Phantasie  zauberte  ihm  das  Bild  all  jener  Unglücklichen  hervor,  die 
in  der  Sorge  um  das  tägliche  Brod  kümmerlich  ihr  Leben  fristen,  an  den 
Schönheiten  der  Welt  keinen  Antheil  nehmen  können  und  in  ihrer  Muthlosigkeit 
nur  einen  Wunsch  haben :  so  rasch  als  möglich  ihrer  traurigen  Existenz  ein 
Ende  zu  bereiten. 

Dies  waren  die  Schattengestalten,  vor  denen  Krapotkin  capitulierte. 
Die  Beschäftigung  mit  der  Wissenschaft  erschien  ihm  fürderhin  insolange  über- 
flüssig, als  ihre  grossen  Errungenschaften  nicht  allen  Menschen  zugänglich 
gemacht  werden  könnten.  Seiner  Ansicht  nach  galt  es  jetzt  vor  allem,  die  Lage 
der  arbeitenden  und  besitzlosen  Volksclassen  zu  verbessern.  Krapotkin  war 
sich  voll  und  ganz  bewusst,  dass  er  mit  der  Aufgabe  der  wissenschaftlichen 
Laufbahn  den  grössten  Genüssen  entsagte,  die  ihm  das  Leben  bieten  konnte. 
„Aber  welches  Anrecht  hatte  ich  auf  diese  höheren  Freuden,  wenn  ich  um  mich 
herum  nur  Elend  sah  und  den  Kampf  um  ein  schimmliges  Brot,  wenn  alles,  was 
ich  ausgab,  um  in  jener  erhabeneren  geistigen  Welt  weilen  zu  können,  noth- 
wendigerweise  denen  vor  dem  Mundo  weggenommen  w^erden  musste,  die  den 
Weizen  bauten  und  kein  Brot  für  ihre  Kinder  hatten?" 

Mit  dieser  Erwägung  war  der  Umschwung  in  Krapotkins  geistiger 
Entwicklung  vollzogen.  Seine  altruistischen  Gefühle  für  die  Menschheit  und  sein 
gewaltig  aufstrebender  Idealismus  hatten  bewirkt,  dass  er  auf  die  Erfolge,  welche 


294  Hawelka. 

er  vermöge  seines  Talentes  und  seines  Wissens  hätte  erreichen  können,  für  alle 
Hinkunft  verzichtete  und  sich  hinfort  ausschliesslich  der  Beschäftigung  mit  der 
socialen  Frage  widmete.  Dass  er  hiebei  gerade  Anarchist  wurde,  lag  tief  in 
seinem  durch  die  Verhältnisse  in  Kussland  genährten  Hasse  gegen  jeden  Zwang 
begründet,  mochte  er  nun  von  einer  Volksvertretung  oder  von  einem  Einzelnen 
geübt  werden. 

Was  nun  das  anarchistische  Programm  K  r  a  p  o  t  k  i  n  s  anbelangt,  so  ent- 
halten die  Memoiren  hierüber  verhältnismässig  wenig  Aufschluss.  Wer  sich  über 
dasselbe  näher  orientieren  will,  wird  in  seinen  früher  citierten  zwei  Hauptwerken 
sowie  in  seinen  in  zahlreichen  Zeitschriften  verstreuten  Abhandlungen  über 
sociale  Tagesfragen  Auskunft  suchen  müssen.  Nur  zweimal  spricht  Krapotkin 
in  seiner  Selbstbiographie  von  seinem  Programme,  und  dies  bloss  andeutungsweise. 
Das  einemal  gibt  er  der  Ansicht  Ausdruck,  dass  die  Mittelclassen  selbst  an  der 
Befreiung  des  Arbeiterstandes  vom  gegenwärtigen  Lohnsysteme  mithelfen  würden, 
wenn  nur  einmal  die  neuen  Ideale  in  ihren  Kreisen  genügend  verbreitet  sein 
würden,  und  dass  zu  einer  wirksamen  socialen  Bewegung  vor  allem  genaueste 
Kenntnis  des  anzustrebenden  Zieles  nothwendig  sei.  Das  zweitemal  entwickelt  er 
ein  Bild  der  zukünftigen  Gesellschaftsordnung,  welches  bereits  aus  den  Paroles 
d'un  rövoltö  bekannt  ist.  Danach  wird  der  Organismus  der  Gesellschaft  aus  einer 
Vielheit  voneinander  unabhängiger  Associationen  bestehen,  „die  sich  zu  allen, 
gemeinsame  Arbeit  erfordernden  Zwecken  zusammenschliessen:  zu  Gewerbebünden, 
zum  Zwecke  der  Production  jeder  Art,  der  landwirtschaftlichen,  industriellen, 
rein  geistigen  oder  künstlerischen;  zu  Consumgemeinden,  die  für  Wohnungen,  für 
Beleuchtung  und  Heizung,  für  Nahrungsmittel,  sanitäre  Einrichtungen  u.  s.  w. 
Sorge  tragen;  zu  Vereinigungen  dieser  Communen  wie  der  Gewerbeorganisationen 
untereinander.  Endlich  bilden  sich  noch  weitere,  auf  ein  ganzes  Land  oder  auf 
mehrere  Länder  sich  erstreckende  Gruppen,  deren  Mitglieder  in  gemeinsamer 
Arbeit  die  Befriedigung  wirtschaftlicher,  geistiger,  künstlerischer  und  sittlicher 
Anforderungen,  soweit  sie  über  ein  bestimmtes  Gebiet  hinausgreifen,  erstreben," 
Der  Verkehr  all  dieser  Gruppen  untereinander  vollzieht  sich  auf  Grund  freier 
Vereinbarung.  „Es  bestellt  volle  Freiheit  zur  Entwicklung  neuer  Formen  in  der 
Production,  Erfindung  und  Organisation,  die  individuelle  Initiative  findet  Anregung 
und  Unterstützung,  während  der  Neigung  zur  Gleichförmigkeit  und  Vereinheit- 
lichung entgegen  gearbeitet  wird." 

Mehr  ist  über  das  anarchistische  Programm  Krapotkins  in  den 
Memoiren  nicht  gesagt.  Nur  im  Vorübergehen  erwähnt  er  der  Nothwendigkeit  der 
Abschaffung  des  privaten  und  der  Constituierung  des  socialisierten,  d.  h.  in 
seinem  Sinne  des  communistischen  Eigenthums,  der  Nothwendigkeit  der  Pro- 
paganda und  des  Kampfes  gegen  jedwede  Autorität.  Die  Mittel  und  Wege,  welche 
dazu  führen  sollen,  die  geträumte  Gesellschaftsordnung  in  Wirklichkeit  umzu- 
setzen, sind  jedoch  nicht  angegeben  und  ebenso  fehlen  vollständig  Aufschlüsse 
über  die  innere  Organisation  der  erwähnten  socialen  Gruppen,  sowie  darüber, 
wer  Streitigkeiten  der  Genossen  untereinander  und  der  Gruppen  zu  entscheiden 
habe,  ob  eine  solche  Entscheidung  überhaupt  in  Aussicht  genommen  sei,  und 
was  in  dem  Falle,  als  sie  grundsätzlich  perhorresciert  werde,  bei  einem  eventuellen 


I 


Fürst  Peter  Krapotkin  und  der  Anarchismus.  295 

Conflicte  geschehen  solle.  Man  kann  somit  nur  annehmen,  dass  Krapotkin 
die  in  den  Paroles  d'un  revolte  und  der  Conquete  du  pain  zu  wiederholtenmalen 
ausgesprochene  Ansicht,  wonach  es  bei  einer  auf  durchaus  freiheitlicher  Grund- 
lage aufgebauten  gesellschaftlichen  Organisation  zu  Streitigkeiten  überhaupt  nicht 
kommen  werde,  dass  vielmehr  die  Erfüllung  der  eingegangenen  Verbindlichkeiten 
„durch  das  Bedürfnis  eines  jeden  nach  Mitarbeit,  Hilfe  und  Zuneigung"  hinläng- 
lich gesichert  sein  werde,  in  vollem  Umfange  aufrechthält.  Dass  diese  Ueber- 
zeugung  allerdings  nur  einem  unverwüstlichen  Idealismus  entspringen  kann, 
wird  niemand  zu  leugnen  vermögen,  der  die  egoistische  Natur  des  Menschen 
kennt.  Krapotkin  behauptet  freilich,  dass  neben  dem  Gesetze  von  der  natür- 
lichen Auslese  im  Kampfe  ums  Dasein  noch  ein  Gesetz  der  gegenseitigen  Unter- 
stützung in  der  socialen  Entwicklung  wirksam  sei.  Wenn  ein  solches  wirklich 
bestehen  sollte  —  und  alle  Erfahrung  spricht  eher  gegen  als  für  seine  Existenz  — , 
so  würde  damit  noch  immer  nicht  der  Zwangsorganisation  der  Gesellschaft  der 
Boden  entzogen  sein,  weil  der  Egoismus  im  Menschen  stärker  ist  als  der 
Altruismus  und  das  Streben  nach  Herrschaft  niemals  aus  der  socialen  Entwicklung 
ausgeschaltet  werden  könnte. 

Vollständiges  Stillschweigen  beobachtet  Krapotkin  in  den  Memoiren 
über  seine  Stellung  zur  Propaganda  der  That.  Aus  seinen  theoretischen  und 
agitatorischen  Schriften  ist  zur  Genüge  bekannt,  dass  er  ein  überzeugter  Anhänger 
derselben  war  und  mit  den  gewaltthätigen  Erscheinungsformen  des  Anarchismus, 
welche  seit  Netschajew  als  das  wirksamste  Mittel  zu  seiner  Verbreitung 
gepredigt  werden,  durchaus  sympathisierte.  In  den  Memoiren  ist  der  Propaganda 
der  That  mit  keinem  Worte  Erwähnung  gethan.  Ob  Krapotkin  dieses  Vorgehen 
zu  dem  Zwecke  beobachtet,  damit  seine  Selbstbiographie  soweit  als  möglich  des 
revolutionären  Charakters  entkleidet  werde  und  dadurch  auch  in  weiteren  Kreisen 
Sympathien  für  den  Anarchismus  erwecke,  oder  ob  er  deshalb  Stillschweigen 
beobachtet,  weil  er  mit  zunehmendem  Alter  sich  von  den  blutigen  Erscheinungs- 
formen des  Anarchismus  lossagte,  lässt  sich  schwer  entscheiden.  Wahrscheinlicher 
dürfte  das  Erste  sein,  weil  Krapotkin  mit  ungeheuchelter  Begeisterung  und 
aufrichtig  freundschaftlichen  Sympathien  von  Bakunin  spricht,  demselben 
Anarchisten,  der  in  den  von  ihm  verfassten  Statuten  der  Alliance  internationale 
de  la  democratie  socialiste  eifrig  die  blutige  Propaganda  der  That  gepredigt 
hatte.  Es  mag  bei  einem  durch  so  seltene  Herzensgüte  ausgezeichneten  Manne 
im  ersten  Augenblicke  wundernehmen,  dass  er  mit  den  gewaltthätigen  Aeusserungen 
der  anarchistischen  Idee  einverstanden  war;  gleichwohl  liegt  durchaus  kein 
Anlass  vor  zur  Annahme,  dass  es  sich  hier  um  eine  exceptionelle  Erscheinung 
handle,  denn  Gewaltthätigkeit  und  Gutmüthigkeit  gehen  sehr  häufig  Hand  in  Hand 
nebeneinander  her  und  insbesondere  bei  Krapotkin,  der  viel  in  nihilistischen 
Kreisen  und  mit  den  Propagandisten  der  That  verkehrt  hat,  bietet  dieser  Zwie- 
spalt nichts  besonders  Auffälliges. 

Von  hervorragendem  Interesse  sind  in  dem  Memoirenwerke  Krapotkins 
Schilderungen  seiner  agitatorischen  Thätigkeit.  Er  hat  keine  Mühe  und  kein 
Opfer  gescheut,  um  der  anarchistischen  Idee  zu  weiterer  Verbreitung  zu  ver- 
helfen; er  besorgte,  stets  umgeben  von  Spionen  der  russischen  Polizei  und  jeder- 


206  Hawelka. 

zeit  in  Gefahr,  verhaftet  oder  ausgewiesen  zu  werden,  in  Genf  die  Herausgabe 
und  Drucklegung  des  Eevolte,  hielt  in  Paris,  London,  Lyon,  St.  Etienne  und 
Vienne  Vorträge  über  sociale  Fragen,  besuchte,  wo  es  nur  angieng,  anarchistische 
Conventikel  und  zeigte  sich  immer  bereit,  mit  allen  ihm  zu  Gebote  stehenden 
Mitteln  für  sein  Programm  einzutreten.  Dieser  rastlosen  Thätigkeit  Krapotkins 
und  seiner  persönlichen  Einflussnahme  auf  die  revolutionären  Elemente  der 
Bevölkerung  ist  es  zweifellos  zuzuschreiben,  dass  die  anarchistische  Bewegung  in 
der  Schweiz  und  insbesondere  im  südlichen  Frankreich  in  den  achtziger  Jahren 
weit  um  sich  griff.  Lyon  wurde  ihr  Mittelpunkt  und  von  hier  aus  wurde  eine 
zügellose  Agitation  nach  allen  Richtungen  Frankreichs  betrieben.  Zunächst  kam 
es  im  Jahre  1882  in  einigen  Industrieorten  des  Südens  zu  grösseren  Ausständen, 
welche  den  Anarchisten  willkommene  Gelegenheit  zur  Aufreizung  boten;  ihnen 
folgte  die  Ankündigung  eines  revolutionären  Gewaltstreiches  für  den  14.  Juli  1882 
in  Paris,  welcher  nur  aus  dem  Grunde  unterblieb,  weil  am  selben  Tage  eine 
Truppenrevue  stattfand;  und  ihren  Höhepunkt  erreichte  die  Bewegung  gelegentlich 
der  Strikes  der  Weber  und  Kohlenarbeiter  in  Lyon  und  Monceau-les-Mines, 
wobei  zum  erstenmale  Dynamitattentate  verübt  wurden.  Erst  mit  der  Verhaftung 
und  Verurtheilung  der  anarchistischen  Führer  —  unter  ihnen  Krapotkin  — 
nahmen  die  Unruhen  ein  Ende.  Krapotkin  bestreitet  allerdings  in  seiner 
Selbstbiographie  die  intellectuelle  Urheberschaft  der  Anarchisten  an  den  Lyoner 
Excesson;  gleichwohl  hat  er  sie,  soferne  die  von  Zenker  in  seiner  Darstellung 
des  Anarchismus  benützten  Quellen  auf  Wahrheit  beruhen,  bei  der  gegen  ihn 
und  seine  Genossen  geführten  Gerichtsverhandlung  eingestanden. 

Zahlreich  sind  die  in  den  Memoiren  verstreuten  Bemerkungen  über  die 
Führer  der  anarchistischen  Bewegung.  Wir  lernen  zunächst  die  hervorragendsten 
Mitglieder  des  Jurabundes,  der  grössten  anarchistischen  Association,  unter  ihnen 
den  berühmten  Geographen  Elis^e  Eeclus  kennen,  und  werden  im  weiteren 
Verlaufe  des  Buches  mit  jenen  Männern  bekannt  gemacht,  welche  von  Genf, 
Lausanne,  von  Paris  und  London  aus  die  anarchistische  Bewegung  leiteten. 
Was  Krapotkin  über  ihren  Charakter  erzählt,  mag  allerdings  häufig  genug 
zweifelhaft  erscheinen.  Es  wurde  bereits  früher  der  warmen  Sympathien  Flrwähnung 
gethan,  welche  er  Bakunin  entgegenbrachte.  Nach  seinen  Schilderungen  müsste 
ßakunin  ein  Mann  von  tadellosem  Charakter  und  lauterster  Gesinnung  gewesen 
sein.  Was  aber  aus  seiner  Lebensgeschichte  bekannt  ist,  scheint  durchaus  nicht 
geeignet,  dieses  günstige  Urtheil  zu  bestätigen.  E.  V.  Zenker  hat  sich  der 
Mühe  unterzogen,  den  Lebensschicksalen  dieses  Abenteurers  nachzuspüren,  und 
er  bemerkt  zum  Schlüsse  mit  vollem  Rechte,  dass  es  in  dem  „an  inneren  und 
äusseren  Wandlungen  reichen  Leben  dieses  Berufsrevolutionärs"  nur  allzuviel 
dunkle  Punkte  gab,  „an  welche  die  üble  Nachrede  sich  zu  heften  Gelegenheit 
hatte".  Aehnliches  gilt  von  Paul  Brousse,  dem  Herausgeber  der  „Avant- 
Garde"  und  ergebenen  Freunde  Bakunin  s.  Krapotkin  weiss  ihm  nichts 
anderes  vorzuwerfen,  als  dass  er  „etwas  lärmend,  scharf  und  lebhaft"  gewesen 
sei.  Im  übrigen  lobt  er  ihn  wegen  seines  äusserst  regsamen  Geistes,  wegen  der 
Consequenz,  mit  welcher  er  eine  Idee  durchführte,  und  wegen  der  bedeutenden 
AVirkung,  welche  er  „durch  seine    gewaltige  Kritik    des  Staates    und    der    staat- 


I 


Fürst  Peter  Krapotkin  und  der  Anarchismus.  297 

liehen  Organisation"  erzielt  hat.  Diese  gewaltige  Kritik  des  Staates  und  der 
staatlichen  Organisation  besteht  aber  in  nichts  anderem,  als  in  der  wiederholten 
Wiedergabe  des  Bakunistischen  Programmes  in  zahlreichen  Artikeln  der 
„Avant-Garde"  und  in  der  aufreizenden  Anpreisung  der  Propaganda  der  That. 
Auch  die  Consequenz,  mit  welcher  Paul  Brousse  seine  Ideen  durchführte, 
scheint  nicht  lange  angehalten  zu  haben;  denn  eine  zweimonatliche  Kerkerhaft 
genügte,  um  ihn   der  anarchistischen  Idee  abtrünnig  zu  machen. 

Aus  dem  eben  Angeführten  geht  mit  aller  Deutlichkeit  hervor,  dass 
Krapotkin  begreiflicherweise  bestrebt  war,  den  Anarchismus  in  einem  mög- 
lichst günstigen  Lichte  darzustellen.  Die  Schilderangen,  welche  Krapotkin 
von  den  Zeitverhtältnissen  entwirft,  unter  denen  er  aufgewachsen  und  zum  Manne 
gereift  ist,  sind  zweifellos  wahrheitsgetreu;  anders  verhält  es  sich  mit  der  Dar- 
stellung der  anarchistischen  Bewegung.  Hier  tritt  unverkennbar  die  Absicht 
hervor,  zu  beschönigen  und  Besorgniserregendes  zu  verschweigen.  G-erade  in 
dieser  erzwungenen  Harmlosigkeit  der  Memoiren  liegt  ihre  Gefährlichkeit; 
idealistische  Gemüther,  welchen  die  wahre  Geschichte  des  Anarchismus  und  seiner 
Erscheinungsformen  unbekannt  ist,  werden  sich  vielleicht  umso  eher  zu  ihm 
hingezogen  fühlen.  Dem  gegenüber  muss  man  umso  energischer  darauf  bedacht 
sein,  das  Bild  der  anarchistischen  Bewegung  auf  Grund  der  von  ihr  bekannten 
Tliatsachen  herzustellen. 

Man  kann  von  Krapotkins  Selbstbiographie  nicht  scheiden,  ohne  der 
zahlreichen  in  ihr  verstreuten  Bemerkungen  pädagogischen  Inhaltes  Erwähnung 
zu  thun.  Sie  verrathen  durchwegs  eine  tiefgehende  Kenntnis  des  kindlichen 
Gemüthes  und  ein  bewundernswertes  Verständnis  seiner  Bedürfnisse.  So  beklagt 
er  es  beispielsweise  bitter,  dass  man  heutzutage  die  Einbildungskraft  des  Kindes 
durch  eine  wahllose  Fülle  von  Spielzeug  verwirre  und  nicht  vielmehr  seine  Auf- 
merksamkeit darauf  richte,  dieselbe  durch  eine  Anleitung  zu  selbstthätiger 
Herstellung  des  Spielzeuges  in  die  richtigen  Bahnen  zu  lenken.  Ebenso  berechtigt 
erscheint  sein  Verlangen  nach  sachgemässer  Ausgestaltang  des  Literaturunterrichtes; 
denn  „nur  der  Lehrer  der  Literatur,  der  wohl  den  allgemeinen  Eahmen  des 
Lehrplanes  innehalten  muss,  aber  in  der  Art  der  Behandlung  freie  Hand  hat, 
kann  die  verschiedenen  historischen  und  humanitären  Wissenschaften  miteinander 
verbinden,  sie  durch  eine  breite  philosophische  und  allgemein  menschliche  Auf- 
fassung zusammenfassen  und  in  Hirn  und  Herz  der  jungen  Leute  höhere 
Gedanken  und  Strebungen  wachrufen*.  Ganz  besonderes  Gewicht  legt  aber 
Krapotkin  darauf,  in  der  Seele  des  Kindes  durch  einen  entsprechenden  natur- 
wissenschaftlichen Unterricht  den  Sinn  für  „eine  allgemeine  Anschauung  der 
Natur  als  eines  Ganzen"  zu  wecken,  —  ein  Verlangen,  welches  zweifellos 
Anspruch  erheben  darf,  von  Eltern  und  Erziehern  in  vollem  Ausmaasse  beherzigt 
zu  werden. 

Der  Gesammtoindrack,  welchen  Krapotkins  Memoiren  bei  dem  Leser 
hinterlassen,  ist  unleugbar  der,  dass  man  es  hier  mit  einer  gross  angelegten 
Persönlichkeit  zu  thun  habe.  Bei  aller  Zurückhaltung  und  Bescheidenheit,  welche 
sich  Krapotkin  bei  der  Darstellung  seines  geistigen  Entwicklungsganges  auf- 
erlegt und  welche  ihn,    wie    G.  Brandes    in  der  Einleitung  zu  den  Memoiren 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  X.  Band.  20 


298  Hawelka. 

mit  Recht  hervorhebt,  dazu  veranlasst  hat,  eher  eine  Seelenschilderung  seiner 
Zeit  als  seiner  selbst  zu  geben,  kann  er  es  doch  nicht  vermeiden,  dass  seine 
Persönlichkeit  den  Mittelpunkt  des  Interesses  bildet.  Wäre  sein  Wille  zu  einem 
friedfertigen  Leben  so  stark  gewesen,  wie  sein  Talent  und  sein  Wissen,  hätte  er 
an  der  Ueberzeugung  festgehalten,  dass  er  der  Allgemeinheit  auch  dann  diene, 
wenn  er  den  einmal  betretenen  Weg  der  wissenschaftlichen  Forschung  weiter 
v'crfolge,  —  er  stünde  heute  als  ein  Mann  vor  uns,  der  in  gleichem  Maasse 
unsere  Sympathien  wie  unsere  Verehrung  in  Anspruch  nehmen  könnte.  Es  ist 
.'eider  ganz  anders  gekommen;  an  den  Namen  Krapotkin  knüpft  sich  heute 
die  Erinnerung  an  blutige  Gewaltthaten ;  vor  unseren  Augen  taucht  das  Bild 
Caserios  und  Lucchenis  auf  und  verwischt  all  das  Gute  und  Schöne,  das 
wir  an  dem  Charakter  der  russischen  Fürsten  kennen  gelernt  haben. 


VIERZIG  JAHRE  LEBENSVERSICHERUNG. 

EINE   STATISTISCHE   STUDIE 


VON 


EMIL  STEFAN.i) 


Der  wichtigste  unter  den  vielen  Versicherungszweigen,  welche  die  ver- 
schiedenen Versicherungsanstalten  gegenwärtig  betreiben,  ist  die  Lebensversicherung. 
Ihr  Entwicklungsgang  hat  sich  nur  langsam  vollzogen  und  ihre  versicherungs- 
technische Ausbildung  beginnt  im  Grunde  genommen  erst  mit  dem  Aufkommen 
systematischer  Untersuchungen  über  die  Durchschnittsdauer  des  menschlichen 
Lebens  und  der  Feststellung  der  Absterbeordnung,  die  sich,  wie  alles  in  der  Welt, 
nach  bestimmton  unabänderlichen  Gesetzen  vollzieht.  Mit  der  1693  von  dem 
englischen  Astronomen  H  a  1 1  e  y  construierten  ersten  Mortabilitätstafel  war  eine 
zuverlässige  Basis  für  den  Betrieb  des  Lebensversicherungsgeschäftes  gewonnen, 
und  die  1705  gegründete  erste  englische  Lebensversicherungsgesellschaft:  „Ami- 
cable  Society  for  the  insurance  of  Life"  konnte  mit  Aussicht  auf 
Erfolgdiesen  Betrieb  aufnehmen,  zumal  durch  die  inzwischen  gewonneneErkenntnise, 
dass  das  Leben  des  Menschen  das  höchste  wirtschaftliche  Gut  darstelle,  ein 
ethisches  Moment  von  hoher  Wichtigkeit  hinzugetreten  ist;  denn  die  Vernichtung 
anderer  wirtschaftlicher  Güter  muss  nicht  eintreten,  der  Tod  aber  ist  für 
jeden  gewiss. 

Wenn  nun  auch  das  Versicherungswesen  überhaupt  und  die  Lebens- 
versicherung im  besonderen  noch  weit  hinter  dem  Umfange  zurücksteht,  den  sie 
schon  einnehmen  könnte,  so  sind  die  Fortschritte  in  der  Entwicklung  doch  so 
erfreuliche,  dass  es  sich  wohl  verlohnt,  sie  in  ihrer  Gesammtheit  ins  Auge  zu 
fassen,  um  unter  Zuhilfenahme  der  für  diesen  Zweck  angefertigten  Tabellen  ein 
genaues  Bild  von  dem  ganzen  Entwicklungsgange  dieser  wichtigsten  volkswirt- 
schaftlichen Institution  zu  gewinnen. 

Lange  bevor  das  Versicherungswesen  auch  nur  einigermaassen  in  Aufnahme 
kam,  hatte  England  den  grossen  wirtschaftlichen  Wert  der  Lebensversicherung 
erkannt;  denn  schon  im  Jahre  1855  hatte,  wie  aus  den  folgenden  Ziffern 
ersichtlich     ist,     England     vom    Versicherungsstande     sämmtlicher     Staaten     per 


^)  Diese  statistische  Studie  enthält  die  Schlussergebnisse  der  umfassenden  Unter- 
suchungen, welche  der  Herr  Verfasser  in  seinem  wertvollen  Assecuranz-Atlas,  Wien,  Freitag 
und  Bern  dt  1901  niedergelegt  hat.  Die  mit  einer  Einleitung  versehene  Veröflfentlichung 
dieser  Ergebnisse  erfolgt  auf  speciellen  Wunsch  der  Herausgeber. 

20* 


300 


Stefan. 


3559  Mill.  Kronen,  72*59  Proc,  d.  i.  2584  Mill.  Kronen  allein  in  Versicherung, 
während  Amerika  damals  kaum  14  Proc,  d.  i.  494  Mill.  Kronen  Lebens- 
versicherungen laufend  hatte.  20  Jahre  später,  also  im  Jahre  1875,  hatte 
Amerika  England  allerdings  bereits  um  1000  Mill.  Kronen  überflügelt;  allein  was 
sind  1000  Mill.  Kronen  mehr  in  dem  grossen  Amerika,  dem  kleinen  England 
gegenüber,  dessen  Lebensversicherungen  zum  weitaus  grössten  Theile  englischen 
Ursprunges  sind,  während  Amerika  schon  zu  jener  Zeit  in  den  meisten  Staaten 
Europas  seine  Greneralagenturen  hatte  und  zusammenzuraffen  suchte,  was  nur 
zusammenzuraffen  war. 


1855') 

Versicherungsstand 

TT™  ««„„»,„»4  -„*             Procentueller 
Umgerechnet  auf      ^^^^^.j  ^^  oesammt- 

J^'«"«"                       Vers.-Stande 

England      .     .     . 

.     Francs 

2.720,000.000 

2.584,000.000 

72-59 

Amerika      .     . 

» 

520,100.000 

494,100.000 

13-88 

Deutschland     .     . 

» 

247,000.000 

234,650.000 

6-59 

Frankreich 

» 

132,000.000 

125,400.000 

3-52 

Oesterreich-Ungarn   . 

V 

77,500.000 

73,625.000 

2-07 

Russland    .     .     .     . 

» 

19,000.000 

18,050.000 

0-51 

Belgien      .     .     .     . 

» 

12,200.000 

11,590.000 

0-33 

Schweden         .     .     . 

V 

9,000.000 

8,550.000 

0-24 

Niederlande     .     . 

» 

6,000.000 

5,700.000 

0-16 

Schweiz       .     .     . 

n 

2,700.000 

2,565.000 

0-07 

Italien        .     .     .     . 

» 

1,500.000 

1,425.000 

0-04 

3.559,655.000 

10000 

1875 

Versicherungsstand 

Umgerechnet  auf       . 
Kronen 

Procentueller 

ntheil  am  Gesamnit- 

Vers. -Stande 

Amerika 

Dollar 

2.003,667.900 

9.885,000.000 

42-43 

England       .     .     . 

Liv.  Sterl. 

367,283.000 

8  885,000.000 

38-15 

Deutschland 

R.-M. 

1.714,708.565 

1.940,000.000 

8-35 

Frankreich  . 

Francs 

1.358.000.000 

1.253,000.000 

5-36 

Oesterreich-Ungarn 

Kronen 

822,000.000 

822.000.000 

3-09 

Schwoir. 

Francs 

248,500.000 

236,700.000 

1-01 

Skandinavien^) 

Kronen 

84,715.000 

109,561.000 

0-44 

Niederlande 

Holl.  Guld. 

41,904.761 

83.800.0^  0 

0-36 

Russland      .     .     . 

Rubel 

22.000.000 

83,600.000 

0-36 

Italien    .... 

Lire 

52,0ri0.000 

49,400.000 

021 

Belgien  .... 

Francs 

51,000.000 

48,450.000 

0-20 

Finnland      .     .     .    ] 

Tirnn.  Mark 

10,000.000 

9.5U0.00O 

0  04 

Arbeiter  -Versich.  ^) 

Liv.  SterL 

25,952.777 

727,500.000 

— 

24.133,511.000 

100-00 

')  Nacli  einer  /usamineiislcUung  von  Marco  Besso. 
2)  Schweden,  Norwegen  nnd  Dänemark. 
^)  E  igland  allein. 


Vierzig  Jahre  Lebensversicherung. 


301 


Procentuelltr 


1895 

Versicherungsstand 

unigerecnnci  am       »    »i.  -i        n             . 
vr.^^^^                AntheilamGesamnit- 
K"^""^"^                      Vers.-Stande 

Amerika   .     . 

Dollar 

4.881,632.161 

24.090,854.700 

46-15 

England  .     .     .     . 

Liv.  Sterl. 

529,184.344 

12.451,302.300 

24-02 

Deutschland  .     . 

R.-M. 

5.280,655.749 

6.212,537.700 

11-98 

Frankreich     .     . 

Francs 

3.478,157.756 

3.271,677.800 

6-32 

Oesterreich-Ungarn 

Kronen 

2.523,683.377 

2.523,683.300 

4-85 

Eussland  .     .     .     . 

Rubel 

214,074.755 

813,484.000 

1-56 

Skandinavien  ^)  . 

Schwed.  K. 

572,732.749 

756,007.300 

1-45 

Niederlande  .     . 

HoU.  Guld. 

283,719.620 

567,439.200 

1-08 

Italien      .     .     .     . 

Lire 

579,800.000 

550,810.000 

1-05 

Schweiz    .     .     .     . 

Francs 

547,926.000 

520,529.700 

1-00 

Finnland  .     .     .     . 

Finn.  Mark 

159,442.481 

167,834.200 

0-33 

Belgien    .     .     .     . 

Francs 

117,905.380 

112,030.000 

0-21 

Amerika^  Arbeiter- 

Dollar 

820,746.502 

4.038,075.000 

— 

England/ Versicherung 

Liv.  Sterl. 

144,142.569 

3.449,425.000 

— 

59.525,750.200  100-00 
Aus  der  Ermittlung  der  procentuellen  Antheilsziffern  geht  das  interessante 
Moment  hervor,  dass  England  im  Jahre  1855  noch  an  erster  Stelle  stehend, 
Ende  1895  nur  mehr  mit  24*02  Proc.  participierte,  während  Amerika  1855  nur 
13-88  Proc.  Antheil  am  Gesammt- Versicherungsstande  hatte,  dagegen  Ende  1895 
einen  solchen  von  46'15  Proc.  ausweist.  In  die  restlichen  knapp  30  Proc.  erst 
theilen  sich  alle  übrigen  Staaten.  Dass  auch  unter  den  verschiedenen  Staaten 
des  Continents  Rangverschiebungen  stattgefunden  haben,  ist  natürlich,  interessant 
jedoch  ist  die  Thatsache,  dass  Belgien  1855  an  siebenter  Stelle  stehend,  im 
Jahre  1895  sogar  von  Finnland  überflügelt  erscheint. 

Spielen  schon  bezüglich  des  Umfangcs  der  Lebensversicherungssummen  in 
den  einzelnen  Staaten  Umstände  der  verschiedensten  Art,  wie  ethnographische 
Lage,  Bevölkorungsdichtigkeit,  Industrie  etc.  etc.  eine  grosse  Rolle,  so  kommen 
alle  diese  Momente  iioch  weit  intensiver  zur  Geltung,  w^enn  man  zu  ermitteln 
versucht,  in  welchem  Verhältnisse  die  einzelnen  Staaten  hinsichtlich  der  Ver- 
sicherungssumme, auf  den  Kopf  der  Bevölkerung  berechnet,  zu  einander  stehen. 
Hierüber  geben  nachstehende  Zift'ern,  die  interessantesten  Aufschlüsse. 

Staaten 


1875 

Versicherungs 

stand 
MiU.  Kronen 

Per  Kopf  der 
Bevölkerung 

Kronen 

1875 

Versicherungs- 
stand 
Mill.  Kronen 

Per  Kopf  der 

Bevölkerung 

Kronen 

England 

8.885-0 

246-4 

Oesterr.-Üngarn        822-0 

19-5 

Amerika 

9.885-0 

133-5 

Schweden     . 

74-2 

18-5 

Schweiz  . 

236-7 

56-8 

Italien     .     . 

49-4 

18-2 

Deutschland 

1.940-0 

43-1 

Belgien   .     . 

48-4 

10-5 

Finnland 

9-5 

37-0 

Dänemark    . 

20-7 

4-5 

Frankreich   . 

1.253-0 

32-8 

Norwegen     . 

8-6 

3-8 

Niederlande 

83-8 

20-9 

Russland 

83-6 

1-6 

')  Schweden,  Norwegen  und  Dänemark. 


302 


Stefan. 


Versicherungs- 
stau d 

Per  Kopf  der 
Bevölkerung 

1895 

Versicherungs- 
stand 

Pi'r  Kopf  der 
Bevölkerung 

Mill.  Kronen 

Kronen 

MiU.  Kronen 

Kronen 

24.090  9 

382-4 

Dänemark    .     . 

147-4 

73-0 

12451-3 

327-6 

Finnland      .     . 

167-8 

70-0 

520-5 

192-2 

Oesterr.-Ungarn 

2.523-6 

60-0 

567  4 

126-0 

Norwegen    .     . 

87-6 

44-4 

6.2125 

125-4 

Belgien  .     .     . 

112-0 

20-3 

521-0 

108-2 

Italien     .     .     . 

550-8 

20-3 

3,271-6 

85-2 

Eussland      .     . 

813-4 

8-4 

1895 

Amerika 
England 
Schweiz  .     . 
Niederlande 
Deutschland 
Schweden     . 
Frankreich  . 

Die  Ziffern,  untereinander  verglichen,  sind  überaus  lehrreich.  Das  kleine 
bevölkerungsreiche  England  stand  im  Jahre  1875  mit  246-4  Kronen  Versicherungs- 
stand per  Kopf  der  Bevölkerung  dem  grossen  Amerika  mit  nur  133'5  Kronen 
per  Kopf  gegenüber.  Diesen  beiden  zunächst  hatte  die  kleine  demokratische 
Schweiz  56*8  Kronen  Versicherungen  per  Kopf  der  Bevölkerung  laufen,  und 
dieser  erst  reihte  sich  Deutschland  mit  43*1  Kronen  an.  Deutschland  zunächst 
stand  Finnland  mit  37  Kronen  und  hinter  Finnland  erst  rangierten  die  übrigen 
Staaten,  darunter  Oesterreich-Ungarn  an  achter  Stelle  mit  195  Kronen,  während 
in  Russland  gar  bloss  1"6  Kronen  Versicherungssumme  auf  den  Kopf  der 
Bevölkerung  entfielen. 

Im  Jahre  1895  waren  bereits  sehr  wesentliche  Verschiebungen  eingetreten. 
Amerika  hatte  p]ngland  um  54-8  Kronen  überholt  und,  obgleich  Deutschlands 
Versicherungsstand  zwölfmal  grösser  als  jener  der  Schweiz  ist,  so  hat  diese  doch 
die  bereits  innegehabte  dritte  Rangstufe  mit  192-2  Kronen  behauptet.  An  die 
vierte  Stelle  sind  die  Niederlande  mit  126  Kronen,  an  Stelle  Frankreichs  ist 
Schweden  mit  108-2  Kronen  getreten,  während  Oesterreich-Ungarn  auf  die  zehnte 
Rangstufe  zurückgedrängt  worden  ist  und  Russland  wie  1875  jedoch  nun  mit 
8'4  Kronen  abschliesst. 

Von  weit  grösserem  Interesse  und  einem  jedenfalls  weit  zuverlässigeren 
Maasstab  für  die  Beurtheilung  des  Sparsinnes  der  Bevölkerung  böte  die  durch- 
schnittliche Ermittlung  der  Pr  am  i  en  e  inn  a  hm  en  pro  Kopf  der  Bevölkerung. 
Sie  würde  in  gewisser  Hinsicht  ein  richtigeres  Bild  bezüglich  der  Zweckmässigkeits- 
auffassung  der  einzelnen  Lebensversicherungsbranchen  in  dem  betreffenden  Lande 
darbieten.  Denn  die  Todesfallversicherung  mit  lebenslänglicher  Prämienzahlung 
und  infolgedessen  niedrigeren  Prämiensätzen  wird  dort,  wo  sie  vom  Publicum  mehr 
in  Anspruch  genommen  wird  als  die  Erlebensversicherung,  bei  gleicher 
Prämieneinnahme  einen  höheren  Versicherungsstand  per  Kopf  der  Bevölkerung- 
ergeben  als  in  jenem  Lande,  wo  das  umgekehrte  Verhältnis  besteht,  und  dio 
Erlebensversicherung  mit  ihren  höheren  Prämiensätzen  mehr  frequentiert  wird. 
Allein  eine  solche  Ermittlung  war  nur  für  einige  Staaten  möglich,  deren  Gesell- 
schaften eben  gesetzlich  zur  Ausweisleistung  verhalten  werden,  und  das  ist 
bekanntlich  vorderhand  nur  in  Deutschland,  Oesterreich-Ungarn  und  der  Schweiz, 
und  da  erst  seit  verhältnismässig  kurzer  Zeit  der  Fall.  Es  musste  daher  diese 
Ermittlung  einem  späteren  Zeitpunkte  vorbehalten  lassen  bleiben. 

Wie  wesentlich  geändert  erscheint  das  Bild  der  nachstehenden  Ziffern  des 
Versicherungsstandes  per  Quadratkilometer  Flächeninhalt  berechnet. 


Vierzig  Jahre  Lebensversicherung. 


303 


Staat 


1875 

Ver«. -Summe  per 
krn^   Flächeninhal 

t                     1895 

Vers. -Summe  per 
*w*   Flächeninbait 

Kronen 

Kronen 

England 

28.239 

England 

39.574 

Schweiz 

3.838 

Niederlande   .... 

17.195 

Deutschland  .... 

3.589 

Schweiz 

13.922 

Niederlande    .... 

2.536 

Deutschland  .... 

11.493 

Frankreich     .... 

2.336    . 

Frankreich     .    .    . 

6.099 

Italien 

1.837 

Belgien 

4.213 

Belgien 

1.741 

Oesterreich-Ungarn     . 

4.055 

Oesterreich-Ungarn    . 

1.157 

Dänemark      .... 

3.848 

Amerika 

1.090 

Amerika 

2.656 

Dänemark      .... 

466 

Italien 

2.130 

Skandinavien^)  .    .    . 

180 

Skandinavien^)  .    .    . 

587 

Russland 

17 

Russland 

166 

Hier  bleibt  England  im  Jahre  1875  mit  28.239  Kronen  sowohl  als  auch 
im  Jahre  1895  mit  39.574  Kronen  Versicherungsstand  per  Quadratkilometer 
Flächeninhalt  an  der  Spitze.  England  nach  folgt  im  Jahre  1875  die  Schweiz  mit 
3838  Kronen,  im  Jahre  1895  dagegen  Niederlande  mit  17.195  Kronen;  die 
Schweiz  ist  sonach  mit  13.922  Kronen  in  die  dritte  Stelle  verdrängt  worden, 
während  Amerika  im  Jahre  1875  sowohl  wie  im  Jahre  1895  an  neunter  Stelle 
mit  1090  Kronen,  beziehungsweise  mit  2656  Kronen  seinen  Rang  behauptet 
hat.  Deutschland  ist  im  Jahre  1875  mit  3589  Kronen  an  dritter  Stelle 
gestanden;  im  Jahre  1895  musste  es  mit  11.493  Kronen  der  zurückgedrängten 
Schweiz  an  die  vierte  Stelle  folgen.  Oesterreich-Ungarn  nahm  im  Jahre  1875 
mit  1157  Kronen  die  achte  Stelle,  im  Jahre  1895  mit  4055  Kronen  die 
siebente  Stelle  ein,  während  Russland  im  Jahre  1875  mit  17  Kronen,  im 
Jahre  1895  mit  nur  166  Kronen  Versicherungssumme  per  Quadratkilometer 
Flächeninhalt  an  letzter  Stelle  abschliesst. 


Reinzuwachs. 
Ein  nicht  minder  interessantes  Bild  der  Entwicklung  der  Lebensversicherung 
bietet  uns  die  Darstellung  des  Reinzuwachses,  welcher  diejenigen  Summen  zugrunde 
gelegt  erscheinen,  die  in  den  einzelnen  Staaten  innerhalb  20  Jahren  in  Wirklichkeit 
dem  Versicherungsstande  zugewachsen  sind,  wie  nachstehende  Ziffern  zeigen. 


Staaten 

Ges. -Rein- 
zuwachs  185.0,75 
MiU.  Kronen 

Proc.  Antheil 
am  Gesammt- 
Vera.- Stande 

Staaten 

Ges. -Rein- 
zuwachs 1855/75 
Mill.  Kronen 

Proc.  Antheil 
am  Gesammt- 
Vers. -Stande 

Amerika    .     .    . 

9.365-2 

47-75 

Skandinavien  -) 

95-0 

0-49 

England    .    .    . 

6.27B-5 

32-06 

Niederlande  . 

78-0 

0-40 

Deutschland 

1.700-5 

8-67 

Russland  .    . 

65-5 

0-34 

Frankreich    .    . 

1.1650 

5-91 

Belgien     .    . 

36-8 

0-18 

Oesterr.-Ungarn 

644-5 

3-29 

Italien  .    .    , 

.       23-5 

0-12 

Schweiz     .    . 

156-5 

0-79 

Finnland  .    . 

0-00 

0-00 

^)  Schweden  und  Norwegen. 

^)  Schweden,  Norwegen  und  Dänemark. 


304 


Stefan. 


Staaten 

Ges.-Rein- 

ÄU  wachs   1875/95 
MiU.  Kronen 

Proc.  Antheil 
am  Gesammt 
Vers. -Stande 

Staaten 

Ges.-Eein- 

zuwachs   1875/95 
Mill.  Kronen 

Proc.  Anthei 
am  Gesammt 
Vers. -Stande 

Amerika    .    .    . 

14.205-8 

49-42 

Skandinavien  ^) 

652-4 

2-27 

Deutschland 

4.272-5 

14-86 

Italien      .    . 

501-4 

1-75 

England    .    .    . 

3.566-4 

12-40 

Niederlande 

483-6 

1-68 

Frankreich    .    . 

2.018-6 

7-02 

Schweiz    .    .    . 

283-8 

0-99 

Oesterr.-Ungarn 

1.803-6 

6-28 

Finnland  .    , 

158-3 

0-56 

Kussland  .    .    . 

729-8 

2-54 

Beigion     .    . 

63-6 

0-23 

Besonders  interessant  hiehei  ist,  dass  vor  allem  anderen  der  Gcsamnit- 
Keinzuwachs  von  19.609  Mill.  Kronen  in  der  Periode  1855  bis  1875  auf 
28.740  Mill.  Kronen  in  der  Periode  von  1875  bis  1895  gestiegen  ist.  Derselbe 
ist  demnach  um  fast  genau  die  Hälfte  grösser  als  in  der  vorangegangenen  Periode, 
was  wohl  zur  Genüge  beweist,  dass  sich  die  Lebensversicherung  eines  fort  und 
fort  wachsenden  Interesses  rühmen  darf.  Betrachten  wir  jedoch  die  procentuellen 
Antheilsziffern  der  einzelnen  Staaten  untereinander,  so  springt  vor  allem  der 
kolossale  Kückgang  Englands  am  procentuellen  Antheil  in  die  Augen; 
während  nämlich  England  1855  bis  1875  mit  32-06  Proc,  am  Gesammtzuwachse 
participierte,  ist  dieser  Antheil  in  der  Periode  1875  bis  1895  auf  12-4  Proc, 
also  um  fast  zwei  Drittel  gesunken.  Die  Sache  klärt  sich  in  sehr  einfacher  Weise 
auf.  Ein  Blick  auf  die  procentuellen  •Antheilsziffern  aller  übrigen  Staaten  zeigt, 
dass  sie  alle  in  der  letzten  Periode  mächtig  in  die  Höhe  strebten;  so  Deutsch- 
land von  8-6  auf  14'8  Proc,  Oesterreich-Ungarn  von  3'3  auf  6-3  Proc.  u.  s.  w., 
und  da  Amerika  nicht  nur  keine  Einbusse  erlitten,  sondern  im  Gegenteil  seinen 
Antheil  von  47-75  Proc.  auf  4942  Proc.  gesteigert  hat,  so  musste  nothwendiger- 
weise  England  von  seinem  procentuellen  Antheil  denjenigen  Theil  abgeben,  welchen 
die  anderen  Staaten  mehr  erzielt  haben. 


Prämienreserve. 
Die  Prämienreserve,  also  derjenige  Theil  der  jährlich  zu  leistenden  Prämien, 
aus  denen  durch  Anlage  von  Zins  auf  Zins  die  seinerzeit  zu  zahlende  Versicherungs- 
summe aufgebracht  werden  muss,  ist  bekanntlich  der  beste  Wertmesser  für  die 
Leistungsfähigkeit  einer  Versicherungsgesellschaft.  Es  ist  hiebei  ganz  selbst- 
verständlich, dass  nicht  die  absolute  Höhe  der  Reserve,  also  auch  nicht  der 
procentuelle  Antheil  am  Gesammt-Versicherungsstande  allein  urtheilschöpfend  sein 
kann,  weil  ja  das  Durchschnittsalter  der  Versicherten  eine  und  zwar  sehr  Mächtige 
Eolle  spielt.  Diese  Daten  jedoch  sind  in  jenen  Staaten,  wo  die  Versicherungs- 
gesellschaften einer  staatlichen  Controle  unterliegen,  wohl  den  Organen  der 
Versicherungsdepartements  bekannt,  werden  aber  strenge  geheim  gehalten  und 
sind  daher  gewöhnlichen  Sterblichen  unzugänglich.  Um  nun  dessen  ungeachtet 
einen  beiläufigen  Wertmesser  zu  gewinnen,  pflegt  man  sich  bei  den  einzelnen 
Anstalten  nach  dem  procentuellen  Antheil  am  Versicherungsstande  wenigstens 
ungefähr  zu  orientieren;  denn  man  kann  wohl  annehmen,  dass  bei  einem  regel- 
mässigen flotten  Neuzugange  das  Durchschnittsalter  der  sämmtlichen  Versicherten 


I 


^)  Schweden,  Norwegen  und  Dänemark. 


Vierzig  Jahre  Lebensversicherung. 


301 


nur  sehr  langsam  steigt  nnd  die  Fehler,  die  durch  die  Zugrundelegung  der 
procentuellen  Antheilziffern  hervorgerufen  werden,  daher  nicht  allzusehr  in  die 
AVagschale  fallen.  Durch  diese  Umstände  gezwungen,  habe  ich,  einer  allgemeinen 
Gepflogenheit  folgend,  diesen  Vorgang  beibehalten  und  bei  nachstehenden  Ziffern 
gleichzeitig  die  Zahlen  in  Procenten  der  Versicherungssumme  ermittelt. 


1875 

Prämienreserve 

Umgerechnet  auf             In  Proc.  der 

Kronen               Versicherungssumme 

England  .    .    . 

Francs 

2.562,200.000 

2.434,090.000 

27-4 

Amerika  .    .    . 

7J 

1.848,600.000 

1.756,070.000 

17-8 

Frankreich    .    . 

» 

325,600.000 

309.320.000 

24-7 

Deutschland 

» 

284,500.000 

270,275.000 

14-0 

Oesterreich-Ünj 

?arn           „ 

108,800.000 

103,360.000 

14-4 

Schweiz    .    . 

V 

21,500.000 

20,425.000 

12-8 

Russland 

»    ' 

12,600.000 

11,970.000 

14-3 

Niederlande 

n 

12,300.000 

11,685.000 

13-9 

Belgien    .    . 

» 

12,000.000 

11,400.000 

23-5 

Schweden 

» 

8,100.000 

7,695.000 

9-5 

Italien^)  .    . 

V 

2,900.000 

2,755.000 

11-1 

Norwegen     . 

» 

900.000 

855.000 

12-8 

Dänemark    . 

» 

600.000 

570.000 

4-7 

1895 

Prämienreservo 

Unigerecbnet  auf 
Kronen               A 

In  Proc.  der 

ersicherungssummo 

Amerika  .    . 

Dollar 

965,573-017 

4.750,619.200 

18-9 

England   .    . 

.     Liv.  Sterl. 

188,995.182 

4.535,884.300 

36-4 

Frankreich   . 

Francs 

1.684,575.927 

1.600,347.100 

48-8 

Deutschland 

R.-M. 

1.298,288.464 

1.518,997.500 

260 

Oosterreich-Ünj 

jarn       Kronen 

501,969.400 

501,969.400 

19-8 

Eussland 

Rubel 

39,394.870 

149,700.500 

18-4 

Niederlande 

.    .     Hell.  Guld. 

53,799.540 

107,599.000 

17-2 

Schweiz^) 

.    .        Francs 

93,741.420 

89,054.300 

25-3 

Schweden     . 

,    .        Kronen 

65,287.152 

86,179.000 

16-5 

Italien^)  .    . 

.    ,          Lire 

39,274.038 

37,310.300 

13-4 

Dänemark     . 

,    .        Kronen 

22,335.815 

29,035.500 

20-0 

Belgien     .    . 

.    ,        Francs 

29,520.043 

28,044.100 

26-3 

Norwegen     . 

■VT 1-             -1 

.    .        Kronen 

• rr 

21,058.904 

27,797.700 

41-4 

J„..        OA          T_T 

Nach  dieser  Zusammenstellung  hat  sich  im  Verlaufe  der  20  Jahre 
—  1875  bis  1895  —  die  Gesamrat-Prämienreserve  aller  Staaten  von  20*7  Proc. 
auf  22'6  Proc,  also  um  knapp  2 Proc,  gehoben;  schon  diese  Thatsache  allein 
rechtfertigt  das  oben  Gesagte  vollkommen,  beweist  aber  zugleich,  wie  mächtig 
die  Wirkung  der  grossen  Zahlen  ist;  denn  vergleicht  man  die  procentuellen 
Ziffern  des  Jahres  1875  in  den  einzelnen  Staaten  mit  jenen  im  Jahre  1895,  so 
kann  man  ganz  bedeutende  Steigerungen  constatieren.  So  hatte  z.  B.  England  im 


*)  Procentueller  Antheil  nach  dem  Versicherungsstande  der  inländischen   Gesell- 
schaften berechnet. 


306 


Stefan. 


Jahre  1875  27"4  Proc.  Reserven,  während  es  im  Jahre  1895  bereits  36-4  Proc. 
Prämienreserven  zurückgestellt  hatte.  Noch  grösser  ist  die  Differenz  bei  Frank- 
reich, welches  1875  21*7  Proc,  im  Jahre  1895  dagegen  bereits  48'8  Proc. 
Reserven  besass.  In  Norwegen  haben  sich  die  Reserven  in  diesem  Zeiträume  von 
12-8  Proc,  auf  41*4  Proc.  gehoben,  während  Oesterreich-Üngarn  von  14*4  Proc. 
im  Jahre  1875  auf  26  Proc.  im  Jahre  1895  gestiegen  ist.  Dass  diese  Erscheinung 
mit  dem  Steigen  des  Durchschnittsalters  sämmtlicher  Versicherten  aufs  innigste 
verknüpft  ist,  beweist  die  Thatsache,  dass  die  Prämienreserve  in  Frankreich  und 
England  ganz  besonders,  in  Amerika  dagegen  nur  von  17'8  Proc.  auf  18'9  Proc. 
gestiegen  ist ;  die  amerikanischen  Gesellschaften  haben  nämlich  durch  die  ganz 
aussergewöhnliche  Steigerung  ihrer  Neuproduction  das  Steigen  des  Durchschnitts- 
alters ihrer  sämmtlichen  Versicherten  zum  grossen  Theilo  paralysiert  und 
participieren  deshalb  an  der  Steigerung  der  Reserven  nur  in  ganz  geringem 
Maasse.  Möglich  übrigens,  dass  bei  den  amerikanischen  Gesellschaften  auch  noch 
andere  Momente  das  Steigen  der  Reserven  behindern.  Allein  das  entzieht  sich 
meiner  Beurtheilung. 

Prämieneinnahmen. 
Obzwar  eine  Zusammenfassung  der  Prämieneinnahmen  aller  Gesellschaften 
in  allen  Staaten  vom  versicherungstechnischen  Standpunkte  unzulässig  ist,  und 
strenge  genommen  solche  Ziffern  kein  Beurtheilungsmaterial  für  den  Versicherungs- 
techniker liefern,  so  habe  ich,  der  Vollständigkeit  halber,  doch  auch  noch  diese 
Posten  in  nachstehendem  zusammengestellt,  weil  sie  vom  Standpunkte  der 
Statistik  doch  einigen  "Wert  besitzen  und  das  mit  der  vorliegenden  Arbeit 
bezweckte  Vergleichungsmittel  bieten.  Schlüsse  auf  die  Durchschnittsquote  im 
Lebensversicherungs-Geschäfte  der  einzelnen  Staaten  untereinander  müssten  mit 
aller  Reserve  aufgenommen  werden,  schon  weil  ja  die  verschieden  entwickelten 
Versicherungscombinationen  in  den  einzelnen  Staaten  nie  voll  berücksichtigt 
werden  können. 


1875 


S    t    a    I 

Prämienein  nahmen 
Kronen 


1895 


Prämieneinnahmen 
Kronen 


Amerika 412,239.400 

England 242,400.000 

Frankreich 70,965  000 

Deutschland 63,940.400 


Amerika 1.058,780.500 


Oesterreich-Ungarn 
Schweiz  .  .  .  . 
Niederlande  .  .  . 
Russland  .  .  .  . 
Schweden  .... 
Belgien      .    .    .    . 

Italien 

Dänemark  .  ,  . 
Norwegen  .  .  . 
Finnland    .... 


23,958.400 

5,814.000 

3,627.400 

3,344.000 

2,508.000 

1,938.000 

665.000 

317.400 

306.800 

73.000 


England  .  .  .  , 
Deutschland  .  .  , 
Frankreich  .  .  , 
Oesterreich-Ungarn 
Russland  .  .  .  , 
Niederlande  .  .  , 
Schweden    .    .    .    . 

Schweiz 

Italien 

Dänemark   .    .    .    . 

Belgien 

Norwegen    .    .    .    . 
Finnland     .    .    .    . 


463,000.700 

248,691.300 

191,667.600 

102,254.200 

30,480.500 

22,255.600 

16,529.800 

14,369.200 

7,512.000 

5,807.200 

4,480.400 

4,202.400 

2,863.600 


Vierzig  Jahre  Lebensversicherunor. 


307 


Schade II  Zahlungen. 
Die  Schadenzahlungen  im  Vorsicherungsgeschäfte  sind,  vom  wirtschaftlichen 
Standpunkte  aus  betrachtet,  überaus  wichtig ;  zeigt  uns  doch  dieses  Ergebnis  an, 
welchen  Nutzen  das  Versicherungswesen  der  Volkswirtschaft  zu  bieten  vermag. 
Die  nachfolgende  Zusammenstellung  zeigt  uns,  dass  im  Jahre  1875  insgesammt 
69"6  Proc.  der  Prämien  in  Form  von  Schadenzahlungen  wieder  an  die  Ver- 
sicherten zurückgeflossen  sind.  Im  Jahre  1895  betrugen  die  Schadenzahlungen 
wohl  nur  45'7  Proc.  der  Gesammteinnahmen,  doch  beweist  das  nur,  was  ich  an 
anderer  Stelle  gesagt  habe,  nämlich:  dass,  je  grösser  die  Zahl  der  Versicherten  ist, 
desto  geringer  gestaltet  sich  die  durchschnittliche  Sterblichkeitszift'er.  Diese  Thatsache 
zeigt  sich  am  besten  bei  Amerika;  dort  ist  die  Schadenziffer  von  78*6  Proc.  im 
Jahre  1875  auf  38'2  Proc.  der  Prämien  im  Jahre  1895  zurückgegangen. 

Staaten 


1875 

Mill.  Kronen 

In  Proc.  dei 

Präinien- 

einnahmen 

1895 

Jlill.  Kronen 

In  Proe.  der 
Präraien- 
einnahmen 

Amerika   .... 

324-001 

78-6 

Amerika   .    .    . 

405-392 

38-2 

England   .    .    . 

192-000 

79-3 

England   .    .    . 

337-808 

72-9 

Deutschland 

31-314 

48  9 

Deutschland 

108-330 

43-5 

Frankreich    .    . 

15-200 

2L-4 

Frankreich   .    . 

77-908 

24-6 

Oesterr.-Ungarn 

9-400 

39-3 

Oesterr.-Ungarn 

30-854 

30-2 

Schweiz     .    .    . 

2-581 

44-4 

Schweiz     .    .    . 

6-747 

46-8 

Belgien     .    .    . 

1-298 

66-9 

Russland  .    .    . 

6-728 

22  0 

Eussland  .    .    . 

1-026 

30-7 

Niederlande 

5-342 

24-0 

Niederlande 

0-787 

21-7 

Schweden      .    . 

4-749 

28-7 

Schweden      .    . 

0-396 

15-8 

Italien      .    .    . 

3-017 

40-0 

Italien      .    .    . 

0-285 

42  9 

Belgien     .    .    . 

2-777 

61-9 

Dänemark     .    . 

0-076 

42-3 

Dänemark     .    . 

1-613 

29-5 

Norwegen      .    . 

0-046 

14-5 

Finnland  .    .    . 

1-043 

36-4 

Finnland  .    .    . 

0-002 

2-6 

Norwegen     .    . 

0-769 

15-9 

Eecapitulation. 

Welch  grossartigen  Aufschwung  das  Versicherungswesen  in  den  abgelaufenen 
40  Jahren,  d.  i.  1855  bis  1895,  genommen  und  inwieweit  die  einzelnen  Staaten 
an  diesem  Aufschwünge  participieren,  zeigt  nachfolgende  Zusammenstellung  der 
Versicherungsbestände  auf  österreichische  Kronen  umgerechnet,  (s.  Tabelle  S.  308.) 

Auf  dieser  Tabelle  ist  der  kolossale  Aufschwung  des  Lebensversicherungs- 
Geschäftes  genau  zu  verfolgen,  sowie  die  ruhige  Entwicklung  des  englischen 
Versicherungsgeschäftes,  und  das  rapide  Emporschnellen  des  amerikanischen 
Versicherungsgeschäftes  als  charakteristisches  Merkmal  hervorzuheben.  Diesen 
beiden  ßiesen  streben  die  anderen  Staaten  wie  Zwerge  nach,  einzelne  selbständig 
erkennend,  dass  die  Versicherungsinstitution  dereinst  berufen  sein  wird,  die  Rolle 
der  ausgleichenden  Gerechtigkeit  zu  übernehmen  und  zweifellos  der  tragende 
Balken  unserer  volkswirtschaftlichen  Zukunft  ist,  andere  der  Noth  gehorchend, 
nicht  dem  eigenen  Triebe. 

Möge  die  vorliegende  Arbeit  auch  ein  kleines  Scherflein  mit  zu  dieser 
Erkenntnis  beitragen! 


308 


Stefan. 


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«1* 

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5 

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in  Millionen  Kronen 


1855 
1856 
1857 
1858 
1859 
1860 
1861 
1862 
1863 
1864 
1865 
1866 
1867 
1868 
1869 
1870 
1871 
1872 
1873 
1874 
1875 
1876 
1877 
1878 
1879 
1880 
1881 
1882 
1883 
1884 
1885 
1886 
1887 
1888 
1889 
1890 
1891 
1892 
1893 
1894 
1895 


494 

2.584 

235 

125 

73 

18 

8 

5 

1 

3 

11 

552 

2.888 

262 

140 

82 

20 

9 

6 

1 

3 

12 

610 

3.192 

290 

156 

90 

23 

11 

7 

1 

3 

13 

668 

3.496 

317 

171 

99 

25 

12 

8 

1 

4 

15 

726 

3.800 

345 

184 

108 

27 

13 

9 

2 

5 

17 

840 

4.038 

376 

219 

123 

28 

14 

11 

2 

7 

20 

843 

4.275 

416 

240 

156 

29 

14 

17 

3 

10 

24 

943 

4.513 

476 

369 

200 

29 

15 

19 

3 

18 

29 

1.373 

4.750 

552 

340 

226 

29 

15 

29 

4 

24 

33 

2.030 

5.005 

638 

400 

253 

30 

16 

42 

5 

30 

38 

2.980 

5.247 

742 

543 

283 

30 

17 

48 

8 

41 

39 

4.438 

5.501 

805 

561 

292 

31 

19 

51 

10 

52 

40 

5.959 

5.745 

909 

607 

276 

31 

23 

54 

11 

63 

41 

8.224 

6.009 

1.025 

758 

311 

33 

29 

57 

11 

79 

42 

9.422 

6.389 

1.150 

873 

367 

37 

31 

59 

12 

95 

43 

10.383 

6.910 

1.200 

958 

416 

45 

36 

63 

15 

110 

44 

10.781 

7.868 

1.279 

924 

537 

48 

42 

68 

17 

129 

45 

10.849 

8.178 

1.469 

958 

582 

55 

48 

72 

19 

154 

46 

10.702 

8.376 

1.638 

1.055 

816 

63 

67 

77 

21 

167 

46 

10.246 

8.603 

1.828 

1.167 

826 

73 

88 

80 

26 

188 

47 

9.885 

8.885 

1.940 

1.253 

822 

83 

109 

84 

49 

206 

48 

9.015 

9.192 

2.217 

1.431 

828 

91 

122 

88 

53 

245 

49 

8.110 

9.384 

2.340 

1.543 

723 

99 

137 

93 

57 

251 

51 

7.680 

9.624 

2.454 

1.689 

757 

112 

148 

97 

61 

255 

53 

7.505 

9.864 

2.578 

1.857 

782 

122 

159 

99 

65 

259 

55 

7.690 

9.984 

2.720 

2.073 

885 

137 

170 

102 

69 

271 

58 

8.195 

10.104 

2.867 

2.362 

975 

182 

195 

110 

99 

284 

61 

8.535 

10.224 

3.030 

2.622 

1.034 

224 

216 

124 

116 

307 

67 

9.245 

10.584 

3.212 

2.820 

977 

262 

248 

136 

137 

310 

72 

10.275 

10.656 

3.432 

2.726 

1.066 

304 

299 

151 

175 

330 

74 

11.230 

10.728 

3.644 

2.791 

1.153 

342 

333 

166 

217 

339 

76 

11.110 

10.800 

3.854 

2.829 

1.250 

395 

360 

181 

236 

347 

79 

12.370 

10.704 

4.064 

2.869 

1.354 

452 

381 

183 

257 

362 

81 

13.805 

10.608 

4.289 

2.935 

1.462 

509 

417 

218 

301 

38i 

84 

17.910 

11.016 

4.524 

2.959 

1.550 

547 

464 

242 

331 

403 

86 

18.100 

11.136 

4.789 

3.027 

1.725 

570 

529 

268 

353 

428 

89 

19.305 

11.184 

5.077 

3.127 

1.786 

597 

576 

288 

384 

447 

92 

24.485 

11.472 

5.387 

3.222 

1.965 

631 

612 

318 

414 

462 

95 

26.455 

12.120 

5.685 

3.355 

2.219 

680 

642 

362 

447 

480 

98 

23.345 

12.384 

5.995 

3.322 

2.398 

737 

693 

468 

485 

503 

99 

24.090 

12.451 

6.212 

3.271 

2.523 

813 

756 

567 

550 

520 

112 

1 

2 
5 
7 
9 
9 

10 
11 
12 
15 
17 
18 
20 
23 
25 
29 
32 
51 
60 
67 
74 
84 


»)  Schweden,  Norwegen  und  Dänemark.  (Bis  1864  Schweden  allein.) 


LITERATUKBEßlCHT. 


Geschichte  der  Stadt  Wien,  herausgegeben  vom  Alterthamsvereine  zu  Wien, 
redigiert  von  Heinrich  Zimmermann.  I.  Band:  Bis  zur  Zeit  der  Landesfürsten  aus 
Habsburgischem  Hause  (1282).  Mit  34  Tafeln  und  181  Textillustrationen.  Wien  1897. 
XXIV  und  632  Seiten.  II.  Band:  Von  der  Zeit  der  Landesfürsten  aus  habsburgischem 
Hause  bis  zum  Ausgange  des  Mittelalters.  1.  Hälfte  mit  20  Tafeln  und  102  Text- 
illustrationen. Wien  1900.  IV  und  498  Seiten  Fol.  Druck  und  Verlag  von  Adolf  Holz- 
hausen. 

Dieses  kostbare  Buch  hat  eigentlich  nur  einen  einzigen  Fehler;  es  ist  in  einem 
monströsen  Format  (Grossfolio)  gedruckt,  so  dass  seine  Benutzung  schon  eine  bedeutende 
körperliche  Anstrengung  erheischt,  und  es  ist  in  einer  so  kleinen  Auflage  und  zu  einem 
so  hohen  Preise  ausgegeben,  dass  seine  Anschaffung  selbst  für  grössere  Bibliotheken  fast 
nicht  erreichbar  und  erschwingbar  ist.  Dass  das  Werk  infolge  dieser  Umstände  nur  sehr 
wenig  bekannt  ist,  muss  billigerweise  bedauert  werden ;  es  verdiente  eine  sehr  eingehende 
Beachtung  vermöge  seines  reichen  Inhalts  und  seiner  meisterhaften  Darstellung.  Die 
Entwicklung  Wiens  als  wirtschaftliches,  sociales  und  politisches  Gemeinwesen  ist  von 
den  ersten  Anfängen  der  Ansiedlung  am  Fusse  des  Kahlenberges  an  mit  grosser  Anschau- 
lichkeit und  reichem  Inhalte  geschildert.  Eine  Angabe  des  Hauptinhaltes  möge  voran- 
gestellt sein.  Der  Boden  der  Stadt  uud  sein  Eelief,  von  Dr.  Eduard  Suess;  die 
Urzeit  von  Dr.  Mathaeus  Much;  Wien  zur  Zeit  der  Römer,  von  Dr.  Alfred 
V.  Tomacsewski;  die  archäologischen  Funde  aus  römischer  Zeit  von  Dr.  Friedrich 
Kenner;  der  Name  Wien  von  Dr.  Eichard  Müller;  politische  Geschichte  bis  zur  Zeit 
der  Landesfürsten  aus  habsburgischem  Hause  von  Dr.  Richard  Schuster;  topographische 
Benennungen  und  räumliche  Entwicklung  von  Dr.  Richard  Müller;  das  Befestigungs- 
und Kriegswesen  von  Wendelin  Böheim;  die  Entwicklung  des  Rechtslebens,  Verfassung 
und  Verwaltung  von  Dr.  Heinrich  Schuster;  Handel,  Verkehr  und  Münzwesen  von 
Dr.  Arnold  Luschin  v.  Ebengreuth;  das  kirchliche  Leben  und  die  christliche 
Charitas  von  Dr.  Anton  Mayer;  die  Schulen  von  demselben;  mitlelalterliche  Baudenkmale 
Wiens  aus  der  Zeit  der  Habsburger  von  Dr.  Karl  Lind;  Dichtung  und  Sänger,  das 
Hof-  und  Minneleben  bis  1270  von  Dr.  Anton  Schönbach;  das  Volksleben,  Gebräuche 
und  Sitten  von  Dr.  Anton  Mayer.  —  Geschichte  des  Wappens  der  Stadt  Wien  von 
Dr.  E.  Gaston  Grafen  v.  Pettenegg;  Quellen  und  Geschichtsschreibung  von  Dr.  Karl 
Uhlirz;  Wiens  räumliche  Entwicklung  und  topographische  Benennungen  vom  Ende  des 
13.  bis  zum  Beginn  des  16.  Jahrhunderts,  von  Dr.  Richard  Müller;  Befestigungs-  und 
Kriegswesen  von  Adolf  Kurtzleigg;  Rechtsleben,  Verfassung  und  Verwaltung  von 
Ür.  Heinrich  Schuster. 

Hervorragende  Kenner,  bedeutende  Gelehrte  haben  also  zusammengewirkt,  um 
diese  Geschichte  von  Wien  auf  die  Höhe  modemer  Wissenschaft  zu  bringen;  ihre  Namen 
bürgen  für  die  Gediegenheit  ihrer  Leistungen.  Für  die  Leser  unserer  Zeitschrift  sei 
besonders  auf  die  der  Verfassungs-  und  Rechtsgeschichte  wie  der  Wirtschaftsgeschichte 
gewidmeten  Abschnitte  aufmerksam  gemacht.  Wien,  das  ja  im  früheren  Mittelalter  lange 
Zeit  hindurch  der  am  weitesten  nach  Osten  vorgeschobene  Punkt  deutscher  Cultur 
gewesen   ist,   weist    eine   Fülle    der   interessantesten    Formen    und  Einrichtungen  seines 


310  Literaturbericlit. 

Rechts-  und  Wirtschaftslebens  auf;  wie  sein  Stadtrecht  und  das  österreichische  Land- 
recht zu  den  ältesten  Rechtsdenkmälern  entwickelter  deutscher  Gemeinwesen  gehören, 
so  haben  wir  in  den  Privilegien  der  Regensburger  Kaufleute,  der  Tuchmacher  aus 
Flandern,  in  den  Institutionen  des  Hansgrafenamts  und  der  Münzerhausgeuosseu,  in  den 
ältesten  Zolltarifen  und  Judenordnungen  eine  Reihe  interessanter  Zeugen  der  frühen 
wirtschaftlichen  Entwicklung  der  Donaustadt,  welche  in  anschaulicher  und  theilwcise 
schon  sehr  detaillierter  Weise  ein  Bild  der  Kräfte  und  Bestrebungen  geben,  die  sich  in 
der  Wiener  Bürgerschaft  wie  in  der  kräftig  aufstrebenden  Landesherrschaft  geltend 
gemacht  haben. 

Um  den  lehrreichen  Inhalt  dieses  Werkes  zum  Gemeingut  nicht  nur  aller  gebildeten 
Wiener,  sondern  der  Wissenschaft  überhaupt  zu  machen,  was  dasselbe  so  wohl  verdienen 
würde,  wäre  di  ■  Veranstaltung  eine  Volksausgabe   wohl  sehr   erwünscht.  J. 

Wörterbuch  der  Rechts-  und  Staatswissenschaften.  Redigiert  von  A.  F.  Wolkow 
und  J.  D.  Filipow.  St.  Pet'Msburg  (russisch). 

Dieses  bedeutende  Werk  dürfte  zweifellos  von  Interesse  für  weitere  Kreise    sein. 

Die  Redakteure  sind  bereits  durch  Herausgabe  der  russischen  Reichsgesetze  und 
durch  andere  Editionen  bekannt.  Mitarbeiter  und  zugleich  Mitredakteure  sind  eine  Reihe 
bekannter  Professoren  und  Privatdozenten.  Das  Unternehmen  begegnet  einem  aus- 
gesprochenen Bedürfnisse,  da  die  russischen  Encyklopädien  und  Lehrbücher  vielfach 
den  Ansprüchen  der  modernen  Wissenschaft  durcliaus  nicht  genügen. 

Aus  dem  Inhalte  des  vorliegenden  ersten  Heftes  des  Wörterbuches  sind  u.  a. 
besonders  die  Artikel  über  Actie,  Accise,  Oesterreich-Ungam,  Agrarwesen  u.  dgl.  hervoi- 
zuheben.  Sehr  viel  Raum  wird  der  politischen  Oekonomie,  Socialpolitik  u.  dgl.  gewidmet 
werden.  Der  Eindruck,  welchen  d..s  erste  Heft  macht,  ist  ein  sehr  zufriedenstellender.  Bei 
dem  Bestände  der  Mitarbeiter  und  Redakteure  dürfte  wohl  auch  zu  erwarten  sein,  dass 
der  Inhalt  der  übrigen  Hefte  hinter  demjenigen  des  ersten  nicht  zurückstehen  wird.  Das 
neue  Wörterbuch  sei  daher  den  Interessenten  für  Rechts-,  Staats-  aber  auch  für  Handels- 
wissenschaften bestens  empfohlen.  S — i. 

Robert  Pöhlmann,  Geschichte  des  antiken  Communismus  und  Socialis- 
mus.  Zweiter  Band.  München  1901.  C.  H.  Beck'sche  Verlagsbuchhandlung  (Oskar  Beck). 

In  der  Vorrede  zum  ersten  Bande  dieses  Werkes  (1893')  äusserte  der  Verfasser 
über  sein  Thema  sich  in  folgender  Weise:  „Eine  Geschichte  des  antiken  Communismus 
und  Socialismns  ist  noch  nicht  geschrieben.  Die  junge  Wissenschaft  der  Social-  und 
Wirtschaftsgeschichte  hat  sich  aus  naheliegenden  Gründen  ganz  überwiegend  dem 
Mittelalter  und  der  Neuzeit  zugewendet,  während  die  Alterthumskunde  trotz  mancher 
trefflicher  Einzelarbeiten  den  Fortschritten  der  modernen  Staats-. und  Socialwissenschaft 
noch  lange  nicht  genügend  gefolgt  ist."  War  dieser  Vorwurf  vor  acht  Jahren  noch 
begründet,  so  haben  seitdem  die  jüngeren  Forscher  sich  eifrig  an  die  Beantwortung  der 
das  wirtschaftliche  Gebiet  betreffenden  Fragen  gemacht.  So  behandelte  Eduard  Meyer, 
dessen  „Geschichte  des  Alterthums"  unterdessen  bis  zum  dritten  Bande  gediehen  ist, 
separat  „Die  wirtschaftliche  Entwicklung  des  Alterthums"  (ein  Vortrag,  gehalten 
auf  der  dritten  Versammlung  deutscher  Historiker  in  Frankfurt  a.  M.  am  20.  April  1895, 
gedruckt  1895  in  Jena  Verlag  von  G.  Fischer),  und  „Die  Sclaverei  im  Alterthum" 
(Vortrag,  gehalten  in  der  Gehe-Stiftung  zu  Dresden  am  15.  Jänner  1898,  gedruckt  in 
Dresden  1898  bei  v.  Zahn  und  Jaensch).  Julius  Beloch,  der  Verfasser  der  neuesten 
„Griechischen  Geschichte"  und  durch  seine  bevölkerungsstatistis'^hen  Arbeiten  bekannt, 
besprach  in  der  „Zeitschrift  für  Socialwissenschaft",  Bd.  II,  S.  21  tf.  „Die  Gross- 
industric  im  Alterthum"  und  neuerdings  in  den  Jahrbüchern  für  Nationalökonomie 
und  Statistik  1899,  S.  626  ff.  „Die  Handelsbewegung  im  Alterthum-',  wonach  wir 
uns  erst  einen  Begriff  von  der  Intensität  der  mercantilen  Entwicklung  zur  Zeit  der 
athenischen  Seeherrschaft  zu  machen  imstande  sind:  er  schätzt  die  Handelsbewogung  des 


•;  Vgl.  diese  Zeitschrift  III   (1894),  S.  463—467. 


Literaturbericht.  311 

atlienischen  Reiches  auf  500 — 600  Millionen  Mark,  die  der  hellenischen  Welt   überhaupt 
gegen  den  Ausgang  des  5.  Jahrhunderts  auf  kaum  unter  ?wei  Milliarden  Mark. 

Dass  dieser  Entwicklung  ebenso  wie  in  der  Neuzeit  so  auch  im  Alterthum  sociale 
Kämpfe  und  communistische  Unterströmungen  entsprachen,  war  im  allgemeinen  bekannt, 
wird  aber  systematisch  erst  von  Pöhlmann  im  einzelnen  dargelegt. 

Der  Socialismus  als  „Kritik  des  Capitals"  ist  in  Griechenland  bereits  das  Erzeugnis 
einer  recht  frühen  Epoche.  Er  geht  Hand  in  Hand  mit  der  Hebung  des  maritimen 
Verkehrs  und  der  Entwicklung  des  Handels.  So  in  Korjnth,  Megara,  Athen,  wo  wir 
überall  eine  Eeaction  gegen  die  Geldwirtschaft  und  ihre  Nachtheile  eintreten  sehen, 
worüber  uns  für  Megara  die  Gedichte  des  Theognis,  für  Athen  die  des  So  Ion  unter- 
richten. Die  Verhältnisse  in  Boeotien  lernen  wir  aus  dem  Gedichte  des  Hesiod  kennen,  da 
in  Zeiten,  wo  es  keine  Journalistik  gab,  die  öffentliche  Meinung  eben  durch  den  Mund 
der  Dichter  sich  kundgab.  Solon  wie  Theognis  gehörten  der  Adelsclasse  an;  letzterer 
gcisselt  die  Missbräuche  ihres  Regiments,  unter  denen  verarmte  Adelige  wie  er  selbst  nicht 
weniger  litten  als  die  bäuerliche  Classe;  als  aber  das  Adelsregiment  gestürzt  wurde, 
zeigte  das  demokratische  Element  sich  nur  als  roher  aber  nicht  als  besser  für  die 
Interessen  der  Gesammtheit.  Solon  hingegen  wurde  in  Athen  an  die  Spitze  des  Staats- 
wesens gestellt,  als  man  dort  am  Vorabende  einer  Revolution  stand;  und  obwohl  die 
Reform,  die  Solon  durchführte,  radical  genug  war,  gab  es  gleichwohl  noch  eine 
Bevölkerungsschichte,  die  sich  vor  den  Ucbergriffen  der  Reichen  und  Mächtigen  nicht 
sicher  fühlte  und  daher  den  Pisistrates  auf  den  Schild  erhob,  dessen  Tyrannis  als  eine 
Aera  der  Gerechtigkeit,  ja  von  Späteren  geradezu  als  ein  goldenes  Zeitalter  gefeiert  wird. 

Diese  Ereignisse  behandelt  Pöhlmann  in  den  Abschnitten:  „Der  aristokratische 
Staat  und  die  Anfänge  des  Capitalismus  und  Socialismus",  „Das  Erwaclieu 
der  Masse  und  die  Revolutionierung  der  Gesellschaft",  „Agrarsocialisnius 
und  Reform  im  6.  Jahrhundert",  wobei  namentlich  die  gelungene  Analyse  jener 
Dichter  hervorzuheben  ist.  Uebrigens  darf  man  nicht  ausseracht  lassea,  dass  wir  es  hier 
mit  Kleinstaaten  zu  thun  haben,  wo  der  Reformer  die  Verhältnisse  genau  übersehen 
konnte,  auch  die  Bürger  sich  gegenseitig  abzuschätzen  wussten,  wie  denn  Grote  sich 
die  Verfassung  der  griechischen  Verbände  durch  das  Studium  der  Cantone  der  Urschweiz 
zu  vergegenwärtigen  suchte,  andererseits  vor  wenigen  Jahren  bei  Behandlung  eines 
Beschlusses  von  Nidwaldcn  (betreiFs  Herabsetzung  des  Zinsfusses)  geradezu  Solons 
Vorgang,  gemäss  der  neuaufgefundenen  Schrift  des  Aristoteles  über  den  Staat  der 
Athener,  wie  ein  einschlägiger  Präcedenzfall  citiert  wurde.')  —  Jeder  dieser  kleinen 
Staaten  sucht  sich  in  allem  selbst  zu  genügen,  um  von  niemandem  abhängig  zu  sein.  Zu 
diesem  Zwecke  erlaubt  sich  die  Staatsgewalt  jeden  für  nöthig  gehaltenen  Eingriff  in  die 
Verhältnisse  der  Bürger:  es  wird  die  ökonomische  Entwicklung  reguliert,  ein  Grund- 
maximum festgestellt,  Schuldenerlasse  werden  decretiert,  die  Colonisation  ist  staatlich 
geregelt;  ebenso  gibt  es  eine  staatliche  Armenversorgung.  Der  Missbrauch  der  obrig- 
keitlichen Gewalt  führt  zu  Umwälzungen  und  Aenderungen,  diese  wieder  sind  vor  einer 
Reaction  nie  sicher,  wie  man  es  aus  der  Darstellung  des  Thukydides  z.  B.  für  Kerkyra, 
aus  der  späteren  Zeit  des  peloponnesischen  Krieges  für  Athen  genau  genug  weiss. 

Die  Phasen  dieser  Entwicklung  verfolgt  der  Verfasser  in  den  Abschnitten:  „Die 
staatsbürgerliche  Gesellschaft  und  die  volle  Ausbildung  des  Capitalismus". 
—  „Der  Widerspruch  zwischen  der  socialen  und  der  politischen  Ent- 
wicklung im  freien  Volksstaat".  —  „Die  Umbildung  der  politischen  zur 
socialen  Demokratie".  —  „Der  demokratische  Staatssocialismus  und  der 
Umschlag  in  den  radicalen  revolutionären  Socialismus,"  —  „Die  sociale 
Revolution". 


»)  Ich  entnehme  dies  der  Beilage  zur  „Gotthard-Post"  18%,  Nr.  25:  Verhandlung  des  National- 
rathes  über  die  von  der  nidwaldnerischen  Landesgemeinde  den  13.  October  1895  beschlossene  Partialrevision 
der  Verfassung  betreffend  Herabsetzung  des  Zinsfusses.  Der  Reftrent  fQhrt  aus :  „Das  Privatrecht  steht 
nicht  über  dem  Staatsz wecke". 


312  Literaturbericht. 

Dabei  sind  natürlich  verschiedene  Momente  zu  berücksichtigen,  welche  dem  Alter- 
thum  eigenthümlich  waren,  z.  B.  das  Verhältnis  der  unfreien  Arbeiter  zu  den  freien. 
„Die  Zerlegung  der  handwerksmässigen  Thätigkeit  in  eine  Eeihe  von  einfachen  Theil- 
operationen,  die  oft  zu  ausschliesslichen  Functionen  besonderer  Arbeiter  wurden,  ver- 
ringerte, wenn  sie  eine  gewisse  Grenze  überschritt,  den  Wert  der  einzelnen  Arbeitskraft, 
ja  sie  ermöglichte  eine  so  umfassende  Verwendung  ungelernter  oder  —  in  Vergleich  mit 
dem  Handwerk  —  wenig  geschulter  Arbeiter,  dass  in  vielen  Zweigen  selbst  die  minder- 
wertige Sclavenarbeit  erfolgreich  mit  der  freien  Arbeit  zu  concurrieren  vermochte.  Und 
hier  ist  denn  in  der  That  eingetreten,  was  die  moderne  socialistische  Kritik  übertreibend 
von  jedem  industriellen  Arbeiter  behauptet:  der  Arbeiter,  der  als  Sclave  zur  lebendigen 
Maschine,  zum  „opYczvov  sp-tJ^D/ov"  geworden  war,  gehörte  nicht  mehr  sich  selbst  an.  Er 
war  dem  Capital  „einverleibt"  oder,  wie  Aristoteles  es  ausdrückt  —  gleichsam  „ein 
Theil  des  Herrn  selbst".  Er  war  in  der  That  nichts  als  ein  Werkzeug  und  Erwerbsorgan 
des  Arbeitsherrn,  das  einzig  und  allein  um  der  Production  willen  da  war". 

Unter  der  Concurrenz  der  unfreien  Arbeit  hatte  die  freie  zu  leiden.  Dass  man 
sich  dabei  des  wirtschaftlichen  Zusammenhanges  zwischen  Massenverarmung  und  Sclaven- 
wirtschaft  sehr  wohl  bewuEst  war,  das  zeigt  z.  B.  die  Erbitterung  der  phokischen 
Bevölkerung  gegen  den  reichen  Unternehmer  Mnason,  der  für  sich  allein  nicht  weniger 
als  1000  unfreie  Arbeiter  beschäftigte.  „Man  warf  ihm  vor,  dass  er  eben  so  viele 
Mitbürger  um  ihr  Brot  brächte."  (4.  Jahrhundert  v.  Chr.)  Dass  übrigens  die  freie 
Arbeit  den  Druck,  der  auf  ihr  lag,  keineswegs  widerstandslos  über  sich  ergehen  liess, 
zeigt  ein  Ehrendecret,  das  die  Stadt  Faros  einem  ihrer  Beamten  ausstellte.  (1.  Jahr- 
hundert V.  Chr.)  Er  wird  darin  gerühmt,  weil  er  als  „Agoranom"  darauf  bedacht  gewesen 
sei,  dass  den  Arbeitern  von  den  Arbeitgebern  und  umgekehrt  kein  Unrecht  geschehe;  er 
habe  „die  Arbeiter  dem  Gesetz  gemäss  veranlasst,  nicht  auszustehen,  die  Arbeitgeber 
aber,  ihnen  den  gebürenden  Lohn  zu  zahlen."  Also  —  bemerkt  Pöhlmann  —  der 
Ausstand  als  Waffe  im  Lohnkampf!  Freilich  stumpfte  die  Waffe  ab,  sobald  die- 
selbe Arbeit  durch  unfreie  Kräfte  geleistet  werden  konnte.  Es  gilt  aber  für  die  antike 
Volkswirtschaft  ganz  dasselbe,  was  Marx  einmal  von  Nordamerika  gesagt  hat.  Hier 
„blieb  jede  selbständige  Arbeiterbewegung  gelähmt,  solange  die  Sclaverei  einen  Theil 
der  Republik  verunstaltete.  Die  Arbeit  in  weisser  Haut  kann  sich  nicht  dort  emancipieren, 
wo  sie  in  schwarzer  Haut  gebrandmarkt  wird."  Wie  viel  weniger  noch  vermochte  sie  es 
da,  wo  eine  solche  Brandmarkung  selbst  den  Volksgenossen  gegenüber  möglich  war! 
Insbesondere  konnte  bei  dieser  Sachlage  gar  nicht  der  Gedanke  aufkommen,  dass  der 
Arbeitslohn  ein  im  besten  Sinne  des  Wortes  selbständiges  Glied  der  Einkommens- 
bildung darstellt.  (S.  171  f.j  —  Dinge,  die  schon  Rodbertus  in  seinen  vielbesprochenen 
Artikeln  über  die  ökonomische  Entwicklung  des  römischen  Alterthums  hervorgehoben 
hat  (von  denen  aber  sonst  die  neuere  Forschung  in  verschiedenen  Grundsätzen  abweicht). 
Auch  zwischen  Pöhlmann,  Ed.  Meyer,  J.  Beloch  fehlt  es  nicht  an  Differenzen,  auf 
die  ich  im  einzelnen  nicht  näher  eingehen  kann.  Vor  allern  ist  das  statistische  Material, 
auf  das  wir  angewiesen  sind,  viel  zu  vage,  um  daraus  sichere  Schlüsse  zu  ziehen.  Die 
Zahlen,  die  bei  Athenaues  für  die  Sclaven  in  Attica,  Aegina  und  anderen  Staatswesen 
Griechenlands  angegeben  werden,  sind  sehr  hohe;  Beloch  will  sie  nicht  gelten  lassen, 
andere  wie  Seeck  vertheidigen  sie;  Pöhlmann  verzeichnet  den  Stand  der  Controverse. 
Bei  Plutarch  im  Leben  des  Phokion  (cap.  28)  wird  angegeben,  dass  im  Jahre  322 
V.  Chr.  9000  Bürger  Athens  von  21.000  einen  Census  von  2000  Drachmen  Vermögen 
erreicht  hätten,  woraus  Beloch  den  Schluss  zieht,  dass  hier  die  Proletarisierung  der 
Gesellschaft  im  Laufe  des  4.  Jahrhunderts  keinen  Fortschritt  gemacht  zu  haben  scheine, 
während  Pöhlmann  eher  das  Gegentheil  daraus  folgern  möchte.  Wichtig  sind  für  die 
Erkenntnis  der  Verhältnisse  die  staats-politischen  Schriften  des  Plato  und  des  Aristo- 
teles. Erstere  sind  von  Pöhlmann,  wie  schon  im  1.,  so  jetzt  im  2.  Bande  eingehend 
analysiert,  auch  insoferne  es  sich  nicht  gerade  um  Socialismus  und  Communismus  hmdelt, 
sondern  um  die  Aufstellung  eines  staatlichen  Ideals.  Aristoteles  erweist  sich  durch- 
wegs als  ein  überaus  scharfsinniger  Beobachter,  während    von  Plato   mehr   Phantastik 


Literaturbericht.  313 

entwickelt  wird.  Der  Verfasser  widmet  auch  der  „socialen  Utopie  im  Gewände  der 
Dichtung"  ein  Capitel;  dem  goldenen  Zeitalter,  in  dem  es  keine  Concurrenz,  sondern 
beständige  Saturnalien,  namentlich  auch  freie  Liebe  und  Weibergemeinschaft  gibt.  Pöhl- 
mann  bemerkt  hinzu:  „Die  Ideen,  die  in  der  socialen  Dichtung  der  Griechen  zum 
Ausdruck  kommen,  greifen  weit  über  den  Rahmen  hinaus,  durch  den  eine  conventioneile 
Anschauung  von  der  Antike  und  eine  nicht  minder  conventioneile  allgemeine  Geschichts- 
auffassung die  geistige  Entwicklung  des  Alterthums  auf  dem  Gebiete  des  socialen 
Gedankens  umgrenzt  glaubt.  Angesichts  der  Ideenwelt,  die  sich  hier  vor  uns  aufgethan 
muss  es  in  hohem  Grade  irreführend  erscheinen,  wenn  die  moderne  Socialdemokratie 
um  das  Dogma  von  der  absoluten  Neuheit  ihrer  Lehre  zu  retten,  immer  nur  von  einem 
„sogenannten"  antiken  Socialismus  zu  reden  weiss."  —  Der  Verfasser  polemisiert  in  dieser 
Hinsicht  auch  gegen  die  „Geschichte  des  Socialismus"  von  G.  Adler  iind  gegen 
A.  Dörings  Werk  „Die  Lehre  des  Sokrates  als  sociales  Eeformsystem"  (1895)  die  den 
Quellen  nicht  gerecht  werden,  andererseits  gegen  denjenigen  Betrieb  der  Alterthums- 
wissenschaft,  der  den  socialen  Problemen  überhaupt  keine  Aufmerksamkeit  zuwendet. 

In  dem  „zweiten  Buch"  werden  die  römischen  Verhältnisse  behandelt,  indem 
Pöhlmann  zunächst  die  Ueberlieferung  oder  vielmehr  spätere  Abstraction,  die  von  einem 
Urcommunismus,  namentlich  in  agrarischer  Beziehung  ausgeht,  auf  ihren  Gehalt  hin  prüft. 
Consequent  ist  die  Anschauung  nicht  durchgeführt,  da  ja  von  Romulus  erzählt  wird, 
er  habe  jedem  Bürger  als  „heredium"  zwei  iugera  zugetheilt.  Andererseits  weisen  die 
starken  Gentilverbände  mit  ihren  „Clienten"  darauf  hin,  dass  es  „hörige"  Bauern  gab; 
die  Bewegung,  welche  die  ältere  römische  Republik  erfüllt,  zielte  unter  anderem  auch 
darauf  ab,  die  Bande  dieser  Hörigkeit  zu  sprengen.  An  die  Stelle  der  drei  alten  Stamm- 
tribus  traten  die  vier  städtischen  Bezirke,  ebenfalls  „Tribus"  genannt,  neben  die  im 
Laufe  der  Zeit  die  anfangs  bloss  zugetheilten,  dann  aber  selbständig  constituierten  Land- 
tribus  kamen.  So  denkt  sich  die  Entwicklung  der  Dinge  K.  J.  Neuraann  in  seiner 
Studie  „Die  Grundherrschaft  der  römischen  Republik,  die  Bauernbefreiung 
und  die  Entstehung  der  Servianischen  Verfassung"  (Rede  zur  Feier  des  Geburts- 
tages Wilhelms  IL  am  27.  Jänner  1900,  gedruckt  in  Strassburg  bei  J.  H,  Ed.  Heitz), 
von  der  Pöhlmann  in  seinem  Buche  noch  nicht  Gebrauch  machen  konnte,  die  er  aber 
seitdem  in  der  „Historischen  Zeitschrift"  beifällig  besprochen  hat.  Neumann  ist  bei 
seiner  Prüfung  der  altrömischen  Geschichte  von  Knapps  Arbeiten  über  preussische 
Grundherrschaft  und  Bauernbefreiung  ausgegangen:  „sie  ruht  nicht  auf  neuem  Quellen- 
materiale^  sondern  auf  consequentem  Durchdenken  des  Bekannten  auf  Grund  agrar- 
historischer  Anschauung,  die  ich  meinem  verehrten  Kollegen  Knapp,  der  mir  zum  Lehrer 
geworden  ist,  verdanke."  Die  sociale  Entwicklung  gieng  dann  dahin,  den  Ueberschuss  an 
Bevölkerung  in  „PÜanzstädte"  (Colonien)  auszuführen,  im  Anschlüsse  an  die  Kriege,  die 
man  mit  den  Nachbarn  führte;  darauf  beruht  die  Eigenthümlichkeit  des  altrömischen 
Staatswesens,  in  dem  sonst  ähnliche  Ideen,  wie  in  den  Agrarstaaten  Griechenlands,  ihrer 
Verwirklichung  zustrebten:  Verbot  des  „continuare  agros",  vielmehr  Erhaltung  der 
Bauernstellen,  dabei  Abstufung  der  politischen  Berechtigung  nach  Maassgabe  des  Grund- 
besitzes, Zurücksetzung  der  städtischen  Menge,  die  eines  solchen  entbehrt,  Herabdrückung 
des  Capitalzinses  oder  Verbot  des  Zinsrechnens  (worüber  ßilleters  „Geschichte  des 
Zinsfusses  in  Alterthum"  1898  vortreiflich  gehandelt  hat)  u.  dgl.  m.  —  Ein  völliger 
Umsturz  der  Verhältnisse  erfolgte,  als  die  nur  gewissen  Classen  der  Bevölkerung  zu  gute 
kommende  „Weltpolitik"  durchgriff,  deren  Rückwirkung  in  Italien  auf  weite  Strecken 
hin  den  Bauernstand  ruinierte.  Je  mehr  sich  die  capitalistische  Wirtschaftsordnung 
entwickelte,  desto  mehr  wuchs  auch  ihr  Gegensatz,  der  Socialismus.  Als  die  Reforra- 
bestrebungen  der  Gracchen,  die  nach  dem  Beispiele,  das  die  spartanischen  Könige  Agis 
uud  Kleomenes  im  Jahrhundert  vorher  gegeben  hatten,  auf  die  alten  Agrarordnungen 
zurückgriifen,  gescheitert  waren,  verschärfte  sich  die  Krise  von  einem  Decennium  zum 
anderen  und  revolutionierte  das  ganze  Staatswesen. 

Pöhlmann  behandelt  zunächst   „Die   sociale  Bewegung   im   Lichte   herr- 
schender Parteianschauungen",  namentlich  an  der  Hand  der  Reden  und  Schriften 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  X.  Band.  21 


314  Literaturbericht. 

des  Cicero,  der  conservativ  auf  Seite  des  „rechtmässigen  Besitzes"  stand  und  in  der 
Beurtheilung  des  socialen  Nothstandes  ein  unverbesserlicher  Doctrinär  war.  Der  Schutz 
des  Privateigenthums  ist  ihm  die  Hauptsache,  von  den  Pflichten  des  Besitzes  geht  nicht 
die  Rede.  Die  Besitzenden  sind  die  allein  respectable  Bürgerschaft;  gegen  sie  erhebt 
sich  unter  Catilina  der  „Bund  des  Lasters".  Uebrigens  nimmt  auch  Sallust  in  seiner 
Darstellung  der  Catilinarischen  Verschwörung,  obwohl  der  „Popularpartei"  angehörig,  einen 
„völlig  ungeschichtlichen  und  unsocialen  Standpunkt"  ein  (S.  483);  seine  Schrift  ist  ein 
„tendenziöses  Parteipamphlet"  (S.  485).  Bekanntlich  ist  zu  jener  Zeit  der  Kampf  der 
Parteien  auch  mit  historischen  Argumenten  geführt  worden.  Die  Geschichte  des  Kampfes 
der  Patricier  und  Plebejer  wurde  in  Parallele  gestellt  mit  dem  Kampf  der  Optimaten 
gegen  die  Populären,  nicht  ohne  dass  die  Eeden,  die  man  den  Staatsmännern  der  alten 
Zeit  nach  der  hergebrachten  Manier  der  rhetorischen  Geschichtsschreibung  in  den  Mund 
legte,  den  Verhältnissen  der  Gegenwart  angepasst  worden  wären.  Ja  Pöhlmann  findet 
(S.  565),  dass  die  Argumente,  mit  denen  (bei  Dionysius  von  Halicarnass)  der  stolze 
Patricier  Appius  Claudius  gegen  die  Forderungen  der  Menge  sich  wendet,  dieselben 
seien,  welche  Bismarck  in  der  Kronrathssitzung  vom  24.  Jänner  1890  der  Begehrlichkeit 
der  Arbeiter  entgegenstellte! 

Es  handelt  sich  bei  diesen  revolutionären  Vorgängen  um  „das  Erwachen  der 
Armut  zum  socialen  Bewusstsein",  da  die  öffentlichen  Zustände  zu  einer  „Kritik 
der  Gesellschaft"  immer  mehr  herausforderten:  die  Ungleichheit  in  der  Vertheilung 
der  Güter,  die  Menge  der  ruinierten  Bürger,  das  Streben  nach  einem  Antheil  an  den 
Profiten  der  Weltherrschaft  entweder  auswärts  im  Kriegsdienst  oder  durch  die  Frumen- 
tationen  und  Spiele  in  der  Stadt,  die  Verwertung  des  Stimmrechtes  u.  s.  w.,  Dinge,  die 
ähnlich  schon  in  Athen  und  sonst  in  Griechenland  zutage  getreten  waren,  in  Eom  aber 
bei  dem  gewaltigen  Umfang  der  römischen  Herrschaft  weit  ansehnlichere  Dimensionen 
annahmen.  Den  grössten  Gewinn  hoffte  die  Opposition  auch  hier  durch  völligen  Umsturz 
des  Staatswesens  sowohl  wie  der  Besitzesverhältnisse  zu  erzielen,  wozu  Cinna  und 
Sulla  das  Beispiel  gegeben  hatten,  das  Catilina  und  seine  Freunde  befolgen  wollten,  das 
Cäsar  auf  politischem  Gebiet  durchführte,  die  Triuravirn  nach  ihm  auch  in  Bezug  auf 
den  Besitz  in  den  Proscriptionen  und  in  den  Ackervertheilungen  nach  der  Schlacht  bei 
Philipp!  (eine  Umwälzung,  die  mit  der  in  Böhmen  nach  der  Schlacht  am  Weissen  Berge 
zu  vergleichen  wäre), 

Pöhlmann  verfolgt  die  einzelnen  Erscheinungen,  soweit  sie  in  der  trümmerhaften 
Ueb erlief erung,  die  sich  mehr  um  die  Kriege  und  um  die  hervorragenden  Individuen 
kümmert  als  um  die  Zustände,  mit  Aufmerksamkeit  und  behandelt  in  einem  letzten 
Capitel  den  „Demokratischen  Socialismus  und  romantischen  Utopismus", 
wobei  mir  allerdings  von  der  Bezeichnung  „demokratisch"  ein  zu  weiter  Gebrauch  gemacht 
zu  sein  scheint.  So  wird  Cäsar  „Demokrat"  genannt!  Vielmehr  standen  die  römischen 
Parteien  durchwegs  unter  aristokratischer  Führung,  wie  denn  die  Rangstellung  der 
Senatoren  und  Ritter  von  den  Catilinarischen  Verschworenen  streng  respectiert  wurde; 
ebenso  hielt  der  sich  auf  Grund  der  Revolution  aufbauende  Monarchismus  daran  fest.  Der 
Sehnsucht  nach  dem  „goldenen  Zeitalter"  geben  auch  die  römischen  Dichter  Ausdruck, 
so  Virgilius  (schon  zur  Zeit  der  Wiederversöhnung  des  M.  Antonius  mit  Cäsar 
Octavianus  im  Jahre  40  v.  Chr.),  Tibull  und  Ovid;  darin  wird  auch  der  Urcom- 
munismus  des  Saturnischen  Reiches  und  „die  Ausgleichung  des  Rechtes  aller"  gepriesen, 
wie  sie  am  Saturnalienfeste  zwischen  Herrn  und  Sclave  prakticiert  wurde.  Es  liegt 
unverkennbar  der  allgemeine  Gedanke  zu  Grunde,  dass  „das  Privateigenthum  und  der 
Classenunterschied  eigentlich  ein  Unrecht  seien,  dass  eine  wahrhaft  gerechte  Gesellschafts- 
ordnung mit  Gütergemeinschaft  und  vollkommener  socialen  Gleichheit  identisch  sei." 
Mit  einer  Betrachtung  darüber  schliesst  Pöhlmann  sein  Buch  ab.  Er  hatte 
ursprünglich  die  Absicht,  seiner  Darstellung  der  auf  dem  Boden  der  hellenisch-römischen 
Cultur  erwachsenen  socialen  Ideen  und  Bewegungen  auch  noch  die  religiösen  Erscheinungs- 
formen des  antiken  Socialismus,  namentlich  im  Judenthum  und  Christenthum,  folgen  zu 
lassen.  Da  aber  der  griechische  Theil  so  umfangreich  geworden,  musste  dies  unterbleiben, 


Literaturbericht.  315 

umsomehr  als  jener  religiöse  Socialismus  ja  doch  einem  anderen  Culturbereich  angehört. 
„Mit  dem  vorliegenden  Band  ist  in  der  Geschichte  des  antiken  Socialismus  ein  gewisser 
Abschluss  erreicht." 

Fassen  wir  unser  Urtheil  zusammen.  Als  ich  vor  beiläufig  einem  Vierteljahrhundert 
bei  Adolf  Wagner  in  Berlin  ein  nationalökonomisches  Colleg  hörte,  konnte  ich  mich 
über  nichts  mehr  ärgern,  als  dass  der  Vortragende  bei  Heranziehung  von  Paradigmen 
aus  dem  Alterthum  consequent  auf  E.  Curtius'  Griechische,  Mommsens  Römische 
Geschichte  verwies,  ohne  einer  darüber  hinausgehenden  Kritik  mächtig  zu  sein.  In  dem 
Werk  von  Pöhlmann  ist  diese  Kritik  geübt,  und  wie  jede  künftige  Bearbeitung  der 
Geschichte  jener  classischen  Culturvölker  davon  Notiz  nehmen  muss,  so  auch  jede 
historische  Betrachtung  der  Theorien  und  der  Praxis,  sei  es  des  Socialismus,  sei  es  des 
Communismus.  J.  Jung. 

E.  V.  Zenker,  Die  Gesellschaft.  I.  Band:  Natürliche  Entwicklungsgeschichte 
der  Gesellschaft.  Berlin,  Verlag  Georg  Reimer  1899.   Preis  5  Mk. 

Der  verdienstvolle  Verfasser  des  im  Jahre  1895  bei  G.  Fischer  in  Jena  erschie- 
nenen Werkes  „Der  Anarchismus"  hat  sich  in  seiner  neuesten  Publication  der  mühsamen 
Aufgabe  unterzogen,  auf  Grund  der  neuesten,  durch  die  vergleichende  Sprachwissenschaft 
und  die  Ethnographie  festgestellten  prähistorischen  Thatsachen  eine  Darstellung  des 
socialen  Urzustandes-  des  Menschen  und  der  daran  anknüpfenden  ersten  Entwicklungs- 
stadien socialen  und  politischen  Lebens  zu  liefern.  Es  muss  rühmlich  hervorgehoben 
werden,  dass  Zenker  ausdrücklich  darauf  verzichtet,  eine  endgiltige  Synthese  der  bis- 
herigen Specialforschungen  zu  geben;  er  vermeidet  damit  den  gefahrvollen  Weg,  auf 
welchem  die  meisten  Sociologen  bisher  gewandelt  sind,  indem  sie  eine  Aufstellung 
socialer  Gesetze  unternahmen,  bevor  das  Thatsachenmaterial  genügend  erforscht  war. 
Die  Enttäuschung  über  die  Leistungen  der  Gesellschaftswissenschaft,  weJche  in  letzter 
Zeit  allenthalben  platzgegrifFen  und  nicht  selten  sogar  zu  einer  Verneinung  derselben 
geführt  hat,  lässt  sich  gewiss  in  letzter  Linie  darauf  zurückführen,  dass  die  Methode 
der  sociologischen  Forschung  bisher  sehr  häufig  auf  ein  öaxspov  upöxspov  hinauslief, 
indem  man  versuchte,  die  complicierte  Welt  der  socialen  Erscheinungen  von  einem 
Punkte  aus  zu  erklären,  bevor  man  sich  Rechenschaft  darüber  ablegen  konnte,  ob  die 
Thatsachen  des  socialen  Lebens  den  Erklärungsversuchen  nicht  widersprächen. 

Zenker  behandelt  in  dem  vorliegenden  Buche  zunächst  die  Elemente  der  socialen 
Entwicklung  und  hieran  anschliessend  den  Process  und  die  Formen  der  politischen 
Entwicklung;  sein  grösstes  Verdienst  besteht  unseres  Erachtens  in  der  vorzüglichen, 
durch  ihre  Anschaulichkeit  ausgezeichneten  und  auf  ein  reichhaltiges  Beweismaterial 
gestützten  Schilderung  der  primitiven  Gesellschaftsformen.  Dass  die  Erörterung  von 
Mutterrecht  und  Patriarchat  hiebei  eine  wesentliche  Rolle  spielt,  liegt  auf  der  Hand. 
Während  die  von  Morgan  und  Bachofen  vertretene,  herrschende  Ansicht  zwischen  die 
das  Matterrecht  vorbereitende  Blutsverwandtschaftsfamilie  und  die  patriarchalische 
polygyne  Ehe  eine  Stufenfolge  von  Zwischenformen  einschiebt,  von  welchen  das  Erscheinen 
der  neuen  die  Ueberwindung  der  alten  voraussetzt,  erklärt  Zenker  nach  gewissenhafter 
Prüfung  des  vorliegenden  Thatsachenmateriales  Mutter-  und  Vaterfamilie  für  Familien- 
formen,  welche  lange  Zeit  nebeneinander  bestanden,  „als  zwei  Dinge,  die  mit  ein- 
ander eigentlich  nichts  zu  thun  hatten",  welche  aber  gleichzeitig  die  einzigen  Typen 
des  Familienlebens  in  der  Urzeit  repräsentieren,  denen  gegenüber  die  von  der  herrschenden 
Ansicht  aufgestellten  Zwischenformen  lediglich  Abweichungen  von  der  Regel  bedeuten. 
Mutter-  und  Vaterfamilie  sind  zeitlich  nicht  getrennt;  das  Auftreten  dieser  beiden 
Familienformen  hängt  vielmehr  von  den  wirtschaftlichen  Verhältnissen  ab,  unter  denen 
die  primitiven  Gesellschaften  der  Urzeiten  lebten.  Die  Mutterfamilie  herrschte  unter  den 
ackerbautreibenden  Völkern,  während  sich  bei  den  Hirtenvölkern  die  Vaterfamilie 
einbürgerte. 

Die  eingehende  Untersuchung  dieser  urzeitlichen  Familienformen  bildet  unseres 
Erachtens  den  wertvollsten  und  originellsten  Bestandtheil  des  vorliegenden  Buches.  Die' 
politische  Entwicklung  ist  bloss   in   den  Umrissen    dargestellt;    das   Hauptgewicht   wird 

21* 


316  Liter  aturb  ericht. 

auf  die  Erörterung  des  Ursprunges  und  Wesens  der  politischen  Herrschaft  gelegt, 
während  die  Formen,  in  welchen  sich  diese  Herrschaft  äussert,  insbesondere  die  ver- 
schiedenen Staatsformen,  nur  einer  flüchtigen  Behandlung  unterzogen  werden. 

Zweifellos  ist  die  „Natürliche  Entwicklungsgeschichte  der  Gesellschaft"  die 
Grundlage  eines  grösseren  gesellschaftswissenschaftlichen  Werkes.  Es  bleibt  nunmehr 
abzuwarten,  ob  der  zweite  Theil  der  „Gesellschaft"  jenen  Erwartungen  entsprechen  wird, 
welche  der  erste  Theil  durch  seine  gemeinverständliche  und  auf  gediegene  Literatur- 
kenntnis gestützte  Darstelhmg  der  socialen  und  politischen  Entwicklung  wachgerufen 
hat.  Im  Interesse  einer  Eehabilitation  der  Sociologie  wäre  dieses  Ereignis  aufs  freudigste 
zu  begrüssen.  Hawelka. 

Dr.  Paul  Eltzbacher,  Der  Anarchismus.  Berlin,  Verlag  J.  Guttentag,  1900. 

Das  vorliegende  Buch  enthält  den  ersten  Versuch  einer  systematischen  Darstellung 
der  anarchistischen  Theorien.  Der  Verfasser  ist  mit  grosser  Gewissenhaftigkeit  und 
auf  Grund  genauer  Kenntnis  der  einschlägigen  Literatur  zu  Werke  gegangen;  sämmtliche 
Schriften,  welche  irgendwie  für  die  Erkenntnis  der  anarchistischen  Ideen  von  Belang 
sind,  insbesondere  aber  die  theoretischen  Werke  der  maassgebenden  Anarchisten,  sind 
bis  ins  Detail  hinein  in  diesem  Buche  verwertet  worden.  Die  Systematik  ist  auf  das 
genaueste  eingehalten;  einer  allgemeinen  rechtsphilosophischen  Einleitung,  welche  die 
Aufgabe  der  projectierten  Untersuchung  feststellt  und  kurz  die  Begriffe  von  Kecht, 
Staat  und  Eigenthum  erörtert,  folgen,  je  ein  Capitel  für  sich  in  Anspruch  nehmend,  die 
Lehren  der  sieben  hervorragendsten  Anarchisten  —  Godwin,  Proudhon,  Stirner, 
Bakunin,  Krapotkin,  Tucker  und  Tolstoj  —  streng  gegliedert  nach  ihrer  Grundlage, 
nach  ihrer  Stellung  zum  Rechte,  zum  Staate  und  zum  Eigenthume  und  nach  der  Art 
ihrer  Verwirklichung;  den  Abschluss  bilden  zwei  Capitel,  deren  eines  die  erwähnten 
anarchistischen  Lehren  in  ihrer  Gesammtheit  betrachtet  und  ihre  gegenseitigen  Beziehungen 
untersucht,  während  das  letzte  den  Anarchismus  auf  Grund  der  vorgeführten  Lehren 
definiert  und  dieselben  je  nach  ihrer  Stellung  zu  den  früher  genannten  drei  politischen 
und  socialen  Institutionen  in  ein  Schema  einreicht. 

Infolge  des  Bestrebens,  die  anarchistischen  Theorien  systematisch  und  schematisch 
darzustellen,  verfällt  der  Verfasser  häufig  in  eine  unvermeidliche  Monotonie;  insbesondere 
deutlich  tritt  dieselbe  in  der  Einleitung  hervor,  in  welcher  die  Gesichtspunkte,  nach 
denen  die  einzelnen  Lehren  behandelt  werden  sollen,  zur  Feststellung  gelangen.  Es 
finden  sich  hier  Sätze,  die  mit  mehr  oder  weniger  Abweichungen  vier-  bis  fünfmal 
wiederholt  werden.  Anderseits  bietet  diese  strenge  Systematik  den  unschätzbaren  Vortheil, 
dass  mit  ihr  zum  erstenmale  eine  klare  üebersicht  über  die  ihrem  Wesen  nach  grund- 
verschiedenen anarchistischen  Lehren  geboten  werden  konnte.  Sie  ermöglichte  es  dem 
Verfasser,  zu  constatieren,  dass  diese  Lehren  ausser  der  Verneinung  des  Staates  nichts 
miteinander  gemein  haben,  eine  Erkenntnis,  die  durchaus  neu  ist,  indem  nach  der  bisher 
allgemein  verbreiteten  Ansicht  die  Anarchisten  in  ihrer  Gesammtheit  auch  das  Recht  und 
das  Eigenthum  ablehnen. 

Der  Verfasser  hat  sich  bei  der  Darstellung  der  genannten  sieben  hervorragendsten 
anarchistischen  Lehren  bemüht,  dieselben  in  wortgetreuer  Anlehnung  an  die  Originale 
wiederzugeben;  der  Inhalt  der  sieben,  der  Darstellung  dieser  Lehren  gewidmeten  Capitel 
besteht  zum  grössten  Theile  aus  Citaten,  welche  nach  den  bereits  erwähnten  Kategorien 
—  Grundlage,  Recht,  Staat,  Eigenthum  und  Verwirklichung  —  zusammengestellt  sind. 
Die  Bedeutung  dieser  Compilationsarbeit  darf  nicht  gering  angeschlagen  werden;  man 
musste  sich  bisher,  wenn  man  nur  einigermaassen  mit  den  anarchistischen  Ideen  bekannt 
werden  wollte,  der  mühevollen  Arbeit  unterziehen,  diesselben  aus  den  zahlreichen 
theoretischen  und  agitatorischen,  in  der  Regel  sehr  schwer  zu  erlangenden  anarchistischen 
Schriften  zu  reconstruieren ;  dieser  Mühe  ist  man  nunmehr  enthoben. 

Mit  besonderer  Anerkennung  sei  noch  der  Unparteilichkeit  Erwähnung  gethan,  mit 
der  Eltzbacher  bei  seiner  Arbeit  vorgegangen  ist;  sein  „Anarchismus"  ist  aus  diesem 
Grunde  ein  wissenschaftliches  Werk  im  besten  Sinne  des  Wortes.  Hawelka. 


Literaturbericht.  -  317 

1.  Otto  T.  Zwiedinek-Südenhorst,  Lohnpolitik  und  Lohntheorie  mit 
besonderer  Berücksichtigung  des  Minimallohnes.  Leipzig.  Dunckler&  Humblot, 
1900.  XIII  und  410  Seiten. 

2.  Der  Arbeiterschutz  bei  Vergebung  öffentlicher  Arbeiten  und 
Lieferungen.  Bericht  des  k.  k.  arbeitsstatistischen  Amtes  über  die  auf  diesem  Gebiete 
in  den  europäischen  und  überseeischen  Industriestaaten  unternommenen  Versuche  und 
bestehenden  Vorschriften.  Wien,  1900.  Hof-  und  Staatsdruckerei.  X  und  163  Seiten. 

„Es  muss  als  Sache  des  Staates  und  demzufolge  der  autoritären  Lohnpolitik  an- 
erkannt werden,  dafür  Sorge  zu  tragen,  dass  nicht  jener  grösste  Theil  von  ihm,  di« 
Klasse  physisch  Arbeitender,  eines  Tages  vor  einer  weggegebenen  Welt  stehen,  die  sie  mit- 
schaffen geholfen  haben."  Diesen  treffenden  Schlussatz  seines  Werkes  hätte  Z wie dine k- 
Südenhorst  auch  als  Motto  seiner  Untersuchung  voranstellen  können.  Object 
dieser  Untersuchung  ist  die  Frage  der  Festsetzung  von  allgemeinen  Lohngrenzen,  ins- 
besondere der  Einführung  von  gesetzlichen  oder  conventioneilen  Minimallöhnen.  Im 
Gegensatz  zu  diesen  modernen  Bestrebungen,  den  Arbeitslohn  nach  unten  zu  begrenzen, 
steht  die  im  ersten  Abschnitte  dargestellte  Lohnpolitik  bis  zum  Ende  des  18.  Jahr- 
hunderts. Die  Maximallöhne,  die  bis  dahin  vielfach  bestanden,  sollten  zunächst  die 
Consumenten,  dann  das  Gewerbe,  schliesslich  die  Arbeitgeber  schützen.  Die  Arbeit  kommt 
in  diesem  Studium  lediglich  als  Productionsfactor,  der  Arbeitslohn  als  Aufwand  des 
Unternehmens  in  Betracht.  Erst  mit  dem  Beginne  des  19.  Jahrhunderts  entwickelt  sich 
die  Idee  einer  Lohnpolitik  zu  Gunsten  der  Arbeiter;  es  tritt  die  Forderung  nach  Ein- 
führung eines  Minimallohnes  auf  und  weiss  sich  schliesslich  hie  und  da  auch  durch- 
zusetzen. Die  Ursachen  dieses  Umschwunges  liegen  darin,  dass  der  Stand  der  Lohnarbeiter 
zu  Selbstbewusstsein  erwacht,  dass  er  ein  beachtungswerter  socialer  und  politischer 
Machtfactor  geworden  war. 

Da  aber,  wie  der  Verfasser  meint,  „der  Uebergang  zur  modernen  Politik  des 
Minimallohnes  seine  Erklärung  ausser  in  Verschiebungen  in  der  Structur  des  Wirtschafts- 
lebens nicht  minder  (?  !)  in  der  Entwicklung  der  Lohntheorien  findet",  so  wendet  sich 
der  Autor  in  dem  2.  Abschnitte  der  Dogmengeschichte  der  Lohnpolitik  zu  und  versucht 
zu  zeigen,  wie  sich  die  verschiedenen  nationalökonoraischen  Schulen  zur  Frage  der  bewussten 
Beeinflussung  der  Lohnhöhe  durch  die  Mittel  der  Volkswirtschaftspolitik  verhalten. 
Besonders  interessant  und  selbständig  ist  hier  die  ausführliche  Darstellung  der  zumeist 
wenig  gekannten  katholisch-socialen  Literatur.  Der  3.  Abschnitt  ist  den  „Thatsachen  der 
modernen  Lohnpolitik"  gewidmet.  Den  Kernpunkt  dieses  Theiles  und  gewisserraaassen 
des  ganzen  Buches  bildet  die  Geschichte  der  lohnpolitischen  Bestrebungen  in  Gross- 
britannien. Z wiedinek-Südenhorst  skizzirt  hier  die  Entwicklung  der  gewerkschaft- 
lichen Bewegung  in  England  mit  stetem  Hinweis  auf  die  speciellen  lohnpolitischen 
Ideen:  den  Aufschwung  der  Gewerkschaften  infolge  der  Aufhebung  des  Coalitions- 
verbotes  und  infolge  des  Einflusses  von  Robert  Owen,  das  spätere  Abgehen  von  der 
Idee  eines  Minimallohnes  und  das  Anstreben  von  gleitenden  Lohnscalen,  dann  die  Spaltung 
in  mehrere  particularistische  Strömungen,  hierauf  den  Durchbruch  der  radicalen  Ideen  und 
damit  das  Wiederauftauchen  der  Forderung  des  Minimallohnes  in  den  achtziger  Jahren,  die 
Aufstellung  und  die  partielle  Durchsetzung  des  Principes  der  fair  wages,  endlich  das 
Entstehen  des  neuen  Trade-Unionismus.  Eingehender  werden  dann  die  Ziele  der  Trade- 
Unions  in  der  Lohnpolitik  erörtert,  die  Verschiedenheiten  zwischen  dem  Principe  der 
living  wages  und  der  Standard-Löhne  und  die  Einwirkungen  dieser  Gewerkschaftsbewegung 
auf  die  autoritäre  Lohnpolitik  in  England,  insbesondere  die  Wirksamkeit  der  fairwages- 
Clausel  beobachtet. 

In  den  anderen  europäischen  Staaten  hat  die  Idee  der  Einführung  von  Mindest- 
löhnen keine  auch  nur  annähernd  so  bedeutenden  Erfolge  zu  verzeichnen.  Speciell  für 
Oesterreich  behauptet  zwar  der  Verfasser  (Seite  294),  es  habe  auch  hier  „das  Princip 
der  Sicherung  eines  Mindestlohuverdienstes  für  Lohnarbeiter  bereits  in  mehrfacher  Weise 
bestimmtere  Gestalt  gewonnen",  und  es  könne  „die  Form,  in  welcher  von  Staat  und 
Staatsverwaltung  ein   Schritt  auf  dem  Gebiete   der  Lohnregelung   gemacht   wurde,   in 


318  Literaturbericht. 

Zukunft  von  grosser  Tragweite  werden";  in  Wahrheit  aber  weiss  er  von  nichts  anderem 
zu  berichten,  als  von  der  Einbeziehung  gewisser  Kategorien  von  Arbeitern  der  Staats- 
betriebe in  das  statusmässig  eingereihte  Personal.  Ob  diese  so  bescheidene  Maassregel 
die  angeführten  Worte  rechtfertigt?!  Thatsächlich  ist  man  in  Oesterreich  von  der 
Verwirklichung  der  Idee  von  Minimallöhnen  so  weit  entfernt,  wie  kaum  in  einem 
anderen  Culturstaate.  Speciell  der  Staat  und  die  Selbstverwaltungskörper  als  Arbeitgeber 
gehen  nicht  nur  nicht  bahnbrechend  voran  auf  dem  Gebiete  des  Arbeiterschutzes,  sie  sind 
nicht  nur  nicht  die  Führer  des  socialen  Fortschrittes,  sondern  sie  bleiben  fast  allgemein 
weit  hinter  dem  Wenigen  zurück,  was  der  private  Arbeitgeber  seinen  Arbeitern  an  Ver- 
sicherung und  an  Arbeiterschutz  gewähren  muss. 

In  den  beiden  letzten  Abschnitten  wendet  sich  der  Verfasser  der  dogmatischen  Behand- 
lung des  in  Rede  stehenden  lohnpolitischen  Problems  zu.  Zunächst  untersucht  er  die 
Frage:  ob  es  denn  möglich  sei,  die  Höhe  des  Geldlohnes  dauernd  im  Wege  und  durch  die 
Mittel  der  Socialpolitik  —  Selbsthilfe  und  Staatshilfe  —  zu  Gunsten  der  Arbeiter  zu  beein- 
flussen? Er  zeigt,  dass  diese  Frage  zu  bejahen  sei,  und  weiters,  dass  damit  auch  die 
Höhe  des  Reallohnes  gesteigert  werden  könne,  wobei  allerdings  viel  von  dem  National- 
charakter abhänge.  Er  bezeichnet  es  aber  auch  als  ein  ethisches  Postulat,  dass  die 
organisierte  Gesellschaft  Hungerlöhne  ebenso  verbiete,  wie  eine  sonstige  laesio  enormis, 
wie  eine  andere  Bewucherung.  Schliesslich  beleuchtet  er  noch  die  verschiedenen  Formen 
der  Lohnbegrenzung  und  untersucht  deren  Berechtigung.  Sein  eigener  Standpunkt  ist  der, 
dass  es  allerdings  Aufgabe  der  autoritären  Lohnpolitik  sein  müsse,  eine  Lohngestaltung 
hintanzuhalten,  welche  den  Forderungen  der  Gerechtigkeit  und  der  Freiheit  widerspricht; 
doch  sei  das  einfachste  und  sicherste  Mittel  zur  Erreichung  dieses  Zweckes,  wenn  der  Staat 
die  Möglichkeit  zu  collectiver  Vertragsschliessung  bei  völliger  Coalitionsfreiheit  schaffe ; 
habe  der  Staat  dies  gethan,  so  bedürfe  es  keines  weiteren  positiven  Actes  staatlicher  Lohn- 
politik. Nur  dort,  wo  eine  solche  collective  Gestaltung  des  Arbeitsvertrages  fehle,  müsse 
der  Staat  auch  positiv  eingreifen.  Dies  treffe  namentlich  bei  den  Heimarbeitern  zu,  ferner 
bei  der  Classe  der  gewöhnlichen,  ungelernten  Taglöhner.  Endlich  stehe  dem  Staat  als 
directem  Arbeitgeber  und  Auftraggeber  eine  unmittelbare  Beeinflnssung  der  Lohnhöhe  zu. 

Schon  aus  dem  Gesagten  erkennt  man  leicht,  dass  sich  der  Titel  des  Werkes  mit 
seinem  Inhalte  nicht  deckt,  dass  vielmehr  ersterer  in  vielfacher  Hinsicht  zu  weit  ist. 
Eine  Theorie  des  Arbeitslohnes  wird  nicht  geboten,  —  einigen  flüchtigen  Bemerkungen 
in  der  Einleitung  kann  man  diesen  Namen  gewiss  nicht  zuerkennen.  Aber  auch  die 
Lohnpolitik  wird  nicht  erschöpfend  behandelt,  sondern  nur  die  socialpolitische  Beein- 
flussung der  Lohnhöhe.  Es  bleibt  eine  ganze  Reihe  anderer  hochwichtiger  lohnpolitischer 
Fragen  ganz  ausser  Betracht,  wie  die  nach  Zeit-  oder  Stücklöhnung,  nach  Natural-  oder 
Geldlöhnung,  wie  das  Truckverbot  u.  s.  w. 

Eine  gewisse  Ergänzung  der  Schrift  von  Zwiedinek-Südenhorst  ist  in  dem 
Berichte  des  arbeitsstatistischen  Amtes  über  den  Arbeiterschutz  bei  Ver- 
gebung öffentlicher  Arbeiten  und  Lieferungen  gegeben.  Diese  höchst  wertvolle 
Publication  gibt  eine  Darstellung  aller  auf  diesem  Gebiete  bisher  unternommenen  Versuche 
und  Maassregeln  und  ihrer  Erfolge.  Es  ist  hier  ein  reiches,  durchaus  zuverlässiges  Material 
zum  Studium  einer  Frage  zusammengetragen,  die  speciell  für  Oesterreich  hochwichtig 
ist,  da  bei  uns  auf  diesem  Gebiet  noch  fast  alles  zu  thun  übrig  ist.  Macht  doch  der 
Abschnitt  der  Schrift  über  Oesterreich  nach  all  dem,  was  in  den  Weststaaten  Europas,  in 
Amerika  und  Australien  auf  diesem  Gebiete  bereits  geschehen  ist  oder  doch  wenigstens 
angestrebt  wird,  einen  geradezu  kläglichen  Eindruck,  Es  liest  sich  fast  wie  Ironie,  wenn 
es  da  heisst,  dass  bei  uns  „die  Fürsorge  für  die  Arbeiter  völlig  den  Unternehmern  überlassen 
bleibt."  Dass  da  Abhilfe  dringend  Noth  thäte,  wird  schwerlich  jemand  leugnen  können. 
Ebensowenig,  dass  die  technischen  Schwierigkeiten,  die  einem  kräftigen  Arbeiterschutz 
bei  öffentlichen  Arbeiten  und  Lieferungen  entgegenstehen,  keine  unüberwindlichen  sind. 
Da  es  sich  endlich  hier  nicht  um  Maassnahmen  der  Gesetzgebung,  sondern  um  blosse 
Verwaltungsacte  handelt,  da  es  lediglich  auf  die  Willensentschliessung  der  Verwaltungs- 
behördeu  unabhängig  von  dem  complicierten  parlamentarischen  Apparate  ankommt,  darf: 


I 


Literaturbericht.  319 

man  vielleicht  hoffen,  dass  der  praktische  Erfolg  dieser  Publication  des  arbeitsstatistischen 
Amtes  etwas  grösser  sein  werde,  als  dies  sonst  bei  socialpolitischen  Arbeiten  in  Oesler- 
reich  der  Fall  zu  sein  pflegt.  S. 

Dr.  Felix  Freiherr  V.  Oppenlieimer.  Die  Wohnungsnoth  und  Wohnungs- 
reform in  Engl  and  mit  besondererBerücksichtigung  der  neueren  Wohnungs- 
gesetzgebung. —  Leipzig,  Duncker  &  Humblot,  1901. 

In  dem  Zusammenhang  der  Probleme,  die  insgesammt  die  Arbeiterfrage  unserer 
Zeit  ausmachen,  ist  während  der  beiden  letzten  Jahrzehnte  auch  in  den  Staaten  des 
Festlandes  die  Bedeutung  und  Tragweite  der  Wohnungsverhältnisse  der  arbeitenden 
Classen  immer  mehr  hervorgetreten,  während  sich  in  England  schon  seit  der  Mitte 
des  XIX.  Jahrhunderts  Gesetzgebung  und  öffentliche  Meinung  mit  dieser  grossen  und 
ernsten  Aufgabe  moderner  Socialpolitik  unablässig  beschäftigt  haben.  Um  so  wichtiger 
ist  es  daher  für  alle  jene  Factoren,  die  in  Oesterreich  und  im  Deutschen  Keiche  dem 
immer  dringenderen  Verlangen  nach  einer  Verbesserung  der  Wohoungsverhältnisse  vor 
allem  der  städtischen  Massen  zu  entsprechen  bestrebt  sind,  dass  sie  sich  von  dem  Ent- 
wicklungsgange der  englischen  Wohnungsgesetzgebung  und  den  in  England  erzielten 
Erfolgen  staatlicher  und  privater  Unternehmungen  auf  diesem  Felde  Rechenschaft 
ablegen.  Diesem  Bedürfnisse  entspricht  nun  das  vorliegende  Buch  v.  Oppenheimers 
in  ganz  hervorragendem  Maasse.  Der  Verfasser  setzt  zunächst  in  kurzem  Ueberblick  die 
Hauptursachen  der  Wohnungsnoth  in  den  englischen  Grosstädten  auseinander,  gibt 
sodann  eine  Darstellung  der  Geschichte  der  englischen  Wohnungsgesetzgebung  sowie  des 
gegenwärtigen  Standes  derselben.  Hieran  schliesst  sich  eine  Schilderung  der  thatsäch- 
lichen  Wohnungspolitik  der  englischen  Stadtverwaltungen  sowie  der  unabhängig  von  der 
öffentlichen  Verwaltung  durch  das  private  Capital  und  mittelst  wohlthätiger  Stiftungen 
erzielten  Fortschritte  auf  dem  Wege  der  Verbesserung  der  Wohnungszustände  der  Massen. 
Sehr  instructiv  ist  sodann  das  besondere  Capital  über  die  öffentlichen  Logierhäuser  der 
englischen  Grosstädte,  indem  es  eines  der  wichtigsten  Probleme  moderner  Grosstadt- 
verwaltung aus  den  englischen  Erfahrungen  und  Zuständen  heraus  beleuchtet:  nämlich 
das  Problem  der  gesunden,  billigen  und  bis  zu  einem  gewissen  Grade  comfortabeln 
Unterbringung  unverheirateter  alleinstehender  Arbeiter  und  Arbeiterinnen  der  niederen 
Lohnkategorien.  Besonders  dankenswert  erscheint  da  die  ausführliche  Schilderung,  die 
der  Verfasser  von  der  neuesten  und  aufsehenerregenden  Erscheinung  auf  diesem  Gebiete 
gibt:  nämlich  von  den  sogenannten  Rowton-Houses  in  London,  die  den  vollendeten  Typus 
einer  modernen  Arb eiterherb erge  in  grossartigem  Maasstabe  verwirklichen  und  dabei  nach 
den  bisherigen  Erfahrungen  auch  eine  ausreichende  Verzinsung  des  Anlagecapitals 
gewährt  haben.  In  dem  Schlusscapitel  endlich  behandelt  der  Verfasser  die  wie  allerwärts 
auch  in  England  beobachtete  Thatsache  der  fortwährenden  Zunahme  der  Bevölkerung  an 
der  Peripherie  der  Grosstädte  und  stellt  die  damit  zusammenhängende  Verkehrspolitik 
dar:  die  gesetzliche  Festlegung  billigster  Eisenbahntarife  für  Arbeiterzüge,  die  Muni- 
cipalisierung  von  Strassenbahnen,  Omnibuslinien  u.  s.  w.  Es  ist  selbstverständlich,  dass 
der  Verfasser  bei  dem  Umfange  der  vorliegenden  Schrift  von  vorneherein  darauf  ver- 
zichtet hat,  das  ausserordentlich  reiche  Material  erschöpfend  zu  behandeln,  das  in 
Parlamentspapieren,  Publicationen  der  Stadtverwaltungen,  Pamphleten  und  in  der  Zeit- 
schriftenliteratur dem  Erforscher  der  Wohnungspolitik  Englands  zu  Gebote  steht.  Ihm 
lag  anscheinend  vor  allem  daran,  eine  üebersicht  der  ganzen  Entwicklung  dieser  letzteren 
und  damit  die  Möglichkeit  eines  Vergleiches  dessen,  was  in  England  angestrebt  wird 
und  bereits  erreicht  worden  ist,  mit  den  gleichen  Bestrebungen  in  Deutschland  und 
Oesterreich  zu  geben.  Hiebei  hat  Oppenheimer  nicht  nur  die  vorhandene  Literatur 
reichlich  benützt,  sondern  seine  Darstellung  durchwegs  auf  eigene  Anschauung  im  Lande  und 
persönliche  Beobachtung  gegründet.  Wenn  sich  auch  Oppenheimer  eines  resümierenden 
Endurtheils  über  den  bisherigen  Erfolg  der  englischen  Wohnungsgesetzgebung  enthalten 
hat,  so  ergibt  seine  Darstellung  dennoch  zunächst  ein  wichtiges  principielles  Resultat: 
dass  nämlich  ein  Erfolg  gegenüber  diesem  so  schwierigen  und  vielseitigen  Probleme  nur 
durch  gleichzeitige  Anwendung  verschiedener  Methoden  erreicht  werden  kann. 


320  Literaturbericht. 

Daran  wird  auch  in  unseren  so  ganz  anders  gearteten  Verhältnissen  der  Wohnungsfrage 
gegenüber  festgehalten  werden  müssen.  Ein  Eecept  zur  Bereitung  eines  Alleinheilmittels 
gegen  die  so  oft  und  so  beredt  geschilderten,  furchtbaren  Misstände  der  Wohnungsverhält- 
nisse der  städtischen  Arbeitermassen  hat  man  auch  in  England  während  des  halben  Jahr- 
hunderts eifriger  Forschungen  und  Bestrebungen  auf  diesem  Gebiete  nicht  finden  können. 
So  viel  ist  klar,  dass  nur  das  Zusammenwirken  verschiedener  Factoren:  einer  guten 
Sanitätsgesetzgebung  und  effectiven  Sanitätspflege  im  Verein  mit  der  Bauthätigkeit 
städtischer  Behörden  und  des  Privatcapitals  sowie  gleichzeitiger  Verbilligung  des 
städtischen  Verkehrswesens  dauernd  grosse  Erfolge  erzielen  kann.  Dass  auch  in 
England  der  Capitalaufwand  aus  öffentlichen  Mitteln  zur  Erbauung  von  Arbeiterwohnungen 
bisher  doch  nur  eine  verhältnismässig  geringere  Rolle  gespielt  hat,  ergibt  übrigens  der 
jüngst  dem  Unterhause  vom  Local  Government  Board  vorgelegte  Bericht  über  die 
Wirksamkeit  des  Arbeiterwohnungsgesetzes  von  1890.  Darnach  beträgt  die  Gesammt- 
summe  der  städtischen  Anlehen  für  solche  Zwecke  —  von  London  abgesehen  —  in  Boroughs 
755.083  Pf.  Sterl.,  in  städtischen  Districten  92.309  Pf.  Sterl.  Dass  damit  nur  ein  Bruch- 
theil  der  städtischen  Wohnungsnoth  beseitigt  werden  konnte,  ist  von  vornherein  klar. 
Für  London  gibt  dieser  Ausweis  als  Gesammtbetrag  der  Anlehen  des  Grafschaftsrathes 
allerdings  eine  viel  höhere  Summe  an:  nämlich  2,824.434  Pf.  Sterl.,  wozu  noch 
67.450  Pf.  Sterl.  Anlehen  der  Londoner  Vestries  hinzuzurechnen  wird.  (Ueber  die  Tliätig- 
keit  der  Verwaltungsbehörden  Londons  gegenüber  der  Wohnungsnoth  der  arbeitenden 
Classen  vergleiche  jetzt  den  vor  Kurzem  veröffentlichten,  erschöpfenden  Bericht  des  Cleik 
of  the  London  County  Council,  C.  J.  Stewart.)  Thatsächlich  ist  der  Londoner  Graf- 
schaftsrath  von  Anbeginn  seiner  Wirksamkeit  unablässig  bestrebt,  durch  eigene  Thätig- 
keit  die  Wohnungszustände  zu  verbessern,  mehr  und  bessere  Arbeiterwohnungen  zu 
schaffen.  Allerdings  ist  gerade  diese  Politik  des  London  County  Council  vielfachen 
und  nicht  bloss  parteimässigen  Angriffen  ausgesetzt:  aber  immerhin  wird  mau  dem  Ver- 
fasser darin  beistimmen,  dass  die  Vortheile  der  grosszügigen  und  unternehmungslustigen 
Wohnungspolitik  der  Londoner  Progressives  in  der  Stadtverwaltung  die  etwaigen  Nach- 
theile dieser  Methode  wesentlich  übersteigen.  Andererseits  sind  gerade  durch  das  jüngste 
Wohnungsgesetz  vom  Jahre  1900  die  Befugnisse  der  Stadtverwaltungen  überhaupt  zum 
Zwecke  der  Erbauung  municipaler  Arbeiterhäuser  ansehnlich  erweitert  worden.  —  Es  ist 
selbstverständlich  unmöglich,  hier  in  die  Einzelheiten  dieses  ausserordentlich  verwickelten 
Problemes  weiter  einzugehen.  Versuchen  wir  aber  aus  den  englischen  Erfahrungen  in  diesem 
Zweige  der  Socialpolitik  eine  Lehre  zu  ziehen,  so  liegt  diese  unleugbar  in  der  Erkenntnis, 
dass  auch  hier  durch  Gesetze  und  Befehle  von  oben  herab  nichts  Grosses  und  Dauerndes  erzielt 
werden  kann.  Wenn  auch  eine  gute  Gesetzgebung  und  eine  tüchtige  Wohnungspolitik  der 
staatlichen  Verwaltung  für  die  allmähliche  Beseitigung  der  geradezu  culturhemmenden  Miss- 
stände in  den  Wohnungsverhältnissen  der  modernen  Arbeiterschaft  die  wichtigsten  Werkzeuge 
sind,  so  bilden  dabei  doch  die  unerlässliche  Voraussetzung:  das  Verständnis  der  breitesten 
Schichten  der  Bevölkerung  für  die  allgemeine  Bedeutung  des  Wohnungsproblemes  sowie 
eine  in  dieser  Richtung  lebendig  und  wirksam  hervortretende  öffentliche  Meinung.  Auch 
von  diesem  Gesichtspunkte  aus  muss  das  vorliegende  Buch  mit  seiner  klaren  und  flüssigen 
Darstellung  der  englischen  Gesetzgebung  als  ein  sehr  wertvoller  Beitrag  zur  deutschen 
Literatur  über  das  Wohnungsproblem  willkommen  geheissen  werden.  Das  Bild  unermüd- 
licher Arbeit  und  stetiger  Entwicklung  der  Gesetzgebung,  der  Verwaltung  und  der 
privaten  Thätigkeit  auf  diesem  Felde  der  Socialpolitik,  das  der  Verfasser  für  England 
gibt,  sollte  in  weitesten  Kreisen  anregend  und  fördernd  wirken  zu  Gunsten  der  gleich- 
artigen Bestrebungen  in  unserer  Mitte. 

Wien.  Dr.  Josef  Redlich. 

Dr.  Abele,  Weiträumiger  Städtebau  und  Wohnungsfrage.  Stuttgart  1900. 

Die  grosse  Unklarheit,  welche  in  Bezug  auf  den  Charakter  und  die  Ursachen  der 
Wohnungsnoth  in  den  communalen  Vertretungen  deutscher  Städte  bis  in  die  jüngste 
Zeit  herrschte,  ist  die  verhängnisvolle  Ursache  der  so  häufig  einseitigen,  ja  verkehrten 
Maassnahmen  gewesen,  die  zur  Linderung  jenes   socialen  Uebels   ergriffen  worden   sind 


Literaturbericht.  321 

Lange  genug  waren  die  schlimmen  Folgen  einer  übermässigen  Zusaramendrängung  grosser 
Arbeitermassen  auf  engem  Eaum  überhaupt  unbeachtet  geblieben.  Als  dann  von  jenen 
elenden  Quartieren  und  schmutzigen  Gassen  verheerende  Krankheiten  ihren  Ausgang 
nahmen,  die  auch  vor  den  Thüren  der  wohlhabenderen  Bevölkerung  nicht  Halt  machen 
wollten,  war  es  die  öflfentliche  Gesundheit  allein,  in  deren  Namen  die  Wohnungsfrage 
zuerst  aufgeworfen,  die  Wohnungszustände  als  unhaltbar  bezeichnet  wurden.  Es  war 
berechtigt,  wenn  diese  ersten  Fürsprecher  der  Wohnungsreform  die  in  den  alten  Städten 
des  Continents  fast  ausschliesslich  übliche  engräumige  Bauweise  von  ihrem  Standpunkte 
aus  verdammten  und  der  weiträumigen  Bebauung  —  d,  i.  der  Freistellung  der  Gebäude 
nach  allen  Seiten  unter  gleichzeitiger  Beschränkung  der  Stockwerkzahl  —  das  Wort 
redeten.  Als  Ideal  dieser  letzteren  Bauweise  präsentierte  sich  das  selbständige  Einfamilien- 
haus mit  bescheidenem  Vorgarten  und  eigenem  Hofraum.  Aber  gerade  die  häufigere 
Anwendung  der  weiträumigen  Bauweise  lehrte,  dass  ungeachtet  dem  zweifellosen  Fort- 
schritt in  sanitärer  Beziehung,  der  dem  in  den  neuen  Gebäuden  untergebrachten  Theie 
der  Bevölkerung  zustatten  kam,  die  Wohnungsnoth  nicht  nur  nichts  von  ihrem 
bedrohlichen  Charakter  verlor,  sondern  immer  breitere  Bevölkerungsschichten  in  immer 
empfindlicherer  Weise  traf.  Man  hatte  eben  übersehen,  dass  die  Richtung  der  Wohnungs- 
reform nicht  von  dem  Interesse  der  öffentlichen  Gesundheit  allein  gewiesen  werden  dürfe, 
dass  die  Wohnungsfrage  vielmehr  in  ihrem  Kern  als  wirtschaftliches  Problem  sich 
darstelle,  weil  die  Ursache  der  Wohnungsnoth  der  zu  hohe  Preis  von  Grund  und  Boden, 
das  zu  geringe  und  stockende  Angebot  von  guten  Bauplätzen  und  billigen  Quartieren 
sei.  Man  hatte  vergessen,  dass  eine  Eeform,  die  die  für  das  Einzelhaus  erforderliche 
Area  weiter  spannen,  an  Stelle  von  4  oder  5  Stockwerken  nur  2  oder  3  derselben  setzen 
wolle,  eine  ausserordentliche  Erweiterung  der  Peripherie  der  Städte,  eine  ausserordentliche 
Steigerung  der  Nachfrage  nach  Grund  und  Boden,  eine  weitere  Verschärfung  der  Con- 
currenz  um  denselben  und  somit  eine  weitere  Erhöhung  seines  Preises  bedingen  müsse. 
In  diesen  Widerstreit  zwischen  dem  hygienischen  und  dem  wirtschaftlichen  Princip 
um  eine  befriedigende  Lösung  der  Wohnungsfrage  führt  uns  die  von  dem  Secretär  des 
Stuttgarter  Stadtschultheissenarats  Dr.  Abele  jüngst  veröffentlichte  Studie  auf  belehrende 
Weise  ein.  Der  Verfasser  legt  die  Bestrebungen  des  Deutschen  Vereins  für  öffentliche 
Gesundheitspflege  dar,  die  seit  der  im  Jahre  1875  in  München  abgehaltenen  Versammlung 
auf  die  Anwendung  der  weiträumigen  Bauweise  in  den  Stadterweiterungsgebieten  deutscher 
Städte  gerichtet  waren.  Er  erzählt  aber  auch,  wie  bereits  auf  der  Frankfurter  Versammlung 
des  Jahres  1888  infolge  einer  tieferen  Erfassung  der  Wohnungsfrage  die  Erkenntnis  auf- 
dämmerte, dass  das  Bedürfnis  nach  billigen  Wohnungen  nicht  minder  gebieterisch  als 
das  nach  gesunden  Wohnungen  sei.  Aber  die  begeisterten  Apostel  der  weiträumigen 
Bauweise  verstanden  es,  die  Bedenken  ihrer  Gegner  mit  der  Behauptung  zu  bannen,  dass 
jene  Bauweise,  indem  sie  die  Ausnützungsfähigkeit  des  Bodens  beschränke,  auf  den 
Bodenpreis  drücke  und  damit  nicht  nur  gesündere,  sondern  auch  billigere  Wohnungen 
herstellen  lasse.  Diese  Argumentation  blieb  damals  wunderlicherweise  fast  widerspruchs- 
los, ja  sie  bewirkte,  dass  im  Laufe  der  folgenden  Jahre  einige  der  grössten  deutschen 
Städte,  wie  Frankfurt,  Hamburg,  Berlin,  Altena  und  Breslau,  in  ihren  Stadterweiterungs- 
gebieten die  weiträumige  Bauweise  im  Wege  örtlicher  Bauvorschriften  einzuführen 
versuchten.  Aber  seither  hat  die  Erfahrung  gelehrt,  dass  jener  bestrickende  Satz  nur  die 
halbe  Wahrheit  enthielt,  dass  die  Wortführer  jener  Versammlungen  des  Deutschen 
Vereins  Ursache  und  Wirkung  in  augenfälliger  Weise  mit  einander  verwechselten.  Es  ist 
gewiss  richtig,  dass  die  Ausnützungsmüglichkeit  von  Grund  und  Boden  ein  bestimmender 
Factor  seines  Preises  ist,  dass  eine  allgemeine  zwangsweise  Beschränkung  dieser 
Ausnützungsmöglichkeit  den  Einzelnen  zwingt,  für  Grund  und  Boden  um  soviel  weniger 
zu  geben,  als  er  weniger  aus  ihm  herausschlagen  kann.  Aber  es  ist  auch  zweifellos 
richtig,  dass  dieser  von  den  angedeuteten  Beschränkungen  (Gebot  der  Errichtung  kleiner 
Häuser,  Verbot  der  Mietkasernen,  Beschränkung  der  Stockwerkzahl  wie  der  Zulässigkeit 
von  Hinterwohnungen  u.  s.  w.)  zu  erwartende  Eückgang  des  Bodenpreises  eilig  wett- 
gemacht   werden     muss     von     der    durch    eben    dieselben    Beschränkungen    bedingten 


322  Literaturbericht. 

schachbrettartigen  Erweitening  des  Städtebildes  und  der  hieraus  resultierenden  vermehrten 
Nachfrage  um  den  verfügbaren  Raum,  einer  Entwicklung,  die,  wenn  sie  nicht  von  einer 
entsprechenden  Ausgestaltung  des  Communicationsnetzes  begleitet  wird,  gerade  die  Lage 
der  ärmsten  Classen  noch  weiter  erschwert. 

Thatsächlich  konnte  auch  der  Rückschlag  in  der  Politik  jener  städtischen  Gemein- 
wesen nicht  ausbleiben,  die  die  weiträumige  Bauweise  ohne  Vorbehalt  adoptiert  hatten. 
Die  unverhältnismässige  Höhe,  welche  die  Mietzinse  infolge  ihrer  einseitigen  Maass- 
nahmen  bald  erlangten,  waren  geeignet,  vor  einer  Vernachlässigung  der  wirtschaft- 
lichen Seite  des  Problems  den  hygienischen  Interessen  zu  Liebe  in  Zukunft  zu  warnen. 
Ja,  Dr.  Abele  steht  nicht  an,  in  seinem  Schlussworte  zu  behaupten,  dass  mit  der 
Bereitstellung  einer  genügenden  Anzahl  billiger  Kleinwohnungen  die  sanitären  Miss- 
stände, insbesondere  die  Ueberfüllung  derselben  von  selber  verschwinden  würden.  Er 
betrachtet  die  private  Unternehmung  allein  als  geeignet,  die  Wohnungsfrage  ihrer 
Lösung  zuzuführen  und  sieht  die  Aufgabe  der  öffentlichen  Gewalten  ausschliesslich  darin, 
durch  Maassnahmen  öflfentlichrechtlicher  Natur,  von  denen  er  einen  kurzen,  aber 
erschöpfenden  Abriss  gibt,  den  Bau  von  Kleinwohnungen  wieder  rentabel  zu  machen 
und  die  Misstände  zu  beseitigen,  welche  deren  Vermietung  in  sich  schliesst. 

Oppenheimer. 

J.  Hogge,  La  Serbie  de  nos  jours.  Etüde  politique  et  dconomique.  Bruxelles, 
Librairie  Falk  fils,  1901.  8",  164  und  102  S. 

Dr.  J.  Krauss,  Deutsch-türkische  Handelsbeziehungen  seit  dem  Berliner  Vertrage 
unter  besonderer  Berücksichtigung  der  Handelswege.  Jena,  Gustav  Fischer,  1901. 
80,  IV  und  114  S. 

Dr.  phil,  Iwan  K.  Drenkoff,  Die  Steuerverhältnisse  Bulgariens  (XXIX.  Bd.  d. 
„Sammlung  nationalökonomischer  und  statistischer  Abhandlungen  des  staatswissenschaft- 
lichen Seminars  zu  Halle  a.  d.  S.  Hrg.  von  Prof.  Joh.  Conrad).  Jena,  Gustav  Fischer, 
1900.  80,  X  und  14C  S. 

Sämmtliche  vorstehend  angezeigte  Schriften,  die  übrigens  von  sehr  ungleichem 
Werte  sind,  haben  dies  gemeinsam,  dass  sie  sich  auf  das  Balkangebiet  beziehen,  in  dem 
die  österreichisch-ungarische  Monarchie  nicht  nur  allgemein-politische,  sondern  auch 
wirtschaftliche  Interessen  ersten  Ranges  wahrzunehmen  hat.  Dies  allein  schon,  noch  mehr 
aber  der  Umstand,  dass  sie  einander  in  mehrfacher  Richtung  ergänzen,  rechtfertigt  ihre 
zusammenfassende  Besprechung,  trotzdem  sie  jede  für  sich  besondere  Gegenstände  behandeln. 

Das  an  erster  Stelle  genannte  Buch  von.Hogge,  das  der  Königin  von  Serbien 
gewidmet  ist,  zerfällt  in  zwei  Abtheilungen. 

In  der  ersten  werden  —  nach  einem  einleitenden  Capitel  über  die  Zukunft 
Serbiens  und  einer  historischen  Skizze  über  die  politische  Entwickelung  des  Landes  bis 
zur  Gegenwart  —  geschildert:  die  Person  und  das  Regierungsprogramm  des  Königs 
Alexander,  sowie  die  Vorgänge  bei  dessen  Eheschliessung;  die  Gestaltung  des  Partei- 
wesens; die  Finanzen,  unter  Vergleichung  mit  den  finanziellen  Verhältnissen  Rumäniens, 
Bulgariens,  Griechenlands  und  Montenegros;  das  Eisenbahnwesen;  die  Armee;  die 
innere  Verwaltung  überhaupt,  sowie  insbesondere  die  Sanitätsverwaltung  und  der  Zustand 
des  öffentlichen  Unterrichtswesens. 

Man  sieht,  Hogge  bietet  nicht  wenig.  Was  er  aber  bietet,  ist  durchaus  flüchtig 
und  wenig  verlässlich.  Allerdings  bemerkt  er  selbst  einleitend:  „Ce  livre  n'est  pas  un 
livre  d'histoire,  pas  plus  qu'un  ouvrage  politique  ou  ^conomique".  Dadurch  wird 
jedoch  ebensowenig  seine  übergrosse  Oberflächlichkeit  entschuldigt,  wie  der  apologetische 
Ton,  der  das  ganze  Werk  durchzieht,  durch  die  Absicht:  Serbien  vor  ungerechtfertigten 
Angriffen  in  der  öffentlichen  Meinung  Europas  zu  rechtfertigen.  Dass  dem  guten 
Willen  des  Königs  Anerkennung  gezollt  wird,  ist  gewiss  berechtigt.  Nicht  aber  die 
überschwängliche  Art,  wie  dies  geschieht,  die  mitunter  geradezu  komisch  wirkt.  Ist  es 
z.  B.  nicht  auch  lächerlich,  wenn  Hogge  uns  die  Eigenheit  des  Königs  mittheilt,  bei 
Audienzen  Löschpapierstückchen  zu  zerreissen,  und  hinzufügt:  „Napoleon,  ne  taillaidait-il 
pas,   en  parlant,   de  coups  de  canifs  le  bras  du  fauteuil  dans  lequel  il  etait  assis!"    Es 


I 


Literaturbericht.  '  323 

braucht  nach  dem  Gesagten  kaum  noch  hinzugefügt  zu  werden,  dass  alles  in  Serbien 
auf  das  Vortrefflichste  bestellt  ist.  Die  Finanzen  lassen  nichts  zu  wünschen  übrig;  das 
Heer  ist  eine  „armee  modele";  die  Sanitätsverwaltung  ist  ausgezeichnet;  das  öffentliche 
Unterrichtswesen  fast  ebenso  gut  und  auf  der  Höhe  der  Zeit;  und  man  muss  sich 
wundern,  dass  Herr  Hogge  doch  in  den  übrigen  Verwaltungszweigen  einiges  aussetzt  und 
„quelques  ddsidörata"  vorzubringen  hat. 

In  der  Form  ebenso  salopp  wie  die  erste  Abtheilung,  sticht  die  zweite  wenigstens 
inhaltlich  angenehm  von  ihr  ab. 

Hogge  schildert  uns  in  derselben  zunächst  in  allgemeinen  Zügen  die  volks- 
wirtschaftliche Entwickelung  Serbiens  und  sodann  im  Einzelnen:  den  Mineralreichthum 
des  Landes;  dessen  Handel,  Ackerbau  und  Viehzucht;  ferner  den  Wein-  und  Tabakbau; 
endlich  die  Gestaltung  des  Aussenhandels. 

Was  Hogge  hier  vorbringt,  ist  jedoch  mit  Ausnahme  des  kurzen  Abschnittes 
über  den  Tabakbau  und  einiger  neuerer  statistischer  Daten  —  zum  weitaus  grössten 
Theile  abgeschrieben  aus  dem  trefflichen  Buche  des  ehemaligen  Gesandten  der 
französischen  Eepublik  in  Belgrad,  Ken e  Millet:  „La  Serbie  economique  et  commerciale" 
(Paris  1889),  und  zwar  entweder  wörtlich  abgeschrieben  oder  mit  geringen,  den  Sinn 
nicht  verändernden  Wort-  und  Satzverschiebungen! 

Dabei  spielt  Herrn  Hogge  seine  Flüchtigkeit  und  üngenauigkeit  auch  im  Ab- 
schreiben manchen  netten  Streich.  Um  nur  zwei  Beispiele  anzuführen:  Millet  beschreibt 
die  Hügellandschaften  mit  Weinbau  „qui  s'alternent  on  s'enchainent  jusqu'au  noeud 
central  des  Balcans"  (a.  a.  o.  S.  96).  Hogge  seinerseits  schreibt  (S.  74)  statt  dessen:  „qui 
se  prolongent  jousqu'au  nord  central  des  Balcans".  Millet  behandelt  unter  der  Ueber- 
schrift:  „Envoi  u'chantillons  et  musöes  sociaux"  (a.  a.  0.  S.  376  ff.)  die  Bestrebungen 
und  Mittel  zur  Förderung  und  Stärkung  der  französischen  Wareneinfuhr  nach  Serbien 
gegenüber  dem  Wettbewerb  der  anderen  Handelsvölker,  vorwiegend  Oesterreich-Ungarns 
und  Deutschlands.  Hogge,  der  vom  belgischen  Interessenstandpunkt  schreibt  (S.  96 ff.) 
bethätigt  diesen  dadurch,  dass  er  in  Millets  Ausführungen  einfach  das  Wort 
fran^ais"  durch  „beige"  ersetzt  oder  zumindest  ergänzt.  Dabei  passiert  es  ihm  jedoch 
einigemal  jenes  zu  übersehen,  so  dass  es  plötzlich  ganz  unmotiviert  auftaucht. 

Wem  Hogge  die  Partien  seines  Buches,  die  nicht  Millet  entstammen,  „verdankt", 
habe  ich  nicht  constatieren  können.  Das  ältere  Buch  von  de  Borchgrave  „La  Serbie 
administrative,  economique  et  commerciale  (Bruxelles  1883)",  das  unserem  Autor  wohl  auch 
gute  Dienste  geleistet  haben  mag,  ist  mir  augenblicklich  nicht  zur  Hand,  so  dass  ich 
es  nicht  vergleichen  kann. 


Im  Gegensatze  zu  der  absolut  wertlosen  Arbeit  Hogges  verdient  die  an  zweiter 
Stelle  angezeigte  Schrift  vou  Krauss  ernsthafte  Beachtung. 

Der  Verfasser  bietet  in  derselben  in  gewissenhafter  und  lebendiger  Darstellung 
die  Ergebnisse  „eines  sechsjährigen  aufmerksamen  Studiums  der  in  Frage  stehenden 
Verhältnisse  und  mehrjähriger  persönlicher  Anschauung"  ohne  die,  —  bei  der  Unmöglichkeit 
aus  türkischen  Quellen  zu  schöpfen,  oder  sich  auf  sie  zu  verlassen,  —  die  Arbeit  überhaupt 
nicht  hätte  unternommen  werden  können.  So  ist  sie  denn  schon  verdienstlich,  weil  sie 
unsere  Kenntnis  von  dem  Wirtschaftsleben  der  Türkei  im  allgemeinen  erweitert.  Für 
uns  Oesterreicher  bietet  sie  aber  auch  noch  ein  ganz  besonderes  Interesse  dadurch,  dass 
sie  uns  zeigt,  wie  und  warum  der  Handelsverkehr  des  Deutschen  Eeiches  mit  der  Türkei 
seit  dem  Beginne  der  80er  Jahre  eine  fortwährende  Steigerung  erfahren  hat. 

Diese  Steigerung  ist  zweifellos  zum  guten  Theile  auf  Kosten  des  österreichisch- 
ungarischen Exportes  in  die  Türkei  erfolgt.  Denn  hier,  wie  überall  in  den  Balkanländern,  hat 
der  Aussenhandel  der  Monarchie  keine  wichtigere  und  gefährlichere  Concurrenz  zu  bekämpfen 
als  die  deutsche.  Allerdings  ist  die  österreichisch-ungarische  Ausfuhr  nach  der  Türkei 
von  16-229  Millionen  Gulden  im  Jahre  1891  auf  31-349  für  1898  gestiegen,  während  die 
deutsche   mit   37'027  und  37075  Millionen  Mark  für  dieselben  Jahre  ziemlich  stationär 


324  '         Literaturbericht. 

geblieben  ist  und  1899  sogar  einen  Eückgang  auf  32.600  Millionen  Mark  zu  verzeichnen 
hat.  Es  ist  femer  zu  berücksichtigen,  dass  in  diesen  Ziffern  auch  die  Lieferungen  Deutschlands 
für  Eisenbahnbauten  in  Kleinasien,  an  Waifen  und  an  Munition  mit  bedeutenden  Posten 
enthalten  und  daher  in  Abzug  zu  bringen  sind,  wenn  man  ein  richtiges  Bild  der 
regelmässigen  Handelsbewegung  erhalten  soll.  Andererseits  aber  muss  man  die 
letztere  von  1880  an  verfolgen,  und  da  zeigt  sich  denn,  dass  sie  —  von  6*423  Millionen 
Mark  in  diesem  Jahre  —  eine  constante  Zunahme  aufweist,  und  sich  in  den  90er  Jahren 
um  mehr  als  das  Doppelte  erhöht  hat. 

Zur  Kennzeichnung  des  Ganges  der  Krauss'schen  Untersuchung  sei  Folgendes 
angeführt.  Der  Verfasser  leitet  seine  Darstellung  mit  einem  „Ueberblick  über  die 
neuzeitliche  türkische  Geschichte"  und  die  inneren  Umwandlungen  des  Reiches  seit  dem 
Krimkriege  ein  (S.  1 — 15).  Im  zweiten  Abschnitte  „die  wirtschaftliche  Türkei"  (S.  16—42), 
werden  zunächst  die  türkische  Statistik  überhaupt  und  die  Ergebnisse  der  türkischen 
Handelsstatistik  im  besonderen  gekennzeichnet  und  sodann  die  türkische  Zahlungsbilanz 
(Zusammensetzung  und  Transport  der  Warenein-  und  -Ausfuhr;  Handels-,  Capitals-  und 
Personenverkehr  mit  dem  Auslande)  behandelt.  Der  dritte  und  vierte  Abschnitt  sind 
einer  Schilderung  der  Entwickelung  der  deutsch-türkischen  Verkehrsbeziehungen  vor  und 
seit  dem  Berliner  Vertrage,  sowie  des  Standes  derselben  im  Jahre  1900  gewidmet 
(S.  43 — 112).     Ein  Literaturnachweis  beschliesst  das  instructive  Werkchen. 

Drenkoffs  Schrift  ist  nicht  handelspolitischen  Inhaltes,  sondern  will  uns  nur 
die  Kenntnis  der  bulgarischen  Steuergesetzgebung  und  Steuerverhältnisse  vermitteln,  bei 
welcher  Gelegenheit  jedoch  allerdings  auch  die  Zollgesetzgebung  und  Verwaltung  kurz 
dargestellt  wird  (S.  110—122).  Die  oft  recht  holprige  Sprache  und  den  nicht  gerade 
glänzenden  systematischen  Aufbau  der  Darstellung  wird  man  dem  Ausländer  zugute 
halten  müssen.  Jedenfalls  schmälert  dies  nicht  die  sachliche  Bedeutung  der  Arbeit,  die 
nicht  nur  sehr  interessant  ist,  sondern  auch  einen  durchaus  verlässlichen  Eindruck 
macht.  Es  ist  dies  umso  dankenswerter,  als  es  sich  in  ihr  um  Dinge  handelt,  die  in 
Westeuropa,  oder  wie  der  Verfasser  zu  schreiben  pflegt,  „in  Cultureuropa"  so  gut  wie 
unbekannt  sind. 

Der  Verfasser  geht  von  dem  richtigen  Gedanken  aus,  „dass  die  Steuersysteme, 
so  eigenartig  sie  auch  sein  mögen,  immer  als  Glieder  eines  geschichtlichen  Zusammen- 
hanges anzusehen  sind  und  sich  nur  aus  diesem  Zusammenhange  begreifen  lassen".  Er 
unterzieht  daher  vor  Allem  das  Steuerwesen  in  Bulgarien  unmittelbar  vor  dessen 
Befreiung  der  Betrachtung  (S.  14—25).  Mit  Eecht  hebt  er  als  dessen  Hauptmangel  die 
Art  der  Steuerverwaltung  hervor,  die  sich  durch  das  ausschliessliche  Streben  nach 
Sicherung  der  Steuereingänge  (Pachtsystem)  charakterisierte,  die  Principien  einer  all- 
gemeinen und  gerechten  Steuervertheilung  jedoch  gänzlich  ausser  Acht  Hess.  —  Die 
erste  Zeit  nach  dem  Zusammenbruche  der  türkischen  Herrschaft  auf  bulgarischem 
Boden  —  sowohl  während  der  russischen  Occupation,  als  auch  nach  der  Einkehr  ver- 
fassungmässiger  Zustände  seit  dem  April  1879  —  brachte  denn  auch  im  Wesen  nur 
Aenderungen  in  der  Steuerverwaltung,  während  „das  Steuersystem  selbst  in  seinen 
rechtlichen  Grundlagen  den  Typus  des  Türkischen"  beibehielt  (S.  28).  Nachher  erst  wird 
auch  an  die  Umgestaltung  der  Steuergesetzgebung  selbst  geschritten. 

Der  Schilderung  dieses  Processes  und  seines  Ergebnisses  in  Steuergesetzgebung 
und  Verwaltung  ist  der  grösste  Theil  der  Drenkoff'schen  Arbeit  gewidmet  (S.  29 — 129). 
Ein  Eingehen  auf  die  Details  derselben  ist  jedoch  an  dieser  Stelle  unmöglich.  So  sei 
denn  nur  speciell  auf  die  höchst  interessanten  Schicksale  des  Zehents  und  seiner  Aus- 
gestaltung zur  Grundsteuer  aufmerksam  gemacht. 

In  einem  letzten  Abschnitte:  „Die  Steuern  im  Budget"  werden  die  Gesammtstaats- 
einnahraen  und  Ausgaben  für  die  Zeit  von  1887 — 99  specificiert  vorgeführt,  und  schliesslich  die 
Bilanz  der  bisherigen  politischen,  volkswirtschaftlichen  und  finanzpolitischen  Entwickelung 
des  jungen  Fürstenthums  gezogen.  Der  Verfasser  verkennt  nicht,  „dass  die  politischen 
Umwälzungen,  der  Krieg,  wiederholte  Staatsstreiche,  Ränkespiele  der  regierenden 
Parteien    .    .    auch    die   Unbestimmtheit    in    der    Finanz-     und    Volkswirtschaftspolitik 


Literatuxbericht.  325 

.  .  .  und  in  der  äusseren  Politik  .  ,  eine  Erschütterung  der  Finanzen  und  vor  allem  in 
letzter  Zeit  des  Staatscredites  hervorgerufen  haben:  Allein  er  getröstet  sich  des  nicht 
nur  mit  der  Zukunft,  in  die  er  festes  Vertrauen  hat,  und  von  der  er  unter  anderem  auch 
eine  Besserung  der  völkerrechtlichen  Stellung  seines  Vaterlandes  erwartet;  er  weist  auch 
—  und  nicht  ohne  Grund  —  auf  das  bisher  Erreichte  hin.  Sei  es  auch  vorläufig  nicht 
viel,  so  sei  es  döch  ein  mehr  verheissender  Anfang.  Carl  Grünberg. 

Bilanz  und  Steuer.  Grundriss  der  kaufmännischen  Buchführung  unter 
besonderer  Würdigung  ihrer  wirtschaftlichen  und  juristischen  Bedeutung 
von  Dr.  Eichard  Reisch  und  Dr.  Josef  Clemens  Kreibig.  Wien^  Manz'scher 
Verlag  1900. 

Die  neue  österreichische  Steuergesetzgebung  stellt  an  die  Organe  der  Steuer- 
bemessung die  Anforderung  vollen  Verständnisses  der  doppelten  Buchhaltung.  Dies  gilt 
nicht  nur  hinsichtlich  der  Besteuerung  der  der  öifentlichen  Rechnungslegung  unter- 
worfenen Unternehmungen,  bei  welchen  das  Gesetz  die  bilanzniässigen  Ueberschüsse  als 
Grundlage  der  Steuerbemessung  bezeichnet,  sondern  auch  hinsichtlich  der  allgemeinen 
Erwerbsteuer  und  der  Personaleinkommensteuer,  bei  welchen  das  Gesetz  den  Steuer- 
behörden die  Büchereinsicht  über  Anerbieten  der  Parteien  zur  Pflicht  macht. 

Es  war  daher  ein  sehr  glücklicher  Gedanke  der  Verfasser^  dem  dringenden  Bedürf- 
nisse einer  so  grossen  Kategorie  von  Staatsbeamten  durch  die  Vorlage  ilires  Werkes 
Abhilfe  zu  schaffen,  und  sie  thaten  gewiss  recht  daran,  sich  die  Grenzen  ihres  Leser- 
kreises nicht  allzu  eng  zu  stecken  und  auch  dem  Interesse  ausserhalb  des  Steuerdienstes 
stehender  juristischen  und  nicht  juristischen  Kreise  Rechnung  zu  tragen. 

Dem  Ziele,  welches  den  Verfassern  vor  Augen  schwebte,  entsprechend,  kann  man 
zwei  selbständige  Aufgaben  unterscheiden,  die  in  dem  Werke  zu  lösen  waren: 

1.  die  Darstellung  der  Lehre  der  doppelten  Buchhaltung; 

2.  die  Behandlung  der  wirtschaftlichen  und  rechtlichen  Fragen,  die  sich  hiebei 
ergeben,  mit  vorzüglicher  Rücksicht  auf  die  Bedürfnisse  der  Steuerbemessung. 

Was  die  Lösung  der  ersten  Aufgabe  betrilft,  so  kann  man  gerechterweise  keinen 
anderen  Maasstab  zur  Anwendung  bringen,  als  den  der  bisherigen  Bearbeitungen 
der  doppelten  Buchhaltung.  Unter  der  Voraussetzung  dieses  Maasstabes  darf  es  aus- 
gesprochen werden,  dass  wir  es  mit  einer  sehr  sorgfältigen  und  gründlichen  Arbeit  zu 
thun  haben,  die  den  besten  Werken  ihrer  Art  an  die  Seite  gestellt  werden  kann.  Allein 
über  das  Niveau  der  bisherigen  Behandlung  hat  sich  die  Dat Stellung  nicht  zu  erheben 
vennocht.  So  merkwürdig  es  klingen  mag,  so  ist  es  doch  eine  Thatsache,  dass  die 
Methode  der  Behandlung  der  doppelten  Buchführung  seit  dem  grundlegenden  Werke  des 
Luca  Pacioli  aus  dem  Jahre  1494  sich  im  Principe  nicht  geändert  hat,  und  auch 
gegenwärtig  noch  in  der  Vorführung  der  Buchungsregeln  besteht.  Die  wenigen  Versuche  einer 
theoretischen  Grundlegung,  die  in  unserer  Gegenwart  gemacht  wurden,  haben  zu  keinem 
befriedigenden  Resultate  geführt,  so  dass  auch  die  besten  Bearbeiter  die  theoretische  Erklä- 
rung nicht  als  Fundament  der  Lehre,  sondern  eigentlich  nur  als  Beiwerk  und  Aufputz  behau* 
delt  haben.  So  ist  es  auch  unsem  Autoren  ergangen.  Auch  in  dem  vorliegenden  Werke  bilden 
die  theoretischen  Erörterungen  nicht  die  Grundlage  der  ganzen  Lehre,  sondern  folgen  der 
Darstellung  der  Buchungsregeln  nach  als  „nähere  Erläuterungen  theoretischen  Inhaltes", 
über  welche  die  Autoren  selbst  die  Meinung  aussprechen,  dass  sie  „allerdings  zur 
flüchtigen  Erfassung  und  praktischen  Handhabung  der  Buchungsregeln  nicht  unbedingt 
erforderlich  sind  und  von  diesem  Gesichtspunkte  aus  daher  auch  einfach  überschlagen 
werden  können";  wobei  sie  nur  hinzufügen,  dass  diese  Erläuterungen  „vielen  Lesern 
Interesse  bieten  und  das  Verständnis  der  doppelten  Buchhaltung  näher  bringen  dürften". 
Man  darf  in  diesen  Aeusserungen  wohl  das  indirecte  Geständnis  der  Verfasser  erblicken, 
dass  sie  selbst  die  Empfindung  hatten,  dass  die  praktischen  Buchungsregeln  nicht  eben 
mit  zwingender  Nothwendigkeit  aus  den  von  ihnen  aufgestellten  Prämissen  folgen. 

Es  würde  zu  weit  führen,  wenn  Referent  sich  hier  auf  eine  kritische  Beleuchtung 
dieser  theoretischen  Grundlegung  einliesse,  und  es  erscheint  dies  umso  weniger  geboten, 
als  es  sich  nicht  um  eine  neue  Lehre  der  Verfasser  handelt,  sondern  um  eine  ältere,  voa. 


326  Literaturbericht. 

Hügli  in  seinem  1887  erschienenen  Werke  über  Buchhaltungssysteme  und  Buchhaltungs- 
forraen  aufgestellte  Theorie. i)  Es  leuchtet  ein,  dass  der  ganze  Charakter  des  Werkes  ein 
anderer  geworden  wäre,  wenn  die  Buchungsregeln  auf  dem  Fundamente  einer  entsprechenden 
theoretischen  Grundlegung  aufgebaut  worden  wären. 

Dies  gilt  insbesondere  auch  von  der  Darstellung  der  sogenannten  „einfachen"  Buch- 
haltung. Diese  wird  von  den  Verfassern  nach  hergebrachter  Schablone  als  selbständiges 
System  in  einem  besonderen  Abschnitt  behandelt,  obgleich  sie  bei  richtiger  Erkenntnis 
nichts  anderes  ist,  als  unvollständige  doppelte  Buchhaltung,  die  ihre  beste  Darstellung 
darin  findet,  dass  man  einfach  die  Theile  der  doppelten  Buchhaltung,  welche  wegzulassen 
sind,  namhaft  macht. 

Hat  man  sich  mit  dem  Mangel  einer  entsprechenden  theoretischen  Grundlegung 
abgefunden,  den  das  vorliegende  Werk,  wie  noch  einmal  betont  werden  soll,  mit  allen  bis- 
herigen Darstellungen  der  doppelten  Buchhaltung  theilt,  so  ist  insbesondere  die  grosse 
Reichhaltigkeit  der  buchhalterischen  Casuistik  zu  rühmen.  Es  werden  einerseits  die  Beson- 
derheiten der  Buchführung  nach  der  Verschiedenheit  der  Betriebe,  wie  beim  Commissions- 
und  Speditionsgeschälte,  bei  der  Fabrication,  bei  der  Landwirtschaft,  anderseits  die 
Besonderheiten  nach  der  Verschiedenheit  der  Rcchtssubjecte  eingehend  und  anschaulich 
behandelt.  In  letzterer  Beziehung  werden  die  Buchungen  bei  offenen  Handelsgesellschaften, 
bei  Commanditgesellschaften,  bei  stillen  Gesellschaften,  bei  Vereinigungen  zu  einzelnen 
Handelsgeschäften,  bei  Speditionsgeschäften  selbständig  dargestellt.  Besondere  Sorgfalt 
haben  die  Verfasser  der  Buchführung  der  öffentlich  Rechnung  legenden  Unternehmungen 
gewidniet,  welche  den  ganzen  zweiten  Band  einnimmt,  und  sich  speciell  durch  diesen 
Theil  des  Werkes  ein  grosses  Verdienst  erworben. 

Die  Buchführung  bei  Actiengesellschaften  und  Coraraandit-Actiengesellschaften, 
bei  wechselseitigen  Versicherungsanstalten,  bei  Sparcassen  und  bei  Erwerbs-  und 
Wirtschaftsgenossenschaften  wird  allenthalben  unter  Hervorhebung  der  eigenthümlichen 
Formen  anschaulich  dargestellt,  und  bei  den  Actiengesellschaften  eine  weitere  Speciali- 
sierung  nach  Banken,  Hypothekar-Instituten,  Fabriken,  Eisenbahnen,  Bergwerken  und 
Versicherungsanstalten  vorgenommen. 

Es  wird  in  diesen  Abschnitten  eine  so  erschöpfende  Differenzierang  der  Buchführung 
in  den  verschiedensten  Betriebsformen  gegeben,  wie  sie  bisher  in  einem  einheitlichen 
Werke  nicht  existiert  hat,  Ueberall  haben  sich  die  Verfasser  hiebei  an  die  besten  Special- 
darstellungen gehalten  und  bei  der  Buchführung  der  Eisenbahnen,  wo  eine  solche  nicht 
vorhanden  war,  die  Besonderheiten  selbständig  herausgearbeitet.  Gerade  mit  Rücksicht 
auf  das  Ziel,  welches  sich  die  Verfasser  gesetzt  haben,  den  Organen  der  Steuerbemessung 
ein  Führer  in  ihrem  so  überaus  schwierigem  Dienste  zu  sein,  ist  diese  Reichhaltigkeit 
der  buchhalterischen  Formen  sehr  anzuerkennen. 

Wir  wenden  uns  nun  zur  zweiten  Aufgabe,  die  das  Werk  zu  lösen  unternommen  hat, 
die  Behandlung  der  wirtschaftlichen  und  juristischen  Probleme,  die  mit  der  Buchführung 
im  Zusammenhange  stehen,  wobei,  um  Missverständnisse  zu  vermeiden,  bemerkt  werden 
soll,  dass  damit  nicht  etwa  ein  räumlich  gesonderter  Theil  des  Werkes,  sondern  eine 
sachliche  Specificierung  des  Inhaltes  gemeint  ist.  Es  gehören  hierher  die  Untersuchungen 
über  die  Bewertung  der  Vermögensbestandtheile  in  der  Bilanz,  über  die  Beziehung 
zwischen  Buchführung  und  Steuerveranlagung,  die  Erläuterungen  über  Reservefonde, 
Bewertungsconten  und  Anticipationen,  die  Untersuchungen  über  die  wirtschaftliche 
Bedeutung  des  Bauconto,  sowie  der  Capitalsamortisation  bei  Eisenbahnen  u.  a.  m. 
Schon  diese  Aufzählung  zeigt,  dass  es  sich  hierbei  um  ebenso  bedeutungsvolle  wie 
schwierige  Fragen  der  praktischen  Volkswirtschaft  handelt,  die  nicht  der  Buchhalter, 
sondern  nur  der  Volkswirt  und  Jurist  mit  gründlicher  Kenntnis  der  Buchhaltung  zu 
erfassen  vermag. 


1)  Referent  hat  selbst  den  Versuch  einer  theoretische  Grundlegung  der  doppelten  Buchhaltung 
gemacht,  welcher,  wofern  63  ihm  gelangen  ist,  das  richtige  zu  treffen,  indirect  eine  Widerlegung  aller 
anderen  Theorien  enthält.   (Siehe  das  1.  Heft  dieses  Bandes  S.  53  fF.) 


Literaturbericht.  327 

Wie  bei  einer  so  grossen  Mannigfaltigkeit  der  Probleme  nicht  anders  zu  erwarten, 
ist  der  Wert  der  einzelnen  Untersuchungen  ein  ungleicher.  Bei  der  Erörterung  der  Frage, 
ob  den  Eisenbahnen  die  Capitalsamortisation  als  Abzugsposten  bei  der  Steuerbemessung 
zu  passierea  ist,  kann  das  Resultat  nicht  aus  der  blossen  Interpretation  der  einschlägigen 
Gesetzesstellen  abgeleitet  werden,  wie  dies  die  Verfasser  versuchen.  Es  müsste  vielmehr 
auf  den  specifischen  Charakter  der  Steuer  der  der  öffentlichen  Eechnungslegung  unter- 
worfenen Unternehmungen  eingegangen  und  festgestellt  werden,  ob  dieselbe  in  ihrer 
ganzen  Anlage  vom  Gesetzgeber  als  Ertrags-  oder  als  Einkommensteuer  gedacht  wurde. 
In  der  Frage  der  Besteuerung  des  Agiogewinnes  bei  der  Emission  neuer  Actien  scheint 
dem  Eeferenten  die  Darlegung  der  Verfasser,  dass  es  sich  nicht  um  einen  Gewinn, 
sondern  um  eine  Capitalseinzahlung  handelt,  nur  insoferne  zutreffend  zu  sein,  als  es  sich 
nicht  um  eine  Gewinnzuwendung  an  die  bisherigen  Actionäre  handelt.  Bei  der  Untersuchung 
der  Grundsätze  der  Bewertung  in  der  Bilanz  war  es  vollkommen  zutreffend,  die  subjective 
Wertlehre  zum  Ausgangspunkte  zu  nehmen,  und  die  nebenbei  in  einer  Anmerkung  gemachte 
Aeusserung,  dass  bei  Bewertung  von  Waren  auf  die  durch  die  Veräusserung  der  vor- 
handenen Vorräthe  zu  gewärtigende  Beeinflussung  des  Preises  Bedacht  zu  nehmen  wäre, 
scheint  dem  Eeferenten  besonderer  Hervorhebung  würdig.  Im  übrigen  wird  man  den 
Verfassern  keinen  Vorwurf  daraus  machen  können,  dass  auch  sie  bei  dem  schier  unlösbar 
scheinenden  Problem  nicht  zu  sicheren  Ergebnissen  gelangt  sind.  Für  eine  zweite  Auf- 
lage möchte  Eefei:ent  den  Wunsch  aussprechen,  die  Praxis  der  österreichischen  Actien- 
gesellschaften  mehr  zu  verwerten.  Es  würde  sich  hierbei  zeigen,  wie  erwünscht  es  wäre, 
auch  in  der  österreichischen  Gesetzgebung  stabile  Grundsätze  zu  normieren,  welche 
nicht  gerechtfertigte  Verschiedenheiten  der  Schätzungsmethode  unmöglich  machen.  In  den 
bilanzrechtlichen  Fragen  haben  sich  die  Verfasser  vielfach  an  das  ausgezeichnete  Werk  von 
H.  V.  Simon,  „Die  Bilanzen  von  Actiengesellschaften  und  Commanditgesellschaften  auf 
Actien"  angelehnt.  So  erscheint  denn  auch  dieser  Theil  als  eine  für  die  Praxis  sehr 
brauchbare,  verdienstvolle  Bearbeitung   des  schwierigen  Gegenstandes. 

Eeferent  möchte  mit  dem  Wunsche  schliessen,  dass  das  Werk  in  der  juristischen 
Welt  weite  Verbreitung  finde  und  mit  dazu  beitrage,  den  Schleier  des  Geheimnisses, 
welcher  für  diese  über  der  doppelten  Buchhaltung  ausgebreitet  liegt,  zu  lüften. 

Prof.  Gustav  Seidler. 

Arthur  Aal.  Das  preussische  Eentengut,  seine  Vorgeschichte  und 
seine  Gestaltung  in  Gesetzgebung  und  Praxis.  Stuttgart  1901.  J.  G.  Cotta'sche 
Buchhandlung  Nachfolger  VIII  und  170  S.  Münchner  Volkwirtschaftliche  Studien  heraus- 
gegeben von  Lujo  Brentano  und  Walther  Lotz.  43.  Stück. 

Eine  scharfsinnige  und  interessante  Untersuchung,  die  auch  von  denjenigen  wird 
beachtet  werden  müssen,  die  den  streng  liberalen  Standpunkt  der  Münchner  Schule,  wie 
er  auch  in  dieser  Schrift  zum  Ausdruck  gelangt,  nicht  theilen.  Die  Studie  zerfallt  in 
drei  Theile.  Zuerst  wird  die  Vorgeschichte  des  preussischen  Eentengutes  dargestellt, 
sodann  die  legislatorische  Behandlung  desselben  betrachtet  und  endlich  über  die  Aus- 
gestaltung dieses  Eechtsinstitutes  in  der  Praxis  berichtet. 

Mit  Eecht  erblickt  Aal  in  der  im  Jahre  1850  aufgehobenen  Erbpacht  die  Vor- 
läuferin des  späteren  „Eentengutus",  die  sich  von  letzterem  höchstens  formal-juristisch, 
nicht  aber  ökonomisch  unterscheidet.  Sehr  bald  nach  1850  machte  sich  bereits  eine 
AgitatioH  nach  Wiedereinführung  der  Erbpacht  oder  ähnlicher  Eechtsinstitute  des 
getheilten  Eigenthumes  bemerkbar,  veranlasst  einerseits  durch  die  Creditnoth,  anderer- 
seits durch  die  „Leutenoth"  des  Grundbesitzes.  Gegen  die  Creditnoth  schlug  Eodbertus 
die  Einführung  des  „Eentenprinzipes"  vor,  gegen  die  Leutenoth  die  Errichtung  von 
Coloniestellen  mit  Verpflichtung  zu  Arbeitstagen.  In  den  achtziger  Jahren  kamen  noch 
die  Forderung  nach  Schaffung  eines  mittleren  Bauernstandes  in  Ostelbien,  der  Wunsch, 
die  Socialdemokratie  durch  Sesshaftmachung  des  Arbeiterstandes  zu  bekämpfen,  endlich 
das  Streben  nach  Stärkung  des  Deutschthumes  gegenüber  den  Polen  hinzu.  Alle  diese 
Momente  wirkten  zu  einer  Neubelebung  der  alten  Erbpacht  in  der  Form  des  Eenten- 
gutes zusammen. 


328  Literaturb  ericht. 

Das  Ansiedlungsgesetz  von  1886  gestattete  die  vertragsmässige  Abrede,  dass  die 
den  Kaufpreis  darstellende  Eente  des  „Rentengutes"  nur  mit  Zustimmung  beider  Theile, 
des  Verkäufers  und  des  Käufers,  abgelöst,  und  dass  der  Rentengutsbesitzer  bei  Zer- 
theilungen  und  Veräusserungen  im  Ganzen  oder  in  Theilen  von  der  Zustimmung  des  Renten- 
berechtigten, der  hier  immer  der  Staat  selbst  ist,  abhängig  gemacht  werden  könne. 
Zur  Durchführung  dieses  Gesetzes  wurde  eine  staatliche  Ansiedlungs-Commission  errichtet 
und  ihr  ein  Fond  von  100  Mill.  Mark  zur  Verfügung  gestellt.  Mit  Hilfe  dieses  Fondes 
waren  polnische  Güter  anzukaufen  und  in  Form  von  Rentengütern  an  Deutsche  auszu- 
thun.  Das  Gesetz  vom  Jahre  1890  dehnte  das  Rechtsinstitut  des  Rentengutes  auf 
sämmtliche  Provinzen  Preussens  aus;  auch  jeder  private  Grundbesitzer  kann  nunmehr 
Güter  gegen  eine  nur  mit  seiner  Zustimmung  ablösbare  Rente  und  mit  den  erwähnten 
Verkehrsbeschränkungen  abverkaufen.  Da  den  Privaten  nicht  wie  der  Regierung  Geld- 
fonds zur  Ausführung  von  Colonisiationen  zur  Verfügung  stehen,  und  da  die  verkaufenden 
Grundbesitzer  die  Zahlung  des  Capitales  einer  blossen  Rente  vorziehen,  so  blieb  das 
Gesetz  von  1890  todter  Buchstabe;  in  keinem  einzigen  Fall  gelangte  dasselbe,  wie  Aal 
berichtet,  zur  Anwendung.  Dem  half  das  Gesetz  von  1891  ab:  es  stellt  den  Gutsbesitzern 
zur  Begründung  von  Rentengütern  die  vermittelnde  Thätigkeit  der  Generalcommissionen 
zur  Verfügung,  ermächtigt  die  Rentenbanken  zur  Gewährung  von  Darlehen  an  Renten- 
gutsbesitzer zwecks  Errichtung  der  Gebäude,  Beschaffung  des  Inventars  u.  s.  w.  und 
sieht  die  Ablösung  der  Rentengutsrente  durch  die  Rentenbank  vor,  Hiedurch  erlangten 
die  Gutsbesitzer  den  Vortheil,  dass  sie  nicht  allein  ihre  schlecht  zu  bewirtschaftenden 
Aussenschläge  parzellenweise  —  also  viel  theurer,  wie  als  Ganzes  —  in  Form  von  Renten- 
gütern losschlagen  konnten,  sondern  dass  der  Staat  ihnen  einmal  zur  Begründung  der  Renten- 
güter die  Hilfe  seiner  Behörden  lieh  und  ferner  namentlich  statt  der  festen  Rente  das 
Capital  auszahlte  und  selbst  das  Risico  des  Rentenberechtigten  auf  sich  nahm. 

Jede  Aufhebung  der  wirtschaftlichen  Selbständigkeit  und  die  Zertheilung  des 
Rentengutes  ist,  solange  eine  Rentenbankrente  haftet,  von  der  Genehmigung  der 
Generalcommission  abhängig.  Desgleichen  die  Kapitalablösung  innerhalb  der  ersten 
10  Jahre. 

Im  Jahre  1896  wurde  sodann  das  obligatorische  Intestat- Anerbenrecht  für  Renten- 
und  Ansiedlungsgüter  durch  die  Gesetzgebung  statuiert,  u.  zw.  auch  für  die  schon  begrün- 
deten. Dem  Uebernehmer  werden  sehr  bedeutende  Vortheile  zugesprochen,  und  überdies  wurde 
die  Veräusserung  des  Rentengutes,  auch  wenn  keine  Rentenbankrente  mehr  auf  dem  Gute 
haftet,  an  die  Genehmigung  der  Generalcommission  gebunden.  Da  weiters  die  theoretische 
Möglichkeit  für  den  Rentengutsgeber  bestand,  sich  in  einem  Arbeits  vertrage  persön- 
liche Dienste  vom  Rentengutsnehmer  versprechen  zu  lassen  und  sich  die  Zustim- 
mung zur  Veräusserung  vorzubehalten,  so  hätte  diese  Zustimmung  auch  davon  ab- 
hängig gemacht  werden  können,  dass  der  Nachfolger  in  das  Rentengut  auch  in  den 
Arbeitsvertrag  eintrete;  damit  hätten  aber  die  persönlichen  Dienste  wieder,  wie  vor  der 
Grundentlastung,  dinglichen  Charakter  erlangt:  es  wäre  eine  Abhängigkeit  des  Renten- 
gutsbesitzers von  der  Generalcoramission  und  von  dem  Gutsherrn  entstanden,  die  immer 
dort  unlösbar  gewesen  wäre,  wo  bei  sinkender  Conjunctur  ein  Käufer  für  das  mit  so 
vielen  Beschränkungen  belastete  Eigenthum  sich  nicht  findet,  und  wo  der  Rentengutsgeber 
seine  Zustimmung  zur  Veräusserung  verweigert;  sie  würde  zur  drückenden  persönlichen 
Unterthänigkeit,  wo  der  Rentengutsnehmer,  wenn  er  Arbeit  sucht,  auf  das  Gut  des 
Rentengutsgebers  angewiesen  ist.  —  Endlich  wurde  im  Jahre  1900  ein  Gesetz  betreffend 
die  Gewährung  von  Zwischencredit  bei  Rentengutsgründungen  gegeben. 

Interessant  ist  nun,  was  der  Verfasser  über  die  praktischen  Wirkungen  dieser 
Gesetze  zu  berichten  weiss.  Was  zunächst  die  Thätigkeit  der  Ansiedlungscommission  und 
der  Generalcommissionen  betrifft,  so  nahm  die  Rentengutsbildung  bis  zum  Jahre  1894 
einen  bedeutenden  Aufschwung,  ist  aber  seither  zurückgegangen  und  schliesslich  ganz 
ins  Stocken  gerathen.  Die  Folge  des  Ansiedlungsgesetzes  war  eine  ausserordentliche 
Steigerung  der  Grundpreise;  sie  schnellten  in  der  Zeit  des  Tiefstandes  der  Getreidepreise 
von  560  auf  814  Mark  per  Hektar  empor  und  stellen   sich  bezeichnenderweise    für    den 


Literaturbericht.  329 

polnischen  Besitz  weit  höher  als  für  den  deutschen.  Sehr  günstige  Erfolge  sol  die 
private  Parzellierungstliätigkeit  der  auf  Gewinn  berechneten  grosscapitalistischen  Güter- 
schlächtereien der  ^Landesbank"  und  der  „deutschen  Ansiedlungsbank"  aufweisen.  Der 
Umsatz  der  Landesbank  überstieg  in  den  letzten  Jahren  den  sämmtlicher  8  General- 
commissionen  Preussens  zusammengenommen.  Bei  diesen  Actiengesellschaften  wie  bei 
den  4  polnischen  Landkaufgenossenschaften  macht  sich  eine  immer  grössere  Abneigung 
der  Colonisten  gegen  das  dem  Anerbenrechte  unterworfene  Eentengut  bemerkbar.  Auf- 
fallend ist  der  grosse  Geschäftsumfang  der  privaten  Ansiedlungsunternehmungen,  ins- 
besondere auch  der  1899  gegründeten  „deutschen  Ansiedlungsgesellschaft",  während  die 
Thätigkeit  der  Generalcommission  so  sehr  zurückgeht. 

Was  nun  die  Frage  anlangt,  in  welcher  Intensität  bei  diesen  Colonisationen  das 
dem  Gesetzgeber  vorschwebende  Eentenprinzip  verwirklicht  worden  ist,  so  ist  zunächst  die 
Unablösbarkeit  der  Rente  ohne  Zustimmung  des  Rentenberechtigten  von  Wichtigkeit. 
Während  nun  die  Ansiedlungscommission  ein  Zehntel  der  Rente  für  unablösbar  erklärt, 
ist,  wie  der  Verfasser  sagt,  in  der  Praxis  kein  Fall  geworden,  wo  ein  Renten- 
gutsnehmer  sich  auf  eine  unablösbare  Rente  gegenüber  einem  Privaten 
eingelassen  hätte.  Trotz  der  Vortheile.  welche  die  Ansiedlungscommission  gegenüber 
der  Generalcommission  den  Reflectanten  bietet,  wird  doch  die  letztere  vorgezogen,  weil 
bei  ihr  die  Kündba.rkeit  nicht  ausgeschlossen  zu  werden  braucht.  Durch  ihr  eigenes 
Verhalten,  durch  ihren  Sinn  für  Freiheit  und  freies  Eigenthum  haben,  so  sagt  Aal,  die 
Bauern  die  Gefahr  der  Einführung  einer  neuen  Feudalität  beseitigt.  Und  wie  die 
unablösbare  Rente  der  Rentengutsgesetze  ein  todter  Buchstabe  geblieben  sei,  so  habe 
sich  auch  kein  Bauer  auf  Dienstverpfiichtungen  in  Verbindung  mit  dem  Rentenguts- 
vertrage  eingelassen,  obwohl  es  an  Versuchen,  die  alte  Schollenpflichtigkeit  auf  diese 
Weise  wieder  herzustellen,  nicht  gefehlt  habe.  Ebenso  sind  die  vom  Gesetze  für  zulässig 
erklärten  Verfügungsbeschränkungen  des  Rentengutsnehmers  in  der  Praxis  niemals 
verwirklicht  worden.  Die  gesetzliche  Normierung  des  Zvvangsanerbenrechtes  habe  aber 
den  starken  Rückgang  in  der  Rentengutsbildung  zur  Folge  gehabt. 

So  erblickt  der  Verfasser  in  der  Art,  wie  sich  die  Praxis  der  Rentengutsbildung 
gestaltet  hat,  einen  Beweis  für  den  Liberalismus  der  deutschen  Bauern,  sobald  es  sich 
um  seine  persönliche  Freiheit,  um  die  Unbeschränktheit  seines  Eigenthums  handelt. 

S. 

Anton  Menger.  Le  droit  au  produit  integral  du  travail;  traduit  sur  la  II  e  edition 
par  Alfred  Bonnet.  Avec  une  pröface  de  Charles  Andler.  Maitre  de  Conferences 
ä  TEcole  normale  superieure.   Paris,  V.  Giard  &  F.  Briere,  1900.    8".   XL  und  249  S. 

Das  ausgezeichnete  Buch  Anton  Mengers  über  „Das  Recht  auf  den  vollen  Arbeits- 
ertrag" liegt  nunmehr  auch  in  einer  französischen  Uebersetzung  vor,  nachdem  eine  solche 
in  englischer  Sprache  vorangegangen  war.  Ueber  das  Original  selbst  noch  irgendetwas 
zu  sagen,  wäre  verlorene  Mühe.  So  sei  denn  nur  hervorgehoben,  dass  die  Uebersetzung  sehr 
sorgfältig  und  überall  sinngetreu  ist.  Sie  verdient  daher  alle  Anerkennung.  Was  diese 
Ausgabe  auch  für  den  deutschen  Leser  interessant  und  wertvoll  macht,  ist  ihre  Ein- 
begleitung  durch  Prof.  Charles  Andler.  Dieselbe  bietet  einen  lehrreichen  analytisch- 
kritischen IJeberblick  über  die  im  „Recht  auf  den  vollen  Arbeitsertrag"  und  in  dem 
1890  erschienenen  Buche  ^,Das  bürgerliche  Recht  und  die  besitzlosen  Volksclassen"  nieder- 
gelegte Auffassung  Mengers  vom  Socialismus  und  den  socialen  Aufgaben  der  bürger- 
lichen Rechtsordnung.  —  Die  Rectoratsrede  Mengers  „Ueber  die  socialen  Aufgaben  der 
Rechtswissenschaft"  (1895)  ist  Andler  unbekannt  geblieben. 

