ZEITSCHRIFT
///
FÜR
VOLKSWIRTSCHAFtMALPOLITlK
UND
VERWALTUNG.
ORGAN DER GESELLSCHAFT ÖSTERREICHISCHER
Volkswirte.
HERAUSGEGEBEN
VON
Eugen v. Böhm-Bawerk, Karl Theodor v. Inama- Sternegg,
Ernst v. Plener.
Zehnter Band.
WIEN UND LEIPZIG.
WILHELM BRAUMÜLLER
K. u. K. Hof- u. Universitäts-Buchhändler.
1901.
620839
5
Druck von Rudolf M. Rohrer in Brunn.
Inhalt des X. Bandes.
Seite
Frh. V. Schwartzenau: Zur Keform der österreichischen Arbeiter- Wohnungs-
gesetzgebung 1
Dr. K. Letb: Der Checkverkehr der österreichischen Postsparcasse 21
G. Seidler: Die theoretischen Grundlagen der doppelten Buchhaltung 53
Dr. 0. Jaeger: Die Lohnfonds-Theorie 145
Dr. W. Eosenberg: Der Spieleinwand bei Börsen-Spcculationsgeschäften 163
Prof. A. Oelwein: Der wirtschaftliche Wert der Wasserstrassen 233
Dr. A. Schwoner: Die Bewegung der Werte 257
Prof. Dr. M. Grub er: Der VIII. internationale Congress gegen den Alkoholismus
in Wien 9. bis 14. April 1901 333
Dr. G. Lippert: Die Entwicklung der österreichischen Handelsmarine 347
Dr. J. Buzek: Das Auswanderungsproblem und die Eegelung des Auswanderungs-
wesens in Oesterreich 441, 553
Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte 192, 267
Dr. J. Ullmann: Die Budgets der bewaffneten Macht Oesterreich-Ungarns für das
Jahr 1900 66
Dr. G. Lippert: Ein Eückblick auf die Entwicklung der Triester Lagerhäuser . . 98
Dr. G. D. Creangä: Der Bauernstand in Eumänien^ seine geschichtliche Entwicklung
und gegenwärtige Lage 194
Dr. F. Hawelka: Fürst Peter Krapotkin und der Anarchismus 289
E. Stefan: Vierzig Jahre Lebensversicherung 299
Dr. Millanich: Die österreichische Seemannsordnung 406
E. Bernatzky: üeber das Gesetz vom 8. Juli 1901, E.-G.-B. Nr. 86, betreffend die
Erhöhung der Brantweinabgabe und Zuwendung eines Theiles des Ertrages
dieser Abgabe an die Landesfonde der im Eeichsrathe vertretenen Königreiche
und Länder 416
Dr. J. Winckler: Die cumulativen Waisencassen als Förderer der Volkserziehung 424
Gesetz vom 11. Juni 1901, E.-G.-B. Nr. 66, betreffend den Bau von Wasserstrassen
und die Durchführung von Flussregulierungen 428
Prof. Dr. J. V. Eoschmann-Hörburg: Vorschlag einer Eeform der rechts- und
staatswissenschaftlichen Studien in Oesterreich 512
Entwurf eines Gesetzes, womit eine Seemannsordnung für die österreichische Handels-
marine erlassen wird 527
Dr. E. Eeisch und Dr. J. C. Kreibig: Noch ein Wort über die theoretischen
Grundlagen der doppelten Buchhaltung 542
Dr. A. Frh. v. Odkolek: Die österreichische Gebürennovelle vom 18. Juni 1901 . . 596
K. Th. V. Inama-Sternegg: Das Gesetz vom 1. Juli 1901 über die Arbeitszeit der
beim Kohlenbergbaue in der Grube beschäftigten Arbeiter 626
Literatur:
Handwörterbuch der Staatswissenschaften, IV. Band, Schiff 139
Die Wohlthätigkeitsvereine der k. k. Eeichshaupt- und Eesidenzstadt Wien, S. . . 143
Grundriss des österreichischen Eechtes, S 143
Launhardt: Am sausenden Webstuhl der Zeit, S 144
Das Getreide im Weltverkehr, F. — k 221
Seite
S. Koczynski: Untersuchungen über ein System des österreichischen Gebürenrechtes,
Odkolek 225
Geschichte der Stadt Wien, J 309
Wörterbuch der Rechts- und Staatswissenschaften, S — i. . 310
R. Pöhlmann: Geschichte des antiken Communismus und Socialismus, J. Jung . . 310
E. V. Zenker: Die Gesellschaft, Hawelka 315
Dr. P. Eltzbacher: Der Anarchismus, Hawelka 316
0. T, Z wi e d in ek- Südenhorst, Lohnpolitik und Lohntheorie mit besonderer Berück-
sichtigung des Minimallohnes, S , 317
Der Arbeiterschutz bei Vergebung öiFentlicher Arbeiten und Lieferungen, S. . 317
Dr. F. Frh. v. Oppenheimer: Die Wohnungsnoth und Wohnungsreform in Eng-
land mit besonderer Berücksichtigung der neueren Wohnungsgesetzgebung,
J. Redlich 319
Dr. Abele: Weiträumiger Städtebau und Wohnungsfrage, Oppenheimer .... 320
J. Hogge: La Serbie de nos jours, C. Grünberg 322
Dr. J. Kraus: Deutsch-türkische Handelsbeziehungen seit dem Berliner Vertrage unter
besonderer Berücksichtigung der Handelswege, C. Grünberg 322
Dr. phil. I. K. Drenkoff: Die Steuerverhältnisse Bulgariens, C. Grünberg . . . .322
Reisch und Kreibig: Bilanz und Steuer, G. Seidler 325
A. Aal: Das preussische Rentengut, seine Vorgeschichte und seine Gestaltung in
Gesetzgebung und Praxis, S 327
A. Menger: Le droit au produit integral du travail, C. Grünberg 329
Antikritik, A. Manes 329
Entgegnung, Schiff 330
Dr. F. Walter: Die Propheten in ihrem socialen Beruf und das Wirtschaftsleben
ihrer Zeit, C. Grünberg 432
J. B. Clark: The distribution of wealth, a theory of wages, interest and profits,
Schullern 434
J. Conrad: Grundriss zum Studium der politischen Oekonomie, 435
E. V. Böhm-Bawerk: Capital und Capitalzins 435
Annuaire de la l^gislation du travail, public par l'office du travail de Belgique,
Schullern 435
Les Industries ä Domicilc en Belgique, Schullern 436
J. Jaures: Action socialiste, — rg — 436
Beiträge zur neuesten Handelspolitik Oesterreichs, J 436
Beiträge zur neuesten Handelspolitik Deutschlands. J 438
A. G. Raun ig: Der Zolltarif und die Reciprocitäts-Verträge der Vereinigten Staaten
von Amerika, J 438
\.%. Zucker: Lose Blätter über die österreichische Zoll- und Handelspolitik nebst
einein Blicke auf die inneren Verhältnisse, J 438
Dr. H. Dietzel: Weltwirtschaft und Volkswirtschaft, Schullern 439
B. v. Nostiz: Das Aufsteigen des Arbeiterstandes in England, Plener 631
Löon Say: Les finances de la France sous la troisieme Republique, Plener . . . 634
V. F. V. Kraus: Wirtschafts- und Verwaltungspolitik des aufgeklärten Absolutismus
im Gmundner Salzkammergut, J 634
L. Bittner: Das Eisenwesen in Innerberg-Eisenerz bis zur Gründung der Innerberger
Hauptgewerkschaft im Jahre 1625, J 635
Zeitschriften-Uebersicht 231,331,551
Generalindex für die Bände I bis X 636
Autorenregister 644
^
ZUR REFORM DER ÖSTERREICHISCHEN ARBEITER-
WOHNUNGSGESETZGEBUNG.
VON
SECTIONSCHEF FREIHEEKN v. SCHWARTZENAU.
Die Ungunst der Wohnungs Verhältnisse, unter welcher die weniger
bemittelten Classen der Bevölkerung namentlich in grossen Städten, zu
leiden haben, ist während der letzten Decennien in der Oeffeutlichkeit viel-
fach erörtert worden. Im Laufe der Zeit hat sich über diese Frage eine
reiche Specialliteratur herausgebildet, mehrere internationale Congresse beschäf-
tigten sich mit derselben und auch die Parlamente der europäischen Cultur-
staaten verabsäumten nicht, der Lösung dieses in wirtschaftlicher, wie in
socialpolitischer Kichtung gleich wichtigen Problemes volle Beachtung zu
schenken. Unter den vielen ungünstigen Erscheinungen, welche die Ent-
wicklung unserer socialen Organisation an der Wende des Jahrhunderts
aufzuweisen hat, wird es nur wenige geben, die mit der Wohnungsfrage
nicht in einen mehr oder weniger unmittelbaren Zusammenhang gebracht
werden könnten. Die heutigen Wohnungsverhältnisse bedeuten thatsächlich
eine ständige Gefahr für breite Schichten der Bevölkerung ; eine Wandlung
zum Besseren in denselben herbeizuführen, gehört mit Kecht zu den wich-
tigsten und dringendsten Postulaten der modernen Socialökonomie.
Die Wohnung, welche in ihren ursprünglichsten Anfängen nur bestimmt
war, Schutz gegen die Unbilden der Witterung und die von aussen drohenden
Gefahren überhaupt zu bieten, wurde schon früh in ihrer grossen Bedeutung
für die culturelle Entwicklung des Menschengeschlechtes erkannt und nach
Maassgabe der fortschreitenden Gesittung auch zunehmend gewürdigt. In
ihr befindet sich der häusliche Herd, die uralt geheiligte Stätte, an der das
Familienleben sich abspielt, und deren Wichtigkeit für das Gesaramtwohl
schon das alte deutsche Recht auf die ihm eigene sinnige, tiefinnerliche
Weise in verschiedenen Sonderrechten treffend zum Ausdrucke zu bringen
wusste. Die Anforderungen, die an die Wohnung in ethischer und in hygie-
nischer Beziehung zu stellen sind, wechseln mit den Zeiten und mit den
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpulitili und Verwaltung. X. Hand. 1
2 Schwartzenau.
Bedürfnissen, welche diese mit sich bringen; niemals aber darf vergessen
werden, dass die Wohnung den Hort und die Pflanzstätte der Familie bildet,
wo die kommenden Generationen heranwachsen sollen : geistig und körperlich
gesunde Kinder ebensolcher Eltern. Die Pflege, welche ein Volk seinen
Wohnungen angedeihen lässt, ist der sicherste Maasstab seines allgemeinen
culturellen Niveaus.
Dem österreichischen Keichsrathe gebürt das Verdienst, sich schon
in einem verhältnismässig frühen Zeitpunkte eingehend mit der Wohnungs-
frage befasst und einen Gesetzentwurf beschlossen zu haben, der dahin ab-
zielte, die Errichtung geeigneter Arbeiterwohnhäuser zu begünstigen und
zu erleichtern. Auf Grund dieses Entwurfes kam das Gesetz vom 9. Fe-
bruar 1892 zustande, durch welches Neubauten mit Arbeiterwohnungen
unter gewissen Voraussetzungen die Befreiung von der Hauszinssteuer und
von der nach dem Gesetze vom 9. Februar 1882 von steuerfreien Gebäuden
zu entrichtenden Steuer auf einen Zeitraum von 24 Jahren eingeräumt wurde.
So lobenswert auch die Tendenzen dieses Gesetzes sind, so hat es
sich doch in der Durchführung leider nicht bewährt. Der praktisch am
meisten zur Geltung kommende Mangel ist in der Bestimmung des § 5
gelegen, in welcher der für Wien einerseits und für Orte mit mehr oder
weniger als 10.000 Einwohnern anderseits per Quadratmeter [bewohnbaren
Raumes festgesetzte Maximalzinsfuss so nieder bemessen ist, dass mit dem
dieser Verzinsung entsprechenden Capitale Gebäude, welche auch nur einiger-
maassen selbst den bescheidensten Anforderungen in Bezug auf bauliche
und hygienische Beschaffenheit der Wohnräume entsprechen, thatsächlich
nicht hergestellt werden können.
Abgesehen hievon weist das geltende Gesetz, sowohl in seiner grund-
sätzlichen Veranlagung, als auch in den Details seiner Bestimmungen zahl-
reiche, sehr wesentliche Mängel auf, welche die Regierung bestimmten, die
Brlassung eines neuen Gesetzes über Arbeiterwohnungen anzubahnen. Der
Entwurf dieses Gesetzes, welcher im Einvernehmen der Ministerien des Innern
und der Finanzen ausgearbeitet wurde, wird dermalen einer interministe-
riellen Berathung unterzogen und soll dem Reichsrathe bald nach dessen
Zusammentritte zur verfassungsmässigen Behandlung vorgelegt werden.
Bei der Wichtigkeit der Vorlage dürfte eine Darlegung der Grundsätze
und Absichten, von welchen bei Verfassung dieses Gesetzentwurfes aus-
gegangen wurde, für weitere Kreise von actuellem Interesse sein.
Der Gesetzgeber hat in Bezug auf Arbeiterwohnungen vor allem drei
Gesichtspunkte als das Ziel seiner Aufgabe ins Auge zu fassen und an den-
selben unentwegt festzuhalten:
In erster Linie müssen die Wohnungen gesund sein; das heisst,
sie müssen so veranlagt sein, dass sie ihre Bewohner gegen die Gefahren
schützen, welche sich für deren körperliches und seelisches Gedeihen aus dem
Aufenthalte in überfüllten, licht- und luftlosen Räumen und, aus der Promis-
cuität der Geschlechter und Altersstufen ergeben.
Zur Eeform der österreichischen Arbeiter-Wohnungsgesetzgebung, 3
In zweiter Linie inüssen die Wohnungen billig sein, d. h. ihr Preis
muss mit der ökonomischen Lage der dabei in Betracht kommenden Be-
völkerungsschichten im Einklänge stehen.
Endlich in dritter Linie muss dafür gesorgt werden, dass solche ge-
sunde und billige Wohnungen in genügender Anzahl vorhanden
seien. Durch die Herstellung einzelner Mustergebäude, welche dem Gemein-
sinne der Staats- oder Gemeindeverwaltung oder sonstiger Stifter zu aller
Ehre gereichen, ist zwar für einzelne Bevorzugte sehr viel, für das öftent-
liche Interesse aber verhältnismässig noch wenig gethan. Es genügt daher
nicht, das der Wohlthätigkeit gewidmete Vermögen zu solchen Unter-
nehmungen heranzuziehen, sondern es muss durch die Gesetzgebung viel-
mehr auch dahin gewirkt werden, dass bei möglichster Wahrung der An-
forderungen der Hygiene einerseits und der Billigkeit anderseits doch auch
dem anlagesuchenden Capitale nicht jeder Anreiz benommen werde, sich
auf diesem Gebiete zu bethätigen.
Es zeigt sich auf den ersten Blick, wie ausserordentlich schwierig es
ist, zwischen diesen, einander diametral entgegenstehenden Gesichtspunkten
wenigstens einigermaassen den nöthigen Einklang herzustellen. Der Gesetz-
geber darf sich jedoch durch diese Schwierigkeit nicht abhalten lassen, der
Lösung des Problems näher zu kommen, indem er bei jeder einzelnen Be-
stimmung alle drei Gesichtspunkte gleichzeitig ins Auge fasst, sie sorgfältig
gegeneinander abwägt und endlich dasjenige verfügt, was im Interesse der
Allgemeinheit und namentlich im Interesse derjenigen geboten und erreichbar
erscheint, zu deren Gunsten das Gesetz erlassen werden soll.
Hier ergibt sich nun zunächst die Frage, zu wessen Gunsten
das Gesetz erlassen wird, beziehungsweise wer als der
eigentliche Träger der darin vorgesehenen materiellen
Begünstigungen zu betrachten ist.
Das Gesetz vom Jahre 1892 hat diese Frage sehr einfach beantwortet,
indem es als den Träger der gesetzlichen Begünstigung den Erbauer, be-
ziehungsweise dessen Kechtsnachf olger im Besitze des Gebäudes behandelte
und der arbeitenden Classe der Bevölkerung nur insoferne einen mittelbaren
Antheil an dieser Begünstigung einräumte, als es deren Zuerkennung an
die Bedingung knüpfte, dass das Gebäude ausschliesslich an Arbeiter ver-
mietet werden soll, um denselben gesunde und billige Wohnungen zu bieten.
Gerade in dieser Auffassung ist aber einer der principiellsten Fehler des
geltenden Gesetzes gelegen.
Träger der Begünstigung im eigentlichen Sinne, mit Kücksicht auf
den ethischen Zweck des Gesetzes sind nicht die Hausbesitzer, sondern viel-
mehr die Mietparteien, die arbeitende Bevölkerung, in deren
Interesse das Gesetz erlassen werden soll. Praktisch genommen stellt sich
die Sachlage allerdings theilweise anders dar. Im Augenblicke, da das Haus
gebaut und die Begünstigung zuerkannt wird, sind deren künftige concrete
Träger noch nicht bekannt; der einzige Factor der in diesem Zeitpunkte
bereits gegeben ist, ist der Erbauer des Hauses, und dieser Umstand allein
^ Scliwartzeuau.
schon sichert diesem von vorneherein nicht bloss die Eigenschaft des for-
mell en Träger s der Steuerbegünstigung, sondern auch einen mate-
riellen Antheil an derem Werte. Diese Participation des Erbauers, be-
ziehungsweise dessen Eechtsnachfolgers im Besitze des Gebäudes ist nicht
Selbstzweck, sondern Mittel _^zum Zwecke, soferne ohne dieselbe der gerade
im Interesse der eigentlich Begünstigten erforderliche Anreiz zur Inve-
stierung von Privatcapitalien in billigen und gesunden Arbeiterwohnungen
verloren gienge. Hier treten zwei der oben als maassgebend bezeichneten
Gesichtspunkte — die Billigkeit der Arbeiterwohnungen einerseits und deren
möglichste Vermehrung anderseits — in directen Widerstreit. Aufgabe der
Gesetzgebung ist es, dafür zu sorgen, dass der Erbauer des Hauses, als
der formelle Träger der Begünstigung, gehalten werde, dieselbe auf deren
materielle Träger, die Mietparteien, durch Verbilligung der Wohnungen
zu überwälzen, für sich aber nur jenen Antheil zurückzubehalten, welcher
erforderlich ist, um die Erbauung von Häusern mit gesunden und billigen
Arbeiterwohnungen gegenüber derjenigen anderer Zinshäuser unter sonst
gleichen Bedingungen privilegiert erscheinen zu lassen.
Das geltende Gesetz ist in dieser Kichtung zu weit gegangen, indem
es durch Festsetzung zu niederer Mietzinse ausschliesslich das Moment der
Billigkeit berücksichtigte, dagegen das der nothwendigen Vermehrung solcher
Gebäude gänzlich, das des Hygiene grossentheils ausseracht Hess. Abgesehen
hievon ist es aber auch an sich verfehlt, den jährlich zulässigen Mietzins
unterschiedslos nach dem Quadratmeter bewohnbaren Raumes zu bemessen,
wie es in § 5 dieses Gesetzes geschieht. Wenn die Ueberwälzung der Steuer-
begünstigung von dem Vermieter auf den Mieter in einer für beide Theile
gerechten und billigen Weise erfolgen soll, muss im neuen Gesetze die
Möglichkeit geboten werden, je nach der Lage (Stockwerk, Gassen- oder
Hofseite etc.) und der sonstigen Beschaffenheit der Wohnung praktische
Unterschiede in der Bemessung der Mietzinse eintreten zu lassen. Ausserdem
bringt auch die gesetzliche Festsetzung des Mietzinses nach Maassgabe des
bewohnbaren Raumes den Nachtheil mit sich, dass späteren Veränderungen
in der durchschnittlichen Höhe der Baurente nicht Rechnung getragen
werden kann.
Um diesen Uebelständen nach allen Richtungen abzuhelfen, soll im
neuen Gesetze das Gesammt-Zinserträgnis des steuerbegün-
stigten Gebäudes einer percentuellen Beschränkung
unterworfen, dagegen aber dem Vermieter überlassen werden, innerhalb
des zulässigen Gesammterträgnisses den Zins der einzelnen Wohnungen
festzusetzen. Der Percentsatz, nach welchem sich das für Baugrund und
Baukosten aufgewendete Capital, nach Abzug der Amortisationsrate, sämmt-
licher Realsteuern, Zuschläge und Umlagen, sowie der Gebäudeerhaltungs-
und Administrationskosten verzinsen darf, soll jedoch nicht durch das Gesetz
selbst, sondern im Rahmen desselben im Verordnungswege festgesetzt werden.
Gerade die Frage des Percentsatzes, d. h. die Frage, bis zu welchem Aus-
maasse der Vermieter verhalten werden soll, den Wert der Steuerbegünstigung
I
Zur Reform der östen-eichischen Arbeiter-Wohnungsgesetzgebang. ^
auf den Mieter zu iiberwälzen, gehört zu den schwierigsten der bevor-
stehenden gesetzlichen Eeform; auf die unzutreffende Lösung derselben im
geltenden Gesetze sind die Misserfolge bei dessen praktischer Durchführung
hauptsächlich zurückzuführen. Vom Standpunkte der Billigkeit der'Wohnungen
aus müsste der in Rede stehende Percentsatz möglichst nieder bemessen
werden, während anderseits der Grundsatz, dass im Interesse der Vermehrung
gesunder und billiger Arbeiterwohnungen auch dem Vermieter ein Antheil
an der gesetzlichen Begünstigung gesichert werden muss, dem Bestreben
nach einer möglichst weitgehenden Verbilligung der Wohnungen natürliche
Grenzen setzt. Letzterer Gesichtspunkt verdient umsomehr Berücksichtigung,
als der Besitzer solcher steuerbegünstigter Gebäude sowohl durch das
Gesetz als durch die behördliche Controle vielfachen Beschränkungen und
Belästigungen unterworfen werden muss, welche bei Bemessung seines
Antheiles an der Steuerbegünstigung — wenn auf die Heranziehung des
Privatcapitals nicht gänzlich verzichtet werden soll — gleichfalls billige
Berücksichtigung zu finden haben.
Die fachmännischen Gutachten schwankten hinsichtlich der zulässigen
Maximalverzinsung des aufgewendeten Capitales zwischen 3V2 und 4 Proc.
Thatsächlich würde jedoch jede derartige Fixierung durch das
Gesetz selbst dessen Zwecke empfindlich beeinträch-
tigen. Bei den namhaften Schwankungen, welchen der Zinsfuss nicht nur
zeitlich, sondern auch örtlich unterworfen ist, können die hier maassgebenden
Literessen nur dann entsprechend gewahrt werden, wenn den Vorschriften
über die zulässige Maximalverzinsung des in Arbeiterwohnungen investierten
Capitales die nöthige Beweglichkeit gesichert bleibt, um sich den jeweiligen
concreten Verhältnissen möglichst enge anschliessen zu können. Dieser Zweck
aber ist nur dadurch zu erreichen, dass die Festsetzung des fraglichen
Percentsatzes im Rahmen des Gesetzes der Vero rdn un gs gewalt über-
lassen wird. Bei dieser Festsetzung wird naturgemäss auf den in einzelnen
Ländern oder Landestheilen jeweilig ortsüblichen Zinsfuss, insbesondere auf
den Hypothekarzinsfuss der Sparcassen und der sonst maassgebenden Credit-
institute in der Weise Rücksicht zu nehmen sein, dass die Investierung des
Capitals in Gebäuden mit gesunden und billigen Arbeiterwohnungen anderen
ähnlichen Capitalsanlagen gegenüber, wenn auch nur in beschränktem
Maasse, doch immerhin noch privilegiert erscheint. Ein Zinsfuss, welcher
sich um 0-15 bis 0-30 Proc. über die nach den obigen Grundsätzen er-
mittelte Durchschnittsverzinsung erhebt, kann im allgemeinen als ausreichend
angesehen werden, um bei möglichster Wahrung des Grundsatzes der Billigkeit
der Wohnungen dem Vermieter doch einen angemessenen" Antheil an dem
Werte der Steuerbegünstigung zu sichern.
Bei Festsetzung der zulässigen Maximalverzinsung muss übiigens nicht
allein auf die Heranziehung des Privatcapitals, sondern namentlich auch
darauf Rücksicht genommen werden, dass öffentliche Anstalten, welche in
irgend einer Weise die Zwecke des allgemeinen Besten zu fördern
berufen sind, wie Kranken- und Ünfall-Vers icher ungsanstal-
g Schwartzenau.
ten, Landes-Creditinstitute, Sparcassen etc., angeregt werden
sollen, ihre verfügbaren Capitalien in zunetinaendem Maasse in Arbeiter-
wohnhäusern zu investieren. Hier ist es Aufgabe des Gesetzes, neben seinen
eigenen Zwecken auch den gleichfalls öffentlichen Interessen dienenden
Zwecken jener Anstalten Kechnung zu tragen: es geschieht dies am besten
durch eine Bestimmung, in welcher die Executive ermächtigt wird, solchen
gemeinnützigen Anstalten fallweise eine höhere, als die sonst zulässige Ver-
zinsung des in Arbeiterwohnungen investierten Capitales zu bewilligen.
Der weiter oben erwähnte Mietzinstarif über sämmtliche im Hause
befindlichen Wohnungen muss behördlich genehmigt sein und an einer für
jedermann ersichtlichen Stelle des Hauses angebracht werden. Aufgabe der
Behörde ist es, hiebei die Controle darüber zu üben, dass der Gesammt-
mietzins aller Wohnungen eines Hauses nach Abzug der im Gesetze aus-
drücklich bezeichneten Posten die zulässige Maximalverzinsung nicht übersteige.
Wenn in einem steuerbegünstigten' Gebäude einzelne Wohnungen den
Arbeitern unentgeltlich oder gegen ziffermässig nicht festgesetzte Anrechnung
auf den Arbeitslolin überlassen werden, ist der Zinswert derselben nach
Maassgabe des auf den Quadratmeter wirklich vermieteter Bodenfläche durcli-
schnittlich entfallenden Einheitszinses im Parificationswege zu ermitteln
und in das Gesammt-Zinserträgnis des Gebäudes einzurechnen. Der so er-
mittelte Mietzinsvvert solcher Wohnungen muss im Mietzinstarife gleichfalls
ausgewiesen werden. Durch diese Bestimmungen wird, wenigstens in Bezug
auf die steuerbegünstigten Gebäude, jenen Missbräuchen vorgebeugt, die
sich aus der angeblich unentgeltlichen oder gegen ziffermässig nicht fest-
gesetzte Anrechnung auf den Arbeitslohn erfolgende Ueberlassung von Woh-
nungen an Arbeiter häufig ergeben. Der Arbeiter wird dadurch künftig in
der Lage sein, sich in allen solchen Fällen über den Wert der ihm einge-
räumten Wohnung volle Klarheit zu verschaffen.
Aus dem Grundsatze, dass der Mieter der eigentliche Träger der
Steuerbegünstigung ist, ergibt sich noch eine Reihe anderer Consequenzen,
welche im neuen Gesetze sorgfältige Berücksichtigung finden müssen.
Zunächst entbehrt es jeder Begründung, dass das geltende Gesetz in
§ 1, lit. a) — c), die Steuerbegünstigung auf bestimmte Kategorien von Bau-
führern beschränkt. Gegenüber den weitgehenden Forderungen einzelner
Socialökonomen, welche die Pflicht der Fürsorge für den Bestand einer hin-
länglichen Anzahl von Gebäuden mit gesunden und billigen Arbeiterwohnungen
der öffentlichen Gewalt (Staat, Land oder Gemeinde) aufbürden wollen, hat
der Verfasser schon auf dem im Jahre 1897 zu Brüssel abgehaltenen inter-
nationalen Congresse über billige Wohnungen die Anschauung vertreten,
dass diese Fürsorge in erster Linie der privaten Initiative zu überlassen
sei, während der öffentlichen Gewalt die Aufgabe zufalle, die privaten Be-
strebungen auf diesem Gebiete durch entsprechende Gesetze oder sonstige
angemessene Einrichtungen nach Kräften zu fördern.^)
') Actes du congres international des habitions a bon marche, tenu k Bruxelles
(Juillet 1897).
Zur Reform der österreichischen Arheiter-Wohnungsgesetzgebung. 7
So wichtig auch die Frage der Beschaffung geeigneter Arbeiter-
wohnungen ist, kann doch nicht übersehen werden, dass es sich hier nur um
eine der zahlreichen Erscheinungen handelt, welche'' sich als ein Product
unserer gesamraten socialen und wirtschaftlichen Verhältnisse darstellen. Die
Wohnungsnoth der minder bemittelten Classen ist lediglich ein Folgeübel,
unter dessen verschiedenen Ursachen namentlich die'^IJnregelmässigkeit des
Zuzuges der Bevölkerung nach den grösseren Centren^^hervorgehoben zu
werden verdient. Diese Volksbewegung vollzieht sich keineswegs nach den
Principien der Nationalökonomie, nach dem Grundsatze des Anbotes und
der Nachfrage, sondern nach augenblicklich maassgebenden unberechenbaren
Conjuncturen ; jeder Nachfrage steht in der Regel ein zehnfach stärkeres
Anbot gegenüber, der geringste wirtschaftliche Aufschwung, oft nur ein vor-
übergehender Bedarf an Arbeitern auf einem beschränkten Gebiete, genügt,
um einen neuen Menschenstrom den grossen Städten zuzuführen. Ungleich
unempfindlicher erweist sich dagegen die Bevölkerung gegenüber den Folgen
des wirtschaftlichen Niederganges, des andauernden Ueberwiegens des Arbeits-
anbotes gegenüber der Nachfrage. Einmal an das ungebundene Leben, an
die unbestimmten Aussichten auf bedeutenderen Gewinn, an die wechselnden
Zufälligkeiten der Grosstadt gewöhnt, entschliesst sich das Individuum nur
schwer, zu den patriarchalischeren Gebräuchen des flachen Landes zurück-
zukehren, wo ein mit harter, angestrengter Arbeit ausgefülltes Leben alle
Illusionen zerstört, die über den regelmässigen Erwerb des täglichen Brotes
hinausgehen. Dem Wolinungsbedarfe dieser stets wachsenden Bevölkerung
durch Errichtung von Gebäuden seitens des Staates oder der Gemeinde zu
genügen, erscheint von vorneherein ausgeschlossen, abgesehen davon, dass
dies nur dazu beitragen könnte, dem wirtschaftlich ungerechtfertigten Zudrange
der Bevölkerung nach den grossen Centren neue Anregung zu geben und
dadurch den Eintritt jener Katastrophen zu beschleunigen, welche die unaus-
bleibliche Folge einer namhaften Ueberbevölkerung sind.
Aber auch auf dem flachem Lande ist für den Staat, das Land oder
die Gemeinde die Möglichkeit nicht geboten, dem Bedarfe der Bevölkerung
nach billigen und gesunden Wohnungen durch Errichtung solcher Gebäude
Rechnung zu tragen. Dieser Bedarf ist je nach den augenblicklichen Verhält-
nissen eines Ortes, je nachdem dort eine Industrie entsteht, blüht oder
zugrunde geht, steten Schwankungen unterworfen, welchen die öffentliche
Gewalt durch ihre eigenen Einrichtungen nicht zu folgen vermöchte, ohne
gegen ihre sonstigen dauernden, ungleich wichtigeren Verpflichtungen zu
Verstössen.
Dagegen ist es bekannt, welche bedeutenden Erfolge in England, Frank-
reich und Belgien dadurch erzielt wurden, dass gemeinsinnige Private (meist
solche, deren Wohlstand auf industrielle Unternehmungen zurückzuführen ist)
ohne auf jedes Einkommen aus ihren investierten Capitalien verzichten zu
wollen, sich doch mit einem geringeren Percentsatze begnügten, um an
dem philantropischen Unternehmen der Beistellung gesunder und billiger
Arbeiterwohnungen activen Antheil zu nehmen. Wenn schon die Bauten
8' Schwartzenau.
der grösseren Pabriksunternehmungen auch in der nächsten Zukunft
voraussichtlich noch einen sehr grossen Theil der Arbeiterwohnungen in
Oesterreich bilden werden, so würde es doch den hauptsächlichsten Prin-
cipien des neuen Gesetzes widerstreiten, das sonstige Capital — wie es das
Gesetz vom Jahre 1892 gethan hat — von dieser Art der Anlage auszu-
schliessen. Demgemäss muss im neuen Entwürfe jede Beschränkung mit
Eücksicht auf die verschiedenen Kategorien von Bauführern grundsätzlich
entfallen.
Ebenso wichtig wie die Frage, ob der Kreis der zu begünstigenden
Vermieter gesetzlich zu beschränken sei, ist die, ob rücksichtlich
des Kreises der zu begünstigenden Mieter eine solche
Beschränkung platzzugreifen habe.
Das geltende Gesetz hat diese Frage in bejahendem Sinne entschieden,
indem es sowohl in seiner üeberschrift, als auch in seinem Texte ,Ar-
beiter" als die Bewohner der steuerbegünstigten Gebäude bezeichnet,
allerdings ohne einerseits den „Arbeiter" -Begriff in diesem Sinne näher zu
umschreiben und anderseits irgendwelche Garantien dafür zu schaffen, dass
die fraglichen Gebäude auch thatsächlich nur von Arbeitern bewohnt werden.
Lediglich von ethischen und hygienischen Gesichtspunkten aus be-
trachtet, ist zuzugeben, dass alle Bevölkerungskreise, deren Einkommen
unter einem gewissen Betrage zurückbleibt, welcher ihnen unter den ge-
gebenen Verhältnissen die Miete einer den zulässigen Minimalanforderungen
entsprechenden Wohnung gestattet, des gesetzlichen Schutzes bedürftig sind,
mit anderen Worten: dass in Bezug auf den Kreis der begünstigten Mieter
ein allenfalls örtlich und zeitlich zu differenzierendes Maximaleinkommen
die einzig zulässige Beschränkung zu bilden hätte. Das kommende Gesetz
hätte demnach nicht ein „Arbeiter-", sondern ein „Volks- Wohnungsgesetz"
zu sein. Wirtschaftspolitische Rücksichten allgemeiner Natur, sowie auch
finanzpolitische Erwägungen lassen es jedoch geboten erscheinen, in dieser
Richtung nur schrittweise vorzugehen. Ein Sprung ins Ungewisse muss
umso sorgfältiger vermieden werden, als das neue Gesetz noch eines prak-
tischen Vorbildes ermangelt und gerade, wenn es — wie wir hoffen — sich
als wirksam erweist, durch eine allzuweit gehende Ausdehnung seines An-
wendungsgebietes nach anderen Richtungen leicht zu Consequenzen führen
könnte, die auch im Interesse derjenigen vermieden werden müssen, zu
deren Gunsten es erlassen wird. Die Gesetzgebung kann es jedenfalls nicht
als ihre Aufgabe betrachten, durch ein unvermitteltes Eingreifen bestehende
Gebäude in grösserem Umfange zu entwerten oder zur plötzlichen Ent-
völkerung ganzer Stadttheile beizutragen. Der Uebergang zu einer allgemein
durchgreifenden, der Volkshygiene entsprechenden Wohnungsreform muss
allmählich und mit grundsätzlicher Vermeidung gewaltsamer Erschütterungen,
durch welche mittelbar auch die zu schützenden Bevölkerungskreise empfind-
lich getroffen würden, angebahnt werden.
In diesem Sinne ist das neue Arbeiter-Wohnungsgesetz nur als ein
Vorläufer eines allgemeinen Volks- Wohnungsgesetzes anzusehen. Einstweilen
I
Zur Reform der österreichischen Arbeitfir-Wohnungsgesetzgebung. P
aber sprechen gewichtige Gründe dafür, die fragliche legislatorische Action,
unter Aufrechthaltung der bisherigen Schranken, grundsätzlich auf das Gebiet
des Arbeiter Schutzes zu verweisen und deren Vortheile vor allem
denjenigen zuzuwenden, welche bei geringem Einkommen mit ihrer Hände
Arbeit productiv thätig sind.
Zu diesem Zwecke ist es jedoch erforderlich, dass der Arbeiterbegriff
in Bezug auf das neue Gesetz entsprechend weit umschrieben werde. Die
österreichische Gesetzgebung weist keine nach allen Richtungen entsprechende
Definition dieses Begriffes auf, wenigstens keine, welche weit genug wäre,
um den hier in Betracht kommenden Zwecken zu genügen. Mit Rücksicht
auf die letzteren werden als Arbeiter im Sinne des neuen Gesetzes alle die-
jenigen Personen aufzufassen sein, welche in einem gewerblichen, landwirt-
schaftlichen oder sonst auf Erwerb gerichteten, gleichviel ob öffentlichen
oder privaten, Unternehmen gegen Lohn in Verwendung stehen, und deren
Jahreseinkommen jenen Betrag nicht erreicht, von welchem anzunehmen ist,
dass er ihnen auch ohne besonderen gesetzlichen Schutz die Miete einer
den zulässigen Minimalanforderungen entsprechenden Wohnung gestattet.
Um hiebei den praktischen Bedürfnissen möglichst nahe zu kommen, wird
es erforderlich sein, den Maximalbetrag des jährlichen Einkommens einerseits
nach der Zahl der Familienmitglieder, anderseits nach den Preisverhältnissen
in kleineren und grösseren Ortschaften zu differenzieren.
Selbstverständlich wird schon das Gesetz selbst dafür Vorsorge zu
treffen haben, dass weder aus dieser Begriffsbestimmung, noch auch über-
haupt aus dem Grundsatze, wonach nur die arbeitende Bevölkerung als
die Trägerin der gesetzlichen Begünstigung anzusehen ist, kleinliche Er-
schwerungen in der praktischen Durchführung erwachsen.
Zu diesem Zwecke wird namentlich zu verfügen sein, dass durch vor-
übergehende Unterbrechungen in der regelmässigen Verwendung die Eigen-
schaft als , Arbeiter" nicht berührt wird, dass solchen Personen, welche
eine Wohnung unter den gesetzlichen Bedingungen bezogen haben, bei spä-
teren Veränderungen in der Höhe des Gesammteinkommens oder in der
Zahl der Familienmitglieder die weitere Benützung dieser Wohnung gestattet
werden kann, und dass Unternehmer als Besitzer steuerbegünstigter Gebäude
bei der Aufnahme der in ihrem eigenen Unternehmen beschäftigten Arbeiter
an das gesetzliche Höchstausmaass des jährlichen Einkommens dieser letz-
teren nicht gebunden sind. Um schon dermalen den Uebergang zu einem
allgemeinen Volks-Wohnungsgesetze anzubahnen und gleichzeitig auch den
Besitzern begünstigter Gebäude eine Erleichterung in der Vermietung der
Wohnungen zu gewähren, soll im neuen Gesetze gestattet werden, dass ein
Theil der Wohnungen, jedoch nicht mehr als ein AHertheil des bewohnbaren
Raumes eines solchen Gebäudes, nicht an Arbeiter, sondern an andere Per-
sonen vermietet (oder unentgeltlich überlassen) werde, deren jährliches Ein-
kommen das in Bezug auf Arbeiter gesetzlich festgesetzte Höchstausmaass
nicht übersteigt. Ebenso soll auch die unentgeltliche Ueberlassung einzelner
Wohnungen an die mit der Verwaltung oder Beaufsichtigung des Gebäudes
IQ Schwartzenau.
betrauten Organe, sowie die Vermietung von Räumen an Inhaber solcher
Gewerbe für zulässig erklärt Averden, deren Betrieb in den betreffenden Ge-
bäuden zur Approvisionierung der dort Wohnenden nothwendig erscheint.
Wenn der Grundsatz als richtig anerkannt wird, dass eigentlich nicht
der Vermieter, sondern der Mieter als Träger der gesetzlichen Begünstigung
anzusehen ist, erweisen sich auch die Bestimmungen des § 6 des geltenden
Gesetzes als durchaus verfehlte.
Dass, wenn der Kreis der in Bezug auf das neue Gesetz in Betracht
kommenden Hausbesitzer nicht mehr auf bestimmte Kategorien von Personen
beschränkt wird, auch die Vorschrift entfallen muss, wonach die Begün-
stigung bei Eigenthumsübertragungen von dem Erbauer auf dritte Personen
erlisclit, versteht sich von selbst. Ebenso unhaltbar vom Standpunkte des
erwähnten Grundsatzes aus sind aber auch die übrigen Bestimmungen des
citierten Paragraphen, vermöge welcher bei Nichtbeachtung der gesetzlichen
Vorschriften, insbesondere bei Feberschreitungen der zulässigen Mietzins-
beträge die Hausbesitzer durch Entziehung der Begünstigung bestraft werden.
Es liegt auf der Hand, dass diese Strafen nicht sosehr den schuldtragenden
Vermieter, als vielmehr die durch dessen üebertretung ohnedies bereits
geschädigten Mietparteien trifft. Der Hausbesitzer übernimmt infolge der
Zuerkennung der gesetzlichen Begünstigung formell dem Staate, materiell
seinen Mietparteien gegenüber eine Reihe von Verpflichtungen, denen er
sich nicht entziehen kann, ohne diese Parteien, oder doch die Gesammtheit
derjenigen zu schädigen, welche hinsichtlich der Beschaffung geeigneter
Wohnungen des gesetzlichen Schutzes bedürfen. Er wird sich diesen Ver-
pflichtungen in der Regel solange unterziehen, als er in seinem Antheile an
dem Werte der Steuerbegünstigung ein Aequivalent für dieselben erblicken
kann, in dem Augenblicke aber, da dies aus irgendwelchen Gründen nicht
mehr der Fall ist, selbst absichtlich zum Mittel der üebertretung greifen,
um sich durch die willkommene Strafe der lästig gewordenen Verpflichtungen
zu entledigen. Um solche Consequenzen zu vermeiden, wird das neue Gesetz
daran festzuhalten haben, dass die Zuerkennung der Begünstigung die
dauernde Widmung des Gebäudes zu Arbeiterwohnungs- und -Wohl-
fahrtszwecken zur Folge hat, und dass sowohl der Erbauer, als dessen Rechts-
nachfolger im Besitze des Hauses zur Beobachtung der gesetzlichen Vor-
schriften verpflichtet bleiben. Vorsichtshalber empfiehlt es sich, diese dauernde
Widmung als Reallast zu Gunsten des Staates grundbücherlich sicherstellen
zu lassen. Es werden sich allerdings auch in Zukunft Fälle ergeben, in
welchen das Erlöschen einer solchen Widmung zugestanden werden muss.
Dies kann jedoch selbstverständlich niemals strafweise, sondern nur dann
geschehen, wenn infolge geänderter Verhältnisse das Interesse der gesetzlich
begünstigten Arbeiterkreise an dem aufrechten Bestände der Widmung auf-
gehört hat, also die Voraussetzungen, unter welchen dieselbe begründet
wurde, thatsächlich entfallen sind. Solche Fälle, wie z. B. der Niedergang oder
das gänzliche Aufhören einer früher blühenden Industrie an einem bestimmten
Orte, werden sich unter normalen Verhältnissen nur selten ergeben, und
Zur Reform der österreichischen Arbeiter-Wohnungsgesetzgebung. H
bleibt die ausnahmsweise Bewilligung zur Löschung der grundbücherlieben
Vormerkung den höchsten administrativen Instanzen vorbehalten.
Eine rationelle Bestrafung des Hausbesitzers in Fällen von Ueber-
tretungen kann nur darin gelegen sein, dass demselben die Zahlung eines
mehrfachen Betrages des Wertes der während der Dauer der ungesetzlichen
Widmung genossenen Steuerbegünstigung aufgetragen wird. Eine Strafe,
durch welche die Mietparteien mittelbar oder unmittelbar mitbetroffen werden,
muss unter allen Umständen ausgeschlossen bleiben. Hat sich der Haus-
besitzer einer üebertretiing speciell dadurch schuldig gemacht, dass er einen
höheren als den gesetzlich zulässigen Mietzins einhob, so triift ihn ausser
der strafweisen Entrichtung eines Mehrfachen des über das gesetzliche
Ausmaass hinaus eingehobenen Mietzinsbetrages auch die Verpflichtung zur
Eückerstattung dieses Mehrbetrages an die geschädigte Mietpartei.
Wenn in den vorstehenden Ausführungen die Frage, wer als der eigent-
liche Träger der gesetzlichen Begünstigung anzusehen ist, und die sich
hieraus unmittelbar ergebenden Consequenzen erörtert wurden, so erübrigt
noch, die weitere Frage zum Gegenstande einer eingehenden Untersuchung
zu machen, worin nach dem neuen Gesetze die fragliche Be-
günstigung zu bestehen haben wird.
Principiell ist die volkswirtschaftliche Bedeutung der einzuleitenden
legislatorischen Action darin gelegen, dass für die breiten arbeitenden
Schichten der Bevölkerung die Herstellung und Benützung solcher Woh-
nungen von Staatswegen begünstigt werde, deren Preise einerseits mit dem
Einkommen dieser Bevölkerungsclassen im Einklänge stehen, und deren
Bestimmung, Anlage und Benützung anderseits wenigstens jenen Anfor-
derungen genügen, die im öffentlichen Interesse in Bezug auf die Voraus-
setzungen für das körperliche und seelische Gedeihen der Bewohner, sowie
auf das erwünschte allgemeine Niveau der Lebensführung als unabweislich
nothwendig zu betrachten sind. Hierdurch ist auch nach doppelter Richtung
das Wesen der Begünstigung charakterisiert, welche im neuen Gesetze den
durch dasselbe zu begünstigenden Bevölkerungsclassen gewährt werden soll:
die Billigkeit und die Gesundheit der Wohnungen.
Auch das geltende Gesetz hat es sich bereits zur Aufgabe gemacht,
nach diesen beiden Richtungen hin Vorsorge zu treffen, indem es in § 1
die Zuerkeniiung der Begünstigung davon abhängig macht, dass die Er-
bauung des Hauses zu dem Zwecke erfolgt, um den Arbeitern „gesunde
und billige Wohnungen zu bieten".
Was zunächst die Gesundheit der Arbeiterwohnungen betrifft, so
enthält das Gesetz, abgesehen von dem obigen, ganz allgemeinen Passus
nur die Bestimmungen, dass der Fussboden der Wohnungen in steuer-
begünstigten Gebäuden nicht unter der Strassenoberfläche gelegen sein darf
(§ 3), und dass der bewohnbare Raum von Wohnungen mit einem oder
mehreren Gelassen nicht unter dem dort normierten Minimalausmaasse ziu'ück-
bleiben darf (§ 4, Abs. 1). Aber selbst von diesen, den Grundsätzen einer
rationellen Wohnungshygiene in keiner Weise genügenden Anforderungen
12 Schwarfzenau.
kann der Erbauer ganz oder theilweise entbunden werden, „wenn der zweck-
entsprechende und gemeinnützige Charakter der Bauführungen in anderer
Weise sichergestellt ist" (§ 4, Abs. 2).
Es versteht sich von selbst, dass durch derartige Vorschriften weder
dem öffentlichen Interesse, noch dem Interesse derjenigen, die durch das
Gesetz geschützt werden sollen, auch nur annäherungsweise Rechnung ge-
tragen wird. Der Gesetzgeber muss sich bei diesen Fragen stets die grosse
Bedeutung gegenwärtig halten, welche die Wohnung speciell für die Familie
besitzt, die selbst wieder, als die primäre Form der menschlichen Gemein-
schaft, seit Jahrtausenden berufen war und jedenfalls noch auf eine unab-
sehbare Zukunft hinaus berufen sein wird, eine der wesentlichsten Grund-
lagen unseres gesammten privaten und öffentlichen Lebens zu bilden.
Der Sinn für die Ausschmückung der Wohnungen mit den Erzeugnissen
der Kunst und allem, was den Aufenthalt dortselbst erfreulich und angenehm
gestaltet, hat in den wohlhabenden Kreisen von altersher bestanden. Zwischen
den Häusern der Eeichen und den Hütten der Armen lag jedoch eine Kluft,
die zu überbrücken den ausgleichenden Tendenzen der modernen Wohlfahrts-
gesetzgebung mit Hilfe der fortgeschrittenen Entwicklung der hygienischen
Disciplinen vorbehalten blieb. Bereits macht sich in den verschiedenen
Staaten Europas eine sehr nachhaltige Bewegung geltend, welche dahin ab-
zielt, der Wohnungsfrage in der Gesetzgebung jene Stellung einzuräumen,
die sie sowohl aus hygienischen, als aus ethischen Rücksichten mit vollem
Rechte beanspruchen darf. In dieser Beziehung verdienen namentlich die
kräftigen Impulse hervorgehoben zu werden, welche unmittelbar aus der
Bevölkerung des benachbarten Deutschen Reiches hervorgehen und dahin
gerichtet sind, den Reichstag zur Erlassung eines Reichs-Wohnungsgesetzes
zu bestimmen. Vorläufig darf allerdings noch gezweifelt werden, ob die
wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands — so grosse Fortschritte dieselbe
auch in den letzten Jahren gemacht hat — bereits auf jener Höhe ange-
langt ist, welche es der dortigen Gesetzgebung gestattet, durch eine
den modernen Anforderungen entsprechende, umfassende und tief in das
Privatleben eingreifende Wohnungsreform den übrigen Culturvölkern bahn-
brechend voranzueilen.
Darüber dürfen wir uns jedenfalls nicht täuschen, dass ein solches
allgemeines Wohnungsgesetz, wenn es nicht bloss ein Scheindasein auf dem
Papiere führen soll, eine ausserordentliche Entwicklung der wirtschaftlichen
Kräfte im Staate voraussetzt, und dass bei uns in Oesterreich schon ver-
möge der ungleichmässigen ökonomischen Entfaltung einzelner Länder
und Landestlieile dieses nichtsdestoweniger anstrebenswerte Ziel vorerst
nicht erreicht werden kann. Zunächst werden unsere theils veralteten, theils
wenn auch neuen, so doch unzulänglichen Bauordnungen unter specieller
Berücksichtigung der Wohnungsfrage einer gründlichen Reform zu unter-
ziehen sein; in zweiter Linie bedarf unsere Gewerbeordnung, welche nur
eine einzige, höchst dürftige Bestimmung über Arbeiterwohnungen enthält,
einer zeitgemässen Ausgestaltung. Vor allem aber muss dasjenige Gesetz,
I
I
Zur Kcl'oriu der österrcichisclioa xirbuitor-AVolinuiigsgesetzgebung. 13
welches es sich zur speciellen Aufgabe macht, wenigstens einem geringen
Theile der Bevölkerung entsprechende Wohnungen zu bieten, und zu diesem
Zwecke der Gesammtheit nicht unbeträchtliche Lasten auferlegt, in dem so
beschränkten Anwendungsgebiete alle Bedingungen in sich vereinen, um das
physische und seelische Gedeihen der begünstigten Bevölkerungsclassen zu
fördern: In diesem Sinne wird das Arbeiter- Wohnungsgesetz berufen sein,
nicht allein — wie bereits bemerkt — ein Gesetz über gesunde und billige
Volksw'ohnungen, sondern in der weiteren Folge auch ein allgemeines
Wohnungsgesetz anzubahnen.
Die bei Erlassung des neuen Gesetzes in hygienischer und ethischer
Kichtung zu beobachtenden Grundsätze beziehen sich
1. auf den Zweck und die bauliche Anlage der Häuser,
2. auf die Beschaffenheit und Eintheilung der Wohnungen und
3. auf die Benützung der letzteren.
Dem Zwecke nach ist zu unterscheiden zwischen Gebäuden zur Auf-
nahme von Familien; solchen zur Aufnahme einzelner Personen und Wohlfahrts-
gebäuden im engeren Sinne, welche nicht zu Wohnungszwecken, sondern
in anderer Weise zur gemeinsamen Benützung der Bewohner anderer steuer-
begünstigter Häuser bestimmt sind.
Was zunächst die F a m i 1 i e n - W o h n u n g s g e b ä u d e betrifft, so
wäre aus ethischen und hygienischen Rücksichten die Erbauung kleinerer,
zur Aufnahme von ein bis zwei Familien bestimmter Gebäude zu bevor-
zugen. Die Durchführung dieses Princips wird auf dem flachen Lande in
der Regel keinen wesentlichen Schwierigkeiten begegnen, wohl aber in dichter
bevölkerten Orten, wo — abgesehen von zahlreichen anderen Momenten —
schon der grössere Wert des Baugrundes eine intensivere Ausnützung der
Bodenfläche bedingt. Wenn daher auch in Bezug auf die Zahl der Familien,
welche in einem und demselben Gebäude aufzunehmen sind, gesetzliche
Beschränkungen nicht vorgesehen und sogenannte „ Mietkasernen " von der
Begünstigung des Gesetzes grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden können,
so wird doch durch entsprechende Bestimmungen dafür vorzusorgen sein,
dass in solchen Gebäuden durch geeignete Anlagen (genügende Anzahl von
Stiegen, entsprechende Lage der Wohnungen und Wohnungseingänge, ge-
sonderte Nebenräume, Küchen, Aborte etc.) jeder einzelnen Familie die
Möglichkeit ihres Sonderdaseins gewahrt und die Nothwendigkeit der gegen-
seitigen Berührungen thuulichst verringert werde. Das verderbliche Eindringen
fremder Elemente in das Familienleben wird namentlich durch das Verbot
der Aftervermietung und der Aufnahme von Bettgehern in Familienwohn-
häusern wirksam hintangehalten werden können. Dagegen soll es bei ent-
sprechender Anlage solcher Gebäude dem Hausbesitzer nicht verwehrt sein,
einzelne, vollkommen abgesonderte Zimmer je nach deren Grösse an ein
bis zwei einzelstehende Personen desselben Geschlechtes unmittelbar zu
vermieten. Im allgemeinen aber empfiehlt es sich, bei grösseren Wohnungs-
gebäuden für die Aufnahme von Familien und für jene von einzelstehenden
Personen gesonderte Abtheilungen einzurichten. Einzelpersonen verschiedenen
14 Schwaitzenau.
Geschlechtes sollen überhaupt nicht in demselben Gebäude, wo dies aber
ausnahnoisweise für zulässig erklärt wird, stets nur in vollkommen von ein-
ander gesonderten Abtheilungen untergebracht werden.
Ausser den Familienhäusern sind auch Schlaf- und L o g i e r^
h ä u s e r, sowie ähnliche, zur gemeinsamen Beherbergung einzelnstehender
Personen bestimmte Gebäude, soferne sie den hiebei besonders in Betracht
kommenden gesundheitlichen und sittlichen Anforderungen entsprechen und
namentlich auf der Grundlage einer vollständigen Trennung der beiden
Geschlechter errichtet sind, von der gesetzlichen Begünst.gung keineswegs
grundsätzlich auszuschliessen. Hinsichtlich dieser Kategorie von Gebäuden
kommen jedoch in einer Richtung wesentlich andere Gesichtspunkte in
Betracht, als bezüglich der übrigen Arbeiterwohnungshäuser. Während sich
nämlich weiter oben im allgemeinen principiell dagegen ausgesprochen
wurde, den Kreis der gesetzlich zu begünstigenden Erbauer oder Besitzer
von Arbeiterwohnungsgebäuden auf bestimmte Kategorien von Personen zu
beschränken, kann speciell hinsichtlich der Schlaf- und Logierhäuser die Zweck-
mässigkeit einer solchen Beschränkung nicht in Abrede gestellt werden. Es
folgt dies daraus, dass bei dieser Art von Gebäuden deren gemeinnütziger
Charakter nicht so sehr durch ihre Anlage und Einrichtung an sich, als
vielmehr durch die Art ihres Betriebes und ihrer Benützung in jedem ge-
gebenen Augenblicke bedingt ist, und dass von den Personen, welche sich
zu speculativen Zwecken mit dem Betriebe solcher Massenquartiere be-
schäftigen, in der Regel nicht jenes Maass der Rücksichtnahme auf öffent-
liche Interessen vorausgesetzt werden kann, ohne welches die Zuerkennung
der gesetzlichen Begünstigung thatsächlich unzulässig wäre. Eine so gründ-
liche und unausgesetzte Ueberwachung, wie sie hier zur Sicherung des
gesetzlichen Zweckes unbedingt nöthig wäre, vermöchte aber staatlicherseits
nicht gewährleistet zu werden. Aus diesen Erwägungen empfiehlt es sich,
die Begünstigung grundsätzlich nur solchen Schlaf- und Logierhäusern zu-
zuerkennen, welche von öffentlichrechtlichen Corporationen, gemeinnützigen
Vereinen, Stiftungen oder Genossenschaften oder von Arbeitgebern für die
eigenen Arbeiter errichtet werden. Li Fällen, in welchen der Besitz des
Gebäudes später an andere als die oben bezeichneten Personen übergeht,
müsste es der Entscheidung der betheiligten Ministerien vorbehalten bleiben,
ob und unter welchen Bedingungen die Begünstigung und damit auch die
Widmung des Gebäudes ferner noch fortzubestehen hat.
Unter den oben erwähnten Wohlfahrtsgebäuden im engeren
Sinne sind Lesehallen, Badehäuser, Waschanstalten oder andere zur gemein-
samen Benützung und zum geistigen oder körperlichen Wohle der Bewohner
eines oder mehrerer Häuser bestimmte Anlagen zu verstehen. Da das neue
Gesetz kein Volks-, sondern speciell nur ein Arbeiter-Wohnungsgesetz
sein soll, können in Ansehung desselben nur solche Wohlfahrtsgebäude in
Betracht kommen, welche zu einem Complexe von nach diesem Gesetze
begünstigten Ar b eit er Wohnhäusern gehören. Selbstverständlich muss es
auch gestattet sein, Wohlfahrtseinrichtungen der erwähnten Art, sowie Speise-
Zur Reform ier österreichischen Arbeiter-Wohiiuiigsgesetzgebuiig. 15
Säle, Bibliothekszimmer u. a. in den steuerbegünstigten Arbeiterwolingebäuclen
selbst unterzubringen.
Hinsichtlich der Beschaffenheit und Einrichtung der Wohnungen kommt
vor allem die Zahl und die Grösse der Wohnräume in Betracht. Von
ethischen und hygienischen Gesichtspunkten aus sind Familienwohnungen
mit mehreren, wenn auch kleineren, solchen mit weniger, obzwar grösseren
Räumen entschieden vorzuziehen. Wohnungen, welche nur aus einem einzigen
Wohnräume bestehen, sind zur Aufnahme von Familien grundsätzlich un-
geeignet. Wie günstige Erfolge in dieser Richtung erzielt werden können,
zeigt die Statistik der Schweizer Fabrikswohnhäuser, von deren Gesammtzahl
im Jahre 1896 nur VI Proc. auf Wohnungen mit einem, dagegen 31-2 Proc. aut
Wohnungen mit drei und 42*5 Proc. auf solche mit vier Wohnräumen entfielen.
Die Herstellung von Wohnungen mit mehreren Wohnräumen wird in
zweckmässiger Weise dadurch zu fördern sein, dass für dieselben im Gesetze
ein relativ niederes Mindest- und ein relativ hohes Höchstausmaass fest-
gesetzt wird. Abgesehen hievon, bezweckt die Festsetzung eines Mindest-
•ausmaasses die Sicherung der geringsten Anforderungen, welche in dieser
Richtung vom ethischen und hygienischen Standpunkte aus an eine Wohnung
überhaupt gestellt werden können, während in dem gesetzlich zulässigen
Höchstausmaasse der Gedanke zum Ausdrucke gelangt, welcher auch bei
der weiter oben erörterten Umschreibung des Arbeiterbegriffes für die Fest-
setzung eines Maximums des Jahreseinkommens maassgebend und darin
gelegen ist, dass das Gesetz nur den unter durchschnittlich normalen Ver-
hältnissen thatsächlich bestehenden Wohnungsbedürfnissen minder bemittelter
Arbeiterkreise, nicht aber darüber hinausgehenden Anforderungen Rechnung
zu tragen hat. Der oberste Sanitätsrath und das Hochbau- Departement des
Ministeriums des Innern haben in dieser Beziehung für die Bodenfläche der
bewohnbaren Räume (Wohnzimmer, Kammern und Küche) der einzelnen
Wohnungen folgende Ansätze beantragt:
a) Bei einräumigen Wohnungen mindestens 16 Quadratmeter,
b) bei zweiräumigen Wohnungen mindestens 22 Quadratmeter,
c) bei drei- und mehrräumigen Wohnungen mindestens 30 Quadratmeter.
d) bei einräumigen Wohnungen höchstens 24 Quadratmeter,
e) bei zwei- und mehrräumigen Wohnungen höchstens 75 Quadratmeter.
Es dürfte jedoch fraglich erscheinen, ob in der Begünstigung mehr-
räumiger Wohnungen nicht noch weiter gegangen werden könnte, als hier
beantragt wurde.
In den vorstehenden Ausführungen wurden selbstverständlich bei
weitem noch nicht alle Gesichtspunkte berücksichtigt, welche in Bezug auf
die Anlage der zu begünstigenden Gebäude und die Beschaffenheit der
Wohnungen in denselben aus ethischen und hygienischen Gründen zu
beobachten sind. Das Gesetz hat auch dafür zu sorgen, dass die Lage der
Fussböden in den Erdgeschosswohnungen zur Strassenoberfläche in das
richtige Verhältnis gebracht werden, dass die bewohnbaren Räume hinlänglich
lioch und entsprechend eingetheilt seien, dass sie in ausreicliendem Maasse
\^ Sclnvartzonau.
mit Licht, Luft und Wasser versorgt, dass die Abtallstofie in geeigneter
Weise beseitigt, in Bezug auf Keller- und Bodenräume berechtigte Ansprüche
der Parteien berücksichtigt werden u. s. w.
Wie schon aus diesen Andeutungen hervorgeht, sind die hier in
Betracht kommenden Vorschriften so mannigfaltige und umfassende, dass
es schon deshalb schwer möglich wäre, alle hiebei maassgebenden Gesichts-
punkte vollkommen erschöpfend und ohne Beeinträchtigung anderer wichtiger
Zwecke in dem knappen Kahmen eines Gesetzes zur Geltung zu bringen,
üeberdies ist aber auch nicht zu übersehen, dass alle Bestimmungen über
die Anlage der Gebäude, über die Grösse und Beschaftenheit der Wohnungen
vollkommen wertlos wären, wenn sie nicht durch entsprechende Vorschriften
über die zulässige Art der Benützung solcher Wohnungen
ergänzt würden. Eine Wohnung, die für eine Familie von drei Personen genügt,
wird für eine solche von sechs Personen durchaus ungenügend sein ; ebenso
kann ein an sich für Wohn- oder Schlafzwecke ganz entsprechendes Zimmer
in gesundheitlicher Beziehung durchaus ungeeignet werden, wenn es gleich-
zeitig zum Baden oder zum Waschen oder Trocknen der Wäsche benützt
wird. Namentlich aber wird es in dieser Eichtung Aufgabe des Gesetzes
sein, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass eine aus Gesundheits-
und Sittlichkeitsrücksichten unzulässige Ueb erfüll ung der Wohnräume
nachdrücklich hintangehalten werden könne. Durch diese Gesichtspunkte
wird für die im Gesetze vorzusehenden Dispositivnormen ein neues, ausser-
ordentlich vielseitiges, in seinen verschiedenen VoraussetzungcH und Con-
sequenzen kaum im vorhinein übersehbares Gebiet eröffnet.
Für diese, ebenso wie für die früher erörterte Gruppe von Vorschriften ist
der Rahmen des Gesetzes jedenfalls ein viel zu enger. Die hiebei in Betracht
kommenden ethischen Kücksichten sind zwar allerzeit und allerorts dieselben ;
es hängt jedoch in verschiedenen Ländern undLandestheilen von der culturellen
und ökonomischen Entwicklung der Bevölkerung ab, wie weit diese Rücksichten
durch concrete Anordnungen praktisch zur Geltung gebracht werden können.
Noch ungleich grösseren Schwierigkeiten begegnet es aber, die hier
maassgebenden hygienischen Rücksichten, welche je nach dem augenblicklichen
Stande der fortschreitenden Wissenschaft vielfachen Schwankungen unter-
worfen sind, in die starre Form gesetzlicher Vorschriften zu kleiden. Das
Gesetz wird sich praktisch umsomehr bewähren, je grössere Beweglichkeit
es in Bezug auf die Details den in Rede stehenden Vorschriften sichert.
Alle diese Erwägungen scheinen nachdrücklich dafür zu sprechen, hinsichtlich
der beiden letzterwähnten Gruppen von Vorschriften der Verordnungs-
gewalt der Executive einen weiten Spielraum zu eröffnen.
Specielle Verordnungen der Regierung werden die Anlage, die Ein-
richtung und den Betrieb von Schlaf- und Logierhäusern, sowie von Wohl-
fahrtsgebäuden im engeren Sinne zu regeln haben.
Wie bereits bemerkt, besteht das Wesen der Begünstigung, welche
den durch das neue Gesetz zu schützenden Bevölkerungskreisen eingeräumt
werden soll, neben der Gesundheit in dei-» Billigkeit der Wohnungen.
I
Zur Reform der österreichischen Arbeiter- Wohnungsgesetzgebung. 17
Auch in dieser Beziehung hat bereits das geltende Gesetz Vorsorge
zu treffen gesucht. Der Gesetzgeber hatte richtig erkannt, dass ein Gesetz,
welches es sich zur Aufgabe macht, der arbeitenden Bevölkerung ihren
Bedürfnissen entsprechende, gesunde Wohnungen zu bieten, vor allem
J]rleichterungen in Bezug auf die Entrichtung der öftentlichen Abgaben vor-
sehen und in dieser Beziehung zunächst als ein Steuergesetz aufgefasst
werden müsse. Demgemäss wurde auch im § 1 des Gesetzes vom Jahre 1892
bestimmt, dass jenen Wohngebäuden, Avelche ihrer Anlage und ihrem
Zwecke nach den gesetzlichen Anforderungen entsprechen, die Befreiung von
der Hauszinssteuer, sowie von der gemäss § 7 des Gesetzes vom 9. Februar 1882,
K.-G.-Bl. Nr. 17, von steuerfreien Gebäuden zu entrichtenden Steuer ein-
geräumt wird, soferne diese Gebäude in dem betreffenden Lande im Wege
der Landesgesetzgebung auch die Befreiung von allen Landes- und Bezirks-
zuschlägen, sowie eine Ermässigung der Gemeindezuschläge zu den genannten
Staatssteuern gemessen. Nach § 2 erstreckt sich diese Steuerfreiheit auf 24 Jahre
vom Zeitpunkte der Vollendung des Gebäudes an. Endlich sollte in § 5 durch
Festsetzung von Maximalzinsbeträgen pro Quadratmeter des bewohnbaren
Kaumes, wie bereits angedeutet, die Ueberwälzung der gesetzlichen Begünsti-
gung von dem Hausbesitzer auf die Mietsparteien herbeigeführt werden.
An diesen Principien wird auch das neue Gesetz im allgemeinen fest-
zuhalten haben; auch dieses wird seinem Wesen nach in dem obenerwähnten
Sinne den Charakter eines Steuergesetzes nicht verlieren und wird zunächst
eine Befreiung von der Hauszinssteuer und von der vom Ertrage steuer-
freier Gebäude zu entrichtenden Steuer vorzusehen haben. Hier ergibt sich
jedoch sofort die Frage, weshalb das geltende Gesetz in der Bestimmung
des § 1 neben der Hauszinssteuer nicht auch auf die Hausclassen-
Steuer Rücksicht genommen hat.
Die Gesichspunkte, w^elche nach § 1 des Gesetzes vom 9. Februar 1882
für die Einbeziehung einzelner Ortschaften und Gebäude in die Hauszins-
steuer maassgebend sind, sind durchaus verschieden von jenen, die in
Anbetracht der durch das Arbeiterwohnungsgesetz vorzusetzenden Steuer-
begünstigung in Betracht zu kommen haben. Die grundsätzliche Ausschliessung
der Hausclassensteuer von dieser Begünstigung wäre im neuen Gesetze
umsoweniger begründet, als dasselbe den Arbeiterbegriff wesentlich erweitern
und dadurch auch solche Personen in den Kreis seiner Schutzbestimmungen
einbeziehen soll, welche in der Kegel, oder doch sehr häufig, Hausclassen-
steuerpflichtige Gebäude bewohnen.
Ein weiterer Mangel des geltenden Gesetzes ist darin gelegen, dass
dasselbe auf das Gebüren äquivalent keine Kücksicht nahm, welchem
im Sinne der Gesetze vom 9. Februar 1850, bezw. vom 13. December 1862
die Gebäude der Stiftungen, Beneficien, Kirchen, geistlichen und weltlichen
Gemeinden etc. unterliegen. In Ansehung der allgemeinen Vermögens-
übertragungsgebüren, für welche die erwähnte Abgabe das Aequivalent zu
bilden hat, erschiene die Statuierung einer Begünstigung allerdings nicht
gerechtfertigt, da vom Standpunkte des Arbeiterwohnungsgesetzes aus kein
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. X. Band. 2
X8 Schwartzeiiau.
Anlass gegeben ist, die Vermögensübertragung rücksiclitlich solcher Gebäude
zu fördern. Ganz anders verhält es sich dagegen beim Gebürenäquivalent,
welches, als eine regelmässig wiederkehrende Abgabe, für den Besitzer that-
sächlich den Charakter einer Eealsteuer hat. Wenn berücksichtigt wird, wie
grosses Gewicht auf die vermehrte Errichtung von Gebäuden mit gesunden
und billigen Arbeiterwohnungen speciell durch wohlthätige Stiftungen gelegt
werden muss, erscheint es dringend geboten, solchen Gebäuden in Ansehung
ihres gemeinnützigen Zweckes eine möglichst weitgehende Begünstigung in
der Entrichtung des Gebürenäquivalentes zuzuerkennen. Schon der Charakter
dieser Abgabe bringt es mit sich, dass eine gänzliche Befreiung von der-
selben kaum in Aussicht zu nehmen ist; es wird zunächst von finanz-
politischen Erwägungen abhängen, bis zu welchem Maasse eine Begünstigung
in dieser Kichtung zugestanden werden kann. Vom Standpunkte der Arbeiter-
wohnungsgesetzgebung aus müsste jedoch angestrebt werden, an die Erfüllung
der gesetzlichen Bedingungen das Zugeständnis einer wenigstens 50proc.
Ermässigung dieser Abgabe zu knüpfen.
Eine Keihe von Bestimmungen des neuen Gesetzes wird sich mit der
Controle der steuerbegünstigten Gebäude zu befassen haben, wobei im
allgemeinen von dem Grundsatze auszugehen ist, dass ZAvar rücksichtlich
der Verwaltung und Benützung solcher Gebäude die Zwecke des Gesetzes
strengstens gewahrt werden müssen, dass jedoch im übrigen alle nicht
unbedingt gebotenen Eingriffe in das Privatleben und in das Selbstbestimmungs-
recht der Mieter sowohl, als der Vermieter, möglichst hintanzuhalten sind.
Diese Bestimmungen stehen mit der wichtigen und vielfach erörterten
Frage der Wohnuugsinspection im engsten Zusammenhange. Es versteht
sich von selbst, dass diese Frage schon wegen des beschränkten Anwendungs-
gebietes des Arbeiterwohnungsgesetzes hier nicht ihre Lösung finden
kann. Immerhin wird jedoch dem Gesetze auch in dieser Beziehung die
Bedeutung eines Vorläufers des allgemeinen Wohnungsgesetzes zufallen und
wird dasselbe dafür vorzusorgen haben, dass den mit der Durchführung
betrauten Behörden im Falle des Bedarfes eine hinlängliche Zahl geeigneter
Controlorgane zur Verfügung stehe.
Unter der Wirksamkeit des Gesetzes vom 9. Februar 1892 ist eine
Keihe von Arbeiter- Wohngebäuden entstanden, die zwar im allgemeinen den
an solche Gebäude zu stellenden Anforderungen entsprachen, wegen der zu
engen Bestimmungen des Gesetzes aber der angesprochenen Begünstigung
nicht theilhaftig werden konnten. Für solche Fälle sollen die Minister des
Innern und der Finanzen ermächtigt werden, den fraglichen Gebäuden, wenn
sie den Anforderungen des neuen Gesetzes genügen, auf Grund des letzteren
die vorgesehene Begünstigung ausnahmsweise nachträglich zuzuerkennen.
Ebenso kann auch die Ermässigung des Gebürenäquivalentes rücksichtlich
solcher Häuser bewilligt werden, welche bereits auf Grund des geltenden|
Gesetzes die in demselben vorgesehene Steuerfreiheit geniessen.
Die in § 1 des Gesetzes vom 9. Februar 1892 enthaltene Bestimmung^
wonach die Befreiung von den staatlichen Abgaben nur in jenen Ländern ii
Zur Keforni der üstorrcichischeii Arbeiter-Wohiiungsgesetzgebuiig. 19
Kraft tritt, wo im Wege der Landesgesetzgebung den betreffenden Gebäuden
auch die Befreiung von allen Landes- und Bezirkszuschlägen, zu den
fraglichen Steuern gewährt wird, muss auch im neuen Gesetze aufrecht
erhalten bleiben, da bezüglich dieser Abgaben für die Zwecke des Gesetzes
ganz dieselben Gesichtspunkte maassgebend sind, wie bezüglich der staat-
lichen Steuern selbst.
Obgleich das neue Gesetz, wie weiter oben bemerkt, wegen des Wesens
der darin vorgesehenen Begünstigungen den Charakter eines Steucrgesetzes
nicht vollständig verliert, tritt doch bei demselben das früher ausschliesslich
entscheidende finanzpolitische Moment in dem Maasse zurück, als die
hygienischen und ethischen Zwecke in den Bestimmungen selbst zu erhöhter
Bedeutung gelangen. Wenn in dieser Kichtung die Zuerkennung der gesetz-
lichen Begünstigungen künftig nicht mehr bloss an einige, mehr oder weniger
formelle, sondern an weitgehende materielle Bedingungen geknüpft werden
soll, muss selbstverständlich nicht allein in Bezug auf die Erlassung der
in Betracht kommenden, überwiegend sanitäts-, sittlichkeits- und baupolizei-
lichen Durchführungsvorschriften, sondern auch in Bezug auf alle Fragen
der Handhabung des Gesetzes neben dem Kessort der Finanzen demjenigen
des Innern und der dem letzteren unterstehenden politischen Verwaltung
eine vollkommen paritätische Einflussnahme gesichert werden. Aufgabe des
Gesetzgebers ist es hiebei, die Wirkungskreise der beiden betheiligten
Ressorts, ihren natürlichen Grenzen gemäss, in allen Bestimmungen so klar
voneinander zu scheiden, dass das Zusammenwirken beider Zweige der
staatlichen Verwaltung praktisch keinen Schwierigkeiten begegnet und die
doppelte Corapetenz nur die Zwecke des Gesetzes fördert, ohne der raschen und
prompten Durchführung desselben in den einzelnen Fällen Abbruch zu thun.
Wenn das neue Gesetz den modernsten Anforderungen nach allen
Richtungen entspricht und gleichzeitig der Verordnungsgewalt einen hin-
länglichen Spielraum eröffnet, um in wirtschaftlicher und in hygienischer
Beziehung allfälligen künftigen Veränderungen Rechnung zu tragen, darf
auf eine Beschränkung der Wirksamkeit dieses Gesetzes auf die Dauer von
10 Jahren, wie sie im geltenden Gesetze vorgesehen ist, mit voller Beruhigung
verzichtet werden. Sollte sich dessenungeachtet früher oder später die Noth-
wendigkeit einer Abänderung ergeben, so wird hiefür, wie dies eben jetzt
geschieht, im legislativen Wege vorzusorgen sein. Das einzige Moment,
welches für die Beibehaltung der fraglichen Beschränkung geltend gemacht
werden könnte, wäre in der impulsiven Wirkung gelegen, die in Absicht
auf eine beschleunigte Erreichung der gesetzlichen Zwecke mit einer zeit-
lichen Begrenzung der Wirksamkeit des Gesetzes verbunden ist. Auch
dagegen Hessen sich vom wirtschaftspolitischen Standpunkte aus vielleicht
nicht unbegründete Bedenken erheben; in jedem Falle aber müsste die
zweifellos zu kurz bemessene Frist des geltenden Gesetzes in den neuen Vor-
schriften eine wesentliche Ausdehnung erfahren.
Mit der Erlassung eines zeitgemässen Gesetzes über Arbeiter-
wohnungen, sowie mit Wohnungsgesetzen überhaupt, ist die Aufgabe des
2*
20 Schwartzenau.
Staates in Bezug auf die Wolinungsnoth der minder bemittelten
Bevölkerungsclassen noch keineswegs erfüllt. Es hat sich schon im Laufe
dieser Ausführungen die Gelegenheit geboten darauf hinzuweisen, dass die
Ungunst der Wohnungsverhältnisse nicht als ein selbständiges wirtschaft-
liches Phänomen, sondern als ein nothwendiges Product unserer gesammten
socialen und ökonomischen Verhältnisse zu betrachten ist. Wohnungsgesetze
stellen sich stets nur als Palliativmittel dar, welche an actueller Bedeutung
in demselben Maasse verlieren, als es einer klugen und umsichtigen Gesetz-
gebung gelingt, das Uebel an der Wurzel zu fassen und dort erfolgreich
zu bekämpfen. Als eine der hauptsächlichsten Ursachen dieses Uebels stellt
sich der den rationellen nationalökonomischen Grundsätzen widersprechende
Zug nach den grossen Städten und die damit zusammenhängende unrichtige
Vertheilung der wirtschaftlichen Kräfte im Staate dar. Ein Gesetz über eine
von einheitlichen Gesichtspunkten geleitete Arbeitsvermittlung wird
die Bewegung der Bevölkerung im Innern, ein bisher schwer vermisstes
Gesetz über die Auswanderung jene nach aussen in Bahnen lenken,
welche die lebendige Kraft, die dieser Bewegung innewohnt und bisher
ziellos verschwendet wurde, dem Interesse der Gesammtheit dienstbar macht.
Wenn es auf diese Weise gelungen sein wird, eine wirtschaftlich richtigere
Vertheilung der Bevölkerung anzubahnen, und wenn im Zusammenhange
damit die fortschreitende Ausgestaltung der Arbeiterschutzgesetzgebung zu
einer wesentlichen Förderung der ökonomischen Lage der arbeitenden Classen
beigetragen haben wird, wird uns jenes Endziel ungleich näher gerückt
erscheinen, in Bezug auf dessen Erreichung selbst das beste Arbeiter-
wohnungsgesetz nur ein dürftiges Surrogat zu bilden vermag.
Einstweilen darf jeder neue Schritt, den die Gesetzgebung auf dem
langen Wege nach fernen hohen Zielen zurücklegt, mit Genugthuung begrüsst
werden. Das neue Wohnungsgesetz wird in dieser Kichtung seine Aufgabe
erfüllt haben, wenn es ihm gelingt, einerseits das Capital in umfassendem
Maasse zur Investierung in Arbeiterwohnungsgebäuden anzuregen und die
Bethätigung des Wohlthätigkeitssinnes auf diesem Gebiete zu fördern,
anderseits den arbeitenden Classen in zunehmender Anzahl gesunde und
billige Wohnungen zur Verfügung zu stellen und dieselben — was nicht
zu unterschätzen ist — allmählich daran zu gewöhnen, ihren Wohnungen
jenes Maass der Pflege angedeihen zu lassen, welches in deren ethischer
und hygienischer Bedeutung begründet ist.
Mehrere berufene Factoren haben, von gemeinsamen Zielen geleitet,
an dem Zustandekommen dieses Entwurfes mitgewirkt. Er ist unabhängig
von ausländischen Vorbildern, auf heimischen Boden entstanden und
heimischen Verhältnissen angepasst. Möge es ihm auch gegönnt sein, in
der Heimat feste Wurzel zu fassen, sich ergänzend in die Kette unserer
wirtschafts- und socialpolitischen Gesetzgebung einzufügen und auf diesem
Gebiete nutzbringend zu bewähren, nicht in letzter Linie auch in seiner
erziehlichen Bedeutung.
DER CHECKVERKEHR DER ÖSTERREICHISCHEN
POSTSPARCASSE.
VON
DR- KARL LETH.
Im Zahlungswesen — wie auf allen Wirtschaftsgebieten — haben die
vielgestalteten Formen des modernen Verkehrslebens tief einschneidende
Aenderungen und Erweiterungen verursacht. Uebergabe des Geldes von Hand
zu Hand oder Sendung von Bargeld konnte bei dem heutigen Stande der wirt-
schaftlichen Entwicklung nicht mehr genügen. Die Zahl der geschäftlichen
Betriebe und die Menge der in selben auszugleichenden Forderungen und
Gegenforderungen hatte sich ja zufolge der fortsclireitenden'Arbeitstheilung
ins Ungemessene gesteigert. Ueberdies wurden durch ein sich stets aus-
dehnendes Netz von Verkehrsadern die Grenzen früherer Absatzgebiete mehr
und mehr hinausgeschoben. So erhölite sich denn im commerziellen Betriebe
das Bedürfnis, die cassenmässigen Agenden aus dem Bereiche der Einzeln-
unternehmung auszuscheiden und an ausschliesslich damit betraute Institute
zu übertragen. Gleiche Tendenz machte sich vielfach selbst auf dem Gebiete
privater Wirtschaftssphäre geltend. Dies eröffnete ein weites Feld für das
Wirken von Institutionen, welche den Zahlungsverkehr vermitteln und die
Ausgleichung der gegenseitigen Forderungen auf creditwirtschaftlicher Basis
zu selbständigem Geschäftszweige ausbildeten.
Von eminenter Bedeutung war hiebei die Schaffung einfacher, eine Er-
sparung von Barmitteln herbeiführender Vollzugsformen. Zurückgreifend auf
das bereits seit Jahrhunderten erprobte Check- und Giro verfahren, fand man
in diesem die Basis für die Ausgestaltung des Zahlungsverkehrs in einer
dem gegenwärtigen Stande des Wirtschaftslebens entsprechenden Weise.
In Ländern mit hochentwickeltem Bankensysteme haben die Träger
desselben die Organisation des Zahlungsprocesses auf checkmässigem Wege
angebahnt. Die betreffenden Einrichtungen des Auslandes — in ihrem Wesen
als Giro- und Bankclearing gekennzeichnet — können als bekannt voraus-
gesetzt werden, und genügt es wohl, aus der bezüglichen reichhaltigen
Literatur die auf dem gedachten Gebiete grundlegenden Untersuchungen von
Prof. Rauchberg („Der Clearing- und Giroverkehr in Oesterreich-Ungarn
und im Auslände") hervorzuheben.
Auf erweiterter Basis hat sich in Oesterreich die Popularisierung des
creditwirtschaftlichen Zahlungsverkehrs vollzogen. Ausser den daselbst wir-
kenden Bankorganismen wurden für diesen Zweck auch die PJinrichtungen
22 I^eth.
der Postsparcasse herangezogen. Gleiches geschah in Ungarn. Ebenso trägt
man sich auch im Deutschen Eeiche^) mit dem Gedanken, nach österreichi-
schem Muster das Checkverfahren zu verallgemeinen. Die Thronrede, mit
welcher der Keichstag am 6. December 1898 eröffnet wurde, verkündet: „Um
den breiten Schichten der Mittelclassen, die kein Giroconto bei der Eeichs-
bank halten können, einen billigen und bequemen Weg für die Ausgleichung
kleiner Zahlungen zu schaffen, wird beabsichtigt, ein Check- und Ausgleichs-
verfahren durch Vermittlung der Postanstalten einzurichten." Durch dessen
*) Nach Beendigung der vorliegenden Studie wurde im Deutschen Eeiche der Ein-
führung des Postcheckverkehrs nach österreichischem Vorbilde näher getreten; es basiert
der von den verbündeten Kegierungen vorgelegte Entwurf einer Postcheckordnung auf
folgenden Principien. Für mehrere Ober-Postdirectionsbezirke wird ein Postcheckamt
errichtet, bei dem für jedermann gegen Erlag einer unverzinslichen Stammeinlage von
200 Mark ein Checkconto eröffnet werden kann. Auf das Conto eines jeden Theilnehmers
können bei allen Eeichspostanstalten Beträge sowohl vom Contoinhaber als auch von
anderen Personen eingezahlt und von dem angesammelten Guthaben durch den Conto-
inhaber jederzeit Beträge zur sofortigen Auszahlung an sich selbst oder an eine andere
Person oder zur Gutschrift auf das Conto eines anderen Theilnehmers angewiesen werden.
Die Einlagen erfolgen mittels „Zuschriftskarten", oder durch Postanweisungen oder auch
durch Gutschriften im Ausgleichsverkehr. Für die Berechnung der von den Parteien zu
entrichtenden Gebüren soll der Grundsatz gelten, dass die durch das Verfahren der
Eeichspostverwaltung entstehenden Kosten gedeckt sind. Als Zinsen für die ausser der
Stammeinlage gemachten weiteren Einlagen werden 1"2 Proc. pro anno vergütet.
Diese Modalitäten fanden nicht die Zustimmung des Reichstages, und wurden
von letzterem die Grundzüge für die Postcheckordnung folgendermaassen geändert: 1. eine
Verzinsung der auf den Conten gebuchten Einlagen darf nicht statttinden, 2. für die
Einzahlungen und Rückzahlungen im Checkverkehr werden Gebüren nicht erhoben. 3. das
aus dem Checkverkehr sich ergebende Saldo ist, soweit nicht aus ihm die Cassonmittel
zur Durchführung des Checkverkehrs zu verstärken sind, an die Reichsbank gegen täg-
liche Kündigung abzuführen. In dem Abkommen mit der Reichsbank ist zur Bedingung
zu machen, dass das Capital von ihr mit 3 Proc. unter ihrem jedesmaligen Wechseldiscont,
mindestens jedoch mit IVj Proc. und höchstens mit 3 Proc. der Reichspostverwaltung
verzinst wird.
Damit würde der Character des Postcheckverkehrs, wie er sich in Oesterreich
entwickelt hat und auch von der deutschen Reichsregierung beabsichtigt wurde, völlig
verändert, und es kämen rücksichtlich der Benützung der Einrichtungähnliche Grundsätze
zur Anwendung, wie im bankmässigen Checkverkehr Englands. Ob dies bei den Ver-
hältnisssen der Bevölkerungskreise, für welche das Postcheckverfahren vornehmlich bestimmt
ist, zweckentsprechend wäre, ist fraglich. Man darf nicht übersehen, dass es sich im
englischen Bankcheckverkehr um Beträge handelt, welche aus den verschiedensten Arten
von Creditgescbäften resultieren und vielfach auch internationalen Zahlungszwecken
dienen. Bei ähnlichen Bestimmungen im Betriebe eines Postcheckamtes ist wohl nicht
auf derartig hohe Bestände zu rechnen, dass durch deren Verzinsung eine active
Gebarung gesichert bezw. der Ausfall im Erträgnisse an Gebüren gedeckt wäre.
Unter solchen Umständen ist es begreiflich, dass der Staatssecretär des Reichs-
schatzamtes bei der 3. Lesung erklärte: „Sofern die Beschlüsse aufrecht erhalten bleiben,
wird die Einführung des Checkverkehrs unter solchen Verhältnissen und Bedingungen
vom Standpunkte der finanziellen Interessen des Reiches ernsten Bedenken unterliegen,-
und ich muss den verbündeten Regierungen die volle Freiheit der Entschliessung darüber!
wahren, ob von den im Etatsgesetz und im Etat selbst ertheilten bezüglichen Ermächtigungen^
Gebrauch zu machen sein wird."
Der Checkverkehr der österreichischen Postsparcasse. 23
Verbindung mit der Postanstalt sollen „die Vortheile des Ausgleichs-
verkehrs, in welchem der Austausch der Schulden und Forderungen durch
einfache Last- und Gutschrift ohne Anwendung irgend welcher Barmittel
geschieht, den Mittelclassen erschlossen werden". (Motive zur Einführung
des Postcheckverfahrens im Deutschen Keiche.) Desgleichen besteht in anderen
Staaten (Belgien, Schweiz, Frankreich) die Absicht, das Checkwesen nach dem
Vorbilde des österr. Postsparcassenamtes auszubilden. So ist denn durch das
bei letzterem entstandene System der Anstoss für eine neue Gestaltung der
creditwirtschaftlichen Organisation des Zahlungsprocesses auch auswärts
gegeben und gewinnt dieses Verfahren allgemeines, über die Grenzen des
ürsprunglandes hinausgehendes Interesse. Es dürfte daher zeitgemäss erscheinen,
die wichtigeren einschlägigen Fragen zu erörtern. Hiebei soll insbesondere
die wirtschaftliche Function, welche der Postcheckverkehr in Oesterreich
erfüllt, sowie dessen Rückwirkung auf die Verminderung der Barmittelbewe-
gung beleuchtet werden.
Der in den' Formen des Creditverkehrs vollzogene Zahlungsprocess
läuft in Oesterreich in drei nach Clientel und wirtschaftlichen Functionen
verschiedenen Knotenpunkten zusammen. In der Reihenfolge ihres Entstehens
sind dies die österreichisch-ungarische Bank, der Wiener Giro- und Cassen-
verein, endlich die Checkabtheilung des Postsparcassenamtes,
Der Giroverkehr der österreichisch-ungarischen Bank^) ist auf den in
Oesterreich kleinen Kreis von Firmen beschränkt, welche regelmässige Bank-
verbindungen unterhalten. Vorwiegend handelt es sich bei ihm um die Ge-
barung mit Geldern, welche aus den verschiedenen Zweigen des Bankgeschäftes
herrühren oder solchen zugeführt werden sollen, vielfach auch um die Capi-
talien des Grossverkehrs. Wohl geschahen manche zum Theil erfolgreiche Ver-
suche, die Bankeinrichtimgen weiteren Schichten der Volkswirtschaft zugänglicli
zu machen, doch bisher vermochte man noch keineswegs die Menge kleiner Leute,
welche an eine bankmässige Vollziehung ihrer Credit- und Zahlungsgeschäfte
nicht gewöhnt sind, der Bank als Clientel zuzuführen. Nach wie vor stehen
sie derselben ferne ; ob hierin Wandel geschaffen werden kann, ist eine noch
ungelöste Frage. Doch scheint die bisherige Entwicklung darauf hinzuweisen,
dass nicht in der extensiven Pflege des Giroverkehrs, sondern in der zweck-
entsprechenden Verbindung des Checkwesens mit dem im Centralinstitute
concentrierten bankmässigen Betriebe der Schwerpunkt für das Girogeschäft
der österreichisch-ungarischen Bank und dessen Bedeutung für die geldlose
Ausgleichung der Forderungen zu suchen ist.
Auch dem Giro- und Cassenvereine fallen nach der bisherigen Ent-
wicklung im Zahlungsprocesse ähnliche Aufgaben zu; dann aber auch ganz
specifische Functionen: das Börsearrangement, sowie die damit zusammen-
hängenden Zahlungsagenden auf der einen, die localen Incasso- und Zahl
^) Bei der Hauptanstalt Wien und den österreichischen Filialen bestanden Ende
1898 2676 Contoinhaber mit einem Giroguthaben von 13'9 Mill. Kronen; der Umsatz
während des genannten Jahres betrug 19.734 Mill. Kronen. Die durchschnittliche Höhe
der Gebarung auf einem Conto rund 7 Mill. Kronen.
24 Leth.
lungsgeschäfte — insbesondere im Wechselverkehr — für den Wiener Platz
auf der anderen Seite, wobei er als Central-Incassostelle für die übrigen
Banken, welche Giroabtheilungen haben, fungiert.
Im Börseverkehr ist die geldlose Ausgleichung durch die Organisation
des Giro- und Cassenvereines schon jetzt fast vollständig erreicht. Hierin
erfüllt dieses Institut derzeit bereits die ihm zugedachte Function als den
Barverkehr '^minderndes Glied im Zahlungsprocesse. Gleiches war leider
beim Incassogeschäfte trotz bezüglicher Bemühungen bisher nicht zu errei-
chen. Auch derzeit noch bewegen sich die Wechselzahlungen vorwiegend in
den Formen des Barverkehrs und wäre bei selben ein grösseres Ersparnis
an ümlaufsmitteln wohl nur dann zu erzielen, wenn sich die Kaufmannschaft
daran gewöhnt, ihre Wechsel entweder bei einem Giroinstitute zahlbar zu
stellen, oder aber die Wechselvaluta doch wenigstens, wie es derzeit geschieht,
nicht aus dem Giroguthaben vor Fälligkeit in Barem abzuheben, sondern
durch Uebergabe von Checks die Zahlung zu leisten. Hiezu böten die Checks
des Postsparcassenamtes für weitere Kreise erhöhte Gelegenheit.
Die Mehrzahl der Wiener Banken pflegt gleichfalls den Giroverkehr
und zeigt sich bei selben ein entschiedenes Streben, diesen Geschäftszweig
zu grösserer Bedeutung zu bringen.^)
Den vorstehend erwähnten Gliedern zur Vermittlung des Zahlungs-
verkehrs reiht sich seit dem Jahre 1883 die Checkabtheilung des k. k. Post-
sparcassenamtes an, welche das Checkwesen, wie erwähnt, auf neue Grund-
lage stellte und breiteren Kreisen erschloss.^)
*) Die Entwicklung des Checkverkehrs bei den wichtigeren Wiener Banken war
1897 folgende:
Girobestände Verwendete Checks
Durcb-
Revirement Bestände , , , schnitts-
Zalil Anzahl betrag
in 1000 Kronen in Kronen
N.-Oc. Escompte-Gesellschaft . . 2.953 595.246 16.820 16.223 14.716
Creditanstalt für Handel und Ge-
werbe (Hauptanstalt) 484 327.814 3.992 5.184 15.418
Anglo-Oesterreichische Bank . . 299 286.144 8.182 15.865 8.966
Allgemeine Depositenbank ... 232 55.516 1.062 — 5.048
Länderbank 997 411.376 5.556 34.410 5.968
Wiener Bankverein 3.664 1,081.968 24.938 88.000 6.678
2) Die ziffermässigen Resultate des Postcheckverkehrs sind bekannt. Der üeber-
sichtlichkeit halber bringen wir selbe für das Geschäftsjahr 1899 im nachfolgenden.
Oesterreich
Zahl der Contoinhaber ' 40.271
hierunter Theilnehmer am Clearingverkehr 31.358, d.i. 78 Proc.
Anzahl der Transactionen 19,938.579
Summe der Einlagen 4.769,565.873 K
„ Rückzahlungen 4.769,321.538 X
„ des Umsatzes 9.538,887.411 K
hierunter im Clearing 3.585,051.607 K, d. i. 38 Proc.
Einlagensaldo 203,379.581 K
Die Zahl der effectuierten Checks betrug 4,035.833, der Durchschnittsbetrag eines
Checks 1088 K.
Der Checkverkehr der österreichischen Postsparcasse. 25
Bei dem bis dahin nur für einzelne Wirtschaftssphären ausgebildeten
Check- und Giroverfahren musste die Eeform durch Einbeziehung neuer
Betriebsstellen erfolgen. Die bestehenden Banken pflegten ja den Check-
verkehr nur für einen verhältnismässig engen Kreis von Firmen und waren
überdies auch nicht zahlreich genug, um die Ausgestaltung der Check-
einrichtungen allein durchführen zu können. Dem Bankorganismus erst die
Entwicklung zu geben, welche für ein ähnliches Checksystem wie in Eng-
land ^) die Voraussetzung bildet, wäre vergebliches Bemühen gewesen, zumal
die wirtschaftlichen Bedingungen für intensivere Pflege der übrigen Zweige
des Bankgeschäftes mangelten. Diesem Umstände Kechnung tragend, betraute
das Postsparcassenamt das weitverzweigte Netz von Postämtern — derzeit
fast 6000 — mit dem ausübenden Dienste im Checkverkehr.
Dadurch schuf es mit einem Schlage einen über das ganze Staats-
gebiet verbreiteten Organismus von Checkstellen, welche im Verkehr mit
den Parteien die Bargeldbewegung vermitteln, während dem Centralamte die
Durchführung auf den Contis, die Ueberwachung der Gebarung .bei den
Postämtern, sowie überhaupt alle administrativen, intern'^betriebsdienstlichen
und rechnungsmässigen Agenden obliegen.
Die wichtigsten Bestimmungen für den Postcheckverkehr sind folgende:
Seitens der Postsparcasse wird die Theilnahme über Ansuchen der Partei
gegen Erlag einer Stammeinlage (gegenwärtig 200 K) mit oder ohne Be-
theiligung am Clearingverkehr bewilligt. Jedem Mitgliede ist ein separates
Conto eröffnet, welches bei der Direction in Wien geführt wird.
Für die auf Checkconti eingezahlten Summen inclusive der^ Stamm-
einlage werden den Contoinhabern 2 Proc. per Jahr vergütet. Die Verzin-
sung beginnt vom 1. oder 16. Monatstage, welcher der Einlage folgt und
endet mit dem letzten oder 15. Tage des Monates, in welchem die Kück-
zahlung geleistet wird. Beträge von weniger als 2 K bleiben ohne Verzin-
sung. Mit 31. December eines jeden Jahres werden die Interessen dem
Capital zugeschlagen und von diesem Momente an gleichfalls verzinst.
Bei Benützung des Checkverkehrs wird ausser dem Ersätze der
Herstellungskosten für abgegebene Drucksorten vom Postsparcassenamte
eine Manipulationsgebür von 4 h für jede an dem Conto vorzunehmende
Amtshandlung und von den nicht im Clearing vollzogenen Lastschriften eine
Pro\ision von V4 pro Mille bis zum Betrage von 6000 K und von ^'^ pro
Mille bezüglich des diese Summe übersteigenden Betrages im Wege der
Abschreibung vom Conto eingehoben.
Im Clearing — worunter im Postsparcasseverkehr die buchmässige
üebertragung der angewiesenen Beträge von Conto auf Conto zwischen
Clearingmitgliedern verstanden wird — sind die Durchführungen provisions-
frei. Die technischen Mittel zur Gebarung auf den Conti der Checktheil-
nehmer sind die ,Empf ang-Erlags ch ein e" sowie die „Checks".
^) 1897 bestanden 580Y Bankstellen mit Depositen per 660 Mill. Pf. Sterl. Abgerechnet
wurden im London Bankers Clearing House 7491 Mill. Pf. Sterl., in den Pronvincial
Clearing Houses 459 Mill. Pf. Sterl. (Details im 7. Heft der Tabellen zur Währungsfitastitik. )
26 Leth.
Die Empfang-Erlagscheine^) dienen dazu, Beträge, welche bei dritten,
und insbesondere bei, dem Checkverkehr nicht angehörenden Personen aus-
stehen, unter Benützung der Checkeinrichtungen begleichen zu lassen.
Mittels derselben kann die Einzahlung bei beliebigem Postamte in jeder
Höhe bar geleistet werden. Weitere Gelegenheit, Greldbeträge auf das Check-
conto zu erhalten, ist dadurch eröffnet, dass sich jeder Checkbüchelbesitzer
von Parteien, welche gleichfalls Contoinhaber des Postsparcassenamtes sind,
Summen zur Gutschrift auf sein Conto mittels Check überweisen lassen kann.
üeber das in solcher Weise angesammelte Guthaben verfügt der
Contoinhaber durch Ausstellung von Checks. Diese werden entweder bei der
Casse des Postsparcassenamtes an den Ueberbringer bei Sicht in Barem
honoriert, oder mittels Zahlungsanweisung bei beliebiger Sammelstelle zur
baren Erfolgung angewiesen, oder wenn der Assignatar gleichfalls Conto-
inhaber des Postsparcassenamtes ist, auf dessen Conto mittels Gutschrift
vollzogen.^) Voraussetzung für die letzterwähnte Art der Durchführung ist
') Mittels der Empfang-Erlagscheine wurden vollzogen
1883 892 Posten per 644.568 K
1885 1,008.970 „ „ 434,218.286 K
1890 4,787.103 ,. „ 1.184,178.500 K
1895 8,815.891 „ „ 1.938,958.434 K
1896 9,900.184 ,. „ 2.125,441.282 K
1897 10.634.495 „ „ 2.344,404.980 K
1898 11,714.671 „ „ 2.659,195.778 A'
1899 12,821.501 „ „ 2.834,382.991 A'
2) Die Hauptvollzugsarten der Checks waren
a vista bei der Cassa des Amtes
1883 229 per 182.600 A
1885 69.546 „ 156,751.244 A
1890 162.135 „ 543,320.538 A
1895 255.452 „ 827,737.194 A (27-8 Proc.)
1896 277.618 „ 905,984.648 K (27-4 „ )
1897 298.429 „ 1.010,017.168 A (26*9 „ )
1898 330.278 „ 1.247,910.855 A (28-4 „ )
1899 350.462 „ 1.350,315.510 7i (28-3 „ )
Zahlungsanweisungen
1883 736 per 25.704 A
1885 402.398 „ 264,071.040 71
1890 805.917 „ 670,587.792 A
1895 1,395.210 „ 1.048,425.596 A (35 3 Proc.)
1896 1,552.515 „ 1.125,609.588 A (34-4 „ )
1897 1,709.667 „ 1.217,950.828 A (32-5 „ )
1898 ...... 1,948.095 „ 1.324,959.157 A (29-2 „ )
1899 2,181.202 „ 1.404,916.595 Jl (29 5 „ )
Lastschriften
1885 116.508 per 80,543.760 A
1890 592.280 „ 528,524.592 A
1895 997.852 „ 964,063 900 A (324 Proc.)
1896 1,082,494 , 1.102,566.496 A (33-4 „ )
1897 1,192.061 „ 1.318,835.012 Jl (34-6 „ )
1898 1.308.668 „ 1.618,778.050 Ji (36-3 „ )
1899 1,424.114 „ 1.792,525.803 7t (37-6 „ )
m
Der Checkverkehr der österreichischen Postsparcasse. 27
eine bezügliche, vom Aussteller des Cliecks auf der liückseite fallweise bei-
gefügte Erklärung oder aber die vom Assignatar ein für allemal abgegebene
Zustimmung, dass alle für ihn einlangenden Checks ohneweiters zur Gut-
schrift auf sein Conto gelangen sollen (Beitritt zum Clearing).
Aus der vorstehenden, nur in grossem Umrisse gehaltenen Darstellung
des Postcheckverfahrens geht hervor, dass selbes in sich vereinigt:
einen Ueberweisungsverkehr, bei welchem die Theilnehmer die auf
ihrem Conto gutgebrachten Summen nach Bedarf zum Ausgleiche ihrer
Schuldigkeiten an dritte Personen unter Vermeidung der für sie lästigen
und gefahrvollen Barmittelbewegung verwenden;
und zweitens einen Bargeldverkehr, darauf abzielend, die ausstehenden
Beträge von den Schuldnern auf das eigene Conto in Barem einzahlen zu
lassen und bei Erreichung einer gewissen Höhe wieder an sich zu ziehen,
beziehungsweise zu Barzahlungen zu benützen.
Der erst erwähnte Verkelir bewirkt die Concentrierung des Bargeldes
und dessen Belassung beim Postsparcassenauite, sowie die Uebertragung dpr
gesammten Geldgebarung an dieses Institut. In seiner höchsten Entwicklungs-
phase führt er zur Vollziehung des ZahlungsprocesSes ohne Inanspruch-
nahme jedweder Barmittel. Der Barmittelverkehr hingegen intendiert bloss
eine möglichst einfache und rasche Einziehung der ausstehenden Gelder und
Tilgung der eingegangenen Verbindlichkeiten unter Beibehaltung der baren
Zahlungsweise. So verschieden auch beide Verfahren ihrem Wesen nach
und in den Voll/ugsformen sind — Clearing auf der einen, Zahlungsanwei-
sungen sowie Empfangscheine auf der anderen Seite — , fliessen sie doch
in der Praxis beständig in einander. Deren Verbindung zu einem organischen
Ganzen war bei der in Oesterreich so tief wurzelnden Neigung zur Barzah-
lung wohl eine der Hauptursachen, dass der Clieckverkehr bei der Post-
sparcasse in kurzer Zeit grosse Volkskreise erfasste. Nur dadurch, dass es
die Postsparcasse verstand, die technischen Elemente des creditwirtschaft-
lichen Zahlungsprocesses, wie sie im Auslande sich bewährten, in einer den
specifisch österreichischen Verhältnissen angepassten Weise auszugestalten,
war es möglich, zum Ziele zu gelangen.
Hiebei war in Oesterreich auch nach einer anderen Kichtung hin auf
bestehende Verhältnisse Rücksicht zu nehmen. Es fehlt daselbst jene innige
Verbindung des gesammten Geschäfts- und Creditverkehres auch der kleineren
Unternehmungen mit den bankmässigen Agenden, wie sie beispielsweise in
England allgemein ist. Damit mangelte aber auch die Vorbedingung für
gleiche Lösung des Problemes. Indem nun das System der Postsparcasse
das Checkwesen von den übrigen Zweigen des Bankbetriebes loslöste und
zu einem Specialzweige der staatlichen Gebarung ausgestaltete, amalga-
mierte es auch jene noch weniger entwickelten Kreise der Volkswirtschaft,
für welche sich lediglich hinsichtlich der Cassegebarung das Bedürfnis zur
Abwicklung in höheren creditwirtschaftlichen Formen ergibt. Die damit
erfolgte Trennung des Zahlungs- vom Creditverkehr war für die Einbürge-
rung und Vertiefung des Checkwesens in Oesterreich von eminenter Bedeu-
28 Leth.
tiing. Nachdem sie vollzogen, wird es sich nunmehr darum handeln, in
weiterer Folge die Verbindung zwischen den Gassen- bezw. Zahlungsagenden
und dem Creditvvesen, eventuell unter Anlehnung an die letzteres pflegenden
Institutionen enger zu gestalten und damit auch in Oesterreich zu sach-
dienlicher'] Vereinigung beider zu gelangen. Doch eine derartige Reform des
Creditverkehrs gehört wohl einer späteren Phase der Entwicklung an. Im
derzeitigen Stadium des Werdeprocesses erscheint es vor allem erforderlich,
dass das Zahlungswesen auf creditwirtschaftlicher Grundlage sich weiter
ausgestalte und in allen Wirtschaftssphären die bare Zahlungsweise soweit
als möglich der buchmässigen Abwicklung im Clearing weiche.
Die Vortheile dieser Durch führungsform in Ansehung der allgemeinen
wirtschaftlichen Verhältnisse und in Bezug auf das für die angestrebte Rege-
lung der Valuta so wichtige Ersparnis an Zahlungsmitteln lassen deren
Verallgemeinung als nächstes Ziel erscheinen. Hierin liegt im gegenwärtigen
Momente der Kernpunkt des Problemes derWeiterbildung des Postcheckwesens.
Günstig in solcher Beziehung ist die räumliche Ausbreitung der Post-
sparcasseninstitution, sowie die Einfachheit und allgemeine Zugänglichkeit
der für die weitesten Kreise berechneten Vollzugsmodalitäten. Dazu kommt,
dass die Realisierung der Checks über Anweisung der Centralstelle erfolgt,
bei dieser daher Checks aus allen Punkten zusammenströmen. Dies eröffnet
<lie Möglichkeit zur geldlosen Ausgleichung aller Forderungen, welche
innerhalb des Kreises der am Checkverkehr theilnehmenden Wirtschafts-
letriebe entstehen.
Auch wirkt noch der Umstand fördernd ein, dass die im Barverkehr
berechnete Abhebungsprovision bei Lastschriften im Clearing entfällt.
Dank der den Clearing begünstigenden Momente hat sich seit dessen
Einführung ein fortdauernder Aufschwung in der buchmässigen Vollzugs-
weise gezeigt.^)
Die bisherige Entwicklung lässt auch für die Zukunft eine Steigerung
erwarten. Doch die geldlose Ausgleichung von Forderungen ist nicht bloss
') Die Clearingumsätze betrugen in Oesterreich:
1884 G 4 Mill. Kronen, d. i. 3-9 Proc. der Gesammtuinsätze
1885 160 „ „ „ 15-9 „
1886 . 208 „ „ „ 21-9 „
1887 600 ,. „ „ 24-6 „
1888 710 , „ „ 27-6 „
1889 . 866 „ „ „ 28-8 „
1890 1056 ,. ,. „ 30 0 „
1891 1240 , „ „ 3M „
1892 • 1440 „ „ „ 31-6 „
1893 1658 „ „ „ 333 „
1894 1782 „ „ „ 32-5 „
1895 1928 „ „ „ 32-5 „
1896 2204 „ „ „ 33-4 „
1897 2626 „ „ „ 35-2 „
1898 3238 „ ,. „ 37-0 „
1899 3585 „ „ „ 376 ,
Der Checkverkelir der österreicliiscllen Postsparcasse. 29
Folge technischer Maassnahraen. Sie hängt auch mit der Frage zusammen,
ob und inwieweit die wirtschaftlichen Verhältnisse in den einzelnen Gruppen
von Contoinhabern eine solche überhaupt möglich erscheinen lassen.
Zur Klärung der Anschauungen über die Entwicklungsfähigkeit des
Ausgleichsverfahrens sollen im nachstehenden die einzelnen Kichtungen
des Wirtschaftslebens, für welche die creditwirtschaftliche Organisation des
Zahhingsprocesses in Betracht kommt und 'ein Barmittelersparnis platzgreifen
kann, näher beleuchtet werden. Zunächst ist in solcher Richtung der rein
kaufmännische Verkehr von Belang. Die geschäftlichen Beziehungen bringen
das Bedürfnis zur Benützung des Checkverfahrens in erhöhtem Maasse mit
sich, und bilden Kaufleute und Fabrikanten, wie die Berufsstatistik der
Contoinhaber zeigt, die Hauptclientel der Postsparcasse.^) Es liegt dies in
der Natur der Sache. Ausserdem aber eignet sich der Check Clearingverkehr
auch für andere, auf breiterer Basis ruhende und regelmässige Zahlungen
empfangende, beziehungsweise leistende Wirtschaftsbetriebe, sei es von
öffentlichem oder privatem Charakter.
Darum wird die Betrachtung der Formen und Functionen des Aus-
gleichsverfahrens sich an die dreifache Gliederung des Zahlungsprocesses,
und zwar des kaufmännischen Betriebes, der staatlichen, beziehungsweise
öffentlichen Verwaltungen und der privatwirtschaftlichen Cassegebarung an-
lehnen müssen.
Seitens der Kaufmannschaft ist die Benützung des Pustcheck-
verkehrs schon jetzt eine lebhafte. Die solchem Berufe angehörenden Conto-
inhaber nehmen der Zahl nach die erste Stelle ein. Auch die Intensität in
der Gebarung weist darauf hin, dass in diesen Kreisen die Erkenntnis von
den Vortheilen der checkmässigen Vollziehung von Zahlungen mehr und
mehr platzgreift. Zufolge der erhöhten Theilnahme erweitert sich die Ge-
legenheit zum clearingweisen Ausgleiche, welcher im cjmmerziellen Ver-
kehre mehr als auf einem anderen Gebiete des Zahlungsprocesses die Grund-
form für die Abwicklung zu bilden berufen ist. Die wirtschaftliche Basis
hiezu ist dadurch gegeben, dass der Geschäftsverkehr, so vielgestaltig er
auch sein mag, sich doch als einheitliches Ganzes, als ein Complex von
Lebensäusserungen einer Reihe von Einzelnunternehmungen darstellt, welche
miteinander coherieren und sich wechselseitig befruchten. Trotz oder viel-
mehr zufolge der weitgehenden Arbeitstheilung stehen die verschiedenen
Betriebe in stetiger geschäftlicher Beziehung. Der Kreislauf im wirtschaft-
lichen Organismus, die Herstellung und der Vertrieb der Güter bringen es
mit sich, dass Rohproduction, Handel und Industrie und innerhalb derselben
die verschiedenen Branchen in vielverzweigten Geldverkehr treten müssen.
Dies bedingt eine Reihe von Forderungen und Gegenforderungen, bis das
Rohproduct als Fabrikat m die Hände des Grosskaufmannes und endlich
des Detaillisten gelangt, und letzterer es den Consumenten zuführt. Und
*) Mehr als 26.000 Personen, d. i. 70 Proc. der Contoinhaber,
30 Letb.
je mehr die Arbeitstheilung fortschreitet, desto grösser wird die Kette der
auszugleichenden Forderungen, von einander abhängig, doch unübersehbar
für die ganze Menge der Berechtigten und Verpflichteten. Alle solchen For-
derungen des kaufmännischen Zahlungsprocesses, welche bei directer Be-
gleichung seitens der Interessenten immense Summen von Bargeld erfordern
würden, lassen sich bei entsprechender Benützung der Clearingeinrich-
tungen ^) ohne jede Verwendung von Münze vollziehen und erscheint daher
die Popularisierung dieser Zahlungsweise im geschäftliclien Verkehre als
das wichtigste Mittel zur Kestriction der Umlaufsmittel.
Eine Geldbewegung würde sodann nur theilweise, und zwar in jenen
Fällen unvermeidlich sein, in denen es sich um ausserhalb des eigentlichen
Geschäftsbetriebes liegende Zahlungen handelt. Letztere — mittels der
Empfangs-Erlagscheine und der Zahlungsanweisungen, beziehungsweise Casse-
checks vollzogen — gehören vorwiegend dem privaten Zahlungsverkehr an
und sind daher an bezüglicher Stelle erörtert
Ausser dem Clearing fördern im Postsparcassenverkehr auch noch
andere für kaufmännische Kreise berechnete Einrichtungen die Ersparnis an
Barmitteln.
Zunächst kommen in dieser Richtung das Incasso von Schuklurkunden,
Wechseln etc., die Eincassierung von Postanweisungen und das P]in7.iehungs
verfahren von Schuldurkunden in Betracht.
Das Incasso,-) unter den im Bankverkehr allgemein üblichen Formen
sich abwickelnd, berührt die in Discussion stehende Frage insoweit, als
seine Tendenz dahin geht, die Zahlungsagenden aus der Einzelnwirtschaft
in den Bereich der Postsparcasse zu übertragen und der hiebei bestehende
Gutschriftszwang — die Valuta muss auf dem Conto des Einreichers gut-
gebracht werden — dazu beiträgt, die eincassierten Summen in den credit-
wirtschaftlichen Zahlungsverkehr überzuleiten.
üie Ersparnis an Bargeld ist hiebei in der Eegel beschränkt. Ein
solches ergibt sich zumeist bloss auf Seite des Berechtigten, und zwar erst
bei der Weiterbegebung der eincassierten Beträge. Entfallen könnte die Ver-
wendung von ümlaufsmitteln in diesem Geschäftszweige nur, falls der durch
^) Ueber den Cloaringverkehr enthält die vom Postsparcassenanite herausgegebene
Belehrung über den Checkverkehr folgende Bemerkungen : Die grössten Vortheile bietet jedem
Contoinhaber die Einrichtung des Clearingverkehrs. In demselben erfolgt der gegen-
seitige Austausch von Schuldigkeiten und Forderungen durch einfache Ab- und Zuschreibung
der mittels Check angewiesenen Beträge, ohne Aufwand von Zeit, da die Ab- und
Zuschreibung im Postsparcassenamte gleichzeitig geschieht und beide Contoinhaber
mittels der Contoauszüge gleichzeitig verständigt werden — mit der geringsten
Mühe, denn die gegenseitige Uebertragung erfolgt im Postsparcassenamte selbst, also
ohne Intervention eines Postamtes oder einer Partei — und fast ohne Kosten, da
das Postsparcassenamt für die Lastschriften in diesem Verkehr keine Provision, sondern
einzig und allein eine Manipulationsgebür von 4 h für die Gutschrift und Lastschrift
berechnet.
2) Das Incassogeschäft besteht beim Postsparcassenamte erst seit 1898 und sind die
bezüglichen Resultate nicht bekannt.
Der (Jlieckverkehr der österreicliisclicn Postsparcasse. 31
die Urkunde Verpflichtete bei Präsentation nicht in Barem, sondern
mittels Check die Zahlung leistet. Welche Schwierigkeiten einer solchen
Abwicklung sich im geschäftlichen Verkehr gegenüberstellen, zeigt sich
in der Gebarung der österreichisch-ungarischen Bank, sowie des Giro- und
Cassenvereines.
Gleichfalls nur auf einer Seite — auf jener des Zahlungsempfängers —
wird eine Barmittelbewegung bei der vom Pcstsparcassenamte für Kechnung
seiner Contoinhaber vorgenommenen Eincassierung von Postanweisungen
vermieden. Die P^stanweisungsbeträge werden den Adressaten auf ihrem
Checkconto gutgebracht. ^)
Ganz ohne Inanspruchnahme von Barmitteln kann sich die Gebarung
beim Einziehungsverfahren von Urkunden vollziehen. Dieser Geschäftszweig
eröffnet den Contoinhabern die Möglichkeit, durch Beisetzung einer bezüg-
lichen Ordre auf der Kückseite des Checks die Einlösung von Verpflich-
tungsurkunden durch das k. k. Postsparcassenamt in Wien zu bewirken.
Derartige Checks sind vor dem Verfallstage der Urkunde an das Postspar-
cassenamt einzusenden und gelten als Aviso. Sie können aber auch an den
Inhaber der Urkunde übermittelt und von diesem gleichzeitig mit letzterer
beim Postsparcassenamte präsentiert oder an dasselbe eingesendet werden.
Die Kealisierung erfolgt durch Barauszahlung, beziehungsweise üebersendung
des Geldes mittels Postanweisung oder aber durch Gutschrift des Betrages
auf dem Conto des Ueberreichers der Urkunde. Durch letztere Vollzugsart
ist der Anstoss zu einerweiteren entwicklungsfähigen Keform der Wechsel-
zahlungen gegeben. Vorbedingung hiefür wäre allerdings, dass die in der
Geschäftswelt noch vorherrschende Gepflogenheit der Selbsthonorierung von
Wechseln der um vieles bequemeren Zahlbarstellung weiche. Sind die Wechsel
beim Postsparcassenamte zu honorieren, s) würden die Wechselgläubiger,
wenn sie zugleich Contoinhaber dieses Amtes sind, durch ihr eigenes
Interesse dazu gebracht, die Urkunden an das Postsparcassenamt zur Keali-
sierung und Gutschrift der Valuta auf ihr Conto zu senden. Auf solche
Weise könnte man zufolge der centralen Stellung des Postsparcassenamtes
zu intensiverem Ausgleiche der Wechselforderungen ohne Inanspruchnahme
von Geldmitteln, gelangen. Eine derartige Popularisierung des Wechselclearing
scheint umso wichtiger, als ja in Oesterreich, wie berührt, das Incasso der
Wechsel sich auch bei Banken vorwiegend in den Formen der Barauszahlung
bewegt. Zudem ergibt sich hiedurch ein neuer Berührungspunkt für die Ver-
schmelzung der im Wechsel verkörperten Cieditgeschäfte mit dem zur
') Die Zahl der eincassierten Postanweisungen betrug:
1885 127.717 per 12,799.138 fl.
' 1890 680.780 „ 44,699.188 „
1895 1,211.358 „ 58,483.866 ,
1896 1,286.518 „ 58,607 526 „
1897 1,350 870 „ 57,274.293 „
1898 1,487.271 „ 61,299.314 .
1899 1,604.188 „ 63,226.272 „
32 I^ßth.
schliesslichen Ausgleichung der Verbindlichkeiten dienenden Postsparcassen-
V er kehr.')
Ein weiteres Mittel zur Ersparung von Umlaufsmitteln im commer-
ziellen Verkehr bildet das mit anderen Geldinstituten bestehende Ueber-
weisungsverfahren, welches üebertragungen von Geldbeträgen zwischen den
beiderseitigen Contoinhabern im buchmässigen Wege ermöglicht.
Wohl ist innerhalb des Kreises der Theilnehmer am Checkverkehr und
in den Grenzen der in letzterem vollzogenen Geldbewegung das durch
die Postsparcasse eingeführte System der buchmässigen Ausgleichung
ein in sich abgeschlossenes Ganzes, durch welches auf einheitlicher
Basis und in einfacher Weise die Tilgung der Forderungen ohne
Verwendung von Barmitteln erreicht wird. Doch die räumliche Beschränkung
der Postsparcasse auf das Gebiet der diesseitigen Eeichshälfte, sowie die
Gliederung des Zahlungsprocesses nach wirtschaftlichen Zwecken bei Con-
centrierung in mehreren durch die Art der Agenden verschiedenen Knoten-
punkten hat einen beständig steigenden Verkehr zwischen den Contoinhabern
des Postsparcassenamtes und den Kunden anderer Checkinstitute zur Folge.
So kommt es, dass bei Vermittlung des Zahlungsprocesses in der grossen
Gesamrntheit sich vielfach Forderungen ergeben, welche im Kahmen des
Postsparcassenamtes sich nicht mehr ausgleichen lassen. Um auch diese
buchmässig behandeln zu können, bedarf es zwischen dem Postsparcassen-
amte und anderen gleichfalls dem Zahlungsverkehr dienenden Instituten einer
Verbindung, welche über die Grenzen des eigenen Geschäftsbetriebes hinaus
die checkmässige Gebarung auf den Conti der anderen Anstalten gestattet.
In mehrfacher Richtung wurde eine solche Erweiterung der Agenden
bereits angebahnt.
Zunächst durch den wechselseitigen üeberweisungsverkehr zwischen
der österreichischen und der ungarischen Postsparcasse. Die Vereinbarung
über denselben stammt aus dem Jahre 1896; sie ermöglicht den Clearing-
mitgliedern des Postsparcassenamtes Beträge aus ihrem verfügbaren Gut-
haben auf irgend welche Clearingconti bei dem ungarischen Institute zu
übertragen, wie auch umgekehrt Clearingtheilnehmer der königlich unga-
%
^) Ueber die bisherige Entwicklung des Einziehungsverfahrens (begonnen im
Jahre 1885) gibt die nachstehende Uebersicht Aufschlüsse:
Etagezogen. Uriunden ^'"""autSS '"*
1885 426 per 812.902 K —
1890 4.422 „ 6,873.588 K 1.728 per 3,023.644 K
1895 9.780 „ 17,637.994 K 4.344 „ 8,602.530 K
1896 11.901 „ 20,895.490 K 5.298 „ 10,090.006 K
1897 13.558 „ 24,689.220 A' 6.135 „ 11,710.474 JT
Hievon im Saldierungs-
Vereine vollzogen
1898 14.429 per 28,472.230 K 10.316 per 20,875.057 K
1899 15.814 „ 31,986.473 K 13.377 „ 28,391.151 K
Der Checkverkelir der östcrreichisclien Postsparcasse. 33
rischeu Postsparcasse auf Conti bei der österreicliischen Schwesteranstalt
Ueberweisungen bewirken können.
Durch den wechselseitigen üeberweisungsverkehr kommen die Conto-
inhaber in die Lage, ihre von den Handelsbeziehungen mit Ungarn bedingten
Zahlungsgeschäfte im Wege des Checkverfahrens zu realisieren. Die Art
dieser Beziehungen bestimmt auch die Structur der Geldbewegung im
Ueberweisungsverkehre. Dieser schliesst mit einem bedeutenden Activsaldo
zu Gunsten des österreichischen Institutes und umfassen die Ueberweisungen
an dieses nicht bloss höhere Summen, sondern auch eine grössere Anzahl
von Posten.^) Zufolge der Einseitigkeit in der Bewegung resultieren für
das österreichische Institut namhafte Forderungen, denen nur geringe Passiv-
posten zu Gunsten der ungarischen Postsparcasse gegenüberstehen. Die
hiernach verbleibenden Saldi werden aber durch das Giroconto der öster-
reichisch-ungarischen Bank ausgeglichen.
Die Bedeutung des Wechselverkehres zwischen den beiderseitigen Post-
sparcassen besteht in der Erweiterung der checkmässigen Zahlungsweise
über das räumliche Geltungsgebiet der Postsparcasse und in der damit ge-
botenen Anregung zu internationaler Ausgestaltung des Postcheckwesens.
Einer solchen wird, sobald erst der Checkverkehr auch bei anderen Post-
sparcassen sich bewährt hat, mit der zunehmenden Entwicklung allgemein
näher zu treten sein.
Weitere Ausdehnung, und zwar über die sachlichen Grenzen, welche
dem Clearing der Postsparcasse zufolge der speciellen Function im Orga-
nismus des Zahlungsprocesses gelegen sind, erfährt das Ausgleichsverfahren
durch die Vereinbarung, welche mit der österreichisch-ungarischen Bank
seit 1889 besteht. Nach derselben können Contoinhaber im Checkverkehr
Ueberweisungen aus ihrem Guthaben auf die Giroconti bei der öster-
reichisch-ungarischen Bank veranlassen, beziehungsweise von den Girokunden
der genannten Bank auf ihr Postsparcassenconto erhalten. Ursprünglicher
Zweck dieser Vereinbarung war die Ermöglichung eines, wenn auch auf
die Girokunden der österreichisch -ungarischen Bank beschränkten Ueber-
weisungsverkehrs nach der jenseitigen Reichshälfte. Seitdem jedoch das
Verfahren der directen Uebertragungen zwischen den Contoinhabern der öster-
reichischen und der ungarischen Postsparcasse activiert ist, tritt beim Ver-
kehr mit der Bank der frühere Zweck zurück und dient derselbe, ab-
gesehen vom Ausgleich der Forderungen der beiderseitigen Postsparcassen,
vorwiegend zur^ Ueberleitung der im Zahlungsdienste der letzteren vor-
kommenden Gelder in den Bankbetrieb und umgekehrt. Das Bedürfnis nach
einer solchen Uebertragung ergibt sich zufolge des durch die Verschiedenheit
der wirtschaftlichen Function bedingten Unterschiedes zwischen den Giro-
beständen der österreichisch-ungarischen Bank und den Checkguthabungen
1) Im Üeberweisungsverkehr zwischen dem Postsparcassenarate und der königlich
ungarischen Postsparcasse haben 1899 stattgefunden:
7.628 Ueberweisungen per 29,394.745 K an die ungarische Postsparcasse,
49.514 „ „ 78,650.969 K „ „ österreichische Postsparcasse.
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik and Verwaltung. X. Band. 3
34
Leth.
der Postsparcasse. Das diesem Banküberweisungsverkehr ^j zugrunde liegende
Princip erscheint von weittragender Bedeutung und könnte wohl den Ausgangs-
-punkt für eine Verschmelzung der creditwirtschaftlichen Agenden des Bank-
geschäftes mit dem durch die Postsparcasse vermittelten Zahlungsprocesse
bilden. Die Weiterausgestaltung dieser Einrichtung durch Verbindung der
Postsparcasse mit anderen Organismen des Geld- und Creditwesens wurde
im allgemein wirtschaftlichen Interesse angeregt; sie würde für eine grosse
Zahl von Forderungen, welche sich ohne solche nur unter Inanspruchnahme
von Barmitteln ausgleichen lassen, die Möglichkeit zu geldloser Durch-
führung erschliessen.
Wie der Verkehr mit der österreichisch-ungarischen Bank, bezweckt
auch die Angliederung des Postsparcassenamtes an den Saldierungsverein
eine engere, Barmittel sparende Verbindung des Zahlungswesens mit dem
durch die Banken vermittelten Creditverkehre. üeber die Kückwirkung dieser
Angliederung auf das Abrechnungswesen lässt sich bei der Kürze der Zeit,
während welcher die Postsparcasse dem Saldierungsverein angehört — seit
1898 — noch kein abschliessendes Urtheil fällen. Nach den bisherigen Erfah-
rungen dürfte die Bedeutung der Betheiligung der Postsparcasse vornehmlich
in der Vereinfachung der Vollzugsweise hinsichtlich jener Inhaberchecks
gelegen sein, die mit zunehmender Verbreitung des Postsparcassenwesens
in steigender Zahl in den Besitz der Banken gelangen. Indem diese zur
Bareinlösung beim Postsparcassenamte bestimmten Checks nicht mehr an
den Gassen des letzteren präsentiert, sondern im Saldierungsvereine ein-
gereicht und realisiert werden, entfällt das Incasso der Checks durch die
Mitglieder des genannten Vereines und concentrieren sich die früher noth-
wendigen Einzelnabhebungen in einigen wenigen Transactionen.
Die geschilderten Einrichtungen (Postclearing, Intervention bei Ein-
ziehung von Forderungspapieren, Verbindung mit dem von Banken ver-
mittelten Zahlungscreditverkehr) sind es, welche die kaufmännische Zahlungs-
weise von der tief wurzelnden Gepflogenheit des Barverkehres loslösen und
zu den höheren Formen creditwirtschaftlicher Organisation zu bringen berufen
erscheinen. Für eine solche Keform sind die technischen Grundlagen gegeben.
Das weitere Wirken des Postsparcassenamtes zu Gunsten des kaufmännischen
Zahlungsverkehres kann sich in der nächsten Zeit daher nicht so sehr in
neuen organisatorischen Massnahmen, als vielmehr in der Anwendung und
in dem Einleben des bereits Bestehenden in breiteren Schichten der Ge-
schäftswelt bewegen. Hiebei gilt es, althergebrachte Gewohnheiten zu
ändern und durch Förderung des Verständnisses für die Vortheile der buch-
mässigen Ausgleichung eine Vertiefung des Checkverfahrens zu erzielen.
Dies ist wohl nur bei Entwicklung des Checkwesens in der bisherigen
Kichtung und unter Aufrechthaltung der in deli thatsächlichen Verhältnissen
wurzelnden, nach Wirtschaftssphären erfolgten Gliederung der Checkorgani-
*) 1899 wurden 20.901 Ueberweisungen per 176 Mill. Kronen vom Postsparcassen-
amte an die Oesterreichisch-ungarische Bank und 17.880 Ueberweisungen per 18 Mill.
Kronen von der Oesterreichiscli- ungarischen Bank au das Postsparcassenamt vollzogen.
I
Der Clieckverkehr der österreichischen Postsparcasse. 35
sationeu zu erwarten. Allerdiags wird dabei auf eine möglichst weitgehende
Verbindung des Postsparcassenamtes mit den übrigen Checkinstituten Be-
dacht zu nehmen sein. Doch muss bei Fortbildung der -bezüglichen Ein-
richtungen wohl dem allmählich Gewordenen Rechnung getragen werden.
Jede auf anderer Basis versuchte Reform, mag sich selbe auch auf auswärts
erprobte, für die österreichischen Verhältnisse jedoch nicht anwendbare
technische Formen gründen, oder aber eine künstliche Verschiebung im
Wirkungskreise der einzelnen Checkinstitute bezwecken, würde den Keim
des Verfalles an sich tragen; ja noch mehr, sie könnte überhaupt die Ent-
wicklung behindern.
Auch für Zwecke der staatlichen C a s s e v e r w a 1 1 u n g wird der
Checkverkehr des Postsparcassenamtes in weitgehendem Maasse benüzt. Die
Verbindung der Cassengeschäfte des Staates mit dem Checkwesen wurde
nach dem Vorbilde der englischen Einrichtungen auch in Oesterreich seit
langem angestrebt; doch kam es erst in jüngster Zeit zu einer diesbezüg-
lichen Reform, wobei der Anweisungsverkehr derPostsparcasse zum Ausgangs-
punkt genommen wurde.
Der Beitritt der staatlichen Gassen und Institute zum Check verkehr
erfolgte in den verschiedenen Ressorts voneinander unabhängig, und wurde
die Postsparcasse je nach Bedarf in grösserem oder geringerem Umfange
bei den einzelnen Stellen für die Zwecke der Cassengebarung herangezogen.
Deshalb kann bei Angliederung des staatlichen Cassenwesens an die Post-
sparcasse von einem einheitlichen Aufbaue nicht die Rede sein. Die heutige
Organisation beruht auf einer Reihe von Einzelbestimmungen, welche ge-
legentlich des Beitrittes zum Checkverkehr an die Aerater fallweise entstanden.
Diesem Entwicklungsgange muss die Schilderung des Wirkens der Post-
sparcasse auf diesem Gebiete wohl folgen.^)
Der erste Versuch, denselben in den staatlichen Betrieb einzuführen,
wurde im Ressort des Acker bauministeriums gemacht. Er fällt in das
Jahr 1885 und erfolgte bei der Bergdirectionscasse in Pfibram. Weitere
Ausdehnung erfuhr der Checkverkehr bei den Forst- und Domänendirectionen
seit 1891. In ihrem Bereiche wurden die Checkeinrichtungen zur Einzahlung
der Kaufschillinge und Einhebung von Nebenbenützungsgebüreo, Pacht-
zinsen etc. benützt. Der manipulative Theil vollzieht sich mittels der Empfang-
erlagscheine, auf deren Rückseite die im Forstdienste übliche Material-
abgabsanweisung vorgedruckt ist. Solche Documente werden von den Forst-
verwaltern nach Ausfüllung und Beifügung der Nummer der betreffenden
Materialabgabsanweisung an den Holzkäufer behufs Einzahlung des Betrages
bei beliebigem P^stamte hinausgegeben. Falls die Abgabe der Forstproducte
gegen sogleiche Bezahlung des Kaufschillinges erfolgt, bilden die post-
ämtlich saldierten Scheine im Verein mit der auf ihrer Rückseite befind-
lichen Materialanweisung des Verwalters die Belege für die Ausfolgung des
^) Dem Checkverkehr gehören Ende 1899 1296 Behörden und Gassen an.
3*
3G Letli.
Materiales durch die Förster, Ein Vergleich derselben mit den Posten der
Contoauszüge ermögliclit hinsichtlich der Geld- und Materialgebarung die
Controle bei den Rechniingsdepartements der Forst- und Domänendirectionen.
Monatsweise erfolgt die Abfuhr der im Checkverkehr eingezahlten Beträge
mittels Checks zu Gunsten der Forstperceptionscasse, an welche die Zahlung
geleistet werden soll.
Weiters wurden auch die zum Ackerbauministerium ressortierenden
Versuchsanstalten in das Postcheckverfahren einbezogen. Deren Gebarung
vollzieht sich unter den allgemeinen Formen dieses Verfahrens.
Im Betriebe der Staatseisenbahnverwaltung sind die Hauptcasse,
sowie die Staatsbahndirectionscassen seit 1887 dem Checkverfahren des Post-
sparcassenamtes angegliedert und benützen dessen Einrichtungen im internen
Dienste zu Abfuhren, dann aber auch zu Auszahlungen an Parteien. In
letzterer Richtung besteht für die Hauptcasse und die Staatsbahndirections-
cassen folgende Vorschrift; Soweit von der Partei ein Erlagscheinbüchel
vorliegt oder von Fall zu Fall Erlagscheine eingesendet werden, kann die
Zahlung des liquiden Betrages auf Grund dieser Erlagscheine bei der
nächsten Sammelstelle des Postsparcassenamtes bewirkt werden. Sind Erlag-
scheine nicht vorhanden, können, wenn die Partei dem Clearingverkehr an-
gehört, über den Zahlungsbetrag Checks zur Gutschrift im Clearingverkehr,
eventuell auch auf das Giroconto der österreichisch-ungarischen Bank aus-
gefertigt werden. Wenn weder ein Erlägschein vorliegt, noch die betrettende
Partei dem Clearingverkehr angehört, kann ebenfalls ein Check — jedoch
zur Veranlassung der Zahlungsanweisung durch das Postsparcassenamt an
die Partei — ausgestellt werden. Derartige im Wege der Postsparcasse zur
Realisierung gelangende Zahlungen an fremde Parteien unterliegen dem
Abzüge der im Postsparcassenverfahren eingehobenen Gebüren (Instruction
Nr. 10/A, betreffend die Gebarung der Hauptcasse etc. § 28).
Die bei den Cassen überschüssigen Gelder concentrieren sich auf dem
Conto des Eisenbahnministeriums. Diesbezüglich besagt ein im Verordnungs-
blatte der Eisenbahn Verwaltung Nr. 61 ex 1888 publiciertes Circulare: Nachdem
mit der Einführung des Postsparcassenverkehres bei den Bahncassen nur eine
einfachere und billigere Zahlungsmanipulation bezweckt ist und ein Zurück-
halten disponibler Betriebsgelder seitens der k, k. Eisenbahnbetriebs-Direc-
tionen dem Interesse der Bahnanstalt zuwiderläuft, sind alle über den voraus-
sichtlichen nächsten Eigenbedarf reichenden Guthabungen stets ungesäumt
im Sinne des § 19 der Instruction Nr. X in runden Summen per Clearing-
verkehr zu Gunsten des Conto Nr. 806.936 der k. k. Generaldirection der
österreichischen Staatsbahnen beim k. k. Postsparcassenamte in Wien unter,
Documentenwechsel mit der Hauptcasse abzuführen.
Für Zwecke der Justizverwaltung dient der Checkverkehr des
Postsparcassenamtes seit 1. Jänner 1898, Seine Benützung wurde mit Justiz-
ministerial-Verordnung vom 5. Mai 1897 für die Oberlandesgerichts-Präsidien,
die Gerichtshöfe erster Instanz und für die Bezirksgerichte von grösserem^
Umfange bei der Gebarung mit Parteiengeldern sowolil im Ein- als aucl
II
Der Checkverkehr fler östorreichisclien Postsparcasse. 37
im Auszahlungsdienste vorgeschrieben. Hiebei gilt als Grundsatz, dass die
Führung von Barvorräthen an Parteiengeldern mit Ausnahme der zur Fructi-
ficierung bestimmten Summen möglichst vermieden werden soll. Für letztere
ist die Benützung des Checkverkehres ausgeschlossen und hat die Veranlagung,
falls die Postsparcasse für eine solche in Aussicht genommen wird, im
Sparverkehre zu erfolgen, wobei allerdings die gerichtlich zugewiesenen
Antheile an den Kesultaten der Fructificierung entfernt wohnenden Perci-
pienten nach vorheriger Uebertragung auf das Gericlitsconto im Check-
verfahren ausbezahlt werden können.
Zur Concentrierung der Parteiengelder auf den Gerichtsconten sind
allen Zahlungsaufträgen und Aufforderungen an die Parteien entsprechend
ausgefertigte Empfang-Erlagscheine beizuschliessen, auf Grund welcher die
bare Einzahlung bei beliebigem Postamte zu leisten ist. Auch können
Zahlungen an Gerichte insoweit durch Gutschrift erfolgen, als der Geldbetrag
keinen Gegenstand der Depositen oder waisenämtlicher Gebarung bildet.
Werden von Parteien Betiäge bei den Gerichten bar erlegt, so sind sie in
der Regel sogleif'h oder wenigstens am selben Tage von Amtswegen mittels
Erlagscheines an das Checkconto abzuführen.
Auszahlungen werden zumeist mittels Checkzahlungs- Anweisungen
bewirkt; Ueberbringerchecks dürfen nur auf Anlangen der bezugsberechtigten
Person und gegen gleichzeitige Bestätigung des Empfanges ausgestellt und
dieser Person eingehändigt werden.
Behufs Orientierung des Zahlungsverpflichteten, beziehungsweise des
Empfängers wird auf den Erlagscheinen und auf den Checks und Zahlungs-
anweisungen die Geschäftszahl ersichtlich gemacht, aus welcher die Bestim-
mung der Geldsendung erhellt.
Die bei dem Anweisungsverkehre erwachsenden Spesen fallen den Parteien
zur Last und müssen durch die Einzahlungen der letzteren und durch Abzug
von dem anzuweisenden Betrage vollkommen gedeckt werden. Sie sind mit
je 6 h für die Einziehung der Zahlungen mittels Empfangscheines und
für die mit Check erfolgenden Auszahlungen festgesetzt. Die Benützungs-
gebüren werden nach Ablauf jedes Jahres von den Conten der einzelnen
Gerichte, auf welchen sie überschüssig verbleiben, auf das Conto des Justiz-
ministeriums für Parteiengelder mittels Check überwiesen. Letzteres ist ein
Centralconto für alle Drucksortenkosten, Manipulations- und Provisions-
gebüren, sowie für die Zinsenerträgnisse sämmtlicher Conti und wird das
schliessliche Resultat der Gebarung, beziehungsweise der hieraus sich er-
gebende Betrag mit Jahresschluss ausgeglichen. Die Verrechnung über die
eingezahlten Beträge erfolgt auf Grund der den Gerichten vom Sparcassen-
amte zukommenden Belege und der Vormerke auf den Coupons der Check-
büchel. Mit Ablauf jedes Jahres ist eine Nachweisung über den Checkverkehr
zu verfassen und dem Oberlandesgerichte vorzulegen. Dieses überprüft die
Ziffern und lässt eine Zusammenstellung für sämmtliche am Checkverkehr
betheiligten Gerichte seines Sprengeis an das Justizministerium gelangen.
38 Leth.
Im Dienste der Finanzverwaltung werden die Checkeinrichtiingen der
Postsparcasse seit 1896]^in Niederösterreich und seit 1898 in sämmtlichen
im Reichsrathe vertretenen Königreichen und Ländern benützt. Für den
Verkehr bei den Unterbehörden bildet gegenwärtig die Ministerialverordnung
vom 26. November 1897, R.-Gr.-Bl. 272, die Grundlage, welche gestattet,
dass alle Zahlungen, mit Ausnahme der Zollzahlungen, an sämmtliche Steuer-
ämter und an die sonstigen in den Anweisungsverkehr des Postsparcassen-
amtes einbezogenen Perceptionsämter^) auch im Checkverkehr der Post-
sparcasse mittels eines „Einzahlungsscheines" geleistet werden können. 2) Der
Erlag erfolgt entweder in Barem bei der Gasse des Postsparcassenamtes,
beziehungsweise bei einem beliebigen Postamte oder aber unter Einsendung
eines Ghecks und ausgefüllten Einzahlungsscheines behufs Gutschrift auf
dem Gonto der betreffenden Perceptionscasse. Die Einzahlungsscheine sind den
Empfang-Erlagscheinen nachgebildet, enthalten aber ausser den anf letzteren
vorkommenden Vordrucken auch noch die Vorschreibungsmerkmale, als:
Gattung und Art der Abgabe, Datum und Nummer des die Zahlungspflicht
begründenden amtlichen Documentes etc. TJeberdies ist ihnen eine zur Ab-
sendung an die Parteien bestimmte Gorrespondenzkarte angeheftet, welche
zur amtlichen Bestätigung über die erfolgte Zahlung dient. Ist die Ein-
zahlung geringer als die Schuldigkeit, so ist die Partei mittels der Gorre-
spondenzkarte auf diesen Umstand ausdrücklich aufmerksam zu machen
und ihr der Betrag des Eückstandes ziffermässig anzugeben.
Ueber^nachträgliches Verlangen einer Partei ist die in der amtlichen
Bestätigung ausgewiesene Zahlung gegen Einziehung dieser Bestätigung in
das Steuerbüchel, den Zahlungsauftrag etc. zu übertragen.
Solchermaassen gebildete Postsparcasseguthaben fliessen zur Gänze der
Steuercasse zu. Wenn eine im Anweisungsverkehre geleistete Zahlung nicht
dieser, sondern einer anderen rücksichtlich ihres Geldbestandes in besonderer
Evidenz zu führenden Gasse eines und desselben Perceptionsamtes zufällt,
ist der für die andere Gasse verrechnete Betrag aus der Steuercasse in
Barem zu entnehmen oder in der betreffenden Gasse zu hinterlegen. Zu
selbständiger Anweisung und Abhebung von Barbeträgen sind die Steuer-
ämter nicht befugt. Das ganze Guthaben ist allmonatlich bis auf die Stamm-
einlage mittels Ghecks auf das Gonto der zuständigen Ländercasse zu über-
weisen, und zwar derart rechtzeitig, dass die vom Postsparcassenamte dies-
falls vorzunehmende Gutschrift auf dem Gonto der Ländercasse spätestens
am letzten Monatstage erfolgen kann. Erreicht das Guthaben schon im
Laufe des Monates einen die Stammeinlage von 200 K um 4000 K über-
steigenden Betrag, so hat die Ueberweisung des letzteren an die Ländercasse
sofort zu erfolgen.
1) Bisher sind in den Anweisungsverkehr einbezogen: sämmtliche Hauptsteuer-
ämter und Steuerämter, die Finanz- und gerichtlichen Depositencassen in Wien, diej
Taxamtscasse in Wien für Stempeltaxen und Gebürenzahlungen, das Centralsteueramt der)
Stadt Wien für Zahlungen von directen Steuern sammt Zuschlägen.
2^ Im Wege des Checkverkehrs wurden im Laufe des Jahres 1890 181.907 Steuer-
oinzahlungen per 49,510 584 K geleistet.
I
Der Checkverkehr der österreichischen Postsparcasse. 39
Tn der Kegel soll das durch die Abfuhren der Perceptionsämter auf
dem Conto der Lairdescasse erwachsende Guthaben von letzterer auf das
Conto der Staatscentralcasse überwiesen werden. Nur zu Barabhebungen
für den Bedarf der Landescasse, sowie zur Anweisung von baren Geld-
verlägen an Aemter und Cassen steht der vorgesetzten Finanzlandesbehörde
das Verfügungsrecht über den Bestand am Postsparcassenconto zu. Directe
Zahlungen an Parteien dürfen von Landescassen nicht geleistet werden, wie
auch Zahlungen von Parteien an die Landescassen im Checkverkehr nicht
zulässig sind. Die Abfuhren an die Staatscentralcasse sind von den Landes-
cassen in der Regel zweimal im Monate (medio und ultimo), ausserdem
aber sobald das Guthaben den Betrag von einer Million Kronen übersteigt,
durch Ausstellung eines Gutschriftschecks zu bewirken.
Seit 1. Jänner 1897 nimmt auch die Staatscentralcasse am Check-
verkehr theil. Auf deren Conto gelangen ausser den Eingängen auf den
Conti der Lande.scassen auch die Guthabungen der Staatsbahnen, Forst-
und Domänendirectionen und sonstigen dem Checkverkehr angegliederten
Staatsverwaltungskörper zur Abfuhr, lieber das Guthaben der Finanz-
verwaltung bei der Postsparcasse ist dem Finanzministerium das alleinige
Verfügungsrecht vorbehalten. Daher dürfen weder Abhebungen noch Ueber-
weisungen auf andere Conti ohne specielle Weisung der Centralstelle erfolgen.
Die über Auftrag des Finanzministeriums auszufertigenden Checks sind von
den Functionären der Staatscentralcasse zu unterzeichnen und dem Ministerial-
Rechnungsdepartement behufs Vormerkung vorzulegen. Letzterem müssen auch
die Contoauszüge zur Constatierung des jeweiligen Guthabens über Verlangen
vorgewiesen werden; ebenso auch die Checkbüchel. Die Controle geschieht
in der Weise, dass das in den Contoauszügen verzeichnete Guthaben mit
dem Saldo verglichen wird, welcher in dem täglich an das Finanzministerium
gelangenden Cassestandsausweise der Staatscentralcasse namhaft gemacht
erscheint.
Demnach ist das Checkwesen im staatlichen Cassendienste bei folgenden
Stellen eingeführt:
a) Unterbehörden: Steuer- und Finanzcassen, Eisenbahncassen, Forst-
und Bergverwaltungen, Bezirksgerichte von grösserem Umfange (rücksichtlich
der Parteiengelder);
b) Ländercassen und sonstige den vorstehend erwähnten Stellen über-
geordnete Aemter;
c) Staatscentralcasse.
Hiebei wird der Postsparcassenverkehr vorwiegend (Ausnahmen
kommen bei den Eisenbahnen, Gerichten, Ländercassen vor) zur Einziehung
von Geldern benützt und liegt die Bedeutung der gegenwärtigen Betheili-
gung der Staatscassen an demselben nicht so sehr im Gebrauche von
Checks bei Vollziehung der internen staatlichen Cassengebarung und dem
damit verbundenen Ersparnis der Barmittelbewegung, als vielmehr in der
Bequemlichkeit, welche die vereinfachte Form der Einzahlungen für das
Publicum gewährt. In dieser Bezieliung enthält eine amtliche Publication
40 Leth.
des k. k. Finanzministeriums (7. Heft der Tabellen zur Währungsstatistik)
die nachstehende Bemerkung: „Mit diesem Beitritte ist im wesentlichen
den Wünschen und Bedürfnissen des Publicums hinsichtlich der Erleichterung
von Zahlungen an die Staatscassen genügt worden. Im übrigen ist aber der
Beitritt der Finanzcassen und Aemter zum Credit\ erkelir der Postsparcasse
in dem Sinne^kein vollständiger, als den sämmtlichen Aemtern nicht ge-
stattet ist, ihre Contoguthabungen zur Leistung von Zahlungen an dritte
oder auch nur zur Barabhebung für ihr eigenes Bedürfnis zu benützen.
Nur den k. k. Landescassen ist über Anweisung der vorstehenden Finanz-
behörde gestattet, ausnahmsweise im Bedarfsfalle das Guthaben für den
eigenen Bedarf zu verwenden und für die Staatscentralcasse ist die Ingerenz
des k. k, Finanzministeriums maassgebend. Für das amtliche Interesse
ergibt sich darnach aus dieser Einführung nur eine sehr vereinfachte und
schnelle'Verfügbarmachung der eingezahlten Beträge für die Centralstellen,
da die Abfuhren im Ueberweisungswege der Postsparcasse zweimal im Monate
vorgeschrieben sind."
In der weiteren Entwicklung wird es sich darum handeln, im Staats-
haushalte auch nach der anderen Richtung des Zahlungsprocesses (bezüglich
der Auszahlung der Gelder) von den Einrichtungen des Postsparcassenamtes
intensiveren Gebrauch zu machen. Hiebei wäre das bisher nur theilweise ver-
wirklichte Princip der geldlosen Ausgleichung allgemeiner zur Geltung zu
bringen. Zum Theile Hesse sich eine derartige Verwendung der auf den
Staatscassenconti eingehenden Beträge wohl im Rahmen des Postclearing
durchführen, so durch Ueberweisung liquidierter Verdienstbeträge an die
dem Checkverfahren angehörenden Contrahenten, durch facultative Gutschrift
von Gehalten und Pensionen auf den Conti der Percipienten u. s. w. Doch
ist es fraglich, ob bei zunehmender Benützung des Postsparcassenverkehres
durch Behörden sämmtliche Eingänge auf den Conti der Staatsverwaltung
sich in solcher Weise an Theilnehmer des Postcheckverfahrens weiter be-
geben lassen und ob, selbst wenn dies möglich sein sollte, der Verbleib
derartiger Beträge im Kreislauf giromässiger üeberweisungen gesichert wäre.
Bei einer grösseren Gruppe von Auszahlungen — bei Pensionen und Ge-
halten — wäre, abgesehen von jenen Fällen, in denen Beamte eine über die
laufenden Bedürfnisse der Hauswirtschaft hinausgehende Geldgebarung haben,
und die Bezüge bloss einen Theil der zur Dotierung des Conto dienenden
Beträge bilden, in der gegenwärtigen Entwicklungsphase des Checkwesens
eine Barabhebung wohl kaum zu vermeiden, da die Dienstesbezüge fast
ausschliesslich zu Zahlungen des Kleinverkehres verwendet werden und letzterer
sich derzeit noch in den Formen barer Vollzugsweise abwickelt. Für jene
Zahlungen der Staatsverwaltung aber, welche in grösseren Summen zu leisten
sind (Couponsauszahlungen an Banken etc.) ist an maassgebender Stelle
die Benützung anderer, ihrer wirtschaftlichen Structur mehr angepasster
Checkorganismen in Aussicht genommen, zumal die Gegenwerte zum '
grossen Theile (bei Couponszahlungen etc.) in den Verkehr der Banken
eintreten.
n
I
I
Der Cheekverlcehr der österreichischen Postsparcasse. 41
Zur Abwicklung solcher Zahlungen bestehen sclion jetzt für die Finanz-
verwaltung sowohl bei der österreichisch-ungarischen Bank als auch beim
Giro- und Cassenvereine Giroconti.
So gewinnt es denn den Anschein, dass die Weiterausgestaltung der
creditwirtschaftlichen Zahlungsorganisation auch im staatlichen Cassen-
geschäfte sich unter Anlehnung an die oben berührte Theilung des Check-
wesens nach wirtschaftlichen Functionen vollzieht und käme bei solcher
Entwicklung die Postsparcasse, abgesehen vom Einzahlungsdienste, haupt-
sächlich für Transactionen von geringer Höhe und im Verkehr mit der den
Banken fern stehenden Clientel in Betracht. Hiebei könnte auch in An-
sehung des im Postsparcassenverkehr nicht weiter begebbaren Theiles des
Guthabens der Staatscassenverwaltung die Barabhebung vermieden werden
und die Ueberleitung desselben in den Bankbetrieb im Wege der Check-
begebung erfolgen.
Gleichwie für die staatliche Casseverwaltung wird der Checkverkehr
des Postsparcassenamtes auch für andere öffentliche Zwecke (Landes-, Com-
munalverwaltung, gemeinnützige Institutionen) benützt. So werden beispiels-
weise seit 1891 von der Verwaltung der niederösterreichischen Landes-
Gebär- und Findelanstalt in Wien die Kostgelder für die Findlinge vierteljährig
an die Gemeindeämter behufs Ausfolgung an die Pflegeparteien im Wege
des Checkverkehres angewiesen (circa 400 Gemeinden mit 8600 Findlingen),
die Cassenagenden der Commune Wien im Checkverkehr vollzogen u. s. w.
Auch im socialen Versicherungswesen kommt dem Postcheckverkehr eine
wichtige Rolle zu. Sowohl in dem Musterstatute für die Arbeiter-Ünfall-
versicherungsanstalten als auch in den für die Krankencassen ergangenen
Vorschriften ist die Benützung dieses Verfahrens vorgesehen. Die Durch-
führung vollzieht sich im allgemeinen innerhalb der für alle Contoinhaber
geltenden Vorschriften ; doch geniessen die erwähnten Anstalten und Cassen
die Befreiung von der Checkstempelgebür.^) Weiters hat sich im Aus-
zahlungsdienste, und zwar im Verkehr mit den Arbeiter-Unfallversicherungs-
anstalten hinsichtlich der Flüssigmachung von Renten eine wichtige Er-
weiterung der regelmässigen Functionen des Checkverfahrens ergeben.
Im Rentenverkehr bedurfte es zunächst, um die Auszahlung an die
bezugsberechtigten Personen zu sichern, erhöhter Cautelen bei Zustellung der
Zahlungsanweisungen und musste anderseits auch Vorsorge getroffen werden, dass
für jene Fälle, in denen der Bezug an gewisse Bedingungen (Witwenstand,
Leben minderjähriger Descendenten, Dürftigkeit der Ascendenten) gebunden
ist, die Erfüllung dieser Bedingung vor Erfolgung der Rente geprüft werden.
Diesen Gesichtspunkten wurde durch den Ausschluss jeder Postvollmacht
für die bezüglichen Zahlungsanweisungen, sowie dadurch Rechnung getragen,
dass die Auszahlung nur gegen gemeinde- oder pfarrämtliche Bestätigung
der Fortdauer der den Bezug bedingenden Verhältnisse erfolgen darf.
') So die Ärbeiter-Unfallversicherungsanstalten durch Gesetz vom 28. December 1887;
die Bruderladen durch Gesetz vom 28. Juli 1889; die Krankencassen durch Gesetz
vom 30. März 1888.
42 Leth.
. üeberdies handelte es sich darum, die periodisch wiederkehrende An-
weisung der Rentenbeträge allmonatlich zu vermeiden. Es wurde daher die
Anweisung derselben mittels eines bis auf Widerruf geltenden Checks ge-
stattet und wird vom Postsparcassenamte am Fälligkeitstage jeweilig die
bezügliche Zahlungsanweisung an den bezugsberechtigten Rentner insolange
hinausgegeben, als seitens der Arbeiter- Unfallversicherungsanstalt keine
andere Disposition getroffen wurde. Die den Arbeiter-Unfallversicherungs-
anstalten in solchen Fällen zustehende Gebürenfreiheit der Checks erleichterte
die Durchführung.
Die Einbürgerung des creditwirtschaftlichen Zahlungsverkehres auf den
bisher geschilderten Zweigen des Wirtschaftslebens würde für sich allein
wohl kaum dazu führen, den Kreis der checkmässigen Transactionen zu
schliessen und die buchweise Ausgleichung der Forderungen und Schuldig-
keiten auf die höchst erreichbare Stufe zu bringen.
Soferne das Checkverfahren auf die Zahlungen der Geschäftswelt und
auf die öffentliche Casseverwaltung beschränkt bleibt, sind seiner Entwicklung
Grenzen gesetzt, welche dessen Bedeutung für die Gesammtwirtschaft nicht
zu voller Geltung kommen lassen. Vielfache Zahlungen, welche bei Ein-
bürgerung des Checkwesens im privaten Wirtschaftsleben ohne Inanspruch-
nahme von Barmitteln zu leisten sind, müssen, solange eine derartige Ver-
tiefung desselben mangelt, in Barem bewerkstelligt werden. Es ist daher
für die Ausgestaltung der creditwirtschaftlichen Organisation des Zahlungs-
processes von ausserordentlicher Wichtigkeit, dass der Gebrauch von Checks
auch in der Sphäre der Privatwirtschaft thunlichst allgemein platzgreife.
Trotz vielversprechender Ansätze war es in Oesterreich zu einem, das private
Wirtschaftsleben umfassenden Systeme des Checkverkehres bis zur Einführung
des Postcheckverfahrens nicht gekommen. Erst letzteres hat hiefür die
Grundlage geschaffen. Derzeit werden dessen Einrichtungen nicht bloss bei
der Geldgebarung in ausserhalb des eigentlichen Geschäftsbetriebes gelegenen
Berufszweigen, sondern auch bei Zahlungen mit rein privatwirtschaftlichem
Charakter, für Haushaltungszwecke etc. gebraucht.^) Wohl macht sich dabei
noch immer die in der Bevölkerung tief wurzelnde und nur allmählich
wandelbare Gewohnheit der baren Zalilungsweise fühlbar. Doch tiitt selbe
mehr und mehr zurück und ist nicht zu verkennen, dass das Bewusstsein
von den Vortheilen einer bankmässigen Führung der im Hauswesen vorkom-
menden Zahlungsgeschäfte weitere Kreise erfasst. Damit ist die Vorbedingung
für die geldlose Vollziehung des Zahlungsverkehres in der privatwirtschnft-
lichen Sphäre geschaffen.
Für diesen Zweck erscheint es von grösster Bedeutung, dass der dem
Checkverkehr"nicht angehörende Theil des Publicums doch wenigstens in
I
I
*) Die Berufsstatistik der Contoinhaber im Checkverkehr des Postsparcassenamtes
weist unter anderen aus: Advocaten 1293, Aerzte 365, Geistliche 185, Gelehrte, Künstler 259,
Gutsbesitzer 1168, Militärs 155, Notare 250, Privatbeamte 616, Privatpersonen 723,
Staatsbeamte 342, Vereine 2384 u. s. w.
Der Checkverkehr der österreichischen Poatsparcasse. " 43
Fällen, in denen er bei Zahlungen mit Contoinhabein in Berührung kommt,
an den Einrichtungen des Checkverfahrens participieren kann.
Die Mittel, welche im Systeme der Postsparcasse diesem Zwecke
dienen, sind, wie an früherer Stelle erwähnt, die Empfang-Erlagscheine und
die Zahlungsanweisungen, beziehungsweise Inhaberchecks. Erstere bieten
Gelegenheit zur Einziehung von Forderungen, letztere zur Ausgleichung
von Verbindlichkeiten im Verkehr mit Personen, welche kein Postsparcassen-
conto besitzen. Je mehr es auf solche Weise gelingt, derartige auf einer
Seite mit ßargeldbewegung verbundene Transactionen im Postsparcassen-
verkehr zu vollziehen und die Gegenwerte in den letzteren überzuleiten,
beziehungsweise aus demselben zu entnehmen, desto vollkommener wird
sich die Organisation des Zahlungsverkehres und in weiterer Folge die Er-
sparnis an Barmitteln gestalten.
Ein wichtiger Schritt auf solchem Gebiete ist durch die oben erörterte,
in das Volksleben tief eingreifende Angliederung,^ staatlicher Gassen und
anderer Institutionen mit gemeinnützigem Charakter an den Checkverkehr
geschehen. Durch selbe wird ja hinsichtlich eines grossen Complexes von
Zahlungen die Benützung der Einrichtungen des Postsparcassenamtes auch
für Fälle erschlossen, in welchen die Zahlungspflichtigen kein Checkconto
besitzen und daher eine rein checkmässige Durchführung ;^ nicht platz-
greifen kann.
Weitere Förderung des creditwirtschaftlichen Zahlungsverkehres steht
durch die im Zuge befindliche Eegelung der Rechtsverhältnisse im Check-
wesen zu erwarten. Nach dem Inslebentreten des Checkgesetzes wird ja im
Kleinverkehr, in welchem die Beurtheilung der Veitrauenswürdigkeit des
Checkausstellers für den Empfänger nur bis zu einem gewissen Grade
möglich ist, die Bereitwilligkeit zur Annahme von Checks vermehrt, die
Verkehrsfähigkeit der letzteren gesteigert und damit für die am Checkver-
fahren nicht activ Tlieilnehmenden die Möglichkeit erhöht, durch Weiter-
begebung erhaltener' Checks ohne Verwendung von Bargeld Zahlungen zu
leisten.
In der Folge dürfte sich aber die Rückwirkung einer solchen Berüh-
rung weitere]- Kreise mit der Postsparcasse auch in dem Beitritte neuer
Theilnehmer äussern. Sicherlich werden sich hiedurch zahlreiche Privat-
wirtschaften zur Eröffnung von Checkconti und zu erweiterter Benützung der
Einrichtungen des Postsparcassenamtes veranlasst finden, wodurch vermehrte
Gelegenheit zu intensiverem Ausgleiche von Zahlungen ohne Inanspruch-
nahme von Barmitteln sich bietet. Damit scheint denn der Entwicklungs-
gang des Checkwesens auch in der privaten Wirtschaftssphäre zur Voll-
ziehung im Clearing durch Gut- und Lastschrift zu führen. Doch während
im Verkehr der Geschäftswelt diese Durchführungsweise die Barauszahlung
fast ganz zu ersetzen vermag, ist ihr im Privatleben durch die ökono-
mischen Verhältnisse des letzteren eine zwar erweiterungsfähige, aber niemals
zu beseitigende Grenze gezogen.
44 T-ieth.
Die Theilnahme am Check verkehr, welclie für die buchniässige Aus-
gleichung die Grundlage bildet, setzt stets eine gewisse Stufe der Entwick-
lung im Wirtschaftsbetriebe voraus. Nur wenn das Wirtschaftssubject von
verschiedenen Seiten Zahlungen zu empfangen und über die erhaltenen
Summen wieder auf mehrfache Weise und insbesondere im interlocalen
Verkehr zu verfügen hat, ist das Bedürfnis für den Beitritt zum Check-
verfahren vorhanden. Bei einseitiger Bewegung aber und falls die Einnahme
nur in fixen Bezügen, die Ausgabe hingegen in zumeist localen Zahlungen
für Haushaltungszwecke besteht, ist eine active Betheiligung am Check-
verkehr wertlos und genügt es für solche Wirtschaftsbetriebe, wenn sie an
der durch dieses Verfahren bewirkten Vereinfachung des Zahlungsprocesses
durch Benützung der Empfang-Erlagscheine, beziehungsweise durch Ein-
cassierung von Zahlungsanweisungen oder Inhaberchecks participieren.
So lässt sich denn die typische Form für die Benützung des Post-
checkwesens im privaten Verkehr folgendermaassen skizzieren :
Einzahlung der aus den untersten Schichten des Wirtschaftslebens
herrührenden Gelder auf Empfang-Erlagscheine;
üeberweisung der auf diese Weise angesammelten Gelder im Clearing
bei höher entwickelten Wirtschaftskörpern;
Auszahlung in Barem mittels Zahlungsanweisung oder Inhaberchecks
in Fällen, in welchen die Gelder aus dem Checkverkehr in den Bereich von
am Checkverkehr nicht theilnehmenden Wirtschaften rückfliessen.
Je nach der ICntwicklungsphase des Checkwesens wird die eine oder
die andere Vollzugsform grössere Verbreitung finden, jede derselben aber
bildet im System des Postcheckverkehres ein nicht zu missendes Glied.
In den vorstehenden Ausführungen wurde die als Folge des bisherigen
Werdeprocesses sich ergebende Ausgestaltung des Postsparcassenbetriebes,
insofern beleuchtet, als es sich hiebei um die Vertiefung des Checkwesens
und um die Verallgemeinung der buchmässigen Vollziehung der Zahlungen
ohne Inanspruchnahme von Barmitteln handelt.
Aber auch in anderer Richtung scheint der Entwicklungsgang des
Postsparcassenamtes zu einer Erweiterung bestehender Einrichtungen zu
führen. Diesbezüglich kommen vornehmlich zwei Gebarungszweige in
Betracht.
Einer derselben ist Ankauf und Verwaltung von Effecten für
Rechnung der Contoinhaber. Bekanntlich wird dieser Geschäftszweig — derzeit
auf Staatspapiere beschränkt — vom Postsparcassenamte nicht bloss für die
Spareinlagen, sondern auch im Anschlüsse an den Checkverkehr gepflegt.
Kaufsgesuche können von jedem Orte aus mittels Checks, welche auf den
Nominalbetrag der zu erwerbenden Papiere lauten, an das Postsparcassenamt
gerichtet werden und geschieht die Verrechnung zum amtlichen Waren-
course der Wiener Börse unter Zuschlag einer geringen Provision (2 pro
Mille). Die angekauften Effecten werden auf Verlangen des'Contoinhabers
auf seine Kosten und Gefahr an die im Check eventuell anzugebende
^1
Der Clieckv erkehr der üäteiTcicliisclien Postsparcasse. 45
Adresse versendet oder von Amtswegen kostenfrei verwahrt. Ueber die depo-
nierten Papiere erfolgt die Ausfertigung eines ßentenbücliels.
Die einfachen Vollzugsformen dieses Geschäftszweiges eröffnen Gelegen-
heit zur Benützung der bezüglichen Einrichtungen sowohl für Privatpersonen
als auch bei Verwaltung von Vermögensbeständen mit öffentlichem oder
gemeinnützigem Charakter.
In letzterer Hinsicht zeigt sich bei den betheiligten Stellen das Streben
nach engerem Anschluss der Fondsgebarungen an die bezüglichen Einrich-
tungen des Postsparcassenamtes und intensiverem Gebrauch derselben iür
den gedachten Zweck. Bemerkenswert ist in dieser Beziehung die in Aussicht
genommene Veranlagung der von den Depositenämtern für den laufenden
Dienst entbehrlichen Beträge durch Ankauf von Staatspapieren und Depo-
nierung der letzteren bei der Effectenabtheilung des Postsparcassenamtes.
Mit dem weiteren Ausbau dieses Gedankens würde das Depotgeschäft
auch in Oesterreich in eine Phase der Entwicklung treten, welche ander-
wärts, so insbesondere in Frankreich, zu weitgehender Concentrierung der
staatlichen und öffentlichen Fondsgebarung geführt hat. Auf solchem Gebiete
wirkt bekanntlich in Frankreich die Caisse des depöts et des consignations
mit grossem Erfolge. Diese Gasse war ursprünglich dazu bestimmt, jene
Summen, welche zufolge eines Judicates oder einer administrativen Ent-
scheidung zu Gunsten eines Dritten zu hinterlegen sind, bis zur Nachwei-
sung der Ansprüche zu verwahren und zu verzinsen. Auch derzeit hat sie
diese Aufgabe und ist selbe die alleinige gesetzliche Depotstelle, S) zwar,
pBSS Hinterlegungen bei anderen Instituten von der Zahlungspflicht nicht
befreien und dem Director der Depositencasse sogar Zwangsmaassregeln
gegen die Zuwiderhandelnden zustehen. Ueber diesen Wirkungskreis hinaus
ist die Caisse des depöts im Laufe der Zeit zu einem centralen Verwahrungs-
und Verwaltungsorgane für die Vermögensgebarung öffentlicher Institute
und Fonds geworden. Sie besorgt beispielsweise die Veranlagung der Post-
sparcassengelder, die Elocierung der Einlagen bei den Privatsparcassen, die
Vermögensverwaltung für die Organismen des socialen Versicherungswesens
etc. etc. In diesen Geschäftszweigen liegt der Schwerpunkt des heutigen
Wirkens der Depositencasse. \) Bei der steigenden Bedeutung der socialen
Versicherung dürfte es von praktischen Werte sein, eine kurze Schilderung
der bezüglichen Einrichtungen der Caisse des depöts an dieser Stelle ein-
zuschalten, zumal selbe als Vorbild dienen könnten, um das Effecten-
geschäft der Postsparcasse innerhalb des Eahmens der bestehenden Normen
für gleiche Zwecke zu benützen.
Die Intervention der Caisse des depöts et des consignations in An-
sehung des Versicherungswesens bezieht sich zunächst auf die Vermögens-
gebarungen der Societes de secours mutuels. Dieselben sind ermächtigt,
die Summen, welche sie zur Gründung eines Altersversorgungsfonds für
') Der von der Depositencasse verwaltete Vermögenbestand belief sich 1896 auf
.S3.'>4 Millionen P'rancs.
46 ^'^*^'-
ihre Mitglieder gewidmet haben, bei der Caisse des depöts et consignatious
auf ein in Paris centralisiertes Conto des Fonds des retraites einzulegen.
Letzteres wird überdies durch die Einzahlung der Societäre, durch
Subventionen, Interessen etc. alimentiert. Die eingegangenen Gelder
werden mit i^/^ Proc. verzinst. Sie können weder in der Gesammtheit, noch
zum Theile zurückgezogen werden und müssen, vom Palle der Auflassung
der Gesellschaft abgesehen, stets ihrer Bestimmung — der Sicherung von
Pensionen — erhalten bleiben. Der Stand des Contos jeder Societät wird
von der Caisse des depöts dem Minister des Innern alljährlich bekannt-
gegeben, welcher selben im Wege der Präfecturen den einzelnen Societäten
mittheilt. Das Organ, welches den Anspruchsberechtigten die Pensionen und
Leibrenten zuerkennt, ist die Vollversammlung der Societäre. Nach Schluss-
fassung seitens der Letzteren wird eine Abschrift des Protokolles unter Bei-
gabe der Geburtsdocumente der zur Pension vorgeschlagenen Mitglieder
durch die Präfecturen dem Minister des Innern vorgelegt, welcher endgiltig
über die Liquidierung der Pensionen entscheidet. Im Genehmigungsfalle
überträgt die Caisse des depöts die für die Pensionen nothwendigen Summen
aus dem „Fonds des retraites" der Hilfscassen an die von ihr verwaltete,
staatliche Altersrentencasse (Caisse nationale des retraites). Die Renten werden
stets mit Vorbehalt des eingezahlten Capitals fundiert und fällt letzteres
nach dem Tode des Anspruchberechtigten wieder an die Hilfscasse zur
Stärkung des „Fonds des retraites" zurück.
Weiters ist der Caisse des depöts die Gebarung von Pensionsfonds
für eine Reihe von öffentlichen Instituten, wie: Staatsdruckerei, Versatzamt,
Nationaltheater, Communalämter etc. (Fonds des retraites et pensions diverses)
übertragen.
Der administrative und versicherungsmässige Theil der Agenden obliegt
dem Institute,, von welchem die betreffende Casse dependiert, während die
Verwahrung und Gebarung mit den Vermögensbeständen — selbe sind in
Staatsrenten angelegt — durch die Caisse des depöts erfolgt. Die Pensionen
sind vierteljährig in Paris bei der Caisse des depöts und in den De-
partements bei den Tresoriers payeurs generaux und den Reccoeurs parti-
culiers des finances zahlbar.
Wohl ist der Umfang dieser Agenden dadurch verringert, dass im
Jahre 1853 eine grosse Zahl von Fonds zur Versorgung staatlicher Organe
eingezogen und der Pensionsanspruch auf den allgemeinen Staatsetat über-
nommen wurde. Doch verliert dadurch die Einrichtung nicht ihre principielle
Bedeutung.
Endlich werden auch die gesammten cassa- und betriebsdienstlichen
Agenden der staatlichen Versicherungsinstitute (Caisse des retraites, Caisse
d'assurance en cas de deces, Caisse d'assurance en cas d'accidents) von der
Caisse des depöts et consignations geführt. Die Caisse des retraites ist eine
eminent demokratische Einrichtung, durch welche zu Gunsten der Arbeiter-
classen mit Hilfe eines geringen Abzuges vom Lohne Rentenansprüche sich
erwerben lassen, die bei Erreichung eines gewissen Alters liquid werden.
Der Checkverkehr der österreichisclien Postsparcasse. 47
Das Wirken und die Kesultate dieser Anstalt wurden im IV. Heft des
VI. Handes dieser Zeitschrift geschildert. Die beiden anderen Gassen — für
Lebens- und Unfallversicherung — sind gleichfalls für die minder bemittelten
Classen berechnet und bezwecken, der Familie beim Tode des Ernährers
ein kleines Capital zu sichern und durch Unterstützungen die pecuniäre
Lage der durch Unfälle Betroffenen zu erleichtern. Durch sie wurde das
System der vom Staate betriebenen Versicherung, welches durch die Alters-
rentenanstalt inauguriert wurde, vervollständigt und beabsichtigte man damit
— bisher allerdings ohne durchschlagenden Erfolg — eine Lücke auszu-
füllen, welche im socialen Versicherungswesen bestand.
In den vorstehend angeführten Agenden der Caisse des depots tritt
ein doppeltes Princip zutage. Bei der einen Gruppe ist die gesammte
Gebarung — die Gasse- und Vermögensverwaltung einschliesslich der
administrativen und versichernngstechnischen Durchführungen — der Depo-
sitencasse überwiesen und obliegen letzterer ähnliche Functionen, wie sie
anderen Versicherungsinstituten mit gemeinnützigem Charakter zukommen.
In solcher Richtung unterscheidet sich die Caisse des depots et consignations
ihrem Wesen nach wohl kaum von den Versicherungsabtheilungen der aus-
ländischen Postsparcassen. In der anderen Gruppe aber wird der versiche-
rungstechnische Theil der Geschäftsführung nicht von der Caisse des depots,
sondern von selbständigen Versicherungsorganisationen besorgt und ist
lediglich nur die rein cassemässige Gebarung mit Bargeld und Effecten
unter Ausscheidung derselben aus dem Bereiche der Versicherungsagenden
an die genannte Gasse übertragen.