Wien.  Carl  Grünberg. 

Antikritik. 

In  der  letzten  Nummer  dieser  Zeitschrift  befindet  sich  eine  Kritik  des  Bandes 
IV  vom  Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften  von  Schiff.  Der  Verfasser 
hat  offenbar  sämmtliche  Artikel  einer  genauen  Durchsicht  unterzogen,  und  im  allgemeinen 
ist  seinen  Ansichten  wohl  beizustimmen.     Nicht  ganz  so  liegt  es  bezüglich  des  besonders 

Zeitschrift  für  Volkswirtscliaft,  Socia'politik  und  Verwaltung.  X.   Rand.  22 


330  Litcraturbericht. 

hervorgehobenen  Aufsatzes  des  Unterzeicbniten  „Haftpilic  ht Versicherung".  Zunächst 
nimmt  Schiff  hier  Anstoss  an  dem  Satz,  die  Haftpflichtversicherung  entbehre  eines 
Objectes.  Ich  hin  in  dieser  Auffassung  Ehrenberg,  Leibl  und  anderen  Fach- 
juristen gefolgt  und  neuerdings  vertritt  auch  Hie  st  and,  Director  einer  hervorragenden 
Versicherungsgesellschaft,  diesen  Standpunkt,  der  als  der  herrschende  in  der  Theorie 
wie  in  der  Praxis  anzusehen  ist.  In  dem  Artikel  ist  auch  dargelegt,  was  unter  diesem 
Mangel  des  Objectes  zu  verstehen  ist:  es  kann  jeder  Mensch  haftpflichtig  werden,  sei  er 
Millionär,  sei  er  Bettler,  und  jeder  kann  sich  gegen  diese  eventuellen  Folgen  seil. er 
Haftpflicht  versichern;  während  nun  bei  allen  anderen  Ver»iclieiungsarten  ein  bestimmtes 
Substrat  da  ist,  während  dort  die  Gefahr,  gegen  deron  Folgen  Versicherung  gewährt 
wird,  an  einer  ganz  bestimmten  Person  oder  einer  ganz  bestimmten  Sache  sich  bethätigen 
rauss,  bethätigt  sich  die  Gefahr  bei  der  Haftpflichtversicherung  nicht  an  einem  solchen 
bestimmten  Gegenstande  —  abgesehen  von  den  im  Artikel  bezeichneten  Ausnahmen  bei 
der  Seeversicherung  etc.  — ,  ja  nicht  einmal  an  dem  Vermögen  des  Versicherten 
schlechtweg;  denn  der  Versicherte  braucht  ja  kein  Vermögen  zu  haben,  um  haftpflichtig 
zu  wer.len.  Ferm^r  bestreitet  Schiff,  dass  der  Haftpflichtversicherung  „social  wertvolle 
Wirkungen"  und  „ein  altruistischer  Charakterzug"  nachgerühmt  werden,  wie  ihn  keine 
andere  Versicherungsart  aufzuweisen  hat.  Darauf  mag  nun  folgendes  erwidert  werden. 
Der  sociale  Weit  ist  darin  zu  erblicken,  dass  ein  Geschädigter  durch  den  Haftpflicht- 
versicherungsvertrag eines  Dritten  einen  Ersatz  erhält,  den  er  bei  den  möglicherweise 
sehr  minimalen  Mitteln  dieses  Dritten  ohne  den  Versicherungsvertrag  dieses  Versicherten 
gar  nicht  oder  nicht  in  gleicher  Höhe  erhalten  würde.  Dass  die  Motive  zum  Abschlüsse 
eines  Haftpflichtversicherungsvertrages  im  Einzelfall'^  durchaus  verwerflich  sein  können, 
steht  wörtlich  in  dtm  gerügten  Artikel  des  Handwörterbuchs;  aber  was  sagen  die  Motive, 
wenn  die  Wirkungen  gute  sind?  Dagegen,  dass  der  Haftpflichtversicherte  nicht  grob 
fahrlässig  wird,  schützen  die  Versicherungsmaxima,  die  Begrenzung  der  Versicherungs- 
summe, d.  h.  der  Versicherte  hat  in  einem  Schadenfall  einen  gewissen  Procentsatz  des 
Schadens  zu  tragen  oder  aber  den  eine  gewisse  Summe  übersteigenden.  Für  den  altru- 
istischen Zug  sei  angeführt:  wenn  jemand  sein  Haus  versichert,  so  schützt  er  sich 
selbst  und  nur  sich  selbst  gegen  Feuerschäden,  wenn  jemand  sein  Leben  versichert, 
ebenso  seine  eigene  Person  oder  meist  seine  nächste  Familie,  wer  sein  Vieh>  seine 
Ernte  versichert,  schützt  nur  sich  selbst.  Wer  aber  gegen  Haftpflicht  Versicherung 
nimmt,  schützt  zwar  meist  auch  sich  selbst,  ausnahmslos  aber  auch  jeden  anderen. 
Fremden,  der  vielleicht  durch  seine,  des  Versicherten,  Nachlässigkeit  zu  Schaden  kommt, 
oder  aber,  wie  es  in  sehr  vielen  Fällen  ist,  zu  Schaden  kommt  ohne  jede  Schuld  des 
Versicherten,  und  für  den  der  Versicherte  kraft  Gesetz  und  Richterspruch  dennoch  auf- 
kommen muss.  Wenn  schliesslich  der  Herr  Kritiker  der  Auffassung  ist,  die  Haftpflicht- 
versicherung sei  unter  Umständen  gemeingefährlich  und  der  Staat  müsse  ein  wachsame« 
Auge  auf  sie  haben,  so  sei  die  ihm  zweifelsohne  bekannte  Thatsache  in  Erinnerung 
gebracht,  dass  die  Novelle  zum  Deutschen  Unfallversicherungsgesetz  der  Berufsgenossen- 
schaften, gegenüber  lebhaftem  Widerspruch  der  Privatversicherer,  das  Recht  eingeräumt 
hat,  auch  die  Haftpflichtversicherung  ihrer  Mitglieder  zu  betreiben.  Wenn  aber  der 
deutsche  Gesetzgeber,  der  jetzt  erst  ein  strenges  Aufsichtsrecht  über  die  privaten  Ver- 
sicherungsunternehmungen normiert  hat,  die  Haftpflichtversicherung  nicht  für  social 
wertvoll,  nicht  für  altruistisch  wirkend,  sondern  im  Sinne  des  Herrn  Kritikers 
geradezu  für  gelährlich  und  verwerflich  halten  tnürde,  so  hätte  er  ihr  eine  solche 
staatliche  Erweiterung  ihres  Feldes  nicht  genehmigt. 

Göttingen,  28.  März  1901.  Alfred  Manes. 

Entgegnung. 

Auf  vorstehende  Antikritik  habe  ich  in  Kürze  Folgendes  zu  erwidern: 
1.  Das    Object   der   Haftpflichtversicherung   ist    off'enbar   das   Vermögen  des  Ver- 
sicherten.   Nach    gewöhnlichem    Sprachgebrauche    besitzt    allerdings    der    Bettler    kein 


I 


Literatuibericht.  331 

Vermögen.  Fasst  man  das  Wort  „Vermögen"  aber  nicht  iin  vulgären,  sondern  im 
juristischen,  wissenschaftlichen  Sinne,  so  kann  nicht  bezweifelt  werden,  dass  durch  eine 
neu  entstehende  Schadenersatzverbindlicbkeit  das  Vermögen  auch  des  Zahlungsunfähigen 
eine  Verminderung  erfährt,  eventuell  negativ  wird.  Bestünde  nicht  die  Gefahr  einer 
solchen  Vermögensminderung  infolge  der  Haftpflicht,  würde  es  sicherlich  keine  Haftpflicht- 
versicherung geben. 

2.  Es  ist  zuzugeben,  dass  die  Haftpflichtversicherung  auch  social  günstige  Wir- 
kungen haben  kann,  nämlich  dann  —  und  nur  dann  — ,  wenn  der  Geschädigte  wegen 
Zahlungsunfähigkeit  des  zum  Schadenersatz  Verpflichteten  bei  Fehlen  der  Versicherung 
seinen  Ersatzanspruch  nicht  realisieren  könnte.  Soferne  also  mittellose  Personen  sich 
gegen  Haftpflicht  versichern,  ist  der  Standpunkt  des  Herrn  Man  es  gerechtfertigt.  Anders, 
wenn  die  fraglichen  Versicherungsverträge  von  Zahlungsfähigen,  insbesondere  von  sehr 
capitalskiäftigen  Personen,  grossen  Unternehmern  u.  dgl.,  abgeschlossen  werden.  Da  wird  die 
Haftpflicht,  welche  der  Gesetzgeber  gewissen  Personen  wegen  Fahrlässigkeit  oder  wegen 
besonderer  Gefährlichkeit  des  Betriebes  auferhgt  hat,  von  diesen  Personen  abgewälzt,  es  wird 
ein  socialer  Zweck  der  Haftpflicht  —  den  Haftpfliclitigen  zu  grösster  Sorgfalt,  zur  Verbes- 
serung der  Sicherheitsvorkehrungen  u.dgl.  zu  veranlassen  —  durch  die  Versicherung  vereitelt. 
So  haben  z.  B.  die  Cnfallversicherungsgesetze  zwar  die  Unternehmer  von  der  civilrechtlichen 
Haftung  liir  culpa  levis  befreit,  aber  sie  haben  wenigstens  deren  Verantwortlichkeit  für 
cillpa  lata  aufrechterhalten.  Diese  Verantwortlichkeit  wird  eludiert,  wenn  die  Unter- 
nehmer sich  gegen  die  Folgen  ihrer  groben  Fahrlässigkeit  durch  einen  geringen  Ver- 
sicherungsbeitrag schützen  können.  Versicherungsmaxima  und  ähnliche  Vorkehrungen 
vermögen  diesen  socialen  Schalen  höchstens  abzuschwächen,  nicht  zu  beseitigen.  Da 
nun  auch  Herr  Man  es  schwerlich  wird  behaupten  wollen,  dass  die  Haftpflichtver- 
sicherungen in  der  Mehrzahl  der  Fälle  von  besitzlosen,  zahlungsunfähigen  Personen 
eingegangen  werden,  so  folgt  daraus,  dass  die  social  schädlichen  Wirkungen  dieser  Ver- 
sicherungsart die  social  günstigen  bei  weitem  überwiegen.  Man  vergesse  nicht,  dass 
durch  die  Haftpflichtversicherung  der  ökonomische  ISachthtil  von  Obligationen  ex  delicto 
oder  quasi  ex  delicto  beseitigt  werden  soll!  Würde  Herr  Man  es  etwa  auch  eine  Ver- 
f^icherung  gegen  Geldstrafen  als  altruistisch  preisen,  weil  die  Versicherungssumme  dem 
Armenfonds  zufliessen  würde,  und  weil  sie  auch  für  zahlungsunfähige  Straffällige  gezahlt 
werden  würde?  Schiff. 


ZEITSCHßlFTEN-ÜBEßSICHT. 

JaiirhUclier  für  Kationalökouoinie  und  Statistik,  hgg.  v.  Conrad,  Elster,  Loening,  Lexis,  III.  E, 
XXI.   Band. 

5.  Heft:  Mai  1901:  Pelow.  Der  UntergaDg  der  mitt«-Ialterlichen  Stadtwirtschaft.  —  Rosendorff:  Die 
Goldpräalienpolitik  rier  Banque  de  France  und  ihre  deutschen  Lobredner. 

Deutsche  Juristen-Zeitunr,   bgg.  v.    P.   Laband,   M.    Stenglein   und   H.  Staub.    VI.  Jahrg. 

Nr.  11:  Bnchka:  Die  Gewährung  von  Anwesenheitsgeldern  an  die  Mitglieder  des  Reichstages.  — 
Förster;  Die  oberstrichteilichen  Kntscheidungen  in  Grundbuchssachen  des  neuen  Rechtes. 

Zeitschrift  für  Sodalwissenschalt,  hgg.  v.  J.  Wolf,  IV.  Jahrg.  6.  Heft. 

l-uld:  Der  Staat  nnd  die  Vertragsfreiheit.  —  Belloch:  Socialisinus  und  Communismus  im  Alterthum. 

Finanzarcliiv,  Zeitschrift  für  das  gesammte  Finanzwesen,  hgg.  von  Georg  Schanz,  XVIII.  Jahrg.  1.  Bd. 

Bnchenberger:  Die  Steuerreform  im  Grossherzogthuni  Baden  —  I.aspeyres:  Statist.  Untersuchungen 
zur  Frage  der  Steuerüb«  rwälzung. 

Tlie  Yale  Review,  Vol.  X.  No.  1. 

Hullock  :  Direct  taxes  and  the  federal  Constitution.  —  Keller:  The  beginnings  of  German  colonization. 
—  Bailey:  Personal  budgets  of  unmaried  people. 

The  Ecuuomic  Journal  of  the  British  Economic  Association.  Vol.  XI.  No.  41. 

Giffen:  Further  notices  on  vhe  economic  aspects  of  the  war.  —  Row-Fcgo:  The  statistics  of  muni- 
cipal  trading. 

Annnis   of  the   American   Academjr   of  pol.  and   soc.  science,  edit.   by  Senger.  Vol.  XVII.  No.  3. 

Hains:  The  Isthmian  Canal  from  a  military  po'nt  of  view.  —  Munro:  The  neutralisation  of  the 
Suez  Canal.  —  Devning:  A  munic'pal  programm. 

Tlie  Journal  of  Politicat  Ecouimi}-,  Vol.  IX.  No.  2. 

f'adau :  Clarks  formulae  of  wages  and  interest.  —  Afc.  Lean ;  The  railway  policy  of  Canada 
1849—1867. 

Puhlications  of  the  American  Economic  Association.  III.  Serie»,  Vol.  II.  No.  1. 

Papers  and  pro'-ePdiiig:*  of  the  XIII.  annxial  meeting. 


332 


Zeitschjiften-Uebersicht. 


John  Hopkillt)  Uiiiversity  StiMlies  in  histor.  and  pol.  science,  ed.  by  H.  B.  Adams,  XIX.  series. 
Franklin   Wdloughby.    State  activities  in  reUtion  to  labor  in  the  United-States. 

The  Quarterlr  Journal  of  Econoniics,  Vol.  XV.  No.  3. 

Seligmann:  Social  elements  in  the  theory  of  value.  —  George:  The  Chicago  building  trades 
conflict  of  1900. 

Studien  in  Hlstory,  Economic«  siml   public  Law,  Columbia  University ,  Vol.  XIII.  Xo.  1. 

Loeb :  The  legal  property  relations  of  married  parties. 

(üiornale  dcgli  Econoniisti.   Direzione:    Vit i  de  Marco,   Mnzzola,  Fantaleoni,   Zorli  1901. 

Giugno  1901:  Btrardi:  Utilitä  limites  e  costo  dl  reproduzione.  —  Coleiii:  Le  assecurazione  agrarie 
in  lta:ie. 

lÜTists  iiitcrnazional«  di  scienze  social!  e  discipline  ausiliarie.  Anno  VIII.  Vol.  XXVI.  Pasc.  CIL 

Ellero:  Le  nuove  tendenze  del  pensiero  all'  aprirsi  del  secolo  XX.  —  Hovano:  La  liberta 
'iDBCgnamenti. 

La  Klfornia  Sociale.   Direttori:   Fr.   S.  Nitti,  L.  Roux,  L.  Einaiidi.   Anno   VIII.   Vol.  XI.   Fase.  5. 

Natoli:  Sul  yalore  di  monopolio. 

Rivista  Italiana  di  Sociologia.  Anno  V.  Fase.  II. 

Tangorra:  Angelo  Messedaglia.  —  Brugi:  Logica  di  leggi  e  logica  di  scienze. 

De  Economist,  50.  Jahrgang  1901. 

Juni:  Steiannetz:  Rede  over  de  Marxistische  theorie  der  sociale  ontwickeling.  —  Ufford:  Koloniale 
Kroniek. 


^ 


DER  VIII.  INTERNATIONALE  CONGRESS 

GEGEN  DEN 

ALKOHOLISMUS  IN  WIEN  9.  BIS  U.  APRIL  190L 


VON 


PROF.  DR.  MAX  GRUBER. 


Jdjs  wird  ziemlich  allgemein  anerkannt,  dass  der  8.  internationale 
Congress  gegen  .den  Alkoholismus  ein  Erfolg  war.  Er  hatte  sich  aus- 
giebiger materieller  und  moralischer  Unterstützung  der  Regierung  zu 
erfreuen;  der  Unterrichtsminister  als  Ehrenpräsident  förderte  den  Congress 
wie  und  wo  er  konnte,  mehrere  Minister  ehrten  den  Congress  durch  ihre 
Anwesenheit  bei  der  Eröffnungssitzung,  in  welcher  der  Ministerpräsident 
Dr.  V,  Koerber  und  der  Unterrichtsminister  Dr.  v.  Hartel  warme 
Begrüssungsreden  hielten,  und  welche  durch  die  Theilnahme  der  officiellen 
Vertreter  der  meisten  auswärtigen  Regierungen,  der  Spitzen  der  Behörden 
und  autonomen  Körperschaften  sich  überaus  glänzend  gestaltete.  Die  Zahl 
der  Theilnehmer,  mehr  als  1400  aus  aller  Herren  Länder,  überstieg  alle 
Hoffnungen.  Angehörige  der  verschiedensten  politischen  und  religiösen 
Richtungen  wirkten  zusammen;  es  wurde  unermüdlich  gearbeitet.  Die  allge- 
meine Aufmerksamkeit  wurde  aufs  lebhafteste  erweckt  und  durch  wahrhaft 
mustergiltige  Leistungen  der  Tagespresse  aufs  beste  befriedigt.  Der  wert- 
vollste Erfolg  war  aber  offenbar  der,  dass  es  gelungen  war,  eine  Reihe 
hervoiTagender  Gelehrten  und  gewiegter  Sachkenner  zu  vereinigen,  treffliche 
Referate  rechtzeitig  fertigzustellen  und  die  Verhandlungen  im  grossen  und 
ganzen  sachlich  durchzuführen. 

Ganz  ohne  unangenehme  Zwischenfälle  gieng  es  allerdings  nicht  ab; 
aber  es  wäre  auch  allzu  sanguinisch  gewesen,  dies  zu  erwarten,  bei  einem 
Congresse,  an  dem  jeder  activ  theilnehmen  konnte,  der  die  kleine  Summe 
von  6  Kronen  erlegte  und  auf  dem  über  ein  Thema  verhandelt  wurde, 
das  tief  in  alle  socialen  Verhältnisse  einschneidet,  und  über  Bestrebungen, 
die  wegen  ihres  reformatorischen  oder  —  wenn  man  will  —  revolutionären 
Charakters  nicht  allein  selbständige  Geister  und  edle  Heizen,  sondern  auch 
allerhand  Narren  und  Demagogen  anlocken.  Ob  der  Congress  ein  Erfolg 
für  Oesterreich  war,  muss  sich  allerdings  erst  zeigen.  Werden  die  Wellen, 
die  er  warf,  spurlos  verschwinden  oder  haben  sie  dauernde  Veränderungen 
in  den  Geistern  erzeugt,  die  in  Unterlassungen  und  Handlungen  zutage 
treten  werden? 

Zeitschrift  für  Vt)lksA-irtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  X.  Band.  2.3 


334  Gruber. 

Den  breitesten  Raum  in  den  Verhandlungen  des  Congresses  nahm  die 
Darlegung  der  sanitären  und  socialen  Wirkungen  des  Alkohols  ein.  Für  die 
Kenner  der  Frage  brachte  sie  nicht  viel  Neues,  man  hatte  sie  aber  mitEecht  für 
uothwendig  gehalten,  weil  die  Unkenntnis  dieser  Dinge  in  Oesterreich  bisher 
eine  ganz  horrende  war.  Den  Reigen  eröffnete  der  ausgezeichnete  Marburger 
Pharmakologe  Prof.  Hans  Meyer  mit  einem  vorzüglichen  üeberblicke 
über  die  Veränderungen  der  Organfunctionen  durch  den  Alkohol.  Dann  legte 
Dr.  Wlassak-Wien  mit  musterhafter  Kürze,  Schärfe  und  Klarheit  die 
Beeinflussung  der  Hirnfunctionen  durch  den  Alkohol  genauer  dar  und 
zeigte  an  der  Hand  der  Experimente  Kräpelins  und  seiner  Schüler,  wie 
selbst  kleine  Alkoholmengen  imstande  sind,  auf  erstaunlich  lange  Zeit  hinaus 
die  Geschwindigkeit  und  Präcision  der  geistigen  Arbeit  zu  schädigen. 
Prof.  Weichselbau m-Wien  beleuchtete  die  pathologischen  Veränderungen 
in  allen  Organen  des  vom  Alkohol  vergifteten  Körpers  an  der  Hand  von 
Moullagen,  wahren  Meisterwerken  des  Wiener  Künstlers  Dr.  Henning. 
Prof.  V.  Wa  gn  er- Jaur  egg- Wien  erörterte  das  Delirium  tremens,  über 
dessen  Entstehung  er  eine  neue,  geistvolle  Theorie  aufstellte.  Er  erregte 
damit  lebhaften  Widerspruch,  der  aber  nur  zum  Theile  sachlich  begründet 
war.  Prof.  K  a  s  s  o  w  i  t  z-Wien  bekämpfte  aufs  energischeste  die  Verab- 
reichung von  Alkohol  an  Kinder  sowohl  in  gesunden  als  in  kranken  Tagen, 
da  der  kindliche  Organismus  ganz  besonders  empfindlich  gegen  dieses  Gift 
ist.  Kassowitz  hat  von  der  Alkoholtherapie  bei  Kindern  niemals  Nutzen, 
aber  oft  die  schwersten  Schädigungen  gesehen.  Referent  sprach  dann 
über  den  Einfluss  des  Alkohols  auf  Entstehung  und  Verlauf  von  Infections- 
krankheiten  auf  Grund  von  Thierexperimenten.  Der  Alkohol  wirkt  im 
allgemeinen  ungünstig,  erweist  sich  aber  bei  drohendem  Collaps  als  wert- 
voll, selbst  lebensrettend.  Tiefen  Eindruck  machte  Prof.  Anton-Graz 
durch  seine  meisterhaften  Auseinandersetzungen  über  Alkoholismus  und 
Erblichkeit.  Unter  Berücksichtigung  aller  möglichen  Einwände  kam  er  zu 
dem  sicheren  Schlüsse,  dass  der  Alkoholmissbrauch  der  Eltern  an  sich  d  i  r  e  c  t 
zu  Nervenkrankheiten  und  Degeneration  der  Nachkommen  führen  könne. 
Besonders  häufig  findet  sich  Idiotie  und  Epilepsie  als  Folge  der  elterlichen 
Trunksucht.  Hier  sei  nur  angeführt,  dass  bei  1000  idiotischen  Kindern 
4:71mal  chronischer  Alkoholismus  des  Vaters,  84mal  solcher  der  Mutter 
und  65mal  Trunksucht  beider  Eltern  festgestellt  wurde.  Enthült  so  die 
Wissenschaft  eine  der  schauerlichsten  Wirkungen  des  Alkoholmissbrauches, 
so  spornt  sie  anderseits  zum  Kampf  gegen  ihn  durch  die  Feststellung  an, 
dass  eine  Sanierung,  eine  Regeneration  ganzer  Familien  möglich  sei. 

Im  Anschlüsse  daran  sei  gleich  des  Vortrages  von  Dr.  B  e  z  z  o  1  a- 
Schloss  Hard  Erwähnung  gethan,  der  durch  statistische  Erhebungen  über 
die  Vertheilung  der  Geburten  von  Kindern  mit  angeborenem  Schwachsinn 
über  die  einzelnen  Monate  des  Jahres  gefunden  haben  will,  dass  schwach- 
sinnige Kinder  relativ  häufiger  zu  solchen  Zeiten  gezeugt  werden, 
in  welchen  mehr  getrunken  wird  (Weinlese,  Neujahr,  Fastnacht),  was  für 
eine  acute  Schädigung  (Vergiftung)    der  Keimzellen   im  Rausche    sprechen 


i 


Der  VIII.  internationale  Congress  gegen  den  Alkoholismus  in  Wien  etc.        335 

würde.  Diese  Angabe  verdient  jedenfalls  gründliche  Nachprüfung  an  möglichst 
ausgedehntem  Materiale.  Mit  Bezzolas  Fund  würde  die  Behauptung  eines 
Lehrers  aus  einer  WeingegendNiederösterreichs  stimmen,  die  von  Dr.  Fröhlich 
referiert  wurde,  dass  immer  7  Jahre  nach  einem  besonders  guten  Weinjahre 
ein  intellectuell  besonders  schlechter  Jahrgang  in  die  Schule  komme. 

Dr.  B  0  i  s  s  i  e  r-Paris  hat  gefunden,  dass  der  Alkohol  an  der  Entstehung 
der  progressiven  Paralyse  insoferne  betheiligt  sei,  als  einerseits  der  Alkohol- 
missbrauch zum  gefährlichen,  ausserehelichen  Coitus  verleite  und  dadurch 
zur  Verbreitung  der  Syphilis  beitrage,  welche  zur  Paralyse  führt,  und  als 
andererseits  bei  Syphilitischen  besonders  leicht  dann  Paralyse  eintrete,  wenn 
sie  alkoholische  Getränke  zu  sich  nehmen.  Die  progressive  Paralyse  sei 
gewissermaassen  das  gemeinsame  Erzeugnis  beider  Gifte,  des  syphilitischen 
und  des  Alkohols. 

Fasst  man  das  Ergebnis  aller  dieser  Vorträge  zusammen,  so  ergibt 
sich:  Wie  für  jedes  andere  Gift  gibt  es  auch  für  den  Alkohol  eine 
gewisse  Mengengrenze,  unterhalb  deren  jede  merkliche  Giftwirkung  aufbort. 
(1.  These  von  Prof.  Meyer).  Insoferne  kann  man  die  Totalabstinenz  nicht 
als  eine  absolute  Forderung  der  Physiologie  gelten  lassen.^)  Aber  die  Grenze 
der  Schädlichkeit  des  Alkohols  lässt  sich  nicht  scharf  ziehen;  sie  liegt  für 
verschiedene  Individuen  verschieden  hoch  und  jedenfalls  viel  tiefer  als 
gewöhnlich  angenommen  wird.  Die  Forschungen  Kräpelins  über  die 
Beeinflussung  der  Hirnfunctionen  allein  beweisen  schon,  dass  der  regel- 
mässige Genuss  selbst  kleiner  Alkoholraengen  nicht  gleichgiltig  ist.  Kegel- 
mässige  Aufnahme  grösserer  Alkoholmengen  ist  sicher  schädlich  und  kann 
höchstens  in  manchen  Krankheitsfällen  therapeutisch  gerechtfertigt  werden, 
obwohl  auch  dies  bestritten  wird. 

Als  Beweis  für  die  Schädlichkeit  des  Genusses  selbst  kleiner  Alkohol- 
mengen führte  Mag.  H  e  1  e  n  i  u  s-Helsingfors  die  Statistik  der  englischen 
Lebensversicherungsgesellschaften  an.  Mehrere  derselben  haben  besondere 
Abtheilungen  für  Abstinenten  errichtet  und  verlangen  von  diesen  geringere 
Prämien  beziehungsweise  zahlen  ihnen  grössere  Gewinstantheile  (Bonus), 
weil  ihre  Sterblichkeit  erheblich  niedriger  ist,  als  die  der  massigen  Trinker 
in  der  allgemeinen  Abtheilung.  So  traten  in  der  Abtheilung  der  Massigen 
der  „The  United  Kingdom  Temperance  and  General  Providence  Institution" 
in  der  Zeit  von  1866—1898  statt  10.455  erwarteten  Todesfällen  10.065=96% 
ein,  dagegen  in  der  Abtheilung  der  Abstinenten  von  7.656  erwarteten  Fällen 
nur  5.383=70^0.  Die  Versicherungsanstalt  für  Priester  „Sceptre  Life  Asso- 
ciation" hatte  1884  bis  1898  schon  in  der  Abtheilung  der  Massigen  statt 
1.658  erwarteten  nur  1.332=807o  Todesfälle.  In  der  Abstinenten-Abtheilung 
aber  kamen  gar  nur  522  statt  926  Todesfälle  vor  =  567o.  Ich  muss  gestehen, 
dass  ich,  indem  ich  diese  Zahlen  niederschreibe,  mich  der  Skepsis  anschliesse, 
die  Dr.  Jordy-Bern  auf  dem  Congresse  geäussert  hat.  Es  ist  kaum 
denkbar,  das  schon  ein  massiger  Genuss  so  verderblich  wirkt.    Dies  müsste 

^)  Sie  ist  in  erster  Linie  ein  Liebesdienst,  den  die  Abstinenten  durch  Beispiel- 
gebang  ihren  willen ssch wacheren  Mitmenschen  erweisen. 

23* 


336  •  Grubei. 

sonst  auch  im  alltäglichen  Leben  mit  ungeheurer  Deutlichkeit  hervortreten, 
z.  B.  in  der  Sterblichkeit  der  beiden  Geschlechter,  Die  Bevölkerung  eines 
Weinlandes  wie  Italien,  wo  etwa  190  bis  200  Liter  starken  Weines  auf 
den  Kopf  kommen,  müsste  ganz  unfähig  gewesen  sein,  namentlich  in  früherer 
Zeit,  wo  es  bis  ins  15.  Jahrhundert  hinein  bei  uns  keinen  Schnaps  und  relativ 
nur  wenig  Bier  und  Meth  u.  dgl.  gab,  sich  neben  der  Bevölkerung  der  nörd- 
lichen Gebirgsländer  zu  halten.  Es  wäre  aufs  dringendste  zu  wünschen,  dass 
das  Materiale  der  englischen  Gesellschaften  einmal  vollständig  zugänglich 
gemacht  und  von  einem  vorurtheilslosen,  wohlgeschulten  Statistiker  durch- 
gearbeitet würde,  um  zu  sehen,  ob  nicht  bei  den  Unterschieden  der  Sterblich- 
keit noch  andere  Momente,  wie  Verschiedenheiten  bezüglich  Alter,  Geschlecht, 
Wohlhabenheit  u.  s.  w.  mit  im  Spiele  sind. 

Was  die  socialen  Wirkungen  des  Alkoholismus  betrifft,  so  verdanken 
wir  die  wertvollste  Mittheilung  dem  Privatdocenten  und  Gerichtssecretär 
Dr.  Lö  ff  1er- Wien,  der  aus  den  Acten  des  Wiener  Landesgerichtes  und 
des  Korneubiirger  Kreisgerichtes  für  die  Jahre  1897  und  1898  den  Zusammen- 
hang zwischen  acuter  Alkoholvergiftung  (Berauschung)  und  Verbrechen 
erhob.  Es  stellte  sich  heraus,  dass  der  Procentsatz  der  Betrunkenen  bei 
gewissen  Kategorien  von  Verbrechern  ein  erstaunlich  hoher  ist.  So  waren 
von  denen,  welche  in  Wien  wegen  Majestätsbeleidigung  verurtheilt  wurden, 
557o  betrunken,  von  den  Gotteslästerern  507o.  von  den  wegen  gewalt- 
samen Widerstandes  gegen  die  Wache  oder  sonstige  Amtspersonen  Verur- 
theilten  777o-  Es  waren  zur  Zeit  der  That  betrunken  unter  den  in  Wien 
Verurtheilten  wegen  boshafter  Sachbeschädigung  637o,  wegen  gefährlicher 
Drohung  567o.  wegen  Raub  507o'  wegen  schwerer  Körperverletzung  54*17o 
(Korneuburg  5G'47o)i  wegen  schwerer  Sittlichkeitsverbrechen  267o  (K.  367o). 
Hierzu  kommen  noch  in  Wien  200,  in  Korneuburg  37  Personen,  welche  in 
voller  Berauschung  Verbrechen  begiengen.  Im  ganzen  haben  in  Wien 
478  Personen  im  nüchternen  und  681  Personen  im  trunkenen  Zustände 
Verbrechen  begangen.  Die  Betrunkenen  machten  also  58'87o  aus.  —  In  der 
Weingegend  Korneuburg  kommt  das  Verbrechen  der  schweren  Körper- 
verletzung im  Verhältnis  zur  Bevölkerungszahl  dreimal  häufiger  vor  als  in 
Wien.  —  Die  Wirkung  des  Alkohols  tritt  auch  in  der  Vertheilung  der 
genannten  Verbrechen  auf  die  Wochentage  hervor :  der  Sonntag  und  der 
„blaue"  Montag  weisen  die  weitaus  höchste  Frequenz  auf.  Mit  Kecht  konnte 
Dr.  Löffler  schliessen :  „Wenn  die  Gesellschaft  sich  erst  bevvusst  sein 
wird,  wie  theuer  sie  den  Alkohol  bezahlt,  dann  wird  sie  auf  Mittel  und 
Wege  sinnen  müssen,  diese  unausgesetzt  fliessende  Quelle  der  Verbrechen 
zu  verstopfen." 

Als  eine  ihrer  wichtigsten  Aufgaben  hatte  die  Organisations-Commission 
des  Congresses  betrachtet,  diesen  nicht  vorübergehen  zu  lassen,  ohne  etwas 
mehr  Licht  auf  die  Verhältnisse  des  Verbrauches  der  Alkoholica  und  dessen 
Wirkungen  in  Oesterreich  zu  werfen.  Die  vorbereitenden  Comites  in  den 
einzelnen  Kronländern  wurden  ersucht,  darüber  Erhebungen  zu  pflegen  und 


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I 


Der  VIII.  internationale  Congress  gegen  den  Alkoholismus  in  "Wien  etc.        337 

Gutachten  abzugeben;  mit  Unterstützung  des  Ministeriums  des  Innern 
wurden  Fragebogen  an  die  Bezirksärzte  und  mit  Unterstützung  des  Handels- 
ministeriums an  die  Gewerbeinspectoren  versendet,  durch  das  Ackerbau- 
ministerium Erhebungen  bezüglich  des  Bergbaues,  der  Land-  und  Forst- 
wirtschaft gepflogen.  Auf  statistische  Ermittlungen  musste  von  vorne- 
herein verzichtet  werden.  Es  sollten  nur  die  allgemeinen  Eindrücke  fixiert 
werden.  Natürlich  ist  das  so  gewonnene  Bild  höchst  unvollkommen.  Immer- 
hin kam  zutage,  dass,  wenn  auch  Oesterreich  im  ganzen  nicht  zu  den 
schlimmsten  Herden  des  Alkoholismus  gehört,  doch  einzelne  Gebiete,  wie 
namentlich  der  mähr.-schlesische  Bergbau-District,  an  Trunksucht  keinem 
anderen  Lande  nachstehen  (z,  B.  treffen  in  Mährisch-Ostrau  auf  den  Kopf 
der  Bevölkerung  jährlich  28  Liter  Schnaps  und  150  Liter  Bier);  dass  der 
Consum  der  Alkoholica  in  ganz  Oesterreich  schon  eine  ganz  respectable 
Höhe  erreicht  (in  seiner  Eröffnungsrede  führte  der  Unterrichtsminister  an, 
dass  Oesterreich  für  Alkoholica  mehr  als  doppelt  soviel  ausgibt,  als  für 
sein  Militärbudget) ;  dass  der  Genuss  von  Alkoholicis  bereits  unter  den 
Kindern  weitverbreitet  ist  (eine  ad  hoc  angestellte  kleine  Enquete  in  Wien 
ergab  z.  B.,  dass  jeder  3.  Schuljunge  regelmässig  Bier,  jeder  9.  Wein  und 
jeder  24.  regelmässig  Schnaps  geniesst),  und  dass  die  ökonomischen,  wie 
die  sanitären  Folgen  des  Alkoholmissbrauches  schon  schwer  genug  hervor- 
treten, und  zwar  i  n  allen  Ständen  und  Berufs  schichten  und 
nicht  allein  nach  Schnaps,  sondern  auch  infolge  vonWein- 
und  Bier  genuss.  Hier  sei  nur  erwähnt,  dass  es  in  Böhmen  allein 
25.000  polizeilich  bekannte  Säufer  mit  rund  56.000  Kindern  gibt;  dass 
Alkoholkrankheiten,  Delirium  tremens,  chronischer  Alkoholismus,  Leber- 
cirrhose,  Nierenentzündung  der  Biertrinker  und  Bierherz  überall  häufig  beob- 
achtet werden,  in  den  ungünstigsten  Gebieten  auch  schon  die  Degeneration  der 
Bevölkerung  durch  Erzeugung  minderwertiger  Nachkommenschaft  beobachtet 
wird.  Fast  von  überall  her  wird  eine  zunehmende  Verschlechte- 
rung der  Verhältnisse  gemeldet.  Ursache  ist  einerseits  ungünstige 
ökonomische  Lage  —  und  dies  gilt  insbesondere  bezüglich  der  altbekannten 
Schnapspest  (in  einzelnen  Bezirken  Nordostböhmens  ist  mit  Schnaps 
versetzte  Kartoffelsuppe  das  einzige  Gericht),  —  anderseits  die  Trinksitte. 
Aus  der  Pilsenergegend  wird  geradezu  von  Biertrunksucht  berichtet. 

Als  hervorragend  unter  den  Berichten  der  Landescomites  muss  der 
aus  Böhmen  bezeichnet  werden,  um  den  sich  Oberbezirksarzt  Dr.  P  r  e  s  1- 
Jicin,  Docent  Dr.  Matiegk  a-Prag  und  Docent  Dr.  Welemin  sky-Prag 
besonders  verdient  gemacht  haben.  Das  böhmische  Landescomite  hat  auch 
eine  Reihe  von  trefflichen  Vorschlägen  gemacht.  Es  regt  an:  inter- 
nationale Vereinbarungen  über  die  statistischen  Erhebungen  bezüglich  der 
Trunksucht,  worin  es  sich  mit  den  Forderungen  von  Director  Kiaer- 
Christiania  begegnete;  die  Einführung  einer  detaillierten  Alkoholiker- 
Verbrecher-Statistik;  eine  Statistik  über  den  Antheil  des  Alkohols  an  der 
Entstehung  gewerblicher  Unfälle;  regressive  und  präventive  gesetzliche 
Maassregeln  gegen    die  Trunksucht;   Vorsorge   für   passende  Unterbringung 


338  Gruber. 

der  Alkoholiker;  Fixierung  eines  Maximalgehaltes  der  geistigen  Getränke 
an  Alkohol;  Belehrung  der  Bevölkerung  in  allen  Schulen;  strafgesetz- 
liche Verfolgung  der  Verwendung  des  Brantweinlutschers  zur  Beruhigung 
der  Säuglinge ;  Errichung  von  Krippen  und  Kleinkinderbewahranstalten, 
ferner  von  Suppenanstalten  bei  den  Volksschulen  ;  Verbesserung  der  Wohnung 
und  Ernährung  des  Arbeiters,  Verbot  der  Entlohnung  des  Arbeiters  mit 
Brantvvein,  Bier  u.  s.  w.;  Beseitigung  des  Brantweinausschankes  in  den 
Fabrikscantinen ;  Versorgung  der  Ortschaften  mit  gutem  Trinkwassser ; 
Errichtung  alkoholfreier  Wirtschaften ;  Förderung  von  Volks-  und  Jugend- 
spiel; Veredelung  der  Volksfeste. 

Diese  gewissermaassen  officiellen  Berichte  über  die  österreichischen 
Zustände  wurden  vielfach  wirksam  ergänzt  durch  einzelne  Schilderungen.  Vor 
Allem  verdient  da  das  vortreffliche  Referat  der  Frau  Dr.  Daszynska- 
ö  0 1  i  n  s  k  a-Krakau  über  die  Verhältnisse  in  Westgalizien  genannt  zu 
werden,  dann  die  drastische  Schilderung  der  galizischen  Propination  durch 
Dr.  Jarosiewicz.  Nach  dem  Einschreiten  der  Gewerbebehörde  schreit 
die  Mittheilung  von  Prof.  Reinitz  er-Graz  Ober  die  ganz  ungesetzliche 
Entlohnung  der  Brauarbeiter  mit  Bier,  durch  welche  diese  zu  einem 
täglichen  Consum  von  6  Litern  Bier  fast  gezwungen  werden. 

Auch  der  Verfolgungen,  welche  nach  Mittheilungen  von  Propst 
Landsteiner  Mässigkeitsbestrebungen  seitens  der  k.  k.  Behörden  in 
manchen  Theilen  Ostösterreichs  ausgesetzt  waren,  sei  hier  gedacht. 

Man  muss  dringend  wünschen,  dass  —  wenn  schon  der  Congress  Oester- 
reich  zunächst  keinen  anderen  Nutzen  bringen  sollte  —  wenigstens  das  erreicht 
wird,  dass  fortdauernd  in  ganz  Oesterreich  eingehende  Erhebungen,  soviel 
als  möglich  auch  statistischer  Natur,  über  den  Verbrauch  der  verschiedenen 
Alkoholica,  über  Trinkgewohnheiten  und  Trinkfolgen  gepflegt  werden.  Die 
genaue  Kenntnis  des  Uebels  ist  die  Bedingung  seiner  Ausrottung. 


Von  dem  Abschnitte  „Bekämpfung  des  Alkoholismus "  wurde  am  aus- 
führlichsten das  Capitel  „ Trinkerheilstätten "  erörtert.  Da  die  Errichtung 
von  Trinkerheilstätten  bei  uns  in  Oesterreich  eine  höchst  dringende 
Angelegenheit  ist,  seines  gestattet,  auf  diesen  Theil  der  Verhandlungen 
etwas  gründlicher  einzugehen.  Den  Anfang  machte  Dr.  L  e  grain,  Chefarzt 
der  L'renanstalt  Ville  Evrard'  mit  einem  Vortrage  über  die  Rückfälligkeit 
der  Alkoholisten,  über  den  Geisteszustand  der  Rückfälligen  und  über  die 
Mittel  gegen  den  Rückfall.  L  e  g  r  a  i  n  hat  eine  reiche  Erfahrung,  da  die 
Irrenanstalt  in  Ville  Evrard,  die  einzige  in  Frankreich  ist,  wo  die  Trinker 
in  einer  besonderen  Abtheilung  vereinigt  sind.  Er  hat  in  4  Jahren  ungefähr 
1.600  Trinker  beobachtet.  Darunter  waren  alljährlich  20  bis  25  Proc.  Rück- 
fällige. Einzelne  davon  waren  innerhalb  10 — 12  Jahren  25,  32,  44mal  rück- 
fällig geworden.  Ihr  Leben  ist  getheilt  zwischen  Gefängnis  und  Irrenanstalt 
mit  ganz  kurzen  Freiheitspausen  dazwischen.  Diese  Leute  sind  zum  grössten- 
theile  nicht  Dipsomanen,  von  Geburt  aus  Degenerierte  —  wie  man  meinen 


Der  VIII.  internationale  Congress  gegen  den  Alkoliolismus  in  Wien  etc.        339 

könnte  —  sondern  Menschen,  die  durch  Zufall  Trinker  geworden  sind  und 
nun  jene  charakteristische  Willensschwäche  zeigen,  die  der  Alkohol  erzeugt, 
und  welche  die  Ursache  aller  socialen  Laster  der  Trinker,  vor  allem  ihrer 
Faulheit  ist.  Eine  ganze  Reihe  von  socialen  und  familiären  Momenten  trägt 
dazu  bei,  die  willensschwachen  Trinker  immer  wieder  rückfällig  zu  machen, 
so :  die  Theilnahmslosigkeit,  Härte  und  Feindseligkeit,  mit  denen  ihnen  die 
Gesellschaft  begegnet,  die  Trinksitten,  die  üble  ökonomische  Lage,  die  sie 
zu  Hause  wiederfinden  u.  s.  w.  Bei  passender  Behandlung  wäre  es  möglich, 
die  Mehrzahl  dieser  Leute  zu  retten.  Der  Anfang  mit  dieser  Behandlung 
muss  meistens  in  Anstalten  gemacht  werden.  Aber  weder  das  Gefängnis, 
noch  die  Irrenanstalt  kann  diese  Behandlung  bieten,  sondern  nur  ein 
besonderes  Trinkerasyl.  Die  L-renanstalten  fördern  häufig  die  Rückfälligkeit 
unbewusst  dadurch,  dass  sie  den  Trinkern  den  Aufenthalt  in  der  Anstalt 
viel  zu  angenehm  machen.  Da  sehr  viele  nicht  freiwillig  in  ein  solches 
Asyl  eintreten  würden,  muss  die  Gesetzgebung  die  zwangsweise  Internierung 
und  die  Zwangsbehandlung  der  Trinker  bis  zur  Heilung  ihres  Hanges  zum 
Trunk  möglich  machen.  Für  die  aus  den  Anstalten  Entlassenen  muss  durch 
Vereine  gesorgt  werden,  die  auf  der  Grundlage  vollständiger  Abstinenz 
dem  Geheilten  moralische  und  materielle  Unterstützung  gewähren.  Eine 
derartige  Gesellschalt  hat  Frau  Legrain  für  die  aus  der  Irrenanstalt  Ville 
Evrard  ausgetretenen  Trinker  mit  schönem  Erfolge  gegründet. 

Zu  derselben  Forderung  eigener  Heil-  oder  Bewaiiranstalten  für  heil- 
bare Trunksüchtige  und  zwangsweise  Internierung  der  Trinker  in  ihnen,  kam 
auch  der  Wiener  Gerichtsarzt  Prof.  Fritsch  auf  Grund  seiner  Erfahrungen 
bei  Straf-  und  Civilgerichten.  Abstrafungen  sind  bei  Alkoholisten,  die  mit 
dem  Strafgesetze  in  Conflict  gekommen  sind,  als  Heil-  oder  Besserungsmittel 
ganz  ungeeignet.  Gemeingefährliche  Trunksüchtige  sind  für  den  geordneten 
Betrieb  der  Irrenanstalten  überaus  schädlich.  Solange  aber  keine  Zwangs- 
asyle für  solche  Trinker  bestehen,  müssen  sie  in  ges&hlossenen  Irrenanstalten 
verwahrt  werden,  da  sie  in  Freiheit  gelassen  eine  Gefahr  für  die  Gesellschaft 
bilden.  Trunksüchtige,  welche  durch  Gerichtsbeschluss  oder  polizeiliche 
Verfügung  einer  Irrenanstalt  überwiesen  worden  sind,  sollten  nie  ohne 
Genehmigung  der  betreifenden  Behörde  entlassen  werden. 

Damit  setzte  sich  Prof.  Fritsch  deutlich  in  Opposition  gegen  die 
Praxis,  wie  sie  seit  dem  Jahre  1896  in  der  nied.- österr.  Landesirrenanstalt 
in  Wien  durch  Director  Tilkowsky  geübt  wird.  Die  Ueberfüllung  der 
Irrenanstalt  mit  Alkoholisten,  die  in  den  Jahren  1894  und  1895  im  Mittel 
40"2  Proc.  aller  männlichen 'Patienten  ausmachten,  und  die  Störung  des 
Betriebes  durch  diese  heterogenen,  vielfach  brutalen,  renitenten  und 
depravierten  Elemente  führte  zur  Anwendung  zweier  Mittel,  die  sich  für  die 
Wiederherstellung  von  Ruhe  und  Ordnung  in  der  Anstalt  aufs  beste  bewährt 
haben:  1.  Abweisung  a  limine  jener  arbeitsscheuen  Trunkenbolde,  von  denen 
es  bekannt  geworden  war,  dass  sie,  um  in  der  Anstalt  sorgenfreie  Verpflegung 
zu  finden,  Krankheitssymptome  simulieren  oder  sich  absichtlich  einen  Rausch 
antrinken.     46     solche    Individuen    wurden     der     Polizei     angegeben     und 


340  Grub  er. 

beschrieben;  2.  rasche  Entlassung  der  Alkoholiker,  sobald  ihre  psychischen 
Krankheitssymptome  verschwunden  sind. 

Diese  Praxis  wurde  von  Prof.  Forel  und  mehreren  anderen  Rednern 
auf  das  schärfste  kritisiert.  In  der  That  muss  man  Fälle,  wie  den  von  dem 
Wiener  Gerichtssecretär,  Docenten  Dr.  Löffler  angeführten  Fall  Siloi 
als  einen  nicht  weiter  zu  duldenden  Misstand  bezeichnen,  wenn  man  auch  bei 
einiger  Billigkeit  dem  Egoismus  der  Irrenanstalt,  sich  von  solchen  Leuten 
frei  zu  halten,  eine  gewisse  Berechtigung  nicht  aberkennen  wird. 

Siloi  wurde  42mal  abgestraft,  bis  man  erkannte,  dass  er  ein  ganz 
degeneriertes,  pathologisches  Individuum  sei.  Nun  wurde  er  innerhalb  eines 
Jahres  5mal  der  Irrenanstalt  tibergeben  und  von  dieser  5mal  „geheilt" 
entlassen.  Dann  wurde  er  wieder  auf  18  Monate  ins  Kriminal  gesperrt. 
Kaum  entlassen,  zog  er  den  Verdacht  des  Mordes  auf  sich.  Die  Gerichts- 
ärzte erklärten  ihn  wieder  für  pathologisch,  an  chronischem  Alkoholismus 
leidend.  Nun  wurde  er  wieder  der  Irrenanstalt  übergeben  und  aus  dieser 
abermals  nach  14  Tagen  freigelassen !  Dieser  eine  Fall  dürfte  völlig  genügen, 
um  zu  beweisen,  dass  die  Errichtung  von  eigenen  Trinkerasylen  für  gemein- 
gefährliche Säufer  mit  Zwangsinternierung  eine  unaufschiebbare  Noth- 
wendigkeit  ist. 

Selbstverständlich  muss  in  jedem  Falle  der  Zwangsinternierung  dafür 
gesorgt  werden,  dass  niemand  ungerechtfertigter  Weise  der  persönlichen 
Freiheit  beraubt  werden  könne,  lieber  die  Grundsätze,  nach  denen  gegen- 
über den  Trinkern  vorgegangen  werden  sollte,  sprach  zunächst  Dr.  Fuld 
aus  Mainz,  der  darauf  hinwies,  dass  das  neue  deutsche  bürgerliche  Gesetz- 
buch eine  ausreichende  gesetzliche  Grundlage  für  die  Entmündigung  von 
Gewohnheitstrinkern  und  damit  für  ihre  Unterbringung  in  Anstalten  gewähre. 
Die  gesetzlichen  Bestimmungen  bedürfen  nur  in  der  Richtung  eine  Ergänzung, 
als  auch  den  Gemeinden  und  Armenverbänden  das  Recht  zugesprochen 
werden  muss,  selbständig  den  Antrag  auf  Entmündigung  zu  stellen,  was 
gegenwärtig  nur  in  einzelnen  Bundesstaaten  zulässig  ist. 

Von  ungewöhnlicher  Wichtigkeit  war  der  Vortrag  des  Professors 
des  Strafrechtes  Dr.  Karl  Stooss-Wien.  Er  plaidierte  dafür,  dass  der 
Strafrichter  ermächtigt  werden  solle,  die  Ueberweisung  des  straffälligen 
Gewohnheitstrinkers  in  die  Trinkerheilstätte  selbst  anzuordnen.  Er  verwies 
in  dieser  Hinsicht  auf  den  Vorentwurf  des  schweizerischen  Strafgesetzbuches, 
dessen  Artikel  28  Folgendes  bestimmt:  ein  Gewohnheitstrinker,  welcher 
zu  Gefängnis  von  höchstens  einem  Jahre  verurtheilt  wurde,  kann  neben  der 
Strafe  vom  Gerichte  auf  Grund  ärztlichen  Gutachtens  in  eine  Trinkerheil- 
anstalt verwiesen  werden.  Nach  Ablauf  von  2.  Jahren  muss  die  Person  auf 
jeden  Fall  entlassen  werden;  ist  sie  schon  früher  geheilt,  so  hat  das  Gericht 
die  Entlassung  zu  verfügen. 

Ebenso  kann  ein  Gewohnheitstrinker,  welcher  wegen  Unzurechnungs- 
fähigkeit freigesprochen  wurde,  in  eine  Trinkerheilanstalt  verwiesen  werden. 

Bei  dieser  Bestimmung  ist  freilich  vorausgesetzt,  dass  der  Staat  die 
Kosten  der  Cur  übernimmt,  wenn  der  Trinker  unvermögend  ist,  aber  diese 


I 


Der  VIII.  internationale  Congress  gegen  den  Alkoholismus  in  Wien  etc.        341 

Ausgabe  wäre  sowohl  criminalpolitisch,  als  finanzpolitisch  gerechtfertigt,  da 
die  Zahl  der  Personen,  welche  durch  die  Trunksucht  zu  Verbrechen  ver- 
anlasst werden,  in  absehbarer  Zeit  abnehmen  und  der  Staat  die  Kosten  des 
überdies  unwirksamen  Strafvollzuges  an  solchen  Individuen  ersparen  würde. 

Allseitigen  Beifall  fanden  die  Postulate  für  ein  Trinkergesetz,  welche 
von  Dr.  Frank,  Director  der  cantonalen  Irrenanstalt  in  Münsterlingen,  auf- 
gestellt, von  der  schweizerischen  Psychiaterversammlung  des  Jahres  1900 
gutgeheissen  wurden  und  in  den  thurgauischen  Trinkergesetzentwurf  Ein- 
gang gefunden  haben.  Die  Grundsätze  sind  kurz  zusammengefasst  etwa 
die  folgenden:  Trinker  sind  Kranke  und  keine  Corrigenden,  deshalb 
soll  die  Ausführung  der  Trinkergesetze  der  Sanitätsbehörde  über- 
wiesen werden.  —  Die  Trennung  der  heilbaren  und  der  unheil- 
baren Trinker  ist  anzustreben  und  sind  diese  beiden  Kategorien  in 
getrennten  Anstalten  (Heilanstalten  und  Asylen)  zu  behandeln.  —  Unheil- 
bare Trinker  sind  Kranke  und  gehören  nicht  in  Zwangsarbeits- 
anstalten. —  Es  ist  zwischen  freiwilligem  und  unfreiwilligem  Eintritt  in 
die  Trinkerheilanstalt  zu  unterscheiden.  —  Der  Zwangsversorgung  soll  eine 
Verwarnung  vorhergehen.  —  Zur  Zwangsaufnahme  in  eine  Trinkerheilanstalt 
ist  ein  ärztliches  Zeugnis  nöthig,  das  aber  kein  amtsärztliches  zu  sein 
braucht.  —  Das  Recht  auf  Antrag  der  Zwangsaufnahme  soll  Verwandten, 
Vormündern,  Gemeinde-,  Armen-,  Bezirks-,  Gerichts-  und  Regierungsbehörden 
zustehen.  —  Das  Verfahren  soll  einfach  und  billig  sein,  dabei  aber  doch 
vor  Missbrauch  schützen.  —  Vollzugsbehörde  soll  eine  administrative 
Behörde  sein,  deren  Beschluss  aber  der  Bestätigung  der  beaufsichtigenden 
Sanitätsbehörde  bedarf.  —  Die  Behandlung  soll  6 — 18  Monate  dauern.  — 
Die  Kosten  des  Verfahrens  wie  der  Behandlung  sind  je  nach  Maassgabe 
der  vorhandenen  Mittel  und  der  Vermögenslage  des  Patienten  aus  dem 
Alkohol-Zehntel  (schweizerisches  Alkoholmonopol)  zu  decken.  Ebenso  soll 
daraus  die  Familie  unterstützt  werden,  falls  die  Nothlage  des  Familien- 
vaters durch  dessen  Trunksucht  verursacht  ist.  —  In  der  Regel  soll  die 
persönliche  Handlungsfähigkeit  nur  soweit  beschränkt  werden,  als  zum 
Zwecke  der  Zwangsversorgung  erforderlich  ist.  Nur  ausnahmsweise  soll  die 
Vormundschaft  des  Staates  verhängt  werden.  —  Die  Trinkerheilanstalten 
sollen  nicht  Staatsanstalten  sein,  sondern  nur  vom  Staate  beauf- 
siiclitigte  und  unterstützte  gemeinnützige  Privatanstalten,  weil  nur  so  dauernd 
taugliche  Anstaltsvorsteher  gefunden  und  der  unbedingt  erforderliche 
Zusammenhang  mit  den  Abstinenzvereinen  erreicht  und  erhalten  werden 
kann,  die  sich  der  aus  der  Anstalt  Entlassenen  annehmen  müssen,  wenn 
der  Erfolg  andauern  soll.  —  Die  Asyle  für  unheilbare  Trinker  müssen 
staatliche  Anstalten  sein. 

Wie  man  sieht,  trachtet  Frank  vor  allem  dahin,  solange  es  sich 
um  heilbare  Trinker  handelt,  dem  Eintritte  in  eine  Trinkerheilanstalt,  auch 
wenn  er  erzwungen  wird,  soviel  als  möglich  den  Charakter  des  bürgerlich 
Entwürdigenden^  zu  nehmen,  und  dem  Trinker  dadurch  und  durch  die  Her 
Stellung  von  innigen   Beziehungen   zu    den  Abstinenzvereinen    den   Wieder- 


342  Gruber. 

eintritt  in  die  bürgerliclie  Gesellschaft  soviel  als  möglich  zu  erleichtern. 
Die  Erfahrungen,  welche  man  in  der  vorbildlich  gewordenen  Trinkerheil- 
stätte in  Ellikon  (Schweiz)  gemacht  hat,  waren  dabei  maassgebend.  Der 
höchst  verdienstvolle  Leiter  dieser  Anstalt,  J.  Bosshardt,  berichtete 
übrigens  dem  Congresse  persönlich  in  sclilichten  Worten,  wie  es  zu 
machen  sei. 

Dem  grössten  Interesse  begegnete  der  Vortrag  des  Sanitätsinspectors  der 
französischen  Armee  Dr.  Eich  ar  d-Lyon,  des  Delegierten  des  französischen 
Kriegsministeriums,  über  die  Maassnahmen  zur  Bekämpfung  des  Alkoüolismus  in 
der  französischen  Armee,  die  seit  2  Jahren  mit  allem  Eifer  betrieben  werden. 
Das  Kriegsministerium  hat  darüber  eine  Reihe  von  Verfügungen  erlassen, 
deren  wichtigste  das  Verbot  des  Ausschanks  von  Brantwein  und  Liqueuren 
in  sämmtlichen  Cantinen  der  Kasernen,  Quartiere  und  Feldlager  sowie  bei 
den  Manövern  ist.  Eine  weitere  Verordnung  verfügt  die  Abhaltung  von 
Vorträgen  über  die  Wirkungen  und  Gefahren  des  Alkoholconsums,  abwechselnd 
mit  regelmässigen  Vorträgen  über  Hygiene  durch  die  Officiere  oder  durch 
die  Militärärzte,  da  das  Ausschankverbot  wirkungslos  sein  müsse,  wenn 
der  Soldat  nicht  belehrt  und  moralisch  beeinflusst  wird.  Im  Anschlüsse  an 
diesen  Vortrag  entwarf  Militärarzt  Dr.  R  u  d  1  e  r- Beifort  eine  höchst 
ansprechende  Schilderung  davon,  in  welcher  Weise  dieser  Unterricht  unter 
Zuhilfenahme  von  Projectionsbildern  ertheilt  wird.  Eine  hohe  sittliche 
Auffassung  von  der  Armee  als  nationaler  Schule  männlicher  Tüchtigkeit 
und  von  den  Pflichten  des  Officiersstandes  gegenüber  den  Soldaten  spricht 
ebenso  aus  den  beiden  Vorträgen,  wie  aus  den  Anordnungen  der  französischen 
Militärbehörden.  Das  Beispiel  Frankreichs  wird  für  die  übrigen  Staaten, 
die  es  angeht,  hoffentlich  nicht  verloren  sein. 


Sehr  lebhaft,  ja  leidenschaftlich  gieng  es  bei  den  Erörterungen  über 
Wert  oder  Unwert  des  in  Russland  seit  1895  allmählich  ins  Leben  tretenden 
Brantweinverkaufs-Monopols  her,  da  es  namentlich  einem  jugendlichen 
Redner  aus  Russland  weniger  um  die  Alkoholfrage  als  darum  zu  thun  war, 
seinen  Hass  gegen  die  russische  Regierung  zu  entladen.  Der  Präsident  der 
wissenschaftlichen  Commission  d«r  Gesellschaft  der  Volkswirte  in  St.  Peters- 
burg, Rechtsanwalt  Dr.  Borodin,  behauptete,  dass  das  Monopol  nur  den 
Staatsfinanzen  nützlich  sei,  dagegen  den  Brantweinconsum  nicht  vermindert 
und  ein  neues  demoralisierendes  Moment  in  die  Bevölkerung  gebracht  habe. 
Durch  Zulassung  commissionsweisen  Verkaufes  von  Regiebrantwein  sei  das 
Grundprincip  der  Reform  verletzt  worden.  Die  neue  Form  des  Brantwein- 
verkaufes  habe  das  Trinken  aus  der  Schenke  auf  die  Strasse  und  in  die 
Familie  verlegt.  Die  Zahl  der  Spirituosenvertriebsstellen  habe  zugenommen 
u.  s.  w.  Dagegen  traten  die  Vertreter  der  russischen  Regierung 
Dr.  Bulowski  und  Graf  S  k  arzyn  ski  lebhaft  für  das  Monopol  ein,  von 
dem  sie  bestimmt  eine  Verminderung  des  Alkoholmissbrauchs  erwarten.   Da 


Der  VIII.  internationale  Congress  gegen  den  Alkoholismus  in  Wien  etc.        343 

die  Monopolisierung  des  Verkaufes  erst  in  der  Durchführung  begriffen  ist, 
dürfte  es  überhaupt  noch  zu  früh  sein,  um  ein  verlässliches  Urtheil  über 
die  Wirkungen  desselben  auf  die  Trinksitten  und  den  Alkoholconsum  ab- 
geben zu  können,  was  auch  die  dem  Congresse  schriftlich  vorgelegte  Meinung 
des  Vorsitzenden  der  Commission  zur  Untersuchung  des  Alkoholismus  bei 
der  russischen  Gesellschaft  für  Gesundheitspflege  in  St.  Petersburg, 
Dr.  Nij  e  gor  0  dt  z  eff,  ist.  Gewiss  ist,  dass  die  russische  Regierung  in  den 
letzten  Jahren  bedeutende  Summen,  circa  3  Millionen  Rubel,  für  die 
Bekämpfung  des  Alkoholismus  zur  Verfügung  gestellt  hat,  und  dass  die 
officiellen  Temperenzcomites,  denen  gegenwärtig  beiläufig  23.000  Personen 
angehören,  eine  ungemein  rege  Thätigkeit  entfalten.  Auf  der  Pariser  Welt- 
ausstellung konnte  man  im  photographischen  Bilde  sehen,  was  alles  in  den 
letzten  Jahren  geschaffen  und  gethan  worden  ist.  Tausende  alkoholfreie 
Thee-  und  Gasthäuser,  Hunderte  von  Lesehallen,  Volksbibliotheken,  Concert- 
und  Vortragssäle,  fast  hundert  Theater  wurden  errichtet  u.  s.  w.  Graf 
Skarzyn  ski  erzählte  auf  dem  Congresse  von  den  grossartigen  alkohol- 
freien Volksfesten,  die  in  Warschau  und  anderwärts  veranstaltet  werden. 
Man  sollte  denken,  dass  dies  alles  nicht  ohne  günstige  Wirkung  bleiben  könne. 

Auch  das  schweizerische  Alkoholmonopol  wurde  von  Pastor  Mar- 
thaler-Bern  einer  scharfen  Kritik  unterzogen.  Es  habe  sich  zwar  in  tech- 
nischer und  commerzieller  Hinsicht  bewährt,  es  haben  etwa  1.500  Brennereien 
ihren  Betrieb  eingestellt,  und  in  einigen  Cantonen  sei  mit  der  Production 
der  Consum  geringer  geworden,  aber  in  anderen  Cantonen  sei  er  gestiegen, 
im  ganzen  sei  der  Brantweinconsum  in  der  Schweiz  nicht  kleiner  geworden. 
Dass  er  ohne  Monopol  gestiegen  wäre,  lasse  sich  nicht  beweisen.  Verfehlt 
war  es,  dass  die  Brantweinerzeugung  aus  Obst  und  aus  Weinabfällen  von 
der  Monopolisierung  ausgenommen,  dass  durch  die  Gesetzgebung  der 
Consum  von  Bier  und  Wein  geradezu  gefördert  wurde.  Die  Schweiz  zähle 
jetzt  vielleicht  weniger  Brantwein-,  aber  sicherlich  viel  mehr  Bier-,  Wein- 
und   Obstwein-Alkoholisten. 

Im  ganzen  war  die  Stimmung  auf  dem  Congresse,  wo-  die  Total- 
abstinenten das  Feld  ziemlich  vollständig  beherrschten,  dem  Monopol  nicht 
günstig.  Prof.  Forel-Chigny  verwarf  es  grundsätzlich,  ,da  der  Staat  aus 
der  Vergiftung  des  Volkes  keinen  Nutzen  ziehen  dürfe". 

Ich  glaube  aber,  dass  sich  die  Monopolfrage  nicht  so  einfach  abthun 
lässt.  Wenn  die  indirecte  Besteuerung  irgendwo  am  Platze  ist,  so  ist  sie 
es  gegenüber  einem  Artikel,  der  absolut  kein  Lebensbedürfnis,  sondern  nur 
ein  schädlicher  Luxus  ist.  Freilich  besteht  die  Gefahr,  dass  der  Staat  durch 
den  Steuergewinn  verlockt,  den  Consum  beständig  zu  steigern  suchen  könnte 
oder  demselben  wenigstens  nicht  energisch  entgegenträte.  Aber  gerade  da- 
gegen scheint  mir  das  Verkaufsmonopol  bei  richtiger  Durchführung  viel 
mehr  Gewähr  zu  bieten,  als  irgendeine  andere  Form  der  Besteuerung.  Ein 
unbestreitbarer  Nutzen  des  Monopols  wäre,  dass  der  Staat  die  Qualität  des 
ausgeschenkten  Schnapses  völlig  in  der  Hand  hätte  und  die  verderbliche 
Schnapserzeugung  auf  kaltem  Wege  unterdrücken  könnte,   und  dass  er  die 


344  Gruber. 

Zahl  der  Verkaufsstellen  nach  Willkür  verändern  könnte.  Er  hätte  auch 
durch  Fixierung  eines  Maximums  von  Alkohol  für  den  jährlichen  Ausschank 
im  Inlande  die  Möglichkeit,  der  ununterbrochenen  Steigerung  der  Brantwein- 
production  Einhalt  zu  thun.  Das  Interesse  des  Staates  an  Steigerung  des 
Consums  oder  wenigstens  an  dessen  Erhaltung  auf  seiner  vollen  Höhe  könnte 
dadurch  wirksam  beseitigt  werden,  dass  ein  Maximal- Steuerertrag  festgesetzt 
wird,  der  der  Staatscasse  zuzufallen  hätte,  während  alle  Ueberschüsse  propor- 
tional den  Bruttoerträgnissen  den  einzelnen  Kronländern  zu  überweisen  und 
von  diesen  zur  Bekämpfung  des  Alkoholismus  im  weitesten  Sinne,  z.  B.  durch 
Verbesserung  der  Wohnungszustände,  beziehungsweise  zur  Deckung  der 
durch  den  Alkoholmissbrauch  erwachsenden  öffentlichen  Kosten  (z.  B.  für 
Erhaltung  von  Irrenanstalten,  Trinkerasylen  u.  s.  w.)  zu  verwenden  wären. 
Die  Verminderung  des  Consums  würde  dann  auf  absehbare  Zeit  für  das 
Staatseinkommen  ganz  bedeutungslos  sein  und  nur  die  ueberschüsse  ver- 
ringern, was  aber  auch  Avieder  keinen  Schaden  brächte,  da  mit  der  merk- 
lichen Abnahme  des  Consums  auch  die  Ausgaben  der  Länder  und  Gemeinden 
für  Alkoholschäden  abnehmen  würden. 

Dadurch,  dass  der  Staat  das  Monopol  verwaltet,  der  an  der  Erhaltung 
des  Consums  auf  voller  Höhe  kein  Interesse  hätte,  und  dadurch,  dass  die 
Ueberschüsse  über  das  fixierte  Staatseinkommen  hinaus  gegen  die  Alkohol- 
schäden verwendet  werden  raüssten,  würde  der  von  B  er  gman-Stockholm 
in  einem  ausgezeichneten  Referate  über  die  schwedische  Nüchternheits- 
bewegung unter  dem  Einflüsse  von  Gesetzgebung  und  Vereinsthätigkeit 
klargelegte  Mangel  des  sonst  so  vorzüglich  bewährten  Gothenburger 
Systemes  vermieden  werden,  dass  das  allgemeine  Finanzinteresse  eine  Ver- 
minderung des  Consums  nicht  zulässt. 


Die  letzte  Sitzung  des  Congresses  war  fast  ausschliesslich  der  Frage 
Alkohol  und  Jugenderziehung  gewidmet.  Alle  Welt  war  mit  Regierun gsrath 
Quensel-Köln  vollkommen  einig  darüber,  dass  alle  Alkoholica  von  Kindern 
unter  14  Jahren  unbedingt  und  ausnahmslos  ferngehalten  werden  müssten,  und 
dass  das  Kindes-  und  Jugendalter  weitaus  das  geeignetste  sei,  um  Ver- 
ständnis und  Begeisterung  für  den  Kampf  gegen  die  Trinksitten  zu  erwerben. 

Aus  den  Verhandlungen  dürfte  noch  das  Folgende  bemerkenswert  sein. 
Zunächst  gab  der  Lehrer  Wilh.  Frei  vom  „Deutschen  Landerziehungsheim" 
des  Dr.  Lietz  in  Ilsenhurg  im  Harz,  eine  sehr  anziehende  Schilderung  der 
Mittel,  die  dort  angewendet  werden,  um  die  Schüler  enthaltsam  zu  machen. 
Keine  Verbote,  keine  Strafen  gegen  Alkoholgenuss !  Nur  durch  passende 
Ernährung  (wenig  Gewürze,  viel  Obst  u.  s.  w.),  durch  körperliche  Uebungen 
und  Spiel,  Pflege  des  Sports,  naturkundliche  und  religiös-sittliche  Belehrung, 
Anleitung  zu  socialen  Beobachtungen  wird  die  Neigung  zum  Trinken  ver- 
drängt und  wurde  erreicht,  dass  bisher  34  von  70  Schülern  freiwillig 
abstinent  geworden  sind. 

Regierungrath  Q  u  e  n  s  e  1-Köln  verlangte  obligatorischen,  planmässigeu 
Unterricht  über  die  in  den  geistigen  Getränken  liegenden  Gefahren  in  allen 


Der  VIII.  internationale  Congress  gegen  den  Alkoholismus  in  Wien  etc.        345 

Schulen  und  als  Vorbereitung  dazu  Ausbildung  sämmtlicher  Lehrer  und 
Seminaristen  in  der  Kenntnis  von  den  physiologischen  Wirkungen  des 
Alkohols.  Auch  beim  Religions-,  Lese-  und  Eechnenunterricht  soll  der 
Lehrer  die  Gelegenheit  benützen,  Abscheu  gegen  den  Alkohol  zu  erwecken. 
Der  Lehrer  selbst  muss  seine  eigenen  Trinksitten  soviel  als  möglich  ein- 
schränken. 

Wie  sehr  gegenwärtig  in  der  Schule  noch  gesündigt  wird,  lehrte  in 
drastischer  Weise  die  Verlesung  von  Stellen  aus  zahlreichen  approbierten 
Schul-  und  Volksbibliotheks-Büchern  durch  Lehrer  Mut hs am- Wien,  in 
denen  das  Trinken  und  die  Wirkungen  von  Wein  und  Brantwein  geradezu 
verherrlicht  werden. 

In  trefflicher  Weise  erörterte  Pastor  Dr.  M  artiu  s-Freienbessingen 
die  Alkoholgefahr  der  erwerbsarbeitenden  Jugend  gerade  in  dem  Alter 
zwischen  der  Entlassung  aus  der  Volksschule  und  dem  Eintritte  in  das 
Heer,  beziehungsweise  in  die  Ehe,  eine  Zeit,  in  der  die  Masse  der 
Jugend  heute  sosehr  jeder  erzieherischen  Fürsorge  entbehrt,  dass  sie  von 
Martius  mit  Recht,  geradezu  als  „Jugendwüste"  bezeichnet  werden 
konnte.  Martius  Vorschläge  zur  Abhilfe  verdienen  ernsteste  Beachtung. 
Sehr  erfreulich  waren  die  Versicherungen  des  Vertreters  des  österreichischen 
Unterrichtsministeriums  Min.-Secretärs  Dr.  Heinz  und  des  Landesschul- 
inspectors  Dr.  Rieger,  dass  die  Unterrichtsbehörden  der  Alkoholfrage  volle 
Beachtung  schenken.  Der  erstere  konnte  darauf  hinweisen,  dass  in  den  öster- 
reichischen Lehrerbildungsanstalten  der  Unterricht  in  Somatologieund  Hygiene 
schon  seit  mehreren  Jahren  obligat  sei. 


Je  genauer  man  sich  mit  dem  Problem  der  Eindämmung  des  Alkohol- 
missbrauches beschäftigt,  umso  klarer  sieht  man  ein,  dass,  so  wertvoll 
gesetzliche  und  administrative  Maassnahmen  sein  mögen,  nichts  zu  erreichen 
ist,  wenn  nicht  das  Verständnis  und  der  gute  Wille  der  Bevölkerung 
erweckt  Averden,  wenn  nicht  das  Volk  aus  sich  selbst  heraus  den  Kampf  zu 
führen  beginnt.  Damit  das  Volk  aber  dazu  gelange,  ist  es  nothwendig,  dass 
es  durch  Wort  und  Schrift  und  Beispiel  aufgeklärt  werde.  Diese  Aufklärung 
wird  am  wirksamsten  sein,  wenn  sie  von  denen  ausgeht,  auf  welche  das 
Volk  das  meiste  Vertrauen  setzt.  Ich  möchte  es  daher  zu  den  wichtigsten 
Ereignissen  des  Congresses  rechnen,  dass  der  um  die  katholische  Mässigkeits- 
bewegung  im  Deutschen  Reiche  hochverdiente  Rector  N  e  u  m  a  n  n  aus  Honneff 
a.  Rh.  eindringlich  über  diese  Bestrebungen  bei  uns  berichtete,  dass  Prof. 
A.M.  Weiss  von  der  Dominicaner-Hochschule  in  Freiburg  in  der  Schweiz  einen 
Mahnruf  an  den  katholischen  Clerus  richtete,  und  dass  die  beiden  genannten 
Herren  es  sich  nicht  verdriessen  Hessen,  in  mehreren  christlich- socialen 
Volksversammlungen  über  den  Alkoholismus  und  den  Kampf  gegen  ihn  zu 
sprechen.^)  Es  scheint  wirklich,  dass  dadurch  eine  katholische  Mässigkeits- 

^)  Der  Vortrag  des  P.  Weiss  hatte  den  treffenden  Titel  „Ohne  Alkoholreform 
keine  Socialreform". 


346  Gruber. 

bewegung  in  üesterreich  in  Gang  gebracht  worden  ist,  und  es  wäre  mit 
grösster  Freude  zu  begrüssen,  wenn,  wie  Pater  Weiss  dem  Congresse 
verkündigte,  der  österreichische  Clerus  anfangen  wollte,  den  Kampf  gegen 
diesen  Volksfeind  energisch  zu  führen.  In  den  protestantischen  Ländern 
sind  nicht  wenige  Geistliche  seit  langem  auf  das  eifrigste  in  diesem 
Kampfe  bemüht,  wie  denn  auch  an  den  Congress-Verhandlungen  zahlreiche 
protestantische  Geistliche,  bekannte  Führer  der  Mässigkeits-  oder  Abstinenz- 
bewegung hervorragend  betheiligt  waren. 

Nicht  minder  bedeutungsvoll  ist  es,  dass  der  Führer  der  österreichischen 
Socialdemokratie,  Dr.  Victor  Adler,  und  einer  der  Schweizer  Öocialisten- 
führer,  Oberrichter  Otto  Lang-Zürich,  sich  in  einer  massenhaft  besuchten 
Volksversammlung,  letzterer  auch  auf  dem  Congresse,  als  Abstinenten 
bekannten  und  die  Bekämpfung  des  Alkoholmissbrauches  als  eines  der 
wichtigsten  Mittel  des  wirtschaftlichen,  politischen  und  moralischen  Auf- 
schwunges des  Proletariates  bezeichneten.  Hoffen  wir,  dass  diese  Mahnung  auf 
fruchtbaren  Boden  fällt  und  neben  dem  Unkraut  der  Phrasen  von  dem  einen 
Uebel  des  Capitalismus  und  von  dem  Allheilmittel  des  Collectivismus 
aufkommt,  die  wir  ja  auch  auf  dem  Congresse  gehört  haben,  und  die  für 
Erzielung  demagogischer  Erfolge  allerdings  viel  besser  geeignet  sind  als  die 
Mahnung  zur  Selbstzucht  und  Selbstüberwindung. 

Die  Agitation  muss  auch  an  der  richtigen  Stelle  beginnen.  Der  Appell 
an  die  Frauen  von  den  Damen  Miss  Gray-London,  Fräulein  Ottilie 
Hoffm  ann-Bremen  und  Frl.  Marie  Paren  t-Brüssel  möge  nicht  von 
den  Frauen  Oesterreichs  ungehört  verhallen.  Die  Frauen  der  höheren 
Stände,  selbst  durchwegs  massig,  ja  zumeist  noch  abstinent,  sind  zuerst 
berufen,  dem  immer  Aveiter  umsichgreifenden  Alkoholmissbrauch  durch  ihr 
Beispiel  und  durch  ihren  entscheidenden  Einfluss  auf  das  Kindesalter  ent- 
gegen zu  treten,  und  dadurch,  dass  sie  ihren  eigenen  Körper  unvergiftet 
erhalten,  die  Gesundheit  der  nächsten  Generation  soviel  als  möglich  sicher- 
zustellen, trotz  der  Trinksünden  der  Väter. 

Auch  die  Lehrer  sollten  beherzigen,  was  ihnen  auf  dem  Congresse 
selbst  und  in  einer  besonderen,  vom  Centralverein  der  Wiener  Lehrerschaft 
und  dem  Vereine  der  Abstinenten  veranstalteten  Versammlung  dargelegt 
wurde.  Nichts  würde  mehr  geeignet  sein,  Ansehen  und  Einfluss  der  Lehrer- 
schaft zu  heben,  als  wenn  sie  durch  ihr  Verhalten  in  dieser  Sache  zeigen 
würde,  dass  sie  sich  ihrer  hohen  socialen  Pflichten  bewusst  und  zu  deren 
Erfüllung  bereit  ist. 

Im  kommenden  Herbste  wird  der  ausführliche  Congressbericht  im 
Druck  erscheinen.  Er  ist  wert,  nicht  beiseite  gelegt,  sondern  durchblättert 
und  gelesen  zu  werden.  Die  Gesichtseindrücke,  die  man  dabei  erhalten  wird, 
müssen  sich  —  sollte  man  glauben  —  in  Abwehrhandlungen  gegen  den 
Alkoholismus  umsetzen. 


DIE  ENTWICKLUNG 
DER  ÖSTERREICHISCHEN  HANDELSMARINE. 


VON 


DR-  GUSTAV  LIPPERT. 


Die  Vorbedingungen  zur  Entstehung  und  Weiterentwicklung  unserer 
Handelsmarine  schuf  Kaiser  Karl  VI.  ^)  Sein  Patent  vom  2.  Juni  1717, 
welches  die  von  den  Venetianern  als  ihrer  Hoheit  unterworfen  betrachtete 
Adria  frei  für  den  Schiffahrtsverkehr  erklärte,  zugleich  mächtigen  Schutz, 
sowie  Ahndung  fremder  Uebergriffe  in  Aussicht  stellte,  zerbrach  Zwang  und 
Fesseln,  die  bislang  Bewegung  und  Entwicklung  gehemmt  hatten;  musste 
sich  doch  jedes  Handelsschiff  gefallen  lassen,  dass  es  von  den  venetianischen 
Galeeren  in  der  lästigsten  Weise  nach  Contrebande  durchsucht  und  seine 
Ladung  mit  Beschlag  belegt  werde.  2) 

Die  Verfügung  entsprang  den  grossen,  aus  allgemeinen  Gesichtspunkten 
hervorgegangenen  handelspolitischen  Ideen  des  Kaisers,  seinem  Plane,  den 
Seehandel  zum  Gedeihen  und  zur  Blüte  zu  bringen,  wie  denn  auch  die 
kaiserlichen  Worte  an  alle  seine  innerösterreichischen  ünterthanen  ge- 
richtet sind.^) 


^)  Die  Darstellung  der  wenig  entwickelten  maritimen  Verhältnisse  an  der  öster- 
reichischen Küste  vor  Karl  VI.  gibt  der  von  Karl  Preiherrn  v.  Czöernig  verfasste 
geschichtliche  Ueberblick,  welcher  als  Einleitung  in  das  Werk  „Die  österreichische  See- 
verwaltung 1850 — 1875"  von  Ernst  Becher,  Triest  1875,  aufgenommen  wurde. 

2)  Die  Eepublik  beherrschte  die  Istrianer  und  Dalmatiner  Küste.  Sie  nöthigte  die 
Triestiner  Schiffe  ohne  Flagge  zu  fahren,  indem  sie  ihnen  auszulaufen  verwehrte,  wenn 
sie  nicht  in  Capodistria  gegen  Entrichtung  festgesetzter  Taxen  eine  schriftliche  Bewilli- 
gung eingeholt  hatten,  worin  der  Bestimmungsort  und  die  Ladung  genau  angegeben 
werden  musste.  Waren  venetianischer  Privative,  besonders  Salz,  waren  von  der  Triester 
Schiffahrt  völlig  ausgeschlossen  und  sämmtliche  Fahrzeuge  mussten  sich  einer  Durch- 
suchung von  Seite  der  zur  Ueberwachung  des  Golfes  aufgestellten  Schilfe  (bei  Pirano  und 
am  Quieto)  unterziehen.  Ein  Schiff,  welches  ohne  die  erwähnte  Bewilligung  fuhr,  wurde 
mit  der  Ladung  gleichsam  als  Prise  aufgebracht.  Geschichte  der  Stadt  Triest  von 
J.  Löwenthal,  Triest,  literarisch-artistische  Abtheilung  des  österreichischen  Lloyd  1857. 

^)  „Wir  Carl  der  Sechste,  von  Gottesgnaden  Erwählter  Komischer  Kayser  u.  s.  w. 
—  Entbieten  allen  und  jeden  Unseren  getreuen  Liwohnern  und  Ünterthanen,  was  Würden, 
Stands,  Anibts,  hochen  und  nideren  Befehls,  oder  Wesens  die  seynd,  welche  Allenthalben 
in  Unseren  In.-Oe.  Erbfürstenthumber  und  Landen  als  nambich  in  Steyer,  Kärndten  und 


348  Lippeit. 

Dieses  „unterm  dato  2.  Juny  Anno  1717  publicirte  Commercien' 
Patent  zu  erläutern  und  zu  erfrischen"  war  das  im  wesentlichen  gleich- 
lautende Patent  vom  15.  März  1719  bestimmt,  welches  in  Verbindung  mit 
dem  drei  Tage  später  (18.  März  1719)  datierten  sogenanntea  Freihafen- 
Privileg  für  Triest  und  Fiume  die  Grundsteine  zur  Entwicklung  des  See- 
handels der  Monarchie  legte. 

Eine  günstige  geographische  Lage,  gute  Strassenverbindungen  mit  dem 
Hinterlande,  bereits  vorhandene  Anfänge  commerziellen  und  maritimen 
Lebens  Hessen  unter  mehreren  in  Betracht  gezogenen  Küstenorten  ^)   Triest 


Crain,  wie  auch  Görtz,  Gradisca,  Triest,  St.-Veit  am  Pflaumb,  und  allen  übrigen  Unseren 
In  -Oe.  Erblanden,  Meer-Küsten  und  Porten  wohnen,  und  sich  alldorten  sesshaft  befinden, 
oder  sich  künftig  daselbsten  unterrichten  und  nidersetzen  werden,  Unser  Kayser- 
König-  und  Lands-Fürstliche  Gnad,  und  alles  Gutes,  und  thun  hiermit  kundt  aller- 
männiglich.  - — 

Demnach  wir  zu  Einricht-Behörder-  und  Vermehrung  des  Commercii  in  allen 
Unseren  Erb-Künigreich-  und  Landen,  vornehmlich  aber  in  Unseren  gesambten  In.-Oe. 
Erb-Landen  und  Meer-Porten  zu  derenselben  Aufnamb  und  Wachsthumb  bei  Beobacht- 
und  Herställung  deren  hierzun  erforderlichen  essential-Mittlen,  unter  anderen  haubtsächlich 
die  Stabilirung  der  gesicherten  auch  frej'en  Navigation  und  Schiffahrth  durch  das  Adria- 
ticum,  so  ohne  Ertheilung  gewisser  Freyheit  und  anderen  requisiten  nicht  wohl  geschehen 
kann,  so  nötig  als  Vortrag-  und  erspriesslich  erachtet,  und  dahero  auf  den  Uns 
geschehenen  umbständlichen  Vortrag  gnädigst  resolviert  haben,  dass  Unsere  Königlich- 
Hungar-  und  Croatischen  Meer-Gränitzeren,  wie  auch  all-  und  jeden  auf  Unseren  Lands- 
Fürstlichen  In.-Oe.  Meer-Küsten  und  Porten  befindlichen,  oder  künftigen  daselbst  nieder- 
setzenden und  Unserer  Lands-Fürstlichen  Bottmässigkeit  sich  ergebenden  Inwohnern- 
Unterthanen  und  Getreuen,  welche  zu  Einriebt-  und  best-möglichster  Standbringung  dess 
Commercii  auf  obbedeute  Schifferth  sich  verlegen,  armiren,  und  das  Commercium  frey 
treiben  wollen,  solches  alles  von  Uns  hiemit  gnädigst  erlaubt  und  denenselben  dise  Un- 
sere Resolution  und  Genehmhaltung  durch  gegenwärtiges  offenes  Patent  kundt  gemacht, 
auch  jedermann  von  Unsertwegen  versichert  wird,  was  gestalten  Wir  obbesagt:  Unseren 
Insassen,  auch  anderen  Getreuen,  welche  zu  Einführung  der  Schiffahrt,  und  des  Com- 
mercii mit  ihren  Schiffen  von  Unseren  In.-Oe.  Meer-Porten  auslauffen  werden,  nicht  allein 
Unsere  Kayser-  und  Lands-Fürstliche  Flaggen  zuzulassen,  und  derowegen  denenselben  auf 
ihr  gebührendes  Anmelden  das  benötigte  Patent  durch  Unsere  In.-Oe.  Geheimbe  Hof- 
Cantzley  zu  ertlieilen,  wie  nicht  minder  dieselbe  (allenfalls  dergleichene  Schiff  oder  Effetti 
von  einer  anderen  Potenz  wider  Verhoffen  angehalten  oder  sonsten  tnrbirt,  und  beein- 
trächtiget werden  solten)  kräfftigist  zu  schützen,  und  mithin  dergleichen  Torto  und 
Schaden  auf  alle  Weise  zu  vindiciren,  und  so  gestalten,  als  wann  solcher  Unser  Provinz 
Selbsten  widerfahrete,  aufzunemen,  wie  auch  zu  solchem  Ende  auf  alle  Mittel  und  Weeg 
zu  Verschaffung  alsobaldiger  Satisfaction  bedacht  zu  seyn,  sondern  auch  jene,  welche  das 
Commercium  per  Mare  Adriaticum  anfangen,  und  sich  zu  solchen  mit  Schiffen,  auch  von 
frembden  Orthen  auf  Unseren  Oesterreichischen  Meer-Porten  einfinden  werden,  mit 
besonderin  Kayser-  und  Lands-Fürstlichen  Gnaden  und  Preyheiten  gnädigst  anzusehen, 
und  zu  begnaden,  wie  ingleichen  denen  Trafficanten  mittels  Satzung  gewisser  Ordnung 
und  Constitutione  die  förderliche  Justiz  ohne  Umtrieb,  mithin  summarissime,  et  paratä 
Executione,  gleichwie  es  in  andern  Orthen,  und  wohlgerichteten  Handels- Städten  gewöhn- 
lich, auch  sonsten  Handlungs-Recht  ist,  administriren:  und  andurch  das  freye  Commer- 
cium proseguiren:  wiezumahlen  auch  zu  solchen  Ende  ein  gewisses  allschon  von  Uns 
gnädigst  approbirtes  Wechsl-Recht  gleichfalls  nach  Beschaffenheit  in  Unseren  gesambten 
In.-Oe.  Erblanden  allernächstens  einrichten  und  publiciren  zu  lassen." 
1)  Darunter  Aquileja  und  Duino. 


Die  Entwicklung  der  österreichischen  Handelsmarine.  349 

als  den  besten  Stützpunkt^)  für  die  Handelsoperationen  erscheinen,  deren 
Förderung  das  bezogene  Patent  vom  18,  März  1719  herbeizuführen  gedachte.  ^) 
Dieses  Patent  vom  18.  März  1719  schuf  eigentlich  nur  einen  Punto  franco, 
ein  Freigebiet.  Punto  franco  war  der  Hafen  (etwa  die  heutige  Sacchetta) 
und  die  neuerbauten  Cameral-Magazine  sammt  den  sich  daran  anschliessenden 
Privatmagazinen.  Im  Punto  franco  durfte  von  Schiff  zu  Schiff,  in  den 
Magazinen  von  Hand  zu  Hand  Eigenthumsübertragung  ohne  Entrichtung 
irgendwelcher  Abgaben  stattfinden.  Als  Behörde  fungierte  im  Freihafen  der 
kaiserliche  Obereinnehmer,  welcher  auch  die  Magazine  zu  verwalten  und  zu 

^)  Die  Venetianer  erhoben  geringen  Einspruch  gegen  die  Wahl  Triests  zum  Frei- 
hafen in  der  Voraussetzung,  dass  die  bestehenden  Hindernisse  als  die  Bora,  die  Abnei- 
gung der  Bewohner  für  grosse  UnLernehmungen,  der  Mangel  an  Kaum  zu  neuen  An- 
siedlungen  ohnehin  nicht  zu  besiegen  sein  würden.  Sie  betrachteten  deshalb  die  Errichtung 
eines  Emporiums  in  Triest  als  einen  völlig  verfehlten  Versuch. 

^)  „Denen  fremden  Trafficanten^  Schiff-Patronen,  Manufacturisten  und  andern 
Künstlern,  so  des  Commercij  halber  sich  in  Unsere  In.-Oe.  Erb-Lande  zu  überziehen  und 
ansässig  zu  machen;  Lust  und  Verlangen  haben,  wo  es  einem  jeden  daselbst  beliebig  und 
anständig  seyn  kan,  und  mag,  soll  ein  vergnügliches  Unterkommen,  auch  freye  Treibung 
seines  Handels,  Manufactur  oder  Kunst  gestattet,  und  diessfals  all-gedeulicher  Schutz 
gehalten,  Avie  nicht  weniger  zu  solchem  Ende  an  der  bereits  angefangenen  Verbeser-  und 
Einrichtung,  wie  auch  Erweiterung  der  Haubt-Strassen,  damit  selbe  zu  Beförderung  dess 
Commercij  mithin  zu  Überfuhr-  und  Fortbringung  deren  Waaren  nach  guter  Handlungs- 
Arth  und  üblichen  Gewonheit,  tauglich  und  wandelbahr  gemacht,  unaussetzlich  fort 
gearbeithet,  und  ehist  zu  Ende  gebracht,  auch  so  gestalten  künfftighin  unterhalten 
werden. 

Dahero  zu  Behuff  alles  dessen  vergünstigen  Wir  allen  Handels-  und  Kauff-Leuten 
hiemit  gnädigst,  dass  sie  in  allen  Häven,  Keviren,  und  Ströhmen  in  Unseren  In.-Oe. 
Erb-Fürstenthumben  und  Landen,  ohne  einig  sicheren  Geleyth,  oder  anderer  General- 
oder Special-Erlaubniss,  sowohl  mit  ihren  eignen,  als  gemüttenden  Schiffen,  unbeladen 
oder  beladen,  mit  allerhand  Gütter  und  Kauffmanschaften  ankommen,  sich  in  selbigen 
aufhalten,  und  wann  es  ihnen  beliebt,  wieder  aussegeln  können  und  mögen. 

Darumben  dann  wir  zu  solchem  Ende  zu  Porti  Franchi  Unsere  an  dem  Mari 
Adriatico  liegende  beede  Statt  Fiume  und  Triest  derzeit  hiemit  gnädigst  benenset  haben, 
wo  solchem  nechst  alle  anlandende  frembde  Trafficanten,  die  sonsten  auss  Unseren  Erb- 
landen von  anderter,  dritter,  vierdter,  oder  wohl  gar  von  fünfter  Hani  hergenommene 
Effetti  künftighin  mehrern  Theils  von  erster  Hand,  folglich  mit  grossen  Nutzen  zu 
erhandeln,  und  hiervon  ferern  Gewinn  zu  suchen  gute  Gelegenheit  überkommen  können. 

Massen  Wir  zu  mehrerer  Sicherheit  und  Beförderung  der  Sachen  nicht  allein  wegen 
Anleg-  und  stabilirung  einer  perpetuirlichen  Contumaciae  eine  besondere  Ordnung  ver- 
fassen, und  zu  deren  genauen  Befolgung  nechstens  ad  publicandum  geben  lassen,  sondern 
auch  auf  obbemeltdte  beede  Porti  Franchi  zu  Fiume  und  Triest  folgende  Special  Frey- 
heiten  von  uns  gnädigst  ertheilet,  und  zu  jedermännigliches  Nachricht  kundt  gemacht 
werden,  als  erstlich,  dass  ein  jeder  Trafficant,  Schiff-Capitain,  Patron  und  andere  der- 
gleichen in  sothane  Unsere  beede  Porti  Franchi  je-  und  allzeit  mit  oder  ohne  Ladung 
ohngehindert  und  frey  ein-  und  ausslauffen,  darinnen  nach  ihren  Belieben  sowohl  in 
eigner  Persohn,  als  durch  ihre  Agenten  und  Factorn,  wie  sie  es  am  Besten  und 
bequemisten  zu  seyn  von  Selbsten  erachten  werden,  Waaren  und  Effetti  erhandlen.  ein- 
laden und  aussführen,  ohne  dass  er  von  seinen  Aufenthalt  oder  für  das  Ein-  und  Aus- 
lauffen,  unseren  Beambten  ein  Schutz-Geld,  oder  sogenantes  Regal,  oder  eine  andere 
Gebühr,  wie  die  immer  Nahmen  haben  könnte,  zureichen  schuldig  seyn,  zumahlen  auch 
von  denen  hinein  führenden  Waaren,  ein  mehrers  nicht  zu  entrichten  seyn  wird,  als:  ein 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  X.  Band.  24 


350  Lippert. 

beaufsichtigen,  die  Gebüren  eiiizuheben  und  die  Schmuggler  zu  bestrafen 
hatte.  (Instruction  vom  19.  November  1725  für  die  Commandanten  und 
Beamten  des  Freihafens.)  Die  Stadt  selbst  nahm  damals  an  dem  Privileg 
nicht  theil;  im  Freigebiete  war  jeder  Kleinverkauf  strenge  untersagt  und 
der  Verkauf  im  grossen  nicht  unter  hundert  Thalern  Wert  gestattet.  Später 
(30.  Mai  1731)  wurde  die  Zollfreiheit  auch  den  zu  Lande  angekommenen 
Waren  eingeräumt,  aber  immer  nur  auf  den  Punto  franco  beschränkt.  Für 
die  Stadt  bewilligte  man  übrigens  schon  1729  „freie  Messen",  das  heisst 
die  abgabefreie  Abhaltung  eines  zweiwöchentlichen  Marktes  an  einem  eigens 
zugewiesenen  Platze. 

Durch  Begünstigung  der  zur  Einwanderung  eingeladenen  fremden  Kauf- 
leute trachtete  der  Kaisei'  einen  selbständigen  Grosshandel  zu  schauen  und 
Capitalien  ins  Land  zu  ziehen.  Umsichtig  befasste  er  sich  mit  allen  Fragen 
und  Aufgaben,  welche  der  Förderung  des  Handelsstandes  zweckdienlich 
schienen  und  einer  fürsorglichen  Hafen-  und  Seesanitätsverwaltung  zufallen.  ^) 
1722  wurde  ein  eigenes  Handelsgericht  eingesetzt,  das  auch  in  Seesachen 
zur  Entscheidung  berufen  war. 

Er  liess  1720  ein  Seelazareth  erbauen,  welches  nach  ihm  benannt 
wurde  und  noch  heute,  wenngleich  etwas  verändert  und  anderen  Zwecken 
dienend,  besteht.  -)  In  das  Jahr  1731  fällt  die  Errichtung  der  Obersten 
Commerz-Intendanz  für  sämmtliche  auf  den  Handel  bezügliche  Angelegen- 
heiten. ^)  Die  für  diese  Behörde  erlassene  Instruction  vom  2.  Februar  1732 
gibt  •  ein  ausführliches  Bild  der  Pläne,  welche  dem  Kaiser  hinsichtlich  der 
Hebung  des  Seehandels  vorschwebten. 

Handelsschiffe  besass  die  Stadt  schon  längere  Zeit,  es  waren  dies  aber 
nur  kleine,  für  die  Küstenfahrt  geeignete  Segler  nach  dem  Typus  der  Braz- 
zeren,  Tartanen  oder  Marzilianen. 

Die  im  Jahre  1719  mit  einem  Capitale  von  einer  Million  Thalern 
geschaffene  orientalische  Handelscompagnie  (mit  dem  Sitze  in  Wien  und 
einer  Zweigniederlassung  in  Triest),  zu   deren  Actionären  der  Kaiser  selbst 


ein  halb  pr.  Cento  Consulats,  oder  sogenannten  Admiralitätszoll,  von  denen  verkaufften 
oder  sonsten  verhandleten  Waaren  und  Effetti  nach  der  von  dem  Praeside  dess  Consulats 
oder  Wechsl-Gerichts-Eatli  mit  Zuziehung  einer  oder  andern  Persohn  von  jener  Nation, 
von  der  das  ankommende  Schiff  ist,  gemachten  Schätzung. 

Die  an  Unsern  Haven  ankommende  Schiff  wollen  Wir  aller  Visitation  befrejet, 
dahin  gegen  die  Trafficanten  verbunden  und  obligirt  haben,  ihre  authentische  Passaport. 
worinnen  der  Nahmen  dess  Schiff-Patrons  sein  Aufenthalt,  und  dess  Schiffs-Freyheit 
sambt  einer  von  seiner  Behörde  aufzuweisen  habenden  gefärtigten  authentischen  Specifi- 
cation  ihrer  Ladung  von  jenen  Orthen,  wo  sie  aussgeloffen  seynd  zu  zeigen," 

^)  Der  Kaiser  hat  Triest  im  Jahre  1728  selbst  besucht,  um  sich  persönlich  von  den 
Fortschritten  zu  überzeugen  und  die  Bedürfnisse  und  Wünsche,  insbesondere  soweit  sie 
das  Gedeihen  des  Handels  betrafen,  kennen  zu  lernen. 

2)  In  dem  S.  Carlo-Lazareth  hatte  die  Kriegsmarine  bereits  seit  1828  ein  Magazin 
in  Miete;  mit  25.  Februar  1849  wurde  ihr  die  ganze  Anlage  vollständig  zum  Gebrauche 
überlassen. 

^)  Aufgehoben  wurde  diese  collegial  organisierte  Behörde  durch  die  Eesolution 
vom  13.  April  1776  und  ihre  Geschäftsgebarung  einem  Gouverneur  übertragen. 


^  Die  Entwicklung  der  österreichischen  Handelsmarine.  351 

zählte,  hatte  unter  anderen  vielen  ausserordentlichen  Vergünstigungen  auch 
das  Kecht,  Schilfe  über  60  Fuss  Länge  zu  bauen,  sowie  Ausrüstungsgegen- 
stände, Segel,  Taue,  Theer,  Eisen-  und  Kupferbestandtheile  herzustellen. 
Sie  errichtete  eine  Schiffbauanstalt  von  grossem  ünafange  ^),  aut  welcher 
bereits  1719  ein  Schiff  ,11  primogenito"  vom  Stapel  gelassen  worden  ist; 
dasselbe  gieng  mit  zwei  anderen  Schiffen  der  Gesellschaft  nach  Portugal 
und  wurde  daselbst  1723  verkauft.  Die  Werfte  wurde  späterhin,  1733,  vom 
Kaiser  für  Zwecke  eines  Arsenales  der  Kriegsmarine  erworben;  hierauf  ver- 
legte die  Corapagnie  den  Schiffsbau  nach  Fiume  und  Buccari.  Sie  unterhielt 
Schiffahrtsverbindungen  und  Handelsbeziehungen  mit  Portugal,  Spanien, 
Constantinopel  und  der  Levante. 

Diese  verheissungsvoUe,  gross  angelegte  Unternehmung  überlebte  jedoch 
ihren  Schöpfer  nicht  lange,  ^)  der,  nach  allen  Seiten  Impulse  gebend,  in  dem 
denkwürdigen  Jahre  1719  vorwiegend  nach  den  Kathschlägen  des  Prinzen 
Eugen  auch  die  Bildung  einer  Kriegsmarine  als  nothwendigen  Schutzes  der 
Handelsflotte  deciretiert  hatte. 

Nachdem  Karl  VI.  sein  Augenmerk  der  Adria  und  der  Entwicklung 
des  Seeverkehres  zugewendet,  trat  Maria  Theresia  mit  grösserem 
Nachdrucke,  durch  eine  Reihe  umfassender  Maassnahmen  an  die  Hebung  der 
mercantilen  Bedeutung  der  Küstenländer  und  an  die  Schaffung  der  Handels- 
marine heran.  Triests  Geschichte  in  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts 
ist  geradezu  ein  Stück  Geschichte  der  handelspolitischen  Thätigkeit  der 
Kaiserin.  „Zielbewusstes  und  kräftiges  Eingreifen  bezeichnet  ihre  Regierungs- 
zeit. Regelung  der  Gesetzgebung,  stramm  organisierte  Verwaltung,  rasche 
und  sachgemässe  Rechtspflege,  Hebung  der  Industrie  und  Landwirtschaft  im 
Zusammenhange  mit  einer  gesunden  Handelspolitik,  Bildung  eines  kräftigen 
und  creditfähigen  Handelsstandes  und  Beförderung  der  Schiffahrt  sind  die 
Ziele,  welche  der  Kaiserin  vorschwebten,  und  welche  sie,  unentwegt  durch 
widrige  Verhältnisse,  zu  erreichen  strebte  und  erreichte!"  ^) 

Die  Schwierigkeiten  waren  in  der  That  keine  geringen;  das  Litorale 
und  selbst  Triest  hatte  keinen  nennenswerten,  so  gut  wie  gar  keinen  eigenen 
Handel;  der  Verkehr  wurde  auf  Rechnung  römischer  und  puglieser  Kauf- 
leute besorgt,  welche  naturgemäss  vorzogen,  sich  ihrer  eigenen  Schiffe  zu 
bedienen. 

Die  Bevölkerungsverhältnisse  in  den  maassgebenden  Hafenorten  waren 
überhaupt  der  Entwicklung  des  Seeverkehres  nicht  besonders  günstig;  der 
Credit   der  Plätze   war   ein    sehr   geringer,  namentlich  der  Geldverkehr  mit 


^)  Dieselbe  umfasste  die  Gründe,  auf  denen  heutzutage  das  Tergesteum,  das 
Communaltheater,  der  Theaterplatz  und  einige  anstossende   Strassenzüge  sich  befinden. 

^)  Ihr  Privileg  lief  1742  ab.  Vielleicht  war  das  leitende  Personale  der  Ausführung 
der  kühnen  Pläne  nicht  gewachsen.  Jedenfalls  gab  sie  aber  der  Stadt  das  erste  Beispiel 
eines  aufs  Grosse  gerichteten  Handels  und  der  Wirksamkeit  von  vereinigten  Capitals- 
kräften. 

^)  Maria  Theresia  und  die  Handelsmarine  von  N.  Ebner  v.  Ebenthal], 
Triest  1888. 

24* 


352  Lippert. 

dem  Auslände  gestaltete  sich  sehr  verwickelt  und  umständlich;  man  war  in 
dieser  Kichtung  fast  ausschliesslich  auf  die  Vermittlung  Wiens  oder  Venedigs 
angewiesen.  Zeitweise  war  die  finanzielle  Lage  und  die  Capitalskräftigkeit 
Triests  eine  keineswegs  günstige. 

Die  Sicherheit  des  Mittelmeeres  Hess  sehr  zu  wünschen  übrig.  Das 
Verhalten  der  Barbareskenstaaten,  deren  Kaubschiffe  sich  auch  bis  in  den 
südlichen  Theil  der  Adria  (liagusa,  Lissa)  wagten,  wirkte  lähmend  auf  die 
Entwicklung  der  erbländischen  Marine,  wie  folgende,  aus  einer  charakte- 
ristischen Epoche  herausgegriffene  Zuwachszahlen  der  in  einem  Jahre 
patentierten  Schiffe  ersehen  lassen: 


1761 

22 

Schiffe  mit  3.016 

Tonnen 

1766 

6  Schiffe  mit      978  Tonnen 

1762 

14 

» 

n     1.479 

» 

1767 

8       ,         ,        904         , 

1763 

19 

9 

,     2.423 

» 

1768 

6       ,         ,     1.070 

1764 

21 

D 

.     3.446 

» 

1769 

3       ,         ,        274         , 

1765 

2 

1 

.        219 

n 

Kennzeichnend  für  die  damalige  Lage  ist,  dass  bei  dem  Umstände,  als 
die  Anläufe  zur  systematischen  Bildung  einer  Kriegsmarine  scheiterten, 
nichts  anderes  erübrigte,  als  die  Armierung  der  einzelnen  Kauffahrer  zu 
fördern  und  Waffenthaten  zur  See  entsprechend  zu  belohnen. 

Kein  Wunder  auch,  dass  die  Schiffahrtsverbindungen  in  engsten  Grenzen 
sich  bewegten.  Im  westlichen  Becken  des  Mittelmeeres  waren  sie  durch  die 
Piraterei  ausgeschlossen;  Fahrten  über  Gibraltar  hinaus  kamen  nur  selten 
vor;  sie  beschränkten  sich  auf  das  adriatische  Meer  und  die  Levante.  Hier 
aber  war  ein  harter,  weil  mit  ungleichen  Waffen  geführter  Wettkampf  nicht 
bloss  mit  Venedig  und  Kagusa,  sondern  auch  mit  den  Schiffen  des  Kirchen- 
staates und  Neapel  zu  bestehen. 

Da  harrten  grosse,  umfassende  Aufgaben  der  Lösung. 

Die  Hebung  des  Litorales  und  die  Bildung  einer  nationalen  Handels- 
marine war  nur  durch  Leitung  des  Handelszuges  nach  den  Häfen  der  Adria 
möglich,  durch  bevorzugende  Fürsorge  für  deren  grössten,  Triest  selbst. 
Die  Kaiserin  bestätigte  daher  mit  Kesolution  vom  9.  Jänner  1745 
die  städtischen  Privilegien  „wie  es  die  wahre  Aufnahme  der  Stadt  und 
eines  Porto  franco  erfordert",  und  ertheilte  gleichzeitig  verschiedene  Begün- 
stigungen. Das  Freihafenprivileg  wurde  erst  späterhin  mit  Kesolution  vom 
27.  April  1769  bestätigt  und  nunmehr  die  Zollfreiheit  auch  auf  die  Stadt 
und  beinahe  ihr  ganzes  Gebiet  ausgedehnt. 

Die  Wirkungen  der  Ertheilung  des,  Privilegs  auf  den  öffentlichen 
Geist  waren  ganz  eigenthümliche.  Zuerst  überwog  Jubel  und  Dankbarkeit, 
dann  trat  ein  merkwürdiger  Kückschlag  ein.  Die  alten  Bürger,  welche  sich 
bisher  nur  in  kleineren  Handelsgeschäften  bethätigt  und  mit  ihren  Stadt- 
angelegenheiten befasst  hatten,  sahen  sich  plötzlich  in  eine  Zeit  fieberhafter 
Thätigkeit,  unaufliörlicher  Bewegung  und  einer  gewissen  Ausschliesslichkeit 
der  auf  Handelsoperationen  hingelenkten  Gedankenrichtung  hineingezogen, 
dergestalt,  dass    anfangs    sogar   ein    Gegensatz    zwischen   alten   und   neuen 


Die  Entwicklung  der  österreichischen  Handelsmarine.  353 

Bestrebungen  zutage  trat,  welcher  erst  allmählich  wieder  ausgeglichen 
wurde. 

An  einem  eigenen  Handelsstande  im  heutigen  Sinne  fehlte  es  ja  eigent- 
lich; der  Handel  lag  zumeist  in  den  Händen  von  fremden,  im  Küstenlande 
nicht  ansässigen  Kaufleuten;  hier  musste  eingreifend  Abhilfe  geschaffen,  das 
heisst  die  Heranziehung  Auswärtiger  durch  allerlei  Privilegien  und  Frei- 
heiten bewerkstelligt  werden.  1751  wurde  die  erste  Sensalenordnung  ver- 
öffentlicht. Man  suchte  ferner  dem  Handelsstand  (Corpo  dei  Mercanti)  eine 
feste  Verfassung  zu  geben  und  eine  Handelsvertretung  ins  Leben  zu  rufen, 
welche  die  allgemeinen  Interessen  in  jeder  Kichtung  zu  wahren  hatte.  Mit 
Resolution  vom  20.  Juni  1753  erfolgte  die  Genehmigung  der  Börsenordnung 
für  die  in  diesem  Jahre  errichtete  Handelsbörse. 

Hebung  der  Bodencultur  und  Industrie  sollten  die  Bedingungen  des 
Ausfuhrhandels  schaffen.  Die  neuentstandenen  Unternehmungen  wurden  im 
Sinne  der  damals  herrschenden  nationalökonomischen  Anschauungen  durch 
Erlassung  von  Ein-  bezw.  Ausfuhrverboten,  sowie  durch  Prämien,  ferner 
durch  Mauth-  und  Zollbegünstigungen  (ünterscheidungszölle)  gefördert.  Der 
Strassenverbesserung  wurde  eingehende  Sorgfalt  gewidmet,  die  den  Verkehr 
höchst  beschränkende  Fuhrwesen-Rollo-Ordnung,  nach  welcher  die  Benützung 
der  Fuhrwerke  nicht  jedermann  freigestellt  war,  aufgehoben. 

Behufs  Hebung  des  Credites  schritt  man  an  die  Errichtung  einer 
Versicherungsgesellschaft  und  einer  damit  in  Zusammenhang  stehenden  Leih- 
bank (Banco  d'  imprestito). 

Ganz  besonders  war  Maria  Theresia  auf  die  Herstellung  von 
Handelsbeziehungen  bedacht,  auf  die  Vermehrung  der  Verbindungen  zur  See 
und  die  gedeihliche  Entwicklung  der  Handelsschiffahrt.  Nicht  ohne  Erfolg 
waren  die  Bemühungen  zur  Gewinnung  eines  unmittelbaren  Verkehres  mit 
dem  österreichischen  Theile  der  Lombardei.  Hier  musste  hauptsächlich  das 
Handelsmonopol  Venedigs  gebrochen  werden.  Die  wichtigste,  auch  in  schiff- 
fahrtlicher  Beziehung  bedeutungsvolle  Verfügung  war  die  Activierung  einer 
regelmässigen  Schiffahrtsverbindung  zwischen  Triest  und  Pontelagoscuio  di 
Ferrara  (Resolutionen  vom  14.  Juni  1757  und  20.  Februar  1766)  und  eine 
zehntägige  Schiffsverbindung  zwischen  Triest  und  Mesola,  dann  Cremona  und 
Pavia  mit  Benützung  des  Poflusses. 

Der  Verkehr  mit  der  Levante  hatte  sich  bereits  in  den  ersten  Regierungs- 
jahren der  Kaiserin  ziemlich  rege  gestaltet;  doch  klagte  man  über  den 
Mangel  eines  Handelsstandes  im  Litorale  und  geeigneter  Consuln  in  den 
levantinischen  Handelsplätzen.  Man  suchte  daher  Levantiner,  vornehmlich 
griechische  Kaufleute  nach  Triest  zu  ziehen,  welche  vermöge  ihrer  Kennt- 
nisse zur  Kräftigung  des  Verkehres  beizutragen  vermochten.  Eine  nicht  zu 
verkennende  Besserung  der  Verkehrsbeziehungen  und  eine  Zunahme  des 
handelspolitischen  Einflusses  Oesterreichs  im  östlichen  Becken  des  Mittel- 
meeres brachte  dann  die  Reform  des  Consulardienstes  vom  Jahre  1752.  Auf 
den  Verkehr  mit  Aegypten  bezieht  sich  die  Resolution  vom  20.  November  1779, 
in  welcher  die  Kaiserin  „die  allermildeste  Versicherung"  aussprach,  den  nach 


354  Lippert. 

Alexaudrien  „handelnden  Partheyen"  den  Allerhöchsten  Schutz  nach  Thun- 
lichkeit  angedeihen  zu  lassen.  Eege  und  lebhafte  Beziehungen  zur  See  ent- 
standen mit  den  päpstlichen  Staaten,  Parma,  Toscana  und  Spanien,  theihveise 
auch  mit  Kiissland.  Ueberaus  interessant  sind  die  Bestrebungen  behufs 
Herstellung  einer  unmittelbaren  Seeverbindung  mit  den  Niederlanden,  wozu 
der  Hafen  von  Ostende  ausersehen  war.  Im  Mai  1773  liess  die  Kaiserin  der 
Commerzialintendanz  die  Nachricht  zukommen,  dass  in  nächster  Zeit  in 
Triest  und  Fiume  Schiffe  aus  Ostende  eintreffen  würden,  und  ertheilte  den 
Auftrag,  dahin  zu  wirken,  dass  die  Handelsleute  für  eine  entsprechende 
Eückladung  Sorge  trügen. 

Das  erste  in  Triest  gecharterte  Schiff  war  die  „Elisabetta"  mit 
160  Tonnen,  welches  im  April  1774  nach  Ostende  abgieng;  demselben 
folgte  schon  im  December  desselben  Jahres  ein  zweites.  Das  Unternehmen 
wurde  von  Staatswegen  durch  Vorschiessung  der  Fracht  und  Zuwendung 
anderer  Vortheile  unterstützt. 

Diese  mannigfache  Ausgestaltung  der  Handelsbeziehungen  ^)  hatte 
naturgemäss  die  Ausbildung  der  Handelsflotte  im  Gefolge.  Ihren  damaligen 
Stand  sollen  folgende,  den  nur  unzureichend  vorhandenen,  jedoch  immerhin 
historisches  Interesse  bietenden  Aufzeichnungen  entnommene  Zahlen  ver- 
anschaulichen. 

Im  Jahre  1755  gab  es  in  Triest  29  patentierte  Schiffe  mit  dem 
Gesammtgehalte  von  4.385  miliara  -)  und  30  pieleghi  und  brazzere  mit 
1.040  miliara.  In  Fiume  bestanden  in  demselben  Jahre  12  patentierte  Schiffe 
mit  einem  Gehalte  von  2.490  miliara  und  11  Trabakel  und  pieleghi  mit 
652  miliara.  Zengg  weist  21  patentierte  Schiffe  mit  1.660  Tonnen,  10  noch 
mit  Seepass  der  Intendenza  versehene  Schiffe  von  220  Tonnen  und  7  tra- 
baccoli,  pieleghi  und  brazzere  ohne  Flagge  mit  56  Tonnen  auf,  Carlopago 
erscheint  mit  einem  Trabakel  mit  Seepass  (Gehalt  53  Salzkisten),  und 
4  Trabakeln  und  brazzere  (Gehalt  470  barili  Wein).  Im  Jahre  1759  ist 
Triest  mit  45  grossen  und  kleinen  Schiffen  von  1.981  Tonnen,  Zengg  mit 
39  Schiffen,  Carlobago  mit  5  Schiffen  (Gehalt  720  barili  Wein),  Buccari 
mit  23  Schiffen  von  2.255  Tonnen  notiert.  Nach  einer  Nachweisung  vom 
31.  September  1760  belief  sich  der  Stand  der  östereichischen  Handelsmarine 


I 


^)  Umfassende  Daten  über  den  Aufschwung  des  Handels  nach  Erklärung  des  Frei- 
hafens stehen  nicht  zur  Verfügung;  es  galt  aber  allgemein,  dass  der  Fortschritt  ein  grosser 
gewesen  sei,  wie  auch  folgende  Schätzungen  bestätigen.  1766  überstieg  der  Wert  der 
Seeausfuhr  nicht  3,700.000  Gulden,  vier  Jahre  hernach  hatte  er  schon  sechs  Millionen 
erreicht.  Für  1780  wird  der  gesammte  Seehandel  mit  16,274.120  Gulden  bewertet,  u.  zw. 
1^2  Millionen  mehr  als  im  vorausgehenden  Jahre.  Man  zählte  damals  44  Börsenfirmen, 
38  Grosskaufleute,  9,  welche  sich  mit  Gross-  und  Kleinhandel  befassten,  4  Kleinkaufleute, 
12  Fabrikanten,  46  Geschäftsinhaber.  Es  gab  77  Industrie-Ünternehmungeri,  00  Sensale, 
11  Spediteure. 

Consulate  bestanden  für  Dänemark,  England,  Frankreich,  Genua,  Malta,  Modena, 
Neapel,  Holland,  Bayern,  Portugal,  Preussen,  Ragusa,  Kirchenstaat,  Russland,  Sardinien, 
Schweden,  Toscana,  Türkei,  Venedig. 

2)  Miliara  =  1.000  Pfund  =  10  Centner  (=  1  Tonne). 


Die  Entwicklung  der  österreichischen  Handelsmarine.  355 

auf  53    grosse,    30    mittlere    und    44    kleine,  zusammen  127  Schilfe  ^)  mit 
einer  Bemannung  von  927  Seeleuten. 

Der  Schiffsverkehr  Triests  war  2) 
im  Jahre  Ankunft        Abfahrt 

1753 4.761    3.144 

1754 4.076    3.166 

1755 5.336    3.421 

1756 4.226    3.914 

1757 3.448    3.197 

1758 3.789    3.573 

1759 3.791    3.597 

1760 3.752    3.496 


im  Jahre  Ankunft  Abfahrt 

1761 3.348  3.138 

1762 3.626  3.513 

1763 3.819  3.704 

1764 4.131  4.103 

1765 4.819  4.734 

1766 5.394  4.869 

1767 6.120  5.074 

1768 6.828  5.768 


Vergleiche  mit  den  unmittelbar  nachfolgenden  Jahren  ergeben,  dass 
1769  eine  Abnahme,  1771  und  1772  eine  Zunahme  zu  verzeichnen  war, 
dass  aber  die  Verkehrszahlen  des  Jahres  1768  nicht  erreicht  wurden.  Als 
Gründe  dieses  Rückganges  werden  die  Unterbrechung  der  Schiffahrt  in  der 
Levante,  die  Hungersnoth  in  Oesterreich,  die  vielen  Einfuhrverbote,  die  Zoll- 
erhöhung für  Kaffee,  Cacao  und  Zucker  insbesondere,  sowie  die  gleichen 
Maassnahraen  anderer  Staaten  angeführt. 

Der  bedeutende  Unterschied  zwischen  der  Zahl  der  angekommenen  und 
jener  der  abfahrenden  wurde  dadurch  erklärt,  dass  die  Venetianer  sich  der 
Meldung  in  der  Abfahrt  entzogen.  Dies  geschah,  um  entweder  der  Gebüren- 
entrichtung  zu  entgehen  oder  um  ungestört  Schmuggel  zu  treiben.  Zur 
Abhilfe  wurden  sie  dann  schon  bei  der  Ankunft  zum  Cautionserlage  ver- 
pflichtet. 

Diese  alte  Statistik^)  ist  übrigens  nicht  allzusehr  geeignet,  ein  klares 
Bild  über  den  Stand  der  Handelsmarine  zu  gewinnen;  so  viel  ist  aber  jeden- 


1)  Hievon  entfallen  auf  die  verschiedenen  Hafenorte: 

Triest 15  grosse,     7  mittlere,  26  kleine  Schiffe  mit  286  Mann 

Fiume 14      „         9     '   „  4      „  „  „    233      „ 

Zengg 20       „        12         „  7       „  „  „    334       „ 

Carlobago  ....—       „  l'„  4„  „  „24„ 

Buccari  \  a  -,  o  t:n 

Portore  |  •    •    •    •      *       „  1         „  3       „  „  „      50       „ 

Als  grosse  Schilfe  galten  solche,  welche  100  Tonnen  und  darüber  hatten,  als  mitt- 
lere jene,  deren  Tonnengehalt  50  und  darüber  betrug,  und  kleine  waren  solche,  deren 
Tonnengehalt  50  nicht  erreichte. 

2)  Unter  den  Schiffen  befinden  sich  österreichische,  kaiserliche,  römische,  schwedische, 
dänische,  holländische,  neapolitanische,  venetianische,  genuesische,  hamburgische,  ra- 
gusaische,  türkische,  hierosolimitanische,  Malteser  und  spanische  Fahrzeuge. 

3)  Hinsichtlich  der  Schiffahrtsbewegung  sorgte  die  Central-Seebehörde  seit  dem 
Jahre  1850  für  die  Herstellung  einer  genauen  Statistik.  Der  Lloyd  gab  1848  ein  Jahr- 
buch der  Marine  heraus,  welches  die  für  die  Handelsmarine  wichtigsten  Personalnotizen, 
statistischen  Daten  und  eine  Reihe  von  Angaben  über  seine  eigene  Dampfschiffahrt 
zusammenfasste.  Für  das  Jahr  1850  erschien  ein  weiterer  Jahrgang,  erfuhr  jedoch  dann 
von  Seiten  des  Lloyd  keine  Fortsetzung.  Dagegen  nahm  die  Central-Seebehörde  diesen 
Gedanken  auf  und  gab  von  1853  angefangen  das  Annuario  marittimo  heraus. 


356  Lippert. 

falls  daraus  zu  folgern,  dass  die  eigenen  erbländischen  Schiffe  keinen  sehr 
grossen  Antheil  an  dem  Seeverkehre  stellten.  Das  Bestreben  der  Kaiserin 
war  daher  mit  Kecht  auf  eine  Förderung  des  Schiffbaues  gerichtet. 

Zu  Anfang  ihrer  Kegierungszeit  bestand  in  Triest  die  Werfte  der 
Scuola  di  S.  Nicolö  (einer  Bruderschaft),  dann  die  ehemalige  Werfte  der 
Compagnia  Orientale.  Die  Berufung  des  Schiffsbaumeisters  Nocelli  nach 
Triest  sollte  eine  neue  Aera  in  der  Schiffsbautechnik  einleiten;  sein  Sohn 
fand  ebenfalls  Anstellung  als  Schiffbaumeister  und  wurde  ihm  der  Bau  von 
zwei  Kriegsfregatten  übertragen.  Nocelli  Sohn  führte  den  Bau  mehrerer 
Kauffahrteischiffe,  darunter  den  eines  grösseren  Indienfahrers  aus. 

Maria  Theresia  wollte  Portore  als  Sitz  der  Schift'bauindustrie 
bestimmen,  in  der  Meinung,  dass  dort  die  günstigsten  Bedingungen  hiezu 
vorhanden  wären.  Thatsächlich  wurden  dort  zwei  Fregatten  in  Bau  gegeben; 
aber  die  Erfahrung  zeigte,  dass  doch  nur  Triest  als  eigentliche  Stätte  des 
Handels  und  der  Khederei  zur  Erlangung  einer  grösseren  Bedeutung  im 
Schiffbaue  erkoren  sei,  wie  denn  auch  wirklich  sehr  umfangreiche  Bestel- 
lungen damals  die  neue  Werfte  des  Pamphilli  auszuführen  hatte. 

Den  Nebengewerben  des  Schiffbaues,  deren  Betrieb  bei  dem  Mangel 
vollständig  ausgerüsteter  Arsenale  ein  selbständiger  war,  musste  durch 
geeignete  Maassregeln  aufgeholfen  werden.  ^) 

Die  Betheiligung  der  Küstenbevölkerung  an  der  Schiffahrt  wird  als 
keine  besonders  rege  geschildert.  Den  damaligen  Matrosen  warf  man  geringe 
Arbeitslust  vor,  aus  welchem  Grunde  die  Schiffe  zur  Aufnahme  zahlreicher 
Mannschaft  gezwungen  gewesen  sein  sollen.  Die  Schiffe  hatten  gewöhnlich 
30 — 40  Matrosen.  -)  Im  Jahre  1760  wird  ihre  Gesammtzahl  mit  927  ange- 
geben, 1763  mit  1.030  Mann. ") 

Um  die  Küstenbewohner  in  grösserem  Maasse  zum  Seedienste  heran- 
zuziehen, wurden  besondere  Begünstigungen  in  Aussicht  gestellt.  So  gewährte 

^)  Zur  Hobung  des  Ankerschmiedgewerbes  in  Triest  gewährte  die  Eesolution  vom 
30.  August  1763  eine  Prämie  von  2  Gulden  für  jedeu  Meiler  (10  Centner)  Eisen,  welches 
zu  Ankern  verarbeitet  wurde.  Für  die  Errichtung  einer  Schmiedewerkstätte  wurde  ein 
Staatsbeitrag  von  2.000  Gulden  bewilligt  und  dem  Unternehmer  ein  S^/^iges  Darlehen 
von  800  Gulden  zur  Anschaffung  der  Werkzeuge  gegeben.  Das  nothwendige  Eisen  konnte 
er  aus  den  Staatsniagazinen  auf  Credit  beziehen.  Bei  der  ausländischen  Wettbewerbung 
(Genua,  Holland)  dauerte  es  aber  geraume  Zeit,  diesen  Industriezweig  emporzubringen. 
Für  die  Erzeugung  von  Schiffstauen  bestanden  gegen  1770  in  Triest  zwei  Fabriken, 
wovon  die  eine  eine  jährliche  Unterstützung  genoss.  Durch  dieselben  wurde  der  Bedarf 
an  Tauwerk  für  alle  in  den  erbländischen  Hafenplätzen  sich  aufhaltenden  Schiffe  gedeckt. 
Die  Segeltuchbearbeitung  stand  in  Triest  nicht  besonders  günstig.  Bessere  Erfolge  scheint 
eine  Krainer  Fabrik  gehabt  zu  haben.  Von  der  Nothwendigkeit  grösserer  Einfuhr  dieser 
Erzeugnisse  aus  dem  Ausland  geschieht  in  den  Annalen  keine  Erwähnung. 

2)  Heutzutage  haben  grosse  Lloyddampfer  eine  Bemannung  von  40 — 50,  mittlere 
von  25—80,  kleinere  von  15 — 25  Mann. 

3)  Genaue  Angaben  enthält  ein  auf  das  Jahr  1762  bezügliches  Verzeichnis.  Hier- 
nach waren  64  Capitäne,  11  Lootsen,  66  Bootsmänner,  145  Schiffsführer,  605  Matrosen, 
74  Schiffsjungen  und  87  Fischer,  zusammen  1.134  Mann  eingeschrieben,  wovon  226  auf 
Triest,  186  auf  Fiume,  219  auf  Zengg,  25  auf  Carlobago,  204  auf  Buccari,  223  auf 
Istrien,  51  auf  Friaul  entfielen. 


^ 


Die  Entwicklung  der  österreicliischen  Handelsmarine.  357 

die  Eesolution  vom  24.  Jänner  1764  allen  jenen  nächst  der  Küste  wohnenden 
Unterthanen,  welche  sich  der  Seefahrt,  dem  Schiifbau  oder  der  Fischerei 
widmeten  und  in  die  Seematrikel  eingeschrieben  Avurden,  die  Befreiung  von 
der  Heranziehung  zu  Kriegsdiensten  und  von  jeder  ausserordentlichen  Abgabe, 
wogegen  sie  sich  eidlich  zu  verpflichten  hatten,  solange  sie  tauglich  wären, 
im  Seedienste  zu  bleiben  und  auch  allemal,  wenn  erforderlich,  sich  zu  Diensten 
auf  den  Mercantilschiifen  bereit  zu  halten.  Ferner  genossen  mittellose  Witwen 
der  im  Seedienst  gestorbenen  Seeleute  gewisse  Pensionsansprüche. 

Es  ist  selbstverständlich,  dass  die  Kaiserin  die  Eegelung  des  nautischen 
Unterrichtes  in  den  Bereich  ihrer  Fürsorge  zog  und  dem  Studium  auch 
materielle  Unterstützung  angedeihen  Hess.  1753  ward  eine  Schule  für 
Mathematik  und  Nautik  im  Jesuitenkloster  in  Triest  errichtet.  Die  Grund- 
sätze, welche  damals  bahnbrechend  z.  B.  für  die  Schulung  der  Seeofficiere 
aufgestellt  wurden,  nämlich  erst  theoretische  dann  praktische  Ausbildung 
durch  Einschiffung  während  eines  gewissen  Zeitraumes,  sind  noch  heute 
maassgebend  und  haben  nur  im  einzelnen  Aenderungen  erfahren,  welche  im 
Laufe  der  Zeit  im  Zusammenhange  mit  dem  allgemeinen  Systeme  der  Schul- 
bildung^) und  den  Anforderungen  der  Seefahrt  nothwendig  geworden  sind. 
Den  Theresianischen  Reformen  ist  es  zu  verdanken,  wenn  die  Handelsmarine 
in  späteren  Zeiten  über  Capitäne  verfügte,  welche  ihrer  Flagge  in  allen 
Meeren  Ansehen  und  Achtung  verschafften. 

Auf  die  Theresianische  Zeit  lassen  sich  auch  die  Anfänge  aller  jener, 
im  Verlaufe  der  Zeit  freilich  mannigfachen  Wandlungen  unterworfenen 
Institutionen  zurückführen,  durch  welche  die  Seeverwaltung  erst  ein  wirklich 
staatliches  Gepräge  erhielt. 

Nachdem  schon  1745  in  Triest  ein  eigenes  Hafencapitanat  errichtet 
worden  war,  dem  die  unmittelbare  Beaufsichtigung  des  Hafens  unter 
der  Obhut  des  kaiserlichen  Stadthauptmannes  anvertraut  wurde,  vereinigte 
die  Kaiserin  die  KOstenorte  zu  einem  eigenen  administrativen  Verbände  als 
Küstenprovinz  und  übertrug  der  Obersten  Commerz-Intendanz  in  Triest  die 
Vollmachten  einer  eigenen  Provinzial-Behörde.  Zu  dieser  Provinz  gehörten 
ausser  Triest  noch  Aquileja,  Fiume,  Buccari  und  Portore  sammt  ihrem 
Gebiete.  Die  Oberste  Commerz-Intendanz  hatte  insbesondere  ihre  Auf- 
merksamkeit auf  die  Pflege  von  Handel  und  Verkehr  zu  richten,  doch 
versah  sie  auch  im  übrigen  die  sonstigen  der  landesherrlichen  Gewalt 
vorbehaltenen  Functionen. 

Fast  gleichzeitig  mit  jener  organischen  Neuerung  wurde  eine  eigene 
Hofcommission,    an    deren    Spitze    Graf  Eudolf   Chotek-),    geheimer   Rath, 


•)  Im  Jahre  1820  erfolgte  die  Errichtung  der  Handels-  und  nautischen  Akademie 
in  Triest.  Heute  bestehen  drei  nautische  Schulen  in  Lussinpiccolo,  Eagusa  und  Cattaro. 
Ein  Lehrcurs  für  Schiffsbauconstruction  wurde  an  der  Staatsgewerbeschule  in  Triest 
errichtet. 

-)  Die  leitenden  Grundsätze  dieses  hervorragenden  Ministers  der  Kaiserin  erscheinen 
in  folgenden  Worten  zusaramengefasst:  „In  der  Steigerung  der  inländischen  Cultur  und 
Industrie,  in   der  Hebung  des  Handels  und  daher  in  der  Vermehrung  und  Verbesserung 


358  Lippert. 

Präsident  des  Obersten  Commerz-Directoriums  und  der  Ministerial-Banco- 
Direction  stand,  nach  Triest  abgeordnet,  um  die  dortigen  Verhältnisse  zu 
untersuchen,  Abhilfe  zu  treffen,  wo  es  nothwendig  schien,  und  überhaupt  für 
die  Bedürfnisse  der  Stadt  und  des  Handels  Sorge  zu  tragen. 

Auf  Grund  seiner  Berichte  ergieng  eine  sehr  lange  und  eingehende 
Instruction  unterm  29.  November  1749  an  den  Intendanten  Baron  Wiesenhütten. 
Dieselbe  stellte  die  leitenden  Gesichtspunkte  für  die  ferneren  Aufgaben  fest, 
welche  in  Triest  zu  lösen  waren.  Zunächst  bezeichnet  sie  die  Verbesserung 
des  Hafens  als  ein  unerlässliches  Erfordernis  und  erörtert  die  Art  und 
Weise,  in  welcher  dies  zu  geschehen  habe.  Auf  den  Bau  von  Molos  wird 
hingewiesen,  die  Anlage  eines  neuen  Lazarethes  empfohlen,  und  die  Errichtung 
eines  Leuchtthurmes  für  zweckmässig  erklärt.  Die  Hofcommission  gab  auch 
Anstoss  zur  Regulierung  der  Ankerrechtstaxe,  des  sogenannten  „Ancoraggio*", 
welche  von  nun  mit  zwei  Kreuzer  für  einen  „Meiller  oder  zehn  Centner" 
erhoben  werden  sollte,  während  unbeladene  Schiffe  nur  die  Hälfte   zahlten. 

Die  Arbeiten  der  Hofcommission,  wie  nicht  minder  die  Thätigkeit 
der  Obersten  Commerz-Intendanz  lieferten  mancherlei  günstige  Ergebnisse. 
Nach  Vollendung  des  Molo  S.  Carlo  und  Teresa  im  Jahre  1751,  begann  man 
die  Herstellung  des  jetzigen  Canalgrande  1754  und  des  neuen  nach  der 
Kaiserin  benannten  Lazarethes,  welches  17G9  der  Benützung  übergeben  wurde. 

Mit  Rescript  vom  29.  November  1749  führte  die  Kaiserin  neue  Flaggen 
für  die  Kriegs-  und  Handelsschiffe  ein.  ^)  Gleichzeitig  ergieng  die  Verordnung 
über  die  Flaggenpatente  und  Pässe  (Passaporti  oder  Scontrinopässe),  durch 
welche  sich  die  erbländischen  Schiffer  auszuweisen  hatten.  Die  Ertheilung 
der  Patente  an  Schiflfscapitäne  weiter  Fahrt  —  die  Küstenfahrer  bedurften 
derselben  nicht  —  sollte  eine  ,auf  Circumspection  gegründete  Sache"  sein 
und  musste  jedesmal  die  Vertrauenswürdigkeit  der  darum  einkommenden 
Personen  erhoben  werden.  Die  Ausfolgung  der  Patente  geschah  nur  an 
Unterthanen  oder  Naturalisierte  und  erfolgte  deren  Ausstellung,  sowie  jene 
der  Pässe  durch  das  Commerz-Directorium  im  Namen  der  Monarchin.  Das 
Schiff  musste  Eigenthum  von  k.  k.  Unterthanen  sein  und  es  war  auch 
bezüglich  des  Capitäns  und  zwei  Drittheilen  der  Mannschaft  die  Staats- 
angehörigkeit erforderlich.  ^) 

Wegen  Mangels  an  „eingeborenen"  geschickten  und  erfahrenen  Capitänen 
durften  jedoch  Fremde  zum  Commando  zugelassen,  es  musste  aber  ein 
Inländer  eingeschifft  und  als  Capitän  eingetragen  werden,  welchem,  wenn  „er 


der  Transportmittel  zu  Wasser  und  zu  Lande  besteht  die  eigentliche  Grundlage  der 
Wohlfahrt  des  Staates."  Arneth,  Maria  Theresia  nach  dem  Erbfolgekriege,  Wien 
Braumüller  1870. 

1)  Dieselben  sollten  auf  gelbem  Grunde  den  doppelköpfigen  Adler  mit  der 
ungarischen  Krone  ohne  Scepter  und  Schwert  enthalten;  der  Unterschied  zwischen 
Kriegs-  und  Handelsflagge  bestand  nur  darin,  dass  letztere  auf  dem  gelben  Grunde 
schmale  schwarze  Streifen  hatte. 

2)  Eesolution  vom  26.  November  1751.  Würdige  und  unangesessene  Leute  wurden 
für  Inländer  angesehen,  wenn  sie  bei  geringeren  Schiffsdiensten  drei,  bei  höheren,  d.  i. 
als  Schiffsfühler  oder  Steuermann,  fünf  Jahre  gedient  hatten. 


Die  Entwicklung  der  österreichischen  Handelsmarine.  359 

von  ansehnlicher  Geburt  war,  die  Distinction  mit  dem  Titel  Capitano  della 
Bandiera  imperiale"  gegeben  wurde. 

Die  Verfügung  wegen  Nationalität  der  Mannschaft  entspricht  den 
Seerechtsbräuchen  jener  Zeit  und  ergieug,  um  Zweifel  über  die  Nationalität 
des  Schiffes  auszuschliessen,  welche  bei  den  damaligen  Verhältnissen  des 
Seeverkehres  von  raublustigen  Schiffen  anderer  Nationen  leicht  zu  Vexationen 
hätten  ausgebeutet  werden  können. 

Nach  Erlangung  der  Urkunden  wurde  ein  förmliches  Gelöbnis  abgelegt, 
Womit  man  sich  zur  Wahrung  des  Ansehens  der  Flagge,  sowie  ,  zur 
Einhaltung  gewisser  Vorschriften  verpflichtete.^) 

Die  Evidenz  über  die  ausgefolgten  Patente  lag  der  Intendanz  ob  und 
ist  in  dieser  Einrichtung  der  Anfang  der  gegenwärtig  bestehenden  Schiffs- 
register zu  erblicken.  Bis  zur  Erlangung  der  besprochenen  Urkunden  erhielten 
die  Schiffe  einen  Interimspass  (Passavanti).  Jeden  Missbrauch  des  Patentes 
bedrohte  eine  kaiserliche  Verordnung  vom  15.  Februar  1754  mit  harter 
Strafe  und  ohne  dasselbe  war  die  Führung  der  Flagge  nicht  gestattet,  wie 
die  Kesolution  vom  26.  Mai  1755  ausdrücklich  verfügte. 

Eine  Verordnung  vom  Jahre  1758  setzte  genauer  fest,  was  über 
die  Flaggenpatente  rechtens  sei,  und  als  Ergänzung  hiezu  erschien  das 
Eescript  vom  22.  September  1759,  welches  die  Musterrollen  für  die 
Mannschaft  der  mit  Patenten  versehenen  Schiffe  einführte.  Diese  Vorschrift 
über  den  „Schiffs-Volks-Kollo"  enthielt  Bestimmungen  über  die  genaue 
Eintragung  der  Mannschaft  und  die  Wahrung  des  ursprünglichen  Standes 
derselben  oder  Eechtfertigung  etwaiger  Veränderung,  ferner  —  und  dies  war 
der  Beweggrund  ihrer  Erlassung  —  die  Weisung,  wie  behufs  Feststellung 
der  Unterthan Schaft  des  Matrosen  vorzugehen  sei.  Während  dies  nämlich  vor 
dem  Jahre  1759  selbst  in  Triest  nur  auf  Grund  der  Sprache  und  äusserer 
Anzeichen  erfolgte,  musste  nunmehr  in  den  Taufschein  Einsicht  genommen, 
nebstbei  aber  die  Zeugenschaft  zweier  glaubwürdiger  Zeugen  gefordert 
werden. 

Der  Rollo  verblieb  aber  im  Grunde  nur  ein  Verzeichnis  des  Schiflfs- 
volkes  und  diente  noch  nicht,  wie  es  gegenwärtig  der  Fall  ist,  zur  Ab- 
schliessung  des  Heuervertrages. 

Schon  im  Jahre  1755  erschien  ein  eigenes  Sanitätsreglement,  die 
„General- Gesundheitsordnung  und  Instrukzionen  für  die  Sanitätsbeamte 
in  dem  innerösterreichischen  Littorale."  ^) 


^)  Z.  B.  die  Schiffe  jedes  Jahr  in  einen  der  erhländischen  Häfen  zurückzuführen, 
damit  Jenem  Missbrauch  vorgebogen  werde,  welcher  daraus  entspringen  könnte,  wenn 
durch  die  nachsehende  längere  Ausbleibnng  deren  Schiffen  zu  dererselben  unzulässiger 
Anwendung  in  auswärtiger  Handelschaft  Gelegenheit  gegeben  würde." 

2)  In  dessen  Einleitung  heisst  es:  „Gleichwie  das  Zunehmen  der  Handlung  und 
Ausbreitung  der  Schiffahrt  in  dem  österreichischen  Littorale  erfordert,  das  so  wichtige 
Gesundheitssystem  in  eine  solche  Verfassung  einzuleiten,  wodurch  die  getreuesten 
k.  k.   Erbländer  vor  Schaden   und  der  geringsten   Furcht  einer    allgemeinen  Krankheit 


360  Lippert. 

Die  Leitung  des  Sanitätswesens  in  oberster  Linie  wurde  dem  Obersten 
Commerz-Directorium  in  Wien,  dann  aber  der  Commerz-Intendanz  in  Triest 
übertragen.  Als  ausführendes  Organ  war  der  Sanitätsmagistrat  zu  Triest 
bestellt,  welcher  aus  dem  Präses,  drei  wirklichen  Professoren,  von  denen 
die  Stadt  zwei  ernannte,  zwei  Adjuncten  und  dem  Kanzler  bestand.  Alle 
Sanitätsangelegenheiten  waren  im  collegialem  Wege  zu  behandeln.  Die 
Kanzlei  des  Sanitätsmagistrates  erhielt  verschiedene,  auf  die  Schiffahrt 
bezugnehmende  Geschäfte.  Es  wurde  auch  die  Errichtung  eines  eigenen 
Sanitätscasinos  angeordnet  und  über  die  Verwaltung  des  Lazarethes,  an 
dessen  Spitze  ein  Prior  gestellt  war,  verfügt. 

Anschliessend  an  dieses  Keglement  ergieng  eine  vom  17.  October  1764 
datierte  Instruction  für  die  Sanitätsämter.  Deputierten  und  Esattori,  dann 
die  Sanitätsdiener  und  Guardiane.  Es  wurde  darin  unterschieden,  zwischen 
Haupthäfen  (porti  principali)  und  waren  bezeichnet  als  solche  Triest, 
Fiume,  Zengg,  Buccari,  Carlopago,  dann  Nebenhäfen  (porti  subaltern!), 
wo  sich  ein  Sanitätsamt  befand,  und  endlich  todten  Häfen,  ohne  jegliche 
Behörde.  In  den  Nebenhäfen  wurden  Sanitätsdeputierte  oder  Guardiane 
aufgestellt.  Die  Art  und  Weise,  in  welcher  das  Ankunfts-Constitut  mit  den 
Schiffen  aufgenommen  werden  musste,  sowie  die  Sanitätspässe  zu  erlassen 
waren,  fand  genaue  Kegelung.  Der  letzteren  gab  es  vier,  nämlich  patente 
libera,  netta,  sospetta  o  tocca  und  brutta. 

Einen  wahrhaft  epochemachenden  Schritt  in  der  Seeverwaltung  be- 
zeichnet das  Navigationsedict  vom  25.  April  1774,  welches  das  noch 
in  Kraft  stehende  Grundgesetz  der  Marine  bildet.  Dasselbe  bezog  sich  auf 
sämmtliche  Verhältnisse  der  Schiffahrt  und  gab  die  genauesten  Bestimmungen 
über  die  Rechte  und  Pflichten  der  Hafencapitäne,  der  Schiifer  und  Schiffs- 
bemannungen. Es  führte  auf  Schiffen  weiter  Fahrt  den  Schiffsschreiber 
(scrivano)  ein  und  enthält  genaue  Normen  über  die  Borddisciplin  und 
über  alle  Fragen,  welche  sich  auf  die  Heuerverhältnisse  beziehen.  Der 
in  sieben  Artikel  eingetheilte  Stoff  handelt:  von  der  Amtswirksamkeit 
der  Hafencapitäne  im  österreichischen  Litorale,  von  den  Capitänen  und 
Padronen  der  Handelsschiffe,  vom  Schiffsschreiber,  vom  Lootsen  und  Boots- 
mann, vom  Feuerwerker  und  Proviantmeister,  von  den  Matrosen,  Schiffs- 
jungen und  sonstigen  Leuten  der  Bemannung  und  von  der  Heuer,  der 
Gebür  und  den  Prämien  der  Capitäne  und  Padrone,  der  Officiere,  Matrosen, 
Schiffsjungen  und  sonstigen  Leute  der  Bemannung. 

Ueberall  tritt  in  dem  Edicte  das  Bestreben  hervor,  die  nationale 
Schiffahrt  zu  heben  und  zu  sichern,  und  so  schloss  dasselbe  in  würdiger 
Weise  jene  Epoche,  welche  mit  dem  Patente  von  1717  begonnen  hatte  und 
in  welcher  die  Grundlage  für  die  moderne  österreichische  Handelsmarine 
geschaffen  worden  ist. 


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befreiet  bleiben  mögen;  dieser  Zweck  aber  nicht  füglicher  als  mittelst  Feststellung  deren 
eifersüchtigsten  und  bewährtesten  Maassregel  erlanget  werden  kann,  als  hat  die  treu- 
gehorsamste Comnnercialintendanz  Seiner  k.  k.  Majestät  nachfolgenden  Generalplan  u.  s.  w. 
zu  Füssen  gelegt." 


Die  Entwicklung  der  österreichischen  Handelsmarine.  361 

Im  Jahre  1783  waren  zwölf,  noch  namentlich  bekannte  Hochbordschiffe 
mit  Fiaggenpatenten  vorhanden.  ^)  Kaiser  Josef  II.  führte  mit  Entschliessiing 
vom  20.  März  1786  eine  neue  Flagge  ein.  ^) 

Der  türkische  Krieg  in  seinen  letzten  Kegierungsjahren  brachte 
der  Schiffahrt  mancherlei  Nachtheile.  Dagegen  war  der  Frieden  von  Campo- 
formio  (1797)  und  dessen  Folgen  von  Bedeutung  für  die  Handelsmarine. 
Nun  kam  nicht  nur  die  Käste  von  Istiien  unter  österreichische  Herrschaft, 
sondern  auch  Venedig  und  das  ganze  venezianische  Dalmatien.  sowie  das 
Gebiet  von  Cattaro.  Die  Schiffahrt  der  Dalmatiner  war  eine  besonders 
lebhafte.  1797  hatte  das  Gebiet  der  Bocche  di  Cattaro  nicht  weniger 
als  264  für  weite  Fahrt  patentierte  Schiffe,  welche  fast  durchwegs  im 
Mittelmeere  und  in  der  Levante  verkehrten.  Istrien  besass  wenig  Schiffe 
weiter  Fahrt.  Noch  1802  gab  es  deren  nur  zwei  Vollschiffe  (navi),  drei 
Polacchen,  zwei  Brigantinen,  einen  mit  Flaggenpatent  versehenen  Pielego; 
dagegen  werden  an  eigentlichen  Küstenfahrern  46  Pieleghi,  2  Trabakeln, 
30  Tartanen,  256  Brazzeren,  15  Traghetti  (Fährboote)  und  260  Fischer- 
barken aufgezählt.  Für  das  Jahr  1805  liegen  genaue  Ausweise  vor,  aus 
denen  erhellt,  dass  an  Schiffen  weiter  Fahrt  593  auf  Triest,  8  auf  Istrien, 
236  auf  das  nördliche  Dalmatien,  363  auf  Kagusa  und  399  auf  die  Bocche 
di  Cattaro  entfallen.  Im  ganzen  gab  es  also  1.599  Schiffe,  wobei  freilich  nicht 
vergessen  werden  darf,  dass  die  Schiffe  weiter  Fahrt  meist  nur  von  geringer 
Tragkraft  waren.  Die  Einrichtungen,  welche  bisher  im  Seewesen  getroffen 
worden    waren,   behielten    auch  für  die  neuerworbenen   Gebiete  ihre  Kraft. 

Der  Schwerpunkt  des  ganzen  Seehandels  lag  damals  in  Triest,  welches 
seit  den  Tagen  Maria  Theresias  sich  in  steter  Zunahme  befand.  ^)  Es  war 
ein  schwerer  Schlag  für  die  ganze  Küste,  als  sie  von  1809  bis  1814  unter  die 
Herrschaft  der  Franzosen  gelangte,  welche  ihre  durch  das  System  der  Con- 
tinentalsperre  bedingten  Maassregeln  hierselbst  sofort  zur  Geltung  brachten.^) 

Die  Handelsmarine  gieng  im  Laufe  der  wenigen  Jahre  der  neuen 
Herrschaft  in  beträchtlicher  Weise  zurück.  Im  Jahre  1815  zählte  man  in 
Triest  nur  351,  in  Norddalmatien  42,  in  Ragusa  61  und  in  den  Bocche  di 


^)  Sie  hiessen  Giuseppe,  Teresa,  Kaunitz  il  grande,  Kaunitz  il  piccolo,  Kolowrat, 
Belgiojoso,  Massimiliano,  Barone  Binder,  Conte  Neni,  L'Ungherese,  La  Cittä  di  Vienna, 
II  Croato. 

2)  Roth-weiss-roth  in  Querstreifen  mit  dem  österreichischen  von  der  Kaiserkrone 
bedeckten  Wappen  im  weissen  Mittelfelde,  diese  Plagge  stand  auf  Kriegs-  und  Handels- 
schiffen gleichmässig  in  Gebrauch. 

2)  Die  Stadt  Triest  hatte  zu  Anfang  des  18.  Jahrhundertes  5.000  Einwohner,  1785 
17.000,  1795  27.000,  1801  31.500,  1808  33.200,  1813  kaum  20.000,  1839  62.000. 

*)  Der  Freihafen  wurde  aufgehoben,  die  englischen  Waren  mit  Beschlag  belegt.  — 
Die  Stadt  litt  ungeheuer;  ihre  Bevölkerung  sank  in  wenigen  Jahren  um  7.000  Einwohner. 
Ueber  60  Handlungshäuser  verzichteten  auf  Weiterführung  der  Geschäfte.  Einfuhr  und 
Ausfuhr  nahmen  unglaublich  ab:  erstere  war  1809  über  sechs  Millionen  Gulden,  1811 
nur  anderthalb;  letztere  fiel  von  sieben  und  einhalb  Millionen  auf  drei. 

Die  schwerste  Last  für  die  Stadt  waren  die  wiederholten  Kriegssteuern  während 
der  napoleonischen  Zeit  1797  2,600.000  Lire,  1805  6,000.000  Francs,  1809  2,400.000  Francs, 
dann  die  Einquartierungen. 


362  Lippert. 

Cattaro  50  patentierte  Schiffe,  im  ganzen  also  504  gegen  1.599  des 
Jahres  1805.  Ebenso  waren  nur  1.095  Küstenfahrer  vorhanden,  davon  fallen 
230  auf  Triest,  186  auf  Istrien  (welches  nicht  ein  einziges  Schiff  weiter  Fahrt 
aufzuweisen  hatte),  409  auf  Dalmatien,  49  auf  Kagusa  und  221  auf  Cattaro. 

1815  kamen  die  Länder  an  der  Adria  und  dann  das  ganze  venetianische 
Litorale  unter  österreichische  Herrschaft  zurück. 

Die  alten  Gesetze  und  Verordnungen  aus  der  Zeit  vor  der  französischen 
Occupation  wurden  wiederum  in  Kraft  gesetzt;  wichtig  blieb  für  das 
Seewesen,  dass  der  Code  de  commerce  vom  Jahre  1808,  insoweit  er  sich  auf 
maritime  Zustände  bezieht,  subsidiäre  Giltigkeit  behielt,  wenn  auch  demselben 
nicht  eine  förmliche  gesetzliche  Sanction  zutheil  wurde.  Ohne  denselben 
wäre  es  aber  nahezu  unmöglich  gewesen,  einen  leitenden  Faden  für 
eine  Menge  privatrechtlicher  Verhältnisse  zu  gewinnen.  Gleich  im  ersten 
Jahre  der  Wiederbesetzung  traf  man  eine  bedeutsame  Maassregel  für  die 
Evidenzhaltung  der  Seeschiffe.  Es  wurde  nämlich  ein  eigentliches  Schiffs- 
register angelegt;  vordem  hatte  die  Gepflogenheit  bestanden,  bei  den  einzelnen 
Hafenämtern  eine  Vormerkung  über  die  ausgefolgten  Flaggenpatente  zu  führen. 
Ein  Rescript  der  Central-Organisierungs-Hofcommission  vom  24.  October  1814 
ordnete  an,  dass  ein  vollständiges  und  genaues  Register  über  die  mit  Flaggen- 
patenten betheilten  Schiffe  bei  der  Registratursdirection  der  Landes-Gubernien 
einzurichten  und  zu  erhalten  sei.  In  Ausführung  dieses  Rescriptes  entstand  das 
Schiffsregister  und  die  einzelnen  Gubernien  kamen  unter  sich  überein,  dem 
Gubernium  in  Triest  von  allen  Eintragungen  Kenntnis  zu  geben,  um  an  einer 
Stelle  eine  allgemeine  üebersicht  über  die  Seehandelsschiffe  zu  ermöglichen.  ^) 

In  der  Zeit  von  1815 — 1850  blieb  der  Organismus  der  Seeverwaltung 
nahezu  unverändert.  In  legislativer  Beziehung  wurde  eine  Reihe  verschiedener 
Anordnungen  insbesondere  über  die  Patentierung  der  Schiffe  1823,  über  die 
Küstenschiffahrt^)  1825,  über  Capitänsprüfungen  und  Capitänspatente,  über 

^)  Nach  Errichtung  der  Central-Seebehörde  (1850)  wurde  das  Protokoll  über  die 
mit  Seeurkunden  versehenen  Schiffe  bei  derselben  vereint.  Vom  1.  Jänner  1851  ange- 
fangen wurde  das  Schilfsregister  neuangelegt  und  seither  auch  ununterbrochen  fortge- 
führt. Das  Register  enthielt  zunächst  nur  auf  das  Eigenthumsverhältnis  und  die  besonderen 
Merkmale  des  Schiffes  bezügliche  Angaben.  Auch  wurde  der  jeweilige  Capitän  in  Vor- 
merkung gehalten.  Späterhin  entwickelte  sich  die  Gepflogenheit,  die  geschehene  Ver- 
pfändung eines  Schiffes  oder  eines  Schiffsantheiles,  sei  dieselbe  zur  Sicherstellung  einer 
Forderung  zugestanden  oder  aber  im  Executions wege  erwirkt,  über  Parteiansuchen  anzu- 
merken, beziehungsweise  seinerzeit  wieder  zu  löschen. Diese  Anmerkungen  hatten  nicht  den 
■  Charakter  einer  Hypothekeneinschreibung,  sondern  bezweckten  bloss  die  Ersichtlichuiachung- 
Zweifelsohne  besitzt  dieses  Verfahren  grossen  Wert  für  die  Sicherheit  des  maritimen 
Creditwesens. 

2)  Unter  kleiner  Küstenfahrt  war  das  Recht  verstanden,  die  Schiffahrt  innerhalb 
des  Seebezirkes  eines  österreichischen  Seegouvernements  auszuüben;  unter  der  grossen 
Küstenfahrt  das  Recht,  die  Schiffahrt  in  allen  jenen  in-  und  ausländischen  Häfen  und 
Rheden  zu  betreiben,  welche  innerhalb  der  Cabotagelinie  lagen. 

Die  Cabotagelinie  erstreckte  sich  längs  des  Adriatischen  Meeres  westlich  bis  zum 
Vorgebirge  von  Otranto  und  östlich  bis  zur  Küste  des  Gebirges  von  Cimarra  und 
namentlich  bis  zur  Spitze  der  vierzig  Heiligen  mit  Einschluss  der  jonischen  Inseln  bis 
zum  Hafen  und  Caual  von  Zante. 


Die  Entwicklung  der  österreichischen  Handelsmarine.  363 

das  Aichungswesen  und  über  die  neu  aufkommende  Dampfschiffahrt,  über 
verschiedene  Angelegenheiten  der  Schiffsmannschaft,  über  Hafenpolizei  und 
Seegebüren  getroffen. 

Die  Nothwendigkeit,  in  alle  die  Handelsmarine  betreffenden  An- 
gelegenheiten die  unerlässliche  gleichförmige  Behandlung  zu  bringen,  und 
die  Wichtigkeit,  welche  das  Seewesen  nicht  bloss  für  die  küstenländische 
Bevölkerung  sondern  auch  für  die  allgemeinen  wirtschaftlichen  Verhältnisse 
der  Monarchie  besitzt,  führten  zur  Schaffung  eines  dieses  Interesse  aus- 
schliesslich wahrnehmenden  Organes,  zur  Errichtung  der  Central-Seebehörde.  ^) 

Der  Wirkungskreis  der  Central-Seebehörde  umfasst:  ,1.  die  Regelung 
und  Ueberwachung  des  Seeschiffahrtswesens;  2.  die  Erforschung  und 
Beurtheilung  der  Bedürfnisse  des  Schiffbaues,  der  Seefischerei  und  der 
bezüglichen  Vorschriften  und  Vorkehrungen;  3.  die  Ausführung  der  diesen 
Industriezweig  betreffenden  Maassregeln. " 

Der  1.  Mai  1850,  mit  welchem  Zeitpunkte  die  neue  Behörde  und 
der  neue  Organismus  der  Seeverwaltung  überhaupt  in  Wirksamkeit  traten, 
bedeutet  einen  wichtigen  Abschnitt  zunächst  in  der  Entwicklung  der 
österreichischen  Seeverwaltung,  dann  aber  auch  in  der  Geschichte  der 
österreichischen  Handelsmarine,  Denn  von  nun  an  musste  der  Handels- 
marine auch  jene  Bedeutung  gewahrt  werden,  welche  ihr  als  der  berufenen 
Vermittlerin  des  grossen  Weltverkehres  zufällt.  ^) 

Politische  Verhältnisse  verursachten  eine  Organisationsänderung;  der 
1867er  Ausgleich  mit  Ungarn  hatte  eine  Trennung  der  Seeverwaltung 
nach  den  beiden  Ländergebieten  und  die  Aufstellung  eigener  Behörden  in 
Triest  und  Fiume  zur  Folge.  Die  Central-Seebehörde  endete  mit  dem  letzten 
October  1870  ihre  bisherige  Wirksamkeit  und  nahm  vom  1.  November 
desselben  Jahres  die  Bezeichnung  „k.  k.  Seebehörde"  an. 

Auf  Grund  des  Artikels  VI.  des  Zoll-  und  Handelsbündnisses  vom 
21.  December  1867,  zwischen  den  im  Reichsrathe  vertretenen  Königreichen  und 
Ländern  und  den  Ländern  der  ungarischen  Krone,  wonach  zwar  die  grund- 
sätzliche Trennung  der  Seeverwaltung  einzutreten,  jedoch  deren  Handhabung 


^)  Deren  Aufgaben  sind  in  dem  vom  damaligen  Minister  für  Handel,  Gewerbe  und 
öffentliche  Arbeiten,  Freiherrn  v.  Brück,  der  Allerhöchsten  Sanction  unterbreiteten 
Organisationsentwurfe  folgendermaassen  zusammengefasst:  „In  der  Centralseebehörde  soll 
ein  vermittelndes  Organ  geschaifen  werden,  durch  welches  das  Handelsministerium  die 
Keichsgesetze  oder  die  administrativen  Verfügungen  in  den  Seeschiifahrts-  und  in  den 
damit  zusammenhängenden  Seesanitäts-Angelegenheiten  zur  Ausführung  bringen  lässt, 
und  sich  anderseits  alle  Wahrnehmungen  in  Betreff  der  österreichischen  Handelsmarine 
verschafft. 

Die  bezeichnete  Bestimmung  der  Centralseebehörde  bedingt  ihre  Unterordnung  in 
allen  Dienst-,  Personal-  und  Disciplinarangelegenheiten  unter  das  Handelsministerium, 
sowie  anderseits  das  gleichartige  Verhältnis  der  Unterordnung  sämmtlicher  Hafen-, 
Sanitäts-  und  Lazarethsämter  unter  die  Centralseebehörde." 

Mit  Allerhöchster  Entschliessung  vom  30.  Jänner  1850  wurden  diese  Anträge 
genehmigt. 

2)  Ernst  Becher,  „Die  österreichische  Seeverwaltung  1850—1875." 


364  Lippert. 

nach  gleichmässigen  Grundsätzen  stattzufinden  hat,  wurde  auch  eine 
neue  Handelsflagge  an  Stelle  der  eben  beschriebenen,  bisher  von  der  Handels- 
und Kriegsmarine  gemeinsam  angewendeten  Flagge  eingeführt,  welche  mit 
1.  August  1869  von  allen  Handelsschiffen  gehisst  werden  musste.  ^) 

Die  Josefinische  Flagge  blieb  nun  mehr  ausschliesslich  den  Kriegs- 
fahrzeugen vorbehalten.  ^) 

Die  Wirksamkeit  der  Central-Seebehörde,  beziehungsweise  der  k.  k.  See- 
behörde, charakterisieren  eine  Reihe  in  Angriff  genommener  gesetzgeberischer 
Arbeiten  und  thatsächlich  durchgeführter  Einrichtungen,  hervorgegangen 
aus  dem  Gedanken,  die  durchgreifende  und  den  herrschenden  Verhältnissen 
entsprechende  Eeform  des  gesammten  Seerechtes  in  allen  seinen  Zweigen 
anzubahnen  und  damit  eine  feste  Grundlage  für  die  gedeihliche  Entfaltung 
des  Seeverkehres  und  der  Handelsmarine  zu  schaffen.  Vorbereitet  wurde 
schon  in  den  Fünfziger-  und  Sechzigerjahren  ein  Seecodex,  das  Registergesetz, 
die  Seemannsordnung.  Der  Plan  eines  einzigen  an  die  Stelle  des  alten  Edictes 
tretenden  vollständigen  und  einheitlichen  Gesetzeswerkes,  in  dessen  Rahmen 
die  ganze  Seegesetzgebung  zusammenzufassen  wäre,  musste  bei  der 
unendlichen  Schwierigkeit,  das  vielgestaltige  Material  in  absehbarer  Zeit 
zu  bewältigen  und  einen  Codex  zustande  zu  bringen,  aufgegeben  und  die  Reform- 
arbeit auf  einzelnen  Gebieten  durchgeführt  werden. 

Von  den  erwähnten  Arbeiten  ist  bisher  nur  das  Gesetz  vom  7.  Mai  1879, 
R.-G.-Bl.  Nr.  65,  über  die  Registrierung  der  Seehandelsschiffe  erlassen 
worden,  welches  Bestimmungen  über  die  Nationalität,  den  Heimatshafen,  die 
Schiffahrtskategorien, ^)  das  Schiffsregisteramt,  die  Eintragungen  in  das  Schiffs- 
register, den  Namen  des  Schiffes,  den  Nachweis  des  Eigenthums,  den  ßeilbrief, 
die  Schiffahrtsurkunden  u.  s.  w.  enthält.  *) 


1)  Kundmachung  des  Handelsministeriums  vom  6.  März  1869,  R.-G.-Bl.  Nr.  28. 

^)  Die  gegenwärtige  Handelsflagge  besteht  aus  zwei  Theilen,  u.  zw.  am  Flaggen- 
stock drei  wagrechten  Streifen  roth-weiss-roth  mit  dem  österreichischen  Wappen  im 
weissen  Streifen,  dann  aus  drei  wagrechten  Streifen  roth-weiss-grün  mit  dem  ungarischen 
Wappen  in  der  Mitte. 

3)  Die  kleine  Küstenschiffahrt  erstreckt  sich  auf  das  adriatische  Meer,  und  zwar 
gegen  Westen  bis  zum  Vorgebirge  Santa  Maria  di  Leuca,  gegen  Osten  bis  zum  Cap 
Clarenza  mit  Inbegriff  des  Hafens  von  Lepanto  und  der  jonischen  Inseln,  einschliesslich 
des  Hafens  und  des  Canales  von  Zante,  endlich  auf  die  Flüsse,  welche  in  besagte  Gewässer 
einmünden. 

Die  grosse  Kiistenfahrt  erstreckt  sich  auf  das  Adriatische  und  Mittelländische  Meer, 
einschliesslich  der  Meerenge  von  Gibraltar,  welche  nicht  überschritten  werden  darf,  auf 
das  Schwarze  und  Asowsche  Meer,  auf  den  Canal  von  Suez,  auf  das  Rothe  Meer,  auf  die 
Küstenstrecke  bis  in  den  Hafen  von  Aden,  endlich  auf  die  Flüsse,  welche  in  besagte 
Gewässer  einmünden. 

Die  weite  Seefahrt  erstreckt  sich  auf  alle  Meere  und  die  aus  denselben  zugäng- 
lichen Gewässer. 

*)  Die  Ergänzung  hiezu  bildet  die  Verordnung  des  Handelsministeriums  vom 
25.  October  1884,  R.-G.-Bl.  Nr.  169,  betreffend  die  Registrierung  der  Yachten. 

Das  Gesetz  vom   10.   Juni   1883,  R.-G.-Bl.  Nr.  108,  beziehungsweise   das  an  seine 


Die  Entwicklung  der  österreichischen  Handelsmarine.  365 

Die  Seemannsordnung  steht  gegenwärtig  ^)  noch  in  parlamentarischer 
Berathung. 

Wichtig  für  das  Seesanitätswesen  war  die  Errichtung  des  neuen 
Lazarethes  von  S.  Bartolomeo  in  der  Bucht  zwischen  Punta  grossa 
und  Punta  sottile  auf  einem  Gebiete  von  63.175  w^  mit  dem  Kosten- 
aufwand von  80.000  Gulden,  woran  vom  Juni  1867  bis  April  1868 
gebaut  wurde.  Das  Theresianische  Lazareth  musste  den  neuen  Triester 
Hafenbauten  weichen,  die  auf  Grund  des  mit  Allerhöchster  Ent- 
schliessung  vom  27.  Jänner  1865  genehmigten  Projectes  nach  einem 
mit  der  k.  k.  priv.  Südbahn-Gesellschaft  am  13.  April  1867  getroffenen 
Uebereinkommen  um  die  Pauschalsumme  von  I3V2  Millionen  Gulden 
sammt  Verfallszinsen  bis  Ende  1880  hergestellt  worden  sind.  Die 
zunehmende  Verkehrsentwicklung  erheischte  mehrmals  neuerliche  Ver- 
grösserungen.  Das  Gesetz  vom  4.  Juni  1887,  E.-G.-Bl.  Nr.  83,  bewilligte 
hiezu  einen  Credit  von  4,880.000  Gulden;  für  die  mit'l.  Jänner  1901 
in  Angriff  genommenen  Erweiterungsbauten  sind  12  Millionen  Kronen  aus- 
geworfen. 

Es  ist  nun  auf  die  eingetretenen  Veränderungen  und  die  Ausgestaltung 
der.  österreichischen  Mercantilflotte  im  verflossenen  Jahrhundert  zurück- 
zukommen. Von  den  schweren  Schlägen,  welche  die  französische  Herrschaft 
der  Handelsmarine  zugefügt  hatte,  erholte  sich  dieselbe  alsbald.  Dies 
veranschaulicht  am  augenfälligsten  ein  Blick  auf  den  Schiffahrts verkehr  im 
Triester  Hafen  selbst: 


Stelle   getretene  vom   21.  Februar  1897,  E.-G.-Bl.  Nr.  71,  setzte  die  in  den  Häfen  der 
österreichischen  Seeküste  zu  zahlenden  Hafengebüren  fest. 

Die  Eegelung  anderer  Gebiete  des  Seewesens  erfolgte  durch  die  Verordnungen  des 
Handelsministeriums  vom  14.  März  1884,  R.-G.-Bl.  Nr.  33,  betreffend  die  Polizeiordnung 
für  die  Seehäfen; 

10.  November  1885,  R.-G.-Bl.  Nr.  156,  beziehungsweise  1.  März  1901,  R.-G.-Bl. 
Nr.  18,  über  das  Verhalten  der  österreichischen  Seehandelsschiffe  und  Yachten  gegenüber 
den  Kriegsschiffen  und  Befestigungswerken; 

12.  Mai  1886,  R.-G.-Bl.  Nr.  71,  betreffend  die  Art  der  Führung  der  Handelsflagge 
zur  See; 

23.  März  1881,  R.-G.-Bl.  Nr.  35,  beziehungsweise  23.  Juni  1891,  E.-G.-Bl.  Nr.  78, 
über  die  Führung  des  Schiffsmanifestes; 

1.  September  1883,  R.-G.-Bl.  Nr.  143,  beziehungsweise  25.  Mai  1895,  R.-G.-Bl. 
Nr.  75,  betreffend  die  Sicherheitsvorschriften  für  Seeschiffe,  welche  Reisende  befördern; 

10.  Mai  1891,  R.-G.-B1.  Nr.  59,  womit  neue  Vorschriften  über  die  Vollziehung  des 
Gesetzes  vom  15.  Mai  1871,  R.-G.-Bl.  Nr.  43,  betreffend  die  Aichung  der  Seehandels- 
schiffe erlassen  wurden. 

10.  October  1894,  R.-G.-Bl.  Nr.  195,  betreffend  die  an  Bord  der  Seehandelsschiffe 
zu  führenden  Arzneikästen  [frühere  darauf  bezügliche  Ministerial-Verordnungen  vom  15.  De- 
cember  1875,  R.-G.-Bl.  Nr.  152  und  15.  April  1887,  R.-G.-Bl.  Nr.  35]. 

17.  April  1897,  R.-G.-Bl.  Nr.  95,  betreffend  die  Vorschriften  zur  Verhütung  von 
Zusamnienstössen  auf  der  See. 

1)  Sommer  1901. 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltucg.  X.  Band.  25 


366 


Lippert. 


Jahr 

Angekomm 

e  n  e     Schi 

f  f  e 

österreichische 

f  r  e 

m  d  e 

Zusammen 

österreichi.sche  und 

fremde  beladen 

und  in  Ballast 

beladen 

in  Ballast 

beladen 

in  Ballast 

Schiffe 

Tonnen 

Schiffe 

Tonnen 

Schiffe 

Tonnen 

Schiffe 

Tonnen 

Schiffe 

Tonnen 

1802 

2.508 

80.061 

2.036 

45.497 

792 

51.767 

106 

9.001 

5.442     186.326 

1803 

2.451 

101.585 

1.595 

65.226 

709 

63.780 

198 

11.988 

4.953    242.579 

1804 

2.422 

84.003 

1.280 

64.009 

476 

41.013 

47 

3.416 

4.225 

192.441 

1805 

2.274 

81.125 

1.088 

47.670 

416 

37.511 

67 

3.785 

3.845 

170.091 

1806 

1.437 

90.651 

729 

35.045 

1.463 

77.858 

535 

15.392 

4.164 

218.946 

1807 

1.289 

71.646 

745 

31.446 

2,361 

83.156 

656 

22.407 

5.051 

208.655 

1808 

963 

29.560 

630 

23.042 

2.116 

68.223 

380 

9.840 

4.089 

130.665 

1809 

766 

17.382 

736 

33.328 

2  043 

46.796 

435 

9.970 

3.980 

107.476 

1810 

6 

1.200 

— 

— 

2.906 

71.693 

752 

15.283 

3.664 

88.176 

1811 

3 

491 

— 

— 

1.975 

37.950 

933 

16.757 

2.911 

55.198 

1812 

2 

390 

— 

— 

2.008 

44.831 

645 

15.014 

2.655 

60.235 

1813 

881 

19.481 

214 

6.728 

1.297 

33.516 

420 

9.950 

2.812 

69.675 

1814 

3.671 

87.059 

690 

15.103 

874 

99.796 

23 

1.935 

5.258 

203.893 

1815 

4.056 

98.509 

1.896 

40.977 

682 

98.733 

33 

3.195 

6.667 

241.414 

1816 

4.038 

100.129 

2.072 

49.604 

767 

124.832 

40 

6.308 

6.917 

280.873 

Nun  bereitete  die  Erfindung  des  Dampfschiffes  eine  grosse  Um- 
wälzung im  ganzen  Seeverkehrs  vor. 

Die  österreichische  Eegierung  hatte  schon  1817  an  einen  in  Triest 
lebenden  englischen  Grosshändler  John  Allen  ein  15  jähriges  „aus- 
schliessendes  Privilegium"  auf  eine  regelmässige  Fahrt  mit  Dampfschiffen 
zwischen  Triest  und  Venedig  für  Reisende  und  Waren  ertheilt.  Dieses 
Privileg  wurde  Anfang  der  Zwanzigerjähre  durch  den  Engländer  Willi  am 
Morgan  mittelst  eines  kleinen  Raddampfers  ausgeübt,  welch  letzterer 
wegen  der  langsamen  und  beschwerlichen  Fahrt  so  wenig  die  Gunst 
des  Publicums  genoss,  dass  die  meisten  die  Reise  mit  dem  Fostsegelboot, 
der  Corriera,  vorzogen. 

Ein  Ereignis  von  weittragendster  Bedeutung  war  die  in  das  Jahr  1836 
fallende  Gründung  der  Dampfschiffahrtsgesellschaft  des  österreichischen 
Lloyd,  dessen  Schicksale  seither  mit  jenen  der  österreichischen  Handels- 
marine enge  verflochten  sind. 

Die  Vorgeschichte^)  dieses  Unternehmens  reicht  bis  1832  zurück, 
in    welchem   Jahre   die    damals   bestehenden   Versicherungsgesellschaften,  ^) 


I 


^)  „Die  Dampfschiffahrts-Gesellschaft  des  österreichisch-ungarischen  Lloyd  von  ihrem 
Entstehen  bis  auf  unsere  Tage  (1836—1886)%  Jubiläumsschrift  des  Lloyd,  Triest  1886. 

2)  Banco  Adriatico  di  Assicurazioni,  Azienda  Assicuratrice,  Banco  Illirico  d'Assi- 
curazioni,  Assicurazioni  Generali  Austrvitaliane,  Banco  di  Marittime  Assicurazioni,  Com- 
dagnie  degli  Amici  Assicuratoii  und  Societä  Orientale  d'Assicurazione. 


Die  Entwicklung  der  österreichischen  Handelsmarine.  367 

lebhaft  sich  geltend  machenden  Bedürfnissen  folgend,  eine  Vereinigung 
zur  Beschaffnng  der  für  die  Handelsoperationen  von  Wichtigkeit  erscheinenden 
Seeberichte  bildeten.  Mittheilungen  konnten  nämlich  nur  zeitweise  aus  den 
mit  Triest  in  Landpostverbindungen  stehenden  Häfen  einlangen,  während  der 
Handel  regelmässige  Informationen  erheischte.  Nach  dem  Muster  des  Lloyd 
in  London  und  des  Lloyd  fran9ais  in  Paris  gründeten  die  erwähnten  Gesell- 
schaften den  österreichischen  Lloyd  in  Triest.  ^) 

Die  Dauer  des 'Lloyd  wurde  vorläufig  auf  drei  aufeinanderfolgende 
Jahre  festgesetzt,  nämlich  vom  24.  August  1833  bis  24.  August  1836. 
Die  Genehmigung  seitens  der  Kegierung  erfolgte  am  26.  October  1838 
unter  Zusicherung  jenes  Schutzes,  auf  den  alle  auf  die  Förderung  des 
öffentlichen  Wohles  abzielenden  Institute  Anspruch  haben. 

Die  öffentliche  Meinung  hatte  dem  Lloyd  in  kurzer  Zeit  einen 
hervorragenden  Platz  unter  den  Anstalten  für  gemeinnützige  Zwecke  zu- 
erkannt und  noch  vor  Ende  des  Provisoriums  durfte  man  den  förderlichsten 
Einfluss  auf  Handel  und  Schiffahrt,  sowie  auf  die  heimische  Industrie 
erhoffen.  Der  allgemeinen  Stimmung  Eechnung  tragend,  die  sich  schon  seit 
geraumer  Zeit  für  eine  regelmässig  wiederkehrende  Verbindung  nach  der 
Levante  vermittelst  kleiner  Dampfer  kundgab,  wandte  sich  die  Direction  an 
den  Monarchen  mit  der  Bitte  um  Erlaubnis  zur  Errichtung  einer  Gesellschaft 
behufs  Betriebes  einer  Dampfschiffahrt  mit  der  Levante  und  anderen  Ländern. 
Nachdem  diesem  Ansuchen  willfahrt  worden  war  (20.  April  1836),  ordnete 
die  Direction  an,  dass  der  ersten  Section  des  Lloyd  —  Handels-  und  Seeberichte 
—  eine  zweite  —  die  Dampfschiffahrt  —  beigesellt  werde,  deren  Zweck  sei. 
die  österreichischen  Seehäfen  mit  den  Jonischen  Inseln.  Griechenland,  dem 
Archipel,  Constantinopel,  Smyrna,  Syrien  und  Aegypten  in  beschleunigte 
Verbindung  zu  bringen.  Diese  regelmässigen  Dampferlinien  erlangten  bald 
eine  grosse  Wichtigkeit,  ja  sie  erwiesen  sich  sogar  als  nothwendig,  seitdem 
ein  grosser  Theil  des  indischen  Handels  anfieng,  wieder  seinen  Weg  nach 
dem  Mittelraeere  zu  nehmen. 

Man  schritt  nun  zur  Gründung  des  Unternehmens  mit  einem  Actien- 
capitale  von  einer  Million  Gulden  C.-M.  und  es  wurde  beschlossen,  für  die 
Besorgung  des  regelmässigen  Verkehres  zwischen  Triest  und  den  Häfen  des 
Orients  sechs  Dampfer  ^)  nacheinander  in  Bau  zu  geben.  Zum  Studium 
der    Verhältnisse    in    der    Levante,    insbesondere    zwecks    Einrichtung    der 

^)  Seine  Aufgabe  bestand  darin,  den  Kaufleuten  und  Versicherern  die  genauesten 
Nachrichten  über  den  Handel  und  die  Schiffahrt  der  Hauptplätze  Europas,  der  Levante, 
dann  von  anderen  Orten  mittelst  eigener  Correspondenten,  sowie  durch  die  grösseren 
Zeitungen  und  durch  Bücher,  die  über  jene  Gegenstände  handelten,  zugänglich  zu  machen. 
Ferner  sollte  er  die  ganze  Schiffsbewegung  Triests  in  Vormerkung  halten,  desgleichen 
jene  Schiffe,  deren  Bestimmung  der  hiesige  Hafen  war,  endlich  die  Einclarierung  der 
Capitäne  bei  ihrer  Ankunft.  Diese  Evidenzhaltung  sollte  sich  auch  erstrecken  auf  die 
gesammte  Ein-  und  Ausfuhr,  sowie  auf  alle  österreichischen  Schiffe,  die  mit  Patent  ver- 
sehen waren,  so  dass  gleichsam  die  Geschichte  jedes  einzelnen  Schilfes  geboten  würde 

2j  Dieselben  erhielten  die  Namen:  Arciduca  Lodovico  d'Austiia,  Arciduca  Giovanni 
d'Austria,  Principe  Metternich,  Conte  Kolowrat,  Barone  Eichhoff  und  Mahmudie. 

25* 


368  Lippert.    ' 

vortheilhaftesten  Schiffahrtslinien  und  Auswahl  geeigneter  Plätze  für  die 
Aufstellung  von  Agenturen  sowie  Anlegung  von  Kohlenniederlagen  wurden 
Vertrauensmänner  entsendet. 

Gleich  damals  trachtete  die  Direction  von  der  k.  k.  Hofkammer 
die  Beförderung  der  Briefe,  Geld-  und  anderer  Wertsendungen  aus  Oesterreich 
und  dem  Auslande  nach  der  Levante  und  zurück  zu  erhalten.  Dieselbe  nahm 
das  Anerbieten  der  Gesellschaft  an  und  stellte  die  bisher  bestandenen 
regelmässigen  Fahrten  der  k.  k.  Paketsegelschiflfe  zwischen  Triest  und 
Patras  ein. 

Für  die  ersten  Keisen  fasste  man  insbesondere  einige  Häfen  des 
Adriatischen,  Jonischen  und  Mittelländischen  Meeres  und  des  Archipels  ins 
Auge.  Schon  nach  den  ersten  diesbezüglichen  Versuchen  stellte  sich 
die  Nothwendigkeit  heraus,  die  Schiffahrt  im  ganzen  Adriatischen  Meere 
aufzunehmen,  namentlich  zwischen  Triest  und  Venedig,  wo  das  von 
einer  englischen  Gesellschaft  innegehabte  Privilegium  binnen  kurzem 
erlöschen  sollte.  Auch  schien  es  angezeigt,  in  die  gesellschaftliche  Thätigkeit 
auch  jene  Fahrten  im  Golfe  längs  der  einen  Seite  bis  Albanien  und 
auf  der  anderen  bis  Messina  aufzunehmen,  um  mit  den  neapolitanischen 
Schiffen  Anschluss  zu  erhalten,  und  ebenso  nach  Palermo,  Neapel,  Livorno, 
Genua  und  Marseille,  wohin  die  spanischen  Dampfer  in  regelmässigem 
Dienste  kamen.  Diese  erweiterten  Verbindungen  mussten  dem  Unternehmen 
in  seinem  Verkehre  nach  und  von  der  Levante  einen  grossen  Vorschub 
leisten,  und  so  hielt  es  denn  der  Verwaltungsrath  schon  in  der  ersten  am 
9.  April  1837  zusammengetretenen  Generalversammlung  der  Actionäre 
für  zeitgemäss,  zu  beantragen:  1.  ihn  zur  Aufnahme  aller  jener  Fahrten 
im  Adriatischen  Meere  zu  ermächtigen,  die  er  für  zweckentsprechend  halten 
werde,  ferner  ausser  den  statutengemäss  bestimmten  sechs  Dampfern,  zum 
Baue  so  vieler  Dampfschiffe  als  erforderlich  seien,  die  Zustimmung  zu 
geben  und  2.  die  Hinausgabe  von  500  neuen  Actien  zu  je  1.000  Gulden 
zu  gestatten.  Beide  Anträge  wurden  angenommen.  ^) 

Das  Unternehmen  erfreute  sich  gleich  anfangs  der  Sympathie  der 
Handelswelt  und  seine  Fortschritte  waren  sichtlich.  Hiezu  trugen  nicht 
wenig   die    verliehenen   Begünstigungen   (Allerhöchste   Entschliessung    vom 


')  Der  erste  in  England  gebaute  Dampfer  mit  Namen  „Lodovico  Arciduca 
d'Austria"  lief  am  12.  April  1837  in  Triest  ein,  erhielt  seine  vollständige  Ausrüstung 
und  Bemannung  und  wurde  nach  Constantinopel  gesandt,  um  in  der  Levante  die  Fahrten 
der  Gesellschaft  zu  beginnen  und  einstweilen  auf  der  Strecke  Constantinopel-Smyrna  so 
lange  Verwendung  zu  finden,  bis  sämmtliche  Schiffahrtslinien  in  Betrieb  gesetzt  sein 
würden.  Der  Dampfer  gieng  von  Triest  am  16.  Mai  1837  mit  53  Reisenden  und  voller 
Ladung  ab  und  gelangte  am  80.  Mai  glücklich  nach  Constantinopel,  nachdem  er  die 
Häfen  von  Ancona,  Korfu,  Patras,  Piräus,  Syra  und  Smyrna  berührt  hatte,  überall  von 
dem  Publicum  sowohl,  wie  von  den  Behörden  mit  Kundgebungen  begrüsst. 

In  jenem  Jahre  wurden  folgende  Fahrten  gemacht:  1  directe  von  Triest  nach 
Constantinopel,  9  Fahrten  zwischen  Constantinopel  und  Smyrna,  8  Fahrten  zwischen 
Triest  und  Constantinopel,  1  directe  von  Triest  nach  Alexandrien^  2  zwischen  Triest  und 
Alexandrien,  endlich  8  Versuchsreissn  zwischen  Triest,  Venedig,  Ancona,  Fiume  und 
Dalmatien. 


I 
I 

I 


Die  Entwicklung  der  österreichischen  Handelsmarine.  369 

15.  August  1838)  bei,  und  zwar  unter  anderem  die  Befreiung  von  den 
Hafengebüren  in  allen  Häfen  der  Monarchie;  ferner  die  gänzliche  Ueberlassung 
der  Einnahmen  aus  der  Briefbeförderung  und  der  Vorbehalt  des  Allein- 
rechtes für  die  Linie  Triest — Venedig;  weiter,  dass  fremde  Dampfer, 
wenn  nicht  durch  besondere  Verträge  dazu  ermächtigt,  in  den  adriatischen 
Häfen  nicht  Schiffahrt  treiben  durften,  endlich  dass  die  zwischen  Triest 
und  Syra  verkehrenden  Dampfer  zur  Vereinfachung  der  Contumazbehandlung 
von  einem  Sanitätswächter  begleitet  werden  konnten. 

Immer  neue  Schiffahrtslinien  wurden  eingerichtet,^)  so  dass  der  Lloyd 
die"  Erbschaft  Venedigs  in  dem  über  die  Küsten  des  Mittelländischen 
Meeres  sich  ausbreitenden  europäisch -asiatischen  Handelsverkehre  angetreten 
zu  haben  schien. 

Im  Hinblicke  auf  die  Anforderungen  dieses  Verkehres  befahl  Kaiser 
Ferdinand,  eine  Eisenbahn  von  Triest  nach  Wien  zu  bauen  und  dieselbe 
gleichzeitig  nach  verschiedenen  Punkten  des  Kelches  weiter  zu  führen, 
im  Anschluss  an. das  Strassennetz  der  Nachbarstaaten.  Dieser  Handelsweg 
sollte  eine  ganz  bestimmte  Richtung  erhalten  und  ganz  Deutschland  und 
dem  Norden  zum  Nutzen  gereichen  (1842). 

Da  der  Lloyd  den  Postdienst  schliesslich  auf  allen  seinen  Linien 
besorgte,  so  gestattete  die  kaiserliche  Entschliessung  vom  10.  December  1842 
die  Führung  der  Postflagge  und  V^impel  auf  den  gesellschaftlichen  Schiffen 
und  für  die  Mannschaft  das  Tragen  von  Uniform.  Eine  spätere  kaiserliche 
Entschliessung  vom  5.  Mai  1845  erklärte  den  Lloyd  als  zu  den  Staats- 
postanstalten gehörig,  infolge  dessen  er  alle  die  im  Postpatente  vom 
5.  November  1837  enthaltenen  Begünstigungen  genoss,  so  die  Befreiung  von 
den  Contumaz-,  Leuchtthurm-  und  Patentgebüren.  Damals  wurden  die  mit 
der  obersten  Hofpostverwaltung  bestehenden  Uebereinkommen  bis  Ende 
August  1850  verlängert  und  der  Gesellschaft  das  ganze  Erträgnis  der 
Briefpost  zuerkannt. 

Bedeutsam  für  die  Entfaltung  des  Unternehmens  ist  der  in  der 
10.  General- Versammlung  am  7.  Mai  1845  einstimmig  gefasste  Beschluss, 
das  Actiencapital  auf  drei  Millionen  Gulden  C.-M.  zu  erhöhen,  ferner  dass 
in  dem  ersten  Jahrzehnt  die  Betriebsausdehnung  eine  Vermehrung  der 
Dampfer  von  sechs  auf  fünfundzwanzig  erforderte,  dass  die  Fahrtenzahl  sich 
vervierfacht,  die  Zahl  der  Reisenden  verzwanzigfacht  hatte  und  die  der 
Angestellten  von  207  auf  1.049  gestiegen  war.  Weitere  Marksteine  in 
der  Entwicklungsgeschichte  des  Lloyd  sind  die  Aufstellung  der  Agentien  in 
Aden,  Bombay,  Madras,  Calcutta,  Batavia,  Singapore,  Ceylon,  Manila, 
Canton    und   Hongkong   (1848);    die   Uebernahme    der  Schiffahrt   auf   dem 


\)  Nach  Dalraaticn,  Istricn,  Friaul,  in  den  Lagunen  von  Venedig  nach  Mestre,  Fusina 
und  Chioggia,  ferner  ein  regelmässiger  an  Stelle  des  früher  nur  zeitweiligen  Fahrten- 
dienstes zwischen  Constantinopel,  Smyrna  und  Syrien,  dann  im  Anschluss  an  bereits 
bestehende  Linien  wöchentliche  Fahrten  nach  den  Jonischen  Inseln,  von  Griechenland 
nach  Constantinopel  und  in  die  Donauhäfen,  vierzehntägige  Verbindungen  mit  Kleinasien 
bis  Trapezunt,  mit  Syrien,  Candia,  Aegypten. 


370  Lippert. 

Poflusse  (1852);  der  Bau  der  ersten  Schraubendampfer  (1853);  die 
üebernahme  des  Dienstes  auf  dem  Lago  maggiore  (1853);  die  Grund- 
steinlegung des  neuen  grossen,  vom  Architekten  Hansen  entworfenen 
Arsenals  in  der  Bucht  von  Servola  (begonnen  30.  Mai  1853,  vollendet 
im  Mai  1861  mit  einem  Kostenaufwand  von  4,990.376  Gulden);  die 
an  gewisse  Bedingungen  und  Leistungen  geknüpfte  Gewährung  eines  zehn- 
jährigen Staatsbeitrages  von  je  einer  Million  Gulden  zwecks  Unter- 
stützung im  Wettbewerb  mit  anderen  Gesellschaften  (1855);  der  Abschluss 
eines  neuen  Postvertrages  (30.  December  1858),  welcher  der  Gesellschaft 
eine  Entschädigung  nach  der  im  Postdienst  zurückgelegten  Meilenzahl 
zusicherte,  so  dass  der  Staatsbeitrag  nunmehr  als  eine  Entlohnung 
für  vertragsmässige  Leistungen  im  Interesse  des  allgemeinen  Verkehres 
erschien;  der  Bau  des  ersten  Dampfers  aus  Eisen  (1862),  wodurch  eine 
Periode  der  allmählichen  Umgestaltung  des  Flottenmateriales  eingeleitet 
wurde ;  abermals  ein  Postvertrag  (1864)  mit  Festsetzung  dreier  Kategorien 
des  Dienstes:  a)  auswärtige  Linien  mit  Schnellverkehr,  für  welche  die 
Kegierung  4fl.  20  kr.  für  jede  durchlaufene  Meile  zu  zahlen  sich  verpflichtete; 
//)  auswärtige  Linien  mit  gewöhnlicher  Fahrt  mit  2fl.  50  kr.  Vergütung  für 
jede  Meile ;  c)  Linien  innerhalb  der  heimischen  Gewässer,  für  die  keine 
Entlohnung  seitens  des  Staates  stattfand.  Hiemach  kam  der  jährliche 
Staatsbeitrag  auf  ungefähr  zwei  Millionen  Gulden. 

Am  17.  November  1869  wurde  der  Suezcanal  eröffnet;  drei  Dampfer 
des  Lloyd  waren  die  ersten  Schiffe,  welche  ihn  durchfuhren.  Allsogleich 
(31.  Jänner  1870)  wurde  versuchsweise  eine  Linie  von  Triest  nach  Bombay 
eingerichtet  und  im  Anschlüsse  hieran  ein  Ueberschiffungsdienst  in  Port-Said 
zur  Erleiciiterung  des  Verkehres  zwischen  Indien  und  Triest  organisiert 
Jedes  Schiff",  welches  von  Ostindien  unmittelbar  nach  irgend  einem  Hafen, 
des  Mittelländischen  Meeres  Bestimmung  hatte,  konnte  Waren  für  Triest 
mitnehmen  und  diese  in  Port-Said,  von  wo  jede  Woche  ein  Lloyddampfer 
nach  Triest  auslief,  dem  letzteren  zur  Weiterb eförde.mng  übergeben.  Zu 
demselben  Behufe  wurde  mit  den  österreichischen  Bahnen  ein  Uebereinkommen 
(1.  Februar  1870)  abgeschlossen,  um  für  die  nach  Ostindien  bestimmten 
Güter  eine  Frachtermässigung  zu  gewähren.  Es  wurde  eben  alles  versucht, 
den  mächtigen  und  die  Aufgabe  des  Lloyd  immer  mehr  erschwerenden 
Concurrenten  zu  begegnen.  Die  „Peninsular  and  Oriental  Co."  hatte  infolge 
ihres  Vertrages  die  Linie  Alexandrien-Brindisi  einrichten  müssen  und 
zog  natürlich  den  Transitverkehr  der  englischen  Eeisenden  nach  Indien 
an  sich;  sie  verlängerte  dann  dieselbe  bis  Venedig,  indem  sie  die  Adriatisch- 
Orientalische  Compagnie,  welche  diese  Linie  damals  befuhr,  zwang,  sich  auf 
die  Eoute  Venedig-Constantinopel  zu  werfen. 

Diese  Fahrten,  die  nur  mit  reichlicher  Staatsbeihilfe  hatten  unternommen 
werden  können,  gereichten  der  österreichischen  Dampfermarine  sehr  zum 
Nachtheil.  Die  Isoliertheit  von  Triest  zumal,  dem  damals  noch  die 
nothwendigen  kürzesten  Verbindungen  mit  den  wichtigsten  Centren  des 
Continents  fehlten,  machte  dem  Lloyd  den  Kampf  sehr  schwer. 


Die  Entwicklung  der  österreichischen  Handelsmarine.  37 1 

Auf  diese  Verhältnisse  ist  Bedacht  genommen  worden  bei  Erneuerung 
des  Postvertrages  am  18.  November  1871. 

Es  wurden  zwei  üebereinkommen  abgeschlossen;  an  dem  einen 
allgemeineren  Charakters  waren  beide  Keichshälften  betheiligt;  es  umfasste 
mit  einigen  Abänderungen  den  ganzen  Dienst.  Das  andere  war  secundärer 
Natur  und  gieng  bloss  Cisleithanien  an;  es  bezog  sich  nur  auf  die  monatliche 
Linie  von  Triest  nach  Bombay,  Kraft  des  ersten  Vertrages  wurde  der 
Staatsbeitrag  von  zwei  Millionen  auf  1,700.000  Gulden  herabgesetzt  und  die 
Verpflichtung  zu  etlichen  Linien  ausgeschieden,  ausserdem  wurde  die 
Vergütung  für  die  auswärtigen  secundären  Linien  vermindert,  wogegen  die 
Nothwendigkeit,  den  Beitrag  für  die  nationalen  Linien  weiter  auszudehnen, 
zugegeben  wurde.  Der  Fahrplan  w^urde  auch  derart  geändert,  um  den 
Wünschen  Fiumes  möglichst  entgegenkommen  zu  können.  Die  Dauer  des 
Vertrages  ward  auf  sechs  Jahre  festgesetzt.  Nach  dem  zweiten  üebereinkommen 
zahlte  die  Kegierung  190.000  Gulden  für  zwölf  Keisen  im  Jahr  von  Triest 
nach  Bombay,  ausserdem  die  Suezcanalgebüren  für  sechs  Jahre,  beginnend 
vom  1.  Jänner  1872.  Nach  Genehmigung  der  beiden  üebereinkommen 
seitens  der  gesetzgebenden  Factoren  beider  Keichshälften  sollte  die  Firma 
„österreichischer"  Lloyd  in  „österreichisch-ungarischer"  Lloyd  umgewandelt 
werden.  Letzteres  geschah  am  16.  December  1872. 

Im  Jahre  1875  wurde  in  Anbetracht  der  zunehmenden  Entwertung 
des  Silbers,  sowie  der  Schwankungen  des  Wertverhältnisses  zwischen  Silber 
und  Gold,  das  in  der  Levante  im  Umlauf  war,  für  die  Frachten  aus 
dem  Auslande  und  nach  demselben  die  Goldwährung  eingeführt.  Der 
Hauptzweck  dieser  Maassregel  war,  in  die  Verrechnungen  mit  den  Agentien 
eine  gewisse  Regelmässigkeit  zu  bringen  und  nicht,  wie  es  auf  den  ersten 
Blick  schien,  eine  Erhöhung  der  Frachtraten  dadurch  herbeizuführen. 

Die  Vorverhandlungen  zur  Erneuerung  des  im  Jahre  1876  von  Ungarn 
gekündigten  Vertrages  zogen  sich  in  die  Länge.  Es  waren  die  Interessen 
der  Unternehmung  mit  den  Anforderungen,  die  der  Staat  stellte,  in  Einklang 
zu  bringen.  Letzterer  verlangte  eine  sehr  bedeutende  Erweiterung  des  Lloyd- 
dienstes durch  Einrichtung  von  Linien  in  ferne  Seegebiete,  deren  Erfolg 
nicht  gewiss  war,  und  die  Gesellschaft  wollte  diesen  Zweck  ohne  finanzielle 
Opfer  erreichen,  zumal  in  Triest  das  Bedürfnis  immer  dringender  geworden 
war,  die  unmittelbaren  Verbindungen  mit  Ostindien  weiter  (nach  China) 
auszudehnen,  um  nicht  gezwungen  zu  sein,  die  Waren  auf  weiten  kostspieligen 
Umwegen  mit  Ueberladung  von  Bord  zu  Bord  zu  beziehen. 

Der  neue,  sofort  mit  seiner  Sanctionierung  am  1.  Juli  1878  in  Kraft 
getretene  Vertrag  umfasst  zwei  Abschnitte:  den  Dienst  im  Mittelländischen 
Meere  und  jenen  mit  Ostindien. 

Zu  diesem  beizusteuern,  hatte  Ungarn  abgelehnt,  es  betheiligte  sich 
bloss  an  demjenigen  im  Mittelmeere,  wofür  ein  Betrag  von  1,300.000  Gulden 
vereinbart  worden  war,  während  Cisleithanien  den  indischen  Dienst  mit 
einem  Beitrag  von  430.000  Gulden  auf  sich  nahm,  wozu  noch  die 
Vergütung   der   Suezcanalgebühren    für   die   Durchfahrt   von    15    Dampfern 


372  Lippert. 

kam.  Der  Vertrag  war  gegenseitig  verbindlich  auf  die  Dauer  von  zehn 
Jahren. 

Unter  den  Bedingungen  erscheint  die  Verpflichtung  des  Lloyd,  22.000  Ton- 
nen Kohlen  aus  heimischen  Gruben  zu  nehmen,  wenn  er  sie  zum  Preise  der 
Cardiflf-Kohle  nach  Triest  oder  Fiume  gestellt  haben  kann  und  ihre  Heizkraft 
gegen  die  englische  Kohle  das  Verhältnis  von  85  zu  100  erreicht. 
Der  Lloyd  sollte  im  Innern  Dienst  Unterthanen  fremder  Länder  nur  nach 
vorher  eingeholter  Zustimmung  der  Kegierung  anstellen  und  ebenso  Dampf- 
schiffe im   Auslande   nur   nach   vorher  eingeholter  Genehmigung  ankaufen. 

Im  Herbst  1879  wurde  die  Bombay-Linie  bis  Colombo  verlängert 
und  zu  Anfang  des  folgenden  Jahres  bis  Singapore  ausgedehnt.  Die  an  und 
für  sich  grossen  Schwierigkeiten,  welche  sich  der  Entwicklung  des  Lloyd- 
dienstes in  Ostindien  entgegenstellten  (beträchtliche  Kosten  der  weiten 
Keise^  starke  Abnützung  des  Materiales,  häutige  grössere  Ausbesserungen), 
steigerte  der  Mangel  lohnender  Ausfracht.  Bombay  anlangend,  machte  sich 
allerdings  seit  einiger  Zeit  eine  Zunahme  in  der  Einfuhr  österreichischer 
Waren  bemerkbar,  jedoch  war  dieselbe  nicht  so  erheblich,  um  bei  den 
ausserordentlich  niedrigen  Frachten  für  die  Kosten  der  Fahrt  zu  entschädigen. 
Ein  grosses  Hindernis  lag  in  dem  starken  Mitbewerb  mächtiger  Dampfschiffahrts- 
gesellschaften, die  schon  seit  Jahrzehnten,  von  ihren  Regierungen  mit 
Ausdauer  und  in  der  nachdrücklichsten  Weise  unterstützt,  das  Erscheinen 
des  Lloyd  in  jenen  Gewässern  als  eine  Beeinträchtigung  erworbener  Allein- 
rechte auffassten  und  kein  Mittel  der  Abwehr  (z.  B.  vorübergehendes 
unglaubliches  Herabsetzen  von  Frachtraten)  scheuten. 

Die  Lloydverwaltung  liess  sich  jedoch  keineswegs  entmuthigen,  sondern 
beharrte  bei  ihren  Bemühungen,  die  Entwicklung  des  Handels  und  Güter- 
austausches im  äussersten  Orient  zu  fördern.  Es  wurde  beschlossen,  im 
Jahre  1881  neun  Reisen  nach  Hongkong  über  Bombay  von  sechs  zu  sechs 
Wochen  zu  unternehmen,  sowie  die  Zahl  der  Calcuttafahrten  um  drei 
zu  vermehren,  damit  der  Gesellschaft  die  Einfuhr  von  Jute  über  Triest 
gesichert  werde.  Für  diese  besonderen  Fahrten  bekam  der  Lloyd  keine 
Entschädigung  von  der  Regierung.  1882  wurde  die  Zahl  der  regelmässigen 
Fahrten  zwischen  Triest  und  Hongkong  von  neun  auf  zwölf  gebracht,  indem 
man  hoffte,  dadurch  der  österreichischen  Ausfuhr  nach  Indien  und  China 
grösseren  Aufschwung  zu  geben.  Der  indochinesische  Verkehr  zeigte  aber 
Erfolge  vorerst  nur  in  der  Einfuhr;  1885  wurden  die  Fahrten  Triest — Hongkong 
auf  24,  jene  Triest — Calcutta  auf  12  vermehrt. 

Anfang  der  80er  Jahre  dachte  man  auch  daran,  das  Fahrtennetz  nach 
dem  Westen  auszudehnen.  Zwei  1882  unternommene  Versuchsfahrten 
nach  Südamerika,  und  zwar  die  eine  nach  Brasilien  und  die  andere  nach 
dem  La  Plata  führten  angesichts  des  gehabten  Verlustes  zur  Ueberzeugung, 
dass  ein  regelmässiger  Verkehr  dorthin  ohne  staatliche  Unterstützung  nicht 
zu  halten  war.  Wenigstens  wurde  für  die  Dauer  der  Kaffee-Ernte  vorüber- 
gehend eine  Linie  eingerichtet.  Nach  und  nach  war  auch  in  diesem  Betriebe 
eine  Besserung  zu  verzeichnen. 


Die  Entwicklung  der  österreichischen  Handelsmarine.  373 

So  kämpfte  der  Lloyd,  treu  seinen  Wahlspruch  „ Vorwärts ",\)  un- 
verdrossen weiter,  zuweilen  in  genug  schweren  Zeiten.  Am  19,  März  1888 
wurde  wieder  ein  Schiffahrts-  und  Postvertrag  und  am  25.  Juni  1888  ein 
üebereinkommen  in  Betreff  des  Betriebes  überseeischer  Dampferlinien 
abgeschlossen.  Beide  hatten  nur  kurze  Dauer.  Das  Unternehmen  gieng  der 
kritischesten  Zeit  seiner  Gebarung  entgegen. 

Die  am  25.  Mai  1889  abgehaltene  Generalversammlung  billigte  die 
vom  Verwaltungsrathe  eingeleiteten  Schritte  wegen  Ueberprüfung  und 
Aenderung  des  Vertrages. 

Die  Verhandlungen  wegen  Neufestsetzung  des  Uebereinkomraens  mit 
der  Kegierung  zogen  sich  jedoch  in  die  Länge.  Im  Keichsrathe  trat  damals 
das  Bestreben  zutage,  für  den  Lloyd  wohl  das  Nöthige  vorzusehen,  ihn 
aber  gleichzeitig  dem  Einfluss  der  ungarischen  Regierung  zu  entziehen, 
welche  eine  Theilnahme  an  der  Sanierungsaction  ablehnte.  Die  österreichische 
Regierung  hegte  übrigens  die  Absicht,  ihre  unmittelbare  Einflussnahme  auf 
die  Geschäftsthätigkeit  des  Unternehmens  zu  vermehren,  und  zu  diesem 
Behufe  wollte  sie  den  Sitz  der  Gesellschaft  nach  Wien  verlegen.  Im 
moralischen  und  materiellen  Interesse  der  Stadt  Triest  und  des  Lloyd  wurde 
dagegen  Stellung  genommen  und  man  drang  durch.  Da  die  Vorschläge 
des  Verwaltungsrathes,  der  Staat  möge  unter  gemeinsam  festzusetzenden 
Bedingungen  den  Dienst  in  eigene  Regie  übernehmen,  oder  den  Actionären 
eine  Verzinsung  gewährleisten,  nicht  angenommen  wurden,  verblieb  es  bei 
dem  bisherigen  System  der  Subventionierung  auf  Grundlage  von  Meilen- 
geldern für  bestimmte  Fahrten. 

Der  neue,  auf  Grund  des  Gesetzes  vom  25.  Juli  1891,  R.-G.-Bl.  Nr.  106, 
abgeschlossene,  vom  1.  Jänner  1892  angefangen  auf  15  Jahre,  also  bis 
Ende  1906  giltige  Schiffahrts-  und  Postvertrag  hat  die  Firma  der  Gesellschaft 
wieder  in  „österreichischer  Lloyd"  umgewandelt  und  als  Compensation  der 
gewährten  Unterstützungen  und  Begünstigungen  den  staatlichen  Einfluss 
auf  die  Verwaltung  und  Gebarung  in  mannigfacher  Weise  zu  wahren 
gesucht.  Die  Gesellschaft  verpflichtete  sich,  während  der  Vertragsdauer 
bei  grundsätzlichen-  Fragen,  wie  Bestand  der  Gesellschaft,  Aufnahme  von 
neuen  Anlehen,  Vermögensbelastungen,  Vermehrung  oder  Verminderung  des 
Actiencapitales,  Veränderung,  Veräusserung  oder  Verpfändung  des  Ge- 
sellschaftsvermögens, keine  Verfügungen  ohne  Genehmigung  des  Handels- 
ministeriums zu  treffen. 

Beim  Bau  und  der  Reparatur  von  Schiffen,  Schiffsbestandtheilen  und 
Maschinen  ist  auf  die  Verwendung  inländischen  Materiales  möglichst 
Rücksicht  zunehmen  und  bedarf  der  Lloyd  zu  derlei  Anschaffungen  im 
Auslande  die  ministerielle  Zustimmung,  die  aber  nicht  verweigert  werden 
darf,  wenn  erwiesen  ist,  dass  die  Beistellung  im  Inlande  nicht  zur  rechten 


1)  Dem  31.  Dampfer  beschloss  der  Verwaltungsrath  (1848)  den  Namen  „Vorwärts" 
zu  geben  und  dieses  Wort  auch  als  Wahlspruch  der  Unternehmung  auszuersehen,  welcher 
fortan  in  ihren  Abzeichen  erscheint. 


374  Lippert. 

Zeit    oder    die   Erwerbung    im   Auslande   unter   ganz   besonders    günstigen 
Bedingungen  erfolgen  kann. 

Die  nach  Abschluss  des  Vertrages  erbauten  oder  neu  erworbenen,  auf 
vertragsmässigen  Linien  verkehrenden  Dampfer  sind  zur  höchsten  Classe 
beim  österr.-ung.  Veritas  zu  classificiereu;  die  Pläne  für  neu  zu  bauende 
oder  noch  am  Stapel  liegende  Schiffe  einschliesslich  der  Maschinen  sind 
dem  Handelsministerium  vor  Beginn  des  Baues,  beziehungsweise  Abschluss 
des  Bauvertrages,  die  Pläne  von  fertig  angekauften  Schiffen,  einschliesslich 
der  Maschinenpläne  sofort  nach  Ankauf  zur  Kenntnisnahme  vorzulegen. 
Der  Lloyd  verpflichtete  sich  ausserdem  zu  einer  den  Anforderungen  des 
Dienstes  entsprechenden,  allmählichen  Erneuerung  seines  Schiffsmateriales. 
Zur  Förderung  dieses  Zweckes  gewährte  ihm  die  Staatsverwaltung  einen 
unverzinslichen  Vorschuss  von  1,500.000  Gulden  in  drei  gleichen,  am 
1,  September  1891,  2.  Jänner  1892  und  2.  Jänner  1893  fälligen  Raten 
gegen  Rückzahlung  in  fünf,  am  2.  Jänner  1902  beginnenden  mit  2.  Jänner  1906 
endenden  Jahresraten  zu  je  300.000  Gulden.  Eine  schliesslich  übernommene 
Verbindlichkeit  besteht  in  der  thunlichsten  Bedachtnahme  auf  das  Inland 
beim  Kohlenbezug  und  zwar  jährlich  mindestens  20.000  Tonnen,  woferne 
das  Verhältnis  der  Heizkraft  der  inländischen  zu  der  vom  Lloyd  gewöhnlich 
verwendeten  englischen  Kohle  mindestens  84:  100  beträgt  und  die  inländische 
Kohle,  nach  Triest  gestellt,  nicht  höher  als  die  englische  dortselbst  zu 
stehen  kommt. 

Ohne  Genehmigung  des  Handelsministeriums  kann  eine  höhere  als 
47oige  Dividende  nicht  vertheilt  werden.  Falls  das  Reinerträgnis  in  einem 
Jahre  4%  des  jeweiligen  Actiencapitales  übersteigt,  wird  der  Ueberschuss 
zwischen  der  Staatsverwaltung  und  der  Gesellschaft  im  Verhältnis  von 
Vs  •  ^3  vertheilt. 

Die  Vergütungen  für  subventionierte  Reisen  wurden  im  Vergleich  zum 
1888er  Vertrage  wesentlich  erhöht.  ^) 


^)  1.  Im  Adriatischen  und  Mittelmeer: 
a)  für  Fahrten  mit  einer  Geschwindigkeit  von  mindestens   IIV2   Seemeilen    in    der 

Stunde  3  fl.  55  kr.  für  eine  Seemeile  (im  Vertrage  von  1888  2  ti.  60  kr.); 
h)  für   Fahrten    mit   einer    Geschwindigkeit   von    mindestens    10    Seemeilen    in    der 

Stunde  2  fl.  40  kr.  für  eine  Seemeile  (im  Vertrage  von  1888  1  fl.  65  kr.); 

c)  für  Fahrten  mit  einer  Geschwindigkeit  von  mindestens  9  Seemeilen  in  der  Stunde 

1  fl.  80  kr.  für  eine  Seemeile  (im  Vertrage  von  1888  1  fl.  05  kr.); 

d)  für  Fahrten  mit  geringerer  Geschwindigkeit  als   die  letztangeführte   1  fl.  45  kr. 
(im  Vertrage  von  1888  1  fl.  05  kr.). 

2.  Im  überseeischen  Dienste: 
a)  für  Fahi'ten  mit  einer  Geschwindigkeit  von  mindestens  11  Seemeilen  in  der  Stunde 

2  fl.  80  kr.  für  eine  Seemeile; 

h)  für  Fahrten  auf  der  Linie  Triest — Santos  2  fl.  für  eine  Seemeile; 

c)  für  die  übrigen  Fahrten  1  fl.  70  kr.  für  eine  Seemeile. 

Der  Gesammtbetrag  der  Meilengelder  soll  jedoch  in  einem  Jahre  2^910.000  Gulden 
nicht  übersteigen,  anderseits  aber  auch,  das  Nichtverschulden  des  Lloyd  an  etwaigen 
Fahrtunterbrechungen  vorausgesetzt,  nicht  unter  2,000.000  Gulden  herabsinken.  Ausser- 
dem werden  der  Gesellschaft  die  Suezcanal-Gebüren  auf  bestimmten  Linien  rückvergütet. 


I 


Die  Entwicklung  der  österreichischen  Handelsmarine,  375 

Auf  den  vertragsmässigen  Fahrten  dürfen  nur  solche  Schiffe  verwendet 
werden,  welche  hinsichtlich  der  Fahrgeschwindigkeit,  des  Reisenden-,  Brief- 
und  Fahrpostdienstes  und  des  Laderaumes  den  Bedürfnissen  der  jeweilig 
befahrenen  Linien  entsprechen  und  genügend  Sicherheit  gewähren.  Für 
gewisse  Linien  wurde  auch  ein  bestimmter  Tonnengehalt  der  Dampfer 
vorgeschrieben.  Die  ununterbrochene  Einhaltung  der  vertragsmässigen  Fahrten, 
die  NichtÜberschreitung  fahrplanmässiger  Abfahrts-  und  Ankunftszeiten  an 
den  Ausgangs-  oder  Anschlusspunkten  bei  Vermeidung  von  Conveiitional- 
strafen,  ausgenommen  den  Fall  höherer  Gewalt  oder  Seegefahr,  ist  ebenfalls 
zur  Pflicht  gemacht.  Während  der  Vertragsdauer  sind  die  Lloyddampfer  von 
der  Zahlung  der  Consular-Schiffgebüren  bei  allen  k.  und  k.  Consularämtern 
enthoben;  dagegen  haben  sie  in  den  österreichischen  Häfen  die  Hafen-  und 
sonstigen    Schiffahrtsgebüren     sowie     die   Registergebüren    zu    entrichten. 

Ein  der  Revision  unterzogenes  Betriebsreglement  musste  noch  vor 
dem  Inslebentreten  des  Vertrages  dem  Handelsministerium  vorgelegt  werden. 
Letzterem  war  auch  die  Genehmigung  der  Normaltarife  für  den  Personen- 
verkehr im  allgemeinen  und  für  den  Güterverkehr  in  der  Ausfuhr  aus  den 
österreichischen  Häfen,  dann  aller  auf  die  Frachtenbeförderung  bezüglichen 
Bestimmungen  vorbehalten.  ^) 

Die  Beförderung  und  Vermittlung  der  Briefpost-  und  der  amtlichen 
Fahrpostsendungen  besorgt  der  Lloyd  nach  wie  vor  unentgeltlich.  Die 
Beförderung  privater  Fahrpostsendungen  geschieht  gegen  Vergütung  der 
Fracht  (beziehungsweise  auch  Seeversicherung),  nach  dem  für  das  Publicum 
im  allgemeinen  geltenden  oder  etwa  besonders  zu  vereinbarenden  massigeren 
Tarife. 

Mit  den  Bestimmungen  des  Vertrages  waren  auch  die  Statuten  der 
Gesellschaft  in  Einklang  zu  bringen.  ^) 

^)  Die  Normaltarife  und  Frachtsätze  für  den  Verkehr  aus  und  nach  österreichischen 
Häfen  sollen  nicht  höher  gestellt  werden,  als  unter  gleichen  oder  ähnlichen  Bedingungen 
solche  für  den  Verkehr  mit  den  concurrierenden  Häfen  des  Auslandes  bestehen.  Für  den 
Fall,  als  das  begründete  Verlangen  nach  Erstellung  directer  combinierter  Land-  und 
Seetarife  geäussert  wird  und  hiefür  die  Mitwirkung  der  in  Betracht  kommenden  Eisen- 
bahnverwaltungen zu  erzielen  ist,  verpflichtet  sich  der  Lloyd  über  Aufforderung  des 
Handelsministeriums  die  Erstellung  solcher  Tarife  in  seinem  Bereiche  zu  erwirken. 

-)  Dies  geschah  in  der  am  6.  Mai  1891  abgehaltenen  ordentlichen  Generalver- 
sammlung; die  Genehmigung  erfolgte  durch  den  Erlass  des  Ministeriums  des  Innern  vom 

1.  August  1891,  Z.  14.817. 

Soweit  es  hier  von  Interesse  ist,  enthalten  sie  nachstehende  hauptsächlichste 
Bestimmungen: 

(§  1)  Die  Gesellschaft  besteht  auf  Grundlage  ihrer  ursprünglichen  Statuten   vom 

2.  August    1836    und    der    Beschlüsse,    welche    in    den    Generalversammlungen    gefasst 
worden  sind. 

(§  5)  Die  Dauer  ist  unbestimmt.  Würde  durch  eingetretene  Verluste  das  Capital 
der  Gesellschaft  um  ein  Drittheil  vermindert,  so  ist  eine  Generalversammlung  einzuberufen, 
die  über  die  Auflösung  oder  Fortdauer  zu  entscheiden  hat. 

(§  3)  Der  Zweck  der  Gesellschaft  ist,  durch  die  bereits  bestehende  regelmässige 
Dampfschiffahrt  zwischen  den  in-  und  ausländischen  Häfen  die  Verbindungen  mit  den 
bedeutendsten  Seeplätzen  möglichst  auszubilden  und  zu  erweitern,  insofern   die  erforder- 


376  Lippert. 

Der  Vertrag  des  Jahres  1891  hat  dem  Lloydunternehmen  eine  sehr 
kräftige  Stütze  geboten  und  ausgiebige  Hilfe  gebracht. 

Im  letzten  Jahrzehnt  des  verflossenen  Jahrhunderts  wurde  mit  Hilfe 
des  gewährten  Staatsvorschusses  von  1,500.000  Gulden  eine  durchgreifende 
Umgestaltung  der  Lloydflotte  bewerkstelligt.  lieber  die  Ausführung  des 
Planes  bemerkt  der  in  der  77.  Generalversammlung  am  5.  November  1899 
vorgelegene  Kechenschaftsbericht,  dass  der  Tonnengehalt  der  Flotte,  welcher 
im  Jahre  1891  122.321  Brutto-Registertonnen  bei  74  Dampfern  betrug,  sich 
derzeit  (Mai  18Ö9)  nach  Abschlag  der  seit  Ende  1891  in  Wegfall  gekommenen 
Schiffe,  dagegen  mit  Hinzurechnung  der  noch  im  Bau  begriffenen  Dampfer 
auf  171.036  Brutto-Registertonnen  bei  72  Dampfern  belaufe,  also  eine 
Zunahme  von  48.715  Brutto-Registertonnen,  das  ist  um  39-827o^  aufweise. 
Neugebaut  waren  von  1892 — 1899  15  Dampfer  (zusammen  52.905  T. 
und  Mai  1899  noch  im  Bau  7  Dampfer  (zusammen  75.390  T.),  im  ganzen 
22  neue  Schiffe  (zusammen  128.295  T.);  hievon  stammten  12  aus  den 
Triester  Werften  selbst  (Lloydarsenal  und  Stabilimento  tecnico).  Die  für 
diese  neuen  Schiffsbauten  verwendeten  Beträge  erreichten  die  Summe  von 
31,252.700  Kronen.  Diese  neuen  für  transoceanische  Reisen  bestimmten 
Dampfer  unterschieden  sich  wesentlich  von  den  älteren  durch  einen  grösseren 
Raumtonnengehalt  (bis  zu  9.760  T.)  und  den  geringeren  Kohlenverbrauch. 

Die  erhöhte  Leistungsfähigkeit  der  Flotte  trat  besonders  deutlich 
in  der  Ziffer  des  durchschnittlichen  Meilendurchlaufes  jedes  einzelnen  Schiffes 
hervor,  welcher  sich  von  22.480  Seemeilen  im  Jahre  1891  in  regelmässigem 
Fortschritte  auf  28.814  Seemeilen  im  Jahre  1898  steigerte,  somit  bis  1898 
eine  um  28*177o  erhöhte  Inanspruchnahme  der  Flotte  anzeigte. 


liehen  Begünstigungen  von  der  Eegierung  aufrecht  erhalten  und  erlangt  werden  können. 
Ferner  ist  die  Gesellschaft  noch  zu  nachfolgenden  Geschäften  berechtigt:  1.  Betrieb 
der  freien  Ehederei  mit  eigenen  oder  mit  gecharterten  Schüfen;  2.  Bau  und  Eeparatur 
von  Schiffen  und  Maschinen  für  eigene  und  fremde  Eechnung;  3.  Errichtung  und  Betrieb 
von  eigenen  Lagerhäusern;  4.  Ausnützung  des  eigenen  Arsenales  zu  industriellen  Zwecken; 
5.  Absehluss  aller  jener  Geschäfte,  welche  mit  der  Beförderung  von  Personen  und  Gütern 
in  Verbindung  stehen. 

(§  11)  Eine  Vermehrung  des  Actiencapitales  oder  Aufnahme  von  Anleihen  kann 
nur  auf  Grund  eines  Beschlusses  der  Generalversammlung  und  mit  Genehmigung  der 
Eegierung  erfolgen. 

(§  19)  Der  Vervvaltungsrath  ist  der  Vorstand  der  Gesellschaft;  er  vertritt  dieselbe 
nach  aussen  und  entscheidet  mit  der  gesetzlich  festgesetzten  Verantwortlichkeit  in  all 
den  Angelegenheiten,  welche  nicht  der  Generalversammlung  vorbehalten  sind.  Ihm  obliegt 
die  Oberleitung  der  Geschäfte,  die  Ernennung  und  Entlassung  der  Beamten,  Agenten 
und  Angestellten,  die  Bestimmung  ihrer  Gehalte  und  Bezüge,  die  Verfügung  über  den 
Bau,  die  Ausbesserung  und  den  Dienst  der  Dampfer,  die  Anschaffung  aller  Bedürfnisse, 
der  Absehluss  aller  Verträge  u.  s.  f. 

(§  34)  Das  Handelsministerium  übt  die  Aufsicht  über  die  gesammte  Geschäfts- 
gebarung der  Gesellschaft  und  insbesondere  über  die  genaue  Einhaltung  der  Vereinbarung 
mit  derselben  nach  seinem  Ermessen  durch  hiezu  bestellte  Organe  aus.  Dasselbe  ist 
berechtigt,  die  Geschäftsgebarung  des  Lloyd  prüfen  und  Einsicht  in  dessen  Geschäfts- 
bücher nehmen  zu  lassen,  sowie  auch  die  erforderlichen  Aufklärungen  und  Nachweisungen 
abzuverlangen. 


Die  Entwicklung  der  österreichischen  Handelsmarine.  377 

Der  Meilendurchlauf  der  gesammten  Flotte,  welcher  1891  1,618.567  See- 
meilen betrug,  stieg  ziemlich  regelmässig  auf  1,987.575  Seemeilen  im 
Jahre  1898.  Die  Chinafahrten  wurden  regelmässig  bis  Japan  ausgedehnt, 
die  Fahrten  nach  Indien  und  nach  Brasilien  vermehrt  und  die  freie  Schiff- 
fahrt seit  1892  vom  jährlichen  Durchlaufe  von  131.538  Seemeilen  auf  einen 
Jahresdurchlauf  von  328.615  Seemeilen  gebracht.  Die  beförderte  Frachten- 
menge hob  sich  von  5,742.022  Metercentneru  im  Jahre  1891  auf 
9,484.776  Metercentner  im  Jahre  1898,  das  ist  um  65'187o-  Insbesondere 
in  der  Beförderung  der  Ausfuhrgüter  ist  von  1891  (2,100.056  Metercentner) 
auf  1898  (3,082.960  Metercentner)  eine  Steigerung  von  46-80%  eingetreten. 

„Die  Anstrengungen,"  heisst  es  in  dem  erwähnten  Kechenschafts- 
berichte,  „welche  zur  Hebung  des  Keisendenverkehres  durch  Beschleunigung 
der  Geschwindigkeit  auf  den  Eillinien,^)  Eleganz  der  Schiffsräume,  gute 
Beköstigung,  Pflege  der  Gesellschaftsfahrten  mit  Sonderschiffen  u.  s.  w. 
gemacht  wurden,  haben  wohl  zur  Erhaltung  und  Verbreitung  des  guten  Rufes 
der  Lloydschiffe  beigetragen.  Die  Zahl  der  Reisenden,  oder  gar  der  finanzielle 
Nutzen  aus  deren  Beförderung  hat  sich  bisher  noch  nicht  entsprechend  erhöht. 
Die  Ursachen  hiefür  sind  zweifellos  in  erster  Linie  in  der  Abgelegenheit  Triests 
vom  internationalen  grossen  Reisestrom  der  Engländer,  Deutschen  und 
Amerikaner,  mangels  einer  kurzen  Verbindung  mit  Mitteldeutschland,  zu  suchen, 
ferner  in  dem  unbesiegbaren  Mitbewerb  der  reicheren  englischen,  deutschen  und 
französischen  Schiffahrtsgesellschaften,  denen  von  Triest  aus  es  an  Luxus  der 
Schiffe  und  Schnelligkeit  gleichthun  zu  wollen,  nicht  zu  rechtfertigen  wäre." 

Die  Gebarung  hatte  sich  zu  Beginn  der  Neunzigerjahre  bedenklich 
genug  gestaltet.  Schuld  daran  trugen  theils  eine  allgemeine  ungünstige 
Lage,  theils  aussergewöhnliche  Ereignisse,  wie  russische  Getreideausfuhr- 
verbote, längere  Contumazierung  der  syrischen  Provenienzen  (1891),  Zoll- 
maassnahmen  der  fremden  Binfuhrstaaten,  z.  B.  zollbegünstigte  Behandlung  des 
amerikanischen  Mehles  in  Brasilien.  Zudem  vermochten  die  nordischen 
Häfen  infolge  billiger  Wasser-  und  Bahnfrachten  den  Verkehr  der  nördlichen 
Industriegebiete  der  Monarchie  nachtheilig  für  Triest  an  sich  zu  ziehen. 

Seit  1892  und  im  Vergleiche  mit  1898  stiegen  die  Roheinnahmen 
in  der  regelmässigen  Schiffahrt  um  1,636.567  Gulden,  die  Meilenzahl  um 
130.020;  in  der  freien  Schiffahrt  das  Roherträgnis  um  1,137.638  Gulden, 
die  Meilenzahl  um  197.077. 

Also  nach  Ueberwindung  des  Deficits  der  Jahre  1889,  1890  und  1891  von 
zusammen  2,260.000  Gulden,  günstige  Ergebnisse,  die  mit  Aufgebot  ausser- 
ordentlicher Mühen,  in  unausgesetzter  Befestigung  und  Erweiterung  der 
gesellschaftlichen  Leistungsfähigkeit  unter  der  Leitung  des  am  7.  December  1891 
unmittelbar  vor  dem  Inkrafttreten  des  neuen  Vertrages  sowie  zwecks 
Organisation  der  Verwaltung  berufenen  und  im  Mai  1901  zurückgetretenen 
Präsidenten  Victor  Freiherrn  von  Kalchbergr  erreicht  wurden. 


^)  Die  Schnelligkeit  der  Eillinien  nach  Cattaro  und  nach  Alexandrien  wurde  auf 
15 — 16  Seemeilen  erhöht  und  die  Eeisedauer  nach  Cattaro  von  46 '/^  auf  26,  jene  nach 
Alexandrien  von  113  auf  90  Stunden  vermindert. 


378  Lippert. 

Aus  den  letzten  Rechenschaftsberichten  ist  noch  hinzuzufügen,  dass 
die  Geschäftszunahme  auf  dem  Frachtenmärkte  erfreulicherweise  anhielt, 
dass  der  indochinesische  Verkehr  und  der  Brasildienst,  in  welch  letzterer 
Verbindung  die  Mehlausfuhr  dahin,  sowie  die  Kaffee-Einfuhr  von  dort  die 
maassgebende  Rolle  spielt,  sich  befriedigend  gestaltete. 

Drei  im  Jahre  1900  neu  unternommene  Fahrten  nach  Südafrika  hatten 
wegen  der  Kriegszustände  keinen  Erfolg.  Der  Betrieb  dieser  Linie  wurde 
vorläufig  eingestellt  und  wird  im  Herbst  1901  wieder  aufgenommen. 

Die  freie  Schiffahrt  gewann  ansehnlichen  Umfang.  Zur  Bewältigung 
der  steigenden  Zuckerverfrachtung  wurden  mehrere,  Privat-Rhedern  gehörige 
Schiffe  von  grosser  Tragfähigkeit  gechartert.  In  Rangoon  konnten  bei 
regelmässiger  Berührung   bedeutende   Reisausfuhren    bewerkstelligt   werden. 

Sorgenlos  freilich  ist  kein  Betriebsjahr;  ungünstig  beeinflussende 
Ereignisse  treten  oft  ganz  plötzlich  und  unerwartet  ein.  So  war  1899  die 
Zuckerausfuhr  nach  Indien  infolge  der  dortselbst  auf  Prämienzucker  ein- 
geführten Zölle  einer  Gefährdung  ausgesetzt,  glücklicherweise  ohne  wesent- 
liche Beeinträchtigung  zu  erfahren.  Dann  haben  wiederholt  ausgebrochene 
Ausstände  in  den  Kohlenbezirken,  sowie  der  spanisch-amerikanische  und  der 
südafrikanische  Krieg  die  Kohlenpreise  hinaufgetrieben.  Was  dies  bedeutet, 
lässt  die  Thatsache  ersehen,  dass  nach  dem  Geschäftsabschlüsse  für  das 
Jahr  1900  durch  den  höheren  Preis  der  Kohle  im  Vergleich  zum  Jahre  1899 
eine  Mehrauslage  von  2,087.990  Kronen  erwuchs. 

Den  Nachtheilen  des  Wettbewerbes,  der  zumeist  beide  Theile  schädigt, 
ist  auf  dem  Cartellwege  möglichst  begegnet  und  vorgebeugt  worden.  Dies- 
bezüglich wurde  zwischen  dem  österreichischen  und  ungarischen  Handels- 
minister ein  vom  1.  Juni  1898  angefangen  giltiges  und  bis  zum 
31.  December  1906  in  Kraft  bleibendes  Uebereinkommen  betreffend  die 
vertragsmässigen  Subventionen  der  beiderseitigen  Seeschiffahrts-Unter- 
nehmungen Lloyd  und  Adria^)  geschlossen,  dessen  wesentliche  Bestimmungen 
in  folgendem  bestehen: 


*)  Die  königlich-ungarische  Seeschiffahrts-Actiengesellschaft  Adria  wurde  1881  mit 
einem  Actiencapital  von  5  Millionen  Kronen  gegründet,  welch  letzteres  durch  eine  1891 
aufgenommene  Prioritätsanleihe  von  6  Millionen  Kronen  vermehrt  worden  ist.  Laut  des 
mit  der  ungarischen  Regierung  auf  die  Dauer  vom  1.  Jänner  1892  bis  31.  December  1911 
abgeschlossenen  Vertrages  gewährt  dieselbe  der  Gesellschaft  einen  jährlichen  Beitrag 
von  1,140.000  Kronen,  wovon  480.000  Kronen  für  die  Verzinsung  und  Amortisation  vor- 
weg auszuscheiden  sind. 

Die  Flotte  bestand  Ende  1900  aus  25  Dampfern  mit  einem  Gesammt-Tonnengehalte 

von     '\^^  ^^ Tonnen   und   zusammen    29.148    indicierten  Pferdekräften;  ihr  Wert 

28.632  Netto- 
betrug 18  Millionen  Kronen;  die  Schiffe  hatten  ein  Durchschnittsalter  von  8 — 9  Jahren. 
Aus  und  nach  Fiume  wurden  1898  506,  1899  513,  1900  542  Fahrten  zurückgelegt.  Die 
mit  den  eigenen  Dampfern  besorgten  Fahrten  erreichten  1899  905.779,  1900  968.780 
Seemeilen.  Von  dem  Gesammtverkehre  des  Jahres  1898  mit  630.027  Tonnen  entfallen  auf 
die  Einfuhr  75.203  Tonnen,  auf  die  Ausfuhr  203.349  Tonnen  auf  den  Verkehr  in  den 
Zwischenhäfen  336.601  Tonnen;  1899  mit  675.830  Tonnen  entfallen  auf  die  Einfuhr  59.633 
Tonnen,  auf  die  Ausfuhr  250.754  Tonnen,  auf  den  Verkehr  in  den  Zwischenhäfen  365.443 


Die  Entwickluncf  der  österreichischen  Handelsmarine.  379 

Für  den  vertragsmässigen  Dienst  werden  die  Verkehrsgebiete  in  der 
Weise  abgegrenzt,  dass  dem  österreichisclien  Lloyd  dieser  Dienst  in  der 
Levante,  in  Ostafrika,  Indien,  China  und  Japan,  der  königlich-ungarischen 
Seeschiffalirtsgesellschaft  „Ädria"  aber  der  verlragsmässige  Dienst  im 
Westen,  das  ist  in  Italien,  Malta,  Spanien,  Frankreich,  Grossbritannien, 
Nord-  und  Westafrika  (ausgenommen  Aegypten)  und  Nordamerika  (letzteres 
unbeschadet  der  weiter  unten  zu  erwähnenden  Einschränkung)  vorbehalten 
bleibt.  Das  Gebiet  des  Schwarzen  Meeres  ist  neutral;  der  ungarische 
Handelsminister  wird  jedoch  auf  den  Linien  Odessa — Constantinopel  und 
Batum — Constantinopel,  solange  dieselben  vertragsmässig  durch  den  Lloyd 
befahren  werden,  seinerseits  keine  vertragsmässigen  Fahrten  einrichten. 
Die  Fahrten  zwischen  Triest,  beziehungsweise  Fiume  und  Brasilien,  allenfalls 
im  La  Platagebiete,  werden  abwechselnd  durch  den  Lloyd  und  die  Adria 
besorgt.  Als  Grenze  zwischen  der  Levante  und  der  Ostküste  des  Adriatischen 
Meeres  Avird  die  durch  das  Gesetz  vom  17.  Mai  1879,  beziehungsweise 
Gesetzesartikel  16  vom  Jahre  1879  über  die  Kegistrierung  der  Seehandels- 
schiflfe  festgesetzte  Grenzlinie  der  kleinen  Küstenschiffahrt  angenommen, 
und  steht  innerhalb  dieser  Linie  jedem  Theile  die  Einrichtung  vertrags- 
mässiger  Fahrten  frei. 

Der  österreichische  und  der  ungarische  Handelsminister  erklären,  dass 
sie  in  dem  dem  anderen  Theile  vorbehaltenen  Verkehrsgebiete  keine  vertrags- 
mässigen Fahrten  einrichten  werden.  Die  der  freien  Schiffahrt  gesetzlich 
gewährten  Begünstigungen  werden  nicht  als  Begünstigungen  vertragsmässiger 
Fahrten  betrachtet. 

Oesterreichischerseits  beziehungsweise  ungarischerseits  wird  auf  be- 
stimmten, im  einzelnen  aufgezählten  Linien  die  regelmässige  Berührung 
Fiumes,  beziehungsweise  Triests  vorgesehen,  jedoch  diesbezüglich  ohne  jede 
Beitragsleistung  seitens  des  anderen  Staates.  Die  Fahrten  zwischen  Triest 
beziehungsweise  Fiume  und  Brasilien  finden  abwechselnd  zwischen  dem 
Lloyd  und  der  Adria  in  der  Gesamratzahl  von  zwölf  im  Jahre  nach  einer 
zu  vereinbarenden  Fahrordnung  statt.  ^) 


Tonnen;  1900  mit  731.888  Tonnen  entfallen  auf  die  Einfuhr  45.217  Tonnen,  auf  die  Aus- 
fuhr 282.811  Tonnen,  auf  den  Verkehr  in  den  Zwischenhäfen  403.860  Tonnen. 

Das  Sinken  des  Verkehres  in  der  Einfuhr  wurde  1900  hauptsächlich  durch  die 
Abnahme  der  Steinkohlen-  und  Weineinfuhr  herbeigeführt. 

Die  Steigerung  der  Ausfuhr  ist  das  Ergebnis  des  lebhafteren  Verkehres  der  Holz- 
und  Mehlausfuhr. 

Das  Fahrtenerträgnis  war    .    .  1898  1,999.371  K,  1899  2,189.778  K,  1900  2,544.121  K. 
Der  Reingewinn  war     .    .    .    .1898     420  202    „     1899      944.354    „     1900  1,069.960    „ 
Die  Dividende 1898  120/o  1899  14«/,  1900  15%. 

Ebenfalls  Sitz  in  Fiume  haben  die  ungarisch- croatische  Seedampfschiffahrts-Actien- 
gesellschaft,  gegründet  1891  auf  11  Jahre  mit  einem  Capitale  von  2  Millionen  Kronen; 
dann  die  ungarisch-croatische  Gesellschaft  für  freie  SchiiFahrt,  gegründet  1899  mit 
2  Millionen  Kronen  Actiencapital;  ferner  die  ungarische  Rhederei-Actiengesellschaft  Orient, 
gegründet  1893,  Capital  4  Millionen  Kronen. 

*)  Bezüglich  des  Verkehres  nach  Nordamerika  wird  mit  Rücksicht  auf  die  bestehen- 
den Fahrten  der  Austro-Americana  zwischen   dieser  und  der  Adria  ein  Uebereinkommen 


380  Lippert. 

Auf  den  vertragsmässigen  Linien  der  beiderseitigen  Unternehmungen, 
welche  Triest  und  Fiume  berühren,  werden  die  Tarife  für  Reisende,  Waren- 
und  Wertsendungen  von  und  nach  Triest,  beziehungsweise  Fiume  mit 
jenen  von  und  nach  Fiume,  beziehungsweise  Triest  völlig  gleich  gehalten 
.und  es  soll  auch  bei  der  Einfuhr  aus  ausländischen,  von  diesen  Linien 
berührten  Häfen  in  der  Berechnung  der  Frachtkosten  kein  Unterschied 
zwischen  den  beiden  genannten  Plätzen  des  Bestimmungshafens  gemacht 
werden.  Von  den  Tarifen  und  Frachtsätzen  sollen  beiderseits  Nachlässe, 
Refactien  und  Provisionen  nur  unter  solchen  Bedingungen  gewährt  werden, 
die    eine   unterschiedliche  Behandlung  von  Triest  und  Fiume  ausschliessen. 

Bei  den  besprochenen  vertragsmässigen  Fahrten,  welche  Triest  und 
Fiume  anlaufen,  soll  im  Ausgangspunkte  ein  Drittel  des  Schiffsraumes 
für  den  andern  Hafenplatz  derart  vorbehalten  werden,  dass  der  österreichische 
Lloyd,  beziehungsweise  die  Adria  über  diesen  Raum  nur  dann  anderweitig 
verfügen  kann,  wenn  derselbe  bei  Fahrten  über  den  Suezcanal  hinaus 
bis  längstens  vier  Wochen,  im  Verkehr  mit  Brasilien  bis  längstens  vierzehn 
Tagen,  auf  allen  anderen  Fahrten  bis  längstens  acht  Tagen,  für  kleine 
Mengen  (das  ist  bis  zu  20  Raumtonnen  insgesammt)  innerhalb  24  Stunden 
vor  Abgang  des  Schiffes  ab  Triest,  beziehungsweise  Fiume  nicht  in  Anspruch 
genommen  worden  ist.  Schliesslich  lautet  noch  die  Schlussbestimmung: 
„Der  österreichische  Handelsminister  erklärt,  keine  Einwendung  dagegen 
erheben  zu  wollen,  dass  die  ungarische  Regierung  mit  dem  Lloyd  wegen 
Errichtung  einzelner  Linien  Vereinbarungen  treffe.  Demgegenüber  erklärt 
der  ungarische  Handelsminister,  auch  seinerseits  gegen  eine  solche  Ver- 
einbarung der  österreichischen  Regierung  mit  der  Adria  eine  Einwendung 
nicht  erheben  zu  wollen." 

Ein  ähnliches  Uebereinkommen  schloss  der  Lloyd  mit  der  Ungarischen 
Levante-Seeschiffahrts-Gesellschaft  für  die  Zeit  vom  1.  März  1898  bis 
31.  December  1906  mit  Genehmhaltung  der  beiderseitigen  Handelsminister. 

Diese  Annäherung  Ungarns  an  den  Lloyd  ist  sehr  bemerkenswert. 
Ungeachtet  sich  die  ungarische  Verwaltung  in  ihrer  Verkehrspolitik  stets  nur 
von  nationalen  Gesichtspunkten  leiten  lässt  und  gerade  in  der  Förderung 
der  Adria  einen  ausserordentlichen  Eifer  bethätigt  hat,  zeigt  es  sich  eben 
hier,  wie  die  Ungarn  ihren  wirtschaftlichen  Vortheil  stets  wahrzunehmen 
wissen   und  in   richtiger  Abschätzung   der   Bedeutung   und   der   Leistungs- 


geschlossen, welches  von  den  beiderseitigen  Handelsministern  genehmigend  zur  Kenntnis 
genommen  wird  und  zum  Zwecke  hat,  das  gegenseitige  Verhältnis  dieser  beiden  Schiif- 
fahrtsunternehmungen  in  einer  den  beiderseitigen  Interessen  entsprechenden  Weise  zu 
regeln.  In  diesem  Uebereinkommen  verpflichten  sich  die  Austro-Americana  und  die  Adria, 
sich  in  ihren  in  der  freien  Schiifahrt  eingerichteten  Fahrten  von  adriatischen  und  Mittel- 
meerhäfen  nach  Nordamerika  gegenseitig  keine  Concurrenz  zu  machen,  d.  h.  von  den 
angelaufenen  Häfen  nur  Ladungen  nach  Nordamerika,  beziehungsweise  nur  von  Nord- 
amerika Güter  nach  Mittelmeer-  und  adriatischen  Häfen  zu  übernehmen  und  keinen 
Zwischenhafenverkehr  in   den  regulären  Relationen  zu  besorgen. 

Die  Austro-Americana   erklärt,  bezüglich   der  Frachtbedingungen    nach    und  von 
Nordamerika  Fiume  und  Triest  gleichzuhalten. 


Die  Entwicklung  der  österreichisehen  Handelsmarine.  33I 

fähigkeit  des  Lloyd  einen  festeren  Anschluss  an  denselben  erstrebten,  der  sich 
freilich  organisch  leicht  vollziehen  Hess,  umsomehr  als  die  Verwaltung  des 
Lloyd  stets  gute  Beziehungen  zu  der  Fiumaner  Unternehmung  gepflogen  hat. 

Die  Thätigkeit  des  Lloyd  kennt  keinen  Stillstand.  Unausgesetzt 
werden  neue  Aufgaben  ins  Auge  gefasst.  In  der  ausserordentlichen  General- 
versammlung vom  2.  April  1901  wurde  der  Verwaltungsrath  zur  Aufnahme 
einer  47oigen  in  Gold  zahlbaren,  binnen  54  Jahren  vom  1.  Juli  1906 
an  zu  tilgenden  Anleihe  von  18  Millionen  Kronen  ermächtigt,  welche  der  als 
dringend  nothwendig  erkannten  Erneuerung  und  Ausgestaltung  der  Flotte 
dienen  soll.  Behufs  Ausführung  dieses  Planes  wurde  beschlossen,  in 
der  Bauperiode  1901  und  1902  ausser  den  bereits  im  Arsenale  in  Bau 
begriffenen  drei  Levantedampfern  und  einem  grossen  Chinadampfer  weitere 
drei  Levantedampfer,  ferner  einen  grossen  Doppelschraubendampfer  und 
drei  grössere  Frachtdampfer  theils  im  Lloydarsenal  auf  Stapel  zu  legen, 
theils  anderweitig  zu  beschaffen. 

In  der  am  17.  Mai  1901  abgehaltenen  Plenarsitzung  des  Verwaltungs- 
rathes  entwickelte  der  neuernannte  Präsident  Ernst  Becher,  darauf 
hinweisend,  dass  die  Stellung  des  im  allgemeinen  Verkehrsinteresse  wirkenden 
Unternehmens  eine  dualistische  sei,  indem  es  einerseits  als  Actiengesellschaft 
für  den  Erwerb  zu  sorgen  und  anderseits  nach  seiner  ganzen  geschichtlichen 
Entwicklung  in  steter  Verbindung  mit  der  Regierung  gestanden  habe, 
als  nächste  zur  Lösung  gelangende  Programmpunkte  die  Organisation 
der  Verwaltung  mit  wohlüberlegter,  durchdachter  Oekonomie,  die  Eeform 
des  Dienstes  auf  den  Schiffen,  die  Ueberprüfung  des  Agentiewesens, 
die  Regelung  der  Kohlenfrage,  und  überhaupt  die  Anspannung  aller 
Leistungen  zwecks  Erreichung  der  äussersten  Grenze  der  Verwertung  der  im 
Lloyd  ruhenden  Kraft,  damit  er  stark  dastehe,  wenn  die  zweite  Bahn- 
verbindung ^)  hergestellt  sei  und  zur  Erneuerung  des  Vertrages  mit 
der  Regierung  geschritten  werden  müsse. 

Das  eben  aufgerollte  Bild  des  allmählichen  Werdens  von  Oesterreichs 
grösstem  Schiffahrtsunternehmen  ^)  sollen  schliesslich  noch  einige  Zahlen- 
übersichten ergänzen  und  hiebei  die  finanzielle  Lage,  die  technische 
Ausgestaltung  und  die  Verkehrsentwicklung  Berücksichtigung  finden. 


^)  Nach  dem  Eisenbahn-Investitionsgesetz  yom  6.  Juni  1901,  R.-G.-Bl.  Nr.  63  soll 
die  Bahnverbindung  Klagenfurt — (Villach)— Görz — Triest  im  Jahre  1905  und  die  voll- 
endete Tauernbahn  im  Jahre  1908  dem  öffentlichen  Verkehre  übergeben  werden. 

^)  Zwecks  Vergleiches  sollen  hier  nur  von  einem  einzigen  auswärtigen  grossen 
Schiffahrtsunternehmen  die  auf  seinen  Betriebsumfang  bezüglichen  Ziffern  angeführt  werden. 
Die  Hamburg-Amerikanische-Paketfahrt-Actiengesellschaft  schloss  ihr  Geschäftsjahr  1900, 
das  54.  seit  ihrem  Bestände,  mit  einem  Reingewinn  von  24*4  Millionen  Mark  und  zahlte 
eine  lO^j^ige  Dividende.  Sie  verfügt  über  98  Oceandampfer  mit  486.528  Brutto-Reg.- 
Tonnen;  15  Oceandampfer  mit  98.600  Br.-R.-Tonnen  befinden  sich  im  Baue.  An  Fluss- 
dampfern, See-  und  Flusschleppern,  Barcassen,  Leichtern  u.  s.  w.  in  Fahrt  besitzt  die 
Gesellschaft  121  mit  zusammen  25.277  Br.-R.-Tonnen.  Das  Durchschnittsalter  der  Schiffe 
beträgt  4  Jahre  7^/2  Monate.  Im  verflossenen  Jahre  wurden  419  Rundreisen  unternommen, 
16C.539  Reisende  und  3,195.685  Raummeter  Güter  befördert. 

Zeit.schrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  X.  Band.  26 


382 


Lippert. 


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Die  Entwicklung  der  öiterreichischen  Handelsmarine.  383 

Nach  der  vorsteheoden,  Zeiträume  von  fünf  zu  fünf  Jahren  umfassenden 
Zusammenstellung  hat  sich  unter  allmählicher  und  stetiger  Vergrösserung 
der  Capitalsgrundlage  von  2  auf  48Y2  Millionen  Kronen  die  Zahl  der  nun 
fünfmal  höher  bewerteten  Dampfer  verzehnfacht,  deren  Brutto-Register-Tonnen- 
gehalt  verhundertfacht,  die  Stärke  der  gesammten  Maschinenkraft  ist 
zweihundertmal  so  gross.  Demgemäss  stiegen  die  Leistungen,  und  zwar 
die  Zahl  der  Reisenden  auf  das  14fache,  die  der  durchlaufenen  Seemeilen 
auf  das  51fache,  der  Reisenden  auf  das  35fache,  der  beförderten  Waren- 
mengen auf  das  2.000fache,  der  beförderten  Pakete  auf  das  5fache, 
der  beförderten  Gelder  auf  das  15fache. 

In  den  letzten  Jahren  hat  der  Postverkehr  durch  die  kriegerischen 
Ereignisse  viel  eingebüsst. 

Die  zweite  Uebersicht  gibt  eine  Darstellung  der  Betriebsverhältnisse 
während  der  letzten  zehn  Jahre.    (Siehe  Tabelle  S.  384.) 

Die  Frachteneinnahmen  sind  in  steter  Zunahme  begriffen  und  demnach 
auch  das  Betriebsergebnis,  beziehungsweise  der  Reingewinn.  Der  Aufgeld- 
gewinn bei  den'  in  Gold  gezahlten  Frachtraten  ist  ganz  erheblich.  Dem 
umfangreicheren  Betriebe  entsprechend  mussten  auch  die  Aus-  und  Ein- 
schiflfungsauslagen  u.  s.  w.,  dann  die  Auslagen  für  die  Besoldung  der 
Officiere  und  Mannschaft  wachsen.  Die  Kosten  der  Instandhaltung  der 
Flotte  nahmen  im  Hinblick  auf  die  Neuconstructionen  etwas  ab. 

Der  Brennstoffverbrauch  war  in  Tonnen-Kohle: 

inländische  zusammen 

36.277  173.801  Tonnen 

39.924  163.709 

40.352  183.133 

18.654  216.851 

21.624  231.299        „ 

20.750  240.594 

25.511  257.210        „ 

19.810  254.061        „ 

44.297  282.280 

20.721  280.493 

27.186  316.077 

Der  Mehrverbrauch  von  Jahr  zu  Jahr  hängt  zusammen  mit  der 
steigenden  Zahl  zurückgelegter  Seemeilen.  Die  ungewöhnliche  Erhöhung 
der  Auslagen  für  diese  Ausgabepost  in  den  letzten  Jahren  ist  auf  die 
bereits  erwähnten  allgemeinen  Vertheuerungsursachen,  Kriegs  Verwicklungen, 
Arbeiterausstände  in  den  Kohlengruben  zurückzuführen. 

Die  staatliche  Hilfe  in  Form  des  Beitrages  für  bestimmte  ver- 
tragsmässige  Fahrten,  dann  durch  die  Vergütung  der  Suezcanal-Gebüren  ist 
eine  sehr  bedeutende  in  den  letzten  Jahren,  zusammen  je  77^—8  Millionen 
Kronen  jährlich.  ^) 

^)  Nach  einer  im  August  1900  deutscherseits  angestellten  Berechnung  betragen 
die    von    den  Welthandelsstaaten    zur  Förderung   ihres  Aussenhandels    gewährten    Sub- 

26* 


ausländische 

1890 

137.524 

1891 

133.785 

1892 

142.781 

1893 

198.197 

1894 

209.675 

1895 

219.844 

1896 

231.699 

1897 

234.251 

1898 

237.993 

1899 

259.772 

1900 

288.891 

384 


Lippert. 


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1897  240.232 

1898  182.234 

1899  184.477 

1900  211.845 

5) 

gezahlt. 

die    Beträge     an     unmittelbar 
rebüren    für   Fracht-    und    Fahr- 

Die  Entwicklung  der  österreichischen  Handelsmarine.  385 

Anderseits  sind  auch  die  an  den  Staat  geleisteten  Abgaben  ganz 
erhebliche;  die  Einkommensteuerbeträge  schwanken  je  nach  dem  mehr 
oder  weniger  günstigen  Stande  der  Einnahmen ;  unter  diesem  Titel  wurden 

1890  78.276  Kronen  1896     261.808  Kronen 

1891  8.200 

1892  8.200   „ 

1893  25.612 

1894  121.688 

1895  248.644 

Weitaus     höher     noch     stellen     sich 
(monatlich   im    nachhinein)    entrichteten    G( 
karten,    dann    die    Stempel    für   Frachtbriefe.     Jene    der    ersteren    Gattung 
erreichten  in  den  letzten  Jahren  Summen  von  je    60.000 — 65.000  Kronen. 

Aus  einer  Darstellung  der  Steuerleistungen  des  Lloyd  im  letzten 
halben  Jahrhundert  unter  gleichzeitiger  Berücksichtigung  des  der  Steuer- 
bemessung zugrunde  gelegten  Einkommens  ist  wohl  der  sicherste  Schluss  auf 
die  jeweilige  Geschäftslage  des  Unternehmens  zu  ziehen.  (Siehe  Tabelle  S.  386.) 

Nach  dem  §  19  des  Einkommensteuer-Patentes  vom  29.  October  1849, 
E.-G.-Bl.  Nr.  439,  entfiel  die  Einkommensteuer  mit  5  Proc.  des  Einkommens; 
die  kaiserliche  Verordnung  vom  13.  Mai  1859,  K.-G.-Bl.  Nr.  88,  führte 
zur  Erwerbs-  und  Einkommensteuer  einen  ausserordentlichen  Kriegszuschlag 
von  Vö  der  einfachen  ordentlichen  Gebür  ein :  auf  Grund  der  Gesetze  vom 
19.  December  1862,  E.-G.-ßl.  Nr.  101,  vom  30.  December  1865,  ß.-G.-Bl. 
Nr.  149,  und  vom  25.  December  1866  R.-G.-Bl.  Nr.  176,  wurde  derselbe  auf 
Vs,  endlich  mit  dem  Gesetze  vom  23.  März  1869,  R.-G.-Bl.  Nr.  34,  auf  % 
des  Ordinariums  erhöht. 

Der  Lloyd  zahlte  also  von  1851  bis  einschliesslich  1858  eine  Ein- 
kommensteuer von  5  Proc;  1859  bis  einschliesslich  1862  eine  Einkommen- 
steuer von  6  Proc;  1863  bis  einschliesslich  1867  ein  Einkommensteuer  von 
7  Proc. ;  1868  bis  einschliesslich  1897  ein  Einkommensteuer  von  10  Proc 
seines  steuerpflichtigen  Einkommens.  Das  Gesetz  von  25.  October  1896, 
R.-G.-Bl.  Nr.  220,  IL  Hauptstück  §  100  setzte  eine  Steuer  mit  10 Vg  Proc 
des  steuerpflichtigen  Reinertrages  fest. 

Das  steuerpflichtige  Einkommen  beträgt  durchschnittlich 
in  den  Fünfzigerjahren  370.000  Gulden 

„     „    Sechzigerjahren  1,300.000      „ 

„     ,     Siebzigerjahren  2,100.000      „ 

„     „     Achtzigerjahren  1,500.000      „ 

„      „    Neunzigerjahren  700.000      „ 


ventionierungen  in  Frankreich  20,566,500  Mark,  in  England  (mit  Colonien)  16,582.840 
Mark,  in  Spanien  7,372.068  Mark,  in  Oesterreich-Ungam  6,960.000  Mark,  Italien 
5,380.871  Mark,  Russland  5,354.952  Mark,  in  den  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika 
4^629.223  Mark  und  in  Holland  1,278.000  Mark.  Einige  Staaten  zahlen  ausserdem  noch 
ihren  Rhedereien  Schiffbau-  und  Schiffahrtsprämien,  die  zwischen  drei  (Italien)  und 
neun  Millionen  Mark  (Frankreich)  schwanken.  Russland  wendet  dafür  gegen  sechs  Mil- 
lionen Mark  auf. 


386 


Lippert. 


Jahr 


1851 

1852 
1853 
1854 
1855 
1856 
1857 

1858 
1859 
1860 
1861 
1862 
1863 
1864 
1865 
1866 
18G7 
1868 
1869 
1870 
1871 
1872 
1873 
1874 
1875 


Steuerpflichtiges 
Einkommen 


Steuer- 
Torschreibung 


Gulden  C.-M. 


371.736 

411.208 

406.311 

419.936 

200.000 

200.000 

239.500 

Gulden  ö. 

400.860 

492.740 

532.580 

863.720 
1,028.140 
1,328.640 
1,342.780 
1,459.800 
1,2.55.920 
1,170.820 
1,205.480 
1,397.580 
1,612.900 
1,675.320 
1,926.160 
1,943.920 
1,706.120 
1,705.620 


W. 


18.586 
20.560 
20.315 
20.996 
10.000 
10.000 
11.975 

20.043 

29.564 

31.954 

51.823 

61.688 

93.004 

93.994 

102.186 

87.914 

81.957 

120.548 

139.758 

161.290 

167.532 

192  616 

194.392 

170.612 

170.562 


Jahr 


Steuerpflichtiges 
Einkommen 


Steuer- 
vorschreibung 


Gulden  ö.  W. 


1876 
1877 
1878 
1879 
1880 
1881 
1882 
1883 
1884 
1885 
1886 
1887 
1888 
1889 
1890 
1891 
1892 
1893 
1894 
1895 
1896 
1897 
1898 

1899 
1900 


1,182.480 

1,490.440 

1,913.700 

2,883.220 

2,958.040 

2,755.480 

1,780.000 

1,677.260 

1,355.860 

1,410.880 

1,494.800 

1,591.380 

1,348.780 

797.460 

391.380 

Verlust 

Verlust 

128.060 

608.440 

1,243.220 

1,309.040 

1,201.160 

867.765 

1,756.922 
2,017.569 


Kronen 


118.248 

149.044 

191.370 

288.322 

295.804 

275.548 

178.000 

167.726 

135.586 

141.088 

149.480 

159.138 

134.878 

79.746 

39.138 

4.200 

4.200 

12.806 

60.844 

124.322 

130.904 

120.116 

91.117 

184.477 
211.845 


I 


Die  beste  Geschäftszeit  fiel  in  das  Ende  der  Siebziger-  und  den  Anfang 
der  Achtzigerjahre  anlässlich  der  Truppenbeförderungen  im  russisch-türkischen 
Kriege  und  gelegentlich  der  Besetzung  Bosniens  durch  Oesterreich-Ungarn, 
freilich  nicht  soweit  die  Lloydschiffahrt  in  den  Dienst  des  Handels  gestellt  war.  ^) 

Der  grösste  Tiefstand  trat  genau  ein  Jahrzehnt  später  ein  und  es 
kann  leider  nicht  verhehlt  werden,  dass  —  nach  der  allgemein  geäusserten 


*)  Zur  richtigen  Beurtheilung  der  Ziffern  ist  übrigens  nicht  ausseracht  zu  lassen,  dass 
gemäss  §  10  des  Einkommensteuerpatentes  vom  20.  October  1849,  R.-G.-Bl.  Nr.  439,  das 
Reineinkommen  vom  steuerpflichtigen  Geschäftsbetriebe  für  ein  Jahr  nach  dem  Durch- 
schnittsergebnisse der  letzten  drei  Jahre  anzugeben  war;  daher  wirkten  die  günstigen 
Geschäftsverhältnisse  noch  einige  Jahre  nach. 

Das  neue  Personal-Einisommensteuergesetz  berücksichtigt  nur  das  Gegenstandsjahr. 


Die  Entwicklung  der  österreichischen  Handelsmarine.  387 

Öffentlichen  Meinung  —  zum  grossen  Theile  das  Verhalten  der  Leitung 
und  Mängel  in  der  Verwaltung  daran  Schuld  trugen. 

Seither  ist  eine  bemerkenswerte  Besserung  der  Lage  eingetreten;  der 
frühere  Höhepunkt  vermochte  allerdings  noch  nicht  erreicht  zu  werden. 

Neben  dem  als  Actiengesellschaft  ^)  errichteten  Lloyd  weist  die 
österreichische  Handelsmarine  nicht  sehr  viele  in  derselben  Rechtsform 
zustande  gekommenen  Schiffahrtsunternehmungen  auf.  Noch  in  den  Siebziger- 
jahren wurden  überhaupt  nur  wenige  Dampfer  von  einzelnen  Rhedern  in  See 
gebracht  und  nur  eine  einzige  Gesellschaft,  die  im  Jahre  1871  gegründete 
„Societä  ,Adria'  di  navigazione  a  vapore"  begann  einen  Betrieb  mit 
drei  Dampfern,  hatte  jedoch  unter  der  Ungunst  der  Conjuncturen  stark  zu 
leiden  und  gieng  1878  ein.  Einige  Entwicklung  nahm  seit  dem  Ende 
der  Siebzigerjahre  der  Localverkehrmit  Dampfern  an  der  istrianischen  Küste, 
doch  beschränkte  sich  derselbe  vorwiegend  auf  die  Beförderung  von 
Reisenden.  Ein  Aufschwung  ist  dann  seit  den  Achtzigerjahren  zu  verzeichnen. 
Es  entstanden  J.883  die  Societä  cittadina  di  navigazione  a  vapore  di 
Capodistria;  ferner  die  1886  gegründete  Societä  di  navigazione  a  vapore 
„Istria-Trieste,"  deren  Actiencapital  von  600.000  Kronen  in  12.000  Stück 
Actien  zu  je  50  Kronen  begeben  wurde;  dann  die  1891  errichtete  Societä 
di  navigazione  a  vapore  lagunare  Grado-Aquileja  mit  einem  Gesellschafts- 
capitale  von  24.000  Kronen  in  480  Actien  zu  je  50  Kronen,  welche  heute 
noch  sämmtlich  ihren  Schiffahrtsbetrieb  ausüben,  allerdings  mit  manchen 
Schwierigkeiten  zu  kämpfen  haben.  Nur  kurze  Lebensdauer,  bis  1886, 
hatten  die  beiden  Dalmatiner  Actiengesellschaften  Associazione  marittima  di 
Sabioncello  und  Associazione  marittima  di  Ragusa. 

Andere  Schiffahrtsunternehmungen,  deren  es  heute  eine  ganze  Menge 
gibt,  werden  von  einzelnen  Rhedern  oder  bei  grösserem  Umfange  von 
einer  Vereinigung  mehrerer  derselben  betrieben. 

Auf  die  Rhederconsortien  finden  je  nach  deren  Gestaltung  die 
Bestimmungen  des  Handelsgesetzbuches  über  offene  Handelsgesellschaften  ^) 
oder  Commanditgesellschaften  ^),  beziehungsweise  das  16.  Hauptstück  des 
Allgemeinen  bürgerlichen  Gesetzbuches  über  die  Gemeinschaft  des  Eigenthumes 
und  anderer  dinglicher  Rechte  Anwendung.  Die  rechtlichen  Beziehungen 
der  Theilnehmer  untereinander  regelt  der  Vertrag  (Rhederbrief).  Nach  einem 
alten  Brauch  hat  jeder  von  ihnen  an  dem  Schiffe  als  bestimmten  ideellen 
Antheil  ein  oder  mehrere  Carate,  Vierundzwanzigstel,  oder  auch  Bruchtheile 
von   solchen. 

Die  Vereinigung  der  Rheder  wird  von  dem  obersten  Grul!d^atze 
geleitet,  dass  die  Mehrheit  immer  eine  Mehrheit  der  Interessen  sei;  weshalb 

1)  Die  Ministerialverordnung  vom  20.  September  1899,  E.-G.-Bl.  Nr.  175,  hat  ein 
Regulativ  für  die  Errichtung  und  Umbildung  von  Actiengesellschaften  auf  dem  Gebiete 
der  Industrie  und  des  Handels  verlautbart.  Dieses  Regulativ  erstreckt  sich  jedoch  nicht 
auf  Dampfschiifahrtsunternehmungen;  ebenso  nicht  auf  die  Commanditgesellschaften 
auf  Actien. 

2)  Die  Rhederei  der  Gebrüder  Cosulich  und  Genossen. 

3)  Die  Austro-Aiiiericaua. 


388  Lippert. 

die  Beschlussfassung  nicht  nach  der  Zahl  der  Personen,  sondern  nach  dem 
Verhältnisse  ihrer  Antheile  zustande  kommt;,  ein  Verhältnis,  nach  welchem 
dann  auch  die  Gewinnvertheilung  platzgreift. 

Die  bedeutendste  österreichische  Schiffahrtsgesellschaft  (neben  dem 
Lloyd)  ist  die  Austro-Americana,  handelsgerichtlich  registriert  als  Firma 
Schenker,  Cosulich  &  Cons.,  welche  sich  im  März  1901  in  der  von  den 
Triester  Ehedereien  abweichenden  Form  der  Commandite  ^)  (4  offene 
Gesellschafterund  22  Commanditisten)mit  einem  Capital  von  1,735.000  Kronen 
gebildet  hat  und  für  den  auf  gemeinsame  Kechnung  zu  führenden  Betrieb  in 
Glasgow  sechs  zum  Fahrtendienste  zwischen  Triest  und  Nordamerika 
(New  York  und  New  Orleans)  bestimmte  Dampfer  um  108.000  Pfund 
Sterling  =  2,592.000  Kronen  ankaufte.  Die  Bestimmungen  des  zunächst 
unkündbar  auf  drei  Jahre,  mit  stillschweigender  Verlängerung  von  Jahr  zu 
Jahr  und  dann  sechsmonatlicher  Kündigungsfrist  abgeschlossenen  Gesellschafts- 
vertrages lassen  sich,  wie  folgt  zusammenfassen :  ausschliesslicher  Zweck 
des  Unternehmens  ist  die  Förderung  des  heimischen  Handels  ^)  durch 
Vermehrung  der  Verkehrsmittel,  und  zwar  sowohl  in  Dampf-  als  auch  Segel- 
schiffahrt, sei  es  mit  eigenen,  sei  es  mit  gecharterten  Schiffen.  Der 
Sitz  bleibt  Triest,  es  können  jedoch  auch  anderwärts  Zweigniederlassungen 
gegründet  werden. 

In  Ansehung  der  Vertretungsbefugnisse  der  offenen  Gesellschafter 
Dritten  gegenüber  gelten  die  Bestimmungen  des  Artikels  167  des  Handels- 
gesetzbuches mit  der  Abänderung,  dass  bestimmte  offene  Gesellschafter 
lediglich  die  Pflicht  haben,  im  Einvernehmen  mit  den  andern  Gesellschaftern 
die  Gesellschaft  gegenüber  den  Behörden  zu  vertreten,  ferner  die  commer- 
zielle  und  acquisitorische  Thätigkeit  der  Generalagenten  zu  überwachen, 
während  alle  übrigen  Theile  der  Geschäftsführung,insbesondere  die  Einzelheiten 
der  technischen  Leitung  des  Unternehmens  den  andern  Gesellschaftern 
obliegen.  Die  Gesellschaftsfirma  wird  durch  einen  offenen  Gesellschafter 
und  einen  Procuristen  gezeichnet.  Die  Vertretungsbefugnis  des  offenen 
Gesellschafters  ist  auf  jene  Geschäfte  beschränkt,  welche  der  ordentliche 
Geschäftsbetrieb  mit  sich  bringt;  eine  Ueberschreitung  dieser  Vertretungs- 
befugnis hat  die  Zustimmung  der  Commanditisten  zur  Voraussetzung  und 
es  kann  in  einem  solchen  Falle  das  ohne  vorherige  Genehmigung 
geschlossene  Geschäft  durch  einen  Majoritätsbeschluss  nicht  anerkannt 
werden,  so  dass  der  Schuldtragende  dasselbe  für  seine  Privatrechnung 
übernehmen    und   jeden    Schaden    tragen    muss.     Er   darf  allenfalls    sogar 


*)  Die  Commanditgesellschaft  wurde  gewählt,  um  nach  Maassgabe  der  Verkehrs- 
bedürfnisse durch  Heranziehung  neuer  Capitalieu  jederzeit  die  Flotte  vermehren  und  den 
Dienst  vervollkommnen  zu  können.  Unter  den  Commanditisten  erscheint  Se.  k.  u.  k. 
Hoheit  Erzherzog  Karl  Stephan. 

2)  Die  Austro-Americana  besorgt  vorzugsweise  unmittelbare  Zufuhr  von  Baumwolle, 
Baumwollsamenöl  und  Tabak  nach  Triest.  Die  Waren  werden  auch  in  combinierten  Tarifen 
mit  directen  Polizzen  für  Bestimmungsorte  im  Innern  der  Monarchie  oder  der  Vereinigten 
Staaten  aufgenommen.  Die  Dampfer  verkehren  jede  dritte  Woche. 


Die  Entwicklung  der  österreichischen  Handelsmarine.  389 

aus  der  Gesellschaft  ausgeschlossen  werden.  Den  Commanditisten  stehen 
die  im  Titel  2  des  zweiten  Hauptbuches  des  Handelsgesetzes  normierten 
Eechte  zu. 

Die  Beschlüsse  der  Generalversammlung  werden  in  der  Regel  nach  der 
auf  Grund  der  Betheiligung  an  dem  Gesellschaftscapitale  berechneten 
Stimmenmehrheit  gefasst  und  sind  für  sämmtliche  Gesellschafter  bindend, 
wenn  sie  in  der  Generalversammlung  selbst  erscheinen,  oder  durch  Be- 
vollmächtigte so  viel  Commanditisten  vertreten  sind,  dass  dieselben  mindestens 
Vs  des  Gesellschaftscapitales  darstellen.  Wird  diese  Zahl  nicht  erreicht, 
so  muss  eine  Vertagung  auf  15  Tage  verfügt  werden.  Dann  ist  Beschluss- 
fähigkeit vorhanden,  wenn  auch  bloss  die  Hälfte  des  Gesellschaftscapitales  ver- 
treten wird.  Bei  der  Generalversammlung  soll  mindestens  ein  offener 
Gesellschafter  berathend  theilnehmen ;  stimmberechtigt  ist  er  nach  Maass- 
gabe seiner  Capitalseinlage. 

Die  Beschlussfassung  über  die  Aufnahme  eines  oder  mehrerer  offener 
Gesellschafter,  über  Vertragsabänderungen,  Erhöhungen  des  Gesellschafts- 
capitales, Liquidation,  Ausschliessung  eines  Gesellschafters,  Vertheilung  des 
Gewinnes  können  nur  mit  einer  Mehrheit  von  7io  ^^^  gesammten  Gesell- 
schaftscapitales gefasst  werden.  Für  den  Fall  der  Capitalserhöhung  haben 
die  Gesellschafter  das  Optionsrecht  nach  Maassgabe  ihrer  Einlagen,  allenfalls 
darüber  hinaus  nur  dann,  wenn  Beträge  frei  bleiben.  Ein  Gleiches  geschieht, 
d.  h.  ebenfalls  optiert  wird  auf  den  frei  gewordenen  Antheil  eines  durch 
Kündigung  oder  sonst  ausscheidenden  Gesellschafters. 

Sämmtliche  Unterzeichner  des  Vertrages,  sowohl  offene  Gesellschafter 
als  auch  Commanditisten  verpflichten  sich  und  ihre  Rechtsnachfolger,  so 
dass  der  Gesellschaftsvertrag  auch  bei  Todesfällen  weiter  besteht.  Die 
Ueberlebenden  können  jedoch  die  Nachfolger  eines  verstorbenen  Gesell- 
schafters in  einer  Generalversammlung  ausschliessen,  in  welchem  Falle  die 
Erben  und  Rechtsnachfolger  nur  den  Anspruch  auf  Ausbezahlung  des 
Geschäftsantheiles,  berechnet  nach  der  letzten  von  der  Generalversammlung 
genehmigten  Bilanz  zuzüglich  der  mit  5  Proc.  festgesetzten  Capitalszinsen 
vom  Genehmigungs-  bis  zum  Auszahlungstage  haben. 

Streitigkeiten  zwischen  den  Gesellschaftern  werden  endgiltig  ex  bono 
et  aequo  von  einem  Schiedsgericht  (in  Triest)  entschieden.  Es  tritt  in  der 
"Weise  zusammen,  dass  jeder  Streittheil  binnen  14  Tagen  nach  erfolgter 
Aufforderung  dem  Gegner  seinen  Schiedsrichter  bekannt  gibt.  Ist  die  Bil- 
dung des  Schiedsgerichtes  unmöglich,  dann  kann  sich  jeder  Theil  an  die 
ordentlichen  Gerichte  wenden. 

Für  alle  in  dem  Vertrage  nicht  vorgesehenen  Fälle  gelten  die  Be- 
stimmungen des  österreichischen  Handelsgesetzbuches. 

lieber  Grösse  und  Leistungsfähigkeit  der  österreichischen  Schiffahrts- 
ünternehmungen  gibt  folgende  auf  das  Jahr  1900  (Ende  October)  bezügliche 
Zusammenstellung  betreffend  die  zwei  und  mehrere  Dampfer  besitzenden 
Rhedereien  Aufschluss. 


390 


Lippert. 


Schiifahrtsgesellschaft,  Eheder 


Weite  Fahrt; 

grosse  )  Küsten- 
kleine j    fahrt 


Tonnengehalt 
Brutto 

^etto 


Bemannung 


Indicierte 

Pferde- 

kräfte 


Dampfschiffahrts-Gesellschaft  des 
österreichischen  Lloyd  in  Triest 


Gehrüder  Cosulich  und  Genossen 
in  Triest 

Schiffahrts-Gesellschaft  Austro- 
Americana  in  Triest 

Gebrüder  C.  v.  Gerolimich  und 
Genossen  in  Lussinpiccolo 

Thomas  Cossovich  und  Genossen 
in  Triest 

Matthäus  Marinoviö  und  Genossen 
in  Eagusa 

Eacic  Johann  und  Genossen  in 
Eagusavecchia 

Johann  L.  Premuda  und  Genossen 
in  Triest 

Matthäus  Katicic  und  Genossen 
in  Eagusa 

Eugen  Chierini  und  Genossen 
in  Triest 


Eagusaner  Dampfschiffahrts- 
Unternehmung  in  Eagusa 

Schiffahrts-Unternehmung  Serafino 
Topic  und  Genossen  in  Lissa 


Dampfschiffahrts-Unternehmung 
Gebrüder  Eisinondo  in  Macaisca 

Dampfschiffahrts-Gesellschaft 
Istria-Trieste  in  Triest 

Dampfschiffahrts-Gesellschaft 
Negri  &  Comp,  in  Sebenico 


w.  F.  .  .  54 
gr.  K.  .  .  4 
kl.  K.    .    .    12 


zusammen     70 


w.  F. 
w.  F. 
w.  F. 
w.  F. 
w.  F. 
w.  F. 
w.  F. 
w.  F. 
w.  F. 
gr.  K. 


zusammen 
gr.  K.  .  . 
gr.  K.  .  . 
kl.  K.    .    . 


10 
6 
5 
5 
4 
3 
2 
2 
1 
1 


zusammen  6 

kl.  K.    .    .  7 

kl.  K.    .    .  4 

gr.  K.    .    .  1 

kl.  K.    .    .  6 


zusammen 


154.478 


4.310 

165.480 

100.031 

29.783 

19.147 

18.364 

13.271 

16  715 

10.661 

15.594 

9.960 

8.840 

5.507 

7.349 

4.523 

6.242 

4.035 

4.064 

2.513 

1^505 

"       922 

720 

466 

2.225 

1.388 

2.0H6 

1.120 

1.424 

■       ^756 

426 

~      2U2 

1.8.50 

958 

1.106 


2.126 

82 

198 

2.406 

220 

139 

108 

108 

74 

58 

45 

35 

18 

13 

31 

55 

44 

15 

59 

50 

35 

10 

31 

41 


107.5.8 
2.356 
8.191 

118.125 
10.414 


2.0411) 

1)  nonnnt-Ue 
Pferdekräfte 

8.313 


5.845 

3.007 

2.400 

1.200 

430 

905 

300 

1.205 

1.830 

1.540 

460 

2.000 

1.770 

1.506 

300 

418 

718 


Die  Entwicklung  der  österreichischen  Handelsmarine. 


391 


Schiffahrtsgesellschaft,  Eheder 


"Weite  Fahrt 

grosse  \  Küsten- 
kleine /     fahrt 


Tonnengehalt 
Brutto 
Netto 


Bemannung 


indicierte 
Pferde- 
kräfte 


Dampfschiffahrts-Unternehmung 
Gravosa-Metkovic 


Capodistrianer  Dampfschiffahrts- 
Gesellschaft 

Zaratiner  Dampfschiffahrts- 
Unternehmung  in  Zara 

Schiffahrts-Unteniehmung  Lorenz 
Eosso  und  Genossen  in  Pirano 

Dampfschiffahrts-Gesellschaft 
Trieste-Muggia 

Lagunen-Dampfschiffahrts- Gesell- 
schaft Grado-Aquileja  in  Grado 

Dampfschiffahrts- Gesellschaft 
Cattaro-Castelnuovo 

Tripcovich  Diodat  und  Genossen 
in  Triebst 


gr.  K.    .    .      1 
kl.  K.    .    .      3 


253 


zusammen 
kl.  P. 
kl.  F. 
kl.  F. 
kl.  F. 
kl.  F. 
kl  F. 
kl.  F. 


.  3 

.  4 

.  3 

.  3 

.  3 

.  3 

.  2 


114 

299 

107 

552 

221 

304 

153 

290 

105 

243 

117 

240 

108 

68 

36 

184 

69 

90 

34 


10 
19 
29 
19 
21 
12 
11 
11 
15 


248 
845 
1.093 
485 
550 
350 
285 
184 
305 
175 


Den  Schiffahrtsverkehr  im  Haupthafen  der  Monarchie  während  der 
letzten  Jahre  stellen  nachstehende  zwei  Uebersichten  dar.  (Siehe  Tabellen 
S.  392  und  393.) 

Es  ist  naheliegend,  dass  die  österreichische  Flagge  selbst  den  grössten 
Antheil  an  dem  Verkehre  bildet.  Hierauf  folgt  Italien,  dessen  Dampfer  und 
Segelschiffe  häufig  in  Triest  erscheinen,  ferner  England,  Griechenland.  Deutsch- 
land und  die  Türkei,  das  sind  also  im  allgemeinen  die  geographisch  nächst- 
gelegenen Länder  und  die  beiden  grossen,  die  ganze  Welt  umspannenden 
Seemächte. 

Anderwärts  gestalten  sich  die  Schiffahrtsbeziehungen  nicht  sehr  leb- 
haft; ausser  österreichischen,  italienischen,  französischen,  kleinasiatischen, 
griechischen  und  englischen  Bestimmungshäfen  kommen  andere  für  die  aus 
Triest  abgegangenen  Schiffe  weniger  in  Betracht.  Nicht  erwünscht  ist  für 
den  Hafenplatz,  dass  ziemlich  viele  Schiffe  lediglich  in  Ballast  wieder  aus- 
laufen, dass  also  Rückfracht  mangelt. 

Die  Regierung  war  namentlich  in  jüngster  Zeit^)  darauf  bedacht,  der 
Handelsmarine,  und  zwar  sowohl  dem  Schiffsbaue  als  auch  dem  Schiffahrts- 

1)  Nach  dem  Kriege  zwischen  Oesterreich,  Frankreich  und  Sardinien  im  Jahre  1859, 
welcher  die  österreichische  Handelsschiffahrt  durch  die  Ausübung  des  Seekriegsrechtes 
seitens  der  Alliierten  schwer  schädigte,  tauchte  zum  erstenmale  der  Gedanke  auf,  den 
Ehedem  einen  Vorschuss  unter  staatlicher  Bürgschaft  zuzuwenden.  Der  Gedanke  ward 
vielfach    unterstützt    und   kam    auch    tliatsächlith    zur    Ausführung.     Die    Nationalbank 


392 


Lippert. 


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26.894 

7.594 

41.711 

246.607 

67.578 

194.608 

181 

1.207 

1 

1.305 

7.542 

2.049 
9.623 

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393 


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394  Lippert. 

betriebe  selbst  Vortheile  und  Begünstigungen  zuzuwenden.  Abgesehen  von 
dem  Gesetze  vom  30.  März  1873,  K.-G.-Bl.  Nr.  51  und  der  Ministerial- 
verordnung  vom  1.  Mai  1888,  R.-G.-Bl.  Nr.  58,  betreffend  die  zollfreie 
Behandlung  der  zum  Bau-  und  zur  Ausrüstung  von  Seeschiffen  erforderlichen 
Gegenstände,  worauf  diejenigen  Anspruch  erheben  können,  welche  den  Bau 
von  Seeschiffen  gewerbsmässig  betreiben  und  zu  diesem  Zwecke  bestimmte 
Schiffswerften  oder  Stapel  besitzen  oder  innehaben,  ferner  dem  Gesetze  vom 
19.  Juni  1890,  R.-G.-Bl.  Nr.  303,  welches  den  im  Inlande  erbauten  Dampfern, 
sofern  sie  ganz  aus  inländischem  Eisen  oder  Stahl  hergestellt  wurden,  auf 
die  Dauer  von  15  Jahren  und  rücksichtlich  der  übrigen  auf  10  Jahre  vom 
Tage  der  Ausfertigung  des  Registerbriefes  angerechnet,  weiters  den  ganz 
aus  inländischem  Eisen  oder  Stahl  erbauten  Segelschiffen  auf  15  Jahre 
Befreiung  des  Betriebes  von  der  Erwerbs-  und  Einkommensteuer  gewährte,^) 
war  das  grundlegende  Gesetz  in  dieser  Beziehung  jenes  vom  27.  De- 
cember  1893,  R.-G.-Bl.  Nr.  189,  welches  am  1.  Jänner  1894  in  Wirksam- 
keit trat  und  durch  10  Jahre  in  Kraft  bleibt.  Seinem  Titel  zufolge  bezweckt 
es  die  „Unterstützung  der  Handelsmarine",  und  zwar  durch  Gewährung 
staatlicher  Betriebs-  und  Reisezuschüsse  an  jene  nicht  über  15  Jahre  alten 
Dampfer  und  Segelschiffe,  welche  während  der  bezeichneten  Geltungsdauer 
im  österreichischen  Schiffsregister  für  weite  Fahrt  oder  die  grosse  Küsten- 
fahrt eingetragen,  dann  wenigstens  zu  -/s  Eigenthum  österreichischer  Staats- 
angehöriger sind  und  die  beste  Veritasclasse  (A  I  oder  11)  besitzen.  Der 
Betriebszuschuss  wird  bis  zum  Ablauf  des  15.  Jahres  vom  Tage  des  Stapel- 
laufes an  gerechnet,  erfolgt  und  beträgt  im  ersten  Jahre  nach  dem  letzteren 
für  jede  Tonne  des  Nettoraumgehaltes:  6  fl.  für  Dampfer  aus  Eisen  und 
Stahl,  4  fl.  50  kr.  für  Segelschiffe  aus  Eisen  und  Stahl,  3  fl.  für  Segelschiffe 
aus  Holz  oder  gemischter  Construction.  Diese  Zuschüsse  werden  mit  Beginn 
des  zweiten  Jahres  um  5  Proc.  derselben  jährlich  vermindert.  Der  Betriebs- 
zuschuss wird  für  Schiffe  aus  Eisen  oder  Stahl,  welche  nach  dem  1.  Jänner 
1894  auf  inländischen  Werften  erbaut  werden,  um  10  Procent  und,  wenn 
sie  wenigstens  zur  Hälfte  aus  inländischem  Materiale  hergestellt  sind,  um 
25  Proc.  erhöht.  Alle  am  1.  Juli  1893  im  Schiffsregister  für  weite  Fahrt 
oder  für  die  grosse  Küstenfahrt  eingetragenen  Schiffe,  seit  deren  Stapellauf 
mehr  als  15  Jahre  verstrichen  sind,  erhielten  vom  1.  Jänner  1894  an  auf 
die  Dauer  von  fünf  Jahren  den  Amortisationszuschuss  von  1  fl.  jährlich  für 
die  Nettotonne  Raumgehalt  unter  der  Voraussetzung,  dass  sie  wenigstens  die 

bewilligte  ein  Darlehen  von  einer  Million  zur  Unterstützung  der  Eheder  in  Triest,  Istrien 
und  Dalmatien  für  die  Dauer  Ton  fünf  Jahren  zu  4  Proc.  und  die  Allerhöchste  Ent- 
schliessung  vom  7.  August  1859,  welche  dies  genehmigte,  sicherte  die  Deckung  etwaiger 
Verluste  aus  dem  Staatsschatze  zu.  Die  Durchführung  des  ganzen  Geschäftes  wurde  der 
Börsendeputation  übertragen.  Die  mit  Vorschüssen  betheilten  Eheder  hatten  6  Proc.  zu 
zahlen;  die  Vorschüsse  durften  ^3  ^^^  genau  erhobenen  Wertes  des  zu  belehnenden 
Schiffes  nicht  übersteigen.  Die  ganze  Operation  war  von  wohlthätigem  Einflüsse  auf  die 
Ehederei  und  wickelte  sich  ohne  irgendwelchen  Anstand  ab. 

^)  Staatlicherseits  unterstützte  Fahrtenbetriebe  waren  von  der  Begünstigung  aus- 
geschlossen. 


Die  Entwicklung  der  österreichischen  Handelsmarine.  395 

Classe  B  I  I  beim  österreichiscli-ungarischon  Veritas  ^)  oder  einer  anderen 
heimischen  Anstalt  von  gleichem  Werte  besitzen. 

Den  Keisezuschuss  von  fünf  Kreuzern  für  je  100  Seemeilen  Fahrt 
und  jede  Nettoraumtonne  erhalten  Schiffe  der  erwähnten  Art  für  Keisen 
ausserhalb  der  Grenzen  der  kleinen  Küstenfahrt  (Gesetz  vom  7.  Mai  1879, 
K.-G.-B1.  Nr.  65  über  die  Kegistrierung  der  Seehandelsschiffe)  von  oder  nach 
österreichischen  Häfen,  wenn  diese  Reisen  im  Interesse  des  einheimischen 
Handels  und  Verkehres  nicht  mit  Dampfern  neben  einer  von  der  Staats- 
verwaltung unterstützten  regelmässigen  Linie  unternommen  werden. 

Endlich  wurden  alle  Seehandelsschifte,  vom  1.  Jänner  1894  angefangen, 
auf  die  Dauer  von  fünf  Jahren  von  der  Entrichtung  der  Eiwerbs-  und  Ein- 
kommensteuer befreit,  ebenso  alle  während  der  Geltungsdauer  des  Gesetzes 
auf  inländischen  Werften  neu  erbauten  Seehandelsschiffe  auf  fünf  Jahre,  vom 
Tage  der  Ausfertigung  ihres  Registerbriefes  angefangen. 

Ausgeschlossen  von  den  Begünstigungen  dieses  Gesetzes  sind  Schiffe; 
a)  welche  von  der  Staatsverwaltung  bereits  gesetzlich  unterstützten  Unter- 
nehmen angehören;  h)  welche  in  bestimmten  regelmässigen  auf  Grund  eines 
Vertrages  mit  der  Postverwaltung  stattfindenden  Fahrten  verwendet  werden; 
c)  welche  einem  industriellen  Unternehmen  angehören  und  von  letzterem 
nur  für  die  Zufuhr  des  eigenen  Materiales  benützt  werden. 

Für  die  Unterstützung  der  Handelsmarine  erscheinen  in  den  Staats- 
voranschlägen der  Jahre 

1894  294.000  Kronen  1898  1,066.000  Kronen 

1895  294.000       „  1899  1,302.740       „ 

1896  308.800       „  1900  1,400.000       „ 

1897  668.600  „  1901  1,400.000  „  eingestellt. 
Das  Mehrerfordernis  des  Jahres  1897  wird  damit  erläutert,  dass  das- 
selbe in  der  vom  Gesetze  bezweckten  Vermehrung  des  Standes  der  Handels- 
marine und  der  ebenfalls  eingetretenen  grösseren  Theilnahme  der  ein- 
heimischen Schiffahrt  an  dem  Verkehre  in  unseren  Häfen  begründet  sei.  Im 
Jahre  1900  wird  diesbezüglich  angeführt,  dass  der  Mehraufwand  in  dem  zu 
gewärtigenden  Zuwachs  neuer  Schifte,  dem  zunehmenden  Dampferverkehr 
mit  den  amerikanischen  Häfen  und  der  in  neuester  Zeit  sich  entwickelnden 
unmittelbaren  Kohleneinfuhr  aus  England  mittelst  österreichischer  Schiffe 
seine  Erklärung  finde. 

Anfänglich  glaubten  die  Rheder,  dass  von  den  Bestimmungen  des 
Gesetzes  hinsichtlich  der  Dampfer  am  günstigsten  Gebrauch  gemacht  werden 

1)  Das  Amt  des  österreichischen  Veritas  wurde  im  Jahre  1858  nach  dem  Vorbilde 
des  seit  1824  in  London  bestehenden  Lloyd's  Register  und  des  französischen  Bureau  Veritas 
(seit  1828)  geschaffen,  um  eine  genaue  Classification  der  einzelnen,  zum  Seehandel  ver- 
wendeten Schiffe  in  Bezug  auf  ihre  Tüchtigkeit  zu  erzielen.  Die  beim  Veritasamte  ange- 
meldeten Schiffe  werden  von  hiezu  bestimmten  Sachverständigen  untersucht  und  je  nach 
ihrer  Beschaffenheit  in  verschiedene  Classen  eingereiht  deren  Erfordernisse  reglement. 
massig  festgestellt  sind.  Die  Classificfcrung  muss  nach  einem  bestimmten  Zeiträume,  oder 
so  oft  das  Schiff  eine  Havarie  erlitten  hat,  erneuert  werden  und  dient  als  Grundlage 
beim  Abschlüsse  der  V^ersicherungsverträge. 


396  Lippert. 

könnte,  wenn  man  schon  vorhandene  Schilfe  zu  billigen  Preisen  erwerbe, 
um  an  Anlagecapital  zu  sparen.  Hiezu  wurden  sie  auch  durch  den  zur  selben 
Zeit  niedern  Stand  der  Preise  veranlasst.  Im  Laufe  der  Zeit  machte  sich 
aber  ein  Wandel  der  Anschauungen  geltend.  Man  lernte  an  der  Hand  der 
Erfahrung,  dass  man  bei  alten  Schiffen  wegen  der  Kosten  für  Ausbesserungen, 
Betrieb,  höherer  Versicherung  nicht  die  richtige  Rechnung  finde  und  dass 
es  weit  mehr  entspreche,  den  Erwerb  guter  neuer  Dampfer  in  Aussicht  zu 
nehmen.  In  den  letzten  Jahren  hat  man  sich  ganz  diesem  Grundsatze  zuge- 
wendet. Der  Kreis  jener  Capitalisten,  welche  sich  beim  Ankaufe  von  Schiffen 
betheiligen,  erweiterte  sich  nun  zusehends  und  insbesondere  in  der  Richtung, 
dass  sowohl  an  der  Küste  bisher  der  Rhederei  fernergestandene  Personen 
unter  den  Schiffseigenthümern  erscheinen,  als  auch  aus  dem  Inlande  bedeu- 
tende Capitalien  zufliessen.  Dazu  kommt  noch  das  in  den  letzten  Jahren 
steigende  günstige  Erträgnis  der  freien  Rhederei,  welches  eine  gute  Ver- 
zinsung des  Capitales  abwirft.^)  Wenn  auch  in  dieser  Beziehung  ein  Rückschlag 
eintreten  kann,  wie  ein  solcher  im  Seefrachtwesen  sich  zeitweilig  und  unaus- 
weichlich ergibt,  so  gestatten  doch  bei  richtiger  Voraussicht  die  heutigen 
günstigen  Verhältnisse  eine  entsprechende  Fürsorge  für  Zeiten  niederer 
Ertragsfähigkeit  und  ist  darum,  wenn  man  die  Zukunft  nicht  ausser  Auge 
lässt,  eine  empfindliche  Krisis  wohl  vermeidbar. 

Man  kann  unbestritten  sagen,  dass  das  erwähnte  Gesetz  vom  27.  De- 
cember  1893  eine  rettende  That  für  unsere  Handelsmarine  gewesen  ist  und 
vor  allem  einen  grossen  moralischen  d.  i.  belebenden  Einfluss  geübt  hat. 

Die  Steuerbefreiung  hat  späterhin  eine  auf  Grund  des  §  14  des 
Staatsgrundgesetzes  vom  21.  December  1867,  R.-G.-Bl.  Nr.  141,  erlassene 
kaiserliche  Verordnung  vom  27.  December  1900,  R.-G.-Bl.  Nr.  229,  auch 
für  die  Zeit  vom  1.  Jänner  1899  bis  zum  31.  December  1903  zugestanden 
dergestalt,  dass  der  Entrichtung  der  Erwerbsteuer  nach  dem  Gesetze  vom 
25.  October  1896,  R.-G.-Bl.  Nr.  220,  während  dieses  Zeitraumes  keines  der 
bereits  gebauten  Schiffe  unterliegt  und  auch  jedem  innerhalb  dieser  Frist 
vom  Stapel  gelassenen  Schiffe  die  fünfjährige  Steuerfreiheit  zutheil  wird. 
Nach  der  älteren  Steuergesetzgebung  unterlag  die  Schiffahrt  der  Erwerb- 
beziehungsweise  Einkommensteuer.  Das  Eigenthum  am  Schiffe  als  solches 
ward  hievon  nicht  berührt.  Die  Erwerbsteuer  betraf  den  Schiffahrtsbetrieb 
und  zwar  unabhängig  davon,  ob  er  thatsächlich  einen  Gewinn  abwarf  oder 
nicht.  Die  Einkommensteuer  dagegen  traf  das  aus  dem  Schiffahrtsbetrieb 
erzielte  Einkommen.  Die  Erwerbsteuer  wurde  nach  festen,  gesetzlich  vorge- 
sehenen Tarifsätzen  unter  Berücksichtigung  des  Betriebsumfanges,  der  Trag- 
fähigkeit der  Schiffe  und  dergleichen  bemessen  und  eingehoben.  Rücksichtlich 
der  Segelschiffe  hatte  sich  in  der  Praxis  die  Besteuerung  nach  dem  Tonnen- 
gehalte als  zweckmässig  und  im  Interesse  der  Gleichförmigkeit  der  Steuer 
gelegen  bewährt.  Die  Einkommensteuer  wurde  auf  Grund  des  Durchschnitts- 
einkommens   der   drei  Vorjahre,  beziehungsweise  wenn   die  Schiffahrt   noch 


*)  15 — 20  Proc.  Die  Capitalstilgung  geht  sonach  rasch  von  statten. 


Die  Entwicklung  der  österreichischen  Handelsmarine. 


397 


nicht  so  lange  währte,  des  kürzeren  Zeitraumes  und  im  ersten  Betriebsjahr 
vom  Wahrscheinliclikeits-Einkommen  mit  5  Proc.  nach  Abzug  der  Erwerb- 
steuer, jedoch  nie  mit  einem  geringeren  Betrage  als  einem  Drittel  der 
Erwerbsteuer  bemessen.  Zur  Erwerb-  und  Einkommensteuer  wurde  noch  ein 
ausserordentlicher  Staatszuschlag  eingehoben,  welcher,  wenn  die  Erwerb- 
und  Einkommensteuer  zusammen  30  Gulden  überstieg,  100  Proc,  sonst 
jedoch  bloss  70  Proc.  der  Steuer  betrug. 

Nachstehendes  Schema  zeigt,  wie  hoch  sich  die  Erwerb-  und  Ein- 
kommensteuer für  Segler  mit  verschiedenem  Tonnengehalte  im  allgemeinen 
belief,  und  zwar  für  den  Fall,  wo  die  Einkommensteuer  mit  dem  dritten 
Theile  der  Erwerbsteuer  vorzuschreiben  war: 


Tonnengehalt 


Erwerbsteuer 


Einkommen- 
steuer 


Zusammen 


Staatszuschlag 
70  Proc. 


Summe 


G    u    1     d 


91  bis  140 
141  „  200 
201    „        280 

281  „  400 
1.601  „  2.000 
2.001  u.  darüber 


10-50 
15-75 
21 - 

31.50 

210  — 
315-— 


350 
5-25 

7-— 

10-50 

70  — 

105-— 


14- 
21- 

28- 

42- 
280- 
420-- 


9-80 

14-70 

19  60 

100  Proc. 

42-— 

280-— 

420- — 


23-80 
35-70 
47-60 

84-— 
560-— 
840-— 


Dampfschiffe  wurden  im  Hinblick  auf  die  grössere  Ertragsfähigkeit 
gegenüber  Segelschiffen  mit  höheren  Erwerbsteuersätzen  belegt;  kleinere 
Fahrzeuge,  welche  eine  Erwerbsteuer  von  nicht  mehr  als  8  fl.  40  kr.  ent- 
richteten, waren  von  der  Einkommensteuer  befreit.  Ein  Unterschied  in  der 
Steuerbehandlung  in-  und  ausländischer  Schiffe  wurde  nicht  gemacht.  Mit 
Rücksicht  auf  die  geringe  Ertragsfähigkeit  des  Schiflfahrtsbetriebes  und  in 
Anbetracht  des  schlechten  Geschäftsganges  war  man  jedoch  in  den  letzten 
Jahren  vor  dem  Gesetze  vom  27.  Deceraber  1893,  R.-G.-Bl.  Nr.  189,  häufig 
weit  unter  die  oben  dargestellten  Steuerziffern  heruntergegangen  und  hat 
vom  Erwerb-  und  Einkommensteuer-Ermässigungsrechte  weitgehendsten  Ge- 
brauch gemacht. 

Betreffs  Besteuerung  der  Schiffahrtsunternehmungen,  soweit  sie  nicht 
nach  den  gegenwärtigen  gesetzlichen  Bestimmungen  befreit  sind,  wären  nach 
der  neuen  Steuergesetzgebung  folgende  Punkte  ins  Auge  zu  fassen: 

Eine  zur  öffentlichen  Rechnungslegung  verpflichtete  Actiengesellschaft 
unterliegt  der  Erwerbsteuer  nach  dem  zweiten  Hauptstücke  des  Gesetzes 
vom  25.  October  1896,  R.-G.-Bl.  Nr.  220,  und  zwar  im  allgemeinen  im 
Ausmaasse  von  10  Proc.  des  steuerpflichtigen  Reinertrages  (beziehungsweise 
im  Interesse  eines  entsprechenden  Gesammterträgnisses  der  directen  Personal- 
steuern vorläufig  noch  10^/3  Proc,  §  100,  Absatz  5),  jedoch  nicht  mit 
weniger  als  eins  vom  Tausend  des    gesammten  Anlagecapitales.  Schiftahrts- 


Zeitscbrift    für  Volks  Wirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  X.  Band. 


27 


398 


Lippert. 


unternehmen,  welche  als  offene  Gesellschaften  oder  Commanditgesellschaften 
zustande  kommen,  zahlen  die  Erwerbsteuer  nach  dem  ersten  Hauptstücke 
des  bezogenen  Gesetzes,  ebenso  Vereinigungen  von  Ehedem  ohne  solche 
Rechtsform,  oder  einzelne  Kheder.  Hiebei  ist  (gemäss  §  33)  die  mittlere 
Ertragsfähigkeit  von  der  Erwerbsteuercommission  in  freier  Würdigung  aller 
erhobenen,  oder  ihr  sonst  bekannten  maassgebenden  Verhältnisse,  insbesondere 
der  wesentlichen  Merkmale  des  Betriebsumfanges  zu  beurtheilen.  Unter 
Anwendung  des  zu  §  32  gehörigen  Schemas  B  enthaltend  die  bei  der  Ver- 
anlagung der  allgemeinen  Erwerbsteuer  anzuwendenden  Steuersätze  gestalten 
sich  die  Steuervorschreibungen  für  die  oben  erwähnten  Segelschiffe  etwa 
mit  48,  72,  100,  160  .  .  .  .1160,  1640  Kronen  vorbehaltlich  des  Repar- 
titions-Zuschlages  oder  -Abschlages. 

Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  dass  die  Maassnahmen  der  Gesetzgebung 
zur  Unterstützung  der  Handelsmarine  fördernd  und  anregend  auf  den  hei- 
mischen Schiffbau  gewirkt  haben,  dessen  Leistungen  in  den  letzten  zehn 
Jahren  folgende  Zusammenstellung  veranschaulicht: 


Jahr 


Anzahl 
der 


o 


a  es  a 

'S  .Q   O" 

5Sö2 


Neubauten 


?ö 


PQ 


bo       a> 

E3  t-    O 

NO)»- 


Ausbesserungen 


«e 


W 


i^A 


SR  Ö 


O 


^ 


m 


1891 
1892 
1893 
1894 
1895 
1896 
1897 
1898 
1899 
1900 


19 
19 
21 
19 
18 
17 
17 
20 
18 
18 


26 
27 
25 
28 
26 
24 
24 
25 
23 
20 


21 

11 

211 

8.526 

16 

11 

263 

3.339 

8 

5 

204 

7.560 

14 

4 

242 

2.380 

13 

7 

263 

6.201 

10 

9 

381 

2.416 

12 

7 

355 

11.313 

19 

8 

298 

4.088 

26 

15 

362 

11.962-5 

20 

7 

161 

14.406 

3,207.440 
1,561.394 
3,118.352 
774.160 
3,559.430 
1,356.886 
4,966.722 
1,761.012 
4,826.760 
5,528.320 


96 

94 

163 

129 

145 

112 

138 

93 

80 

66 


160 
148 
137 
101 
151 
97 
124 
147 
148 
160 


497 
276 
394 
380 
297 
296 
304 
328 
353 
312 


151.240 
145.289 
175.846 
163.944 
213.859 
157.660 
193.977 
174.658 
264.210 
249.124 


5,284.696 
5,479.484 
4,136.346 
3,851.870 
4,133.334 
3,782.106 
3,809.280 
3,934.000 
3,859.206 
3,818.945 


3.422 
3.555 

3  637 
4.055 
4.017 

4  450 
3.337 
4.563 
4.719 
4.840 


Das  Verhältnis  von  Cantieri- Werften  und  Squeri-Schiffsbauplätzen,  welche 
sich  lediglich  durch  ihre  Grösse  unterscheiden,  indem  auf  ersteren  Schiffe 
von  200  Tonnen  Tragfähigkeit  aufwärts  gebaut  werden,  blieb  so  ziemlich 
gleich.  Die  Zahl  der  Squere  nahm  naturgemäss  etwas  ab,  seit  der  Bau 
grösserer  Fahrzeuge  mehr  und  mehr  durchgreift.  Die  bedeutendsten  Werften 
besitzen  das  Lloydarsenal  und  das  Stabilimento  tecnico  in  Triest.  dann  der 
Rheder  Martinolich  in  Lussin;  kleinere  Schiffsbauplätze  befinden  sich 
in  Capodistria,  Isola,  Porto  Rose,  Grado,  Rovigno,  Cittanuova,  auf  der  Insel 
Lussin,  in  Zara,  dann  im  Bezirke  von  Spalato  und  Ragusa.  Sie  beschäftigen 


Die  Entwicklung  der  österreichischen  Handelsmarine.  399 

zuweilen  vorübergehend  noch  mehr  Arbeitskräfte,  als  in  dem  Ausweise 
angegeben  wurden.  Der  Umfang  der  Neubauten  war  namentlich  in  den  letzten 
Jahren  ein  ganz  ansehnlicher,  wie  aus  den  Ziffern  des  Gesammttonnengehaltes 
augenfällig  hervorgeht  und  dann  auch  in  dem  erheblichen  Gesammtschätzungs- 
werte  ^)  zum  Ausdrucke  gelangt.  Es  befinden  sich  unter  den  Schiffen  übrigens 
auch  solche,  die  für  auswärtige  Kechnung  gebaut,  sonach  nicht  unserer 
Handelsmarine  einverleibt  wurden.  Die  Ausbesserungsarbeiten  sind  wohl  der 
Menge,  nicht  aber  dem  Werte  nach  gewachsen,  in  letzerer  Hinsicht  viel- 
mehr zurückgegangen.  Diese  Erscheinung  ist  das  nothwendige  Gegenstück 
zur  Vermehrung  und  Erneuerung  der  Handelsflotte. 

Es  dürfte  hier  am  Platze  sein,  eine  das  Alter  der  Handelsfahrzeuge 
darstellende  üebersicht  einzufügen.   (Siehe  Tabelle  S.  400.) 

Nur  für  die  kleine  Küstenfahrt  werden  noch  sehr  alte  Fahrzeuge  ver- 
wendet, vorwiegend  dem  Typus  kleinerer  Segler  angehörig  und  zumeist  wohl 
auch  durch  lange  Zeit  als  Erwerbsmittel  einer  Schifferfamilie  von  Geschlecht 
zu  Geschlecht  vererbt. 

Die  Dampfer  weiter  Fahrt  der  letzten  zwei  Jahrzehnte  —  von  den 
27  Stück  früher  gebauten  und  sicherlich  nach  und  nach  bald  ausgeschiedenen 
kann  füglich  abgesehen  werden  —  weisen  ein  Durchschnittsalter  von  sieben 
Jahren  auf. 

Bezüglich  des  Abstossens  der  Dampfer  muss  darauf  Bedacht  genommen 
werden,  dass  mehrfache  Wandlungen  im  Schiffbau  stattgefunden  haben  von 
einer  Neuerung  zur  andern,  von  einer  Verbesserung  zur  andern.  Der  üeber- 
gang  vom  alten  zum  neuen  System  könnte  jeweils  nicht  sofort  eintreten, 
ohne  beträchtlichen  Nachtheil  für  die  Ehedereien. 

Der  Stand  der  österreichischen  Handelsmarine  (Triest  sammt  Gebiet, 
Istrien  und  die  quarnerischen  Inseln,  Görz-Gradisca  und  Dalmatien)  ^)  hat 
sich  überhaupt  von  Jahrzehnt  zu  Jahrzehnt  wesentlich  verändert.  (Siehe 
Tabelle  S.  401.) 


^)  Bei  der  Schätzung  gelangen  folgende  Maasstäbe  zur  Anwendung: 
Für  eiserne  Ead-  oder  Schraubendampfer  bis  100  Brutto -Kegistertonnen  je 
340  Kronen,  für  hölzerne  Dampfer  360  Kronen;  für  eiserne  Ead-  oder  Schraubendampfer 
von  100 — 500  Brutto-Kegistertonnen  je  280  Kronen,  für  hölzerne  Dampfer  340  Kronen 
für  eiserne  Ead-  oder  Schraub endampfer  von  500 — 1000  Brutlo-Eegistertonnen  je 
220  Kronen,  für  hölzerne  Dampfer  820  Kronen;  für  eiserne  Ead-  oder  Schraubendampfer 
über  1000  Brutto-Eegistertonnen  je  200  Kronen,  für  hölzerne  Dampfer  280  Kronen. 
Maschinen  und  Kessel  werden  besonders  und  zwar  mit  200  Kronen  für  jede  indicierte 
Pferdekraft  berechnet.  Bei  Passagierdampfem  kommt  die  Ausstattung  noch  eigens  in 
Anschlag. 

Eiserne,  unter  Ueberwachung  des  Veritas  gebaute,  erstclassige  Segelschiffe  werden 
mit  280  Kronen  für  jede  Brutto-Eegistertonne  bewertet;  Segelschiffe  aus  Eichenholz  je 
nach  Verwendung  von  Kupfer-  und  Eisenbeschlag  u.  s.  w.  mit  260,  240,  230,  210  Kronen 
für  eine  Brutto-Eegistertonne;  Trabakel,  Brazzeren  u.  s.  w.  mit  190  Kronen  für  eine 
Brutto-Eegistertonne. 

2)  Von  1866  angefangen,  entfällt  das  venetianische  Küstenland  im  Ausweise. 

27* 


400 


Llppert. 


Schiffs-Gattung 

Baujahr 

1811 
bis 
1860 

1861 
bis 
1870 

1871 
bis 

1880 

1881 
bis 
1885 

1886 
bis 
1890 

1891 
bis 
1895 

1896 
bis 
1900 

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Weite  Fahrt 

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Grosse  Eüstenfahrt 

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Dampfer 

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31 

Kleine  Küstenfahrt 

Goletten 

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Brazzeren  u.  dergl. 
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360 

72 

293 

182 

363 

189 

153 

137 

135 

31 

1.483 

Die  Entwicklung  der  österreichischen  Handelsmarine. 


401 


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402 


Lippert. 


Die  Schlüsse,  welche  diese  allgemeine  Uebersicht  nahelegt,  sind  zwecks 
genauerer  Erfassung  der  thatsächlichen  Erscheinungen  noch  unter  folgende 
Gesichtspunkte  zu  stellen:  Man  muss  zwischen  dem  österreichischen  Lloyd 
und  den  andern  Rhedereien  und  bei  letzteren  wiederum  zwischen  der  Epoche 
der  Segelschiffahrt  und  jener  unterscheiden,  in  welcher  der  Dampf  das 
Uebergewicht  erlangt  hat.  Ausserdem  erscheint  es  nothwendig,  die  Kategorien 
der  Schiffahrt  auseinanderzuhalten. 

Was  zunächst  die  Segel  Schiffahrt  anbetrifft,  so  hat  sie  ehemals  eine 
ganz  erhebliche  Rolle  gespielt  und  erfreute  sich  in  den  50er  Jahren  des 
abgelaufenen  Jahrhunderts  einer  für  die  Rhederei  günstigen  Blüthe,  die  etwa 
zur  Zeit  des  Krimkrieges  den  Höhepunkt  erreicht  haben  mag.  Dann  aber 
verlor  sie  im  Verkehre  in  den  heimischen  Häfen  mehr  und  mehr  an  Gebie- 
und  begegnete  im  internationalen  Zwischenverkehre  dem  durch  die  Dampf- 
schiffahrt gesteigerten  Wettbewerbe.  Es  folgte  ihr  unaufhaltsamer  Rückgang 
und  man  kann  sich  angesichts  der  schlagend  beweisenden  Ziffern  der  An- 
schauung nicht  mehr  verschliessen,  dass  die  Zeit  der  Segelschiftahrt  für  die 
österreichische  Marine  vorüber  sei. 

Die  Entwicklung  der  weiten  Dampfschiffahrt  —  ohne  Lloyd  —  hat 
seit  dem  1.  Jänner  1894,  dem  Zeitpunkte  in  welchem  das  Gesetz  vom 
27.  December  1893  über  die  Unterstützung  der  Handelsmarine  in  Kraft 
trat,  folgenden  Verlauf  genommen: 


Ende 

Zahl 
der  Dampfer 

Eegister- 
Tonnengehalt 

1893     ...       13 

10.259 

1894 

13 

10.924 

1895 

17 

18.537 

1896 

28 

31.724 

1897 

36 

52.035 

1898 

39 

62.278 

1899 

40 

65.901 

1900 

51 

91.408 

Abgang 


1 
2 

5 

7 

10 

11 


Zuwachs 


1 

6 
11 
13 
10 
11 
22 


Der  Abgang  ergab  sich  zumeist  durch  Verkauf  von  Schiffen  an  fremde 
Flagge,  in  einigen  Fällen  auch  durch  Schiffbruch  oder  Brand. 

Von  den  1900  vorhandenen  51  Dampfern  gehörten  6  der  Rhederei 
Austro-Americana  in  Triest,  5  der  Rhederei  Eredi  C.  Cav.  Gerolimich  &  Comp, 
in  Lussinpiccolo,  11  der  Rhederei  Fratelli  Cosulich  in  Triest,  5  der  Rhederei 
T.  Cossovich  in  Triest,  4  der  Rhederei  Marinovich  in  Ragusa  (s.  g,  Napried. 
Consortium),  3  dem  Rheder  G.  Racich  in  Ragusa,  die  übrigen  verschiedenen 
andern  Rhedereien  an. 

Die  Anzahl  der  Theilhaber  (Caratbesitzer)^)  wechselt  bei  den  verschie- 
denen Dampfern  derart,  dass  an  den  einzelnen  Dampfern  der  von  demselben 
Leiter  geführten  Rhederei  nicht  immer  die  gleichen  Theilhaber  interessiert  sind. 


*)  Die  Theilung  geht  bis  ins  Unglaubliche,  sogar  bis  über  200  Mitbetheiligte  an 
dem  Eigenthuxne  eines  Schiffes. 


Die  Entwicklung  der  österreichischen  Handelsmarine. 


403 


Es  ist  sicher  eine  bedeutsame  Erscheinung,  dass  heute  die  Khederei 
der  weiten  Fahrt  an  Schilf szahl  nahezu  den  Lloyd  erreicht  hat,  welcher 
Ende  1900  54  Dampfer  weiter  Fahrt   mit  94.214  Tonnen    registriert  hatte. 

In  der  grossen  Küstenfahrt  sind  die  Aenderungen  von  minderem 
Belange,  weil  man  es  vorzieht,  Dampfer  welche  nicht  für  bestimmte  Fahrten 
beschränkter  Ausdehnung  ausschliesslich  verwendet  werden,  für  weite  Fahrt 
zu  registrieren,  um  je  nach  Lage  der  Conjunctur  freie  Hand  zu  haben. 

Deshalb  erscheinen  im  Register  der  grossen  Küstenfahrt  nur  jene 
Lloyddampfer,  welche  die  adriatischen  Linien  bedienen  und  höchstens  noch 
auf  einer  Levantiner  Linie  ausnahmsweise  eingestellt  werden  können;  ebenso 
lassen  die  anderen  Rhedereien  nur  die  zu  regelmässigen  Fahrten  in  der 
Adria  bestimmten  Dampfer  eintragen. 

Ueber    die    Bewegung    der   Dampfer   grosser  Cabotage    gibt   folgende 

Tabelle  Auskunft;  es  waren  vorhanden 

Oesterreichischer  Lloyd 
Dampfer    R. -Tonnen 

16  mit  6.543 


Andere  Ehedereien 
Dampfer    R.-Tonnen 

9  mit  1.898 


1893  . 

1894  . 

1895  . 

1896  . 

1897  . 

1898  . 

1899  . 

1900  . 
Die  Anzahl   der  Lloyddampfer   nahm  ab,  weil  man  infolge   des  neuen 

Hafengebürengesetzes  vom  21.  Febiuar  1897  ^)  die  nur  an  der  österreichischen 


15 

» 

5.899 

14 

» 

5.596 

22 

T) 

4.939. 

8 

n 

3.433 

7 

j» 

2.880 

4 

» 

1.547 

4 

n 

1.547 

8 

n 

1.228 

10 

V 

2.013 

11 

» 

2.181 

13 

» 

2.633 

14 

j? 

2.825 

17 

n 

3.994 

16 

r> 

3.753 

^)  §  2.  Die  Pflicht  zur  Entrichtung  der  Hafengebür  tritt  in  dem  Augenblicke  ein, 
in  welchem  das  Schiff  die  Handelsoperation  beginnt. 

§  6.  Einheimische  und  diesen  gleichgestellte  fremde  Dam'pfer  zahlen  für  jede  Netto- 
tonne folgende  Gebüren: 

a)  wenn  sie  aus  dem  Auslande  kommen  und  in  demselben  Kalenderjahre 

von  der  ersten  und  zweiten  Reise  einlaufen 40  kr.; 

„       „    dritten  und  vierten      „  „         30  kr. ; 

„       „    fünften  und  jeder  ferneren  Reise  einlaufen     .  20  kr.; 

b)  wenn  sie   aus   dem  Inlande  kommen,  ohne  Unterschied   der  Reihenfolge   des  Ein- 
laufens 15  kr. 

Dampfer,  welche  eine  dieser  Gebüren  bezahlt  haben,  sind  20  Tage,  vom  Tage  des 
ersten  Einlaufens  an  gerechnet,  für  welches  die  Gebür  entrichtet  wurde,  in  allen  inlän- 
dischen Häfen,  Rheden  und  an  allen  anderen  Punkten  der  Seeküste  gebürenfrei,  voraus- 
gesetzt, dass  sie  während  dieser  Zeit  keinen  ausländischen  Hafen  berühren,  beziehungs- 
weise dass  die  unter  a)  erwähnten  Dampfer  zwischen  inländischen  Häfen,  Rhedeu  u.  s.  w. 
keinen  Verkehr  vermitteln. 

§  8.  Einheimische  und  diesen  gleichgestellte  fremde  Dampfer,  welche  ausschliess- 
lich zwischen  inländischen  Häfen,  Rheden  u.  s.  w.  verkehren  und  ausländische  Häfen 
nicht  berühren,  können  für  ein  Kalenderjahr  von  der  Entrichtung  der  im  §  6  festgesetzten 
Hafengebüren  befreit  werden,  falls  dieselben  für  jede  Nettotonne  bei  einem  Raumgehalte 
bis  100  Nettotonnen  den  Betrag  von  50  kr.,  bei  einem  solchen  über  100  Nettotonnen 
den  Betrag  von  zwei  Gulden  bezahlen. 


404 


Li'iJpert. 


Küste  verkehrenden  Schiffe  in  das  Kegister  der  kleinen  Schiffahrt  über- 
schreiben Hess,  während  dagegen  bei  den  anderen  Khedereien  die  regel- 
mässigen Fahrten  längs  unserer  Küste  sich  vermehrt  haben.  Die  kleine 
Dampfercabotage  hat  die  kleinen  Segler,  welche  einst  fast  ausschliesslich 
den  Verkehr  zwischen  Orten  geringerer  Bedeutung  vermittelten,  sehr  zurück- 
gedrängt. 

Die  Leistungsfähigkeit  unserer  Handelsmarine  in  der  weiten  Fahrt, 
welche  für  den  grossen  Verkehr^)  allein  Ausschlag  gibt,  stellt  sich  nun  in 
folgendem  Zahlenbilde  (runde  Ziffern)  dar,  wobei  der  Kegister-Tonnengehalt 
als  Maasstab  gelten  und  das  Verhältnis  der  Dampfer-  zur  Segeltonne  wie 
372^1  angenommen^)  sein  soll: 


Segler 

Dampfer  der  Rhedereien  ohne  Lloyd 
Lloyd 

Zusammen  .    .    . 


Register-Tonnen  am  Ende  des  Jahres 


1900 


1890 


13.000 
320.000 
329.000 


62.000 

14  000 

24.5.000 


662.000 


321.000 


1880 


154.000 

2.600 

214.000 


370.600 


^)  Nach  dem  Lloyd's-Register-ßook  bestand  die  Welthandelsflotte  am  1,  Jänner  1901 
aus  28.422  Schiffen  mit  einem  Gesammttonnengehalt  von  29,043.728  Tonnen.  Hievon 
besassen  England  und  seine  Colonien  die  Hälfte,  die  anderen  Staaten  zusammen  die  andere 
Hälfte.  Nach  der  Leistungsfähigkeit  reihen  sich  die  Mächte,  wie  folgt: 

Grossbritannien 10.838  Schiffe  mit  14,261.254  Tonnen 

Vereinigte  Staaten  von  Nordamerika     3.135        „         „       2,750.271         „ 

Deutschland 1.710       „         „       2,650.033         „ 

Norwegen 2.380        „         „       1,640.812 

Frankreich 1.214        „         „       1,350.562 

Italien 1.176        „         „  983.855 

Spanien 599        „         „  684.780 

Schweden 4.433        „         „  637.272         „ 

Japan 1.066        „         „  574.557 

Holland 408        „         „  530.278 

Dänemark 802        „         „  519.014        „ 

Oesterreich-Ungarn 270        „         „  416.084 

Griechenland 869        „         „  245.094 

Brasilien 332        „         „  163.087 

Belgien 117        „         „  162.913 

'Türkei 305        „         „  143.400 

Poitugal 304        „         „  111.055 

Chili 127        „         „  110.978 

England  besitzt  1600  Dampfer  mit  je  mehr  als  3.000  Tonnen,  Deutschland  hat 
deren  127,  die  Vereinigten  Staaten  120,  Frankreich  60. 

2)  Man  kann  annehmen,  dass  ein  Dampfer,  weil  weniger  abhängig  von  Wind  und 
Seegang  und  durch  Maschinenkraft  viel  rascher  bewegt,  in  derselben  Zeit  drei-  bis  vier- 
mal so  oft  dieselbe  Reise  hinterlegen  kann  wie  ein  Segelschiff. 


Die  Entwicklung  der  österreichischen  Handelsmarine.  405 

Solche  Ziffern  sind  ein  klarer  und  beredter  Beweis  des  stattgehabten 
Aufschwunges  und  Fortschrittes.  ^) 

Dieser  grosse,  beinahe  zwei  Jahrhunderte  umfassende  Ueberblick  möge 
gezeigt  haben,  aus  wie  bescheidenen  Anfängen  unsere  Handelsmarine  entstand, 
aus  welchen  Grundbedingungen  sie  hervorwuchs,  welche  Elemente  ihr  förder- 
sam  sind  und  was  naturgemäss  aus  ihr  heraus  entwickelt  werden  kann.  Es 
soll  keine  künstliche  Ernährung  stattfinden;  was  nicht  festgefügt  ist,  vermag 
—  bildlich  und  natürlich  gesprochen  —  den  Stürmen  auf  die  Dauer  nicht 
zu  widerstehen.  Mit  gutem  Grund  jedoch  ist,  anknüpfend  an  vor  einem 
Vierteljalirhundert  gesprochene  Worte,  ^)  die  Behauptung  gestattet,  dass 
unsere  Marine  seither  eine  gedeihliche  Entwicklung  genommen  habe,  dass 
eine  breite,  feste  Grundlage  für  den  weiteren  Ausbau  geschaffen  ist.  Und 
in  diesem  Sinne  soll  der  1861  gethane  Ausspruch  des  K.  u.  k.  Viceadmirals 
und  nachmaligen  Handelsministers  Freiherrn  v.  Wüllerstorf-Urbair 
die  vorliegende  Skizze  beschliessen:  „Wir  besitzen  einen  Handelsstand,  eine 
Handelsflotte,  eine  Industrie,  die  nur  äusserer  Anregung  bedürfen,  um  Grosses 
zu  leisten." 


^)  In  einem  in  der  Verkehrs-  und  Industriezeitnng  zu  Nr.  13.107  der  „Neuen 
Freien  Presse"  vom  19.  Februar  1901  erschienenen  Aufsatze  tritt  der  vormalige  Präsident 
der  Seebehörde  E.  Becher  „den  vielen,  immer  wiederkehrenden  und  nie  überprüften 
Behauptungen  von  dem  Untergänge  der  österreichischen  Handelsmarine"  mit  aller  Ent- 
schiedenheit entgegen.  Obige  Ziffern  sind  diesem  Aufsatze  entnommen. 

-)  Ernst  Becher,  die  österreichische  Seeverwaltung  1850—1875,  aus  dem  Schluss- 
wort; „Wenn  nach  abermals  tünfundzwanzig  Jahren,  an  der  Wende  des  Jahrhundertes, 
der  Faden  dort  aufgenommen  werden  sollte,  wo  wir  ihn  heute  beendeten,  dann  möge 
der  künftige  Berichterstatter  von  der  steigenden  Bliithe  und  dem  segensreichen  Gedeihen 
dieser  Marine  und  von  der  Sorgfalt  erzählen  können,  welche  die  Seeverwaltung  unver- 
drossen ihr  zuwendete." 


DIE  ÖSTERREICHISCHE  SEEMANNSORDNUNG. 


VOM 


DR-  MILLANICH. 


Das  Herrenhaus  hat  in  seiner  Sitzung  vom  25.  Mai  1.  J.  den  Kegierungs- 
entwurf  einer  Seemannsordnung  mit  den  von  der  Specialcommission,  vorgeschlagenen 
wenigen  wesentlichen,  das  Verhältnis  zu  Ungarn  nicht  tangierenden  Aenderungen 
angenommen.^) 

Der  Gesetzesentwurf  ist  —  könnte  man  sagen  —  in  historischer  Beziehung 
ein  legislatosriches  Curiosum;  er  soll  entsprechende  Normen  aufstellen  für  ein 
Gebiet,  auf  welchem  derzeit  trotz  der  vielen  seither  eingetretenen  Wandlungen 
im  Seeverkehre  —  noch  ein  über  125  Jahre  altes  Gesetz,  das  Editto  politico  di 
navigazione,  als  Grundgesetz  nebst  vielen  schwer  übersehbaren  Kegierungs- 
verordnungen  und  Verfügungen  Geltung  hat;  derselbe  hat  aber  selbst,  als  Embryo 
in  beinahe  allen  seinen  wesentlichen  Bestimmungen,  das  für  einen  Embryo 
respectable  Alter  von  ungefähr  15  Jahren  und  soll  nun  endlich,  von  allen 
Seemannskreisen  sehnlichst  erwartet,  zu  lebensfähiger  Existenz  gelangen,  Gesetzes- 
kraft erhalten. 

In  Anlehnung  an  die  deutsche  Seemannsordnung  vom  Jahre  1872  verfasst, 
wurde  ein  dem  gegenwärtigen  mit  geringen  Varianten  gleicher  Entwurf  im 
Jahre  1886  im  österreichischen  Abgeordnetenhause  eingebracht  und  mit  einigen 
Aenderungen  im  Jahre  1889  in  dritter  Lesung  angenommen,  jedoch,  mangels 
Erledigung  desselben  im  ungarischen  Abgeordnetenhause,  der  Schlussfassung  des 
österreichischen  Herrenhauses  nicht  unterzogen.  Im  Jahre  1891  und  dann  im 
Jahre  1896  wurde  der  Entwurf  mit  wenigen  vom  österreichischen  einvernehmlich 
mit  dem  ungarischen  Ministerium  vorgeschlagenen  Aenderungen  der  vom  öster- 
reichischen Abgeordnetenhause  im  Jahre  1889  vorgeschlagenen  Fassung  im 
österreichischen  Abgeordnetenhause  wieder  eingebracht,  in  dieser  Fassung  vom 
ungarischen  Abgeordnetenhause  angenommenen,  konnte  aber  im  österreichischen 
Abgeordnetenhause  wegen  des  bekannten  Stillstandes  der  Action  dieses  Hauses 
nicht  erledigt  werden.  Schliesslich  wurde  der  Entwurf  Anfangs  dieses  Jahres 
von  der  Regierung  im  Herrenhause  eingebracht,  und  wird  nun  in  der  von 
letzterem    beschlossenen    Fassung    dem    Abgeordnetenhause    unterbreitet    werden. 


')  Der  Text  der  Seemannsoidnung  folgt  im  nächsten  Hefte. 


Die  österreichische  Seemannsordnung.  407 

Bezüglich  des  Verhältnisses  zu  Ungarn  ist  in  Ansehung  dieses  Gesetzes 
hervorzuheben,  dass  die  einvernelimliclie  Behandlung  dieses  Gegenstandes 
auf  dem  Artikel  VI  des  Zoll-  und  Handelsbündnisses  beruht,  demzufolge  die 
Ausübung  der  Seeschiffahrt  beider  Ländergebiete  nach  gleichen  Normen  und 
überhaupt  in  möglichst  übereinstimmender  Weise  erfolgen  soll.  Die  Seehandels- 
schiffe beider  Theile  führen  die  vorgeschriebene  gemeinsame  Flagge,  die  Schiffe 
beider  Theile  geniessen  in  beiden  Ländergebieten  die  gleiche  Behandlung;  die 
Qualificationscertificate  der  Seeleute  sind  in  beiden  Ländergebieten  an  die  gleichen 
Bedingungen  geknüpft  und  haben  die  gleiche  Giltigkeit;  in  beiden  Ländergebieten 
soll  ein  gleiches  Privatseerecht  in  Anwendung  kommen.  Dass  diese  gleichartige 
Behandlung  der  in  Kede  stehenden  Gegenstände  auch  dem  beiderseitigen  Interesse 
dieser  Ländergebiete  entspricht,  von  demselben  postuliert  wird,  bedarf  wohl  keiner 
näheren  Begründung. 

Das  in  Rede  stehende  Gesetz  regelt  indessen  nur  einen  beschränkten  Theil 
von  seerechtlichen  und  seepolizeilichen  Verhältnissen;  dasselbe  normiert:  1.  die 
verschiedenen  Eangeigenschaften  der  Seeleute  und  die  dafür  erforderlichen 
Befähigungsnachweise,  2.  die  Art  und  Weise  des  Eintrittes  in  das  Dienst- 
verhältnis und  die  Evidenzhaltung  der  Dienstverhältnisse,  3.  die  meritorischen 
Bestimmungen  über  das  Dienstverhältnis  selbst  in  disciplinären,  in  privat-  und  in 
strafrechtlicher  Beziehung,  endlich  4.  die  für  die  Ueberwachung  und  die  Rechts- 
sprechung in  diesen  Beziehungen  competenten  Behörden  und  das  bezügliche  Verfahren. 

Es  gibt  nun  eine  grosse  Menge  wichtiger,  das  Seewesen  betreffender 
Materien  privat-öffentlichrechtlicher  und  administrativer  Natur,  welche  ausserhalb 
des  Rahmens  des  in  Rede  stehenden  Gesetzes  liegen,  und  noch  einer  erschöpfenden 
systematischen  Regelung  bedürfen  —  beispielsweise  die  Stellung  des  Schiffers  im 
allgemeinen,  dessen  Verhältnis  zum  Rheder,  zum  Schiffseigenthümer  und  zum 
Staate,  die  Vorschriften  über  die  erforderliche  Bemannung  und  zulässige  Belastung 
der  Schiffe,  über  Hafenplätze,  Schiffbrüche,  über  das  Rettungs-  und  Lotsenwesen, 
über  Stellenvermittlung  für  Schiffsleute,  über  Unfallversicherung  zur  See  u.  dgl.  m.  — 
Materien,  M^elche  vielfach  in  ausländischen  Seegesetzgebungen  —  so  im  italienischen 
Gesetze  für  die  Handelsmarine,  im  französischen,  im  schwedischen,  im  norwegischen 
Seegesetze  geregelt  sind. 

Wenn  die  Regierung  sich  zunächst  auf  das  obenbezeichnete  Gebiet  der 
Seemannsordnung  beschränkt  hat,  und  die  systematische  Regelung  der  sonstigen 
das  Seewesen  betreffenden  Materien  späterer  Vorlagen,  die  sich  zum  Theile  schon 
in  der  Ausarbeitung  befinden  sollen,  vorbehalten  hat,  nicht  alles  in  einem  Gesetze 
zusammenfassen  wollte,  so  ist  dies  wohl  damit  zu  rechtfertigen,  dass  zunächst 
auf  dem  Gebiete  der  Seemannsordnung  das  Bedürfnis  nach  einer  Reform  besteht 
und  am  dringendsten  sich  kundgegeben  hat;  eine  alle  Materien  umfassende 
Gesetzesvorlage  aber  die  Reform  auf  diesem  Gebiete  in  eine  weite  Ferne  hinaus- 
schieben würde.  Rascher  Wandel  ist  hier  unaufschiebbar,  und  es  Messe  wohl  das 
Bessere  zum  Feind  des  Guten  machen,  wollte  man  diese  Theilarbeit  zurückstellen, 
um  die  Vorlage  des  Totaloperates  abzuwarten. 

Im  grossen  und  ganzen  übersehen,  besteht  das  Markanteste  und  Charakte- 
ristische in  dem  vorliegenden  Entwürfe 


408  Millanich. 

a)  in    der    Hervorliebung    der    Schiffer,    der    Schiffsofficiere    und   Scliiffsunter- 
officiere  gegenüber  der  übrigen  Schiffsmannschaft  und   in   der  Anforderung 
einer  b  e  stim  mte  n    theoretischen    und    praktischen,   durch 
Prüfungen  docu  montierten  Ausbildung  der  ersteren ; 
h)  in  Bestimmungen,  wornach  der  Eintritt  und  Austritt  der  Schiffsmannschaft 
in  den  Seedienst  unter  staatlicher  Intervention    und  Controle    erfolgt,    und 
eine  ständige  Evidenzhaltung  der  Dienstverhältnisse  gesichert  ist; 
e)   in  zum  Schutze  der  Schiffsleute,    als    der   wirtschaftlich   Schwächeren,    nor- 
mierten Beschränkungen  der  Vertragsfreiheit  und  in  der  Aufstellung  klarer 
gesetzlicher  Bestimmungen  für  Fälle,  wo  contractliche  fehlen; 
d)  in  der  mit  Rücksicht  auf  die  Wichtigkeit  des  Dienstes  und  die  aus  Pflichten- 
verletzungen sich  ergebenden  schweren  Folgen  angemessenen  Regelung  der 
disciplinären  und  strafrechtlichen  Verhältnisse. 

In  Betreff  des  I.  und  des  II.  Ab  s  ch  n  itte  s  des  Gesetzes,  welche  die 
Bestimmungen  enthalten,  auf  welche  Schiffe  das  Gesetz  Anwendung  findet,  welche 
Aemter  zur  Handhabung  der  Seemannsordnung  berufen  sind  (im  Inlande  die 
Hafenämter,  im  Auslande  die  Seeconsulatsämter),  welche  Personen  zur  Schiffs- 
mannschaft, welche  von  diesen  zur  Kategorie  der  Schiffsofficiere,  welche  zu  der 
der  Schiffsunterofficiere  gehören,  welche  Qualificationen  für  diese  letzteren 
erforderlich  sind,  verdient  Folgendes  hervorgehoben  zu  werden. 

Namentlich  mit  Rücksicht  auf  die  grosse  Entwicklung,  welche  auch  der 
Seeverkehr  genommen  hat,  und  mit  Rücksicht  darauf,  als  die  Dampfschiffahrt  die 
Segelschiffahrt  und  die  grossen  schwerer  lenkbaren  und  grössere  Güter  und 
Menschenmengen  transportierenden  Schiffe  die  kleinen  Schiffe  zurückdrängen, 
erscheint  es  geboten,  wie  es  in  dem  Gesetze  geschieht,  dass  für  die  Erlangung 
der  Qualification  der  Eigenschaften  eines  Schiffers  (Capitän),  sowohl  der  kleinen 
als  der  grossen  Küstenfahrt  und  der  weiten  Fahrt  dann  für  die  Erlangung 
der  Eigenschaft  als  Steuermann,  Schiffsmaschinist  nebst  einem  bestimmten  Alter, 
eine  Praxis  von  bestimmter  Dauer  und  ^-ewisse  Prüfungen,  für  die  Eigenschaft  als 
Bootsmann  und  Maschinenwärter  ebenfalls  eine  gewisse  praktische  Ausbildung 
und  eine  mit  Erfolg  abgelegte  Prüfung  verlangt  wird.  Die  Feststellung  der 
Gegenstände  dieser  Prüfungen  und  die  Art  der  Ablegung  derselben  muss  dem 
Verordnungswege  vorbehalten  bleiben,  nachdem  in  dieser  Richtung  locale  Ver- 
hältnisse und  eintretende  Aenderangen  in  den  technischen  Verhältnissen  von 
Einfluss  sind  und  daher  hiefür  generelle,  auf  lange  Geltung  reflectierende 
Gesetze  nicht  erlassen  werden  können.  —  Wenn  auch  den  erwähnten  Erforder- 
nissen entsprochen  wird,  kann  nach  dem  Gesetze  (§  17)  die  Zuerkennung  der 
Eigenschaft  eines  Schiffers,  Schiffsofficiers  oder  Schiffsunterofficier  verweigert 
werden,  wenn  der  betreffende  Seemann  wegen  eines  Verbrechens,  eines  Vergehens 
oder  einer  üebertretung  rechtskräftig  verurtheilt  wurde  und  sich  aus  dem  That- 
bestande  der  strafbaren  Handlung  begründete  Zweifel  rücksichtlich  der  Fach- 
kenntnisse oder  der  Vertrauenswürdigkeit  derselben  ergeben.  Mit  diesem  Erforder- 
nisse der  vorhandenen  Vertrauensunwürdigkeit,  damit  die  in  Rede  stehenden 
Rangseigenschaften  verweigert  werden  können,  ist  der  billigen  Rücksicht  Rechnung 
getragen,  dass  nicht  jemandem,    der  eine  strafbare  Handlung  begangen  hat,  die 


Die  Osterreichische  Seetnannsordnung.  409 

seine  Vertrauenswürdigkeit  nicht  tangiert,  jene  Ilangseigenschaften  versagt  werden 
können.  Ausserdem  ist  die  Zulässigkeit  der  Verweigerung  bei  Uebertretungen  auf 
die  Dauer  von  6  Monaten,  vom  Zeitpunkte  der  überstandenen  Strafe  an  gerechnet, 
beschränkt. 

Gegenüber  den  Bestimmungen  des  italienischen  Gesetzes  für  die  Handels- 
marine in  Betreff  der  erforderlichen  Qualificationen  findet  man,  dass  das  italienische 
Gesetz,  was  das  Alter  anlangt,  etwas  strengere  Bestimmungen  hat,  während 
rücksichtlich  der  theoretischen  und  praktischen  Ausbildung  und  der  geforderten 
Prüfungen  das  österreichische  Gesetz  strenger  erscheint.  Beides  ist  erklärlich. 
Unsere  Volksstämme,  die  sich  dem  Seedienste  widmen,  insbesondere  die  anerkannt 
besten  Matrosen,  die  Dalmatiner,  sind  im  allgemeinen  körperlich  kräftiger  ent- 
wickelt und  daher  in  einem  früheren  Alter  zum  Seedienst  tauglich;  die  Schul- 
ausbildung dürfte  in  unseren  Ländern  namentlich  gegenüber  dem  Süden  von 
Italien,  auf  welchen  das  italienische  Gesetz  Kücksicht  nehmen  musste,  eine  solche 
sein,  die  grösseren  Ansprüchen  genügt. 

In  der  Commission  wurden  auch  die  misslichen  Verhältnisse  zur  Sprache 
gebracht,  die  sich  für  Aspiranten  auf  Capitäns-  und  Lieutenantsstellen  daraus 
ergeben,  dass,  um  zur  Capitäns-  beziehungsweise  Lieutenantsprüfung  zugelassen 
zu  werden,  der  Nachweis  erforderlich  ist,  dass  der  Candidat  einen  Theil  der  Zeit 
seiner  Einschiffung  und  zwar  der  Candidat  für  die  Charge  eines  Capitäns  in  der 
Eigenschaft  als  Lieutenant  auf  einem  Segelschiff  zugebracht  habe.  Die  Erfüllung 
dieser  Bedingung  wird  bei  dem  immer  mehr  fortschreitenden  Kückgange 
der  Segelschiffahrt  von  Jahr  zu  Jahr  für  diese  Aspiranten  schwieriger  und  eine 
nicht  kleine  Anzahl  absolvierter  nautischer  Schüler  und  Mercantillieutenants 
bewirbt  sich  stets  vergeblich  um  die  Einschiffung  auf  Segelschiffen.  Das 
Zugeständnis,  den  Einschiffungsdienst  auch  auf  fremden  Segelschiffen  ableisten  zu 
dürfen,  brachte  keine  fühlbare  Abhilfe,  da  bei  den  fremden  Schiffen  üeberzahl 
an  nationalen  Candidaten  besteht,  und  fremde  Schiffe  vielfach  die  Aufnahme 
nicht  nationaler  Seeleute  verweigern.  Die  Commission  glaubte  es  der  Regierung 
nahelegen  zu  sollen,  diesen  Schwierigkeiten  in  angemessener  Weise,  sei  es  im 
Wege  der  Einführung  zulässiger  Erleichterungen  oder  Einschränkungen  in  der 
Ableistung  des  Segelschiffdienstes  oder  sonstiger  zweckmässiger  Einrichtungen 
(Subventionen  an  Schiffseigenthümer  oder  Kheder  für  Aufnahme  von  solchen 
Aspiranten  auf  Segelschiffen)  zu  begegnen. 

Im  III.  Abschnitte,  welcher  die  Seedienstbücher  und  die  Musterung 
normiert,  ist  das  Minimalalter  für  die  Zulassung  zum  Seedienste  auf  das  vollendete 
12.  Lebensjahr  fixiert,  während  nach  der  deutschen  Seemannsordnung  das  vollendete 
14.  Lebensjahr  gefordert  wird.  Die  niederere  Fixierung  nach  dem  österreichischen 
Gesetze  lässt  sich  vollends  rechtfertigen  durch  die  frühere  Reife  unserer  Küsten- 
bevölkerung gegenüber  der  Küstenbevölkerung  des  Nordens,  aus  welcher  sich  die 
Seemannschaft  im  grossen  und  ganzen  recrutiert.  Es  muss  freudig  begrüsst 
werden,  dass  nach  diesem  Abschnitte  sowohl  der  Eintritt,  als  der  Aus- 
tritt aus  dem  Seedienste  unter  staatlicher  Intervention  und 
unter  persönlicher  Anwesenheit  des  Schiffsmannes  erfolgen  soll.  Es  hat  dies  den 
grossen  Vortheil,  dass  die  intervenierende  Seebehörde  darüber  wachen  kann,  dass 


410  Millanich. 

erstens  klare  Vertragsbestimmungen  und  zweitens,  dass  nicht  solche  Vertrags- 
bestimmungen getro£fen  werden,  welche  contra  legem  sind.  Dass  ferner  die 
wesentlichen  Vertragsbestimmungen  sowohl  in  das  Seedienstbuch  (das  Docuraent 
des  Schiffsmannes)  als  in  die  Musterrolle  (das  Document  des  Schiffes)  eingetragen 
werden,  liefert  eine  Gewähr,  dass  ein  Streit  darüber,  was  contractlich  festgestellt 
wurde,  nicht  leicht  vorkommen  kann.  —  Das  Dienstbuch  ist  für  den  Schiffsmann 
der  Pass,  dasselbe  berücksicht  auch  die  sonstigen  Verhältnisse,  z.  B.  Schul-  und 
Wehrpflicht,  welche  in  administrativer  Beziehung  zu  beachten  sind.  Dass  während 
der  Reise  das  Dienstbuch  sich  in  Verwahrung  des  Schiffers  befinden  soll,  ist  nur 
eine  zweckmässige  präventive  Maassregel  gegen,  oft  das  ganze  Schiff  gefährdende 
Entweichungen.  —  Dem  Seedienstbuche  sollten  nach  Wunsch  der  Commission  des 
Herrenhauses  auf  Grund  einer  entsprechenden  Verordnung  auch  ein  Abdruck  der  den 
Schiffsmann  betreffenden  disciplinären  und  strafrechtlichen  Bestimmungen  bei- 
gegeben werden,  und  sollten  diese  letzteren  auch  sonst  auf  dem  Schiffe  in  für 
jedermann  leicht  zugänglichen  Abdrücken  aufliegen. 

Der  IV.  Abschnitt  behandelt  das  Vertragsverhältnis  der  Schiffsmann- 
schaft. —  Das  Charakteristische  der  bezüglichen  Bestimmungen  wurde  im  allge- 
meinen bereits  eben  hervorgehoben. 

Die  Giltigkeit  des  Vertrages  wird  nicht,  wie  in  der  italienischen  Gesetz- 
gebung, von  der  schriftlichen  Form   abhängig  gemacht. 

Abgesehen  davon,  dass  in  der  österreichischen  Handelsmarine  die  münd- 
liche Form  der  Vertragsschliessung  die  überwiegende  üebung  ist,  könnte  ein 
praktisches  Bedürfnis  für  die  schriftliche  Form  als  ein  wesentliches  Erforder- 
nis des  Heuervertrages  umsoweniger  geltend  gemacht  werden,  als  bei  der 
Anmusterung  nicht  nur  die  Verlautbarung  des  geschlossenen  Heuervertrages, 
sondern  auch  dessen  Eintragung  in  die  Musterrolle  unter  behördlicher  Intervention 
zu  geschehen  hat  (§§  24,  25),  worin  die  Gewähr  gegen  nachträgliche  Abänderungen 
oder  etwa  nicht  zulässige,  unklare  oder  sonst  zu  Streitigkeiten  Anlass  gebende 
Stipulationen  gelegen  ist. 

Eine  Eeihe  von  Paragraphen  bezweckt  hauptsächlich  die  Klarstellung  des 
Eechtsverhältnisses.  §  38  stellt  fest,  was  unter  Verheuerung  auf  die  Gesammtreise 
was  unter  Verheuerung  auf  Zeit  —  die  gegenwärtig  in  unserer  Handelsmarine 
übliche  —  zu  verstehen  sei,  und  bestimmt,  dass  wenn  die  Verheuerung  weder  auf 
eine  Gesammtreise  noch  auf  bestimmte  Zeit  geschieht,  jedenfalls  im  Heuervertrage 
der  Umstand  klarzustellen  sei,  bei  dessen  Eintritt  das  Dienstverhältnis  gelöst 
wird.  Die  §  39  und  40  normieren  die  Fälle,  wo  ein  Schiffsmann  sich  verheuert, 
obwohl  er  durch  einen  früheren  Heuervertrag  gebunden  ist,  oder  wo  ein  Schiffs- 
mann erst  nach  Anfertigung  der  Musterrolle  geheuert  wird  und  in  Betreff  seines 
Dienstverhältnisses  keine  näheren  Vertragsbestimmungen  getroffen  werden. 

In  den  §§  41 — 47  werden  die  Verpflichtungen  des  Schiffsmannes  näher 
präcisiert;  wann  er  verpflichtet  ist,  den  Dienst  anzutreten,  die  Folgen  der  Ver- 
letzung dieser  Pflicht  (Recht  des  Schiffers,  den  Schiffsmann  zu  derselben  zu  ver- 
halten, oder  vom  Vertrage  zurückzutreten),  Feststellung  der  Arbeitsdauer,  Dienst- 
leistung bei  Seegefahr,  bei  der  Verklarung  (Feststellung  von  Seeschäden),  sowie 
der    für    den    Schiffsmann    aus    dieser    Arbeits-    und    Hilfeleistung    entstehenden 


Die  österreichische  Seenaannsorcfnung.  411 

Forderungen  und  Entschädigungsansprüche.  —  Wenn  das  Schiif  in  einem  Hafen 
liegt,  so  ist  der  Schiffsmann  nicht  verpflichtet  länger  als  10  Stunden,  einschliess- 
lich des  Wachtdienstes  täglich  zu  arbeiten,  wobei  jedoch  die  Zeit  für  die  East 
und  die  Mahlzeiten  in  die  Arbeitszeit  nicht  eingerechnet  wird. 

An  Sonntagen  ist  der  Schiffsmann  im  Hafen  nur  zu  unaufschiebbaren 
Arbeiten  verpflichtet  (§  44).  Bei  dieser  Beschränkung  der  Arbeitszeit  ist  der 
Gesetzentwurf  socialpolitischen  Anforderungen  noch  weiter  entgegengekommen  als 
andere,  insbesondere  die  deutsche  Seemannsordnung  vom  Jahre  1872  und  selbst 
der  neueste  deutsche  Entwuif  einer  Seemannsordnung  vom  Jahre  1900,  welcher 
in  die  zehnstündige  Arbeitszeit  einen  zweistündigen  Wachtdienst  nicht  einrechnet, 
eine  Ueberschreitung  dieser  Arbeitsdauer  in  dringenden  Fällen  zulässt,  und  die 
Beschränkung  auf  Schiffsofficiere  für  nicht  anwendbar  erklärt. 

Im  Schosse  der  Commission  haben  sich  Stimmen  für  die  Abänderung  des 
§  44  im  Sinne  der  vorgedachten  einschränkenden  Bestimmung  der  deutschen 
Seemannsordnung  mit  dem  Hinweise  ausgesprochen,  dass  die  Statuierung  einer 
solchen  Ausnahme  für  dringende  Fälle  in  den  Rücksichten  für  den  durch 
den  Schiffahrtsbetrieb  zu  vermittelnden  öffentlichen  Verkehr  geboten  erscheine. 
Diese  Eücksichten  seien  es,  die  ähnlich  den  bei  anderen  öffentlichen  Verkehrs- 
anstalten und  Verkehrsgewerben  bestehenden  Verhältnissen,  bei  der  heutigen 
ausserordentlichen  Entwicklung  des  Seeschiffverkehres  durch  die  Seedampf- 
schiffahrt es  auf  diesem  Arbeitsgebiete  unvermeidlich  machen,  in  Fällen,  wo  es 
sich  im  Interesse  des  allgemeinen  Personen-  und  insbesondere  des  Warenverkehres, 
wie  beispielsweise  beim  Löschen  und  Laden,  um  unumgängliche  und  unaufschieb- 
bare Arbeiten  handelt,  die  Kräfte  der  Schiffsmannschaft  über  die  zehnstündige 
Arbeitszeit  in  Anspruch  zu  nehmen,  zumal  diese  Arbeitszeit  nach  der  Norm  des 
§  44  ohnehin  durch  die  Begünstigung  der  Anrechnung  des  Wachedienstes  als 
Arbeit  zum  Theile  reduciert  erscheine. 

Die  überwiegende  Mehrheit  der  Commission  erachtete  aber  sich  gegen  eine 
solche  Abänderung  des  §  44  der  Vorlage  in  der  Erwägung  aussprechen  zu 
sollen,  dass,  abgesehen  von  der  Dehnbarkeit  des  Inhaltes  des  Begriffes  „dring- 
licher Fälle"  und  der  damit  verbundenen  Zugänglichkeit  von  Streitigkeiten  aller 
Art,  es  hier  füglich  den  freien  Vereinbarungen  zwischen  Schiffer  und  Schiffs- 
mann zu  überlassen  sei,  sowohl  das  Maass  der  Inanspruchnahme  der  Arbeitskraft 
des  Schiffsmannes  über  die  Maximalarbeitszeit  im  Hafen  wie  auch  die  näheren 
Bestimmungen  über  Art  und  Maass  der  Entlohnung  für  geleistete  Ueberstunden- 
arbeit  entweder  im  vorhinein  oder  von  Fall  zu  Fall  festzustellen. 

Für  den  Dienst  in  Seefahrt  ist  eine  ähnliche  Beschränkung  wie  für  den 
Dienst  im  Hafen,  wie  alle  Seegesetzgebungen  anerkennen  unthunlich,  zumal  durch 
die  herkömmliche  Eintheilung  in  zwei  Wachen  für  die  erforderliche  Ruhe  der 
Mannschaft  gesorgt  ist. 

Bemerkenswert  ist  auch  die  gegen  Arbeitsausbeutung  gerichtete  Bestimmung, 
dass  wenn  die  Zahl  der  Mannschaft  sich  während  der  Reise  um  mehr  als  ein 
Sechstel  verringert,  der  Schiffer  dieselbe  auf  Verlangen  der  verbleibenden  Schiffs- 
leute ergänzen  m  u  s  s,  soferne  die  Umstände  eine  Ergänzung  gestatten. 


412  Millanich. 

Die  §§  49—  54  regeln  die  Verhältnisse  betreffend  die  Entlohnung  des 
Schiffsmannes  —  die  Heuer  — . 

Dass  die  Auszahlung  der  Heuer  im  allgemeinen  am  Ende  des  Dienst- 
verhältnisses zu  erfolgen  habe,  entspricht  nicht  nur  dem  Herkommen,  sondern 
rechtfertigt  sich  auch  damit,  dass  das  Interesse  des  einzelnen  Schiffsmannes  mehr 
an  das  Schiff  geknüpft,  dem  nicht  selten  vorkommenden  Uebel  der  Entweichung 
wesentlich  vorgebeugt,  und  endlich  verhütet  wird,  dass  der  Schiffsmann  — 
welcher  vollständige  Verpflegung  auf  dem  Schiffe  hat,  beim  Anlegen  in  Zwischen- 
häfen den  verdienten  Lohn  leichtsinnig  vergeude.  Diese  Bestimmung,  betreffend 
den  Auszahlungstermin  der  Heuer,  musste  aber  im  Interesse  der  Schiffsleute  eine 
gewisse  Einschränkung  erfahren,  da  dieselben  insbesondere  vor  Antritt  der  Eeise 
meist  darauf  angewiesen  sind,  einen  Vorschuss  zu  erhalten,  um  sich  mit  Effecten 
und  ihre  Angehörigen  mit  etwas  Bargeld  zu  versehen. 

Es  wurde  deshalb  im  Gesetze  die  Bestimmung  aufgenommen,  dass  abge- 
sehen von  einer  entgegenstehenden  ausdrücklichen  Vereinbarung  der  Schiffs- 
mann das  Eecht  hat,  vor  Antritt  der  Reise  und  bei  Zwischenreisen  auch 
während  der  Fahrt  Vorschüsse  bis  zu  einer  gewissen  Maximalhöhe  zu  verlangen. 
Diese  Vorschüsse  hinwiederum  zu  beschränken,  lag  auch  im  wichtigen  Interesse 
der  Schiffsleute,  welche  durch  den  Besitz  von  für  actuelle  Bedürfnisse  nicht 
nöthiger  Barschaft  leicht  zu  leichtsinnigen  Geldausgaben  verleitet  werden. 

Wir  begegnen  weiter  im  Gesetzentwurfe  einer  Reihe  von  Bestimmungen  in 
Betreff  der  Heuer,  welche  im  Interesse  des  Scbiffsmannes  getroffen  sind.  Vor 
Antritt  der  Reise  hat  der  Schiffer  ein  Abrechnungsbuch  anzulegen,  in  welches 
alle  Zahlungen  einzutragen  und  in  welchem  diese  vom  Schiffsmanne  zu  quittieren 
sind.  Ausserdem  erhält  aber  der  Schiffsmann  ein  Zahlungsbuch,  in  welchem  der 
Schiffer  jede  Zahlung  bescheinigt.  Wenn  die  Zahl  der  Mannschaft,  welche  zur 
Bedienung  des  Schiffes  und  der  Maschine  bestimmt  ist,  sich  während  der  Reise 
ausser  durch  Entweichung  verringert  und  nicht  wieder  ergänzt  wird,  so  kommen 
die  dadurch  ersparten  Heuerbeträge  den  dienstfähig  verbleibenden  Schiffsleuten 
derselben  Kategorie  zugute.  In  allen  Fällen,  in  welchen  ein  Schiff  länger  als 
zwei  Jahre  auswärts  verweilt,  tritt  in  Ermanglung  einer  anderweitigen  Abrede  für 
den  in  Dienst  befindlichen  Schiffsmann  eine  25proc.  Erhöhung  der  nach  Zeit 
bedungenen  Heuer  ein. 

In  den  §§  55 — 68  sind  die  Bestimmungen  in  Betreff  der  Unterkunft  und 
Beköstigung,  der  Verpflegung  und  Heilung  nach  Antritt  des  Dienstes  erkrankter 
Schiffsleute,  über  die  Rückbeförderungen  derselben,  die  Vorkehrungen  im  Falle 
des  Ablebens  von  Schiffsleuten  normiert  und  entsprechen  diese  Bestimmungen 
dem  humanen  Geiste  und  der  Fürsorge  für  den  wirtschaftlichen  Schwächeren, 
von  welchen  ein  modernes  Gesetz  ausgehen  soll.  Die  dem  Schiffsmanne  für  den 
Tag  mindestens  zu  verabreichenden  Speisen  und  Getränke,  die  Grösse  und  Ein- 
richtung des  ünterkunftsraumes  und  die  mindestens  mitzunehmenden  Heilmittel 
werden  im  Verordnungswege  bestimmt.  Wenn  bei  ungewöhnlich  langer  Dauer  der 
Reise  oder  wegen  eingetretener  Unfälle  eine  Kürzung  der  Rationen  oder  eine 
Aenderung  hinsichtlich  der  Wahl  der  Speisen  eintreten  muss,  muss  dies  im 
Schiffstagebuch   genau   verzeichnet   werden,    und    das   eventuell    hiedurch    erzielte 


I 


Die  österreichische  Seemannsordnung.  4;£3 

Ersparnis  wird  unter  die  Schiffsmannschaft  gleichmässig  vertheilt.  Wenn  die 
Mehrheit  der  Schiffsbemannung  in  Betreff  der  Seetüchtigkeit  des  Schiffes  oder 
wenn  ein  Drittel  davon  in  Betreff  der  Beköstigung  Beschwerde  führt,  so  hat  das 
Seemannsamt  darüber  eine  sorgfältige  Untersuchung  zu  pflegen. 

Die  Kosten  der  Verpflegung  und  Heilung  des  nach  Antritt  des  Dienstes 
erkrankten  Schiffsmannes  trägt  der  Eheder,  und  wenn  der  Schiffsmann  die  Eeise 
nicht  antritt  bis  zum  Ablauf  eines  Monates  seit  der  Erkrankung;  wenn  er  mit 
dem  Schiff  nach  einem  inländischen  Hafen  zurückkehrt,  bis  zum  Ablauf  von  drei 
Monaten  seit  der  Eückkehr  des  Schiffes;  wenn  die  Eückreise  nicht  in  einem 
inländischen  Hafen  endet,  bis  zum  Ablauf  von  sechs  Monaten  seit  der  Eückkehr 
des  Schiffes,  und  wenn  der  Schiffsmann  während  der  Eeise  am  Lande  zurück- 
gelassen werden  musste,  bis  zum  Ablaufe  von  sechs  Monaten  seit  der  Weiterreise 
des  Schiffes.  Dem  Schiffsmanne  gebürt,  falls  er  nicht  mit  dem  Schiffe  nach  dem 
Ausmusterungs-  oder  Heimatshafen  zurückkehrt,  freie  Zurückbeförderung  nach 
Wahl  des  Schiffers  nach  einem  dieser  Häfen.  Die  Kosten  der  Verpflegung, 
Heilung  und  etwaigen  Zurückbeförderung  sind  vom  Schiffer  in  sicherer  Weise  zu 
deponieren. 

§  61.  Die  Heuer  bezieht  der  erkrankte   oder  verwundete  Schiffsmann: 

wenn  er  die  Eeise  nicht  antritt,  bis  zur  Einstellung  des  Dienstes  ; 

wenn  er  die  Eeise  antritt  und  mit  dem  Schiffe  zurückkehrt,  bis  zur 
Beendigung  der  Eückreise,  wenn  er  während  der  Eeise  am  Lande  zurückgelassen 
werden  musste,  bis  zu  dem  Tage,  an  welchem  er  das  Schiff  verlässt.  Ist  der 
Schiffsmann  bei  der  Vertheidigung  des  Schiffes  in  Kriegsgefahr  oder  gegen 
Seeräuber  beschädigt,  so  hat  er  überdies  auf  eine  angemessene  Belohnung 
Anspruch,  über  welche  unter  Vorbehalt  des  Eechtsweges  das  Seemansamt  ent- 
scheidet. 

Die  Commission  des  Herrenhauses  hat  bei  Besprechung  dieser  Punkte  die 
Xothwendigkeit  der  baldigen  Vorlage  eines  Gesetzes  über  die  Unfallversicherung 
der  Seeleute  betont  und  wurde  von  der  Eegierung  die  Erklärung  abgegeben, 
dass  die  Ausarbeitung  eines  solchen  Gesetzes  sich  in  Vorbereitung  befinde. 

In  den  §§  68 — 75  w^erden  klare  Bestimmungen  über  die  Endigung  des 
Dienstvertrages  und  die  damit  verbundenen  Eechtsfolgen  normiert.  Insbesondere 
wird  dem  Schiffsmann  das  Eecht  zuerkannt,  seine  Entlassung  zu  fordern,  wenn 
sich  der  Schiffer  ihm  gegenüber  einer  schweren  Verletzung  seiner  Pflichten,  durch 
Misshandlung  oder  durch  grundlose  Vorenthaltung  von  Speise  und  Trank  schuldig 
gemacht  hat,  und  hat  derselbe  in  diesem  Falle  den  Anspruch  auf  die  im  §  270 
festgesetzte  Entschädigung,  Die  §§  76 — 81  regeln  in  präciser  Weise,  was  alles 
der  Anspruch  auf  Eückbeförderung  umfasst,  wie  im  Falle  die  Heuer  in  Bausch 
und  Bogen  zu  bemessen,  dieselbe  für  einen  nach  Zeit  gebürenden  Theil  derselben 
zu  bemessen  ist ;  wie  dieselbe,  wenn  sie  strittig  ist,  sichergestellt  ist,  endlich 
dass  der  Schiffer  den  Schiffsmann  im  Auslande  unter  keiner  Bedingung  während 
des  Bestandes  des  Heuervertrages  zurücklassen  darf. 

I  m  V.  A  b  s  c  h  n  i  1 1  e  ist  die  Verpflichtung  jedes  österreichischen  Seehandels- 
schiffes, welches  aus  einem  ausländischen  Hafen  nach  einem  inländischen  bestimmt 
ist,    normiert,    inländische    Seeleute,    welche    im    Auslande    im    hilfsbedürftigen 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitilc  und  Verwaltung.  X.  Band,  28 


414  Millanich. 

Zustande  sich  befinden,  behufs  Zurückbeförderuug  in  das  Inland  auf  schriftliche 
Anweisung  des  Seemannsamtes  gegen  eine  im  Verordnungswege  festzustellende 
Entscheidung  nach  seinen  Bestimmungshafen  mitzunehmen,  ausser  wenn  die 
Mitnahme  aus  den  im  §  84  specificierten  gerechtfertigten  Gründen  verweigert 
werden  kann. 

Der  VI.  Abschnitt  behandelt  die  Schiffsdisciplin,  der  VII.  die  geringen 
strafbaren  Handlungen  (seepolizeiliche  Uebertretungen)  der  VIII.  Abschnitt  die 
schweren  Vergehungen  (Seereate). 

Die  Disciplinargewalt  steht  dem  Schiffer  zu  und  muss  sich  naturgemäss  nicht 
bloss  auf  die  Schiffsmannschaft,  sondern  auch  auf  die  Reisenden  erstrecken,  sie 
umfasst  auch  eine  Strafgewalt,  weil  die  Disciplinargew'alt  eines  Schiffers  nur  dann 
edn  entsprechenden  Effect  haben  kann,  wenn  er  die  ihm  unterstehenden  Personen 
sofort  zur  Verantwortung  ziehen  darf  und  nicht  erst  abwarten  muss,  bis  ein 
Seemannsamt  einzuschreiten  in    der  Lage  ist. 

In  Betreff  der  Disciplinarstrafen  —  für  S  chi  f  f  s  o  ff  i  ci  e  r  e  und 
S  chif  f  sunterofficiere.  1.  Bordarrest  bis  zu  8  Tagen,  Cabinenarrest  bis 
zu  4  Tagen,  2.  Geldbussen  bis  zum  Betrage  einer  Monatsheuer,  im  Wiederholungs- 
falle bis  zu  2  Monatsheuern;  für  die  sonstige  Mannschaft:  1.  massige 
Erschwerung  des  Dienstes,  2.  Geldbussen  wie  für  Officiere  und  Unterofficiere  — 
kann  man  es  nur  billigen,  wenn  von  der  nach  der  deutschen  Seemannsordnung 
zulässigen  Strafe  der  Kostschmälerung  abgesehen  wurde.  Der  Schiffsmann  muss 
für  den  schweren  Seemannsdienst  immer  in  einem  kräftigen  Zustande  erhalten 
werden  und  ist  deshalb  eine  Schmälerung  seiner  Kost  unter  keinem  Umständen 
angezeigt. 

Die  im  VII.  Abschnitte  behandelten  Seepolizeiübertretungen  sind 
Vergehungen  geringeren  Grades,  welche  sofern  dieselben  nicht  strafgerichtlich  zu 
ahnden  sind,  der  Judicatur  des  Seemannsamtes  unterliegen.  Als  solche  sind 
insbesondere  in  Betreff  des  Schiffsmannes  hervorgehoben :  die  Entweichung,  die 
unbefugte  Abwesenheit  vom  Schiffe,  uncorrecte  Angaben  bei  der  Musterung, 
Weigerung,  bei  der  Verklarung  mitzuwirken,  auf  unwahre  Behauptungen  gestützte 
Beschwerden  über  Seeuntüchtigkeit  des  Schiffes ;  in  Betreff  des  Schiffers :  Miss- 
brauch der  Disciplinargewalt,  ungenügende  Verproviantierung  des  Schiffes, 
Uncorrectheiten  in  Betreff  der  Musterung  u.  dgl.  Diese  Vergehungen  werden  alle 
mit  Geldstrafen  geahndet. 

Die  im  VIII.  Abschnitte  behandelten  Seereate  sind  schwerere 
Vergehungen,  welche  mit  der  Schiffsdisciplin  und  mit  sonstigen  Bestimmungen 
der  Seeemannsordnung  im  engen  Zusammenhange  stehen.  Sie  unterliegen  der 
Judicatur  der  ordentlichen  Strafgerichte,  sind  theils  als  Verbrechen,  theils  als 
Vergehen,  theils  als  Uebertretungen  bezeichnet,  mit  Kerker,  strengem  rücksichtlich 
einfachem  Arrest  bedroht,  und  haben  zum  Gegenstande  die  Auflehnung  gegen 
die  Vorgesetzten  mit  Gewalt  oder  nach  vorausgegangener  Verabredung,  ferner 
den  böswilligen  Missbrauch  der  Disciplinargewalt,  die  die  Gesundheit  oder  das 
Leben  von  Personen  gefährdende  mangelhafte  Verproviantierung,  die  Vernach- 
lässigung der  Vorschriften  zur  Verhütung  von  Zusammenstössen  von  Schiffen 
auf  See,   zur   Hilfeleistung  in   Seenoth    oder    in    Bezug    auf   Noth-    und    Lotsen- 


fl 


Die  österreichische  Seemannsordnung.  415 

Signale,  wenn  hiedurch  ein  Schaden  an  Schiff  oder  Gut  eingetreten  ist.  Bei 
diesem  Abschnitte  hat  die  Specialcommission  des  Herrenhauses  einige  erheblichere 
Aenderungen  an  der  Regierungsvorlage  vorgenommen,  um  die  betreffenden  Bestim- 
mungen mit  dem  derzeit  geltenden  Strafgesetze  besser  in  Einklang  zu  bringen. 
Hiebei  kamen  nicht  wie  bei  den  übrigen  Bestimmungen  materiellen  Inhaltes 
Rücksichten  auf  die  zwischen  den  bei  den  Regierungen  getroffenen  Vereinbarungen 
in  Frage,  nachdem  jedem  der  beiden  Ländergebiete  vorbehalten  bleibt,  diese 
Materie  im  Einklänge  mit  der  eigenen  besonderen   Strafgesetzgebung    zu    regeln. 

Der  IX.  Abschnitt  des  Gesetzentwurfes  regelt  das  Verfahren.  In 
administrativen  Angelegenheiten  ist  das  Seemannsamt  die  erste,  die  Seebehörde 
die  zweite,  das  Handelsministerium  die  oberste  Instanz. 

Die  Beschwerden  gegen  disciplinäre  Verfügungen  und  Strafverhängungen 
sind  bei  dem  Seemannsamte,  welches  zunächst  angegangen  werden  kann,  vor- 
zubringen ;  sie  hemmen  indessen  nicht  die  Ausführung  und  den  Vollzug  der 
Strafen,  weil  sonst  die  Disciplinargewalt  des  Schiffers  oft  illusorisch  oder  sehr 
wenig  M'irkungsvoU  bleiben  würde. 

Eine  sehr  zweckmässige  schon  derzeit  vielfach  in  Uebung  stehende  Bestim- 
mung ist  im  §  134  in  Ansehung  auch  von  contractlicheu  Differenzen  zwischen 
Schiffer  und  Schiffsmann  getroffen.  Das  Seeamtsamt  hat  diesfalls  vorerst  einen 
gütlichen  Ausgleich  zwischen  den  Parteien  zu  versuchen ;  bleibt  dieser  Versuch 
erfolglos,  so  hat  das  Seemannsamt  die  Entscheidung  zu  fällen,  welche  vorläufig 
vollstreckbar  ist,  jedoch  die  Betretung  des  Rechtsweges  nicht  ausschliesst.  Die 
Parteien  können  sich  auch  einverständlich  dem  Schiedssprüche  des  Seemanns- 
amtes unterwerfen.  Eine  ähnliche  in  Uebung  befindliche  Intervention  unserer 
Seemannsämter  hat  sich  vortrefflich  bewährt.  Die  österreichischen  Seemannsämter 
—  man  kann  dies  ihnen  zum  Lobe  nachsagen  —  functionieren  sehr  gut,  stehen 
bei  den  Schiffsleuten  in  grossem  Ansehen  und  geniessen  das  Vertrauen  derselben. 
Durch  die  oben  erwähnte  Procedur  werden  Streitigkeiten  raschestens  und  kostenlos 
geschlichtet  und  in  den  seltensten  Fällen  kommt  es  vor,  dass  Parteien  sich 
diesfalls  an  die  ordentlichen  Gerichte  wenden,  was  ihnen  auch  nun  unbenommen 
bleiben  wird. 

üeberblickt  man  die  Bestimmungen  des  in  Rede  stehenden  Gesetzentwurfes, 
so  muss  man  anerkennen,  dass  dieselben  zweckmässig  sind,  und  auf  einer 
genauen  Kenntnis  auch  der  localen  Bedürfnisse  und  sonstigen  Verhältnisse 
beruhen.  Wenn  auch  hie  und  da  in  nicht  wesentlichen  Punkten  in  der  Special- 
Kommission  Wünsche  aufgetaucht  sind,  die  zurückgestellt  wurden,  so  kann  dies 
gewiss  nur  gebilligt  werden,  da  wenn  solchen  Wünschen  hätte  Rechnung  getragen 
werden  wollen,  neue  Verhandlungen  mit  der  ungarischen  Regierung  hätten 
gepflogen  werden  müssen,  und  das  Zustandekommen  des  so  sehnlich  erwarteten 
Gesetzes  ad  calendas  graecas  verschoben  worden  wäre.  Es  ist  nun  nur  zu 
wünschen,  dass  dasselbe  auch  im  Abgeordnetenhause  bald  der  Beschlussfassung 
und  entsprechenden  Erledigung  zugeführt  werde  und  auf  einem  wichtigen  Gebiete 
unseres  Verkehrswesens  die  unabweisbare  und  dringliche  Reform  zur  Aus- 
führung gelange. 


28* 


ÜBER  DAS  GESETZ  VOM  8.  JULI  1901,  R.-G.-B.  N^^-  86, 

BETREPF-END  DIE 

ERHÖHUNG  DER  B RAN TWE INABGABE   UND  ZUWENDUNG 
EINES  THEILES  DES  ERTRAGES  DIESER  ABGABE  AN 

DIE  LANDESFONDE 

DER  IM 

REICHSBATHE  VERTRETENEN  KÖNIGREICHE  UND  LÄNDER. 

vos 
EDMUND  BEENATZKY, 

K.  K.  MINISTERIALRATH  IM   FINANZMINISTERIUM. 


Zu  den  Haupteinnahmsquellen  der  Landesfonde  zählen  neben  den  Zuschlägen 
zu  den  directen  Steuern  die  Zuschläge  zu  der  Wein-  und  Fleischsteuer,  sowie 
die  selbständigen  Auflagen  auf  Bier  und  gebrannte  Flüssigkeiten.  Die  Einhebung 
der  Zuschläge  zur  Wein-  und  Fleischsteuer  geschieht  durch  dieselben  Organe 
gleichzeitig  mit  der  Stammsteuer,  daher  kostenlos.  Ganz  anders  verhält  es  sich 
dagegen  bei  den  Landesumlangen  auf  Bier  und  gebrannte  geistige  Flüssigkeiten. 
Diese  können,  sollen  Production  und  Handel  nicht  getroffen  werden,  nur  als 
selbständige  Auflagen,  als  Kleinverschleissabgaben,  im  Wege  der  Abfindung,  Ver- 
pachtung oder  der  eigenen  Eegie  zur  Einhebung  gelangen.  Bei  der  abfindungs- 
oder  pachtweisen  Einhebung  wird  naturgemäss  der  Steuergegenstand  nicht  voll 
erfasst  und  ergibt  sich  für  den  betreffenden  Landesfond  ein  nicht  unbeträcht- 
licher Entgang. 

So  erzielte  beispielsweise  Salzburg  bei  einem  Consum  von  jährlich  rund 
6000  Hektoliter  Alkohol  und  einer  Auflage  von  6  Kronen  per  Hektoliter  gebrannter 
geistiger  Flüssigkeit  in  den  Jahren  1896  bis  1899  einen  Maximal-Nettoertrag 
von  nur  14.210  Kronen  und  Galizien  bei  einem  Consum  von  rund  305.000  Hekto- 
liter Alkohol  und  einem  Auflagesatze  von  6  Heller  per  Hektolitergrad  Alkohol  einen 
solchen  von  nur  986.406  Kronen.  Die  regiemässige  Einhebung  dagegen  ist,  wenn  sie, 
wie  z.  B.  in  Krain,  stricte  durchgeführt  wird,  mit  einer  einschneidenden  Belästigung 
der  Steuerpflichtigen  und  mit  hohen  Kosten  verbunden. 

Bis  zur  Erlassung  des  den  Gegenstand  dieser  Erörterung  bildenden  Gesetzes 
bestanden  auf  gebrannte  geistige  Flüssigkeiten  in  den  meisten  Ländern  — 
Böhmen,  Mähren,  Schlesien,  Ober-  und  Niederösterreich,  dann  Vorarlberg  aus- 
genommen —  selbständige  Auflagen  auf  gebrannte  geistige  Flüssigkeiten  in 
verschiedenem  Ausmaasse.  So  wurden  für  nicht  versüsste  Brantweine  eingehoben 
in    Galizien    und    in    der    Bukowina   6    Heller,    in    Tirol    14   Heller,   in   Kärnten 


I 


Ueber  das  Gesetz  vom  8.  Juli  1901,  E.-G.-B.  Nr.  86  etc.  417 

24  Heller,  in  Steiermark  30  Heller,  in  Krain  60  Heller  und  in  Triest  70  Heller 
per  Hektolitergrad  Alkohol,  in  Dalmatien,  Salzburg,  Görz  und  Gradiska  und 
Istrien  dagegen  ohne  Eücksicht  auf  die  Gradhältigkeit  6,  36  und  207  Heller  per 
Liter  Brantwein;  versüsste  Brantweine  und  Liqueure  wurden  etwas  höher  belastet, 
als   es    der   zu   ihrer   Herstellung   verwendeten   Alkoholmenge    entsprechen   würde. 

Zweifelsohne  wären  bei  der  notorischen  Finanznoth  der  Landesfonde  auch  die 
übrigen  Länder  in  kürzester  Zeit  zur  Einführung  dieser  Auflage  gezwungen  werden. 

Im  Hinblick  auf  diese  Verhältnisse  entschloss  sich  die  Kegierung  schon 
im  Jahre  1898  anlässlich  der  damals  geplanten  40  bis  50proc.  Erhöhung  der 
Bier-  und  Brantweinsteuer  zu  einer  Hilfsaction  für  die  Länder,  indem  sie  dem 
damaligen  Abgeordnetenhause  einen  Gesetzentwurf  unterbreitete,  demzufolge  den 
Ländern  aus  dem  Ertrage  der  zu  erhöhenden  Bier-  und  Brantweinsteuer  der 
Theilbetrag  von  IOV2  Millionen  Gulden  (=  21  Millionen  Kronen)  vorläufig  bis 
Ende  1909  alljährlich  jedoch  nur  unter  der  Bedingung  überwiesen  werden  sollte, 
dass  die  Länder  auf  die  weitere  Einhebung  der  bisherigen,  den  Verkehr  empfindlich 
belästigenden,  dabei  aber  relativ  hohe  Einhebungskosten  erfordernden  selbständigen 
Auflagen  auf  den  Verbrauch  von  Bier  und  gebrannten  geistigen  Flüssigkeiten 
verzichten. 

Die  Zuweisung  sollte  nach  einem  fixen  Schlüssel,  welcher  auf  Grund  der  nach 
dem  Consum  von  Bier  und  Brantwein  entfallenden  Staatssteuer  berechnet  wurde, 
erfolgen,  wobei  jedoch  jenen  5  Ländern,  welche  aus  den  bisher  eingehobenen 
selbständigen  Auflagen  auf  Bier  und  gebrannte  geistige  Flüssigkeiten  einen 
höheren  als  nach  diesem  Schlüssel  entfallenden  Nettoertrag  gehabt  hatten,  der 
ungeschmälerte  bisherige,  dabei  kostenlose  Ertrag  gesichert  bleiben  sollte.  Auch 
eine  wesentliche  Steigerung  des  staatlichen  Abgabeertrages  sollte  den  Ländern 
zugute  kommen,  denn  der  Gesetzentwurf  bestimmte,  dass,  wenn  der  Gesammt- 
bruttoertrag  der  Bier-  und  Brantweinsteuer  98  Millionen  Gulden  übersteigen 
sollte,  15  Proc.  des  Ueberschusses  verhältnismässig  auf  die  Länder  aufzutheilen 
seien.  Nach  den  Ausführungen  des  Motivenberichtes  fasste  die  Regierung  die 
Zuwendung  eines  Theiles  der  erhöhten  Bier-  und  Brantweinsteuer  an  die  Landes- 
fonde stets  nur  als  eine  Fortsetzung  der  mit  der  Personalsteuerreform  begonnenen 
Action  zur  Sanierung  der  nothleidenden  Landesfinanzen  auf  und  liess  von  dieser 
Hilfsaction  auch  dann  nicht  ab,  als  die  bezügliche  Regierungsvorlage  infolge  des 
Fallenlassens  der  geplanten  Bier-  und  Brantweinsteuererhöhung  gar  nicht  in 
Verhandlung  genommen  wurde. 

Da  aber  der  Weg  der  Reichsgesetzgebung  unter  den  ungünstigen  parlamen- 
tarischen Verhältnissen  gänzlich  ungangbar  war,  sollte,  um  baldigst  zum  Ziele 
zu  gelangen,  der  in  dem  gegebenen  Falle  technisch  weit  schwierigere  Weg  der 
Landesgesetzgebung  betreten  werden. 

Zu  diesem  Ende  wurde  sämmtlichen  Landtagen  gleichzeitig  eine  Regierungs- 
vorlage, betreffend  die  Einführung  eines  Zuschlages  zur  staatlichen  Brantwein- 
abgabe,  unterbreitet,  welcher  von  den  staatlichen  Organen  gleichzeitig  mit  der 
staatlichen  Brantweinabgabe  eingehoben  werden  sollte. 

Die  aus  dem  Auslande  eingeführten  gebrannten  geistigen  Flüssigkeiten  sollten 
bei  der  Verzollung  von  dem  Zuschlage  getroffen  werden,  während  die  aus  Ungarn, 


418  Bernatzky. 

Bosnien  und  Herzegowina  eingeführten  gebrannten  geistigen  Flüssigkeiten,  welche 
ohnehin  dem  reichsgesetzlich  geregelten  sogenannten  Uebergangsverfahren  unter- 
liegen, mit  einem  Zuschlagsäquivalente  belegt  worden  wären. 

Selbstverständlich  musste  in  den  bezüglichen  Landesgesetzen  auch  dafür 
Vorsorge  getroffen  werden,  dass  der  Zuschlag  für  die  ausserhalb  der  im  Eeichs- 
rathe  vertretenen  Königreiche  und  Länder  abgesetzten  gebrannten  geistigen  Flüssig- 
keiten   entweder    nicht    eingehoben    oder    restituiert  wird. 

Schon  die  aus  diesem  Anlasse  nothwendige  Controle  hätte  den  Handels- 
verkehr nicht  unwesentlich  belastet. 

Der  Gesammtertrag  des  in  allen  Ländern  eingehobenen  Zuschlages  sollte  nach 
dem  Consumschlüssel  auf  die  einzelnen  Länder  aufgetheilt  werden.  Der  Auftheilungs- 
schlüssel  war  jedoch  nur  für  die  ersten  drei  Jahre  fix,  während  für  die  folgenden 
Triennien  eine  auf  Grund  des  zu  ermittelnden  Brantweinconsumes  jedes  Landes  vorzu- 
nehmende Revision  geplant  M'ar  und  zu  diesem  Zwecke  jeder  Versender  solcher  Flüssig- 
keiten verpflichtet  werden  sollte,  jede  Versendung  von  gebrannten  geistigen  Flüssig- 
keiten von  mehr  als  einem  Liter  aus  einem  Lande  in  ein  anderes  der  zuständigen 
Finanzwachabtheilung  anzuzeigen.  Dabei  sollte  den  Ländern  Steiermark,  Kärnten 
und  Krain,  in  welchen  die  Zuweisung  den  Ertrag  aus  der  bisherigen  Landes- 
auflage nicht  erreicht  hätte,  das  Recht  gewahrt  bleiben,  die  bisherigen  Landes- 
auflagen, wenn  auch  in  entsprechend  reduciertem  Maasse,  weiter  einzuheben. 

Von  besonderer  Bedeutung  für  die  ganze  Action  war  die  Bedingung,  von 
deren  Erfüllung  von  allem  Anfange  an  die  Regierung  das  Zustandekommen  der 
ganzen  Action  abhängig  machte,  bezw.  abhängig  machen  musste.  Die  geplante 
Einhebung  des  Zuschlages  zur  staatlichen  Brantweinabgabe  durch  die  staatlichen 
Organe  war  nämlich  ohne  gleichzeitige  Einführung  einer  förmlichen  Steuerlinie 
zwischen  den  einzelnen  Ländern  nur  dann  möglich,  wenn  dieser  Zuschlag  in 
allen  Ländern  und  in  gleicher  Höhe  eingeführt  wird,  und  es  war  daher  das 
Zustandekommen  der  ganzen  Action  von  der  Uebereinstimmung  der  Beschlüsse 
aller  Landtage  abhängig.  Da  diese  Uebereinstimmung  nicht  zustande  kam,  war 
auch  diese  neuerliche  Action  als  gescheitert  zu  betrachten. 

Erwähnt  muss  noch  werden,  dass  es  auch  an  Stimmen  nicht  fehlte,  welche 
namentlich  mit  Rücksicht  auf  den  Wortlaut  des  §  11  lit.  c  des  Staatsgrund- 
gesetzes vom  21.  December  1867,  R.-G.-Bl.  Nr.  141,  Bedenken  verfassungs- 
rechtlicher Natur  gegen  die  geplante  Einführung  des  Zuschlages  erhoben. 

Diese  Bedenken  dürften  jedoch  nicht  begründet  gewesen  sein,  weil  der 
§11  lit.  c  des  Staatsgrundgesetzes  nur  dahin  verstanden  werden  kann,  dass  die 
Steuergesetzgebung  nur  insoweit  dem  Reichsrathe  zusteht,  als  es  sich  um  legislative 
Acte  auf  dem  Gebiete  der  staatlichen  Besteuerung  handelt,  wogegen  das  Besteuerungs- 
recht für  Landeszwecke,  und  um  ein  solches  handelt  es  sich  im  vorliegenden  Falle, 
den  Landtagen  zukommen  muss.  Dies  geht  auch  aus  dem  Wortlaute  der  verschiedenen 
Landesordnungen  hervor,  welche  deutlich  und  ausdrücklich  den  Landtagen  das  Recht 
der  Besteuerung  für  Landeszwecke,  sowie  das  Recht  für  Landeszwecke  Zuschläge 
zu  den  directen  Steuern  oder  sonstige  Landesumlagen  zu  beschliessen,  einräumen. 

Die  Regierung  liess  sich  jedoch  auch  durch  dieses  neuerliche  Fehlschlagen 
der  Action    in    ihrer  Sorge    um    die  nothleidenden  Landesfinanzen    nicht  beirren 


Ueber  das  Gesetz  vom  8.  Juli  1901,  R.-G.-B.  Nr.  86  etc.  419 

und  beeilte  sich,  wieder  auf  den  Weg  der  Keichsgesetzgebung  zurückkehrend, 
dem  mittlerweile  zusammengetretenen  Eeichsrathe  die  nunmehr  Gesetz  gewordene 
Vorlage,  betreffend  die  Erhöhung  der  Brantweinabgabe  und  Zuwendung  eines 
Theiles  des  Ertrages  dieser  Abgabe  an   die  Landesfonde,  zu  unterbreiten. 

Durch  dieses  Gesetz  wird  das  Ausmaass  der  Brantweinabgabe  um  20  Heller 
per  Hektolitergrad  (Liter)  Alkohol  mit  der  Wirksamkeit  vom  1.  September  1901 
erhöht  und  die  auf  diesen  Theilbetrag  von  20  Heller  per  Liter  Alkohol  ent- 
fallende Quote  des  gesammten  Brantweinsteuerertrages,  welche  mit  19"2  Millionen 
Kronen  veranschlagt  wird,  jenen  Landesfonden  vorläufig  bis  Ende  1909  über- 
wiesen, welche  während  der  Wirksamkeit  des  Gesetzes  wie  immer  benannte 
Landesauflagen  auf  gebrannte  geistige  Flüssigkeiten  nicht  einheben.  Die  aus  der 
Nachversteuerung  sich  ergebende  Einnahme  soll  gleichfalls  den  Landesfonden 
zugute  kommen. 

Die  Vertheilung  des  Ueberweisungsbetrages  an  die  Länder  erfolgt  auch 
nach  diesem  Gesetze  im  Principe  nach  dem  unter  den  gegebenen  Verhältnissen 
nur  allein  möglichen  Consumschlüssel. 

Die  Festsetzung  dieses  Schlüssels  war  mangels  einer  amtlichen  Statistik 
über  den  Landesconsum  an  gebrannten  geistigen  Flüssigkeiten  nicht  leicht. 

Schon  seit  Mitte  der  90  er  Jahre  wurde  aus  Anlass  einer  Resolution  des 
Abgeordnetenhauses  durch  eingehende  Erhebungen  der  Finanzorgane  bei  den 
Steuerpflichtigen,  den  Grosshändlern,  Liqueurfabrikanten,  dann  durch  Umfragen 
bei  den  Transportanstalten  fortlaufend  sichergestellt,  welche  Mengen  von  gebrannten 
geistigen  Flüssigkeiten  aus  jedem  Lande  in  die  anderen  Länder,  bezw.  ins  Ausland 
weggebracht  und  welche  Mengen  andererseits  in  jedes  Land  eingebracht  werden. 
Die  in  jedem  Lande  versteuerten  Mengen  Brantweines  mehr  den  eingebrachten 
und    abzüglich    der   weggebrachten    ergaben    sodann    den   Consum  jedes  Landes. 

Wenngleich  diese  Art  der  Erhebung  des  Consumes  nicht  Anspruch  auf 
unbedingte  Vollständigkeit  machen  kann,  so  bietet  doch  der  Durchschnitt  dieser 
durch  Jahre  hindurch  ermittelten  Consummengen  die  Gewähr  der  unter  den 
gegebenen  Verhältnissen  überhaupt  erreichbaren  Richtigkeit,  und  ist  die  Feststellung 
fixer  Procentsätze  für  die  Länderantheile  unbedingt  der  früher  geplanten  drei- 
jährigen Revision  des  Schlüssels  und  der  damit  verbundenen "  Belästigung  des 
Handelsverkehres  vorzuziehen.  Würde  jedoch  der  den  Ländern  zukommende  Antheil 
an  der  erhöhten  Brantweinabgabe  lediglich  nach  diesem  Schlüssel  aufgetheilt 
werden,  so  wären  jene  Länder,  welche  bisher  schon  eine  unverhältnismässig  hohe 
Landesauflage  eingehoben  haben,  wie  Krain,  Kärnten  und  Steiermark,  bei  der 
Auftheilung  insofern  schlecht  weggekommen,  als  für  sie  die  ganze  Action  eine 
Verringerung  der  Landeseinnahmen  bedeutet  hätte.  Bei  der  beabsichtigten  Ein- 
führung eines  Zuschlages  zur  Brantweinsteuer  im  Wege  der  Landesgeset;gebung 
konnte  der  Schwierigkeit  nur  dadurch  begegnet  werden,  dass  den  genannten  drei 
Ländern  eine  Ausnahme  von  dem  sonst  geforderten  Verzichte  auf  die  Einhebung 
selbständiger  Landesauflagen  auf  Brantwein  concediert  wurde. 

Nachdem  es  sich  dagegen  bei  der  geänderten  Form  der  Action  nicht  mehr 
um  die  Schaffung  unmittelbarer  Einnahmen  der  Länder,  sondern  um  die  Dotierung 
der  Landesfonde    aus    Staatsmitteln    handelte,    konnte    die  Forderung  nach   eine 


420  Bernatzky. 

ausnahmslosen  Aufhebung  der  Landesauflagen  auf  gebrannte  geistige  Flüssigkeiten 
wieder  gestellt  und  die  mehrgenannten  Länder  gegen  einen  Ausfall  der  Einnahmen, 
welcher  bei  Steiermark  240.903,  bei  Kärnten  66.128  und  bei  Krain  sogar 
545.318  Kronen  betragen  hätte,  dadurch  geschützt  werden,  dass  der  auf  dem 
Brantweinconsum  aufgebaute  Vertheilungsschlüssel  zu  Gunsten  dieser  Länder  so 
corrigiert  w^urde,  dass  sich  ein  Ausfall  nicht  ergab. 

Bezüglich  der  präcipualen  Vortheile  dieser  drei  Länder  war  ursprünglich  in  der 
Eegierungsvorlage  eine  Art  Aufsaugungsprocess  in  der  Art  vorgesehen  gewesen,  dass 
die  im  Falle  eines  Anwachsens  des  Brantweinsteuerertrages  und  damit  der  Gesammt- 
überweisung  auf  Steiermark,  Kärnten  und  Krain  entfallenden  Mehrbeträge  auf  Rechnung 
der  diesen  Ländern  zugestandenen  Präcipuen  hätten  in  Abschlag  gebracht  werden  sollen 
und  hiedurch  eine  allmähliche  Beseitigung  dieser  Präcipuen  angebahnt  worden  wäre. 

Der  Ausschuss  des  Abgeordnetenhauses  hat  indes  über  Andringen  der 
Vertreter  der  betreffenden  Länder  zu  Gunsten  der  letzteren  diese  Zusatzbestimmung 
eliminiert,  so  dass  also  auch  diese  Länder  an  einer  allfälligen  Steigerung  des 
Brantweinsteuerertrages  sofort  nach  Maassgabe  ihres  im  Gesetze  festgestellten 
Percentualschlüssels  theilnehmen  werden.  Die  Regierung  hatte  dieser  Modification 
ihrer  Vorlage  bereitwillig  zugestimmt. 

Die  Regierung  war  sich,  wie  aus  dem  Motivenberichte  zu  entnehmen  ist. 
bei  der  Abfassung  dieses  in  seiner  Art  neuen  Gesetzes  gar  wohl  bewusst,  dass 
die  Sanierung  der  Landesfinanzen  auf  die  Dauer  keinesfalls  dutcli  eine  systemlose 
und  stückweise  Ueberlassung  eines  Theiles  des  Ertrages  einzelner  directer  oder 
indirecter  Steuern  erreicht  werden  könne,  dass  eine  solche  Sanierung  vielmehr 
eine  allerdings  nur  allmählich  durchführbare  organische  Ausgestaltung  und  eine 
principielle  Theilung  der  für  den  Staat  und  die  Länder  gemeinsamen  Hilfsquellen 
erfordere.  Sie  hat  daher,  um  einer  solchen  künftigen  organischen  Ausgestaltung 
nicht  den  Weg  zu  verlegen,  die  durch  die  augenblickliche  Sachlage  gebotene 
Zuweisung  eines  Theiles  des  Ertrages  der  erhöhten  Brantweinabgabe  zeitlich  so 
begrenzt,  dass  der  Ablauftermin  dieser  Ueberweisung  mit  jenem  der  den  Ländern 
kraft  der  Art.  IX  bis  XIII  der  Einführungsbestimmungen  zu  dem  Gesetze  vom 
25.  October  1896,  R.-G.-Bl.  Nr.  225,  gebürenden  Zuwendung  zusammenfällt. 

Durch  die  ganze  Action  wird  zwar  eine  vollständige  Sanierung  der  Landes- 
finanzen nicht  erzielt,  es  ist  jedoch,  wie  aus  der  Regierungsvorlage  zu  entnehmen 
ist,  für  die  Länder  als  jährlicher  Gesammtantheil  an  der  erhöhten  Brantwein- 
abgabe, der  immerhin  ansehnliche  Betrag  von  19*2  Millionen  Kronen  zu  gewärtigen. 

Hinsichtlich  des  Effectes  dieser  Zuwendung  in  den  einzelnen  Ländern 
müssen  drei  Gruppen  unterschieden  werden. 

Für  die  erste  Gruppe,  welche  die  Länder  Böhmen,  Mähren,  Schlesien, 
Oberösterreich,  Niederösterreich,  Triest  und  Vorarlberg  umfasst,  bedeutet  die 
Ueberweisung  die  Erschliessung  einer  neuen  Einnahmsquelle,  weil  in  diesen  Ländern 
Landesauflagen  auf  gebrannte  geistige  Flüssigkeiten  nicht  bestanden.  Für  Triest 
allerdings  bedeutet  die  Zuweisung  mit  Rücksicht  auf  die  Identität  von  Gemeinde- 
und  Landesverwaltung  nicht  mehr  eine  reine  Einnahme,  doch  wird  die  Ueber- 
weisungsquote  den  durch  die  geforderte  Herabsetzung  des  Gemeindezuschlages 
zu  gewärtigenden  Einnahmeausfall  voraussichtlich  übersteigen. 


Ueber  das  Gesetz  vom  8.  Juli  1901,  R.-G.-B.  Nr.  86  etc. 


421 


Der  zweiten  Gruppe,  zu  welcher  die  Bukowina,  Dalmatien,  Galizien,  Görz  und 
Gradiska,  Istrien,  Salzburg  und  Tirol  zu  rechnen  sind,  bringt  zwar  die  Action  gleich- 
falls eine  effective  Steigerung  der  Landeseinkünfte,  jedoch  nicht  um  das  volle  Aus- 
maass  des  zu  gewärtigenden  Ueberweisungsantheiles,  weil  dieser  Zuwendung  der 
Verzicht  auf  die  bisherige,  den  künftigen  Ueberweisungsantheil  allerdings  nicht 
erreichende  Einnahmsquelle,  nämlich  die  selbständige  Auflage  auf  gebrannte 
geistige  Flüssigkeiten,  gegenübersteht. 

Die  Länder  Steiermark,  Kärnten  und  Krain  ■  endlich  bilden  die  dritte 
Gruppe.  Diesen  Ländern  soll  durch  die  üeberweisung^  wie  schon  erwähnt  wurde, 
wenigstens  vorläufig  nur  der  bisherige  Keinertrag  der  bisher  bestandenen  aller- 
dings sehr  hohen  und  mit  1.  September  1901  eingestellten  selbständigen 
Landesauflagen  auf  Brantwein  sichergestellt  werden,  so  dass  die  Ueberweisungs- 
action  rücksichtlich  dieser  Ländergruppe,  insolange  die  Gesammtüberweisung  den 
in  der  Regierungsvorlage  präliminierten  jährlichen  Betrag  von  19  2  Millionen 
Kronen  nicht   überschreitet,    die  Zuwendung  einer  Mehrein  nähme    nicht   bedeutet. 