Eine Scheidung zwischen Gassen- beziehungsweise Vermögensverwal-
tung und Versicherungsbetrieb ist auch in Oesterreich theilweise, in Ansehung
des baren Geldverkehres, bereits vollzogen. Bei vielen Versicherungs-
instituten wickelt sich letzterer schon jetzt in den Formen des Gheck-
verfalirens unter Vermittlung des Postsparcassenamtes ab. Ein grosser
Theil finanzieller Agenden wird aber auch gegenwärtig noch von den
betreffenden Instituten selbst besorgt, und zwar sind dies alle jene Trans-
actionen, welche sich auf die Veranlagung, sowie auf die Verwahrung und
Verwaltung der Effectenbestände beziehen. Für grössere Versicherungsorga-
nismen ist die selbständige Führung dieser Agenden wohl mit keinen
Schwierigkeiten verbunden, zumal bei denselben der ganze Verwaltungs-
apparat für eine sachgemässe und den Marktverhältnissen angepasste Effecten-
gebarung eingerichtet ist. Anders aber verhält sich die Sache bei manchen
der kleineren Anstalten. Bei diesen erfordert die Verwaltung und Controle
der geringfügigen Vermögensbestände vielfach einen mit dem Erreichten
nicht in Einklang stehenden Aufwand von Zeit und Arbeit und bringen es
die localen Verhältnisse mit sich, dass die betreffenden Institute von den,
den TCff'ectenmarkt beeinflussenden Momenten sich nicht immer Kenntnis ver-
schatfen können.
Diese Umstände geben denn zu der Erwägung Anlass, ob nicht auch
in Oesterreich, ähnlich wie dies in Frankreich der Fall ist, rücksiclitlich
48 Letli.
verschiedenem Betriebe den Versiclieruiigswesens, insbesondere der Hilfs-
cassen und Versicherungsvereine, die Uebergabe der Effectenverwaltung an eine
gemeinsame Depotstelle, als welche das Postsparcassenamt fungieren könnte,
im Interesse der Geschäftsvereinfachung gelegen und behufs Erzielung einer
grösseren üebersichtlichkeit und einheitlichen Gestaltung der Fondsgebarung
anzustreben wäre.
Die von jedem Orte aus zugänglichen, nahezu kostenlosen Einrich-
tungen der Postsparcasse böten hiezu reichlich Gelegenheit und wäre deren
Benützung für die gedachten Zwecke umso zweckdienlicher, als die Fonds-
verwaltung mit der im Checkverkehre sich vollziehenden baren Cassegebarung
in engstem Zusammenhange steht.
Das zweite Gebiet, auf welchem die bestehenden Einrichtungen den
Keim zu weiterer Ausgestaltung in sich bergen, ergibt sich zufolge der
Bestimmungen des Gesetzes vom 19. November 1887, E.-G.-Bl. Nr. 133,
über die Veranlagung des Einlagesaldos.
Auf Grund des § 7 des citierten Gesetzes erfolgt die Elocierung der
Guthabungen des Checkverkehres gegenwärtig bezüglich des eine dauernde
Investierung zulassenden Theiles in Staatswerten oder anderen pupillar-
sicheren Effecten und bezüglich der eine mobile Veranlagung erfordernden
Capitalien durch Ankauf vun Partial-Hypothekaran Weisungen, sowie durch
Einlage im Conto corrente bei Banken. Das Procentverhältnis der beiden
letzterwähnten Anlageformeu hat seit der Postsparcassennovelle vom Jahre
1886 sich namhaft gesteigert und beträgt bei Berücksichtigung der übrigen
jederzeit mobilisierbaren Werte ungefähr ein Drittel der gesammten Be-
stände. Darauf hinweisend, dass durch die Salinenscheine und Conto corrente-
Einlagen die Liquidität der Checkbeträge nur zum Theil gesichert erscheint,
erheben sich Stimmen, welche den übrigen im Gesetze vom 19. November 1887
vorgesehenen Anlagearten, dem Keescompte von Wechseln, welche durch
eine Bank, Sparcasse oder durch einen auf Grund des Gesetzes vom 9. April
1873, K.-G.-Bl. Nr. 70, registrierten Vorschuss- oder Creditverein bereits
escomptiert sind und der Gewährung von Darlehen gegen Verpfändung von
pupillarsicheren Effecten zur Erzielung einer möglichst mobilen Veranlagung,
sowie vom Standpunkte der wirtschaftlichen Interessen das Wort reden.
Die bezüglich des Escomptes bisher geäusserten Vorschläge gehen
von dem Grundsatze aus, dass für die Verwendung der Bestände eines
Geldinstitutes die Provenienz derselben maassgebend sein müsse und die
Gelder soweit als thunlich wieder den Kreisen, welchen sie entstammen,
zugute kommen sollen. Unter diesem Gesichtspunkte wird im Betriebe des
Postsparcassenamtes die Kückleitung der zahlreichen, aus der Geschäftswelt
herrührenden Checkbestände in den Verkehr der letzteren durch Escomptie-
rung von Bankwechseln, als wünschenswert hingestellt; dann aber auch die
Zuwendung der von gewerblichen und landwirtschaftlichen Kreisen^) bei
^) In dieser Beziehung wird insbesondere darauf hingewiesen, dass die bestehenden
Bankinstitute, sollen sie nicht andere, gleich wie tige Aufgaben hintansetzen, mit der
Creditgewährang an breitere Schichten der Volkswirtschaft sicli nur schwer befassen
Der Checkverkehr der österreichischen Postsparcasse, 49
der Postsparcasse belassenen Gelder an die derzeit noch wenig entwickelten
Creditorganisationen dieser beiden Wirtschaftssphären. Die hauptsächlichsten
Desiderien, welche in letzterer Richtung behufs Kräftigung der bezüg-
lichen Organisationen durch gering verzinsliche Darlehen aus den Mitteln
des Postsparcassenamtes laut werden, lassen sich folgeudermaassen zusammen-
fassen ;
Zuwendung von Crediten an die Schulze-Delitzsch'schen Vorschusscassen
im Anschlüsse an die im Zuge befindliche Reform des Gesetzes über die
Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften, von welcher eine Stärkung der
bestehenden und das Inslebentreten neuer Gassen zu erwarten ist, welche
den specifischen Creditverhältnisseii der kleinen Handwerker und Kaufleute
dienen ;
Gewährung von verzinslichen Darlehen an die durch das Gesetz vom
23. Februar 1897, R.-G.-Bl. Nr. 63, in ihrer Entstehung begünstigten wirt-
schaftlichen Untern^ehmungen der Gewerbegenossenschaften; und
die Förderung des landwirtschaftlichen Personalcredites durch Ueber-
lassung von Postsparcassegeldern an die Raiffeisen'schen Gassen und ähnliche
Vereinigungen.
Ob und inwieweit solchen Anregungen im Postsparcassenbetriebe mit
Rücksicht auf die Höhe der disponiblen Gelder und deren Liquiderhaltung
entgegengekommen werden kann, ist wohl in erster Linie eine interne Ver-
waltungsangelegenheit des Postsparcassenamtes und würde die Erörterung
dieser mehr betriebsdienstlichen Seite der Frage auch den Umfang der
vorliegenden Studie überschreiten. Nur auf zwei in der Regel nicht genug
beachtete Momente möge an dieser Stelle hingewiesen werden, und zwar
rücksichtlich des Reescomptes von Bankwechseln auf die Schwierigkeit, in
solcher Weise grössere Summen jederzeit zu placieren, und rücksicht-
lich der Credite für gewerbliche und landwirtschaftliche Kreise auf
die gesetzliche Bestimmung, dass auch diesen Wirtschaftszweigen
die Postsparcassengelder nur gegen kurzfristige Wechsel zur Verfügung
gestellt werden könnten.
In ersterer Hinsicht ist damit zu rechnen, dass es bei der gedrückten
Geschäftslage und der darniederliegenden Unternehmungslust gerade in
Perioden flüssigen Geldes, in welchen sich auch die Postsparcassenbestände
können. Hiezu sei ihr Organismus weniger geeignet. Es fehle ihnen der Apparat zur
Erforschung der persönlichen Verhältnisse, ohne welchen eine Creditgewährung in solchen
Kreisen unmöglich wird. Die wirtschaftliche Lage des kleinen Mannes bleibe für die Bank
fast unergründlich. Leichtigkeit der Verschuldung und deren Geheimhaltung, Verschieden-
heit des Domicils und ähnliche Umstände erschweren den directen Verkehr des einzelnen
mit der Bank und erfordern das Dazwischentreten von Mittelgliedern, welche für die
Zuwendung des Darlehens persönlich und solidarisch die Verantwortung tragen. Deshalb
wird der Aufbau der Creditorganisation des kleinen Mannes auf genossenschaftlicher Basis
angestrebt, als der dem heutigen Stande der Technik allein entsprechenden Form, das
Creditbedürfnis der grossen Masse mit den im Interesse des Capitales aus Gründen der
Sicherheit zu stellenden Forderungen in Einklang zu bringen.
Zeitschrift ftlr Volks wirtscliaft, Sooialpolitik und Verwaltung. X. Band. 4
50 Leth.
vermehren, an geeignetem Wecliselmateriiile mangelt und die lohnende Ver-
wertung grösserer zur Verfügung stehender Mittel durch Keescomptierung
von Bankwechseln wohl nicht immer möglich werden dürfte. Bezüglich der
Creditgewährung für gewerbliche und landwirtschaftliche Zwecke aber kommt
in Betracht, dass die Zuwendung von Geldern auch an Vorschusscassen
nach den Bestimmungen des Gesetzes vom 19. November 1887 nur im
Wege des Eeescomptes von längstens drei Monate laufenden Wechseln er-
folgen kann.
Ob nun aber mit solchen kurzfristigen Darlehen den Interessen der
gewerblichen und landwirtschaftlichen Productionszweige gedient ist, erscheint
zum mindesten zweifelhaft. Denn der für diese Kreise gewährte Credit
unterscheidet sich seinem Wesen nach von den Geldbeschaffungen, wie sie
durch Escomptierung von Wechseln im kaufmännischen Betriebe vorkommen.
Bei letzterem handelt es sich in der Regel um wirklichen Zahlungscredit
und wird mit denselben lediglich der Ausgleich in der zeitlichen Ver-
schiedenheit von bereits fälligen Verbindlichkeiten und erst später einge-
lienden Forderungen bezweckt. Diese Natur des Escomptes sichert das
Rückströmen der Gegenwerte nach Fälligkeit der Wechsel und die rasche
Flüssigmachung der solchermaassen veranlagten Gelder im Falle des
Bedarfes.
Anders verhält es sich aber bei der Creditgewährung in gewerblichen
und landwirtschaftlichen Kreisen. Das rein formelle Moment, dass auch
diese im Wege des Escomptes bei dreimonatlicher Laufzeit der Wechsel
durchgeführt werden müsste, kann für die Liquidität der Gelder wohl nicht
als entscheidend erachtet werden. Bei einem grossen Theile derartiger Dar-
lehen wäre es, sollen sie für die Interessenten überhaupt Wert haben, un-
vermeidlich, dass sie durch jeweilige Escomptierung neuer Wechsel immer
wieder ergänzt und in solcher Weise ständig auf ungefähr der gleichen
Höhe gehalten Averden.
Es darf eben nicht übersehen werden, dass bei den in Rede stehenden
Productionszweigen der eigentliche Zahlungscredit nur wenig ausgebildet ist
und im Verkehr der Vorschusscassen Darlehen mit diesem Charakter von
jenen für Investitionszwecke, Ameliorationen nicht strenge auseinander-
gehalten werden. Bei letzteren ist aber eine dreimonatliche Zahlungsfrist zu
gering und strömen daher die Gegenwerte trotz kurzer Laufzeit der Schuld-
documente doch nur in den seltensten Fällen sofort nach Fälligkeit wieder
in die Gassen der Genossenschaft zurück, werden vielmehr von letzterer den
Schuldnern gegen Prolongation oder Neuausstellung von Wechseln auch
weiterhin belassen. Unter solchen Umständen könnte es für die noch wenig
gekräfteten Creditorganisationen gewerblicher und landwirtschaftlicher Pro-
duction von folgenschweren Störungen begleitet sein, wenn ihnen die im
Reescompte zur Verfügung gestellten Mittel alsbald wieder entzogen würden
und müsste zur Vermeidung solcher PJventualitäten schon bei Gewährung
der Darlehen mit dem dauernden Charakter derselben gerechnet werden.
Der Clicckvcrkuhr der österreichiscliou Pdatspareayse. 51
Bios widerspricht aber dem Geiste des Gesetzes vom 19. November 1887,
welches mit dem Escomptegeschäfte eine bloss vorübergehende und möglichst
Üottunte Veranlagung des momentan entbehrlichen, doch jedei'zeit der Rück-
zahlung ausgesetzten Theiles der Einlagen beabsichtigte.
Bei dieser Sachlage kommen für eine eventuelle Escomptierung durch
das Postsparcassenamt wohl nur solche Wechsel von Vorschusscassen in
Betracht, bei welchen es sich thatsächlich um einen Zahlungscredit handelt,
und erscheint es, da die Clientel der Vorschussvereine vornehmlich andere
Credite benöthigt. fraglicli, ob sich innerhalb des Rahmens des Postspar-
cassengesetzes vom 19. November 1887 das vom wirtschaftlichen Stand-
punkte allerdings wichtige Problem der Geldbeschaffung für die geweiblichen
und landwirtschaftlichen Classen in einer deren Bedürfnissen angepassten
Weise durchführen lässt. Für Fälle kurzfälliger Zahlungscredite bietet das
citierte Gesetz die Grundlage zur PJscomptierung. Hiebei würde durch das
Dazwischentreten einer die Organisation des genossenschaftlichen Credites
bezweckenden Institution — ähnlich der deutschen Reichsgenossenschafts-
bank — die Durchführung wesentlich erleichtert werden können.
Ausser dem Escompte ist, wie erwähnt, im Postsparcassengesetze als
leicht realisierbare Anlageform die Creditge Währung gegen Verpfändung
von Wertpapieren vorgesehen. Die Pflege derselben im Betriebe des Postspar-
cassenamtes wäre vom wirtschaftlichen Standpunkte wünschenswert, haupt-
sächlich für den Kleinverkehr, In letzterem vermochte sich bisher das Lombard-
geschäft noch nicht einzubürgern. Die grösseren Posten überwiegen, zumal
für den in bescliränkten Verhältnissen Lebenden und die breiteren Schichten
des Mittelstandes im allgemeinen die Vorbedingungen für die Inanspruch-
nahme des Lombardcredites fehlen. Zum Theil hängt dies wohl damit
zusammen, dass Staatswerte und Effecten in der grossen Masse des Publicums
bisher nur geringe Aufnahme fanden. Weniger capitalskräftige Personen ent-
scliliessen sich eben nur schwer, die Ersparnisse in Wertpapieren zu inve-
stieren und ziehen eine leicht und ohne Rücksicht auf den Ooursstand
realisierbare Veranlagung, insbesondere bei Sparcassen, dem Besitze an
Effecten vor. In dieser Beziehung hat die Postsparcasse durch Angliederung
des Eftectengeschäftes an den Sparverkehr wenigstens rücksichtlich der
Staatspapiere theilweise Wandel geschaffen und auch den minder Bemittelten
die Anregung zur Erwerbung solcher Titres geboten, wodurch für die Be-
lehnung von Effecten kleiner Leute die Basis gegeben erscheint.
Das für die Lombardierung in Betracht kommende Effectenmateriale
würde sich nach Eröffnung dieses Geschäftszweiges voraussichtlich noch
vermehren, da erfahrungsgemäss in der Möglichkeit, jederzeit unter einfachen
Modalitäten einen Vorschuss zu erhalten, für die grosse Masse der Sparer
ein mächtiges Agens liegt, ihre Ersparnisse in Staatswerte umzuwandeln.
Das Beispiel der belgischen Caisse generale d'epargne zeugt hiefür, und ist
CS gewiss kein zufälliges Zusammentreffen, wenn bei diesem Institute,
welches das Lombardgeschäft in ausgedehntem Maasse pflegt, der Stand der
52 Leth.
für Kechnung der Einleger angekauften Eflfectendepots^) jenen bei den übrigen
Postsparcassen weitaus übersteigt.
Audi ein weiterer Umstand beeinträchtigte bisher die Entwicklung
des Lombardgeschäftes: die bei kleinen Beträgen unverhältnismässige Höhe
der Gebarungskosten. Infolge der letzteren wächst im allgemeinen der Zinsfuss
in umgekehrtem Verhältnisse zu der entlehnten Summe. Unter solchen
Umständen erscheint bei geringfügigem Effectenbesitze und insbesondere bei
nicht verlosbaren Titres in Fällen des Geldbedarfes der Verkauf vielfach
vortheilhafter als die Belehnung. Diesem Momente müsste jede auf die
Popularisierung des Lombardgeschäftes gerichtete Action Rechnung tragen.
Es würde sich darum handeln, bei der Verpfändung kleiner Titres die Spesen
herabzumindern und hiedurch, sowie durch Einfachheit der Belehnungs-
modalitäten die Lombardierung weiteren Kreisen zu erschliessen. In dieser
Richtung wirkt beim Postsparcassenamte der Umstand fördernd ein, dass
im Verkehr mit den „Rentenbüchelbesitzern", welche für das Lombard-
geschäft wohl besonders in Betracht kommen, die Durchführung in einfacher
Weise in den Vormerken des Amtes erfolgen könnte, was nur geringe
Kosten verursacht.
Bei der bisherigen raschen Entwicklung der Postsparcasse und ihrer
Heranziehung zu verschiedenen, der ursprünglichen Bestimmung als Spar-
institut fern gelegenen Agenden konnte es nicht fehlen, dass über die
Functionen, welche ihr im wirtschaftlichen Organismus zufallen, vielfach
divergierende Anschauungen platzgreifen. Demgegenüber scheint es nicht
ohne Belang, am Schlüsse der vorliegenden Studie darauf hinzuweisen, dass
auf dem Wege rein theoretischer Untersuchungen die schliessliche Aus-
gestaltung einer die wirtschaftlichen Verhältnisse fördernden Institution
sich wohl kaum vorausbestimmen lässt. Die Vervollkommnung einer solchen
Schöpfung muss den wechselnden, oft nicht vorhersehbaren Bedürfnissen der
Zeit zu folgen wissen.
Darum haben wir uns, dem Gewordenen Rechnung tragend, darauf
beschränkt, von dem Ausbau der Postsparcasse insofern ein Bild zu entwerfen,
als der Geist, welcher aus dem bisherigen Wirken spricht, Schlüsse auf die
Richtung gestattet, in welcher die Fortentwicklung sich in nächster Zeit
bewegen könnte und vielleicht auch sollte. Hiebei würde auch weiterhin
die vornehmste Aufgabe des Postcheckinstitutes in der creditwirtschaftlichen
Organisation des Zahlungsprocesses und in der Veraligemeinung des Ausgleichs-
verfahrens in breiteren Schichten der Volkswirtschaft zu suchen sein.
0 Umsatz im Lombard im Jahre 1897 .... 94,408.200 Frcs.
Höhe der Lombarddarlehen Ende 1897 .... 25,639.030 „
Umsatz im Staatspapiergeschäft 1897 .... 54,993.900 „
Depots im Staatspapiergeschäft 1897 .... 139,931.700 „
DIE THEORETISCHEN GRUNDLAGEN DER
DOPPELTEN BUCHHALTUNG.
VON
PROFESSOK GUSTAV SEIDLEE.
u 0 e t h e lässt seinen WilhelmMeister die doppelte Buchhaltung
als eine der schönsten Erfindungen des menschlichen Geistes preisen. Und
zwar gehört sie, wie sofort hinzugefügt werden soll, zu jenen Erfindungen,
die mit einemmale fertig vor uns stehen, ohne dass wir wissen, wie 'sie
entstanden und woher sie gekommen, und bei denen die menschliche
Intuition, ohne sich um theoretische Gründe zu kümmern, rein von prak-
tischen Bedürfnissen geleitet, das Kichtige getroffen hat. Schon' die erste
Bearbeitung, welche sich selbst die Aufgabe stellt, eine Beschreibung der
bereits in Uebung befindlichen Kunst der Kaufleute Italiens zu geben, zeigt
uns die doppelte Buchhaltung wesentlich in denjenigen Formen, die heute
noch in allgemeiner Anwendung stehen.^) So auffallend dies auf den ersten
Blick erscheinen mag, so ist es doch ganz erklärlich, wenn man erwägt,
dass die Grundtypen der doppelten Buchhaltung von Zeit und Ort unab-
hängige logische Kategorien sind. Viel merkwürdiger ist es dagegen, dass
auch die Methode der Behandlung des Gegenstandes, die bei P a c i o 1 i in der
blossen Darstellung der Buchhaltungsregeln besteht, in den Werken über
doppelte Buchhaltung, deren Zahl in allen Cultursprachen eine unübersehbare
ist, sich im grossen und ganzen nur wenig geändert und dass man erst in
unseren Tagen das Bedürfnis empfunden hat, das Kind der Praxis auch
theoretisch zu erklären. Allein, da es bisher nicht gelungen ist, eine befrie-
digende theoretische Erklärung zu finden, hat man die Theorie mehr als
Beiwerk und Aufputz behandelt und ist wacker in den überkommenen Bahnen
weiter gewandelt, praktische Buchungsregeln ohne innere Beziehung zu den
theoretischen Grundlagen zu geben. 2)
*) Es ist dies das 1494 erschienene Werk des Franziskaners Luca Pacioli aus
Burgo di San Sepulcro „Summa de arithmetica, geometria, proporzioni e proporzionalita",
welches in einem Abschnitt die doppelte Buchhaltung nach jener Methode, wie sie in
Venedig in Uebung stand, enthält.
^) Hiefür bietet das sonst sehr verdienstvtdle Werk von Reisch und Kreibig
über Bilanz und Steuer ein überaus lehrreiches Beispiel. Obgleich das Werk vornehmlich
54
Seidler.
Der eben gerügte Mangel hat weit grösseres Unheil angerichtet, als
man auf den ersten Blick vermuthen möchte. Einmal in pädagogischer
Beziehung. Ausserstande, die Avissenschaftliche Erklärung der Buchungs-
regeln zum Ausgangspunkte zu nehmen, sah sich die Lehre der doppelten
Buchhaltung auf den dornenvollen Weg der praktischen Eoutine gedrängt,
der trotz grosser Opfer an Zeit und Kräften doch niemals den sicheren
Erfolg eines theoretisch fundierten Könnens zu gewährleisten vermag.
Zweitens in der Auffassung des Gegenstandes selbst. Zum Zwecke einer
leichteren Darstellung der in ihrem Wesen unverstandenen buchhalterischen
Formen sah man sich genöthigt, zu Fictionen zu greifen, die man sich
und anderen solange vordeclamierte, bis man sie für Wirklichkeit hielt,
wodurch eine heillose Verwirrung der elementarsten Begriffe hervorgerufen
wurde. Von dieser Verwirrung hat sich auch die praktische Juristenwelt,
wenn sie beruflicli gezwungen war, dem Gegenstande näher zu treten,
nicht frei zu halten vermocht. So konnte sich, um einen besonders crassen
Fall hervorzuheben, in Berlin im Jahre 1888 das Unglaubliche ereignen,
dass ein Gerichtsliof das Actiencapital, weil es auf der Passivseite der
Vermögensbilanz zu stehen kommt, thatsächlich als ein Passivum angesehen
und eine Gesellschaft deshalb in Concurs erklärt hat, weil bei Einrechnung
des Actiencapitales unter die Passiven die letzteren in den Activen keine
Deckung mehr fanden.^)
Dieser Zustand der Lehre hat in den weitesten Kreisen die Vorstellung
hervorgerufen, dass das Verständnis der doppelten Buchhaltung nur mit
Ueberwindung grosser Schwierigkeiten erworben werden könne, deshalb vor
dem Studium abgeschreckt und so auf die Verbreitung der Lehre geradezu
hemmend gewirkt. Und doch ist die doppelte Buchhaltung, wenn man einmal
das Wesen derselben erfasst hat, eine ebenso klare und zweckmässige, wie
interessante und geistvolle, praktische Erfindung.
Die folgenden Ausführungen haben sich die Aufgabe gesetzt, die
Einrichtungen der doppelten Buchhaltung überall auf ihre letzten Gründe
zurückzuführen, um hiedurch ein sicheres Fundament zu schaffen, auf dem
die praktische Lehre in leicht fasslicher Weise aufgebaut werden kann,
und um auch denjenigen Kreisen das volle Verständnis des Gegenstandes
zu erschliessen, welche, ohne in der Buchführung praktisch thätig zu sein,
sich doch auf Grund eigener Erkenntnis ein Urtheil bilden wollen. Es handelt
für ein juristisch geschultes Lesepublicum geschrieben ist, bilden die theoretischen
Darlegungen doch nicht das Fundament der ganzen Lehre, sondern folgen der Dar-
stellung der Buchungsregeln als „nähere Erläuterungen theoretischen Inhaltes" nach, über
welche die Autoren selbst die Meinung, aussprechen, dass sie „allerdings zur flüchtigen
Erfassung und praktischen Handhabung der Buchungsregeln nicht unbedingt erforderlich
sind und von diesem Gesichtspunkte aus daher auch einfach überschlagen worden können".
Welche Verkennung des Verhältnisses zwischen Theorie und Praxis! Eine zutreffende
theoretische Grundlegung muss der Schlüssel des wahren Verständnisses sein, dessen
Benützung unter allen Umständen geboten ist, und dessen Beiseitesetzung von keinem
Gesichtspunkte aus gerechtfertigt werden kann.
') H. V. Simon, Die Bilanzen der Actiengesellscliaften etc. '2. Aufl. S. .ST.
Die theoretischen Grundlagen der doppelten Buchhaltung. 55
sich hiebei nur um die Formenlehre der Buchhaltung in engerem Sinne.
Die Lehre von der Schätzung der Güter bei Aufstellung der Bilanz bleibt
als selbständiges wissenschaftliches Problem von der folgenden Darstellung
ausgeschlossen.
Die doppelte Buchhaltung ist eine specifisch gestaltete Methode der
Buchführung, und es ist daher geboten, vorerst sich über das Wesen, die
Zwecke und die Bedeutung der Buchfülirung im allgemeinen klar zu werden.
Ihren ursprünglichsten Grund findet die Buchführung in dem primitivsten
Zwecke aller Aufschreibung, d. i. die Festhaltung von Thatsachen durch
die Schrift, um sie vor Vergessenheit zu bewahren. Diesen Zweck könnte
die Buchführung durch eine einfache chronologische Registrierung der
Gescliäftsfalle erreichen. Die eigentliche, weit höhere Aufgabe derselben ist
aber darin gelegen, die Aufschreibung der Geschäftsfälle in der Weise
methodisch und systematisch zu ordnen, dass man daraus auch bei einem
complicierten Wirtschaftsbetriebe Einsicht in die Grösse der verschiedenen
Kategorien des Vermögens, den Gang des Betriebes und die wirtschaftliche
Leistungsfähigkeit der einzelnen Betriebszweige wie des ganzen Unternehmens
zu gewinnen imstande ist. Unabhängig von den Formen irgend eines
speciellen Systems hat demnach jede Buchführung das in dem Unternehmen
verwendete Capital in der Art zur Nachweisung zu bringen, dass in Ueber-
einstimmung mit der Organisation und Gliederung des Unternehmens die
bei jedem Betriebszweige in Function stehenden Vermögensbestandtheile
ersehen und in einer mit dem Betriebe selbst gleichmässig fortschreitenden
Weise alle Geschäftsfälle (d. h. Thatsachen, welche eine Veränderung des
Vermögens bewirken) in einer solchen systematischen Ordnung verzeichnet
werden, dass das System des Wirtschaftsbetriebes gleichzeitig das System
der Buchführung bildet. Es leuchtet ein, dass die Einrichtung des Systemes
der Buchführung der wichtigste, aber auch der schwierigste Theil jeder
Buchhaltung ist, und dass diese Aufgabe nur von demjenigen gelöst werden
kann, der das System des Betriebes vollkommen beherrscht. Die Führung der
Bücher im Rahmen des einmal festgestellten Systems ist dann eine relativ
weit leichtere Aufgabe.
IL
Als oberstes Princip der doppelten Buchhaltung, von dem das ganze
System den Namen führt, erscheint der Satz, dass jeder Geschäftsfall in
doppelten Posten zu verrechnen ist. Der letzte Grund dieser Buchungsmethode
ist darin gelegen, dass jeder Geschäftsfall ökonomisch die Umänderung
einer Wertform (A) in eine andere Wertform (B) bedeutet, woraus sich von
selbst für die Buchführung die Folgerung ergibt, jeden Geschäftsfall in der
Rechnung beider Wertformen in Evidenz zu halten, oder was dasselbe ist,
in doppelten Posten zur Aufschreib img zu bringen.^) Li der Rechnung
^) Diese Erkenntnis des Grundes der doppelten Verrechnung jedes Geschäfts-
falles wurde wohl schon wiederholt ausgesprochen. So in der französischen Literatur von
Ltiautey. Giiilbault, Gomberg, welche darin das wissenschaftliche Grundgesetz der
56
Seidler.
der einen Wertform ist eine Vermehrung, in der Rechnung der andern eine
Verminderung zu verzeichnen.^)^)
Während dieser Erklärungsgrund bei der Anschaffung und Veräusserung
von Sachgütern von selbst einleuchtet, scheint er bei Betriebsausgaben und
Einnahmen an Arbeitslohn, Miete, Capitalzins etc. zu versagen. Allein
bei näherer Ueberlegung ist es ausser Frage, dass es sich auch bei diesen
um Anschaffung und Veräusserung von ökonomischen Werten nicht sachlicher
Natur, wie Arbeitskräfte, Mietrecht, Capitalsnutzung u. dgl. m. handelt.
in.
Von rein formaler Bedeutung ist es hiebei, dass die Rechnungen der
einzelnen Wertformen als Rechnungen personificierter Wesen dargestellt
werden, welche für die empfangenen Werte als Schuldner belastet (debitiert),
für die abgegebenen Werte als Gläubiger gutgeschrieben (creditiert)
werden.^) Soll und Haben als die beiden Seiten jedes Conto sind daher
nichts anderes, als specifische Formen der Quantitätsverrechnung der
bezüglichen Werte.
In Uebereinstimmung mit dieser formalen Beschaffenheit der Conti
erscheint in der doppelten Buchhaltung jeder Geschäftsfall als Empfang
eines gewissen Wertes seitens eines Conto von einem andern, beziehungs-
weise als L e i s t u n g des letzteren an den ersteren. Die in dem empfangenden
Conto repräsentierte Person wird Schuldnerin der in dem leistenden Conto
repräsentierten, beziehungsweise die letztere Gläubigerin der ersteren. Man
unterscheidet demnach bei jedem Geschäftsfall einen Conto-Debitor und
einen Conto-Creditor.*) Eine Folge der Buchung jedes Geschäftsfalles im
Comptabilität (das sogeuannte „loi digraphique") erblicken. Ferner ist es wohl derselbe
Gedanke, wenn Goldschmidt, System des Handelsrechtes, 4. Aufl., S. 108, das Princip
der doppelten Buchhaltung in der „Idee der Aequivalente" findet. Allein es wurde bisher
noch nicht der Versuch gemacht, wie es im folgenden geschieht, diesen Erklärungsgrund
bei allen Kategorien der Conten, insbesondere auch bei den Erfolgsconten aufrecht-
zuhalten. Einige Schriftsteller haben denselben ausdrücklich auf die Conten der Ver-
mögensbestandtheile eingeschränkt und für die übrigen Conten nach einem andern
Erklärungsgrund gesucht. So insbesondere auch Reisch und Kreibig a. a. 0.
^) Aus dem gekennzeichneten Wesen der Geschäftsfälle ergibt sich, dass jedes
vollständige System der Buchführung in doppelten Posten verrechnen muss. Dies ist auch
thatsächlich bei dem zweiten System der Buchführung, das neben der doppelten Buch-
haltung existiert, bei der sogenannten cameralistischen Verrechnung der Fall, nur in
anderen Formen. Es würde zu weit führen, dies hier im einzelnen nachweisen zu wollen.
Die sogenannte einfache Buchhaltung ist kein selbständiges System der Buchführung,
sondern unvollständige doppelte Buchhaltung.
2) Aus dem in der Anmerkung ^) angeführten Grunde ist der Name der doppelten
Buchhaltung eigentlich kein berechtigter, weil nicht ausschliesslich dieses System in
doppelten Posten verrechnet. Allein die doppelte Buchhaltung hatte diesen Namen schon,
ehe die cameralistische Buchführung entstanden war.
^) Für Rechnung ist in der doppelten Buchhaltung allgemein der italienische
Ausdruck „Conto" üblich und soll daher im folgenden überall gebraucht werden.
*) Dieser Zusammenhang der beiden Conti kommt formal darin zum Ausdruck,
dass bei Eintragung eines Geschäftsfalles auf der Sollseite des Conto-Debitor der cor-
Die theoretischen Grundlagen der doppelten Buchhaltung. 57
Soll und Haben je eines Conto ist die Gleichheit der Soll- und Haben-
summe des ganzen Hauptbuches.
IV.
Es ist das Wesen jedes Wirtschaftsbetriebes, durch Umgestaltung der
vorhandenen Werte einen Ertrag zu erzielen. Dieser Vorgang vollzieht sich
ganz allgemein in der Weise, dass Werte im Betriebe der Wirtschaft
consumiert und an ihrer Stelle neue Werte produciert werden ,
wobei das Plus der producierten über die consumierten Werte den Kein-
ertrag ausmacht. Naturgemäss muss dieser Vorgang in den Conten, in
welchen die Werte verrechnet werden, einen sichtbaren Ausdruck finden.
Werte, die bei ihrer Erwerbung in das Soll der betreffenden Conten ein-
gestellt wurden, verschwinden, neue Werte, die im Wirtschaftsbetriebe
produciert werden, kommen im Haben der betreffenden Conten zum Vor-
schein. Je nach dem Antheil, welchen die verschiedenen Kategorien der
Wertformen an diesem Vorgange haben, sind die folgenden Kategorien von
Conten zu unterscheiden :
1. Die Conten zur Verrechnung solcher Werte, die im Betriebe der
Wirtschaft gänzlich consumiert, beziehungsweise vollständig neu pro-
duciert werden. Zu diesen Werten gehören: a) die Kohstoffe und Mate-
rialien, welche einem Productionsprocesse mit ihrer Substanz zugesetzt werden,
beziehungsweise die im Productionsprocesse erzeugten Güter; h) persönliche
Arbeitskräfte und Nutzungen, die für den Betrieb erworben, beziehungsweise
von demselben veräussert werden. Da die consumierten und producierten
Werte die unmittelbaren Elemente des Eeinertrages sind, so ist die
Bezeichnung dieser Kategorie von Conten als Ertrags- oder Erfolgs-
conti ganz passend.^) Die einzelnen Conti zur Verrechnung der sub a) ange-
führten Werte werden nach dem Productionsprocesse als Fabricationsconto,
Ackerbauconto u. dgl. m., die Conti der sub h) angeführten Werte entweder
gleichfalls nach dem Productionsprocesse, beziehungsweise allgemeiner nach
dem Betriebszweige, zu welchem sie gehören, oder, falls sie auf besonderen
Conten verrechnet werden, nach dem Eechtsgrunde ihrer Erwerbung, bezw.
Veräusserung als Lohnconto, Mietzinsconto, Interessenconto u. dgl. m. benannt.^)
respondierende Conto-Creditor unter Vorsetzung des Wörtchens „an''', hei Eintragung auf
der Habenseite des Conto-Creditor der correspondierende Conto-Dehitor unter Vorsetzung
des Wörtchens „per" an die Spitze des zu buchenden Textes gestellt wird. Es ist dies
nichts anderes, als die summarische Ausdrucksweise dafür, dass der Conto-Debitor an
den Conto-Creditor schuldet, beziehungsweise dass der Conto-Creditor bei dem Conto-
Debitor zu fordern hat. Form und Inhalt eines Conto haben daher allgemein folgendes
Schema.
Conto :
Haben
Wertabgcänge = Forderungen des Conto
bei dem correspondierenden Conto-Debitor
^) Auch die Bezeichnung „Betriebsconti" steht vielfach in Anwendung.
2) Der Umstand, dass die im Soll der p]rfolgsconti verrechneten Werte im Betriebe
consumiert werden und demgemäss von ihren Conten verschwinden, ohne dass sie an
Soll
Wertzugänge = Schulden des Conto an
den correspondierenden Conto-Creditor
58 Seidler.
2, Die Conten zur Verrechnung solclier Werte, deren Bestände im
Wirtschaftsbetriebe weder eine Wertsteigeriing, noch eine Wertverringerung
erfahren. Sie bilden den diametralen Gegensatz zu den Erfolgsconten, und
als ihr Hauptvertreter erscheint das Conto des Bargeldes, das sogenannte
Cassaconto.
Diese Conti werden mit Rücksicht darauf, dass sie ausschliesslich
die Quantitäten (die Bestände) ihrer Wertformen zur Nachweisung bringen,
zutreftend als Besta n ds conti bezeichnet.^) Nur der Cassaconto gehört
absolut in diese Kategorie der Conten, weil nur beim Gelde Quantität
und Wertgrösse sich immer decken. Bei allen andern Werten ausser dem
Bargeld ist die Möglichkeit gegeben, dass sie im Verhältnis zum Gelde,
als dem allgemeinen Wertmesser, im Laufe der Betriebsperiode eine Wert-
steigerung oder eine Wertverringerung erfahren. Es ist daher die Zuge-
hörigkeit zu den Bestandsconten, abgesehen vom Cassaconto, eine nur
relative, die im concreten Falle festgestellt werden muss. Die Benennung
der einzelnen Bestandsconten erfolgt nach dem Namen der in ihnen verrechneten
Sachen und sonstigen Vermögensbestandtheile.
3. Die Conten zur Verrechnung solcher Werte, «leren Bestände im
Laufe der Betriebsperiode eine Wertsteigerung, beziehungsweise eine Wert-
verringerung erfahren. Sie vereinigen in sich die Function der Bestandsconten,
die Quantitätsverrechnung der betreifenden Wertformen nachzuweisen, und
die Function der Erfolgsconten, consumierte beziehungsweise producierte
Werte zur Nachweisung zu bringen. Sie führen daher mit Eecht den Namen
vereinigte Bestands- und Erfolgsconti oder auch kurz gemischte
Conti. Wie schon im vorhergehenden bemerkt wurde, ist, abgesehen vom
Cassaconto, die Zugehörigkeit eines Conto zu dieser Kategorie oder zu den
reinen-) Bestandsconten im concreten Falle festzustellen. Die wichtigsten
einen andern Conto abgegeben worden wären, beziehungsweise dass die im Haben dieser
Conti verrechneten Werte im Betriebe produciert werden und deragemäss in ihren Conten
zum Vorschein kommen, ohne dass sie von einem andern Conto übergeben worden
wären, hat den oben angegebenen Erklärungsgrund der doppelten Verrechnung der
Geschäftsfälle bei diesen Conten verdunkelt. Man erblickte in den Betriebsausgaben nicht
erworbene Werte, sondern von vorneherein Capitalsvcrminderungen, beziehungsweise in
den Betriebseinnahmen nicht veräusserte Werte, sondern von vorneherein Capitalsver-
mehrungen, und sah sich deshalb gezwungen, die mehrfach angeführte Buchungsregel,
dass die Wertzugänge im Soll, die Wertabgänge im Haben zu verrechnen seien, bei den
Erfolgsconten in ihr Gegentheil umzukehren. So insbesondere nach dem Vorgange von
Hügli auch E ei seh und Kreibig a. a. 0. Sobald man aber erkannt hat, dass die im
Soll dieser Conti verrechneten Werte im Betrieoe consumiert, die im Haben derselben
verrechneten Werte im Betriebe produciert werden, so stimmt die allgemeine Buchungs-
regel auch für diese Conti. Im Soll werden die im Betriebe zu consumierenden Wert-
zugänge, im Haben die im Betriebe produtierten Wertabgänge gebuclit.
') Die Bezeichnung „Sachenconti", die bisweilen angewendet wird, ist nicht
zutreffend, weil auch nicht sachliche Vermögensbestandtheile in dieser Kategorie von
Conten verrechnet werden.
^) Im Gegensatze zu den vereinigten Bestands- und Erfolgsconten spricht man
von reinen ncstanilsconton einerseits, von reinen Erfolgsconten anderseits.
Die theorotischcn Grundlagen der doppelten Bnehlialtnng-. 59
Conti (lieser Art sind die Warenconti. bei denen die Verschiedenheit
des Einkaufs- und Verkaufspreises, sowie die durch die Conjunctur bewirkten
Preisschwankungen Wertsteigerungen oder Wertverminderungen hervorrufen,
und die Conti zur Verrechnung solcher Gebrauchsgegenstände, welche durch
Abnützung eine Werteinbusse erleiden.
4. Eine besondere Unterabtheilung der Bestandsconti sind die Conti
zur Verrechnung von Forderungen und Schulden, bei welchen, wie gleich
bemerkt werden soll, für die Person jedes Gläubigers und Schuldners ein
besonderes, mit dem Xaraen derselben bezeichnetes Conto errichtet wird,
woher diese Art von Conten die Benennung „Personenconti" führt.
Es ist logisch nicht gerechtfertigt, die Personenconti als eine besondere
Kategorie der Conti darzustellen, da sie nichts anderes sind, als eine
Unterabtheilung der Bestandsconti, und es geschieht hier nur im Ausschluss
an die allgemeine Uebung.
Insoferne Personenconti durch Insolvenz der Schuldner eine Wertver-
minderung erleiden, gehören sie in die Kategorie der gemischten Conti,
beziehungsweise bei gänzlicher Uneinbringlichkeit der Forderungen in die
Kategorie der reinen Erfolgsconti.
Eine eigenthümliche Verquickung von Erfolgs- und Bestandsconten
beziehungsweise von Erfolgs- und Personenconten entsteht dadurch, dass
auf Erfolgsconten Dienstleistungen und Nutzungen nicht nur der laufenden,
sondern auch künftiger Betriebsperioden zugleich verrechnet werden.
Man nehme den Fall einer für mehrere Jahre im vorhinein entrichteten,
beziehungsweise erhaltenen Miete, welche auf Mietzinsconto gebucht wird.
Insoferne in dem Conto die Miete des laufenden Jahres verrechnet
wird, ist es Erfolgsconto, insoferne in demselben die Miete der folgenden
Jahre verrechnet wird, ist es Bestands-, beziehungsweise Personenconto, das
den Anspruch auf die Nutzung, beziehungsweise das die Verpflichtung zur
Gewährung der Nutzung für die folgenden Jahre nachweist.^)
Es wurde bereits an früherer Stelle bemerkt, dass die Einrichtung des
Systems der Buchführung, d. i. die Feststellung, welche Conten zum Behufe
einer entsprechenden Gruppierung der einzelnen Geschäftsfälle zu eröffnen
sind, in Uebereinstimraung mit dem System des Wirtschaftsbetriebes zu
erfolgen und sodann die Grundlage der Verrechnung zu bilden hat. So
verschieden das System des Wirtschaftsbetriebes, so verschieden ist daher
auch das System der Conten des Hauptbuches, das sogenannte Conten.
Schema. Insoferne die Buchhaltung die Quantitätsverrechnung der ver-
schiedenen Wertformen enthält, ist das Princip der Contenbildung von selbst
gegeben. Für jede besondere Gattung von Vermögensbeständen, beziehungs-
^) Das wichtigste Beispiel derartiger Conten, die man als Anticipationsconten
bezeichnet, bietet das Prämienconto bei Lebensversicherungsanstalten. Die gleiche Höhe
der Prämie während der ganzen Versicherungsdauer trotz Ungleichheit der Gefahr
bedeutet nichts anderes, als Vovansbez;ihlung eines 'J'heiles der Prämien künftig 'v .Ta^rf^.
60
Seidler.
weise für jede Person, die als Gläubiger oder Schuldner mit dem Unternehmen
in Beziehung tritt, ist ein besonderes Conto zu eröffnen, wobei es selbst-
redend keinen Unterschied macht, wenn diese besonderen Conti in Hilfsbüchern
geführt werden, deren Ergebnisse im Hauptbuche summarisch zusammen-
gefasst werden.^)
Anders verhält es sich mit der Schematisierung der Erfolgsconti. Da
diese die Elemente des Eeinertrages enthalten, so hängt es von dem Maasse
der Specialisierung derselben ab, inAvieferne die Buchhaltung die Leistungs-
fähigkeit der einzelnen Betriebszweige neben dem Gesammtertrage des Unter-
nehmens zur Nachweisung zu bringen imstande ist. Hier müssen vor
allem die generellen Erfolgsconti, welche den Gesammtbetrieb der
Wirtschaft betreffen, von den speciellen geschieden werden, die sich auf
einzelne Betriebszweige erstrecken. Die speciellen Erfolgsconti sind wieder
einerseits nach der Verschiedenheit der einzelnen Betriebsstadien innerhalb
eines Betriebszweiges, anderseits nach der Verschiedenheit der consumierten
und producierten Wertformen unterabzutheilen. Allgemeine Kegeln für die
Art und das Maass der Specialisierung lassen sich, wie von selbst einleuchtet,
nicht aufstellen. Es ist Sache der Erfahrung, im individuellen Falle die
richtige Mitte zu finden, welche ebenso weit entfernt ist von der Nivellierung
belangreicher Verschiedenheiten durch zuweit gehende Generalisierung, wie
von der Auflösung jeder übersichtlichen Gruppierung durch zuweit gehende
Specialisierung.
Ein selbständiges Princip für die Gliederung der Kechnungsbücher ist
in der Organisation der Wirtschaftsleitung gegeben. Die Theilung der Ver-
waltung der einzelnen Betriebszweige unter mehrere selbständige, verantwortliche
Organe bringt naturgemäss auch eine entsprechende Gliederung der Rechnungs-
bücher mit sich, deren Resultate von der Centralbuchhaltung zusammen-
gefasst werden müssen.
I
VI.
Im Soll und Haben jedes Conto befinden sich gleichartige, einander
entgegengesetzte Grössen, und zwar, wie dargethan wurde, Wertzugänge und
Wertabgänge einerseits, positive und negative Elemente des Reineitrages
anderseits. Die Difterenz der Soll- und Habensummen der Conten zeigt
daher einerseits Quantitäten der verschiedenen Wertformen, anderseits
positive, beziehungsweise negative Elemente des Reinertrages der verschiedenen
Betriebszweige und ihrer ünterabtheilungen. Die Ermittlung dieser Differenzen
wird naturgemäss nach Ablauf jeder Betriebsperiode erfolgen müssen, wenn
es sich darum handelt, die Ergebnisse des Betriebes in der Verrechnung
aufzuweisen. Hiebei geschieht die Darstellung der Differenzen in den ein-
zelnen ContenTganz allgemein in der Form, dass diese Differenzen unter
der Benennung „Saldo" als letzter Posten auf die Seite der kleineren
1) Solche Hilfsbücher werden regelmässig für die Conti der verschiedenen Gattungen
von Waren, sowie für die Conti der einzelnen Geschäftsfreunde geführt.
Die theoretischen Grundlagen der doppelten Buchhaltung. Ql
Summe eingestellt werden, wodurch die Gleichheit der Summen beider
Seiten herbeigeführt wird.^)
Offenbar bilden diese Saldoposten die Elemente zur Aufstellung von
Uebersichten des Gesaramtvermögens und des Gesammtertrages des Unter-
nehmens nach Ablauf der Betriebsperiode, in gleicher Weise, wie die
anfänglichen Wertbestände der Bestands- und Personenconten die Elemente
des anfänglichen Gesaramtvermögens ausmachen. Es bedeutet nämlich der
Saldo eines Bestandsconto den schliesslichen Bestand der betreffenden
Vermögenskategorie, der Saldo eines Personenconto die schliessliche Forderung,
beziehungsweise Schuld gegenüber der betreffenden Person, der Saldo eines
Erfolgsconto ' den Ertrag oder die Einbusse des betreffenden Betriebs-
zweiges.^)
Es erübrigt nunmehr, die Art und Weise, in welcher die zusammen-
fassenden Uebersichten des Gesaramtvermögens und des Keinertrages aus
den Saldoposten der Particularconten aufgestellt werden, ins Auge zu fassen.
VII.
Es ist eine rein formale Eigenthüralichkeit der doppelten Buch-
haltung, die Uebersichten des Gesaramtvermögens und des Gesammtertrages
des Unternehraens innerhalb des Hauptbuches in Gestalt von in Soll und
Haben getheilten Conten zu gewähren^,) Man kann diese Conten, weil sie
zur Darstellung des Totalvermögens und des Totalerfolges des Betriebes
bestimmt sind, mit S ch rott*) passend als Totalität s conten bezeichnen.
Es sind dies: 1. das Capitalconto zur Darstellung des anfänglichen Ver-
mögens, 2. das Bilanzconto zur Darstellung des Vermögens nach Ablauf
der Betriebsperiode und 3. das Verlust- und Gewinnconto zur Darstellung
des Keinertrages.
Es muss aber noch einmal mit allem Nachdrucke betont werden, dass
diese Conten, im Gegensatze zu den im vorhergehenden behandelten
Kategorien von Conten (den sogenannten Particularconten), nicht zur
Verrechnung von Geschäftsfällen bestimmt, sondern nur zusamraenfassende
Uebersichten der Ergebnisse jener sind. Ihre Soll- und Habeneintragungen
sind daher auch nicht Wertzugänge und Wertabgänge, sondern nur die
Elemente zusammenfassender Uebersichten.
*) Man nehme das Beispiel eines Cassaconto.
Cassacouto
Soll
Anfänglicher Cassarest 400
An diverse Creditoren 800
1200
Haben
Per diverse Debitoren 700
Saldo 500
1200
-) Nach dem oben sab IV, al. 3. Auseinandergesetzten ist es einleuchtend, dass
die vereinigten Bestands- und Erfolgsconti einen Bestands- und einen p]rfolgssaIdo
aufweisen.
^) Man könnte diese Uebersichten auch ausserhalb des Hauptbuches in selbständigen
Rechnungen aufstellen, wie dies in der cameralistischen Buchhaltung geschieht.
^) Lehrbuch der Verrechnungswissenschaft.
ß2 Seidler.
Alle Uiiklarkeit über die Bedeutung dieser Conteii rührt daher, dass
man diesen ihren Charakter übersehen und auch sie als personificierte Träger
bestimmter Werte zu erklären für nothwendig gefunden hat. Die formale
Einrichtung dieser Uebersichten als Conti bringt es mit sich, dass die in
ihnen zu vereinigenden Grössen überhaupt als Soll- und Habenposten
erscheinen. Ohne Zweifel wäre es viel klarer, dieselben als das zu bezeichnen,
was sie ihrer Natur nach sind, als Activa und Passiva, beziehungsweise
als positive und negative Elemente des Keinertrages, wie es in der Praxis
der Actiengesellschaften der Deutlichkeit halber auch bisweilen geschieht.
Bei der Verrechnung der einzelnen Geschäftsfälle ergibt sich, wie im
vorhergehenden an gehöriger Stelle bemerkt wurde. ^) infolge der der doppelten
Buchhaltung eigenthümlichen Buchungsweise, dass jeder Geschäftsfall im
Soll und Haben zweier correspondierenden Conten eingetragen wird, dass die
Soll- und Habenseite des ganzen Hauptbuches, einander gleich sein müssen.
Offenbar wurde die formale Einrichtung der in Rede stehenden Uebersichten
als Conten ganz instinctiv aus dem Grunde gewählt, um jene Ueberein-
stimmung der Soll- und Habensummen des Hauptbuches, in welcher man
von jeher eine wertvolle Controle der ziftermässigen Richtigkeit der doppelten
Buchhaltung erblickt, nicht zu stören. Denn indem die Saldoposten der
Particularconten auf die entgegengesetzte Seite der Totalitätsconten über-
tragen werden, bleiben die Soll- und Habensummen des Hauptbuches ein-
ander gleich.
VIII.
Das C apit alconto, welches die Uebersicht des anfänglichen Vermögens
zu bieten hat, enthält vermöge seiner formalen Natur als Conto im Soll
alle Passiven, im Haben alle Activen zu Anfang der Betriebsperiode. Es ist
eine allgemein beliebte Fiction, dass man dem Capitalconto die Repräsen-
tation des Unternehmers zuschreibt, welcher für die den Particularconten
übergebenen Activen creditiert, für die von denselben übernommenen Passiven
debitiert wird. Man muss sich jedoch davor hüten, aus dieser Fiction irgend
welche Consequenzen zu ziehen, und insbesondere kann davor nicht genug
gewarnt werden, daraus ein Schuldverhältnis zwischen dem Unternehmer und
seinem Unternehmen zu construieren.^)
In Wahrheit ist das Capitalconto, wie wiederholt betont wird, nichts
anderes, als eine zusammenfassende Uebersicht der anfänglichen Activen und
Passiven. Die Stellung der Passiven im Soll, der Activen im Haben des
Capitalconto beruht ausschliesslich auf dem formalen Grunde, dass diese
Grössen sich in den Particularconten (Bestands- und Personenconten) auf der
entgegengesetzten Seite befinden, und dass mit Rücksicht auf die zu
wahrende Uebereinstimmung der Soll- und Habensummen des ganzen
Hauptbuches die in den Totalitätsconten zusammenzufassenden Grössen in
^
*) Siehe oben III. Schlussatz.
') Auf diese Weise gelangt man dann schliesslich dazu, wie Lorenz von Stein
die Möglichkeit eines Betruges des Unternehmens durch den Eigenthümcr auzuuehmcu.
Die theoretischen Grundlagen der doppelten Buchhaltung. 63
diesen auf der entgegengesetzten Seite stehen müssen wie in den Particular-
conten. ^)
IX.
Ganz analog ist das Bilanzconto eine zusammenfassende Uebersicht
der Activen und Passiven nach Al)lauf der Hetriebsperiode, als deren
liesultierende sich das schliessliche reine Capital ergibt.-) Es ist wieder nur
von rein formaler Bedeutung, dass hier die Activen auf der Soll-, die
Passiven auf der Habenseite sich befinden.^)
X.
Das Verlust- und Gewinnconto endlich ist die zusammenfassende
Uebersicht der consumierten und producierten Werte, als deren Kesultierende
der Keinertrag des Unternehmens sich ergibt. Die Uebertraguiig der ein-
zelnen Positionen von den Erfolgs- und den vereinigten Bestands- und
Erfolgsconten geschieht nach den gleichen formalen Grundsätzen wie bei
Bilanzconto.
Demgemäss vereinigen sich im Soll des Verlust- und Gewinnconto die
negativen, im Haben die positiven Elemente des Keinertrages.
XL
Wenn man die drei Totalitätsconten : Capitalconto, Bilanzconto und
Verlust- und Gewinnconto in ihrem Verhältnisse zu einander betrachtet, so
ergibt sicii, dass man aus den Saldoposten zweier dieser Conten den Saldo
des dritten Conto berechnen kann. Es bedeutet nämlich, wie sich im vorher-
gehenden gezeigt hat, der Saldo des Capitalsconto das anfängliche, der Saldo
des Bilanzconto das schliessliche reine Capital, der Saldo des Verlust- und
^) Es kann die Darstellung des anfänglichen Vermögens auch in der Weise
erfolgen — und dies ist in der Praxis der regelmässige Vorgang — dass auf dem
Capitalconto nicht das ganze Bruttovermögen, sondern nur das reine Vermögen
nachgewiesen wird. Man kann sich hiebei zur Darstellung des anfänglichen Bruttover-
mögens des Eingangsbilanzconto bedienen, in, derselben Form und mit demselben Inhalt,
wie dies im vorhergehenden hinsichtlich des Capitalconto dargethan wurde. Der Saldo
des Eingaugsbilanzconto, welcher das anfängliche reine Vermögen darstellt, wird sohiii
auf die entgegengesetzte Seite des Capitalconto übertragen. Erscheint dieser Saldo auf
der Habenseite des Capitalconto, so bedeutet er das anfängliche reine Activvermögen,
auf der Sollseite das anfängliche reine Passivvermögen. Die Uebereinstimnmng der
Soll- und Habensummeu des ganzen Hauptbuches wird auch bei dieser Buchungsweise
gewahrt, und sie bietet den Vortheil, das anfängliche reine Vermögen in einer Ziffer auf
Capitalconto aufzuweisen.
2) Auch hier wird eine Fiction beliebt, und zwar das Bilanzconto repräsentiere den
Liquidator des schli es suchen Vermögens, der für die empfangenen schliesslichen Activen
belastet, für die Passiven gutgeschrieben wird. Auch diese Fiction ist irreführend und
daher zu vermeiden.
^) Weil die Saldoposten, welche die schliesslichen Activen bedeuten, in den
Particularconten (Bestands- und Personenconten) auf der Habenseite sich befinden, deshalb
werden sie auf die Sollseite des Bilanzconto übertragen, und umgekehrt erscheinen die
Passiven auf der Habenseite des Bilanzconto, weil die ihnen correspondicrenden Sakli)-
posten der Personenconten sich auf der Sollseite dieser Conten befinden.
64
Seidler.
Gewinnconto den Eeinertrag des Unternehmens. Diese drei Grössen stehen
in dem Verhältnisse der Gleichung: Anfängliches Capital + Reinertrag =
Schliessliches Capital.
Die doppelte Buchhaltung bringt dieses Verhältnis in der Weise zum
formalen Ausdruck, dass sie die Saldoposten des Bilanzconto und des
Verlust- und Gewinnconto auf die entgegengesetzte Seite des Capitalconto
überträgt.
Das Capitalconto hat sohin im Soll das schliessliche reine Capital,
im Haben das anfängliche reine Capital und den Eeinertrag, woraus sich
die Identität der Summen beider Seiten, die Selbstsaldierung des Capitalconto
ergibt. Es leuchtet von selbst ein, dass das Verhältnis der Gleichung, in
welchem die angeführten drei Grössen zu einander stehen, statt im Capital-
conto, auch im Bilanzconto oder im Verlust- und Gewinnconto zum Ausdruck
gebracht werden kann, indem die Saldoposten der beiden andern auf einen
dieser Conten übertragen werden.
Bei Actiengesellschaften ist es nun allgemeine Uebung, in manchen
Staaten ausdrückliche Vorschrift des Handelsgesetzes, die Uebertragung der
Saldoposten des Capitalconto und des Verlust- und Gewinnconto auf das
Bilanzconto vorzunehmen. Das Bilanzconto, das, wie sich im vorhergehenden
ergeben hat, die von den Bestands- und Personenconten übertragenen Activen
und Passiven, und zwar die ersteren im Soll, die letzteren im Haben vereinigt,
erhält sohin zu diesen Grössen im Haben das anfängliche Capital und den
Eeinertrag, beziehungsweise im Haben das anfängliche Capital, im Soll den
Eeinverlust. ^) Die beiden Seiten des Bilanzconto müssen dann in Gemässheit
der oben aufgestellten Gleichung identische Summen haben, sich von selbst
saldieren. Denn anfängliches Capital -|- Reinertrag, beziehungsweise anfängliches
Capital — Reinverlust ^ Schliessliches Capital.^) Actiencapital, Reservefonde
und Reinertrag auf der Habenseite, beziehungsweise Actiencapital, Reserve-
fonde auf der Habenseite, Reinverlust auf der Sollseite sind daher nicht
Passiva, beziehungsweise Activa des Unternehmens, sondern die Compo-
nenten des schliesslich en reinen Vermögens.
Statt diese Grösse in einer Ziffer als Saldoposten des Bilanzconto
nachzuweisen, wird dieselbe durch die mit ihr identischen Grössen (anfäng-
liches Capital + Reinertrag), (beziehungsweise anfängliches Capital — Rein-
verlust) ersetzt. So wenig der aus den Activen und Passiven gebildete
Saldoposten, welcher das schliessliche reine Vermögen bedeutet, zu den
Passiven, beziehungsweise Activen des Unternehmens gehört, so wenig ist
dies mit den an die Stelle dieses Saldopostens tretenden Componenten
(anfängliches Capital, Reinertrag, beziehungsweise Reinverlust) der Fall.
^) Nach allgemeiner Uebung, beziehungsweise in manchen Staaten nach gesetzlicher
Vorschrift bilden das anfängliche Capital (hier Actiencapital) den ersten Posten, der
Reinertrag den letzten Posten auf der Habenseite, ein eventueller Reinverlust den letzten
Posten auf der Sollseite des Bilanzconto.
2j Besitzt eine Actiengesellschaft einen oder mehrere Reservefonde, d. h. Capital
neben und ausser dem Actiencapital, so besteht naturgemäss das anfängliche Capital aus
dem Actiencapital und den Reservefonden.
Die theoretischen Grundlagen der doppelten Buchhaltung. 65
XII.
Ausser den normalen Geschäftsfällen, welche, wie eingangs dieser
Erörterungen dargethan wurde, die Umänderung einer Wertform in eine
andere bedeuten und aus diesem Grunde in doppelten Posten verrechnet
werden, können bei einem Unternehmen Ereignisse eintreten, welche ein-
seitig Wertzugänge oder Wertabgänge hervorrufen. Es sind dies entweder
Capitalveränderungen, welche von dem Unternehmer bewusst vorgenommen
werden, oder zufällige Ereignisse, wie etwa ein Diebstahl, welche einseitig
einen Wertabgang bewirken (Wertzugänge wider den Willen des Unter-
nehmers sind nur schwer denkbar.) Logischerweise können derartige einseitige
Vermögensänderungen auch nur auf dem einen Conto gebucht werden, welches
den Wertzugang oder Wertabgang erfahren hat. Allein anderseits erfordern
diese Vermögensänderungen auch eine Correctur auf dem Capitalconto als
dem Uebersichtsconto des anfänglichen Vermögens. Wurde Bargeld gestohlen,
so muss der Wertabgang nicht nur auf Cassaconto, sondern auch auf
Capitalconto in Rechnung gestellt werden, weil dieser sonst ein um den
gestohlenen Betrag zu grosses Activvermögen enthielte. So ergibt sich
auch hinsichtlich derartiger einseitiger Vermögensänderungen eine Verrechnung
in doppelten Posten, auf dem Particularconto derjenigen Wertform, welche
die Veränderung erfahren hat, und auf Capitalconto, als Uebersichtsconto
des gesammten Vermögens. Nur ist der Grund, aus dem die Verrechnung
hier in doppelten Posten erfolgt, durchaus verschieden von dem Grunde
dieses Vorganges bei der Verrechnung normaler Gescliäftsfälle. Es ist ganz
unwesentlich, wenn man derartige Geschäftsfälle nicht unmittelbar auf Capital-
conto, sondern vorerst auf einem Subconto desselben, etwa einem Conto der
ausserordentlichen Vermögensänderungen verbucht.
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. X. Band.
n
DIE BUDGETS DER
BEWAFFNETEN MACHT ÖSTERREICH-UNGARNS
FÜR DAS JAHR 1900.
EINE BUDGETTECHNISCH-STATISTISCHE STUDIE
VON
DR. JOSEPH ULLMANN.
Juines der hervorragendsten Momente in der Entwicklung des Staatslebens
in den letzten Decennien bildet die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, die
Aufstellung der grossen Volksheere.
Sowie die militärische Dienstpflicht immer grössere Ansprüche an die
wehrfähige Bevölkerung macht, ebenso steigt in den europäischen Militärstaaten
die finanzielle Last der grossen Heeresbudgets ; die ganze Finanzpolitik wird
wesentlich durch das Bedürfnis beeinflusst, den immerwährend steigenden Ausgaben
die ausreichende Deckung zu verschaffen, — das Militärbudget ist einer der wichtigsten
und interessantesten Theile des ganzen Staatshaushaltes geworden. Die grosse
öffentliche Meinung interessiert sich aber gewöhnlich nur um die absoluten
Gesammtziffern und um den Vergleich mit früheren Jahren, welcher das gewaltige
Anschwellen der Militärausgaben aufzeigt. Das System, die Gliederung des Militär-
budgets wird in der Regel weniger beachtet, und doch verlohnt es sich auch,
die technische Structur der Militärbudgets einmal zu untersuchen, um die einzelnen
Bedürfnisse und ihr Verhältnis zu einander kennen zu lernen. Die einzelnen
Aufwandsgruppeu haben ja auch ihre volkswirtschaftliche Bedeutung, denn die
Kriegsverwaltung ist einer der grössten Consumenten der ganzen wirtschaftlichen
Ordnung, und die Art und Höhe dos gemachten Aufwandes erregt begreiflicher-
weise das lebhafte Interesse zahlreicher Producentenkreise.
Die Elemente für eine solche Untersuchung sind in dem Budget selbst
enthalten, dessen Publicität einen integrierenden Bestandtheil der Constitution eilen
Einrichtungen und zugleich eine Bürgschaft für eine geordnete Verwaltung bildet.
Es ist aber auch kein anderes Document geeigneter, über die Standes-, über die
persönlichen und sachlichen Erfordernisse des Militärorganismus Auskunft zu
ertheilen, als das Budget, denn obschon es in seiner Hauptfunction einen bloss
provisorischen Charakter besitzt, so bietet es doch infolge seiner nothwendig
Die Budgets der bewaffneten Macht Oesterreich-Ungarns für das Jahr 1900. 67
reichen Gliederung und seiner Details für die Kenntnis der Verwaltung ein
vollständigeres Bild, als die wesentlich den finanziellen Erfolg darstellende Schluss-
rechnung.
Die hauptsächlichste Forderung, welche an ein gutes Budget gerichtet
werden muss, besteht in seiner Klarheit und Ueb ersichtlichkeit. Diese Eigenschaften
hängen nun in erster Linie von dem formellen Aufbaue ab, hiebei aber handelt
es sich um die Beachtung zweier Momente, nämlich des subjectiven der
Darstellung der Erfordernisbeträge nach einzelnen Heeresthcilen, und des objec-
t i V e n der Darstellung nach Bedavfskategorien.
Das richtige Verhältnis zwischen diesen beiden Momenten ist die wichtigste
Voraussetzung für den übersichtlichen Aufbau eines Voranschlages, denn es ist
klar, dass ein solcher umsomehr an Ueb ersichtlichkeit verliert, je mehr er in Theil-
voranschläge zersplittert wird, oder anderseits, je weniger zu erkennen ist, für
wen die einzelnen Erforderniskategorien angesprochen werden. Die in der
einen oder anderen Eichtung mangelhafte Sichtung und Eintheilung der grossen
Materie der Erfordernisse birgt aber auch stets die Gefahr der Vornahme
unstatthafter Virements in sich, denen somit schon bei Errichtung eines Voran-
schlages die Spitze geboten werden kann.
Betrachtet man nun vom Standpunkte des formellen Aufbaues die Voran-
schläge der bewaffneten Macht Oesterreich-Ungarns, nämlich jenen des gemeinsamen
Heeres und der gemeinsamen Kriegsmarine, dann jene der beiderseitigen Land-
wehren, so zeigt sich schon in Hinsicht auf die Berücksichtigung dieser beiden
Momente eine Verschiedenheit in der Anlage derselben. Während die Budgets der
Kriegsmarine und der ungarischen Landwehr, besonders aber das erstere, die
einzelnen Gattungen der materiellen Erfordernisse als Einheiten behandeln und
innerhalb dieses Eahmens neben der materiellen Gruppierung auch die Beträge
darstellen, welche die einzelnen Theile von dem in Einzelnerfordernisse zerlegten
Gesammterfordernisse in Anspruch nehmen, stellt das Heeresbudget das subjective
Moment in den Vordergrund und beschränkt die Darstellung nach Bedarfskategorien
auf nur wenige Titel (Sammeltitel).
Die Gegenüberstellung der Haupttitel der Budgets des gemeinsamen Heeres,
der Kriegsmarine und der beiden Landwehren zeigt diese Verschiedenheit des
Budgetaufbaues. (Siehe Tabelle S. 68.)
Die 27 Titel des Heeres-Ordinariums sind insoferne in Budgetposten unter-
theilt, als das Budget zu jedem dieser Titel eine oder mehrere Detailnachweisungen
enthält, welche mit Postnummern versehen sind und für je einen bestimmten
Ileerestheil ausser den bei den betreffenden Titeln präliminierten persönlichen und
sachlichen Auslagen, also ausser dem Haupterfordernisse, auch die in eigenen
Sammeltiteln präliminierten Erfordernisse an Naturalien Verpflegung (Titel XXII),
Mannschaftskost (Titel XXIII), Monturen, Rüstung und Betten (Titel XXIV),
Unterkunftsauslagen (Titel XXV), Remontierungsauslagen (Titel XXVI) und Unter-
officiers-Dienstprämien (Titel XXVII) dargestellt ist. Die auf diese Weise darge-
stellte Erfordernisziffer umfasst jedoch durchaus nicht immer das Gesammterforderiiis
für den betreffenden Heerestheil, da namentlich in Bezug auf die persönlichen
Gebüren an Gage, Löhnung und dergleichen die Inconsequenz herrscht, dass
68
Ulimann.
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Die Budgets der bewaffneten Macht Oosterreich-Ungarns für das Jahr 1900. 69
dieselben für gewisse Standesgruppen (wie z. B. für die höheren Commanden
und Stäbe, für Officiere in Localanstellungen u. s. w.) bei anderen Titeln ange-
fordert werden. So werden die Gebüren der beim Kriegsministerium zum Concepts-
dienste zugetheilten Officiere des Generalstabes, des Geniestabes, des Arraeestandes,
dann der zugetheilten Auditore, Militärärzte u. s. w. nicht beim Titel I, Central-
leitung, sondern bei den Titeln II, V, VI, XVIII u. s. w. präliminiert, so dass
beim Titel I (Post 1, Kriegsministerium) nicht das gesaramte Aufwandserfordernis
des Kriegsministeriums ersichtlich ist. Aber auch dio Sammeltitel zeigen nicht die
wirkliche Summe der in den einzelnen Detailnachweisungen dargestellten bezüglichen
Erfordernisgattungen, sondern den thatsächlich angesprochenen Gesammtbedarf
des ganzen Verwaltungszweiges, wie er sich nach Berücksichtigung verschiedener
Zuschlags- und Abzugsposten gestaltet, die in den Detailnachweisungen überhaupt
nicht enthalten sind. Derartige Zuschlagsposten sind:
Das Erfordernis an Bettensorten und Bettenstroh für in Naturalquartieren
untergebrachte Personen (Titel XXII und XXIV), das Mehrerfordernis an Service
für die Marodenhäuser (Titel XXII), das Erfordernis an Frühstück und Nachtmahl
der Mannschaft (Titel XXII und XXIII) und für Brot- und Futterzubussen (Titel
XXII), dann das Erfordernis für die contractlichen Vergütungen für Unterkünfte,
Uebungsplätze, Eeit- und Schwimmschulen, für Vergütung für die auf Grund der
Einquartierungsgesetze beigestellten Unterkunftsobjecte sammt Nebenerfordernissen
und für bleibende Einquartierung (Titel XXV). Derartige Abzugsposten sind :
Die Gebürsrücklässe der Kranken (Titel XXII und XXIII), das Erfordernis
an Kasernservice und Bettenabnützung für die in gemieteten oder auf Grund der
Einquartierungsgesetze beigestellten Kasernen, dann für bleibende Einzelbequar-
tierungen (Titel XXII, XXIII und XXIV), die Ersparung durch Naturalien-Reluie-
rungen und Surrogierungen (Titel XXII), die Ersparung an Brot, Menage und
Montur infolge der Verabfolgung von 7400 Officiersdiener-Aequivalenten statt
der Zuweisung ebensovieler Diener (Titel XXII, XXIII und XXIV), das Menagegeld
der zur Spitalsdienstleistung in den Truppenspitälern commandierten, im Genüsse
der Spitalskost stehenden Mannschaft (Titel XXIII), der Wert der in Benützung
stehenden Naturalunterkünfte (Titel XXV), die Ersparung infolge vertragsmässiger
Preisnachlässe bei verschiedenen Materiallieferungen (Titel XXIV), die Inter-
kalarien u. s. w.
Alle übrigen Titel, beziehungsweise Posten des Ordinariums vereinigen in
sich die verschiedenartigsten Erfordernisse, und zwar häufig genug in der Art,
dass die Mittel zur Deckung verschiedener Erfordernisse in einem einzigen Betrage
angesprochen werden. So z. B. betrifft der im Ord. Titel VII, Post 49, ange-
sprochene Erfordernisbetrag per 3,700.000 K für Waffenübungs- und Concen-
trierungsauslagen Erfordernisse an Marsch-, Eeise-, Vorspanns-, Transports-,
ünterkunftsauslagen, an verschiedenen Zulagen, Munitionszuschuss u. s. w. Der
bei Post 39 desselben Titels präliminierte Betrag von 36.000 K für verschiedene
Erfordernisse der Artillerieschiesschule betrifft Uebungszulagen, Reise- und Marsch-
auslagen, dann Vergütung für vorübergehende Einquartierung.
Die Darstellung der im Voranschlage für das Ordinarium präliminierten B e-
d e c k u n g erfolgt derart, dass ein Theil der Einnahmen, nämlich die sogenannten
70
Uli mann.
„eigenen Einnahmen" und die Erträgnisse der in der Verwaltung des gemeinsamen
Finanzministeriums stehenden Fonds der Heeresverwaltung, auf Grund einer
besonderen Detailnachweisung selbständig präliminiert und die Summe derselben
von der Gesammtsumme der ordentlichen Heereserfordernisse abgezogen, ein
anderer Theil aber, wie z. B. die Kostgelder der Zöglinge der Bildungsanstalten,
bei den betreffenden Erfordernistiteln nachgewiesen und dortselbst gleich vorweg
in Abzug gebracht wird. Durch eine derartige Vorwegnahme von Einnahmen
wird die der Votierung zu unterziehende Ausgabeziffer geringer, als das thatsächliche
Erfordernis des betreffenden Verwaltungszweiges, zugleich wird durch die Ein-
führung solcher Nettobudgetelemente der sonst vorwaltende Charakter des Budgets
als eines Bruttobudgets durchbrochen.
Durch eine Betrachtung der Heeresvoranschläge von 1861 ab soll nun
die Entwicklung der Formen des Heeresbudgets bis zur Gegenwart in grossen
Zügen dargethan werden. Die Budgets der Heeresverwaltung waren in den
Jahren 1861 bis 1868 ihrem Wesen nach sogenannte Pauschalbudgets, welche
bloss mit der Hauptsumme ihres ordentlichen Erfordernisses votiert, und bei
welchen eventuelle Kürzangen der Erfordernisansprüche nur durch General-
abstriche von der Gesammtsumme bewirkt wurden, üeberdies blieb dem Kriegs-
rainister das Virement zwischen den einzelnen Erfordernissen überlassen.
Interessant wegen der in denselben sich widerspiegelnden äusseren politischen
Verhältnisse war der Voranschlag des „k. k. Armeeobercommandos" für das Jahr
1861, ein Theil des auf Grund der kaiserlichen Verordnung vom 5. März 1860
dem verstärkten Eeichsrathe „zur Prüfung überwiesenen" „Staats Voranschlages
des Kaiserstaates Oesterreich" für das Jahr 1861. Das Ordinarium desselben
bestand der Hauptsache nach aus fünf Erfordernisgruppen, und zwar: 1. Central-
leitung und Armeeauslagen mit den Erfordernissen der Armeebehörden, Armee-
anstalten und Truppen, 2. Pensionen, Provisionen und Gnadengaben zumeist für
Militärwitwen und -Waisen (die Pensionen der Heeresangehörigen waren in dem
Erfordernisse an allgemeinen Armeeauslagen enthalten), 3. Beitrag zur Erhaltung
und Approvisionierung der deutschen Bundesfestungen, 4. p]rfordernis für die
Instandhaltung einiger Dikasterialgebäude (die Erfordernisse für die Gruppen
2 bis 4 waren aus den Cameralcassen zu bestreiten), 5. Erfordernis für Freiwillige
und Stellvertreter.
Der Summe dieser Erfordernisse war die Bedeckung durch die Steuern in
der Militärgrenze und durch andere Militäreinnahmen, dann durch Zuschüsse aus
den Finanzen gegenübergestellt, hierauf folgte ein die Erfordernisse der unter
1 bezeichneten Organe und Truppen betreffendes Extraordinarium. Von der
Gesammtsumme wurde ein „behufs Abrundung des Gesammterfordernisses auf
100 Millionen Gulden mit dem Armeeobercomniando vereinbarter Abstrich" in
Abschlag gebracht.
Ausser diesem Erfordernisse wurde ein „eventuelles ausserordentliches Er-
fordernis" (welches jedoch in den Hauptvoranschlag nicht eingestellt wurde) ange-
sprochen, das jene Mehrauslagen betraf, welche sich „durch die aus Anlass der
damaligen politischen Verhältnisse bestehenden höheren Truppenstände in Italien
I
Die Budgets der bewaffneten Macht Oesterreich- Ungarns für das Jahr 1900. 71
und Ungarn, durch die infolge dessen gesteigerten Erfordernisse einiger Armee-
anstalten und durch die von der Friedensdislocation abweichende Verlegung der
Truppen" ergaben. Dieses .,eventuelle ausserordentliche Erfordernis" betrug „bei-
läufig" 12 Millionen Gulden, wozu „eventuell noch das Erfordernis für die
herzoglich modenesischen Truppen 1,019.092 Gulden zu rechnen" war. An das
Budget schloss sich eine Darstellung des Personalstandes.
Der Voranschlag des mittlerweile neu creierten „Ministeriums des Krieges"
für das Jahr 1862 gründete sich auf das erste, in Gemässheit des Grundgesetzes
vom 26. Februar 1861 den beiden Häusern des Keichsrathes vorgelegte Finanz-
gosetz. Dieser und die Voranschläge für die Jahre 1863 und 1864 waren in
der Form jenem pro 1861 wesentlich gleich, doch wurde schon pro 1862 eine
sachliche Zergliederung der gesammten Erfordernisse des Ordinariums und des
Extraordinariums, sowie eine Darstellung der Einkünfte des Heeres eingeführt,
welch erstere von 1863 an durch Detaildarstellungen der kopfweisen Gebüren
der einzelnen Commanden, Truppen und Anstalten erläutert wurde. Das Erfor-
dernis für die modenesischen Truppen war weggefallen, da Modena noch im
Jahre 1860 Italien einverleibt worden war.
Das Budget pro 1865 brachte zuerst eine titelweise Zergliederung der
Erfordernisse für die Landarmee; die einzelnen Titel lauteten:
1. Administration, 2. Truppen, 3. Naturalien, 4. Montur, Verpflegung und
Bettenwesen, 5. Remontierung, Fuhrwesen und Militär-Hengstendepöts, 6. Gestüt^
wesen, 7. Zeugsartillerie und Pulverwesen, 8. Militär-Bauwesen, 9. Sanitätswesen,
10. Militär-Bildungsanstalten, 11. Militär- Witwen- und Waisen- Versorgung, 13.
Beitrag zu den Bundesfestungen. Hierauf folgte das Erfordernis der Militärgrenze,
dann die Bedeckung.
Einen bereits sehr umfangreichen Theil des Budgets nahmen nun schon,
infolge der stetigen Organisierungen des Heeres, die bereits erwähnten Detail-
nachweisungen ein, deren Einzelerfordernisse zunächst in einem „titelweisen",
sodann in einem „rubrikenweisen" Summar zusammengefasst wurden.
Das rubrikenweise Summar bedeutet eine klare, bis ins Detail gehende
und nach gleichen Erfordernisgegenständen derart gegliederte Uebersicht aller
Erfordernisse der einzelnen Commanden, Truppen und Anstalten, dass hiedurch
ermöglicht war, ohne Schwierigkeit festzustellen, welcher Betrag für ein bestimmtes
Erfordernis, z. B. für Gagen, sowohl bei jeder einzelnen Post, als auch bei
jedem Titel und im ganzen Budget angesprochen wurde.
Diese Einrichtung erweist sich in statistischer Hinsicht, nämlich im Hin-
blicke auf die hiedurch gebotene Möglichkeit, die Summen der gleichartigen
Erfordernisse mehrerer Jahre zu vergleichen und zu den sie beeinflussenden
äusseren Verhältnissen in Beziehung zu bringen, als sehr vortheilhaft und sollte,
in irgendwelcher Form, in keinem modernen Voransctilage fehlen.
Die folgende Tabelle zeigt eine Skizze dieses „rubrikenweisen Summars":
72
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Die Budgets der bewaifneten Macht Oesterreich-Uugams für das Jahr 1900. 73
Dieses Summar bot in einem einzigen Tableau einen raschen üeberblick
über Naturalgebüren, deren Beköstigung, über die mannigfachen Arten der Geld-
gebüren des Ordinariums, über den Stand und über die Gliederung des ganzen
Vervvaltungszweiges, und war — in Verbindung mit einer „titelweisen Ver-
theilung" — ein das Verständnis des Budgets erleichterndes Bindeglied zwischen
dem die Haupttitel und deren Erfordernisziffern enthaltenden „Summarium"
und den vorerwähnten Detailnachweisungen. Die „titelweise Vertheilung" enthielt
die aus dem rubrikenweisen Summar entnommenen Gesammterfordernisbeträge
der in 13 Hauptgruppen zusammengefassten Detailwirtschaften des Verwaltungs-
zweiges für die hauptsächlichsten Erforderniskategorien. Diese letzteren bildeten
gleichzeitig die Bezeichnung, beziehungsweise den Inhalt der einzelnen bereits
erwähnten Budgettitel (von welchen der Titel 13 „Beitrag zu den Bundes-
festungen" mit dem Ausscheiden Oesterreichs aus dem deutschen Bunde (1866)
gegenstandslos wurde). Die „titelweise Vertheilung" erfolgte auf Grund folgenden
Formulars:
Laut
Gesainmt-
Er-
fordernis
Seite
Post
Titelweise Vertheilung.
Armeebehörden ....
Kriegscasse
Verpflegsmagazine . .
u. s. w.
c tu
O
_L =
e3 pH
5 =
5 -^^
O (D
Die Heeresbudgets der nächstfolgenden Jahre gleichen in ihrem formellen
Aufbaue jenem für das Jahr 1865, und auch das Budget für das Jahr 1868,
das erste nach dem Ausgleiche zwischen Oesterreich und Ungarn den Delegationen
vorgelegte Budget trägt noch die alten Formen und den Charakter eines Pauschal-
budgets. Erst dem Budget für das Jahr 1869 wurde eine neue Form gegeben.
Die wesentlichste Aenderung, welche damals an der Form des Heeres-
voranschlages vorgenommen wurde, ist die Abtheilung des Erfordernisses in 23
— nach Bezeichnung und Inhalt von den bisherigen zumeist verschiedene —
Titel, zu dem Zwecke, damit dasselbe auch von den Delegationen nach diesen
Titeln festgestellt und votiert werden könne. Die Bezeichnung der Titel war
folgende: 1. Centralleitung, Behörden und besondere Verwaltungszweige, 2. beim
Allerhöchsten Hofe in Dienstleistung stehende Generale u. s. w. auf Rechnung
des Heeresetats, 3. Höhere Commanden und Stäbe, 4. Truppenkörper und
allgemeine Truppenauslagen, 5. Militär-Fuhrwesen, 6. Militär-Bildungsanstalten,
74 Ulimann.
7. Verpflegsmagazine, 8. Bettenmagazine, 9. Monturs-Commissionen, 10. Artillerie-
Zeugswesen, 11. Fuhrwesen-Materialdepöts, 12. Pionnier-Zeugsmateriale, 13. Mil.-
Bauverwaltungen. 14. Mil.-geographisches Institut, 15. Mil.-Sanitätsanstalten,
16. Versorgungswesen, 17. Mil. -Strafanstalten, 18. Verschiedene Ausgaben,
19. Militärgrenze, 20. Naturalienverpflegung, 21. Mannschaftskost, 22. Montur-
und Bettenwesen, 28. Kemontierung. Die bisherige Pauschalierung des ganzen
Heereserfordernisses wurde als unzulässig erkannt und als ein Vorgang
bezeichnet, welcher „der Verwaltung ihre natürliche Grundlage entzieht, jede
Leitung und Controle unsicher macht und endlich in seiner stricten Anwendung
bei ungünstiger Configuration der variablen Factoren, z. B. der Consumtions-
artikol, zu bedenklichen Schwankungen in der Heeresorganisation selbst, ja zu
förmlicher Desorganisation des Verwaltungszweiges führen müsste." Die Abtheilung
des Erfordernisses in mehrere Titel wurde als ganz unausweichlich nothwendig
bezeichnet, „wenn nicht jene mit einer rationellen Gebarung vollkommen unver-
einbaren Verwickelungen und Verlegenheiten wiederkehren sollten, welche durch
die bei den Pauschalbudgets vorgenommenen General abstriche veranlasst worden
sind". Diese Generalabstriche und das Virement zwischen den einzelnen Titeln
wurden denn auch abgeschafft.
Die erwähnte „titelweiso Vertheilung" und das „rubrikenweise Summar"
wurden zwar beibehalten, jedoch mit Rücksicht auf die neuen Titel modificiert,
das Summar überdies durch Zusammenziehung der detaillierten Erfordernisse
unter allgemeinere Gesichtspunkte stark gekürzt und somit unklarer gestaltet.
Das Heeresbudget für das Jahr 1869 ist auch deshalb bemerkenswert^ weil
demselben bereits das mit diesem Jahre in Kraft getretene neue Wehrsystem der
allgemeinen Wehrpflicht zugrunde lag, mit welchem gleichzeitig auch eine Reihe
organisatorischer Aenderungen in der Heeresverwaltung eingeführt wurde, welche in
erster Linie auf die innere Gestaltung der neuen Erfordernisgruppe des Titels I
von Einfluss waren, wie z. B. der Ersatz der bisherigen Hilfsbehörden des Kriegs-
rainisteriums durch blosse Hilfsorgane, die Neuerrichtung der Militär-Intendanz
anstatt der bisher mit der Leitung und Controle der ökonomischen Geschäfte
betrauten Branchen, die Theilung der bisherigen grossen administrativen Terri-
torien in kleinere Bezirke, die Reorganisation der Militär-Seelsorge, Militär- Justiz-
verwaltung, der Militär-Rechnungscontrole u. s. w. Die anderweitigen organi-
satorischen Aenderungen waren nur von geringerer Bedeutung für die formelle
Beschaffenheit des Heeresvoranschlages, welche seitens der Delegationen als
sachgemäss und entsprechend anerkannt wurde, mit dem gleichzeitigen Wunsche,
dass auch in Hinkunft der Heeresvoranschlag in ganz gleicher Weise abzufasseii
sei. Thatsächlich blieb die Eintheilung desselben in den nächstfolgenden Jahren
der Hauptsache nach unverändert, nur wurde im Jahre 1870 der bisherige Titel
II (Erfordernis für die beim Allerhöchsten Hofe in Dienstleistung stehenden
Generäle, Stabs- und Oberofficiere, dann Garden und kgl. ung. Kronwache auf
Rechnung des Militäretats) hinweggelassen, die Anzahl der Titel somit von
23 auf 22 reduciert. Im Budget pro 1872 wurde gegenüber dem Vorjahre die
Aenderung vorgenonmen, dass das Erfordernis für die Dienstprämien unter einem
besonderen Titel 22 in das ordentliche Erfordernis eingestellt, dagegen der frühere
Die Budgets der bewaffneten Macht Oesteireich-Ungarns für das Jahr 1900. 75
Titel 18 „Militär-Grenze" als solcher dem damaligen Stande der Uebergangs-
verhandluiigen gemäss nicht mehr aufgenommen wurde, indem von dem Erforder-
nisse für die Grenzverwaltung ganz abgesehen worden war und das Präliminare
für die Grenztruppen nicht als Titel, sondern für sich abgesondert als eigene
Gruppe am Schlüsse des Voranschlags zur Darstellung gelangte, demzufolge die
Erfordernistangenten, mit welchen die Militärgrenze bei anderen Titeln bisher
mitbetheiligt war, bei diesen durchgehends wegfielen. Was übrigens dieses Erfor-
dernis für die Grenztruppen anbelangt, so wurde dasselbe im Budget pro 1874
— über Verlangen der Delegationen — nicht mehr im Ordinarium, sondern
im Extraordinarium dargestellt. Mit dem weiteren Verlaufe der Grenzreformen
wurde dasselbe überhaupt nicht mehr angesprochen.
Erst das Heeresordinarium für das Lahr 1875 erfuhr dadurch eine —
grösstentheils aus den Wünschen der Delegationen hervorgegangene — Aenderung
in seiner Einrichtung, dass das Heereserfordernis nunmehr in 27 Titel gruppiert
wurde. Die Vermehrung der Etattitel gründete sich darauf, dass zunächst,
entsprechend dem Wunsche der Delegationen, die im bisherigen Titel 1 (Central-
leitung, Behörden und besondere Verwaltungszweige) enthaltenen verschiedenen
Erfordernisposten in mehrere nach den Gegenständen abgegrenzte Titel eingetheilt
und überdies die Erfordernisse des administrativen und technischen Militärcomit^s,
sowie die gesammten ünterkunftsauslagen als selbständige Titel dargestellt,
hingegen die Erfordernisse für das Militär-Fuhrwesenscorps im Interesse einer
concentrierten Uebersicht aller Trnppenauslagen zu diesen letzteren übertragen
wurden. Die durch die Zertheilung des Titels 1 entstandenen neuen Titel lauteten:
1. Centralleitung, 2. Territorial- und Local-Militär-Commanden, 3. Militär-
Intendanzen und Fachcontrole, 4. Militär-Seelsorge, 5. Militär-Justizverwaltung.
Mit dem Voranschlage für das Jahr 1882 entfielen die vorhin besprochenen
Darstellungen des Heeresbudgets, nämlich die ^titelweise Vertheilnng" und das
„rubrikenweise Summar", welche — wie erwähnt — zur Gewinnung einer um-
fassenden Uebersicht über die Heereserfordernisse sehr viel beigetragen hatten.
Gegenwärtig werden wohl die für die einzelnen Herresthelle entfallenden Theil-
erfordernisse aus den verschiedenen Budgettiteln in die früher erwähnten Budget-
posten zusammengefasst, wodurch zwar ein Detailbild des betreffenden Heeres-
theiles entsteht, eine Gesammtdarstellung nach Aufwandsgruppen für die ganze
Armee, wie ehemals aber wird hiedurch nicht mehr geboten.
Was das Extraordinarium des Heeresbudgets anbelangt, so bringt es
schon der Charakter desselben als Voranschlag der vorübergehenden Bedürfnisse
mit sich, dass wie der Inhalt, so auch die Form eine mehr oder minder
variable ist.
Der formelle Aufbau des Heeres-Extraordinariums hat mit jenem des
Ordinariums keinerlei Aehnlichkeit, schliesst sich auch an den Aufbau des
Ordinariums gar nicht an, sondern ist eine ganz selbständige Darstellung einer
beträchtlichen Eeihe von zwar in einige sachliche Gruppen eingetheilten summa-
rischen Erfordernisansprüchen, deren Gruppierung aber ein einheitliches System
nicht zugrunde liegt.
76 Üllmaiin.
Die Eintheilung der extraordinären Erfordernisse ist gegenwärtig die folgende :
I. Completierung der Kriegsvorräthe (Titel 1 — 3); II. Bau- und Unter-
kunfts-Erfordernisse, üebungs-, und ScMessplätze (Titel 4 und 5); III. Transi-
torisches ausserordentliches Erfordernis A) Bauten (Titel 6 — 11), B) Erfordernis des
militär-geographischen Institutes für Herstellung von neuen Karten und Ausführung
eines Präcisions-Nivellements (Titel 12), C) Erfordernis für überzählige Personen
(Titel 13), Mehrerfordernis für die in Süd-Dalmatien zur Sicherung der Grrenze
erforderlichen Truppen (Titel 14), Completierung von 20 Infanterie-Bataillonen
auf den erhöhten Friedensstand (Titel 15), Ankauf von 12 Reitpferden für jedes
Cavallerieregiment (Titel 16), Erfordernis zur Erhaltung von 1632 übercompleten
Artilleriepferden und 1494 Soldaten (Titel 17), Erfordernis für die Hinausgabe
von 200 minderjährigen Eemonten in die Privataufzucht (Titel 18); IV. ausser-
ordentliches Erfordernis zur Durchführung organisatorischer Aenderungen (Titel
19 — 29); die letzteren beziehen sich wesentlich auf Standeserhöhungen und
Neuformationen, welche eigentlich thatsächlich eine Erhöhung des Ordinariums
bedeuten und nur für die ersten Anschaffungen im Extraordinariura eingestellt
werden, um alsdann nach Durchführung der Organisation im Ordinarium auf-
zugehen.
Da hier die den wichtigsten Theil des Voranschlages für das Heeres-
ordinarium bildenden „Detailnachweisungen'' fast ganz fehlen, und die beiden
weiter oben besprochenen Budgetbehelfe, nämlich das „rubrikeu weise Summar"
und die „titelweise Vertheiiung", in welchen vor dem Jahre 1868 nicht nur
das Ordinarium, sondern auch das Extraordinarium übersichtlich zergliedert worden
war, wie vorhin erwähnt, in ihrer ursprünglichen so übersichtlichen Form in
den neueren Heeresbudgets nicht mehr vorkommen, so sind für die Beurtheilung
der einzelnen Ansätze im Zusammenhalte mit den denselben zugrunde liegenden
administrativen Voraussetzungen nur spärliche — theilweise in den wenigen vor-
handenen Details, theilweise in den zumeist sehr knappen Begründungen
enthaltene — Anhaltspunkte gegeben.
Eine übersichtliche Entwicklung der Erfordernisse und eine klare, syste-
matische Eintheilung in Titel und Eabriken zeigt hingegen der Voranschlag des
ausserordentlichen Heereserfordernisses für die Comman-
den, Truppen und Anstalten im Occupationsgebiete.
Die Kosten für diese Heerestheile setzen sich Zusammen aus den normalen
Friedensgebüren und aus den infolge höherer Stände^) und infolge höherer oder
besonders systemisierter Gebüren oder Gebürsaufbesserungen erwachsenden Mehr-
auslagen. Da aber die normalen Friedensgebüren im Ordinarium des Heeres-
budgets enthalten sind, so ist es lediglich das Erfordernis für eben diese Mehr-
auslagen, was den Gegenstand der Präliminierung im Voranschlage für den
Occupationscredit bildet. Dieses im Friedensetat nicht bedeckte Mehrerfordernis
wird nun in der Weise angesprochen, dass zunächst auf Grund einer Reihe von
Detailnachweisungen das Gesammterfordernis an Personalgebüren und sachlichen
^) Mit Ausnahme des Erfordernisses für die Completierung von 17 der in Bosnien
und in der Herzegowina dislocierten Infanterie-Bataillone auf den erhöhten Friedens-
stand, welches beim ausserordentlichen Heereserfordernisse präliminieit ist.
Die Budgets der bewaffneten Macht Oesterreicli-Ungarns für das Jahr 1900. , 77
Ausgaben, dann die im Heeresordinariiini bedeckte Quote desselben für einen
Monat berechnet und in je einer besonderen Darstellung übersichtlich nach-
gewiesen wird, in welcher auch die Erfordernisse an Naturalienverpflegung und
Mannschaftskost zum Ausdrucke kommen. In einer besonderen Nachweisung wird
sodann die im Friedensetat bedeckte Quote für zwölf Monate vom thatsächlichen
Gosammterfordernisse für zwölf Monate in Abzug gebracht; die Differenz bildet
dann die für Eechnung der Occupation zu veranschlagende Quote der Personal-
gebüren und sachlichen Ausgaben, bezw. an Naturalienverpflegung und Mannschafts-
kost, Der eigentliche Voranschlag enthält zunächst das thatsächliche Gesammt-
erfordernis aller Titel, dann die im Friedensetat bedeckte Quote desselben und
die das anzusprechende (im Friedensetat nicht bedeckte) Erfordernis darstellende
Differenz, welche schliesslich mit dem für das Vorjahr bewilligten Mehrerfordernisse
verglichen wird. Die Haupterfordernisgruppen sind folgende:
Geldverpflegung, Naturalienverpflegung und Mannschaftskost, Pferdebeschaf-
fung, Wafifenwesen, Trainwesen, Genie- und Bauwesen, Montur, dann Rüstung und
Betten, Sanitätswesen, allgemeine Auslagen.
Unter den allgemeinen Auslagen werden auch jene der Militärbahn
Banjaluka-Doberlin und für das Militär-Post- und Telegraphenwesen in Bosnien
und in der Herzegowina dargestellt; bei diesen wird jedoch gleichzeitig auch
die volle Bedeckung des Erfordernisses durch die aus den genannten Verwaltungs-
zweigen fliessenden Betriebs- und sonstigen Einnahmen, sowie durch Zuschüsse
aus den Betriebseinnahmen der Eisenbahn Brod-Zenica und aus dem Budget der
Verwaltung von Bosnien und der Herzegowina (dann die Ersparungen durch
Beistellung von Bespannungen für gewisse Postämter seitens der Traintruppe)
präliminiert, so dass für das Budget der genannten Verwaltungszweige eigentlich
keine Geldanforderung gestellt wird.
Sowohl dem Gegenstande der Erfordernisse, als auch der Form nach vom
Voranschlage des Heeres gänzlich verschieden ist der Voranschlag der gemein-
samen Kriegsmarine. In seiner ursprünglichen Form im Budget für das Jahr 1861
zerfiel derselbe in zwei Abtheilungen, nämlich in den Voranschlag für die
Marine und in jenen für die Flottille. Beide Theile bestanden aus je einer
„Hauptübersicht", welche einerseits die Hauptgruppen der Marineverwaltung
(Titel), anderseits die rubrikenweise gegliederten sachlichen Erfordernisse dar-
stellte, weiters aus einer Nachweisung der kopfweisen Erfordernisse innerhalb
der einzelnen Verwaltungsgruppen. An beide Theile schloss sich eine Darstellung
des Personalstandes und eine Liste der Fahrzeuge unter Angabe der Bestimmung
und des Bemannungsstandes der einzelnen Objecto an, den Schluss bildete das
Präliminare der eigenen Einnahmen der Marineverwaltung und der Flottille.
Es bestanden damals folgende Titel:
Gewöhnlich wiederkehrende Auslagen:
d) Centralleitung,
h) Isolierte^),
1) Personen, welche weder zum Verbände eines Schiffs- oder Trupp en-Commandos,
noch zu demjenigen einer Anstalt gehören, und demnach zur Ergänzung des Flotten-
personals disponibel sind.
78 Ullmann.
c) Truppen und Branchen ;
Ausgerüstete see- uud arsenaisbereito Schilfe,
Naturalien- und Servicebeschaffung,
Materialanschaffung,
Land- und Wasserbauten,
Euhegenüsse,
Allgemeine Marineauslagen,
In den Marinevoranschlägen der nächsten Jahre, insbesondere aber in dem
in die Aera Tegetthoff fallenden Voranschlage für das Jahr 1869, sprach sich
deutlich das Bestreben aus, die Erfordernisse unter Zugrundelegung der organischen
Gliederung in einer Weise nach wirtschaftlichen Gruppen einzutheilen, „wie es
zur Erleichterung der üebersicht und zu einer besseren Beurtheilung der ökono-
mischen Thätigkeit der leitenden Verwaltungsbehörde als zweckmässig betrachtet
werden" musste. Das Marine-Budget wurde nunmehr (1869) in folgende 10 Titel
eingetheilt:
Centralleitung,
Behörden und Aemter,
Ausgerüstete und Reserve-Schiffe,
Truppen und Anstalten,
Isolierte,
Schiffbau und Maschinen,
Artillerie,
Land- und Wasserbauten,
Besondere Marineauslagen,
Versorgungsauslagen,
Diese Eintheilung wurde in den folgenden Jahren zunächst beibehalten „und
nur jene Vereinfachung und Zusammenziehung in der Form der verschiedenen
Beilagen angestrebt, welche ohne Verminderung der Klarheit die üebersicht nur
noch mehr erleichterte."
Mittelst der Resolution vom 16. August 1869 wurde die Marineleitung
seitens der Delegationen aufgefordert, „zur Vermeidung von Transpositionen
einzelner Posten zu verschiedenen Titeln das Marin epräliminare derart zu ordnen,
dass die Titel und Posten dem sachlichen Zusammenhange und der leichteren
üebersicht vollends entsprechen". Dieser Resolution wurde seitens der Marino-
verwaltung, an deren Spitze noch der auf militärischem und administrativen
Gebiete gleich hervorragende Viceadmiral Tegetthoff stand, bereits bei der
Zusammenstellung des Marinevoranschlages pro 1871 vollkommen Rechnung
getragen, welchem eine von der bisherigen gänzlich abweichende Form gegeben
wurde. Die neue Form war in den Hauptumrissen den Navy estimates, dem
Budget der englischen Kriegsmarine, nachgebildet und ist der Hauptsache nach
noch im gegenwärtigen Voranschlage der k. und k. Kriegsmarine in Geltung. Die
Anzahl der Titel des Ordinariums war zwar dieselbe geblieben wie vorher
(10 Titel), der Inhalt derselben aber wich zum Theile von jenen der früheren
Jahre ab.
Die Budgets der bewaffneten Macht Oesterreich-Ungarns für das Jahr 1900. 79
Durch eine scharfe AJbgrenzung der Aufgahen nach ihren verschiedenen
Hauptrichtungen wurde im Marinebudget pro 1871 nicht nur eine verlässliche
Verbuchungsgrundlage gewonnen, sondern auch die Möglichkeit geschaffen, mit
jedem Jahresabschlüsse die Gebarungsresultate sowohl in grossen Schlussziffern,
als auch in kleinen Detailposten den Ansätzen des Präliminares entgegenstellen
zu können.
lieber die neugeschaffenen Titel enthält das Expose des letztgenannten
Marinevoranschlages äusserst instructive Ausführungen, wovon hier nur Folgendes
erwähnt sei:
„Die Titel I bis V umfassen, wie früher, die Erfordernisse für das Personal,
sowie jenen Aufwand für Kanzleiauslagen und dergleichen, der sich am besten dazu
eignet, unter einem mit dem Personal ausgewiesen zu werden, nur weicht das
Präliminar pro 1871 von den früheren darin ab, dass in demselben die einzelnen
Gebürskategorien als Titel, Subtitel u. s, w. erscheinen und die Nachweisung
der Verwendung des Personals, und mithin der Aufwand für die verschiedenen
Behörden, Aemter und dergleichen aus den Beilagen zu entnehmen ist, während
noch im Jahre 1870 der Aufwand für die verschiedenen Personalgebüren und
sonstigen Erfordernisse nach Behörden und Aemtern ausgewiesen war." Diese
letztere Methode aber habe zur Folge gehabt, dass sich die heterogensten Posi-
tionen aneinander reihten, deren Summen Ziffern ergaben, welche jedes praktischen
Wertes entbehrten, da sie nie entnehmen Hessen, welche Ursache einem sich
ergebenden Mehr- und Minderaufwande zugrunde lag.
Weiters enthält das Expose' eingehende Aufschlüsse über den Inhalt der
einzelnen Voranschlagstitel, deren Posten nach der neuen Budgetgliederung nur
homogene Gegenstände behandeln.
Den vorstehenden Ausführungen entsprechend sind nun auch im gegen-
wärtigen Marin evor an schlage die Erfordernisse in scharf umrissenen, nach den
Erfordernisdetails klar und übersichtlich gegliederten Gruppen dargestellt (objec-
tives Moment), und werden ebenso klar die an den Erfordernissen participierenden
Verwaltungszweige, beziehungsweise Organe ersichtlich gemacht (subjectives Moment).
Zwar ist bei der Gruppierung der Marineerfordernisse infolge des zweifachen
Dienstes der Kriegsmarine zu Lande und zur See eine Zersplitterung in der
Darstellung gewisser Bedürfniskategorien (z. B. der Verpflegung der Mannschaft)
unvermeidlich, doch ist dieselbe für die Uebersichtlichkeit von keinem Nachtheile.
Ordinarium und Exfcraordinarium sind im Marinevoranschlage nach gleichen
Gesichtspunkten gegliedert, das ausserordentliche wird immer zu einem bestimmten
Titel (Post) des ordentlichen Erfordernisses angefordert. Sowohl in der Darstellung
des ordinären, als auch in jener des extraordinären Erfordernisses ist im Marine-
budget für die Vergleichung der Präliminaransätze des laufenden mit jenen des
Vorjahres Vorsorge getroffen.
So legt denn der musterhafte Aufbau des gegenwärtigen klaren und über-
sichtlichen Marinebudgets den Gedanken nahe, dass durch eine ähnliche Gestaltung
des Heeresbudgets für die Uebersichtlichkeit und Verständlichkeit des letzteren
erhebliche Vortheile erreicht werden könnten.
80
Ullmann.
Der Voranschlag- des k. k. österreichischen Landesverthei-
digungs-Ministeriums besteht aus den bereits eingangs vorgeführten
6 Titeln, von denen der Titel 2 das Erfordernis der k. k. Landwehr enthält,
welches wieder aus einer — gleichfalls aus dem vorgeführten Titelschema
ersichtlichen — Reihe von Erfordernisgruppen zusammengesetzt ist. Gegenstand und
Darstellung der Erfordernisdetails sind hier fast dieselben wie im Heeresbudget;
anders gestaltet sich nur die Bedeutung der Eintheilung nach Budgetposten,
unter welchen hier die Details der einzelnen Erfordernisgruppen zu verstehen sind,
dann die Darstellung der Stände an Gagisten, Mannschaft und Pferden, welche hier
nicht wie im Heeresbudget in einer einzigen Gesammtübersicht, sondern in speciellen,
den bezüglichen Erfordernisgruppen beigefügten Theilübersichten dargestellt sind.
An das Ordinarium schliesst sich das nur aus wenigen Posten bestehende
Extraordinarium an. Bemerkenswert ist das Erfordernis für die Neubauten
mehrerer Landwehrkasernen, wofür ein eigenes Investitionspräliminare aufgestellt
ist, dann der Umstand, dass im Budget des k. k. Landesvertheidigungs-Ministeriums
nicht das gesammte Erfordernis der Landwehr enthalten ist, da das Präliminare
für die Versorgungsgenüsse im Budget des allgemeinen Pensionsetats dargestellt
Avird. Hievon wird noch an anderer Stelle die Rede sein.
Was endlich das Präliminare des k. ungar. Landesvertheidigungs-Ministeriums
für die k. ungarischen Landwehr (Honve'dtruppen) anbelangt, so ist das
ordentliche Erfordernis desselben der Hauptsache nach im CapitelXXIII, und insoweit
es sich auf die Landwehrpensionen und auf die Ressortanlehen bezieht, in den
Capiteln VI und IX des Staatsvoranschlages präliminiert; das ausserordentliche
Erfordernis und das Investitionspräliminare, endlich die ordentlichen und ausser-
ordentlichen Einnahmen gehören wieder anderen Capiteln des Staatsvoranschlages
an. Die Erfordernisse aller dieser Theile des ungar. Staatsvoranschlages
stellen in ihrer Vereinigung das Budget des k. ungar. Landesvertheidigungs-
Ministeriums dar. Hinsichtlich der specifischen Landwehrauslagen auf ähnlichen
organisatorischen und administrativen Voraussetzungen basierend, wie die Budgets
des gemeinsamen Heeres und der k. k. österr. Landwehr, behandelt das ungar.
Landwehrbudget auch die gleichen ökonomischen Erfordernisse wie diese, nur ist
— wie aus dem über den Umfang des Budgets Gesagten hervorgeht — die
Darstellung dieser Erfordernisse eine umfassendere wie im österr. Landwehrbudget;
hauptsächlich aber ist es die Art der Zusammenfassung und Gliederung der
Erfordernisse, worin sich das Honvedbudget von allen anderen bisher besprochenen
Voranschlägen unterscheidet.
Das Charakteristische dieses Budgets liegt im Aufbaue der Haupterforderiiis-
gruppe, nämlich des ordentlichen Erfordernisses sämmtlicher Landwehrtruppen
(Cap. XXIII, Titel 6), welches folgendermaassen dargestellt wird. Zunächst zeigt
eine summarische Uebersicht die Präliminarbeträge für die Erfordernisse an Geld-
gebüren, Unterkunft, Verpflegung, Pferdefutter, Montur und Rüstung, Kranken-
pflege, Munitionsbeschaffung und Remontierung. Eine weitere Darstellung weist
das Präliminare der einzelnen Gebürsgattungen innerhalb dieser Erfordernisgruppen
nach, z. B. zur Gruppe „Geldverpflegung" das Präliminare an Gagen, Officiers-
diener-Relutum, Pferdepauschal u. s. w., schliesslich bietet eine dritte Nachweisung
I
Die Budgets der bewaffneten Macht Oesterreich-Ungarns für das Jahr 1900, 81
eine Uebersicht der Einzelerfordernisse unter Anführung der bezüglichen Standes-
ziffern und kopfweisen Gebüren. Die rubrikenweise Gliederung ist in den beiden
letzteren Nachweisungen dieselbe und lautet I. Infanterie ( Activ- und Reservestand,
Landsturm, Ersatzreserve, Schulen), II. Kronwache, ni. Cavallerie (Activ- und
Reservestand, Landsturm, Ersatzreserve, Schulen).
Als eine praktische, die Uebersichtlichkeit fördernde Einrichtung ist zu
erwähnen, dass bei den einzelnen Titeln des Ordinariums auch die etwa mit
denselben correspondierenden Titel des Extraordinariums und überdies die zu dem
betreffenden Erfordernisse präliminierte Bedeckung durch ordentliche oder ausser-
ordentliche Einnahmen ersichtlich gemacht sind.
Wenn nun auch durch den geschilderten Aufbau nicht im gleichen
Maasse wie durch den Aufbau des Marinevoranschlages ein Ueberblick über den
Gesammtcomplex der gleichartigen Erfordernisse aller Voranschlagsgruppen ermöglicht
wird, so ist doch wenigstens der Ueberblick über die Erfordernisse des Haupt-
titels, nämlich über die Truppenerfordernisse ein sehr klarer. Dennoch müsste
das im Aufbaue des Honvedbudgets zum Ausdrucke kommende System als für
einen umfangreicheren Verwaltungszweig minder geeignet erscheinen, weil in
einem solchen — vermöge der reicheren Gliederung der Administration, beziehungs-
weise der grösseren Anzahl der Behörden, Anstalten und anderweitigen Organe —
auch die Anzahl der neben der Hauptgruppe der Truppenerfordernisse noch zur
Darstellung gelangenden Einzelbudgets eine zu grosse wäre und daher die Ueber-
sichtlichkeit bedeutend verringern würde.
II.
Es wurde nun der Versuch unternommen, die erwähnten Voranschläge für
die bewaffnete Macht — und zwar an der Hand der Budgets für das Jahr 1900
— in der Richtung zu bearbeiten, dass die Erfordernisse jedes einzelnen in
ihre Bestandtheile zergliedert und diese sodann nach gleichen Gesichtspunkten
gruppiert wurden. Nach dieser bei allen vier Budgets in gleicher Weise durch-
geführten Sichtung und Eintheilung können nun die gewonnenen neuen Gruppen
nicht nur innerhalb eines und desselben Voranschlages, sondern auch mit den
gleichartigen Gruppen der übrigen Voranschläge verglichen werden, wodurch sich
eine Reihe bisher unbekannter Resultate erzielen lässt, welche eine Grundlage
für verschiedene statistische Betrachtungen bieten. Es mögen jedoch hier die bei
diesem Versuche zutage getretenen mehrfachen Schwierigkeiten nicht unerwähnt
bleiben, weil dieselben in vielen Fällen die Gewinnung genauer Resultate
unmöglich machten. Solche Schwierigkeiten ergaben sich z. B. bei Zergliederung
der Extraordinarien, da hiebei zumeist nur spärliche Behelfe zur Verfügung
standen und daher zu umfangreichen Berechnungen geschritten werden musste,
welche oft schliesslich nur annäherungsweise richtige Resultate liefern konnten.
Weiters bei Behandlung solcher Erfordernisbeträge, in welchen Erfordernisse ver-
schiedener Art cumuliert sind, und für deren Zerlegung zum Zwecke der Eintheilung in
die entsprechenden sachlichen Erfordernisgruppen eine Handhabe nicht gegeben
war, z. B. hinsichtlich des bereits erwähnten Präliminarbetrages per 3,700.000 K
für die Erfordernisse der Waffenübungen und Concentrierungen, übrigens auch
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. X. Band. 6
32 TJUmann.
hinsichtlich vieler extraordinären Erfordernisbeträge und anderer summarischen
Präliminarien. Diese Beträge konnten daher nur in eine Erfordernisgruppe ein-
getheilt werden, wodurch selbstredend das Bild der in dieser Gruppe darzAistellenden
gleichartigen f]rfordernisse getrübt wurde Endlich bei Berücksichtigung gewisser
Interkalarien, welche von ganzen, verschiedenartige Erfordernisse umfassenden
Titelsummen, oder wie es sich hinsichtlich des österr. Landwehrvoranschlages
ergab, von der Summe des gesammten ordentlichen Landwehrerfordernisses abzu-
ziehen sind.
Die Hauptgruppen, in welche die Erfordernisse der Voranschläge des gemein-
samen Heeres, der gemeinsamen Kriegsmarine, der k. k. österr. und der k. ungar.
Landwehr eingetheilt wurden, sind folgende :
Gruppe I. Persönliche Auslagen :
a) Activitätsbezüge :
1. Besoldungen.
2. Andere Activitätsbezüge,
b) Versorgungsbezüge.
Gruppe II. Sachliche Auslagen:
d) Für Verköstigung:
1. der Personen,
2. der Pferde,
b) Für Montur und Rüstung,
c) „ Unterkünfte,
d) „ Bettenwesen,
e) ,, Heizung und Beleuchtung,
/) „ Sanitätserfordornisse,
g) „ Waifenwesen,
h) „ militärische Hebungen und Vorsuche,
i) „ Verwaltung und Betrieb,
/i*) „ Materialinstandhaltung,
1) „ Bauten und bauliche Instandhaltungen,
m) „ Remontierung.
Hinsichtlich des Inhaltes dieser Gruppen wäre Folgendes zu erwähnen:
Unter Besoldungen sind die Gagen (Gageergänzungen) der Officiere,
Beamten und sonstigen Angestellten, Adjuten, Dotationen der Militär- und Marine-
Attaches bei den auswärtigen Missionen, Löhnungen. Löhnungsdifforenzen und
dergleichen zu verstehen, während die anderen Activitätsbezüge die
verschiedenen Zulagen für Officiere und Mannschaft, Beiträge, die Unterofficiers-
dienstprämien, Remunerationen, Belohnungen u. s. w. betreffen.
Die Versorgungsbezüge werden, wie schon weiter oben angedeutet,
in den vier Militärbudgets verschieden präliminiert. Im Heeresbudget werden
nämlich nebst den Pensionen, Sustentationen, Gnadengaben und sonstigen Ver-
sorgungsbezügen für die Personen dos Heeres auch die Pensionen, beziehungsweise
Pensionsquoten für diejenigen Personen der beiden Landwehren angesprochen,
welche einen Theil ihrer Dienstzeit beim gemeinsamen Heere zurückgelegt haben.
II
Die Budgets der bewaffneten Macht Oesterreich-Ungarns für das Jahr 1900. 83
Das Marinebudget enthält die anf Grund der thatsächlichen Standesverhältnisse der
Pensionisten erforderlichen Versorgungsbezüge. Die Pensionen der k. k. österr.
Landwehr sind im Landwehrvoranschlage überhaupt nicht, sondern im Voranschlage
für den allgemeinen Pensionsetat (Capitel 31 des österr. Staatsvoranschlages)
präliminiert. Im Voranschlage für die k. ungar. Landwehr endlich sind alle
Versorgungsbezüge der Landwehrpensionisten — in welchen auch der oberwähnte
Zuschuss der Heeresetats inbegriffen ist — und ausserden die Witwen- und
Waisenpensionen enthalten.
Die Auslagen für die V e r k ö s t i g u n g der P e r s o n e n betreffen beim
Iloore und bei den Landwehren die Erfordernisse an Brot, Menagegeld, Durch-
zugskost, Subsistenzulagen der Mannschaft u. s. w. ; bei der Kriegsmarine die
Auslagen für die Brotgebür, Eationen, Menagebeiträge und Sanitätszulagen der
Mannschaft, an Schiffskostgeldern, Beschaffung von Trinkwasser u. s. w.
Die Auslagen für das Sanitätswesen betreffen Medicamente, Instru-
mente und die verschiedenen ärztlichen Bedürfnisse der Truppen, Spitäler, Apo-
theken und Laboratorien.
Die Gruppe Waffenwesen umfasst die Auslagen für Erzeugung und
Beschaffung der verschiedenen Artillerie-Materialsorten und Handwaffen, Munitions-
erzeugung und -Beschaffung und dergleichen.
In die Gruppe militärische Hebungen und Versuche wurden eingetheilt:
Die Waffenübungs- und Concentrierungs- Auslagen, die Auslagen für die Uebungen
der Artillerieschiesschule, der Artillerietruppen, der praktischen Uebungen überhaupt,
für die Erfordernisse des feldmässigen Schiessens u. s. w.; die Auslagen für die
Versuche in allen Zweigen des Waffenwesens, auf dem Gebiete des Geniewesens,
der Verpflegung, für chemische Probeversuche u. s. w.
Bei der Kriegsmarine tritt an die Stelle dieser Gruppe jene der „Schiffbau-
und besonderen Marineauslagen".
Hieher gehören die Auslagen des hydrographischen Amtes für die Stern-
warte, das InstrumentendepOt, die Marinebibliothek, die Abtheilung für Geophj^sik,
die Auslagen für Feuerungsmaterial, für Instandhaltung, Anstrich und Beleuchtung
etc. der in Dienst gestellten Schiffe, für Schiffsbauten und Maschinen, für Schifl'ahrts-
canaltaxen und Entlohnung von Lootsen u. s. w.
Zu den Verwaltungs- und Betriebsauslagen gehören im allgemeinen
die Wirtschaftspauschalien der Truppen, Kanzlei-, Drucksorten-, Reise-, Wagen-,
Post- und Telegraphenauslagen, verschiedene Pauschalien der Truppen und Anstalten,
Recrutierungsauslagen, Feldschadenvergütung, Münzbewertungsdifferenz u. s. w.
Im Ungar. Landwehrbudget auch die Zinsen, Capitalstilgung und andere
Auslagen für die das Landwehr-Portefeuille belastenden Anlehen, dann die Auslagen
für Brandschadenversicherung.
Zu den Materialinstandhaltungs-Auslagen gehören im allgemeinen die
Auslagen für die Instandhaltung und Conservierung der Werkzeuge, Requisiten,
Geräthe, der Vorräthe der Artillerie-, Pionnier- und Trainzeugsdepöts und der-
gleichen; aus dem Marinebudget die Auslagen für Ersatz und Reparatur von
Dampfkesseln für Schiffe und Torpedoboote, die Arbeitslöhne d(s Seonrsenals sammt
84 Ullmann.
Kranken- und Unfallversicherung, die Auslagen für das Arbeits-, Verbrauchs- und
Betriebsmaterial u. s. w.
Die Auslagen für Remontierung betreffen im allgemeinen die Kosten der
Pferde-(Remonten-)Beschaffung, die Aufzahlungen beim Eemonten ankaufe, das
Remontenaufstellungspauschal, die Mehrkosten für die an mittellose Officiere
um den gewöhnlichen Preis überlassenen, zu höheren Preisen angekauften
Remonten u. s. w.
Diese sachlich gegliederte Heb ersieht gestaltet sich nun hinsichtlich der
im Ordinarium und im Extraordinariura des k. und k. Heeres und im Voran-
schlage für das ausserordentliche Heereserfordernis für die Commanden, Truppen
und Anstalten im Occupationsgebiete für das Jahr 1900 präliminierten Ausgaben
und Einnahmen — von welchen die ersteren ohne Berücksichtigung der in den
Budgets von den betreffenden Titeln in Abzug gebrachten Einnahmen dargestellt
werden — folgendermaassen. (Siehe Tabelle S. 85.)
Wie aus dieser Tabelle ersichtlich, wird der weitaus grösste Theil der
Heereserfordernisse (circa 92 Proc. ) im Ordinarium angesprochen ; ungefähr
5Proc. des Gesammterfordernisses entfallen auf das Extraordinarium und 3 Proc.
auf die Erfordernisse der Commanden, Truppen und Anstalten im Occupations-
gebiete. Das Verhältnis dieser drei Theile des Heeresbudgets zu einander ist
natürlich infolge des schwankenden Charakters des Extraordinariums ein stets
variables, und zwar sind es in der Regel die Auslagen für das Waffenwesen und
für Bauten, welche das Bild des Extraordinariums bestimmen.
Im vorliegenden Heeresbudget sind z. B. für das Waftenwesen überhaupt
keine extraordinären Erfordernisse angesprochen, da gegenwärtig erst die Versuche
zur Schaffung eines neuen Feld- und Gebirgsgeschützsystems im Gange sind.
Der für diesen Zweck präliminierte Betrag von 80.000 K ist hier bei den
Erfordernissen für militärische Hebungen und Versuche eingestellt.
In allen drei Theilvoranschlägen für das k. u. k. Heer überwiegen die
Auslagen für die sachlichen Erfordernisse über die persönlichen Auslagen. Die
Summe der gesammten sachlichen Erfordernisse beträgt rund 63 Proc, jene der
persönlichen rund 37 Proc. des Heereserfordernisses.
Den Hauptfactor der persönlichen Auslagen bilden die Besoldungen. Nach
den angestellten Berechnungen belaufen sich diese auf rund 75*1 Millionen oder
66*5 Proc. aller Activitätsbezüge oder circa 25 Proc, der Gesammterfordernisse
des Heeres, stellen sich daher als das Haupterfordernis des ganzen Heeresvor-
aiischlages dar. Dieses Haupterfordernis gliedert sich in das Erfordernis für Gagen
und in jenes für Löhnungen, wovon das erstere circa 55"74 Millionen = 19 Proc,
(las letztere circa 19"18 Millionen = 6 Proc. vom Gesammterfordernisse beträgt.
Die im ordentlichen Erfordernisse veranschlagten Gagen wurden für 21.151 im
Gagebezuge stehende Personen berechnet, unter denen sich
16.378 Generale, Stabs- und Oberofficiere,
129 Militärgeistliche,
167 Auditore,
1.214 Militärärzte,
529 Truppenrechnungsführer,
Die Budgets der bewaffneten Macht Üesterreich-Ungarus für das Jahr 1900. 85
Sachlich gegliedente Uebensicht
der im
Hceresvoraii schlage des Ordinariunis, Extraordiiiariums und Occupationscreditos für
das Jahr 1900 präliminierten Ausgaben und Einnahmen.
s
i
udpräliminiert: |
OJ
1 . _ 11 im Voran- II 1
3.
Für
im j
im Extra- 'sehlaee für den r/
ordinarium , Occupations- ü Zusammen
Ö
Ordinarium
o
Credit |
K \h
K h
K h K \
h
I
Persönliche Auslagen
(Geldgebüren).
a ''
Activitätsbezüge :
;
1. Besoldungen
73,208.756
— : 354.837
— ;
1,5.33.190
- 75,096.783
—
2. Andere Activitätsbezüge
Summe der Activitätsbe-
11,768.736
- 128.652
— ; 602.280
— 12,499.668
—
;'
1'
züge j
84,977.492
— 483.489
— 2,135.470
- 87,596.451
—
b i
Versorgungsbezüge ...
Summe dei*^ persönlichen
24,771.824
—
—
— ! —
- 24,771.824
—
1
11
Auslagen
109,749.316
—
483.489
—
2,135.470
—
112,368.2:5
—
11 i
Sachliche Auslagen
a
Für Verküstigung:
1. der Personen
.57,899.042
—
2,785.388
1
1,440.2.58
-1 62,124.688
—
2. der Pferde
Summe der Auslagen für
22,493.560
— 604.278
— 696.144
— ; 23,793 982
—
!i
Verköstigung
80,392.602
— 3,389.666
- 2,136.402
- 85,918.670
—
h
Für Montur und Rüstung .
17,808.356
- 319.418
-': 202.792
— ■ 18,330.566
—
c
Für Unterkunft
29,423.520
— 462.155
— \ 154.348
—
30,040.023
—
d
Für Bettenwesen ....
2,648.292
— 1 43.180
— 1 42.604
—
2,734.076
—
<i
Für Heizung und Beleuch-
i|
tung
3,728 3.34
— ,1 33,041
—
80.640
- 3,842.015
—
f
Für Sanitätserfordernisse .
691,300
—
—
19.800
-: 711. ICO
—
0
Für Waffenwesen ....
6,395.160
—
—
30.280
—
6,425.440
—
h
Für militär. Uebungen und
Versuche
5,454.752
—
80.000
—
—
5,534.752
—
i
Für Verwaltungs- und Be-
triebs-Erfordernisse . .
11,039.690
— 253.121
-i 3,935.326
- 15,228.137
—
k
Für Materialinstandhaltung
636.200
— [i 48.218
-i 112.980
-:, 797.398
—
l
Für Bauten und bauliche
li
t
i
Instandhaltungen . . .
5,822.900
— i 8,030.410
-! 926.000
— [i 14,779.310
—
m
Für llemontierungswesen .
Summe der sachl. Auslagen
Gesammt-Erfordernis . .
5,707.836 - 929.830
-\ 79.056
— 6,716.722
_^
169,748.942
— 13,-589.039
— ;: 7,720.228
- 191,058.209
—
279,498.258
—,14,072.528
—
9,855.698
-303,426.484
—
ill
Hievon die Bedeckung,
ii
und zwar:
1. Einnahmen, welche im
Budget selbständig nach-
gewiesen und vom Ge-
sammterfordernisse abgC'
zogen werden
8,470.778
—
—
—
80.000
—
8,550.778
—
2. Einnahmen, welche im
Budget bei den betref-
fenden Titelerfordernis-
sen nachgewiesen und
i von denselben vorweg
'i
abgezogen werden . . .
1,841.304
1 —
— 2,473.698
— 1 4,315.002
—
Summe der Bedeckung . .
1 10,312.082
— ■ —
— 1 2,553.698
— ! 12,865.780
—
j Daher unbedecktes Erfor- ;i
1
\ dernis (laut Budget) . .
«269,186.176
i
14,072.528
—
1 7,302.000
~
290,560.704
86 Ullmauu,
2.327 Beamte,
48 Lelirpersonon,
140 Hilfs- und Auföichtsor^ane und
219 Armeediener
boiindon. Demnach stellten die Officiere, Militärgeistlichen, Auditore, Aerztc und
Truppenrechnungsführer ungefähr 87 Proc, die Beamten und Lehrpersonen
ungefähr 11 Proc, die übrigen Organe zusammen ungefähr 2 Proc. des obigen
Gagistenstandes, und entfällt auf einen Gagisten eine Kopfquote von rund 2635 K.'^)
Die im Ordinarium präliminierten Löhnungen gründen sich auf einen Stand von
283.877 Unterofficieren und Soldaten, vrovon die ersteren ungefähr 10*75 Proc.
der gesammten Mannschaft bilden. Die Kopfquote der Löhnung stellt sich auf
rund 70 K. Von der Gesammtsumme der Activitätsbezüge entfallen auf einen Kopf
der Gagisten rund 2727 K, auf einen Mannschaftskopf rund 94 K.
Unter den sachlichen Auslagen ist die bedeutendste Gruppe jene der
Auslagen für die Beköstigung der Mannschaft, welche sich auf ungefähr
62*12 Millionen oder 20*5 Proc. des Gesammterfordernisses belaufen; auf Grund
des erwähnten Mannschaftsstandes resultiert an Erfordernissen dieser Gruppe
eine Kopfquote von circa 206 K. Mit Hinzurechnung der Auslagen für die
Verköstigung der Pferde (unter denen 58.475 ärarische) erhöht sich das
Erfordernis für Ernährungsartikel auf 85*92 Millionen, gleich 28"3 Proc. des
Gesammterfordernisses.
Nach dem Erfordernisse an Verköstigungsauslagen wären weiters hervorzu-
heben: Die Elfordernisse an Unterkunftsauslagen per 30 04 Millionen mit fast
10 Proc. an (Unterkunftsauslagen entfallen, und zwar bei Berücksichtigung des
Wertes der Naturalunterkünfte per Kopf bei den Gagisten circa 1048 K, bei
der Mannschaft circa 34 K). Dann die Versorgungsauslagen per 24*77 Millionen
mit fast 8 Proc, das Erfordernis für Montur und Eüstung per 18*33 Millionen
mit 6 Proc des Gesammterfordernisses und einer Kopfquote von ungefähr 58 K,
für Verwaltungs- und Betriebsauslagen von 15*23 Millionen und für Bauten und
bauliche Instandhaltungen von 14*78 Millionen mit je ungefähr 5 Proc, an
Auslagen für das Waffenwesen von 6*42 Millionen, für militärische Uebungen
und Versuche von 5*53 Millionen, endlich für Eemontierung von 6*71 Millionen
mit je rund 2 Proc. des Gesammterfordernisses. Die anderen geringeren Erfordernis-
beträge stellen nicht viel mehr oder weniger als 1 Proc. des gesammten Heeres-
erfordernisses dar.
Eine Zusammenstellung, beziehungsweise Vergleichung der von den wichtigsten
Erfordernissen der einzelnen Budgets auf einen Kopf entfallenden Quoten wird
weiter unten folgen.
Bei der Kriegsmarine gestaltet sich der Ueberblick der sachlichen
Gliederung folgendermaassen :
I
I
*) Die angeführten Kopfquoten beziehen sich nur auf das ordentliche Erfordernis
Bei Berechnung derselben wurden nur die auf dem Gagisten- beziehungsweise Mannschafts-
stande basierenden Erfordernisse in Betracht gezogen, während die auf dem Stande an
Zöglingen und an Invaliden beruhenden Präliininarbeträge unberücksichtigt blieben.
J)io Budgets der bewaffnetou Macht Oesterreich-Uiiganis für das Jalir 1900. 87
Sachlich gegliederte Uebersicht
der im
Ordiiiarium und Extraordiiiarium des Jahres 1900 für die k. und k. Kriegs-
marine präliminierten Ausgaben und Einnahmen.
sind p r ä 1 i m i n i e r t
O
Für
im
Ordinarium
K
im Extra-
ordinarium
K
Zusammen
K
II
HI
Persönliche Auslagen (Geldgebüren).
Activitätsbezüge :
1. Besoldungen ' 5^966.355
2. Andere Activitätsbezüge 928.849
Summe der Activitätsbeziige 6^895.204
Versorgungsbezüge 1,866.560
Summe der 'persönlichen Auslagen . .
Sachliche Auslagen.
Kur Verköstigung
Für Montur und Eüstung
Für Unterkunft
Für Bettenwesen
Für Heizung und Beleuchtung ....
Für Sanitätserfordernisse
Für Waffenwesen
Für Schiffbau, dann specielle Marine- \
auslagen i
Für Verwaltungs- und Betriebserforder- j
nisse \
Für Material-Instandhaltung
FürBauten und bauliche Instandhaltungen
Summe der sachlichen Auslagen . . . 17,228.770
Gesammt-Erfordemis
Hievon ab:
Bedeckung, und zwar:
1. Einnahmen, welche im Budget selbst-
ständig nachgewiesen u. vomGesammt-
erfordernisse des Ordinariums abge-
zogen werden j, 430.000
2. Eigene Einkünfte der Marineschulen, a
welche beim Titel 1, K des Ord. für '!
die Zahlung der Gebüren des an dm |j
Parallelclassen angestellten Lehrperso- !
nals beigezogen werden 4.48U
Summe der Bedeckung 434.480
Daher unbedecktes Erfordernis .... 125,556.054
Unbedecktes Erfordernis laut Budget . :25,556.050
Differenz infolge Abruudung ; -f- "^
ü
8,761.764
3,434.544
721.528
1,069.622
38.868
132.810
45.700
736.800
4,374.420
1,533.338
4,737.800
403.340
5/J66.355
928.849
6,895.204
1,866.560
25,990.534
3,800.000
7,655.800
1,852.850
601.800
— 18,910.450
il3,910.450
8,761.764
I 3,434.544
I 721.528
j 1,069.622
38.868
132.810
45.700
4,536.800
|l2,030.220
I 3,386.188
' 4,737.800
1,005.140
,31,139.220
39,900.984
13,910.450
13,910.450
— I 430.000
4.480
434.480
j39,466.504
,39,466.500
+ 4
gg Ullmann,
Im Budget der Kriegriuiarine betragen die sachlichen Ertordernisse circa
31"14 Millionen, also ungefähr 78 Proc, die persönlichen Auslagen 8*76 Millionen,
also ungefähr 22 Proc. dos gesammten Marineerfordernisses. Was zunächst diese
letzteren betrifft, so sind auch bei der Kriegsmarine das bedeutendste Erfordernis
derselben die Gagen, welche mit dem Betrage vun 4'25 Millionen (und mit
Hinzurechnung der Gagen des Arsenal-Meisterpersonals mit dem Gesammtbetrage
von 4*30 Millionen) circa 11 Proc, und die Löhnungen, welche mit 1*87 Millionen
circa 5 Proc. des Gesammterfordernisses darstellen. Biese ersteren vortheilen sich
mit circa 54 Proc. auf die Seeofficiere und Seecadetten, Geistliche, Auditore und
Aerzte und mit circa 46 Proc. auf die übrigen im Gagebezugc stehenden
Personen.
Veranschlagt war pro 1900 ein Stand von
660 Seeofficieren und Seecadetten,
68 Officieren in Localanstellung
9 Marinegeistlichen,
8 Auditoren,
62 Marineärzten,
453 Beamten,
53 Lehrpersonen,
13 Hilfs- und Aufsichtsorganeu,
108 Marinedienern,
108 Stabsunterofficiercn und überdies
77 Arsenals-Meistern und -Obermeistern.
Demnach beträgt der Gesammtstand an Gagisten — ohne das Meister-
personale — 1542 Personen, von welchen circa 52 Proc. auf die Seeofficiere,
Seecadetten, Geistliche, Auditoren und Aerzte, circa 33 Proc. auf Beamte und
Lehrpersonen, der Rest (15 Proc.) auf die übrigen Organe entfallen. Die Kopf-
quote der Gagen stellt sich auf ungefähr 2755 K und jene der Löhnungen —
bei einem Stande von 7803 Mann — auf ungefähr 240 K. Von den gesammten
Activitätsbezügen beträgt die erstgenannte Quote ungefähr 3195 K, die letztere
ungefähr 279 K.
Als das Haupterfordernis unter den sachlichen Auslagen erscheint hier
jenes für Schifinjauten und an speciellen Marineauslagen im Betrage von
12*03 Millionen mit mehr als 30 Proc. des gesammten Marineerfordernisses,
wovon ungefähr ^/g im Extraordinarium präliminiert sind und die zur Vermehrung
des Flottenstandes zu erbauenden Schiffe betreffen.
Unter den speciellen Marineauslagen sind jene für Feuerungsmaterialien
der Schiffe und für Utensilien der Kohlendepots hervorzuheben, wofür pro 1900
ein Erfordernisbetrag von 0*80 Millionen angesprochen wurde, der ungefähr
2 Proc. des Gesammterfordernisses gleichkommt.
Die nach diesen Erfordernissen zunächst in Betracht kommende Theilgruppe
der sachlichen Auslagen sind jene für Material-Instandhaltung mit 4*73 Millionen,
also circa 12 Proc. des gesammten Marineerfordernisses, was in der grossen
Menge an Materialvorräthen und Instandhaltungsobjecten seine Erklärung findet;
Die Budgets der bewaffneten Macht Oesterreich-Unganis für das Jalir 1900. 89
Aveitors die mit dein Erfordernisse für Schiffbauten correspondierendcn Auslagen
für Waffenwesen, das ist, in erster Linie für die Armierung der neuerbauten
Schiffe und für Munitionsbeschaffung mit dem Betrage von 4*53 Millionen, also
circa 11 Proc. des Marineerfordernisses; dann die ungefähr 8'5 Proc. des
Gesammterfordernisses darstellenden Verwaltungs- und Betriebsauslagen im Betrage
von 3'39 Millionen Kronen. Der grösste Theil der ersteren betrift"t die für
Zahlungen in Gold präliminierte Münzbewertungsdifferenz, von welcher sich circa
0*86 Millionen auf die im Ordinarium veranschlagten und circa TS Millionen
auf die im Extraordinarium veranschlagten Beschaffungen (Schiftsbauten) beziehen;
weiters die Unterkunftsauslagen von circa TG? Millionen und die Bauauslagen
von circa 1 Million. Diese betragen je 2*5 bis 3 Proc. des Gesammterfordernisses.
Von den Unterkunftsgebüren der Gagisten entfällt pro Kopf ein Betrag von
ungefähr 676 Z^.
Einen auffallend niedrigen Procentsatz (1*8 Proc. des Gesammterforder-
nisses) nehmen die Erfordernisse für Montnr und Rüstung mit 072 Millionen in
Anspruch, obgleich das auf einen Kopf der Mannschaft entfallende Erfordernis
circa S7 K — also um 27 K mehr als beim Heere — beträgt, ein Umstand, welcher
in der Art der bei der Kriegsmarine bestehenden Monturwirtschaft nach dem
Massa-Pauschalsysteme, insbesondere aber in der besseren Qualität und in den
höheren Preisen der Marine-Monturssorten seinen Grund findet.
Die geringen Erfordernisse für Heizung und Beleuchtung (0*13 Millionen =
0*3 Proc.) und für das Bettenwesen (0-04 Millionen = 0*1 Proc. des Gesammt-
erfordernisses) dürften wohl in den eigenartigen Lebensverhältnissen bei der
Kriegsmarine ihre Erklärung finden.
Ein Ueberblick über die in den Voranschlägen für die b e i d o n L a n d-
wohren enthaltenen, sachlich gegliederten Erfordernisansätze wird in folgenden
zwei Uebersichten gegeben. (Siehe Tabellen S. 90 und 91.)
Diese beiden Uebersichten enthalten nur die Erfordernisse an rein militä-
rischen Auslagen; die Erfordernisse für die Gendarmerie, für die Militär-Polizei-
wache, für die Civilorgane (mit Ausnahme des die Landwehr-Rechnungscontrole
ausübenden Eechnungsdepartements des k. k. Landesvertheidigungs-Ministeriums),
dann im Budget der ungar. Landwehr das Erfordernis an Witwen- und Waisen-
pensionen wurden nicht berücksichtigt.
Das Gesammterfordernis der österr. Landwehr stellt sich nach dem Budget
auf circa 39*54 Millionen, jenes der ungar. Landwehr auf circa 40'10 Millionen,
nach Abrechnung der beiderseitigen Bedeckungssiimmen auf 39'29 Millionen,
beziehungsweise 38*16 Millionen. Nach Hinzuzählung der im Landwehrbudget
nicht enthaltenen, im allgemeinen Pensionsetat veranschlagten Landwehrpensionen
beträgt das Erfordernis der k. k. österr. Landwehr 40*7 Millionen und nach
Abzug der Bedeckung 40*4 Millionen.
Der Stand der ungar. Landwehr ist ein etwas höherer als jener der österr.
Landwehr. Nach den Daten der Budgets zählt nämlich die erstere 3356 Gagisten
und 27.469 Unterofficiere und Soldaten, zusammen 30.825 Mann, die letztere
3132 Gagisten und 26.777 Unterofficiere und Soldaten, zusammen 29*909 Mann
90
Uli 11 um u.
Sachlich gegliederte Uebersicht
der im
Ordiiiariuiii und Extraordiiiariuin, dann im Investitionspräliminar des Jahres 1900 tür die
k. k. österreichisclie Landwehr veranschlagten rein militärischen Ausgaben und
pjinnahmen.
Für
sind p r ä 1 i m i 11 i e r t
Zusammen
im Extra-
Ordinarium ordinarium
Investitions-
i Präliminare
K
h
K
h
h
K
h
II
III
Persönliche Auslagen
(Geldgebüren).
Activitätsbezüge:
1. Besoldungen
2. Andere Activitätsbezüge
Summe der Activitätsbezüge
Versorgungsbezüge ....
Summe der persönl. Auslagen
Sachliche Auslagen.
Für Verküstigung:
1. der Personen
2. der Pferde
Summe der Auslagen für Ver-
köstigung
Für Montur und Rüstung
Für Unterkunft
Für Bettenwesen
Für Heizung und Beleuchtung
Für Sanitätserfordernisse . .
Für Waffenwesen
Für militär. Uebungen und
Versuche
Für Verwaltungs- und Be-
triebs-Erfordernisse . . .
Für Materialinstandhaltmig .
Für Bauten und bauliche
Instandhaltungen ....
Für Kemontierung .....
Summe der sachl. Auslagen .
Gesammt-Erfordernis
Hievon ab:
die Bedeckung, und zwar:
1. Eückerstattete, vom Land-
wehretatvorschuss weise be-
strittene Landesaufzahlun-
gen für Bequartierungs-
und Vorspannauslagen . .
2. Eigene Einnahmen der
Landwehr
Summe der Bedeckung . .
Daher unbedecktes Erforder-
nis
10,446.771
2,906.710|
10,446.771
2.906.710
18,353.481'
'31.183.209,
14,536.690! -
7,072.118
1,376.648
8,448.766
2,373.903
6,005.729
234.692
439.917
143.400
1,571.570
1,022.352
3,274.451
78.212
110.792
1,074.236
24,778.020
39,314.710
194.000
47.800
241.800
39,072.910
135.200
400.000
4.000
7.370
546.570
546.570
546.570
13,353.481
1,183.209
14,536.690
7.072.118
1,376.648
x.äO.OOO
850.000
850.000
850.000
8,448.766
2,373.903
6,140.929
234.692
439.917
143.400
1,971.570
1,022.352
3,274.451
78.212
964.792
1.081.606
26,174.590
40,711.280
194.000
47.800
241.800
40,469.480
') In diesem ßetrage sind die im allgeaieiuen Pcusiousetat präUmiulerteu Pensionen f jr Landwehr-
augehörige inbegriffen.
Die Bucigets der bewaffneten Macht Oesterreich-Ungarns für das Jahr 1900. 91
Sachlich gegliedente Uebepsicht
der im
Ordinarium und Extraordinarium, dann im Investitionspräliminar des Jahres 1900
für die k. ungarische Landwehr (Honved-Truppe) veranschlagten rein unlitär-
rischen Ausgraben und Einnahmen.
o
Für
sind präliininiert
im
Ordinarium
K
im Extra-
ordinarium
K
im
Investitions-
präliminar
K
Zusammen
K \h
II
III
Persönliche Auslagen
(Geldgebiiren).
Activitätshezüge:
1. Besoldungen
2. Andere Activitätsbeziige
Summe der Activitätsbeziige
Versorgungsbezüge . . . .
Sunmio der persönl. Auslagen
Sachliche Auslagen.
Für V^erköstigung:
1. der Personen
2. der Pferde
Summe der Auslagen für Ver-
küstigung
Für Montur und Rüstung
Für Unterkunft
Für Bettenwesen
Für Heizung und Beleuchtung
Für Sanitätserfordernisse . .
Für Waffenwesen
Für militär. Uebungen und
Versuche
Für Verwaltungs- und Be-
triebs-Erfordernisse . . .
Für Materialinstandhaltung .
Für Bauten und bauliche
Instandhaltungen . . . .
Für Remontierung
Summe der sachl. Auslagen .
Gesammt-Erfordernis . . .
Hie von ab:
die Bedeckung, und zwar:
Einnahmen der Landwehr-
Truppen und -Anstalten .
Daher unbedecktes Erforder-
11,443.886
2,.J91.799
14,035 686
')1,756.389
1.5,792.0^5
5,604.096
1.907.229
7,511.326
2.600.583
3,240.155
231.941
362.900
369.695
1,302.659
690.000
3,296 035
7.000
47
148.640
47
148.640
11,443.886
2.740.439
148.640
54
1,382,. 504 02
1,364.352 50
167.000-
20.000
22,359.155
38,151.231
541.376
37,609.855
98
45
45
48.200
235.200
1,570.000
1,570.000
383.840
1,400.000
1,016.160
1,570.000
1,570.000
14,184.326
1,756.389
15,940.715
5,604.096
1,907.229
7,511.326
2,767.583
3,240.155
231.941
362 900
369.695
1,322.659
690.000
3,296.035
7.000
2,952.504
1,412.552
24,164.355
40,105.071
1,941.376
38,163.695
47
54
45
') Nach Abzug der Penstonen etc. fler Witwen und Waisen nach Landwehrpersonen und d*r im
Heeresbtidget präliminierteu Pensionsquoten.
92 UUmami. •
Hiedurcli erklärt sich zum Theile das höhere Erfordernis der uiigar. Landwehr
an Besoklungen, an persönlichen Auslagen überhaupt und bei einigen anderen
Gruppen. Für Besoldungen veranschlagt nämlich die österr, Landwehr rund
10"44 Millionen = 25*4 Proc. die ungar. Landwehr rund 11*44 Millionen =
28*8 Proc; an anderweitigen Activitätsbezügen die österr. Landwehr 2*90 Mil-
lionen = 7*1 Proc, die ungar. Landwehr 2*74 Millionen = 6*7 Proc. des
Gesammterfordernisses. Die rein militärischen Versorgungsbezüge der österr.
Landwehr betragen, mit Berücksichtigung der im Capitel 31, Allgemeiner
Pensionsfond, des österr. Staatsvoranschlages veranschlagten Landwehrversorgungs-
bezüge circa 1*18 Millionen = 4*1 Proc. des Gesammterfordernisses, jene der
ungarischen, und zwar mit Hinweglassung der Witwen- und Waisenpensionen
und der im Heeresbudget präliminierten Pensionsquote circa 1*75 Millionen =
4*8 Proc. des Gesammterfordernisses. Die persönlichen Landwehrauslagen im
allgemeinen stellen sich für Oesterreich auf rund 13*36 Millionen = 15*03 Proc.
und mit Berücksichtigung der erwähnten beim Pensionsfond des österr. Staats-
voranschlages präliminierten Landwehrpensionen auf circa 14*53 Millionen =
36*6 Proc. vom Gesammterfordernisse.
Die Verköstigung der Mannschaft stellt sich, wie es scheint, in der ungar.
Landwehr billiger, als in der österr., da für diesen Zweck in der ersteren trotz
des höheren Mannschaftsstandes nur 5*t)0 Millionen = 13*9 Proc, in der
letzteren hingegen 7*07 Millionen = 17*2 Proc. der Landwehrerfordernisse ange-
sprochen werden.
Für Pferdefutter präliminiert die österr. Landwehr 1*37 Millionen =
3*3 Proc, die ungar. 1*90 Millionen = 4*7 Proc. des Gesammterfordernisses.
Der Activstand an ärarischen Pferden beträgt bei der ersteren 2077, bei der
letzteren 3634; hiezu kommen noch in Oesterreich 4435, in Ungarn 6915
Eeservepferde, welche, obschon Eigenthum des Aerars, bei Privaten in Benützung
stehen und nur zu Waffenübungen einberufen werden.
Als Folge des höheren Mannschaftsstandes der ungar. Landwehr dürfte auch
anzusehen sein, dass die Montursauslagen derselben mit 2*76 Millionen =
6*9 Proc, jene der österr. Landwehr bloss mit 2*37 Millionen = 5*8 Proc, die
Verwaltungsauslagen der ersteren mit 3*30 Millionen = 8*1 Proc. jene der
letzteren 3*27 Millionen = 7*9 Proc. des Landwehrerfordernisses präliminiert
wurden. Auf die billigeren Mannschafts-Bequartierungsverhältnisse der ungar.
Landwehr scheint der Umstand hinzuweisen, dass die Auslagen für Unterkunft
und für Betten wesen der Landwehr trotz des höheren Mannschaftsstandes sich für
Ungarn bedeutend niedriger stellen als die gleichen Auslagen der österr. Land-
wehr. Für diese Erfordernisse präliminiert nämlich Oesterreich circa 6*14 Millionen
oder 14*9 Proc, Ungarn nur circa 3*24 Millionen oder 8 Proc vom Gesammt-
erfordernisse. Hiebei kommt jedoch in Betracht, dass pro 1900 für Instandhaltung
und Bau von ünterkunftsobjecten für die ungar. Landwehr um das Dreifache
mehr, als für die österreichische, nämlich circa 2*95 Millionen = 7*3 Proc. des
Gesammterfordernisses veranschlagt sind, davon für Neubauten von Kasernen
1*57 Millionen im Investitionsbudget (unter gleichzeitiger Nachweisung des zur
Bedeckung dieses Erfordernisses aufgenommenen Darlehens als ausserordentliche
Die Budgets der bewaffneten Macht Oesterreich-Ungarns für das Jahr 1900. 93
Einnahme). Für die österr. Landwehr werden pro 1900 für Bauten und hanliche
Instandhaltungen nur circa 0*96 Millionen = 2*3 Proc. — darunter 0*85 Mil-
lionen für Kasernenbauten im Investitionsbudget — präliminiert.
Die ßemontierungs- beziehungsweise Pferdebeschaffungs-Auslagen stellen
sich für die österr. Landwehr auf circa 1'08 Millionen oder 2'6 Proc, für
die Ungar. Landwehr auf circa 1'41 Millionen oder 3'5 Proc. des Gesammt-
erfordernisses.
Die auf einen Kopf der Mannschaft, beziehungsweise der G-agisten ent-
fallenden Erfordernisse gestalten sich in den beiden Landwehren folgender-
maassen:
Die vom Gesammterfordernisse an Gagen auf einen Kopf entfallende Quote
ist in der österr. Landwehr annäherungsweise dieselbe wie im gemeinsamen
Heere und beträgt in der ersteren circa 2625 K, im Heere, wie erwähnt, circa
2635 K. Die gleiche Kopfquote stellt sich in der ungar. Landwehr auf ungefähr
2760 K, ist also, um rund 130 K höher als die beiden genannten. An Löhnung
entfällt in der österr. Landwehr ungefähr 85 K (im Heere ungefähr 70 K), in
der Ungar. Landwehr circa 80 K auf einen Kopf. Die höheren Besoldungsquoten
in der Honvedarmee lassen sich etwa durch das ungünstigere Verhältnis der Zahl
der niederen zu jenen der höheren Chargen erklären.
Die Verköstigung stellt sich, wie schon erwähnt, in der ungar. Landwehr
billiger als in der österreichischen; es betragen die hiefür auf einen Mann ent-
fallenden Auslagen in der ersteren circa 185 K, in der letzteren circa 188 K.
Hingegen kostet das Monturserfordernis pro Mann in der ersteren circa 86 K,
in der letzteren 61 ^.
Fast gleich sind in beiden Landwehren die pro Kopf entfallenden Erforder-
nisse für Heizung und Beleuchtung, dann für Betten. Das erstere beträgt für
beide Landwehren je 13 Ä", das letztere für die österr. Landwehr 9 K, für die
Ungar. 8 K.
Die Pro Kopf-Quote des Erfordernisses für Unterkunft endlich stellt sich in
der österr. Landwehr bei den Gagisten auf circa 825 K, bei der Mannschaft auf
66 K und mit Hinzurechnung der vorschussweise bestrittenen Landesaufzahlungen
von circa 5'5 K per Kopf bei der ersteren auf circa 830 K, bei den letzteren
auf circa 1\ K.
Für die ungar. Landwehr stellen sich mit Eücksicht auf die billigere Be-
quartierung auch die kopfweisen Unterkunftsauslagen niedriger als für die
österr. Landwehr. Es entfällt — bei Berücksichtigung des Wertes der dem Aerar
gehörigen Natural-Unterkunftsobjecte — auf einen Gagisten ein Durchschnitts-
erfordernis von ungefähr 807 K, auf einen Mannschaftskopf ein solches von
circa 24"5 K.
Die im Vorstehenden erwähnten kopfweisen Durchschnittsauslagen für die
wichtigsten Erfordernisse zur Erhaltung der Truppen des Heeres, der Kriegs-
marine und der beiden Landwehren sind in der folgenden Zusammenstellung
übersichtlich dargestellt :
94
UUmann.
A n
entfällt pro Kopf ein Erfordernis
bi-im
gemein
Heere Kriegs-
marine
bei der
gemein-
samen
bei der bei der
k. k. österr. k. ungar.
Landwehr
von Kronen rund
Persönlichen Ausladen :
a) Gagen ....
b) Löhnungen . .
cj Andere Activitätsbezüge für
Zusammen, und zwar für . .
Gagisten
Mannschaft
( Gagisten
( Mannschaft
Sachliche (Verwaltung8-)Auslagen der Truppen :
f Gagisten
und zwar für '
[ Mannschaft
,T , ,1 ( Gagisten
Verköstigungsauslagen, und zwar für '.
{ Mannschaft
( Gagisten
Monturauslagen, und zwar für . . ^
l Mannschaft
( Gagisten
ünterkunftauslagen, und zwar für \
V Mannschaft
( Gagisten
Bettenauslagen, und zwar für . . >
V Mannschaft
Heizungs- und Beleuchtungsauslagen,
/ Gagisten
und zwar für i^ , .,
l Mannschaft
Rs entfällt daher ein Durchschnittserfordernis:
auf einen Gagisten von
„ ,. Mannschaftskopf von
2635
70
92
24
2727
94
122
122
206
58
1048
34
3897
531
2755
240
440
30
3195
279
1014
1014
671
304
87
G76
5556
1694
2625
85
275
42
2900
127
143
143
188
61
830
71
13
3873
612
2760
80
180
67
2940
147
183
183
185
86
807
24-5
13
3930
646-5
II
Die folgende Tabelle bietet einen Ueberblick der Eesultate der sachlichen
Gliederung und zugleich eine Zusammenstellung des gesammten Gelderfordernisses
der bewaffneten Macht Oesterreichs und Ungarns. Ueberdies sind aus derselben
die Procentverhältnisse der einzelnen Erfordornisgruppen zum Gesammterfordernisse
ersichtlich. (Siehe Tabellen S. 96 und 97.)
Die Budgets der bewaffneten Macht Oesterreich-Ungarns für das Jahr 1900. 95
Hienach stellt sich das Gesammterfordernis für die bewaffnete Macht Oester-
reichs und Ungarns — nach Abzug- der Bedeckung — auf circa 408*66 Millionen
Kronen, und mit Hinzurechnung der im Voranschlage der Landesregierung für Bosnien
und die Herzegowina veranschlagten Auslagen für die Erhaltung der bosnisch-
herzegowinischen Truppen per 4*65 Millionen auf circa 413*32 Millionen Kronen.
Wird nun das Gresammterfordernis (ohne die Auslagen für die letzt-
erwähnten Truppen) dem gesammten Activstande des gemeinsamen Heeres, der
gemeinsamen Kriegsmarine, der österr. und der ungar. Landwehr in der Stärke
von circa 400.000 Mann entgegengestellt, so entfällt auf einen Kopf eine Gesammt-
erfordernisquote von circa 1022 K.
Auf die beiden Theile der Monarchie vertheilt sich dieses Gesammt-
erfordernis, wie folgt:
Auf Oesterreich entfallen die Landwehrauslagen im
Betrage von circa 40*47 Millionen
dann die 65*6 proc. Quote der gemeinsamen Heeres- und
Marineauslagen im Betrage von circa 216*50 „
zusammen . . , 256*97 Millionen
Auf Ungarn entfallen die Landwehrauslagen im Betrage
von circa 38"16 Millionen
und die 34*4proc. Quote an den gemeinsamen Heeres- und
Marineauslagen im Betrage von circa 113*53 „
zusammen . . . 151*69 Millionen
Aus dem Zusammenhalte dieser beiderseitigen Antheile mit den Gesamrat-
erfordernissen der beiderseitigen Staatsvoranschläge, und zwar des österr. Staats-
voranschlages mit der Erfordernissumme von rund .... 1655*96 Millionen
und des ungar. mit der Erfordernissumme von rund .... 1060*94 ,,
zusammen per . . . 2716*09 Millionen
ergibt sich, dass auf die Auslagen für die bewaffnete Macht (ohne Gendarmerie,
Militärpolizeiwache und Civilorgane) in Oesterreich circa 15*5 Proc, in Ungarn
circa 14*3 Proc. des Gesammterfordernisses entfallen, beziehungsweise, dass in
Oesterreich-Ungarn für das Jahr 1900 rund 15 Procent aller Staatsauslagen
für die Erfordernissse der bewaffneten Macht veranschlagt wurden. In Bosnien
und der Herzegowina entfallen ungefähr 11*2 Proc. der gesammten Auslagen des
Landesbudgets auf militärische Erfordernisse.
Wird die Einwohnerzahl Oesterreichs approximativ mit 26 Millionen, jene
Ungarns mit 19 Millionen angenommen, so entfällt auf einen Einwohner in
Oesterreich von dem Erfordernisse des Gesammtbudgets von 1655*96 Millionen
eine Kopfquote von rund 63*5 K und in Ungarn von dem Erfordernisse des
Gesammtbudgets von 1060*94 Millionen eine Kopfquote von rund 56 K, wovon —
bei Berücksichtigung der früher erwähnten beiderseitigen Militärerfordernissummen —
auf die Auslagen für die bewaffnete Macht ein Theilbetrag in Oesterreich von
rund 10 K, in Ungarn von rund 8 K zu rechnen ist. In Bosnien und der
Herzegowina beträgt die auf einen Einwohner entfallende Quote des Erfordernissos
für die Erhaltung der Truppen circa 2*5 K.
96
UUmann.
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Zeitschrift für Volkswirtscliaft, Socialpolitik und Verwaltung. X. Band.
EIN EÜCKBLICK
AUF DIE
1
ENTWICKLUNG DER TßlESTER LAGERHÄUSER.
VON
DK- GUSTAV LIPPERT.
Die Nothwendigkeit öffentlicher Lagerhäuser bestand in Triest lange Zeit
nicht, da für die Aufnahme der zur See, sowie zu Lande ankommenden Waren
durch zahlreiche, den Kaufleuten gehörige Niederlagen gesorgt war.^) Mit dem
Bau der Südbahn (1857) sind die ersten grösseren öffentlichen, Bahnzwecken
dienenden Magazine entstanden, deren ansehnlichstes der Frachtenbahnhof war.
an dessen Stirnseite befand sich ehemals ein Getreideschüttboden, weshalb dieser
Theil des Gebäudes mit der Bezeichnung Silos 2) belegt wurde. Späterhin baute
die Südbahn auf dem Anschüttungsgebiete im neuen Hafen das Magazin Ä für
pour quintal de Vienne
ou lib. 114 poids de
mar eh.
1) In der kurzen Zeit der französischen Herrschaft (1811 — 1813) wurde vorüber-
gehend das System des Entrepöt fictif und Entrepöt röel eingeführt. Das kaiserliche
Decret über die Organisation lUyriens vom 15. April 1811 verfügt im § 174: „L'entrepöt
fictif est accorde k la ville de Tiieste." Das kaiserliche Decret vom 20. September 1812
bestimmt in Art. I.: „Toutes les marchandises refues dans Tentrepöt röel de Trieste
paieront indistinctenient un raagasinage qui demeure provisoirement rögle, aiusi:
pour le premier raois de leur mise en entrepöt . Francs 0'50
„ „ second „ „ 1-—
„ „ troisierae mois „ !• —
„ „ quatrieme mois „ 1' —
„ chaque mois au-dessus du quatrieme .... „ 150
Art. II. Suivant l'usage actuel, les marchandises et denre'es provenant de l'Empire
fran9ais et de notre royaume d'ltalie ne paieront que la moitie des droits de magasinage
fixes par l'article precedent."
(Das Entrepöt reel steht unter zollämtlicher Mitsperre, das Entrepöt fictif nicht;
bei letzterem müssen die auf den eingelagerten Waren haftenden Zölle sichergestellt
werden.)
*) Seit 1891 befindet sich zu ebener Erde im Frachtenbahnhofe das provisorische
Spiritus-Freigebiet, Magazine von 2778 m' Ausdehnung, welche die Lagerhausverwaltung
von der Südbahn um jährlich 9720 fl. mietete. Im März 1899 hat die Lagerhausvervvaltung
wegen Eaummangels den Silos um jährlich 16.000 fl. in Miete genommen. Die hierdurch
erhaltenen Belegräume sind zu ebener Erde und im ersten Stocke zusammen 7245 w^.
Sie dienen zur Einlagerung von über die ZoUinie gegen Ausfubrsbonification austretendem,
unversteuertem Zucker, dann von Häuten, Baumwollsamenöl u. s. w.
Ein Eückblick auf die Entwicklung der Triester Lagerhäuser. 90
freie Güter, das Magazin 13 für Ansagegüter und ein Petroleummagazin, die auch
heute noch fast unverändert bestehen.
Der Gedanke, in Triest ein öffentliches Lagerhaus zu errichten, trat zum
erstenmale Ende der siebziger Jahre in den Vordergrund, als die Einbeziehung
Dalmatiens und Istriens, oowie auch der occupierten Länder in das allgemeine
Zollgebiet vorbereitet wurde.') Man fasste damals den Bau einer Zollgebietsniederlage
im ehemaligen Zollausschlusse von Triest ins Auge, welche die Bestimmung haben
sollte, den vom Inlande nach Dalmatien versendeten Waren ohne Schwierigkeiten
und lästige Controle ihren Charakter als im freien Verkehre des Zollgebietes
befindlich zu wahren. Als Muster schwebte vor die 1870 im Hamburger Frei-
hafen durch eine Actiengesellschaft mit einem Capitale von einer Million Thalern
auf einem vom Staate billig überlassenen Grunde im Ausmasse von 492 ha
errichtete Hamburger Zollvereins-Niederlage, deren Aufgabe war, den Hamburger
Zwischenhandel mit Erzeugnissen des deutschen Zollgebietes nach Holstein,
Mecklenburg und Lauenburg zu vermitteln.
Vom Zeitpunkte der Aufhebung des Freihafens^) angefangen würde die für
Triest geplante Zollgebietsniederlage als solche selbstverständlich überflüssig
geworden sein, weshalb ihre Räumlichkeiten und Einrichtungen von da an als
Niederlagen für ausländische Einfuhrgüter zu verwenden gewesen wären.
Dass der Verkehr inländischer Waren nach Dalmatien und den occupierten
Ländern über Triest vermöge seines nicht sehr bedeutenden ümfanges — im
jährlichen Durchschnitte bei 150.000 Metercentner zollpflichtiger Artikel — den
Bau eines grossen Warenhauses allein nicht rechtfertigen konnte, lag auf der
Hand. Die Niederlage hätte daher, um eine vollwertige Aufgabe zu erfüllen,
auch einer erweiterten Bestimmung, nämlich der Einlagerung von Losungs- und
Manufacturwaren, dann von ausländischem Tabake, inländischem, zur Ausfuhr
bestimmten Zucker, Dalmatiner und Istrianer Oelen dienen sollen.
Nach einer ungefähren Schätzung, wobei auch die zukünftige Bestimmung
als Freilager in Betracht gezogen war, erschien für das etwa aus drei Gebäuden
bestehende neue Lagerhaus ein Belegraum von 16.000 m' erforderlich. Der Kosten-
aufwand wurde auf 400.000 — 480.000 fl. bei Aufführung von Steinmauern, Riegel-
1) Bosnien und die Hercegowina sind durch das Gesetz vom 20. Decemher 1879,
U.-G.-Bl. Nr. 136, mit dem 1. Jänner 1880 in das auf Grundlage des Zoll- und Handels-
bündnisses vom 27. Juni 1878, R.-G.-Bl. Nr. 62, bestehende allgemeine Zollgebiet der
österreichisch-ungarischen Monarchie aufgenommen worden. Mit dem gleichen Zeitpunkte
wurden durch das Gesetz vom 20. Decemher 1879, R.-G.-Bl. Nr. 137, die bis dahin als
Zollausschlusse behandelten Theile der Markgrafschaft Istrien mit den quarnerischen
Inseln und das ein besonderes Zollgebiet bildende Königreich Dalmatien einbezogen.
2) Der Artikel IV des Gesetzes vom 27. Juni 1878, R.-G.-Bl. Nr. 62, betreifend
die Vereinbarung eines Zoll- und Handelsbtindnisses zwischen den im Eeichsrathe ver-
tretenen und den Ländern der ungarischen Krone enthielt die ganz allgemein gefasste
Bestimmung: „Die bestehenden Zollausschlüsse sollen aufgehoben werden." Der § 2 des
Gesetzes vom 21. Mai 1887, R.-G.-Bl. Nr. 48, verfügte sodann, dass die Einbeziehung
der Freigebiete von Triest und Fiume in das allgemeine Zollgebiet spätestens mit dem
31. Decemher 1889 stattzufinden habe, eine Frist, welche durch das Gesetz vom
30. April 1889, R,-G.-Bl. Nr. 63, endgiltig bis zum 1. Juli 1891 verschoben wurde.
7*
100 Lippert.
wänden und Eisenbedachung, beziehungsweise auf mehr als 500.000 fl. bei Ver-
wendung eiserner Riegel und Traversinen voranschlagt.
Schon damals (Frühjahr 1879) wurde die Frage des staatlichen oder
privaten Betriebes aufgeworfen ; man neigte sich aber letzterem zu. Unter Zugrunde-
legung einer ziemlich massigen Warenbewegung,, etwa einem (alle zwei Monate
sich erneuernden) Stocke von 20.000 Metercentner wurden jährlich 40.000 —
50.000 fl. als voraussichtliche Lagerzinseinnahmen berechnet, worin, nachdem
die Deckung der Eegieauslagen durch die Manipulationsgebüren erfolgen sollte, die
erforderliche Verzinsung und Tilgung des Baucapitals weitaus enthalten war.
Zur Errichtung dieser eben besprochenen Niederlage kam es nun allerdings
nicht. Nach mehreren im Frühjahre 1879 erst in Wien, hierauf in Triest unter
Zuziehung der betheiligten Kreise und im Beisein der Vertreter der Behörden
abgehaltenen Berathungen und Besprechungen wegen Baues einer Zollgebiets-
niederlage, sowie von Freilagern in Triest fand die ganze Frage in erweiterter
und vergrösserter Form vorläufig den Abschluss, dass man die Verwirklichung
eines umfangreicheren, namentlich den Verkehr im Grossen und die fernere
Zukunft des Eeichshafens berücksichtigenden Projectes ins Auge fasste. Es wurde
betont, dass die Errichtung der öffentlichen Lagerhäuser eine Ersparung der
Auslagen für die Gütermanipulation im Gefolge haben werde, die rascheste, weil
bloss figürliche Uebertragung der Waren durch Indossierung der Lagerscheine
ermögliche und den Vortheil der Abhaltung von Märkten und Versteigerungen
biete. Der Triester Hafen, obwohl in neuerer Zeit bedeutend verbessert, entbehre,
im Gegensatze zu den übrigen grossen Häfen, immer noch jener Anlagen, welche
seine Leistungsfähigkeit im Wettbewerbe erhöhen, daher ausgeführt werden
müssen, um den Wettkampf aufnehmen zu können. Schon mit Rücksicht auf Fiume
sei die Errichtung grösserer Warenhäuser für den grossen Weltverkehr geboten.
Von Seite der damaligen Vertreter der Handels- und Gewerbekammer wurde
übrigens der Standpunkt eingenommen, dass im Interesse der Inhaber der Stadt-
magazine die Einlagerung ausländischer, unverzollter oder zollfreier Waren in
die neuen Lagerhäuser nicht zuzulassen sei, indem durch diese Gestattung die
Aufhebung des Freihafens angebahnt werde, eine Maassnahme, für welche sich
die Kammer nicht aussprechen könne.
Die Pläne für die auf Grund der Commissionsbeschlüsse vorzunehmenden
Bauten wurden vom Inspector der General-Inspection der Eisenbahnen Hein dl
in der Schlussitzung am 15. Mai 1879 vorgelegt.
Zur Ausführung des Projectes schritt jedoch die Regierung nicht selbst,
da es angemessener erschien, das ganze Lagerhausunternehmen nicht in die
Hände der zu wenig beweglichen staatlichen Verwaltung zu legen, sondern einer
streng commerziellen Leitung zu unterstellen, welche die Lage des Augenblickes
ausnützen kann, durch jeweils zugestandene Begünstigungen Waren anzuziehen
und dem Wettbewerbe anderer Pfötze zu begegnen versteht.
Mitte des Jahres 1879 wurden demnach durch den Erlass des Handels-
ministeriums vom 28. Juni 1879, Z. 20.487, die Ausschreibungsbestimmungen
für die Offertverhandlung behufs Erlangung der Concession zum Baue und
Betriebe von öffentlichen Lagerhäusern in Triest verlautbart und darin bekannt
Ein Rückblick auf die Entwicklung der Triester Lagerhäuser. 101
gegeben, die Regierung beabsichtige, im neuen Hafen^) von Triest den Bau und
Betrieb öffentlicher Lagerhäuser zu gestatten. Dieselben würden theils Freilager
für nationale Waren im Sinne des § 2, Punkt 1 h, theils Warenhäuser für zoll-
und steuerfreie oder bereits verzollte und versteuerte Waren im Sinne des § 2,
Punkt 2 der Verordnung vom 19. Juni 1866, E.-G.-Bl. Nr. 86, endlich Güter-
schoppen (Hangars) sein.
Mit dem Zeitpunkte der Aufhebung des Freihafenprivilegiums von Triest
würden diese Freilager, Warenhäuser und Güterschoppen ganz oder theilweise in
Freilager für unverzollte ausländische Waren im Sinne des § 2 Punkt 1 a der
bezogenen Verordnung umgewandelt werden.
') Der Grund und Boden für die neuen Lagerhäuser war durch Anschüttung an
jener Stelle des Meeres entstanden, wo sich ehemals Triests freie Rhede und das von
der Kaiserin Maria Theresia zufolge Entschliessung vom 15. Jänner 1765 im März
jenes Jahres begonnene, am 26. Juli 1769 mit einem Gesammtkosten-Aufwande von
306.402 fl. vollendete neue See-Lazareth, dann der späterhin eriichtete Eisenbahnhafen
befunden hatte.
Der Hafenbau war in dem denkwürdigen, vielumstrittenen üebereinkommen (das-
selbe trägt die Unterschriften: Wüllerstorf. Für das Finanzministerium in Vertretung
des Ministers Lakenbacher;k.k. priv. SüdbahngesellschaftHopfen, Elio de Morpurgo)
vom 13. April 1867, R.-G.-Bl. Nr. 69, welches in Gemässheit Allerhöchster Ermächtigungen
vom 30. Juni 1866 und vom 9. April 1867 zwischen den k. k. Ministerien der Finanzen
und des Handels einerseits und der k. k. priv. Südbahngesellschaft andererseits
geschlossen wurde, vom Staate der Südbahn übertragen worden, Die Gesellschaft ver-
pflichtete sich, das von ihrem Inspector Friedrich Bömches unter Oberaufsicht des
Inspecteur genöral des Ponts et Chausse'es H. Pascal in Paris geleitete Werk nach
den Plänen des französischen Ingenieurs Talabot, des Erbauers des Hafens von Marseille,
bis zum 31. December 1878 gegen eine in zwölf Jahresraten zu bezahlende Pauschal-
summe von 13,500 000 fl. ö. W. sammt Verfallszinsen fertigzustellen. Die Südbahn
war rücksichtlich der Hafenbauten lediglich wie ein Bauunternehmer für Rechnung des
Staates anzusehen. Alle ausserhalb der Bahnhofgrenzen ausgeführten Arbeiten giengen
daher unmittelbar in das Eigenthum des Staates über.
- Der der Vollendung des Baues gesetzte Zeitpunkt wurde mehrmals, anfänglich bis
31. December 1878 (Gesetz vom 19. Mai 1874, R.-G.-BL Nr. 84), dann bis 31. De-
cember 1880 (Gesetz vom 6. Jänner 1878, R.-G.-Bl. Nr. 10) hinausgeschoben und auch
die Ziffer des Entgeltes etwas geändert.
Nach dem ursprünglichen Tilgungsplane betrug die Gesammtschuldigkeit des
Staates an die Südbahn sammt Verfallszinsen 14,713.750 fl.
wovon 230.000 „
wegen theilweiser Einschränkung der ursprünglich geplanten Ausführungen
in Abzug zu bringen sind, verbleiben somit 14,483.750 fl,
Eine Vergrösserung der Hafenanlagen auf Staatskosten (um 4,880.000 fl.) bewilligte
das Gesetz vom 4. Juni 1887, R.-G.-BL Nr. 83, und zwar zur Verbreiterung der Ufer-
fläche nordseits sowie zum Bau eines vierten Hafenbeckens südseits des neuen Hafens,
für die Erweiterung der Uferfläche nächst dem Molo S. Teresa, endlich zur Herstellung
von Hafen- und Bahnanlagen in der Bucht von Muggia für den Petroleumhandel.
Demnach sind in runder Summe nahezu I9Y2 Millionen Gulden „ins Meer
geworfen".
Die im Falle des Baues einer zweiten Bahnverbindung zu gewärtigende Verkehrs-
steigerung, dann die schon jetzt fühlbare Beengtheit des Raumes haben Anlass gegeben.
Erweiterungen der Hafenanlage durch Herstellung des Sanitätsmolos, Verbreiterung der
Riven im alten Hafen, ferner durch Bau eines Molos und einer Riva für ein Hafenbassin
] 02 Lippeit.
Die Inbetriebsetzung der Lagerhäuser und Güterschoppen habe längstens
am 1. Jänner 1880 in allen Theilon zu erfolgen.
Der Gesammtflächenraum der sechs in Aussicht genommenen Lagerhaus-
gebäude (mit Ausschluss der Perrons) sollte 22.577 in^, jener der beiden Güter-
schoppen am Molo II je 1349 m^, zusammen 2698 m^, betragen. Nach der
Baubeschreibung und den derselben beigegebenen Plänen waren sämmtlicbe
Gebäude als ebenerdig gedacht, woil sich die Aufführung von Stockwerken wegen
der Natur des hoch nicht zur Ruhe gekommenen Untergrundes nicht empfahl.
Die Regierung behielt sich das Recht vor, die concessionsmässige Ausführung
zu überwachen und eine Ueberprüfung der Gesammtanlage vorzunehmen. Zwei
Gebäude sollten ausschliesslich als Freilager für die aus dem Zollgebiete unter
Wahrung ihrer Nationalität ausgeführten Waren dienen, zwei andere als Waren-
häuser für Einfuhrgüter mit Ausnahme') von Colonialwaren (ausschliesslich des
Zuckers) und Südfrüchten, ferner mit Ausnahme von Bau-, Brenn- und Werk-
holz, Kohlen, Kalk, Gips, Cement, Ziegeln, gewöhnlichem Töpfergeschirr, rohen,
unbearbeiteten Steinen und Hadern. Die Bestimmung des fünften Gebäudes sollte
von der Regierung nach Vernehmung des Concessionärs festgestellt werden. In
dem sechsten Gebäude waren Cabinen zur Manipulation und zum Verkaufe von
inländischen Erzeugnissen thunlichst in dem von Parteien gewünschten Flächen-
maasse einzurichten.
Für die Niederlage oder die hinterlegten Waren schädliche Gegenstände,
namentlich feuersgefährliche, durften nicht in die Lagerhäuser gelangen.