Zur  leichteren  Uebersicht  wird  eine  Tabelle  angeschlossen,  aus  welcher  für  jedes 
Land  die  Daten  über  die  Grösse  der  Bevölkerung,  des  Brantweinconsums  und  der  bis- 
herigen Netto-Einnahme  aus  der  Landesauflage  aufgebrannte  geistige  Flüssigkeiten 
zu  entnehmen  sind.  Zugleich  enthält  diese  Tabelle  eine  Nebeneinanderstellung  der 
Zuweisungen  nach  der  früheren  in  den  Landtagen  eingebrachten  Regierungsvorlage 
und  dem  gegenwärtigen  Gesetze. 

Uebensichts -Tabelle. 


Länder 


Einwohner- 
zahl nach 
der  Volks- 
zählung 
1890 


Brantwein- 

Consum  in 

Hektoliter 

Alkohol 


Bisheriger 

grösster 
Nettoertrag 
der  Landes- 
auflage   auf 
Brantwein 
in  Kronen 


Auftheilung  der 

präliminierten 

19,200.000  JT  nach 


der  den 
Landtagen 
vorgelegten 
Regierungs- 
vorlage 


dem  gegen- 
ständlichen 
Gesetze 


Böhmen 

Dalmatien 

Galizien 

Niederösterreich    .    . 
Oberösterreich   .    .    . 

Salzburg 

Steiermark      .    .    .    . 

Kärnten 

Krain 

Bukowina 

Mähren    .- 

Schlesien 

Tirol 

Vorarlberg      .    .    .    . 

Istrien 

Görz  und  Gradiska  . 
Triest  sammt  Gebiet 


5,843.094 
527.426 

6,607.816 

2,661.799 
785.831 
173.510 

1,282.708 
361.008 
498.958 
646.591 

2,276.870 
605.649 
812.696 
116.073 
317.610 
220.308 
157.466 


202.455 

5.661 

305.088 

115.892 

9.851 

6.116 

35.173 

27.428 

17.266 

38.895 

169  882 

57.145 

24.539 

2.223 

3  463 

3.486 

5.058 


27.839 
986.406 


14.210 
900.000 
580.000 
868.861 
192.000 


272.964 

13.370 
50.000 


3,793.749 

106.080 

5,716.961 

2,171.669 

184.595 

114.606 

659.097 

513.872 

323.543 

635.149 

.3,183.372 

1,070.825 

459.830 

41.656 

64.892 

65..323 

94.781 


3,611.096 

100.973 

5,441.713 

2,067.112 

175.708 

109.088 

900.000 

580.000 

868.861 

604.569 

3,030.106 

1,019.269 

437.691 

89.651 

61.768 

62.178 

90.217 


422  Bernatzky. 

Gesetz  vom  8.  Juli  1901,  betreffend  die  Erhöhung  der  Brantweinabgabe 
und  die  Zuweisung  eines  Theiles  des  Ertrages  dieser  Abgabe  an  die 
Landesfonde  der  im  Reichsrathe  vertretenen  Königreiche  und  Länder. 

Nr.  86   R.-G.-Bl. 

Artikel  I. 
Das  im  §  2  a  des  Gesetzes  über  die  Brantweinbesteuerung  vom  20.  Juni  1888, 
R.-G.-Bl.  Nr.  95,  festgesetzte  Ausmaass  der  Brantweinabgabe  wird  erhöht,  und 
zwar  jenes  der  Productionsabgabe  von  70  h  auf  90  h,  jenes  des  niedrigeren 
Satzes  der  Consumabgabe  von  70  h  auf  90  h  und  jenes  des  höheren  Satzes  der 
Consumabgabe  von  90  h  auf  \  KKi  h  für  jeden  Hektolitergrad  (Liter)  Alkohol. 
Dementsprechend  wird  die  Abgaberückvergütung  für  den  über  die  Zollinie  aus- 
geführten Brantwein,  auf  dem  die  Abgabe  nicht  haftet,  mit  45  h  per  Liter 
Alkohol  geleistet  und  ist  sowohl  der  Bemessung  des  Abgabepauschales  im  Falle 
der  Pauschalierung  nach  der  Leistungsfähigkeit  der  Brennvorrichtung  als  auch 
der  Straf  bemessung  der  um  20  h  erhöhte  Abgabesatz  zugrunde  zu  legen. 

Artikel  IL 
Die  in  den  freien  Verkehr  übergegangenen  geistigen  Flüssigkeiten,  welche 
am  1.  September  1901  im  Geltungsgebiete  des  gegenwärtigen  Gesetzes  vorhanden 
sind,  sowie  jene,  welche  in  den  Ländern  der  ungarischen  Krone  und  in  Bosnien 
und  der  Herzegowina  in  der  Zeit  vor  dem  1.  September  1901  an  Empfänger 
im  Geltungsgebiete  des  gegenwärtigen  Gesetzes  versendet  werden,  jedoch  erst 
nach  dem  1.  September  in  diesem  Gebiete  einlangen,  unterliegen  einer  Nachsteuer 
von  20  h  per  Liter  Alkohol,  auf  welche  die  für  die  Consumabgabe  geltenden 
Bestimmungen  sinngemässe  Anwendung  finden 

Artikel  m. 

A.  In  der  Zeit  vom  1.  September  1901  bis  31.  December  1909  wird 
den  Landesfonden  der  im  Reichsrathe  vertretenen  Königreiche  und  Länder  mit 
dem  sub  2?  vorgesehenen  Vorbehalte  aus  dem  Bruttoertrage  der  Brantweinabgabe 
(Productions-  und  Consumabgabe)  abzüglich  der  Gefällsrückgaben  und  Restitutionen 
jene  Summe  überwiesen,  welche  auf  den  Theilbetrag  von  20  h  der  mit  Artikel  I 
des  gegenwärtigen  Gesetzes  festgesetzten  Abgabesätze  entfällt.  Mit  demselben 
Vorbehalte  {B)  wird  den  Landesfonden  der  im  Reichsrathe  vertretenen  König- 
reiche und  Länder  der  Reinertrag  der  kraft  Artikel  II  des  gegenwärtigen  Gesetzes 
einzuhebenden  Nachsteuer  überwiesen. 

Die  Berechnung  der  den  Landesfonden  zukommenden  Ueberweisungsbeträge 
erfolgt  für  die  Zeit  vom  1.  September  bis  31.  December  1901  spätestens  im  April  1902 
und  in  der  Folge  nach  Ablauf  jedes  Kalenderjahres  spätestens  im  April  des  dem 
Abrechnungsjahre  folgenden  Jahres,  und  zwar,  falls  die  Berechnung  bis  dahin  nicht 
endgiltig  abgeschlossen  werden  könnte,  vorbehaltlich  der  nachträglichen  Richtigstellung. 

Die  jeweilig  ermittelten  Ueberweisungsbeträge  werden  an  die  einzelnen 
Landesfonde  zunächst  nach  folgendem  Procentualschlüssel  vertheilt: 

Königreich  Böhmen 18*8078  Proc. 

Königreich  Dalmatien 0*5259      „ 


lieber  das  Gesetz  vom  8.  Juli  1901,  R -G.-B.  Nr.  86  etc.  423 

Königreich  Galizien und  Lodomerien  mitdemGrossherzogthuraeKrakau  28'3423  Proc. 

Erzherzogthum  Oesterreich  unter  der  Enns 10' 7662      „ 

Erzherzogthura  Oesterreich  ob  der  Enns 0*9152      „ 

Herzogthum  Salzburg 0'5682      „ 

Herzogthum  Steiermark 4*68 7  5      „ 

Herzogthum  Kärnten 3'0208      „ 

Herzogthum  Krain 4*5253      „ 

Herzogthum  Bukowina 3*1488      „ 

Markgrafschaft  Mähren 15*7818      „ 

Herzogthum  Ober-  und  Niederschlesien 5*3087      „ 

Gefürstete  Grafschaft  Tirol 2*2796      „ 

Land  Vorarlberg 0*2065      „ 

Markgrafschaft  Istrien ,     0*3217      „ 

Gefürstete  Grafschaft  Görz  und  Gradiska 0*3238      „ 

Stadt  Triest  mit  ihrem  Gebiete 0*4699      „ 

Den  Landesfonden  werden  für  Kechnung  der  denselben  jeweilig  zukommenden 
Ueberweisungsantheile  Vorschüsse  erfolgt,  und  zwar  für  die  Zeit  vom  1.  September 
bis  31.  December  1901,  am  31.'December  1901  und  in  der  Folge  am  31.  März, 
30.  Juni,  30.  September  und  31.  December  jedes  Jahres. 

Die  am  31.  December  1901  zu  erfolgenden  Vorschüsse  dürfen  zusammen 
die  Summe  von  6,000.000  K  und  die  jeweiligen  Quartals  Vorschüsse  den  vierten 
Theil  jener  Beträge  nicht  überschreiten,  welche  sich  als  Ueberweisungsantheile 
ergeben  würden,  wenn  die  Abrechnung  unter  Zugrundelegung  der  einschlägigen 
Ziffernansätze  des  Staatsvoranschlages   für   das   betreffende  Jahr  gepflogen  würde. 

J5.  Der  Anspruch  auf  die  im  Vorstehenden  geregelte  Antheilnahme  an  dem 
Ertrage  der  Brantweinabgabe  oder  auf  die  gemäss  Artikel  IV  des  gegenwärtigen 
Gesetzes  eventuell  an  Stelle  dieser  Antheilnahme  tretende  Zuwendung  wird  auf 
jene  Länder  beschränkt,  in  welchen  während  des  im  Eingange  dieses  Artikels 
bezeichneten  Zeitraumes  wie  immer  benannte  Landesauflagen  auf  gebrannte  geistige 
Flüssigkeiten  nicht  eingehoben  werden. 

Beträge,  welche  wegen  Nichterfüllung  dieser  Voraussetzung  nicht  zur  Aus- 
zahlung gelangen,  verfallen  zu  Gunsten  des  Staatsschatzes. 

Artikel  IV. 

Im  Laufe  des  Jahres  1909  sind  die  aus  dem  gegenwärtigen  Gesetze  fliessenden 
Zuweisungen  an  die  Länder  neuerlich  im  Gesetzeswege  zu  regeln. 

Die  Antheilnahme  der  Länder  an  dem  Ertrage  der  Brantweinabgabe  kann  auch 
in  einem  früheren  als  dem  in  Artikel  III  A  vorgesehenen  Zeitpunkte  im  Wege  der 
Gesetzgebung  ausser  Kraft  gesetzt  werden,  wenn  den  Ländern  gleichzeitig  —  abge- 
sehen von  den  nach  Maassgabe  der  Artikel  IX,  X,  XII  und  XIII  des  Gesetzes  vom 
25.  October  1896,  E.-G.-Bl.  Nr.  220,  oder  eines  besonderen  Rechtstitels  gebürenden 
Zuwendungen  —  aus  Staatsmitteln  anderweitige  jährliche  Beträge  für  den  Rest  der  in 
Artikel  III A  vorgesehenen  Zeitperiode  überwiesen  werden,  welche  den  jedem  einzelnen 
der  Länder  im  Durchschnitte  der  drei  letzten  Kalenderjahre  zugekommenen  Betrag  aus 
der  Antheilnahme  an  dem  Ertrage  der  Brantweinabgabe  erreichen  oder  überschreiten. 


DIE  CUMULATIVEN  WAISENCASSEN 
ALS  FÖRDERER  DER  VOLKSERZIEHUNG. 


DK-  JOHANN  WINCKLER. 


Das  Institut  der  cumulativen  Waisencassen,  eine  ureigene,  noch  aus  den 
Zeiten  der  Patrimonial-Gerichtsbarkeit  stammende  Schöpfung  der  österreichischen 
Verwaltungspolitik  ^),  welche  durch  eine  kaiserl.  Verordnung  vom  9.  November  1858 
regeneriert  und  dem  Organismus  der  österreichischen  Justizverwaltung  einverleibt 
wurde,  hat  anerkanntermaassen  in  allen  jenen  Reichstheilen,  in  welchen  es  ein- 
geführt und  in  entsprechender  Weise  gepflegt  wurde, ^)  nach  zweifacher  Richtung 
hin  segensreich  gewirkt. 

Diese  Gassen  haben  nämlich  einerseits  durch  Sammlung,  unentgeltliche 
Verwaltung  und  gemeinschaftliche  Fructificierung  aller  jener  Pupillen-  und 
Curandengelder,  welche  ihres  geringen  Betrages  wegen  zur  selbständigen  Capitals- 
anlage  (sog.  Singularisierung)  nicht  geeignet  waren,  auch  den  Kindern  der  minder 
bemittelten  Volksschichten  eine  dem  landesüblichen  Zinsfuss  entsprechende  Ver- 
zinsung ihrer  kleinen  Barschaften  gesichert  nnd  andererseits  den  darlehens- 
bedürftigen Realitätenbesitzern,  insbesondere  den  kleinen  Wirtschaftsbesitzern  auf 
dem  Lande,  eine  verhältnismässig  billige  Geldquelle  eröffnet,  welche   um  so  lieber 


•)  Der  Bestand  einer  Einrichtung,  welche  das  Princip  einer  cumulatiren  Waisencasse 
im  technischen  Sinne  dieses  Wortes  verwirklichte,  lässt  sich  bereits  vom  Jahre  1715  ab, 
und  zwar  bei  den  Oberkammeramte  der  Stadt  Wien  urkundlich  nachweisen.  Der  Artikel 
II  der  „Pupillar-Raithkammer-Reformation"  vom  1.  März  1715  enthält  nämlich  folgende 
Bestimmung:  „Der  Pupillen  Erbtheil  und  Vermögen,  es  möge  in  so  kleinen  Posten 
bestehen  als  es  immer  wolle,  soll  nicht  feiernd  gelassen,  sondern  so  gut  als  möglich 
verinteressiert  werden,  und  zu  dem  Ende  bei  gemeiner  Stadt  Ober-Kammeramt,  wann 
allda  verschiedene  solche  kleine  Pupillar- Posten  erliegen,  solche  in  eine  Summam 
zusammengeschlagen,  davon  das  gewöhnliche  Interesse  gereichet  und  über  solche  Posten 
sowohl  bei  gedachtem  Ober-Kammeramt  als  auch  bei  der  Pupillen-Ra3-thkanimer  ein 
ordentliches  Protokoll,  wem  dieselben  gehören,  gehalten  und  auch  die  eingehenden 
Interessen  unter  die  Partheien  pro  ratio  portionum  ausgetheilt  werden."  (Codex  Austriacus 
Tarn.  III.  pag.  788  Edit.  Quarient.) 

2)  Am  Schlüsse  der  vormärzlichen  Zeit  hatten  sich  die  Waisencassen  nicht  nur  in 
ganz  Niederösterreich,  Böhmen,  Mähren  und  Schlesien  eingebürgert,  sondern  auch  auf 
manchen  Gutsgebieten  in  Oberösterreich  und  Steiermark  und  vereinzelt  selbst  in  Salzburg 
und  in  Westgalizien  Eingang  gefunden.  (Siehe  „Statistische  Monatschrift"  XVII.  Jahr- 
gang [1891]  Seite  571  und  573.) 


Die  cumulativen  Waisencassen  als  Förderer  der  Volkserziehung.  425 

aufgesucht  wurdft,  als  die  Verwalter  der  Waisencassen  —  die  Gerichte  im  Verein 
mit  den  Steuerämtern  —  keine  kostspieligen  Gesuche,  keinerlei  Provision,  keinen 
Kegiekostenbeitrag  oder  andere,  was  immer  für  einen  Namen  habende  Neben- 
gebüren  beanspruchten  und  obendrein  —  was  für  manchen  Darlehenswerber 
schwer    in    die  Wagschale  fiel  —  auch   keine   Annuitätenzahlungen   verlangten.^) 

Es  ist  darum  begreiflich,  dass  die  Waisencassen  in  jenen  Roichstheilen, 
in  welchen  sie  sich  schon  von  altersher  eingebürgert  hatten,  eine  zahlreiche,  mit 
jedem  Jahre  zunehmende  Clientel  gewannen  und  dies  trotz  der  starken  Concurrenz, 
welche  ihnen  im  Laufe  der  Jahre  in  Gestalt  von  Actien-Pfandbrief-Instituten, 
Landes-Hypothekenanstalten,  Sparcassen,  Vorschusscassen  und  reformierten  Contri- 
butionsfondscassen  erwuchs,  und  trotz  des  Umstandes,  dass  sie  keineswegs  zu 
einem  billigeren  Zinsfuss  Darlehen  gaben  als  diese  Anstalten.^) 

Die  am  Schlüsse  des  Jahres  1898  aushaftenden  Hypothekardarlehen  der 
570  Waisencassen  beliefen  sich  auf  104.178  (gegen  95.434  am  Schlüsse  des 
Jahres  1888)  im  Gesammtbetrage  von  92,783.270  fl.  (gegen  67,684.895  fl.  am 
Schlüsse  des  Jahres  1888),  davon  entfielen  38.186  im  Betrage  von  39,422.127  fl. 
auf  Böhmen,  30.093  im  Betrage  von  26,327.742  auf  Niederösterreich,  23,928  im 
Betrage  von  20,180.415  fl.  auf  Mähren,  5.260  im  Betrage  von  4,393.873  fl. 
auf  Schlesien,  5.315  im  Betrage  von  1,787.000  fl.  auf  Galizien,  431  im  Betrage 
von  433.025  fl.  auf  Oberösterreich  und  985  im  Betrage  von  239.088  fl.  auf  die 
Bukowina,  welches  Land  erst  seit  dem  Jahre  1897  Waisencassen  (derzeit  8)  besitzt. 

Zur  segensreichen  Wirksamkeit,  welche  die  Waisencassen  im  wirt- 
schaftlichen Interesse  der  minder  bemittelten  Volksschichten  bisher  entwickelt 
haben  —  und  dies  auch  in  kritischen  Zeiten,  an  die  man  sich  gegenwärtig  unter 
total  geänderten  Geld-  und  Zinsfussverhältnissen  kaum  mehr  erinnert  —  wird 
sich  aber  künftighin  noch  eine  weitere,  in  manchem  Betracht  noch  höher  zu 
veranschlagende,  wenn  auch  nur  indirecte  Wirksamkeit  gesellen,  nämlich  die 
Förderung  der  erziehlichen  Interessen  der  verwaisten,  verlassenen  oder 
verwahrlosten  Jugend,  und  zwar  auf  Grund  des  jüngst  erschienenen  und  mit  dem 
Tage  seiner  Kundmachung  in  Wirksamkeit  getretenen  Eeichsgesetzes  vom 
3.  Juni  1901,  R.-G.-Bl.  Nr.  62. 

Nach  diesem  in  Folge  jahrelanger  Bemühungen  menschenfreundlicher  Volks- 
vertreter, nach  langwierigen  Verhandlungen  und  nach  endlicher  Ueberwindung 
von  allerlei  staatsrechtlichen  Competenz-Scrupeln  zustande  gekommenen  Gesetze 
haben  nämlich  die  in  Böhmen,  Mähren,  Schlesien,  Oesterreich  u.  d.  E.,  Oester- 
reich  ob  d.  E.  und  in  Galizien  bestehenden  Waisencassen  während  der  Jahre  1901 
bis  einschliesslich  1910  alljährlich  von  der  Gesammtsumme  ihrer  Gebarungs- 
überschüsse eine  Procentual-Quote  an  die  betreffenden  Länder  abzuführen. 


^)  Eine  facultative  Tilgung  der  Darlehen  in  Annuitäten  wurde  bei  den  Waisen- 
cassen erst  durch  die  Verordnung  vom  8.  März  1896,  R.-G.-Bl.  Nro.  38,    eingeführt. 

2)  Infolge  des  Gesetzes  vom  18.  März  1876,  E.-G.-Bl.  Nr.  51,  war  der  Zinsfuss  für 
Darlehen  aus  den  Waisencassen  der  gleiche  wie  für  die  Verzinsung  der  von  ihnen 
verwalteten  Pfleglings-Barschaften.  Er  betrug  bis  zum  Schlüsse  des  Jahres  1880  sechs 
Procent,  wurde  nach  dem  Jahre  1880  in  den  einzelnen  Oberlandesgerichtssprengeln 
wiederholt  herabgesetzt  und  beträgt  gegenwärtig  vier  Procent,  bei  den  Waisencassen  in 
Westgalizien  vier  und  ein  halbes  Procent. 


426  Winckler, 

Der  Procentsatz  dieser  Quote  hat  Y^q  Proc.  weniger  zu  betragen,  als  der 
bei  der  Waisencasse  am  Schlüsse  des  Ausweisjahres  vorschriftsmässig  bestandene 
Zinsfuss.  Von  den  hiemach  sich  ergebenden  Beträgen  ist  jedoch  ein  Eegiekosten- 
beitrag  von  zwei  Procent  in  Abzug  zu  bringen  und  als  Staatseinnahme  zu 
verrechnen. 

Diese  den  betreffenden  Ländern  überwiesenen  Beträge  sind  zur  Pflege  und 
Erziehung  armer  Waisen  bis  zur  Zurücklegung  des  18.  Lebensjahres,  sowie 
verwahrloster  oder  verlassener  Kinder  zu  verwenden,  wobei  die  Waisen  von  im 
Kriege  oder  sonst  in  unmittelbarer  Ausübung  des  Wehrdienstes  um  das  Leben 
gekommenen  Militärpersonen  vorzugsweise  Berücksichtigung  zu  finden  haben. 

Da  den  Waisencassen  ihre  durch  eine  nahezu  41jährige  eifrige  und 
umsichtige  Gebarung  angesammelten  Keservefonde  —  welche  zunächst  zur  Deckung 
der  Forderungen  der  Waisencassen-Interessenten  an  Capital  und  Zinsen  dienen 
und  am  Schlüsse  des  Jahres  1898  den  Betrag  von  21,125.695  fl.  erreicht 
hatten  —  auch  fernerhin  ungeschmälert  verbleiben  und  die  den  Ländern  jährlich 
zu  überweisenden  Beträge  nur  um  ^/^^  Proc,  weniger  ausmachen,  als  die  Waisen- 
cassen von  ihrem  Keservefonde  an  Zinsen  beziehen,  so  werden  einerseits  dieselben 
in  der  Erfüllung  ihrer  Verbindlichkeiten  gegenüber  ihren  Pflegebefohlenen  in 
keiner  Weise  beeinträchtigt  und  andererseits  den  betreffenden  Ländern  zur  Durch- 
führung der  im  Gesetze  bezeichneten  humanitären  Einrichtung  bedeutende  Geld- 
mittel zur  Verfügung  gestellt,  welche  es  ihnen  möglich  machen  werden,  zur 
Förderung  der  Waisonpflege  und  zur  Linderung  des  traurigen  Loses  verlassener 
und  verwahrloster  Kinder  erheblich  mehr  thun  zu  können,  als  sie  bisher 
leisten  konnten. 

Die  aus  dem  Erträgnisse  der  angesammelten  Gebarungsüberschüsse  den 
betreffenden  Ländern  künftighin  zufliessenden  Gelder  werden  —  nach  Abzug 
des  zweiprocentigen  Eegiekosten-Beitrages  —  in  runder  Summe  jährlich  bei 
826.000  fl.  betragen ;  davon  werden  auf  Böhmen  276.000  fl,,  auf  Niederösterreich 
253.000  fl.,  auf  Mähren  209.000  fl.,  auf  Schlesien  37.000  fl,,  auf  Galizien  30.000 
und  auf  Oberösterreich  21.000  fl.  entfallen.  Das  im  Gesetze  weiters  noch 
erwähnte  Land  Salzburg  wird  voraussichtlich  nur  einen  kaum  nennenswerten 
Betrag  erhalten,  da  es  nur  eine  einzige  Waisencasse  (für  den  Gerichtsbezirk 
Abtenau)  besitzt  und  der  Eeservefond  dieser  Waisencasse  nur  ein  jährliches  Erträgnis 
von  wenig  mehr  als  40  fl.  abwirft.  Alle  übrigen  Reichstheile  dagegen  werden 
leer  ausgehen,  weil  in  denselben  cumulative  Waisencassen  entweder  niemals 
bestanden  haben  oder  seit  mehr  als  50  Jahren  wieder  eingegangen  sind.  Leider 
trifft  dieses  Missgeschick  zumeist  solche  Länder,  welche  mit  Anstalten  zur  Unter- 
bringung schutzbedürftiger  Kinder  nur  in  unzulänglichem  Ausmaass  versehen  sind. 

Nach  den  letzten  statistischen  Nachweisungen  gab  es  am  Schlüsse  des 
Jahres  1898  in  den  Reichsrathsländern  207  Waisenhäuser,  in  welchen 
14.934  Kinder  untergebracht  waren;  davon  befanden  sich  in  Niederösterreich 
42  mit  4,502  Kindern,  Böhmen  42  mit  1.379  Kindern,  Galizien  35  mit 
2.281  Kindern,  Mähren  15  mit  742  Kindern  u,  s.  w.  in  absteigender  Reihen- 
folge, Am  kärglichsten  waren  mit  solchen  Anstalten  versehen :  das  Küstenland 
(5  Anstalten  mit  502   Kindern),    die  Bukowina  (5  Anstalten   mit  282  Kindern) 


Die  cumulativen  Waisen cassen  als  Förderer  der  Volkserziehung.  427 

Xrain  (3  Anstalten  mit  282  Kindern),  Dalmatien  (3  Anstalten  mit  123  Kindern) 
und  Vorarlberg  (1   Anstalt  mit  17   Kindern). 

Besserungsanstalten  für  jugendliche  Corrigenden  besitzen  —  wenn  man 
von  den  wenigen  auf  Privatwohlthätigkeit  beruhenden  oder  von  Ordensschwestern 
ins  Leben  gerufenen  Rettungsanstalten  absieht  —  nur  Niederösterreich  (3), 
Böhmen  (2),  Mähren  (2),  Schlesien  (1),  Kärnten  (1)  und  Vorarlberg  (1)  zusammen 
mit  einem  Belagraum  für  höchstens  1.600  Pfleglinge,  unstreitig  eine  zu  geringe 
Zahl  im  Verhältnis  zu  der  leider  ziffermässig  unbekannten  Masse  schutzbedürftiger 
Kinder,  deren  Anzahl  —  nach  den  so  häufig  wiederkehrenden  Klagen  über  die 
heutige  verwahrloste  Jugend  zu  urtheüen  —  wohl  eine  sehr  beträchtliche  sein 
muss  und  leider  in  dem  Maasse  noch  zunehmen  wird,  in  welchem  der  mit  dem 
Anwachsen  der  Bevölkerung  immer  schwieriger  sich  gestaltende  Kampf  ums 
Dasein  in  den  unbemittelten  Volksschichten  beide  Elterntheile  zwingt,  nach  Arbeit 
auszuschauen  und  ihre  Kinder  mehr   oder  weniger   zu  vernachlässigen. 

Gesetz  vom  3.  Juni  1901,  Nn.  62  R.-G.-Bl.,  betreffend  die  Verwendung 
von   Theilen   der  Gebarungsüberschüsse  der  gemeinschaftlichen 

Waisencassen. 

§  1. 
Die  in  Böhmen,  Mähren,  Schlesien,  Oesterreich  unter  der  Enns,  Oesterreich 
ob  der  Enns,  Salzburg  und  in  Galizien  bestehenden  gemeinschaftlichen  Waisen- 
cassen haben  während  der  Jahre  1901  bis  einschliesslich  1910  alljährlich  von 
der  Gesammtsumme  ihrer  Gebarungsüberschüsse,  die  sich  bis  zum  Schlüsse  des 
jeweils  zweitvorausgegangenen  Jahres  nach  den  genehmigten  Jahresausweisen 
ergeben,  eine  Procentualquote  an  die  betreffenden  Länder  abzuführen.  Der  Procentsatz 
dieser  Quote  hat  ^/^^  Proc.  weniger  zu  betragen,  als  der  bei  der  Waisencasse 
am  Schlüsse  des  Ausweisjahres  vorschriftsmässig  bestandene  Zinsfuss.  Von  den 
hienach  sich  ergebenden  Beträgen  ist  jedoch  ein  Eegiekostenbeitrag  von  zwei 
Procent  in  Abzug  zu  bringen  und  als  Staatseinnahme  zu  verrechnen. 

§  2. 

Die  gemäss  §  1  den  Ländern  überwiesenen  Beträge  sind  zur  Pflege  und 
Erziehung  armer  Waisen  bis  zur  Zurücklegung  des  achtzehnten  Lebensjahres,  sowie 
verwahrloster  oder  verlassener  Kinder  zu  verwenden,  wobei  die  Waisen  von  im 
Kriege  oder  sonst  in  unmittelbarer  Ausübung  des  Wehrdienstes  um  das  Leben 
gekommenen  Militärpersonen  vorzugsweise  Berücksichtigung  zu  finden  haben.  Die 
näheren  Bestimmungen  hierüber  bleiben  der  Landesgesetzgebung  vorbehalten. 

§  3. 
Sollte  sich  bei  einer  gemeinschaftlichen  Waisencasse  ein  durch  deren  Eeserve- 
fond  nicht  gedeckter  Verlust  ergeben,  so  ist  der  Fehlbetrag  aus  den  Gebarungs- 
überschüssen   anderer    gemeinschaftlicher  Waisencassen   des   betreffenden   Landes 
zu  decken. 


GESETZ  VOM  11.  JUNI  1901,  R.-G.-B.  N"  66, 

BETREFFEND  DEN 

BAU  VON  WASSERSTRASSEN 

UND    DIE 

DURCHFÜHRUNG  VON  FLUSSREGULIERUNGEN.') 


§  1. 

Der  Bau  von  Wasserstrassen,  und  zwar:  a)  eines  SchifFahrtscanales  von  der 
Donau  zur  Oder,  b)  eines  Schiffahrtscanales  von  der  Donau  zur  Moldau  nächst 
Budweis  nebst  der  Canalisierung  der  Moldau  von  Budweis  bis  Prag,  c)  eines 
Schiffahrtscanales  ^om  Donau-Odercanal  zur  mittleren  Elbe  nebst  Canalisierung 
der  Elbestrecke  von  Melnik  bis  Jaromef,  d)  einer  schiffbaren  Verbindung  vom 
Donau-Odercanal  zum  Stromgebiete  der  Weichsel  und  bis  zu  einer  schiffbaren 
Strecke  des  Dniester  —  ist  vom  Staate  auszuführen,  wenn  das  Land,  in  dem  einer 
der  unter  a  bis  d  genannten  Canäle  oder  Canaltheile  hergestellt  werden  soll, 
beziehungsweise  eine  der  oben  angeführten  zu  canaJisierenden  Flusstrecken  sich 
befindet,  sich  verpflichtet,  die  Zahlung  eines  jährlichen  Betrages  zu  leisten,  der 
zur  Verzinsung  und  Amortisierung  eines  Achtels  jener  Obligationen  hinreicht, 
welche  zur  Herstellung  des  betreffenden  Canales  oder  Canaltheiles,  beziehungs- 
weise zur  Canalisierung  der  betreffenden  Flusstrecke  (a  bis  d)  emittiert  werden. 
Zu  diesem  Zwecke  ist  das  Land  berechtigt,  die  Interessenten  heranzuziehen.  Die 
Beiträge  der  Länder  sind  nach  Maassgabe  der  den  Staat  aus  diesem  Anlasse 
treffenden  Zahlungen  zu  leisten  und  haben  aufzuhören,  wenn  die  Einnahmen  des 
betreffenden  Canales  nach  Abzug  der  Erhaltungs-  und  Betriebskosten  den  zur 
Verzinsung  und  Amortisierung  des  Nominalanlagecapitales  dieses  Canales  erforder- 
lichen Betrag  durch  zwei  aufeinanderfolgende  Jahre  überschritten  haben. 

§  2. 

Die  Vorsorge  für  Beiträge  aus  Landesmitteln,  sowie  die  Art  der  Heranziehung 
der  innerhalb  der  einzelnen  Königreiche  und  Länder  in  Betracht  kommenden 
Interessenten  bleibt  der  Landesgesetzgebung  vorbehalten.  Der  Landesbeitrag  kann, 

*)  Zur  Ergänzung  des  in  dem  vorigen  Hefte  enthaltenen  Artikels  von  Gel  wein 
ist  hier  der  wesentliche  Inhalt  des  Gesetzes  wiedergegeben. 


Gesetz  vom  11.  Juni  1901,  R.-G.-Bl.  Nr.  66,  etc.  429 

falls  eine  diesbezügliche  Vereinbarung  zwischen  der  Staatsverwaltung  und  dem 
betreffenden  Lande  zustande  kommt,  auch  durch  die  Herstellung  einzelner  in  den 
Bauprojecten  vorgesehenen  Anlagen  (Häfen,  Anlandeplätze,  Zufahrtsstrassen  u.  s.  w.), 
durch  die  Abtretung  von  Grundeigenthum,  Einräumung  von  dinglichen  Rechten 
und  Ueberlassung  von  Wasserrechten,  Materiallieferungen,  sowie  sonstige  Sach- 
und  Arbeitsleistungen  abgestattet  werden. 

§  3. 

Für  die  einheitliche  Leitung  der  im  §  1  näher  bezeichneten  Arbeiten  ist 
in  entsprechender  Weise  Vorsorge  zu  treffen.  Es  ist  ein  aus  Fachmännern  und 
Vertretern  der  Interessenten  bestehender  Beirath  zu  bestellen.  Die  Hälfte  der 
Mitglieder  des  Beirathes  ist  von  der  Regierung,  die  andere  Hälfte  von  den  Landes- 
ausschüssen der  betheiligten  Länder  zu  ernennen.  Die  näheren  Bestimmungen 
über  Zahl  und  Vertheilung  der  Mitglieder  und  die  Geschäftsführung  sind  im 
Verordnungswege  zu  erlassen.  Bei  der  Zusammensetzung  dieses  Beirathes  ist  auf 
die  Interessen  des  Handels,  der  Industrie,  des  Gewerbes,  der  Land-  und  Forst- 
wirtschaft, sowie  der  Arbeiterschaft  Rücksicht  zu  nehmen. 

§  4. 
Die  Verwaltung  der  nach  §  1  dieses  Gesetzes  herzustellenden  Wasserstrassen, 
sowie  die  Festsetzung  und  Einhebung  der  Abgaben  und  Gebüren  für  die 
Benützung  der  Wasserstrassen  und  der  dazu  gehörigen  Anlagen  erfolgt  durch 
den  Staat.  Bei  Feststellung  dieser  Abgaben  und  Gebüren  ist  auf  den  ausgiebigsten 
Schutz  der  gesammten  heimischen  Production,  insbesondere  durch  entsprechende 
tarifarische  Maassregeln,  vollste  Rücksicht  zu  nehmen. 

§  5. 

Behufs  Sicherstellung  der  Regulierung  derjenigen  Flüsse  in  Böhmen, 
Mähren,  Schlesien,  Galizien,  Nieder-  und  Oberösterreich,  welche  mit  dem  im  §  1 
genannten  Canälen,  canalisierten  und  in  Canalisierung  begriffenen  Flüssen  ein 
einheitliches  Gewässernetz  bilden  und,  sei  es  wegen  der  Zufuhr  von  Wasser, 
sei  es  mit  Rücksicht  auf  die  Geschiebebewegung  für  die  in  Betracht  kommenden 
Wasserstrassen  besondere  Bedeutung  besitzen,  sind  die  Verhandlungen  mit  den 
betheiligten  Königreichen  und  Ländern  sofort  einzuleiten,  wobei  für  die  finanziellen 
Leistungen  der  Königreiche  und  Länder  die  bei  solchen  Maassnahmen  bisher 
üblichen  Gesichtspunkte  Anwendung  zu  finden  haben.  Die  Regulierung  dieser 
Flüsse  muss  spätestens  gleichzeitig  mit  dem  Bau  der  Canäle  (§  6,  Absatz  1)  in 
Angriff  genommen  werden. 

Für  alle  übrigen  Wasserläufe  in  den  im  Reichsrathe  vertretenen  König- 
reichen und  Ländern,  hinsichtlich  welcher  sich  eine  Regulierung  als  nothwendig 
darstellt,  ist  dieselbe  thunlichst  rasch  vorzubereiten  und  sobald  die  entsprechenden 
Vorarbeiten  vorliegen,  ehestens  in  Angriff  zu  nehmen.  Die  behufs  Durchführung 
solcher  Regulierungen  erforderliche  Erhöhung  des  jährlichen  Staalsbeitrages  für 
den  Meliorationsfond  ist  durch  ein  besonderes  Gesetz  festzustellen.  Die  Ein- 
stellung von  Dotationen  für  Wasserbauten  in  die  jeweiligen  Staatsvoranschläge 
bleibt  hiedurch  unberührt. 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  X.  Band.  29 


430  Gesetz  vom  11.  Juni  1901,  R.-G.-Bl.  Kr.  66,  etc. 

§  6. 

Der  Bau  der  im  §  1  bezeichneten  Wasserstrassen,  hinsichtlich  welcher 
seitens  der  Vertretungen  der  betreffenden  Länder  zustimmende  Beschlüsse  im 
Sinne  des  §  1  gefasst  worden  sind,  hat  längstens  im  Jahre  1904  zu  beginnen. 
Die  erforderlichen  Vorarbeiten  sind  derart  rechtzeitig  durchzuführen,  dass  dieser 
Zeitpunkt  eingehalten  und  der  Bau  längstens  binnen  20  Jahren  vollendet  werden  kann. 

§  7. 
Beim  Bau  der  Canäle   und  der  Canalisierung  der  Flüsse  sind,   soweit  dies 
mit  dem   gedeihlichen  Fortgang   der  Arbeit  vereinbar  ist,    inländische   Techniker 
und  Arbeiter  sowie  die  heimische  Industrie  zu  beschäftigen. 

§  8. 

Die  Kosten  der  Herstellung  der  im  §  1  bezeichneten  Wasserstrassen  und 
der  nach  §  5,  Absatz  1,  durchzuführenden  Flussregulierungen  sind  erforderlichen- 
falls, soweit  diese  Kosten  nicht  durch  die  Leistungen  der  Länder  oder  sonstiger 
Interessenten,  beziehungsweise  aus  dem  Meliorationsfonde  gedeckt  wurden,  durch 
eine  mit  höchstens  4  Procent  steuerfrei  zu  verzinsende,  auf  Kronenwähruug 
lautende,  in  90  Jahren  zu  tilgende  Anleihe  zu  beschaffen.  Die  Eegierung  wird 
ermächtigt,  von  dieser  Anleihe  in  der  Bauperiode  1904  bis  Ende  1912  einen 
Maximalbetrag  von  250  Millionen  Kronen  Nominale  auszugeben.  Der  hieraus 
erzielte  Erlös  darf  nur  zur  Deckung  der  Herstellungskosten  der  im  §  1  bezeichneten 
Wasserstrassen  und  der  im  §  5,  Absatz  1,  vorgesehenen  Kegulierungen  verwendet 
werden. 

Von  dem  Anlehenserlöse  ist  ein  Betrag  im  Höchstausmaasse  von  75,000.000  K 
für  die  erwähnten  Eegulierungen  zu  widmen. 

Die  Eegierung  hat  alljährlich  zugleich  mit  der  Einbringung  des  Staats- 
voranschlages einen  Ausweis  vorzulegen,  aus  welchem  die  Beträge  der  auf  Kechnung 
der  erwähnten  250  Millionen  Kronen  Nominale  ausgegebenen  Obligationen,  sowie 
die  Verwendung  des  Erlöses  derselben  während  der  letztabgelaufenen  Eechnungs- 
periode  und  die  in  dieser  Zeit  stattgehabten  Arbeiten  genau  zu  ersehen  sind.  .  .  . 

§  10. 
Die  Eegierung  wird  ermächtigt,    die  Trace   und   die   technische  Anlage  der 
im  §  1  erwähnten  Wasserstrassen   nach  Einvernahme   der  Landesausschüsse   der 
betreffenden  Länder  endgiltig  festzusetzen 

§  13. 

Für  die  im  §  1  und  §  5,  Absatz  1,  bezeichneten  Anlagen  steht  das  Ent- 
eignungsrecht, insbesondere  auch  das  Eecht  auf  gänzliche  oder  theilweise  Ent- 
ziehung von  Privatgewässern  und  Wasserrechten  zu,  wobei  für  die  Durchführung 
der  Enteignung  die  Bestimmungen  des  Gesetzes  vom  18.  Februar  1878,  E.-G.-Bl. 
Nr.  30,  betreffend  die  Enteignung  zum  Zwecke  der  Herstellung  und  des  Betriebes 
von  Eisenbahnen,  sinngemässe  Anwendung  zu  finden  haben. 


I 


Gesetz  vom  11.  Juni  1901,  E.-G.-Bl.  Nr.  66,  etc.  431 

Bei  der  Aufstellung  und  Ausführung  der  Projecte  ist  nach  Thunlichkeit 
auf  die  Interessen  der  Wasserwirtschaft  und  insbesondere  darauf  Rücksicht  zu 
nehmen,  dass  der  Bedarf  an  Trinkwasser,  sowie  an  dem  zum  Wirtschaftsbetriebe 
und  für  die  Fälle  der  Feuersgefahr  nöthigen  Wasser  für  die  Gemeinden,  Ort- 
schaften und  Ansiedlungen  gedeckt  bleibe. 

Bei  der  Feststellung  der  Projecte,  sowie  beim  Betriebe  der  künstlichen 
Wasserstrassen  ist  insbesondere  auch  auf  die  bestehenden  landwirtschaftlichen 
Meliorationen,  so  namentlich  auf  die  Bewässerungen  und  Entwässerungen  thun- 
liche  Rücksicht  zu  nehmen,  wobei  jedoch  auch  nach  Möglichkeit  dahin  zu  wirken 
ist,  dass  in  Verbindung  mit  den  neuen  Wasserstrassen  solche  den  landwirtschaft- 
lichen Betrieb  fördernde  Anlagen  neu  hergestellt  werden  können.  Hiebei  sind 
in  erster  Linie  die  Interessen  des  bäuerlichen  Grundbesitzes  zu  berücksichtigen 

§  14. 

Sobald  eine  der  im  §  1  und  §  5,  Absatz  1,  angeführten  Bauten  in  Angriff 
genommen  wird,  ernennt  der  Handelsminister  im  Einvernehmen  mit  dem  Minister 
des  Innern  die  erforderliche  Anzahl  von  Gewerbeinspectoren,  deren  Thätigkeit  im 
Sinne  des  Gesetzes  vom  17.  Juni  1883,  R.-G.-Bl.  Nr.  117,  sich  auf  die  üeber- 
wachung  der  betreffenden  Bau-,  Erd-  und  Wasserbauarbeiten  erstreckt.  Auf  diese 
Gewerbeinspectoren  finden  alle  Bestimmungen  des  bezeichneten  Gesetzes  Anwendung. 
Sie  sind  Mitglieder  des  Beirathes  (§  3).  Nach  Bedarf  sind  ihnen  die  nöthigen 
Hilfsorgane  an  die  Seite  zu  stellen.  Diese  Gewerbeinspectoren  sind  insbesondere 
verpflichtet,  in  den  von  ihnen  alljährlich  zu  erstattenden  Berichten  genaue  Angaben 
über  die  Lohn-,  Wohnungs-  und  Sanitätsverhältnisse  der  bei  der  Ausführung 
der  bezeichneten  Bauten  beschäftigten  Arbeitspersonen,  sowie  über  die  Art  der 
Arbeitsvergebung  und  über  die  Arbeitszeit  zusammenzustellen. 

Die  durch  die  Bestellung  und  Amtsführung  dieser  Gewerbeinspectoren  her- 
vorgerufenen Kosten  fallen  zu  Lasten  der  Baufonde. 

Zur  üeberwachung  des  sanitären  Zustandes  unter  den  bei  der  Ausführung 
der  bezeichneten  Bauten  beschäftigten  Arbeitspersonen  sind  nach  Bedarf  besondere 
ärztliche  Organe  zu  bestellen. 

§  15. 
Sämmtliche    Bestimmungen    des   VI.    Hauptstückes    der    Gewerbeordnung, 
einschliesslich  der  Bestimmungen  der  §§  88  a,  96  a,  96  b  finden  auf  alle  Kategorien 
von  Arbeitern  Anwendung,  welche   bei    der  Ausführung    einer    der   im  §  1    und 
§  5,  Absatz  1  angeführten  Bauten  beschäftigt  sind. 


29* 


LITEßATUEBERICIlT. 


Dr.  Franz  Walter,  Privatdocent  an  der  Universität  München.  Die  Propheten 
in  ihrem  socialen  Beruf  und  das  Wirtschaftsleben  ihrer  Zeit.  Freiburg  i.  B.  Herder'sche 
Verlagsbuchhandlung  1900.  S«.  XVI  und  288  S. 

Der  Verfasser  will,  wie  schon  der  Titel  seiner  Schrift'  zeigt,  „die  Wiiksamkelt 
des  Prophetenthums  .  .im  Zusammenhang  mit  der  damaligen  Zeitlage  und  der  historischen 
Entwicklung,  welche  das  wirtschaftliche  Leben  Israels  durchläuft"  schildern,  da  sie  nur 
in  diesem  Zusammenhange  ganz  begriffen  werden  könne.  Er  beginnt  deshalb  seine  Dar- 
stellung mit  einer  „Skizze  der  damaligen  socialen  und  wirtschaftlichen  Entwicklung,  wie 
sie  dem  Auftreten  der  Propheten  vorangieng"  (S.  14 — 96),  deren  Gedankengang  in 
Folgendem  möglichst  getreu  wiedergegeben  werden  soll. 

„Von  einer  Volkswirtschaft  der  Israeliten  in  strengem  Sinn",  führt  Walter  aus, 
„lässt  sich  erst  von  dem  Zeitpunkt  ab  sprechen,  als  auf  der  Grundlage  des  mosaischen 
Gesetzes  der  israelitische  Staat  in  dem  neu  eroberten  Land  Kanaan  ins  Leben  getreten 
war".  Nach  vollzogener  Landnahme  „waren  die  Israeliten,  dem  Charakter  des  Landes 
und  ihren  eigenen  Neigungen  entsprechend,  ein  in  einfachen  Verhältnissen  lebendes 
Bauernvolk"  geworden,  das  dem  Ackerbau  und  der  Viehzucht  oblag.  „Aber  verschiedene 
Umstände  treffen  und  wirken  zusammen,  um  die  ursprüngliche  Einfachheit  der  Sitten 
allmählich  im  Verlaufe  von  etliclien  Jahrhunderten  zu  beseitigen."  Allerdings  gelingt  es 
den  Israeliten,  in  fortwährenden  Kämpfen,  zum  Theil  auch  in  friedlichem  Zusammenleben 
mit  den  culturell  höher  stehenden  kanaanitischen  Ureinwohnern  diese  zu  vernichten  oder 
aufzusaugen.  Allein  „sie  nehmen  auch  infolgedessen  manche  Elemente  kanaanitischer 
Cultur  in  sich  auf"  und  werden  vor  allem  auch  „nach  und  nach  ein  handeltreibendes 
Volk,  welches  den  ursprünglichen  Bewohnern  es  abzulernen  versteht,  die  reichen  Producta 
des  Bodens  gewinnbringend  zu  verwerten".  Der  Ueberschuss  an  den  letzteren  über  den 
Eigenbedarf  wird  „gelegentlich  durch  die  Vermittlung  durchziehender  Händler  zu  guten 
Preisen  ausser  Landes  verkauft"  und  gewerbliche  Erzeugnisse,  insbesondere  Luxusgegen- 
stände, werden  hiefür  eingetauscht.  „Der  so  sich  allmählich  regende  Handel  findet  sich  jedoch 
innerhalb  bescheidener  Grenze;i."  Von  der  Meeresküste  abgeschnitten  und  in  alter  Zeit  auch 
von  den  in  feindlichem  Besitze  befindlichen  Karawanenstrassen  ausgeschlossen,  ist  auf  Seite 
der  Israeliten  von  einer  Betheiligung  am  See-  oder  auch  nur  am  Karawanenhandel  keine 
Eede.  „Vielleicht  war  es  lange  Zeit  gar  nicht  einmal  ein  Handel  ausser  Landes.  Denn  wenn 
auch  bei  der  Vertheilung  des  Landes  jeder  Familie  Grundbesitz  zugewiesen  worden  war, 
so  konnte  es  doch  leicht  vorkommen,  dass  für  eine  besonders  zahlreiche  Familie  in 
manchen  Jahren  der  Getreideertrag  nicht  ausreichte,  oder  dass  einer  verarmte  aus  irgend- 
welchen Ursachen  und  um  sein  Grundstück  kam;  bis  zum  nächsten  Jobeljahr  lebte  er 
deshalb  nicht  von  seinem  eigenen  Grund  und  Boden,  sondern  war  gezwungen,  im  Tausch- 
verkehr sein  Brotgetreide  sich  zu  beschaffen.  Desgleichen  machte  jeder  Miswachs  in 
diesem  Lande  den  Kornhandel  unentbehrlich ;  namentlich  aber  musste  das  Land  jenseits 
des  Jordan,  wo  weit  weniger  Ackerbau  als  Viehzucht  betrieben  wurde,  auf  den  Getreide- 
überschuss  der  westlichen  Provinzen  angewiesen  gewesen  sein."  —  Auf  israelitischer 
Seite  ist  der  Handel  übrigens  anfänglich  nur  Passivhandel  gewesen.  „Der  Activhandel 
wurde ....  weitaus  überwiegend  von  den  Kanaanitern  und  benachbarten  Phöniziern 
besorgt,  (die)  nach  Art  von  Hausierern  im  Lande  umherzogen. 

Einen  Wendepunkt  in  diesem  Zustande  bedeutet  erst  das  Aufkommen  des  König- 
thums  und  besonders  die  davidische  Zeit.  Das  Königthum,  nothwendig  geworden  durch  die 


I 


Literaturbericht.  433 

militärische  Inferiorität  Israels  infolge  innerer  Zerrissenheit  und  des  Mangels  einheitlicher 
Führung  während  der  Richterzeit,  ertheilt  der  Volkswirtschaft  jenen  kräftigen  Impuls, 
dessen  sie  nur  bedurfte,  „um  den  Uebergang  aus  der  Naturalwirtschaft  zur  Tauschwirt- 
schaft, die  nicht  bloss  für  den  Eigenbedarf,  sondern  vor  allem  auch  für  den  Absatz 
produciert,  zu  bewerkstelligen."  Gerade  weil  das  Königthum  in  erster  Linie  militärischen 
Charakter  trug,  eigneten  ihm  von  vornherein  despotische  Züge,  die  sich  im  Laufe  der 
Zeit  immer  mehr  vertieften.  Die  alte  Freiheit  und  Gleichheit  werden  dadurch  vernichtet 
oder  stetig  abgeschwächt.  Ein  luxuriöser  Hof,  ein  stehendes  Heer  und  eiu  Kriegsadel 
zehren  nun  mit  an  dem  Wohlstande  des  Volkes.  Dazu  aber  gesellt  sich  die  andere 
Thatsache,  „dass  die  Könige  das  in  stiller  Abgeschiedenheit  lebende  Volk  ...  in  den 
hochgehenden  Strudel  des  phönizischen  und  ägyptischen  Handelslebens  hineinziehen 
sollten."  War  die  israelitische  „Volkswirtschaft  vorher  von  dem  Princip  der  Autarkie 
beherrscht",  so  „vollzog  sich  nun  der  Uebergang  aus  dem  reinen  Agriculturstaat  in  den 
Handelsstaat  ziemlich  rasch.  Fast  sprungweise  und  unvermittelt  ...  trat  Israel  aus  dem 
Stadium  des  passiven  Kleinhandels  in  die  Epoche  des  Grosshandels  und  in  den  damaligen 
Weltverkehr."  Glückliche  Kriege  unter  David  bringen  die  Israeliten  ans  rothe  Meer, 
sowie  in  den  Besitz  von  Damaskus  und  der  wichtigsten  Durchzugsgebiete  für  den 
Handel.  Die  Gründung  der  Residenzstadt  Jerusalem  als  Knotenpunkt  der  wichtigsten 
Karawanenstrassen  schafft  nicht  nur  ein  Handels-,  sondern  auch  ein  politisches  und 
religiöses  Centrum,  in  dem  „ein  glanzvolles  Städteleben  sich  zu  entfalten  begann".  Die 
wachsende  städtische  Bevölkerung  „vermehrte  naturgemäss  die  Comsumtion,  und  damit 
steigerte  sich  der  Absatz  nach  der  Stadt."  Zahlreiche  fremde  Kaufleute  lassen  sich  in 
Jerusalem  nieder.  Der  Aufschwung  der  Stadt  in  baulicher  Beziehung  führt  zu  regem 
Austauschverkehr  mit  den  Phöniziern.  Diese  sind  es,  die  „Baumaterialien,  Bauleute  und 
Architekten  beistellen  und  als  Entgelt  die  köstlichen  Landesproducte  der  Israeliten", 
auf  die  sie  in  der  Versorgung  mit  landwirtschaftlichen  Erzeugnissen  angewiesen  waren, 
erhielten.  Salomo  selbst  ist  der  grösste  Handelsherr  seines  Landes.  Er  betheiligt  sich 
an  den  phönizischen  Ophirfahrten,  er  monopolisiert  den  Handel  mit  ägyptischen  Rossen 
und  Kriegbwagen,  er  begründet  und  fördert  auf  alle  Art  die  israelitische  Schiffahrt. 
Kurz,  seine  „Politik  war  eine  ausgesprochene  Handelspolitik",  und  „der  Ackerbau  hatte 
bloss  den  Zweck,  dem  Handel  zu  dienen". 

Denn  landwirtschaftliche  Erzeugnisse  sind  es,  die  Israel  ausführen  kann  und  allein 
auszuführen  hat:  Oel,  Wein,  Balsam,  hauptsächlich  aber  Getreide.  Letzteres  machte  das 
Land  zur  „Kornkammer  Phöniziens  und  durch  Vermittlung  der  Phönizier  wohl  auch  noch 
anderer  Länder"  und  brachte  im  Verein  mit  den  anderen  genannten  Erzeugnissen  „riesige 
Massen  an  Edelmetall"  ins  Land.  Die  starke  Ausfuhr  nicht  nur,  auch  der  wachsende 
„Geldreichthum"  und  der  starke  inländische  Consum  —  da  „die  Hauptnahrung  des 
Volkes  Brot  war"  —  revolutionierten  die  Preise.  „Was  bis  zu  der  Zeit,  in  der  wir  stehen, 
am  billigsten  war,  das  Getreide,  wird  nun  wegen  der  lockenden  Absatzgelegenheit  im 
Auslande  ein  im  Preise  hochstehender  Artikel"  und  eben  deshalb  „Handelsobject,  Ware 
und  Gegenstand  kaufmännischer  Speculation".  „Aus  dem  in  patriarchalischer  Sitte  und 
in  eng  begrenzten  Lebensverhältnissen  dahinlebenden  Bauern  wird  der  weitblickende, 
berechnende,  geriebene  Getreidehändler."  Der  König  Salomo  selbst  hatte  —  aller- 
dings nur  zu  Speculationszwecken  —  „staatliche  Getreidelagerhäuser"  errichtet  und  dadurch 
die  Reflexwirkung  erzielt,  dass  Hungersnoth  im  Lande  selbst  verhindert  wurde.  Nach 
ihm  aber  wurde  „ohne  Rücksicht  auf  Reserven  für  den  Fall  ungünstiger  Erntejahre  das 
letzte  erlangbare  Korngetreide  von  den  Grosshändlern  aufgekauft  und  exportiert".  Die 
Folge  war  unausbleiblich.  „Das  reiche  Kornland  ward  mehrmals  mitten  im  tiefsten 
Frieden  von  Hungersnoth  heimgesucht."  Die  Veränderung  in  den  Grundlagen  des  Wirt- 
schaftslebens hatte  aber  noch  andere  unheilvolle  Folgen  auf  materiellem,  geistigem  und 
vor  allem  reglosem  Gebiet.  —  Hatte  früher  den  allgemeinen  Tendenzen  in  der  Richtung 
der  Herbeifülirung  von  Besitz-  und  Wohlstandsdifferenzierungen  die  Institution  des 
Jobeljahres  und  des  ungetheilten  Ueberganges  der  Bauerngüter  auf  einen  Erben  entgegen- 
gewirkt, so   wird    es   jetzt    anders.     Die   „Geldwirtschaft   und    die   Geldherrschaft",   der 


434  Literaturbericht. 

wachsende  Luxus  und  Bedarf  des  Hofes,  die  dadurch  nothwendig  gewordene  und  stetig 
sich  steigernde  Besteuerung,  alles  das  zerstört  die  alte  Besitzgleichheit,  vernichtet  den 
Mittelstand  und  schafft  Herren  und  Knechte  in  einem  Lande,  das  nie  „Feudalverhältnisse, 
Hintersassen  und  Hörige  gekannt  hatte".  Umsomehr,  als  „dem  begehrlichen  Handels- 
geiste der  Capitalisten  daran  liegen  liegen  musste,  möglichst  viel  von  dem  hochrentierenden 
Getreideboden  in  ihre  Hände  zu  bekommen  und  sich  an  dem  Gesetz  des  Jobeljahres 
vorbeizudrücken".  —  Die  zahlreichen  fremden  Kaufleute  finden  Gastfreundschaft  und 
Duldung  auch  in  ihren  Cultgebräuchen.  „Dem  platten  Lande  gieng  selbstverständlich 
mit  verführerischem  Beispiel  die  Eesidenzstadt  voran",  wenn  es  galt,  die  fremden  geistigen 
und  götzendienerischen  Strömungen  aufzunehmen  imd  sich  anzueignen.  Das  Ende  ist  ein 
vollständiger  sittlicher  und  religiösei  Auflösungsprocess,  der  „moralische  Bankrott". 

Auf  diesem  Boden  erwächst  das  Prophetenthum.  Durch  die  geschilderte  Entwicklung 
ist  seine  Aufgabe  umschrieben.  Die  Propheten  „erkannten  in  dem  Abfall  vom  ererbten  Glauben 
das  Grundübel  ihrer  Zeit,  und  alle  die  socialen  Misstände,  die  sie  rings  um  sich  erblickten, 
führten  sie  auf  diese  vergiftete  Quelle  zurück".  „Die  Untreue  gegen  Gott  hat  die  Untreue 
unter  den  Menschen,  den  unsocialen  Kriegszustand  der  Volksgenossen  aus  sich  heraus- 
geboren." Die  Propheten  sind  aber  keine  Revolutionäre.  Sie  wollen  keine  Reform  „durch 
Abänderung  der  socialen  Unordnung,  wie  sie  nach  aussen  in  die  Erscheinung  tritt", 
sondern  durch  innere  Wiedergeburt  der  Menschen.  Der  Verfasser  vergleicht  sie  daher 
mit  den  modernen  Nationalültonomen  ethischer  Richtung,  hebt  aber  zugleich  hervor,  dass 
sie  nifß^t  eigentlich  Politiker,  sondern  Bussprediger  und  Sittenlehrer  waren,  die  gleich  entfernt 
ichtbarem  Optimismus  wie  Pessimismus  auch  die  reale  Welt  realistisch  beurtheilten. 
Tie  sie  ihre  Mission  durchführten  und  welche  Gebiete  sie  besonders  erfassten,  führt 
[ter  nun  im  einzelnen  vor.  (S.  96  flF.) 

Die  betreffende  Schilderung  wird  genügend  durch  den  Hinweis  auf  nachfolgende 
Schlagworte  charakterisiert:  Die  Klagen  der  Propheten  über  die  allgemeine  Verderbtheit 
der  Sitten;  ihr  Kampf  gegen  den  Luxus,  insbesondere  gegen  den  Alkoholismus  und 
die  Frauenemancipation,  sowie  für  die  Reinerhaltung  von  Ehe  und  Familie,  für  Recht  und 
Gerechtigkeit  im  wirtschaftlichen  Verkehr,  für  geordnete  Rechtspflege ;  ihre  Agrar-  und 
Mittelstandspolitik. 

In  einem  Schlusscapitel  (261  flf.)  werden  vom  Verfasser  die  Hindernisse  und 
Schwierigkeiten  geschildert,  mit  denen  das  Prophetenthum  zu  kämpfen  hatte:  „Reichthum, 
Macht  und  Regierung  standen  gegen  sie  und  sogar  die  Religion  wurde  in  fürchterlicher 
Weise  von  pflichtvergessenen  Priestern  und  falschen  Propheten  gegen  sie  ins  Feld  geführt, 
um  ihre  Autorität  zu  erschüttern". 

Referent  hat  den  Inhalt  des  Walter'schen  Buches  möglichst  ausführlich  und 
getreu  wiederzugeben  gesucht,  weil  es  nach  zwei  Richtungen  hin  interessant  ist :  als 
Versuch  einer  Untersuchung  über  „altjüdische  Wirtschaftsgeschichte",  deren  bisheriges 
Fehlen  der  Verfasser  mit  Recht  beklagt;  dann  aber  auch  durch  die  absolut  bibelgläubige, 
auf  Kritik  verzichtende  Art  dieses  Versuches.  Das  macht  denselben  unwissenschaftlich. 
Eine  nähere  Begründung  dieses  Vorwurfes  ist  unnöthig.  Sie  ist  zur  Genüge  enthalten  in 
der  vorstehenden  Skizze  der  altjüdischen  Wirtschaftsgeschichte  selbst,  die  meist  aus  Ver- 
muthungen  und  unbewiesenen  Behauptungen  zusammengesetzt  ist  und  überdies  eine  über- 
triebene Neigung  verräth,  moderne-  Vorstellungen  und  Maasstäbe  in  eine  ferne  Ver- 
gangenheit zu  übertragen. 

Wien.  Carl  Grünberg. 

John  Bates  Clark:  The  distribution  of  wealth,  a  theory  of  wages,  interest  and 
profits,  New  York,  Macmillan  Company,  1899,  XXVIII  und  445  pag. 

Nur  mit  einigen  Zeilen  sei  auf  das  Werk  Clarks  aufmerksam  gemacht,  welches 
zeigen  und  nachweisen  will,  „dass  die  Vertheilung  des  gesellschaftlichen  Einkommens 
von  einem  Naturgesetze  controliert  werde,  und  dass  dieses  Gesetz,  wenn  es  ungestört 
wirken  könne,  jedem  Productionsfactor  diejenige  Menge  von  Wertobjecten  zuweise,  welche 
er  erzeugt  hat".  Den  Terminus  Naturgesetz  (natural  law)  versteht  Clark  im  Sinne  eines 
statischen  Gesetzes,  einer  Tendenz.  Das  Werk  ist  durchaus  theoretisch.  Dieser  Umstand 


Literaturbericht.  435 

allein  schon  macht  es  unmöglich  und  zwecklos,  hier,  in  einer  kurzen  Anzeige,  eine  Kritik  des- 
selben zu  bieten  oder  auch  nur  den  Inhalt  anzugeben.  Dazu  kommt,  dass  Clark  in 
diesem  Buche  im  wesentlichen  nur  eine  systematische  Zusammenstellung  schon  früher 
in  verschiedenen  Zeitschriften  veröffentlichter  Artikel  bietet.  Da  Clark  den  Gedanken 
der  Grenzproductivität  all  seinen  Betrachtungen  über  Lohn  und  Zins  zugrunde 
legt,  rückt  er  der  österreichischen  Schule  nahe,  er  muss  sich  also  auch  mit  ihr  auseinander- 
setzen; zu  Böhm-Bawerk  scheint  er  eingehender  erst  Stellung  nehmen  zu  wollen  in 
einem  zweiten  Werke,  das  den  dynamischen  Theil  der  Einkommensvertheilung  behandeln 
soll.  Natürlich  musste  neben  präcisen  Begriffsbestimmungen  auch  die  Theorie  des  Wertes 
in  ihrem  Verhältnis  zum  Einkommenprobleme  und  die  Eentenlehre  in  Betracht  gezogen 
werden,  letztere  schon  deswegen,  weil  die  Rente  theoretisch  in  solchem  Zusammenhange 
mit  Lohn  und  Zins  steht,  dass  man  diese  letzteren  in  einer  Weise  betrachten  kann,  die 
die  Anwendung  des  Rentenprincips  auf  sie  könnte  zulässig  erscheinen  lassen.  — 
Aus  dem  Gesagten  ist  wohl  ersichtlich,  dass  Clarks  Werk  einen  sehr  weiten  Kreis 
theoretischer  Betraclitungen  in  sich  schliesst.  Der  Grundgedanke  ist  insbesondere  im 
4.,  5.  und  12.  Capitel  entwickelt  („die  Grundlage  der  Vertheilung  in  allgemeinen, 
wirtschaftlichen  Gesetzen",  „die  heutige  Vertheüungsform  ein  Ergebnis  der  socialen 
Organisation",  „die  Grenzproductivität  als  Regulator  von  Lohn  und  Zins");  statische 
Gesetze  beherrschen"^  auch  die  sich  entwickelnden  (dynamischen)  Gesellschaften,  unter 
ihnen  das  Princip  der  Grenzproductivität  von  Arbeit  und  Capital.  Mit  dem  Lohne  im 
besondern  befassen  sich  die  Capitel  7  und  8,  mit  dem  Capitale  (Clark  unterscheidet 
Capital  und  Capital-goods,  die  Erträge  der  Capitalgüter  sind  Rente,  das  Product  des 
Capitals  ist  Zins),  die  Capitel  9  und  10.  Die  Rente  bespricht  vor  allem  das  Capitel  13. 
Die  weiteren  Abschnitte  sind  vorwiegend  Erklärungen  und  Beweisführungen  für  die 
früher  aufgestellten  Thesen  gewidmet.  Schullern. 

Johannes  Conrad:  Grundriss  zum  Studium  der  politischen  Oekonomie,  III.  Theil, 
Finanzwissenschaft,  II.  Auflage.  Jena,  Fischer  1900. 

Wir  machen  hiemit  auf  das  Erscheinen  einer  zweiten  vermehrten  Auflage  dieses 
Grundrisses  aufmerksam,  die  sowohl  im  theoretischen  Theile,  als  auch  in  allen  andern 
Partiea  allen  Anforderungen  an  eine  concise,  klare  und  das  Wesentliche  erschöpfende 
Darstellung  entspricht.  Dass  der  historische  Theil  auch  statistisches,  bis  in  die  unmittel- 
bare Gegenwart  reichendes  Materiale  (für  Preussen,  Grossbritannien,  Frankreich  und 
Oesterreich)  bietet,  bedarf  nur  der  Erwähnung.  

Eugen  V.  Böhm-Bawerk:  Capital  und  Capitalzins,  zweite  vielfach  vermehrte 
und  verbesserte  Auflage,  I.  Abtheilung:  Geschichte  und  Kritik  der  Capitalzinstheorien, 
Innsbruck,  Wagner  1900. 

Es  genügt,  hier  auf  das  Erscheinen  der  zweiten  Auflage  dieses  Werkes  die 
wenigen  Fachleute,  welche  davon  etwa  noch  nicht  Kenntnis  haben,  aufmerksam  zu 
machen  und  zu  erwähnen,  dass  der  Verfacser  dasselbe  wesentlich  erweitert  hat,  indem 
er  auch  John  Rae  in  den  Kreis  seiner  Betrachtung  aufnahm,  die  neueste  Literatur  über 
Capital  und  Capitalzins  in  einem  Anhange  in  seine  Kritik  einbezog  und  sich  mit  den 
Angriffen  Walkers  und  Marschalls  gegen  die  erste  Auflage  auseinandersetzte. 


Annuaire  de  la  legislation  du  travail,  public  par  Foffice  du  travail  de 
Belgique,  III.  Annee  1899,  Bruxelles  1900,  563  pag. 

Erst  vor  kurzem  waren  wir  in  der  Lage,  in  dieser  Zeitschrift  den  zweiten  Band 
dieser  verdienstlichen  Publication  anzuzeigen,  und  nun  liegt  bereits  der  dritte  vor. 
Auch  in  ihm  finden  wir  alles  Wesentliche,  was  auf  dem  Gebiete  des  Arbeiterschutzes 
und  der  Arbeiterversicherung  in  der  Berichtsperiode  geleistet  worden  ist,  vor,  so  dass 
auch  dieser  Band  als  ein  durchaus  verlässliches  Nachschlagebuch  bezeichnet  werden 
kann;  leider  zeigt  auch  er,  dass  einer  der  wichtigsten  Zweige  der  Gesetzgebung  gegen- 
wärtig in  den  meisten  Staaten  in  seiner  Entwicklung  stockt  und  dass  das  meiste,  was 
geschieht,  sich  in  mehr  oder  weniger  nebensächlichen  Verordnungen  erschöpft.  Das 
Deutsche  Reich  bietet  nur  das  Gesetz  vom  13.  Juli  1899  über  die  Invalidenversicherung; 


436  Literaturbericht. 

dem  allgemeinen  Interesse  gemäss,  das  es  beanspruchen  kann,  ist  seinem  Texte  eine 
eingehende  Einleitung  vorausgeschickt,  welche  vor  allem  seine  Geschichte  und  die 
Bedeutung  der  in  ihm  festgestellten  Abänderungen  des  Gesetzes  vom  22.  Juni  1889 
beleuchtet.  Oesterreich  documentiert  leider  noch  immer  eine  unselige  Sterilität  in  seiner 
Gesetzgebung;  hoffentlich  wird  sich  bei  uns  bald  ein  frischer  Zug  fühlbar  machen. 

Ich  erwähne  noch  das  kais.  russische  Decret  vom  7.  Juni  1899,  durch  welches 
ein  Industrie-  und  Bergwerksrath  eingesetzt  wurde  und  das  interessante  neuseeländische 
Gesetz  vom  28.  October  1899  über  die  Lohnzahlungen.  Schullern. 

Les  Industries  a  Domicile  en  Belgiqiie,  Office  du  travail,  Volume  II, 
Bruxelles  1900. 

lieber  den  ersten  Band  dieser  gross  angelegten  Sammlung  ist  in  dieser  Zeitschrift 
vor  kurzem  eingehend  berichtet  worden,  so  dass  die  Bedeutung  des  Gesammtwerkes 
wohl  genügend  charakterisiert  sein  durfte.  Wir  beschränken  uns  daher  darauf,  von  dem 
Erscheinen  des  zweiten  Bandes  Kenntnis  zu  geben  und  mitzutheilen,  dass  derselbe 
folgende,  reich  mit  statistischem  Materiale,  Kartogrammen  und  Diagrammen  ausgestattete 
Monographien  enthält: 

Die  Wollweberei-Hausindustrie  in  Flandern  (Ernest  Dubois),  223  S. 
Die  Hausstrohflechterei  im  Geerthale,  d.  h.  in  den  Provinzen  Lüttich  und  Limburg 
(Maurice  Anciaux),  82  S. 

Die  Schuhwaaren-Hausindustrie  im  flamändischen  Gebiete  (Ch.  Gilles  de 
Pelichy)  152  S. 

Die  erste  Abhandlung  verdient  eingehendes  Studium;  sie  enthält  auch  eine 
Menge  legislativ-historischen  Materiales,  das  auf  Jahrhunderte  zurückgeht.  Aus  der 
zweiten  Abhandlung  sei  besonders  der  historische  Theil  erwähnt,  sowie  die  kurze  Dar- 
legung der  technischen  Organisation  des  Gewerbes.  Auch  auf  die  Schilderung  der 
heutigen  Absatz-  und  Lohnverhältnisse  sei  verwiesen,  die  auf  das  baldige  Verschwinden 
dieser  Industrie  schliessen  lassen,  wenn  nicht  eine  ausgedehnte  Gründung  von  Genossen- 
schaften, insbesondere  Consumvereinen  im  letzten  Augenblicke  Rettung  bringt. 

Die  Schuhindustrie  der  von  Vlämen  bewohnten  Landestheile  hat  für  uns  auch 
nationales  Interesse  und  ist  wirtschaftlich  und  social  von  der  allergrössten  Bedeutung; 
insbesondere  tritt  hier  das  Genossenschaftswesen  in  verschiedenen  Formen,  freilich  erst 
langsam  in  Wirksamkeit  und  ihm  mag  es  zu  danken  sein,  wenn  dieses  Hausgewerbe 
wenigstens  örtlich  noch  seine  Blüte  für  längere  Zeit  erhalten  wird.  Schullern. 

Jean  Jaures:  Action  socialiste.  Premiere  sörie.  Paris,  Georges  Bellais,  Editeur. 
1899.  8«.  VI  und  558  S. 

Das  vorstehend  angezeigte  Buch  ist  eine  Sammlung  von  Parlamentsreden  und 
Artikeln  des  Verfassers  aus  der  Zeit  von  October  1886  bis  zum  März  1899.  Es  zerfällt 
in  zwei  Abtheilungen.  Die  erste  enthält  unter  dem  zusammenfassenden  Titel:  „Le  socialisme 
et  Tenseignement"  21,  die  zweite  unter  der  Ueberschrift:  „Le  socialisme  et  les  peuples" 
24  Reden  und  Aufsätze.  Insgesammt  sind  sie  von  socialdemokratischem  Geiste  getragen 
und  wollen  auch  nichts  anderes  sein  als  Aeusserungen  eines  socialdemokratischen  Partei- 
mannes. Dieser  Parteimann  nimmt  aber  nicht  nur  eine  führende  Stellung  in  der 
französischen  Arbeiterbewegung  ein;  er  schreibt  und  spricht  auch  glänzend.  Aus  diesen 
beiden  Gründen  verdient  daher  die  Sammlung  ernsthafte  Beachtung  von  Seite  aller,  die 
sich  für  die  socialdemokratische  Bewegung  überhaupt  und  diejenige  Frankreichs  insbe- 
sondere interessieren.  Besonder»  hervorgehoben  seien  aus  der  ersten  Abtheilung:  „Ecoles 
municipales  populaires";  „Les  universit6s  regionales";  „La  crise  de  Funiversit^"; 
„L'instruction  morale  ä  l'ecole";  aus  der  zweiten:  „Paix  et  revanche";  „La  d^mocratie 
fran^aise  en  Europe";  „Nos  camarades  les  socialistes  allemands";  „La  Conference  de 
Berlin";  „La  France  et  le  socialisme".  — ig — 

Beiträge  zur  neuesten  Handelspolitik  Oesterreichs.  Herausgegeben  vom 
VereinefürSocialpolitik.  Leipzig  1901,  Duncker  &  Humblot.  (XCIII.  Band  der  Schriften 
des  Vereines  für  Soicalpolitik)  X  und  314  S. 


I 


II 


Literaturbericht.  437 

Zehn  Monographien  zur  neuesten  österreichischen  Handelspolitik  sind  in  diesem 
Bande  vereinigt.  Die  erste,  von  Dr.  Alex.  v.  Matlekovits,  welche  die  handelspolitischen 
Interessen  Ungarns  behandelt,  enthält  in  gewissem  Sinne  eine  Negation  einer  specifisch 
österreichischen  Handelspolitik  durch  die  scharfe  Betonung  nicht  bloss  der  ungarischen 
Interessen,  sondern  auch  ihrer  selbständigen  Geltendmachung  in  der  Handelspolitik  der 
Monarchie,  Immerhin  versucht  der  Verfasser,  der  ja  auch  ein  überzeugter  Anhänger  des 
österreichisch-ungarischen  Zoll-  und  Handelsbündnisses  ist,  einen  gemeinsamen  Boden 
aufzufinden,  von  dem  aus  die  österreichisch-ungarischen  Handelsverträge  der  nächsten 
Zeit  mit  Erfolg  negociiert  werden  können.  Die  forstwirtschaftlichen  Producte  der 
Monarchie  haben  nach  des  Verfassers  Meinung  die  Sicherung  ihres  Absatzgebietes  durch 
Zollmassregeln  nicht  nöthig,  selbst  wenn  Deutschland  keine  entgegenkommende  Haltung 
beweisen  sollte.  Dagegen  hat  Ungarn  ein  grosses  Interesse  an  der  Erleichterung  seines 
Exportes  von  Getreide  (mit  Ausnahme  von  Gerste  und  Hirse,  von  denen  aber  mindestens 
die  erstere  vom  österreichischen  Standpunkte  aus  gleich  zu  beurtheilen  ist),  landwirt- 
schaftlichen Producten  und  Schlachtvieh;  damit  im  Zusammenhange  stehe  das  Interesse 
an  zollbegünstigter  Behandlung  jener  einheimischen  Industrieartikel,  welche  direct  mit 
der  Landwirtschaft  in  Verbindung  stehen,  wie  Mehl,  Mahlproducte,  Malz,  Bier,  Stärke, 
Kleister  und  Dextrin,  Zucker  und  Spiritus,  Holzwaren  u.  dgl.  Die  Haltung  der  West- 
staaten, insbesondere  aber  Deutschlands  wird  in  dieser  Hinsicht  auch  von  grossem  Ein- 
flüsse für  das  österreichisch-ungarische  Handelsverhältnis  zu  den  östlichen,  insbesondere 
der  Balkan-Länder.  Eine  Zollermässigung,  welche  Deutschland  für  landwirtschaftliche 
Producte  an  Oesterreich-Ungarn  gewährt,  kann  von  diesem  auch  den  Ostländern  gewährt 
werden,  womit  die  Monarchie  natürlich  auch  eine  wertvolle  Position  bekäme,  um  für 
ihre  Industrie  eine  zollbegünstigte  Einfuhr  in  die  Balkanländer  zu  erlangen, 

Hien.it  ist  in  der  That  ein  sehr  wesentlicher  Punkt  gleichgearteter  Interessen 
beider  Eeichshälften  aufgezeigt.  Sollen  aber  die  agrarischen  Einflüsse  auf  deutscher 
Seite  wirksam  bekämpft  werden,  dann  muss  auch  mit  der  Eventualität  gerechnet  werden, 
dass  unser  Verhältnis  zu  den  Balkanländem  in  einer  Weise  geregelt  werde,  welche  die 
Deutschen  abzuwehren  ein  starkes  Interesse  haben  müssen.  Darüber  hat  sich  der  Ver- 
fasser, als  specifisch  ungarischer  Handelspolitiker,  allerdings  nicht  ausgesprochen.  Er  hat 
zwar  genug  politisches  Empfinden,  um  auch  aus  einer  eventuell  feindseligen  Haltung 
Deutschlands  in  der  Frage  der  AgrarzöUe  nicht  die  Consequenz  zu  ziehen,  dass  dann 
unbedingt  ein  ähnliches,  feindseliges  Verhalten  den  östlichen  Nachbarn  gegenüber  zu 
verfolgen  sei.  Wenn  der  Verfasser  aber  die  volle  Consequenz  dieses  Standpunktes 
ziehen  würde,  so  müsste  er  auch  zugeben,  dass  eine  eventuell  ganz  ernste  Inaussicht- 
nahrae  eines  ZoUbündnisses  mit  den  Balkanländern  auf  Deutschland  allein  einen  Eindruck 
ausüben  könnte.  Freilich  wüide  eine  solche  Ordnung  der  Dinge  dem  specifisch  ungarischen 
Interesse  weniger  als  dem  Oesterreichs  entsprechen. ;  aber  wenn  das  Operieren  mit 
begünstigten  Industrieexporten  Oesterreich-Üngarns  nach  dem  Balkan  als  Mittel  zur 
Erlangung  begünstigter  AgrarzöUe  im  Deutschen  Reiche  sich  wirksam  erwiese,  dann 
würden  wohl  auch  die  Ungarn  für  diese  Handelspolitik  ein  Verständnis  haben.  Jedenfalls 
aber  dürfte  die  officielle  ungarische  Handelspolitik  nicht  auf  dem  Standpunkte  des 
Verfassers  stehen,  der  meint,  Ungarn  (!)  könne  als  ausreichende  Gegengabe  fi|r  eine 
Bindung  und  Ermässigung  der  AgrarzöUe  dem  Deutschen  Eoiche  die  Herabsetzung,  bezw. 
Festlegung  unseres  gegenwärtigen  autonomen  Tarifs  für  Industrieartikel  bis  an  die 
Grenze  der  deutschen  Zollsätze  zugestehen.  Dieses  Geschenk  aus  fremder  Tasche 
widerspricht  doch  direct  dem  Grundsatze,  dass  das  Maass  der  Opfer,  welche  jeder  der 
beiden  Reichstheile  dem  einheitlichen  Zollwesen  bringt,  im  geraden  Verhältnisse  zu  der 
Grösse  des  Interesses  stehen  muss,  das  jeder  an  der  Erreichung  eines  bestimmten 
handelspolitischen  Erfolges  hat. 

Die  übrigen  Abhandlungen  dieses  Bandes  betreffen  die  handelspolitischen  Be- 
ziehungen Deutschlands  und  Oesteireichs  (von  Dr.  J.  Grunzel)  und  die  Frage  einer 
Zollunion  mit  Deutschland  vom  Standpunkte  der  österreichischen  Textilindustrie  (von 
D.    E.    V.    Stein),    ferner    die   handelspolitischen  Interessen   der  österreichischen  Land- 

,  Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltunff.  X.  Band.  30 


438  Literaturbericht. 

Wirtschaft  (von  Dr.  K.  Allesina  v.  Schweitzer),  der  österreichischen  Glasindustrie 
(von  J.  Reich),  der  Holzbranche,  der  Thonindustrie  (von  J,  Buk);  eine  Darstellung 
der  handelspolitischen  Beziehungen  Oesterreich- Ungarns  zu  Rumänien,  Serbien  und 
Bulgarien  (von  Professor  M.  Grünberg),  über  internationale  Veterinärconventionen  (von 
Professor  G.  Marchet)  und  über  Zollverwaltung  und  Zollverfahren  (von  Dr.  R.  Kobatsch). 
Es  wird  Gelegenheit  sein,  auf  die  zum  Theile  sehr  lehrreichen  Ausführungen,  welche 
diesen  Band  der  Schriften  des  Vereines  für  Socialpolitik  besonders  auszeichnen,  ndch 
des  näheren  zurückzukommen.  J. 

Beiträge  zur  neuesten  Handelspolitik  Deutschlands.  Herausgegeben  vom 
Verein  für  Socialpolitik,  I.  Band.  Leipzig  1900.  Duncker  &  Humbio t.  336  S. 

Dieser  sehr  wertvolle  90.  Band  der  Schriften  des  rührigen  Vereines  für  Social- 
politik umfasst  4  Beiträge:  1.  Die  Handelspolitik  der  Vereinigten  Staaten  1889 — 1900 
von  Dr,  George  M.  Fisk,  Professor  an  der  handelspolitischen  Abtheilung  des  Tome 
Institute,  Port  Deposite,  Maryland.  2.  Die  Stellung  der  landwirtschaftlichen  Zölle  in 
den  1908  zu  schliessenden  Handelsverträgen  Deutschlands  von  Professor  Dr.  J.  Conrad 
in  Halle  a.  S.  8.  Zollpolitische  Einigungsbestrebungen  in  Mitteleuropa  während  des 
letzten  Jahrzehnts.  Von  Professor  Dr.  Ernst  Francke  in  Berlin.  4.  Die  deutsch- 
russischen Handelsbeziehungen  von  Privatdocent  Dr.  Karl  Ballod  in  Beilin. 

Direct  mit  Oesterreich  beschäftigt  sich  nur  der  3.  dieser  Beiträge,  und  zwar  ist 
es  der  Gedanke  eines  Zoll-  und  Handelsbündnisses  mit  dem  Deutschen  Reiche,  dessen 
Chancen  hier  besprochen  werden.  In  den  mannigfachsten  Formen,  Wendungen  und 
Schattierungen  ist  im  Laufe  des  letzten  Decenniums  dieser  Gedanke  in  der  Donau- 
monarchie diesseits  und  jenseits  der  Leitha  immer  wieder  zutage  getreten,  freilich  auch 
immer  wieder  bekämpft  worden.  Im  Deutschen  Reiche  hat  der  Gedanke  im  allgemeinen 
nur  eine  geringe  Resonanz  gefunden.  Aber  die  Verhältnisse  sind  doch  auch  hier 
so  wenig  geklärt,  die  Interessengegensätze  so  gross,  dass  es  sich  erst  erweisen  muss,  ob 
nicht  im  Reich  wie  in  Oesterreich-Ungarn  sich  schliesslich  doch  eine  Mittellinie  der 
Interessen  herausstellen  wird,  welche  sich  nahe  berührt  und  den  Gedanken  —  im  Hin- 
blicke auf  die  handelspolitischen  Gefahren  aus  West  und  Ost  —  vielleicht  als  annehm- 
barer erscheinen  lassen,  als  er  sich  auf  den  ersten  Blick  darstellt.  J. 

A.  (x.  Raunig,  Der  Zolltarif  und  die  Reciprocitäts-Verträge  der  Vereinigten 
Staaten  von  Amerika.  Wien,  Verlag  des  „Industriellen  Club"  1901.  40  S. 

Die  kleine  Schrift  von  Raunig  wird  auch  neben  der  viel  grösseren  und  eingehen- 
deren Abandlung  von  Fisk  (s.  o.)  immer  noch  ihren  Wert  behaupten.  Sie  legt  zuerst 
die  Construction  des  Generaltarifs,  besonders  nach  der  Dingley-Bill  1897  dar,  gibt 
lehrreiche  Details  über  die  Handhabung  des  Tarifs  und  die  Bedingungen,  welche  bei 
der  Einfuhr  nach  den  Vereinigten  Staaten  zu  erfüllen  sind,  sowie  über  das  Restitutions- 
verfahren und  erörtert  sodann  eingehend  die  Anwendung  des  Princips  der  Gegenseitigkeit 
(Reciprocität),  mit  welchem  die  amerikanische  Handelspolitik  mindestens  ebenso  wichtige 
Erfolge  wie  mit  seinem  Generaltarif  erzielt,  und  das  bestimmt  scheint,  in  immer  grösserem 
Umfange  an  die  Stelle  der  Meistbegünstigung  oder  der  DifFcrenzialzöUe  zu  treten. 
Insbesondere  in  der  amerikanischfn  Auffassung  der  Meistbegünstigungsclausel  trirt  dies 
zutage.  Oesterreich-Ungarn,  das  mit  den  Vereinigten  Staaten  keinen  Reciprocitäts- 
vertrag  abgeschlossen  hat,  sondern  nur  eine  allgemeine  Meistbegünstigung  beanspruchen 
kann,  ist  darnach  von  allen  Zollermässigungen  ausgeschlossen,  welche  nur  gegen  bestimmte 
Gegenleistungen  einem  anderen  Staate  gewährt  worden  sind.  Die  zahlreichen  Auszüge 
aus  der  Handelsstatistik,  welche  Raunig  seiner  Schrift  einverleibt  hat,  illustrieren  in 
wirksamer  Weise  die  Erfolge  des  neuesten  zollpolitiscben  Systems  der  Vereinigten  Staaten. 

Ig.  Zuclter.  Lose  Blätter  über  die  österreichische  Zoll-  und  Handelspolitik  nebst 
einem  Blicke  auf  die  inneren  Verhältnisse.  Wien,  Manz  1901.  48  Seiten. 

Vier  Forderungen  stellt  der  Verfasser  als  nothwendig  zur  allgemeinen  Aufrichtung 
unserer  Handels-  und  Wirtschaftspolitik  auf:  Die  bevorstehenden  Handelsverträge  nur  im 
Sinne  eines  ausgiebigen  Schutzes  der  einheimischen,  industriellen  Interessen  abzuschliessen; 
das  Reatitutions  verfahren  in  Oesterreich  zu  erweitem,  um  es  allen  Interessenten  zu  ermöglichen, 


Literaturbericbt.  439 

davon  in  leichter  Weise  Gebrauch  zu  machen;  zur  Unterstützung  der  Industrie  und  zur  Hebung 
des  Seeverkehrs  Differentialzölle  auf  breiterer  Grundlage  einzuführen  und  endlich  eine 
Kohstofftarif  zu  construieren,  der  Massen-  und  Schwergüter  allgemeinen  Verbrauches 
unter  den  billigsten  Transportbedingungen  befördert.  Von  diesen  Forderungen  ist  nur 
eine,  die  Erweiterung  des  Restitutionsverfabrens,  näher  ausgeführt.  Der  Verfasser  hat 
auf  diesem  Gebiete  offenbar  eigene,  praktische  Erfahrungen,  die  seinen  allgemeinen 
Ausführungen  sehr  zustatten  gekommen  sind.  Das  Restitutionsverfahren  bei  Fabrikaten- 
exporten, welche  aus  eingeführtem  und  verzolltem  Rohstoff  gearbeitet  sind,  ist  zwar  in 
in  Oesterreich  schon  lange  gesetzlich  geordnet,  aber  die  Modalitäten,  welche  erfüllt 
werden  müssen,  um  von  der  Zoll-Restitution  Gebrauch  machen  zu  können,  sind  so  um- 
ständlich und  schwer,  dass  praktisch  sehr  wenig  Nutzen  aus  dieser  Einrichtung  für  den 
Export  daraus  resultiert.  Eine  reichere  Ausbildung  und  freiere,  einfachere  Behandlung 
des  Restitutionsverfahrens  gehört  allerdings  zu  den  berechtigten  Postulaten  unserer 
Exportkreise.  J. 

Dl*.  Heinrich  Dietzel:  Weltwirtschaft  und  Volkswirtschaft,  Dresden,  v.  Zahn 
und  Jaensch  1900,  120  S.  (Jahrbuch  der  Gehestiftung  V.) 

Mit  wachsendem  Erstaunen  wird  wohl  jeder,  der  nicht  auf  die  Freihandelsidee 
eingeschworen  ist,  dieses  geistvolle  Buch  lesen;  von  Seite  zu  Seite  wird  er  sich  immer 
mehr  zum  Widerspruch  herausgefordert  fühlen,  ja  manchmal  wird  ihm  der  Gedanke  nicht 
fernsein,  der  Verfasser  ergehe  sich  in  Paradoxen;  nun,  mir  ist  es  beim  Lesen  diesem 
Werkes  in  gewissem  Sinne  auch  nicht  anders  ergangen;  trotzdem  halte  ich  dafür,  dass 
es  nothwendig  ist,  Dietzels  Buch  zu  lesen,  denn  es  stellt  ein  vollständiges  Waffendepöt 
der  Freihandelsidee  dar  und  was  auf  den  ersten  Blick  paradox  erscheint,  ist  oft  gerade 
die  gefährlichste  Waffe.  Wer  trotz  Dietzel  die  Entnationalisierung  der  Volkswirtschaft 
noch  immer  verwirft,  auch  nachdem  er  sein  Buch  mit  vollem  Verständnisse  studiert  hat, 
der  ist  erst  vollkommen  qualificiert,  gegen  die  Freihandelstheorie,  —  ich  halte  diese, 
wenigstens  unter  den  heutigen  Verhältnissen  Mitteleuropas  und  vom  Standpunkte  dieses 
Gebietes,  also  unter  allen  Umständen,  wenn  als  allgemein  giltige  These  aufgestellt,  für 
eine  Irrlehre,  —  erfolgreich  zu  Felde  zu  ziehen,  denn  er  kennt  das  Schlachtterrain  und 
die  "Waffen  der  Gegner. 

Dietzel  hält  dafür,  dass  der  Volksreichthum  durch  den  Anschluss  der  nationalen 
an  die  Weltwirtschaft  qualitativ  und  quantitativ  gehoben  werde  und  meint  im 
Rahmen  dieses  Gedankens:  bei  „kosmopolitischer"  Arbeitstheilung  werde  die  Arbeit  eines 
jeden  Volkes  nationaler,  weil  sie  dann  nur  mehr  jene  Productionszweige  betrifft,  für  die 
Land  und  Volk  besonders  geeignet  sind.  Sollte  diese  letztere  These  nicht  etwa  nur  dann 
verständlich  sein,  wenn  übersehen  wird,  dass  die  Wirtschaft  im  allgemeinen  und  die 
Volks-,  ja  sogar  die  sogenannte  Weltwirtschaft  nicht  Selbstzweck,  sondern  Mittel  für 
die  Erreichung  des  allgemeinen  Culturzweckes,  aber  nicht  etwa  nur  der  „Menschheit" 
als  solcher,  sondern  zum  mindesten  zunächst  jedes  einzelnen,  für  sich  existenzberechtigten 
und  daher  nicht  nur  staatlicher,  sondern  auch  möglichst  grosser  wirtschaftlicher  Unab- 
hängigkeit bedürftigen  Volkes  ist?  Sollte  eben  diese  These  nicht  dann  von  selbst  wider- 
legt sein,  wenn  man  bedenkt,  dass  die  Völker  unter  dem  Gesichtswinkel  unseres 
Problems  nicht  nur  statisch,  sondern  auch  dynamisch  betrachtet  werden  müssen  und 
dass  Wissenschaft  und  Technik  den  wirtschaftlichen  Wert  jedes  Landes  verändern  und 
erhöhen  können?  Dass  der  Anschluss  an  die  Weltwirtschaft  die  Stetigkeit  des  Wirt- 
schaftslebens fördert,  mag  richtig  sein;  dass  durch  eine  vollständige  Angliederung  aber 
eine  Hälfte  der  Menschen  wenigstens  während  einer  vielleicht  sehr  langen  Uebergangs- 
periode  der  andern  aufgeopfert,  die  Stetigkeit  des  Wirtschaftslebens  also  sehr  theuer 
erkauft  würde,  darf  dabei  auch  nicht  übersehen  werden;  es  liegt  da  ein  Argument  vor, 
das  wir  nur  zu  oft  in  der  Getreide-Terminhandelsfrage  gehört  haben;  man  sah  —  auf 
internationalem  Standpunkte  stehend  —  in  der  preisnivellierenden  Function  des  Termin- 
handels ein  Verdienst  desselben  und  vergass,  dass  den  Vortheil  dabei  die  reichen  Länder 
haben,  welche  die  armen,  unter  ungünstigen  Productionsbedingungen  schmachtenden,  auf 
diesem  Wege  wirtschaftlich  zertreten. 


440  Literaturbericht. 

Dass  im  allgemeinen  die  Lebensverhältnisse  der  Bevölkerung  sich  gebessert  haben, 
mag  richtig  sein;  dass  diese  Erscheinung  aber  nur  oder  aber  auch  nur  zum  erheblichen 
Theile  dem  „Anschlüsse  an  die  Weltwirtschaft"  zu  danken  sei,  muss  ich  bestreiten, 
vorausgesetzt,  dass  man  darunter  nicht  etwa  nur  meint,  dass  ein  Verkehr  mit  aus- 
ländischen Productionsgebieten  überhaupt  hiezu  nöthig  war;  ein  Verkehr  auf  der  Basis 
des  Freihandels  war  gewiss  nicht  nothwendig;  das  zeigt  uns  eia  Blick  auf  das  Deutsch- 
land List's. 

Nur  insoweit  Dietzel  den  Anschluss  an  die  Weltwirtschaft  in  diesem  letztern 
Sinne  versteht,  insoferne  er  also  fordert,  die  heimische  Eohproduction  und  Industrie  sei 
ohne  Zollschutz  dem  wilden  Spiele  der  sogenannt  „freien"  Concurrenz  mit  den  Productionen 
der  auswärtigen  Länder  zu  überantworten,  insoferne  er  von  „kosmopolitischer  Arbeits- 
theilung"  redet,  die  auf  die  heutige  Lage  der  nationalen  Arbeit  und  auf  die  für  die 
wichtigsten  Bedarfsartikel  gegebenen,  nationalen  Arbeitsbedingungen  keine  Rücksicht 
nimmt,  gelten  die  obigen  Einwendungen,  Hier  aber  ist  der  entscheidende  Punkt  und 
hierin  kann  uns  Dietzel  auch  durch  seine  so  scharfsinnige  „Kritik  der  gegen  den 
Anschluss  an  die  Weltwirtschaft  erhobenen  Bedenken  und  der  auf  Grund  dieser  Bedenken 
geforderten  Politik  der  „Nationalisierung"  nicht  zu  seiner  Auffassung  bekehren.  Hier 
steht  eine  Grundanschauung  einer  andern  gegenüber,  wenn  wir  im  Gegensatze  zu 
Dietzel  nicht  wünschen,  dass  die  einzelnen  Volkswirtschaften  mit  dem  „weltwirtschaft- 
lichen Organismus"  so  verschmolzen  werden,  dass  sie  in  demselben  die  Function  von 
Gliedern  erhalten.  Uns  ist  die  Nation,  uns  ist  der  Staat  ein  selbständiges  Wirtschafts- 
subject  mit  jeweils  nur  ihm  eigenen  Bedingungen  für  sein  wirtschaftliches  Gedeihen  und 
für  die  Erreichung  der  ihm  eigenen  Culturaufgaben.  Alles  übrige  ist  eine  Frage  nach 
dem  Maasse,  welches  der  Protectionismus  einhalten  muss,  wenn  er  nicht  auch  jenen 
Verkehr  mit  auswärtigen  Volkswirtschaften  unterbinden  soll,  der  auch  von  unserem 
Standpunkte  aus  nothwendig  und  nützlich  ist,  und  der  sich  als  ein  einigendes  Band  um 
die  Völker  schlingen  soll,  ohne  zu  einem  Strick  zu  werden,  welcher  sie  in  ihrer  nationalen  ^j; 
Subjectivität  und  Selbständigkeit  erdrosseln  würde.  Schullern.  ^"I^ 


DAS  AUSWANDEßUNGSPßOBLEM 

UND  DIE 

REGELUNG  DES  AUSWANDERÜNGSWESENS 
IN  ÖSTERREICH. 

VON 
DR.  JOSßF   BUZEK. 


I.   Das  Auswandepungsppoblem. 
1.  Einleitung. 

In  der  Reihe  der  wirtschaftlichen  und  socialen  Gesetzesvorlagen,  die 
(auf  Grund  des  in  der  Allerhöchsten  Thronrede  enthaltenen  Programmes)  in 
der  laufenden  Session  des  Reichsrathes  zur  Erledigung  gelangen  sollen, 
dürfte  das  Auswanderungsgesetz  das  Interesse  weiter  Kreise  der  Bevölkerung 
nicht  besonders  erregt  haben.  Für  die  öffentliche  Meinung  in  Oesterreich, 
soweit  diese  durch  die  grossen  Blätter  der  Hauptstadt  bestimmt  wird, 
scheint  überhaupt  eine  österreichische  Auswanderungsfrage  nicht  zu  existieren. 
Mehr  als  das!  Selbst  die  österreichische  Wissenschaft  hat  sich  bisher  mit  diesem^ 
Problem  so  gut  wie  nicht  beschäftigt.  Es  ist  demnach  zu  befürchten,  dass 
die  auf  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  bezügliche  Action  der 
Regierung  unter  völliger  Theilnahmslosigkeit  weiterer  Kreise  durchgeführt 
werden  wird. 

Die  auf  den  ersten  Blick  sehr  befremdende  Thatsache,  dass  bei  uns 
wohl  die  Auswanderung  aus  Deutschland,  aus  England  etc.  eifrig  studiert^ 
dagegen  die  aus  Oesterreich-Ungarn  fast  übersehen  wurde,  findet  ihre 
natürliche  Erklärung  in  den  nationalen  Verhältnissen  der  Monarchie.  Es  fehlen 
rege  geistige  Beziehungen  zwischen  den  das  Reich  bewohnenden  Volks- 
stämmen, und  so  weiss  der  Deutsche  nicht,  was  dem  Polen  noth  thut,  und 
dem  Italiener  ist  das  Wohl  und  Wehe  des  Böhmen  fremd.  Jeder  Deutsch- 
österreicher, der  sich  mit  der  Frage  beschäftigt,  weiss  wohl,  dass  z.  B.  in 
Italien  die  Auswanderungsfrage  für  gewisse  Gegenden  so  wichtig  ist,  dass 
es  ihn  gar  nicht  wundert,  wenn  mitten  in  den  wildesten  Obstructionskämpfen 
des  Vorjahres  die  italienische  Kammer  einhellig  die  auf  die  Regelung  des 
Auswanderungswesens  bezügliche  Regierungsvorlage  der  Verhandlung  unter- 
warf. Er  weiss  aber  nicht,  dass  es  in  Oesterreich  ganze  Länder  oder 
wenigstens  sehr  grosse  Gebiete  gibt,  für  die  die  Regelung  des  Auswanderungs- 

'         Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitlk  und  Verwaltung.  X.  Band.  31 


442  Buzek. 

Wesens  eine  wahre  Nothstandsangelegenheit  ist,  von  der  Hunderttausende 
von  Existenzen  berührt  werden.  Hier  mit  Informationen  zu  dienen,  das 
Problem  der  österreichischen  Auswanderung  zu  formulieren,  die  Aufgaben 
und  Ziele  einer  Regelung  des  Auswanderungswesens  zu  bestimmen,  ist  die 
erste  Aufgabe  der  vorliegenden  Abhandlung. 

Das  Problem  der  österreichischen  Auswanderung  hängt  wesentlich 
davon  ab,  was  wir  unter  Auswanderung  verstehen  wollen.  Der  Begriif,  so 
klar  er  auch  auf  den  ersten  Blick  zu  sein  scheint,  umfasst  doch  eine  Scala 
von  Unterscheidungen,  angefangen  von  der  engen  Definition  des  §  1  des 
Auswanderungspatentes  vom  24.  März  1832  (J.-G.-S.  Nr.  2557)  bis  zu 
der  von  Freiherr  von  Call  de  lege  ferenda  vorgeschlagenen  Aenderung, 
wonach  unter  Auswanderung  jede  Entfernung  „in  das  Ausland,  um  dort 
Erwerb  zu  suchen"  zu  verstehen  ist.  ^) 

Die  Auswanderung  ist  nur  eine  Form  der  Wanderbewegungen,  die 
seit  Sanctionierung  des  Princips  der  Freizügigkeit  eine  der  wesentlichsten 
Bedingungen  unseres  wirtschaftlichen  und  socialen  Lebens  bilden.  Es  sind 
in  der  Regel  dieselben  Motive,  die  zur  Uebersiedlung  in  eine  nahegelegene 
Stadt,  oder  ein  benachbartes  Industriecentrum  und  die  zur  Auswanderung 
nach  fremden  Ländern  und  selbst  über  die  See  treiben.  Der  Unterschied 
besteht  nur  in  den  Wirkungen  für  den  Wanderer  selbst,  wie  für  die  culturelle, 
politische  und  wirtschaftliche  Gemeinschaft,  der  er  angehört  hat  und  in  ^ 
er  eintreten  will.  *i^ 

Die  erwähnten  Wirkungen  sind  für  alle  Betheiligten  wesentlich  anderer 
Art,  wenn  der  Wanderer  noch  immer  im  Bannkreise  der  alten  Gemeinschaft 
verbleibt,  als  wenn  er  denselben  verlässt.  In  ersterem  Falle  sprechen  wir 
von  einer  Wanderung  schlechthin,  im  zweiten  Falle  bezeichnen  wir  den 
Wegzug  als  Auswanderung, 

Von  diesem  Standpunkte  aus  betrachtet  müsste  als  österreichische 
Auswanderung  wohl  nur  die  Wanderbewegung  über  die  Grenzen  des  Staates 
hinaus  bezeichnet  werden.  Die  wirtschaftlichen  und  nationalen  Gegensätze, 
die  innerhalb  der  Staatsgrenzen  existieren,  bewirken  aber,  dass  die  Wanderung 
aus  dem  agrarischen  Galizien  zum  mährisch-schlesischen  Kohlenbecken,  wie 
die  aus  czechischen  Gegenden  in  deutsche  Bezirke  erfolgende  Zuwanderung 
nicht  als  Ab-  und  Zuzug  sondern  als  Auswanderung  und  Immigration 
empfunden  werden.  Im  ersten  Falle  hat  der  Wanderer  seine  wirtschaftliche, 
im  zweiten  seine  nationale  Sphäre  verlassen,  und  die  Wirkungen  sind  derart, 
dass  sie  nicht  nur  die  unmittelbar  Betroffenen,  sondern  auch  den  Staat 
interessieren.  Bei  der  Formulierung  des  Problems  der  österreichischen  Aus- 
wanderung wird  also  auch  auf  diese  Thatsachen  eingegangen  werden  müssen. 
Das  Problem  der  Auswanderung  aus  Oesterreich  kann  nur  auf  Grund 
eines  Studiums  der  Entwickelung  und  des  gegenwärtigen  Standes  derselben 
aufgestellt  werden.  Wir  werden  uns  also  zuerst  über  die  Ursachen,  die 
Richtungen,  den  Umfang  und  die  Folgen  der  österreichischen  Auswanderung 


I 


^)  Artikel:  Auswanderungsgesetzgebuug  in  Oesterreich,  Handwörterbuch  der  Staats- 
wissenschaften, Jen^a  1899,  II.  Band,  S.  117. 

/ 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Eegelung  des  Auswanderungswesens  etc.     443" 

ZU  äussern  haben.  Der  internationalen  Bedeutung  der  Bewegung  wegen 
werden  wir  dabei  gelegentlich  auch  die  Entwickelung  der  Auswanderung  aus 
den  Ländern  der  ungarischen  Krone  in  den  Kreis  unserer  Betrachtungen  ziehen. 

2.  Die  Geschiehte  der  österreichischen  Auswanderung 
bis  zum  Ende  der  Siebziger  jähre. 

Die  Geschichte  der  österreichischen  Auswanderung  ist  bisher  nicht 
geschrieben.  Die  Bewegung  erstreckt  sich  auf  national  und  culturell  so 
differenzierte  Territorien,  dass  für  den  einzelnen  die  Sammlung  des  Materials 
fast  unmöglich  ist.  Wir  müssen  versuchen,  auf  Grund  der  uns  zugänglichen 
Quellen  den  Verlauf  der  Auswanderungsbewegung  aus  den  wichtigsten 
Theilen  des  Kelches  so  weit  zu  skizzieren,  als  dies  für  die  Zwecke  der  vor- 
liegenden Arbeit  nothwendig  erscheint.  Wir  wollen  hiebei  mit  dem  Jahre  1851 
anfangen,  da  ein  Rückblick  auf  die  frühere  Periode  wegen  der  im  Jahre  1848 
eingetretenen  Aenderung  der  Verhältnisse  nicht  mehr  interessiert.  ^) 

Die  Wanderbewegung  ist  in  Oesterreich,  wie  in  den  allermeisten 
übrigen  Staaten,  nie  Gegenstand  erschöpfender  statistischer  Beobachtung 
gewesen.  Bis  zum  Jahre  1884  waren  auf  Grund  der  H.-K.-V.  vom 
17.  März  1820  und  des  Hofdecretes  vom  7.  Februar  1823  die  politischen 
Behörden  verpflichtet,  alljährlich  sogenannte  Emigrationstabellen  auszustellen, 
und  darin  alle  jene  Personen  auszuweisen,  die  die  Monarchie  verliessen  und 
„sich  in  einem  fremden  Staat  begaben  mit  dem  Vorsatze,  nicht  wieder 
zurückzukehren",  mögen  sie  die  Erlaubnis  der  Behörden  erhalten  oder  ohne 
dieselbe  die  Grenzen  verlassen  haben.  Die  Tabelle  sah  besondere  Rubriken 
nur  für  das  Geschlecht,  das  Alter  und  das  mitgenommene  Vermögen  der 
Auswanderer  vor.  Die  Emigrationstabellen  bezogen  sich  also  sowohl  auf  die 
erlaubte,  als  auch  auf  die  unerlaubte  Auswanderung,  und  sollten  ihrer 
Anlage  nach  einen  Ueberblick  über  den  Umfang  der  dauernden  Aus- 
wanderung sowohl  nach  europäischen,  als  auch  nach  überseeischen  Ländern 
ermöglichen.  Bis  zur  gesetzlichen  Feststellung  der  Auswanderungsfreiheit, 
die  bekanntlich  durch  Art.  4  des  Staatsgrundgesetzes  vom  21.  December  1867 
(R.-G.-Bl.  Nr.  142)  erfolgte,  mögen  diese  Nachweisungen  so  ziemlich 
zuverlässig  gewesen  sein.  Nach  1867  entgiengen  aber  immermehr  Aus- 
wanderungsfälle der  Kenntnis  der  Behörden  und  die  Daten  der  Emigrations- 
tabellen wurden  schliesslich  so  unbrauchbar,  dass  im  Jahre  1884  die  statistische 
Central-Comission  sich  entschliessen  musste,  auf  diese  Art  der  Erhebung 
überhaupt  zu  verzichten.^)   Seit  dieser  Zeit  veröffentlicht  die  „Statistische 


*)  In  der  ersten  Hälfte  .des  neunzehnten  Jahrhunderts  war  die  österreichische 
Auswanderung  immer  eine  sehr  unbeträchtliche  gewesen  und  erreichte,  wenn  nicht 
besondere  Zeitereignisse  eine  Hebung  hervorriefen,  nie  die  Höhe  von  1.000  Individuen; 
im  Jahre  1820  wanderten  1.211,  1830  541  Personen  aus.  1840  wieder  nur  663,  1845  745; 
namhafter  ist  die  österreichische  Auswanderung  jedenfalls  in  der  bewegten  Zeit  der 
Revolutionsjahre  1848  und  1849  gewesen,  doch  fehlen  hierüber  jedwede  verlässliche 
Aufschreibungen. 

2)  Vergleiche  Ferd.  S  c  h  m  i  d,  Oesterreichisches  Staatswörterbuch,  (von  U 1  b  r  i  c  h- 
Mi  seh  1er),  Band  I,  Artikel  Auswanderung. 

31* 


U4 


Buzek. 


Monatsschrift"  bloss  die  Daten  der  überseeischen  Auswanderung,  und  dies 
auf  Grund  des  von  den  Behörden  der  wichtigsten  Ein-  und  Ausschiffungs- 
häfen gesammelten  Materiales.  ^)  Wie  unvollkommen  diese  Nachweisungen 
sind,  geht  schon  daraus  hervor,  dass  nicht  einmal  die  Gesammtzahl  der 
Auswanderer  aus  Oesterreich  sich  exact  berechnen  lässt  und  auf  Schätzungen 
gegriffen  werden  muss.  -) 

Abgesehen  von  den  durch  die  unmittelbare  Beobachtung  der  Wander- 
bewegung gewonnenen  Daten,  kann  die  Intensität  der  Wanderbewegungen 
näherungsweise  auch  auf  die  Art  berechnet  werden,  dass  man  die  Zunahme 
des  Bevölkerungsstandes,  die  durch  zwei  unmittelbar  aufeinander  folgende 
Volkszählungen  festgestellt  wird,  dem  Geburtenüberschüsse  des  Zeitraumes 
zwischen  diesen  Volkszählungen  gegenüberstellt.  ^)  Die  Beobachtung  richtet 
sich  hier  auf  die  ganze  Wanderbewegung,  umfasst  namentlich  auch  die 
Binnenwanderungen,  auf  ihr  sollen  denn  auch  die  weiteren  Ausführungen 
basieren. 

Wird   nur   die    Civilbevölkerung   in   Betracht   gezogen,    dann    betrug: 


I.  Das  Plus  der  Einwanderung  (-{-),  resp.  das  Plus  der  Auswanderung  ( — )  in  der  Periode 


Nieder-Oesterreich   . 
Ober-Oesterreich  .   . 

Salzburg 

Steiermark      .... 

Kärnten 

Krain 

Küstenland     .... 
Tirol  und  Vorarlberg 

Böhmen 

Mähren 

Schlesien 

Galizien 

Bukowina 

Dalmatien 

Staatsgebiet  . 


1857—1869*) 


1870—1880*) 


+  169.089 

+  4.198 

+  4.355 

+  21.741 

—  10.001 

—  22.356 

—  2.043 

—  11.819 

—  183.045 

—  35.821 

—  3.741 
+  67.415 
+  1.916 

—  20.776 


20.888 


4- 199.272 

—  1.801 
+  6.704 
-f  21.926 

—  2.694 

—  15.268 
+  8.929 

—  15.079 

—  173.115 

—  79.840 

—  7.545 

—  1.997 
+  13.083 

—  0.286 


66.594 


1881—1890») 


+  171.092 

—  2.023 
+  5.221 
+  11.237 

—  6.648 

—  20.587 

—  6.955 

—  15.994 

—  198.493 

—  53.976 

—  7.731 

—  81.997 

—  2.952 

—  14.787 


224.593 


^1^^1900^) 


+ 


163.180 

23.024 

9.810 

7.430 

16.185 

32.720 

251 

3.472 

—  127.725 

—  80.799 

—  1.730 
^  340.833 

—  14.282 

—  15.750 


+ 


484.317 


II 


^)  Dr.  Probst,  Die  österreichische  überseeische  Auswanderung  insbesondere  in 
den  Jahren  1889  und  1890.  Statistische  Monatsschrift,  Band  XVIII,  S.  1  ff. 

2)  Vergleiche  Statistische  Monatsschrift.  Band  XIIT,  S.  132,  Band  XIV,  S.  39, 
Band  XVI,  S.  149,  Band  XVIII,  S.  1,  Band  XIX,  S.  379,  N.  F.  Band  II,  S.  580,  N.  F. 
Band  V,  S.  72. 

3)  Vergleiche  von  Mayr,  Bevölkerungsstatistik,  S.  335. 

*)  Oesterreichische  Statistik,  V.  Band,  3.  Heft,  S.  IV.  (Ergebnisse  der  Volkszählung 
vom  31.  December  1880.) 

^)  Eigene  Berechnungen. 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Regelung  des  Auswandeningswesens  etc.     445 


II.  Der  jährliche  Geburtenüberschuss 


Das  jährliche  Plus  der 

Einwanderuug  (-}-),  resp. 

Auswanderung  (  — ) 


auf  100  Civileinwohner 


in  der  Periode 


1857 

bis 

18691) 


1870 

bis 

1880') 


1881 
bis 
1890 


1891 
bis 
1900 


.1857 

bis 

18692) 


1870  I  1881      1891 

bis     I    bis    i    bis 

18802)    1890  I  1900 


Nieder-Oesterreich 
Ober-Oesterreich     .    . 

Salzburg 

Steiermark 

Kärnten 

Krain 

Küstenland   ...... 

Tirol  und  Vorarlberg 

Böhmen 

Mähren 

Schlesien 

Galizien 

Bukowina 

Dalmatien 

Staatsgebiet  .    . 


0-63 
0-23 
002 
0-43 
0-35 
0-61 
1-01 
0-38 
0-99 
0-73 
1-33 
1-39 
0-97 
118 


0-87 


0-65 
0-30 
0-14 
0-J3 
0-37 
0-59 
0-5S 
0-42 
1-06 
1-03 
1-06 
0-86 
0-81 
0-47 


0-65 
036 
0-27 
0-48 
0-54 
0-79 
0-86 
0-35 
0-84 
0-81 
081 
1-08 
1-22 
131 


0-79 


0-85 


0-89 
0-52 
0-53 
0-61 
0-61 
0  83 
0-85 
0-47 
0-99 
101 
1-18 
1-47 
1-42 
1-52 


107 


+  0 
+  0' 
+  0 
+  0 

—  0 

—  0 

—  0 

—  0 

—  0 

—  0 

—  0 
-f-0' 
+  0' 

—  0' 


0-01 


+  0-90 

—  002 
+  0-39 
+  0-17 

—  007 
-0-30 
+  0-14 

—  015 

—  0-31 

—  0-36 

—  0-13 
-0-00 
+  0-23 

—  012 


003 


+  0-69. 
-0-03 
+  0-81 
+  0  09 

—  0-19 
-0-42 

—  011 

—  0-18 

—  0-35 

—  0-25 

—  0-13 
-0-13 
-0-05 
-0-29 


—  0-10 


-f  0-57 
-0-26 
+  0-54 
-0-06 
-0-45 

—  0-65, 
-0-00 
4-003 

—  0-21 
-0-39 

—  0-02 

—  0-49 

—  0  21 
-0-28 


0-20 


Noch  anfangs  der  60er  Jahre  durfte  der  französische  Schriftsteller 
Legoyt  3)  behaupten,  dass  die  Bewohner  Oesterreichs  im  ganzen  keine 
einigermaassen  bemerkenswerte  Neigung  zur  Auswanderung  zeigen.  Als 
Ursachen  gelten  ihm  die  Maassnahmen  der  Kegierung,  welche  den  Auswanderern 
Hindernisse  in  den  Weg  lege,  der  ziemlich  befriedigende  ökonomische  Zustand 
namentlich  der  landwirtschaftlichen  Bevölkerung,  die  grössere  Entfernung 
vom  Orte  der  Einschiffung,  sowie  das  Vorhandensein  fruchtbarer,  noch 
unbebauter  Landstriche  im  Innern. 

Mögen  auch  die  von  Legoyt  angeführten  Gründe  nicht  zutreffen,  die 
Thatsache  ist  unbestreitbar,  dass  in  den  50er  Jahren  die  Wanderbewegung 
in  der  Mehrzahl  der  österreichischen  Länder,  die  Auswanderung  in  allen 
nicht  besonders  rege  war.  Dass  aber  schon  damals  in  einzelnen  Gebieten  ein 
reiches  Auswanderungsmaterial  vorhanden  war,  zeigt  das  plötzliche  Auftreten 
einer  ziemlich  intensiven  Auswanderung  aus  dem  südlichen  Böhmen  in  den 
Jahren  1853  bis  1857. 


1)  Oesterr eichische  Statistik,  V.  Band,  3.  Heft,  S.  IV.  (Ergebnisse  der  Volkszählung 
vom  31.  December  1880.) 

2)  Eigene  Berechnungen. 

^)  Emigration  Europeenne,  Paris  1861. 


446 


Es  wanderten  aus: 


Buzek. 


\ 


im  Jahre 


aus     Oesterreich 


männlich 


1850 

278 

1851 

474 

1852 

627 

1853 

2.403 

1854 

3  691 

1855 

2.027 

1856 

1.459 

1857 

1.500 

1858 

1.139 

1859 

804 

weiblich 


230 

390 

552 

2.281 

3.450 

1.978 

1.320 

1.336 

987 

627 


zusammen 


508 
864 
1.179 
4.684 
7.141 
4.005 
2.779 
2.836 
2.126 
1.431 


Davon  aus 
Böhmen 


166 

341 

427 

3.419 

6.128 

3.021 

2.088 

2.167 

1.341 

842 


Das  plötzliche  Anschwellen  der  Auswanderung  }m  Jahre  1853  wurde 
hervorgerufen  durch  die  Entdeckung  der  Goldfelder  iQaliforniens  und  die 
sich  daran  anschliessende  Thätigkeit  der  Auswanderungsagenten.  Wie  aus 
den  Zahlen  ersichtlich,  beschränkte  sich  die  Bewegung  auf  das  Königreich 
Böhmen,  hier  aber  brach  in  einzelnen  Bezirken  ein  wahres  Auswanderungs- 
fieber aus.  Selbst  Mahnungen,  welche  im  Auftrage  der  Regierung  von  den 
Kanzeln  herab  verkündet  wurden,  blieben  ohne  Erfolg.  Vor  allem  waren  es 
die  Bewohner  des  czechischen  Flachlandes,  die  sich  zur  Auswanderung 
entschlossen.  So  zogen  im  Jahre  1853  aus  dem  Pilsener  Kreise  1.311,  aus 
dem  Budweiser  1.009  Menschen  fort,  im  nächsten  Jahre  aus  dem  ersteren 
Kreise  1.946,  aus  dem  letzteren  1.386,  aus  dem  Pardubitzer  1.068.  Im 
Jahre  1855,  in  welchem  bereits  die  Neueintheilung  Böhmens  in  13  kleinere 
Kreise  durchgeführt  war,  verlor  der  Taborer  Kreis  649,  der  Chrudimer  499, 
der  Egerer  und  der  Pilsener  je  426  Individuen.  Am  längsten  währte  die 
Erregung  im  Pilsener  Kreise,  aus  welchem  noch  1856  636,  1857  756  Personen 
in  die  Fremde  zogen.  Hierauf  legte  sich  die  Wanderlust,  im  Jahre  1859 
sank  die  Zahl  der  Auswanderer  aus  Böhmen  auf  842  herab.  Zu  bemerken 
ist  aber,  dass  obige  Daten  ^)  etwa  um  die  Hälfte  hinter  der  Wirklichkeit 
zurückstehen.  Die  Zahl  der  in  der  Zeit  des  californischen  Schwindels  nach 
den  Vereinigten  Staaten  ausgewanderten  Oesterreicher  betrug  nämlich  in 
Wirklichkeit  circa  25.000  Personen.  War  doch  die  Zahl  der  in  den  Vereinigten 
Staaten  ermittelten  und  in  Oesterreich  geborenen  Personen  im  Laufe  des 
Decenniums  1850—1860  von  946  auf  25.061  gestiegen -J 

Nach  Böhmen  stellte  (abgesehen  von  Dalmatien,  dessen  überschüssige 
Bevölkerung  seit  jeher  über  das  Meer  wanderte)  in  den  50er  Jahren  Tirol 
das  grösste  Contingent  der  österreichischen  Auswanderung.    Während  aber 


I 
II 


0  Entnommen  den  „Mittheilungen  aus  dem  Gebiete  der  Statistik"^  Jahrgang   17^ 
Heft  3,  S.  89  ff. 

2)  Ziffern  des  Census  vom  1.  Juni  1850,  resp.  1.  Juni  1860. 


Das  Auswanderungsproblein  und  die  Eegelung  des  Auswanderungswesens  etc.     447 

die  Emigration  aus  Böhmen  alle  Merkmale  eines  plötzlich  hervorbrechenden 
Auswanderungsfiebers  trägt,  zeichnete  sich  die  Wanderung  aus  Tirol  durch 
einen  ruhigen  Verlauf  aus.  Die  Nordtiroler  waren  seit  alter  Zeit  gewohnt, 
in  das  benachbarte  Bayern  zu  wandern,  wo  sie  bei  den  Alpenwirtschaften, 
dann  als  Handlanger  und  Arbeiter  in  den  Städten  gerne  gesehen  wurden. 
Ebenso  pflegten  die  Südtiroler  im  Winter  in  der  Lombardei,  im  Sommer 
in  anderen  Ländern  Erwerb  zu  suchen.  Auf  diese  zum  grossen  Theile  zeit- 
weilige Auswanderung  entfällt  das  Hauptcontingent  der  Auswanderer  aus 
Tirol.  Dass  es  aber  überdies  nicht  an  solchen  gefehlt  hat,  welche  sich  zum 
dauernden  Wegzuge  über  das  Meer  entschlossen,  beweist  das  Entstehen  der 
Colonien  am  Pozuzu  in  Chile.^)  Die  Gründer  dieser  ersten  österreichischen 
Colonie  in  Amerika  stammen  aus  dem  oberen  Innthal.^) 

In  den  60er  Jahren  bilden,  wie  aus  der  an  die  Spitze  gestellten 
Uebersicht  hervorgeht,  Nieder-  und  Oberösterreich,  Steiermark  und  Salzburg, 
Galizien  und  die  Bukowina  Zuzugsgebiete.  Eine  starke  Abwanderung  hatten 
(immer  abgesehen  von  Dalmatien)  Böhmen,  gewisse  Gebiete  von  Tirol, 
sodann  Krain,  Kärnten  und  Mähren.  Die  allermeisten  Abwanderer  fanden 
eine  neue  Heimat  in  benachbarten  Gegenden  des  Kelches,  zumal  in  den 
wirtschaftlich  emporstrebenden  Theilen  Nordböhmens,  im  mährisch-schlesischen 
Kohlenreviere,  in  Wien  und  Umgebung,  in  der  nördlichen  Steiermark.  Für 
die  Auswanderung  blieb  somit  nicht  viel  Material  übrig.  Auch  in  den 
60er  Jahren  kommen  als  eigentliche  Auswanderungsherde  nur  die  czechischen 
Landbezirke  Südböhmens,  sowie  einige  Theile  Tirols  in  Betracht.  Besonders 
intensiv  gestaltete  sich  dabei  nur  die  Auswanderung  aus  Böhmen. 

Es  wanderten  aus : 


aus    Oesterreich 


männlich 


weiblich 


zusammen 


Davon  aus 
Böhmen 


1.124 

1.370 

890 

863 

1.288 
1.572 
1.996 
4.829 
2.216 
2.882 
3.134 


908 
1.143 
692 
652 
1.034 
1.382 
1.811 
4.470 
1933 
2.677 
2.786 


2.032 
2.513 
1.582 
1.515 
2.322 
2.954 
3.807 
9.299 
4.149 
5.559 
5.920 


1.302 
1.927 
1.246 
1.124 
1.950 
2.417 
3.089 
7.430 
3.220 
4.507 
4.519 


')  Vergl.  die  Mittheilung  Dr.  Karl  Scherzers  im  3.  Bande  des  Werkes  über 
die  Weltreise  der  Fregatte  „Novara". 

2)  Richard  Schroft,  Die  österreichisch-ungarische  überseeische  Culturarbeit  und 
Auswanderung,  Wien  1894. 

3j  Mittheilungen  aus  dem  Gebiete  der  Statistik,  Jahrgang  XIX,  Heft  2,  S.  126  ff. 


448 


Buzek. 


Die  öesammtzahl  der  Auswanderer  aus  Oesterreich  in  den  Jahren  1850 
bis  1868  beziffert  sich  nach  den  Emigrationstabellen  auf  57.726  Personen; 
davon  stammten  nicht  weniger  als  43.645  aus  Böhmen,  und  2.827  aus 
Tirol;  aus  den  grossen  Ländern  Mähren,  Galizien  und  Bukowina,  Nieder- 
österreich wanderten  dagegen  bloss  2.608,  resp.  1.415,  und  1.340  aus. 

Für  Böhmen  waren  es  anfangs  der  60er  Jahre  insbesondere  die 
Verheissungen  reicher  Bodenverleihungen  und  lohnender  Feld-  und  Bergwerks- 
arbeit in  Kussland,  die  viele  Auswanderer  in  Bewegung  setzten.  Im 
Jahre  1860  und  1861  wanderten  aus  dem  Budweiser  Kreise  449,  resp.  828, 
aus  dem  Taborer  183  resp.  505  Personen  aus;  als  dann  infolge  der  schlechten 
Erfahrungen,  die  viele  Auswanderer  machten,  die  Auswanderung  nach 
Kusslaad  abliess,  begann  alsbald  eine  immer  steigende  Bewegung  nach  den 
Vereinigten  Staaten.  Das  Kriegsjahr  1866  kann  als  der  Anfang 
«inergrossen  und  continuierlichen  Wände  rungaus  Oester- 
reichnachAmerikaangesehenwerdsen. 

Der  Umfang  dieser  Bewegung  ist  aus  ^IM  Daten  der  Emigrations- 
"tabellen  nicht  voll  zu  ersehen.  Wir  greifen  deswegen  auf  die  Angaben  der 
ausländischen  Hafenstatistik.  Allein  über  die  deutschen  Häfen  Hamburg 
und  Bremen  wurden  darnach  im  Jahre  1866  8.154,  1867  17.852,  1868  8.108, 
1869  8.528,  1870  8.884  Auswanderer  aus  Oesterreich-Üngarn  befördert. 
Dass  dabei  die  ungarische  Wanderung  gar  nicht  in  Betracht  kommt,  ist 
daraus  zu  ersehen,  dass  im  Jahre  1870  in  den  Vereinigten  Staaten  bloss 
3.737  Ungarn,  dagegen  70.797  Oesterreicher  ermittelt  wurden. 

Wie  in  den  50er  Jahren,  waren  es  wiederum  die  czechischen  Landes- 
theile,  die  das  Hauptcontingent  der  Auswanderer  stellten.  Nach  den  Angaben 
-der  Emigrationstabellen  wanderten  aus : 


aus  dein  Kreise 


im     Jahre 


1866 


Tabor  . 
Pilsen  . 
Budweis 
Pisek     . 


584 
795 
285 
195 


1867 


1868 


2.277 

1.085 

992 

796 


1.074 
460 
403 
327 


Mehr  als  die  Hälfte  der  österreichischen  Auswanderung  der  drei  Jahre 
stammte  somit  aus  obigen  vier  Kreisen. 

In  den  70er  Jahren  beginnt  der  Strom  der  österreichischen  Aus- 
wanderung auf  weitere  Gebiete  hinüberzugreifen.  Ein  wenn  auch  unansehnliches 
Plus  der  Auswanderung  weisen  in  dieser  Periode  auch  Oberösterreich  und 
Galizien  auf,  die  bisher  Einwanderungscentren  waren.  Die  Abwanderung  aus 
Böhmen,  Tirol,  Schlesien,  insbesondere  aber  aus  Mähren,  dessen  Geburten- 
überschüsse  eine   wesentliche  Erhöhung  erfahren  haben,  hat  sich  erheblich 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  etc.     449 

verstärkt,  verringert  hat  sich  nur  die  aus  Krain,  aus  dem  Küstenlande, 
insbesondere  aber  aus  Kärnten,  dessen  Eisenindustrie  sich  in  jener  Zeit 
einer  leider  nur  vorübergehenden  Periode  des  Aufschwunges  erfreute.  Wohl 
fanden  noch  die  meisten  Abwanderer  Unterkunft  in  den  aufstrebendeu 
Industriecentren  des  Inlandes,  so  insbesondere  die  aus  Mähren  und  Krain. 
Immerhin  beginnen  sich  neben  Böhmen  und  Tirol  auch  andere  Länder  an 
der  Auswanderung  zu  betheiligen. 

Das  wichtigste  Ziel  der  österreichischen  Auswanderung  blieb  auch  in 
den  70er  Jahren  die  nordamerikanische  Union.  Die  Emigration  dorthin 
beruht  nicht  mehr,  wie  in  den  50er  und  zum  Theile  noch  in  den  60er  Jahren, 
auf  vorübergehender,  durch  die  Thätigkeit  von  Agenten  hervorgerufener 
Erregung  der  Bevölkerung,  sondern  auf  wohl  überlegten  wirtschaftlichen 
Motiven.  Dies  beweist  ihr  regelmässiger  Verlauf.  Ueber  Hamburg  und  Bremen 
wanderten  aus  Oesterreich-Ungarn  aus: 


im  Jahre 

1870   .^ 

.    8.884 

Pei 

sonen 

im  Jahre 

1875   . 

.    7.659  Personen 

»       » 

1871   . 

.    9.500 

n 

71            n 

1876   . 

.    8.434 

ji       fi 

1872   . 

.    9.498 

•n 

n            n 

1877   . 

.    7.016 

71                » 

1873  . 

.  11.228 

n 

n           K 

1878  . 

.    5.620 

»            n 

1874  . 

.    9.919 

t> 

n            j) 

1879  . 

.    8.154 

An  diesen  Ziifern  hat  die  Auswanderung  aus  Ungarn  so  gut  wie 
keinen  Antheil;  die  Zahl  der  in  Ungarn  geborenen  Personen  war  in  den 
Vereinigten  Staaten  im  Decennium  1870/80  nur  von  3.737')  auf  11.526') 
gestiegen,  und  es  waren  in  dieser  Zeit  überhaupt  nur  9.960")  Ungarn  ein- 
gewandert, davon  die  meisten  im  Jahre  1880.^)  Dagegen  wurden  durch  den 
€ensus  des  Jahres  1880  bereits  124.024  in  Oesterreich  geborene  Personen 
ermittelt,  davon  85.361  Böhmen.  (Nach  der  Anlage  des  amerikanischen 
Censuswerkes  bedeutet  diese  Ziffer  nicht  so  die  Zahl  der  in  Böhmen 
geborenen  Personen,  als  die  Zahl  der  Czechen  und  Mährer.) 

Während  die  Czechen  und  Deutschen  fast  ausschliesslich  nach  den 
Vereinigten  Staaten  sich  wandten,  suchten  die  Südtiroler  und  die  Küsten- 
ländev  mit  Vorliebe  Südamerika  auf,  insbesondere  Brasilien  und  Argentina. 
Die  ersten  Massenwandernngen  dorthin  sind  auf  die  Wirkungen  der  durch 
die  dortigen  Eegierungen  angeregten  und  durch  Agenten  in  deren  eigenem 
Interesse  geschürten  Agitationen  zurückzuführen.  Insbesondere  muss  dies  von 
der  Auswanderung  nach  Brasilien  gesagt  werden.  Während  bis  zum 
Jahre  1875  nur  einzelne  Personen  nach  Brasilien  auswanderten,  weist  die 
brasilianische  Statistik  für  das  Jahr  1876,  1877  und  1878  3.530.  1.606  und 
1.110  Einwanderer  aus  Oesterreich-üngarn  aus.  Damit  war  aber  auch  das 
Auswanderungsfieber  erloschen.  In  den  Jahren  1879—1882  war  die  Bewegung 
minimal:   1879  312,    1880  292,   1881  83,   1882  57   Personen.    Einen    viel 


1)  Ziifern  des  Census  vom  1.  Juni  1870,  resp.  1880. 

2)  Quarterly  Eeport  of  the   Chief  of  the   Bureau   of  statistics,  Washington,  188b, 
p&g.  407. 

3)  6.668. 


450  Buzek 

normaleren  Verlauf  zeigt  die  Auswanderung  nach  Argentina.  In  den  Jahren 
1857 — 1863  wanderten  nach  den  Angaben  der  argentinischen  Statistik  511, 
1864—1870  601,  1871—1877  741,  zusammen  in  21  Jahren  also  1.853 
Oesterreicher  und  Ungarn  ein.  Dabei  war  die  Einwanderung  bis  zum 
Jahre  1868  nie  über  100  gestiegen  und  schwankte  auch  später  nur  zwischen 
dem  Minimum  von  50  (1870)  und  dem  Maximum  von  187  Einwanderern  (1873). 
Erst  die  Massenauswanderung  nach  Brasilien  gab  den  Anstoss  zu  einer 
intensiveren  Bewegung ;  viele  der  Brasilienmüden  übersiedelten  nach  Argentina, 
das  doch  besseres  Eortkommen  versprach.  Ihr  Beispiel  zog  andere  aus  der 
Heimat  nach.  Im  Jahre  I878  schnellte  die  Auswanderung  aus  Oesterreich- 
Ungarn  auf  einmal  auf  920  an,  im  Jahre  1879  erhob  sie  sich  auf  1.774» 
im  folgenden  Jahre  behauptete  sie  sich  noch  immer  auf  907.  Damit  hatte 
die  überseeische  Auswanderung  aus  dem  Trentino  (die  aus 
dem  Küstenlande  nach  Brasilien  hatte  nur  etfien  ephemeren  Fiebercharakter) 
in  Argentina  ein  festes  Ziel  gefunden. 

Nicht  alle  österreichischen  Einwanderer  nach  Brasilien  in  den  Jahren 
1876,  1877  und  1878  stammten  aus  dem  Trento  und  dem  Küstenlande.  In 
der  Statistik  des  Hamburgischen  Staates  finden  wir,  dass  im  Jahre  1872  195, 
im  Jahre  1878  804,  1874  148,  1876  1.433,  in  den  folgenden  Jahren  1.506, 
dann  wieder  nur  66  Auswanderer  aus  Oesterreich-Ungarn  sich  im  Hafen 
von  Hamburg  nach  Brasilien  einschifften.  Diese  Auswanderer  stammten 
aus  Galizien  und  ihr  Ziel  war  Parana.  Wie  einst  die  Californienwanderung' 
für  Böhmen,  so  war  diese  Auswanderung  das  erste  Anzeichen,  dass  in 
Galizien  ein  für  eine  Massenauswanderung  vortrefflicher  Boden  vorhanden  ist. 

Galizien  zeichnet  sich  durch  eine  verhältnismässig  dichte  Bevölkerung 
(bereits  1869  kamen  69  Einwohner  auf  1  km^)^  wie  durch  sehr  hohe 
Geburtenüberschüsse(imDiirchschnitteder  Jahre  1857— 1869  jährlich  1*39  auf 
100  Civileinwohner,  im  folgenden  Decennium  trotz  der  Choleraepidemie  des 
Jahres  1873  0*86)  aus.  Beides  charakterisiert  insbesondere  die  Avestlichen, 
von  Polen  bewohnten  Landestheile.  So  war  denn  auch  Westgalizien  seit 
jeher  der  Nährboden  einer  starken  Wanderbewegung.  Die  Wanderung  vollzog 
sich  aber  bis  Ende  der  60er  Jahre  fast  ausschliesslich  innerhalb  der  Landes- 
grenzen. Die  polnische  Bevölkerung  zog,  wie  in  den  früheren  Jahrhunderten, 
nach  Osten,  d.  h.  nach  den  ruthenischen  Landestheilen,  die  seitdem 
immer  mehr  von  Polen  durchsetzt  wurden.  Die  Wanderung  erstreckte  sich 
selten  über  die  Keichsgrenze  nach  Eussland,  häufig  dagegen  in  die  Bukowina, 
wo  wir  bereits  im  Jahre  1869  17.464  Angehörige  des  Königreiches  Galizien, 
zum  allergrössten  Theile  Polen  finden.  Den  Eichtungen  dieser  Wander- 
bewegung ist  es  zu  danken,  dass  bis  zum  Jahre  1870  Galizien  ein 
Einwanderungsgebiet  war,  in  den  70er  Jahren  die  Abwanderung  aus  Galizien 
minimal  blieb.  Immerhin  genügte  in  den  70er  Jahren  der  Osten  des  Landes 
nicht  mehr,  um  die  ganze  Masse  der  masurischen  Auswanderer  aufnehmen 
zu  können.  Allmählich  beginnt  sich  somit  eine  Bewegung 
nach  dem  Westen  zu  entwickeln.  Insbesondere  waren  es  die 
industriellen  Theile  von  Böhmen,  Mähren,   Schlesien    und  Niederösterreich, 


I 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  etc.     451 

die  den  Ueberschuss  aufnahmen.  Gerieth  so  die  Auswanderung  aus  Galizien  in 
Fluss,  so  war  doch  noch  die  spontane  Auswanderung  in  fremde  Staaten 
oder  gar  in  überseeische  Länder  nicht  bedeutend.  Die  Auswanderung  nach 
Parana  war  künstlich  hervorgerufen  worden,  im  Jahre  1873  durch  die 
Thätigkeit  der  Agenten  der  Colonisationsgesellschaft  Pereira  Aloes,  B  e  n  d  a- 
s  z  e  w  s  k  i  und  Com  p.,  seit  dem  Jahre  1876  infolge  der  Bemühungen  des 
damaligen  Präsidenten  des  Staates  Parana  Dr.  Laraenha  Lins.^) 

Den  galizischen  Auswanderern  des  Jahres  1876  ist  es  in  Brasilien  nicht 
schlecht  gegangen.  Während  die  von  den  im  Jahre  1873  Ausgewanderten 
gegründeten  Colonien  Eufrosina  und  Pereira  zugrunde  giengen,  gedeihen 
die  von  den  Auswanderern  des  Jahres  1876  im  Innern  Paranas  gegründeten 
Colonien  Thomas  Coelho  und  Nowa  Polonia  auf  das  beste.  Wenn  nichts- 
destoweniger in  den  folgenden  Jahren  die  Auswanderung  aus  Galizien  nach 
Parana  gänzlich  ins  Stocken  gerieth,  ist  dies  bloss  ein  Beweis,  dass  die 
Bewegung  des  Jahres  1876  nicht  aus  dem  organischen  Bedürfnisse  der 
polnischen  Bevölkerung  Galiziens  hervorgieng,  sondern  durch  zufällige  Um- 
stände (totale  Missernte  des  Jahres  1875,  Agitation  der  Auswanderungs- 
agenten) hervorgerufen  wurde. 

Das  charakteristische  Merkmal  der  österreichischen  Auswanderung  der 
50er,  60er  und  70er  Jahre  beruht  darin,  dass  die  Auswanderung,  soweit 
sie  nicht  sporadisch,  sondern  als  Massenbewegung  auftrat,  Familienaus- 
wanderung war  und  dauernde  Uebersiedlung  nach  fremden  Ländern  bedeutete. 
Nur  die  Auswanderung  aus  Südtirol  war  vorwiegend  eine  Waiderung  lediger 
Männer,  die  nicht  so  eine  feste  Ansiedelung,  als  vorübergehenden  Erwerb  in 
der  Fremde  zu  finden  hofften.  Eine  Arbeiterauswanderung  war  auch  die 
Bewegung  überall  dort,  wo  sie  nur  vereinzelt  auftrat.  Ziiferraässig  prägt 
sich  dieser  Charakter  der  ersten  Periode  der  österreichischen  Auswanderung 
dadurch  aus,  dass  nicht  nur  Männer,  sondern  auch  Frauen,  nicht  nur 
Erwachsene,  sondern  auch  Kinder  auswanderten. 

Nach  den  Daten  der  Emigrationstabellen  wanderten  aus  Oester- 
reich  aus: 


im 
Jahrzehnt 


Personen 


mann- 
lichen 


weib- 
lichen 


Geschlechtes 


Es  standen  im  Alter  von 


bis 
7 Jahren 


7  bis  17 
Jahren 


17bis40 
Jahren 


40  bis  50 
Jahren 


über  50 
Jahren 


Von  je  100  Aus- 
wanderern waren 


Frauen 


Kinder 

unter 

7  Jahren 


1851—1860 
1861—1870 
1871-1880 


15.248 
21.040 

38.772 


13,829 
18.580 
32.913 


5.586 

8.337 

14.595 


6.826 

8.083 

14.954 


11.556 
17.182 
29.338 


3.706 
4.197 
8.041 


1.403 
1.871 
4.757 


47-56 
46-88 
45-92 


19-21 
21-04 
20-36 


*)  Dr.  Josef  Siemiradzki,  Opis  stanu  Parana,  Lwöw  1896. 


452  Buzek. 

Nach  den  Angaben  dieser  Tabelle  waren  46 — 477o  der  österreichischen 
Auswanderer  weiblichen  Geschlechtes,  und  entfiel  auf  die  Kinder  unter 
7  Jahren  19 — 217o,  auf  die  Jugend  unter  17  Jahren  sogar  41 — 437o  der 
^österreichischen  Auswanderung!  Dass  gerade  diese  Verhältnisse  von  der 
österreichischen  Statistik  richtig  wiedergegeben  werden,  folgt  daraus,  dass 
die  Ziffern  des  hauptsächlichsten  Einwanderungslandes  dasselbe  besagen: 
von  den  63.009  Oesterreichern,  die  in  den  zehn  Fiscaljahren  1870/71  bis 
1879/80  in  die  Vereinigten  Staaten  einwanderten,  waren  34.575  männlichen 
und  28.434  weiblichen  Geschlechtes,  45-17o  der  Einwanderer  entfällt  demnach 
auf  die  Frauen  I 

Während  so  der  Hauptstrom  der  österreichischen  Auswanderung,  d.  h. 
vor  allem  die  Auswanderung  aus  Böhmen  ^a^jernde  Ausbürgerung  bezweckte, 
war  die  Auswanderung  aus  Südtirol  und  aus  Dalmatien  in  der  Hauptsache 
eine  Wanderung  Erwerb  suchender  Männer,  die  in  der  Regel  in  der  Absicht, 
wieder  zurückzukehren,  die  Heimat  verliessen.  In  vielen  Fällen  wurde  zwar 
die  ursprünglich  als  zeitweilig  gedachte  Auswanderung  zu  einer  definitiven, 
zumal  wenn  der  Auswanderer  in  der  Fremde  eine  Familie  gründete. 
Zahlreiche  und  selbst  solche,  die  sich  Frau  und  Kinder  später  haben  nach- 
kommen lassen,  kehrten  nach  vielen  Jahren  als  vermögende  Leute  zurück, 
um  den  Kest  ihrer  Tage  in  beschaulicher  Ruhe  unter  dem  lachenden  Himmel 
Südtirols  zu  verbringen. 

Der  Charakter  dieser  südtirolischen  Auswanderung  wird  am  besten 
durch  die  Stftistik  Argentinas,  wohin  sich  die  allergrösste  Anzahl  der 
Tridentiner  wandte,  wiedergegeben.  Von  den  26.363  Oesterreichern  und 
Ungarn  (in  der  Hauptsache  Südtiroler),  die  vom  1.  Jänner  1857  bis  zum 
31.  December  1896  nach  Argentina  einwanderten,  waren  nicht  weniger  als 
20.059  männlichen  und  nur  6.304  weiblichen  Geschlechtes,  waren  22.369  Er- 
wachsene und  bloss  3.994  Kinder  unter  12  Jahren.  Auf  das  weibliche 
Geschlecht  entfallen  somit  bloss  23*74,  auf  die  Kinder  bloss  15*377o  der 
Einwanderer. 

Für  die  Beurtheilung  der  österreichischen  Auswanderung  vor  dem 
Jahre  1880  kommt  noch  ein  Avichtiger  Umstand  in  Betracht.  Nach  den 
Emigrationstabellen,  die  insbesondere  seit  1867  den  völligen  Umfang  der 
Auswanderung  nicht  wiedergeben  konnten,  wanderten  aus  Oesterreich  in 
den  Jahren  1858—1869  39.650,  in  den  Jahren  1869—1880  77.244  Personen 
aus;  in  Wirklichkeit  muss  die  Auswanderung  auf  das  Doppelte  veranschlagt 
werden.  Nichtsdestoweniger  ergibt  sich  aus  einer  Gegenüberstellung  der 
Geburtenüberschüsse  und  des  Bevölkerungsstandes  im  Zeitpunkte  der  drei 
in  diese  Zeit  fallenden  Volkszählungen,  dass  in  den  Jahren  1857 — 1869 
Oesterreich,  wenn  von  Dalmatien  abgesehen  wird,  noch  ein  Einwanderungsland 
war,  in  den  70er  Jahren  dagegen  effectiv  bloss  66.594  Personen  durch  die 
Wanderbewegung  verlor.  Es  ist  klar,  dass  bis  1880  der  grösste  Theil  der 
österreichischen  Auswanderer  durch  einwandernde  Staatsfremde  ersetzt  wurde. 
In  gewisser  Hinsicht  kann  sogar  von  einer  Verdrängung  der  Einheimischen 


^ 


Das  Aus  Wanderungsproblem  und  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  etc.     45^ 

durch  die  Einwanderung  fremder  Staatsangehörigen  gesprochen  werden. 
Wenn  z.  B,  die  Zahl  der  in  Niederösterreich  ermittelten  ungarischen  Staats- 
angehörigen von  63.437  im  Jahre  1869  auf  119.170  im  Jahre  1880  gestiegen 
war,  so  mussten  jährlich  circa  6.000  Ungarn  nach  Niederösterreich  zu- 
gewandert sein.  Nun  wissen  wir  aber,  dass  im  allgemeinen  die  Bevölkerung 
die  Tendenz  hat,  Nah  Wanderungen  Fernwanderungen  vorzuziehen,  dass  sie 
sich  zu  letzteren  überhaupt  nur  dann  entschliesst,  wenn  in  benachbarten 
Gebieten  lohnender  Erwerb  nicht  zu  finden  ist.  So  haben  insbesondere  die 
Auswanderer  aus  den  böhmischen  Landbezirken  zuerst  die  industriellen 
Theile  Nordböhmens,  dann  Niederösterreich,  Steiermark  etc.  überflutet,  und 
erst  als  hier  der  Kaum  zu  enge  wurde,  entschlossen  sie  sich  zur  Aus- 
wanderung über  das  Meer.  Es  ist  evident,  dass  die  Concurrenz,  die  die 
ungarischen  Einwanderer  nach  Niederösterreich  den  czechischen  Zuzüglern 
machten,  viele  der  letzteren  bewegen  musste,  sich  über  das  Meer  zu  wenden. 


3.  Die  Auswanderung  der  Achtzigerjahre. 

Mit  dem  Beginn  der  80er  Jahre  wird  Oestereich  entschieden  zum 
Auswanderungslande.  Der  effective  Verlust,  den  Oesterreich  durch  die  Aus- 
wanderungsbewegung im  Verlaufe  der  nächsten  zehn  Jahre  erleidet,  beziffert 
sich  bereits  auf  über  200.000  Personen  und  wächst  in  den  90er  Jahren 
auf  über  450.000.  Gleichzeitig  damit  ändern  sich  die  Zusammensetzung^ 
und  der  Charakter  der  Bewegung.    Es  beginnt  eine  neue  Periode. 

Die  hauptsächlichste  Ursache  des  Umschwunges  liegt  darin,  dass  für 
den  nachdrängenden  Geburtenüberschuss,  der  sich  gegenüber  den  Vorjahren 
in  der  Kegel  erheblich  erhöhte,  innerhalb  der  Staatsgrenzen  kein  genügender 
Nährraum  vorhanden  war.  Die  intensiven  Binnenwanderungen  der  70er  Jahre 
hatten  die  in  Gegenden  mit  reger  wirtschaftlicher  Entwickelung  bestehende 
Nachfrage  nach  Menschenmaterial  beft-iedigt,  dazu  war  die  Periode  der 
grossen  Investitionen  vorüber,  war  das  Tempo  der  industriellen  Entwickelung 
ein  langsameres  geworden.  Die  gegenüber  den  Vorjahien  erheblich  grössere 
Zahl  der  Abzügler  aus  Galizien,  Krain,  Böhmen,  Tirol,  dem  Küstenlande, 
die  zahlreichen  Abwanderer  aus  Mähren  (vergleiche  die  Daten  der  an  die 
Spitze  des  Abschnittes  gestellten  Uebersicht),  konnten  nicht  mehr  mit  der 
Leichtigkeit,  wie  in  den  folgenden  Jahren,  im  Binnenlande  placiert  werden. 
Sie  mussten  sich  nunmehr  nach  dem  Auslande  wenden.  Der  innige  Zu- 
sammenhang, der  zwischen  jenen  Binnenwanderungen  und  der  Auswanderung 
der  80er  Jahre  besteht,  wird  am  besten  durch  folgende  Ziffernreihen 
illustriert: 

Es  wurden  ermittelt  im  Jahre : 


454 


Buzek. 


Zuständige  nach 


1869 


1890 


Böhmen. 

In  Nieder-Oesterreich 

„  Ober-Oesterreich 

„  Steiermark 

„  Mähren '...., 

„  Schlesien 

„  Tirol 

„  Dalmatien 

„  Ungarn 

Mähren. 

In  Nieder-Oesterreich 

„  Ober-Oesterreich 

„  Steiermark 

„  Böhmen 

„  Schlesien 

„  Ungarn 

K  r  ain. 

In  Nieder-Oesterreich 

„  Steiermark 

„  Küstenland 

„  Ungarn 

G  al  i  z  i  e  n. 

In  Bukowina 

„  Schlesien 

„  Mähren .    . 

„  Böhmen «   . 

„  Nieder-Oesterreich 

„  Ungarn 

In   das  Ausland  (also   Staatsfremde). 

In  ganz  Cisleithanien 

Davon  Ungarn 

_       Deutsche 


208.350 

21.249 

13.725 

43.080 

2.848 

1.351 

330 


16.384 

102.064 

1.869 

3.927 

10.164 

12.756 

10.513 

2.493 

7.346 

10.743 

6.089 

17.461 
4.547 
2.574 
1.559 
9.466 
6.393 

204.950 
91.162 
64.438 


309.960 

34.139 

21.512 

63.432 

5.074 

3.235 

920 

23.915 

176.025 

3.582 

6.419 

23.711 

21.247 

17.007 

5.787 
14.140 
14.693 
13.385 

24.315 
11.660 
7.669 
5.360 
22.077 
10.246 

350.013 

183.422 

93.442 


387.912 

39.880 

24.474 

84.596 

7.249 

6.392 

2.184 

39.722 

228.599 

4.976 

8.421 

34.388 

27.549 

28.670 

6.437 
20.006 
18.373 
15.900 

35.691 
21.189 
12.625 
4.963 
29.513 
20.991 

422.357 
228.647 
103.433 


Interessant  sind  zunächst  die  für  die  Vermehrung  der  Zahl  der 
Staatsfremden  in  Oesterreich  angeführten  Ziffern.  Während  in  den  70er  Jahren 
die  Zahl  der  in  Oesterreich  lebenden  Ungarn  sich  mehr  als  verdoppelte, 
die  Zahl  der  Angehörigen  des  Deutschen  Eeiches  um  50  7o  gestiegen  war, 
ergeben  die  80er  Jahre  für  Ungarn  bloss  einen  Zuwachs  von  nicht  ganz 
257o5  für  die  Keichsdeutschen  eine  Steigerung  von  nur  107o-  Die  Aufnahms- 


Das  Auswanderungsproblera  und  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  etc.     455 


fähigkeit  der  österreichischen  Länder  ist  also  bedeutend  zurückgegangen. 
Der  Rückschlag  auf  die  Wanderbewegung  war  unausbleiblich.  Die  auf  das 
Verlassen  der  heimatlichen  Scholle  hingewiesene  Bevölkerung  konnte  in 
Nahwanderungeu  nicht  mehr  so  leicht  placiert  werden.  Aus  der  obigen 
Tabelle  ist  ersichtlich,  dass  in  den  80er  Jahren  die  Zahl  der  nach  Böhmen, 
Mähren  und  Krain  Zuständigen  und  ausserhalb  dieser  Länder  gezählten 
Personen  überall  dort,  wo  es  sich  um  Nahwanderungen  handelt  (Böhmen 
in  Niederösterreich,  Steiermark,  Oberösterreich,  Mähren  und  Schlesien, 
Mährer  in  Niederösterreich,  Steiermark,  Böhmen  und  Schlesien,  Krainer  in 
Steiermark,  Niederösterreich  und  Ungarn,  Galizier  in  der  Bukowina),  bei 
weitem  langsamer  gewachsen  war,  als  in  den  70er  Jahren.  Dagegen 
war  z.  B.  die  Zunahme  der  nach  Böhmen  Zuständigen  in  Tirol,  Dalmatien 
und  Ungarn  in  den  80er  Jahren  bedeutender  als  in  den  70er  Jahren, 
ebenso  die  Zunahme  der  nach  Galizien  Zuständigen  in  Ungarn  und  im 
mährisch-schlesisc|ien  Kohlenrevier.  Die  Fernwanderungen,  für  Galizien 
ausserdem  der  Zug  nach  Westen,  haben  eben  an  Bedeutung  gewonnen. 

Ein  grosser  Theil  der  österreichischen  Auswanderer  wandte  sich  in 
die  benachbarten  europäischen  Länder,  insbesondere  nach  den  aufblühenden 
Industriebezirken  Deutschlands  und  in  die  noch  dünn  bevölkerten  Balkan- 
staaten, insbesondere  nach  Rumänien,  Serbien,  Bulgarien,  in  das  neu 
erworbene  Bosnien  und  die  Herzogowina,  und  darüber  hinaus  nach  Aegypten. 
So  wurden  in  Serbien  im  Jahre  1880  nur  199  Oesterreicher  gezählt,  im 
Jahre  1890  bereits  3.939,  in  Bulgarien  1880  387  Oesterreicher  und  Ungarn, 
im  Jahre  1893  bereits  5.161,  davon  905  mit  czechischer  Muttersprache, 
in  Aegypten  im  Jahre  1880  2.835,  im  Jahre  -1897  bereits  7.117;  auf  die 
Intensität  und  Zusammensetzung  der  Auswanderung  nach  Bosnien  kann 
aus  folgenden  Ziffern  geschlossen  werden: 

Zahl  der  österreichischen  Staatsangehörigen  in  Bosnien 
und  der  Herzegowina  (Civilbevölkerung). 


Zuständig  nach 


im      Jahre 


1880 


männlich    weiblich    zusammen 


1895 


männlich    weiblich    zusammen 


Dalmatien 
Böhmen  . 
Krain  .  . 
Galizien  . 
Mähren  . 
Steiermark 
Nieder-Oesterreich 
Tirol 

Ueberhaupt  Oesterreich 


1.057 
858 
318 
172 
144 
133 
104 
111 


2.669 


859 

1.916 

3.517 

2.929 

265 

6-23 

2.043 

1.890 

144 

462 

1.665 

924 

83 

255 

1.266 

1.144 

89 

233 

1.213 

1.035 

97 

2.30 

903 

849 

83 

187 

522 

591 

61 

172 

539 

511 

1.841 

4.510 

13.107 

10.911 

6  446 
3.933 
2  589 
2.410 
2.248 
1.752 
1.113 
1.050 


24.018 


456 


Buzek. 


Von  den  24.018  Oesterreichern,  die  im  Jahre  1895  in  Bosnien  und 
der  Herzegowina  gezählt  wurden,  waren  nur  5.395  im  Lande  selbst  geboren. 
Die  Zuwanderung  in  den  15  Jahren  seit  1880  muss  demnach  mindestens 
14.000,  d.  h.  circa  1000  jährlich  betragen  haben.  Am  grössten  war  die 
Zuwanderung  aus  den  benachbarten  Auswanderungsgebieten  Dalmatien  und 
Krain,  sodann  aus  den  entfernteren  Emigrationsherden  Böhmen,  Mähren  und 
Galizien. 

Die  österreichische  Auswanderung  nach  Bosnien  ist  zu  einem  Drittel 
Auswanderung  von  Colonisten,  zu  einem  Fünftel  Intelligenzemigration,  zur 
Hälfte  Arbeiterwanderung;  der  Eest  ge^rt  dem  Handwerkerstande  und  dem 
Warenhandel  an.  Es  waren  beschäftigt:  in  der  Land-  und  Forstwirtschaft 
8.124  Personen,  davon  Forstwirtschaft  allein  1.278 ;  in  der  Industrie 
7.334  Personen,  davon  Baugewerbe  1713,  Getränke  und  Genussmittel  1.083, 
Holz-  und  Schnitzstoife  1070,  Bekleidungsindustrie  598,  Nahrungsmittel  482» 
Eisen  und  Stahl  415;  im  Handel  und  Verkehr  3.385,  davon  Transport  zu 
Lande  2.216,  Warenhandel  497 ;  in  freien  Berufen  5.175,  davon  Hof-  und 
Staatsdienst  3.637. 

Bei  weitem  bedeutender  wie  die  Auswanderung  nach  Osten,  war  die 
Bewegung  nach  Westen,  insbesondere  nach  Deutschland. 

Es  wurden  im  Deutschen  Eeiche  gezählt: 


1 


Preussen  .  . 
Sachsen  .  . 
Bayern  .  .  . 
Württemberg 
üeberhaupt  . 


Oestereicher 
und  Ungarn 


1.  Dec.  1880 


24.175 
30.359 

47.486 

3.900 

116.720 


Oesterreicher 


1.  Dec.  1885     1.  Dec.  1890 


41.515 

43.314 

51.381 

4.041 

153.096 


46.143 

66.361 

60.150 

4.405 

194.291 


2.  Dec.  1895 


59.439 

68.895 

64.648 

4.541 

216.107 


Die  Wanderung  nach  Süddeutschland  hat,  wie  aus  obigen  Ziffern 
ersichtlich,  an  Intensität  bedeutend  eingebüsst.  Wenn  nichtsdestoweniger 
in  den  80er  Jahren  circa  80 — 90.000  Oesterreicher  nach  Deutschland  aus- 
wandern konnten,  so  ist  dies  dem  ungeahnten  industriellen  Aufschwünge 
Norddeutschlands  zuzuschreiben.  Binnen  10  Jahren  hat  sich  in  Sachsen  die 
Zahl  der  Oesterreicher  mehr  als  verdoppelt.  In  Preussen  trat  dies  sogar  nach 
5  Jahren  (1880 — 1885)  ein.  Wenn  nach  1885  die  Zahl  der  Oesterreicher  nur 
langsam  zunehmen  konnte,  ist  dies  u.  a.  der  zielbewussten  Bevölkerungspolitik 
des  preussischen  Staates  zuzuschreiben.  Wie  Preussen  die  Zusammensetzung 
insbesondere  der  Grenzbevölkerung  zu  beeinflussen  versteht,  geht  unter 
anderem  daraus  hervor,  dass  in  dem  industriellen  Kegierungsbezirke  Oppeln 
mit  einer  Bevölkerung  von  1,702.567  am  2.  December  1895  nur  6.421  Oest^er- 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  etc.     457 

reicher  gezählt  wurden,  wogegen  in  Oesterreichisch-Schlesien,  das  nur 
605.649  Einwohner  zählte,  am  31.  December  1890  genau  12.122  Preussen 
sich  aufhielten.  Dabei  ist  der  Regierungsbezirk  Oppeln  auf  seinem  halben 
Umfange  vom  österreichischen  Gebiete  umschlossen ! 

Abgesehen  von  Deutschland  war  die  continentale  Westwanderung  aus 
Oesterreich  in  den  80er  Jahren  nicht  besonders  stark.  So  war  z.  B.  die  Zahl 
der  österreichischen  Staatsangehörigen  in  Frankreich  von  8.728  im  Jahre  1881 
bloss  auf  9.468  im  Jahre  1891  gestiegen,  ebenso  die  Zahl  der  Oesterreicher 
in  der  Schweiz  in  der  Periode  1880—1888  von  12.859  auf  13.741.  Umso 
gewaltigere  Dimensionen  nahm  die  Auswanderung  nach  den  überseeischen 
Ländern  an.  In  den  80er  Jahren  ist  gewiss  bereits  mehr  als  die  Hälfte  des 
durch  die  Auswanderung  verursachten  Menschenverlustes  Oesterreichs  auf 
die  überseeische  Auswanderung  zurückzuführen,  in  den  90er  Jahren  bereits 
circa  drei  Viertel.  Wir  wollen  den  Verlauf  der  Bewegung  nach  den  wichtigsten 
Einwanderungszielen  etwas  näher  verfolgen. 

Das  Wachsen  der  Auswanderung  nach  den  Vereinigten  Staaten  illustriert 
am  besten  folgende  Uebersicht: 


In  den 
Quinquennien 
(Fiscaljahre) 


wanderten  ein 

aus  Oesterreich- 

Ungarn 


davon  aus 
Böhmen 


aus  dem  übrigen 
Oesterreich 


aus  Ungarn 


1880—1885 
1885—1890 
1890-1895 
1895—1900 


148.590 
205.129 
281.778 
315.269 


20.655 
26.610 
29.982 
12.579 


70.759 
108.014 
133.090 
149.681 


51.176 

76.505 

118.706 

153.009 


Mit  dem  Jahre  1880  tritt  die  österreichische  Einwanderung  in  die 
Vereinigten  Staaten  in  eine  ganz  neue  Phase.  Zunächst  zeigt  das  Jahr  1880 
eine  gegenüber  den  70er  Jahren  mehr  als  doppelt  so  starke  Einwanderung, 
indem  in  diesem  Jahre  18.252  Oesterreicher  und  zum  erstenmale  auch  eine 
beträchtliche  Anzahl  Ungarn  (6.668)  einwanderten.  Die  Immigration  aus 
Ungarn  verdoppelte  sich  bereits  im  Jahre  1882  (11.602),  erreichte  im 
Jahre  1886  das  Dreifache  (18.110),  im  Jahre  1890  das  Vierfache  (24.994). 
Die  Einwanderung  aus  Oesterreich  schwankte  in  der  ersten  Hälfte  des 
Decenniums  zwischen  dem  Minimum  von  16.456  (1885)  und  dem  Maximum 
von  21.437  (1881),  im  Jahre  1886  wuchs  sie  auf  22.006,  erreichte  im 
Jahre  1889  allmählich  die  Höhe  von  26.424,  bis  sie  im  Jahre  1890  die 
noch  nie  bisher  erzielte  Ziffer  von  38.125  aufwies. 

Mit  diesem  gegen  frühere  Verhältnisse  immensen  Wachtsthum  gieng 
eine  völlige  Veränderung  des  Charakters  und  der  Zusammensetzung  der 
österreichischen'  Einwanderung.  Schon  im  ersten  Jahre  der  starken  Ein- 
wanderung (1880)  tritt  die  noch  im  Vorjahre  alles  beherrschende  Bedeutung 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolltik.  und  Verwaltung.  X.  Band.  Qp 


458 


Buzek. 


der  böhmischen  Einwanderung  in  den  Hintergi'und.  Jetzt  überwiegt  die 
Einwanderung  aus  den  übrigen  Ländern  Oesterreichs,  d.  h.  insbesondere 
aus  Tirol,  Krain,  aus  Galizien,  Mähren  und  einigen  deutschen  Ländern^ 
insbesondere  Nordtirol,  Kärnten,  Westschlesien.  Je  mehr  die  Einwanderung 
aus  Oesterreich  wächst,  desto  mehr  geht  der  procentuelle  Antheil  der 
böhmischen  Einwanderung  zurück.  In  den  80er  Jahren  stammten  nur  mehr 
Ye — Ys  der  österreichischen  Immigration  aus  Böhmen.  Die  überseeische 
Auswanderung  aus  Oesterreich  hat  damit  aufgehört,  eine 
speci fisch  böhmische  Auswanderung  zu  sein. 

Wichtiger  ist,  dass  zugleich  damit  die  österreichische  Einwanderung" 
nach  den  Vereinigten  Staaten  zum  überwiegenden  Theile  eine  vorübergehende 
Einwanderung  wurde.  Die  Südtiroler,  die  Krainer,  die  galizischen  Polen, 
zum  Theile  auch  die  Deutschen,  sodann  die  Slovaken  und  die  Croaten,. 
aus  denen  die  ungarische  Einwanderung  bestand,  wanderten  in  der  Regel 
nicht  deshalb  aus,  um  in  der  Union  sesshaft  zu  werden,  sondern  um  dort 
durch  einige  Jahre  zu  arbeiten,  und  dann  mit  den  Ersparnissen  in  die 
Heimat  zurückzukehren.  Dagegen  war  die  Auswanderung  der  Czechen,  eines 
Theiles  der  Deutschen,  dann  die  der  Juden,  die  aus  Galizien  und  der 
Bukowina  hinzuströmen  begannen,  eine  colonisatorische,  d.  h.  bezweckte 
eine  dauernde  Ansiedelung  im  Einwanderungslande.  Aeusserlich  drückt  sich 
dieser  Gegensatz  in  der  Zusammensetzung  des  Einwandererstromes  nach 
Geschlecht  und  Alter  aus : 


n 


Geschlecht    und   Alter   der   Einwanderer    vom    I.Juli   1880 

bis  30.  Juni  1890. 


]Männ- 
lieh 

Weib- 
lich 

Zu- 
sammen 

Davon  im  Alter  von 

Vor 

100  Einwanderern  waren 

"^'^^       15-40 
Jahren       J*»»- 

über 

40 

Jahre 

mann 
liehen 

weib- 
liehen 

unter 

15 
Jahren 

15-40 
Jahre 

über 

40 

Jahre 

Ge.schlechtes 

aus  Böhmen     . 

aus  dem  übrigen 
Oesterreich   . 

aus  Ungarn  .    . 

24.836 

117.385 
94.243 

22.429 

61.388 
33.438 

47.265 

178.733 
127.681 

50.020 

18.785 

149.909 
95.635 

26.109 

13.261 

52-6 

65-7 

73-8 

47-4 

34-3 
26-2 

\  221 
147 

66-3 
74-9 

11-6 
10-4 

Der  Gegensatz  der  Familienauswanderung  aus  Böhmen,  der  Arbeiter- 
auswanderung aus  Ungarn,  und  der  überwiegend  zeitweisen  (gemischten) 
Auswanderung  aus  dem  übrigen  Oesterreich  tritt  in  diesen  Ziffern  klar  hervor. 

Interessant  ist  die  berufliche  Gliederung  der  österreichischen  Ein- 
wanderer : 

Im  Durchschnitte  der  10  (Fiscal)jahre  1880—1890  gehörten  von 
100  Einwanderern  an : 


Das  Auswanderungsproblein  und  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  etc.     459 


Liberalen  Berufen  (Musiker,  Lehrer,  Geistliche,  Advo- 
caten,  Aerzte  etc.) 

Berufen  mit  Vorübung   (Grobschmiede,   Zimmerleute, 
Drucker,  Gärtner  etc.) 

Verschiedenen  Berufen  (unqualificierte  Arbeiter,  Farmer, 
Dienstboten,  Kaufleute  etc.) 

Beruf  nicht  festgestellt  und  ohne  Beschäftigung    .    . 


Böhmen 


0-28 

6-22 

28-64 
64-86 


Ö  IIOQ-foWOl  a1 


016 

3-78 

60-79 
35-27 


Oesterreich 


0-48 

7-76 

44-41 
47-39 


Die  Frauen  und  die  Kinder  der  Einwanderer  werden,  insofern  sie 
nicht  einen  selbständigen  Beruf  ausüben,  zu  den  beruflosen  gezählt.  Dem- 
entsprechend sind  von  den  Böhmen  nur  35*14  Proc.  berufsthätig,  dagegen 
von  den  Ungarn  64*73  Proc,  von  den  Einwanderern  aus  dem  übrigen 
Oesterreich  52-6  Proc.  Von  den  productiv  Thätigen  gehören  den  gelernten 
Berufen  etwa  V20  ^^^  Ungarn,  dagegen  bereits  ^/g  der  Oesterreicher  und 
gar  Ve  ^^^'  Böhmen.  Böhmen  liefert  demnach  das  wertvollste  Einwanderungs- 
material. Zu  betonen  ist  aber,  dass  auch  bei  den  Böhmen  die  unqualificierten 
Arbeiter  das  grösste  Contingent  stellten  (im  Durchschnitte  der  10  Jahre  1.028 
unter  durchschnittlich  1.841  berufsthätigen  Einwanderern).  Der  Unterschied 
zwischen  ihnen  und  den  Arbeitern  der  übrigen  Nationalitäten  beruht  nur 
darauf,  dass  diese  in  der  Regel  vorübergehend,  jene  dauernd  in  Amerika 
bleiben  wollten. 

Die  Böhmen  sind  der  erste  Volksstamm  der  Monarchie,  die  an  der 
Colonisierung  der  überseeischen  Gebiete,  und  zwar  ausschliesslich  der  Ver- 
einigten Staaten  theilgenommen  haben.  Es  ist  deswegen  besonders  interessant, 
über  die  Resultate  dieser  czechischen  Colonisation  einiges  mitzutheilen. 
Nach  dem  Censuswerke  vom  1.  Juni  1890  lebten  in  den  Vereinigten  Staaten 
118.106  in  Böhmen  geborene  Personen,  die  meisten  davon  in  Illinois,  dem 
nördlichen  Ohio,  Iowa  und  insbesondere  Nebraska.  Das  Gros  bildeten 
Arbeiter,  die  für  manche  Branchen,  namentlich  in  der  Tabakfabrication,  als 
Schuhmacher  und  Bauarbeiter  sehr  gesucht  waren  und  als  findig,  tüchtig 
und  genügsam  galten.  Die  wichtigsten  czecho-slavischen  Colonien  sind  nach 
einem  Berichte  desk.u.k.  General- Consulates  in  New  York  vom  1.  October  1891 
die  folgenden:  a)  im  Staate  Dacota:  Walsh  County  und  Bon  Homme 
County  mit  zusammen  circa  800  böhmischen  Familien;  b)  im  Staate  Illinois: 
Chicago  und  Umgebung  mit  circa  8.000,  Will  County  circa  150,  zerstreut 
circa  100  Familien;  c)  im  Staate  Kansas:  Ellsworth  County  mit  349,. 
Republik  County  mit  296  Familien;  d)  im  Staate  Michigan  ungefähr 
500  Familien;  e)  in  Minnesota  circa  3.000  Familien,  die  meisten  in 
Montgommery  und  Lacoeur  County;  /)  in  Missouri  circa  2.000  Familien, 
davon  in  St.  Louis  1.500;  g)  in  Nebraska  ungefähr  10.100  Familien,  davon 
in    Douglas   County  mit   der  Stadt  Omaha   circa  6.100,    h)   in   Ohio    circa 

32* 


460 


Buzek. 


21.000  Familien,  darunter  in  Cleveland  und  Umgebung  etwa  20  000;  i)  in 
Massachusetts  circa  150,  im  Staate  New  York  etwa  14.500  Familien,  davon 
in  der  Stadt  selbst  11.000;  k)  in  Pennsylvanien  circa  800  Familien,  davon 
die  Hälfte  in  Pittsburg  und  Umgebung;  I)  in  Texas  ungefähr  2.600  Familien, 
davon  700  in  Fayette  County,  die  übrigen  zumeist  in  Lavaca  County; 
m)  in  Wisconsin  endlich  etwa  3.900  Familien,  davon  in  Manitowac  County 
eirca  900.^) 

Wir  sehen,  die  czechische  Einwanderung  in  die  Vereinigten  Staaten 
krystallisiert  sich  um  gewisse  Brennpunkte  und  bildet  so  neue  Centren 
des  heimischen  Volkslebens  in  der  Fremde.  Alle  diese  Centren  liegen  jedoch 
weit  zerstreut  und  sind  von  verhältnismässig  geringer  Dichte.  Im  Jahre  1890 
waren  Nord-  und  Süddacota  am  dichtesten  mit  Slaven  besetzt;  aber  auch 
hier  waren  bloss  4'71,  respective  3'107o  <3er  Bevölkerung  in  slavischen 
Ländern  geboren.  In  anderen  Staaten  war  das  Verhältnis  noch  geringer,  in 
Nebraska  2-367o,  in  Minnesota  l-977o,  in  Wisconsin  l-927o,  in  New 
York  l*777oi  in  Illinois  l'757oi  in  Michigan  l'467o  u.  s.  w.  In  dem  Völker- 
getümmel, dessen  Tummelplatz  die  Vereinigten  Staaten  sind,  lassen  sich 
grössere  geschlossene  nationale  Territorien  nicht  bilden,  und  selbst  die 
Entstehung  bedeutenderer  Minoritäten  ist  unmöglich.  Es  ist  dies  den 
Czechen  ebensowenig  gelungen,  wie  den  unverhältnismässig  zahlreicheren 
Deutschen. 

Dagegen  ist  nicht  zu  verkennen,  dass  die  Auflösung  des  czechischen 
Elementes  in  der  grossen  Masse  der  englisch  sprechenden  Bevölkerung 
viel  langsamere  Fortschritte  macht,  als  die  Amalgamierung  der  sprach- 
verwandten Deutschen.  Die  Daten  des  Census  vom  Jahre  1890  illustrieren 
dies  in  schlagender  Weise. 

Darnach  wurden  am  1.  Juni  1890  in  den  Vereinigten  Staaten  ermittelt:^) 


Deutschland 
Frankreich 
Böhmen  .    . 
Ungarn   .    . 


Personen, 

die  geboren 

waren 


Personen, 

deren  beide 

Eltern 

geboren  waren 


Personen,         Personen, 
deren  Mütter    deren  Väter 


in  den  Vereinigten  Staaten 


deren  Väter    deren  Mütter 


geboren  waren 


in  den  nebenbezeichneten  Ländern 


2,784.894 

42.712 

118.106 

62.435 


5,776.186 

177.007 

205.365 

69.761 


833.261 

62.055 

6.853 

1.437 


242.117 

16.426 

3.296 

321 


Zusammen 
Personen  mit 
fremder  Ver- 
wandtschaft 


6,851.564 

255.488 

215.514 

71.519 


')  Dr.  FriedrichProbst,  Die  überseeische  österreichische  Auswanderung,  ins- 
besondere in  den  Jahren  1889  und  1890.  Statistische  Monatsschrift,  XVIII  Jahrgang  S.  17. 

2)  Report  on  Population  of  the  United  States  at  the  eleventh  Census,  1890,  Part  I, 
Washington  1895. 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  etc.     461 

Die  Einwanderung  aus  Ungarn  ist  eine  Arbeitereinwanderung,  dieBewegung 
zudem  jüngsten  Datums.  Somit  bestand  die  ungarische  Colonie  fast  aus- 
schliesslich aus  Personen,  die  in  Ungarn  geboren  waren.  Nicht  so  die 
Einwanderung  aus  Frankreich  und  Deutschland,  die  schon  in  den  50er  Jahren 
eine  Massenbewegung  war  und  vorzüglich  auf  die  dauernde  Besiedeliing 
gerichtet  war.  Hier  schliesst  sich  an  den  Kern  der  Personen,  deren  Wiege 
in  der  Heimat  gestanden  war,  eine  dreimal  respective  eine  ebensogrosse 
Zahl  von  Personen,  die  zwar  in  den  Vereinigten  Staaten  geboren  waren, 
aber  von  Eltern,  die  beide  noch  die  alte  Heimat  im  Gedächtnisse  hatten. 
Ausser  diesen  Personen  finden  wir  noch  zahlreiche  Personen  von  gemischter 
Herkunft,  und  zwar  solche,  die  von  amerikanischen  Müttern  und  europäischen 
Vätern,  oder  umgekehrt,  oder  aber  von  europäischen  Eltern  verschiedener 
Nationalität  stammten.  Das  Verhältnis  der  Mischlinge  der  beiden  zuerst 
genannten  Kategorien  zu  den  der  dritten  Kategorie  (die  leider  von  der 
amerikanischen  Statistik  nicht  erschöpfend  dargestellt  wird)  ist  nun  das 
sicherste  Merkmal,  ob  sich  der  Amalgamierungsprocess  glatt  oder  unter  Wider- 
ständen vollzieht. 

In  dieser  Hinsicht  ist  es  bezeichnend,  dass  bei  den  Deutschen  die  Zahl 
der  amerikanischen  Mischlinge  1,075.378  beträgt,  die  Zahl  der  europäischen 
Mischlinge  dagegen  nur  höchstens  280.000,^)  wogegen  bei  den  Czechen 
den  10.149  amerikanischen  Mischlingen  nicht  weniger  als  circa  15.000^) 
europäische  Mischlinge  gegenüberstehen.  Die  grossen  ethnischen  Unterschiede 
zwischen  der  anglosaxonischen  und  der  czechischen  Kasse  bewirken,  dass 
Czechen  lieber  unter  Ungarn,  Polen,  Küssen  und  selbst  lieber  unter 
Deutschen  als  unter  Amerikanern  heiraten.  Dies  ist  aber  in  der  ersten 
Generation.  Wie  die  Verhältnisse  in  der  zweiten  Generation  sich  gestalten, 
wird  von  der  Statistik  nicht  mehr  erhoben.  JedenfalL?  steht  es  fest,  dass, 
wenn  einmal  der  Zuzug  aus  der  Heimat  nachlässt,  die  Auflösung  des 
czechischen  Elementes,  eben  wegen  seiner  territorialen  Zersplitterung  mit 
rapider  Geschwindigkeit  eintreten  muss. 

Während  die  deutschen  und  die  slavischen  Auswanderer  aus  Oester- 
reich  sich  fast  ausschliesslich  nach  den  Vereinigten  Staaten  wandten, 
wanderten  die  italienischen  Südtiroler,  ebenso  wie  ihre  Stammesgenossen 
aus  dem  Königreiche,  vorzugsweise  nach  Südamerika.  Dabei  hielten  sie  sich 
in  der  Regel  ferne  von  Brasilien,  wo  sie  in  den  70er  Jahren  so  schlechte 
Erfahrungen  gemacht  haben.  Die  österreichische  Auswanderung  nach  diesem 
Lande  hielt  sich  somit  ab  1883  auf  der  immerhin  bescheidenen  Ziffer  von 
jährlich  circa  500  Personen;  erst  im  Jahre  1888  schnellte  sie  plötzlich 
wieder  auf  1.156  empor,  sodann  wieder  im  Jahre  1890  auf  2.246  und  im 
Jahre  1891  gar  auf  4.244,  sank  im  nachfolgenden  Jahre  1892  auf  574,  um 
1893  neuerdings  auf  2.737  zu  steigen  und  1894  wieder  auf  798  zu  fallen. 
Dieses  unstete  Schwanken  zeigt  am  besten,  dass  bei  der  Entstehung  der 
Bewegung  die  Agitation  fremder  Einflüsse  sich  geltend  machte.  In  der  That 


*)  Diese  Zahlen  lassen  sich  nur  approximativ  bestimmen. 


462  Buzek. 

hatte  die  Kegierung  seit  dem  Jahre  1888  mit  Gesellschaften  und  Privaten 
10  Contracte  zur  Einführung  von  Einwanderern  und  255  Contracte  zur 
Ansiedelung  von  einheimischen  und  fremden  Arbeitern  auf  Colonien  im 
Innern  des  Landes  abgeschlossen,  für  welche  dem  Staate  unter  dem  Titel 
Mon  Prämien,  Subventionen  und  Zinsengarantien  finanzielle  Verpflichtungen  in 
der  Höhe  von  über  744  Millionen  Milrei's  erwachsen  waren.  Im  Jalire  1892 
ist  sogar  mit  der  Companhia  Metropolitana  ein  Vertrag  geschlossen  worden, 
nach  welchem  dieselbe  verpflichtet^twar,  binnen  zehn  Jahren  vom  1.  Jänner 
1893  an  gerechnet,  eine  Million  Einwanderer  nach  Brasilien  zu  bringen. 
Mit  diesen  Verträgen  war  die  Periode  der  subventionierten  Auswanderung 
nach  Brasilien  herangebrochen.  Allein  von  Genua  reisten  im  Jabre  1889 
mit  von  der  brasilianischen  Kegierung  bezahlter  Ueberfahrt  957  Personen 
ab,  1890  3.353,  1891  4.203,  1892  1.611,  1893  1.538,  1894  1.090.  Aus- 
wanderer,  die   auf  eigene  Kosten  dorthin  gereist  wären,  gab  es  fast  keine. 

Die  Auswanderer  dieser  Jahre  stammten  nur  zum  kleinsten  Theile  aus 
dem  Tridentino,  die  meisten  vielmehr  aus  dem  Küstenlande  (der  öster- 
reichische Lloyd  allein  beförderte  in  der  Zeit  vom  25.  October  bis  zum 
27.  December  1888  1.123  Auswanderer  [691  Männer,  432  Frauen]  aus  dem 
Küstenlande  nach  Brasilien),  aus  Krain,  sodann  aus  Croatien  und  Slavonien 
und  zum  Theile  auch  aus  Galizien  (zumeist  über  Bremen).  Ihr  Los  war  bei 
weitem  schlechter  als  das  der  galizischen  Einwanderer  der  70er  Jahre.  Die 
Regierung  hatte  sie  angeworben,  damit  sie  die  Kaffeepflanzungen  von 
S.  Paulo  und  die  heisse  Zone  des  Nordens  bevölkern.  ^)  Viele  geriethen  in 
unwürdige  Abhängigkeit,  viele  giengen  zugrunde,  sehr  viele  kehrten  ent- 
täuscht zurück;  nur  der  Rest,  dem  es  geglückt  war,  in  den  südlichen  Staaten 
angesiedelt  zu  werden,  gedeiht.  Aus  dieser  Zeit  stammen  die  südslavischen 
Colonien  in  S.  Paulo  und  Rio  Grande  do  Sul. 

Im  stricten  Gegensatze  zur  Eimvanderung  nach  Brasilien  steht  die 
Entwickelung  der  Arbeitereinwanderung  nach  Argentina.  Sie  ist  keinen  so 
heftigen  Schwankungen  unterworfen,  zeigt  vielmehr  eine  bemerkenswerte 
Stetigkeit  der  Entwickelung.  Im  Jahre  1881  wanderten  aus  Oesterreich- 
Ungarn  490  Personen  ein,  im  Jahre  1882  672,  in  den  drei  nächsten  Jahren 
«tieg  die  Ziffer  successive  auf  1.056,  1.329  und  1.982,  sank  im  Jahre  1886 
auf  1.015,  um  1887  auf  2.498,  1888  auf  2.333  zu  steigen  und  im  Jahre 
1889  mit  der  noch  nie  erreichten  Ziffer  von  4.225  zu  eulminieren.  Die 
Einwanderer  stammten  zum  grössten  Theile  aus  Südtirol.  Es  ist  angezeigt, 
auch  die  Bewegung  aus  diesem  Centrum  der  österreichischen  überseeischen 
Wanderung  näher  zu  charakterisieren.  Wir  thun  dies  an  der  Hand  einer. 
Veröffentlichung  des  Curaten  von  Quadra,  Lorenzo  Guetti.  ^)  Darnach 
sind  in  den  Jahren  1870 — 1886  aus  den  italienischen  Decanaten  (25)  Süd- 
tirols ausgewandert: 


*)  Die  ganze  Bewegung  trägt  den  Charakter  einer  Familien  Wanderung. 
^)  Statistica  dell'   Eraigrazione  americana   avvenuta  nel  Trentino  dal  1870  in  poi, 
compilata  da  un  Curato  di  campagna,  1889. 


Das  Ausvvanderungsproblem  und  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  etc.     463 

Zahl 

.           /  verheiratet 5.428 

l  nicht  verheiratet 11.155 

/  verheiratet 3.013 

l  nicht  verheiratet 3.906 

nach  Südamerika 18.487 

nach  Nordamerika 5.068 

Zusammen  .    .    .  23.486 

Hievon  sind  in  Amerika  gestorben 1.008 

„       hatten  in  der  neuen  Heimat  guten  Erfolg    .    .    .  14.060 
„           „       „     „       ,             „        schlechten  Erfolg    .  1.651 
„           „       „     „       „             „        unsicheren  oder  un- 
bekannten Erfolg 8.135 

Hievon  sind  zurückgekehrt 1.991 

Die  Auswanderung  aus  Südtirol  ist  eine  Auswanderung  unverheirateter 
Männer.  Nur  selten  reisen  auch  verheiratete  Männer  ab,  die  entweder  ihre 
Prau  sogleich  mitnehmen,  oder  dieselbe  später  nachkommen  lassen.  In 
diesen  Fällen  handelt  es  sich  zumeist  um  eine  dauernde  Auswanderung,  in 
anderen  Fällen  um  eine  Arbeiterwanderung,  die  freilich  auch  oft  zur 
dauernden  Ansiedelung  führen  kann.  Die  Bewegung  regelt  sich  im  ganzen 
und  grossen  nach  wirtschaftlichen  Motiven,  wie  die  Regelmässigkeit  ihres 
Verlaufes  beweist.  Daraus  erklärt  sich  auch,  dass  die  Auswanderung 
zumeist  Erfolge  aufzuweisen  hat.  Die  geringe  Zahl  der  in  die  Heimat  Zurück- 
gekehrten erklärt  sich  daraus,  dass  die  Auswanderung  in  grösserem  Maass- 
stabe bis  1885  noch  frischen  Datums  war,  die  Auswanderer  aber  in  der 
Begel  ein  Decennium  und  mehr  in  der  Fremde  verbringen,  weil  eben  erst 
nach  einer  solchen  Zeit  die  Ersparnisse  gross  genug  sind. 

In  Bezug  auf  den  zuletzt  besprochenen  Punkt  werden  übrigens  die 
Ergebnisse  der  privaten  Arbeit  Guettis  durch  die  officielle  Statistik 
Argentinas  rectificiert.  Nach  dem  letzten  argentinischen  Census  wohnten  am 
10.  Mai  1895  auf  dem  Gebiete  der  Republik  12.803  Oesterreicher  und 
Ungarn.  Die  Einwanderung  von  1857  bis  Ende  1894  betrug  aber  24.851. 
Abgerechnet  die  geringe  Zahl  von  Verstorbenen,  muss  demnach  circa  die. 
Hälfte    der  Einwanderer   aus  Oesterreich   wieder  das  Land   verlassen  haben. 

Der  allergrösste  Theil  der  österreichischen  Einwanderer  fand  in  Argen- 
tina als  Feldarbeiter  Erwerb,  sodann  als  industrielle  Arbeiter.  Erheblich 
ist  auch  die  Zahl  der  Kaufleute,  Handwerker  und  Colonisten,  wie  die  der 
Gärtner  und  Maurer.  Von  den  26.471  Einwanderern  der  Jahre  1876  bis 
1897  waren  —  abgerechnet  4.904  ohne  Berufsangabe  und  3.885  ohne  speciell 
ausgewiesenen  Beruf —  10.204  Feldarbeiter,  2.842  Taglöhner,  1.424  Kaufleute, 
1.340  Colonisten,  1.072  Handwerker,  384  gehörten  liberalen  Berufen  an, 
289  waren  Maurer  und  127  Gärtner. 

Die  territoriale  Vertheilung  der  österreichischen  Colonie  in  Argentina 
erhellt  aus  folgender  Zusammenstellung. 


464 


Buzek. 


Am  10.  April  1895  wurden  gezählt  Oesterreicher  und  Ungarn -.i) 


in  der  Provinz,  resp.  Territorium 


Hauptstadt *!^4 

Santa  F^ 

Buenos  Aires .    . 

Entre  Rios 

Cordoba    

Mendoza 

Tucuman 

Choco •../.•.... 

Andere  Provinzen  und  Territorien  .    .    . 

Summe  .... 


männlich 


2.036 

1.968 

1.923 

1.248 

626 

172 

142 

100 

470 


8.685 


weiblich    zusammen 


Davon 
Eigenthümer 

von 
Immobilien 


1.021 

928 

535 

941 

367 

77 

34 

74 

141 


4.118 


3.057 

2.896 

2.458 

2.269 

993 

249 

176 

174 

611 


12.803 


193 

547 

189 

416 

371 

42 

26 

71 

105 


1.954 


n 


Diejenigen  Provinzen,  in  denen  die  meisten  Oesterreicher  Immobilien 
besassen,  weisen  auch  den  grössten  Procentsatz  österreichischer  Frauen  aus. 
Da  nach  dem  argentinischen  Gesetze  vom  1.  October  1868  die  Argentinerin, 
die  einen  Ausländer  heiratet,  die  Staatsbürgerschaft  des  Mannes  nicht  an- 
nimmt, folgt  daraus,  dass  die  „Colonisten"  ihre  Frauen  aus  der  Heimat 
haben  mitnehmen  müssen.  Sehr  bemerkenswert  ist,  dass  die  Zahl  der 
Immobilienbesitzer  beträchtlich  grösser  ist,  als  die  Zahl  der  aus  Oesterreich 
eingewanderten  Colonisten.  Es  muss  zahlreichen  Arbeitern  gelungen  sein, 
aus  ihrem  Verdienst  ländlichen  Besitz  zu  erwerben. 


4.  Die  Aus  Wanderungsbewegung    seit   dem  Jahre  1893. 

In  den  90er  Jahren  tritt  die  österreichische  Auswanderungsbewegung 
in  eine  neue  Phase.  Sie  wird  hervorgerufen  durch  die  wirtschaftliche 
Depression,  die  im  Jahre  1892  in  Argentina,  im  Jahre  1893  in  den  Ver- 
einigten Staaten  zum  Ausbruch  kam,  durch  den  wirtschaftlichen  Aufschwung 
Deutschlands  und  einiger  Provinzen  Oesterreichs  seit  dem  Jahre  1895, 
endlich  durch  das  Eingreifen  der  Bevölkerung  Ostgaliziens  in  die  Wander - 
bewegung.  Prüfen  wir  näher  jede  dieser  Thatsachen. 

Die  Einwanderung  in  die  Vereinigten  Staaten  erreichte  nach  der 
Constanten  Steigerung  in  den  80er  Jahren  ihren  Culminationspunkt  im 
Jahre  1892,  indem  in  diesem  Jahre  80.136  Oesterreicher  und  Ungarn 
einwanderten.  Im  Jahre  1893  beginnt  plötzlich  eine  rückläufige  Bewegung. 
In  diesem  Jahre  erschütterte  nämlich  eine  starke  Krisis  das  wirtschaftliche 
Leben  der  Union,  deren  Wirkungen  mehrere  Jahre  lang  nachklingen  sollten. 


*)  Segundo  Censo  de  la  republica  Argentina,  Tomo  IT,  Buenos  Aires  1898. 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  etc.     465 

Die '  Krisis  machte  Hunderttausende  von  Arbeitern  erwerbslos.  Nach  der . 
Erhebung  der  Arbeitslosen  im  December  1893  gab  es  in  119  Städten  der 
Union  801.000  Arbeitslose,  deren  Familien  1,956.000  Personen  umfassten.^) 
Im  Staate  New  York,  wo  im  Jahre  1891  die  Sparcasseneinlagen  die  Kündi- 
gungen um  17,031.000  Dollars  überschritten,  wurden  im  Jahre  1896 
34,518.000  Dollars  mehr  gekündigt  als  deponiert.^)  Natürlich  mussten  die 
Arbeitslöhne  jäh  sinken.  Bereits  die  Löhne  des  Jahres  1893  waren  durch- 
schnittlich gegen  das  Jahr  1892  um  29  Proc.  niedriger  und  die  Jahre  bis 
1896  brachten  noch  weitere  Rückgänge.  Die  Wirkung  auf  die  Einwanderung 
konnte  nicht  ausbleiben.  Während  im  Jahre  1890/91  560.319,  1891/92 
sogar  623.084  Personen  einwanderten,  sank  die  Einwanderung  bereits  1892/93 
auf  502.917,  und  sodann  auf  314.467  und  279.948;  im  Jahre  1895/96 
erholte  sich  zwar  die  Einwanderung  auf  343.267,  aber  in  den  folgenden 
zwei  Jahren  war  sie  wieder  auf  230.832,  respective  229.299  d.  h.  auf  den 
tiefsten  Stand  der  70er  Jahre  gesunken.  Erst  in  den  beiden  letzten  Jahren 
des  Decenniums,  nachdem  die  durch  die  Krisis  des  Jahres  1893  geschlagenen 
Wunden  geheilt  waren  und  das  wirtschaftliche  Leben  lebhafter  zu  pulsieren 
begann,  stellte  sich  eine  Erhöhung  der  Einwanderung  ein,  im  Jahre  1898/99 
auf  311.715,  im  Jahre  1899/1900  auf  448.572. 

Die  Art,  in  welcher  diese  Aenderungen  im  wirtschaftlichen  Leben  der 
Union  auf  die  Einwanderung  aus  Oesterreich-Ungarn  einwirkten,  ist  für  die 
Ursachen  dieser  Bewegung  im  höchsten  Grade  charakteristisch.  Wir  geben 
deswegen  folgende  Tabelle,  die  die  jährlichen  Schwankungen  der  öster- 
reichischen Einwanderung  wiedergibt: 


Im  Fiscaljahre 


wanderten  in  die  Vereinigten  Staaten  ein 


aus  Böhmen  und 
Mähren 


üalizien  und 
der  Bukowina 


übriges 
Oesterreich 


Ungarn 


1890/91 
1891/92 
1892/93 
1893/94 
1894/95 
1895/96 
1896/97 
1897/98 
1898/99 
1899/1900 


11.7583) 
8.2783) 
5.8503) 
2.5363) 
1.9733) 
2.709 
1.954 
2.468 
2.382^) 
3.056^) 


30.918 
34.367 
30.584 
20.572 


4.324 
12.696 

5.767 
12.417 
24.167^) 

42.582*) 


11.898 

18.800 

10.285 

8.233 

5.846*) 
8.878*) 


28.366 

37.236 

23.501 

14.397 

15.206 

30.898 

15.025 

16.662 

30.096*) 

60.331*) 


^)  C.  Closson,   The  unemployed  in  American   Cities,   The   Quartedy  Journal   of 
econoraics,  Band  VIII,  1894. 

2)  Ottolenghi,  La  nuova  fase  dell'  immigrazione  del   lavoro  agli  Stati  Uniti  d' 
America,  Giornale  degli  economisti,  Roma  1899,  S.  349. 

3)  Nur  Böhmen. 

*)  Seit  dem  Jahre   1898/99   classificiert  die  nordameriisanische  Statistik   die  Ein- 
wanderung aus   Oesterreich-Ungarn  nicht  nach   dem  Herkunftslande,  sondern    nach   der 


466  Buzek. 

Die  Einwanderung  aus  Böhmen  versieht  es  am  besten  sich  der  wirt- 
schaftlichen Conjunctur  anzupassen.  Sie  culminiert  im  Jahre  der  höchsten 
industriellen  Bluthe  1890/91,  nicht  unmitte  bar  im  Jahre  vor  der  Krisis,  hält 
sich,  nachdem  diese  ausgebrochen,  constant  auf  der  gegenüber  den  Vorjahren 
unbedeutenden  Höhe  von  1.900  bis  2.500  Personen  jährlich.  Ebendasselbe 
gilt  von  der  deutschen  und  der  italienischen  Einwanderung,  nicht  aber  von 
der  slovenischen,  die  in  den  %ifs  das  übrige  Oesterreich  gegebenen  Ziffern 
(bis  1898)  einbegriffen  ist.  Dagegen  dürfte  sich  bei  der  Einwanderung  aus 
Galizien  ein  Rückgang  kaum  eingestellt  haben.  Sie  weist  starke  Schwan- 
kungen auf,  die  unmöglich  auf  rein  wirtschaftliche  Motive  zurückgeführt 
werden  können. 

Nach  der  Besserung  der  wirtschaftlichen  Lage  in  der  Union  beginnt 
die  Einwanderung  seit  1898  aufs  neue  zu  steigen.  An  dieser  Steigerung 
nehmen  die  Böhmen  und  die  Deutschen  keinen  besonderen  Antheil.  Das 
rege  wirtschaftliche  Schaffen  der  Heimat  und  der  Nachbarländer  hält  sie 
auf  dem  Continente  zurück.  Dagegen  steigt  die  Auswanderung  aus  Galizien 
und  aus  Ungarn  im  ungeahnten  Maasse;  bereits  im  Jahre  1897/98  stammt 
mehr  als  die  Hälfte  der  österreichischen  Einwanderung  aus  Galizien.  im 
Jahre  1898/99  bereits  %,  im  Jahre  1899/1900  fast  Vs-  Gegenwärtig 
ist  die  österreichische  Einwanderung  in  der  Hauptsache 
eine   Einwanderung   aus    Galizien 

Im  laufenden  Jahre  hat  sich  die  Hochconjunctur  in  Eisen  und  Kohle 
ausgelebt,  die  wirtschaftliche  Entwickelung  überhaupt  ist  in  Deutschland 
und  wohl  auch  in  Oesterreich  ins  Stocken  gerathen.  Es  steht  zu  erwarten, 
dass  die  Auswanderung  aus  Böhmen  und  den  deutschen  Ländern  Oesterreichs^ 
sich  wieder  erheblich  erhöhen  wird.  Aus  Ursachen,  die  noch  später  erörtert 
werden,  ist  anzunehmen,  dass  die  Auswanderung  aus  Galizien  nicht  ab-, 
sondern  zunehmen  wird.  Für  den  Fall,  dass  sich  in  der  Union  kein  wirt- 
schaftlicher Rückschlag  einstellt,  kann  schon  jetzt  mit  Sicherheit  behauptet 
werden,  dass  die  österreichische  Einwanderung  in  die: 
Union  sich  in  den  nächsten  Jahren  auf  80  bis  100.000 
jährlich  stellen  werde  (ohne  die  ungarische  Einwanderung). 
Wir  wollen  deswegen  die  Beschaffenheit  des  Auswanderungsmaterials  näher 
prüfen. 

Die  nationale  Zusammensetzung  der  österreichisch-ungarischen  Ein- 
wanderung der  beiden  letzten  Jühre  gibt  folgende  Tabelle: 


Nationalität  der  Einwanderer.  Behufs  Herstellung  obiger  Uebersicht  wurden  die  Polen, 
Euthenen  und  Israeliten  Galizien,  die  Deutschen,  Italiener,  Dalmatiner  dem  übrigen 
Oesterreich,  die  Slovaken,  Magyaren,  Croaten  und  Sl'ovenen  Ungarn  zugetheilt.  Dass 
diese  Zutheilung  im  grossen  richtig  ist,  bestätigen  die  Angaben  der  Statistik  der  euro- 
päischen Häfen. 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  etc.     467 


I.  Deutsche 

Italiener 

Dalmatiner,  Bosnier,  Herzogowiner 

Andere 

Oesterreicher  schlechthin    .... 
IL  Böhmen  und  Mährer 

III.  Polen 

Ruthenen  und  Russen 

Juden  

IV.  Slovaken 

Croaten  und  Slovenen     .... 

Magyaren 

Serben 

Rumänen 

Ungarn  schlechthin 

Zusammen 


Es  wanderten  ein  aus 
Oesterreich-Ungarn  imFiscaljahre 


1898/99 


1899/1900 


4.313 

1.050 

367 

18 

98 

2.382 

11.660 

1.436 

11.071 

15.757 

8.612 

4.873 

41 

29 

784 


62.491 


6.901 

1.287 

672 

18 

3.056 

22.802 

2.860 

16.920 

29.183 

17.163 

13.776 

34 

175 


114.847 


Das  grösste  Contingent  der  Einwanderer  aus  Oesterreich  stellen  die 
Polen  und  die  Juden,  dann  die  Deutschen.  Die  czechische  und  ruthenisclie 
Einwanderung  ist  im  Verhältnis  zur  Kopfzahl  dieser  Volksstämme  unbe- 
trächtlich, absolut  klein,  relativ  aber  bedeutend  ist  die  Einwanderung  der 
Italiener,  Dalmatiner  und  in  vielleicht  noch  höherem  Maasse  die  Einwande- 
rung der  Slovenen  aus  Krain;  bemerkenswert  ist  endlich,  dass  seit  dem 
Jahre  1898  unter  den  Ungarn  auch  magyarische  Einwanderer  in  starker 
Zahl  auftreten.  Von  allen  Volksstämmen  der  Monarchie  sind  also  gegenwärtig 
an  der  Wanderbewegung  nur  die  Rumänen  unbetheiligt. 

Behufs  genauer  Erfassung  der  Art  der  Einwanderung  seien  folgende 
Daten  angeführt.  (Siehe  Tabelle  S.  468.) 

Die  Ziffern  für  das  Jahr  1897/98  beziehen  sich  auf  die  Einwanderung 
aus  den  einzelnen  Theilen  der  Monarchie,  die  für  das  Jahr  1899/1900  da- 
gegen auf  die  Immigration  der  einzelnen  Nationalitäten,  wobei  die  Staats- 
angehörigkeit nicht  mehr  berücksichtigt  wird. 

Nach  der  geschlechtlichen  und  der  Altersgliederung  zu  schliessen.  ist 
die  Einwanderung  aus  Böhmen  und  Mähren  eine  colonisatorische.  Dauernden 
Charakter  hat  auch  die  israelitische  Immigration,  insbesondere  die  aus 
Galizien.  Dagegen  bezweckt  die  italienische,  deutsch-österreichische,  polnische, 
ruthenische  und  insbesondere  auch  die  slovenische  Einwanderung  wie  die 
aus  Ungarn  vorwiegend  vorübergehenden  Aufenthalt  zum  Zwecke  des  Er- 
werbes.  Dass  auch  hier  unter  Umständen  der  Procentsatz  der  auswandernden 


468 


Buzek. 


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Das  Auswanderungsproblem  und  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  etc.     469 

den  Frauen  verhältnismässig  hoch  ist,  erklärt  sich  daraus,  dass  verheiratete 
Arbeiter  (insbesondere  die  polnischen  und  die  Slovaken)  die  Frau  mitnehmen, 
trotzdem  sie  willens  sind,  später  in  die  Heimat  zurückzukehren.  Viele  lassen 
sich  nach  1  oder  2  Jahren,  sobald  die  Verhältnisse  es  erlauben,  Frau  und 
Kinder  nachkommen,  noch  andere  reisen  in  die  Heimat  und  holen  die  Ihrigen 
selber.  In  allen  diesen  Fällen  kann  natürlich  sehr  leicht  die  ursprüngliche 
Absicht  fallen  gelassen  werden  und  die  Sesshaftmachung  im  Auslande 
erfolgen.  Wie  gross  die  Zahl  der  nachreisenden  Angehörigen  zumal  in  Jahren 
schwächerer  Einwanderung  ist,  und  wie  verhältnismässig  häufig  Fälle  der 
wiederholten  Einwanderung  sind,  zeigen  die  Ziifern  der  beiden  letzten 
Spalten.  Von  den  slovakischen  Einwanderern  des  Jahres  1899/1900,  die 
mehr  als  15  Jahre  alt  waren,  war  fast  Vg  t>ereits  früher  in  der  Union 
gewesen,  von  den  Italienern  gar  V51  dagegen  von  den  Juden  und  Czechen 
nicht  einmal  3,  respective  7  Proc. 

Der  zeitweilige  Charakter  der  polnischen  Einwanderung  aus  Galizien, 
die  dauernde  Emigration  der  galizischen  Juden  sind  Thatsachen,  die  für  die 
Zusammensetzung  des  Bevölkerungsstandes  Galiziens  von  nachhaltigstem 
Einflüsse  sind.  Im  Jahre  1890  betrug  die  israelitische  Bevölkerung  Galiziens 
770.468  Seelen,  im  Jahre  1900  810.845.  i)  Die  Zunahme  beträgt  also 
40.377.  Der  Geburtenüberschuss  der  israelitischen  Bevölkerung  Galiziens  ist 
aber  ausserordentlich  hoch  und  stellt  sich  durchschnittlich  jährlich  auf 
circa  16.000  (1895  16.538,  1896  16.156,  1897  16.244).  In  den  zehn  Jahren 
1891  bis  1900  hätte  also  die  israelitische  Bevölkerung  um  circa  160.000 
zunehmen  sollen.  Dies  ergiebt,  dass  circa  120.000  Israeliten  in  den 
90er  Jahren  aus  Galizien  ausgewandert  sein  müssen.  Die  polnische  Wander- 
bewegung ist  bei  weitem  intensiver  als  die  der  Juden.  Wenn  nichtsdesto- 
weniger die  Gesammtsumme  der  galizischen  Polen,  die  in  den  90er  Jahren 
auswanderten,  auf  höchstens  135.000  veranschlagt  werden  kann,  so  liegt 
-die  Ursache  eben  in  dem  verschiedenen  Charakter  beider  Wanderungen. 

Die  slavischen  Einwanderer  aus  Oesterreich-Ungarn  weisen,  wenn  wir 
von  Böhmen  und  Mähren  absehen,  eine  erschreckend  hohe  Ziffer  von 
Analphabeten  aus.  Genau  die  Hälfte  der  erwachsenen  Ruthenen  kann  weder 
schreiben  und  lesen,  von  den  Croaten  und  Slovenen  sind  38  Proc,  von  den 
Polen  33  Proc,  Analphabeten.  Es  ist  natürlich,  dass  die  slavische  Ein- 
wanderung die  unterste  Kategorie  unter  den  Einwanderern  einnimmt,  von 
den  Einwanderungsinteressenten  am  meisten  ausgebeutet  wird,  dass  sie  das 
grösste  Risico  zu  tragen,  die  geringsten  Erfolge  aufzuweisen  hat.  Dazu 
kommt  die  mangelhafte  technische  Vorbildung  der  slavischen  Einwanderer; 
die  meisten  sind  Landleute,  die  über  dem  Meere  in  industriellen  Arbeiten 
einen  lohnenden  Erwerb  finden  wollen.  Natürlich  müssen  sie  mit  den 
schlechtest  entlohnten  Arbeiten  niedrigster  Art  vorlieb  nehmen. 

In  welchen  Berufen  die  österreichischen  Einwanderer  in  die  Vereinigten 
Staaten  sich  bethätigen,  erhellt  aus  folgender  Zusammenstellung. 

^)    Summarische    Ergebnisse    der   Volkszählung,    veröffentlicht    in    der    amtlichen 
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470 


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Das  Auswanderungsproblem  und  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  etc.      471 

Am  vortheilhaftesten  stellt  sich  die  israelitische  Einwanderung  dar. 
Die  grosse  Mehrzahl  dieser  Einwanderer  gehört  gelernten  Berufen  an.  Ein 
starkes  Contingent  qualificierter  Arbeiter  stellen  ferner  die  Czechen,  sodann 
die  Deutschen  und  auch  die  Norditaliener;  bei  den  Polen.  Ruthenen,  Slo- 
vaken,  Croaten,  Slovenen  und  Magyaren  ist  dagegen  der  unqualificierte 
Arbeiter  der  bei  weitem  vorherrschende  Typus.  Merkwürdigerweise  ist  bei 
diesen  Slaven  die  Neigung  oder  Möglichkeit,  sich  als  landwirtschaftlicher 
Arbeiter  zu  verdingen,  viel  geringer  als  bei  den  deutschen  und  italienischen 
Arbeitern.  Besonders  muss  vermerkt  werden,  dass  die  Zahl  der  Personen, 
die  eine  Farm  erwerben  wollten,  eine  verschwindend  kleine  ist.  Grösser  ist 
die  Zahl  der  einwandernden  Dienstboten  (für  persönliche  und  häusliche 
Dienste).  Circa  V4  bis  Vs  der  einwandernden  czechischen  Frauen  gehört 
diesem  Stande  an. 

Von  dem  Berufe,  dem  sich  die  Einwanderer  zuwenden  wollen,  hängt 
zum  Theile  ab,  in  welchen  Theilen  der  Union  sie  ihren  Aufenthalt  wählen. 
Von  ausschlaggebender  Bedeutung  ist  hier  aber  die  territoriale  Vertheilung 
der  bereits  in  der  Union  bestehenden  Sprachinselchen  derselben  Nationalität. 
Die  Czechen  ziehen  in  der  Regel  nach  Gebieten,  in  welchen  bereits  viele 
Czechen  wohnen,  ebenso  gravitieren  die  Polen  nach  polnischen  Centren  etc. 
Die  Staatsangehörigkeit  der  Einwanderer  bleibt  dabei  in  der  Regel  ohne 
jede  Bedeutung.  Der  Verlauf  dieser  Bewegung  ist  von  Jahr  zu  Jahr  in  so 
hohem  Maasse  identisch,  dass  der  Kundige  aus  der  territorialen  Vertheilung 
der  Ankömmlinge  sofort  mit  Sicherheit  deren  Nationalität  erräth.  (Siehe 
Tabelle  S.  472.) 

Während  also  die  grössere  Hälfte  der  Czechen  in  die  nordwestlichen 
Staaten  wandert  und  einen  stärkeren  Arm  nach  Texas  abzweigt,  begeben 
sich  die  übrigen  slavischen  Einwanderer,  ebenso  wie  die  Magyaren  zum 
allergrössten  Theile  in  die  neuenglischen  Staaten,  insbesondere  nach  Penn- 
sylvanien,  dessen  Bergbau  und  Eisenindustrie  das  Hauptattractionsmittel 
dieser  Einwanderung  bildet.  Die  Juden  bleiben  zunächst  fast  ausschliesslich 
in  New  York,  von  wo  sie  erst  später,  nachdem  sie  ein  kleines  Capital 
gesammelt,  weiter  nach  Westen  rücken.  Etwa  die  Hälfte  der  deutschen 
Einwanderer  wandert  in  die  neuenglischen  Staaten,  die  andere  Hälfte  sucht 
dagegen  sofort  den  Nordwesten  auf,  insbesondere  die  Staaten  Ohio,  Wisconsin, 
Illinois  und  Nebraska.  Immerhin  ist  die  Zersplitterung  der  deutschen  Ein- 
wanderung beträchtlicher,  als  die  der  übrigen  Nationen.  Das  Gegenstück 
dazu  bildet  die  Immigration  der  Norditaliener,  die  sich  in  ausgeprägter 
Weise  in  einigen  wenigen  Staaten  concentriert. 

Ein  zweites  Moment,  dass  in  den  nächsten  Jahren  in  unabsehbarer 
Weise  die  Ziffern  der  Auswanderung  aus  Oesterreich  wachsen  lassen  kann, 
ist  der  Beginn  einer  starken  Auswanderung  aus  Ostgalizien  von  fast  aus- 
schliesslich colonisatorischem  Charakter.  Ihr  Ziel  ist  nicht  das  zeitweilige 
Aufsuchen  fremder  Arbeitsmärkte,  sondern  die  dauernde,  zumal  landwirt- 
schaftliche Besiedelung  entlegener  Gebiete;    die  Träger   der  Bewegung  sind 


472 


Buzek. 


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Das  Äuswanderungsproblem  und  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  etc.     473 

nicht  mehr  die  westgalizischen  Polen,  sondern  zum  kleineren  Theil  die 
masurischen  Volkselemente,  die  in  früheren  Jahren  in  Ostgalizien  angesiedelt 
wurden  und  nun  eine  Rückwanderung  beginnen,  zum  grösseren  Theile  die 
Ruthenen,  die  jedoch  im  Auslande  zumeist  als  Polen  auftreten,  weshalb  die 
ganze  Bewegung  vielfach  als  eine  neue  Aera  einer  polnischen  Colonisation 
aufgefasst  wird. 

Die  Bewegung  begann  im  Jahre  1892  in  den  podolischen  Bezirken, 
dem  Hauptherde  dieser  Wanderung,  mit  einer  Massenemigration  nach  Russ- 
land. Die  Umstände,  unter  denen  die  Bewegung  entstand  und  verlief, 
wiederholten  sich  später  immer  wieder  von  neuem,  und  sind  für  diese  Aus- 
wanderung geradezu  typisch.  Sie  sollen  deswegen  auch  näher  gewürdigt 
werden. 

Im  August  1892  verbreitete  sich  in  den  podolischen  Bezirken  die 
Nachricht,  dass  die  russische  Regierung  unter  die  aus  Galizien  kommenden 
Bauern  Grund  und  Boden  vertheile.  Bald  wurde  in  den  Schenken  und  den 
Bauernhütten,  auf  dem  Felde  bei  der  Arbeit,  auf  Wochenmärkten  und  bei 
kirchlichen  Zusammenkünften  nur  von  den  Grundstücken,  die  sammt  Wohn- 
haus, Inventar  und  der  ganzen  Einrichtung  gratis  vergeben  werden, 
gesprochen.  Man  erzählte,  dass  die  Grundstücke,  die  man  in  Russland  ver- 
theile, deutschen  Colonisten,  die  dieselben  verlassen  hatten,  dann  wieder, 
dass  sie  den  vertriebenen  Juden  gehört  hätten,  dass  beide  Kaiser  sich  in 
der  Frage  der  Auswanderung  nach  Russland  verständigt  hätten  u.  dgl.  m. 
All  dies  wurde  geglaubt  und  ab  Mitte  August  begann  die  Landbevölkerung 
scharenweise  über  die  Grenze  zu  ziehen.  Vor  allem  waren  es  Taglöhner, 
welche  weder  Boden  noch  Hütte  hatten,  und  Häusler,  welche  bloss  eine 
Hütte  und  einen  kleinen  Garten  besassen,  weiter  das  Hofgesinde,  und  zwar 
sowohl  Leute,  welche  augenblicklich  keinen  Dienst  hatten,  als  auch  Knechte 
und  Mägde  in  Stellung,  schliesslich,  wenn  auch  in  geringerer  Anzahl,  die 
Besitzer  von  2 — 3  Joch  Feld,  namentlich  die  am  meisten  verschuldeten 
oder  mit  Executionen  bedrohten.  Die  Auswanderer  verkauften  ihre  Mobilien, 
ihr  Getreide  und  Vieh,  oft  auch  die  Immobilien,  selbstverständlich  zu  Spott- 
preisen. Die  meisten  nahmen  Familie,  Frauen  und  Kinder,  manchmal  auch 
die  Eltern  mit;  andere  giengen  vorderhand  allein.  Nach  Verlauf  von  zwei 
Wochen  hörte  plötzlich  die  Bewegung  wie  mit  einem  Schlage  auf.  Die- 
jenigen, die  zuerst  ausgewandert  waren,  waren  zurückgekehrt  und  ihre 
Erzählungen  "mussten  Glauben  finden:  die  russische  Regierung  gab  nicht 
nur  keine  Grundstücke,  sondern  sie  liess  die  Leute  arretieren,  sendete  sie 
unter  Escorte  von  einem  Amt  an  das  andere,  unterbrachte  sie  hierauf  in 
leerstehenden  Kasernen,  oder  bei  Bauern,  gewährte  denjenigen,  die  gänzlich 
mittellos  waren,  einen  kleinen  Unterstützungsbeitrag  und  überliess  sie  im 
übrigen  sich  selbst.  Die  Geschichte  von  der  Betheiligung  mit  Grundstücken 
war  einfach  erfunden. 

Hier  der  ziffermässige  Ausweis  über  die  Opfer  dieser  Bewegung: 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung    X.  Band.  33 


474 


Buzek. 


Politischer  Bezirk 


Es  wanderten 
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Kehrten 
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Verblieben  in 


Russland  Personen 


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Tarnopol 

Husiatyn 

Borszczöw 

Zaleszczyki 

Sokal 

Zusammen 


2.600 
702 
156 
416 

1.513 
334 
390 


6.111 


1.821 
376 
127 
216 
418 
171 
154 


3.283 


779 
326 
29 
200 
1.095 
163 
236 


2.828 


Nach  der  missglückten  Massenwanderiing  nach  Russland  ^)  kam  die 
Magsenauswanderung  nach  Brasilien.  Auf  Grund  des  im  Jahre  1892  mit  der 
brasilianischen  Regierung  abgeschlossenen  Vertrages  hatte  die  Companhia 
Metropolitana  Verträge  mit  den  Schiifahrtsgesellschaften  abgeschlossen,  kraft 
deren  diese  148  Francs  per  Einwanderer  zugesichert  erhielten,  während 
die  Gesellschaft  selbst  sich  den  Rest  der  von  der  Regierung  bewilligten 
Prämie  von  6' 15  Pfund  Sterling  (also  etwa  20  Francs  per  Einwanderer) 
als  ihren  Gewinn  vorbehielt.  Die  Schiffahrtsgesellschaften  errichteten  in  den 
wichtigsten  Auswanderungsgebieten  besondere  Agenturen,  die  die  Aus- 
wanderer anwerben  sollten.  Den  günstigsten  Boden  fanden  diese  Agenten  in 
Ostgalizien.  Konnten  sie  doch  ausser  Grund  und  Boden  in  Brasilien  noch 
freie  üeberfahrt  versprechen.  Durch  das  Eingreifen  der  ostgalizischen  Aus- 
wanderung schwoll  nun  die  subsidierte  Auswanderung  nach  Brasilien  in 
kolossaler  Weise  an. 


Im  Jahre 


1895 
1896 
1897 
1898 


wanderten  nach  Brasilien  aus 


über  Genua 


davon  mit 
bezahlter  Fahrt 


Oesterreicher  und  Ungarn 


11.154 

7.376 

2.634 

553 


11.119 

7.158 

2.450 

480 


ausserdem  über 
Hamburg  und  Bremen 


Oesterreicher 


1.149 

5.383 

133 

428 


Die  Auswanderer  der  Jahre  1895  und  1896  waren   zum   allergrössten 
Theile  Galizier,  die  der  beiden  nachfolgenden  Jahre  stammten,  wie  vor  1898, 


1)  Die  Auswanderung  aus  den  podolischen  Bezirken  nach  Russland  im  Jahre  1892, 
von  Prof.  Dr.  Thad.  Pilat,  Statistische  Monatsschrift,  XIX.  Jahrgang. 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Regelung  des  Auswanderangswesens  etc.     475 

Überwiegend  aus  den  südlicheu  Ländern  der  Monarchie.  Mit  dem  Jahre  1899 
stellte  die  brasilianische  Eegierung  wegen  Mangel  an  verfügbaren  finanziellen 
Mitteln  die  weitere  Subsidiening  der  Einwanderung  ein.  Damit  war  die 
Periode  der  „Gratis "-Auswanderung  aus  Oesterreich  nach  Brasilien  beendet. 
Die  Einwanderer  der  folgenden  Jahre  kamen  zumeist  auf  eigene  Spesen. 

Während  die  italienischen  und  südslavischen  Einwanderer  der  Jahre 
1895  bis  1897  das  Schicksal  der  vor  1895  Ausgewanderten  theilten, 
wurden  die  galizischen  Polen  in  compacten  Maassen  in  Parana  angesiedelt. 
Der  k.  u.  k.  Consul  in  Curityba,  Pohl,  schätzt  die  Zahl  der  1895  und  1896 
in  Parana  sesshaft  gewordenen  Polen  auf  circa  19.000. 

Parana  war  seit  den  70er  Jahren  der  Hauptzielpunkt  der  colonisatorischen 
Auswanderung  nicht  nur  der  galizischen,  sondern  auch  der  preussisch- 
schlesischen  und  der  russischen  Polen.  In  den  Jahren  1890,  1891  und  1892 
war  es  sogar  zu  einer  Masseneinwanderung  aus  Russisch-Polen  gekommen, 
indem  allein  in  den  beiden  letzteren  Jahren  8.661  Polen  aus  Russland 
augesiedelt  wurden,  Kein  Wunder,  dass  in  dem  dünn  bevölkerten  Lande 
(nach  der  Volkszählung  vom  31.  December  1890  wohnten  in  Parana  auf 
einer  Fläche  von  221.319  km'^  249.491  Menschen)  das  polnische  Element 
die  Oberhand  gewann  und  auf  der  gesunden  Hochebene  im  Innern  des 
Landes  in  fast  geschlossenen  Massen  wohnte.  Natürlich  machte  sich  bald 
in  der  gebildeten  polnischen  Gesellschaft  ein  reges  Interesse  für  Parana 
bemerkbar.  Es  bildete  sich  in  Lemberg  eine  Gesellschaft  des  heiligen  liafael 
zum  Schutze  der  Auswanderer  nach  Parana,  die  den  Emigrantenzügen  des 
Jahres  1895  und  1896  Führer  auf  den  Weg  gab,  die  sie  auf  der  Hinreise 
vor  Ausbeutung  schützen  und  in  Brasilien  auf  ihre  baldigste  Ansiedelung, 
und  zwar  nicht  in  den  Nordstaaten,  sondern  in  Parana,  hindrängen  sollten. 
Namentlich  letzteres  gelang,  und  die  Ankömmlinge  wurden  ziemlich  glatt 
in  den  alten  polnischen  Colonien  Rio  Claro,  Luceua,  Rio  Negro,  in  den 
Gegenden  von  Lapa  und  Säo  Jose  dos  Pinhaes,  sowie  in  der  neugegrüudeten 
Colonie  Olyntho  angesiedelt. 

in  den  Jaliren  1897  und  1898  gerieth  die  galizische  Auswanderung 
nach  Parana  ins  Stocken.  Im  Jahre  1897  wanderten  271,  im  Jahre  1898 
310  Galizier  ein.  Nicht,  dass  es  den  Ansiedlern  der  Vorjahre  schlecht 
gegangen  wäre.  Wäre  dies  der  Fall  gewesen,  dann  hätte  sich  eine  eben 
so  starke  Reemigrationsbewegung,  wie  bei  der  slovenischen  und  der  italienischen 
Einwanderung,  eingestellt.  Dies  ist  aber  nicht  eingetroffen.  Im  Jahre  1897 
hielten  es  nur  217,  im  Jahre  1898  nur  99  Personen  für  gut  zurückzukehren. 
Der  Grund  liegt  darin,  dass  das  zur  Besiedelung  zubereitete  Land  aus- 
gegangen war,  die  Ankömmlinge  also  zumeist  zuna  Ankaufe  von  Privät- 
ländereien  gezwungen  waren.  Erst  im  Jahre  1899  wanderten  wiederum  nach 
den  Angaben  der  Bremer  Statistik  zu  schliessen,  circa  1.000  galizische- 
, Polen"  ein.  Eine  bemerkenswerte  Ziffer,  wenn  wir  bedenken,  dass  diese 
Einwanderer  bereits  auf  eigene  Kosten  reisten!  Im  zweiten  Semester  lOOO^ 
scheint  aber  die  Bewegung  so  ziemlich  aufgehört  zu  haben,  und  zwar,  wie 
wir  aus  dem  „Berichte  über  die  Thätigkeit  des  Reichscommissars   für   das. 

33* 


476 


Buzek. 


Auswanderungswesen  während  des  Jahres  1900"  erfahren,  einerseits  deswegen, 
weil  der  Norddeutsche  Lloyd  wegen  starker  Inanspruchnahme  durch  die 
Truppentransporte  nach  China  seine  regelmässigen  Verbindungen  mit  Süd- 
brasilien unterbrochen  hatte,  anderseits  weil  die  brasilianische  Re- 
gierung ein  Verbot  gegen  die  Einwanderung  von  Galiziern 
erlassen  hätte.  Was  für  Ursachen  die  brasilianische  Regierung  zu  einem 
solchen  Verbote  bestimmen  konnten,  ist  mir  unbekannt. 

In  den  ersten  Monaten  des  Frühjahres  1896  war  die  Massenauswanderung 
aus  Galizien  nach  Parana  beendet ;  sofort  fand  die  colonisatorische  Thätigkeit 
der  Bevölkerung  Ostgaliziens  ein  neues  Ziel:  Canada.  Die  Agenten 
streuten  aus,  dass  in  Winnipeg  Jeder  über  18jährige  Auswanderer  von  der 
Regierung  113  österreichische  Morgen  gänzlich  kostenlos  erhalte"  und  zu 
diesem  Zwecke  für  die  Reise  von  Hamburg  nach  Winnipeg  „in  Schlaf- 
waggons" (!)  nur  112  fl.  zu  bezahlen  habe.  (Circulare  der  Firma  Falck 
und  Comp,  in  Hamburg.)  Das  Anglocontinentale  Reisebureau  in  Rotterdam 
versprach  sogar  gerührt  von  dem  „Elend  des  galizischen  Volkes,  das  in  die 
brasilianische^)  Sclaverei  verkauft  werde",  jedem,  der  sich  in  Canada  ansiedeln 
wollte,  250  Morgen  ganz  umsonst,  und  dies  nur  um  den  Preis  von  100  fl. 
für  die  Schiffskarte  von  Amsterdam  nach  Winnipeg.  In  dem  Wettbewerb 
siegten  nichts  desto  weniger  vorderhand  die  Hamburger  Agenten;  es  wanderten 
nach  Canada  aus : 


Im  Jahre 


Oesterreicher 


über 
Hamburg 


über  Bremen 


Ungarn 


über  beide 
Häfen 


1895 
1896 
1897 
1898 
1899 
1900 


303 


1.076 
4.136 
4.069 
5.611 


5.122 


31 

76 
57 
97 


138 
85 

122 
45 
92 

161 


Im  laufenden  Jahre  dürfte  die  Auswanderung  nach  Canada  über  Ham- 
burg, wenn  wir  recht  unterrichtet  sind,  ziemlich  erheblich  gesunken  sein. 
Dagegen  scheinen  Tausende  über  Rotterdam  ausgewandert  zu  sein. 

Wie  die  Auswanderung  nach  Russland,  die  Anfänge  der  Auswanderung 
nach  Brasilien  und  nach  Canada,  ist  auch  die  Entstehung  der  galizischen 
Emigration  nach  Argentina  auf  die  Agitationen  der  Auswanderungsagenten 
zurückzuführen. 


^)  Die  Originaltexte  der  Circulare  sind  abgedruckt  im  Sprawozdanie  z  czynnosei 
dep,  VI.  wydzialu  krajowego  za  czas  od  16.  listopada  1898  do  15.  listopada  1899, 
Allegat  14. 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  etc.     477 

Infolge  der  ökonomischen  Krisis,  die  seit  dem  Jabre  1889  auf  Argen- 
tina schwer  lastete,  war  in  der  ersten  Hälfte  der  90er  Jahre  die  österreichische 
(tirolische)  Auswanderung  nach  diesem  Staate  stark  zurückgegangen  und 
bezifferte  sich  im  Jahre  1891  auf  nur  379,  in  den  Jahren  1892  bis  1894 
auf  707,  resp.  770  und  763,  im  Jahre  1895  auf  615  Personen  ;  im  Jahre  1896 
wanderten  wieder  1.131,  im  Jahre  1897  gar  1.870  ein.  Die  starke  Steigerung 
im  letzteren  Jahre  ist  bereits  ausschliesslich  der  Einwanderung  aus  Galizien 
zuzuschreiben;  nicht  weniger  als  1.004  der  Einwanderer  des  Jahres  1897 
waren  Galizier  „polnischer"  Nationalität.  Seit  dieser  Zeit  stellen 
die  Galizier  das  Hauptcontingent  der  österreichischen 
Einwanderung  nach  Argentina. 

üeber  die  Ursachen  der  ersten  Auswanderung  galizischer  Polen  nach 
Argentina  soll  ein  gewiss  competenter  Kenner,  der  Director  derEinwanderungs- 
direciion  in  Buenos  Aires,  vernommen  werden.^) 

„Im  Laufe  des  Jahres  1897  kamen  zahlreiche  polnische  Einwanderer, 
die  merkwürdigerweise  zum  Unterschiede  von  den  übrigen  Einwanderern 
fast  immer  mit  ihren  Familien,  die  viele  Mitglieder  zählten,  ankamen.  Aus 
naheliegenden  Gründen  beschloss  die  Direction,  über  die  Ursachen  dieser 
Einwanderung  nachzuforschen.  Es  ergab  sich,  dass  die  Einwanderung  auf 
die  rege  Thätigkeit  der  Schiffahrtsagenten  von  Hamburg  und  Bremen 
zurückzuführen  ist.  Viele  kamen  mit  Karten  der  Republik,  auf  welchen  auf 
die  Verhältnisse  des  Landes  bezügliche  Notizen  eingetragen  waren,  die  so 
ziemlich  der  Wirklichkeit  entsprachen,  insoweit  es  sich  um  die  Vortheile,' 
die  das  Land  den  Einwohnern  bietet,  handelte,  in  Bezug  auf  die  vom  Staate 
gewährte  Hilfe  dagegen  entschieden  übertrieben.  So  besagte  z.  B.  eine 
Notiz,  dass  die  Regierung  Grundstücke  gratis  verleihe,  was  durchaus  nicht 
zustimmt,  weil  Grund  und  Boden  nur  zu  solchen  Bedingungen  angeboten 
werden,  dass  der  Erwerb  nur  Leuten,  die  über  gewisse  Mittel  verfügen, 
möglich  ist." 

Der  Bericht  schildert  breit  die  Schicksale  der  durch  solche  Verspre- 
chungen Herangelockten.  Sie  kamen  in  das  staatliche  Emigrantenhotel  und 
nahmen,  aller  Mittel  entblösst.  die  Hilfe  des  nationalen  Arbeitsamtes  in 
Anspruch.  Man  vermittelte  sie  in  alle  Theile  des  Staates,  wo  eben  in  der 
Winterszeit  eine  Arbeitsgelegenheit  sich  finden  liess.  Da  ergaben  sich  neue 
Schwierigkeiten;  die  Nachfrage  nach  Arbeitskräften  war  in  keinem  Verhält- 
nisse zur  Menge  der  gelandeten  Polen,  die  meisten  Unternehmer  schickten 
die  Angeworbenen  wieder  zurück,  da  sie  sich  mit  ihnen  nicht  verständigen 
konnten.  Die  Leute  wurden  von  Hotel  zu  Hotel,  von  Unternehmer  zu  Unter- 
nehmer fortgesclioben.  Der  Erwerb,  den  sie  unter  solchen  Umständen  endlich 
fanden,  war  natürlich  in  der  Regel  so  wenig  lohnend,  die  eingegangenen 
Arbeitsbedingungen  so  drückend,  dass  viele  durchgiengen  und  bettelnd  von 
Ort  zu  Ort  zogen.  Nur  nach  und  nach,  nach  vielen  Misserfolgen  waren  die 
Leute  so  weit  mürbe,  dass  sie  sich  in  ihr  Schicksal  ergaben.     Sie   wurden 


1)  Memoria  de  la  Direcciön  de  Inmigraciun,  1899,  S.  129  ff.,  sodann  1900,  S.  89  ff. 


478  Buzek. 

in  den  verschiedensten  Provinzen  und  Territovien  als  Arbeiter  untergebracht 
(in  San  Juan,  Mendoza,  Cordoba,  Rio  Negro,  Entre  Kios  und  Santa  Fe). 

Nur  wenigen  gelang  es,  das  Ziel  ihrer  Wünsche  zu  erreichen.  Auf  den 
Vorschlag  des  Gouverneurs  der  Missiones,  Herrn  Lanusse,  beschloss  die 
Regierung,  zur  Probe  aus  Polen  eine  kleine  landwirtschaftliche  Colonie  zu 
gründen.  Einige  Dutzend  Familien  wurden  nach  „Apostoles"  in  die  Missiones 
gebracht,  die  Regierung  leistete  ausnahmsweise  die  erste  Beihilfe,  und  es 
zeigte  sich  bald,  dass  der  Pole  im  allgemeinen  „ein  guter  Landwirt  und 
arbeitskräftig  sei",  und  dass  es  genüge,  diese  Einwanderer  nicht  zu  zerstreuen, 
•damit  diese  guten  Eigenschaften  zum  Vorschein  kommen.  Nun  fieng  die 
Regierung  an,  das  nationale  Verhalten  der  Polen  zu  studieren.  Die  Beobachtung 
ergab  kein  schlechtes  Resultat.  „Diese  Pulen  bilden  keinen  fremden,  wider- 
strebenden Körper.  Sie  schicken  ihre  Kinder  in  die  Schulen  des  Territoriums, 
wo  diese  die  nationale  Sprache  lernen  und  moralisch  an  unser  Land  gefesselt 
werden."  Mit  einem  Worte,  die  Regierung  war  unbesorgt  und  mit  der 
Probe  zufrieden.  Sie  beschloss,  die  Polen  nicht  mehr  als  Arbeiter  über  das 
ganze  Reich  zu  zerstreuen,  sondern  sich  dem  Wunsche  der  Ankömmlinge 
zu  fügen  und  sie  in  eigenen  Centren  polnischer  Ansiedelung  zu  concentrieren. 

Nach  Begründung  der  Colonie  Apostoles  entwickelte  sich  die  weitere 
Einwanderung  galizischer  Polen  verhältnismässig  glatt:  „Die  polnischen 
Landwirte  konnten  jetzt  Landsleuteu,  die  die  zum  ßodenerwerbe  noth- 
wendigen  Mittel  nicht  besassen,  so  lange  Arbeit  geben,  bis  diese  ihrerseits 
Grundbesitz  erwarben."  Dies  war  im  Jahre  1898  der  Fall.  Es  landeten 
nur  510  Oesterreicher  und  Ungarn,  davon  402  Polen  (270  im  ersten,  132  im 
zweiten  Semester).  Noch  für  das  Jahr  1899  konnte  die  Direction  berichten  i): 
„Es  landeten  auch  950  Oesterreicher,  zum  grössten  Theile  Polen.  Diese 
Einwanderung  hat  sich  verringert  und  weist  die  Tendenz  auf,  sich  in 
vernünftiger  Höhe  festzuhalten"  —  „Dank  den  in  den  Missiones  und  Entre 
Rios  gebildeten  Sprachinselchen  finden  sich  jetzt  Stützpunkte  vor,  die 
die  Placierung  dieser  Einwanderer  ohne  grössere  Schwierigkeiten  erlauben." 
Der  Bericht  erwähnt  also  ausdrücklich,  dass  die  Placierung  der  Leute  nur 
deswegen  leicht  war,  weil  die  Einwanderung  sich  auf  einer  „vernünftigen 
Höhe"  erhält.  Die  Agenten  beachteu  diese  Bedingung  natürlich  nicht.  Im 
Jahre  1900  wurden  bereits  über  2.000  Oesterreicher  nach  Argentina 
befördert,  im  laufenden  Jahre  dürfte  die  Zahl  noch  beträchtlich  höher 
werden.  Wenigstens  berichteten  die  galizischen  Blätter  über  eine  massenhafte 
Auswanderung  ostgalizischer  Bauern  nach  Argentina  (über  Genua  und 
Bremen).  Aus  Delatyn  allein  sind  am  10.  Mai  2  Züge  mit  je  circa  200  Personen, 
■darunter  etwa  die  Hälfte  Kinder,  dorthin  aufgebrochen.  Die  Leute  führten 
viel  Gepäck  mit,  insbesondere  Pflüge,  Eggen,  Sägen,  Sensen  etc.,  weil 
dergleichen  in  Argentina  nur  um  schweres  Geld  zu  bekommen  sei.  Auf  die 
Frage,  warum  sie  auswandern,  gaben  sie  an,  dass  die  argentinische  Regierung 
ihnen  Grundstücke  ä  50  bis  60  ha,   wie  viel  ein  jeder  von  ihnen  verlangen 


1)  Cit.  Bericht  pro  1899,  S.  11. 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  etc.     479 

werde,  gegen  Zahlung  von  13  fl.  durch  zehn  Jahre  und  länger  anweisen 
werde.  Auch  hätten  sie  Briefe  von  früher  Ausgewanderten  erhalten,  die 
die  argentinischen  Zustände  priesen.  Schliesslich  seien  einige  zurück- 
gekommen, um  ihre  Frauen  zu  holen,  der  beste  Beweis,  dass  es  ihnen  nicht 
schlecht  gegangen  ist.  Aus  dieser  Schilderung  ^)  ist  zu  entnehmen,  dass  der 
Agent  der  italienischen  Linie,  der  die  Vermittelung  besorgte,  in  den  bereits 
früher  Ausgewanderten  mächtige  Helfer  fand,  aber  nichtsdestoweniger 
Versprechungen  machte,  die  dazu  führen  müssen,  dass  in  Argentina  viele 
Auswanderer  Enttäuschungen  erleben  werden.^)  Er  weiss  ganz  genau,  dass 
von  den  Getäuschten  viele  doch  an  das  Ziel  ihrer  Wünsche  gelangen,  und 
ihre  Wohlfahrt  für  ihn  bei  der  nächsten  Gelegenheit  Zeugnis  ablegen  wird. 
Gegenbeweise  der  Zahlreicheren,  die  missglücken,  fürchtet  er  nicht.  Denn 
diese  haben  nicht  die  Mittel  zurückzukehren  und  schämen  sich,  in  Briefen 
ihren    Bekannten    gegenüber   einzugestehen,    dass    sie    Schiffbruch    gelitten. 

Mit  der  Darstellung  der  Wanderbewegung  nach  Eussland,  Canada, 
Brasilien  und  Argentina  ist  die  Geschichte  der  in  jüngster  Zeit  von  der 
Bevölkerung  Galiziens  unternommenen  colonisatorischen  Versuche  keineswegs 
abgeschlossen.  Kleinere  Trupps  siedelten  sich  in  Bosnien  und  der  Herzogowina 
an,  andere  fanden  eine  neue  Heimat  in  Neu-Seeland,  viele  aber,  die 
die  gewissenlosen  Landversprechungen  aus  der  Heimat  gelockt  hatten,  und 
die  nicht  so  glücklich  waren,  einen  eigenen  Herd  gründen  zu  können,  durch- 
irrten, nach  Erwerb  und  Verdienst  suchend,  selbst  die  ungeeignetsten 
Einwanderungsgebiete.  Dass  dabei  sehr  viele  in  eine  unwürdige  Abhängigkeit 
von  Plantagenbesitzern  und  anderen  Unternehmern  geriethen,  zu  weissen 
Sclaven  im  buchstäblichem  Sinne  des  Wortes  wurden,  ist  eines  der 
traurigsten  Capitel  dieser  Bewegung. 

Das  dritte  Moment,  das  die  österreichische  Auswanderung  der  Gegenwart 
charakterisiert,  ist  das  Aufkommen  der  massenweisen  „Sachsengängerei* 
der  galizischen  Landbevölkerung. 

Die  Agrarverfassung  Galiziens  krankt  an  der  oft  bis  zur  Unglaublichkeit 
fortgeschrittenen  Bodenzersplitterung.  Mangels  jedweder  Industrie  an  Ort 
und  Stelle,  bei  der  übermächtigen  Concurrenz,  mit  der  der  christliche 
Handwerker  in  Galizien  von  west- österreichischen  Fabriken  und  der  israe- 
litischen Handwerkerbevölkerung  im  Lande  bedrängt  wird,  ist  es  natürlich, 
dass  der  Bauer  sein  Grundstück  nicht  ungetheilt  an  einen  Erben  überträgt, 
sondern  entweder  selbst  im  Testamente  alle  Kinder  mit  Landtheilen  bedenkt 
oder,  was  die  ßegel  ist,  überhaupt  kein  Testament  hinterlässt,  um  die 
Theilung  vom  Erbschaftsgerichte  vornehmen  zu  lassen.  Es  ist  dies  die 
einzige  Art,  seine  Kinder  auszustatten.  Auf  diese  Weise  ist  in  vielen  Theilen 
des  Landes  der  bäuerliche  Mittelbesitz  überhaupt  zugrunde  gegangen,  und 
an  seine  Stelle  traten  Zwergwirtschaften,  die  zur  Ernährung  der  Familie 
nicht  genügen  oder  wenigstens  einer  gedeihlichen  wirtschaftlichen  Entwickelung 

1)  Kraj,  RokXX,  Nr.  20.  Petersburg,  18.  (31.)  Mai  1901. 

')  Vergleiche  die  Bestimmungen  des  argentinischen  Colonisationsgesetzes  vom 
3.  November  1882. 


480  Buzek. 

unfällig  sind.  Während  so  auf  der  einen  Seite  von  einem  besitzlosen 
Proletariat  in  v^ielen  Gegenden  Galiziens  gar  nicht  die  Rede  sein  kann, 
ist  anderseits  in  eben  diesen  Gebieten  die  grössere  Mehrzahl  der  bäuerlichen 
Wirtschaften  auf  einen  Nebenerwerb  angewiesen,  um  die  Einkünfte  aus 
dem  eigenen  Grundstücke  soweit  zu  ergänzen,  dass  sie  zur  Ernährung 
der  Familie  genügen,  die  Bezahlung  der  Steuern  und  Schuldzinsen,  die 
Verbesserung  oder  Neuaufführung  von  Wirtschaftsgebäuden,  die  Ergänzung 
des  Inventars,  die  Vornahme  von  Investitionen  überhaupt  ermöglichen. 
Diesen  Nebenerwerb  sucht  die  ruthenische  Bevölkerung  Ostgaliziens  bis 
auf  die  Gegenwart  beim  benachbarten  Gutsbesitzer,  die  energische  Be- 
völkerung Westgaliziens  dagegen  begann  ihn  bereits  10  bis  20  Jahre  nach 
der  Grundentlastung  auf  der  Wanderung  zu  suchen. 

•  Die  ursprünglichste  Form  dieser  Wanderung  beruhte  auf  einer  Aus- 
nützung der  klimatischen  Verhältnisse  des  Landes.  Die  Erntezeit  und 
überhaupt  die  Perioden  der  intensivsten  Feldarbeit  fallen  in  den  gebirgigen 
Landestheilen  auf  einen  späteren  Zeitpunkt,  als  im  Flachlande,  ebenso 
später  im  Westen,  früher  im  Osten  des  Landes.  Ohne  die  eigene  Wirtschaft 
vernachlässigen  zu  müssen,  können  also  die  Bewohner  der  Berge  sich  in 
der  Ebene  zur  V^ollendung  der  Erntearbeiten  verdingen,  können  masurische 
Bauern  an  der  Bestellung  ostgalizischeu  Bodens  mitwirken.  Der  polnische 
Bauer  ist  im  allgemeinen  bei  der  Arbeit  bei  weitem  energischer,  als 
der  ruthenische.  Dazu  kommt,  dass  bei  ihm  die  Zahl  der  kirchlichen 
Feiertage  nicht  so  gross,  die  effective  Arbeitszeit  also  eine  längere  ist.  ^) 
Aus  beiden  Gründen  entschlossen  sich  bereits  frühzeitig  viele  ostgalizische 
Grundbesitzer  wo  möglich  masurische  Arbeitskräfte  zu  gebrauchen.  Sie 
schickten  beim  Beginne  des  Frühlings  ihre  Angestellten  oder  andere 
Vertrauenspersonen  in  die  westlichen  Landestheile,  die  die  Arbeiter  anwarben 
und  durch  ein  kleines  Angeld  verpflichteten.  Seltener  gebrauchten  solche 
Gutsverwaltungen  der  Vermittlung  concessionierter  und  nicht  concessionierter 
Agenten,  da  diese  oft  recht  theuer  zu  stehen  kommen,  und  nicht  selten 
Landstreicher  anwerben.  Solche  Arbeiter  blieben  schon  die  ganze  Saison  in 
Arbeit,  die  Bestellung  der  eigenen  Grundstücke  der  Familie  überlassend. 
Erst  nach  Beendigung  der  Feldarbeiten  kehrten  sie  zurück. 

Diese  Saisonwanderung  überflutete  bald  die  Grenzen  des  Landes  und 
erstreckte  sich  nach  Ungarn,  nach  Rumänien,  in  grösserem  Uraifang  auch 
nach  Russland;  der  polnische  Arbeiter  wurde  auch  hier  von  den  Wirt- 
schaften mit  intensiverem  Betriebe  dem  heimischen  Arbeiter  vorgezogen. 
Insbesondere  zogen   die  russischen  Zuckerrübendistricte  und   die  Kukuruz- 

*)  Nach  einer  in  den  70er  Jahren  vom  Landesstatistischen  Amte  in  Lemberg  ver- 
anstalteten Enqußte  gab  es  in  34  Bezirken  Galiziens  im  Jahre  100 — 120  arbeitsfreie 
Tage,  in  22  Bezirken  120—150,  in  16  Bezirken  150—200!  Dabei  werden  zu  den  arbeits- 
freien Tagen  nur  die  Sonn-  und  Feiertage,  die  Ablass-  und  Kirchweihfeiertage  und  die 
damit  verbundenen  arbeitsfreien  Tage,  endlich  die  Jahrmarktstage  gezählt.  In  Ostgalizien, 
wo  sowohl  die  katholischen,  wie  die  griechischen  Feiertage  gefeiert  werden,  und  wo  die 
Kirchweihfeste  mehrere  Tage  lang  dauern,  ist  die  Zahl  der  arbeitsfreien  Tage  die  grösste. 
Seit  den  70er  Jahren  dürften  sich  die  Verhältnisse  kaum  gebessert  haben. 


n 


m 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  etc.     481 

felder  Kumäniens  zahlreiche  polnische  Saisonarbeiter  an.  Binnen  kurzem 
beschränkten  sich  die  Wanderarbeiter  nicht  bloss  auf  landwirtschaftliche 
Arbeiten,  sondern  fiengen  an,  sich  in  allen  ihnen  zugänglichen  Erwerbs- 
arten zu  bethätigen.  Zuerst  verdingten  sie  sich  insbesondere  als  Erdarbeiter 
bei  den  grossen  Eisenbahnbauten  in  Galizien  und  den  Nachbarländern.  Im 
Verkehre  mit  qualificierten  Arbeitern  erwarben  sich  die  tüchtigeren  ver- 
schiedene technische  Fähigkeiten  und  fiengen  an,  in  der  Arbeiterhierarchie 
emporzusteigen.  Sie  fanden  als  Maurer,  als  Zimmerleute  bessere  Arbeits- 
bedingungen als  die  Erdarbeiter,  die  das  Gros  dieser  Saisonwanderung 
bildeten  und  noch  gegenwärtig  bilden. 

In  den  80er  Jahren  gewann  die  Bewegung  an  Umfang.  Die  polnischen 
Saisonarbeiter  überfluteten  gleichzeitig  mit  anderen  zeitweilig  Ausgewanderten 
das  mährisch-schlesische  Kohlenrevier,  die  grösseren  Städte  Ungarns,  die 
angrenzenden  Theile  Preussens,  sie  drangen  bis  nach  Nieder-Oesterreich 
und  Wien  vor.  Anfangs  der  90er  Jahre  handelt  es  sich  bereits  nach  fast 
allen  Richtungen  um  Ströme,  die  nach  Tausenden,  ja  Zehntausenden  von 
Individuen  zählten.  So  wird  von  einem  Kenner  die  Zahl  der  polnischen 
Saisonarbeiter  in  Russisch-Polen  allein  auf  über  10.000  gezählt.^)  Die 
Abwanderung  nach  Preussen  hat  schon  damals  solche  Dimensionen  ange- 
nommen, dass  die  preussische  Regierung  aus  national-politischen  Gründen 
eine  statistische  Beobachtung  des  ümfanges  der  Bewegung  verfügte.  Wir 
geben  hier  die  Ziffern  für  das  Jahr  1891  und  1892,  ^'i  da  die  Resultate  der 
späteren  Erhebungen  nicht  publiciert  wurden. 

Zuzug  polnischer  Arbeiter  aus  Galizien  nach  den  ostpreussischen 
Provinzen.   (Siehe  Tabelle  S.  482.) 

Der  Kern  unserer  zeitlichen  Auswanderung  nach  Preussen  bestand 
idemnach  noch  Anfang  der  90er  Jahre  aus  Bergleuten,  sowie  gewerblichen 
Saisonarbeitern,  die  eigentliche  , Sachsengängerei "  war  noch  unentwickelt 
und  die  ganze  Bewegung  hat  noch  die  Grenzen  des  benachbarten  Regierungs- 
bezirkes Oppeln  nicht  überschritten. 

Sowohl  die  gewerblichen,  wie  die  landwirtschaftlichen  Saisonarbeiter 
begeben  sich  in  der  Regel  im  März  bis  Mai  in  die  Fremde,  wo  sie  bis 
October-November  verbleiben.  Nur  nach  Preussen  bestehen  für  die  gewerb- 
liche Wanderung,  ziim  Theile  —  zumal  früher  —  auch  für  die  landwirtschaft- 
liche wesentlich  andere  Termine,  die  von  der  preussischen  Regierang  bestimmt 
werden.  Darnach  berechnet  sich  die  durchschnittliche  Saisondauer  für  die 
ausserpreussischen  Arbeiter  auf  circa  170  Arbeitstage.  Die  Wanderarbeitei- 
wiederholen  die  Wanderung  so  viele  Jahre,  bis  der  wirtschaftliche  Zweck 
derselben  erreicht  ist.  Natürlich  gibt  es  zahlreiche  Besitzer  der  kleinsten 
Wirtschaften,  die,  solange  die  Kräfte  reichen,  jahraus  jahrein  die  Wanderung 
wiederholen.  Erst  wenn  diese  schwinden,  müssen  sie  sich  mit  der  am  Orte 

i)BoleslawKoskowski,  Wychodztwo  zarobkowe  wloscian  w  krölestwie  polskiem. 
Warszawa  1901. 

2)  Veröffentlicht  von  v.  Mayr,  Statistik  der  Binnenwanderungen,  Schriften  des 
Vereins  für  Socialpolitik,  Band  LVIII. 


482 


Buzek. 


Regierungsbezirk 
beziehungsweise  Provinz 


Landwirt- 
schaftliche 


Gewerbliche 


Arbeiter 


männ- 
lich 


lich 


männ- 
lich 


weih-       männ- 
lich lieh 


Bergarbeiter 


weib- 
lich 


Zusammen 


männ- 
lich 


weib- 
lich 


im  .Tahre  1891 


Oppeln 

Breslau 

Liegnitz 

Zusammen  Schlesien 
Grossherzogthum  Posen 
Westpreussen 

Schlesien 

Posen    

Westpreusen 

Ostpreussen 

Zusammen  .... 

Davon  in  der  Zeit 
vom  l./I.     bis    31./III. 
„      l./IV.     „     30./VI. 
„      1/VII.   „     80 /IX. 

,    i./x.     „   3i./xn. 


798 

399 

3  658 

15 

1.566 



6.022 

9 

12 

40 

1 

— 

— 

49 

57 

51 

185 

43 

— 

— 

242 

864 

462 

8.883 

59 

1.566 

— 

6.313 

62 

7 

16 

— 

— 

— 

78 

29 

— 

7 

1 

— 

— 

88 

414 
18 
94 


521 

7 
1 


im  Jahre  1892 


617 

375 

658 

10 

372 



1647 

44 

2 

11 

1 

— 

— 

55 

50 

22 

18 

1 

— 

— 

68 

48 

6 

4 

— 

— 

— 

52 

759 

405 

691 

12 

372 

— 

1.822 

80 

27 

334 

7 

320 



734 

i  .889 

289 

47 

4 

— 

— 

436 

252 

78 

260 

1 

1 

— 

513 

88 

11 

50 

— 

51 

— 

139 

385 

3 

23 

6 


417 

34 

293 

79 

11 


selbst  sich  darbietenden  Arbeitsgelegenheit  begnügen.  Sie  helfen  dann  oft 
den  Familien,  deren  Väter  oder  Söhne  in  der  Fremde  weilen,  oder  nehmen 
beim  Grossgrandbesitzer  Arbeit. 

Der  ungewöhnliche  Aufschwung  der  deutschen  Industrie  in  der  zweiten 
Hälfte  der  90er  Jahre  bewirkte  eine  radicale  Aenderung  in  dem  Umfange 
und  den  näheren  Umständen  der  galizischen  Saisonwanderung.  Die  Industrie 
der  Provinzen  Westphalen.  der  Eheinprovinz.  dann  des  Königreiches  Sachsen 
sog  mit  liberraschender  Schnelligkeit  das  ganze  verfiigbare  Menschenmaterial 
Westdeutschlands  auf  und  die  Landwirtschaft  dieser  Keichstheile  sah  sich 
zur  Verwendung  von  Wanderarbeitern  aus  den  polnischen  Provinzen  Preussens 
gezwungen  (dieser  Process  vollzog  sich  zum  grösseren  Theile  bereits  vor 
1895).  In  Bälde  gieng  auch  der  grössere  Theil  dieser  Arbeiter  zur  Industrie 
über,  so  dass  ein  grosser  Theil  der  preussischen  Landwirtschaft,  sowohl  in 
den  ostelbischen,  als  in  den  westelbischen  Provinzen,  der  nothwendigen 
Arbeitskräfte  entbehrte.  Die  preussische  Regierung  sah  zwar  die  Einwanderung 
ausländischer  Arbeiter  slavischer  Nationalität  höchst  ungerne,  aber  den 
gebieterischen  Forderungen  der  Landwirte  gegenüber  konnte  sie  unmöglich 


Das  Auswanderuiigsproblein  und  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  etc.     483 

taub  bleiben.  Sie  beschloss,  die  Wanderarbeiter  zuzulassen  und  nur  darüber 
zu  wachen,  dass  diese  ihren  Aufenthalt  in  Deutschland  nicht  über  die 
hiefür  gesetzten  Termine  verlängern.  Und  es  begann  denn  die  Massen- 
einwanderung polnischer  „Sachsengänger"  aus  dem  Königreiche  Polen  und 
aus  Galizien. 

Auf  Grund  der  von  den  Bezirkshauptmannschaften  gesammelten  Daten 
betrug  die  Zahl  der  Sachsengänger  im  Jahre  1896  11.405,  im  Jahre  1897 
12.596,  im  Jahre  1898  18.981,  im  Jahre  1899  26.283,  die  allermeisten 
hievon  aus  Westgalizien.  insbesondere  aus  den  Bezirken  Kolbuszowa, 
Bochnia,  Brzesko.  Nisko,  Wadowice  und  Tarnobizeg,  nur  wenige  aus  den 
ostgalizischen  Bezirken  Cieszanöw  und  Jaworöw.  Die  angegebenen  Ziffern 
müssen  ungefähr  auf  das  Dreifache  erhöht  werden.  Einmal  fallen  die  Aus- 
weise mehrerer  Bezirke,  die  notorisch  stark  an  der  Bewegung  participieren, 
und  dann  versichern  Sachkundige,  dass  ihnen  genau  bekannte  Gemeinden 
mehr  „Sachsengänger"  gestellt  haben,  als  die  Ausweise  der  politischen 
Behörden  für  den  ganzen  Bezirk  ausweisen. ')  Speciell  für  das  Jahr  1899 
wird  die  Zahl  der  galizischen  Sachsengänger  von  Hofrath  von  Pilat  auf 
wenigstens  40.000  geschätzt,-)  von  Dmowski  mit  100.000  angegeben.^) 
In  einer  sehr  schätzbaren  Zuschrift,  die  wir  der  Freundlichkeit  W.  Kinn  er s, 
des  Vorstehers  des  Arbeitsnachweises  der  Landwirtschaftskamraer  für  die 
Provinz  Schlesien,  verdanken,  und  die  wir  noch  des  öfteren  gebrauchen 
wollen,  wird  die  Angabe  mit  40.000  als  zu  niedrig,  die  mit  100  bis  200.000 
als  , wesentlich  zu  hoch  gegriffen"  bezeichnet.  Herr  Kinn  er,  der  kraft 
seiner  amtlichen  Stellung  und  Dank  der  centralen  Lage  Breslaus  für  die 
galizische  Einwanderung  wohl  am  besten  informiert  sein  dürfte,  glaubt, 
dass  im  Vorjahre  (1900)  die  Abwanderung  aus  Galizien  etwa  70.000,  im 
laufenden  Jahre  vielleicht  80—90.000  betragen  hat. 

Das  Gros  der  „  Sachsengänger "  wird  von  ledigen  Mädchen  gestellt, 
sodann  von  jungen  Burschen.  Doch  sind  auch  verheiratete  Männer  und 
Frauen  durchaus  nicht  selten.  Die  meisten  finden  Arbeit  in  Schlesien,  in 
der  Provinz  Posen,  in  den  beiden  Sachsen  und  in  Thüringen,  in  West- 
preussen  und  Brandenburg,  viele  gelangen  jedoch  bis  nach  Hannover  und 
Westphalen,  sehr  viele  nach  Dänemark.  Gewöhnlich  theilen  sich  die 
Abwanderer  eines  Dorfes  in  mehrere  Gruppen,  deren  jede  bei  einem  und 
demselben  Unternehmer  eintritt.  Die  Leute  bleiben  so  auch  in  der  Fremde 
unter  Bekannten. 

Solange  die  Nachfrage  nach  landwirtschaftlichen  Arbeitern  in  Deutsch- 
land keine  grosse  war,  besorgten  die  Vermittelung  zwischen  Arbeitgebern 
und  Arbeitern  zum  grossen  Theile  die  sogenannten  Schlepper,  d.  h.  galizische 
Bauern,  welche  selbst  in  Deutschland  gearbeitet  haben  und  sich  dem 
Gutsherrn  gegenüber  verpflichteten,  ihn  für  das  kommende  Jahr  mit  Arbeitern 
zu  versehen.    Sie  waren  dem  Gutsbesitzer  immer  willkommen,    da  sie  sich 

^)  Krzyzanowski,  Studya  Agrarne,  S.  319,  Krakau  1900. 

^  Pilat,  Wychodztwo  robotniköw  rolnych  za  zarobkiem  do  Niemiec,  Lemberg  1900. 

')  R.  Dmowski,  Wychodztwo  i  osadnictwo,  I.  Theil,  Lemberg  1900,  S.  104. 


484  Buzek. 

mit  einer  geringen  Vermittelungsgebflr  begnügten.  Den  Arbeitern  gegen- 
über waren  diese  Schlepper  allerdings  nicht  immer  besonders  genügsam; 
Fälle  crasser  Ausbeutung  waren  nicht  selten.  Im  ganzen  scheinen  diese 
Schlepper  dieselbe  Rolle  zu  spielen,  wie  die  nordamerikanischen  ,padrons" 
Es  war  auch  nur  billig,  dass  die  Behörden  für  ihre  Thätigkeit  ein  wach- 
sames Auge  hatten,  sie  als  nichtconcessionierte  Agenten  ansahen  und  dem- 
entsprechend behandelten.  Die  Härte  lag  nur  darin,  dass,  wenn  ein  solcher 
Agent  gefasst  wurde,  auch  die  von  ihm  angeworbenen  Leute,  die  sich  in 
der  Regel  bereits  auf  der  Reise  befanden,  auseinandergetrieben  wurden,  um 
ihre  Vorauslagen  kamen  und  dem  Zufall  preisgegeben  waren. 

Mit  dem  Wachsen  der  Nachfrage  wurde  die  Beschaifung  der  Arbeits- 
kräfte durch  die  Schlepper  immer  mehr  ungenügend.  Einerseits  konnten 
sie  nur  kleine  Arbeitertransporte  über  die  Grenze  bringen,  anderseits  boten 
sie  dem  Arbeitgeber  nicht  die  geringste  Gewähr  für  eine  einigermaassen 
pünktliche  Lieferung  der  Leute.  In  den  Vordergrund,  fast  zur  ausschliess- 
lichen Herrschaft  trat  somit  die  Vermittelung  concessionierter  oder  auch 
unconcessionierter  Agenten,  fast  ausschliesslich  galizischer  Israeliten.  Erst 
ihr  Eingreifen  machte  eine  Massenbewegung  möglich. 

Die  Agenten  fangen  mit  der  Agitation  bereits  im  Spätherbste  an.  Sie 
bereisen  zu  Pferd  oder  per  Wagen  die  Dörfer  ihres  Bezirkes  und  sparen 
nicht  mit  Versprechungen  und  mit  „diversen  Flaschen  Schnaps",  „um  bei 
den  Leuten  eine  gewisse  Anhänglichkeit  für  das  kommende  Jahr  hervor- 
zurufen". Insbesondere  suchen  sie  sich  mit  den  Würdenträgern  der  Gemeinden 
bis  zum  Nachtwächter  herab  auf  guten  Puss  zu  setzen.  Nach  dieser  Vor- 
bereitung des  Terrains  kann  der  rührige  Agent  mit  Beginn  des  neuen  Jahres 
„mit  voller  Kraft  ins  Geschäft  gehen".  „Es  erfolgt  die  zweite  Bereisung 
des  Bezirkes,  diesmal  eingehender,  denn  es  sind  endgiltige  Abmachungen 
zu  treffen,  und  die  Ausfertigung  der  Pässe  in  Angriff  zu  nehmen.  Ganz 
nüchtern  geht  die  Sache  keineswegs  ab,  denn  auch  hier  wird  an  Alkohol 
nicht  gespart".^) 

Dies  war  der  Vorgang  bei  der  Werbung  der  Saisonarbeiter,  als  die 
deutsche  Landwirtschaft  sich  sozusagen  über  Nacht  gezwungen  sah,  die 
Zahl  der  beschäftigten  fremden  Arbeiter  um  Zehntausende  zu  vermehren; 
natürlich  kamen  dabei  die  Vermittler  besonders  gut  weg,  die  Leute  nur 
insofern,  als  ihnen  Bedingungen  gewährt  wurden,  die  sie  im  Vergleiche  mit 
dem  heimischen  Arbeitsmarkte  in  dem  Maasse  vortheilhafter  finden  mussten, 
dass  eine  Massenbewegung  in  Scene  gesetzt  werden  konnte.  Die  Agenten 
bezogen  damals  geradezu  horrende  Vermittelungsgebüren.  W.  Rinn  er 
berechnet  die  Geschäftsunkosten  pro  vermittelte  Person  auf  höchstens 
12  Mark,  wobei  schon  der  Preis  des  Eisenbahnbillets,  das  der  Agent  für 
die  Beförderung  des  Angeworbenen  bis  Myslowitz,  Oswiecim,  Dzieditz  an- 
zukaufen  hatte,    mitgerechnet   ist  und  auch  das  Verlustconto  des  Agenten 

^)  W.  R  i  n  n  e  r,  Zur  Beschäftigung  ausländischer  Feldarbeiter,  Sonderabdruck  aus 
Heft  48  und  49  der  Zeitschrift  der  Landwirtschaftskammer  für  die  Provinz  Schlesien. 
Die  Schilderung  beruht  auf  den  Darstellungen  der  Agenten  selbst. 


II 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  etc.     485 

reichlich  berücksichtigt  wird.  Die  Agenten  bezogen  jedoch  selbst  am  An- 
fange der  Saison,  bei  Lieferungen  von  200  Personen,  zwei-  bis  dreimal  so 
hohe  Vermittelungsgebüren.  Noch  für  1900,  wo  schon  die  Verhältnisse 
wesentlich  anders  lagen,  berichtet  W.  K  i  n  n  e  r,  dass  er  Verträge  schlesischer, 
brandenburgischer  und  posen'scher  Landwirte  mit  galizischen  Agenten  gesehen 
hat,  in  denen  22,  23  und  selbst  25  und  30  Mark  pro  vermittelte  Person 
frei  Myslowitz  zu  zahlen  waren.  Dass  diese  maasslosen  Agentengewinne  auf 
die  den  Arbeitern  gewährten  Löhne  drücken  mussten,  ist  klar.  Aber  dies 
war  bei  weitem  nicht  das  Aergste!  ,.In  vielen  Fällen  werden  seitens  der 
Agenten  die  Arbeiter  derart  geliefert,  dass  eine  kaum  nennenswerte  Pro- 
vision verlaugt  wird,  der  Agent  sich  jedoch  die  Auszahlungen  der  Löhne 
vorbehält.  Hiebei  werden  den  Leuten  willkürliche  Abzüge  gemacht,  so  dass 
der  Agent  —  je  nach  seinem  engeren  oder  weiteren  Gewissen  bis  60,  80 
und  mehr  Mark  verdient,  wovon  allerdings  etwaige  Eeisekosten  in  Abzug 
zu  bringen  sind  —  moderner  Sklavenhandel."  „Soweit  mir  bekannt,  sind 
noch  in  diesem  Herbst  seitens  einiger  schlesischer  und  sächsischer  Zucker- 
fabriken solche  Verträge  abgeschlossen  worden;  der  Agent  ist  alsdann  leicht 
imstande,  die  Leute  pro  Kopf  für  8  Mark  frei  Fabrik  nach  Niederschlesien 
und  für  15  Mark  in  die  Umgebung  von  Halle  zu  liefern,  fliessen  doch  von  dem 
Arbeitsverdienst  dieser  Leute  pro  Kopf  täglich  0-45  Mark  in  seine  Tasche."'-) 

Mit  der  weiteren  Entwickelung  der  Bewegung  suchten  sich  sowohl  die 
Unternehmer,  als  auch  die  Wanderarbeiter  von  den  Agenten  unabhängig  zu 
machen.  Der  erste  Schritt  geschah  von  Seiten  der  Unternehmer.  Um  den 
Agenten  gegenüber  einheitlich  vorgehen  zu  können,  erwies  es  sich  als  an- 
gezeigt, dass  die  Landwirte  nicht  direct,  sondern  durch  die  Vermittelung 
eines  Centralorganes  mit  den  Agenten  verkehren.  Die  provinziellen  Land- 
wirtschaftskammern errichteten  besondere  Arbeitsnachweise,  denen  die  In- 
teressenten die  von  ihnen  benöthigten  Arbeitskräfte  anzugeben  haben.  Die 
Arbeitsnachweise  suchen  sodann  die  betreffenden  Aufträge  direct  durch 
Arbeiter,  die  sich  bei  ihnen  melden,  zu  decken,  falls  dies  aber  unmöglich 
wäre,  leiten  sie  das  Mandat  weiter  an  ihre  galizischen  Agenten,  die  plsdann 
die  gewünschte  Anxahl  in  der  verlangten  Zusammenstellung  nach  der  Grenze 
bringen.  Hier  warten  bereits  die  Angestellten  des  Arbeitsnachweises  (^oder 
des  Arbeitsgebers),  um  den  Agenten  zu  bezahlen,  die  Leute  zu  empfangen, 
und  sie  an  ihren  Bestimmungsort  zu  bringen. 

Die  Intervention  der  Landwirtschaftskammern  diente  vor  allem  dem 
Interesse  der  Landwirte,  in  nicht  geringerem  Grade  aber  auch  dem  der 
Arbeiter.  Die  Landwirtschaftskammer  setzte  eine  Erniedrigung  der  Provi- 
sionen der  Agenten  durch;  bereits  im  Jahre  1899  schwankte  die  für  die 
Beschaffung  von  Monatslöhnern  vom  Breslauer  Arbeitsnachweise  eingefor- 
derte Gebür  zwischen  16  und  20  Mark  frei  Grenzstation  pro  Person  und* 
die  nachfolgenden  Jahre  brachten  weitere  Ermässigungen  bis  auf  die  Hälfte, 
ja  sogar  ein  Drittel  der  ursprünglichen  Ansprüche.  Dann  traten  die  Land- 
wirtschaftskammern   energiscli    der   früher  geschilderten  Art  des  Seelenver- 

^)  ß  i  n  n  e  r,  op.  cit. 


486 


Buzek, 


kaufes  entgegen,  ohne  allerdings  diesen  Missbrauch  gänzlich  beseitigen  zu 
können.  Endlich  verpflichteten  sich  die  Arbeitsnachweise  die  Angeworbenen^ 
indem  sie  dieselben  im  Namen  der  Auftraggeber  schriftliche  Contracte 
unterfertigen  Hessen,  so  dass  die  Arbeiter  genau  wussten,  unter  welchen 
Bedingungen  sie  angeworben  werden.  Zum  Vertragsabschlüsse  wurden  ge- 
druckte Formulare  verwendet,  deren  Inhalt  demnach  für  die  Arbeitsbedin- 
gungen der  „Sachsengänger"  typisch  sein  dürfte.  Im  folgenden  soll  der 
wesentlichste  Inhalt  zweier  solcher  Vertragsformulare  wiedergegeben  werden.^) 
Der  eine  dieser  Contracte  ist  verfasst  von  der  Breslauer,  der  andere 
von  der  Posener  Landwirtschaftskammer.  Beide  stimmen  in  der  Kegel  selbst 
dem  Wortlaute  nach  überein,  w^o  sie  sich  unterscheiden,  spiegeln  sie 
materielle  Verschiedenheiten  der  Arbeitsbedingungen  in  beiden  Provinzen 
wieder.  Insbesondere  variieren  die  Bestimn)ungen  über  die  Arbeitszeit  und 
den  Arbeitslohn. 

Nach  dem  Posener  Contracte  dauert  die  tägliche  Arbeitszeit  von 
Sonnenaufgang,  bezw.  von  5  Uhr  bis  Sonnenuntergang  mit  einstündiger 
Mittagspause  und  je  halbstündiger  Frühstücks-  und  Vesperpause.  Der 
schlesische  Vertrag  verlangt  nur  tägliche  Arbeit  von  5  Uhr  morgens  bis 
7  Uhr  abends  und  gewährt  2  bis  3  Stunden  Pausen  (je  Ya  Stunde  für 
Frühstück  und  Vesper,  1  bis  2  Stunden  für  das  Mittagsbrot).  Dafür  be- 
stimmt der  schlesische  Vertrag  ausdrücklich,  dass  die  Arbeit  punkt  5  Uhr 
morgens  mit  dem  Weggange  vom  Gutshof  an  zu  beginnen  und  punkt  7  Uhr 
abends  an  Ort  und  Stelle  zu  enden  hat,  und  fordert  in  dringlichen  Fällen 
ausdrücklich  die  Leistung  von  Ueberstunden,  welche  bei  Männern  und 
Burschen  über  18  Jahre  mit  10  Pf.,  bei  Frauen,  Mädchen  und  jungen 
Burschen  mit  8  Pf.  pro  Stunde  entlohnt  werden.  Ueberdies  wird  statuiert, 
dass  der  Arbeiter  ausser  an  evangelischen  Fest-  und  Sonntagen  nur  noch 
an  sechs  genau  fixierten  Tagen  feiern  dürfe. 

Für  Posen  galten -seit  jeher  Taglöhne,  für  Schlesien  bis  1899  Monats- 
löhne, seit  1900  aber  bereits  auch  Taglöhne.  Die  Löhne  betrugen  in  der 
Saison  1899: 


^ 


Für  Männer 


grosse  Burschen  (Pferde-, 
Ochsenknechte)     .    .    .    . 

kleine  Burschen    .    .    ^    . 

Frauen  und  Mädchen  .    . 


Posen:  Taglöhne 


0-85 


0-65 


0-65 


Schlesien:  Monatslöhne 


gewöhnlich    in  der  Ernte     gewöhnlich     in  der  Ernte 


Mark 


1-15 


0-80 


0-80 


20—22 

18 

16 

16—18 


keine 
Erhöhung 

dto. 
dto. 
dto. 


^)  Abgedruckt    in    dem  cit.  Berichte    des  Depart.  VI    des    galizischen  Landesaus- 
ßchusses. 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  etc.     487 

Nach  dem  Posener  Vertrag  geschah  die  Entlohnung  wöchentlich  am 
Samstag,  30  Proc.  des  Lohnes  der  ersten  drei  Monate  wurden  jedoch  erst 
beim  ordnungsmässigen  Abgange  des  Arbeiters  fällig.  Der  schlesische 
Vertrag  enthält  analoge  Bestimmungen^),  zählt  jedoch  taxativ  auf,  wann 
der  Abgang  nicht  ordnungsmässig  ist,  wann  also  der  zurückgehaltene  Theil 
des  Lohnes  verfällt.  Ausser  dem  Contractbruch  gehören  hier  alle  Gründe^ 
die  den  Arbeitsgeber  zur  Lösung  des  Arbeitsverhältnisses  berechtigen.  (Nicht- 
befolgung  der  dienstlichen  Anordnungen  des  Arbeitgebers  oder  dessen  Stell- 
vertreters selbst  auf  zweimalige  Aufforderung  hin,  Beschimpfung  oder  gar 
thätlicher  Widerstand  gegen  den  Arbeitgeber  oder  dessen  Stellvertreter, 
Stehlen,  Schwangerschaft  einer  unverheirateten  Person,  Aufwiegelei,  Thier- 
quälerei,  Unfähigkeit  des  Arbeiters.) 

In  allen  übrigen  Bestimmungen  deckt  sich  der  Inhalt  der  Posener  und 
der  schlesischen  Contracte.  Ausser  dem  Lohne  erhält  jeder  Arbeiter  Nahrungs- 
mittel in  natura,  nach  den  in  den  Verträgen  angeführten  Quantitäten  zu 
schliessen,  in  reichlicher  Menge.  Weiters  wird  eine  gemeinschaftliche 
Wohnung  im  Arbeiterhause,  getrennt  nach  Geschlechtern,  gewährt.  Jeder 
hat  Anspruch  auf  eine  Lagerstätte  und  eine  wollene  Decke.  Ebenso  hat  der 
Arbeitgeber  eine  gemeinschaftliche  Feuerstelle  zum  Kochen  und  zur  Eeini- 
gung  der  Wäsche  abzutreten  und  das  erforderliche  Brennmaterial  beizu- 
stellen. Das  Essen  wird  von  einer  Frau,  zumeist  der  Frau  des  Aufsehers, 
gekocht,  welche  auch  sämmtliche  Wohn-  und  Schlafzimmer  zu  reinigen  und 
das  Schälen  des  jedesmaligen  Tagesquantums  von  Kartoffeln  zu  besorgen 
hat.  Dieser  ist  die  hiezu  nothwendige  freie  Zeit  zu  gewähren.  Die  Leute 
erhalten  freien  Arzt,  freie  Medicamente  und  Krankenpflege.  H  i  e  g  e  g  e  n 
wird  der  Lohn  in  Abschlag  gebracht. 

Die  Kosten  der  Hinreise  zum  Dienstorte  werden  vom  Arbeitgeber  vor- 
geschossen; diejenigen  Arbeiter,  die  die  vereinbarte  Arbeitszeit  nicht  ein- 
halten, müssen  dem  Arbeitgeber  das  vorgeschossene  Keisegeld  ersetzen. 
Wegen  dieser  und  anderer  Forderungen  (Schadenersatzansprüche  wegen  Be- 
schädigung der  Arbeitswerkzeuge  etc.)  steht  dem  Arbeitgeber  das  Ketentions- 
recht  an  den  Sachen  des  Arbeiters  zu.  (Für  alle  aus  dem  Arbeitsvertrag 
sich  ergebenden  Rechtsstreitigkeiten  gilt  als  Gerichtsstand  Breslau  [Posen].) 
Demjenigen  Arbeiter,  der  die  vereinbarte  Dienstzeit  eingehalten,  wird  das 
vorgeschossene  Reisegeld  erlassen  und  das  gleiche  Reisegeld  zur  Rückkehr 
aus  den  Mitteln  des  Arbeitgebers  gewährt.  Dagegen  wird  das  Angeld 
(5  Mark)  bei  der  Schlussrechnung  in  Anrechnung  gebracht. 

Die  allgemeinen  Eintrittsbedingungen  sind  folgendermaassen  formuliert: 
Die  Arbeiter  verpflichten  sich  vom  Frühjahr  (März,  April)  ab,  die  Ehefrauen 
mit  Genehmigung  ihrer  Männer,  die  unmündigen  Personen  mit  Zustimmung 
ihrer  Väter,  den  Tag  des  Antrittes  den  Bestimmungen  des  Arbeitgebers 
vorbehalten,  bis  zum  Herbste  so  lange  in  Arbeit  zu  bleiben,  bis  alle  Feld- 

^)  Er  setzt  jedoch  zweimonatliche  Auszahlungen  fest  und  gewährt  nur  wöchentliche 
Vorschüsse  auf  Wunsch  bis  zu  1  Mark. 


488  B'i^ek- 

und  Rübenarbeiten  beendet  sind.  Sie  verpflichten  sich,  jede  ihnen  über- 
tragene Tages-,  wie  Accordarbeit.  die  in  der  Landwirtschaft  vorkommt,  mit 
gewissenhafter  Treue  und  mit  Fleiss  auszuführen,  sie  liaben  zu  versichern, 
dass  sie  vollständig  gesund  und  ohne  jedwede,  die  Arbeit  behindernde  Gebrechen 
(Weiber  auch  nicht  schwanger)  seien.  Ein  jeder  hat  einen  vollständig  aus- 
gefertigten Pass  am  Tage  des  Eintrittes  abzugeben,  andernfalls  er  sich  die 
Ausschliessung  von  der  Reise  gefallen  lassen  muss. 

Dem  Inhalte  dieser  Verträge  ist  nur  hinzuzufügen,  dass  die  Löhne 
schon  im  Jahre  1899  in  Westdeutschland  wesentlich  höher  waren,  als  in 
den  Grenzprovinzen  Schlesien  und  Posen.  Das  folgende  Jahr  brachte  aber 
auch  hier  eine  Erhöhung  der  Löhne,  unter  gleichzeitiger  erheblicher  Heiab- 
setzung des  Deputats.  Ausserdem  gab  auch  der  schlesische  Arbeitsnachweis 
das  System  der  Monatslöhne  auf  und  ersetzte  es  durch  Taglöhne  haupt- 
sächlich deshalb,  damit  die  Arbeiter  an  Regentagen  nicht  unwillig  die  Arbeit 
verrichten  und  zur  Uebernahme  von  Accordarbeiten  bereitwilliger  werden. 
Der  Taglohn  betrug  für  das  Jahr  1900  nach  den  vom  Breslauer  Arbeits- 
nachweise vermittelten  Verträgen  pro  Mann  0*90  Mark  täglich  bis  zum 
15.  April,  von  da  ab  1  Mark,  pro  Weiber  und  ältere  Burschen  0-80,  bezw. 
(nach  dem  15.  April)  0*90  Mark,  für  jüngere  Burschen  0-70,  resp.  0*80  Mark. 
Das  Jahr  1901  brachte  keine  weiteren  Erhöhungen:  gegenwärtig  sind  die 
Ansprüche  der  Arbeitgeber  und  Arbeiter  in  feste  Grenzen  gezogen,  sclireibt 
uns  Herr  R  i  n  n  e  r. 

Die  Ausbeutung  der  Saisonwanderer  durch  die  Agenten  (unter  anderm 
häufig  auch  die  Nichtausfolgung  des  Angeldes)  wurde  dadurch  wesentlich 
erleichtert,  dass  nach  den  Beobachtungen  Rinners  der  galizische  Land- 
arbeiter aus  den  mittleren  und  insbesondere  aus  den  östlichen  Landestheilen 
fast  als  ein  „grosses  Kind"  angesehen  werden  muss,  das  nicht  in  der  Lage 
und  gewöhnt  ist,  selbst  zu  denken,  und  es  daher  als  eine  Erleichterung 
empfindet,  wenn  andere  für  ihn  dies  übernehmen,  selbst  wenn  er  hierdurch 
finanziell  ungünstiger  sich  stellen  sollte*.  Nun,  die  Wanderung  hat  nach 
und  nach  die  Denkfähigkeit  und  die  Selbständigkeit  dieser  Leute  entwickelt. 
Nachdem  der  galizische  Arbeiter  zwei,  aucli  drei  Jahre  durch  Agenten  nach 
Deutschland  vermittelt  wurde,  fand  er  zuerst,  zumeist  mit  Recht,  dass  er 
von  den  Agenten  benachtheiligt  werde,  später  aber  auch,  dass  er  bei  einer 
Abwanderung  auf  eigene  Faust  sich  wesentlich  günstigere  Arbeitsgelegen- 
heit zu  schaifen  vermöchte.  Er  weiss  bereits  einige  Arbeitsstellen,  „wo  er 
bei  vorjährig  zufriedenstellender  Leistung  stets  wieder  willkommen  ist", 
hat  zur  Noth  sich  in  deutscher  Sprache  zu  verständigen  gelernt  und  kennt 
die  deutschen  Verhältnisse.  Die  Auffindung  einer  lohnenden  Arbeit  ist  für 
ihn  kein  unlösliches  Problem  mehr;  wie  Herr  Rinn  er  uns  zu  schreiben 
die  Freundlichkeit  hatte,  sind  „bereits  im  Vorjahre  und  in  vermehrtem 
Maasse  in  diesem  Jahre  grosse  Arbeitertrupps  ohne  Agenten  auf  eigene 
Faust  nach  Deutschland  gewandert,  um  sich  eine  Arbeitsstelle  zu  suchen; 
in  der  Mehrzahl  der  Fälle,  falls  der  Arbeiter  nicht  zu  zeitig  nach  hier  ab- 
wandert, gelingt  ihnen  dies  auch  vollständig,    und  nur  selten,  sind  Arbeiter 


II 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  etc.     489 

gezwungen,  wieder  nach  ihrer  Heimat  zurückzukehren.  Meist  sind  dies 
jedoch  ältere,  gebrechliche  oder  sonst  Dicht  leistungsfähige  Personen,  die 
sich  auf  gut  Glück  einem  solchen  Transporte  angeschlossen  haben,  deren 
Annahme  vielleicht  auch  von  einem  Agenten  in  Anbetracht  ihrer  geringen 
Leistungsfähigkeit  verweigert  worden  ist".  Dass  mit  der  Entwickelung  der 
selbständigen  Abwanderung  auch  die  Missbräuche  der  Agenten  seltener  und 
nicht  so  crass  wurden,  bestätigt  sowohl  Rinn  er,  als  auch  die  galizische 
Landesregierung.^) 

In  der  gegenwärtigen  Saison  scheint  die  Sachsengängerei  der  Bevöl- 
kerung Westgaliziens  ihren Culminationspunkterreicht  zuhaben.  In  demMaasse, 
als  die  wirtschaftliche  Entwickelung  Deutschlands  ein  langsameres  Tempo 
einschlägt,  muss  die  Reservearmee  der  industriellen  Arbeiter  wachsen,  muss 
nach  und  nach  die  Leutenoth  der  deutschen  Landwirtschaft  geringer  werden. 
Die  Verwendung  der  galizischen  Wanderarbeiter  wird  dann  von  dem  Ver- 
halten der  preussischen  Regierung,  sowie  von  dem  Dafürhalten  der  preussischen 
Landwirte  abhängen. 

Die  preussische  Regierung  duldet  die  Zuwanderung  polnischer  Sachsen- 
gänger nur  deswegen,  weil  diese  gegenwärtig  von  der  einheimischen  Lands 
Wirtschaft  nicht  entbehrt  werden  können.  Nach  Wegfallen  dieser  Zwangslage 
wird  sie  trachten,  die  Polen  vom  deutschen  Arbeitsmarkte  möglichst  fern- 
zuhalten. Wird  sie  bei  diesem  Bestreben  auf  die  ernste  Opposition  der 
preussischen  Landwirte  stossen? 

Die  Frage  ist  kaum  zu  bejahen.  Die  Furcht  vor  dem  „grosspolnischen" 
Gespenst  ist  in  Deutschland  so  gross,  dass  selbst  der  deutsche  Landwirt- 
schaftsrath  zur  Beseitigung  des  acuten  Arbeitermangel's  des  Jahres  1900 
„weitere  Zulassung  ausländischer  Arbeiter,  jedoch  unter  Wahrung  der 
nationalen  Interessen"  verlangte.^)  Dazu  kommt,  dass  die  preussischen  Land- 
wirte mit  den  ausländischen  Arbeitern  durchaus  nicht  so  zufrieden  sind, 
dass  sie  ihretwegen  der  Regierung  Schwierigkeiten  bereiten  würden,  sobald 
sie  ihren  Bedarf  an  landwirtschaftlichen  Arbeitern  auf  dem  heimischen  Ar- 
beitsmarkte decken  können. 

Der  galizische  Wanderarbeiter  ist  gegenüber  den  preussischen  Arbeitern 
schon  dadurch  im  Nachtheile,  dass  er  sich  erst  den  für  ihn  neuen  Bedin- 
gungen des  deutschen  landwirtschaftlichen  Betriebes  anzupassen  hat.  Die- 
jenigen preussischen  Landwirte,  die  zumal  innergalizische  Arbeiter,  die  zum 
erstenmale  nach  Deutschland  gekommen  waren,  beschäftigten,  hatten  nament- 
lich in  der  ersten  Zeit  nach  der  Einstellung  mit  vielen  Schwierigkeiten  zu 
kämpfen.  Aber  das  würde  sich  mit  der  Zeit  schon  geben.  Schwerer  fällt  in 
die  Wagschale,  dass  der  galizische  Arbeiter  „in'  seinen  zweifelhafteren  Ele- 
menten mit  dem  andauernden  intensiven  Arbeiten,  wie  dies  in  den  preussischen 
Betrieben  der  Fall  ist,  zumeist  wenig  einverstanden  ist".  „Nach  einigen 
Wochen   der  Arbeit   fühlt   er   das  Bedürfnis,    sich    selbst   für  diese  Ueber- 

1)  Promemoria  des  k.  k.  Präsidiums  der  Statthalterei  an  den  galizischen  Landes- 
ausschuss  vom  22.  Juni  1899,  Z.  5.982. 

^)  Archiv  des  deutschen  Landwirtschaftsrathes,  XXIV.  Jahrg.,  S.  346,  Berlin  1900. 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  X.  Band.  §4 


490  Buzek. 

Windung  durch  einige  arbeitsfreie  und  trinkfrohe  Tage  zu  belohnen,  und 
da  ihm  dies  an  seiner  Arbeitsstelle  nicht  zugestanden  wird,  verlässt  er  die- 
selbe heimlich,  führt  einige  Tage  ein  ungebundenes  Leben  und  sucht  erst 
dann  ein  neues  Unterkommen,  wenn  die  Noth  ihn  dazu  zwingt.  Den  Wert 
von  Ausweispapieren  weiss  er  dabei  genügend  zu  schätzen  und  als  vor- 
sichtiger Mann  hat  er  schon  bei  der  Abreise  aus  der  Heimat  einen  zweiten, 
mitunter  noch  einen  dritten  Pass  eingesteckt,  um  auf  alle  Fälle  gerüstet 
zu  sein.  Seelenruhig  verlässt  er  dann  vorkommenden  Falles  seine  Arbeits- 
stelle und  wird  in  der  Regel  von  dem  erste«  Besitzer,  dem  er  seine  wert- 
volle Arbeitskraft  anträgt,  angenommen,  da  er  im  Besitze  von  ordnungs- 
mässigen  Papieren  und  nach  seiner  Aussage  direct  aus  der  Heimat  kommt". 
—  Noch  mehr  als  durch  diese  doch  nicht  gar  zu  häufigen  Ausreisser  wird 
aber  die  Saisonwanderung  nach  Deutschland  durch  die  unreelle  Geschäfts- 
führung der  Agenten  ihren  preussischen  Auftraggebern  gegenüber  compro- 
mittiert.  Die  Agenten  liefern  die  Leute,  die  sie  etwa  für  Februar  versprochen 
haben,  recht  prompt,  da  in  dieser  Zeit  eben  die  Nachfrage  noch  eine  geringe 
ist.  Je  näher  jedoch  der  Sommer  heranrückt  und  die  Nachfrage  wächst, 
desto  ungeordneter  werden  die  Verhältnisse.  Endell-Kiekrz  erzählt 
darüber  in  den  Verhandlungen  des  deutschen  Landwirtschaftsrathes,^)  dass 
der  posensche  Arbeitsnachweis  die  Leute,  die  er  für  Mai  und  Juni  ver- 
sprochen hat,  überhaupt  nicht  mehr  liefern  konnte.  „Es  hatten  sich  an  der 
Grenze  Verhältnisse  entwickelt,  die  gar  nicht  zu  beschreiben  sind.  Unsere 
Angestellten,  die  wir  zur  Abholung  der  Arbeiter  hinausgeschickt  hatten, 
fuhren  mif  200  Arbeitern  von  Oswiecini  ab,  in  Jarotschin  hatten  sie  nur 
noch  5  bis  10;  ja  unsere  Angestellten  bekamen  an  der  Grenze  von  den 
Agenten  und  dort  angesammeltem  Gesindel  einfach  Prügel."  Die  Agenten 
haben  eben  die  Leute  nicht  demjenigen,  für  den  diese  contr actlich 
angeworben  waren,  abgetreten,  sondern  demjenigen  versteigert,  der  ihnen 
die  höchsten  Vermittelungsgebüren  bezahlte. 

Wir  haben  im  obigen  bloss  die  Saisonwanderungen  galizischer 
Arbeiter  besprochen,  nicht  etwa  deswegen,  weil  sie  die  einzige  aus  Üester- 
reich,  sondern  weil  sie  die  wichtigste  ist.  Ausser  Galizien  sind  speciell  in  den 
letzten  Jahren  an  der  Sachsen gängerei  nach  Preussen  die  Slovaken  der 
mährisch-ungarischen  Grenze  in  der  Gegend  zwischen  Waag — Bistritz  und 
Klobouk,  sodann  die  südungarischen  Schwaben  betheiligt.  Doch  ist  die  Zahl 
dieser  Arbeiter  nicht  besonders  gross:  im  laufenden  Jahre  dürften  sich,  wie 
uns  Herr  Ein  n  er  mittheilte,  nicht  über  500  bis  600  Slovakeii,  und  höchstens 
3.000  bis  4.000  Deutsch-Ungarn  aus  dem  Bäcs-Bodrogher  Comitate  und  dem 
Banate  als  Landarbeiter  in  Deutschland  befinden.  Als  Saisonwanderung 
kommt  sodann  die  Kinderwanderung  aus  nordtirolischen  Bezirken  nach 
einigen  Gegenden  Süddeutschlands  in  Betracht,  ebenso  ein  Theil  der  süd- 
tirolischen  Wanderung  nach  der  Schweiz,  Westdeutschland  und  Luxemburg. 
Bei  der  ersteren  Bewegung  handelt   es    sich    um    die  Befriedigung   der   in 


m 


^)  XXVIII.  Plenar-Versammlung  vom  5.  bis  9.  März  1900,  S.  333. 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  etc.     491 

Süddeutschland  aufgetretenen  Nachfrage  nach  Hirten,  letztere  ist  Yorwiegend 
industriell.  Bemerkenswert  ist,  dass  die  Kinderbewegung  von  der  nord- 
tirolischen  Geistlichkeit  organisiert  und  geschützt  wird.  Nichtsdestoweniger 
gellen  Missbräuche  vorgekommen  sein.  —  Andere  Länder  scheinen  an  der 
Saisonwanderung  ins  Ausland  unbetheiligt  zu  sein.  Insbesondere  scheint  die 
in  den  letzten  Jahren  starke  Abwanderung  czechischer  Arbeiter  nach 
Thüringen  und  Sachsen,  sowie  die  bedeutende  Emigration  slovenischer 
Arbeiter  nach  den  rheinisch-westphälischen  Industriebezirken  ausschliesslich 
eine  zeitweilige,  nicht  aber  eine  Saisonwanderung  zu  sein. 

5.  Die  Ursachen  und  die  Wirkungen   der  österreichischen 

Auswanderung. 

Die  österreichische  Auswanderung  hat  sich  im  Verlaufe  der  letzten 
fünfzig  Jahre  aus  ganz  unscheinbaren  Anfängen  zu  einem  bedeutungsvollen 
Factor  entwickelt.  Während  in  den  50er  Jahren  bis  in  die  60er  Jahre  das 
Plus  der  dauernden  Auswanderung  jährlich  bloss  circa  2.000  betrug,  respective, 
wenn  Dalmatien  ausser  Berechnung  bleibt,  noch  ein  Plus  der  Einwanderung 
resultierte,  beziffert  sich  der  durch  die  dauernde  Auswanderung  bewirkte 
Menschenverlust  in  den  70er  Jahren  bereits  auf  circa  6.000  jährlich,  in  den 
80er  Jahren  bereits  auf  circa  22.000,  in  den  90er  Jahren  endlich  auf 
48.000  jährlich.  In  noch  höherem  Maasse  stieg  die  zeitweilige  Auswanderung, 
sowie  die  Saisonwanderung.  Noch  in  den  60er  Jahren  beschränkte  sie  sich 
auf  höchstens  einige  Tausend  jährlich,  gegenwärtig  bildet  sie  die  Grundlage 
der  wirtschaftlichen  Existenz  von  mindestens  hunderttausend  Familien, 
bildet  den  Pfeiler,  auf  dem  die  culturelle  Entwickelung  grosser  Gebiete 
(Westgalizien,  Südtirol),  ja  ganzer  Länder  (Krain)  basiert. 

Die  wichtigste  Erkenntnis,  die  wir  aus  der  geschilderten  Entwickelung 
der  österreichischen  Auswanderung  gewinnen  mussten,  ist,  dass  dieselbe 
als  ganzes  genommen  —  also  abgesehen  von  gewissen  Ausnahmen  —  eine 
wirtschaftliche  Bewegung  ist  und  von  den  wirtschaftlichen  Verhältnissen 
des  Ursprungsortes  der  Auswanderer,  wie  nicht  minder  von  der  wirtschaft- 
lichen Lage  der  übrigen  österreichischen  Länder  und  der  angrenzenden 
Staaten,  in  hohem  Grade  auch  von  den  Oscillationen  des  wirtschaftlichen 
Lebens  in  den  wichtigsten  Einwanderungsgebieten  jenseits  der  Meere  abhängt. 
Die  Ursachen  der  Auswanderung  sind  dieselben,  wie  die  der  Wanderbewegung 
überhaupt.  Ob  die  Wanderung  bis  zur  nächstgelegenen  Stadt  oder  in  ein 
inländisches  Industriecentrum  gerichtet  ist  oder  über  die  Staatsgrenzen 
flutet,  ob  sie  eine  vorübergehende  Abwesenheit  oder  ein  definitives  Verlassen 
der  staatlichen  Gemeinschaft  bedeutet,  hängt  theils  von  der  augenblicklichen 
wirtschaftlichen  Conjunctur,  theils  von  den  Easseneigenthümlichkeiten,  den 
wirtschaftlichen  Verhältnissen  und  den  socialen  Sitten  der  betheiligten 
Bevölkerungskreise  ab. 

Die  Bevölkerung  zieht  aus  naheliegenden  Gründen  Nah  Wanderungen 
Fernwanderungen  vor.  Sie  versucht  zuerst  in  den  benachbarten  Bezirken 
desselben  Landes  oder  in  nahe  gelegenen  Ländern  unterzukommen.  Erst  wenn 

34* 


492 


Buzek. 


dies  nicht  gelingt,  entschliesst  sie  sich  nothgedningen  zur  Auswanderung  i» 
entlegenere  Gebiete,  eventuell  weit  über  die  See.  Dieses  Merkmal  ist  der 
Wanderbewegung  aller  österreichischen  Kronländer  charakteristisch.  Um  nur 
die  Vorgänge  der  letzten  Jahre  zu  recapitulieren,  sei  hier  noch  einmal 
an  das  nach  dem  Verfalle  der  alpenländischen  Eisenindustrie  eingetretene 
Anschwellen  der  slovenischen  Wanderung  nach  den  rheinisch-westphälischen 
Industriebezirken  und  nach  Nordamerika  erinnert,  sei  auf  die  oben  geschil- 
derte Entwickelung  der  polnischen  Wanderbewegung  hingewiesen,  sei  des 
in  den  90er  Jahren  eingetretenen  Kückganges  der  Abwanderung  aus  Böhmen, 
des  Aufhörens  der  argentinischen  Auswanderung  aus  Südtirol  (seit  1898) 
gedacht.  Nachzuholen  ist  in  diesem  Zusammenhange  noch  eine  kurze 
Darstellung  des  Verlaufes  der  israelitischen  und  der  ruthenischen  Aus- 
wanderung aus  Galizien,  die  zum  Theile  von  der  allgemeinen  Regel 
abzuweichen  scheint. 

Die  jüdische  Bevölkerung  Galiziens  war,  wie  aus  nachfolgender 
Uebersicht  hervorgeht,  bis  zum  Jahre  1890  in  einer  viel  rascheren  Zunahme 
begriifen,  als  die  christliche  Bevölkerung. 


Im  Jahre 


1817 
1851 
1857 
1869 
1880 
1890 
1900 


Civil-,  seit  1869 

Gesammt- 

bevölkerung 

Galiziens 


Davon 
Israeliten 


Auf  je 
hundert  Ein- 
wohner entfallen 
Israeliten 


3,515.373 
4,555.477 
4,682.866 
5,444.689 
5,958.907 
6,607.816 
7,317.023 


200.402 
333.451 

448.973 
575.918 
686.596 
772.213 
810.845 


5-70 
7-32 
9-69 
10-58 
11-52 
11-66 
11-08 


Die  Geburtenüberschüsse  der  jüdischen  Bevölkerung  übertreffen  in 
Galizien  die  der  christlichen  in  der  Regel  um  das  Doppelte,  ausserdem 
reissen  Epidemiejahre  (1853 — 1855,  1873)  in  der  christlichen  Bevölkerung 
viel  grössere  Lücken,  als  in  der  israelitischen.  Dazu  kommt  eine  starke 
Einwanderung  russischer  Juden.  Während  sich  so  die  Bevölkerung 
Galiziens  seit  dem  Jahre  1817  verdoppelte,  stieg  die  Zahl  der  Israeliten 
auf  das  Vierfache!  Nun  ernährt  sich  aber  die  israelitische  Bevölkerung 
ausschliesslich  vom  Kleinhandel  und  Kleingewerbe.  Auf  diesem  Gebiete  ist 
sie  der  christlichen  Bevölkerung  überlegen  und  hat  diese  auch  im  siegreichen 
Concurrenzkampfe  in  zahlreichen  Branchen  so  gut  wie  völlig  aus  dem  Felde 
geschlagen.  Darüber  hinaus  erwies  sich  aber  die  jüdische  Bevölkerung  nur 
insofern  expansionsfähig,  als  sie  einen  bedeutenden  (in  manchen  Bezirken 
ein    Drittel,  ja   sogar   die   Hälfte)    Theil   der   Besitzungen    des   galizischen 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  etc.     493 

•Grossgrundbesitzes  sei  es  durch  Kauf,  sei  es  durch  Pacht  in  ihre  Wirtschafts- 
sphäre zog.  Der  harten  Zähigkeit  des  galizischen,  insbesondere  des  polnischen 
Bauers  konnte  dagegen  die  an  angestrengte  Feldarbeit  nicht  gewohnte 
israelitische  Bevölkerung  keinen  Kaum  abgewinnen,  ebenso  wie  sie  im 
allgemeinen  der  polnischen  Arbeiterschaft  in  den  Städten  nicht  gewachsen 
war.  Unter  solchen  Umständen  erwies  sich  bald  —  insbesondere  nachdem  die 
polnische  Landbevölkerung  durch  intensive  organisatorische  Arbeit,  ohne 
irgendwelche  antisemitische  Agitation,  einen  bedeutenden  Theil  des  Detail- 
handels an  sich  brachte  —  die  Uebervölkerung  des  galizischen  Handels 
und  Kleingewerbes  eine  so  fürchterliche,  dass  bereits  in  den  80er  Jahren 
die  proletarisierten  jüdischen  Volksraassen  nach  den  westösterreichischen 
Ländern,  insbesondere  nach  Schlesien^')  Mähren  und  Niederösterreich,  dann 
auch  nach  Ungarn  abzuwandern  begannen.  Als  auch  hier  ihnen  der  Boden 
zu  enge  wurde,  begann  die  Wanderung  nach  Deutschland,  England,  Nord- 
amerika, bis  Ende  der  90er  Jahre  letztere  Wanderung  allein  jährlich  nach 
Zehntausenden^  zählte. 

Während  die  sociale  Bewegung  der  israelitischen  Bevölkerung  nur 
insoferne  eigenen  Gesetzen  folgte,  als  sie  zunächst  nur  eine  Expansion  im 
Inneren  des  Landes  bezweckte  und  erst,  als  dies  als  unmöglich  sich  erwies, 
zunächst  zu  Nahwanderungen,  später  zur  eigentlichen  Auswanderung  wurde, 
beobachten  wir  bei  den  Ruthenen  keine  eigentlichen  Nahwanderungen,  sondern 
fast  ausschliesslich  eine  überseeische  Emigration,  die,  wie  wir  gesehen  haben, 
seit  1895  jährlich  5  —  10.000  Individuen  umfasst.  Die  Ursache  ist  nicht  so 
darin  zu  suchen,  dass  die  näher  gelegenen  Einwanderungsgebiete  durch  die 
Zuwanderung  benachbarter  Volksstämme  bereits  gesättigt  sind,  als  in  der 
geringen  Concurrenzfähigkeit  oder,  genauer  ausgedrückt,  Arbeitskraft  der 
Ruthenen.  Ein  ruthenischer  Arzt,  der  im  Dienste  der  erzherzoglichen  Kammer 
in  Teschen  steht,  erzählte  uns,  dass  er  die  Uebersiedlung  einiger  Hundert 
Ruthenen  in  das  schlesische  Kohlenrevier  (nach  Karwin)  vermittelt  hat.  Die 
Probe  sei  misslungen,  da  der  ruthenische  Arbeiter  den  Anforderungen,  die 
die  intensive  Arbeit  in  den  Kohlenbergwerken  an  ihn  stelle,  nicht  gewachsen 
sei.  Gegenwärtig  dürften  sich  nicht  mehr  als  500  Ruthenen  im  ganzen 
mährisch-schlesischen  Kohlenrevier  befinden.  Es  sind  also  angeborene  oder 
anerzogene  Rasseneigenschaften  des  Ruthenen,  die  ihn  zur  Fernwanderung 
zwingen.  Er  muss  dort  auswandern,  wo  er  keine  Concurrenz  zu  bestehen 
hat.  Er  kann  im  Kampfe  ums  Dasein  nur  als  Eigenthümer  eines  wenn 
auch  kleinen  Grundstückes  bestehen,  und  dies  ist  zugleich  die  Lösung  des 
Räthsels,  warum  seine  Auswanderung  auf  die  dauernde,  landwirtschaftliche 
Oolonisierung  unbewohnter  oder  schwach  besiedelter  Gebiete    gerichtet  ist. 

Ebenso  wie  das  Wanderungsziel,  hängt  auch  der  Charakter  der 
Wanderbewegung  überwiegend  von  wirtschaftlichen,  zum  Theile  aber  auch, 
wie  wir  bereits  gesehen,  von  den  Rasseneigenthümlichkeiten  der  betreffenden 

^)  Im  kleinen  Fürstenthume  Teschen  allein  stieg  die  Zahl  der  Israeliten  haupt- 
sächlich durch  Zuwanderung  aus  Galizien  von  2.054  im  Jahre  1857  auf  7.070  im 
Jahre  1890. 


494  Buzek. 

Bevölkerungskreise  ab.  Nur  spielen  hier  letztere  Momente,  insbesondere  auch 
das  Heimatsgeffihl.  eine  grössere  Kolle.  Die  Handel  und  Gewerbe  treibenden 
Israeliten  kennen  im  allgemeinen  nur  eine  dauernde  Auswanderung,  ebenso 
diejenigen  deutschen  und  czechischen  Auswanderer,  die  schon  hier  in  der 
Heimat  ihrem  Berufe  nach  zur  industriellen  Arbeiterschaft  gehörten.  Das 
Verhalten  der  ländlichen  Auswanderung  hängt  theils  von  dem  Grade  der 
Anhänglichkeit  des  betreffenden  Volksstammes  an  den  heimatlichen  Boden, 
und  der  Neigung  zur  landwirtschaftlichen  Beschäftigung,  insbesondere 
aber  davon  ab,  ob  in  dem  Auswanderungslande  die  bäuerlichen  Grundstücke 
ungetheilt  auf  einen  Erben  übergehen,  oder  ob  die  Freitheilbarkeit  der 
allgemeinen  Volkssitte  nach  herrscht.^)  Die  Auswanderung  aus  den  erst 
genannten  Gebieten  (Nordtirol,  Böhmen,  Oberösterreich,  Kärnten)  ist  zumeist 
eine  dauernde,  auch  dann,  wenn  sie,  wie  es  ja  gegenwärtig  die  Kegel  ist, 
eine  Arbeiterwanderung  ist,  die  Auswanderung  aus  den  letzteren  (Südtirol, 
Krain,  Galizien)  ist  dagegen  in  der  Regel  eine  zeitweilige  und  bezweckt 
dann  nichts  mehr  und  nichts  weniger,  als  den  Auswanderer  nur  noch  desto 
fester  an  die  alte  Heimat  zu  ketten.  Interessant  ist  insbesondere  der  Charakter 
der  polnischen  Auswanderung.  Die  Polen  ziehen  die  zeitweilige  Auswanderung 
der  dauernden  gegenwärtig  nicht  deswegen  vor,  als  ob  sie  keine  colonisatorischen 
Fähigkeiten  in  sich  verspürten.  In  früheren  Jahrhunderten  und  bis  in  die 
70er  Jahre  war  ja  ihre  Auswanderung  vorzüglich,  wenn  nicht  ausschliesslich 
auf  die  Colonisation  der  weiten  Steppen  Südrusslands,  respective  nach  der 
Theilung  Polens,  des  östlichen  Theiles  von  Galizien  und  der  Bukowina 
gerichtet.  Gegenwärtig  gestatten  ihnen  aber  die  wirtschaftlichen  Verhältnisse 
der  Nachbarländer,  wie  die  dem  Stamme  eigene  Arbeitsenergie,  eine  wesent- 
liche Besserung  ihrer  materiellen  Lage  zu  erreichen,  ohne  dass  eine  dauernde 
Auswanderung  nothwendig  wäre.  Erst  wenn  die  zeitweilige  Auswanderung 
nicht  mehr  lohnend,  respective  möglich  wäre,  würden  sie  sich  nothgedrungen 
zur  dauernden  Auswanderung  entschliessen. 

Ausser  dem  bereits  Dargelegten  ist  es  für  die  Beurtheilung  der 
Entwickelung  der  Auswanderung  aus  Oesterreich  in  der  Zukunft  von  besonderer 
Wichtigkeit,  festzustellen,  dass  es  unrichtig  ist,  wenn  das  nackte  physische 
Elend,  der  Hunger,  als  die  Hauptursache  der  Auswanderung  bezeichnet  wird. 
Der  geschichtliche  Verlauf  der  Wanderbewegung  lehrt  was  anderes.  Sie  tritt 
zuerst  bei  den  culturell  entwickeltsten  Volksstämmen  der  Monarchie  auf, 
bei  den  Deutschen,  Czechen  und  den  Italienern,  viel  später  gerathen  die 
Massen  der  polnischen  Bevölkerung  und  die  Slovenen,  noch  später  die 
Slovaken  und  die  Croaten,  erst  in  der  allerjüngsten  Zeit  die  Magyaren  und 
die  Ruthenen  in  Bewegung.  Die  Rumänen  Siebenbürgens  und  der  angrenzenden 
Theile    Ungarns    haben    bisher    überhaupt    keine    einigermaassen   intensive 


% 


^)  Auf  diesen  Causalnexus  wurde  ich  zuerst  aufmerksam  durch  den  Gegensatz 
zwischen  der  Abwanderung  der  Gebirgsdörfer  und  der  übrigen  Dörfer  Ostschlesiens.  In 
den  Gebirgsdörfern  Ostschlesiens  herrscht  die  Preitheilbarkeit  der  bäuerlichen  Grund- 
stücke vor.  Die  Abwanderung  ist  hier  eine  zeitweilige.  In  der  Ebene  werden  die  Grund- 
stücke ungetheilt  vererbt.    Hier  bezwecken  die  Abzüge  dauernde  Aussiedelung. 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Eegelung  des  Auswanderungswesens  etc.     495 

Auswanderung  aufzuweisen.  Nun  wird  jeder  ohne  weiteres  zugeben,  dass  in 
den  50er  Jahren  die  Massen  der  bäuerlichen  Bevölkerung  Südböhmens 
besser  situiert  waren,  als  der  galizische  Kleinbauer  jener  Epoche.  Ebenso 
wird  niemand,  der  die  Entwickelung  der  Mortalitätsverhältnisse  Galiziens 
eingehender  betrachtet/)  leugnen  können,  dass  die  wirtschaftlichen  Verhältnisse 
dieses  Landes  im  Verlaufe  der  letzten  Decennien  eine  so  bedeutende  Besserung 
erfuhren,  dass  trotz  der  ungewöhnlich  grossen  Zunahme  der  Bevölkerung 
die  wirtschaftliche  Lage  derselben  viel  befriedigender  ist,  als  früher.  Gleich- 
zeitig und  in  noch  schnellerem  Tempo  war  aber  auch  die  allgemeine  Bildung 
des  Volkes  gestiegen,  und  damit  auch  die  Scala  seiner  Bedürfnisse,  üeberall, 
wo  die  wirtschaftliche  Entwickelung  hinter  diesem  Wachsthum  der  Bedürfnisse 
zurückgeblieben  war,  begann  die  Bevölkerung  abzufliessen,^)  um  in  fremden 
Ländern  das  gestörte  Gleichgewicht  zwischen  Bedürfnis  und  Befriedigung 
herzustellen.  Die  Bewegung  geschieht  aber  nicht  so  unter  dem  Drucke  des 
physischen  Elends, 2)  als  im  Zeichen  der  Verbesserung  der  wirtschaftlichen 
Lage  bis  zu  dem  durch  die  neu  erwachten  Bedurfnisse  erhöhten  Niveau. 
Und  darin  liegt  die  Unversiegbarkeit  des  Auswanderungsstromes,  liegt  speciell 
für  Oesterreich  die  hohe  Wahrscheinlichkeit,  dass  die  Auswanderung  in  den 
nächsten  Jahren  noch  an  Umfang  gewinnen  dürfte. 

Ueber  die  Ursachen,  wie  die  Wirkungen  der  zeitweiligen  Aus- 
wanderung, insbesondere  aus  Westgalizien,  informiert  in  vorzüglicher  Weise 
eine  vor  kurzem  erschienene  Monographie  Dr.  Bujaks  über  die  wirtschaft- 
lichen und  socialen  Verhältnisse  des  in  der  Bezirkshauptmannschaft  Brzesko 
gelegenen  Dorfes  Maszkienice.  Da  diese  Verhältnisse  für  Westgalizien  typisch 
sind  und  auch  für  die  Beurtheilung  der  zeitlichen  Auswanderung  aus  den 
übrigen  Theilen  Oesterreichs  nicht  ohne  Interesse  sein  dürften,  soll  im 
folgenden  näher  auf  die  Ausführungen  Dr.  Bujaks   eingegangen  werden.*) 

Nach  den  vorläufigen  Ergebnissen  der  letzten  Volkszählung  wurden  in 
Maszkienice  238  Häuser,  227  Wohnparteien  und  1.067  Einwohner  gezählt 
In  Uebereinstimmung  damit  führt  Dr.  Bujak  an,  dass  im  Jahre  1899  in 
der  Gemeinde  236  wirtschaftliche  Einheiten  bestanden,  von  denen  jede, 
selbst   die   ärmste,   in    der  Kegel   ein    Häuschen   und   ein    Stück  Erde   ihr 

')  Vergl.  Dr.  Buzek,  Der  Einüuss  der  Ernten,  resp.  der  Getreidepreise  auf  die 
Bevölkerungsbewegung  in  Galizien  in  den  Jahren  1878 — 1898.  Statistische  Monatsschrift, 
S.  209  flf. 

2)  Wenn  oft  behauptet  wird,  dass  radicale  Agitationen  zur  Steigerung  der  Aus- 
wanderungslust beitragen,  so  ist  dies  nur  insoferne  richtig,  als  dadurch  in  der  Bevöl- 
kerung neue  Bedürfnisse  geweckt  wurden.  Dies  mag  zum  Theile  bei  der  leichtgläubigen 
Bevölkerung  Ostgaliziens  der  Fall  gewesen  sein,  dagegen  darf  mit  Sicherheit  behauptet 
werden,  dass  die  Auswanderung  aus  Westgalizien  unabhängig  von  solchen  Einflüssen 
wuchs.  Jedenfalls  ist  es  charakteristisch,  dass  viele  ruthenische  Auswanderer  sich  mit 
dem  Hinweise  auf  den  Steuerdruck  in  der  Heimat  zu  rechtfertigen  suchen. 

3)  Wenn  Hunger  das  treibende  Motiv  der  Auswanderung  wäre,  dann  müssten 
Missjahre  die  Bewegung  besonders  intensiv  gestalten.  Von  alledem  ist  selbst  bei  der 
Auswanderung  aus  dem  ärmsten  Kronlande,  Galizien,  keine  Spur. 

^)  Maszkienice,  wies  powiatu  Brzeskiego,  Publicationen  der  Krakauer  Akademie  der 
Wissenschaften,  Krakau  1901,  S.  45  ff. 


496  Buzek. 

Eigen  nannte.  Nur  9  Häuslerfamilien  besassen  ausser  ihrenri  Hause  kein 
Stück  Feld,  umgekehrt  besassen  6  Inwuhner  und  5  Ausgedingler  eine 
„Handbreit"  Erde,  wohnten  jedoch  in  fremden  Häusern.  Nach  den  Ausweisen 
des  Hypothekenamtes  ist  die  Bodenzerstückelung  unglaublich  weit  fort- 
geschritten. Von  den  543  „Besitzungen"  des  Grundbuches  hatten  eine 
Fläche  von 

Besitzungen 
1  bis      100  Quadratklaftern    31 

101     „       300  „  31 

301    „       600  ,  22 

601     „    1.200  ,  54 

1.200    „    1  Joch  55 


Besitzungen 
1  bis     2  Joch  153 

2,4,  142 

4    „       8     „  45 

8    ,     16     „  6 

über     16     -  3 


193  Besitzungen  umfassten  demnach  weniger  als  1  Joch,  295  1 — 4  Joch 
und  nur  54  mehr  als  4  Joch !  Glücklicherweise  deckt  sich  der  Begriff  der 
Besitzung  durchaus  nicht  mit  dem  Begriffe  einer  Wirtschaft,  indem  durch- 
schnittlich jede  "Wirtschaft  2-3  Besitzungen  umfasste,  auf  jede  Familie 
demnach  ein  Grundbesitz  von  durchschnittlich  5  Joch  entfällt.  Immerhin 
ist  aber  die  Vertheilung  des  Grundbesitzes  eine  solche,  dass  von  den 
236  Familien,  wenn  sie  nur  auf  die  Einkünfte  aus  ihrem  Grundbesitze  sich 
beschränken  wollten,  bloss  11  als  vermögend  angesehen  werden  könnten, 
30  als  ziemlich  vermögend,  65  Familien  würde  noch  ihr  Grundbesitz  genügend 
ernähren,  dagegen  würden  105  Familien  nur  ein  sehr  knappes  Auskommen 
finden  und  25  Familien  würden  in  völligem  Elende  leben  müssen  (all  dies 
nach  den  in  der  Gemeinde  herrschenden  Begriffen).  Von  den  mit  Elend 
bedrohten  Familien  entsenden  nun  15,  von  den  mit  Entbehrungen  kämpfenden 
Familien  80  ihre  Mitglieder  in  die  Fremde.  Ueberdies  nimmt  fast  die  Hälfte 
der  Familien  (31),  die  ihr  Grundbesitz  ernähren  könnte,  an  der  Wander- 
l)ewegung  theil,  um  den  Wohlstand  zu  erhöhen  oder  dem  zeitweise  auf- 
tretenden Geldmangel  abzuhelfen.  Von  den  mit  Elend  oder  Entbehrungen 
kämpfenden  Familien  bleiben  nur  35  Familien  in  der  Gemeinde,  und  zwar 
lediglich,  weil  ihre  Mitglieder  den  Anstrengungen  des  Erwerbslebens  in  der 
Fremde  physisch  nicht  gewachsen  sind.  Diese  Familien  verdingen  sich  in 
der  Gemeinde  als  landwirtschaftliche  Arbeiter  bei  den  vermögenden  oder  bei 
den  abwesenden  Grundbesitzern.  Die  Gesammtzahl  der  im  Jahre  1899  aus 
der  Gemeinde  abgewanderten  Saisonarbeiter  betrug  132  Personen  (also  Vs 
der  Bevölkerung!),  die  zu  116  wirtschaftlichen  Einheiten  (also  die  Hälfte 
aller  Wirtschaften !)  gehörten. 

Das  Gros  der  Wanderung  (nämlich  116  Männer)  entfällt  auf  die 
Saisonwanderung  nach  Westösterreich.  Diese  Abwanderer  gehören  101  Wirt- 
schaften an,  da  4  Väter  zusammen  mit  den  Söhnen  arbeiteten  und 
11  Wirtschaften  je  2  Söhne  auf  die  Wanderung  entsendeten.  Sonst  ist  es 
die  Eegel,  dass  je  ein  Familienmitglied  in  die  Fremde  wandert.  Das  Alter 
und  die  Beschäftigung  dieser  Abwanderer  nach  Westösterreich  gibt  folgende 
Tabelle : 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  etc.     497 


Alter                ^™^^^-      Maurer 
l|      ieute 

Erd- 
arbeiter 

Zusammen 

13-17  Jahre 
18-25       „ 
26-30       „ 
31—40       ^ 
über  40       „ 
Zusammen  . 

10               — 
17                 1 

1        23                 3 
4               — 

8 
21 

18 
6 

5 

8 
31 
36 
32 

9 

:    ö4 

4 

58 

116 

j 
i 

Die  Zimmerleute  arbeiteten  in  Ostrau,  die  Maurer  in  Tarnow,  von  den 
Erdarbeitern  26  in  Ostrau,  17   in  Wien,  15  in  Troppau. 

Interessant  ist.  dass  die  jüngeren  Altersclassen  als  Erdarbeiter  ausziehen, 
dagegen  die  älteren  die  besser  entlohnte  Zimmermannsarbeit  verrichten. 

Das  Leben  der  Saisonwanderer  in  der  Fremde  ist  reich  an  Entbehrungen. 
Sie  wohnen  in  Arbeiterbaracken  — '  in  denen  jedem  ein  60  cm  breiter  Raum  als 
Lagerstätte  und  Wohnung  zugleich  angewiesen  ist.  Die  meisten  geben  täglich 
30  kr.  aus  und  nähren  sich  in  folgender  W^eise:  zum  Frühstück  Kaffee  und  Brot, 
das  um  10  kr.  für  den  ganzen  Tag  eingekauft  wird,  zum  Mittagessen  Suppe  und 
Yg  hg  Fleisch  mit  Erdäpfeln  oder  Keis,  zum  Abendessen  Brot  und  Speck  um  5  kr. 
Ist  der  Arbeitsort  weiter  von  den  Baracken  entfernt,  dann  wird  obiges  Mittagessen 
abends  eingenommen;  zum  Frühstück  und  Mittagessen  dient  in  diesem  Falle 
Brot  undSpeckwie  oben;  jeden  Freitag  wird  gefastet;das  auf  diese  Weise  Ersparte 
wird. zum  Einkaufe  von  Tabak  und  Bier,  das  jedoch  nur  Sonntag  nachmittags 
getrunken  wird,  verwendet.  Diese  Verhältnisse  sind  als  die  normalen  zu  be- 
trachten. Ein  gewisser  Theil,  insbesondere  die  Erdarbeiter,  nähren  sich  jedoch 
schlechter.  Es  gibt  solche,  die  von  trockenem  Brot  leben,  indem  ihre  täglichen 
Ausgaben  nicht  mehr  als  14  kr.  betragen.  Anderseits  gibt  es  aber  auch  solche, 
die  zwar  mehr  als  2  fl.  wöchentlich  ausgeben,  davon  aber  das  allermeiste  für 
den  Samstagsschnaps  und  für  das  Sonntagsessen  verwenden,  sonst  essen  sie 
trockenes  Brot.    Diese  Kategorie  der  Arbeiter  gehört  aber  zu  den  Ausnahmen. 

Bei  dieser  Lebensweise  ist  der  wirtschaftliche  Erfolg  der  Auswanderung 
ein  ganz  bedeutender.  Die  Ersparnisse  der  Arbeiter  betrugen : 


bei  einem 
Taglohn  von  fl. 

in  Procenten  des  Taglohnes 

Zusammen 

0 

25—40 

41—50 

51—65 

66-70 

71—85 

über  85 

0-60- 0-80 
0-81— 100 
101—1-25 
1-26— 1-50 
1-51-1 
Zusammen 

1 
2 
1 
2 
1 

2 

1 

1 
1 

12 
11 

1 
15 

1 

3 
10 

5 
17 

2 

1 

3 

19 

3 

1 

16 
25 
10 
57 

8 

7 

2 

3 

40 

37 

26 

r 

116 

498  Buzek. 

Wir  sehen,  von  116  Arbeitern  machten  nur  7  keine  Ersparnisse, 
dagegen  ersparten  mehr  als  ^/^  die  Hälfte  bis  zwei  Drittel  des  Lohnes,  Y3  66  bis 
70  Proc,  mehr  als  Y5  sogar  71 — 85  Proc!  Das  Resultat  der  ganzen 
Saison  berechnet  sich  auch  für  alle  116,  resp.  109  Arbeiter  nach  massigster 
Berechnung  auf  11.194  fl.  11 — 12  Tausend  Gulden  fliessen  jährlich  in  eine 
Gemeinde,  deren  Reinertrag  aus  Grund  und  Boden  nicht  einmal  10.000  fl. 
erreicht!  Die  zeitliche  Auswanderung  hat  die  Ei  n  kommen  s- 
verhältnisse  der  Gemeindeeinwohner  um  mehr  als  das 
Doppelte   gebessert! 

Die  Ergebnisse  der  Saisonwanderung,  resp.  der  zeitlichen  Auswande- 
rung in  das  Auslaud  sind  relativ  noch  höher.  Speciell  von  der  Wanderung 
nach  Preussen  berichtet  Dr.  Bujak,  dass  im  Jahre  1898  16  Mädchen  im 
Alter  von  18  bis  24  Jahren  dorthin  aus  Maszkienice  wanderten.  Von  diesen 
Mädchen  brachte  jede  90 — 120  fl.  mit,  drei  Schwestern,  die  in  Dänemark 
gearbeitet  haben,  ersparten  jedoch  400  fl.  Von  diesen  .•)  Schwestern  zählte 
die  jüngste  15,  die  andere  16  Jahre  und  nur  die  dritte  war  bereits  erwachsen. 
Dasselbe  Resultat  brachte  die  Saison  1899  und  1900.  In  letzterem  Jahre 
wendeten  sich  überdies  6  Erdarbeiter,  die  bisher  in  Wien  beschäftigt 
gewesen,  nach  Deutschland  und  brachten  nach  3  Monaten  je  150  fl.  mit. 
Freilich  beklagten  sie  sich  über  die  Art  der  Arbeit  (Wegebau  bei  Magde- 
burg), sie  mussten  oft  Tage  lang  im  Morast  bis  an  die  Knie  waten. 

Die  Resultate  der  zeitlichen  Auswanderung  nach  Amerika  aus  allen 
Theilen  der  Monarchie  sind  dieselben,  wie  die  der  galizischen  und  wohl 
auch  die  der  übrigen  österreichischen  Saisonwanderung  nach  dem  europäischen 
Festlande  oder  nach  anderen  österreichischen  Ländern.  So  erzählt  der  Bericht 
über  die  Thätigkeit  der  Reichscommissäre  für  das  Auswanderungswesen 
während  des  Jahres  1900,^)  dass  die  slavischen  Auswanderer  aus  Oesterreich- 
Ungarn,  die  sich  fast  ausschliesslich  nach  den  Bergwerken,  Eisen-  und  Stahl- 
werken Pennsylvaniens,  Ohios  und  'Illinois'  wenden,  dort  ,als  fleissige 
Arbeiter  gern  gesehen  werden"  und  bereits  nach  4  bis  T)  Jahren  solche 
Ersparnisse  gemacht  haben,  dass  sie  in  die  alte  Heimat  zurückkehren  können. 
Im  Jahre  1900  sind  durch  die  Vermittelung  einer  Bremer  Firma  allein 
6  Millionen  Kronen  aus  den  Ersparnissen  unserer  Auswanderer  nach  Oester- 
reich  geflossen.  Damit  stimmt  vollkommen,  dass  nach  einer  Notiz  des 
Berichtes  über  die  Thätigkeit  des  Departements  VI  des  galizischen  Landes- 
ausschusses allein  die  Auswanderer  der  kleinen  Bezirkshauptmannschaft 
Strzyzöw  aus  Amerika  in  der  Zeit  vom  1.  Jänner  bis  25.  April  1899  mehr 
als  90.000  fl.  ihren  zurückgebliebenen  Familien  übermittelten. 

Die  Ersparnisse  dienen  den  Bedürfnissen  der  Familie  und  der  eigenen 
Wirtschaft  des  Auswanderers.  Aus  ihnen  wird  die  Aushilfe  bezahlt,  die  zur 
Bestellung  der  Felder  nothwendig  wird,  wenn  die  Arbeitskraft  der  zurück- 
gebliebenen Frau,  resp.  der  zurückgelassenen  Kinder  nicht  ausreicht;  weiter 
dienen  die  Ersparnisse  zur  Tilgung  von  Schulden  und  Steuerresten  —  zur 


1)  Reichstag,  10.  Legislaturperiode,  II.  Session  1900/1901,  Nr.  148. 


Das  AuswanderuDgsproblem  und  die  Eegelung  des  Auswanderungswesens  etc.     4  99 

Bescliaifung  von  Viehfutter,  zum  Ankaufe  von  Lebensmitteln,  wenn  die  Wirt- 
schaft zu  klein  ist,  um  diese  oder  jene  in  genügender  Menge  zu  liefern. 
Ein  grosser  Theil  der  Auswanderer  wird  von  angehenden  Grundbesitzern/ 
die  nicht  lange  verheiratet  sind,  gebildet.  Diese  verwenden  das  Ersparte 
zur  Ergänzung  des  lebendigen  und  des  todten  Inventars,  zur  Eegelung  der 
unbeglichenen  Erbansprüche  ihrer  Geschwister.  Junge  unverheiratete  Männer 
sammeln  immer  häufiger  in  der  Fremde  ein  kleines  Capital,  um  sodann  die 
mit  der  üebernahme  der  Wirtschaft  verbundenen  Auslagen  bar  bestreiten 
zu  können.  Im  allgemeinen,  schreibt  Dr.  Bujak,  wächst  augenscheinlich 
der  Wohlstand  in  den  Wirtschaften,  die  an  der  Wanderbewegung  theil- 
nehmen,  im  Gegensatze  zu  den  übrigen,  die  mit  fortwährendem  Geldmangel 
zu  kämpfen  haben  —  deren  Besitzer  mehr  arbeiten  und  sich  doch  schlechter 
ernähren  müssen,  „Der  bodenständige  Bauer  stirbt,  ohne  sein  Vermögen 
gemehrt  zu  haben,  während  der  wandernde  für  seine  alten  Tage  besser 
aufgehoben  ist  und  ausserdem  die  Mittel  zur  Ausstattung  seiner  Kinder 
besitzt,  sei  es,  dass  er  eine  Geldsumme  hinterlegt  oder  ein  Stück  Feld 
zugekauft  hat.'' 

Von  nicht  geringerer  Bedeutung,  als  der  unmittelbare  Erfolg,  ist  der 
culturelle  und  erziehliche  Wert  der  zeitlichen  Auswanderung,  insbesondere 
insoweit  diese  nach  Westen  gerichtet  ist.  Die  Auswanderer  verbessern  ihren 
Standard  of  life,  kleiden  sich  besser,  essen  besser,  wohnen  bequemer,  kom- 
men für  die  Volkswirtschaft  immer  mehr  als  Consumenten  in  Betracht.  Die 
5 — 10  Millionen  Gulden,  die  allein  aus  dem  Auslande  jährlich  nach  Galizien 
an  Ersparnissen  der  Auswanderer  fliessen,  kommen  für  den  westösterreichischen 
Exporteur  nach  Galizien  in  sehr  hohem  Grade  in  Betracht.  Während  der 
Wanderung  fällt  dem  Auswanderer  so  manches  in  die  Augen,  was  sich 
dauernd  dem  Gedächtnis  einprägt  und  den  geistigen  Horizont  erweitert.  Die 
Auswanderer  lernen  viele  technische  Fortschritte  und  Fertigkeiten  kennen, 
die  sie  sodann,  sei  es  in  der  eigenen  Wirtschaft,  sei  es  als  Arbeiter  an  Ort 
und  Stelle,  verwenden  können.  So  erzählt  Dr.  Bujak,  dass  die  Erdarbeiter, 
die  aus  Maszkienice  im  Jahre  1900  nach  Preussen  gewandert  waren,  voll 
Bewunderung  für  die  preussische  Landwirtschaft  zurückkehrten.  Sie  haben 
bemerkt,  dass  die  dortigen  Aecker  ebenso  versumpften  Boden  hatten,  wie 
die  ihrigen.  Der  Unterschied  war  nur  der,  dass  die  preussischen  Aecker 
herrliche  Früchte  trugen,  da  sie  drainiert  waren  und  die  Entwässerung  trefflich 
eingerichtet  Avar,  während  ihr  eigener  Boden  aus  Mangel  dieser  Einrich- 
tungen uncultiviert  bleiben  musste.  Von  besonderer  Wichtigkeit  ist,  dass  die 
Westwanderung,  wie  oben  geschildert,  aus  „grossen  Kindern"  denkfähige, 
selbständige  Männer  macht,  dass  sie  ferner  die  Auswanderer  an  intensive 
Arbeit  gewöhnt.  Die  durchschnittliche  Arbeitszeit  der  landwirtschaftlichen 
Arbeiter  beträgt  in  Westgalizien  10 — 12,  in  Ostgalizien  8—10  Stunden. 
„Zumal  in  den  östlichen  Landestheilen  ist  es  allgemeiner  Brauch,  ins- 
besondere zur  Erntezeit  spät  am  Morgen  die  Lohnarbeit  zu  beginnen.  Je 
unentbehrlicher  sich  die  Leute  wissen,  desto  später  pflegen  sie  zu  erscheinen. 
Dann  ist  der  ostgalizische  Arbeiter  träge  und  benützt  jede  Gelegenheit,  um 


500  Buzek. 

die  Arbeit  zu  unterbrechen."  ^)  Man  war  in  Galizien  nicht  imstande,  die 
Leute  zu  intensiver  Arbeit  zu  erziehen.  Dies  besorgt  nun  das  Ausland.  Hof- 
rath  Pilat  führt  an,  dass  er  oft  von  Leuten,  die  aus  Amerika  zurückgekehrt 
waren,  die  Aeusserung  vernommen  hat:  „Wenn  man  bei  uns  so  viel  wie  in 
Amerika  arbeiten  würde,  würde  man  auch  Ersparnisse  machen." 

Den  Vortheilen  der  zeitlichen  Auswanderung  stehen  aber  auch  Nach- 
theile gegenüber.  Wir  übergehen  die  sittlichen  Gefahren,  die  zumal  mit  der 
„Sachsengängerei"  verbunden  sind,  weil  hier  die  Meinungen  getheilt  sind. 
Einige  Beobachter  wollen  von  diesen  Nachtheilen  nicht  viel  bemerkt  haben. 
Dr.  Bujak  führt  an,  dass  wohl  am  Anfange  der  Bewegung  um  das 
Jahr  1894  mehrere  Mädchen  aus  der  Umgebung  von  Maszkienice  in  anderen 
Umständen  zurückgekommen  waren,  dass  aber  „seit  mehreren  Jahren 
kein  solcher  Fall  mehr  sich  ereignete,  obschon  z.  B.  aus  Przyboröw  und 
Leki  je  50  unverheiratete  Mägde  hinausgewandert  waren."  Er  meint  sogar, 
dass  das  gemeinschaftliche  Leben  in  der  Fremde  und  die  Schwierigkeit,  sich 
abzusondern,  die  Mädchen  vor  den  Gefahren  der  Verfühiung  mehr  als  in 
der  Heimat  sichert.  Andere  dagegen  legen  gerade  auf  die  moralischen 
Gefahren  der  Bewegung  grossen  Nachdruck.  ^)  Mehr  Beachtung  verdient 
schon  die  Befürchtung,  dass  die  landwirtschaftliche  Cultur  der  Besitzungen 
der  zeitweiligen  Auswanderer  leiden  muss,  da  ja  die  Bestellung  der  Felder 
oft  ausschliesslich  Frauen,  Kindern  und  Greisen  überlassen  ist.  In  Krain 
2.  B.  kommt  es  gar  häufig  vor,  dass  der  Bauer  und  die  Bäuerin  in  Amerika 
oder  in  Westphalen  jahrelang  weilen,  und  10-  bis  14jährige  Kinder  —  aller- 
dings unter  Aufsicht  eines  Vertrauensmannes  —  die  Wirtschaft  führen. 
„Wenn  schon  die  Erwerbsarbeit  an  Ort  und  Stelle  ungünstig  wirkt,  desto 
nachtheiliger  muss  sich  ein  längerer  Aufenthalt  in  der  Fremde  äussern."  Aller- 
dings gibt,  wie  wir  gesehen  haben,  die  zeitliche  Auswanderung  die  finanziellen 
Mittel,  um  die  abwesenden  Arbeitskräfte  zu  ersetzen.  Ob  aber  die  Abwesenheit 
des  Faniilienhauptes  selbst  voll  ersetzt  werden  kann,  ist  zu  bezweifeln. 

Die  Sorge  für  die  Erfolge  der  Wirtschaft  des  Auswanderers  selbst 
kann  füglich  ihm  selbst  überlassen  werden.  Würde  die  Wanderung  seiner 
Wirtschaft  mehr  Nachtheile  als  Vortheile  bringen,  würde  er  eben  daheim 
bleiben.  Anders  verhält  es  sich  mit  dem  Schaden,  den  die  bisher  auf  seine 
Arbeitskraft  angewiesenen  Wirtschaften  erleiden.  Bei  der  starken  Abwanderung 
muss  endlich  ein  Augenblick  eintreten,  in  dem  die  Nachfrage  das  Angebot 
an  Arbeit  übertrifft  und  im  Lande  ein  fühlbarer  Arbeitermangel  sich  bemerk- 
bar macht.  Da  die  Auswanderung  aus  Oesterreich  zu  mindestens  7io  ^^^ 
agrarischen  Gebieten  stammt,  kann  dies  zumal  in  agrarischen  Ländern  zu 
Katastrophen  führen,  die  nicht  nur  die  unmittelbar  betroffenen,  sondern  die 
Gesammtheit  tangieren.  Infolge  des  ungewöhnlichen  Anwachsens  der  Saison- 
wanderung nach  Deutschland  scheint  dieser  Moment  speciell  für  Galizien 
nicht  mehr  ferne  zu  sein.'') 

^)  PilatjWychodztwo  robotniköwrolnychzazarobkiera  do Niemiec,  Lwöw  1900,8.11. 
')  Kärger,  Die  Sachsengängerei,  S.  180. 
3)  Krzyzanowski.  Studya  agrarne,  S.  327. 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Eegelung  des  Auswanderungswesens  elc.     501 

Die  zeitweilige  Auswanderung  aus  Galizien  steht  seit  der  immensen 
Steigerung  der  Bewegung  im  Jahre  1899  nicht  mehr  im  Verhältnis  zur 
Lage  des  Arbeitsmarktes  im  Lande,  und  sie  nimmt  mehr  Arbeitskräfte  weg^ 
als  dies  der  Sachlage  nach  zu  erwarten  wäre.  In  dieser  sozusagen  über- 
zähligen Auswanderung  ist  nicht  mehr  das  allgemeine  Gesetz  des  Angebots 
und  der  Nachfrage  entscheidend,  hier  spielen  psychische  Momente,  üeber- 
redung,  Nachahmung  etc.  eine  grosse  Kolle.  Diejenigen,  für  die  es  noch 
augenföUig  vortheilhaft  war,  in  die  Fremde  zu  wandern,  ziehen  durch  ihre 
Erzählungen,  durch  ihr  Beispiel  auch  solche  nach,  die  an  Ort  und  Stelle 
ebenso  vortheilhaft  ihre  Arbeitskraft  verwerten  könnten.  In  Galizien  mussten 
Regulierungsarbeiten  der  Regierung  (im  Bezirke  Mielec)  unterbrochen  werden^ 
weil  die  Arbeiter  nach  Preussen  ausgewandert  waren,  obgleich  es  sich 
später  herausstellte,  dass  sie  im  Lande  mehr  verdient  hätten,  als  in  der 
Fremde.  Im  Jahre  1899  schnellten  zur  Zeit  der  Haupt-  und  dann  wieder 
der  Kartoffelernte  in  vielen  Gegenden  die  Arbeitslöhne  auf  eine  ungewöhn- 
liche Höhe  empor,  nichtsdestoweniger  konnten  viele  Gutsbesitzer  die  Ernte 
nicht  zur  gelegenen  Zeit  heimbringen,  mussten  manche  die  Kartoffelernte 
gänzlich  aufgeben.  Der  Arbeitermangel  war  —  theilweise  auch  wegen  der 
besonderen  Gestaltung  der  klimatischen  Verhältnisse  des  Jahres  1899  — 
sogar  so  gross,  dass  ihn  grössere  Bauernwirtschaften  zu  spüren  begannen. 
Aus  dieser  Zeit  datiert  die  Petition  sämmtlicher  Bürgermeister  der  Bezirks- 
hauptmannschaft Kolbuszowa,  in  der  die  Landesregierung  aufgefordert  wird, 
die  zeitweilige  Auswanderung  minderjähriger  Personen  mit  Rücksicht  auf 
die  dieselben  bedrohenden  sittlichen  Gefahren  zu  verbieten.  Man  sage  ja 
nicht,  dass  es  sich  hier  nur  um  das  Interesse  der  Gutsbesitzer  und  Gross- 
bauern handle.  Die  Landwirtschaft  kann  nicht  warten,  bis  die  Arbeiter 
zurückkehren.  Sie  verliert  gegebenenfalls  die  Production  des  ganzen  Jahres, 
während  der  Industrielle  in  der  Regel  bloss  den  Verlust  der  Verzinsung 
des  investierten  Capitals  zu  tragen  hat.  Dass  aber  der  Ausfall  der  Ernte 
in  einem  agrarischen  Lande  das  Interesse  aller  berührt,  ist  evident. 

Ueber  die  Wirkungen  der  dauernden  Auswanderung  aus  Oesterreich 
können  wir  uns  kürzer  fassen.  Das  Allgemeine  darüber  kann  man  in  jedem 
'Compendium,  das  die  Auswanderung  behandelt,  lesen.  Im  besonderen  wäre 
zu  wiederholen,  dass  die  dauernde  Auswanderung  aus  Oesterreich  zum 
grossen  Theile  eine  continentale  Auswanderung  ist,  die  rechtlich  in  der 
Regel  ohne  Bedeutung  bleibt.  Während  nämlich  die  Gesetzgebung  der 
amerikanischen  Staaten  die  Aufnahme  in  den  Staatsverband  den  Ausländern 
sehr  erleichtert,  oft  dieselben  wider  ihren  Willen  ihrer  alten  Staats- 
angehörigkeit geradezu  , beraubt",^)   sind  die   europäischen  Staaten    in    der 

^)  Hier  z.  B.  die  bezüglichen  Bestimmungen  des  Artikels  69  der  brasilianischen 
Constitution  vom  24.  Februar  1891:  „Brasilianische  Bürger  sind:  1.  die  in  Brasilien 
Geborenen,  auch  die,  deren  Vater  ein  Ausländer,    der   nicht  in  Diensten  seines  eigenen 

Staates  steht,  ist ;  2 3 4.  die  Ausländer,  die  sich  am  15.  November  1889 

in  Brasilien  befinden  und  nicht  binnen  6  Monaten  nach  dem  Tage  des  Eintrittes  der 
Gesetzeskraft  der  Constitution  ausdrücklich  den  Willen,  ihre  Staatsangehörigkeit  zu 
behalten,  erklären;  5.  die  Ausländer,  welche  in  Brasilien  wohnen  und  dorten  Immobilien 


502 


ßuzek. 


Verleihung  des  Bürgerrechtes  an  Ausländer  in  der  Kegel  sehr  zurückhaltend. 
Somit  bleiben  dieselben  in  mehrfacher  Beziehung,  zumal  auch  mit  Rücksicht 
auf  die  militärische  Dienstpflicht,  der  alten  Heimat  erhalten. 

Zur  Beurtheilung  der  dauernden  Auswanderung  über  die  See  ist  zu 
bemerken,  dass  sie  gegenwärtig,  dank  der  oben  geschilderten  wirtschaftlichen 
Conjunctur,  fast  nur  Volkselemente  umfasst,  deren  Verlust  kaum  als  Nachtheil 
empfunden  werden  kann.  Es  sind  in  der  Hauptsache  israelitische  Handwerker 
und  Kleinhändler,  sowie  ruthenische  Bauern.  Durch  den  Wegzug  der  ersteren 
wird  die  unerträgliche  üebervölkerung  des  galizischen  Handwerkes  und 
Kleinhandels  behoben,  die  Abwanderung  der  letzteren  schafft  dagegen  dem 
tüchtigeren  polnischen  Elemente  im  Lande  mehr  Raum  und  verringert  auf 
diese  Weise  den  Abfluss  dieses  wertvolleren  Bevölkerungsmaterials. 

Der  polnische  Bauer  zeichnet  sich  durch  grosse  Lebensenergie,  durch 
die  Fähigkeit  zur  Selbsthilfe  aus ;  für  den  Staatszweck  kommt  er  ausserdem 
als  vorzüglicher  Soldat  in  Betracht.  Him  gegenüber  tritt  die  Inferiorität 
des  Ruthenen  schon  dadurch  hervor,  dass  dieser  die  eigene  Lage  nur  durch 
Agrarsocialismus,  durch  agrarische  Strikes,  durch  das  gänzliche  Verlassen 
der  alten  Heimat  zu  verbessern  sucht.  Die  Auswanderung  letzteren  Elementes 
könnte  erst  dann  als  Nachtheil  empfunden  werden,  wenn  an  seine  Stelle 
nicht  ein  mehrwertiges  Element  treten  würde.  Gerade  dies  ist  aber  in  Galizien 
der  Fall;  an  Stelle  der  auswandernden  Ruthenen  treten  zum  grossen  Theile 
Polen,  die  wahrscheinlich  auch  ausgewandert  wären,  wenn  ihnen  eben  die 
ruthenischen  Abzügler  nicht  Platz  gemacht  hätten. 

Das  Vordringen  des  polnischen  Elementes  in  Galizien  wird  durch 
folgende  Ziffern  illustriert: 


Im  Jahre 


Es  wurden  gezählt  in  Galizien 


römisch-katholisch 


1851 

1857 
1869 
1880 
1890 
1900 


2,067.292 
2,072.633 
2.509.015 
2,714.977 
2,999.062 
3,352.308 


griechisch-katholisch 


2,129.764 
2,077.112 
2,315.782 
2,510.408 
2,790.577 
3,103.410 


besitzen  oder  mit  einer  Brasilianerin  sich  vermählen  oder  in  Brasilien  gebotene  Söhne 
haben,  falls  sie  nicht  ausdrücklich  erklären,  dass  sie  ihre  Staat'isan gehörigkeit  nicht  ändern 

wollen.    6 "  Diese  horrenden  Bestimmungen  werden  nur  noch  durch  die  horrendere 

Praxis  überboten.  Die  brasilianischen  Behörden  nehmen  Proteste  der  Ausländer  gegen 
die  stillschweigende  Naturalisation  im  Sinne  der  citierten  Bestimmungen  einfach  nicht 
zur  Kenntnis,  ausgenommen  den  seltenen  Fall  der  Intervention  der  betreffenden  Consulate. 
Vergl.  das  Werk  des  italienischen  Ministeriums  der  Aeussern,  Emigrazione  e  Colonie, 
Eoiiia  1893,  S.  142. 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  etc.     503 

Bis  Ende  der  60er  Jahre  war  nach  diesen  Ziffern  das  polnische 
Element  im  raschen  Vordringen  begriffen,  es  colonisierte  eben  damals  den 
Osten  des  Landes.  Nach  Beginn  der  polnischen  Auswanderung  in  den 
70er  Jahren  bleibt  das  Kräfteverhältnis  beider  Volksstämme  bis  1890 
ungeändert.  Erst  in  den  neunziger  Jahren,  d.  h.  nach  Beginn  der  ruthenischen 
Auswanderung,  verschiebt  sich  das  Verhältnis  wieder  zu  Gunsten  der  Polen: 
der  Vorsprung  der  polnischen  Bevölkferung  vor  der  ruthenischen  wächst 
von  208.000  im  Jahre  1890  auf  249.000  im  Jahre  1900. 

Diese  Erscheinung  ist  ja  nicht  auf  die  grösseren  Geburtenüberschüsse 
der  polnischen  Bevölkerung  zurückzuführen.  Zwar  betrug  im  Durchschnitte 
der  Jahre  1895  bis  1898  die  Zahl  der 


bei  den 

Lebend- 
geborenen 

Gestorbenen 

Geburten- 
überschuss 

Römisch-katholischen 

Griechisch-katholischen     .... 

.  135.805 
139.295 

87.156 
99.321 

48.149 
39.974 

woraus  im  ganzen  für  die  römisch-katholische  Bevölkerung  jährlich  ein 
Plus  des  Geburtenüberschusses  um  circa  8.000  resultiert.  Nun  ist  aber  die 
Wanderbewegung  der  polnischen  Bevölkerung  circa  lOmal  so  stark,  wie 
die  der  ruthenischen.  Die  Zahl  der  Polen  müsste  demnach  trotz  dieses  Plus 
des  Geburtenüberschusses  rapid  abnehmen,  wenn  diese  eben  nicht  befähigt 
wären,  ihr  Auslangen  mit  der  zeitlichen  Wanderung  zu  finden.  So  bleibt 
die  Hauptmasse  der  Wanderer  der  Heimat  erhalten,  zumal  der  Kest,  der 
zur  dauernden  Auswanderung  gezwungen  ist,  zum  Theile  in  den  von  den 
Ruthenen  evacuierten  Gebieten  Aufnahme  findet. 

Während  die  Thatsache  der  dauernden  Auswanderung  je  nach  Umständen 
nachtheilig  oder  vortheilhaft  sein  kann,  ist  die  Thatsache  der  Ansiedelung 
heimischer  Volkselemente  in  der  Fremde  —  an  und  für  sich  betrachtet  — 
im  allgemeinen  nur  von  Vortheil.  Allerdings  unter  einer  Bedingung:  dass 
sich  die  Auswanderer  auch  weiterhin  als  Bestandtheile  der  alten  Volks- 
gemeinschaft fühlen  und  als  solche  handeln.  Die  weltwirtschaftlichen  Ver- 
bindungen beeinflussen  gegenwärtig  im  hohem  Maasse  die  Entwickelung  der 
heimischen  Volkswirtschaft.  Dass  diese  Verbindungen  durch  die  Ansiedelung 
von  Staatsangehörigen  in  der  Fremde  gefestigt,  oft  überhaupt  erst  an- 
geknüpft werden,  wird  durch  die  Erfahrungen  Italiens  und  Deutschlands  in 
Südamerika  dargelegt.  Dass  eben  dasselbe  auch  für  Oesterreich  möglich  ist, 
dafür  nur  zwei  Beispiele.  —  Wie  wir  aus  einem  Artikel  des  Krakauer 
„Czas"  erfahren,  fragte  vor  kurzem  das  Handelsministerium  bei  der  Krakauer 
Handels-  und  Gewerbekammer  nach,  was  für  eine  galizische  Fabrik  denn 
Maschinen  nach  Sumatra  exportiere.  Es  ergabsich,  dass  eine  galizische  Gesellschft 
in  Sumatra  Bohrungen  nach  Petroleum  vornehmen  Hess  und  damit  einen 
findigen    masurischen    Bauer   betraute.    Dieser   bestellte    die    nothwendigen 


504  Buzek. 

Werkzeuge  natürlich  bei  einer  ihm  aus  der  Heimat  wohlbekannten  Firma.  — 
Ein  anderes  Beispiel:  aus  dem  Berichte  des  Einwanderungsdirectors  der 
argentinischen  Kepublik  erfahren  wir,  dass  die  „polnischen"  Einwanderer 
in  die  Missiones,  bei  allen  Vortheilen,  die  sie  für  die  neue  Heimat  bedeuten, 
doch  darin  nicht  convenieren,  dass  sie  in  ihrer  Tracht,  Sitte  und  Lebens- 
weise gar  zu  conservativ  sind.  Sie  sind  keine  Consumenten  für  argentinische 
Producte.  Sie  weigern  sich,  ihre  Kleidung  und  Wäsche  der  nationalen  Sitte 
des  Landes  anzupassen,  ja  diese  aus  nationalen  Materien  machen  zu  lassen. 
Wir  haben  Aehnliches  bei  unserem  Zollkriege  mit  Rumänien  erfahren.  Als 
gewisse  österreichische  Waren  der  exorbitanten  Zölle  wegen  nicht  importiert 
werden  konnten,  hofften  fremde  Staaten  den  Markt  mit  ihren  Erzeugnissen 
versehen  zu  können.  Vergebens,  die  Bevölkerung  war  an  die  betreffenden 
österreichischen  Artikel  so  gewöhnt,  dass  sie  die  fremden  Importeure  zum 
Ankaufe  der  österreichischen  Waren  zwang.  Es  ist  sicher,  dass  zugleich 
mit  dem  ersten  Auswanderungsstrom  nach  Argentina  auch  unsere  Handels- 
beziehungen in  diesem  Staate  gekräftigt  werden  könnten.  Es  scheint  dies 
nun  nicht  geschehen  zu  sein,  und  die  argentinischen  Polen  fangen  nun  an, 
die  spanische  Tracht  anzunehmen. 

6.  Das  Auswanderungsproblem  und  die  principiellen 
Gesichtspunkte  der  Aus  Wanderungspolitik. 

Als  Synthese  des  bisher  Dargelegten  ist  das  Problem  der  österreichischen 
Auswanderung  nicht  schwer  zu  formulieren.  Die  Auswanderungsfrage  bedeutet 
in  ihrer  weitesten  Fassung  nichts  mehr  und  nichts  weniger  als  die  Lösung 
des  Problems,  auf  welche  Weise  die  Tausende  von  Staatsbürgern,  welche 
die  Heimat  nicht  mehr  ihren  Bedürfnissen  entsprechend  ernähren  kann, 
unterzubringen  sind. 

Das  Missverhältnis  zwischen  Ernährungsraum  und  Volkszahl  entsteht 
auf  zweierlei  W*eise.  Einerseits  erfolgt  zumal  in  agrarischen  Gebieten  die 
natürliche  Zunahme  der  Bevölkerung  viel  rascher,  als  die  Steigerung  der 
Productivkräfte  des  Landes,  anderseits  sind  insbesondere  in  der  Gegenwart 
in  culturell  rückständigen  Gebieten  die  Bedürfnisse  der  bereits  vorhandenen 
Bevölkerung  infolge  der  Hebung  der  allgemeinen  Bildung  in  Zunahme 
begriffen.  Sowohl  die  natürliche  Zunahme  der  Bevölkerung,  als  die  Hebung 
ihres  culturellen  Niveaus  sind  für  die  Zwecke  des  Staates  so  erfreuliche 
und  wünschenswerte  Erscheinungen,  dass  sie  als  Auswanderungsursache 
nicht  in  Betracht  kommen  können.  Somit  bleibt  nur  die  Steigerung  der 
Productivkräfte  des  Landes,  auf  die  der  Staat  destomehr  bedacht  sein  muss, 
als  sonst  die  Bevölkerung  zur  Selbsthilfe,  d.  h.  zur  Auswanderung  greifen, 
oder  ihre  Lebenshaltung  gewaltsam  herabdrücken  müsste,  welch  letzteres 
schwere  wirtschaftliche,  sociale  und  politische  Nachtheile  nach  sich  ziehen 
würde. 

Die  allgemeine  Wirtschaftspolitik  des  Staates  wird,  soweit  sie  die 
zweckmässigste  Lösung  des  Auswanderungsproblems  im  Auge  hat,  berück- 
sichtigen müssen,   dass,   wie  oben   erwähnt  wurde,  in  Oesterreich  alle  Ab- 


I 


Das  Auswanderungsprobleni  und  die  Eegelung  des  Auswanderungswesens  etc.     505 

und  Zuzüge,  die  den  Auswandeier  in  eine  fremde  nationale  oder  wirtschaftliche 
Sphäre  bringen,  als  Aus-,  respective  Einwanderung  empfunden  werden.  Um 
die  nationalen  Reibungen  möglichst  zu  mildern  und  die  agrarischen  Gebiete 
möglichst  vor  den  Nachtheilen  des  continuierlichen  Abströmens  von  Arbeits- 
kräften und  Consumenten  zu  schützen,  wird  es  erforderlich  sein,  möglichst 
gleichmässig  für  die  wirtschaftliche  Entwickelung  der  einzelnen  Reichstheile 
zu  sorgen.  So  gebietet  z.  B.  ein  eminent  staatliches  Interesse,  die  Polen, 
die  gegenwärtig  das  mährisch-schlesische  Kohlenrevier  überschwemmen 
und  den  nationalen  ^Besitzstand"  der  Czechen  in  Ost-Schlesien  bereits 
erschüttert  haben,  in  dem  Grenzbezirke  Mährens  ernstlich  gefährden  — -  was 
alles  die  czechische  Presse  in  den  jüngsten  Tagen  ganz  aus  dem  Harnisch 
bringt  — ,  möglichst  im  Innern  des  Landes  durch  die  Entwickelung  des 
galizischen  Bergbaues,  des  Anbaues  von  Zuckerrüben,  der  Petroleum-  und 
Holzindustrie  und  anderer  Gewerbe,  die  schon  in  den  90er  Jahren  als  aus- 
wanderungshemraend  sich  erwiesen  haben,  festzuhalten.  Eben  dasselbe  gilt 
in   Bezug  auf  die   czechische  Einwanderung  nach   deutschen   Gebieten   etc. 

Selbst  die  intensivste  Fürsorge  des  Staates  für  eine  dem  Wachsthum 
der  Bevölkerung  und  der  Bedürfnisse  derselben  entsprechende  Entwickelung 
der  wirtschaftlichen  Kräfte,  und  selbst  die  eingehendste  Würdigung  des 
localen  Moments  wird  immer  nur  theilweisen  Erfolg  haben  können.  Jedenfalls 
wird  der  Staat  nicht  imstande  sein,  zu  verhindern,  dass  fremde  Staaten  sich 
noch  rascher  entwickeln  und  ihrer  Bevölkerung  bessere  Lebensbedingungen 
ermöglichen,  als  er  den  eigenen  Bürgern  verschaffen  kann.  Die  Auswanderung' 
wird  auf  diese  Weise  für  unabsehbare  Zeiten  das  bleiben,  was  sie  gegenwärtig 
ist  —  eine  wirtschaftliche  Nothwendigkeit.  Der  Staat  muss  diese  Thatsache 
hinnehmen  wie  sie  ist.  Eine  künstliche  Hinderung  der  Auswanderung  würde 
nicht  nur  nicht  ihren  Zweck  erreichen,  sondern  —  wie  die  Geschichte 
der  österreichischen  Wanderbewegung  bezeugt  —  das  gerade  Gegentheil, 
eine  Auswanderung  über  das  Maass  des  wirtschaftlich  Nothwendigen  hinaus 
zur  Folge  haben,  würde  ausserdem  die  Möglichkeit,  die  Auswanderung  den 
Staatszwecken  dienstbar  zu  machen,  benehmen.  An  dem  Principe  der 
Auswanderungsfreiheit  darf  demnach  nicht  gerüttelt  werden.  Wohl  wird  es 
aber  nothwendig  sein,  die  näheren  Bedingungen,  unter  denen  das  allgemeine 
Princip  mit  Rücksicht  auf  höhere  Staatszwecke  nicht  realisiert  werden  kann,, 
so  festzusetzen,  dass  die  Möglichkeit  der  Ausnützung  der  Auswanderung- 
nicht  benommen,  die  erwähnten  Lebensinteressen  des  Staates  und  seiner 
Mitglieder  nicht  verletzt  werden.  Die  gesetzliche  Festlegung  dieser  Bedingungen 
gehört  zur  Lösung  des  Auswanderungsproblems  s.  str. 

Soll  einerseits  der  Staat  der  Auswanderung  keine  künstlichen  Hindernisse 
in  den  Weg  legen,  so  darf  er  aber  auch  anderseits  die  Auswanderung  nicht 
durch  künstliche  Mittel  fördern.  Nirgends  in  Oesterreich  findet  sich  ein  so» 
übervölkertes  Gebiet  vor,  dass  im  Interesse  der  Gesammtheit  und  auf  deren 
Kosten  eine  Evacuation  nothwendig  wäre.  Auch  wenn  dieses  der  Fall 
wäre,  steht  dem  Staate  das  Recht  nicht  zu,  einen  Theil  seiner  Bevölkerung 
in    die   Fremde,  ins   Elend    auszusetzen.      Unbrauchbare   Elemente    (Arme,. 

'  Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Soeialpolitik  und  Verwaltung.  X.  Band.  35 


506  Buzek. 

Krüppel  etc.)  etwa  in  der  Form  über  die  See  zu  transportieren,  wie  dies 
seinerzeit  viele  deutsche  und  schweizerische  Gemeinden  thaten,  und  wie  es 
gegenwärtig  noch  die  russischen  Communen  und  die  englischen  Armen- 
verbände practicieren,  würde  dem  Staatszwecke  und  den  internationalen 
Verpflichtungen  widersprechen.  Leistungsfähige  Personen  hinauszubringen 
und  dann  —  noch  immer  auf  Kosten  der  Gesammtheit  —  für  deren 
Portkoramen  zu  sorgen,  wäre  endlich  ein  offenbares  Unrecht  gegenüber  den 
in  der  alten  Heimat  zurückgebliebenen,  natürlich  den  Fall  ausgenommen, 
dass  diese  Auswanderer  eine  für  das  Gesammtinteresse  wichtige  Function 
zu  verrichten  haben  (etwa  die  österreichische  Auswanderung  nach  den 
Occupationsgebieten). 

Der  unmittelbar  vorhergehende  Abschnitt  scheint^)  für  Oesterreich  bloss 
akademischen  Wert  zu  besitzen.  Hingegen  scheint  es  wichtiger,  zu  bestimmen, 
wie  sich  der  Staat  zu  der  aus  unwirtschaftlichen  Motiven  ohne  sein  directes 
Zuthun  entstehenden, Auswanderung  zu  verhalten  hat. 

Des  Charakters  einer  aus  rein  wirtschaftlichen  Motiven  fliessenden 
Bewegung  wird  die  Auswanderung,  wie  wir  gesehen  haben,  im  allgemeinen 
durch  zwei  Umstände  entkleidet:  1.  durch  die  künstliche  Nährung  der 
Auswanderungslust,  2.  durch  die  spontane  Auswanderung  von  Personen,  die 
in  der  Heimat  ein  besseres  Fortkommen  hätten  finden  können.  Die  künstliche 
Hervorrufung  der  Auswanderung  ist  meist  auf  die  Thätigkeit  von  Aus- 
wanderungsagenten und  anderer  an  einer  starken  Auswanderung  interessierter 
Personen  (die  Schilfsrheder  etc.)  zurückzuführen.  Im  eigensten  Interesse 
schildern  diese  Unternehmer  die  Lage  des  Auswanderers  in  der  Heimat  in 
den  düstersten  Farben  ^)  und  versprechen  ihm  eine  glänzende  Zukunft  über 
dem  Meere,  fast  immer  durch  Anführung  unwahrer  oder,  genauer  ausgedrückt, 
halbwahrer  Angaben.  Dieses  Capitel  gehört  in  den  Abschnitt  über  den 
Auswandererschutz.  Die  sonst  häufig  vorkommende  unwirtschaftliche  Aus- 
wanderung wird  dadurch  hervorgerufen,  dass  der  einzelne  Auswanderer 
unmöglich  die  wirtschaftlichen  Verhältnisse  der  Nachbarländer  und  die 
des  eigenen  Staates  so  gut  übersehen  kann,  dass  er  die  Möglichkeit  einer 
vernünftigen  Wahl  hätte.  Er  weiss  nur,  das  z.  B,  in  Preussen  oder  in 
Amerika  seine  Bekannten  im  Vorjahre  guten  Unterhalt  gefunden  haben,  und 
weiss  nicht,  dass  er  möglicherweise  auch  im  Heimatsstaate  mit  Vortheil 
seine  Arbeitskraft  verwenden  könnte.  Natürlich  wird  er  auswandern.  Bereits 
im  laufenden  Jahre  kam  es  vor,  dass  Saisonwanderer  nach  Deutschland 
rückwandern  mussten,  nachdem  sie  auf  der  vergeblichen  Suche  nach  Arbeit 
ihre  ganze  Barschaft  eingebüsst  haben.  Viele  von  ihnen  mussten  polizeilich 
in  die  Heimat  zurückbefördert  werden.  In  den  nächsten  Jahren  dürfte  die 
Zahl  dieser  Enttäuschten  sich  verzehnfachen.  Die  Arbeiter  haben  keine 
Ahnung,    dass    seit    der    Jahreswende     die     wirtschaftlichen    Verhältnisse 


II 


I 

II 


^)  Wie  wir  unten  sehen  werden,  sind  die  oben  entwickelten  Grundsätze  auch  auf 
die  österreichische  Auswanderung  anzuwenden. 

^)  Dies  ist  unter  anderem  einer  der  wesentlichsten  Punkte  der  in  Galizien  ver- 
breiteten Circulare. 


Das  Auswanderuugsproblem  und  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  etc.     507 

Deutschlands  in  rückläufiger  Entwickelung  sich  befinden,  dass  somit  die 
Nachfrage  nach  industriellen  Arbeitern  sich  verringert,  der  Abfluss  der  landwirt- 
schaftlichen Arbeiter  in  die  industriellen  Bezirke  ins  Stocken  gerathen  wird. 
Sie  werden  somit  in  derselben  oder  in  noch  grösserer  Anzahl  über  die 
Grenze  strömen,  wo  sie  natürlich  nicht  alle  werden  placiert  werden  können. 
Das  Verhindern  solcher  planlosen  Wanderungen  durch  die  zweckmässige 
Berathung  der  Auswanderer  ist  ein  weiteres  Postulat  des  Auswanderer- 
schutzes. Gleichzeitig  damit  muss  jedoch  der  Auswanderungslustige  auch 
auf  die  Fülle  der  Arbeitsgelegenheiten  innerhalb  der  Staatsgrenzen  aufmerksam 
gemacht  und  ihm  die  Möglichkeit  geboten  werden,  von  diesen  Arbeits- 
gelegenheiten wirklich  Gebrauch  zu  machen.  Damit  wird  die  zweckmässige 
Organisation  der  Arbeitsvermittelung  im  Innern  des  Landes  zu  einer 
der  auf  die  Lösung  des  Auswanderungsproblems  bezüglichen  staatlichen 
Maassnahmen. 

Mit  der,  Anerkennung  der  aus  wirtschaftlichen  Motiven  entstandenen, 
und  mit  der  Bekämpfung  der  unwirtschaftlichen  Auswanderung  ist  die 
Aufgabe  des  Staates  durchaus  nicht  erschöpft:  insbesondere  wird  er  die 
Art  und  das  Ziel  der  Wanderbewegung  zu  beeinflussen  haben  und  wird  die 
an  Ort  und  Stelle  auftretenden  Folgen  der  Auswanderung  auszunützen, 
respective  abzuschwächen  haben. 

Wir  haben  oben  constatiert,  das  die  Bevölkerung  im  allgemeinen 
Nahwanderungen  Fern  Wanderungen  vorzieht,  dass  sie  überhaupt  lieber  innerhalb 
der  Staatsgrenzen  bleibt,  als  dieselbe  verlässt.  Sie  wird  auf  diese  Weise  der 
Vortheile  der  heimischen  Wohlfahrts-  und  socialen  Schutzeinrichtungen  nicht 
verlustig,  was  bei  einer  Abwanderung  in  die  Fremde  gar  oft  der  Fall 
ist.  Der  Staat  wird  diese  Eigenthümlichkeit  der  Wanderbewegung  auszunützen 
haben,  wird  insbesondere  —  im  eigenen  Interesse  und  zum  Vortheile  der 
Wanderer  —  die  Placierung  landwirtschaftlicher  Arbeiter  in  inländischen 
Industriecentren,  und  selbst  die  Ueberschreitung  der  dem  Wanderer  eigenen 
nationalen  Sphäre  der  Auswanderung  in  das  Ausland  vorziehen.  Durch  die 
Organisation  einer  den  ganzen  Staat  umfassenden  Arbeitsvermittelung  werden 
zahlreiche  Individuen,  die  sonst  ausgewandert  wären,  dem  Vaterlande 
erhalten  bleiben. 

Die  zeitliche  Auswanderung  aus  Oesterreich  bringt  dem  Lande  entschieden 
grössere  wirtschaftliche  Vortheile,  als  die  dauernde  Emigration.  Es  ist 
daher  Vorsorge  zu  treffen,  dass  erstere  gegenüber  der  anderen  bevorzugt, 
dass  sogar  etwaige  Widerstände,  die  ihr  seitens  fremder  Regierungen 
in  den  Weg  gelegt  werden,  beseitigt  werden.  Der  Staat  muss  insbesondere 
sorgsam  darüber  wachen,  dass  die  wichtigsten  Arbeitsmärkte  der  zeitweiligen 
Auswanderung  nicht  in  künstlicher  Weise  gesperrt  werden.  Ein  grösserer 
Theil  der  zeitweiligen  Auswanderer  würde  in  diesem  Falle  definitiv  die 
Heimat  verlassen,  und  die  dauernde  Auswanderung  würde  die  Oberhand 
gewinnen.  Die  Offenhaltung  der  ausländischen  Arbeitsraärkte  für  unsere 
überschüssige  Arbeitskraft  ist  eine  der  wichtigsten  Aufgaben  unserer 
diplomatischen  und  commerziellen  Vertretung  im  Auslande. 

35* 


508  Biizek. 

Wie  die  zeitweilige  der  dauernden  Auswanderung  vorzuziehen  ist,  so 
ist  innerhalb  der  ersteren  der  Saisonwanderung  vor  der  eigentlichen  zeit- 
weiligen Auswanderung  der  Vorzug  zu  geben,  ebenso  innerhalb  der  anderen 
der  continentalen  vor  der  überseeischen,  der  colonisatorischen  Auswanderung 
s.  str.  (Parana,  Argentina)  vor  der  dauernden  Arbeiterauswanderung.  Die 
Mittel  dazu  haben  Inhalt  der  auf  die  Kegelung  des  Auswanderungswesens 
bezüglichen  gesetzlichen  Bestimmungen  zu  bilden. 

Es  gilt  im  allgemeinen  als  Axiom,  dass  es  die  tüchtigsten  Elemente 
sind,  die  der  Heimat  den  Kücken  kehren.  Die  Beobachtung  des  historischen 
Verlaufes  der  Auswanderung  aus  Oesterreich  lehrt,  dass  soweit  es  sieb 
nicht  um  Individuen,  sondern  um  Volksstämme  handelt,  unter  gewissen 
Bedingungen  das  gerade  Gegentheil  eintreten  kann.  In  allen  diesen  Fällen 
kann  der  Staat  die  Abwanderer  ohne  Nachtheil  scheiden  lassen.  Sein  Bestreben 
wird  nur  darauf  gerichtet  werden  müssen,  dass  jene  Bedingungen,  die  den 
tüchtigeren  Stamm  im  Lande  halten,  erhalten  bleiben,  im  übrigen  wird  er 
seine  Bevölkerungs-  und  Wirtschaftspolitik  darnach  einrichten,  damit  die 
Abwanderer  möglichst  vollständig  durch  das  mehrwertige  Element  ersetzt 
werden.  Geschieht  dies,  dann  hat  die  dauernde  Auswanderung  dem  Lande 
mehr  genützt,  als  geschadet. 

Gewinnt  die  Auswanderung  (die  zeitliche,  wie  die  dauernde)  an  Umfange 
dann  werden  alle  jene  Unternehmer,  die  an  die  Arbeitskraft  der  Abgewanderten 
angewiesen  waren,  geschädigt,  und  zumal  bei  Grossgrundbesitzern  und 
Grossbauern  kann  der  Schaden  so  beträchtlich  werden,  dass  er  das  Interesse 
aller  berührt.  Die  Lösung  des  Auswanderungsproblems  muss  auch  den 
Gegenstand  von  dieser  Seite  in  Betracht  ziehen.  Für  die  Kegelung  des 
Auswanderungswesens  kann  das  Interesse  dieser  Kreise  allerdings  nicht  in 
Betracht  kommen,  da  jede  Beschränkung  der  Auswanderungsfieiheit  von 
diesem  Gesichtspunkte  aus  nicht  angezeigt  ist,  von  berufenen  Sprechern 
der  Interessenten  selbst  perhorresciert  wird.  ^)  Es  wäre  aber  eine  Reihe 
von  gesetzlichen  Bestimmungen  zu  erlassen,^)  die  es  diesen  Kreisen  ermöglicht, 
sich  aus  eigener  Thatkraft  und  Initiative  vor  den  sie  treffenden  Nachtheilen 
zu  schützen.  Zur  Durchführung  dieser  Bestimmungen  sind  zumeist  die 
Landtage  competent. 

Wir  haben  im  obigen  auf  die  Bedeutung  der  wirtschaftlichen  Erfolge 
der  zeitweiligen  Auswanderung,  auf  die  Vortheile,  die  der  Staat  und  die 
Gesellschaft  aus  der  Ansiedelung  von  Volksgenossen  in  fremden  Ländern 
ziehen  können,  hingewiesen.  Soll  die  Auswanderung  das  höchste  Maass  der 
möglichen  Erfolge  bringen,  respective  soll  sich  der  erwartete  Nutzen 
überhaupt  einstellen  können,  dann  muss  noch  eine  Bedingung  erfüllt  werden. 
Der  Auswanderer  muss  vor  den  ihn  bei  der  Entstehung  und  Realisierung 
des  Auswanderungsplanes  bedrohenden  Gefahren  geschützt  werden,  damit  er 
seine   Leistungsfähigkeit   für    die    Zwecke    seiner    nationalen    Gemeinschaft 


1)  P  i  1  a  t,  op.  cit.,  S.  20. 

2)  Vergleiche  Pilat,  op.  cit.,  S,  9  ff.,  insbesondere  S.  16  if. 


Das  Auswanderuiigsproblem  und  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  etc.     509 

nicht  nur  nicht  verliert,  sondern  dieselbe  möglichst  steigert.  Hier  ergibt 
sich  ein  weites  Feld  für  die  Thätigkeit  der  ausländischen  Staatsbehörden, 
hier  werden  aber  auch  insbesondere  die  inländischen  Behörden  zahlreiche 
Oelegenheit  zum  Einschreiten  und  zur  fruchtbringendsten  Thätigkeit  finden. 
In  der  zweckentsprechendsten  Lösung  dieser  Aufgaben  liegt  der  Kernpunkt 
der  gesetzlichen  Kegelung  des  Auswanderungswesens.  Gelingt  diese,  dann 
wird  die  weitere  Ausnützung  der  dauernden  Auswanderung  insbesondere 
getrost  der  Privatinitiative  und  der  Politik  der  Gresammtmonarchie  im  Aus- 
lande überlassen  werden  können. 

Die  gesetzliche  Kegelung  des  Auswanderungswesens  beschränkt  sich 
nach  dem  Dargelegten  in  der  Hauptsache  auf  die  Verhütung  unwirtschaftlicher 
Auswanderung,  insoweit  diese  durch  Agitationen  hervorgerufen  wird,  auf 
den  Schutz  und  die  Leitung  der  Auswanderung,  sowie  auf  die  Regelung  der 
Auswanderungsfreiheit.  Darüber  werden  wir  uns  in  den  nächsten  Capiteln 
des  Näheren  zu  verbreiten  haben.  Schon  aus  dem  Obigen  ist  aber  zu  ersehen, 
dass  mit  dem  Erlasse  des  Auswanderungsgesetzes  nur  die  Lösung'  eines 
Theiles  des  Auswanderungsproblenis  versucht  wird.  Es  bleibt  ausserdem  ndch 
ein  weites  Feld  für  die  übrige  Gesetzgebung  des  Staates  und  der  Länder,  für 
die  Verwaltungsthätigkeit  des  Staates  und  der  Gesammtmonarchie,  nicht 
zum  letzten  auch  für  die  private  Bethätigung  Einzelner,  Vereine  und 
Körperschaften  übrig.  Aber  selbst,  wenn  dieses  Feld  bestellt  ist,  wird  die 
Auswanderungsfrage  nach  wie  vor  eine  der  wichtigsten  wirtschaftlichen, 
socialen  und  politischen  Fragen  des  Reiches  bleiben. 

Die  Auswanderung  ist  eine  der  schärfsten  Formen  des  Kampfes 
um  das  Dasein.  Todte  und  Verwundete  wird  es  dabei  immer  geben.  Der 
Schutz  und  die  Leitung  der  Auswanderung  wird  zwar  die  Zahl  der  Opfer 
mindern,  die  Vortheile  der  Wanderung  für  die  Betheiligten  wie  für  die 
Gesammtheit  steigern.  Das  wichtigste  Stück  Arbeit  bleibt  aber  noch 
immer  übrig.  Es  ist  zu  bedenken,  dass  der  grösste  Theil  unserer  zeitweiligen 
Auswanderung  auf  der  tiefsten  Stufe  der  geistigen  Bildung  und  des  technischen 
Könnens  steht.  Ein  Drittel  unserer  Auswanderer  sind  Analphabeten,  7io  ver- 
mögen nur  die  gewöhnlichste,  d.  h.  die  am  schlechtesten  entlohnte  Arbeit 
zu  verrichten.  Dass  sie  gegenüber  den  Arbeitern  anderer  Nationen  im 
Nachtheil  sein  müssen,  ist  begreiflich.  Ohne  Hebung  der  allgemeinen  Bildung, 
ohne  Vervollkommnung  der  technischen  Ausbildung  ist  an  eine  durchgreifende 
Besserung  der  gegenwärtigen  Verhältnisse  nicht  zu  denken. 

Die  Ausnützung  der  dauernden  Auswanderung  nach  überseeischen 
Ländern  zumal  ist  nur  dann  möglich,  wenn  es  gelingt,  den  nationalen 
Charakter  der  Auswanderer  und  ihrer  Nachkommen  zu  erhalten.  Der  Staat 
kann  hierbei  nur  dadurch  mitwirken,  dass  er  die  Concentrierung  unserer 
Auswanderung  an  geeigneten  Punkten  nach  Kräften  fördert.  Deutschland 
und  Italien  verwenden  weiters  erhebliche  Summen  zur  Unterstützung 
nationaler  Volksschulen  und  sonstiger  Bildungsanstalten  in  fremden  Ländern, 
so  auch  insbesondere  in  Südamerika.  Italien  hat  sogar  die  Errichtung 
italienischer  Parallelclassen  an  argentinischen  Lyceen   erwirkt.     Oesterreich 


510  9  ^"'^^■ 

dürfte  sich  zu  einer  ähnlichen  Subventioniernng  der  von  Volksgenossen 
erhaltenen  Schulen  kaum  entschliessen.  Die  Schulen  der  Auswanderer 
aus  dem  Tridentino,  falls  solche  existieren,  kann  Oesterreich  nicht  unterstützen, 
da  sich  ja  diese,  sowie  sie  die  Reichsgrenzen  verlassen^  als  Italiener 
gerieren  und  über  der  See  vollständig  mit  den  Stammesgenossen  aus 
dem  Königreiciie  verschmelzen.  Die  deutschösterreicliischen  Auswanderer 
vergessen  zwar  in  der  Fremde  im  allgemeinen  nie,  dass  sie  Oesterreicher  sind, 
überall  dort  jedoch,  wo  sie  in  kleinerer  Zahl  einem  mächtigen  Stocke  von 
Reichsdeutschen  beigemengt  sind,  fühlen  sich  bereits  ihre  Kinder  als 
Deutsche.  Die  Anziehungskraft  der  grösseren  Masse  ist  eben  unwiderstehlich. 
Mit  Vortheil  kann  also  Oesterreich  deutsche  Schulen,  etwa  in  den  Balkan- 
staaten subventionieren,  in  Nord-  oder  Südamerika  wäre  es  zwecklos.  Hier 
könnte  nur  die  Subventionierung  slavischer,  insbesondere  polnischer  Schulen 
von  Vortheil  sein;  es  ist  jedoch  fraglich,  ob  gerade  dies  mit  Rücksicht  auf  die 
inneren  Verhältnisse  des  Staates  angezeigt  ist.  Somit  bleibt  die  Sorge  um 
die  Entwickelung  des  geistigen  Lebens,  um  die  Pflege  des  nationalen 
Gefühles  ausschliesslich  der  spontanen  Thätigkeit  der  betreffenden  nationalen 
Gemeinschaft  anheim  gestellt.  Hier  ist  das  Hauptgebiet  der  organisatorischen 
Kleinarbeit  nationaler  Vereine  und  Institutionen. 

Die  Wahrung  der  Nationalität  der  ausgewanderten  Volkstheile  ist 
übrigens  nur  dann  möglich,  wenn  die  Auswanderer  selbst  fähig  und  gewillt 
sind,  an  dem  geistigen  Leben  der  Volksgenossen  in  der  Heimat  theilzunehmen. 
Die  in  London  erscheinenden  Bücher  und  Zeitungen  werden  überall,  wo 
Engländer  wohnen,  gelesen  und  sie  sind  eines  der  wirksamsten  Mittel 
der  nationalen  Einheit  Englands  und  seiner  Colonien.  Es  gilt  die  Aus- 
wanderer auf  diese  Höhe  der  geistigen  Bildung  zu  erheben,  dass  sie  unsere 
Dichter  lesen,  unsere  Geschichtsschreiber  studieren,  mit  uns  gemeinsam 
denken  und  fühlen.  Diese  Aufgabe  ist  insbesondere  gegenüber  den  Analphabeten 
Galiziens  schwer  zu  lösen.  Es  muss  ja  zugegeben  werden,  dass  der 
polnische  Auswanderer  sehr  bildungsfähig  ist  und  eben  dies  ihm  — 
in  der  Heimat  und  noch  mehr  über  der  See  —  das  Uebergewicht  über  die 
ruthenischen  Heimatsgenossen  verschafft.  Immerhin  sind  wir  der  Meinung, 
dass  wir  für  die  Erhaltung  der  Nationalität  insbesondere  der  galizischen 
Auswanderer  mehr  durch  die  Hebung  des  geistigen  Niveaus  in  der  Heimat, 
als  durch  ähnliche,  allerdings  unumgänglich  nothweudige  Bestrebungen  in 
der  Fremde  zu  leisten  vermögen.  *) 

Das  Auswanderungsproblem  vertieft  sich  auf  diese  Weise  immer  mehr 
zu  einem  Ganzen  mit  den  übrigen  Lebensfragen  der  staatlichen  Gesellschaft, 
mit  der  Wirtschafts-,  mit  der  Bevölkerungs-,  mit  der  Schul-  und  Erziehungs- 
politik etc.  Nach  Klarstellung  dieses  Zusammenhanges,  der  für  die  nüchterne 
Würdigung  der  zu  erwartenden  Erfolge  einer  gesetzlichen  Regelung  des 
Auswanderungswesens  von  höchster  Wichtigkeit  ist,  können  wir  nunmehr  zur 


*)    Vergl.  B  0  8  c  0,  La  legge   e  la  questione   dell'   emigrazione  in  Italia,  Giornale 
fiegli  economisti,  Lüglio  1900. 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  etc.     511 

Besprechung  der  näheren  Modalitäten  dieser  Eegelung  übergehen.  Es  handelt 
sich  darum,  die  Mittel  anzugeben,  mittelst  welcher  die  durch  ein  Aus- 
wanderungsgesetz s.  str.  zu  lösenden  Aufgaben  erfüllt  werden  können.  Bei 
der  complexen  Natur  der  Erscheinung  bleibt  nichts  anderes  übrig,  als 
vor  allem  die  wesentlichsten  Bestimmungen  der  fremden  Gesetzgebung  zu 
prüfen  und  sich  überall  die  Trage  vorzulegen,  welchen  Zwecken  diese 
Bestimmungen  nach  der  Intention  des  Gesetzgebers  dienten  und  wie  sie 
diese  Zwecke  zu  erfüllen  imstande  waren.  Nach  dieser  Sichtung  der 
ausländischen  Gesetzgebung  dürfte  es  nicht  so  schwer  fallen,  zu  entscheiden, 
ob  und  inwiefern  die  fremden  Auswanderungsgesetze  für  die  Kegelung 
unserer  Auswanderung  vorbildlich  sein  können. 

(Ein  SchluBsartikel  folgt.) 


VORSCHLAG  EINER  REFORM 

DER  "''■' 

RECHTS-  UND  STAATSWISSENSCHAFTLICHEN 
STUDIEN  IN  ÖSTERREICH. 

VON 

PROF.  DK.  JULIUS  V.  ROSCHMANN-HÖRBURG  (CZERNOWITZ). 


Die  Erweiterung  und  Vertiefung  der  Staatsaufgaben  und  die  ungeahnt 
rasch  vor  sich  gehende  Entwickelung  des  Verkehres  stellen  an  den  Juristen 
immer  zunehmende  ^Anforderungen,  zu  deren  Bewältigung  sein  altes  Küstzeug 
nicht  mehr  genügt.  Neue  Rechtsdisciplinen  sind  theils  entstanden,  theils  sind  sie 
im  Werden,  ehemals  Wichtiges  tritt  vor  den  brennenden  Fragen  des  Tages  an 
Bedeutung  zurück ;  der  junge  Jurist  aber  steht  diesen  schweren  Aufgaben  meist 
hilflos  gegenüber.  Einer  solchen  Massenerscheinung  gegenüber  wäre  es  ungerecht 
und  unrichtig,  die  Ursache  in  individuellen,  in  subjectiven  Momenten  zu  suchen, 
der  Grrund  des  Uebels  muss  allgemeiner  Natur  sein,  muss  in  den  objectiv 
gegebenen  Verhältnissen  liegen. 

Als  die  eigentliche  Quelle  der  Misstände  erweist  sich  die  geltende  Unterrichts- 
ordnung, welche  den  Studiengang  und  das  Prüfungswesen  an  den  rechts-  und 
staatswissenschaftlichen  Facultäten  regelt,  Sie  scheint  mir  auf  veralteter  Grund- 
lage zu  beruhen,  die  so  äusserst  nothwendige,  gegen  den  Umsturz  eine  sichere 
•Gewähr  bildende  sociale  Rechtsentwickelung  mehr  zu  hemmen  als  zu  fördern,  dem 
Schüler  weder  in  wissenschaftlicher  noch  in  praktischer  Beziehung  die  genügende 
Ausbildung  zu  sichern  und  von  der  Arbeitskraft  des  Lehrers  einen  unökonomischen 
und  gleichzeitig  gefährlichen  Gebrauch  zu   machen. 

Soll  die  Thätigkeit  des  akademischen  Lehrers  ihren  Zweck  erfüllen,  so 
muss  sie  in  der  Erschliessung  der  Wissenschaft,  nicht  in  der  Vermittelung  einer 
Kunde  bestehen  :  Ueber  die  Alphabete  der  verschiedenen  Sprachen  handelt  die 
Wissenschaft,  das  A  B  C  aber  ist  kein  Gegenstand  derselben.  Dies  will  sagen, 
dass  der  akademische  Vortrag  nur  dann  und  nur  dort  einzusetzen  habe,  wann 
und  wo  für  ihn  die  seinem  Wesen  entsprechende  Voraussetzung  gegeben  ist :  dass 
er  wissenschaftlich,  d.  i.  dass  er  systematisch,  kritisch  und,  in  logischer 
Consequenz,  productiv  sei. 


Vorschlag  einer  Reform  der  rechts-  und  staatswissenschaftiichen  Studien  etc.     513 

Das  lebendige  und  belebende  Wort  soll  dem  Jünger  der  Wissenschaft 
deren  Grundbegriffe  und  systematische  Grundlagen  vermitteln.  Hier  hat  der  freie 
akademische  Vortrag  —  für  den  jungen  akademischen  Bürger  ein  neuer, 
ungewohnter  geistiger  Genuss  —  das  Interesse  des  Hörers  so  sehr  zu  erwecken 
und  zu  fesseln,  dass  er  diesen  über  die  Schwierigkeiten  des  Anfanges  gleichsam 
spielend  hinüberführt  und  im  Studenten  jene  Liebe  zum  Fache  entzündet,  ohne 
welche  eine  wirkliche  geistige  Vertiefung  unmöglich  ist.  Für  den  akademischen 
Lehrer  aber  ist. diese  Aufgabe  keineswegs  eine  unwürdige  oder  allzu  leichte.  Sie 
ist  auch  nicht  unwissenschaftlich,  denn,  um  bei  dem  früheren  Bilde  zu  bleiben, 
nicht  das  AB  C  sx)ll  er  lehren,  sondern  die  Lautgesetze  und  die  genetische 
Entwickelung  des  Alphabetes  hat  er  darzustellen.  Nur  der  kann 'dem  Laien  die 
Grundlagen  einer  Wissenschaft  klar  und  präcise  aufzeigen,  welcher  sie  durch  und 
durch    beherrscht. 

Für  so  richtig  und  wichtig  ich  es  halte,  die  Einführung  des  Anfängers  in 
die  Grundlagen  der  einzelnen  Kechtsdisciplineu  dem  akademischen  Vortrage, 
u.  zw.,  wenn  irgend  erreichbar,  dem  freien  akademischen  Vortrage  zu  überweisen, 
für  ein  ebensosehr  unrichtiges,  logisch  nichtiges  Beginnen  erachte  ich  es,  die 
Darstellung  des  Detailinhalt6s  der  verschiedenen  juristischen  Disciplinen  in  die 
Vorlesungen  zu  verlegen.  Letzterer  leider  allgemein  geübte  Vorgang  bringt  es 
regelmässig  mit  sich,  dass  der  Stoff  entweder  dem  Umfange  oder  dem  Inhalte 
nach  nicht  erschöpft  wird.  Es  entsteht  die  grosse  Gefahr,  dass  entweder  dhr 
Lehrer  den  Stoff  seinen  Hörern  in  pragmatischer  Darstellung  so  breit  vorträgt, 
dass  er  vor  lauter  Gründlichkeit  nicht  zum  gedeihlichen  Abschlüsse  gelangen 
kann,  oder  aber,  dass  er  sofort  mit  der  wissenschaftlichen  Kritik  eines  isolierten 
Theiles  seiner  Disciplin  beginnt,  zu  einer  Zeit,  zu  welcher  sein  Auditorium  vor 
allem  nöthig  hätte,  den  Gesammtinhalt  der  Disciplin  systematisch  überblicken  zu 
lernen  und  sich  mit  dem  materiellen  Stoffe  des  Faches  vertraut  zu  machen.  Im 
ersten  Falle  raubt  er  sich  und  seinen  Schülern  die  Zeit,  im  zweiten  verwirrt  er 
mehr,  als  dass  er  Klarheit  schafft :  dem  überwiegenden  Theile  der  Hörer  flösst 
er  —  gerade  w^eil  Unwissenden  gegenüber  die  Kritik  Nimbus  verleiht  — 
das  verderbliche  Jurare  in  verba  magistri  ein,  den  kleineren,  aber  tüchtigeren 
Theil  stösst  er  ab.  Ganz  unbestritten  ist  der  mündliche  systematische  Vortrag 
auch  des  materiellen  Stoffes  dort  unvermeidlich,  wo  keine  oder  nur  eine  ungenügende 
Literatur  vorhanden  ist.  Im  allgemeinen  aber  muss  man  sägen,  dass  der  Student 
mit  den  wesentlichen  positiven  Wissensergebnissen,  und  vor  allem  mit  dem 
materiellen  dogmatischen  Inhalte  der  Disciplinen  schneller,  besser,  objectiver, 
weitaus  systematischer  und  gründlicher  durch  die  meist  in  so  reichem  Ausmaassfe 
vorhandenen  Lehrbücher  bekannt  gemacht  wird,  als  es  durch  die  zeitlich,  ja 
immer  arg  beschränkten  Vorträge  auch  des  besten  und  hingehendsten  Lehrers 
möglich  wäre. 

Dann,  wann  der  Studierende  die  Vorstufe  der  Wissenschaft  erklommen, 
wann  er  den  materiellen  Inhalt  der  Disciplin  receptiv  aus  Gesetz  und  Lehrbuch 
in  sich  aufgenommen  hat,  dann,  und  erst  dann  beginnt  die  wissenschaftliche 
Vertiefung  des  Studiums.  Jetzt  tritt  an  den  akademischen  Lehrer  wie  Schüler 
eine    neue    Aufgabe    heran,    die    man    in    Oesterreich    bei    der   Einführung    des 


514  Roschmann- Hörburg. 

Institutes  der  Seminare  wohl  geahnt,  aber  weder  voll  erfasst,  noch  consequent 
ausgestaltet  hat.  Auch  auf  dieser  Stufe  des  akademischen  Studiums  ist  der 
junge  akademische  Bürger  nur  Jünger  der  Wissenschaft :  Er  soll  methodisch 
zusammenfassen,  kritisch  sichtfii.  er  soll  bei  bereits  einigermaassen  vorhandener 
Kenntnis  des  materiellen  Stoifinhaltes  erlernen,  diesen  wissenschaftlich  zu 
-erfassen  und  zu  verarbeiten.  Von  ihm  anderes  als  Uebungsleistungen,  von  ihm 
schon  productive  Erfolge  verlangen,  hiesse  ihn  zur  Unreife  erziehen,  ihn  verschulen. 
Nunmehr  haben  die  allgemeinen  und  an  alle  gerichteten  Vorträge  zwar  nicht 
ganz  zu  entfallen,  aber  sie  haben  im  Vergleiche  mit  der  Einzelarbeit  und  der 
Arbeit  mit  dem  Einzelnen  diesen  gegenüber  zurückzutreten.  In  Rede  und  Wechsel- 
rede hat  der  Lehrer  mit  den  Schülern  ganze  Rechtsinstitute  und  einzelne  Rechts- 
fälle zu  erörtern,  Gemeinsames  wie  Differentes  zu  erläutern.  Ueber  die  Literatur, 
u.  zw.  nicht  nur  des  heimischen  Rechtes,  sind  von  den  Studierenden  schriftliche 
zusammenfassende  Referate  zu  liefern,  über  welche  eine  Discussion  zu  führen  ist. 
Die  Bearbeitung  praktischer  Rechtsfälle  soll  mit  der  Anwendung  des  Rechtes  und 
den  processualen  Vorgängen  vertraut  machen.  An  Meister  wie  Schüler  werden 
grosse  Anforderungen  gestellt.  Wenn  irgendwo,  so  tritt  hier,  wo  die  Methode  eine 
gewichtige  Rolle  spielt,  die  Individualität  des  Lehrers  scharf  hervor.  Aufgabe  der 
zu  bestellenden  Assistenten  wird  es  sein,  den  Professor  dadurch  zu  unterstützen, 
dass  sie  den  Schülern  die  Quellen  erschliessen,  ihnen  mit  technischer  Beihilfe 
an  die  Hand  gehen  und  praktische  Uebungen  mit  ihnen   abhalten. 

Der  nach  solcher  Unterrichtsmethode  vorbereitete  und  geschulte  Rechts- 
hörer hat  wissenschaftlich  zu  erfassen,  hat  juristisch  zu  denken  und  praktisch  zu 
arbeiten  gelernt:  Er  ist  beim  Scheiden  von  der  Universität  reif  für  Prüfung 
und  Leben,  der  jetzt  die  Hochschule  Verlassende  ist  unreif  für  beide. 

Den  dermaligen  akademischen  Studiengang  erachte  ich  für  verfehlt  auch 
aus  einem  zweiten  Grunde.  Noch  immer  ist  die  Basis  des  ganzen  Rechtsstudiums 
das  römische  Recht.  Seine  krystallklare  Systematik,  seine  glänzende  Logik  sollen 
den  Anfänger  das  juristisch  Denken  lehren.  Das  ist  ein  Sieg  der  Form  über  das 
Wesen.  Wenn  der  Inhalt  des  Rechtes  darin  besteht,  die  jeweilige  sociale  Ordnung 
in  den  Beziehungen  der  Einzelnen  zur  Gesammtheit  und  zueinander  zu  gewähr- 
leisten, so  soll  die  Einführung  in  das  Rechtsstudium  mit  der  Darstellung  des 
Werdeganges  der  socialen  Verhältnisse  der  Gegenwart  und  mit  der  Klarlegung 
der  zu  gewärtigenden  socialen  Veränderungen  beginnen,  nicht  aber  von  Social- 
zuständen  ausgehen,  die  nach  Inhalt  wie  Form  der  Gegenwart  meist  fremd  sind, 
ja  dieser  zum  Theile  als  criminelles  Unrecht  erscheinen.  Man  wende  zur  Verthei- 
digung  der  grundlegenden  Stellung  des  römischen  Rechtes  nicht  einen  Parallelismus 
mit  der  Pflege  des  antiken  Geistes  im  Gymnasium  ein,  man  sage  nicht,  wie  für 
die  Mittelschulbildung  die  Sprache  der  Römer,  so  müsse  für  die  juristische 
Hochschulbildung  deren  Recht  die  Grundlage  bilden.  Der  durch  keine  andere 
Mittelschule  erreichbare  Zauber  und  Segen  des  Gymnasiums  liegt  vielmehr  noch 
als  in  der  grammatikalisch-logischen  Schulung  darin,  dass  der  Jugend  das 
strahlende  Bild  der  Lichtseiten,  also  das  idealisierte  Bild  eines  abgeschlossenen 
Völkerlebens  gezeigt  wird.  Daran  kann  und  muss  sie  sich  ideale  Begeisterung 
fürs    ganze    Leben    holen.     Und    wenn    das    Gymnasium,   wie    es    in    Oesterreich 


I 


II 


Vorschlag  einer  Reform  der  rechts-  und  staatswissenschaftlichen  Studien  etc.     515 

glücklicherweise  der  Fall  ist,  und  zwar  in  höherem  Grade  als  im  Deutschen 
Eeiche,  auch  die  sogenannten  Realfächer  gründlich  lehrt,  dann  stattet  es  seine 
Jünger  mit  einer  wahrhaft  gediegenen  Charakter-  und  Wissensbildung  aus.  Hat 
doch  der  Realschüler  vor  dem  Gymnasiasten  eigentlich  nur  die  Kunstfertigkeit 
des  Zeichnens  und  die  Bekanntschaft   mit   der  darstellenden  Geometrie    wahrhaft 

voraus Der   Geist    der    gymnasialen    Sprachpflege    und   Bildung    ist    der 

Humanismus,  der  Geist  des  römischen  Rechtes  aber  ist  der  Egoismus.  Nichts 
liegt  mir  ferner,  als  die  Bedeutung  der  historischen  Methode  für  Unterricht  und 
Forschung  anzuzweifeln,  für  den  Unterricht  aber  muss  sie  eine  real-materielle, 
nicht  nur  eine  formale  Basis  bieten.  Die  ganze  sociale,  wie  folgerichtigerweise, 
die  ganze  Rechtsentwickelung  der  Gegenwart  und  gewiss  noch  mehr  jene  der 
Zukunft,  stellt  einen  immer  siegreicheren  Kampf  gegen  die  sociale  Auffassung 
der  Römer  und  deren  Festlegung  im  Rechte  dar  —  und  da  sollte  die  Einführung 
in  das  römische  Recht  die  richtige  Vorbereitung  für  das  Studium  des  geltenden 
Rechtes  und  für  die  Beurtheilung  und  Würdigung  der  nach  Geltung  ringenden 
Rechtsbestrebungen  und  Rechtsideen  sein?  Nein,  nein  und  wieder  nein!  Leider 
sind  die  wichtigsten  unserer  Rechtsordnungen  nur  allzusehr  von  römisch-rechtlichem 
Geiste  durchdrungen,  Soll  nun  diese  traurige  Thatsache  die  Veranlassung  bieten 
dürfen,  den  logischen  Zwiespalt  zwischen  geltendem  Rechte  und  socialem  Rechts- 
bedürfnisse zu  perennieren,  und  in  den  jungen  Köpfen  Vorstellungen  und  Ansichten 
zu  erwecken  und  zu  züchten,  die  das  rasch  pulsierende  Leben  der  Gegenwart 
verwirft  und  bekämpft?  Frisch  keimender  Same  soll  gesäet,  nicht  Leichengift  soll 
eingeimpft  werden !  Darum  ist  das  römische  Recht  aus  der  Vorbereitungsstufe  zu 
verbannen.  Seine  hohe  wissenschaftliche  Bedeutung  sichert  ihm  an  anderer  Stelle 
einen  Ehrenplatz,  dort,  wo  es  nur  nützen  und  nicht  mehr  schaden  kann.  Die 
Einführung  in  das  juristische  Denken  und  Studium  aber  sollen  andere  Disciplinen 
vermitteln,  die  zeigen,  wann  und  wie  Recht  entsteht.  Wie  könnte 
auch  anderes,  als  die  Erkenntnis  des  Rechtsursprunges  das  Wesen  des  Rechtes 
verstehen  lehren  ! 