Für die zu verbauende Grundfläche sollten der Staatsverwaltung jährlich
500 fl. als Grundzins zu entrichten sein und nach Ablauf der Concessionsdauer
alle auf der ärarischen Grundfläche aufgeführten Baulichkeiten nebst den zum
Lagerhausbetriebe vorhandenen Einrichtungen unentgeltlich in das Eigenthum des
Staates übergehen.
Die Staatsverwaltung behielt sich überdies das Recht vor, auch vor Ablauf
der Concessionsdauer, jedoch nicht früher als fünf Jahre vom Tage der Betriebs-
eröffnung angefangen, nach vorausgegangener Kündigung sämmtliche oder ein-
zelne Baulichkeiten mit ihren Betriebseinrichtungen gegen Ersatz der gehörig
bei der Spitze von S. Andrea im Anschlüsse an den Holzlagerplatz um die Gesammt-
sumnie von 6 Millionen Gulden ins Auge zu fassen. Zur Bestreitung dieser Kosten
gedachte die Staatsverwaltung, von der Stadtgemeinde ein Darlehen von 6 Millionen Gulden
gegen Rückzahlung in Jahresraten von 500.000 fl. und Verzinsung der ausständigen
Beträge mit 374 Pi'oc. jährlich aufzunehmen. Die betreffende, dem Abgeordnetenhause
in der XVI. Session am 22. November 1899 überreichte Regierungsvorlage ist infolge
des Stillstandes der parlamentarischen Maschine unaufgearbeitet geblieben. Neuerdings
(Herbit 1900) hat die Stadtgemeinde sich bereit erklärt, der Staatsverwaltung jenen
Betrag behufs Inangriffnahme der Erweiterungsbauten zur Verfügung zu stellen, welcher
das Opfer darstellt, das die Stadt im Falle der legislativen Genehmigung des Gesetz-
entwurfes zu bringen gehabt hätte, nämlich den Betrag von 500.000 fl. In dem in
Aussicht genommenen üebereinkommen ist als letzte Frist für den Beginn der Arbeiten
der 1. Jänner 1901 festgesetzt.
^) Angesichts des Misstrauens, welchem das Unternehmen in der Triester Bevölkerung
begegnete, wurde den Lagerhäusern für den Anfang eine beschränktere Aufgabe gestellt
und eine Reihe Artikel von der Aufnahme in dieselben ausgeschlossen.
Ein Rückblick auf die Entwicklung der Triester Lagerhäuser. 103
nachzuweisenden Anschaifungskosten, nach Abzug einer vereinbarten jährlichen
Tilgungsquote von der Lagerhausunternehmung an sich zu bringen und über
die weitere Betriebsführung frei zu verfügen. Die Concessionswerber- hatten die
Zeitdauer anzugeben, für welche sie die Concession erlangen wollten ; dieselbe
durfte 25 Jahre nicht überschreiten.
Die Concessionswerber hatten gleichzeitig mit ihrem Gesuche den Entwurf
eines La^erhausreglements und der Lagerhaustarife für Lagerzinse, Versicherung
allgemeine Manipulationsgebüren und besonders bestimmte Leistungen, dann für
den Betrieb der Güterschoppen ein gesondertes Betriebsreglement sammt Tarif
vorzulegen, bei dessen Verfassung der Grundsatz maassgebend zu sein hatte,
dass die Güterschoppen hauptsächlich zur vorübergehenden Aufnahme von seewärts
ankommenden Gütern dienen und den letzteren eine dreitägige Lagerfreiheit
gewährt werde.
Die im Handelsministerium und bei der Finanzdirection in Triest auf-
liegenden Ausschreibungsbestimmungen, die allgemeinen Bedingnisse und Situations-
pläne wurden z^ar von zahlreichen Bewerbern eingesehen, jedoch nur vom
Bürgermeister als Vertreter der Gemeinde und vom Präsidium der Handelskammer
in Triest gefertigt. Somit waren diese beiden Körperschaften allein zu berück-
sichtigen und es wurde ihnen nach den mit ihren Vertretern im Handelsministerium
gepflogenen Verhandlungen, deren Ergebnis im Protokolle vom 14. August 1879
niedergelegt erscheint, durch den Erlass des Handelsministers Korb vom
3. December 1879, Z. 36.897, mit Zustimmung des Finanzministeriums die
Bewilligung zur Errichtung und zum Betriebe von öffentlichen Lagerhäusern und
Güterschoppen im neuen Hafen von Triest ertheilt.
Aus der betreffenden Urkunde seien zur Ergänzung obenerwähnter Aus-
schreibungsbedingnisse noch folgende Punkte hervorgehoben :
Die Concessionsdauer wurde auf 25 Jahre vom 1. Jänner 1880 angefangen
festgesetzt, wobei der Lagerhausunternehmung kein Recht zur Kündigung oder
üebertragung der Bewilligung zustand.
Im allgemeinen hatten die Bestimmungen der Ministerialverordnung vom
19. Juni 1866, R.-G-Bl. Nr. 86,^) über die Ertheilung von Bewilligungen für
öffentliche Lagerhäuser (Freilager und Warenhäuser) zu gelten.
') Diese Ministerialverordnung theilt die öffentliclien Lagerhäuser je nach
ihrer Bestimmung ein:
1. In Freilager, welche dazu dienen:
a) im Zollgebiete ausländische, unverzollte Waren bis zur EinfuhvsverzoUung, Weiter-
sendung, Wiederausfuhr u. dgl.,
b) im ZoUausschlusse die aus dem Zollgebiete ausgeführten Waren unter Festhaltung
ihrer Nationalität bis zum Uebertritt in den freien Verkehr oder bis zur Rück-
einfuhr ins Zollgebiet,
c) in den hinsichtlich der Verzehrungssteuer als geschlossen erklärten Städten steuer-
pflichtige Waren bis zur Versteuerung oder Ausfuhr aus der Stadt aufzubewahren;
2. in Warenhäuser, welche zur Aufbewahrung zoll- und steuerfreier oder bereits
verzollter oder versteuerter Waren dienen.
Das Gesetz vom 28. April 1889, R.-G.-Bl. Nr. 64, betreffend die Errichtung und
den Betrieb öffentlicher Lagerhäuser und die von denselben ausgestellten Lagerscheine
gebraucht den Ausdruck „Warenhäuser" nicht mehr, sondern bestimmt, dass öffentliche
104 Lippert.
Die zu verbauende Grundfläche wurde um einen jährlichen Zins von
100 fl. überlassen. Für die Ausführung der Gesammtanlage war eine Summe
von 718.000 fl. veranschlagt.
Die Eegierung stellte in Aussicht, nach Zulässigkeit der Bodenverhältnisse
und nach Maassgabe des Bedürfnisses seinerzeit gegen besondere Vereinbarung
auch die Herstellung und den Betrieb weiterer Magazine zu gestatten, behielt
sich aber andererseits auch vor, jederzeit, sobald sie es für zweckmässig erachte,
die gänzliche oder theilweise Umwandlung der Warenhäuser in Freilager aus-
zusprechen.
Zum Zwecke der Hinterlegung von Waren im Freien wurden abgesonderte,
nicht für den allgemeinen Verkehr, den Hafen- oder Bahnhofbau benöthigte Grund-
flächen zur unentgeltlichen Benützung gegen Kündigung überlassen.
lieber Antrag der Lagerhausverwaltung war das Handelsministerium bereit,
die Einlagerung der von der Aufnahme in die Warenhäuser ausgeschlossenen
Artikel (Colonialien, Südfrüchte) zu bewilligen.^)
Für Getreide, Hülsenfrüchte, Oelsaat, Mehl und Mahlerzeugnisse war durch
14 Tage Lagerzinsfreiheit zu gewähren ; in das diesen Artikel zugewiesene
Magazin konnten andere Waren nur gelangen, wenn die Getreide- oder Mehl-
conjunctur dies ohne Nachtheil für den Frucht- oder Mehlhandel zuliess.
Die im Tarife für die Lagerzinsen und anderen Gebüren aufgestellten Sätze
durften nicht überschritten werden ; Veränderungen innerhalb dieser Grenze
waren gestattet, mussten jedoch dem Handelsministerium angezeigt werden.
Abänderungen der Betriebsreglements unterlagen der Kegierungs-Genehmigung.
Die Lagerhausunternehmung verpflichtete sich, sobald als möglich die
Abhaltung regelmässiger Versteigerungen in wichtigeren Stapel artikeln zu ver-
anstalten.
Die Eegierung hatte das Kecht, in das leitende Verwaltungs-Comite einen
Vertreter zu entsenden.
Aus alledem ist zur Genüge ersichtlich, dass der Staat sich einen grossen
Einttuss auf die ganze Gebarung des Lagerhausunternehmens vorbehielt,
namentlich insoweit handelspolitische Gesichtspunkte in Betracht kamen.
Die Gemeinde und die Handels- und Gewerbekammer trafen ihrerseits das
Uebeieinkomraen, dass die ganze Lagerhausanlage ungetheiltes Eigenthum sei
und demnach nicht nur alle Rechte, sondern auch alle Verpflichtungen zu gleichen
Theilen getragen werden sollten.
Lagerhäuser, das ist jene Unternehmungen, welche auf Grund besonderer Bewilligung
die Aufbewahrung von Waren für fremde Rechnung geschäftsmässig betreiben und über-
tragbare Lagerscheine auszustellen berechtigt sind, nach Maassgabe ihrer Bewilligung
auch öffentliche Freilager errichten können, die sich mit den oben unter a), b), c)
bezeichneten Aufgaben, dann (d) mit der Aufbewahrung steuerpflichtiger Waren im Inlande
bis zur Versteuerung oder Ausfuhr ins Ausland befassen.
Die unter b) beschriebenen Freilager nennt das mit der Ministerialverordnung vom
23. Juni 1891, R.-G.-Bl. Nr. 78, erlassene Zollregulativ für das Freigebiet beim neuen
Hafen in Triest „Zollgebietsniederbigen" (§ 27 ff.).
1) Dies geschah mit Erlass des Handelsministeriums vom 23. October 1880,
Z. 33.358.
Ein Rückblick auf die Entwicklung der Triester Lagerhäuser. 105
Die beiden Körperschaften giengen für die Concessionsdauer einen Gesellschafts-
veitrag ein und Hessen das Unternelimen unter der Firma .,Lagerhäuser der Gemeinde
und der Handels- und Gewerbekammer in Triest" beziehungsweise gleichzeitig
italienisch „Magazzini generali del Municipio e della Camera di commerclo e
d" indnstria in Trieste" handelsgerichtlich protokollieren.
Die oberste Leitung sämmtlicher Geschäfte wurde einem aus zwölf Mitgliedern
zusammengesetzten Verwaltungscomite anvertraut, welches seinen Vorsitzenden
und seinen Stellvertreter für je 5 Jahre wählte, die Vermögensverwaltung und
den ganzen Geschäftsbetrieb zu überwachen und die hierfür allgemein geltenden
Grundsätze zu erlassen hatte.
Den Mitgliedern oblag die Erfüllung ihrer Aufgabe unter Beobachtung und
Anwendung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmannes.
Im Sinne des erwähnten Uebereinkommens wurde das für das Lagerhaus-
unternehmen erforderliche Capital einer Million Gulden Nominale mittels eines
am 1. Juli 1880 von der Firma Eeyer & Schlik zu 5proc, gewährten Darlehens
beschafft und bis zum Betrage von 820.000 begeben.
Die ursprünglich ausgeworfene Summe von 718.000 fl. ist im grossen
und ganzen eingehalten worden. Nach dem von der Lagerhausverwaltung
veröffentlichten Geschäftsberichte des Jahres 1882 betrugen die Gesammtauslagen
(ür den Bau der Lagerhäuser sammt Nebengebäuden, sowie allen Einrichtungen
und Wasseranlage 770.880 fl.
beziehungsweise sammt den Nachtragsbauten der Folgejahre . . . 785.000 fl.
Am 20. April 1880 wurde der Betrieb eröffnet.
Wie nothwendig die Errichtung neuer, der allgemeinen Benützung zugänglicher
Warenniederlagen für die Triester Handelswelt war, geht aus der Thatsache
hervor, dass im Februar 1882 und im Winter 1883/84 der Warenverkehr im
Reichshafen ohne Lagerhäuser gar nicht hätte bewältigt werden können. Schon
die Berathungen zu dem neuen, mit Gesetz vom 25. Mai 1882 erlassenen und
am 1. Juni 1882 in Kraft getretenen Zolltarife, welcher ausser Zollerhöhungen
zum erstenraale die Unterscheidungszölle auf Colonialien^) einführte, hatten sehr
grosse Einlagerungen von Kaffee, iSetreide und Mehl zur Folge gehabt.
Ende Mai 1882 waren die Lagerhäuser bei einem Bestände von 13,000.000 kg
fast vollständig gefüllt. Der Platztiandel zog damals grossen Vortheii aus dieser
Einrichtung, ohne welche die Wareneinfuhr ins Zollgebiet nur mit beträchtlichen
Auslagen, sowie zahlreichen und grossen Schwierigkeiten verbunden gewesen
wäre.^)
Im Geschäftsberichte des darauffolgenden Jahres^) heisst es, das Unter-
nehmen erfreue sich der Gunst der Handelswelt und müsse als bedeutender
Hilfsfactor des Triester Handels angesehen werden. Der Warenandrang nahm
1883 mehrmals solchen Umfang an, dass zeitweise die Aufnahme eingestellt
*) Der Zolltarif vom 27. Juni 1878 belegte Kaffee roh mit einem Eingangszolle
von 24 fl. Gold für 100 Tcg., der Zolltarif vom 25. Mai 1882 den zu Lande eingeführten
Kaflfee mit 40, bei Einfuhr zur See mit 37 fl. Gold.
2) Resoconto per la gestione dell' anno 1882, Seite 4.
3) „ . „ « « » 1883, Seite 3.
106 Lippert.
werden musste. 1884 stetiges Herbeiströmen von Waren. 1885 entstand sogar
die Besorgnis, dass die verfügbaren Eäume den Bedürfnissen nicht entsprächen.
Ende März 1885 und noch später in einigen Monaten waren nämlich infolge
grosser Zuckerausfuhr die Lagerhäuser vollständig gefüllt; vorübergehend mussten
sogar Aushilfsmagazine in der Stadt gemietet werden, um diesen Artikel nicht
von Triest abzulenken.^)
Auch der Lagerscheinverkehr hatte sich rasch eingelebt.
1882 waren 341 Scheine über einen Versicherungswert von 1,299.955 fl.
1883 „ 975 „ „ „ „ „ 2^837.431 „
'1884 „ 740 „ „ „ „ „ 3,207.090 „
1885 „ 1729 „ „ „ „ „ 5,379.380 „
ausgegeben worden.
Die dringende Nothwendigkeit, an die Vergrösserung der Lagerhäuser zu
denken, hatte sich somit bald erwiesen.
Aber auch die innere Einrichtung entsprach den Verhältnissen nicht. Die
noch Senkungen unterworfenen Anschüttungsgründe des neuen Hafens liessen
seinerzeit die Aufführung solider Bauten nicht zu. Die dünnen Umfassungsmauern,
der Umstand, dass das Dach unmittelbar auf den Lagerräumen ruhte, die verhältnis-
mässig zahlreichen Thore in Verbindung mit den eigen thümlichen klimatischen Ver-
hältnissen, welche sich bekanntlich durch heftige Winde, grosse Hitze und plötzliche
Wetterumschläge charakterisieren, hielten die atmosphärischen Einflüsse nicht genug-
sam von den Waren ab und bewirkten ein erhebliches Calo. Darunter litten namentlicli
mehrere wichtige Artikel des Triester Handels, wie Kaffee, Agrumen, Gewürze u. s. w.
So war denn auch schon im Schosse der mit Erlass des Handelsministeriums
vom 19. März 1883, Z. ~^, einberufenen Commission behufs Feststellung der
zur Aufhebung des Freihafens von Triest nöthigen Vorkehrungen ausgesprochen
worden, dass die Errichtung genügend grosser, gut eingerichteter und billiger Lager-
häuser ein unabweislich dringendes Bedürfnis des Triester Handels sei, so zwar,
dass dieselben, auch wenn der Freihafen nicht aufgehoben würde, erbaut werden
sollen, dass sie aber andernfalls sofort erbaut werden müssen.^)
Der mitunter genährte, ursprüngliche Gedanke, die Auskunftsmittel der
Zollcontierung, der Zollborgung, sowie der Fiduciarmagazine zu benützen, um
die sofortige Ausführung der Lagerhäuser in grossem Stile zu umgehen, hatte
sich als völlig unhaltbar erwiesen. Die Bedeutung der Lagerhäuser bestand eben
gerade darin, dass dem Triester Handel durch den Uebergang zum Niederlags-
system das wichtigste und unentbehrlichste moderne Mittel zu seiner Hebung
und Kräftigung geboten werden sollte, und dies zu einer Zeit, wo durch die
Freihafenaufhebung der Mittelpunkt des Handelsverkehres naturgemäss in den
neuen Hafen verlegt werden musste.
Ueber den Umfang der neu zu errichtenden Bauten zwecks Deckung des
Lagerraumerfordernisses für die nächsten zehn Jahre konnten bei den erwähnten
Verhandlungen des Jahres 1883 selbstredend nur Schätzungen aufgestellt werden.
') Eesoconto per la gestione dell' anno 1885, Seite 3.
2) Seite 7 des in der k. k. Hof- und Staatsdruckerei erschienenen Commissions-
berichtes vom 23. Mai 1888.
Ein Rückblick auf die Entwicklung der Triester Lagerhäuser. 107
Ausgehend von einem durchschnittlichen Lagerstand von 832.500^) Meter-
centnern in der ganzen Stadt wurden 500.000 Metercentner für die Bergung in
den Lagerhäusern und der Eest von 332.500 Metercentner für die theilweise
weiter zu benützenden Stadtmagazine gerechnet. Bei Annahme eines den Erfahrungs-
thatsachen entsprechenden Durchschnittsmaasstabes von 7 Metercentner auf einen
Quadratmeter oder, mit Einschluss des Manipulationsraumes, 3 Metercentner für
einen Quadratmeter war demnach zur Bewältigung des Lagerverkehres eine
verbaute Lagerfläche von rund 167.000 ni^ erforderlich.^) Die damaligen Lager-
häuser stellten aber nur einen verbauten Grund von 22.577 ni^ dar.
Da von der Neuanlage eines Hafens und Ereibezirkes in der Bucht von
Muggia, wie sie die städtischen Körperschaften befürwortet hatten, nicht die Rede
sein konnte, und damals nur der neue Hafen am nördlichen Ende der Stadt mit
einer verbaubaren Fläche von 68.592 ni^ zur Verfügung stand, so war damit
die weitere Frage der Erbauung von Stockwerken gegeben, deren Zulässigkeit von
technischer Seite bejaht wurde. Für den Ausbau der alten und die Errichtung
neuer Lagerhäuser rechnete man einen Aufwand von 5,500.000 fl., für die
Betriebsanlagen 500.000 fl., somit zusammen 6,000.000 fl.
Jedenfalls war es nothwendig, das ursprünglich als Petroleumhafen gedachte
Gebiet beim Bassin I auch für Lagerzwecke zu verwenden und ersteren anderswo
einzurichten. Als geeignete Oertlichkeit erschien S. Sabba; die Kosten für die
Anlage dortselbst wurden mit 2,500.000 fl. veranschlagt.
Es dürfte hier am Platze sein, den Standpunkt zu kennzeichnen, von welchem
aus die 1833er Commission ihre Aufgabe betrachtete; in ihrem an den
Handelsminister Pino erstatteten Berichte^) heisst es, eine nähere Erwägung der
einzelnen Bedürfnisse Triests ergebe, dass dieselben insgesammt in der höheren
staatlichen Aufgabe ihren Schwerpunkt finden, den lange genug stagnierenden
Hafen, seinen Handel und seine Schiffahrt mit den unerlässlichen Hilfsmitteln des
modernen Verkehres auszustatten und einem neuen grossen Aufschwung zuzuführen,
wozu er alle Bedingungen vereinige und eben im gegebenen Zeitpunkte alle Um-
stände günstig seien.
') Von der Triester Handelskammer aufgestellte Ziffer.
2) Zur Beleuchtung des bezifferten Erfordernisses wurde auf die Stadtmagazine
hingewiesen; nach den auf Grund der Hauszinssteuer- Bekenntnisse gepflogenen Erhebungen
waren Ende 1882 1108 Magazine mit einem Flächenraume von 349.500 m^ im Stadt-
gebiete zu Handelsuntemehmungen benutzt (wobei die anderen Zwecken dienenden, sowie
die leerstehenden nicht berücksichtigt erschienen).
Unter Zugrundelegung eines durchschnittlichen Jaliresniietzinses von 2500 fl. für
je 1000 m^ würde die gesammte vermietete Magazinsfläche von rund 350.000 m"^ ein
Koherträgnis von 875.000 fl. darstellen. "Wenn nun beispielsweise durch Zunahme des
Belegraumes der Lagerhäuser in den Stadtmagazinen 200.000 m^ Flächenraum verfügbar
und einer anderweitigen, weniger einträglichen Benützung zugeführt wurden, wobei der
hiedurch entstehende Zinsenausfall allenfalls mit 2/^ des Zinswertes anzunehmen ist,
dann beträgt die Einbusse 2/3 von 500.000 = rund 330.000 fl. jährlich. Letztere Ziffer
wäre also schätzungsweise als der den Triestiner Hauseigenthümern erwachsene Schaden
anzusehen.
3) Derselbe trägt die Unterschriften Bazant, Schuck, Kalchberg, Haardt
V e r i d a.
108 Lippert.
Die Freihafenfrage trete gegenüber der Nothwendigkeit einer grossen staat-
lichen Action für Triest mehr in den Hintergrund. Denn es bedürfe wohl keiner
Hervorhebung, dass die Gewinnung eines Stadtgebietes mit 145.000 Einwohnern
für das Zollgebiet und die Zollcassa nicht annähernd die schweren Opfer auf-
zuwiegen verm()ge, welche die angedeuteten Investitionen erheischen.
Der Nutzen und Zweck dieser Investitionen liege vielmehr in der Erhaltung
und Kräftigung des einzigen und grossen Seehandelsemporiums von Triest, welches
ausnehmende Bedeutung für den internationalen Handel Oesterreichs, für dessen
Unabhängigkeit von Nachbarstaaten, für die Erschliessung des Verkehres mit dem
gesammten Erdball besitzt und andererseits von Fiume, Genua und den Nordsee-
häfen ernstlich bedroht werde.
Es müsse besonders betont werden, dass in anderen Staaten unter einem
minderen Druck unmittelbarer Nothwendigkeit und mehr vom Gesichtspunkte
weitblickender, staatlicher Fürsorge weit grössere Opfer für den Bestand und die
Entwicklung der Seeplätze gebracht werden und auch der Vorgang zumeist beob-
achtet wurde, dass Investitionen, wie die Lagerhäuser, welche sich selbst verzinsen
und amortisieren, den zunächst berufenen Körperschaften, wie z. B. der Handels-
kammer, unter Zugestehung einer entsprechend langen Amortisationsfrist zuge-
wiesen wurden.
März 1884 wurde eine eigene Commission') zum Studium der Hafenein-
richtungen, der Hangars und Lagerhäuser in Marseille entsendet und dem Ingenieur
der Compagnie des Docks et Entrepöts L. Barret im Briefe des Handelsministers
Freiherrn v. Pino vom 9. Juni 1884 an der Hand eines vom Ministerialrathe Dr.
Bazant ausgearbeiteten, mit den Plänen des Triester Hafens, statistischen Daten
u. s. w. belegten Promemorias die Aufgabe gestellt, abgesehen von den bereits
vorhandenen Bauten eine Fläche von 40.000m^ für Hangars, 180.000 w^ für Lager-
häuser und 12.000 m- für freie Lagerung zu schaffen. B a r r e t hat Triest auf kurze
Zeit besucht. Sein umfassendes, den Bedürfnissen des Seehafens jedoch nicht
vollkommen angepasstes Project (vom 20. März 1885) hätte einen Kostenaufwand
von IßVa Millionen Franken (8Y4 Millionen Gulden) beansprucht. ^)
Es fand daher auch bei den Verhandlungen der mit Erlass des Handels-
ministeriums vom 7. September 1885 Z. 31.512, nach Triest einberufenen Commission
zur Berathung der definitiven Ausgestaltung des neuen Triester Hafens keinen Beifall
und wurde als im wahren Interesse des Handels und der Zukunft der Stadt nicht
annehmbar bezeichnet.
Den damaligen Besprechungen lag ausserdem vor ein Project des Südbahn-
Oberingenieurs Friedrich Bömches, drei Projecte der k. k. Generalinspection
der österreichischen Staatsbahnen, sowie ein im Auftrage der Börsedeputation
von den Ingenieuren L. Dr. Buzzi und F. Krause verfasstes Project.
n
1) Dieselbe bestand aus Ministerialrath Dr. Bazant, Inspector Heindl, Inspector
Setz, Vicepräsident des Lagerhauscomit^s Teuschl, Kaufmann Schadeloock.
2) Die sehr ausführliche Arbeit erschien im Druck: „Port de Trieste. Travaux
complementaires. Am^nagement et Outillago. Projet." Marseille, Typographie et Litho-
graphie J. Coyer 1885.
Ein Rückblick auf die Entwicklung der Tiiester Lagerhäuser. 109
Die Billigung erhielt das vom eingesetzten technischen Ausschusse vorge-
schlagene Compromiss-Project, welches sich, anlehnend an die Gesaramtanordnung
der Hafenanlage, den Ausbau und die Ausnützung der vorhandenen, sowie der
sich als nothwendige Ergänzung anschliessenden Grundflächen, ferner die Ver-
mehrung der Anlegestellen, dann die Herstellung eines neuen Holzplatzes in S.
Andrea und eines neuen Petroleumhafens in S. Sabba als Aufgabe stellte. Zur
Ausnützung des vorhandenen Eaumes waren längs der Quais Hangars mit einem
Stockwerke, hinter denselben zwei Keihen von Magazinen mit zwei Stockwerken
zu errichten.
Der auf diese Weise gewonnene Belegraum betrug an reinen Magazinsflächen
145.000 m^; für Kohlenlager und Lagerplätze im Freien waren Flächen von
21.000 m^ vorgesehen.
Nach Verwertung des durch die Commissionsverhandlungen gewonnenen
Materiales, welches als Grundlage für die Ausarbeitung eines zur Ausführung
geeigneten Detail-Projectes diente, lud das Handelsministerium mit dem im Wege
des Triester Statthalterei-Präsidiums erlassenen Eescripte vom 10. October 1886,
Nr. 45.679 ex 1885, die Gemeinde, sowie die Handels- und Gewerbekammer ein,
ihre Bedingungen für die Uebernahme der neuen Lagerhausbauten um die veran-
schlagte Summe von 6,567.000 fl. bekannt zu geben.
Im Antwortschreiben vom 24. December 1886 erklärten sich beide Körper-
schaften hierzu grundsätzlich bereit, worauf Mitte März 1887 in Wien die näheren
Vereinbarungen stattfanden und am 28. März 1887 das verbindliche Schluss-
protokoll unterfertigt wurde. Mit dem Erlasse vom 19. Juli 1887 Nr. 25.287
ertheilte das Handelsministerium einvernehmlich mit dem Finanzministerium die
unübertragbare, auf 90 Jahre lautende Concession, welche auch die bereits beste-
henden Lagerhäuser Inbegriff, die giltigen Reglements und Tarife beliess und das
Verlangen ^) der Concessionäre, die Manipulationsgebür für ein- und ausgehende
Waren, sowie das Waggeld und die Hangar-Tarife erhöhen zu wollen, einer
Ueberprüfung vorbehielt.
In dem Rechtsverhältnisse der beiden Unternehmer, sowie in der Organi-
sation der Lagerhausverwaltung trat keine wesentliche Aenderung ein.
Gemäss § 3 der Concessionsurkunde waren zunächst und unmittelbar nach
Abschluss des Uebereinkommens 14 Lagerhäuser und Hangars sammt Nebengebäuden
und Anlagen nach den von der Regierung genehmigten Plänen zu errichten.
Ausserdem behielt sich die Staatsverwaltung vor, der Dampfschiffahrtsgesell-
schaft des österreichisch-ungarischen Lloyd den Molo III oder einen andern
Quai zur ausschliesslichen Benützung, namentlich zur Errichtung von Hangars
zuzuweisen und eine diesbezügliche Vereinbarung zwischen Lloyd und Concessio-
nären herbeizuführen.
Ein Theil der Bauten, und zwar die 10 Magazine und Hangars Nr. 6, 7,
9, 10, 17, 18, 19, 20, 21, 22 sammt Nebenanlagen, hatte bis 1. December
*) Dasselbe wurde damit begründet, dass die Gebüren niedriger als anderswo,
insbesondere in Marseille, seien und kaum zur Deckung der Auslagen hinreichten, jeden-
falls aber nicht genügten, wenn die Waren mittelst Erahnen in die oberen Stockwerke
hinauf und hinunter befördert werden müssen.
110 Lippert.
1889, die Magazine und Hangars Nr. 24, 25, 26 bis 1. Juli 1890 fertig
gestellt zu sein; das Spiritusmagazin und Kohlenlager erst ein Jahr nach üeber-
gabe der als baufähig erkannten neuen Anschüttungsfläche im nördlichen Hafen-
theile. Auf die bereits bestehenden Lagerhäuser Nr. 8, 11. 14, 15, 16 sollten
Stockwerke aufgesetzt oder, wenn dies unzweckmässig, an ihrer Stelle neue
Gebäude aufgeführt werden.
Schliesslich war bis 1. December 1889 eine von der Zollverwaltung zu bestim-
mende Abschliessung des Freigebietes mittels einer bei 4 m hohen Mauer oder
eines Gitters sammt Thoren und Wachhütten zu errichten (§ 6).
Die Staatsverwaltung erbot sich zu einer Beitragsleistung von jährlich
4800 fl. durch 10 Jahre zur Herstellung der elektrischen Beleuchtung und von
jährlich 10.000 fl. zu deren Betrieb (Zusatz- und Uebergangsbestimmungen
zu § 7).
Die Ziffer des durch ein Anlehen zu deckenden Anlagecapitals unterlag
der Genehmigung des Handelsministeriums.
Interessieren dürfte die Anordnung des § 18 der Urkunde, dass aus einem
Thoile der Ertragsüberschüsse ein besonderer Fond für Beitragsleistungen zum
Zwecke von Erweiterungen des Hafens von Triest, insbesondere wegen Erbreiterung
der Eiva und Erbauung von Molis im alten Hafen, Ausbau des Holzhafens bei
S. Andrea u. s. w. zu bilden sei.
Von den in Aussicht genommenen Lagerhäusern wurden jedoch nicht alle
ausgeführt, da namentlich das Jahr der Freihafen-Aufhebung für den Handels-
verkehr und den Geschäftsgang nicht von günstigem Einflüsse war. So wurde
mit dem Erlasse des Handelsministeriums vom 1. April 1892, Z, 13514, eine
Einschränkung der Bauten im Freihafen gestattet.
Die Gesammtauslagen erreichten dem Geschäftsberichte des Jahres 1893
zufolge «ine Summe von 8,795.800 fl., zu deren Bestreitung das auf Grund
Allerhöchster Entschliessung vom 28. Februar 1889 aufgenommene 11 Millionen-
Anlehen diente.
In dieser hohen Ziffer ist auch die Ursache der späterhin so ungünstigen
Gebarung der Lagerhäuser zu suchen.
Hatte schon das im Jahre 1880 aufgenommene, in 25 Jahren zu amorti-
sierende Anlehen von 820.000 fl. der Unternehmung eine jährliche Belastung
von rund 57.000 fl. für Verzinsung und Amortisation auferlegt, so erheischte
das zum Curse von 94*5 begebene, zu 4 Proc. verzinsliche 11 Millionen Darlehen
zum Zwecke der erst am 1. Juli 1975 endenden Tilgung eine weitere Jahresaus-
lage von etwa 454.000 fl., derart, dass diese Schuldenlast von 511.000 fl.,
oder nach Abzug der Intercalarzinsen mit rund 100.000 fl. für die nicht-
behobene Anlehensquote 411.000 fl., wie eine schwere Fessel jede freie Regung
des Unternehmens hemmte.
Da dasselbe von vornherein nicht darauf angelegt war, den Concessionären
einen Gewinn abzuwerfen, so können die Rechnungsabschlüsse der ersten Betriebs-
jahre bis zur Aufhebung des Freihafens als vollkommen befriedigend angesehen
werden. Dieselben ergaben nämlich einen Reingewinn von zusammen 138.988 fl.
98 kr. Dieser Reingewinn bezieht sich nur auf die Gebarung der alten Magazine ;
I
Ein Rückblick auf die Entwicklung der Triester Lagerhäuser. Hl
die Erträgnisse, welche die neuen Magazine 1889, 1890 und in der ersten
Hälfte 1891 abwarfen (50.775 fl.), wurden auf die Baurechnung übertragen.
Das erste Halbjahr 1891 wies noch einen geringen Ueberschuss, etwas über
5000 fl., auf; im zweiten Halbjahre 1891, unmittelbar nach der Aufhebung des
Freihafens, stellte sich jedoch ein Ausfall von 113.226 fl. heraus und die Ver-
hältnisse lagen so, dass für die Folgezeit nur noch eine Verschlechterung zu
gewärtigen war, zumal die Benützung der Lagerhäuser nicht in dem gehofften
Maasse stattfand.
Es lässt sich nicht leugnen, dass der Hauptfehler in der theuren Anlage
zu suchen war. Mitwirkten zu grosse Ausgaben für die Verwaltung, dann eine
Eeihe beträchtlicher Auslagen, die eigentlich nicht Lagerhauszwecken dienten, wie
die Pflasterung und Erhaltung der Strassen und Geleise, der Beleuchtungs- und
Wasseranlagen. In Fiume war beispielsweise der Zollabschluss ^) und das Haupt-
zollamtsgebäude von der Zollverwaltung selbst gebaut worden.
Unbestreitbar ist auch, dass die Gebüren verhältnismässig zu hohe waren.
Die Nebengebüre^ waren zu zahlreich und es führte die Anwendung des Tarifes
zu Auseinandersetzungen zwischen den Hinterlegern und der Unternehmung. Es
ist zweifellos besser, sich mit einer geringeren Miete zu begnügen, als einen
grossen Theil der Lagerhäuser leer stehen zu lassen. Die Concessionäre schienen
aber zu befürchten, dass billige Lagerzinse im Freigebiete zu sehr auf die Miet-
zinse der als Verschluss- und Contierungsmagazine verwendeten Stadtmagazine
drücken würden.
Mitte 1892 waren von dem Gesammtbelagraum von 80.973 m^
vermietet ... ■ 19.804 in^
zu gemeinsamer Lagerung benützt 18.100 w'"^
zusammen . . . 37.904 m'^
sonach standen leer 43.069 m^
Noch ungünstiger gestaltete sich die Lage im April 1893:
Von dem verfügbaren Lagerraum von 94.000 m^
waren vermietet 19.000 m^
in Betrieb der Lagerhausverwaltung 15.000 m^
zusammen • . . 34.000 m^
leer 60.000 m'^
Im monatlichen Durchschnitte waren 1892 33 Proc, 189'] 43 Proc. der
Gesammtlagerfläche benützt, die übrigen Lagerräume, 1892 67 Proc , 1893 57 Proc.
standen leer.
Diese Erscheinung war umso beklagenswerter, als bis zur Aufhebung des
Freihafens ungefähr ^4 — Ve des gesammten Triester Warenbestandes in den
Lagerhäusern untergebracht war.
Die Gebarungsverluste wurden bedenklich, vom 1. Juli 1891 angefangen
bis Ende 1893 zusammen 437.834 fl.
In maassgebenden Kreisen bildete sich die Ueberzeugung, dass die Lager-
hausunternehmung, beziehungsweise die beiden Körperschaften nach dem Stande ihrer
') In Triest kostete das Abschlussgitter des Freihafens 138.190 fl. (Geschäfts-
bericht der Lagerhausverwaltung über das I. Trimester 1894).
112 Lippert.
Einkünfte, aus eigener Kraft nicht imstande seien, eine active Bilanz zu erzielen,
da für die nächsten Jahre ein Betriehsausfall von beiläufig 200.000 fl. jährlich
zu decken war. Für das Gedeihen des Handelsplatzes erschien die Uebernahme
der Lagerhäuser in staatlichen Betrieb mit Ausschluss, einer einmaligen Hilfeleistung
in Form von Darlehensvorschüssen gegen Rückzahlung oder durch mehrjähriges
Aufkommen für die Betriebsabgänge von besonderer Bedeutung und Wichtigkeit.
Nur dann konnte durch Erleichterungen der Einlagerungsbedingnisse der Verkehr
gehoben, die angestrebte Gleichheit mit Fiume hergestellt und eine mit so kostspieligen
Mitteln ins Werk gesetzte, dem Handel des ganzen Reiches förderliche Einrichtung
vor dem Verfalle bewahrt werden.
Aus den Triester Kreisen selbst erhob sich der Ruf nach staatlicher Hilfe.
Am 20. Jänner 1894 überreichte eine Deputation der Triester Handels- und
Gewerbekammer dem Handelsminister Gundaker Graf Wurmbrand-Stuppach,
der nach Triest gekommen war, um die Handelsverhältnisse aus eigener Anschauung
kennen zu lernen, eine Denkschrift über die Verkehrslage Triests, worin der
Lagerhausfrage ausführlicher gedacht und namentlich hervorgehoben wird, dass
durch die günstigeren Lagerhausbedingungen in Fiume die Concurrenzfähigkeit
Triests wesentlich beeinträchtigt wurde. An der Hand von zahlreichen Beispielen
scheint darin ziffermässig nachgewiesen, wie durch die jenseitigen billigeren Lager-
gebüren, durch längere Freilagerfrist, durch die Erleichterungen, beziehungsweise den
Wegfall der Gebüren für die Zustreifung, Krahnbenützung, Abwäge, Zollbehandluiig
u. s. w. Fiume allmählich einen grossen Theil des Triester Verkehrs an sich
ziehen müsse, und wird dann der Stand der Triester Lagerhausfrage im
allgemeinen gekennzeichnet und hervorgehoben, dass infolge aller der angeführten
misslichen Umstände die Lage der Unternehmung eine sehr beunruhigende
geworden sei und sie deshalb dringendst die Hilfe des Staates anrufen müsse,
damit er — sei es durch Zinsengarantie oder in anderer den Handel nicht
benachtheiligender Weise — die beiden städtischen Körperschaften von der sie
erdrückenden Last, die sie wahrlich nicht in eigennütziger Absicht, sondern nur
im Interesse des Triester Verkehres auf sich genommen hatten, befreie und der
durch die Errichtung der Lagerhäuser beabsichtigte Zweck durch Ermöglichung
billiger Tarife erreicht werden könne. ^)
Der Handelsminister nahm sich der Sache angelegentlichst an und erklärte
im Erlasse vom 19. Februar 1894 die Geneigtheit der Regierung, dem von beiden
Körperschaften gestellten Ansuchen um staatliche Unterstützung in der Weise
zu entsprechen, dass die Erwerbung der Lagerhäuser durch den Staat ins Auge
gefasst werde.
Das Ergebnis der hiemit angebahnten Verhandlungen war das mit den
Concessionären zu Triest-Wien, am 27./28. Februar 1894 abgeschlossene Ueberein-
kommen. Hiernach erhielt der Staat mit 1. April 1894 die gesammte Anlage von
Lagerhäusern und Hangars nebst allem beweglichen und unbeweglichen Zubehör
in sein schulden- und lastenfreies Eigenthum und trat in alle Rechte und Verbindlich-
keiten des Unternehmens ein. Insbesondere übernahm der Staat die Verzinsung
*) Seite 4 in dem von der Börsedeputation herausgegebenen Berichte über Triests
Handel und Schiffahrt im Jahre 1894.
Ein Rückblick auf die Entwicklung der Triester Lagerhäuser. 113
Und Tilgung der von den beiden Körperschaften aufgenommenen Anlehen, von
welchen das erste Sproc. (vom 1. Juli 1880) damals noch im Nominalbetrage
von 590.000 fl., das zweite vierprocentige (vom 20. Juli 1889) noch im
Nominalbetrage von 9,176.400 fl. im Umlaufe sich befand.
Gleichzeitig schloss die Regierung mit der Dampfschiffahrtsgesellschaft des
österreichischen Lloyd das Uebereinkommen vom 2. März 1894, betreffend den
Ankauf des Lloydhangars am Molo III durch den Staat und Ueberlassung des
commerziellen Betriebes dieses Hangars an die Gesellschaft. Der Kaufschilling
betrug 1,083.000 fl. und war vom 1. April 1895 angefangen in 90 gleichen Raten
zu je 44.G28 fl. zu zahlen, wogegen der Lloyd dem Staate eine jährliche Ver-
gütung von 44.000 fl. zu leisten hatte, so dass also — abgesehen von der
seitens der Dampfschiffahrtsgesellschaft übernommenen Verpflichtung, die Summe
von 1,083.000 fl. zum Baue von Schiffen im Inlande zu verwenden — die Annui-
täten und das Benützungsentgelt sich nahezu ausgleichen.
Beide Uebereinkommen haben durch das Gesetz vom 9. Mai 1894, R.-G.-Bl.
Nr. 84, die legislg,tive Genehmigung erhalten. ^)
Zur Bestreitung der für das Jahr 1894 sich ergebenden Auslagen wurde
der Regierung ein Credit von 200.000 fl. eingeräumt; vom 1. Jänner 1895,
angefangen erscheinen die Einnahmen und Ausgaben des Lagerhausunternehmens
(einschliesslich des Lloydhangars) alljährlich in den Staatsvoranschlag eingestellt.
Die k. k. Lagerhäuser unterstehen laut § 6 des Statutes unmittelbar dem
Handelsministerium; letzteres übt im Einvernehmen mit dem Finanzministerium
die oberste Leitung und Ueberwachung des Geschäftsbetriebes. Die Aufsicht über
^) In der parlamentarischen Verhandlung über die Verstaatlichungsfrage (283. Sitzung
der XI. Session am 1. Mai 1894) sind widerstreitende Anschauungen vertreten worden.
Dr. Kaizl hielt die Gewährung jeder Art von staatlicher Unterstützung für den Hafen
von Triest als eine zweck- und erfolglose Maassnalime, welche nicht imstande sei, das
allmähliche unabwendbare Herabgleiten der Seestadt von ihrem ursprünglich einge-
nommenen Range aufzuhalten. Man müsse das Bestreben aufgeben, gegen natürliche
Verhältnisse — dass z. B. nach Hamburg von Nordböhmen näher sei, als nach Triest —
gegen die unaufhaltsame Entwicklung des Weltverkehres in irgendeiner erkünstelten
Weise anzukämpfen, insbesondere in einer Weise anzukämpfen, welche nur bedeute,
jährlich so und so viele Millionen des Staatsschatzes eigentlich für nichts aufzuwenden.
Unter staatlicher Verwaltung würden die bereits ansehnlichen Betriebsabgänge (massig
gerechnet jährlich ungefähr 160.000 fl.) eben wegen der Herabsetzung der Gebüren sicher
noch bedeutend (voraussichtlich auf 400 000 — 500.000 fl.) anschwellen. Mit Beschliessung
des Gesetzes übernehme der Staat eine ganz beträchtliche Deficitquelle. Den Lager-
häusern werde es schlecht gehen, ihre Gebarungsabgänge immer grösser werden und
Triest mit seinem Handel und seiner Stellung unter den Häfen Europas von seinem
jetzigen secundären Range weiter nicht mehr sich heraufarbeiten. Der Staat solle da, wo
sein eigentliches Industrie- und Handelsemporium liege, nämlich in den weiten Gebieten
der nordwärts von der Donau gelegenen Provinzen auf Hebung des Verkehrswesens durch
Eisenbahnen und Canalbauten, die Verstaatlichung der Bahnen inbegriffen, bedacht sein,
Handelsminister Graf Wurmbrand bezeichnete diese Ausführungen der Animosität
gegen Triest entsp.ungen und betonte, dass der Grund, warum die Lagerhäuser nicht
activ geworden seien, einerseits in ihrer luxuriösen und zu soliden Bauart, andererseits
in den stationären Verkehrsverhältnissen von Triest liege; er glaube an die Zukunft des
Hafens, weil er die geographische günstige Lage für sich habe und Triest sich seit
Jahrhunderten als Handelsstadt bewährte.
Zeitschrift für Vollisvrirtsehaft, Socialpolitik und Verwaltung. X. Band. 8
114 Lippert.
die Lagerhansverwaltung wird vom Lagerhauscomite besorgt; demselben werden
zur Berathung wirtschaftlicher und commerzieller Fragen Vertreter der Gemeinde
und der Handels- und Geworbekammer, sowie der Kaufmannschaft beigegeben,
welche im Verein mit den Mitgliedern des Comit^s dis Lagerhauscommission
bilden.
Es war eine der ersten Aufgaben des Lagerhauscomit^s, beziehungsweise der
Commission, die Eeglements und Tarife einer genauen Prüfung zu unterziehen
und die nach der Sachlage gebotenen Aenderungen zu beantragen.
In erster Linie waren Ermässigungen der Mietzinse, der Lagerzinse für
einige Massenartikel, die Erstellung besonderer Tarife für concurrenzierte Artikel,
ferner Herabsetzungen der Ein- und Auslagerungsgebüren, der Umschlagsspesen,
der Aufzugs- und Krahngebüren beabsichtigt.
Vor allem waren eben die leerstehenden Eäume zu füllen. Dass dies durch
die Tarifherabseztungen grossentheils wirklich gelang, zeigen die Thatsachen. Am
Schlüsse der der Verstaatlichung vorausgehenden 3 Jahre betrug die vermietete
Fläche durchschnittlich 20.000 tu-; hernach jeweils mehr als das Doppelte.
Der Durchschnittslagerstand in den gemeinsamen Lagerräumen während der
Jahre 1890 — 1893 erhob sich bloss auf 149.743 Metercentner; gleich in den
ersten 3 Jahren nach der Einführung des Staatsbetriebes stellte er sich auf
284.584 Metercentner, was eine Zunahme um 90 Proc. bedeutet. ^) Sein jetzige
Durchschnittshöhe beträgt bei 300.000—350.000 Metercentner.
Besonderes Augenmerk richtete die Regierung auf die Abschaffung einer
bisher in Triest bestandenen Uebung, ganze Hangars an einen ein bestimmtes
Schiff vertretenden Mäkler (Raccommandatar) zu überlassen. Dieser erhielt für die
Vermittlung mit dem Schiffseigner besondere Gebüren,^) welche ebenso wie die
Krahn- und Hangargebüren vom Warenempfänger getragen werden mussten.
Es hätte sicherlich nicht den allgemeinen Handelsinteresson entsprochen, wenn
die zugestandenen wesentlichen Ermässigungen der Lagorhausgebüren nicht in
vollem Maasse dem Warenempfänger zugute gekommen wären. Somit wurde der
') Geschäftsbericht des Jahres 1897.
2) Der nun aufgehobene § 32 der Triester Platzusancen bestimmte: „Der Eaccom-
mandatar einer Ladung was immer für Provenienz, ausgenommen kleine Küstenfahrt, ist
befugt von dem Betrage der ganzen Fracht die Provision von 2 Proc. einzuheben in
allen jenen Fällen, in welchen der Frachtvertrag nicht die ausdrückliche Clausel «die
Ladung fianco Provision abzuliefern» oder eine andere gleichbedeutende Clausel enthält";
und § 33: „Die von den Empfängern an die Raccommandatare auswärtiger Dampfer für
Lßschungsspesen und Assistenz zu zahlenden Gebiiren sind durch den von der Handels-
und Gewerbekammer in der Sitzung vom 17. August 1869 und 11. November 1870, vor-
behaltlich späterer Abänderungen genelimigten Prospect geregelt." Letzteres geschah in
der Sitzung vom 3. März 1884. Nach diesem Tarif erhielt der Raccommandatar beispiels-
weise für einen Metercentner Kaifee .5 kr., Zucker in Fässern und Säcken, Wein in
Fässern, Felle und Häute in verschnürten Ballen, Oele 4 kr., Colophonium 4 kr., gepresste
Baumwolle 2 kr. u. s. w. Nur bei Partien über 200 Tonnrn jeder beliebigen für einen
und denselben Empfänger bestimmten Ware konnte sich letzterer von Fall zu Fall mit
den Raccommandataren wegen der Gestattung ins Einvernehmen setzen, ohne Gebüren-
entriclitung mit eigenen Leuten und auf eigene Kosten löschen zu dürfen. Hievon ist
jedoch thatsächlich nie Gebrauch gemacht worden.
Eiu Eückblick auf die Entwicklung der Triester Lagerhäuser.
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Ein Eiickblick auf die Entwicklung der Triester Lagerhäuser.
117
Mäkler bei Seite g-eschoben und die Lagerhausverwaltung, welche den Hangar-
dienst bisher entgegen ihrer Aufgabe nur ausnahmsweise selbst besorgt hatte,
damit betraut, die Quai-Arbeiten ausschliesslich durch ihre Angestellten vornehmen
zu lassen.
Ein an der Hand der wichtigsten Platzartikel skizzierter Ueberblick über
die „Lagerhaustarif-Politik" möge durch eine Gegenüberstellung der Tarife
aus dem Anfange der achtziger Jahre, jener zur Zeit der Ereihafen-Aufhebung
und endlich der vorbesprochenen staatlichen Tarife gegeben werden. (Seite 115
und 116.)
Die ersten Tarife müssen namentlich im Hinblicke auf eine Eeihe von
Specialbegünstigungen als massig bezeichnet werden, welche aufgehoben zu haben
ein Fehler des unmittelbar vor dem 1. Juli 1891 erlassenen Lagerhaustarifes
ist; die Waren blieben aus und suchten andere billigere Stapelplätze auf. Hier
hat die Verstaatlichung eingegriffen, die Grundgebüren der Lagerzinse wesentlich,
und zwar bei Waren
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für einen Metercentner und eine Woche herabgesetzt, die Miethen von Lagerhaus-
räumen bedeutend (mehr als die Hälfte) ermässigt, den wichtigsten Artikeln (Kaffee,
Baumwolle, Oel, Wein, Colophonium) besondere Bevorzugungen zutheil werden
lassen, die Ausfuhrwaren (Zucker) durch ausgedehnte Lagerzinsfreiheiten und
Gebürenermässigungen herangezogen und namentlich den unmittelbaren Umschlag
begünstigt.
Wiederum, etwa zur Hebung der Lagerhauseinnahmen, eine Gebüreii-
erhöhung zu versuchen, scheint nicht rathsam. Eine solche Maassnahme kann
leicht das Gegentheil des ins Auge gefassten Zweckes herbeiführen und die
Wiederholung einer einmal gemachten schlimmen Erfahrung bedeuten. Der Wett-
kampf im Welthandel erfordert heutzutage eine derartige Anspannung aller Kräfte
und Leistungen, dass auch der kleinste Vortheil ausgenützt werden muss, indem
bei den in riesigen Massen beförderten Gütern jeder von der Zwischenhand
an einem Metercentner eingehobene Heller als erheblicher Factor in der Schluss-
abrechnungssumme zum Ausdrucke kommt.
Als die nächste „Gefahr" für Triest wird immer Fiume genannt, dessen
(seit 1. October 1898 in Wirksamkeit stehende) Gebüren in folgender Uebersicht
mit jenen unseres Eeichshafens in Vergleich gestellt werden :
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Ein Rückblick auf die Entwicklung der Triestev Lagerhäuser. \{\)
Hieraus lässt sich ersehen, dass die Fiumauer Lagerziuse bei den in Betracht
gezogenen Artikeln zumeist gleich, theilweise sogar niedriger sind und dass vor
allem die durchwegs zugestandene 21tägige Lagerfreiheit einen grossen Vorsprung
gewährt. Ganz erstaunlich niedrig sind drüben die Mietzinse für Lagerhausräume.
Die Gebüren für die Abwäge dürften im Durchschnitte sich diesseits und jenseits
gleich hoch gestalten. Die Kosten der Ein- und Auslagerung müssen in Fiume
angesichts der Specialbegünstigungen für Kaffee, Zucker, Wein, Baumwolle, Oel
bei Auf- und Abladung von und zur Bahn (vom Waggon frei) als erheblich
niedriger betrachtet werden. Da die Löschung und Verschiffung mit Zustreifung
in Fiume in einen Satz zusaramengefasst wird, während dies in Triest nicht der
Fall ist, so liegt in dio?eni Punkt für drüben gerade auch kein Nachtheil. Für
Triest ist somit keine Veranlassung gegeben, aus einem etwa zu hoch gespannten
Fiumaner Tarifsatze einen Vortheil zu ziehen.
Während, wie oben erwähnt, im Jahre 1892 eine Einschränkung der
Bauthätigkeit stattgefunden hatte, schritt die Staatsverwaltung daran, die
Lagerhausanlage den Bedürfnissen des Handelsverkehres entsprechend zu
erweitern.
1894 wurde der Weinhangar am Molo IV (im Zollgebiete) erbaut; 1895
die Hangars Nr. 12 b und Vd b am Kopfe des Molo II; 1897 die Hangars
Nr. 1 a und 3 hinter der Riva IV mit einem vorläufigen neuen Frei-
gebietsabschluss ; 1899 ist der Grund zu dem der Kattee-Einlageruug dienenden
Magazine Nr. 2 gelegt worden. In allerjüngster Zeit (September 1900) wurde,
nördlich vom Bassin I der Bau eines neuen Magazines mit 5139 m^ nutz-
barer Lagerfläche und 40.000 Metercentner Fassungsraum zur Aufnahme des für
die Ausfuhr bestimmten Zuckers vollendet.
Die seit der Verstaatlichung aufgewendeten Summen und die Zweckbestim-
mung derselben lässt folgende kurzsefasste Zusammenstellung ersehen :
1894 Hangar Nr. 1 25.166 fl.
1894/5 Pflasterungsarbeiten 86.897 „
1895 Hangars Nr. 12 b und 13 h 51.005 „
1897 „ Nr. 1 a „ 3 135.257 „
elektrische Beleuchtung 2.683 „
Freigebietsabschluss 10.582 „
Canäle für die Hydraulik 1.584 ,,
Strassenherstellung 11.543 ,,
1898 Brückenwage Nr. III 3.071 „
1899 Magazin Nr. 2 Fundament 40.385 „
Bogenlampenbeleuchtung auf den Moli I und II ... . 1.644 „
acht hydraulische Fahrkrahne 76.650 „
Rohrleitungen hierzu 25.000 „
1900 Neues Zuckermagazin 97.500 „
zusammen . . . 568.967 fl.
Der Aufbau des neuen Magazines Nr. 2 sammt Einrichtung wird voraus-
sichtlich 580.000 fl. kosten.
120 Lippert.
Das gesammte Anlagecapital der Lagerhäuser beträgt somit:
alte Lagerhäuser 785.000 fl.
neue „ 8,795.800 „
Erweiterungen nach der Verstaatlichung einschliesslich des neuen
Kaffeemagazines rund 1,149.000 „
1Ä729.800 fl.
Wird noch die für den Hafenbau aufgewendete Summe von 19 Va Millionen
Gulden hinzugefügt, so erscheinen im Laufe der letzten drei Jahrzehnte alles in
allem in runder Ziffer 30 Millionen Gulden von Seiten des Staates für seinen
ersten und grössten Hafen ausgegeben.
Um in dieser Hinsicht vergleichsweise auch anderer Häfen Erwähnung zu
thun, hat die ungarische Eegierung in Fiume in den 20 Jahren, von 1872 bis
1892 eine Summe von 17,251.000 fl. für Hafenanlagen und Magazine verbaut.^)
Die von 1815 bis Ende 1889 berechneten Gesammtauslagen für die
Errichtung und Verbesserung des Hafens von Marseille sammt dessen Aus-
rüstung und den Werften, sowie für den Quarantaine-Hafen von Frioul betrugen
119"3 Millionen Francs, wovon
der Staat 77-75 Mill. Francs
die Stadt Marseille O'H „ „
die Handelskammer 7*45 „ „
und die Compagnie des Docks et Entrepöts . 33'95 „ „
übernahm.
Die Kosten des neuen gegen Norden gelegenen Bassin de la Pinede
werden ausserdem auf 20 Millionen Francs veranschlagt,^) wozu die Handelskammer
mit einem Drittel beiträgt.
In Genua wurden in der Zeit von 1871 bis 1891:
Für den Bau der Moli und Quaiufer . 33*2 Mill. Lire
für die Hangars und die Ausrüstung . 18'6 „ „
für die Eisenbahnanlagen 11* — ,, „
zusammen . . . 62 8 Mill. Lire
verwendet, wovon 20 Millionen aus der Schenkung des Duca di Galliera gedeckt
und der übrige Betrag nach und nach von der Eegierung zu 80 Proc, der Gemeinde
Genua und den betheiligten Provinzen zusammen zu 20 Proc. getragen worden ist.^)
Im Jahre 1898 haben ferner Regierung, Stadt und Provinz Genua, sowie die
Verwaltung der italienischen Mittelmeerbahnen einen auf 18 Jahre zu vertheil enden
Credit von 18 Millionen Lire zur Vergrösserung der Hafenanlagen bewilligt. Um die
') Nachdem der fertige Grundplan im Auftrage der ungarischen Eegierung durch
den französischen Ingenieur Pascal überprüft worden war, wurde der einen Kosten-
aufwand von 13,120.000 fl. beanspruchende Bau durch die Gesetzgebung mittels des
XIX. Gesetzesartikels vom Jahre 1871 genehmigt und im folgenden Jahre begannen die
Arbeiten. In der Folge erweiterte man den Plan und bewilligte neue Mittel.
2) Aus dem von der Association fran9aise pour l'Avancement des Sciences
(XX. Sfession septombre 1891) herausgegebenen Werke über Marseille.
3) II porto di Genova 1891, Veröffentlichung des Corpo reale del Genio civile.
n
Ein Rückblick auf die Entwicklung der Triester Lagerhäuser.
121
Jahr
Betriebsergebnisse in Gulden
(Ordinarium)
Ein-
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Ueberschuss-(-
Abgang —
Entrichtete
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1885
1886
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1888
1889
1890
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1891
1892
1893
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1894
1./4.-31./12.
1894
1895
1896
1897
1898
1899
1900
13.783
46.994
81.467
120.701
137.554
143.308
132.715
148.437
126.013
127.252
164.707
115.452
253.799
514.473
456.078
106.502
392.927
[934.840]
903.290
[995.760]
890.840
[487.940]
524.605
[491.010]
525.110
[539.130]
519.051
[585.100]
39.491 — 25.708
82.881 — 35.887
88.541 — 7.074
108.971 4- 11.730
111.675 -f 25.879
108.684 + 34.622
108.844
114.725
108.055
112.865
139.577
110.082
367.025
683.831
611.328
158.350
328.059
[764.430]
800.528
[861.450]
733.046
[358.190]
357.898
[358.970]
358.584
[394.130)
444.854
[473.240]
+ 23.871
+ 33.712
+ 17.958
-f- 14.387
+ 25.130
+ 5.370
— 113.226
— 169.358
— 155.250
— 51.848
-f 64.868
[+170.4101;
4-102.762
EinKommen-
IjSteuer sammt
II Zuschlägen
684
945
I 945
945
945
j 974
1 1.681
1.527
j Einkommen
Steuer, 5proc
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steuer sammt
Zuschlägen
7.192
I 7.882
I 8.281
in den gemein-
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Lagerräumen
104.723
16.447
10.582
24.632
1.418
1.047
152.233
308.764
600.480
1,152.570
1,356.512
1,231.662
1,212.068
1,206.208
1,065.955
1,227.306
1,370.191
831.286
319.487
486.854
1,027.268
1,159.838
1,191.157
1,240.093
1,181.010
1,181.802
1,217.176
1,240.933
939.539
in den gemeinsamen
Lagei räumen
1,083.417 1,048.044
1,278.901 1,268.911t
1.053
1.053
[+ 134.310]
+ 157.794
[+ 129.750]
+ 166.707 1
Ervverb-
steuer, öproo
Hauszins-
steui r sammt
Zuschlägen
[+ 132.040]
+ 166.526
[+ 145.000]
+ 75.797
[+ 111.760]
34.779
29.427
28.116
I 985.200
I
1,299.820
1,047,278
1,519.062
1,469 951
1,384.433
964.872
1,092.507[
1,184.963
1,381.257
1,574.650
1,381.589
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1602
2354
4534
5155
4630
4881
4838
5140
6386
6803
4652
142.615
177.023
142.691
185.325
135.540
118.426
185.553
246.553
112.093
5840 112.746
6980 157.159
5322 149.925
6554
6116
7946
8341
7578
317.904
348.233
322.282
338.663
289.399
|21.648
19.375
27.461
47.775
53.075
53.556
57.194
61.869
67.647
Die Ziffern in Klammern sind in den Staatsvoianschlag eirgestellt, die anderen Zahlen stellen d'n
thatsächlichen Erfolg dar. In d>^r Nachweisung der Jahre 1895 und 18'J6 ist auch eine durchlaufende Post von
380.000— 3"J0.0Ü0 fl (Land- und Seefracht, Verzollung) inbegriffen, welche seit 1. Jänner 1897 c..nto,-corrente-
mässig durchgeführt wird, somit in den Voranschlägen und Gebarungsausweisen nicht mehr 'erscheint.
Hieraus erklärt sich, dass die Kinnihmen und Ausgaben der Jahre 1895 und 1896 scheintjar höher sind.
122
Lippert.
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124 Lippert.
erforderlichen Neubauten schleuniger durchführen zu können, streckt die Stadt
Genua die ganze Summe vor, und so hofft man, dass die Ausgestaltung des
Hafens schon in sechs bis sieben Jahren vollendet sein werde.
Der Gesammtkostenaufwand für den Hamburger Hafen beläuft sich auf
ungefcähr 126 Millionen Mark; hiervon entfallen 40 Millionen auf den Eeichs-
beitrag, 79"5 Millionen auf Hamburg und 6"5 Millionen sind beim Zollanschluss
Hamburgs an das deutscl^e Zollgebiet am 15. October 1888 als Reinertrag der
Nachsteuer^) der im früheren Hamburger Freihafengebiete vorhanden gewesenen
Vorräthe aufgebracht worden.^)
Da sich in letzter Zeit die Nothwendigkeit einer Erweiterung der dem
Verkehre nicht mehr genügenden Freihafenanlagen ergab, bewilligte die Stadt-
vertretung im Jänner 1899 auf den Antrag des Senates hin sofort die hierfür
erforderliche Summe von 20 Millionen Mark.
Wenn das Schicksal der Lagerhäuser während des langen, zwei Jahrzehnte
umfassenden Zeitraumes vom Tage ihres Betriebsbeginnes, dem 20. April 1880,
angefangen durch alle die geschilderten Wechselfälle hindurch in Ziffern seinen
Ausdruck finden soll, — und erst ein Ueberblick über längere Zeitläufte er-
möglicht die richtige Beurtheilung der Einzelerscheinung — so wird das statistische
Bild durch die Zahlenreihen der Tabellen auf Seite 121 dargestellt werden können:
Nach Ueberwindung der Betriebsabgänge der ersten drei Jahre 1880,
1881 und 1882 arbeitete das Unternehmen mit jährlichen Ueberschüssen von
10.000—30.000 fl.; vom Jahre der Freihafen-Aufliebung (1891) bis zur Verstaat-
lichung (1894) ergeben sich namhafte, den kostspieligen Neubauten zuzu-
schreibende Ausfälle von 150.000 — 170.000 fi., welche erst nach Einführung
des Staatsbetriebes jährlichen Ueberschüssen von 130.000 — 150.000 fl. gewichen
sind. (Das Herabsinken des Ueberschusses der Betriebseinnahmen auf rund
76.000 fl. im Jahre 1899 rührt von verschiedenen Ursachen her: Rückgang
der Lagerzinseinnahmen, erhebliche Mehrauslagen für die elektrische Beleuchtung
des Silos, für Lohnaufbesserung, für Kohle u. s. w. ; dann von einem Erwerb-
steuernachtrag, weil die Voraussetzung, dass die Erwerbsteuer für den Lagerhaus-
betrieb nach den Bestimmungen des Gesetzes vom 25. October 1896, E.-G.-Bl.
Nr. 220, nicht zur Einhebung gelangen werde, durch eine Finanzministerial-
Entscheidung als nicht zutreffend erklärt wurde.)
Wird einerseits in Betracht gezogen, dass die Vergütung des Lloyd an den
Staat für Ueberlassung des commerciellen Betriebes der Hangars auf dem Molo III
um jährlich 44.000 fl. sich mit der staatlicherseits geleisteten jährlichen Ablös-
summe von 44.630 fl. ausgleicht, andererseits die vom Staate übernommene
Selbst- nnd Alleinzahlung der Zinsen und der planmässigen Tilgung der beiden
Lagerhausanlehen das eigentliche, sich nach dem Tilgungsplane allerdings von
Jahr zu Jahr vermindernde Passivum von rund 450.000 fl. bildet, so ist gewisser-
1) In Triest gelangten in runder Summe 3,000.000 fl. Nachverzollungs- und Nach-
versteuerungsgebüren zur Vorschreibung.
2) Historische Topographie der freien und Hansestadt Hamburg von 1880 — 1895
von W. Melhop, Baumeister der Baudeputation (Hamburg, W. Mauke Söhne 1895)
Seite 40.
Ein Rückblick auf die Entwicklung der Triester Lagerliäusei*. 125
maassen ein jährlicher Betrag von 300.000 fl. auf und ab sammt den jeweiligen
Auslagen für neue Bauten als das Opfer anzusehen, welches in dieser Beziehung
Oesterreich seinem einzigen grossen Seehafen bringt.
Die entrichteten Steuern, anfänglich die Einkommensteuer, seit 1898 die
Erw^erbsteuer nach dem II. Hauptstöcke des Gesetzes vom 25. October 1896,
R.-G.-Bl. Nr. 220 (ein geringfügiger Betrag an 5 proc. Hauszinssteuer für einige
vermietete, kleine Räumlichkeiten kommt kaum in Betracht) waren zuweilen ganz
erheblich und bildeten in beiden Jahrzehnten eine Gesammtleistung von rund
150.000 fl. Die Hangars und Lagerhäuser wurden durch die Gesetze vom
25. März 1880, R.-G.-Bl. Nr. 39, und vom 30. Mai 1889, E.-G.-Bl. Nr. 89,
für 30 Jahre, beziehungsweise durch das Gesetz vom 9. Mai 1894, E.-G.-Bl. Nr. 84,
für solange von der Gebäudesteuer, sowie von der 5proc. Steuer vom reinen
Zinsertrage befreit, als sie ihrer Bestimmung gemäss benützt werden und im
Eigenthume des Staates stehen.
Die Gesammtwarenbewegung hat je lY^ Millionen Metercentner sowohl in
der Ein- als ^,uch in der Auslagerung, zusammen 3 Millionen Metercentner
erreicht und ist seit dem Anfang der achtziger Jahre um je 1 beziehungsweise
um 2 Millionen Metercentner gestiegen. Die niedrigere Ziffer des Jahres 1899
erklärt sich daraus, dass das eigentliche Lagerhausgeschäft etwas zurückblieb,
und zwar einmal deshalb, weil in den unmittelbar vorausgehenden Jahren recht
günstige Conjuncturen für einige ausländische Einfuhrartikel (Eoheisen, Getreide,
Schweinefett) obwalteten, die längere Zeit aufgestapelt lagen,' dann weil mehr
Eäume fest vermietet wurden, und vor allem lenkte sich die Zuckerausfuhr
immer mehr zum unmittelbaren Umschlag, was aus dem Umstände hervorgeht,
dass von den 1899 mit der Bahn angekommenen 1,608.400 Metercentnern Zucker
nur 654.913 Metercentner auf Lager giengen.
Die wichtigsten zur Einlagerung gelangenden Artikel sind Export-Zucker,
Kaffee, Südfrüchte und italienischer Wein, in Zeiten ungünstiger Inlandsernte auch
Getreide; Einlagerungszunahme weisen im verflossenen Jahrzehnt auf Kaffee, Süd-
früchte, Oele und Fette, Felle und Häute, einen Eückgang Valloneen und Mira-
bolanen. Colophonium wäre dem Platze beinahe verloren gegangen, ist aber durch
die Tarifermässigungen des Jahres 1894 wieder festgehalten worden. Den Wein
hat die Weinzollclausel mit Italien nach Triest gelenkt, in den letzten Jahren
begann ihn Fiume etwas mehr an sich zu ziehen. Die Kohle erscheint erst seit
Benützung der Magazine auf dem Kohlen-Molo seitens des Lloyd in grossen
Mengen.
Die stetig wachsenden Ziffern des unmittelbaren Umschlages — 1894 über
2 Millionen, 1899 i'^J^ Millionen Metercentner — lassen die Bedeutung der
Hangars für den Transitoverkehr erkennen.
Der mittlere Tagesumsatz nahm fortwährend zu, stieg von rund 2000
Metercentner anfangs der achtziger Jahre auf ungefähr das Vierfache gegen Ende
des letzten Jahrzehntes.
Wie die Durchschnittsziff'erti des täglichen Lagerstandes in den gemeinsamen
Lagerräumen zeigen, ist nach der Verstaatlichung des Betriebes eine Verdop-
pelung im Vergleich zu früher eingetreten und der Stock seither auf gleicher
126 Lippert.
Höhe geblieben (die besonders hohe Ziffer [246.553 Metercentner] im ersten
Halbjahre 1891 ist auf die rege Speculation unmittelbar vor der Freihafen-
Aufhebung 7Airückzuführen. somit als Ausnahme zu betrachten.)
Das Ausmaass der vermieteten Lagerflächen, 1891 rund 20.000 m^, hatte
sich 1894 verdoppelt und hob sich in den letzten Jahren auf das Dreifache
und darüber.
Die ebenerdigen Lagerhäuser und Hangars I — VI der alten Bauperiode
haben einen Belegraum von 16.833 m^ und 6509 m^, zusammen 23.342 m^
gehabt. Nach Fertigstellung der hauptsächlichsten neuen Bauten, am 1. Juli 1891,
waren verfügbar
in den Hangars . 13.209 m-
zu ebener Erde in den Magazinen 11.655 m-
• ^ o. 1 1 , ^, • / I- Stock .... 26.028 m^
in den Stockwerken der Magazine ^ ^^ „, , . , o^o 9
( II. Stock .... 11.888 m^
in den Dachböden 26.581 m^
zusammen 89.361 mr
Dazu kam noch das 1891 im Frachtenbahnhof der Südbahn gemietete
provisorische Spiritusfreigebiet von 2778 in^ Belagfläche.
Am 31. December 1894, 'Y^ Jahre nach der Verstaatlichung, war die
BeTagfläche
in den Erdgeschossen der Hangars 21.241 m^
„ „ Kellern der Lagerhäuser 5.233 m'^
„ „ Erdgeschossen der Lagerhäuser 37.381 m^
,, „ ersten Stockwerken der Lagerhäuser 33.821 m^
„ „ zweiten „ „ „ 18.064 m^
„ „ Dachböden der Lagerhäuser 34.332 m^
,, , ..^^ ) Erdgeschoss . . 4.956 m^
„ dem Lloydhangar am Molo III > , „, , oi-/. 9
\\. Stock .... 8.1 oO w/
„ „ Spiritusfreilager . 2.778 w^
♦zusammen 165.962 m-
Mit Ende des Jahres 1899 standen zur Verfügung:
in den Hangars (einschliesslich des Lloydhangars) . . 46.012 w^
„ „ Lagerhäusern 127.860 in^
ferner die im März 1899 im Silos der Südbahn
gemieteten Eäume 7.245 m'^
sowie das provisorische Spiritusfreilager ebendaselbst . 2.778 m^
zusammen 183.895 m^;
somit wird nach Verlauf von nicht einmal einem Jahrzehnt über das Doppelte
der früheren Belagfläche geboten und — diese auch völlig ausgenützt. (Das
1891 von der Staatsbahn in Miete genommene Magazin V ist nun wieder —
seit Jänner 1900 — Lagerhauszwecken zurückgegeben.)
Es ist nun wiederum eirr Zeitpunkt gekommen, wo die vorhandenen Lager-
räume nicht mehr genügen und dringend an die Bescliaffung neuer Belagflächen
Ein Rückblick auf die Entwicklung der Triester Lagerhäuser. 127
gedacht werden mnss.^) Bereits 1898 waren die Anlagen des neuen Hafens bis
auf ihre Maxim alle! stung in Anspruch genommen.
Der ausserordentliche Andrang von Waren, insbesondere Zucker, hat im
Winter 1899/1900 alle Magazine und Hangars dergestalt gefüllt, dass Mitte
Jänner 1900 mittels Kundmachung an alle Kaufleute, Spediteure und Industriellen
des Inlandes die Einstellung,' weiterer Warenaufnahme bekannt gegeben werden
musste.
So erfreulich einerseits die Thatsache ist, dass die Lagerhausanlagen
vollkommen ausgenützt werden, so bedenklich erscheint diese Beengung für
den Handel.
Die ins Auge gefasste Errichtung des oben besprochenen Kaffeemagazins
und der September 1900 vollendete Bau eines neuen, bloss für Zucker bestinimten
Magazines nordseits können nur vorübergehend Abhilfe schaffen. Der l;aldigste
Ausbau des Hafens^) stellt sich als unabweisbare Nothwendigkeit dar und es
wäre lebhaft zu wünschen, dass die von der Regierung im Parlamente eingebrachte
Vorlage, welche einen Theil der Aufgabe zu lösen unternimmt, ehestens zur Aus-
führung gelange. Die Ausdehnungsfähigkeit der Hafenanlagen in der Bucht von
Muggia, welche in dem 1885 vom Stadtbauamte über das Barret'scho Project
^) Die Anzahl der Triester Privatmagazine hat seit der Preihafen-Aufhebunj, beträcht-
lich abgenommen; unmittelbar vor dem 1. Juli 1891 wurden 114 Conticrungsmagazine
und 125 Verschlussmagazine bewilligt, dann bestanden
„ ,. ,, . , Transitomagazine
Contierungs- Verschlusi- für verzehrun|ssteu«r-
magaz-me magaz.ne pfljchtige Gegongtände
1891 101 92 9
1892 97 76 9
1893 88 55 8
1894 78 39 8
1895 69 26 1 '
1896 69 25 6
1897 57 25 6 ^
1898 56 24 7
1899 55 24 5
1900 58 29 7
Jedenfalls müssen sie insbesondere in Anbetracht ihres nicht sehr hohen Miet-
zinses von ungefähr 2 — 5 fl. für 1 m'^ (je nach der Lage) dermalen noch als eine
nothwendige Ergänzung der Lagerhäuser angesehen werden. Es betrug nämlich die
Gesammteinlagerung in die
1896 1897 1898 1899
Conticrungsmagazine . 377.940 M.-C. 351.194 M.-C. 332.036 M.-C. 319.257 M.-C.
Verschlussmagazine . 67.539 „ 93.264 . 155.877 „ 126.695 „
zusammen . . 445.479 M.-C. 444.458 M -C. 487.913 M.-C. 445.952 M.-C.
Dies ist durchschnittlich ein Drittel der Einlagerung in den Lagerhäusern. Hiebei
ist noch zu berücksichtigen, dass in diesen Mengen lediglich der zollpflichtige Verkehr
erfas.st wurde ohne Bedachtnahme auf bedeutende Vorräthe zollfreier Artikel (Agrumen,
Mirabnlanen und Valloneen n. s. w.).
2) Neue überdachte Lagerräume sollen auf dem zukünftigen Sanitätsmolo, dann
auf dem Molo bei S. Andrea errichtet werden. (Regierungsvorlage, Nr. 335 der Beilagen
zu den stenographischen Protokollen des Abgeordnotenhausos, XVI. Session 1899.)
12Ö Lippert.
abgegebenen G-utacliten „als die einzige Oertlichkeit bezeichnet wurde, wo einstens
naturgemäss ein ausgedehnter Hafen von Triest erstehen kann, der sowohl den
wirklichen Bedürfnissen des grossen Welthandels, als den besonderen Interessen
der Stadt Genüge zu leisten vermag", lässt die beiliegende Skizze des vom Ingenieur
Dr. E. Geiringer^) im Auftrage der Gemeinde sowie der Handels- und
Gewerbekammer schon 1897 entworfenen Planes ersehen.-)
Um die Verhältnisse der Triester Lagerhäuser durch Vergleiche ins richtige
Licht zu setzen, soll noch in gedrängter Kürze von den Lagerhausunternehmungen
anderer Seestädte gesprochen werden, soweit das Interesse hiezu vorliegt.
Die am 7. März 1885 gegründete Hamburger Freihafen-Lagerhaus Gesellschaft
hat mit einem Capitale von 9 Millionen Mark auf den vom Staate gepachteten, zum
Theile neu gewonnenen Grundflächen des Freibezirkes Speicher gebaut. Als
Grundlage für das Pachtverhältnis wurden die Bebauungskosten auf 300 Mk, für
einen Quadratmeter und der Bodenwert für diese Pachteinheit mit 500 Mk.
geschätzt. Der Pachtpreis beläuft sich durchschnittlich auf I7V2 ^^- f^^' ^^^^
Quadratmeter ; ausserdem ist der Staat an den Dividenden betheiligt, sobald
dieselben 5 Proc. überschreiten, und zwar wie 3 : 5, wobei 3 die Lagerhaus-
gesellschaft und 5 den Staat bedeutet (ßaucapital : Grundcapital). Die Dauer des
Pachtverhältnisses beträgt 50 Jahre ; wenn nach Ablauf dieser Zeit kein neuer
Vertrag zwischen Staat und Gesellschaft zustande kommt, so übernimmt der Staat
die Speicher nach Abschätzung. Die Speicherbauten wurden unter Staatsaufsicht
aufgeführt und die Baupläne durch die Baudeputation statisch geprüft. Auch
steht die Verwaltung der Gesellschaft unter staatlicher üeberwachung.^)
Ursprünglich wurde der Gesellschaft ein Gebiet von rund 30.000 m^ über-
lassen. 1898 betrug dasselbe 62.400 m^, die verfügbaren Regielagerräume auf
dem nördlichen Elbeufer 80.000 m^. Gegenwärtig (1900) stehen 15.000 tn^
Contore und 315.000 m^ Lagerräume mit einer durchschnittlichen Tragfähigkeit
von ungefähr 1800 hg auf einem Quadratmeter zur Verfügung. Im Jahre 1899
erreichte die in Bauten verausgabte Summe rund 16 Millionen Mark.
Wie die Entwicklung der Verhältnisse sich von 5 zu 5 Jahren gestaltet hat»
crgiebt nachstehende Uebersicht:
^) Ing. Dott. E. Geiringer, Eelazione intorno alla Sistemazione del Porto di
Trieste presentata dalla Commissioiie mista del Municipio e della Camera di Commercio,
Trieste Stabilimento artistico Tipografico G. Caprin 1898.
2) Der Hauptvorzug der Hamburger Hafeiianlage besteht in ihrer ausgedehnten
Quaientwicklung, welche die denkbar unmittelbarste Berührung von Schiflf und Eisenbahn
gestattet. Der Ausbau dieses Plusshafens je nach den Bedürfnissen des Verkehres ist
verhältnismässig nicht schwierig und auch nicht sehr kostspielig. Bremen befindet sich
in gleicher Lage. Anders die Seehäfen. Der fast zu einem Kreise geschlossene Genueser
Hafen sucht in der Eichtung nach Sampierdarena Raum zu gewinnen; Marseille muss
gegen Norden dem Meere neues Gebiet abringen. Fiumes Ausdehnung findet Schranken
in h3'drographischen Verhältnissen; eine Verlängerung des von 42 — 46 m Tiefe herauf-
geführten Molo S. Teresa kostet für den laufenden Meter bei 40.000 fl. Die Bucht von
Muggia ist gegen die Mitte zu nicht über 19 m tief.
3) Historische Topographie der freien und Hansestadt Hamburg von 1880 — 1895
von W. Melhop, Baumeister der Baudeputation (Hamburg, W. Mauke Söhne 1895),
Seite 69.
ßin Rückblick auf die Entwickluiig der Triester Lagerhäuser. 129
a) Vermietungen: 1888 1893 1898
Contor- und Lagerrcäume . . m^ 180.500 212.700 223. 600
Mieteerträgnis Mark 632.751 1,506.534 1,632.324
h) Lagergeschäft:
Contor- und Lagerräume . . m^ 38.700 50.300 111.400
Einnahme an Lagermiete . . Mark 120.528 310.270 628.892
f Colli 517.497 1,343.838 1,695.062
Waren-Eingange | ^^ 32,476.000 88,745.000 110,886.000
Gesammtgewicht der im Frei-
hafengebiete eingelagerten
Waren kg 134,000.000 254,000.000 305,000.0001)
Die Verkehrszunahme in den Speichern der Lagerhausgesellschaft hat somit
gleichen Schritt mit dem Gesammtverkehr gehalten und der Stand sich von 1888
bis 1893 ungefähr verdoppelt, in dem Jahrzehnt von 1888 — 1898 mehr als
verdreifacht.
Dementsprechend gestalten sich auch die Betriebseinnahmen andauernd
günstig; beispielsweise
Jahr Einnahmen Ausgaben Reingewinn
1888 Mark 1,055.038 744.549 310.489
1889 „ 2,013.284 066.596 1,046.688
1808 „ 2,992.386 1,943.525 1,048.861
1899 „ 3,217.930 2,165. o83 1,052.547
Die Gesellschaft ist in der glücklichen Lage, für leerstehende Räumlichkeiten
keine nennenswerte Einbusse zu erleiden, da stets nach Fertigstellung weiterer
Bauten die neugeschaffenen Räume rasch vermietet waren.
Die Baukosten für ihren Speicher D am Moldauhafen, welcher am
15. October 1898 fertiggestellt wurde, konnten sogar den laufenden Einnahmen
entnommen w^erden. Die Gesellschaft besitzt am Moldauhafen drei eigene Schuppen
(A, B, C) mit einem Gesammtlagerraum von 16.328 m'^.
Staatlicher Speicherbetrieb besteht in Hamburg seit 1. Jänner 1895 nicht
mehr ; die staatliche Quaiverwaltung nimmt keine Güter zur längeren Lagerung auf.
Staatsseitig waren 1899 die nur Lösch- und Ladezwecken dienenden Quai-,
schuppen mit einem überdachten Lagerraum von 264.369 m^, dann der Quai-
speicher A am Kaiserhöft mit 17.384 m'^ Lagerfläche in sechs Geschossen, sowie
der Quaispeicher B am Brookthorhafen mit 14.980 m^ Lagerfläche in zwölf
Geschossen ausgebaut. Die Schuppen 26 — 29 am Petersenquai, dann 43 — 47
am Oswaldquai sind der Hamburg-Amerikalinie, der Quaispeicher A seit Jänner
1895 an die Lagerhausgesellschaft verpachtet.^)
An den im staatlichen Betrieb befindlichen Quaianlagen sind 1898 4407
Schiffe, 1899 4359 Schiffe mit 3,186.166, bezw. 3,242.008 Registertonnen
abgefertigt worden. Aus diesen Schiffen wurden gelandet 1898 1,848.788 Tonnen
^) Aus den Jahresberichten der Freihafen-Lagerhausgesellschaft.
^) Aus der vom Wasserbau director Chr. Nehls zusammengestellten Statistik über
Wasserflächen, Uferstrecken, Lagerräume und Hebezeuge im Freihafen und Zollgebiete.
Zeitschrift für A'^olkswirtscli.ift, Socialpolitik und Verwaltung. X. Band. 9
130 Lippert.
1899 1,940.348 Tonnen; es wurden 1898 178.732 Tonnen, 1899 216.116 Tonnen
zu Lande abgeführt, 1,421.459 Tonnen, bezw. 1,451.383 Tonnen zu Wasser
abgesetzt und 248.597 Tonnen, bezw. 272.849 Tonnen mit der Bahn verladen.
Verschifft wurden 1898 281.408 Tonnen, 1899 301.510 Tonnen. Die
Gesammt-Güterbewegung beziffert sich 1898 auf 2,274.357 Tonnen, 1899 auf
2,425.409 Tonnen.
Die Gesammt-Einnahmen aus dem staatlichen Quaibetriebe für 1898 und
1899 stellen sich auf 5,943.465 Mark, bezw. 6,321.068 Mark, die Ausgaben,
soweit sie aus den Betriebseinnahmen gedeckt werden, betragen 3,693.232 Mark,
bezw, 3,952.565 Mark, so dass sich ein Ueberschuss von 2,250.233 Mark bezw.
2,368.504 Mark ergibt, oder nach Abzug der Gehalte, Pensionen u. s. w. ein
Keinüberschuss von 1,700.326 Mark, bezw. 1,850.265 Mark.^) Dies ist ein ansehn-
liches, ungefähr 3Proc. betragendes Erträgnis des auf rund 57 Millionen Mark sich
beziffernden Gesammt-Anlagecapitales für Quaimauern, Schuppen, Geleiseanlagen,
Krahne u. s. w.
Die Bremer Lagerhausgesellschaft wurde am 29. Mai 1888, also nicht
lange vor dem Eintritte Bremens in den deutschen Zollverein^ 15. October 1888,
mit einem Actiencapitale von 1 Million Mark gegründet. Auf Grund des mit
dem Bremer Staate 1888 abgeschlossenen und bis 1904 gegen stillschweigende
Verlängerung auf je 5 Jahre geltenden Betriebsüberlassungsvertrages hat die
Gesellschaft den Betrieb der im Freibezirke und am Sicherheitshafen befindlichen
Verkehrsanstalten und Lagereinrichtungen nebst Zubehör zu führen. Der Staat
behält sich das Eigenthumsrecht vor. 1899 betrug das vom Bremer Staate veraus-
gabte Anlagecapital, das sind die Ausgaben für die Verkehrsanstalten und Lager-
einrichtungen ohne die Kosten für Grunderwerb und Hafenanlagen, rund 12/^2
Millionen Mark, -) Die Gesellschaft verpflichtete sich, den Betrieb in einer dem
allgemeinen Verkehrsinteresse entsprechenden Weise zu führen ; sie bestreitet aus
den Betriebseinnahmen die Betriebsauslagen und bei Unzulänglichkeit der ersteren
hat der Staat den Fehlbetrag zuzuschiessen. Von den Betriebsüberschüssen erhält
die Gesellschaft 2Proc. (jedoch nicht mehr als 15.000 Mark) zur Vertheilung als
Tantiemen an ihre Beamten, Die weiteren Beträge werden verwendet zu Gunsten
des Staates als (4 proc.) Verzinsung für das Anlagecapital, als Ersatz für
etwa geleistete Fehlbeträge. Vom Rest erhält der Staat bis zur Höhe von
50.000 Mark 75 Proc, von weiteren 50,000 Mark 80 Proc, von dem 100.000 Mark
übersteigenden Gewinn 85 Proc, das übrige die Gesellschaft. Hiernach ist das
Princip der kaufmännischen Organisation des Unternehmens gewahrt, jedoch die
finanzielle Kraft des Staates in Anspruch genommen,
*) Aus den Berichten der staatlichen Quai Verwaltung.
Die Abrechnungen der Baudeputation, welche die Erhaltung der Quaianlagen zu
besorgen hat, sind eigentlich noch mit in Betracht zu ziehen. Hierfür werden jährlich
ungefähr 300.000 Mark ausgegeben, so dass die Eeineinnahmen des staatlichen Quai-
Verwaltungsunternehmens sich in runder Summe auf 2,000.000 Mark belaufen. Auf dieser
Höhe stehen sie schon seit 1897.
2) Für die Hafen-Erweiterungsanlagen betrugen die aufgewendeten Kosten bis zum
Schluss des Jahres 1898 rund 17,650.000 Mark. Bremer Handelsbericht für das Jahr 1898,
deutsches Handelsarchiv 1899, II, Seite 492.
Ein liückblick auf die Entwicklung der Triester Lagerhäusei*. 131
Dem Kajeverkehre dienen zehn Kajeschuppen und ein Stückgutschnppen
mit zusammen 81.080 m^ Lagerfläclie im Freibezirke, dann die Kajescliuppen am
Siclierlieitsliafen mit 6480 m^; dem Lagerverkelire fünf Speicher und ebensoviele
Lagerschuppen im Freibezirke mit 122.900 m^ Lagerfläche und die Lagerhäuser
am Sicherheitshafen mit 8280 m^, das ist zusammen 87.560 m^ für den Kaje-
verkehr und 131.180 m^ für den Lagerverkehr.
In den zehn Betriebsjahren von 1889 — 1898 ist die Schiffsgüterbewegung
im Freibezirke von rund 254.000 Tonnen auf rund 1,063.000 Tonnen, also auf
das Vierfache gestiegen; die durchschnittliche Jahreszunahme betrug 81.000 Tonnen,
daran sind die ersten fünf Jahre mit durchschnittlich 79.500, die letzten mit
102.000 Tonnen betheiligt.
Der Betrieb hatte immer Ueberschüsse; 1898 waren die Einnahmen 2,442.997,
die Ausgaben 1,731.100, der Betriebsüberschuss 711.897 Mark, wovon der
Staat als Zinsen 486.743 Mark
als Gewinnantheil 171.779 „
zusammen . . . 658.522 Mark
das ist rund 92 Yg Proc. und die Gesellschaft als Antheil für ihre Beamten
14.238 Mark (2 Proc), als Gewinnantheil 39.137 Mark (5V2 Proc.) erhält.
Im Jahre 1899 betrugen die Einnahmen 2,424.129 Mark
die Ausgaben 1,796.036 „
der Betriebsüberschuss . . . 628.093 Mark
Die Docks und Entrepöts in Marseille waren ursprünglich nach dem Gesetze
vom 10. Juni 1854 ein Unternehmen der Stadtgemeinde, welche dasselbe mittelst
Vertrages vom 14. October 1856 an eine anonyme Gesellschaft abtrat; die Con-
cession gilt für 99 Jahre, nach deren Ablauf die Docks Eigenthum der Stadt
werden. Während der ersten 30 Jahre hatte die Gesellschaft der Stadt jährlich
50.000 Francs, dann 100.000 Francs zu zahlen.
Das Actiencapital der Compagnie des Docks et Entrepöts betrug 1860
20 Millionen Francs und wurde 1871 auf 52 Millionen erhöht; unter
Berücksichtigung der seither durchgeführten Einlösung beziehungsweise Tilgung
war der Actienfond nach dem Stande vom 31. December 1898 536 Mil-
lionen Francs.
Die Gesellschaft besitzt ein Areal von 211.046 irr und verfügt über
eine Quailänge von 3270 m] die Belagflächen in den Hangars und Maga-
zinen zusammen betragen 137.457 tn^; die Docks vermögen je nach der
Beschaffenheit der Waren 160,000 — 180.000 Tonnen zu fassen. Ein Hangar
am südlichen Quai der Traverse de la Joliette ist an die Messageries Maritimes
vermietet.
Ein Bild der Gesammt- Warenbewegung im Verlaufe der letzten zehn Jahre
gibt folgende Uebersicht:
132
Lippert.
Annees
Mouvemeut des Docks
(noii coiripris le mouvenient des Messa-
geries Maritimes)
Mouvement des
Messageries Maritimes
Impottations
Exportations
Totaux
Importations
Exportations
Totaux
t 0 n n e s
t 0 n n e s
1889
1890
1891
1892
1893
1894
1895
1896
1897
1898
1899
1,277.784
1,383.478
1,441.834
1,140.037
1,491.342
1,335.048
1,312.059
1,441.451
1,343.776
1,595.928
1,444.736
247.453
236.832
214.693
239.633
260.3:5
277.809
235.359
257.026
284.712
308.721
316.475
1,525.237
1,620.310
1,656.527
1,379.670
1 751.697
1,662.857
1,547.418
1,698.477
1,628.488
1,904.649
1,761.211
193.173
203.829
183.616
116.516
122.368
155.773
169.516
185.334
200.899
187.096
144.751
103.943
81010
81.215
90.156
37.427
88.823
92.616
120.375
122.238
116.183
133.665
297.116
284.839
264.831
206.672
■^09.795
244.596
262.132
305.709
223.137
303.279
278.416
Die Zunahme ist also nur eine langsame; es hat sogar manche ziemlich
ungünstige Jahre gegeben ; 1884 — 1887 erhob sich die Gesammt-Ein- und -Ausfuhr
in den Docks nur wenig über 1 Million Tonnen jährlich.
Die Einnahmen bev/egen sich im Jahre zwischen 8 — O^'g Millionen Francs,
die Ausgaben zwischen 572 ^^^ ^Va Millionen, der Eeingewinn beläuft sich
demnach durchschnittlich auf 2V2 — 3 Millonen. Im Jahre 1898 waren die betref-
fenden Ziffern :
Francs Francs Francs
recettes 9,356.428 depenses 4,163.593 produits nets 3,192.835
1899 „ 8,201.135 , 5,543.305 „ „ 2,657.830
Der Umfang des Unternehmens ist daher ein sehr bedeutender.
Im Hafen von Marseille hat auch die Handelskammer Hangars erbaut
(Belagfläche 54.316 m^) und deren Betrieb selbst übernommen.
Die Fiumaner Lagerhäuser standen ursprünglich im Betrieb der ungarischen
Escompte- und Wechslerbank in Budapest. Mit dem 1. October 1898 hat die vom
erwähnten Institut als führender Hand gegründete Fiumaner öffentliche Lager-
haus-Actiengesellschaft alle im Freigebiete gelegenen Magazine, welche von der
Seebehörde erbaut wurden, dann die Magazine der ungarischen Staatsbahnen
(auch die im Zollgebiete gelegenen) in Betrieb übernommen. Das Eigenthum an
sämmtlichon Magazinen (Belagfläche 117.597 m^) steht nun den Staatsbahnen zu.
Das Actiencapital beträgt 500.000 fl., der Staat sichert eine bestimmte Mindest-
einnahme (5Proc.). Die commercielle Bethätigung des Unternehmens soll die
Verkehrsbank in Fiume beeinflussen, abgesehen von weitgehendsten Förderungen
seitens der Staatsbahn-Direction, mit welcher ein nicht öffentlich bekannter
Vertrag abgeschlossen wurde.
Ein Rückblick auf die Entwicklung der Triester Lagerhäuser. 133
Man trug sich eine Zeitlang mit dem Gedanken, einen staatlichen Betrieb
einzurichten, jedoch hat man den Privatbetrieb geschaffen, weil ein Privatunter-
nehmen viel loichter einzelne Begünstigungen gewähren kann.
Die Erfolge des Unternehmens im Jahre 1899 müssen als sehr befriedigende
bezeichnet werden, da auf jede Actie eine Dividende von 9'25 Proc, im ganzen
46.250 fl. als Gewinst, vertheilt wurde. Yon letzterer Summe erhalten die königl.-
ungar. Staatsbahnen den Theilbetrag von 18.754 fl. und ebensoviel der Ver-
waltungsrath. ^)
Das Roherträgnis des Betriebes war 167.841 fl., die Auslagen betrugen
93.110 fl. der Reingewinn 74.731 fl.
DieEinlagerungindieMagazineundimElevatorerreichte 1,541.749 Metercentner
im Freien lagerten 474.020 „
zusammen . . .2,015.769 Metercentner
im Versicherungswerte von rund 25"7 Millionen Gulden.
Die Gesammt-Auslagerung aus den überdachten und freien Lagerräumen stieg
auf 1,948.902 Metercentner.
Von den in den Lagerhäusern untergebrachten Waren entfielen auf
Zucker 368.377
Wein 327.685
Getreide 212.722
Mehl und Kleie 192.579
Reis und Hülsonfrüchte . . 187.028
Im Freien lagerte Wein in einer Menge von 369.908 Metercentner.
Aus dem Geschäftsberichte der Fiumaner Lagerhausgesellschaft verdienen
die Worte hervorgehoben zu werden, dass bei Einhebung des Mietzinses für die
Magazine und Keller die grösstrnöglichste Coulanz gewährt und stets das allgemeine
Verkehrs- und Handelsinteresse im Auge behalten wurde. Für erhebliche Be-
günstigungen in den Tarifsätzen war der Grundsatz massgebend, die Platzspesen
möglichst zu verringern, um den Verkehr in Fiume nach Möglichkeit zu heben.
Es vermochte auch die Direction mit Freuden das in den Handelskreisen zuneh-
mende Vertrauen zu dem Unternehmen zu verzeichnen. ^)
Während der Triester Hafen vorzüglich ausgerüstet ist, hat der Fiumano
fast gar keine maschinellen Einrichtungen; das Löschen und Laden besorgen die
Schiffskrahne, mit Handaibeit geschieht die Beförderung der Waren in die Stock-
werke. Eine Besonderheit des Fiumaner Freihafens ist ein riesenhafter, 1891
> Metercentner
*) Aus dem Geschäftsberichte der Fiumaner Lagerhausverwaltung.
^) Als Gegenstück hierzu sei Folgendes erwähnt:
Die Fiumaner Börse hat (Februar 1900) über Aufforderung des Handelsministers
Hegedüs einen umfangreichen Berieht verfasst, in welchem zur Ermöglichung der freien
Entwicklung und gesunken Concurrenz des Handels verlangt wird, dass die dem Platze
gewährten Begünstigungen behufs Vermeidung einer Monopolisierung nicht einzelnen
Unternehmungen eingeräumt, sondern für jedermann gleich zugänglich gemacht werden.
Infolgedessen und nachdem die für den Hafenverkehr nothvvendigen Opfer von einer
rrivatunternehmung billigerweise nicht beansprucht werden können, wird mit Hinweis
auf de Triester Verhältnisse die Verstaatlichung der Lagerhausunternehmung beantragt.
184 Lippert.
erbauter Gretreideelevator mit einem Laderaum von 1000 Waggons (10.000 Tonnen),
der je nach Bedarf als Zollgebietsniederlage unter zollämtlicher Mitsperre gehalten
oder freigegeben wird. Besonders ausgiebige Verwendung findet er jedoch nicht.
Ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Hangar und Lagerhaus wird nicht
aufgestellt.
In Genua befremdet auf den ersten Anblick der scheinbare Mangel grösserer
Lagerhäuser. Auf den Molis und an den Quais stehen bloss Hangars, die sogenannten
ebenerdigen Capannoni oder Tettoje, deren Verwaltung und Betrieb seit 1. Mai 1888
die Handelskammer besorgt. Durch diese gehen die gewaltigen Massen des Durch-
zugsverkehres, der sich in einer Jahresmenge von beiläufig 3 Millionen Tonnen
bewegt. Die bedeckte Lagerfläche beträgt 46.020 w^; zur Lagerung im Freien
können 172.710 ni^ verwendet werden.
Eine zweite Linie um den Hafen bilden die Bahnmagazine; sie sind
gewöhnlich gleichzeitig Magazzini doganali di temporanea custodia.
Im Eigenthum des Municipiums stehen die Magazzini della Darsena, zugleich
Emporio doganale und Deposito civico, d. h. zur Aufnahme zollpflichtiger, aber
auch nationaler oder nationalisierter, noch der Verzehrungssteuer unterliegender
Waren bestimmt und die Unterdrückung der Fiduciarmagazine in der Stadt vor-
bereitend. Der 1891 beschlossene Umbau der ehemaligen Marine-Kaserne zu dem
gedachten Zwecke erforderte 6 Millionen Lire. Die Belagfläche in den Magazinen
beträgt 47.500 m^.
Das unter zollämtlicher Mitsperre befindliche und der Einlagerung auslan-
discher Waren dienende Deposito franco, in Eigenthum und Verwaltung der
Handelskammer, hat 11.860 m^ nutzbare Lagerfläche. Die Warenbewegung
wechselt; zeitweise übersteigen die verzollt austretenden oder wiederum ins Ausland
ausgeführten Waren jährlich 700.000 Metercentner. ^)
Auf dem Molo vecchio wurden von einem privaten Consortium Magazzini generali
(anfänglich nicht sehr grossen Umfanges) erbaut, deren Ausbau und Ausnützung
(sammt den Werften) eine englische Finanzgruppe im Sommer 1898 übernommen hat.^)
In Venedig vermochte das Lagerhauswesen wohl nie eine besondere Bedeutung
zu erlangen. Es sei hier gleich von vornherein erwähnt, dass die italienische
Regierung der Stadt anlässlich der mit 1. Jänner 1874 erfolgten Freihafen-Auf-
hebung eine nach den Bedürfnissen der Handelsinteressen zu verwendende Summe
von 1,800.000 Lire als Entschädigung bewilligte. Jedoch dauerte es geraume
Zeit, bis dieselbe ihrer Zweckbestimmung zugeführt wurde.
Das erst in den Jahren 1887 — 1891 mit einem Aufwände von 1,120.000 Lire
erbaute, am 1. Juni 1892 dem Betrieb übergebene und unter der Verwaltung der
') Nach den Eesoconti statistici del commercio e della navigazione di Genova.
2) Die räumliche Beschränktheit der Genueser Magazine ist ein Uebelstand, welcher
Ursache war, dass viele Transporte (besonders Getreide) auf das mit Entrepöts in viel
reicherem Maasse versehene Marseille abgelenkt wurden.
Iin Herbste 1900 hat sich übrigens in Genua eine Gesellschaft „Silos" mit einem
Actiencapitale von 5 Mill. Lire gebildet, welche es sich zur Aufgabe setzt, den Getreide-
handel im Grossen durch rasches Aufladen, Lagerung des Getreides in grossen Speichern,
modernste Ladevorrichtungen, Weiterbeförderung ins Innere u. s. w. zu heben und so
Genua zu einem Getreide- Em porium für Italien zu machen.
Ein Rückblick auf die Entwicklung der Triester Lagerhäuser. 135
Handelskammer stehende Deposito franco bedeckt eine Gresammtfläche von 14.283 m^
und besteht aus einer Eeihe von Gebäuden, deren Magazine eine für die Warenein-
lagerung verwendbare Fläche von 12.328 w^ aufweisen. ^) Die durchschnittliche
Wareneinlagerung schwankt zwischen 30.000 und 40.000 Metercentner jährlich
wovon beinahe die Hälfte auf Kaffee entfällt. ^)
Die gleich dem Punto franco unweit der Stazione marittima gelegenen
Magazzini generali^) wurden von einem Consortium um 1,250.000 Lire erbaut
und bedecken eine Fläche von 37.527 w^; die nutzbare Lagerfläche beträgt
8330 ni^, ihre Aufnahmsfähigkeit bei 150.000 Metercentner. Der Versuch, diese Ein-
richtung lebensfähig zu machen, ist der Handelskammer und Gemeinde nicht
gelungen. Im Sommer 1898 bildete sich eine Gesellschaft zur Herstellung und
Ausnützung von Silos, die 300.000 Metercentner Getreide fassen sollen. Ein solches
Magazin ist bereits erbaut.
Schliesslich seien noch ein paar Worte über die Leistungsfähigkeit der
Häfen in Absicht auf die Bewältigung der zu Schiff und mit der Bahn einlangenden
Warenmengen hinzugefügt.
Einer dem VII. internationalen Schiffahrtscongress in Brüssel 1898 über-
reichten Abhandlung'^) des französischen Ingenieurs Guerard zufolge kann angenommen
werden, dass der Nettotonnengehalt der ein- und auslaufenden Schiffe 400 Re-
gistertonnen für den laufenden Meter Quailänge im Jahre überschreiten dürfe.
Man stellte diese Ziffer für Liverpool auf z. B. 1890 . . . 403 Registertonnen
1896 ... 413 „
Marseille hingegen hatte . 1893 ... 880 „
1895 ... 870 „
Bei Berücksichtigung des Gewichtes der gelöschten und verschifften Waren
kamen 1895 im Marseiller Hafen auf den laufenden Meter 482 Gewichtstonnen.
An den der Compagnie des Docks zur Verfügung stehenden Quais erreichte der
Vorkehr 605 Tonnen; — 1896 613 Tonnen, 1897 599 Tonnen, 1898
675 Tonnen für 1 m. Die Messageries Maritimes, welche über eine Quailänge
von 285 m verfügt, bewältigte allein in ihrem Hangar in jedem der drei Jahre
1896 — 1898 durchschnittlich über je 1000 Tonnen. So hohe Ziffern sind nun
freilich nur im Hinblicke auf die rasche Bewegung des in Marseille besonders
regen Getreide- und Kohlenverkehres möglich.
Niedrigere Durchschnittsmengen schätzten Sachverständige für Genua-'*)
Hiernach könnte ein gut eingerichteter Hafen bequem und mit aller Oekonomie
eine jährliche Warenbewegung von 500 Tonnen für den laufenden Meter bewäl-
^) II Porto di Venezia von Professor Primo Lanzoni, 1895.
-) Navigazione e Commercio di Venezia. Rapporti della Camera di Commercio
ed Arti.
^) Der Unterschied zwischen Deposito franco und Magazzini generali, welche auch
ausländische Waren unter zollämtlicher Ueberwachung aufnehmen, ist darin gelegen, dass
in ersterem freie Hantierung mit den Waren gestattet wird, in letzteren jedoch nur die
Hinterlegung bis zur Weiterbeförderung zulässig ist.
^) Surfaces relatives des diverses parties d'un port. Eapport par Ad. Guerard,
Ingenieur en chef des Ponts et Chaussöes ä Marseille, avril 1898.
■') II Porto di Genova, herausgegeben vom Corpo reale del Genio civile 1892.
136 Lippert.
tigen, eine Ziffer, die in Genua zuweilen überschritten wurde. Bei einer zum Aiilegen
benutzbaren Quailänge von ungefähr 9800 m könnte der Genuesor Hafen im
Jahre leicht 4,450.000 Tonnen bezwingen. In den letzten Jahren überschritt
diese Ziffer 5 Millionen Tonnen und man rechnet darauf, dass nach Vollendung des
Simplondurchstiches die Warenbewegung sich auf 10 Millionen Tonnen erhöhen
werde.
Die Bahnbewegung leistet einen täglichen Durchschnitt von 1200 Waggons,
der aber auch auf 1500 Waggons gesteigert zu werden vermag. Allerdings ist es
ein wunder Punkt Genuas, dass die Bestellung der Eisenbahnwägen hinter dem
thatsächliclien Bedürfnisse sehr zurückbleibt. Die Bahnverwaltung konnte beispiels-
weise im Winter 1897/98 nur mit grösster Mühe 800 — 900 Wägen täglich zur
Verfügung stellen; dieser Mangel an rollendem Material ist für den Handels-
verkehr ein empfindlicher Nachtheil. ^)
Im Hamburger Freihafen wurden 1896 an den Quais bei 12.417 m benutzter
Längenausdehnung von 4033 Seeschiffen im ganzen rund 2,500.000 Tonnen
doppelt bewegt, einmal zur Einfuhr von See oder Binnenland, das zweitemal zur
Ausfuhr nach Binnenland oder See, somit für den laufenden Meter rund
200 Tonnen Waren zweimal abgefertigt.^) Auf den Maasstab obiger Vergleich-
ziffern gebracht, ergibt dies 400 Tonnen im Jahre.
Ein grosser Vortheil für die Abwicklung des Verkehres im Hamburger Hafen
liegt in der Scheidung der Ein- und Ausfuhr nach gesonderten Anlageplätzen.
In Triest stellen sich die betreffenden Ziffern in folgender Weise :
Bei einer nutzbaren Quailänge von rund 3000 m im neuen Hafen (aus-
schliesslich des im Zollgebiete gelegenen Molo IV) entfallen von dem Seeverkehre
(gesammte gelöschte und verschiffte Gütermenge mit Inbegriff des Lloydmolo):
1896 mit 791.896 Tonnen auf den laufenden Meter 264 Tonnen
1897 „ 887.498 „ „ „ „ „ 296 „
1898 „ 956.051 „ „ „ , „ 319 „
1899 „ 949.913 „ „ „ „ „ 317 „
An verschiedenen Stellen der Quais gestaltet sich übrigens das Löschen
und Laden sehr verschieden. Es kann mit gutem Grunde angenommen werden,
dass im Triester Hafen auf dem laufenden Meter auch eine Warenbewegung von
500 Tonnen ^) im Jahre bewältigt zu werden vermag. Diese Ziffer ist insoferne
von Bedeutung, als sie ausdrückt, in welchem Tempo das Löschen und Laden
1) Bedeutende Transitgeschäfte mit Getreide nach der Schweiz giengen Genua
dadurch verloren und es bedurfte grosser Anstrengungen, dieselben wenigstens theilweise
zurückzuerobern.
2) Aus der dein VIL internationalen Schiffahrtscongress in Brüssel 1898 über-
reichten Abhandlung: „Ueber die Grösse und das Verhältnis der einzelnen Theile eines
Seehafens" von M. Buchheister, Wasserbau-Director der freien und Hansestadt Hamburg.
3) Barret sagte in seinem 1885 der österr. Eegierung überreichten Projecte
(Seite 13) „On peut estiiner que les ouais desservis par une surface süffisante de terre-
pleins couverts ou ä de'couyert, par un outillage hydraulique et un developpement de
Toies ferrees et charretieres assez grand pour eviter les encombrements, peuvent per-
mettre de transborder annuellement, au minimum, 500 tonnes de marchandises iniportöes
ou exportees par metre courant."
Waggonladungen abgefertigt worden.
Ein Eückblick auf die Entwicklung der Triester Lagerhäuser, 137
vor sich geht und es nicht gleiehgiltig ist, wie lange die Schiffe vor den
Hangars liegen müssen. Wenn ein Lloyddampfer von 120 m Länge und 3000
Nettotonnengehalt binnen einer Woche eine volle Ladung löscht und zugleich
aufnimmt, so ist dies eine gute Durchschnittsleistung. ^)
Was den Bahnverkehr anbelangt, so sind unter Zugrundelegung von rund
300 Arbeitstagen im Jahre
1896 durchschnittlich 141
1897 „ 178
1898 ^ 192
1899 „ 194
Hiebei kommt zu berücksichtigen, dass der Verkehr in den Sommermonaten
nicht sehr rege ist; im Winter 1899/1900 wurden zuweilen täglich 400 Waggons
mit 10.000 oder 15.000 kg Tragfähigkeit verladen und im Jahre 1897 wurde
sogar die Ziffer von 600 Eisenbahnwägen erreicht. ^)
Die staatliche Fürsorge für die Triester Lagerhäuser hat sich als erfolg-
reich erwiesen. Die Lage des Unternehmens ist als keine ungünstige zu bezeichnen,
indem die Einnahmen allmählich steigen, die Warenbewegung zunimmt und die ehe-
mals leeren Eäume zuweilen so gefüllt sind, dass sie den Anforderungen des Verkehres
nicht mehr genügen. Diese auf Ziffern gestützte Behauptung scheint in Wider-
spruch zu stehen mit den häufig vom Triester Handelsstande geführten Klagen
über schlechten Geschäftsgang. Hierfür folgende Erklärung : Beobachtet man
nämlich bei den Ergebnissen des Bahnverkehres im Freigebiete die gewaltige
Betheiligung des unmittelbaren Umschlages und stellt dieselbe in Vergleich mit
dem eigentlichen Lagerhausverkehre, in welchem sich die locale Handelsthätigkeit
zum Theile widerspiegelt, so erhellt, dass letztere thatsächlich gegenüber dem
Umschlag und Durchfuhrverkehre eine untergeordnetere Eolle spielt. Der Eigen-
handel ^) muss eben nach dem Zuge unserer Zeit, welche die möglichst unmittelbare
Verbindung zwischen Erzeugungsstätte und Absatzgebiet mit Ausschliessung der
Zwischenhand anstrebt, naturgemäss zurücktreten.
Die zur Förderung des heimischen Seehandelsverkehres und zur Hebung
des Triester Platzes insbesondere unternommene staatliche Intervention, welche
in erster Linie bezweckte, „das Freigebiet unter möglichst günstigen Bedingungen
dem Handel und der heimischen Industrie zugänglich zu machen und zu einer
Stätte regen Schaffens, sowie zum Mittelpunkte der eifrig zu pflegenden Interessen
unserer überseeischen Handelsbeziehungen heranzubilden,"*) bedeutet aber nur
einen Schritt vorwärts.
') Es wird in Triest viel bei Nacht gearbeitet, was in anderen Häfen nicht in
dem Maasse der Fall ist.
2) Barret (Seite 22): „U arrive asscz fiequomment, aux Docks de Marseille,
d'expedier au chemin d^ fer, dans 24 heures, 500 wagons chargäs et d'en de'charger
300 dans le meme temps, ce qui fait un total de 800 wagons par jour." Für Triest hält
er eine Bahnanlage zur Bewältigung von 700 bis 750 Waggons täglich nothwendig.
^) Der Eigenliandel, worunter man den Ankauf von Waren zum Zwecke gewinn-
bringenden Wiederverkaufes versteht, beschränkt sich in Triest auf Kaffee, Agrumen,
Scliwämme u. s. w.
*) Aus einem Erlasse des Handelsministers vom 11. Mai 1894 an den Bürger-
meister und die Handels- und Gewerbekamraer in Triest.
138 Lippert, '
Die staatlicherseits getroffenen Maassnalimen zar Verwirklichung dieses
Zieles können allein nicht ausreichen. Es ist vorzugsweise Sache der betheiligten
Kreise selbst, stets und unausgesetzt neue Beziehungen anzuknüpfen, grössere
Warenmengen heranzuzielien und namentlich die Pflege der vornehmlichsten
Stapelartikel für den Bedarf der heimischen Industrie, sowie die zur See zu
versendenden Erzeugnisse derselben sich angelegen sein zu lassen.
Dann wird ein reger Verkehr zwischen inländischer Industrie und aus-
ländischen Absatzgebieten angebahnt werden und immer mehr zu Tage treten,
welche Bedeutung für den Grosshandel Lagerhäuser am Seehafen besitzen, wie
die Speculation, die ausgiebige Benützung der Conjuncturen und rascher Umsatz
nur dort möglich sind, wo wohleingerichtete Warenniederlagen fast ohne Spesen
die leichte, mehrmalige Begebung der Ware und deren Belehnung ermöglichen
und damit die kaufmännische Betriebskraft, den Capitalumsatz, die Creditausnützung
zu steigern vermögen.
Es liegt in der Natur der Sache, dass die Conjuncturen des Welthandels
fortwährend veränderliche Gestalt zeigen, dass Wechsel in Angebot und Nachfrage,
vor allem aber der Wettbewerb ein fortwährendes Auf- und Abwogen in den
Preisen der Welthandelsartikel bewirken und in deren Beförderungswegen
Verschiebungen eintreten lassen. Jede Neuerung in den Verkehrseinrichtungen,
jeder neue Bahnbau vermag die Warenmassen in eine andere Richtung zu drängen.
Solche Schwankungen hat jedes grosse Unternehmen zu erfahren. Die Docks
von Marseille^) hatten ebenso wie die Triester Lagerhäuser böse Zeiten, deren
Ueberwindung gerade Kraft und Lebensfähigkeit bekundet.
Eines sei jedoch immer gegenwärtig:
Das zum Bau des Triester Hafens und der Lagerhausanlage bisher auf-
gewendete Capital von 30 Millionen Gulden ist nicht für diese Stadt allein aus-
gegeben ; es ist eine Summe, die dem Handel des Reiches zugute kommt, welcher
der Vermittlung der Hangars und Warenhäuser beim Uebertritt der Güter von
der Bahnbeförderung in den Seeverkehr und umgekehrt unumgänglich noth-
wendig bedarf; so ist diese Anlage ein wichtiges Verbindungsglied, ein wichtiger
Factor in dem Antheile, den Oesterreich am Welthandel nimmt.
Wie auch immer die Zukunft die Handelsbedingungen Triests ändert, seine
geographische Lage wird jederzeit einen beträchtlichen Theil des Welthandels
herbeizuziehen imstande sein. Stets aber ist es geboten, schon bei Zeiten jene
Verbesserungen und Vorkehrungen zu treffen, welche den Hafen wirksam befähigen,
jene Stelle einzunehmen, die ihm unter den andern Seestädten Europas gebürt.
Unsere Zeit steht im Zeichen des Verkehres !
') Die Marseiller Entrepöts rentierten sich infolge der grossen Schuldenlast
anfänglich nur mit 2 Proc, 1898 jedoch mit 5"6 Proc. (53*6 Millionen Francs Actien-
capital und 3 Millionen Francs Reingewinn).
Die Triester Lagerhäuser tragen für das Anlagecapital von 10-7 Millionen Gulden
und bei einem durchschnittlichen Betriebsüberschuss von 130.000 fl. (ohne Berücksichtigung
der Amortisation) 1-2 Proc.
Der Gewinn der Hamburger Freihafon-Lagerhausgesellschaft ist 6*3 Proc; jener
des Bremer Lagerhausuntemehmens 5-6 Proc. (16 beziehungsweise 12-5 Millionen Mark
Anlagecapital, 1 Million beziehungsweise 700.000 Mark Reinertrag).
LITERATURBERICHT.
Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Herausgeben von J. Conrad, L.
Elster, W. Lexis und E. Löning. 2. Auflage, IV. Band. Jena, Gustav Fischer. 1900.
Das über die früheren Bände dieses Werkes Gesagte ') gilt zumeist auch von dem
vorliegenden, der die Schlagwörter Galvani bis v. Justi umfasst. Die Anlage des
Ganzen ist die nämliche, wie in der ersten Auflage, neue Schlagwörter sind nur in geringer
Zahl hinzugekommen. Die meisten Artikel sind entweder ganz unverändert geblieben oder
doch nur durch Ergänzung bis auf die neueste Zeit fortgeführt. Leider ist auch hier
wieder das "Verhältnis zu den beiden Supplementbänden unklar und inconsequent. Bald
sind die in den letzteren enthalteneu Beiträge in der 2. Auflage wörtlich reproduciert,
bald muss man die ersteren zur Ergänzung heranziehen, ohne dass doch in dem Haupt-
werke ein Hinweis auf den älteren Supplement enthalten ist. Dass diese Verweisungen
fehlen, muss die leichte Benutzbarkeit dieses Werkes nicht wenig schmälern. Diesem
Mangel könnte, wenn auch nur theilweise, dadurch abgeholfen werden, dass die Heraus-
geber wenigstens am Schlüsse des ganzen Werkes ein Verzeichnis aller jener Artikel
der Supplementbände geben würden, die in die 2. Auflage nicht aufgenommen worden sind,
sowie derjenigen, die zur Ergänzung der 2. Auflage herangezogen werden müssen.
Im Folgenden sollen die wichtigsten Veränderungen der 2. Auflage gegenüber der
ersten besprochen werden.
Das Schlagwort Gefängnisarbeit umfasst jetzt 16 (früher 2) Seiten. Krohme
skizziert hier in interessanter Weise die Geschichte der Gefängnisarbeit, ihre Entstehung
im 17. Jahrhundert in den Niederlanden; er erörtert die Postulate der Strafpolitik und der
Wirtschaftspolitik an die Gefängnisarbeit und zeigt, dass der Conflict zwischen beiden
kein unlösbarer ist; unter den verschiedenen Systemen der Arbeitsorganisation, die hier
dargestellt und gewürdigt werden, wird dem Betriebe durch die Anstalt für fremde
Rechnung sowie dem eigentlichen Eegiebetriebe für eigene Rechnung der Anstalten der
Vorzug gegeben.
Karl Mengers so bedeutende Abhandlung über das Geld ist an Umfang noch
wesentlich gewachsen und ist dadurch noch fesselnder geworden. In einem eigenen Para-
graphe wird untersucht, welche Aufgaben die Theorie des Geldes, welche die Wirtschafts-
geschichte zu lösen habe. Ausführlicher und anschaulicher wird jetzt der Ursprung des
Geldes dargestellt, werden jene Umstände aufgezeigt, die in primitiven Verhältnissen die
besonders hohe Marktgängigkeit einzelner Waren verursachen. In noch klarerer, präclserer
Weise als in der ersten Auflage wird hier die Tauschmittelfunction als das ausscliliessliche
Charakteiistikon für das Geld gegenüber allen anderen Waren hingestellt; alles, was sonst
von Theoretikern als Merkmale des Geldes angeführt zu werden pflegt, wird als secundäre,
unwesentliche Folge der Tauschmittelfunction dargethan. Neu ist ferner die Behandlung
des Unterschiedes zwischen Geld und Waren in der Jurisprudenz und des Streites der
Wirtschaftstheoretiker über die Frage, ob Geld auch eine Ware sei oder nicht. In besonders
plastischer Weise werden jene wirtschaftlichen Momente hervorgehoben, die noch vor
der Einführung einer staatlichen Währung zur Ausmünzung der Metalle führen raussten. Die
praktische Bedeutung dieses Ueberganges hält Menger für viel grösser, als sonst die
meisten Schriftsteller. Erst durch die Ausmünzung entstehe die wirkliche Circulations-
fähigkeit, die ökonomische Vertretbarkeit der einzelnen Stücke. Sehr wichtige Umgestal-
1) Siehe VIII. Jahrgang Seite 530 if, IX. Jahrgang Seite 315 und 315 ff.
140 Literaturbericht.
tungen hat endlich der Abschnitt „das Geld als Maasstab des Tauschwertes der Güter"
erfahren, wobei besonders der Gegensatz von innerem und äusserem Tauschwerte viel
schärfer herausgearbeitet ist als früher.
In dem Artikel Gemeindefinanzen (Eheberg) ist jetzt auch Oesterreich z. Th.
berücksichtigt. Desgleichen in dem Artikel Gemeinheitstheilung (Grossmann); doch
entbehrt man hier gar sehr jede zahlenmässige Angabe, geschweige denn eine Statistik.
Starke Veränderungen zeigt der Artikel Gesellschaft und Gesellschaftswissenschaft.
(Gothein) Abgesehen davon, dass eine Auseinandersetzung mit Stammler neu ist,
und dass die Auffassungen von Schäffle, Eümelin, Dilthey, Spencer, Ranke,
Marx und Engels eingehender gewürdigt werden, so ist der streng ablehnende Stand-
punkt in der Frage nach der Möglichkeit einer Gesellschaftslehre und socialer Gesetze
jetzt wesentlich gemildert.
Neu ist der Artikel über öffentliche Gesundheitspflege von M. und K. Fl e seh,
wodurch eine sehr emplindliche Lücke der ersten Aullage ausgefüllt ist. Leider würde
man in dem Abschnitte über die Organisation der Gesundheitspflege Angaben über Oester-
reich vergeblich suchen.
Die mit „Getreide" zusammenhängenden Schlagwörter nehmen einen ausserordentlich
breiten Raum ein. Lexis (die ältere Getreidehandelspolitik und Allgemeines)
vertritt wie in der ersten Auflage so auch jetzt wieder den Standpunkt, dass die Getreide-
börsen nur die durch die volkswirtschaftliche Geschäftslage, durch die Productions- und
Transportbedingungen bestimmten Preistendenzen zum Ausdruck bringen; er niissbilligt
daher entschieden die gegen das Getreidetermingeschäft gerichtete Bewegung. lieber die
Technik und den gegenwärtigen Stand des Getreidehandels in Deutschland
bringt die 2. Auflage einen giossentheils schon im 1. Supplementband enthaltenen Artikel
von Wiedenfeld, der insbesondere dem Getreideabsatze des kleinen Landwirtes seine Auf-
merksamkeit zuwendet. Er constatiert, dass der kleine Verkehr zumeist von der Notierung
an der nächsten Provinzialbörse — im Osten vielfach direct von jener in Berlin — abhängig
ist; es gelte vielfach direct im voraus der jeweilige Berliner Cours abzüglich der Fracht
und einer Risicoprämie. Die letztere sei früher nicht bedeutend gewesen, seit der Erschwerung
des Termingeschäftes aber vielfach erhöht worden, so dass das Verbot des Terminhandels
den Landwirten statt einer Steigerung eine Senkung des Preisniveaus gebracht habe.
Auch sei dadurch, dass nun in Berlin keine amtlichen Preise mehr notiert werden, die
Abhängigkeit des Getreidebauers von den Händlern und den HandelsniüUern noch gesteigert
worden. Ebenso habe dadurch auch im Grosshandel die Abhängigkeit des deutschen Getreide-
marktes vom ausländischen, vor allem vom amerikanischen nicht ab-, sondern zugenommen,
und es sei die Concentrationstendenz im Getreidehandel wegen der im grossen Geschäfts-
umfange gelegenen Selbstversicherung beschleunigt worden. Hinsichtlich des Getreide-
handels in den Vereinigten Staaten hebt jetzt Sering besonders die Mängel des
Gradierungsverfahrens, die grossen Misstände in der Getreidehandelsorganisation, die
rücksichtslose Ausbeutung ihrer Monopolsstellung durch die grossen Elevatoren-Unter-
nehmungen hervor. Interessant ist, dass die lange Zeit hinduich als Ideal betrachtete
amerikanische Organisation allmälig verlassen zu werden scheint. „In ziemlichem Umfange
sind die Farmer dazu übergegangen, sich Scheunen zu bauen. Ja man kehrt hie und da
zur Versendung in Säcken zurück." Dass wir es aber hier mit einer allgemeinen
Entwicklungstendenz zu thun haben, darf wohl bezweifelt werden.
Auch nach Conrad (Getreidepreise) vermag die Börsenspeculation die Preise
umso weniger dauernd zu beeiflussen, je ausgedehnter der Markt ist, da dann die in
Betracht kommenden Massen viel zu gross sind, als dass sie durch einzelne beherrscht
werden könnten. Derselbe Autor constatiert in dem neuem Abschnitte über Getreide-
zölle in England, dass hier auch die höchsten Zollsätze nicht im Stande gewesen sind,
die Preise über dem Weltmarktpreise zu halten oder die heimische Production derart zu
fördern, dass sie auch nur annähernd mit dem Wachsthum der Bevölkerung Schritt hielte.
Sehr interessant ist auch das bisher ziemlich unbekannt gebliebene portugiesische Getreide-
gesetz vom Jahre 1899, das im „Schutze der heimischen Landwirtschaft" wohl das
Literaturbericlit. 14:1
Aeusserste leistet. Im ganzen herrscht in diesem Artikel ein wesentlich anderer Standpunkt,
als in dem früheren von P aas che über den nämlichen Gegenstand. Das gilt namentlich
von der Beurtheilung des Einflusses der Getreidezölle auf den landwirtschaftlichen Betrieb,
auf andere Productionszweige und auf die Consumenten. Als interessiert an den Getreide-
zöllen betrachtet Conrad nur die 1-2 Millionen Betriebe von mehr als 5 ha; d. h. etwa
6 Millionen Menschen oder 12 Proc, der Bevölkerung (mit Einschluss der Betriebe von
2 — 5 ha 11 Millionen Menschen oder 21 Proc); Vs ^^^ Bevölkerung ist an der Frage
überhaupt nicht betheiligt, weil es Getreide weder kauft noch verkauft, während ^/^
vor allem die Arbeiterbevölkerung^ die Lasten zu tragen haben. Conrad berechnet, dass
eine städtische Arbeiterfamilie von 5 Köpfen an Getreidezöllen durchschnittlich
12—15 Mark zahlt.
Seinem berühmten Artikel „Gewerbe" hat Buch er einen neuen Abschnitt „Gewerbe-
zweige und Gewerbearten" eingeschaltet. Er skizziert jetzt auch den Beginn der stoflF-
umwandelnden Thätigkeit in der Entwicklung der Völker und die schon von allem Anfange
her bestehende Trennung der Arbeitsfunctionen der beiden Geschlechter und verwertet auch
sonst die Resultate der ethnographischen Forschung in viel höherem Maasse als früher.
Die Kritik, welche seine Theorie über die Wirtschaftsstufen seit der ersten Auflage von
gewichtiger Seite erfahren hat, bleibt im Texte wie in der Literatumachweisung leider
unerwähnt.
Der Artikel „Gewerbegerichte" (Stieda) musste umgestaltet werden, da seit der
ersten Auflage der Stand der Gesetzgebung sich sehr geändert hat. Insbesonders ist das
damals erst erlassene deutsche Gesetz v. J. 1890, welches die Gewerbegerichtsbarkeit neu
ordnete, inzwischen ein Jahrzehnt lang in Ausführung gewesen. Die seither immer stärker
werdenden Eeformbestrebungen betreffen insbesondere die Einführung des obligatorischen
Charakters dieser Institution, die Ausdehnung ihrer Competenz, die Aenderung des
Wahlverfahrens, der Wahlberechtigung, die Vergrösserung des Kreises der Unternehmungen.
In Italien ist im Jahre 1893 das Institut der Probiviri geschaffen worden, in Oesterrei h
hat das Gesetz vom Jahre 1896 die Errichtung von einer Anzahl neuer Gewerbegerichte
zur Folge gehabt.
Der Gewerbegesetzgebung sind über 80 Seiten gewidmet; in 9 Specialartikeln
werden die Gesetzgebungen Deutschlands (Georg Mayer), Oesterreichs (Freiherr v.
Call), Ungarns (Földes), Frankreichs (Mataja), Grossbritanniens (Bauer), Italiens
(Ferraris), d^rSchweiz (Schollenberger), Skandinaviens (Bioraberg) und Russlands
(Mueller) behandelt. Relativ die grössten Veränderungen seit der ersten Auflage sind
auf diesem Gebiete in Deutschland durch das neue Arbeiterschutzgesetz von 1890, die
Novelle zum Gewerbegesetze von 1896 und das Gesetz über die Handwerksorganisation
von 1897 eingetreten. In Oesterreich ist inzwischen nur die Sonntagsruhe geregelt
(Gesetz von 1895) und die Einführung von Gewerbegerichten normiert worden. Merkwürdiger
Weise erachtet der Verfasser auch jetzt noch die Zeit der Geltung österr. Gewerberechtes
für zu kurz, als dass man „die an sich recht unbefriedigenden Daten über die Wirkungen
der Novelle vom Jahre 1883 als entscheidend" ansehen könne. Wie lange Call wohl noch
warten will, um sich hierüber ein Urtheil zu bilden? Jedenfalls steht er mit seiner
Ansicht, dass die Ergebnisse der Genossenschaitsstatistik „zum grösseren Theile nicht
unbefriedigend sind", ganz allein. Dass die Ziele, die sich die Gesetzgebung gesteckt
hatte, auch nicht annähernd erreicht worden sind, muss er selbst übrigens zugestehen.
In dem Artikel „Gewerbekamraern" (früher Maresch, jetzt Thilo Hampke
wird speciell die in Oesterreich bemerkbare Bewegung nach Errichtung eigener Gewerbe-
kammern, getrennt von den Handelskammern eingehend gewürdigt, die Schwierigkeiten
dieser Trennung hervorgehoben. Eine sorgfältige Darstellung der Ergebnisse der Betriebs-
zählung des Deutschen Reiches enthält der sehr erweiterte Artikel „Gewerbestatistik"
von Kollmann. In dem Artikel „Gewerbesteuer" (Burkhard) wird die österreichische
Reform der directen Steuern vom Jahre 1896 mit wenigen, ganz dürftigen Bemerkungen
abgethan.
142 Literaturbericht.
Der Artikel Gewerk vereine hatte in der ersten Auflage nur 49 Seiten; jetzt
ist er auf 105 Seiten angewachsen, wozu noch 40 Seiten in dem ersten und 63 Seiten
im zweiten Supplementbande hinzukommen.
Allerdings finden sich hiebei auch manche Wiederholungen. Die dogmatisch-kritische
Einleitung Brentanos ist stark umgearbeitet. Stärker als früher wird die physische
Abhängigkeit des Arbeiters vom Unternehmer und die durch den modernen Grossbetrieb
geschaffene Gemeinsamkeit der Arbeitsbedingungen, welche dem Einflüsse des einzelnen
Arbeiters gänzlich entzogen sind, betont. Brentano hat ferner eine Geschichte des Coalitions-
rechtes hinzugefügt und setzt sich dafür ein, das den Verabredungen der Arbeiter über
ihre Arbeitsbedingungen derselbe Rechtsschutz zutheil werde, den alle anderen nicht
gegen die guten Sitten verstossenden Verträge gemessen. Fast in allen Culturstaaten
hat die Gewerkvereinsbewegung in den letzten Jahren einen bedeutenden Aufschwung
genommen. Besonders interessant ist die Darstellung der englischen Entwicklung von
Brentano. Bei Behandlung der deutschen Gewerkschaften hat Kollmann die neueste
Phase der Entwicklung, die alhnählige Losreissung der Gewerkvereinsbewegung von der
politischen, noch nicht berücksichtigt. Herkner übt scharfe, aber gewiss berechtigte
Kritik an den übertriebenen Centralisationsbestrebungen bei den leitenden Persönlichkeiten
der österreichischen Gewerkschaften, wie sie insbesondere in der Gründung der „Unionen"
zutage getreten sind. Mahaim verfolgt die neuere Entwicklung sowohl der Syndicate
als auch der Arbeitsbörsen in Frankreich, sowie die Bestrebungen nach weiteren gesetz-
lichen Reformen auf diesem Gebiete. In Belgien (Mahaim) wurde im Jahre 1894 ein
Gesetz vom zweifelhaftem Werte zur Regelung der rechtlichen Stellung der Gewerkvereine
gegeben. In der Schweiz (Herkner) ist eine der deutschen analoge Bewegung bemerkenswert,
welche die Gewerkvereine auf einen politisch und religiös neutralen Boden stellen will.
In dem Artikel Haftpflicht (Elster undLexis) ist zwar die Veränderung dargestellt,
die in Deutschland durch das Einführungsgesetz zum bürgerlichen Gesetzbuche verursacht
worden ist; dagegen wird hinsichtlich der Haftpflichtgesetze in ausserdeutschen Ländern
auf das Schlagwort Unfallversicherung verwiesen.
Neu eingefügt ist das Schlagwort „Haftpflichtversicherung" (Man es), ein
Versicherungszweig, der in der That erst in den letzten Jahren grosse Bedeutung erlangt
hat. Einige merkwürdige Behauptungen finden sich in dem kurzen Artikel; so, dass diese
Versicherung „jedes Objectes entbehre"; dass ihre Wirkungen in jedem Falle „ausser-
ordentlich gute, social wertvolle sind", dass „keine andere Versicherungsart einen derart
altruistischen Charakterzug" besitze. Gerade das Gegentheil triff't zu. Die Haftpflichtver-
sicherung wird geradezu als Mittel gebraucht, um sich von den Entschäd'gungspflichten
zu befreien, welche die sociale Gesetzgebung statuiert hat, sie ist daher direct antisocial,
sichert die Unternehmer gegen die ökonomischen Folgen grober Fahrlässigkeit, so dass
sehr wohl gefragt werden kann, ob der Staat diese Versicherungsart unbeschränkt,
zulassen solle.
Erweitert sind ferner die Beiträge „Handel" von Mataja, „Handelsbilanz"
von Schell, „Handelsgesellschaften" von Laband, „Handelsrecht" von Gold-
schmidt und Pappen he im. Hingegen ist der unzureichende Artikel „Handelsverträge"
von Oncken nicht vervollständigt worden; die Ereignisse der letzten Jahre hätten
zweifellos eine ausführlichere Besprechung verdient. Zum Theile ist eine solche im
1. Supplementbande, Schlagwort Handelspolitik, zu finden.
Im Artikel „Handwerk" bespricht Stie da die neuere Handwerkerbewegung und das
deutsche Gesetz vom Jahre 1897. Zur Ergänzung müssen die Schlagworte „Handwerk"
aus dem 1. und „Gewerbegesetzgebung" aus dem 2. Supplementband herangezogen
werden. Interessant ist, was über die geringfügigen Wirkungen jenes Gesetzes gesagt wird.
Sehr gewonnen hat die Behandlung des Schlagwortes „Haushaltungsstatistik-*
(Zahn, früher Schumann). Sombart hat seinen Artikel „Hausindustrie" völlig
umgearbeitet und eine durchaus selbstständige Darstellung des Gegenstandes geliefert.
Hervorzuheben ist die Schilderung des Schwitzsystemes, die Verarbeitung der Resultate
der Berufs- und Betriebszählung des Jahres 1895, die zu dem Ergebnisse führt, „dass
Literaturbericht. 143
sich in unserer Zeit der Sphäre in der Hausindustrie eine Art von Erneuerungsprocess
vollzieht, an die Stelle absterbender Hausindustrien fast gleich stark besetzte neuauf-
kommende treten". Der Abhandlung ist ein Literaturverzeichnis von 11 Seiten beigegeben.
Wesentlich bereichert ist der Artikel „Hof vom Wittich. In der ersten Auflage
waren nur einzelne specielle Gebiete (Niedersachsen. Hannover) in Betracht gezogen worden,
während jetzt ein allgemeiner Ueberblick über die Entstehung der Hofverfassung
geboten wird.
Der äusserst interessante Artikel „Individualismus" von Dietzel hat jetzt
wesentliche Erweiterungen erfahren. Nunmehr lässt Dietzel die sehr anfechtbare
Bezeichnung aller nicht auf dem Individualismus basierten Systeme als „sociaUstische"
fallen und nennt sie in zutreffenderer Weise „organische". Sein Grundgedanke, dass die
nämlichen praktischen socialpolitischen Forderungen nicht selten aus den entgegengesetzten
ethischen Grundanschauungen entspringen, nämlich sowohl aus individualischen als auch
aus organischen Principien, tritt jetzt noch schärfer hervor als in der ersten Auflage.
Sehr zu bedauern ist es, dass das Gegenstück zu diesem Artikel fehlt, nämlich die Dar-
stellung der „organischen" Systeme.
In dem Artikel „Invalidenversicherung" (Woedtke) ist zwar das Gesetz von
1899 bereits berücksichtigt, dagegen die reiche Statistik leider ganz unverwertet geblieben.
Schiff.
Die Wohlthätigrkeitsvereine der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien.
Ein Nachschlagebuch für die Zwecke der öffentlichen und privaten
Armenpflege, herausgegeben vom Armendepartement der Stadt Wien. Wien,
1901. (337 S.)
Die Armenpflege befindet sich in Wien in einem so desorganisierten, zerfahrenen
Zustande, dass alles mit Freude begrüsst werden muss, was irgend wie als ein Schritt
zur Behebung der auf diesem Gebiete herrschenden Verwirrung betrachtet werden kann.
Das gilt denn auch von der vorliegenden Publication. Leider hat das anerkennenswerte
Streben des Magistrates, sich Klarheit über die bestehenden Wohlthätigkeitsvereine und
über deren Wirksamkeit zu vei schaffen, bei einem grossen Theile dieser Vereine nicht
die nöthige Unterstützung gefunden, so dass ein vollständiges Material nicht erlangt
werden konnte und auch die Daten, soweit sie geliefert worden sind, sich nicht auf das
nämliche Jahr beziehen. Die beabsichtigte statistische Verarbeitung musste deshalb
unterbleiben. Es zeigt indessen schon die vorliegende Zusammenstellung trotz ihrer
Lückenhaftigkeit, welche Verschwendung an Arbeitskräften und an Verwaltungskosteu
dadurch verursacht wird, dass — nicht eingerechnet das sociale Hilfswesen, die geist-
lichen Wohlfahrtseinrichtungen und das Stiftungswesen — mehr als 580 Wohlthätigkeits-
vereine nebeneinander bestehen und wirken, ohne miteinander Fühlung, ja voneinander
Kenntnis zu haben. So unentbehrlich die Mitwirkung der Privaten für eine rationelle
Armenpflege zweifellos ist, so schädlich und hemmend wirkt eine derartige Zersplitterung
ohne jede Verbindung der einzelnen Theile. Sie macht eine Evidenz und Controle der
Unterstützten unmöglich, befördert auf der einen Seite das Wohlthun aus Gründen der
Eitelkeit, vernichtet auf der anderen Seite bei den Armen die Scham und züchtet
geradezu das Erschwindeln von Unterstntzungen. Hierin Wandel zu schaffen, ist ein
dringendes Bedürfnis. Die vorliegende Publication wird hoffentlich nicht ohne Wirkung
in dieser Richtung bleiben. S.
Grundriss des österreichischen Rechtes. Unter Mitwirkung vieler namhafter
Rechtsgelehrter herausgegeben von den Professoren Dr. A. Finger, Dr. 0. Frank 1,
Dr. D. Ulimann. Leipzig Duncker & Humblot 1899 und 1900.
Dieses neue Unternehmen ist, obgleich es in erster Linie bloss juristischen
Charakter besitzt, doch auch vom Standpunkte dieser Zeitschrift mit Freude zu begrüssen.
Hängen doch die ökonomischen, vor allem aber die socialpolitischen und Verwaltungs-
fragen so enge mit den Fragen des geltenden positiven Rechtes zusammen, dass alles,
was die allgemeine juristische Bildung erhöht, auch direct oder indirect beiträgt zur
Stärkung der staatswissenschaftlichen Bildung. In besonders hohem Grade gilt das
\^l Literaturbericht.
von den Theilen des Werkes, die das öifentliche Recht behandeln; hieher zählen das
bereits erschienene und auch in dieser Zeitschrift angezeigte Heft Mataja? „Gewerbe-
recht und Arbeiterversicherung", ferner die in Vorbereitung befindlichen Arbeiten
Zuckerkandis über Agrarrecht, Ritter Beck von Managettas über gewerb-
liches Urheberrecht, Freiherr von Wiesers über Pinanzrecht, Spiegels über
Verwaltungsrecht. Ira ganzensind bisher 10 von den in Aussicht genommenen
28 Abtheilungen erschienen, mit einem Gesammtumfang von über 61 Bogen. Die für
das ganze Werk in Aussicht genommenen 100 Bogen werden daher zweifellos sehr
bedeutend überschritten werden müssen. Besonders da sehr zu wünschen ist, dass
einzelne ungemein wichtige Zweige, die bisher in der österreichischen Literatur arg
vernachlässigt worden sind, wie Verwaltungsrecht, Agrarrecht, Finanzrecht, keine allzu
knappe Darstellung erfahren.
Die bisher erschienenen Hefte — Demelius Sachenrecht, Schuster von Bonnott
Obligationenrecht, Anders Familienrecht, Grünhut Wechselrecht, üllmann Civil-
process, v. Hussarek, Staatskirchenrecht, und Mataja (s. o.) — erbringenden Beweis,
dass die Verlagsbuchhandlung in ihrer Anzeige mit Recht behauptet, dass „das Werk
sowohl für die Studierenden behufs leichterer Aneignung des Rechtsstoffes, als für jene
— Theoretiker und Praktiker — brauchbar sein wird, die eines Nachschlagewerkes bedürfen,
das sie über das heute in Oesterreich geltende Recht rasch, verlässlich und vollständig
unterrichtet." Es wird damit eine sehr fühlbare Lücke unserer österreichischen Literatur
ausgefüllt sein. S.
Launhardt. Am sausenden Webstuhl der Zeit, üebersicht über die
Wirkungen der Entwicklung der Naturwissenschaften und der Technik auf das gesammte
Gulturleben. Leipzig B. G. Teubner 1900. (Aus Natur- und Geisteswelt. 23 Bändchen.)
Eine anregend und leicht fasslich geschriebene Darstellung dessen, was die
Menschheit auf dem Gebiete der Technik, insbesondere aber der Verkehrstechnik bisher
geleistet und erreicht hat. Insoferne kann das Büchlein als ein vorzüglicher Beitrag zur
Volksbildung bezeichnet werden. Andererseits wird aber, wie dies bei Schriften von
Technikern — allerdings keineswegs nur bei solchen — sehr häufig ist, der Einfluss der
technischen Fortschritte auf das Gulturleben ungebürlich überschätzt — man möchte nach
diesem Buch Rafael und Michelangelo, Shakespeare und Goethe, Voltaire
und Kant bemitleiden, dass sie in so barbarischen Zeiten gelebt haben, die weder Eisen-
bahnen, Telegraph und Telephon noch Krupp'sche Riesenkanonen und Torpedos kannten— ,
und es trägt dadurch, vielleicht ohne Absicht, zur Verbreitung von materialistischen
Lebens- und Weltanschauungen bei, die in der Gegenwart wohl kaum einer weiteren
Stärkung bedürfen. ö.
DIE LOHNFONDS-THEORIE.
VON
DR- OSKAE JAEGEE,
DOCENT DER NATIONALÖKONOMIE AN "DER UNIVERSITÄT ZU CHRISTIANIA.
Die sogenannte Lohnfonds-Theorie, der es ein langes Menschenalter
hindurch vergönnt war, ihren Platz in dem wissenschaftlichen System der
Nationalökonomie einzunehmen, die das Denken vieler bedeutender Männer
beherrscht hat und Träger weitreichender praktischer Schlussfolgerungen
gewesen, ist in Wirklichkeit eine nunmehr abgethanene ökonomische Lehre.
Sie hat ihren Ursprung in England, wo sie zum erstenmale von dem
bekannten Philosophen und Nationalökonomen James Mill klar formuliert
wurde, in seiner im Jahre 1821 herausgegebenen Schrift: „Elements of
Political Economy". Eigentlich en vogue kam sie jedoch erst etwas
später, als sie ausführlicher in M'C u 1 1 o c h s Darstellung der National-
ökonomie entwickelt wurde, die man infolge ihres flüssigen Stiles und ihrer
Fasslichkeit viel als nationalökonomisches Lehrbuch benutzte; und nach-
dem sie dann auch im Jahre 1848 von John Stuart Mill in seinen
später so berühmten Werk: „Principles of Political Economy"
aufgenommen und eingereiht worden war, ein Werk, das man viele Jahre
hindurch als etwas fast unangreifbares betrachtete, wurde sie unter die
begründetsten Theorien der Wissenschaft gerechnet, deren Wahrheit allzu
auffallend war, um bezweifelt werden zu können.
I.
Um eine klare Darstellung der Lohnfonds-Theorie zu geben, die so
lange Zeit die herrschende Lehre vom Arbeitslohn bildete, müssen wir erst
darlegen, was eigentlich unter der Bezeichnung „Arbeitslohn" gemeint ist.
Arbeitslohn im weitesten Begriffe umfasst jede Ver-
gütung für Anstrengungen, die, zu ökonomischen Zwecken unternommen,
Mittel zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse schaffen sollen, wenn
diese Mittel durch die Natur nicht selbst gegeben sind. Aber als man die
sogenannte Lohnfonds-Theorie aufstellte, dachte man nicht daran, sondern
an Arbeitslolin im engeren Begriffe, d. h. an den Lohn, der
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltunff. X. Band. 10
146 Jaeger.
für im Dienste anderer verrichtete Arbeit empfangen wird, und besonders
für körperliche Arbeit, Diejenigen, die solche Arbeit ausführen, nennt
man ja auch schlechthin Arbeiter, und sie bilden zudem in der Wirk-
lichkeit in einer gewissen Art eine Classe für sich, zuförderst weil ihre
Lohnverhältnisse, ökonomisch betrachtet, besondere Eigenthüm.lichkeiten
darbieten, und ferner, weil diese sogenannten Arbeiter in allen Ländern
sowohl den zahlreichsten, als auch leider den ökonomisch schlechtest
situierten Theil der Bevölkerung ausmachen, so dass die Verbesserung ihrer
Lage allen Menschenfreunden besonders am Herzen liegt.
Von dem Lohne dieser eigentlichen Arbeiter ist also in der Lohnfonds-
Theorie allein die Eede. Dieser Lohn wird ihnen von den Arbeitsgebern
ausgezahlt und besteht in der Kegel entweder in Subsistenzmitteln —
Nahrung, Wohnung, Kleidern u. s. w. — oder, was die Eegel bildet, in
Geld. Es liegt nun natürlich kein Hindernis vor, die iSumme dessen, was
auf diese Weise im Laufe des Jahres den Arbeitern eines Landes aus-
bezahlt wird, als „Lohnfonds* zu bezeichnen. Es wäre unzweifelhaft eine
durchaus unbestreitbare, aber sicher auch ziemlich nichtssagende Wahrheit,
auszusprechen, dass der durchschnittliche Arbeitslohn eines Landes auf der
verhältnismässigen Grösse dieses „Lohnfonds" beruhe. Dann müsste aber
erst die Frage erörter werden, wodurch die Grösse dieses Lohnfonds
bestimmt wird.
Der erste nationalökonomische Schriftsteller, bei dem man diesen
Ausdruck trifft, ist, soweit bekannt, Adam Smith, der in dem Capitel
seines Werkes, worin er speciell den Arbeitslohn behandelt, erklärt, dass
dessen Höhe abhängt von der Grösse des Fonds, der bestimmt ist,
Löhne zu zahlen, oder, wie er es auch ausdrückt, des Fonds, der zum
Arbeitsunterhalte bestimmt wird. Aber, wohlbemerkt, Adam Smith fasst
den „Lohnfonds" durchaus nicht als eine zu jeder Zeit genau voraus-
bestimmte Grösse auf.
Anders dagegen sein erster grosser Nachfolger Thomas Eobert
Malthus, der im Jahre 1798 seine berühmte und epochemachende
„Abhandlung über das Bevölkerungsprincip" herausgab. In der Zeit als
Malthus schrieb, hatte England eine Reihe schlechter Jahre gehabt,
und man konnte zu dieser Zeit nur sehr kleine Vorräthe von Getreide und
andern Lebensmitteln aus dem Auslande eingeführt bekommen. Es schien
sich in Wirklichkeit zu jener Zeit im Lande eine, praktisch gesprochen,
fest bestimmte Menge von Lebensmitteln vorzufinden, während die Anzahl
der Einwohner wuchs. In dem Jahre 1800 — 1801 stiegen in England die
Weizenpreise auf den enormen Betrag von annäherd 6 Lstr. per Quarter,
also für nicht ganz 3 Hektoliter! Wieviel Geld man dem Arbeiter auch
als Lohn gibt, sagte Malthus, es kann ihm doch nicht wirklich helfen, denn
dadurch kann unmöglich die im Lande vorhandene Menge von Nahrungs-
mitteln vermehrt werden, und diese macht ja den allerwichtigsten Theil des
zum ünterlialt der Arbeiter bestimmten Fonds aus. Eine Erhöhung des
Geldarbeitslohnes muss den Preis der Nahrungsmittel nur noch höher steigen
Die Lohnfonds-Theorie. 147
lassen. Das einzige effective Mittel, den wirklichen Arbeitslohn zu erhöhen,
liege deshalb darin, die Zahl der Arbeiter zu vermindern; denn die Höhe
des Lohnes hänge in letzter Instanz von dem Verhältnis zwischen den vor-
handenen Subsistenzmitteln und der Grösse der Bevölkerung ab.
Wenn auch Malthus nicht geradezu die später so bekannte Lohnfonds-
Theorie formulierte, so muss doch unzweifelhaft gesagt werden, dass er
eigentlich ihr Urheber war.
Später setzte man nämlich nur den Begriff Capital statt des Begriffes
Subsistenzmittel und stellte die Lehre auf, dass der Arbeitslohn von dem
Verhältnis zwischen Capital und Bevölkerung abhänge, bei welch letzterem
Ausdrucke man zunächst an die Arbeiterbevölkerung dachte. Unter Capital
verstand man damals alles, was von den Unternehmern zur Production
verwandt Avurde, und man schloss darin die Lebens- und Genussmittel ein,
die von den Arbeitern consumiert wurden. Es bildete sich danach die Vor-
stellung, dass die Nachfrage nach Arbeitskraft genau durch denjenigen Theil
des Vermögens der Arbeitsgeber bestimmt sei, dessen diese nicht zu ihrem
eigenen Verbrauche bedürften. Mit diesen Mitteln kauften sie Maschinen,
Materialien, bezahlten Arbeitslöhne u. s. w. Aber da der Lohn den Arbeitern
regelmässig ausbezahlt werde, noch ehe die Producte fertig sind, so sei
der durchschnittliche Arbeitslohn von vorneherein durch das Verhältnis
zwischen dem vorhandenen Capital und der Arbeiteranzahl bestimmt. Denn
die Arbeiter könnten ja nicht von den Producten leben, die noch nicht fertig
sind. Man finde, mit andern Worten, in der Gesellschaft eine gewisse Menge
Capital zum Bestreiten der Bedürfnisse der Arbeiter: soviel Nahrung, soviel
Behausung, soviele Kleider, Stiefel, Hüte u. s. w. Die Höhe des Geldlohnes
selbst sei verhältnismässig gleichgiltig; wenn er stiege, würde daraus nicht
eine Vermehrung der Gegenstände, welche die Arbeiter consumieren, resul-
tieren, sondern nur eine Erhöhung des Preises dieser Gegenstände, und die
Arbeiter würden also in Wirklichkeit dadurch nicht mehr an Lohn erhalten.
Das in der Gesellschaft zu jeder Zeit existierende Capital, das ver-
wendet werden könne, um die Bedürfnisse der Arbeiter zu befriedigen —
der eigentliche Lohnfonds — besitze, so meinte man, stets eine zuvor
bestimmte Grösse, und die durchschnittliche Höhe des Arbeitslohnes beruhe
darauf, wie viele Arbeiter sich darein theilten.
Es ist nämlich klar, sagte man, dass der durchschnittliche Antheil,
den jeder Arbeiter an dem zur Bezahlung des Arbeitslohnes bestimmten
Capital erlangt, von dessen Grösse und der Anzahl derer abhängen muss,
zwischen die es getheilt werden soll. Der Arbeitslohn kann deshalb nur
steigen, wenn entweder mehr Capital oder weniger Arbeiter vorhanden sind;
er kann nur fallen, wenn es entweder weniger Capital oder mehr Arbeiter
gibt. Der Arbeitslohn hat, so behauptete man weiters, seine natürliche Höhe
in einem Lande erreicht, wenn der gesammte Lohnfonds zwischen sämmtlichen
Arbeitern vertheilt wird. Ist die Concurrenz nun frei, so kann der Lohn sich
nicht lange über diesem Punkte erhalten; denn falls dies geschähe, würden
einige Arbeiter beschäftigungslos werden, und deren Concurrenz liesse den
10*
148 Jaeger,
Lohn wieder auf dessen natürliche Höhe sinken. Der Lohn kann auch nicht
lange unter diesem Punkte stehen; denn sonst würde ein Theil des
Capitales ohne Verwendung bleiben, und die Concurrenz der Unternehmer
würde den Arbeitslohn wieder auf dessen natürliche Höhe stellen.
Ueber die Art, wie man den sogenannten Lohnfonds begriffsmässig
begrenzen und bestimmen sollte, äusserten sich die verschiedenen Schrift-
steller ungleichmässig ; nach ihren unvollständigen und oft widerspruchs-
vollen Auslassungen zu urtheilen, waren sie sich darüber kaum im klaren.
Aber über Eine Frage herrschte Einigkeit zwischen Allen : dass der Lohn-
fonds in sich selbst immer ein wirklich vorausbestimmter Betrag sei,
aus dem man den durchschnittlichen Arbeitslohn finden könne, indem man
ihn durch die Anzahl der Arbeiter dividiere. Es wurde, wie Mi 11 später
schrieb, „vorausgesetzt, dass es in jedem gegebenen Moment eine Ver-
mögenssumme gebe, die unbedingt der Bezahlung von Arbeitslohn
geweiht sei. Diese Summe wurde freilich nicht als unveränderlich betrachtet,
denn sie wurde durch Aufsparen vermehrt un4 wuchs mit dem steigenden
Keichthum; aber man gieng davon aus, dass sie zu jedem Zeitpunkte
einen voraus bestimmten Betrag ausmache. Mehr als diesen Betrag könne
die lohnarbeitende Classe unmöglich unter sich theilen; aber diesen ganzen
Betrag müsse sie auch ohne irgend welche Verminderung nothwendig als
Lohn erhalten. Da also die Summe, die getheilt werden solle, voraus
bestimmt sei, beruhe der Lohn jedes Arbeiters ausschliesslich auf dem
Divisor, auf der Anzahl der Arbeiter.
So sah die sogenannte Lohnfonds-Theorie aus.
n.
Dass diese Theorie falsch sei, wurde allmählich von so gut wie allen
wirklichen Nationalökonomen erkannt. Aber die üunrichtigkeit der Theorie
ist es nicht, was hier das grösste Literesse bietet; denn dass in einer
Wissenschaft unrichtige Theorien aufgestellt werden, die eine Zeitlang
allgemeine Anerkennung gewinnen, ist an und für sich nichts merkwürdiges.
Aus dieser Theorie aber Hessen sich die verderblichsten Consequenzen
ziehen, und sie werden auch thatsächlich gezogen.
Die Zeit, in der die Lohnfonds-Theorie zuerst aufkam und allgemein
verkündet wurde, fiel nämlich nahe zusammen mit dem Aufblühen der
Grossindustiie in England. Dieses Aufblühen wurde, wie bekannt,
wesentlich durch die ausserordentlichen Erfindungen auf dem Gebiete des
Maschinenwesens herbeigeführt, die am Schlüsse des vorigen und zu Beginn
dieses Jahrhundeits gemacht wurden. Die Industrie gieng nun allmählich
von der Werkstattarbeit zur Fabrik- und Maschinenindustrie über. Die
neuerfundenen arbeitersparenden Maschinen machten eine Menge von Ar-
beitern überflüssig, so dass der Arbeitslohn sank, während der Ertragswert
der Production stieg und den Capitalisten und Unternehmern kolossale
Einnahmen brachte. Gleichzeitig litten die Arbeiter auch unter den Nach-
wirkungen langwieriger Kriege, unter einer Reihe schlechter Jahre und
Die Lohnfünds-Theoiie. -^ 149
einer im hohen Grade verderblichen Armengesetzgebung, so dass sie vielfach
nahe dem Verhungern waren. Die Arbeiter geriethen stets mehr in die
Gewalt des Capitales, der Arbeitstag erhielt immer mehr und mehr Stunden,
und in Fulge der enormen Coneurrenz der überzähligen Arbeitern gelang
es den Unternehmern, den Lohn auf ein so niedriges Niveau hinabzuschrauben,
dass nicht nur der Arbeiter selbst, sondern auch zuerst seine Frau und
dann seine Kinder, sowohl die grossen als die kleinen, in den Gruben und
Fabriken während der ganzen Zeit, deren sie nicht gerade zum Essen und
Trinken und dem allernothwendigsten Schlaf bedurften, arbeiten mussten.
Auf diese Weise wurde das Leben und die Gesundheit der Arbeiter vom
frühesten Kindesalter an untergraben, und trotz der unmenschlicli langen
Arbeitszeit wurde ihre Lage stets erbärmlicher. Um das Jahr 1830 hatte
die Noth und die Verzweiflung unter den Arbeitern eine so grauen-
erregende Höhe erreicht, dass die englische Gesellschaft am Bande der
Revolution stand.
Wie erklärten jetzt die Nationalökonomen den Zustand dieser Dinge?
Ja, sagten sie, da durch Anlage von Fabriken, Bauen von Maschinen u. s.w.
soviel umlaufendes Capital zu stehendem umgebildet wurde, ist der eigent-
liche Lohnfonds vorläufig verringert worden; von den Gegenständen, welche
die Arbeiter als Lohn theilen können, ist weniger übrig geblieben. Vorläufig
sind demnach die Arbeiter, im Verhältnis zum gegenwärtigen Lohnfonds
überzählig geworden. Aber hierin ist, erklärten die Nationalökonomen, in der
Wirklichkeit wenig oder nichts anderes für sie zu thun, als zu warten und
die Dinge ihren eigenen Weg gehen zu lassen; denn die Unternehmer
können mit dem besten Willen unmöglich höheren Lohn zahlen, solange der
Lohnfonds nicht grösser als jetzt ist. Aber sowohl dadurch, dass der Preis
der Gegenstände, die durch die Grossindustrie produciert wurden, jetzt ge-
fallen ist, als dadurch, dass die Einnahmen der Capitalisten und Unternehmer
erhöht worden sind, werde Anlass gegeben, mehr Capital zusammenzusparen,
so dass der Lohnfonds allmählich zu seiner alten Grösse, ja noch mehr
anwachsen könne. Der Arbeitslohn würde deshalb wohl wieder steigen,
wenn die Arbeiter nur warten und inzwischen darauf achten würden, ihre
Anzahl zu begrenzen.
Eine Aufforderung an die nothleidenden und verhungerten Arbeiter,
ihre Anzahl nicht zu erhöhen, war ungefähr das einzige, was die National-
ökonomen zur Abhilfe dieser entsetzlichen Noth zu bieten hatten! Wir
sagen nicht, dass dieser Rath an und für sich nicht gut war; denn das
Vermindern der Arbeiteranzahl ist unzweifelhaft immer ein sicheres Mittel,
um den Arbeitslohn zu heben. Aber man kann freilich nicht darauf rechnen,
dass eine in äusserste Armut und Elend herabgesunkene Arbeiterbevölke-
rung Vorsicht in Bezug auf das Schliessen von Ehen und das In-die-Welt
setzen von Kindern üben werde.
Hätten also die Lohnfonds-Theoretiker Recht gehabt, so hätte man
den Zustand in Wirklichkeit hoffnungslos nennen müssen. Als hoffnungslos
wurde er auch von den Socialisten dargestellt, die in allem Wesentlichen
150 Jaeger.
die Lehre der Nationalökonomen acceptierten und daraus den Schluss zogen,
dass nichts anderes helfen könne, als ein vollständiger Umsturz der ganzen
bestehenden Gesellschaftsordnung, die Beseitigung des Privateigenthums,
der freien Concurrenz u. s. w. Aber die Arbeiter, — die der Schuh selbst
drückte, — empfanden, dass die Lohnfonds-Theorie nicht wahr sei. Sie
waren mit Recht davon überzeugt, dass, wenn der Arbeitslohn zu einem
so erbärmlichen Betrag herabgedrückt war, der Grund nicht darin liege,
dass die Unternehmer, wie die Nationalökonomen behaupteten, ganz unmög-
lich höhere Löhne geben könnten.
Das wirkliche Verhältnis, für das die Arbeiter in England in der ersten
Hälfte dieses Jahrhunderts ein mehr oder minder klares Verständnis hatten,
besteht darin, dass die Arbeit unter der ökonomischen Ordnung unserer
Gesellschaft gewiss eine Ware ist, deren Wert, wie der aller anderen Waren,
durch Angebot und Nachfrage bestimmt wird. Aber weil die Arbeiter in
der Regel arm und ohne Capital sind, sind sie gezwungen, diese ihre
Ware immer auf dem Markte auszubieten, und sind dadurch in der
Wirklichkeit ganz ausser stand, ihr Angebot der vorhandenen Nach-
frage anzupassen. Wenn die Nachfrage sinkt, können sie das Angebot nicht
vermindern; sie müssen leben und sind deshalb genöthigt, zu jedem
Preise zu verkaufen. Ja, beim Sinken der Nachfrage kann schon deshalb
das Angebot sich nicht vermindern, weil dadurch im Gegentheil die Arbeiter
gezwungen werden, einander rücksichtslos zu unterbieten^ also das Arbeits-
angebot zu steigern und dadurch den Arbeitslohn weiter zu drücken.
Dies alles gilt jedoch nur dort, wo die Arbeiter vereinzelt, isoliert
ihren Arbeitsgebern gegenüberstehen. Solange dies der Fall ist, werden
die Arbeitsgeber oft einseitig die Arbeitsbedingungen dictieren, während die
einzelstehenden Arbeiter nur die Wahl haben, anzunehmen, was ihnen geboten
wird, oder zu hungern. Das Verhältnis gestaltet sich jedoch anders, wenn
die Arbeiter sich zur Wahrung ihrer gemeinsamen Interessen in Gewerk-
schaften zusammenschliessen. Wenn diese Vereine durch ständige Bei-
träge ihrer Mitglieder ein entsprechendes Capital gesammelt haben, glückt
es den Arbeitern vielfach, sich im Lohnkampfe mit den Arbeitsherren auf
gleichen Fuss zu stellen.
Die Arbeiter haben dann Mittel, von den Orten fortzuziehen, wo die
Arbeitsnachfrage im Abnehmen ist, und dorthin zu gehen, wo sie steigt.
Ausserdem sind sie durch die Unterstützung der Gewerkschaftscasse in der
Lage, ihr Angebot gegenüber einer sinkenden Nachfrage zu vermindern.
Und endlich können sie schlimmsten Falles sogar ganz die Arbeit nieder-
legen, striken, um vermittelst einer vollständigen Stockung des Angebotes
die Arbeitsherren zu zwingen, eine Erhöhung des Lohnes zu bewilligen, Es
versteht sich von selbst, dass besonders dieses letzte Mittel, der Strike,
eine äusserst gefährliche Waffe ist, die in unkundigen Händen den Arbeitern
selbst den grössten Schaden zufügen kann. Wenn dagegen Gewerkschaften
mit Einsicht und Massigkeit von Leuten geführt werden, welche die wechselnden
Conjuncturen richtig zu beurtheilen und alle übereilten Schritte zu ver-
Die Lohnfonds-Theorie. 151
hindern verstehen, so sind sie sicherlich in hohem Grade geeignet, das öko-
nomische Wohl der Arbeiter zu fördern und ihnen einen höheren Lohn zu
verschaflfen, als sie sonst in den meisten Fällen erhalten hätten, wenn
sie vereinzelt und arm ihre Contracte mit den grossen Arbeitsherren hätten
abschliessen müssen.
Nach den Lehren der Lohnfonds -Theorie wäre es dagegen für die
Arbeiter einfach unmöglich, irgendeine dauernde Erhöhung ihres Lohnes
zu erlangen, Aveder durch Zusammenschluss, noch durch Strike, noch über-
haupt auf eine andere Weise als durch Beschränkung ihrer Anzahl. Falls
es ihnen wirklich einmal glücke, höhere Arbeitslöhne zu erzwingen, so liege
es daran, dass der Lohnfonds eben schon vorher erhöht worden sei ; sie
erhielten daher nur, was sie ohnedies sehr bald ohne besondere Anstrengung
durch die gegenseitige Concurrenz der Unternehmer erreicht hätten. Aller-
dings, so räumte man ein, könnten die Arbeiter innerhalb eines einzelnen
Eiwerbszweiges eine Zeitlang höhere Löhne durchsetzen, indem sie einen
grösseren Theil des gewöhnlichen Lohnfonds erkaperten; aber in solchem
Falle geschehe dies ausschliesslich auf Kosten ihrer übrigen Kameraden,
für die nun um ebensoviel weniger zum Theilen übrig bliebe; mit anderen
Worten; eine solche Erhöhung des Lohnes einer Classe von Arbeitern
bedeute in Wirklichheit für die übrigen Arbeiter eine genau entsprechende
Verminderung ihres Lohnes. Der durchschnittliche Arbeitslohn trete nämlich
immer mit der ünveränderlichkeit eines Naturgesetzes hervor. Er sei mit
der Höhe des Lohnfonds und der Anzahl der Arbeiter zu jeder Zeit uner-
bittlich gegeben und könne folglich weder durch die Gesetzgebung noch
durch den Druck der Arbeitergewerkschaften erhöht werden. „Es ist,"
schrieb Professor Perry, einer der amerikanischen Anhänger der Lohn-
fonds-Theorie, , nutzlos gegen eine der vier Fundamentalregeln der
Arithmetik zu polemisieren. Die Lohnfrage ist eine Divisionsfrage. Man
klagt darüber, dass der Quotient zu klein ist. Gut, auf wie viele Arten
kann man einen Quotient grösser machen? Auf zwei Arten. Erhöhe den
Dividend und der Quotient wird, wenn der Divisor derselbe bleibt, grösser
werden; vermindere den Divisor und der Quotient wird, wenn der Dividend
derselbe bleibt, grösser werden."
Es ist klar, dass diese Auffassung der Lohnfrage seitens der wissen-
schaftlichen Nationalökonomie denjenigen im hohen Grade willkommen war,
in deren Interesse es lag, die bestehenden Verhältnisse zwischen Arbeitern
und Arbeitsgebern aufrechtzuerhalten. Und als man in England den fürchter-
lichen Zuständen abzuhelfen versuchte — theils durch A r b e i t e r s c h u t z-
ge setze, welche nach und nach besonders den Missbrauch von Frauen-
und Kinderarbeit in Fabriken und Gruben beseitigten, theils durch das
Errichten der bekannten Trade-unions — , da wurde sowohl in der
Presse als im Parlament erklärt, die Wissenschaft habe längst die voll-
ständige Nutzlosigkeit, ja geradezu die Schädlichkeit dieser Veranstaltungen
als ungebürlicher Eingriffe in die freie Concurrenz bewiesen. In den folgenden
heftigen socialpolitischen Kämpfen wurden denn auch die Nationalökonomen
152 Jaeger.
von den Socialisten als im Solde der Unternelimer und der Bourgeoisie
stehend geschildert, sie wurden von den Arbeitern geradezu gehasst und
mit den gröbsten Schimpfvvorten, wie „herzlose und unmenschliche Kinder-
mörder * belegt. Man irrt gewiss nicht, wenn man behauptet, dass vor allem
die Lohnfonds -Theorie die Schuld an dem bei den Arbeitern so beklagens-
werten Misstrauen und Unwillen gegen die Wissenschaft der National
Ökonomie und ihre Pfleger trägt.
in.
Die Unrichtigkeit der Lohnfonds-Theorie und deren Nichtüberein-
stimmung mit klaren Thatsachen konnte auf die Dauer doch nicht unbe-
achtet gelassen werden. Schon im Jahre 1832 hatte Hermann in seinen
„Staatswirtschaftliche Untersuchungen" deren Unhaltbarkeit nachgewiesen.
Der Fonds, aus dem der Arbeitslohn bestritten wird, sei in Wirklichkeit
nicht das Capital sondern das Einkommen; man könne dies am deutlichsten
an dem Lohn für persönliche Dienste ersehen; so werde z. B. der Gesinde-
lohn stets direct aus den Einnahmen des Hausherrn entrichtet. Handelt
es sich jedoch um die von den eigentlichen Unternehmern beschäftigten
Arbeiter, so sehe es freilich auf den ersten Blick aus, als werde deren
Lohn aus dem Betriebscapital geschöpft; aber in der Wirklichkeit sei dies
nicht der Fall, da ja die Unternehmer für ihre Auslage an Arbeitslohn
vollen Ersatz durch den Verkauf ihrer Producte erhalten. Welchen Lohn
die Unternehmer ihren Arbeitern bieten können, beruhe also nicht auf der
Grösse ihres Capitals, sondern auf dem Preise, den die Consumenten für
die Producte zu zahlen gewillt sind ; die Consumenten sind es, die zuletzt
den Arbeitslohn bezahlen müssen; deren Einnahmen oder — da ja alle
Gesellschaftsglieder Consumenten sind — das gesammte Nationaleinkommen
mache den Fonds aus, woraus in Wirklichkeit der Arbeitslohn geschöpft wird.
Diese Lehre Hermanns war unzweifelhaft in der Hauptsache richtig;
sie blieb jedoch vorläufig unbeachtet, weil zu jener Zeit die englischen
Nationalökonomen den Ton angaben, diese aber damals überhaupt keine
deutschen Bücher lasen, wenn sie nicht ins Französiche oder Englische
übersetzt waren. Die sogenannte Lohnfonds-Theorie blieb deshalb, trotz
Hermanns Angriff, die herrschende Lehre vom Arbeitslohne.
Ein ganzes Menschenalter später, nämlich im Jahre 1866, erschien
endlich in England selbst eine Schrift mit dem Titel: „Eine Widerlegung
der Lohnfonds-Theorie der modernen Nationalökonomie, wie sie von den
Herren Mill und Fawcet dargelegt ist. Von Francis D. Lon ge, Advocat."
Dieses Buch ist mir nicht zugänglich gewesen; aber aus verschiedenen
daraus anderwärts veröffentlichten Auszügen geht deutlich hervor, dass
dessen Angriffe die Lohnfonds-Theorie vollständig vernichtet hätten, falls das
Buch überhaupt gelesen und beachtet worden wäre. Es lenkte jedoch nicht
die geringste Aufmerksamkeit auf sich.
Ein umso grösseres Aufsehen erregte dagegen ein drei Jahre später
veröffentlichtes Werk : „ 0 n L a b o u r i t s W r o n g f u 1 C 1 a i m e s and
Die Lolmfonds-Theorie. 153
K i g li t f u 1 D 11 e s " , von William Thornton. Der Angriff, den er darin
gegen die Lohnfonds-Theorie richtete, war von wissenschaftlichen Stand-
punkte aus unzweifelhaft viel weniger gewichtig als derjenige, mit dem ihm
Longe zuvorgekommen war; aber er übte nichtsdestoweniger die ausser-
ordentlichste Wirkung aus.
Kurze Zeit, nachdem Thorntons Buch erschienen war, wurde nämlich
die Welt dadurch überrascht, dass kein geringerer als John Stuart Mill, der
vornehmste wissenschaftliche Fürsprecher der Lohnfonds-Theorie und der
berühmteste Nationalökonom seiner Zeit, in der ,F ortn ightlj^ KevicAv"
eine eingehende Abhandlung über Thorntons Werk veröffentlichte, Avorin er
mit der ihm eigenen, fast möchte man sagen phänomenalen Wahrheitsliebe,
ohne irgendwelchen Vorbehalt erklärte, dass er dadurch ganz von der voll-
ständigen Unhaltbarkeit der Lohnfonds-Theorie überzeugt worden sei.
Diese Erklärung begleitete er mit einer Kritik, welche die alte Lohn-
fonds-Theorie sowohl durch die Stärke der Argumente als durch die
grosse Autorität ^des Verfassers definitiv sozusagen aus der Wissenschaft
verjagte. '
Der Gedankengang der allgemeinen Lohnfonds-Theorie ist, sagt Mill,
folgender: Die Mittel der Unternehmer bestehen aus zwei Theilen : aus
seinem Capital und seinem Gewinn oder, seiner Einnahme. Sein Capital
ist, was er zu Beginn des Jahres oder, wenn er eine Productionsperiode
beginnt, einlegt, seine Einnahme erhält er nicht vor Ausgang des Jahres
oder der Productionsperiode. Das Capital mit Ausnahme des Theiles, der
zum Kaufe von Gebäuden, Maschinen und Materialien verwandt wird, macht
die Summe aus, womit der Arbeitslohn bezahlt werden. Der Unternehmer
kann den Arbeitslohn niclit von seiner Einnahme bezahlen, denn er hat
diese noch nicht erhalten. Wenn er sie empfängt, kann er zwar einen Theil
davon zum Capital schlagen, und als solches wird er dann ein Bestand-
theil des nächsten Jahres; aber das hat nichts mit dem Lohnfonde dieses
Jahres zu thuii.