Die  geistigen  Strömungen  der  Gegenwart,  auch  die  im  Gebiete  jener 
Disciplinen,  die  man  mit  einem  zwar  gang  und  gäben,  aber  recht  unglücklich 
gewählten  Ausdrucke  die  Geisteswissenschaften  nennt,  unterscheiden  sich  von 
jenen  der  Vergangenheit  wesentlich  in  zweifacher  Beziehung :  Der  Individualismus 
verliert  gegenüber  dem  Collectivismns,  und  die  Induction  gewinnt  gegenüber  der 
Deduction  an  Boden.  Die  individual-atomistische  Auffassung  räumt  in  Recht  und 
Wirtschaft  der  socialen  immer  mehr  das  Feld,  und  auch  das  deductive  Grübeln 
und  Tatzensaugen  tritt  vor  der  bescheidenen,  fleissigen,  sich  selbst  ehrlich 
controlierenden  indnctiven  Forschung  immer  mehr  zurück.  Diesen  Thatsachen 
darf  eine  den  Bedürfnissen  der  Gegenwart  und  Zukunft  dienende  Studienreform 
nicht  etwa  nur  so  nebenher  Rechnung  tragen,  sie  muss  es  vielmehr  voll  und 
ganz:  Sie  muss  von  ihnen  ausgehen.  Die  Lehre  vom  Volke,  in  seinem 
natürlichen  und  socialen  Dasein,  der  Einblick  in  die  Cultur- 
entwickelung  derMenschheit,  dieKenntnisdersich  historisch 
ausgestaltenden  socialen  und  wirtschaftlichen  Massenbedürf- 
nisse, das  sind  die  erziehlichen  Vorbereitungsmittel  für  jene  kommenden  Juristen- 


516  Roschmann-Hörburg. 

generationen,  derer  die  schwere  Aufgabe  harrt,  dem  'Volke  ein  wahrhaft  social- 
basiertes  und  socialförderndes  Eecht   zu  schaffen. 

Aus  der  Geschichte  ist  zu  ersehen,  dass  die  blosse  Aufhebung  eines  ßechts- 
institutes,  ohne  Einführung  einer  neuen  Organisation,  das  Nichts,  den  Verfall 
bedeutet.  Eine  neue  Organisation  kann  ihre  Begründung  aber  nicht  in  vagen 
allgemeinen  Anschauungen  und  Tendenzen,  oder  in  den  Ideen  des  überlebten 
und  deshalb  verfallenen  früheren  Rechtes  finden,  sondern  einzig  und  allein  in 
der  richtigen  Erkenntnis  der  historisch  erfassten  Entwickelungszustände  des 
eigentlichen  Rechtssubjectes,  des  socialen  Körpers.  Darum  ist  die  von  historischem 
ireiste  durchsättigte  Sociologie  die  eigentlichste  und  beste  Grundlage  der  Rechts- 
wissenschaft und  der  gesunden  Weiterbildung  und  Reform  des  Rechtes  selbst. 
Sie  allein  erweist  überzeugend  die  historische  Relativität  der  Rechtswohlthat,  die 
absolute  Nothwendigkeit  der  ständigen  und  stetigen  Rechtsreform.  Und  gerade 
deshalb  wäre  in  erster  Reihe  die  Sociologie  berufen,  in  das  Rechtsstudium  ein- 
zuführen. Leider  ist  aber  die  Sociologie  noch  nicht  zu  jener  wissenschaftlichen 
Selbständigkeit  gelangt,  um  als  Disciplin  einen  eigenen  Lehrgegenstand  bilden 
zu  können ;  gegenwärtig  müssen  wir  uns  noch  damit  bescheiden,  aus  der  Demo- 
graphie und  den  Ergebnissen  der  Socialstatistik  unser  Wissen  vom  socialen 
Körper  und  von  seinen  Gesetzen  zu  schöpfen. 

Nie  und  nimmer  kann  man  das  Wesen  und  die  Aufgaben  des  Rechtes  aus 
einer  seiner  Phasen,  aus  der  jeweiligen  Erscheinungsform  eines  oder  mehrerer 
Rechtsinstitute  dieser  oder  jener  Rechtsordnung  alter  oder  neuer  Zeit  erlernen ; 
immer  wird  man  auf  seinen  genetischen  Ursprung,  auf  die  rechtsbildenden 
Kräfte  zurückgreifen  müssen.  Aus  diesem  Grande  kann  auch  nicht  die  Rechts- 
geschichte, die  ja  die  Kenntnis  des  zu  Erklärenden  eigentlich  schon  voraussetzt, 
sondern  können,  neben  Demographie  und  Socialstatistik,  nur  die  reine  allgemeine 
'Geschichte  der  Völker  und  Staaten  und  jener  Theil  der  Geschichte,  den  wir 
sociale  Culturgeschichte  nennen,  für  das  Rechtsstudium  vorbereiten  und  in  die 
Genesis  der  Rechtsbildung  einführen.  Als  die  für  die  Gestaltung  der  socialen 
Cultur  besonders  wichtigen  Elemente  werden  wir  die  socialen  Einrichtungen  des 
Cuitus,  die  Familienordnung  und  die  sociale  Gliederung  des  Volkes,  wie  dessen 
Wirtschaftsleben  bezeichnen  müssen.  Die  Wirtschaft  des  Volkes  ist  eine  der 
treibendsten  Kräfte  der  Rechtsbildung  und  Rechtsumgestaltung.  Deshalb  ist  auch 
die  Wirtschaftsgeschichte  berufen,  an  der  Seite  der  bereits  erwähnten  Disciplinen 
auf  das  Rechtsstudium  vorzubereiten.  Ihre  genaue  Kenntnis  fördert,  ja  bedingt 
das  Verständnis  ebensowohl  der  Rechtsgenesis  und  Rechtsentwickelung,  wie  des  Elnt- 
stehens  und  der  Geltungsgewalt  der  volkswirtschaftlichen  Gesetze  und  der  Lehren  der 
Volkswirtschaftspolitik  und  Verwaltungslehre.  Sie  ist  es,  die  vor  dogmatischer  Ueber- 
schätzung  der  volkswirtschaftlichen  Gesetze  bewahrt,  indem  sie  deren  zeitliche  und 
örtliche  Relativität  darlegt.  Die  Hauptaufgabe  des  Collegs  über  Wirtschaftsgeschichte, 
u.zw.  vorwiegend  deutsche  Wirtschaftsgeschichte,  wird  es  daher  sein,  ein  genaues 
Bild  derEntwickelung  der  wirtschaftlichen  Cultur  und  der  zur  Rechtsbildung  drängen- 
den Massenbedürfnisse  und  Kräfte  darzubieten.  Selbstverständlich  hat  das  Studium 
der  Wirtschaftsgeschichte  jenem  der  theoretischen  Nationalökonomie,  der  Volkswirt- 
schaftspolitik, der  Verwaltungslehre  und  der  Finanzwissenschaft  voranzugehen. 


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Vorschlag  einer  Eeform  der  rechts-  und  staatswissenschaftlichen  Studien  etc.     517 

Historische  Colleglen  haben  Wert  für  die  Vorbereitung  zam  juristischen 
Studium,  wenn  sie  nicht  nur  die  äusserlichen  Thatsachen,  sondern  wenn  sie  mit 
aller  Klarheit  und  Entschiedenheit  die  für  Entstehen,  Blühen  und  Verfall  der 
Staaten  und  nationalen  Culturen  wirkenden  Kräfte  und  entscheidenden  Causal- 
verhältnisse  darlegen.  Dieser  Aufgabe  haben  drei  historische  Collegien  zu  dienen, 
eines  über  allgemeine,  eines  über  deutsche  und  eines  über  österreichische 
Geschichte. 

Das  Colleg  über  Culturgeschichte  könnte  natürlich  nicht  diese  ganze  Disciplin 
umspannen,  sondern  müsste  auf  die  Darstellung  der  Sitte  und  Recht  am  wesent- 
lichsten gestaltenden  Elemente  des  Volkslebens  beschränkt  werden.  Als  solche 
möchte  ich  bezeichnen  :  Religionswesen,  Familienordnung  und  sociale  Schichtung. 

Ein  Colleg  über  Geschichte  der  Philosophie  wäre  dazu  bestimmt,  nicht  nur 
das  allgemeine  Bildungsniveau  des  Juristenstandes  zu  heben  und  die  juristischen 
Anfänger  mit  den  Anschauungen  der  einzelnen  Völker  und  Culturepochen  über 
die  menschliche  Gesellschaft  vertraut  zu  machen,  sondern  auch  in  den  jungen 
Köpfen  die  heilsame  Erkenntnis  zu  reifen,  von  der  relativen  Geltung  und  der 
Vergänglichkeit  menschlicher  Weisheit  und  rein  deductiver  Geistesarbeit. 

Aufgabe  der  Vorträge  über  Demographie  ist  es,  die  Gesetzmässigkeit  in  den 
natürlichen  Lebenserscheinungen  des  Volkskörpers  darzulegen,  zu  zeigen,  dass 
für  das  Entstehen,  Bestehen  und  Vergehen,  wie  für  die  innere  Structur  des  Volkes 
Gesetze  bestehen,  die,  nur  für  die  Gesammtheit  geltend,  den  Beweis  erbringen, 
dass  das  Volk   ein    Organismus    mit    ihm    eigenthümlichen   Lebensfunctionen    ist. 

Gleicherweise  hat  für  das  Gebiet  des  Sociallebens  die  Socialstatistik  den 
Beweis  zu  erbringen,  dass  auch  hier  Gesetzmässigkeit  walte.  Die  socialstatistischen 
Vorträge  haben  dann  noch  im  besonderen  darzulegen,  wann  und  wie  die  socialen 
Massenerscheinungen  in  causalem  oder  functionellem  Zusammenhange  mit  der 
Rechtsentwickelung  stehen. 

Schliesslich  muss  sich  die  Vorbereitung  für  das  Rechtsstudium  auch  darauf 
erstrecken,  dem  werdenden  Juristen  das  äussere  Rüstzeug  zu  bieten,  dessen  er 
technisch  zum  Studium  bedarf.  Diesem  Zwecke  hat  ein  Colleg  über  allgemeine 
Rechtslehre  zu  dienen.  Es  soll  den  Studierenden  mit  der  schematischen  Eintheilung 
der  juristischen  Disciplinen  und  mit  der  wissenschaftlichen  Terminologie  bekannt 
machen,  ohne  dabei  von  irgend  einem  speciellen  Rechte,  etwa  gar  dem  römischen 
auszugehen. 

Die  erwähnten  Collegien :  allgemeine  Geschichte,  deutsche  Geschichte, 
österreichische  Geschichte,  Culturgeschichte,  Geschichte  der  Philosophie,  Wirtschafts- 
geschichte, Demographie,  Socialstatistik  und  allgemeine  Rechtslehre,  bilden 
zusammen  den  Complex  der  ebensowohl  für  das  staatswissenschaftliche,  wie  für 
das  rechtswissenschaftliche  Studium  vorbereitenden  Disciplinen.  Ihrer  Behandlung 
ist  das  erste  Studienjahr  gewidmet. 

Die  zweite  Stufe  des  Studienganges,  wieder  von  einjähriger  Ausdehnung^ 
umfasst  die  politischen  Wissenschaften.  Der  gewaltigen  Entfaltung  des  Wirtschafts- 
lebens und  der  dadurch  verursachten  Ausbildung  der  politischen  Disciplinen  muss 
durch  tiefgreifende  Erweiterung  des  Unterrichtes  und  Studiums  entsprochen 
werden.    Nicht   nur   ist   das  Stundenausmaass  für  die  Vorträge  über  theoretisch& 


518  Eoschmann-Hörburg. 

Volkswirtschaftslehre,  über  rinanzwissenschaft  und  über  Volkswirtschaftspolitik 
nebst  der  Verwaltungslehre  zu  erhöhen,  sondern  es  ist  das  Studium  durch 
Einführung  von  Uebungscollegien  zu  vertiefen.  Als  neue  hätten  sich  den  alten 
Obligat- Collegien  anzureihen  solche  über  das  positive,  geltende  Steuerwesen,  über 
Eechnungs-  und  Controlwesen  und  endlich  noch  statistische  Uebungen.  Zu 
entfallen  hätte  das  bisherige  Colleg  über  allgemeine  und  österreichische  Statistik, 
für  das,  der  Demographie  und  Socialstatistik  gegenüber,  die  Zwecksberechtigung 
entfällt.  Die  Kenntnis  des  geltenden  Steuerwesens  ist  heutzutage  für  jeden  Juristen 
unentbehrlich  geworden;  ihre  Vermittelung  dem  Colleg  über  Finanzwissenschaft 
anvertrauen,  hiesse  aber  nur  zu  sehr  den  rein  wissenschaftlichen  Charakter 
jenes  Collegs  gefährden.  Mit  Vorträgen  über  das  ßechnungs-  und  Controlwesen 
glaube  ich  einem  wesentlichen  Bedürfnisse  zu  entsprechen  und  eine  oft  recht 
schmerzlich  empfundene  Lücke  im  Können  und  Wissen  des  praktischen  Juristen 
auszufüllen.  Volkswirtschaftspolitik  und  Verwaltungslehre  sind  untrennbar,  ich 
möchte  sie  daher  in  einem  Colleg  vereinigt  wissen.  Die  statistischen  Uebungen 
haben  sich  auf  die  Gebiete  der  Demographie,  Sociologie,  der  Volks-  und  Staats- 
wirtschaft zu  erstrecken. 

Soll  der  Entwickelung,  welche  das  moderne  Recht,  namentlich  das  Verkehrs- 
und Verwaltungsrecht,  genommen  hat  und  voraussichtlich  auch  fürderhin  nehmen 
wird,  Rechnung  getragen  werden,  sollen  den  modernen,  stets  zunehmenden 
Anforderungen  des  Lebens  gewachsene  Juristen  die  Universität  verlassen,  so 
muss  auch  in  der  dritten,  dem  geltenden  inländischen  Rechte  gewidmeten  Studien- 
abtheilung  eine  wesentliche  Ausgestaltung  der  Collegien  eintreten.  Eine  Reihe  von 
Rechten,  die  dermalen  nur  im  allgemeinen  und  meist  nur  in  groben  Umrissen 
im  Rahmen  des  Handelsrechtes  und  des  Verwaltungsrechtes  ihre  akademische 
Behandlung  finden,  soll  selbständige,  u.  zw.  Obligat-Collegien  erhalten.  Hierher 
gehören  aus  dem  Gebiete  des  Verkehrsrechtes  das  Eisenbahn-  und  Transportrecht, 
das  Seerecht  und  das  Versicherungsrecht.  Das  Verwaltungsrecht,  jene  Rechts- 
organisation, welche  im  eminentesten  Sinne  die  sittlich-culturolle  und  ökonomisch- 
materielle, wie  die  physische  Wohlfahrtspflege  zu  ordnen  und  zu  gewährleisten 
hat,  verdient,  ja  benöthigt  eine  um  vieles  weiter  gehende  Berücksichtigung,  als 
ihm  die  geltende  Studienordnung  angedeihen  lässt.  Die  Vorträge  über  das 
Verwaltungsrecht  im  allgemeinen  hätten  den  Charakter  einer  die  historische 
Entwickelung  voll  berücksichtigenden  encyklopädischen  Einführung  in  diesen  Zweig 
des  öffentlichen  Rechtes  zu  wahren,  während  eigene,  selbständige  Collegien 
(Vorträge  und  Uebungen)  berufen  wären,  die  wichtigsten  Inhaltsgebiete  einer 
vertieften  Behandlung  zuzuführen.  Diesem  Zwecke  hätten  Collegien  über  Agrar- 
recht, Bergrecht,  Gewerberecht  und  Wasserrecht  zu  dienen.  Den  Obligat- 
Collegien  über  allgemeines  und  österreichisches  Staatsrecht,  über  Völkerrecht,  über 
Strafrecht  und  Strafprocess,  über  bürgerliches  Recht  und  Civilprocess,  über 
Handels-  und  Wechselrecht,  über  Verwaltnngsrecht  hätten  sich  nebst  den  bereits 
erwähnten,  noch  neue  Obligat-Collegien  über  Polizeistrafrecht  und  über  gerichtliche 
Medicin  anzuschliessen.  Im  Colleg  über  materielles  und  formelles  Strafrecht  wäre, 
ihrer  wachsenden  Bedeutung  entsprechend,  auf  die  strafrechtlichen  Hilfswissen- 
schaften Rücksicht   zu    nehmen.     Alle  Fächer,  mit   Ausnahme  des  Völkerrechtes, 


Vorschlag  einer  Keform  der  rechts-  und  staatswiesenschaftlichen  Studien  etc.     519 

erfahren    eine    bei  manchen   sogar    schwer   ins    Gewicht   fallende    Erhöhung    der 
Unterrichtszeit.  Dieser  Abtheilung  der  Studien  sind  zwei  Jahre  gewidmet. 

Scharf  tritt  auf  der  vierten  Stufe,  dem  fünften  Studienjahre,  die  Einschränkung 
der  rechtshistorischen  Disciplinen  hervor.  Eömisches,  canonisches  und  deutsches 
Privatrecht  wären  vorwiegend  vom  rechtshistorischen  Standpunkte  aus,  mit  Ausser- 
achtlassung  kleiner  Details  zu  behandeln.  Wenn  sie  den  Charakter  einführender, 
für  das  Kechtsstudium  grundlegender  Vorträge  verlieren,  was  ja  eine  der  essen- 
tiellsten Forderungen  dieses  Reformvorschlages  ist,  dann  können  auch  die  Obligat- 
Collegien  aus  dem  Gebiete  dieser  Disciplinen  eine  weitgehende  Beschränkung 
erfahren.  Das  Gleiche  gilt  von  dem  Colleg  über  deutsche  und  österreichische 
Eechtsgeschichte.  Die  durch  jene  Eindämmung  der  rechtshistorischen  Hochflut 
gewonnene  Zeit  sei  der  Erfüllung  zweier  wesentlicher  Aufgaben  gewidmet.  Es 
Messe  wahrhaftig  mehr  als  altvaterisch,  es  Messe  verkehrt  sein,  wollte  man  der 
jüngsten  Entwickelungsphase  des  Civilrechtes,  dem  neuen  bürgerlichen  Eechte  des 
Deutschen  Reiches,  eine  mindere  Sorgfalt  zuwenden,  als  den  Vertretern  der 
ältesten  Phase,  den  Herren  Gajus  und  Consorten.  Das  wichtigste  Recht  eines 
Landes,  mit  dem  man  in  rapid  steigendem  Verkehre  steht,  muss  man  aus 
wissenschaftlichen,  wie  aus  praktischen  Gründen  der  akademischen  Darstellung 
und  Pflege  an  den  eigenen  Universitäten  für  durchaus  wert  erachten.  Ein  Obligat- 
Colleg  von  mindestens  demselben  Stundenausmaasse,  das  dem  römischen  Rechte 
zugebilligt  wurde,  sei  auch  für  den  Unterricht  aus  dem  neuen  reichsdeutschen 
bürgerlichen  Rechte  bestimmt.  Die  beste  wissenschaftliche  Vertiefung  und  juristische 
Schulung  gewährt  die  Rechtsvergleichung.  Wirklich  gewinnbringend  kann  sie 
natürlich  nur  für  denjenigen  sein,  der  über  ein  beträchtliches  Maass  juristischen 
Wissens  verfügt.  Ist  dieses  vorhanden,  dann  führt  sie  dessen  Träger  zur  vollen 
Reife  des  juristischen  Denkens.  Darum  möge  denn  auch  den  Abschluss  der  rechts- 
und  staatswissenschaftlichen  Studien  ein  Uebungscolleg  über  Rechtsvergleichung 
bilden. 

Jeder  Unterrichtsgang  muss  planmässig  sein,  soll  er  zu  erfolgreichem  Ziele 
führen.  Die  Methode  dieses  Reformentwurfes  und  der  ganze  Aufbau  des  Lehr- 
gebäudes bedingen  eine  bestimmte  Reihenfolge  in  den  Unterrichtsfächern  und  das 
Institut  der  Obligat- Collegien.  Ich  sehe  darin  keine  Verletzung  der  Lehr-  und 
Lernfreiheit,  dass  die  Abhaltung  gewisser  und  der  Besuch  gewisser  Collegien, 
u.  zw.  in  bestimmter  Reihenfolge,  Lehrern  und  Schülern  zur  Pflicht  gemacht 
wird.  Ich  sehe  darin  nur  eine  planvolle  Fürsorge.  Raum  für  freie  Bethätigung 
bleibt  Lehrenden  wie  Lernenden  hinlänglich  gewahrt. 

Der  durch  die  geltende  Studienordnung  normierte  Lehrstoff  kann  nur 
sehr  schwer  und  in  kaum  entsprechender  Weise  in  vier  Jahren  bewältigt  werden. 
Für  die  durch  den  Reformentwurf  gesetzte  weit  grössere  und  schwierigere  Aufgabe 
sind  fünf  Jahre  unbedingt  erforderlich. 

Das  ganze  Studium  wird  in  Aner  Abtheilungen  getheilt,  von  denen  die 
erste,  zweite  und  vierte  je  ein  Jahr,  die  dritte  zwei  Jahre  umfassen  soll.  Der 
Aufstieg  von  einer  Stufe  zur  nächsten  wäre  für  inländische  ordentliche  Hörer  von 
der  erfolgreichen  Ablegung  einer  Staatsprüfung  abhängig  zu  machen. 


520 


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Zeitschrift  fär  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung;.  X.  Band. 


36 


522  Eoschmann-Hörburg. 

Die  erste,  der  allgemeinen  Vorbereitung-  dienende  Abtheilung  ist  die  einzige, 
in  welcher  der  Unterricht,  wenigstens  dermalen  noch,  auf  den  reinen  Vortrag 
allein  beschränkt  bleiben  müsste.  Auf  jeder  der  folgenden  Stufen  käme  dem 
Vortrage  in  steigendem  Maasse  der  Charakter  der  blossen  systematischen 
Einführung  in  die  einzelnen  Disciplinen  zu.  Das  Schwergewicht  des  Unterrichtes 
fiele  immer  mehr  auf  die  den  Vorträgen  folgenden  Uebungscollegien.  In  der 
ersten,  zweiten  und  dritten  Studienabtheilung  wären  dem  Unterrichte  in  den 
einer  Staatsprüfung  vorangehenden  Semestern  je  20,  in  den  anderen  Semestern 
je  30  Wochenstunden  gewidmet,  in  der  vierten  Abtheilung  wäre  das  Ausmaass 
in  beiden  Semestern  das  gleiche,  30  Stunden  in  der  Woche.  Auf  dieser  Stufe 
des  Studiums  entfällt  eine  Eücksichtnahme  auf  die  bevorstehende  Prüfung,  weil 
eine  rege  Betheiligung  an  den  zahlreichen  Uebungscollegien  die  beste  Vorbereitung 
für  die  Prüfung  gewährt.  Von  der  gesammten  Unterrichtszeit  sind  in  den  vier 
Abtheilungen  den  Vorträgen  100,  60,  57  und  40,  den  UebergangscoUegien  0, 
40,  43  und  60  Percente  gewidmet. 

Soviel  über  die  Obligatcollegien.  Es  ist  einleuchtend,  dass  der  Charakter 
und  die  Aufgabe  der  Universität  als  Pflegestätte  wissenschaftlichen  Fortschrittes 
es  erfordern,  dass  an  der  Universität  nicht  nur  das  Bildungserfordernis  des  Alltags- 
juristen befriedigt  werde,  sondern  dass  sie  volle  Eücksicht  nehme  auf  die  weiter 
ausgreifenden  wissenschaftlichen  Bestrebungen  ihrer  Jünger.  Diesem  Zwecke  zu 
dienen,  sind  einerseits  die  Seminare  berufen,  andererseits  wird  es  aber  Aufgabe 
der  Unterrichtsverwaltung  und  der  akademischen  Lehrer  sein,  dafür  zu  sorgen, 
dass  der  Charakter  der  universitas  litterarum  gewahrt  bleibe  und  durch  ein 
reiches  Ausmaass  von  Specialcollegien  die  innere  wissenschaftliche  Vertiefung 
des  Unterrichtes  in  den  verschiedenen  Disciplinen  gesichert  werde.  Dies  gilt  eben- 
sowohl von  den  socialpolitischen  und  den  Eechtswissenschaften,  wie  von  den 
der  Vorbereitung  für  diese  dienenden  Disciplinen.  Es  wäre  nicht  zweckentsprechend, 
eine  Liste  der  notliwendigen  oder  wünschenswerten  freien  Specialcollegien  auf- 
zustellen. Sie  ergeben  sich  zum  grossen  Theile  ohnehin  von  selbst  aus  früherer 
Uebung,  aus  den  entstehenden  Bedürfnissen  und  aus  den  Fortschritten  der 
Wissenschaft.  Vor  allen  anderen  würden  die  rechtshistorischen  Disciplinen  eine 
Vervollständigung  und  Erweiterung  des  Unterrichtes  für  die  mehr  als  das 
Durchschnittsausmaass  der  juristischen  Bildung  Anstrebenden  durch  mannigfache 
nichtobligate  Specialcollegien  benöthigen.  Aber  auch  die  moderne  Civil-  und 
Strafrechtswissenschaft  verdient  und  bedarf,  dass  ihre  Disciplinen  akademisch 
weiter  ausgestaltet  werden.  Erwähnt  seien  nur  Collegien  —  die,  dem  allgemeinen 
Plane  entsprechend,  natürlich  wieder  aus  Vorträgen  und  Uebungen  zu  bestehen 
hätten  —  über  französisches  Civilrecht,  über  Grundbuchsrecht,  über  Criminologie, 
Criminal-Anthropologie,  Criminalpsychologie,  Criminalpolitik,  Pönologie,  Criminalistik, 
über  die  modernen  neuen  Strafrechte  anderer  Staaten  (Deutschland,  Bern  etc.;. 
Wenn  die  Behandlung  des  Staats-Kirchenrechtes  auch  regelmässigerweise  im 
CoUeg  über  Staatsrecht,  zum  Theile  wohl  auch  in  jenem  über  Verwaltungsrecht 
zu  erfolgen  hat,  so  bleiben,  nicht  nur  vom  rechtshistorischen  Gesichtspunkte  aus, 
noch  genug  Materien  aus  dem  Kirchenrechte,  die  einer  eingehenden  akademischen 
Darstellung  meist  ermangeln,  so   z.  B.    das    geltende    orientalische   Kirchenrecht.^ 


I 


Vorschlag  einer  Reform  der  rechts-  und  staatswissenschaftlichen  Studien  etc.     523 

Und  vollends  im  Gebiete  der  sogenannten  politischen  Wissenschaften  bieten  die  täglich 
auftauchenden  neuen  Probleme  und  socialpolitischen  Aufgaben  in  Hülle  und  Fülle 
die   Gelegenheit  zu  fortschreitender  akademischer  Ausgestaltung  der   Disciplinen. 

Ganz  besondere  Wichtigkeit  kommt  für  die  intensive  wissenschaftliche 
Ausbildung  dem  Institute  der  Seminare  zu.  Es  bedarf  nicht  nur  der  Entwickelung, 
sondern  in  wesentlichen  Theilen  einer  gründlichen  Eeform. 

Nur  derjenige,  der  so  gründlich  gebildet  ist,  dass  er  über  ein  ganz 
erkleckliches  Maass  scharf  durchdachten,  systematisch  geordneten,  geistig  verar- 
beiteten Wissens  verfügt,  wird  in  eigener,  selbständiger  Arbeit  producieren,  die 
Wissenschaft  wirklich  bereichern  können.  Aber  auch  das  will  gelernt  sein.  Dieses 
Ziel,  das  selbständige  productive  wissenschaftliche  Arbeiten  zu  lehren,  methodologisch 
zu  lehren,  ist  die  Aufgabe  der  mit  den  Universitäten  verbundenen  Seminare.  Es 
ist  nach  dem  Gesagten  selbstverständlich,  dass  ich  die  Theilnahme  an  den 
Seminaren  nur  jenen  offen  gehalten  wissen  will,  welche  durch  die  Schlussprüfling 
erwiesen  haben,  dass  sie  nicht  nur  positives  Wissen,  sondern  auch  wissenschaftliche 
Eeife  besitzen.  Die  Seminare  sollen  keine  Hörsäle,  sondern  Werkstätten  sein,  in  denen 
der  Zögling,  in  streng  wissenschaftlicher  Zucht  gehalten,  es  erlernt,  ein  Problem  zu 
erfassen  und  zu  verarbeiten.  Vorlesungen  sind  hier  nicht  am  Platze,  nur  gemeinsame- 
Arbeit  des  Lehrers  mit  seinen  Schülern.  Gleich  den  naturwissenschaftlichen  Laboratorien- 
haben  die  Arbeitsräume  der  Seminare  ihren  Besuchern  stets  offen  zu  stehen.  Und. 
ununterbrochen  soll  für  Eath  und  Unterweisung  gesorgt  sein.  Gemeinsame  Unter- 
suchungen und  Excursionen  sollen  die  Anwendung  der  inductiven  Methode  lehren, 
und  sichern.  Kurz,  die  Seminare  haben  den  Charakter  streng  wissenschaftlich  geführter 
Unterrichts-  und  Forschungsinstitute  anzunehmen.  Die  derart  reorganisierten' 
Seminare  werden  aufhören,  lediglich  Uebungsplätze  zu  sein,  die  Gefahr  der 
Verschulung  unreifer  Köpfe  wird  von  ihnen  genommen  sein,  und  sie  werden- 
endlich  zu  dem  werden,  was  sie  eigentlich  sein  sollen,  Pflanzstätten  der  echten, 
gewissenhaften  wissenschaftlichen  Forschung  und  des  akademischen  Nachwuchses^ 

Der  skizzierte  Studienplan  stellt  an  Professoren  wie  Studenten  ausserordentlich 
gesteigerte  Anforderungen,  und  doch  verlangt  er  eigentlich  nicht  mehr,  als  dass- 
jene,  unter  Verzicht  auf  die  bequemen  Collegienhefte,  intensiv  lehren,  diese,, 
unter  Entsagung  auf  das  semesterweise  Nichtsthun,  wirklich  das  thun,  was  ihre- 
Standespflicht  gebietet,  intensiv  lernen.  Meine  Eeform  verfolgt  den  Zweck,  ani 
die  Stelle  des  äusseren,  immer  peinlich  wirkenden  Zwanges  die  CoUegien  zu 
besuchen,  die  aus  der  Unterrichtsmethode  sich  ergebende  innere  Nothwendigkeit 
der  CoUegienfrequenz  zu  setzen.  Wenn  der  Student  sieht,  dass  ihm  die  für 
Prüfung  und  Leben  nothwendigen  Dinge  an  der  Universität  und  nur  an  dieser,, 
und  weder  in  Büchern  noch  in  lithographierten  Vorlesungsheften  geboten  werden,, 
wenn  er  wahrnimmt,  dass  die  Unterrichtsmethode  Pausen  in  der  Arbeit  nicht 
zulässt,  diese  aber,  vom  ersten  Tage  angefangen,  anregend  und  sofort  gewinn- 
bringend ist,  dann  wird  er  das  Schwänzen  bleiben  lassen  und  einleitende- 
Vorträge  wie  Uebungscollegien  genau  so  fleissig  besuchen,  wie  der  Chemiker 
sein  Laboratorium,  der  Techniker  seinen  Constructionssaal.  An  die  Stelle  dos 
Nichtsthuns  mit  nachfolgendem  sinn-  und  planlosen  Büffeln  wird  methodische- 
Geistesarbeit  der  sich  gegenseitig  aneifernden  Collogen  treten. 

36* 


524  .  Roschmann-Hörburg. 

Vom  akademischen  Lehrer  verlangt  diese  Unterrichtsmethode  sein  bestes 
Können  und  seine  ganze  Kraft.  Dabei  ist  die  Erweiterung  des  Lehrstoffes  eine 
so  bedeutende,  dass  eine  Vermehrung  der  Professuren  unabweislich  würde.  In 
den  UebungscoUegien  sowohl,  wie  namentlich  in  den  Seminaren  gibt  es  viel 
Nebenarbeit  nicht  streng  wissenschaftlicher,  oft  sogar  untergeordneter  Art,  die 
gleichwohl  geleistet  werden  muss.  Auch  sie  dem  Professor  zuweisen,  hiesse  von 
der  Arbeitskraft  des  Professors  einen  sehr  unökonomischen  Gebrauch  machen. 
Mit  der  Besorgung  dieser  Hilfsarbeit  betraue  man  ständige  Assistenten.  Sie  hätten 
den  wissenschaftlichen  Apparat  bereitzustellen,  in  den  UebungscoUegien  den 
Studenten,  in  den  Seminaren  den  Zöglingen  mit  technischem  Käthe  an  die  Hand 
zu  gehen  etc.  Bestimmt  wären  sie  zur  Unterstützung  des  Professors,  nie  aber 
zu  seiner  Vertretung. 

Theorie  und  Praxis  sollen  sich  gegenseitig  corrigieren  und  fördern.  Ich 
halte  es  daher  für  sehr  zweckdienlich,  wenn  den  akademischen  Lehrern  die 
Gelegenheit  geboten  wird,  im  Gerichte  und  in  der  politischen  Verwaltung,  ein- 
schliesslich des  Finanzdienstes,  im  Nebenamte,  sich  die  oft  sehr  berichtigenden 
und  sehr  oft  anregenden  Erfahrungen  der  Praxis  zu  erwerben.  Ja,  ich  möchte 
diese  Nebenverwendung  zur   ständigen  Einrichtung  erhoben  wissen. 

Einer  gründlichen  und  tiefgreifenden  Eeform  bedarf  das  Prüfungswesen. 
Gerade  durch  die  gegenwärtig  und  schon  seit  langer  Zeit  beliebte  Art,  die 
Prüfungen,  Staatsprüfungen,  wie  Doctoratsprüfungen  zu  gestalten,  werden  unsere 
Pacultäten  immer  mehr  zu  juristischen  Fachschulen  herabgedrückt.  Nur  allzuoft 
sind  die  Staatsprüfungen,  ja  selbst  die  sogenannten  Rigorosen  nichts  anderes 
als  Fachprüfungen  aus  dem  positiven  Rechte.  Das  Gesetzeswissen  genügt,  die 
Wissenschaftlichkeit  tritt  zurück.  Das  ist  eine  grundfalsche  Auffassung  von  dem 
eigentlichen  Zwecke  jeder  Prüfung.  Den  Wortlaut  dieses  oder  jenes  Paragraphen 
kann  der  Mann  der  Praxis  sofort  im  Gesetzbuche  finden,  nur  für  Eines  findet 
er  keinen  Behelf  ausser  in  sich  selbst,  für  das  juristische  und  sociale  Denken. 
Jede  Prüfung,  heisse  sie  wie  sie  wolle,  muss  eine  Reifeprüfung  sein.  Ein 
Candidat,  der  eine  wichtige  Stelle  des  G  aj  u  s  oder  der  Pandekten  scharfsinnig 
interpretiert,  imponiert  mir  viel  mehr,  als  einer,  der  das  ganze  Schema  eines 
ganzen  Rechtsinstitutes  mit  allen  den  schönen  Namen  der  einzelnen  Klagen 
herunterleiert.  Glücklicherweise  gibt  es  im  Gebiete  der  ökonomischen  Wissen- 
schaften noch  keine  Paragraphen  !  Die  Gegenwart  schon  verlangt  vom  Juristen 
Höheres.  Und  erst  die  Zukunft !  Es  ist  für  die  Gesellschaft  wahrhaftig  nicht 
gleichgiltig,  wess  Geistes  Kind  die  sind,  denen  in  der  Verwaltung  die  Durchführung 
der  Staatsaufgaben  in  die  Hand  gelegt  oder  denen  der  Schutz  der  Rechtsgüter 
anvertraut  wird.  Die  Staatsprüfungen  haben  viel  weniger  eine  akademische  als 
eine  gesellschaftliche  Function  zu  erfüllen.  Die  Maschen  des  Siebes  müssen  enger 
werden,  ja  mehr,  die  Prüfungen  müssen  nicht  nur  strenger  werden,  sie  müssen 
auch,  und  zwar  vor  allem,   den  Charakter  grösserer  Wissenschaftlichkeit  annehmen. 

Gilt  diese  Forderung  schon  für  die  Staatsprüfungen,  um  wie  vieles  noth- 
wendiger  stellt  sie  sich  heraus  gegenüber  der  bei  den  sogenannten  strengen 
Doctoratsprüfungen  allmählich  ganz  allgemein  geübten  Praxis.  Das  Doctorat  ist 
nachgerade  zur  verhöhnenden  Farce  geworden  ! 


Vorschlag  einer  Reform  der  rechts-  und  staatswissenschaftlichen  Studien  etc.     525 

Das  von  Gelehrten  ausgestellte  Zeugnis,  dass  der  Träger  des  Doctortitels 
ein  Gelehrter  sei,  ist  allein  dieses  Titels  vernünftiger  Sinn  und  gesellschaftliche 
Berechtigung.  Sinn  und  Berechtigung  gehen  aber  sofort  verloren,  wenn  gesell- 
schaftliche Rücksichten  und  nicht  einzig  und  allein  das  Urtheil  der  gelehrten 
Richter  für  das  Ausmaass  der  Verleihungen  von  ausschlaggebender  Bedeutung 
werden.  Das  ist  aber  der  Fall,  wenn  für  die  Ausübung  irgendeines  staatlichen 
oder  gesellschaftlichen  Amtes  die  vorangegangene  Erwerbung  des  Doctorgrades 
zur  öffentlichrechtlichen  Bedingung  erhoben  wird.  Hier  entscheidet  dann  nicht 
mehr  das  Gelehrtenurtheil  über  die  Gelehrtenqualification  rein  und  unbeeinflusst; 
die  sociale  Rücksicht  macht  sich  geltend  und  verwischt  immer  mehr  den  Charakter 
des  einst  stolzen  Standeszeugnisses.  Wenn  man,  was  wahrhaftig  noththut,  das 
Doctorat  reformieren  will,  so  beschränke  man  sich  nicht  auf  Neuerungen  im 
formalen  Theile,  im  Modus  seiner  Erwerbung,  sondern  man  gehe  auf  das  Wesen 
der  Sache  ein,  man  gebe  dem  Doctorate  seinen  inneren  Charakter  wieder,  löse 
es  los  von  der  Qualification  zu  Amt  und  Beruf,  und  sei  es  selbst  der  akademische ! 

Ist  dem  Doctorate  sein  inneres  Wesen  wiedererstattet,  ist  es  neuerlich  zum 
Gelehrtenzeugnisse  bestimmt,  dann  ergeben  sich  die  Grundsätze  für  die  Verleihung 
aus  dem  Charakter  eines  solchen  Zeugnisses  von  selbst.  Der  Erwerber  muss,  bei 
freier  Würdigung  der  verleihenden  Richter,  nachweisen,  dass  er  ein  Gelehrter  sei. 

Das  innere  Kriterium  des  Gelehrten  liegt  nun  gewiss  nicht  in  der  Auf- 
speicherung reicher  Wissensschätze  allein,  sondern  vornehmlich  dazu  in  der 
harmonischen  geistigen  Zusammenfassung,  in  jener  systematischen  Beherrschung 
des  Gesammtstoifes,  die,  der  allgemeinen  Erkenntnislücken  klar  bewusst  geworden, 
aus  sich  selbst  heraus  ihren  Innehaber  mit  innerer  Nothwendigkeit  zu  eigener 
productiver  Arbeit  antreibt. 

Es  ist  also  vom  Bewerber  um  das  Doctorat  der  Beweis  jenes  harmonisch 
zusammenfassenden  reichen  Wissens  und  des  eigenen  productiven  Könnens  zu 
erbringen.  Dieser  Nachweis  ist  zu  leisten  durch  eine  selbständige  Arbeit  des 
Bewerbers,  eine  durch  ihre  Drucklegung  der  allgemeinen  Controle  und  Kritik 
überlieferte  Dissertation,  und  durch  eine  sehr  strenge,  echt  wissenschaftliche 
Prüfung. 

Das  Gespenst  der  Dissertationsfabrikanten,  das  an  manchen  reichsdeutschen 
Hochschulen  sein  Unwesen  treiben  soll,  schreckt  mich  ganz  und  gar  nicht.  Fallen 
die  praktischen  Vortheile  des  Doctorates  fort,  und  wird  dieser  Studienplan  und 
damit  auch  die  vorgeschlagene  Organisation  der  Seminare  zur  Wirklichkeit,  so 
wird  die  Zahl  der  Bewerber  gar  gewaltig  sinken.  Keine  äussere  Nothv/endigkeit, 
nur  mehr  innerer  Trieb  führt  dann  vor  den  akademischen  Richtertisch.  Dort  aber 
wird  so  strenge  des  Amtes  gewaltet  werden,  dass  auch  der  eitelste,  gewissenlose 
Streber  es  sich  angesichts  eines  hochnothpeinlichen  Prüfungsverfahrens  doppelt 
und  dreifach  überlegen  wird,  sich  eines  Titels  wegen  der  Gefahr  auszusetzen, 
von  diesem  vor  ein  anderes  Forum  verwiesen  zu  werden.  Es  ist  vielmehr  zu 
erwarten,  dass  die  Dissertationen  ganz  regelmässig  aus  den  Seminaren  hervorgehen 
und  dadurch  ein  Zeugnis  ihres  legitimen  Ursprunges  besitzen  werden.  Die  ausser- 
ordentlich strenge  zu  gestaltende  Prüfung  hat,  von  der  Dissertation  ausgehend, 
deren  Vaterschaft  sicherzustellen.    Formal  ist  der  Vorgang  also  der  gleiche,  wie 


526  Roschmann-Hörburg. 

bei  der  Habilitation.  Während  aber  bei  dieser  das  Colloquium  den  Beweis 
erbringen  soll,  dass  der  Bewerber  das  Fach,  für  das  er  sich  zu  habilitieren 
beabsichtigt,  gründlich  beherrsche,  ist  es  die  Aufgabe  des  ßigorosums,  zu 
erweisen,  dass  der  Candidat  im  ganzen  Gebiete  der  Facultätsdisciplinen  gediegenes, 
in  mindestens  einer  Disciplin  aber  geradezu  hervorragendes  Wissen  besitze,  dass 
er,  des  inneren  Zusammenhanges  der  einzelnen  Fächer  und  der  gegenseitigen 
Function  zwischen  den  juristischen  und  socialpolitischen  Disciplinen  voll  bewusst, 
über  jene  harmonische  Schulung  verfüge  und  jene  systematische  Beherrschung 
der  Wissenschaft  sein  Eigen  nenne,   über   die    nur    der    echte    Gelehrte    verfügt. 

Es  ist  ein  wesentlicher  und  grosser  Vorzug  der  österreichischen  vor  den 
meisten  reichsdeutschen  Studienordnungen,  dass  die  sogenannten  politischen 
Disciplinen  nicht  der  philosophischen  oder  einer  staatswirtschaftlichen,  sondern 
der  juristischen  Facultät  zugewiesen  sind.  Das  ganze  Heil  und  der  ganze  Fortschritt 
der  juristischen  wie  der  socialökonomischen  Disciplinen  liegt  in  ihrer  gegen- 
seitigen Durchdringung.  Die  Socialökonomen  und  Socialpolitiker  bedürfen  gar 
dringend  der  juristischen  Schulung,  die  Juristen  der  socialpolitischen  Auffassung: 
Das  Kecht  muss  mit  socialem  Geiste  gesättigt  werden,  für  den  Socialökonomen 
soll  die  volle  Beherrschung  des  Rechtes  das  Mittel  sein,  in  allen  Gebieten  sein 
43estes  Streben  und  Können  dem  realen  Fortschritte  praktisch  dienstbar  zu  machen. 
Jurisprudenz  und  socialökonomische  Wissenschaften  sind  untrennbar,  stellen 
diese  doch  jener  in  wissenschaftlicher  Erfassung,  in  Gestalt  der  socialen  Massen- 
bedürfnisse, die  Probleme  und  Aufgaben.  Wenn  von  irgendjemandem,  so  muss 
man  vom  Gelehrten  verlangen,  dass  er  sich  der  geistigen  Zusammengehörigkeit 
beider  Gebiete  voll  bewusst  sei.  Darum  soll  es  auch  nur  ein  einheitliches 
Doctorat   geben. 

Die  zur  Nachsicht  verleitenden  und  entwürdigenden  Taxbezüge  hätten  zu 
entfallen,  dafür  sei  den  Facultäten  und  Universitäten  das  Recht  eingeräumt,  die 
sittliche  Würdigkeit  desjenigen,  dem  sie  den  akademischen  Adelsbrief  verleihen 
sollen,  oder  verliehen  haben,  ihrer  freien  Würdigung  zu  unterziehen  und  bei 
Mangel  an  Würdigkeit  den  Doctortitel  zu  verweigern  oder  zu   entziehen. 


ENTWURF  EINES  GESETZES,  WOMIT  EINE 

SEEMANNSORDNUNG  FÜR  DIE  ÖSTERREICHISCHE 

HANDELSMARINE  ERLASSEN  WIRD.') 

(NACH  DEN  BESCHLÜSSEN  DES  HERRENHAUSES.) 


I.  Abschnitt.  Einleitende  Bestimmungen. 

§  1. 
Die  Vorschriften  dieses  Gesetzes  finden  auf  alle  österreichischen  Seehandels- 
schiffe Anwendung. 

§  2. 

Schiffer  im  Sinne  dieses  Gesetzes   ist   der  Führer  des  Schiffes,    in  Erman- 
gelung oder  Verhinderung  desselben  sein  Stellvertreter. 

§  3. 
Seemannsämter  im  Sinne  dieses  Gesetzes  sind  im  Inlande  die  Hafenämter, 
im  Auslande  die  Seeconsularämter. 

§  4. 

Im    Sinne    dieses    Gesetzes   gehören   zur  Schiffsmannschaft  mit  Ausschluss 

des  Schiffers   auch   die   Schiffsofficiere,    die   Schiffsunterofficiere   und   alle  übrigen 

Personen,  welche  nach  §  26  des  Gesetzes  vom  7.  Mai  1879  über  die  Registrierung 

der  Seehandelsschiffe,  R.-G.-Bl.  Nr.  65,  in  der  Musterrolle  zu  verzeichnen  sind 

II.  Abschnitt.  Befähigungder  Seeleute 

§  6. 
Zur    Erlangung    der   Eigenschaft    als    Cadet   ist    die   mit  Erfolg   abgelegte 
Schlussprüfung    an    einer    zur    Ausstellung    staatsgiltiger   Zeugnisse    berechtigten 
nautischen  Schule  erforderlich. 

§  7. 
Für    die    Erlangung    der    Eigenschaft   als   Schiffer   der   kleinen  Küstenfahrt 
■wird  erfordert:  a)  Ein  Lebensalter  von  mindestens  20  Jahren;  b)  ein  wenigstens 


^)  In  Ergänzung  des  in   dem  vorigen  Hefte   enthaltenen  Artikels   von  Millanich 
ist  hier  der  wesentliche  Inhalt  des  Gesetzes  wiedergegeben. 


528  Entwurf  eines  Gesetzes,  womit  eine  Seemannsordnung  etc. 

dreijähriger    Dienst    auf   Seeschiffen;     c)   die   mit  Erfolg   abgelegte    Prüfung    für 
Schiffer  der  kleinen  Kästenfahrt. 


Für  die  Erlangung  der  Eigenschaft  als  Schiffer  der  grossen  Küstenfahrt 
wird  erfordert:  a)  Ein  Lebensalter  von  mindestens  20  Jahren;  h)  ein  wenigstens 
36monatlicher  Dienst  in  Seefahrt.  Jene  Seeleute,  welche  an  einer  zur  Ausstellung 
staatsgiltiger  Zeugnisse  berechtigten  nautischen  Schule  die  Schlussprüfung  mit 
Erfolg  abgelegt  haben,  brauchen  nur  einen  24monatlichen  Dienst  in  Seefahrt 
nachzuweisen;  c)  die  mit  Erfolg  abgelegte  Prüfung  für  Schiffer  der  grossen 
Küstenfahrt.  Dem  Schiffer  der  grossen  Küstenfahrt  steht  die  Führung  von  Segel- 
schiffen der  grossen  und  der  kleinen  Küstenfahrt,  von  Dampfern  dieser  Kategorie 
jedoch  nur  dann  zu,  wenn  er  auch  die  Prüfung  aus  der  Schiffsmaschinenkunde 
mit  Erfolg  abgelegt  hat 

§  9. 

Für  die  Erlangung  der  Eigenschaft  als  Steuermann  wird  erfordert:  a)  Ein 
Lebensalter  von  mindestens  19  Jahren;  h)  der  Nachweis  über  die  an  einer  zur 
Ausstellung  staatsgiltiger  Zeugnisse  berechtigten  nautischen  Schule  mit  Erfolg 
abgelegte  Schlussprüfung;  c)  ein  wenigstens  18monatlicher  Dienst  in  Seefahrt 
nach  Ablegung  der  unter  h)  erwähnten  Prüfung;  d)  die  mit  Erfolg  abgelegte 
Steuermannsprüfung.  Dem  Steuermanne  steht  die  zeitweilige  Vertretung  des  Schiffers 
der  weiten  Fahrt  und,  sobald  er  das  20.  Lebensjahr  zurückgelegt  hat,  auch  die 
Führung  von  Schiffen  der  grossen  und  der  kleinen  Küstenfahrt  zu. 

§  10. 
Für  die  Erlangung  der  Eigenschaft  als  Schiffer  der  weiten  Fahrt  wird 
erfordert:  a)  Ein  Lebensalter  von  mindestens  22  Jahren;  h)  ein  wenigstens  lömonat- 
licher  Dienst  in  Seefahrt  als  Steuermann  oder  als  Schiffer  der  grossen  Küsten- 
fahrt; e)  die  den  diesfalls  geltenden  Vorschriften  entsprechende  Führung  eines 
Particularjournals  durch  wenigstens  ein  Jahr  der  Dienstzeit  als  Steuermann,  oder 
bei  Schiffern  der  grossen  Küstenfahrt  der  Nachweis,  durch  wenigstens  ein  Jahr 
das  Schiffstagebuch  persönlich  und  regelrecht  geführt  zu  haben,  und  die  Bei- 
bringung der  für  das  Particularjournal  der  Steuermänner  vorgeschriebenen  Rech- 
nungen; d)  die  mit  Erfolg  abgelegte  Prüfung  für  Schiffer  der  weiten  Fahrt. 
Schiffer  der  grossen  Küstenfahrt  müssen,  um  zu  dieser  Prüfung  zugelassen  zu 
werden,  dem  Erfordernisse  des  §  9  lit.  b)  entsprochen  haben.  Dem  Schiffer  der 
weiten  Fahrt  steht  die  Führung  von  Seeschiffen  jeder  Kategorie  zu. 

§  11. 
Als  Schiffsarzt  kann  nur  derjenige  bedienstet  werden,  welcher  im  Inlande 
zur  Ausübung  der  ärztlichen  Praxis  berechtigt  ist.  Im  Falle  dringenden  Bedarfes 
kann  jedoch  im  Auslande  ein  anderer  zur  Ausübung  der  Praxis  befugter  Arzt, 
zeitweilig,  gegen  nachträgliche  Rechtfertigung  beim  nächsten  Seem^nnsamte,  in 
Verwendung  genommen  werden. 


^ 


Entwurf  eines  Gesetzes,  womit  eine  Seemannsordnang  etc.  529 

§  12. 
Für  die  Erlangung  der  Eigenschaft  als  Schiffsmaschinist  wird  erfordert: 
a)  Ein  Lebensalter  von  mindestens  20  Jahren;  h)  eine  wenigstens  einjährige 
•Verwendung  bei  der  Wartung  von  im  Betriebe  befindlichen  Schiffsdampfmaschinen, 
und  c)  die  mit  Erfolg  abgelegte  Prüfung  für  Schiffsmaschinisten.  Wer  als  erster 
Maschinist  auf  Dampfern  angemustert  werden  will,  muss  wenigstens  zwei  Jahre 
Dienste  als  Maschinist  auf  entsprechenden  Dampfern  geleistet  haben. 

§  13. 
Für  die  Erlangung  der  Eigenschaft  als  Bootsmann  wird  erfordert:    a)  Ein 
wenigstens  dreijähriger  Dienst  auf  Seeschiffen ;  b)  die  mit  Erfolg  abgelegte  Prüfung 
für  Bootsraänner. 

§  U. 

Für  die  Erlangung  der  Eigenschaft  als  Maschinenwärter  wird  gefordert: 
a)  Eine  wenigstens  zweijährige  Dienstleistung  in  einer  Maschinonwerkstätte;  b)  eine 
wenigstens  sechsmonatliche  Praxis  bei  im  Betriebe  befindlichen  Schiffsmaschinen; 
c)  die  mit  Erfolg  abgelegte  Prüfung  für  Maschinenwärter 

§  16. 
Oesterreichische  Seeleute  dürfen  auf  österreichischen  Seehandelsschiffen  in 
keiner  höheren  Eigenschaft  angemustert  werden,  als  diejenige  ist,  über  deren 
Erlangung  sie  sich  nach  Vorschrift  dieses  Gesetzes  auszuweisen  vermögen.  Die 
Eigenschaft  als  Schiffer  der  kleinen  oder  der  grossen  Küstenfahrt,  als  Steuermann 
oder  als  Schiffer  der  weiten  Fahrt  kann  nur  Oesterreichern  zuerkannt  werden. 

§  17. 
Die  Zuerkennung  einer  der  im  §  5  bezeichneten  ßangseigenschaften  kann 
einem  Seemanne  verweigert  werden,  wenn  derselbe  wegen  eines  Verbrechens,  eines 
Vergehens  oder  einer  Uebertretung  rechtskräftig  verurtheilt  wurde  und  sich  aus 
dem  Thatbestande  der  strafbaren  Handlung  begründete  Zweifel  rücksichtlich  der 
Fachkenntnisse  oder  der  Vertrauenswürdigkeit  desselben  ergeben.  Die  Zulässigkeit 
dieser  Verweigerung  ist  jedoch  bei  Uebertretungen  auf  die  Dauer  von  6  Monaten, 
vom  Zeitpunkte  der  überstandenen  Strafe  an  gerechnet,  beschränkt.  Wenn  gegen 
einen  Seemann  eine  strafgerichtliche  Untersuchung  wegen  Verbrechens  oder  Ver- 
gehens anhängig  oder  eine  strafgerichtliche  Verhandlung  wegen  einer  Uebertretung 
angeordnet  ist,  so  kann  demselben  die  Zuerkennung  der  im  §  5  angeführten 
Eangseigenschaften  bis  zum  rechtskräftigen  strafgerichtlichen  Erkenntnisse  verweigert 
und  die  weitere  Entscheidung  von  dem  letzteren  abhängig  gemacht  werden. 

III.  Abschnitt.  Seedienstbücher  und  Musterung. 

§  18. 
Kein  österreichischer  Staatsangehöriger  darf  als  Schiffsmann  in  Dienst  treten, 
bevor  er  nicht  von    dem    zuständigen  Hafenamte  (§  22)    ein  Seedienstbuch   aus- 
gefertigt erhalten  hat.  Kein  österreichischer  Staatsangehöriger  darf  vor  vollendetem 


530  Entwurf  eines  Gesetzes,  womit  eine  Seeniannsorduung  etc. 

zwölften  Lebensjahre,  ein  Minderjähriger  nicht  ohne  väterliche  oder  vormund- 
schaftliche Genehmigung  zur  Uebernahme  von  Schiffsdiensten  zugelassen  werden. 
Das  Seedienstbuch,  welches  zugleich  als  Reisepass  dient,  ist  bezüglich  seiner 
Giltigkeitsdauer,  dann  der  Kategorie  und  Nationalität  der  Schiffe,  für  welche  die 
Verheuerung  gestattet  ist,  genau  innerhalb  der  Grenzen  auszustellen,  welche  die 
zuständige  politische  Behörde  mit  Rücksicht  auf  die  Schulpflicht,  die  Militär- 
verhältnisse und  etwaige  andere  Umstände  für  den  betreffenden  Schiffsmann  vor- 
zeichnet  

§  20. 
Wer  bereits  ein  Seedienstbuch  ausgefertigt  erhalten  hat,  muss  behufs 
Erlangung  eines  neuen  Seedienstbuches  das  ältere  vorlegen  oder  den  Verlust  des- 
selben glaubhaft  machen.  Dass  dies  geschehen,  wird  von  dem  Seemannsamte;  in 
dem  neuen  Seedienstbuche  bemerkt.  Wird  der  Verlust  glaubhaft  gemacht,  so  ist 
in  dieser  Anmerkung  zugleich  eine  Bescheinigung  des  Seemannsamtes  über  die 
früheren  Rang-  und  Dienstverhältnisse,  sowie  über  die  Dauer  der  Dienstzeit, 
insoweit  der  Schiffsmann  sich  hierüber  genügend  ausweist,  beizufügen. 

§  21. 

Wer  nach  Inhalt  seines  Seedienstbuches  angemustert  ist,  darf  nicht  von 
neuem  angemustert  werden,  bevor  er  sich  über  die  Beendigung  des  früheren 
Dienstverhältnisses  durch  die  in  das  Seedienstbuch  einzutragende  Anmerkung 
(§§  33,  35)  ausgewiesen  hat.  In  Ermangelung  eines  solchen  Nachweises 
genügt,  sobald  die  Beendigung  des  Dienstverhältnisses  auf  andere  Art  glaubhaft 
gemacht  ist,  eine  vom  Seemannsamte  hierüber  einzutragende  Anmerkung  im  See- 
dienstbuche  

§  23. 

Der  Schiffer  hat  die  Musterung  (Anmusterung,  Abmusterung)  der  Schiffs- 
mannschaft nach  Maassgabe  der  folgenden  Bestimmungen  (§§  24  bis  35)  zu 
veranlassen.  Der  Schiffsmann  hat  sich,  wenn  nicht  ein  unabwendbares  Hindernis 
entgegensteht,  zur  Musterung  zu  stellen. 

§  24. 

Die  Anmusterung  besteht  in  der  Verlautbarung  des  mit  dem  Schiffsmanne 
geschlossenen  Heuervertrages  vor  einem  Seemannsamte.  Sie  muss  unter  Vorlegung 
der  Seedienstbücher  für  die  in  inländischen  Häfen  liegenden  Schiffe  vor  Antritt 
oder  Fortsetzung  der  Reise,  für  andere  Schiffe,  sobald  ein  Seemannsamt  angegangen 
werden  kann,  erfolgen. 

§  25. 

lieber  die  geschehene  Anmusterungsverhandlung  wird  vom  Seemannsamte 
die  Musterrolle  ausgefertigt.  Die  Musterrolle  muss  enthalten:  Namen  und  Nationalität 
des  Schiffes,  Namen  und  Heimatsort  des  Schiffers,  Namen,  Heimatsort  und 
dienstliche  Stellung  jedes  Schiffsmannes  (§  4)  sowie  die  von  beiden  Theilen 
unterzeichneten  Bestimmungen  des  Heuervertrages,  einschliesslich  etwaiger 
besonderer  Verabredungen.    Insbesondere    muss  aus  der  MusteiTolle  erhellen,  was 


Entwurf  eines  Gesetzes,  womit  eine  Seemannsordnung  etc.  531 

dem  Schiffsmanne  an  Heuer,  sowie  für  den  Tag  au  Speise  und  Trank  gebürt.  Im 
übrigen  wird  die  Einrichtung  der  Musterrolle  im  Verordnungswege  bestimmt 

§  27. 
Bei  jeder  Anmusterung  wird  vom  Seemannsamte  hierüber  und  über  die  Zeit 
des    Dienstantrittes    eine   Anmerkung    in    das   Seedienstbuch  jedes   Schiffsmannes 
eingetragen.    Das   Seedienstbuch    ist    hierauf   vom    Schiffer    für    die    Dauer    des 
Dienstverhältnisses  in  Verwahrung  zu  nehmen 

§  28. 
Wenn    ein    angemusterter  Schiffsmann    durch   ein   unabwendbares  Hindernis 
ausserstande  gesetzt  wird,   den  Dienst  anzutreten,   so  hat  er  sich  hierüber  sobald 
wie  möglich  gegen  den  Schiffer  und  das  Seemannsamt,  vor  welchem  die  Musterung 
erfolgt  ist,  auszuweisen. 

§  29. 

Die  Abmusterung  besteht  in  der  Verlautbarung  der  Beendigung  des  Dienst- 
verhältnisses von  Seite  des  Schiffers  und  der  aus  diesem  Verhältnisse  aus- 
scheidenden Mannschaft.  Sie  muss,  sobald  das  Dienstverhältnis  beendigt  ist, 
erfolgen,  und  zwar  vor  dem  Seemannsamte  desjenigen  Hafens,  wo  das  Schiff 
liegt.  Nach  Verlust  des  Schiffes  hat  die  Abmusterung  vor  demjenigen  Seemannsamte 
2;u  erfolgen,  welches  zunächst  angegangen  werden  kann. 

§  30. 
Vor  der  Abmusterung  hat  der  Schiffer  dem  abzumusternden  Schiffsmanne 
im  Seedienstbuche  und,  wenn  derselbe  ein  Ausländer  ist  und  als  solcher  mit 
einem  Seedienstbuche  nicht  versehen  sein  sollte,  in  einem  abgesonderten  Zeugnisse 
(Dienstzeugnis)  die  bisherigen  Rang-  und  Dienstverhältnisse  und  die  Dauer  der 
Dienstzeit  zu  bescheinigen.  Auf  Verlangen  des  Schiffsmannes  hat  der  Schiffer 
demselben  auch  ein  besonderes  Führungszeugnis  kostenfrei  zu  ertheilen.  Das 
letztere  darf  in  das  Seedienstbuch  nicht  eingetragen  werden 

§  32. 
Verweigert  der  Schiffer  die  Ausstellung  des  Führungszeugnisses  (§  30)  oder 
enthält  dasselbe  Beschuldigungen,  deren  Richtigkeit  der  Schiffsmann  bestreitet, 
so  hat  auf  Antrag  des  letzteren  das  Seemannsamt  den  Sachverhalt  zu  unter- 
suchen und  das  Ergebnis  der  Untersuchung  dem  Schiffsmanne  kosten-  und  stempel- 
frei zu  bescheinigen. 

§  33. 

Die  erfolgte  Abmusterung  wird  vom  Seemannsamte  in  dem  Seedienstbuche 
des  abgemusterten  Schiffsmannes,  beziehungsweise  auf  dem  Dienstzeugnisse  (§  30) 
und  in  der  Musterrolle  angemerkt. 

§  34. 
Wenn  eine  neue  Masterrolle  ausgefertigt  wird,  so  ist  die  bisherige  Muster- 
rolle von  dem  Seemannsamte,  welches    die   neue    Musterrolle  ausfertigt,   zu   über- 
nehmen und  an  das  Seemannsamt  des  Heimatshafens  des  Schiffes  zu  übersenden. 


532  Entwurf  eines  Gesetzes,  womit  eine  Seemannsordnung  etc. 

■  §  35. 
Wenn  der  Bestand  der  Mannschaft  Aenderiingen  erfährt,  bei  welchen  eine 
Musterung  (§  23)  nach  Maassgabe  vorstehender  Bestimmungen  ohne  Verzögerung 
der  Reise  unausführbar  ist,  so  hat  der  Schiffer  diese  Veränderung  des  Mannschafts- 
standes sammt  Gründen  in  sein  Schiffstagebuch  einzutragen,  sich  über  dieselben 
wo  möglich  von  der  Localbehörde  ein  Zeugnis  zu  verschaffen  und,  sobald  ein 
Seemannsamt  angegangen  werden  kann,  bei  demselben  unter  Darlegung  der 
Hinderungsgründe  die  Musterung  nachzuholen,  oder  sofern  auch  diese  nachträg- 
liche Musterung  nicht  mehr  möglich  ist,  den  Sachverhalt  anzuzeigen.  Eine 
Anmerkung  über  die  Anzeige  ist  vom  Seemannsamte  in  die  Musterrolle  und  in 
die  Seedienstbücher  der  betheiligten  Schiffsleute  einzutragen. 

IV.  Abschnitt.  Vertragsverhältnis. 
§  36. 
In   Beziehung    auf   die  privatrechtlichen  Verhältnisse   zwischen   der  Schiffs- 
mannschaft,   dem  Schiffer   und    Eheder    haben,    insoweit    dieser    Abschnitt    keine 
besonderen  Bestimmungen   enthält,   das  Privatseerecht,  dann  die  Seegewohnheiten, 
endlich  das  allgemeine  bürgerliche  Recht  zur  Anwendung  zu  kommen. 

§  37. 
Die  Giltigkeit  des  Heuervertrages  ist  durch  schriftliche  Abfassung  nicht  bedingt» 

§  38. 

Unter  Verheuerung  auf  die  Gesammtreise  ist  die  Verheuerung  auf  unbestimmte 
Daner  für  alle  Fahrten  des  Schiffes  vom  Anmusterungshafen  bis  zurück  in 
den  Ausreisehafen  oder  in  den  Heimatshafen  zu  verstehen.  Bei  Verheuerung 
auf  Zeit  wird,  wofern  nicht  ein  anderes  bedungen  ist,  keine  Rücksicht  auf  die 
Richtung  der  während  derselben  vorzunehmenden  Fahrten  genommen.  Geschieht 
die  Verheuerung  weder  auf  eine  Gesammtreise  noch  auf  bestimmte  Zeit,  so  hat 
aus  dem  Heuervertrage  der  Umstand  ersichtlich  zu  sein,  bei  dessen  Eintritt  das 
Dienstverhältnis  gelöst  wird. 

§  39. 

Wenn  ein  Schiffsmann  sich  für  eine  Zeit  verheuert,  für  die  er  durch  einen 
früher  geschlossenen  Heuervertrag  gebunden  ist,  so  hat  der  Anspruch  auf 
Erfüllung  des  zuerst  geschlossenen  Vertrages  den  Vorzug.  Hat  jedoch  eine 
Anmusterung  auf  Grund  des  späteren  Vertrages  stattgefunden,  ohne  dass  auch 
auf  Grund  des  ersten  Vertrages  angemustert  ist,  so  geht  jener  vor. 

§  40. 
Wird  ein  Schiffsmann  erst  nach  Anfertigung  der  Musterrolle  geheuert,  so 
gelten  für  ihn  in  Ermangelung  anderer  Vertragsbestimmungen  die  nach  Inhalt 
der  Musterrolle  mit  der  übrigen  Schiffsmannschaft  getroffenen  Abreden;  insbesondere 
kann  er  nur  dieselbe  Heuer  fordern,  welche  nach  der  Musterrolle  den  übrigen 
Schiffsleuten  seines  Ranges  gebärt. 


I 


Entwurf  eines  Gesetzes,  womit  eine  Seemannsordnung  etc.  533 

§  41. 
Die  Verpflichtung  des  Schiffsmannes,  mit  seinen  Effecten  sich  an  Bord 
einzufinden  und  Schiffsdienste  zu  leisten,  beginnt,  wenn  nicht  ein  anderes  bedungen 
ist,  mit  der  Anmusterung.  Wenn  der  Schiffsmann  den  Dienstantritt  irgendwie 
verzögert,  ist  der  Schiffer  zum  Eücktritt  von  dem  Heuervertrage  befugt.  Die 
Ansprüche  wegen  etwaiger  Mehrausgaben  für  einen  Ersatzmann  und  wegen  sonstiger 
aus  der  Verzögerung  erwachsener  Schäden  werden  hierdurch  nicht  berührt. 

§  42. 
Den  Schiffsmann,  welcher  nach  der  Anmusterung  dem  Antritte  oder  der 
Fortsetzung  des  Dienstes  sich  entzieht,  kann  der  Schiffer,  sofern  er  nicht  von  der 
Befugnis  des  im  §  41  demselben  vorbehaltenen  Rechtes  des  Rücktrittes  vom 
Heuervertrage  Gebrauch  machen  will,  zur  Erfüllung  seiner  Pflicht  durch  das 
Seemannsamt  zwangsweise  anhalten  lassen.  Die  daraus  erwachsenden  Kosten  hat 
der  Schiffsmann  zu  ersetzen. 

§  43. 

Der  Schiffsmann  ist  verpflichtet,  in  Ansehung  des  Schiffsdienstes  den  Anord- 
nungen des  Schiffers  oder  seiner  sonstigen  Vorgesetzten  unweigerlich  Gehorsam 
zu  leisten  und  zu  jeder  Zeit  alle  für  Schiff  und  Ladung  ihm  übertragenen  Arbeiten 
zu  verrichten.  Er  hat  diese  Verpflichtung  zu  erfüllen  sowohl  an  Bord  des  Schiffes 
und  in  dessen  Booten  als  auch  in  den  Lichterfahrzeugen  und  auf  dem  Lande, 
sowohl  unter  gewöhnlichen  Umständen,  als  auch  unter  Havarie.  Ohne  Erlaubnis 
des  Schiffers  darf  er  das  Schiff  bis  zur  Abmusterung  nicht  verlassen.  Ist  ihm  eine 
solche  Erlaubnis  ertheilt,  so  muss  er  zur  festgesetzten  Zeit  zurückkehren. 

§  44. 
Wenn  das  Schiff  in  einem  Hafen  liegt,  so  ist  der  Schiffsmann  nicht  ver- 
pflichtet, länger  als  zehn  Stunden  einschliesslich  des  Wachdienstes  täglich  zu 
arbeiten,  wobei  jedoch  die  Zeit  für  die  Rast  und  die  Mahlzeiten  in  die  Arbeitszeit 
nicht  eingerechnet  wird.  An  Sonntagen  ist  der  Schiffsmann  im  Hafen  nur  zu 
unaufschiebbaren  Arbeiten  verpflichtet. 

§  45. 
Bei  Seegefahr,  besonders  bei  drohendem  Schiffbruch,  sowie  bei  Gewalt  und 
Angriff  gegen  Schiff  oder  Ladung  hat  der  Schiffsmann  alle  befohlene  Hilfe  zur 
Erhaltung  von  Schiff  und  Ladung  unweigerlich  zu  leisten,  und  darf  ohne  Ein- 
willigung des  Schiffers,  solange  dieser  selbst  an  Bord  bleibt,  das  Schiff  nicht 
verlassen.  Er  bleibt  verbunden,  bei  Schiffbruch  für  Rettung  der  Personen  und 
ihrer  Effecten,  sowie  für  Sicherstellung  der  Schiffstheile,  der  Geräthschaften  und 
der  Ladung,  den  Anordnungen  des  Schiffers  gemäss  nach  besten  Kräften  zu 
sorgen  und  bei  der  Bergung  gegen  Fortbezug  der  Heuer  und  der  Verpflegung 
Hilfe  zu  leisten. 

§  46. 

Der  Schiffsmann  ist  verpflichtet,  auf  Verlangen  bei  der  Verklarung  mit- 
zuwirken   und    seine  Aussage    eidlich   zu   bestärken.     Dieser  Verpflichtung  bat  er 


534 


Entwurf  eines  Gesetzes,  womit  eine  Seemannsovdnung  etc. 


gegen  Zahlung  der  etwa  erwachsenden  Reisekosten  und  gegen  Bezug  der  zuletzt 
genossenen  Heuer  und  Verpflegung  während  der  Zeit  seiner  Verwendung  nach- 
zukommen, auch  wenn  der  Heuervertrag  infolge  eines  Verlustes  des  Schiffes 
beendigt  ist  (§  69). 

§  47. 
Wird  nach  Antritt  der  Reise  entdeckt,  dass  der  Schiffsmann  zu  dem  Dienste, 
zu  welchem  er  sich  verheuert  hat,  untauglich  ist,  so  ist  der  Schiffer  befugt,  die 
bedungene  Heuer  verhältnismässig  zu  verringern.  Diese  Bestimmung  findet  auf 
die  Schiffsofficiere  keine  Anwendung.  Gegen  diese  Maassregel  steht  dem  Schiffs- 
manne  die  Berufung  an  das  nächste  Seemannsarat  zu.  Macht  der  Schiffer  von 
dieser  Befugnis  Gebrauch,  so  hat  er  die  getroffene  Anordnung  dem  Betheiligten 
zu  eröffnen,  auch  in  das  Schiffstagebuch  einzutragen,  dass  und  wann  dies  geschehen. 
Vor  der  Eröffnung  und  Eintragung  tritt  die  Verringerung  der  Heuer  nicht  in 
Wirksamkeit. 

§  48. 
Das  Recht  des  Schiffsmannes  auf  den  Bezug  der  Heuer  beginnt,  in  Erman- 
gelung einer  anderweitigen  Abrede,  vom  Zeitpunkte  des  Dienstantrittes. 


§  49. 
Die  Heuer  ist  dem  Schiffsmanne,  sofern  keine  andere  Vereinbarung  getroffen 
ist,  erst  nach  Beendigung  der  Reise  oder  bei  der  sonstigen  Beendigung  des 
Dienstverhältnisses  zu  zahlen.  Der  Schiffsmann  kann  jedoch  bei  Zwischenreisen 
schon  in  dem  ersten  Hafen,  in  w^elchem  die  Ladung  ganz  oder  zum  grösseren 
Theil  gelöscht  wird,  die  Auszahlung  der  Hälfte  der  bis  dahin  verdienten 
Heuer  (§  78)  verlangen,  sofern  bereits  seclis  Monate  seit  der  Anmusterung  verflossen 
sind.  In  gleicher  Weise  ist  der  Schiffsmann  bei  Ablauf  je  weiterer  sechs  Monate 
nach  der  früheren  Auszahlung  neuerlich  berechtigt,  die  Auszahlung  der  Hälfte 
der  seit  der  letzten  Auszahlung  verdienten  Heuer  zu  fordern. 


§  50. 
Vor  dem  Antritte  der  Reise  ist  dem  Schiffsmanne,  wenn  nichts  anderes 
vereinbart  worden  ist,  auf  Verlangen  eine  Vorschusszahlung  zu  gewähren,  lieber 
die  Höhe  derselben  entscheidet  die  darüber  getroffene  Vereinbarung.  Die  Vor- 
schusszahlung darf  jedoch  nie  in  einem  höheren  als  dem  folgenden  Ausmaasse 
geleistet  werden:  1.  Bei  Verheuerung  auf  Zeit  im  Betrage  des  fünften  Theiles  der 
auf  die  gesammte  Heuerzeit  entfallenden  Heuer.  2.  In  allen  anderen  Fällen  im 
Betrage  der  zweimonatlichen  Heuer,  doch  darf  die  Vorschusszahlung  nie  mehr 
als  die  Hälfte  des  mit  Hinblick  auf  die  voraussichtliche  Dauer  der  Heuerzeit 
entfallenden  Gesammtheuerbetrages  ausmachen.  Ist  die  Vorschusszahlung  durch 
Vereinbarung  nicht  ausgeschlossen  und  über  die  Höhe  derselben  eine  besondere 
Vereinbarung  nicht  getroffen  worden,  so  hat  der  Schiffsmann  das  Recht,  den 
hier  angegebenen  gesetzlichen  Maximalbetrag  des  Vorschusses  zu  verlangen.  Auf 
die  Schiffsofficiere  findet  diese  Bestimmung  keine  Anwendung. 


Entwurf  eines  Gesetzes,  womit  eine  Seeniannsordnung  etc.  535 

§  51. 
Alle  Zahlungen  an  Schiffsleute  müssen,  wenn   nicht   ein  anderes  vereinbart 
ist,    bar  und  wenn    sie   in    einer  bestimmten  Münzsorte   oder  Währung  bedungen 
wurden,  in  dieser  geleistet  v/erden 

§  54. 
In  allen  Fällen,  in  welchen  ein  Schiff  länger  als  zwei  Jahre  auswärts 
verweilt,  tritt  in  Ermangelung  einer  anderweitigen  Abrede  für  den  seit  zwei 
Jahren  in  Dienst  befindlichen  Schiffsmann  eine  Erhöhung  der  Heuer  ein,  ^wenn 
diese  nach  der  Zeit  bedungen  ist.  Diese  Erhöhung  beträgt  in  Ermangelung  einer 
anderweitigen  Abrede  25  Proc.  der  im  Heuervertrage  bestimmten  Heuer. 

§  55. 

Dem  Schifismanne  gebürt  Beköstigung  für  Eechnung  des  Schiffes  von  dem 
Zeitpunkte  des  Dienstantrittes  an.  Er  darf  die  verabreichten  Speisen  und  Getränke 
nur  zu  seinem  eigenen  Bedarfe  verwenden  und  nichts  davon  veräussern,  vergeuden 
oder  sonst  beiseite  bringen. 

§  56. 

Die  Schiffsmannschaft  hat  an  Bord  des  Schiffes  Anspruch  auf  einen  ihrer 
Zahl  und  der  Grösse  des  Schiffes  entsprechenden,  nur  für  sie  und  ihre  Effecten 
bestimmten  wohlverwahrten  und  genügend  zu  lüftenden  Unterkunftsraum.  Kann 
dem  Schiffsmanne  infolge  eines  Unfalls  oder  aus  anderen  Gründen  zeitweilig  ein 
Unterkommen  auf  dem  Schiffe  nicht  gewährt  werden,  so  ist  ihm  ein  anderweitiges^ 
angemessenes  Unterkommen  zu  verschaffen. 

§  57. 
Die  dem  Schiffsmanne  für  den  Tag  mindestens  zu  verabreichenden  Speisen 
und  Getränke    (§  55),    die    Grösse    und    die   Einrichtung   des   Unterkunftsraumes 
(§  56)   und   die  mindestens  mitzunehmenden  Heilmittel  werden   im  Verordnungs- 
wege bestimmt. 

§  58. 

Der  Schiffer  ist  berechtigt,  bei  ungewöhnlich  langer  Dauer  der  Reise  oder  wegen 
eingetretener  Unfälle  eine  Kürzung  der  Rationen  oder  eine  Aenderung  hinsichtlich 
der  Wahl  der  Speisen  und  Getränke  eintreten  zu  lassen.  Das  hiedurch  eventuell 
erzielte  Ersparnis  ist  unter  die  Schiffsmannschaft  gleichmässig  zu  vertheilen  .... 

§  59. 
Wenn  die  Mehrheit  der  Schiffsbemannung  bei  einem  Seemannsamte  Beschwerde 
darüber  erhebt,  dass  das  Schiff,  für  welches  sie  angemustert  ist,  nicht  seetüchtig 
sei,  oder  wenn  ein  Drittheil  der  Mannschaft  in  derselben  Weise  Beschwerde 
führt,  dass  die  Vorräthe,  welche  das  Schiff  für  den  Bedarf  der  Mannschaft  an 
Speisen  und  Getränken  mit  sich  führt,  ungenügend  oder  verdorben  seien,  so  hat 
das  Seemannsamt  eine  Untersuchung  des  Schiffes,  beziehungsweise  der  Vorräthe 
zu  veranlassen  und  deren  Ergebnis  in  das  Schiffstagebuch  einzutragen.  Auch  hat 
dasselbe,  falls  die  Beschwerde  sich  als  begründet  erweist,  für  die  geeignete- 
Abhilfe  Sorge  zu  tragen. 


536  Entwurf  eines  Gesetzes,  womit  eine  Seemannsordnung  etc. 

§  ÖO. 
Falls  der  Schiifsmaiin  nach  Antritt  des  Dienstes  erkrankt  ist  oder  eine 
Verletzung  erlitten  hat,  so  trägt  der  Rheder  die  Kosten  der  Verpflegung 
und  Heilung:  1,  Wenn  der  Schiffsmann  wegen  Krankheit  oder  Verletzung 
die  Eeise  nicht  antritt,  bis  zum  Ablauf  eines  Monates  seit  der  Erkrankung  oder 
Verletzung.  2.  Wenn  er  die  Reise  antritt  und  mit  dem  Schiffe  nach  einem 
inländischen  Hafen  zurückkehrt,  bis  zum  Ablauf  von  drei  Monaten  seit  der  Rück- 
kehr des  Schiffes.  3.  Wenn  er  die  Reise  antritt  und  mit  dem  Schiffe  zurückkehrt, 
die  Rückreise  des  Schiffes  jedoch  nicht  in  einem  inländischen  Hafen  endet,  bis 
zum  Ablauf  von  sechs  Monaten  seit  der  Rückkehr  des  Schiffes.  4.  Wenn  er 
während  der  Reise  auf  dem  Lande  zurückgelassen  werden  musste,  bis  zum 
Ablaufe  von  sechs  Monaten  seit  der  Weiterreise  des  Schiffes.  Auch  gebürt  dem 
Schiffsmanne,  falls  er  nicht  mit  dem  Schiffe  nach  dem  Hafen,  in  welchem  er 
angemustert  wurde  oder  nach  dem  Heimatshafen  des  Schiffes  zurückkehrt,  nach  Wahl 
des  Schiffers  freie  Zurückbeförderung  nach  einem  dieser  Häfen  unter  sinngemässer 
Anwendung  der  §§  76,  77.  Der  Schiffer  hat  den  für  die  Kosten  der  Verpflegung, 
Heilung  und  etwaigen  Zurückbeförderung  entfallenden  Betrag  beim  Seemannsamte, 
oder,  wenn  ein  solches  in  dem  betreffenden  Hafen  sich  nicht  befindet,  in  anderer 
sicherer  Weise  zu  hinterlegen. 

§  61. 
Die  Heuer  bezieht  der  erkrankte  oder  verletzte  Schiffsmann:  Wenn  er 
die  Reise  nicht  antritt,  bis  zur  Einstellung  des  Dienstes;  wenn  er  die  Reise 
antritt  und  mit  dem  Schiffe  zurückkehrt,  bis  zur  Beendigung  der  Rückreise; 
wenn  er  während  der  Reise  auf  dem  Lande  zurückgelassen  werden  musste,  bis 
zu  dem  Tage,  an  welchem  er  das  Schiff  verlässt.  Ist  der  Schiffsmann  bei  der 
Vertheidigung  des  Schiffes  in  Kriegsgefahr  oder  gegen  Seeräuber  beschädigt,  so 
hat  er  überdies  an  eine  angemessene  Belohnung  Anspruch,  über  welche  unter 
Vorbehalt  des  Rechtsweges  das  Seemannsamt  entscheidet 

§  63. 
Auf  den   Schiffsmann,    welcher    sich    die  Krankheit    oder  Verletzung    durch 
eine  gesetzlich  untersagte  Handlung    oder    absichtlich  zugezogen  hat,   finden    die 
§§  60    und  61    keine  Anwendung.     Hiedurch   wird   aber    der  Anspruch    auf   die 
verdiente  Heuer  nicht  berührt  (§  78). 

§  64. 
Stirbt  der  Schiffsmann  nach  Antritt  des  Dienstes,  so  gebürt  seinen 
Erben  die  verdiente  Heuer  (§  78),  wofern  er  das  Schiff  nicht  verlassen  hat, 
bis  zum  Todestage,  wenn  er  aber  auf  dem  Lande  zurückgelassen  werden  musste, 
bis  zu  dem  Tage,  an  welchem  er  das  Schiff  verlassen  hat.  Die  Bestattungskosten 
sind  vom  Rheder  zu  tragen.  Wird  der  Schiffsmann  bei  Vertheidigung  des  Schiffes 
in  Kriegsgefahr  oder  gegen  Seeräuber  getödtet,  so  hat  der  Rheder  überdies 
seinen  Erben  eine  angemessene  Entschädigung  zu  entrichten,  welche  unter  Vor- 
behalt des  Rechtsweges  das  Seemannsamt  bestimmt 


^ 


Entwurf  eines  Gesetzes,  womit  eine  Seeinannsordnung  etc  537 

§  67. 
Endet  bei  'einer  Verheuerung  auf  die  Gesammtreise  die  Rückreise  nicht  in 
dem  Hafen,  von  welchem  das  Schiff  seine  Ausreise  angetreten  hat,  oder  in  dem 
Heimatshafen,  so  hat  der  Schiffsmann,  wenn  nicht  eine  andere  Vereinbarung 
vorliegt,  Anspruch  auf  freie  Zurückbeförderung  je  nach  Wahl  des  Schiffers  nach 
«inem  dieser  Häfen  (§§  76,  77)  und  auf  Fortbezug  der  Heuer  während  der  Eeise. 

§  68. 
Nach  beendigter  Reise  kann  der  Schiffsmann,  möge  er  auf  Gesammtreise- 
oder  auf  Zeit  verheuert  sein,  seine  Entlassung  nicht  früher  verlangen,  als  bis 
das  Schiff  vertäut,  die  Ladung  gelöscht,  das  Schiff  gereinigt  und  auch  die  etwa 
erforderliche  Verklarung  abgelegt  ist.  Ist  der  auf  Zeit  abgeschlossene  Heuer- 
vertrag während  der  Reise  abgelaufen,  so  kann  der  Schiffsmann  in  dem  nächsten 
Hafen  seine  Entlassung  fordern,  sofern  derselbe  nicht  lediglich  wegen  höherer 
Gewalt  oder  um  Ordre  einzuholen  angelaufen  wurde,  und  sobald  die  im  voran- 
stehenden Absätze  festgesetzten  Bedingungen  erfüllt  worden  sind.  Falls  der  Heuer- 
vertrag zu  einer  Zeit  endigt,  wo  das  Schiff  in  einem  Hafen  liegt,  in  welchem 
laut  Bescheinigung  des  Seemannsamtes  oder,  in  Ermangelung  eines  solchen,  der 
Localbehörde,  es  dem  Schiffer  unmöglich  ist,  neue  Mannschaft  anzuheuern,  ist 
der  Schiffsmann  verpflichtet,  gegen  eine  25procentige  oder,  falls  die  ortsüblichen 
Heuersätze  höher  sind,  eine  denselben  gleichkommende  Erhöhung  seiner  bisherigen 
Heuer  den  Dienst  weiter  bis  zu  jenem  Hafen  zu  versehen,  in  welchem  die  erwähnte 
Unmöglichkeit  aufhört.  Eine  solche  Erstreckung  der  Dienstzeit  darf  jedoch  drei 
Monate  keinesfalls  übersteigen. 

§  69. 

Der  Heuervertrag  endet,  wenn  das  Schiff  durch  einen  Zufall  dem  Rheder 
verloren  geht;  insbesondere  wenn  es  verunglückt;  wenn  es  als  reparaturunfähig 
oder  reparaturunwürdig  condemniert  wird;  wenn  es  geraubt  wird;  wenn  es  auf- 
gebracht oder  angehalten  und  für  gute  Prise  erklärt  wird.  Dem  Schiffsmanne 
gebürt  alsdann  nicht  allein  die  verdiente  Heuer  (§  78),  sondern  auch  nach  Wahl 
des  Schiffers  freie  Zurückbeförderung  (§§  76,  77)  nach  dem  Ausreise-  oder 
Heimatshafen. 

§  70. 

Der  Schiffer  kann  den  Schiffsmann,  abgesehen  von  den  in  dem  Heuer- 
vertrage bestimmten  Fällen,  vor  Ablauf  der  Dienstzeit  entlassen:  1.  Solange  die 
Reise  noch  nicht  angetreten  ist,  wenn  der  Schiffsmann  zu  dem  Dienste,  zu 
welchem  er  sich  verheuert  hat,  untauglich  ist;  2.  wenn  der  Schiffsmann  eines 
groben  Dienstvergehens,  insbesondere  des  wiederholten  Ungehorsams,  der  fort- 
gesetzten Widerspenstigkeit  oder  der  Schmuggelei  sich  schuldig  macht;  3.  wenn 
der  Schiffsmann  sich  eines  Verbrechens  oder  einer  aus  Gewinnsucht  begangenen 
strafbaren  Handlung  schuldig  macht;  4.  wenn  sich  der  Schiffsmann  durch  eine 
gesetzlich  untersagte  Handlung  oder  absichtlich  eine  Krankheit  oder  Verletzung 
zuzieht,  welche  ihn  arbeitsunfähig  macht;  5.  wenn  die  Reise,  für  welche  der 
Schiffsmann  geheuert  war,  wegen  Krieg,  Embargo  oder  Blockade  oder  wegen 
eines  Ausfuhr-  oder  Einfuhrverbots  oder  wegen  eines  anderen,  Schiff  oder  Ladung 

Zeilschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  X.  Band.  37 


538  Entwurf  eines  Gesetzes,  womit  eine  Seemannsordnung  etc. 

betreffenden  Zufalls  nicht  angetreten  oder  fortgesetzt  werden  kann.  Die  Entlassung^ 
sowie  der  Grund  derselben  muss  dem  Scbiffsnianne  angezeigt  und  in  den  Fällen 
der  Ziffern   2  bis  5   in    das    Schiffstagebuch   eingetragen  werden. 

§  71. 
Dem  Schiffsmanne  gebürt  in  den  Fällen  der  Ziffern  1  bis  4  des  §  70 
nicht  mehr  als  die  verdiente  Heuer  (§  78),  in  den  Fällen  der  Ziffer  5  hat  er, 
wenn  er  nach  Antritt  der  Reise  entlassen  wird,  Anspruch  nicht  allein  auf  die 
verdiente  Heuer,  sondern  auch  auf  freie  Zurückbeforderung  (§§  76,  77),  je  nach 
Wahl  des  Schiffers,  nach  dem  Ausreise-  oder  Heimatshafen. 

§  72. 

Der  Schiffsmann,  welcher  aus  anderen  als  den  im  §  70  erwähnten  Gründen 
vor  Ablauf  des  Heuervertrages  entlassen  wird,  behält,  wenn  die  Entlassung  vor 
Antritt  der  Reise  erfolgt,  als  Entschädigung  die  etwa  empfangenen  Hand-  und 
"Vorschussgelder,  soweit  dieselben  den  vertragsmässigen  oder  gesetzlich  zulässigen 
Betrag  nicht  übersteigen.  Sind  Hand-  und  Vorschussgelder  nicht  gezahlt,  so 
erhält  er  als  Entschädigung  jenen  Betrag,  welcher  der  im  §  50  festgesetzten 
Maximalhöhe  der  Vorschüsse  gleichkommt.  Ist  die  Entlassung  erst  nach  Antritt 
der  Reise  erfolgt,  so  hat  er  Anspruch  auf  freie  Zurückbeforderung  (§§  76,  77) 
nach  dem  Ausreise-  oder  Heimatshafen  nach  seiner  Wahl.  Auch  erhält  der 
Schiffsmann  ausser  der  verdienten  Heuer  (§  78)  noch  die  Heuer  für  zwei  oder 
vier  Monate,  je  nachdem  er  in  einem  europäischen  oder  in  einem  nicht  europäischen 
Hafen  entlassen  ist,  jedoch  nicht  mehr,  als  er  erhalten  haben  würde,  wenn  er  erst 
nach  Beendigung  der  Reise  entlassen  worden  wäre.  Den  europäischen  Häfen  sind 
die  nicht  europäischen  Häfen  des  Mittelländischen  und  des  Schwarzen  Meeres, 
dann  die  Häfen  des  Suezcanales  und  des  Rothen  Meeres  gleichzustellen. 

§  73. 
Der  Schiffsmann  kann  seine  Entlassung  fordern:  1.  Wenn  sich  der  Schiffer 
ihm  gegenüber  einer  schweren  Verletzung  seiner  Pflichten,  insbesondere  durch 
Misshandlung  oder  durch  grundlose  Vorenthaltung  von  Speise  und  Trank 
schuldig  macht;  2.  wenn  das  Schiff  die  Flagge  wechselt;  3.  wenn  bei  einer  Ver- 
heuerung auf  die  Gesammtreise  nach  Beendigung  der  Ausreise  eine  Zwischenreise 
beschlossen  oder  wenn  eine  Zwischenreise  beendigt  ist,  sofern  seit  dem  Dienst- 
antritte zwei  Jahre  verflossen  sind,  jedoch  nur  in  dem  Falle,  als  die  Rückreise 
noch  nicht  angeordnet  wäre.  Der  Wechsel  des  Rheders  oder  Schiffers  gibt  dem 
Schiffmanne  kein  Recht,  die  Entlassung  zu  fordern 

§  75. 
Im  Auslande  darf  der  Schiffsmann,  welcher  auf  Grund  der  Bestimmungen 
des  §  73  seine  Entlassung  fordert,  ausser  in  dem  Falle  eines  Flaggenwechsels 
nicht  ohne  Genehmigung  eines  Seemannsamtes  (§  81)  den  Dienst  verlassen.  Ist 
der  Schiffsmann  mit  der  Zurücklassung  einverstanden  und  lässt  sich  eine  Genehmigung- 
hierzu  seitens  des  Seemannsamtes  ohne  Verzögerung  der  Reise  nicht  einholen,  so 
ist  der  Schiffer  befugt,    den  Schiffsmann    ohne    diese    Genehmigung   zu  entlassen. 


Entwurf  eines  Gesetzes,  womit  eine  Seemannsorduung  etch  539 

§  76. 
Wenn    nach    den    Bestimmungen    dieses    Gesetzes    ein  Anspruch    auf  freie 
Zurückbeförderung  begründet  ist,  so  umfasst  derselbe  auch  den  Unterhalt  während 
der  Reise. 

§  77. 

Dem  Ansprüche  auf  freie  Zurückbeförderung  wird  genügt,  wenn  dem  Schiffs- 
raanne,  welcher  arbeitsfähig  ist,  mit  Genehmigung  des  Seemannsamtes  ein  seiner 
früheren  Stellung  entsprechender  und  durch  angemessene  Heuer  zu  vergütender 
Dienst  auf  einem  inländischen  Handelsschiffe  verschafft  wird,  welches  nach  dem 
Heimatshafen,  nach  dem  Hafen,  von  welchem  das  Schiff  seine  Ausreise  angetreten 
hat,  oder  nach  einem  diesen  Häfen  nahe  gelegenen  Hafen  geht.  Wird  der 
Schiffsmann  in  einem  anderen  Hafen,  als  jenem  ausgeschifft,  in  den  er  zurück- 
befördert werden  soll,  so  gebürt  ihm  für  den  Eest  der  Reise  eine  entsprechende 
Vergütung.  Ist  der  Schiffsmann  kein  Oesterreicher,  so  wird  ein  Schiff  seiner 
Nationalität  einem  inländischen  Schiffe  gleichgeachtet  und  der  Schiffsmann  hat, 
woferne  keine  andere  Vereinbarung  erzielt  wird,  den  Anspruch  auf  die  Rück- 
beförderung in  den  Ausreisehafen. 

§  78. 
In  den  Fällen  der  §§  49,  63,  64,  69,  71,  72  und  74  wird  die  verdiente- 
Heuer,  sofern  die  Heuer  nicht  zeitweise,  sondern  in  Bausch  und  Bogen  für  die 
ganze  Reise  bedungen  ist,  mit  Rücksicht  auf  den  vollen  Heuerbetrag  nach  Ver- 
hältnis der  geleisteten  Dienste  sowie  des  etwa  zurückgelegten  Theiles  der  Reise 
bestimmt.  Zur  Ermittelung  der  im  §  72  erwähnten  Heuer  für  einzelne  Monate 
wird  die  durchschnittliche  Dauer  der  Reise  einschliesslich  der  Ladungs-  und 
Löschungszeit  unter  Berücksichtigung  der  Beschaffenheit  des  Schiffes  in  Ansatz, 
gebracht  und  danach  die  Heuer  für  die  einzelnen  Monate  berechnet. 

§  79. 
Insoweit  über  den  Anspruch,  welcher  dem  Schiffsmanne  gegen  den  Schiffer 
nach  diesem  Gesetze  zusteht,  zwischen  denselben  eine  Vereinbarung  nicht  zustande 
kommt,  hat  der  Schiffer  den  streitigen  Betrag  bei  dem  nächsten  Seemannsamte 
in  der  von  demselben  bestimmten  Höhe  zum  Zwecke  des  weiteren  gesetzlichen 
Verfahrens  zu  erlegen. 

§  80. 

Der  dem  Schiffsmanne  als  Lohn  zugestandene  Theil  an  der  Fracht  oder  am 
Gewinn  wird  als  Heuer  im  Sinne  dieses  Gesetzes  nicht  angesehen. 

§  81. 
Der  Schiffer  darf  einen  Schiffsmann  im  Auslande  während  des  Bestandes 
des  Heuervertrages  nicht  ohne  Genehmigung  des  Seemannsamtes  zurücklassen^^ 
Wenn  für  den  Fall  der  Zurücklassung  eine  Hilfsbedürftigkeit  des  Schiffsmanne» 
zu  besorgen  ist,  so  kann  die  Erth eilung  der  Genehmigung  davon  abhängig 
gemacht  werden,  dass  der  Schiffer  gegen  den  Eintritt  der  Hilfsbedürftigkeit  für 
einen  Zeitraum  bis  zu  drei  Monaten  Sicherstellung  leistet.  Die  Bestimmungen  des- 
§   131  werden  hierdurch  nicht  berührt. 

37* 


540  Entwurf  eines  Gesetzes,  womit  eine  Seemannsordnung  etc. 

V.  Abschnitt.  Verpflichtung  zur  Mitnahme  hilfsbedürftiger 

Seeleute. 

§  82. 
Jedes  österreichische  Seehandelsschiflf,  welches  aus  einem  ausländischen 
Hafen  nach  einem  inländischen  bestimmt  ist,  ist  verpflichtet,  inländische  Seeleute, 
welche  im  Auslande  in  hilfsbedürftigem  Zustande  sich  befinden,  behufs  ihrer 
Zurückbeförderung  in  das  Inland  auf  schriftliche  Anweisung  des  Seemannsamtes 
gegen  eine  im  Verordnungswege  festzustellende  Entschädigung  nach  seinem 
Bestimmungshafen  mitzunehmen.  Dieselbe  Verpflichtung  gilt  für  österreichische 
Seehandelsschiff'e,  welche  zwar  nach  einem  ausländischen  Hafen  bestimmt  sind, 
von  dem  jedoch  die  weitere  Rückkehr  des  hilfsbedürftigen  Seemannes  erleichtert 
wird.  Zur  Erfüllung  dieser  Verpflichtungen  kann  der  Schiffer  vom  Seemannsamte 
zwangsweise  angehalten  werden 

§  84.. 
Die  Mitnahme  kann  verweigert  werden:  1.  Wenn  und  soweit  an  Bord  kein 
angemessener  Platz  für  die  Mitzunehmenden  vorhanden  oder  die  Beschaffung  des 
erforderlichen  Proviantes  unmöglich  ist;  2.  wenn  der  Mitzunehmende  bettlägerig 
oder  mit  einer  die  Gesundheit  oder  Sicherheit  der  Mannschaft  gefährdenden 
Krankheit  behaftet  ist;  3.  wenn  und  soweit  die  Zahl  der  Mitzunehmenden  ein 
Vierttheil  der  Schiffsmannschaft  übersteigt;  4.  wenn  die  Anweisung  des  Seemanns- 
amtes zur  Mitnahme  bei  Segelschiffen  nicht  mindestens  zwei  Tage,  bei  Dampfern 
nicht  mindestens  zwei  Stunden  vor  dem  Zeitpunkte  erfolgt,  an  welchem  das  Schiff 
zum  Abgehen  fertig  ist.  Die  Entscheidung  über  den  Grund  der  Weigerung  steht 
dem  Seemannsamte  zu. 

§  85. 
Während    der    Eeise   erhält    der   Mitgenommene  Kost   und  Unterkunft  von 
Seite  des  Schiffers.    Er  ist  der  Disciplinargewalt  des  Schiffers  unterworfen. 

§  86. 
Die    Auszahlung    der    Entschädigung    erfolgt    im   Bestimmungshafen    durch 
das   Seemannsamt   gegen    Auslieferung    der  wegen    der   Mitnahme    ertheilten  An- 
weisung (§  82). 

§  87. 
Der  Mitgenommene  haftet  für  die  durch  die  Zurückbeförderung  verursachten 
Auslagen.  Die  Vorschriften,  welche  den  Eheder  oder  andere  Personen  zur  Erstattung 
solcher  Auslagen  verpflichten,  w^erden  durch  dieses  Gesetz  nicht  berührt. 

VI.  Abschnitt.  S  c  h  i  f  f  s  d  i  s  c  i  p  1  i  n. 

§  88. 
Der  Schiffsmann  ist  der  Disciplinargewalt  des  Schiffers  unterworfen.  Dieselbe 
beginnt  mit  dem  Antritte  des  Dienstes  und  erlischt  mit  dessen  Beendigung.  .  .  . 


m 


Entwurf  eines  Gesetzes,  womit  eine  Seemannsordnung  etc.  541 

§  94. 
Als  Disciplinarvergehen  der  Schiffsmannschaft  werden  insbesondere  angesehen : 
Nachlässigkeit  im  Dienste;  Ungehorsam  gegen  den  Dienstbefehl  eines  Vorgesetzten; 
ungebürliches  Betragen  gegen  Vorgesetzte,  gegen  andere  Mitglieder  der  Schiffs- 
mannschaft oder  gegen  Eeisende;  Verlassen  des  Schiffes  ohne  Erlaubnis  oder 
Ausbleiben  über  die  festgesetzte  Zeit;  Wegbringen,  wegbringen  lassen  eigener 
oder  fremder  Sachen  von  Bord  oder  an  Bord  bringen  oder  an  Bord  bringen 
lassen  von  Gütern  oder  sonstigen  Gegenständen  ohne  Erlaubnis;  eigenmächtige 
Zulassung  fremder  Personen  an  Bord  und  Gestattung  des  Anlegens  von  Fahrzeugen 
an  das  Schiff;  Trunkenheit  im  Schiffsdienste;  Unvorsichtigkeit  mit  Feuer  und 
Licht;  Vergeudung,   unbefugte  Veräusserung  oder  Beiseitebringen    von   Proviant. 

§  95. 
Der    Schiffer    kann    als    Disciplinarstrafe    über    die   Schiffsmannschaft    mit 
Ausschluss    der   Schiffsofficiere    und    Schiffsunterofficiere    verhängen:     1.    Massige 
Erschwerung  des  Dienstes;  2.  Geldbusse  bis  zum  Betrage  von  einer  Monatsheuer 
und  im  Falle  der  Wiederholung  bis  zu  zwei  Monatsheuern  (§  78). 

§  96. 
Ueber    die    Schiffsofficiere    und  Schiffsunterofficiere    kann    der    Schiffer    als 
Disciplinarstrafe  verhängen:    1.  Bordarrest  bis  zu  acht  Tagen;     2.  Cabinenarrest 
bis  zu  vier  Tagen;    3.   Geldbusse    bis    zum  Betrage  von    einer  Monatsheuer   und 
im  Falle  der  Wiederholung  bis  zu  zwei  Monatsheuern  (§   78) 


VII.  Abschnitt.  Strafgewalt  der  Seemanns  ämter 

VIII.  Abschnitt.  Seereate 

IX.  Abschnitt.  Verfahren 

X.  Abschnitt.  Schlussbestim  raun  gen. 
§  140. 
Ein   Exemplar  dieses   Gesetzes    sowie    der    über  Kost   und   Unterkunft    im 
Mannschaftsraume  geltenden  Vorschriften  (§  57)  muss  der  Schiffsmannschaft  und 
den  Passagieren  jederzeit  zugänglich  sein 


NOCH  EIN  WORT  ÜBER  DIE  THEORETISCHEN 
GRUNDLAGEN  DER  DOPPELTEN  BUCHHALTUNG. 


VON 


DR-  EICHARD  REISCH  UND  DR-  J.  C.  KREIBIG. 


I. 

llerr  Professor  S  e  i  d  1  e  r  hat  an  zwei  Stellen  des  laufenden  Bandes  dieser 
"Zeitschrift  (I,  S.  52  S.  und  III,  S.  325  ff.)  Gelegenheit  genommen,  unserem 
Buche  „Bilanz  und  Steuer"  zwar  im  allgemeinen  dankenswertes  Wohlwollen 
entgegenzubringen,  gleichzeitig  aber  den  Vorwurf  zu  machen,  dass  dasselbe 
der  Theorie  nicht  die  gebärende  Beachtung  schenke  und  auch  auf  nur  mangel- 
haften theoretischen  Grundlagen  beruhe;  demnach  hat  Herr  Professor  Seidler 
seinerseits  unternommen,  „die  Einrichtungen  der  doppelten  Buchhaltung  überall 
auf  ihre  letzten  Gründe  zurückzuführen,  um  hierdurch  ein  sicheres  Fundament 
zu  schaffen,  auf  dem  die  praktische  Lehre  in  leicht  fasslicher  Weise  aufgebaut 
werden  kann'^ 

Ersteren  Vorwurf  hätten  wir  vielleicht  unschwer  schweigend  ertragen:  Der 
Vorwurf  richtet  formell  seine  Spitze  weniger  gegen  den  Inhalt,  als  gegen  die 
Verwertung  der  „Theorie*  in  unserer  Darstellung,  berührt  sohin  weniger 
das  buchhalterische,  als  das  methodologische  oder  doch  pädagogische  Gebiet,  auf 
welches  hier  einzugehen  wohl  nicht  der  Platz  ist;  weiter  wird  aber  auch  gar 
nicht  der  Versuch  unternommen,  darzulegen,  warum  die  von  uns  consequent 
durchgeführte,  in  Deutschland  und  in  der  Schweiz  geradezu  schon  allgemein 
anerkannte  Theorie  der  doppelten  Contenreihen  eine  unrichtige  sei;  endlich  wird 
dieser  Vorwurf  ja  nicht  uns  allein,  sondern  der  gesammten,  so  umfangreichen 
buchhalterischen  Literatur  gemacht,  welcher  schlankweg  eröffnet  wird,  dass  es 
ihr  „bisher  nicht  gelungen  ist,  eine  befriedigende  theoretische  Erklärung  zu 
finden",  daher  sie  „die  Theorie  mehr  als  Beiwerk  und  Aufputz  behandelt".  Diesem 
Pauschalvorwurfe  an  dieser  Stelle  entgegenzutreten,  fühlen  wir  uns  nicht  berufen, 
mag  derselbe  auch  angesichts  der  geradezu  zahllosen  und  theilweise  sehr  geist- 
reichen Erklärungsversuche  noch  so  verwunderlich  sein.  Es  sei  in  dieser  Beziehung 
nur  flüchtig  erinnert  an  die  mathematische  Principformel  Fr.  Schars,  an  die 
Theorien  Augspurgs,  Hüglis  und  Berliners,  an  die  langwierigen  Discussionen 


Noch  ein  Wort  über  die  theoretischen  Grundlagen  der  doppelten  Buchhaltung.     543 

über  die  materialistische  und  personalistische  CIrundauffassung  in  der  Buch- 
haltung, aus  welchen  die  so  literaturreiche  Logismographie  ihren  Ursprung  her- 
leitet, an  die  älteren  Versuche  einer  graphischen  oder  algebraischen  Deutung 
der  Contentheorie  u.  a.  m. 

Nicht  ohne  Erwiderung  aber  glauben  wir  jene  Ausführungen  lassen  zu 
sollen,  in  welchen  Herr  Professor  Seidler  seine  neuen  theoretischen  Grundlagen 
der  doppelten  Buchhaltung  wiedergibt  —  und  dies  hauptsächlich  aus  dem  Grunde, 
weil  diese  Ausführungen  sowohl  mit  Rücksicht  auf  ihren  Inhalt,  als  ganz  insbe- 
sondere mit  Rücksicht  auf  die  höchst  angesehene  fachwissenschaftliche  Stellung 
des  sehr  geschätzten  Herrn  Verfassers  nur  zu  leicht  geeignet  wären,  das  kaum 
beginnende  Verständnis  der  Juristenwelt  für  die  kaufmännische  Buchführung 
aufs  neue  zu  erschüttern  und  auf  Abwege  zu  führen. 

Zu    diesem    Behufe    sei    es    gestattet,    ganz    kurz   —   gewissermaassen    mit 
Schlagworten  —   den  Inhalt   der  von   uns  vertretenen  Theorie '  der  Doppelreihen 
von    Conten    zu,  recapitulieren    und    dem    sodann    gegenüberzustellen,    was    Herr^ 
Professor  Seidler  als  theoretische  Grundlage  der  doppelten  Buchhaltung  verstanden 
haben  will. 

II. 

Was  ist  das  Problem  bei  der  theoretischen  Grundlegung  der  doppelten 
Buchführung,  was  ist  für  den  Lernenden  und  was  ist  auch  im  Sinne  der  Dar- 
stellung Professor  Seidlers  jener  Punkt,  welcher  einer  besonderen  Erklärung 
bedarf?  Das  Erklärungsbedürftige  besteht  bekanntlich  darin,  dass  es  in  der 
doppelten  Buchführung  einerseits  Conten  gibt,  bei  welchen  Wertzuwächse  auf 
Soll  gebucht  werden  (z.  B.  eingehende  Waren  auf  Warenconto),  während 
anderseits  gleichzeitig  Conten  existieren,  bei  welchen  Wertzuwächse  auf  Haben 
gebucht  werden  (z.  B.  Zinsen  und  Sconti  zu  unseren  Gunsten  auf  Zinsen-  und 
Scontoconto).  Es  muss  sohin  sowohl  die  Natur  der  Bezeichnung  „Soll"  und  „Haben", 
als  auch  der  Unterschied  zwischen  den  beiden  in  Betracht  kommenden  Kategorien 
von  Conten  derart  festgestellt  werden,  dass  diese  auffallende  und  das  Verständnis 
der  doppelten  Buchführung  so  sehr  erschwerende  Erscheinung  eine  befriedigende 
Aufklärung  erfahre.  Die  von  uns  vertretene  Theorie  der  doppelten  Contenreihe 
lässt  sich  nun  in  diesen  beiden  Punkten  etwa  dahin  formulieren,  1.  dass  „Soll" 
und  „Haben"  in  der  doppelten  Buchhaltung  Bezeichnungen  für  Functionen 
der  mathematischen  Vorzeichen  „-}-"  und  „ — "  darstellen  und  2.  dass  in  der 
doppelten  Buchhaltung  nicht  bloss  eine  Verrechnung  der  Vermögensbestand- 
theile,  des  Bruttovermögens,  sondern  parallel  hiermit  auch  eine  Verrechnung 
des  Reinvermögens  und  der  Erfolge  stattfindet,  indem  einerseits  die 
Veränderungen  des  Bruttovermögens,  anderseits  (sei  es  fortlaufend, 
sei  es  beim  Bücherabschlüsse)  auch  die  hierdurch  bewirkten  Ver- 
änderungen des  R  e  i  n  V  e  r  m  ö  g  e  n  s  verzeichnet  werden.  Diese  Verrechnung 
geschieht  auf  zwei  getrennten  Contenreihen  —  auf  der  Contenreihe  der  Ver- 
mögensbestandtheils- Verrechnung  und  auf  jener  der  Reinvermögens-  und  Erfolgs- 
verrechnung. 

ad  1.    Innerhalb   der   Contenreihe  der  Vermögensbestandtheils-Verrechnung 
werden  jene  Buchungen,  welche   einen  Wertzugang  zum  Ausdrucke   bringen,   auf 


544  R'-isch  und  Kreibig. 

Soll,  jene,  welche  einen  Wertabgang  ausdrücken,  auf  Haben  gebucht;  es 
bedeutet  also  Soll  +,  Haben  —  (umgekehrt  bedeutet  aber  in  der  Contenreihe 
der  Beinvermögensverrechnung,  wie  wir  ad  2  sehen  werden,  Soll  — ,  Haben  -|-). 

Die  Technik  der  doppelten  Buchhaltung  beruht  nun  darauf,  dass  jeder 
Buchung  auf  Soll  eine  gleich  grosse  Buchung^)  auf  Haben  entspricht, 
wodurch  die  stete  Uebereinstimmung  aller  Soll-  und  Habenposten  herbeigeführt 
wird.  Da  die  doppelte  Buchhaltung  aber  eine  Doppelrechnung  (über  das  Brutto- 
vermögen einerseits,  das  Reinvermögen  und  die  Erfolge  anderseits)  führt,  bedeutet 
das  gegenseitige  Stimmen  der  Soll-  und  Habenposten  mehr  wie  das  bloss  formale 
Gleichsein  zweier  Colonnenadditionen,  es  ist  die  innere  Zusammenstimmung  einer 
zweifachen  reciproken  Verrechnung. 

ad  2.  Das  Keinvermögen  eines  Unternehmens  ist  bekanntlich  die  Differenz 
zwischen  Activen  und  Passiven;  eintretende  Aenderungen  der  Activen  und  Passiven 
werden  diese  Differenz  nur  insolange  unverändert  lassen,  als  sie  sich  gegenseitig 
paralysieren,  andernfalls  aber  auch  eine  Aenderung  der  vorhandenen  Differenz,^ 
d.  i.  des  Reinvermögens,  bewirken,  u.  zw.  in  demjenigen  Sinne,  in  welchem  die 
Aenderung  des  Minuend  oder  Subtrahend  überwiegt;  derartige  Aenderungen 
werden  bewirkt  durch  erzielte  „Erfolge"  (Gewinne  oder  Verluste). 

Mathematisch  stellt  sich  dies  folgendermaassen  dar: 

A  (Activa)  —  P  (Passiva)  =  R  (Reinvermögen). 

Wenn  a  ^  p : 

(A  +  a)  —  (P  +  p )  =  R;  oder  A  +  a  —  P  =  R  +  p  und  A  —  P  —  p  = 

R  —  a. 

Wenn  a  >  p  und  a  —  p  :^  -f-  c : 

(A-f-a)  —  (PH-p)  =  A  —  P-|-c  =  R  +  c;  wenn  aber  a  -<  p  und 
a  —  p  =  —  c,  so  ergibt  sich  A  —  P  —  c=:R  —  c. 

Die  linke  Hälfte  der  Gleichung  stellt  uns  die  Vermögensbestandtheils- 
Verrechnung,  die  rechte  Hälfte  aber  die  Reinvermögens-  und  Erfolgsverrechnung 
dar;  wir  ersehen  aus  den  vorstehenden  Gleichungen  aber  auch,  dass  in  allen 
Fällen  jene  Grösse,  um  welche  sich  per  Saldo  die  linke  Hälfte  ändert,  mit 
demselben  Vorzeichen  auch  auf  der  rechten  Seite  erscheint.  Es  kann 
dies  ja  auch  nicht  wundernehmen,  weil  selbstverständlich  die  Gleichung  „Rein- 
vermögen gleich  Differenz  zwischen  Activen  und  Passiven"  nur  unter  der 
Bedingung  richtig  bleiben  kann,  dass  bei  einer  einseitigen  Vergrösserung  der 
Activen  oder  Verringerung  der  Passiven  (i.  e.  bei  erzieltem  Gewinn)  gleich- 
zeitig auch  eine  ebenso  grosse  Erhöhung,  bei  einer  einseitigen  Verringerung  der 
Activen  oder  Vermehrung  der  Passiven  (i.  e.  bei  erlittenem  Verluste)  eine- 
ebenso  grosse  Verminderung  des  Reinvermögens  verbucht  wird. 

Für  das  Gebiet  der  doppelten  Buchhaltung  aber  resultiert  aus  diesem 
rechnerischen  Ergebnisse  die  Schwierigkeit,  dass  sie  zwei  Buchungen  mit  dem- 
selben Vorzeichen  vornehmen  muss;  soferne  die  Doppik  also  das  Vor- 
zeichen +  allgemein  mit  „Soll"  bezeichnen  würde,  müsste  sie  zwei  Verbuchungen 


^)  Eventuell  auch  mehrere,  per  Summa  gleich  grosse  Buchungen. 


Noch  ein  "Wort  über  die  theoretischen  Grundlagen  der  doppelten  Buchhaltung.     545 

auf  der  Sollseite  (ohne  Gegenverbuchung  auf  der  Habenseite)  durchführen,  was 
dem  Grundprincipe  ihrer  technischen  Anlage  widerspräche.  Dieser  Schwierigkeit 
hat  nun  die  doppelte  Buchhaltung  in  der  Weise  abgeholfen,  dass  sie  der 
Bezeichnung  „Soll"  und  ,,Haben"  in  der  Eeinvermögens-Verrechnung  genau  die 
entgegengesetzte  Bedeutung  beilegte,  wie  in  der  Vermögensbestandtheils-Verrechnung, 
so  dass  das  „Soll"  in  der  Keinvermögensverrechnung  ,als  — ,  das  Haben  aber  als 
+  zu  gelten  hat. 

Infolgedessen  kann  jeder  Betrag,  welcher  sowohl  für  die  Vermögensbestand- 
theils-Verrechnung,  als  auch  für  die  Eeinvermögensverrechnung  mit  dem  Vor- 
zeichen -f-  zu  buchen  ist,  gleichwohl  die  herkömmliche  Gegenverbuchung  im 
Soll  der  ersteren  und  im  Haben  der  letzteren  Verrechnung  finden.  Es  handelt 
sich  bei  dieser  Lösung  der  aufgetauchten  Schwierigkeit  unleugbar  um  einen 
technischen  Kunstgriff  der  doppelten  Buchhaltung ;  derselbe  alteriert 
jedoch  selbstverständlich  weder  das  Wesen,  noch  die  mathematische  Eichtigkeit 
der  vorstehend,  entwickelten  Aufgaben  der  doppelten  Buchhaltung,  sondern 
emöglicht  vielmehr  erst  die  Anlage  und  systematische  Durchführung   derselben.^) 

m. 

Die  Unrichtigkeit  dieser  vorstehend  vielleicht  präciser  als  bisher  formulierten, 
im  übrigen  insbesondere  von  F.  Hügli^)  bereits  wiederholt  und  vorzüglich 
entwickelten  Theorie  hat  Herr  Professor  S  e  i  d  1  e  r,  wie  bemerkt,  nicht  nachge- 
wiesen und  sich  vielmehr  nur  auf  die  Bemerkung  beschränkt,  dass  sein  Versuch 
der  theoretischen  Grundlegung,  soferne  er  gelungen  sei,  indirect  auch  eine 
Widerlegung  aller  anderen  Theorien  enthalte  (S.  326).  Wir  müssen  uns  daher 
nunmehr  der  Frage  zuwenden,  ob  seinen  Darlegungen  thatsächlich  eine  befrie- 
digendere Lösung  des  Problems  gelungen  ist. 


')  Ueber  die  Thatsache,  dass  die  Divergenz  in  der  Bedeutung  von  „Soll"  einer- 
seits in  der  Vermögensbestandtheils- Verrechnung,  anderseits  in  der  Reinvermögens- 
verrechnung eine  künstlich  und  absichtlich  herbeigeführte  ist,  um  für  jede  Habenbuchung 
eine  Gegenverbuchung  auf  Soll  durchführen  zu  können,  lässt  sich  durch  keine  „Theorie" 
hinwegkommen.  Es  sei  daher  schon  hier  constatiert,  dass  auch  Herr  Professor  Seidler 
die  gegensätzliche  Bedeutung  von  „Soll"  auf  den  Bestandconten  einerseits,  Capital-, 
Bilanz-  und  Gewinn-  und  Verlustconto  anderseits  ausschliesslich  darauf  zurückfährt, 
dass  man  den  letztgenannten  „Uebersichten"  die  Form  von  Conten  gegeben  hat.  „Die 
Stellung  der  Passiven  im  Soll,  der  Activen  im  Haben  des  Capitalconto  beruht  aus- 
schliesslich auf  dem  formalen  Grunde,  dass  diese  Grössen  sich  in  den  Particular- 
conten  (Bestands-  und  Personenconten)  auf  der  entgegeng<  setzten  Seite  befinden..." 
(S.  62).  Wir  wollen  dem  Urtheile  des  Lesers  überlassen,  inwieferne  diese  Erklärung  — 
abgesehen  von  den  später  vorzubringenden  anderweitigen  Einwendungen  —  besser  geeignet 
sein  könnte,  die  Einrichtungen  der  doppelten  Buchhaltung  „auf  ihre  letzten  Gründe 
zurückzuführen",  als  die  von  uns  gegebene  Theorie,  welche  die  divergierende  Bedeutung 
von  „Soll"  in  der  einen  und  der  anderen  Contenreihe  durch  die  mathematischen 
Aufgaben  der  doppelten  Buchhaltung  als  einer  Parallelverrechnung  von  Brutto- 
und  Nettovermögen  erklärt. 

2)  Vgl.  F.  Hügli:  „Die  Buchhaltungssysteme  und  Buchhaltungsformen",  Bern  1887, 
vor  allem  aber  seine  als  „Buchhaltungsstudien",  Bern  1900,  erschienenen  gesammelten 
Aufsätze. 


546  Reisch  und  Kreibig. 

Innerhalb  der  Ausführungen  des  Herrn  Professors  Seidler  lassen  sich 
unschwer  zwei  voneinander  scharf  getrennte  Theile  unterscheiden,  ein  positiver 
und  ein  negativer.  Der  erstere  geht  von  der  Behauptung  aus,  „dass  jeder 
Geschäftsfall  ökonomisch  die  Umänderung  einer  Wertform  (A)  in  eine  andere 
Wertform  (B)  bedeutet,  woraus  sich  von  selbst  für  die  Buchführung  die  Folgerung 
ergibt,  jeden  Geschäftsfall  in  der  Eechnung  beider  Wertformen  in  Evidenz  zu 
halten  ...  In  der  Eechnung  der  einen  Wertform  ist  eine  Vermehrung,  in  der 
Rechnung  der  anderen  eine  Verminderung  zu  verzeichnen"  (S.  55).  Wertver- 
mehrungen werden  im  Soll,  Wertverminderungen  im  Haben  verrechnet;  dieser 
Grundsatz  gelte  nicht  nur  für  Conten  der  Vermögensbestandtheils-Verrechnung, 
sondern  auch  für  die  (von  uns  als  Conten  der  Eeinvermögens-Verrechnung  erklärten) 
Erfolgsconten.  Denn  auch  Betriebsausgaben  stellen  erworbene 
Werte  dar,  „im  Soll  werden  die  im  Betriebe  ,zu  consumierenden'  Wertzugänge, 
im  Haben  die  im  Betriebe  ,producierten'  Wertabpänge  gebucht"  (S.  58). 

Der  negative  Theil  der  Ausführungen  Professor  Seidlers  besteht  darin, 
dass  er  den  Reinvermögensconten  (Capital-,  Gewinn-  und  Verlust-  und  Bilanz- 
conto)  schlechthin  den  Charakter  von  Conten  abspricht  und  sie  zu  blossen 
„Uebersichten"  degradiert,  welchen  aus  rein  formalen  Gründen  „die  Gestalt  von 
in  Soll  und  Haben  getheilten  Conten"   gewährt  wird,  ^j 

IV. 

Der  positive  Theil  der  von  Professor  S  e  i  d  1  e  r  aufgestellten  Theorie  beruht 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  lediglich  auf  einer  absonderlichen  Terminologie, 
welche  z.  B.  in  der  Begleichung  von  ßegieauslagen,  etwa  für  Beleuchtung  und 
Reinigung  der  Geschäftslocalitäten,  in  der  Entrichtung  der  Steuern  und  in  der 
Gewährung  milder  Gaben  an  Arme  „ Wertzugänge "  erblicken  will.  Uns  scheint 
diese  Terminologie,  auch  wenn  wir  nur  gezahlte  Arbeitslöhne,  entrichtete  Geschäfts- 
miete oder  beglichene  Passivzinsen  in  Betracht  ziehen,  schon  nationalökonomisch 
nicht  zutreffend;  vom  Standpunkte  des  Buchhalters  aus  ist  sie  es  ganz  zweifellos, 
weil  diese  immateriellen  „Wertzugänge"  jedenfalls  keinen  Gegenstand  seiner 
Buchführung  bilden. 

Denn  Gegenstand  der  Buchführung  sind  nur  Bestände  oder  Erfolge,  nicht 
aber  auch  dem  Betriebe  im  allgemeinen  erM'aclisende,  concret  in  keiner  Weise 
fassbare  „Vortheile",  wie  Nutzeffect  des  gemieteten  Locales  oder  der  geleisteten 
Arbeit:  Für  den  Buchhalter  existiert  nur  die  Ausgabe  für  gezahlte  Löhne,  aber 
der  Gegenwert,  die  Arbeitsleistungen,  werden  von  ihm  als  solche  nicht  verbucht; 
es    wäre    also    eine    arge    Fiction,    die    auf   Soll    des    Lohncontos    erscheinenden 


1)  Warum  es  „viel  klarer"  sein  sollte,  die  auf  Bilanzconto  verrechneten  Grössen 
„als  das  zu  bezeichnen,  was  sie  ihrer  Natur  nach  sind,  als  Activa  und  Passiva,  beziehungs- 
weise als  positive  und  negative  Elemente  des  Reinertrages"  (S.  62),  bleibt  unerfindlich: 
Wird  die  rechte  Seite  der  Bilanz  statt  mit  „Haben"  mit  „Passiva"  überschrieben,  so 
erscheint  das  Reinvermögen  und  der  Gewinn  als  Passivum  der  Unternehmung,  was  dem 
Laien  wahrscheinlich  ebenso  unklar  bleiben  wird,  als  wenn  er  diese  Grössen  unter 
„Haben"  veibucht  findet;  dass  aber  in  dm  Büchern  des  Unternehmers  das  Bilanzconto 
nicht  mit  „Activa"  und  „Passiva"  überschrieben  sein  wird,  ist  selbstverstäudlicli,  weil 
jede  Verbuchung  aus  Eintragungen  auf  „Soll"  und  „Haben"  bestehen  muss. 


Noch  ein  Wort  über  die  theoretischen  Grundlagen  der  doppelten  Buchhaltung.     547 

rgezahlten  Löhne  gleichwohl  als  einen  „Wertzuwachs"  deuten  zu  wollen.  Bei 
steuern,  Spenden,  Strafgeldern  und  ähnlichen,  eines  unmittelbaren  oder  auch  nur 
mittelbaren  Aequivalentes  entbehrenden  Ausgaben  aber  versagt  selbst  diese 
Fiction  vollständig;  es  ist  daher  wohl  nicht  erst  nothwendig,  etwa  noch  auf 
Privatconto  oder  Haushaltungsconto  zu  verweisen:  Oder  sollen  auch  die  auf  Soll 
dieser  Conten  gebuchten  Cassa-Ent  nahmen  des  Chefs  „Wertzugänge" 
bedeuten,  etwa  weil  der  Unternehmer  sich  für  dieses  Geld  „Lebensgenuss"  ver- 
schafft? 

Unsere  Theorie  deutet  diese  Fälle  ganz  ungezwungen,  wie  folgt:  Den 
vorerwähnten  Ausgaben  steht  eine  Erwerbung  von  in  der  Buchführung  zu  verzeich- 
nenden Vermögensäquivalenten  nicht  zur  Seite ;  die  Ausgaben  bewirken  daher 
eine  Minderung  der  vorhandenen  Activa  und  damit  zugleich  auch  eine 
Minderung  des  vorhandenen  Keinvermögens;  sie  sind  nach  der 
Formel  A  —  a  —  Pz=R  —  a  auf  Cassaconto  Haben,  aber  auf  Erfolgconto  (Eegie-, 
Spesen-,  Steuer-^  Privatconto)  Soll  zu  verrechnen,  weil  das  mathematische  Vor- 
zeichen —  bei  der  Brattovermögens- Verrechnung  durch  Habenbuchungen, 
bei  der  Nettovermögens-Verrechnung  aber  durch  Sollbuchungen  zur  Geltung 
gebracht  wird.  Diese  Deutung  entspricht  offenbar  in  allen  Fällen  der  jedermann 
ersichtlichen  materiell-wirtschaftlichen  Sachlage  und  der  dargelegten  mathe- 
matischen Aufgabe  der  doppelten  Buchführung. 

V. 

Vermögen  wir  so  den  positiven  Theil  der  Theorie  des  Herrn  Professors 
S  e  i  d  1  e  r  aus  terminologischen,  aber  auch  aus  sachlichen  Gründen  nicht  als 
richtig  anzuerkennen,  so  glauben  wir  in  ihm  überdies  und  insbesondere  auch 
noch  den  Urheber  des  gleichfalls  inacceptablen  negativen  Theiles  der  Theorie 
bekämpfen  zu  müssen;  denn  dieser  negative  Theil  lässt  sich  füglich  auch  dahin 
formulieren :  Was  sich  ausser  den  Erfolgsconten  sonst  noch  dem  aufgestellten 
Lehrsatze:  „Wertzuwächse  sind  auf  Soll.  Wertabgänge  sind  auf  Haben  zu  buchen" 
nicht  beugt,  wird  nicht  als  echter  Conto,  sondern  nur  als  „Uebersicht"  anerkannt! 
Warum  dieses  Anathema  über  alle  Reinvermögensconten,  insbesondere  auch  über 
den  für  die  doppelte  Buchhaltung  geradezu  grundlegenden  Capitalconto  gesprochen 
wurde,  ist  uns  ganz  unerklärlich  geblieben. 

Das  vom  Unternehmer  in  die  Unternehmung  eingebrachte  Reinvermögen 
(nehmen  wir  der  Einfachheit  halber  an  100.000  K  bar)  ist  doch  gewiss  so  gut 
ein  Wert,  würdig  in  der  Buchführung  berücksichtigt  zu  werden,  wie  irgendein 
anderer  Wert;  warum  soll  also  diesem  Werte  nicht  genau  ebenso  ein  Conto 
eröffnet  werden,  wie  den  später  mit  diesem  Capitale  angekauften  Realitäten, 
Waren  oder  Effecten  ?  Warum  soll  gerade  die  erste  Buchung  auf  Cassaconto 
unvollständig  sein,  Cassaconto  das  empfangene  Reinvermögen  nicht  genau  so 
dem  Capital  conto  schuldig  werden,  wie  es  später  eingehende  Verkaufspreise 
dem  Realitäten-,  Waren-  oder  Effectenconto  schuldet?  Herr  Professor  Seidler 
erwähnt  ja  selbst  (S.  65),  dass  „einseitige  Wertzugänge  oder  Wertabgänge"  ein- 
treten können  (z.  B.  spätere  Capitalseinzahlungen  des  Unternehmers  oder 
Diebstähle),   „welche  auch  eine  Correctur  (!)  auf  dem  Capitalconto  als  dem  Ueber- 


548  Keisch  und  Kreibig. 

sichtsconto  des  anfänglichen  Vermögens"  erfordern.  Ja  warum  soll  denn  eine 
spätere  Capitaleinzahlung  oder  ein  Diebstahl  eine  „Correctur"  auf  dem  „Ueber- 
sichtsconto"  und  nicht  vielmehr  lediglich  eine  Normalverbuchung  auf  einem 
normalen  Capitalconto  erfordern?  Warum  sollen  „logischerweise"  ^.derartige 
einseitige  Vermögensveränderungen  auch  nur  auf  dem  einen  Conto  gebucht 
werden,  welches  den  Wertzugang  oder  Wertabgang  erfahren  hat"  (S.  65), 
während  doch  unzweifelhaft  in  diesen  Fällen  der  Wertzugang  oder  Wertabgang 
nicht  nur  beim  Brutto-,  sondern  auch  beim  Nettovermögen  eintritt  und  daher 
nichts  im  Wege  steht,  auf  einem  für  letzteres  Vermögen  eröffneten 
Haupt-  oder  Nebenconto  den  Wertzugang  oder  Wertabgang  gleichfalls  zu  ver- 
buchen ?  Wenn  der  Verbannung  des  Capitalconto  und  der  übrigen  Eeinvermögens- 
conten  aus  der  Eeihe  der  „echten"  Conten  etwa  die  Meinung  zu  Grunde  liegt, 
dass  auf  echten  Conten  nur  „Geschäftsfälle"  verbucht  werden  dürfen,  so  könnte 
auch  dieser  Unterscbeidungsgrund  nicht  als  stichhältig  erkannt  werden.  Abgesehen 
davon  nämlich,  dass  der  Inhalt  der  „Geschäftsfälle"  von  Professor  Seidler  zu 
enge  umschrieben  wird  (Umänderung  einer  Wertform  in  eine  andere),  weil 
gezeigtermaassen  nicht  jede  Aenderung  einer  Wertform  zur  Erwerbung  einer 
anderen  Wertform  führt,  und  abgesehen  davon,  dass  füglich  auch  neue  Capitals- 
einlagen  und  Diebstähle  ungezwungen  als  „Geschäftsfälle"  im  weiteren  Sinne 
aufgefasst  werden  können  —  ist  es  doch  zweifellos,  dass  auch  auf  echten  Conten 
Buchungen  vorkommen,  welche  nicht  durch  Geschäftsfälle  hervorgerufen  sind  — 
so  alle  Abschlussbuchungen,  so  die  Buchung  von  Wertabschreiöungen. 

Wir  gestehen,  dass  wir  keinen  einzigen  sachlichen  Grund  zu  ersehen  ver- 
mögen, warum  das  altehrwürdige  Capitalconto  nicht  als  ein  vollwertiges  —  aller- 
dings den  Buchungsgesetzen  der  Reinvermögens-Contenreihe  unterliegendes  — 
echtes  Conto  anerkannt  werden  sollte;  seine  Verweisung  unter  die  „Uebersichten" 
zeitigt  keinerlei  Vortheil,  würde  aber  das  gegenwärtig  thatsächlich  vorhandene, 
in  sich  vollkommen  geschlossene  System  doppelter  Verbuchung  grundlos  zer- 
stören: Nicht  nur  bei  der  ersten  Einlage  des  Geschäftscapitales,  sondern  bei 
jeder  weiteren  Einlage  oder  Entnahme  und  bei  jeder  Gewinn-  oder  Verlustüber- 
weisung würde  die  Gegenverbuchung  fehlen  !  Vollends  unhaltbar  aber  würde  die 
Construction  des  Capitalconto  als  einer  ausserhalb  des  Contensystemes  stehenden 
„Uebersicht"  bei  Gesellschaftsfirmen  und  speciell  bei  Actiengesellschaften,  bei 
welchen  das  Capitalconto  mehrfach  (z.  B.  bei  fehlenden  Einzahlungen,  Amor- 
tisationen etc.)  in  unmittelbare  Verbindung  mit  den  Conten  der  laufenden 
Verrechnung  treten  muss. 

Ganz  ähnlich  wie  bei  Capitalconto  steht  es  mit  Bilanz-  oder  Gewinn-  und 
Verlustconto :  Zu  leugnen,  dass  hier  wirkliche,  selbständige,  constitutiv  zum 
Systeme  der  doppelten  Buchhaltung  gehörige  Conten  vorliegen,  heisst  nichts 
anderes,  als  das  System  der  doppelten  Buchhaltung  überhaupt  negieren.  Man 
denke  sich  nur  den  Abschluss,  z.  B.  eines  Warencontos,  bei  welchem  der  vor- 
handene Endvorrath  und  der  erzielte  Gewinn  nicht  auf  ein  gleich  berechtigtes  Bilanz- 
conto  und  Gewinn-  und  Verlustconto,  sondern  auf  eine  ganz  ausserhalb  des  Systemes 
stehende,  nur  „zufällig"  in  die  Form  eines  Contos  gekleidete  „Uebersicht"  über- 
tragen werden  müsste  —  und   umgekehrt   die    Eröffnung    eines    solchen    Contos : 


^ 


Noch  ein  Wort  über  die  theoretischen  Grundlagen  der  doppelten  Buchhaltung.     549 

In  all  diesen  Fällen  könnte  ja  überhaupt  nicht  mehr  von  einer  organisch 
zusammenhängenden  Contierung,  sondern  nur  mehr  von  zusammenhanglosen 
Eintragungen,  also  von  Halbheiten  die  Eede  sein,  welche  ausnahmslos  vermieden 
zu  haben  gerade  den  Ruhm  und  Stolz  der  doppelten  Buchhaltung  bildet. 

VI. 

Herr  Professor  S  e  i  d  1  e  r  hat  in  seiner  theoretischen  Grundlegung  der 
doppelten  Buchhaltung  eben  gänzlich  ausser  Betracht  gelassen,  dass  die  doppelte 
Buchführung  keineswegs  nur  laufende  Geschäftsfälle  zu  verrechnen  bestimmt  ist, 
sondern  dass  eine  ihrer  wichtigsten  Aufgaben,  ja  geradezu  die  Krönung  des 
ganzen  Werkes  die  Darstellung  der  Erfolge  und  der  Reinvermögens- 
bewegung ist.  Zu  diesem  Behufe  bedarf  die  doppelte  Buchhaltung  eigener,  echter 
Conti  und  eines  ziemlich  verwickelten  Complexes  von  Abschluss-  und  Eröffnungs- 
buchungen, welche  nicht  concreten  Geschäftsfällen  entsprechen,  sondern  nur  aus 
dem  vorskizzierten  Wesen  der  doppelten  Buchhaltung  als  einer  theils  fortlaufenden, 
theils  aber  erst  beim  Bücherabschluss  nachzutragenden  M  Parallel  Verrechnung  des 
Reinvermögens  und  der  erzielten  Erfolge  nebeji  jener  des  Brutto  Vermögens 
erklärt  werden  können.  Diese  Parallelverrechnung  unterscheidet  die  doppelte 
Buchhaltung  principiell  von  der  einfachen ;  es  beruht  denn  auch  auf  dem  üeber- 
sehen  dieses  grundlegenden  Unterschiedes,  wenn  Herr  Professor  S  e  i  d  1  e  r  (S.  326) 
vermeint,  dass  wir  die  einfache  Buchhaltung  „nach  hergebrachter  Schablone"  als 
selbständiges  System  behandelten,  „obgleich  sie  bei  richtiger  Erkenntnis  nichts 
anderes  ist  als  unvollständige  doppelte  Buchhaltung,  die  ihre  beste  Dar- 
stellung darin  findet,  dass  man  einfach  die  Theile  der  doppelten  Buchhaltung^ 
welche  wegzulassen  sind,  namhaft  macht." 

Wir  wollen  es  dahingestellt  sein  lassen,  inwieweit  letzterer  Weg  bei  der 
vielfach  wesentlich  verschiedenen  Anlage  der  Bücher  in  der  einfachen  und  der 
doppelten  Buchführung  —  wir  erinnern  nur  an  das  Hauptbuch  —  überhaupt 
gangbar,  geschweige  denn,  inwieweit  er  pädagogisch  empfehlenswert  wäre :  Wenn 
wir  uns  eines  Beispieles  bedienen  dürfen  —  wir  glauben  nicht,  dass  es  eine 
tadelnswerte  „hergebrachte  Schablone"  der  Physik-Lehrbücher  ist,  dass  sie  das 
Wesen    des   Thermometers    nicht   in    der  Weise    zu    schildern    pflegen,    dass    sie 


^)  Die  Buchungen  auf  den  sogenannten  reinen  Erfolgsconten  weisen,  wie  wir  dies 
sub  IV  für  Spesenconto  etc.  gezeigt  haben,  gleichzeitig  mit  der  Verbuchung  des 
Geschäftsfalles  auf  den  Verraögensbestandtheilsconten  auch  schon  den  durch  den  Geschäfts- 
fall für  das  Reinvermögen  erzielten  Erfolg  aus,  und  bedarf  es  der  Uebertragung  des 
Saldos  der  Erfolgsconten  auf  Capitalconto  nur,  um  daselbst  das  Reinvermögen  in  Einer 
Summe  dargestellt  zu  erhalten.  Die  Buchungen  auf  den  sogenannten  Bestand-Erfolgsconten 
hingegen  unterscheiden  zunächst  nicht  zwischen  blossen  Aenderungen  in  der  Vermögens- 
zusammensetzung und  erzielten  Erfolgen,  vielmehr  werden  die  erzielten  Erfolge  hier 
erst  beim  Abschlüsse  dieser  Conten  ausgemittelt  und  sohin  auf  Gewinn-  und  Verlust- 
conto,  beziehungsweise  Capitalconto  übertragen.  Es  ist  dies  eine  —  übrigens  auch  im 
Wesen  des  kaufmännischen  Betriebes  begründete  —  technische  Unvollkommenheit  der 
doppelten  Buchhaltung,  welche  durch  allerdings  übel  angebrachte  Aufwendung  bedeutender 
Arbeitsleistungen  (Oontoabschluss  nach  jedem  Geschäftsfall,  beziehungsweise  Gewinn- 
berechnung für  jeden  einzelnen  Verkaufsact)  schliesslich   auch  beseitigt  werden    könnte. 


550  ßeisch  und  Kreibig. 

sagen  :  Wenn  man  Dieses  und  Jenes  beim  Maximalthermometer  weglässt,  gelangt 
man  zum  einfachen  Thermometer!  Die  doppelte  Buchhaltung  weist  zum  Unter- 
schiede von  der  einfachen  ausser  den  jeweiligen  Veränderungen  des  Brutto- 
vermögens auch  den  Stand  des  Keinvermögens  und  der  einzelnen  Erfolge  aus, 
ähnlich  wie  das  Maximalthermometer  zum  Unterschiede  von  dem  einfachen 
Thermometer  ausser  den  jeweiligen  Temperatur- Aenderungen  auch  die  erzielte 
höchste  Temperatur  verzeichnet :  Wie  aber  für  Temperatur-Messinstrumente  das 
Grundlegende  der  Ausweis  der  jeweiligen  Temperatur  ist  (mag  auch  die  hiermit 
verbundene  weitere  Function  noch  so  sinnreich  und  weitausgreifend  ersonnen 
sein),  so  ist  auch  für  die  kaufmännische  Buchführung  die  Verzeichnung  des 
jeweiligen  Bruttovermögens  das  Primäre.  Wird  mit  der  Bruttovermögens-Verrechnung 
auch  die  Nachweisung  des  Reinvermögens  verbunden  und  aufs  innigste  ver- 
knüpft, so  kann  hieraus  ein  neues  buchhalterisches  System  —  die  doppelte 
Buchhaltung  —  entstehen,  dies  benimmt  jedoch  der  einfachen  Buchführung  nicht 
den  Charakter  eines  seine  wirtschaftliche  Aufgabe  voll  erfüllenden,  selbständigen 
Systemes  der  Buchführung. 

Wer  freilich,  wie  Professor  Seidler,  auch  in  der  doppelten  Buchfülirung 
nur  die  Verrechnung  von  Geschäftsfällen  sieht,  der  ist  berechtigt,  die 
einfache  Buchführung  lediglich  als  unvollkommenere  Form  der  doppelten  Buch- 
führung hinzustellen.  Aber  hierin  liegt  keine  Verbesserung  der  „hergebrachten 
Schablone",  sondern  ein  wesentlicher  Rückschritt  gegenüber  der  bereits  erreichten 
theoretischen  Erkenntnis  des  Wesens  der  doppelten  Buchhaltung,  welches 
unzweifelhaft  in  der  systematischen  Verrechnung  auch  des  Reinvermögens  und 
der  erzielten  Erfolge  neben  der  gleichzeitig  erfolgenden  Nachweisung  der  Ver- 
änderungen in  den  Vermögensbestandtheilen  erblickt  werden  muss. 


n 


ZEITSCHRIFTEN-ÜBERSICHT. 


Jahrbücher  für  Nationalökonomie  und  Statistik,  hggf.  v.  Conrad,  Elster,  Loenlng,  Lexis,  111.  V. 
XXII.  Band. 

3.  Heft:  TrolUch:  Die  sociale  Lage  der  Pforzheimer  Bijouteriearbeiter.  —  Landgraf:  Industrielle 
Fachverbände. 

Zeitschrift  für  Socialwissenschaft,  hgg.  v.  7.  IVolf,  IV.  Jahrg. 

9.  Heft:   Beck:  Die  deutsche  Städteverwaltung.  —  Mareiner:  Die  Concurrenz  der  Asiaten. 

Dfutsche   Juristen-Zeitungr.   hgg.  v.    P.   Laband,   M.    Stenglein  und   H,  Staub.    VI.  Jahrg. 

Niemeyer:  Der  Antrag  der  Burenstaaten  im  Haag  und  das  Völkerrecht.  —  Frank:  Rechts-  und 
Reformfragen  zum  Qumbiner  Processe.  _ 

The  Yale  Review,  Vol.  X.  No.  2.    August  1901. 

Bdldiuin:  The  supreme  court  and  the  insular  cases.  —  Bullock:  Direct  taxes  and  the  tederal  Con- 
stitution. —  liacon:  Some  insular  questions. 

The  (juart^rljr  Journal  of  Kcononiics,  Vol.  XV.  No.  4. 

Andrew.  Indian  currency  problems  of  the  last  decade.  —  Sherwood  Meade:  The  genesis  of  the 
U.  St.  Steel  Corporation.  • 

Aunals    of  the  American  Acailemy    of   pol.  and   soc.  scieuce,  edit.    by  Senger.  Vol.  XVIII.  No.  2. 

Cook:  Present  political  tendencies.  —  Rowe:  The  supreme  court  and  the  insular  cases. 

Pablicatlons  of  the  American  Economic  Attsociatlon.  III.  Series,  Vol.  II.  No.  2. 

Davis:  Curreacy  and  Banking  in  Massacbusetts-Bay. 

John  Hopkins  University  Stiidles  in  histor.  and  pol.  science,  ed.  by  H.  B.  Adauis,  XIX.  series. 
No.  8-9. 

Starr  Myers :  The  Maryland  Constitution  of  1864. 

Qnarterly    Puhlicatloiis    of  the    American    Statixtical    Association,  Vol.  VII.  June  1901. 

Koren  t  Some  statistics  of  recidivism  amony  misdemeamant  in  Boston. 

Studies  in  Hlstory,  Economics  and   public  Law,  Columbia  University,  Vol.  XIV.  No.  2. 

IVileett:  The  economic  theory  uf  riskand  Insurance. 

Journal  des  I^cononiistes.  Revue  mensuelle  de  la  Science  economique  et  de  la  8tatistique. 
60 e  anni5e.  Redacteur   en   chef:   O.  de  Molinari,  Correspondant  de  l'Institut.  5e  s^rie.  Septembre  1901. 

Liesse:  Les  travaux  parlementaires  de  la  Chambre  des  Däputäs.  —  Rouxel:  Travaux  des  chambres 
de  commerce.  —   Ghio :  Les  derniferes  crises  agraires  en  Italic. 

La  liefornie  sociale,  bulletin  de  la  soci^tä  d'economie  sociale  et  des  nnions  de  la  paix  sociale; 
onddes  par  P.  F.  Le  Play,  XXI  annöe.  Tome  XLII.  No.  16  und  17. 

Las-Cases:  Le  f^minisme  d'aprfes  l'öcole  socialiste  et  d'aprfes  l'^cole  de  la  paix  sociale.  —  Fleurquin  : 
Le  travail  des  ouvroirs. 

üioruale  degll  Econoniisti.  Direzione:    Vit i  de    ^/arco,  Mazzola,  Pautaleoni,  Zorli.  Settembre  1901, 

Pareto:  Le  nuove  teorie  economiche.  --  Nina:  Sorgenti  di  reddito  pel  compenso  dello  sgravio  dei 
consumi. 

Rirista  Italiana  di  Sociologla.  Anno  V.  Fase.  III. 

Scialoja:  L'abuso  della  consegaa  nossale  da  parte  dello  schiavo.  —  Vaccaro:  Resistenza  e  progresso. 

La  Riforma  Sociale.   Direttori:    f-r.    S.  Nitti,  L.  Roux,  L.  Einaudi.    Anno  VIII.    Vol.  XI. 

Gobhi:  II  ribasso  nel  saggio  d'interesse  e  la  convenienza  dell'  assicurazioni  sulla  vita. 


Bei  der   Redaction  eingelaufene   Bücher  und   Schriften.^) 

Crüger  H.:  Die  internationalen  Genossenschaftsoongresse  in  Paris  im  Jahre  1900.  Berlin,  Guttentag  1901, 

113  S. 
Ditirich   P.:   Praktische   Anleitung  zur  Begutachtung   der  häufigsten  Unfallschäden    der  Arbeiter.   Wien, 

Braumüller  1901,  XI  und  224  S. 
Eberstadt  /?.:  Der  deutsche  Capitalmarkt.  Leipzig,  Duncker  &  Humblot  1901,  280  S. 
Festgabe  für  Albert  Schaff  le   zur   siebenzigsten   Wiederkehr   seines    Geburtstages.   Tübingen,   Laupp    1901, 

VIII  und  390  S. 
Fuchs  C.  y.:  Volkswirtschaftslehre  (Sammlung  Göschen).  L°ipzig,  Göschen  1901,  136  8. 
Gerber  A.:  Beitrag  zur  Geschichte  des  Stadtwaldes  von  Preiburg  i.  B.  (Volkswirtschaftliche  Abhandlungen 

der  Badischen  Hochschulen.)  Tübingen,  Mohr  1901,  XII  und  130  8. 
Gottl  F.:  Die  Herrschaft  des  Wortes.  Einleitende  Aufsätze.  Jena,  Fischer  1901,  224  8. 
Grünberg  K. :  Studien  zur  ös.erreichiscben  Agrargeschichte.  Leipzig,  Duncker  &  Humblot  1901,  281  S. 


»)  Ausser   den   hier  genannten    ist   bei    der  Redaction   noch   eine   grössere   Zahl   von   Büchern   undi 
Schriften  eingelaufen,  die  sich  bereits  in  den  Händen  der  Recensenten  befinden. 


552 


Zeitschriften-Uebersicht. 


Hartlehen  A. :   Kleines  statistisches  TascheDbucli  über  alle  Länder  der  Erde  1901.  Wien,  Hartleben  1901,  103  S. 

Huber  F.  C:  Deutschland  als  Industriestaat.  Stuttgart,  Cotta  1901,  XVIII  und  512  S. 

Inama-Sternegg  A".    Tk.:  Deutsehe  Wirtsthaft^gescbichte.  III.  Bami,  2.  Theil,  Leipzig,  Duncker  &  Humblot 

1901,  XVIII  und  558  S. 
Kaerger  K.\  Landwirtschaft  und  Colonisation  im  spanischen  Amerika.  2  Hände,  Leipzig,  Duncker  &  Humblot 

1901,  939  und  743  S. 
Kaizl  y.i  Finan/.wissenschaft.  2.  Theil,  Wien,  Manz  1901,  274  S. 

Kowalesky  Maxime :    Die    ökonomische    Entwicklung    Europas    bis    zum  Beginn   der   capitalistif>chen   Wirt- 
schaftsform. 1.  Band.  (Bibliothek  der  Volkswirtschaftslehre  und  Gesellschaftsnissenschaft.)   Berlin, 

Prager  1901,  539  8. 
Kreibig  J.   C. :  Staaili<he  Institutionen  für  Lebens-  und  Rentenversicherung.  Wien  1901,  Holder,  35  S. 
Lts  salaires  dans  IHndustrie  Gantoise,  1   vol.  Brüssel,  Lebigue  1901,  XIV  und  596  S. 
Meyer  Robert:  Das  Zeilverhältnis  zwischen   der   Steuer   und   dem   Einkommen   und  seinen  Theilen.    Wien, 

Manz  1901,  X  und  186  S. 
Müller  Josef:  Das  sexuelle  Leben  dtr  Xaturvölker.  Augsburg,  Lampart  &  Comp.,  IX  und  73  S. 
Norikus  F.:    Die    Organisation    der    Gesellschaft    in    Vergangenheit    und    Gegenwart.    Stuttgart    und  Wien, 

Roth  1901,  VIII  und  1.54  S. 
Offenbacker  M.:    Confession    und  sociale  Schichtung.    (Vulkswirtschaftliche  Abhandlungen    der   Badischen 

Hochschulen.)  TAbingen,  Mohr  1900,  102  S. 
Pctrenz  0.x    Die  Entwicklung   der   Arbeitsiheilung    im    Leipziger    Gewerbe    von   1751—1890.    (Staats-   und 

Socialwlsijpnschai'tliche  Forschungen.)  Leipzig,  Duncker  &  Humblot  1901,  92  S. 
Ä  luchberg  H. :  Die  Berufs-  und  Gewerbezählung  im  Deutseben  Reiche.  Berlin,  Heymann  1901,  XVI  und  422  .S. 
Rittershaus  Adeline:   Ziele,  Wege   und  Leistungen   unserer  Mädchenschulen   und  Vorschlag    einer   Reforni- 

schule.  Jena,  Fischer  1901,  41  8. 
Schulte  F.:    Die    Entwicklung    des   Sparcassenwesens    im    Grossherzogthume    Baden.    (Volkswirtschaftlicbe 

Abhandlungen  der  Badischen  Hochschulen.)  Tübingen,  Moiir  1901,  88  S. 
Sil  H.\  Les  classes  rurales  et  le  regime  domanial   en   France  au   moyen  age.   Paris,   Giard  &  Brifere  1901, 

XXXVII  and  639  S. 
Statistisches  Jahrbuch  Deutscher  Sädte.  IJ.  Jahrgang,  Breslau,  Korn  1901,  VIII  und  376  8. 
Tugan-Baranowsky  M. :  Studien  zur  Theorie  und  Geschiscbte  der  Handelskrisen  in  England.  Jena,  Fischer 

1901,  VIII  und  428  S. 
Westergaard  H.:    Die  Lehre  von  der  Mortalität   und  Morbilität.  Zweite  vollständig  umgearbeitete  Auflage. 

Jena,  Fischer  1901,  703  S. 
Worms  St. :  Das  Gesetz  der  Güterconcentration  in  der  individualistischen  Rechts-  und  Wirtschaftsordnung. 

1.  Halbband.  Jena,  Fischer  1901,  XV  und  238  S. 
Norwayx  Ofticial  publication  for  the  Paris  exhibition  Kristiania  Aktie- Bogtrykkeriet  1900,  XXXIV  und  626  S. 


I 


% 


DAS  AUSWANDERUNGSPßOBLEM 

UND  DIE 

REaELUNG  DES  AUSWANDERUNGSWESENS 
IN  ÖSTERREICH. 

VON 

DK-  JOSEF  BUZEK. 

(FORTSETZUNG  UND   SCHLUSS.) 


II.   Die  Regelung  des  Auswanderungswesens  im  allgemeinen. 
1.  Die  Leitung  der  Auswanderung  und  die  übrigen  auf  die 
Erhaltung  der  Nationalität  der  Auswanderer  bezüglichen 

Maas  sn  ahmen. 

Die  Leitung  der  Auswanderung  kann  je  nach  der  Auswandenings- 
politik  des  Staates  zweierlei  Ziele  verfolgen:  entweder  beschränkt  sich  der 
Staat  auf  den  möglichsten  Schutz  der  Auswanderer,  und  dann  sucht  er  die 
Auswanderung  nach  Ländern,  die  er  als  ungeeignete,  d.  h.  für  das  Wohl- 
ergehen des  Auswanderers  selbst  gefährliche  erachtet,  zurückzudämmen,  um 
so  die  hauptsächlichste  Quelle  des  Auswandererelends  zu  verstopfen.  Seine 
Thätigkeit  gibt  hier  der  Kichtung  des  Aus^andererstromes  negative  Direc- 
tiven.  —  Umgekehrt  kann  es  der  Staat  versuchen,  seine  Auswanderer  in 
bestimmten  Ländern  zu  concentrieren,  wo  die  Hoffnung  vorhanden  ist,  dass 
sie  dem  Mntterlande  nicht  verloren  gehen,  sondern  zu  dessen  politischer 
oder  wirtschaftlicher  Stärkung  verwertet  werden  können.  In  diesem  Falle 
wird  der  Staat  seine  Auswanderer  sowohl  von  ungeeigneten,  als  auch  von 
unerwünschten  Auswanderungszielen  abzulenken  versuchen,  er  wird  dafür 
bestrebt  sein,  positive  Directiven  dem  Wanderstrome  zu  geben.  Die  Leitung 
der  Auswanderung  steht  hier  nicht  mehr  im  ausschliesslichen  Dienste  des 
Auswandererschutzes,  sondern  wird  zum  Mittel  einer  weit  in  die  Zukunft 
blickenden  National-  und  Wirtschaftspolitik. 

Der  Versuch,  Auswanderer  in  deren  eigenem  Interesse  von  ungeeigneten 
Auswanderungszielen  abzulenken,  ist  bisher  in  doppelter  Form  unternommen 
worden.  Entweder  beschränkt  sich  der  Staat  auf  generelle  Verkündigungen, 
die  Auswanderungslustige  vor  diesem  oder  jenem  Lande  warnen,  oder  er 
gibt  sich  überdies  die  Mühe,  jedes  einzelne  Individuum,  das  ilim  seine 
Absicht,  in  ein  ungeeignetes  Land  auszuwandern,  kundgibt,  auf  das 
nachdrücklichste  vor  den  seiner  harrenden  Gefahren  zu  warnen. 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  X.  Band.  38 


554  Buzek. 

Die  Unzulänglichkeit  und  Wirkungslosigkeit  der  generellen  Verwar- 
nungen ist  speciell  in  Oesterreich  bekannt.  Theils  gelangen  diese  nicht  zur 
Kenntnis  der  gefährdeten  Volkskreise,  theils  schenken  diese  den  lockenden 
Verheissungen  der  Agenten  grösseren  Glauben.  In  Ländern  mit  geregeltem 
Auswanderungswesen  Hess  man  es  dementsprechend  bei  solchen  Verwar- 
nungen nicht  bewenden,  man  untersagte  vielmehr  den  Unternehmern  die 
Beförderung,  den  Agenten  die  Vermittlung  von  Auswanderern  nach  ungeeig- 
neten Auswanderungszielen.  (Vgl.  den  Erlass  des  königl.  preussischen  Handels- 
ministeriums vom  3.  November  1859,  womit  Brasilien  aus  der  Keihe  der 
erlaubten  Auswanderungsziele  ausgeschlossen  wurde.)  Doch  auch  dies  vermochte 
dem  Uebel  nicht  gänzlich  zu  steuern.  Den  flagrantesten  Beweis  bildet  dafür 
der  Umfang  der  brasilianischen  Auswanderung  aus  Preussen.  Obgleich 
Brasilien  auf  Grund  des  citierten  von  der  Heydt'schen  Kescriptes  vom 
Jahre  1859  bis  zum  Jahre  1896  zu  den  von  der  Kegierung  verpönten 
Auswanderungszielen  gehörte,  wanderten  dorthin  allein  aus  den  polnischen 
Provinzen  Preussens  in  den  Siebzigerjahren  Tausende  aus.  Die  Gesammt- 
zahl  der  deutschen  Einwanderer  nach  Brasilien  beträgt  nach  der  brasilianischen 
Statistik  in  den  Jahren  1861  bis  1894  nicht  weniger  als  50.814  Personen.^) 

Bessere  Kesultate  kann  das  System  der  individuellen  Verwarnungen 
erzielen.  Zunächst  kommt  hier  die  aufklärende  Thätigkeit  der  Hafenbehörden 
in-  Betracht.  So  ist  z.  B.  dem  österreichischen  Consulate  in  Genua  der 
Auftrag  ertheilt  worden,  Auswanderern  nach  den  Kaffeeplantagen  von  San 
Paulo  die  zur  Einschiffung  nothwendige  Fertigung  der  Papiere  zu  verweigern, 
wenn  sie  nicht  erklären,  dass  ihnen  die  Art  ihrer  Verwendung  und  ihrer 
socialen  Abhängigkeit  in  Brasilien  wohlbekannt  ist.  Diese  Art  der  individuellen 
Verwarnung  ist  eine  repressive  und  kann  —  zumal  in  Ländern  mit  un- 
geregeltem Auswanderungswesen  —  von  den  Agenten  leicht  umgangen 
werden.  Dazu  kommt  sie  zur  Anwendung  erst  im  Einschiffungshafen,  kann 
somit  im  besten  Falle,  d.  h.  wenn  sie  den  Auswanderer  zur  Eückkehr 
bestimmt,  den  materiellen  Verlust,  den  das  Verlassen  der  Heimat  und  die 
Keise  verursachten,  nicht  wieder  gut  machen.  Im  ganzen  wäre  diese  Maass- 
regel nur  für  die  allergefährlichsten  Auswanderungsziele  zu  empfehlen,  dann 
aber  ihre  Wirksamkeit  durch  entsprechende  Cautelen  zu  sichern. 

Das  System  der  präventiven  individuellen  Verwarnungen  hat  zur 
Voraussetzung  das  Bestehen  einer  weiteren  Volkskreisen  zugänglichen 
Auskunftsstelle.  Dadurch,  dass  diese  auf  Verl angen  über  alle  die  tausend 
Dinge  informiert,  deren  Kenntnis  für  Auswanderer  nothwendig  ist,  erweckt 
sie  deren  Zutrauen,  und  es  kann  erwartet  werden,  dass  diese  auch  die  in 
Bezug  auf  das  Auswanderungsziel  ertheilten  Rathschläge   befolgen  werden. 

Es  könnte  scheinen,  dass  die  Aufgaben  einer  Auskunftsstelle  am  besten 
von  privaten  Vereinigungen  erfüllt  werden  könnten.  Die  grossen  Massen  sind 
nur  allzu  geneigt,   alle  officiellen  Maassregeln   und   Rathschläge   mit  Miss- 


I 


^)  Dr.  R.  A.  Hehl,  „Die  Entwicklung  der  Einwanderungsgesetzgebung  in  Brasilien", 
Schriften  des  Vereines  für  Socialpolitik,  Bd.  LXXII. 


Das  Auswaiiderungsproblem  und  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  etc.     555 

trauen  aufzunehmen.  In  der  That  ist  auch  überall  mit  privater  Auskunfts- 
ertheilung  angefangen  worden.  Zumal  in  England  war  die  aufklärende 
Thätigkeit  von  Privatpersonen  und  privaten  Vereinen  von  dem  grössten 
Umfange.  Erstens  sind  die  Arbeitervereine,  die  Trade  Unions,  die  Friendly 
Societies,  die  Young  Men's  Christian  Association  durch  ihre  Zweigvereine 
in  allen  Ländern  englischer  Zunge  über  die  dortigen  Verhältnisse  informiert 
und  statutarisch  zur  Auskunftsertheilung  an  die  Mitglieder  verbunden.  Sodann 
existieren  zahlreiche  Auswanderungsvereine,  an  deren  Spitze  erfahrene,  reiche 
Männer  stehen;  wir  erinnern  nur  an  die  Church  Emigration  Society,  welche 
eine  besondere  Auswandererzeitung,  „The  Emigrant",  publiciert,  an  die  Seif 
Help  Emigration  Society,  an  den  East  End  Emigration  Found,  an  die 
Emigrationscomites  der  Society  for  promoting  Christian  Knowledge,  der 
Charity  Organisation  Society,  an  das  hochangesehene  Imperial-Institute, 
welche  alle  zahlreiche  Informationsbiicher  an  Auswanderungslustige  vertheilen 
und  ihnen  mit  Rath  und  That  beizustehen  haben.  —  Nichtsdestoweniger 
erwies  sich  selbst  in  England  die  Auskunftsertheilung  durch  Private  als 
ungenügend  und  gefährlich.  Ein  gründlicher  Kenner  der  Verhältnisse,  Arnold 
White,  behauptete,  dass  die  private  Information  „meist  unverantwortlich, 
phantastisch  und  veraltet"  sei.  Den  Privatvereinen  fehlen  eben  die  Mittel, 
sich  zuverlässige,  zeitgemässe  Informationen  aus  weit  entlegenen  Ländern 
zu  beschaffen.     Sie  stehen  allein  der  Staatsgewalt  zur  Verfügung. 

Der  Thätigkeit  staatlicher  Auskunftsstellen  steht,  wie  erwähnt,  die 
geringe  Neigung  der  Volksmassen,  sich  von  der  Eegierung  Eaths  zu  erholen, 
im  Wege.  Während  private  Vereinigungen  über  schlechte  Informationen  und 
viele  Abnehmer  dafür  verfügen,  hat  der  Staat  gute  Informationen,  aber 
wenig  Abnehmer.  In  Deutschland  ertheilt  seit  langem  das  auswärtige  Amt 
sehr  ausführliche  und  genaue  Auskünfte  an  Auswanderungslustige.  Nichts- 
destoweniger ist  der  Kreis  der  Personen,   die   um  Auskunft    ersuchen,    ein 

sehr  geringer.    Es  wurden  Auskünfte  ertheilt 

im  Jahre 
1895  1896 

nach  Amerika 26  28 

„     Südafrika 30  138 

,     anderen  Ländern 22  8 

Zusammen  ....  78 1)  174 1) 
Dabei  entfällt  das  Gros  der  Auskünfte  (60  Proc.)  an  Angehörige  der 
gebildeten  Stände  (Kaufleute,  Aerzte,  Lehrer,  Gewerbetreibende),  die  für  die 
Auswanderung  nur  wenig  in  Betracht  kommen,  dagegen  nur  circa  V?  auf  Land- 
wirte und  V.i  auf  Arbeiter,  Handwerker  und  Dienstboten,  die  das  Haupt- 
contingent  der  Auswanderer  stellen.  Allerdings  ist  nicht  zu  verkennen,  dass 
in  vielen  Fällen  ein  Bittsteller  im  Namen  zahlreicher  Personen,  etwa  der 
Freunde,  Verwandten,  Berufsgenossen,  angefragt  haben  mag. 

^)  Es  berührt  eigenthümlich,  dass  bei  diesen  Ziffern  der  Motivenbericht  zum  Ent- 
würfe eines  Gesetzes  über  das  Auswanderungswesen  (Reichstag,  1895 — 1897,  Anlagen, 
Actenstück  706)  von  „zahllosen"  Anfragen  spricht. 

38* 


556  B»zek. 

Unter  allen  staatlichen  Auskunftsstellen  scheint  noch  die  Thätigkeit 
des  schweizerischen  Auswanderercomissariates  am  wirksamsten  zu  sein. 
Dieses  ist  die  sogenannte  commissarische  Abtheilung  des  dem  Departement 
des  Auswärtigen  beigegehenen  Auswanderungsbureaus  und  hat  ausser  der 
allgemeinen  Vertretung  der  Interessen  der  schweizerischen  Auswanderung 
die  Ertheilung  von  Auskunft,  Kath  und  Empfehlungen  an  Auswanderer  zur 
Aufgabe.  Die  Berichte  des  Bundesrathes  preisen  das  Commissariat  als  eine 
„gemeinnützige  Einrichtung",  die  „von  Tag  zu  Tag  volksthümlicher  wird", 
und  dies  ohne  Anwendung  „geräuschvoller  Reclame,  sondern  einfach  ver- 
mittelst discreter  Bekanntmachungen,  welche  in  keiner  Weise  zur  Aus- 
wanderung ermuntern  können".  Der  Bundesrath  constatiert  mit  Vergnügen, 
dass  »die  Zahl  der  Gemeindebehörden  und  der  Herren  Geistlichen,  die  für 
andere  nachfragen,  immer  mehr  zunimmt",  und  dass  die  Cantonsregierungen 
„durch  vorsichtige  Bekanntmachungen  auf  das  Bestehen  des  eidgenössischeu 
Auswanderungscommissariats  mit  Erfolg  hingewiesen  haben."  Unter  den  um 
Auskunft  ansuchenden  Auswanderungslustigen  überwiegen  gelernte  Arbeiter, 
wie  Schlosser,  Mechaniker,  Schmiede,  aber  auch  Landwirte,  Dienstboten, 
Kellner,  sodann  erst  Architekten,  Aerzte,  Lehrer,  Wirte  und  junge  Kaufleute, 
denen  in  überseeischen  Gegenden,  besonders  in  den  Tropen,  Stellen  offeriert 
werden.  Das  bedeutet,  dass  das  Commissariat  das  Vertrauen  tieferer  Schichten 
gewonnen  hat.  Bei  alledem  fällt  es  auf,  dass  die  officiellen  Geschäftsberichte 
des  Commissariates  wohl  sehr  detaillierte  Eelativzahlen  über  die  Verhältnisse 
der  Fragesteller  anführen,  dagegen  die  absoluten  Ziffern  consequent  ver-  ■ 
schweigen.  Sollten  diese  etwa  so  niedrig  sein,  dass  sie  das  schöne  Bild 
dunkler  nuancieren  könnten  ? 

Die  Auswanderungspolitik  der  Schweiz  verzichtet  darauf,  die  Leitung 
der  Auswanderung  von  national-politischen  Gesichtspunkten  aus  anzustreben. 
Nicht  etwa  deshalb,  weil  sie  an  die  Nützlichkeit  concentrierter  Ansiedelung 
ihrer  Bürger  in  fremden  Ländern  nicht  glauben  würde.  War  doch  gerade 
die  schweizerische  Eegierung  eine  der  ersten,  die  den  Satz  aufstellte,  dass 
„die  Zunahme  schweizerischer  Ansiedlungen  in  irgend- 
einem überseeischen  Landein  der  Regel  eine  Zunahme  des 
schweizerischen  Handelsverkehrs  mit  demselben  zur  Folge 
hatte."^)  Nur  ist  die  schweizerische  Regierung  der  Ansicht,  dass  sich  die 
Concentrierung  der  Auswanderer  in  gewissen  Gebieten  von  selbst  vollzieht, 
sie  erklärt  dementsprechend  eine  diesbezügliche  Action  der  Regierung  für 
überflüssig  (Geschäftsberichte  und  Sendschreiben  des  Bundesrathes  passim), 
und  beschränkt  sich  allein  auf  den  Schutz  der  Auswanderer.  Um  ferner  den 
wirtschaftlichen  Charakter  der  Auswanderung  zu  wahren  und  ja  nicht  zum 
Auswandern  zu  ermuntern,  verzichtet  sie  selbst  auf  jede  geräuschvolle 
Reclame  ihrer  Auskunftsstelle.  Darauf  dürfte  zurückzuführen  sein,  dass  diese 
anfangs  nur  wenig  in  Anspruch  genommen  wurde.  Erst  nach  und  nach 
konnte  sie  festere  Wurzeln  schlagen,  vorzüglich  Dank  der  Thätigkeit  jener 


I 


^)  Geschäftsbericht  des  Bundesrathes  für  das  Jahr  1862. 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Eegelung  des  Auswanderungswesens  etc.      557 

Gemeindebehörden  und  Geistlichen,  denen  der  Geschäftsbericht  so  innigen 
Dank  spendet.  Sie  sind  das  Medium,  durch  das  die  Informationsbedürftigen 
von  der  Auskunftsstelle  aufgefunden  werden,  sie  stellen  die  Privatpersonen 
dar,  denen  der  Staat  seine  guten  Informationen  anvertraut,  und  die  ihm 
dafür  Clienten  zuführen.  In  der  Praxis  wirkt  gegenwärtig  das  Auswanderungs- 
commissariat  mehr  durch  private  Vertrauensmänner  als  direct. 

Bei  den  Ausschussberathungen  des  neuen  deutschen  Auswanderungs- 
gesetzes vom  9.  Juni  1897  ist  von  einem  Ausschussmitgliede  die  Resolution 
beantragt  worden,  es  seien  die  verbündeten  Regierungen  zu  ersuchen,  die 
von  den  Consuln  und  Commissären  über  die  Verhältnisse  der  Einwanderungs- 
länder fortlaufend  zu  erstattenden  Berichte  in  geeigneter  Weise  zur  all- 
gemeinen Kenntnis  zu  bringen.^)  Der  Antrag  bezweckte  die  fortwährende 
Informierung  der  Oeffentlichkeit  über  die  Auswanderungsverhältnisse,  damit 
der  Auswanderungslustige  nicht  erst  lange  nach  Auskunft  zu  suchen  habe. 
Auf  Betreiben  der  Regierung  wurde  der  Antrag  verworfen,  hauptsächlich, 
weil  man  fürchtete,  es  würde  durcli  derartige  Publicationen  zur  Auswanderung 
ermuntert  werden,  dann  aber  auch  mit  Hinweis  auf  die  durch  das  aus- 
wärtige Amt  ertheilten  Auskünfte.  Damit  war  die  Frage  nach  der  Organi- 
sation der  Auskunftsertheilung  von  der  Tagesordnung  gesetzt,  aber  durch- 
aus nicht  begraben.  Die  Unzulänglichkeit  der  Auskunftsstelle  im  auswärtigen. 
Amte  trat  immer  klarer  zutage,  bis  sich  endlich  im  laufenden  Jahre  die 
Regierung  entschloss,  das  Problem  auf  Grund  der  schweizerischen  Erfahrungen 
zu  lösen.  Sie  schuf  eine  Auskunftsertheilung  durch  Vertrauensmänner  auf 
Grund  der  vom  Reiche  gesammelten  Informationen.  Die  Grundzüge  der 
Organisation  sind  folgende: 

Von  der  deutschen  Colonialgesellschaft  wird  in  Berlin  eine  Auswanderer- 
auskunftsstelle geschaffen,  die  zwar  nur  die  Verwaltungsabtheilung  der 
genannten  Gesellschaft  sein,  aber  unter  Oberaufsicht  des  Reichskanzlers 
stehen  wird.  Der  Reichskanzler  erlässt  die  Geschäftsordnung  und  bestätigt 
die  Anstellung  des  Vorstandes.  Als  Aufsichtsorgan  wird  dem  Präsidenten 
der  Gesellschaft  ein  Beirath  beigegeben,  der  aus  Vertretern  des  Ausschusses 
und  aus  Delegierten  solcher  Vereine,  die  sich  schon  bisher  mit  der  Ertheilung 
von  Auskünften  an  Auswanderungslustige  befasst  haben,  zu  bestehen  hat. 
Das  auswärtige  Amt  wird  Berichte  der  Vertreter  im  Auslande,  die  für  das 
Auswanderungswesen  von  Interesse  sind,  der  Auskunftsstelle  zur  Verfügung 
stellen,  auch  ihren  Anträgen  wegen  Beschaffung  weiteren  Materials  nach 
Möglichkeit  entsprechen.  Vom  Reiche  wird  ausserdem  für  die  Kosten  der 
Auskunftsertheilung  ein  angemessener  jährlicher  Zuschuss  beigesteuert.  Die 
Auskünfte  werden  kostenlos,  mündlich,  brieflich  oder  durch  Veröffentlichungen 
ertheilt,  und  zwar  entweder  unmittelbar  durch  die  Auskunftsstelle  oder 
mittelbar  durch  Vertrauensmänner  oder  durch  innerhalb  des  Reichsgebietes 
nach  Bedürfnis  zu  errichtende  Zweigstellen.    Als  solche  können  ausser  den 


^)  Bericht  der  zwanzigsten  Commission,    Reichstag,  1895 — 1897,   Anlagen,  Acten- 
stück  Nr.  769. 


558  Buzek. 

Abtheilungen  der  Colonialgesellschaft  auch  andere  im  Beiratli  vertretene 
Aus  Wanderungsvereine  dienen.  Die  Auskunftsertlieilung  soll  den  Auswanderungs- 
lustigen zuverlässiges,  thatsächliclies  Material  über  die  sie  interessierenden 
Länder  sowie  über  die  Reise  nach  diesen  liefern.  Sie  bezieht  sich  auf 
sämmtliche  nicht  zum  Deutschen  Reiche  gehörende  Länder  einschliesslich 
der  Schutzgebiete. 

Auf  eine  ganz  originelle  Weise  ist  die  Frage  der  Hintanhaltung  der 
Auswanderung  nach  ungeeigneten  Gebieten  und  die  der  Auskunftsertheilung 
von  dem  italienischen  Gesetze  vom  31.  Jänner  1901  gelöst  worden.  Das 
Ministerium  des  Aeusseren  kann  im  Einvernehmen  mit  dem  Ministerium 
des  Innern  die  Ausw^anderung  nach  einer  bestimmten  Gegend  verbieten,  aber 
nur  „aus  Gründen  der  öffentlichen  Ordnung,  oder  wenn  das  Leben,  die 
Freiheit  oder  das  Eigenthum  des  Auswanderers  schweren  Gefahren  ausgesetzt 
sein  sollten."  (Art.  1.)  Ein  Verbot  gewisser  Auswanderungsziele  aus  national- 
politischen Gründen  ist  somit  ausgeschlossen,  und  die  ganze  Bestimmung 
hat  lediglich  den  Schutz  des  Auswanderers  vor  besonders  gefährlichen 
Gegenden  im  Auge.  Sonst  soll  die  Auskunftsertheilung  genügen.  Als  Organe 
derselben  sind  gedacht  fast  alle  die  zahlreichen  Behörden,  welche  durch 
das  neue  Gesetz  ins  Leben  gerufen  werden.  So  hat  insbesondere  die  Central- 
behörde,  das  Commissariat,  das  Recht  der  kostenlosen  Affichierung  aller 
seiner  Bekanntmachungen  in  jeder  Agentie  und  Geschäftsstelle,  in  den 
Dampfschiffen  und  allen  Transportunternehmungen  zu  Wasser  und  zu  Lande 
(Art.  8,  al.  2).  Von  besonderer  Bedeutung  sind  sodann  die  Districts-  und 
die  communalen  Auswanderungscomites,  welche  in  den  Auswanderungs- 
centren errichtet  werden  können,  unentgeltlich  functionieren  und  aus 
dem  Prätor  oder,  wo  dieser  fehlt,  dem  Friedensrichter,  dem  Syndicus 
oder  dessen  Stellvertreter,  dem  Pfarrer  oder  einem  anderen  Geistlichen, 
dem  Arzte  (letztere  3  Mitglieder  werden  vom  Auswanderungscommissariate 
bestimmt),  endlich  aus  einem  Vertreter  der  localen  landwirtschaftlichen 
oder  Arbeiterverbände  (diesen  hat  der  Gemeinderath  zu  wählen),  bestehen. 
Das  Comite  bestellt  also  aus  den  Vertrauensmännern  der  Regierung  und 
der  interessierten  Bevölkerung,  es  umschliesst  conservative  (der  Syndicus 
ist  in  den  meisten  Gemeinden  Süditaliens  der  Grossgrundbesitzer)  und  fort- 
schrittliche Elemente,  so  dass  die  Gewähr  vorhanden  ist,  dass  es  einerseits 
den  Weg  zu  den  tiefsten  Schichten  der  Bevölkerung  finden,  anderseits  aber 
die  ihm  vom  Commissariate  anvertrauten  Informationen  nicht  missbrauchen 
und  namentlich  nicht  auswanderungsfördernd  wirken  wird.  Ueberdies  bietet 
diese  Organisationsform  der  Auskunftsertheilung  die  Möglichkeit,  die  Aus- 
wanderer nicht  nur  von  ungeeigneten,  sondern  auch  von  unerwünschten 
Auswanderungszielen  abzuhalten,  es  kann  somit  in  aller  Stille,  —  was 
bei  der  delicaten  Natur  dieser  Materie  ausschlaggebend  ist,  —  zum  vor- 
trefflichen Werkzeuge  einer  nationalen  Auswanderungspolitik  werden. 

Die  Mittel,  deren  sich  die  von  handelspolitischen  und  nationalen 
Machtbestrebungen  beeinflusste  Leitung  der  Auswanderung  bedient,  sind  von 
denen  der  Leitung  zum  Zwecke  des  Auswandererschutzes  principiell  verschieden. 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Eegelung  des  Aus  Wanderungswesens  etc.     559 

Diese  fangen  zu  wirken  an,  nachdem  der  Betroifene  bereits  die  Auswanderungs- 
absicht geäussert  hat,  jene  suchen  dagegen  auf  den  Auswanderer  bereits 
bei  der  Entstehung  des  Auswanderungsentschlusses  einzuwirken,  können  oft 
den  Entschluss  auszuwandern  geradezu  hervorrufen.  Handelt  es  sich  doch 
hier  nicht  bloss  um  die  Ablenkung  von  ungeeigneten  und  unerwünschten 
Auswanderungszielen,  sondern  ausserdem  um  die  Concentrierung  der  Aus- 
wanderer in  den  ins  Auge  gefassten  Gebieten.  Untereinander  unterscheiden 
sich  die  Mittel  der  nationalen  Leitung  der  Auswanderung  nur  nach  demMaasse, 
in  welchem  sie  der  Gefahr,  auswanderungsfördernd  zu  wirken,  begegnen  wollen. 

Handelspolitische  und  nationale  Interessen  haben  sich  bei  der  Eegelung 
des  Auswandererwesens  am  meisten  in  Deutschland  und  in  England  bemerkbar 
gemacht.  Der  Motivenbericht  zum  Entwürfe  des  neuen  deutschen  Aus- 
wanderungsgesetzes stellt  ausdrücklich  fest,  dass  der  springende  Punkt  des 
neuen  Gesetzes  in  dem  Bestreben  liege,  „das  Deutschthum  unter  den  Aus- 
wanderern zu  erhalten  und  für  die  Interessen  des  Mutterlandes  nutzbar  zu 
machen,  und  zwar  durch  Ablenkung  der  Auswanderung  von  den  in  dieser 
Hinsicht  ungeeigneten  und  Hinlenkung  nach  geeigneten  Zielen"  oder  praktisch 
ausgedrückt,  durch  die  „Ablenkung  von  Nord-,  Hinlenkung  nach  Südamerika." 
Ebenso  ist  die  letzte  That  der  englischen  Regierung  auf  dem  Gebiete  des 
Auswanderungswesens  —  die  Errichtung  des  Emigrants  Information  Office  — 
dem  Bestreben  entsprungen,  die  englische  Auswanderung  im  Sinne  der 
imperialistischen  Losung  der  Zeit  von  den  Vereinigten  Staaten  ab-  und  in 
die  englischen  Colonien  hinzulenken.  Wir  wollen  die  bezüglichen  Maass- 
nahmen  der  deutschen  Gesetzgebung,  respective  der  englischen  Verwaltung, 
einer  näheren  Prüfung  unterziehen. 

Die  deutsche  Regierung  gieng  von  der  Anschauung  aus,  dass  —  so 
lang  und  soweit  nicht  eine  etwaige  Besiedlung  deutscher  Schutzgebiete  in 
Frage  kommt  —  die  rationelle  und  nationale  Lenkung  der  Auswanderung 
„weder  durch  Gesetzesparagraphe,  noch  durch  allgemeine  Kundgebungen  der 
Regierung  oder  durch  irgendwelche  legale  Werbemaassnahmen  der  letzteren 
verwirklicht  werden  und  ebensowenig  der  Privatinitiative  überlassen  werden 
könne,  ohne  dass  man  die  Gefahr  einer  erheblichen  Förderung  des  Aus- 
wanderns  laufen  oder  eine  schwere  Verantwortung  für  die  Zukunft  der  Aus- 
wanderer übernehmen  würde."  Die  Hinlenkung  der  Auswanderung  nach 
Südamerika  könne  nur  derart  verwirklicht  werden,  dass  nationale 
Colonisationsgesellschaften  in  geeigneten  und  von  der  Regierung  gut 
geheissenen  Gebieten  Ländereien  erwerben,  um  auf  diesen  auf  eigene 
Verantwortung  und  Haftung  hin  deutsche  Auswanderer  anzusiedeln. 
Das  nothwendige  Auswanderercontingent  wird  sodann  dadurch  —  ohne 
specielle  Agitation  —  gewonnen,  dass  die  Regierung  die  Concessionen  der 
Auswanderungsunternehmer  specialisiert,  d.  h.  nur  die  Beförderung  nach 
dem  ausersehenen  Gebiete  gestattet,  dagegen  nach  anderen  Theilen  desselben 
Landes  oder  auch  nach  anderen  Ländern  untersagt.  Ebenso  kann  sie  in  den 
Concessionen  die  Qualität  und  die  Zahl  der  nach  der  geplanten  Colonie 
zu  befördernden  Auswanderer  festsetzen. 


560  Buzek. 

Während  das  italienische  Gesetz  die  Regierung  ermächtigt,  die  Aus- 
wanderung nach  ungeeigneten  Gebieten  zu  untersagen,  verpflichtet  der  das 
Specialisierungsprincip  aussprechende  §  6  des  deutschen  Gesetzes  den  Reichs- 
kanzler, die  Auswanderung  nach  geeigneten  und  erwünschten  Gebieten 
hinzuleiten. ^)  Eben  deswegen  ist  das  Gesetz  Gegenstand  leidenschaft- 
licher Anwürfe  seitens  der  Interessentenkreise  im  Reichstage,  zum  Theile 
auch  in  der  wissenschaftlichen  Literatur  geworden.  Die  von  gegnerischer 
Seite  ausgesprochenen  Befürchtungen  haben  sich  jedoch  im  allgemeinen 
nicht  erfüllt,  hauptsächlich  deshalb,  weil  die  deutsche  Regierung  schon 
von  vorneherein  entschlossen  war,  das  Specialisierungsprincip  nur  auf 
Südamerika  anzuwenden,  dagegen  „bis  auf  weiteres"  die  Auswanderung 
nach  den  Vereinigten  Staaten,  nach  Canada  und  nach  Australien  gewähren 
zu  lassen.  Nur  in  einer  Hinsicht  behielten  die  Schwarzseher  Recht: 
das  Specialisierungsprincip  verdarb  die  guten  Beziehungen  zwischen  den 
ausländischen  Staaten,  die  zur  Colonisierung  ausersehen  waren.  Soweit  uns 
bekannt,  hat  die  deutsche  Regierung  bis  nun  von  den  im  §  6  enthaltenen 
Befugnissen  keinen  Gebrauch  gemacht.  Nichtsdestoweniger  vermochte  die 
unvorsichtige  Redaction  des  Paragraphen  und  seiner  Motivierung  die  ganze 
öffentliche  Meinung  Brasiliens  und  zum  Theile  der  Vereinigten  Staaten  in 
Harnisch  zu  bringen.  Im  Vorjahre  war  in  der  Presse  dieser  Länder  das 
Kesseltreiben  gegen  die  Pläne  Deutschlands  so  gross,  dass  das  Echo  weit 
vernehmbar  durch  Europa  flog. 

Während  das  deutsche  Gesetz,  um  nicht  auswanderungsfördernd  zu 
wirken,  lieber  die  Auswanderungsfreiheit  einschränkte,  acceptierte  die  englische 
Verwaltung  den  in  Deutschland  perhorrescierten  Weg,  durch  öffentliche 
Kundgebungen  auf  die  Richtung  der  Auswanderung  einzuwirken.  Ihre  Mittel 
finden  Ausdruck  in  der  Thätigkeit  des  im  Jahre  1886  unter  dem  Drucke 
der  Agitation  nach  einem  Greater  Britain  und  nach  einer  ,State-directed 
Colonisation"  errichteten  Emigrants  Information  Office. 

Die  Aufgaben  dieser  Auskunftsstelle  sind  in  der  Geschäftsanweisung 
folgendermaassen  formuliert: 

„Die  Aufgaben  dieses  Amtes  können  nicht  klar  genug  ausgesprochen 
werden.  Es  hat  möglichst  genaue  Nachrichten  zu  liefern  über  die  Aussichten 
der  Auswanderung  nach  den  britischen  Colonien,  über  die  Ver- 
hältnisse des  Arbeitsmarktes,  Reisekosten,  Preise  nothwendiger  Bedarfs- 
artikel u.  s.  w.,  um  Auswanderungslustigen  die  Beurtheilung  zu  ermöglichen, 
ob  es  gerathen  sei  oder  nicht,  zu  einer  bestimmten  Zeit  nach  einer  bestimmten 
Colonie  auszuwandern.  Die  Genauigkeit  dieser  Nachrichten  wird  jedoch  von 
der  Regierung  nicht  verbürgt," 

„Es  gehört  nicht  zu  den  Aufgaben  des  Amtes,  in  irgend  einer  Weise 
zur  Auswanderung  überhaupt  oder  zu  einem  besonderen  Plane  zu  ermuntern 


I 


*)  Der  §  6  lautet:  „Die  Eiiaubniä  (siehe  Unternehraerconcession)  ist  nur  für 
bestimmte  Länder,  Theile  von  solchen  oder  bestimmte  Orte  und  im  Falle  überseeischer 
Auswanderung  nur  für  bestimmte  EinschiflFungshäfen   zu  ertheilen." 


Das  Auswanderungsproblem  und  dieEegeluiig  des  Auswanderungswesens  etc.      561 

oder  abzurathen.  Seine  Aufgabe  besteht  darin,  Thatsachen  zu  constatieren 
und  zu  veröffentlichen." 

Wir  bemerken,  dass  das  Emigrants  Information  Office  nur  nach  den 
englischen  Colonien  Auskünfte  ertheilen  sollte.  Auf  die  Dauer  liess  sich 
diese  tendenziöse  Einseitigkeit  nicht  aufrechthalten.  Bereits  im  Jahre  1890 
wurde  die  Auskunftsstelle  angewiesen,  auf  Verlangen  auch  über  die  Ver- 
einigten Staaten  und  die  übrigen  Einwanderiingsländer  Auskünfte  zu  ertheilen. 
Seit  dem  Jahre  1895  wird  sogar  von  Jahr  zu  Jahr  ein  Rathgeber  für  Aus- 
wanderer nach  den  Vereinigten  Staaten,  von  Zeit  zu  Zeit  auch  nach  Argentina, 
Westindien  etc.  ausgegeben.  Man  überzeugte  sich  nämlich,  dass  durch  Ver- 
weigerung der  Auskunft  über  diese  Länder  das  Vertrauen  der  Bevölkerung 
in  die  -Aufrichtigkeit  des  Amtes  erschüttert  werde ;  ertheilt  man  dagegen 
die  Auskunft,  so  hat  man  immer  Gelegenheit  zu  bemerken,  dass  es  für  den 
Engländer  unter  allen  Umständen  am  vortheilhaftesten  sei,  doch  lieber  nach 
den  englischen  €olonien,  deren  Sprache,  Gewohnheiten,  Gesetze  ihm  bekannt 
sind,  zu  wandern.  Dieser  Passus  fehlt  unter  anderem  in  keinem  der  für  die 
Vereinigten  Staaten  ausgegebenen  Rathgeber. 

Das  Emigrants  Information  Office  liefert  sowohl  persönliche,  als  auch 
allgemeine  Informationen.  Erstere  werden  sowohl  mündlich,  als  auch  schrift- 
lich —  nach  eigens  vorgedruckten  Formularen  und  unter  Mitgabe  ent- 
sprechender Brochuren  — ,  in  beiden  Fällen  ganz  unentgeltlich  ertheilt. 
Letztere  beruhen  auf  der  Verbreitung  periodischer  Druckschriften,  und  zwar 
der  Handbooks,  der  free  circulars  und  der  Placate  (Posters). 

Die  Handbooks  erscheinen  alljährlich  im  April,  je  eines  für  jede  der 
zehn  Colonien,  ausserdem  ein  elftes  für  die  Auswanderer  der  gebildeten 
Stände,  ein  zwölftes  zur  Orientierung  über  die  in  England  und  in  den 
Colonien  geltenden  Emigrationsgesetze,  seit  neuester  Zeit  ein  dreizehntes  für 
auswandernde  Frauen.  Die  für  die  grosse  Masse  der  Auswanderer  bestimmten 
zehn  Hefte  umfassen  25 — 60  Druckseiten  und  sind  überall  um  einen  Penny 
zu  beziehen.  Sie  enthalten  eine  Karte  der  Colonie,  eine  geographische  und 
statistische  Schilderung  derselben,  wichtige  gesetzliche  Bestimmungen,  Rath- 
schläge  über  die  Fahrgelegenheiten,  Gepäck  und  Ausrüstung,  Preise  von 
Lebensmitteln,  Löhne,  Nachfrage  nach  Arbeit  etc. 

Jedes  Vierteljahr  publiciert  das  Emigrants  Information  Office  drei 
Circulare  (für  Südafrika,  Australien,  Canada),  die  umsonst  —  aber  nach 
vorheriger  Verständigung  —  an  die  staatlichen  und  die  autonomen  Behörden, 
an  Arbeiterverbände,  Geistliche,  Volksschullehrer,  Volksbibliotheken  und 
Lesehallen,  an  Wohlthätigkeitsvereine  und  Zeitungen  etc.  versendet  werden. 
Die  Circulare  sind  eine  Zusammenfassung  und  Ergänzung  der  Handbücher 
ui)d  informieren  zumal  über  die  augenblickliche  Lage  des  Arbeitsmarktes. 
Noch  condensierter  ist  der  Inhalt  der  gleichfalls  vierteljährlich  erscheinenden 
Placate,  die  nur  kurze  Angaben  über  die  Fahrtdauer  und  den  Preis  der 
Reise  nach  den  10  Colonien,  über  Unterstützung  der  Auswanderung  durch 
die  Colonialregierungen,  Einrichtnngen  zum  Empfange  der  Einwanderer, 
beste  Jahreszeit  für  die  Ankunft,  Nachfrage    nach  Arbeit   in    den  Colonien 


5G2 


Buzek. 


und  Warnungen  gegen  die  Auswanderung  nach  Brasilien  enthalten,  im  übrigen 
aber  auf  das  Amt  und  dessen  Publicationen  verweisen.  Die  Posters  werden 
gratis  an  alle  Postännter^  auch  an  Vereine,  Clubs  etc.  verschickt  und 
dort  angeschlagen.  Seit  dem  Jahre  1897  werden  diese  Placate  auf  allen 
Stationen  des  Great  Eastern  und  der  South  Eastern  Kailway  affichiert, 
um  auch  auf  die  ländliche  Bevölkerung  einzuwirken. 

Das  Emigrants  Information  Office  gilt  —  sehr  gegen  den  eigenen 
Willen  —  als  ein  Departement  des  Ministeriums  für  die  Colonien.  In 
Wirklichkeit  besitzt  es  einen  halbofficiellen  Charakter,  indem  dem  leitenden 
Managing  Committee  ausser  zwei  Beamten  des  Colonialministeriums  nur 
Privatleute  (Fachmänner  für  die  Auswanderung,  Delegierte  der  Arbeiter- 
verbände, Parlamentsmitglieder)  angehören.  Diese  Zusammensetzung  wurde 
gewählt,  um  das  Misstrauen  der  arbeitenden  Classen  zu  bannen.  Dass  dies 
gelungen  ist,  wird  schon  dadurch  bewiesen,  dass  unter  den  Auswanderungs- 
lustigen des  Jahres  1898,  die  in  der  Centrale  mündliche  Information  ein- 
holten (2323  Personen),  28  Proc.  unorganisierte  Arbeiter,  12  Proc.  Hand- 
werker, 20  Proc.  Commis  und  Schreiber,  9  Proc.  Dienstboten  und  nur 
31  Proc.  organisierte  Arbeiter  und  Angehörige  höherer  Bevölkerungsschichten 
waren.  Es  sind  somit  die  tiefsten  Schichten  der  Bevölkerung,  auf  die  das 
Amt  in  erster  Linie  wirkt. 