Dieser Unterschied zwisclien dem Verhältnis des Unternehmers zu
seinem Capital und dem Verhältnis zu seiner Einnahme ist jedoch, schrieb
Mill weiter, vollständig immaginär. Er fängt zu Beginn mit all seinen
ersparten Mitteln an, die sich alle als Capital verwenden lassen, und daraus
entrichtet er vorschussweise die Ausgaben für sich und seine Familie genau
in gleicher Weise, wie er seinen Arbeitern den Lohn entrichtet. Er beab-
sichtigt natürlich, diese Vorschüsse vermittelst seiner Einnahme, sobald er
sie erhält, zurückzuzahlen, und er zahlt sie factisch auch täglich zurück,
wie er es mit all seinen übrigen vorgeschossenen Auslagen macht; denn
es braucht kaum nachgewiesen zu werden, dass seine Einnahmen in
Wirklichkeit einlaufen, je nachdem seine Geschäfte gehen, und nicht nur
zu Weihnachten oder St. Johannis, wenn er seine Bücher abschliesst. Li-
soweit seine eigene Einnahme verbraucht oder ausgegeben wird, wird sie
auch vorschussweise von seinem Capital entrichtet und von seinem Verdienste
pari passu erstattet mit den Löhnen, die er bezahlt.
154 Jaeger.
Wenn wir Lohnfonds alles nennen wollen, was der Unternehmer
zur Zahlung des Arbeitslohnes verwendet, so fällt dieser Fonds, erklärt
Stuart Mill, mit der ganzen Ausbeute des Geschäftes zusammen abzüglich
dessen, was zur Erhaltung der Gebäude, Maschinen und Materialien und zur
Ernährung der Familie vei braucht wird, und er wird insgesammt für den
Unternehmer und seine Arbeiter verwendet. Je weniger er auf die eine
Weise verwendet, urasomehr vermag er für die andere auszulegen und
umgekehrt. Nicht die Vertheilung des Ertrages bestimmt die Höhe des
Arbeitslohnes, sondern es bestimmt im Gegentheil die Höhe des Arbeits-
lohnes diese Vertheilung. Kauft der Unternehmer die Arbeit billig, so kann
er sich selbst mehr aneignen; muss er sie dagegen höher bezahlen, so wird
die Erhöhung des Lohnes eine Verminderung seiner eigenen Einnahme.
Mill zog hieraus das Kesultat, dass kein Naturgesetz den Arbeits-
lohn hindert, so hoch zu steigen, dass er sowohl die Mittel, womit der
Unternehmer sein Geschäft zu führen beabsichtigt, als auch alles, was er
für seine privaten Ausgaben über den nothwendigen Lebensunterhalt berechnet
hat, verschlingt. Die wirkliche Grenze für das Steigen des Arbeitslohnes
liege nicht in den unerbittlichen Schranken der Lohnfonds-Theorie, sondern
in praktischen Erwägungen, inwiefern durch solches Steigen der Unternehmer
ruiniert oder veranlasst werden kann, sein Geschäft aufzugeben.
Die aus der Lohnfonds-Theorie abgeleitete Behauptung, dass es für
die Arbeiter unmöglich sei, vermittelst ihrer Gewerkschaften einen höheren
Lohn zu erzwingen, als sie durch die freie Concurrenz ganz von selbst
erhalten hätten, erklärte Stuart Mill für ganz unhaltbar, und er zollte
überdies in seiner Kritik den Trade-unions volle Gerechtigkeit.
Mills Widerruf der von ihm so viele Jahre vertretenen Lohnfonds-
Theorie war so rückhaltslos und vollständig, wie möglich. Seine neue
Lehre, dass die Unternehmer zu jeder Zeit all ihre vorschussweisen Aus-
lagen durch ihre Einnahmen erstattet bekommen, so dass also diese und
nicht ihr Capital den Fonds, woraus der Arbeitslohn genommen wird, aus-
machen, ist richtig, soweit sie reicht. Aber wenn wir fragen, welcher Fonds
schliesslich den Arbeitslohn tragen muss, so müssen wir unzweifelhaft mit
Hermann antworten, da&iS es regelmässig die Einnahmen der Consumenten
sind. Nur unter einer Voraussetzung hat bis zu einem gewissen Grade
weder Mills noch Hermanns Lehre, sondern die alte Lohnfonds-Theorie
das Recht auf ihrer Seite, nämlich wenn die Unternehmer bei dem Verkauf
ihrer Producte wider Erwarten ihre Ausgaben an Arbeitslohn nicht gedeckt
bekommen; denn insoweit dies der Fall ist, müssen sie das Fehlende ihrem
Capital entnehmen, das demnach verringert wird.
Wir sagten, dass Stuart Mill die alte Lohnfonds-Lehre aus der
Wissenschaft verbannt habe. Das ist jedoch insoferne nicht ganz genau^
als sein hervorragendster Schüler, der feine und geistvolle Denker
John Elliot Cairnes einige Jahre darauf in seinem nationalökonomi-
schen Hauptwerke: ,Some Leading Principles of Political
Economy, n e wly exp ounded", die alte Theorie aufrecht zu erhalten
Die Lohnfonds-Theorie. 155
versuchte, wenn auch in einer etwas veränderten und modificierten Gestalt.
Aber trotz des grossen Talentes, womit dies geschah, gewann sie doch
keinen weiteren Anklang. Die Lohnfonds-Theorie Hess sich in der Wirklich-
keit nicht mehr beleben.
IV.
Schon Adam Smith hatte sein Capitel über den Arbeitslohn mit dem
bekannten Satze eingeleitet, dass das Arbeitsproduct die natür-
liche Vergütung oder den Lohn der Arbeit ausmache, und
sowohl er als Eicardo hatten ausdrücklich hervorgehoben, dass der Ar-
beitslohn in Ländern mit kleinem aber schnell wachsendem Capital, wie
z. B. in Nordamerika, höher sei als dort, wo das Capital grösser sei,
jedoch langsam anwachse, wie z. B. in England und allen alten, dichtbevöl-
kerten Staaten. Auf diese Thatsache, die ja in dem offenbarsten Wider-
streit mit der Lohnfonds-Theorie stand, wurde von deren Anhängern jedoch
keine Kücksicht genommen. Nur Cairnes widmete ihr eine nähere Betrachtung
und stellte die scharfsinnige Erklärung auf, dass in den sogenannten neuen
Ländern, wo die productive Thätigkeit wesentlich in Landwirtschaft besteht,
immer ein geringerer Theil des Betriebscapitales der Unternehmer in
Gebäuden, Maschinen u. s. w. festgelegt werde, als in den alten Staaten,
wo die Fabriksindustrie weit mehr hervortritt, so dass dort dennoch —
ungeachtet des geringer angesammelten Capitals — ein grösserer Betrag
zur Bezahlung des Arbeitslohnes verfügbar sei.
In Wirklichkeit liegt jedoch hierin nicht die Ursache. Der Irrthum,
welcher der Lohnfonds-Theorie zugrunde liegt, und der ihr so gut wie
jeden wissenschaftlichen Wert raubt, war ja, wie wir gesehen haben, ihr Aus-
gangspunkt, dass nämlich der Arbeitslohn nothwendigerweise aus dem in
der Gesellschaft zu Beginn des Productionsprocesses schon angesammelten
Capitale genommen werden müsse. Wie wenig nothwendig dies ist, hat der
amerikanische Nationalökonora Francis Walker in einigen, höchst
interessanten Beispielen dargestellt, in denen er schilderte, wie der Lohn in
den verschiedenen Gewerben, besonders im Ackerbau, an vielen Orten Nord-
amerikas ausbezahlt worden ist. Hier geschah es oft, dass die Arbeitsgeber
nicht so viel Capital besessen oder sicli zu leihen vermochten, als nöthig
gewesen wäre, um den Arbeitern ihren ganzen Lohn vorschussweise zu
geben. Diese mussten sich damit begnügen, während der Dauer der Arbeit
nur einen Theil des Lohnes zu erhalten, und der Kest wurde erst aus-
bezahlt, nachdem die Producte fertig und verkauft waren.
Dies beweist klarer als irgendetwas anderes, dass die Frage, welchen
Lohn die Unternehmer zu bezahlen vermögen, nichts wie die Lohnfonds-
Theorie lehrte, von der Grösse ihres Capitals sondern von dem Werte
des Productionser träges abhängt, oder, wie man es auch ausge-
drückt hat, von der Productivität der Arbeit. Die ersten, welche dies klar
aussprachen, waren die englischen Nationalökonoraen Hearn und Jevons;
aber erst der eben erwähnte Amerikaner Francis Walker legte daraus den
156 Jaeger.
Grund zu einer neuen Lehre des Arbeitslohnes, die in einer etwas entwickel-
teren Form jetzt als die vorherrschende in der Wissenschaft betrachtet
werden miiss.^)
Die Hauptzüge dieser Lehre sind folgende. Man ist schon seit
langem darüber im klaren, dass, wenn auch der Arbeitslohn ganz oder
theilweise vom Betriebscapitale vorgeschossen zu werden pflegt, er
doch, wenn die Production nicht aus irgendeinem Grunde technisch oder
ökonomisch missglückt, und der Unternehmer also einen directen Verlust
erleidet, schliesslich durch den Wert der Prodücte gedeckt wird.
Die Höhe des Lohnes, den die ünternelimer überhaupt werden geben
können, hängt deshalb in letzter Instanz nicht von der Grösse des Betriebs-
capitales ab, sondern von der muthmaasslichen Höhe des Wertes der Pro-
dücte. Je höher der Wert des Productionsertrages sein wird, einen umso
höheren Lohn werden die Unternehmer nöthigenfalls ihren Arbeitern geben.
Für diese handelt es sich deshalb, wie schon angegeben, darum, sich durch
Zusaramenschliessen zur Wahrnehmung gemeinsamer Interessen in dem
Lohnkampfe auf gleichen Fuss mit den Unternehmern zu stellön'Tind sich
dadurch den Lohn zu sichern, auf den sie zu jeder Zeit b'^reöhtigten
Anspruch haben. Insoweit ist die Frage über die Höhe des Arbeits-
lohnes eine Ver t h eilu n gsfr a ge.
Aber sie ist auch — und ebensosehr — eine Productions-
frage. Denn es ist klar, dass es selbst bei der für die Arbeiter denkbar
günstigsten Vertheilung des Productionsertrages unmöglich ist, dass der
Arbeitslohn wirklich hoch sein kann, falls der "Wert, der vertheilt werden
soll, in sich selbst klein ist.
Nun ist, wie bekannt, der objective Tauschwert jedes ökonomischen
Gutes immer durch das Verhältnis zwischen der effectiven Nachfrage und
der Menge des Gutes bestimmt, die auf dem Markte ausgeboten wird. Je
^) Wir benützen hier den Anlass, auch einen anderen Amerikaner zu erwähnen,
nämlich Henry Georges. Er griff 1879 heftig die alte Lohnfonds-Theorie an,
die, wie wir gesehen haben, damals schon seit 10 Jahren von Stuart Mill widerrufen und
später von fast allen theoretischen Nationalökononien aufgegeben war. Bei George heisst
es jedoch wörtlich: In ihrem wesentlichen Gedankengange ist die Lohnfonds-Theorie
ünbestritteti. Sie ist von den grössten Namen unter den Pflegern der Nationalökonomie
anerkannt, und obgleich sie Angriffen ausgesetzt gewesen ist, sind diese doch mehr
formell, als sachlich gewesen. Das nennt man einen Nationalökonomen, der mit seiner Zeit
Schritt hält! Nachdem er dann mit viel Geschick diese Theorie begraben hatte, obgleich
sie, wie wir gesehen haben, von der Wissenschaft schon seit langem abgethan war,
stellte er seine eigene Lehre auf, die, soweit sie richtig ist, schon mehrere Jahre zuvor durch
seinen Landsmann Francis Walker den Sieg errungen hatte. Und diese Lehre wird nicht
hur als vollständig neu ausgegeben, sondern sie bildet nach seiner Meinung einen so epoche-
machenden Fortschritt der Nationalökonomie, dass sie ihren Urheber — Henry George —
neben den Begründer dieser Wissenschaft, neben Adam Smith stellte, als einen Erneuerer
der Wissenschaft! „Der Unterschied zwischen der herrschenden (Lohnfonds)-Theorie,
schreibt George, und der von mir aufgestellten kann in der Wirklichkeit mit dem Unter-
schied verglichen werden, der zwischen dem Mercantilsystem und der Theorie lag, womit
Adam Smith jenes verdrängte."
Die Lohnfonds-Theorie. 157
weniger von einer einzelnen Ware erzeugt wird, desto grösseren Wert wird
sie deshalb unter sonst gleichen Verhältnissen besitzen ; und wird um-
gekehrt eine Ware in einer zu grossen Menge im Verhältnis zur Nach-
frage produciert, so wird deren Wert so stark fallen, dass die Production
sich nicht lohnt. Dieses — und nicht, dass die Unternehmer einen voraus
bestimmten Lohnfonds besitzen — ist .der wirkliche Grund, weshalb jeder
Unternehmer gewöhnlich eine geringere Anzahl Arbeiter nach einem höheren
Lohnsatz zu bezahlen vermag, als eine grössere Anzahl. In jedem Pro-
ductionszweig, wo die Arbeiter in verhältnismässig geringer Anzahl sind,
können sie sich kostbar machen, wohingegen sie bei grosser Anzahl
gezwungen werden, ihre Arbeitskraft billig zu verkaufen, falls sie alle
Beschäftigung haben wollen. Dieser Wahrheit gab Richard Cobden den
geflügelten Ausdruck, dass , der Arbeitslohn niedrig wird, wenn zwei Arbeiter
einem Arbeitsherrn nachlaufen, aber hoch, wenn zwei Arbeitsherrn einem
Arbeiter nachlaufen*. Und diese Wahrheit erklärt dann auch, weshalb die
Productivität und dadurch der Arbeitslohn stets in all den Erwerbszweigen
die sozusagen jedem offen stehen, verhältnismässig äusserst niedrig bleibt,
und umso hölier wird, je schwieriger zugänglich die Erwerbsgebiete sind.
Es liegt uns jedoch hier nicht ob, die Ungleichheiten dös Lohnes in den
verschiedenen Arbeitsarten zu erklären. Es eihebt sich vielmehr in diesem
Zusammenhange die Frage, was eigentlich — vorausgesetzt, dass die Arbeiter
ihre berechtigten Interessen zu wahren und sich dadurch eine gerechte
Verth eilung des Production sertrages zu sichern vermögen — die Höhe des
durchschnittlichen Arbeitslohnes in einem Lande bestimmt.
Wir haben schon gesehen, dass unter dieser Voraussetzung der durch-
schnittliche Arbeitslohn zuvörderst auf der Grösse des Tauschwertes des Pro-
ductionsertrages beruht, mit anderen Worten, auf der Productivität
der ökonomischen Wirksamkeit, Aber hiermit ist in Wirklichkeit das
Problem noch nicht vollständig gelöst, weil jetzt die Frage entsteht, wovon
denn die Productivität der ökonomischen Wirksamkeit abhängt.
Untersucht man diese Frage genauer, so gelangt man zum Ergebnis,
dass die Productivität oder die Ta u seh werte rzeugung
der ökonomischen Wirksamkeit — worauf also die durchschnitt-
liche Höhe des Arbeitslohnes unter einer gerechten Vertheilung beruht —
im grossen und ganzen immer von deren technische
Ergiebigkeit oder Effectivität bedingt sein wird, oder
von deren Fähigkeit, viele und gute ökonomische G ü t e ]•
hervorzubringen, so dass eine grosse durchschnittliche Effectivität
eine grosse durchschnittliche Productivität erzeugt, und dass umgekehrt
eine kleine durchschnittliche Effectivität von einer kleinen entsprechenden
Productivität begleitet wird.^) Ist nämlich die ökonomische Wirksamkeit
') Da es vielleicht Leser gibt, für welche die hier vorgenommene Unterscheidung
zwischen den Begriffen Effectivität und Productivität neu und ungewohnt ist, wollen wir
durch ein concretes Beispiel deren Unterschied näher beleuchten. Ein Schuhfabrikant
f. roduciert z. B. jährlich 800 Paar Schuhe, die auf dem Markte einen Preis von 10 K
158 Jaeger.
als Gesammtheit betrachtet sehr effectiv, so wird jeder Prodncent, der seine
specielle Production nicht in einer verkehrten Richtung geleitet hat, stets
Consiimenten gegenüber stehen, die ihrerseits auch viel produciert haben
und folglich im Austausche seiner Producte sowohl viel geben können
als geben werden. Die Erträge all der einzelnen productiven Wirksam-
keiten werden mit anderen Worten durchschnittlich einen hohen Tausch-
wert erreichen, was also besagt, dass die Productivität durchgehends gross
und der durchschnittliche Arbeitslohn unter Voraussetzung einer gerechten
Vertheilung folglich hoch wird. Ist hingegen die Eflfectivität der öko-
nomischen Wirksamkeit durchgehends klein, so werden die einzelnen
Producenten durchgehends wenig gegen die Producte der anderen auszu-
tauschen haben; der Tauschwert der einzelnen Erträge und dadurch also
die Productivität der Wirksamkeiten wird durchschnittlich klein werden, so
dass selbst die für die Arbeiter günstigste Vertheilung des Productions-
ei träges ausserstand sein wird, ihnen einen hohen Lohn zu sichern. Innerhalb
eines beliebigen einzelnen Productionszweiges kann ganz gewiss die Pro-
ductivität oder mit anderen Worten die Werterzeugung gross sein und der
Arbeitslohn hoch, selbst wenn, ja sogar oft eben weil die Eflfectivität oder
die Productmenge des betreffenden Productionszweiges klein ist. Aber die
Möglichkeit eines hohen durchschnittlichen Arbeitslohnes ist nur
vorhanden, wenn und wo die ökonomische Wirksamkeit als Ganzheit
betrachtet eine grosse technische Ergiebigkeit oder Efifectivität besitzt.
V.
Wie schon angedeutet, unterschieden die alten Lohnfonds-Theoretiker
zwischen dem, was sie Geldlohn nannten, und dem reellen oder wirk-
lichen Arbeitslohn, worunter sie die Menge der Verbrauchsgegen-
per Paar erlangen. Der Geldwert des Productionsertrages ist also 9000 K. Ermöglicht er
es nun, z. B. vermittelst verbesserter Maschinen, mit derselben Arbeits- und Capital-
anwendung anstatt 900 Paar 1000 zu producieren, so ist damit die Effectivität gestiegen.
Aber ist zugleich der Preis der Schuhe gefallen, z. B. von 10 auf 8 K per Paar, so wird
der Gesammtwert des Ertrages sich dennoch nicht auf mehr als 8000 K belaufen, was
besagt, dass ungeachtet der gestiegenen Effectivität, die Produclivität gesunken ist.
Vorausgesetzt, dass der besondere Wert des Goldes in beiden Fällen derselbe ist, wird
nämlich jetzt der Production sertrag des Schuhfabrikanten, trotz seiner grösseren Masse,
nur mit ^/g der Menge anderer ökonomischen Güter, womit er sich früher umtauschen
Hess, umgetauscht werden können, und dessen Tauschwert ist also um 7o vermindert worden.
Dass die Effectivität und die Productivität innerhalb der einzelnen Productions-
zweige nicht zusammen zu gehen brauchen, ist demnach wohl einleuchtend. Aber wenn
wir uns denken, dass das Steigen in der Effectivität der Schuhfabrication von einem
ähnlichen Steigen in der Effectivität der ökonomischen Wirksamkeit auf
sämmtlichen anderen Gebieten der Production begleitet wird, so gestaltet sich
das Verhältnis ganz anders. Denn unter dieser Voraussetzung würde natürlich das Mengen-
verhältnis, worin sich jedes Paar Schuhe gegen alle anderen ökonomischen Güter aus-
tauschen Hesse, nicht eine wesentliche Veränderung erfahren müssen, mit andern Worten,
der objective Tauschwert jedes Paares würde ungefähr derselbe bleiben, und die
eingetretene Vermehrung der Menge der Schuhe oder der Effectivität würde dann folglich
eine entsprechende Vermehrung des Ertragstauschwertes oder der Productivität bezeichnen.
Die Lohnfonds-Theorie. 159
stände verstanden, welche die Arbeiter für ihren Geldlohn erkaufen konnten.
Sie giengen nämlich davon aus, dass der Arbeitslohn nie mehr als aus-
reichend für den Unterhalt der Arbeiter sei, so dass der Geldlohn immer
unmittelbar zum Einkaufe von Lebens- und Genussmitteln verwandt werde;
die den Arbeitern davon zugängliche Menge wurde von ihnen als reeller
Arbeitslohn betrachtet.
Hätten sich nun die Lohnfonds-Theoretiker begnügt, daraus abzuleiten,
dass eine Erhöhung des Geldlohnes keine Verbesserung der Stellung der
Arbeiter bezeichnet, falls sie für alle die ökonomischen Güter, die sie
consumieren, einen entsprechend erhöhten Preis zahlen müssen, so wären
sie unzweifelhaft in ihrem guten Kecht gewesen. In Wirklichkeit giengen
sie dagegen, wie wir schon gesehen haben, davon aus, dass die Erhöhung
des Geldlohnes nie ein anderes Kesultat herbeiführen könne, indem sie
nämlich annahmen, dass alle die den Arbeitern zugänglichen Lebens- und
Genussmittel sich in der Gesellschaft stets schon beim Beginne derProductions-
periode vorfinden, müssten und demnach unmöglich in Menge vermehrt
werden, sondern nur im Preise durch eine stärkere Nachfrage seitens der
Arbeiter erhöht werden könnten.
Dass indessen dies nicht der Fall ist, zeigt sich am deutlichsten,
insoweit die consumierten ökonomischen Güter in persönlichen Dien-
sten bestehen. Die persönlichen Dienste existieren ja doch niemals im
voraus, sondern werden immer in einer der Nachfrage genau entsprechender
Menge geleistet und lassen sich in jedem Augenblick vermehren. Aber
auch die z. B. im Laufe eines Jahres consumierten materiellen
Gegenstände liegen niemals schon zu Beginn dieses Zeitraumes fertig
vor, sondern werden alle während dessen Verlaufes ökonomisch fertig pro-
duciert. Die Production einzelner von diesen Gegenständen ist, praktisch
genommen, zu Beginn des Jahres noch nicht einmal angefangen, die anderen
existieren nur als Capital; sie alle befinden sich mit anderen Worten in einem
mehr oder minder vorgerückten, aber ökonomisch noch nicht vollendeten
Stadium ihrer Production. Jeden Tag werden die verschiedenen Productions-
processe zu Tausenden angefangen, fortgesetzt oder zu Ende gebracht, und
weil die zur Herstellung der endgiltigen Comsumtionsgüter nöthigen
Productionsraittel (Arbeit, Naturkräfte und Capitalsgegenstände), theils
wegen ihrer meist sehr vielseitigen technischen Verwendbarkeit und theils
auf dem Wege des ökonomischen — nationalen und internationalen --
Tausches in kurzer Frist zur Befriedigung der allerverschiedenartigsten
Bedürfnisse benützt werden können, ändert sich die Kichtung der ganzen
Production in Wirklichkeit sehr rasch nach der Kichtung der Nachfrage.
Eine jede Vermehrung des Geldlohnes der Arbeiter, die nicht einfach durch
ein allgemeines Sinken des Geldwertes hervorgerufen ist, sondern eine
wirkliche Vermehrung deren Kauffähigkeit bedeutet, wird deshalb sofort
ihren Einfluss auf die Productionsrichtung üben, eine verminderte
Production der Luxusgegenstände und eine vermehrte Production der Gegen-
stände, deren die Arbeiter bedürfen, zur Folge haben. Auf diese Weise
160 Jaeger.
wird die erhöhte Geldeinnahme der Arbeiter, die unter sonst gleichen
Verhältnissen eine entsprechende Verminderung der Geldeinnahme und der
Kauffähigkeit der Unternehmer und Capitalisten zu Folge hat, den Arbeitern
wirklich auch einen grösseren Wohlstand verschaffen, indem sie thatsächlich
eine Veränderung der Vertheilung des Productionsertrages zu Gunsten der
Arbeiter bezeichnet.
Die oben genannte Begriffsbestimmung der Lohnfonds- Theoretiker ist
jedoch verfehlt. Was die Arbeiter als Lohn erhalten, sind in Wirk-
lichkeit nämlich nicht die Lebens- und Genussmittel, die sie consumieren,
sondern das Geld und andere Gegenstände von Geldwert, die sie von ihren
Arbeitsherren erhalten. In welcher Weise die Arbeiter den erhaltenen Lohn
verwenden, ist eine andere Sache. Ganz gewiss liegt es zumeist so, dass
sie genöthigt sind, beinahe ihren ganzen Lohn unmittelbar in der Form
von Lebens- und Genussmitteln zu verbrauchen; aber es liegt auch natu dich
kein Hindernis vor, dass sie, insofern sie dazu Gelegenheit haben, einen
Theil des Lohnes entweder in Geldform sparen, oder dass sie sich für das
Ersparte andere Capitalsgegenstände kaufen, die für sie eine Einnahme ab-
geben können. Man muss also erkennen, dass die Höhe des Arbeitslolmes
ebenso wie die Höhe jedes anderen Einkommens, nicht allein nach dessen
Fähigkeit, unmittelbar Verbrauchsgegenstände zu kaufen, geraessen werden
darf, sondern nach dessen Fähigkeit, ökonomische Güter jeder Art zu
kaufen, mit anderen Worten, nach dessen allgemeiner Kaufkraft oder dessen
Tauschwert, wie dieser zu jeder Zeit im Geldwerte des Lohnes seinen
Ausdruck findet. Dagegen versteht es sich natürlich von selbst, dass, insofern
der besondere TauschAvert des Geldes variiert, ein und derselbe Geldlohn
zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten eine grössere oder
kleinere allgemeine Kaufkraft bezeichnet und folglich einen verschiedenen —
höheren oder niederen — Arbeitslohn.
Ein wirklich hoher Aibeitslohn ist also ein solcher Lohn, dessen
Tauschwert gross ist, und kann von den Unternehmern auf die Dauer
nur ausbezahlt werden, insofern der Tauschwert des Productionsertrages,
oder mit anderen Worten die Productivität gross ist. Ein hoher durch-
schnittlicher Arbeitslohn setzt folglich eine grosse durchschnittliche
Productivität voraus, und eine solche kann, wie wir schon nachgewiesen
haben, nur platzgreifen, wenn und wo die ökonomische Wirksamkeit, als
Ganzes betrachtet, eine grosse technische Ergiebigkeit oder Effectivität
besitzt.
Wie weit jene Bedingung eintritt, beruht jedoch, wie bekannt, auf
der Stärke der drei Productionsfactoren: der Arbeit, der Natur und des
Capitales. Jede Erhöhung der Erzeugungsfähigkeit dieser Factoren vermehrt
direct die Effectivität der Production und eröffnet dadurch, wie wir gesehen
haben, die Möglichkeit für eine Erhöhung des durchschnittlichen Arbeitslohnes.
Nun sind innerhalb jedes einzelnen Landes die zwei ursprünglichen
Productionsfactoren: die Arbeitstüchtigkeit der Bevölkerung
und die E rt r a g s f ä h i g k e i t des Erdbodens nicht nur etwas
Die Lolinfonds-Theorie. 161
ZU jeder Zeit Gegebenes, sondern auch etwas relativ Stabiles, nur langsam
Veränderliches, wogegen der dritte Factor: das Capital — dessen
einzige Function eben darin besteht, die Effectivität der ökonomischen
Wirksamkeit zu erhöhen, indem es in der Form von stehendem Capital
alle Productionsgeräthscbaften schafft und in der Form von umlaufendem
Capital die ganze Arbeitstheilung ermöglicht — immer weit schnelleren und
häufigeren Veränderungen unterworfen ist. Innerhalb der einzelnen Länder
wird die Erhöhung oder Verminderung der Effectivität der ökonomischen
Wirksamkeit, worin ein erhöhter oder verminderter durchschnittlicher Arbeits-
lohn unter einer gerechten Vertheilung zuletzt seinen Grund hat, als über-
wiegende Kegel durch eine Vergrösserung oder Verminderung des Capitales
verursacht, und insofern liegt also ein Kern von Wahrheit in der unrich-
tigen Lehre der Lohnfonds-Theorie: dass die Höhe des Arbeitslohnes von
dem Verhältnisse zwischen der Grösse des Capitales und der Zahl der
Arbeiter bestimmt wird. Dass die Grösse des Capitales eines Landes tief-
greifenden Einfluss auf die Höhe des durchschnittlichen Arbeitslohnes ausübt,
ist ja überhaupt eine sichere Thatsache, und deren Augenscheinlichkeit hat
vielleicht unter allem am meisten dazu beigetragen, so lange Zeit hindurch
die Lohnfonds-Theorie plausibel zu machen.
Es versteht sich indessen von selbst, dass auch durch einen Zuwachs
in den zwei übrigen Productionsfactoren, wie z. B. durch grössere Tüchtig-
keit und erhöhten Fleiss bei der Bevölkerung oder durch einen reichlicheren
Zugang fruchtbaren und günstig gelegenen Bodens, ganz dieselbe Wirkung
auf die Effectivität der ökonomischen Wirksamkeit und auf die durchschnitt-
liche Höhe des Arbeitslohnes ausgeübt wird, wie durch eine Vermehrung
des Capitales, So können civilisierte Europäer kraft ilirer überlegenen
Arbeitstüchtigkeit mit demselben Vorrath an Boden und Capital stets eine
weit ergiebigere Production bewerkstelligen und einen weit höheren Lohn
erlangen, als wilde oder halbcivilisierte Völkerschaften. Und in derselben
Weise zeigt sich die ökonomische Wirksamkeit in den von den Europäern
bewohnten erdreichen aber relativ capitalarmen Ländern in den neuen
Welttheilen oft effectiver und der Arbeitslohn höher, als in den alten capital-
reichen, aber relativ erdarmen Staaten Europas, wo das Gesetz des
abnehmenden Bodenertrages durch den Druck der Bevölkerung auf die
Erzeugungsfähigkeit des Erdbodens in die Erscheinung getreten ist
und seinen hemmenden Einfluss auf die Effectivität der Production aus-
geübt hat, und wo folglich jede Vermehrung nicht nur der Anzahl der
Arbeiter, sondern überhaupt der Anzahl der Bevölkerung die Tendenz hat,
den durchschnittlichen Arbeitslohn zu drücken, indem sie den wichtigen
Productionsfactor: die Leistungsfähigkeit des Bodens relativ verringert.
Die Frage des durchschnittlichen Arbeitslohnes, von dessen Höhe das
ökonomische Wohl so vieler Gesellschaftsglieder abhängt, ist also, wie schon
angegeben, eine doppelte: nicht nur eine Vertheilungsfrage, bei deren Lösung
die Interessen der Arbeiter und Unternehmer fast immer widerstreitende sind,
sondern auch eine Productionsfrage, in welcher ihre Interessen harmonieren.
Zeitschrift für Volksvvirtaehaft, Socialpoütik und Verwaltung. X. Band. \\
162 Jaeger.
Die alten Nationalökonomen legten fast alles Gewicht einseitig auf
die Vermehrung der Production, weil sie glaubten, dass die Vertheilung des
Ertrages mit der Unerbittlichkeit eines Naturgesetzes vor sich gehe. In
der von ihnen irrig aufgestellten Lohnfonds-Theorie, die wir in dieser
Abhandlung dargestellt und kritisiert haben, drückte sich dieser ihr Glaube
in harter und abstossender Weise aus; denn ihrer Lehre gemäss wurden, wie
wir gesehen haben, die Arbeiter ihrem Schicksale Oberlassen und für unfähig
erklärt, direct etwas zur Erhöhung ihres Lohnes und zur Verbesserung
ihrer Stellung ausrichten zu können, weder durch Entwicklung ihrer Fähig-
keiten, durch Tüchtigkeit, FJeiss und Energie, noch durch Zusammen-
schliessen zur Wahrnehmung ihrer berechtigten Interessen den Unter-
nehmern gegenüber.
Dass die Arbeiter sich mit Unwillen und Misstrauen von einer AVissen-
schaft abwandten, deren vornehmste Vertreter eine solche Lehre predigten,
ist nicht erstaunlich. Aber jetzt, da die Unhaltbarkeit der Theorie seit
langem bewiesen wurde, hat man einsehen gelernt, dass die ökonomische
Lage der Arbeiterclasse durchaus nicht so hoffnungslos ist, wie sie nach der
Lohnfonds-Theorie aussah. Und hierdurch ist nicht nur die nationalökono-
mische Wissenschaft einen Schritt in der Erkennung der Wahrheit vorwärts
gerückt, sondern es ist auch die Möglichkeit für ein innigeres Verhältnis
zwischen ihr und der Arbeiterclasse eröffnet.
DER SPIELEINWAND
BEI BÖRSEN-SPECULATIONSGESCHÄFTEN.
VO>f
DR. WILHELM ROSENBERG.
JDjs ist eine eigenthtimliche Erscheinung, welche der Kechtsphilosophie
reichlichen Stoff zur Nachforschung bieten könnte, dass gerade die Börsen-
geschäfte von Anbeginn, seitdem auf den Börsenmärkten ein regerer Umsatz
sich entfaltete und ihr Einfluss auf so zahlreiche Wirtschaftsverhältnisse
deutlich sichtbar ward, unter der grössten rechtlichen Unsicherheit gelitten
haben. Während man jedoch von dem Handelsverkehre im allgemeinen
behauptet, dass er sich nur unter der Einwirkung einer sichern und schnellen
Judicatur zu voller Blüte entfalten könne, hat die Entwicklung des Börsen-
verkehrs trotz der feindlichen Stellung der Gesetzgebung und theilweise
auch der Judicatur einen so sichtbaren Fortschritt genommen, dass die Börsen
heute bereits die wirtschaftlichen Verhältnisse i» den Culturländeru zu
beherrschen scheinen, und die meisten Eeformen, welche unserer Volks-
wirtschaft zugute kommen sollen, zuerst mit einer Keform des Börsenrechtes
einsetzen wollen.
Die Geschichte der die Börsengeschäfte betreffenden Gesetzgebung ist
zugleich eine Geschichte der Nutzlosigkeit dieser Gesetze, soweit sie den
Börsenverkehr beschränken wollten. Schon in den holländischen General-
staaten bestanden Verordnungen, welche den Terminhandel ä la baisse in
Actien verboten, aus einem Grunde, der noch heute in der Agitation gegen
den Terminhandel eine grosse Kolle spielt: wegen der angeblichen Tendenz
desselben, die Preise zum Sinken zu bringen.^) In den Actien der ostindischen
Compagnie hatte sich neben einer Hausse- auch eine lebhafte Baisse-
Speculation entfaltet und diese sollte getroffen werden, indem es verboten
wurde, Actien auf Zeit zu verkaufen, ohne dass sie der Verkäufer bereits
zur Zeit des Kaufabschlusses wirklich besässe. Die Wirkung dieses Erlasses
^) Ehrenberg, „Die Fondsspeculation." S. 5.
Gustav Cohn, „Zeitgeschäfte und Differenzgeschäfte" in Hildebrands Jahr-
büchern VII., S. 395 if.
Jacobsen, „Terraijiihandel in Goederen", Rotterdam 1889, S. 53 ff.
11*
164 Roseuberg.
war wohl eine sehr geringe. Die Regierung selbst gestand in jeder der
folgenden diesen Gegenstand betreffenden Verordnungen zu, dass die Börse-
speculanten ihre gute Absicht vereiteln, ja dass sie sogar in ihre Verträge
ausdrücklich eine Clausel aufnehmen, wonach die Parteien darauf verzichten,
die ihnen durch jene Edicte der Generalstaaten erwachsenen Rechte gegen
einander geltend zu naachen. Trotzdem thut ein aus jener Zeit stammendes
Werk Josephs de la Vega^) dieses Einwandes der üngiltigkeit des Geschäftes
in einer Art Erwähnung, welche beweist, dass derselbe dennoch in praktischer
Geltung stand. Man nannte ihn „hazer Federique" nach dem Urheber jener
Verordnungen, dem Prinzen Friedrich Heinrich von Oranien. Es kam nicht
selten vor, dass die Contremineure, wenn ihre Position nach langer
Speculation in sich selbst zusammenbrach, hinter diesem Einwand Schutz
suchten.^) Von grösserer praktischer Bedeutung war er jedoch jedenfalls nicht.
Ebensowenig gelang es in England, des Differenzspiels und des Termin-
handels Herr zu werden. Auch dort finden wir nach der allgemeinen Formel
der Bubbles-Äcte vom Jahre 1720, welche den Handel in Actien schädlicher
Unternehmungen untersagt, ein Gesetz vom Jahre 1734, die sogenannte
Barnarils Acte nach dem Namen ihres Urhebers, des Vertreters der Londoner
City, welcher gegen die infamen Praktiken der Effectenspeculation im
Parlamente eine donnernde Philippica hielt Nach dieser Acte sollten alle
Prämiengeschäfte in Fonds untersagt, die Regelung irgendwelcher Fonds-
geschäfte durch blosse Differenzzahlung ohne wirklichen- Vollzug jedes
einzelnen Kaufes verboten sein und endlich jeder Verkauf von Actien, die
der Verkäufer nicht zur Zeit des Geschäftsabschlusses besass (Verkauf
ä decouvert), für ungiltig erklärt und mit Strafe bedroht werden. Man findet
demnach hier das Verbot des Differenzgeschäftes und das Verbot der Baisse-
Speculation in Fonds. Alle Berichte stimmen jedoch darin überein, dass
diese Verbote nahezu gänzlich wirkungslos geblieben sind. Einerseits galt
schon damals unter den Angehörigen der Fondsbörse der Grundsatz, dass
sie ihr Recht nicht bei den staatlichen Gerichten, sondern vor einem Standes-
Sondergerichte suchten, vor welchem dieser Einwand niemals erhoben wurde.
Er war demnach nur im Verhältnisse zwischen Makler und Privatspeculanten
von Bedeutung. Ausserdem aber wurde die Verbotsbestimmung einschränkend
dahin interpretiert, dass sie sich bloss auf englische Staatspapiere beziehe.
In dieser beschränkten Wirkung galt die Acte formell allerdings bis 1860.
Sie wurde jedoch praktisch nicht strenge gehandhabt, schon deshalb,
weil die Regierung bald nach der Erlassung des Gesetzes zu den kollossalen
Finanzoperationen, zu welchen sie damals durch zahllose ausländische Kriege
genöthigt war, eines lebhaften Börsenspiels bedurfte, um die Course ihrer
Papiere zu behaupten und eine kräftige Fondsspeculation zu erhalten, welche
') Don Joseph de la Vega, „Confusion de confusiones"^ Amsterdam 1688; liieriiber
Ehren berg. , Zeitalter dt-r Fugger", IL, S. 366 ff.
-) Don Joseph de la Vega a. a. 0., S. 30 f.; Ehrenberg, „Fondsspeculation",
S 59, 60, 141 ff.; Gustav Cahn a. a. 0., S. 402 ff; „Report of the London Stock
exchaiige Commission", Appendix.
Der Spieleinwand bei Börsen- Speculationsgeschäften. 165
imstande war, ein gewisses Eentenmaterial als flottierend aufzunehmen, bis
es in den festen Besitz des Privatpublicums übergieng. Aus dem Jahre 1867
stammt die Leemans Acte, nach der Panik des Jahres 1866 erlassen,
welche alle Geschäfte in Bankactien für nichtig und rechtsungiltig erklärt,
bei denen der Verkäufer nicht sofort beim Geschäftsabschluss ein voll-
ständiges Niimmernverzeichnis mitliefern würde. Dieses Gesetz ist jedoch
ohne jeden Erfolg geblieben. So bildet auch heute noch die einzige Rechts-
grundlage bei der Beurtheilung der sogenannten Differenzgeschäfte eine Bill
aus der Zeit der Königin Victoria vom Jahre 1845, welche, ohne speciell
Börsengeschäfte zu nennen, alle Spiel- und Wettverträge für null nnd nichtig
erklärt. Dieses Gesetz — und es ist interessant, dass in dieser Richtung
die Rechtsentwicklung aller modernen Staaten den gleichen Weg genommen
hat, — über die Ungiltigkeit von Spiel- und Wettverträgen ist das einzige
noch in Kraft befindliche englische Gesetz, Avonach die Giltigkeit von
Differenzgeschäften angefochten werden kann. Auch hier finden wir die Ent-
wicklung, dass die Angehörigen der Börse untereinander von diesem Gesetze
niemals Gebrauch machen. Sie sind ihren eigenen Sondergerichten unter-
worfen, welche die Einwendung nicht zulassen würden, und sie sind nicht
nur durch die Rücksicht der geschäftlichen Ehre, sondern auch durch die
Rücksicht auf ihre geschäftliche Stellung unbedingt davon abgehalten, einen
solchen Einwand zu erheben. Aber auch die staatlichen Gerichte, welche
früher vielfach geneigt waren, sich gegen die Klagbarkeit der Differenz-
geschäfte auszusprechen, haben in neuerer Zeit mehr der Auffassung hin-
geneigt, dass selbst bei der Speculation eines Outsiders der Einwand von
Spiel und Wette nicht zulässig ist, wenn der Broker das Geschäft that-
sächlich an der Börse ausgeführt hat. In diesem Falle kann der Broker
seinen Clienten zur Zahlung seines Aufwandes gerichtlich belangen.*)
Eine ähnliche formelle gesetzgeberische Entwicklung, welche dennoch
zu ganz andern Ergebnissen in der Judicatur geführt hat, zeigt das französische
Recht ^), dessen Rechtsprechung tonangebei.d für die gesammte festländische
Judicatur in Börsengeschäften geworden ist und in der That eine bis ins
kleinste Detail ausgearbeitete, von der Blüte juristischen Scharfsinnes erfüllte
Auseinandersetzung darstellt. In Frankreich wurde die Börsenspeculation
unter Patronanz des Hofes und des hohen Adels des Landes eingeführt.
Der Schotte John Law brachte Pläne eines noch nicht dagewesenen wirt-
schaftlichen Aufschwunges nach Frankreich, unternahm es, die grössten
Capitalien aus dem Nichts zu schaffen und ist wie der Erfinder der Inhaber-
actie zugleich der erste grosse Börsenspeculant im modernen Sinne des
Wortes genannt worden, der es auch insbesondere verstand, das Publicum
^) Wiener, „Differenzgeschäft und Rechtssprechung."
2) Gareis, „Klagbarkeit der Differenzgeschäfte." Ehrenberg, „Fondsspeculation."
Veit Simon, „Klagbarkeit der sog. Differen/.geschäfte" in Goldschmidts Zeitschrift,
41 S. 465 f. Griinhut, „Börsengeschäfte" in Endemanns Handbuch, III., S. 8 ff. „Com-
missionsbericht der französischen Abgeordnetenkammer" (erstattet von Alfred Naquet).
Docum. Parlam, III., S. 403 ff.
1G6 Rosenberg.
in grossen Massen zur Börsenspeculation heranzuziehen. Als er und sein
System zusammengebrochen waren, und breite Schichten der französischen
Gesellschaft in das finanzielle Missgeschick verflochten waren, da erschien
die bekannte Verordnung des Jahres 1724, welche eine staatlich anerkannte
Börse schuf, das ausschliessliche Maklerprivilegium der agents de change
bestätigte und insbesondere alle Zeitgeschäfte in Fonds untersagte. Nach
wie vor wurde jedoch weiter speculiert, wenn auch im schwächerem Maass-
stabe, da die Zeit der Speculation nicht günstig war. Als jedoch immer
zahlreicher die Staatsanlehen aufgelegt wurden, welche der Krieg mit England
erforderlich machte, und die Speculation, insbesondere die ä la baisse, einen
kräftigen Aufschwung nahm, kam es zu dem Edict vom 7. August 1785,
das jeden Verkauf von Fonds welcher Art immer auf Zeit, wenn der Ver-
käufer sie nicht eftectiv besass, für ungiltig erklärte, ein Verbot das in den
folgenden Jahren (1785, 1786 und 1787) wegen seiner Nutzlosigkeit neuerlich
eingeschärft wurde. Mirabeau, der Autor der berühmten Streitschrift und
Anklage gegen die Agiotage, stellte sie öffentlich an den Pranger und die
französische Kevolution, welche in der Baissespeculation in Assignaten eines
der gefährlichsten Mittel zur Erschütterung des öffentlichen Credites sah,
gieng noch weit schärfer gegen die Speculanten vor. Das Gesetz vom
28. vendemiaire IV. erklärte, dass der Handel mit Species auf Zeit ein
verbrecherischer sei, dass diejenigen, welche Operationen solcher Art vor-
nehmen, verbrecherische Agioteure seien, die ihr Interesse ihrer Pflicht vor-
ziehen und sich zum Schaden des Gemeinwesens Gewinn verschaffen wollen.
Es verordnet, dass bei Gold- und Silberspecies die Lieferung und Bezahlung
binnen 24 Stunden stattfinden müsse, und gieng so weit, die Uebertreter
des Gesetze^ mit zwei Jahren Gefängnis und öffentlicher Ausstellung mit
einem Schild auf der Brust, in welches „Agioteur" eingegraben werden
sollte, zu bedrohen.^) Auch hier hat die Gesetzgebung diesen den Termin-
handel einfach für nichtig erklärenden Standpunkt nicht lange festgehalten.
Die Macht des Handelsverkehres erwies sich stärker als die gesetzgeberischen
Bestimmungen. Als unter Napoleon der Staat wieder feste Formen angenommen
hatte und man an die Codificierung des Rechtes schritt, war auch weniger
von Speculationslust zu bemerken. Es blieb civilrechtlich nur eine einzige
Bestimmung übrig, welche sich auf Spiel und Wette im allgemeinen bezog,
ohne der Differenzgeschäfte an der Börse im besondern Erwähnung zu thun.
Spiel und Wette wurden für nicht klagbare Obligationen erklärt. Daneben
finden sich allerdings im Code penal (Artikel 421 und 422) Bestimmungen,
welche es für strafbar erklären, Fonds ä decouvert zu verkaufen, jedoch
in der Praxis kaum beachtet wurden, zum mindesten nicht zu strafrecht-
licher Verfolgung führten.
Die strafrechtlichen Bestimmungen geriethen also bald in Vergessenheit,
aber auf einfachen, civilrechtlichen Bestimmungen über Spiel und Wette hat
die französische Jurisprudenz ein kunstvolles Gebäude aufgerichtet, das
I
1) Später wurde sogar auf die Agiotage in Assignaten die Todesstrafe gesetzt.
Der Spieleiuwand bei Börsen- Speculationsgeschäften. 167
noch heute, wie bereits erwähnt, die gesammte continentale Eechtssprechung
beherrscht. Zeitgeschäfte waren im Princip zugelassen, und bis zum Jahre 1822
anerkannten die Gerichtshöfe die Eechtsbeständigkeit dieser Geschäfte und
das Recht der agents de change, gerichtlich ihre Forderungen einzutreiben.
Erst im Jahre 1823^) erklärte man jene alten Verordnungen als noch insoferne
giltig, als ein Spiel anzunehmen sei, wenn nicht gleichzeitig mit dem
Geschäftsabschlüsse der Kaufpreis oder die Effecten erlegt wurden. Später,
seit 1831, unterschied man in Anlehnung an Art. 422 Code penal zwischen
der speculation ä la baisse, die stets als verboten galt (illicite), und der
speculation ä la hausse, die erlaubt war. Noch später endlich wurden die
Geschäfte dann für Spiel und Wette erklärt, wenn sie nicht den thatsäch-
lichen Bezug der Effecten zum Gegenstande hatten, sondern lediglich auf
Abwicklung durch Zahlung von Differenzen hinzielten. So kam es zur
richterlichen Untersuchung über die Intentionen der Parteien beim Geschäfts-
abschluss, welche naturgemäss bald eine bestimmte Richtung annahm. Es
handelte sich darum, zu beweisen, dass die Parteien nicht beabsichtigt hatten,
die scheinbar gekauften Papiere wirklich zu beziehen, bezw. zu übergeben,
sondern dass es ihnen sich nur darum handelte, einen bestimmten Stichtag
abzuwarten, welcher ihr Spiel oder ihre Wette auf den Coursunterschied ent-
scheiden sollte. Der Verlierende zahlte dann jenen Betrag, um welchen der
Curs des Stichtages den contrahierten Preis überstieg. Es ist klar, dass
sich die Rechtssprechung, da ja die Parteien formelle Kaufgeschäfte abge-
schlossen hatten, genöthigl sah, die von beiden wohlverstandene Absicht
der Parteien nicht zu beziehen bezw. zu liefern, aus irgendwelchen äussern
Umständen, aus Indicien zu erschliessen, und da ist es vor allem die Ver-
mögenslage der Parteien, Avelche ein solches Indicium bot. Mit wechselnder
Strenge wurden die Voraussetzungen festgestellt und allmählich zu prätorischem
Rechte herausgebildet, durch welche in der rechtlichen Auffassung die
Operation serieuse, das reelle Kaufgeschäft, sich von der Operation fictive,
dem Differenzgeschäfte, unterschied. Das Missverhältnis der Geschäfte zum
Vermögen der Parteien, welches eine wirkliche Auslieferung ausgeschlossen
erscheinen liess, der Umstand, dass keines der abgeschlossenen Geschäfte
effectiv erfüllt wurde, die regelmässige Abwicklung derselben durch Differenzen-
zahlung, die Häufung der Geschäfte, die Verknüpfung derselben mit Report-
geschäften und sonstigen Prolongationen boten der Judicatur Anlass, das
Vorhandensein eines Spieles zu bejahen. Eine gewisse Präsumption des
Spieles bestand dann, wenn das Geschäft nicht durch einen Agent de change
ausgeübt worden war, und insbesondere dann, wenn der Commissionär selbst
in das Geschäft eingetreten war und die Contrepartie seines Auftraggebers
gemacht hatte. Dann jedoch, wenn der Kläger im begründeten Glauben
gehandelt hatte, dass die Operationen des Beklagten reelle, das heisst (^wenn
auch nur uoter Umständen) auf wirkliche Lieferung gerichtet seien, wurde
^) Im Processe des agent de change Perdonnet, welcher seinen Auftraggeber
den Grafen Foibin-Janson auf Zahlung von 341.000 Francs Diiferenzen belangte.
"[ßg , Eosenberg.
ihm die Klage gegeben,^) Durch das Mitspielen des Streites gegen die
gesetzlich nicht anerkannte Coulisse, welche doch einen so grossen Theil der
Geschäfte des Pariser Marktes vermittelte, bewegte sich die Eechtsentwicklung
in Zickzacklinien fort. ^) Schliesslich fand ein Eingreifen der Gesetzgebung
statt. Es ist eine allgemeine Bemerkung, dass jeder grosse Börsenkrach eine
Aenderung der Gesetzgebung mit sich führt. Waren früher die Börsen-
geschäfte klagbar, so werden sie nach dem Krach, insbesondere soweit sie
Baissespeculation sind, verboten, weil man in der frühern Gestattung solcher
Geschäfte einen Hauptgrund der Grösse des Unheils erblickte. Ereignet sich
dagegen der Krach in einer Zeit, in welcher solche Geschäfte unklagbar
sind, so nimmt der unheilvolle Einfluss eines jähen Niederganges der Course
auf das gesammte Wirtschaftsleben ungeahnte Dimensionen an. Während in
normalen Zeiten auch unklagbare Börsengeschäfte redlich und treu erfüllt
werden, entsteht nunmehr bei ganz enormem Verluste in jedem einzelnen
Speculanten das Problem, ob es nicht besser sei, seine geschäftliche Ehre
preiszugeben, statt sein ganzes Vermögen zu opfern, eine Frage die von
vielen Speculanten bejaht wird. So geschah es auch in Prankreich nach
dem Krach der durch Bontoux gegründeten Union generale, an welchem weite
Kreise der nicht beruflichen Börsenspieler betheiligt waren, die sich nunmehr
ihrer Verpflichtung entzogen und dadurch auch ihre Mittelsmänner an der
Börse zahlungsunfähig machten. So haben damals beispielsweise sämmtliche
Agenten der Lyoner Börse sich ausserstande erklärt, ihre Verpflichtungen zu
erfüllen, und es schien unumgänglich, dass die Gesetzgebung eingreife, um
die Wiederkehr ähnlicher geradezu tragischer Erschütterungen des öffent-
lichen Credits zu verhindern.
Diesem Vorfall verdankt das neueste französische Gesetz vom Jahre
1885 seinen Ursprung, Avelches alle Termingeschäfte in Effecten oder Waren
für legal erklärt und ausdrücklich bestimmt, dass niemand, um sich seinen
Verpflichtungen aus solchen Geschäften zu entziehen, den Einwand des Ar-
tikels 1965 gebrauchen dürfe, selbst wenn sich diese Geschäfte in Zahlung
einer Differenz auflösen sollten. Es schien, dass damit dem Differenz- oder
Spieleinwand in Frankreich ein definitives Ende bereitet sei, und dass selbst
das sogenannte „reine" Differenzgeschäft als gesetzlich anerkannt sei. In dem
Berichte, der von dem Antragsteller, dem Deputierten Alfred Naquet,
der Kammer erstattet wurde, finden sich breite Erörterungen über die histo-
rische Entwicklung des Differenzeinwandes in Frankreich, verbrämt mit volks-
wirtschaftlichen Ausführungen über die Nützlichkeit des Terminhandels. Aber
^) Die Cour de Paris räumte in der Beurtheilung der Thatumstände den untern
Gerichten ein pouvoir discretionnaire ein. Franz. Comm. Ber. 8.305. Die von Kauf-
leuten besetzten Handelsgerichte erklärten übrigens consequent alle diese Operationen
für serieuse zur seihen Zeit, in welcher die staatlichen Gerichte sie für ungiltig erklärten.
Erstere wurden auch deshalb im Senate wegen Gesetzesverletzung heftig angegriffen
vgl. a. a. 0., S. 306.
^) Lapradelle et Levy-Ullmann, „Les negociations de valeurs cotees effectuees
par l'intermediaire des coulissiers devant la jurisprudence", Paris 1896.
Der Spieleinwand bei Bürsen-Speculationsgescbäften. 169
der Weisheit letzter Schluss ist dennoch der einfa:che Satz, dass es jeder-
manns Sache sei, sich selbst vor unüberlegten Handlungen zu schützen und
dass die Gesetzgebung allzuviel zu thun hätte, wenn sie jedermann vor den
Folgen seiner eigenen Dummheit bewahren wollte, ^)
Trotzdem die Frage solcher Art klargestellt schien, kam sie in Frank-
reich noch lange nicht zur Kühe. Die Gerichte hielten an der alten Auf-
fassung mit einer Lebhaftigkeit und Zähigkeit fest, welche am besten Zeugnis
von der Thatsache ablegt, die aus der Geschichte des Differenz-Einwandes
mit voller Deutlichkeit erhellt: dass nämlich die ausnahmslose Klagbarkeit
aller Börsengeschäfte dem Rechtsbewusstsein des Volkes und der gelehrten
Richter geradezu widerspricht, dass an jedem solchen Gesetze solange ein
Angriffspunkt gesucht wird, bis der Differenzeinwand wieder eindringen kann
und dass die Gerichte es mit der Ehre und mit der Würde des Gesetzes
nicht vereinbar finden, ihre Hand zur Einbringung von Forderungen zu bieten,
welche nach ihrer Anschauung unsittlichen und volksverderbenden Geschäften
ihren Ursprung verdanken. Nirgends tritt dies mit solcher Deutlichkeit
hervor, wie in der französischen Jurisdiction seit 1885. Die Gerichte er-
klären kurz und bündig, Termingeschäfte, Käufe in Waren oder Etfecten auf
Zeit seien zwar giltig, aber eben nur wirkliche Käufe und nicht Spiele,
welche sich lediglich in die Form des Kaufes einkleiden Hessen, und ob-
wohl sich diese Auffassung mit der strengen Fassung des Gesetzes schlechter-
dings nicht vereinbaren Hess, fand sie doch an allen Tribunalen des fran-
zösischen Reiches eifrige Verfechter. Die Frage stand noch im Jahre 1897
so und selbst 1898 erflossen üriheile, welche diesen juristischen Standpunkt
einnahmen.^) Der Cassationshof zu Paris scheint allerdings diese Auffassung
nicht zu theilen, denn nach einem Berichte Crepons, ^) Rathes am Cassa-
tionshof zu Paris, hat dieser Gerichtshof 1898 (22. Juni) eine grundlegende
Entscheidung gefällt, wonach er erklärt, dass durch jenes Gesetz der Spiel-
einwand bei allen Geschäften ausgeschlossen sei, welche auch nur die Form
des „marche ä terme" angenommen hätten, und dass demnach durch das Gesetz
direct untersagt sei, die Intention der Parteien auf wirkliche Lieferung zu er-
forschen, vielmehr allen solchen Geschäften das Klagerecht durch die „termes
essentiellement imperatifs" des Gesetzes gegeben sei. Crepon bemerkt,
dass nach dieser Entscheidung „completement et absolument** der DiflFerenz-
einwand für solche Geschäfte beseitigt und es nicht mehr den Speculanten
schlechten Glaubens gestattet sei, diesen Versteck bei einem Fehlschlagen
ihrer Operationen aufzusuchen.
Wenige Jahre, nachdem in Frankreich durch Gesetz der Spieleinwand
bei Termingeschäften ausgeschlossen worden war, wanderte die französische
Judicatur in ihrer reichen casuistischen Ausbildung über den Rhein und
^) „La loi aurait trop a faire a vouloir garantir les humains contre leur propre sottise."
2) Vgl. die in Holdheims Zeitschrift 1897, abgedruckten französischen Urtheile.
^) T. Crepon, „Les marches ä terme et l'exception de jeu en France" (Congres
international des valeurs mobilieres Paris 1900, Documents etc., L Nr. 29), siehe auch
Andre E. Sayous, „Les ope'rations we bourse et l'exceptijin de jeu", ebenda Nr. 30.
170 Eosenberg.
machte sich in Deutschland heimisch, gleichwie sie Italien und Belgien er-
obert hatte, eine Eroberung friedlicher Art, die dennoch auch vom Stand-
punkt der Kechtsgeschichte das grösste Interesse verdient. Im Deutschen
Eeich, und zwar speciell in Preussen ^) hatte man es auch ursprünglich mit
dem Verbot des Terminhandels in Fonds versucht, zunächst mit Verordnung
vom 19. Jänner 1836 bloss für spanische Staatsanlehen, weil das Publicum
durch die willkürliche Schuldverkürzung des spanischen Staates einen grossen
Schaden erlitten hatte. Die Verordnung hatte Wirkung; freilich kann man
wohl nicht sagen, ob das Publicum nicht auch ohne dieselbe, durch bedeutsame
Verluste abgeschreckt, den Handel in spanischen Papieren aufgegeben hätte.
Im Jahre 1840 wurden überhaupt Zeitgeschäfte in ausländischen Papieren
für ungiltig erklärt, und als das grosse P]isenbahnfieber begann, wurden
durch eine Verordnung vom 24. Mai 1844, alle Zeitgeschäfte in Actien-
antheilscheinen vor Berichtigung des voll einzuzalilenden Betrages für null
und nichtig erklärt. Alle aufmerksamen Beobachter sind aber darüber einig,
dass die verbotenen Geschäfte zuerst auf Umwegen, bald offen und unge-
scheut weiter betrieben wurden, und im Jahre 1860 entschloss sich auch
die Kegierung, den Bitten der Kaufmannschaft folgend, nach eingehenden,
überaus gründlichen Berathungen die Verordnungen aufzuheben. 2) Der Zweck
dieser Verordnungen, betonte bei diesen Berathungen der Handelsminister,
sei nicht erreicht worden, der Verkehr in diesen Papieren aber sei auf solche
Personen übergegangen, die sich im ungünstigsten Falle hinter die Unklagbarkeit
verstecken, während sie auf die Ehrenhaftigkeit ihrer Contrahenten speculierten.
Damit war man wieder auf dem Boden des gemeinen Kechtes gelangt.
Man kann sagen, dass in der deutschen Judicatur von Anfang an kaum ein
Zweifel darüber bestand, dass das sogenannte reine Differenzgeschäft allerdings
als Spiel oder Wette zu gelten habe.^) Das Keichsoberhandelsgericht in Ham-
burg spricht diesen Rechtsgrundsatz aus, und auch über den Begriff des reinen
Differenzgeschäftes bestand eigentlich keinerlei Meinungsverschiedenheit.
Es ist „ein Vertrag, bei welchem eine Quantität Ware, deren Preis, und
eine Zeit festgesetzt ist und beide Contrahenten versprechen, dass je nach-
dem die Veränderung des Preises (Courses) zu dieser Zeit die eine oder
andere Richtung gewonnen haben sollte, der eine oder der andere die Differenz
der Preise von dem Mitcontrahenten ausgezahlt erhalten solle." ^)
^) Ehrenberg, „Fo'.idsspeculation", S. 125 ff. Simon, a. a. 0., S 464. Gustav
Cohn, a. a 0., S. 414.
2) Die wesentlichsten Citate aus den Motiven, siehe bei Cohn a. a. 0., S. 414 ff.
^) Die Thef>rie war allerdings anderer Meinung. Thöl, ,,Der Verkehr mit Staats-
papieren", S. 237. Griinhut, a. a. 0., S. 10. Gerber D. Pr. R § 193 f. Dernburg,
Pr. Pr. R. II § 158. Goldschmidt, („Börsen und Banken" in den Preuss. Jahrbüchern
Bd. 68, S. 878) bezeichnet das reine Differenzgeschäft als ein eigenartiges, wenngleich
dem Spi'.de verwandtes aleatorisches Geschäft, und behauptet mit den anderen hervor-
ragenden deutschen Handelsrechtslehrern dessen Giltigkeit mangels entgegengesetzter
particularrechtlicher Normen.
■*) Dies die vom deutschen Reichsgerichte angenommene Definition Thüls (Handels-
recht, § 389).
Der Spieleinwand bei Börsen-Speculationsgescliäften. 171
Man sah dies bald als Spiel, bald als Wette an, während Thöl in
solchem Vertrage eine Sponsion^ Goldschmidt einen Glücksvertrag
eigenthümlicher Art erblickten. Die Judicatur erklärte solche reine Differenz-
geschäfte für unklagbar, allein sie Hess sich nur dann dazu überreden, das
Vorhandensein eines solchen Geschäftes anzunehmen, wenn der Ausschluss
jeder effectiven Erfüllung ausdrücklich v er ein b art war.
Damit war der Unklagbarkeit solcher Geschäfte die wirtschaftliche Bedeutung
genommen, denn der ausdrückliche Ausschluss der effectiven Erfüllung findet
ja niemals statt; „derartiges kommt," wie das hanseatische Oberlandesgericht
bemerkt, „in der Praxis nicht vor; es würde etwas ganz Thörichtes sein-^O
In Wirklichkeit vollziehen sich ja die Geschäfte so, dass der Speculant von
seinem Gegenpartner Actien oder Waren kauft, oder sie ihm verkauft, oder
den Banquier als Commissionär beauftragt, für ihn Waren oder Wertpapiere
zu kaufen. Auch das deutsche Reichsgericht stellt sich auf diesen Stand-
punkt und erklärte daher in allen Fällen die Klage für statthaft, in welchen
nicht von den Contrahenten nachgewiesen war, dass die effective Lieferung
vertragsmässig ausgeschlossen und dahin von den Parteien contrahiert sei.
Noch im Jahre 1888 hiess der deutsche Juristentag diese Auffassung gut
und vertlieidigte die Klagbarkeit der Börsengeschäfte, soweit sie nicht ver-
tragsmässig reine Differenzgeschäfte seien, auf das entschiedenste mit grosser
Majorität. Damals wurde noch von dem Referenten hervorgehoben, dass selbst
das reine Differenzgeschäft wirtschaftlich berechtigten Functionen dienen müsse,
dass die Scheidung zwischen loyaler Speculation und Spiel unmöglich sei
und dass es am besten sei, Handel und Verkehr frei gewähren zu lassen.
In diesen Verhältnissen trat eine Aenderung erst ein, als die Krise vom
Jahre 1891 durch die Anzahl nunmehr auftauchender Börsenprocesse dem
Reichsgerichte Einblick bot in die maasslose Ausdehnung der Börsenspecu-
lation von Seite des unberufenen Publicums und in die schweren Schäden,
welche dadurch die Spieler und mit ihnen die ganze Volkswirtschaft er-
litten.^) Das Reichsgericht trat nun als Reformator auf und bildete im An-
schluss an die französische Jurisprudenz eine Art prätorischen Rechtes heraus,
dessen Scharfsinn und Geist nicht verkannt werden kann, gleichwie die maass-
volle Tendenz des Reichsgerichtes und seine feste Haltung auf der einmal
betretenen Bahn durch mehrere Jahre, geradezu Staunen einflössen muss.^)
Das Reichsgericht argumentiert nunmehr dahin, dass der Ausschluss der
^) Ent:>ch. dieses Gerichtes v. 11. Nov. 1892 (Wochenschrift f. Actienrecht II., S. 97).
2) Wiener, a. a. 0.
^) Vgl. die der deutschen Börsenenquete vorgelegte amtliche Zusammen-
stellung, „Die Eechtssprecliung des Eeichsgerichtes, betreifend den Einwand des Differenz-
gescliäftes" (vom Jahre 1884 bis Juli 1893), für die folgende Periode bis April 1897
Weishut, „Der Effectenumsatz und die Börsengeschäfte, sowie deren Besteuerung",
2. Auflage, Wien, 1892. S. 82—96, ferner für diese und die folgende Zeit: Hold heim 8
Zeitschrift, Riesser, „Die handelsreclitlichen Lieferungsgeschäfte", Berlin, 1900, Carl
Adler, „Zum Eechte des Termingeschäftes" in Kohlers Archiv und die daselbst citierte
Literatur, Staub's Cotnmentar S. 961, derselbe in Holdheims Monatsschrift 1897,
S. 69 ff. Fleck, ebenda 1899, S. 157 ff. u. a.
172 Eosenberg.
effectiven Erfüllung nicht bloss durch ausdrückliche, sondern auch durch die
stillschweigende Willenserklärung erfolgen könne. Diese stillschweigende
Willenserklärung aber nimmt es dann als vorhanden an, wenn die Handlungen
von Umständen begleitet sind, die eine andere Deutung niclit zulassen, oder
diese Deutung nach der Lebenserfahrung als die regelmässige erscheinen
lassen oder endlich, wenn aus den Handlungen auf die Absicht der Handeln-
den mit Zuverlässigkeit geschlossen werden kann.
Die Rechtssprechung des deutschen Reichsgerichtes hat in zweifacher
Richtung, zunächst von den Gerichten selbst Anfechtung erfahren. Vor allem
erschien sie manchen Gerichten als zu milde, und da ist insbesondere ein
Urtheil des Oberlandesgerichtes zu Jena bemerkenswert, welches die Frage
gewissermaassen dahin zuspitzt, dass ein Rechtsgeschäft nicht durch seinen
äusserlichen formellen Charakter zum Spiel gestempelt werde, sondern dass
es vornehmlich auf die Absicht der Contrahenten ankomme, ein Geschäft,
welches keinen wirtschaftlichen Zweck verfolge, lediglich zur Fröhnung der
Spielsucht, animo lucri faciendi, erfolge, abzuschliessen.^) Dieses Gericht
meint, dass jedes solche Geschäft von vornherein als ein verbotenes Glücks-
spiel ungiltig sei, und auch dann ungiltig sei, wenn es nur auf Seite
eines der beiden Contrahenten ein solches Glücksspiel darstelle und dies
dem andern Contrahenten bekannt sei. Bei dieser weitgehenden Auffassung,
welche freilich die Aufgaben der Rechtssprechung weit überschreitet, aber
doch vielleicht die eigentliche Triebfeder enthält, von welcher die Judicatur
geleitet war, hatte das Gericht zu entscheiden, ob ein Geschäft wirtschaft-
lichen Zwecken, also etwa dem Umsatz einer Ware u. s. w. diene; im andern Fall
dagegen, wenn es bloss dem wildesten Glücksspiel dienstbar sein sollte, es für
ungiltig zu erklären. Mit Recht wies das Oberlandesgericht Jena darauf hin,
dass die Rechtsprechung des deutschen Reichsgerichtes wegen ihres for-
malen Charakters Geschäfte als Spiele erklären müsse, welche lediglich
einen versicherungsteclinischen Charakter haben, wie wenn z. B. ein deutscher
Exporteur, welcher nach Russland Ware liefere, mit einem Importeur, welcher
nach Russland zu zahlen habe, ein Differenzgeschäffc in Rubel vertragsmässig
abschliesse, ohne wirklichen Bezug im Auge zu haben, also das Diflferenz-
geschäft in seinem versicherungsartigen Charakter.
Gegen diese Auffassung verwahrte sich nun freilich das Reichsgericht
auf die entschiedenste Art. indem es das Urtheil des Oberlandesgerichtes
Jena wegen Gesetzesverletzung aufhob.^) Es hielt an dem Grundsatz fest,
dass es nicht Sache des Richters sei, die wirtschaftlichen Motive der
Contrahenten zu erforschen, sondern dass es lediglich darauf ankomme, ab-
gesehen vom wirtschaftlichen Zweck und der gewinnsüchtigen Absicht, den
^) Vgl. zu dieser Frage Schuster, „Das Spiel, seine Entwicklung und Bedeutung
im deutschen Rechte", Wien 1878, S. 207—209, 218, 219. Auch er erblickt in dem Dif-
ferenzgeschäfte ein eigenes gewinnsüchtiges Geschäft, welches p"r analogiam als ver-
boten, unklagbar und ungiltig betrachtet werden müsse. Krügelstein, „üeber den be-
gritriiuhen Unterschied von Spiel und Wette", Leipzig 1869, S. 70 ff.
^) „Die Rechtssprechung des Reichsgerichtes etc." S. 36 if.
Der Spieleinwand bei Bürsen-Speculationsgescliäften. 173
Vei'tragsinhalt herauszuschälen und darnach zu beurtheilen, ob ein Spiel
oder ein legaler Vertrag vorliege.
Von der anderen Seite hatte das Reichsgericht den heftigsten Kampf mit
anderen Anschauungen zu bestehen, welche an der Klagbarkeit der Börsen-
geschäfte nicht rütteln lassen wollte. Insbesondere war es das von kauf-
männischem Geiste und kaufmännischen Anschauungen durchtränkte hanse-
atische Oberlandesgericht ^), welches sich zugleich durch die eingehendste
Beherrschung der einschlägigen Verhältnisse auszeichnet, das dem deutschen
Eeichsgerichte klar zu beweisen versuchte, dass ein solches Geschäft, wie
es den Parteien zumuthe, ein Geschäft mit Ausschluss der effectiven Liefe-
rung, nicht von denselben beabsichtigt sein könne, dass vielmehr Vertrags-
erklärung und Vertragsinhalt in allen diesen Fällen sich decken. Die Argu-
mentation des hanseatischen Oberlandesgerichtes, welche zuletzt in einem
scharfsinnigen Aufsatz von Bendixen^) vertheidigt worden ist und in
mehreren ausgezeichneten Abhandlungen der deutschen Juristenwelt eine
Stütze gefunden hat, geht dahin, dass selbst derjenige Speculant, dem es
nur um Erzielung einer Coursdiflferenz zu thun sei, keineswegs die effective
Lieferung ausschliessen wolle, weil ihm das Recht zur effectiven Lieferung
oder Abnahme Vortheile biete, die ihm das Differenzgeschäft versage. Walte
bei ihm die Absicht ob, nicht effectiv zu übernehmen oder zu liefern und
durch ein Gegengeschäft seinen Gewinn zu machen, so könnte er hiezu beim
reinen Differenzgeschäft seinen Gegencontrahenten niemals bereitfinden, da ja
dieser doch nicht auf denselben Lieferungstermin ä la hausse oder ä la baisse
zu speculieren gewillt sein wird. Er wolle also das Recht auf effective
Lieferung, um in jedem Momente an der Börse, also auf einem Markte, wo
er sofort Personen findet, welche seine Meinung über das voraussichtliche
Steigen oder Fallen der Papiere theilt, jemand finden zu können, dem er
das Geschäft übertragen könne. Dass er demnach die Absicht habe, dass
Geschäft schliesslich nur durch Ausgleichung von Differenzen zu liquidieren,
lasse noch nicht den Schluss zu, dass er auf die effective Erfüllung, die für
ihn ein wertvolles Recht sei, weil sie ihm ermögliche, aus dem Engagement
jederzeit herauszukommen oder dasselbe zu prolongieren, kurz und gut seine
Operation nach der Gestaltung der Verhältnisse zu ändern oder weiterzu-
führen, verzichte.
Trotz dieser Argumente, welche wohl den Juristen, für die Mehrzahl
der Fälle wenigstens, völlig überzeugen müssen, blieb das deutsche Reichs-
gericht unerschütterlicii bei seiner sich immer n ehr festigenden Jurisdiction,
die denn auch in der That auf dem deutschen Juristentage des Jahres lb93
feierlich gebilligt wurde. Schnell hatte sich die Meinung der deutschen Ju-
risten geändert; so fest war in ihnen die Ueberzeugung geworden, dass es
gegenüber den Ausschreitungen der Börsenspeculation einen Damm geben
müsse, welcher die Staatsbürger vor maassloser Ausbeutung schütze.
1) Bondi, in Holdheims Monatsschrift 1897, S. 133 ff.
2) Bendixen in Holdheiras Monatssclirift 1897, S. 105 ff.
174 Roseuberg.
Die Umstände nun, aus welchen das deutsche Keichsgericht den Ver-
tragsinhalt, die stillschweigende Willenserklärung auf Ausschluss der eifec-
tiven Erfüllung folgerte, präsentierten sich bald in einer Art von Katalogi-
sierung, wobei freilich zu bemerken ist, dass nicht aus einem oder dem
andern dieser Umstände allein, sondern nur aus einem Zusammenwirken
mehrerer die Absicht des reinen Differenzgeschäftes geschlossen wurde. Sie
decken sich so ziemlich mit denjenigen der französischen Judicatur, nur
dass in sehr scharfsinniger Weise auf die Lebensstellung der Contrahenten
das grösste Gewicht gelegt wurde.
Das wichtigste Moment war natürlich die Vermögenslage des Specu-
lanten. Gestattete ihm diese notorisch nicht, die gekauften Papiere wirklich
zu beziehen, so lag die Vermuthung nahe, dass er nur ein Differenzgeschäft
mit Ausschluss der effectiven Erfüllung habe eingehen wollen, ein Schluss,
der allerdings von L e i s t ^) scharf kritisiert wurde, indem er sagt, dass ähnlich
der Schluss wäre, dass jemand, der bei Aufnahme eines Darlehens nicht
die Aussicht hat, bei Ablauf der Kückzahlungsfrist die Summe in seinem
Vermögen zu haben, in Wahrheit niclit ein Darlehen, sondern ein Geschenk
zu empfangen beabsichtige. Dabei hat sich jedoch das deutsche Keichs-
gericht von jeder Einseitigkeit ferngehalten, indem es als wichtiges Mittel
zur Erkenntnis der wahren Absichten der Contrahenten auch ihre Berufs-
steilung berücksichtigte und aus ihr schloss, ob der Speculant, trotzdem
seine Vermögensverhältnisse ihm den effectiven Bezug nicht gestatteten,
nicht dennoch damit rechnen konnte, dass er durch ein Gegengeschäft seine
Verpflichtungen vor Eintritt des Stichtages regeln könnte. In allen Fällen,
in Avelchen die wirtschaftliche Lebenstellung des Contrahenten zu diesem
Schlüsse berechtigte, wenn also der Speculant ungeachtet seines geringen
Vermögens sich zur effectiven Erfüllung der Geschäfte imstande glaubte
und dazu erforderlichenfalls bereit gewesen wäre, sei es durch Abwicklung
eines Gegengeschäftes, sei es durch Inanspruchnahme des Credites, wurde
die Klage auf Zahlung für zulässig erklärt, die Annahme eines Spieles ver-
worfen. Daraus ergibt sich klar und deutlich, dass die Judicatur des Reichs-
gerichtes von einer bestimmten, zweifellosen, energischen Tendenz geleitet
war, nämlich von der Absicht, das Börsenspiel Unberufener zu verhindern,
den Börsenspeculationen erfahrener und berufener Elemente dagegen keinerlei
Hindernis in den Weg zu legen. Es liegt im Charakter einer solchen Ju-
dicatur, dass sie die einzelnen Fälle individuell behandeln muss, obgleich
freilich die Gefahr sehr nahe liegt, dass zumal die untern Gerichte die Ent-
scheidung der obersten Stelle gewissennaassen mechanisch und schablonen-
haft anwenden. Das Missliche einer solchen Rechtsprechung für die Sicher-
heit des Handels liegt eben in der Möglichkeit, dass durch schablonen-
hafte Anwendung jener Indicien, aus welchen unter Umständen die Spiel-
absicht geschlossen werden kann, auch loyale Geschäfte oder Geschäfte
') Lei st, „Differenzgoschäft und Differenzclausel" in Conrads Jahrb., III. Fulge
Bd. I, S. 808 Aniu.
Der Spieleinwaiid bei Börsen-Speculationsgeschäften. 175
vollkundiger, fachkundiger und sachkundiger Personen unter die Eubrik des
Differenzspieles gebracht werden.
Aus der Rechtsauffassung des Reichsgerichtes ergab sich mit Rück-
sicht auf die Gesetzgebung des Deutschen Reiches als natürliches Ergebnis
die Unklagbarkeit des Geschäftes selbst, die üngiltigkeit jeder auf ein
solches gegründeten Anerkennung, jedes Pfandrechtes, jeder Bürgscliaft,
jeder Novation. Nur das bereits Gezahlte konnte nicht zurückgefordert
werden, und insoferne befanden sich die Banken gegenüber ihren Committenten
in einer Rechtsstellung, welche selbst die Rückgabe der sogenannten „Depots"
nach dem Stande speciell der preussischen Gesetzgebung unumgänglich noth-
wendig machte. Denn selbst Bareinschüsse konnten zurückgefordert werden,
da das preussische Landrecht nur das „verlorene und wirklich bezahlte" gelten
Hess, wenn nicht der Wettpreis bei einem Dritten hinterlegt war. Die
künstliche Construction, dass in dem sogenannten Einschuss eine suspensiv
bedingte Vorauszahlung, nämlich für den Fall des Wettverlustes gelogen
sei Avurde vom deutschen Reichsgerichte wohl mit voller juristischer Con-
sequenz zurückgewiesen. Das Börsenspiel Unberufener sollte eben hintan-
gehalten werden. Allein das deutsche Reichsgericht konnte andererseits
nicht soweit gehen, auch in jenen Fällen Spiel und Wette anzunehmen, in
welchen aus der Geschäftsverbindung hervorgieng, dass thatsächlich ein-
oder das anderemal ein, wenn auch nur geringfügiger Theil der Actien be-
zogen worden sei, oder dass thatsächlich ein- oder das anderemal der Spe-
culant sich als Besitzer von Actien betrachtet hatte, indem er den Banquier
anwies, das Bezugsrecht, welches diese Actien für neuauszugebende gewährt,
auszuüben u. ä. m. ^) In solchen Fällen konnte es das Reichsgericht offen-
bar mit seinem juristischen Gewissen nicht mehr vereinbaren, die Verein-
barung des Aussciilusses effectiver Lieferung und damit Spiel und Wette
anzunehmen. Es musste die Klage zulassen, obgleich es für den unbefan-
genen Beurtheiler klar sein musste, dass die Wirkung eines solchen zufäl-
ligen Ereignisses während einer Geschäftsverbindung doch immerhin die
Gerechtigkeit dieser ganzen Judicatur in einem ziemlich sonderbaren Lichte
erscheinen lassen müsse.-) Die wildeste Speculation Unberufener in Actien
musste für legal gelten, wenn sich solche oder ähnliche Umstände im Laufe
der Geschäftsverbindung ereignet hatten.
Auf seinem Wege, die Unberufenen vor Börsenspiel zu schützen, fand
das Reichsgericht ein schweres juristisches Hindernis in der eigenthümlichen
Art, in welcher die Geschäfte gerade der Unberufenen in der überwiegen-
den Mehrzahl der Fälle sich abspielen. Die Outsider ertheilen nämlich
finem Bankhause den Commissionsauftrag, also den Auftrag Effecten oder
Waren für sie zu kaufen oder zu verkaufen. Es war naheliegend, dass die
Commissionäre in solchen Fällen sich darauf stützten, dass sie bloss den
Auftrag ihres Coramitenten ausgeführt hätten, und nichts als den Ersatz
*) „Kechtssprechung des Eeichsgeiiehtes", U. v. 16. December 1892, S. 21.
2) Wiener, a. a. 0.
276 Eosenberg.
ihrer Barauslagen aus diesem Auftrage nebst der Provision des Commis-
sionärs verlangten. Ebenso klar schien es jedoch, dass die Judicatiir geradezu
wirkungslos bleiben müsse, wenn solche Fälle nicht von ihr getroffen würden.
Das Reichsgericht half sich auf zweierlei Art in sehr resoluter Weise, die
theoretisch vielleicht schwer begriffen Averden kann und nur dann klar er-
scheint, wenn man sich die wirkliche Abwicklung solcher Geschäfte mit
Benützung der Commission vergegenwärtigt. Das Reichsgericht anerkennt
zunächst, dass die wirkliche Ausführung des Auftrages des Committenten an
der Börse, da bei dieser der effective Bezug bei keinem Geschäfte aus-
geschlossen sei, in der That ein gewisses Indiz gegen die Annahme eines
reinen Differenzgeschäftes bilden könne. Doch sei dies auch nur dann der
Fall, wenn der Commissionär die Geschäfte wirklich für den Committenten
an der Börse ausgeführt habe und nicht als Selbstcontrahent eingetreten
sei. ^) Sobald er nämlich als Selbstcontrahent gehandelt habe, trete er im
Verhältnis zu seinem Committenten als Spieler und Speculant auf, und es
sei gleichgiltig, ob er zu seiner Deckung mit Dritten überhaupt ent-
sprechende Geschäfte abschliesse, und ob diese Geschäfte wieder Differenz-
geschäfte oder Effectivgeschäfte seien. Der „Commissionär" erscheint in allen
diesen Entscheidungen unter Anführungszeichen; er ist nicht Commissionär,
sondern Contrepartie des Speculanten, und die Geschäfte, welche er an der
Börse zu seiner eigenen Deckung etwa abschliesst, sind nicht die beorderten,
sondern eigene, mit einem Hintermann abgeschlossene Geschäfte. Allein
auch ein zweites Argument hat das Reichsgericht in Bereitschaft. Wenn
nämlich trotz der wirklichen Ausführung an der Börse das Reichsgericht
dennoch zur Ueberzeugung gelangt, dass der Committent den wirklichen Bezug
ausgeschlossen habe, so habe eben der Commissionär einen Auftrag aus-
geführt, der hier nicht als solcher gemeint war. Er habe etwas gethan»
wozu er in Wirklichkeit gar nicht beauftragt gewesen und könne aus einem
solchen nur scheinbar, in Wirklichkeit aber nicht beorderten Geschäfte,
keinen Ersatz seiner Auslagen fordern.
Dieser Rechtsprechung mussten sich schliesslich alle deutschen Ge-
richte, etwa mit alleiniger Ausnahme des hanseatischen Oberlandesgerichtes,
und auch die Literatur beugen. Sie galt im Reiche als geltendes Recht und
wurde im § 764 des neuen bgl. Gesetzbuches recipiert. Inzwischen hat
freilich die deutsche Börsenreform das Börsenrecht von Grund auf geändert
und eine ganz neue Gestaltung der Verhältnisse hervorgerufen.
Gleichzeitig wie im deutschen Reiche hatte auch bei uns die Recht-
sprechung eine jähe Aenderung vollzogen. Auch in Oesterreich wurden wohl'
Differenzgeschäfte häufig als Spiel und Wette angesehen. Auch wir hatten
und zwar mehr als jeder andere Staat, unter der vollkommenen Unsicher-
heit der Rechtssprechung zu leiden, als die Krise des Jahres 1873 herein-
1) A. a. 0. U. V. 17. Juni 1893, S. 38, „Der rechtliche Charakter der Geschäfte,
die der Kläger festgestelltermaassen als Commissionär abgeschlossen und reell ausge-
führt hat, kann durch den etwaigen unlauteren Bewegungsgrund, aus welchem der Be-
klagte, Auftrag zu den Geschäften gegeben haben will, überhaupt nicht beeinflusst sein."
Der Spieleinwaiid bei Börseii-Speculationsgeschäften. I77
brach und die Speculanten, vor die Alternative gestellt, ihr ganzes Ver-
mögen oder ihre geschäftliche Ehre preiszugeben, sich häufig für das Letztere
entschieden. Die beispiellose Erschütterung von Treu und Glauben, welche
sich unter anderm darin zeigte, dass an einem einzigen Tage sich damals
an der Wiener Börse 120 Speculanten für insolvent erklärten^), zeigt, in
welcher Weise damals die Unsicherheit der Judicatur zur Verschärfung des
üebels beitragen musste. So schritt die Regierung zur Vorlage eines
Börsengesetzes, dessen wichtigste Bestimmung dahingeht, dass bei Börsen-
geschäften, das heisst Geschäften, welche von Börsenbesuchern an der Börse
zur Börsenzeit über an der betreffenden Börse notierte Verkehrsgegenstände
abgeschlossen wurden, der Einwand, dass ein als Spiel oder Wette zu be-
urtheilendes Differenzgeschäft vorliege, gänzlich unstatthaft sein solle. -)
Die Motive und die Debatte in den beiden Häusern des Parlamentes
bieten wenig des Interessanten. Bei dieser wichtigen Vorlage war offenbar
der Eindruck ihrer absoluten Nothwendigkeit ein so tief empfundender,
dass man kaum ,eine eingehende Erörterung ihrer Principien versuchte.
Im Abgeordnetenhause sprachen zur Sache bloss Dr. K r 0 n a w e 1 1 e r,
der Abgeordnete N e u w i r t h und der Referent Dr. Max M e n g e r. Die
Judicatur des österreichischen obersten Gerichtshofes blieb bis zum Jahre
1892 so ziemlich dieselbe, ^) Unter dem Einflüsse des Börsengesetzes machte
sich bald die Auffassung geltend, dass die Speculation der Outsider nur
einen Auftrag zur Ausführung von Börsengeschäften im technischen Sinne
begründe, einen Auftrag zum Absehluss eines Geschäftes also, dem der
Einwand von Spiel und Wette schon infolge gesetzlicher Bestimmung nicht
entgegengehalten werden kann, und dass daher der Committent immer dann
die wahre Aufwendung des Commissionärs vergüten müsse, wenn dieser den
Nachweis erbringe, dass er die Pflicht eines ordentlichen Commissionärs
erfüllt habe. Wenn der Speculant habe spielen und nicht die gekauften
Effecten wirklich beziehen wollen, so habe dies den Commissionär nicht
zu bekümmern, welcher lediglich den ihm gewordenen Auftrag aus-
führt. Es wurde von dem Committenten der Nachweis solcher that-
sächlicher Umstände der beiderseitigen Abmachung verlangt, welche die
Annahme rechtfertigt, dass es sich zwischen den beiden Streittheilen nur
um ein Spiel auf Börsendifferenzen gehandelt habe. Auch dem Umstände,
dass der Commissionär in das Geschäft selbst eintrat (gemäss Art, 376
^) Neuwirth, Speculationskrisis S. 98.
'^} §§ 12, 13, Gesetz vom 1. April 1875, Nr. 67 E.-G.-B., betreffend die Organisierung
der Börsen. Das Gesetz hat sich ausgezeichnet bewährt.
^) Krainz-Pfaft'-Ehren zweig, System, IL § 390. Stubenrauch, Commentar III.,
S, 479 f. Grünhut in Endemann a.a.O. Grünhut, „Börsen- und Maklerrecht" in seiner
Zeitsclirift, Bd. II., 9. 550 ff,, Grünhut in der „Neuen freien Presse", v. 15. Jan. 1895,
Canstein, „Lehrbuch des österr. Handelsrechts" L, S. 85 ff., 129 ff. IL, S, 246 ff. Pisko,
in derGorichtshalle, 1861, Nr. 48. Horowitz, ebenda 1897, Nr. 41 ff. Pisko, ebenda 1898,
Nr. 49, 50. Bruno Mayer, „Effectenbörsen", S. 71 ff., „Zusammenstellung der einschlägigen
Entscheidungen des k. k. obersten Gericlitshofes" in "Weishut, a. a. 0., S. 66 — 81 in Gellers
„Centralblatt", XVII S. 122 ff, Dr. Leop. Spitzer jun. in Grünhuts Zeitschr. Bd. XXIIL
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. X. Band. 12
]^78 Eosenberg.
H.-G.-B.), wird kein entscheidendes Gewicht beigelegt, dem Commissionär
nicht die Beweislast dafür auferlegt, dass er thatsächlich mit Dritten, und
zwar in Ausführung seines Auftrages und nicht bloss zu seiner Deckung
ein Börsengeschäft abgeschlossen habe, und Gewicht darauf gelegt, dass
beide Theile mit gleichem Maasse gemessen werden müssen, und es doch
sicherlich keine ernste Beachtung finden würde, wenn der Banquier sich
der Zahlung des Guthabens an den Committenten unter dem Vorgeben ent-
schlagen wollte, dass es sich nur um ein Spiel gehandelt habe.
Unter solchen Umständen hatte der k. k. oberste Gerichtshof eigentlich
keine Gelegenheit in die Frage einzutreten, wann denn ein Spiel bei Diflferenz-
geschäften vorhanden sei, weil er schon in der Einkleidung des Geschäftes
in ein Commissionsgeschäft genügenden Grund sah, um von vorneherein die
Klagbarkeit desselben anzunehmen, so dass die eigentliche Frage kaum oder
doch nur flüchtig zur Erörterung gelangte. Das änderte sich als — zweifellos
unter dem Eindrucke der Kechtsprechung des deutschen Eeichsgerichtes —
auch in Oesterreich die neue Aera in der Judicatur begann, im Frühjahr des
Jahres 1892, gestützt auf § 916 des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches,
welcher besagt, dass, Avenn ein Geschäft von gewisser Art nur zum Scheine ver-
abredet sei, es nach denjenigen gesetzlichen Bestimmungen zu beurtheilen se
nach denen es vermöge seiner wahren Beschaffenheit beurtheilt werden müsse.
Aus dieser Bestimmung des österreichischen Kechtes ergab sich die klare
Lösung vieler Schwierigkeiten, insbesondere der Frage, ob denn die Absicht
der Parteien, ein klagbares Geschäft zu begründen, es rechtfertigen lasse, dass
der Kichter ungeachtet des Wortlautes des Vertrages eine Willensüberein-
stimmung zum Abschlüsse eines unklagbaren Geschäftes annehme. Der ver-
stellte Vertrag musste nach seiner wahren Beschaffenheit beurtheilt werden.
Während das deutsche Eeichsgericht allerdings den grössten Theil seiner
Kraft darauf verwendete, nachzuweisen, dass die Absicht des einen oder
beider Contrahenten, den effectiven Bezug auszuschliessen. zum Vertrags-
inhalt geworden sei, findet man in den österreichischen Urtheilen über diesen
Umstand geringere Erörterung. Sie sind insoferne strenger als die des
deutschen Reiches, als sie den vertragsmässigen Ausschluss der effectiven
Erfüllung schon damit gegeben erachteten, dass die Absicht eines oder
beider Theile nur auf Erzielung von Coursdifferenzen ohne effectiven Bezug
gerichtet sei. Unter solchen Umständen ist es naturgemäss weitaus leichter,
ein reines Differenzgeschäft zu construieren, und sobald sich die Judicatur
mehr der Frage zuwendet, ob das Geschäft an sich ein ] eines Differenz-
geschäft sei, die Beurtheilung der ihr unterbreiteten Fälle also von innen
heraus versucht, gelangt sie auch leicht dazu, den Wall des Commissions-
geschäftes umzuwerfen, welcher sich um das Differenzgeschäft gleichsam zu
seinem Schutze erhoben hatte. In dieser Beziehung ist der österreichische
oberste Gerichtshof nicht so radical wie das deutsche Reichsgericht. Zur
Auffassung, dass, da ein Spielvertrag vorliege, der angebliche Commissionär,
der das Geschäft an der Börse ausführte, wider den Auftrag gehandelt und
etwas gethan habe, wozu er gar nicht bevollmächtigt sei, hat sich, soweit
Der Spiel einwand bei Börsen- Specalationsgesctiäften. 179
aus den vorhandenen Urtheilen ein Schluss gezogen werden kann, der oberste
Gerichtshof nicht zu bekennen vermocht. Er operiert vielmehr damit, dass
der Commissionär in der Mehrzahl der Fälle durch den Selbsteintritt in das
bestehende Spiel als Selbstcontrahent eingetreten sei, an diesem Spiele
theilgenommen habe und daher als Mitspieler angesehen werden müsse.
Wer die Dinge vom theoretischen Standpunkt aus beurtheilt, wird
diese Kechtssprechung nicht sofort begreifen können. Sie wird erst dann
klar, wenn man mit den Thatsachen rechnet und sich vergegenwärtigt, wie
in der Mehrzahl der zur gerichtlichen Austragung gelangenden Fälle der
Commissionär die ihm gegen den Committenten erwachsene Forderung beweisen
will, oder zu beweisen versucht. Da bieten die Entscheidungen des obersten
Gerichtshofes reiches Material. In der grossen Mehrzahl der verhandelten
Processe rückt der Commissionär nicht mit der Wahrheit heraus. Er
behauptet einerseits, dass er den ihm gewordenen Auftrag an der Börse
ausgeführt habe, ohne jedoch anzuführen, an wen und zu welchem Curse
er gekauft oder verkauft habe und behauptet anderseits, er sei zur genauen
Kechnungslegung darüber nicht verpflichtet, weil er gemäss Art. 376 des
H.-G.-B. als Selbstcontrahent zu gelten habe, und deshalb nur nachweisen
müsse, dass der Börsencours des betreffenden Tages in seiner Kechnungs-
legung von ihm eingehalten sei. Unter solchen Umständen musste in den
verhandelten Fällen der Gerichtshof die Ueberzeugung gewinnen, dass der
Commissionär in der That nicht so sehr als Commissionär wie als Selbst-
contrahent fungierte und in seiner Tendenz das Börsenspiel Unberufener
hintanzuhalten, verstand es der oberste Gerichtshof nun sehr wohl, den
Commissionär an seiner schwachen Stelle zu fassen. Er stellt ihn vor die
Alternative: entweder dem Committenten genaue Rechnung über die ab-
geschlossenen Geschäfte zu legen, oder es sich gefallen zu lassen, dass er
als Contrepartie seines Committenten angesehen wird, und dass dann die
von ihm etwa an der Börse abgeschlossenen Geschäfte als Geschäfte gelten,
die er für sich in seinem eigenen Interesse, um sich bei seinem Hintermann
zu decken, abgeschlossen hat. Diese Judicatur wird somit erst dann ver-
ständlich, wenn der mit dem natürlichen Eechtsgefühl und allen Rechts-
grundsätzen des codificierten Rechtes in vollem Widerspruch stehenden
Haltung Rechnung getragen wird, die der Commissionshandel beim Ein- und
Verkauf von Börseneffecten oft einnimmt. Aus der Rechtssprechung des obersten
Gerichtshofes würde man wohl mit Unrecht schliessen, dass er jedesmal,
wenn nicht der Commissionär mit der Anzeige von der Vollführung des Auf-
trages auch die weitere Anzeige verbindet, mit wem er diesen Auftrag ab-
geschlossen hat, annehme, dass er als Selbstcontrahent in das Geschäft
eingetreten sei und daher die Grundsätze von Spiel und Wette auch gegen
sich gelten lassen müsse. In Wirklichkeit ergibt sich aus den Entscheidungen
des obersten Gerichtshofes, *) welcher es z. B. in einem concreten Falle
1) Entscheidung V. 7. April 1892, Z. 1767, Sammlung Adler-Clemens Nr. 1659. Die
zweite Instanz hebt hervor, dass „Kläger mit sich selbst in Widerspruch geräth, indem er
zwar behauptet, er hätte die in Rede stehenden Käufe und Verkäufe stets sofort an der
12*
180
Kosenberg.
bemängelt, dass der Comraissionär den wirklichen Vollzug statt durch die
Führung seiner Gegencontrahenten an der Börse durch den Haupteid beweisen
wolle, oder dass der Commissionär nicht die Schlusszettel vorlege, seine Con-
trahenten nicht namhaft mache u, s, w., dass der Beweis des effectiven Vollzuges
den obersten Gerichtshof allerdings nicht gleichgiltig lassen werde. In einem
concreten Falle, in welchem der Commissionär thatsächlich den Nachweis
des wirklich erfolgten Kaufes und Verkaufes von Wertpapieren für Rechnung
des Auftraggebers nachgewiesen hat, wurde auch in der That die Ein-
wendung von Spiel und Wette für ausgeschlossen erklärt. Damit stimmt
auch die Tendenz der österreichischen Judicatur vollkommen überein. Als
die ersten Entscheidungen über die Unklagbarkeit von solchen Geschäften
sich häuften, wurde von der „Neuen Freien Presse" der damalige Präsident
des obersten Gerichtshofes Dr. von Stremayr über die Frage interviewt.
Der Präsident erklärte damals, allerdings nur für seine Person, dass es ihm
scheine, als ob die Absicht des obersten Gerichtshofes bloss dahingienge,
gewissen Ausbeutungsmanövern der Börsencomptoirs ein Ende zu bereiten,
keineswegs aber dahin, das loyale Commissionsgeschäft zu unterbinden. Das
Börse effuctuiert, es aber unterlässt, den Kaufs-, resp. Verkaufspreis anzuführen." Die
dritte Instanz beme.kt u. a., „dass die Buchung und Rechnung des Klägers keineswegs
jene Eintragungen aufweist, welche der commissionsweisen Durchführung von Käufen und
Verkäufen tntsprechen, dass lediglich zur Rechtfertigung die Coursnotierungen der
betreffenden Börsentage hei angezogen werden, dass Kläger, welcher behaupte, dass er in
Vollziehung der ihm ertheilten Aufträge die Käufe und Verkäufe auf der Börse effectiv
ausgeführt habe, über das thatsächliche Ergebnis und die hiebei erzielten Preise ordent-
lich Rechnung zu legen gehabt hätte." — Entscheidung v. 22. October 1895, Z. 9645 Adler-
Clemens, Nr. 1854. Der Commissionär behauptete selbst, als Selbstcontraheit eingetreten
zu sein, und dass er nur nachweisen müsse, dass er den Börsenpreis eingehalten iiabe.
Der Kläger ist nicht einmal Commissionshändler in Börseneffecten, sondern lediglich
Börsebesucher, der Br-klagte Arzt und Hausbesitzer. Kläger speculierte für ihn nach Gut-
dunken und konnte nicht einmal nachw>'isen, dass und an wen er die Papiere schliess-
lich verkauft hatte. Diese Entscheidung wird in der Literatur als principielle bezeichnet! —
Eine p]ntscheidung vom 12. Juni 1894. (Adler Clemens Nr. 179:^ und 1794) führt aus,
dass Kläger sich selbst als Käufer oder Verkäufer erklärt habe und nicht in der Lage
gewesen sei, mehr als 5 Schlussnoten vorzulegen, während weit mehr Geschäfte abgeschlossen
wurden. — Die Entscheidung v. 10. November 1896, Beilage zum J.-M.-V.-Bl. Nr. 1342 führt
aus, dass B, ein Commissionshändler in Schafwolle, 4000 Sack Mehl kaufte, für einen Kauf-
preis von 200.000 Francs. Vereinbart war, dass bei Realisierung des Geschältes gegenseitig
bar reguliert wird, also auch auf Seite des Oommissionärs. Die Klagsfirma behauptete
zwar, sie habe das Mehl von X gekauft und später an Y wieder verkauft, ohne aber durch
X oder Y Zeugenbeweis zu führen oder die Vertragsbriefe vorzulegen. Sie bietet nur den
Haupteid an, der ndt Recht abgelehnt wurde. — Im Falle der Entscheidung v. 10. April
1896, Z. 2-^51, (Links Nr. 4572j wurde einmal behauptet, dass die Käufe oder Verkäufe
an der Börse aus^reführt wurden, dann wurde sich wieder auf Art. 376 berufen. — In der
Entscheidung v. 16. Mai 1899, Jur. Bl lf:99, Nr. 36, heisst es wieder, die Einwendung des
Commissionsgescliäftes kön e nicht berücksichtigt werden, weil Klager nicht einmal
anführe, mit wt-m <r an der Börse abgeschlossen habe — Dagegen enthält die Ent-
scheidung vom 9. Janner 1896 (A Iler-Clemens 1865), das richtige formulierte Princip:
„Wenn der wirklich erfolgte Kauf oder Verkauf von Wertpapieren seitens des Com-
missionär»« für Rechnung des Auftraggebers nachgewiesen wird, so ist die Einwendung
des Spiels ausgeschlnssen,"
Der Spieleinwand bei Börsen-Speculationsgeschäften. 181
scheint auch, soweit man wenigstens nach den publicierten Entscheidungen
schliessen kann, bis zum heutigen Tage die Rechtsauffassung und die eigent-
liclie Tendenz der Judicatuv des obersten Gerichtshofes zu sein. Wenn das
loyale Commissionsgeschäft so selten vor der Judicatur unseres obersten
Tribunals erscheint, so ist das, so sollte man meinen, nicht die Schuld des
letzteren. Es ist hier freilich an eine Bemerkung zu erinnern, die schon
Otto Michaelis^) über die Judicatur in Börsenprocessen gemacht hat,
dass nämlich im allgemeinen doch nur die pathologischen Fälle vor den
Eichter kommen. Die Fälle aber, welche in den letzten Jahren vor die
höchsten österreichischen Richter kamen, waren oft in der That ziemlich
pathologischer Art, indem der Commissionär fast niemals in der Lage war,
die Ausführung der Geschäfte zu jenem Course nachzuweisen, den er seinem
Committenten bekannt gegeben hat. Unter solchen Umständen war der oberste
Gerichtshof nicht geneigt, die Rechtssätze über die Commissionsverhältnisse
anzuwenden, sondern behandelte den Commissionär, der mit gutem Grund
durchaus in das Geschäft selbst eingetreten sein will, in der That so, wie
wenn er die Contrepartie seines Committenten gewesen wäre.
Es gibt im grossen und ganzen drei Sorten von Commissionären: Die
erste, nicht allzu häufige, stellt der unredliche Commissionär dar, welcher
in der That die Contrepartie seines Committenten bildet, z. B. jemanden ver-
anlasst, in Effecten ä la hausse zu speculieren und das Geschäft „in sich"
macht, weil er meint, dass diese fallen werden, ein Fall über dessen Un-
redlichkeit ja wohl zumal dann allgemeine Uebereinstimmung herrscht, wenn
er den Committenten zur Speculation veranlasst und ihn beräth. ^) Die zweite
Art ist die des ehrlichen Commissionärs, welcher den Auftrag zum Ankauf
von Effecten erhält, an die Börse geht, sie anschafft und seinem Auftrag-
geber den wdrklich erzielten Cours anrechnet, indem er selbst nur die redliche
Provision des Commissionärs dabei erwerben will. Endlich gibt es eine
dritte Sorte, welche man wohl die des „pathologischen" Commissionärs
nennen kann. Ein solcher schliesst zwar das Geschäft an der Börse ab, benimmt
sich aber seinem Committenten gegenüber so als hätte er kein solches
Geschäft abgeschlossen. Er stellt ihm andere Course als die erzielten in
Rechnung und gewinnt solcherart den sogenannten „Schnitt". Es ist
begreiflich, dass dieser Commissionär, gezwungen, den Nachweis seiner
Forderung vor Gericht zu führen, mit der Wahrheit nicht herausrücken
will. Denn wenn die Geschäfte, die er mit dritten an der Börse abgeschlossen
hat, solche waren, die er im Auftrage seines Committenten schloss, er aber
dem Committenten trotzdem höhere Course in Rechnung stellte, so hat er
etwas begangen, was leicht als strafbare Handlung aufgefasst w^erden könnte.
Er muss vor Gericht behaupten, dass er jene an der Börse abgewickelten
1) Otto Michaelis, „Die wirtschaftliche Eolle des Speculationshandels" in der
Vierteljahresschrift für Volkswirtschaft und Culturgeschichte, zweiter Jahrgang, 1864.
-) Ein der Börse wohlwollend gegenüberstehender Schriftsteller, Bendixen, a. a. 0.
s;igt: „Der Commissionär ist regelmässig der Berather seines Committenten. Ich würde
nicht anstehen, es für einen Betrug zu erklären, wenn er die Contrepartie macht."
182
Kosenberg.
Geschäfte für sich selbst abschloss und dem Contrahenten gegenüber als
Selbstkäufer oder Selbstverkäufer fungierte. Damit aber ist selbstverständlich
jeder Einwand von Spiel und Wette zugelassen, das Commissionsverhältnis
ist dann nach den eigenen Angaben des Commissionärs nur der Mantel, der
die wahren Thatsachen, dass er mit seinem Committenten gespielt hat, und
die an der Börse abgeschlossenen Geschäfte nur Deckungsgeschäfte des
Commissionärs waren, verhüllen soll. Dann ist die die Klage abweisende Ent-
scheidung der Gerichte, vorausgesetzt, dass überhaupt ein reines Differenz-
geschäft vorliegt, eine vollauf gerechtfertigte. Es ist, das muss betont
werden, nicht die Schuld unseres obersten Gerichtshofes, wenn die Geschäfte
der letzteren Art die Mehrzahl jener bilden, die seiner Judicatur unterbreitet
werden, und wohl auch einen grossen Theil jener Börsencommissions-
geschäfte darstellen, welche in Oesterreich thatsächlich abgeschlossen werden.
Das pathologische Börsencommissionsgeschäit beherrscht das Verhältnis
zwischen Outsider und Broker in Oesterreich oft in sehr bedauerlicher Weise.
Wenn man diese thatsächlichen Verhältnisse berücksichtigt, so
erscheint die Judicatur unseres obersten Gerichtshofes in einem ganz andern
Lichte. Sie ist nicht mehr so sehr eine künstliche zu Tendenzzwecken vor-
genommene Zusammenfassung der Thatsachen, sondern gewissermaassen ein
Auskunftsmittel gegenüber dem Lug und Trug, der Unmoral, die das
Commissionsgeschäft häufig umgibt. Hier ist wohl auch der Punkt, wo der
Ansatz für eine gesetzliche Eegelung der ganzen Frage gegeben ist.
Fragen wir nach den praktischen Folgerungen, die sich aus der
Judicatur des obersten Gerichtshofes ergeben, so herrscht heute über viele
Fragen keine Meinungsverschiedenheit mehr. Es ist feststehend, dass die
unklagbare Spielschuld nicht die Basis einer Anerkennung, einer Novation,
einer Bürgschaft geben könne, dass einem zur Berichtigung ausgestellten
Wechsel, die Einwendung der nicht empfangenen Valuta entgegengesetzt
werden könne, und dass selbst Notariatsacte, welche eine Anerkennung dieser
Schuld enthalten, für rechtsunwirksam betrachtet werden müssen. Ein gericht-
licher Vergleich erscheint dagegen wirksam. In höchstem Maasse aber
streitig ist die Beurtheilung der Frage, ob und in wieweit ein Pfandrecht
für solche Forderungen giltig begründet werden kann, welche auf das
innigste mit der Beurtheilung der sogenannten Depotfrage zusammenhängen.
Das österreichische allgemeine bürgerliche Gesetzbuch hat in der Be-
urtheilung von Spiel und Wette eine mildere Haltung eingenommen als die aus-
ländische Gesetzgebung, insbesondere das französische und das preussische
Kecht. Während nach französischem Rechte, abgesehen von Wetten und Spielen,
die die Bethätigung körperlicher Geschicklichkeit zum Zwecke haben, nur
das wirklich zur Berichtigung der Spielschuld Bezahlte nicht zurückgefordert
werden kann, gilt im Gebiete des preussischen Landrechtes der Satz, dass
das im erlaubten Spiel „verlorene und wirklich Bezahlte" nicht zurück-
gefordert werden könne und bei Wetten eine gerichtliche Klage nur alsdann
zulässig sei, wenn sogleich gesetzt und entweder gerichtlich oder in die
Verwahrung eines Dritten niedergelegt worden ist. Nach österreichischem
I
Der Spieleinwand bei Börsen-Speculationsgeschäften. 183
Kechte dagegen sind Wette und Spiel insoweit verbindlich, als der bedungene
Preis nicht bloss versprochen, sondern wirklich entrichtet oder hinterlegt
worden ist. Die Berathungsprotokolle des bürgerlichen Gesetzbuches ^) gestatten
keinen Zweifel darüber, dass bei der Berathung die Bestimmungen des
preussischen Landrechtes vorgelegen sind. Man kann es also nicht einem Zufall
zuschreiben, dass die Worte „bei Dritten" vi^eggefallen sind, sondern muss auch
die Hinterlegung, welche der eine Wettende bei dem andern Wettenden vor-
nimmt, für durchaus rechtgiltig erklären, wenn man nicht dem Gesetze
gewaltsam Zwang anthun will. Die dagegen erhobenen Einwendungen, dass ja in
der Kegel nur einer im Commissionsverhältnis einsetze und doch für beide
Theile dieselben Kechtsregeln herrschen müssten, können nicht verfangen.
Denn selbst nach preussischem Kecht gilt es als zweifellos, dass, wenn auch
nur ein Theil, dort allerdings gerichtlich oder in Verwahrung eines Dritten,
hinterlegt hat, die Klage zulässig sei. Der Grund aus welchem die Bestimmung
des bürgerlichen Gesetzbuches floss, ist übrigens ganz klar und eigentlich
bereits von Zeiller mit voller Schärfe ausgesprochen worden. Das Gesetz
will verhindern, dass der leichtsinnige Spieler über seine Kräfte spielt und
sich in Schulden stürze; was er aber wohl überlegt gewagt hat, damit soll
er haften: mit dem also, was er einsetzt oder bei einem Dritten hinterlegt.
Ein weiteres Argument, dass es sich hier ja nicht um einen bedungenen
Preis handle, macht sich einer gewissen Doppelzüngigkeit schuldig. Denn
daraus, dass bei dem sogenannten reinen Differenzgeschäfte ein bestimmter
Preis überhaupt nicht bedungen ist, könnte am Ende doch nur geschlossen
werden, dass man es hier weder mit Spiel noch mit Wette zu thun habe.
Wenn man aber solche Geschäfte als Wette oder Spiel betrachtet, so muss
man implicite zugestehen, dass zum Begriff derselben ein bestimmter Preis
nicht erforderlich ist, und dass Spiele insoweit verbindlich sind, als eben
der Preis hinterlegt worden ist.^)
Führt nun diese Auffassung zunächst zu dem in den erst in der neuesten
Zeit publicierten Entscheidungen des obersten Gerichtshofes festgestellten
Ergebnis,^) dass bei Cautionen, welche in Barem als sogenannte Deckung
gegeben werden, ein Rückforderungsrecht des Spielers nicht stattfinden kann,
so bietet sie doch auch einen wichtigen Anhaltspunkt zur Beantwortung
der Frage, ob andere als Barcautionen, insbesondere Wertpapiere und Lose,
zurückgefordert werden können. Auch diese Frage dürfte nach geltendem
Rechte aus doppeltem Grunde zu verneinen sein. Einmal sind diese Wertpapiere
und Effecten eben in den concreten Fällen das, was der eine Spieler einsetzt,
^) Ofner, Urentwurf des österr. a. b. G.-B.
2) Zeiller, Commentar III., S. 670, IV., S. 16. S. 160. Stubenrauch u. Hasen-
ohr], Obl. E., I., S. 47. Kirchstetter, Commentar, S. 258, Note 13. H. M. Schuster,
G.-Z. 1900. „Juristische Blätter", Wochenschau 1900, Nr. 17, Nr. 25. Dr. Raum an n in den
„Jur Bl." 1900, Nr. 28. Dr. Hollerstein, in den „Jur. Bl." 1900, (Nr. 30). Horowitz
in der „Neuen freien Presse" vom 27. April 1900. — Allgemeines: Unger, in der „Ger.-Ztg."
1888, Nr. 33. Exner, „Oesterr. Hypolhekenrecht", S. 137.
3) Entscheidung des obersten Gerichtshofes vom 19. October 1898, Z. 9611, Gl.-U.
Neue Folge, I., 843.
184 Eosenberg.
und insoweit ein solcher Einsatz vorhanden ist und soweit er reicht, sollen
ja Spiel und Wette giltig und klagbar sein. Selbst wenn man jedoch dieser
Auffassung nicht beipflichtet, so müsste man zum mindesten zugestehen, dass
nach der Auffassung unseres bürgerlichen Gesetzbuches die Spiel- und Wett-
schuld eine sogenannte Obligatio naturalis darstelle, welche gewisse Kechts-
wirkungen entfalten kann. Wie weit diese Eechtswirkungen gehen, ist an
der Hand des Gesetzes zu beurtheilen, und da scheint es doch zweifellos
zu sein, dass das Kecht in Wahrung von Treu und Glauben im Verkehr
von der Auffassung ausgieng, dass der Schuldner das, was er an Vermögen
in den Besitz seines Gläubigers übergeben hat, von welchem er also damit
rechnen muss, dass es nicht mehr in seine Hände zurückkommt, nicht mehr
zurückverlangen könne, dass also die natürliche Obligation einer Bestärkung
durch ein Pfandrecht insoweit fähig ist, als durch die Bestellung des Pfand-
rechtes zugleich ein Vermögensstück aus der Verfügungsgewalt des Schuldners
in die des Gläubigers gelangt. Daraus ergibt sich für das österreichische
Recht die Giltigkeit des Faustpfandes an wirklichen Vermögensstücken des
Schuldners, dagegen aber auch die Richtigkeit der mit Unrecht so oft gegen
die Depotfrage ins Treffen geführten Anschauung Einers von der Ungiltigkeit
der Hypothek, weil durch eine solche hypothekarische Pfandbestellung noch
keineswegs ein Vermögensobject aus der Gewalt des Schuldners in die des
Gläubigers gelangt, demnach der Schuldner bei der Ausstellung einer
Hypothekarurkunde keineswegs im vollen Bewusstsein der Sachlage gehandelt
haben muss.
Damit wären die Rechtsfolgen der modernen Judicatur in den Börsen-
differenzprocessen so ziemlich klar gelegt. Offen bleibt aber die Frage nach
den wirtschaftlichen Folgen, welche ungleich wichtiger zu sein scheinen.
Die grosse Frage ist die, ob zunächst die Tendenz der Judicatur, die
Abschreckung Unberufener vom Börsenspiel, erreicht wird. Hier muss man
unterscheiden. In ruhigen Zeitläuften, namentlich in denjenigen, in welchen
•solche Börsenoperationen kaum häufig zu tragischen Ergebnissen führen,
wird durch die Unklagbarkeit derselben wohl nur ein verschwindend geringer
Theil von Commissionären abgeschreckt, solche Geschäfte zu machen, und
die Geschäfte, welche von jenen Vorsichtigem nicht gemacht werden, dürften
zum weitaus grössten Theile in scrupellosere Hände übergehen. Das Ver-
trauen auf Treu und Glauben, auf Einhaltung des gegebenen Wortes ist
etwas, was aus dem Rechtsleben, man muss wohl sagen, glücklicher Weise,
nicht zu verbannen ist. Den Spieleinwand erheben auch erfahrungsmässig
nur wenige Personen, und auch diese nur dann, wenn sie bereits so namhafte
Verluste erlitten haben, dass ihr Vermögen ohnedies kaum mehr ausreichen
würde, um dem Ansturm aller andrängenden Börsengläubiger standzuhalten.
Diese vollziehen dann die capitis deminutio und wollen sich mit den Resten
ihres Vermögens zurückziehen, oder vielmehr sie drohen jene capitis
deminutio an. Die Einwendung von Spiel und Wette wird in der ungeheuren
Mehrzahl der Fälle gar nicht gerichtlich erhoben, sondern nur angedroht,
um zu einem Ausgleich zu gelangen. Das Börsenspiel wird dadurch aber
Der Spieleinwand bei Börsen-Speculationsgeschäften. I85
kaum vermindert, zumal wenn die Deckung, wie nach österreichischem Kecht
kaum anders möglich, nicht zurückgefordert werden kann. Die Unklagbarkeit
dient dann nur dazu, den Commissionär wachsam zu erhalten, bis die
Deckung erschöpft ist, so dass er dann auf sofortigem Nachschuss besteht,
und wenn dieser nicht geleistet wird, umso schneller seinen Committenten,
wie der bekannte Ausdruck lautet, „aus dem Engagement wirft." In scheinbar
günstigen volkswirtschaftlichen Perioden, in welchen die Course in die Höhe
gehen, und das Geld sozusagen auf der Strasse zu liegen scheint, werden
alle Dämme durchbrochen, welche der Betheiligung des Publicums an der
Speculation im Wege stehen. Ein Theil des speculierenden Publicums würde
es geradezu als Unrecht betrachten, würde es ihm verwehrt an jenen
Operationen theilzunehmen, durch welche zur Zeit einer glücklichen Conjunctur
die Börseleute grosse Reichthümer anhäufen können. Es betrachtet das
Eecht auf Zulassung zum Börsenspiel gewissermaassen als angeborenes
Menschenrecht, das sich verkümmern zu lassen, es unter keinen Umständen
gewillt ist. Anders steht freilich die Sache, wenn die grosse Baisse ein-
getreten ist und die Operationen liquidiert werden müssen. Auch hier zahlen
die meisten Schuldner, solange sie irgend können, schon aus dem Grunde,
weil sie weiter speculieren wollen. Erst wenn sie nicht mehr können, oder
wenn sie in Concurs verfallen sind, wird der DifferenzeinAvand so recht
eigentlich erhoben, abgesehen von jenen in der That verachtungswürdigen
Individuen, welche den empfangenen Diflferenzgewinn einstreichen, und wenn
sie verloren haben, den Spieleinwand erheben.
Gerade in Zeiten der grossen Baisse aber ist dieser Einwand von
allgemeiner volkswirtschaftlicher Gefahr. Seine Zulassung hätte nur dann
einen Wert, wenn sie vom Spiele abschreckte. Wenn aber dies nicht geschah,
verschärft sie nur die Krise. Ein classisches Beispiel bietet der in Naquets
Bericht erwähnte Verlauf der Bontoux-Krise, Als die Course abzubröckeln
begannen und die agents sahen, dass ihre Auftraggeber die exception de
jeu entgegensetzten, suchten sie ihre Verluste zu beschränken. Sie wiesen
neue Aufträge ä la hausse ab und zwangen jene Haussiers, welche die
Liquidierung ihrer Position verweigerten, dies dennoch zu thun, indem sie die
Effecten nicht mehr in Kost nahmen. Dadurch fand die Contremine an der
Börse, als sie sich decken wollte, keine Contrepartie und die Course fielen
ins Bodenlose, weit mehr als sie sonst gefallen wären. Der Bericht fügt bei,
dass die Verluste des Publicums ungleich geringer gewesen wären, wäre
das Parquet nicht zu solchem Verhalten gezwungen gewesen. Das leuchtet
auch ein. Wenn zur Bestürzung und Nervosität der Krise sich noch die
Untreue gesellt, so muss ein allgemeines Debäcle die Folge sein, das, wie
man in Oesterreich aus trauriger Erfahrung weiss, sich nicht auf die Börse
beschränkt, sondern die gesammte Volkswirtschaft erfasst. Eine gute
Gesetzgebung muss, zumal hier, sociale Hygiene und nicht Repression
treiben.
Die Judicatur über das Börsenspiel ist an sich juristisch kaum voll-
kommen haltbar. Denn es ist kaum anzunehmen, dass mit Ausnahme der
186 Rosenberg.
des Börsenwesens ganz unkundigen Personen irgend jemand, der sich in
solche Speculationen einlässt, wirklich glauben könne, dass er mit den
Papieren selbst gar nicht das Mindeste zu thun habe und dass die effective
Lieferung vertragsmässig ausgeschlossen sei. Das kommt gerade bei den
einigermaassen eingeweihten Speculanten, wie schon das hanseatische Ober-
landesgericht zutreffend ausgeführt hat, in der That gar nicht vor. Damit
fällt aber die Theorie von Spiel und Wette in ihrer Anwendung auf
Börsenspeculationen vollkommen hinweg. Es fehlt ihr, wenn auch durchaus
nicht an einer wirtschaftlichen, so doch an einer juristischen Kechtfertigung,
sie arbeitet mit einer Fiction, welche den Thatsachen in der That häufig
entgegen ist. Sie ist nichts anderes als ein Act der Nothwehr der Judicatur
gegenüber den Ausschreitungen und der maasslosen Ausbeutung und Ver-
führung des Publicums durch die Börsenspeculation, ein Mittel, durch
welches man die Commissionäre dazu zu veranlassen hofft, dass sie wegen
des grossen Eisicos des Geschäftes, mit Unberufenen Börsengeschäfte nicht
nicht mehr eingehen. Dass diese Speculation verfehlt ist, zeigt das wirt-
schaftliche Leben.
Damit muss naturgemäss die Frage aufgeworfen werden, ob es denn
nicht andere Mittel, sei es der Gesetzgebung, sei es der Judicatur gebe, um der
Börsenspeculationen Unberufener Herr zu werden. Die Einschränkung auf
„Unberufene" wird man wohl machen müssen, wenn man von dem über-
wiegenden Vortheile der legitimen Fondsspeculation für die Lenkung der
Capitalskraft einer Nation überzeugt ist^) und auch den Speculationshandel in
sonstigen Gütern, welche einer Weltconjunctur unterliegen, für vortheilhaft hält,
um die Consumenten nicht bloss der Nachtheile, sondern auch der Vortheile
dieser Conjunctur theilhaftig werden zu lassen, und die Bildung schädlicher
Cartelle und Einge zu verhindern. Es ist aber zweifellos Aufgabe der Gesetz-
gebung, das Börsenspiel Unberufener zu verhindern, nicht nur weil diese
auf die Preise einen unberechtigten Einfluss ausüben, sondern vor allem
weil es Aufgabe des Staates ist, soweit dies ohne allzugrosse Eingriffe in
die Freiheit des einzelnen möglich ist, ihn, insbesondere aber seine Familie,
vor den Folgen seines eigenen Leichtsinnes, welcher sich mit besonderer
Unerfahrenheit in unbekannte Geschäfte mengt, zu hüten. Wer es praktisch
mit angesehen, wie ein solcher durch Verführungskünste zum Börsenspiel
Ueberredeter, sein Vermögen und das seiner Frau und Kinder zum Opfer
bringt, dabei seiner ehrlichen Arbeit nicht mehr mit Euhe nachzugehen
weiss, weil ihr Erträgnis für ihn im Vergleich mit den Schwankungen des
Börsenspiels nicht mehr in Betracht kommt, der wird nicht verkennen, dass
die Pflicht des Staates, hier nach Kräften einzugreifen eine geradezu unab-
weisliche ist. Ein Einschreiten des Staates ist nun bereits von dem deutschen
Börsengesetz versucht worden, welches, soweit es nicht den Terminhandel
aufheben will, auch von dem hier vertretenen Standpunkt aus, nach seinen
Absichten als vollkommen richtig bezeichnet werden muss. Drei Mittel
^) Michaelis, a. a. 0. Proudhon, „Manuel du spcculateur de la bourse."
Der Spieleinwand bei Börsen-Speculationsgeschäften. . 187
müssen combiniert zur Anwendung kommen, um die Ausschreitungen der
Speculation durch Unberufene zu verhindern.
Das erste Mittel richtet sich gegen diejenigen, welche das Publicum
zum Spiele verlocken. Die Gesetzgebung hat in diesem Falle Mittel zu
wählen, welche an sich nicht unmoralisch sind und zugleich verliindern,
dass im Falle einer ungünstigen Conjunctur sich die Schuldner plötzlich
ihrer Verpflichtungen zu entledigen suchen, wodurch die die Volkswirtschaft
drohende Krise ungemein verschärft wird. In dem Kampfe gegen die Börse
vergessen ja die Gegner derselben so häufig, dass mit jedem Euin der Börse,
welche die allerdings vielleicht entartete Krone unseres Wirtschaftsgebäudes
darstellt, auch die ganze Volkswirtschaft auf das empfindlichste getroffen
wird, wie alle Erfahrungen zeigen. All' diejenigen Mittel, welche einen Zu-
sammenbruch der Börse herbeiführen können, sind daher von vornherein
höchst gefährlich, sind ihrerseits nichts anderes als Glücksspiele der Gesetz-
gebung, welche zwar gut ausfallen können, aber wenn sie schlecht endigen,
den grössten Schaden stiften. Die Mittel, Avelche die Gesetzgebung ver-
wendet, sollen daher den Verkehr nicht belästigen und den Börsenverkehr,
soweit er irgend auf loyalem Grunde steht, nicht einschränken.
unter diesen Voraussetzungen ergibt sich ein dreifaches System von
Maassnahmen, welche die Gesetzgebung treffen kann, um das Börsenspiel
Unberufener, soweit als irgend möglich, einzuschränken. Vor allem muss
man im Wege der Gesetzgebung auf jene Personen einwirken, deren Ver-
mittlung sich das Publicum beim Börsenspiel bedient : die sogenannten
Commissionshäuser und Banken. Die Gewinne, welche diese aus der Be-
friedigung der Spielsucht des Publicums ziehen, sind wie ja in der Literatur
bereits vielfach nachgewiesen worden ist, geradezu ausserordentlich hoch. ^)
Dabei kann man von der gewiss nicht zahlreichen Gruppe derer absehen,
die die Geschäfte pur et simple in sich machen und den erhaltenen Auf-
trag einfach nicht ausführen, sondern die Contre-Partie ihrer Auftraggeber
bilden. Allein auch abgesehen von dieser wenig zahlreichen Schar der Com-
missionäre, muss man erwähnen, dass der Commissionär mit Hilfe des
Schnittes, den die mathematisch gebildeten Banquiers der Berliner Börse
den , goldenen" Schnitt zu nennen pflegen,^) sich auf Kosten des bei ihm
spielenden Publicums in geradezu ungemessener Weise bereichern kann.
Er braucht dabei das Publicum nicht direct und sans phrase zu betrügen,
wie es immer dann der Fall wäre, wenn er seinem Committenten einen
höhern Cours anrechnet, als am Börsentage überhaupt vorgekommen ist,
sondern er hat in den täglichen Schwankungen der Course am Börsentage
eine gewisse Latitude bei der Aufrechnung von Coursen, innerlialb welcher
er mit grösserer oder geringerer Freiheit sich bewegt, je nach seinem eigenen
Charakter, dem Ansehen seiner Firma und der Geschäftsgewandtheit des-
jenigen, für den er Aufträge vollführt. Der Gewinn, den solcherart viele
1) Vgl. die Abhandlungen Eschenbachs, Grünhuts a.a.O. Goldscbmidts a.a.O.
2) Lüb, die Wirkungen des Börsengesetzes in Conrads Jahrbüchern, III. F.,
13. B., S. 725.
;l 38 • Kosenberg.
Commissionäre einheimsen, ist im Verhältnis zur Mühewaltung bisweilen
ausserordentlich gross, und man geht gewiss nicht fehl, wenn man annimmt,
dass die Erwartung solch grösserer mühelos erzielter Gewinne sie veranlasst,
keine Auslagen der Geschäftsregie zu scheuen, um das Publicum zum Börsen-
spiel zu veranlassen und selbst das Risico der Klaglosigkeit auf sich zu
nehmen. Der mit dem Betriebe der Börse unbekannte Outsider weiss dabei
nicht einmal, wieviel der Commissionär an ihm verdient, und gibt sich oft
sogar dem Glauben hin, dass dieser mehr aus Gefälligkeit, als um die ge-
ringe Provision zu verdienen, für ihn Geschäfte an der Börse entrierte. Dieses
Verhältnis, das von durchaus ungesunder Art ist, muss im Wege der Gesetz-
gebung geordnet werden. Es muss endlich klar werden, dass der Commis-
sionär zu seinem Committenten in einem Treueverhältnis steht, dass er in
der That und nicht bloss im Buchstaben des Paragraphen das Interesse
seines Committenten mit der Sorgfalt eines ordentlichen redlichen Kauf-
mannes zu wahren hat, und dass auch dann, wenn er von dem Selbstein-
tritte Gebrauch macht, ihm damit noch nicht die Freiheit gegeben ist,
welche bei Käufen und Verkäufen nach einer in letzter Zeit viel citierten
Pandectenstelle den Contrahenten zusteht, die Freiheit sese circumvenire et
circumscribere. Könnte man das nach Goldschmidt sehr bedenkliche
Selbsteintrittsrecht des Commissionärs gänzlich aufheben ^) und ihn dazu
verhalten, erforderlichenfalls durch Vorlage seiner Handelsbücher Rechen-
schaft über die Ausführung eines jeden Auftrages zu geben, so Aväre ver-
muthlich das Börsenspiel in kurzer Zeit gar sehr eingeschränkt, zumal in
den am meisten verabscheuungswürdigen Fällen. Denn jeder Commissionär
würde es sich sehr überlegen, unerfahrene Frauen oder etwa geschäftsunkun-
dige Officiere zum Börsenspiel zu veranlassen, wenn er wüsste, dass ihm
für diese Handlungsweise, denn doch nichts anderes als eine magere Pro-
vision in Aussicht stehe.
Es ist nun Aufgabe der Gesetzgebung, welche hier nicht mit einem
plötzlichen Sprung vorgehen kann, wenn das Selbsteintrittsrecht des Com-
missionärs nicht völlig aufgehoben werden kann, doch die Möglichkeit
des Coursschnittes thunlichst zu benehmen, was nach dem Vorbilde des neuen
deutschen Handelsgesetzes leicht möglich ist. Der Commissionär ist nach
deutschem Rechte verpflichtet, beim Selbsteintritt den Nachweis zu führen,
dass der zur Zeit der Ausführung der Commisskn bestandene Börsen- oder
Marktpreis von ihm eingehalten wurde. Als Zeit der Ausführung gilt der
Zeitpunkt der Abgabe der Anzeige von der Ausführung. Ist die Ausfflhrungs-
anzeige erst nach dem Schlüsse der Börse abgesendet, so darf der berech-
nete Preis für den Committenten nicht ungünstiger sein als der Schluss-
cours. Soll die Commission zu einem bestimmten Course, erster, Mittel-
oder letzter Cours, ausgeführt werden, so ist der Commissionär ohne Rück-
sicht auf die Zeit der Absendung der Ausführungsanzeige diesen Cours dem
• ^) Vgl. Grünhut, Mäkler- und Coramissionsgeschäft in Endemanns Handbuch,
IlL, S. 251 ff.
Der Spieleinwand bei Börsen-Speculationsgescliäften. 189
Committenten in Kechnung zu stellen verpflichtet. Aus dem Gesetze ergibt
sich aber auch, dass der Commissionär dem Committenten den günstigem
als den Preis zur Zeit der Absendung der Ausföhningsanzeige anzugeben
hat, wenn er bei Anwendung pflichtgemässer Sorgfalt die Commission zu
diesem günstigere Preise ausführen konnte. Wenn der Commissionär endlich
vor der Absendung der Ausführungsanzeige aus Anlass der ertheilten Com-
mission an der Börse ein Geschäft mit einem dritten abgeschlossen hat, so
darf er dem Committenten keinen ungünstigere, als den hiebei erzielten
Preis anrechnen. Damit soll das Speculieren auf dem Rücken des Com-
mittenten getroffen werden; der Commissionär kauft ein Papier an der BörsQ
und erklärt dann, wenn der Cours gestiegen ist, er habe dieses Geschäft
für sich gemacht und gebe nunmehr von sich seinem Committenten die
Effecten zum gestiegenen Course ab. Besonders wichtig ist die Bestimmung,
dass der Commissionär, der die Ausführung der Commission anzeigt, ohne
ausdrücklich zu bemerken, d;iss er selbst eintreten wolle, hiemit die Er-
klärung abgibt, dass die Ausführung durch Abschluss des Geschäftes mit
einem dritten für Rechnung des Committenten erfolgt sei. Daraus ergibt
sich die Verpflichtung des Commissionärs, die Ausführung des Geschäftes
im etwaigen Processe ausdrücklich nachzuweisen.
Es kann einem Zweifel nicht unterliegen, und wird auch allseitig zu-
gegeben, dass durch solche Bestimmungen die Gewinne aus den Commis-
sionsgeschäften gar sehr beschnitten werden ^) und damit ist von selbst
gesagt, dass ein geringerer Reiz für die Commissionäre besteht, das Publicum
zum Börsenspiel zu veranlassen. Es mag ja sein, dass die Commissionäre
unter solchen Umständen die Provision erhöhen würden, die heute fast nur
mehr decorative Bedeutung hat, weil sie gegenüber dem Schnitt oft fast keine
Rolle spielt. Allein eine annähernd so hohe Provision, dass sie den Ausfall
am Schnitte zu decken vermöchte, wird das Publicum nie bewilligen und
vor allem würde das Publicum die höhere Provision doch zweifellos nur
den solidem, wohlangesehenen Bankhäusern bewilligen, während jetzt das
Umgekehrte der Fall ist, da den höhern Schnitt das minder solide, minder
anständige Bankhaus macht. Schon das wäre ein wesentlicher Fortschritt,
da hiedurch das Commissionsgeschäft in bessere Hände käme.
Eine zweite gesetzgeberische Maassnahme ist die der Bestrafung der-
jenigen, welche andere gewohnheitsmässig in gewinnsüchtiger Absicht unter.
Ausbeutung ihrer ünerfahrenheit oder ihres Leichtsinnes zu Börsenspecu-
lationsgeschäften verleiten, die nicht zu ihrem Gewerbebetriebe gehören.
Die Verleimng der Outsiders soll unter Strafe gestellt werden, wenn sie
in der angegebenen Weise geschieht. Das hat schon der deutsche Jinisten-
tag im Jahre 1893 beantragt, und wenn die Vorschriften des Gesetzes
scharf und präcise formuliert werden, so ist <»uch die Gefahr eines Miss-
brauches nicht leicht möglich.
Doch wäre der Hauptwert auf civilrochtliche Bestimmungen zu legen.
Hier empfiehlt sich allerdings wohl kaum das Vorgehen des deutschen
^) Lob, a. a. 0. ••
190 Kosenberg.
Gesetzes, welches aus der Eeihe der Volksgenossen diejenigen heraushebt,
welche Termingeschäfte giltig abschliessen können, und eben dadurch diese
mit einem gewissen Stigma behaftet. Der Grundgedanke des deutschen Ge-
setzes, dass nämlich solche Speculationsgeschäfte bei gewissen Personen
etwas vollkommen Gestattetes und Erlaubtes sein sollen, bei andern aller-
dings höchst bedenklich erscheinen, ist aber ein durchaus gesunder Gedanke.
Im modernen Staate besteht zwischen den einzelnen Volksschichten infolge
der Einwirkung einer verfeinerten Cultur, der verschiedenartigen Erziehung
und Lebensbeschäftigung eine Differenzierung in der Erkenntnis und dem
Verständnis wirtschaftlicher Dinge, welche die früheren staatlichen Gemein-
schaften und daher auch ihre Gesetzgebungen wohl kaum in ähnlichem Maasse
kannten. Der Grundsatz der allgemeinen Kechts- und Handlungsfähigkeit
und der Gleichheit aller vor dem Gesetze kann daher nur zu häufig dazu-
führen, dass jene, welche von Geschäften bestimmter Art gar nichts ver-
stehen, die „rustici'' könnte man nach dem Vorbild des römischen Rechtes
sagen, die Opfer der in solchen Geschäften Wohlbewanderten werden, die
ihr ganzes Leben dazu verwenden, die Speculation und ihre Anwendung
praktisch zu erproben. Wenn nun die Gesetzgebung erklärt, dass sie jene
„rustici" von derartigen Geschäften ausschliessen wolle, so übt sie aller-
dings damit eine Art Vormundschaft über dieselben aus, aber eine durchaus
Avohlthätige, in deren eigenem Interesse gelegene, da von den zahlreichen
Outsiders zwar schon viele ihr ganzes Vermögen durch solche Geschäfte einge-
büsst haben, kaum irgendjemand aber ein Vermögen an denselben auf die Dauer
erworben hat. Es ist, das lässt sich nicht leugnen, eine Beschränkung der
Handlungsfähigkeit, gleichwie wenn man etwa die allgemeine Wechselfähig-
keit beseitigen wollte, aber von vornherein kann an einem solchen Gedanken
nichts Absurdes gefunden werden, und es kommt hier in der That auf den
Culturzustand eines Volkes, auf sein Verständnis in wirtschaftlichen Dingen,
auf seine kaufmännische Schulung an. Die Aufgabe der Gesetzgebung
könnte den Kreis derjenigen Personen auswählen, welche Börsenspeculations-
geschäfte nicht abschliessen dürfen. Die Kriterien hiezu sind nicht schwer
zu finden. Zu Börsenspeculationsgeschäften sind Personen nach ihrem Ver-
mögen oder nach ihrem Berufe geeignet, wenn sie sonst dazu Lust em-
pfinden. Man müsste daher Börsenspeculationsgeschäfte für ungiltig erklären,
wenn sie in einem offenbaren Missverhältnis stehen zur Berufsstellung und
zur Vermögenslage des einen der Contrahenten, und wenn dieses Missver-
hältnis dem andern Contrahenten bekannt war, oder bei Anwendung der
Sorgfalt eines ordentlichen und redlichen Kaufmannes doch hätte bekannt
sein müssen. Während für die Effectenbörse diese Vorschriften genügen
dürften, könnte man für die Warenbörsen noch weiter gehen und alle jene
Geschäfte für ungiltig erklären, welche mit dem Berufe oder dem Umfange
des Betriebes des betreffenden Contrahenten in einem auffälligen Missver-
hältnisse stehen. Dadurch würden mit einem Schlage aus dem Kreise der
Speculatiten diejenigen ausscheiden, welche als Unberufene bezeichnet werden
müssen, und welche daher nicht nur ihr eigenes Vermögen verlieren, sondern
Der Spieleinwand bei Börsen-Speculationsgeschäften. 191
auch durch ihre unberechneten, in der That den Charakter eines blossen
Glücksspiels tragenden Operationen, die Preise ohne thatsächlichen Hinter-
grund beinflussen. ^)
Die Gesetzgebung darf es niemals aufgeben, die Speculation der Un-
berufenen an der Börse zu bekämpfen. Es liegt in der Schwäche der mensch-
lichen Natur, indem in der Bevölkerung wohnendem Spieltriebe, der zumal
in Oesterreich ja eigentlich durch Jahrhunderte gezüchtet wurde, dass das
niemals gänzlich wird gelingen können. Denn je geringer der Erfolg der
ehrlichen Arbeit ist, desto unbezähmbarer wird die Sucht, durch Specu-
lation mit einem Schlage reich zu werden. Wenn die Gesetzgebung jedoch
auf der angedeuteten Bahn fortschreitet, so darf man wohl voraussagen, dass
ihre Bestimmungen gewiss nicht ein Schlag ins Wasser sein würden, weil
sie der sittlichen Anschauung des Volkes und insbesondere auch der Börsen-
kreise entsprechen würden, die die Speculation Unberufener officiell stets
als schädlich bezeichnet haben. Ein solches Gesetz unter strenge, eventuell
auch strafrechtliche Sanctionen gestellt, würde wohl auch befolgt werden.
Seine Erlassung aber liegt im wohlverstandenen Interesse der Börse selbst.
Der geltende Zustand kann unmöglich weiter bestehen, und auch die Börsen-
kreise müssen wünschen, dass für die Outsider und für sie selbst klares,
unzweideutiges Recht geschaffen werde. Der gesunde Verkehr aber kann
durch solche Rechtsvorschriften nicht beirrt werden, denn gesund ist jeder
Verkehr nur, soweit er auch sittlich erlaubt ist.
^) Vgl. die Ausführungen des Experten Dr. Julius Landesberger in der von
dem k. k. Ackerbauministeriurn im Jahre 1900 einberufenen Enquete, betreffend die
Keform des börsemässigen Terminhandels mit landwirtschaftlichen Producten.
VERHANDLUNGEN DER GESELLSCHAFT
ÖSTERREICHISCHER VOLKSWIRTE.
C, Cl. und eil. Plenapvensammlung.
Die erste Plenarversammlung des Jahrganges 1900/1901 (23. October 1900)
war der Tariffrage, insbesondere den Kolilentarifen und der Stellung der
Eisenbahntarife in den Handelsverträgen gewidmet. Der Vortragende,
Üerr Alexander Freud, zeigte, um wie viel höhere Kohlentarife die österreichische
Industrie tragen muss als die deutsche. Schuld daran sei, abgesehen von den
höheren Einheitssätzen, namentlich die Vielheit der für einen Transport in
Betracht kommenden Bahnverwaltungen, da die Degression des Staffeltarifes
beim Wechsel der Bahn jedesmal unterbrochen wird; ferner siei in Oesterreich
nicht, wie in Deutschland, jeder Verfrachter vor dem Kohlentarif gleich, sondern
es haben verschiedene Tarife Geltung; je nach der Bahn, welche benützt werden
muss, und je nach dem Nachlasse, der vom bezogenen Quantum abhängt. Doch
sei es schwer gegen diese Uebelstände anzukämpfen.
Eine lebhafte Discussion entfaltete sich am 6. November in der 101. Plenar-
versammlung über die bosnischen Bahnen. Nach kurzen Ansprachen des Vor-
sitzenden Herrn Prof. Dr. v. Philippovich und des Herrn Hofrath Ritter
V. Viikovic erstattete Herr Ingenieur Czepelka sein Eeferat. Er warf einen
kurzen Eückblick auf die ersten Anfänge der Eisenbahnen Bosniens, zeigte, wie
es Ungarn gelungen ist, das ganze bosnische Eisenbahnnetz ausschliesslich nur
an die ungarischen Staatsbahnen anzugliedern und dadurch den ganzen Verkehr
mit Bosnien an sich zu reissen, schilderte, welch entscheidende Wichtigkeit für
Dalmatien es habe, dass diesmal die österreichische Regierung auch österreichische
Politik treibe. Da auch die anderen Redner, Herrenhausmitglied Graf Harrach,
Dr. Rudolf Kobatsch, Dr. Victor v. Kraus, Hofrath Prof. Dr. v. Schrötter,
Dr. Skarica und H. Dimitrievic (Sarajevo), wärmstens für die Verbindung der
bosnischen Bahnen mit Spalato eintraten, so kann die Verhandlung als ein
einstimmiger, energischer Protest gegen die seither wirklich eingeschlagene
Regierungspolitik angesehen werden.
In der 102. Plenarversammlung am 27. November 1900 hielt Herr
Dr. Wilhelm Rosenberg über den Spieleinwand bei Börsengeschäften
C, CI. und CIL Plenarversammlung. 193
einen Vortrag, der in etwas erweiterter Form in diesem Hefte der Zeitschrift
publiciert ist.
lieber diesen Vortrag wurde in der 103. Plenarversammlung eine eingehende
Discussion abgeführt.
Herr Director Hamm erschlag wendet sich dagegen, dass reine Diflferenz-
geschäfte als Spiel oder Wette aufzufassen seien. Es fehle durchaus der in den
Judicaten immer wieder erscheinende berühmte „Stichtag'*. Man könne zur Unter-
scheidung des Differenz- vom reinen Spielgeschäfte weder auf die Gattung des
Papieres, noch auf die Lebensstellung des Käufers, noch auf dessen Vermögen
oder die Höhe der Umsätze abstellen. Die Gerichte gehen immer weiter in der
Supposition, es liege ein dissimuliertes Spiel vor.
Hammerschlag bezeichnet die Judicatur als durchaus nicht maassvoll
besonders seitdem die Gerichte den Differenzeinwand gegen den Commissionär
auch dann zulassen, w^enn dieser die Ausführung des Auftrages bei einem Dritten
nachweist. Der Differenzeinwand sei unmoralisch, gefährlich und nutzlos.
Dr. Horowitz führt aus, man müsse das Gebiet für den Differenzeinwand
genau begrenzen. Heute habe jedermann eine Freiprämie auf Gewinn verbunden
mit einem Eechtsschutz für Verlust. Die technischen Börsengeschäfte müssten
stets klagbar bleiben. Der Differenzeinwand sei nur zu geben : 1. für ausserhalb
der Börse abgeschlossene Geschäfte, wenn der Contrahent zwar ein Berufs-
zugehöriger aber weder Börsenmitglied noch Händler, Industrieller oder proto-
kollierter Kaufmann ist; 2. für Geschäfte von Berufsfremden.
Dr. Dorn sieht keinen Grund, den Differenzgeschäften die Klagbarkeit zu
nehmen; jedenfalls aber müsse die heutige Unsicherheit der Rechtslage beseitigt
werden. Es solle der Differenzeinwand für jeden ausgeschlossen sein, der einmal
aus einer Differenz einen Gewinn bezogen hat.
Herr Hugo Goldschmid vertrat den Standpunkt der Commissionäre, deren
Lage durchaus nicht so gut sei. Der Referent konnte in seinem Schlussworte
sagen, dass über die Nutzlosigkeit des Differenzeinwandes so ziemlich alle
einig seien.
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. X. Band. 13
DER BAUEENSTAND IN EUMÄNIEN,
SEINE GESCHICHTLICHE ENTWICKLUNG UND
GEGENWÄRTIGE LAGE.
VON
DR- GEORGE D. CREANGA.
1. Geschichtliche Entwicklung.
Das rumänische Volk leitet seine Abstaramnng her von der Vermischung
der durch Trajan im Jahre 107 nach Christi Geburt angesiedelten römischen
Colonisten mit den Ureinwohnern des Landes (Dacien). Infolge zahlreicher
feindlicher Angriffe zogen sich die Eumänen allmählich in die Gebirgsgegenden
zurück, und man sieht noch heut in Siebenbürgen viele Spuren der römischen
Colonisation. Der Grund und Boden wurde bei der Colonisierung an die Ansiedler
als Privateigenthum vertheilt.^) So wurden die Kumänen Ackerbauer, und sie
blieben es auch unter der wechselnden Herrschaft der Hunnen, Gepiden,
Avaren u. a., die sich das Land zeitweilig unterwarfen, und die nach der Aus-
sage des Historikers Marcelliu kaum den Pflug kannten. Wegen religiöser
Bedrückungen wanderten die Rumänen 1290 unter ihrem Führer Radu Negru
aus Siebenbürgen (Bersaland, Bezirk Fagaras) wieder aus und gründeten die
Walachai. Die Moldau wurde um 1350 von den aus Maramures (Nordwest-
Gegend von Siebenbürgen) Ausgewanderten gegründet. In beiden Gebieten hatten
sich schon früher Rumänen, die sich von den Legionen Trajans abgesondert
hatten, sowie Slaven in spärlicher Anzahl angesiedelt.^) Die Einwanderer fanden
^) Balcescu. „Istoria Romänilor sub Micliai Vit^zul" (Die Geseliiclite der Rumänen
unter Mihai dem Tapferen). Inwieweit seine Behauptung berechtigt ist, lässt sich infolge
der noch mangelhaften historischen Quellen nicht mit Sicherheit feststellen.
2) Im Jahre 1817 erklärte die Nationalversammlung derMoldau auf Grund historischer
Angaben: „Bei dem Einzug der siebenbiirgischen Auswanderer war die Moldau bewohnt,
der Grund und Boden war Privateigenthum, während der fürstliche Besitz nur aus öden,
unbewohnten Orten bestand," Diese letzte Behauptung bezeichnet der Historiker Xenopol
als unbegründet. (Xenopol: „Ttoria Romänilor" [Geschichte der Rumänen, l'Z Bände]. liier
findet man reichen Stoff, und die Verdienste des Autors sind in dieser Beziehung
unleugbar. Es ist jedoch zu beachten, dass viele seiner Behauptungen, besonders auf
wirtschaftlichem Gebiete, nicht überall stichhaltig sind.)
Der Bauernstand in Rumänien, seine geschichtliche Entwicklung etc. 195
also hier Bewohner vor und erhielten dieselben Rechte und Pflichten wie diese,
da sie weder als Sieger noch als Besiegte hier ankamen. Infolge dieser grossen
Einwanderung, wurde das Feudalsystem nicht eingeführt. Die Einwanderer suchten
in der Moldau ein friedlicheres und sorgenfreieres Leben, in der Walachei Freiheit
der Religionsübung. Wegen der grosseren Sicherheit für Leben und Besitz wurden
insbesondere die Gebirgsgegenden bevölkert. Das Flachland hingegen blieb
gewöhnlich im Besitze des Fürsten, und wurde besonders zu Geschenken an
Klöster und an Günstlinge verwendet. Die Grösse des fürstlichen Grundbesitzes
kann indes nicht bedeutend gewesen sein ; denn wenig später berichten die
Urkunden, dass die Fürsten Grundstücke von Privaten ankauften, um sie als
Geschenke und Belohnungen zu verwenden, eine Thatsache, die für die
Entwicklung des Steuerwesens von grösster Bedeutung gewesen ist. Aber auch
das Flachland wurde allmählich bevölkert, theils infolge der starken Vermehrung
der Gebirgsbewohner, von denen viele nach der Ebene zogen, theils durch
Colonisierung. So zogen z. B. im Jahre 1320 beim Einfall der Türken viele
Rumänen von Thracien nach der Walachei. Ausserdem bevölKerten die Grossgrund-
besitzer der Moldau ihre Güter durch die aus den Nachbarländern hergebrachten
Ansiedler.
Im 14. Jahrhundert finden wir im heutigen Rumänien als Grossgrund-
besitzer die vom Fürsten für die geleisteten Dienste mit Grund und Boden
belohnten Bojaren, die Gemeinden, die Klöster und den Staat bezw. den Fürsten
selbst. Die Landbevölkerung theilte sich zur selben Zeit in zwei Classen. Viele
Bauern hatten sich infolge feindlicher Angriffe ins Gebirge geflüchtet, dort
Grund und Boden besetzt und bebaut, und dabei ihre Unabhängigkeit bewahrt; sie
wurden in der Walachei „Mosneni" oder „Kneji" und in der Moldau „Redesii''
oder „Megiasi" genannt. Die Bauern hingegen, die entweder auf dem flachen
Lande verblieben oder auf die Güter der Grossgrundbesitzer gebracht worden
waren, wurden später bei der Erklärung der Gutsunterthänigkeit „Vecinii" d. h.
Nachbarn oder „Rumäni'^ genannt. Ihre Lebenslage war nach althergebrachter
Sitte zunächst ungemein günstig. Vom Gute des Grossgrundbesitzers wurden ihnen
Yg als Eigenthum zugewiesen, während nur Yg unmittelbares Eigonthum des
Grossgrundbesitzers blieb. ^) Wenn der Bauer dem Grossgrundbesitzer gegenüber
seine Pflicht erfüllte, d. h. wenn er das dem Herrn reservierte Drittel dos Grund
und Bodens bearbeitete, blieben die beiden andern Drittel sein Eigenthum, das
er auch seinen Kindern vererben durfte.^)
Dieser für die Bauern äusserst günstige Zustand sollte aber nicht von
langer Dauer sein ; denn es gelüstete die Türken nach der Ausbeutung der von
der Natur reich gesegneten Donaufürstenthümer. Nach langem Widerstände wurden
die vereinigten Bulgaren, Bosniaken, Serben und Rumänen von Amurat bei
Cossova im Jahre 1389 geschlagen. Die Türken machten sich die Walachei
tributpflichtig, gaben aber die Versicherung, die Einwohner dieses Landes sollten
immer in Ruhe gelassen werden, wenn sie den Tribut im Betrage von
3000 Galbeni (ä 1"5 lei = 26 Pfennig) pünktlich entrichteten. Dies Versprechen
^) Balcescu: , Geschichte der Rumänen unter Mihai dem Tapferen."
^) Arion: „L't^tat da paysan Roumain."
13*
196 Creangä.
-wurde aber nicht lange gehalten. Die Herrschaft der Türken wurde immer härter
lind unerträglicher, und die Fürsten legten, um den stetig sich steigernden Tribut
zahlen zu können, den Einwohnern unerschwingliche Steuern auf. Die Bauern
verliessen ihre Gehöfte, immer grössere Bodenflächen blieben unbebaut, das Land
verödete immer mehr, so dass Mihai der Tapfere, der Fürst der Walachei
und vorübergehend auch der Moldau und Siebenbürgens, sich genöthigt sah, um
die gänzliche Entvölkerung des Landes zu verhüten, in der Zeit von 1593 bis 1601
die Gutsunterthänigkeit der Bauern einzuführen. Der Landbewohner durfte das
Grundstück, auf welchem er geboren war, nun nicht mehr verlassen. Diese Be-
stimmung galt auch für die „Mosneni" und „Redesii", die aber doch auf ihrem
Eigenthum unabhängig von den Grossgrundbesitzern blieben, während die „Nach-
barn" — „Vecinii" oder „Eumäni'' — , die den Grundbesitz der Bojaren bear-
beiteten, Gutsunterthänige, zeitweise sogar Leibeigene wurden. Sie wurden mit
dem Gut, auf dem sie ansässig waren, als ein Zubehör desselben, später auch
getrennt verkauft; ja bisweilen werden sie sogar in den über die Mitgift aufge-
nommenen Heiratsdocumenten der Bojaren aufgeführt.
Der Bojar bestimmte selbst die Zahl der Tage, die der Bauer für ihn ar-
beiten musste,^) sowie die Höhe des Robots. Er gab ihm allerdings auch Getreide
in Zeiten der Noth und sorgte für ihn bei Krankheitsfällen; denn es lag ja in
seinem eigenen Interesse, dass es dem Bauern gutgehe. Der Grundherr beerbte
seine Gutsunterthänigen, wenn diese keine Nachkommen hinterliessen. Auch die
„Mosneni" und „Redesii" wurden infolge ihrer schlechten materiellen Lage und
der drückenden Steuerlast immer mehr von den Grossgrundbesitzern abhängig;
ein immer grösserer Theil von ihnen verlor seine Unabhängigkeit^), und mit dieser
schwand auch die Kraft des Landes dahin.
Die Gutsunterthänigkeit wurde also allmählich eingeführt. Zur Zeit Mihais
des Tapferen befanden sich die Bauern auf dem Flachlande schon in einem
gewissen Abhängigkeitsverhältnisse; dieser legte den Zustand nur gesetzlich fest
und verschärfte ihn durch das Verbot der Auswanderung, Nicht die Bojaren
haben, wie Balcescu ^) und andere Historiker behaupten, den Fürsten gezwungen,
die Bauern für Leibeigene zu erklären, sondern der Zweck der Einführung der
Gutsunterthänigkeit war, das Land vor völliger Entvölkerung zu schützen. Lag
es doch auch ganz besonders im Interesse des Fürsten, möglichst viel Unter-
thänige und dadurch Steuerpflichtige zu haben, da er bei seinen ununterbrochenen
Kriegen allein für die Löhnung der Soldaten 98.000 lei monatlich zahlen
musste.^)
Dass das Land infolge der stattgefundenen Massenauswanderungen sehr
entvölkert war, bezeugt übrigens die beglaubigte Thatsache,-^) dass Mihai von
seinem Zuge gegen die Türken aus Bulgarien und aus anderen Nachbargebieten
16.000 Menschen mitbrachte, welche in der Walachei angesiedelt wurden. Der
dem Fürsten Mihai gemachte Vorwurf, er habe den Interessen der Bojaren gedient,
^) Hurmusackis Urkundensammlung: „Der Bauer arbeitet ohne bestimmte Zeit."
2) Zahlreiche Beispiele in „Hurmusackis Urkundensammlung" und in Xenopols
„Geschieht" der Rumänen."
^) Balcescu: .Istoria Eoinänilor sub Mihai Vitezul".
Der Bauernstand in Rumänien, seine geschichtliche Entwicklung etc. 197
ist unbegründet. Er hat sich allerdings um den Wohlstand der Bauern im all-
gemeinen wenig gekümmert, hat duich die Erhöhung der Steuern die wirtschaft-
liche Lage vieler Freibauern verschlechtert und den Weg zu ihrer Leibeigen-
schaft angebahnt; auch stützte er seine Macht nicht auf das Vertrauen des
Volkes, sondern suchte sie durch politische Combinationen zu festigen; aber es
ist darum nicht weniger richtig, dass in jener Zeit die gesetzliche Einführung
der Gutsunterthänigkeit dem Lande nützlich war.
Die Lage der Bauern verschlimmerte sich noch mehr, als im Jahre 1716
die Pforte sich das Eecht anmaasste, der Moldau und der Walachei Fürsten aus
Fanar^) zu schicken. Diese Epoche, die bis zum Jahre 1822 dauerte, bildet ein
trauriges Blatt der Geschichte Rumäniens in wirtschaftlicher, politischer und
cultureller Hinsicht. Die Nationalsprache und das nationale Heer wurden beseitigt.
Das Land war nun nicht mehr in der Lage, gegen die Türken zu kämpfen. Der
fremde Fürst und alle mit ihm gekommenen Fanaiioten beuteten diejenigen aus,
die am leistungsfähigsten waren, also die einheimischen Bojaren, und diese hielten
sich dann gewöhnlich an den Bauern schadlos. Der grösste Theil der einhei-
mischen Bojaren wurde entlassen und dafür eine fanariotische Bojarenclasse in
Anlehnung an öffentliche Aemter geschaffen; alle höheren Aemter wurden von
jetzt ab nur noch Fremden anvertraut.
Nur zum Grosschatzmeister — Visternicul — wurde fast immer ein Rumäne
ernannt, und zwar deshalb, weil die Stellang des Fürsten von der Pünktlichkeit
abhieng, mit der er der Pforte den Tribut entrichtete. Infolgedessen suchte er
sich als Grosschatzmeister stets einen zuverlässigen, landeskundigen Mann aus,
der Erfahrung und Gewandtheit in der Steuererhebung besass.
In dieser Zeit erreichte die Steuerlast ihren Höhepunkt. Kaum irgendwo sonst
waren die Steuern so hoch und vielseitig wie in den Donaufürstenthümern;^) denn nur
hier mussten bisweilen je zehn Einwohner einen Ochsen und später sogar jeder
Einwohner je einen Ochsen liefei-n. Die Wirkung dieser ungeheuren Steuerlast
blieb nicht aus ; die Auswanderung nahm immer m^hr zu. Nach dem Berichte
einer Urkunde erhielt ein fanariotischer Fürst, der einige nach Bulgarien aus-
wandernde Bauerngemeinden über die Ursache ihrer Auswanderung befragen Hess,
die Antwort: „Wir wandern aus, weil wir nicht mehr wissen, woher wir soviel
Geld und Naturalien zur Steuerzahlung nehmen sollen."^)
Die Steuererhebung geschah gewöhnlich in der Erntezeit, bezw. in der
Zeit, wo das Vieh zum Verkaufe reif und der Honig fertig war. Um zu verhin-
dern, dass die Bauern ihre Prodncte auf den nächsten Markt brachten und das
dafür erworbene Geld anderweitig verwandten, verkaufte die Verwaltung auf in-
directem Wege die bäuerliche Ernte, bevor die Producte vollständig eingeerntet
^) Fanar war ein mit einer Burg versehener Stadttheil Constantinopels.
2) Näheres im Finanzarchiv: „Die Finanzen Rumäniens" von G. D. Creangä
Band 16, Seite 118.
3)Xenopol sagt mit Recht: „Es kam eine Zeit, in der die Fürsten alle Vermögens-
gegenstände mit einer Steuer belegt hatten, und in der sie schliesslich nur noch mit
Hilfe des Wörterbuches eine Benennung für eine neue Steuer finden konnten; sogar eine
Schornsteinsteuer wurde eingeführt."
198 Creangä.
waren. Die Regierung bediente sich dazu gewisser Zwischenhändler, die etliche
Tage vor dem bestimmten Steuertermin mit den sich in äusserster Noth befin-
denden Bauern Kaufverträge auf spottbillige Preise abschlössen. Dann erschienen
die Steuererheber und forderten Zahlung der fälligen Steuer. Wenn nun ein Bauer
dem Zwischenhändler das geliehene Geld später nicht zurückerstatten konnte, so
war er vielen schlimmen Folgen ausgesetzt, ja er konnte sogar von ihm verkauft
werden, was auch thatsächlich mehrmals vorgekommen ist.
Die Steuern belasteten gewöhnlich nur die unabhängigen Bauern, die wirt-
schaftlich ja auch verhältnismässig besser standen, da die Gutsunterthänigen nicht
mehr als Menschen, sondern als nothwendige Werkzeuge des Gutes betrachtet
wurden. Vom Fürsten und seinem Gefolge, von einheimischen und fanariotischen
Bojaren ausgebeutet, mit drückendensten Steuern belastet, wurde die Zahl der
„Mosneni" und „Eedesii" immer kleiner, sie wurden wirtschaftlich immer mehr
von den Grossgrundbesitzern abhängig und viele, ja der grösste Theil gerieth in
Leibeigenschaft. Nach den Angaben des Historikers Bauer wurden im Jahre 1741
147.000, im Jahre 1746 nur 70.000 und im Jahre 1757 nur noch 35.000
Steuerpflichtige gefunden. Verkauften sich doch viele Freibauern selbst als Leib-
eigene, um nicht mehr steuerpflichtig zu sein ! Constantin Mavrocordat, der von
1730 — 1769 zehnmal als Fürst der Walachei und der Moldau regierte, versuchte
eine Reform der bäuerlichen Verhältnisse, um damit den einheimischen Bojaren
einen Streich zu spielen. Er erklärte es für eine Christenpflicht, dass die Gross-
grundbesitzer ihre Leibeigenen freiliessen; und wollten sich die Bojaren nicht
freiwillig dazu bequemen, so wurden sie gesetzlich dazu gezwungen, sobald sie
von den Bauern eine Entschädigung im Betrage von 10 lei erhalten hatten. Die
Folge war, dass 60.000 Leibeigene freigelassen, aber in Wirklichkeit Hörige des
Staates bezw. des Fürsten wurden. Sie wurden „Scutelnici" genannt und von
Mavrocordat an seine Günstlinge, und zwar meistens an Fanarioten vertheilt. Den
Bojaren gab er je nach ihrem Einflüsse 56, 20, 15, 10 oder 5 „Scutelnici".^)
Ein kleinerer Theil der Freigelassenen, „Poslujnici" genannt, wurde zu Knechts-
diensten verwendet. Diejenigen, welche Gutsunterthänige geblieben waren, hatten
für die Grossgrundbesitzer jährlich 24 Tage zu arbeiten und ihnen den Zehnten
aller Bodenerzeugnisse zu liefern. In der Moldau setzte Mavrocordat die
Zahl dieser Arbeitstage auf zwölf fest. Ausserdem bestand noch eine Classe von
Bauern, „Laturalnici" in der Walachei und „Plugari" in der Moldau genannt,
die aus Nachbarländern im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts gekommen sind,
und für welche die jährliche Arbeitszeit auf 12 Tage festgesetzt wurde, wovon
sie sich aber durch Naturallieferungen an den Grossgrundbesitzer befreien konnten.
Anfangs waren sie nicht Gutsunterthänige, die meisten wurden es aber allmählich,
und zahlreiche Urkunden berichten von ihren Processen gegen die Grossgrund-
besitzer, welche sie zu Leibeigenen machen wollten. Im Laufe der Zeit wurden
sie unter den fremden Fürsten auch gesetzlich an die Scholle gebunden, aber
der Unterschied von den wirklichen Gutsunterthänigen aus früherer Zeit wurde
') Regnault in seiner „Histoire politique et sociale des principeautes Danu-
biennes" sagt mit Recht: „Jamals on n'imagina resurce plus infame pour recorapenser
Oll cororapre".
Der Bauernstand in Rumänien, seine geschichtliche Entwicklung etc. 199
immer gewahrt, und bei der Aufhebung der Leibeigenschaft vom Jahre 1864
recrutierten sich die Bauern, welche nicht Leibeigene waren, sondern nur in einem
gewissen Abhängigkeitsverhältnisse standen, hauptsächlich aus diesen „Laturalnici"
und „Plugari".
Weit schlimmere Folgen für die Bauern hatte die Steuerreform Mavrocordats.
Die Freigelassenen brauchten zwar die Staatssteuer nicht zu zahlen, mussten aber
den Grossgrundbesitzern jährlich 50 — 100 lei entrichten; zur Zahlung dieser
Summe waren aber nur die „Scutelnici" und nicht auch die als Knechte ver-
wendeten „Poslujnici" verpflichtet. Ausserdem beseitigte Mavrocordat viele indirecte
Steuern, welche weniger die Bauern als vielmehr die Grossgrundbesitzer belasteten.
Dafür führte er eine directe Steuer ein, die Quartalen, zu 5 lei für Familien-
häupter und zu 2Y2 lei für Unverheiratete; die Quartalen sollten ihrem Namen
und Zweck entsprechend nur viermal jährlich erhoben werden, sie wurden später
aber bis zu zwölfmal (nach Xenopol sogar bis zu 26mal) im Jahre erhoben. Dieser
Steuer waren gewöhnlich nur die Freibauern unterworfen, sie wurde auf die Ge-
meinden vertheilt, und diese mussten sie von den Steuerpflichtigen eintreiben.
Die Bojaren waren von ihr befreit, weil solche Eepartierung, „Cisla" genannt, als
unwürdig für sie galt; sie wurden dafür einer speciellen Kopfsteuer unterworfen.
Das Ergebnis dieser Quartalen war, dass die Freibauern noch mehr belastet
wurden, und dass sich dadurch ihre Lage nur noch verschlimmerte; denn auch
später wurde diese Steuer beibehalten, während die aufgehobenen indirecten
Steuern von Mavrocordats Nachfolgern wieder eingeführt wurden.^) Den Guts-
unterthänigen, sowie den Freigelassenen war es ausserdem verboten, Grund-
eigenthum zu erwerben.
In der Moldau war die Lage der Erbunterthänigen noch schlimmer wie in
der Walachei ; sie waren oft mit den Zigeunern, die Sclaven waren, vermischt,
sie wurden früher nur mit dem Grundstück, später auch getrennt verkauft, so
dass die Nationalversammlung der Moldau sich im Jahre 1745 genöthigt sah,
folgende Verfügung zu erlassen: „Es ist den Grossgrundbesitzern nicht mehr erlaubt,
die Erbunterthänigen zu verkaufen, sie bei Vererbung des Gutes zu vertheilen,
sie als Mitgift zu verwenden, die Kinder von den Eltern zu entfernen und zu
verkaufen." Das Recht dazu hatten die Grossgrundbesitzer auch bisher nicht
gehabt, sie hatten es sich nur angemaasst.
Infolge der Reformen Mavrocordats verliessen Hunderte, ja Tausende den
Pflug, flohen in den Wald und bildeten die Haiduckenbanden, die von den rumä-
nischen Bauern so gern in ihren Volksliedern besungen wnirden; bezweckten sie
doch hauptsächlich die Beseitigung der Fanarioten. Das Unternehmen der Hai-
ducken blieb auch nicht ohne Erfolg. Der Sultan selbst befahl den beiden Fürsten,
gegen sie die strengsten Maassregeln zu ergreifen.
In der Moldau versuchte Grigore Ghika eben eine Verbesserung der Lage
des Bauernstandes — er gab ihnen die Erlaubnis, sich da niederzulassen, wo
sie wollten, reducierte die Zahl der Arbeitstage, sah sich aber unter dem Ein-
flüsse der Bojaren genöthigt, sie wäeder auf 14 im Jahre zu vermehren — als
^) Xenopol: ,^Istoiia Romänilor".
200 Creangä.
er wegen seines Protestes gegen die Occnpation der Bukowina von den Türken
ermordet wurde. In der Walachei hatte infolge der zunehmenden Auswanderung
Mavrocordat den flüchtigen Bauern noch grössere Zugeständnisse gemacht; er
hatte die Zahl der Frohntage vermindert und ihnen Steuerbefreiung auf ein halbes
Jahr gewährt. Aber er vergass, dass durch allzugrosse Zugeständnisse an die
flüchtigen Bauern den im Lande gebliebenen ein gefährliches Beispiel gegeben
wurde. In "Wirklichkeit hat auch die Auswanderung unter seiner Regierung immer
nur zugenommen. Daher konnte der deutsche Botschafter Penkler auch mit Recht
an den österreichischen Minister Kaunitz schreiben: „C. Mavrocordat mit seinen
falschen Reformen ist die Ursache aller Unruhen."*)
In der Moldau unternahm Alexandra Moruzzi (1802 — 1806) auch eine
Reform des Bauernstandes. Während bisher die Bauern nach den dem Gross-
grundbesitzer geleisteten Frohntagen soviel Grund und Boden für ihren eigenen
Bedarf erlangen konnten, als sie nothwendig hatten, setzte das Decret des
Fürsten Moruzzi für jeden Bauer die Höhe des zu erlangenden Grund und Bodens
fest. Zu diesem Zwecke theilte er die Bauern in vier Classen ein, und zwar in
solche mit mindestens 16, 8, 4 und mit weniger als 4 Rindern. Dieselben
erhielten 4 Falci (ä 1.13 ha) Acker und 8 Falci Weide und Wiese, 3 Falci
Acker und 6 Falci Grasland, 2 Falci Acker und 4 Falci Grasland, endlich
1 Falci Acker und 2 Falci Grasland.
Der in das Eigenthum der Bauern gelangende Grund und Boden durfte
aber zwei Drittel des ganzen Gutes nicht übersteigen; ein Drittel musste dem
Grossgrundbesitzer unter allen Umständen bleiben. Als Gegenleistung mussten
die Bauern im Frühling oder Herbst 80 Ruthen bearbeiten, 15 Ruthen ausjäten,
von 30 Ruthen die Ernte besorgen, auf 1 Falci Heu machen und dasselbe ein-
bringen, 2 Holzfuhren leisten, bei Mühlen- und Deichausbesserungen helfen und
dann noch den Zehnten von allen Bodenproducten und ein Fünfzigstel vom
Honigertrag abliefern.
In der Walachei war die Grösse des zu erlangenden Grundbesitzes bis
zum Jahre 1832 (Reglement organique) nicht gesetzlich festgelegt. Als nun hier
der Fürst Caragea zur Regierung kam, gestaltete er das Eigenthumsrecht der
Bauern in eine Erbpacht (emphiteuse) unter dem Namen ,, Glace" um. Das
Verhältnis zwischen den Bauern und Grossgrundbesitzern war jetzt dasselbe, wie
das der ,,Laturalnici" zu ihren Gutsherren. Caragea setzte ausserdem die Zahl
der Frohntage auf zwölf fest mit der Bestimmung, dass eine Abweichung hiervon
nicht mehr stattfinden dürfe.
Sein Nachfolger, Alexandra Su|u (1818 — 1821) verschärfte die Maassregeln
gegen die Bauern, erhöhte die Steuern und erregte durch seine Härte gegen die
Freibauern der Stadt Tergovistea die grösste Unzufriedenheit im Lande, die auf
den Aufstand von 1821 unter Tudor Vladimirescu grossen Einfluss ausübte.
Die griechische Revolution (Eteria) von 1821 unter Ypsylantis gegen die
Pforte verlief für die Donaufürstenthümer insoweit günstig, als die Pforte von
nun ab auch zu den griechischen Fürsten der Walachei und Moldau kein Ver-
^) Xenopol: „Geschichte der Rumänen."
Der Bauernstand in Eumänien, seine geschichtliche Entwicklung etc. 201
trauen mehr hatte und infolgedessen den Rumänen das Eecht gab, nun wieder
einheimische Fürsten zu wählen. Mit dem Jahre 1822 endete also die Regierung
der fremden, fanariotischon Fürsten. Doch war diese Freiheit für die Donau-
fürstenthümer von geringer Dauer; denn im Jahre 1828, beim Ausbruch des
russisch-türkischen Krieges rückte der russische Commandeur Wittgenstein unter
dem Vorwande, sie schützen zu wollen, mit 50.000 Kosacken in die beiden
Donaufürstenthümer ein. Nach Beendigung des Krieges trat Kiseleff an Wittgensteins
Stelle. Er führte das Eegulamentul organic ein, das in Bezug auf die Bauern
folgende Bestimmungen enthält: Jeder Bauer sollte bekammen: In der Walachei:
1. 10 Präjini (= 17.875 Ar) für Haus und Hof als Vollbesitz; 2. 3 Pogöne
(=0*59 ha) Weide und Wiese, wenn er 4 Ochsen besass, IY2 Pogone, wenn er
2 Ochsen besass; 3. 3 Pogone Ackerland. In der Moldau: 1. 10 Präjini für
Haus und Hof als Vollbesitz; 2. 17» Falci Ackerland, 40 Präjini Wiese und
20 Präjini Weide für jeden Bauer, gleichgiltig ob er Ochsen hat oder nicht;
3. derjenige, der 2 Ochsen hat, sollte 60 Präjini Wiese und 60 Präjini Weide,
der mit 4 Ochsen 120 Präjini Wiese und 120 Präjini Weide mehr bekommen.
In welcher Gegend der Bauer seinen Grund und Boden zu bekommen hat,
hatte der Grossgrundbesitzer selbst zu bestimmen.
Die Freizügigkeit wurde zwar aufrechterhalten, aber die Uebersiedlung eines
Bauern von einem Gut auf ein anderes wurde von der Erlaubnis des Kreisvor-
stehers abhängig gemacht. Wollte der Bauer wegziehen, so musste er seinem
Herrn sechs Monate vorher kündigen und der Communalcasse die Jahressteuer im
voraus bezahlen. Ebenso durfte der Grundbesitzer den Bauer nur mit Bewilli-
gung der Regierung fortjagen und musste er ihm sechs Monate vorher kündigen
und für sein aufgegebenes Gehöft entschädigen. Für diese Erleichterungen wurde
der Bauer verpflichtet, seinem Herrn ein Zehnte) von allem Bodenertrag abzu-
geben, ihm 12 Tage Frohndienste zu leisten und dabei auch sein Vieh zur Ver-
fügung zu stellen, für ihn eine Fuhre bis zu 16 Stunden oder zwei von je
8 Stunden (in der Moldau sogar eine bis zu 32 Stunden) zu machen; ausserdem
hatten je 2.Ö Familien dem Grossgrundbesitzer einen Mann zu stellen. Im Falle
der Nichterfüllung dieser Pflichten war der Herr berechtigt, vom Bauern eine
Geldentschädigung zu verlangen. Die jetzt der Theorie nach .^freien" Bauern
mussten nun auch die neu eingeführte Kopfsteuer im Betrage von 30 lei, sowie
3 lei Communalsteuern und 5 Piastri (= 2 Francs) Militärsteuer entrichten;
diese directen Steuern in Verbindung mit den indirecten und Naturalleistungen
machten eine bedeutende Summe aus (nach Re'gnault 148 lei). Während das Regle-
ment in verschiedenen Beziehungen, besonders in Verwaltungsreformen glückliche
Wirkungen hatte, so verursachte es bei den Bauern nur Unzufriedenheit, woraus
schliesslich Unruhen entstanden, die jedoch von den russischen Soldaten bald
wieder beigelegt wurden. Diese Vorgänge hatten wieder einmal eine grosse Aus-
wanderung zur Folge. Nach Balcescus Angabe zogen 12.000 nach Siebenbürgen,
40.000 nach der serbischen Grenze und 100.000 nach Bulgarien und Rumelien.
Mir scheinen diese Zahlen jedoch stark übertrieben zu sein.
1) 1 Pogöne = 0,59 ha.
1 Falci = 1,13 ha.
1 Präjinä = 1,78 Ar.
202 Creangä.
Das Revolutionsjahr 1848 zeitigte auch in den Donaufürstenthümern Un-
ruhen, infolge deren die Bauern nachstehende Forderungen aufstellten: 1. Für •
die Einwohner des Flachlandes 14 Pogöne Acker, und zwar V/^ Pogöne für
Haus und Garten, S'/g Pogöne Weide, 3 Pogöne Acker für die Herbst- und
3 Pogöne für die Frühjahrsernte, 3 Pogöne Wiese. 2. Für die Bewohner weniger
fruchtbarer Gegenden 16 Pogöne im ganzen. 3. Für die Bewohner der Wein-
bergsgegenden 11 Pogöne, und zwar nur 3 Pogöne Acker. 4. Für die Bewohner
der Gebirgsgegenden nur 9 Pogöne, und zwar IV2 Pogöne für Haus und Garten,
2V2 Pogöne Weide, IV'2 Pogöne Wiese, 2V2 Pogöne Acker und 2 Pogöne
Wald. Die Bauern konnten ihre Forderungen aber nicht durchsetzen, ja allen
ihren Wünschen zum Hohne führte der Fürst Stirbey im Jahre 1851 ein Gesetz
ein, welches die Lage des Bauernstandes nur noch mehr verschlimmerte, da es
die Grossgrundbesitzer als die eigentlichen Vollbesitzer alles Grund und Bodens,
die Bauern dagegen nur als Pächter erklärte, die also vom Besitzer jederzeit
fortgejagt werden konnten. Die gegenseitigen Verpflichtungen der Grossgrund-
besitzer und Bauern wurden von nun an nur vertragsmässig geregelt. Die Zahl
der Frohntage hatte Stirbey auf 22 erhöht.
Die Ideen von 1848, die Verbindung der Walachei mit der Moldau (1859)
und das Beispiel anderer Länder (Russland) mussten aber schliesslich doch die
Aufhebung der Gutsunterthänigkeit auch der rumänischen Bauern herbeiführen,
die denn auch durch das Gesetz von 1864 vollzogen wurde. ^) Das Verdienst
hiefür gebürt in erster Reihe dem damaligen Fürsten Alexandra J. Cusa und
seinem eifrigen Minister Cogalniceanu. Die zu diesem Zwecke einberufene National-
versammlung bestand aus zwei Parteien; die einen wollten jedem Bauer 5 Pogöne,
die andern nur 2Y2 Pogöne Landes bewilligen. Nach grossen Debatten sprach die
Versammlung mit 62 gegen 35 Stimmen jedem Familienhaupte 3 Pogöne auf dem
Flachlande und 2 Pogöne im Gebirge zu. Der Fürst war im Interesse der Bauern
mit diesem Beschlüsse nicht zufrieden, löste infolgedessen die Versammlung auf
und führte einen Volksbeschluss herbei, der dann das Gesetz mit 713.000 gegen
57.000 Stimmen in seinem Sinne einführte.
Der Bauer war nun endlich frei. Der Zehnte, Frohndienste und Natural-
leistungen wurden im ganzen Lande verboten. Die weiteren gesetzlichen Bestim-
mungen unterscheiden zwischen den gutsunterthänig gewesenen Bauern und den-
jenigen, die nicht gutsunterthänig waren, die aber doch nur eine Stelle für Haus
und Hof besassen.
I. Die gutsunterthänig gewesenen Bauern wurden für Vollbesitzer des
Grundstückes erklärt, auf dem sich Haus und Hof befanden. Dazu erhielt jeder
Bauer: a) mit 4 Ochsen und 1 Kuh in der Walachei 11 Pogöne (== 672 ^'ö!)>
in der Moldau 672 Falci (zz: 6*22 Im); h) mit 2 Ochsen und 1 Kuh in der
Walachei 7*19 Pogöne (= 4 Im), in der Moldau 4 Falci (= 4*52 ha); c) Bauern
mit weniger als 2 Ochsen und 1 Kuh oder mit gar keinem Vieh in der Walachei
4-15 Pogöne (= 272 ha), in der Moldau 27« Falci (= 2-82 ha).
^) Die Aufhebung' der Gutsunterthänigkeit geschah jedoch nicht aus wirtschaft-
lichen Gründen, sondern aus psychologischen Momenten, und darin liegt wahrscheinlich
die Hauptursache, warum das Gesetz niclit die gewünschte Wiikung hatte.
Der Bauernstand in Rumänien, seine geschichtliche Entwicklung etc. 203
Der in den Besitz der Bauern gelangende Grund und Boden durfte zwei
Drittel des ganzen Gutes nicht übersteigen; ein Drittel sollte unmittelbares Eigen-
thum des Grossgrundbesitzers bleiben. Die Bauern, die infolgedessen die gesetzlich
vorgeschriebene Grösse an Ackerland nicht erhalten konnten, durften sich auf
Staatsdomänen ansiedeln. Die Gemeinde ist verpflichtet, das Gehöft der auf die
Staatsdomänen übersiedelnden Bauern zu kaufen.
Die Zahl der befreiten Bauern belief sich auf 550.000/) von denen aber
nur 402.000 mit Land bedacht wurden. Von diesen 402.000 besassen aber nur
80.000 4 Ochsen, während 150.000 überhaupt keinen Viehbestand hatten. Es
wurden ungefähr 1,595.800 ha in beiden Fürstenthümern zusammen vertheilt;
von den ungefähr 150.000 nach wie vor landlos gebliebenen Familien wurden
annähernd 40 Proc. infolge späterer Gesetze auf Staatsdomänen angesiedelt.
Innerhalb eines Zeitraumes von 30 Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes,
also bis zum .Jahre 1894, durfte der Bauer sein Grundstück weder durch Ver-
fügungen unter Lebenden tioch von Todeswegen veräussern, ausser an die Ge-
meinde oder an einen Bauer desselben Dorfes; ebenso durfte er es nicht dinglich
belasten. Wenn ein Familienhaupt keine gesetzlichen Erben hinterlässt, ist die
Gemeinde berechtigt, das Grundstück des Verstorbenen an sich zu ziehen, wenn
die die gesetzlich bestimmte Entschädigung an die Grossgrundbesitzer weiter
zahlen will. Der Minderjährige darf sein Erbe nur antreten, wenn die Mutter
sich verpflichtet, die erwähnte Entschädigung fernerhin zu zahlen. Die Gemeinde
ist berechtigt, das GrundstücJc derjenigen Bauern einzuziehen, die die festgesetzte
Entschädigung nicht zahlen wollen oder können, wenn sie sich zur Weiterzahlung
der betreffenden Summe bereit erklärt. Die Arbeitsverträge zwischen Grossgrund-
besitzern und Bauern dürfen höchstens auf 5 Jahre abgeschlossen wtrden, und
der Wert des Gegenstandes, von dem im Vertrage die Eede ist, muss immer in
Geld ausgedrückt sein.
Für den gewährten Grund und Boden, sowie für die Aufhebung des
Zehnten, der Frohndienste u. dgl. sind die Bauern verpflichtet, 15 Jahre lang
jährlich: in der Walachei 49"26, bezw. 37"26, bezw. 26'48 Francs, in der
Moldau 34*91, bezw, 2706, bezw. 19*22 Francs zu zahlen, je nachdem sie der
ersten (mit 4 Ochsen und 1 Kuh), zweiten oder dritten Classe angehörten. Die
Entschädigung wurde ermittelt, indem man den schon im „Eeglement organique"
festgesetzten Preise der Frohntage mit 10 multiplicierte ; infolgedessen belief sich
die Gesammtsnmme, die ein Bauer für den erhaltenen Grund und Boden im
ganzen zu entrichten verpflichtet war, in der Walachei auf 563"43, bezw. 42o*37,
bezw. 302-22 Francs, in der Moldau 398*52, bezw. 308*90, bezw. 209*28 Francs,
je nachdem er der ersten (mit 4 Ochsen und 1 Kuh), zweiten oder dritten Classe
angehörte. Jeder Grossgrundbesitzer bekam von der Gemeinde einen Schuldschein,
welcher seine Eechte den Bauern gegenüber, sowie deren Gesammtschuld enthielt.
Diese Schuldscheine wurden vom Liquidationscomite von Bukarest mit Schuld-
verschreibungen auf den Namen der betreffenden Gemeinde ausgetauscht. Diese
^) Nach einer 1900 von Domänen-Ministerium herausgegebenen Statistik beläuft
sich die Zalil der befreiten Bauern nur auf 511.896; aber auch diese Zahl ist nicht sicher.
204 Creangä.
Obligationen hatten einen Zinsfuss von 10 Proc, waren jährlich zweimal fällig
und lauteten auf den Inhaber derselben. Die Gesammtsumme der Eural-Obliga-
tionen belief sich auf 289,569.000 lei oder 107,247.851 Francs, welche in
15 Jahren, also bis 1879/80, getilgt sein raussten. Die Tilgung geschah durch
Ziehungen. Die zu diesem Zwecke zur Verfügung gestellten Geldsummen waren:
1. Die jährliche Entschädigung, die die Bauern entrichteten (7,149.190 Francs).
2. Die Summen aus dem Verkauf des in den Eeservemagazinen der Dörfer
befindlichen Mais. 3. Die Summen aus dem Verkauf der Staatsdomänen behufs
Ansiedlung der zweiten Bauernclasse.
IL In Bezug auf die zweite Bauernclasse setzt das Gesetz fest, dass Grund
und Boden auf Staatsdomänen bekommen können: 1. Die nicht gutsunterthänig
gewesenen Bauern, welche nicht mehr als Haus und Hof besassen (meistens die
,,Laturalnici"). 2. Die gutsunterthänig gewesenen Bauern, welche die gesetzlich
vorgeschriebene Grösse an Ackerland nicht bekommen konnten. 3. Die neu
Heiratenden (Insuratei). Auf Staatsdomänen durften ferner die Arbeitsunfähigen
und die kinderlosen Witwen angesiedelt werden. ')
Die Eegierung wurde ermächtigt, dieser zweiten Bauernclasse Parcellen aus
Staatsdomänen (jedoch eine Parcelle nicht grösser als 12 Pogune (= 7*08 ha)
zu verkaufen und die Verkaufssumme für die Tilgung der Rural-Obligationen zu
verwenden. Der Preis wurde auf 5 Dukat (ä 11*75 Francs) pro Pogöne fest-
gesetzt, die jährlich in Eentenform zu entrichten waren; eine Ausnahme bilden
die Arbeitsunfähigen und Witwen, die jährlich einen Dukat oder halbjährlich
einen halben Dukat, und zwar direct an den Gutsbesitzer zu zahlen verpflichtet
waren. Fast alle oben schon bei der ersten Bauernclasse erwähnten Maassregeln
und Verfügungen gelten auch hier.
In Wirklichkeit siedelten sich auf Staatsdomänen zunächst fast nur Schulzen
und Gerichtsboten, Steuererheber u. dgl. an, während den Bauern diese Ver-
günstigung unrechtmässigerweise entzogen wurde. Die dem Sinne des Gesetzes
nach beabsichtigte Ansiedlung trat erst seit 1878 ein, als zwecks gerechter
Vertheilung des Grund und Bodens eine Commission eingesetzt wurde, welche
aus dem Bezirkspräfecten, einem Delegierten des Bezirksrathes und einem Ver-
treter des landwirtschaftlichen Ministeriums bestand. In der Zeit von 1881 bis
1889 wurden an 53.168 Bauernfamilien 252.073 ha im Werte von 22-086 Mil-
lionen Francs verkauft. Das Gesetz von 1889 verfügte den Verkauf der Staats-
domänen zu 5, 10 und 25 ha. Zur Beschleunigung der Ansiedlung wurde be-
stimmt, dass die Käufer von 5 ha binnen drei Jahren, vom Tage des Kaufes
an gerechnet, übersiedeln mussten. Um diesen eine grössere Erleichterung zu
verschaffen, erhielten sie Vorschüsse von 600 und später von 700 Francs zur
Bestreitung der Uebersiedlungskosten. Diese Summe bekam der Bauer vom
^) Mit den Freibauern hat sich das Gesetz nicht beschäftigt, und zur Zeit weiss
man weder ihre Zaiil (die nicht unbedeutend ist) noch die Grösse ihres Eigenthums,
welches sich — infolge der Gleichberechtigung der Erben an Grund und Boden — zur
Zwergwirtschaft gestaltet hat. Zu diesem Ergebnis kommt zweifelsohne bald auch der
1864 und später den Bauern zugetheilte Grund und Boden, Der grösste Theil der Bauern
besitzt zur Zeit i icht mehr als '/, — 1 ha.
Der Bauernstand in Kumänien, seine geschichtliche Entwicklung etc. 205
,,Creditul agricol" und die zweite ünterabtheilung dieser Anstalt, die 1892
errichtet wurde, diente ausschliesslich diesem Zwecke, hatte jedoch nicht den
erwünschten Erfolg.
Die Kaufsumme ist in Eentenform mit einem Zinsfuss von 5 Procent und
1 Procent Tilgung zu zahlen. Der Käufer braucht keine Caution zu stellen und
kann den Acker einfach durch eine Commission erwerben. Die Lose zu 5 ha
können in einem Zeiträume von 30 Jahren, vom Tage des Erwerbes ab gerechnet,
nicht weiter veräussert werden. Die Veräusserung der Lose zu 10 und 25 ha
geschieht auf dem Wege der öffentlichen Ausschreibung. Die Leitung derselben
ruht in den Händen einer Commission in jeder Bezirkshauptstadt, die sich zu-
sammensetzt aus dem Präfecten, dem Präsidenten des Bezirksausschusses und dem
Steuerinspector des Bezirkes. Jeder Mitbieter muss eine Caution in der Höhe des
doppelten Pachtschillings des betreffenden Loses hinterlegen. Der erzielte Kauf-
preis muss mindestens 200 lei pro Hektar betragen. Von dem Kaufpreis muss
mindestens ein Zehntel im Laufe eines Monats nach Bestätigung der Veräusserung
bezahlt werden. Die Zahlung der übrigen Summe erfolgt in der Form einer Kente
auf der Grundlage eines Zinsfusses von 5 Proc. und 2 Proc. Amortisation.
Diese Lose können erst dann weiterveräussert werden, wenn der gesammte Kauf-
preis durch Amortisation getilgt ist.
Durch den Verkauf der Staatsdomänen in grösseren Parcellen zu 10 und
25 ha glaubte man die Gelegenheit zur Entwicklung eines kräftigen Bauern-
standes zu geben, was ja einen grossen wirtschaftlichen Vortheil bedeutet hätte.
In Wirklichkeit kauften aber nur wenige Bauern solche grosse Parcellen, weshalb
auch der Verkauf von Parcellen zu 10 und 25 ha im Jahre 1896 eingestellt
wurde. Waren doch nur wenige oder gar keine Bauern imstande gewesen, solche
grosse Parcellen zu bezahlen. Sie wurden vielmehr von vielen Personen zum
Zwecke der Speculation gekauft, die dieselben dann in kleineren Parcellen an
Bauern mit höheren Preisen verpachteten. In der Zeit von 1889 bis 1894
wurden verkauft: 167 Parcellen zu 25 ha, 541 zu 10 ha und 45.151
zu 5 ha, zusammen 45.859 Parcellen von 234.774 ha im Werte von
88,986.241 Francs.
Der hauptsächlichste Mangel des Gesetzes von 1864 ist, dass der Bauer
viel zu wenig Acker erhielt, so dass er selbst in guten Erntejahren sich und
seine Familie kaum ernähren kann, aber völlig ausserstande ist, Ersparnisse für
die Steuer und für die Entschädigung der Grossgrundbesitzer zu machen, zumal
der Boden auch heute noch extensiv bearbeitet wird und die Witterungsverhält-
nisse sehr veränderlich sind, so dass auf drei Jahre höchstens ein gutes Ernte-
jahr kommt. Der Bauer hatte kein Capital, und es war vorauszusehen, dass es
ihm bei der geringen Grösse seines Ackers unmöglich sein würde, mit seiner
Arbeitskraft ausser seinem nothwendigsten Lebensbedarf noch eine hohe Steuer
und eine noch höhere Entschädigung aufzubringen; es konnte daher wirklich
mit Eecht gesagt werden, dass der Bauer nach seiner Befreiung viel ärmer war
wie zuvor.
Ein weiterer Fehler liegt darin, dass man der Ersparnis halber die Ent-
schädigung zugleich mit der Steuer erhob; es war natürlich für den Bauer sehr
206 Creangä.
schwer, ja oft unmöglich, eine so bedeutende Geldsumme auf einmal zu ent-
richten. Die Höhe der Entschädigung war in der Weise ermittelt worden, dass
man den im ,,E<^glement organique" für die Arbeitstage und für den Zehnten
festgesetzten Preis mit 10 multiplicierte. Dieser Preis war aber im ,, Reglement
organique" ziemlich willkürlich, und zwar für den Arbeitstag eines Bauern mit
4 Ochsen auf 4 Piastri, mit 2 Ochsen auf 3 Piastri und ohne Vieh auf 2 Piastri
festgesetzt. Der Zehnte wurde mit 15 Piastri für Korn, mit 11 Piastri für Mais
und mit 18 Piastri für Gerste in Anrechnung gebracht. In der That ist die
Entschädigung grösser, als sie sich aus diesen Ansätzen ergeben würde.
Der Arbeitslohn erscheint zwar etwas niedrig, aber es darf nicht vergessen
werden, dass auch heute der Tagelohn der von den Pächtern engagierten Bauern
in vielen Gegenden meist nicht über 40 bis 50 Centimes hinausgeht. Im übrigen
behaupten viele Schriftsteller, der grösste Fehler des Gesetzes vom Jahre 1864
liege in der Thatsache, dass den Grossgrundbesitzern überhaupt eine Entschädi-
gung gewährt wurde. (?)
Wenige Bezirke ausgenommen, bekam der Bauer für seinen Holzbedarf
keinen Wald; seine kleine Wiese musste er in Ackerland verwandeln, um über-
haupt existieren zu können. Gegenwärtig bekommt der Bauer Holz aus den
Waldungen des Grossgrundbesitzers und darf sein Vieh auf dessen Weide schicken,
so dass er in Wirklichkeit noch heute vom Grossgrundbesitzer in wirtschaftlicher
Beziehung total abhängig ist. Der vom Grossgrundbesitzer für die Weide verlangte
Preis war so hoch, dass die Bauern sich kein Vieh mehr halten konnten, aus
dessen Verkauf sie sich die Summe für Steuern und Entschädigung hätten ver-
schaffen können. Bis zum Jahre 1893 verpachtete der Grossgrundbesitzer seine
Weide an die Bauern gegen einen festen Preis pro Stück Vieh, ohne Rücksicht
auf die Grösse der Weide, so dass er oft auf einer kleinen Weide eine ver-
hältnismässig viel zu grosse Zahl Vieh weiden Hess. Das Gesetz von 1893 besei-
tigte diese Misstände dadurch, dass es verfügte, der Preis müsse immer im Ver-
hältnisse zur Grösse der Weide stehen.
Das Jahr 1866 brachte eine grosse Hungersnoth, durch die die Bauern in
eine sehr schlimme Lage geriethen. Die Regierang bat die Grossgrundbesitzer,
die Bauern doch für diese Zeit zu unterstützen ; die barmherzigen Grossgrund-
besitzer erklärten sich hierzu auch bereit, wenn die Bauern sich verpflichten
würden, den Wert des erhaltenen Getreides abzuarbeiten. Und um der Hungers-
noth vorzubeugen, blieb der Regierung nichts anderes übrig, als ein Gesetz im
Sinne der Grossgrundbesitzer einzuführen, was eine Verletzung jeglicher Freiheit
bedeutete. Der Bauer konnte von jetzt ab manu militari zur Arbeit gezwungen
werden, zu diesem Zwecke standen jedem Grossgrundbesitzer einige Gendarmen
zur Verfügung, Nach dem Gesetze von 1882 durfte der Grossgrundbesitzer den
Bauer nicht mehr manu militari zur Arbeit zwingen, sondern der Ortsschulze
hatte in solchen Fällen von nun ab zu entscheiden. Ausserdem durfte ein Ar-
beitsvertrag zwischen Grossgrundbesitzern und Bauern nur noch auf die Dauer
von einem Jahre (statt wie bisher auf fünf Jahre) abgeschlossen werden. Nach
den schlechten Ernten der Jahre 1888 und 1900 bat die Regierung nicht
wieder die Grossgrundbesitzer um Unterstützung für die Bauern, sondern kaufte
Der Bauernstand in Eumänien, seine geschichtliche Entwicklung etc. 207
selbst Mais auf und vortheilte ihn unter die Bauern. Im J. 1895 unternahm es
König Carol L, für die Bauern einen Unterstützungsfonds im Hinblick auf
kritische Zeiten zu gründen, indem er selbst 200.000 Francs zu diesem Zwecke
zeichnete, die Regierung gab 500.000 Francs und viele hervorragende Per-
sönlichkeiten steuerten grosse Summen bei. Zu nennen wären besonders D. A.
Sturdza, P. S. Aurelianu und Calindero, welche — die ersten zwei als Domänen-
Minister und der letzte als Verwalter der Krondomänen — für die Hebung des
Bauernstandes sehr viel geleistet haben und in der Bauernfrage eine hervorragende
Eolle spielen. Dieser Fonds wird ausserdem von der Regierung von Jahr zu Jahr
vermehrt.
2. Die gegenwärtige Lage.
Berücksichtigt man die traurige Vergangenheit des rumänischen Bauern-
standes, die vielen Hindernisse, die seiner Entwicklung sich entgegenstellten, so
wird man es begreiflich finden, dass auch seine gegenwärtige Lage wenig befriedigend
ist, zumal erst 36 Jahre seit seiner Befreiung verflossen sind. In wirtschaftlicher
Beziehung sind die Bauern auch heute noch unselbständig und abhängig. Un-
genügende Wohnungen, dürftige Nahrung, geringe Bildung, viel Krankheiten, das
sind die Folgen der Gutsunterthänigkeit, welche die gegenwärtige Lage der
Bauern charakterisieren.
Die Wohnungsverhältnisse sind die denkbar schlechtesten; in einem ein-
zigen, meist feuchten und noch dazu selten gelüfteten Zimmer wohnt die ganze
Familie. Nach einer Statistik von 1889, die allerdings keinen Anspruch auf
völlige Genauigkeit macht, gab es 74.656 Häuser aus Stein, 296.220 aus Holz,
583.307 mit Fachwerk, dessen Füllung aus Lehm bestand, und 54.772 Bordee
(Erdhöhlen), Die 583.307 Lehmhäuser und die 54.772 Bordee können keines-
wegs als Wohnungen angesehen werden, die den Anforderungen der Hygiene
entsprechen.
Die Dörfer liegen fast immer in der Nähe von Gewässern; Fenster und
Thüren sind meist an der Südseite der Häuser angebracht; das ist aber auch
der einzige Vorzug, den diese Häuser in gesundheitlicher Beziehung aufweisen
können, und im Gebirge fällt auch dieser infolge ungünstiger Bodenbeschaffenheit
oft fort. Die Strassen sind bis und oft über 12 Meter breit, auch ziemlich regel-
mässig angelegt; allerdings versperren einem hin und wieder ein Brunnen, ein
vorspringendes Gebäude, Schlammpfützen und dergleichen den Weg.
Nicht selten verpesten herumliegende Hunde- und Katzencadaver die Luft.
Hier sei gleich erwähnt, dass der rumänische Bauer übermässig viel Hunde hält,
so dass einzelne Gemeinden deswegen sogar sprichwörtlich geworden sind. Da
die Hunde aber nicht zum Ziehen verwendet werden, stellen sich die für ihre
Ernährung aufgewendeten Kosten als reine Luxusausgaben dar, die umsoweniger
gerechtfertigt sind, als sie die Bauern daran verhindern, sich nützlichere Haus-
thiere anzuschaffen. Eine Hundesteuer — die auf einen Hofhund für jedes Gehöft
natürlich keine Anwendung finden dürfte — würde daher in jeder Hinsicht
segensreich wirken.
208 Creangä.
In Bezug auf die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Gemeinden,
sagt Dr. Manolescu,^) dass den einzigen hygienischen Vorzug die in der
Nähe der Dörfer befindlichen Gehölze bilden, die hauptsächlich aus Weiden
bestehen.
Das Wohnhaus der Bauern enthält für gewöhnlich zwei Zimmer, von denen
aber nur das eine bewohnt wird, während das andere stets für eventuellen Besuch
reserviert bleibt. Das Dach des Wohnhauses besteht in schilfreichen Gegenden
in der Eegel aus Eohr, sonst aus Stroh, in manchen Orten auch aus Blech und
Holzschindeln. Die Grösse einer bäuerlichen Wohnung übersteigt nie 75 Cubik-
meter, gewöhnlich umfasst sie aber nur 20 bis 30 Cubikmeter. Die Thür ist
1-55 bis 1-75 Meter hoch und 060 bis 0'80 Meter breit; bei Aermeren hat sie
eine hölzerne, bei Eeicheren eine eiserne Klinke. Der grösste Nachtheil besteht
darin, dass die Fenster nicht zu öffnen sind; infolgedessen kann das Zimmer nie
gelüftet werden, was umso ungesunder ist, als im Winter noch mancherlei Vieh
in der Stube untergebracht wird. Meist hat jedes Zimmer nur ein Fenster, das
40 bis 50 Centimeter hoch ist, und durch dessen schlechtes Glas kaum ein
Sonnenstrahl dringt; oft wird sogar statt des Glases getrocknete durchsichtige
Thierblase verwendet.
Die Bordee sind Erdhöhlen, deren Wände durch aufgeschütteten Lehm bis
zu IY2 oder 2 Meter über die Erdoberfläche herausragen und deren Dach aus
Holzknütteln und Lehm besteht. In der einen Ecke befindet sich eine Feuerstätte
aus Lehm. Der Eauch entweicht durch einen Schornstein oder einfach durch die
Thür; im Winter ist der Eaum stets mit Eauch gefüllt. Als Feuerung verwendet
man Holz, daneben aber auch in grösserem umfange Maisstroh, getrocknete
Pflanzen und getrockneten Dung. Eltern und Kinder wohnen und schlafen in
ein und demselben Zimmer, ohne Eücksicht auf das Geschlecht, auf die Anzahl
oder darauf, ob einer von ihnen an einer epidemischen Krankheit leidet. Im
Winter nimmt man sogar noch kleine Hunde, Katzen, Lämmer, Ferkel und andere
Thiere mit ins Zimmer. Dadurch wird nun eine unerträgliche Luft erzeugt, zumal
der Fussboden zumeist aus festgestampftem Lehm und Dung besteht.
Das Haus ist umgeben von einem Hof und einem Obor;-) einen Hof
haben aber nur die Eeicheren. Im Obor befinden sich alle Ackergeräthe, sowie
die Ställe für die Hausthiere.
Der frühere Landwirtschaftsminister Carp errichtete, um den Bauern ein
gutes Vorbild zu geben, und um die Uebersiedelung der zweiten Bauernclasse zu
erleichtern, auf dem ,,Bärägan"^) zwei Musterdörfer mit 189, bezw. 205 Häusern
und später noch zwei weitere Dörfer, insgesammt 754 Häuser, deren jedes von
den Bauern für die Summe von 600 Francs gekauft werden konnte. Jedes dieser
Häuser bestand aus zwei Wohnzimmern, Küche und Veranda. Es heisst jedoch,
dass das Eesultat seines Unternehmens nicht so günstig war, wie es Carp er-
wartet und gehofft hatte, und die ganze Einrichtung ist als misslungen zu
1) In seinem von der rumänischen Akademie prämiierten Werk: „Higiena ^eranului
roraän."
'■') Ein nicht eingezäunter freier Platz.
3) Eine sehr ausgedehnte, meist sandige und nur wenig bebaute Steppe.
Der Bauernstand in Kuinänien, seine geschiclitliche Entwicklung etc. 209
betrachten. Am rathsamsten dürfte wohl sein, wenn die Communalbehörden bei
jedem Neubau eines Bauernhauses darauf drängen, dass die Gebäude den
hygienischen Anforderungen entsprechend, vielleicht nach Art der Häuser in den
eben erwähnten Musterdörfern, aufgeführt und eingerichtet werden. Sollten dem
Bauer dazu aber die nöthigen Mittel fehlen, so müssten die Behörden ihm die-
selben aus dem ,,Creditul agricol" verschaffen.
An Hausthieren hält der rumänische Bauer in grosser Anzahl Binder von
derselben Kasse, die auch in Ungarn und Eussland sehr verbreitet ist; Pferde
besitzt er nur wenige — besonders in der Moldau — , weil sie mehr Arbeit und
Pflege erfordern als die Kinder; im Winter müssen sie z.B. unter Dach gebracht
werden, während die Kinder meistens unter freiem Kimmel bleiben. Im Jahre 1890
gab es in ganz Rumänien 1,250.590 Ochsen, 820.511 Kühe, 594,662 Pferde
und 926.124 Schweine.
Die Kleidung des rumänischen Bauern lässt auch viel zu wünschen übrig,
jedoch weniger als die Wohnung. Man sieht sehr weite und sehr enge Bein-
kleider und dazwischen die verschiedensten Abstufungen, je nach den örtlichen
Gewohnheiten und je nach den Einwirkungen des Verkehrs mit andern Völkern.
Im Sommer trägt der Bauer ein Hemd aus Linnen oder Hanf, ein Beinkleid,
einen Hut mit breiter Krempe, ferner einen Leibgurt (Brau) in den verschiedensten
Farben, als Fussbekloidung Sandalen, bisweilen auch Stiefel, ausnahmsweise auch
Schuhe; im Winter trägt er statt des Hutes eine grosse Mütze aus Schaffell und
einen grossen, dicken, aus Schafwolle angefertigten Mantel, Cojoc oder Suman
genannt. Die Bekleidung der Bäuerinnen besteht im Sommer gewöhnlich aus
Baumwolle, im Winter aus Schafwolle. In vielen Bezirken trägt man auch die
sogenannte ,,Fota", das ist ein sehr enger Rock. Das rumänische National-
costume ist ohne Zweifel eines der schönsten in ganz Europa. Besonders mangel-
haft ist die Kleidung der Kinder und darin liegt vielleicht der Hauptgrund der
grossen Kindersterblichkeit; Fussbekleidung kennen sie meist nur im Winter.
Gänzlich unbefriedigend sind leider die Nahrungsverhältnisse in Rumänien.
Die Art der Speisen ist meistens nicht der freien Wahl des Einzelnen anheim-
gestellt, sondern durch religiöse Sitten bedingt. Die Fasttage sind für den Bauer
so zahlreich, dass sie nur schädliche Wirkung haben können; sie sind von den
Synoden den früheren Zuständen und Verhältnissen entsprechend festgesetzt,
passen aber nicht mehr für die gegenwärtige Lage. Dies erkannte auch Papst
Gregorius als richtig an, und er gestattete daher den Katholiken in der Fasten-
zeit auch Käse, Eier und Milch zu geniessen. Es wäre sehr wünschenswert, dass
auch die orthodoxen Synoden in Rumänien diesem Beispiele folgten, obwohl es
wahrscheinlich nicht geringe Schwierigkeiten machen würde, die abergläubischen
Bauern zu einer Aenderung ihrer religiösen Sitten zu bewegen. Sehr beachtens-
wert ist ferner die Thatsache, dass das Fasten gerade in die Zeit fällt, wo der
Bauer viel zu arbeiten hat; er fastet nämlich: 1. Vor Ostern vom 14. Februar
bis zum 5. April, eventuell vom 20. März bis zum 8. Mai (49 Tage); 2. vor St. Peter
vom 29. Mai bis zum 9. Juli oder vom 2. Juli bis zum 10. Juli (42 bezw. 8 Tage);
3. vor St. Maria vom 13. bis 26. August (13 Tage); 4. vor dem Weihnachtsfest
vom 13. bis 25. November bis zum 25. December bis 6. Jänner (42 Tage). Di©
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. X. Band. 14
210 Creangä.
Gesammtsumme beläuft sich also auf 147 bezw. 113 Fasttage. Kechnet man nun
noch, die Septamäna alba (weisse Woche), in der man nur Eier, Milch und Käse
essen darf, auch zur Fastenzeit, so stellt sich die Zahl der jährlichen Fasttage
auf 154 bezw. 120. Ausserdem verbieten aber die religiösen Sitten den Bauern auch
noch Mittwoch und Freitag Fleisch oder thierische Producte zu essen, ja viel©
fasten auch noch Montags, besonders wenn sie vom Priester ein ,, Canon" be-
kommen haben, was sehr leicht und oft vorkommt; demnach fastet der rumä-
nische Bauer bis zu 220 Tage jährlich, d. h. er nimmt während dieser Zeit
weder Fleisch noch andere kräftige Nahrungsmittel zu sich, da es nach seiner
Meinung nur so möglich ist, Vergebung seiner Sünden zu erlangen. Nach Ablauf
der Fastenzeit ist der Bauer, namentlich auch infolge der angestrengten Arbeit,
natürlich sehr schwach und angegriffen, und zwar ganz besonders im Sommer.
Daraus erklärt sich die Thatsache, dass die Bauern am Abend vor Beginn der
Osterfastenzeit sich nach alter Gewohnheit küssen mit den Worten: ,, Wer weiss,
wer die heiligen Ostern erleben wird." (Die Osterfastenzeit ist nämlich die längste
und sehr schwer zu halten, da die für diese Zeit erlaubten Nahrungsmittel nicht
in grösseren Mengen vorhanden sind.) Und in der That kann infolge der dürf-
tigen Nahrung, der angestrengten Arbeit und der verschiedenen anderen Um-
stände, die seiner Gesundheit nicht gerade dienlich sind, die Hoffnung auf ein
längeres Leben nicht sehr gross sein. Eine Verminderung der Fasttage, sowie
deren Verlegung in die Zeit, wo der Bauer weniger zu thun hat, würde eine
wesentliche Verbesserung seiner Lebenslage bedeuten.
Der Bauer verzehrt in grösseren Quantitäten weisse Bohnen, und zwar
wurden im Jahre 1890 für den inländischen Consum nicht weniger als 272 Mil-
lionen Hektoliter eingeerntet; weiter besteht seine Nahrung aus Erbsen, Zwiebeln,
Knoblauch, Weisskohl, Gurken und Fischen. Ausserhalb der Fastenzeit isst er
gewöhnlich Schweinefleisch, da jede Bauernfamilie zu Weihnachten ein oder zwei
Schweine schlachtet, ferner viel Hammelfleisch und Geflügel, weniger Rindfleisch.
Meist nimmt der Bauer nur zwei Mahlzeiten am Tage ein, im Sommer dagegen,
wenn er mehr arbeiten muss und die Tage länger sind, bringt er es auf drei,
auch vier Mahlzeiten täglich. Die jährliche Verbrauchsmenge für einen Bauer wird
auf ungefähr 530 kg geschätzt, ^) und zwar auf 360 leg Getreide, 150 hg Legum-
mosen, 10 Ä;^ Schweinefleisch, 5//^ anderes Fleisch und bhg Schmalz. Des
Bauers Lieblingsspeise ist die Polenta, ,,mämäliga". Diese Thatsache sucht man
auf verschiedene Weise zu erklären; man behauptet, der Hunger, unter dem der
Bauer oft gelitten, habe ihn an den Genuss dieser Speise gewöhnt; andere
erklären sie aus der Leichtigkeit, mit der diese Polenta zubereitet werden kann.
Sicher ist jedenfalls die Thatsache, dass der rumänische Bauer ohne den Genuss
der Polenta ,,mämäliga" sich nicht für satt hält. Brot wird in grösseren Quanti-
täten nur in Dobrogea und im Heere gegessen, da die tägliche Brotportion der
Soldaten sehr gross ist. Der Bauer verzehrt durchschnittlich 1 leg Maismehl mit
Y4 kg Käse am Tage.
*) Nach Dr. Cräiniceanu: „Locuinta, imbräcämintca si nutrementul feianului
romän. Bucuresci 1895."
Der Bauernstand in Eumänien, seine geschichtliche Entwicklung etc. 211
Was den Preis der täglichen Nahrung eines Bauern anbelangt, so sind die
Ang'aben darüber verschieden; Dr. Cräiniceanu berechnet ihn auf 20 Centimes
(16 Pfennig), andere auf 30 bis 40 Centimes. Der Preis von 40 Centimes würde
allerdings eine beinahe genügende Ernährung bedeuten, von der in Wirklichkeit
aber nicht die Eede sein kann. Wenn das Essen vielleicht auch mehr als
20 Centimes täglich kostet, so übersteigt der Preis doch in keinem Falle 30 Centimes ;
zu dieser Summe kommen dann noch 10 bis 15 Centimes für Alkohol und
10 Centimes für Tabak täglich hinzu.
Eine bessere und kräftigere Nahrung des Bauern ist also dringend erfor-
derlich. Kann doch infolge ungenügender Nahrung auch die Arbeitskraft der
Bauern nicht gross sein. Dr. Obedenariu sagt in dieser Beziehung: Obwohl der
rumänische Bauer eine sehr kräftige Natur besitzt und täglich dreimal soviel
arbeiten kann als ein bulgarischer Bauer, nimmt seine Kraft doch nach drei
Arbeitstagen bedeutend ab; dies kommt wahrscheinlich von der ungenügenden
Nahrung und eine Verbesserung derselben würde sicherlich eine Erhöhung seiner
Arbeitskraft und namentlich eine grössere Ausdauer zur Folge haben; denn der
Zustand eines Arbeiters kann im allgemeinen nicht sowohl durch höheren Lohn,
als durch Verbesserung seiner Nahrung gehoben werden.
Der Arbeitslohn ist in den verschiedenen Bezirken verschieden. Er steigt,
namentlich für Ausländer, manchmal auf 1*50, 2*50, ja sogar 3 und 4 Francs
pro Tag. Doch verstehen es die Grundbesitzer und Pächter vielfach, die Bauern
dazu zu zwingen, ihnen schon für einen Taglohn von 50 Centimes zu arbeiten.
Beachtenswert ist es aber, dass viele Arbeiter und Dienstboten aus den
Nachbarländern, besonders aus Ungarn, nach Rumänien kommen, da es der rumä-
nische Bauer nicht liebt, für andere zu arbeiten, und da er es für eine
Schande hält, seine Kinder bei anderen dienen zu lassen. Mit der intensiveren
Bearbeitung des Bodens, mit der Steigerung der Production des Landes wird
auch der Zuzug fremder Arbeiter immer grösser. So waren z. B. im Jahre 1888
im Bezirke Jassy 4600 Arbeiter einheimisch und nur 1650 aus der Bukowina,
im Bezirke Tekuci 53.493 Arbeiter einheimisch und nur 1344 aus Galizien und
Bukowina, während jetzt in diesen Bezirken die Zahl fremder Arbeiter bedeutend
überwiegt; Mangel an einheimischen Arbeitern herrscht auch in Dobrogea.
Nach officiellen Angaben kamen im Jahre 1887 auf jeden Bauer 30 bis
100 Hektar Acker zur Bearbeitung. Das jährliche Einkommen des Bauern ist
infolge der in grossem Umfange betriebenen Naturalwirtschaft schwer festzu-
stellen. Die Angaben darin sind infolgedessen auch verschieden. Ghika hat es
1875 auf 500, andere auf 875, endlich Dr. Cräiniceanu un Arion im Jahre 1894
auf 800 Francs geschätzt. Der Bauernstand hat sich bedeutend gehoben und
gegenwärtig kann das jährliche Einkommen eines Bauern nach meinen
Beobachtungen und auf Grund verschiedener Merkmale auf 900 Francs
berechnet werden.
Die Leistungsfähigkeit des rumänischen Bauern wird nicht nur durch
schlechte Nahrung, sondern auch durch die Ungunst des Klimas sehr beeinträchtigt.
Im Sommer, wo am meisten Arbeit ist, herrscht oft eine unerträgliche Hitze,
während im Winter, wo mehr geleistet werden könnte, der Bauer keine Arbeit
14*
212 Creangä.
hat, da der Ackerbau natürlich ruht und er eine andere Beschäftigung überhaupt
nicht kennt. Ausserdem wird er durch die Religion, d. h. durch die zahlreichen
Feiertage von der Arbeit abgehalten und zum Nichtsthun verleitet. Eine Vermin-
derung der Feiertage wäre daher umsomehr wünschenswerter, als viele gar keine
oder nur äusserst geringe religiöse Bedeutung haben und nur durch die Ueberlieferung
aufrechterhalten werden.
Wie schon erwähnt, kennt der Bauer bisher keine Industrie, die er im
Winter betreiben und sich dadurch seine Existenz erleichtern könnte; er ist also
nur auf seine im Herbste geernteten Producte angewiesen und befindet sich bei
etwaiger schlechter Ernte jedesmal in grösster Noth. Doch wurden in letzter
Zeit Vorkehrungen getroifen, um den Bauern auch eine Ausbildung in verschie-
denen Industriezweigen zu ermöglichen.
Leider fehlt es in der Umgebung des Bauern an Menschen, die ihn zu
einem ordentlichen Lebenswandel und zu grösserem Fleisse anspornen. Der
Schankwirt muntert ihn in eigenem Interesse zum Trinken auf, und nur allzu
häufig ergibt er sich der Trunksucht, was natürlich die völlige Erschlaffung zur
Folge hat. Selbst der Pfarrer, dem doch die Hebung des Bauernstandes am
Herzen liegen sollte, thut nichts in dieser Beziehung. Von den in letzter Zeit
eingeführten Neuerungen betreffs der Pfarrverhältnisse erhofft man auch hierin
eine Besserung. Die gegenwärtige Generation der Lehrer lässt ebenfalls viel zu
wünschen übrig und bekümmert sich so gut wie gar nicht um die Bauern. Auch
die Inamovibilität des Beamtenthums, besonders der inneren Verwaltung, würde
für den Bauernstand von grösstem Nutzen sein. Die Gutspächter (fast aus-
schliesslich Griechen und Juden) suchen die Hebung des Bauernstandes sogar
zu hintertreiben, da sie sonst nicht mehr soviel Nutzen aus ihm ziehen könnten.
Denn nur so ist es ihnen möglich, in guten Erntejahren oft einen Reingewinn
viermal so gross als die Pachtsumme zu erzielen, wobei weniger die Ergiebigkeit
des Bodens (infolge der extensiven Bearbeitung) als vielmehr die Niedrigkeit der
Arbeitslöhne eine Eolle spielt. Ein Abgeordneter behauptete im Parlament, die
Grossgrundbesitzer und Gutspächter erkauften die Arbeitskraft des Bauern in den
meisten Fällen für 40 bis 50 Centimes täglich. Hieraus erklärt sich auch die
Thatsache, dass in Rumänien — im Gegensatze zu England und Holland — das
Pachtsystem so sehr beliebt und verbreitet ist. Die Grossgrundbesitzer — nur
Rumänen, da es verfassungsgemäss den Fremden nicht erlaubt ist, in Rumänien
Grundbesitz zu erwerben — deren moralische Pflicht die Erziehung und Hebung
des Bauernstandes sein müsste, halten sich im allgemeinen nicht auf ihren
Gütern auf und kümmern sich am allerwenigsten um die Bauern ; sie leben meist
im Auslande und man kann es nur gutheissen, dass die im Auslande sich auf-
haltenden Grossgrundbesitzer seit 1886 dem doppelten Steuersatze unterworfen
sind — sie müssen 12 statt 6 Proc. zahlen.^)
Zur Zeit der Leibeigenschaft war die Unthätigkeit der Bauern erklärlich
und völlig entschuldbar, da nur ein äusserst geringer Theil des Ertrages seiner
^) Diese vorzügliche Einrichtung geschah auf Vorschlag des berühmten Staats-
mann Rumäniens Bräteanu.
Der Bauernstand in Eumänien, seine geschichtliche Entwicklung etc. 213
Arbeit ihm zufloss. In der Walachei und in einigen Bezirken der Moldau haben
die Bauern jetzt auch schon einen recht erfreulichen Unternehmungsgeist; sie
pachten von den Grossgrundbesitzern, bezw. von den Gutspächtern Grund und
Boden, um es selbst zu bewirtschaften, und das Gesetz gewährt ihnen auch
Befreiung von der Gewerbesteuer, um sie zu grösserer Thätigkeit anzuspornen.
Leider sind die Grossgrundbesitzer und Gutspächter auch heutzutage noch
berechtigt, die Eückzahlung des dem Bauern geliehenen Capitals, Getreides u. dgl.
durch Arbeitsleistung zu verlangen. Dieser Thatsache werden immer eine Menge
von Misständen und -brauchen entspringen, und eine Abänderung ist hier drin-
gend geboten.
Den rumänischen Bauern geht der Sparsamkeitssinn völlig ab. Bereits in
der Mitte des Winters sind alle im Herbst eingesammelten Bodenprodncte ver-
zehrt, und nun bleibt ihnen nichts anderes übrig, als Anleihen beim „Creditul
agricol" oder bei anderen zu machen; gewöhnlich geht der Bauer dann aber
zum Grossgrundbesitzer oder Pächter, verpfändet für eine geringe Quantität Ge-
treide seine Arbeitskraft zum nächsten Frühling; zumeist erkaufen da die Pächter
die Arbeitskraft des Bauern uin 40 bis 50 Centimes pro Tag. Da nun der Bauer
von dieser Einrichtung im Laufe des Winters öfters Gebranch macht, so schuldet
er dem Pächter oder Grossgrundbesitzer auch eine grosse Zahl von Arbeitstagen.
Diese nehmen aber die Arbeitskraft des Bauern immer nur zur günstigsten Be-
stellungs- oder Erntezeit in Anspruch, so dass dem Bauer nur die schlechte,
regnerische Zeit zur Bearbeitung des eigenen Grundstückes bleibt. Erlassen wird
dem Bauer natürlich kein Tag; kann er seinen Verpflichtungen im Frühling nicht
ganz nachkommen, so muss er im Herbst weiterarbeiten, und reicht auch diese
Zeit noch nicht aus, so werden die übrigen, sowie die im neuen Winter eventuell
noch hinzukommenden Tage für den nächsten Frühling aufgespart; so kommt es
vor, dass der Bauer zu mehr Arbeitstagen verpflichtet ist, als die Ackerbauzeit
überhaupt enthält.
Wie schon erwähnt, hat die Eegierung in Verbindung mit hervorragenden
Personen, um den Bauer vor diesen Missbräuchen zu schützen, im Jahre 1881
den „Creditul agricol" errichtet, welcher den Bauern jederzeit, namentlich aber
im Frühling, wo sie dessen am meisten bedürfen, Vorschüsse zu gewähren hat.
Diese Einrichtung hat aber leider nicht den gewünschten Erfolg. Die Ursache
liegt in dem zu grossen Zinsfusse, in der Armut des Bauern, der die Zinsen und
die Schuld nicht zahlen konnte, umsomehr, als viele das Geld für unnützige Be-
dürfnisse verausgaben — ein grosser Theil gieng immer in die Taschen des
Schankwirtes — so dass viele Executionen unvermeidlich waren. Auch dem Ver-
waltungspersonal des „Creditul agricol" soll viel Schuld zur Last fallen. Auch
Sparcassen, „Casede econoraii", besonders für die Bauern, wurden errichtet. Von
1881 bis 1883 waren in diesen Sparcassen nur 2^/^, 1895 21 V2 Millionen
Francs eingelegt. Um die Sparsamkeit bei den Bauern mehr einzubürgern, gründete
man auch Schulsparcassen.
Auch der Hang zum Trinken hemmt den Bauer in seiner moralischen,
culturellen und ökonomischen Entwicklung. Schankwirte waren bis zum Jahre 1885
fast nur Juden. Wie diese die Bauern nach allen Richtungen hin aussogen,
214 Creangä.
schildert der Dichter V. Alexandri in seinem Gedicht „Blutegel der Land-
gemeinden" vortrefflich. Die Schankwirte suchten bei jeder Gelegenheit den Bauer
zum Trinken anzuregen, waren auch stets bereit, ihm Geld zu leihen, und zwar
gegen Zinsen, die binnen kurzer Zeit mehr betrugen als das geliehene Capital,
und verfälschten ausserdem die Getränke fast immer durch schädliche Substanzen.
Ein Gesetz von 1885 suchte diesem Uebel abzuhelfen; es bestimmte, dass die
Schankwirtschaft nur diejenigen ausüben dürfen, die das Wahlrecht besitzen,
d. h. nur Kiimänen; trotzdem gelang es einigen Juden, ihr altes Gewerbe noch
lange Zeit weiter zu betreiben. Ferner versuchte man, den Alkoholconsum durch
hohe Steuern zu vermindern — durch die indirecte Alkoholsteuer und durch die
directe Schankwirtschaftsteuer, die sogenannte „Licenzabgabe" — aber ohne Er-
folg; ja, Krupensky, der Directör der Statistik Rumäniens, hat statistisch nach-
gewiesen, dass mit der Erhöhung der Steuer auch der Alkoholconsum in gleichem
Maasse zugenommen hat.
Die Schankwirte selbst sind hart besteuert, weniger aus finanziellen, als
vielmehr aus volkswirtschaftlichen Rücksichten, um die Zahl der Schankwirtschaften
herabzumindern; trotzdem ist ihre Zahl in stetem Wachsen begriffen; so gab es
im Jahre 1880 25.533, 1890 25.866 und 1893 27.111 Schankwirtschaften,
und zwar 17.520 in Dörfern und 9590 in den Städten; es kommt also eine
Schankwirtschaft auf 237 Dorf- und auf 86 Stadtbewohner. Im Jahre 1893
wurden im Inland 310,945.295 Liter Wein, 30,866.285 Liter Alkohol und
3,247.990 Liter Bier consumiert, d. h. 56-42 Liter Wein, 5-6 Liter Alkohol
und 0 6 Liter Bier pro Kopf der Bevölkerung. Nach der in Conrads Handwörter-
buch aufgestellten statistischen Tabelle nimmt unter den europäischen Ländern
Rumänien dem Weinconsum nach die siebente und dem Alkoholconsum nach die
dritte Stelle ein.
Trotz aller dieser Erfahrungen und Meinungsverschiedenheiten halte ich
jedoch an der Ansicht fest, dass man durch weitere Steuererhöhung eine Ver-
minderung des Alkoholconsums erreichen würde. Die hohe Wein- und Biersteuer
dagegen erscheint als sehr unbillig; ihre Herabsetzung wäre sehr erwünscht,
zumal wahrscheinlich dadurch der Alkoholconsum vermindert und durch diese
Getränke ersetzt würde; denn gegenwärtig trinken die Bauern trotz der grossen
Production nur sehr wenig Wein und fast gar kein Bier, dafür aber desto mehr
gesundheitsschädlichen Alkohol. Besonders schädlich war der Alkoholgenuss vor
dem Gesetz von 1893, da der Alkohol bis dahin meist unraffiniert in den Handel
kam, was seither verboten ist. Vielfach wurde auch die Einführung des Alkohol-
monopols geplant und gegenwärtig arbeitet man an einem Entwurf zur Verwirk-
lichung dieses Planes nach Alglave'schem Muster; und man beabsichtigt, Alglave
zu diesem Zwecke aus Paris nach Rumänien zu berufen. Das Alkoholmonopol
kann in der That günstige volkswirtschaftliche, sowie finanzielle Wirkungen zur
Folge haben. Doch würden seiner Einführung grosse Schwierigkeiten entgegen-
treten. Einmal würde die sehr entwickelte Pflaumenindustrie ungemein darunter
leiden, weshalb auch die Besitzer der Pflaumengärten besonderen Widerstand
leisten; anderseits würde die Regierung wohl schwerlich in der Lage sein, die
gange producierte Alkoholquantität kaufen zu können. Den Einwand, dass die
Der Bauernstand in Eumänien, seine geschichtliche Entwicklung etc. 215
Einführung des Alkoholmonopols nach Alglave'schem Muster die Vertreibung der
Trunksucht aus den Schankwirtschaften und ihre Einschleppung in die Familie,
sowie ihre Verbreitung über sämmtliche Familienmitglieder zur Folge haben
würde, halte ich für unbegündet, obwohl er auch unleugbar einen Kern "von
Wahrheit enthält.
Die Einführung eines Schankwirtschaftsmonopols ist bei den herrschenden
politischen Partei- und Wahlkämpfen unmöglich ') und würde nicht die gewünschten
Wirkungen haben. Dagegen halte ich die gesetzliche Beschränkung der Zahl der
Schankwirtschaften für sehrwohl durchführbar und für ungemein vortheilhaft;
vielleicht in der Weise, dass dabei die Entfernung der Wirtshäuser voneinander
und die Einwohnerzahl berücksichtigt wird. Ausserdem müsste man sich bemühen,
die Bauern auch an andere Getränke, wie Limonade, Thee, Kaffee u. dgl. zu
gewöhnen; in einigen Bezirken der Moldau hat man mit Limonade schon einige
Erfolge erzielt.
Als weitere Maassregeln wurden verlangt : die Gewährung von Prämien für
Obstwein- und Bierfabrikanten, sowie für Alkoholexport — im Jahre 1898/99
im Budget 400.000 Francs — eine starke Controle der Getränke, das Verbot,
Kindern Zutritt zu Gasthäusern zu gewähren oder ihnen den Alkoholgenuss auf
andere Weise zugänglich zu machen, sowie bereits berauschten Personen noch
weitere Getränke zu verabfolgen und schliesslich noch die Verfügung, nur gegen
sofortige Barzahlung Alkohol zu verkaufen. Ich würde auch auf die Bildung von
Mässigkeitsvereinen grosse Hoffnungen für die Hebung des Bauernstandes setzen.
Ein vortreffliches Beispiel gibt darin die Bukowina ; dort haben sich schon viele
Bauern untei Einwirkung des Pfarrers und Lehrers fest entschlossen, sich des
Alkoholgenusses gänzlich zu enthalten; der Erfolg blieb nicht aus, zahlreiche
Schankwirtschaften mussten geschlossen werden, und die Zeitungen berichten auch
jetzt noch des öfteren von solch erfreulichen Vorkommnissen. ^)
Unter den Krankheiten, an denen die Bauern am häufigsten zu leiden
haben, ist die bekannteste die Pelagra. Dass diese Krankheit eine Folge des
Maismehlgenusses (des unreifen und verdorbenen), wird auch dadurch bestätigt,
dass in der Dobrogea, wo fast ausschliesslich Brot gegessen wird, diese Krank-
heit unbekannt ist. Leider aber ist in dem grössten Theile Kumäniens Mais schon
seit Jahrhunderten das Hauptnahrungsmittel der Bauern. Die Zahl der Pelagra-
kranken belief sich im Jahre 1888 auf 10.000, 1892 auf 16.488 und 1895
auf 7531. Ob die Abnahme der letzten Jahre eine andauernde oder nur eine vor-
übergehende Erscheinung ist, lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen. In letzter
Zeit sind Maassregeln gegen diese Krankheit, sowie verschiedene Verfügungen
betreffs des Genusses von nur reifem und gutem Maismehl getroffen worden.
Ausserdem leidet die Landbevölkerung auch viel an Sumpffieber. Ursachen
sind die zahlreichen Sümpfe in der Nähe der Ortschaften, die noch zahlreicheren.
•) In dieser Parlaraentssession (1900/1) wird jedoch ein Entwurf für das Schank-
wirtschaftsmonopol den Kammern vorgelegt, aber nur für die ländlichen Gemeinden. Man
beabsichtigt nämlich, viele Wucherpflanzen, die die Bauern aussaugen, zu ersticken.
-) Neulich wurde endlich in Jassy eine Antialkoholliga (Verein) gegründet. Man
erwartet sehr günstige Resultate.
216 Creangä.
seit langer Zeit nicht ausgetrockneten Wasserpfützen auf den Strassen, die
mangelhafte Canalisation und der Mangel an gutem Trinkwasser auf dem Lande
wie in der Stadt. Die Zahl der am Sumpffieber erkrankten Personen betrug im
Jahre 1894 181.993, 1895 149.065. Eine bei den Bauern sehr verbreitete
Krankheit ist ferner die ägyptische Augenkrankheit. Sie wurde im Jahre 1862
nach Kumänien eingeschleppt, fand besonders im Heere Eingang und wurde von
den zur Reserve entlassenen Soldaten auf die ländliche Bevölkerung übertragen.
Die Zahl der an der ägyptischen Augenkrankheit leidenden Personen belief sich
im Jahre 1894 auf 6000.
Mit Befriedigung kann constatiert werden, dass in letzter Zeit viele und
wohlthätige Vorkehrungen in hygienischer Beziehung in Rumänien getroffen
worden sind. Es wurden z. B. in allen Bezirken Krankenhäuser errichtet. Im
Jahre 1895 gab es schon 33 ländliche Spitäler mit 1167 Betten und gegen-
wärtig beläuft sich die Zahl derselben sogar auf 40.
Die vielen Krankheiten, sowie die andern erwähnten Factoren, die auf den
Gesundheitszustand der Bevölkerung ungünstig einwirken, machen sich natur-
gemäss auch in der Aushebung zum Militär geltend. Es wurden nämlich bei der
Aushebung im Jahre 1891 von 60.459 Stellungspflichtigen 3496, also 5'8 Proc,
für untauglich erklärt, im Jahre 1896 von 58.090 Stellungspflichtigen
4132, also 7*4 Procent. Auch die Bevölkerungszunahme war infolge der
erwähnten Factoren nur äusserst gering. Fast alle Schriftsteller, die sich mit der
rumänischen Bevölkerung beschäftigten, bezeichnen als Ursache dieser geringen
Zunahme die vielen Krankheiten. So betrug von 1859 bis 1889 der Ueberschuss
der Geburten über die Todesfälle nur 1,090.000, also durchschnittlich nur
36.300 in einem Jahre. Die Hauptursache dieser minimalen Zunahme liegt meines
Erachtens in der hohen Entschädigung, die die Bauern an ihre Gutsherren zu-
gleich mit den hohen Steuern zahlen mussten. Die kleinste Bevölkerungszunahme
war nämlich von 1866 bis 1880, also gerade in der Zeit, als die Bauern diese
drückenden Geldsummen zahlen mussten. Von 1867 bis 1876 betrug die Zahl
der Geburten 30*1 pro Mille und die der Sterbefälle 26*5 pro Mille, an Ge-
burten also nur ein Ueberschuss von 3*6 pro Mille, während man schon das
Land, dessen Bevölkerungszunahme 10 pro Mille nicht übersteigt, als ein zurück-
gehendes bezeichnen könnte. Nach allen statistischen Angaben hat die Bevöl-
kerungszunahme seit 1881 ihren normalen Gang genommen und hat sogar
10 pro Mille auch überstiegen. Der Ueberschuss der Geburten betrug im Jahre
1893 52.319, 1895 82.223. Im letzten Jahre belief sich also die Bevölkerungs-
zunahme auf 15 pro Mille und durchschnittlich in den letzten drei Jahren auf
llYjj pro Mille, so dass Rumänien nur noch von folgenden Ländern übertroffen
wird: Von den Niederlanden (mit 14'5 pro Mille), Norwegen (mit 13*9 pro
Mille), England (mit 13'4 pro Mille), Deutschland (mit 12*2 pro Mille) und
Schweden (mit 11*7 pro Mille). Gegenwärtig ist die Natalität in Rumänien sehr
gross, und zwar 44"2 pro Mille; nur Russland (mit 48 pro Mille) und Oesterreich-
Ungarn (mit 44*8 pro Mille) kommen noch höher. Die Mortalität ist aber im
Verhältnis zur Natalität viel grösser, und zwar 28'99 pro Mille; sie wird nur
noch von Russland (mit 34 pro Mille) und Oesterreich-Ungarn (mit 31 pro Mille)
Der Bauernstand in Euniänien, seine geschichtliche Entwicklung etc. 217
übertroifen. Besonders gross ist die Sterblichkeit bei den Kindern der ärmeren
Classen; die Ursache liegt zweifellos in der mangelhaften Nahrung und Pflege.
Ungemein gross ist die Sterblichkeit auch auf dem Lande. Zweifellos würde eine
Hebung des Bauernstandes zugleich auch eine grössere Bevölkerungszunahme zur
Folge haben. Besteht doch die Bevölkerung Eumäniens zu 82Y2 Pi'oc. aus
Landbewohnern und nur zu 11^ /^ Proc. aus Städtern.
Leider bekümmert sich die Bäuerin wenig oder gar nicht um ihre oder
ihrer Kinder Gesundheit. Schon als Wöchnerin fängt sie wieder an zu arbeiten,
erkrankt dann leicht und mit ihr das Kind, das sie nährt. Ihre, sowie des Kindes
Kleidung ist sehr dürftig und mangelhaft und die Nahrung noch viel unzurei-
chender. Unter diesen Umständen ist die Sterblichkeit naturgemäss eine sehr
grosse, zumal die Kinder ein Drittel der gesammten Bevölkerung ausmachen.
Erwähnenswert ist ferner, dass die ländlichen Hebammen bisher wenig befriedi-
gende Kesultate erzielt haben, dass man aber durch ein neues Eeglement bessere
Erfolge zu erreichen hoift. In letzter Zeit beobachtet man auch auf dem platten
Lande, dass viele in wilder Ehe lebten; dies ist wohl auf die Schwierigkeiten
der dortigen Eheschliessung zurückzuführen. Die Zahl der unehelichen Kinder ist in
Euraänien aber doch verhältnismässig geringer als in den meisten andern Ländern.
Zur Hebung der wirtschaftlichen Lage der Bauern würde auch die Hebung
ihres geistigen Niveaus beitragen. Der rumänische Bauer ist recht intelligent ; er besitzt
eine leichte Auffassungsgabe und ist bei einiger Anleitung fähig, viel zu leisten.
Nach dem Gesetze von 1864 ist nun zwar jedes acht- bis zwölfjährige Kind
schulpflichtig. Es waren aber stets mehr Schulpflichtige als Schulplätze da, in-
folgedessen konnten sie nicht alle aufgenommen und unterrichtet werden. So
betrug die Zahl der Schulplätze 186.403, die Zahl der Schulpflichtigen dagegen
im Jahre 1885 301.329, im Jahre 1894 634.342. Besucht waren die Schulen
im Jahre 1891/92 nur von 137.580 Schülern, im Jahre 1894/95 nur von
246.000 Schülern. Im letzten Jahre waren also mehr Schüler als Schulplätze.
Es gibt 114.446 Schulpflichtige, in deren Geburtsort und dessen Umkreise von
3 Kilometer sich noch keine Schule vorfindet. Die Zahl der Schulen auf dem
Lande belief sich im Jahre 188889 auf 2773, im Jahre 1894 auf 3147. Die
Schwierigkeiten liegen im Mangel an ländlichen Schulen, in der grossen Entfer-
nung der Schule vom Elternhaus, was besonders im Winter fühlbar wird, wenn
die Kinder sogar mehr als 6 Kilometer zurücklegen müssen, ehe sie zur Schule
gelangen, an der geringen Energie der Eltern und Lehrer, sowie an der ungün-
stigen Zeit, in der der Unterricht stattfindet.
Der General-Unterrichtsinspector der ländlichen Schulen, Friedrich Dame',
will mit Eücksicht auf die Zeit, in welcher die Eltern ihre Kinder für die
häusliche Arbeit brauchen, die Unterrichtsstunden zwischen 10 und 2/^^ Uhr
(anstatt von 8 bis 12 und 2 bis 4 Uhr) verlegt wissen, ferner verlangt er
für die Errichtung von 2000 neuen, sowie für die Eeparierung von eben-
soviel alten Schulen vom Staate im Laufe der nächsten 15 Jahre nicht weniger
als 80,000.000 Francs. ^
Aus diesen statistischen Angaben wird es begreiflich, dass im Jahre 1892
von 29.950 Eecruten nur 3115 lesen und schreiben konnten, also mehr als
218 ■ Creangä.
80 Proc. überhaupt keine Elementarkenntnisse besassen. In letzter Zeit sind aller-
dings strenge Maassregeln zur Hebung des Schulunterrichtes getroffen; sie wirken
bereits günstig und man kann für die Zukunft das Beste hoffen. Für die Errich-
tung von ländlichen Schulen ist bereits ein Fond von 30,000.000 Francs
gegründet und daraus schon viele Schulen mit dem nothwendigen Zubehör gebaut
worden. Uebrigens übt auch das Heer in dieser Beziehnng einen wohlthätigen
Einfluss auf die Bauern aus; denn wer nicht lesen und schreiben kann, rauss es
hier als Eecrut lernen, und wer bereits die elementarsten Kenntnisse besitzt, hat
hier Gelegenheit, sich weiterzubilden; zu diesem Zwecke ist nämlich in jeder
Kaserne ein Cursus für gewisse Unterrichtsgegenstände eingeführt.
In mehreren Bezirken wurden auch Landwirtschaftsschulen errichtet, um
den Bauer mit der intensiven Bodencultur bekannt zu machen. Ferner gibt es
schon mehrere Handwerkerschulen, die die Bauern in solchen Industriezweigen
unterweisen, die im Winter leicht auszuüben sind. Ausserdem sind mehrere
Staatsdomänen zu Mustergütern umgestaltet, die dem Grossgrundbesitzer wie dem
Bauer als Beispiel für eine ergiebige Bebauung des Grund und Bodens, den
Schülern nach Absolvierung der landwirtschaftlichen Schulen zur praktischen
Weiterbildung und endlich zur besseren Entwicklung der Viehzucht dienen
sollen.
Die ehemals so entwickelte Bienenzucht geht jetzt leider sehr zurück; die
Regierung hat aber auch in dieser Beziehung schon dankenswerte Einrichtungen
getroffen. Sie hat Sachverständige von ausserhalb kommen und von diesen mehrere
Musterbienenzüchtereien einrichten lassen, welche dem Bauer zum Vorbild dienen
sollen. Ferner sind für die Seidenraupenculturen Curse mit theoretischer und
praktischer Anleitung eingerichtet worden. Auf Kosten der Regierung schickt
jeder Bezirk einen Delegierten zu diesen Cursen, der nach der Rückhehr die
erworbenen Kenntnisse an die Bauern weiterverbreiten muss. Nach Xenopol
könnte der Bauer aus einer gut gepflegten Seidenraupencultur einen jährlichen
Nutzen von 100 bis 150 Francs erzielen.
Während die Zahl der Tuchfabriken sich in ganz Rumänien nur auf sechs
beläuft, ist die Schafzucht dort eine ungemein entwickelte; so gab es z. B. im
Jahre 1892 6 Millionen Schafe. Um deren Zucht zu verbessern, hat die Regierung
Professor Freitag aus Heidelberg berufen.
Weinbau wird in grossem Umfange getrieben, und die Regierung lässt es
eich sehr angelegen sein, der ländlichen Bevölkerung den Weinbau zu ermög-
lichen und sie dazu anzuspornen, zumal dadurch ja auch der Alkohol immer
mehr verdrängt würde. In letzter Zeit hat aber die Reblaus den Weinberg-
besitzern grossen Schaden verursacht; die Regierung Hess die amerikanische Rebe
in verschiedenen Bezirken einführen und auf Staatsdomänen ungefähr 514 Hektar
mit amerikanischen Reben bepflanzen. Leider machten in dieser Beziehung von
■der Staatsunterstützung aber nur die Grossgrundbesitzer Gebrauch, während die
Bauern sich von dieser Cultur fernhielten, zumal ihnen ja auch die nothwen-
digsten Kenntnisse dazu fehlten. Im ganzen waren im Jahre 1895 189.104 Hektar
mit Wein bebaut und die Ernte erzielte in demselben Jahre 3,372.630 Hekto-
liter Wein.
Der Bauernstand in Rumänien, seine geschichtliche Entwicklung etc. 219
Sehr viel und nützliche Anregung wurde den Bauern durch die Kron-
domänenverwaltung gegeben; indem auf diesen Domänen Musterwirtschaften
errichtet, ausserdem 30 Volksschulen und ebensoviel Kirchen gebaut wurden.
Ausserdem wurde in jeder Schule ein Cursus für Hausindustrie eingerichtet, in
dem die Knaben Tische, Stühle, Körbe u. dgl. anfertigen lernen, während die
Mädchen im Nähen und Weben unterwiesen werden. Auf den Krondomänen wurden
auch in grösserem Umfange Kartoffeln gebaut, die bisher nur wenig bekannt
waren. Zur Hebung der Cultur ist auch eine Bibliothek für die Bauern gegründet,
aus der sie die gewünschten Bücher unentgeltlich entleihen können. In jeder
Schule ist eine Nationalfahne angebracht, um das Nationalgefühl unter den
Kindern zu heben, und die Königin Elisabeth hat sich selbst die grösste Mühe
gegeben, das Nationalcostum zu erhalten und weiter auszubilden. Ausserdem
wurden zur Hebung des Bauernstandes von hervorragenden Personen auch einige
Privatvereine gegründet, Volksbibliotheken errichtet, wozu auch die Regierung
200.000 Francs beisteuerte; ferner werden für die Bauern Vorträge gehalten
und periodische Volksblätter herausgegeben; bisher ist jedoch leider mit allen
diesen Maassnahmen noch kein besonderer Erfolg erzielt!
Die Steuerlast des Bauern ist nur in Anbetracht seiner ungünstigen wirt-
schaftlichen Lage und der wenig gerechten Vertheilung eine drückende zu
nennen. An Staatssteuern zahlt der Bauer die Wegesteuer (in Wirklichkeit eine
Kopfsteuer) im Betrage von 6 Francs, die mit den Bezirks-, Communal- und
Erheb angszuschlägen ungefähr 9*50 Francs ausmacht. Diese Steuer wird in
gleicher Weise vom Grossgrundbesitzer wie vom Bauer, vom Millionär wie vom
Arbeiter erhoben. Der Rentier mit 100.000 Francs Jahreseinkommen zahlt, da
eine Capitalrentensteuer nicht existiert, für die Erhaltung des Staates weniger
als der Bauer mit einem Besitze von 6 Hektar. Die Ungerechtigkeit der Kopf-
steuer ist umso grösser, je geringer das jährliche Einkommen des Bauern ist
und je entwickelter die indirecten Steuern sind.
Wenn man den Ertrag von einem Hektar mit 25 Francs annimmt, so
ergibt sich, dass der Bauer mit 5 Hektar 6 Francs und der mit 11 Hektar
12^/2 Francs als Grundsteuer zahlt; rechnet man die Kopfsteuer dazu, so ergeben
sich ausser der umfassenden Communalaccise (168 Consumartikel sind mit einer
Steuer belegt) 20 Francs. Dazu kommt nun noch, dass die indirecten Steuern
zweifelsohne am meisten die Bauern treffen, und zwar: die Salzsteuer mit
6V2. die Alkoholsteuer mit 16 und die Tabaksteuer mit 37*7 Millionen Francs,
während die directen Steuern, welche eine Ausgleichung mit den indirecten und
daher die stärkere Belastung der wohlhabenden Classen bilden müssten, nur
29 Millionen Steuerertrag bringen.^) Hieraus kann man leicht ersehen, ob der
Bauer schwer oder unbedeutend durch die Steuern belastet wird, ob sein jähr-
liches Einkommen von höchstens 900 Francs die Gesammtsteuerlast zu tragen
1) Die indirecten Steuern betragen insgesammt rund 118 Millionen Francs.; die
Zölle, Zuckersteuer, Petroleumsteuer und das Cigaretlenpapierraonopol — beide letzteren
1900 eingeführt — treffen aber die ländliche Bevölkerung nicht so stark; wohl aber die
jetzt (Octüber 1900) eingeführte Slivowitzsteuer.
220 Creangä.
fähig ist oder nicht, ob die Steuervertheilung also gerecht oder reform-
bedürftig ist. ^)^)
Die gegenwärtige Lage des rumänischen Bauernstandes stellt uns ein wenig
erfreuliches Bild dar; aber man darf nicht vergessen, dass zu seiner Hebung bereits
sehr viel Vorkehrungen getroffen sind, die theilweise schon mit einigem Erfolg
gekrönt waren; man muss ferner berücksichtigen, dass seit seiner Befreiung erst
36 Jahre verflossen sind, und dass man nach dieser kurzen Zeit kaum glänzende
Zustände erwarten darf.
Wenn nun auch die Lage des Bauernstandes gegenwärtig noch zu wünschen
übrig lässt, so ist der Gesammtfortschritt des Landes dafür ein unleugbar grosser ;
und dieses Fortschrittes wird man sich nur dann ganz deutlich bewusst sein,
wenn man einen Vergleich zieht zwischen den Donaufürstenthümern von 1859
und dem heutigen Eumänien. Eine einzige Zahl sei hiefür angeführt: 81 Proc.
des gesammten Territoriums sind in Eumänien bebauungsfähig; es ist darin allen
übrigen Ländern voraus; denn in den Vereinigten Staaten von Nordamerika
befinden sich nur 69 Proc. in Ungarn 67*35 Proc, und in Frankreich 55'39 Proc.
des ganzen Grund und Bodens in culturfähigem Zustande.
Während nun aber im Jahre 1862 nur 17"32 Proc. des gesammten
Grund und Bodens bewirtschaftet und aus einem Hektar ein Ertrag von 9 Hekto-
liter erzielt wurden, war der Ertrag im Jahre 1892 auf 15 Hektoliter und der
Procentsatz des in Cultur befindlichen Territoriums auf 33 Proc. des Areales
gestiegen.
Allerdings bleibt die Hebung des Bauernstandes noch eine brennende
Frage, eine Frage, von deren Lösung die volkswirtschaftliche Entwicklung und
sogar die Zukunft Rumäniens abhängt, denn : „Pauvre paysan, pauvre royome,
pauvre pays" und umgekehrt: „Hat der Bauer Geld, so hat's die ganze Welt."^)
1) Siehe auch mein Werk: „Die directe Basteuerung in Preus-en und Rumänien.
Berlin."
2) In dieser Parlamentsession wird eine Capitalrentensteuer eingeführt und die
Wegesteuer in ein impöt personel et mobilier nach französischem Muster umgewandelt.
3) Die Ereignisse der allerletzten Zeit brachten die Bauernfrage in eine neue
Phase. Die liberale Partei, deren früheren Mitglieder die Bauernbefreiung vollgezogen
haben, will das Werk zur Vollendung bringen.
Auf Initiative des Herrn D. A. Sturdza, Chef der liberalen Partei, P. S. Aurelianu
und andere sind eine Eeihe vortreflflicher Maassnahmen in Aussicht genommen, die
sobald die Partei zur Eegierung kommt, sofort verwirklicht werden sollen. Man hofft die
günstigsten Resultate.
LITEßATUßBERIOIlT.
Das Getreide im Weltverliehr. Vom k. k. Ackerbauministerium vorbereitete
Materialien für die Enquöte über den börsemässigen Terminhandel mit landwirtschaftlichen
Producten.
I. Statistische Tabellen über Production, Handel, Consum,
Preise, Frachtsätze und Kündigungen. — II. Graphische Darstel-
lungen der Preisbewegung. — III. Erläuternde Bemerkungen. —
Wien. Commissionsverlag von Wilhelm Frick. Aus der k. und k. Hof und Staats-
druckerei 1900. I. Bd. XXIV und 860 Seiten Lex. 8". — III. Bd. IV und 188 Seiten
Lex. 8».
Schon seit Jahren hat sich das österreichische Ackerbanrainisterinm mit Unter-
suchungen über die Eiickwirkungen des Getreideterminhandels auf die österreichische
Landwirtschaft beschäftigt. 1898 nahmen diese Arbeiten eine festere Gestalt an, und man
beschloss, eine umfassende Enqufite einzuberufen, in der der börsemässige Terminhandel
mit landwirtschaftlichen Producten eine eingehende Erörterung erfahren sollte. Wie
späterhin der Vorsitzende dieser Enquöte in der Eröffnungsrede erklärte, beabsichtigte
die Eegierung, der Frage der Reform des börsemässigen Terminhandels näherzutreten,
hielt es aber für unbedingt nöthig, vorher die Vertreter der interessierten Kreise und
insbesondere auch die Vertreter der Wissenschaft zu hören. Um nun diesen Personen
ihre Aufgabe zu erleichtern und eine vollkommenere Klarstellung der Verhältnisse zu
erzielen, als sie durch die Enquete bewirkt wurde, welche im Januar 1897 vom land-
wirtschaftlichen Ausschusse des Abgeordnetenhauses abgehalten wurde, trachtete das
Ackerbauministerium, ein umfassendes, hauptsächlich statistisches Material aus allen jenen
Gebieten des Wirtschaftslebens zu beschaffen, die, wenn auch nur indirect und entfernt,
vom Getreideterniinhandel beeinflusst werden. Diesen Zielen und Plänen des Ackerbau-
ministeriunis verdankt das vorliegende Werk : Getreide im Weltverkehr seine
Entstehung.
Es besteht aus drei Theilen. Der erste, weitaus umfangreichste Theil wurde
von der österreichischen statistischen Centralcommission hergestellt und enthält aus-
schliesslich statistische Tabellen, welche die Getreideproduction, den Getreidehandel,
die Frachtsätze für Getreide, endlich die Consumtion und die Preise von Getreide aller
Art in allen für diese Momente, wenn auch nur einigerniaassen wichtigen Staaten auf
30, 40, theilweise 60 Jahre und vereinzelt bis ins vorige Jahrhundert zurück darstellen.
Selbstverständlich ist dem Preiscapitel der grösste Raum, mehr als die Hälfte des Bandes
(490 Seiten) gewidmet. Ebenso ist unter den verschiedenen Staaten Oesterreich-Ungarn
weitaus am meisten (mit 433 Seiten) berücksichtigt. Hier geht die Darstellung bis ins
feinste Detail. So sind die Preise der fünf Getreidearten an der Wiener landwirtschaft-
lichen Productenbörse, und zwar wo es möglich ist, unter Gegenüberstellung der Efifectiv-
ware einerseits und der Terminwave anderseits für jeden Tag der Jahre 1894 bis 1899
auf 300 Seiten angegeben. Danach kann man die Preisbewegung und die Spannungsver-
hältnisse zwischen den Tief- und Höchstpreisen auf dem Effectivmarkte und auf dem
Terminmarkte im Detail verfolgen und das Verhalten der Preise beider Märkte zu ein-
ander, insbesondere die sogenannte signalisierende Wirkung der Terminpreise in den
verschiedenen Zeitabschnitten, speciell bei den Terminausgängen statistisch studieren.
222 Literaturbericht,
Auch andere Staaten, darunter in erster Linie das Deutsche Eeich, dem
83 Seiten gewidmet sind und von dessen Marktplätzen, ebenso wie von einer Anzahl
fremder Börseplätze, gleichfalls Tagespreisnotierungen vorgelegt werden, und andere
sachliche Momente, wie in dem Capitel vom Getreidehandel die Zufuhr- und Absatzgebiete
der einzelnen Staaten, haben eine sehr ausführliche Darstellung gefunden.
Die Darlegungen sind in der That so umfassend und detailliert, dass man fast
versucht ist, zu sagen, man habe weit mehr geboten, als nöthig wäre. Wer aber bedenkt,
was alles unter dem Einflüsse des Terraiuhandels leiden soll; wer den zum Theil schon
veröffentlichten Protokollen der Enquöte zu entnehmen in der Lage ist, was alles von
den Experten behandelt und besprochen wird, der wird gewiss zugeben, dass die stati-
stische Centralcommission zum mindesten sehr vorsichtig handelte, indem sie den Eahmen
soweit absteckte und dadurch jedenfalls dem Vorwurf entgieng, ein für die Fundierung
der Verhandlungen nicht ausreichendes Material geboten zu haben. Sie hat aber wohl
noch ein anderes erreicht, nämlich dass ihr Werk über den speciellen Zweck hinaus
Bedeutung erlangt und behält. So wird dasselbe gewiss auch für die bevorstehenden
Zollverhandlungen grosse Wichtigkeit erlangen, und werm die Fragen des Termin-
handels und der Zollvertiäge längst ihre Lösung gefunden haben, wird man noch immer
dieses Tabellenwerk als eine reiche Fundgrube statistischer Daten aus dem Wirtschafts-
leben benützen. Allerdings enthält es keine Originaldaten, sondern fast nur aus fremden
Quellen Entlehntes; aber die Auslese die Ordnung und Bearbeitung dieses grossen
Materiales, wie die Zurückführung der Daten aus aller Herren Länder auf gleiche Maasse
und Gewichte, die Aufstellung von Summen und Relativzahlen aller Art, dann die Grup-
pierung all dieser Bearbeitungsergebnisse in zweckmässige internationale Uebersichten
ist mit grossem Geschicke durchgeführt und hat vielfach den rohen Stoff erst handlich
und allgemein verwertbar gemacht, so dass selbst der Besitzer der zahlreich citierten
Quellen lieber diese Zusammenstellung als die Quellen benützen wird. Zu bedauern ist
nur, dass infolge der verspäteten Abhaltung der Enqu6te das Werk im Druck offenbar
viel früher fertig gestellt war, als es in den Buchhandel kam, und dass deshalb in manchen
Partien die Daten für 1899 und selbst 1898 fehlen, welchem Mangel auch dadurch nicht
vollständig abgeholfen werden konnte, dass die statistische Centralcommission auf einigen,
„Nachträge und Berichtigungen" überschriebenen Seiten die zwischen der Fertigstellung
des Werkes und seiner späten Veröffentlichung erschienenen Daten neuer Erhebungen
oder definitiver Feststellungen in dankenswerter Weise dem Leser zur Verfügung stellte.
Wenn man aus diesem Entgegenkommen schliessen dürfte, dass die statistische Central-
commission resp. das Ackerbauministeriura ihr aus besonderem Anlasse ins Leben gerufenes
Werk nicht im Stiche lassen und durch Neuauflagen und Fortsetzungen für sein Fort-
leben sorgen werden, so würde das vom Standpunkt der statistischen Forschung wie
vom Standpunkt des statistischer Daten bedürftigen Publicums besonders lebhaft zu
begrüssen sein. Oesterreich verdankt ja schon eine solche fortlaufende Compilation, die
Tabellen zur Währungsstatistik, einer ähnlichen Gelegenheit, dem Bedürfnisse der Valuta-
enquete; warum sollte es nicht auch jetzt die Fortführung dieses grossangelegten Werkes
übernehmen und damit der internationalen Agrar- und Handelsstatistik einen grossen
Dienst erweisen?
Der zweite Theil des Werkes enthält zwei Preisdiagramme, von denen das
eine der Preisbewegung der fünf Getreidearten an der Wiener landwirtschaftlichen Pro-
ductenbörse seit 1869, das andere die Weizenpreisbewegung in Wien, Berlin, London, Paris,
New- York und Odessa seit 1886 durch Angabe der Samstags-Höchstpreis-Notierungen in
Gulden ö. W. per Metercentner darstellt. Beide Diagramme werden seit langer Zeit von
der landwirtschaftlichen Productenbürse für interne Zwecke fortlaufend gearbeitet und
wurden dem Ackerbauministerium aus Anlass der Enquete zur Veröffentlichung überlassen.
Die Diagramme sind sehr übersichtlich und anschaulich gearbeitet und wurden auch in
den Enqueteverhandlungen vielfach verwertet. Es wäre nur zu bemerken, dass die Er-
klärung der Preiscurven, die das Kopfblatt der Diagramme bietet, speciell für den Nicht-
fachmann nicht ausführlich genug ist, und dass diese Erklärung des zweiten Diagrammes
Literaturbericht. 223
(B) einen sinnstörenden Druckfehler enthält, indem es die Preisnotizen für Berlin im
Jahre 1898 als Durchschnittspreise angibt, während es doch Höchstpreise des Monates
sind, was auch für das Jahr 1888 gelten dürfte, üeberhaupt mangelt eine Erklärung der
Curven für Berlin und Wien.
Der dritte Theil der Materialien, die erläuternden Bemerkungen schildern
theilweise sehr detailliert die Entwicklung der Getreideproduction. des Getreidehandels,
des Getreideconsums, der Getreidepreise (Seite 2 — 113) und bieten sodann Beiträge zur
Geschichte und zum Begriff des börseraässigen Getreideterminhandels (Seite 113 — 188). Auch
dieser Theil der Materialien ist gross angelegt, aber ungleich behandelt und zum Theil
in sich gebrochen. In der Einleitung zu den Materialien werden vom Ackerbauministerium
selbst diese Erläuterungen geschieden in eine orientierende Besprechung des vorangehenden
statistischen Materiales und in eine Uebersicht der Meinungen über den Terminhandel,
die in der fachwissenschaftlichen Literatur Vertretung gefunden haben ; und in der That
zerfallen die erläuternden Bemerkungen nach diesen Gesichtspunkten in zwei, auch in der
Behandlungsweise sich scharf sondernde Abschnittsgruppeu.
Die erste Absihnittsgruppe ist in der That ein Leitfaden für die Experten bei
Benützung des eben besprochenen Tabellenwerkes, an das sie sich schon durch die gleiche
Inhaltsgliederung vollständig anschliesst. Sie berührt kaum den Terminhandel und
bereitet gewissermaassen nur den Boden für dessen Erörterung vor. Auf Grund des vor-
gelegten Materiales und unter Heranziehung noch mancher anderer verbürgter statistischer
Daten werden hier die typischen Erscheinungen aus den individuellen, die allgemeinen,
dauernden Ursachen aus den besonderen herausgeschält und statistische Allgemeinbilder
geschaffen, welche offenbar den Hintergrund bilden sollten für die Darstellung des Termin-
handels und seiner Wirkungen. Es wird hier gezeigt, dass die Getreideproducton in den
letzten Jahrzehnten enorm gewachsen ist, theils infolge der wachsenden Relativerträge,
theils infolge der ungeheuer vcrgrösserten Anbauflächen besonders in den durch die
verbesserten Verkehrsmittel der Cultur erschlossenen überseeischen und asiatischen
Gebiete, dass die wirkliclie Production der Erde grösser ist als die statistisch nachweis-
bare^ weshalb der Bedarf oft eine überraschende Deckung findet, und dass die Production
gewissermaassen stets am Sprunge ist, sich durch neue Verbesserungen der Wirtschaft
durch neue Landbesetzungen noch weiter zu vergrössern. Während früher in Ueberein-
stimmung mit dem M al t h u s'schen Gesetze die Bevölkerung stets bereit war die Pro-
duction zu überspringen, sclieint jetzt die Production bereit die Bevölkerungszunahme zu
überspringen. Es wird gezeigt, dass der Getreidehandel infolge der Concentration der
Menschenmassen, infolge der Steigerung des Getreidemangels und Bedürfnisses an den
einen Orten, des Getreideüberschusses an den andern Orten, infolge der Beseitigung
künstlicher Hemmnisse und infolge der unvergleichlichen Entwicklung des Verkehrswesens
eine ungeahnte Ausdehnung erlangte, dass die europäischen Culturstaaten, welche die
Fälligkeit, Getreide zu exportieren, verlieren und aus Exportstaateu Iinportstaaten werden,
immer zahlreicher werden, dass Oesterreich-Ungarn gerade jetzt an diesen Wendepunkt
zu gelangen droht und dass auf diese Weise die europäischen Culturnationen in immer
höherem Maasse auf den Getreidehandel angewiesen werden. Hier hätte nach unserer
Meinung der Verfasser darthun sollen, dass der Handel zur völlig befriedigenden Lösung
seiner Aufgaben gewisser Formen bedarf, die gewiss legitim sind, aber leicht der Ent-
artung verfallen.
Es wird weiterhin die Schwierigkeit und Unzulänglichkeit der Berechnungen des
Getreideconsums dargethan, es wird aber auch gezeigt, dass man trotzdem in den letzten
Jahren eine Zunahme des Getreideconsums in Europa, speciell in den Importstaaten, eine
Abnahme desselben in den Vereinigten Staaten annehmen dürfe. Hier fehlt wieder der
Nachweis, dass die Hebung des Wohlstandes in den tieferen Volksschichten eine Ver-
mehrung des Consums herbeiführen musste, und dass somit in erster Linie die Hebung
dieses Wohlstandes ins Auge zu fassen wäre. Bei der Besprechung der Preisbildung wird
auf den Zusammenhang des Getreidepreisrückganges mit dem allgemeinen Preisrückgang
aufmerksam gemacht und sodann gezeigt, dass der Preisfall der letzten Jahre sich voll-
224 Literaturbericht.
ständig erklärt durch die ausserordentlich vergrösserte und, wie oben erwähnt, stets zu
weiterem Wachsthum geneigte Production, durch die in den maassgebenden Gebieten
niedrigen und violleicht sinkenden Productionskosten, durch die mit der Entwicklung der
Verkehrsverhältnisse fortgesetzt steigende Erleichterung der Getreidezufuhr in jedes
bedürftige Gebiet und durch die nur massig sich steigernde Nachfrage.
Nachdem so der Verfasser ein Allgemeinbild festgestellt und insbesondere die Ent-
wicklung der Preislage im grossen Zuge dargestellt hat, bemerkt er, dass die Preis-
bestimmung im einzelnen Staate zu bestimmter Zeit noch von andern Momenten, speciell
von der Speculation abliiinge. Hier hatte die Erörterung des Terminhandels einzusetzen
und seine Wirkungen womöglich statistisch zu zeigen.
In der That schliesst sich hier der zweite Theil der Erläuterungen an, aber er
bietet nicht die Besonderheiten auf dem allgemeinen Hintergrund, er zeigt nicht das
Individuelle des Terminhandels in objectiver Darstellung, sondern er bietet wie die Ein-
leitung sagt nur einzelne Meinungen, so dass man versucht ist, das Ganze eine Notizen-
sammlung zu nennen. Merkwürdig ist, dass sich das Ackerbauministerium von diesen
Notizen förmlich lossagt. In der Einleitung zu den Materialien heisst es nämlich: Diese
Erörterungen bezwecken nicht eine Darstellung der Entwicklungsgeschichte des Termin-
handels, noch weniger sollen sie eine Anschauung der Regierung zum Ausdruck bringen
oder irgend eine Stellungnahme für oder wider enthalten; sie sind lediglich dazu bestimmt, die
Aufmerksamkeit der Experten darauf zu lenken, dass der Terminhandel nicht nur von
einem oder dem andern Gesichtspunkte und nicht als vereinzelte Erscheinung, sondern
als ein Glied jener wirtschaftlichen Evolution betrachtet werden muss, welche in ihrer
heutigen Ausgestaltung die Lage der Landwirtschaft beherrscht. In der That bringen die
beiden Abschnitte zur Geschichte und zum Begriff des Terminhandels keine in sich
geschlossene Darstellung, sei es dessen, wie er sich entwickelt, sei es dessen, was man
unter dem Namen begreift, sondern überwiegend Citate von Schriftstellern, Notizen über
einschlägige Thatsachen. So ausserordentlich wertvoll sie oft sind, so kann 'man sich
doch nicht des Eindruckes erwehren, dass die Gegner des Terminhandels bei der Auslese
der Citate stärker berücksichtigt wurden als seine Vertheidiger, und dass diese hauptsächlich
mit solchen Stellen Aufnahme fanden, mit welchen sie die Schwächen und Mängel des
Terminhandels charakterisierten. Daraus erklärt sich vielleicht auch die obenerwähnte
Acusserung des Ackerbauministeriums in der Einleitung zu den Materialien; es wollte
den durch diese Auslese erweckten Schein einer Stellungnahme nicht auf sich zurück-
fallen lassen.
Wir würden es allerdings für möglich halten, dass auch dieser Theil der Erläu-
terungen als ein Leitfaden lür die Experten hätte abgefasst werden können, wodurch
ihnen die Beantwortung der Fragen erleichtert und die Präcision der Antworten wesentlich
erhöht worden wäre. Man hätte ja auch hier die in der Literatur vorhandenen Anschauungen,
u. zw. auch die entgegengesetzten bringen können, nur hätte es in einer objecdv refe-
rierenden Weise, in der Art geschehen müssen, dass eine in sich abgeschlossene Auf-
fassung zum Ausdruck kommt, nicht aber in der beliebten Manier der mosaikartigen
Zusammenstücklung einzelner aus dem Zusammenhang herausgerissener Sätze, die an
gewisse Bilder höchst moderner Kunst erinnert. So würde sich wohl haben zeigen lassen,
wie nach der Meinung der einen der börsemässige Terminhandel durch die Entwicklung
des modernen Handels mit Naturnothwendigkeit aus dem Zeitgeschäft hervorgieng,
während er nach der Meinung der andern ein besonderer Auswuchs des DilFerenz-
geschäftes ist, der auf den Getreidehandel künstlich aufgepfropft wurde; so hätten sich
wohl alle die Merkmale vorführen lassen, die den Terminhandel nach den verschiedenen
Auffassungen in der Literatur charakterisieren, und es wären damit gewiss manche
missverständliche Antworten der Experten vermieden worden; so hätte man wohl zeigen
können, wie der Terminhandel von Haus aus zu immer schärferer Abstraction drängt, so
zwar, dass seine Functionen am besten gesichert sind, wenn dass usancemässige Getreide
nur eine ideale Type ist u. s. f. Selbstverständlich hätte das alles in geschlossener
tiiteraturbericht. 225
objectiver Darstellung gesagt werden müssen, ohne dass der Autor irgendwie Stellung
genommen hätte zum Gegenstand.
Da dies nicht geschah, so können uns in diesen Abschnitten die erläuternden Be
merkungen, trotzdem sie in ihrer Art mit den zerhackten Sätzen ungemein reichlich
Material, liefern für die Beantwortung der an die Experten gerichteten Fragen nicht
befriedigen. Eine schöne Gelegenheit, die Entwicklungsgeschichte des börsemässigen
Terminhandels zu schreiben, ist hier versäumt worden; wer weiss, ob sie auf Grund der
reichen Ergebnisse der eben abgeführten Enquete wird geschrieben werden. F. — k.
Stefan Koczynski: Untersuchungen über einSystem des österreichischen
Gebürenrechtes. (Schanz' Finanzarchiv, XV. Jahrgang, I. Band.)
Die wissenschaftliche Behandlung des positiven Gebürenrechtes steckt in Oesterreich
noch in den Kinderschuhen, und schon aus diesem Grunde darf jeder Versuch auf diesem
Gebiete auf Dank und Beachtung rechnen. Koczynski steht übrigens seinem Stoffe weder
theoretisch noch praktisch als Neuling gegenüber: abgesehen von der sehr schätzbaren
Monographie „Armenrecht im gerichtlichen Streitverfahren", Innsbruck 1890, welche
infolge der Eegelung dieses Gebietes durch die neue Civilprocessordnung und durch die
Ministerialverordnung vom 23. Mai 1897, R.-G.-Bl. Nr. 130, inzwischen allerdings zum
Theile überholt ist, besitzen wir von ihm das Buch „Die Rechtsmittel des österreichischen
Gebürenrechtes", Wien 1897, dessen Inhalt viel umfassender ist, als der Titel andeutet,
und welches bereits Anläufe zu einer systematischen Bearbeitung des gesammten Gebüren-
wesens erkennen lässt. ^) Die vorliegende Abhandlung ist nun ganz der letzteren Aufgabe
gewidmet und erhält durch die Heranziehung eines grösseren historischen Materials
ein eigenartiges Gepräge; sie soll aber, wie der Herr Verfasser zu verstehen gibt,
nur als Vorbereitung zu einem grösseren Werke, gleichsam als Skizze zu dem figuren-
reichen Gemälde dienen, welches er von dem heimischen Geblirenrechte zu entwerfen
gedenkt.
Der Inhalt der zu besprechenden Abhandlung dürfte sich, wie folgt, resümieren
lassen. Koczynski beginnt mit der Constatierung, dass unter den österreichischen Gebüren
eine Vielheit verschiedenartiger Abgaben begriffen sei. Dies gelange auch in dem constant
gebrauchten Plural: „Die Gebüren" zum Ausdruck, während für andere einheitliche
Abgabengattungen der Singular üblich sei, wie: „Die Erwerbsteuer", „Die Einkommen-
steuer" u. s. w. Gemeinsam sei allen Gebüren nur, dass sie durchgängig eine Besteuerung
des Rechtslebens 2) bilden. Ungeachtet ihrer Vielheit lassen sich aber die Gebüren an der
Hand der österreichischen Finanzgeschichte auf eine vierfache Wurzel zurückführen,
nämlich: 1. Die Taxen; 2. die sogenannte Stempelabgabe; 3. die Erbsteuer und
4. die Laudemialabgaben (Besitzveränderungsgebüren aus dem Unterthänigkeitsver-
hältnisse). Durch das Stempel- und Taxgesetz vom 27. Jänner 1840 habe eine Uniformierung
der unter 1—8 genannten staatlichen Rechtsabgaben stattgefunden, worauf durch das
Gesetz vom 9. Februar 1850 nach Beseitigung der Dominicalabgaben (insbesondere der
Laudemien) die Schaffung der modernen Gebürenabgabe erfolgte. Gleichwohl führen im
heutigen Gebürenrechte die vier alten Abgabengattungen „ihre selbständige Sonder-
existenz nebeneinander fort", und zwar die Stempelabgabe im Fixstempel und den Scala-
gebiiren, die Erbsteuer in den Bereicherungsgebüren, die Laudemien in den Veränderungs-
gebüren und die Taxen unter ihrer alten Bezeichnung. Nachträglich hätten dann noch in
dem durch Gesetz vom 9. Februar 1850 geschaffenen Gefüge des Gebürenwesens Ver-
schiebungen stattgefunden, in welcher Beziehung auf die Einführung der Stempelmarken,
den Sturz des Stempelclassensystems (sie), die Anwendung der Marke auf verschieden-
artige Gebüren u. s. w. hingewiesen wird. An diesen historischen Theil schliesst sich eine
Besprechung des Systems des geltenden Gebürengesetzes, sowie der bisherigen Versuche
1) Ein specielles Interesse für Fachleute bietet die diesem Buche beigegebene Tafel mit Ab-
bildungen österreichischer Stempelzeichen, welche bis ins 17. Jahrhundert zurückreichen.
^) Wenn Koczynslä sich diesfalls auf den Ausdruck „Rechtsgebüren" beruft, so muss darauf
aufmerksam gemacht werden, dass derselbe doch nur in den östlichen Landestheilen der Monarchie
allgemein üblich ist.
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. X. Band. . 15
226 Literaturbericht.
einer Aufstellung neuer Systeme, worauf der Herr Verfasser selbst die Grundzüge eines
solchen entwickelt.
Was nun den historischen Theil anbelangt, so wird man sich mit den obigen Aus-
führungen über den Werdegang des österreichischen Gebürenwesens, insbesondere mit der
Zurückführung desselben auf die vierfache Wurzel: Taxen, Stempel, Erbsteuer und
Laudemien bis auf einen später zu erörternden Punkt im grossen und ganzen einver-
standen erklären können. Wenn auch die bezügliche Partie meist nur Bekanntes enthält,
so muss doch anerkannt werden, dass wir in ihr die erste und gleichzeitig die einzige
zusammenhängende Darstellung dieses Zweiges österreichischer Finanzgeschichte zu
erblicken haben. ^) Auch fehlt es in dem historischen Theile der Abhandlung nicht an
bemerkenswerten Einzelheiten, so z. B. wenn Koczynski feststellt, dass das Mortuar nicht
etwa als Erbsteuer, sondern als Taxe für die obrigkeitliche Intervention bei der Ver-
lassenschaftsabhandlung aufzufassen ist, weiters die Geschichte der österreichischen Erb-
steuer seit ihrer Einführung während des siebenjährigen Krieges, dann die Bemerkungen
über das Stempelclassensystem. Man erfährt bei dieser Gelegenheit, dass es drei, später
vier Siegelclassen, nämlich zu 2 fl., 1 fl., 15 kr. und 3 kr. gab, welche mit dem Patente
vom 5. October 1802 auf vierzehn Stempelclassen vermehrt wurden, wobei für die Eiu-
theilung in eine Classe nicht nur die Beschaffenheit der Urkunde, sondern auch der
Stand des Ausstellers maassgebend war. Weniger einwandfrei erscheint meines Erachtens
dasjenige, was Koczynski über die Entstehung der Stempelabgabe vorbringt, nämlich
die von ihm verfochtene Auffassung des Stempels als einer Consumabgabe auf Papier.
Zu dieser Auffassung, welcher Originalität und Neuheit jedenfalls nicht abzusprechen
ist^) und welche Koczynski auch in mehreren Aufsätzen in der „Oesterreichischen Zeit-
schrift für Verwaltung", Jahrgang 1898, Nr, 41 und 42 und Jahrgang 1899, Nr, 4 und 5,
fortgesponnen hat, gelangt er durch folgenden Gedankengang.
Den Ausgangspunkt der Stempelabgabe in den österreichischen Erbländem bilde
der im Jahre 1556 aus Anlass der Türkennoth eingeführte „allgemeine Papierauf-
schlag" in vier Classen von 6 fl., 2 fl., 1 fl. oder 30 kr. per Eiss, je nach der Qualität
des Papiers, in welcher wir, wie Koczynski mit Recht bemerkt, eine Verzehrungssteuer
mit allen ihren charakteristischen Merkmalen, also ein vectigal chartae, zu erblicken haben.
Das nächste Stadium der Entwicklung ist nach Koczynski die sogenannte Siegel-
abgabe (Patente von 1686 und 1692) gewesen. Durch diese Patente wurde für die
Anfertigung gewisser, speciell als steuerpflichtig bezeichneter Schriftacte — und zwar
ursprünglich bei sonstiger Nullität des Actes — eine bestimmte Gattung besonders
bezeichneten — „gesiegelten" — Papieres vorgeschrieben, welches zum Preise von 2, 15
und 60 kr. per Bogen bei den Siegelämtern erhältlich war; gleichzeitig wurde der
Papieraufschlag aufgehoben. Da aber die Siegelabgabe sich als zu „beschwerlich" erwies
und „viele erhebliche gravamina" dagegen bei Kaiser Leopold I. eingebracht wurden, so
wurde sie mit dem Patente vom 18. Mai 1693 abgeschafft und der Papieraufschlag
wieder eingeführt. Es dauerte indessen nicht lange, bis der Papieraufschlag in den einzelnen
Erbländern durch üebereinkommen mit den Ständen doch ohne erkennbaren Zusammen-
hang mit der Wiedereinführung der Siegelabgabe beseitigt wurde, welch letztere, und
zwar theils als ständische, theils als staatliche Abgabe, in der ersten Hälfte des 18. Jahr-
hunderts ihre Auferstehung feierte. Weitere Stadien der Entwicklung der Siegelabgabe
bilden das Patent vom 3. Februar 1762, durch welches sie reformiert und in allen Erb-
ländern in Geltung gesetzt wurde, die josephinischen Patente vom 5. Juni 1784 und vom
30. Januar 1788 und endlich das Stempelpatent vom 5. October 1802, worauf das Stempel-
wesen im Stempel- und Taxgesetze vom 27. Januar 1840 den Zenith seiner Entwickelung
erreicht. Den Uebergang vom allgemeinen Papieraufschlage, dessen verzehrungssteuerartiger
Charakter nicht wohl zu leugnen ist, zur Siegelabgabe, welche mit dem heutigen Stempel-
*) V7iesers im übrigen vorzüglicher Artikel „Gebürengesetz" im österreichischen Staatswörterbuch
von Mischler und Ulbrich gibt nur eine kurze Uebersicht der Geschichte des österreichischen Gebürenwesens.
»} Nur bei Dalloz-Verg^, Code de l'Enregistrement. Paris 1878, S. 532, findet sich der Satz : L'impot
du timbre est un impöt de consommation.
Literaturbericht. 227
Wesen als identisch bezeichnet werden kann, führt Kozynski auf die geringe Einträglichkeit
des Papieraufschlages, sowie auf die Erkenntnis zurück, „dass es eine gewisse Art der
Verwendung des Papiers gebe, deren Besteuerungsfähigkeit durch den Papieraufschlag
auch nicht im entferntesten ausgenützt werde, und die deshalb mit unverhältnismässig
höheren Abgabesätzen belegt werde könne. Dies war der Gebrauch des Papiers zur
Aufnahme rechtlich bedeutsamer Aufzeichnungen." Auch die Alter-
nierung der Siegel- oder Stempelabgabe mit dem Papieraufschlage lege für die Auf-
fassung der ersteren als Papierconsumsteuer Zeugnis ab, desgleichen die Betrachtung»
dass der Stempel weder als Verkehrssteuer, noch als Taxe bezeichnet werden könne,
ohne mit feststehenden Ergebnissen der Forschung über das Finanzwesen des 16. und
17. Jahrhunderts in Widerspruch zu gerathen; nicht als Verkehrssteuer, weil er eine
landesfürstliche Einnahme bildete und zur Zeit seiner Entstehung Steuern dem Landes-
herrn als solchen überhaupt nicht zugestanden wurden, und nicht als Taxe, weil der
Staat den Stempel auch dann bezog, wenn die Schriftacte vor nichtstaatlichen Organen
vorfielen. Einen weiteren historischen Beleg für seine Theorie findet der Verfasser in der
Thatsache, dass der noch jetzt als Verbrauchsstempel bezeichnete Spielkarten-, Kalender-
und Zeitungsstempel, dessen consumsteuerartigen Charakter doch niemand werde
bestreiten wollen, von der österreichischen Gesetzgebung des 18. Jahrhunderts stets im
Zusammenhange mit der eigentlichen Stempelabgabe behandelt worden sei.
Aber diesem Versuch Koczynskis, die Stempelabgabe als Consumsteuer auf Papier
zu construieren, begegnet sowohl vom Standpunkte der Finanzwissenschaft als auch von
jenem der speciellen österreichischen Finanzgesetzkunde emsten Bedenken. Die herrschende
Doctrin neigt bekanntlich dahin, in dem modernen Stempelwesen überhaupt nicht eine
selbständige Abgabengattung, sondern nur eine Form der Entrichtung für eine Menge
der verschiedenartigsten steuerlichen Gebilde zu erblicken. Ein besonders ausgedehntes
Anwendungsgebiet hat der Stempel sich allerdings mit Bezug auf jene Beiträge zu den
öffentlichen Lasten erobert, bei welchen das Vorwalten des sogenannten G e b ü r e n-
principes unverkennbar ist, so z. B. in neuester Zeit bei den Schulgeldmarken, bei
der statistischen Gebür. Auch die Postmarke als Entrichtungsart für die Portogebür
gehört füglich einem verwandten Gedankenkreise an. Wird vor allem der derzeitige
Zustand des österreichischen Gebürenwesens in Betracht gezogen und berücksichtigt, dass
die Entrichtung in Stempeln für eine stattliche Anzahl von Abgaben unseres Gebüren-
tarifes angeordnet ist, denen kaum jemand den Charakter, sei es einer Verkehrssteuer, sei
es einer eigentlichen Gebür, sei es einer Taxe, wird absprechen wollen, so dürfte es
schwer fallen, den einheitlichen Charakter des österreichischen Stenipelwesens aufrecht
zu erhalten. Man denke nur an die Gebür für ämtliche Ausfertigungen (Tarifpost 7), an
die Gebür für Gewerbeanmeldungen (Tarifpost 43 b) u. s. w., welche mit einer Consum-
steuer nicht das Geringste zu schaffen haben. Koczynski will nun auch nicht bestreiten,
dass möglicherweise Verkehrssteuern und Taxen in Form von Stempeln entrichtet werden
konnten und können; er fasst das Problem vielmehr tiefer, und wenn wir ihn recht ver-
stehen, so soll nur die Sterapelabgabe in einem eingeschränkten Sinne, nämlich dasjenige,
was der Verfasser als „S ch r i f t s t e u e r" bezeichnet, ursprünglich nichts anderes als
eine Papierconsumsteuer gewesen sein, und nicht in Abrede gestellt werden, dass in
späteren Entwickelungsstadien des österreichischen Finanzwesens auch andere Arten von
Abgaben in das Stempelwesen eingedrungen sind. A posteriori, vom Standpunkte der
lex lata, erscheint also Koczynskis Theorie — wie er selbst einräumen dürfte — schwer
haltbar; aber auch mit der Deduction, welche für das Hervorgehen der ursprünglichen
Stempelabgabe aus dem vectigal chartae in dem eben angedeuteten eingeschränkten
Sinne den Beweis erbringen soll, konnte Referent sich absolut nicht befreunden.
Wie Koczynski feststellt, sind mit der Einführung des Stempelpapiers voran-
gegangen: Holland 1624, Spanien 1636, England 1671, Köln, Sachsen, Brandenburg 1682
und Mainz 1684. Die ersten österreichischen Siegelpatente erflossen 1686. Diese Daten
führten bisher allgemein zu der Annahme, dass Oesterreich die Stempelabgabe nach dem
Vorbilde der genannten Staaten, vor allem Hollands, bei sich eingeführt habe. Wie ist
15*
228 Literaturbericht.
riuii aber der Stempel in Holland entstanden? Ein Privatmann soll ihn erdacht haben,
nachdem die Generalstaaten einen Preis auf Erfindung einer neuen, nicht drückenden
und doch einträglichen Abgabe gesetzt hatten. Durch V. vom 13. August 1624 wurde
eine im reichen Holland recht ergiebige impost van bezegelte brieven eingeführt. *) Eine
Verbindung mit einem Papieraufschlage erscheint nicht nachweisbar, vielmehr wurde der
Stempel in Holland als neue Erfindung betrachtet und sodann in anderen europäischen
Staaten nachgeahmt.
Ein weiteres Argument Koczynskis, nämlich das angebliche Alternieren des
Papieraufschlages mit der Siegelabgabe erscheint uns gleichfalls nicht zwingend. Denn
mag es auch feststehen, dass die Siegelabgabe anlässlich ihrer ersten Einführung mit
dem allgemeinen Papieraufschlage in eine gewisse Wechselbeziehung gebracht worden ist,
so war dies doch nur eine vorübergehende Erscheinung, und zwar in den beiden letzten
Decennien des 17. Jahrhundeites, wie denn der Verfasser auch zugibt, dass späterhin die
Beseitigung des Papieraufschlages um die Wende des Jahrhundertes erfolgte, „ohne jetzt
noch in Wechselwirkung mit dem Siegelwesen zu stehen und dessen Wiederaufleben zur
unmittelbaren Folge zu haben." Uebrigens scheint gerade die Thatsache, dass der
Papieraufschlag 1686 förmlich aufgehoben und an dessen Stelle die Siegelabgabe ein-
geführt wurde, sowie später umgekehrt, darauf hinzudeuten, dass der Gesetzgeber sich
der wesentlichen Verschiedenheit beider Abgaben wohl bewusst war. Was die finanz-
politischen Erwägungen betrifft, welche nach Koczj'nski den Uebergang vom allgemeinen
Papieraufschlage zur Siegelabgabe veranlasst haben sollen, so mögen dieselben immerhin
bestimmend für die damaligen Machthaber gewesen sein; einen mehr als äusserlichen
Zusammenhang zwischen beiden Abgaben vermögen sie aber meines Erachtens nicht herzu-
stellen. Denn die Erkenntnis, dass die Siegelabgabe vermöge ihrer grösseren Einträglichkeit
vor dem Papieraufschlage den Vorzug verdiene, beweist doch noch nicht, dass man diese
beiden Abgaben für etwas generell Gleichartiges oder auch nur Verwandtes ansah. In
jenen Zeiten der Finanznoth pflegte man nicht viel nach der wissenschaftlichen Brgründung
einer Abgabe zu fragen, sondern nahm die Mittel, wo man sie fand. Dass mit der Ein-
führung der Siegelabgabe eine neue Besteuerungsgrundlage, nämlich der rechtlich
relevante Inhalt des beschriebenen Papieres, geschaffen wurde, spricht eben dafür, dass
man im Siegelwesen das Gebiet der Consumbesteuerung verlassen und die Einführung
einer dem Wesen nach neuen Abgabe vollzogen hat. Trotz der Ausführungen Koczynskis
klafft also zwischen Papieraufschlag und Siegelabgabe ein unvermittelter logischer
Sprung. Dass es sich hier wirklich um ganz verschiedene Dinge handelt, zeigt auch
folgende Betrachtung. Beim Stempel kommt es auf den rechtlich relevanten Inhalt der
Schrift, bezw. darauf an, dass das Papier zur Niederschrift eines rechtlich relevanten Aufsatzes
verwendet werde. Die Menge des verbrauchten Stoffes spielt beim Stempel nur eine
nebensächliche KoUe. Nur als fiscalische Schutzmaassregel ist es aufzufassen, wenn die
positiven Gesetzgebungen der einzelnen Staaten Maximalmaasse der Papierbogen für
stempelpflichtige Ausfertigungen festsetzen oder die Maximalanzahl der Zeilen bestimmen,
welche eine Bogenseite, oder gar der Worte, welche eine Zeile enthalten darf. Ganz
anders bei der Consumabgabe, wo es vor allem auf die Menge des verbrauchten Stoffes
oder gleichzeitig auf dessen physische Beschaffenheit ankommt. Der Uebergang vom
Papieraufschlag zur Siegelabgabe, das Hervorgehen der letzteren Abgabe aus der ersteren,
erscheint also auch historisch kaum nachgewiesen. Gemeinsam ist beiden Abgaben nur,
dass Papier ihr Substrat bildet und die Abgabenpflicht an den Verbrauch desselben
anknüpft. Darüber hinaus hört jede Analogie beider Abgaben auf. Insbesondere ist fest-
zuhalten, dass der Papieraufschlag das Papier schlechthin, also auch dessen mechanische
Verwendung, namentlich für die Zwecke des gewerblichen Lebens (Druckerei, Buchbinderei,
Cartonnage) und des Individualconsums (Correspondenz, Schreib-, Zeichen und Noten-
hefte, Manuscripte u. dgl.) belastete, was beim Stempel nicht zutrifft. Auch was
Koczynski über den Ursprung der Siegelabgabe vorbringt, scheint mehr gegen als für
>) Konrad' Lexis, Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Artikel: Stempel, gtempelabgaben.
Literaturbericht. . 229
seine Theorie zu sprechen: er constatiert nämlich, dass die Ausdrücke „Siegel" und
„Stempel" ursprünglich promiscue gebraucht wurden, dass aber in älterer Zeit der erste
Ausdruck der häufigere war. Das einer Urkunde beigedrückte Siegel vertrat die Stelle
der Unterschrift, es war ein Zeichen der Perfection der Urkunde. Die ältesten Stempel-
zeichen hatten auch eine den heutigen Siegeln ähnliche Gestalt. Die Sterapelzeichen
galten als anticipierte Siegel der Staatsverwaltung, gleichsam als Zeichen „mehrerer
Authentisierung" oder der Zulassung zur staatlichen Rechtshilfe. Im Wiener Statute vom
12. März 1526 war bei Veräusserungen unterthäniger Güter die Beidrückung des Siegels
durch den Grundherrn vorgeschrieben, wofür ein „Siegelgeld" zu entrichten war. In dem
Versuche, diese Abgabe in eine staatliche umzuwandeln, liege wohl der älteste Keim des
Stempelwesens. Wo bleibt, so muss man billig fragen, gegenüber dieser Darstellung die
Theorie von der Papierverbrauchssteuer?
Auch der Hinweis darauf, dass die ältere österreichische Finanzgesetzgebung die
Siegel- oder Stempelabgabe bisweilen in äusserlichem Zusammenhange mit dem Ver-
brauchsstempel von Spielkarten, Kalendern und Zeitungen behandelte, scheint uns nicht
überzeugend zu sein, weil sich ungezählte Beispiele aus der Finanzgeschichte dafür
anführen lassen, dass in einem und demselben Gesetze eine ganze Anzahl der hervor-
ragendsten Abgaben ihre . Regelung erfuhr. Wie weit sich übrigens das gegenwärtige
österreichisclie Stempelwesen von dem Gedanken einer blossen Verbrauchssteuer auf Papier
entfernt hat, zeigt unter anderem § 21 des Gebürengesetzes vom 9. Februar 1850, wonach
bei dessen Anwendung unter „Papier" nicht nur der allgemein so genannte Stoff, sondern
jeder zur Ausfertigung sterapelpflichtiger Urkunden oder Schriften bestimmte oder ver-
wendete Stoff verstanden wird. Aber auch schon in seinen Anfängen zeigte das öster-
reichische Stempelwesen einen schroffen Gegensatz zur Consumsteuer, weil — und wir
folgen hier dem Verfasser selbst — der „Eintheilungsgrund und Maasstab für die Ab-
stufungen der Abgabe" in den ältesten österreichischen Siegelvorschriften nicht in der
Menge des verbrauchten Stoffes, also in der Bogendimension, sondern in der inneren
Verschiedenheit der einzelnen Vorgänge des Rechtslebens, die schriftlich aufgezeichnet
werden, gesucht und gefunden wurde und die Bogendimension verhältnismäsig spät,
erst in den Gesetzen vom 9. Februar 1850 und vom 13. December 1862, und auch da
nur eine nebensächliche Berücksichtigung fand. — Ein weiteres Kriterium für das Fort-
leben der Papiersteuer im Stempel findet der Verfasser darin, dass weitere Ausfertigungen
desselben Actes einer gleichen Gebür unterworfen sind, was bekanntlich nach öster-
reichischem Gebürenrechte der Fall ist. „Die Auflage tritt ohne weitere Rücksicht so
oft ein, als sich der steuerpflichtige Consum wiederholt. Jede Ausfertigung ist ein neuer
Verbrauch von Papier, daher abgabenpflichtig." Allein meines Erachtens lässt sich die
Forderung der Abgabe nach der Anzahl der Ausfertigungen weit einfacher und natürlicher
mit fiscalischen Rücksichten oder, wenn es schon einer theoretischen Begründung bedarf,
mit der Auffassung des Stempels als Schrift- oder Urkundensteuer erklären, bei welcher
aber nicht der Verbrauch eines bestimmten Stoffes, wie Papier, sondern der Act der Be-
urkundung, d. i. die Niederschrift behufs Festhaltung rechtlich relevanter Vorgänge im
menschlichen Gedächtnisse im Vordergrunde steht. Beipflichten wird man hingegen dem
Verfasser, wenn er — gleichfalls bei Besprechung der Stempelabgabe — die Stempelscalen
aus den Stempelclassen hervorgehen lässt.
Der übrigens vom Verfasser selbst als Hypothese bezeichnete Versuch, die
Stempelabgabe als Papierconsumsteuer zu construieren, kann also nach dem Gesagten
wohl kaum als gelungen bezeichnet werden. Gerne wird der Leser jedoch dem vom Ver-
fasser aufgebotenen Scharfsinn und der mühseligen Zusammentragung finanzgeschichtlicher
Details für eine Theorie seine Anerkennung zollen, welche selbst, ihre Richtigkeit voraus-
gesetzt, wohl nur ein mehr historisches Interesse beanspruchen könnte.
So wenig also Referent in der erwähnten Hypothese etwa ein v.zrl\i» e'g aet,
eine Errungenschaft für immer erblicken möchte, so schien doch eine eingehende Er-
örterung derselben am Platze, einerseits um ihrer Neuheit und Originalität willen, sodann
auch weil meines Erachtens darin der Angelpunkt der ganzen Abhandlung zu suchen ist.
230 • Literaturbericht.
Den weiteren Gedankengang des Verfassers im einzelnen darzulegen, fehlt es an Raum und
sei nur gestattet heiTorzuheben, dass Koczynski in seine Darstellung eine Anzahl
zutreffender kritischer Apercus über das österreichische Gcbürenwesen einfliessen lässt, welche
allerdings für Fachleute zum Theile nicht neu sind, freilich aber noch nie gedruckt
worden sind. Wenn der Verfasser insbesondere ausführt, ein gutes Gebürengesetz müsse
bis zu einem gewissen Grade compliciert sein, weil es sich andernfalls den vielgestaltigen
Vorgängen des Rechtslebens zu wenig anschmiegt und daher zu wenig einträglich ist,
wird man ihm wohl beistimmen können. Weniger einwandfrei ist schon die Behauptung,
dass nur Theorie und Studium die in der Praxis fühlbar gewordenen Mängel der Gesetz-
gebung zu heilen berufen sind. Denn ein Gebürengesetz soll doch nicht nur dem Fach-
manne und dem Theoretiker verständlich sein, vielmehr soll, da es so tief in das Rechts-
und Verkehrsleben eingreift, jedermann sich darin zurechtfinden können. Dass Koczynski
Frankreich, wo noch heute die Grundgesetze des Stempel- und Enregistrementswesens aus
dem Jahre VII der Republik, erweitert durch „geradezu zahllose Novellen", in Geltung
stehen, das Musterland des Gebürenwesens nennt, kann wenigstens vom Standpunkte der
Praxis nicht unwidersprochen bleiben. Denn die Compliciertheit der französischen Gebüren-
vorschriften, gegen welche die allerdings zahlreichen, dickleibigen Commentare nur eine
unvollkonimene Abhilfe bieten, und die daraus entspringende Rechtsunsicherheit bildet
in Frankreich ebenso die ständige Klage breiter Schichten der Bevölkerung, wie —
anderswo. Wer übrigens je vor die Aufgabe gestellt war, den Stand der französischen
Gesetzgebung in einer concreten Gebürenfrage festzustellen, weiss die Schwierigkeiten
zu würdigen, welche die Zersplitterung des Rechtsstoffes einer solchen Feststellung
bereitet.
Gerade das Beispiel Frankreichs könnte also nicht dazu verleiten, die Behauptung
Koczynski s, dass unser heimisches Gebürengesetz der Reform nicht bedürfe, kritiklos
hinzunehmen. Die wissenschaftliche Durchdringung des Rechtsstoffes, welche der Ver-
fasser an den Franzosen rühmt, erscheint gewiss als eine Aufgabe, des Schweisses der
Edlen wert. Darüber jedoch, ob in ihr die Panacee für immer fühlbarer werdende
Mängel der Gesetzgebung zu finden ist, sub judice lis est. Man braucht nicht gerade zu
denen zu gehören, welche an unserem Gebürengesetze kein gutes Haar lassen; man kann
auch einräumen, dass es für die Zeit seiner Erlassung einen bedeutenden gesetzgeberischen
Fortschritt darstellt und kann gleichwohl sich dessen bewusst sein, dass in dem halben
Jahrhunderte seines Bestandes die Terminologie zum Theile veraltete, die Gliederung der
Behörden sich änderte, neue Formen der wirtschaftlichen Organisation entstanden oder
schon bestehende Organisationen eine ungeahnte Weiterentwicklung erfuhren; dass auch
die sonstige Gesetzgebung nicht stille stand, und dass namentlich auf dem Gebiete des
Justizwesens eine umfassende Reformthätigkeit sich entfaltete, welche nur das materielle
Civilrecht im grossen und ganzen unberührt Hess. Dass auch durch die Aufhebung des
Stempelpapieres im Jahre 1854 nicht wenige Bestimmungen des Gebürengesetzes von
1850 obsolet geworden sind, ist vollends für jeden Kundigen klar. Was nun die von
Koczynski proponierten Grundzüge eines Systems des Gebürenwesens anbelangt, so ist zu
beachten, dass dieses System nicht etwa dazu bestimmt ist, in der Gesetzgebung Geltung
zu erringen — Koczynski bezeichnet ja die Reform des geltenden Gebürenrechtes an
einer Stelle direct als undurchführbar — sondern didaktischen Zwecken dienstbar sein
soll. Ob nun durch die diesfalls vorgeschlagene trichotomische Eintheilung: Schrift-
steuer, Rechtshilfesteuer, Verkehrssteuer dem durchschnittlichen Auffassungs-
vermögen der Lernenden, für welche der Unterricht im Gebürenfache berechnet ist, nicht
zu viel zugemuthet wird, möchte wohl dahinstehen. In der Sache selbst erregt es Bedenken,
wenn der Verfasser die „Rechtshilfesteuer" zu Steuern gewordene Sporteltaxen nennt oder
wenn er unter „Verkehrssteuern" auf dem Gebiete der Gebüren lediglich die Bereicherungs-
und Veränderungsgebüren verstanden wissen will, während einerseits doch so manche
unserer Gebüren, wie z. B. gleich die Eintr.ngungs- und Urtheilsgebüren die Begriffs-
merkmale sowohl der Rechtshilfesteuer als auch der Verkehrssteuer in sich vereinigen,
andererseits der verkehrssteuerartige Charakter einer ganzen Reihe von fixen und Scala-
Literaturbericht. 231
gebüren unseres Tarifes — man denke nur an den Wechselstempel — ausser Frage
steht. Uebrigens scheint mit der hier bemängelten Eintheilung die vom Verfasser auf
Seite 570 vorgenommene Einreihung der Gebüren der einzelnen Posten des Tarifes unter
die drei von ihm aufgestellten Kategorien nicht durchgehends im Einklänge zu stehen.
Und noch eine Eigenthümlichkelt der Darstellung Koczynskis wäre hervorzuheben,
nämlich das an sich gewiss berechtigte Streben, für gewisse Gegenstände des Gebüren-
wesens, deren Bezeichnung jetzt im Wege einer mehr oder weniger schleppenden Um-
schreibung erfolgt, knappe Kunstausdrücke ausfindig zu machen. Ob aber der Verfasser
in der Wahl dieser Ausdrücke immer glücklich war, ob Aussicht besieht, dass sie, sei
es in der Sprache der Wissenschaft, sei es in jener der Praxis, das Bürgerrecht erlangen, dürfte
einigermaassen zweifelhaft erscheinen. So versteht Koczynski unter „Trugstempel"
jene Gebüren, welche mit der eigentlichen Stempelabgabe nichts zu thun haben, gleich-
wohl aber kraft besonderer Anordnung in Stempelmarken zu entrichten sind, wie die
Gebüren von gewissen kleinen Mobilarnachlässen; unter dem Ausdrucke „denaturierte
Stempel" dasjenige was jetzt unter der etwas langathmigen Bezeichnung: „von Gesell-
schaften, Anstalten und Personen unmittelbar zu entrichtende Gebüren" begriffen wird;
unter „Comitivgebüv" die fixen Gebüren unter dem Gesichtspunkte ihrer Con-
currenz mit den Procentualgebüren ; unter „Substitution" oder „Substitutorischem
Papierconsum" die Bestimmungen zur Verhütung einer Umgehung der abgabepflichtigen
Urkundenerrichtung, wie die Eechtsgeschäftsgebür beim ürtheile oder die Behandlung
der Anmeldung zum Handelsregister als Beurkundung des Gesellschaftsvertrages u. dgl. m.
Ungeachtet einzelner, im vorstehenden besprochenen Mängel muss Koczynskis
Arbeit auf einem von der Finanzwissenschaft im allgemeinen etwas stiefmütterlich
behandelten Gebiete als eine äusserst lesenswerte bezeichnet und dem Wunsche Ausdruck
verliehen werden, dass es dem Verfasser gegönnt sein möge, seinen Plan, auf den von
ihm gebotenen Grundlagen eine systematische Darstellung des österreichischen Gebüren-
rechtes aufzubauen, zu verwirklichen. Hiebei wird wohl auch manches historische Bei-
werk, manches eimüdende Detail verschwinden, dessen der Forscher nicht entrathen
kann, ohne dass es gerade bei Darbietung der gewonnenen Resultate im vollen Umfange
wiedergegeben werden müsste. Die Glätte der Darstellung wird hiedurch gewinnen, so
weit dieselbe überhaupt bei einer Arbeit auf dem Gebiete des Gebürenwesens erreichbar
ist. Denn wessen Sprachkunst veiTnöchte diesen spröden Stoff zu meistern?
Dr. August Freiherr v. Odkolek.
ZEITSCHRIFTEN-ÜBERSICHT.
Jahrbücher für Nationalökonomie und Statl8tik, hgg. v. Conrad, Elster, Loening, Lexis, 111. F.
XX. Band.
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Deutsche Juristen-Zeltung, hgg. v. /'. Laband, M. Stenglein und //. Staub. VII. Jahrg.
Nr. 1: Laband'. Die Anträge auf Errichtung eines Staatsgerichtshofes für das Deutsche Reich. —
Stranz: Zum ersten Geburtstage des B.-G.-B. — van Calker: Unser Strafgesetzbuch.
Nr. 2 : Holtze : Der 18. Januar 1701 in der Rechtsgeschichte Preussens. — Stenglein : Zum Entwürfe
eines Gesetzes über das Verlagsrecht.
Journal des lücononiistes. Revue mensuelle de la Science economique et de la Statistique.
GOe annäe. Rödacteur en chef: G. de Molinari, Correspondant de l'Institut.
Molinarix Le XIXe siecle. — Raffalovich : Le marcbä flnancier en 1900. — Domanski: La Charit^.
La lieforme sociale, bulletin de la sociätä d'economie sociale et des unions de la paix sociale;
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E. Westermarck: L'elemento morale nelle consuetudini e nelle leggi. — Cicco'ti: Pace e guerra
nei poemi omerici ed esiodei. — Mazzarella'. Nnove ricerche sulla condizione del niarito nella famiglia
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De Economist, fiO. Jahrgang 1901.
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De Pruisische wet von 7 Maart en de Diutscbe Rijkswet von 20. Februari 1898 betrekkelijk de ophefflny
der ambtelijke borgstellingen. Door P. ff. van der Ketnp.
DER
WIRTSCHAFTLICHE WERT DER WASSERSTRASSEN.
VON
PEOP. A. OELWEIN,
K. K. OBERHA-URATH.
Entwicklung den Eisenbahnen und Wassenstnassen.
Die Entwicklung des Verkehrs hängt zu einem sehr wesentlichen
Theile von der Höhe der Transportkosten ab, mit denen ein Gut, entsprechend
seinem Eigenwerte, vom Gewinnungsorte bis zur Verbrauchsstelle oder bis
zum Markte befördert werden kann. Die Verbilligung der Transportkosten
für Rohproducte verringert die Kosten der Erzeugung des Kunstproducts,
vermindert die Ungunst weiter Entfernungen zwischen den J]rzeugungs-,
Verarbeitungs- und Verbrauchsstätten, erweitert das Absatzgebiet und erhöht
dadurch die Concurrenzfähigkeit der eigenen Erzeugnisse auf fremden Märkten.
Dadurch werden die Transportkosten in weiterer Wechselwirkung auch
raaassgebend für die Hebung der industriellen, gewerblichen und landwirt-
schaftlichen Thätigkeit; denn je billiger die Rohstoffe, denen vor allem
auch die Kohle zuzurechnen ist, verfrachtet werden, desto mehr fördern sie
die eigene Industrie, desto mehr stärken sie letztere auch gegen den unver-
meidlichen Wettbewerb des Auslandes.
Ein Staat, der auf oder mit seinen Transportmitteln wesentlich billigere
Transportkosten zu erstellen in der Lage ist, kann in seinem Exporte
die Einfuhrzölle des Nachbarstaates ungleich leichter ertragen, während
auf den Einfuhrsartikeln dieses Nachbarstaates neben dem Zoll dann noch
die Differenz der Transportkosten lastet. Daraus ergibt sich für letzteren
auch eine wesentlich ungünstigere Lage bei Abschluss neuer Zoll- und
Handelsverträge.
Eisenbahnen und Schiffahrt sind die wichtigsten Transport-
mittel im Fr achten verkehre der Gegenwart. Das Eisenbahnnetz auf dem
Festlande Europas hat sich seit dem Bau der ersten Eisenbahnlinie Nürnberg-
Fürth im Jahre 1835 ununterbrochen erweitert. Dank der Organisation in
der Verwaltung, ein Verdienst des seit mehr als 50 Jahren bestehenden
Vereines der deutschen Eisenbahn- Verwaltungen, und der vorherrschend
einheitlichen Type, konnten sich die Eisenbahnen zu einem zusammen-
hängenden Netze über ganz Europa vereinigen. Da beim Baue und Betriebe
derselben alle Hilfsmittel der Technik fortgesetzt Anwendung fanden, ist
auch die Leistungsfähigkeit jeder Eisenbahn und aller Eisenbahnen zusammen
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und VervvaUuttK- X. Band. Iß
234 Oelwein.
stetig gewachsen. Dieses Eisenbahnnetz zerfällt in Hauptbahnen und Local-
bahnen. Letztere dienen vorwiegend dem Localverkehre und sind die Zufluss-
arterien zu ersteren. In weiterer Folge werden nur die Hauptbahnen ins
Calcul gezogen werden.
Der Verkehr auf den Was s er s tras s en zerfallt in die Schiffahrt
auf natürlichen Binnengewässern, die von Natur aus schiff'bar oder lediglich
durch Regulierung erst schiffbar geworden sind, — den ersteren ist die
Schiffahrt auf den Binnenseen zuzuzählen, — dann in die Schiffahrt auf den
künstlichen Wasserstrassen, den canalisierten Flüssen und Schiffahrtscanälen,
endlich in die Seeschiffahrt. Letztere wird der Binnenschiffahrt nicht mehr
zugezählt, wenn sie auch im Anschlüsse an dieselbe auf die Entwicklung
des Binnenlandverkehrs von sehr maassgebendem Einflüsse ist. Ich 'verweise
diesfalls auf die ausgezeichneten Publikationen des Dr. Alexander Fee z^).
Die Transportkosten hängen sowohl auf den natürlichen wie auf den
künstlichen Wasserstrassen vorwiegend von der Tragfähigkeit, beziehungs-
weise von der Grösse und Tauchtiefe der Boote ab. Die Selbstkosten des
Transportes sinken in grösserem Maasse, als die Tragfähigkeit der Boote
zunimmt (wie bei der Seeschiffahrt). Die Tauchtiefe und somit auch die
Tragfähigkeit der Boote hängt aber bei der Flusschiffahrt noch von dem
Wechsel der Wasserstände, die Zugkraft von den mehr oder weniger starken
Gefällen und der Ausgestaltung der Fahrrinne ab. Der Wechsel der Wasser-
stände bringt es daher mit sich, dass die Boote nicht immer die ganze Schiff-
fahrtsdauer hindurch mit voller Ladung, sondern oft nur mit halber und
drittel Ladung verkehren können. Durch fortgesetzte Regulierung eines Flusses,
namentlich bei Concentrierung der Niedrigwässer erhöht man die Tauchtiefe
zur Zeit der ungünstigen Wasserstände, daher auch die Leistungsfähigkeit
-der Schiffahrt. Die Canalisierung eines Flusslaufes erhöht durch künstlichen
Aufstau die Tauchtiefe, und solcherart können auch gar nicht oder nur
in geringem Maasse schiffbare Flüsse in gut schiffbare Wasserstrassen
umgewandelt werden. Gegenwärtig ist auch bei uns eine Canalisierung der
Moldau von Prag bis Melnik und der Elbe von Melnik bis Aussig in
Ausführung, in Zukunft wird die Canalisierung der Moldau von Prag bis
Budweis und der mittleren Elbe von Melnik bis Pardubitz beabsichtigt.
Immerhin sind auch die canalisierten Flussläufe ebenso den Wirkungen der
Hochwässer und bei starker Geschiebeführung und grossen Gefällen der
fortgesetzten Veränderung des Flusschlauches ausgesetzt, wie die natürlichen
Flüsse und Ströme. Das Ideal einer schiffbaren Wasserstrasse bleibt stets
der Schiffahrtscanal, der bei genügender Wasserversorgung stets die gleiche
W.assertiefe bietet und unabhängig ist von den Zufällen der Hochwässer
*) Der wirtschaftliche Wert der Binnenwasserstrassen, Wien, 1886. Er sagt darin:
Ein schiffbarer Fluss oder Canal, sofern er mit der See in Verbindung steht, gewährt
eine gewisse Unabhängigkeit, denn die Hochstrasse des Handels bleibt immer das
Weltmeer, dessen Schienen überall liegen, wo Salzwasser ist, und deren Bahnhöfe überall
stehen, wo Ebbe und Fluth an ein Ufer schlagen. Wohlfeile Circulation der Eohstoffe,
die Hauptwaffe im Concurrenzkampfe der Zukunft, wird für den Continent nur durch
Wühlorgaiiisiertes Zusammenwirken zwischen Eisenbahn und Wasserstrasse zu erlangen sein.
Der wirtschaftliche Wert der Wasserstrassen. '235
und den mit letzteren in Zusammenliang stehenden Verändernngen des
Canalgerinnes.
Die Schiffahrt auf den Flüssen ist so alt, wie die Cultur der Mensch-
heit. In China und Aegypten wurden schon vor Jahrtausenden auch schiffbare
Canäle gebaut. In Europa begann der Canalbau im 15. Jahrhundert, und
die Erfindung der Kammerschleuse ermöglichte es, solche Schiffahrts-
canäle auch über Wasserscheiden hinweg zur Verbindung von getrennt-
liegenden Flussgebieten herzustellen. Die wichtigste Voraussetzung solcher
Scheitelcanäle war die genügende Versorgung der Scheitelstrecke mit der
vom Gefälle der Schleusen und der Grösse des Verkehrs
abhängigen Betriebswassermenge.
Jede Transportart ist dann lohnend, wenn sie bei genügender Leistungs-
fähigkeit billiger zu befördern vermag, als die andern mit ihm concurrierenden
Transportmittel. Vor den Eisenbahnen gab es nur eine Concurrenz zwischen
Wasserstrassen und Landstrassen: der Umsatz der Güter war aber damals
ein wesentlich geringerer, die Handelsgüter waren meist wertvolle Industrie-
erzeugnisse; Koh- und Massengüter kamen auf grössere Distanzen gar nicht
in Bewegung. Für einen lohnenden Schiffahrtsverkehr genügten schon Boote
von 20 bis 40 Tonnen Tragkraft mit geringer Tauchtiefe, und deshalb war
die Binnenschiffahrt damals wesentlich ausgebreiteter, denn sie war auch
auf Flüssen, wie der Inn, die Salza, die Traun, die Moldau, March etc.
in Concurrenz mit dem wesentlich kostspieligeren und weniger leistungsfähigen
Strassentransporte noch lohnend. Damals vermittelte auch noch unsere Donau
den ganzen Verkehr vom Westen Europas mit der Levante und vice versa.
Der grösste Theil der bis zur Aera der Eisenbahnen erbauten Canäle
war meist nur dem localen Bedürfnis angepasst, und so war auch von einer
einheitlichen Type im Canalbau keine Rede. Frankreich, England, Belgien,
Holland, Preussen und Russland hatten im Anfange des verflossenen Jahr-
hunderts im Anschluss an ihre natürlichen Wasserstrassen und an die
Seeschiffahrt schon ein sehr ausgedehntes Netz künstlicher Wasserstrassen
und erstere Staaten verdankten diesen Wasserwegen ihren Wohlstand und
ihren Rang als Industrie- und Handelsstaaten. Die Bibliothek der Stadt
Wien besitzt noch die Pläne für ein von einem belgischen Ingenieur- Officier
Maire wahrscheinlich im Auftrage des Kaisers Josef II, verfasstes und
grossgedachtes Canalnetz, das den Rhein mit der Donau, die Donau mit
der Oder, Moldau und der Theiss, letztere mit dem Poprad, die Save mit
der Adria etc. verbinden sollte. Wäre dieses Project für Boote von etwa
40 Tonnen Tragvermögen zur Ausführung gekommen, so hätte sich
Oesterreich-Ungarn mit Rücksicht auf seinen Reichthum an Rohstoffen und
Bodenproducten wahrscheinlich als mitteleuropäischer Industrie- und Handels-
staat mächtig entwickelt.
Die Transportkosten auf der damaligen Schiffahrt mögen per Tonne
und Kilometer im heutigen Werte etwa im Mittel aller Fracht zwischen
4 bis 10 Kreuzer geschwankt haben. Bei dem damaligen Zustande der
Flüsse und Ströme und bei der ausschliesslichen Verwendung der thierischen
16*
236 Oelweiii.
Zugkraft hatte die Schiffahrt in der Fahrt mit grossen Schwierigkeiten zu
kämpfen. Die Beförderung der Fracht war eine sehr langsame, von einer
bestimmten Lieferfrist sicher keine Kede. Auf den deutschen Flüssen mit
Ausnahme des Rhein war die Schiffahrt noch mit sehr hohen Schiffahrts-
zöllen belastet, die erst im Jahre 1866 zur Gänze aufgehoben wurden.
Mit der Einführung der Eisenbahnen erwuchs der Schiffahrt ein sehr
wirksamer Concurrent. Der geregelte und ununterbrochene Betrieb bot den
Vortheil bestimmter Lieferfristen. Die Beförderung der Fracht war eine
raschere. Die Schiffahrt war dann nur mehr in jenen Strecken concurrenz-
fähig, wo sie noch wesentlich billiger befördern konnte wie die Eisenbahnen,
also auf den grossen Flüssen und Strömen, wo durch fortgesetzte Regulierungs-
arbeiten auch die Schiffahrtsverhältnisse fortgesetzt gebessert wurden, wie
am Rhein, der Elbe u. s. w. Die Schiffahrt auf den vielen kleinen Flüssen
hörte ganz auf, jene auf den geringdimensionierten und daher wenig leistungs-
fähigen Canälen beschränkte sich vorwiegend auf den Localverkehr.
Damals waren aber auch die Transportkosten auf den Eisenbahnen
noch wesentlich höhere. So betrug die mittlere Einnahme aus dem Frachten-
verkehr per Tonne-Kilometer auf der Kaiser Ferdinand-Nordbahn:
im Jahre' 1850 etwa 6'00 kr.
, „ 1860 , 4-24 ,
„ , 1865 „ 3-69 ,
gegen 1898 , 1-505 „
Mit der Entwicklung der Industrie und des Handels und der wachsenden
Tendenz, entferntere Märkte aufzusuchen und den Export zu fördern, wurde
auch allenthalben die Forderung nach Herabsetzung der Eisenbahntarife
rege. In diesem dann folgenden Kampfe um die Verbilligung der Transport-
kosten auf den Eisenbahnen, die damals grösstentheils Privatbahnen waren,
hatte man sich wieder der vernachlässigten Wasserstrassen erinnert und
die denselben innewohnenden Eigenschaften studiert, — wie die ungleich
geringeren Widerstände in der Bewegung auf Canälen, daher bei gleicher
Last die wesentlich geringere Zugkraft, die Möglichkeit, an jedem Punkte der
Wasserstrasse zu laden und zu löschen, geringere todte Last etc.; man erkannte,
dass sich bei entsprechender Regulierung der schiffbaren Flüsse, bei
Schaffung des grösstmöglichen Tiefganges der Boote — bei Steigerung der
Tragkraft der Boote, daher Anwendung einer grösseren Wassertiefe und
grösserer Type für die Schleusen und Canalgerinne — bei Anwendung der
Dampfkraft als Zugkraft, Ausrüstung der Häfen etc., in der That die Selbst-
kosten der Beförderung auf diesen Wasserstrassen wesentlich billiger stellen
können, als auf den Eisenbahnen, und dass die Nachtheile des Wassertransports
bei Verfrachtung von Roh- und Massenproducten durch die ungleich billigeren
Transportkosten auf den Wasserstrassen weitaus aufgewogen werden.
Die dann folgenden Maassnahmen habe ich seinerzeit in zwei Vorträgen^)
näher behandelt. In England, wo die meisten Canäle für eine Tragfähigkeit
^) Ausbau der Wasserstrassen in Mitteleuropa von A. Oelwein, Voiträge im
österreichischen Ingenieur- und Architektenvereiu am 6. December 1881 und 31. Jänner 1882.
Der wirtschaftliche Wert der Wasserstrassen. 237
der Boate von 30 bis 70 Tonnen erbaut waren, begnügte man sich vornehmlich
mit einer Vertiefung der Canäle, Einführung der Dampfkraft und mit
Verbesserungen im Betriebe, Anlage und Ausrüstung der Häfen, mechanischen
Einrichtungen für die Umladung, Anlage von mechanischen Hebewerken etc.
Dort befinden sich die Canäle ebenso wie die Eisenbahnen in den Händen
von Privatgesellschaften. In Belgien und Kussland, wo die Canäle
Staatseigenthum sind, entschied man sich schon beim Neubau und Umbau
für Bautypen, die den Transport von Booten mit 340 bis 400 Tonnen Trag-
fähigkeit ermöglichen. In Frankreich begann man erst nach dem
Jahre 1872 mit dem Umbau der Canäle und dem Ausbaue des Wasser-
strassennetzes und wurde für die Hauptcanäle im Zuge des grossen Verkehrs
mit Rücksicht auf die schon bei vielen Canälen^) vorhandene Type eine
Normaltype für Boote von 240 Tonnen Tragfähigkeit festgesetzt. In Frank-
reich sind alle Wasserstrassen mit Ausnahme des Canal du Midi Eigenthum
des Staates. In Deutschland waren alle Wasserstrassen bis auf sehr
geringe Strecken Eigenthum des Staates. Bei den alten Canälen bewegte
sich die Tragfähigkeit der Boote zwischen 80 und 200 Tonnen. Die Agitation
für den Ausbau eines deutschen Wasserstrassennetzes datiert schon vom
Jahre 1875. Die preussische Regierung entschloss sich aber erst nach dem
Jahre 1880 zu einer durchgreifenden Action mit dem Hinweis auf den
Ausbau des französischen Wasserstrassennetzes, und zwar nach der Verstaat-
lichung der Privatbahnen. Sie entschloss sich dann aber im Jahre 1886
beim Dortmund - Ems - Canal für eine Schleusentype von 68 m Länge und
8*6 m Breite bei einer Wassertiefe im Canal von 2-2 m, die weit über alle
in den anderen Staaten zur Ausführung gelangten Schleusen- und Canal-
dimensionen hinausgieng und eine Tragfähigkeit der Boote von 600 Tonnen
zuliess, von der sehr richtigen Ansicht ausgehend, dass diese künstlichen
Wasserstrassen dann auch den Zweck erfüllen würden, noch billiger zu
transportieren, wie jene in den andern Staaten.^) Diese Ausmaasse wurden
dann als Minimaltype bei dem Umbau und Neubau der Ca-näle im Zuge des
grossen Verkehrs beibehalten, und nur an der canalisierten Oder und am
Oder-Spree-Canal wurden vorläufig und mit Rücksicht auf den vorhandenen
Bootspark kürzere Schleusen für Boote von 400 Tonnen Tragvermögen aus-
geführt, die jederzeit mit geringen Mitteln verlängert werden können. Auch in
der neuesten Canalvorlage wurde diese Type als Minimalausmaass beibehalten.
In Deutschland hat man übrigens schon früher grosse Geldmittel für
die Regulierung der schiffbaren Flüsse und Ströme und für die Verbesserung
*) 1872: 4753 Kilometer Canäle und 3323 Kilometer canalisierter Flüsse.
2) Minister v. Thielen bei der ersten Lesung der letzten Canalvorlage im
preussischen Landtage: „Man hält uns Canalländer wie Frankreich und Amerika entgegen.
Frankreich hat sich in der Wahl der Construction seiner Canäle vergriffen, es hat viel zu
enge Canäle gebaut und infolge der geringen Dimensionen und auch der ungünstigen
Bodengestaltung viel zu viele Schleusen nöthig gehabt. Amerika hat zum grossen Theil
dieselben Fehler gemacht. Gleichwohl tritt auch in Amerika die Ansicht in den Vorder-
grund, dass mit den Schienen allein nichts zu machen ist, und zum Canalbau zurück-
gekehrt werden müsse."
238
Oelwein.
der Scliiffahrtsverliältnisse auf denselben verwendet. So wurden für den Khein
im Laufe von 70 Jahren bei 400 Millionen Mark von den Uferstaaten ausgegeben.
Die Schiffahrt auf den deutschen Strömen ist jetzt durch Staatsverträge
ebenso wie jene auf der Donau abgabenfrei. Das französische Parlament hat
im Jahre 1884 diese Abgabenfreiheit auch auf die Canäle und canalisierten
Flüsse ausgedehnt, und sollen dieselben den Staatsstrassen gleich der freien
Benützung dienen. Dagegen wurde wiederholt der Einwurf einer ungerechten
Bevorzugung der Binnenschiffahrt erhoben, weil die Eisenbahnen aus ihren
Einnahmen auch das in ihnen investierte Anlagecapital verzinsen und tilgen
müssen. In Deutschland bestand früher das gleiche System; Finanzminister
v. Miquel hob jedoch diese Abgabenfreiheit auf den neuerbauten künstlichen
Wasserstrassen auf, rangierte dieselben somit e"benso als productive Veikehrs-
anlagen wie die Eisenbahnen. Bei der neuesten Canalvorlage ist eine Schiffahrts-
abgabe für Verzinsung und Tilgung des Anlagecapitals, dann zur Deckung
der Erhaltungs- und Verwaltungskosten im Mittel der Fracht per Tonne-
Kilometer bei den Canälen mit 0"360 kr., bei den canalisierten Flüssen mit
O'ISO kr. vorgesehen.
Güterverkehr auf den Binnenwasserstrassen und Eisenbahnen.
Ich benütze die Verkehrsstatistik Frankreichs^), Deutschlands^) und
Oesterreich-Ungarns^), um die Entwicklung des Wasserstrassen- und Eisen-
bahnverkehrs in diesen Ländern vergleichen zu können.
Güterverkehr Frankreichs 1875 bis 1895.
Jahr
1875
1885
189 Ü
1875
1885
1895
Länge
in
Kilometer
Zunahme
der Länge
gegen
1875 in
Proc.
Güterverkehr
m
1,000.000
Tonnen
in
1,000.000
Tonnen-
Kilometer
Zu-
nahme
gegen
1875 in
Proc.
Kilo-
meterver-
kehr in
Tonnen
Zu-
nahme
gegen
1875 in
Proc.
Mittlere
Transport-
länge in
Kilometer
Ä. Auf den Binnenwasserstrassen
12.000
15-7
1.960
.
163.000
12.400
3
19-5
2.450
25
198.000
21
12.300
3
27-2
3.770
92
307.000
'88
125
126
139
B. Auf den Eisenbahnen
19.800
589
7.360
372.000
29.800
51
771
9.790
33
328.000
— 12
36.300
83
105-1
12.980
76
356.000
— 4
125
127
124
*) Album de Statistique Graphique, Paris, 1895—96.
2) Sympher, Die wirtschaftliche Bedeutung des Rhein-Elbe-Canals, Berlin, Siemen-
roth und Troschel 1899.
3j Schromm, Wasserstrassenverkehr Oesterreichs, 1892. Bericht am internationalen
Schiffahrtscongress in Paris. Dann: Statistische Nachrichten des Vereines deutscher
Eisenbahn -Verwaltungen.
Der wirtschaftliche Wert der Wasserstrassen.
239
Das Netz der französischen Wasserstrassen hat sich in Summa nicht
wesentlich vermehrt, dagegen ist der Verkehr auf vielen nicht leistungsfähigen
Wasserstrassen aufgelassen worden, während neue Wasserstrassen erbaut und
ältere im Zuge des grossen Verkehrs umgebaut und erweitert wurden.
Der Wasserverkehr ist binnen 20 Jahren um 92 Proc, der Eisenbahn-
verkehr nur um 76 Proc. gestiegen. Der Antheil des Wasserstrassenverkehrs
am Gesammtgüterverkehr (16.750 Millionen Tonnen-Kilometer) betrug im
Jahre 1895 rund 22 Proc. Dagegen war der kilometrische Verkehr auf den
Wasserstrassen geringer, als jener auf den Eisenbahnen, während die mittlere
Transportlänge der beförderten Fracht auf den Wasserstrassen und Eisen-
bahnen wenig differierte.
Die grosse Steigerung des Wasserverkehrs datiert erst vom Jahre 1885
und ist vorwiegend eine Folge der einheitlichen Gestaltung des Wasser-
strassennetzes im Zuge des grossen Verkehrs.
Güterverkehr Deutschlands 1875 bis 1895.
Jahr
Länge
in
Kilometer
Zunahme
der Länge
gegen
1875 in
Proc.
Güterverkehr
in
1.000.000
Tonnen
1.000.000
Tonnen-
Kilometer
Zu-
nahme
gegen
1875 in
Proc.
Kilo-
raeterver-
kehr in
Tonnen
Zu-
nahme
gegen
1875 in
Proc.
Mittlere
Transport-
länge in
Kilometer
A. Auf den Binnenwasserstrassen
1875
1885
1895
10.000
10.000
10.000
20-8
27-6
467
2.900
4.800
7.500
66
159
290.000
480.000
750.000
66
159
280
350
320
JB. Auf den Eisenhahnen
1875
1885
1895
26.500
37.000
44.800
40
69
167-0
2000
331-0
10.900
16.600
26.500
52
143
410.000
450.000
590.000
10
44
125
166
160
Auch in Deutschland hat sich in dieser Zeit das Wasserstrassennetz
in Summa aus gleichen Gründen nicht vermehrt, doch ist es durch Umgestaltung
in moderne leistungsfähige Verkehrswege wesentlich leistungsfähiger geworden.
Die Keichsstatistik gibt den Bestand der deutschen Binnenwasserstrassen
für Ende 1894 an:
freie Flussläufe 9.091-79 km,
canalisierte Flüsse 2.184"15 „
Canäle . 2!237-64 „_
Summa 13.513-58 km
Von den freien Flussläufen sind nur etwa 5.600 Kilometer schiffbar.
Der Antheil des Wasserstrassenverkehrs am Gesammtgüterverkehr
(34.000 Millionen Tonnen - Kilometer) betrug im Jahre 1895 auch nur
240
Oelwein.
22 Proc, doch war der Gesammtgüterverkehr 49 Proc. und der Wasser-
strassenverkehr 50 Proc. grösser als in Frankreich. Der Wasserstrassen-
verkehr ist in der Zeit von 20 Jahren uni 159 Proc. (92 Proc. in Frank-
reich), der Eisenbahnverkehr um 143 Proc. (76 Proc. in Frankreich) gestiegen.
Während der kilometrische Verkehr (Umlauf) auf den Wasserstrassen
Frankreichs geringer war wie auf den Eisenbahnen (307.000 Tonnen gegen
356.000 Tonnen), stieg er auf den deutschen Wasserstrassen bis auf
750.000 Tonnen gegen 590.000 Tonnen auf den Eisenbahnen und die mittlere
Transportlänge auf 320 Kilometer gegen 160 Kilometer auf den Eisenbahnen,
ein Beweis, dass hier die Wasserstrassen (Rhein, Elbe) von der Güterfracht
auf eine ungleich grössere Transportdistanz benützt werden. Dieser Umstand
charakterisiert überhaupt den deutschen Wasserstrassenverkehr.
Vom Jahre 1875 bis 1895 stieg der Verkehr auf der Oder von 154
auf 634 Millionen Tonnen-Kilometer, auf der Elbe von 435 auf 1952 Millionen
Tonnen-Kilometer, auf dem Rhein von 882 auf 3030 Millionen Tonnen-
Kilometer. Den stärksten kilometrischen Jahresverkehr wies im Jahre 1895
der Rhein von Köln bis Emmerich mit durchschnittlich 8,000.000 Tonnen
aus. Derselbe wird von keinem Binnenwasserwege Europas und nur noch auf
den grossen Seen Noidamerikas übertroffen.
Die volle Wirkung des Umbaues und Ausbaues des deutschen Wasser-
strassennetzes auf moderner Grundlage drückt sich vollends in den Verkehrs-
ziffern der nächsten Jahre aus, die für die Periode von 1895 bis 1898 ')
vorliegen.
Frachtenverkehr Deutschlands 1895 bis 1898.
Jalir
Verkehr in
1,000.000 Tonnen-
Kiloineter
Zunalime
gegen 1895
in Proc.
Zunahme
gegen 1875
in Proc.
A. Auf den Binnenwasserstrassen.
1895
1898
7.500
10.700
43
270
B. Auf den Eisenbahnen.
1895
1898
26.500
32.600
200
Vom Jahre 1875 bis 1895 betrug die Steigerung des Frachten-
verkehrs im Mittel per anno:
beim Wasserstrassenverkehr 800 Proc.
- Eisenbahnverkehr 7-16
^) Gesetzvorlage der preussischen Regierung^ 1901, betreffend die Herstellung und
den Ausbau von Canälen und Flussläufen im Interesse des Schiffahrtsverkehrs und der
Landcscultnr.
%
Der wirtschaftliche Wert der Wasserstrassen.
241
Dagegen von 1895 bis 1898 im Mittel per anno:
beim Wasserstrassenverkehr 14"33 Proc.
„ Eisenbahnverkehr 7-67 „
Aus den vorgenannten Ziffern muss gefolgert werden, dass selbst zur Zeit,
als der Wasserstrassenverkehr die doppelte Jahreszunahme von jener der Eisen-
bahnen auswies, der Verkehr auf den Eisenbahnen gegen die vorangegangene
Periode von 1875 bis 1895 nicht nur nicht abnahm, sondern ebenfalls zunahm.
Im Jahre 1877 war der Bestand der deutschen Binnenschiffahrt 570 Dampf-
boote mit 31.000 Tonnen Tragfähigkeit und 17.083 Segler und Schleppfahrzeuge
mit 1,350.000 Tonnen Tragfähigkeit; dagegen im Jahre 1897 1953 Dampfschiffe
mit 104.000 Tonnen Tragfähigkeit und 20.611 Schleppfahrzeuge und Segler
mit 3,270.000 Tonnen Tragfähigkeit. Die Zahl und Tragfähigkeit der Dampfer
haben sich also in 20 Jahren verdreifacht, während die Zahl der Güterfahrzeuge
sich nur um 21 Proc, deren Tragfähigkeit aber um 142 Proc. vermelirt hat.
Der Antheil des Wasserstrassenverkehrs am Gesammtfrachten-
verkehre ist binnen diesen drei Jahren von 22 auf 25 Proc. gestiegen.
Eisenbahn-Frachtenverkehr in Deutschland und
Oesterreich-Ungarn 1878 bis 1898.
Jahr
Länge
in Kilometer
Verkehr in
1,000.000 Tonnen-
Kilometer
.sc*«
O
Zunahme
des Verkehrs
in Proc.
Kilometer-
Verkehr
in Tonnen
5^5
Zunahme
des Kilometer-
Verkehrs in
Proc.
1878
1888
1898
30.269
39.169
46.879
17.097
24.299
32.772
11.497
20.203
30.706
4.937
8.540
13.535
76
167
73
174
369.575
517.260
656.569
276.899
351.199
435.139
47
77
27
56
Der Frachtenverkehr auf den Eisenbahnen ist in Deutschland und
Oesterreich-Ungarn innerhalb dieser 20 Jahre fast im gleichen Tempo gestiegen,
die kilometrische Verkehrsdichte (Umlauf) auf den deutschen Eisenbahnen war
allerdings im Jahre 1878 um 33 Proc, im Jahre 1898 um 50 Proc. grösser
als auf den österreichisch-ungarischen Eisenbahnen, ein neuerlicher Beweis,
dass der fortgesetzt steigende Wasserstrassenverkehr durch die Hebung des
Gesammtverkehrs den Eisenbahnverkehr eher befruchtete als schädigte.
Mit Bedauern muss constatiert werden, dass eine Wasserverkehrs-
Statistik, aus der für die einzelnen Flussgebiete und in Summa der Verkehr
in Tonnen und in Tonnen-Kilometer entnommen werden könnte, bei uns nicht
geführt wird, die analogen Vergleiche zwischen Wasser- und Eisenbahnverkehr
und die Angaben über den Umfang und die Bewegung dieses Wasserverkehrs
nicht gegeben werden können. Nur die k. k. Statthalterei in Prag gibt alljährlich
242
Oelwein.
statistisch correcte Ausweise über den Elbe- und Moldau verkehr, die dann
auch in der Zeitschrift des österreichischen Ingenieur- und Architekten-
vereines ^) jeweilig veröffentlicht werden. Dieser Elbeverkehr trifft Oesterreich,
nur von Melnik bis zur Grenze auf eine Länge von 109 Kilometer.
Die Länge der flossbaren und schiffbaren Wasserstrassen in Oesterreich
beträgt rund 6800 Kilometer.
Von denselben sind:
mit Booten befahren 2.926 hm
von Dampfschiffen befahren 1.138 „
Hievon entfallen:
auf die Binnenseen 211 /cm
, „ Donau 360 „
. . Elbe 109 „
„ « Weichsel 300 „
lieber die Leistungsfähigkeit dieser Schiffahrt ist in der Geschichte
der österreichischen Land- und Forstwirtschaft und ihrer Industrien 1848
bis 1898^) ein Ausweis gegeben worden.
Die folgenden Ziffern über den Verkehr in Tonnen auf der Elbe und
aus den Jahresberichten der Donaudampfschiffahrts-Gesellschaft (2862 Kilo-
meter) dienen einigermaassen zur Information über die Entwicklung dieser
Schiffahrt.
Verkehr in Tonnen.
Elbe-Grenzverkehr
1847
1852
1857
1862
1867
1872
1877
1882
1887
1892
1897
1899
1900
136.800
532.300
844.700
962.900
1,014.600
1,888.800
1,341.900
1,693.700
2,105.600
2,943.100
3,576.300
3,769.400
3,135.800
Donau-
D atn p f s ch i ffah rts ■
Gesellschaft
117.600
314.800
512.200
871.700
1,187.700
1,150.000
1,271.000
1,674.900
1,709.600
1,830.400
2,000.800
1.797.300
2,011.600
0 Verkehr 1895 bis 1899 in Nr. 41 der Zeitschiift des österreichischen Ingenieur-
und Architektenvereines. 1901.
2j Herausgegeben zur Feier des Eegierungs-Jubiläums Sr. Majestät des Kaisers,
Wien, 1899, Moritz Perles.
Der wirtschaftliche Wert der Wasserstrassen.
243
Die Abnahme des Elbeverkehrs im Jahre 1900 ist auf den Kohlen-
stiike in Böhmen zurückzuführen.
Der deutsch-österreichische Grenzverkehr der Donau betrug im Jahre
1896 nur 291.400 Tonnen.
Der Verkehr im Stromgebiete des Rheins betrug 1898 14,737.481 Tonnen.
Unserer Donau mangelt aber die Verbindung mit dem deutschen Wasser-
strassennetze und den Häfen der Nord- und Ostsee, um sich zu einem
grossen Verkehre aufzuschwingen.
Der Schiffahrts - Gewerbeinspector, Hofrath A. Schromm, hat für
den internationalen Binnenschiffahrts Congress in Paris, 1892, durch directe
Erhebungen eine Zusammenstellung des Binnenwasserverkehrs in Oesterreich
für das Jahr 1890 durchgeführt, jedoch nur für die wichtigsten Strecken
in der Länge von 1656 Kilometer.^) Allerdings dürfte dies nahezu der
ganze Wasserverkehr sein.
Im Jahre 1890 war der Frachten verkehr der österreichischen Eisen-
bahnen, approximativ ermittelt, in Millionen Tonnen-Kilometer . . 6.380
der Wasserverkehr in Millionen Tonnen-Kilometer 446
Der Gesammtfrachtenverkehr in Millionen Tonnen-Kilometer .... 6.826
Der Antheil des Wasserstrassen Verkehrs am Gesammt-
verkehre beträgt somit in Oesterreich im Jahre 1890 6-5 Proc,, ist jedoch
seither bei der ungleich grösseren Steigerung des Eisenbahnverkehrs wesent-
lich gesunken.
») Siehe nachfolgende Tabelle für 1890.
Verkehrsgebiet
Länge
in
Kilometer
Güterverkehr
Tonnen
Tonnen-
Kilometer
Durchschnitts-
Transportkosten
per Tonnen-
Kilometer in
Kreuzern
r Inn . .
Donau mit l Traun .
l Enns .
Elbe mit Moldau . . .
{Przemza
Dunajec
San . .
Aussa .
Zermagna
Kerka .
Narenta
Küstenflüsse
Binnenseen
Summa .
3510
4110
> 66-5
2108
1.656-3
3,658.611
160.750
20.758
224.491
5,238.005
231,140.374
196,070.922
10,564.586
385.168
8,337.131
446,498.181
0-725
0-385
1-050
0-737
0-584
244
Oelwein.
Transportkosten auf den Eisenbahnen und auf den Binnen-
Wassenstrassen.
Mit der fortschreitenden Entwicklung der Industrie und des Handels
und der zunehmenden Concurrenz am europäischen Markte mussten die
Tarife der Eisenbahnen auch fortgesetzt sinken. Diese Verbilligung der
Eisenbahntarife stand nicht etwa im freien Belieben der Eisenbahnen, sondern
war eine nothwendige Folge der Wirtschafts- und Verkehrspolitik der Staaten.
Die Transportkosten überhaupt sind eben auch ein Object der Concurrenz
geworden. Der Tarif in den Händen des Staates gibt diesem auch die Mittel
in die Hand, die Wirkungen der Zoll- und Handelsverträge im Interesse
einer nationalen Wirtschaftspolitik gegebenenfalls zu corrigieren; denn selbst
Verbandstarife werden nur auf kürzere Fi'ist vereinbart und können gekündigt
und wieder abgeändert werden. Das übliche System der Refaction begünstigte
diese Art der Verkehrspraxis. Die hohen Abgaben am Eisernen Thor sind
doch auch nur ein Schutzzoll für die ungarischen Bodenproducte.
Halten wir uns übrigens an die Thatsachen, so gibt die folgende
Tabelle die mittleren Einnahmen per Tonnen-Kilometer aus dem Frachten-
verkehr, umgerechnet auf Kreuzer Goldwährung^) bei den deutschen und
österreichisch-ungarischen Bahnen, somit nach Abschlag aller Refactien den
thatsächlich eingehobenen Tarifsatz.
Einnahmen aus dem Frachtenverkehr per Tonnen-
Kilometer in Kreuzer 1878 bis 1898.
Jahr
Frachten
im allgemeinen
Deutsch-
land
Oester-
reich-
Ungarii
Wagenladungs-
Güter
Deutsch-
land
Oester-
reich-
Ungain
Jahr
Frachten
im allsremeinen
Deutsch-
land
Oester-
reich-
Unfrarn
Wagenladungs-
Güter
Deutsch-
land
Oester-
reich
Ungarn
1878
1880
1882
1884
1886
1888
2-330
2-397
2-335
2-047
2035
1-945
2667
2-506
2-351
2274
2125
2 003
1-929
1-954
1-960
1-736
1-735
1-715
2-343
2-305
2084
2-000
1-842
1-722
1890
1892
1894
1896
1898
1-925
1-910
1-905
1-950
1-885
2-000
1-925
1-905
1-945
1-860
1-700
1-690
1-680
1-675
1-605
1-700
1-615
1-600
1-645
1-580
Wenn man die für Güter im allgemeinen per Tonnen - Kilometer
gezahlten Frachtkosten in einem Graphicon ersichtlich macht, lässt sich
*) Bei den deutschen Eisenbahnen 1 Kreuzer
ungarischen Eisenbahnen 1 Gulden = 1-70 Mark.
2 Pfennig, bei den österreichisch-
Der ■wirtschaftliche Wert der Wasserstrassen.
245
eine Curve rr (deutsche Eisenbahnen) und ss (österr.-ungar. Eisenbahnen)
für den Abfall der Transportkosten construieren, die dann die Resultierende
der Wechselwirkung zwischen den Transportkosten und der Entwicklung des
Verkehrs erffibt.
Fig. 1.
X^J^AaaX^
^^xjx. lö/A 76 -79 SO S1 8J+ a6 SS 9o ^'L 9^ 96 ^5
•o O O O — - *---K Ä-?^-- .
■ O I i \ — i — kOh 1 1 1 *—&<
Während die durchschnittlichen Transportkosten auf den österreichisch-
ungarischen Bahnen (Curve ss) im Jahre 1878 um 14 Proc, im Jahre 1884
um 10 Proc. noch höher waren, als auf den deutschen Bahnen (Curve rr),
ist der Unterschied vom Jahre 1890 an fast ganz verschwunden. Im Wagen-
ladungsgüterverkehre transportierten die österreichisch-ungarischen Bahnen
vom Jahre 1892 an schon, wenn auch um ein geringes, billiger.
In den Jahren 1875, 1885 und 1895 war der Antheil der Wasserstrassen
am deutschen Gesammtverkehre 19, 22 und 22 Proc, im Jahre 1898 schon
25 Proc. Rechnet man die Transportkosten auf den deutschen Wasserstrassen
rund per Tonnen-Kilometer mit 0"400 Kreuzer, so mussten sich die Trans-
portkosten im Mittel des Gesammtgüter Verkehrs zu Bahn
und zu Wasser um den Antheil des wesentlich billiger befördernden
Wasserstrassenverkehrs am Gesammtverkehr gegen die Transportkosten auf den
Eisenbahnen vermindern. Führt man diese Rechnung durch, so ergeben sich:
246
Oelwein.
Jahr
Güterverkehr in
1,000.000 Tonnen-Kilometer
Transportkosten
per Tonnen-
Kilometer in Kreuzern
ergeben sich
die Durcli-
schnitts-Trans-
portko^iten des
Gesjimmtgüter-
Verkehrs in
Kreuzern
Ersparnis
gegen den
Eisen-
bahntarif
in Proc.
auf den
Eisen-
bahnen
auf den
Wasser-
strassen
zusammen
auf den
Eisen-
bahnen
auf den
Wasser-
strassen
1875
1885
1895
1898
10.900
16.600
26.500
32.600
2.900
4.800
7.500
10.700
13.800
21.400
34.000
43.300
2-450
2-044
1-900
1-885
0-400
0-400
0-400
0-400
206
108
167
151
160
17-8
17-4
19 8
Im Graphicon ist dann diese Verbilligung der Transportkosten per
Tonnen-Kilometer des Gesammt-Güterverkehrs durch die Ciirve v iv ersicht-
lich gemacht.
Zieht man die früher bezifferten Verkehrsverhältnisse in Oesterreich
vom Jahre 1890 ins Calcul, wo die Durchschnittstransporte auf den Eisen-
bahnen in Oesterreich-Ungarn mit 2-000 Kreuzer, auf den Wasserstrassen mit
0-584 Kreuzer ausgewiesen wurden, so erhält man die analogen Durch-
schnitts-Transportkosten des Gesammtgüterverkehrs per
Tonnen-Kilometer mit 1-910 Kreuzer, gegen die mittlere Einnahme im Eisen-
bahnverkehr mit 2*000 Kreuzer und resultierte im Jahre 1890 dann nur eine
Ersparnis von '^•64 Proc. gegen eine solche in Deutschland von 160
bis 19'8 Proc. Diese Ersparnis von 4*64 Proc. hat sich jedoch heute aus
den früher genannten Gründen schon verringert,
Um diese Differenz der Gesammttransportkosten sind die deutsche
Industrie und der dortige Handel uns gegenüber infolge der Wasserstrassen
wesentlich günstiger gestellt.
' Deutsche Canalvoplage.
Die letzte Regierungsvorlage an den preussischen Landtag umfasste:
I. Wass er Strassen:
1. Die Herstellung eines Canals vom Rhein an den Dortmund-Ems-
Canal und von diesem zur Elbe;
2. einen neuen Canal von Berlin an die Oder (Berlin-Stettin-Canal);
3. den Umbau des Bromberger Canals und die Schiffbarmachung der
Netze, Warthe und Brahe;
4. Verbesserung des Schiffahrtsweges zwischen Schlesien uud dem
Oder-Spree-Canal mit zusammen 329,015.700 Mark.
II. Für Zwecke der Melioration und
Bodencultur:
Eine Betheiligung des Staates mit 59,995,000 Mark
zusammen 389,010.700 Mark.^)
*) Am 1. März d. J. unterbreitete die französische Regierung der Deputiertenkammer
einen Gesetzesentwurf für nachfolgende Wasserstrassen:
^
Der wirtschaftliche Wert der Wasserstiassen. 247
Sind diese Wasserstrassen ebenfalls ausgebaut, so besitzt Deutschland
ein dichtes Netz moderner, sehr leistungsfähiger Wasserstrassen nach allen
Kichtungen des grossen Verkehrs, darunter rund 5700 Kilometer künstlicher
Wasserstrassen. Mit der Ausdehnung dieses Netzes steigt dann auch der
Antheil des Wasserstrassenverkehrs am Gesaramtgüterverkehr und verwässern
sich auch folgerecht fortschreitend die durchschnittlich per Tonnen-Kilometer
zu zahlenden Transportkosten, ohne Schädigung des Verkehrs und der
Rente der Eisenbahnen, denn die preussischen Staatsbahnen ergaben bereits
einen Betriebsüberschuss von rund 7 Proc, während dieser Ueberschuss auf
den österreichisch-ungarischen Eisenbahnen sich in Summe aller Linien
max. um 4 Proc.^) bewegt.
Der Motivenbericht zu der vorgenannten Canalvorlage der deutschen
Regierung enthält sehr schätzenswerte Angaben über die künftigen Transport-
kosten auf diesen Wasserstrassen, verglichen mit den Eisenbahntarifen in
den analogen Warenclassen.
Getreu dem jetzt geltenden Grundsatze, die künstlichen Wasserstrassen
sollen productive Anlagen sein und bei voller Freizügigkeit der Schiffahrt
das in ihnen investierte Anlagecapital auch verzinsen und tilgen, sind die
S chif fahrt s abgaben, die jeder Schiffer zu entrichten hat, am Mittel-
land-Canal (325 Kilometer) im Durchschnitt aller Fracht per Tonnen-
Kilometer mit '. . . • 0-360 Kreuzer
bestimmt worden.
Rechnet man hiezu die Zugskosten (inclusive der Verzinsung und
Tilgung des im Bootspark investierten Capitals) per Tonnen-Kilometer
mit 0-390 Kreuzer
so stellen sich die Transportkosten per Tonnen-Kilometer auf 0750 Kreuzer
zusammen 203,530.000 fl.
A. Verbesserungsarbeiten
für Canäle zwischen Scheide und Seine, die Seine, Ehone, Canal du
Midi, Garonne 20,500.000 fl,
B. Neubauten:
1. Canal de Chiers
2. Canal von der Scheide zur Maas
3. Nordcanal
4. Verlängerung des Canal de l'Ourcq
5. Loire
6. Canal Cambleux-Orleans
7. Canal von der Loire zur Ehöne
8. Canal von Marseille zur Khone
9. Canal von der Ehöne nach Cette
in Summe .... 224,030.000 fl.
*) Nach Hofrath Konta betrug die Verzinsung des in den Eisenbahnen investierten
Anlagecapitals im Jahre 1896:
auf den deutschen Eisenbahnen 5*665 Proc.
„ „ preussischen Staatsbahnen 6-76 „
„ „ bayrischen Bahnen, die ohne Concurrenz der Wasserstrassen sind . 3-16 „
„ „ österreichisch-ungarischen Eisenbahnen 440 „
„ „ österreichischen Staatsbahnen 2'89 „
248
Oelwein.
Für die canalisierten Fliisstrassen, wie die Weser, Netze etc., sind die
Schiffahrtsabgaben per Tonnen-Kilometer nur mit .... 0-180 Kreuzer
vorgesehen, hiezu Zugskosten 0-390 „
gibt Transportkosten 0-570 Kreuzer
Auf den freien Flüssen werden keinerlei Schiffahrtsabgaben eingehoben
und variieren z. Z. am Khein und der Elbe die Tarifsätze per Tonnen-
Kilometer zwischen 0-3 und 0-4 Kreuzer ö. W.