Der  Umfang  der  Thätigkeit  des  Emigrants  Information  Office  wird  am 
besten  durch  folgende  Ziffern  illustriert: 


I 


I 


Iin   .Tahre 


1894 
1895 
1896 
1897 
1898 


Es  wurden 
Handbooks  verkauft 

für 
Pf.  Sterl. 

d.  li.  ca. 
Exemplare 

72 

17.280 

74 

17.760 

95 

22.800 

87 

20.8^0 

94 

22.560 

Wurden  in  der 
Centrale 


briefliche  mündliche 


Informationen 
ertheilt 


6682 
7734 
9598 
9229 
9151 


2585 
2282 
2189 
2200 
2323 


Die  Centrale 


erhielt 
Briefe  von 


versendete 
Briefe  an 


Nichtauswanderer 


989 
1097 
1243 
1334 

1886 


? 
27.908 
26,958 
27.739 
32.821 


Die  Aus- 
wanderung 
aus  P]ngland 
betrug 


99.590 

112.538 

102.837 

94.658 

90.679 


Der  Einfluss,  den  das  Emigrants  Information  Office  auf  die  englische 
Auswanderung  ausübt,  muss  ein  kolossaler  sein.  Auf  4  Auswanderer  kommt 
im  Jahre  1898  ein  verkauftes  Handbook,  auf  je  10  eine  schriftliche,  auf  je 
40  eine  mündliche  Information.  Dabei  findet  die  Thätigkeit  des  Amtes,  wie 
aus  den  Ziffern  der  Spalte  6  und  7  hervorgeht,  einen  immer  stärkeren 
Rückhalt  an  nicht  interessierten  Privaten,  Corporationen  etc.  Mit  Aus- 
nahme der  ländlichen  Bezirke,  die  nach  den  zahlreichen  Klagen  der  Geschäfts- 
berichte noch  immer  nicht  erobert  sind,  hat  das  Amt  den  Weg  zu  den 
Volksmassen   gefunden. 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Eegelung  des  Auswanderungswesens  etc.     563 


Die    national-politischen    Eesultate    der   Wirksamkeit   des    Emigrants 
Information  Office  veranschaulicht  folgende  Tabelle. 
Es  wanderten  aus  England  aus:^) 


Im  Jahre 

Personen 

Davon  in 

die  Vereinigten 

Staaten 

Procentuell 

1891 

137.881 

87.581 

63-5 

1892 

133.815 

84.667 

63-3 

1893 

134.045 

83.293 

62-2 

1894 

99.590 

54.253 

54-5 

1895 

112.538 

61.211 

54-4 

1896 

102.837 

48.434 

47-1 

1897 

94.658 

43.381 

45-9 

1898 

90.679 

42.244 

46-6 

1899 

87.400 

45.723 

52-3 

1900 

102.448 

49.445 

48-3 

In  die  übrigen 
Länder,  d.  h.  zu- 
meist in  die 
Colonien 


50.300 
49.148 
50.752 
45.337 
51.327 
54.403 
51.277 
48.435 
41.677 
53.003 


Wie  Deutschland  hatte  auch  England  in  der  zweiten  Hälfte  der  Neun- 
zigerjahre eine  Periode  wirtschaftlichen  Aufschwunges  durchgemacht.  Dieser 
Thatsache  entspricht  der  allgemeine  Rückgang  der  englischen  Auswanderung. 
1897—1899  wanderten  40,000—50.000  jährlich  weniger  als  in  den  Jahren 
1891 — 1893  aus.  Dieser  Rückgang  beschränkt  sich  ausschliesslich  auf  die 
Auswanderung  nach  den  Vereinigten  Staaten.  Zweifellos  ist  es  für  die  Jahre 
1894 — 1898  eine  Folge  der  bereits  im  ersten  Theile  dieser  Abhandlung  mit 
einigen  Strichen  dargestellten  Krise  in  den  Vereinigten  Staaten.  Seit  dem 
Jahre  1898  beginnt  aber  ein  rasches  Anschwellen  der  nordamerikanischen 
Einwanderung,  das  untrüglichste  Zeichen,  dass  die  wirtschaftliche  Entwicklung 
dieses  Landes  in  aufsteigender  Linie  sich  bewegt.  Wenn  trotzdem  die  Ein- 
wanderung aus  Englaud  stationär  bleibt,  ist  dies  nur  damit  zu  erklären, 
dass  der  Bann,  den  die  Vereinigten  Staaten  auf  die  eng- 
lische Auswanderung  in  früheren  Jahren  ausübten,  durch 
die  Wirksamkeit  des  Emigrants  Information  Office 
gebrochen  ist.  Trotz  des  südafrikanischen  Krieges  wendet  sich  gegen- 
wärtig nur  die  kleinere  Hälfte  der  englischen  Auswanderung  nach  den  Ver- 
einigten Staaten. 

Bereits  im  ersten  Theile  der  Abhandlung  wurde  darauf  hingewiesen, 
dass  die  Möglichkeit  der  Ausnützung  der  dauernden  Auswanderung  nach 
überseeischen  Ländern  davon  abhängig  ist,  ob  die  Auswanderer  und  deren 
Nachkommen  ihre  nationale  Eigenart  zu  bewahren  vermögen.     Die  Mittel, 


*)  Copy  of  Statistical  Tables  relating  to  Emigration  and  Immigration  from  and  into 
the  United  Kingdom. 


564 


Buzek. 


mit  denen  dieses  Ziel  zu  erstreben  ist,  sind  —  abgesehen  von  der  Aus- 
wanderungsleitung und  dem  Auswandererschutze  —  vor  allem  Sache  der 
Bethätigung  privater  Personen  und  Vereine,  denen  der  Staat  nur  aufmunternd, 
anregend,  aushelfend  beistehen  kann.^)  Die  Nothwendigkeit  gesetzlicher 
Bestimmungen  ergibt  sich  für  den  Staat  nur  insofern,  als  es  gilt,  das 
staatsbürgerliche  Band  zwischen  ihm  und  den  Auswanderern  zu  erhalten 
und  damit  die  Grundlage  fernerer  Verbindung  intact  zu  wahren. 

Der  Staat  hat  somit  strenge  darüber  zu  wachen,  dass  seinen  Bürgern 
nicht  wider  deren  Willen  eine  fremde  Staatsangehörigkeit  aufgezwungen 
wird,  vor  allem  hat  er  aber  seine  gesetzlichen  Vorschriften  über  den  Verlust 
der  Staatsbürgerschaft  in  Einklang  mit  den  Interessen  seiner  Auswanderungs- 
politik zu  bringen.  Er  wird  alles  vermeiden,  was  seine  in  der  Fremde 
lebenden  ünterthanen  zur  Ausbürgerung  treiben  würde,  er  wird  den  persön- 
lichen Verkehr  der  Auswanderer  mit  der  alten  Heimat  möglichst  zu  erleichtern 
suchen.  Die  beiden  letztgenannten  Ziele  erreicht  er  am  ehesten,  wenn  er 
den  Auswanderern  in  der  Erfüllung  der  schwersten  Bürgerpflicht,  der  Wehr- 
pflicht, entgegenkommt. 

In  vorbildlicher  Weise  ist  diese  Seite  des  Auswanderungsproblemes 
von  dem  neuen  italienischen  Gesetze  gelöst  worden.  Wir  wollen  hier  nur 
die  auf  den  Militärdienst  bezüglichen  Bestimmungen  wiedergeben. 

Durch  Art.  33  wird  die  Kecrutierung  im  Auslande  ausschliesslich 
den  Consular-  und  den  diplomatischen  Behörden  anvertraut.  Die  Stellungs- 
pflichtigen haben  sich  zur  Hauptstellung  bei  dem  nächsten  Consulate,  resp. 
bei  der  nächsten  Gesandtschaft  einzufinden.  Werden  sie  assentiert,  dann 
werden  sie,  falls  sie  sich  in  Amerika,  Oceanien,  Asien  mit  Ausnahme  der 
Türkei,  Afrika  mit  Ausschluss  der  Nordstaaten  und  des  italienischen  Protec- 
torates- aufhalten,  vorläufig  für  die  ganze  Dauer  ihres  Aufenthaltes  in  der 
Fremde  beurlaubt.  (Definitiv  befreit  werden  sie  erst  nach  dem  vollendeten 
zweiunddreissigsten  Lebensjahre.)  Nur  im  Falle  einer  allgemeinen  Mobilisierung 
der  Armee  und  der  Flotte  sind  sie  verpflichtet,  einzurücken,  vorausgesetzt, 
dass  sie  nicht  von  dieser  Pflicht  ausdrücklich  enthoben  werden.  Bei  einer 
etwaigen  Kückkehr  nach  Italien  haben  sich  die  Assentierten  unverzüglich 
zur  Erfüllung  ihrer  Militärdienstpflicht  zu  melden.  Nur  dann,  wenn  sie  nicht 
länger  als  zwei  Monate  verweilen  sollten,  können  sie  durch  specielle 
Erlaubnis  der  Consular-,  resp.  diplomatischen  Behörden  davon  befreit  werden, 
Studenten  können  sogar  vom  Kriegsministerium  die  Erlaubnis  zu  einem 
längeren  Aufenthalte  erhalten,  ohne  dass  sie  zum  Antritte  des  Präsenz- 
dienstes verhalten  wären.  Dieser  Passus  wurde  aufgenommen,  um  den  Söhnen 
der  Auswanderer  das  Studium  an  italienischen  Schulen  zu  ermöglichen. 
Aehnliche  Begünstigungen  geniessen  nach  Art.  34  die  italienischen  Missionäre, 
die  sich  nach  fremden  Ländern  einschiften.  Sind  diese  Missionäre  doch  eines 


I 


^1 


^)  Näheres  siehe  bei  Freiherr  v.  Battaglia,  „Versuch  einer  sj'stematischen  und 
kritischen  Darstellung  des  allgemeinen  modernen  Auswanderungsrechtes,''  Triest  1897, 
S.  73  ff.,  76  ff.,  auch  Hub  er,  Auswanderungswesen  im  Königreiche  Wiirtemberg,  Schriften 
des  Vereines  für  Socialpolitik.  B.  LH,  S.  259  ff. 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Eegelung  des  Auswanderungswesens  etc.     565 

der  wirksamsten  Bindeglieder  zwischen  der  Heimat  und  ihren  weit  verstreuten 
Xindern. 

2.   Das    Problem   der  Auswanderungstechnik. 

Die  mit  der  überseeischen  Auswanderung  verbundenen  Misstände  sind 
zum  grössten  Theile  unmittelbare  Folgen  der  Auswanderungstechnik.  Ohne 
eindringliche  Vervollkommnung  derselben  ist  somit  an  eine  wirkliche  Eegelung 
des  Auswanderungswesens  nicht  zu  denken. 

Die  Auswanderungstechnik  ist  im  Principe  in  allen  Staaten  des  Con- 
tinentes  dieselbe.  Der  Auswanderungslustige  schliesst  den  Vertrag  mit  dem 
Eheder,  resp.  mit  der  Schiffahrtsgesellschaft,  die  ihn  über  das  Meer 
befördern  soll,  nur  in  den  seltensten  Fällen  direct,  in  der  weitaus  grössten 
Zahl  der  Fälle  bedient  er  sich  der  Vermittelung  von  Auswanderungsagenten. 
Die  Agenten  belehren  ihn,  wann  er  die  Heimat  zu  verlassen  hat,  sie 
instruieren  ihn  über  die  Eeiseroute,  machen  ihn  mit  den  wichtigsten  Bestim- 
mungen der  Gfesetze  der  Einwanderungsländer  bekannt,  sagen  ihm,  wie  viel 
Geld,  welche  Documente  und  Gepäckstücke  er  mitzunehmen  hat,  helfen  bei 
der  Expedition  des  Gepäckes,  besorgen  den  Kauf  der  Schiffskarten  etc. 
Je  weiter  die  Entfernung  vom  Meere,  je  geringer  die  allgemeine  Bildung 
und  die  Findigkeit  des  Volkes,  desto  unentbehrlicher  ist  der  Agent.  In 
dieser  ünentbehrlichkeit  wurzelt  die  verhängnisvolle  Macht  des  Agenten. 

Die  Machtstellung  des  Agenten  zwingt  die  Schiffahrtsunternehmungen, 
ihn  bei  guter  Laune  zu  erhalten,  um  ihn  in  die  Dienste  ihrer  Interessen  zu 
spannen.  Daraus  entwickelt  sich  eine  Eeihe  weiterer  Misstände.  Die  Unter- 
nehmer zahlen  dem  Agenten  für  jeden  Passagier,  den  sie  seiner  Vermittelung 
verdanken,  eine  bestimmte  Provision.  Dies  geschieht  zumeist  in  der  Art  und 
Weise,  dass  die  von  den  Schiffahrtsgesellschaften  publicierten  Tarife  ausser 
den  üeberfahrtsgebüren  auch  schon  die  Provision  für  die  Agenten  und  dessen 
Unteragenten  enthalten.  Der  Agent  cassiert  die  tarifmässigen  Beförderungs- 
kosten, streicht  seine  Provision  ein  und  liefert  den  Eest  an  die  Schiffahrts- 
gesellschaft ein.  In  der  Provision  liegt  für  den  Agenten  ein  allzustarker 
Anreiz,  als  dass  er  sich  auf  die  Expedition  der  sich  bei  ihm  spontan 
meldenden  Auswanderer  beschränken  sollte.  Er  umgibt  sich  mit  einem 
Heere  von  Unteragenten,  die  per  Kopf  der  angeworbenen  Auswanderer  ent- 
lohnt werden.  So  verspricht  z.  B.  die  hamburgische  Agentur  Falck  &  Comp, 
in  dem  in  Galizien  massenhaft  verbreiteten  Circulare  vom  29.  December  1898 
ihren  Subagenten  für  jeden  dienten  eine  Provision  von  5  fl.  Die  künstliclie 
Hervorrufung  der  Auswanderung  —  und  alle  mit  dieser  verbundenen 
Betrügereien  —  sind  eine  nothwendige  Folge  des  Agentenwesens. 

Ein  weiterer  Nachtheil,  der  dem  Agentenwesen  immanent  innewohnt 
und  eben  deswegen  irreparabel  ist,  beruht  darauf,  dass  der  Auswanderer- 
strom nicht  gleichmässig  im  Jahre  verläuft,  sondern  im  Frühjahr  und  dann 
wieder  im  Herbste  mächtig  anschwillt,  im  Hochsommer  und  in  den  Winter- 
monaten  dagegen  zusammenschrumpft.  Das  Interesse  der  Schiffahrtsunter- 
nehmungen verlangt  aber  einen  möglichst  gleichmässigen  Verlauf  der  Wander- 


566 


Buzek. 


bewegung.  Diesem  Postulat  entspricht  die  Tarif-  und  die  Provisionspolitik 
der  Schiffahrtsgesellscliaften.  Der  Auswandererflut  entsprechen  hohe  Ueber- 
fahrtspreise  und  niedrige  Provisionen,  der  Ebbe  niedere  üeberfahrtspreise 
und  hohe  Provisionen.  Die  Agenten  müssen  demnach  mit  aller  Kraft  bestrebt 
sein,  die  Auswanderung  auf  die  ungünstigste  Jahreszeit  hinzulenken.  In 
welchem  Maasse  dies  speciell  in  Oesterreich  gelingt,  zeigt  der  Verlauf  der 
galizischen  Einwanderung  nach  den  Vereinigten  Staaten.  Während  z.  B.  die 
irische  Einwanderung  dorthin  mit  fast  mathematischer  Kegelmässigkeit  ver- 
läuft, culminiert  die  galizische  im  Jahre  1896  im  Mai,  1897  im  December  (!), 
1898  im  März  (ly)  Und  nun  bedenke  man.  dass  der  Erfolg  der  Aus- 
wanderung in  sehr  hohem  Maasse  von  der  Wahl  des  richtigen  Zeitpunktes 
abhängt.  Jede  Woche  Erwerbslosigkeit,  jede  Woche  nutzlosen  Verweilens 
jenseits  der  Meere  bedroht  die  mitgenommene  Barschaft  des  Auswanderers, 
kann  seinen  Untergang  herbeiführen.  Wir  sehen,  das  Agentenwesen  vermag 
auch  der  proprio  motu  entstehenden  Emigration  durch  die  im  Geschäfts- 
interesse des  Agenten  gebotene  falsche  Wahl  der  Abfahrtszeit  von  vorne- 
herein den  Stempel  einer  ungesunden  Bewegung  aufzudrücken. 

Ein  weiterer  Misstand  ergibt  sich  daraus,  dass  Rheder  und  Schiffahrts- 
gesellschaften, die  über  voll  ausgerüstete  und  schnellfahrende  Schiffe  ver- 
fügen und  regelmäs  s  ige  Verbindungen  unterhalten,  eben  deswegen  nicht 
in  der  Lage  sind,  den  Agenten  so  hohe  Provisionen  zu  gewähren,  wie  Rheder 
mit  schon  abgebrauchtem,  minderwertigem  Schiffspark.  Aus  dem  von  der 
italienischen  Regierung  gesammelten  Materiale  ist  zu  entnehmen,  dass  im 
Jänner  1897  von  Genua  nach  Brasilien  und  dem  La  Plata  unter  anderen 
folgende  Schiffe  ausliefen: 


I 


Tag  der 
Abfahrt 


Bezeichnung  des 


Dampf- 
schiffes 


Unternelimers 


Ueberfahrts- 

kosten 

dritter  Classe 

pro  Kopf 


Gewinn 

des 
Agenten 


Selbst- 
kosten des 
Unter- 
nehmers 


15 

8 
20 
10 


Oiion 

Olbia 

Italia 

Agordat 


Navigazione  Generale   Italiana 

Puglia 

Stefano  Repetto 

Ligure  Brasiliano 


Ebenso  die  übrigen  Schiffe. 


170 
153 
153 
130 


15 
30 
40 
10 


90 
80 
60 
60 


Je  geringer  die  Selbstkosten  der  Unternehmer,  desto  höher  die  dem 
Agenten  gewährten  Provisionen.  (Eine  scheinbare  Ausnahme  bemerken  wir 
beim  Dampfer  Agordat,  wo  aber  die  Üeberfahrtspreise  von  der  brasilianischen 
Regierung  bezahlt  waren,  so  dass  es  an  Zulauf  nicht  fehlen  konnte.)  Die 
Höhe  der  Provisionen  schwankt  noch  mehr,  wie   die   der  Fahrpreise.     Kein 


1)  Genaueres  in  Dr.  Buzek,  „Die  überseische  österreichische  Wanderung   in   den 
Jahren  1896—1898."  Statistische  Monatsschrift,  N.  F.  II.  Jahrgang,  S.  86. 


Das  Auswanderungspioblem  und  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  etc.     567 

Wunder,  dass  der  Agent  kein  Mittel  unversucht  lässt,  um  Leute,  die  etwa 
am  8.  Jänner  mit  der  Olbia  abfahren  wollten,  erst  am  20.  mit  der  Italia 
zu  expedieren.  Ueber  die  einzelnen  schändlichen  Tricks  und  über  die  Folgen 
für  den  Auswanderer  sei  auf  die  Schilderung  der  Navigazione  Generale 
Italiana  (Atti  parlamentari,  Legislatura  XX,  Terza  sessione  1899 — 1900, 
seduta  del  3  febbraio  1900,  Nr.  97  e  97  bis  A)  verwiesen.^) 

Die  gänzliche  Beseitigung  der  erwähnten,  aus  dem  Wesen  der  Aus- 
wanderungsagenturen entspringenden  Misstände  ist  nur  möglich  mit  der 
Aufhebung  der  Institution  selbst.  Ist  eine  solche  fundamentale  Aendermig 
der  Auswanderungstechnik  zweckmässig,  unter  welchen  liedingungen  und  mit 
welchem  Erfolge  ? 

Gelegentlich  der  parlamentarischen  Behandlung  des  neuen  italienischen 
Gesetzes  wurde  vielfach,  namentlich  von  socialistischer  Seite,  die  Bei- 
behaltung des  Agentenwesens  gefordert.  Man  behauptete,  dass  dieses  das 
einzige  Mittel  sex,  um  die  Auswanderer  vor  der  Monopolstellung  der  Schiffahrts- 
gesellschaften zu  schützen.  Wenn  die  Gesellschaften  die  Ueberfahrtspreise 
gar  zu  sehr  erhöhen,  sind  es  die  Agenten,  welche  ausländische  Concurrenz- 
linien  herbeirufen,  die  Coalition  der  Rheder  durchbrechen  und  eine  Ermässigung 
der  Tarife  erzwingen.  Die  von  den  Agenten  bezogenen  Provisionen  belasten 
den  Auswanderer  viel  weniger,  als  es  Coalitionen  der  Transportgesellschaften 
thun  würden. 

Es  ist  allerdings  richtig,  dass  die  Monopolstellung  der  Schiffahrts- 
gesellschaften denselben  ermöglicht,  Ueberfahrtspreise  zu  dictieren,  die  durch 
nichts  anderes  als  die  Sucht,  auf  Kosten  der  Auswanderer  den  Profit  zu 
erhöhen,  gerechtfertigt  werden  können.  Ebenso  aber  ist  es  richtig,  dass  die 
Agenten  nicht  das  geeignete  Werkzeug  sind,  um  hier  abzuhelfen.  Unter 
Umständen  sind  sie  im  Gegentheile  das  geeignetste  Mittel,  den  Gesell- 
schaften den  Ausschluss  jedweder  Concurrenz  zu  garantieren.  Als  Beweis 
diene  der  Vertrag,  der  zwischen  fünf  an  der  Auswandererbeförderung  nach 
Südamerika  interessierten  Gesellschaften  und  den  Agenten  von  Neapel  im 
Jahre  1895  geschlossen  wurde.  Die  Agenten  verpflichten  sich,  „a  lavorare 
con  tutta  attivitä",  um  den  coalierten  Gesellschaften  eine  möglichst  hohe 
Anzahl  von  Passagieren  nach  Südamerika  zu  liefern.  Sie  verpflichten  sich, 
nicht  coalierten  Gesellschaften  oder  Ehedern  unter  keinen  Umständen 
Passagiere  zuzuweisen,  und  versprechen.  Jedwede  Concurrenz  mit  allen 
Mitteln"  zu  bekämpfen.  Dagegen  verpflichten  sich  die  Unternehmer,  den 
Agenten  ausser  den  für  die  Subagenten  bestimmten  Provisionen,  deren  Höhe 
von  Zeit  zu  Zeit  bestimmt  wird,  für  jeden  Auswanderer  10  Lire  Provision 
zu  bezahlen.  Ebenso  verpflichten  sie  sich,  die  Auswanderer  der  in 
die  Uebereinkunft  nicht  einbezogenen  Agenten  von  der 
Beförderung  auf  ihren  Schiffen  auszuschliessen.  Wir  sehen, 
nicht   bloss    die    Schiffahrtsgesellschaften,    auch  die   Agenten   streben    eine 

^)  Alle  auf  das  neue  italienische  Auswanderungsgesetz  bezüglichen  Drucksachen 
des  italienischen  Parlaments  verdanken  wir  der  Liebenswürdigkeit  Sr.  Excellenz  Luigi 
Luzzatti,  des  Referenten  des  neuen  Gesetzes. 


568 


Buzek. 


Monopolstellung  an,  und  der  Interessengegensatz  zwischen  beiden  ist  nicht  so 
tief,  als  dass  er  nicht  auf  Kosten  der  Auswanderer  ausgeglichen  werden  könnte. 

Die  Lösung  der  Frage,  ob  die  Aufhebung  des  Agentenwesens  zweck- 
mässig sei,  hängt  demnach  ausschliesslich  davon  ab,  ob  man  glaubt,  die 
vermittelnden  Functionen  der  Agenten  durch  Creierung  anderer  Organe  so 
vollständig  ersetzen  zu  können,  dass  für  die  Thätigkeit  unbefugter  Winkel- 
agenten kein  Raum  mehr  übrig  bleibt.  Von  allen  Auswanderungsgesetzen, 
die  wir  kennen,  hält  nur  das  neue  italienische  Gesetz  vom  31.  Jänner  1901 
an  der  vollständigen  Unterdrückung  des  Agentenwesens  fest.  Alle  übrigen 
Staaten  mit  moderner  Auswanderungsgesetzgebung  suchen  dagegen  mit  einer 
stricten  Reglementierung  und  Ueberwachung  der  Auswanderungsagenten  ihr 
Auskommen  zu  finden. 

Das  neue  italienische  Gesetz  überweist  die  bisher  von  den  Agenten 
ausgeübten  Functionen  theils  den  mit  der  Beförderung  von  Auswanderern 
sich  befassenden  Rhedern  (vettore  d'emigranti),  theils  den  bereits  erwähnten 
localen  Auswanderungscomites.  Nach  Art.  16  können  die  Rheder  unter 
Zustimmung  des  Auswanderungscommissariates  in  allen  Theilen  des  Landes 
eigene  Repräsentanten  ernennen.  Der  Rheder  übernimmt  alle  civile  Ver- 
antwortlichkeit für  die  Handlungen  dieser  Repräsentanten,  wie  er  überhaupt 
für  alle  Handlungen  seiner  Angestellten,  anderer  Rheder  und  jeder,  anderen 
Person,  der  er  die  Beförderung  des  Auswanderers,  sei  es  auch  mit  dessen 
Wissen  und  Zustimmung,  ganz  oder  zum  Theile  überlässt,  verantwortlich 
ist.  Die  Repräsentanten  dürfen  ihre  Mandate  nicht  weiter  delegieren.  Mit 
Zustimmung  des  Commissariates  können  verschiedene  Rheder  einen  gemein- 
samen Repräsentanten  bestellen.  In  allen  Fällen  ist  es  diesen  verboten, 
Auswanderern  die  Ueberfahrt  auf  Schiffen,  die  nicht  ihrem  eigenen  Mandanten, 
resp.  ihren  Mandanten  gehören,  zu  vermitteln.  Letztere  Bestimmung  ver- 
hindert, dass  die  Institution  der  Repräsentanten  wiederum  den  Charakter 
der  alten  Agenten   annehme. 

An  Orten,  wo  keine  Localvertretung  der  Rheder  besteht,  haben  die 
Aufgaben  der  bisherigen  Agenten  die  Localcomites  zu  übernehmen.  Das 
Commissariat  hat  ihnen  die  hierzu  nothwendigen  Informationen  zu  liefern. 
Die  Localcomites  können  die  Auswanderer  unter  Anrufung  der  Intervention 
der  Auswanderungsinspectorate  mit  den  Schiflfsrhedern  in  Verbindung  bringen. 

Man  muss  zugeben,  dass  die  Normen  des  italienischen  Gesetzes  sehr 
fein  gedacht  sind.  Zwar  sind  die  Rheder  an  der  Unterhaltung  des  Aus- 
wanderungsfiebers und  an  einer  möglichst  gleichmässigen  Vertheilung  des 
Auswandererstromes  über  das  Jahr  hin  zum  mindesten  ebenso  wie  die 
Agenten  interessiert.  Es  ist  jedoch  nicht  zu  verkennen,  dass  dieses  Interesse 
bei  ihren  fix  angestellten  Organen  nicht  mehr  zutriift.  Sodann  stehen  für 
die  Rheder  gar  zu  grosse  Interessen  auf  dem  Spiele,  als  dass  sie  nicht,, 
das  wachsame  Auge  der  Regierung  fühlend,  Benachtheiligungen  der  Aus- 
wanderer lieber  aus  dem  Wege  gehen  sollten.  Uebrigens  wird  ihre 
Thätigkeit  in  vielen  Gegenden  durch  das  Wirken  uninteressierter  Local- 
comites ersetzt  und  in  Schach  gehalten. 


I 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Eegelung  des  Auswanderungswesens  etc.     569 

Die  Hauptaufgabe  der  Staaten,  die  die  Beibehaltung  des  Agentenwesens 
für  entsprechender  hielten,  musste  darauf  gerichtet  sein,  vor  allem  Mittel 
und  Wege  zu  finden,  um  den  dem  Agentenwesen  immanenten  Auswüchsen 
—  vor  allem  aber  der  Nährung  eines  künstlichen  Auswanderungsfiebers  — 
wirksam  zu  steuern.  Im  Princip  handelt  es  sich  hiebei  vor  allem  um  eine 
Keformation  der  Auswanderungstechnik,  der  hierbei  fungierenden  Organe 
und  der  von  diesen  entwickelten  Thätigkeit.  Die  in  Betracht  kommenden 
Maassregeln  sind  auf  den  ersten  Blick  in  allen  Staaten  so  ziemlich  dieselben; 
erst  eine  feinere  Betrachtung  fördert  auch  hier  charakteristische  unter- 
schiede zutage.  Für  die  in  Oesterreich  beabsichtigte  Eegelung  des  Aus- 
wanderungswesens scheinen  uns  die  zwischen  der  deutschen  und  der 
schweizerischen  Gesetzgebung  obwaltenden  Unterschiede  besondere  Bedeutung 
zu  besitzen.  Wir  beschränken  uns  daher  auf  die  Darstellung  der  bezüglichen 
Vorschriften  des  deutschen  und  des  schweizerischen  Auswanderungsgesetzes. 

Das  deutsche  Gesetz  beruft  zur  Mitwirkung  an  der  Beförderung  der 
Auswanderer  nur  zwei  Kategorien  von  Personen :  1.  die  concessionierten 
Agenten,  d.  h.  diejenigen,  die  „bei  der  Beförderung  von  Auswanderern  nach 
ausserdeutschen  Ländern  durch  Vorbereitung,  Vermittelung  oder  Abschluss 
des  Beförderungsvertrages  gewerbsmässig  mitwirken  wollen",  und  die 
concessionierten  Unternehmer,  die  „die  Beförderung  von  Auswanderern  nach 
ausserdeutschen  Ländern  betreiben  wollen".  Alle  anderen  Kategorien  der 
Vermittler  werden  vom  Auswanderungsgeschäfte  ausgeschlossen.  Dadurch, 
dass  nach  Wortlaut  des  §  5  die  Unternehmerconcession  nur  dann  ertheilt 
werden  darf,  wenn  der  Ansuchende  nachweist,  dass  ihm  zur  Beförderung 
der  Auswanderer  geeignete  eigene  oder  fremde  gecharterte  Schiffe  zur 
Verfügung  stehen,^)  werden  die  sogenannten  binnenländischen  Unternehmer 
ausgeschlossen,  welche  bisher  im  eigenen  Namen  Beförderungsverträge 
abgeschlossen  haben,  um  sodann  ihre  Auswanderer  —  entweder  auf  Grund 
zuvoriger  Abkommen  mit  in-  oder  ausländischen  Schiffahrtsgesellschaften 
oder  imter  Ausnützung  der  jeweilig  sich  darbietenden  Beförderungs- 
gelegenheit —  diesen  oder  jenen  Schiffslinien  zuzuweisen.  Dadurch,  dass 
ferner  nach  §  13  jeder  Agent  (vide  obige  Definition)  von  einem  conces- 
sionierten Unternehmer  bevollmächtigt  sein  muss,  werden  von  dem  Verkehr 
mit  dem  Auswanderer  zwei  weitere  Kategorien  von  Vermittlern  ausgeschlossen': 
die  Schiffsagenten  und  die  Unteragenten.  So  bleiben  nur  die  erwähnten 
zwei  Kategorien  am  Platze,  der  Unternehmer  im  Einschiffungshafen,  der 
Agent  im  Innern  des  Landes ;  den  sachlichen  Bedürfnissen  der  Auswanderung 
ist  damit  genüge  gethan  und  zahlreichen  Misständen  die  Spitze  genommen. 

Die  im  obigen  skizzierte  Auswanderungstechnik  des  deutschen  Gesetzes 
erfährt  ihren  inneren  Ausbau  —  wird  zu  einem  lebensfähigen  Gebilde  — 
erst  durch  die  Statuierung  des  Unternehmerzwanges  für  die  Agenten,  des 
Agentenzwanges  für  die  Unternehmer.  In  ersterer  Beziehung  verfügt  §  16 : 


^)  Eine  Ausnahme  von  dieser  Vorschrift  ist  nur  im  Interesse   deutscher  Colonial- 
gesellschaften  zugelassen. 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  X.  Band.  39 


570  Buzek. 

„Für  andere  als  den  in  der  Eiiaubnisurkunde  namhaft  gemachten  Unternehmer 
sowie  auf  eigene  Eechnung''  darf  der  Agent  seine  Agentengeschäfte  nicht 
besorgen."  Es  werden  damit  mit  einem  Schlage  die  Thätigkeit  der  Agenten  im 
Interesse  solcher  Schiffslinien,  welche  im  Keichsgebiete  nicht  als  Unter- 
nehmer zugelassen  sind,  ausgeschlossen  und  die  Agenten  in  eine  Art 
Repräsentanten  bestimmter  Rheder  oder  Gesellschaften  verwandelt.  Umgekehrt 
wird  durch  das  Frincip  des  Agentenzwanges  dem  Aufkommen  unconces- 
sionierter  und  uncontrolierter  Winkelagenten  vorgebeugt.  Es  wird  nämlich 
den  Unternehmern  untersagt,  mit  solchen  Winkelagenten  in  geschäftlichen 
Verkehr  zu  treten  und  die  von  diesen  vermittelten  Auswanderer  zu  befördern. 
Ausserhalb  des  Gemeindebezirkes  seiner  gewerblichen  Niederlassung  und  des 
Gemeindebezirkes  seiner  etwaigen  Zweigniederlassungen  hat  sich  nach  §  8 
der  Unternehmer  bei  der  Ausübung  seines  gesammten  Geschäftsbetriebes, 
soweit  es  sich  dabei  nicht  lediglich  um  die  Ertheilung  von  Auskünften  auf 
Anfrage  und  die  Veröffentlichung  der  Beförderungsgelegenheiten  und 
-bedingungen  handelt  —  ausschliesslich  seiner  zugelassenen  Agenten  zu 
bedienen.  Der  Gesetzgeber  erachtet,  dass  durch  die  obigen  Bestimmungen 
den  Unternehmern  die  nothwendige  Bewegungsfreiheit  eingeräumt,  anderseits 
aber  den  Auswanderern  die  Möglichkeit  geboten  ist,  nicht  bloss  beim 
Agenten,  sondern  auch  direct  beim  Unternehmer  sich  den  erwünschten  Rath 
zu  holen. 

Während  das  deutsche  Gesetz  die  Verantwortlichkeit  für  die  Beförderung 
des  Auswanderers  auf  den  Agenten  und  den  Unternehmer  vertheilt,  concentriert 
das  schweizerische  Auswanderungsgesetz  vom  22.  März  1888  die  ganze 
Verantwortlichkeit  auf  eine  einzige  Person,  die  nach  der  in  Deutschland 
gebrauchten  Terminologie  als  binnenländischer  Unternehmer  zu  charak- 
terisieren wäre,  vom  schweizerischen  Gesetz  aber  schlechthin  Agent  genannt 
wird.  Dieselbe  Kategorie  von  Vermittlern,  die  in  Deutschland  als  schädlich 
kaltgestellt  wurde,  wird  in  der  Schweiz  gerade  in  den  Mittelpunkt  der 
Regelung  des  Auswanderungswesens  gerückt.  Die  Ursache  ist  klar.  Die 
Schweiz  ist  ein  Binnenland  und  muss  ihre  Auswanderer  über  fremde  Häfen 
befördern.  Trotzdem  wollte  man  den  Schutz  des  Auswanderers  während  der| 
ganzen  Reise,  vom  Aufbruch  aus  der  Heimat  bis  zur  Ankunft  im  Bestimmungs- 
lande, sichern.  Dies  konnte  nur  dadurch  erreicht  werden,  dass  die  inländischen 
Agenten  „sowohl  gegenüber  den  Behörden  als  gegenüber  den  Auswanderern 
für  ihre  eigene  Geschäftsführung  und  die  ihrer  Unteragenten,  sowie  für 
diejenige  ihrer  Vertreter  im  Auslande  persönlich  verantwortlich"  gemacht 
wurden  (Art.  7).  Auch  wenn  die  Benachtheiligung  des  Auswanderers  aus- 
schliesslich dem  ausländischen  Agenten  oder  Rheder  zur  Last  fallen  und 
den  Agenten  gar  kein  Verschulden  treffen  sollte,  ist  er  dem  Auswanderer 
zum  Schadenersatz,  den  Behörden  zur  Rechenschaft  verbunden.  Es  ist  seine 
Sache,  sodann  Regress  bei  dem  Schuldtragenden  zu  suchen.  Bei  dieser  Sach- 
lage war  es  angezeigt,  die  Position  des  Agenten  gegenüber  den  Schiffahrts- 
unternehmern möglichst  zu  stärken.  Dies  wäre  aber  unmöglich,  wenn  der 
kleine  Agent  unmittelbar  dem  Rheder  gegenüber  stehen   würde.    So  wurde 


I 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Kegeluug  des  Auswanclerungswesens  etc.     571 

denn  der  über  einen  zahlreichen  Stab  von  Agenten  (Unteragenten)  verfügende 
„binnenländische  Unternehmer"   (Agent)  beibehalten. 

Im  sonstigen  unterscheidet  sich  die  Auswanderungstechnik  des  schwei- 
zerischen Gesetzes  in  nichts  Erheblicherem  von  der  deutschen :  auch  hier 
herrscht  Concessionspflicht  für  jeden  Agenten  und  Unteragenten,  sowie  der 
Unteragentenzwang  für  den  Agenten  und  selbstverständlich  auch  umgekehrt. 
Nur  eines  muss  besonders  hervorgehoben  werden.  Das  schweizerische  Gesetz 
versucht  den  dem  Agentenwesen  immanenten  Misständen  dadurch  vorzubeugen, 
dass  ausdrücklich  festgesetzt  wurde  (Art.  3,  al.  5),M  dass  Auswanderungs- 
agenten (und  ihre  Unteragenten)  weder  in  einem  Dienst-  noch  in  irgendeinem 
Abhängigkeitsverhältnis  zu  einer  überseeischen  Dampfschiff-  oder  Eisenhahn- 
unternehmung stehen  dürfen.  Durch  Art.  9  wurden  sodann  die  Agenten  ver- 
pflichtet, dem  Bundesrathe  alle  von  ihm  über  ihr  Verhältnis  zu  den  fremden 
Schiffsgesellschaften  verlangte  Mittheilungen  zu  machen.  Diese  Bestimmungen 
waren  ein  Schlag  ins  Wasser.  Bereits  der  Geschäftsbericht  des  Bundesrathes 
für  1895  erklärt  offen:  „In  einem  Abhängigkeitsverhältnis  zu  den  Schiffahrts- 
gesellschaften stehen  alle  Agenten,  insofern  es  den  ersteren  freisteht,  mit 
letzteren  in  Geschäftsverkehr  zu  treten  und  die  Bedingungen  festzustellen, 
unter  denen  sie  von  ihnen  Auswanderer  zur  Beförderung  übernehmen.  Aus 
diesem  Grunde,  und  weil  es  schwer  ist,  Einsicht  in  die  Verhältnisse  der 
Agenten  zu  den  Schiffahrtsgesellschaften  zu  erlangen,  ist  die  in  Kede 
stehende  gesetzliche  Bestimmung  nicht  von  grossem  Werte."  Vor  der  Nach- 
ahmung dieses  Verbotes  sei,  wie  vor  jedem  Eingriffe  in  die  Natur  der 
Dinge,  die  österreichische  Gesetzgebung  gewarnt. 

Schon  durch  eine  den  Verhältnissen  angemessene  Kegelung  der  Aus- 
wanderungstechnik kann  den  immanenten  Gefahren  des  Agentenwesens 
wirksam  begegnet  werden.  Der  Kreis  der  an  der  Auswanderung  interessierten 
Personen  wird  möglichst  enggezogen,  die  Verantwortlichkeit  ist  scharf  um- 
grenzt und  in  jedem  einzelnen  Falle  leicht  zu  constatieren.  Das  weitere 
können  polizeiliche  Gebote,  Verbote,  Cautelen  besorgen.  Insbesondere  vom 
Gesichtspunkte  der  Unterdrückung  der  Auswanderungspropaganda  sind  fol- 
gende Maassnahmen  von  Wichtigkeit : 

1.  das  allen  modernen  Gesetzen  gemeinsame  Verbot  der  Ausübung 
des  Agentenbetriebes  in  Zweigniederlassungen  oder  durch  Stellvertreter,  sowie 
im  Umherziehen.  Erstere  Verbote  dienen  zur  Aufrechterhaltung  des  höchst 
persönlichen,  resp.  des  höchst  localen  Charakters  der  Agentenconcession, 
letzteres  sucht  die  besonders  gefährliche  Propaganda  auf  Jahrmärkten, 
Kirchfesten,  in  Wirtsstuben,  durch  Begehung  der  Privathäuser  etc.  un- 
möglich zu  machen. 

2.  Die  Bestimmung,  dass  die  Unternehmer  ihre  an  die  Agenten  und 
die  Auswanderer  gerichteten  Schreiben,  die  Agenten  die  Schreiben  an  die 
Dnternehmer  und  Auswanderer  zu  copieren,  sorgfältig  aufzuheben  und  den 
Behörden  auf  Verlangen  zur  Einsicht  vorzulegen  haben.  Diese  werden  so  in 


^)  Vergl.  auch  Art.  12  und  13  des  Gesetzes. 

39^* 


572  Buzek. 

den  Stand  gesetzt,  die  Geschichte  jedes  einzelnen  Auswanderungsfalles 
kennen  zu  lernen.  (§  24  der  Bestimmungen  über  den  Geschäftsbetrieb  der 
Auswanderungsunternehmer  und  Agenten,  Bekanntmachung  des  Bundesrathes 
vom  14.  März  1898,  K-G.-Bl.  Nr.  10,  Art.  9,  schw.  G.). 

3.  Das  Verbot  der  schriftlichen  Auswanderungspropaganda  durch 
Verbreitung  von  Broschüren,  Circulären,  Bildern,  Karten  etc.  Im  allgemeinen 
werden  den  Interessenten  nur  Bekanntmachungen  der  Fahrtgelegenheiten 
gestattet  (Art.  17  ital.  G.,  Art.  8,  al.  2,  schw.  G.,  §  25  Bek.  d.  Bundes- 
rathes vom  14.  März  1898).  Der  Bewegungsfreiheit  privater  Personen  werden 
in  der  Regel  weitere  Grenzen  gezogen.  Das  italienische  Gesetz  verbietet 
z.  B.  nur  die  Ermunterung  zur  Auswanderung  durch  wissentlich  falsche 
mündliche  oder  schriftliche  Informationen  (Art.  17).  Eine  besondere  Stellung 
nimmt  nur  das  schweizerische  Gesetz  ein,  welches  grundsätzlich  die  Aus- 
wanderungsinteressenten und  die  unbetheiligten  Privaten  ganz  gleich  behandelt. 
Es  bestimmt,  dass  der  Bundesrath  in  jedem  einzelnen  Falle  zu  entscheiden 
hat,  „ob  und  unter  welchen  Bedingungen  Privaten,  Gesellschaften  oder 
Agenten  gestattet  werden  kann,  ein  Colonisationsunternehmen  zu  vertreten" 
(Art.  10).  Dabei  wird  ein  Colonisationsunternehmen  jedesmal  angenommen, 
,wenn  durch  propagandistische  Mittel,  wie  Vertheilung  von 
Broschüren,  Prospecten,  Uebersichten  über  Lebensmittelpreise  und  Lohn- 
verhältnisse, Gewährung  von  Vorschüssen,  sei  es  für  die  üeberfahrtskosten, 
sei  es  für  die  erste  Einrichtung,  die  Auswanderung  nach  einer  gewissen 
Gegend  oder  einem  bestimmten  Lande  zu  lenken  gesucht  wird."^) 

Ausnahmen  von  diesen  Bestimmungen  werden  nur  aus  ganz  besonderen 
Gründen  gestattet.  So  begünstigt  das  italienische  Gesetz  die  zeitweilige 
Auswanderung,  unter  der  dauernden  wiederum  die  colonisatorische.  Dem- 
entsprechend setzt  es  fest,  dass  privaten  Unternehmern,  sowie  Colonial- 
gesellschaften,  „die  von  den  Gesetzen  des  betreffenden  Landes  zugelassen 
sind,"  vom  Ministerium  des  Aeussern  mit  Zustimmnng  des  Ministeriums 
des  Innern  unter  Auflegung  besonderer  Bedingungen  die 
Erlaubnis  ertheilt  werden  kann,  ausschliesslich  für  eigene  Rechnung  die  zur 
Ausführung  der  Arbeit,  resp.  zur  Besiedelung  des  erworbenen  Terrains 
nothwendige  Anzahl  von  Personen  anzuwerben."  Das  deutsche  und  selbst 
das  schweizerische  Gesetz  lassen  genehmigte  Colonisationsgesellst3haften 
zu,  ohne  aber  die  Auswandererwerbung  zuzulassen.  In  der  Schweiz  ist 
sogar  bei  erlaubten  Colonisationsunternehmungen  nur  die  Ertheilung  von 
Auskünften  und  die  Verabreichung  von  Veröffentlichungen  an  spontan  sich 
Meldende  gestattet.  (Bundesrathsbeschluss  vom  12.  Februar  1889,  Bericht 
des  Bundesrathes  vom  Jahre  1899.) 

4.  Das  Verbot  der  Beförderung  von  Auswanderern,  für  welche  von 
fremden  Regierungen  oder  von  Colonisationsgesellschaften  oder  ähnlichen 
Unternehmungen  der  Beförderungspreis  ganz  oder  theilweise  bezahlt  wird 
oder  Vorschüsse  geleistet  werden.     Dieses  Verbot  ist  schon  deswegen  auf- 


I 


^)  Kreisschreiben  des  Bundesrathes  vom  12.  Februar  1889. 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  etc.     578 

zunehmen,  weil  in  der  Kegel  die  gratis  Beförderten  später  dem  bittersten 
Elend  preisgegeben  wurden,  anderseits  aber  auch  deswegen,  weil  die  ünent- 
geltlichkeit  des  Transportes  erfahruugsgemäss  eine  unerwünschte  Unruhe  in 
bisher  sesshafte  und  leidlich  zufriedene  Bevölkerungkreise  hineingetragen  hat. 
Auch  in  Bezug  auf  diese  Bestimmung  bestehen  zwischen  der  italie- 
nischen, schweizerischen  und  deutschen  Gesetzgebung  weitgehende  Unter- 
schiede. Das  italienische  Gesetz  kennt  sie  überhaupt  nicht,  di:s  deutsche 
lässt  Dispensen  zu  (§  23  c),  .das  schweizerische  zwar  auch,  es  verbietet 
aber  ausdrücklich  die  Annoncierung  in  den  Zeitungen  und  jedwede  andere 
Verölfentlichung  über  solche  Passagevorschüsse. 

5.  Von  besonderer  Wichtigkeit  ist  ferner  die  Concessionierung  einer 
dem  thatsächlichen  Bedürfnis  entsprechenden  Zahl  von  Agenten,  resp., 
Unteragenten.  Eine  allzugrosse  Zahl  von  Agenten  kann  leicht  die  Hervor- 
rufung einer  künstlichen  Ausw^yiderung  zur  Folge  haben,  eine  allzukleine 
das  Aufkommen  uncontrolierter  Winkelagenten. ^)  Die  Ertheilung  der  Agenten- 
concession  muss  demnach  der  arbiträren  Entscheidung  der  Beh'örde  über- 
lassen werden ;  es  geht  nicht  an,  den  Petenten  bei  Erfüllung  gewisser 
Bedingungen  einen  Anspruch  auf  die  Ertheilung  der  Concession  zu  ertheilen. 
In  technischer  Hinsicht  ist  es  deswegen  rathsam,  im  Gesetze  bloss  fest- 
zustellen, wann  die  Concession  nicht  er  th  eilt  werden  darf  (§  13  b, 
§  15  d.  G.).  —  Die  Festlegung  der  Bedingungen,  unter  denen  eine  Con- 
cession ertheilt  werden  darf  (so  im  schweizerischen  Gesetze  Art.  3), 
führt  dagegen  zu  Unzukömmlichkeiten^)  und  wird  deswegen  besser  ver- 
mieden. 

6.  Besonderes  Augenmerk  hat  die  Behörde  bei  der  Ertheilun<j  der 
Concession  auf  die  persönlichen  Eigenschaften  des  Agenten  zu  richten.  In 
der  Schweiz  hat  es  sich  herausgestellt,  dass  in  einigen  Cantonen  fast 
sämmtliche  Agenten  Wirte  waren.  Wer  weiss,  welche  Mittel  solche  Agenten 
in  Bewegung  setzen  können,  um  aus  der  Situation  den  grössten  Nutzen 
herauszuschlagen,  muss  verlangen,  dass  Wirte  womöglich  principiell  nicht 
zu  concessionieren  sind.  In  einem  Gesetze  kann  allerdings  eine  solche  Aus- 
schliessung einer  ganzen  Berufsclasse  nicht  verfügt  werden.  Für  die  Praxis 
kann  aber  ganz  wohl  die  Norm  erlassen  werden,  bei  Gesuchen  von  Wirten 
besonders  strenge  die  persönlichen  Cautelen  des  Bewerbers  zu  prüfen.  Eine 
gesetzliche  Ausschliessung  könnte  nur  für  Eine  Personenclasse  gerechtfertigt 
erscheinen;  wir  meinen  die  öffentlichen,  insbesondere  aber  die  Gemeinde- 
beamten, die  in  der  Schweiz  —  bei  uns  insbesondere  in  Galizien  —  ihre 
Stellung  zu  Auswanderungsagitationen  in  unverantwortlicher  Weise  miss- 
brauchten. 

Mit  Obigem  wären  die  zur  Regelung  der  Auswanderungstechnik  zu 
ergreifenden  Maassnahmen  genügend  charakterisiert.  Es  bleibt  nur  noch  die 
Frage  übrig,  inwieweit  überhaupt  die  Regelung   der  Auswanderungstechnik 

*)  Vgl.  Karrer,  „Die  schweizerische  Auswanderung  und  die  Revision  des  Bundes- 
gesetzes, betreffend  den  Betrieb   von  Auswanderungsagenturen",  S.  155. 
-)  Botschaft  des  Bundesrathes  vorn  6.  Juni  1887. 


>74 


Buzek. 


ihr    Ziel    erreichen   kann.     Als    x^ntwort    sollen    zunächst   folgende   Ziffern 
angeführt  werden : 

Es  betrug  die  Auswanderung  aus  der  Schweiz 


4 


im  Jahre 


nach  Argentinien 


schweizerische         argentinische 


Statistik 


nach  den  Vereinigten  Staaten 


schweizerische 


amerikanische 


Statistik 


1888 
1891 
1895 
1899 


1334 

282 
354 
245 


1479 
352 
465 
348 


6759 
6920 
3697 
2159 


7622 
6934 
2513 

1107 


Die  schweizerische  Statistik  beruht  auf  den  Angaben  der  Agenten 
über  die  von  ihnen  abgeschlossenen  Beförderungsverträge  (vide  Art.  39  der 
Vollziehungsverordnung  vom  10.  Juli  1888),  die  amerikanische  Statistik 
gibt  dagegen  die  Zahl  der  in  den  Häfen  der  Union  gelandeten  Zwischendeck- 
passagiere. Da  Auswanderer  in  der  Regel  im  Zwischendeck  reisen,  müssten 
die  Ziiferii  der  schweizerischen  und  amerikanischen  Statistik  im  grossen 
und  ganzen  übereinstimmen,  vorausgesetzt,  dass  das  schweizerische  Gesetz 
seinen  Zweck,  die  gesammte  Auswandererbewegung  unter  strenge  Controle 
des  Bundes  zu  stellen,  erreicht  hat.  Bis  zum  Jahre  1888/1889  sind  nun 
die  von  den  schweizerischen  Agenten  angegebenen  Ziffern  um  einiges  nied- 
riger, als  die  Zahlen  der  amerikanischen  Statistik;  in  den  Jahren  1890/1891 
ergibt  sich  eine  fast  vollständige  Uebereinstimmung,  seit  1892  werden  da- 
gegen von  der  schweizerischen  Statistik  circa  1000  Auswanderer  mehr,  als 
von  der  amerikanischen  ausgewiesen.  Letzterer  üeberschuss  ist  damit  zu 
erklären,  dass  schweizerische  Einwanderer  zu  den  bemittelteren  gehören  und 
nicht  selten  in  Schiffscabinen  reisen.  Als  solche  werden  sie  aber  in  Nord- 
amerika nicht  zu  den  Einwanderern  gezählt.  Addiert  man  die  Zahl  dieser 
Cabinenpassagiere  (imFiscaljahre  1899/1900  1106)  zur  Zahl  der  Zwischendecks- 
passagiere, dann  ergibt  sich  eine  fast  vollständige  Uebereinstimmung  beider 
Statistiken.  Gegenwärtig  ist  der  Zweck  des  schweizerischen 
Auswanderungsgesetzes,  soweit  es  sich  um  die  Aus- 
wanderung nach  Nordamerika  handelt,  auf  das  voll- 
ständigste erreicht.  Nicht  so  bezüglich  Südamerikas.  Dorthin  wendet 
sich  die  italienische  Bevölkerung  des  armen,  verhältnismässig  zurück- 
gebliebenen Tessino.  Dank  der  Unbildung  der  Bevölkerung  hat  sich  hier 
noch  immer,  wenngleich  in  sehr  bescheidenem  Umfange,  die  Thätigkeit 
ausländischer  Winkelagenten  zu  behaupten  vermocht.  Diese  Thatsache  ist 
bei  der  Regelung  des  Auswanderungswesens  in  Oesterreich  besonders  zu 
beherzigen. 

Die  Wirksamkeit  des  neuen  deutschen  und  des  italienischen  Gesetzes 
kann  bis  nun  an  der  Hand  von  Ziffern  nicht  geprüft  werden.  Wohl  lässt  sich 


Das  Auswanderungsproblera  und  die  Regelung  des  Auswanderungsr.'esens  etc.     575 

aber  ziffernmässig  der  Nachweis  führen,  dass  in  Ländern  mit  einer  geregelten 
Allswanderungstechnik  die  Auswanderung  in  unvergleichlich  höherem  Maasse 
ein  Resultat  rein  wirtschaftlicher  Kräfte  ist,  als  in  Ländern  mit  einem  auf 
altpolizeiliche  Weise  geregelten  Auswanderungswesen.  Speciell  in  Oesterreich 
ist  die  Thätigkeit  von  Auswanderungsagenten  verboten.  Nachdem  es  die 
Regierung  nicht  für  entsprechend  gehalten  hat,  auf  Grund  der  im  §  1  des 
Gesetzes  vom  21.  Jänner  1897,  R.-G.-Bl.  Nr.  27,  iraplicite  enthaltenen 
Befugnis  im  Verordnungswege  die  näheren  Voraussetzungen  des  Betriebes 
von  Auswanderungsagenturen  festzustellen,  gelten  bis  zum  heutigen  Tage 
die  Bestimmungen  des  alten  Auswanderungspatentes  vom  24.  März  1832, 
J.-G.-S.  Nr.  2557,  und  ist  die  Errichtung  eigentlicher  Auswanderungs- 
agenturen gänzlich  untersagt.  Lediglich  die  berechtigten  öffentlichen  Agenten 
und  die  Privatgeschäftsvermittler  sind  auf  Grund  eines  Erlasses  des 
Ministeriums  des  Innern  vom  23.  October  1852,  Z.  25.748  auf  Grund 
einer  besonders  zu  ertheilenden  .  Erlaubnis  berechtigten,  einzelnen  Parteien 
auf  deren  Wunsch  in  Auswanderungsangelegenheiten  Eath  zu  ertheilen. 
Ihre  Thätigkeit  muss  sich  jedoch  auf  die  Ertheilung  dieser  Aus- 
künfte beschränken,  und  ist  insbesondere  jede  Geschäftsverbindung  mit 
Expedienten  oder  Agenturen  des  Auslandes  in  Betreff  einer  Vermittelung 
der  Auswanderung  untersagt.  Mit  einem  Worte,,  sie  dürfen  eigentlich 
Agentengeschäfte  nicht  besorgen.  Die  ihnen  gestatteten  Geschäfte  (Ertheilung 
von  Rath)  können  und  wollen  sie  nicht  betreiben,  da  ihnen  dazu  jeder 
materielle  Ansporn  und  folgerichtig  auch  die  einschlägigen  Kenntnisse 
mangeln.  Das  sociale  Bedürfnis  der  Bevölkerung  begegnet  sich  mit  dem 
Interesse  der  Schiflfslinien,  und  beides  ruft  zahlreiche  Winkelagenturen  ins 
Leben,  die  ohne  jewede  Controle  ungescheut  ihre  „Arbeit"  verrichten.  Und 
die  Resultate?  Sie  sind  im  historischen  Tlieile  dieser  Abhandlung  zur  Genüge 
dargestellt  worden. 

Die  Auswanderung  aus  Oesterreich  ist  in  den  letzten  Jahren  bedeutend 
gestiegen,  während  gleichzeitig  die  Auswanderung  aus  Deutschland  auf  74, 
die  aus  anderen  Staaten  Westeuropas  mit  moderner  Auswanderungsgesetz- 
gebung ebenso  stark  gefallen  ist.  Dieser  Abfall  wurde  durch  die  wirt- 
schaftlichen Verhältnisse  der  betreffenden  Staaten  und  der  Einwanderunffs- 
länder  verursacht.  Eben  dieselbe  Ursache  hätte  auch  in  Oesterreich  eine 
allerdings  geringere  Abnahme  der  Auswanderung  hervorrufen  sollen.  Nun 
geschah  aber  das  Gegentheil.  Die  Erklärung  findet  sich  leicht,  wenn  man 
sich  die  Situation  der  Schiffslinien,  die  bis  1893  auf  die  Beförderung  von 
100.000  von  Auswanderern  gewohnt  waren  und  nun  bloss  10.000  befördern 
sollten,  vergegenwärtigt.  Sie  mussten  sich  um  jeden  Preis  Auswanderer  aus 
anderen  Ländern  verschaffen  und  verlegten  sich  da  natürlich  auf  die  Länder 
mit  ungeregelter  Auswanderungstechnik :  Oesterreich  und  Russland.  So 
predigt  denn  gerade  die  Erfahrung  der  jüngsten  Zeit  die  Richtigkeit  des 
Satzes :  ohne  Regelung  der  Auswanderungstechnik  ist  auf 
eine  Eindämmung  der  unwirtschaftlichen  Auswanderung 
nicht  zu  denken. 


576  iJuzek. 

3.  Die  Auswanderung  und  die  nationale  Marine. 

Der  Auswandererstrom  ist  für  die  Entwickelung  der  Handelsmarine  von 
hoher  Bedeutung.  Er  verschaift  ihr  lohnenden  Verdienst,  belebt  den  Schiffs- 
verkehr und  trägt  so  zur  Erweiterung  des  Aussenhandels  bei.^)  Eben  da- 
durch, wie  an  und  für  sich,  wirkt  er  ausserdem  fördernd  auf  den  Aufschwung 
der  für  die  Einschiffung  in  Betracht  kommenden  Hafenplätze.  Fügen  wir 
noch  hinzu,  dass  der  Ausschluss  der  Auswanderung  von  fremden  Häfen, 
und  von  fremden,  den  staatlichen  Gesetzen  nicht  vollständig  unterworfenen 
Unternehmern  von  der  allergrössten  Bedeutung  für  den  Ausbau  der  Aus- 
wanderungstechnik ist,  so  wird  es  klar,  warum  die  Leitung  des  Auswanderer- 
stromes durch  nationale  Häfen  eines  der  Hauptpostulate  einer  Regelung  des 
Auswanderungswesens  sein  muss. 

Je  nach  den  obwaltenden  Verhältnissen  ist  dieses  Postulat  in  mehr 
oder  weniger  vollständiger  Weise  von  allen  ausländischen  Gesetzgebungen 
durchgeführt  worden.  Den  Ausschluss  aller  ausländischen  Häfen  fordert 
am  schroffsten  das  küstenreiche  Frankreich,  auf  dessen  Häfen  die  Mehr- 
zahl der  schweizerischen,  wie  ein  Theil  der  deutschen  Auswanderer 
angewiesen  ist.  Durch  Erlass  des  Ministeriums  des  Innern  vom  9.  April  1894 
und  Erlass  des  Handelsministeriums  vom  7.  Juni  1894  wurde  hier  den 
Auswanderungsagenturen  der  Erlass  des  Handelsministeriums  vom  12.  Februar 
1889  in  Erinnerung  gebracht,  dessen  Bestimmungen  ,s'opposent  d'une 
maniere  absolue,  ä  ce  qu'une  agence  puisse  confier  ses  transports  ä  une 
compagnie  de  navigation  qui  embarquerait  des  emigrants  dans  les  ports 
autres  que  les  ports  fran9ais.''  Die  in  Frankreich  autorisierten  Auswanderungs- 
agenten seien  vielmehr  verpflichtet,  sich  jeder  Intervention  im  Transporte 
von  Passagieren  zu  enthalten,  „qui  au  lieu  de  choisir  une  ligne  de  navi- 
gation ayant  son  port  d'attache  en  France,  preferent  aller  s'embarquer 
dans  un  port  etranger."  Der  Erlass  vom  7.  Juni  1894  geht  sogar  so  weit, 
allen  Agenten  mit  der  Entziehung  ihrer  Patente  zu  drohen,  wenn  sie  in 
irgendwelcher  Form  mitwirken  sollten,  „en  vue  d'assurer  l'execution  des 
contrats  d'emigration  passes  ä  l'etranger  par  des  agences  etrangeres  avec 
des  emigrants  transitants  ä  travers  la  France  pour  etre  diriges  sur  des 
ports  etrangers." 

Von  ähnlichen  Gesichtspunkten  geht  das  neue  italienische  Aus  wanderungs- 
gesetz  aus.  Zwar  fand  der  Antrag  des  Deputierten  Raffaele  Corsi,  den 
Auswanderertransport  ausschliesslich  in  Italien  gebauten  Schiffen  italienischer 
Flagge  anzuvertrauen,  um  so  die  Entstehung  einer  nationalen  Handelsflotte 
zu  fördern,  keine  Zustimmung  der  Kammermehrheit,  die  die  Monopol- 
stellung der  nationalen  Schiff'slinien  als  unvereinbar  mit  dem  Wohle  der 
Auswanderer  ansah.  Dafür  wurde  das  Verbot  der  Auswandererbeförderung 
über  fremde  Häfen  im  Principe  angenommen  und  sogar  durch  die  liberale 
Lösung  der  auf  die  Stellungspflicht  und  das  Passwesen  bezüglichen  Fragen 
Vorsorge  getroffen,  dass  die  hauptsächlichsten  Ursachen  der  Auswanderung 

^)  Vergl.  den  Jahresbericht  des  k.  u.  k.  Generalconijulatcs  in  Genua  für  das  Jahr  1895. 


I 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  etc.     577 

über  französische  Häfeo  beseitigt  werden.  Nur  für  den  Fall,  als  ein 
Kartell  der  italienischen  Schiffslinien  die  Preise  der  Schiffskarten 
übermässig  erhöhen  oder  sonst  zum  Nachtheile  der  Auswanderer  thätig 
sein  sollte,  wurde  das  Auswanderungscommissariat  ermächtigt,  unter  seiner 
Aufsicht  und  Verantwortlichkeit  die  Einschiffung  in  fremden  Häfen  zu 
gestatten. 

Das  deutsche  Auswanderungsgesetz  spricht  zum  Unterschiede  von  dem 
italienischen  Gesetze  den  Zwang  der  Beförderung  deutscher  Auswanderer 
über  deutsclie  Häfen  nicht  aus,  obgleich  es  die  consequente  Ausgestaltung  des 
deutschen  S'ystems  der  Auswanderungstechnik  dies  unbedingt  erfordert  hätte. 
Die  Ursache  liegt  darin,  dass  z.  B.  im  Jahre  1900  über  deutsche  Häfen 
16.690,  über  fremde  Häfen  5.619  deutsche  Auswanderer  befördert  wurden, 
wogegen  in  den  deutschen  Häfen  160.129  ausländische  Auswanderer  (darunter 
87.395  Oesterreicher  und  Ungarn)  sich  einschifften.  Deutschland  hat  angesichts 
dieser  Sachlage,  um  seinen  östlichen  Nachbarn  kein  schlechtes  Beispiel  zu 
geben,  im  Interesse  seiner  Häfen  —  wenn  auch  nicht  im  Interesse  seiner 
Auswanderer  —  das  Princip  der  Leitung  der  Auswanderer  über  nationale 
Häfen  unbedingt  verleugnen  niüssen. 

III.   Die   Regelung  des  Auswanderungswesens  in   Oesterreich. 

Wir  haben  im  II.  Abschnitte  die  grundlegenden  technischen  Mittel, 
die  der  Regelung  der  überseeischen  Auswanderung  zur  Verfügung  stehen, 
erörtert,  haben  dagegen  die  auf  den  Auswandererschutz,  die  Auswanderungs- 
freiheit etc.,  sowie  die  auf  die  continentale  Arbeiterauswanderung  bezüglichen 
Fragen  übergangen.  Während  nämlich  letztere  verhältnismässig  leicht  zu  lösen 
sind,  bereitet  die  richtige  Auswahl  der  technischen  Mittel  zur  Regelung 
der  überseeischen  Auswanderung  sehr  erhebliche  Schwierigkeiten,  so  dass 
ein  jeder,  der  hier  mit  einem  Vorschlage  hervortreten  zu  sollen  glaubt,  die 
umfassendste  Begründung  vorausschicken  muss,  schon  deshalb,  um  anderen, 
die  mit  seinem  Vorschlage  aus  diesem  oder  jenem  principiellen  Grunde  nicht 
einverstanden  sein  sollten,  das  Material  zu  einem  neuen  Vorschlage  zu 
liefern.  Da  die  Lösung  der  auf  die  Auswanderungstechnik  bezüglichen 
Fragen  dem  inneren  Ausbaue  wie  dem  Erfolge  der  Regelung  des  Aus- 
wandererwesens präjudiciert,  sollen  im  ersten  Capitel  dieses  Abschnittes 
zunächst  die  Grundzüge  der  für  Oesterreich  zu  postulierenden  Auswanderungs- 
technik skizziert  werden.  Hieran  soll  sich  ein  Capitel  über  die  Leitung  der 
Auswanderung,  über  den  Auswandererschutz,  über  die  Organisation  der 
Auswanderungsbehörden  und  schliesslich  über  die  Auswanderungsfreiheit 
reihen.  Specielle  Fragen,  die  für  die  gesetzliche  Regelung  des  Auswanderer- 
wesens nicht  in  Betracht  kommen,  wie  etwa  die  Frage  der  Colonisierung  der 
Occupationsländer,  das  Problem  des  Zusammenwirkens  der  Staatsgewalt  und 
der  Privatvereine,  die  Frage  nach  der  Gestaltung  des  staatlichen  Aus- 
wanderungsstudiums, sollen  gleich  dem  Capitel  über  die  zu  erlassenden 
Strafsanctionen  übergangen  werden. 


578 


Buzek. 


A.   Die  Gestaltung  der  Auswanderungstechnik. 

Die  Wahl  der  Aus  Wanderungstechnik  muss  dem  geistigen  Niveau  des 
Auswanderermaterials,  den  Fähigkeiten  der  Bureaukratie  und  dem  socialen 
Pflichtbewusstsein  oder  besser  der  Intensität  der  socialen  Bethätigung  der 
gebildeten,  an  der  Auswanderung  nicht  (materiell)  interessierten  Bevölkerungs- 
kreise entsprechen.  Je  geringer  die  Bildung  der  Auswanderer,  desto  grösser 
die  Ausbeutung,  die  Irreführung  derselben  seitens  der  Auswanderungs- 
interessenten, desto  schwieriger  aber  auch  für  die  Bureaukratie,  die  „grossen 
Kinder"  vor  den  sie  bedrohenden  Gefahren  zu  schützen.  Ein  classisches 
Beleg  hierfür  sind  die  Erfahrungen,  die  Italien  mit  dem  Auswanderungs- 
gesetz vom  30.  December  1888  (G.-S.  Nr.  5866,  Serie  3)  gemacht  hat. 
Das  Gesetz  sicherte  den  Klagen  der  Auswanderer  gegenüber  Ueber- 
vortheilungen  seitens  der  Agenten  oder  Unternehmer  einen  eigenen  Gerichts- 
stand durch  die  Einrichtung  besonderer  Arbiträrcommissionen  zu.  In  drei 
Jahren  wurden  aber  bei  diesen  Gerichten  nur  fünf  Klagen  anhängig.  Die 
Masse  der  Auswanderer  hatte  keine  Ahnung  von  den  zu  ihrem  Schutze 
getroffenen  Einrichtungen.  Ganz  anders  stehen  die  Verhältnisse  in  der 
Schweiz,  wo  der  Bundesrath  nicht  über  den  .  Mangel,  sondern  über  den 
Ueberfluss  an  Klagen  zu  klagen  hat.  Gegenüber  einer  tiefstehenden,  in 
ihrer  Beschränktheit,  Vertrauensseligkeit,  Unbeholfenheit  hilflosen  Be- 
völkerung kann  der  Staat  nur  dann  einen  vollen  Erfolg  erzielen,  wenn  er 
alle  seine  Kräfte  anstrengt,  und  wenn  ihm  überdies  in  der  freiwilligen 
Bethätigung  social  fühlender  und  dabei  den  betroffenen  Bevölkerungskreisen 
nahestehender  Männer  zahlreiche  Bundesgenossen  erwachsen. 

Die  besondere  Gefährlichkeit  der  Answanderungsinteressenten  gegenüber 
den  galizischen  und  krainischen  Bauern,  die  das  Gros  der  österreichischen 
Auswanderung  stellen,  könnte  die  gänzliche  Unterdrückung  des  Agenten- 
wesens nach  .italienischem  Muster  auch  für  Oesterreich  als  angemessen  er- 
scheinen lassen.  Soweit  wir  die  Verhältnisse  kennen,  müssen  wir  diese 
Lösung  auf  das  entschiedenste  zurückweisen.  Wir  fürchten,  dass  es  der 
Staatsgewalt  in  absehbarer  Zeit  nicht  gelingen  würde,  die  Kräfte  zu  finden, 
die  die  Thätigkeit  geschäftsmässiger  Auswanderungsvermittler  überflüssig 
machen  würden.  Ortscoraites  Hessen  sich  ja  überall  leicht  organisieren,  es 
ist  aber  mehr  als  wahrscheinlich,  dass  dies  in  den  meisten  Fällen  auch  der 
einzige  „Erfolg"  wäre,  wie  wir  dies  bei  so  vielen  Zwangsgenossenschaften 
und  selbst  bei  freien  Vereinen  beobachten  können.  Damit  ist  nicht  gesagt, 
dass  man  auf  die  Bildung  solcher  Ortscomites  grundsätzlich  verzichten 
sollte.  Im  Gegentheile  wäre  diese  Form  der  Auswanderungsvermittlung  ganz 
besonders  zu  bevorzugen,  üeberall  dort,  wo  sie  keinen  günstigen  Boden 
findet,  wären  jedoch  Agenten  zuzulassen.  In  dem  Maasse  und  insoweit  die 
Thätigkeit  der  Ortscomites  den  Betrieb  von  Agenten  überflüssig  machen 
sollte,  könnte  sodann  an  eine  schrittweise  Zurückdrängung  der  Agenten 
gedacht  werden. 

Für  die  weitere  Ausgestaltung  der  Auswanderungstechnik  ist  es  von 
entscheidender  Wichtigkeit,   ob   das  Gesetz   die  Leitung  der  Auswanderung 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Eegelung  des  Auswanderungswesens  etc.     579 

durch  nationale  Häfen,  d.  li.  vor  allem  Triest  ausspricht,  oder  ob  es  weiter 
die  Auswanderer  über  die  verschiedensten  Häfen  Europas  ziehen  lassen  will. 
Im  folgenden  soll  angenommen  werden,  dass  das  Gesetz  Triest  und  etwa 
einige  dalmatinische  Häfen  zu  Einschiflfungshäfen  für  österreichische 
Auswanderer  bestimmt.  Dafür  spricht,  abgesehen  von  dem  im  vorigen  Ab- 
schnitte Dargelegten,  auch  die  Thatsache,  dass  bisher  die  Concurrenz  der 
von  verschiedenen  Häfen  auslaufenden  Schiffslinien  sich  in  Oesterreich  als 
ausserordentlich  auswanderungssteigernd  erwiesen  hat  Man  vergegenwärtige 
sich  nur  das  Anschwellen  der  österreichischen  Auswanderung  über  Rotterdam 
(Holland — Amerika-Linie)  seit  dem  Jahre  1898. 

Bei  der  Leitung  der  Auswanderung  über  Triest  wäre 
nur  eine  Kategorie  von  Agenten  zuzulassen.  Die  Schiffs- 
rheder  hätten  direct  mit  den  kleinen  Agenten  in  Verbindung  zu  treten  und 
es  wären  alle  anderen  Kategorien  von  Vermittlern  auszuschliessen.^)  Dabei 
sollte  im  Gegensatze  zu  dem  in  Deutschland  acceptierten  Systeme  auch  der 
Unternehmer  an  einer  soliden  Geschäftsführung  des  Agenten  interessiert 
werden.  Zu  diesem  Zwecke  wäre  in  das  Gesetz  die  Bestimmung  aufzunehmen, 
dass  der  Unternehmer  für  den  durch  die  Thätigkeit  seiner  Agenten  ent- 
standenen Schaden  civilrechtlich  verantwoitlich  sei,  strafrechtlich  dann, 
wenn  er  nicht  nachzuweisen  imstande  ist,  dass  der  Agent  gegen  die  ihm 
ertheilten  Instructionen  gehandelt  hat.  Ebenso  hätte  der  Unternehmer  für 
jeden  von  ihm  bestellten  Agenten  eine  entsprechende  Caution  zu  hinterlegen, 
ausserdem  aber  auch  für  jeden  Wechsel  in  der  Person  des  Agenten  eine  feste 
Taxe  zu  entrichten.  Der  Unternehmer  ist  eben  verpflichtet,  bei  der  Aus- 
wahl seiner  Agenten  mit  der  grössten  Gewissenhaftigkeit  vorzugehen. 

Im  Anschlüsse  an  die  zum  grösseren  Theile  durch  eine  vierzigjährige 
Praxis  erprobten  Bestimmungen  des  neuen  deutschen  Auswanderungsgesetzes 
wäre  sodann  1.  die  Concessionspflicht  der  Unternehmer  und  der  Agenten, 
2.  der  Agentenzwang  für  die  Unternehmer,  3.  der  Unternehmerzwang  für 
die  Agenten  zu  statuieren.  In  dieser  Hinsiclit  sei  auf  das  im  obigen  bereits  Mit- 
getheilte  verwiesen.  Die  speciell  auf  die  Unterdrückung  der  Auswanderungs- 
propaganda abzielenden  polizeilichen  Maassregeln  wären  im  allgemeinen 
nach  dem  Muster  des  schweizerischen  Gesetzes,  das  gerade  auf  diesem 
Gebiete  Grossartiges  zu  leisten  vermochte,  zu  acceptieren  (vergl.  oben  II.  B., 
Punkt  1 — 6).   Aber  mit  zwei  wichtigen  Ausnahmen. 

Die  Entwickelung  der  österreichischen  Auswanderung  der  letzten  Jahre 
überzeugt,  dass  in  weiten  Gebieten  des  Landes  die  Auswanderung  als  ein 
starkes  wirtschaftliches  und  sociales  Bedürfnis  empfunden  wird.  Aeusserlich 
sind  diese  Gebiete  schon  durch  die  unverhältnismässig  hohe  Zahl  von 
Auswanderern,  die  sie  stellen,  erkennbar.  In  diesen  Bezirken  intensivster 
Auswanderung    verliert    die    sonst    so    gefährliche    Propaganda    ilire    aus- 


^)  Eine  Ausnahme  wäre  nur  zu  Gunsten  inländischer  Colonisationsgesellscliaften 
zuzulassen.  Diesen  wäre  die  Befugnis  zu  ertheilen,  Beförderungsverträge  durch  Ver- 
mittelung  concessionierter  Agenten  abzuschliessen  und  die  Beförderung  der  Auswanderer 
sodann  zugelassenen  ßhedern  anzuvertrauen. 


580  Buzek. 

waiideruiigsfördernde  Wirkung,  und  man  kann  hier  sogar  die  Auswanderer- 
werbung, respective  die  Vermittelung  gratis  beförderter  Auswanderer  zulassen, 
wenn  man  dadurch  die  Art  oder  die  Zusammensetzung,  oder  die  Kichtung  der 
Auswanderung  vortheilhaft  zu  beeinflussen  hofft.  Ohne  Rücksicht  auf  obige 
Umstände,  d.  h.  bedingungslos  wäre  dagegen  nm;  die  Werbung  von  Saison- 
arbeitern, respective  zeitweiligen  Auswanderern  überhaupt  nach  europäischen 
Ländern  zuzulassen.  Es  wären  demnach  in  das  Gesetz  folgende  Bestimmungen 
aufzunehmen:  1.  Gestattet  ist  die  Werbung  zeitweiliger  Auswanderer  nach 
europäischen  Ländern.  2.  Die  Regierung  wird  ermächtigt,  unter  von  Fall  zu 
Fall  festzusetzenden  Cautelen  die  Werbung  von  Ansiedlern  nach  den 
Occupationsgebieten,  sowie  nach  den  von  österreichischen  Colonisations- 
gesellschaften  in  überseeischen  Ländern  angekauften  Territorien  zu  gestatten. 
3.  Ebenso  bleibt  es  der  Regierung  vorbehalten,  nach  gepflogenen  Erhebungen 
die  Vermittelung  von  Auswanderern,  die  auf  Kosten  fremder  Regierungen 
oder  Privater  befördert  werden  sollen,  zuzulassen.  Die  Annoncierung  und 
überhaupt  jede  öftentliche  Bekanntmachung  über  die  Gewährung  von 
Schiffsfreikarten  oder  Passagevorschüssen  ist  aber  in  allen  Fällen  —  auch 
für  österreichische  Colonisationsgesellschaften  —  zu  verbieten. 

Im  besonderen  soll  hervorgehoben  werden,  dass  in  Bezug  auf  mündliche 
oder  schriftliche  Agitationen  Auswanderungsinteressenten  und  uninteressierte 
Private  grundsätzlich  gleich  zu  behandeln  wären.  Die  Regierung  wäre  ver- 
pflichtet, sich  auf  das  genaueste  über  die  Verhältnisse  der  Einwanderungs- 
länder zu  informieren.  Die  Agenten,  Vereine,  Private  etc.,  die  irgendein 
Auswanderungsziel  vertreten  wollten,  wären  verbunden,  zuvor  die  Erlaubnis 
der  Regierung  einzuholen.  Je  nach  den  gesammelten  Liformationen  wäre 
diese  Erlaubnis  zu  gewähren  oder  zu  verweigern.  Nur  im  ersteren  Falle 
stünde  es  den  Bittstellern  frei,  den  spontan  sich  meldenden  Auswanderungs- 
lustigen genehmigte  Broschüren,  Prospecte  etc.  zu  verabreichen.  Jede 
anderweitige  Agitation  bliebe  untersagt  und  wäre  unter  Umständen  nach 
den  Bestimmungen  des  Gesetzes  vom  21.  Jänner  1897,  R.-G.-Bl.  Nr.  27, 
zu  ahnden. 

Behufs  vollständigen  Ausbaues  der  Auswanderungstechnik  wären  in 
das  neue  Gesetz  auch  Bestimmungen  über  den  geschäftsmässigen  Verkauf 
von  Passagebilletteu  aufzunehmen.  Auch  derartige  Betriebe  wären  der 
Concessions-  und  Cautionspfiicht  zu  unterweifen,  überhaupt  im  Geiste  der 
früheren  Ausführungen  zu  behandeln.  Selbstverständlich  wären  auch  die 
Bestimmungen  der  Ministerialverordnung  vom  23.  November  1895,  R.-G.-Bl. 
Nr.  181,  in  das  neue  Gesetz  zu  recipieren. 

Ebenso  wie  die  Bestellung  der  Unternehmer  und  Agenten,  wäre  auch 
die  Entziehung  der  Concession  dem  freien  Ermessen  der  Behörde  anheim- 
zustellen. In  technischer  Beziehung  ist  die  Textierung  des  deutschen 
Gesetzes  (§  10  und  18)  gegenüber  der  des  schweizerischen  (Art.  13  und 
22,  V.)  vorzuziehen. 

Im  bisherigen  haben  wir  die  Technik  der  überseeischen  Auswanderung 
besprochen  und  haben  nur  hinzuzufügen,  dass  eben  dieselbe  Technik  auch  für 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  etc.     581 

die  dauernde  Auswanderung  nach  europäischen  Staaten  anzuwenden  wäre. 
Für  die  continentale  Arbeiterauswanderung  wären  besondere  Vorschriften  zu 
erlassen.  Vor  allem  wäre  hier  die  Werbung  zu  gestatten.  Zur  Vermittelung 
beim  Abschluss  der  Dienstverträge,  d.  h.  zur  Werbung,  wären  nur  gewerbs- 
mässige Agenten  zuzulassen.  Die  Werbung  wäre  jedoch  nur  auf  Grund  eines 
vom  Auftraggeber  unterfertigten  Contractes  zu  gestatten.  In  keinem  Falle 
dürften  mehr  Personen  geworben  werden,  als  auf  wie  viele  der  Auftrag  des 
Arbeitgebers  oder  dessen  Vertreters  lautet.  Als  Agenten  wären  nur  un- 
bescholtene, vertrauenswürdige  Männer  gegen  Bestellung  einer  angemessenen 
Caution  zu  concessionieren.  Die  Bestellung  von  Unteragenten  wäre  unter 
Haftung  des  Hauptagenten  und  vorbehaltlich  der  Erlaubnis  der  politischen 
Behörde  zuzulassen.  In  keinem  Falle  dürfte  ein  solcher  Agent  oder  Unter- 
agent irgendwelche  Geschäfte  der  überseeischen  oder  colonisatorischen  Aus- 
wanderung betreiben  (insbesondere  nicht  als  Zuweiser  der  Auswanderungs- 
agenturen oder .  -Unternehmer).  Die  Agenten  hätten  die  Zahl  der  anzu- 
werbenden Arbeiter  und  den  Contract  der  Bezirksbehörde  zur  Kenntnis  zu 
bringen.  Die  Unteragenten  wären  mit  einer  legalisierten  Abschrift  des  Ver- 
trages, auf  welcher  die  Zahl  der  von  ihnen  Anzuwerbenden  zu  vermerken 
wäre,  zu  versehen.  Die  Werbung  selbst  wäre  in  der  Art  vorzunehmen,  dass 
die  Angeworbenen  den  Vertrag  (dessen  Abschrift)  in  Gegenwart  eines  von 
der  Bezirksbehörde  delegierten  Vertrauensmannes  (Mitglied  eines  Local- 
comites)  unterfertigen  und  der  Vertrauensmann  durch  seine  Unterschrift 
bezeugt,  dass  alle  Angeworbenen  den  Inhalt  des  Vertrages  wohl  verstanden 
haben.  Der  Vertrauensmann  hätte  die  Personalien  der  so  Angeworbenen 
zur  Kenntnis  der  Bezirksbehörde  zu  bringen. 

B.    Die  Leitung  der  Auswanderung  und  die  auf  die 
Erhaltung  der  Nationalität  der  Auswanderer  bezüglichen 

Maas  s  nahmen. 
Die  Postulate,  die  wir  an  die  Leitung  der  Auswanderung  aus  Oesterreich 
zu  stellen  haben,  sind  folgende:  1.  Bervorzugung  der  Arbeiterauswanderung 
nach  europäischen  Staaten;  2.  Hinlenkung  der  colonisatorischen  Auswanderung 
vor  allem  nach  Bosnien  und  der  Herzogowina,  um  die  österreichisch  fühlenden 
Elemente  gegenüber  der  separatistisch  gestimmten  Bevölkerung  dieser  Länder 
zu  stärken  und  so  unsere  Machtstellung  auf  dem  Balkan  zu  sichern;  3.  Ver- 
wertung unserer  überseeischen  Auswanderung  zu  handelspolitischen  Zwecken, 
mit  Ausschluss  aller  machtpolitischen  Bestrebungen.  Die  wichtigsten 
Mittel  zur  Verwirklichung  des  ersten  und  des  zweiten  Postulates  haben 
wir  bereits  bei  der  Besprechung  der  Auswanderungstechnik  angegeben. 
Behufs  Erreichung  des  dritten  Postulates  halten  wir  eine  positive  Ein- 
wirkung der  Staatsgewalt  auf  das  Auswanderungsziel  für  nicht  noth wendig. 
Es  genügt  dazu  die  naturgemäss  aus  sich  selbst  eintretende  Concentrierung 
der  österreichischen  Auswanderer  in  gewissen  Ländern  (vergl.  den  geschicht- 
lichen Theil  dieser  Abhandlung),  es  genügt  dazu  die  Thätigkeit  der  aus 
privater  Initiative   entstehenden  österreichischen  Colonisationsgesellschaften. 


582  Buzek. 

Die  Bedeutung  dieser  ist  vor  allem  darin  zu  suchen,  dass  in  Gebieten,  die 
bereits  eine  grössere  Anzahl  von  Volksgenossen  aufgenommen  haben,  dank 
der  planvollen  Thätigkeit  der  Colonisationsgesellschaft^)  rein  nationale 
Centreii,  in  denen  sich  das  heimische  Leben  krystallisiert,  und  die  die 
nationale  Entwickelung  des  ganzen  Gebietes  beeinflussen,  entstehen.  Nur  von 
diesem  Gesichtspunkte  aus  wäre  die  Bildung  und  die  Wirksamkeit  öster- 
reichischer Colonisationsgesellschaften  zu  unterstützen.  Vom  Standpunkte 
des  Gesetzes  genügt  dazu  die  Einräumung  der  bereits  oben  angeführten 
Befugnisse;  die  Anwendung  des  gefährlichen  Specialisierungsprincips  ist 
dagegen  nicht  nothwendig.  ^) 

Um  den  Zusammenhang  der  Auswanderer  mit  der  alten  Heimat 
möglichst  eng  zu  gestalten,  muss  die  Regelung  des  Auswandererwesens  in 
Oesterreich  unbedingt  auf  zwei  ziemlich  abseits  liegende  Gebiete  eingehen. 
Erstens  wären  die  Bestimmungen  über  den  Verlust  der  Staatsbürgerschaft 
einer  Neuredaction  zu- unterziehen  (gegenwärtig  das  Patent  vom  24.  März  1832 
in  Verbindung  mit  Art.  IV  des  Staatsgrundgesetzes  vom  21.  December  1867, 
R.-G.-BI.  Nr.  142,  vergl.  auch  §  82  a.  b.  G.-B.),  und  zweitens  wären  die 
auf  die  Stellungs-  und  die  Dienstpflicht  der  im  Auslande  lebenden  Staats- 
angehörigen bezüglichen  Vorschriften  gründlichst  zu  reformieren.  Gegenwärtig 
gewährt  §  108  des  ersten  Theiles  der  Wehrvorschriften  nur  einige  nichts- 
sagende Erleichterungen  bezüglich  der  Stellung,  gar  keine  bezüglich  des 
Dienstes.  Die  Folge  ist  nicht  etwa  die,  dass  unsere  im  Auslande  angesiedelten 
Staatsangehörigen  sich  zum  Kriegsdienst  melden  würden,  sondern  die,  dass 
sie  der  österreichischen  Staatsangehörigkeit  möglichst  bald  los  zu  werden 
trachten  oder  wenigstens  sich  hüten,  je  wieder  österreichischen  Boden  zu 
betreten,  wo  sie  als  Stellungsflüchtlinge  behandelt  werden  könnten.  Den  An- 
forderungen der  Wehrmacht  wäre  nicht  geschadet,  wenn  man  sich  entschliessen 
würde,  den  über  dem  Meere  lebenden  Volksgenossen  die  Erfüllung  der  Wehr- 
pflicht ebenso  leicht  zu  machen,  wie  etwa  das  italienische  Gesetz.  Einen 
beachtenswerten  Anfang  hat  ja  das  Landesvertheidigungsministerium  bereits 
mit  der  Verordnung  vom  4.  Mai  1900,  R.-G.-Bl.  Nr.  85,  zu  Gunsten  der  in 
der  Fremde  im  Interesse  des  Exporthandels  thätigen  Kaufleute  und 
Handelsangestellten  gemacht.  Die  Opfer  wären  kleiner,  die  Resultate 
grösser,  wenn  man  sich  entschlösse,  zu  Gunsten  unserer  dauernden  Aus- 
wanderung noch  einen  Schritt  weiter  zu  gehen. 

Im  übrigen  hätte  die  Auswanderungsleitung  in  Oesterreich  sich  stricte 
auf  den  Boden  des  Auswandeierschutzes  zu  stellen.  Die  Auswanderung  nach 
völlig  ungeeigneten  Zielen  wäre  zu  verbieten.  lieber  die  minder  geeigneten 
Gebiete  dürften  Agenten  Prospecte,  Broschüren  etc.  überhaupt  nicht  vertheilea 


I 


^)  Auch  in  Hinsicht  auf  die  Auswahl  des  Auswanderermaterials. 

2)  Soweit  uns  hekaunt,  existieren  gegenwärtig  in  Oesterreich  zweir  Colonisations- 
gesellschaften, die  „österreichisch- ungarische  Colonisationsgesellschaft"  in  Wien  und 
„Towarzystwo  kolonizacyjno  handlowe"  in  Leniberg.  Vergl.  E.  S  c  h  r  o  f  t:  „Das  Programm 
der  österreichisch-ungarischen  Colonialgesellschaft",  sowie  „Gazeta  handlowo-geograficzna", 
Jahrgang  VIT,  Nr.  6  vom  30.  Juni  1901. 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  etc.     583 

(selbst  nicht  an  proprio  motu  sich  Meldende).  Die  Hauptaufgabe  hätte  aber 
eine  bis  zu  den  tiefsten  Schichten  der  auswanderungslustigen  Bevölkerung 
(aber  auch  nur  zu  diesen)  dringende  Auskunftsertheilung  zu  lösen.  Nur 
durch  eine  ihre  Aufgabe  erfüllende  Auskunftsertheilung  liesse  sich  nebst 
anderen  wichtigen  Momenten  erzielen,  dass  der  Zeitpunkt  der  Auswanderung 
nicht  mit  Bücksicht  auf  das  Interesse  des  Agenten,  respective  des  Unter- 
nehmers, sondern  mit  Kücksicht  auf  das  eigene  Interesse  des  Aus- 
wanderers gewählt  werde. 

Die  Informierung  der  Bevölkerung  über  die  wichtigsten  Einwanderungs- 
länder wurde  bisher  in  der  Form  versucht,  dass  die  seitens  der  k.  u.  k.  Missionen 
und  Consularbehörden  an  das  Ministerium  des  Aeussern  eingesendeten  Berichte 
an  das  Ministerium  des  Innern  geleitet  wurden,  welches  sodann  den  Inhalt 
den  Unterbehörden  mittheilte.  Dass  diese  Informationen  nicht  genügen, 
liegt  auf  der  Hand.  Es  muss  eine  Centralstelle  geschaffen  werden,  die  nacii 
schweizerischem  Muster  sowohl  direct,  als  insbesondere  durch  Vertrauens- 
männer zu  wirken  sucht.  Als  ständige  Abnehmer  und  Verbreiter  der  In- 
formationen des  Centralamtes  wären  insbesondere  die  Localcomites  und  ver- 
trauenswürdige Vereine  ins  Auge  zu  fassen.  Nur  so  kann  gehofft  werden, 
dass  die  Informationen  der  Staatsgewalt  imstande  sein  werden,  den  Ein- 
flüsterungen der  Auswanderungsinteressenten  die  Spitze  zu  bieten. 

C.    Schutz. der  Auswanderer. 

Mit  der  Kegelung  der  Auswanderungstechnik  und  der  Organisierung 
einer  den  Massen  der  Bevölkerung  zugänglichen  Auskunftsertheilung  ist 
zugleich  derjenige  Theil  des  Aus  Wandererschutzes  verwirklicht,  den  wir  als 
den  Schutz  der  Bevölkerung  gegen  leichtsinnige  oder  übel  berathene  Aus- 
wanderung bezeichnen  würden.  Ausserdem  sind  aber  auch  jene,  die  die 
einmal  gefasste  Auswanderungsabsicht  thatsächlich  verwirklichen,  zu  schützen. 
Es  soll  dafür  gesorgt  werden,  dass  sie  nicht  bei  Gelegenheit  der  Ortsver- 
änderung von  den  Auswanderungsinteresseuten  geschädigt,  übervortheilt 
werden,  dass  sie  nach  Ankunft  in  das  Bestimmungsland  nicht  gewissenlosen 
Ausbeutern  oder  einer  gewaltthätigen  Kegierung  zum  Opfer  fallen.  Der 
Zweck  aller  dieser  Bestimmungen  ist  klar:  der  Staat  soll  die  Grundlagen 
für  das  wirtschaftliche  Fortkommen  der  Auswanderer  sichern,  damit  diese 
in  der  Fremde  gedeihen  und  so  wirklich  im  Interesse  der  nationalen  Ge- 
meinschaft verwertet  werden  können.  Der  Inbegriff  der  auf  dieses  Ziel 
gerichteten  Normen  bildet  den  Inhalt  des  Auswandererschutzes  s.  str.  Für 
das    österreichische    Gesetz    seien    folgende    Schutzmaassregeln    empfohlen: 

A.  Präventive  Maass regeln  zum  Schutze  gegen  Unter- 
nehmer und  Agenten.  1.  Verpflichtung  der  Unternehmer  für  sich 
seihst  wie  für  ihre  Agenten,  eine  dem  Umfange  des  Geschäftsbetriebes  ent- 
sprechende  Caution    zu    hinterlegen.^)    Diese  hätte  für  alle  anlässlich  des 

^)  Die  Unternehmer  in  Deutschland  mindestens  50.000  Mark,  in  der  Scliweiz 
40.000  Francs,  in  Italien  mindestens  3000  Lire;  die  Agenten  in  Deutschland  mindestens 
1500  Mark,  in  der  Schweiz  3.000  Francs. 


584  Buzek. 

Geschäftsbetriebes  der  Agenten,  respective  der  Unternelimer  gegenüber  den 
Behörden  und  gegenüber  den  Auswanderern  begründeten  Verbindlichkeiten, 
sowie  für  Geldstrafen  und  Kosten  zu  haften.  Ausser  dieser  Caution  wäre 
in  besonderen  Fällen  eine  besondere  Sicherstellung  zu  bestellen.  Wer  und 
für  wen  keine  Caution  beigestellt  wurde,  ist  von  dem  Verkehre  mit  Aus- 
wanderern auszuschliessen.  (Vergl.  Art.  24 — 33  schw.  V.,  §  26 — 31  d.  B., 
§  32  d.  G.,  Art.  13,  al.  5—8  ital.  G.) 

2.  Verpflichtung  der  Unternehmer  respective  Agenten  zur  Einsendung 
regelmässiger  Berichte  über  die  wichtigsten  Punkte  ihrer  Thätigkeit  an  die 
centrale  Auswanderungsbehörde,  Verpflichtung  der  Behörde. zur  fortlaufenden 
Inspicierung  der  Schiffstagebücher,  der  Controlen,  Geschäfts-  und  Copier- 
bflcher,  sowie  überhaupt  der  Scripturen  der  Unternehmer  und  Agenten. 
(Art.  39  schw.  G.,  Art.  37—38  schw.  V.,  §  1—2,  3,  22  d.  B.) 

3.  Umgestaltung  der  dispositiven  Normen  des  Beförderungs Vertrages 
zu  Normen  des  zwingenden  Kechtes,  die,  soweit  sie  Verbote  enthalten,  mit 
Strafsanctionen  verschärfte  leges  perfectae  darstellen  sollten.  Der  zwingende 
Charakter  der  Vorschriften  hätte  sich  sowohl  auf  die  Form,  als  auch  auf  den 
Inhalt  des  Beförderungsvertrages  zu  beziehen.  In  formeller  Beziehung  wäre 
die  schriftliche  Abfassung  des  Auswanderungsvertrages  nach  einem  behördlich 
genehmigten  Formulare  und  mit  einem  obligatorischen  Inhalte  zu  fordern. 
Die  Ausfertigung  hätte  in  zwei  Exemplaren,  wovon  eines  in  den  Händen 
des  Auswanderers  bleiben  muss,  zu  erfolgen.  Im  Beförderungsvertrage  sind 
die  Auswanderer  über  die  wichtigsten  der  ihnen  gegenüber  den  Interessenten 
zustehenden  Kechte  zu  unterrichten  und  überdies  mit  besonders  wichtigen 
Rathschlägen  zu  versehen.  Ebendasselbe  gilt  für  Empfangscheine,  die  der 
Agent  in  allen  Fällen  auszustellen  hätte,  wo  er  den  Beförderungsvertrag 
bloss  vermittelt.  (Art.  17  schw.  G.,  §  22  d.  G.,  §  4,  5  ff.,  11—12, 
17  d.  B.)  —  In  materieller  Beziehung  ist  der  Inhalt  des  Beförderungs- 
vertrages so  festzusetzen,  dass  die  erfahrungsgemäss  besonders  häufigen  oder 
gefährlichen  Uebervortheilungen  unmöglich  werden.  Es  handelt  sich  darum, 
gewissermaassen  die  essentialia  negotii  festzusetzen,  und  zwar  sowohl  die 
positiven,  als  auch  die  negativen. 

Als  positive  Essentialia  des  Beförderungsvertrages  hätte  das  'öster- 
reichische Gesetz  aufzunehmen:  ä)  die  Verpflichtung  des  Unternehmers,  bei 
Aufenthalt  oder  Verzögerung  auf  der  Reise  ohne  nachweisbarer  Schuld  des 
Auswanderers  denselben  kostenlos  verpflegen  und  beherbergen  zu  lassen, 
eventuell  für  eine  anderweitige  Beförderung  mindestens  ebenso  guter  Art  zu 
sorgen;  b)  das  Recht  des  Auswanderers  auf  unentgeltliche  ärztliche  Behandlung 
und  auf  anständige  Bestattung  im  Todesfalle;  c)  das  Recht  auf  Beköstigung 
während  der  Seereise  (mit  obligatorischem  Ausschluss  der  Selbstbeköstigung); 
d)  das  Recht  des  Rücktrittes  vom  Vertrage  in  bestimmten  Fällen.  (Vergl. 
§  28  u.  29  d.  G.,  Art.  21,  al.  2 — 4  ital.  G.)  Andere  derartige  Bestimmungen 
finden  sich  noch  im  Art.  20,  23  u.  24  des  ital.  G. 

Als  negative  Essentialia  kommen  in  Betracht:  a)  das  Verbot  der 
Erhöhung   des   im  Vertrage   festgesetzten  Beförderungspreises,    das  Verbot 


Das  Auswauderungsproblem  und  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  etc.     585 

der  Berechnung  besonderer  Spesen  für  den  Transport  vom  Schiffe  bis  zur 
Landungsstelle  etc.;  h)  Verbot  der  Beförderung  auf  Schiffen  einer  anderen 
als  der  im  Vertrage  genannten  Gesellschaft  oder  nach  anderen  Ausschiffungs- 
häfen; c)  Verbot  des  Verkaufes  von  Ueberlandbilletten.^)  (Vergl.  §  26  d.  G., 
anders  Art.  39  schw.  V.,  noch  anders  Art.  19.  al.  3  ital.  G.);  ä)  die  besonders 
wichtige  Bestimmung,  dass  der  Fahrpreis  weder  ganz  noch  theilweise  in 
persönlichen  Dienstleistungen  bestehen,  noch  der  Auswanderer  in  der  Wahl 
des  Aufenthaltsortes  oder  der  Beschäftigung  beschränkt  werden  dürfe.  Ebenso- 
Avenig  darf  die  scheinbar  harmlosere  Verpflichtung  auferlegt  werden,  dass 
der  Beförderungspreis  oder  ertheilte  Vorschüsse  im  Bestimmungslande 
zurückzuerstatten  sind. 

Zu  den  Essentialia  des  Beförderungsvertrages  gehört  in  der  Schweiz 
die  Versicherung  des  Gepäcks  des  Auswanderers  gegen  Beschädigung  und 
Verlust,  sowie  die  Versicherung  des  Familienhauptes,  respective  dessen  Ver- 
treters gegen  Tod  oder  Unfall  während  der  Keise  (bei  Tod  und  Invalidität 
ersten  Grades  auf  500  Francs,  bei  Invalidität  zweiten  Grades  250  Francs). 
Die  Prämie  beträgt  im  ersteren  Falle  %  Proc.  des  Wertes,  im  zweiten 
Falle  3  Francs.  Das  deutsche  Gesetz  kennt  nur  die  Gepäcks  Versicherung, 
und  diese  nur  als  accidentale  negotii.  Wir  würden  dem  deutschen  Systeme 
den  Vorzug  geben.  Nach  der  amerikanischen  Statistik  kommen  nämlich 
Todes-,  respective  ünfallsfälle  während  der  Keise  nur  selten  vor.  Dagegen 
wäre  eine  andere  Bestimmung  des  schweizerischen  Gesetzes  unbedingt  auf- 
zunehmen. In  den  galizischen  Circularen  der  Auswanderungsagenten  lasen 
wir  zu  wiederholtenmalen,  wie  der  Agent  die  Auswanderer  mahnte,  „in 
eigenem  Interesse"  die  mitgenommene  Barschaft  ja  nur  unter  seiner  Ver- 
mittelung  wechseln  zu  lassen.  Der  Agent  muss  offenbar  dabei  besonders  viel 
profitieren.  Es  wäre  gesetzlich  festzulegen,  dass  der  Agent  bei  Uebernahme 
von  Geldbeträgen  die  betreffende  Summe  dem  Auswanderer  am  Bestimmungs- 
orte „bar  ohne  Abzug  und  zu  einem  Course  auszubezahlen  habe,  welcher  dem 
Werte  der  dem  Agenten  geleisteten  Einzahlung  entspricht"  (nach  Maassgabe 
des  Wechselcourses).  Dass  es  sich  dabei  um  nicht  geringe  Summen  handelt, 
erhellt  daraus,  dass  in  der  Schweiz  z.  B.  im  Jahre  1898  bei  einer  Gesamnit- 
auswanderung  von  2288  Personen  297.607  Francs  bei  Agenten  einbezahlt 
wurden.  Bei  uns  dürfte  der  Gesammtbetrag  weit  über  eine  Million  Gulden 
ausmachen.^) 

4.  Das  im  Obigen  bezüglich  des  Auswandererschutzes  bei  Abschluss 
des  Beförderungsvertrages  Dargelegte  kann  sich  naturgemäss  nur  auf  die 
überseeische  Auswanderung  beziehen.  Für  die  continentale  Auswanderung 
werden  besondere  Beförderungsverträge  so  gut  wie  nicht  geschlossen.  Dafür 
tritt  hier  bei  der  Arbeiter-,  insbesondere  aber  bei  der  Saisonwanderung  der 
Dienstvertrag  auf,  der  sehr  oft  Benachtheiligungen  der  Auswanderer  enthalten 


')  Ausnahmen  zulässig  für  Colonisationsgesellschaften. 

2)  Im  Piscaljahre  1897/98  haben  die  11.852  über  20  Jahre  alten  österreicliischen 
Einwanderer  in  die  Vereinigten  Staaten  ihr  mitgenommenes  Vermögen  mit  191.479  Dollars 
declariert,  was  gewiss  viel  zu  niedrig  ist. 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  X.  Band.  4Q 


TjSÖ  Buzek. 

kann.  Im  allgemeinen  wird  der  Staat  auf  den  Inhalt  dieser  Verträge  nur 
wenig  Einfluss  nehmen  können.  Wohl  vermag  er  aber  die  Auswanderer  vor 
der  Ausbeutung  der  vermittelnden  Agenten  zu  schützen.  Hieher  wird  auch  der 
Schwerpunkt  der  Schutzgesetzgebung  zu  verlegen  sein. 

Die  Ausbeutungsforraen  der  Saison-  und  der  zeitlichen  Wanderung 
sind  noch  wenig  bekannt,  überdies  je  nach  Ziel  und  Yerwendungsart  der 
Arbeiter  Aenderungen  unterworfen.  Selbst  in  Italien,  wo  man  doch  gerade 
auf  diesem  Gebiete  die  grösste  Erfahrung  haben  sollte,  hat  man  es  deswegen 
für  nothwendig  gefunden,  die  Erlassung  der  zum  Schutze  der  continentalen 
Arbeiterwanderung  bestimmten  Normen  (selbst  der  einschlägigen  Straf- 
sanctionen)  dem  Verordnungsvvege  zu  überlassen  (das  Gesetz  sieht  nur  die 
Bestellung  besonderer  ambulanter  Inspectorate  zum  Sciuitze  der  continentalen 
Auswanderung  vor  und  lässt  diese  an  der  Wohlthat  des  besonderen  Gerichts- 
standes der  Arbiträrcommissionen  theilnehmen,  Art.  29).  —  In  gleicher 
Weise  hätte  auch  die  österreichische  Gesetzgebung  gegenüber  der  con- 
tinentalen Arbeiterwanderung  vorläufig  eine  zuwartende  Stellung  einzunehmen. 
Nur  in  Bezug  auf  die  Saisonwanderung  galizischer  Arbeiter  könnten  bereits 
jetzt  zwingende  Normen  über  die  Gestaltung  des  Dienstvertrages  und  den 
Geschäftsbetrieb  der  Agenten  herausgegeben  werden. 

Den  Agenten  wäre  zu  verbieten,  die  angeworbenen  Leute  anderen  als 
den  im  Vertrage  bezeichneten  Unternehmern  zu  überlassen,  es  wäre  fest- 
zusetzen, dass  ein  vom  Agent  angeworbener,  vom  Unternehmer  jedoch  zurück- 
gestellter Arbeiter  berechtigt  ist,  ausser  Schadenersatz  den  Agenten  um  die 
Kosten  der  Kückreise  und  des  Unterhaltes  während  derselben  zu  belangen. 
In  den  Dienstvertrag  wäre  als  Bedingung  aufzunehmen,  dass  der  Arbeitslohn 
der  Angeworbenen  nicht  zu  Händen  des  Agenten  ausbezahlt  werden  dürfe,^) 
es  wäre  im  Vertrage  der  Anspruch  des  Arbeiters  auf  kostenlose  Behandlung 
im  Falle  der  Erkrankung  durchzusetzen,  es  wäre  endlich  der  Kegierung  die 
Erlaubnis  zu  ertheilen,  im  Verordnungswege  die  Agenten  zur  Versicherung 
der  Arbeiter  gegen  Unfall  zwingen  zu  dürfen,  ^j  Der  Verordnungsweg  ist 
deswegen  zu  empfehlen,  weil  es  sich  hier  um  eine  Machtfrage  handelt, 
die  nur  bei   grosser  Leutenoth   in  Deutschland    aufgeworfen   werden    darf. 

B.  Eepressive  Maassregeln  zum  Schutze  gegen  Unter- 
nehmer und  Agenten.  Das  Gesetz  hat  eine  rasche  und  wirksame 
Ahndung  jeder  Benachtheiligung  der  Auswanderer  seitens  der  Auswanderungs- 
interessenten sicherzustellen.  Zu  diesem  Zwecke  ist  zunächst  Vorsorge  zu 
treffen,  auf  dass  alle  aus  Auswanderungsgeschäften  mit  österreichischen 
Auswanderern  entspringende  Civil-  und  Strafklagen  vor  österreichischen 
Gerichten  ausgetragen  und  nach  österreichischem  Kechte  entschieden  werden 
können.  Als  Agenten  können  deswegen  nur  Oesterreicher,  die  im  Inland 
domicilieren,  bestellt  werden;  da  dies  bei  Unternehmern  nicht  wohl  möglich 


I 


*)  Antrag  des  Professors  Dr.  P  i  1  a  t  im  galizisclien  Landtage  in  der  Sitzung  vom 
29.  December  1899,  Allegat  Nr.  39. 

2)  Die  deutsche  Unfall-  und  Invaliditätsversicherung  gilt  nämlich  nicht  für  aus- 
ländische Wanderarbeiter. 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  etc.      587 

ist,  ist  die  Pflicht  ausländischer  oder  im  Auslande  domicilierender  öster- 
reichischer Unternehmer  zur  Bestellung  von  Stellvertretern  und  ausdrücklicher 
Anerkennung  des  österreichischen  Kechtes  gesetzlich  zu  statuieren.  (Vergl. 
Art.  3  schw.  G.,  §  3,  4,  43,  al.  2  d.  G.,  Art.  13,  al.  2—4  ital.  G.)  Sodann 
ist  für  eine  rasche  Urtheilsschöpfung  und  unverzügliche  Executive  vor- 
zusorgen.  Deswegen  ist  für  die  aus  Auswanderungsgeschäften  zwischen 
Auswanderern  einerseits,  Agenten,  Unternehmern,  Auswandererwirten,  Trägern 
etc.  anderseits  entspringenden  Civilsachen  der  gewöhnliche  Eechtsweg  aus- 
zuschliessen,  und  sind  diese  Klagen  der  Competenz  besonderer  Gerichts- 
stände zu  überweisen,  und  zwar  Bagatellsachen  den  in  den  Einschiffungs- 
häfen zu  bestellenden  Auswanderungsinspectoraten  sowie  den  Consular- 
behörden,  grössere  Streitsachen  besonderen  Arbiträrcommissionen,  die  in 
Auswanderungsgebieten  bei  jedem  Kreisgerichte  zu  bestellen  und  aus 
politischen  und  richterlichen  Beamten,  sowie  aus  Laien  zu  bilden  wären. 
Im  Falle  von  Streitigkeiten  hätte  sich  der  Auswanderer  an  das  Localcomite, 
an  die  politische  Behörde,  an  die  Auswanderungsinspectorate,  an  die  Consuln,  die 
über  die  Ankunft  von  Auswanderertransporten  in  Kenntnis  zu  setzen  wären  und 
die  Auswanderer  zu  empfangen  hätten,  zu  wenden;  diese  Behörden  hätten 
die  Beweise  zu  sammeln,  ein  Protokoll,  das  als  Beweis  —  mit  Vorbehalt 
des  Gegenbeweises  —  zu  gelten  hätte,  aufzunehmen,  um  sodann,  wenn 
nothwendig,  die  Klage  sammt  allen  Beilagen  an  die  Arbiträrcommission  zu 
senden.  Diese  hätten  nach  einem  summarischen  Verfahren  und  inappellabel 
zu  entscheiden.  Zur  Befriedigung  der  zugesprochenen  Ansprüche  wäre 
gegebenenfalls  die  Caution  des  Unternehmers  zu  verwenden;  in  dringenden 
Fällen  könnte  die  Behörde  die  zugesprochene  Summe  dem  Auswanderer 
vorschiessen.  (Vergl.  Art.  22,  23  schw.  G.,  §  5,  p.  27,  §  29  d.  B.; 
Art.  26—27,  30  ital.  G.) 

C.  Festsetzung  der  Höhe  der  üeberfahrtsp reise.  Der 
üeberfahrtspreis  wird  vertragsmässig  zwischen  dem  Auswanderer  und  dem 
Kheder  festgesetzt,  und  es  würde  scheinen,  dass  der  Staat  auf  diesem 
Gebiete  das  Princip  der  Vertragsfreiheit  zu  respectieren  habe.  Thatsächlich 
ist  dies  der  Standpunkt  der  meisten  ausländischen  Gesetzgebungen.^)  Eine 
Ausnahme  macht  das  neue  italienische  Gesetz.  Es  verfügt,  dass  die  Tarife 
der  Schiffslinien  vom  Commissariate  genehmigt  werden  müssen.  Dieses  ist 
berechtigt,  Maximaltarife  festzustellen,  die  —  unter  Androhung  des  Con- 
cessionsverlustes  —  von  keinem  Unternehmer  überschritten  werden  dürfen. 
Sollten  die  Kheder  solidarisch  Widerstand  leisten,  dann  hat  die  Kegierung 
die  Localcomites  in  alle  Agenden  der  Kepräsentanten  der  Kheder  zu 
substituieren,  sie  kann  andere  Gesellschaften,  italienische  wie  fremde,  zum 
Geschäftsbetriebe  zulassen,  kann  sogar  die  Einschiffung  in  ausländischen 
Häfen  erlauben  und  alle  anderen   geeigneten  Maassregeln  zum  Schutze   der 


^)  Das  deutsche  Gesetz  z.  B.  verbietet  bloss  den  Agenten,  den  Auswanderern 
einen  höheren  als  den  vom  Unternehmer  festgesetzten  Preis  zu  berechnen,  geht  aber  auf 
die  eigentliche  Frage  gar  nicht  ein. 

40* 


)S8 


Buzek. 


Auswanderer  ergreifen  (Art.  14—15).    Hat  das   österreichische  Gesetz   dem 
italienischen  Muster  zu  folgen? 

Es  ist  bekannt,  dass  der  Landhunger  der  galizischen  Bauern  eine  der 
wesentlichsten  Ursachen  zumal  der  colonisatorischen  Auswanderung  ist. 
Der  hohen  Ueberfahrtspreise  wegen  wandern  aber  in  der  Regel  nicht  die 
allerkleinsten  Besitzer,  sondern  verhältnismässig  besser  situierte  Bauern 
aus.  Es  liegt  aber  offenbar  im  staatlichen  Interesse,  dass  die  Besitzer  der 
kleinsten  Parcellen  auswandern,  die  mittleren  Besitzer  dagegen  ihren  Land- 
hunger durch  den  Ankauf  der  Liegenschaften  dieser  Wegzügler  befriedigen. 
Dies  ist  die  Hauptursache,  warum  wir  im  obigen  für  die  principielle 
Zulassung  der  Gratisauswanderung  eine  Lanze  brachen.  Eben  deswegen 
behaupten  wir  auch,  dass  der  Staat  an  niedrigen  Ueberfahrtspreisen 
interessiert  sei.  Dass  diese  ohne  Eingriffe  der  Staatsgewalt  sich  nicht  in 
dem  Maasse  einzustellen  pflegen,  als  dies  offenbar  möglich  wäre,  lehrt 
folgende  Uebersicht: 


Preis  der  Schiflfskarten  für  Auswanderer  aus  Italien 

nach  dem 

nach 
Brasilien 

nach  New  York  von 

La  Plata 

Genua              Neapel 

1895—1899 

1898 

unmittelbar  vor  dem  Pool 
der  Schiifslinien 

seit  Mai  1899,  d.  h.  nach 
dem  Pool 


165 
160 

170 
190 


136 
110 

125 
150 


147 
125 

140 


190 


175 


Eine  Coalition  der  Eheder  vermag  also  im  Handumdrehen  die  Ueber- 
fahrtspreise um  50  Proc.  (Genua— New  York)  zu  erhöhen  und  damit  die 
Richtung  und  die  qualitative  Zusammensetzung  der  Auswanderung  zu  be- 
einflussen. Ein  Machtwort  der  Staatsgewalt  ist  also  dringend  geboten;  die 
Frage  aber  ist  die,  ob  der  Staat  überhaupt  befähigt  ist,  gegen  einen  Pool 
oder  einen  Trust  der  Schiffahrtsgesellschaften  wirksam  anzukämpfen,  ja  ob 
er  auch  nur  imstande  ist,  den  volkswirtschaftlich  angemessenen  Preis  zu 
ermitteln.  Die  Frage  ist  nicht  im  [vorhinein  zu  lösen,  und  hier  vor  allem 
gilt  der  Satz:  Probieren  geht  über  Studieren.  Jedenfalls  sollte  das  öster- 
reichische Gesetz  —  im  Interesse  des  Staates  wie  der  Auswanderer  — 
der  Regierung  die  Möglichkeit  offen  halten,  unter  Umständen  den  für 
die  italienische  Regierung  pflichtgemässen  Weg  wandeln  zu  dürfen. 

B.  Schutz  während  der  Reise.  Die  Gefahren,  denen  die  Aus- 
wanderer während  der  Reise  ausgesetzt  sind,  bedrohen  theils  ihre  Habe, 
theils  die  Gesundheit,  das  Leben,  die  Moral.  Am  sichersten  können  sich 
die   Auswanderer   noch   während   der   Eisenbahnfahrt   fühlen,    so    dass    hier 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Eegelung  des  Auswanderungswesens  etc.      589 

besondere  Scliutzvorschriften  wohl  überflüssig  sind.^)  Die  Gefahren  beginnen 
auf  grossen  Umsteigstationen ^)  und  im  Einschiffungshafen:  Mangel  an  ent- 
sprechender Unterkunft,  Prellereien  und  Irreführungen  durch  die  Aus- 
wandererwirte, Uebervortheilungen  durch  allerlei  Träger,  Wegweiser  und 
andere  Personen,  deren  Dienste  die  Auswanderer  beanspruchen  müssen. 
Als  Schutzmaassregeln  seien  empfohlen:  1.  ein  besonderer  Gerichtsstand  für 
alle  auf  obige  Weise  entstehenden  Civilsachen  (vide  oben);  2.  Verpflichtung 
der  Unternehmer,  den  Auswanderern  Führer  für  die  Reise  mitzugeben  oder 
dieselben  wenigstens  in  den  wichtigsten  Eisenbahnstationen,  im  Ein-  und  im 
Ausschiffiingshafen  durch  Bevollmächtigte  empfangen  zu  lassen  (Art.  16,  al.  6 
schw.  G.,  Art.  40  schw.  V.);  3.  Sorge  für  entsprechende  Unterkunft  in  den 
Einschififungshäfen,  entweder  nach  deutschem  Muster  durch  strenge  Ueber- 
wachung  der  Auswandererlogierhäuser  und  der  -Wirte  und  Einrichtung 
eines  besonderen  Nachweisungsbureaus  (vergi.  Hamburgisches  Gesetz  vom 
14.  Jänner  1887  und  18.  September  1896)  oder  nach  italienischem  Muster 
durch  Erbauung  staatlicher  Logierhäuser. 

Von  besonderer  Wichtigkeit  ist  der  Schutz  während  der  Seereise.  Es 
handelt  sich  um  die  Fürsorge  für  die  Seetüchtigkeit,  die  entsprechende 
Ausrüstung,  Einrichtung  und  Verproviantierung  der  Schiffe,  um  eine  den 
sanitären  und  moralischen  Anforderungen  entsprechende  Unterbringung  der 
Auswanderer,  um  ihre  Ernährung  etc.  Die  bezüglichen  Vorschriften  haben 
mit  den  Forcschritten  der  Schiflfstechnik  gleichen  Schritt  zu  lialten  und 
sind  deswegen  auf  dem  Verordnungswege  zu  erlassen,  (Vergl.  die  Bekannt- 
machung des  Bundesrathes,  betreffend  Vorschriften  über  die  Auswanderer- 
schiffe vom  14.  März  1898,  die  englischen  Passenger  Acts  etc.)  Um  die  strenge 
Durchführung  dieser  Vorschriften  zu  sichern,  wären  die  Schiffe  vor  der  Ab- 
reise und  nach  der  Ankunft  von  besonderen  Beamten  zu  inspicieren,  wo 
möglich  auch  während  der  Reise  unter  die  fortdauernde  Controle  der 
Regierung  zu  stellen.  In  letzterer  Beziehung  ist  nachahmenswert  die  Vor- 
schrift des  neuen  italienischen  Gesetzes  (Art.  11),  dass  der  Schiffsarzt  der 
Auswanderungsschiffe  ein  Organ  der  Regierung  sein  soll,  obgleich  er 
eigentlich  vom  Unternehmer  gezahlt  werden  muss. 

E.  Schutz  im  Bestimmungslande  und  auf  der  Rück- 
reise. Vielseitiger  sind  die  Aufgaben  des  Auswandererschutzes  nach  der 
Ankunft  im  Bestimmungslande.  Abgesehen  von  dem  Schutze  gegen  eine  im 
Lande  etwa  herrschende  Rechtsunsicherheit  (Brasilien:  Unsicherheit  der  Besitz- 
verhältnisse) oder  gegen  Gewaltacte  der  Regierung,  sind  sie  wesentlich 
organisatorischer  Art  und  haben  zum  grösseren  Tlieile  die  Förderung  der 
wirtschaftlichen  und  culturellen  Entwickelung  der  Auswanderer  zum  Gegen- 
stande. Für  eine  gesetzliche  Regelung  kommt  hier  in  Betracht  bloss  die 
Bestimmung  der  Behörden,   die  den  Krystallisationspunkt  aller   dieser  Be- 


1)  Vergl.  jedoch  Art.  16,   al.  1  schw.  G.  und  Art.  21,  al.  5   ital.  G. 

2)  Vergl.  die  Schilderungen  im  siebenten  Jahrgange  dieser  Zeitschrift,  S.  121 
„Die  österreichisch-ungarische  Colonialgesellschaft,  ein  Kückblick  auf  ihre  dreijährige 
Wirksamkeit." 


>90 


Buzek. 


strebungen  zu  bilden  hätten,  sowie  etwa  noch  die  Beschaffung  der  zu  einer 
intensiveren  Thätigkeit  erforderlichen  materiellen  Mittel. 

Während  das  deutsche  und  das  schweizerische  Gesetz  nur  eine  ent- 
sprechende Verstärkung  der  consularischen  und  der  diplomatischen  Ver- 
tretung, in  den  wichtigeren  Einwanderungsländern  überdies  die  Bestellung 
besonderer  Commissäre  als  Hilfsbeamten  der  ersteren  fordern,  ist  im 
italienischen  Gesetze  eine  weitaus  grössere  Bethätigung  der  Staatsgewalt 
vorgesehen.  Ausser  den  Consuln  und  dem  diplomatischen  Corps  werden  fin- 
den Schutz  und  das  Gedeihen  der  Auswanderer  besonders  zu  errichtende 
staatliche  Schutz-,  Auskunfts-  und  Arbeitvermittlungsbehörden,  sodann 
ambulante  Auswanderungsinspectorate  zu  sorgen  haben.  Praktisch  nocli 
erfolgreicher  wird  die  vom  neuen  Gesetze  vorgesehene  Schaffung  eines 
Auswanderungsfonds  sein.  Ausser  anderen  Einnahmen  hat  in  diesen  der 
Ertrag  einer  besonderen  Auswanderersteuer  —  8  Lire  für  jeden  beförderten 
Vollauswanderer  —  zu  fliessen.  Alle  Einkünfte  des  Fonds  sind  ausschliesslich 
zum  Vortheile  der  Auswanderer  zu  verwenden.  Die  italienische  Regierung 
dürfte  demnach  jährlich  1 V2  Millionen  Lire  zu  verausgaben  haben,  die 
naturgemäss  zumeist  im  Auslande  zur  Verwendung  gelangen  dürften. 

Dieselben  Motive,  die  die  italienische  Regierung  gewissermaassen  zur 
Verstaatlichung  der  Fürsorge  für  die  ausgewanderten  Staatsangehörigen 
trieben,  bestehen  auch  in  Oesterreich,  und  zwar  in  noch  höherem  Maasse. 
Deswegen  wären  in  dieser  Beziehung  die  Maassnahmen  des  italienischen 
Gesetzes  zu  acceptieren.  Allerdings  würde  hier  ein  einheitliches  Vorgehen 
seitens  der  anderen  Reichshälfte  unumgänglich  nothwendig  sein.  Sollte 
Ungarn  für  eine  besondere  (vom  Unternehmer  zu  entrichtende)  Auswanderer- 
steuer nicht  zu  haben  sein,  mtisste  man  sich  mit  dem  deutschen  und 
schweizerischen  Systeme  begnügen.  Es  wäre  nämlich  zwecklos,  Listitutionen 
im  Auslande  ins  Leben  zu  rufen,  für  die  man  keine  genügenden  finanziellen 
Mittel  zur  Verfügung  hätte. 

Ausser  den  obigen  wären  noch  folgende  Maassregeln  zum  Schutze 
der  österreichischen  Auswanderung  in  der  Fremde  zu  ergreifen:  1.  Eine 
moderne  Reform  der  ganz  veralteten  Bestimmungen  über  die  Unterstützung 
österreichisch-ungarischer  Staatsangehörigen  seitens  der  Consularämter  (Hof- 
kammerdecret  vom  25.  August  1840,  Z.  26.278,  Erlass  und  Instruction  des 
Seeguberniums  vom  30.  November  1840,  Z.  23.174,  Circular  des  k.  k.  Mini- 
steriums des  Aeussern  vom  31.  März  1866,  Z.  2603/H.  etc.V)  2.  Gesetz- 
liche Statuierung  der  Pflicht  der  Unternehmer  zur  Beförderung  materiell 
verunglückter  Auswanderer  zu  bedeutend  ermässigten  Preisen  in  die  Heimat. 
(Vergl.  Art.  25  ital.  G.)  3.  Schutz  der  aus  überseeischen  Ländern  zurück- 
kehrenden Auswanderer  mindestens  während  der  Seereise.  4.  Schutz  der  von 
den  in  den  Vereinigten  Staaten  arbeitenden  Auswanderern  in  die  alte 
Heimat  zu  übermittelnden  Ersparnisse.  Diese  werden  gegenwärtig  in  der  Regel 


')  Vergl.  Malfatti,  „Handbuch  des   österreichiscli-ungaiisclien  Consularwesens"', 
Wien  1879. 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  etc.     591 

kleinen  amerikanischen  Banqiiiers,  oft  den  berüchtigten  Padrons,  anvertraut, 
die  sich  gelegentlich  der  Umwechsliing  in  österreichische  Valuta  wucherische 
Gewinne  berechnen.  Am  besten  wäre  eine  österreichische  Sparcasse  mit  der 
Sammlung,  dem  Schutze,  der  üebermittelung  der  Ersparnisse  der  Aus- 
wanderer zu  betrauen.  In  Italien  ist  diese  Aufgabe  durch  ein  besonderes 
Gesetz  (vom  1.  Februar  1901,  Z.  24)  unter  besonderen  Modalitäten  der 
Bank  von  Neapel  anvertraut  worden. 

D.    Organisation  der  inländischen  Behörden. 

Die  Organisation  der  Auswanderungsbehörden  in  Italien  und  in  der 
Schweiz  (nicht  so  sehr  in  Deutschland)  weist  zwei  charakteristische  Züge 
auf:  1.  eine  weitgehende  Centralisation  der  Auswanderungsverwaltung  (Art.  7 
al.  1  des  italienischen  Gesetzes  lautet:  ,Im  Ministerium  des  Aeussern  wird 
ein  Commissariat  eingesetzt,  in  welchem  alle  Agenten  des  Auswanderungs- 
dienstes conceutriert  werden)  und  2.  die  Besorgung  des  Auswanderungs- 
dienstes nicht  durch  Organe  der  allgemeinen  Verwaltung,  sondern  durch 
speciell  ins  Leben  gerufene  Behörden.  Sowohl  das  Princip  der  Centralisation, 
wie  das  der  Specialisierung  ergibt  sich  unmittelbar  aus  der  Natur  des 
Auswanderungsdienstes.  Der  Schutz  und  die  Leitung  der  Auswanderung 
erfordern  eine  Summe  von  Erfahrungen  und  Kenntnissen,  wie  sie  nur 
Specialbehörden  zuzutrauen  sind,  sie  erfordern  aber  auch  eine  Gleich- 
förmigkeit und  Gleichmässigkeit  der  Verwaltung,  wie  sie  bei  einer 
Decentralisation  niemals  erreiclit  Averden  könnte.  Speciell  für  die  Centrali- 
sierung  der  auf  den  AusAvandererschutz  bezüglichen  Agenden  spricht  schon 
die  Art  der  Aus  Wanderungstechnik.  Hier  gilt  es  die  in  einem  Lande 
gesammelten  Erfahrungen  unverzüglich  in  anderen  anzuwenden,  da  man 
sicher  sein  kann,  dass  die  beobachteten  Misstände  auch  dort  vorkommen, 
ohne  dass  sie  jedoch  ans  Tageslicht  treten.  Handelt  es  sich  doch  in  der 
Regel  um  Agenten  eines  und  desselben  Unternehmers. 

Was  insbesondere  die  Centralisation  anbelangt,  so  ist  diese  in  zwei 
Formen  anzuwenden.  Die  Centralbehörde  behält  sich  die  Initiative  und  Ent- 
scheidung in  allen  Fragen  der  Auswanderungsleitung  und  -Technik  vor, 
sie  übt  die  Oberaufsicht  über  den  Auswandererschutz,  ist  insbesondere  von 
jeder  Uebervortheilung  der  Auswanderer  seitens  der  Auswanderungsinter- 
essenten zu  informieren.  Für  die  eigentlichen  Organe  des  Auswanderer- 
schutzes ist  dagegen  eine  Centralisation  der  Vollmachten  zu  empfehlen. 
Insbesondere  die  Hafeninspectorate  wären  auch  mit  den  Vollmachten  der 
Sicherheitsbehörden  auszustatten.  Nur  so  kann  vermieden  werden,  dass  den 
wohl  unterrichteten  Organen  die  Executivgewalt  fehlt,  wogegen  den  Executiv- 
organen  die  Sachkenntnis  mangelt. 

Als  Auswanderungsbehörden  im  Inlande  wären  in  Oesterreich  zu 
errichten:  1.  Eine  Centralauswanderungsbehörde  im  Ministerium  des  Innern 
mit  dem  bereits  angegebenen  Wirkungskreise.  Ihr  gegenüber  käme  den 
politischen  Behörden  nur  eine  aushelfende  Stellung  zu ;  die  Behörden  erster 
Instanz   hätten   Informationen    über   die  Auswanderungsbewegung,  über  die 


592  Buzek. 

Thätigkeit  der  Agenten,  etc  zu  liefern,  die  Landesstellen  hätten  insbesondere 
die  Zulassung  neuer  Agenten  zu  begutachten  und  wären  nur  zur  selb- 
ständigen Concessionierung  der  Agenten  für  die  continentale  Arbeiterwanderung 
zu  berufen.  2.  Besondere  Localconiites  zur  Auskunftsertheilung  und  zum 
Schutze  der  Auswanderer  in  den  Centren  der  Auswanderungsbewegung.  Die 
Entstehung  dieser  Comites  sollte  im  allgemeinen  der  Initiative  der  Gemeinden, 
Bezirksvertretungen,  auch  Privater  überlassen  werden.  In  Bezug  auf  ihre 
Zusammensetzung  wäre  im  Gesetze  bloss  festzusetzen,  dass  den  Vorsitz 
ein  von  der  Centralbehörde  zu  ernennender  politischer  Beamte  zu  über- 
nehmen hat  und  dass  die  übrigen  Mitglieder  von  dieser  genehmigt  werden 
müssen.  Nur  so  wäre  zu  erreichen,  dass  die  gebildeten  Comites  auch  wirk- 
lich functionieren.  3.  Ein  besonderes  Auswanderungsinspectorat  in  Triest 
zur  üeberwachung  aller  auf  den  Auswandererschutz  bezüglichen  Vorschriften. 
4.  Als  berathendes  und  anregendes  Organ  in  besonders  wichtigen  An- 
gelegenheiten wäre  der  Centralbehörde  ein  besonderer  Auswanderungsrath 
beizugeben  (in  Deutschland  „sachverständiger  Beirath,"  in  Italien  „Emigra- 
tionsrath").  In  diesen  wären  neben  Vertretern  der  interessierten  Central- 
behörden  Vertreter  der  an  der  Einwanderung  besonders  interessierten  Länder 
(ernannt  durch  die  Landesausschüsse),  Vertreter  der  Wissenschaft  und 
Vertreter  der  landwirtschaftlichen  und  der  Arbeiterverbände  der  wichtigsten 
Auswanderungsgebiete  (ernannt  vom  Ministerium  des  Innern)  zu  berufen. 
Diese  Zusammensetzung  ist  als  ein  Gegengewicht  gegen  die  schroffe 
Centralisation  der  Agenden  des  Auswanderungsdienstes  zu  denken. 

Eine  sehr  wichtige  Aufgabe  der  Centralbehörde  wäre  die  fortdauernde 
Beobachtung  der  Wanderbewegung  und  des  Functionierens  der  geltenden 
gesetzlichen  Vorschriften.  Wir  können  nicht  hoffen,  das  Richtige  auf  den 
ersten  Wurf  zu  treffen.  Um  das  Interesse  an  der  Auswanderungsfrage  wach 
zu  erhalten  und  zugleich  ein  Substrat  für  die  öffentliche  Beurtheilung 
seiner  Wirksamkeit  zu  liefern,  wäre  die  Centralbehörde  gesetzlich  zu  ver- 
pflichten, jedes  Jahr  dem  Eeichsrathe  einen  Rechenschaftsbericht  über  den 
gesammten  Auswanderungsdienst  und  die  österreichische  Auswanderung 
überhaupt  vorzulegen. 

E.  Die  Regelung  der  Auswanderungsfreiheit. 
Nach  Artikel  IV  des  Staatsgrundgesetzes  vom  21.  December  1867, 
R.-G,-Bl.  Nr,  142,  ist  in  Oesterreich  die  Auswanderungsfreiheit  „von  staats- 
wegen  nur  durch  die  Wehrpflicht  beschränkt".  Diese  Bestimmung  war  in- 
solange  genügend,  als  die  staatliche  Verwaltung  die  Auswanderung  principiell 
ignorierte.  Nach  einer  Regelung  des  Auswandererwesens  genügt  dieser 
Standpunkt  nicht  mehr,  es  muss  präcise  bestimmt  werden,  wann  und  in- 
wiefern die  Auswanderungsfreiheit  auch  mit  Rücksicht  auf  andere  Pflichten 
des  Auswanderers,  sowie  in  dessen  eigenem  Interesse  zu  beschränken  sei. 
Da  wird  nun  der  Staat  gut  thun,  zAvei  Kategorien  von  Einschränkungen 
aufzustellen:  die  eine  im  öffentlichen  Interesse,  die  andere  im  Interesse  von 
privaten  Personen,  sowie  im  eigenen  Interesse   des  Auswanderers.    Nur  die 


^ 


I 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Regelung  des  Auswanderungswesens  etc.      593 

erstere  kann  ein  mit  Strafsanctionen  für  den  Auswanderer  selbst  ver- 
bundenes Auswanderungsverbot  involvieren,  die  andere  dagegen  kann  nur 
ein  Verbot  an  Agenten  und  Unternehmer,  dem  Auswandei'er  bei  der  Ver- 
wirklichung der  Auswanderungsabsicht  beizustehen,  begründen.  Im  ersteren 
Falle  wollen  wir  von  absoluten  Auswanderungsverboten  sprechen,  da  nur 
hier  ein  Zurückhalten  des  Auswanderungslustigen  durch  polizeilichen  Zwang 
zulässig  ist,  im  anderen  von  relativen  Verboten.^) 

Ä.  Absolute  Auswanderungsverbote  wären  in  Oesterreich  nur  für  die 
Wehrpflichtigen,  sowie  für  jene  Personen  zu  erlassen,  deren  Verhaftung  von 
einer  Gerichts-  oder  Polizeibeliörde  angeordnet  ist.  In  Bezug  auf 
die  Auswanderung  Wehrpflichtiger  gilt  gegenwärtig  §  64  des  Wehr- 
gesetzes und  der  Erlass  des  k.  k.  Ministeriums  für  Landesvertheidigung 
vom  1.  November  1882,  Z.  1465/pr,  Diese  Vorschriften  wahren  aus- 
schliesslich das  Interesse  der  Armeeverwaltung  und  enthalten  zumal  für 
die  sogenannte  „selbständige  Auswanderung"  so  horrende  Bestimmungen, 
dass  die  gegenwärtige  Massenauswanderung  aus  Oesterreich  einfach  un- 
möglich wäre,  wenn  sie  mit  aller  Strenge  befolgt  würden.  Als  undurchführbar, 
wären  sie  unbedingt  zu  reformieren.  Dass  die  Anforderungen  der  nationalen 
Wehrkraft  und  die  der  Auswanderung  wohl  zu  versöhnen  sind,  beweisen  die 
Bestimmungen  des  deutschen  und  des  italienischen  Gesetzes.  Das  deutsche 
verbietet  bloss  die  Auswanderung  von  Wehrpflichtigen  im  Alter 
vom  vollendeten  siebzehnten  bis  zum  vollendeten  fünfundzwanzigsten  Lebens- 
jahre, das  italienische  nur  die  Auswanderung  von  Stellungs-,  respective 
Militär  di  e  n  stpfli  chti  ge  n  im  Alter  von  18 — 28  Jahren,  wobei  in 
normalen  Zeiten  Stellungspflichtige  vom  Präfecten  oder  ünterpräfecten,  die 
Soldaten  der  ersten  Kategorie  des  Heeres  vom  Commandanten  der  Er- 
gäuzungsbehörde  dispensiert  werden  können  und  die  Auswanderungsfreiheit 
der  Soldaten  der  zweiten  und  dritten  Kategorie  des  Heeres  überhaupt 
Beschränkungen  nicht  unterworfen  ist  (Art.  1). 

B.  Kelative  Auswanderungsverbote  sind  dem  österreichischen  Gesetze 
bisher  fremd  geblieben,  es  sei  denn,  dass  man  hier  die  (zu  beseitigende) 
Vorschrift  des  Gesetzes  vom  13.  Juni  1880,  K.-G.-Bl.  Nr.  70,  zählen  wollte. -^ 
Im  Interesse  berechtigter  dritter  Personen  wäre  hier  jedoch  den  Unter- 
nehmern und  Agenten  zu  verbieten  die  Beförderung:  1.  von  Eltern,  sofern 
dieselben  unerzogene  Kinder  zurücklassen  wollten  und  die  zuständige 
Armenbehörde  nicht  einverstanden  wäre;  2.  von  minderjährigen  oder  unter 
Vormundschaft  stehenden  Personen  ohne  schriftliche  Einwilligung  des 
Inhabers  der  väterlichen  oder  vormundschaftlichen  Gewalt.  Im  Interesse 
der  Auswanderer  selbst   wäre    zu   untersagen    die  Vermittelung.    respective 

')  Das  neue  deutsche  Gesetz  kennt  —  abgesehen  von  der  in  der  Anwendung 
des  Specialisierungsprißcips  liegenden  Einschränkung  der  Auswanderungsfreiheit  —  nur 
absolute  Verbote,  das  schweizerische  nur  relative,  das  italienische  beide. 

^)  Die  Militärtaxpflicht  der  Auswanderer  gilt  auch  für  die  ganze  Zeit,  für  die  sie 
noch  diese  Taxe  zu  entrichten  hätten,  wenn  sie  im  Inlande  geblieben  wären.  Bis  zur 
Entrichtung  derselben  soll  die  Ausfolgung  von  Reiseurkunden  verweigert  werden. 


594  Buzek. 

Beförderung:  1.  Minderjähriger  unter  16  Jahren,  es  sei  denn,  dass  diese 
von  zuverlässigen  Personen  begleitet  werden  und  für  ihre  gehörige  Unterkunft 
im  Bestimmungslande  gesorgt  ist;  2.  vollkommen  ausweisloser  Personen; 
3.  von  Personen,  die  Avegen  vorgerückten  Alters,  Krankheit  oder  Ge- 
brechlichkeit arbeitsunfähig  sind,  soferne  nicht  eine  hinlängliche  Versorgung 
derselben  am  Bestimmungsorte  nachgewiesen  wird;  4.  von  Personen,  die 
nach  Gebieten  auswandern  wollen,  in  denen  ihr  Leben,  ihre  Freiheit,  ihre 
Habe  schwere  Gefahren  laufen  könnten.  Ausser  den  genannten  Verboten 
enthält  das  schweizerische  Gesetz  noch  das  Verbot  der  Beförderung  von 
Personen:  a)  die  nach  Bestreitung  der  Keisekosten  ohne  Hilfsmittel  am 
Bestimmungsorte  einlangen  würden;  b)  denen  die  Gesetze  des  Einwanderungs- 
landes den  Eintritt  verwehren;  —  das  italienische  Gesetz  das  Verbot  der 
Beförderung  von  Personen:  c)  die  sich  mit  keinem  Reisepasse  ausweisen 
können.  Alle  diese  Bestimmungen  halten  wir  entweder  für  überflüssig  {b) 
oder  für  zu  weit  gehend  (a,  cX  Wir  fordern  nur,  dass  das  österreichische 
Gesetz  den  Auswanderern  die  Erlangung  von  Reisepässen  möglichst  er- 
leichtere. Als  Muster  diene  das  italienische  Gesetz,  das  die  Auswanderer, 
passe  von  der  Stempel-  und  jeder  anderen  Abgabenpflicht  befreit,  und  die 
Behörden  zur  Ausfolgung  des  Reisepasses  binnen  24  Stunden  nach  Ein- 
bringung der  vorschriftsmässig  belegten  Eingaben  verpflichtet.  (Vergl.  Art.  5, 
auch  das  königl.  Decret  vom  31.  Jänner  1901  über  die  Lösung  der  Pässe 
für  das  Ausland  und  die  Instruction  vom  1.  Februar  1901  zur  Ausführung 
dieses  Decretes.) 

C.  In  diesem  Zusammenhange  sei  noch  auf  die  Maassregeln  zum 
Schutze  unerwachsener  Arbeiter  und  unerfahrener  Mädchen,  die  unter  allerlei 
Vorwänden  in  die  Fremde  gelockt  und  dort  der  Prostitution  in  die  Arme 
getrieben  werden,  hingewiesen.  Abgesehen  von  der  Kinderauswanderung  aus 
Tirol  recrutiert  sich  zumal  die  galizische  Saisonwanderung  zu  einem  sehr 
erheblichen  Percentsatze  aus  halbwüchsigen  Burschen  und  Mädchen,  die 
durch  die  intensive  Arbeit  in  der  Fremde  über  ihre  Kräfte  angestrengt  und 
so  in  ihrer  körperlichen  Entwickelung  zurückgehalten  werden.  Dr.  Bujak 
erzählt,  dass  die  jungen  Mädchen  aus  Maszkienice  nach  ihrer  Rückkehr  aus 
Dänemark  und  Deutschland  sehr  abgespannt  waren  und  wochenlang  keine 
Arbeit  verrichteten.  Dass  diese  vorzeitige  Kraftausgabe  die  körperliche  Ent- 
wickelung gefährde,  eine  unwirtschaftliche  Ausgabe  v.7.z'  £^o-/Yiv  darstellt, 
liegt  auf  der  Hand.  Der  Staat  hat  solche  Auswanderungsfälle  möglichst  zu 
verhindern.  Man  sage  ja  nicht,  dass  diese  Forderung  das  Princip  der 
Auswanderungsfreiheit  bedrohe  und  dies  ausschliesslich  im  Interesse  der 
Grossgrundbesitzer  liege,  bei  denen  die  zurückgehaltenen  Unerwachsenen  doch 
arbeiten  würden.  Erstens  ist  diese  Arbeit  keine  so  intensive,  und  zweitens 
sind  Schutzbestimmungen  dieser  Art  in  Italien  erlassen  worden,  d.  h.  gerade 
in  dem  Lande,  das  die  unbeschränkteste  Auswanderungsfreiheit  gewährt. 
Die  Italiener  waren  eben  in  der  Lage,  die  Wirkungen  vorzeitiger  W^anderungen 
durch  Jahrzehnte  zu  beobachten.  Folgendes  sind  die  Bestimmungen  des 
italienischen   Gesetzes    (Art.    2—4):    Alle    diejenigen,    welche  Kinder   unter 


Das  Auswanderungsproblem  und  die  Eegelung  des  Auswanderuiigswesens  elc.     595 

15  Jahren  als  Arbeiter  in  das  Ausland  anwerben  oder  vermitteln,  ohne 
zuvor  die  ärztliche  Untersuchung  derselben  veranlasst  zu  haben,  sind  mit 
einer  angemessenen  Geldstrafe  zu  belegen.  Die  Anwerbung,  Zumittelung, 
Anweisung  oder  üebernahme  von  Kindern,  die  im  Auslande  in  einem 
Hausiergewerbe  oder  in  besonders  gefährlichen  Gewerben  verwendet  werden 
sollen,  ist  mit  Kerker  bis  zu  6  Monaten  und  mit  einer  Geldstrafe  von 
100 — 500  Lire  zu  bestrafen.  Der  Vormund  verliert  die  Vormundschaft,  der 
Vater  kann  der  väterlichen  Gewalt  entsetzt  werden.  Noch  härtere  Strafen 
bedrohen  endlich  den,  der  einen  ihm  im  Königreiche  als  Arbeiter  für  das 
Ausland  anvertrauten  Minderjährigen  unter  17  Jahren  in  der  Fremde  im 
Stiche  gelassen  hat.  Aehnliche  Bestimmungen  wären  auch  für  Oesterreich 
angezeigt.  Sofort  wäre  den  Agenten  die  Werbung  ärztlich  nicht  Untersuchter 
unter  16  Jahren  zu  verbieten.  Weitergehende  Verfügungen  wären  nur 
zugleich  mit  dem  Ausbaue  der  Gesetzgebung  über  den  Schutz  jugendlicher 
Arbeiter  am  Platze. 

Ein  Schandfleck,  der  insbesondere  die  Auswanderung  aus  Oesterreich- 
Ungarn  compromittiert,  ist  der  Mädchenhandel,  der  insbesondere  aus  Galizien 
nach  Argentina  und  Brasilien  schwunghaft  betrieben  wird.  Die  Vermittelung 
besorgen  galizische  Unternehmer,  die  ihren  ordentlichen  Wohnsitz  in  Süd- 
amerika gewählt  haben  (sie  stehen  im  stillschweigenden  Einverständnis  mit 
der  dortigen  Polizei)  und  zwei-  bis  dreimal  jährlich  nach  Europa  reisen, 
woher  sie  jedesmal  mit  reicher  Beute  zurückkehren.  Die  Anweibung 
geschieht  theils  unter  Vorspiegelung  guter  Posten  in  Amerika,  theils  werden 
die  Mädchen  zunächst  als  Dienstboten  nach  Karlsbad,  Franzensbad  und 
andere  Badeorte  für  „amerikanische"  Familien  angeworben.  In  der  Kegel 
ist  es  nämlich  viel  leichter,  in  der  Fremde  zur  Auswanderung  nach  Süd- 
amerika zu  bereden.^)  Es  ist  darnach  nicht  leicht,  den  Schuldigen  der 
verdienten  Strafe  zuzuführen.  Umso  grösser  soll  die  gesetzliche  Straf- 
sanction  sein,  umsomehr  sind  auch  alle  diejenigen  zu  bestrafen,  welche 
„mit  Kenntnis  des  vom  Thäter  verfolgten  Zweckes  die  Auswanderung  der 
Frauensperson  vorsätzlich  fördern".  (Vergl.  §  48  d.  G.,  dagegen  Art. 
3.  al.  3  ital.  G.) 


^)  Nach  einer  Correspondenz  des  gewesenen  Reichsrathsabgeordneten  Kozakiewicz 
aus  Buenos  Ayres  an  die  Lemberger  Zeitung:  „Stowo  polskie." 


DIE  ÖSTERREICHISCHE  GEBÜRENNOVELLE 
VOM  18.  JUNI  1901. 


VON 


DK   AUGUST  FREIHERRN  v.  ODKOLEK. 


Einleitung. 

Unter  den  Novellen,  welche  zu  dem  Fundamentalgesetze  des  österreichischen 
Gebürenwesens  vom  9.  Februar  1850  erflossen  sind,  nimmt  das  Gesetz  vom 
18.  Juni  1901,  betreffend  Gebüren  von  Vermögensübertragungen,  eine  wichtige 
Stelle  ein.  Sind  es  doch  die  zwei  einträglichsten  der  mannigfaltigen  Abgaben- 
arten, welche  in  Oesterreich  unter  dem  Namen  „Gebüren"  begriffen  werden, 
nämlich  1.  jene  für  die  üebertragung  von  Immobilien  und  2.  jene  von  Erb- 
schaften, die  durch  das  neue  Gesetz  recht  einschneidende  Veränderungen  erfahren 
haben,  erstere  in  besonders  radicaler  Weise,  sowohl  dem  Steuersatze  wie  der 
gesammten  Veranlagung  nach,  letztere  hinsichtlich  der  Maassregeln,  welche  die 
österreichische  Finanzverwaltung  zur  Sicherung  dieser  Auflagen  für  geboten 
erachtete. 

Das  Gesetz  vom  18.  Juni  1901  hat  eine  nicht  uninteressante  Vor- 
geschichte, da  es  fast  seinem  ganzen  Inhalte  nach  auf  der  im  Auftrage  des 
Finanzministers  Eitter  von  Bilinski  als  Eegierungsvorlage  ausgearbeiteten 
und  sodann  während  der  Parlamentswirren  in  Oesterreich  unter  dem  Finanz- 
minister Dr.  Kaizl  erlassenen  Nothverordnung  vom  16.  August  1899  beruht, 
einer  Verordnung,  deren  Verfassungsmässigkeit  nicht  bloss  in  der  Tages- 
presse, sondern  auch  in  öffentlichen  Körperschaften  und  Vereinen  manche 
Anfechtung  erfuhr.  Aber  auch  ihr  materieller  Inhalt  bildete  zum  Theile  den 
Gegenstand  einer  scharfen  Kritik,  wobei  der  neuen  Veranlagung  der  Immobiliar- 
gebüren,  insonderheit  der  Aufhebung  des  Gebürennachlasses  nach  der  Vorbesitz- 
dauer,  eine  umso  wichtigere  Rolle  beschieden  war,  als  gleichzeitig  eine  nebenbei 
gesagt  über  ganz  Mitteleuropa  hereingebrochene  und  auch  derzeit  noch  keineswegs 
überwundene  Baukrise  in  den  grösseren  Bevölkerungscentren  ausbrach.  Als  daher 
mit  Beginn  des  Jahres  1901  die  Wiederaufnahme  der  Thätigkeit  des  Eeichsrathes 


Die  österreichische  Gebürennovelle  vom  18.  Juni  1901.  597 

in  Sicht  trat,  fehlte  es  hinsichtlich  des  der  Nothverordnung  bevorstehenden  Schicksals 
nicht  an  allerhand  düsteren  Voraussagungen. 

Kaum  aber  hatte  die  parlamentarische  Verhandlung  über  die  kaiserliche 
Verordnung  begonnen,  so  zeigte  sich,  dass  diese  gerade  in  besonders  wichtigen 
Punkten  den  traditionell  gewordenen  Wünschen  der  Volksvertretung  entsprach, 
so  namentlich  was  die  in  ausgiebigster  Weise  gewährte  Erleichterung  des  bäuer- 
lichen und  auch  des  kleinbürgerlichen  Grundbesitzes  und  die  progressive 
Abstufung  der  Immobiliar^ebüren  im  allgemeinen  betraf.  Wohl  bedurfte  es 
langwieriger  Verhandlungen  und  einer  wirkungsvollen,  sowohl  die  Principien  als 
auch  alle  Details  berührenden  Vertheidigung  der  Verordnung  durch,  den  Finanz- 
minister ;  das  Facit  aber  war,  dass  der  durch  die  kaiserliche  Verordnung  geschaffene 
Eechtszustand  im  wesentlichen  durch  das  Gesetz  vom  18.  Juni  1901  für  die 
Dauer  festgelegt  wurde.  Nach  dieser  trockenen  Erzählung  des  äusseren  Herganges 
mag  die  Erörterung  der  verfassungsrechtlichen  Seite  der  Angelegenheit  berufeneren 
Federn  überlassen  bleiben  ;  wir  gehen  zur  Betrachtung  des  sachlichen  Inhaltes 
der  Novelle  über  und  wenden  uns  zunächst  ihrem  ersten  Abschnitte  über  die 
Immobiliargebüren  zu. 

I.  Immobiliargebüren. 

a)  Theoretisches, 
Von  altersher  bildeten  die  Abgaben  für  die  Uebertragung  von  Grund  und 
Boden  eine  ergiebige  Quelle  des  Staatseinkommens.  ^)  Trotzdem  gehört  diebetreffende 
Lehre,  wie  jene  von  den  Gebüren  und  Verkehrssteuern  überhaupt,  auch  heute 
noch  zu  den  bestrittensten  Gebieten  der  Finanzwissenschaft.  Die  Zwiespältigkeit 
der  theoretischen  Auffassung  spiegelt  sich  im  positiven  Finanzrechte  wieder,  welches 
die  Abgaben  für  den  Immobiliarverkehr  im  Staatsbudget  bald  den  indirecten 
Abgaben  zurechnet  (Oesterreich,  Preussen),  bald  ihnen  eine  Sonderstellung 
zuweist  (Eussland,  Italien).  Bei  den  älteren  deutschen  Autoren  (Umpfenbach, 
Kau),  welche  den  Gegenstand  nur  kurz  berühren,  ist  eine  systematische 
Erklärung  und  Begründung  der  Immobiliarverkehrssteuern  nicht  zu  finden.  Zum 
Theile  mag  dies  daraus  zu  erklären  sein,  dass  diese  Abgaben  in  den  einzelnen 
Staaten  des  Deutschen  Reiches  vermöge  ihres  Ertrages  bei  weitem  keine  so 
bedeutende  Rolle  im  Staatshaushalte  spielen,  wie  in  Oesterreich  und  in  den 
romanischen  Ländern,  voran  Frankreich.  Dies  erhellt  klar  und  deutlich  aus 
folgender  Tabelle : 


1)  Schon  im  alten  Aegypten  bestand  anknüpfend  an  die  Nothwendigkeit  fort- 
währender Katasterrevisionen  infolge  der  Nilüberschwemmungen  eine  lOproc.  Steuer  auf 
Besitzveränderungen.  Schanz,  Studien  zur  Geschichte  und  Theorie  der  Erbschaftssteuer, 
in  Schanz  Finanzaichiv,  XVII.  Jahrgang,  1.  Band.  In  Rom  wurde  schon  in  der  ersten 
Kaiserzeit  eine  allgemeine  Verkaufsabgabe  als  vectigal  (centesima)  rerum  venalium  ein- 
geführt. J.  Lehr,  Artikel  „Verkehrssteuern"  in  Conrad  Lexis,  Handwörterbuch  der 
Staatswissenschaften  1894.  In  der  Longobardenzeit  mussten  in  Italien  die  Verträge  über 
unbewegliche  Sachen  in  die  Gemeindeacten  eingetragen  werden,  damit  der  Staat  nicht 
um  die  Abgabe  betrogen  werden  könne.  Lndo  Hartmann,  Geschichte  Italiens  im 
Mittelalter,  L,  S.  113,  1897. 


198 


Odkolek. 


Finanzjahr    1900. 


Name  des  Staates 


Oesterreich 
Russland     . 
Frankreich 
Italien^)  .    . 
Preussen 
Baiern     .    . 


Gesammteinnahme 


1.585,811.822  Kronen 
1.757,387.103  Eubel 
3.523,133.264  Francs 
1.688,479.205  Lire 
2.472,266.033  Mark 
421,296.854  Mark 


Einnahme 
an  Stempel,  Taxen, 
Gebüren,  Erbsteuer 


Procentuelles 

Verhältnis 
zur  Gesammt- 
einnahme 


150,430.000  Kronen 

84,802.850  Rubel 

730,913.000  Francs 

182,850.000  Lire 

67,000.000  Mark  2) 

26,548.200  Mark 


9-4 
4-8 
20-7 
10-8 
2-7 
6-2 


1 


In  der  neueren  deutschen  Finanzwissenschaft  wird  grösstentheils  die 
Berechtigung  der  Verkehrssteuern  überhaupt  in  Frage  gestellt.  So  von  Vocke, 
Die  Abgaben,  Auflagen  und  die  Steuer  vom  Standpunkte  der  Geschichte  und  der 
Sittlichkeit,  1887,  S,  590,  der  es  unter  den  Postulaten  einer  gerechten  Yerkehrs- 
abgabe  anführt,  dass  sie  aus  dem  Ertrage  oder  Einkommen  müsse  bestritten 
werden  können,  sie  aber  gleichwohl  principiell  verwirft.  Kaum  weniger  ablehnend 
verhält  sich  Cohn,  System  der  Finanzwissenschaft,  1889,  S.  354  ff.  Auch 
E  h  e  b  e  r  g,  Finanzwissenschaft,  1895,  S.  213  ff.,  hält  die  Immobiliar-Uebertragungs- 
gebüren  nur  für  erklärbar  aus  der  geschichtlichen  Entwicklung  und  aus  finanziellen 
Zwangslagen ;  ihre  gänzliche  Abschaffung  sei  eine  —  derzeit  allerdings  aus 
budgetären  Gründen  kaum  erfüllbare  —  Aufgabe  jeder  gesunden  Finanzpolitik. 
Auch  Schäffle  (Die  Steuern,  besonderer  Theil,  1897,  S.  408)  denkt  sich  die 
Beseitigung  dieser  alten   „Gebürensteuer"   als  Glied  allgemeiner  Steuerreform. 

Einer  rationellen  Verkehrsbesteuerung  reden  unter  den  Deutschen  Adolf 
Wagner  und  Schall  das  Wort,  und  ein  besonders  warmer  Vertheidiger  ist 
derselben  in  Hausmann  (Verkehrssteuern.  Ein  Beitrag  zur  Vermehrung  der 
Eeichseinnahmen,   1894)  erstanden. 

Die  moderne  Auffassung  der  Verkehrssteuern  in  der  deutschen  Finanz- 
wissenschaft datiert  seit  Lorenz  von  Stein,  dem  anerkannten  Meister  der 
Dialectik ;  doch  könnte  man  nicht  sagen,  dass  er  die  betreffende  Lehre  zu 
befriedigendem  Abschlüsse  gebracht  hätte.  Stein  bezeichnet  den  beim  einzelnen 
Verkehrsact  erzielten  Gewinn  als  Steuerobject  und  zugleich  als  Rechtfertigung 
dieser  Steuergattung  überhaupt  (Ge  win  n  th  e  o  r  i  e),  eine  Auffassung,  an  welcher 
er  später  selbst  zweifelte  und  verzweifelte,  und  die  ihm  bekanntlich  die  Klage 
abpresste,  jede  Theorie  der  Verkehrssteuer  müsse  mit  dem  Geständnisse  beginnen, 
dass  sie  falsch  sei.  Zu  den  Einwendungen,  welche  gegen  Steins  „Gewinn- 
theorie" —  zum  Theile  schon  von  ihm  selbst  —  erhoben  worden  sind,   sei  nur 


1)  1899—1900. 

2j  Inbegriffen  den  auf  Preussen  entfallenden  Antheil  an  Eeichsstempelsteuern. 


Die  österreichische  Gebiirennovelle  vom  18.  Juni  1901.  599 

ergänzungsweise  bemerkt,  dass  ja  der  einzelne  Verkehrsact  keineswegs  mit  Xoth- 
wendigkeit  für  die  eine  Vertragspartei  einen  Gewinn,  für  die  andere  einen 
Verlust  bedeuten  muss,  weil  ja  doch  von  vorneherein  auf  Seite  beider  Vertrags- 
parteien auf  einen  zu  erzielenden  Vermögensvortheil  gerechnet  wird,  der  übrigens 
sogar  auf  beiden  Seiten  wirklich  eintreten  kann,  also  keineswegs  immer  auf 
Kosten  des  anderen  Theiles  gehen  muss.  üeberdies  ist  auch  die  Möglichkeit 
nicht  ausgeschlossen,  dass  gerade  derjenige  Vertragstheil,  für  welchen  das 
besteuerte  Geschäft  mit  Verlust  verbunden  ist,  von  der  Abgabe  getroffen  wird. 
Soll  nun  der  Verlust  besteuert  werden,  vielleicht  gar  progressiv? 

Noch  anfechtbarer  erscheint  Steins  Gewinntheorie,  wenn  die  Trage 
nach  dem  wirklichen  Steuersubject  (Ueberwälzung)  erwogen  wird.  Zwar  statuiert 
die  positive  Finanzgesetzgebung  in  der  Kegel  die  Abgabenpflicht  beider  Vertrags- 
theile,  so  dass  scheinbar  eigentlich  die  Ueberwälzung  ausgeschlossen  ist.  De  facto 
wird  aber  seitens  der  Finanz  Verwaltung  der  Käufer  zur  Zahlung  herangezogen, 
wegen  der  in  seiner  Person  durch  den  bücherlichen  oder  rechtlichen  Besitz  des 
Verkehrsobjectes  gebotenen  grösseren  Sicherheit.  Gleichwohl  findet  hier  fast 
ausnahmslos  die  Ueberwälzung  der  Abgabe  auf  den  Verkäufer  statt,  da  sie  schon 
bei  Vereinbarung  des  Kaufpreises  in  Eechnung  gezogen  wird,  den  in  der  über- 
wiegenden Mehrheit  der  Fälle  eben  der  Käufer  bestimmt. 

Eine  zweite  Auffassung  erblickt  die  Grundlage  der  Liegenschaftsabgaben 
von  Besitzveränderungen  darin,  dass  der  Wert  von  Grund  und  Boden  in  constantem 
Steigen  begriffen,  mithin  die  Erhebung  einer  Abgabe  vom  Wertzuwachse, 
welcher  eben  anlässlich  des  Besitzwechsels  in  äussere  Erscheinung  trete  (Kauf- 
preis, Inventarswert),  gerechtfertigt  sei.  Allein  auch  diese  Theorie,  welche  wir 
im  folgenden  der  Kürze  wegen  Zuwachstheorie  nennen  wollen,  und  welche 
namentlich  von  Schall,  Verkehrs-  und  Erbschaftssteuern  (in  Schönberg, 
Finanzwissenschaft,  Vierte  Auflage,  1897,  S.  710  ff.)  verfochten  wird,  dem  hierin 
Schäffle  (Die  Steuern,  besonderer  Theil,  1897,  S.  370),  beipflichtet,  hat 
manche  Bedenken  gegen  sich.  Allerdings  ist  nämlich  die  Bewegung  der  Werte 
von  Grund  und  Boden  in  unseren  Zeiten  im  allgemeinen  eine  aufwärtsstrebende, 
doch  stellt  diese  Bewegung  keineswegs  eine  constant  ansteigende,  sondern  eher 
eine  krumme  Linie  dar,  bei  der  es  an  Abwärtsbewegungen  der  Ee  alitäten  werte 
nicht  fehlt.  Für  solche  Zeiten  des  Preisfalles  würde  aber  die  von  der  „Zuwachs- 
theorie" bezeichnete  Steuergrundlage  gänzlich  fehlen  und  käme  man  in  thesi  zu 
der  Folgerung,  dass  für  die  Dauer  des  Preisfalles  die  Auflegung  der  Immobiliar- 
verkehrssteuer  ganz  ausgesetzt  werden  müsste,  mithin  zu  der  kaum  haltbaren 
Forderung  einer  je  nach  der  Conjunctur  intermittierenden  Abgabe. 

In  den  parlamentarischen  Verhandlungen  über  die  österreichische  Gebüren- 
novelle  vom  18.  Juni  1901  ist  übrigens  die  „Zuwachstheorie"  als  Argument  für 
die  Beibehaltung  des  „Gebürennachlasses"  nach  der  Vorbesitzdauer  herbeigezogen 
worden.  Beiden  Auffassungen  (Gewinntheorie  und  Zuwachstheorie)  ist  der  Grund- 
gedanke gemeinsam,  dass  ihr  Object,  nämlich  der  Gewinn,  rücksichtlich  der 
Wertzuwachs,  eigentlich  von  der  directen  Besteuerung  getroffen  werden  sollte,  sich 
aber  für  dieselbe  als  nicht  erreichbar  erweist,  weshalb  die  Iramobiliarverkehrssteuer 
hier  eigentlich   als  Correctiv  der  directen  Steuern  einzugreifen  berufen  sei. 


600  Odkolek. 

Während  also  die  deutschen  Autoren  die  Verkehrsabgabe  entweder  ganz 
verurtheilen  oder  ihr  nur  vom  Standpunkte  einer  Ergänzung  des  directen  Steuer- 
systemes Berechtigung  zuerkennen,  wird  dieselbe  bezeichnenderweise  von  den 
französischen  Schriftstellern,  und  zwar  unter  dem  Gesichtspunkte  der  G  e  b  ü  r 
verfochten,  so  noch  neuestens  von  Leroy-Beaulieu,  Traite  de  la  science  des 
finances,  Tom.  I.,  1899,  S.  587,  wo  es  diesbezüglich  heisst :  „La  legitimite'  de 
la  taxe  en  pareil  cas  est  incontestable  puisque  I'Etat  rend  un  Service  evident 
aux  contractants  en  les  garantissant  contre  toute  ^viction,  en  pretant  main 
forte  ä  leur  Convention,  enfin  en  registrant  et  conservant  l'acte,  de  maniöre 
qu'il  ait  une  date  certaine,  un  caractere  d'authenticite'  et  qu'il  constituo  un 
titre  regulier  de  propriete." 

Diese  dritte  Auffassung,  welche  wir  als  eine  historische  bezeichnen  möchten 
und  die  Gebürentheorie  nennen  wollen,  legt  das  Hauptgewicht  darauf,  dass 
den  Immobiliarverkehrssteuern  der  Gebürencharakter,  d.  i.  der  eines 
Entgeltes  für  specielle  staatliche  Leistungen  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
unbedingt  zukommt,  insoweit  aber  mit  Rücksicht  auf  die  Höhe  des  Abgaben- 
satzes dieser  Charakter  nicht  als  ausreichend  erkannt  werden  sollte,  allerdings  das 
fiscalische  Interesse  als  Rechtfertigung  dieser  Abgabenart  dienen  muss.  Der 
Gebürencharakter  tritt  nach  zwei  Richtungen  hervor;  erstens  in  dem  Entgelte 
für  den  seitens  der  Staatsverwaltung  dem  Immobiliarverkehre  im  allgemeinen 
gewährten  Rechtsschutz  (ein  Gesichtspunkt,  der,  ohne  Widerspruch  zu  finden, 
auch  zur  Begründung  der  verwandten  Erbschaftssteuer  geltend  gemacht  wird), 
zweitens  in  dem  Entgelte  für  die  Inanspruchnahme  der  einen  besonders  wirksamen 
Rechtsschutz  gewährenden  Institution  der  öffentlichen  Bücher.  In  Oesterreich 
möchte  das  positive  Recht  zur  Unterstützung  dieser  Ansicht  insofern  geeignet 
sein,  als  die  bücherliche  Eintragung  der  Immobiliarüb ertragungen  von  der 
Eintragungsgebür  unter  der  Bedingung  fernbleibt,  dass  für  das  Rechtsgeschäft 
die  Uebertragungsgebür  entrichtet  wurde. ^)  Die  hier  besprochene  dritte  Auffassung 
wird  zwar  von  der  Mehrzahl  der  deutschen  Autoren  als  ein  überholter  und  veralteter 
Standpunkt  gekennzeichnet;  gleichwohl  möchten  wir  ihr  mit  einer  gewissen  Ein- 
schränkung-) beipflichten,  nicht  allein  unter  dem  Gesichtspunkte  der  historischen 
Entwickelung  dieser  Abgabe  in  Oesterreich  und  ihrer  herkömmlichen  Classificierung, 
sondern  auch  deshalb,  weil  die  Abgabe  in  den  breiten  Bevölkerungsschichten 
thatsächlich  als  Gebür  aufgefasst  und  getragen  wird. 

Einer  Verbindung  von  Zuwachstheorie  und  Gebürentheorie  verdankt  eine 
ganz  eigenartige  Gruppe  communaler  Abgaben  ihr  Entstehen,  welche  damit 
begründet  wird,  „dass  die  Eigenthümer,  deren  Grundstücke  durch  irgendwelche 
von  localen  Behörden  angeordnete  Verbesserungsanlagen  einen  Wertzuwachs 
erhalten,  zu  den  Kosten  dieser  Anlagen  beitragen  sollen".  (Hallgarten,  Die 
communale  Besteuerung  des  unverdienten  Wertzuwachses  in  England.  Stuttgart, 
1899,    S.   179.)     Die  Heimat   dieser   Abgabenart  —   Betterment   charge  —  und 


1)  Tarifpost  45Äa  des  Gesetzes  vom  13.  December  1862. 

2)  Die  Einschränkung  besteht  darin,  dass  allerdings  der  Gebürencharakter  vorwiegt, 
über  eine  gewisse  Höhe  der  Abgabe  hinaus  jedoch,  die  Momente  einer  ergänzenden 
Ertragsbesten erung  nicht  zu  verkennen  sind. 


Die  österreichische  Gebürennovelle  vom  18.  Juni  1901.  ßOl 

zugleich  der  einzige  europäische  Staat,  wo  sie  bisher  Wurzel  fasste,  ist  England. 
Ein  Versuch,  sie  auf  deutschen  Boden  zu  verpflanzen,  welcher  in  der  Aera 
Miquel  im  Anschluss  an  eine  Rahmenbestimmung  des  preussischen  Communal- 
abgabengesetzes  vom  14.  Juli  1893  in  einzelnen  grösseren  Gemeinwesen  unter- 
nommen worden  ist  (Bauflächensteuer),  scheint  nicht  besonders  geglückt  zu  sein 
(vgl.  Schäffle,  a.  a.  0.  S.  437).  Neuestens  ist  auch  im  Canton  Basel  (Stadt) 
das  Project  einer  besonderen  Besteuerung  der  Gewinne  vom  Verkauf  der  Liegen- 
schaften an  der  Erwägung  gescheitert,  dass  derselbe  schon  im  Wege  der  directen 
Besteuerung  hinlänglich  getroffen  sei  (Schanz,  Finanzarchiv,  17.  Jahrgang, 
S.   945.) 

b)   Den    neue    österreichische  Tarif    in    theoretischer    und    praktischer 

Beleuchtung. 

Adolf  Wagner^)  erhebt  gegen  die  bestehende  Verkehrsbestenerung  den 
Vorwurf,  dass  sie  meistens  noch  zu  fiscalisch  und  zu  schablonenhaft,  ohne 
genügende  Unterscheidung  der  Fälle  vorgegangen  sei.  Gegenüber  dem  neuen 
Tarife  der  österreichischen  Immobiliargebüren,  wie  er  sich  aus  den  §§1,2  und  3 
des  Gesetzes  vom  18.  Juni  1901  ergibt,  dürfte  der  Vorwurf  schablonenhaften 
Vorgehens  wohl  kaum  am  Platze  sein:  eine  so  weitgehende  Differenzierung  der  Sätze, 
wie  hier,  ist  schwerlich  in  der  Gesetzgebung  eines  anderen  Staates  anzutreffen.  Nicht 
weniger  als  drei  Hauptmoraente  sind  nämlich  durch  die  Novelle  als  maassgebend 
erklärt  worden  :  erstens  das  Verwandtschaftsverhältnis  der  am  Rechtsacte 
betheiligten  Personen,  zweitens  der  Umstand,  ob  es  sich  um  einen  unentgeltlichen 
oder  um  einen  entgeltlichen  Eechtsact  handelt,  drittens  der  Wert  der  über- 
tragenen Liegenschaft.  Daneben  werden  dann  noch  —  durch  alle  drei  oben 
angeführten  Kategorien  hindurchgehend  —  specielle  Begünstigungen  für  wirt- 
schaftlich besonders  schonungsbedürftige  Bevölkerungseiassen,  nämlich  für  Bauern 
und  Kleinbürger,  gewährt,  in  dieser  Hinsicht  bereits  vorhanden  gewesene  Special- 
vorschriften ergänzend  und  erweiternd ;  schliesslich  sind  auch,  und  zwar  abgestuft 
nach  der  Dauer  des  Vorbesitzes,  für  Uebertragungen  von  Gebäuden,  welche  unter 
dem  Gesichtspunkte  der  Förderung  der  Bauthätigkeit  eine  gelindere  Behandlung 
erheischten,   ermässigto  Procentsätze   aufgestellt  worden. 

An  der  Hand  der  im  Anhang  in  ihrem  Wortlaute  abgedruckten  §§  1,  2 
und  3  des  neuen   Gesetzes  ergibt  sich  folgender  Tarif: 

1.  Normale   Sätze: 
a)  für  entgeltliche  oder  unentgeltliche  Ueber- 
tragungen   zwischen    Eltern    und    Kindern   bei  einem 

Werte  bis  einschliesslich  30.000  K 1       Proc, 

über  30.000  K V/,      „ 

h)  für  Uebertragungen   zwischen  anderen  Per- 
sonen,   und    zwar    für    unentgeltliche   Uebertragungen    bei    einem 

Werte  bis  einschliesslich  20.0000  K V/^   Proc, 

über  20.000  K 2  „ 

1)  Finanzwissenschaft,  Zweiter  Theil,  1890,  S.  560. 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  X.  Band.  41 


602 


Odkolek. 


für  entgeltliche  Uebertragungen   bei  einem  Werte  bis  einschliesslich 

10.000^ 3  Proc, 

über  10.000  K  bis  einschliesslich  40.000  K SV^  , 

über  40.000  K 4  „ 

2.  Begünstigte  Sätze. 
A.   Für  Bauern  und   Kleinbürger. 
Für  entgeltliche   oder  unentgeltliche  Uebertragungen   zwischen 
Eltern,  Kindern,  Ehegatten  bei  einem  Werte  bis  einschliesslich  5.000  K    0       Proc, 

über  5.000  K  bis  einschliesslich  10.000  K V2     » 

für  Uebertragungen  zwischen  anderen  Personen,  und  zwar: 

1.  durch  unentgeltlichen  Bechtsact  bei  einem  Werte  bis  ein- 
schliesslich 5.000  K 7*    Proc, 

über  5.000  X  bis  einschliesslich  10.000  ^ IVa       „ 

2.  durch  entgeltlichen  Bechtsact  bei  einem  Werte  bis  5.000  K  \^/^       „ 
über  5.000  K  bis  einschliesslich  10.000  K 2'/^      „ 

B.    Aus  dem  Titel  der  Bauführung. 

Für    Uebertragungen    von    Neu-    und   Umbauten    aus    einem 
lästigen   Titel  bei  einer  Vorbesitzdauer,   und  zwar  von   nicht  mehr 

als  4  Jahren • 2^/^    Proc, 

von  mehr  als  4,  jedoch  nicht  mehr  als  6  Jahren 3  „ 

Der  neue  Tarif  enthält  also  15  Positionen.  Die  scheinbar  regellose  Mannig- 
faltigkeit dieser  Sätze,  welche  soweit  geht,  dass  in  den  einzelnen  Gruppen  die 
maassgebenden  Wertstufen  und  selbst  die  Anzahl  dieser  Wertstufen  nicht  durch- 
gehends  übereinstimmen,  mag  auf  den  ersten  Blick  befremden ;  es  prägt  sich 
darin  aber  einerseits  die  Eücksicht  auf  einzelne  besonders  schonungsbedürftige 
Verkehrszweige,  andererseits  die  Bedachtnahme  auf  das  budgetäre  Interesse  aus, 
indem  jede  einzelne  der  neuen  Positionen  auf  sorgfältig  ermittelter  statistischer 
Basis  ruht.  Schon  vor  geraumer  Zeit  wurden  nämlich  im  österreichischen 
Finanzministerium  Einrichtungen  geschaffen,  welche  eine  statistische  Erfassung 
des  Realverkehres  und  der  ihn  treffenden  Abgaben  bis  ins  kleinste  Detail  ermög- 
lichen. Diese  „Geb  ür  e  nst  ati  stik"  besteht  darin,  dass  gleichzeitig  mit  der 
Vornahme  der  Gebürenbemessung  von  jedem  einzelnen  Eechtsacte  durch  den 
bemessenden  Functionär  ein  „statistischer  Auszug"  angefertigt  wird,  in  welchen 
alle  für  die  Statistik  erheblichen  Daten  des  Bemessungsfalles  zu  übertragen  sind. 
Diese  Auszüge  werden  periodisch  an  ein  eigenes  Rechnungsdepartement  des 
Finanzministeriums  übersendet,  welches  dieselben  prüft  und  deren  weitere  statistische 
Bearbeitung  besorgt.  Die  Schaffung  dieser  für  jede  Reformarbeit  im  Gebürenwesen 
geradezu  unentbehrlichen  Einrichtungen  fällt  in  die  Zeit,  als  Ernst  v.  Plener 
Finanzminister  war. 

Auf  dieser  Statistik  beruhen  die  der  Regierungsvorlage  (322  der  Beilagen 
zu  den  stenographischen  Protokollen  des  Abgeordnetenhauses,  XIV.  Session,  1898, 
und  211,  XV.  Session,  1898)  angeschlossenen  Tabellen  über  den  Realverkehr  und 
dessen  Gebürenbelastung  im  Jahre  1896,  deren   Ziffern    zunächst    bei  Erstellung 


Die  österreichische  Gebürennovelle  vom  18.  Juni  1901.  603 

der  neuen  Tarifsätze  als  Grundlage  gedient  haben.  Wenn  sich  hiehei  die 
beträchtliche  Anzahl  von  15  Sätzen  ergab,  so  ist  Schablonenhaftigkeit  gewiss  der 
letzte  Vorwurf,  der  dem  neuen  Tarife  gemacht  werden  kann.  Da  die  Vereinfachung 
der  Bemessungstechnik  mit  einen  wichtigen  Zweck  der  ganzen  Eeformaction 
bildete,  so  erhebt  sich  vielmehr  umgekehrt  die  Frage,  ob  der  neue  Tarif  nicht 
etwa  zu  compliciert  gerathen  ist,  zumal  da  derselbe  nur  um  einen  Gebürensatz 
weniger  enthält,  als  die  frühere  Gesetzgebung,  welche  unter  Berücksichtigung  des 
Gebürennachlasses  und  der  durch  die  Novelle  vom  31.  März  1890  geschaffenen 
Erleichterungen  für  Bauern  und  Kleinbürger  16  Immobiliargebürensätze  aufwies. 
Soweit  nun  die  bisherigen  praktischen  Erfahrungen  reichen,  kann  diese  Frage 
verneint  werden,  vielmehr  wird  fast  übereinstimmend  eine  Erleichterung  und 
Vereinfachung  des  Bemessungsgeschäftes  constatiert,  was  daraus  zu  erklären  sein 
mag,  dass  es  für  die  Handlichkeit  eines  Tarifes  weniger  auf  eine  recht  geringe 
Anzahl  von  Sätzen,  als  darauf  ankommt,  dass  die  Beurtheilung  der  Anwendbarkeit 
der  einzelnen  Sätze  auf  den  concreten  Uebertragungsfall  keine  Schwierigkeiten 
biete.  Diesem  Bedürfnisse  aber  hat  das  neue  Gesetz  durch  Vereinfachungen  der 
Gebürenbemessung  von  Erbtheilungen,  Theilungsverträgen,  Fruchtgenüssen  u.  s.  f., 
wie  allgemein  anerkannt  wird,  in  ausgedehntem  Maasse  entsprochen. 

Die  Höhe  des  Tarifsatzes,  speciell  des  Satzes  für  Uebertragungen 
aus  einem  lästigen  Titel  unter  Lebenden,  bildet  selbstverständlich  eine  der 
wichtigsten  Seiten  der  Angelegenheit.  Gegenüber  dem  fiscalischen  Interesse  an  einem 
möglichst  hohen  Ertrage  erhebt  die  Volkswirtschaft  die  Forderung,  dass  durch 
eine  überspannte  Höhe  des  Abgabensatzes  der  Realitätenverkehr,  insoweit  er 
ökonomisch  günstig  wirkt,  nicht  gehemmt  und  beeinträchtigt  werden  dürfe. 
Daneben  ist  aber  auch  der  Gesichtspunkt  nicht  gänzlich  abzuweisen,  dass  einer 
entsprechenden  Veranlagung  der  Immobiliargebüren  die  Aufgabe  zufällt,  als 
Regulator  des  Verkehres  mit  Liegenschaften  zu  dienen,  eine  übertriebene  Güter- 
speculation  zu  zügeln.  Alle  diese  Factoren  sind  behufs  einer  gerechten  Beurtheilung 
der  neuen  Sätze  in  Betracht  zu  ziehen. 

Werfen  wir  nun  zunächst  einen  Blick  auf  die  Gesetzgebung  des  Auslandes, 
so  finden  wir  bei  Uebertragungen  aus  lästigem  Titel  in  Frankreich  ein  droit 
de  mutation  von  6*875  Proc,  (einschliesslich  des  Decimenzuschlages) ;  in  Italien 
eine  tassa  di  registro  von  4*8  Proc.  (ebenfalls  mit  Einschluss  des  Decimen- 
zuschlages);  in  Bus  sl  and  wird  aus  dem  gleichen  Titel  die  sogenannte  Krepost- 
poschlin  im  Ausmaasse  von  4  Proc.  erhoben.  Bedeutend  geringer  sind  die  Sätze 
im  Deutschen  Reiche:  so  erhebt  Preussen  eine  Stempelsteuer  für  die 
„Auflassung"  in  der  Höhe  von  1  Proc,  wozu  aber  in  den  grösseren  Gemeinwesen 
communale  Umsatzsteuern  treten  (z.  B.  in  Berlin  1  Proc,  so  dass  sich  dort 
die  Gesammtbelastung  auf  2  Proc.  stellt);  in  Baiern  beträgt  die  „Gebür" 
2  Proc  (dazu  kommt  in  München  eine  communale  Umsatzsteuer  von  1  Proc, 
daher  Gesammtbelastung  3  Proc) ;  Baden  hat  eine  Liegenschaftsaccisse  von 
2Y2  Proc  Wird  der  neue  österreichische  Maximalsatz  von  4  Proc.  mit  den 
vorstehenden  Sätzen  verglichen,  so  hält  Oesterreich  ungefähr  die  Mitte  zwischen 
den  romanischen  Ländern  (Italien  und  Frankreich)  und  den  Staaten  des  Deutschen 
Reiches. 

41* 


604  Odkolek. 

Es  darf  aber  nicht  verschwiegen  werden,  dass  der  auffällig  hohe  Satz  von 
6*875  Proc,  in  Frankreich  in  diesem  Lande  selbst  sehr  ernste  Gegner  findet.  So 
besonders  Leroy-Beaulieu,  welcher  die  bezügliche  Belastung  eine  exorbitante  nennt 
und  geradezu  eine  Immobilisierung  des  Güterverkehres  als  deren  Folge  bezeichnet, 
welche  ihrerseits  wieder  bewirke,  dass  niemand,  ausser  nothgedrungen,  sich  sehies 
Besitzes  entäussere,  aber  auch  jedermann  durch  die  Höhe  der  Abgabe  vom 
Kaufe  liegender  Güter  abgeschreckt  werde.^) 

Mag  nun  auch  die  Bemerkung,  welche  Leroy-Beaulieu  bei  diesem 
Anlasse  macht,  dass  ein  möglichst  häufiger  Besitzwechsel  liegender  Güter  volks- 
wirtschaftlich nützlich  und  daher  durch  steuerliche  Maassregeln  zu  fördern  sei, 
keineswegs  einwandfrei  sein,  so  wird  man  doch  die  Klage,  dass  ein  Satz  von 
6"875  Proc.  vielfach  drückend  wirke,  verständlich  finden.  Der  baulichen 
Entwickelung  der  französischen  Städte  scheint  die  hohe  Enregistrementsgebür 
gleichwohl  nicht  hinderlich  gewesen  zu  sein,  wie  denn  auch  die  berühmte  bauliche 
Neugestaltung  von  Paris  unter  dem  Seinepräfecten  Baron  Haussmann 
(1857 — 1870)  sich  bei  einem  nur  unwesentlich  geringeren  Satze  der  Uebertragungs- 
gebür  vollzog. 

In  der  öffentlichen  Discussion  sind  nun  aus  naheliegenden  Gründen  die 
neuen  österreichischen  Sätze  von  3,  3^  g  ^^^  ^  Proc.  nicht  mit  den  wesentlich 
höheren  französischen  oder  italienischen  Sätzen  in  Vergleich  gezogen  worden, 
sondern  mit  den  allerdings  massigeren  Gebüren  der  Staaten  des  Deutschen  Reiches, 
wobei  aber  vor  allem  übersehen  worden  ist,  dass  gerade  diese  Staaten  vermöge 
der  verhältnismässig  bescheidenen  Rolle,  welche  die  Gebüren  in  ihrem  Staats- 
haushalte spielen,  kein  taugliches  Vergleichsobject  abgeben.  Ob  nun  unsere  neuen 
Sätze  genau  das  Richtige  treffen,  steht  dahin;  ob  sie  auch,  abgesehen  von  den 
nachträglich  für  Neu-  und  Umbauten  gewährten  Erleichterungen,  wirklich  eine 
üeberlastung  des  Realitätenverkehres  darstellen,  bedarf  gleichfalls  noch  des 
Beweises.  Jedenfalls  stellen  sie  das  Minimum  dessen  dar,  was  bei  Einführung  der 
so  bedeutenden  Erleichterungen  für  andere  Gebiete  des  Realverkehres  gefordert 
werden  musste,  wenn  der  ohnehin  beträchtliche  finanzielle  Ausfall  nicht  allzusehr 
anschwellen  sollte. 

Was  im  Gefolge  der  neuen  Sätze  vor  allem  als  Härte  empfanden  wurde, 
war  das  Verschwinden  einer  österreichischen  Specialität,  des  sogenannten  Gebüren- 
nachlasses.  Dieser  bestand  darin,  dass  bei  entgeltlichen  und  auch  bei  unent- 
geltUchen  Uebertragungen  die  Höhe  des  Gebürensatzes  von  der  Vorbesitzdauer, 
d  i.  von  der  Zeit  abhieng,  während  welcher  der  Veräusserer  die  Realität  besessen 
hatte.  Es  gelangte  also  bei  entgeltlichen  Uebertragungen  der  volle  Satz  von 
3Y2  Proc.  sammt  25  Proc.  Zuschlag  =  4"375  Proc.  nur  dann  zur  Erhebung, 
wenn  die  Vorbesitzdauer  zehn  Jahre  überstieg;  bei  einer  um  je  zwei  Jahre 
kürzeren  Vorbesitzdauer  verminderte  sich  der  Satz  um  je  ein  halbes  Proc.  und 
erreichte  sein  Minimum  von  1  Proc.  sammt  25  Proc.  Zuschlag  =  1*25  Proc.  bei 
einer  Vorbesitzdauer  von   nicht  mehr   als  2  Jahren. 

Dieser  auf  einer  zufolge  kaiserlicher  Ermächtigung  erlassenen  Ministerial- 
verordnung  vom  3.  Mai  1850,   beruhende   Gebürennachlass  war  bei  seiner  Ein- 

1)  a.  a.  0.,  S.  587  und  588. 


Die  österreichische  Gebürennoveile  vom  18.  Juni  1901.  605 

führung  damit  begründet  worden,  dass  der  Wert  der  unbeweglichen  Güter  in 
steter  Zunahme  begriffen  sei,  welche  den  Betrag  der  Uebertragungsgebüren  nicht 
nur  ausgleiche,  sondern  nach  deren  Einbringung  noch  einen  Ueberschuss  zurück- 
lasse. Nun  trete  jene  Zunahme  nur  allmählich  ein  und  sei  in  der  Kegel  nach 
kürzeren  Zeiträumen  kleiner  als  nach  längeren.  Es  könne  daher  nach  einem 
längeren  Zeiträume,  der  eine  Besitzveränderung  von  der  anderen  trennt,  ohne 
Nachtheil  und  Schwierigkeit  eine  höhere  Gebür  eingebracht  werden,  als  bei  einer 
Besitzveränderung,  die  in  kurzem  auf  eine  andere  folgt. ^) 

Im  Laufe  der  Zeit  aber  vollzog  sich,  wie  rücksichtlich  so  vieler  Fragen  des 
Gebürenwesens  auch  über  die  Nützlichkeit  und  Berechtigung  des^  Gebürennachlasses 
ein  gründlicher  Wandel  der  Anschauungen.  Schon  anlässlich  früherer  Reform- 
versuche (1879  und  1883)  war  von  Seite  der  Regierung  die  Abschaffung  des  Gebüren- 
nachlasses, einstweilen  noch  erfolglos,  vorgeschlagen  worden.  In  dem  Motiven- 
berichte zu  den  beiden  oben  angeführten  Regierungsvorlagen  des  Jahres  1898, 
auf  welchen  das  neue  Gesetz  vom  18.  Juni  1901  beruht,  werden  die  Argumente 
gegen  den  Gebürennachlass  in  folgender  Weise  zusammengefasst : 

„Der  Gebürennachlass,  welcher  ausser  in  Oesterreich  nur  noch  in  Italien 
—  jedoch  nur  in  sehr  beschränktem  Umfange  —  vorkommt,  stellt  sich  als  eine 
wenig  rationelle  Begünstigung  dar.  Wenn  der  Zweck  der  Verkehrsabgabe  in  der 
Besteuerung  des  aus  dem  einzelnen  Verkehrsacte  zugehenden  Nutzens  gelegen  ist, 
so  ist  nicht  einzusehen,  weshalb  nicht  alle  gleichartigen  Verkehrsacte  auch  der 
gleichen  Abgabe  unterzogen  werden  sollten.  Die  durchschnittliche  Häufigkeit 
einer  Gattung  von  Verkehrsacten  ist  zwar  für  die  Höhe  des  Steuerfusses  nicht 
ohne  Bedeutung,  es  folgt  aber  hieraus  nicht,  dass,  wenn  einmal  bei  einem 
bestimmten  Objecte  die  Besitzveränderungen  rascher  aufeinander  folgen,  eine 
Ermässigung  für  die  späteren  einzutreten  habe.  Im  Gegentheile  lehrt  die  Erfahrung, 
dass  gerade  bei  der  einen  raschen  Besitzwechsel  erfordernden  Speculation 
in  Grundstücken  (Bauspeculation,  Güterzertrümmerung)  oft  sehr  bedeutende 
Gewinne  erzielt  werden,  die  eine  ausgiebige  Belastung  durch  die  Verkehrssteuer 
sehr  wohl  vertragen,  gegenwärtig  aber  durch  den  wie  eine  Prämie  wirkenden 
Gebürennachlass  noch  gesteigert  werden.  Hiezu  tritt  namentlich  bei  der  Bau- 
speculation noch  die  Anomalie,  dass  der  Staatsschatz  die  volle  Gebür  nur  von 
dem  ersten,  in  der  Regel  niedrigeren  Preise  (für  den  Baugrund),  dagegen  von 
dem  höheren  Preise  des  Wiederverkaufes  (für  den  Baugrund  sammt  Inädificat) 
nur  eine  stark  reducierte  Gebür  erhält. 

Auf  der  anderen  Seite  sehen  wir,  dass  diejenigen  Bevölkerungskreise,  welche 
an  der  Scholle  conservativ  festhalten,  insbesondere  die  bäuerliche  Bevöl- 
kerung, in  der  Regel  von  der  vollen  Immobiliargebür  getroffen  werden,  so  dass 
das  erhebliche  Opfer,  welches  dem  Staatsschatze  durch  den  Gebürennachlass 
auferlegt  ist,  dem  consolidierten  Realbesitze  nur  in  geringem  Maasse  und  als 
eine  Gunst  des  Zufalls  zukommt." 


*)  Aus  dem  allerunterthänigsten  Vortrage  des  Finanzministers  Freiherrn  v.  Kraus 
vom  27.  April  1850,  13.  Beilageheft  zum  allgemeinen  Reichsgesetz-  und  Regierungsblatte 
für  das  Kaiserthum  Oesterreich,  Jahrgang  1850. 


606 


Odkolek. 


Diese  Argumente  der  Eegierung  fanden  indessen  in  der  Oeffentlichkeit 
keine  widerspruchslose  Anerkennung ;  vielmehr  erstanden  der  Institution  des 
Gebürennachlasses  neue  Vertheidiger,  gerade,  als  dieselbe  am  6.  October  1899, 
als  dem  Tage,  an  welchem  die  kaiserliche  Verordnung  vom  16.  August  1899  in 
Wirksamkeit  trat,  zu  bestehen  aufgehört  hatte.  Ungefähr  gleichzeitig  machte  sich 
nämlich  in  Wien  und  in  anderen  grossen  Städten  des  Reiches  ein  Stocken  der 
Bauthätigkeit  bemerkbar,  als  dessen  alleinige  Ursache  man  vielfach  die  Aufhebung 
des  Gebürennachlasses  bezeichnen  hörte.  Nur  langsam  brach  sich  die  Erkenntnis 
Bahn,  dass  doch  mindestens  auch  andere  Gründe  für  das  Darniederliegen  des 
Baugeschäftes  vorhanden  sein  müssten,  zumal  die  Krise  sich  so  ziemlich  über 
ganz  Mitteleuropa  erstreckte,  so  dass  der  Beweis  geliefert  war,  dass  sie  durch 
niedrige  Sätze  der  Uebertragungsgebüren,  wie  in  Deutschland,  nicht  verhütet, 
somit  auch  durch  höhere  Sätze,  wie  sie  in  Ungarn  seit  längerem  bestehen,  nicht 
heraufbeschworen  wurde. 

Bei  dieser  Erkenntnis  verschlossen  sich  Regierung  und  Parlament  nicht  der 
Erwägung,  dass  das  zeitliche  Zusammentreffen  der  Aufhebung  des  Gebürennachlasses 
mit  dem  Ausbruche  der  Baukrise  eine  Verschärfung  dieser  letzteren  herbeigeführt 
haben  mag.  So  hob  denn  auch  der  Bericht  des  Gebürenausschusses  (662  der 
Beilagen  zu  den  stenographischen  Protokollen  des  Abgeordnetenhauses,  XVII.  Session, 
1901)  hervor,  dass  in  den  Städten  die  Bauunternehmung  und  der  Realitätenverkehr 
sich  ganz  eigenartige  Formen  geschaffen  haben,  die  in  der  gegenwärtigen  Gestaltung 
der  Verhältnisse  unentbehrlich  und  durch  die  Aufhebung  des  Gebürennachlasses 
thatsächlich  sehr  beeinträchtigt  worden  seien.  Der  Bericht  fährt  sodann  fort: 

„In  den  seltensten  Fällen  ist  es  heute,  namentlich  bei  grösseren  Bauten,  noch  der 
Besitzer  der  Baufläche  oder  eines  zum  Umbaue  bestimmten  Hauses,  welcher  einen  Neu- 
bau oder  Umbau  unternimmt,  sondern  es  schiebt  sich  als  Zwischenhand  zwischen  den  Besitzer 
der  Bauarea  und  dem  künftigen  Hausbesitzer  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes,  der  das 
Bauobject  zum  Zwecke  einer  dauernden  Capitalsanlage  erwerben  will,  entweder  ein  Bau- 
unternehmer oder  ein  Baumeister  ein,  welcher  die  Bauarea  erwirbt  und  den  Neu-  oder 
Umbau  sodaim  veräussert.  Diese  Verkehrsform  ist  heute  die  Regel  und  ist  unentbehrlich, 
da  das  Risico,  welches  mit  der  Errichtung  eines  Neu-  oder  Umbaues  unternommen  wird, 
von  dieser  Zwischenhand  in  der  Hoffnung  eines  Gewinnes,  der  im  Durchschnitte  im 
übrigen,  wenn  überhaupt,  nur  sehr  massig  auszufallen  pflegt,  getragen  wird.  Die  Ueber- 
tragungsgebür,  von  der  man  theoretisch  annahm,  dass  sie  den  jeweiligen  Käufer  treffe, 
ist  jedoch  bei  der  Erwerbung  eines  Neu-  und  Umbaues,  wie  wohl  auch  in  den  meisten 
linderen  Uebertragungsfällen  aui  den  Verkäufer  überwälzt  und  vermindert  derart  als  ein 
Theil  der  Productionskosten  den  Nutzen,  welchen  der  Bauherr  oder  Baumeister  als  Ver- 
käufer sonst  zu  erzielen  vermocht  hätte.  Der  Unterschied  zwischen  einer  Uebertragungs- 
gebür  von  1^/4  Proc.  bei  der  Veräusserung  einer  Realität,  die  nur  2  Jahre  im  Vorbesitze 
gewesen  ist,  nach  dem  früheren  Rechtszustande  und  zwischen  4  Proc.  nach  dem  durch 
die  kaiserliche  Verordnung  herbeigeführten  Rechtszustande  ist  ein  überaus  beträchtlicher, 
zehrt  oft  den  gesammten  Nutzen  auf  und  erklärt  auch  die  Thatsache  zur  Genüge,  dass 
angesichts  dieser  Saclilage  nicht  nur  die  Veräusserung  von  Neu-  unJ  Umbauten  wesentlich 
beeinträchtigt,  sondern  auch  das  Interesse  an  der  Unternehmung  solcher  Bauten  ausser- 
ordentlich gemindert  worden  ist.  Die  Rückwirkung  auf  die  gesammte  Lage  des  Bau- 
gewerbes in  den  Städten  und  der  vielen  Tausende  von  ihm  beschäftigten  Gewerbs-  und 
Arbeitsleute  ist  somit  vollkommen  erklärt. 