Werden drei Warenclassen angenommen, so stellen sich die Transport-
kosten am Mittelland-Canale, verglichen mit den Tarifen der Eisenbahnen
in den analogen Warenclassen, wie folgt:
Transportkosten per Tonnen-Kilometer in Kreuzern.^)
Warenclasse
Transportkosten
am
Mittelland-Canal
auf den
Eisenbahnen
I.
IL
III.
niederster Satz
116
0-86
0-66
2-178
1-794
1-572
1-494
in» Mittel
0-750
1-645
hiebei wurde der Antheil am Gesammtverkehr in der Warenclasse I mit
10 Proc, der Warenclasse II mit 20 Proc, der Warenclasse III und des
niedersten Satzes mit 70 Proc. eingestellt.
Dass in Praxi noch eine weitere Differenzierung der Warenclassen ein-
treten kann, ist selbstredend. Die Transportkosten am Canal wären dann
um 54 Proc. niederer, als die Tarifsätze auf den Eisenbahnen. Bei Ein-
rechnung der Differenz in der Währung erhöht sich noch dieser Procentsatz.
Die Zugskosten am Mittelland-Canal, inclusive Verzinsung
und Tilgung des im Bootspark angelegten Capitals betragen per Tonnen-
Kilometer 0-390 Kreuzer.
Kechnet man bei dem Wagenladungs-Güterverkehr der Eisenbahnen
einen Betriebscoefficienten von 70 Proc, so betragen die Selbstkosten
dieser Wagenladungsgüter im Eisenbahntransporte, exclusive der Ver-
zinsung und Tilgung des im Fahrpark investierten Capitales per Tonnen-
Kilometer 1*151 Kreuzer.
Stellt man, roh gerechnet, diese beiden Zahlen einander gegenüber,
so stellen sich im Mittel dieser Verkehre die Selbstkosten des Eisen-
^) Die Transportkosten auf den Eisenbahnen erscheinen in Kreuzer Gold, jene auf
dem Mittelland-Canal sind auf österreichische Währung: umgerechnet worden.
4
Der wirtschaftliche Wert der Wasserstrassen.
249
bahnt ransportes um 67 Proc. niedriger als die Ziigskosten
am C a n a 1.
Der Uebersichtlichkeit wegen wurden diese Ziffern wieder in ein
Graphicon eingetragen und bedeuten:
Fig. 2.
die Linie a h (0-750 Kreuzer) die Transportkosten am Mittelland-Canal und
die Linie e f (1-645 Kreuzer) die Transportkosten auf den concurrierenden
Eisenbahnen, die Linie c d (0 390 Kreuzer) die Zugskosten am Mittelland-
Canal und die Linie g h (1-151 Kreuzer) die Selbstkosten im Eisenbahn-
transporte.
Aus der Gegenüberstellung der Ziffern im Graphicon ergeben sich mit
Hinweis auf die vorgezeichnete Scala von 00 bis 2-3 Kreuzer nun nach-
stehende Folgerungen:
1. Nach diesen Durchschnittsziffern per Tonnen-Kilometer beträgt der
Transportgewinn beim Canaltransport 0-750 — 0390 = 0-360 Kreuzer oder
48 Proc. vom Transportpreis; beim Eisenbahnbetrieb 1-645 — 1-151 =
0-490 Kreuzer oder 40 Procent vom Transportpreis.
2. Wenn man bei beiden Betrieben auf jeden Gewinn verzichtet, so
ist die unterste Grenze des Tarifs per Tonnen-Kilometer beim Canal
0-390 Kreuzer, auf der Eisenbahn 1-151 Kreuzer.
3. Diese unterste Grenze des Eisenbahntarifsatzes (1-151 Kreuzer) liegt
wesentlich höher, als der Transportpreis am Canal inclusive eines 48proc.
Betriebsgewinnes, und würde ein Tarifsatz von 1-151 Kreuzer, der auf der
Eisenbahn keinerlei Gewinn mehr ergibt, am Canal angewendet, einen Betriebs-
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpcilitik und Verwaltung. X. Hand.
17
250 Oelwein.
überschuss per Tonnen-Kilometer von 0761 Kreuzer oder einen Gewinn von
67 Proc. des Transportpreises ergeben. Eine Eisenbahn, die aber alle
Frachten mit dem noch rentablen Canaltarif befördern wollte, würde nur
einen Theil der Selbstkosten decke'^n können, daher passiv werden.
In derFähigkeit, auf eine r modernen leistungsfähigen
Was s erstras se bei gleichem Gewinn wesentlich billiger
zu transportieren, als auf der gleichwertigen Eisenbahn,
liegt der grosse verkehrstechnische und wirtschaftliche
Wert der Wasser Strasse n.
Diesem Vortheile der Wasserstrassen stehen dann die vielen Vorzüge
der Eisenbahnen im Gütertransporte gegenüber: raschere Beförderung und
ununterbrochener Betrieb zur Zeit der Wintersperre.
Die normale Fahrzeit auf Canälen beträgt rund 3"5 Kilometer per
Stunde; dazu kommen noch die Verluste an Zeit für die Durchschleusung der
Boote. Für die Güterzüge kann die Fahrzeit auf currenter Strecke mit 20 Kilo-
meter per Stunde angesetzt werden, zu der dann allerdings alle Verluste für
Rangierung der Züge, Aufenthalte in den Stationen, Sammlung der Wagen
in Zügen nach der Bestimmungsstation und andere unfreiwillige Aufenthalte
zuzuschlagen sind. Bestellt man z. B. einen Waggon Kohle in Ostrau für
Wien (274 Kilometer) und erhält denselben in 8 Tagen geliefert, so
kann diese Tour am Donau-Oder-Canal in ISstündigem Tagesbetriebe bei
Anwendung von Schleusen in 8 Tagen, bei Anwendung von Hebewerken in
6 Tagen, in Tag- und Nachtbetrieb bei Anwendung von Schleusen in
5 Tagen, bei Anwendung von Hebewerken in SVg Tagen gemacht werden.
Die Lieferzeit ist eben nicht die Fahrzeit. In Ländern, wo man sich an die
Usancen des Wasserverkehrs gewöhnt hat, hört man keine Klage über die
Wintersperre, und man benützt im Winter gerne die geladenen Boote als billige
Magazine. Die Versuche, die man neuester Zeit in Deutschland mit Eis-
brechern^) gemacht hat, berechtigen zu der Hoffnung, dass man bei Ver-
wendung derselben die Eissperre auf Canälen auf Wochen reducieren kann.
Wintschaftliche Vortheile den Wassenstnassen.
Den billigen Wassertransport werden vorwiegend die Roh- und Massen-
producte aufsuchen. Wo Eisenbahnen und Wasserstrassen in demselben Ver-
kehrsgebiete concurrieren, wird sich naturgemäss eine Theilung des Verkehrs
vollziehen, doch nicht etwa eines Verkehrs, den die Eisenbahn vor dem
Bestände der Wasserstrasse zu bewältigen hatte, sondern eines ganz andern
und ungleich grösseren Verkehrs; denn durch die ungleich billigeren Wasser-
strassentarife werden ganz neue Güter erst in Bewegung gebracht, die mit
den Tarifen der Eisenbahnen gar nicht oder nur auf kurze Distanzen trans-
portiert werden konnten. Auch in den von den Eisenbahnen beförderten
Massengütern, wie Kohle, tritt eine Vermehrung des Verkehrs nach Maass-
gabe der Verbilligung der Frachtkosten auf der Wasserstrasse und nach
^) Mittheilungen des Hofrathes A. Schromm in Nr. 16 der Zeitschrift des
österreichischen Ingenieur- und Architektenvereines, 1901.
Der wirtschaftliche Wert der Wasserstrassen, 251
Maassgabe des dann erweiterten Absatzgebietes ein, dann aber auch eine
Theilung dieses vermehrten Verkehrs, da die meisten Abnehmer, welche
Kohle waggonweise beziehen, abseits vom Canale liegen, Mangel an Depöt-
raum haben, etc. Der grosse Kohlenverkehr zwischen Belgien und Frankreich
vertheilt sich mit 42 Proc. auf die Wasserstrassen, mit 58 Proc. auf die
Eisenbahnen. Der Canal de St. Quentin beförderte über 4-5 Millionen Tonnen.
Der Verkehr von Berlin vertheilte sich 1898 auf die Eisenbahn mit
6,400.000 Tonnen, auf die Wasserstrasse mit 5,600.000 Tonnen.
Wo Eisenbahnen und Wasserstrassen in denselben Verkehrsgebieten
concurrieren, werden erstere von den minderwertigen und geringtarifierten
Waren entlastet, und es kann die Eisenbahn bei einer zielbewussten Verwaltung
selbst nach dem Ausbau eines Canals in demselben Transportgebiete
bei vermindertem Verkehre eine höhere Kente abwerfen wie früher. Die
deutsche Verkehrsstatistik lehrt, dass die Eisenbahnen dort, wo sie mit
leistungsfähigen Wasserstrassen concurrieren, eine grössere Verkehrsdichte
und auch eine grössere Verkehrszunahme aufweisen, ein Beweis, dass durch
die Wasserstrassen neue Industrien geschaffen werden, der Handel sich
mächtig belebt, die Production sich hebt und aus der Wechselwirkung
beider Transportarten den Eisenbahnen auch vermehrte aber höher tarifierte
Frachten zufliessen.
Wo die Eisenbahnen allen und jeden Verkehr allein zu bewältigen
haben, müssen sie den durch die fortgesetzt gesteigerte Concurrenz am
Markte gerechtfertigten Ansprüchen des Handels und der Industrie auf
Ermässigung der Tarife gerecht werden, wenn sie den öffentlichen Interessen
genügen sollen. Selbst wenn sie ihra Tarife nicht herab-
setzen, muss fortgesetzt eine Verminderung ihrer Rente
eintreten, denn die normale Zunahme des Verkehrs tritt in wesentlich
grösserem Verhältnis in den Gütern der untersten Warenclassen ein, während
die Betriebskosten zumindest die gleichen bleiben, — eher infolge der unaus-
gesetzten Steigerung der Löhne und Gehalte des Personals noch zunehmen.
Aus diesem Grunde kann auch behauptet werden, das die höhere
Rente der deutschen Eisenbahnen der grossen Entwicklung des Verkehrs
durch die Wasserstrassen zum grossen Teile mit zugeschrieben werden kann.
Oesteppeichische Canalvoplage.
Die neueste Canalvorlage der österreichischen Regierung im Ab-
geordnetenhause umfasste den Bau
a) eines Schiffahrtscanais von der Donau zur Oder. (274 Kilometer.)
b) eines Schiffahrtscanais von der Donau zur Moldau nächst Budweis
nebst der Canalisierung der Moldau von Budweis bis Prag.
c) eines Schiffahrtscanais vom Donau-Odercanal über Nordmähren zur
oberen Elbe, nebst Canalisierung dieser Elbestrecke bis Melnik. (346 Kilometer.)
d) einer schiffbaren Verbindung vom Donau-Odercanal zum Strom-
gebiete der Weichsel und bis zu einer schiffbaren Strecke des Dnjester.
(480 Kilometer.)
17*
252 Oelwein.
Für den sab b genannten Elbe-Donaucanal wäie nur die Canalisation
der Moldau von Prag bis Budweis (185 Kilometer) feststehend, denn von
Budweis ab ist nur der Anschluss der Moldau an die Donau vorgesehen,
ohne den Anschlusspunkt selbst zu nennen. Hier concurrieren vor allem
2 Projecte, eines von Budweis über Gmünd nach Wien (205 Kilometer)
und eines von Budweis nach Linz (95 Kilometer).
1. Werden beide Anschlüsse hergestellt, so umfasst dieses Netz eine
Länge von 1.400 Kilometer.
2. Wird nur die Strecke Budweis — Wien erbaut, so beträgt die
Länge 1.305 Kilometer.
3. Wird nur die Strecke Budweis — Linz gebaut, so reduciert sich die
Länge auf 1.195 Kilometer.
Die approximativ veranschlagten Baukosten stellen sicli dann
ad 1. auf 375 Millionen fl.
ad 2. , 340 , „
ad 3 295 „ „
Von diesen Projecten ist jenes für den Donau- Odercanal schon im
Jahre 1873 den gesetzgebenden Körperschaften vorgelegen, und die Gesetzes-
vorlage ist auch genehmigt worden. Im Jahre 1894 wurde dieser Canal von
einer französischen Gesellschaft für Boote von 600 Tonnen Tragfähigkeit
neu traciert und projectiert. Dieser Canal, der die gleiche Länge wie die
Nordbahn hat, 274 Kilometer, hat als Zufuhrsarterie der österreichischen und
preussischen Steinkohlen für Inner-Oesterreich besondere Bedeutung. Die
Nordbahn wies im Jahre 1900 einen Frachtenverkehr von 6,757.000 Tonnen
auf. Hievon entfallen auf die preussischen Kohlen 1,853.000 Tonnen. Wien
und das Hinterland beziehen aus diesem Gebiete etwa 2,500.000 Tonnen
an Kohle.
Für den Donau Moldau-Elbecanal besteht ein Actionscomite, die
Projecte für die Canalisierung der Moldau und der Scheitelcanal Budweis —
Wien sind in Arbeit.
Für alle übrigen Wasserstrassen liegen nur sehr generelle Studien vor.
Unsere Canäle haben nicht die günstigen topographischen und hydro-
logischen Verhältnisse wie jene im Tieflande Deutschlands. Während der
Mittellandcanal nur geringe Gefälle zu überwinden hat und von wasser-
reichen Flüssen direct gespeist werden kann, betragen die zu Oberwindenden
Höhendifferenzen
beim Donau-Odercanal 205 Meter
„ Canal Budweis — Wien 535 „
„ „ Budweis — Linz 860 „
„ nordmährisch-böhmischen Canal bis zur Elbe .411 „
„ Oder-Weichsel-Dnjestercanal 286 „
Wollte man diese Canäle nur als Schleusencanäle erbauen, so könnte
das bei diesem System erforderliche Betriebswasser nur aus höher als die
Wasserscheiden gelegenen Niederschlagsgebieten in grossen Thalsperren
Der wirtschaftliche Wert der Wasserstrassen. 253
aufgesammelt werden. Der Verkehr wäre dann jederzeit von der erforderlichen
und verfügbaren Betriebswassermenge abhängig, die Fahrzeit würde aber
infolge des Verlustes durch die vielen Schleusungen eine wesentlich lang-
samere sein, als auf den deutschen Canälen.
Da die Zugskosten, wie Löhne der Mannschaft, Zinsen für das im
Bootspark investierte Capital, etc. zum grossen Theile auch von der Fahrt-
geschwindigkeit abhängig sind, ist man bestrebt gewesen, in jenen Strecken,
die die Wasserscheiden und das bergige Terrain übersetzen, die Gefälle an
einzelnen Punkten zu concentrieren, lange Haltungen auszumitteln, und
die Boote statt durch eine grosse Zahl von Schleusen nur durch wenige
mechanische Hebewerke, in eisernen Trögen schwimmend, aufwärts und
abwärts zu befördern. Die Frage dieser mechanischen Hebewerke, die für
verticalen Hub schon ausgeführt, und, über geneigte Ebenen rollend,
hier projectiert wurden und auch auf den neuzuerbauenden Canälen
Deutschlands in Aussicht genommen sind, wurde schon eifrig studiert; und
es ist, da auch schon anerkannt gute Projecte vorliegen, kein wesentliches
Hindernis für die Inangriffnahme des Baues, da man auch dann noch genügende
Zeit hat, diese Anlagen praktisch zu erproben.
Dann ist der Verkehr auf den Canälen unabhängig
von der zu beschaffenden Betriebswasser menge, denn die
mechanischen Hebewerke bedürfen nur verschwindend geringer Mengen an
Betriebswasser. Dann werden aber auch die sehr hohen Kosten für derlei
grosse Thalsperren erspart; dann werden sich auch die Transportkosten auf
unseren Canälen nicht wesentlich höher stellen, wie auf deutschen Canälen.
Letzteres ist aber die Grundbedingung für den wirtschaftlichen Wert dieser
Canäle.
Nach den in Frankreich und Deutschland durchgeführten Versuchen
ist es zweifellos, dass die elektrische Kraft bei den österreichischen Wasser-
strassen die Zugkraft der Zukunft ist, und dass dann die vorhandenen
Wasserkräfte mit grossem Vortheil ausgenützt werden.
Für den Bau eines Elbe - Donaucanals und eines nordmährisch,
böhmischen Canals muss die Regulierung der Moldau von Prag bis Budweis
und der Elbe von Pardubitz bis Melnik vorangehen, da diese Flussstrecken
dann erst canalisiert werden sollen.
Ich mache hier auf die sehr interessanten Studien des königl. Bauamt-
manns Faber für die Herstellung einer Gross-Wasserstrasse im Mainthal
zwischen Aschaffenburg und Bamberg im Anschluss an den neuen Donau-
Main-Canal (München, 190L „Bayrisches Industrie- und Gewerbeblatt")
aufmerksam, der das Ziel verfolgt, hier gleichzeitig sehr grosse Wasser-
kräfte zu schaffen, die dann dem Schiffahrtsbetriebe und der Industrie zu
dienen hätten.
Es wäre zu wünschen gewesen, dass der Antrag der hohen Regierung
im hohen Abgeordnetenhaiise nicht nur im vollen Umfange Annahme gefunden
hätte, sondern dass auch der Bau selbst nach Thunlichkeit beschleunigt
werden Avürde. Der Ausbau eines österreichischen Canalnetzes wird eine
254 Oelwein.
vollständige Wandlung in unseren Verkelirsverhältnissen zur Folge haben.
Soweit dann die Verbilligung der Transportkosten auf die Hebung der Industrie,
des Handels, der Bodencultur und des Haushaltes einzuwirken vermag,
kann diese Wandlung im allgemeinen öffentlichen Interesse nur eine günstige
sein. Mit dieser wesentlichen Verbilligung der Transportkosten begründen
aber auch die deutschen Agrarier ihre Gegnerschaft gegen das grosse Canal-
project der deutschen Regierung, weil sie besorgen, dass dann die Einfuhr
fremder Bodenproducte gleichfalls begünstigt und der Preis ihrer eigenen
Erzeugnisse gedrückt wird. In Wirklichkeit sind sie jedoch nicht Gegner
der Canäle, denn sie anerkennen deren hohen Wert für den Aufschwung der
Industrie, des Handels und auch für ihre eigenen landwirtschaftlichen Er-
zeugnisse, — sie wollen nur vorerst die denkbar höchsten Einfuhrzölle auf
diese Bodenproducte, obwohl Deutschland den eigenen Bedarf nie decken
kann, und auf die Einfuhr derselben jederzeit angewiesen sein wird.
Die grossen Vortheile der Wasserstrassen für die Landwirtschaft
wurden seinerzeit am bayrischen Wasserstrassentage in Passau 1898 von
dem Prinzen Ludwig von Bayern, der selbst einer der grössten Landwirte
ist, in classischer Weise beleuchtet.
Der einseitige Interessenstandpunkt ist leider durch den alleinigen
Hinweis auf die allgemeinen Interessen nicht zu besiegen. Der eine Landwirt
aus Böhmen behauptet, ein Canal von der Donau zur Elbe sei sein Ruin,
denn das ungarische Getreide werde dann trotz der grossen Entfernung von
mehr als 500 Kilometer in seiner Heimat billiger verkauft werden, als er
es zu producieren vermag. Eine Zollgrenze zwischen Oesterreich und Ungarn
existiert nicht, er kann also durch einen Getreidezoll nicht geschützt
werden. Sein Nachbar-Landwirt behauptet, dieser Canal wäre für ihn vom
grössten Vortheil, denn dann könnte- er die Düngstoffe billiger haben,
intensiver wirtschaften, mehr Rüben bauen, die er dann zu wesentlich besseren
Preisen an entferntere Fabriken verkaufen kann, während er heute diese
Rübe nothgedrungeu wegen zu grosser Transportkosten nur der nächsten
Fabrik zu Schandpreisen abgeben muss. Für seine vorzüglichen Ziegeln
erhält er heute kaum 972 A-i während sein Nachbar, der, nur 3 Meilen
entfernt nahe der Stadt ist, 14 fl. erhält. Dies sind Nachbarn. — Ein
Landwirt Mährens beklagt sich in derselben Gesellschaft, dass er für den
von ihm producierten Zucker einerseits die Concurrenz Ungarns tragen, und,
um zu exportieren, bis Laube einen Frachtpreis von 1.95 Kronen "per
100 Kilogramm zahlen muss. Er beglückwünscht die Zuckerfabrikanten
Böhmens, dass sie die schiffbare Elbe haben.
Bei Besprechung der österreichischen Canalvorlage in den verschiedenen
Vereinen standen sich leider die Vertreter der Landwirtschaft und der
Industrie in Vertretung ihrer Interessen sehr schroff gegenüber. Beide haben
weit über das Ziel geschossen. Wo der Landwirt die Bodenproducte aller
Art selbst verarbeitet und dadurch auch Industrieller wird, erzielt die
Bewirtschaftung des Besitzes erfahrungsgemäss die höchste Rente. Viele
Grossgrundbesitzer zählen doch auch auf andern Productionsgebieten zu den
Der wirtschaftliche Wert der Wasserstrassen. 255
grossen Iiidiistriellen. Wo die Industrie gedeiht, gedeiht auch die Land-
wirtschaft, denn letztere nährt die erstere, und bleibt dann unberührt von
der Conjunctur der entfernteren Märkte. Die Verhältnisse Oesterreichs und
Ungarns im Exporte der landwirtschaftlichen Erzeugnisse haben sich auch
schon infolge der Vermehrung der Bevölkerung seit 10 Jahren wesentlich
verschoben, wie dies aus den Ziffern in der Anmerkung^) zu ersehen ist.
^) Allgemeine Zeitung Nr. 41. München 10. Febiuar 1901. Die künftigen Getreide-
zölle von Th. Ehrenstein. Die veränderte Situation veranschaulicht am besten die
folgende Tabelle über unsere Getreide-Ein- und Ausfuhr. Wir hatten in Doppel-
centnern in
Weizen 1890 1891 1892 1893 1894 1895
Mehrausfuhr .... 2,326.185 1,452.905 620.026 554.548 368.078 490.500
Mehreinfuhr .... — — — — — —
Koggen
Mehrausfuhr .... — 350.470 237.208 _ _ _
Mehreinfuhr .... 135.484 — — 61.778 30.129 271.511
Gerste
Mehrausfuhr. . . . 3,682.554 3,259.175 3,197.678 4,882.695 3,378.770 2,322.362
Hafer
Mehrausfuhr .... — 101.015 934.331 430.871 — —
Mehreinfuhr .... 268.600 — — ' — 1,285.843 656.947
Mais
Mehrausfuhr .... — 321.270 533,291 _ _ _
Mehreinfuhr .... 833.691 — — 411.785 2,128.774 2,102.916
Weizen 1896 1897 1898 1899 1900
Mehrausfuhr .... 429.097 _ _ _ _
Mehreinfuhr .... — 992.906 1,996.567 723.592 277.482
Roggen
Mehrausfuhr .... — — — — —
Mehreinfuhr .... 508.938 1,747.727 2,278.476 200.051 71.646
Gerste
Mehrausfuhr .... 4,179.111 3,144.293 2,772.546 4,037.699 2,774.983
Hafer
Mehrausfuhr .... — — — 543.404 273.320
Mehreinfuhr .... 637.653 603.829 247.271 — —
Mais
Mehrausfuhr .... — — — — —
Mehreinfuhr .... 982.973 2,123.371 6,621.439 1,515.714 1,785.236
Daraus erhellt, dass unser Bedarf in Roggen und Mais die Production schon seit
1893 überragt, dass wir Hafer, nur noch gute Ernten vorausgesetzt, Gerste aber noch
regelmässig in beträchtlichen Mengen ausführen können. Unsre Weizenimporte seit 1897
sind nur eine Folge und Nachwirkung der 1897/98 er Missernten. Heuer, nach Jahren,
bildeten sich wieder Ansätze zu einer Weizenausfuhr, naturgemäss mussten sie vermöge
der Unrentabilität unserer Preise bald aufhören. Hinzuzufügen ist noch, dass unsere früher
gleichfalls Millionen Doppelcentner betragende Mehlausfuhr successive ganz zusammen-
schrumpfte und 1899 nur mehr 38.000 Doppelcentner betrug. (Auch hierin ist aber heuer
ausnahmsweise ein etwas flotterer Export zu.constatieren.)
526 Oelwein.
Nach dem heutigen Stande der Verhandlungen im Abgeordnetenhause
überwiegt bereits der von den Landwirten Böhmens gestellte Antrag,
dass die Eegulierung der riüsse dem Baue der schiffbaren Canäle an wirt-
schaftlichem Wert voransteht, und es sollen von dem im Gesetzentwurfe für
den Ausbau der Canäle seitens des Staates zu leistendem Betrage von
250 Millionen Kronen, 75 Millionen Kronen für diese Flussregulierungen
abgetrennt werden.
Regelung der Wasserwirtschaft.
Die Regulierung unserer Flusse ist bei uns sehr zurückgeblieben —
man braucht nur auf die geradezu trostlosen Zustände hinzuweisen, die z. B.
im Marchthale herrschen, wo die ganzen Kosten einer correcten Sanierung
dieser Verhältnisse sicher weniger betragen, als der Schaden, den die Hoch-
wässer in einem Zeitraum von 10 Jahren anrichten. Von diesem Standpunkte
aus wird man den Anstoss für eine Regulierung unserer Flüsse nur bestens
begrüssen.
Die Ingenieur- und Architektenvereine Oesterreichs haben sich mit dieser
Frage sehr eingehend beschäftigt. Flussregulierungen und Wasserstrassen
bilden jedoch nur einen Theil einer rationellen Wasserwirtschaft, die wieder
nur dann eine zielbewusste Durchführung und Förderung finden kann, wenn
alle Agenden auf dem grossen Gebiete der Wasserwirtschaft, die heute in
drei Ministerien zergliedert sind, eine entsprechende Organisation und Ver-
einigung finden. Die Delegiertenconferenz des IV. österreichischen Ingenieur-
und Architektentages hat diesfalls^) alle geeigneten Vorschläge eingehend
behandelt, und es befinden sich die diesbezüglichen Anträge in Händen der
hohen Regierung und der Mitglieder der verschiedenen Vertretungskörper. —
Es wäre zu wünschen, dass auch diese ernst erwogenen und die ganze Wasser-
wirtschaft Oesterreichs umfassenden Anträge eine wohlwollende Aufnahme
und eine zweckentsprechende Erledigung fänden.
') Punkt 6 k) der Tagesordnung: Wasserwirtschaft und Regelung der Wasser-
reclitsverhältnisse. Wien, 1900.
DIE BEWEGUNG DER WERTE.
VON
DK ALFRED SCHWONEE.
Meines Wissens ist die zeitliche Bewegung der wirtschaftlichen
Werte noch niemals untersucht worden. Vielleicht deshalb, weil vor der
Aufstellung der österreichischen Werttheorie, vor der Darlegung des
Zusammenhanges zwischen Gebrauch- und Tauschwert, eine solche Unter-
suchung gar nicht möglich war. Nun sie aber möglich ist, darf sie
auch nicht unterlassen werden, da sie geeignet ist, die Zinsfuss- und
die Geldtheorie zu fördern, und namentlich der Krisentheorie eine Grund-
lage zu schaifen. üeberhaupt scheint mir, dass von der neuen Werttheorie
noch nicht der entsprechende Gebrauch gemacht worden ist. Auf die
Marxistische Werttheorie, die falsch war, wurde das mächtigste wirt-
schaftlich-politische Progi-amm aufgebaut, das je existierte. Sollte es nicht
gelingen, auf Basis einer richtigen Werttheorie auch eine richtige praktische
Lohntheorie zu finden? Doch nicht dies ist heute mein Problem.
Dem Praktiker scheint es selbstverständlich, dass der Gesammtwert
der Güter fortwährend zunimmst, da doch immer mehr und mehr produciert
wird und er überhaupt in jeder Beziehung a priori an den Fortschritt glaubt.
Der Praktiker dürfte recht haben, aber so selbstverständlich ist seine
Ansicht nicht. Wer den Zusammenhang des Werts der Dinge mit den
Bedürfnissen kennt, aber noch nicht genau erfasst, könnte ganz gut glauben,
dass der Gesammtwert der Güter constant bleibt, da der Gesammtwert
jeder Güterart abhängig zu sein scheint von der Bedflrfnisgattung, der
diese Güterart dient, und diese Bedürfnisgattung constant erscheint. Wieder
einem anderen mag die völlige Wertlosigkeit aller Güter als erreichbares
Ideal vorschweben, eine Wertlosigkeit in dem Sinne, wie das Wasser
wertlos ist, weil es in so unerschöpflicher Menge existiert, dass in der
Kegel von der Verfügung über eine bestimmte Quantität die Befriedigung
unserer Bedürfnisse nicht abhängig ist. Ist es nicht dieses, so ist es
anderes Wasser. Schütten wir es weg, so haben wir nichts verloren. Und
mancher träumt vielleicht, dass mit der Zeit die Güterproduction einen
solchen Umfang gewinnen wird, dass schliesslich alle Güter in Ueberfluss
vorhanden und wertlos sein werden.
258 Schwoner.
Indes zeigt uns eine ökonomische Erscheinung, die Zinsfusserscheinung,
die Richtung der Wertbewegung unverkennbar an. Da mit wenigen Aus-
nahmen sämmtliches Capital, d. h. sämmtliche Gegenwartsgüter zinstragend
angelegt sind, so ergibt sich daraus, dass der Gesammtwert der Güter
unausgesetzt steigen muss. Die Verabredung beim Zinsengeschäft geht dahin,
dass für gegenwärtige Güter von bestimmtem Geldwert ein Mehrwert in
künftigen Gütern gegeben werden muss. Wäre dieser Mehrwert nicht vor-
handen, so könnte er auch nicht gegeben werden, darum ist das stetige
Anschwellen der Werte eine Voraussetzung der Zinsfusserscheinung. Zwar
werden auf jeden Fall gegenwärtige Güter höher geschätzt als zukünftige
von künftig gleichem Werte. Thatsächlich ist mir die Befriedigung gegen-
wärtiger Bedürfnisse wichtiger als künftiger gleicher Bedürfnisse, die gleiche
Rangordnung der Bedürfnisse durch alle Lebensalter vorausgesetzt. Erstere
werden direct, letztere nur durch das Medium der Vernunft empfunden.
Dies alles ist ganz richtig. Aber diese Höherschätzung der Gegenwart würde
ohne das Anschwellen des Gesammtwerts der Güter keinen Ausdruck finden
können, es würde der Umtausch gegenwärtiger Güter gegen künftige mit
Agio nur in sehr geringem Maasse stattfinden können. Ohne uns in eine
detaillierte Schilderung eines derartigen Zustandes einzulassen, können wir
doch sagen: Jeder Credit bei constantem oder abnehmendem Güterwert
wäre Consumtivcredit unter erschwerten Bedingungen. Der Borger würde
bei grösseren Zins Verpflichtungen dem Untergang entgegengehen, jedes
Zinsdarlehen wäre Wucher und müsste verboten werden.
Findet also thatsächlich in der Wirtschaft ein stetiges Anwachsen der
Werte statt und aus welchem Grunde? Es kann sich hier natürlich nur
um die Tauschwerte handeln, welche von den subjectiven Wertschätzungen
abgeleitet, aber mit ihnen nicht identisch sind; sie sind immer geringer
als die subjectiven Wertschätzungen, weil jeder nur kauft, wenn er einen
Vortheil davon hat. Die subjectiven Werte sind nicht constatierbar, nicht
messbar, die Tauschwerte hingegen sind messbar und werden in Geld
gemessen. Es handelt sich also um das Anwachsen der Güterwerte in Geld
ausgedrückt, d. i. des Gesammtpreises aller Waren. Wir gehen hiebei
wenigstens vorläufig von der Voraussetzung aus, dass der Geldwert selbst
constant ist. Den Gesammtwert einer jeden Warenkategorie, die einen Markt-
preis hat, erhält man, indem man diesen Preis mit der Anzahl aller Güter,
welche dieser Kategorie angehören, multipliciert. Der Preis aber wird
bestimmt durch die Wertschätzung des letzten Käufers. Diese kurze, nicht
ganz genaue Formel gebrauchen wir hier nach Böhm-Bawerk, indem
wir die bei der heutigen Wirtschaftsordnung zweifellos gestattete Annahme
machen, dass der Verkäufer für die von ihm massenhaft ausgebotenen Waren
gar keine subjective Wertschätzung mehr hat und bereit ist, sie im Noth-
falle lieber zu jedem Preise loszuschlagen als sie zu behalten.
Was heisst nun das: „Wertschätzung des letzten Käufers?" Bei
allen Gegenständen, welche wirtschaftlichen Wert haben, ist die Nachfrage
grösser als das Angebot, und es muss unter der Nachfrage eine Auslese
Die Bewegung der Werte. 259
getroffen werden. Es wird nun von der Nachfrage nur ein solcher Theil
berücksichtigt, welcher dem Quantum des Angebots gleichkommt, und zwar
nur derjenige Theil, welcher die Ware im Verhältnis zur Tauschware, zum
Geld, am höchsten schützt. Diese Wertschätzungen sind total verschieden,
aber sie lassen sich in eine abfallende Keihe bringen, und die niedrigste
in Betracht kommende Wertschätzung, die Schätzung des letzten zum Kauf
noch zugelassenen Nachfragenden, bestimmt den Preis. Denn es gibt auf
dem offenen Markte für gleiche Ware nur einen einheitlichen Preis, und
wäre dieser höher als die Wertschätzung des letzten Käufers, so bliebe
ein Theil der Ware unverkauft, was bei freiem Verkehr wenigstens in der
Kegel nicht stattfinden kann. Es kommt also an: 1. auf das Quantum des
Angebots, durch welches die Zahl der Käufer bestimmt wird, 2. auf die
subjective Wertschätzung der beiden Waren durch den letzten Käufer, der
Ware, die er kaufen will, und der Ware, die er dafür gibt, des Geldes.
Diese subjective Wertschätzung der Waren hängt wieder ab von der Anzahl
und Intensität der Bedürfnisse, zu deren Befriedigung diese Waren dienen,
und von der Art, in welcher diese Bedürfnisse bei dem Kauflustigen bereits
bedeckt, diese Güter bereits vorhanden sind. Es ist z. B. klar, dass ein
armer Mann eine bestimmte Quantität von Nahrungsmitteln subjectiv höher
schätzen wird als ein reicher; denn bei gleichem Nahrungsbedürfnisse ist
er mit Nahrungsmitteln viel schlechter versorgt, für ihn hängt von dem
Besitze dieser Nahrungsmittel wirklich die Stillung des Hungers und die
Erhaltung des Lebens ab, für den Reichen nur die Befriedigung höchst
untergeordneter Gaumenreize oder irgendwelcher conventioneller Bedürf-
nisse. Aber auf der andern Seite schätzt der arme Mann eine bestimmte
Geldquantität noch in viel grösserem Grade höher als der Reiche. Hat er
z. B. für den Tag nur einen Gulden zur Verfügung, der Reiche hingegen
100 Gulden, so kann der Reiche im Nothfall die Befriedigung desselben
Bedürfnisses in Geld 100 mal so hoch schätzen als der Arme. Aus diesem
Grunde können die subjectiven Wertschätzungen des Armen gegenüber
denen des Reichen auf dem Markte überhaupt nur selten zum Durchbruch
gelangen, nur bei jenen Gütern, die in sehr grossen Quantitäten vorhanden
sind, in denen der Bedarf aller Reicheren bereits soweit gedeckt ist, dass
für sie nur mehr die Befriedigung ganz minimaler, kaum wahrnehmbarer
Bedürfnisse von der Verfügung über weitere Güter abhängt, so dass ihre
Geldschätzung weiterer Güter sogar unter der Geldschätzung des Armen
steht. Dies muss aber bei allen Gütern der Fall sein, welche zur Erhaltung
des Lebens unentbehrlich sind, von diesen müssen die nöthigen Quanti-
täten auch den Aermsten zur Verfügung stehen. Wo nicht, träte eben ein
grosses Sterben ein. Mit dem Vorstehenden ist nicht gesagt, dass der letzt-
zugelassene Käufer immer der Aermste ist.
Kurz zusammengefasst, ergibt sich: Der Preis eines Gutes hängt ab
von der verfügbaren Quantität, von der Zahl und Art der Bedürfnisse, die
in dem Gut Befriedigung suchen, und schliesslich von der Art, wie die
Kaufkraft, also das Vermögen in der Bevölkerung vertheilt ist. Der Wert
260 Schwoner.
der Gesammtgüter ist eine Summe, deren zahlreiche Addenden Producte
sind aus Preis und Quantität der einzelnen Warengattung. Solange also
Quantität der Güter, Zahl der Bedürfnisse (Bevölkerungsziffer), Art der
Bedürfnisse und Vertheilung des Keichthums in einem Volk unverändert
bleiben, solange kann sich auch der Güterwert nicht ändern. Mit den
Bestimmgründen ändert er sich.
Betrachten wir zunächst eine Veränderung der minder wichtigen
Bestimm grün de; der Art der Bedürfnisse und der Vertheilung des Keich-
thums. Es ist selten, dass die Art der Bedürfnisse bei gleichbleibenden
Gütersorten und -Quantitäten sich ändert. Das Auftauchen qualitativ neuer
Bedürfnisse (z. B. das Aufkommen des Kauchens) hat gewöhnlich seine
Ursache in der Entdeckung, dass gewisse Dinge bisher unbekannte Reize
auf unsere Nerven ausüben. Dadurch erhalten diese Dinge Wert, aber sie
werden gleichzeitig auch zu Gütern, was sie früher nicht waren. Die
Quantität der Güter mehrt sich von selbst. Nun ist aber auch der Fall
möglich, dass solche neue Qualitäten an Dingen entdeckt werden, die schon
bisher zur Befriedigung anderer Bedürfnisse geeignet waren, daher Güter-
cliarakter hatten (z. B. Spiritusbereitung aus Kartoffeln). Gesetzt nun den
Fall, dass diese Güter nicht in erhöhtem Maasse produciert werden können
(ja wir lassen vorläufig die Möglichkeit und Natur der Production überhaupt
ausser Betracht), so würde natürlich auch bei unveränderter Bevölkerungs-
ziffer die Wertschätzung dieser Güter steigen. Von den früheren Käufern
würde eine Anzahl ausgeschlossen werden, diejenigen, welche das neue
Bedürfnis nicht empfinden und daher die Sache nicht höher schätzen als
früher, und diejenigen, welche durch geringes Vermögen verhindert sind,
ihrer Höherschätzung Ausdruck zu geben. Der letzte Käufer würde aus
einer kaufkräftigem Schichte entnommen werden als früher.
Den Einfluss der verschiedenen Kaufkraft auf die Preisbildung haben
wir schon oben angedeutet. Er lässt sich folgendermaassen präcisieren :
Steht die Kaufkraft aller ungefähr auf dem gleichen Niveau, wie dies z. B.
im socialistischen Zukunftsstaat der Fall wäre, so würde bei der Preis-
bildung die Resultante der individuellen Wertschätzungen, der individuellen
Rangordnungen der Bedürfnisse ziemlich rein zum Ausdruck kommen. Da
man annehmen kann, dass diese Rangordnung der Bedürfnisse bei den ein-
zelnen Individuen nicht sehr verschieden ist, so würde möglicherweise im
grossen und ganzen jeder so ziemlich die gleiche Quantität an einzelnen
Gütern besitzen. Gewiss ist aber, dass bei gleicher Quantität die Massen-
bedarfsartikel relativ höher im Preis stehen würden als gegenwärtig. Denn
jetzt müssen die höchsten Bedürfnisse der zahlreichen Armen vor den
niedrigsten Bedürfnissen der wenigen Reichen zurückweichen, die höheren
Wertschätzungen der Armen für die gewöhnlichen Gebrauchsartikel kommen
nicht ganz zur Geltung. Dagegen müsste der Preis von Luxusartikeln und
seltenen Gütern ausserordentlich zurückgehn, weil niemand vorhanden wäre,
welcher Preise, den heutigen ähnlich, bezahlen könnte. Vielleicht übrigens,
dass derartige Güter von ausserordentlicher Schönheit und solcher Selten-
Die Bewegung der Werte. 261
heit, dass nicht auf jedes Mitglied der Gemeinschaft eines entfallen könnte,
)Diamanten etc.) als heilige Steine ausschliessliches Eigenthum der Gesammt-
heit würden. Dann könnte ihnen eventuell doch ein hoher Wert, wenn auch
kein Marktwert, zukonamen, und relativ viel Arbeit auf sie verwendet werden.
Je stärker aber der Gesellschaftszustand sich von diesem Gleichheitsniveau
entfernt, desto niedriger wird relativ der Preis der zum Leben unentbehr-
lichen Güter, desto höher der Preis der entbehrlichen und seltenen Güter.
Die zwei Hauptbestimmgründe des Preises sind aber die Anzahl der
Bedürfnisse (Bevölkerungsziffer) und die Quantität der Güter. Wenn die
Bevölkerungsziffer steigt, wird die Nachfrage nach den (constant gebliebenen)
Gütern selbstverständlich grösser, die Zahl der Bedürfnisse mehrt sich. Es
fragt sich nur, ob auch die kaufkräftige Nachfrage grösser wird, ob die
neuen Bedürfnisse ihre Befriedigung durchsetzen können. Soweit es sich um
solche Bedürfnisse handelt, in welchen sich der Trieb der Lebenserhaltung
äussert, ist die Befriedigung selbstverständlich. Die neuen Menschen raüssten
sonst zugrunde gehen, ein Anwachsen der Bevölkerung wäre nicht möglich.
Diese Güter müssen also aus früheren weniger wichtigen Verwendungsaiten
herausgezogen werden; dies kann nur geschehen, indem ein erhöhter Preis
für sie bewilligt wird, welchen eine Anzahl von Leuten, die früher grössere
Quantitäten dieser Güter an sich zogen und untergeordnete Bedürfnisse daraus
befriedigten, für die Befriedigung dieser niedrigeren Bedürfnisse nicht mehr
bezahlen will. Wären die letzten Käufer früher unter den Aermsten gewesen,
so dass sie bei einer Preiserhöhung auf die Befriedigung ihrer unentbehrlichen
Lebensbedürfnisse verzichten müssten, so wäre gleichfalls eine Vermehrung
der Bevölkerung nicht möglich. Eine Vermehrung der Bevölkerung bei
gleichbleibender Güterquantität ist nur dann möglich, wenn diese Quantität
wenigstens so reichlich ist, dass die niedrigste Wertschätzung der Güter
keinem unentbehrlichen Lebensbedürfnisse entspringt, sondern bei irgend
einer Wohlhabenheitsciasse sich auf ein Bedürfnis bezieht, das eventuell
auch unbefriedigt bleiben kann. Z. B. wenn Nahrungsmittel etwa ziemlich
allgemein zur Fütterung von Hausthieren, Vögeln etc. verwendet werden.
Das kann eventuell auch wegfallen. Die niedrigste Wertschätzung wird also
bei Bevölkerungszuwachs höher, als sie es früher war, die Preise steigen,
und da wir die Quantität als unverändert annehmen, auch der Gesammtwert
dieser unentbehrlichen Güter. Bei Verminderung der Bevölkerung findet der
umgekehrte Process statt. Bezüglich der Luxuswaren ist diese Wertsteigerung
nicht unbedingt nothwendig, hier kommt es auf die Zunahme der wohl-
habenden Bevölkerung an, was mit der Zunahme der Bevölkerung an sich
nicht identisch, ja bei unserer Voraussetzung der constant gebliebenen Güter-
quantität sogar unwahrscheinlich ist.
Eine Vermehrung der Güterquantitäten unter sonst gleichen Umständen
muss naturgemäss die Reihe der Käufer vergrössern und daher niedrigere
Wertschätzungen zur Preisbestimmung heranziehen. Die Preise werden
daher sinken, andererseits steigt die Quantität. Es lässt sich nun nicht von
vornherein sagen, ob das Product von Preis uml Quantität nunmehr grösser
262 Schwoner.
oder geringer ist als bisher. In Bezug auf die subjective Wertschätzung, in
Bezug auf die Einzelwirtschaft ist es allerdings ein Nonsens, dass, wenn
zu einem Gütervorrath neue Güter, die, wenn auch einen geringern, so doch
irgend einen Wert haben, hinzutreten, der Gesammtwert des Götervorraths hie-
durch abnehmen könne. Für meine Bedürfnisbefriedigung ist dadurch doch
besser vorgesorgt als früher. Und hierin scheint ein Argument gegen die
B ö h m - B a w e r k'sche Grenzwerttheorie zu wachsen, nach welcher dies mög-
lich wäre. Der Widerspruch dürfte sich dadurch auflösen lassen, dass in
einer isolierten Wirtschaft gleiche Güter nur in beschränktem Sinne gleichen
Wert besitzen. Habe ich z. B. für meinen Jahresbedarf fünf Säcke Getreide,
von denen einer zur Stillung des Hungers, einer zur reichlichen Ernährung,
einer als Saatgetreide, einer als Reserve, der letzte etwa zur Fütterung
von Thieren verwendet wird, so ist allerdings der Wert irgend eines dieser
Säcke durch den geringsten Nutzen bestimmt. Denn wenn mir irgend einer
der Säcke vernichtet wird oder wenn ich irgend einen von ihnen entgeltlich
oder unentgeltlich weggebe, so werde ich deshalb nur auf den geringsten
Nutzen, die Thierfütterung, verzichten, und es ist ganz einerlei, welcher
Sack mir verloren geht. Die Säcke sind gleichartig, d. h. vertretbar. That-
sächlich aber, bei ihrer Verwendung, sind sie nicht gleichwertig; der eine
Sack, den ich zu meiner Nahrung verwende, — ich kann allerdings jedem
beliebigen diese Rolle zuweisen — ist mir mehr wert als die übrigen.
Wenn ich den Gesammtwert der fünf Säcke für meine Wirtschaft bestimmen
will, so muss ich die fünf verschiedenen Werte addieren, ich kann nicht
den Grenzwert mit fünf multiplicieren, ich werde meine fünf Säcke nicht
um das Fünffache desjenigen, was ich für einen Sack verlange, hergeben.
Anders ist es auf dem Markte. Da ist thatsächlich die niedrigste
subjective Wertschätzung der Käufer für alle Waren bestimmend, nicht die
Durchschnittsschätzung. Auch wenn z. B. jemand mehrere Quantitäten
kaufen will, die für ihn verschiedene Bedürfnisbefriedigungen bedeuten und
daher verschiedenen Wert besitzen, daher er einen Durchschnittspreis
bezahlen könnte, wird er jedesfalls besser herauskommen, wenn er nur die-
jenigen Quantitäten kauft, die für ihn mehr wert sind als der Marktpreis,
und auf die anderen ganz verzichtet. Auf dem Markte also ist eine Wert-
verminderung bei vermehrter Quantität an sich sehr wohl möglich und
kommt auch thatsächlich vor. Daher die Restrictionen der Production, die
doch so häufig sind, daher die Zurückhaltung, Verheimlichung und selbst
Vernichtung von Quantitäten nützlicher Güter, ein merkwürdiges Schauspiel,
das bekanntlich für Proudhon den Anlass zum Studium der wirtschaft-
lichen Verhältnisse geboten haben soll, das sich erst vor wenigen Jahren
in Griechenland anlässlich einer zu reichlichen Korinthenernte wiederholte.
Aber schon diese Beispiele beweisen, dass eine solche Wertverminderung
durch Qu an titäts Vermehrung auf die Dauer nicht möglich ist. Eine wert-
mindernde Quantitätsvermehrung wird eben nicht zugelassen. Aber auch
dies ist nicht so selbstverständlich, als es scheint. Wenn die ganze Wirt-
schaft unter einer Leitung stünde oder wenigstens jeder Productionszvveig
J
Die Bewegung der Werte. 263
cartellistisch oder monopolistisch betrieben würde, dann könnte allerdings
immer der grösstmöglichste Wert erreicht werden, es würde stets diejenige
Quantität erzeugt werden, die, mit dem Preis multipliciert, das grösste
Product ergibt. Aber bei dem Mangel einer solchen Organisation, wo liegt
da die Gewähr, dass durch die Productionsvermehrung nicht eine Wert-
verminderung bewirkt wird? Was kümmert es denn die Producenten eigent-
lich, ob die Güter der letzten Productionsperiode einen höheren Wert hatten
als die der gegenwärtigen? Für die Producenten kommt es ja nicht auf
dieses Wertverhältnis an, sondern nur auf das Verhältnis des Wertes der
Güter zu ihren Produetionskosten. Dass der Wert der producierten Güter
grösser sein muss als der Wert der gesammten auf die Production ver-
wendeten Güter, ist wohl unbestreitbar, aber gleichfalls kein Axiom. In
diesem Satze birgt sich eben das Zinsfussproblem, auf das wir hier nicht
näher eingehen wollen. Unsere Aufgabe ist es nur, zu zeigen, wie dieser
Mehrwert überhaupt möglich ist, welchen der Bestand der Zinsfusserscheinung
verlangt. Also, der Wert der gegenwärtigen Güter muss jedesfalls grösser
sein als ihre Produetionskosten. Was sind aber diese Produetionskosten?
Das sind nahezu alle Güter der früheren Productionsperiode (Rohproducte,
Halbfabricate, eigentliche Productionsmittel wie Maschinen, Bahnen,
Feuerungsmittel, schliesslich die Unterhaltsmittel der Arbeiter und Beamten).
Produetionskosten sind das, was den Leitern der Production, also gegen-
wärtig den Capitalisten, bloss Mittel ist und nicht Zweck, das sind
also alle Güter mit Ausnahme derer, die sie selbst consumieren. Eventuell
kann der Capitalist noch genauer rechnen, und auch seinen eigenen unent-
behrlichen Lebensbedarf zu den Productionsmitteln rechnen. Aber was
darüber hinausgeht, ist jedesfalls Zweck seiner Production, nicht mehr
Mittel. Daraus geht hervor, dass ein ständiges Anwachsen des Gesammt-
werts allerdings nur dann nothwendig eintritt, wenn von Jahr zu Jahr mehr
in die Production hineingesteckt wird, wenn nicht der ganze Ueberschuss
der Production über die Produetionskosten von den Capitalisten verzehrt
wird, sondern neues Capital gebildet wird. Aber dieselben Umstände, welche
die Capitalsbildung und die capitalistische Wirtschaftsform hervorgerufen
haben, bewirken auch heute noch eine stete Neu- und Fortbildung des
Capitals. Eine vermehrte Quantität hat aber fast immer eine Erhöhung der
Produetionskosten zur Voraussetzung. Bei industriellen Artikeln ist ja bei
gleichem Stand der Technik das Verhältnis zwischen Produetionskosten und
Quantität der Production ziemlich constant, nur dass die Generalunkosten
relativ etwas abnehmen. Selbst bei der Urproduction, selbst beim Ackerbau,
wo doch die Quantität der Production mehr Zufallssache ist, geht das doch
nur soweit, dass z. B. die gleichen Vorarbeiten ein sehr verschiedenes
Resultat haben können, jedesfalls verursacht aber eine grössere Ernte
grössere Einbringungs- und grössere Transportkosten.
Wie jedoch, wenn infolge technischer Neuerungen die Produetions-
kosten eines oder vieler Artikel sich abnorm vermindern? Wäre da nicht
eine Reduction des Gesammtwertes möglich? Z. B. Man hat bisher ipit
264 Scliwoner.
Unkosten von 100 Gulden 100 Quantitäten erzeugt, welche einen Preis
von 110 Gulden erzielt haben, Gewinn 10 Gulden. Nunmehr gelingt es,
die Productionskosten für 100 Stück auf 50 Gulden zu reducieren. Die
Erzeugung von 150 Stück kostete demnach nur 75 Gulden. Wenn man
also 150 Quantitäten jetzt um 100 Gulden verkauft, die grössere Quantität
zu geringerem Tauschwert, so hat man noch immer einen Vortheil davon.
Kann nicht auf diese Weise der Gesammtwert herabgedrückt werden?
Nein, denn der Capi talist wird auch die 25 Gulden nicht brach liegen
lassen, er wird entweder nach wie vor sein ganzes Capital in seinem
Productionszweig verwenden und etwa 200 Quantitäten eventuell auch zu
einem Preise von 130 Gulden hergeben, oder wenn er den Preis seines Artikels
durch allzugrosse Production zu sehr herabdrücken würde, das freiwerdende
Capital anderswo verwerten, jedenfalls aber für seine 100 Gulden mehr als
110 Gulden erzielen. Allenfalls kann dieses freiwerdende Capital bei der Neu-
production verwendet werden, welche durch diese technische Neuerung ent-
standen ist, bei der Herstellung der betreffenden Maschinen etc. In den
obenerwähnten Productionskosten von 50 Gulden muss wohl schon die
Verzinsung und Amortisation des für die neuen Maschinen investierten
Capitals enthalten sein, sonst wären die Productionskosten eben höher, aber
dieses Capital ist nicht darin enthalten. Es ist sehr häufig, ja Böhm-
B awerk bezeichnet es sogar als die Eegel, dass die technische Verbesserung,
die Erhöhung des Ertrags nicht capitalsparend, sondern capitalverbrauchend
wirkt, dass die capitalistische Vorarbeit vergrössert, „die Productionsdauer"
verlängert wird.
Unser Beweisgang ist vollendet: das Entstehen qualitativ neuer
Bedürfnisse und die quantitative Vermehrung der Bedürfnisse (der Bevöl-
kerung) sind directe Motive der Wertsteigerung. Die wachsende Ungleich-
heit der Vermögensvertheilung erhöht den Tauschwert der Luxusgüter,
vermindert den Tauschwert der Massenartikel und dürfte die eine ihrer
Wirkungen durch die andere paralysieren. Durch Quantitätssteigerung
ist eine Wertvermehrung möglich, aber an sich nicht nothwendig. Die
Möglichkeit genügt jedoch dem wirtschaftenden Sinne, dessen richtung-
gebende Tendenz gerade die Wertvermehrung ist, um daraus eine Wirk-
lichkeit zu schaffen.
Bis jetzt haben wir aber vorausgesetzt, dass der Wertmaasstab selbst,
das Geld, einen constanten subjectiven Wert besitzt. Ist diese Voraus-
setzung gestattet? Das ist keine so einfache Frage. Wenn die Werttheorie
richtig ist, muss sie auch für das Geld, vor allem aber für das Geld-
metall gelten. Es muss also auch beim Geldmetall — sehen wir der
Einfachheit halber von allen Complicationen ab und setzen als einziges
Geldmetall das Gold — der Grenznutzen den subjectiven Wert bestimmen.
Es gibt demnach nicht etwa ein fixes Verhältnis zwischen dem Gesammt-
wert aller Geldquantitäten und dem Wert der Gesammtquantitäten aller
übrigen Warengruppen, sondern der kleinste Nutzen der Quantitätseinheit
deg Goldes bestimmt dessen subjectiven Wert und später dessen Kauf-
Die Bewegung der Werte. 265
krat't. Wir setzen den Fall, der Wert der Geldeinheit bliebe niclit constant,
sondern ändere sich in gleicher Weise mit dem Durchschnitt der übrigen
Warengruppen. Welch ein unverlässlicher Wertmesser wäre dann das Geld!
Steigt es z. B. bei gleichbleibender Güterquantität und zunehmender
Population mit den übrigen Waren gleichmässig an Wert, so ist das, was
früher eine Unze Gold wert war, auch jetzt eine Unze Gold wert, obwohl
dies subjectiv für die menschliche W^ohlfahrt mehr zu bedeuten hat als
früher. Sinkt umgekehrt bei gleichbleibender Population und zunehmender
Güterquantität der subjective Wert des Geldes in gleicher Weise wie der der
übrigen Waren, so bleibt der Geldpreis der "Wareneinheit wieder unver-
ändert, obzwar sich ihr subjectiver Wert verändert hat, und es würde in
diesem Falle jede Quantitätsvermehrung eine scheinbare Wertvermehrung
mit sieh bringe. Die Wertmessung wäre gar nichts wert. Es wäre ungefähr
so, wie ein Metermaass, das durch Zauberkraft immer so gross wurde, wie
die zu messende Ware. Untersuchen wir also die Wertveränderungen des
Goldes und des Geldes. Wäre das Gold nicht auch Geldmetall, sondern
nur Schmuck .und Zierat, so würde es unzweifelhaft ziemlichen Wert-
veränderungen unterliegen, wenn auch vielleicht niclit so grossen wie die
unentbehrlichsten Lebensgüter. Denn durch die Zunahme der Bevölkerung
an sich würde das Gold gleich den übrigen Luxuswaren keine Wertsteigerung
erfahren, Wohl aber müsste bei verstärkter Production unter sonst gleichen
Umständen auch auf solche Käufer reflectiert werden, welche ihr Schmuck-
bedürfnis geringer einschätzen, und der Preis der Goldeinheit würde sinken.
Durch die Annalime des Goldes als circulierenden Wertmessers haben sich
jedoch wichtige Factoren der Wertbildung geändert. Erstens findet ein
unmittelbarer Austausch des Goldes gegen andere Ware in der Kegel gar
nicht mehr statt, sondern es wird das Gold nur an sich selbst gemessen.
Ob der Goldproducent nun seine Ausbeute dem Goldschmied oder der
Münze verkauft, er erhält wieder Gold dafür, wenngleich in geänderter
Form (geprägt) und in etwas geringerer Quantität, je nach dem Schlag-
schatz, welchen sich der Staat berechnet. Der Geldwert des Goldes kann
nur mit diesem Schlagschatz wesentlich geändert werden. Weniger durch
die industrielle Verwendung. Im allgemeinen — die freie Prägung als
selbstverständlich vorausgesetzt — wird Gold der industriellen Verwendung
überhaupt nur zugeführt werden, wenn der Goldschmied einen kleineren
Abzug von der Goldquantität macht als der Staat. Der Schlagschatz begrenzt
die Wertschwankungen des Goldes gegenüber dem Geld. Geht die industrielle
Verwendung des Goldes zurück, kommt Goldschatz und Goldzierat aus der
Mode, so gelangt eben alles neue Gold in die Münze, eventuell sogar
alles Goldgeräthe. Wird umgekehrt Gold zu industriellen Zwecken sehr
begehrt, so Avird doch niemals für eine Quantität ungemünzten Goldes
mehr gegeben werden, als die gleiche Quantität gemünzten Goldes, denn
da ist es ja einfacher, die Goldmünzen einzuschmelzen. Von dem grösseren
oder geringeren industriellen Goldbedarf hängt daher nicht der Goldpreis,
sondern nur eine Verminderung, beziehungsweise Vermehrung des Gold-
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik un-l Verwaltung;. X. Band. 18
266 Schwoner.
geldes ab. Wie verhält sich aber der Wert des Geldes zu allen anderen
Waren? Da ist festzustellen, dass das Geld gegenüber den andern Waren
einen geradezu unbegrenzte Absatzfähigkeit hat, da es gegen alle andern
Waren umgetauscht werden kann, während jede andere Warenkategorie das
Geld allein als Tauschobject sich gegenüber hat. Nothverkäufe von Geld
kommen wohl auch vor, sind aber höchst selten. Stellen wir uns das praktisch
vor. Der Goldgräber, der Minenbesitzer hat sein Gold prägen lassen, er
hat jetzt seinen ganzen Bruttoertrag nicht den Nettoertrag allein, in Gold-
Jetzt ist schwer abzusehen, wie dieser Umstand preissteigernd wirken,
warum die Besitzer gerade jetzt geneigt sein sollte, mehr Geld für andere
Waren zu geben. Er wird natürlich an und für sich infolge des gemachten
Gewinns kaufkräftiger sein, die Geldeinheit wird für ihn subjectiv weniger
wert sein als vor dem Gewinn. Aber dass er mit seinem Gold ver-
schwenderischer umgehen sollte, als wenn er auf irgend einem anderen
Productionsgebiete einen Gewinn in bereits vorhandenem Gelde gemacht
hätte, ist nicht wahrscheinlich. Kommt das neue Gold, wie wahrscheinlich,
in eine Notenbank, so mag der Leihpreis des Geldes geringer werden,
aber die Kaufkraft nicht. Im Gegentheile der billigere Discont erhöht die
Handelsthätigkeit, die Concurrenz der Kaufleute, und hat eher eine Ver-
billigung als eine Vertheuerung der Waren zur Folge. Es soll nicht
behauptet werden, dass mit diesen kurzen Ausführungen die Constanz des
Geldwertes endgiltig entschieden ist, aber wahrscheinlich genug ist sie.
VERHANDLUNGEN DER GESELLSCHAFT
ÖSTERREICHISCHER VOLKSWIRTE.
In der am 26. Februar abgehaltenen Plen arvers am rahm g widmete der
Vorsitzende Hofrath Prof. Dr. v. P h i 1 i p p^o v i c h folgenden
Nachruf für Otto Witteishöfe r:
Meine Herren !
Die Pflicht, die ich heute vor Ihnen zu erfüllen habe, ist für mich eine
aussergewöhnlich schmerzliche. Das Andenken eines Mannes hier zu ehren, der
unserem Vorstande angehört hat, der so vielen unter uns ein treuer Freund
gewesen ist, der ein guter und edler Mann in jeder Beziehung war, in einem
Augenblicke das zu thun, wo wir noch alle von dem eingetretenen Ereignis
betäubt sind, ist schmerzlich und ist auch schwierig : denn das Streben, das
mich beherrscht, das Bild, das wir von ihm in Erinnerung haben, und die
wesentlichen Züge seines guten und tüchtigen Wesens vor Ihnen zu zeichnen,
ringt mit der Empfindung des Schmerzes, dem rein menschlichen Gefühle des
grossen Verlustes, den wir und den ich erlitten habe.
Wir sehen ihn ja noch in unserer Mitte, frisch, voll Lebenskraft und
Lebenslust, immer bereit zu einer ernsten Discussion und bereit, das fröhlichste
Gespräch mit hellem Lachen, mit heiterem Vergnügen zu führen. Wir sehen ihn
noch vor uns hier sitzen, wie er mit seinem kurzsichtigen Auge in seinem
Notizbüchlein das Wesentlichste des Vortrages sich vermerkt, auch wenn . er nicht
an der Discussion selbst theilnehmen wollte, weil er hier in diesem kleinen Saale
wie in seinem ganzen Leben stets bestrebt war, bei der Sache zu sein, das
Wesen der Sache zu erfassen. Auch wenn er hier nicht gesprochen hatte, war
doch bei der nachträglichen zwanglosen Discussion, die sich stets beim Glase
Bier abzuspielen pflegte, sein Wort von uns gerne gehört, weil es treffend, weil
es scharfsinnig, weil es stets zugleich auch witzig und befreiend war.
Es ist ein altes Wort, dass wir die Grösse eines Besitzes am deutlichsten
dann empfinden, wenn wir diesen Besitz verloren haben. So ist es uns auch hier
gegangen. Ich glaube, jeder einzelne von uns hat in den letzten Tagen wohl
mit Otto Wittelshöfer abgerechnet und hat gefunden, dass er sein
Schuldner war. Auch wir in der Gesellschaft österreichischer Volkswirte haben
alle Veranlassung, uns dessen bewusst zu sein, dass wir ihm sehr viel zu
verdanken haben. Ich habe in den Annalen unserer Gesellschaft nachgeblättert
18*
268 Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte.
und seinen Namen zum erstenmale im Jahre 1888 gefunden, wo er als Scrutator
bei einer Wahl aufgetreten ist, und dann 3 Jahre später, als er seinen ersten
Vortrag über die Frage „Capitalisation und Consumption" hier hielt, ein Vortrag,
den unser damaliger Vorsitzende, Sectionschef v. Inama, in seinem Schlusswort
als ausserordentlich bedeutend und fesselnd bezeichnete.
In demselben Jahre finde ich ihn auch als Vorstandsmitglied, und während
der ganzen zehn Jahre hat er im Vorstande der Gesellschaft für die Gesellschaft
in ganz ausserordentlicher Weise gearbeitet. Sie, meine Herren, die sie in die
Vorbereitung der Vorträge u. dgl. nicht so eingeweiht sind, wissen nicht, welch
innigen Antheil Wittelshöfer an der Organisation des ganzen Werkes
genommen hat, und welche grossen Verdienste er sich dabei erwarb. Er war ja
ausserordentlich glücklich nach dieser Richtung veranlagt. Im Besitze eines
reichen theoretischen Wissens, war er immer bestrebt, dieses Wissen auf der
Höhe der Zeit zu erhalten, fort zu arbeiten und fort zu studieren und so jenem
Bestreben gerecht zu werden, das ihn schon von Jugend auf beherrscht hat. Ich
erinnere mich, dass mir vor mehr als 20 Jahren, als unsere Lebenswege sich
bei Lorenz v. Stein kreuzten, ein Freund von ihm sagte, Wittelshöfer
habe mit ihm für die Rigorosen studiert, eine Arbeit, die dem damaligen Buch-
halter der Escomptebank gewiss durch seinen Beruf gar nicht nahegelegt war,
sondern nur durch das Streben, sein AVisson zu vermehren und seine Gedanken
nach allen Seiten zu stützen.
In dieser praktischen Thätigkeit, die seinen Beruf ausmachte, hat er sich
aber eine Kenntnis des wirtschaftlichen Lebens von einer Seite erworben, die von
uns Theoretikern nur sehr mühsam zu erreichen ist. So war er eine Doppelnatur,
und seine ausserordentlich kenntnisreiche Bethätigung auf dem Gebiete der
Wissenschaft einerseits, seine Kenntnis des praktischen Lebens auf der anderen
Seite mussten seine Thätigkeit zu einer so ausserordentlich wertvollen für unsere
Gesellschaft machen, welche gerade in der Verbindung dieser beiden Elemente
ihre Aufgabe erblickt. Dazu kam noch seine grosse Personenkenntnis und seine
Empfindung für das, was in den wirtschaftlichen Aufgaben der Gegenwart wichtig
ist und zugleich wertvoll und theoretisch fruchtbar sein kann.
So war auch in dieser seiner Arbeit in unserer Gesellschaft sein Bemühen
stets darauf gerichtet, unsere Thätigkeit nach der socialen Richtung hin zu
erweitern. Er war stets der Befürworter der Erörterung solcher Fragen, welche
mit dem socialen Problem in Zusammenhang gestanden sind. Denn das war ja
der eigentliche Kern seines ganzen Wesens, dafür thätig zu sein, dass die
socialen Gegensätze gemildert werden, nicht in irgend einer platten Form,
sondern durch den Fortschritt der gesammten staatlichen, ökonomischen, politischen
Entwicklung. Er war von dem Bewusstsein durchdrungen, dass wir Lebenskräfte
genug in unserem Volke, in unseren gesellschaftlichen Einrichtungen haben,
welche es einmal ermöglichen werden, die grossen Massen der Bevölkerung zu
einem vollkommeneren Dasein zu führen, ihren Lebensinhalt reicher zu machen,
als er heute ist. Und diese Zeit vorzubereiten, die Einrichtungen zu stützen, die
heute in dieser Richtung schon bestehen, neue zu fördern, die Geister der
Menschen für diesen Gedanken zu gewinnen, seine ganze Umgebung mit dem
Verhandlungon der Gi\'^ellsfhaf<". österreicliischer Volkswirte. 969
Bewusstsein zu orfüllon, dass das die eigentliche Aufgabe unserer Zeit ist, machte
den Kern seines ganzen Wesens aus. Von da aus strahlten seine Gedanken,
seine Thätigkeiten, hier war das Centrum seines ganzen Empfindens, seines
Denkens und seines Lebens.
Auch seine theoretischen Arbeiten stehen damit im engsten Zusammenhange.
Der früher erwähnte Vortrag behandelt dieses Thema, und das Buch, das er
geschrieben hat: „Untersuchungen über das Capital", hat den gleichen Zweck,
zu zeigen, wie unsere geschichtlich gewordenen gesellschaftlichen Einrichtungen
auf manchen Gebieten zu einem Missverhältnis zwischen den objectiven That-
sachen und den subjectiven Berechtigungen führen, die den wesentlichen Inhalt
dessen ausmachen, was wir heute Capital zu nennen gewohnt sind. Dieses Buch
hat nicht den äusseren Erfolg gehabt, den es seinem Inhalt nach verdiente. Es
ist schwer geschrieben und auf einer Höhe des abstracten Denkens, die nicht
von jedermann erreicht werden kann. Es ist aber eine Fortführung von Gedanken
der besten Denker der Nationalökonomie, von Gedanken, die Kodbertus aus-
gesprochen hat, die wir bei Marx wiederfinden, die unter unseren österreichischen
Nationalökonomen' von Böhm-Bawerk und M e n g e r vertreten worden sind,
und es ist eine durchaus glückliche Charakterisierung, die einer der angesehensten
Nationalökonomen Deutschlands, L e x i s, dafür gefunden hat, als er in einer
längeren Besprechung- dieses Werkes darüber schrieb : „Es ist das Ergebnis eines
eindringenden selbständigen Denkens, ein Werk, in dem sich zwar manches findet,
was Widerspruch hervorruft, das aber jedermann, der sich für theoretische
Untersuchungen interessiert, Anregung und Förderung gewähren wird."
Dieser socialpolitischen Seite seines Denkens entspricht ja auch seine
praktische Wirksamkeit. Auf diese Seite seines Lebens einzugehen, ist in diesem
Kreise wohl weniger nöthig. Doch kann nicht unberührt bleiben, dass er auch
hier grosse Verdienste sich erworben hat, und dass, wenn heute in der Wiener
Gesellschaft socialpolitische Fragen auf grösseres Verständnis stossen, als es in
früheren Jahren der Fall war, dies zum guten Theile Otto W i 1 1 e 1 s h ö f e r
zu verdanken ist, der in geschickter Weise Abende zu veranstalten wusste, zu
welchen ein grosser Theil der Wiener bürgerlichen Gesellschaft geladen wurde
und auch erschien, um der Discnssion socialpolitischer Fragen zuzuhören. Dem-
selben Geiste und derselben Seite seines Wesens entsprach es auch, dass er
uns in dem Bestreben unterstützte, die Erörterung socialpolitischer Fragen nicht
auf das österreichische Gebiet zu beschränken, sondern darüber hinauszügreifen
und internationale Beziehungen zu fördern, um durch allseitige Discussion und
allseitige Anregung derartiger Probleme den Fortschritt in den einzelnen Staaten
gleichmässig zu steigern: denn wir sind uns bewusst, dass isoliert heute nur
mehr sehr wenig auf dem Gebiete staatlichen, wirtschaftlichen Lebens durch-
geführt werden kann, dass die Abhängigkeit eine gegenseitige ist und daher
jede Berührung mit fremden gleichgesinnten Elementen wertvoll sein muss. So
hat er uns im Ausschuss des Vereines für Socialpolitik, der in Deutschland seinen
Sitz, aber auch liier sehr viele Mitglieder hat, nach Berlin, nach Köln, nach
Brüssel und im letzten Jahre noch nach Paris begleitet. Diese Fahrten werden
mir persönlich zu den angenehmsten Erinnerungen meines Lebens gehören, gerade
270 Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte.
mit Eücksicht darauf, dass Witteishöfe r in unserer Begleitung war, der
uns ein treuer Freund, ein kluger Berather und eine wertvolle Unterstützung in
unseren Arbeiten gewesen ist. Auch diese seine Thätigkeit ausserhalb Oesterreichs
war reich an Anerkennungen und Erfolgen, die sich wieder nicht nach aussen
hin drängten, die aber demjenigen deutlich geworden sind, der gesehen hat, wie
er, der unbekannte Gelehrte, der Praktiker, der einfache Privatmann, mit den
angesehensten Gelehrten und berufensten Fachmännern Deutschlands über Fragen
in einer Weise discutierte, welche diese Gelehrten zwang, ihm Eede und Antwort
zu stehen, auf seine Einwendungen einzugehen, seinen Anregungen Gehör
zu geben.
Seiner Anregung verdanken wir es, dass der Verein für Socialpolitik die
Erhebungen über die Heimarbeiter veranstaltet hat, eine Erhebung, deren Leitung
ja dann in Oesterreich gelegen ist, so dass der Antheil, den wir an dieser Arbeit
des Vereines genommen haben, dadurch ein ganz bedeutender wurde. Ihm ver-
danken wir es mit, dass der Verein für Socialpolitik sich mit der Frage der
Verkehrsbediensteten zu beschäftigen begonnen hat, und gerade hier hat er
wieder einen Erfolg errungen, den jeder zu würdigen versteht, der die Verhältnisse
näher kennt. Es handelte sich darum, Erhebungen über die Verkehrsbediensteten
in Deutschland anzustellen. Da war es nun der Präsident der Eisenbahndirection
in Cassel, Ulrich, der dem Ausschusse des Vereines angehört und der meinte,
die preussischen Staatsbahnen lieferten alles Material zur Beurtheilung der Lage
ihrer Bediensteten in den Publicationen, die sie dem preussischen Abgeordneten-
hause unterbreitet hätten. Witteishöfe r bestritt dies, und es wurde eine
Commission unter dem Vorsitze des früheren preussischen Handelsministers
Freiherrn v. Berlepsch eingesetzt, der Witteishöfe r, Cohnin Göttingen
und Präsident Ulrich angehörten. In dieser Commission führte Wittelshöfer
seine Sache so erfolgreich, dass die Commission schliesslich erklären musste :
Ja, es ist richtig, dieses Material entspricht nicht dem, was Eisenbahnminister
Ulrich davon erwartet hatte. Und noch die letzte Arbeit, die der Verein am
6. Jänner d. J. beschlossen hat, die einzige, mit der wir für die nächste Zeit
uns beschäftigen, geht auf seine Anregung zurück: eine Erhebung über die
Lage der Seeleute. Sie sehen auch da, wie weit sein Blick war, wie wenig er
durch die engen Verhältnisse unseres Heimatlandes allein beherrscht war, indem
die Frage ja für uns in Oesterreich nicht von so grosser Bedeutung ist, während
sie gerade für Deutschland bei seinem aufstrebenden Handel, seiner Entwicklung
der Flotte, der starken Inanspruchnahme des Menschenmaterials durch die Kriegs-
marine geradezu eine Lebensfrage werden wird. Und diese Frage ist nicht von
deutscher Seite angeregt worden, sondern von Wittelshöfer, der mit Scharf-
sinn erkannte, dass hier ein Gebiet vorliegt, das der Erörterung bedürftig ist.
Ich darf daher wohl auch als Zeichen der Anerkennung, welche er in
Deutschland gefunden hat, einige Zeilen verlesen, die mir der Vorsitzende unseres
Vereines, Prof. S c h m o 1 1 e r, über ihn geschrieben hat. Eedner verliest den
Brief, in welchem Prof. S c h m o 1 1 e r in den wärmsten Worten die Persönlichkeit
Wi ttelsh öf er s würdigt, dem Schmerze über seinen Verlust Ausdruck gibt
und erklärt, er werde dem Vereine für Socialpolitik sehr fehlen. Noch mehr,
106. und 107. Plenarversammlung, 271
fährt Prof. v. Philippowich sodann fort, wird er gewiss uns hier fehlen.
Er wird uns fehlen bei all den sachlichen Erörterungen, die wir zu führen
haben, er wird uns fehlen bei bei der Aufstellung der Programme und Arbeiten in
unserer Gesellschaft, er wird uns jedem einzelnen fehlen, die wir gewohnt waren,
mit ihm die schwierigsten Fragen wirtschaftspolitischer und socialpolitischer
Natur gerne und angenehm zu discutieren. Er wird uns aber noch mehr als
Mensch fehlen.
Wir Aelteren, die wir die Mittagshöhe des Lebens überschritten haben,
werden durch seinen Tod einen unersetzlichen Verlust zu tragen haben, denn
wir werden nicht mehr vielen Menschen auf gemeinsamen Lebenswegen begegnen,
mit denen wir neue Freundschaft zu schliessen imstande wären, und es wäre
ein Grlücksfall sondergleichen, wenn wir noch einmal Einem begegnen, der, so
wie er, uns durch Liebenswürdigkeit und Frische, durch stete Bereitwilligkeit zur
Unterstützung jeder Arbeit zu fördern und nahezustehen imstande wäre. Den
jüngeren unter uns aber, deren Lebensweg noch von vielen gekreuzt werden
wird, die noch mit vielen Menschen gemeinsam wandeln und neue Bündnisse
und Freundschaften zu schliessen in der Lage sein werden, kann ich nur den
Wunsch aussprechen, dass es ihnen gegönnt sein möge, eine solche Persönlichkeit,
eine so edle und tüchtige Natur auf ihrem Lebenswege zu finden und sich zum
Freunde zu machen. Dieses Bewusstsein glaube ich nicht nur aus mir heraus
sprechen lassen zu dürfen. Ich glaube, der Empfindung vieler unter Ihnen Ausdruck
zu geben, wenn ich meine, dass ich damit die Stellung Wittelshöfers wenig-
stens zu der grossen Mehrzahl von uns richtig gekennzeichnet habe.
Nun ist er zerstört, sein Dasein verweht, wie der Klang meiner Worte von
meinen Lippen verweht, und es bleibt uns nichts mehr übrig, als seiner zu
gedenken und auszusprechen, dass wir dies stets mit dankbarer Erinnerung
thun werden !
(Allseitige Zustimmung der Versammelten, die sich zum Zeichen der Trauer
von den Sitzen erhoben hatten.)
106. und 107. Plenapvensammlung.
Die am 12. Februar d. J. unter dem Vorsitze des Präsidenten Prof.
Dr. V. Philippovich abgehaltene Plenarversammlung der Gesellschaft öster-
reichischer Volkswirte war einer Erörterung über den Muster schütz -Gesetz-
entwurf gewidmet, nachdem die Gesellschaft vom Handelsministerium zur
Abgabe eines Gutachtens über diesen Entwurf eingeladen worden war. Die
Discussion wurde durch einen Vortrag des Vicedirectors des Oesterreichischen
Museums für Kunst und Industrie, Dr. E. Leisching, eingeleitet:
Meine verehrten Herren ! Mit einem gewissen Gefühle der Zaghaftigkeit
trete ich heute vor Sie, um, einem freundlichen Wunsche Ihres verehrten Herrn
Präsidenten entsprechend, einige Bemerkungen über den vorliegenden Muster-
schutz-Gesetzentwurf vorzubringen, welche dazu dienen sollen, eine Discussion
über diesen Gegenstand in ihrem Kreise einzuleiten. Diese Zaghaftigkeit entspringt
nicht meiner Bescheidenheit allein, sondern auch der sehr naheliegenden
Erwägung, dass ich keiner der an diesem Gegenstande unmittelbar betheiligten
272 Verhancllungen der Gesellschaft österreicliischer Volkswirte.
Tnteressentengruppen, weder den Industriellen, noch den Juristen angehörig, von
vorneherein kaum berufen erscheinen kann, in einem solchen Kreise über dieses
Thema zu sprechen. Es hat mich daher auch gar nicht gewundert, dass ich, als
ich in diesen Tagen mit einem hochgeschätzten Juristen über die Angelegenheit
sprach, von ihm zu hören bekam, dass das doch eigentlich ein Gegenstand sei,
dessen Behandlung zunächst den Juristen vorbehalten bleiben müsse, welche
nicht nur eine grössere Kenntnis der Gesetzestechnik besitzen, sondern auch viel
weniger einseitig seien, als es z. B. ein Museumsbeamter sein werde, der von
seinem ganz beschränkten Standpunkte der Vertretung kunstgewerblicher Interessen
einen derartigen Gesetzentwurf beurtheilen wolle. W^enn sie mich, obwohl ich
dieser Anschauung vollkommen beipflichte, und obwohl ich ziemlich ketzerische
Ansichten über den vorliegenden Gegenstand habe, die mich höchst wahrscheinlich
mit so manchem von Ihnen in Widerspruch setzen werden, trotzdem an diesem
Platze sehen, so haben Sie das zunächst mit ihrem Herrn Präsidenten aus-
zumachen, welcher allem Anscheine nach eine besondere Vorliebe für derartige
Ketzereien hat. (Heiterkeit.)
Ich betone zunächst, um kein Missverständnis aufkommen zu lassen, dass
ich ausschliesslich meine persönlichen Anschauungen hier vertrete, dass ich
nicht auf Grund irgendeiner Vereinbarung, oder gar vielleicht auf Grund irgend-
eines Mandates spreche. Aber selbstverständlich ist es ja, dass ich auf Grund
meiner mehrjährigen Erfahrung über die Bedürfnisse und die Entwicklung unserer
heimischen Kunstindustrie die vorliegende Materie behandeln werde. Damit will
ich gleich einem Einwurf begegnen, der auch in dieser Beziehung gemacht zu
werden pflegt, dass es nämlich nicht angehe und sehr einseitig sei, bei einem
solchen Gesetze in erster Linie zu fragen, ob es der Kunstindustrie nütze oder
schade ? Ich glaube, indem ich das Interesse der Kunstindustrie in dieser Frage
in den Vordergrund stelle, ganz auf dem Boden wenigstens der erläuternden
Bemerkungen zum vorliegenden Gesetzentwurfe zu stehen, wo es ja ausdrücklich
heisst : es handle sich hier um ein Gesetz, das in allererster Linie zur Entwicklung
der Kunstindustrie dienen soll. Und wenn wir uns an die Verhandlungen im
deutschen Eeichstage anlässlich der Schaffung des deutschen Musterschutzgesetzes
vom Jahre 1876 erinnern, wenn wir die Erläuterungen zu diesem Gesetze von
D a m b a c h lesen, so finden wir immer und überall die Interessen der Kunstindustrie
bei der Schaffung eines derartigen Gesetzes in den Vordergrund gestellt. Es ist
Ihnen ja bekannt, dass das deutsche Musterschutzgesetz vor allem mit Rücksicht
auf die beklagenswert ungünstige Stellung geschaffen M'urde, welche die deutsche
Kunstindustrie auf der österreichischen Weltausstellung im Jahre 1873 ein-
genommen hat, und weiters vor allem im Interesse der kunstgewerblichen Kreise
von Elsass und Lothringen geschaffen wurde, welche ja bis zum Jahre 1870/71
unter dem französischen Gesetze, also einem schon lange bestehenden Muster-
schutzgesetze, gestanden sind und darauf hindrängten, in dem neuen Verbände,
dem sie einverleibt waren, ähnliche gesetzliche Schutzbestimmungen zu finden.
Der Referent sprach vor allem seine volle und rückhaltlose Bewunderung
für die ausserordentlich geistvolle, geschlossene und gewiss auf dem neuesten
Standpunkt der theoretischen Wissenschaft stehende Behandlung aus, welche der
106. und 107. Plenarversammlung. 273
Verfasser diesem Gesetzentwurfe hat 7Aitlieil werden lassen. Zu bewundern sei der
ausserordentliche Idealismus und Optimismus in Bezug auf das künstlerische
Schaifen und seine Bedingungen, der in diesem Entwürfe sehr stark zum
Ausdruck kommt. Es sei daher ganz begreiflich, dass dieser Gesetzentwurf vor
allem die rückhaltlose Zustimmung der Theoretiker gefunden habe, dass
insbesondere der geistige Führer der deutschen Eechtschutz-Theoretiker, Prof.
K 0 h 1 e r in Berlin, dieser Zustimmung ausserordentlich warmen Ausdruck
gegeben habe. Er findet iu diesem Entwürfe die Erfüllung aller von ihm seit
Jahr und Tag in dieser Angelegenheit aufgestellten Forderungen und bezeichnet
ihn als einen bedeutsamen Fortschritt gegenüber allen Musterschutzgesetzen der
ganzen Erde.
Nach der Ueberzeugung Leischings geht jedoch der Entwurf in seinem
Bestreben nach möglichst ausgedehntem Schutz zu weit und müsste die künst-
lerische und kunstgewerbliche Production selbst lähmen, die nicht darauf ver-
zichten kann, an fremden Mustern zu lernen, d. h. nachzuahmen.
„Der Künstler nimmt, er nimmt, was er findet, und wo er es findet. Ueberall
sucht er, Anregungen seiner künstlerischen Phantasie zu erlangen, um ähnliche
und womöglich höhere Worte daraus zu schaffen. Nicht aber in neuen Gedanken,
sondern lediglich in dem neuen, persönlich gefärbten, technisch vollendeten
Ausdruck ewiger Kunstwahrheiten liegt das Wesen des künstlerischen Schaffens.
Nicht so sehr in der äusseren Formgebung, sondern in dem, was man die innere
Kunstform nennt, liegt das Original der künstlerischen Schöpferthätigkeit. Das
Zusammenwirken, das Nachahmen, das gegenseitige Geben und Nehmen ist von
der allerhöchsten Wichtigkeit für den allgemeinen Fortschritt, wie vor allem
auch für die Entwicklung des originalen Künstlers, und es ist ein schwerer,
verhängnisvoller Irrthum, durch einen strengen, auch die naive, freie Nach-
ahmung beschränkenden Musterschutz die künstlerische Production heben zu
wollen. Es ist ein falscher, übel angebrachter Idealismus und Optimismus, der
gar keine leale Basis hat und keine Eücksicht auf die psychische Organisation
des Menschen nimmt."
Auch wirtschaftliche Momente eminentester Art kommen hinzu, welche
einen so weitgehenden Schutz, wie dieser Entwurf ihn stipuliert haben will,
durchaus bedenklich erscheinen lassen. „Gerade in unserer Zeit des scharfen
Kampfes zwischen der historischen Stilrichtung und dem Streben nach einem
neuen Stil gewahren wir am allerdeutlichsten eine bestimmte Ausdrucksform und
ausserordentliche suggestive Macht, welche diese Ausdrucksform auf den
schaffenden Künstler und auf das Publicum ausübt : trotz der thatsächlich
grossen Zahl von Künstlern doch nur eine bestimmte Zahl gangbarer Ideen und
gangbarer Gestaltungen. Auch die Zahl der wirklich führenden Künstler ist ja
relativ sehr gering, nicht nur im Auslande, auch bei uns. Sie alle aber zeichnet
aus ein ausserordentlich energischer Wille, ein ausserordentlich starkes Temperament
und eine höchst charakteristische gemeinsame Formensprache. Diese Väter der
modernen Kunst haben Söhne, und es ist heute schon eine sehr stattliche
geschlossene Familie. Wie dies jedoch bei einem kraftvollen, starkracigen Geschlecht
ganz begreiflich ist, haben alle diese Leute eine ungemein starke Familien-
274 Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte.
ähnlichkeit, und diese Aelmlichkeit auf gesetzlichem Wege verbieten zu wollen,
wird, glaube ich, sehr schwer gehen."
Es kommt hinzu die Wichtigkeit der Eroberung des Weltmarktes oder
wenigstens die Wichtigkeit, auf diesem Weltmarkte Fuss zu fassen. Unsere Kunst-
industrie in Oesterrreich hat eine ausserordentlich schwache Grundlage. Aber die
Schwäche dieser Kunstindustrie beruht nicht etwa in einem mangelhaften
Können, in einem mangelhaften Formen- und Farbensinn, in einer mangelhaften
Entwicklungsfähigkeit, sondern vor allem auf wirtschaftlichen Ursachen, Wir
haben in den letzten 30, 40 Jahren eine ganz ausserordentliche, vielfach auch
im Auslande vorbildlich gewordene Entwicklung zu verzeichnen. Wir haben
Schulen gegründet, ganz neue Industrien geschaffen ; auf dem Gebiete der Glas-,
Bronze-, Eisenschmiedekunst, der Lederarbeit und zahllosen anderen Gebieten hat
gerade in den letzten 30, 40 Jahren die österreichische Schule Vorbildliches
geleistet, der Formen- und Farbensinn, die technische Solidität ist auf das
Höchste entwickelt worden. Und warum sind wir ins Hintertreffen gerathen?
Gewiss nicht, weil unser Musterschutzgesetz vem Jahre 1858 so schlecht ist,
sondern weil wir in Oesterreich einen stets sinkenden Consum zu verzeichnen
haben, weil wir seit 1873 eine wirtschaftliche Depression haben, welche vor
allem natürlich auf diesem Gebiete sich besonders fühlbar macht, weil wir dem
Weltverkehre gegenüber wie kaum ein anderer Culturstaat Europas isoliert da-
stehen, und vor allem, weil gerade in den industriellen und gewerblichen Kreisen
ein so ausserordentlich mangelhafter kaufmännischer Sinn, eine so mangelhafte
kaufmännische Bildung vorhanden ist. Wissen Sie, was wir in den 70er und
80er Jahren auf kunstgewerblichem Gebiete am meisten exportiert haben? Nicht
kunstgewerbliche Erzeugnisse, sondern Absolventen unserer kunstgewerblichen
Schulen ! Diese sind es gewesen, die — da man in der Heimat keine Verwendung
für sie hatte — namentlich auf deutschem Boden die Industrie kräftig zu machen,
redlich mitgewirkt haben. Nicht das deutsche Musterschutzgesetz vom Jahre 1876
war es, welches diesen Aufschwung der deutschen Industrie hervorgerufen hat ;
da kommen eine ganze Keihe viel wichtigerer anderer Momente in Betracht: Die
politische Concentration, der grosse Zug in der Führung der öffentlichen Angelegen-
heiten, die ausserordentlichen Hilfsquellen, der ins Weite gerichtete kaufmännische
Blick und die rücksichtsloseste Ausnützung jedes geschäftlichen Vortheiles, auch
in der Beschaffung und Anpassung der gewerblichen Muster.
Referent ist weit entfernt von unbedingter Ablehnung jedes gewerblichen
Eechtschutzes, er wünscht, gerade mit Rücksicht auf die moderne Entwicklung
des Industriekampfes einen Rechtschutz. Nur komme es darauf an, wie dieser
Schutz gestaltet wird. Man dürfe die eigenthümlichen psychologischen Grundlagen
des künstlei'ischeu Schaffens und die ausserordentliche Wichtigkeit nicht vergessen,
die der Erziehung des ganzen Volkes zur Kunst innewohnt. Eine hohe Entwicklung
ist auf diesem Gebiete nur möglich, wenn hier das freieste Geben und Nehmen
stattfindet.
Entscheidend sei die Frage : sclavischo Nachbildung und Nach-
ahmung? Der Code pönal vom Jahre 1840 spricht nur von „Contrefa9on".
Von „Imitation" ist überhaupt nicht die Rede, Contrefafon ist Nachmachen, und
n
106. und 107. Plenarversammlung, 275
zwar betrügerisches Nachmachen, dasselbe wie Nachdruck; Imitation ist Nachfolge,
freie Nachahmung. Nur die Contrefa^on also wird verfolgt und als verfolgenswert
betrachtet. Das englische Gesetz vom Jahre 1883, amendiert 1888, spricht allerdings
von „Imitation", sagt aber ausdrücklich: „fraiidulent and ohvious imUation" . Das
schweizerische Gesetz vom vorigen Jahre, das im höchsten Grade beachtenswert ist,
spricht von Nachmachen und allerdings auch vom Nachahmen (Absatz 3, Art. 24) ; es
heisst aber dort : „Wer ein hinterlegtes Muster oder Modell widerrechtlich nachmacht
oder derart nachahmt, dass eine Verschiedenheit nur bei
sorgfältiger Vergleichung wahrgenommen werden kann..."
Was sagt nun unser Gesetzentwurf? In den erläuternden Bemerkungen
zum Entwürfe ist immer und immer wieder von „neuen Formerfindungen" die
Eede. Es wird immer wieder gesagt : Das Musterrecht hat die geistige Schöpfung
einer neuen Form zum Gegenstande. Der charakteristische Paragraph, der diese
Angelegenheit im Entwürfe behandelt, ist § 85. Dort heisst es : „Ein Eingriff
wird dadurch nicht ausgeschlossen, dass der Eingriffsgegenstand zwar Abweichungen
von dem geschützten Muster aufweist, welche aber trotzdem den dem Muster
zugrundeliegenden Formgedanken in dem Eingriflfsgegenstande deut-
lich erkennen lassen."
Dieser Paragraph sei durchaus unannehmbar.
Das berühre das ganze künstlerische Schaffen, und gerade dieser Satz sei
die Grundlage des ganzen Entwurfes, zugleich auch der prägnanteste Ausdruck
jener schwärmerischen, idealistischen Anschauung der Kohle r'schen Schule, welche
immer davon ausgeht, dass es überhaupt eine absolute Musterneuheit gibt, dass
es eine Neuschöpfung im Sinne einer auch in den Formelementen neuen, noch
nicht dagewesenen That gibt, und dass es sich bei dieser That nicht hauptsächlich
um neue Combinationen gegebener Formen handelt. Es sei förmlich eine Art
mystischer Auffassung, die in diesen Kohle r'schen Ansichten steckt, fast wie
die sokratische Auffassung des Dämons, der in dem künstlerisch Schaffenden
wirke. Statt dieses al. 3, § 85 müsste es heissen : „Als Eingriff in das Muster-
schutzgesetz ist nicht anzusehen die Hervorbringung eines neuen Musters unter
freier Benützung bereits geschützter Muster."
Von allerhöchster Wichtigkeit sei ferner § 5, betreffend die Einschränkung
des Musterrechtumfanges auf jene Warengruppen, welche in das Thätigkeitsgebiet
des Schutzwerbers fallen.
Referent spricht sich ferner unbedingt gegen die Theilung in Geschmacks-
und Gebrauchsmuster aus. Vom kunstgewerblichen Standpunkte aus kenne er
keinen Unterschied zwischen Schönheits- und Gebrauchsmuster, wenn das letztere
dasjenige Muster ist, das dem Gebrauchszwecke darnach hergestellter Kunstindustrie-
erzeugnisse dient. Denn es sei eine durchaus veraltete Aesthetik, welche bei
derartigen Begriffsbestimmungen immer nur den traditionellen Schönheitsbegriff
im Auge hat. Klarer Ausdruck der Zwecksbestimmung in den Formen sei auch
schön, und das sei der Gebrauchswert, der diesen Industrieerzeugnissen inne-
wohne. Der Redner bemängelt ferner die Geheimhaltung von 2 Jahren und die
hohen Gebüren. Sodann kritisierte er die Bestimmungen des Entwurfes über den
Feststellungsantrag.
276 Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte.
„Da zahllose Muster geschützt sind, so ist, wenn man ein neues Muster
auf den Markt bringt, die Gefahr eine sehr grosse, mit den Besitzern geschützter
Muster in Conflict zu gerathen. Es soll nun die Möglichkeit geboten werden,
festzustellen, ob ein Muster, das man geschaffen hat, in ein bereits geschütztes
Muster eingreift oder nicht. Gerade weil ich die Gefahr eines zu weit gehenden
Musterschutzes für sehr gross halte, scheint mir dieser Paragraph höchst wichtig.
Er stellt für mich den „Schutz der Nichtgeschützten" dar. Warum kann aber
ein solcher Autrag nach dem Entwürfe nur auf Grund eines hergestellten, bereits
in Verkehr gebrachten oder feilgehaltenen Erzeugnisses erfolgen, und warum nicht
auf Grund eines Musters ? V^arum muss der Anfechter sich schon allen Herstellungs-
kosten unterziehen, um sich dann der Verfolgung auszusetzen, bezw., wenn seine
bona fides von ihm nachgewiesen wird, sich doch nach § 86 dem auszusetzen,
dass der Eingriflfsgegenstand beseitigt wird, dass die Eingriffsmittel — natürlich
auf seine Kosten — umgestaltet werden, und dass er zur Entschädigung oder
Herausgabe der Bereicherung verpflichtet wird? Und wer wird denn glauben,
dass die bona fides bei jemandem vorhanden war, der schon einen Anfechtungs-
streit eingeht? Da wird doch gesagt werden: Den treibt sein böses Gewissen
dazu, und in den meisten Fällen wird er aus einem solchen Streite doppelt
geschädigt hervorgehen. Und warum muss in Musterschutzangelegenheiten, wie
es ausdrücklich heisst, in allen Fällen, auch wo der Anfechter obsiegt, der Antrag-
steller die Kosten des Feststellungsstreites zahlen ? Ich finde das nicht schön.
Auf diese Weise wird die Wohlthat, welche dem Nichtgeschützton durch diesen
Paragraph eingeräumt wird, vollkommen illusorisch gemacht."
Referent befürwortet ferner die Einführung eines gewissen Ausübungszwanges
und eine Decentralisierung des Musterschutzwesens.
In der am 26. Februar abgeführten Discussion über vorstehenden Vortrag
trat Patentanwalt Ingenieur Karmin den Anschauungen des Referenten vielfach
entgegen. Allerdings sei der Entwurf vielfach schlecht stilisiert, sein Schöpfer
habe gewiss den „Formgedanken" nicht in der vom Referenten befürchteten
Weise schützen wollen. Dr. Th. Schuloff erklärt sich im grossen und ganzen
mit den Gedanken, die in diesem Entwürfe niedergelegt sind, einverstanden. Gegen
Herrn Regierungsrath Leisching führt er aus, dass gerade die Nachahmung,
nicht die factische Nachbildung das Gefährliche sei.
Gegen die Nachbildung gibt es sehr leicht einen kräftigen Schutz. Das
reine Abschreiben, das factische Durchpausieren einer Zeichnung, das Abgiessen
eines Modells ist etwas leicht Fassbares. Der Erfahrung gemäss kommen auch
diese reinen Diebstähle auf diesem Gebiete sehr selten vor. Die reine Nachbildung
des in der Patentbeschreibung niedergelegten Gegenstandes findet sehr selten
statt. Die Gefahr liegt in der sogenannten Nachahmung. Nachahmung heisst
Nachbildung des Wesentlichen.
Gegen mehr als die sclavische Nachahmung muss der Musterbesitzer geschützt
sein. Wo dieses Mehr anfängt, das ist allerdings manchmal eine schwierige Frage,
die sich aber durch keine Terminologie und keine Fassung des Gesetzes in
sicherer Weise lösen lässt, sondern die wir dem Richter von Fall zu Fall zur
rntscheidung überlassen müssen.
106. und 107. Plenarversanmilung. 277
Herr Fis chin ois te r bespricht den Gegenstand vom Standpunkte des
Industriellen und erklärt, sich den Ausführungen des Kegierungsrathes Dr. Leise hing
vollkommen anschliessen zu müssen.
Der Ausdruck „Formgedanke" bereitete ihm ein gewisses Missbehagen. Das
sei ein unendlich dehnbarer Begriff, der sich in keine deutlich erkennbaren
(h'enzen bringen lässt. Die Anlehnung an Formgedanken anderer, sagt Eedner,
ist nach unseren geschäftsmännischen Begriffen kein geistiger Diebstahl, gegen
den wir einen Schutz brauchen würden. Ja, wir wünschen ihn in diesem Sinne
auch gar nicht, denn ein sehr weitgehender Schutz würde eine grosse Gefahr
auf dem Gebiete unserer Industrie bedeuten.
Man muss sich sehr oft an ein fremdes Muster anlehnen, nicht etwa weil
man selbst nichts erzeugen kann, sondern weil jenes Muster verlangt wird. Wenn
man nun soweit geht, jede Anlehnung verbieten zu wollen und den so unendlich
dehnbaren Ausdruck „Formgedanken" hineinbringt, so muss darin eine grosse
Gefahr für unsere Industrie gesehen werden, vor allem für die moderne Juwelier-
kunst, die erst seit zwei Jahren sich dazu aufgeschwungen hat, wirklich modern
zu werden und aus den Grenzen des Herkömmlichen herauszutreten.
Die Kunstgewerbetreibenden fänden im Urhebergesetze durch Einfügung
diesbezüglicher Bestimmungen einen viel zweckmässigeren Schutz, als er im
Mustorschutz-Gesetzentwurfe zu suchen ist.
Eegierungsrath Dr. M a r o s c h findet es charakteristisch, dass die Kreise,
welche eigentlich durch das Gesetz in allererster Linie geschützt werden sollen,
nur davon sprechen, das Gesetz möge so gemacht werden, dass es ihnen nicht
schade. Das machte natürlich misstrauisch gegen einige Bestimmungen des
Gesetzes. Einer der Hauptpunkte, vor dem die Industriellen sich am meisten
fürchten, sei der vom Vorredner mit Eecht als ungeheuer dehnbar bezeichnete
Begriff des „Formgedankens". Wenn man heute einen Musterbeirath zusammen-
setzt, in welchem die Industrie und die Kreise, die aus diesem Gesetze Nutzen
ziehen sollen, eine bedeutende Kolle spielen, und ihm sagt: Du hast einerseits
einen Formgedanken zu beachten, andererseits aber einen zu fixierenden Muster-
anspriich, an den Du Dich auch halten musst, dann wird die ruhige Ueberzeugung
des Fachmannes erschüttert werden. Die Suche nach dem Formgedanken wird
natürlich, in der Angst, über das Gesetz hinauszugehen, sehr viel Unrecht
stiften können. Wenn ein Geschmack aufkommt, arbeitet alles in derselben
Eichtung. Betrachtet man ein Muster unabhängig von dem anderen, so wird es
keinem Menschen einfallen, zu behaupten, es sei dasselbe Muster. Hält man sie
aber nebeneinander, und ist man überdies vorpflichiet, speciell den Formgedanken
'ZU beachten, so liegt er sofort darin.
Der Musteranspruch ist das Zwillingskind des Formgedankens, wir dürfen
ihn nicht glimpflicher behandeln als jenen : er gehört in ein Geschmacksmuster-
gesetz nicht hinein. Die gebürenrechtliche Seite des Gesetzes hätte der Finanz-
minister selbst nicht fiscalischer machen können. Der Gedanke eines Central-
registers ist gewiss ein ausgezeichneter. Aber dem Patentamt und dem Muster-
schutz und der Durchführung des Gesetzes ist viel mehr gedient, wenn eine Eeihe
von Anmeldestellen vorhanden ist, welche die erste rein formale Prüfung vor-
278 Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte.
nehmen, als wenn wir unter das caudinische Joch des Stempel- und Gebüren-
gesetzes uns begeben.
Dr. Benies sagt : Der springende Punkt bei dem ganzen Gesetze ist :
Wie nahe darf man dem geschützten Mustor kommen, ohne strafbar zu werden?
Die absolute Identität mit dem Mustor ist, wie Dr. Schul o ff treffend ausführte,
von ganz geringem, praktischem Interesse. Fraglich ist : Wo fängt der Schutzrayon
an und wo hört er auf? Da wird die individuelle Entscheidung ungeheuer schwer
zu treffen sein.
Die Besorgnis der Herren Kcgierungsrath L e i s c h i n g und F i s c h m e i s t e r,
dass in der Praxis das Gesetz zu scharf gehandhabt werden wird, sei eine über-
triebene. Man müsse sich da auf den bon sens der Leute verlassen können,
welche damit zu thun haben werden. Die Gefahr, dass in den ersten Jahren
Kinderkrankheiten zu überwinden sein werden, bis der Begriff der Nachahmung
in seiner Individualisierung sich für jedes Anmeldungsgebiet scharf herausgebildet
haben wird, muss man mit in den Kauf nehmen. Denn, wenn man die Nach-
ahmung ganz frei gibt, dann ist das Gesetz wirklich ein Schlag ins Wasser.
Nach einem Schlussworte des Keferenten wird die Sitzung durch den
Vicepräsident v. Lieben geschlossen.
108. und 109. Plenanvepsammlung.
Die beiden letzten Plenarversammlungen des Vereinsjahres waren dem Problem
„Bodenentschuldung, Vorschuldungsgren zcundHypoth cke n-
m onopol" gewidmet. Am 19. März hielt über diesen Gegenstand Regierungsrath
Dr. R. V. Hattingberg, Director der Niederösterreichischen Landos-Hypothekon-
anstalt, einen Vortrag. Der Vortragende schliesst sich eng an Grabmayrs Vor-
schläge für Tirol. Nicht die Beseitigung des Besitzcredites sei wünschenswert,
sondern die Beschränkung des Hypothekarcredites, der Ausschluss dieser Credit-
form für Zwecke dos Betriebes. Als Grenze der Verschuldbarkeit soll die Pupillar-
sicherheit (^3 des Wertes) gelten, ein Hypothekenmonopol sei nicht zu befür-
worten. Ausserhalb der Verschuldungsgrenze haben die Eaiffeisencassen ein-
zutreten.
Bei consequenter Durchführung der Zwangstilgung, unter Anwendung einer
4Y2 proc. Annuität, werde die bestehende Grundschuldonlast eines Landes oder
einer bestimmten Besitzkategorie innerhalb eines Zeitraumes von fünfundfünfzig
Jahren abgezahlt, und an deren Stolle träte trotz der jährlich in gleicher
Durchschnittshöhe zuwachsenden Neubelastung eine Schuld-
ziffer, die nur Yg der Gesaramtsumme der jährlichen Nouvorschuldungen umfasst.
„Nimmt man die grundbücherliche Belastung eines Landes beispielsweise mit
255 Millionen an und berechnet die jährliche Neuverschuldung mit 4 Millionen,
so ist durch die Zwangstilgung nach 55 Jahren die bei Beginn der Amortisation
bestandene ursprüngliche Belastung verschwunden und an ihre Stelle eine constant
bleibende Schuldsumme von 146,856.120 getreten. Schon im 24. Jahre ist trotz
des jährlichen Zuwachses von 4 Millionen die bis zu 292,597.570 ansteigende
Verschuldungsziflfer auf 292,557.500, vorläufig wohl nur um einen kleinen Betrag
vermindert, und fällt von da ab in rascher Folge, so dass im 40. Jahre nur
108. und 109. Plenarveisainmlung. 279
mehr 258,313.690, im 50. Jahre 192,303.790, im 55. Jahre zuletzt 146,856.120
als gleichbleibende Schuldsumme aushaften.
Ohne Amortisation würde im 24. Jahre die Belastungsziflfer 351 Millionen,
im 40. Jahre 415 Millionen, im 50. Jahre 455 Millionen, im 55. Jahre
475 Millionen betragen.
147 Millionen gegenüber 475 Millionen grundbücherliche Belastung, gewiss
ein glänzender Erfolg. Der Einwendung, dass die unregelmässigen Erträge der
Landwirtschaft es nicht gestatten, ohne die wirtschaftlichen Verhältnisse derselben
starken Erschütterungen auszusetzen, die obligatorische Zwangstilgung einzuführen,
ist leicht durch den Hinweis begegnet, dass bäuerliche Darlehen nicht so gross
sind, um nicht den Aufschlag von V2 Pi"0c. Amortisationsquote zu ertragen,
dass gegenüber den Waisencassen- und Hypothekenanstaltsdarlehen unsere Land-
wirte für Sparcassenhypotheken an Zinsen soviel bezahlen, als sie bei den erst-
genannten Creditstellen an Annuität entrichten, von den Darlehen der Contributions-
fondscassen, Bezirksvorschussvereinen und Spar- und Vorschusscassen nicht zu
reden, dass deshalb die vernünftigen Elemente unter unseren Landwirten die
Annuitätentilgung selbst verlangen, wie die facultative Einführung derselben bei
den Waisencassen beweist, dass endlich die entsprechende Beweglichkeit des
Tilgungsplanes, das erforderliche Entgegenkommen der Creditstellen in Stundung
und Aenderungen der Annuitäten, sowie bei Rückzahlungen der Darlehen bekannter-
maassen ausreichenden Schutz gegen wirtschaftliche Katastrophen gewähren." Der
Vortragende fordert deshalb als erste ohne Verzug zu treffende Maassregel:
Die Unterwerfung aller auf ländlichen Ee alitäten bereits
haftenden und in Zukunft zur Eintragung gelangenden
Forderungen öffentlicher Creditstellen unter das System
der Zwangstilgung.
Dadurch würde erreicht werden: die Sanction des Annuitätensystems durch
staatliche Autorität, die Erziehung der ländlichen Bevölkerung zu Ordnung und
Pünktlichkeit, zu regelmässiger Tilgung contrahierter Schulden und endlich die
Herabminderung der bestehenden und der neu hinzukommenden Grundschulden
um erhebliche Summen.
Für den Landwirt muss man unkündbaren Rentencredit verlangen. Nur
der Pfandbrief vermag ihn zu bieten. Die zweite sofort erfüllbare Forderung sei
daher, dass öffentliche Creditstellen (Sparcassen und Waisencassen) von nun an
neuer Hypothekarcredit nur in der Form von Pfandbriefdarlehen geben dürfen.
Redner führt weiters aus, dass die Organisation des Hypothekarcredites gegen-
wärtig noch nicht derart ist, dass sie dem Verlangen nach Befriedigung des
legitimen Hypothekarcredites entsprechen könnte. Man müsse deshalb weiter gehen.
Hinderlich für die Entschuldungsaction seien insbesondere die theueren zweiten
und dritten Sätze in der irrationellen Form kündbarer Darlehen mit veränderlichem,
in der Regel steigendem Zinsfusse. Je mehr anderseits die bäuerliche Wirtschafts-
form in den Parcellenbesitz, in die Gemenglage sich auflöst, desto mehr huldigt
der Landwirt der nicht zu billigenden Gewohnheit, alle erwirtschafteten Gelder in
Grundbesitz anzulegen, ja auf Speculation in langfristigen Raten Culturgründe zu
erstehen.
280 Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte.
Haben die Angehörigen benachbarter Gemeinden sich in diesem Bestreben
überboten, dann findet für geraume Zeit oft der beste Acker keinen Käufer,
sind ganze Wirtschaften vollständig unveräusserlich. Sollen Landesanstalten,
Waisencassen, Sparcassen den legitimen Hypothekarcredit wirklich befriedigen,
dann muss in irgend einer Form ihnen Dockung gegen derartige Vorkommnisse
geboten werden.
Die ins Leben zu rufenden landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften
erscheinen in erster Linie geeignet, hier erziehlich einzuwirken. Zugleich steht
es ihnen zu, die in Zwangsvollstreckung befindlichen und um zwei Drittel ihres
Wertes, also um den Betrag ihrer pupillarsicheren Belehnung nicht veräusser-
lichen Wirtschaften an denjenigen Bewerber gegen ein unkündbares Kenten-
darlehen hinauszugeben, der durch Tüchtigkeit und Betriebsmittel seinen Con-
currenten überlegen ist. Die Haftung für etwaige Ausfälle an Zinsen und Kosten,
entstanden während der Zeit des Ueberganges, fiele zu gleichen Theilen auf Staat
und Land. Die Verwaltung des Darlehensdienstes übernimmt die Landesanstalt,
die eigene Eentenbriefe nicht zu emittieren braucht, sondern die Abwicklung
mittels ihrer Pfandbriefe zu besorgen imstande ist.
Auch diese dritte Maassnahme liesse sich nach Einführung der landwirt-
schaftlichen Berufsgenossenschaften im Einvernehmen von Staat und Land treffen,
ohne berechtigte Interessen zu verletzen.
„Würden wir noch die Bestimmungen des § 151, p],-0. über das geringste
Gebot durch Festsetzung des Hälftewertes statt der zwei Drittel geändert und
das Convertierungsgesetz dahin erweitert haben, dass nicht die Zinsenspannung,
sondern Unkündbarkeit, fester Zinsfuss und Zwangstilgung die Gebürenbefreiung
gewährleistet, dann hätten wir nach unserem Ermessen für den Hypothekarcredit
jene Vorkehrungen getroffen, welche die Einführung der Einschuldbarkeitsgrenze
in absehbarer Zeit ermöglichen würde." Zugleich müsse aber für eine noch
bessere Organisation des landwirtschaftlichen Personalcredites auf genossenschaft-
licher Grundlage gesorgt werden.
Der seit 1898 bestehende allgemeine Verband landwirtschaftlicher Genossen-
schaften in Oesterreich umfasst zwar heute nahezu 2000 auf den Grundsätzen
gemeinwirtschaftlicher Thätigkeit aufgebaute Genossenschaften, die hauptsächlich
aus Eaiffeisencassen bestehen. Ein vielversprechender Anfang, aber auch nicht
mehr. Schon hat sich die Politik dieser neuen Schöpfungen bemächtigt und
weiters, allerdings nur in wenigen Fällen, der „Geschäftsgeist" seinen Einzug in
diese Kreise gehalten. In vielen Landstrichen der österreichischen Kronländer
sind derartige Gassen nur vereinzelt zu finden, und nicht selten haben sie eine
scharfe Anfeindung seitens jener Elemente zu erdulden, welche in ihnen eine
störende Concurrenz erblicken.
Als Spar- und Darlehenscassen gegründet, pflegen ferner unsere Eaiffeisen-
cassen das Personalcreditgeschäft mit Einlagsgeldern; gegen Bürgschaft und
Schuldschein gewähren sie für zwei, eventuell 4 Jahre Darlehen, deren Sicherheit
eine vortreffliche, deren Liquitität aber eine mehr als anfechtbare ist. In der
Regel vorfügen weder die Eaiffeisencassen noch deren Centralverbände über
108. und 109. Plenarvcrsammlung. 281
genügende Barmittel, um auch nur dem ersten Anprall Stand zu halten, falls
die Einleger ihre Gelder zurückverlangten. Nicht genug daran.
In den meisten Kronländern Oesterreichs sind aus den Raiffeisenverbänden
heraus Organisationen für den Ein- und Verkauf landwirtschaftlicher Artikel
entstanden. Easch hat die ländliche Bevölkerung begriffen, dass diese Ver-
einigungen bei richtiger Führung nur erspriesslich und fördernd wirken können.
Winzerhänser, Molkereien, Getreidelagorhäuser, Vereinigungen zum Absätze anderer
landwirtschaftlicher Producte wurden ins Leben gerufen. Die Mittel zu ihrer
Gründung, zu ihrer Führung hat man den Eaiffeisencassen entnommen. Wo anders
M'äre sonst Geld für solche Zwecke verfügbar gewesen?
Die Kunde, wie bedeutend billiger und zweckentsprechender durch gemein-
samen Grossbezug alle landwirtschaftlichen Bedarfsartikel, von der landwirtschaft-
lichen Maschine bis zum kleinen Quantum chemischen Präparates herab, beschafft
werden, machte Schule. Auch diesem Zweige kaufmännischer Thätigkeit wendeten
sich infolgedessen unsere Genossenschaften zu und erzielten bedeutende Erfolge
— mit den Ein\agsgeldern der Eaiffeisencassen, die ohne Eeserven, ohne Betriebs-
fonde all diesen Verwendungsansprüchen gegenüberstehen.
Wollen wir die Betriebscredite einerseits, ja andererseits alle Creditbedürf-
nisso, die innerhalb der ^/g des ermittelten Wertes keine Deckung mehr finden,
auf die Eaiffeisencassen weisen — dann müssen wir vorerst an den systematisch
fundierten Ausbau ihrer Organisation schreiten. Hiezu sind vor allem den Wirt-
schaftsgenossenschaften, respectivc deren Landesverbänden gegen sachgemässe
Sicherung die nöthigen Mittel zu bieten und hierdurch die Einlagsgclder der
Eaiffeisencassen ihrer natürlichen Bestimmung, der Gewährung von Personal-
darlehen, zurückzuführen. Den Eaiffeisencassen selbst, richtiger deren Centralcassen,
aber schaffe man die nöthigen Eeserven, damit sie unter allen Umständen die
Einlagen im Bedarfsfalle auch wieder zurückerstatten können.
Bei Pflege des Personalcredites zum Zwecke der anzubahnenden Entschuldung
ist das Augenmerk vorweg auf die Eaiffeisencassen zu richten und die anderen
zur Pflege dieses Creditzweiges gegründeten Creditstellen nur in zweite Linie zu
stellen. Heute bedeutet auf dem Gebiete des ländlichen Credites das Gut alles,
der Mann nichts oder höchst wenig.
Das Capital hat, wenn der Bauer dessen Hilfe in Anspruch nahm, immer
nach der realen Unterlage des Darlehens gefragt; war diese Sicherung durch
vorhergehende Posten zweifelhaft geworden, dann hat sich dem Wirtschaftsmanne
das Darlehen nur in der Form geboten, welche Handel und Industrie für ihre
Bedürfnisse entwickelten. Entweder die Hypothek oder der Wechsel. Der Schuld-
scheincredit, aufgebaut auf der persönlichen Tüchtigkeit, zugemessen dem Manne
und nicht dem Gute, ist eine vereinzelte Erscheinung geblieben.
Insbesondere herrscht in Oesterreich allgemein das Bestreben, alle Spar-
gelder, alle den Kreisen unserer producierenden Stände entstammenden Mittel
nicht dem gemein wirtschaftlichen Personaldarlehen, sondern dem Hypothekar-
geschäfte, der Erworbung von Wertpapieren, dem Escompto oder Lombard zuzu-
wenden.
Zeitschrift für Volkswirtschaft, SooialpoUtik und Verwaltung. X. Band. 19
282
Verhandlungen der Gesellschaft Österreichischer Volkswirte.
Es ist für den gewerblichen Mittelstand geradezu eine Existenzfrage
geworden, durch gemeinwirtschaftliche Geldsammelstellen jene Mittel, die seinen
Kreisen entstammen, sich unter billigen und rationellen Bedingungen zu erhalten.
Aufgabe dieser Anstalten wird es sein, nicht nur durch zweckentsprechende
Verwaltung die Gelder der producierenden Stände für deren Bedarf bereitzuhalten
und unter jenen Bedingungen ihnen zur Verfügung zu stellen, welche ihren
wirtschaftlichen Entwicklungen entsprechen, sondern auch bei vorübergehenden
scharfen Schwankungen durch ihre Verbindung mit dem grossen Markte die Stösse
auszugleichen und zu mildern, die sonst die einzelne wirtschaftliche Existenz
unvorbereitet und unberührt treffen.
Halten wir an diesem Gesichtspunkte fest, so gelangen
wir neben dem Verlangen nach Ausbau unserer gemeinwirt-
schaftlichen Genossenschaften (ßaiffeisencassen, Lagerhäuser etc.) z u
dem Begehren nach einheitlicher länderweiser Organisation
aller unserer ländlicher Per sonalcreditstellen, durch Aus-
schluss jeglichen Hypothekargeschäftes und möglichster
Pflege des Schuldscheindärlehens.
Dass von der im erforderlichen Masse gebotenen- Creditmöglichkeit jeder-
zeit nur der richtige verständige Gebrauch gemacht und eine missbräuchliche
Ausnützung dieser Möglichkeit ferne gehalten wird, ist unbestritten Aufgabe
staatlicher Creditorganisation. Haben v/ir vor, im Interesse der Allgemeinheit das
Grundbuch nur in beschränktem Maasse für Hypotheken offen zu halten, dann
müssen wir bei Zeiten das Verständnis für die richtigen Formen des Personal-
credites bei beiden Contrahenten wecken und pflegen, und zu diesem Behufe auch
für die Creditmöglichkeit entsprechend sorgen. Die Mittel für den Person alcredit
sind demnach an gemeinwirtschaftlichen Ausgleichsstellen zu concentieren. Da
diese Anstalten ihrerseits in steter Verbindung mit dem grossen Markte stehen
müssen, ist jede Besorgnis beseitigt, als würde hierdurch das von den Klein-
producenten nicht benöthigte Geld der Verwendung für industrielle oder commer-
cielle Zwecke entzogen.
Als eine weitere Voraussetzung der von uns verlangten
wirtschaftlichen Schulung fordert der Vortragende die
Beseitigung der Bestimmungen des § 208 der E.-O. So lange der
f*ersonalgläubiger durch Anmerkung der Zwangsvollstreckung zur Einverleibung
des executiven Pfandrechtes für seine Forderung gelangen kann, wird kein um
sein Darlehen besorgter Mann es unterlassen, sich die Rangordnung für seine
Ansprüche grundbücherlich zu sichern. Soll durch Einführung der Zwangstilgung
aller von öffentlichen Stellen hinausgegebenen Nachhypotheken das Grundbuch
von denselben befreit werden, dann darf nicht auf kostspieligen Umwegen eine
Jagd nach der Rangordnung sofort vollstreckbaren Nachhypothek veranlasst
werden.
Die Erfolge der ßaiffeisencassen beweisen, dass auch ohne bücherliche
Sicherstellung unsere ländliche Bevölkerung einen entsprechenden Credit geniesst,
und es nur der sorgsamen Führung aller zur Befriedigung desselben berufenen
Organe bedarf, um allmählich auch auf diesem hochwichtigen Zweige der Wirt-
108. und 109. Plenarversammlung. 283
Schaftsordnung der persönlichen Tüchtigkeit, Strebsamkeit und Verlässlichkeit die
ihr gebärende Stellung wieder einzuräumen.
Als letzten Schritt sieht es der Vortragende an, dass verfügt werde, dass
alle Neubelehnungen von Grundwirtschaften, welche dem landwirtschaftlichen
Betriebe dienen, sich nur in der Form des Pfandbriefcredites vollziehen dürfen.
Damit ist nicht einer Anstalt — sondern dem unkündbaren Eentendarlehen —
dem Ideale landwirtschaftlicher Wirtschaftsführung das Belehnungsmonopol ertheilt.
Dagegen spricht er sich gegen das Monopol der Anstalt und für das Monopol
der Darlehensform aus, geleitet durch die in langer Praxis gewonnene Erfahrung,
dass die beste Gewähr für nie rastende Entwicklung in der Concurrenz gelegen
ist. Hinter jeder Sache stehen Menschen. Menschen sind es, die sie vertreten —
Menschen, die vergänglich sind, wie jeder Organismus — Menschen, die anderen
Menschen mit anderen Ansichten das Feld räumen müssen. Schon das Beharren
in bestehenden Formen ist Rückschritt; sollten wir in der Organisation unserer
Landes-Hypothekenanstalten heute schon an der Grenze erreichbarer Ausgestaltung
stehen?
Der landwirtschaftlichen Berufsorganisation der Länder wäre es zu über-
lassen, den Begriff des landwirtschaftlichen Betriebes festzustellen. Nicht getroffen
sind durch diese Maassnahnw3 alle Taglöhner- und Häuslerstellen — alle gewerb-
lichen Betriebe mit diesem untergeordneten landwirtschaftlichen Besitz. Getroffen
sind alle reinen und gemischten landwirtschaftlichen Betriebe.
Als Wirkung der geplanten Creditbeschränkung und Monopolisierung würde
sich ergeben, dass bei jeder Darlehensaufnahme, also auch bei jedem Besitz-
wechsel, der eine solche nothwendig macht (Kauf, Uebergabe, Zwangsversteigerung,
Erbgang), nur die Einvorleibung eines unkündbaren Eentendarlehens mit Zwangs-
tilgung erfolgen kann, wenn innerhalb der zwei Drittel des erhobenen Wertes
sich überhaupt Raum für ein solches Darlehen findet, und dass mit dieser Ein-
verleibung sich zugleich die Convertierung theuerer Satzposten im Rahmen der
Einschuldbarkeit vollzieht. Bereits haftende Nachhypotheken bleiben als nach-
stehende Posten bis zur Tilgung oder eintretenden Zwangsliquidation bestehen.
Im Zinsfusse billigere Hypothekardarlehen, deren Convertierung von den Schuldnern
nicht selbst verlangt wird (Kindergelder, Erbtheile, Ausgedinge, ohne oder mit
geschenkten verechneten Zinsen), bleiben auch innerhalb der Belehnungsgrenze
bis zu ihrer Abstossung oder Convertierung unberührt. Hiedurch erscheint das
Wesen der Vorscaläge Dr. G r a b m a y r s beibehalten und nur in der Form
gemildert.
Die Zwangsconvertierung und Zwangsliquidierung ist den eingelebtcn
Gewohnheiten und Sitten unserer landwirtschaftlichen Bevölkerung geopfert, wie
ich glaube, im Interesse der Sache selbst. Verzögert die hier gewählte Abwicklungsart
den Gang der Entschuldung, so gewinnen wir andererseits bedeutenden Vorschub
durch Schonung der Gläubiger und Schuldner. Beide sind nicht dem energischen
Eingriffe in ihre wirtschaftlichen und rechtlichen Verhältnisse ausgesetzt und
gewinnen Zeit, sich den geänderten Verhältnissen anzupassen. Auch die Heran-
ziehung wichtiger Creditstellen und einflussreieher Factoren bei Vermittlung
grundbücherlicher Belehnungen wird dem Wesen der Sache nicht abträglich sein.
19*
284 VerVianrllnnc^en der Gesellschaft österreicliischer Volkswirte.
Der Vortragende fasst schliesslich den Inhalt seiner Ausführungen in
folgende Forderungen zusammen:
„Auf dem Gebiete des Hypothekar credites:
Die Zwangstilgung aller von öffentlichen Creditstellen auf ländliche Eealitäten
ausgegebenen und auszugebenden Hypothekardarlehen;
die Pfandbriefdarlehen der Sparcassen, eventuell der Waisencassen neben
jenen der Landes-Hypothekenanstalten;
die Sicherung des legitimen 13esitzcredites durch Schaffung einer Art von
Renten gütern ;
die Aenderung der Bestimmungen des Convertierungsgesetzes und der
Bestimmungen der Executionsordnung über das geringste Gebot.
Auf dem Gebiete des P er son al er e d it e s :
Die Schaffung von Betriebsfonden und Betriebsreserven für unsere land-
wirtschaftlichen "Wirtschaftsgenossenschaften und Raiffeisencassen;
die Einschränkung des Geschäftsbetriebes unserer Personalcreditstellen
auf die Pflege des Personaldarlehens unter Ausschluss der Hypothek;
die Schaffung und Ausgestaltung von gemeinwirtschaftlichen Geldausgleich-
stellen in den einzelnen Kronländern;
die Aenderung des § 208 der Executionsordnung.
Durch keine der vorgeschlagenen Maassregeln werden wirtschaftliche Ent-
wicklungen gestört — jede der ins Auge gefassten Maassnahmen ist für sich
allein geeignet, den Wohlstand der gesammten ländlichen Bevölkerung und daher
auch den unserer eigentlichen Landwirte zu heben.
In ihrer Gesammtwirkung aber versprechen sie die Herabminderung der
heute jährlich anwachsenden Grundschulden um bedeutende Summen, die
Anbahnung einer rationellen Wirtschaftsform, die ethische Festigung breiter
Schichten des Volkes."
Ueber diesen Vortrag entspann sich am 23. April in der 109. Plenar-
versammlung eine lebhafte Debatte.
Reichsrathsabgeordneter Dr. v. Grabmayr glaubt, man könne schwerlich
eine Lösung finden, die für alle Verhältnisse und für alle Länder passt. Es sei das
einer jener Fälle, wo man localisieren und die Lösung den jeweiligen besonderen
Verhältnissen der einzelnen Länder anpassen muss. Dr. v. Hattingberg habe
sich aber zur Aufgabe gestellt, den Lösungsversuch, den Redner für Tirol unter-
nommen habe, so auszuweiten, dass er für alle Länder der Monarchie anwendbar
sein soll. Selbstverständlich habe er sich dadurch die Aufgabe ungleich schwieriger
gemacht.
Mit dem weitaus grössten Theile seiner Darlegungen ist er vollständig
einverstanden. Gewisse Bedenken beginnen für ihn dort, wo Dr. v. Hatting-
berg, über den ziemlich eng gesteckten Rahmen des Reformwerkes G-rabm ay rs
hinausgreifend, den ganzen landwirtschaftlichen Besitz einbeziehen will. Er hat
zwar auch gewisse Ausnahmen gemacht, aber immerhin geht seine Tendenz
dahin, den ganzen landwirtschaftlichen Besitz unter das Regime einer Ver-
schuldungsgrenze zu stellen. Da entsteht doch das Bedenken, ob es sich empfiehlt,
auch den kleinen Parcellenbesitz dem neuen Credifcrechte zu unterwerfen. Vor
108. und 109. Plenarversammlung. 285
allem aber wird eine grosse Scliwierigkeit jedenfalls dadurch entstehen, dass
irgend eine Ausscheidung unbedingt gemacht, und dass diese Ausscheidung
doch im Grundbuche ersichtlich gemacht werden müsste. Es müsste für jeder-
mann sofort grundbücberlich klar sein, ob die Liegenschaft ^ dem gemeinen
Crcditrechte oder dem beschränkenden Creditrechte der Verschuldungsgrenze
untersteht. Man müsste zu einer ähnlichen Einrichtung wie der Höferolle kommen,
wie sie seinerzeit in der in verschiedenen Landtagen eingebrachten Eegierungs-
vorlage in Aussicht genommen war. Von Liegenschaft zu Liegenschaft müsste
festgestellt werden, ob sie zu der einen oder der anderen Realität gehöre.
Grabmayr wendet sich sodann gegen das von Hattingberg vorge-
schlagene Pfandbriefmonopol: „Worauf es ankommt, das ist, dass in Zukunft
auf den landwirtschaftlichen Liegenschaften nur mehr unkündbare und amorti-
sierbare Schulden haften sollen. In welcher Form aber der Credit gegeben wird,
was der Schuldner zu leisten übernimmt, aus welchen Quellen das Geld fliesst,
welches dem Landwirt als Darlehen gegeben wird, ist für unsern Zweck ganz
gleichgiltig. Ob dieses Geld durch Emission von Pfandbriefen beschafft wird, wie
dies allerdings hnsere Landesanstalt macht, oder durch Einlagen der kleinen
Leute, wie es in der Eegel bei den Sparcassen der Fall ist, oder durch die
Geldeinlagen der Mündel, wie bei den cumulativen Waisencassen, ist für unsern
Zweck völlig indifferent.'^ Des weiteren bespricht dann der Kedner die Aufnahme,
die sein Eeformvorschlag gefunden hat.
Hofrath v. Philippovich weist insbesondere auf den Entschuldungsplan
hin, den S e r i n g aufgestellt hat.
„Sering geht von dem Gedanken aus, dass ehie Verschuldungsgrenze
als eine den Landwirt beengende Maassregel — abgesehen von allen Gründen,
die an und für sich dafür zu sprechen scheinen — unbedingt dort gerechtfertigt
erscheine, wo der Staat direct oder indirect dem Landwirt besonders grosse
Vortheilo gewährt, worunter er auch das Anerbenrecht anführt.
Er beschäftigt sich auch mit der Frage, ob nicht der Person alcredit
darunter leiden würde, und sagt hierüber: „Es ist ganz falsch, wenn man gegen
die Verschuldungsgrenze eingewendet hat, sie würde den Personalcredit der
Landwirte schädigen. Ganz im Gegentheil! Dass heute so viele ungenügenden
Personalcredit haben, geht wesentlich auf die Thatsache ihrer allzu hohen
Belastung mit Realschulen zurück, und es ist ein ganz ungesunder Zustand, das
Betriebscapital so oft durch Aufnahme von Hypothekenschulden beschafft wird,
die dann als dauernde Last auf dem Grundstück haften bleiben. Ein Besitzer,
dem eine richtig bemessene, nicht allzuweite Verschuldungsgronze auferlegt und
der bis zu dieser Grenze verschuldet ist, steht ähnlich wie ein Pächter mit
massiger Pacht, und es ist ja bekannt, dass die capitalintensivste Wirtschaft
vielleicht der Welt auf den englischen Pachtgütern herrscht, wo eine Verpfändung
des Bodens für Betriebszwecko überhaupt unmöglich ist; aber allerdings setzt
die f]inführung der Schuldbeschränkungen eine verbesserte Organisation des
Personalcredites voraus."
Trotzdem spricht sich S e r i n g gegen eine generelle Verschuldungsgrenze
aus. Das würde eine Krise hervorrufen, da man auf die Verschiedenheit der
286 Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte.
einzelnen Güter nicht Rücksicht nehmen könnte: Industriegüter, einfache Körner-
wirtschaften, Grossgrundbesitz, Parcellenbetrieb müssten der gleichen Regelung
unterworfen werden. Ich weiss nicht, sagt Redner, ob diese Bedenken, die Serin g
sich selbst macht, eine gar so grosse Rolle spielen. Jedenfalls nimmt er dann
in seinem Vorschlag auf diese Verschiedenheiten keine Rücksicht mehr. Nach
diesem hätte man unter positiver Unterstützung seitens des Staates eine Ent-
schuldungsaction in der Richtung durchzuführen, dass jene Schulden, welche als
Nachhypotheken zu bezeichnen sind, die also über die Zweidrittelgrenze hinaus-
gehen und regelmässig zu einem hohen Zinsfuss auf dem Gute lasten, von
Creditcorporationen, Landschaften, Gassen u. s. w. übernommen werden. Ein Gut
im Werte von 120.000 fl. ist z. B. mit 100.000 fl. belastet, so dass also die
Sicherheitsgrenze um 20.000 fl. überschritten ist, die etwa zu i^/^ oder 5 Proc.
lasten. Diese übernimmt die Landschaft und gewährt den normalen Satz von
4 Proc: sie erspart also dem Schuldner 200 fl. Zinsen. Natürlich übernimmt
sie damit ein Risico. Dieses soll nun einestheils durch eine Zinsengarantie des
Staates oder dadurch gedeckt werden, dass der Staat eine bestimmte Summe
zinslos zur Verfügung stellt, anderntheils dadurch, dass sämmtliche in die Land-
wirtschaftskammer incorporierten Landwirte für etwaige Ausfälle haften, die aus
der Uebernahme dieser Nachhypotheken sich herausstellen sollten. Die Nach-
hypotheken werden dann so rasch als möglich amortisiert. Die ersten 80.000 fl.
innerhalb der Sicherheitsgrenze werden ja entsprechend den Statuten der Land-
schaft amortisiert. Bei diesen 80.000 fl. M'äre nun die Amortisation zu sistioren
und die Landschaft verwendet die Amortisationsquote dieser 80.000 fl. dazu,
um in Verbindung mit der Zinsenersparnis bei der Nachhypothek von 20.000 fl.
die letztere möglichst rasch zu tilgen.
Allerdings soll das nicht generell, sondern nur unter gewissen Voraus-
setzungen geschehen. Zunächst soll sich derjenige, dem auf diese Weise eine
Entlastung zutheil wird, gefallen lassen, dass eine Verschuldungsgrenze auf sein
Gut eingetragen wird. Ferner soll die Action nur eintreten, wenn es sich darum
handelt, einen Besitz in der Familie zu erhalten, weiters erst nach einer sorg-
fältigen Prüfung der individuellen Verhältnisse durch die Organe der Landwirt-
schaftskammer. Ist der Betreifende ein leichtsinniger Wirt gewesen, ist die
Ueberschuldung auf sein eigenes Verschulden zurückzuführen oder bietet er nicht
genügende persönliche Garantien dafür, dass er tüchtig zu wirtschaften vermag,
so wird die Hilfsaction nicht durchgeführt. Endlich hat er sich noch einer
ständigen Controle seitens der Organe der Landschafton zu unterwerfen.
S e r i n g berechnet, dass in ganz Preussen etwa 400 Millionen Mark in
Betracht kämen, wenn von den Landschaften jene Schulden übernommen werden
sollen, welche das fünfte Sechstel des Bodenwertes belasten. Die jährlichen Zinsen
betrügen 12 Millionen Mark. Da nun nicht alle solche Nachhypotheken übernommen
würden, sondern nur ein Theil, würde die Last des Staates — vorausgesetzt, dass man
ihm einen lOproc. Zuschuss für den Ausfall, der etwa eintreten könnte, auferlegen
will — alljährlich 700.000 bis eine Million Mark betragen. Und er sagt nun nicht
mit Unrecht: das ist eine Summe, welche der preussische Staat wohl zur Entlastungs-
action zuschiessen kann, wenn man ihre grosse Wirkung in Betracht zieht."
108. und 109. Pleiiarversammlung. 287
Keichsrathsabgeordneter Dr. Licht schildert die in Deutsch-Mähren ein-
geleitete Action, die darauf abzielt, systematisch durch Vermittlung der Raiffeisen-
cassen und der Hypothekenbank die Verschuldung der Landwirte in die Form
des unkündbaren, der Zwangsamortisation unterliegenden, möglichst billigen
Credites der gemeinwirtschaftlichen Anstalten, also zunächst der Hypotheken -
anstalt überzuleiten. Mit dieser Action wurde vor ungefähr 6 Jahren begonnen;
sie wird von einer Stelle aus, daher möglichst billig durchgeführt. Dem Land-
wirt wird klargelegt, dass die Kosten einer solchen von der Centralstelle über-
nommenen Durchführung durch die 1 oder 1 72jährige Zinsenersparnis schon
hereingebracht sind und er die ganze Dauer der weiteren Verschuldungsperiode
hindurch bereits gewissermaassen unentgeltlich im Vergleich zu seiner früheren
Verschuldung die auf seinem Gute haftende Schuld abzuzahlen in der Lage ist.
Bisher sind ungefähr 3 Millionen Kronen in dieser Weise durch die Centralstelle
convertiert worden, ein relativ gewiss noch nicht bedeutender Betrag. An der
Verzögerung in dem Fortgange der Action in den letzten Jahren sind aber
hauptsächlich die Schwankungen auf dem Geldmarkte schuld. Solange die Ver-
hältnisse auf dem Geldmarkte nicht jene Stabilität wieder annehmen, die sie vor
2 Jahren zu haben schienen, wird die ganze Frage überaus schwierig sein. Die
Convertierungsaction wird auch insolange keine wesentlichen Fortschritte machen,
als wir nicht ein Convertierungsgesetz haben, welches die Gebürenfreiheit nicht
bloss für die Umwandlung von höher in niedriger verzinsliche, sondern auch für
die Umwandlung in unkündbare und der Zwangsamortisation unterliegende Dar-
lehen überhaupt ausspricht. Namentlich sind es Erbengelder, Kaufschillingsreste,
die auf dem Grund und Boden vielleicht zu relativ niedrigen Zinsen lasten, aber
sehr gefährlich sind und insbesondere die Durchführung von Convertierungen
überaus erschweren, weil diese Hypothekenbesitzer nie bereit sind, in jene Grnnd-
buchshandlungen zu willigen, welche eine Convertierung oft überhaupt erst
möglich machen. Wenn aber die erwähnten gesetzlichen Bestimmungen erlassen
werden, dann wird das Tempo der Convertierungsaction sich wesentlich
beschleunigen.
Eedner erklärt, er sei im Grunde für das Monopol der gemeinnützigen
Pfandbriefanstalten, weil diese von jeder Erwerbsabsicht frei sind und — zum
Unterschiede z. B. von den Sparcassen — gar keinen anderen Zweck haben, als
das Hypothekarcreditbedürfnis der betheiligten Bevölkerungskreise zu befriedigen
und auch eine zweckmässige Gewährung ihres Credites garantieren.
Endlich spricht sich Eedner für ein Gesetz aus, das — wenigstens facul-
tativ — die Schaffung von Rentengütern ermöglicht und hiebei namentlich die
Gebürenfrage befriedigend regelt. In den Sudetenländern, wo nicht die Ausnahms-
verhältnisse Tirols bestehen, müsse daran gedacht werden, mit der Entschuldungs-
action vorwärts zu kommen und vor allem dem guten Willen, den die Bauern-
schaft ohnehin schon äussert, und den Institutionen, die heute schon zu Gebote
stehen, durch entsprechende gesetzliche Maassnahmen die Wege zu ebnen.
Reichsrathsabgeordneter Dr. Schöpfer bezeichnet sich als einen Radicalen,
der auf dem Vogelsan g'schen Standpunkt stehe.
2g3 Verhandlungen der Gesellschaft öäkrreichischer Volkswirte.
Die Vorschläge Dr. v. Hattingbergs passten eigentlich für eine Zeit,
in welcher der Bauernstand schon eine gewisse Gesundung erlangt hat, sie seien
nicht mehr auf normale Verhältnisse zugeschnitten. Wir haben es aber gegen-
wärtig mit einem unhaltbaren Zustande zu thun, der sich noch immer mehr
verschlechtere, wenn nicht mit einer gewissen Energie eingegriffen werde.
In seinem Schlussworto brachte der Referent Dr. E. v. H a 1 1 i n g b e r g
Bedenken gegen den Vorschlag von S e r i n g vor und vertritt den Standpunkt
der Zwangstilgung.
Endlich repliciert der Referent auf die Bedenken Dr. v. Grabmayrs
bezüglich der Fixierung einer Verschuldungsgrenze beim ganzen landwirtschaft-
lichen Besitze. Wir können zur Entschuldung überhaupt kaum kommen, wenn
wir uns nicht entschliessen, beim landwirtschaftlichen Betrieb haV exoclieu anzu-
fangen. Die zu schaffenden landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften müssen
sich in allen Bezirkskörperschaften darüber klar sein, welches Ausmaass von
Fläche nothwendig ist, um überhaupt von einer Grundwirtschaft zu sprechen.
Der Referent beschliesst sodann die Discussion mit der Versicherung, dass er
nicht ermangeln werde, die erhaltenen wertvollen Anregungen zu seinem Referate
für den Landwirtschaftsrath zu verwenden.
FÜRST PETER KRAPOTKIN UND DER ANARCHISMUS.
VON
DR- FEITZ HAWELKA.
Xrof. G. Jellinek hat in seiner jüngst erschienen allgemeinen Staatslehre
sein Urtheil über die Bedeutung so ciologischer Theorien in folgende charakte-
ristische Sätze zusaramengefasst :
„Bei allen Arbeiten dieser Art stellt sich daher nothwendig die Individualität
des Autors energisch in den Vordergrund. Maass und Umfang der Bildung, Art
der Weltanschauung, Adel oder Trivialität der Gesinnung, Stärke und Schwäche
des Charakters sind für die Ergebnisse sociologischer Forschung derart von
Bedeutung, dass man billig vorerst nicht nach dem, was gelehrt, sondern nach
dem Lehrer fragen sollte."
Dieses Urtheil lässt sich mutatis mutandis mit noch viel mehr Berechtigung
auf die anarchistischen Theorien anwenden. Die Persönlichkeit des Autors ist
hier geradezu das ausschlaggebende Moment; Phantasie und Empfindung spielen
in den anarchistischen Lehren eine derart hervorragende Eollo, dass eine
vorurthoilsfreio Würdigung derselben nur im Zusammenhange mit der Erkenntnis
ihres persönlichen Charakters denkbar ist.
Um das Uebergewicht des individuellen Elementes in den anarchistischen
Theorien zu begreifen, muss man sich vor Augen halten, welche Umstände zu
ihrer Entstehung geführt haben. E. V. Zenker, der verdienstvolle Kritiker des
Anarchismus, hat die anarchistischen Strömungen der Gegenwart sehr richtig als
eine Abart der chiliastischen Ideenrichtungen bezeichnet, welche im Laufe der
Geschichte zu verschiedenenmalen aufgetaucht sind und in der Erwartung eines
allgemeine Glückseligkeit verbürgenden socialen Zustandes gipfelten.^) Noth und
Elend waren der Boden, aus welchem sie ihre Nahrung zogen, das tausend-
jährige Reich der Verheissung das Ziel, dem sie zustrebten. Ihre Anhänger
entstammten jener Volksmasso, welche, decimiert durch den unaufliörlichen
Kampf ums Dasein, in bitterster Noth dahinlebt und unkundig der Gesetze
^) Vgl. hinüber E. V. Zenker: „Der Anarchismus. Kritische Geschichte der
anarchistischen Theorie." Jena, G. Fischer, 1895. S. 7 if.
290 Hawelka.
socialer Entwicklung gieri» nach jenen Ideen greift, welche ihr in leuchtenden
Farben das Paradies auf Erden zeigen. Dass hier der Phantasie die führende
Rolle zufällt, liegt auf der Hand. Die Mühseligen und Beladenen, welche in dem
ihnen durch die gesellschaftliche Organisation aufgedrängten Existenzkämpfe
fortwährend unterliegen, flüchten verzweifelnd in das lichte Eeich phantastischer
Träume, um in der Anschauung eines eingebildeten Glückes die Empfindung
ihrer absoluten Hoffnungslosigkeit zu übertäuben.
Aus einer ähnlichen psychischen Depression in den social am tiefsten
stehenden Bevölkerungschichten entwickelte sich der moderne Anarchismus. Von
den chiliastischen Ideen des Mittelalters unterscheidet er sich durch die wissenschaft-
liche Form, in der er auftritt ; er gibt sich geflissentlich den Anschein einer auf
wissenschaftlicher Grundlage aufgebauten Reformbewegung, ohne aber ein ein-
zigesmal seinen wahren Ursprung, die Einbildungskraft, verleugnen zu können,
welcher sich vielmehr in der grundsätzlichen Verschiedenheit der maassgebenden
anarchistischen Lehren deutlich offenbart. Jede einzelne Lehre ist streng selb-
ständig und individuell ; ausser der Verneinung des Staates haben sie, wie
Eltzbacher in seinem vor kurzem erschienenen Werke: „Der Anarchismus"^)
treffend nachgewiesen, nichts miteinander gemein ; keine von ihnen hat in
irgend nennenswerter Weise Schule gemacht; sie tauchten kometenartig vor den
Augen der erstaunten Menschheit auf, um sehr bald wieder anderen Platz zu
machen und in Vergessenheit zu gerathen. Für eine nach wissenschaftlichen
Grundsätzen operierende Kritik ist es ein leichtes, die maassgebenden anarchistischen
Lehren, von Godwin bis herab auf Tolstoj, zu widerlegen; was sie von der bis-
herigen Entwicklung der Gesellschaft und von der zukünftigen socialen
Organisation aussagen, trägt so deutlich den Stempel willkürlicher Erfindung an
sich, dass es durchaus keine Schwierigkeiten bietet, sie an der Hand ihrer eigenen
Argumente ad absurdum zu führen. Hier ist unseres Erachtens auch gar nicht
der Punkt, an welchem die wissenschaftliche Erforschung des Anarchismus ein-
zusetzen hat; ihre Aufgabe wäre sehr bald erledigt, sie müsste sich binnen
kurzem darauf beschränken, Selbstverständliches zu sagen. Ihr Bestreben muss
vielmehr darauf gerichtet sein, einerseits die anarchistischen Lehren in ihrem
Zusammenhange darzustellen, ihre Grundlagen, sowie ihre Stellung zu den ein-
zelnen socialen und politischen Institutionen zu beschreiben, wie dies Eltzbacher
jüngst in erfolgreichster Weise versucht hat, andererseits die Entstehung der
anarchistischen Theorien culturhistorisch zu erklären und das persönliche Element,
welches ihnen vermöge ihrer phantastischen Natur anhaftet, blosszulegen.
Das letztgenannte Ziel ist allerdings schwerer zu erreichen, als es vielleicht
im ersten Augenblicke scheinen mag. Die Lebensgeschichte der hervorragenden
Anarchisten ist noch zu wenig bekannt, als dass bereits gegenwärtig die
Bedeutung des persönlichen Elementes in der Entwicklung der anarchistischen
Ideen entsprechend gewürdigt werden könnte. Aufzeichnungen über die äusseren
Schicksale der Anarchisten sind nur spärlich vorhanden; noch viel seltener
finden sich Anhaltspunkte für die Erkenntnis ihres geistigen Entwicklungsganges.
') Der Anarchismus, Von Dr. Paul Eltzbacher. Berlin, J. Guttentag, 1900.
Fürst Peter Krapotkin und der Anarchismus. 291
Und gerade diese Erkenntnis ist die unerlässliche Voraussetzung für die richtige
Beurthoilung der anarchistischen Bewegung ; erst wenn diese gegeben ist, wird
man in der Lage sein, den pathologischen Zug, welcher dem Anarchismus
ebenso wie den chiliastischen Ideen des Miitelalters eigenthümlich ist, in voller
Schärfe zu constatieren.
Die wissenschaftliche Forschung, welche ihr Hauptaugenmerk auf die
Erkenntnis des persönlichen Elementes in der anarchistischen Bewegung richtet,
hat vor kurzem durch die Veröffentlichung der Memoiren des Fürsten Krap o tkin,
eines der hervorragendsten Anarchisten, eine wertvolle Unterstützung erfahren.^)
Mau hat dieser bereits seit längerem angekündigt gewesenen Selbstbiographie
begreiflicherweise mit grosser Spannung entgegengesehen. Alles, was schon vor-
her über den Lebenslauf dieses merkwürdigen Mannes bekannt war, bot so viel
des Interessanton, dass der Wunsch, Näheres über seinen geistigen Entwicklungs-
gang zu erfahren, durchaus berechtigt erscheinen musste. Wenn ein Mann aus
den untersten Volksschichten mit einem anarchistischen Programme auftritt, so
wird man, bei allem Interesse, welches jede Lebensäusserung der anarchistischen
Idee hervorruft, gleichwohl mit Leichtigkeit seine Entstehung aus dem angeborenen
Milieu heraus erklären können. Anders bei einer Persönlichkeit, welche vermöge
ihrer Abstammung mit den höchsten Hofkreisen in nahen Beziehungen stand,
vermöge ihres Talentes und umfassenden Wissens zu den kühnsten Hoffnungen
berechtigte und trotzdem unter die Revolutionäre gieng, um ihr Leben der
Realisierung eines Phantasiegebildes zu widmen.
Die Hauptbedeutung der Memoiren liegt in der erschöpfenden Darstellung
jener Motive, welche Krapotkins Wandlung zum Anarchisten herbeiführten.
Krapotkin hat in den zwei stattlichen Bänden die Erfahrungen eines an
äusseren Eindrücken reichen Lebens niedergelegt und in meisterhafter, oft
vollendet künstlerischer Form die Verhältnisse geschildert, unter denen er auf-
gewachsen und gross geworden ; er entrollt uns mit realistischer Schärfe ein
Bild des zeitgenössischen Russlands und der grossen Arbeiterbewegungen im
Westen des Continentes ; das hervorragendste Interesse beansprucht aber jenes
Capitel der Memoiren, in welchem Krapotkin die Gründe seiner inneren
Wandlung auseinandersetzt, weil es den Schlüssel enthält zum Verständnisse
seiner Persönlichkeit.
Krapotkin war, wie aus seinen beiden Hauptwerken, den Paroles d'un
r^volte und der Conquete du pain hervorgeht, und wie seine Selbstbiographie
neuerdings beweist, von jeher eine äusserst feinfühlende, friedferlige, in der
allgemeinen Menschenliebe aufgehende Natur. Schon als Kind zeigt er eine
ungewöhnliche Herzensgüte, indem er den Leibeigenen schrankenlose Sympathien
entgegenbringt. Er stellt sich in entschiedene Oposition zur Ansicht seiner Zeit,
welche in der Leibeigenschaft eine naturnothwendige Thatsache erblickt, und
liebt die unglücklichen und missachteten Geschöpfe aus dem einzigen Grunde,
weil sie ebenso Menschen sind, wie er, und als solche ein Recht auf menschen-
würdige Existenz haben. Je weiter man in den Memoiren blättert, umso deutlicher
') Fürst Peter Krapotkin: Memoiren eines Revolutionärs. Autorisierte üebor-
setzung von Max Pannwitz. 2 Bde. Stuttgart, Verlag von Robert Lutz, 1900.
292 Hawelka.
tritt dieser Griindzug seines Wesens hervor ; ihm gesellt sich eine zweite Eigen-
schaft hinzu, welche gleichfalls im zarten Kindesalter zur Geltung gelangt und
im Laufe der Zeit immer eindringlicher ihre Wirksamkeit äussert. Krapotkin
zeigt bereits in frühester Jugend eine ungewöhnliche Vorliebe für Beschäftigungen,
welche der Einbildungskraft entspringen ; sein Phantasieleben ist schon frühzeitig
ausserordentlich stark entwickelt und gewinnt im Verlaufe der Jahre durch eine
intensive Beschäftigung mit den Künsten und der Natur fortwährend an Keich-
haltigkoit; selbst die wissenschaftlichen Studien, denen er obliegt, vermögen
nicht, es einzudämmen. Als etwa achtjähriger Knabe insceniert er mit Hilfe
seines Bruders und einiger Diener grosse Theatervorstellungen, in welchen die
Phantasie dem Mangel an Personal und an scenischem Apparate abhelfen muss ;
als Zögling des Pagencorps besucht er mit Feuereifer die Aufführungen im
Petersburger kaiserlichen Opernhause und bildet an der ausgezeichneten Wieder-
gabe italienischer Opern seinen Geschmack und seine Einbildungskraft ; auf
seinen Spaziergängen in den heimatlichen Wäldern zur Ferialzeit und auf seinen
ausgedehnten Wanderungen über die sibirischen Schneefelder lauscht er mit
gespannter Aufmerksamkeit den geheimnisvollen Stimmen der Natur und belebt
diese mit seinen Phantasiegestalten ; und als gereifter Mann verabsäumt er es
nie, sich von seiner der agitatorischen Thätigkeit im Dienste des Anarchismus
gewidmeten Zeit soviel abzusparen, um alle grossen Ereignisse auf dem Gebiete
der Kunst aufmerksam zu verfolgen. Auf diese Weise ist seine Phantasie niemals
zum Stillstande gekommen, sie hat im Gcgentheil unaufhörlich Anregungen
aufgenommen und in immer reicherem Ausmaasse sich entfaltet.
Aus der angeborenen Herzensgüte und dem vielgestaltigen Phantasieleben
entwickelte sich inKrapotkins Wesen ein dritter charakteristischer Zug: sein
altruistischer Idealismus. Er zeigt sich in voller Schärfe bereits zu jener Zeit,
in welcher sich seine Wandlung vom Gelehrten zum Anarchisten vollzog.
Krapotkin hatte durch seine gediegenen Arbeiten über die Orographie
N 0 r d a s i e n s und über die glaciale Epoche in Finnland das gerechte
Aufsehen der russischen Geographen erregt ; die Petersburger geographische
Gesellschaft nahm das regste Interesse an seinen geologischen Studien und bot
ihm im Jahre 1871 die einflussreiche Stellung eines Secretärs der Gesellschaft
an. Damit wäre ein langgehegter Wunsch Krapotkins in Erfüllung gegangen.
Zu jener Zeit beschäftigte er sich eingehend mit den Plänen zu einer erschö-
pfenden physischen Geographie des europäischen Eusslands. Er beabsichtigte,
„eine gründliche geographische Schilderung des Landes auf Grund der Haupt-
linien seiner Oberflächenbeschaffenheit zu bieten und in dieser Beschreibung die
verschiedenen Formen des wirtschaftlichen Lebens zu entwerfen, die in den
einzelnen Gegenden ihrer physischen Beschaffenheit nach vorherrschen sollten."
Zu einem solchen Werke hätte aber Krapotkin einerseits einer genauen und
steten Bekanntschaft mit dem bei der Geographischen Gesellschaft einlaufenden
wissenschaftlichen Ma.teriale, andererseits aber eines grossen Ausmaasses freier,
für Studienzwecke verfügbaren Zeit bedurft. Diese beiden Voraussetzungen für
die geplante geographische Arbeit wären erfüllt gewesen, hätte Krapotkin die
Stelle des Secretärs angenommen. Es wäre ihm zweifellos geglückt, in wn'ssen-
I
Fürst Peter Krapotkin und der Anarchismus. 293
schaftlichen Kreisen 7ai hohem Ansehen zu gelangen ; seine eminente Kenntnis
der geographischen und geologischen Literatur, seine durch die Messübungen in
der Militär-Alvademie ausgebildete grosse Fertigkeit in geographischen Aufnahmen,
endlich seine hervorragende Begabung als Mathematiker hätten ihn sicherlich
dazu befähigt. Gleichwohl lehnte er das verlockende Anerbieten ab. Krapotkin
befand sich zu der Zeit, in welcher der Antrag der Geographischen Gesellschaft
einlief, auf einer Studienreise in Finnland. Auf seinen weiten Fahrten über die
ausgedehnten Landstrecken, wo die menschlichen Ansiedelungen nur dünn gesäet
waren und oft Tage vergehen mochten, ehe er zu einer grösseren Ortschaft
gelangte, fand er Müsse, über sich und sein Verhältnis zur Welt nachzudenken.
Die sociale Frage, welche seine Aufmerksamkeit bereits in seinem Jünglings-
alter auf sich gezogen hatte und nur unter dem Drucke der äusseren Verhält-
nisse in seinem Interesse hinter wissenschaftliche Arbeiten zurückgetreten
war, tauchte neuerdings vor seinem unermüdlich thätigen Geiste auf. Er
beobachtete den finnischen Bauer, wie er angestrengt und ohne sichtlichen Erfolg
den Wald rodete und den harten Boden bebaute ; er sah das Elend, das in den
niedrigen Hütten herrschte, die Armuth, welcher selbst beim Aufgebote äusserster
physischer Kraftanstrengung nicht beizukommen war ; und von den Ebenen
Finnlands schweiften seine Gedanken zu den öden Landstrichen, welche die
ehemals unterthänigen Bauern seines Vaters nunmehr ihr Eigen nannten, welche
sie mühsam bestellten, und die ihnen kaum so viel eintrugen, um die Nothdurft
des täglichen Lebens zu stillen. Die Ackerlose, welche man den Bauern
nach Aufhebung der Leibeigenschaft zugewiesen hatte, waren fast durchwegs
unproductives Land, ungeeignet, das Existenzminimum sicherzustellen und den
Besitzern die Gewähr für ein menschenwürdiges Dasein zu bieten. Und seine
geschäftige Phantasie zauberte ihm das Bild all jener Unglücklichen hervor, die
in der Sorge um das tägliche Brod kümmerlich ihr Leben fristen, an den
Schönheiten der Welt keinen Antheil nehmen können und in ihrer Muthlosigkeit
nur einen Wunsch haben : so rasch als möglich ihrer traurigen Existenz ein
Ende zu bereiten.
Dies waren die Schattengestalten, vor denen Krapotkin capitulierte.
Die Beschäftigung mit der Wissenschaft erschien ihm fürderhin insolange über-
flüssig, als ihre grossen Errungenschaften nicht allen Menschen zugänglich
gemacht werden könnten. Seiner Ansicht nach galt es jetzt vor allem, die Lage
der arbeitenden und besitzlosen Volksclassen zu verbessern. Krapotkin war
sich voll und ganz bewusst, dass er mit der Aufgabe der wissenschaftlichen
Laufbahn den grössten Genüssen entsagte, die ihm das Leben bieten konnte.
„Aber welches Anrecht hatte ich auf diese höheren Freuden, wenn ich um mich
herum nur Elend sah und den Kampf um ein schimmliges Brot, wenn alles, was
ich ausgab, um in jener erhabeneren geistigen Welt weilen zu können, noth-
wendigerweise denen vor dem Mundo weggenommen w^erden musste, die den
Weizen bauten und kein Brot für ihre Kinder hatten?"
Mit dieser Erwägung war der Umschwung in Krapotkins geistiger
Entwicklung vollzogen. Seine altruistischen Gefühle für die Menschheit und sein
gewaltig aufstrebender Idealismus hatten bewirkt, dass er auf die Erfolge, welche
294 Hawelka.
er vermöge seines Talentes und seines Wissens hätte erreichen können, für alle
Hinkunft verzichtete und sich hinfort ausschliesslich der Beschäftigung mit der
socialen Frage widmete. Dass er hiebei gerade Anarchist wurde, lag tief in
seinem durch die Verhältnisse in Kussland genährten Hasse gegen jeden Zwang
begründet, mochte er nun von einer Volksvertretung oder von einem Einzelnen
geübt werden.
Was nun das anarchistische Programm K r a p o t k i n s anbelangt, so ent-
halten die Memoiren hierüber verhältnismässig wenig Aufschluss. Wer sich über
dasselbe näher orientieren will, wird in seinen früher citierten zwei Hauptwerken
sowie in seinen in zahlreichen Zeitschriften verstreuten Abhandlungen über
sociale Tagesfragen Auskunft suchen müssen. Nur zweimal spricht Krapotkin
in seiner Selbstbiographie von seinem Programme, und dies bloss andeutungsweise.
Das einemal gibt er der Ansicht Ausdruck, dass die Mittelclassen selbst an der
Befreiung des Arbeiterstandes vom gegenwärtigen Lohnsysteme mithelfen würden,
wenn nur einmal die neuen Ideale in ihren Kreisen genügend verbreitet sein
würden, und dass zu einer wirksamen socialen Bewegung vor allem genaueste
Kenntnis des anzustrebenden Zieles nothwendig sei. Das zweitemal entwickelt er
ein Bild der zukünftigen Gesellschaftsordnung, welches bereits aus den Paroles
d'un rövoltö bekannt ist. Danach wird der Organismus der Gesellschaft aus einer
Vielheit voneinander unabhängiger Associationen bestehen, „die sich zu allen,
gemeinsame Arbeit erfordernden Zwecken zusammenschliessen: zu Gewerbebünden,
zum Zwecke der Production jeder Art, der landwirtschaftlichen, industriellen,
rein geistigen oder künstlerischen; zu Consumgemeinden, die für Wohnungen, für
Beleuchtung und Heizung, für Nahrungsmittel, sanitäre Einrichtungen u. s. w.
Sorge tragen; zu Vereinigungen dieser Communen wie der Gewerbeorganisationen
untereinander. Endlich bilden sich noch weitere, auf ein ganzes Land oder auf
mehrere Länder sich erstreckende Gruppen, deren Mitglieder in gemeinsamer
Arbeit die Befriedigung wirtschaftlicher, geistiger, künstlerischer und sittlicher
Anforderungen, soweit sie über ein bestimmtes Gebiet hinausgreifen, erstreben,"
Der Verkehr all dieser Gruppen untereinander vollzieht sich auf Grund freier
Vereinbarung. „Es bestellt volle Freiheit zur Entwicklung neuer Formen in der
Production, Erfindung und Organisation, die individuelle Initiative findet Anregung
und Unterstützung, während der Neigung zur Gleichförmigkeit und Vereinheit-
lichung entgegen gearbeitet wird."
Mehr ist über das anarchistische Programm Krapotkins in den
Memoiren nicht gesagt. Nur im Vorübergehen erwähnt er der Nothwendigkeit der
Abschaffung des privaten und der Constituierung des socialisierten, d. h. in
seinem Sinne des communistischen Eigenthums, der Nothwendigkeit der Pro-
paganda und des Kampfes gegen jedwede Autorität. Die Mittel und Wege, welche
dazu führen sollen, die geträumte Gesellschaftsordnung in Wirklichkeit umzu-
setzen, sind jedoch nicht angegeben und ebenso fehlen vollständig Aufschlüsse
über die innere Organisation der erwähnten socialen Gruppen, sowie darüber,
wer Streitigkeiten der Genossen untereinander und der Gruppen zu entscheiden
habe, ob eine solche Entscheidung überhaupt in Aussicht genommen sei, und
was in dem Falle, als sie grundsätzlich perhorresciert werde, bei einem eventuellen
I
Fürst Peter Krapotkin und der Anarchismus. 295
Conflicte geschehen solle. Man kann somit nur annehmen, dass Krapotkin
die in den Paroles d'un revolte und der Conquete du pain zu wiederholtenmalen
ausgesprochene Ansicht, wonach es bei einer auf durchaus freiheitlicher Grund-
lage aufgebauten gesellschaftlichen Organisation zu Streitigkeiten überhaupt nicht
kommen werde, dass vielmehr die Erfüllung der eingegangenen Verbindlichkeiten
„durch das Bedürfnis eines jeden nach Mitarbeit, Hilfe und Zuneigung" hinläng-
lich gesichert sein werde, in vollem Umfange aufrechthält. Dass diese Ueber-
zeugung allerdings nur einem unverwüstlichen Idealismus entspringen kann,
wird niemand zu leugnen vermögen, der die egoistische Natur des Menschen
kennt. Krapotkin behauptet freilich, dass neben dem Gesetze von der natür-
lichen Auslese im Kampfe ums Dasein noch ein Gesetz der gegenseitigen Unter-
stützung in der socialen Entwicklung wirksam sei. Wenn ein solches wirklich
bestehen sollte — und alle Erfahrung spricht eher gegen als für seine Existenz — ,
so würde damit noch immer nicht der Zwangsorganisation der Gesellschaft der
Boden entzogen sein, weil der Egoismus im Menschen stärker ist als der
Altruismus und das Streben nach Herrschaft niemals aus der socialen Entwicklung
ausgeschaltet werden könnte.
Vollständiges Stillschweigen beobachtet Krapotkin in den Memoiren
über seine Stellung zur Propaganda der That. Aus seinen theoretischen und
agitatorischen Schriften ist zur Genüge bekannt, dass er ein überzeugter Anhänger
derselben war und mit den gewaltthätigen Erscheinungsformen des Anarchismus,
welche seit Netschajew als das wirksamste Mittel zu seiner Verbreitung
gepredigt werden, durchaus sympathisierte. In den Memoiren ist der Propaganda
der That mit keinem Worte Erwähnung gethan. Ob Krapotkin dieses Vorgehen
zu dem Zwecke beobachtet, damit seine Selbstbiographie soweit als möglich des
revolutionären Charakters entkleidet werde und dadurch auch in weiteren Kreisen
Sympathien für den Anarchismus erwecke, oder ob er deshalb Stillschweigen
beobachtet, weil er mit zunehmendem Alter sich von den blutigen Erscheinungs-
formen des Anarchismus lossagte, lässt sich schwer entscheiden. Wahrscheinlicher
dürfte das Erste sein, weil Krapotkin mit ungeheuchelter Begeisterung und
aufrichtig freundschaftlichen Sympathien von Bakunin spricht, demselben
Anarchisten, der in den von ihm verfassten Statuten der Alliance internationale
de la democratie socialiste eifrig die blutige Propaganda der That gepredigt
hatte. Es mag bei einem durch so seltene Herzensgüte ausgezeichneten Manne
im ersten Augenblicke wundernehmen, dass er mit den gewaltthätigen Aeusserungen
der anarchistischen Idee einverstanden war; gleichwohl liegt durchaus kein
Anlass vor zur Annahme, dass es sich hier um eine exceptionelle Erscheinung
handle, denn Gewaltthätigkeit und Gutmüthigkeit gehen sehr häufig Hand in Hand
nebeneinander her und insbesondere bei Krapotkin, der viel in nihilistischen
Kreisen und mit den Propagandisten der That verkehrt hat, bietet dieser Zwie-
spalt nichts besonders Auffälliges.
Von hervorragendem Interesse sind in dem Memoirenwerke Krapotkins
Schilderungen seiner agitatorischen Thätigkeit. Er hat keine Mühe und kein
Opfer gescheut, um der anarchistischen Idee zu weiterer Verbreitung zu ver-
helfen; er besorgte, stets umgeben von Spionen der russischen Polizei und jeder-
206 Hawelka.
zeit in Gefahr, verhaftet oder ausgewiesen zu werden, in Genf die Herausgabe
und Drucklegung des Eevolte, hielt in Paris, London, Lyon, St. Etienne und
Vienne Vorträge über sociale Fragen, besuchte, wo es nur angieng, anarchistische
Conventikel und zeigte sich immer bereit, mit allen ihm zu Gebote stehenden
Mitteln für sein Programm einzutreten. Dieser rastlosen Thätigkeit Krapotkins
und seiner persönlichen Einflussnahme auf die revolutionären Elemente der
Bevölkerung ist es zweifellos zuzuschreiben, dass die anarchistische Bewegung in
der Schweiz und insbesondere im südlichen Frankreich in den achtziger Jahren
weit um sich griff. Lyon wurde ihr Mittelpunkt und von hier aus wurde eine
zügellose Agitation nach allen Richtungen Frankreichs betrieben. Zunächst kam
es im Jahre 1882 in einigen Industrieorten des Südens zu grösseren Ausständen,
welche den Anarchisten willkommene Gelegenheit zur Aufreizung boten; ihnen
folgte die Ankündigung eines revolutionären Gewaltstreiches für den 14. Juli 1882
in Paris, welcher nur aus dem Grunde unterblieb, weil am selben Tage eine
Truppenrevue stattfand; und ihren Höhepunkt erreichte die Bewegung gelegentlich
der Strikes der Weber und Kohlenarbeiter in Lyon und Monceau-les-Mines,
wobei zum erstenmale Dynamitattentate verübt wurden. Erst mit der Verhaftung
und Verurtheilung der anarchistischen Führer — unter ihnen Krapotkin —
nahmen die Unruhen ein Ende. Krapotkin bestreitet allerdings in seiner
Selbstbiographie die intellectuelle Urheberschaft der Anarchisten an den Lyoner
Excesson; gleichwohl hat er sie, soferne die von Zenker in seiner Darstellung
des Anarchismus benützten Quellen auf Wahrheit beruhen, bei der gegen ihn
und seine Genossen geführten Gerichtsverhandlung eingestanden.
Zahlreich sind die in den Memoiren verstreuten Bemerkungen über die
Führer der anarchistischen Bewegung. Wir lernen zunächst die hervorragendsten
Mitglieder des Jurabundes, der grössten anarchistischen Association, unter ihnen
den berühmten Geographen Elis^e Eeclus kennen, und werden im weiteren
Verlaufe des Buches mit jenen Männern bekannt gemacht, welche von Genf,
Lausanne, von Paris und London aus die anarchistische Bewegung leiteten.
Was Krapotkin über ihren Charakter erzählt, mag allerdings häufig genug
zweifelhaft erscheinen. Es wurde bereits früher der warmen Sympathien Flrwähnung
gethan, welche er Bakunin entgegenbrachte. Nach seinen Schilderungen müsste
ßakunin ein Mann von tadellosem Charakter und lauterster Gesinnung gewesen
sein. Was aber aus seiner Lebensgeschichte bekannt ist, scheint durchaus nicht
geeignet, dieses günstige Urtheil zu bestätigen. E. V. Zenker hat sich der
Mühe unterzogen, den Lebensschicksalen dieses Abenteurers nachzuspüren, und
er bemerkt zum Schlüsse mit vollem Rechte, dass es in dem „an inneren und
äusseren Wandlungen reichen Leben dieses Berufsrevolutionärs" nur allzuviel
dunkle Punkte gab, „an welche die üble Nachrede sich zu heften Gelegenheit
hatte". Aehnliches gilt von Paul Brousse, dem Herausgeber der „Avant-
Garde" und ergebenen Freunde Bakunin s. Krapotkin weiss ihm nichts
anderes vorzuwerfen, als dass er „etwas lärmend, scharf und lebhaft" gewesen
sei. Im übrigen lobt er ihn wegen seines äusserst regsamen Geistes, wegen der
Consequenz, mit welcher er eine Idee durchführte, und wegen der bedeutenden
AVirkung, welche er „durch seine gewaltige Kritik des Staates und der staat-
I
Fürst Peter Krapotkin und der Anarchismus. 297
liehen Organisation" erzielt hat. Diese gewaltige Kritik des Staates und der
staatlichen Organisation besteht aber in nichts anderem, als in der wiederholten
Wiedergabe des Bakunistischen Programmes in zahlreichen Artikeln der
„Avant-Garde" und in der aufreizenden Anpreisung der Propaganda der That.
Auch die Consequenz, mit welcher Paul Brousse seine Ideen durchführte,
scheint nicht lange angehalten zu haben; denn eine zweimonatliche Kerkerhaft
genügte, um ihn der anarchistischen Idee abtrünnig zu machen.
Aus dem eben Angeführten geht mit aller Deutlichkeit hervor, dass
Krapotkin begreiflicherweise bestrebt war, den Anarchismus in einem mög-
lichst günstigen Lichte darzustellen. Die Schilderangen, welche Krapotkin
von den Zeitverhtältnissen entwirft, unter denen er aufgewachsen und zum Manne
gereift ist, sind zweifellos wahrheitsgetreu; anders verhält es sich mit der Dar-
stellung der anarchistischen Bewegung. Hier tritt unverkennbar die Absicht
hervor, zu beschönigen und Besorgniserregendes zu verschweigen. G-erade in
dieser erzwungenen Harmlosigkeit der Memoiren liegt ihre Gefährlichkeit;
idealistische Gemüther, welchen die wahre Geschichte des Anarchismus und seiner
Erscheinungsformen unbekannt ist, werden sich vielleicht umso eher zu ihm
hingezogen fühlen. Dem gegenüber muss man umso energischer darauf bedacht
sein, das Bild der anarchistischen Bewegung auf Grund der von ihr bekannten
Tliatsachen herzustellen.
Man kann von Krapotkins Selbstbiographie nicht scheiden, ohne der
zahlreichen in ihr verstreuten Bemerkungen pädagogischen Inhaltes Erwähnung
zu thun. Sie verrathen durchwegs eine tiefgehende Kenntnis des kindlichen
Gemüthes und ein bewundernswertes Verständnis seiner Bedürfnisse. So beklagt
er es beispielsweise bitter, dass man heutzutage die Einbildungskraft des Kindes
durch eine wahllose Fülle von Spielzeug verwirre und nicht vielmehr seine Auf-
merksamkeit darauf richte, dieselbe durch eine Anleitung zu selbstthätiger
Herstellung des Spielzeuges in die richtigen Bahnen zu lenken. Ebenso berechtigt
erscheint sein Verlangen nach sachgemässer Ausgestaltang des Literaturunterrichtes;
denn „nur der Lehrer der Literatur, der wohl den allgemeinen Eahmen des
Lehrplanes innehalten muss, aber in der Art der Behandlung freie Hand hat,
kann die verschiedenen historischen und humanitären Wissenschaften miteinander
verbinden, sie durch eine breite philosophische und allgemein menschliche Auf-
fassung zusammenfassen und in Hirn und Herz der jungen Leute höhere
Gedanken und Strebungen wachrufen*. Ganz besonderes Gewicht legt aber
Krapotkin darauf, in der Seele des Kindes durch einen entsprechenden natur-
wissenschaftlichen Unterricht den Sinn für „eine allgemeine Anschauung der
Natur als eines Ganzen" zu wecken, — ein Verlangen, welches zweifellos
Anspruch erheben darf, von Eltern und Erziehern in vollem Ausmaasse beherzigt
zu werden.
Der Gesammtoindrack, welchen Krapotkins Memoiren bei dem Leser
hinterlassen, ist unleugbar der, dass man es hier mit einer gross angelegten
Persönlichkeit zu thun habe. Bei aller Zurückhaltung und Bescheidenheit, welche
sich Krapotkin bei der Darstellung seines geistigen Entwicklungsganges auf-
erlegt und welche ihn, wie G. Brandes in der Einleitung zu den Memoiren
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. X. Band. 20
298 Hawelka.
mit Recht hervorhebt, dazu veranlasst hat, eher eine Seelenschilderung seiner
Zeit als seiner selbst zu geben, kann er es doch nicht vermeiden, dass seine
Persönlichkeit den Mittelpunkt des Interesses bildet. Wäre sein Wille zu einem
friedfertigen Leben so stark gewesen, wie sein Talent und sein Wissen, hätte er
an der Ueberzeugung festgehalten, dass er der Allgemeinheit auch dann diene,
wenn er den einmal betretenen Weg der wissenschaftlichen Forschung weiter
v'crfolge, — er stünde heute als ein Mann vor uns, der in gleichem Maasse
unsere Sympathien wie unsere Verehrung in Anspruch nehmen könnte. Es ist
.'eider ganz anders gekommen; an den Namen Krapotkin knüpft sich heute
die Erinnerung an blutige Gewaltthaten ; vor unseren Augen taucht das Bild
Caserios und Lucchenis auf und verwischt all das Gute und Schöne, das
wir an dem Charakter der russischen Fürsten kennen gelernt haben.
VIERZIG JAHRE LEBENSVERSICHERUNG.
EINE STATISTISCHE STUDIE
VON
EMIL STEFAN.i)
Der wichtigste unter den vielen Versicherungszweigen, welche die ver-
schiedenen Versicherungsanstalten gegenwärtig betreiben, ist die Lebensversicherung.
Ihr Entwicklungsgang hat sich nur langsam vollzogen und ihre versicherungs-
technische Ausbildung beginnt im Grunde genommen erst mit dem Aufkommen
systematischer Untersuchungen über die Durchschnittsdauer des menschlichen
Lebens und der Feststellung der Absterbeordnung, die sich, wie alles in der Welt,
nach bestimmton unabänderlichen Gesetzen vollzieht. Mit der 1693 von dem
englischen Astronomen H a 1 1 e y construierten ersten Mortabilitätstafel war eine
zuverlässige Basis für den Betrieb des Lebensversicherungsgeschäftes gewonnen,
und die 1705 gegründete erste englische Lebensversicherungsgesellschaft: „Ami-
cable Society for the insurance of Life" konnte mit Aussicht auf
Erfolgdiesen Betrieb aufnehmen, zumal durch die inzwischen gewonneneErkenntnise,
dass das Leben des Menschen das höchste wirtschaftliche Gut darstelle, ein
ethisches Moment von hoher Wichtigkeit hinzugetreten ist; denn die Vernichtung
anderer wirtschaftlicher Güter muss nicht eintreten, der Tod aber ist für
jeden gewiss.
Wenn nun auch das Versicherungswesen überhaupt und die Lebens-
versicherung im besonderen noch weit hinter dem Umfange zurücksteht, den sie
schon einnehmen könnte, so sind die Fortschritte in der Entwicklung doch so
erfreuliche, dass es sich wohl verlohnt, sie in ihrer Gesammtheit ins Auge zu
fassen, um unter Zuhilfenahme der für diesen Zweck angefertigten Tabellen ein
genaues Bild von dem ganzen Entwicklungsgange dieser wichtigsten volkswirt-
schaftlichen Institution zu gewinnen.
Lange bevor das Versicherungswesen auch nur einigermaassen in Aufnahme
kam, hatte England den grossen wirtschaftlichen Wert der Lebensversicherung
erkannt; denn schon im Jahre 1855 hatte, wie aus den folgenden Ziffern
ersichtlich ist, England vom Versicherungsstande sämmtlicher Staaten per
^) Diese statistische Studie enthält die Schlussergebnisse der umfassenden Unter-
suchungen, welche der Herr Verfasser in seinem wertvollen Assecuranz-Atlas, Wien, Freitag
und Bern dt 1901 niedergelegt hat. Die mit einer Einleitung versehene Veröflfentlichung
dieser Ergebnisse erfolgt auf speciellen Wunsch der Herausgeber.
20*
300
Stefan.
3559 Mill. Kronen, 72*59 Proc, d. i. 2584 Mill. Kronen allein in Versicherung,
während Amerika damals kaum 14 Proc, d. i. 494 Mill. Kronen Lebens-
versicherungen laufend hatte. 20 Jahre später, also im Jahre 1875, hatte
Amerika England allerdings bereits um 1000 Mill. Kronen überflügelt; allein was
sind 1000 Mill. Kronen mehr in dem grossen Amerika, dem kleinen England
gegenüber, dessen Lebensversicherungen zum weitaus grössten Theile englischen
Ursprunges sind, während Amerika schon zu jener Zeit in den meisten Staaten
Europas seine Greneralagenturen hatte und zusammenzuraffen suchte, was nur
zusammenzuraffen war.
1855')
Versicherungsstand
TT™ ««„„»,„»4 -„* Procentueller
Umgerechnet auf ^^^^^.j ^^ oesammt-
J^'«"«" Vers.-Stande
England . . .
. Francs
2.720,000.000
2.584,000.000
72-59
Amerika . .
»
520,100.000
494,100.000
13-88
Deutschland . .
»
247,000.000
234,650.000
6-59
Frankreich
»
132,000.000
125,400.000
3-52
Oesterreich-Ungarn .
V
77,500.000
73,625.000
2-07
Russland . . . .
»
19,000.000
18,050.000
0-51
Belgien . . . .
»
12,200.000
11,590.000
0-33
Schweden . . .
V
9,000.000
8,550.000
0-24
Niederlande . .
»
6,000.000
5,700.000
0-16
Schweiz . . .
n
2,700.000
2,565.000
0-07
Italien . . . .
»
1,500.000
1,425.000
0-04
3.559,655.000
10000
1875
Versicherungsstand
Umgerechnet auf .
Kronen
Procentueller
ntheil am Gesamnit-
Vers. -Stande
Amerika
Dollar
2.003,667.900
9.885,000.000
42-43
England . . .
Liv. Sterl.
367,283.000
8 885,000.000
38-15
Deutschland
R.-M.
1.714,708.565
1.940,000.000
8-35
Frankreich .
Francs
1.358.000.000
1.253,000.000
5-36
Oesterreich-Ungarn
Kronen
822,000.000
822.000.000
3-09
Schwoir.
Francs
248,500.000
236,700.000
1-01
Skandinavien^)
Kronen
84,715.000
109,561.000
0-44
Niederlande
Holl. Guld.
41,904.761
83.800.0^ 0
0-36
Russland . . .
Rubel
22.000.000
83,600.000
0-36
Italien ....
Lire
52,0ri0.000
49,400.000
021
Belgien ....
Francs
51,000.000
48,450.000
0-20
Finnland . . . ]
Tirnn. Mark
10,000.000
9.5U0.00O
0 04
Arbeiter -Versich. ^)
Liv. SterL
25,952.777
727,500.000
—
24.133,511.000
100-00
') Nacli einer /usamineiislcUung von Marco Besso.
2) Schweden, Norwegen nnd Dänemark.
^) E igland allein.
Vierzig Jahre Lebensversicherung.
301
Procentuelltr
1895
Versicherungsstand
unigerecnnci am » »i. -i n .
vr.^^^^ AntheilamGesamnit-
K"^""^"^ Vers.-Stande
Amerika . .
Dollar
4.881,632.161
24.090,854.700
46-15
England . . . .
Liv. Sterl.
529,184.344
12.451,302.300
24-02
Deutschland . .
R.-M.
5.280,655.749
6.212,537.700
11-98
Frankreich . .
Francs
3.478,157.756
3.271,677.800
6-32
Oesterreich-Ungarn
Kronen
2.523,683.377
2.523,683.300
4-85
Eussland . . . .
Rubel
214,074.755
813,484.000
1-56
Skandinavien ^) .
Schwed. K.
572,732.749
756,007.300
1-45
Niederlande . .
HoU. Guld.
283,719.620
567,439.200
1-08
Italien . . . .
Lire
579,800.000
550,810.000
1-05
Schweiz . . . .
Francs
547,926.000
520,529.700
1-00
Finnland . . . .
Finn. Mark
159,442.481
167,834.200
0-33
Belgien . . . .
Francs
117,905.380
112,030.000
0-21
Amerika^ Arbeiter-
Dollar
820,746.502
4.038,075.000
—
England/ Versicherung
Liv. Sterl.
144,142.569
3.449,425.000
—
59.525,750.200 100-00
Aus der Ermittlung der procentuellen Antheilsziffern geht das interessante
Moment hervor, dass England im Jahre 1855 noch an erster Stelle stehend,
Ende 1895 nur mehr mit 24*02 Proc. participierte, während Amerika 1855 nur
13-88 Proc. Antheil am Gesammt- Versicherungsstande hatte, dagegen Ende 1895
einen solchen von 46'15 Proc. ausweist. In die restlichen knapp 30 Proc. erst
theilen sich alle übrigen Staaten. Dass auch unter den verschiedenen Staaten
des Continents Rangverschiebungen stattgefunden haben, ist natürlich, interessant
jedoch ist die Thatsache, dass Belgien 1855 an siebenter Stelle stehend, im
Jahre 1895 sogar von Finnland überflügelt erscheint.
Spielen schon bezüglich des Umfangcs der Lebensversicherungssummen in
den einzelnen Staaten Umstände der verschiedensten Art, wie ethnographische
Lage, Bevölkorungsdichtigkeit, Industrie etc. etc. eine grosse Rolle, so kommen
alle diese Momente iioch weit intensiver zur Geltung, w^enn man zu ermitteln
versucht, in welchem Verhältnisse die einzelnen Staaten hinsichtlich der Ver-
sicherungssumme, auf den Kopf der Bevölkerung berechnet, zu einander stehen.
Hierüber geben nachstehende Zift'ern, die interessantesten Aufschlüsse.
Staaten
1875
Versicherungs
stand
MiU. Kronen
Per Kopf der
Bevölkerung
Kronen
1875
Versicherungs-
stand
Mill. Kronen
Per Kopf der
Bevölkerung
Kronen
England
8.885-0
246-4
Oesterr.-Üngarn 822-0
19-5
Amerika
9.885-0
133-5
Schweden .
74-2
18-5
Schweiz .
236-7
56-8
Italien . .
49-4
18-2
Deutschland
1.940-0
43-1
Belgien . .
48-4
10-5
Finnland
9-5
37-0
Dänemark .
20-7
4-5
Frankreich .
1.253-0
32-8
Norwegen .
8-6
3-8
Niederlande
83-8
20-9
Russland
83-6
1-6
') Schweden, Norwegen und Dänemark.
302
Stefan.
Versicherungs-
stau d
Per Kopf der
Bevölkerung
1895
Versicherungs-
stand
Pi'r Kopf der
Bevölkerung
Mill. Kronen
Kronen
MiU. Kronen
Kronen
24.090 9
382-4
Dänemark . .
147-4
73-0
12451-3
327-6
Finnland . .
167-8
70-0
520-5
192-2
Oesterr.-Ungarn
2.523-6
60-0
567 4
126-0
Norwegen . .
87-6
44-4
6.2125
125-4
Belgien . . .
112-0
20-3
521-0
108-2
Italien . . .
550-8
20-3
3,271-6
85-2
Eussland . .
813-4
8-4
1895
Amerika
England
Schweiz . .
Niederlande
Deutschland
Schweden .
Frankreich .
Die Ziffern, untereinander verglichen, sind überaus lehrreich. Das kleine
bevölkerungsreiche England stand im Jahre 1875 mit 246-4 Kronen Versicherungs-
stand per Kopf der Bevölkerung dem grossen Amerika mit nur 133'5 Kronen
per Kopf gegenüber. Diesen beiden zunächst hatte die kleine demokratische
Schweiz 56*8 Kronen Versicherungen per Kopf der Bevölkerung laufen, und
dieser erst reihte sich Deutschland mit 43*1 Kronen an. Deutschland zunächst
stand Finnland mit 37 Kronen und hinter Finnland erst rangierten die übrigen
Staaten, darunter Oesterreich-Ungarn an achter Stelle mit 195 Kronen, während
in Russland gar bloss 1"6 Kronen Versicherungssumme auf den Kopf der
Bevölkerung entfielen.
Im Jahre 1895 waren bereits sehr wesentliche Verschiebungen eingetreten.
Amerika hatte p]ngland um 54-8 Kronen überholt und, obgleich Deutschlands
Versicherungsstand zwölfmal grösser als jener der Schweiz ist, so hat diese doch
die bereits innegehabte dritte Rangstufe mit 192-2 Kronen behauptet. An die
vierte Stelle sind die Niederlande mit 126 Kronen, an Stelle Frankreichs ist
Schweden mit 108-2 Kronen getreten, während Oesterreich-Ungarn auf die zehnte
Rangstufe zurückgedrängt worden ist und Russland wie 1875 jedoch nun mit
8'4 Kronen abschliesst.
Von weit grösserem Interesse und einem jedenfalls weit zuverlässigeren
Maasstab für die Beurtheilung des Sparsinnes der Bevölkerung böte die durch-
schnittliche Ermittlung der Pr am i en e inn a hm en pro Kopf der Bevölkerung.
Sie würde in gewisser Hinsicht ein richtigeres Bild bezüglich der Zweckmässigkeits-
auffassung der einzelnen Lebensversicherungsbranchen in dem betreffenden Lande
darbieten. Denn die Todesfallversicherung mit lebenslänglicher Prämienzahlung
und infolgedessen niedrigeren Prämiensätzen wird dort, wo sie vom Publicum mehr
in Anspruch genommen wird als die Erlebensversicherung, bei gleicher
Prämieneinnahme einen höheren Versicherungsstand per Kopf der Bevölkerung-
ergeben als in jenem Lande, wo das umgekehrte Verhältnis besteht, und dio
Erlebensversicherung mit ihren höheren Prämiensätzen mehr frequentiert wird.
Allein eine solche Ermittlung war nur für einige Staaten möglich, deren Gesell-
schaften eben gesetzlich zur Ausweisleistung verhalten werden, und das ist
bekanntlich vorderhand nur in Deutschland, Oesterreich-Ungarn und der Schweiz,
und da erst seit verhältnismässig kurzer Zeit der Fall. Es musste daher diese
Ermittlung einem späteren Zeitpunkte vorbehalten lassen bleiben.
Wie wesentlich geändert erscheint das Bild der nachstehenden Ziffern des
Versicherungsstandes per Quadratkilometer Flächeninhalt berechnet.
Vierzig Jahre Lebensversicherung.
303
Staat
1875
Ver«. -Summe per
krn^ Flächeninhal
t 1895
Vers. -Summe per
*w* Flächeninbait
Kronen
Kronen
England
28.239
England
39.574
Schweiz
3.838
Niederlande ....
17.195
Deutschland ....
3.589
Schweiz
13.922
Niederlande ....
2.536
Deutschland ....
11.493
Frankreich ....
2.336 .
Frankreich . . .
6.099
Italien
1.837
Belgien
4.213
Belgien
1.741
Oesterreich-Ungarn .
4.055
Oesterreich-Ungarn .
1.157
Dänemark ....
3.848
Amerika
1.090
Amerika
2.656
Dänemark ....
466
Italien
2.130
Skandinavien^) . . .
180
Skandinavien^) . . .
587
Russland
17
Russland
166
Hier bleibt England im Jahre 1875 mit 28.239 Kronen sowohl als auch
im Jahre 1895 mit 39.574 Kronen Versicherungsstand per Quadratkilometer
Flächeninhalt an der Spitze. England nach folgt im Jahre 1875 die Schweiz mit
3838 Kronen, im Jahre 1895 dagegen Niederlande mit 17.195 Kronen; die
Schweiz ist sonach mit 13.922 Kronen in die dritte Stelle verdrängt worden,
während Amerika im Jahre 1875 sowohl wie im Jahre 1895 an neunter Stelle
mit 1090 Kronen, beziehungsweise mit 2656 Kronen seinen Rang behauptet
hat. Deutschland ist im Jahre 1875 mit 3589 Kronen an dritter Stelle
gestanden; im Jahre 1895 musste es mit 11.493 Kronen der zurückgedrängten
Schweiz an die vierte Stelle folgen. Oesterreich-Ungarn nahm im Jahre 1875
mit 1157 Kronen die achte Stelle, im Jahre 1895 mit 4055 Kronen die
siebente Stelle ein, während Russland im Jahre 1875 mit 17 Kronen, im
Jahre 1895 mit nur 166 Kronen Versicherungssumme per Quadratkilometer
Flächeninhalt an letzter Stelle abschliesst.
Reinzuwachs.
Ein nicht minder interessantes Bild der Entwicklung der Lebensversicherung
bietet uns die Darstellung des Reinzuwachses, welcher diejenigen Summen zugrunde
gelegt erscheinen, die in den einzelnen Staaten innerhalb 20 Jahren in Wirklichkeit
dem Versicherungsstande zugewachsen sind, wie nachstehende Ziffern zeigen.
Staaten
Ges. -Rein-
zuwachs 185.0,75
MiU. Kronen
Proc. Antheil
am Gesammt-
Vera.- Stande
Staaten
Ges. -Rein-
zuwachs 1855/75
Mill. Kronen
Proc. Antheil
am Gesammt-
Vers. -Stande
Amerika . . .
9.365-2
47-75
Skandinavien -)
95-0
0-49
England . . .
6.27B-5
32-06
Niederlande .
78-0
0-40
Deutschland
1.700-5
8-67
Russland . .
65-5
0-34
Frankreich . .
1.1650
5-91
Belgien . .
36-8
0-18
Oesterr.-Ungarn
644-5
3-29
Italien . . ,
. 23-5
0-12
Schweiz . .
156-5
0-79
Finnland . .
0-00
0-00
^) Schweden und Norwegen.
^) Schweden, Norwegen und Dänemark.
304
Stefan.
Staaten
Ges.-Rein-
ÄU wachs 1875/95
MiU. Kronen
Proc. Antheil
am Gesammt
Vers. -Stande
Staaten
Ges.-Eein-
zuwachs 1875/95
Mill. Kronen
Proc. Anthei
am Gesammt
Vers. -Stande
Amerika . . .
14.205-8
49-42
Skandinavien ^)
652-4
2-27
Deutschland
4.272-5
14-86
Italien . .
501-4
1-75
England . . .
3.566-4
12-40
Niederlande
483-6
1-68
Frankreich . .
2.018-6
7-02
Schweiz . . .
283-8
0-99
Oesterr.-Ungarn
1.803-6
6-28
Finnland . ,
158-3
0-56
Kussland . . .
729-8
2-54
Beigion . .
63-6
0-23
Besonders interessant hiehei ist, dass vor allem anderen der Gcsamnit-
Keinzuwachs von 19.609 Mill. Kronen in der Periode 1855 bis 1875 auf
28.740 Mill. Kronen in der Periode von 1875 bis 1895 gestiegen ist. Derselbe
ist demnach um fast genau die Hälfte grösser als in der vorangegangenen Periode,
was wohl zur Genüge beweist, dass sich die Lebensversicherung eines fort und
fort wachsenden Interesses rühmen darf. Betrachten wir jedoch die procentuellen
Antheilsziffern der einzelnen Staaten untereinander, so springt vor allem der
kolossale Kückgang Englands am procentuellen Antheil in die Augen;
während nämlich England 1855 bis 1875 mit 32-06 Proc, am Gesammtzuwachse
participierte, ist dieser Antheil in der Periode 1875 bis 1895 auf 12-4 Proc,
also um fast zwei Drittel gesunken. Die Sache klärt sich in sehr einfacher Weise
auf. Ein Blick auf die procentuellen •Antheilsziffern aller übrigen Staaten zeigt,
dass sie alle in der letzten Periode mächtig in die Höhe strebten; so Deutsch-
land von 8-6 auf 14'8 Proc, Oesterreich-Ungarn von 3'3 auf 6-3 Proc. u. s. w.,
und da Amerika nicht nur keine Einbusse erlitten, sondern im Gegenteil seinen
Antheil von 47-75 Proc. auf 4942 Proc. gesteigert hat, so musste nothwendiger-
weise England von seinem procentuellen Antheil denjenigen Theil abgeben, welchen
die anderen Staaten mehr erzielt haben.
Prämienreserve.
Die Prämienreserve, also derjenige Theil der jährlich zu leistenden Prämien,
aus denen durch Anlage von Zins auf Zins die seinerzeit zu zahlende Versicherungs-
summe aufgebracht werden muss, ist bekanntlich der beste Wertmesser für die
Leistungsfähigkeit einer Versicherungsgesellschaft. Es ist hiebei ganz selbst-
verständlich, dass nicht die absolute Höhe der Reserve, also auch nicht der
procentuelle Antheil am Gesammt-Versicherungsstande allein urtheilschöpfend sein
kann, weil ja das Durchschnittsalter der Versicherten eine und zwar sehr Mächtige
Eolle spielt. Diese Daten jedoch sind in jenen Staaten, wo die Versicherungs-
gesellschaften einer staatlichen Controle unterliegen, wohl den Organen der
Versicherungsdepartements bekannt, werden aber strenge geheim gehalten und
sind daher gewöhnlichen Sterblichen unzugänglich. Um nun dessen ungeachtet
einen beiläufigen Wertmesser zu gewinnen, pflegt man sich bei den einzelnen
Anstalten nach dem procentuellen Antheil am Versicherungsstande wenigstens
ungefähr zu orientieren; denn man kann wohl annehmen, dass bei einem regel-
mässigen flotten Neuzugange das Durchschnittsalter der sämmtlichen Versicherten
I
^) Schweden, Norwegen und Dänemark.
Vierzig Jahre Lebensversicherung.
301
nur sehr langsam steigt nnd die Fehler, die durch die Zugrundelegung der
procentuellen Antheilziffern hervorgerufen werden, daher nicht allzusehr in die
AVagschale fallen. Durch diese Umstände gezwungen, habe ich, einer allgemeinen
Gepflogenheit folgend, diesen Vorgang beibehalten und bei nachstehenden Ziffern
gleichzeitig die Zahlen in Procenten der Versicherungssumme ermittelt.
1875
Prämienreserve
Umgerechnet auf In Proc. der
Kronen Versicherungssumme
England . . .
Francs
2.562,200.000
2.434,090.000
27-4
Amerika . . .
7J
1.848,600.000
1.756,070.000
17-8
Frankreich . .
»
325,600.000
309.320.000
24-7
Deutschland
»
284,500.000
270,275.000
14-0
Oesterreich-Ünj
?arn „
108,800.000
103,360.000
14-4
Schweiz . .
V
21,500.000
20,425.000
12-8
Russland
» '
12,600.000
11,970.000
14-3
Niederlande
n
12,300.000
11,685.000
13-9
Belgien . .
»
12,000.000
11,400.000
23-5
Schweden
»
8,100.000
7,695.000
9-5
Italien^) . .
V
2,900.000
2,755.000
11-1
Norwegen .
»
900.000
855.000
12-8
Dänemark .
»
600.000
570.000
4-7
1895
Prämienreservo
Unigerecbnet auf
Kronen A
In Proc. der
ersicherungssummo
Amerika . .
Dollar
965,573-017
4.750,619.200
18-9
England . .
. Liv. Sterl.
188,995.182
4.535,884.300
36-4
Frankreich .
Francs
1.684,575.927
1.600,347.100
48-8
Deutschland
R.-M.
1.298,288.464
1.518,997.500
260
Oosterreich-Ünj
jarn Kronen
501,969.400
501,969.400
19-8
Eussland
Rubel
39,394.870
149,700.500
18-4
Niederlande
. . Hell. Guld.
53,799.540
107,599.000
17-2
Schweiz^)
. . Francs
93,741.420
89,054.300
25-3
Schweden .
, . Kronen
65,287.152
86,179.000
16-5
Italien^) . .
. , Lire
39,274.038
37,310.300
13-4
Dänemark .
, . Kronen
22,335.815
29,035.500
20-0
Belgien . .
. , Francs
29,520.043
28,044.100
26-3
Norwegen .
■VT 1- -1
. . Kronen
• rr
21,058.904
27,797.700
41-4
J„.. OA T_T
Nach dieser Zusammenstellung hat sich im Verlaufe der 20 Jahre
— 1875 bis 1895 — die Gesamrat-Prämienreserve aller Staaten von 20*7 Proc.
auf 22'6 Proc, also um knapp 2 Proc, gehoben; schon diese Thatsache allein
rechtfertigt das oben Gesagte vollkommen, beweist aber zugleich, wie mächtig
die Wirkung der grossen Zahlen ist; denn vergleicht man die procentuellen
Ziffern des Jahres 1875 in den einzelnen Staaten mit jenen im Jahre 1895, so
kann man ganz bedeutende Steigerungen constatieren. So hatte z. B. England im
*) Procentueller Antheil nach dem Versicherungsstande der inländischen Gesell-
schaften berechnet.
306
Stefan.
Jahre 1875 27"4 Proc. Reserven, während es im Jahre 1895 bereits 36-4 Proc.
Prämienreserven zurückgestellt hatte. Noch grösser ist die Differenz bei Frank-
reich, welches 1875 21*7 Proc, im Jahre 1895 dagegen bereits 48'8 Proc.
Reserven besass. In Norwegen haben sich die Reserven in diesem Zeiträume von
12-8 Proc, auf 41*4 Proc. gehoben, während Oesterreich-Üngarn von 14*4 Proc.
im Jahre 1875 auf 26 Proc. im Jahre 1895 gestiegen ist. Dass diese Erscheinung
mit dem Steigen des Durchschnittsalters sämmtlicher Versicherten aufs innigste
verknüpft ist, beweist die Thatsache, dass die Prämienreserve in Frankreich und
England ganz besonders, in Amerika dagegen nur von 17'8 Proc. auf 18'9 Proc.
gestiegen ist ; die amerikanischen Gesellschaften haben nämlich durch die ganz
aussergewöhnliche Steigerung ihrer Neuproduction das Steigen des Durchschnitts-
alters ihrer sämmtlichen Versicherten zum grossen Theilo paralysiert und
participieren deshalb an der Steigerung der Reserven nur in ganz geringem
Maasse. Möglich übrigens, dass bei den amerikanischen Gesellschaften auch noch
andere Momente das Steigen der Reserven behindern. Allein das entzieht sich
meiner Beurtheilung.
Prämieneinnahmen.
Obzwar eine Zusammenfassung der Prämieneinnahmen aller Gesellschaften
in allen Staaten vom versicherungstechnischen Standpunkte unzulässig ist, und
strenge genommen solche Ziffern kein Beurtheilungsmaterial für den Versicherungs-
techniker liefern, so habe ich, der Vollständigkeit halber, doch auch noch diese
Posten in nachstehendem zusammengestellt, weil sie vom Standpunkte der
Statistik doch einigen "Wert besitzen und das mit der vorliegenden Arbeit
bezweckte Vergleichungsmittel bieten. Schlüsse auf die Durchschnittsquote im
Lebensversicherungs-Geschäfte der einzelnen Staaten untereinander müssten mit
aller Reserve aufgenommen werden, schon weil ja die verschieden entwickelten
Versicherungscombinationen in den einzelnen Staaten nie voll berücksichtigt
werden können.
1875
S t a I
Prämienein nahmen
Kronen
1895
Prämieneinnahmen
Kronen
Amerika 412,239.400
England 242,400.000
Frankreich 70,965 000
Deutschland 63,940.400
Amerika 1.058,780.500
Oesterreich-Ungarn
Schweiz . . . .
Niederlande . . .
Russland . . . .
Schweden ....
Belgien . . . .
Italien
Dänemark . , .
Norwegen . . .
Finnland ....
23,958.400
5,814.000
3,627.400
3,344.000
2,508.000
1,938.000
665.000
317.400
306.800
73.000
England . . . ,
Deutschland . . ,
Frankreich . . ,
Oesterreich-Ungarn
Russland . . . ,
Niederlande . . ,
Schweden . . . .
Schweiz
Italien
Dänemark . . . .
Belgien
Norwegen . . . .
Finnland . . . .
463,000.700
248,691.300
191,667.600
102,254.200
30,480.500
22,255.600
16,529.800
14,369.200
7,512.000
5,807.200
4,480.400
4,202.400
2,863.600
Vierzig Jahre Lebensversicherunor.
307
Schade II Zahlungen.
Die Schadenzahlungen im Vorsicherungsgeschäfte sind, vom wirtschaftlichen
Standpunkte aus betrachtet, überaus wichtig ; zeigt uns doch dieses Ergebnis an,
welchen Nutzen das Versicherungswesen der Volkswirtschaft zu bieten vermag.
Die nachfolgende Zusammenstellung zeigt uns, dass im Jahre 1875 insgesammt
69"6 Proc. der Prämien in Form von Schadenzahlungen wieder an die Ver-
sicherten zurückgeflossen sind. Im Jahre 1895 betrugen die Schadenzahlungen
wohl nur 45'7 Proc. der Gesammteinnahmen, doch beweist das nur, was ich an
anderer Stelle gesagt habe, nämlich: dass, je grösser die Zahl der Versicherten ist,
desto geringer gestaltet sich die durchschnittliche Sterblichkeitszift'er. Diese Thatsache
zeigt sich am besten bei Amerika; dort ist die Schadenziffer von 78*6 Proc. im
Jahre 1875 auf 38'2 Proc. der Prämien im Jahre 1895 zurückgegangen.
Staaten
1875
Mill. Kronen
In Proc. dei
Präinien-
einnahmen
1895
Jlill. Kronen
In Proe. der
Präraien-
einnahmen
Amerika ....
324-001
78-6
Amerika . . .
405-392
38-2
England . . .
192-000
79-3
England . . .
337-808
72-9
Deutschland
31-314
48 9
Deutschland
108-330
43-5
Frankreich . .
15-200
2L-4
Frankreich . .
77-908
24-6
Oesterr.-Ungarn
9-400
39-3
Oesterr.-Ungarn
30-854
30-2
Schweiz . . .
2-581
44-4
Schweiz . . .
6-747
46-8
Belgien . . .
1-298
66-9
Russland . . .
6-728
22 0
Eussland . . .
1-026
30-7
Niederlande
5-342
24-0
Niederlande
0-787
21-7
Schweden . .
4-749
28-7
Schweden . .
0-396
15-8
Italien . . .
3-017
40-0
Italien . . .
0-285
42 9
Belgien . . .
2-777
61-9
Dänemark . .
0-076
42-3
Dänemark . .
1-613
29-5
Norwegen . .
0-046
14-5
Finnland . . .
1-043
36-4
Finnland . . .
0-002
2-6
Norwegen . .
0-769
15-9
Eecapitulation.
Welch grossartigen Aufschwung das Versicherungswesen in den abgelaufenen
40 Jahren, d. i. 1855 bis 1895, genommen und inwieweit die einzelnen Staaten
an diesem Aufschwünge participieren, zeigt nachfolgende Zusammenstellung der
Versicherungsbestände auf österreichische Kronen umgerechnet, (s. Tabelle S. 308.)
Auf dieser Tabelle ist der kolossale Aufschwung des Lebensversicherungs-
Geschäftes genau zu verfolgen, sowie die ruhige Entwicklung des englischen
Versicherungsgeschäftes, und das rapide Emporschnellen des amerikanischen
Versicherungsgeschäftes als charakteristisches Merkmal hervorzuheben. Diesen
beiden ßiesen streben die anderen Staaten wie Zwerge nach, einzelne selbständig
erkennend, dass die Versicherungsinstitution dereinst berufen sein wird, die Rolle
der ausgleichenden Gerechtigkeit zu übernehmen und zweifellos der tragende
Balken unserer volkswirtschaftlichen Zukunft ist, andere der Noth gehorchend,
nicht dem eigenen Triebe.
Möge die vorliegende Arbeit auch ein kleines Scherflein mit zu dieser
Erkenntnis beitragen!
308
Stefan.
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in Millionen Kronen
1855
1856
1857
1858
1859
1860
1861
1862
1863
1864
1865
1866
1867
1868
1869
1870
1871
1872
1873
1874
1875
1876
1877
1878
1879
1880
1881
1882
1883
1884
1885
1886
1887
1888
1889
1890
1891
1892
1893
1894
1895
494
2.584
235
125
73
18
8
5
1
3
11
552
2.888
262
140
82
20
9
6
1
3
12
610
3.192
290
156
90
23
11
7
1
3
13
668
3.496
317
171
99
25
12
8
1
4
15
726
3.800
345
184
108
27
13
9
2
5
17
840
4.038
376
219
123
28
14
11
2
7
20
843
4.275
416
240
156
29
14
17
3
10
24
943
4.513
476
369
200
29
15
19
3
18
29
1.373
4.750
552
340
226
29
15
29
4
24
33
2.030
5.005
638
400
253
30
16
42
5
30
38
2.980
5.247
742
543
283
30
17
48
8
41
39
4.438
5.501
805
561
292
31
19
51
10
52
40
5.959
5.745
909
607
276
31
23
54
11
63
41
8.224
6.009
1.025
758
311
33
29
57
11
79
42
9.422
6.389
1.150
873
367
37
31
59
12
95
43
10.383
6.910
1.200
958
416
45
36
63
15
110
44
10.781
7.868
1.279
924
537
48
42
68
17
129
45
10.849
8.178
1.469
958
582
55
48
72
19
154
46
10.702
8.376
1.638
1.055
816
63
67
77
21
167
46
10.246
8.603
1.828
1.167
826
73
88
80
26
188
47
9.885
8.885
1.940
1.253
822
83
109
84
49
206
48
9.015
9.192
2.217
1.431
828
91
122
88
53
245
49
8.110
9.384
2.340
1.543
723
99
137
93
57
251
51
7.680
9.624
2.454
1.689
757
112
148
97
61
255
53
7.505
9.864
2.578
1.857
782
122
159
99
65
259
55
7.690
9.984
2.720
2.073
885
137
170
102
69
271
58
8.195
10.104
2.867
2.362
975
182
195
110
99
284
61
8.535
10.224
3.030
2.622
1.034
224
216
124
116
307
67
9.245
10.584
3.212
2.820
977
262
248
136
137
310
72
10.275
10.656
3.432
2.726
1.066
304
299
151
175
330
74
11.230
10.728
3.644
2.791
1.153
342
333
166
217
339
76
11.110
10.800
3.854
2.829
1.250
395
360
181
236
347
79
12.370
10.704
4.064
2.869
1.354
452
381
183
257
362
81
13.805
10.608
4.289
2.935
1.462
509
417
218
301
38i
84
17.910
11.016
4.524
2.959
1.550
547
464
242
331
403
86
18.100
11.136
4.789
3.027
1.725
570
529
268
353
428
89
19.305
11.184
5.077
3.127
1.786
597
576
288
384
447
92
24.485
11.472
5.387
3.222
1.965
631
612
318
414
462
95
26.455
12.120
5.685
3.355
2.219
680
642
362
447
480
98
23.345
12.384
5.995
3.322
2.398
737
693
468
485
503
99
24.090
12.451
6.212
3.271
2.523
813
756
567
550
520
112
1
2
5
7
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9
10
11
12
15
17
18
20
23
25
29
32
51
60
67
74
84
») Schweden, Norwegen und Dänemark. (Bis 1864 Schweden allein.)
LITERATUKBEßlCHT.
Geschichte der Stadt Wien, herausgegeben vom Alterthamsvereine zu Wien,
redigiert von Heinrich Zimmermann. I. Band: Bis zur Zeit der Landesfürsten aus
Habsburgischem Hause (1282). Mit 34 Tafeln und 181 Textillustrationen. Wien 1897.
XXIV und 632 Seiten. II. Band: Von der Zeit der Landesfürsten aus habsburgischem
Hause bis zum Ausgange des Mittelalters. 1. Hälfte mit 20 Tafeln und 102 Text-
illustrationen. Wien 1900. IV und 498 Seiten Fol. Druck und Verlag von Adolf Holz-
hausen.
Dieses kostbare Buch hat eigentlich nur einen einzigen Fehler; es ist in einem
monströsen Format (Grossfolio) gedruckt, so dass seine Benutzung schon eine bedeutende
körperliche Anstrengung erheischt, und es ist in einer so kleinen Auflage und zu einem
so hohen Preise ausgegeben, dass seine Anschaffung selbst für grössere Bibliotheken fast
nicht erreichbar und erschwingbar ist. Dass das Werk infolge dieser Umstände nur sehr
wenig bekannt ist, muss billigerweise bedauert werden ; es verdiente eine sehr eingehende
Beachtung vermöge seines reichen Inhalts und seiner meisterhaften Darstellung. Die
Entwicklung Wiens als wirtschaftliches, sociales und politisches Gemeinwesen ist von
den ersten Anfängen der Ansiedlung am Fusse des Kahlenberges an mit grosser Anschau-
lichkeit und reichem Inhalte geschildert. Eine Angabe des Hauptinhaltes möge voran-
gestellt sein. Der Boden der Stadt uud sein Eelief, von Dr. Eduard Suess; die
Urzeit von Dr. Mathaeus Much; Wien zur Zeit der Römer, von Dr. Alfred
V. Tomacsewski; die archäologischen Funde aus römischer Zeit von Dr. Friedrich
Kenner; der Name Wien von Dr. Eichard Müller; politische Geschichte bis zur Zeit
der Landesfürsten aus habsburgischem Hause von Dr. Richard Schuster; topographische
Benennungen und räumliche Entwicklung von Dr. Richard Müller; das Befestigungs-
und Kriegswesen von Wendelin Böheim; die Entwicklung des Rechtslebens, Verfassung
und Verwaltung von Dr. Heinrich Schuster; Handel, Verkehr und Münzwesen von
Dr. Arnold Luschin v. Ebengreuth; das kirchliche Leben und die christliche
Charitas von Dr. Anton Mayer; die Schulen von demselben; mitlelalterliche Baudenkmale
Wiens aus der Zeit der Habsburger von Dr. Karl Lind; Dichtung und Sänger, das
Hof- und Minneleben bis 1270 von Dr. Anton Schönbach; das Volksleben, Gebräuche
und Sitten von Dr. Anton Mayer. — Geschichte des Wappens der Stadt Wien von
Dr. E. Gaston Grafen v. Pettenegg; Quellen und Geschichtsschreibung von Dr. Karl
Uhlirz; Wiens räumliche Entwicklung und topographische Benennungen vom Ende des
13. bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts, von Dr. Richard Müller; Befestigungs- und
Kriegswesen von Adolf Kurtzleigg; Rechtsleben, Verfassung und Verwaltung von
Ür. Heinrich Schuster.
Hervorragende Kenner, bedeutende Gelehrte haben also zusammengewirkt, um
diese Geschichte von Wien auf die Höhe modemer Wissenschaft zu bringen; ihre Namen
bürgen für die Gediegenheit ihrer Leistungen. Für die Leser unserer Zeitschrift sei
besonders auf die der Verfassungs- und Rechtsgeschichte wie der Wirtschaftsgeschichte
gewidmeten Abschnitte aufmerksam gemacht. Wien, das ja im früheren Mittelalter lange
Zeit hindurch der am weitesten nach Osten vorgeschobene Punkt deutscher Cultur
gewesen ist, weist eine Fülle der interessantesten Formen und Einrichtungen seines
310 Literaturbericlit.
Rechts- und Wirtschaftslebens auf; wie sein Stadtrecht und das österreichische Land-
recht zu den ältesten Rechtsdenkmälern entwickelter deutscher Gemeinwesen gehören,
so haben wir in den Privilegien der Regensburger Kaufleute, der Tuchmacher aus
Flandern, in den Institutionen des Hansgrafenamts und der Münzerhausgeuosseu, in den
ältesten Zolltarifen und Judenordnungen eine Reihe interessanter Zeugen der frühen
wirtschaftlichen Entwicklung der Donaustadt, welche in anschaulicher und theilwcise
schon sehr detaillierter Weise ein Bild der Kräfte und Bestrebungen geben, die sich in
der Wiener Bürgerschaft wie in der kräftig aufstrebenden Landesherrschaft geltend
gemacht haben.
Um den lehrreichen Inhalt dieses Werkes zum Gemeingut nicht nur aller gebildeten
Wiener, sondern der Wissenschaft überhaupt zu machen, was dasselbe so wohl verdienen
würde, wäre di ■ Veranstaltung eine Volksausgabe wohl sehr erwünscht. J.
Wörterbuch der Rechts- und Staatswissenschaften. Redigiert von A. F. Wolkow
und J. D. Filipow. St. Pet'Msburg (russisch).
Dieses bedeutende Werk dürfte zweifellos von Interesse für weitere Kreise sein.
Die Redakteure sind bereits durch Herausgabe der russischen Reichsgesetze und
durch andere Editionen bekannt. Mitarbeiter und zugleich Mitredakteure sind eine Reihe
bekannter Professoren und Privatdozenten. Das Unternehmen begegnet einem aus-
gesprochenen Bedürfnisse, da die russischen Encyklopädien und Lehrbücher vielfach
den Ansprüchen der modernen Wissenschaft durcliaus nicht genügen.
Aus dem Inhalte des vorliegenden ersten Heftes des Wörterbuches sind u. a.
besonders die Artikel über Actie, Accise, Oesterreich-Ungam, Agrarwesen u. dgl. hervoi-
zuheben. Sehr viel Raum wird der politischen Oekonomie, Socialpolitik u. dgl. gewidmet
werden. Der Eindruck, welchen d..s erste Heft macht, ist ein sehr zufriedenstellender. Bei
dem Bestände der Mitarbeiter und Redakteure dürfte wohl auch zu erwarten sein, dass
der Inhalt der übrigen Hefte hinter demjenigen des ersten nicht zurückstehen wird. Das
neue Wörterbuch sei daher den Interessenten für Rechts-, Staats- aber auch für Handels-
wissenschaften bestens empfohlen. S — i.
Robert Pöhlmann, Geschichte des antiken Communismus und Socialis-
mus. Zweiter Band. München 1901. C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung (Oskar Beck).
In der Vorrede zum ersten Bande dieses Werkes (1893') äusserte der Verfasser
über sein Thema sich in folgender Weise: „Eine Geschichte des antiken Communismus
und Socialismns ist noch nicht geschrieben. Die junge Wissenschaft der Social- und
Wirtschaftsgeschichte hat sich aus naheliegenden Gründen ganz überwiegend dem
Mittelalter und der Neuzeit zugewendet, während die Alterthumskunde trotz mancher
trefflicher Einzelarbeiten den Fortschritten der modernen Staats-. und Socialwissenschaft
noch lange nicht genügend gefolgt ist." War dieser Vorwurf vor acht Jahren noch
begründet, so haben seitdem die jüngeren Forscher sich eifrig an die Beantwortung der
das wirtschaftliche Gebiet betreffenden Fragen gemacht. So behandelte Eduard Meyer,
dessen „Geschichte des Alterthums" unterdessen bis zum dritten Bande gediehen ist,
separat „Die wirtschaftliche Entwicklung des Alterthums" (ein Vortrag, gehalten
auf der dritten Versammlung deutscher Historiker in Frankfurt a. M. am 20. April 1895,
gedruckt 1895 in Jena Verlag von G. Fischer), und „Die Sclaverei im Alterthum"
(Vortrag, gehalten in der Gehe-Stiftung zu Dresden am 15. Jänner 1898, gedruckt in
Dresden 1898 bei v. Zahn und Jaensch). Julius Beloch, der Verfasser der neuesten
„Griechischen Geschichte" und durch seine bevölkerungsstatistis'^hen Arbeiten bekannt,
besprach in der „Zeitschrift für Socialwissenschaft", Bd. II, S. 21 tf. „Die Gross-
industric im Alterthum" und neuerdings in den Jahrbüchern für Nationalökonomie
und Statistik 1899, S. 626 ff. „Die Handelsbewegung im Alterthum-', wonach wir
uns erst einen Begriff von der Intensität der mercantilen Entwicklung zur Zeit der
athenischen Seeherrschaft zu machen imstande sind: er schätzt die Handelsbewogung des
•; Vgl. diese Zeitschrift III (1894), S. 463—467.
Literaturbericht. 311
atlienischen Reiches auf 500 — 600 Millionen Mark, die der hellenischen Welt überhaupt
gegen den Ausgang des 5. Jahrhunderts auf kaum unter ?wei Milliarden Mark.
Dass dieser Entwicklung ebenso wie in der Neuzeit so auch im Alterthum sociale
Kämpfe und communistische Unterströmungen entsprachen, war im allgemeinen bekannt,
wird aber systematisch erst von Pöhlmann im einzelnen dargelegt.
Der Socialismus als „Kritik des Capitals" ist in Griechenland bereits das Erzeugnis
einer recht frühen Epoche. Er geht Hand in Hand mit der Hebung des maritimen
Verkehrs und der Entwicklung des Handels. So in Korjnth, Megara, Athen, wo wir
überall eine Eeaction gegen die Geldwirtschaft und ihre Nachtheile eintreten sehen,
worüber uns für Megara die Gedichte des Theognis, für Athen die des So Ion unter-
richten. Die Verhältnisse in Boeotien lernen wir aus dem Gedichte des Hesiod kennen, da
in Zeiten, wo es keine Journalistik gab, die öffentliche Meinung eben durch den Mund
der Dichter sich kundgab. Solon wie Theognis gehörten der Adelsclasse an; letzterer
gcisselt die Missbräuche ihres Regiments, unter denen verarmte Adelige wie er selbst nicht
weniger litten als die bäuerliche Classe; als aber das Adelsregiment gestürzt wurde,
zeigte das demokratische Element sich nur als roher aber nicht als besser für die
Interessen der Gesammtheit. Solon hingegen wurde in Athen an die Spitze des Staats-
wesens gestellt, als man dort am Vorabende einer Revolution stand; und obwohl die
Reform, die Solon durchführte, radical genug war, gab es gleichwohl noch eine
Bevölkerungsschichte, die sich vor den Ucbergriffen der Reichen und Mächtigen nicht
sicher fühlte und daher den Pisistrates auf den Schild erhob, dessen Tyrannis als eine
Aera der Gerechtigkeit, ja von Späteren geradezu als ein goldenes Zeitalter gefeiert wird.
Diese Ereignisse behandelt Pöhlmann in den Abschnitten: „Der aristokratische
Staat und die Anfänge des Capitalismus und Socialismus", „Das Erwaclieu
der Masse und die Revolutionierung der Gesellschaft", „Agrarsocialisnius
und Reform im 6. Jahrhundert", wobei namentlich die gelungene Analyse jener
Dichter hervorzuheben ist. Uebrigens darf man nicht ausseracht lassea, dass wir es hier
mit Kleinstaaten zu thun haben, wo der Reformer die Verhältnisse genau übersehen
konnte, auch die Bürger sich gegenseitig abzuschätzen wussten, wie denn Grote sich
die Verfassung der griechischen Verbände durch das Studium der Cantone der Urschweiz
zu vergegenwärtigen suchte, andererseits vor wenigen Jahren bei Behandlung eines
Beschlusses von Nidwaldcn (betreiFs Herabsetzung des Zinsfusses) geradezu Solons
Vorgang, gemäss der neuaufgefundenen Schrift des Aristoteles über den Staat der
Athener, wie ein einschlägiger Präcedenzfall citiert wurde.') — Jeder dieser kleinen
Staaten sucht sich in allem selbst zu genügen, um von niemandem abhängig zu sein. Zu
diesem Zwecke erlaubt sich die Staatsgewalt jeden für nöthig gehaltenen Eingriff in die
Verhältnisse der Bürger: es wird die ökonomische Entwicklung reguliert, ein Grund-
maximum festgestellt, Schuldenerlasse werden decretiert, die Colonisation ist staatlich
geregelt; ebenso gibt es eine staatliche Armenversorgung. Der Missbrauch der obrig-
keitlichen Gewalt führt zu Umwälzungen und Aenderungen, diese wieder sind vor einer
Reaction nie sicher, wie man es aus der Darstellung des Thukydides z. B. für Kerkyra,
aus der späteren Zeit des peloponnesischen Krieges für Athen genau genug weiss.
Die Phasen dieser Entwicklung verfolgt der Verfasser in den Abschnitten: „Die
staatsbürgerliche Gesellschaft und die volle Ausbildung des Capitalismus".
— „Der Widerspruch zwischen der socialen und der politischen Ent-
wicklung im freien Volksstaat". — „Die Umbildung der politischen zur
socialen Demokratie". — „Der demokratische Staatssocialismus und der
Umschlag in den radicalen revolutionären Socialismus," — „Die sociale
Revolution".
») Ich entnehme dies der Beilage zur „Gotthard-Post" 18%, Nr. 25: Verhandlung des National-
rathes über die von der nidwaldnerischen Landesgemeinde den 13. October 1895 beschlossene Partialrevision
der Verfassung betreffend Herabsetzung des Zinsfusses. Der Reftrent fQhrt aus : „Das Privatrecht steht
nicht über dem Staatsz wecke".
312 Literaturbericht.
Dabei sind natürlich verschiedene Momente zu berücksichtigen, welche dem Alter-
thum eigenthümlich waren, z. B. das Verhältnis der unfreien Arbeiter zu den freien.
„Die Zerlegung der handwerksmässigen Thätigkeit in eine Eeihe von einfachen Theil-
operationen, die oft zu ausschliesslichen Functionen besonderer Arbeiter wurden, ver-
ringerte, wenn sie eine gewisse Grenze überschritt, den Wert der einzelnen Arbeitskraft,
ja sie ermöglichte eine so umfassende Verwendung ungelernter oder — in Vergleich mit
dem Handwerk — wenig geschulter Arbeiter, dass in vielen Zweigen selbst die minder-
wertige Sclavenarbeit erfolgreich mit der freien Arbeit zu concurrieren vermochte. Und
hier ist denn in der That eingetreten, was die moderne socialistische Kritik übertreibend
von jedem industriellen Arbeiter behauptet: der Arbeiter, der als Sclave zur lebendigen
Maschine, zum „opYczvov sp-tJ^D/ov" geworden war, gehörte nicht mehr sich selbst an. Er
war dem Capital „einverleibt" oder, wie Aristoteles es ausdrückt — gleichsam „ein
Theil des Herrn selbst". Er war in der That nichts als ein Werkzeug und Erwerbsorgan
des Arbeitsherrn, das einzig und allein um der Production willen da war".
Unter der Concurrenz der unfreien Arbeit hatte die freie zu leiden. Dass man
sich dabei des wirtschaftlichen Zusammenhanges zwischen Massenverarmung und Sclaven-
wirtschaft sehr wohl bewuEst war, das zeigt z. B. die Erbitterung der phokischen
Bevölkerung gegen den reichen Unternehmer Mnason, der für sich allein nicht weniger
als 1000 unfreie Arbeiter beschäftigte. „Man warf ihm vor, dass er eben so viele
Mitbürger um ihr Brot brächte." (4. Jahrhundert v. Chr.) Dass übrigens die freie
Arbeit den Druck, der auf ihr lag, keineswegs widerstandslos über sich ergehen liess,
zeigt ein Ehrendecret, das die Stadt Faros einem ihrer Beamten ausstellte. (1. Jahr-
hundert V. Chr.) Er wird darin gerühmt, weil er als „Agoranom" darauf bedacht gewesen
sei, dass den Arbeitern von den Arbeitgebern und umgekehrt kein Unrecht geschehe; er
habe „die Arbeiter dem Gesetz gemäss veranlasst, nicht auszustehen, die Arbeitgeber
aber, ihnen den gebürenden Lohn zu zahlen." Also — bemerkt Pöhlmann — der
Ausstand als Waffe im Lohnkampf! Freilich stumpfte die Waffe ab, sobald die-
selbe Arbeit durch unfreie Kräfte geleistet werden konnte. Es gilt aber für die antike
Volkswirtschaft ganz dasselbe, was Marx einmal von Nordamerika gesagt hat. Hier
„blieb jede selbständige Arbeiterbewegung gelähmt, solange die Sclaverei einen Theil
der Republik verunstaltete. Die Arbeit in weisser Haut kann sich nicht dort emancipieren,
wo sie in schwarzer Haut gebrandmarkt wird." Wie viel weniger noch vermochte sie es
da, wo eine solche Brandmarkung selbst den Volksgenossen gegenüber möglich war!
Insbesondere konnte bei dieser Sachlage gar nicht der Gedanke aufkommen, dass der
Arbeitslohn ein im besten Sinne des Wortes selbständiges Glied der Einkommens-
bildung darstellt. (S. 171 f.j — Dinge, die schon Rodbertus in seinen vielbesprochenen
Artikeln über die ökonomische Entwicklung des römischen Alterthums hervorgehoben
hat (von denen aber sonst die neuere Forschung in verschiedenen Grundsätzen abweicht).
Auch zwischen Pöhlmann, Ed. Meyer, J. Beloch fehlt es nicht an Differenzen, auf
die ich im einzelnen nicht näher eingehen kann. Vor allern ist das statistische Material,
auf das wir angewiesen sind, viel zu vage, um daraus sichere Schlüsse zu ziehen. Die
Zahlen, die bei Athenaues für die Sclaven in Attica, Aegina und anderen Staatswesen
Griechenlands angegeben werden, sind sehr hohe; Beloch will sie nicht gelten lassen,
andere wie Seeck vertheidigen sie; Pöhlmann verzeichnet den Stand der Controverse.
Bei Plutarch im Leben des Phokion (cap. 28) wird angegeben, dass im Jahre 322
V. Chr. 9000 Bürger Athens von 21.000 einen Census von 2000 Drachmen Vermögen
erreicht hätten, woraus Beloch den Schluss zieht, dass hier die Proletarisierung der
Gesellschaft im Laufe des 4. Jahrhunderts keinen Fortschritt gemacht zu haben scheine,
während Pöhlmann eher das Gegentheil daraus folgern möchte. Wichtig sind für die
Erkenntnis der Verhältnisse die staats-politischen Schriften des Plato und des Aristo-
teles. Erstere sind von Pöhlmann, wie schon im 1., so jetzt im 2. Bande eingehend
analysiert, auch insoferne es sich nicht gerade um Socialismus und Communismus hmdelt,
sondern um die Aufstellung eines staatlichen Ideals. Aristoteles erweist sich durch-
wegs als ein überaus scharfsinniger Beobachter, während von Plato mehr Phantastik
Literaturbericht. 313
entwickelt wird. Der Verfasser widmet auch der „socialen Utopie im Gewände der
Dichtung" ein Capitel; dem goldenen Zeitalter, in dem es keine Concurrenz, sondern
beständige Saturnalien, namentlich auch freie Liebe und Weibergemeinschaft gibt. Pöhl-
mann bemerkt hinzu: „Die Ideen, die in der socialen Dichtung der Griechen zum
Ausdruck kommen, greifen weit über den Rahmen hinaus, durch den eine conventioneile
Anschauung von der Antike und eine nicht minder conventioneile allgemeine Geschichts-
auffassung die geistige Entwicklung des Alterthums auf dem Gebiete des socialen
Gedankens umgrenzt glaubt. Angesichts der Ideenwelt, die sich hier vor uns aufgethan
muss es in hohem Grade irreführend erscheinen, wenn die moderne Socialdemokratie
um das Dogma von der absoluten Neuheit ihrer Lehre zu retten, immer nur von einem
„sogenannten" antiken Socialismus zu reden weiss." — Der Verfasser polemisiert in dieser
Hinsicht auch gegen die „Geschichte des Socialismus" von G. Adler iind gegen
A. Dörings Werk „Die Lehre des Sokrates als sociales Eeformsystem" (1895) die den
Quellen nicht gerecht werden, andererseits gegen denjenigen Betrieb der Alterthums-
wissenschaft, der den socialen Problemen überhaupt keine Aufmerksamkeit zuwendet.
In dem „zweiten Buch" werden die römischen Verhältnisse behandelt, indem
Pöhlmann zunächst die Ueberlieferung oder vielmehr spätere Abstraction, die von einem
Urcommunismus, namentlich in agrarischer Beziehung ausgeht, auf ihren Gehalt hin prüft.
Consequent ist die Anschauung nicht durchgeführt, da ja von Romulus erzählt wird,
er habe jedem Bürger als „heredium" zwei iugera zugetheilt. Andererseits weisen die
starken Gentilverbände mit ihren „Clienten" darauf hin, dass es „hörige" Bauern gab;
die Bewegung, welche die ältere römische Republik erfüllt, zielte unter anderem auch
darauf ab, die Bande dieser Hörigkeit zu sprengen. An die Stelle der drei alten Stamm-
tribus traten die vier städtischen Bezirke, ebenfalls „Tribus" genannt, neben die im
Laufe der Zeit die anfangs bloss zugetheilten, dann aber selbständig constituierten Land-
tribus kamen. So denkt sich die Entwicklung der Dinge K. J. Neuraann in seiner
Studie „Die Grundherrschaft der römischen Republik, die Bauernbefreiung
und die Entstehung der Servianischen Verfassung" (Rede zur Feier des Geburts-
tages Wilhelms IL am 27. Jänner 1900, gedruckt in Strassburg bei J. H, Ed. Heitz),
von der Pöhlmann in seinem Buche noch nicht Gebrauch machen konnte, die er aber
seitdem in der „Historischen Zeitschrift" beifällig besprochen hat. Neumann ist bei
seiner Prüfung der altrömischen Geschichte von Knapps Arbeiten über preussische
Grundherrschaft und Bauernbefreiung ausgegangen: „sie ruht nicht auf neuem Quellen-
materiale^ sondern auf consequentem Durchdenken des Bekannten auf Grund agrar-
historischer Anschauung, die ich meinem verehrten Kollegen Knapp, der mir zum Lehrer
geworden ist, verdanke." Die sociale Entwicklung gieng dann dahin, den Ueberschuss an
Bevölkerung in „PÜanzstädte" (Colonien) auszuführen, im Anschlüsse an die Kriege, die
man mit den Nachbarn führte; darauf beruht die Eigenthümlichkeit des altrömischen
Staatswesens, in dem sonst ähnliche Ideen, wie in den Agrarstaaten Griechenlands, ihrer
Verwirklichung zustrebten: Verbot des „continuare agros", vielmehr Erhaltung der
Bauernstellen, dabei Abstufung der politischen Berechtigung nach Maassgabe des Grund-
besitzes, Zurücksetzung der städtischen Menge, die eines solchen entbehrt, Herabdrückung
des Capitalzinses oder Verbot des Zinsrechnens (worüber ßilleters „Geschichte des
Zinsfusses in Alterthum" 1898 vortreiflich gehandelt hat) u. dgl. m. — Ein völliger
Umsturz der Verhältnisse erfolgte, als die nur gewissen Classen der Bevölkerung zu gute
kommende „Weltpolitik" durchgriff, deren Rückwirkung in Italien auf weite Strecken
hin den Bauernstand ruinierte. Je mehr sich die capitalistische Wirtschaftsordnung
entwickelte, desto mehr wuchs auch ihr Gegensatz, der Socialismus. Als die Reforra-
bestrebungen der Gracchen, die nach dem Beispiele, das die spartanischen Könige Agis
uud Kleomenes im Jahrhundert vorher gegeben hatten, auf die alten Agrarordnungen
zurückgriifen, gescheitert waren, verschärfte sich die Krise von einem Decennium zum
anderen und revolutionierte das ganze Staatswesen.
Pöhlmann behandelt zunächst „Die sociale Bewegung im Lichte herr-
schender Parteianschauungen", namentlich an der Hand der Reden und Schriften
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. X. Band. 21
314 Literaturbericht.
des Cicero, der conservativ auf Seite des „rechtmässigen Besitzes" stand und in der
Beurtheilung des socialen Nothstandes ein unverbesserlicher Doctrinär war. Der Schutz
des Privateigenthums ist ihm die Hauptsache, von den Pflichten des Besitzes geht nicht
die Rede. Die Besitzenden sind die allein respectable Bürgerschaft; gegen sie erhebt
sich unter Catilina der „Bund des Lasters". Uebrigens nimmt auch Sallust in seiner
Darstellung der Catilinarischen Verschwörung, obwohl der „Popularpartei" angehörig, einen
„völlig ungeschichtlichen und unsocialen Standpunkt" ein (S. 483); seine Schrift ist ein
„tendenziöses Parteipamphlet" (S. 485). Bekanntlich ist zu jener Zeit der Kampf der
Parteien auch mit historischen Argumenten geführt worden. Die Geschichte des Kampfes
der Patricier und Plebejer wurde in Parallele gestellt mit dem Kampf der Optimaten
gegen die Populären, nicht ohne dass die Eeden, die man den Staatsmännern der alten
Zeit nach der hergebrachten Manier der rhetorischen Geschichtsschreibung in den Mund
legte, den Verhältnissen der Gegenwart angepasst worden wären. Ja Pöhlmann findet
(S. 565), dass die Argumente, mit denen (bei Dionysius von Halicarnass) der stolze
Patricier Appius Claudius gegen die Forderungen der Menge sich wendet, dieselben
seien, welche Bismarck in der Kronrathssitzung vom 24. Jänner 1890 der Begehrlichkeit
der Arbeiter entgegenstellte!
Es handelt sich bei diesen revolutionären Vorgängen um „das Erwachen der
Armut zum socialen Bewusstsein", da die öffentlichen Zustände zu einer „Kritik
der Gesellschaft" immer mehr herausforderten: die Ungleichheit in der Vertheilung
der Güter, die Menge der ruinierten Bürger, das Streben nach einem Antheil an den
Profiten der Weltherrschaft entweder auswärts im Kriegsdienst oder durch die Frumen-
tationen und Spiele in der Stadt, die Verwertung des Stimmrechtes u. s. w., Dinge, die
ähnlich schon in Athen und sonst in Griechenland zutage getreten waren, in Eom aber
bei dem gewaltigen Umfang der römischen Herrschaft weit ansehnlichere Dimensionen
annahmen. Den grössten Gewinn hoffte die Opposition auch hier durch völligen Umsturz
des Staatswesens sowohl wie der Besitzesverhältnisse zu erzielen, wozu Cinna und
Sulla das Beispiel gegeben hatten, das Catilina und seine Freunde befolgen wollten, das
Cäsar auf politischem Gebiet durchführte, die Triuravirn nach ihm auch in Bezug auf
den Besitz in den Proscriptionen und in den Ackervertheilungen nach der Schlacht bei
Philipp! (eine Umwälzung, die mit der in Böhmen nach der Schlacht am Weissen Berge
zu vergleichen wäre),
Pöhlmann verfolgt die einzelnen Erscheinungen, soweit sie in der trümmerhaften
Ueb erlief erung, die sich mehr um die Kriege und um die hervorragenden Individuen
kümmert als um die Zustände, mit Aufmerksamkeit und behandelt in einem letzten
Capitel den „Demokratischen Socialismus und romantischen Utopismus",
wobei mir allerdings von der Bezeichnung „demokratisch" ein zu weiter Gebrauch gemacht
zu sein scheint. So wird Cäsar „Demokrat" genannt! Vielmehr standen die römischen
Parteien durchwegs unter aristokratischer Führung, wie denn die Rangstellung der
Senatoren und Ritter von den Catilinarischen Verschworenen streng respectiert wurde;
ebenso hielt der sich auf Grund der Revolution aufbauende Monarchismus daran fest. Der
Sehnsucht nach dem „goldenen Zeitalter" geben auch die römischen Dichter Ausdruck,
so Virgilius (schon zur Zeit der Wiederversöhnung des M. Antonius mit Cäsar
Octavianus im Jahre 40 v. Chr.), Tibull und Ovid; darin wird auch der Urcom-
munismus des Saturnischen Reiches und „die Ausgleichung des Rechtes aller" gepriesen,
wie sie am Saturnalienfeste zwischen Herrn und Sclave prakticiert wurde. Es liegt
unverkennbar der allgemeine Gedanke zu Grunde, dass „das Privateigenthum und der
Classenunterschied eigentlich ein Unrecht seien, dass eine wahrhaft gerechte Gesellschafts-
ordnung mit Gütergemeinschaft und vollkommener socialen Gleichheit identisch sei."
Mit einer Betrachtung darüber schliesst Pöhlmann sein Buch ab. Er hatte
ursprünglich die Absicht, seiner Darstellung der auf dem Boden der hellenisch-römischen
Cultur erwachsenen socialen Ideen und Bewegungen auch noch die religiösen Erscheinungs-
formen des antiken Socialismus, namentlich im Judenthum und Christenthum, folgen zu
lassen. Da aber der griechische Theil so umfangreich geworden, musste dies unterbleiben,
Literaturbericht. 315
umsomehr als jener religiöse Socialismus ja doch einem anderen Culturbereich angehört.
„Mit dem vorliegenden Band ist in der Geschichte des antiken Socialismus ein gewisser
Abschluss erreicht."
Fassen wir unser Urtheil zusammen. Als ich vor beiläufig einem Vierteljahrhundert
bei Adolf Wagner in Berlin ein nationalökonomisches Colleg hörte, konnte ich mich
über nichts mehr ärgern, als dass der Vortragende bei Heranziehung von Paradigmen
aus dem Alterthum consequent auf E. Curtius' Griechische, Mommsens Römische
Geschichte verwies, ohne einer darüber hinausgehenden Kritik mächtig zu sein. In dem
Werk von Pöhlmann ist diese Kritik geübt, und wie jede künftige Bearbeitung der
Geschichte jener classischen Culturvölker davon Notiz nehmen muss, so auch jede
historische Betrachtung der Theorien und der Praxis, sei es des Socialismus, sei es des
Communismus. J. Jung.
E. V. Zenker, Die Gesellschaft. I. Band: Natürliche Entwicklungsgeschichte
der Gesellschaft. Berlin, Verlag Georg Reimer 1899. Preis 5 Mk.
Der verdienstvolle Verfasser des im Jahre 1895 bei G. Fischer in Jena erschie-
nenen Werkes „Der Anarchismus" hat sich in seiner neuesten Publication der mühsamen
Aufgabe unterzogen, auf Grund der neuesten, durch die vergleichende Sprachwissenschaft
und die Ethnographie festgestellten prähistorischen Thatsachen eine Darstellung des
socialen Urzustandes- des Menschen und der daran anknüpfenden ersten Entwicklungs-
stadien socialen und politischen Lebens zu liefern. Es muss rühmlich hervorgehoben
werden, dass Zenker ausdrücklich darauf verzichtet, eine endgiltige Synthese der bis-
herigen Specialforschungen zu geben; er vermeidet damit den gefahrvollen Weg, auf
welchem die meisten Sociologen bisher gewandelt sind, indem sie eine Aufstellung
socialer Gesetze unternahmen, bevor das Thatsachenmaterial genügend erforscht war.
Die Enttäuschung über die Leistungen der Gesellschaftswissenschaft, weJche in letzter
Zeit allenthalben platzgegrifFen und nicht selten sogar zu einer Verneinung derselben
geführt hat, lässt sich gewiss in letzter Linie darauf zurückführen, dass die Methode
der sociologischen Forschung bisher sehr häufig auf ein öaxspov upöxspov hinauslief,
indem man versuchte, die complicierte Welt der socialen Erscheinungen von einem
Punkte aus zu erklären, bevor man sich Rechenschaft darüber ablegen konnte, ob die
Thatsachen des socialen Lebens den Erklärungsversuchen nicht widersprächen.
Zenker behandelt in dem vorliegenden Buche zunächst die Elemente der socialen
Entwicklung und hieran anschliessend den Process und die Formen der politischen
Entwicklung; sein grösstes Verdienst besteht unseres Erachtens in der vorzüglichen,
durch ihre Anschaulichkeit ausgezeichneten und auf ein reichhaltiges Beweismaterial
gestützten Schilderung der primitiven Gesellschaftsformen. Dass die Erörterung von
Mutterrecht und Patriarchat hiebei eine wesentliche Rolle spielt, liegt auf der Hand.
Während die von Morgan und Bachofen vertretene, herrschende Ansicht zwischen die
das Matterrecht vorbereitende Blutsverwandtschaftsfamilie und die patriarchalische
polygyne Ehe eine Stufenfolge von Zwischenformen einschiebt, von welchen das Erscheinen
der neuen die Ueberwindung der alten voraussetzt, erklärt Zenker nach gewissenhafter
Prüfung des vorliegenden Thatsachenmateriales Mutter- und Vaterfamilie für Familien-
formen, welche lange Zeit nebeneinander bestanden, „als zwei Dinge, die mit ein-
ander eigentlich nichts zu thun hatten", welche aber gleichzeitig die einzigen Typen
des Familienlebens in der Urzeit repräsentieren, denen gegenüber die von der herrschenden
Ansicht aufgestellten Zwischenformen lediglich Abweichungen von der Regel bedeuten.
Mutter- und Vaterfamilie sind zeitlich nicht getrennt; das Auftreten dieser beiden
Familienformen hängt vielmehr von den wirtschaftlichen Verhältnissen ab, unter denen
die primitiven Gesellschaften der Urzeiten lebten. Die Mutterfamilie herrschte unter den
ackerbautreibenden Völkern, während sich bei den Hirtenvölkern die Vaterfamilie
einbürgerte.
Die eingehende Untersuchung dieser urzeitlichen Familienformen bildet unseres
Erachtens den wertvollsten und originellsten Bestandtheil des vorliegenden Buches. Die'
politische Entwicklung ist bloss in den Umrissen dargestellt; das Hauptgewicht wird
21*
316 Liter aturb ericht.
auf die Erörterung des Ursprunges und Wesens der politischen Herrschaft gelegt,
während die Formen, in welchen sich diese Herrschaft äussert, insbesondere die ver-
schiedenen Staatsformen, nur einer flüchtigen Behandlung unterzogen werden.
Zweifellos ist die „Natürliche Entwicklungsgeschichte der Gesellschaft" die
Grundlage eines grösseren gesellschaftswissenschaftlichen Werkes. Es bleibt nunmehr
abzuwarten, ob der zweite Theil der „Gesellschaft" jenen Erwartungen entsprechen wird,
welche der erste Theil durch seine gemeinverständliche und auf gediegene Literatur-
kenntnis gestützte Darstelhmg der socialen und politischen Entwicklung wachgerufen
hat. Im Interesse einer Eehabilitation der Sociologie wäre dieses Ereignis aufs freudigste
zu begrüssen. Hawelka.
Dr. Paul Eltzbacher, Der Anarchismus. Berlin, Verlag J. Guttentag, 1900.
Das vorliegende Buch enthält den ersten Versuch einer systematischen Darstellung
der anarchistischen Theorien. Der Verfasser ist mit grosser Gewissenhaftigkeit und
auf Grund genauer Kenntnis der einschlägigen Literatur zu Werke gegangen; sämmtliche
Schriften, welche irgendwie für die Erkenntnis der anarchistischen Ideen von Belang
sind, insbesondere aber die theoretischen Werke der maassgebenden Anarchisten, sind
bis ins Detail hinein in diesem Buche verwertet worden. Die Systematik ist auf das
genaueste eingehalten; einer allgemeinen rechtsphilosophischen Einleitung, welche die
Aufgabe der projectierten Untersuchung feststellt und kurz die Begriffe von Kecht,
Staat und Eigenthum erörtert, folgen, je ein Capitel für sich in Anspruch nehmend, die
Lehren der sieben hervorragendsten Anarchisten — Godwin, Proudhon, Stirner,
Bakunin, Krapotkin, Tucker und Tolstoj — streng gegliedert nach ihrer Grundlage,
nach ihrer Stellung zum Rechte, zum Staate und zum Eigenthume und nach der Art
ihrer Verwirklichung; den Abschluss bilden zwei Capitel, deren eines die erwähnten
anarchistischen Lehren in ihrer Gesammtheit betrachtet und ihre gegenseitigen Beziehungen
untersucht, während das letzte den Anarchismus auf Grund der vorgeführten Lehren
definiert und dieselben je nach ihrer Stellung zu den früher genannten drei politischen
und socialen Institutionen in ein Schema einreicht.
Infolge des Bestrebens, die anarchistischen Theorien systematisch und schematisch
darzustellen, verfällt der Verfasser häufig in eine unvermeidliche Monotonie; insbesondere
deutlich tritt dieselbe in der Einleitung hervor, in welcher die Gesichtspunkte, nach
denen die einzelnen Lehren behandelt werden sollen, zur Feststellung gelangen. Es
finden sich hier Sätze, die mit mehr oder weniger Abweichungen vier- bis fünfmal
wiederholt werden. Anderseits bietet diese strenge Systematik den unschätzbaren Vortheil,
dass mit ihr zum erstenmale eine klare üebersicht über die ihrem Wesen nach grund-
verschiedenen anarchistischen Lehren geboten werden konnte. Sie ermöglichte es dem
Verfasser, zu constatieren, dass diese Lehren ausser der Verneinung des Staates nichts
miteinander gemein haben, eine Erkenntnis, die durchaus neu ist, indem nach der bisher
allgemein verbreiteten Ansicht die Anarchisten in ihrer Gesammtheit auch das Recht und
das Eigenthum ablehnen.
Der Verfasser hat sich bei der Darstellung der genannten sieben hervorragendsten
anarchistischen Lehren bemüht, dieselben in wortgetreuer Anlehnung an die Originale
wiederzugeben; der Inhalt der sieben, der Darstellung dieser Lehren gewidmeten Capitel
besteht zum grössten Theile aus Citaten, welche nach den bereits erwähnten Kategorien
— Grundlage, Recht, Staat, Eigenthum und Verwirklichung — zusammengestellt sind.
Die Bedeutung dieser Compilationsarbeit darf nicht gering angeschlagen werden; man
musste sich bisher, wenn man nur einigermaassen mit den anarchistischen Ideen bekannt
werden wollte, der mühevollen Arbeit unterziehen, diesselben aus den zahlreichen
theoretischen und agitatorischen, in der Regel sehr schwer zu erlangenden anarchistischen
Schriften zu reconstruieren ; dieser Mühe ist man nunmehr enthoben.
Mit besonderer Anerkennung sei noch der Unparteilichkeit Erwähnung gethan, mit
der Eltzbacher bei seiner Arbeit vorgegangen ist; sein „Anarchismus" ist aus diesem
Grunde ein wissenschaftliches Werk im besten Sinne des Wortes. Hawelka.
Literaturbericht. - 317
1. Otto T. Zwiedinek-Südenhorst, Lohnpolitik und Lohntheorie mit
besonderer Berücksichtigung des Minimallohnes. Leipzig. Dunckler& Humblot,
1900. XIII und 410 Seiten.
2. Der Arbeiterschutz bei Vergebung öffentlicher Arbeiten und
Lieferungen. Bericht des k. k. arbeitsstatistischen Amtes über die auf diesem Gebiete
in den europäischen und überseeischen Industriestaaten unternommenen Versuche und
bestehenden Vorschriften. Wien, 1900. Hof- und Staatsdruckerei. X und 163 Seiten.
„Es muss als Sache des Staates und demzufolge der autoritären Lohnpolitik an-
erkannt werden, dafür Sorge zu tragen, dass nicht jener grösste Theil von ihm, di«
Klasse physisch Arbeitender, eines Tages vor einer weggegebenen Welt stehen, die sie mit-
schaffen geholfen haben." Diesen treffenden Schlussatz seines Werkes hätte Z wie dine k-
Südenhorst auch als Motto seiner Untersuchung voranstellen können. Object
dieser Untersuchung ist die Frage der Festsetzung von allgemeinen Lohngrenzen, ins-
besondere der Einführung von gesetzlichen oder conventioneilen Minimallöhnen. Im
Gegensatz zu diesen modernen Bestrebungen, den Arbeitslohn nach unten zu begrenzen,
steht die im ersten Abschnitte dargestellte Lohnpolitik bis zum Ende des 18. Jahr-
hunderts. Die Maximallöhne, die bis dahin vielfach bestanden, sollten zunächst die
Consumenten, dann das Gewerbe, schliesslich die Arbeitgeber schützen. Die Arbeit kommt
in diesem Studium lediglich als Productionsfactor, der Arbeitslohn als Aufwand des
Unternehmens in Betracht. Erst mit dem Beginne des 19. Jahrhunderts entwickelt sich
die Idee einer Lohnpolitik zu Gunsten der Arbeiter; es tritt die Forderung nach Ein-
führung eines Minimallohnes auf und weiss sich schliesslich hie und da auch durch-
zusetzen. Die Ursachen dieses Umschwunges liegen darin, dass der Stand der Lohnarbeiter
zu Selbstbewusstsein erwacht, dass er ein beachtungswerter socialer und politischer
Machtfactor geworden war.
Da aber, wie der Verfasser meint, „der Uebergang zur modernen Politik des
Minimallohnes seine Erklärung ausser in Verschiebungen in der Structur des Wirtschafts-
lebens nicht minder (? !) in der Entwicklung der Lohntheorien findet", so wendet sich
der Autor in dem 2. Abschnitte der Dogmengeschichte der Lohnpolitik zu und versucht
zu zeigen, wie sich die verschiedenen nationalökonoraischen Schulen zur Frage der bewussten
Beeinflussung der Lohnhöhe durch die Mittel der Volkswirtschaftspolitik verhalten.
Besonders interessant und selbständig ist hier die ausführliche Darstellung der zumeist
wenig gekannten katholisch-socialen Literatur. Der 3. Abschnitt ist den „Thatsachen der
modernen Lohnpolitik" gewidmet. Den Kernpunkt dieses Theiles und gewisserraaassen
des ganzen Buches bildet die Geschichte der lohnpolitischen Bestrebungen in Gross-
britannien. Z wiedinek-Südenhorst skizzirt hier die Entwicklung der gewerkschaft-
lichen Bewegung in England mit stetem Hinweis auf die speciellen lohnpolitischen
Ideen: den Aufschwung der Gewerkschaften infolge der Aufhebung des Coalitions-
verbotes und infolge des Einflusses von Robert Owen, das spätere Abgehen von der
Idee eines Minimallohnes und das Anstreben von gleitenden Lohnscalen, dann die Spaltung
in mehrere particularistische Strömungen, hierauf den Durchbruch der radicalen Ideen und
damit das Wiederauftauchen der Forderung des Minimallohnes in den achtziger Jahren, die
Aufstellung und die partielle Durchsetzung des Principes der fair wages, endlich das
Entstehen des neuen Trade-Unionismus. Eingehender werden dann die Ziele der Trade-
Unions in der Lohnpolitik erörtert, die Verschiedenheiten zwischen dem Principe der
living wages und der Standard-Löhne und die Einwirkungen dieser Gewerkschaftsbewegung
auf die autoritäre Lohnpolitik in England, insbesondere die Wirksamkeit der fairwages-
Clausel beobachtet.
In den anderen europäischen Staaten hat die Idee der Einführung von Mindest-
löhnen keine auch nur annähernd so bedeutenden Erfolge zu verzeichnen. Speciell für
Oesterreich behauptet zwar der Verfasser (Seite 294), es habe auch hier „das Princip
der Sicherung eines Mindestlohuverdienstes für Lohnarbeiter bereits in mehrfacher Weise
bestimmtere Gestalt gewonnen", und es könne „die Form, in welcher von Staat und
Staatsverwaltung ein Schritt auf dem Gebiete der Lohnregelung gemacht wurde, in
318 Literaturbericht.
Zukunft von grosser Tragweite werden"; in Wahrheit aber weiss er von nichts anderem
zu berichten, als von der Einbeziehung gewisser Kategorien von Arbeitern der Staats-
betriebe in das statusmässig eingereihte Personal. Ob diese so bescheidene Maassregel
die angeführten Worte rechtfertigt?! Thatsächlich ist man in Oesterreich von der
Verwirklichung der Idee von Minimallöhnen so weit entfernt, wie kaum in einem
anderen Culturstaate. Speciell der Staat und die Selbstverwaltungskörper als Arbeitgeber
gehen nicht nur nicht bahnbrechend voran auf dem Gebiete des Arbeiterschutzes, sie sind
nicht nur nicht die Führer des socialen Fortschrittes, sondern sie bleiben fast allgemein
weit hinter dem Wenigen zurück, was der private Arbeitgeber seinen Arbeitern an Ver-
sicherung und an Arbeiterschutz gewähren muss.
In den beiden letzten Abschnitten wendet sich der Verfasser der dogmatischen Behand-
lung des in Rede stehenden lohnpolitischen Problems zu. Zunächst untersucht er die
Frage: ob es denn möglich sei, die Höhe des Geldlohnes dauernd im Wege und durch die
Mittel der Socialpolitik — Selbsthilfe und Staatshilfe — zu Gunsten der Arbeiter zu beein-
flussen? Er zeigt, dass diese Frage zu bejahen sei, und weiters, dass damit auch die
Höhe des Reallohnes gesteigert werden könne, wobei allerdings viel von dem National-
charakter abhänge. Er bezeichnet es aber auch als ein ethisches Postulat, dass die
organisierte Gesellschaft Hungerlöhne ebenso verbiete, wie eine sonstige laesio enormis,
wie eine andere Bewucherung. Schliesslich beleuchtet er noch die verschiedenen Formen
der Lohnbegrenzung und untersucht deren Berechtigung. Sein eigener Standpunkt ist der,
dass es allerdings Aufgabe der autoritären Lohnpolitik sein müsse, eine Lohngestaltung
hintanzuhalten, welche den Forderungen der Gerechtigkeit und der Freiheit widerspricht;
doch sei das einfachste und sicherste Mittel zur Erreichung dieses Zweckes, wenn der Staat
die Möglichkeit zu collectiver Vertragsschliessung bei völliger Coalitionsfreiheit schaffe ;
habe der Staat dies gethan, so bedürfe es keines weiteren positiven Actes staatlicher Lohn-
politik. Nur dort, wo eine solche collective Gestaltung des Arbeitsvertrages fehle, müsse
der Staat auch positiv eingreifen. Dies treffe namentlich bei den Heimarbeitern zu, ferner
bei der Classe der gewöhnlichen, ungelernten Taglöhner. Endlich stehe dem Staat als
directem Arbeitgeber und Auftraggeber eine unmittelbare Beeinflnssung der Lohnhöhe zu.
Schon aus dem Gesagten erkennt man leicht, dass sich der Titel des Werkes mit
seinem Inhalte nicht deckt, dass vielmehr ersterer in vielfacher Hinsicht zu weit ist.
Eine Theorie des Arbeitslohnes wird nicht geboten, — einigen flüchtigen Bemerkungen
in der Einleitung kann man diesen Namen gewiss nicht zuerkennen. Aber auch die
Lohnpolitik wird nicht erschöpfend behandelt, sondern nur die socialpolitische Beein-
flussung der Lohnhöhe. Es bleibt eine ganze Reihe anderer hochwichtiger lohnpolitischer
Fragen ganz ausser Betracht, wie die nach Zeit- oder Stücklöhnung, nach Natural- oder
Geldlöhnung, wie das Truckverbot u. s. w.
Eine gewisse Ergänzung der Schrift von Zwiedinek-Südenhorst ist in dem
Berichte des arbeitsstatistischen Amtes über den Arbeiterschutz bei Ver-
gebung öffentlicher Arbeiten und Lieferungen gegeben. Diese höchst wertvolle
Publication gibt eine Darstellung aller auf diesem Gebiete bisher unternommenen Versuche
und Maassregeln und ihrer Erfolge. Es ist hier ein reiches, durchaus zuverlässiges Material
zum Studium einer Frage zusammengetragen, die speciell für Oesterreich hochwichtig
ist, da bei uns auf diesem Gebiet noch fast alles zu thun übrig ist. Macht doch der
Abschnitt der Schrift über Oesterreich nach all dem, was in den Weststaaten Europas, in
Amerika und Australien auf diesem Gebiete bereits geschehen ist oder doch wenigstens
angestrebt wird, einen geradezu kläglichen Eindruck, Es liest sich fast wie Ironie, wenn
es da heisst, dass bei uns „die Fürsorge für die Arbeiter völlig den Unternehmern überlassen
bleibt." Dass da Abhilfe dringend Noth thäte, wird schwerlich jemand leugnen können.
Ebensowenig, dass die technischen Schwierigkeiten, die einem kräftigen Arbeiterschutz
bei öffentlichen Arbeiten und Lieferungen entgegenstehen, keine unüberwindlichen sind.
Da es sich endlich hier nicht um Maassnahmen der Gesetzgebung, sondern um blosse
Verwaltungsacte handelt, da es lediglich auf die Willensentschliessung der Verwaltungs-
behördeu unabhängig von dem complicierten parlamentarischen Apparate ankommt, darf:
I
Literaturbericht. 319
man vielleicht hoffen, dass der praktische Erfolg dieser Publication des arbeitsstatistischen
Amtes etwas grösser sein werde, als dies sonst bei socialpolitischen Arbeiten in Oesler-
reich der Fall zu sein pflegt. S.
Dr. Felix Freiherr V. Oppenlieimer. Die Wohnungsnoth und Wohnungs-
reform in Engl and mit besondererBerücksichtigung der neueren Wohnungs-
gesetzgebung. — Leipzig, Duncker & Humblot, 1901.
In dem Zusammenhang der Probleme, die insgesammt die Arbeiterfrage unserer
Zeit ausmachen, ist während der beiden letzten Jahrzehnte auch in den Staaten des
Festlandes die Bedeutung und Tragweite der Wohnungsverhältnisse der arbeitenden
Classen immer mehr hervorgetreten, während sich in England schon seit der Mitte
des XIX. Jahrhunderts Gesetzgebung und öffentliche Meinung mit dieser grossen und
ernsten Aufgabe moderner Socialpolitik unablässig beschäftigt haben. Um so wichtiger
ist es daher für alle jene Factoren, die in Oesterreich und im Deutschen Keiche dem
immer dringenderen Verlangen nach einer Verbesserung der Wohoungsverhältnisse vor
allem der städtischen Massen zu entsprechen bestrebt sind, dass sie sich von dem Ent-
wicklungsgange der englischen Wohnungsgesetzgebung und den in England erzielten
Erfolgen staatlicher und privater Unternehmungen auf diesem Felde Rechenschaft
ablegen. Diesem Bedürfnisse entspricht nun das vorliegende Buch v. Oppenheimers
in ganz hervorragendem Maasse. Der Verfasser setzt zunächst in kurzem Ueberblick die
Hauptursachen der Wohnungsnoth in den englischen Grosstädten auseinander, gibt
sodann eine Darstellung der Geschichte der englischen Wohnungsgesetzgebung sowie des
gegenwärtigen Standes derselben. Hieran schliesst sich eine Schilderung der thatsäch-
lichen Wohnungspolitik der englischen Stadtverwaltungen sowie der unabhängig von der
öffentlichen Verwaltung durch das private Capital und mittelst wohlthätiger Stiftungen
erzielten Fortschritte auf dem Wege der Verbesserung der Wohnungszustände der Massen.
Sehr instructiv ist sodann das besondere Capital über die öffentlichen Logierhäuser der
englischen Grosstädte, indem es eines der wichtigsten Probleme moderner Grosstadt-
verwaltung aus den englischen Erfahrungen und Zuständen heraus beleuchtet: nämlich
das Problem der gesunden, billigen und bis zu einem gewissen Grade comfortabeln
Unterbringung unverheirateter alleinstehender Arbeiter und Arbeiterinnen der niederen
Lohnkategorien. Besonders dankenswert erscheint da die ausführliche Schilderung, die
der Verfasser von der neuesten und aufsehenerregenden Erscheinung auf diesem Gebiete
gibt: nämlich von den sogenannten Rowton-Houses in London, die den vollendeten Typus
einer modernen Arb eiterherb erge in grossartigem Maasstabe verwirklichen und dabei nach
den bisherigen Erfahrungen auch eine ausreichende Verzinsung des Anlagecapitals
gewährt haben. In dem Schlusscapitel endlich behandelt der Verfasser die wie allerwärts
auch in England beobachtete Thatsache der fortwährenden Zunahme der Bevölkerung an
der Peripherie der Grosstädte und stellt die damit zusammenhängende Verkehrspolitik
dar: die gesetzliche Festlegung billigster Eisenbahntarife für Arbeiterzüge, die Muni-
cipalisierung von Strassenbahnen, Omnibuslinien u. s. w. Es ist selbstverständlich, dass
der Verfasser bei dem Umfange der vorliegenden Schrift von vorneherein darauf ver-
zichtet hat, das ausserordentlich reiche Material erschöpfend zu behandeln, das in
Parlamentspapieren, Publicationen der Stadtverwaltungen, Pamphleten und in der Zeit-
schriftenliteratur dem Erforscher der Wohnungspolitik Englands zu Gebote steht. Ihm
lag anscheinend vor allem daran, eine üebersicht der ganzen Entwicklung dieser letzteren
und damit die Möglichkeit eines Vergleiches dessen, was in England angestrebt wird
und bereits erreicht worden ist, mit den gleichen Bestrebungen in Deutschland und
Oesterreich zu geben. Hiebei hat Oppenheimer nicht nur die vorhandene Literatur
reichlich benützt, sondern seine Darstellung durchwegs auf eigene Anschauung im Lande und
persönliche Beobachtung gegründet. Wenn sich auch Oppenheimer eines resümierenden
Endurtheils über den bisherigen Erfolg der englischen Wohnungsgesetzgebung enthalten
hat, so ergibt seine Darstellung dennoch zunächst ein wichtiges principielles Resultat:
dass nämlich ein Erfolg gegenüber diesem so schwierigen und vielseitigen Probleme nur
durch gleichzeitige Anwendung verschiedener Methoden erreicht werden kann.
320 Literaturbericht.
Daran wird auch in unseren so ganz anders gearteten Verhältnissen der Wohnungsfrage
gegenüber festgehalten werden müssen. Ein Eecept zur Bereitung eines Alleinheilmittels
gegen die so oft und so beredt geschilderten, furchtbaren Misstände der Wohnungsverhält-
nisse der städtischen Arbeitermassen hat man auch in England während des halben Jahr-
hunderts eifriger Forschungen und Bestrebungen auf diesem Gebiete nicht finden können.
So viel ist klar, dass nur das Zusammenwirken verschiedener Factoren: einer guten
Sanitätsgesetzgebung und effectiven Sanitätspflege im Verein mit der Bauthätigkeit
städtischer Behörden und des Privatcapitals sowie gleichzeitiger Verbilligung des
städtischen Verkehrswesens dauernd grosse Erfolge erzielen kann. Dass auch in
England der Capitalaufwand aus öffentlichen Mitteln zur Erbauung von Arbeiterwohnungen
bisher doch nur eine verhältnismässig geringere Rolle gespielt hat, ergibt übrigens der
jüngst dem Unterhause vom Local Government Board vorgelegte Bericht über die
Wirksamkeit des Arbeiterwohnungsgesetzes von 1890. Darnach beträgt die Gesammt-
summe der städtischen Anlehen für solche Zwecke — von London abgesehen — in Boroughs
755.083 Pf. Sterl., in städtischen Districten 92.309 Pf. Sterl. Dass damit nur ein Bruch-
theil der städtischen Wohnungsnoth beseitigt werden konnte, ist von vornherein klar.
Für London gibt dieser Ausweis als Gesammtbetrag der Anlehen des Grafschaftsrathes
allerdings eine viel höhere Summe an: nämlich 2,824.434 Pf. Sterl., wozu noch
67.450 Pf. Sterl. Anlehen der Londoner Vestries hinzuzurechnen wird. (Ueber die Tliätig-
keit der Verwaltungsbehörden Londons gegenüber der Wohnungsnoth der arbeitenden
Classen vergleiche jetzt den vor Kurzem veröffentlichten, erschöpfenden Bericht des Cleik
of the London County Council, C. J. Stewart.) Thatsächlich ist der Londoner Graf-
schaftsrath von Anbeginn seiner Wirksamkeit unablässig bestrebt, durch eigene Thätig-
keit die Wohnungszustände zu verbessern, mehr und bessere Arbeiterwohnungen zu
schaffen. Allerdings ist gerade diese Politik des London County Council vielfachen
und nicht bloss parteimässigen Angriffen ausgesetzt: aber immerhin wird mau dem Ver-
fasser darin beistimmen, dass die Vortheile der grosszügigen und unternehmungslustigen
Wohnungspolitik der Londoner Progressives in der Stadtverwaltung die etwaigen Nach-
theile dieser Methode wesentlich übersteigen. Andererseits sind gerade durch das jüngste
Wohnungsgesetz vom Jahre 1900 die Befugnisse der Stadtverwaltungen überhaupt zum
Zwecke der Erbauung municipaler Arbeiterhäuser ansehnlich erweitert worden. — Es ist
selbstverständlich unmöglich, hier in die Einzelheiten dieses ausserordentlich verwickelten
Problemes weiter einzugehen. Versuchen wir aber aus den englischen Erfahrungen in diesem
Zweige der Socialpolitik eine Lehre zu ziehen, so liegt diese unleugbar in der Erkenntnis,
dass auch hier durch Gesetze und Befehle von oben herab nichts Grosses und Dauerndes erzielt
werden kann. Wenn auch eine gute Gesetzgebung und eine tüchtige Wohnungspolitik der
staatlichen Verwaltung für die allmähliche Beseitigung der geradezu culturhemmenden Miss-
stände in den Wohnungsverhältnissen der modernen Arbeiterschaft die wichtigsten Werkzeuge
sind, so bilden dabei doch die unerlässliche Voraussetzung: das Verständnis der breitesten
Schichten der Bevölkerung für die allgemeine Bedeutung des Wohnungsproblemes sowie
eine in dieser Richtung lebendig und wirksam hervortretende öffentliche Meinung. Auch
von diesem Gesichtspunkte aus muss das vorliegende Buch mit seiner klaren und flüssigen
Darstellung der englischen Gesetzgebung als ein sehr wertvoller Beitrag zur deutschen
Literatur über das Wohnungsproblem willkommen geheissen werden. Das Bild unermüd-
licher Arbeit und stetiger Entwicklung der Gesetzgebung, der Verwaltung und der
privaten Thätigkeit auf diesem Felde der Socialpolitik, das der Verfasser für England
gibt, sollte in weitesten Kreisen anregend und fördernd wirken zu Gunsten der gleich-
artigen Bestrebungen in unserer Mitte.
Wien. Dr. Josef Redlich.
Dr. Abele, Weiträumiger Städtebau und Wohnungsfrage. Stuttgart 1900.
Die grosse Unklarheit, welche in Bezug auf den Charakter und die Ursachen der
Wohnungsnoth in den communalen Vertretungen deutscher Städte bis in die jüngste
Zeit herrschte, ist die verhängnisvolle Ursache der so häufig einseitigen, ja verkehrten
Maassnahmen gewesen, die zur Linderung jenes socialen Uebels ergriffen worden sind
Literaturbericht. 321
Lange genug waren die schlimmen Folgen einer übermässigen Zusaramendrängung grosser
Arbeitermassen auf engem Eaum überhaupt unbeachtet geblieben. Als dann von jenen
elenden Quartieren und schmutzigen Gassen verheerende Krankheiten ihren Ausgang
nahmen, die auch vor den Thüren der wohlhabenderen Bevölkerung nicht Halt machen
wollten, war es die öflfentliche Gesundheit allein, in deren Namen die Wohnungsfrage
zuerst aufgeworfen, die Wohnungszustände als unhaltbar bezeichnet wurden. Es war
berechtigt, wenn diese ersten Fürsprecher der Wohnungsreform die in den alten Städten
des Continents fast ausschliesslich übliche engräumige Bauweise von ihrem Standpunkte
aus verdammten und der weiträumigen Bebauung — d, i. der Freistellung der Gebäude
nach allen Seiten unter gleichzeitiger Beschränkung der Stockwerkzahl — das Wort
redeten. Als Ideal dieser letzteren Bauweise präsentierte sich das selbständige Einfamilien-
haus mit bescheidenem Vorgarten und eigenem Hofraum. Aber gerade die häufigere
Anwendung der weiträumigen Bauweise lehrte, dass ungeachtet dem zweifellosen Fort-
schritt in sanitärer Beziehung, der dem in den neuen Gebäuden untergebrachten Theie
der Bevölkerung zustatten kam, die Wohnungsnoth nicht nur nichts von ihrem
bedrohlichen Charakter verlor, sondern immer breitere Bevölkerungsschichten in immer
empfindlicherer Weise traf. Man hatte eben übersehen, dass die Richtung der Wohnungs-
reform nicht von dem Interesse der öffentlichen Gesundheit allein gewiesen werden dürfe,
dass die Wohnungsfrage vielmehr in ihrem Kern als wirtschaftliches Problem sich
darstelle, weil die Ursache der Wohnungsnoth der zu hohe Preis von Grund und Boden,
das zu geringe und stockende Angebot von guten Bauplätzen und billigen Quartieren
sei. Man hatte vergessen, dass eine Eeform, die die für das Einzelhaus erforderliche
Area weiter spannen, an Stelle von 4 oder 5 Stockwerken nur 2 oder 3 derselben setzen
wolle, eine ausserordentliche Erweiterung der Peripherie der Städte, eine ausserordentliche
Steigerung der Nachfrage nach Grund und Boden, eine weitere Verschärfung der Con-
currenz um denselben und somit eine weitere Erhöhung seines Preises bedingen müsse.
In diesen Widerstreit zwischen dem hygienischen und dem wirtschaftlichen Princip
um eine befriedigende Lösung der Wohnungsfrage führt uns die von dem Secretär des
Stuttgarter Stadtschultheissenarats Dr. Abele jüngst veröffentlichte Studie auf belehrende
Weise ein. Der Verfasser legt die Bestrebungen des Deutschen Vereins für öffentliche
Gesundheitspflege dar, die seit der im Jahre 1875 in München abgehaltenen Versammlung
auf die Anwendung der weiträumigen Bauweise in den Stadterweiterungsgebieten deutscher
Städte gerichtet waren. Er erzählt aber auch, wie bereits auf der Frankfurter Versammlung
des Jahres 1888 infolge einer tieferen Erfassung der Wohnungsfrage die Erkenntnis auf-
dämmerte, dass das Bedürfnis nach billigen Wohnungen nicht minder gebieterisch als
das nach gesunden Wohnungen sei. Aber die begeisterten Apostel der weiträumigen
Bauweise verstanden es, die Bedenken ihrer Gegner mit der Behauptung zu bannen, dass
jene Bauweise, indem sie die Ausnützungsfähigkeit des Bodens beschränke, auf den
Bodenpreis drücke und damit nicht nur gesündere, sondern auch billigere Wohnungen
herstellen lasse. Diese Argumentation blieb damals wunderlicherweise fast widerspruchs-
los, ja sie bewirkte, dass im Laufe der folgenden Jahre einige der grössten deutschen
Städte, wie Frankfurt, Hamburg, Berlin, Altena und Breslau, in ihren Stadterweiterungs-
gebieten die weiträumige Bauweise im Wege örtlicher Bauvorschriften einzuführen
versuchten. Aber seither hat die Erfahrung gelehrt, dass jener bestrickende Satz nur die
halbe Wahrheit enthielt, dass die Wortführer jener Versammlungen des Deutschen
Vereins Ursache und Wirkung in augenfälliger Weise mit einander verwechselten. Es ist
gewiss richtig, dass die Ausnützungsmüglichkeit von Grund und Boden ein bestimmender
Factor seines Preises ist, dass eine allgemeine zwangsweise Beschränkung dieser
Ausnützungsmöglichkeit den Einzelnen zwingt, für Grund und Boden um soviel weniger
zu geben, als er weniger aus ihm herausschlagen kann. Aber es ist auch zweifellos
richtig, dass dieser von den angedeuteten Beschränkungen (Gebot der Errichtung kleiner
Häuser, Verbot der Mietkasernen, Beschränkung der Stockwerkzahl wie der Zulässigkeit
von Hinterwohnungen u. s. w.) zu erwartende Eückgang des Bodenpreises eilig wett-
gemacht werden muss von der durch eben dieselben Beschränkungen bedingten
322 Literaturbericht.
schachbrettartigen Erweitening des Städtebildes und der hieraus resultierenden vermehrten
Nachfrage um den verfügbaren Raum, einer Entwicklung, die, wenn sie nicht von einer
entsprechenden Ausgestaltung des Communicationsnetzes begleitet wird, gerade die Lage
der ärmsten Classen noch weiter erschwert.
Thatsächlich konnte auch der Rückschlag in der Politik jener städtischen Gemein-
wesen nicht ausbleiben, die die weiträumige Bauweise ohne Vorbehalt adoptiert hatten.
Die unverhältnismässige Höhe, welche die Mietzinse infolge ihrer einseitigen Maass-
nahmen bald erlangten, waren geeignet, vor einer Vernachlässigung der wirtschaft-
lichen Seite des Problems den hygienischen Interessen zu Liebe in Zukunft zu warnen.
Ja, Dr. Abele steht nicht an, in seinem Schlussworte zu behaupten, dass mit der
Bereitstellung einer genügenden Anzahl billiger Kleinwohnungen die sanitären Miss-
stände, insbesondere die Ueberfüllung derselben von selber verschwinden würden. Er
betrachtet die private Unternehmung allein als geeignet, die Wohnungsfrage ihrer
Lösung zuzuführen und sieht die Aufgabe der öffentlichen Gewalten ausschliesslich darin,
durch Maassnahmen öflfentlichrechtlicher Natur, von denen er einen kurzen, aber
erschöpfenden Abriss gibt, den Bau von Kleinwohnungen wieder rentabel zu machen
und die Misstände zu beseitigen, welche deren Vermietung in sich schliesst.
Oppenheimer.
J. Hogge, La Serbie de nos jours. Etüde politique et dconomique. Bruxelles,
Librairie Falk fils, 1901. 8", 164 und 102 S.
Dr. J. Krauss, Deutsch-türkische Handelsbeziehungen seit dem Berliner Vertrage
unter besonderer Berücksichtigung der Handelswege. Jena, Gustav Fischer, 1901.
80, IV und 114 S.
Dr. phil, Iwan K. Drenkoff, Die Steuerverhältnisse Bulgariens (XXIX. Bd. d.
„Sammlung nationalökonomischer und statistischer Abhandlungen des staatswissenschaft-
lichen Seminars zu Halle a. d. S. Hrg. von Prof. Joh. Conrad). Jena, Gustav Fischer,
1900. 80, X und 14C S.
Sämmtliche vorstehend angezeigte Schriften, die übrigens von sehr ungleichem
Werte sind, haben dies gemeinsam, dass sie sich auf das Balkangebiet beziehen, in dem
die österreichisch-ungarische Monarchie nicht nur allgemein-politische, sondern auch
wirtschaftliche Interessen ersten Ranges wahrzunehmen hat. Dies allein schon, noch mehr
aber der Umstand, dass sie einander in mehrfacher Richtung ergänzen, rechtfertigt ihre
zusammenfassende Besprechung, trotzdem sie jede für sich besondere Gegenstände behandeln.
Das an erster Stelle genannte Buch von.Hogge, das der Königin von Serbien
gewidmet ist, zerfällt in zwei Abtheilungen.
In der ersten werden — nach einem einleitenden Capitel über die Zukunft
Serbiens und einer historischen Skizze über die politische Entwickelung des Landes bis
zur Gegenwart — geschildert: die Person und das Regierungsprogramm des Königs
Alexander, sowie die Vorgänge bei dessen Eheschliessung; die Gestaltung des Partei-
wesens; die Finanzen, unter Vergleichung mit den finanziellen Verhältnissen Rumäniens,
Bulgariens, Griechenlands und Montenegros; das Eisenbahnwesen; die Armee; die
innere Verwaltung überhaupt, sowie insbesondere die Sanitätsverwaltung und der Zustand
des öffentlichen Unterrichtswesens.
Man sieht, Hogge bietet nicht wenig. Was er aber bietet, ist durchaus flüchtig
und wenig verlässlich. Allerdings bemerkt er selbst einleitend: „Ce livre n'est pas un
livre d'histoire, pas plus qu'un ouvrage politique ou ^conomique". Dadurch wird
jedoch ebensowenig seine übergrosse Oberflächlichkeit entschuldigt, wie der apologetische
Ton, der das ganze Werk durchzieht, durch die Absicht: Serbien vor ungerechtfertigten
Angriffen in der öffentlichen Meinung Europas zu rechtfertigen. Dass dem guten
Willen des Königs Anerkennung gezollt wird, ist gewiss berechtigt. Nicht aber die
überschwängliche Art, wie dies geschieht, die mitunter geradezu komisch wirkt. Ist es
z. B. nicht auch lächerlich, wenn Hogge uns die Eigenheit des Königs mittheilt, bei
Audienzen Löschpapierstückchen zu zerreissen, und hinzufügt: „Napoleon, ne taillaidait-il
pas, en parlant, de coups de canifs le bras du fauteuil dans lequel il etait assis!" Es
I
Literaturbericht. ' 323
braucht nach dem Gesagten kaum noch hinzugefügt zu werden, dass alles in Serbien
auf das Vortrefflichste bestellt ist. Die Finanzen lassen nichts zu wünschen übrig; das
Heer ist eine „armee modele"; die Sanitätsverwaltung ist ausgezeichnet; das öffentliche
Unterrichtswesen fast ebenso gut und auf der Höhe der Zeit; und man muss sich
wundern, dass Herr Hogge doch in den übrigen Verwaltungszweigen einiges aussetzt und
„quelques ddsidörata" vorzubringen hat.
In der Form ebenso salopp wie die erste Abtheilung, sticht die zweite wenigstens
inhaltlich angenehm von ihr ab.
Hogge schildert uns in derselben zunächst in allgemeinen Zügen die volks-
wirtschaftliche Entwickelung Serbiens und sodann im Einzelnen: den Mineralreichthum
des Landes; dessen Handel, Ackerbau und Viehzucht; ferner den Wein- und Tabakbau;
endlich die Gestaltung des Aussenhandels.
Was Hogge hier vorbringt, ist jedoch mit Ausnahme des kurzen Abschnittes
über den Tabakbau und einiger neuerer statistischer Daten — zum weitaus grössten
Theile abgeschrieben aus dem trefflichen Buche des ehemaligen Gesandten der
französischen Eepublik in Belgrad, Ken e Millet: „La Serbie economique et commerciale"
(Paris 1889), und zwar entweder wörtlich abgeschrieben oder mit geringen, den Sinn
nicht verändernden Wort- und Satzverschiebungen!
Dabei spielt Herrn Hogge seine Flüchtigkeit und üngenauigkeit auch im Ab-
schreiben manchen netten Streich. Um nur zwei Beispiele anzuführen: Millet beschreibt
die Hügellandschaften mit Weinbau „qui s'alternent on s'enchainent jusqu'au noeud
central des Balcans" (a. a. o. S. 96). Hogge seinerseits schreibt (S. 74) statt dessen: „qui
se prolongent jousqu'au nord central des Balcans". Millet behandelt unter der Ueber-
schrift: „Envoi u'chantillons et musöes sociaux" (a. a. 0. S. 376 ff.) die Bestrebungen
und Mittel zur Förderung und Stärkung der französischen Wareneinfuhr nach Serbien
gegenüber dem Wettbewerb der anderen Handelsvölker, vorwiegend Oesterreich-Ungarns
und Deutschlands. Hogge, der vom belgischen Interessenstandpunkt schreibt (S. 96 ff.)
bethätigt diesen dadurch, dass er in Millets Ausführungen einfach das Wort
fran^ais" durch „beige" ersetzt oder zumindest ergänzt. Dabei passiert es ihm jedoch
einigemal jenes zu übersehen, so dass es plötzlich ganz unmotiviert auftaucht.
Wem Hogge die Partien seines Buches, die nicht Millet entstammen, „verdankt",
habe ich nicht constatieren können. Das ältere Buch von de Borchgrave „La Serbie
administrative, economique et commerciale (Bruxelles 1883)", das unserem Autor wohl auch
gute Dienste geleistet haben mag, ist mir augenblicklich nicht zur Hand, so dass ich
es nicht vergleichen kann.
Im Gegensatze zu der absolut wertlosen Arbeit Hogges verdient die an zweiter
Stelle angezeigte Schrift vou Krauss ernsthafte Beachtung.
Der Verfasser bietet in derselben in gewissenhafter und lebendiger Darstellung
die Ergebnisse „eines sechsjährigen aufmerksamen Studiums der in Frage stehenden
Verhältnisse und mehrjähriger persönlicher Anschauung" ohne die, — bei der Unmöglichkeit
aus türkischen Quellen zu schöpfen, oder sich auf sie zu verlassen, — die Arbeit überhaupt
nicht hätte unternommen werden können. So ist sie denn schon verdienstlich, weil sie
unsere Kenntnis von dem Wirtschaftsleben der Türkei im allgemeinen erweitert. Für
uns Oesterreicher bietet sie aber auch noch ein ganz besonderes Interesse dadurch, dass
sie uns zeigt, wie und warum der Handelsverkehr des Deutschen Eeiches mit der Türkei
seit dem Beginne der 80er Jahre eine fortwährende Steigerung erfahren hat.
Diese Steigerung ist zweifellos zum guten Theile auf Kosten des österreichisch-
ungarischen Exportes in die Türkei erfolgt. Denn hier, wie überall in den Balkanländern, hat
der Aussenhandel der Monarchie keine wichtigere und gefährlichere Concurrenz zu bekämpfen
als die deutsche. Allerdings ist die österreichisch-ungarische Ausfuhr nach der Türkei
von 16-229 Millionen Gulden im Jahre 1891 auf 31-349 für 1898 gestiegen, während die
deutsche mit 37'027 und 37075 Millionen Mark für dieselben Jahre ziemlich stationär
324 ' Literaturbericht.
geblieben ist und 1899 sogar einen Eückgang auf 32.600 Millionen Mark zu verzeichnen
hat. Es ist femer zu berücksichtigen, dass in diesen Ziffern auch die Lieferungen Deutschlands
für Eisenbahnbauten in Kleinasien, an Waifen und an Munition mit bedeutenden Posten
enthalten und daher in Abzug zu bringen sind, wenn man ein richtiges Bild der
regelmässigen Handelsbewegung erhalten soll. Andererseits aber muss man die
letztere von 1880 an verfolgen, und da zeigt sich denn, dass sie — von 6*423 Millionen
Mark in diesem Jahre — eine constante Zunahme aufweist, und sich in den 90er Jahren
um mehr als das Doppelte erhöht hat.
Zur Kennzeichnung des Ganges der Krauss'schen Untersuchung sei Folgendes
angeführt. Der Verfasser leitet seine Darstellung mit einem „Ueberblick über die
neuzeitliche türkische Geschichte" und die inneren Umwandlungen des Reiches seit dem
Krimkriege ein (S. 1 — 15). Im zweiten Abschnitte „die wirtschaftliche Türkei" (S. 16—42),
werden zunächst die türkische Statistik überhaupt und die Ergebnisse der türkischen
Handelsstatistik im besonderen gekennzeichnet und sodann die türkische Zahlungsbilanz
(Zusammensetzung und Transport der Warenein- und -Ausfuhr; Handels-, Capitals- und
Personenverkehr mit dem Auslande) behandelt. Der dritte und vierte Abschnitt sind
einer Schilderung der Entwickelung der deutsch-türkischen Verkehrsbeziehungen vor und
seit dem Berliner Vertrage, sowie des Standes derselben im Jahre 1900 gewidmet
(S. 43 — 112). Ein Literaturnachweis beschliesst das instructive Werkchen.
Drenkoffs Schrift ist nicht handelspolitischen Inhaltes, sondern will uns nur
die Kenntnis der bulgarischen Steuergesetzgebung und Steuerverhältnisse vermitteln, bei
welcher Gelegenheit jedoch allerdings auch die Zollgesetzgebung und Verwaltung kurz
dargestellt wird (S. 110—122). Die oft recht holprige Sprache und den nicht gerade
glänzenden systematischen Aufbau der Darstellung wird man dem Ausländer zugute
halten müssen. Jedenfalls schmälert dies nicht die sachliche Bedeutung der Arbeit, die
nicht nur sehr interessant ist, sondern auch einen durchaus verlässlichen Eindruck
macht. Es ist dies umso dankenswerter, als es sich in ihr um Dinge handelt, die in
Westeuropa, oder wie der Verfasser zu schreiben pflegt, „in Cultureuropa" so gut wie
unbekannt sind.
Der Verfasser geht von dem richtigen Gedanken aus, „dass die Steuersysteme,
so eigenartig sie auch sein mögen, immer als Glieder eines geschichtlichen Zusammen-
hanges anzusehen sind und sich nur aus diesem Zusammenhange begreifen lassen". Er
unterzieht daher vor Allem das Steuerwesen in Bulgarien unmittelbar vor dessen
Befreiung der Betrachtung (S. 14—25). Mit Eecht hebt er als dessen Hauptmangel die
Art der Steuerverwaltung hervor, die sich durch das ausschliessliche Streben nach
Sicherung der Steuereingänge (Pachtsystem) charakterisierte, die Principien einer all-
gemeinen und gerechten Steuervertheilung jedoch gänzlich ausser Acht Hess. — Die
erste Zeit nach dem Zusammenbruche der türkischen Herrschaft auf bulgarischem
Boden — sowohl während der russischen Occupation, als auch nach der Einkehr ver-
fassungmässiger Zustände seit dem April 1879 — brachte denn auch im Wesen nur
Aenderungen in der Steuerverwaltung, während „das Steuersystem selbst in seinen
rechtlichen Grundlagen den Typus des Türkischen" beibehielt (S. 28). Nachher erst wird
auch an die Umgestaltung der Steuergesetzgebung selbst geschritten.
Der Schilderung dieses Processes und seines Ergebnisses in Steuergesetzgebung
und Verwaltung ist der grösste Theil der Drenkoff'schen Arbeit gewidmet (S. 29 — 129).
Ein Eingehen auf die Details derselben ist jedoch an dieser Stelle unmöglich. So sei
denn nur speciell auf die höchst interessanten Schicksale des Zehents und seiner Aus-
gestaltung zur Grundsteuer aufmerksam gemacht.
In einem letzten Abschnitte: „Die Steuern im Budget" werden die Gesammtstaats-
einnahraen und Ausgaben für die Zeit von 1887 — 99 specificiert vorgeführt, und schliesslich die
Bilanz der bisherigen politischen, volkswirtschaftlichen und finanzpolitischen Entwickelung
des jungen Fürstenthums gezogen. Der Verfasser verkennt nicht, „dass die politischen
Umwälzungen, der Krieg, wiederholte Staatsstreiche, Ränkespiele der regierenden
Parteien . . auch die Unbestimmtheit in der Finanz- und Volkswirtschaftspolitik
Literatuxbericht. 325
. . . und in der äusseren Politik . , eine Erschütterung der Finanzen und vor allem in
letzter Zeit des Staatscredites hervorgerufen haben: Allein er getröstet sich des nicht
nur mit der Zukunft, in die er festes Vertrauen hat, und von der er unter anderem auch
eine Besserung der völkerrechtlichen Stellung seines Vaterlandes erwartet; er weist auch
— und nicht ohne Grund — auf das bisher Erreichte hin. Sei es auch vorläufig nicht
viel, so sei es döch ein mehr verheissender Anfang. Carl Grünberg.
Bilanz und Steuer. Grundriss der kaufmännischen Buchführung unter
besonderer Würdigung ihrer wirtschaftlichen und juristischen Bedeutung
von Dr. Eichard Reisch und Dr. Josef Clemens Kreibig. Wien^ Manz'scher
Verlag 1900.
Die neue österreichische Steuergesetzgebung stellt an die Organe der Steuer-
bemessung die Anforderung vollen Verständnisses der doppelten Buchhaltung. Dies gilt
nicht nur hinsichtlich der Besteuerung der der öifentlichen Rechnungslegung unter-
worfenen Unternehmungen, bei welchen das Gesetz die bilanzniässigen Ueberschüsse als
Grundlage der Steuerbemessung bezeichnet, sondern auch hinsichtlich der allgemeinen
Erwerbsteuer und der Personaleinkommensteuer, bei welchen das Gesetz den Steuer-
behörden die Büchereinsicht über Anerbieten der Parteien zur Pflicht macht.
Es war daher ein sehr glücklicher Gedanke der Verfasser^ dem dringenden Bedürf-
nisse einer so grossen Kategorie von Staatsbeamten durch die Vorlage ilires Werkes
Abhilfe zu schaffen, und sie thaten gewiss recht daran, sich die Grenzen ihres Leser-
kreises nicht allzu eng zu stecken und auch dem Interesse ausserhalb des Steuerdienstes
stehender juristischen und nicht juristischen Kreise Rechnung zu tragen.
Dem Ziele, welches den Verfassern vor Augen schwebte, entsprechend, kann man
zwei selbständige Aufgaben unterscheiden, die in dem Werke zu lösen waren:
1. die Darstellung der Lehre der doppelten Buchhaltung;
2. die Behandlung der wirtschaftlichen und rechtlichen Fragen, die sich hiebei
ergeben, mit vorzüglicher Rücksicht auf die Bedürfnisse der Steuerbemessung.
Was die Lösung der ersten Aufgabe betrilft, so kann man gerechterweise keinen
anderen Maasstab zur Anwendung bringen, als den der bisherigen Bearbeitungen
der doppelten Buchhaltung. Unter der Voraussetzung dieses Maasstabes darf es aus-
gesprochen werden, dass wir es mit einer sehr sorgfältigen und gründlichen Arbeit zu
thun haben, die den besten Werken ihrer Art an die Seite gestellt werden kann. Allein
über das Niveau der bisherigen Behandlung hat sich die Dat Stellung nicht zu erheben
vennocht. So merkwürdig es klingen mag, so ist es doch eine Thatsache, dass die
Methode der Behandlung der doppelten Buchführung seit dem grundlegenden Werke des
Luca Pacioli aus dem Jahre 1494 sich im Principe nicht geändert hat, und auch
gegenwärtig noch in der Vorführung der Buchungsregeln besteht. Die wenigen Versuche einer
theoretischen Grundlegung, die in unserer Gegenwart gemacht wurden, haben zu keinem
befriedigenden Resultate geführt, so dass auch die besten Bearbeiter die theoretische Erklä-
rung nicht als Fundament der Lehre, sondern eigentlich nur als Beiwerk und Aufputz behau*
delt haben. So ist es auch unsem Autoren ergangen. Auch in dem vorliegenden Werke bilden
die theoretischen Erörterungen nicht die Grundlage der ganzen Lehre, sondern folgen der
Darstellung der Buchungsregeln nach als „nähere Erläuterungen theoretischen Inhaltes",
über welche die Autoren selbst die Meinung aussprechen, dass sie „allerdings zur
flüchtigen Erfassung und praktischen Handhabung der Buchungsregeln nicht unbedingt
erforderlich sind und von diesem Gesichtspunkte aus daher auch einfach überschlagen
werden können"; wobei sie nur hinzufügen, dass diese Erläuterungen „vielen Lesern
Interesse bieten und das Verständnis der doppelten Buchhaltung näher bringen dürften".
Man darf in diesen Aeusserungen wohl das indirecte Geständnis der Verfasser erblicken,
dass sie selbst die Empfindung hatten, dass die praktischen Buchungsregeln nicht eben
mit zwingender Nothwendigkeit aus den von ihnen aufgestellten Prämissen folgen.
Es würde zu weit führen, wenn Referent sich hier auf eine kritische Beleuchtung
dieser theoretischen Grundlegung einliesse, und es erscheint dies umso weniger geboten,
als es sich nicht um eine neue Lehre der Verfasser handelt, sondern um eine ältere, voa.
326 Literaturbericht.
Hügli in seinem 1887 erschienenen Werke über Buchhaltungssysteme und Buchhaltungs-
forraen aufgestellte Theorie. i) Es leuchtet ein, dass der ganze Charakter des Werkes ein
anderer geworden wäre, wenn die Buchungsregeln auf dem Fundamente einer entsprechenden
theoretischen Grundlegung aufgebaut worden wären.
Dies gilt insbesondere auch von der Darstellung der sogenannten „einfachen" Buch-
haltung. Diese wird von den Verfassern nach hergebrachter Schablone als selbständiges
System in einem besonderen Abschnitt behandelt, obgleich sie bei richtiger Erkenntnis
nichts anderes ist, als unvollständige doppelte Buchhaltung, die ihre beste Darstellung
darin findet, dass man einfach die Theile der doppelten Buchhaltung, welche wegzulassen
sind, namhaft macht.
Hat man sich mit dem Mangel einer entsprechenden theoretischen Grundlegung
abgefunden, den das vorliegende Werk, wie noch einmal betont werden soll, mit allen bis-
herigen Darstellungen der doppelten Buchhaltung theilt, so ist insbesondere die grosse
Reichhaltigkeit der buchhalterischen Casuistik zu rühmen. Es werden einerseits die Beson-
derheiten der Buchführung nach der Verschiedenheit der Betriebe, wie beim Commissions-
und Speditionsgeschälte, bei der Fabrication, bei der Landwirtschaft, anderseits die
Besonderheiten nach der Verschiedenheit der Rcchtssubjecte eingehend und anschaulich
behandelt. In letzterer Beziehung werden die Buchungen bei offenen Handelsgesellschaften,
bei Commanditgesellschaften, bei stillen Gesellschaften, bei Vereinigungen zu einzelnen
Handelsgeschäften, bei Speditionsgeschäften selbständig dargestellt. Besondere Sorgfalt
haben die Verfasser der Buchführung der öffentlich Rechnung legenden Unternehmungen
gewidniet, welche den ganzen zweiten Band einnimmt, und sich speciell durch diesen
Theil des Werkes ein grosses Verdienst erworben.
Die Buchführung bei Actiengesellschaften und Coraraandit-Actiengesellschaften,
bei wechselseitigen Versicherungsanstalten, bei Sparcassen und bei Erwerbs- und
Wirtschaftsgenossenschaften wird allenthalben unter Hervorhebung der eigenthümlichen
Formen anschaulich dargestellt, und bei den Actiengesellschaften eine weitere Speciali-
sierung nach Banken, Hypothekar-Instituten, Fabriken, Eisenbahnen, Bergwerken und
Versicherungsanstalten vorgenommen.
Es wird in diesen Abschnitten eine so erschöpfende Differenzierang der Buchführung
in den verschiedensten Betriebsformen gegeben, wie sie bisher in einem einheitlichen
Werke nicht existiert hat, Ueberall haben sich die Verfasser hiebei an die besten Special-
darstellungen gehalten und bei der Buchführung der Eisenbahnen, wo eine solche nicht
vorhanden war, die Besonderheiten selbständig herausgearbeitet. Gerade mit Rücksicht
auf das Ziel, welches sich die Verfasser gesetzt haben, den Organen der Steuerbemessung
ein Führer in ihrem so überaus schwierigem Dienste zu sein, ist diese Reichhaltigkeit
der buchhalterischen Formen sehr anzuerkennen.
Wir wenden uns nun zur zweiten Aufgabe, die das Werk zu lösen unternommen hat,
die Behandlung der wirtschaftlichen und juristischen Probleme, die mit der Buchführung
im Zusammenhange stehen, wobei, um Missverständnisse zu vermeiden, bemerkt werden
soll, dass damit nicht etwa ein räumlich gesonderter Theil des Werkes, sondern eine
sachliche Specificierung des Inhaltes gemeint ist. Es gehören hierher die Untersuchungen
über die Bewertung der Vermögensbestandtheile in der Bilanz, über die Beziehung
zwischen Buchführung und Steuerveranlagung, die Erläuterungen über Reservefonde,
Bewertungsconten und Anticipationen, die Untersuchungen über die wirtschaftliche
Bedeutung des Bauconto, sowie der Capitalsamortisation bei Eisenbahnen u. a. m.
Schon diese Aufzählung zeigt, dass es sich hierbei um ebenso bedeutungsvolle wie
schwierige Fragen der praktischen Volkswirtschaft handelt, die nicht der Buchhalter,
sondern nur der Volkswirt und Jurist mit gründlicher Kenntnis der Buchhaltung zu
erfassen vermag.
1) Referent hat selbst den Versuch einer theoretische Grundlegung der doppelten Buchhaltung
gemacht, welcher, wofern 63 ihm gelangen ist, das richtige zu treffen, indirect eine Widerlegung aller
anderen Theorien enthält. (Siehe das 1. Heft dieses Bandes S. 53 fF.)
Literaturbericht. 327
Wie bei einer so grossen Mannigfaltigkeit der Probleme nicht anders zu erwarten,
ist der Wert der einzelnen Untersuchungen ein ungleicher. Bei der Erörterung der Frage,
ob den Eisenbahnen die Capitalsamortisation als Abzugsposten bei der Steuerbemessung
zu passierea ist, kann das Resultat nicht aus der blossen Interpretation der einschlägigen
Gesetzesstellen abgeleitet werden, wie dies die Verfasser versuchen. Es müsste vielmehr
auf den specifischen Charakter der Steuer der der öffentlichen Eechnungslegung unter-
worfenen Unternehmungen eingegangen und festgestellt werden, ob dieselbe in ihrer
ganzen Anlage vom Gesetzgeber als Ertrags- oder als Einkommensteuer gedacht wurde.
In der Frage der Besteuerung des Agiogewinnes bei der Emission neuer Actien scheint
dem Eeferenten die Darlegung der Verfasser, dass es sich nicht um einen Gewinn,
sondern um eine Capitalseinzahlung handelt, nur insoferne zutreffend zu sein, als es sich
nicht um eine Gewinnzuwendung an die bisherigen Actionäre handelt. Bei der Untersuchung
der Grundsätze der Bewertung in der Bilanz war es vollkommen zutreffend, die subjective
Wertlehre zum Ausgangspunkte zu nehmen, und die nebenbei in einer Anmerkung gemachte
Aeusserung, dass bei Bewertung von Waren auf die durch die Veräusserung der vor-
handenen Vorräthe zu gewärtigende Beeinflussung des Preises Bedacht zu nehmen wäre,
scheint dem Eeferenten besonderer Hervorhebung würdig. Im übrigen wird man den
Verfassern keinen Vorwurf daraus machen können, dass auch sie bei dem schier unlösbar
scheinenden Problem nicht zu sicheren Ergebnissen gelangt sind. Für eine zweite Auf-
lage möchte Eefei:ent den Wunsch aussprechen, die Praxis der österreichischen Actien-
gesellschaften mehr zu verwerten. Es würde sich hierbei zeigen, wie erwünscht es wäre,
auch in der österreichischen Gesetzgebung stabile Grundsätze zu normieren, welche
nicht gerechtfertigte Verschiedenheiten der Schätzungsmethode unmöglich machen. In den
bilanzrechtlichen Fragen haben sich die Verfasser vielfach an das ausgezeichnete Werk von
H. V. Simon, „Die Bilanzen von Actiengesellschaften und Commanditgesellschaften auf
Actien" angelehnt. So erscheint denn auch dieser Theil als eine für die Praxis sehr
brauchbare, verdienstvolle Bearbeitung des schwierigen Gegenstandes.
Eeferent möchte mit dem Wunsche schliessen, dass das Werk in der juristischen
Welt weite Verbreitung finde und mit dazu beitrage, den Schleier des Geheimnisses,
welcher für diese über der doppelten Buchhaltung ausgebreitet liegt, zu lüften.
Prof. Gustav Seidler.
Arthur Aal. Das preussische Eentengut, seine Vorgeschichte und
seine Gestaltung in Gesetzgebung und Praxis. Stuttgart 1901. J. G. Cotta'sche
Buchhandlung Nachfolger VIII und 170 S. Münchner Volkwirtschaftliche Studien heraus-
gegeben von Lujo Brentano und Walther Lotz. 43. Stück.
Eine scharfsinnige und interessante Untersuchung, die auch von denjenigen wird
beachtet werden müssen, die den streng liberalen Standpunkt der Münchner Schule, wie
er auch in dieser Schrift zum Ausdruck gelangt, nicht theilen. Die Studie zerfallt in
drei Theile. Zuerst wird die Vorgeschichte des preussischen Eentengutes dargestellt,
sodann die legislatorische Behandlung desselben betrachtet und endlich über die Aus-
gestaltung dieses Eechtsinstitutes in der Praxis berichtet.
Mit Eecht erblickt Aal in der im Jahre 1850 aufgehobenen Erbpacht die Vor-
läuferin des späteren „Eentengutus", die sich von letzterem höchstens formal-juristisch,
nicht aber ökonomisch unterscheidet. Sehr bald nach 1850 machte sich bereits eine
AgitatioH nach Wiedereinführung der Erbpacht oder ähnlicher Eechtsinstitute des
getheilten Eigenthumes bemerkbar, veranlasst einerseits durch die Creditnoth, anderer-
seits durch die „Leutenoth" des Grundbesitzes. Gegen die Creditnoth schlug Eodbertus
die Einführung des „Eentenprinzipes" vor, gegen die Leutenoth die Errichtung von
Coloniestellen mit Verpflichtung zu Arbeitstagen. In den achtziger Jahren kamen noch
die Forderung nach Schaffung eines mittleren Bauernstandes in Ostelbien, der Wunsch,
die Socialdemokratie durch Sesshaftmachung des Arbeiterstandes zu bekämpfen, endlich
das Streben nach Stärkung des Deutschthumes gegenüber den Polen hinzu. Alle diese
Momente wirkten zu einer Neubelebung der alten Erbpacht in der Form des Eenten-
gutes zusammen.
328 Literaturb ericht.
Das Ansiedlungsgesetz von 1886 gestattete die vertragsmässige Abrede, dass die
den Kaufpreis darstellende Eente des „Rentengutes" nur mit Zustimmung beider Theile,
des Verkäufers und des Käufers, abgelöst, und dass der Rentengutsbesitzer bei Zer-
theilungen und Veräusserungen im Ganzen oder in Theilen von der Zustimmung des Renten-
berechtigten, der hier immer der Staat selbst ist, abhängig gemacht werden könne.
Zur Durchführung dieses Gesetzes wurde eine staatliche Ansiedlungs-Commission errichtet
und ihr ein Fond von 100 Mill. Mark zur Verfügung gestellt. Mit Hilfe dieses Fondes
waren polnische Güter anzukaufen und in Form von Rentengütern an Deutsche auszu-
thun. Das Gesetz vom Jahre 1890 dehnte das Rechtsinstitut des Rentengutes auf
sämmtliche Provinzen Preussens aus; auch jeder private Grundbesitzer kann nunmehr
Güter gegen eine nur mit seiner Zustimmung ablösbare Rente und mit den erwähnten
Verkehrsbeschränkungen abverkaufen. Da den Privaten nicht wie der Regierung Geld-
fonds zur Ausführung von Colonisiationen zur Verfügung stehen, und da die verkaufenden
Grundbesitzer die Zahlung des Capitales einer blossen Rente vorziehen, so blieb das
Gesetz von 1890 todter Buchstabe; in keinem einzigen Fall gelangte dasselbe, wie Aal
berichtet, zur Anwendung. Dem half das Gesetz von 1891 ab: es stellt den Gutsbesitzern
zur Begründung von Rentengütern die vermittelnde Thätigkeit der Generalcommissionen
zur Verfügung, ermächtigt die Rentenbanken zur Gewährung von Darlehen an Renten-
gutsbesitzer zwecks Errichtung der Gebäude, Beschaffung des Inventars u. s. w. und
sieht die Ablösung der Rentengutsrente durch die Rentenbank vor, Hiedurch erlangten
die Gutsbesitzer den Vortheil, dass sie nicht allein ihre schlecht zu bewirtschaftenden
Aussenschläge parzellenweise — also viel theurer, wie als Ganzes — in Form von Renten-
gütern losschlagen konnten, sondern dass der Staat ihnen einmal zur Begründung der Renten-
güter die Hilfe seiner Behörden lieh und ferner namentlich statt der festen Rente das
Capital auszahlte und selbst das Risico des Rentenberechtigten auf sich nahm.
Jede Aufhebung der wirtschaftlichen Selbständigkeit und die Zertheilung des
Rentengutes ist, solange eine Rentenbankrente haftet, von der Genehmigung der
Generalcommission abhängig. Desgleichen die Kapitalablösung innerhalb der ersten
10 Jahre.
Im Jahre 1896 wurde sodann das obligatorische Intestat- Anerbenrecht für Renten-
und Ansiedlungsgüter durch die Gesetzgebung statuiert, u. zw. auch für die schon begrün-
deten. Dem Uebernehmer werden sehr bedeutende Vortheile zugesprochen, und überdies wurde
die Veräusserung des Rentengutes, auch wenn keine Rentenbankrente mehr auf dem Gute
haftet, an die Genehmigung der Generalcommission gebunden. Da weiters die theoretische
Möglichkeit für den Rentengutsgeber bestand, sich in einem Arbeits vertrage persön-
liche Dienste vom Rentengutsnehmer versprechen zu lassen und sich die Zustim-
mung zur Veräusserung vorzubehalten, so hätte diese Zustimmung auch davon ab-
hängig gemacht werden können, dass der Nachfolger in das Rentengut auch in den
Arbeitsvertrag eintrete; damit hätten aber die persönlichen Dienste wieder, wie vor der
Grundentlastung, dinglichen Charakter erlangt: es wäre eine Abhängigkeit des Renten-
gutsbesitzers von der Generalcoramission und von dem Gutsherrn entstanden, die immer
dort unlösbar gewesen wäre, wo bei sinkender Conjunctur ein Käufer für das mit so
vielen Beschränkungen belastete Eigenthum sich nicht findet, und wo der Rentengutsgeber
seine Zustimmung zur Veräusserung verweigert; sie würde zur drückenden persönlichen
Unterthänigkeit, wo der Rentengutsnehmer, wenn er Arbeit sucht, auf das Gut des
Rentengutsgebers angewiesen ist. — Endlich wurde im Jahre 1900 ein Gesetz betreffend
die Gewährung von Zwischencredit bei Rentengutsgründungen gegeben.
Interessant ist nun, was der Verfasser über die praktischen Wirkungen dieser
Gesetze zu berichten weiss. Was zunächst die Thätigkeit der Ansiedlungscommission und
der Generalcommissionen betrifft, so nahm die Rentengutsbildung bis zum Jahre 1894
einen bedeutenden Aufschwung, ist aber seither zurückgegangen und schliesslich ganz
ins Stocken gerathen. Die Folge des Ansiedlungsgesetzes war eine ausserordentliche
Steigerung der Grundpreise; sie schnellten in der Zeit des Tiefstandes der Getreidepreise
von 560 auf 814 Mark per Hektar empor und stellen sich bezeichnenderweise für den
Literaturbericht. 329
polnischen Besitz weit höher als für den deutschen. Sehr günstige Erfolge sol die
private Parzellierungstliätigkeit der auf Gewinn berechneten grosscapitalistischen Güter-
schlächtereien der ^Landesbank" und der „deutschen Ansiedlungsbank" aufweisen. Der
Umsatz der Landesbank überstieg in den letzten Jahren den sämmtlicher 8 General-
commissionen Preussens zusammengenommen. Bei diesen Actiengesellschaften wie bei
den 4 polnischen Landkaufgenossenschaften macht sich eine immer grössere Abneigung
der Colonisten gegen das dem Anerbenrechte unterworfene Eentengut bemerkbar. Auf-
fallend ist der grosse Geschäftsumfang der privaten Ansiedlungsunternehmungen, ins-
besondere auch der 1899 gegründeten „deutschen Ansiedlungsgesellschaft", während die
Thätigkeit der Generalcommission so sehr zurückgeht.
Was nun die Frage anlangt, in welcher Intensität bei diesen Colonisationen das
dem Gesetzgeber vorschwebende Eentenprinzip verwirklicht worden ist, so ist zunächst die
Unablösbarkeit der Rente ohne Zustimmung des Rentenberechtigten von Wichtigkeit.
Während nun die Ansiedlungscommission ein Zehntel der Rente für unablösbar erklärt,
ist, wie der Verfasser sagt, in der Praxis kein Fall geworden, wo ein Renten-
gutsnehmer sich auf eine unablösbare Rente gegenüber einem Privaten
eingelassen hätte. Trotz der Vortheile. welche die Ansiedlungscommission gegenüber
der Generalcommission den Reflectanten bietet, wird doch die letztere vorgezogen, weil
bei ihr die Kündba.rkeit nicht ausgeschlossen zu werden braucht. Durch ihr eigenes
Verhalten, durch ihren Sinn für Freiheit und freies Eigenthum haben, so sagt Aal, die
Bauern die Gefahr der Einführung einer neuen Feudalität beseitigt. Und wie die
unablösbare Rente der Rentengutsgesetze ein todter Buchstabe geblieben sei, so habe
sich auch kein Bauer auf Dienstverpfiichtungen in Verbindung mit dem Rentenguts-
vertrage eingelassen, obwohl es an Versuchen, die alte Schollenpflichtigkeit auf diese
Weise wieder herzustellen, nicht gefehlt habe. Ebenso sind die vom Gesetze für zulässig
erklärten Verfügungsbeschränkungen des Rentengutsnehmers in der Praxis niemals
verwirklicht worden. Die gesetzliche Normierung des Zvvangsanerbenrechtes habe aber
den starken Rückgang in der Rentengutsbildung zur Folge gehabt.
So erblickt der Verfasser in der Art, wie sich die Praxis der Rentengutsbildung
gestaltet hat, einen Beweis für den Liberalismus der deutschen Bauern, sobald es sich
um seine persönliche Freiheit, um die Unbeschränktheit seines Eigenthums handelt.
S.
Anton Menger. Le droit au produit integral du travail; traduit sur la II e edition
par Alfred Bonnet. Avec une pröface de Charles Andler. Maitre de Conferences
ä TEcole normale superieure. Paris, V. Giard & F. Briere, 1900. 8". XL und 249 S.
Das ausgezeichnete Buch Anton Mengers über „Das Recht auf den vollen Arbeits-
ertrag" liegt nunmehr auch in einer französischen Uebersetzung vor, nachdem eine solche
in englischer Sprache vorangegangen war. Ueber das Original selbst noch irgendetwas
zu sagen, wäre verlorene Mühe. So sei denn nur hervorgehoben, dass die Uebersetzung sehr
sorgfältig und überall sinngetreu ist. Sie verdient daher alle Anerkennung. Was diese
Ausgabe auch für den deutschen Leser interessant und wertvoll macht, ist ihre Ein-
begleitung durch Prof. Charles Andler. Dieselbe bietet einen lehrreichen analytisch-
kritischen IJeberblick über die im „Recht auf den vollen Arbeitsertrag" und in dem
1890 erschienenen Buche ^,Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksclassen" nieder-
gelegte Auffassung Mengers vom Socialismus und den socialen Aufgaben der bürger-
lichen Rechtsordnung. — Die Rectoratsrede Mengers „Ueber die socialen Aufgaben der
Rechtswissenschaft" (1895) ist Andler unbekannt geblieben.
Wien. Carl Grünberg.
Antikritik.
In der letzten Nummer dieser Zeitschrift befindet sich eine Kritik des Bandes
IV vom Handwörterbuch der Staatswissenschaften von Schiff. Der Verfasser
hat offenbar sämmtliche Artikel einer genauen Durchsicht unterzogen, und im allgemeinen
ist seinen Ansichten wohl beizustimmen. Nicht ganz so liegt es bezüglich des besonders
Zeitschrift für Volkswirtscliaft, Socia'politik und Verwaltung. X. Rand. 22
330 Litcraturbericht.
hervorgehobenen Aufsatzes des Unterzeicbniten „Haftpilic ht Versicherung". Zunächst
nimmt Schiff hier Anstoss an dem Satz, die Haftpflichtversicherung entbehre eines
Objectes. Ich hin in dieser Auffassung Ehrenberg, Leibl und anderen Fach-
juristen gefolgt und neuerdings vertritt auch Hie st and, Director einer hervorragenden
Versicherungsgesellschaft, diesen Standpunkt, der als der herrschende in der Theorie
wie in der Praxis anzusehen ist. In dem Artikel ist auch dargelegt, was unter diesem
Mangel des Objectes zu verstehen ist: es kann jeder Mensch haftpflichtig werden, sei er
Millionär, sei er Bettler, und jeder kann sich gegen diese eventuellen Folgen seil. er
Haftpflicht versichern; während nun bei allen anderen Ver»iclieiungsarten ein bestimmtes
Substrat da ist, während dort die Gefahr, gegen deron Folgen Versicherung gewährt
wird, an einer ganz bestimmten Person oder einer ganz bestimmten Sache sich bethätigen
rauss, bethätigt sich die Gefahr bei der Haftpflichtversicherung nicht an einem solchen
bestimmten Gegenstande — abgesehen von den im Artikel bezeichneten Ausnahmen bei
der Seeversicherung etc. — , ja nicht einmal an dem Vermögen des Versicherten
schlechtweg; denn der Versicherte braucht ja kein Vermögen zu haben, um haftpflichtig
zu wer.len. Ferm^r bestreitet Schiff, dass der Haftpflichtversicherung „social wertvolle
Wirkungen" und „ein altruistischer Charakterzug" nachgerühmt werden, wie ihn keine
andere Versicherungsart aufzuweisen hat. Darauf mag nun folgendes erwidert werden.
Der sociale Weit ist darin zu erblicken, dass ein Geschädigter durch den Haftpflicht-
versicherungsvertrag eines Dritten einen Ersatz erhält, den er bei den möglicherweise
sehr minimalen Mitteln dieses Dritten ohne den Versicherungsvertrag dieses Versicherten
gar nicht oder nicht in gleicher Höhe erhalten würde. Dass die Motive zum Abschlüsse
eines Haftpflichtversicherungsvertrages im Einzelfall'^ durchaus verwerflich sein können,
steht wörtlich in dtm gerügten Artikel des Handwörterbuchs; aber was sagen die Motive,
wenn die Wirkungen gute sind? Dagegen, dass der Haftpflichtversicherte nicht grob
fahrlässig wird, schützen die Versicherungsmaxima, die Begrenzung der Versicherungs-
summe, d. h. der Versicherte hat in einem Schadenfall einen gewissen Procentsatz des
Schadens zu tragen oder aber den eine gewisse Summe übersteigenden. Für den altru-
istischen Zug sei angeführt: wenn jemand sein Haus versichert, so schützt er sich
selbst und nur sich selbst gegen Feuerschäden, wenn jemand sein Leben versichert,
ebenso seine eigene Person oder meist seine nächste Familie, wer sein Vieh> seine
Ernte versichert, schützt nur sich selbst. Wer aber gegen Haftpflicht Versicherung
nimmt, schützt zwar meist auch sich selbst, ausnahmslos aber auch jeden anderen.
Fremden, der vielleicht durch seine, des Versicherten, Nachlässigkeit zu Schaden kommt,
oder aber, wie es in sehr vielen Fällen ist, zu Schaden kommt ohne jede Schuld des
Versicherten, und für den der Versicherte kraft Gesetz und Richterspruch dennoch auf-
kommen muss. Wenn schliesslich der Herr Kritiker der Auffassung ist, die Haftpflicht-
versicherung sei unter Umständen gemeingefährlich und der Staat müsse ein wachsame«
Auge auf sie haben, so sei die ihm zweifelsohne bekannte Thatsache in Erinnerung
gebracht, dass die Novelle zum Deutschen Unfallversicherungsgesetz der Berufsgenossen-
schaften, gegenüber lebhaftem Widerspruch der Privatversicherer, das Recht eingeräumt
hat, auch die Haftpflichtversicherung ihrer Mitglieder zu betreiben. Wenn aber der
deutsche Gesetzgeber, der jetzt erst ein strenges Aufsichtsrecht über die privaten Ver-
sicherungsunternehmungen normiert hat, die Haftpflichtversicherung nicht für social
wertvoll, nicht für altruistisch wirkend, sondern im Sinne des Herrn Kritikers
geradezu für gelährlich und verwerflich halten tnürde, so hätte er ihr eine solche
staatliche Erweiterung ihres Feldes nicht genehmigt.
Göttingen, 28. März 1901. Alfred Manes.
Entgegnung.
Auf vorstehende Antikritik habe ich in Kürze Folgendes zu erwidern:
1. Das Object der Haftpflichtversicherung ist off'enbar das Vermögen des Ver-
sicherten. Nach gewöhnlichem Sprachgebrauche besitzt allerdings der Bettler kein
I
Literatuibericht. 331
Vermögen. Fasst man das Wort „Vermögen" aber nicht iin vulgären, sondern im
juristischen, wissenschaftlichen Sinne, so kann nicht bezweifelt werden, dass durch eine
neu entstehende Schadenersatzverbindlicbkeit das Vermögen auch des Zahlungsunfähigen
eine Verminderung erfährt, eventuell negativ wird. Bestünde nicht die Gefahr einer
solchen Vermögensminderung infolge der Haftpflicht, würde es sicherlich keine Haftpflicht-
versicherung geben.
2. Es ist zuzugeben, dass die Haftpflichtversicherung auch social günstige Wir-
kungen haben kann, nämlich dann — und nur dann — , wenn der Geschädigte wegen
Zahlungsunfähigkeit des zum Schadenersatz Verpflichteten bei Fehlen der Versicherung
seinen Ersatzanspruch nicht realisieren könnte. Soferne also mittellose Personen sich
gegen Haftpflicht versichern, ist der Standpunkt des Herrn Man es gerechtfertigt. Anders,
wenn die fraglichen Versicherungsverträge von Zahlungsfähigen, insbesondere von sehr
capitalskiäftigen Personen, grossen Unternehmern u. dgl., abgeschlossen werden. Da wird die
Haftpflicht, welche der Gesetzgeber gewissen Personen wegen Fahrlässigkeit oder wegen
besonderer Gefährlichkeit des Betriebes auferhgt hat, von diesen Personen abgewälzt, es wird
ein socialer Zweck der Haftpflicht — den Haftpfliclitigen zu grösster Sorgfalt, zur Verbes-
serung der Sicherheitsvorkehrungen u.dgl. zu veranlassen — durch die Versicherung vereitelt.
So haben z. B. die Cnfallversicherungsgesetze zwar die Unternehmer von der civilrechtlichen
Haftung liir culpa levis befreit, aber sie haben wenigstens deren Verantwortlichkeit für
cillpa lata aufrechterhalten. Diese Verantwortlichkeit wird eludiert, wenn die Unter-
nehmer sich gegen die Folgen ihrer groben Fahrlässigkeit durch einen geringen Ver-
sicherungsbeitrag schützen können. Versicherungsmaxima und ähnliche Vorkehrungen
vermögen diesen socialen Schalen höchstens abzuschwächen, nicht zu beseitigen. Da
nun auch Herr Man es schwerlich wird behaupten wollen, dass die Haftpflichtver-
sicherungen in der Mehrzahl der Fälle von besitzlosen, zahlungsunfähigen Personen
eingegangen werden, so folgt daraus, dass die social schädlichen Wirkungen dieser Ver-
sicherungsart die social günstigen bei weitem überwiegen. Man vergesse nicht, dass
durch die Haftpflichtversicherung der ökonomische ISachthtil von Obligationen ex delicto
oder quasi ex delicto beseitigt werden soll! Würde Herr Man es etwa auch eine Ver-
f^icherung gegen Geldstrafen als altruistisch preisen, weil die Versicherungssumme dem
Armenfonds zufliessen würde, und weil sie auch für zahlungsunfähige Straffällige gezahlt
werden würde? Schiff.
ZEITSCHßlFTEN-ÜBEßSICHT.
JaiirhUclier für Kationalökouoinie und Statistik, hgg. v. Conrad, Elster, Loening, Lexis, III. E,
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Nr. 11: Bnchka: Die Gewährung von Anwesenheitsgeldern an die Mitglieder des Reichstages. —
Förster; Die oberstrichteilichen Kntscheidungen in Grundbuchssachen des neuen Rechtes.
Zeitschrift für Sodalwissenschalt, hgg. v. J. Wolf, IV. Jahrg. 6. Heft.
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Kroniek.
^
DER VIII. INTERNATIONALE CONGRESS
GEGEN DEN
ALKOHOLISMUS IN WIEN 9. BIS U. APRIL 190L
VON
PROF. DR. MAX GRUBER.
Jdjs wird ziemlich allgemein anerkannt, dass der 8. internationale
Congress gegen .den Alkoholismus ein Erfolg war. Er hatte sich aus-
giebiger materieller und moralischer Unterstützung der Regierung zu
erfreuen; der Unterrichtsminister als Ehrenpräsident förderte den Congress
wie und wo er konnte, mehrere Minister ehrten den Congress durch ihre
Anwesenheit bei der Eröffnungssitzung, in welcher der Ministerpräsident
Dr. V, Koerber und der Unterrichtsminister Dr. v. Hartel warme
Begrüssungsreden hielten, und welche durch die Theilnahme der officiellen
Vertreter der meisten auswärtigen Regierungen, der Spitzen der Behörden
und autonomen Körperschaften sich überaus glänzend gestaltete. Die Zahl
der Theilnehmer, mehr als 1400 aus aller Herren Länder, überstieg alle
Hoffnungen. Angehörige der verschiedensten politischen und religiösen
Richtungen wirkten zusammen; es wurde unermüdlich gearbeitet. Die allge-
meine Aufmerksamkeit wurde aufs lebhafteste erweckt und durch wahrhaft
mustergiltige Leistungen der Tagespresse aufs beste befriedigt. Der wert-
vollste Erfolg war aber offenbar der, dass es gelungen war, eine Reihe
hervoiTagender Gelehrten und gewiegter Sachkenner zu vereinigen, treffliche
Referate rechtzeitig fertigzustellen und die Verhandlungen im grossen und
ganzen sachlich durchzuführen.
Ganz ohne unangenehme Zwischenfälle gieng es allerdings nicht ab;
aber es wäre auch allzu sanguinisch gewesen, dies zu erwarten, bei einem
Congresse, an dem jeder activ theilnehmen konnte, der die kleine Summe
von 6 Kronen erlegte und auf dem über ein Thema verhandelt wurde,
das tief in alle socialen Verhältnisse einschneidet, und über Bestrebungen,
die wegen ihres reformatorischen oder — wenn man will — revolutionären
Charakters nicht allein selbständige Geister und edle Heizen, sondern auch
allerhand Narren und Demagogen anlocken. Ob der Congress ein Erfolg
für Oesterreich war, muss sich allerdings erst zeigen. Werden die Wellen,
die er warf, spurlos verschwinden oder haben sie dauernde Veränderungen
in den Geistern erzeugt, die in Unterlassungen und Handlungen zutage
treten werden?
Zeitschrift für Vt)lksA-irtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. X. Band. 2.3
334 Gruber.
Den breitesten Raum in den Verhandlungen des Congresses nahm die
Darlegung der sanitären und socialen Wirkungen des Alkohols ein. Für die
Kenner der Frage brachte sie nicht viel Neues, man hatte sie aber mitEecht für
uothwendig gehalten, weil die Unkenntnis dieser Dinge in Oesterreich bisher
eine ganz horrende war. Den Reigen eröffnete der ausgezeichnete Marburger
Pharmakologe Prof. Hans Meyer mit einem vorzüglichen üeberblicke
über die Veränderungen der Organfunctionen durch den Alkohol. Dann legte
Dr. Wlassak-Wien mit musterhafter Kürze, Schärfe und Klarheit die
Beeinflussung der Hirnfunctionen durch den Alkohol genauer dar und
zeigte an der Hand der Experimente Kräpelins und seiner Schüler, wie
selbst kleine Alkoholmengen imstande sind, auf erstaunlich lange Zeit hinaus
die Geschwindigkeit und Präcision der geistigen Arbeit zu schädigen.
Prof. Weichselbau m-Wien beleuchtete die pathologischen Veränderungen
in allen Organen des vom Alkohol vergifteten Körpers an der Hand von
Moullagen, wahren Meisterwerken des Wiener Künstlers Dr. Henning.
Prof. V. Wa gn er- Jaur egg- Wien erörterte das Delirium tremens, über
dessen Entstehung er eine neue, geistvolle Theorie aufstellte. Er erregte
damit lebhaften Widerspruch, der aber nur zum Theile sachlich begründet
war. Prof. K a s s o w i t z-Wien bekämpfte aufs energischeste die Verab-
reichung von Alkohol an Kinder sowohl in gesunden als in kranken Tagen,
da der kindliche Organismus ganz besonders empfindlich gegen dieses Gift
ist. Kassowitz hat von der Alkoholtherapie bei Kindern niemals Nutzen,
aber oft die schwersten Schädigungen gesehen. Referent sprach dann
über den Einfluss des Alkohols auf Entstehung und Verlauf von Infections-
krankheiten auf Grund von Thierexperimenten. Der Alkohol wirkt im
allgemeinen ungünstig, erweist sich aber bei drohendem Collaps als wert-
voll, selbst lebensrettend. Tiefen Eindruck machte Prof. Anton-Graz
durch seine meisterhaften Auseinandersetzungen über Alkoholismus und
Erblichkeit. Unter Berücksichtigung aller möglichen Einwände kam er zu
dem sicheren Schlüsse, dass der Alkoholmissbrauch der Eltern an sich d i r e c t
zu Nervenkrankheiten und Degeneration der Nachkommen führen könne.
Besonders häufig findet sich Idiotie und Epilepsie als Folge der elterlichen
Trunksucht. Hier sei nur angeführt, dass bei 1000 idiotischen Kindern
4:71mal chronischer Alkoholismus des Vaters, 84mal solcher der Mutter
und 65mal Trunksucht beider Eltern festgestellt wurde. Enthült so die
Wissenschaft eine der schauerlichsten Wirkungen des Alkoholmissbrauches,
so spornt sie anderseits zum Kampf gegen ihn durch die Feststellung an,
dass eine Sanierung, eine Regeneration ganzer Familien möglich sei.
Im Anschlüsse daran sei gleich des Vortrages von Dr. B e z z o 1 a-
Schloss Hard Erwähnung gethan, der durch statistische Erhebungen über
die Vertheilung der Geburten von Kindern mit angeborenem Schwachsinn
über die einzelnen Monate des Jahres gefunden haben will, dass schwach-
sinnige Kinder relativ häufiger zu solchen Zeiten gezeugt werden,
in welchen mehr getrunken wird (Weinlese, Neujahr, Fastnacht), was für
eine acute Schädigung (Vergiftung) der Keimzellen im Rausche sprechen
i
Der VIII. internationale Congress gegen den Alkoholismus in Wien etc. 335
würde. Diese Angabe verdient jedenfalls gründliche Nachprüfung an möglichst
ausgedehntem Materiale. Mit Bezzolas Fund würde die Behauptung eines
Lehrers aus einer WeingegendNiederösterreichs stimmen, die von Dr. Fröhlich
referiert wurde, dass immer 7 Jahre nach einem besonders guten Weinjahre
ein intellectuell besonders schlechter Jahrgang in die Schule komme.
Dr. B 0 i s s i e r-Paris hat gefunden, dass der Alkohol an der Entstehung
der progressiven Paralyse insoferne betheiligt sei, als einerseits der Alkohol-
missbrauch zum gefährlichen, ausserehelichen Coitus verleite und dadurch
zur Verbreitung der Syphilis beitrage, welche zur Paralyse führt, und als
andererseits bei Syphilitischen besonders leicht dann Paralyse eintrete, wenn
sie alkoholische Getränke zu sich nehmen. Die progressive Paralyse sei
gewissermaassen das gemeinsame Erzeugnis beider Gifte, des syphilitischen
und des Alkohols.
Fasst man das Ergebnis aller dieser Vorträge zusammen, so ergibt
sich: Wie für jedes andere Gift gibt es auch für den Alkohol eine
gewisse Mengengrenze, unterhalb deren jede merkliche Giftwirkung aufbort.
(1. These von Prof. Meyer). Insoferne kann man die Totalabstinenz nicht
als eine absolute Forderung der Physiologie gelten lassen.^) Aber die Grenze
der Schädlichkeit des Alkohols lässt sich nicht scharf ziehen; sie liegt für
verschiedene Individuen verschieden hoch und jedenfalls viel tiefer als
gewöhnlich angenommen wird. Die Forschungen Kräpelins über die
Beeinflussung der Hirnfunctionen allein beweisen schon, dass der regel-
mässige Genuss selbst kleiner Alkoholraengen nicht gleichgiltig ist. Kegel-
mässige Aufnahme grösserer Alkoholmengen ist sicher schädlich und kann
höchstens in manchen Krankheitsfällen therapeutisch gerechtfertigt werden,
obwohl auch dies bestritten wird.
Als Beweis für die Schädlichkeit des Genusses selbst kleiner Alkohol-
mengen führte Mag. H e 1 e n i u s-Helsingfors die Statistik der englischen
Lebensversicherungsgesellschaften an. Mehrere derselben haben besondere
Abtheilungen für Abstinenten errichtet und verlangen von diesen geringere
Prämien beziehungsweise zahlen ihnen grössere Gewinstantheile (Bonus),
weil ihre Sterblichkeit erheblich niedriger ist, als die der massigen Trinker
in der allgemeinen Abtheilung. So traten in der Abtheilung der Massigen
der „The United Kingdom Temperance and General Providence Institution"
in der Zeit von 1866—1898 statt 10.455 erwarteten Todesfällen 10.065=96%
ein, dagegen in der Abtheilung der Abstinenten von 7.656 erwarteten Fällen
nur 5.383=70^0. Die Versicherungsanstalt für Priester „Sceptre Life Asso-
ciation" hatte 1884 bis 1898 schon in der Abtheilung der Massigen statt
1.658 erwarteten nur 1.332=807o Todesfälle. In der Abstinenten-Abtheilung
aber kamen gar nur 522 statt 926 Todesfälle vor = 567o. Ich muss gestehen,
dass ich, indem ich diese Zahlen niederschreibe, mich der Skepsis anschliesse,
die Dr. Jordy-Bern auf dem Congresse geäussert hat. Es ist kaum
denkbar, das schon ein massiger Genuss so verderblich wirkt. Dies müsste
^) Sie ist in erster Linie ein Liebesdienst, den die Abstinenten durch Beispiel-
gebang ihren willen ssch wacheren Mitmenschen erweisen.
23*
336 • Grubei.
sonst auch im alltäglichen Leben mit ungeheurer Deutlichkeit hervortreten,
z. B. in der Sterblichkeit der beiden Geschlechter, Die Bevölkerung eines
Weinlandes wie Italien, wo etwa 190 bis 200 Liter starken Weines auf
den Kopf kommen, müsste ganz unfähig gewesen sein, namentlich in früherer
Zeit, wo es bis ins 15. Jahrhundert hinein bei uns keinen Schnaps und relativ
nur wenig Bier und Meth u. dgl. gab, sich neben der Bevölkerung der nörd-
lichen Gebirgsländer zu halten. Es wäre aufs dringendste zu wünschen, dass
das Materiale der englischen Gesellschaften einmal vollständig zugänglich
gemacht und von einem vorurtheilslosen, wohlgeschulten Statistiker durch-
gearbeitet würde, um zu sehen, ob nicht bei den Unterschieden der Sterblich-
keit noch andere Momente, wie Verschiedenheiten bezüglich Alter, Geschlecht,
Wohlhabenheit u. s. w. mit im Spiele sind.
Was die socialen Wirkungen des Alkoholismus betrifft, so verdanken
wir die wertvollste Mittheilung dem Privatdocenten und Gerichtssecretär
Dr. Lö ff 1er- Wien, der aus den Acten des Wiener Landesgerichtes und
des Korneubiirger Kreisgerichtes für die Jahre 1897 und 1898 den Zusammen-
hang zwischen acuter Alkoholvergiftung (Berauschung) und Verbrechen
erhob. Es stellte sich heraus, dass der Procentsatz der Betrunkenen bei
gewissen Kategorien von Verbrechern ein erstaunlich hoher ist. So waren
von denen, welche in Wien wegen Majestätsbeleidigung verurtheilt wurden,
557o betrunken, von den Gotteslästerern 507o. von den wegen gewalt-
samen Widerstandes gegen die Wache oder sonstige Amtspersonen Verur-
theilten 777o- Es waren zur Zeit der That betrunken unter den in Wien
Verurtheilten wegen boshafter Sachbeschädigung 637o, wegen gefährlicher
Drohung 567o. wegen Raub 507o' wegen schwerer Körperverletzung 54*17o
(Korneuburg 5G'47o)i wegen schwerer Sittlichkeitsverbrechen 267o (K. 367o).
Hierzu kommen noch in Wien 200, in Korneuburg 37 Personen, welche in
voller Berauschung Verbrechen begiengen. Im ganzen haben in Wien
478 Personen im nüchternen und 681 Personen im trunkenen Zustände
Verbrechen begangen. Die Betrunkenen machten also 58'87o aus. — In der
Weingegend Korneuburg kommt das Verbrechen der schweren Körper-
verletzung im Verhältnis zur Bevölkerungszahl dreimal häufiger vor als in
Wien. — Die Wirkung des Alkohols tritt auch in der Vertheilung der
genannten Verbrechen auf die Wochentage hervor : der Sonntag und der
„blaue" Montag weisen die weitaus höchste Frequenz auf. Mit Kecht konnte
Dr. Löffler schliessen : „Wenn die Gesellschaft sich erst bevvusst sein
wird, wie theuer sie den Alkohol bezahlt, dann wird sie auf Mittel und
Wege sinnen müssen, diese unausgesetzt fliessende Quelle der Verbrechen
zu verstopfen."
Als eine ihrer wichtigsten Aufgaben hatte die Organisations-Commission
des Congresses betrachtet, diesen nicht vorübergehen zu lassen, ohne etwas
mehr Licht auf die Verhältnisse des Verbrauches der Alkoholica und dessen
Wirkungen in Oesterreich zu werfen. Die vorbereitenden Comites in den
einzelnen Kronländern wurden ersucht, darüber Erhebungen zu pflegen und
I
I
Der VIII. internationale Congress gegen den Alkoholismus in "Wien etc. 337
Gutachten abzugeben; mit Unterstützung des Ministeriums des Innern
wurden Fragebogen an die Bezirksärzte und mit Unterstützung des Handels-
ministeriums an die Gewerbeinspectoren versendet, durch das Ackerbau-
ministerium Erhebungen bezüglich des Bergbaues, der Land- und Forst-
wirtschaft gepflogen. Auf statistische Ermittlungen musste von vorne-
herein verzichtet werden. Es sollten nur die allgemeinen Eindrücke fixiert
werden. Natürlich ist das so gewonnene Bild höchst unvollkommen. Immer-
hin kam zutage, dass, wenn auch Oesterreich im ganzen nicht zu den
schlimmsten Herden des Alkoholismus gehört, doch einzelne Gebiete, wie
namentlich der mähr.-schlesische Bergbau-District, an Trunksucht keinem
anderen Lande nachstehen (z, B. treffen in Mährisch-Ostrau auf den Kopf
der Bevölkerung jährlich 28 Liter Schnaps und 150 Liter Bier); dass der
Consum der Alkoholica in ganz Oesterreich schon eine ganz respectable
Höhe erreicht (in seiner Eröffnungsrede führte der Unterrichtsminister an,
dass Oesterreich für Alkoholica mehr als doppelt soviel ausgibt, als für
sein Militärbudget) ; dass der Genuss von Alkoholicis bereits unter den
Kindern weitverbreitet ist (eine ad hoc angestellte kleine Enquete in Wien
ergab z. B., dass jeder 3. Schuljunge regelmässig Bier, jeder 9. Wein und
jeder 24. regelmässig Schnaps geniesst), und dass die ökonomischen, wie
die sanitären Folgen des Alkoholmissbrauches schon schwer genug hervor-
treten, und zwar i n allen Ständen und Berufs schichten und
nicht allein nach Schnaps, sondern auch infolge vonWein-
und Bier genuss. Hier sei nur erwähnt, dass es in Böhmen allein
25.000 polizeilich bekannte Säufer mit rund 56.000 Kindern gibt; dass
Alkoholkrankheiten, Delirium tremens, chronischer Alkoholismus, Leber-
cirrhose, Nierenentzündung der Biertrinker und Bierherz überall häufig beob-
achtet werden, in den ungünstigsten Gebieten auch schon die Degeneration der
Bevölkerung durch Erzeugung minderwertiger Nachkommenschaft beobachtet
wird. Fast von überall her wird eine zunehmende Verschlechte-
rung der Verhältnisse gemeldet. Ursache ist einerseits ungünstige
ökonomische Lage — und dies gilt insbesondere bezüglich der altbekannten
Schnapspest (in einzelnen Bezirken Nordostböhmens ist mit Schnaps
versetzte Kartoffelsuppe das einzige Gericht), — anderseits die Trinksitte.
Aus der Pilsenergegend wird geradezu von Biertrunksucht berichtet.
Als hervorragend unter den Berichten der Landescomites muss der
aus Böhmen bezeichnet werden, um den sich Oberbezirksarzt Dr. P r e s 1-
Jicin, Docent Dr. Matiegk a-Prag und Docent Dr. Welemin sky-Prag
besonders verdient gemacht haben. Das böhmische Landescomite hat auch
eine Reihe von trefflichen Vorschlägen gemacht. Es regt an: inter-
nationale Vereinbarungen über die statistischen Erhebungen bezüglich der
Trunksucht, worin es sich mit den Forderungen von Director Kiaer-
Christiania begegnete; die Einführung einer detaillierten Alkoholiker-
Verbrecher-Statistik; eine Statistik über den Antheil des Alkohols an der
Entstehung gewerblicher Unfälle; regressive und präventive gesetzliche
Maassregeln gegen die Trunksucht; Vorsorge für passende Unterbringung
338 Gruber.
der Alkoholiker; Fixierung eines Maximalgehaltes der geistigen Getränke
an Alkohol; Belehrung der Bevölkerung in allen Schulen; strafgesetz-
liche Verfolgung der Verwendung des Brantweinlutschers zur Beruhigung
der Säuglinge ; Errichung von Krippen und Kleinkinderbewahranstalten,
ferner von Suppenanstalten bei den Volksschulen ; Verbesserung der Wohnung
und Ernährung des Arbeiters, Verbot der Entlohnung des Arbeiters mit
Brantvvein, Bier u. s. w.; Beseitigung des Brantweinausschankes in den
Fabrikscantinen ; Versorgung der Ortschaften mit gutem Trinkwassser ;
Errichtung alkoholfreier Wirtschaften ; Förderung von Volks- und Jugend-
spiel; Veredelung der Volksfeste.
Diese gewissermaassen officiellen Berichte über die österreichischen
Zustände wurden vielfach wirksam ergänzt durch einzelne Schilderungen. Vor
Allem verdient da das vortreffliche Referat der Frau Dr. Daszynska-
ö 0 1 i n s k a-Krakau über die Verhältnisse in Westgalizien genannt zu
werden, dann die drastische Schilderung der galizischen Propination durch
Dr. Jarosiewicz. Nach dem Einschreiten der Gewerbebehörde schreit
die Mittheilung von Prof. Reinitz er-Graz Ober die ganz ungesetzliche
Entlohnung der Brauarbeiter mit Bier, durch welche diese zu einem
täglichen Consum von 6 Litern Bier fast gezwungen werden.
Auch der Verfolgungen, welche nach Mittheilungen von Propst
Landsteiner Mässigkeitsbestrebungen seitens der k. k. Behörden in
manchen Theilen Ostösterreichs ausgesetzt waren, sei hier gedacht.
Man muss dringend wünschen, dass — wenn schon der Congress Oester-
reich zunächst keinen anderen Nutzen bringen sollte — wenigstens das erreicht
wird, dass fortdauernd in ganz Oesterreich eingehende Erhebungen, soviel
als möglich auch statistischer Natur, über den Verbrauch der verschiedenen
Alkoholica, über Trinkgewohnheiten und Trinkfolgen gepflegt werden. Die
genaue Kenntnis des Uebels ist die Bedingung seiner Ausrottung.
Von dem Abschnitte „Bekämpfung des Alkoholismus " wurde am aus-
führlichsten das Capitel „ Trinkerheilstätten " erörtert. Da die Errichtung
von Trinkerheilstätten bei uns in Oesterreich eine höchst dringende
Angelegenheit ist, seines gestattet, auf diesen Theil der Verhandlungen
etwas gründlicher einzugehen. Den Anfang machte Dr. L e grain, Chefarzt
der L'renanstalt Ville Evrard' mit einem Vortrage über die Rückfälligkeit
der Alkoholisten, über den Geisteszustand der Rückfälligen und über die
Mittel gegen den Rückfall. L e g r a i n hat eine reiche Erfahrung, da die
Irrenanstalt in Ville Evrard, die einzige in Frankreich ist, wo die Trinker
in einer besonderen Abtheilung vereinigt sind. Er hat in 4 Jahren ungefähr
1.600 Trinker beobachtet. Darunter waren alljährlich 20 bis 25 Proc. Rück-
fällige. Einzelne davon waren innerhalb 10 — 12 Jahren 25, 32, 44mal rück-
fällig geworden. Ihr Leben ist getheilt zwischen Gefängnis und Irrenanstalt
mit ganz kurzen Freiheitspausen dazwischen. Diese Leute sind zum grössten-
theile nicht Dipsomanen, von Geburt aus Degenerierte — wie man meinen
Der VIII. internationale Congress gegen den Alkoliolismus in Wien etc. 339
könnte — sondern Menschen, die durch Zufall Trinker geworden sind und
nun jene charakteristische Willensschwäche zeigen, die der Alkohol erzeugt,
und welche die Ursache aller socialen Laster der Trinker, vor allem ihrer
Faulheit ist. Eine ganze Reihe von socialen und familiären Momenten trägt
dazu bei, die willensschwachen Trinker immer wieder rückfällig zu machen,
so : die Theilnahmslosigkeit, Härte und Feindseligkeit, mit denen ihnen die
Gesellschaft begegnet, die Trinksitten, die üble ökonomische Lage, die sie
zu Hause wiederfinden u. s. w. Bei passender Behandlung wäre es möglich,
die Mehrzahl dieser Leute zu retten. Der Anfang mit dieser Behandlung
muss meistens in Anstalten gemacht werden. Aber weder das Gefängnis,
noch die Irrenanstalt kann diese Behandlung bieten, sondern nur ein
besonderes Trinkerasyl. Die L-renanstalten fördern häufig die Rückfälligkeit
unbewusst dadurch, dass sie den Trinkern den Aufenthalt in der Anstalt
viel zu angenehm machen. Da sehr viele nicht freiwillig in ein solches
Asyl eintreten würden, muss die Gesetzgebung die zwangsweise Internierung
und die Zwangsbehandlung der Trinker bis zur Heilung ihres Hanges zum
Trunk möglich machen. Für die aus den Anstalten Entlassenen muss durch
Vereine gesorgt werden, die auf der Grundlage vollständiger Abstinenz
dem Geheilten moralische und materielle Unterstützung gewähren. Eine
derartige Gesellschalt hat Frau Legrain für die aus der Irrenanstalt Ville
Evrard ausgetretenen Trinker mit schönem Erfolge gegründet.
Zu derselben Forderung eigener Heil- oder Bewaiiranstalten für heil-
bare Trunksüchtige und zwangsweise Internierung der Trinker in ihnen, kam
auch der Wiener Gerichtsarzt Prof. Fritsch auf Grund seiner Erfahrungen
bei Straf- und Civilgerichten. Abstrafungen sind bei Alkoholisten, die mit
dem Strafgesetze in Conflict gekommen sind, als Heil- oder Besserungsmittel
ganz ungeeignet. Gemeingefährliche Trunksüchtige sind für den geordneten
Betrieb der Irrenanstalten überaus schädlich. Solange aber keine Zwangs-
asyle für solche Trinker bestehen, müssen sie in ges&hlossenen Irrenanstalten
verwahrt werden, da sie in Freiheit gelassen eine Gefahr für die Gesellschaft
bilden. Trunksüchtige, welche durch Gerichtsbeschluss oder polizeiliche
Verfügung einer Irrenanstalt überwiesen worden sind, sollten nie ohne
Genehmigung der betreifenden Behörde entlassen werden.
Damit setzte sich Prof. Fritsch deutlich in Opposition gegen die
Praxis, wie sie seit dem Jahre 1896 in der nied.- österr. Landesirrenanstalt
in Wien durch Director Tilkowsky geübt wird. Die Ueberfüllung der
Irrenanstalt mit Alkoholisten, die in den Jahren 1894 und 1895 im Mittel
40"2 Proc. aller männlichen 'Patienten ausmachten, und die Störung des
Betriebes durch diese heterogenen, vielfach brutalen, renitenten und
depravierten Elemente führte zur Anwendung zweier Mittel, die sich für die
Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung in der Anstalt aufs beste bewährt
haben: 1. Abweisung a limine jener arbeitsscheuen Trunkenbolde, von denen
es bekannt geworden war, dass sie, um in der Anstalt sorgenfreie Verpflegung
zu finden, Krankheitssymptome simulieren oder sich absichtlich einen Rausch
antrinken. 46 solche Individuen wurden der Polizei angegeben und
340 Grub er.
beschrieben; 2. rasche Entlassung der Alkoholiker, sobald ihre psychischen
Krankheitssymptome verschwunden sind.
Diese Praxis wurde von Prof. Forel und mehreren anderen Rednern
auf das schärfste kritisiert. In der That muss man Fälle, wie den von dem
Wiener Gerichtssecretär, Docenten Dr. Löffler angeführten Fall Siloi
als einen nicht weiter zu duldenden Misstand bezeichnen, wenn man auch bei
einiger Billigkeit dem Egoismus der Irrenanstalt, sich von solchen Leuten
frei zu halten, eine gewisse Berechtigung nicht aberkennen wird.
Siloi wurde 42mal abgestraft, bis man erkannte, dass er ein ganz
degeneriertes, pathologisches Individuum sei. Nun wurde er innerhalb eines
Jahres 5mal der Irrenanstalt tibergeben und von dieser 5mal „geheilt"
entlassen. Dann wurde er wieder auf 18 Monate ins Kriminal gesperrt.
Kaum entlassen, zog er den Verdacht des Mordes auf sich. Die Gerichts-
ärzte erklärten ihn wieder für pathologisch, an chronischem Alkoholismus
leidend. Nun wurde er wieder der Irrenanstalt übergeben und aus dieser
abermals nach 14 Tagen freigelassen ! Dieser eine Fall dürfte völlig genügen,
um zu beweisen, dass die Errichtung von eigenen Trinkerasylen für gemein-
gefährliche Säufer mit Zwangsinternierung eine unaufschiebbare Noth-
wendigkeit ist.
Selbstverständlich muss in jedem Falle der Zwangsinternierung dafür
gesorgt werden, dass niemand ungerechtfertigter Weise der persönlichen
Freiheit beraubt werden könne, lieber die Grundsätze, nach denen gegen-
über den Trinkern vorgegangen werden sollte, sprach zunächst Dr. Fuld
aus Mainz, der darauf hinwies, dass das neue deutsche bürgerliche Gesetz-
buch eine ausreichende gesetzliche Grundlage für die Entmündigung von
Gewohnheitstrinkern und damit für ihre Unterbringung in Anstalten gewähre.
Die gesetzlichen Bestimmungen bedürfen nur in der Richtung eine Ergänzung,
als auch den Gemeinden und Armenverbänden das Recht zugesprochen
werden muss, selbständig den Antrag auf Entmündigung zu stellen, was
gegenwärtig nur in einzelnen Bundesstaaten zulässig ist.
Von ungewöhnlicher Wichtigkeit war der Vortrag des Professors
des Strafrechtes Dr. Karl Stooss-Wien. Er plaidierte dafür, dass der
Strafrichter ermächtigt werden solle, die Ueberweisung des straffälligen
Gewohnheitstrinkers in die Trinkerheilstätte selbst anzuordnen. Er verwies
in dieser Hinsicht auf den Vorentwurf des schweizerischen Strafgesetzbuches,
dessen Artikel 28 Folgendes bestimmt: ein Gewohnheitstrinker, welcher
zu Gefängnis von höchstens einem Jahre verurtheilt wurde, kann neben der
Strafe vom Gerichte auf Grund ärztlichen Gutachtens in eine Trinkerheil-
anstalt verwiesen werden. Nach Ablauf von 2. Jahren muss die Person auf
jeden Fall entlassen werden; ist sie schon früher geheilt, so hat das Gericht
die Entlassung zu verfügen.
Ebenso kann ein Gewohnheitstrinker, welcher wegen Unzurechnungs-
fähigkeit freigesprochen wurde, in eine Trinkerheilanstalt verwiesen werden.