In  Berücksichtigung  dieser  Verhältnisse  wurde  daher  im  §  3  des  neuen 
Gesetzes    dem    Gebürennachlasse    auf   dem    Gebiete    des   Kealitätenverkehres    mit 


Die  österreichische  Gebürennovclle  vom  18.  Juni  1901.  607 

Neu-  und  Umbauten  wieder  zum  Eechte  verhelfen,  dergestalt,  dass  für  die  Ab- 
stossung  von  Neu-  und  Umbauten  statt  der  Sätze  von  3,  SVg  und  4  Proc. 
ermässigte  Sätze  von  2^^  und  3  Proc.  in  Geltung  traten,  wenn  die  zuletzt  voraus- 
gegangene Besitzübertragung  innerhalb  vier,  rücksichtlich  innerhalb  sechs  Jahren 
vorgefallen  ist.  In  diesen  Sätzen  ist  ein  nach  langwierigen,  mühevollen  Verhand- 
lungen zustande  gekommenes  Comproraiss  zwischen  den  noch  weiter  gehenden 
Anträgen  und  der  auf  budgetäre  Interessen  sich  berufenden  Eegierung  zu  erblicken. 
Es  kann  übrigens  hier  auch  die  Bemerkung  nicht  unterdrückt  werden,  dass, 
soweit  die  bisherigen  Erfahrungen  reichen,  die  Erwartungen  einer  Wiederbelebung 
des  Bauwesens,  welche  sich  an  die  Ermässigung  der  Gebürensätze  knüpften,  zu- 
nächst nur  in  einem  bescheidenen  Umfange  in  Erfüllung  gegangen  sind. 
Im  Laufe  der  parlamentarischen  Verhandlungen  trat  indessen  eine  starke 
Strömung  für  die  Eestitution  des  Gebürennachlasses  nach  der  Vorbesitzdauer  im 
allgemeinen  hervor.  Soweit  nun  diese  Strömung  nicht  die  mit  der  Bauthätigkeit 
zusammenhängenden  Uebertragungen  betraf,  sondern  auch  den  sogenannten  con- 
solidierten  Hausbesitz  erfasste,  erschien  ihre  Berechtigung  weniger  ausgemacht. 
Das  Leitmotiv  aller  bezüglichen  Kundgebungen  der  Hausbesitzervereine  u.  s.  w. 
bildete  meist  der  Hinweis  auf  die  ohnehin  grosse  Belastung  des  Realitätenbesitzes 
mit  staatlichen  Abgaben  im  allgemeinen,  welchen  durch  die  Erhöhung  der  üeber- 
tragungsgebüren  eine  neue  hinzugefügt  worden  sei.  Fasst  man  aber  die  Verhält- 
nisse des  consolidierten  Hausbesitzes  schärfer  ins  Auge,  so  zeigt  sich,  dass  die 
Aufhebung  des  Gebürennachlasses  gerade  diesen  Interessentenkreis,  wenn  überhaupt, 
so  doch  nur  in  entfernterer  Weise  berührt.  Zunächst  kommt  nämlich  in  Betracht, 
dass  die  Uebertragungsgebür  nicht  etwa  gleich  der  Grund-  und  der  Gebäude- 
steuer eine  laufende  Belastung  des  Eealitätenbesitzes  bildet,  sondern  nur  im 
Falle  der  Veräusserung  der  Eoalität  zur  Erhebung  gelangt,  welche  bei  Ueber- 
tragungen unter  Lebenden  doch  regelmässig  in  die  Willkür  des  Veräusserers  gestellt 
ist.  Gerade  die  leichte  Veräusserlichkeit  der  Eealitäten,  der  rasche  Besitzwechsel, 
kann  an  sich  kaum  als  ein  Interesse  des  consolidierten  Hausbesitzes  bezeichnet 
werden,  der  andernfalls  mit  sich  selbst  in  Widerspruch  käme.  Nun  kann  vielleicht 
gesagt  werden,  dass  der  Besitz  von  Grund  und  Boden  eine  Capitalsanlagfe  bilde 
und  dass  es  dem  Eigenthümer  nicht  gleichgiltig  sein  könne,  wenn  durch  hohe, 
Uebertragungsgebüren  die  Eealitätenpreise  in  die  Höhe  getrieben  und  dadurch 
die  Abstossung  seines  Eealbesitzes,  zu  der  er  sich  auch  aus  anderen  als  specu- 
lativen  Gründen  genöthigt  sehen  kann,  gehindert  oder  doch  erschwert  wird.  Aber 
einmal  ist  zu  bedenken,  dass  bei  Objecten  grösseren  Wertes,  um  die  es  sich 
hier  zunächst  handelt,  die  Spannung  zwischen  dem  geforderten  und  dem  ange- 
botenen Kaufpreise  in  der  Eegel  eine  so  bedeutende  ist,  dass  darin  die  Ueber- 
tragungsgebür bequem  Eaum  findet;  sodann  aber  ist  auch  in  Betracht  zu  ziehen, 
dass  für  den  „consolidierten  Hausbesitz",  bei  welchem  doch  meist  eine  mehr 
als  zehnjährige  Besitzdauer  angenommen  werden  kann,  durch  die  neuen  Immo- 
biliargebüren  gegenüber  den  alten  Sätzen  überhaupt  keine  Erhöhung,  sondern 
im  Gegentheile  eine  kleine  Ermässigung  eingetreten  ist,  indem  für  solche  Ueber- 
tragungen früher  der  volle  Satz  von  8Y2  Proc.  sammt  25  Proc.  Zuschlag  = 
4'375  Proc.  galt,   gegenwärtig  aber  bloss   4  Proc.  zu  entrichten   sind.    Insofern 


608  Odkolek. 

aber  ein  Hausbesitzer  vor  zehn  Jahren  in  die  Lage  kommt,  seine  Eealität  zu 
veräussern,  ist  freilich  der  neue  Maximalsatz  von  4  Proc.  höher  als  die  alten 
nach  der  Vorbesitzdauer  abgestuften  Sätze  von  3*75,  3-125,  2*5,  1'875  und 
1*25  Proc,  wobei  aber,  wie  ersichtlich,  die  Differenz  bei  einem  Vorbesitze  von 
acht  bis  zehn  oder  sechs  bis  acht  Jahren  keine  sehr  bedeutende  ist.  Wohl  konnte 
unter  der  Herrschaft  der  kaiserlichen  Verordnung  auch  der  consolidierte.  zehn 
Jahre  überschreitende  Hausbesitz  sich  dann  beschwert  fühlen,  wenn  ein  Haus 
an  einen  Baumeister  oder  Bauunternehmer  zum  Zwecke  des  Umbaues  verkauft 
werden  sollte.  In  diesem  Falle  lag  es  nämlich  nahe,  dass  der  Baumeister  oder 
Bauunternehmer  schon  bei  Bestimmung  des  Kaufpreises  für  das  abzubrechende 
Haus  die  höhere  Gebür  für  den  Weiterverkauf  in  Anschlag  brachte  und  dem- 
gemäss  sein  Anbot  reducierte.  Durch  die  im  §  3  des  neuen  Gesetzes  gewährten 
Ermässigungen  für  Uebertragung  von  Neu-  und  Umbauten  erscheint  aber  auch 
dieser  Klage  grösstentheils  der  Boden  entzogen.  Und  so  erübrigt  denn  nur  die 
eigentliche  Häuser-  und  Bodenspeculation,  namentlich  auch  der  Handel  mit  Bau- 
stellen, welche  —  vielleicht  nicht  zum  Schaden  der  Volkswirtschaft  —  durch 
die  neuen  Immobiliargebüren  hemmend  beeinflusst  werden. 

Indem  wir  von  dem  Gebürennachlasse  Abschied  nehmen,  müssen  wir  con- 
statieren,  dass  derselbe  in  der  finanzwissenschaftlichen  Literatur,  soweit  uns  bekannt 
ist,  kaum  einen  einzigen  Fürsprecher  findet.^)  Wagner  bekennt  sich  als  sein 
Gegner-),  und  Schaff le  a.  a.  0.  S.  408  meint,  es  werde  sich  für  denselben  nach 
seiner  Auffassung  der  Verkehrssteuern  Stichhältiges  kaum  beibringen  lassen.  Auf 
der  anderen  Seite  darf  nicht  verschwiegen  werden,  dass  sich  noch  neuestens  in 
der  österreichischen  Eeichsvertretung  ernste  Stimmen  für  dessen  Beibehaltung  erhoben. 

Kehren  wir  nun  zum  Staffeltarife  der  §§  1  und  2  des  neuen  Gesetzes 
zurück,  so  finden  wir,  dass  derselbe  progressiv,  oder  vielleicht  zutreffender 
gesagt,  degressiv  aufgebaut  ist,  indem  die  Procentsätze  der  Abgabe  mit  der 
Höhe  des  übertragenen  Wertes  ansteigen,  oder  unter  dem  Gesichtspunkte  der 
Degression  gesprochen,  mit  dem  bezeichneten  Werte  fallen.  Wir  stossen  hier 
auf  die  Principienfrage,  ob  denn  überhaupt  wirtschaftliche,  aber  auch  wohl- 
verstandene fiscalische  Interessen  eine  progressive  Gestaltung  der  Immobiliar- 
umsatzsteuern  rationell  erscheinen  lassen.  Die  ausländische  Gesetzgebung  kennt, 
soweit  uns  bekannt,  die  Progression  auf  diesem  Gebiete  nicht,  soweit  man  nicht 
etwa  die  Freilassung  ganz  geringer  Werte  (z.  B,  in  Preussen  150  M.)  als 
solche  ansehen  möchte.  Zwar  wird  neuestens  bei  den  Einkommensteuern  die 
Berechtigung  der  Progression  zumeist  für  ausgemacht  gehalten;  auch  die  pro- 
gressive Erbschaftssteuer  wird  vielfach  gefordert,  doch  besteht  diesfalls  noch  ein 
tiefgehender  Zwiespalt  der  Meinungen,  ob  progressiv  nach  der  Gesammtheit  der 
Erbschaft  (Massensteuer)  oder  nach  der  einzelnen  Erbportion  (Anfallssteuer),  und 
überdies  ergibt  sich  hier  die  Frage,  ob  nicht  bei  Erstellung  der  Progression  auf 
die  bisherige  ökonomische  Lage  des  Erben  Eücksicht  genommen  werden  müsste. 


I 
I 


^)  In  den  auswärtigen  Gesetzgebungen  finden  wir  den  Gebür^nnachlass  einzig  und 
allein  in  Italien,  wo  bei  Uebertragungeri  innerhalb  zwei  Jahren  eine  Ermässigung  der 
Gebür  von  4*8  auf  3-6  Proc.  eintritt. 

^)  Die  Communalsteuerfrage.  Leipzig  und  Heidelberg,  1878,  S.  40. 


Die  österreichische  Gebürennovelle  vom  18.  Juni  1901.  609 

Letzteres  Bedenken  gegen  die  Progression  besteht  auch  bezüglich  der  Immobiliar- 
gebüren;  ferner  kann  auch  eingewendet  werden,  dass  hier  die  Yeranlagung  nach 
dem  Bruttowerte  platzgreift  und  somit  die  subjective  Steuerkraft  doch  nur  in 
recht  verschleierter  Form  zutage  tritt.  Anderseits  aber  ist  nicht  zu  leugnen, 
dass  Uebertragungen  höherer  Werte  ungeachtet  einer  starken  hypothekarischen 
Belastung  denn  doch  regelmässig  einen  gewissen  Kückschluss  auf  die  höhere 
Steuerkraft  der  betheiligten  Individuen  gestatten.  Die  starken  Bedenken,  welche 
einer  progressiven  Gestaltung  der  Immobiliargebüren  entgegenstehen,  bildeten 
denn  auch  die  Veranlassung,  dass  in  dem  neuen  österreichischen  Tarife,  wie 
schon  erwähnt,  nicht  eigentlich  das  Princip  der  Progression,  sondern  jenes  der 
Degression  zum  Ausdrucke  gelangt.  Die  Degression  ist  dahin  zu  verstehen,  dass 
z.  B.  bei  den  nach  §  1,  Z.  3,  zu  behandelnden  entgeltlichen  Uebertragungen 
der  Satz  von  4  Proc.  als  der  normale  zu  betrachten  ist,  welcher  sich  bei  einem 
Werte  zwischen  10.000  und  40.000  K  auf  3^2  Proc.  und  bei  einem  Werte 
bis  10.000  K  auf  3  Proc.  ermässigt.  Freilich  könnte  auch  gegen  die  De- 
gression im  §  1  eingewendet  werden,  dass  die  hiernach  milder  zu  behandelnden 
Uebertragungen  zumeist  minderen  Wertes  in  die  Kategorie  der  bäuerlichen  und 
kleinbürgerlichen  Uebertragungen  fallen,  welchen  durch  die  Bestimmungen  des 
§  2  ohnedies  hinlängliche  Berücksichtigung  zutheil  geworden  ist.  Allein  dem  sei 
nun  wie  immer:  Thatsache  ist,  dass  die  Gebürennovelle  gerade  im  Punkte  der 
Abstufung  der  Sätze  nach  Wertclassen  mit  Beifall  begrüsst  worden  ist,  und  dass 
sich  kaum  eine  Stimme  des  Tadels  dagegen  erhoben  hat. 

Wenn  wir  uns  nun  den  Begünstigungen  für  Uebertragungen  bäuerlichen 
und  kleinbürgerlichen  Besitzes  zuwenden,  welche  der  §  2  normiert,  so 
berühren  wir  damit  einen  Angelpunkt  der  ganzen  Eeforin.  Lange  schon  war  in 
den  Vertretungskörpern  Oesterreichs  dem  Bedürfnisse  nach  diesen  Erleichterungen 
Ausdruck  gegeben  worden,  und  die  Novelle  vom  31.  März  1890,  durch  welche 
dieselben  zunächst  für  solche  Uebertragungen  in  der  directen  Verwandtschaftslinie 
und  zwischen  Ehegatten  eingeführt  wurden,  dankt  einem  Initiativantrage  des  Ab- 
geordneten von  Chamiec  und  Genossen  ihr  Entstehen.-^)  Bereits  in  den  parlamen- 
tarischen Debatten  über  diese  Novelle  wurden  aber  die  zugestandenen  Erleichte- 
rungen von  manchen  Seiten  als  unzulängliche  bezeichnet,  und  fort  und  fort  und 
immer  entschiedener  trat  seither  im  Abgeordnetenhause  das  Verlangen  nach  einer 
Erweiterung  derselben  hervor.  Als  Frucht  dieser  Bestrebungen  ist  nunmehr,  neben 
anderen  gleichfalls  dem  Bauernstande  zustatten  kommenden  Bestimmungen  des 
neuen  Gesetzes,  der  §  2  zu  betrachten,  auf  dessen  im  Anhange  abgedruckten 
Wortlaut  wir  hiermit  verweisen.  Nur  soviel  sei  hier  hervorgehoben,  dass  erstens 
die  schon  durch  das  vorerwähnte  Gesetz  ex  1890  gewährten  Begünstigungen 
für  Uebertragungen  in  der  directen  Linie  und  zwischen  Ehegatten  durch  Erhöhung 
der  Wertgrenzen,  bis  zu  welchen  die  Begünstigung  stattfindet,  in  ausgiebigster 
Weise  erweitert  wurden;  zweitens,  dass  auch  Uebertragungen  bäuerlicher  und 
kleinbürgerlicher  Kealitäten  zwischen  anderen  als  den  vorgenannten  Personen  in 
den  Kreis    der  Begünstigungen    einbezogen    worden    sind;    und    endlich  drittens, 

*)  Der  resultierende  Ausfall  wurde  damals  mit  ungefähr  Tl  Millionen  Gulden 
berechnet. 


610  Odkolek. 

dass  die  Bestimm iingen  über  die  WertveranscWagung  der  Ausgedinge,  welche 
seit  jeher  von  der  Bauernschaft  als  ganz  besonders  drückende  Last  empfunden 
wurden,  eine  erhebliche  Milderung  erfahren  haben. 

"Wenn  nun  auch  —  freilich  vereinzelt  —  noch  weitergehende  Desiderien 
aus  den  Kreisen  der  bäuerlichen  Bevölkerung  laut  geworden  sind,  wenn  ins- 
besondere eine  Erhöhung  der  begünstigten  Wertgrenzen  oder  die  Zulassung  des 
Abzuges  der  Hypothekarlasten  angeregt  worden  ist,  so  muss  doch  constatiert 
werden,  dass  die  auf  diesem  Gebiete  einem  wichtigen  producierenden  Stande 
gebotenen  Erleichterungen,  aber  auch  die  dem  Staatsschatze  damit  auferlegten 
schweren  Opfer,  diesmal  eine  gerechte  Würdigung  ihrer  Tragweite  gefanden  haben. 

Einiges  Interesse  dürfte  die  Thatsache  beanspruchen,  dass  auf  dem  euro- 
päischen Continent,  abgesehen  von  Oesterreich,  nur  in  ßussland  zufolge  De- 
cretes  des  Eeichsrathes  vom  10.  April  1895  derartige  Sonderbegünstigungen 
hinsichtlich  der  Uebertragungsgebüren,  und  zwar  für  alle  nicht  städtischen  Kea- 
litäten,   sohin  mit  ausgesprochen  agrarischem  Charakter  bestehen.^) 

Noch  ein  weiterer  Grundsatz  des  österreichischen  Gebürenwesens  ist  im 
neuen  Gesetze  beibehalten  worden,  nämlich  der,  dass  bei  unentgeltlichen  Ueber- 
tragungen  unbeweglicher  Sachen  die  Immobiliargebür  vom  Bruttowerte  neben  der 
Bereicherungsgebür  vom  Keinwerte  zu  entrichten  ist.  Gegen  eine  solche  „Zusatz- 
gebür"  ist  eingewendet  worden,  dass  sich  dieselbe  als  eine  Doppelbesteuerung 
der  üebertragungen  unbeweglicher  Güter  darstelle.  Dem  ist  aber  nicht  so,  vielmehr 
drückt  sich  in  der  „Zusatzgebür"  nur  ein  höherer  Steuerfuss  aus,  der  auf  dem 
ganz  richtigen  Gedanken  beruht,  dass  die  Uebertragung  unbeweglichen  Vermögens 
durch  Schenkung  oder  Erbgang  im  einzelnen  Falle  einer  höheren  Belastung 
als  jene  des  beweglichen  Vermögens  fähig  ist.  Zunächst  ist  nämlich  ein  bedeutender 
Unterschied,  ob  jemand  unbewegliches,  somit  in  seinem  Ertrage  wohl  fundiertes 
Vermögen,  oder  anderweitiges  Gut  erwirbt;  auch  ist  zu  bedenken,  dass  derjenige, 
der  etwa  im  Erbwege  oder  durch  Schenkung  bewegliches  Vermögen  erwirbt, 
insofern  er  dasselbe  zur  Capitalsanlage  in  unbeweglichen  Gütern  verwenden 
wollte,  nachträglich  doch  die  Immobiliargebür  bezahlen  müsste,  dass  somit  deren 
Application  gerechtfertigt  erscheint,  insoferne  Erbschaft  oder  Schenkung  selbst 
schon  unbewegliches  Gut  zum  Gegenstande  haben.^)  Uebrigens  ist  zu  constatieren, 


^)  Siehe  die  Broschüre:  „Die  russischen  Gesetze  über  Erbschaftssteut-r,  Inimo- 
biliarübertragurgs-  und  Kanzleigebliren",  Wien,  1899,  S.  58. 

2)  lieber  die  Berechtigung  einer  besonderen  Zusatzgebiir  äussert  sich  Schall,  in 
Schönberg,  1897,  III.,  1,  S.  718,  in  folgender  bemerkenswerter  Weise:  „Die  Beschränkung 
der  Liegenschaftsabgabe  auf  ßesitzveränderungen  infolge  von  Kauf-  und  Tauschverträgen, 
wie  sie  bisweilen  getroffen  wird,  führt  zur  stärkeren  Belastung  des  inobilisierteren 
städtischen  Grundbesitzes  gegenüber  dem  ländlichen  und  begünstigt  gerade  die  steuer- 
fähigsten Besitzer,  welche  ihren  Besitz  Generationen  hindurch  festzuhalten  vermögen. 
Die  Ausdehnung  der  Liegenschaftsabgabe,  wo  sie  einmal  besteht,  auf  alle  Besitzver- 
änderungen ist  daher  eine  Forderung  der  Gerechtigkeit  und  gestattet  überdies  bei  gleicher 
Höhe  der  Gesammtsteuerlast,  dieselbe  durch  Vertheilung  auf  den  gesamraten  Liegen- 
schaftsverkehr für  die  einzelnen  Steuerpflichtigeu  zu  erleichtern.  Die  Liegenschaftsabgabe 
von  Besitzveränderungeu  infolge  von  Erbschaften,  Vermächtnissen  oder  Schenkungen  für 
den    Todesfall,    sowie    bei    der    Succession   in    Lehen,  Familienfideicommisse,  Majorate 


Die  österreichische  Gebürennovelle  vom  18.  Juni  1901.  611 

dass  das  Institut  der  „Zusatzgebür"  im  vorbesprochenen  Sinne  auch  in  Baiern 
unter  dem  Namen  „Besitzveränderungsgebür"  anzutreffen  ist.  Preussen  erhebt  in 
Erb-  und  Schenkungsfällen  neben  der  Erbschaft^rsteuer  bei  Immobilien  keine  ver- 
hältnismässige Gebür.^) 

Wenig  rationell,  namentlich  bei  unentgeltlichen  Ueb ertragungen,  erscheint 
dem  Unkundigen  auf  den  ersten  Blick  auch  die  schon  flüchtig  erwähnte  Ein- 
richtung, dass  die  Immobiliargebüren  stets  nach  dem  B  rutt  o  w  e  r  t  e,  also  ohne 
Abzug  der  auf  dem  Immobile  haftenden  Lasten,  zu  bemessen  sind.  Doch  ist  es 
auch  hier  die  Betrachtung  des  Unterschiedes  im  Wesen  der  Bereicherungsgebür 
und  der  Immobiliargebür,  was  die  Sache  verständlich  macht.  Bei  der  Bereicherungs- 
gebür ergibt  sich  der  Lastenabzug  aus  deren  Natur;  anders  bei  der  Immobiliar- 
gebür als  Umsatzsteuer  und  Objectsabgabe,  welche  ja  den  Verkehrsgegenstand 
in  seiner  Gänze,  also  auch  in  seinem  belasteten  Theile,  zu  treffen  hat;  auch  ist 
zu  erwägen,  dass  anderenfalls  bei  belasteten  Kealitäten  im  Falle  nachträglicher 
Abstossung  der  I^assiven  von  der  bezüglichen  Wertsquote  die  Immobiliargebür 
nachgefordert  werden  müsste,  um  die  steuerliche  Gleichheit  mit  nicht  belasteten 
Liegenschaften  herzustellen.  Abermals  ist  es  Russland,  w^elches  von  dem  allent- 
halben herrschenden  Grundsatze  der  Bemessung  der  Immobiliargebür  vom  Brutto- 
werte abgewichen  ist,  indem  es  bei  entgeltlichen  Uebertragungen  den  Abzug 
der  Hypothekarlasten  zulässt,  doch  nur  insoweit,  als  der  Gläubiger  ein  autori- 
siertes Creditinstitut  ist. 

c)  Statistik. 

Es  sei  nun  gestattet,  die  finanzielle  Tragweite  der  Eeform  an  der  Hand 
des  der  Eegierungsvorlage  (211  der  Beilagen  zu  dem  stenographischen  Protokoll 
des  Abgeordnetenhauses,  XV.  Session,  1898)  angeschlossenen  statistischen  Materiales 
in  Kürze  zu  beleuchten.  Wenn  auch  die  diesfälligen  Ziffern  über  den  statt- 
gehabten Eealverkehr  und  die  davon  bemessenen  Uebertragungsgebüren  ins- 
gesammt  das  Jahr  1896,  somit  eine  fünf  Jahre  zurückliegende  Periode  betreffen, 
so  beanspruchen  dieselben  doch  auch  gegenwärtig  noch  actuelles  Interesse,  da 
wohl  die  Höhe  der  einzelnen  Ansätze  gestiegen,  ihr  gegenseitiges  Verhältnis 
aber  unverändert  geblieben  ist.  Von  den  für  unseren  Zweck  zunächst  in  Betracht 
•kommenden  Tabellen  I  bis  VI  über  den  gebürenpflichtigen  Immobiliarverkehr  in 
den  Eeichsrathsländern  während  des  Jahres  1896  bringen  jene  sub  I  bis  III 
den  Verkehr  gesondert  nach  Ländern,  jene  sub  IV  bis  VI  gesondert  nach  Wert- 
grenzen zur  Darstellung.  Die  Tabellen  I  und  IV  betreffen  speciell  den  Verkehr 
unter  Lebenden,  jene  sub  II  und  V  den  Verkehr  von  todeswegen,  und  erscheint 
sodann  in  der  Tabelle  III  der  Gesammtverkehr  unter  Lebenden  und  von  todes- 
wegen nach  Ländern,  in  der  Tabelle  VI  der  Gesammtverkehr  unter  Lebenden  und 


Stamm-  oder  Erbgüter  ist  durch  eine  besondere  Erbschaftssteuer  nicht  ausgeschlossen 
weil  neben  der  Erhebung  einer  Steuer  von  der  subjectiven  Bereicherung  in  der  Form 
einer  Erbschaftssteuer  auch  die  nachholende  Erhebung  einer  Steuer  vom  objectiven 
Wertzuwachs  der  übergegangenen  Liegenschaften,  sowie  zum  Zwecke  der  stärkeren  Be- 
lastung des  Ueberganges  von  in  Liegenschaften  fundiertem  Vermögen  zulässig  erscheint." 
*)  H  e  i  n  i  t  z,  Commentar  zumpreussischen  Stempelsteuergesetz,  Berlin,  1896,  S.  179. 


612  Odkolek. 

von  todeswegen  nach  Wertgrenzen  zusammengefasst.  Daneben  sind  alle  diese  Ta- 
bellen so  eingerichtet,  dass  ans  ihnen  die  Anzahl  der  Uebertragungsfälle,  der  der 
Immobiliargebür  unterzogene  Realwert,  das  jeweils  zur  Anwendung  gebrachte  G-ebüren- 
ausmaass,  endlich  die  bemessenen  Abgabenbeträge  ersehen  werden  können.  Wir 
wollen  aus  diesen  Tabellen  einige  der  interessantesten  Daten  hervorheben. 

Nach  der  Tabelle  I  wurden  im  Jahre  1896  insgesammt  Realitäten  im  Werte 
von  570,873.659  fl.  durch  gebürenpflichtige  Rechtsgeschäfte  unter  Lebenden  über- 
tragen; die  Anzahl  der  Uebertragungsfälle  betrug  380.087,  der  zur  Vorschreibung 
gelangte  Gebürenbetrag  15,432.924  fl.  Von  diesen  drei  Ziffern  entfallen  auf 
Niederösterreich  25.853  Uebertragungsfälle  mit  einem  gebürenpflichtigen  Realwerte 
von  157,023.827  fl.  und  einer  bemessenen  Gebür  von  4,084.635  fl.;  auf  Böhmen 
66.858  Uebertragungsfälle  mit  einem  gebürenpflichtigen  Realwerte  von 
160,446.032  fl.  und  einer  bemessenen  Gebür  per  4,409.034  fl.;  auf  Galizien 
101.168  Uebertragungsfälle  mit  einem  gebürenpflichtigen  Werte  von  65,767.229  fl. 
und  einer  bemessenen  Gebür  von  1,956.129  fl.  Es  ergibt  sich  auch  aus  dieser 
Tabelle,  dass  von  dem  gebürenpflichtigen  Gesammtwerte  per  rund  570  Mill.  Gulden 
249  Mill.,  also  etwas  weniger  als  die  Hälfte  dem  vollen  Satze  der  Immobiliar- 
gebür, d.  i.  ohne  „Gebürennachlass"  unterzogen  worden  sind. 

Tabelle  II  zeigt  uns,  dass  im  Jahre  1896  von  todeswegen  Realitäten  im 
Gesammtwerte  von  178,310.815  fl.  gebürenpflichtig  übertragen  worden  sind, 
welcher  Gesammtwert  sich  auf  67.989  Uebertragungsfälle  vertheilt  und  wovon 
3,296.839  fl.  an  Immobiliargebüren  bemessen  worden  sind.  Hiervon  entfiel  auf 
Niederösterreich  ein  gebürenpflichtiger  Realwert  von  50,085.312  fl.  mit  6329  Ueber- 
tragungsfällen  und  ein  Gebürenbetrag  von  872.125  fl.;  auf  Böhmen  ein  Realwert 
von  47,295.438  fl.  mit  14.553  Uebertragungsfällen  und  ein  Gebürenbetrag  von 
948.313  fl.;  auf  Galizien  ein  Realwert  von  18,761.351  fl.  mit  18.716  Ueber- 
tragungsfällen und  einem  Gebürenbetrage  von  320.619  fl.  u,  s.  f.  Auch  kann 
dieser  Tabelle  entnommen  werden,  dass  von  ungefähr  137,000.000  fl.  Realwert, 
also  von  circa  drei  Vierteln  des  Gesammtwertes  die  Gebür  im  vollen  Ausmaasse 
ohne  Berücksichtigung  des  Gebürennachlasses  vorgeschrieben  worden  ist.  Während 
also,  wie  wir  bei  Besprechung  der  Tabelle  I  gesehen  haben,  bei  den  Uebertragungen 
unter  Lebenden  mehr  als  die  Hälfte  des  übertragenen  Realwertes  des  Gebüren- 
nachlasses theilhaftig  wurde,  kam  er  bei  den  Uebertragungen  von  todeswegen 
nur  etwa  einem  Viertel  des  übertragenen  Wertes  zustatten. 

Aus  Tabelle  III,  welche  die  Daten  der  Tabellen  I  und  II  zusammenfasst, 
ergibt  sich  nun,  dass  der  gebürenpflichtige  Immobiliargesammtverkehr  (unter 
Lebenden  und  von  todeswegen)  einen  Umsatzwert  von  749,184.474  fl.  erreichte, 
die  Anzahl  der  Uebertragungsfälle  aller  Kategorien  in  der  gleichen  Periode  398.076 
betrug  und  hiervon  zu  Gunsten  des  Staatsschatzes  18,729.763  fl.^)  an  Immobiliar- 
gebür vorgeschrieben  wurden. 

Die  Tabellen  IV,  V  und  VI,  welche,  wie  schon  erwähnt,  den  Immobiliar- 
verkehr  des  Jahres  1896  nach  Wertgrenzen  zur  Anschauung  bringen,  sind  derart 


^)  Mit    dieser  Ziffer   hatte  also    die  Regierung  zu  rechnen,  indem  sie  an  die  Er- 
stellung der  neuen  Tarifsätze  schritt. 


Die  österreichische  Gebürennovelle  vom  18.  Juni  1901.  613 

eingerichtet,  dass  daraus  die  auf  die  einzelnen  Wertg-renzen  entfallende  Anzahl 
der  Uebertragungsfälle,  desgleichen  die  gebürenpfiichtigen  Werte,  die  angewendeten 
Gebürensätze  und  die  bemessenen  Gebüren,  alles  dies  gleichfalls  nach  Wert- 
grenzen geordnet,  ersehen  werden  können.  Ueberdies  wird  in  diesen  drei  Tabellen 
der  Immobiliarverkehr  zwischen  Eltern,  Kindern,  Ehegatten  etc.  und  jenem  zwischen 
anderen  Personen  gesondert  zur  Darstellung  gebracht.  Nachstehende  Ziffern  aus 
diesen  Tabellen  dürften  von  Interesse  sein. 

Laut  Tabelle  IV  (Immobiliarverkehr  pro  1896  unter  Lebenden  s.  oben 
Tabelle  I)  entfallen  auf  den  Verkehr  zwischen  Eltern  und  Kindern,  Ehegatten  etc. 
49.169  Uebertragungsfälle  mit  einem  der  Immobiliargebür  unterzogenen  Real- 
werte von  104,183.219  fl.  und  einem  Gesammtbetrage  an  bemessenen  Gebüren 
per  1,845.506  fl.  Auf  die  Wertgrenze  bis  1000  fl.  kommen  in  dieser  Gruppe 
27,220  Uebertragungsfälle  mit  einem  Immobiliarwerte  von  zusammen  10,835.941  fl. 
und  einer  bemessenen  Gebür  per  172.555  fl.  Dagegen  gab  es  in  der  Wertgrenze 
über  100.000  fl.  nur  32  Uebertragungsfälle  mit  einem  Immobiliarwerte  von 
5,947.932  fl.  und  einer  Gebürenvorschreibung  per  123.372  fl.  Im  Immobiliar- 
verkehre  unter  Lebenden  zwischen  anderen  Personen  als  Eltern  und  Kindern, 
Ehegatten  etc.  ereigneten  sich  280.918  Uebertragungsfälle  mit  einem  Immobiliar- 
gesammtwerte  von  466,690.440fl.  und  einer  Gebürenvorschreibung  per  13,587.41 8  fl. 
Hiervon  hielten  sich  in  der  Wertgrenze  unter  1000  fl.  229.954  Uebertragungs- 
fälle mit  einem  gebürenpfiichtigen  Werte  von  52,499.502  fl.  und  einer  Gebüren- 
vorschreibung per  1,821.618  fl.  In  der  Wertgrenze  über  100.000  fl.  lagen 
435  Uebertragungsfälle  im  Gesammtwerte  von  100,529.367  fl.,  wovon  zusammen 
2,746.448  fl.  an  Immobiliargebür  vorgeschrieben  wurden.  Hier  tritt  auch  recht 
augenfällig  die  Thatsache  hervor,  dass  der  Gebürennachlass  nach  der  Vorbesitzdauer 
weniger  den  kleineren  Umsätzen,  sondern  hauptsächlich  den  Uebertragungen  hoch- 
bewerteter Realitäten  zugute  kam.  So  wurde  z.  B.  von  dem  in  der  Wertgrenzo 
bis  1000  fl.  liegenden  Realwerte  per  52,499.502  fl.  die  Gebür  ungefähr  bezüglich 
drei  Fünftel  im  vollen  Ausmaasse  vorgeschrieben  und  nur  hinsichtlich  zwei 
Fünftel  der  Gebürennachlass  gewährt.  Dagegen  traf  in  der  Wertgrenze  über 
100.000  fl.  bei  einem  Realwerte  von  100,529.367  fl.  nur  auf  weniger  als  ein 
Drittel  die  volle  Gebür,  während  bezüglich  mehr  als  zwei  Dritteln  dieses  Wertes 
der  Gebürennachlass  zugestanden  werden  musste. 

Der  Tabelle  V  über  den  gebürenpflichtigen  Immobiliarverkehr  von  todos- 
wegen  entnehmen  wir,  dass  derselbe,  soweit  er  sich  zwischen  Eltern  und  Kindern, 
Ehegatten  etc.  abspielte,  im  Jahre  1896  eine  Anzahl  von  50.340  Uebertragungs- 
fälle im  Gesammtwerte  von  154,445.461  fl.  umfasste,  wovon  an  Immobiliargebür 
ein  Gesammtbetrag  von  2,655.239  fl.  bemessen  wurde.  Auf  die  Wertgrenze  bis 
1000  fl.  entfielen  28.356  Uebertragungen  im  Werte  von  11,908.598  fl.  und 
eine  Gebür  von  184,599  fl.,  auf  die  Wertgrenze  über  100.000  fl.  dagegen 
137  Fälle  mit  43,834,999  fl,  Wert  und  735,329  fi,  Gebür.  Der  Immobiliar- 
verkehr pro  1896  zwischen  anderen  Personen  als  Eltern,  Kindern,  Ehegatten  etc. 
weist  auf  17,649  Uebertragungsfälle  mit  einem  gebürenpflichtigen  Gesammtwerte 
von  23,865.354  fl.  und  einer  Vorschreibung  von  641.599  fl.  an  Immobiliargebür, 
Hiervon    lagen  in    der  Wertgrenze    bis    1000  fl.    13.438    Uebertragungsfälle    im 


GU  Odkolek. 

Werte  von  zusammen  2,462.130  fl.  und  67.386  fl.  Gebür  und  in  der  Wertgrenze 
über  100.000  fl.  bloss  25  Fälle  im  Gesammtwerte  von  5,247.767  fl.  und  1 18.078  fl. 
Gebür.  Was  den  „Gebürennachlass"  bei  den  in  dieser  Tabelle  ausgewiesenen 
Uebertragungen  anbelangt,  so  ergibt  sich,  dass  derselbe  im  Verkehre  zwischen 
Eltern  und  Kindern  bei  einem  Gesammtwerte  von  154,445.461  fl.  nur  rück- 
sichtlich  eines  Betrages  von  ungefähr  34  Mill.  Gulden,  somit  bei  weniger  als 
einem  Viertel  angewendet,  von  dem  Eeste  hingegen  per  rund  120  Mill.  Gulden 
die  Gebür  im  vollen  Ausmaasse  vorgeschrieben  wurde.  Aehnlich  verhält  es  sich  beim 
Immobiliarverkehre  zwischen  anderen  Personen,  wo  bei  einem  Gesammtwerte  der 
Uebertragungen  per  23,865.354  fl.  nur  etwa  6  Mill.  Gulden  des  Gebüren- 
nachlasses  theilhaftig  wurden.  Es  ergibt  sich  aus  diesen  Ziffern,  dass  der  Gebüren- 
nachlass nach  der  Vorbesitzdauer  bei  unentgeltlichen  Uebertragungen  überhaupt 
von  geringerer  finanzieller  Bedeutung  war. 

Tabelle  VI,  welche  nur  eine  Zusammenfassung  der  Ziffern  aus  Tabelle  IV 
und  V  darstellt,  ergibt  für  den  Immobiliarverkehr  unter  Lebenden  und  von 
todeswegen  im  Verkehre  zwischen  Eltern  und  Kindern,  Ehegatten  etc.  eine 
Gesammtzahl  von  99.509  Uebertragungen,  einen  Umsatzwert  von  258,628.680  fl. 
und  eine  Gebürenziffer  von  4,500.746  fl. ;  im  Verkehre  zwischen  anderen  Personen 
eine  Gesammtzahl  von  298.567  Uebertragungen,  einen  Umsatzwert  von 
490,555.794  fl.  und  eine  Gesammtvorschreibung  an  Immobiliargebüren  per 
14,229.017  fl. 

Wenn  wir  uns  nunmehr  der  Besprechung  der  Tabelle  VII  zuwenden,  welche 
nach  Art  einer  Bilanz  die  Wirkung  der  neuen  Gebürensätze  der  §§  1  und  2 
der  Eegierungsvorlage,  sowie  einiger  anderen  erleichternden  Bestimmungen  der- 
selben in  Absicht  auf  den  Ertrag  und  das  Ausmaass  der  Immobiliargebüren 
zum  Ausdruck  bringt,  müssen  wir  die  Bemerkung  vorausschicken,  dass  zwar  auch 
die  Mehrzahl  der  Ansätze  dieser  Tabelle  auf  verlässlichen  Ermittlungen  der  Gebüren- 
statistik  beruht,  dass  es  jedoch  unvermeidlich  war,  in  einigen  Belangen  auch 
schätzungsweise  Annahmen  zur  Berechnung  heranzuziehen.  Dies  gilt  insbesondere 
hinsichtlich  des  Quotenverhältnisses,  in  welchem  sich  die  nach  §  2  begünstigten 
Uebertragungen  des  bäuerlichen  und  kleineren  städtischen  Besitzes  zum  Kealitäten- 
verkehre  im  allgemeinen  bewegen.  Im  übrigen  ist  nun  die  Tabelle  VII  derart 
eingerichtet,  dass  auf  Grund  des  statistisch  erhobenen  Immobiliarverkehres  des 
Jahres  1896  die  Immobiliargebüren  sowohl  nach  den  alten  als  nach  den  neuen 
Sätzen  berechnet  und  durch  Gegenüberstellung  der  Resultate  dieser  Berechnungen 
der  voraussichtliche  Ausfall    ermittelt  wird.     Nach    den    alten  Sätzen  ergibt  sich 

nun  ein  Gesammtertrag  an  Immobiliargebüren  per 18,729.763  fl. 

nach  den  neuen  ein  solcher  per 18,433.325   „ 

die  Differenz  per 296.438  fl. 

stellt  den  zu  gewärtigenden  Ausfall  dar.  Wir  ersehen  weiters,  dass  das  Gebüren- 
ausmaass,  welches  unter  der  Herrschaft  der  alten  Sätze  im  Durchschnitte  2*491  Proc. 
betrug,  sich  nach  den  neuen  Sätzen  auf  durchschnittlich  2"452  Proc.  stellt.  Um  diese 
Ziffern  zu  erhalten,  wurde  der  gesammte  Immobiliarverkehr  in  drei  Gruppen  getheilt, 
nämlich  Ä.  Uebertragungen  zwischen  Eltern,  Kindern,  Ehegatten  u.  s.  w.  von  todes- 
wegen und  unter  Lebenden;  B.  Uebertragungen  von  todeswegen  und  unentgeltliche 


Die  österreichische  Gebürennovelle  vom  18.  Juni  1901.  615 

üebertragungen  unter  Lebenden  zwischen  anderen  Personen;  C  entgeltliche  Ueber- 
tragungen  unter  Lebenden  zwischen  anderen  Personen,  In  der  Gruppe  A  ergibt  sich 
nun  ein  gebürenpflichtiger  Wert  per  259,370.140  fl.,  ein  bisheriger  Gebürenertrag 
per  4,500.746  fl.  mit  einem  durchschnittlichen  Gebürenausmaass  von  1*735  Proc. 
Nach  den  neuen  Sätzen  ergibt  sich  der  Gebürenertrag  mit  2,445.443  fl.,  das  durch- 
schnittliche Gebürenausmaass  mit  0'943  Proc.  Es  resultiert  daher  in  dieser  Gruppe 
ein  Minderertrag  an  Gebüren  per  2,055.303  fl.  und  eine  Herabsetzung  des  durch- 
schnittlichen Gebürenausmaasses  um  0"792  Proc.  Die  Gruppe  J5  begreift  in  sich  einen 
gebürenpflichtigen  Wert  von  24,828.300  fl.,  welcher  nach  den  alten  Sätzen  auf 
Basis  eines  durchschnittlichen  Gebürenausmaasses  von  2*644  Proc.  einen  Gebüren- 
ertrag von  656.446  fl.  lieferte.  Nach  den  neuen  Sätzen  stellt  sich  der  Gebüren- 
ertrag auf  399.910  fl.  und  der  Durchschnitt  des  Gebürenausmaasses  auf  1*611  Proc. 
Es  resultiert  daher  auch  in  dieser  Gruppe  ein  flnanzieller  Ausfall  von  256.506  fl. 
bei  einer  gleichzeitigen  Herabsetzung  des  durchschnittlichen  Gebürenausmaasses 
um  1*033  Proc.  Endlich  betrug  in  der  Gruppe  C  der  gebürenpflichtige  Wert 
467,582.920  fl.,  wovon  im  ganzen  Immobiliargebüren  per  13,572.571  fl.  vor- 
geschrieben wurden  und  der  durchschnittliche  Gebürensatz  sich  auf  2*903  Proc. 
stellte.  Nach  den  neuen  Sätzen  ergibt  sich  ein  Gebürenertrag  von  15,587.972  fl. 
und  ein  Durchschnittssatz  von  3*334  Proc.  Es  verspricht  daher  diese  Gruppe 
einen  Mehrertrag  an  Gebüren  per  2,015.401  fl.  bei  gleichzeitiger  Erhöhung 
des  Durchschnittssatzes  um  0*431  Proc.  In  diesen  Ziffern  drückt  sich  eine  der 
Tendenzen  der  Vorlage  dahin  aus,  dass  im  allgemeinen  der  Immobliarverkehr  in 
der  d  i  r  e  c  t  e  n  Verwandtschaftslinie  und  —  namentlich  soweit  es  sich  um  be- 
lastete Realitäten  handelt,  von  deren  belastetem  Theile  früher  die  Immobiliargebür 
nach  dem  für  entgeltliche  Uebertragungen  bestehenden  höheren  Satze  zu  ent- 
richten war —  auch  der  unentgeltliche  Verkehr  zwischen  anderen  Personen 
eine  Entlastung  erfahren,  hingegen  zur  theilweisen  Deckung  des  verursachten 
Ausfalles  der  entgeltliche  Eealverkehr  zwischen  anderen  Personen  eine 
massige  Mehrbelastung  erfahren  soll.  — -  Aber  noch  eine  zweite  Tendenz  tritt 
aus  den  Ziffern  der  Tabelle  VII  plastisch  hervor,  nämlich  die,  durch  degressive 
Gestaltung  der  Abgabensätze  und  specielle  Begünstigungen  für  Bauern  und  Klein- 
bürger eine  Entlastung  des  Verkehres  mit  Eealitäten  geringeren  Wertes  zu  erzielen. 
In  allen  drei  oben  genannten  Gruppen  A,  B  und  C  ist  nämlich  auch  die 
Berechnung  nach  „Wertgrenzen",  d.  i.  nach  Abstufungen  des  gebürenpflichtigen 
Wertes  durchgeführt,  und  zwar  für  die  Wertgrenzen  bis  5000  K,  von  5000  bis 
10.000  K,  von  10.000  bis  20.000  K  und  über  20.000  K,  bezw.  40.000  K. 
Und  da  sehen  wir  gleich  in  der  ersten  Gruppe,  dass  in  der  Wertstufe  bis  5000  K 
von  etwa  57  Mill.  Gulden  gebürenpflichtigen  Wertes  nach  §  2,  Z.  1,  lit.  a)  der 
Eegierungsvorlage  über  54  Mill.  von  der  Immobiliargebür  ganz  freibleiben;  dass  in 
der  nächsten  Wertstufe  von  5000  bis  10.000  K  bei  einem  Gesammtwerte  von 
rund  42  Mill.  Gulden  fast  40  Mill.  dem  begünstigten  Gebürensatze  von  ^/^  Proc. 
nach  §  2,  Z.  1,  lit.  b)  der  Vorlage  zugewiesen  sind  und  dass  auch  in  den  übrigen 
Gruppen  der  Tabelle  VII  in  den  Wertgrenzen  bis  zu  10.000  K,  bis  wohin 
speciell  die  Ermässigungen  des  §  2  reichen,  ein  ähnliches,  wenn  auch  nicht 
ganz    so  günstiges  Verhältnis    besteht.     Zwar  beruht   die  Auftheilung  der  Werte 


616  Odkolek. 

des  begünstigten  und  des  nichtbegünstigten  Eealverkehres,  wie  bereits  angedeutet, 
zum  Theile  auf  schätzungsweisen  Annahmen,  doch  hat  seither  die  Erfahrung 
gelehrt,  dass  die  für  den  begünstigten  Realverkehr  angenommene  Quote  ungefähr 
den  Thatsachen  entspricht. 

Zu  dem  oben  ziffermässig  berechneten  Ausfalle  per  296.438  fl.  sind  nun, 
wie  im  Motivenberichte  zur  Regierungsvorlage  S.  12  bis  15  näher  ausgeführt 
wird,  noch  verschiedene  weitere  Abgänge  zu  rechnen,  welche  sich  theils  als  Folge 
sonstiger  zu  Gunsten  der  Gebürenpflichtigen  getroffenen  Bestimmungen  der  Vorlage 
darstellen  (680.000  fl.\  theils  auf  das  Conto  zu  niedriger  Wertangaben  zu  setzen 
sind  (460.000  fl.).  Der  Ausfall  erhöhte  sich  somit  auf  1,440.000  fl.  Auch  ist 
zu  bemerken,  dass  im  §  1,  Z.  1,  der  kaiserlichen  Verordnung  vom  16.  August  1899, 
bezw.  des  neuen  Gesetzes  die  Wertstufe  gegenüber  der  Regierungsvorlage  von 
20.000  K  auf  30.000  K  erhöht  wurde,  was  einen  statistisch  ermittelten  weiteren 
Ausfall  von  100.000  fl.  nach  sich  zog.  Sonach  war  vom  Zeitpunkt  der  Wirk- 
samkeit der  bezogenen  kaiserlichen  Verordnung  angefangen  mit  einem  Gesammt- 
ausfalle  von  1,540.000  fl.  oder  3,080.000  iT  zu  rechnen. 

Es  entsteht  nun  naturgemäss  die  Frage,  inwieweit  diese  Berechnungen  sich 
als  zutreffend  erwiesen  haben.  Da  die  kaiserliche  Verordnung  vom  16.  August  1899 
am  6.  October  1899  in  Wirksamkeit  getreten  ist,  kommt  als  erste  statistische 
Einheit  das  Finanzjahr  1900  in  Betracht.  Nun  ist  zwar  die  Gebürenstatistik 
dieses  Jahres  vor  kurzem  abgeschlossen  worden,  gleichwohl  aber  sind  deren 
Ziffern  für  unseren  Zweck  nicht  völlig  ausreichend,  und  zwar  deshalb  nicht,  weil 
in  dieser  Statistik  zahlreiche  und  hoch  bewertete  üebertragungsfälle  inbegriffen 
sind,  auf  welche  noch  die  älteren  Vorschriften  und  insbesondere  auch  die  Gebüren- 
novelle  vom  31.  März  1890  anzuwenden  waren.  Demungeachtet  bietet  die  Statistik 
des  Jahres  1900  eine  Reihe  interessanter  Daten. 

Zunächst  constatieren  wir,  dass  der  Gesammtwert  des  Immobiliarverkehres 
im  Jahre  1900  1.728,389.165  K  betrug,  wovon  auf  den  Verkehr  unter  Lebenden 
1.249,485.809  K,  auf  den  Verkehr  von  todeswegen  478,903.356  K  entfallen. 
Verglichen  mit  dem  Realitätenverkehre  des  Jahres  1896  im  Werte  von  776.224.862  fl.^) 
oder  1.552,449.724  K  zeigt  sich  eine  Wertzunahme  von  175,000.000  K  und 
eine  Vermehrung  der  Üebertragungsfälle  von  398.076  auf  595.536.  Von  obigem 
für  das  Jahr  1900  ausgewiesenen  Immobiliaigesammtverkehre  wurden  als  ge- 
bü  renpflichtig  behandelt:  1.  im  Immobiliarverkehre  unter  Lebenden 
354.244  Fälle  mit  einem  Gesammtwerte  von  1.148,512.787  K\  2.  im  Immobiliar- 
verkehre von  todeswegen  108.957  Fälle  mit  einem  Gesammtwerte  von  419,164.931^". 
G-ebürenfrei  wurden  behandelt,  und  zwar: 

A.  nach  der  Novelle  vom  31.  März   1890: 

1.  an  Uebertragungen  unter  Lebenden  2360  Fälle  mit  einem  Realwerte 
von  756.804  K]  2.  an  solchen  von  todeswegen  15.130  Fälle  mit  einem  Realwerte 
von  4,724.552  K;  zusammen  17.490  Fälle  im  Werte  von  5,481.356  K. 

B.  nach  der  kaiserlichen  Verordnung  vom   16.  August  1899: 

1.  an  Uebertragungen  unter  Lebenden  69.386  Fälle  mit  einem  Gesammt- 
werte von  68,875.969  K;  2.  an  solchen  von  todeswegen  45.458  Fälle  mit  einem 

1)  Siehe  Mittheilungen  des  k.  k.  Finanzministeriums,  V.  Jahrgang,  1.  Heft,  S.  169. 


I 


Die  österreichische  Gebürennovelle  vom  18.  Juni  1901.  617 

Gesammtwerte  von  52,058.490  K;  zusammen  114.844  Fälle  im  Gesammtumsatz- 

werte  von  120,934.459  K. 

Die  Yorschreibung  an  Immobiliargebüren  pro  1900  stellte  sich,  wie  folgt: 
Beim  Immobiliarverkehre   unter  Lebenden   wurde    bemessen: 

A.  nach  den  vor  Wirksamkeit  derkaiserlichen  Verordnung  vom  16.  August  1899 
bestandenen  gesetzlichen  Vorschriften  von  einem  gebürenpflichtigen  Werte  per 
171,511.200  K  ein  Gebürenbetrag  von  5,006.449  K  15  h; 

B.  nach  der  kaiserlichen  Verordnung  vom  16.  August  1899  von  einem  gebüren- 
pflichtigen Werte  per  980,913.269  K  ein  Gebürenbetrag  von  28,953.454  JS' 64  h; 

im  ganzen  daher  für  die  Immobiliarübertragungen  unter  Lebenden  von 
einem  gebürenpflichtigen  Werte  per  1.152,424.469  K  ein  Betrag  an  Immobiliar- 
gebür  per  33,959.903  K  79  h. 

Beim  Immobiliarverkehre   von  todeswegen   wurde   bemessen: 

Ä.  nach  den  vor  Wirksamkeit  der  kaiserlichen  Verordnung  vom  16.  August 
1899  bestandenctn  gesetzlichen  Vorschriften  von  einem  Uebertragungs werte  von 
243,651.880  K  eine  Gebür  von  4,430.695  K  90  h; 

B.  nach  der  kaiserlichen  Verordnung  vom  16.  August  1899  von  einem 
Uebertragungswerte  per  176,404.333^  eine  Gebür  per  2,141.098  J?  79  h; 

im  ganzen  daher  für  die  Immobiliarübertragungen  von  todeswegen  von 
einem  gebürenpflichtigen  Werte  per  420,056.213  K  eine  Immobiliargebür 
per  6,571.794  Ä  69 /i. 

Es  beziff'erte  sich  daher  die  Summe  der  im  Jahre  1900  bemessenen  Immobiliar- 
gebüren auf  33,959.903  ^  79  7*  +  6,571.794  K  69  h  z=  40,531.698  Ä  48  h. 

II.  Sicherungsmassregeln. 

In  Bezug  auf  den  zweiten  Theil  des  Gesetzes  —  „Sicherung  der  Ge- 
büren  von  Nachlässen"  —  dürfen  wir  uns,  dem  Charakter  dieser  Zeitschrift 
Eechnung  tragend,  kürzer  fassen,  weil  das  Hauptinteresse  hieran  weniger  auf 
wirtschaftlichem  Gebiete,  als  auf  jenem  der  Gebürentechnik,  sowie  der  Fiscal- 
jurisprudenz  zu  suchen  ist.  Die  hier  getroffenen  Maassregeln,  welche  insgesammt 
den  fühlbar  gewordenen  Misständen  auf  dem  Gebiete  der  Erbschaftsbesteuerung 
abzuhelfen  bestimmt  sind,  dienen  einem  doppelten  Zwecke,  einmal  nämlich  der 
früher  in  hohem  Maasse  üblichen  Verzögerung  der  Einbekennung  des  Erb- 
vermögens und  damit  auch  des  Einfliessens  der  Erbgebüren  ein  Paroli  zu  bieten, 
und  zweitens  der  Verhütung  von  Steuerdefrauden.  In  ersterer  Beziehung  ist 
nämlich  angeordnet,  dass  im  Falle  die  „Nachlassnachweisung",  i.  e.  das  Ver- 
mögensbekenntnis nicht  längstens  binnen  zwölf  Monaten  vom  Todestage  vorgelegt 
wird,  von  da  an  4  Proc.  Zinsen  bis  zur  Fälligkeit  der  Gebür  zu  entrichten  sind 
(§11  des  Gesetzes).  In  der  kaiserlichen  Verordnung  vom  16.  August  1899  betrug 
die  erwähnte  Frist  sechs  Monate  und  das  Zinsenausmaass  5  Proc,  und  war  diese 
Bestimmung  von  der  wohlthätigen  Folge  begleitet,  dass  sich  ein  rascheres  Tempo 
in  der  Abwicklung  der  gerichtlichen  Verlassenschaftsabhandlungen  bemerkbar 
machte. 

Was  die  Maassregeln  zur  Verhütung  von  Steuerdefrauden  betrifft,  so  gehen 
sie    theils    dahin,    die    gänzliche    Verschweigung    von    Nachlassgegenständen    zu 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  X.  Band.  42 


QIQ  Odkolek. 

erschweren,  theils  sind  sie  dagegen  gerichtet,  dass  offenkundig  vorhandenes  Nachlass- 
vermögen im  Wege  juristischer  Fictionen  entweder  als  schon  unter  Lebenden 
verschenkt  oder  sonst  als  Eigenthum  dritter  Personen  hingestellt  und  hierdurch 
der  Erbschaftsbesteuerung  entzogen  werde.  In  ersterer  Eichtung  soll  der  neu 
eingeführte  „M  ani  f  e  s  t  atio  n  s  eid"  Abhilfe  schaffen  (§  12),  der  hier  als 
Novura  in  der  österreichischen  Steuergesetzgebung  ^)  erscheint  und  in  der  parla- 
mentarischen Berathung  des  Gesetzes  nicht  bloss  vom  juristischen,  sondern  auch 
vom  religiösen  Gesichtspunkte  manche  Anfechtung  zu  bestehen  hatte.  Wenn  von 
parlamentarischer  Seite  der  Eegierung  ein  sparsamer  Gebrauch  dieses  Mittels 
empfohlen  wurde,  so  dürften  hierfür  schon  die  vielen  vom  Gesetze  geforderten  Cautelen 
die  Gewähr  bieten.  Auch  die  Erfahrungen  anderer  Länder  bestätigen  dies:  so  soll 
z.  B.  in  Baiern  die  Abnahme  einer  eidlichen  Versicherung  in  Erbschaftssteuer- 
sachen zu  den  grössten  Seltenheiten  gehören.  In  der  zweiten  Beziehung  werden 
den  juristischen  Fictionen  der  Parteien  einige  Präsumptionen  zu  Gunsten 
des  Fiscus  gegenübergestellt  (§§  13  bis  15),  deren  nähere  Erörterung  an  dieser 
Stelle  wir  uns  aus  dem  schon  angedeuteten  Grunde  versagen  müssen,  wiewohl 
eine  Hermeneutik  dieser  Bestimmungen  manche  interessante  Ausblicke  auf  das 
rein  juristische  Gebiet  zu  eröffnen  geeignet  ist.  Im  Anschlüsse  an  diese  letzt- 
erwähnten Bestimmungen  wird  im  §  16  ein  bemerkenswerter  Versuch  gemacht, 
den  gerichtlichen  Zeugen-  und  Parteieneid  als  Beweismittel  für  das  Verfahren 
in  Finanzsachen  nutzbar  zu  machen. 

Auch  dieser  Theil  des  Gesetzes  wurde  von  einigen  Seiten  bekämpft,  und 
wenn  er  —  von  mehreren  als  zweckmässig  erkannten  Aenderungen  abgesehen  — 
trotzdem  unversehrt  aus  den  parlamentarischen  Verhandlungen  hervorgegangen 
ist,  so  mochte  dies  auf  der  allgemein  verbreiteten  Erkenntnis  beruhen,  dass  etwas 
zum  Schutze  der  Erbschaftssteuer  geschehen  müsse.  In  der  That  bildet  diese 
Steuer  ein  Schmerzenskind  der  österreichischen  Finanzverwaltung:  hoch  veranlagt, 
trägt  sie  wenig  ein;  und  gelingt  es  nicht,  speciell  das  bewegliche  Vermögen  stärker, 
als  dies  hergebracht  ist,  zur  Steuer  heranzuziehen,  wird  die  jetzt  so  vielfach 
verlangte  Eeform  der  Erbschaftssteuer  mit  progressiver  Gestaltung,  Lacherben- 
steuer und  anderen  derlei  schönen  Dingen  nur  ein  Schlag  ins  Wasser  sein. 

*  * 

* 

Nicht  die  Erzielung  eines  Mehrertrages  aus  den  Immobiliargebüren,  sondern 
eine  gleichmässigere  und  gerechtere  Vertheilung  der  Abgabelast  bildete  nach 
allem  Gesagten  den  Zweck  der  Novelle,  um  welchen  Preis  die  Eegierung  auch 
ein  erhebliches  finanzielles  Opfer  in  den  Kauf  zu  nehmen  bereit  war.  Die  Ein- 
führung der  grossen  Erleichterungen  für  den  bäuerlichen  und  kleinbürgerlichen 
Eealitätenbesitz  und  für  den  Verkehr  in  der  directen  Verwandtschaftslinie  erforderten 
aber  zu  ihrer  Ausgleichung  unabweislich  die  Aufhebung  des  ziemlich  allgemein 
als  veraltet  erkannten  Gebürennachlasses.  Diesen  letzteren,  wie  von  einigen  Seiten 
verlangt  wurde,  neben  den  neuen  Erleichterungen  fortbestehen  zu  lassen,  erschien 
aus  budgetären  Gründen    ein  Ding  der  Unmöglichkeit.     Jede  Kritik,  welche  der 


I 


^)  England   und  Holland  haben   gleichfalls   den  Manifestationseid   in  Erbschafts- 
steuersachen, das  deutsche  Particularrecht  kennt  meist  nur  eine  eidesstattliche  Versicherung. 


Die  österreichische  Gebürennovelle  vom  18.  Juni  1901.  619 

Novelle  gerecht  werden  will,  muss  die  Gesammtlieit  ihrer  Bestimmungen  ins  Auge 
fassen,  auch  vereinzelte  und  unvermeidliche  Mehrbelastungen  müssen  unter  diesem 
Gesichtspunkte  beurtheilt  werden.  Die  rein  atomistische  Auffassung  des  Wirtschafts- 
lebens freilich  wird  sich  mit  der  Novelle  kaum  befreunden  können. 


Wir  lassen  nunmehr  das  neue  Gesetz  im  Wortlaute  folgen : 

Gesetz    vom    18.    Juni    1901,    betreffend    Gebünen     von    Venmögens- 

übentragungen. 
Mit  Zustimmung  beider  Häuser  des  ßeichsrathes  finde  Ich  anzuordnen,  wie  folgt: 

I.  I  m  ni  0  b  i  1  i  a  r  g  e  b  ü  r  e  n. 

§  1. 
Für  die  Uebertragjung  fies  p]igenthumes  unbeweglicher  Sachen   sind  unbeschadet 
der  vom  reinen  Werte  einer  Schenkung  oder  einer  Vermögensübertragungvon  todeswegen 
entfallenden  Gebüren  folgende  Gebüren  zu  entrichten: 

1.  Wenn  die  Uebertragung  erfolgt 

von  Eltern  an  eheliche  oder  uneheliche  Kinder  oder  deren  Nachkommen  und 
umgekehrt; 

von  Eltern  an  die  mit  ihren  Kindern  die  Ehe  eingehenden  oder  durch  dieselbe 
schon  verbundenen  Personen; 

von  Stiefeltern  an  Stiefkinder  und  von  Wahleltern  an  Wahlkinder; 

zwischen  weder  geschiedenen,  noch  getrennten  Ehegatten; 

zwischen  Brautleuten   durch  Ehepacte, 
ohne  Unterschied,  ob  es   sich   um   eine   Uebertragung   von   todeswegen    oder    durch    ein 
entgeltliches  oder  unentgeltliches  Rechtsgeschäft  unter  Lebenden  handelt : 

a)  bei  einem  Werte  von  nicht  mehr  als  30.000  K 1       Proc. 

b)  bei  einem  Werte  über  30.000 -ST IV2      „ 

von  dem  Werte; 

2.  wenn  die  Uebertragung  an  andere  als  die  unter  Z.  1  bezeichneten  Personen 
von  todeswegen  oder  durch  ein  unentgeltliches  Rechtsgeschäft  unter  Lebenden  erfolgt ; 

a)  bei  einem  Werte  von  nicht  mehr  als  20.000  Ä^ IV2  Proc. 

b)  bei  einem  Werte  über  20.000^ 2         „ 

von  dem  Werte; 

8.  wenn  die  Uebertragung  an  andere  als  die  unter  Z.  1  bezeichneten  Personen 
durch  ein  entgeltliches  Rechtsgeschäft  unter  Lebenden  erfolgt : 

a)  bei  einem  Werte  von  nicht  mehr  als  10.000  K 3      Proc- 

6)  bei  einem  Werte  über  10.000  bis  40.000  K 3^/2      ^ 

c)  bei  einem  Werte  über  40.000  Ä" 4         „ 

von  dem  Werte. 

Für  eine  theilweise  unentgeltliche  Uebertragung  unter  Lebenden  in  den  unter  Z.  2 
bezeichneten  Fällen  ist  an  Immobiliargebür  zuzüglich  der  in  der  Tarifpost  91  B  des 
Gesetzes  vom  9.  Februar  1850,  E.-G.-Bl.  Nr.  50,  festgesetzten  Gebür  nie  weniger  zu 
entrichten,  als  für  eine  rein  entgeltliche  Uebertragung  nach  Z.  3  zu  entrichten  wäre. 

Wird  eine  von  todeswegen  an  jemanden  gelangte  unbewegliche  Sache  innerhalb 
zweier  Jahre  nach  dem  Erbanfalle  von  todeswegen  oder  durch  ein  Rechtsgeschäft  unter 
Lebenden  weiter  übertragen,  so  ist  die  für  die  erste  Uebertragung  nach  Z.  1  oder  2 
entfallende  Gebür  in  die  nach  diesem  Paragraphen  für  die  zweite  Uebertragung  zu  ent- 
richtende Gebür  einzurechnen. 

§2. 

Bildet  den  Gegenstand  der  Uebertragung  ein  vom  Eigenthümer  ganz  oder  theil- 
weise benutztes  Gebäude  oder  eine    der  Landwirtschaft   gewidmete,    vom  Eigenthümer, 

42* 


520  Odkolek. 

beziehungsweise  dessen  Familie  selbst,  mit  oder  ohne  Beihilfe  von  Dienstboten  oder 
Taglöhnern  bearbeitete  oder  eine  solche  Liegenschaft,  die  nur  deshalb  auf  die  gedachte 
Art  nicht  bearbeitet  wird,  weil  dieselbe  in  Execution  gezogen  wurde,  oder  der  Eigen- 
thümer  unter  Vormundschaft  oder  Curatel  steht,  so  ist  in  folgenden  Fällen  anstatt  der  im 
§  1  festgesetzten  Gebüren,  unbeschadet  der  im  §  1,  letztes  Alinea,  vorgesehenen  Ein- 
rechnung,  zu  entrichten: 

1.  wenn  die  Uebertragung  an  eine  der  im  §  1,  Z.  1,  bezeichneten  Personen  erfolgt : 
a)  bei  einem  Werte  von  nicht  mehr  als  5000  K  keine  Immobiliargebür, 

6)  bei  einem  Werte  über  5000  K,  jedoch  nicht  mehr  als  10.000  K  V2  Proc.  von   dem 
Werte; 

2.  wenn  die  Uebertragung  an  andere,  als  die  in  §  1,  Z.  1,  bezeichneten  Personen 
erfolgt,  welche  die  unbewegliche  Sache  gleichfalls  auf  die  oben  gedachte  Art  benützen  : 

a)  bei  einem  Werte  von  nicht  mehr  als  5000  K  die  Hälfte, 

b)  bei  einem  Werte  über  5000  Ä",  jedoch  nicht  mehr  als  10.000^  drei  Viertel 
der  im  §  1,  Z.  2  und  3,  festgesetzten  Gebürensätze. 

Bei  der  Abtretung  eines  Haus-  oder  Grundbesitzes,  dessen  Benützung  auf  die  oben 
bezeichnete  Art  stattfindet,  an  ein  eheliches  oder  uneheliches  Kind  oder  an  eine  mit 
einem  solchen  die  Ehe  eingehende  oder  durch  dieselbe  schon  verbundene  Person,  an  ein 
Stiefkind  oder  ein  Wahlkind  des  Eigenthümers,  ist  der  Wert  der  zu  Gunsten  des  Ueber- 
gebers  auf  dessen  Lebenszeit  bedungenen  Vorbehalte  nur  mit  dem  Fünffachen  der  jährlichen 
Leistung  zu  veranschlagen.  Dasselbe  gilt,  wenn  die  Vorbehalte  auf  die  Lebenszeit  zu 
Gunsten  des  Ehegatten  des  übergebenden  Elterntheiles  oder  zu  Gunsten  beider  Eltern- 
theile  zur  ungetheilten  Hand  auf  deren  Lebenszeit  bedungen  werden.  Werden  bei  solchen 
Abtretungen  auch  zu  Gunsten  der  Geschwister  des  Uebernehmers  zeitliche  Vorbehalte 
bedungen,  so  sind  dieselben  gleichfalls  mit  dem  Fünffachen  der  jährlichen  Leistung  zu 
veranschlagen,  soferne  nicht  nach  §  16,  lit  e)  des  Gesetzes  vom  9,  Februar  1850, 
K.-G.-B1.  Nr.  50,  die  Bewertung  nach  der  dreifachen  Jahresleistung  einzutreten  hat. 

§   3. 

Für  üebertragungen  von  Gebäuden,  welchen  zur  Gänze  eine  zeitliche  Steuerfreiheit 
als  Neu-  oder  Umbau  bewilligt  worden  ist,  wobei  die  Feststellung),  ob  ein  Neu-  oder 
Umbau  vorliegt,  im  Sinne  des  §  1,  lit  a)  und  b)  des  Gesetzes  vom  25.  März  1880 
E.-G.-Bl.  Nr,  39,  zu  erfolgen  hat,  sind  an  Stelle  der  im  §  1,  Z.  3,  vorgesehenen  Gebüren 
2^2  Proc.  vom  Werte  zu  entrichten,  wenn  seit  der  zuletzt  vorhergegangenen  Uebertragung 
der  betreffenden  Bauarea  ein  Zeitraum  von  nicht  mehr  als  vier  Jahren  verstrichen  ist, 
und  3  Proc.  vom  Werte,  wenn  seit  der  zuletzt  vorhergegangenen  Uebertragung  der 
betreffenden  Bauarea  ein  Zeitraum  von  mehr  als  vier,  jedoch  nicht  mehr  als  sechs  Jahren 
verstrichen,  und  der  Neu-  oder  Umbau  innerhalb  dieser  Fristen  vollendet  und  benutzbar 
.  hergestellt  worden  ist. 

Soferne  sich  jedoch  nach  §  2,  Z.  2,  in  Verbindung  mit  §  1,  Z.  3,  ein  niedrigerer 
Procentsatz  ergibt,  ist  die  Gebür  nach  diesem  niedrigeren  Satze  zu  berechnen. 

Bei  gemeinschaftlicher  Uebertragung  derartiger  Gebäude  mit  anderen  Gebäuden, 
bei  denen  vorstehende  Bedingungen  nicht  zutreffen,  findet  der  Satz  von  2V2  Proc, 
beziehungsweiss  3  Proc.  nur  auf  die  zuerst  erwähnten  Gebäude  Anwendung.  Der  Wert 
der  in  einem  solchen  Falle  im  Sinne  des  ersten  Absatzes  zu  begünstigenden  Objecto 
wird  —  falls  sämmtliche  den  Gegenstand  der  Uebertragung  bildende  Gebäude  der  Haus- 
zinsstener  unterliegen  —  in  der  Art  ermittelt,  dass  der  Wert  sämmtlicher  übertragenen 
Gebäude  im  Verhältnisse  der  auf  die  begünstigten  Objecte  entfallenden  ganzjährigen, 
nicht  zahlbare  Hauszinssteuer  und  der  auf  die  nicht  zu  begünstigenden  Objecte  an  Haus- 
zinssteuer entfallenden  Jahresvorschreibung  aufgetheilt  wird. 

Beim  Zusammentreffen  bloss  hausclassensteuerpflichtiger  oder  hauszins-  und  haus- 
classensteuerpflichtiger  Gebäude  erfolgt  die  Wertermittelung  in  derselben  Weise  unter 
Zugrundelegung  der  auf  diese  Gebäude  katastermässig  entfallenden  Hausclassensteuer- 
tarifsätze. 


I 


Die  österreichische  Gebürennovelle  vom  18.  Juni  1901.  621 

Der  Satz  von  2^2  Proc,  beziehungsweise  3  Proc.  findet  nur  auf  die  dem  Neu- 
oder Umbaue  unmittelbar  folgende  üebertragung  Anwendung. 

Um  die  Begünstigung  ist  unter  Beibringung  der  erforderlichen  Nachweise  von  der 
Partei  längstens  binnen  30  Tagen  nach  Abschluss  des  betreffenden  Rechtsgeschäftes  bei 
der  Finanzbehörde  einzuschreiten. 

Kann  der  Nachweis  über  die  bewilligten  Baufreijahre  mangels  einer  behördlichen 
Entscheidung  nicht  erbracht  werden,  so  erfolgt  die  Gebürenbemessung  unter  Ausschluss 
dieser  Begünstigung. 

Wird  jedoch  das  rechtzeitig  eingebrachte  Gesuch  innerhalb  der  dreijährigen  Frist 
des  §  77  des  Gesetzes  vom  9.  Februar  1850  durch  Vorlage  der  die  zeitliche  Steuer- 
befreiung für  das  ganze  Object  gewährenden  Entscheidung  ergänzt  und  geht  aus  derselben 
hervor,  dass  die  Bauvollendung  innerhalb  der  im  ersten  Absätze  festgesetzten  Frist  statt- 
gefunden hat,  so  ist  bei  Zutreffen  der  übrigen  im  ersten  Absätze  aufgestellten  Bedingungen 
die  Rückvergütung,  beziehungsweise  die  Abschreibung  des  entfallenden  Mehrbetrages 
zuzuerkennen. 

§4. 

Ein  staatlicher  Zuschlag  zu  den  in  den  §§  1,  2  und  3  angeordneten  Gebüren,  dann 
zu  der  Gebür  nach  Tarifpost  45  Ab  des  Gesetzes  vom  13.  December  1862,  R.-G.-Bl. 
Nr.  89,  ist  nicht  einzuheben. 

§  5. 

Soferne  nach  den  §§  1  und  2  des  gegenwärtigen  Gesetzes  oder  nach  der  für  Tirol 
und  Vorarlberg  in  Geltung  stehenden  Allerhöchsten  Entschliessung  vom  11.  Jänner  1868 
der  Procentsatz  der  Gebür,  beziehungsweise  die  gebürenfreie  Behandlung  einer  Üeber- 
tragung von  einer  Wertstufe  abhängig  gemacht  erscheint,  ist  in  Fällen,  wo  unabgesonderte 
Theile  (ideelle  Antheile,  §  361  a.  b.  G.-B.)  einer  Liegenschaft  den  Gegenstand  der  Üeber- 
tragung bilden,  der  Wert  der  übertragenen  unabgesonderten  Theile  und  nicht  jener  der 
ganzen  Liegenschaft  maassgebend. 

Werden  innerhalb  eines  Jahres  durch  freiwillige  Rechtsgeschäfte  unter  Lebenden 
von  demselben  Uebergeber  an  denselben  Uebernehmer  Liegenschaften  übertragen,  deren 
Gesammtwert  die  zum  Zwecke  der  Gebürenbemessung  von  einer  dieser  Uebertragun gen 
angenommene  Wertstufe  überschreitet,  so  ist  der  Gesammtwert  für  die  Gebürenbemessung 
maassgebend,  und  wird  daher  der  rücksichtlich  der  gedachten  Üebertragung  etwa  zur 
Anwendung  gebrachte  niedrigere  Procentsatz,  beziehungsweise  die  zugestandene  Befreiung 
verwirkt. 

§  6- 

Die  in  der  Anmerkung  3  zur  Tarifpost  91  und  in  der  Anmerkung  1  zur  Tarif- 
post 106  B  des  Gesetzes  vom  9.  Februar  1850  festgesetzte  besondere  procentuelle  Gebür 
für  die  unentgeltliche  üebertragung  der  Dienstbarkeit  des  Fruchtgenusses  oder  des 
Gebrauches  einer  unbeweglichen  Sache  wird  aufgehoben. 

Erfolgt  die  üebertragung  durch  ein  entgeltliches  Rechtsgeschäft,  so  unterliegt 
dasselbe  statt  der  in  den  Tarifposten  39  und  55  des  Gesetzes  vom  13.  December  1862, 
R.-G." Bl.  Nr.  89,  angeordneten  3 V2pro centigen  Gebür  nur  der  Gebür  nach  Scala  II  vom 
Werte  der  gedachten  Dienstbarkeiten. 

Eintragungen  in  die  öffentlichen  Bücher  zur  Erwerbung  der  Dienstbarkeit  des 
Fruchtgenusses  oder  des  Gebrauches  einer  unbeweglichen  Sache  oder  einer  ihr  gleich- 
gehaltenen Gerechtsame  unterliegen  der  Gebür  nicht  mehr  nach  lit.  Ä,  sondern  nach 
lit.  B  der  Tarifpost  45  des  Gesetzes  vom  13.  December  1862,  unbeschadet  einer  nach 
lit.  D  dieser  Tarifpost  eintretenden  allfälligen  Befreiung. 

§  7. 
Wird  eine  Sache,  die  zu  einem  mehreren  Erben  angefallenen  Nachlasse    gehört, 
vor  dessen  Einantwortung  von  einem  der  Theilhaber  ganz  oder  zu  einem  Theile,  der  ihm 
nicht  schon  kraft  des  Erbrechtes  zukam,   erworben,    so   ist    zum  Zwecke    der  Gebüren- 
bemessung ein  neues  Rechtsgeschäft  nicht  anzunehmen. 


622  Odkolek. 

§  8. 

Verträge,  wodurch  einzelne  Sachen  oder  auch  ein  ganzes  Vermögen  unter  den 
Miteigenthümern  getheilt  werden,  sind,  soferne  hiehei  jeder  Theilhaber  nur  soviel  erhält, 
als  dem  Werte  seines  Antheiles  an  der  einzelnen  Sache,  beziehungsweise  an  dem  ganzen 
Vermögen  entspricht,  kein  Gegenstand  einer  Uebertragungsgebür. 

Wird  jedoch  einem  Theilhaber  mehr  zugewiesen,  als  der  reine  Wert  seines  Antheiles 
und  die  von  ihm  übernommenen,  auf  dem  Gegenstande  der  Theilnng  haftenden  Lasten 
betragen,  so  ist  in  Ansehung  des  Mehrerwerbes  die  Vermögensübertragungsgebür  zu 
entrichten.  Erwirbt  in  einem  solchen  Falle  der  betreffende  Theilhaber  Sachen,  welche  der 
Uebertragungsgebür  nach  verschiedenen  Gebürensätzen  unterliegen,  so  sind  stets  jene 
Sachen  als  Mehrerwerb  im  vorbezeichneten  Sinne  zu  behandeln,  von  welchen  die  geringere 
Gebür  entfällt. 

§  9. 

Die  Bemessung  der  Gebür  für  die  Uebertragung  des  Eigenthumsiechtes  unbeweg- 
licher Sachen,  sowie  die  Freilassung  einer  derartigen  Uebertragung  von  der  Gebür  auf 
Grund  des  §  2,  Z.  1,  lit.  a)  steht  ausschliesslich  den  Finanzbehörden  zu. 

Die  näheren  Bestimmungen  hierüber  werden  im  Verordnungswege  erlassen, 

§  10. 
Der  Abschnitt  II  der  Verordnung  des  Finanzministeriums  vom  3.  Mai  1850, 
E.-G.-Bl.  Nr.  181,  der  §  2,  Punkt  5,  dann  die  §§  3,  4  und  5  der  kaiserlichen  Verordnung 
vom  19.  März  1853,  R.-G.-Bl.  Nr.  53,  endlich  die  §§  1  bis  5  des  Gesetzes  vom 
31.  März  1890,  R.-G.-Bl.  Nr.  53,  werden  ausser  Kraft  gesetzt.  Soweit  im  übrigen  durch 
die  §§  1  bis  9  dieses  Gesetzes  keine  abweichenden  Bestimmungen  getroffen  werden,  haben 
auf  die  daselbst  bezeichneten  Uebertragungen  die  allgemeinen  Vorschriften  der  Gebüren- 
gesetze  Anwendung  zu  finden. 

II.   Sicherung    der   Gebüren   von    Nachlässen, 

§    11. 

Wenn  die  zum  Zwecke  der  Gebürenbemessung  zu  überreichende  Nachweisung  des 
Nachlasses  nicht  längstens  binnen  zwölf  Monaten,  von  dem  Tage  des  Erbanfalles  an 
gerechnet,  vorgelegt  wird,  so  sind  vom  Ablaufe  dieser  Frist  angefangen  vier  Proc.  jähr- 
licher Zinsen  vom  Betrage  der  für  die  Uebertragung  des  Nachlasses  auszumittelnden 
Gesammtgebür  bis  zu  dem  Zeitpunkte  der  Fälligkeit  der  Gebür  (§  60  des  Gesetzes  vom 
9.  Februar  1850)  zu  entrichten. 

Erlangt  der  Gebürenpflichtige  in  einem  späteren  Zeitpunkte  als  dem  Tage  des 
Erbanfalles  Kenntnis  von  demselben,  oder  wird  nach  Erstattung  der  Nachlassnachweisung 
ein  vorher  nicht  bekanntes  Verlassenschaftsvermögen  aufgefunden,  so  läuft  die  zwölf- 
monatliche Frist  von  dem  Tage  der  erlangten  Kenntnis.  Beim  Vorhandensein  von 
mehreren  zur  ungetheilten  Hand  für  die  Gebür  Verpflichteten  genügt  es  für  den  Beginn 
des  Laufes  der  gedachten  Frist,  wenn  auch  nur  einer  derselben  Kenntnis  von  dem  Erb- 
anfalle erlangt. 

Der  Gebürenpflichtige  kann  sich  von  der  Verbindlichkeit  zur  Entrichtung  dieser 
Zinsen  dadurch  und  in  dem  Maasse  befreien,  als  er  auf  Rechnung  der  auszumittelnden 
Gebür  einen  Betrag  zur  Staatscasse  erlegt. 

§  12. 
Sobald  die  Nachlassnachweisung  überreicht  worden  ist,  kann  die  Finanzbehörde, 
wenn  sie  solche  Umstände  anzuführen  in  der  Lage  ist,  welche  die  Vermuthung  begründen, 
dass  das  Vermögen  unrichtig  oder  unvollständig  ausgewiesen  worden  ist,  und  dass  der 
zur  Ueberreichung  der  Nachweisung  Verpflichtete  von  der  Unrichtigkeit  oder  UnvoU- 
ständigkeit  der  Vermögensnachweisung  Kenntnis  hat,  beim  Abhandlungsgerichte  den 
Antrag  stellen,  dass  dem  Nachweisungspfiichtigen  der  Offenbarungseid  abgenommen  werde. 


Die  österreichische  Gebürennovelle  vom  18.  Juni  1901.  623 

Dieser  Antrag  kann  längstens  binnen  zwei  Jahren  nach  der  Einantwortung  des 
Nachlasses  und  nur  über  Ermäclitigung  des  Finanzministers  gestellt  werden,  welche  dem 
Gerichte  nachzuweisen  ist. 

Das  Gericht  hat  hierüber  nach  den  Grundsätzen  des  Verfahrens  ausser  Streitsachen 
die  erforderlichen  Erhebungen  zu  pflegen  und  insbesondere  auch  den  Erben  einzu- 
vernehmen. 

In  dem  über  den  Antrag  gefassten  Beschlüsse  hat  das  Gericht,  wenn  es  dem 
Antrage  stattgibt,  unter  sorgfältiger  Würdigung  der  gegebenen  Verhältnisse  den  Eidessatz 
festzustellen,  dessen  Wortlaut  eine  Bezugnahme  auf  die  überreichte  Naclilassnachweisung 
zu  enthalten  und  sich  gegen  die  wissentliche  Verschweigung  von  einzubekennenden  Ver- 
mögensbestandtheilen  zu  richten  hat. 

Für  die  Anfechtung  des  gerichtlichen  Beschlusses  gelten  die  Bestimmungen  der 
§§  9  bis  11,  dann  14  bis  16  des  kaiserlichen  Patentes  vom  9.  August  1854,  E.-G.-Bl. 
Nr.  208.  Die  Eidesleistung  darf  erst  nach  Rechtskraft  des  Beschlusses  erfolgen,  wodurch 
die  Ablegung  des  Offenbarungseides  angeordnet  wird. 

Dem  Verpflichteten  steht  es  frei,  bei  der  der  Eidesleistung  vorangehenden  Ein- 
vemahme  die  Angaben  der  Nachlassnachweisung  richtigzustellen  oder  zu  ergänzen,  in 
welchem  Falle  ein  Verfahren  nach  dem  Gefällsstrafgesetze  hinsichtlich  der  nachträglich 
einbekannten  Gegenstände  nicht  stattzufinden  hat. 

Wenn  der  Verpflichtete  bei  der  zur  Eidesleistung  angeordneten  Tagfahrt  nicht 
erscheint,  ohne  sich  genügend  zu  entschuldigen,  oder  wenn  er  die  Leistung  des  Eides  ver- 
weigert, so  hat  das  Gericht  zur  Erzwingung  der  Eidesleistung  auf  Antrag  eine  Geldstrafe  von 
25  bis  1000  K  über  den  Verpflichteten  zu  verhängen.  Auf  diese  gesetzliche  Bestimmung 
ist  der  Verpflichtete  in  dem  die  Tagfahrt  zur  Eidesleistung  anordnenden  Bescheide 
besonders  aufmerksam  zu  machen.  Desgleichen  hat  das  Gericht  in  der  Folge  auf  jeweiligen 
Antrag  der  Finanzbehörde  unter  Anberaumung  einer  neuerlichen  Eidestagsatzung  eine 
neuerliche,  stets  höhere  Geldstrafe  anzudrohen  sowie  diese,  falls  die  Eidesleistung  unter- 
bleibt, zu  verhängen,  und  dies  solange  zu  wiederholen,  bis  der  Gesammtbetrag  der 
Strafen  nach  Ermessen  des  Gerichtes  eine  den  Umständen  des  Falles  entsprechende  Höhe 
erreicht.  In  keinem  Falle  darf  dieser  Gesammtbetrag  50.000  K  übersteigen. 

Der  Verpflichtete  kann  zu  jeder  Zeit  beim  Abhandlungsrichter  beantragen,  zu  der 
ihm  aufgetragenen  Eidesleistung  zugelassen  zu  werden  Dem  Antrage  ist  ohne  weiteres 
Verfahren  stattzugeben. 

Wird  der  Nachlass  nicht  durch  ein  k.  k.  Gericht  abgehandelt,  so  ist  der  Antrag 
der  Finanzbehörde  auf  Eidesabnahme  bei  dem  Bezirksgerichte  des  Wohnsitzes  des  Ver- 
pflichteten zu  stellen,  und  steht  diesem  Gerichte   die  Beschlussfassung  hierüber  zu. 

Die  auf  Grund  der  vorstehenden  Bestimmungen  verhängten  Geldstrafen  fliessen 
dem  Armenfonde  des  Ortes  zu,  in  welchem  der  Verpflichtete  seinen  Wohnsitz  hat,  falls 
aber  der  Verpflichtete  im  Geltungsgebiete  dieses  Gesetzes  keinen  bekannten  Wohnsitz 
haben  sollte,  dem  Armenfonde  jenes  Ortes,  in  welchem  das  zur  Beschlussfassung  über 
den  Antrag  auf  Eidesabnahme  berufene  Gericht  seinen  Sitz  hat. 

§  13. 

Schenkungen,  welche  der  Erblasser  nicht  früher  als  zwei  Monate  vor  seinem  Tode 
gemacht  hat,  sind,  wenn  aus  den  Umständen  die  Absicht  des  Erblassers  erhellt,  der 
TJebertragung  im  Erbwege  vorzugreifen,  zum  Behufe  der  Gebürenbemessung  in  den 
Nachlass  einzurechnen,  wenn  für  dieselben  nicht  ohnehin  die  Gebür  als  von  einer 
Schenkung  unter  Lebenden  entrichtet  worden  ist. 

Uebliche  Geschenke  sind  somit  dieser  Einrechnung  nicht  unterworfen; 

§  14. 
Wird    ausser   dem    im    vorhergehenden    Paragraphen    erwähnten    Falle    in    einer 
Erklärung  des  letzten  Willens  einer  durch  den  Erblasser  bei  dessen  Lebzeiten  gemachten 
unentgeltlichen  Zuwendung  Erwähnung  gethan,  ohne  dass  für  dieselbe  die  Gebür  als  von 


624  Odkolek. 

einer  Schenkung  unter  Lebenden  entrichtet  wurde,  so  ist  eine  solche  Zuwendung,  soferne 
deren  Thatsache  von  dem  angeblich  Bedachten  nicht  überhaupt  in  Abrede  gestellt  wird, 
in  Absicht  auf  die  Gebürenbemessung  so  zu  behandeln,  als  ob  sie  der  Erblasser  auf 
seinen  Todesfall  angeordnet  hätte. 

Diese  Bestimmung  findet,  wenn  glaubhaft  gemacht  wird,  dass  die  Schenkung  that- 
sächlich  schon  bei  Lebzeiten  des  Erblassers  vollzogen  worden  ist,  keine  Anwendung, 
insbesondere  nicht  in  Ansehung  dessen,  was  der  Erblasser  bei  Lebzeiten  seiner  Tochter 
oder  Enkelin  zum  Heiratsgute,  seinem  Sohne  oder  Enkel  zur  Ausstattung  oder  unmittelbar 
zum  Antritte  eines  Amtes  oder  was  immer  für  eines  Gewerbes  gegeben  oder  zur  Bezahlung 
der  Schulden  eines  grossjährigea  Kindes  verwendet  hat  (§§  788  und  790  a.  b.  G.-B.). 

§  15. 

Wird  in  einem  Nachlasse  eine  Sache  vorgefunden,  von  welcher  der  Erblasser  letzt- 
willig erklärt  hat,  dass  sie  nicht  die  seinige  sei,  oder  erscheinen  derlei  Sachen,  insbe- 
sondere Wertpapiere  oder  Bargeld  durch  abgesonderte  Verwahrung  oder  Aufschrift  als 
Eigenthum  einer  anderen  Person  bezeichnet,  so  ist  diese  Erklärung  oder  Bezeichnung  in 
Ermangelung  einer  anderen  Glaubhaftmachung  darüber,  dass  die  gedachten  Sachen  nicht 
zum  Vermögen  des  Erblassers  gehörten,  in  Bezug  auf  die  Gebürenbemessung  unwirksam, 
und  ist  die  Gebür  von  solchen  Sachen  wie  von  einem  Bestandtheile  des  Nachlasses  einzuheben. 

Diese  Bestimmung  findet  keine  Anwendung,  wenn  der  Erblasser  Advocat,  Notar 
oder  ein  notorisch  bekannter  Treuhänder  war,  ferner  auf  Werteffecten  oder  andere  Gegen- 
stände, welche  als  Eigenthum  von  Personen  bezeichnet  sind,  die  entweder  zu  dem  Erb- 
lasser in  einem  Lohn-  oder  Dienstverhältnisse  standen,  oder  zwischen  denen  und  dem 
Erblasser  ein  aus  seinem  Berufe,  Amte  oder  Geschäfte  hervorgehendes  Vertrauens-  oder 
Bevollmächtigungsverhältnis  bestand. 

§  16 

Sofern  es  sich  um  Feststellung  der  nach  §  13  maassgebenden  Umstände  oder  um 
die  in  den  §§  14  und  15  vorhergesehene  Glaubhaftmachung  handelt,  kann  die  eidliche 
Einvernehmung  der  Partei  und  die  eidliche  Abhörung  von  Zeugen  über  bestimmte  That- 
sachen,  welche  in  dieser  Hinsicht  von  Bedeutung   sind,    bei  Gericht   veranlasst   werden. 

Die  Partei  hat  ihr  Ansuchen,  welches  den  Gegenstand  der  Fragestellung  zu  ent- 
halten hat,  bei  der  zuständigen  Finanzbehörde  zu  überreichen.  Auf  Grund  dieses  Ansuchens 
hat  die  Finanzbehörde  die  Beweisaufnahme  unter  Anführung  der  zu  beweisenden  Thatsachen 
bei  dem  Bezirksgerichte  des  Wohnortes  des  zu  Vernehmenden  zu  beantragen. 

Von  der  Anordnung  der  Tagsatzung  zur  Aufnahme  des  Beweises  ist  ausser  der 
Partei  die  zuständige  Finanzbehörde  zu  verständigen,  welcher  ebenso  wie  der  Partei  das 
Recht  zusteht,  bei  der  Tagsatzung  vertreten  zu  sein  und  Fragen  zu  stellen. 

Gegen  die  schliessliche  Entscheidung  der  Finanzbehörde  ist  die  Beschwerde  an 
den  Verwaltungsgerichtshof  zulässig. 

§  17. 
Für  die  Gebür  von  den  in  den  §§  13,  14  und  15  bezeichneten  Vermögensbestand- 
theilen  sind  ausschliesslich  diejenigen  Personen  zahlungspflichtig,  denen  diese  Vermögens- 
bestandtheile  zufallen. 

§  18. 

Die  in  den  §§  13,  14  und  15  bezeichneten  Vermögensbestandtheile  sind,  soweit 
sie  dem  Erben  bekannt  sind,  zum  Zwecke  der  Gebürenbemessung  in  die  Nachlassnach- 
weisung einzustellen  oder  gleichzeitig  mit  der  Erstattung  derselben  der  Finanzbehörde 
unmittelbar  anzuzeigen. 

in.  Uebergangs-  und  Schlussbestimmungen. 
§  19. 
Für  die  in  Tirol  und  Vorarlberg  bis  einschliesslich  5.  October   1909  vorfallenden 
Ueb ertragungen  unbeweglicher  Sachen  sind  statt  der  in  dem  §  1,  Z.  2,  lit.  b),  und  Z.  3, 


I 


I 


Die  österreichische  Gebürennovelle  vom  18.  Juni  1901.  625 

lit.  c),  festgesetzten  Gebären  von   2  und  4  Proc.  nur  solche  von    I72.  beziehungsweise 
von  3V2  Proc.  zu  entrichten. 

§  20. 

Das  gegenwärtige  Gesetz  tritt  mit  dem  Tage  seiner  Kundmachung  in  Wirksamkeit; 
an  eben  diesem  Tage  tritt  die  kaiserliche  Verordnung  vom  16.  August  1899,  R.-G.-Bl. 
Nr.  158,  ausser  Kraft. 

§  21. 

Mit  dem  Vollzuge  dieses  Gesetzes  ist  der  Finanzminister  und  der  Justizminister 
betraut. 

Schönbrunn,  18.  Juni  1901. 

Franz  Joseph  m.  p. 

Koerber  m.  p.  Böhm  m.  p. 

Spens  m.  p. 


n 


DAS  GESETZ  VOM  1.  JULI  1901 

ÜBER  DIE 

ARBEITSZEIT  DER  BEIM  KOHLBNBEßGBAUE 

IN  DEE 

GRUBE  BESCHÄFTIGTEN  ARBEITER. 

VON 

KARL  THEODOR  V.  INAMA-STERNEGG. 


Die  erste  gesetzliche  Kegelung  der  Schichtdauer  beim  Bergbaue  ist  in 
Oesterreich  durch  das  Gesetz  vom  21.  Juni  1884,  R.-G.-Bl.  Nr.  115,  erfolgt, 
welches  die  maximale  Schichtdauer  bei  Bergbauen  im  Allgemeinen  mit  12  Stunden, 
die  tägliche  Maximalarbeitszeit  innerhalb  derselben  mit  10  Stunden  festsetzte. 

In  der  Praxis  hat  sich  seitdem  in  den  verschiedenen  Zweigen  des  Berg- 
baues eine  sehr  grosse  Verschiedenheit  der  Schichtdauer  ergeben.  Es  besteht 
nach  den  Ausweisen  der  Regierung  speciell  beim 

Braunkohlenbergbau  Steinkohlenbergbau 

eine  Schichtdauer  von  .^  Procenten  der  betreffenden  Arbeiter 

weniger  als  8  Stunden     ....  0*01  0'17 

8  Stunden 2M4  15*16 

9  „         11-29  11-83 

10  „        41-15  64-43 

11  „         14-29  6-05 

12  „        12-12  2-35 

In  den  Kreisen  der  Bergarbeiter  ist  das  Verlangen  nach  einer  einheitlichen 
Herabsetzung  des  Maximal arbeitstages  mindestens  für  die  Kohlengruben  immer 
energischer  zum  Ausdrucke  gelangt ;  der  grosse  Kohlenarbeiterstrike  des 
Jahres  1900  stand  unter  dem  Schlagworte  des  Achtstundentages.  Die  Regierung, 
welche  schon  früher  Vorbereitungen  zu  einer  Abkürzung  der  normalen  Schicht- 
dauer eingeleitet  hatte,  kam  den  inzwischen  auch  in  den  Kreisen  der  Bergbau- 
interessenten und  Socialpolitiker  geltend  gemachten  Bedürfnissen  nach  einer 
Neuordnung  der  Schichtdauer  entgegen  und  brachte  am  17.  Mai  1900  im 
Abgeordnetenhause  den  Entwurf  einer  Bergrechtsnovelle  in  der  Form  einer 
Abänderung  des  §  3  des  Gesetzes  vom  21.  Juni  1884  ein,  durch  welche  die 
Maximaldauer  der  Schicht  für  die  beim  Kohlenbergbaue  in  der  Grube  beschäftigten 
Arbeiter  auf  neun  Stunden  herabgesetzt  werden  sollte.  Diese  Regierungsvorlage 
wurde    ohne    erste    Lesung  am  18.  Mai   1900    dem  socialpolitischen  Ausschusse 


Das  Gesetz  vom  1.  Juli  1901  über  die  Arbeitszeit  der  beim  Kohlenbcrgbaue  etc.       627 

des  Abgeordnetenhauses  zur  geschäftsordnungsmässigen  Behandlung  zugewiesen. 
Der  Ausschuss  hat  sich  mit  der  Berathung  dieser  Vorlage  in  mehreren  Sitzungen 
beschäftigt;  am  8.  Juni  1900  wurde  darüber  der  Bericht  vorgelegt,  der  jedoch 
infolge  des  am  gleichen  Tage  stattgehabten  Schlusses  der  XVI.  Session  des 
Eeichsrathes  nicht  weiter  behandelt  werden  konnte. 

Im  Frühjahr  1901  legte  die  Kegierung  den  Gesetzentwurf  neuerdings  in 
unveränderter  Fassung  dem  Abgeordnetenhause  vor;  am  10.  Mai  1901  wurde 
der  Bericht  des  socialpolitischen  Ausschusses  erstattet,  welcher  der  Regierungs- 
vorlage mit  unwesentlichen  Aenderungen  beistimmte.  Am  23.  Mai  wurden  diese 
Anträge  im  Abgeordnetenhause  zum  Beschlüsse  erhoben,  dem  Herrenhause  wurde 
dieser  Beschluss  bereits  in  der  Sitzung  vom  25.  Mai  vorgelegt  und  dort  in 
einer  Specialcommission  berathen,  am  1.  Juni  der  Beitritt  zu  den  Beschlüssen 
des  Abgeordnetenhauses  in  dem  Berichte  dieser  Commission  beantragt  und  am 
8.  Juni  1901  vom  Herrenhause  beschlossen.  Am  27.  Juni  1901  erhielt  das  so 
zustande  gekommene  Gesetz  die  allerhöchste  Sanction  und  wurde  in  Nr.  81 
vom  1.  Juli  1901  im  Reichsgesetzblatte  publiciert. 

Schon  die  Thatsache,  dass  die  gesetzliche  Festlegung  des  Neunstundentages 
für  die  in  der  Grube  beschäftigten  Arbeiter  der  Kohlenbergbaue,  sobald  nur  erst 
einmal  das  Abgeordnetenhaus  wieder  arbeitsfähig  geworden  war,  in  so  kurzer  Zeit 
von  beiden  Häusern  des  Reichsrathes  erledigt  wurde,  lässt  entnehmen,  dass  die 
Frage  inzwischen  schon  reif  für  eine  Entscheidung  geworden  war. 

Aber  auch  die  Behandlung  der  Frage  in  den  beiden  Häusern  lässt  ersehen, 
dass  mit  der  Regierungsvorlage  nur  der  Ausdruck  für  eine  mehr  oder  weniger 
allgemeine  Ueberzeugung  von  der  Nothwendigkeit  einer  ausgiebigen  Herabsetzung 
der  Schichtdauer  in  den  Kohlengruben  gefunden  war.  Ein  Widerspruch  gegen 
diese  Herabsetzung  ist  im  Abgeordnetenhause  gar  nicht,  im  Herrenhause  nur  von 
einer  Seite  erhoben  worden.  Aber  auch  ein  von  socialistischer  Seite  eingebrachter, 
wohl  vorbereiteter  Antrag  auf  Einführung  der  Acht  stundenschicht  konnte  nur 
vereinzelte  Zustimmung  finden.  Allgemein  wurde  dagegen  anerkannt,  dass  die 
Bestimmungen  der  Gesetzesvorlage  wohl  geeignet  seien,  den  Uebelständen  einer 
zu  langen  Schichtdauer  gründlich  abzuhelfen,  ohne  doch  den  Kohlenbergwerken 
bei  ihrer  Einführung  besondere  Schwierigkeiten  zu  bereiten  und  ihre  berechtigten 
Interessen  zu  verletzen.  Ebenso  wurde  aber  auch  anerkannt,  dass  das  Bedürfnis 
nach  Herabsetzung  der  Schichtdauer  nicht  für  alle  Arten  von  Bergbauen  in 
gleichem  Maasse  bestehe,  sondern  vor  allem  in  den  Kohlenbergbauen  und  auch 
hier  nur  für  die  in  der  Grube  beschäftigten  Arbeiter,  welche  am  meisten  den 
Schädlichkeiten  und  Gefahren  des  Bergbaues  ausgesetzt  sind. 

In  den  Verhandlungen  des  Herrenhauses  ergab  sich  schliesslich  noch  eine 
Controverse  über  den  Begriff  der  Schichtdauer,  welche  der  Gesetzentwurf  ebenso 
wenig  definiert  als  das  Gesetz  vom  Jahre  1884,  das  durch  die  vorliegende 
Novelle  nur  in  Bezug  auf  die  Schichtdauer  abgeändert  werden  soll.  Das  Abge- 
ordnetenhaus hatte  sich  mit  der  Regierungserklärung  zufrieden  gegeben,  wornach 
darunter  eine  Gesammtschicht  zu  verstehen  ist^  welche  also  für  die  gesammte 
Mannschaft  einer  Grube  und  nicht  für  die  Arbeitszeit  des  einzelnen  Arbeiters 
festgesetzt  werden  soll.     Im  Herrenhause  wurde  nun  der  Versuch   gemacht,    den 


628      Das  Gesetz  vom  I.Juli  1901  über  die  Arbeitszeit  der  beim  Kohlenbergbaue  etc. 

ersten  Absatz  des  §  3  so  zu  stilisieren,  dass  die  neunstündige  Schicht  als 
Maximalarbeitszeit  für  jeden  einzelnen  beim  Kohlenbergbaue  in  der  Grube 
beschäftigten  Arbeiter  erscheine.  Diese  Auffassung  wurde  aber  sowohl  von  der 
Kegierung  als  von  dem  Berichterstatter  als  im  Widerspruch  mit  der  herrschenden 
Uebung  und  mit  den  Intentionen  des  Gesetzes  stehend  zurückgewiesen,  und  ein 
bezüglicher  Antrag  auf  Abänderung  der  Eegierungsvorlage  von  dem  Hause  ver- 
worfen. Der  Berichterstatter  brachte  zu  dieser  Frage  einige  Ausführungen  von 
allgemeinerem  Interesse  vor,  welche  zum  Schlüsse  noch  mitgetheilt  seien. 

„Soweit  wir  zurückblicken  können,  ist  immer  die  Schichtdauer  in  der 
Sprache  des  Bergmannes  als  Gesammtschichtdauer  aufgefasst  worden,  von  den 
ältesten  Ansätzen  zu  einer  Eegelung  der  Schichtdauer  bis  in  unsere  Zeit  herein. 
Es  heisst  da  in  den  alten  Bestimmungen,  wenn  die  Glocke  tönt  oder  das  Zeichen 
gegeben  wird,  so  beginnt  die  Schicht. 

Nun  wird  nicht  für  jeden  einzelnen  Mann  geläutet  und  ein  Zeichen  gegeben, 
sondern  immer  nur  für  die  Gesammtheit  der  Bergleute,  die  zu  einer  Grube,  zu 
einem  Schacht  und  dergleichen  gehören. 

Es  ist  das  auch  für  jeden,  der  mit  dem  Geiste  des  Bergrechtes  vertraut 
ist,  eine  selbstverständliche  Sache,  deshalb,  weil  die  alten  Bergleute  ein  so 
starkes  Solidaritätsgefühl  gehabt  haben,  dass  keiner  für  sich  etwas  haben  wollte, 
sondern  jeder  nur  für  alle  und  alle  für  einen  eingetreten  sind. 

In  demselben  Geiste  ist  aber  auch  unser  geltendes  österreichisches  Berg- 
recht concipiert,  auch  hier  ist  die  zwölfstündige  Schicht  als  gesetzliche  Schicht 
im  Jahre  1884  mit  einer,  die  zehnstündige  effective  Arbeitszeit  nicht  über- 
steigenden Dauer  festgesetzt  worden. 

Damit  ist  schon  angedeutet,  dass  die  Schichtdauer  etwas  anderes  ist,  als 
die  Arbeitszeit  jedes  einzelnen  Mannes.  Aber  selbst,  wenn  ich  das  beiseite  setze, 
wenn  ich  die  Auffassung  dessen,  was  Schichtdauer  ist,  als  controvers  bezeichne 
—  was  ich  nicht  zugebe,  was  ich  nur  als  eine  Möglichkeit  hinstelle  —  so  darf 
ich  mir  vielleicht  gestatten,  hervorzuheben,  dass  die  Auffassung  der  Schichtdauer 
als  eine  Individualschichtdauer  von  den  englischen  Bergwerken  herrührt,  und 
zwar  erst  in  unserem  Jahrhunderte  hat  -man  angefangen,  from  bank  to  bank  zu 
rechnen,  das  heisst  von  dem  Betreten  bis  zum  Verlassen  der  Bühne. 

Das  ist  aber  wieder  in  derselben  Zeit  gewesen,  in  welcher  der  Geist  der 
manchesterlichen  Wirtschaftspolitik  durchgehends  herrschend  gewesen  ist,  und  wo 
der  Individualismus  die  Rechtsbildung  auf  diesem  Gebiete,  wie  auf  anderen, 
beeinflusst  hat. 

Unser  österreichisches  Bergrecht  hat  sich  davon  nie  beeinflussen  lassen. 
Es  hat  die  Bergwerksgesetzgebung  —  wie  auch  die  Bergwerksliteratur  beweist  — 
immer  daran  festgehalten,  dass  wir  nach  der  altösterreichischen  Tradition  die 
Schicht  als  eine  Gesammtschicht  aufzufassen  haben,  und  nur  in  diesem  Sinne 
kann  für  jeden,  der  die  Continuität  der  Eechtsentwickelung  im  Auge  hat,  der 
nicht  ein  vollkommenes  Novum  schaffen  will,  auch  hier  der  Ausdruck  ver- 
standen werden. 

Das  ist  auch  gewiss  der  Grund  gewesen,  warum  die  hohe  Regierung  sich 
nicht  veranlasst  gesehen  hat,    in    diesem  Paragraphen    sich,    wie    verlangt    wird, 


Das  Gesetz  vom  1,  Juli  1901  über  die  Arbeitszeit  der  beim  Kohlenbergbaue  etc.     629 

einer  noch  grösseren  Deutlichkeit  zu  befleissen,  und  warum  auch  von  Seite  des 
Abgeordnetenhauses  nicht  verlangt  worden  ist,  dass  eine  grössere  Deutlichkeit 
m  §  3  platzgreife.  Er  ist  deutlich,  und  zwar  deswegen,  weil  die  Bergwerkssprache 
eine  eigene  Sprache  ist,  das  Bergrecht  von  jelier  ein  eigenes  Eechtsgebiet  gewesen 
ist,  das  in  keiner  Weise  mit  dem  Rechtsgebiete  der  übrigen  Industrien  zusammen- 
geworfen werden  kann. 

Aber  selbst  wenn  ich  das  alles  beiseite  setze,  so  bleibt  noch  der  eine 
Umstand  übrig,  dass  in  der  überwiegenden  Mehrzahl  aller  Kohlenbergbaue  die" 
Divergenz  zwischen  Schichtdauer  und  der  individuellen  Arbeitsdauer  eine  so 
geringfügige  ist,  dass  wir  es  als  eine  Kleinigkeit,  ich  möchte  fast  sagen,  als  eine 
Kleinigkeitskrämerei  ansehen  müssen,  davon  ein  besonderes  Aufhebens  zu  machen, 
oder  gar  daraus  die  Consequenz  abzuleiten,  dass  in  diesem  kritischen  Augenblicke 
das  Gesetz  noch  geändert  und  zugleich  auch  gefährdet  werden  soll. 

In  der  überfliegenden  Mehrzahl  der  Bergbaue  ist  die  Einfahrt  und  Ausfahrt 
so  leicht  zu  bewerkstelligen,  dass  die  Differenz  der  Zeit  vielleicht  eine  viertel 
bis  eine  halbe  Stunde  ausmacht.  Es  bleiben  nur  verhältnismässig  wenige,  aller- 
dings grosse  Schächte  übrig,  in  welche  eine  grosse  Belegschaft  eingeführt  werden 
muss.  Da  bitte  ich  aber  nicht  zu  übersehen,  dass  hier  eine  Eeihe  von  Even- 
tualitäten gegeben  ist,  durch  welche  die  Bergwerksunternehmungen  in  der  Lage 
sind,  wenn  sie  wollen,  die  Schichtdauer  und  Dauer  der  individuellen  Arbeitszeit 
einander  viel  näher  zu  bringen  als  gegenwärtig.  Wir  haben  nicht  bloss  die 
technische  Möglichkeit,  die  Einfahrt  zu  beschleunigen,  dadurch,  dass  man  Förder- 
schalen in  mehreren  Etagen  baut,  dadurch,  dass  man  die  Geschwindigkeit  der 
Fahrgelegenheiten  vermehrt,  sondern  wir  haben  auch  —  und  das  ist,  glaube  ich, 
in  vielen  Kohlenbergwerken  schon  geschehen  —  eigene  Fahrschächte  für  die 
Mannschaft,  da,  wo  die  Anlage  der  Schächte  und  Gruben  im  übrigen  derart  ist, 
dass  die  Einführung  der  Arbeiter  verhältnismässig  viel  Zeit  kosten  würde.  Wir 
haben  die  Möglichkeit  durch  mechanische  Beförderung  in  der  Grube  die  Zeit 
von  der  Einfahrt  bis  zum  Arbeitsort  zu  verkürzen,  wir  haben  die  Möglichkeit, 
insbesondere  auch  die  Zeitdauer  zu  vermindern,  welche  als  sogenannte  todte  Zeit 
zu  bezeichnen  ist,  wo  der  Bergarbeiter  zwar  in  der  Grube  ist,  aber  nichts  zu 
thun  hat.  Dies  gilt  von  verschiedenen  technischen  Dingen,  die  ich  hier  des 
Näheren  nicht  zu  erörtern  brauche. 

Ich  glaube,  dass,  wenn  die  Bergwerksunternehmungen  die  Absicht  haben, 
die  Arbeitszeit  des  einzelnen  Mannes  mit  der  gesetzlichen  Schichtdauer  möglichst 
in  Ueberein Stimmung  zu  bringen,  ihnen  das  bis  auf  einen  sehr  geringen  Brnch- 
theil  vollkommen  möglich  sein  wird. " 

Gesetz  vom  1.  Juli  1901,  womit  bezüglich  den  beim  Kohlenbergbaue 
in  der  Grube  beschäftigten  Arbeiter  das  Gesetz  vom  21.  Juni  1884, 
R.-G.-Bl.  Nr.  115,  über  die  Beschäfcigung  von  jugendlichen  Arbeitern 
und  Frauenspersonen,  dann  über  die  tägliche  Arbeitsdauer  und  die 
Sonntagsruhe  beim  Bergbaue  abgeändert  wird. 
Mit  Zustimmung  der  beiden  Häuser  des  Reichsrathes  finde  Ich  anzuordnen, 
wie  folgt: 


ß30     üas  Gesetz  vom  1.  Juli  1901  über  die  Arbeitszeit  der  beim  Kohlenbergbaue  etc. 

Artikel  T. 

Der  §  3  des  Gesetzes  vom  21.  Juni  1884,  R.-G.-Bl.  Nr.  115,  tritt 
bezüglich  der  beim  Kohlenbergbaue  in  der  Grube  beschäftigten  Arbeiter  in  seiner 
gegenwärtigen  Fassung  ausser  Kraft  und  hat  zu  lauten,  wie  folgt: 

§  3. 

Die  Schichtdauer  für  die  beim  Kohlenbergbaue  in  der  Grube  beschäftigten 
Arbeiter  darf  neun  Stunden  täglich  nicht  übersteigen. 

Der  Beginn  der  Schicht  wird  nach  der  Zeit  der  Einfahrt,  ihre  Beendigung 
nach  der  vollendeten  Ausfahrt  berechnet. 

Die  aus  der  Natur  des  Betriebes  sich  ergebenden,  sowie  die  sonstigen 
Kuhepausen  sind  in  die  Schichtdauer  einzurechnen,  ausgenommen,  wenn  solche 
über  Tag  zugebracht  werden,  in  welchem  Falle  auch  die  zur  bezüglichen  Aus- 
und  Wiedereinfahrt  erforderliche  Zeit  in  die  Schichtdauer  nicht  einzurechnen  ist. 

Ausnahmsweise  kann  auch  eine  längere  als  die  mit  diesem  Gesetze  fest- 
gesetzte Schichtdauer  bis  zum  Ausmaasse  von  zwölf  Stunden  mit  einer  zehn 
Stunden  täglich  nicht  übersteigenden  wirklichen  Arbeitszeit  gestattet  werden, 
wenn  bei  dem  betreffenden  Bergbau  zur  Zeit  der  Kundmachung  dieses  Gesetzes 
eine  längere  Schichtdauer  bereits  bestanden  hat  und  die  Einführung  der  neun- 
stündigen Schichtdauer  oder  eine  Abkürzung  der  bisherigen  Schichtdauer  über- 
haupt im  Hinblicke  auf  die  obwaltenden  betriebstechnischen  oder  wirtschaftlichen 
Verhältnisse  die  Aufrechthaltung  des  Betriebes  unmöglich  machen  oder  gefähr- 
den würde. 

Eine  solche  Ausnahme  kann  entweder  für  sämmtliche  Grubenarbeiter  oder 
für  einzelne  Kategorien  derselben  gewährt  werden. 

Die  Bewilligung  einer  derartigen  Ausnahme  kann  nach  Anhörung  des 
Bergbauunternehmers  und  des  Localarbeiterausschusses  (§  23  des  Gesetzes  vom 
14.  August  1896,  E.-G.-Bl.  Nr.  156)  auf  die  Dauer  der  erwähnten  Verhältnisse 
in  erster  Instanz  die  Berghauptmannschaft  im  Einvernehmen  mit  der  politischen 
Landesstelle,  in  zweiter  Instanz  das  Ackerbauministerium  im  Einvernehmen  mit 
dem  Ministerium  des  Innern  ertheilen. 

Ferner  kann  der  Ackerbauminister  für  hochgelegene  Kohlenbergbaue  der 
Alpenländer  Ausnahmen  von  der  im  ersten  Absätze  bestimmten  täglichen 
Schichtdauer  mit  der  Maassgabe  bewilligen,  dass  die  Gesammtdauer  der  von 
einem  Arbeiter  in  einer  Woche  verfahrenen  Schichten  nicht  über  54  Stunden 
betragen  darf. 

Die  Berghauptmannschaft  ist  ermächtigt,  im  Falle  ausserordentlicher 
Ereignisse  oder  zeitweiligen  dringenden  Bedarfes  nach  Zahl  und  Dauer  beschränkte 
Ueberschichten  zu  gestatten. 

Artikel  IL 

Dieses  Gesetz  tritt  ein  Jahr  nach  der  Kundmachung  in  Wirksamkeit. 

Artikel  IIL 

Mit  dem  Vollzuge  dieses  Gesetzes  sind  die  Minister  des  Ackerbaues  und 
des  Innern  betraut. 


LITEßATURBEßlCHT. 


Haus  V.  Nostiz,  Das  Aufsteigen  des  Arbeiterstandes  in  England.  Jena, 
G.  Fleischer,  1900,  XXIV  und  808  S. 

Das  heutige  England  ist  in  vieler  Beziehung  demokratisch  geworden,  die  Wähler- 
zahl beträgt  gegenwärtig  6-8  Millionen.  Die  Macht  der  organisierten  Arbeiter,  die  Noth- 
wendigkeit  der  leitenden  Politik,  die  öffentliche  Meinung  der  breiten  Schichten  zu  gewinnen, 
haben  bisher  wenigstens  den  Unterbau  des  englischen  politischen  Systems  wesentlich 
geändert;  die  formelle  Führung  ist  zwar  noch  immer  in  den  Händen  der  oberen  Classen, 
aber  diese  müssen  ihre  Politik  den  Massen  plausibel  machen  können.  Dieser  Umschwung 
ist  allerdings  theilweise  auf  das  Eindringen  theoretischer  radicaler  Ideen,  auf  das  amerika- 
nische Vorbild,  selbst  auf  einzelne  continentale  Einflüsse  zurückzuführen,  allein  der 
lebendige  Untergrund  dieser  Entwicklung  ist  die  fortschreitende  Hebung  der  Arbeiter- 
classe  selbst,  welche  wirtschaftlich,  social  und  politisch  heute  auf  einer  ganz  anderen 
Stufe  steht  als  zu  Beginn  des  vorigen  Jahrhunderts.  Diesen  grossen  Process  zu  schildern, 
unternimmt  das  vorliegende  Werk,  das  auf  eingehendem  Quellenstudium  beruht,  eine  sehr 
präcise  und  zugleich  lebendige  Darstellung  gibt  und  durchwegs  von  einem  ruhigen  arbeiter- 
freundlichen Urtheil  durchiirungen  ist.  Die  Lage  der  englischen  Arbeiter  hat  sich  gehoben 
durch  staatliche  Thätigkeit,  Schutzgesetzgebung,  dann  durch  opferwillige  social- 
reformatorische  Thätigkeit  einzelner  Kreise  der  oberen  Classen,  aber  hauptsächlich  durch 
die  eigene  Kraft,  Energie  und  Geschicklichkeit  der  Lohnarbeiter  selbst,  die  nicht  eine 
unterschiedlose  proletarische  Masse,  sondern  eine  ganze  Schichtenreihe  bilden,  deren 
stufenraässiges  Aufrücken  nicht  bloss  der  günstigst  gestellten  Schichte  unmittelbaren 
Vortheil  und  Einfluss  verschafft,  sondern  die  allmähliche  aufsteigende  Bewegung  auch  der 
tieferen  Schichten  fördert. 

Die  einzelnen  Theile  dieser  merkwürdigen  Entwicklung,  welche  der  socialen 
Bewegung  auf  dem  Continent  vielfach  zum  Vorbild  diente,  werden  in  ihren  geschicht- 
lichen Anfängen,  ihrem  Verlaufe  und  ihren  Ergebnissen  geschildert.  Das  Schulwesen 
nimmt  mit  Recht  einen  grossen  Raum  ein  (die  Universitäten  hätten  vielleicht  wegbleiben 
können),  die  Volksschulgesetzgebung  von  1870  war  ein  wirklicher  Erfolg.  Die  neuen 
Boardschulen  haben  das  ganze  Land  mit  einem  Netz  von  Volksschulen  überzogen,  und 
zugleich  erhielten  die  von  den  kirchlichen  Genossenschaften  erhaltenen  Schulen  einen 
neuen  Antrieb  und  wirksame  Geldunterstützung. 

Von  den  vielen  Erscheinungsformen,  in  welchen  sich  die  aufsteigende  Arbeiter- 
bewegung in  England  vollzogen  hat,  sind  unzweifelhaft  die  zwei  markantesten  und  wirk- 
samsten: die  Trade  Unions  und  die  Fabriksgesetzgebung.  Die  ersteren  gehören  dem 
Gebiete  des  socialen  Kampfes  an,  aber,  wie  in  der  Welt  kein  grosser  Erfolg  ohne  Kampf 
erreicht  und  gesichert  wird,  so  mussten  die  Arbeiter  durch  eine  energische  Kampf- 
organisation die  Unternehmer  zwingen,  mit  ihnen  zu  rechnen  und  ihnen  günstigere 
Arbeitsbedingungen  zuzugestehen.  Die  ganze  Geschichte  der  Trade  Unions  ist  einer  der 
interessantesten  socialen  Processe,  und  seine  Schilderung  wesentlich  an  der  Hand  der 
Webb'schen  Bücher  und  der  letzten  grossen  Arbeiterenquete  ist  vielleicht  der  beste  Theil 
des  interessanten  Werkes.  Erst  intolerant,  oft  gewaltthätig,  zunftmässig  engherzig,  haben 
sich  die  englischen  Gewerkvereine,  wenigstens  viele  von  ihnen,  zu  einer  Aristokratie  des 
Arbeiterstandes  emporgearbeitet,  deren  Erfolge  nicht  bloss  ihnen  selbst,  sondern  in  vielen 


632  Literaturbericht. 

Fällen  auch  den  nicht  organisierten  Arbeitern  zugute  kamen.    Die  Zahl  ihrer  Mitglieder 
beträgt  weit  über  eine  Million,  auf  dem  diesjährigen  Congress  in  Swansea  waren  r2  Mil- 
lionen Mitglieder  vertreten.   In  der  Leitung  der  Trade  Unions,  die  sich  grösstentheils  in 
den  Händen  von  mit  grossen  Befugnissen   ausgestatteten  ständigen  Beamten   befindet, 
liegt  ein  gewisser  conservativer  Zug,  möglichster  Concentrierung   auf   bestimmte   Lohn- 
fragen, keine  unmittelbare  Beschäftigung  mit  Politik.  Auf  den  Jahresgesammtcongressen 
erscheinen  zwar  auch  allgemein  radicale  und  socialdemokratische  Anträge  und  Beschlüsse, 
allein  sie  sind  nicht  von  der  revolutionären  Leidenschaft  französischer  Arbeiter  begleitet, 
und    manchmal    werden    solche    coUectivistische  Resolutionen    im   nächsten  Jahre    ganz 
einfach  wieder  fallen  gelassen.  Die  Hauptthätigkeit  der  Gewerkvereine  war  die  Erhöhung 
der  Löhne,  und  mit  Recht ;  denn  nur  durch  Lohnerhöhung  erhebt  sich  der  Arbeiter  über 
den  hungernden  Proletarier.  Ein  ordentlicher  auskömmlicher  Lohn  ist  das  erste  anzustrebende 
Ziel  einer  vernünftigen  Arbeiterbewegung.  Die  Trade  Unions  halten  daher  an  den  einmal 
errungenen  Lohnsätzen  mit  grösster  Zähigkeit  fest,  und  ihre  ganze   Kraft  besteht  darin, 
dass  ihre  Mitglieder  sich  wehren,  sich  auf  Hungerlöhne  herabdrücken   zu  lassen.     Die 
steigende   Tendenz  der  Löhne   in  England  hat  allerdings  auch  noch    andere   Ursachen, 
allein  es  ist  kein  Zweifel,  dass  die  Trade  Unions  einen  ganz  wesentlichen  Antheil   daran 
haben,  und  zwar  nicht  bloss  für  sich,   sondern  auch  für  alle  anderen  Arbeiter,  oft  nicht 
bloss  desselben  Gewerbes.  Ihrer  Agitation  sind  auch  die  verschiedenen  fair  wa^res-Resolu- 
tionen  des  Parlaments  zuzuschreiben,  wornach  der  Staat  für  seine  Werkstätten   und  bei 
Submission  öffentlicher  Arbeiten  nicht  auf  möglichst  niedrige  Löhne  dringen,    sondern 
vielmehr  den  in  der  Regel  durch  die  Gewerkvereine  festgehaltenen,    orts-  und  gewerbe- 
üblichen  Minimallohn   anerkennen  solle,  Beschlüsse,   denen  eine  Anzahl   grosser  Städte 
für  commuuale  Arbeiten  gefolgt  ist.  Als  solcher  Mindestlohn  gilt  gewöhnlich  24  Schilling 
für  männliche  und  18  Schilling  für  weibliche  Arbeiter  per  Woche.    Die  Lohnpolitik   der 
Trade  Unions  geht  auf  Sicherung  der  living  icages,  fixer  auskömmlicher  Minimalsätze,  sie 
sind  daher  principiell  wenigstens  gegen  Stücklöhnung,  die  sich  jedoch  noch  immer  in  der 
Mehrheit  der  Fälle  vorfindet  und  gewisse  Industrien,  wie  Bergwerke  und  Textilindustrie, 
ausschliesslich  beherrscht;  sie  sind  aber  auch  gegen  Gewinnbetheiligung,  die  meines  Er- 
achtens  die  beste  Lohnform  ist,  wenn  ihr  zugleich  als  Basis  ein  fixer  Minimallohn  zu  Grunde 
liegt,  zu  welchem  je  nach  dem  Gedeihen  des  Unternehmens  ein  Bonus  hinzukommt.  Für 
gleitende  Lohnscalen  im  Verhältnis  zum  Marktpreis  der  Producte  sind  sie  eher  eingenommen, 
wenigstens  in  manchen  grossen  Kohlen-  und  Eisenwerken.   Die  Strikes  sind  begreiflicher- 
weise in  jenen  Industrien,  wo  grosse  gewerkschaftliche  Organisationen  bestehen,  wie  Berg- 
bau, Eisen-,  Textilindustrie,  am  ausgedehntesten  und  von  langer  Dauer,   doch  kann  man 
nicht  gerade  behaupten,  dass    die  Führer,    die   Gewerkschaftssecretäre,  leichtsinnig  auf 
Arbeitseinstellungen  drängen,  oft  entstehen  sie  aus  localen  Lohndifferenzen  und  ergreifen 
die  ganze  Branche  ohne  rechte  Vorbereitung.    Die  Trade  Unions  streben  den  Abschluss 
von  CoUectivverträgen  für  das  ganze  Gewerbe   wenigstens    für  einen  bestimmten  Bezirk 
an,   wie    überhaupt  die  Tendenz  dahin  geht,    dass    Arbeiter-  und  Unternehmerverbände 
gemeinschaftlich  die  Löhne  festsetzen,  an  welche  sich  dann  alle  übrigen  zu  halten  haben. 
In  diesem  Sinne  wirken  auch   die  verschiedenen  Einigungsämter;  das   schiedsgerichtliche 
Verfahren  über  schon  ausgebrochene  Lohnstreitigkeiten  ist   noch  immer   nicht  wirklich 
geregelt,  die  darüber  erlassenen  Gesetze  sind  wesentlich  auf  dem  Papier  geblieben.  Das 
Handelsamt   sucht    den    streitenden    Theilen    eine    schiedsgerichtliche    Organisation    zur 
Verfügung  zu  stellen,  wobei  aber  jeder  Zwang  ausgeschlossen  ist;  oft  haben  Schiedssprüche 
einzelner  unbetheiligter  Personen  von  hervorragender  politischer  oder  socialer  Stellung 
mehr  Erfolg,  als  die  Anrufung  eines  formell  organisierten  Schiedsamtes. 

Die  gesetzliche  Abkürzung  der  Arbeitszeit  verdankt  ihre  Entstehung  nicht  der 
Initiative  oder  Agitation  der  arbeitenden  Classe,  sie  ist  das  Werk  hervorragender  Phi- 
lanthropen aus  den  höheren  Ständen,  welche  angesichts  der  entsetzlichen  Zustände  in 
vielen  Fabriken  in  den  ersten  Decennien  des  19.  Jahrhundertes  die  öffentliche  Meinung 
so  laut  zur  Reformarbeit  aufriefen,  dass  die  Gesetzgebung  folgen  musste.  Bekanntlich  hat 
sich  auch  hier  die  Entwicklung  nur  schrittweise  vollzogen:  erst  textile  Fabriken,  und  auch 


I 


I 


Literaturbericlit.  g33 

hier  selbst  wieder  eine  successive  Herabsetzung  der  Arbeitszeit,  dann  andere  Fabriken 
und  endlich  Werkstätten.  Obwohl  die  Fabriksgesetzgebung  sich  nur  auf  Kinder,  junge 
Personen  und  Frauen  bezieht,  so  ist  doch  thatsächlich  wegen  des  Zusamroenarbeitens 
der  erwachsenen  Männer  mit  den  geschützten  Personen  auch  die  Arbeitszeit  für  die 
Erwachsenen  geregelt;  nach  den  letzten  Fabriksgesetzen  beträgt  die  wöchentliche  Arbeits- 
zeit in  textilen  Fabriken  5672  Stunden^  in  den  übrigen  60  Stunden.  Die  Fabriksgesetz- 
gebung, deren  interessante  Geschichte  sehr  lebendig  und  anziehend  erzählt  wird,  hat 
aber  nur  die  erste,  allerdings  hauptsächlichste  Grundlage  für  die  Abkürzung  der  Arbeits- 
zeit geschaffen,  die  weitere  Entwicklung  ist  durch  die  Arbeiter  selbst,  insbesondere  durch 
die  Gewerkvereine,  vollzogen  worden.  In  vielen  Gewerben,  namentlich  dort,  wo  die  Arbeiter 
stark  organisiert  sind,  betragen  gegenwärtig  die  wesentlichen  Arbeitsstr.nden  54,  oft 
sogar  nur  51.  Die  Bewegung  zu  Gunsten  eines  Achtstundentages  ist  zwar  nicht  so  all- 
gemein erfolgreich  gewesen,  als  es  vor  einigen  Jahren  schien,  aber  sie  war  immerhin 
stark  genug,  um  die  staatlichen  Werkstätten  und  sehr  vie'e  Gemeindeanstalten  zur 
Annahme  dieser  Abkürzung  zu  vermögen.  Selbstverständlich  wollen  die  Arbeiter  die 
kürzere  Arbeitszeit  ohne  jede  Verringerung  des  Lohnes,  in  vielen  Fällen  ist  ihnen  dies 
auch  gelungen.  Wie  die  Arbeiter  die  grössere  freie  Zeit  benützen,  darüber  fehlen  begreiflicher- 
weise vollständige  Angaben;  allein  wenn  auch  in  einigen  Fällen  vermehrter  Wirtshausbesuch, 
Schlemmerei  und  rohe  Spiele  die  neue  Müsse  ausfüllten,  so  wird  doch  in  der  Mehrheit  der 
Fälle  eine  höhere  Lebenshaltung,  besseres  Familienleben  und  eifriger  Besuch  von  Fort- 
bildungsschulen constatiert.  Die  Entwicklung  drängt  unzweifelhaft  noch  auf  weitere 
Abkürzung  und  namentlich  auf  Verallgemeinerung  der  jetzt  doch  nur  einem  Theil  der 
Arbeiter  zukommenden  kürzeren  Arbeitsdauer.  Die  Einführung  des  Achtstundentages  wird 
auch  vielfach  als  eine  Art  facultativer  Maassregel  gedacht,  dass  es  vom  Votum  der 
Gewerkvereine  oder  der  localen  Behörden,  unter  Umständen  des  Ministeriums  des  Innern 
abhängen  soll,  ob  und  wo  derselbe  ins  Leben  treten  soll,  und  dass  daneben  Exemtionen 
von  der  Regel  eintreten  können.  Im  Kohlenbergbau  sind  bekanntlich  zwei  der  mächtigsten 
Gewerkvereine  aus  localen  Gründen  gegen  den  Achtstundentag,  die  übrigen  Districte  sind 
für  denselben  eingetreten. 

Die  Lage  der  oberen  Schichte  der  arbeitenden  Classe  ist  unbestreitbar  erfreulich, 
ihr  Genossenschaftswesen,  ihre  sociale  Selbsthilfe  haben  sie  kräftig  und  selbstbewusst 
gemacht,  die  Pestsetzung  der  Löhne  und  der  Arbeitsbedingungen  vollzieht  sich  immer 
mehr  unter  ihrer  directen  Mitwirkung,  und  der  Verfasser  hat  Recht,  wenn  er  darin  eine 
Art  Theilhaberschal't  erblickt,  die  an  die  Stelle  des  einseitig  dictierten  Lohnsatzes  tritt. 
Aber  angesichts  dieses  glänzenden  Bildes  darf  man  nicht  vergessen,  dass  es  noch  eine 
grosse  Masse  Arbeiter  gibt,  die  in  die  Segnungen  der  Fabriksgesetzgebung  noch  nicht 
eingerückt  sind,  und  von  denen  sich  viele  mit  sehr  niedrigen  Löhnen  begnügen  müssen. 
Sidney  Webb  schätzt  in  der  Septembernummer  des  Mneteenth  Century  diese  proletarische 
Masse,  die  unter  1  Pf.  Sterl.  per  Woche  verdient,  und  innerhalb  welcher  das  „Sweating" 
noch  immer  seine  Verbreitung  findet,  auf  8  Millionen  Menschen,  ein  Fünftel  der 
Gesammtbevölkerung.  Die  Hebung  dieser  Masse  auf  das  nationale  Minimum  der  Lebens- 
haltung ist  das  Ziel  der  Socialreformerj  das  aber  auch  nur  schrittweise  erreicht  werden 
wird.  Je  ergiebiger  das  Aufrücken  sich  vollzieht,  desto  sicherer  ist  der  sociale  Friede, 
der  in  England  äusserlich  wenigstens  weniger  bedroht  ist,  als  anderswo.  Der  eigentliche 
revolutionäre  Socialismus  hat  zwar  immer  eine  Anzahl  Anhänger  und  eine  literarische 
und  publicistische  Vertretung  gehabt,  hat  aber  in  den  letzten  Jahren  nicht  zugenommen. 
Noch  vor  wenigen  Wochen  beklagte  einer  der  Socialistenführer,  Hyndman,  den  Mangel 
an  Classenbewusstsein  und  revolutionärer  Gesinnung  bei  den  englischen  Arbeitern. 
Gewisse  theoretische  socialistische  Postulate  wie  die  Nationalisierung  von  Grund  und 
Boden  scheinen  sich  allerdings  in  den  Ueberzeugungen  der  arbeitenden  Classen  fest- 
gesetzt zu  haben,  allein  nirgends  finden  wir  Anzeichen  einer  praktischen  Agitation  zu 
ihrer  Verwirklichung.  Die  politischen  Erfolge  der  besonderen  Labour  party  sind  gering, 
die  meisten  Arbeiter  stimmen  mit  den  bestehenden  Parteien.  Der  Verfasser  hofft  von  der 
fortwährenden    Bethätigung    socialen    Pflichtgefühls    seitens    der    oberen    und   mittleren 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  X.  Band.  43 


634  Literaturbericht. 

Classen,  dass  sich  die  weitere  Entwicklung  ohne  leidenschaftliche  Classenkämpfe  voll- 
ziehen wird.  Damit  schliesst  das  Werk,  das  als  lehrreiche  Schilderung  und  unbefangene 
Beurtheilung  eines  der  interessantesten  Theile  der  modernen  Culturgeschichte  sowohl 
fachmännischen  Kreisen,  als  dem  gebildeten  Leser  überhaupt  nur  auf  das  wärmste 
empfohlen  werden  kann.  E.  Plener. 

Leon  Say,  Les  finances  de  la  France  sous  la  troisieme  Ee'publique. 
4  Bände,  Paris  1898—1901. 

L^on  Say  war  einer  der  hervorragendsten  Finanzminister,  die  Frankreich  je 
besessen^  ein  bedeutender  liberalconservativer  Politiker  und  theoretisch  durchgebildeter 
nationalökonomischer  Schriftsteller^  würdig  des  wissenschaftlichen  Namens  seines  Gross- 
vaters J.  B.  Say.  Es  war  ein  guter  Gedanke  seiner  Freunde,  seine  zahlreichen  Keden 
und  einige  seiner  kleineren  Aufsätze  in  einer  grossen  Gesammtausgabe  zu  sammeln,  die 
nunmehr  in  vier  umfangreichen  Bänden  vorliegt.  Finanzminister  zu  wiederholtenmalen, 
arbeitete  er  zuerst  mit  Thiers  an  der  Wiederaufrichtung  Frankreichs  —  die  Steuern 
mussten  riesig  erhöht,  die  Ordnung  um  jeden  Preis  geschaffen  werden.  Der  Muth  und 
die  Arbeitskraft  der  Staatsmänner  jener  Epoche,  die  mit  Aufopferung  ihrer  persönlichen 
Popularität  alles  aufboten,  um  das  nach  dem  Krieg  völlig  zerrüttete  Land  wieder  zu 
heben,  werden  in  der  französischen  Geschichte  immer  -eine  rühmliche  Anerkennung 
bewahren.  Seine  klare  Darstellung,  seine  ungewöhnliche  Beherrschung  aller  Details  stellen 
ihn  in  den  ersten  Rang  finanzpolitischer  Redner,  gerade  sowie  seine  Berichte  über  die 
Finanzlage  nach  dem  Kriege  (hier  zum  erstenmal  veröifentlicht)  und  sein  Bericht  über 
die  Milliardenzahlung  an  Deutschland  Musterstücke  finanzieller  Staatsschriften  bilden. 
Er  war  als  Finanzminister  streng,  aber  nicht  kleinlich  fiscalisch;  derjenige,  der  den 
Steuerträgern  die  Ungeheuern  Lasten  nach  dem  Kriege  auferlegen  musste,  der  eine 
solche  schwere  Verantwortung  auf  sich  genommen  hatte,  um  die  Finanzen  wieder  her- 
zustellen, der  musste  das  so  mühsam  gewonnene  Gut  des  finanziellen  Gleichgewichts  so 
hoch  halten,  dass  er  es  um  keinen  Preis  wieder  gefährden  lassen  wollte.  Darum  war  er 
später  im  beständigen  Kampfe  mit  der  Kammer,  die  aus  populären  Rücksichten  für  die 
Wähler  leichtsinnig  Steuerermässigungen  und  neue  Ausgaben  beschloss.  Durch  eine 
Ironie  des  Schicksals  verwickelte  er  sich  selbst  einige  Zeit  in  eine  solche  Politik,  als  er 
mit  Gambetta  und  Freycinet  das  grosse  „Investitions"programm  entwarf.  Bald 
wurden  aus  den  fünf  Milliarden  mehr  als  acht  Milliarden,  und  die  Ordnung  der  Finanzen 
war  dahin.  Er  hat  diese  Politik  nicht  bis  zu  Ende  mitgemacht,  er  schuf  zu  Beginn  dieser 
Epoche  die  amortisable  dreiprocentige  Rente,  bekämpfte  nachher  die  Excesse  dieser 
Politik,  war  aber  von  ihrer  theilweisen  Urheberschaft  nicht  freizusprechen.  In  den 
darauffolgenden  Jahren  predigte  er  unablässig  Sparsamkeit,  sprach  sich  gegen  die  Ver- 
staatlichung der  Eisenbahnen  aus  und  gerieth  angesichts  der  radicaleren  politischen 
Strömung  immer  mehr  in  eine  conservative  Richtung.  Als  Repräsentant  der  hohen 
Bourgeoisie  hieng  er  zwar  an  dem  politischen  Liberalismus,  hatte  aber  zu  wenig  Ver- 
ständnis und  Sympathie  für  Socialpolitik  und  für  moderne  Steuerreformen,  Er  war  ein 
unerbittlicher  Gegner  der  progressiven  Einkommen-  und  Erbsteuer,  als  Hüter  des 
französischen  Staatscredits  wehrte  er  sich  gegen  jede  Besteuerung  der  Rente.  In  diesen 
Dingen  blieb  er  hinter  seiner  Zeit  und  selbst  hinter  seinem  Vorfahren  zurück,  er  wurde 
immer  unzugänglicher  und  stand  darum  zuletzt  ziemlich  vereinsamt.  Aber  immer  ver- 
theidigte  er  seine  Ansichten  mit  grossem  Talent,  eleganter  Form  und  fester  Consequenz. 
Die  vier  Bände  sind  eine  Fundgrube  für  die  französische  Finanzgeschichte  und  zugleich 
eine  anziehende  Illustration  des  bewegten  öffentlichen  Lebens  eines  bedeutenden  Maimes. 

E.  Plener. 

Victor  Felix  v.  Kraus,  Die  Wirtschafts-  und  Verwaltungspolitik  des 
aufgeklärten  Absolutismus  im  Gmundner  Salzkammergut.  Auf  Grund  archi- 
valischer  Quellen  dargestellt.  (Wiener  staatswissenschaftliche  Studien,  herausgegeben  von 
E.  Bernatzik  und  E.  v.  Philippovich.  L  Band,  4.  Heft.)  Freiburg  i.  B.  1899.  VH. 
und  167  S. 


Literaturbericht.  635 

Ludwig' Bittner,  Das  Eisenwesen  in  Innerberg-Eisenerz  bis  zur  Grün- 
dung der  Innerberger  Hauptgewerkschaft  im  Jahre  1625.  (Archiv  für  öster- 
reichische Geschichte,  Band  LXXXIX,  2.  Hälfte.)  Wien  1901.  196  S. 

Zwei  der  grössten  und  interessantesten,  aber  auch  compliciertesten  montanistischen 
Betriebszweige  Oesterreichs  haben  in  den  vorliegenden  Schriften  die  erste  eingehende 
und  fachkundige  Darstellung  ihres  geschichtlichen  Entwicklungsganges  erfahren.  Beide 
die  Gmundener  Salinen,  wie  die  Erzbergbaue  und  Hütten  von  Innerberg,  sind  vom  Anfang 
an  Kammergut  gewesen^  doch  mit  sehr  verschiedener  Intensität  der  staatlichen  Ver- 
waltung und  mit  sehr  verschiedener  Ausdehnung  der  fiscalischen  Gewalt.  In  beiden 
Gebieten  beruhte  die  Production  zunächst  auf  den  vom  Landesherrn  verliehenen  Productions- 
stätten  (Berglehen  und  Pfannhausstätten  im  Salzkammergute,  Eadmeister  und  Hammer- 
werke in  Innerberg),  welche  in  eigenen  Berggemeinden  unter  Aufsicht  und  Leitung 
landesfürstlicher  Beamten  ihre  erste  zusammenfassende  Organisation  fanden.  In  beiden 
Gebieten  wird  auch  in  älterer  Zeit  eine  weitgehende  Fürsorge  der  landesherrlichen  Ver- 
waltung für  den  so  wichtigen  Holzbezug,  die  Land-  und  Wasserstrassen,  die  Sicherung 
billiger  Lebensmittel  der  Berg-  und  Hüttenarbeiter,  des  Absatzes  der  Producte  und  die 
Preisbildung  derselben  entfaltet.  Aber  bald  differenziert  sich  die  Verwaltung  dieser 
beiden  Gemeinwesen  sehr  bedeutend.  Während  die  verschiedenartigen  privaten  Berech- 
tigungen an  den  ^alzkammergutsalinen  schon  gegen  Ende  des  Mittelalters  wieder  zur 
landesfürstlichen  Kammer  eingezogen  und  damit  die  Voraussetzungen  für  einen  einheit- 
lichen Staatsbetrieb  geschaffen  wurden,  ist  in  Innerberg  die  Entwicklung  immer  mehr 
auf  einen  gewerkschaftlichen  Betrieb  hingedrängt  worden,  der  schliesslich  1625  in  der 
Innerberger  Hauptgewerkschaft  seine  erste  feste  Form  fand.  Zwar  ist  auch  hierbei  der 
Ausgangspunkt  der  Kegalität  des  Erzberges  festgehalten;  die  landesfürstliche  Gewalt 
greift,  auf  dieselbe  gestützt,  in  die  bestehenden  Rechts-  und  Besitzverhältnisse  rück- 
sichtslos ein  und  zwingt  die  Rad-  und  Hammermeister  von  ihren  Rad-  und  Hammer- 
werken zu  Gunsten  der  Gewerkschaft  zurückzutreten  und  sich  den  Wert  ihres  Besitzes  als 
Einlagecapital  bei  derselben  anrechnen  zu  lassen;  auch  die  Forderungen  der  alten,  nun- 
mehr aufgelösten  Eisenhandelsgesellschaft  wurden  zwangsweise  in  Einlagecapital  bei  der 
Hauptgewerkschaft  convertiert.  Aber  die  Gewerkschaft  selbst  war  doch  durchaus  eine 
private  capitalistische  Erwerbsgesellschaft,  die  nur  einer  weitgehenden  Staatsaufsicht 
unterlag,  ohne  doch  den  Charakter  eines  Staatsbetriebes  an  sich  zu  tragen,  während  die 
Salinen  zur  selben  Zeit  schon   gänzlich  zu    einer  Monopolsverwaltung  entwickelt  waren. 

Es  ist  für  das  genauere  Eindringen  in  die  Besonderheiten  staatlicher  und  staatlich 
begünstigter  Betriebsorganisationen  sehr  lehrreich,  die  Analogien  und  die  Verschieden- 
heiten zu  verfolgen,  welche  gerade  in  diesen  beiden  grossen  montanistischen  Betrieben 
zutage  treten.  Eine  solche  vergleichende  Betrachtung  ist  durch  die  vorliegenden  Arbeiten 
zwar  noch  immer  nicht  ganz  einfach,  aber  doch  wesentlich  erleichtert.  Für  v.  Kraus, 
den  juristisch  geschulten  Nationalökonomen,  stehen  die  Probleme  der  Verfassung  und 
Verwaltung  des  Salzkammergutes,  die  Arbeitsverfassung  und  die  wirtschaftliche  Lage  der 
Salinenarbeiter  im  Vordergrunde  des  Interesses;  Bittner,  der  Historiker,  ist  viel  ein- 
gehender in  der  Feststellung  der  Einzelthatsachen  des  Berg-  und  Hüttenwesens,  sowie 
des  Eisenhandels  und  der  Eisenindustrie  und  ihrer  technischen  Processe,  während  die  ver- 
fassungs-  und  verwaltungsrechtlichen  Fragen,  sowie  die  eigentlich  nationalökonomischen 
Probleme  in  ihrer  principiellen  Bedeutung  weniger  scharf  hervortreten.  Aber  doch  orien- 
tieren beide  Schriften  vollkommen  ausreichend  über  alle  wesentlichen  Vorgänge  in  dem 
jahrhundertelangen  Entwicklungsprocess,  welchen  diese  beiden  hochwichtigen  Productions- 
gebiete  durchgemacht  haben.  Die  österreichische  Wirtschafts-  und  Verwaltungsgeschichte 
ist  damit  auf  einem  bisher  wenig  aufgehellten  und  doch  so  wichtigen  Gebiete  wesentlich 
bereichert.  J. 


43* 


Generalindex  für  die  Bände  I  bis  X. 


Vorbemerkung'.  Zweck  dieses  Generalindex  ist  nicht,  einen  genauen  Ueberblick 
über  den  Inhalt  der  ersten  zehn  Jahrgänge  der  Zeitschrift  zu  geben,  sondern  nur,  die 
Auffindung  der  einzelnen  Artikel,  der  Verhandlungen  der  Gesellschaft  österreichischer 
Volkswirte  und  der  Literaturbesprechungen  jedem  zu  erleichtern,  der  sich  für  eine 
bestimmte  Materie  interessiert.  Infolgedessen  war  möglichste  Kürze  und  die  Einreihung 
der  einzelnen  Artikel  u.  s.  w.  unter  einzelne  Schlagwörter  geboten.  Die  Kürze  wurde 
dadurch  erreicht,  dass  die  Titel  der  Abhandlungen,  der  recensierten  Schriften  u.  s.  w. 
thunlichst  abgekürzt  und  deren  Wiederholung  unter  mehreren  Schlagwörtern  auf  das 
geringste  Maass  beschränkt  wurde.  Allerdings  muss  infolgedessen  jeder,  der  sich  über 
einen  bestimmten  Gegenstand  vollständig  orientieren  will,  auch  die  sachlich  verwandten 
Schlagwörter  durchsehen.  Innerhalb  jedes  Schlagwortes  ist  unterschieden  zwischen: 

A.  d.  h.  Abhandlungen. 

V.  d.  h.  Verhandlungen  der  Gesellschaft  österreichischer  Volkswirte. 

L.  d.  h.  Literaturbesprechungen. 

Die  den  einzelnen  Abhandlungen  etc.  beigesetzten  römischen  Zahlen  geben  den 
Band  (Jahrgang),  die  arabischen  die  Seite  an. 

Das  alphabetische  Autorenregister  am  Schlüsse  verweist  mit  den  arabischen  Zahlen 
auf  die  Nummer  der  einzelnen  Schlagwörter  und  soll  die  Auffindung  der  einzelnen 
Abhandlungen  in  dem  Generalindex  erleichtern.  Schiff. 


^ 


1.    Social-   und  Staatswissenschaft 
im  allgemeinen,  Demographie. 

A.  Böhm  -Bawerk,  Unsere  Auf- 
gaben II.  —  John,  Methode  der 
Socialwissenschaft  I  212.  —  Peez,  Ver- 
einsleben I  480,  II  584.  —  John, 
Eealistische  Wissenschaften  11  1,  228.  — 
Flamingo,  Historische  und  orthodoxe 
National  Ökonomen  III  598.  —  Fla- 
mingo, Exclusivismus  und  Vererbung 
V  317.  —  Sulz  er,  Gesellschaftswissen- 
schaft V  548,  VI  1.  —  Denis,  Physio- 
kraten  und  Wirtschaftsgesellschaft  VI  89. 
—  Kleinwächter,  Collectivbedürfnisse 
und  Gruppenbildung  VII  161.  —  Ha- 
welka,  Spencer  IX  283.  —  Grub  er, 
Alkoholismus  X  333. 

V.  Geldwirtschaft  V  310 


L.  Mollat,  Geschichte  der  Staatswissen- 
schaften I  662,  III  333.  —  Hainisch, 
Deutsch-Oesterreicher  II  373.  —  Fischer, 
Socialpädagogik  II  379.  —  Marino,  Scienze 
morali  sociali  II  639.  —  Bernardo,  Publica 
amministrazione  III  165.  —  Nitti,  Popo- 
lazione  e  sistema  sociale  III  167.  —  Loria, 
Wirtschaftliche  Grundlagen  IV  356.  — 
Bücher,  Entstehung  der  Volkswirtschaft  IV 
365.  —  Flamingo,  Presociologia  IV  358.  — 
Reichesberg,  Statistik  und  Gesellschafts- 
wissenschaft IV  505.  —  Mayr,  Statistik 
und  Gesellschaftslehre  V  166,  VII  635.  — 
Flamingo,  Protezionisrao    sociale  V  347. 

—  Hildebrand,  Eecht  und  Sitte  VII 
139.  —  Literatur  zur  Frauenfrage  VII  15*]. 

—  Ethisch -social  wissenschaftliche  Curse  VII 
329.  —  Hecht,  Colbert  VII  524.  —  Hand- 
wörterbuch VII  610,  VHI  530,  IX  215, 
315,  X  139.  —  Platter,  Demokratie  VII 
615.  —  Lotmar,  Berufswahl  VII  637.  — 
Weltmann,  Darwinismus  und  Socialismus 


Generalindex  für  die  Bände  I  bis  X. 


637 


VIII  100.  —  Zenker,  Eevolution  1848 
VIII  227.  —  Gobbi,  Eapporti  contratuali 
VIII  536.  —  Virgilii,  Cooperazione  IX 
535.  —  Handels-  und  Machtpolitik  IX  536.  — 
Brentano  und  Kuczynski,  Deutsche 
Wehrkraft  IX   546.   —  Wörterbuch  X  310. 

—  Zenker,  Gesellschaft  X  315. 

2.  Social- und  Wirtschaftsgeschichte, 
Geschichte  der  Wissenschaft. 

A.  Schwiedland,  Hausindustrie  I 
146.  —  Zuckerkandl,  Schutzzollidee 
I  249.  —  Iiiama-Sternegg,  Städte- 
wesen I  521.  —  Schwiedland,  Haus- 
industrie I  485.  —  John,  Eealistische 
Wissenschaften  JI  1,  228.  —  Fia- 
mingo,  Historische  und  orthodoxe  Na- 
tionalökonomie III  598.  —  Denis, 
Physiokraten  VI  89. 

L.  Literatur  zur  römischen  Wirtschafts- 
geschichte II  626.  —  Neu  bürg,  Goslars 
Bergbau  II  629.  —  Knies,  Karl  Friedrich 
von  Baden  II  631.  —  Savagnone,  Mae- 
stranze  Siziliane  II  633.  —  Vallentin, 
Westpreussen  III  334.  —  Pöhlmann,  An- 
tiker Communismus  III  464,  X  310.  — 
Ha  hl,  Volkswirtschaftliche  Ideen  III  470. 

—  Singer,  Recht  auf  Arbeit  IV  364.  — 
Bücher,  Entstehung  der  Volkswirtschaft 
IV  365.  —  Mayr,  Handelsgeschichte  IV 
635.  —  Schriften  zur  Verfassungs-  und 
Wirtschaftsgeschichte  V  337.  —  SchüUer, 
Classische  Nationalökonomie  V  656.  — 
Knittel,  Geschichte  des  Genossenschafts- 
wesens VI  172.  —  Kniep,  Societas  publi- 
canorum  VI  818.  —  Grünberg,  Bauern- 
befreiung VI  315. —  Wret  schko, Marschall- 
amt VII  135.  —  Eberstadt,  Magisterium 
VII  136.  —  Michael,  Geschichte  des 
deutschen  Volkes  VII  138.—  Hildebrand, 
Recht  und  Sitte  VII  139.  —  Ehrenberg, 
Fugger  VII  327.  —  Häbler,  Fugger  VII 
327.  —  Meitzen,  Siedlungen  VII  617.  — 
Knapp,  Grundherrschaft VII  617.  —  Lewy, 
Agrarische  Ideen  VIII  230.  —  Inama- 
Sternegg,  Wirtschaftsgeschichte  VIII  443. 

—  Meli,  Unterthanenstand  VIII  549.  — 
Käser,  Politische  und  sociale  Bewe- 
gung VIII  550.  —  Zycha,  Bergbaurecht 
Vni  550.  —  Souchon,  Theories  econo- 
miques  VIII  626.  —  Schmoller,  Umrisse 


und  Untersuchungen  VIII  626.  —  Gold- 
stein, Urchristenthum  IX  237.  —  Zanelli, 
Condi/;ione  di  Brescia  IX  239.  —  Ra- 
dziwill,  Stolbergischer  Grundbesitz  IX  320. 

—  Handels-  und  Machtpolitik  IX  536.  — 
Geschichte  von  Wien  X  809.  —  Walter, 
Propheten  X432.  —  Kraus,  Salzkammergut 
X  634.  —  B  i  1 1  n  e  r,  Innerberg-Eisenerz  X  635. 

3.    Theoretische    Nationalökonomie 
(Politische  Oekonomie). 

A.  Bonar,  Gesetz  in  der  National- 
ükonoraie  I  201.  —  Meyer,  Mannig- 
faltigkeit der  Consumtion  II  385.  — 
Komorczynski,  Thünen  III  27.  — 
Böhm -Bawerk,  Güterwert  III  185, 
512.  —  Auspitz,    Güterwert  ÜI  489. 

—  Benini,  Privatvermögen  IV  369.  — 
Körner,  Industrielle  Maschine  IV  398. 

—  Jäger,  Theoretische  Nationalökonomie 
IV  513.  —  Denis,  Physiokraten  VI 
89.  —  Böhm -Bawerk,  Theoretische 
Nationalökonomie  VII  400.  —  Böhm- 
Bawerk,  Capitalstheorie  VIII  105,  365, 
553.  —  Montemartini,  Grenzproduc- 
tivität  VIII  467.  —  Grabski,  Skarbek 
VIII  504.  —  Jäger,  Smith  IX  67.  — 
Zwiedine  ck  -  Südenhorst,  Minimal- 
lohn IX  182.  —  Jäger,  Lohnfonds- 
theorie X  145.  —  Schwoner,  Be- 
wegung der  Werte  X  257. 

L.  Schullern,  Nationalökonomie  Ita- 
liens I  198.  —  Smart,  Theory  of  value 
I  371.  —  Valenti,  Theorie  di  valore  I  372, 

—  Idee  di  Rogmanosi  I  374.  —  Herrm  ann, 
Miniaturbilder  I  375  —  Lehr,  Politische 
Oekonomie  I  505.  —  Patten,  Dynamic 
Econ.  I  505.   —   Cossa,  Econ.  pol.  I  660. 

—  Bonar,  Philosophy  and  pol.  econ.  III 
161.  —  Wicksell,  Wert,  Capital  und  Rente 
III 162.  —  Philippovich,  Politische 
Oekonomie  II  351,  VIII  622.  —  Mähe  im, 
St.  Marc,  L'enseignement  de  T^con.  pol.  II 
359.  —  Gau w es,  Econ.  pol.  II  467,  III  469. 

—  Maze-Dari,  Econ.  pol.  II  638.  —  Feil- 
bogen, Smith  und  Turgot  II  684.  — 
Mclinari,  Econ.  pol.  III  169.  —  Wieser, 
Natural  value  III  827,  —  Benini,  Valore 
ni829.  —  Volt a,  Salario  III  330.  —  Tan- 
go rra,   Costo    di    produzione   III  470.    — 


638 


Generalindex  für  die  Bände  I  bis  X. 


Kicca-Salerno,  Valorein624.  —  Sulz  er, 
Wirtschaftliche  Grundgesetze  IV  352.  — 
Neumann,  Wert  IV  355.  —  Montanari, 
Matematica  applicata  IV  505.  —  Vesanis, 
Zinscapitalinhaber  IV  634.  —  Gans- 
Ludassy,  Wirtschaftliche  Energie  V  340. 

—  Schober,  Weiss,  Volkswirtschaftslehre 

V  357.  —  Schüller,  Classische  National- 
ökonomie V  656.  —  Smart,  Studies  V  656. 

—  Montemartini,  Risparmio  V  658.  — 
Pierson,  Staathuishoudkunde  V  658.  — 
Pareto,  Econ.  pol.  VI  159.  —  Fisher, 
Appreciation  VI  166.  —  Ler  oy-Beaulieu, 
Nationalökonomie  VI  170.  —  Bachmann, 
Volkswirtschaft  VI  170.  —  Internationale 
Vereinigung  VI  174.  —  Einarsen,  Capital 

VI  321.  —  Off  ermann,  Fictives  Capital 
VI  825.  —  Röscher,  Nationalökonomie 
VI  334.  —  Walras,  Econ.  sociale  VI  651. 

—  Bergmann,  Wirtschaftskrisen  VII  182. 

—  Bullock,  Study  of  Econ.  VII  134.  — 
Hecht,ColbertVlI524.  —  Koerner,  Volks- 
wirtschaftslehre VII  618.  —  Pareto,  Econ. 
pol.  VIII  91.  —  Schmoller,  Grundfragen 
VIII  229.  —   Cossa,   Consumo    VIII  329. 

—  Paasch e,  Festgabe  für  Conrad  VIII 
885.  —  Neuburg,  Lehrs  politische  Oeko- 
nomie  VIII  535.  —  Luigi,  Econ.  pol.  VIII 
585.  —  Clark,  Distribution  of  wealth  X 
434.  —  Cjonrad,  Politische  Oekonomie  X 
485.  —  Böhm-Bawerk,   Capital  X  485. 

4.  Wirtschaftliche  Verhältnisst^ 
und  Volkswirtschaftspolitik  im  all- 
gemeincD. 
A.  Baernreither,  Socialreform  I 
11.  —  Herkner,  Erhaltung  der  Mittel- 
classe  II  209.  —  John,  Genossen- 
schaftsbewegung in  337.  —  Mataja, 
Städtische  Socialpolitik  III  519.  — 
Pierson,  Goldmangel  IV  1.  —  Peez, 
Ostasien  IV  286.  —  Robert,  Ost- 
asien IV  618.  —  Robert,  Australien 
V  130.  —  Schiff,  Wirtschaftliche 
Gesetzgebung  V  464.  —  Colonialgesell- 
schaft  VII  107.  —  Schroft,  Aus- 
wanderung VII  253.  —  Matlekovits, 
Ungarn  VII  529.  —  Philippovich, 
Organisation  der  Berufsinteressen  VIII 1. 
—  Industrie-    und    Landwirtschaftsrath 


VIII  89.  —  Rauchberg,  Wohnungs- 
frage VIII  431.  —  Ausgleich  mit  Ungarn 
1X301,  404.  —  Oppenheim  er,  Alters- 
versorgung IX  549.  —  Schwartzenau, 
Wohnungsgesetzgebung  X  1.  —  Buzek, 
Auswanderung  X  441,  553. 

y.  Lebensmittelpreise  und  Approvisio- 
njerung  Wiens  I  475.  —  Nordamerikanische 
Krise  III  147.  —  Wiener  Wohnungsverhält- 
nisse III  272,  412.  —  Colonialpolitik  IV 
250.  —  Ostasien  IV  459.  —  Wirtschafts- 
politik IV  469.  —  Socialpolitik  und  Statistik 

VIII  271.   —  Bodenwert  und  Bodenpolitik 

IX  361. 

L.    Herkner,    Sociale    Reform   I  509. 

—  Philippovich,  Wirtschaftlicher  Fort- 
schritt II  200.  —  Bahren d,  Verstaatlichung 
von  Grund  und  Boden  II  485.  —  Preuss, 
Bodenbesitzreform  II486.  —  Stieda,  Social- 
politik II  639.  —  Schultze-Gävernitz, 
Grossbetrieb  III  174.  —  Born  hak,  Social- 
gesetzgebung  III  626.  —  Platter,  Sociale 
Zustände  III  638.  —  Loria,  Wirtschaft- 
liche Grundlagen  IV  355.  —  Singer,  Recht 
auf  Arbeit  IV  364.  —  Bücher,  Entstehung 
der  Volkswirtschaft  IV  365.  —  Graziani, 
Idee  economiche  IV  505.  —  Bellis,  Guerra 
al  pregiudizio  IV  506.  —  Teifen,  Sociales 
Elend  IV  508.—  Challey-Bert  et  Fon- 
taine, Lois  sociales  IV  509.  —  Schriften 
über  die  Wohnungsfrage  V  194,  486.  —  V  ir- 
gilii,  Avvenire  sociale  V  351.  —  Fltirsch- 
heim,  Währung  und  Weltkrise  V  353.  — 
Müller,    Consumgenossenschaften   V    655. 

—  Stammhammer,  Bibliographie  VI  485. 

—  Conrad,  Volkswirtschaftspolitik  VII 
134.  _  Bach,  Arbeitstheilung  VII  184.  — 
Wörterbuch  der  Volkswirtschaft  VII  611, 
VIII  328.  —  Bücher,  Wirtschaftliche  Auf- 
gaben der  Stadtgemeinde  VII  614.  — 
Schmoll  er,  Grundfragen  VIII  229.  — 
Hellen,  Italiens  Volkswirtschaft  VIII  586. 

—  Philippovich,  Volkswirtschaftspolitik 
VIII  622.  —  Schultze-Gävernitz,  Russ- 
land IX  529.  —  Nicolai-on  Russland  IX 
529.  —  Steinbrück,  Immobilarpreise  IX 
588.  —  Handels-  und  Machtpolitik  IX 
536.  _  Matlekovits,  Ungarn  IX  636.  — 
Launhardt,  Technischer  Fortschritt  X  144. 

—  Oppenheiraer,Wohnungsnoth  X319.  — 
Abele,  Wohnungsfrage  X  320.  —  Hogge, 
Serbie,  X  322. 


I 


Generalindex  für  die  Bände  I  bis  X. 


639 


5.  Sociale  Frage,  Socialismus, 
Anarchismus. 

A.  Jolin,  CoUectivismus  IV  279.  — 
Singer,  Ludwig  Gall  III  417.  — 
Bertolini,  Socialistische  Literatur  IV 
550.  —  Denis,  Proudhon  V  283.  — 
Komorczynski,  Marx  VI  242.  — 
Hawelka,  Krapotkin  X  289. 

L.  Jäger,  Sociale  Frage  I  515.  — 
Cossa,  Questione  sociale  I  660.  —  Wolf, 
Socialismus  II  185.  —  Stammhammer, 
Bibliographie  III  328.  —  Pöhlmann,  An- 
tiker Communismus  III  464,  X  310.  — 
Mac kay,  Anarchisten  IV  177.  —  Singer, 
Kecht  auf  Arbeit  IV  364.  —  Ofner,  Er- 
furter Programm  IV  635.  —  Zenker,  Anar- 
chismus V  352.  — ■'  Haushofe n,  Socialismus 
V  357.  —  Brandt,  Lassalle  V  358.  —  So- 
cialdemokratischer  Parteitag  VI  171.  — 
Questione  sociale  VI  173.  —  Platter,  So- 
cialismus VII  615.  —  Woltmann,  Darwi- 
nismus und  Socialismus  VIII  100.  — 
Destre'e  und  Vandervelde,  Socialisme 
en  Belgique  VIII  630.  —  Goldstein,  Ur- 
christenthum  IX  237.  —  Eltzbacher,  Anar- 
chismus X  316.  —  Menger,  Produit  in- 
tegral du  travail  X  329.  —  Jaures,  Action 
socialiste  X  436. 

6.  Agrarwesen  und  Agrarpolitik. 

A.  Bräf,  MeliorationscreditI227.  — 
Stockinge r,  Landwirtschaft  in  Britisch- 
indien II  152.  —  Schiff,  Executions- 
verfahren  IV  573.  —  Schullern- 
Schrattenhofen,  Landarbeiter  V  1.  — 
Janke,  Landwirtschaftliche  Genossen- 
schaften V  88.  —  Navay,  Arbeiter- 
frage in  Alföld  VI  100.  —  Goemoery, 
Landwirtschaftliche  Arbeiter  VII  75.  — 
Chrenozy  -  Nagy,  Agrarstatistik  VII 
125.  — Landwirtschaftsrath  VIII  89.  — 
Lippert,  Getreidepreise  VIII  276.  — 
Schiff,  Agrarrecht  IX  291.  —  Creanga, 
Bauernstand  X  194. 

T.  Kentengüter  III  140.  —  Agrartag 
IV  305.  —  Termiuhandel  VI  308.  —  Jagd 
VII  391.  —  Entschuldung  X  278. 

L.  Bianchi,  Proprietä  fondiaria  I  517. 
—  Meitzen,  Boden  des  preussischen  Staates 


IV  638.  —  Hasbach,  Landarbeiter  IV  639. 

—  Drill,  Getreideproduction  IV  653.  — 
Sering,  Innere  Colonisation  V  181.  — 
Goltz,  Agrarische  Aufgaben  V  186.  — 
B  0  de,  Landwirtschaftliche  Genossenschaften 

V  190.  —  Wygodzinski,  Gemeinsamer 
Absatz  V   190.  —   Fick,  Erbfolge  V  349. 

—  Virgilii,  Problem a  agricolo  V  351.  — 
Fertilizzazione  de  suolo  VI  173.  —  Grün- 
berg, Bauernbefreiung  VI  313.  —  König, 
Englische  Landwirtschaft  VI  328.  — 
Wygodzinski,  Vererbung  VI  490.  — 
Buchenb erger,  Agrarpolitik  VII  143.  — 
Klinkowstroem-Korklack,  Buchenber- 
ger  VII  143.  —  Richter,  Berufsgenossen- 
schaft VII  525. —  Richter,  Creditorganisa- 
tion  VII  526.  —  Meitzen,  Agrarwesen  VII 
617.  —  Knapp,  Grundherrschaft  VII  617. 

—  Rabben 0,  Questione  fondi  aria  VII  629. 

—  Grieb,  Oedland  VII  629.  Hager,  Fami- 
lienfideicommisse  VII  630.  —  Weichs- 
Glon,  Brotfrage,  Agraiisches  Handbuch  VIII 
228.  —  Lewy,  Agrarische  Ideen  VIII  230. 

—  Böhm,  Kornhäuser  VIII  230.  —  Ertl 
und  Licht,  Landwirtschaftliche  Genossen- 
schaften VIII  330.  —  Schiff,  Agrarpolitik 
VIII  537.  —  Buchenberger,  Agrarpolitik 
VIII  540.  —  Goltz,  Agrarpolitik  VIII  541. 

—  Simon,  Export  landwirtschaftlicher  Pro- 
ducte  VIII    542.    —  Brentano,   Erbrecht 

VIII  543.  —  Simkowitsch,  Feldgemein- 
schaft VIII  544.  —  Marchet,  Agrarver- 
hältnisse VIII  545.  —  Blum,  Feldbereini- 
gung VIII  630.  —  Geschichte  der  Land- 
wirtschaft IX  228.  —  Hohenbruck,  Biblio- 
graphie IX  231.  —  Landwirtschaftlicher 
Personalcredit  IX  231.  —  Mayr,  Anerben- 
system 1X234.—  Radziwill,  Stolbergischer 
Grundbesitz  IX  320.— Hecht,  BodencreditIX 
321.  —  Borgius,  Getreidehandel  IX  323. 

—  Mar  eh  et,  Recht  des  Landwirtes  1X450, 

—  Grabmayr,  BodenentschuldungIX530. — 
Hattingberg,  Landwirtschaftlicher  Credit 

IX  532.  —  Steinbrück,  Immobiliarpreise 
IX  533.  —  Getreide  im  Weltverkehr  X 
221.  —  Aal,  Rentengut  X  327. 

7.  Gewerbe  und  Gewerbepolitik, 

A.  Wies  er,  Grossbetrieb  und  Pro- 
ductivgenossenschaften  I  102.  — 
Schwiedland,  Hausindustrie  I  146, 
485.    —  Elkan,   Einige   Fabrications- 


640 


Generalindex  für  die  Bände  I  bis  X. 


zweige  II  615.  —  Schwiedland,  Sitz- 
gesellenwesen III  150.  —  Koerner, 
Industrielle  Technik  IV 1 93.  —  K  o  e  r  n  e  r, 
Industrielle  Maschine  IV  398.  —  John, 
Productivgenossenschaften  IV  289.  — 
Hasen öhrl,  Sonntagsruhe  IV  481.  — 
Gruber,  Lebensmittelindustrie  V  604. 
—  Schullern,  Bergbaugenossenschaften 
VI  137.  —  Zwiedineck-Südenhorst, 
Betriebssysteme  VII  15. —  Industrierath 

VIII  89.    —  Sprung,   Actienregulativ 

IX  599. 

V.  Handwerker  IV  303.  —  Kleingewerbe 
IV  462.  —  Lebensmittelindustrie  V  311.  — 
Kunstwein    VII   97.    —    Gewerbeförderung 

VIII  407.   —  Gablonzer  Industrie  IX  168. 
L.  Baumberger.    Stickereiindustrie  I 

188.  —  Trenkler,  Modewarenfabrication 
I  193.  —  Bücher,  Betriebsformen  I  675.  — 
Rabbeno,  Cooperazione  II  193.  —  Neu- 
kamp, Reichsgewerbeordnung  II  469.  — 
Paygert,  Schuhmacherei  II  473.  —  Hall- 
wich, Leitenberger  III  316.  —  Schultze- 
Gävernitz,  Grossbetrieb  III  174.  — 
Francke,  Schuhmacherei  III  482.  — 
Koppen,  Ind.  minerale  III  630.  —  Frey 
und  Mar e seh,  Gewerberechte  III  631.  — 
Hampke,  Handwerkerkammern  III  634.  — 
Schwiedland,  Hausindustrie  IV  186.  — 
Schneider,  Bergbaupolitik  VI  .330.  — 
Freese,  Fabrikantensorgen  VII  329.  — 
Heilin g er.  Gewerberecht  VII  330.  — 
Schwiedland,  Heimarbeit  VII  519.  — 
Travail  en  Chamber  VII  519.  —  Gewerbe- 
ausstellung VIII  547.  —  Waentig,  Mittel- 
stand IX  223.  —  Holländer,  Mühlen- 
industrie 1X326.  —  Kustermann,  Mühlen- 
gewerbe   IX   327.    —    Liefmann,    Verlag 

IX  329.  —  Industries  ä  domicile  IX   53.3, 

X  436.  —  Pohle,  Cartelle  IX  538.  — 
Kley,  Krupp  IX  539.  —  Trefz,  Wirts- 
gewerbe IX  539. 

8.  Handel  und  Verkehr,  Handels- 
und Verkehrspolitik. 
A.  Zuckerkandl,  Schutzzollidee  I 
249.  —  Schwiedland,  Freie  Con- 
currenz  im  Handel  II  253.  —  Grunzel, 
Handelspolitik  II 460.  —  Hopfgartner, 
Wasserstrassen    IV    124.    —  Eobert, 


Triest  IV  167.  —  Hasen  öhrl,  Aus- 
verkäufe IV  493.  —  Grub  er,  Lebens- 
mittelverkehr V  604.  —  Verdin,  Frei- 
hafen Triest  V  623.  —  Schullern, 
Eatengeschäfte  VI  154.  —  Bunzel, 
Terminhandel  VI  385.  —  Lippert, 
Gotreidezölle  VIII  276.  —  Neukamp, 
Gesellschaften  mit  beschränkter  Haftung 

VIII  337.  —  Bunzel,  Handels-  und 
Verkehrspolitik  IX  130.  —  Levetus, 
Grosseinkaufsgenossenschaften  IX   199. 

—  Ausgleich  mit  Ungarn  IX  301, 
404.  —  Ei  cht  er,  Handels  Wissenschaften 

IX  574.    —   Sprung,    Actienregulativ 

IX  599.  —  Lippert,  Lagerhäuser  X 
98.    —   Eosenberg,    Börsengeschäfte 

X  163.  —  Oelwein,  Wasserstrassen 
X  233,  428.  —  Stefan,  Lebensver- 
sicherung X  299.  —  Lippert,  Handels- 
marine X  347.  —  Millanich,  See- 
mannsordnung X  406,  527. 

V.  Hausier-  und  Abzahlungsgeschäfte 
I  276.  —  Wasserstrassen  III  269.  —  Börsen- 
enquete III  406.  —  Unlauterer  Wettbewerb 
IV  256.  —  Börsenscliiedsgerichte  IV  261.  — 
Handelspolitik  V  296.  —  Getreidetermin- 
handel  VI  308.    —    Handel   mit   Ostasien 

VII  243.  —  Zoll-  und  Handelsbündnis  IX 
278.  —  Handelspolitik  IX  282.  —  Pan- 
amerika  IX  357.  —  Eisenbahntarife  X 192.  — 
Börsengeschäfte  X  192. 

L.  Walker,  Zolleinigung  I  665.  — 
Mataja,  Grossmagazine  I  668.  —  Stege- 
mann, Handelskammern  III  324.  —  Ehmig, 
Handel  mit  geistigen  Getränken  III  326.  — 
Rabbeno,  Protezionismo  Americano  III 467. 

—  Fuchs,  Handelspolitik  III  476.  — 
Grunzel,  Handelsbeziehungen  III  632.  — 
Stegmann,  Unlauteres  Geschäftsgebaren 
IV  183.  —  Cantillon,  Commerce  IV  185.  — 
Mayr,  Handelsgeschichte  IV 635.  — Zepler, 
Aerztliche  Syndicate  IV  637.  —  Weichs- 
Glon,  Moderne  Verkehrsmittel  IV  650.  — 
Cognetti,  Pol.  comm.  VI  172.  —  Hasse, 
Weltpolitik  VII  637.  —  Böhm,  Kornhäuser 

VIII  230.  —  Bödiker,  Versicherungsgesetz- 
gebung VIII  333.  —  Simon,  Export  land- 
wirtschaftlicher Producte  VIII  542.  — 
Holländer,    Handelspolitik    IX    326.    — 


Generalindex  für  die  Bände  I  bis  X. 


641 


Lotz,  Verkehrsentwickelung  IX  331.  — 
Burmeister,  Eisenbahntarife  IX  450.  — 
Handels-  und  Machtpolitik  IX  536.  — 
Borgius,  Deutschland  und  die  Vereinigten 
Staaten  IX  540.  —  Ehrenberg,  Handels- 
politik IX  541.  —  Handelspolitik  IX  541.  — 
Getreide  im  Weltverkehr  X  221.  —  Kraus, 
Handelsbeziehungen  X  322.  —  Manes, 
Haftpflichtversicherung  X  329,  330.  — 
Handelspolitik  X  436,  438.  —  Eaunig, 
Zolltarif  X  438.  —  Zucker,  Handelspolitik 
438.  —  Dietzel,  Weltwirtschaft  X  489. 

9.  Arbeiterverhältnisse,  Arbeiter- 
gesetzgebung. 
A.  Baernreither,  Socialreform  I 
11.  —  Gross,  Arbeiterwolmungen  I 
279.  —  Hilse,  Unfallversiclierung  I 
613.  — Eabbeno,  Arbeiterversicherung 
IL  100.  —  Inama-Sternegg,  Hilfs- 
cassen  II  287.  —  Elkan,  Fabriks- 
inspection  II  337.  —  Schullern, 
Trucksystem  IL  609.  —  Inama- 
Sternegg,  Unfallversicherung  III  435. 

—  John,  Gewerkvereine  IV  279,  289. 

—  Singer,    Arbeitsnachweis    IV   304. 

—  Elkan,  Gewerbeinspection  IV  318. 

—  Schullern- Schrattenhof  en,  Land- 
arbeiter VI.  —  Mischler,  Gewerbe- 
inspection V  270.  —  Mataja,  Arbeiter- 
schutz V  361,  505.  —  Navay,  Ar- 
beiterfrage in  Alföld  VI  100.  —  Leth, 
AltersversicherungVI626. — Goemoery, 
Landwirtschaftliche  Arbeiter  VII  75.  — 
Kaan,  Betriebsunfälle  VII  433.  — 
Arbeitsstatistisches  Amt  VIII  89.  — 
Layer,  Unfallversicherung VIII 147. — 
Zwiedineck  -  Südenhorst,  Minimal- 
lohn IX  182.  —  Hainisch,  Arbeits- 
statistisches Amt  IX  521.  —  Oppen- 
heimer, Altersversorgung  IX  549.  — 
Schwartzenau,  Arbeiterwohnungen  X 
1.  —  Millanich,  Seemannsordnung 
X  406,  527.  —  Inama-Sternegg, 
Bergarbeiter  X  626. 

y.  Arbeiterwohnungen  1 178.  —  Arbeiter- 
ausschüsse und  Einigungsämter  I  272,  — 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und 


Arbeiterversicherung  I  472.  —  Colonien  für 
Arbeitslose  III  272.  —  Arbeitsstatistik  V 
62.  —  Arbeiterunfallversicherung  V  71.  — 
Arbeiterauswanderung  V  300.  —  Arbeiter- 
schutzcongresseVII  87.  —  Lohnsteigerungen 
IX   170.  — 

L.  Eies,  Cigarrenarbeiter  I  191.  — 
Antons,  Fabriksgesetzgebung  I  502.  — 
CossaDiminuzione  delle  ore  dilavorol  515. 
—  Just,  Invaliditätsversicherung  II  470.  — 
Hahn,  Krankenversicherung II  470.  —  Bel- 
lom,  Assurance  ouvriere  II  471,  V  192.  — 
Paygert,  Galizische  Schuhmacher  II 473.  — 
Menzel,  Arbeiterversicherung  III  172.  — 
Jay,  Question  ouvriere  III  320.  —  Menzel, 
Unfallversicherung  III  331.  —  Arbeits- 
statistik III  332.  —  Feilbogen,  Alters- 
versorgung III  475.  —  Herkner,  Arbeiter- 
frage III  627.  —  Liebich,  Obdachlos  III 
629.  —  Hirsch,  Arbeiterfrage  III  630.  — 
Dubois,  Trade-Unions  IV  359.  —  Singer, 
Eecht  auf  Arbeit  IV  364.  —  Hasbach, 
Landarbeiter  IV  639.  —  Bödiker,  Ar- 
beiterversicherung V  192.  —  Labour- 
Departement  V  354,  VI  491,  VII  157,  VIII 
548,  IX  535.  —  Literatur  über  die  Arbeiter- 
wohnungsfrage V  486.  —  Waxweiler, 
Travail  du  dimanche  VI  171.  —  Hirsch, 
Arbeiterberufsvereine  VI  172.  —  Kahler, 
Gesindewesen  VI  173.  —  Webb,  Trade- 
Unions  VI   470.   —  Lohnarbeiterinnen   VI 

487.  —    Schmöle,     Gewerkschaften    VI 

488.  —  Hirschberg,  Arbeitende  Classen 
VII  329.  —  Schanz,  Arbeitslosenver- 
sicherung VII  332.  —  Fabriksgesetzgeöung 

VII  519.  —  Dodd,  Arbeiterschutz  VII 
639,  IX  449.  —  Klo  SS,  Bergarbeiterschutz 

VIII  101.  —  Wokurek,  Unfallversicherung 
VIII  102.  —  Mai,  Wie  der  Arbeiter  lebt 
VIII 231.  —  Bödiker,  Versicherungsgesetz- 
gebung VIII  333.  —  Zacher,  Arbeiter- 
versicherung VIII  334.  —  Waxweiler, 
Participation  VIII  545.  —  Mataja,  Ar- 
beiterversicherung VIII  546.  —  Licht,  Ar- 
beitsvertrag VIII  546.  —  Cahn,  Schlaf- 
stellenwesen VIII546.  —  Bellom,  Accidents 
du  travail  VIII  547.  —  Legislation  da 
travail  VIII  547,  IX  539,  X  435.—  Seilhac, 
Congres  ouvriers  VIII  630.  —  Schmidt, 
Arbeiterbewegung  IX  237.  —  Kulemann. 
Gewerkschaften  IX  328.  —  Will,  Coalitions- 
recht  IX  450.  —  Boch,  Töpferarbeiter  IX 

539.  —     Adler,     Handlungsgehilfen    IX 

540.  —  Zwiedineck-Südenhorst,  Lobn- 

Verwaltung.  X.  Band.  44 


642 


Generalindex  für  die  Bände  I  bis  X. 


Politik  X  317.  —  Arbeiterschutz  X  317.  — 
Nostiz,  Arbeiterstand  X  631. 

10.  Währungs-,   Bank-  und 
Creditwesen. 

A.  Bräf,   Meliorationscredit  I  227. 

—  Mataja,    Währungsenquete   I   338. 

—  Inama-Sternegg,  Währungs-  und 
Münzgesetzgebung  I  625.  —  Schiff, 
Convertierung  der  Hypothekarschulden 
II  419,  497,  in  382.  —  Nitti, 
Bankfrage  in  Italien  11  589.  —  Zucker- 
kandl,  Währungsänderung  in  Britisch- 
indien III  1.  —  Inama- Sternegg, 
Einlösung  der  Staatsnoten  III  449.  — 
Pierson,  Goldmangel  IV  1.  —  Wittels- 
höfer,  Coursgewinn  der  Bank  IV  603. 

—  Berger,  Banken  V  160.  —  G.  Seid- 
ler, CassenverwaltungVIIl.  —  Bunzel, 
Geld-  und  Creditwesen  VII  337.  — 
Bunzl,  Steuerfreie  Banknoten  VIII 400.— 
Leth,  Postsparcasse  IX  241,  337,  X  21. 

Y.  Währungsproblem  III  263.  —  Bank- 
frage IV  107.  —  Valutaregulierung  IV 
46.  —  Cassenverwaltung  VII  104.  —  Eeichs- 
bank  VIII  406. 

L.  Landesberge r,  Währungssystem 
l  368.  —  Ferraris,  Scienza  Bancaria  I 
516.  —  Meng  er,  Währungsfrage,  Ueber- 
gang  zur  Goldwährung  I  666.  —  Hertzka, 
Währungsproblem  II  182.  —  Baburger, 
Credittheorien  II  191.  —  Valutareform  II 
880.  —  Caro,  Wucher  III  325.  —  Helf- 
ferich,  Münzverein  IV  189.  —  Flürsch- 
heim,  Währung  und  Weltkrise  V  353.  — 
Matern, UmMilliarden  VI  492. —  Houdard, 
Malentendu  monetair  VII  148.  —  Eauch- 
berg,  Clearingverkehr  VII  521.  — Richter, 
Creditorganisation  VII  526.  —  Viti  de 
Marco,  Banca  VII  614.  —  Landwirtschaft- 
licher Person alcredit  IX  231.  —  Hecht, 
Bodencredit IX  321,—  Grabmayr,  Boden- 
entschuldung IX  530.  —  Hattingberg, 
Landwirtschaftlicher  Credit  IX  532.  — 
Kr  eibig,  Währung  IX  540. 

11.  Finanzwesen, 

A.  Sax,   Progressivsteuer  I  43.  — 
Mataja,  Reform  der  directen  Personal- 


-steuern  I  377.  —  Thierl,  Abgabe  der 
Wehrdienstfreien  I  569.  —  Auspitz, 
Reform  der  directen  Steuern  11  25.  — 
Sommaruga,  Stempelgebür  II  131,  — 
Reisch,  Directe  Besteuerung  in  Holland 

II  303,  III  294.  —  Wiese r,  Be- 
steuerung ausländischer  Gläubiger  11 
563.  —  Benini,  Italienische  Finanzen, 
III 231.  —  Schiff,Gebürenerleichterung 

III  382.  —  Grohmann,  Einkommen- 
steuer III  610.  —  Robert,  Bulgarische 
Eingangszölle  III  619.  —  Matleko- 
vits,  Staatshaushalt  IV  52.  —  Körner, 
Indirecte  Besteuerung  IV  193. —  Krei- 
big.  Finanzpolitischer  Vorschlag  IV 
346.  —  Robert,  Accise  IV  499.  — 
Plener,  Einkommensteuer  V  439.  — 
Bertolini,  KatasterV  583.  —  Reisch, 
Directe  Steuern  VI,  177,  337,  497.— 
Widmer,  Stempel  und  Gebüren  VI 
570.  —  Plener,  Grundsteuernachlässe 

VI  621.  —  Lippert,   Alkoholmonopol 

VII  212.  —  Lempruch,  Umsatzsteuer 
VII  302.  —  Mensi,  Grundsteuerkataster 
VII  488.  —  Staatsbeamtengehalte  VII 
596.  —  Meyer,  Personaleinkommen- 
steuer VIII  -23.  — Radnitzky,  Budget- 
technik Vm  212.  —  Kaizl,  Steuer- 
principien  VIII  233.  —  Wagner,  Erb- 
steuer VIII  315.  —  Mosco-Wiener, 
Zuckerprämien  VIII  408.  —  S  o  d o f  f  s ky, 
Liegenschaftssteuern  VIII  602,  IX  475. 

—  Friedenfels,  Erwerbsteuer  IX  367. 

—  Ulimann,  Budgets  X  66.  —  Ber- 
natzky,  Brantweinsteuer  X  416.  — 
Odkolek,  Gebürennovelle  X  596. 

V.  Preussische  Steuerreform  I  172.  — 
Steuerreform  und  Selbstverwaltung  I  270. 

—  Steuerreform  II  125.  —  Transportsteuer 
VII  99. 

L.  Mensi,  Finanzen  0 Österreichs  I 
194.  _  Thorsch,  Geschichte  der  Staats- 
schulden I  194.  —  Conigliani,  Questione 
giuridica  dei  pagamenti  I  515.  —  Leo, 
Erbsteuer  II  364.  —  Horowitz,  Bezirks- 
unterstützungsfonde   II  368.  —  Puviani, 


I 


I 


Generalindex  für  die  Bände  I  bis  X. 


643 


Prodotto  ricostituente  II  379.  —  Cossa, 
Finanza  publica  II  484,  —  Fürth,  Ein- 
kommensteuer II  640.  —  Mayr,  Keichs- 
finanzreform  III  170.  —  Hausmann,  Ver- 
kehrssteuern III  471.  —  Vocke^  Finanz- 
wissenschaft III  472.  —  Sitta,  Spese 
publiche  III  634.  —  Seligman,  Progres- 
sive Taxation  IV  181.  —  Pisani,  Problema 
finanziario  IV  363.  —  Mittheilungen  des 
Finanzministeriums  V  170.  —  Ricca- 
Salerno,  Dottrine  finanziarie  V  346.  — 
Cossa,  Scienza  delle  finanze  VI  167.  — 
Graziani,  Scienza  delle  finanze  VI  167.  — 
Maz6-Dari,  Imposta  progressiva  VI  167. 
Reisch,  Personalsteuern  VI  170. —  Selig- 
man, Taxation  VI  322.  —  Sonnenschein, 
Transportsteuer  VII  145.  —  Colescu, 
Rumänisches  Steuerwesen  VII 331. —  Doll- 
fuss,  Einzige  Steuer  VII  332.  —  Bisch  off, 
Finanzwissenschaft  VII  613.  —  Viti  di 
Marco,  Economia  e  finanza  VIII  548.  — 
Sieghart,  Glücksspiele  VIII  627.  —  Selig- 
mann, Taxation  IX  235.  —  Burmeister, 
Eisenbabntarife  IX  450.  —  Sieveking, 
Genueser  Finanzwesen  IX  451. —  Schwartz 
und  Strutz,  Staatshaushalt  IX  542.  — Cohn, 
Finanzen  IX  544.  —  Kaizl,  Finanzwissen- 
schaft IX  545.  —  Nina,  Grundsteuer  IX 
546.  —  Koczynski,  Gebürenrecht  X  225. 

—  Dreukoff,    Steuerverhältnisse  X  322. 

—  Reisch  und Kreibig,  Bilanz  und  Steuer 
X  325.  —  Conrad,  Finanzwissenschaft 
X  435.  —  Say,  Finances  de  la  France  X  634. 

12.  Statistik. 

A.  Mayr,  Internationale  Congresse 
I  288.  —  ßauchberg,  Ungarische 
Volkszählung  III  275.  —  Benini, 
Privatvermögen  IV  369.  —  Chrenöczy- 
Nagy,  Agrarstatistik  VII  125.  —  Ar- 
beitsstatistisches Amt  VIII  89. 

V.  Arbeitsstatistik  V  62.  —  Socialpolitik 
und  Statistik  VIII  271. 

L.  Nordböhmische  Arbeiterstatistik  I 
182.  —  Annuario  statistico  Italiano  1 195.  — 
Statistische  Beschreibung  Frankfurts  II  483. 

—  Altonaer  Arbeitsstatistik  III  332.  — 
Jurasche  k,Uebersichten  der  Weltwirtschaft 
III  629.  —  Reichesberg,  Statistik  und 
Gesellschaftswissenschaft  IV  505.  —  Jahr- 
buch deutscher  Städte  IV  510,  VII  157, 
VIII  447.  —  Statistik  von  Frankfurt  IV 
649.  —  Mayr,  Statistik  und  Gesellschafts- 


lehre V  166,  VII  635.  —  Brünner  Arbeitfr- 
statistik  V  173.  —  Rauchberg.  Bevöl- 
kerung V  178.  —  Statistische  Mittheilungen 

V  355.   —    Virgilii,    Statistica  VII    613. 

—  Mayrhofer  v.  Grünhübel,  Volks- 
zählung VIII  G31,  IX  332.  —  Matlekovits, 
Ungarn  IX  636. 

13.  Staats-,  Verwaltung«-  und 

Civilrecht. 
A.  Schullern,  Gläubigerconcurs  I 
420.  —  Peez,  Yereinsleben  I  480, 
II  584.  —  Rauchberg,  Heimatsrecht  II 
59.  —  Inama-Sternegg,  Ililfscassen 
II  287.  —  Kunwald,  Arbeitercolonien 
II  326,  —  Bazant,  Markenschutz  II 
452.  —  Kunwald,  Armenpflege  III 
63.  —  Schiff,  Executionsverfahren  IV 
573.  —  Schiff,  Urheberrecht  und 
Markenschutz  V  102.  —  Schmid, 
Unterrichtsanstalten  V  201,  402.  — 
Inama-Sternegg,     ^eichsrathswahlen 

VI  123.  —  G.  Seidler,  Cassenverwaltung 

VII  1.  —  Goldmann,  Judengemeinden 
VII  557.  —  Staatsbeamtengehalte  VII 
596.  —  Philipp ovich,  Organisation 
der  Berufsinteressen  VIII  1.  —  Plener, 
Kreisordnung  VIII  244.  —  Neukamp, 
Gesellschaften  mit  beschränkter  Haftung 
VIII337.  —  G.  Seidler,  Conflict  zwischen 
Schweden  und  Norwegen  VIII  449.  — 
E,  Seidler,  W^asserrecht  IX  1.  —  Hab  er- 
mann, Stadt  und  Land  IX  172,  — 
Schiff,  Grundbücher  IX  291.  —  Aus- 
gleich mit  Ungarn  IX  301,  404.  — 
Tezner,  Administrativverfahren  1X453. 

—  Oppenheimer,  Armenrecht  IX  549. 

—  Sprung,  Actienregulativ  IX  599.  — 
G.  Seidler,  Doppelte  Buchhaltung  X 
53.  —  Winckler,  Waisencassen  X  424. 

—  Millanich,  Seemannsordnung  X  406, 
527.  ■ —  Buzek,  Auswanderung  X  441, 
553. —  Roschmann-HörburgjRechts- 
wjssenschaftliche  Studien  X  512,  — 
Reisch  und  Kreibig,  Buchhaltung 
X  542. 


644 


Generalindex  für  die  Bände  I  bis  X. 


Autorenreffister. 


V.  Heimatsrecht  II  130.  —  Patentgesetz 
III  409.  —  Börsenschiedsgerichte  IV  261. 

—  Concursverfahren  V  78.  —  Civilprocess- 
ordnung  VI  300.  —  Cassenverwaltung  VII 
104.  —  I'acturengerichtsstand  VII  235.  — 
Actiengesetzgebung  VIII  84.  —  Wasser- 
recht VIII  206.  —  Gesellschaften  mit 
beschränkter  Haftung  VIII  208.  —  Muster- 
schutz X  271. 

L.  Ulbrich,  Staatsrecht  I  663.  — 
Bernatzik,  Eepublik  und  Monarchie  II 
191.  —  Stengel,  Wörterbuch  des  Ver- 
waltungsrechtes II  345.  —  Laveleye, 
Gouvernement  dans  la  Democratie  II  346. 

—  Beck-Managetta,  Pateutrecht  II  471, 


—  Kobatsch,  Armenpflege  II  634.  — ^ 
Jellinek,  Adam  in  der  Staatslehre  IH 
632.  —  Meili,  Rechtsstudium  IV  507.  — 
Thudichum,  Deutsches  Privatrecht  IV 
651.  —  Eussel,  Volkshochschulen  V  354. 

—  Müller,  Consumgenossenschaften  V  655. 

—  Offermann,  Parlamentarismus  VII 150. 

—  Seh  moller,  Umrisse  VIII  626.  — 
Schriften  über  Armenpflege  IX  216.  — 
Jastrow,  Recht  der  Frau  IX  332.  — 
Lieb  mann,  Gesellschaften  mit  beschränkter 
Haftung  IX  450.  —  Marchet,  Recht  des 
Landwirtes  IX  450.  —  Wohlthätigkeits- 
vereine  X  143,  —  Grundriss  des  öster- 
reichischen Rechtes  X  143. 


Autorenregister. 


(Die  den  Autorennamen  beigesetzten  arabischen  Ziffern  geben  die  Nummer  der  Schlag- 
wörter an,  unter  welche   die  Abhandlungen   des    Autors  in   vorstehendem   Generalindex 

subsuramiert  sind.) 


Auspitz  3,  11. 

Baernreither  ,^9.  —  Bazant  13.  — 
Benini  11,  12.  —  Berger  10.  —  Ber- 
natzky  11.  — Bertolini  11.  —  Böhra- 
Bawerk  1,  3.  —  Braf 6, 10.  —  Bunzel 

8.  10.  —  Bunzl  10.  —  Buzek  4,  13. 
Chrenözy-Nagy  6. 

Denis  1,  2.  3. 
Elkan  7,  9. 

Flamingo  1,  2.  —  Friedenfels  11. 
Gömöry    6,    9.    —    Goldmann     13.    — 
Grabski  3.  —  Grohmann  11.  —  Gross 

9.  —   Gruber   1,  7,  8.  —   Grunzel  8. 
Habermann     13.    —    Hainisch    9.    — 

Hasenöhrl  7,  8.  —  Hawelka  1,  5.  — . 

Herkner    4.    —    Hilse    9.    —    Hopf- 

gartner  8. 
Inama-Sternegg  2,   9,  10,  13. 
Jäger3.  —  Janke  6.  —  John  1,  2,4,  7,  9. 
Kaan  9.  —  Kaizl  11.  —  Kleinwächter  1. 

—  Koerner  3,  7,  11.  —  Komorczynski 

3,  5.  —  Kreibig  11, 13.  —  Kunwald  13. 
Layer  9.   —  Lempruch  11.  —  Leth  9, 

10.  —  Levetus  8.  —  Lippert  6,  8,  11. 
Mataja  4,  9,  10,  11.  —  Matlekovits  4, 

11.  —  Mayr  12.  —  Mensi  11.  — 
Meyer3,  11.  —  Millanich  8,  9,  13.  — 
Mischler  9.  —  Montemartini  3.  — 
Mosco-Wiener  11. 


Neukamp    8,    13.    — 
Oppen- 


Navay   6,   9. 

Nitti  10. 
Odkolek  11.  —  Oelwein  8. 

heimer  4,  9,  13. 
Peez   1,   4,   13.  —  Philippovich  4,  13. 

—  Pierson  4,  10.  -  Plener  11,  13. 
Rabbeno9.  —  Radnitzky  11.  — Rauch- 
berg 4,  12,  13.  —  Reisch  11,  13.  — 
Richter  8.  —  Robert  4,  8,  11.  — 
Roschmann-Hörburg  13.  —  Rosen- 
berg 8. 

Sax  11.  -  Schiff  4,  6,  10,  11,  13.  — 
Schmid  13.  —  Schroft  4.  —  Schul- 
lern-Schrattenhofen   6,   7,  8,  9,   13. 

—  Schwartzenau  4,  9.  —  Schwied- 
land  2,  7.  8.  —  Schwoner  3.  —  E. 
Seidler  13.  —  G.  Seidler  10,  13.  — 
Singer  5,  9.  —  Sodoffsky  11.  — 
Sommaruga  11.  —  Sprung  7,  8,  13.  — 
Stefan  8  —  Stockinger  6.  —  Sul- 
zer 1. 

Tezner  13.  —  Thierl  11. 

Ullmann  11. 

Verdin  8. 

Wagner  11.  —  Widmer  11.  —  Wieser 
7,  11.  _  Winckler  13.  —  Witteis- 
höfer   10. 

Zuckerkandl  2,  8,  10. —  Zwiedineck- 
Südeiihorst   3,  7. 


v^; 


BINDING  SECT.    AU6    ^  1967 


HB 
5 

Z56 
Bd. 10 


Zeitschrift  für  Volkswirt- 
schaft und  Sozialpolitik 


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