Bei dieser Bestimmung ist freilich vorausgesetzt, dass der Staat die
Kosten der Cur übernimmt, wenn der Trinker unvermögend ist, aber diese
I
Der VIII. internationale Congress gegen den Alkoholismus in Wien etc. 341
Ausgabe wäre sowohl criminalpolitisch, als finanzpolitisch gerechtfertigt, da
die Zahl der Personen, welche durch die Trunksucht zu Verbrechen ver-
anlasst werden, in absehbarer Zeit abnehmen und der Staat die Kosten des
überdies unwirksamen Strafvollzuges an solchen Individuen ersparen würde.
Allseitigen Beifall fanden die Postulate für ein Trinkergesetz, welche
von Dr. Frank, Director der cantonalen Irrenanstalt in Münsterlingen, auf-
gestellt, von der schweizerischen Psychiaterversammlung des Jahres 1900
gutgeheissen wurden und in den thurgauischen Trinkergesetzentwurf Ein-
gang gefunden haben. Die Grundsätze sind kurz zusammengefasst etwa
die folgenden: Trinker sind Kranke und keine Corrigenden, deshalb
soll die Ausführung der Trinkergesetze der Sanitätsbehörde über-
wiesen werden. — Die Trennung der heilbaren und der unheil-
baren Trinker ist anzustreben und sind diese beiden Kategorien in
getrennten Anstalten (Heilanstalten und Asylen) zu behandeln. — Unheil-
bare Trinker sind Kranke und gehören nicht in Zwangsarbeits-
anstalten. — Es ist zwischen freiwilligem und unfreiwilligem Eintritt in
die Trinkerheilanstalt zu unterscheiden. — Der Zwangsversorgung soll eine
Verwarnung vorhergehen. — Zur Zwangsaufnahme in eine Trinkerheilanstalt
ist ein ärztliches Zeugnis nöthig, das aber kein amtsärztliches zu sein
braucht. — Das Recht auf Antrag der Zwangsaufnahme soll Verwandten,
Vormündern, Gemeinde-, Armen-, Bezirks-, Gerichts- und Regierungsbehörden
zustehen. — Das Verfahren soll einfach und billig sein, dabei aber doch
vor Missbrauch schützen. — Vollzugsbehörde soll eine administrative
Behörde sein, deren Beschluss aber der Bestätigung der beaufsichtigenden
Sanitätsbehörde bedarf. — Die Behandlung soll 6 — 18 Monate dauern. —
Die Kosten des Verfahrens wie der Behandlung sind je nach Maassgabe
der vorhandenen Mittel und der Vermögenslage des Patienten aus dem
Alkohol-Zehntel (schweizerisches Alkoholmonopol) zu decken. Ebenso soll
daraus die Familie unterstützt werden, falls die Nothlage des Familien-
vaters durch dessen Trunksucht verursacht ist. — In der Regel soll die
persönliche Handlungsfähigkeit nur soweit beschränkt werden, als zum
Zwecke der Zwangsversorgung erforderlich ist. Nur ausnahmsweise soll die
Vormundschaft des Staates verhängt werden. — Die Trinkerheilanstalten
sollen nicht Staatsanstalten sein, sondern nur vom Staate beauf-
siiclitigte und unterstützte gemeinnützige Privatanstalten, weil nur so dauernd
taugliche Anstaltsvorsteher gefunden und der unbedingt erforderliche
Zusammenhang mit den Abstinenzvereinen erreicht und erhalten werden
kann, die sich der aus der Anstalt Entlassenen annehmen müssen, wenn
der Erfolg andauern soll. — Die Asyle für unheilbare Trinker müssen
staatliche Anstalten sein.
Wie man sieht, trachtet Frank vor allem dahin, solange es sich
um heilbare Trinker handelt, dem Eintritte in eine Trinkerheilanstalt, auch
wenn er erzwungen wird, soviel als möglich den Charakter des bürgerlich
Entwürdigenden^ zu nehmen, und dem Trinker dadurch und durch die Her
Stellung von innigen Beziehungen zu den Abstinenzvereinen den Wieder-
342 Gruber.
eintritt in die bürgerliclie Gesellschaft soviel als möglich zu erleichtern.
Die Erfahrungen, welche man in der vorbildlich gewordenen Trinkerheil-
stätte in Ellikon (Schweiz) gemacht hat, waren dabei maassgebend. Der
höchst verdienstvolle Leiter dieser Anstalt, J. Bosshardt, berichtete
übrigens dem Congresse persönlich in sclilichten Worten, wie es zu
machen sei.
Dem grössten Interesse begegnete der Vortrag des Sanitätsinspectors der
französischen Armee Dr. Eich ar d-Lyon, des Delegierten des französischen
Kriegsministeriums, über die Maassnahmen zur Bekämpfung des Alkoüolismus in
der französischen Armee, die seit 2 Jahren mit allem Eifer betrieben werden.
Das Kriegsministerium hat darüber eine Reihe von Verfügungen erlassen,
deren wichtigste das Verbot des Ausschanks von Brantwein und Liqueuren
in sämmtlichen Cantinen der Kasernen, Quartiere und Feldlager sowie bei
den Manövern ist. Eine weitere Verordnung verfügt die Abhaltung von
Vorträgen über die Wirkungen und Gefahren des Alkoholconsums, abwechselnd
mit regelmässigen Vorträgen über Hygiene durch die Officiere oder durch
die Militärärzte, da das Ausschankverbot wirkungslos sein müsse, wenn
der Soldat nicht belehrt und moralisch beeinflusst wird. Im Anschlüsse an
diesen Vortrag entwarf Militärarzt Dr. R u d 1 e r- Beifort eine höchst
ansprechende Schilderung davon, in welcher Weise dieser Unterricht unter
Zuhilfenahme von Projectionsbildern ertheilt wird. Eine hohe sittliche
Auffassung von der Armee als nationaler Schule männlicher Tüchtigkeit
und von den Pflichten des Officiersstandes gegenüber den Soldaten spricht
ebenso aus den beiden Vorträgen, wie aus den Anordnungen der französischen
Militärbehörden. Das Beispiel Frankreichs wird für die übrigen Staaten,
die es angeht, hoffentlich nicht verloren sein.
Sehr lebhaft, ja leidenschaftlich gieng es bei den Erörterungen über
Wert oder Unwert des in Russland seit 1895 allmählich ins Leben tretenden
Brantweinverkaufs-Monopols her, da es namentlich einem jugendlichen
Redner aus Russland weniger um die Alkoholfrage als darum zu thun war,
seinen Hass gegen die russische Regierung zu entladen. Der Präsident der
wissenschaftlichen Commission d«r Gesellschaft der Volkswirte in St. Peters-
burg, Rechtsanwalt Dr. Borodin, behauptete, dass das Monopol nur den
Staatsfinanzen nützlich sei, dagegen den Brantweinconsum nicht vermindert
und ein neues demoralisierendes Moment in die Bevölkerung gebracht habe.
Durch Zulassung commissionsweisen Verkaufes von Regiebrantwein sei das
Grundprincip der Reform verletzt worden. Die neue Form des Brantwein-
verkaufes habe das Trinken aus der Schenke auf die Strasse und in die
Familie verlegt. Die Zahl der Spirituosenvertriebsstellen habe zugenommen
u. s. w. Dagegen traten die Vertreter der russischen Regierung
Dr. Bulowski und Graf S k arzyn ski lebhaft für das Monopol ein, von
dem sie bestimmt eine Verminderung des Alkoholmissbrauchs erwarten. Da
Der VIII. internationale Congress gegen den Alkoholismus in Wien etc. 343
die Monopolisierung des Verkaufes erst in der Durchführung begriffen ist,
dürfte es überhaupt noch zu früh sein, um ein verlässliches Urtheil über
die Wirkungen desselben auf die Trinksitten und den Alkoholconsum ab-
geben zu können, was auch die dem Congresse schriftlich vorgelegte Meinung
des Vorsitzenden der Commission zur Untersuchung des Alkoholismus bei
der russischen Gesellschaft für Gesundheitspflege in St. Petersburg,
Dr. Nij e gor 0 dt z eff, ist. Gewiss ist, dass die russische Regierung in den
letzten Jahren bedeutende Summen, circa 3 Millionen Rubel, für die
Bekämpfung des Alkoholismus zur Verfügung gestellt hat, und dass die
officiellen Temperenzcomites, denen gegenwärtig beiläufig 23.000 Personen
angehören, eine ungemein rege Thätigkeit entfalten. Auf der Pariser Welt-
ausstellung konnte man im photographischen Bilde sehen, was alles in den
letzten Jahren geschaffen und gethan worden ist. Tausende alkoholfreie
Thee- und Gasthäuser, Hunderte von Lesehallen, Volksbibliotheken, Concert-
und Vortragssäle, fast hundert Theater wurden errichtet u. s. w. Graf
Skarzyn ski erzählte auf dem Congresse von den grossartigen alkohol-
freien Volksfesten, die in Warschau und anderwärts veranstaltet werden.
Man sollte denken, dass dies alles nicht ohne günstige Wirkung bleiben könne.
Auch das schweizerische Alkoholmonopol wurde von Pastor Mar-
thaler-Bern einer scharfen Kritik unterzogen. Es habe sich zwar in tech-
nischer und commerzieller Hinsicht bewährt, es haben etwa 1.500 Brennereien
ihren Betrieb eingestellt, und in einigen Cantonen sei mit der Production
der Consum geringer geworden, aber in anderen Cantonen sei er gestiegen,
im ganzen sei der Brantweinconsum in der Schweiz nicht kleiner geworden.
Dass er ohne Monopol gestiegen wäre, lasse sich nicht beweisen. Verfehlt
war es, dass die Brantweinerzeugung aus Obst und aus Weinabfällen von
der Monopolisierung ausgenommen, dass durch die Gesetzgebung der
Consum von Bier und Wein geradezu gefördert wurde. Die Schweiz zähle
jetzt vielleicht weniger Brantwein-, aber sicherlich viel mehr Bier-, Wein-
und Obstwein-Alkoholisten.
Im ganzen war die Stimmung auf dem Congresse, wo- die Total-
abstinenten das Feld ziemlich vollständig beherrschten, dem Monopol nicht
günstig. Prof. Forel-Chigny verwarf es grundsätzlich, ,da der Staat aus
der Vergiftung des Volkes keinen Nutzen ziehen dürfe".
Ich glaube aber, dass sich die Monopolfrage nicht so einfach abthun
lässt. Wenn die indirecte Besteuerung irgendwo am Platze ist, so ist sie
es gegenüber einem Artikel, der absolut kein Lebensbedürfnis, sondern nur
ein schädlicher Luxus ist. Freilich besteht die Gefahr, dass der Staat durch
den Steuergewinn verlockt, den Consum beständig zu steigern suchen könnte
oder demselben wenigstens nicht energisch entgegenträte. Aber gerade da-
gegen scheint mir das Verkaufsmonopol bei richtiger Durchführung viel
mehr Gewähr zu bieten, als irgendeine andere Form der Besteuerung. Ein
unbestreitbarer Nutzen des Monopols wäre, dass der Staat die Qualität des
ausgeschenkten Schnapses völlig in der Hand hätte und die verderbliche
Schnapserzeugung auf kaltem Wege unterdrücken könnte, und dass er die
344 Gruber.
Zahl der Verkaufsstellen nach Willkür verändern könnte. Er hätte auch
durch Fixierung eines Maximums von Alkohol für den jährlichen Ausschank
im Inlande die Möglichkeit, der ununterbrochenen Steigerung der Brantwein-
production Einhalt zu thun. Das Interesse des Staates an Steigerung des
Consums oder wenigstens an dessen Erhaltung auf seiner vollen Höhe könnte
dadurch wirksam beseitigt werden, dass ein Maximal- Steuerertrag festgesetzt
wird, der der Staatscasse zuzufallen hätte, während alle Ueberschüsse propor-
tional den Bruttoerträgnissen den einzelnen Kronländern zu überweisen und
von diesen zur Bekämpfung des Alkoholismus im weitesten Sinne, z. B. durch
Verbesserung der Wohnungszustände, beziehungsweise zur Deckung der
durch den Alkoholmissbrauch erwachsenden öffentlichen Kosten (z. B. für
Erhaltung von Irrenanstalten, Trinkerasylen u. s. w.) zu verwenden wären.
Die Verminderung des Consums würde dann auf absehbare Zeit für das
Staatseinkommen ganz bedeutungslos sein und nur die ueberschüsse ver-
ringern, was aber auch Avieder keinen Schaden brächte, da mit der merk-
lichen Abnahme des Consums auch die Ausgaben der Länder und Gemeinden
für Alkoholschäden abnehmen würden.
Dadurch, dass der Staat das Monopol verwaltet, der an der Erhaltung
des Consums auf voller Höhe kein Interesse hätte, und dadurch, dass die
Ueberschüsse über das fixierte Staatseinkommen hinaus gegen die Alkohol-
schäden verwendet werden raüssten, würde der von B er gman-Stockholm
in einem ausgezeichneten Referate über die schwedische Nüchternheits-
bewegung unter dem Einflüsse von Gesetzgebung und Vereinsthätigkeit
klargelegte Mangel des sonst so vorzüglich bewährten Gothenburger
Systemes vermieden werden, dass das allgemeine Finanzinteresse eine Ver-
minderung des Consums nicht zulässt.
Die letzte Sitzung des Congresses war fast ausschliesslich der Frage
Alkohol und Jugenderziehung gewidmet. Alle Welt war mit Regierun gsrath
Quensel-Köln vollkommen einig darüber, dass alle Alkoholica von Kindern
unter 14 Jahren unbedingt und ausnahmslos ferngehalten werden müssten, und
dass das Kindes- und Jugendalter weitaus das geeignetste sei, um Ver-
ständnis und Begeisterung für den Kampf gegen die Trinksitten zu erwerben.
Aus den Verhandlungen dürfte noch das Folgende bemerkenswert sein.
Zunächst gab der Lehrer Wilh. Frei vom „Deutschen Landerziehungsheim"
des Dr. Lietz in Ilsenhurg im Harz, eine sehr anziehende Schilderung der
Mittel, die dort angewendet werden, um die Schüler enthaltsam zu machen.
Keine Verbote, keine Strafen gegen Alkoholgenuss ! Nur durch passende
Ernährung (wenig Gewürze, viel Obst u. s. w.), durch körperliche Uebungen
und Spiel, Pflege des Sports, naturkundliche und religiös-sittliche Belehrung,
Anleitung zu socialen Beobachtungen wird die Neigung zum Trinken ver-
drängt und wurde erreicht, dass bisher 34 von 70 Schülern freiwillig
abstinent geworden sind.
Regierungrath Q u e n s e 1-Köln verlangte obligatorischen, planmässigeu
Unterricht über die in den geistigen Getränken liegenden Gefahren in allen
Der VIII. internationale Congress gegen den Alkoholismus in Wien etc. 345
Schulen und als Vorbereitung dazu Ausbildung sämmtlicher Lehrer und
Seminaristen in der Kenntnis von den physiologischen Wirkungen des
Alkohols. Auch beim Religions-, Lese- und Eechnenunterricht soll der
Lehrer die Gelegenheit benützen, Abscheu gegen den Alkohol zu erwecken.
Der Lehrer selbst muss seine eigenen Trinksitten soviel als möglich ein-
schränken.
Wie sehr gegenwärtig in der Schule noch gesündigt wird, lehrte in
drastischer Weise die Verlesung von Stellen aus zahlreichen approbierten
Schul- und Volksbibliotheks-Büchern durch Lehrer Mut hs am- Wien, in
denen das Trinken und die Wirkungen von Wein und Brantwein geradezu
verherrlicht werden.
In trefflicher Weise erörterte Pastor Dr. M artiu s-Freienbessingen
die Alkoholgefahr der erwerbsarbeitenden Jugend gerade in dem Alter
zwischen der Entlassung aus der Volksschule und dem Eintritte in das
Heer, beziehungsweise in die Ehe, eine Zeit, in der die Masse der
Jugend heute sosehr jeder erzieherischen Fürsorge entbehrt, dass sie von
Martius mit Recht, geradezu als „Jugendwüste" bezeichnet werden
konnte. Martius Vorschläge zur Abhilfe verdienen ernsteste Beachtung.
Sehr erfreulich waren die Versicherungen des Vertreters des österreichischen
Unterrichtsministeriums Min.-Secretärs Dr. Heinz und des Landesschul-
inspectors Dr. Rieger, dass die Unterrichtsbehörden der Alkoholfrage volle
Beachtung schenken. Der erstere konnte darauf hinweisen, dass in den öster-
reichischen Lehrerbildungsanstalten der Unterricht in Somatologieund Hygiene
schon seit mehreren Jahren obligat sei.
Je genauer man sich mit dem Problem der Eindämmung des Alkohol-
missbrauches beschäftigt, umso klarer sieht man ein, dass, so wertvoll
gesetzliche und administrative Maassnahmen sein mögen, nichts zu erreichen
ist, wenn nicht das Verständnis und der gute Wille der Bevölkerung
erweckt Averden, wenn nicht das Volk aus sich selbst heraus den Kampf zu
führen beginnt. Damit das Volk aber dazu gelange, ist es nothwendig, dass
es durch Wort und Schrift und Beispiel aufgeklärt werde. Diese Aufklärung
wird am wirksamsten sein, wenn sie von denen ausgeht, auf welche das
Volk das meiste Vertrauen setzt. Ich möchte es daher zu den wichtigsten
Ereignissen des Congresses rechnen, dass der um die katholische Mässigkeits-
bewegung im Deutschen Reiche hochverdiente Rector N e u m a n n aus Honneff
a. Rh. eindringlich über diese Bestrebungen bei uns berichtete, dass Prof.
A.M. Weiss von der Dominicaner-Hochschule in Freiburg in der Schweiz einen
Mahnruf an den katholischen Clerus richtete, und dass die beiden genannten
Herren es sich nicht verdriessen Hessen, in mehreren christlich- socialen
Volksversammlungen über den Alkoholismus und den Kampf gegen ihn zu
sprechen.^) Es scheint wirklich, dass dadurch eine katholische Mässigkeits-
^) Der Vortrag des P. Weiss hatte den treffenden Titel „Ohne Alkoholreform
keine Socialreform".
346 Gruber.
bewegung in üesterreich in Gang gebracht worden ist, und es wäre mit
grösster Freude zu begrüssen, wenn, wie Pater Weiss dem Congresse
verkündigte, der österreichische Clerus anfangen wollte, den Kampf gegen
diesen Volksfeind energisch zu führen. In den protestantischen Ländern
sind nicht wenige Geistliche seit langem auf das eifrigste in diesem
Kampfe bemüht, wie denn auch an den Congress-Verhandlungen zahlreiche
protestantische Geistliche, bekannte Führer der Mässigkeits- oder Abstinenz-
bewegung hervorragend betheiligt waren.
Nicht minder bedeutungsvoll ist es, dass der Führer der österreichischen
Socialdemokratie, Dr. Victor Adler, und einer der Schweizer Öocialisten-
führer, Oberrichter Otto Lang-Zürich, sich in einer massenhaft besuchten
Volksversammlung, letzterer auch auf dem Congresse, als Abstinenten
bekannten und die Bekämpfung des Alkoholmissbrauches als eines der
wichtigsten Mittel des wirtschaftlichen, politischen und moralischen Auf-
schwunges des Proletariates bezeichneten. Hoffen wir, dass diese Mahnung auf
fruchtbaren Boden fällt und neben dem Unkraut der Phrasen von dem einen
Uebel des Capitalismus und von dem Allheilmittel des Collectivismus
aufkommt, die wir ja auch auf dem Congresse gehört haben, und die für
Erzielung demagogischer Erfolge allerdings viel besser geeignet sind als die
Mahnung zur Selbstzucht und Selbstüberwindung.
Die Agitation muss auch an der richtigen Stelle beginnen. Der Appell
an die Frauen von den Damen Miss Gray-London, Fräulein Ottilie
Hoffm ann-Bremen und Frl. Marie Paren t-Brüssel möge nicht von
den Frauen Oesterreichs ungehört verhallen. Die Frauen der höheren
Stände, selbst durchwegs massig, ja zumeist noch abstinent, sind zuerst
berufen, dem immer Aveiter umsichgreifenden Alkoholmissbrauch durch ihr
Beispiel und durch ihren entscheidenden Einfluss auf das Kindesalter ent-
gegen zu treten, und dadurch, dass sie ihren eigenen Körper unvergiftet
erhalten, die Gesundheit der nächsten Generation soviel als möglich sicher-
zustellen, trotz der Trinksünden der Väter.
Auch die Lehrer sollten beherzigen, was ihnen auf dem Congresse
selbst und in einer besonderen, vom Centralverein der Wiener Lehrerschaft
und dem Vereine der Abstinenten veranstalteten Versammlung dargelegt
wurde. Nichts würde mehr geeignet sein, Ansehen und Einfluss der Lehrer-
schaft zu heben, als wenn sie durch ihr Verhalten in dieser Sache zeigen
würde, dass sie sich ihrer hohen socialen Pflichten bewusst und zu deren
Erfüllung bereit ist.
Im kommenden Herbste wird der ausführliche Congressbericht im
Druck erscheinen. Er ist wert, nicht beiseite gelegt, sondern durchblättert
und gelesen zu werden. Die Gesichtseindrücke, die man dabei erhalten wird,
müssen sich — sollte man glauben — in Abwehrhandlungen gegen den
Alkoholismus umsetzen.
DIE ENTWICKLUNG
DER ÖSTERREICHISCHEN HANDELSMARINE.
VON
DR- GUSTAV LIPPERT.
Die Vorbedingungen zur Entstehung und Weiterentwicklung unserer
Handelsmarine schuf Kaiser Karl VI. ^) Sein Patent vom 2. Juni 1717,
welches die von den Venetianern als ihrer Hoheit unterworfen betrachtete
Adria frei für den Schiffahrtsverkehr erklärte, zugleich mächtigen Schutz,
sowie Ahndung fremder Uebergriffe in Aussicht stellte, zerbrach Zwang und
Fesseln, die bislang Bewegung und Entwicklung gehemmt hatten; musste
sich doch jedes Handelsschiff gefallen lassen, dass es von den venetianischen
Galeeren in der lästigsten Weise nach Contrebande durchsucht und seine
Ladung mit Beschlag belegt werde. 2)
Die Verfügung entsprang den grossen, aus allgemeinen Gesichtspunkten
hervorgegangenen handelspolitischen Ideen des Kaisers, seinem Plane, den
Seehandel zum Gedeihen und zur Blüte zu bringen, wie denn auch die
kaiserlichen Worte an alle seine innerösterreichischen ünterthanen ge-
richtet sind.^)
^) Die Darstellung der wenig entwickelten maritimen Verhältnisse an der öster-
reichischen Küste vor Karl VI. gibt der von Karl Preiherrn v. Czöernig verfasste
geschichtliche Ueberblick, welcher als Einleitung in das Werk „Die österreichische See-
verwaltung 1850 — 1875" von Ernst Becher, Triest 1875, aufgenommen wurde.
2) Die Eepublik beherrschte die Istrianer und Dalmatiner Küste. Sie nöthigte die
Triestiner Schiffe ohne Flagge zu fahren, indem sie ihnen auszulaufen verwehrte, wenn
sie nicht in Capodistria gegen Entrichtung festgesetzter Taxen eine schriftliche Bewilli-
gung eingeholt hatten, worin der Bestimmungsort und die Ladung genau angegeben
werden musste. Waren venetianischer Privative, besonders Salz, waren von der Triester
Schiffahrt völlig ausgeschlossen und sämmtliche Fahrzeuge mussten sich einer Durch-
suchung von Seite der zur Ueberwachung des Golfes aufgestellten Schilfe (bei Pirano und
am Quieto) unterziehen. Ein Schiff, welches ohne die erwähnte Bewilligung fuhr, wurde
mit der Ladung gleichsam als Prise aufgebracht. Geschichte der Stadt Triest von
J. Löwenthal, Triest, literarisch-artistische Abtheilung des österreichischen Lloyd 1857.
^) „Wir Carl der Sechste, von Gottesgnaden Erwählter Komischer Kayser u. s. w.
— Entbieten allen und jeden Unseren getreuen Liwohnern und Ünterthanen, was Würden,
Stands, Anibts, hochen und nideren Befehls, oder Wesens die seynd, welche Allenthalben
in Unseren In.-Oe. Erbfürstenthumber und Landen als nambich in Steyer, Kärndten und
348 Lippeit.
Dieses „unterm dato 2. Juny Anno 1717 publicirte Commercien'
Patent zu erläutern und zu erfrischen" war das im wesentlichen gleich-
lautende Patent vom 15. März 1719 bestimmt, welches in Verbindung mit
dem drei Tage später (18. März 1719) datierten sogenanntea Freihafen-
Privileg für Triest und Fiume die Grundsteine zur Entwicklung des See-
handels der Monarchie legte.
Eine günstige geographische Lage, gute Strassenverbindungen mit dem
Hinterlande, bereits vorhandene Anfänge commerziellen und maritimen
Lebens Hessen unter mehreren in Betracht gezogenen Küstenorten ^) Triest
Crain, wie auch Görtz, Gradisca, Triest, St.-Veit am Pflaumb, und allen übrigen Unseren
In -Oe. Erblanden, Meer-Küsten und Porten wohnen, und sich alldorten sesshaft befinden,
oder sich künftig daselbsten unterrichten und nidersetzen werden, Unser Kayser-
König- und Lands-Fürstliche Gnad, und alles Gutes, und thun hiermit kundt aller-
männiglich. - —
Demnach wir zu Einricht-Behörder- und Vermehrung des Commercii in allen
Unseren Erb-Künigreich- und Landen, vornehmlich aber in Unseren gesambten In.-Oe.
Erb-Landen und Meer-Porten zu derenselben Aufnamb und Wachsthumb bei Beobacht-
und Herställung deren hierzun erforderlichen essential-Mittlen, unter anderen haubtsächlich
die Stabilirung der gesicherten auch frej'en Navigation und Schiffahrth durch das Adria-
ticum, so ohne Ertheilung gewisser Freyheit und anderen requisiten nicht wohl geschehen
kann, so nötig als Vortrag- und erspriesslich erachtet, und dahero auf den Uns
geschehenen umbständlichen Vortrag gnädigst resolviert haben, dass Unsere Königlich-
Hungar- und Croatischen Meer-Gränitzeren, wie auch all- und jeden auf Unseren Lands-
Fürstlichen In.-Oe. Meer-Küsten und Porten befindlichen, oder künftigen daselbst nieder-
setzenden und Unserer Lands-Fürstlichen Bottmässigkeit sich ergebenden Inwohnern-
Unterthanen und Getreuen, welche zu Einriebt- und best-möglichster Standbringung dess
Commercii auf obbedeute Schifferth sich verlegen, armiren, und das Commercium frey
treiben wollen, solches alles von Uns hiemit gnädigst erlaubt und denenselben dise Un-
sere Resolution und Genehmhaltung durch gegenwärtiges offenes Patent kundt gemacht,
auch jedermann von Unsertwegen versichert wird, was gestalten Wir obbesagt: Unseren
Insassen, auch anderen Getreuen, welche zu Einführung der Schiffahrt, und des Com-
mercii mit ihren Schiffen von Unseren In.-Oe. Meer-Porten auslauffen werden, nicht allein
Unsere Kayser- und Lands-Fürstliche Flaggen zuzulassen, und derowegen denenselben auf
ihr gebührendes Anmelden das benötigte Patent durch Unsere In.-Oe. Geheimbe Hof-
Cantzley zu ertlieilen, wie nicht minder dieselbe (allenfalls dergleichene Schiff oder Effetti
von einer anderen Potenz wider Verhoffen angehalten oder sonsten tnrbirt, und beein-
trächtiget werden solten) kräfftigist zu schützen, und mithin dergleichen Torto und
Schaden auf alle Weise zu vindiciren, und so gestalten, als wann solcher Unser Provinz
Selbsten widerfahrete, aufzunemen, wie auch zu solchem Ende auf alle Mittel und Weeg
zu Verschaffung alsobaldiger Satisfaction bedacht zu seyn, sondern auch jene, welche das
Commercium per Mare Adriaticum anfangen, und sich zu solchen mit Schiffen, auch von
frembden Orthen auf Unseren Oesterreichischen Meer-Porten einfinden werden, mit
besonderin Kayser- und Lands-Fürstlichen Gnaden und Preyheiten gnädigst anzusehen,
und zu begnaden, wie ingleichen denen Trafficanten mittels Satzung gewisser Ordnung
und Constitutione die förderliche Justiz ohne Umtrieb, mithin summarissime, et paratä
Executione, gleichwie es in andern Orthen, und wohlgerichteten Handels- Städten gewöhn-
lich, auch sonsten Handlungs-Recht ist, administriren: und andurch das freye Commer-
cium proseguiren: wiezumahlen auch zu solchen Ende ein gewisses allschon von Uns
gnädigst approbirtes Wechsl-Recht gleichfalls nach Beschaffenheit in Unseren gesambten
In.-Oe. Erblanden allernächstens einrichten und publiciren zu lassen."
1) Darunter Aquileja und Duino.
Die Entwicklung der österreichischen Handelsmarine. 349
als den besten Stützpunkt^) für die Handelsoperationen erscheinen, deren
Förderung das bezogene Patent vom 18, März 1719 herbeizuführen gedachte. ^)
Dieses Patent vom 18. März 1719 schuf eigentlich nur einen Punto franco,
ein Freigebiet. Punto franco war der Hafen (etwa die heutige Sacchetta)
und die neuerbauten Cameral-Magazine sammt den sich daran anschliessenden
Privatmagazinen. Im Punto franco durfte von Schiff zu Schiff, in den
Magazinen von Hand zu Hand Eigenthumsübertragung ohne Entrichtung
irgendwelcher Abgaben stattfinden. Als Behörde fungierte im Freihafen der
kaiserliche Obereinnehmer, welcher auch die Magazine zu verwalten und zu
^) Die Venetianer erhoben geringen Einspruch gegen die Wahl Triests zum Frei-
hafen in der Voraussetzung, dass die bestehenden Hindernisse als die Bora, die Abnei-
gung der Bewohner für grosse UnLernehmungen, der Mangel an Kaum zu neuen An-
siedlungen ohnehin nicht zu besiegen sein würden. Sie betrachteten deshalb die Errichtung
eines Emporiums in Triest als einen völlig verfehlten Versuch.
^) „Denen fremden Trafficanten^ Schiff-Patronen, Manufacturisten und andern
Künstlern, so des Commercij halber sich in Unsere In.-Oe. Erb-Lande zu überziehen und
ansässig zu machen; Lust und Verlangen haben, wo es einem jeden daselbst beliebig und
anständig seyn kan, und mag, soll ein vergnügliches Unterkommen, auch freye Treibung
seines Handels, Manufactur oder Kunst gestattet, und diessfals all-gedeulicher Schutz
gehalten, Avie nicht weniger zu solchem Ende an der bereits angefangenen Verbeser- und
Einrichtung, wie auch Erweiterung der Haubt-Strassen, damit selbe zu Beförderung dess
Commercij mithin zu Überfuhr- und Fortbringung deren Waaren nach guter Handlungs-
Arth und üblichen Gewonheit, tauglich und wandelbahr gemacht, unaussetzlich fort
gearbeithet, und ehist zu Ende gebracht, auch so gestalten künfftighin unterhalten
werden.
Dahero zu Behuff alles dessen vergünstigen Wir allen Handels- und Kauff-Leuten
hiemit gnädigst, dass sie in allen Häven, Keviren, und Ströhmen in Unseren In.-Oe.
Erb-Fürstenthumben und Landen, ohne einig sicheren Geleyth, oder anderer General-
oder Special-Erlaubniss, sowohl mit ihren eignen, als gemüttenden Schiffen, unbeladen
oder beladen, mit allerhand Gütter und Kauffmanschaften ankommen, sich in selbigen
aufhalten, und wann es ihnen beliebt, wieder aussegeln können und mögen.
Darumben dann wir zu solchem Ende zu Porti Franchi Unsere an dem Mari
Adriatico liegende beede Statt Fiume und Triest derzeit hiemit gnädigst benenset haben,
wo solchem nechst alle anlandende frembde Trafficanten, die sonsten auss Unseren Erb-
landen von anderter, dritter, vierdter, oder wohl gar von fünfter Hani hergenommene
Effetti künftighin mehrern Theils von erster Hand, folglich mit grossen Nutzen zu
erhandeln, und hiervon ferern Gewinn zu suchen gute Gelegenheit überkommen können.
Massen Wir zu mehrerer Sicherheit und Beförderung der Sachen nicht allein wegen
Anleg- und stabilirung einer perpetuirlichen Contumaciae eine besondere Ordnung ver-
fassen, und zu deren genauen Befolgung nechstens ad publicandum geben lassen, sondern
auch auf obbemeltdte beede Porti Franchi zu Fiume und Triest folgende Special Frey-
heiten von uns gnädigst ertheilet, und zu jedermännigliches Nachricht kundt gemacht
werden, als erstlich, dass ein jeder Trafficant, Schiff-Capitain, Patron und andere der-
gleichen in sothane Unsere beede Porti Franchi je- und allzeit mit oder ohne Ladung
ohngehindert und frey ein- und ausslauffen, darinnen nach ihren Belieben sowohl in
eigner Persohn, als durch ihre Agenten und Factorn, wie sie es am Besten und
bequemisten zu seyn von Selbsten erachten werden, Waaren und Effetti erhandlen. ein-
laden und aussführen, ohne dass er von seinen Aufenthalt oder für das Ein- und Aus-
lauffen, unseren Beambten ein Schutz-Geld, oder sogenantes Regal, oder eine andere
Gebühr, wie die immer Nahmen haben könnte, zureichen schuldig seyn, zumahlen auch
von denen hinein führenden Waaren, ein mehrers nicht zu entrichten seyn wird, als: ein
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. X. Band. 24
350 Lippert.
beaufsichtigen, die Gebüren eiiizuheben und die Schmuggler zu bestrafen
hatte. (Instruction vom 19. November 1725 für die Commandanten und
Beamten des Freihafens.) Die Stadt selbst nahm damals an dem Privileg
nicht theil; im Freigebiete war jeder Kleinverkauf strenge untersagt und
der Verkauf im grossen nicht unter hundert Thalern Wert gestattet. Später
(30. Mai 1731) wurde die Zollfreiheit auch den zu Lande angekommenen
Waren eingeräumt, aber immer nur auf den Punto franco beschränkt. Für
die Stadt bewilligte man übrigens schon 1729 „freie Messen", das heisst
die abgabefreie Abhaltung eines zweiwöchentlichen Marktes an einem eigens
zugewiesenen Platze.
Durch Begünstigung der zur Einwanderung eingeladenen fremden Kauf-
leute trachtete der Kaisei' einen selbständigen Grosshandel zu schauen und
Capitalien ins Land zu ziehen. Umsichtig befasste er sich mit allen Fragen
und Aufgaben, welche der Förderung des Handelsstandes zweckdienlich
schienen und einer fürsorglichen Hafen- und Seesanitätsverwaltung zufallen. ^)
1722 wurde ein eigenes Handelsgericht eingesetzt, das auch in Seesachen
zur Entscheidung berufen war.
Er liess 1720 ein Seelazareth erbauen, welches nach ihm benannt
wurde und noch heute, wenngleich etwas verändert und anderen Zwecken
dienend, besteht. -) In das Jahr 1731 fällt die Errichtung der Obersten
Commerz-Intendanz für sämmtliche auf den Handel bezügliche Angelegen-
heiten. ^) Die für diese Behörde erlassene Instruction vom 2. Februar 1732
gibt • ein ausführliches Bild der Pläne, welche dem Kaiser hinsichtlich der
Hebung des Seehandels vorschwebten.
Handelsschiffe besass die Stadt schon längere Zeit, es waren dies aber
nur kleine, für die Küstenfahrt geeignete Segler nach dem Typus der Braz-
zeren, Tartanen oder Marzilianen.
Die im Jahre 1719 mit einem Capitale von einer Million Thalern
geschaffene orientalische Handelscompagnie (mit dem Sitze in Wien und
einer Zweigniederlassung in Triest), zu deren Actionären der Kaiser selbst
ein halb pr. Cento Consulats, oder sogenannten Admiralitätszoll, von denen verkaufften
oder sonsten verhandleten Waaren und Effetti nach der von dem Praeside dess Consulats
oder Wechsl-Gerichts-Eatli mit Zuziehung einer oder andern Persohn von jener Nation,
von der das ankommende Schiff ist, gemachten Schätzung.
Die an Unsern Haven ankommende Schiff wollen Wir aller Visitation befrejet,
dahin gegen die Trafficanten verbunden und obligirt haben, ihre authentische Passaport.
worinnen der Nahmen dess Schiff-Patrons sein Aufenthalt, und dess Schiffs-Freyheit
sambt einer von seiner Behörde aufzuweisen habenden gefärtigten authentischen Specifi-
cation ihrer Ladung von jenen Orthen, wo sie aussgeloffen seynd zu zeigen,"
^) Der Kaiser hat Triest im Jahre 1728 selbst besucht, um sich persönlich von den
Fortschritten zu überzeugen und die Bedürfnisse und Wünsche, insbesondere soweit sie
das Gedeihen des Handels betrafen, kennen zu lernen.
2) In dem S. Carlo-Lazareth hatte die Kriegsmarine bereits seit 1828 ein Magazin
in Miete; mit 25. Februar 1849 wurde ihr die ganze Anlage vollständig zum Gebrauche
überlassen.
^) Aufgehoben wurde diese collegial organisierte Behörde durch die Eesolution
vom 13. April 1776 und ihre Geschäftsgebarung einem Gouverneur übertragen.
^ Die Entwicklung der österreichischen Handelsmarine. 351
zählte, hatte unter anderen vielen ausserordentlichen Vergünstigungen auch
das Kecht, Schilfe über 60 Fuss Länge zu bauen, sowie Ausrüstungsgegen-
stände, Segel, Taue, Theer, Eisen- und Kupferbestandtheile herzustellen.
Sie errichtete eine Schiffbauanstalt von grossem ünafange ^), aut welcher
bereits 1719 ein Schiff ,11 primogenito" vom Stapel gelassen worden ist;
dasselbe gieng mit zwei anderen Schiffen der Gesellschaft nach Portugal
und wurde daselbst 1723 verkauft. Die Werfte wurde späterhin, 1733, vom
Kaiser für Zwecke eines Arsenales der Kriegsmarine erworben; hierauf ver-
legte die Corapagnie den Schiffsbau nach Fiume und Buccari. Sie unterhielt
Schiffahrtsverbindungen und Handelsbeziehungen mit Portugal, Spanien,
Constantinopel und der Levante.
Diese verheissungsvoUe, gross angelegte Unternehmung überlebte jedoch
ihren Schöpfer nicht lange, ^) der, nach allen Seiten Impulse gebend, in dem
denkwürdigen Jahre 1719 vorwiegend nach den Kathschlägen des Prinzen
Eugen auch die Bildung einer Kriegsmarine als nothwendigen Schutzes der
Handelsflotte deciretiert hatte.
Nachdem Karl VI. sein Augenmerk der Adria und der Entwicklung
des Seeverkehres zugewendet, trat Maria Theresia mit grösserem
Nachdrucke, durch eine Reihe umfassender Maassnahmen an die Hebung der
mercantilen Bedeutung der Küstenländer und an die Schaffung der Handels-
marine heran. Triests Geschichte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
ist geradezu ein Stück Geschichte der handelspolitischen Thätigkeit der
Kaiserin. „Zielbewusstes und kräftiges Eingreifen bezeichnet ihre Regierungs-
zeit. Regelung der Gesetzgebung, stramm organisierte Verwaltung, rasche
und sachgemässe Rechtspflege, Hebung der Industrie und Landwirtschaft im
Zusammenhange mit einer gesunden Handelspolitik, Bildung eines kräftigen
und creditfähigen Handelsstandes und Beförderung der Schiffahrt sind die
Ziele, welche der Kaiserin vorschwebten, und welche sie, unentwegt durch
widrige Verhältnisse, zu erreichen strebte und erreichte!" ^)
Die Schwierigkeiten waren in der That keine geringen; das Litorale
und selbst Triest hatte keinen nennenswerten, so gut wie gar keinen eigenen
Handel; der Verkehr wurde auf Rechnung römischer und puglieser Kauf-
leute besorgt, welche naturgemäss vorzogen, sich ihrer eigenen Schiffe zu
bedienen.
Die Bevölkerungsverhältnisse in den maassgebenden Hafenorten waren
überhaupt der Entwicklung des Seeverkehres nicht besonders günstig; der
Credit der Plätze war ein sehr geringer, namentlich der Geldverkehr mit
^) Dieselbe umfasste die Gründe, auf denen heutzutage das Tergesteum, das
Communaltheater, der Theaterplatz und einige anstossende Strassenzüge sich befinden.
^) Ihr Privileg lief 1742 ab. Vielleicht war das leitende Personale der Ausführung
der kühnen Pläne nicht gewachsen. Jedenfalls gab sie aber der Stadt das erste Beispiel
eines aufs Grosse gerichteten Handels und der Wirksamkeit von vereinigten Capitals-
kräften.
^) Maria Theresia und die Handelsmarine von N. Ebner v. Ebenthal],
Triest 1888.
24*
352 Lippert.
dem Auslände gestaltete sich sehr verwickelt und umständlich; man war in
dieser Kichtung fast ausschliesslich auf die Vermittlung Wiens oder Venedigs
angewiesen. Zeitweise war die finanzielle Lage und die Capitalskräftigkeit
Triests eine keineswegs günstige.
Die Sicherheit des Mittelmeeres Hess sehr zu wünschen übrig. Das
Verhalten der Barbareskenstaaten, deren Kaubschiffe sich auch bis in den
südlichen Theil der Adria (liagusa, Lissa) wagten, wirkte lähmend auf die
Entwicklung der erbländischen Marine, wie folgende, aus einer charakte-
ristischen Epoche herausgegriffene Zuwachszahlen der in einem Jahre
patentierten Schiffe ersehen lassen:
1761
22
Schiffe mit 3.016
Tonnen
1766
6 Schiffe mit 978 Tonnen
1762
14
»
n 1.479
»
1767
8 , , 904 ,
1763
19
9
, 2.423
»
1768
6 , , 1.070
1764
21
D
. 3.446
»
1769
3 , , 274 ,
1765
2
1
. 219
n
Kennzeichnend für die damalige Lage ist, dass bei dem Umstände, als
die Anläufe zur systematischen Bildung einer Kriegsmarine scheiterten,
nichts anderes erübrigte, als die Armierung der einzelnen Kauffahrer zu
fördern und Waffenthaten zur See entsprechend zu belohnen.
Kein Wunder auch, dass die Schiffahrtsverbindungen in engsten Grenzen
sich bewegten. Im westlichen Becken des Mittelmeeres waren sie durch die
Piraterei ausgeschlossen; Fahrten über Gibraltar hinaus kamen nur selten
vor; sie beschränkten sich auf das adriatische Meer und die Levante. Hier
aber war ein harter, weil mit ungleichen Waffen geführter Wettkampf nicht
bloss mit Venedig und Kagusa, sondern auch mit den Schiffen des Kirchen-
staates und Neapel zu bestehen.
Da harrten grosse, umfassende Aufgaben der Lösung.
Die Hebung des Litorales und die Bildung einer nationalen Handels-
marine war nur durch Leitung des Handelszuges nach den Häfen der Adria
möglich, durch bevorzugende Fürsorge für deren grössten, Triest selbst.
Die Kaiserin bestätigte daher mit Kesolution vom 9. Jänner 1745
die städtischen Privilegien „wie es die wahre Aufnahme der Stadt und
eines Porto franco erfordert", und ertheilte gleichzeitig verschiedene Begün-
stigungen. Das Freihafenprivileg wurde erst späterhin mit Kesolution vom
27. April 1769 bestätigt und nunmehr die Zollfreiheit auch auf die Stadt
und beinahe ihr ganzes Gebiet ausgedehnt.
Die Wirkungen der Ertheilung des, Privilegs auf den öffentlichen
Geist waren ganz eigenthümliche. Zuerst überwog Jubel und Dankbarkeit,
dann trat ein merkwürdiger Kückschlag ein. Die alten Bürger, welche sich
bisher nur in kleineren Handelsgeschäften bethätigt und mit ihren Stadt-
angelegenheiten befasst hatten, sahen sich plötzlich in eine Zeit fieberhafter
Thätigkeit, unaufliörlicher Bewegung und einer gewissen Ausschliesslichkeit
der auf Handelsoperationen hingelenkten Gedankenrichtung hineingezogen,
dergestalt, dass anfangs sogar ein Gegensatz zwischen alten und neuen
Die Entwicklung der österreichischen Handelsmarine. 353
Bestrebungen zutage trat, welcher erst allmählich wieder ausgeglichen
wurde.
An einem eigenen Handelsstande im heutigen Sinne fehlte es ja eigent-
lich; der Handel lag zumeist in den Händen von fremden, im Küstenlande
nicht ansässigen Kaufleuten; hier musste eingreifend Abhilfe geschaffen, das
heisst die Heranziehung Auswärtiger durch allerlei Privilegien und Frei-
heiten bewerkstelligt werden. 1751 wurde die erste Sensalenordnung ver-
öffentlicht. Man suchte ferner dem Handelsstand (Corpo dei Mercanti) eine
feste Verfassung zu geben und eine Handelsvertretung ins Leben zu rufen,
welche die allgemeinen Interessen in jeder Kichtung zu wahren hatte. Mit
Resolution vom 20. Juni 1753 erfolgte die Genehmigung der Börsenordnung
für die in diesem Jahre errichtete Handelsbörse.
Hebung der Bodencultur und Industrie sollten die Bedingungen des
Ausfuhrhandels schaffen. Die neuentstandenen Unternehmungen wurden im
Sinne der damals herrschenden nationalökonomischen Anschauungen durch
Erlassung von Ein- bezw. Ausfuhrverboten, sowie durch Prämien, ferner
durch Mauth- und Zollbegünstigungen (ünterscheidungszölle) gefördert. Der
Strassenverbesserung wurde eingehende Sorgfalt gewidmet, die den Verkehr
höchst beschränkende Fuhrwesen-Rollo-Ordnung, nach welcher die Benützung
der Fuhrwerke nicht jedermann freigestellt war, aufgehoben.
Behufs Hebung des Credites schritt man an die Errichtung einer
Versicherungsgesellschaft und einer damit in Zusammenhang stehenden Leih-
bank (Banco d' imprestito).
Ganz besonders war Maria Theresia auf die Herstellung von
Handelsbeziehungen bedacht, auf die Vermehrung der Verbindungen zur See
und die gedeihliche Entwicklung der Handelsschiffahrt. Nicht ohne Erfolg
waren die Bemühungen zur Gewinnung eines unmittelbaren Verkehres mit
dem österreichischen Theile der Lombardei. Hier musste hauptsächlich das
Handelsmonopol Venedigs gebrochen werden. Die wichtigste, auch in schiff-
fahrtlicher Beziehung bedeutungsvolle Verfügung war die Activierung einer
regelmässigen Schiffahrtsverbindung zwischen Triest und Pontelagoscuio di
Ferrara (Resolutionen vom 14. Juni 1757 und 20. Februar 1766) und eine
zehntägige Schiffsverbindung zwischen Triest und Mesola, dann Cremona und
Pavia mit Benützung des Poflusses.
Der Verkehr mit der Levante hatte sich bereits in den ersten Regierungs-
jahren der Kaiserin ziemlich rege gestaltet; doch klagte man über den
Mangel eines Handelsstandes im Litorale und geeigneter Consuln in den
levantinischen Handelsplätzen. Man suchte daher Levantiner, vornehmlich
griechische Kaufleute nach Triest zu ziehen, welche vermöge ihrer Kennt-
nisse zur Kräftigung des Verkehres beizutragen vermochten. Eine nicht zu
verkennende Besserung der Verkehrsbeziehungen und eine Zunahme des
handelspolitischen Einflusses Oesterreichs im östlichen Becken des Mittel-
meeres brachte dann die Reform des Consulardienstes vom Jahre 1752. Auf
den Verkehr mit Aegypten bezieht sich die Resolution vom 20. November 1779,
in welcher die Kaiserin „die allermildeste Versicherung" aussprach, den nach
354 Lippert.
Alexaudrien „handelnden Partheyen" den Allerhöchsten Schutz nach Thun-
lichkeit angedeihen zu lassen. Eege und lebhafte Beziehungen zur See ent-
standen mit den päpstlichen Staaten, Parma, Toscana und Spanien, theihveise
auch mit Kiissland. Ueberaus interessant sind die Bestrebungen behufs
Herstellung einer unmittelbaren Seeverbindung mit den Niederlanden, wozu
der Hafen von Ostende ausersehen war. Im Mai 1773 liess die Kaiserin der
Commerzialintendanz die Nachricht zukommen, dass in nächster Zeit in
Triest und Fiume Schiffe aus Ostende eintreffen würden, und ertheilte den
Auftrag, dahin zu wirken, dass die Handelsleute für eine entsprechende
Eückladung Sorge trügen.
Das erste in Triest gecharterte Schiff war die „Elisabetta" mit
160 Tonnen, welches im April 1774 nach Ostende abgieng; demselben
folgte schon im December desselben Jahres ein zweites. Das Unternehmen
wurde von Staatswegen durch Vorschiessung der Fracht und Zuwendung
anderer Vortheile unterstützt.
Diese mannigfache Ausgestaltung der Handelsbeziehungen ^) hatte
naturgemäss die Ausbildung der Handelsflotte im Gefolge. Ihren damaligen
Stand sollen folgende, den nur unzureichend vorhandenen, jedoch immerhin
historisches Interesse bietenden Aufzeichnungen entnommene Zahlen ver-
anschaulichen.
Im Jahre 1755 gab es in Triest 29 patentierte Schiffe mit dem
Gesammtgehalte von 4.385 miliara -) und 30 pieleghi und brazzere mit
1.040 miliara. In Fiume bestanden in demselben Jahre 12 patentierte Schiffe
mit einem Gehalte von 2.490 miliara und 11 Trabakel und pieleghi mit
652 miliara. Zengg weist 21 patentierte Schiffe mit 1.660 Tonnen, 10 noch
mit Seepass der Intendenza versehene Schiffe von 220 Tonnen und 7 tra-
baccoli, pieleghi und brazzere ohne Flagge mit 56 Tonnen auf, Carlopago
erscheint mit einem Trabakel mit Seepass (Gehalt 53 Salzkisten), und
4 Trabakeln und brazzere (Gehalt 470 barili Wein). Im Jahre 1759 ist
Triest mit 45 grossen und kleinen Schiffen von 1.981 Tonnen, Zengg mit
39 Schiffen, Carlobago mit 5 Schiffen (Gehalt 720 barili Wein), Buccari
mit 23 Schiffen von 2.255 Tonnen notiert. Nach einer Nachweisung vom
31. September 1760 belief sich der Stand der östereichischen Handelsmarine
I
^) Umfassende Daten über den Aufschwung des Handels nach Erklärung des Frei-
hafens stehen nicht zur Verfügung; es galt aber allgemein, dass der Fortschritt ein grosser
gewesen sei, wie auch folgende Schätzungen bestätigen. 1766 überstieg der Wert der
Seeausfuhr nicht 3,700.000 Gulden, vier Jahre hernach hatte er schon sechs Millionen
erreicht. Für 1780 wird der gesammte Seehandel mit 16,274.120 Gulden bewertet, u. zw.
1^2 Millionen mehr als im vorausgehenden Jahre. Man zählte damals 44 Börsenfirmen,
38 Grosskaufleute, 9, welche sich mit Gross- und Kleinhandel befassten, 4 Kleinkaufleute,
12 Fabrikanten, 46 Geschäftsinhaber. Es gab 77 Industrie-Ünternehmungeri, 00 Sensale,
11 Spediteure.
Consulate bestanden für Dänemark, England, Frankreich, Genua, Malta, Modena,
Neapel, Holland, Bayern, Portugal, Preussen, Ragusa, Kirchenstaat, Russland, Sardinien,
Schweden, Toscana, Türkei, Venedig.
2) Miliara = 1.000 Pfund = 10 Centner (= 1 Tonne).
Die Entwicklung der österreichischen Handelsmarine. 355
auf 53 grosse, 30 mittlere und 44 kleine, zusammen 127 Schilfe ^) mit
einer Bemannung von 927 Seeleuten.
Der Schiffsverkehr Triests war 2)
im Jahre Ankunft Abfahrt
1753 4.761 3.144
1754 4.076 3.166
1755 5.336 3.421
1756 4.226 3.914
1757 3.448 3.197
1758 3.789 3.573
1759 3.791 3.597
1760 3.752 3.496
im Jahre Ankunft Abfahrt
1761 3.348 3.138
1762 3.626 3.513
1763 3.819 3.704
1764 4.131 4.103
1765 4.819 4.734
1766 5.394 4.869
1767 6.120 5.074
1768 6.828 5.768
Vergleiche mit den unmittelbar nachfolgenden Jahren ergeben, dass
1769 eine Abnahme, 1771 und 1772 eine Zunahme zu verzeichnen war,
dass aber die Verkehrszahlen des Jahres 1768 nicht erreicht wurden. Als
Gründe dieses Rückganges werden die Unterbrechung der Schiffahrt in der
Levante, die Hungersnoth in Oesterreich, die vielen Einfuhrverbote, die Zoll-
erhöhung für Kaffee, Cacao und Zucker insbesondere, sowie die gleichen
Maassnahraen anderer Staaten angeführt.
Der bedeutende Unterschied zwischen der Zahl der angekommenen und
jener der abfahrenden wurde dadurch erklärt, dass die Venetianer sich der
Meldung in der Abfahrt entzogen. Dies geschah, um entweder der Gebüren-
entrichtung zu entgehen oder um ungestört Schmuggel zu treiben. Zur
Abhilfe wurden sie dann schon bei der Ankunft zum Cautionserlage ver-
pflichtet.
Diese alte Statistik^) ist übrigens nicht allzusehr geeignet, ein klares
Bild über den Stand der Handelsmarine zu gewinnen; so viel ist aber jeden-
1) Hievon entfallen auf die verschiedenen Hafenorte:
Triest 15 grosse, 7 mittlere, 26 kleine Schiffe mit 286 Mann
Fiume 14 „ 9 ' „ 4 „ „ „ 233 „
Zengg 20 „ 12 „ 7 „ „ „ 334 „
Carlobago ....— „ l'„ 4„ „ „24„
Buccari \ a -, o t:n
Portore | • • • • * „ 1 „ 3 „ „ „ 50 „
Als grosse Schilfe galten solche, welche 100 Tonnen und darüber hatten, als mitt-
lere jene, deren Tonnengehalt 50 und darüber betrug, und kleine waren solche, deren
Tonnengehalt 50 nicht erreichte.
2) Unter den Schiffen befinden sich österreichische, kaiserliche, römische, schwedische,
dänische, holländische, neapolitanische, venetianische, genuesische, hamburgische, ra-
gusaische, türkische, hierosolimitanische, Malteser und spanische Fahrzeuge.
3) Hinsichtlich der Schiffahrtsbewegung sorgte die Central-Seebehörde seit dem
Jahre 1850 für die Herstellung einer genauen Statistik. Der Lloyd gab 1848 ein Jahr-
buch der Marine heraus, welches die für die Handelsmarine wichtigsten Personalnotizen,
statistischen Daten und eine Reihe von Angaben über seine eigene Dampfschiffahrt
zusammenfasste. Für das Jahr 1850 erschien ein weiterer Jahrgang, erfuhr jedoch dann
von Seiten des Lloyd keine Fortsetzung. Dagegen nahm die Central-Seebehörde diesen
Gedanken auf und gab von 1853 angefangen das Annuario marittimo heraus.
356 Lippert.
falls daraus zu folgern, dass die eigenen erbländischen Schiffe keinen sehr
grossen Antheil an dem Seeverkehre stellten. Das Bestreben der Kaiserin
war daher mit Kecht auf eine Förderung des Schiffbaues gerichtet.
Zu Anfang ihrer Kegierungszeit bestand in Triest die Werfte der
Scuola di S. Nicolö (einer Bruderschaft), dann die ehemalige Werfte der
Compagnia Orientale. Die Berufung des Schiffsbaumeisters Nocelli nach
Triest sollte eine neue Aera in der Schiffsbautechnik einleiten; sein Sohn
fand ebenfalls Anstellung als Schiffbaumeister und wurde ihm der Bau von
zwei Kriegsfregatten übertragen. Nocelli Sohn führte den Bau mehrerer
Kauffahrteischiffe, darunter den eines grösseren Indienfahrers aus.
Maria Theresia wollte Portore als Sitz der Schift'bauindustrie
bestimmen, in der Meinung, dass dort die günstigsten Bedingungen hiezu
vorhanden wären. Thatsächlich wurden dort zwei Fregatten in Bau gegeben;
aber die Erfahrung zeigte, dass doch nur Triest als eigentliche Stätte des
Handels und der Khederei zur Erlangung einer grösseren Bedeutung im
Schiffbaue erkoren sei, wie denn auch wirklich sehr umfangreiche Bestel-
lungen damals die neue Werfte des Pamphilli auszuführen hatte.
Den Nebengewerben des Schiffbaues, deren Betrieb bei dem Mangel
vollständig ausgerüsteter Arsenale ein selbständiger war, musste durch
geeignete Maassregeln aufgeholfen werden. ^)
Die Betheiligung der Küstenbevölkerung an der Schiffahrt wird als
keine besonders rege geschildert. Den damaligen Matrosen warf man geringe
Arbeitslust vor, aus welchem Grunde die Schiffe zur Aufnahme zahlreicher
Mannschaft gezwungen gewesen sein sollen. Die Schiffe hatten gewöhnlich
30 — 40 Matrosen. -) Im Jahre 1760 wird ihre Gesammtzahl mit 927 ange-
geben, 1763 mit 1.030 Mann. ")
Um die Küstenbewohner in grösserem Maasse zum Seedienste heran-
zuziehen, wurden besondere Begünstigungen in Aussicht gestellt. So gewährte
^) Zur Hobung des Ankerschmiedgewerbes in Triest gewährte die Eesolution vom
30. August 1763 eine Prämie von 2 Gulden für jedeu Meiler (10 Centner) Eisen, welches
zu Ankern verarbeitet wurde. Für die Errichtung einer Schmiedewerkstätte wurde ein
Staatsbeitrag von 2.000 Gulden bewilligt und dem Unternehmer ein S^/^iges Darlehen
von 800 Gulden zur Anschaffung der Werkzeuge gegeben. Das nothwendige Eisen konnte
er aus den Staatsniagazinen auf Credit beziehen. Bei der ausländischen Wettbewerbung
(Genua, Holland) dauerte es aber geraume Zeit, diesen Industriezweig emporzubringen.
Für die Erzeugung von Schiffstauen bestanden gegen 1770 in Triest zwei Fabriken,
wovon die eine eine jährliche Unterstützung genoss. Durch dieselben wurde der Bedarf
an Tauwerk für alle in den erbländischen Hafenplätzen sich aufhaltenden Schiffe gedeckt.
Die Segeltuchbearbeitung stand in Triest nicht besonders günstig. Bessere Erfolge scheint
eine Krainer Fabrik gehabt zu haben. Von der Nothwendigkeit grösserer Einfuhr dieser
Erzeugnisse aus dem Ausland geschieht in den Annalen keine Erwähnung.
2) Heutzutage haben grosse Lloyddampfer eine Bemannung von 40 — 50, mittlere
von 25—80, kleinere von 15 — 25 Mann.
3) Genaue Angaben enthält ein auf das Jahr 1762 bezügliches Verzeichnis. Hier-
nach waren 64 Capitäne, 11 Lootsen, 66 Bootsmänner, 145 Schiffsführer, 605 Matrosen,
74 Schiffsjungen und 87 Fischer, zusammen 1.134 Mann eingeschrieben, wovon 226 auf
Triest, 186 auf Fiume, 219 auf Zengg, 25 auf Carlobago, 204 auf Buccari, 223 auf
Istrien, 51 auf Friaul entfielen.
^
Die Entwicklung der österreicliischen Handelsmarine. 357
die Eesolution vom 24. Jänner 1764 allen jenen nächst der Küste wohnenden
Unterthanen, welche sich der Seefahrt, dem Schiifbau oder der Fischerei
widmeten und in die Seematrikel eingeschrieben Avurden, die Befreiung von
der Heranziehung zu Kriegsdiensten und von jeder ausserordentlichen Abgabe,
wogegen sie sich eidlich zu verpflichten hatten, solange sie tauglich wären,
im Seedienste zu bleiben und auch allemal, wenn erforderlich, sich zu Diensten
auf den Mercantilschiifen bereit zu halten. Ferner genossen mittellose Witwen
der im Seedienst gestorbenen Seeleute gewisse Pensionsansprüche.
Es ist selbstverständlich, dass die Kaiserin die Eegelung des nautischen
Unterrichtes in den Bereich ihrer Fürsorge zog und dem Studium auch
materielle Unterstützung angedeihen Hess. 1753 ward eine Schule für
Mathematik und Nautik im Jesuitenkloster in Triest errichtet. Die Grund-
sätze, welche damals bahnbrechend z. B. für die Schulung der Seeofficiere
aufgestellt wurden, nämlich erst theoretische dann praktische Ausbildung
durch Einschiffung während eines gewissen Zeitraumes, sind noch heute
maassgebend und haben nur im einzelnen Aenderungen erfahren, welche im
Laufe der Zeit im Zusammenhange mit dem allgemeinen Systeme der Schul-
bildung^) und den Anforderungen der Seefahrt nothwendig geworden sind.
Den Theresianischen Reformen ist es zu verdanken, wenn die Handelsmarine
in späteren Zeiten über Capitäne verfügte, welche ihrer Flagge in allen
Meeren Ansehen und Achtung verschafften.
Auf die Theresianische Zeit lassen sich auch die Anfänge aller jener,
im Verlaufe der Zeit freilich mannigfachen Wandlungen unterworfenen
Institutionen zurückführen, durch welche die Seeverwaltung erst ein wirklich
staatliches Gepräge erhielt.
Nachdem schon 1745 in Triest ein eigenes Hafencapitanat errichtet
worden war, dem die unmittelbare Beaufsichtigung des Hafens unter
der Obhut des kaiserlichen Stadthauptmannes anvertraut wurde, vereinigte
die Kaiserin die KOstenorte zu einem eigenen administrativen Verbände als
Küstenprovinz und übertrug der Obersten Commerz-Intendanz in Triest die
Vollmachten einer eigenen Provinzial-Behörde. Zu dieser Provinz gehörten
ausser Triest noch Aquileja, Fiume, Buccari und Portore sammt ihrem
Gebiete. Die Oberste Commerz-Intendanz hatte insbesondere ihre Auf-
merksamkeit auf die Pflege von Handel und Verkehr zu richten, doch
versah sie auch im übrigen die sonstigen der landesherrlichen Gewalt
vorbehaltenen Functionen.
Fast gleichzeitig mit jener organischen Neuerung wurde eine eigene
Hofcommission, an deren Spitze Graf Eudolf Chotek-), geheimer Rath,
•) Im Jahre 1820 erfolgte die Errichtung der Handels- und nautischen Akademie
in Triest. Heute bestehen drei nautische Schulen in Lussinpiccolo, Eagusa und Cattaro.
Ein Lehrcurs für Schiffsbauconstruction wurde an der Staatsgewerbeschule in Triest
errichtet.
-) Die leitenden Grundsätze dieses hervorragenden Ministers der Kaiserin erscheinen
in folgenden Worten zusaramengefasst: „In der Steigerung der inländischen Cultur und
Industrie, in der Hebung des Handels und daher in der Vermehrung und Verbesserung
358 Lippert.
Präsident des Obersten Commerz-Directoriums und der Ministerial-Banco-
Direction stand, nach Triest abgeordnet, um die dortigen Verhältnisse zu
untersuchen, Abhilfe zu treffen, wo es nothwendig schien, und überhaupt für
die Bedürfnisse der Stadt und des Handels Sorge zu tragen.
Auf Grund seiner Berichte ergieng eine sehr lange und eingehende
Instruction unterm 29. November 1749 an den Intendanten Baron Wiesenhütten.
Dieselbe stellte die leitenden Gesichtspunkte für die ferneren Aufgaben fest,
welche in Triest zu lösen waren. Zunächst bezeichnet sie die Verbesserung
des Hafens als ein unerlässliches Erfordernis und erörtert die Art und
Weise, in welcher dies zu geschehen habe. Auf den Bau von Molos wird
hingewiesen, die Anlage eines neuen Lazarethes empfohlen, und die Errichtung
eines Leuchtthurmes für zweckmässig erklärt. Die Hofcommission gab auch
Anstoss zur Regulierung der Ankerrechtstaxe, des sogenannten „Ancoraggio*",
welche von nun mit zwei Kreuzer für einen „Meiller oder zehn Centner"
erhoben werden sollte, während unbeladene Schiffe nur die Hälfte zahlten.
Die Arbeiten der Hofcommission, wie nicht minder die Thätigkeit
der Obersten Commerz-Intendanz lieferten mancherlei günstige Ergebnisse.
Nach Vollendung des Molo S. Carlo und Teresa im Jahre 1751, begann man
die Herstellung des jetzigen Canalgrande 1754 und des neuen nach der
Kaiserin benannten Lazarethes, welches 17G9 der Benützung übergeben wurde.
Mit Rescript vom 29. November 1749 führte die Kaiserin neue Flaggen
für die Kriegs- und Handelsschiffe ein. ^) Gleichzeitig ergieng die Verordnung
über die Flaggenpatente und Pässe (Passaporti oder Scontrinopässe), durch
welche sich die erbländischen Schiffer auszuweisen hatten. Die Ertheilung
der Patente an Schiflfscapitäne weiter Fahrt — die Küstenfahrer bedurften
derselben nicht — sollte eine ,auf Circumspection gegründete Sache" sein
und musste jedesmal die Vertrauenswürdigkeit der darum einkommenden
Personen erhoben werden. Die Ausfolgung der Patente geschah nur an
Unterthanen oder Naturalisierte und erfolgte deren Ausstellung, sowie jene
der Pässe durch das Commerz-Directorium im Namen der Monarchin. Das
Schiff musste Eigenthum von k. k. Unterthanen sein und es war auch
bezüglich des Capitäns und zwei Drittheilen der Mannschaft die Staats-
angehörigkeit erforderlich. ^)
Wegen Mangels an „eingeborenen" geschickten und erfahrenen Capitänen
durften jedoch Fremde zum Commando zugelassen, es musste aber ein
Inländer eingeschifft und als Capitän eingetragen werden, welchem, wenn „er
der Transportmittel zu Wasser und zu Lande besteht die eigentliche Grundlage der
Wohlfahrt des Staates." Arneth, Maria Theresia nach dem Erbfolgekriege, Wien
Braumüller 1870.
1) Dieselben sollten auf gelbem Grunde den doppelköpfigen Adler mit der
ungarischen Krone ohne Scepter und Schwert enthalten; der Unterschied zwischen
Kriegs- und Handelsflagge bestand nur darin, dass letztere auf dem gelben Grunde
schmale schwarze Streifen hatte.
2) Eesolution vom 26. November 1751. Würdige und unangesessene Leute wurden
für Inländer angesehen, wenn sie bei geringeren Schiffsdiensten drei, bei höheren, d. i.
als Schiffsfühler oder Steuermann, fünf Jahre gedient hatten.
Die Entwicklung der österreichischen Handelsmarine. 359
von ansehnlicher Geburt war, die Distinction mit dem Titel Capitano della
Bandiera imperiale" gegeben wurde.
Die Verfügung wegen Nationalität der Mannschaft entspricht den
Seerechtsbräuchen jener Zeit und ergieug, um Zweifel über die Nationalität
des Schiffes auszuschliessen, welche bei den damaligen Verhältnissen des
Seeverkehres von raublustigen Schiffen anderer Nationen leicht zu Vexationen
hätten ausgebeutet werden können.
Nach Erlangung der Urkunden wurde ein förmliches Gelöbnis abgelegt,
Womit man sich zur Wahrung des Ansehens der Flagge, sowie , zur
Einhaltung gewisser Vorschriften verpflichtete.^)
Die Evidenz über die ausgefolgten Patente lag der Intendanz ob und
ist in dieser Einrichtung der Anfang der gegenwärtig bestehenden Schiffs-
register zu erblicken. Bis zur Erlangung der besprochenen Urkunden erhielten
die Schiffe einen Interimspass (Passavanti). Jeden Missbrauch des Patentes
bedrohte eine kaiserliche Verordnung vom 15. Februar 1754 mit harter
Strafe und ohne dasselbe war die Führung der Flagge nicht gestattet, wie
die Kesolution vom 26. Mai 1755 ausdrücklich verfügte.
Eine Verordnung vom Jahre 1758 setzte genauer fest, was über
die Flaggenpatente rechtens sei, und als Ergänzung hiezu erschien das
Eescript vom 22. September 1759, welches die Musterrollen für die
Mannschaft der mit Patenten versehenen Schiffe einführte. Diese Vorschrift
über den „Schiffs-Volks-Kollo" enthielt Bestimmungen über die genaue
Eintragung der Mannschaft und die Wahrung des ursprünglichen Standes
derselben oder Eechtfertigung etwaiger Veränderung, ferner — und dies war
der Beweggrund ihrer Erlassung — die Weisung, wie behufs Feststellung
der Unterthan Schaft des Matrosen vorzugehen sei. Während dies nämlich vor
dem Jahre 1759 selbst in Triest nur auf Grund der Sprache und äusserer
Anzeichen erfolgte, musste nunmehr in den Taufschein Einsicht genommen,
nebstbei aber die Zeugenschaft zweier glaubwürdiger Zeugen gefordert
werden.
Der Rollo verblieb aber im Grunde nur ein Verzeichnis des Schiflfs-
volkes und diente noch nicht, wie es gegenwärtig der Fall ist, zur Ab-
schliessung des Heuervertrages.
Schon im Jahre 1755 erschien ein eigenes Sanitätsreglement, die
„General- Gesundheitsordnung und Instrukzionen für die Sanitätsbeamte
in dem innerösterreichischen Littorale." ^)
^) Z. B. die Schiffe jedes Jahr in einen der erhländischen Häfen zurückzuführen,
damit Jenem Missbrauch vorgebogen werde, welcher daraus entspringen könnte, wenn
durch die nachsehende längere Ausbleibnng deren Schiffen zu dererselben unzulässiger
Anwendung in auswärtiger Handelschaft Gelegenheit gegeben würde."
2) In dessen Einleitung heisst es: „Gleichwie das Zunehmen der Handlung und
Ausbreitung der Schiffahrt in dem österreichischen Littorale erfordert, das so wichtige
Gesundheitssystem in eine solche Verfassung einzuleiten, wodurch die getreuesten
k. k. Erbländer vor Schaden und der geringsten Furcht einer allgemeinen Krankheit
360 Lippert.
Die Leitung des Sanitätswesens in oberster Linie wurde dem Obersten
Commerz-Directorium in Wien, dann aber der Commerz-Intendanz in Triest
übertragen. Als ausführendes Organ war der Sanitätsmagistrat zu Triest
bestellt, welcher aus dem Präses, drei wirklichen Professoren, von denen
die Stadt zwei ernannte, zwei Adjuncten und dem Kanzler bestand. Alle
Sanitätsangelegenheiten waren im collegialem Wege zu behandeln. Die
Kanzlei des Sanitätsmagistrates erhielt verschiedene, auf die Schiffahrt
bezugnehmende Geschäfte. Es wurde auch die Errichtung eines eigenen
Sanitätscasinos angeordnet und über die Verwaltung des Lazarethes, an
dessen Spitze ein Prior gestellt war, verfügt.
Anschliessend an dieses Keglement ergieng eine vom 17. October 1764
datierte Instruction für die Sanitätsämter. Deputierten und Esattori, dann
die Sanitätsdiener und Guardiane. Es wurde darin unterschieden, zwischen
Haupthäfen (porti principali) und waren bezeichnet als solche Triest,
Fiume, Zengg, Buccari, Carlopago, dann Nebenhäfen (porti subaltern!),
wo sich ein Sanitätsamt befand, und endlich todten Häfen, ohne jegliche
Behörde. In den Nebenhäfen wurden Sanitätsdeputierte oder Guardiane
aufgestellt. Die Art und Weise, in welcher das Ankunfts-Constitut mit den
Schiffen aufgenommen werden musste, sowie die Sanitätspässe zu erlassen
waren, fand genaue Kegelung. Der letzteren gab es vier, nämlich patente
libera, netta, sospetta o tocca und brutta.
Einen wahrhaft epochemachenden Schritt in der Seeverwaltung be-
zeichnet das Navigationsedict vom 25. April 1774, welches das noch
in Kraft stehende Grundgesetz der Marine bildet. Dasselbe bezog sich auf
sämmtliche Verhältnisse der Schiffahrt und gab die genauesten Bestimmungen
über die Rechte und Pflichten der Hafencapitäne, der Schiifer und Schiffs-
bemannungen. Es führte auf Schiffen weiter Fahrt den Schiffsschreiber
(scrivano) ein und enthält genaue Normen über die Borddisciplin und
über alle Fragen, welche sich auf die Heuerverhältnisse beziehen. Der
in sieben Artikel eingetheilte Stoff handelt: von der Amtswirksamkeit
der Hafencapitäne im österreichischen Litorale, von den Capitänen und
Padronen der Handelsschiffe, vom Schiffsschreiber, vom Lootsen und Boots-
mann, vom Feuerwerker und Proviantmeister, von den Matrosen, Schiffs-
jungen und sonstigen Leuten der Bemannung und von der Heuer, der
Gebür und den Prämien der Capitäne und Padrone, der Officiere, Matrosen,
Schiffsjungen und sonstigen Leute der Bemannung.
Ueberall tritt in dem Edicte das Bestreben hervor, die nationale
Schiffahrt zu heben und zu sichern, und so schloss dasselbe in würdiger
Weise jene Epoche, welche mit dem Patente von 1717 begonnen hatte und
in welcher die Grundlage für die moderne österreichische Handelsmarine
geschaffen worden ist.
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befreiet bleiben mögen; dieser Zweck aber nicht füglicher als mittelst Feststellung deren
eifersüchtigsten und bewährtesten Maassregel erlanget werden kann, als hat die treu-
gehorsamste Comnnercialintendanz Seiner k. k. Majestät nachfolgenden Generalplan u. s. w.
zu Füssen gelegt."
Die Entwicklung der österreichischen Handelsmarine. 361
Im Jahre 1783 waren zwölf, noch namentlich bekannte Hochbordschiffe
mit Fiaggenpatenten vorhanden. ^) Kaiser Josef II. führte mit Entschliessiing
vom 20. März 1786 eine neue Flagge ein. ^)
Der türkische Krieg in seinen letzten Kegierungsjahren brachte
der Schiffahrt mancherlei Nachtheile. Dagegen war der Frieden von Campo-
formio (1797) und dessen Folgen von Bedeutung für die Handelsmarine.
Nun kam nicht nur die Käste von Istiien unter österreichische Herrschaft,
sondern auch Venedig und das ganze venezianische Dalmatien. sowie das
Gebiet von Cattaro. Die Schiffahrt der Dalmatiner war eine besonders
lebhafte. 1797 hatte das Gebiet der Bocche di Cattaro nicht weniger
als 264 für weite Fahrt patentierte Schiffe, welche fast durchwegs im
Mittelmeere und in der Levante verkehrten. Istrien besass wenig Schiffe
weiter Fahrt. Noch 1802 gab es deren nur zwei Vollschiffe (navi), drei
Polacchen, zwei Brigantinen, einen mit Flaggenpatent versehenen Pielego;
dagegen werden an eigentlichen Küstenfahrern 46 Pieleghi, 2 Trabakeln,
30 Tartanen, 256 Brazzeren, 15 Traghetti (Fährboote) und 260 Fischer-
barken aufgezählt. Für das Jahr 1805 liegen genaue Ausweise vor, aus
denen erhellt, dass an Schiffen weiter Fahrt 593 auf Triest, 8 auf Istrien,
236 auf das nördliche Dalmatien, 363 auf Kagusa und 399 auf die Bocche
di Cattaro entfallen. Im ganzen gab es also 1.599 Schiffe, wobei freilich nicht
vergessen werden darf, dass die Schiffe weiter Fahrt meist nur von geringer
Tragkraft waren. Die Einrichtungen, welche bisher im Seewesen getroffen
worden waren, behielten auch für die neuerworbenen Gebiete ihre Kraft.
Der Schwerpunkt des ganzen Seehandels lag damals in Triest, welches
seit den Tagen Maria Theresias sich in steter Zunahme befand. ^) Es war
ein schwerer Schlag für die ganze Küste, als sie von 1809 bis 1814 unter die
Herrschaft der Franzosen gelangte, welche ihre durch das System der Con-
tinentalsperre bedingten Maassregeln hierselbst sofort zur Geltung brachten.^)
Die Handelsmarine gieng im Laufe der wenigen Jahre der neuen
Herrschaft in beträchtlicher Weise zurück. Im Jahre 1815 zählte man in
Triest nur 351, in Norddalmatien 42, in Ragusa 61 und in den Bocche di
^) Sie hiessen Giuseppe, Teresa, Kaunitz il grande, Kaunitz il piccolo, Kolowrat,
Belgiojoso, Massimiliano, Barone Binder, Conte Neni, L'Ungherese, La Cittä di Vienna,
II Croato.
2) Roth-weiss-roth in Querstreifen mit dem österreichischen von der Kaiserkrone
bedeckten Wappen im weissen Mittelfelde, diese Plagge stand auf Kriegs- und Handels-
schiffen gleichmässig in Gebrauch.
2) Die Stadt Triest hatte zu Anfang des 18. Jahrhundertes 5.000 Einwohner, 1785
17.000, 1795 27.000, 1801 31.500, 1808 33.200, 1813 kaum 20.000, 1839 62.000.
*) Der Freihafen wurde aufgehoben, die englischen Waren mit Beschlag belegt. —
Die Stadt litt ungeheuer; ihre Bevölkerung sank in wenigen Jahren um 7.000 Einwohner.
Ueber 60 Handlungshäuser verzichteten auf Weiterführung der Geschäfte. Einfuhr und
Ausfuhr nahmen unglaublich ab: erstere war 1809 über sechs Millionen Gulden, 1811
nur anderthalb; letztere fiel von sieben und einhalb Millionen auf drei.
Die schwerste Last für die Stadt waren die wiederholten Kriegssteuern während
der napoleonischen Zeit 1797 2,600.000 Lire, 1805 6,000.000 Francs, 1809 2,400.000 Francs,
dann die Einquartierungen.
362 Lippert.
Cattaro 50 patentierte Schiffe, im ganzen also 504 gegen 1.599 des
Jahres 1805. Ebenso waren nur 1.095 Küstenfahrer vorhanden, davon fallen
230 auf Triest, 186 auf Istrien (welches nicht ein einziges Schiff weiter Fahrt
aufzuweisen hatte), 409 auf Dalmatien, 49 auf Kagusa und 221 auf Cattaro.
1815 kamen die Länder an der Adria und dann das ganze venetianische
Litorale unter österreichische Herrschaft zurück.
Die alten Gesetze und Verordnungen aus der Zeit vor der französischen
Occupation wurden wiederum in Kraft gesetzt; wichtig blieb für das
Seewesen, dass der Code de commerce vom Jahre 1808, insoweit er sich auf
maritime Zustände bezieht, subsidiäre Giltigkeit behielt, wenn auch demselben
nicht eine förmliche gesetzliche Sanction zutheil wurde. Ohne denselben
wäre es aber nahezu unmöglich gewesen, einen leitenden Faden für
eine Menge privatrechtlicher Verhältnisse zu gewinnen. Gleich im ersten
Jahre der Wiederbesetzung traf man eine bedeutsame Maassregel für die
Evidenzhaltung der Seeschiffe. Es wurde nämlich ein eigentliches Schiffs-
register angelegt; vordem hatte die Gepflogenheit bestanden, bei den einzelnen
Hafenämtern eine Vormerkung über die ausgefolgten Flaggenpatente zu führen.
Ein Rescript der Central-Organisierungs-Hofcommission vom 24. October 1814
ordnete an, dass ein vollständiges und genaues Register über die mit Flaggen-
patenten betheilten Schiffe bei der Registratursdirection der Landes-Gubernien
einzurichten und zu erhalten sei. In Ausführung dieses Rescriptes entstand das
Schiffsregister und die einzelnen Gubernien kamen unter sich überein, dem
Gubernium in Triest von allen Eintragungen Kenntnis zu geben, um an einer
Stelle eine allgemeine üebersicht über die Seehandelsschiffe zu ermöglichen. ^)
In der Zeit von 1815 — 1850 blieb der Organismus der Seeverwaltung
nahezu unverändert. In legislativer Beziehung wurde eine Reihe verschiedener
Anordnungen insbesondere über die Patentierung der Schiffe 1823, über die
Küstenschiffahrt^) 1825, über Capitänsprüfungen und Capitänspatente, über
^) Nach Errichtung der Central-Seebehörde (1850) wurde das Protokoll über die
mit Seeurkunden versehenen Schiffe bei derselben vereint. Vom 1. Jänner 1851 ange-
fangen wurde das Schilfsregister neuangelegt und seither auch ununterbrochen fortge-
führt. Das Register enthielt zunächst nur auf das Eigenthumsverhältnis und die besonderen
Merkmale des Schiffes bezügliche Angaben. Auch wurde der jeweilige Capitän in Vor-
merkung gehalten. Späterhin entwickelte sich die Gepflogenheit, die geschehene Ver-
pfändung eines Schiffes oder eines Schiffsantheiles, sei dieselbe zur Sicherstellung einer
Forderung zugestanden oder aber im Executions wege erwirkt, über Parteiansuchen anzu-
merken, beziehungsweise seinerzeit wieder zu löschen. Diese Anmerkungen hatten nicht den
■ Charakter einer Hypothekeneinschreibung, sondern bezweckten bloss die Ersichtlichuiachung-
Zweifelsohne besitzt dieses Verfahren grossen Wert für die Sicherheit des maritimen
Creditwesens.
2) Unter kleiner Küstenfahrt war das Recht verstanden, die Schiffahrt innerhalb
des Seebezirkes eines österreichischen Seegouvernements auszuüben; unter der grossen
Küstenfahrt das Recht, die Schiffahrt in allen jenen in- und ausländischen Häfen und
Rheden zu betreiben, welche innerhalb der Cabotagelinie lagen.
Die Cabotagelinie erstreckte sich längs des Adriatischen Meeres westlich bis zum
Vorgebirge von Otranto und östlich bis zur Küste des Gebirges von Cimarra und
namentlich bis zur Spitze der vierzig Heiligen mit Einschluss der jonischen Inseln bis
zum Hafen und Caual von Zante.
Die Entwicklung der österreichischen Handelsmarine. 363
das Aichungswesen und über die neu aufkommende Dampfschiffahrt, über
verschiedene Angelegenheiten der Schiffsmannschaft, über Hafenpolizei und
Seegebüren getroffen.
Die Nothwendigkeit, in alle die Handelsmarine betreffenden An-
gelegenheiten die unerlässliche gleichförmige Behandlung zu bringen, und
die Wichtigkeit, welche das Seewesen nicht bloss für die küstenländische
Bevölkerung sondern auch für die allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse
der Monarchie besitzt, führten zur Schaffung eines dieses Interesse aus-
schliesslich wahrnehmenden Organes, zur Errichtung der Central-Seebehörde. ^)
Der Wirkungskreis der Central-Seebehörde umfasst: ,1. die Regelung
und Ueberwachung des Seeschiffahrtswesens; 2. die Erforschung und
Beurtheilung der Bedürfnisse des Schiffbaues, der Seefischerei und der
bezüglichen Vorschriften und Vorkehrungen; 3. die Ausführung der diesen
Industriezweig betreffenden Maassregeln. "
Der 1. Mai 1850, mit welchem Zeitpunkte die neue Behörde und
der neue Organismus der Seeverwaltung überhaupt in Wirksamkeit traten,
bedeutet einen wichtigen Abschnitt zunächst in der Entwicklung der
österreichischen Seeverwaltung, dann aber auch in der Geschichte der
österreichischen Handelsmarine, Denn von nun an musste der Handels-
marine auch jene Bedeutung gewahrt werden, welche ihr als der berufenen
Vermittlerin des grossen Weltverkehres zufällt. ^)
Politische Verhältnisse verursachten eine Organisationsänderung; der
1867er Ausgleich mit Ungarn hatte eine Trennung der Seeverwaltung
nach den beiden Ländergebieten und die Aufstellung eigener Behörden in
Triest und Fiume zur Folge. Die Central-Seebehörde endete mit dem letzten
October 1870 ihre bisherige Wirksamkeit und nahm vom 1. November
desselben Jahres die Bezeichnung „k. k. Seebehörde" an.
Auf Grund des Artikels VI. des Zoll- und Handelsbündnisses vom
21. December 1867, zwischen den im Reichsrathe vertretenen Königreichen und
Ländern und den Ländern der ungarischen Krone, wonach zwar die grund-
sätzliche Trennung der Seeverwaltung einzutreten, jedoch deren Handhabung
^) Deren Aufgaben sind in dem vom damaligen Minister für Handel, Gewerbe und
öffentliche Arbeiten, Freiherrn v. Brück, der Allerhöchsten Sanction unterbreiteten
Organisationsentwurfe folgendermaassen zusammengefasst: „In der Centralseebehörde soll
ein vermittelndes Organ geschaifen werden, durch welches das Handelsministerium die
Keichsgesetze oder die administrativen Verfügungen in den Seeschiifahrts- und in den
damit zusammenhängenden Seesanitäts-Angelegenheiten zur Ausführung bringen lässt,
und sich anderseits alle Wahrnehmungen in Betreff der österreichischen Handelsmarine
verschafft.
Die bezeichnete Bestimmung der Centralseebehörde bedingt ihre Unterordnung in
allen Dienst-, Personal- und Disciplinarangelegenheiten unter das Handelsministerium,
sowie anderseits das gleichartige Verhältnis der Unterordnung sämmtlicher Hafen-,
Sanitäts- und Lazarethsämter unter die Centralseebehörde."
Mit Allerhöchster Entschliessung vom 30. Jänner 1850 wurden diese Anträge
genehmigt.
2) Ernst Becher, „Die österreichische Seeverwaltung 1850—1875."
364 Lippert.
nach gleichmässigen Grundsätzen stattzufinden hat, wurde auch eine
neue Handelsflagge an Stelle der eben beschriebenen, bisher von der Handels-
und Kriegsmarine gemeinsam angewendeten Flagge eingeführt, welche mit
1. August 1869 von allen Handelsschiffen gehisst werden musste. ^)
Die Josefinische Flagge blieb nun mehr ausschliesslich den Kriegs-
fahrzeugen vorbehalten. ^)
Die Wirksamkeit der Central-Seebehörde, beziehungsweise der k. k. See-
behörde, charakterisieren eine Reihe in Angriff genommener gesetzgeberischer
Arbeiten und thatsächlich durchgeführter Einrichtungen, hervorgegangen
aus dem Gedanken, die durchgreifende und den herrschenden Verhältnissen
entsprechende Eeform des gesammten Seerechtes in allen seinen Zweigen
anzubahnen und damit eine feste Grundlage für die gedeihliche Entfaltung
des Seeverkehres und der Handelsmarine zu schaffen. Vorbereitet wurde
schon in den Fünfziger- und Sechzigerjahren ein Seecodex, das Registergesetz,
die Seemannsordnung. Der Plan eines einzigen an die Stelle des alten Edictes
tretenden vollständigen und einheitlichen Gesetzeswerkes, in dessen Rahmen
die ganze Seegesetzgebung zusammenzufassen wäre, musste bei der
unendlichen Schwierigkeit, das vielgestaltige Material in absehbarer Zeit
zu bewältigen und einen Codex zustande zu bringen, aufgegeben und die Reform-
arbeit auf einzelnen Gebieten durchgeführt werden.
Von den erwähnten Arbeiten ist bisher nur das Gesetz vom 7. Mai 1879,
R.-G.-Bl. Nr. 65, über die Registrierung der Seehandelsschiffe erlassen
worden, welches Bestimmungen über die Nationalität, den Heimatshafen, die
Schiffahrtskategorien, ^) das Schiffsregisteramt, die Eintragungen in das Schiffs-
register, den Namen des Schiffes, den Nachweis des Eigenthums, den ßeilbrief,
die Schiffahrtsurkunden u. s. w. enthält. *)
1) Kundmachung des Handelsministeriums vom 6. März 1869, R.-G.-Bl. Nr. 28.
^) Die gegenwärtige Handelsflagge besteht aus zwei Theilen, u. zw. am Flaggen-
stock drei wagrechten Streifen roth-weiss-roth mit dem österreichischen Wappen im
weissen Streifen, dann aus drei wagrechten Streifen roth-weiss-grün mit dem ungarischen
Wappen in der Mitte.
3) Die kleine Küstenschiffahrt erstreckt sich auf das adriatische Meer, und zwar
gegen Westen bis zum Vorgebirge Santa Maria di Leuca, gegen Osten bis zum Cap
Clarenza mit Inbegriff des Hafens von Lepanto und der jonischen Inseln, einschliesslich
des Hafens und des Canales von Zante, endlich auf die Flüsse, welche in besagte Gewässer
einmünden.
Die grosse Kiistenfahrt erstreckt sich auf das Adriatische und Mittelländische Meer,
einschliesslich der Meerenge von Gibraltar, welche nicht überschritten werden darf, auf
das Schwarze und Asowsche Meer, auf den Canal von Suez, auf das Rothe Meer, auf die
Küstenstrecke bis in den Hafen von Aden, endlich auf die Flüsse, welche in besagte
Gewässer einmünden.
Die weite Seefahrt erstreckt sich auf alle Meere und die aus denselben zugäng-
lichen Gewässer.
*) Die Ergänzung hiezu bildet die Verordnung des Handelsministeriums vom
25. October 1884, R.-G.-Bl. Nr. 169, betreffend die Registrierung der Yachten.
Das Gesetz vom 10. Juni 1883, R.-G.-Bl. Nr. 108, beziehungsweise das an seine
Die Entwicklung der österreichischen Handelsmarine. 365
Die Seemannsordnung steht gegenwärtig ^) noch in parlamentarischer
Berathung.
Wichtig für das Seesanitätswesen war die Errichtung des neuen
Lazarethes von S. Bartolomeo in der Bucht zwischen Punta grossa
und Punta sottile auf einem Gebiete von 63.175 w^ mit dem Kosten-
aufwand von 80.000 Gulden, woran vom Juni 1867 bis April 1868
gebaut wurde. Das Theresianische Lazareth musste den neuen Triester
Hafenbauten weichen, die auf Grund des mit Allerhöchster Ent-
schliessung vom 27. Jänner 1865 genehmigten Projectes nach einem
mit der k. k. priv. Südbahn-Gesellschaft am 13. April 1867 getroffenen
Uebereinkommen um die Pauschalsumme von I3V2 Millionen Gulden
sammt Verfallszinsen bis Ende 1880 hergestellt worden sind. Die
zunehmende Verkehrsentwicklung erheischte mehrmals neuerliche Ver-
grösserungen. Das Gesetz vom 4. Juni 1887, E.-G.-Bl. Nr. 83, bewilligte
hiezu einen Credit von 4,880.000 Gulden; für die mit'l. Jänner 1901
in Angriff genommenen Erweiterungsbauten sind 12 Millionen Kronen aus-
geworfen.
Es ist nun auf die eingetretenen Veränderungen und die Ausgestaltung
der. österreichischen Mercantilflotte im verflossenen Jahrhundert zurück-
zukommen. Von den schweren Schlägen, welche die französische Herrschaft
der Handelsmarine zugefügt hatte, erholte sich dieselbe alsbald. Dies
veranschaulicht am augenfälligsten ein Blick auf den Schiffahrts verkehr im
Triester Hafen selbst:
Stelle getretene vom 21. Februar 1897, E.-G.-Bl. Nr. 71, setzte die in den Häfen der
österreichischen Seeküste zu zahlenden Hafengebüren fest.
Die Eegelung anderer Gebiete des Seewesens erfolgte durch die Verordnungen des
Handelsministeriums vom 14. März 1884, R.-G.-Bl. Nr. 33, betreffend die Polizeiordnung
für die Seehäfen;
10. November 1885, R.-G.-Bl. Nr. 156, beziehungsweise 1. März 1901, R.-G.-Bl.
Nr. 18, über das Verhalten der österreichischen Seehandelsschiffe und Yachten gegenüber
den Kriegsschiffen und Befestigungswerken;
12. Mai 1886, R.-G.-Bl. Nr. 71, betreffend die Art der Führung der Handelsflagge
zur See;
23. März 1881, R.-G.-Bl. Nr. 35, beziehungsweise 23. Juni 1891, E.-G.-Bl. Nr. 78,
über die Führung des Schiffsmanifestes;
1. September 1883, R.-G.-Bl. Nr. 143, beziehungsweise 25. Mai 1895, R.-G.-Bl.
Nr. 75, betreffend die Sicherheitsvorschriften für Seeschiffe, welche Reisende befördern;
10. Mai 1891, R.-G.-B1. Nr. 59, womit neue Vorschriften über die Vollziehung des
Gesetzes vom 15. Mai 1871, R.-G.-Bl. Nr. 43, betreffend die Aichung der Seehandels-
schiffe erlassen wurden.
10. October 1894, R.-G.-Bl. Nr. 195, betreffend die an Bord der Seehandelsschiffe
zu führenden Arzneikästen [frühere darauf bezügliche Ministerial-Verordnungen vom 15. De-
cember 1875, R.-G.-Bl. Nr. 152 und 15. April 1887, R.-G.-Bl. Nr. 35].
17. April 1897, R.-G.-Bl. Nr. 95, betreffend die Vorschriften zur Verhütung von
Zusamnienstössen auf der See.
1) Sommer 1901.
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltucg. X. Band. 25
366
Lippert.
Jahr
Angekomm
e n e Schi
f f e
österreichische
f r e
m d e
Zusammen
österreichi.sche und
fremde beladen
und in Ballast
beladen
in Ballast
beladen
in Ballast
Schiffe
Tonnen
Schiffe
Tonnen
Schiffe
Tonnen
Schiffe
Tonnen
Schiffe
Tonnen
1802
2.508
80.061
2.036
45.497
792
51.767
106
9.001
5.442 186.326
1803
2.451
101.585
1.595
65.226
709
63.780
198
11.988
4.953 242.579
1804
2.422
84.003
1.280
64.009
476
41.013
47
3.416
4.225
192.441
1805
2.274
81.125
1.088
47.670
416
37.511
67
3.785
3.845
170.091
1806
1.437
90.651
729
35.045
1.463
77.858
535
15.392
4.164
218.946
1807
1.289
71.646
745
31.446
2,361
83.156
656
22.407
5.051
208.655
1808
963
29.560
630
23.042
2.116
68.223
380
9.840
4.089
130.665
1809
766
17.382
736
33.328
2 043
46.796
435
9.970
3.980
107.476
1810
6
1.200
—
—
2.906
71.693
752
15.283
3.664
88.176
1811
3
491
—
—
1.975
37.950
933
16.757
2.911
55.198
1812
2
390
—
—
2.008
44.831
645
15.014
2.655
60.235
1813
881
19.481
214
6.728
1.297
33.516
420
9.950
2.812
69.675
1814
3.671
87.059
690
15.103
874
99.796
23
1.935
5.258
203.893
1815
4.056
98.509
1.896
40.977
682
98.733
33
3.195
6.667
241.414
1816
4.038
100.129
2.072
49.604
767
124.832
40
6.308
6.917
280.873
Nun bereitete die Erfindung des Dampfschiffes eine grosse Um-
wälzung im ganzen Seeverkehrs vor.
Die österreichische Eegierung hatte schon 1817 an einen in Triest
lebenden englischen Grosshändler John Allen ein 15 jähriges „aus-
schliessendes Privilegium" auf eine regelmässige Fahrt mit Dampfschiffen
zwischen Triest und Venedig für Reisende und Waren ertheilt. Dieses
Privileg wurde Anfang der Zwanzigerjähre durch den Engländer Willi am
Morgan mittelst eines kleinen Raddampfers ausgeübt, welch letzterer
wegen der langsamen und beschwerlichen Fahrt so wenig die Gunst
des Publicums genoss, dass die meisten die Reise mit dem Fostsegelboot,
der Corriera, vorzogen.
Ein Ereignis von weittragendster Bedeutung war die in das Jahr 1836
fallende Gründung der Dampfschiffahrtsgesellschaft des österreichischen
Lloyd, dessen Schicksale seither mit jenen der österreichischen Handels-
marine enge verflochten sind.
Die Vorgeschichte^) dieses Unternehmens reicht bis 1832 zurück,
in welchem Jahre die damals bestehenden Versicherungsgesellschaften, ^)
I
^) „Die Dampfschiffahrts-Gesellschaft des österreichisch-ungarischen Lloyd von ihrem
Entstehen bis auf unsere Tage (1836—1886)% Jubiläumsschrift des Lloyd, Triest 1886.
2) Banco Adriatico di Assicurazioni, Azienda Assicuratrice, Banco Illirico d'Assi-
curazioni, Assicurazioni Generali Austrvitaliane, Banco di Marittime Assicurazioni, Com-
dagnie degli Amici Assicuratoii und Societä Orientale d'Assicurazione.
Die Entwicklung der österreichischen Handelsmarine. 367
lebhaft sich geltend machenden Bedürfnissen folgend, eine Vereinigung
zur Beschaffnng der für die Handelsoperationen von Wichtigkeit erscheinenden
Seeberichte bildeten. Mittheilungen konnten nämlich nur zeitweise aus den
mit Triest in Landpostverbindungen stehenden Häfen einlangen, während der
Handel regelmässige Informationen erheischte. Nach dem Muster des Lloyd
in London und des Lloyd fran9ais in Paris gründeten die erwähnten Gesell-
schaften den österreichischen Lloyd in Triest. ^)
Die Dauer des 'Lloyd wurde vorläufig auf drei aufeinanderfolgende
Jahre festgesetzt, nämlich vom 24. August 1833 bis 24. August 1836.
Die Genehmigung seitens der Kegierung erfolgte am 26. October 1838
unter Zusicherung jenes Schutzes, auf den alle auf die Förderung des
öffentlichen Wohles abzielenden Institute Anspruch haben.
Die öffentliche Meinung hatte dem Lloyd in kurzer Zeit einen
hervorragenden Platz unter den Anstalten für gemeinnützige Zwecke zu-
erkannt und noch vor Ende des Provisoriums durfte man den förderlichsten
Einfluss auf Handel und Schiffahrt, sowie auf die heimische Industrie
erhoffen. Der allgemeinen Stimmung Eechnung tragend, die sich schon seit
geraumer Zeit für eine regelmässig wiederkehrende Verbindung nach der
Levante vermittelst kleiner Dampfer kundgab, wandte sich die Direction an
den Monarchen mit der Bitte um Erlaubnis zur Errichtung einer Gesellschaft
behufs Betriebes einer Dampfschiffahrt mit der Levante und anderen Ländern.
Nachdem diesem Ansuchen willfahrt worden war (20. April 1836), ordnete
die Direction an, dass der ersten Section des Lloyd — Handels- und Seeberichte
— eine zweite — die Dampfschiffahrt — beigesellt werde, deren Zweck sei.
die österreichischen Seehäfen mit den Jonischen Inseln. Griechenland, dem
Archipel, Constantinopel, Smyrna, Syrien und Aegypten in beschleunigte
Verbindung zu bringen. Diese regelmässigen Dampferlinien erlangten bald
eine grosse Wichtigkeit, ja sie erwiesen sich sogar als nothwendig, seitdem
ein grosser Theil des indischen Handels anfieng, wieder seinen Weg nach
dem Mittelraeere zu nehmen.
Man schritt nun zur Gründung des Unternehmens mit einem Actien-
capitale von einer Million Gulden C.-M. und es wurde beschlossen, für die
Besorgung des regelmässigen Verkehres zwischen Triest und den Häfen des
Orients sechs Dampfer ^) nacheinander in Bau zu geben. Zum Studium
der Verhältnisse in der Levante, insbesondere zwecks Einrichtung der
^) Seine Aufgabe bestand darin, den Kaufleuten und Versicherern die genauesten
Nachrichten über den Handel und die Schiffahrt der Hauptplätze Europas, der Levante,
dann von anderen Orten mittelst eigener Correspondenten, sowie durch die grösseren
Zeitungen und durch Bücher, die über jene Gegenstände handelten, zugänglich zu machen.
Ferner sollte er die ganze Schiffsbewegung Triests in Vormerkung halten, desgleichen
jene Schiffe, deren Bestimmung der hiesige Hafen war, endlich die Einclarierung der
Capitäne bei ihrer Ankunft. Diese Evidenzhaltung sollte sich auch erstrecken auf die
gesammte Ein- und Ausfuhr, sowie auf alle österreichischen Schiffe, die mit Patent ver-
sehen waren, so dass gleichsam die Geschichte jedes einzelnen Schilfes geboten würde
2j Dieselben erhielten die Namen: Arciduca Lodovico d'Austiia, Arciduca Giovanni
d'Austria, Principe Metternich, Conte Kolowrat, Barone Eichhoff und Mahmudie.
25*
368 Lippert. '
vortheilhaftesten Schiffahrtslinien und Auswahl geeigneter Plätze für die
Aufstellung von Agenturen sowie Anlegung von Kohlenniederlagen wurden
Vertrauensmänner entsendet.
Gleich damals trachtete die Direction von der k. k. Hofkammer
die Beförderung der Briefe, Geld- und anderer Wertsendungen aus Oesterreich
und dem Auslande nach der Levante und zurück zu erhalten. Dieselbe nahm
das Anerbieten der Gesellschaft an und stellte die bisher bestandenen
regelmässigen Fahrten der k. k. Paketsegelschiflfe zwischen Triest und
Patras ein.
Für die ersten Keisen fasste man insbesondere einige Häfen des
Adriatischen, Jonischen und Mittelländischen Meeres und des Archipels ins
Auge. Schon nach den ersten diesbezüglichen Versuchen stellte sich
die Nothwendigkeit heraus, die Schiffahrt im ganzen Adriatischen Meere
aufzunehmen, namentlich zwischen Triest und Venedig, wo das von
einer englischen Gesellschaft innegehabte Privilegium binnen kurzem
erlöschen sollte. Auch schien es angezeigt, in die gesellschaftliche Thätigkeit
auch jene Fahrten im Golfe längs der einen Seite bis Albanien und
auf der anderen bis Messina aufzunehmen, um mit den neapolitanischen
Schiffen Anschluss zu erhalten, und ebenso nach Palermo, Neapel, Livorno,
Genua und Marseille, wohin die spanischen Dampfer in regelmässigem
Dienste kamen. Diese erweiterten Verbindungen mussten dem Unternehmen
in seinem Verkehre nach und von der Levante einen grossen Vorschub
leisten, und so hielt es denn der Verwaltungsrath schon in der ersten am
9. April 1837 zusammengetretenen Generalversammlung der Actionäre
für zeitgemäss, zu beantragen: 1. ihn zur Aufnahme aller jener Fahrten
im Adriatischen Meere zu ermächtigen, die er für zweckentsprechend halten
werde, ferner ausser den statutengemäss bestimmten sechs Dampfern, zum
Baue so vieler Dampfschiffe als erforderlich seien, die Zustimmung zu
geben und 2. die Hinausgabe von 500 neuen Actien zu je 1.000 Gulden
zu gestatten. Beide Anträge wurden angenommen. ^)
Das Unternehmen erfreute sich gleich anfangs der Sympathie der
Handelswelt und seine Fortschritte waren sichtlich. Hiezu trugen nicht
wenig die verliehenen Begünstigungen (Allerhöchste Entschliessung vom
') Der erste in England gebaute Dampfer mit Namen „Lodovico Arciduca
d'Austria" lief am 12. April 1837 in Triest ein, erhielt seine vollständige Ausrüstung
und Bemannung und wurde nach Constantinopel gesandt, um in der Levante die Fahrten
der Gesellschaft zu beginnen und einstweilen auf der Strecke Constantinopel-Smyrna so
lange Verwendung zu finden, bis sämmtliche Schiffahrtslinien in Betrieb gesetzt sein
würden. Der Dampfer gieng von Triest am 16. Mai 1837 mit 53 Reisenden und voller
Ladung ab und gelangte am 80. Mai glücklich nach Constantinopel, nachdem er die
Häfen von Ancona, Korfu, Patras, Piräus, Syra und Smyrna berührt hatte, überall von
dem Publicum sowohl, wie von den Behörden mit Kundgebungen begrüsst.
In jenem Jahre wurden folgende Fahrten gemacht: 1 directe von Triest nach
Constantinopel, 9 Fahrten zwischen Constantinopel und Smyrna, 8 Fahrten zwischen
Triest und Constantinopel, 1 directe von Triest nach Alexandrien^ 2 zwischen Triest und
Alexandrien, endlich 8 Versuchsreissn zwischen Triest, Venedig, Ancona, Fiume und
Dalmatien.
I
I
I
Die Entwicklung der österreichischen Handelsmarine. 369
15. August 1838) bei, und zwar unter anderem die Befreiung von den
Hafengebüren in allen Häfen der Monarchie; ferner die gänzliche Ueberlassung
der Einnahmen aus der Briefbeförderung und der Vorbehalt des Allein-
rechtes für die Linie Triest — Venedig; weiter, dass fremde Dampfer,
wenn nicht durch besondere Verträge dazu ermächtigt, in den adriatischen
Häfen nicht Schiffahrt treiben durften, endlich dass die zwischen Triest
und Syra verkehrenden Dampfer zur Vereinfachung der Contumazbehandlung
von einem Sanitätswächter begleitet werden konnten.
Immer neue Schiffahrtslinien wurden eingerichtet,^) so dass der Lloyd
die" Erbschaft Venedigs in dem über die Küsten des Mittelländischen
Meeres sich ausbreitenden europäisch -asiatischen Handelsverkehre angetreten
zu haben schien.
Im Hinblicke auf die Anforderungen dieses Verkehres befahl Kaiser
Ferdinand, eine Eisenbahn von Triest nach Wien zu bauen und dieselbe
gleichzeitig nach verschiedenen Punkten des Kelches weiter zu führen,
im Anschluss an. das Strassennetz der Nachbarstaaten. Dieser Handelsweg
sollte eine ganz bestimmte Richtung erhalten und ganz Deutschland und
dem Norden zum Nutzen gereichen (1842).
Da der Lloyd den Postdienst schliesslich auf allen seinen Linien
besorgte, so gestattete die kaiserliche Entschliessung vom 10. December 1842
die Führung der Postflagge und V^impel auf den gesellschaftlichen Schiffen
und für die Mannschaft das Tragen von Uniform. Eine spätere kaiserliche
Entschliessung vom 5. Mai 1845 erklärte den Lloyd als zu den Staats-
postanstalten gehörig, infolge dessen er alle die im Postpatente vom
5. November 1837 enthaltenen Begünstigungen genoss, so die Befreiung von
den Contumaz-, Leuchtthurm- und Patentgebüren. Damals wurden die mit
der obersten Hofpostverwaltung bestehenden Uebereinkommen bis Ende
August 1850 verlängert und der Gesellschaft das ganze Erträgnis der
Briefpost zuerkannt.
Bedeutsam für die Entfaltung des Unternehmens ist der in der
10. General- Versammlung am 7. Mai 1845 einstimmig gefasste Beschluss,
das Actiencapital auf drei Millionen Gulden C.-M. zu erhöhen, ferner dass
in dem ersten Jahrzehnt die Betriebsausdehnung eine Vermehrung der
Dampfer von sechs auf fünfundzwanzig erforderte, dass die Fahrtenzahl sich
vervierfacht, die Zahl der Reisenden verzwanzigfacht hatte und die der
Angestellten von 207 auf 1.049 gestiegen war. Weitere Marksteine in
der Entwicklungsgeschichte des Lloyd sind die Aufstellung der Agentien in
Aden, Bombay, Madras, Calcutta, Batavia, Singapore, Ceylon, Manila,
Canton und Hongkong (1848); die Uebernahme der Schiffahrt auf dem
\) Nach Dalraaticn, Istricn, Friaul, in den Lagunen von Venedig nach Mestre, Fusina
und Chioggia, ferner ein regelmässiger an Stelle des früher nur zeitweiligen Fahrten-
dienstes zwischen Constantinopel, Smyrna und Syrien, dann im Anschluss an bereits
bestehende Linien wöchentliche Fahrten nach den Jonischen Inseln, von Griechenland
nach Constantinopel und in die Donauhäfen, vierzehntägige Verbindungen mit Kleinasien
bis Trapezunt, mit Syrien, Candia, Aegypten.
370 Lippert.
Poflusse (1852); der Bau der ersten Schraubendampfer (1853); die
üebernahme des Dienstes auf dem Lago maggiore (1853); die Grund-
steinlegung des neuen grossen, vom Architekten Hansen entworfenen
Arsenals in der Bucht von Servola (begonnen 30. Mai 1853, vollendet
im Mai 1861 mit einem Kostenaufwand von 4,990.376 Gulden); die
an gewisse Bedingungen und Leistungen geknüpfte Gewährung eines zehn-
jährigen Staatsbeitrages von je einer Million Gulden zwecks Unter-
stützung im Wettbewerb mit anderen Gesellschaften (1855); der Abschluss
eines neuen Postvertrages (30. December 1858), welcher der Gesellschaft
eine Entschädigung nach der im Postdienst zurückgelegten Meilenzahl
zusicherte, so dass der Staatsbeitrag nunmehr als eine Entlohnung
für vertragsmässige Leistungen im Interesse des allgemeinen Verkehres
erschien; der Bau des ersten Dampfers aus Eisen (1862), wodurch eine
Periode der allmählichen Umgestaltung des Flottenmateriales eingeleitet
wurde ; abermals ein Postvertrag (1864) mit Festsetzung dreier Kategorien
des Dienstes: a) auswärtige Linien mit Schnellverkehr, für welche die
Kegierung 4fl. 20 kr. für jede durchlaufene Meile zu zahlen sich verpflichtete;
//) auswärtige Linien mit gewöhnlicher Fahrt mit 2fl. 50 kr. Vergütung für
jede Meile ; c) Linien innerhalb der heimischen Gewässer, für die keine
Entlohnung seitens des Staates stattfand. Hiemach kam der jährliche
Staatsbeitrag auf ungefähr zwei Millionen Gulden.
Am 17. November 1869 wurde der Suezcanal eröffnet; drei Dampfer
des Lloyd waren die ersten Schiffe, welche ihn durchfuhren. Allsogleich
(31. Jänner 1870) wurde versuchsweise eine Linie von Triest nach Bombay
eingerichtet und im Anschlüsse hieran ein Ueberschiffungsdienst in Port-Said
zur Erleiciiterung des Verkehres zwischen Indien und Triest organisiert
Jedes Schiff", welches von Ostindien unmittelbar nach irgend einem Hafen,
des Mittelländischen Meeres Bestimmung hatte, konnte Waren für Triest
mitnehmen und diese in Port-Said, von wo jede Woche ein Lloyddampfer
nach Triest auslief, dem letzteren zur Weiterb eförde.mng übergeben. Zu
demselben Behufe wurde mit den österreichischen Bahnen ein Uebereinkommen
(1. Februar 1870) abgeschlossen, um für die nach Ostindien bestimmten
Güter eine Frachtermässigung zu gewähren. Es wurde eben alles versucht,
den mächtigen und die Aufgabe des Lloyd immer mehr erschwerenden
Concurrenten zu begegnen. Die „Peninsular and Oriental Co." hatte infolge
ihres Vertrages die Linie Alexandrien-Brindisi einrichten müssen und
zog natürlich den Transitverkehr der englischen Eeisenden nach Indien
an sich; sie verlängerte dann dieselbe bis Venedig, indem sie die Adriatisch-
Orientalische Compagnie, welche diese Linie damals befuhr, zwang, sich auf
die Eoute Venedig-Constantinopel zu werfen.
Diese Fahrten, die nur mit reichlicher Staatsbeihilfe hatten unternommen
werden können, gereichten der österreichischen Dampfermarine sehr zum
Nachtheil. Die Isoliertheit von Triest zumal, dem damals noch die
nothwendigen kürzesten Verbindungen mit den wichtigsten Centren des
Continents fehlten, machte dem Lloyd den Kampf sehr schwer.
Die Entwicklung der österreichischen Handelsmarine. 37 1
Auf diese Verhältnisse ist Bedacht genommen worden bei Erneuerung
des Postvertrages am 18. November 1871.
Es wurden zwei üebereinkommen abgeschlossen; an dem einen
allgemeineren Charakters waren beide Keichshälften betheiligt; es umfasste
mit einigen Abänderungen den ganzen Dienst. Das andere war secundärer
Natur und gieng bloss Cisleithanien an; es bezog sich nur auf die monatliche
Linie von Triest nach Bombay, Kraft des ersten Vertrages wurde der
Staatsbeitrag von zwei Millionen auf 1,700.000 Gulden herabgesetzt und die
Verpflichtung zu etlichen Linien ausgeschieden, ausserdem wurde die
Vergütung für die auswärtigen secundären Linien vermindert, wogegen die
Nothwendigkeit, den Beitrag für die nationalen Linien weiter auszudehnen,
zugegeben wurde. Der Fahrplan w^urde auch derart geändert, um den
Wünschen Fiumes möglichst entgegenkommen zu können. Die Dauer des
Vertrages ward auf sechs Jahre festgesetzt. Nach dem zweiten üebereinkommen
zahlte die Kegierung 190.000 Gulden für zwölf Keisen im Jahr von Triest
nach Bombay, ausserdem die Suezcanalgebüren für sechs Jahre, beginnend
vom 1. Jänner 1872. Nach Genehmigung der beiden üebereinkommen
seitens der gesetzgebenden Factoren beider Keichshälften sollte die Firma
„österreichischer" Lloyd in „österreichisch-ungarischer" Lloyd umgewandelt
werden. Letzteres geschah am 16. December 1872.
Im Jahre 1875 wurde in Anbetracht der zunehmenden Entwertung
des Silbers, sowie der Schwankungen des Wertverhältnisses zwischen Silber
und Gold, das in der Levante im Umlauf war, für die Frachten aus
dem Auslande und nach demselben die Goldwährung eingeführt. Der
Hauptzweck dieser Maassregel war, in die Verrechnungen mit den Agentien
eine gewisse Regelmässigkeit zu bringen und nicht, wie es auf den ersten
Blick schien, eine Erhöhung der Frachtraten dadurch herbeizuführen.
Die Vorverhandlungen zur Erneuerung des im Jahre 1876 von Ungarn
gekündigten Vertrages zogen sich in die Länge. Es waren die Interessen
der Unternehmung mit den Anforderungen, die der Staat stellte, in Einklang
zu bringen. Letzterer verlangte eine sehr bedeutende Erweiterung des Lloyd-
dienstes durch Einrichtung von Linien in ferne Seegebiete, deren Erfolg
nicht gewiss war, und die Gesellschaft wollte diesen Zweck ohne finanzielle
Opfer erreichen, zumal in Triest das Bedürfnis immer dringender geworden
war, die unmittelbaren Verbindungen mit Ostindien weiter (nach China)
auszudehnen, um nicht gezwungen zu sein, die Waren auf weiten kostspieligen
Umwegen mit Ueberladung von Bord zu Bord zu beziehen.
Der neue, sofort mit seiner Sanctionierung am 1. Juli 1878 in Kraft
getretene Vertrag umfasst zwei Abschnitte: den Dienst im Mittelländischen
Meere und jenen mit Ostindien.
Zu diesem beizusteuern, hatte Ungarn abgelehnt, es betheiligte sich
bloss an demjenigen im Mittelmeere, wofür ein Betrag von 1,300.000 Gulden
vereinbart worden war, während Cisleithanien den indischen Dienst mit
einem Beitrag von 430.000 Gulden auf sich nahm, wozu noch die
Vergütung der Suezcanalgebühren für die Durchfahrt von 15 Dampfern
372 Lippert.
kam. Der Vertrag war gegenseitig verbindlich auf die Dauer von zehn
Jahren.
Unter den Bedingungen erscheint die Verpflichtung des Lloyd, 22.000 Ton-
nen Kohlen aus heimischen Gruben zu nehmen, wenn er sie zum Preise der
Cardiflf-Kohle nach Triest oder Fiume gestellt haben kann und ihre Heizkraft
gegen die englische Kohle das Verhältnis von 85 zu 100 erreicht.
Der Lloyd sollte im Innern Dienst Unterthanen fremder Länder nur nach
vorher eingeholter Zustimmung der Kegierung anstellen und ebenso Dampf-
schiffe im Auslande nur nach vorher eingeholter Genehmigung ankaufen.
Im Herbst 1879 wurde die Bombay-Linie bis Colombo verlängert
und zu Anfang des folgenden Jahres bis Singapore ausgedehnt. Die an und
für sich grossen Schwierigkeiten, welche sich der Entwicklung des Lloyd-
dienstes in Ostindien entgegenstellten (beträchtliche Kosten der weiten
Keise^ starke Abnützung des Materiales, häutige grössere Ausbesserungen),
steigerte der Mangel lohnender Ausfracht. Bombay anlangend, machte sich
allerdings seit einiger Zeit eine Zunahme in der Einfuhr österreichischer
Waren bemerkbar, jedoch war dieselbe nicht so erheblich, um bei den
ausserordentlich niedrigen Frachten für die Kosten der Fahrt zu entschädigen.
Ein grosses Hindernis lag in dem starken Mitbewerb mächtiger Dampfschiffahrts-
gesellschaften, die schon seit Jahrzehnten, von ihren Regierungen mit
Ausdauer und in der nachdrücklichsten Weise unterstützt, das Erscheinen
des Lloyd in jenen Gewässern als eine Beeinträchtigung erworbener Allein-
rechte auffassten und kein Mittel der Abwehr (z. B. vorübergehendes
unglaubliches Herabsetzen von Frachtraten) scheuten.
Die Lloydverwaltung liess sich jedoch keineswegs entmuthigen, sondern
beharrte bei ihren Bemühungen, die Entwicklung des Handels und Güter-
austausches im äussersten Orient zu fördern. Es wurde beschlossen, im
Jahre 1881 neun Reisen nach Hongkong über Bombay von sechs zu sechs
Wochen zu unternehmen, sowie die Zahl der Calcuttafahrten um drei
zu vermehren, damit der Gesellschaft die Einfuhr von Jute über Triest
gesichert werde. Für diese besonderen Fahrten bekam der Lloyd keine
Entschädigung von der Regierung. 1882 wurde die Zahl der regelmässigen
Fahrten zwischen Triest und Hongkong von neun auf zwölf gebracht, indem
man hoffte, dadurch der österreichischen Ausfuhr nach Indien und China
grösseren Aufschwung zu geben. Der indochinesische Verkehr zeigte aber
Erfolge vorerst nur in der Einfuhr; 1885 wurden die Fahrten Triest — Hongkong
auf 24, jene Triest — Calcutta auf 12 vermehrt.
Anfang der 80er Jahre dachte man auch daran, das Fahrtennetz nach
dem Westen auszudehnen. Zwei 1882 unternommene Versuchsfahrten
nach Südamerika, und zwar die eine nach Brasilien und die andere nach
dem La Plata führten angesichts des gehabten Verlustes zur Ueberzeugung,
dass ein regelmässiger Verkehr dorthin ohne staatliche Unterstützung nicht
zu halten war. Wenigstens wurde für die Dauer der Kaffee-Ernte vorüber-
gehend eine Linie eingerichtet. Nach und nach war auch in diesem Betriebe
eine Besserung zu verzeichnen.
Die Entwicklung der österreichischen Handelsmarine. 373
So kämpfte der Lloyd, treu seinen Wahlspruch „ Vorwärts ",\) un-
verdrossen weiter, zuweilen in genug schweren Zeiten. Am 19, März 1888
wurde wieder ein Schiffahrts- und Postvertrag und am 25. Juni 1888 ein
üebereinkommen in Betreff des Betriebes überseeischer Dampferlinien
abgeschlossen. Beide hatten nur kurze Dauer. Das Unternehmen gieng der
kritischesten Zeit seiner Gebarung entgegen.
Die am 25. Mai 1889 abgehaltene Generalversammlung billigte die
vom Verwaltungsrathe eingeleiteten Schritte wegen Ueberprüfung und
Aenderung des Vertrages.
Die Verhandlungen wegen Neufestsetzung des Uebereinkomraens mit
der Kegierung zogen sich jedoch in die Länge. Im Keichsrathe trat damals
das Bestreben zutage, für den Lloyd wohl das Nöthige vorzusehen, ihn
aber gleichzeitig dem Einfluss der ungarischen Regierung zu entziehen,
welche eine Theilnahme an der Sanierungsaction ablehnte. Die österreichische
Regierung hegte übrigens die Absicht, ihre unmittelbare Einflussnahme auf
die Geschäftsthätigkeit des Unternehmens zu vermehren, und zu diesem
Behufe wollte sie den Sitz der Gesellschaft nach Wien verlegen. Im
moralischen und materiellen Interesse der Stadt Triest und des Lloyd wurde
dagegen Stellung genommen und man drang durch. Da die Vorschläge
des Verwaltungsrathes, der Staat möge unter gemeinsam festzusetzenden
Bedingungen den Dienst in eigene Regie übernehmen, oder den Actionären
eine Verzinsung gewährleisten, nicht angenommen wurden, verblieb es bei
dem bisherigen System der Subventionierung auf Grundlage von Meilen-
geldern für bestimmte Fahrten.
Der neue, auf Grund des Gesetzes vom 25. Juli 1891, R.-G.-Bl. Nr. 106,
abgeschlossene, vom 1. Jänner 1892 angefangen auf 15 Jahre, also bis
Ende 1906 giltige Schiffahrts- und Postvertrag hat die Firma der Gesellschaft
wieder in „österreichischer Lloyd" umgewandelt und als Compensation der
gewährten Unterstützungen und Begünstigungen den staatlichen Einfluss
auf die Verwaltung und Gebarung in mannigfacher Weise zu wahren
gesucht. Die Gesellschaft verpflichtete sich, während der Vertragsdauer
bei grundsätzlichen- Fragen, wie Bestand der Gesellschaft, Aufnahme von
neuen Anlehen, Vermögensbelastungen, Vermehrung oder Verminderung des
Actiencapitales, Veränderung, Veräusserung oder Verpfändung des Ge-
sellschaftsvermögens, keine Verfügungen ohne Genehmigung des Handels-
ministeriums zu treffen.
Beim Bau und der Reparatur von Schiffen, Schiffsbestandtheilen und
Maschinen ist auf die Verwendung inländischen Materiales möglichst
Rücksicht zunehmen und bedarf der Lloyd zu derlei Anschaffungen im
Auslande die ministerielle Zustimmung, die aber nicht verweigert werden
darf, wenn erwiesen ist, dass die Beistellung im Inlande nicht zur rechten
1) Dem 31. Dampfer beschloss der Verwaltungsrath (1848) den Namen „Vorwärts"
zu geben und dieses Wort auch als Wahlspruch der Unternehmung auszuersehen, welcher
fortan in ihren Abzeichen erscheint.
374 Lippert.
Zeit oder die Erwerbung im Auslande unter ganz besonders günstigen
Bedingungen erfolgen kann.
Die nach Abschluss des Vertrages erbauten oder neu erworbenen, auf
vertragsmässigen Linien verkehrenden Dampfer sind zur höchsten Classe
beim österr.-ung. Veritas zu classificiereu; die Pläne für neu zu bauende
oder noch am Stapel liegende Schiffe einschliesslich der Maschinen sind
dem Handelsministerium vor Beginn des Baues, beziehungsweise Abschluss
des Bauvertrages, die Pläne von fertig angekauften Schiffen, einschliesslich
der Maschinenpläne sofort nach Ankauf zur Kenntnisnahme vorzulegen.
Der Lloyd verpflichtete sich ausserdem zu einer den Anforderungen des
Dienstes entsprechenden, allmählichen Erneuerung seines Schiffsmateriales.
Zur Förderung dieses Zweckes gewährte ihm die Staatsverwaltung einen
unverzinslichen Vorschuss von 1,500.000 Gulden in drei gleichen, am
1, September 1891, 2. Jänner 1892 und 2. Jänner 1893 fälligen Raten
gegen Rückzahlung in fünf, am 2. Jänner 1902 beginnenden mit 2. Jänner 1906
endenden Jahresraten zu je 300.000 Gulden. Eine schliesslich übernommene
Verbindlichkeit besteht in der thunlichsten Bedachtnahme auf das Inland
beim Kohlenbezug und zwar jährlich mindestens 20.000 Tonnen, woferne
das Verhältnis der Heizkraft der inländischen zu der vom Lloyd gewöhnlich
verwendeten englischen Kohle mindestens 84: 100 beträgt und die inländische
Kohle, nach Triest gestellt, nicht höher als die englische dortselbst zu
stehen kommt.
Ohne Genehmigung des Handelsministeriums kann eine höhere als
47oige Dividende nicht vertheilt werden. Falls das Reinerträgnis in einem
Jahre 4% des jeweiligen Actiencapitales übersteigt, wird der Ueberschuss
zwischen der Staatsverwaltung und der Gesellschaft im Verhältnis von
Vs • ^3 vertheilt.
Die Vergütungen für subventionierte Reisen wurden im Vergleich zum
1888er Vertrage wesentlich erhöht. ^)
^) 1. Im Adriatischen und Mittelmeer:
a) für Fahrten mit einer Geschwindigkeit von mindestens IIV2 Seemeilen in der
Stunde 3 fl. 55 kr. für eine Seemeile (im Vertrage von 1888 2 ti. 60 kr.);
h) für Fahrten mit einer Geschwindigkeit von mindestens 10 Seemeilen in der
Stunde 2 fl. 40 kr. für eine Seemeile (im Vertrage von 1888 1 fl. 65 kr.);
c) für Fahrten mit einer Geschwindigkeit von mindestens 9 Seemeilen in der Stunde
1 fl. 80 kr. für eine Seemeile (im Vertrage von 1888 1 fl. 05 kr.);
d) für Fahrten mit geringerer Geschwindigkeit als die letztangeführte 1 fl. 45 kr.
(im Vertrage von 1888 1 fl. 05 kr.).
2. Im überseeischen Dienste:
a) für Fahi'ten mit einer Geschwindigkeit von mindestens 11 Seemeilen in der Stunde
2 fl. 80 kr. für eine Seemeile;
h) für Fahrten auf der Linie Triest — Santos 2 fl. für eine Seemeile;
c) für die übrigen Fahrten 1 fl. 70 kr. für eine Seemeile.
Der Gesammtbetrag der Meilengelder soll jedoch in einem Jahre 2^910.000 Gulden
nicht übersteigen, anderseits aber auch, das Nichtverschulden des Lloyd an etwaigen
Fahrtunterbrechungen vorausgesetzt, nicht unter 2,000.000 Gulden herabsinken. Ausser-
dem werden der Gesellschaft die Suezcanal-Gebüren auf bestimmten Linien rückvergütet.
I
Die Entwicklung der österreichischen Handelsmarine, 375
Auf den vertragsmässigen Fahrten dürfen nur solche Schiffe verwendet
werden, welche hinsichtlich der Fahrgeschwindigkeit, des Reisenden-, Brief-
und Fahrpostdienstes und des Laderaumes den Bedürfnissen der jeweilig
befahrenen Linien entsprechen und genügend Sicherheit gewähren. Für
gewisse Linien wurde auch ein bestimmter Tonnengehalt der Dampfer
vorgeschrieben. Die ununterbrochene Einhaltung der vertragsmässigen Fahrten,
die NichtÜberschreitung fahrplanmässiger Abfahrts- und Ankunftszeiten an
den Ausgangs- oder Anschlusspunkten bei Vermeidung von Conveiitional-
strafen, ausgenommen den Fall höherer Gewalt oder Seegefahr, ist ebenfalls
zur Pflicht gemacht. Während der Vertragsdauer sind die Lloyddampfer von
der Zahlung der Consular-Schiffgebüren bei allen k. und k. Consularämtern
enthoben; dagegen haben sie in den österreichischen Häfen die Hafen- und
sonstigen Schiffahrtsgebüren sowie die Registergebüren zu entrichten.
Ein der Revision unterzogenes Betriebsreglement musste noch vor
dem Inslebentreten des Vertrages dem Handelsministerium vorgelegt werden.
Letzterem war auch die Genehmigung der Normaltarife für den Personen-
verkehr im allgemeinen und für den Güterverkehr in der Ausfuhr aus den
österreichischen Häfen, dann aller auf die Frachtenbeförderung bezüglichen
Bestimmungen vorbehalten. ^)
Die Beförderung und Vermittlung der Briefpost- und der amtlichen
Fahrpostsendungen besorgt der Lloyd nach wie vor unentgeltlich. Die
Beförderung privater Fahrpostsendungen geschieht gegen Vergütung der
Fracht (beziehungsweise auch Seeversicherung), nach dem für das Publicum
im allgemeinen geltenden oder etwa besonders zu vereinbarenden massigeren
Tarife.
Mit den Bestimmungen des Vertrages waren auch die Statuten der
Gesellschaft in Einklang zu bringen. ^)
^) Die Normaltarife und Frachtsätze für den Verkehr aus und nach österreichischen
Häfen sollen nicht höher gestellt werden, als unter gleichen oder ähnlichen Bedingungen
solche für den Verkehr mit den concurrierenden Häfen des Auslandes bestehen. Für den
Fall, als das begründete Verlangen nach Erstellung directer combinierter Land- und
Seetarife geäussert wird und hiefür die Mitwirkung der in Betracht kommenden Eisen-
bahnverwaltungen zu erzielen ist, verpflichtet sich der Lloyd über Aufforderung des
Handelsministeriums die Erstellung solcher Tarife in seinem Bereiche zu erwirken.
-) Dies geschah in der am 6. Mai 1891 abgehaltenen ordentlichen Generalver-
sammlung; die Genehmigung erfolgte durch den Erlass des Ministeriums des Innern vom
1. August 1891, Z. 14.817.
Soweit es hier von Interesse ist, enthalten sie nachstehende hauptsächlichste
Bestimmungen:
(§ 1) Die Gesellschaft besteht auf Grundlage ihrer ursprünglichen Statuten vom
2. August 1836 und der Beschlüsse, welche in den Generalversammlungen gefasst
worden sind.
(§ 5) Die Dauer ist unbestimmt. Würde durch eingetretene Verluste das Capital
der Gesellschaft um ein Drittheil vermindert, so ist eine Generalversammlung einzuberufen,
die über die Auflösung oder Fortdauer zu entscheiden hat.
(§ 3) Der Zweck der Gesellschaft ist, durch die bereits bestehende regelmässige
Dampfschiffahrt zwischen den in- und ausländischen Häfen die Verbindungen mit den
bedeutendsten Seeplätzen möglichst auszubilden und zu erweitern, insofern die erforder-
376 Lippert.
Der Vertrag des Jahres 1891 hat dem Lloydunternehmen eine sehr
kräftige Stütze geboten und ausgiebige Hilfe gebracht.
Im letzten Jahrzehnt des verflossenen Jahrhunderts wurde mit Hilfe
des gewährten Staatsvorschusses von 1,500.000 Gulden eine durchgreifende
Umgestaltung der Lloydflotte bewerkstelligt. lieber die Ausführung des
Planes bemerkt der in der 77. Generalversammlung am 5. November 1899
vorgelegene Kechenschaftsbericht, dass der Tonnengehalt der Flotte, welcher
im Jahre 1891 122.321 Brutto-Registertonnen bei 74 Dampfern betrug, sich
derzeit (Mai 18Ö9) nach Abschlag der seit Ende 1891 in Wegfall gekommenen
Schiffe, dagegen mit Hinzurechnung der noch im Bau begriffenen Dampfer
auf 171.036 Brutto-Registertonnen bei 72 Dampfern belaufe, also eine
Zunahme von 48.715 Brutto-Registertonnen, das ist um 39-827o^ aufweise.
Neugebaut waren von 1892 — 1899 15 Dampfer (zusammen 52.905 T.
und Mai 1899 noch im Bau 7 Dampfer (zusammen 75.390 T.), im ganzen
22 neue Schiffe (zusammen 128.295 T.); hievon stammten 12 aus den
Triester Werften selbst (Lloydarsenal und Stabilimento tecnico). Die für
diese neuen Schiffsbauten verwendeten Beträge erreichten die Summe von
31,252.700 Kronen. Diese neuen für transoceanische Reisen bestimmten
Dampfer unterschieden sich wesentlich von den älteren durch einen grösseren
Raumtonnengehalt (bis zu 9.760 T.) und den geringeren Kohlenverbrauch.
Die erhöhte Leistungsfähigkeit der Flotte trat besonders deutlich
in der Ziffer des durchschnittlichen Meilendurchlaufes jedes einzelnen Schiffes
hervor, welcher sich von 22.480 Seemeilen im Jahre 1891 in regelmässigem
Fortschritte auf 28.814 Seemeilen im Jahre 1898 steigerte, somit bis 1898
eine um 28*177o erhöhte Inanspruchnahme der Flotte anzeigte.
liehen Begünstigungen von der Eegierung aufrecht erhalten und erlangt werden können.
Ferner ist die Gesellschaft noch zu nachfolgenden Geschäften berechtigt: 1. Betrieb
der freien Ehederei mit eigenen oder mit gecharterten Schüfen; 2. Bau und Eeparatur
von Schiffen und Maschinen für eigene und fremde Eechnung; 3. Errichtung und Betrieb
von eigenen Lagerhäusern; 4. Ausnützung des eigenen Arsenales zu industriellen Zwecken;
5. Absehluss aller jener Geschäfte, welche mit der Beförderung von Personen und Gütern
in Verbindung stehen.
(§ 11) Eine Vermehrung des Actiencapitales oder Aufnahme von Anleihen kann
nur auf Grund eines Beschlusses der Generalversammlung und mit Genehmigung der
Eegierung erfolgen.
(§ 19) Der Vervvaltungsrath ist der Vorstand der Gesellschaft; er vertritt dieselbe
nach aussen und entscheidet mit der gesetzlich festgesetzten Verantwortlichkeit in all
den Angelegenheiten, welche nicht der Generalversammlung vorbehalten sind. Ihm obliegt
die Oberleitung der Geschäfte, die Ernennung und Entlassung der Beamten, Agenten
und Angestellten, die Bestimmung ihrer Gehalte und Bezüge, die Verfügung über den
Bau, die Ausbesserung und den Dienst der Dampfer, die Anschaffung aller Bedürfnisse,
der Absehluss aller Verträge u. s. f.
(§ 34) Das Handelsministerium übt die Aufsicht über die gesammte Geschäfts-
gebarung der Gesellschaft und insbesondere über die genaue Einhaltung der Vereinbarung
mit derselben nach seinem Ermessen durch hiezu bestellte Organe aus. Dasselbe ist
berechtigt, die Geschäftsgebarung des Lloyd prüfen und Einsicht in dessen Geschäfts-
bücher nehmen zu lassen, sowie auch die erforderlichen Aufklärungen und Nachweisungen
abzuverlangen.
Die Entwicklung der österreichischen Handelsmarine. 377
Der Meilendurchlauf der gesammten Flotte, welcher 1891 1,618.567 See-
meilen betrug, stieg ziemlich regelmässig auf 1,987.575 Seemeilen im
Jahre 1898. Die Chinafahrten wurden regelmässig bis Japan ausgedehnt,
die Fahrten nach Indien und nach Brasilien vermehrt und die freie Schiff-
fahrt seit 1892 vom jährlichen Durchlaufe von 131.538 Seemeilen auf einen
Jahresdurchlauf von 328.615 Seemeilen gebracht. Die beförderte Frachten-
menge hob sich von 5,742.022 Metercentneru im Jahre 1891 auf
9,484.776 Metercentner im Jahre 1898, das ist um 65'187o- Insbesondere
in der Beförderung der Ausfuhrgüter ist von 1891 (2,100.056 Metercentner)
auf 1898 (3,082.960 Metercentner) eine Steigerung von 46-80% eingetreten.
„Die Anstrengungen," heisst es in dem erwähnten Kechenschafts-
berichte, „welche zur Hebung des Keisendenverkehres durch Beschleunigung
der Geschwindigkeit auf den Eillinien,^) Eleganz der Schiffsräume, gute
Beköstigung, Pflege der Gesellschaftsfahrten mit Sonderschiffen u. s. w.
gemacht wurden, haben wohl zur Erhaltung und Verbreitung des guten Rufes
der Lloydschiffe beigetragen. Die Zahl der Reisenden, oder gar der finanzielle
Nutzen aus deren Beförderung hat sich bisher noch nicht entsprechend erhöht.
Die Ursachen hiefür sind zweifellos in erster Linie in der Abgelegenheit Triests
vom internationalen grossen Reisestrom der Engländer, Deutschen und
Amerikaner, mangels einer kurzen Verbindung mit Mitteldeutschland, zu suchen,
ferner in dem unbesiegbaren Mitbewerb der reicheren englischen, deutschen und
französischen Schiffahrtsgesellschaften, denen von Triest aus es an Luxus der
Schiffe und Schnelligkeit gleichthun zu wollen, nicht zu rechtfertigen wäre."
Die Gebarung hatte sich zu Beginn der Neunzigerjahre bedenklich
genug gestaltet. Schuld daran trugen theils eine allgemeine ungünstige
Lage, theils aussergewöhnliche Ereignisse, wie russische Getreideausfuhr-
verbote, längere Contumazierung der syrischen Provenienzen (1891), Zoll-
maassnahmen der fremden Binfuhrstaaten, z. B. zollbegünstigte Behandlung des
amerikanischen Mehles in Brasilien. Zudem vermochten die nordischen
Häfen infolge billiger Wasser- und Bahnfrachten den Verkehr der nördlichen
Industriegebiete der Monarchie nachtheilig für Triest an sich zu ziehen.
Seit 1892 und im Vergleiche mit 1898 stiegen die Roheinnahmen
in der regelmässigen Schiffahrt um 1,636.567 Gulden, die Meilenzahl um
130.020; in der freien Schiffahrt das Roherträgnis um 1,137.638 Gulden,
die Meilenzahl um 197.077.
Also nach Ueberwindung des Deficits der Jahre 1889, 1890 und 1891 von
zusammen 2,260.000 Gulden, günstige Ergebnisse, die mit Aufgebot ausser-
ordentlicher Mühen, in unausgesetzter Befestigung und Erweiterung der
gesellschaftlichen Leistungsfähigkeit unter der Leitung des am 7. December 1891
unmittelbar vor dem Inkrafttreten des neuen Vertrages sowie zwecks
Organisation der Verwaltung berufenen und im Mai 1901 zurückgetretenen
Präsidenten Victor Freiherrn von Kalchbergr erreicht wurden.
^) Die Schnelligkeit der Eillinien nach Cattaro und nach Alexandrien wurde auf
15 — 16 Seemeilen erhöht und die Eeisedauer nach Cattaro von 46 '/^ auf 26, jene nach
Alexandrien von 113 auf 90 Stunden vermindert.
378 Lippert.
Aus den letzten Rechenschaftsberichten ist noch hinzuzufügen, dass
die Geschäftszunahme auf dem Frachtenmärkte erfreulicherweise anhielt,
dass der indochinesische Verkehr und der Brasildienst, in welch letzterer
Verbindung die Mehlausfuhr dahin, sowie die Kaffee-Einfuhr von dort die
maassgebende Rolle spielt, sich befriedigend gestaltete.
Drei im Jahre 1900 neu unternommene Fahrten nach Südafrika hatten
wegen der Kriegszustände keinen Erfolg. Der Betrieb dieser Linie wurde
vorläufig eingestellt und wird im Herbst 1901 wieder aufgenommen.
Die freie Schiffahrt gewann ansehnlichen Umfang. Zur Bewältigung
der steigenden Zuckerverfrachtung wurden mehrere, Privat-Rhedern gehörige
Schiffe von grosser Tragfähigkeit gechartert. In Rangoon konnten bei
regelmässiger Berührung bedeutende Reisausfuhren bewerkstelligt werden.
Sorgenlos freilich ist kein Betriebsjahr; ungünstig beeinflussende
Ereignisse treten oft ganz plötzlich und unerwartet ein. So war 1899 die
Zuckerausfuhr nach Indien infolge der dortselbst auf Prämienzucker ein-
geführten Zölle einer Gefährdung ausgesetzt, glücklicherweise ohne wesent-
liche Beeinträchtigung zu erfahren. Dann haben wiederholt ausgebrochene
Ausstände in den Kohlenbezirken, sowie der spanisch-amerikanische und der
südafrikanische Krieg die Kohlenpreise hinaufgetrieben. Was dies bedeutet,
lässt die Thatsache ersehen, dass nach dem Geschäftsabschlüsse für das
Jahr 1900 durch den höheren Preis der Kohle im Vergleich zum Jahre 1899
eine Mehrauslage von 2,087.990 Kronen erwuchs.
Den Nachtheilen des Wettbewerbes, der zumeist beide Theile schädigt,
ist auf dem Cartellwege möglichst begegnet und vorgebeugt worden. Dies-
bezüglich wurde zwischen dem österreichischen und ungarischen Handels-
minister ein vom 1. Juni 1898 angefangen giltiges und bis zum
31. December 1906 in Kraft bleibendes Uebereinkommen betreffend die
vertragsmässigen Subventionen der beiderseitigen Seeschiffahrts-Unter-
nehmungen Lloyd und Adria^) geschlossen, dessen wesentliche Bestimmungen
in folgendem bestehen:
*) Die königlich-ungarische Seeschiffahrts-Actiengesellschaft Adria wurde 1881 mit
einem Actiencapital von 5 Millionen Kronen gegründet, welch letzteres durch eine 1891
aufgenommene Prioritätsanleihe von 6 Millionen Kronen vermehrt worden ist. Laut des
mit der ungarischen Regierung auf die Dauer vom 1. Jänner 1892 bis 31. December 1911
abgeschlossenen Vertrages gewährt dieselbe der Gesellschaft einen jährlichen Beitrag
von 1,140.000 Kronen, wovon 480.000 Kronen für die Verzinsung und Amortisation vor-
weg auszuscheiden sind.
Die Flotte bestand Ende 1900 aus 25 Dampfern mit einem Gesammt-Tonnengehalte
von '\^^ ^^ Tonnen und zusammen 29.148 indicierten Pferdekräften; ihr Wert
28.632 Netto-
betrug 18 Millionen Kronen; die Schiffe hatten ein Durchschnittsalter von 8 — 9 Jahren.
Aus und nach Fiume wurden 1898 506, 1899 513, 1900 542 Fahrten zurückgelegt. Die
mit den eigenen Dampfern besorgten Fahrten erreichten 1899 905.779, 1900 968.780
Seemeilen. Von dem Gesammtverkehre des Jahres 1898 mit 630.027 Tonnen entfallen auf
die Einfuhr 75.203 Tonnen, auf die Ausfuhr 203.349 Tonnen auf den Verkehr in den
Zwischenhäfen 336.601 Tonnen; 1899 mit 675.830 Tonnen entfallen auf die Einfuhr 59.633
Tonnen, auf die Ausfuhr 250.754 Tonnen, auf den Verkehr in den Zwischenhäfen 365.443
Die Entwickluncf der österreichischen Handelsmarine. 379
Für den vertragsmässigen Dienst werden die Verkehrsgebiete in der
Weise abgegrenzt, dass dem österreichisclien Lloyd dieser Dienst in der
Levante, in Ostafrika, Indien, China und Japan, der königlich-ungarischen
Seeschiffalirtsgesellschaft „Ädria" aber der verlragsmässige Dienst im
Westen, das ist in Italien, Malta, Spanien, Frankreich, Grossbritannien,
Nord- und Westafrika (ausgenommen Aegypten) und Nordamerika (letzteres
unbeschadet der weiter unten zu erwähnenden Einschränkung) vorbehalten
bleibt. Das Gebiet des Schwarzen Meeres ist neutral; der ungarische
Handelsminister wird jedoch auf den Linien Odessa — Constantinopel und
Batum — Constantinopel, solange dieselben vertragsmässig durch den Lloyd
befahren werden, seinerseits keine vertragsmässigen Fahrten einrichten.
Die Fahrten zwischen Triest, beziehungsweise Fiume und Brasilien, allenfalls
im La Platagebiete, werden abwechselnd durch den Lloyd und die Adria
besorgt. Als Grenze zwischen der Levante und der Ostküste des Adriatischen
Meeres Avird die durch das Gesetz vom 17. Mai 1879, beziehungsweise
Gesetzesartikel 16 vom Jahre 1879 über die Kegistrierung der Seehandels-
schiflfe festgesetzte Grenzlinie der kleinen Küstenschiffahrt angenommen,
und steht innerhalb dieser Linie jedem Theile die Einrichtung vertrags-
mässiger Fahrten frei.
Der österreichische und der ungarische Handelsminister erklären, dass
sie in dem dem anderen Theile vorbehaltenen Verkehrsgebiete keine vertrags-
mässigen Fahrten einrichten werden. Die der freien Schiffahrt gesetzlich
gewährten Begünstigungen werden nicht als Begünstigungen vertragsmässiger
Fahrten betrachtet.
Oesterreichischerseits beziehungsweise ungarischerseits wird auf be-
stimmten, im einzelnen aufgezählten Linien die regelmässige Berührung
Fiumes, beziehungsweise Triests vorgesehen, jedoch diesbezüglich ohne jede
Beitragsleistung seitens des anderen Staates. Die Fahrten zwischen Triest
beziehungsweise Fiume und Brasilien finden abwechselnd zwischen dem
Lloyd und der Adria in der Gesamratzahl von zwölf im Jahre nach einer
zu vereinbarenden Fahrordnung statt. ^)
Tonnen; 1900 mit 731.888 Tonnen entfallen auf die Einfuhr 45.217 Tonnen, auf die Aus-
fuhr 282.811 Tonnen, auf den Verkehr in den Zwischenhäfen 403.860 Tonnen.
Das Sinken des Verkehres in der Einfuhr wurde 1900 hauptsächlich durch die
Abnahme der Steinkohlen- und Weineinfuhr herbeigeführt.
Die Steigerung der Ausfuhr ist das Ergebnis des lebhafteren Verkehres der Holz-
und Mehlausfuhr.
Das Fahrtenerträgnis war . . 1898 1,999.371 K, 1899 2,189.778 K, 1900 2,544.121 K.
Der Reingewinn war . . . .1898 420 202 „ 1899 944.354 „ 1900 1,069.960 „
Die Dividende 1898 120/o 1899 14«/, 1900 15%.
Ebenfalls Sitz in Fiume haben die ungarisch- croatische Seedampfschiffahrts-Actien-
gesellschaft, gegründet 1891 auf 11 Jahre mit einem Capitale von 2 Millionen Kronen;
dann die ungarisch-croatische Gesellschaft für freie SchiiFahrt, gegründet 1899 mit
2 Millionen Kronen Actiencapital; ferner die ungarische Rhederei-Actiengesellschaft Orient,
gegründet 1893, Capital 4 Millionen Kronen.
*) Bezüglich des Verkehres nach Nordamerika wird mit Rücksicht auf die bestehen-
den Fahrten der Austro-Americana zwischen dieser und der Adria ein Uebereinkommen
380 Lippert.
Auf den vertragsmässigen Linien der beiderseitigen Unternehmungen,
welche Triest und Fiume berühren, werden die Tarife für Reisende, Waren-
und Wertsendungen von und nach Triest, beziehungsweise Fiume mit
jenen von und nach Fiume, beziehungsweise Triest völlig gleich gehalten
.und es soll auch bei der Einfuhr aus ausländischen, von diesen Linien
berührten Häfen in der Berechnung der Frachtkosten kein Unterschied
zwischen den beiden genannten Plätzen des Bestimmungshafens gemacht
werden. Von den Tarifen und Frachtsätzen sollen beiderseits Nachlässe,
Refactien und Provisionen nur unter solchen Bedingungen gewährt werden,
die eine unterschiedliche Behandlung von Triest und Fiume ausschliessen.
Bei den besprochenen vertragsmässigen Fahrten, welche Triest und
Fiume anlaufen, soll im Ausgangspunkte ein Drittel des Schiffsraumes
für den andern Hafenplatz derart vorbehalten werden, dass der österreichische
Lloyd, beziehungsweise die Adria über diesen Raum nur dann anderweitig
verfügen kann, wenn derselbe bei Fahrten über den Suezcanal hinaus
bis längstens vier Wochen, im Verkehr mit Brasilien bis längstens vierzehn
Tagen, auf allen anderen Fahrten bis längstens acht Tagen, für kleine
Mengen (das ist bis zu 20 Raumtonnen insgesammt) innerhalb 24 Stunden
vor Abgang des Schiffes ab Triest, beziehungsweise Fiume nicht in Anspruch
genommen worden ist. Schliesslich lautet noch die Schlussbestimmung:
„Der österreichische Handelsminister erklärt, keine Einwendung dagegen
erheben zu wollen, dass die ungarische Regierung mit dem Lloyd wegen
Errichtung einzelner Linien Vereinbarungen treffe. Demgegenüber erklärt
der ungarische Handelsminister, auch seinerseits gegen eine solche Ver-
einbarung der österreichischen Regierung mit der Adria eine Einwendung
nicht erheben zu wollen."
Ein ähnliches Uebereinkommen schloss der Lloyd mit der Ungarischen
Levante-Seeschiffahrts-Gesellschaft für die Zeit vom 1. März 1898 bis
31. December 1906 mit Genehmhaltung der beiderseitigen Handelsminister.
Diese Annäherung Ungarns an den Lloyd ist sehr bemerkenswert.
Ungeachtet sich die ungarische Verwaltung in ihrer Verkehrspolitik stets nur
von nationalen Gesichtspunkten leiten lässt und gerade in der Förderung
der Adria einen ausserordentlichen Eifer bethätigt hat, zeigt es sich eben
hier, wie die Ungarn ihren wirtschaftlichen Vortheil stets wahrzunehmen
wissen und in richtiger Abschätzung der Bedeutung und der Leistungs-
geschlossen, welches von den beiderseitigen Handelsministern genehmigend zur Kenntnis
genommen wird und zum Zwecke hat, das gegenseitige Verhältnis dieser beiden Schiif-
fahrtsunternehmungen in einer den beiderseitigen Interessen entsprechenden Weise zu
regeln. In diesem Uebereinkommen verpflichten sich die Austro-Americana und die Adria,
sich in ihren in der freien Schiifahrt eingerichteten Fahrten von adriatischen und Mittel-
meerhäfen nach Nordamerika gegenseitig keine Concurrenz zu machen, d. h. von den
angelaufenen Häfen nur Ladungen nach Nordamerika, beziehungsweise nur von Nord-
amerika Güter nach Mittelmeer- und adriatischen Häfen zu übernehmen und keinen
Zwischenhafenverkehr in den regulären Relationen zu besorgen.
Die Austro-Americana erklärt, bezüglich der Frachtbedingungen nach und von
Nordamerika Fiume und Triest gleichzuhalten.
Die Entwicklung der österreichisehen Handelsmarine. 33I
fähigkeit des Lloyd einen festeren Anschluss an denselben erstrebten, der sich
freilich organisch leicht vollziehen Hess, umsomehr als die Verwaltung des
Lloyd stets gute Beziehungen zu der Fiumaner Unternehmung gepflogen hat.
Die Thätigkeit des Lloyd kennt keinen Stillstand. Unausgesetzt
werden neue Aufgaben ins Auge gefasst. In der ausserordentlichen General-
versammlung vom 2. April 1901 wurde der Verwaltungsrath zur Aufnahme
einer 47oigen in Gold zahlbaren, binnen 54 Jahren vom 1. Juli 1906
an zu tilgenden Anleihe von 18 Millionen Kronen ermächtigt, welche der als
dringend nothwendig erkannten Erneuerung und Ausgestaltung der Flotte
dienen soll. Behufs Ausführung dieses Planes wurde beschlossen, in
der Bauperiode 1901 und 1902 ausser den bereits im Arsenale in Bau
begriffenen drei Levantedampfern und einem grossen Chinadampfer weitere
drei Levantedampfer, ferner einen grossen Doppelschraubendampfer und
drei grössere Frachtdampfer theils im Lloydarsenal auf Stapel zu legen,
theils anderweitig zu beschaffen.
In der am 17. Mai 1901 abgehaltenen Plenarsitzung des Verwaltungs-
rathes entwickelte der neuernannte Präsident Ernst Becher, darauf
hinweisend, dass die Stellung des im allgemeinen Verkehrsinteresse wirkenden
Unternehmens eine dualistische sei, indem es einerseits als Actiengesellschaft
für den Erwerb zu sorgen und anderseits nach seiner ganzen geschichtlichen
Entwicklung in steter Verbindung mit der Regierung gestanden habe,
als nächste zur Lösung gelangende Programmpunkte die Organisation
der Verwaltung mit wohlüberlegter, durchdachter Oekonomie, die Eeform
des Dienstes auf den Schiffen, die Ueberprüfung des Agentiewesens,
die Regelung der Kohlenfrage, und überhaupt die Anspannung aller
Leistungen zwecks Erreichung der äussersten Grenze der Verwertung der im
Lloyd ruhenden Kraft, damit er stark dastehe, wenn die zweite Bahn-
verbindung ^) hergestellt sei und zur Erneuerung des Vertrages mit
der Regierung geschritten werden müsse.
Das eben aufgerollte Bild des allmählichen Werdens von Oesterreichs
grösstem Schiffahrtsunternehmen ^) sollen schliesslich noch einige Zahlen-
übersichten ergänzen und hiebei die finanzielle Lage, die technische
Ausgestaltung und die Verkehrsentwicklung Berücksichtigung finden.
^) Nach dem Eisenbahn-Investitionsgesetz yom 6. Juni 1901, R.-G.-Bl. Nr. 63 soll
die Bahnverbindung Klagenfurt — (Villach)— Görz — Triest im Jahre 1905 und die voll-
endete Tauernbahn im Jahre 1908 dem öffentlichen Verkehre übergeben werden.
^) Zwecks Vergleiches sollen hier nur von einem einzigen auswärtigen grossen
Schiffahrtsunternehmen die auf seinen Betriebsumfang bezüglichen Ziffern angeführt werden.
Die Hamburg-Amerikanische-Paketfahrt-Actiengesellschaft schloss ihr Geschäftsjahr 1900,
das 54. seit ihrem Bestände, mit einem Reingewinn von 24*4 Millionen Mark und zahlte
eine lO^j^ige Dividende. Sie verfügt über 98 Oceandampfer mit 486.528 Brutto-Reg.-
Tonnen; 15 Oceandampfer mit 98.600 Br.-R.-Tonnen befinden sich im Baue. An Fluss-
dampfern, See- und Flusschleppern, Barcassen, Leichtern u. s. w. in Fahrt besitzt die
Gesellschaft 121 mit zusammen 25.277 Br.-R.-Tonnen. Das Durchschnittsalter der Schiffe
beträgt 4 Jahre 7^/2 Monate. Im verflossenen Jahre wurden 419 Rundreisen unternommen,
16C.539 Reisende und 3,195.685 Raummeter Güter befördert.
Zeit.schrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. X. Band. 26
382
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Die Entwicklung der öiterreichischen Handelsmarine. 383
Nach der vorsteheoden, Zeiträume von fünf zu fünf Jahren umfassenden
Zusammenstellung hat sich unter allmählicher und stetiger Vergrösserung
der Capitalsgrundlage von 2 auf 48Y2 Millionen Kronen die Zahl der nun
fünfmal höher bewerteten Dampfer verzehnfacht, deren Brutto-Register-Tonnen-
gehalt verhundertfacht, die Stärke der gesammten Maschinenkraft ist
zweihundertmal so gross. Demgemäss stiegen die Leistungen, und zwar
die Zahl der Reisenden auf das 14fache, die der durchlaufenen Seemeilen
auf das 51fache, der Reisenden auf das 35fache, der beförderten Waren-
mengen auf das 2.000fache, der beförderten Pakete auf das 5fache,
der beförderten Gelder auf das 15fache.
In den letzten Jahren hat der Postverkehr durch die kriegerischen
Ereignisse viel eingebüsst.
Die zweite Uebersicht gibt eine Darstellung der Betriebsverhältnisse
während der letzten zehn Jahre. (Siehe Tabelle S. 384.)
Die Frachteneinnahmen sind in steter Zunahme begriffen und demnach
auch das Betriebsergebnis, beziehungsweise der Reingewinn. Der Aufgeld-
gewinn bei den' in Gold gezahlten Frachtraten ist ganz erheblich. Dem
umfangreicheren Betriebe entsprechend mussten auch die Aus- und Ein-
schiflfungsauslagen u. s. w., dann die Auslagen für die Besoldung der
Officiere und Mannschaft wachsen. Die Kosten der Instandhaltung der
Flotte nahmen im Hinblick auf die Neuconstructionen etwas ab.
Der Brennstoffverbrauch war in Tonnen-Kohle:
inländische zusammen
36.277 173.801 Tonnen
39.924 163.709
40.352 183.133
18.654 216.851
21.624 231.299 „
20.750 240.594
25.511 257.210 „
19.810 254.061 „
44.297 282.280
20.721 280.493
27.186 316.077
Der Mehrverbrauch von Jahr zu Jahr hängt zusammen mit der
steigenden Zahl zurückgelegter Seemeilen. Die ungewöhnliche Erhöhung
der Auslagen für diese Ausgabepost in den letzten Jahren ist auf die
bereits erwähnten allgemeinen Vertheuerungsursachen, Kriegs Verwicklungen,
Arbeiterausstände in den Kohlengruben zurückzuführen.
Die staatliche Hilfe in Form des Beitrages für bestimmte ver-
tragsmässige Fahrten, dann durch die Vergütung der Suezcanal-Gebüren ist
eine sehr bedeutende in den letzten Jahren, zusammen je 77^—8 Millionen
Kronen jährlich. ^)
^) Nach einer im August 1900 deutscherseits angestellten Berechnung betragen
die von den Welthandelsstaaten zur Förderung ihres Aussenhandels gewährten Sub-
26*
ausländische
1890
137.524
1891
133.785
1892
142.781
1893
198.197
1894
209.675
1895
219.844
1896
231.699
1897
234.251
1898
237.993
1899
259.772
1900
288.891
384
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1898 182.234
1899 184.477
1900 211.845
5)
gezahlt.
die Beträge an unmittelbar
rebüren für Fracht- und Fahr-
Die Entwicklung der österreichischen Handelsmarine. 385
Anderseits sind auch die an den Staat geleisteten Abgaben ganz
erhebliche; die Einkommensteuerbeträge schwanken je nach dem mehr
oder weniger günstigen Stande der Einnahmen ; unter diesem Titel wurden
1890 78.276 Kronen 1896 261.808 Kronen
1891 8.200
1892 8.200 „
1893 25.612
1894 121.688
1895 248.644
Weitaus höher noch stellen sich
(monatlich im nachhinein) entrichteten G(
karten, dann die Stempel für Frachtbriefe. Jene der ersteren Gattung
erreichten in den letzten Jahren Summen von je 60.000 — 65.000 Kronen.
Aus einer Darstellung der Steuerleistungen des Lloyd im letzten
halben Jahrhundert unter gleichzeitiger Berücksichtigung des der Steuer-
bemessung zugrunde gelegten Einkommens ist wohl der sicherste Schluss auf
die jeweilige Geschäftslage des Unternehmens zu ziehen. (Siehe Tabelle S. 386.)
Nach dem § 19 des Einkommensteuer-Patentes vom 29. October 1849,
E.-G.-Bl. Nr. 439, entfiel die Einkommensteuer mit 5 Proc. des Einkommens;
die kaiserliche Verordnung vom 13. Mai 1859, K.-G.-Bl. Nr. 88, führte
zur Erwerbs- und Einkommensteuer einen ausserordentlichen Kriegszuschlag
von Vö der einfachen ordentlichen Gebür ein : auf Grund der Gesetze vom
19. December 1862, E.-G.-ßl. Nr. 101, vom 30. December 1865, ß.-G.-Bl.
Nr. 149, und vom 25. December 1866 R.-G.-Bl. Nr. 176, wurde derselbe auf
Vs, endlich mit dem Gesetze vom 23. März 1869, R.-G.-Bl. Nr. 34, auf %
des Ordinariums erhöht.
Der Lloyd zahlte also von 1851 bis einschliesslich 1858 eine Ein-
kommensteuer von 5 Proc; 1859 bis einschliesslich 1862 eine Einkommen-
steuer von 6 Proc; 1863 bis einschliesslich 1867 ein Einkommensteuer von
7 Proc. ; 1868 bis einschliesslich 1897 ein Einkommensteuer von 10 Proc
seines steuerpflichtigen Einkommens. Das Gesetz von 25. October 1896,
R.-G.-Bl. Nr. 220, IL Hauptstück § 100 setzte eine Steuer mit 10 Vg Proc
des steuerpflichtigen Reinertrages fest.
Das steuerpflichtige Einkommen beträgt durchschnittlich
in den Fünfzigerjahren 370.000 Gulden
„ „ Sechzigerjahren 1,300.000 „
„ , Siebzigerjahren 2,100.000 „
„ „ Achtzigerjahren 1,500.000 „
„ „ Neunzigerjahren 700.000 „
ventionierungen in Frankreich 20,566,500 Mark, in England (mit Colonien) 16,582.840
Mark, in Spanien 7,372.068 Mark, in Oesterreich-Ungam 6,960.000 Mark, Italien
5,380.871 Mark, Russland 5,354.952 Mark, in den Vereinigten Staaten von Nordamerika
4^629.223 Mark und in Holland 1,278.000 Mark. Einige Staaten zahlen ausserdem noch
ihren Rhedereien Schiffbau- und Schiffahrtsprämien, die zwischen drei (Italien) und
neun Millionen Mark (Frankreich) schwanken. Russland wendet dafür gegen sechs Mil-
lionen Mark auf.
386
Lippert.
Jahr
1851
1852
1853
1854
1855
1856
1857
1858
1859
1860
1861
1862
1863
1864
1865
1866
18G7
1868
1869
1870
1871
1872
1873
1874
1875
Steuerpflichtiges
Einkommen
Steuer-
Torschreibung
Gulden C.-M.
371.736
411.208
406.311
419.936
200.000
200.000
239.500
Gulden ö.
400.860
492.740
532.580
863.720
1,028.140
1,328.640
1,342.780
1,459.800
1,2.55.920
1,170.820
1,205.480
1,397.580
1,612.900
1,675.320
1,926.160
1,943.920
1,706.120
1,705.620
W.
18.586
20.560
20.315
20.996
10.000
10.000
11.975
20.043
29.564
31.954
51.823
61.688
93.004
93.994
102.186
87.914
81.957
120.548
139.758
161.290
167.532
192 616
194.392
170.612
170.562
Jahr
Steuerpflichtiges
Einkommen
Steuer-
vorschreibung
Gulden ö. W.
1876
1877
1878
1879
1880
1881
1882
1883
1884
1885
1886
1887
1888
1889
1890
1891
1892
1893
1894
1895
1896
1897
1898
1899
1900
1,182.480
1,490.440
1,913.700
2,883.220
2,958.040
2,755.480
1,780.000
1,677.260
1,355.860
1,410.880
1,494.800
1,591.380
1,348.780
797.460
391.380
Verlust
Verlust
128.060
608.440
1,243.220
1,309.040
1,201.160
867.765
1,756.922
2,017.569
Kronen
118.248
149.044
191.370
288.322
295.804
275.548
178.000
167.726
135.586
141.088
149.480
159.138
134.878
79.746
39.138
4.200
4.200
12.806
60.844
124.322
130.904
120.116
91.117
184.477
211.845
I
Die beste Geschäftszeit fiel in das Ende der Siebziger- und den Anfang
der Achtzigerjahre anlässlich der Truppenbeförderungen im russisch-türkischen
Kriege und gelegentlich der Besetzung Bosniens durch Oesterreich-Ungarn,
freilich nicht soweit die Lloydschiffahrt in den Dienst des Handels gestellt war. ^)
Der grösste Tiefstand trat genau ein Jahrzehnt später ein und es
kann leider nicht verhehlt werden, dass — nach der allgemein geäusserten
*) Zur richtigen Beurtheilung der Ziffern ist übrigens nicht ausseracht zu lassen, dass
gemäss § 10 des Einkommensteuerpatentes vom 20. October 1849, R.-G.-Bl. Nr. 439, das
Reineinkommen vom steuerpflichtigen Geschäftsbetriebe für ein Jahr nach dem Durch-
schnittsergebnisse der letzten drei Jahre anzugeben war; daher wirkten die günstigen
Geschäftsverhältnisse noch einige Jahre nach.
Das neue Personal-Einisommensteuergesetz berücksichtigt nur das Gegenstandsjahr.
Die Entwicklung der österreichischen Handelsmarine. 387
Öffentlichen Meinung — zum grossen Theile das Verhalten der Leitung
und Mängel in der Verwaltung daran Schuld trugen.
Seither ist eine bemerkenswerte Besserung der Lage eingetreten; der
frühere Höhepunkt vermochte allerdings noch nicht erreicht zu werden.
Neben dem als Actiengesellschaft ^) errichteten Lloyd weist die
österreichische Handelsmarine nicht sehr viele in derselben Rechtsform
zustande gekommenen Schiffahrtsunternehmungen auf. Noch in den Siebziger-
jahren wurden überhaupt nur wenige Dampfer von einzelnen Rhedern in See
gebracht und nur eine einzige Gesellschaft, die im Jahre 1871 gegründete
„Societä ,Adria' di navigazione a vapore" begann einen Betrieb mit
drei Dampfern, hatte jedoch unter der Ungunst der Conjuncturen stark zu
leiden und gieng 1878 ein. Einige Entwicklung nahm seit dem Ende
der Siebzigerjahre der Localverkehrmit Dampfern an der istrianischen Küste,
doch beschränkte sich derselbe vorwiegend auf die Beförderung von
Reisenden. Ein Aufschwung ist dann seit den Achtzigerjahren zu verzeichnen.
Es entstanden J.883 die Societä cittadina di navigazione a vapore di
Capodistria; ferner die 1886 gegründete Societä di navigazione a vapore
„Istria-Trieste," deren Actiencapital von 600.000 Kronen in 12.000 Stück
Actien zu je 50 Kronen begeben wurde; dann die 1891 errichtete Societä
di navigazione a vapore lagunare Grado-Aquileja mit einem Gesellschafts-
capitale von 24.000 Kronen in 480 Actien zu je 50 Kronen, welche heute
noch sämmtlich ihren Schiffahrtsbetrieb ausüben, allerdings mit manchen
Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Nur kurze Lebensdauer, bis 1886,
hatten die beiden Dalmatiner Actiengesellschaften Associazione marittima di
Sabioncello und Associazione marittima di Ragusa.
Andere Schiffahrtsunternehmungen, deren es heute eine ganze Menge
gibt, werden von einzelnen Rhedern oder bei grösserem Umfange von
einer Vereinigung mehrerer derselben betrieben.
Auf die Rhederconsortien finden je nach deren Gestaltung die
Bestimmungen des Handelsgesetzbuches über offene Handelsgesellschaften ^)
oder Commanditgesellschaften ^), beziehungsweise das 16. Hauptstück des
Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches über die Gemeinschaft des Eigenthumes
und anderer dinglicher Rechte Anwendung. Die rechtlichen Beziehungen
der Theilnehmer untereinander regelt der Vertrag (Rhederbrief). Nach einem
alten Brauch hat jeder von ihnen an dem Schiffe als bestimmten ideellen
Antheil ein oder mehrere Carate, Vierundzwanzigstel, oder auch Bruchtheile
von solchen.
Die Vereinigung der Rheder wird von dem obersten Grul!d^atze
geleitet, dass die Mehrheit immer eine Mehrheit der Interessen sei; weshalb
1) Die Ministerialverordnung vom 20. September 1899, E.-G.-Bl. Nr. 175, hat ein
Regulativ für die Errichtung und Umbildung von Actiengesellschaften auf dem Gebiete
der Industrie und des Handels verlautbart. Dieses Regulativ erstreckt sich jedoch nicht
auf Dampfschiifahrtsunternehmungen; ebenso nicht auf die Commanditgesellschaften
auf Actien.
2) Die Rhederei der Gebrüder Cosulich und Genossen.
3) Die Austro-Aiiiericaua.
388 Lippert.
die Beschlussfassung nicht nach der Zahl der Personen, sondern nach dem
Verhältnisse ihrer Antheile zustande kommt;, ein Verhältnis, nach welchem
dann auch die Gewinnvertheilung platzgreift.
Die bedeutendste österreichische Schiffahrtsgesellschaft (neben dem
Lloyd) ist die Austro-Americana, handelsgerichtlich registriert als Firma
Schenker, Cosulich & Cons., welche sich im März 1901 in der von den
Triester Ehedereien abweichenden Form der Commandite ^) (4 offene
Gesellschafterund 22 Commanditisten)mit einem Capital von 1,735.000 Kronen
gebildet hat und für den auf gemeinsame Kechnung zu führenden Betrieb in
Glasgow sechs zum Fahrtendienste zwischen Triest und Nordamerika
(New York und New Orleans) bestimmte Dampfer um 108.000 Pfund
Sterling = 2,592.000 Kronen ankaufte. Die Bestimmungen des zunächst
unkündbar auf drei Jahre, mit stillschweigender Verlängerung von Jahr zu
Jahr und dann sechsmonatlicher Kündigungsfrist abgeschlossenen Gesellschafts-
vertrages lassen sich, wie folgt zusammenfassen : ausschliesslicher Zweck
des Unternehmens ist die Förderung des heimischen Handels ^) durch
Vermehrung der Verkehrsmittel, und zwar sowohl in Dampf- als auch Segel-
schiffahrt, sei es mit eigenen, sei es mit gecharterten Schiffen. Der
Sitz bleibt Triest, es können jedoch auch anderwärts Zweigniederlassungen
gegründet werden.
In Ansehung der Vertretungsbefugnisse der offenen Gesellschafter
Dritten gegenüber gelten die Bestimmungen des Artikels 167 des Handels-
gesetzbuches mit der Abänderung, dass bestimmte offene Gesellschafter
lediglich die Pflicht haben, im Einvernehmen mit den andern Gesellschaftern
die Gesellschaft gegenüber den Behörden zu vertreten, ferner die commer-
zielle und acquisitorische Thätigkeit der Generalagenten zu überwachen,
während alle übrigen Theile der Geschäftsführung,insbesondere die Einzelheiten
der technischen Leitung des Unternehmens den andern Gesellschaftern
obliegen. Die Gesellschaftsfirma wird durch einen offenen Gesellschafter
und einen Procuristen gezeichnet. Die Vertretungsbefugnis des offenen
Gesellschafters ist auf jene Geschäfte beschränkt, welche der ordentliche
Geschäftsbetrieb mit sich bringt; eine Ueberschreitung dieser Vertretungs-
befugnis hat die Zustimmung der Commanditisten zur Voraussetzung und
es kann in einem solchen Falle das ohne vorherige Genehmigung
geschlossene Geschäft durch einen Majoritätsbeschluss nicht anerkannt
werden, so dass der Schuldtragende dasselbe für seine Privatrechnung
übernehmen und jeden Schaden tragen muss. Er darf allenfalls sogar
*) Die Commanditgesellschaft wurde gewählt, um nach Maassgabe der Verkehrs-
bedürfnisse durch Heranziehung neuer Capitalieu jederzeit die Flotte vermehren und den
Dienst vervollkommnen zu können. Unter den Commanditisten erscheint Se. k. u. k.
Hoheit Erzherzog Karl Stephan.
2) Die Austro-Americana besorgt vorzugsweise unmittelbare Zufuhr von Baumwolle,
Baumwollsamenöl und Tabak nach Triest. Die Waren werden auch in combinierten Tarifen
mit directen Polizzen für Bestimmungsorte im Innern der Monarchie oder der Vereinigten
Staaten aufgenommen. Die Dampfer verkehren jede dritte Woche.
Die Entwicklung der österreichischen Handelsmarine. 389
aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Den Commanditisten stehen
die im Titel 2 des zweiten Hauptbuches des Handelsgesetzes normierten
Eechte zu.
Die Beschlüsse der Generalversammlung werden in der Regel nach der
auf Grund der Betheiligung an dem Gesellschaftscapitale berechneten
Stimmenmehrheit gefasst und sind für sämmtliche Gesellschafter bindend,
wenn sie in der Generalversammlung selbst erscheinen, oder durch Be-
vollmächtigte so viel Commanditisten vertreten sind, dass dieselben mindestens
Vs des Gesellschaftscapitales darstellen. Wird diese Zahl nicht erreicht,
so muss eine Vertagung auf 15 Tage verfügt werden. Dann ist Beschluss-
fähigkeit vorhanden, wenn auch bloss die Hälfte des Gesellschaftscapitales ver-
treten wird. Bei der Generalversammlung soll mindestens ein offener
Gesellschafter berathend theilnehmen ; stimmberechtigt ist er nach Maass-
gabe seiner Capitalseinlage.
Die Beschlussfassung über die Aufnahme eines oder mehrerer offener
Gesellschafter, über Vertragsabänderungen, Erhöhungen des Gesellschafts-
capitales, Liquidation, Ausschliessung eines Gesellschafters, Vertheilung des
Gewinnes können nur mit einer Mehrheit von 7io ^^^ gesammten Gesell-
schaftscapitales gefasst werden. Für den Fall der Capitalserhöhung haben
die Gesellschafter das Optionsrecht nach Maassgabe ihrer Einlagen, allenfalls
darüber hinaus nur dann, wenn Beträge frei bleiben. Ein Gleiches geschieht,
d. h. ebenfalls optiert wird auf den frei gewordenen Antheil eines durch
Kündigung oder sonst ausscheidenden Gesellschafters.
Sämmtliche Unterzeichner des Vertrages, sowohl offene Gesellschafter
als auch Commanditisten verpflichten sich und ihre Rechtsnachfolger, so
dass der Gesellschaftsvertrag auch bei Todesfällen weiter besteht. Die
Ueberlebenden können jedoch die Nachfolger eines verstorbenen Gesell-
schafters in einer Generalversammlung ausschliessen, in welchem Falle die
Erben und Rechtsnachfolger nur den Anspruch auf Ausbezahlung des
Geschäftsantheiles, berechnet nach der letzten von der Generalversammlung
genehmigten Bilanz zuzüglich der mit 5 Proc. festgesetzten Capitalszinsen
vom Genehmigungs- bis zum Auszahlungstage haben.
Streitigkeiten zwischen den Gesellschaftern werden endgiltig ex bono
et aequo von einem Schiedsgericht (in Triest) entschieden. Es tritt in der
"Weise zusammen, dass jeder Streittheil binnen 14 Tagen nach erfolgter
Aufforderung dem Gegner seinen Schiedsrichter bekannt gibt. Ist die Bil-
dung des Schiedsgerichtes unmöglich, dann kann sich jeder Theil an die
ordentlichen Gerichte wenden.
Für alle in dem Vertrage nicht vorgesehenen Fälle gelten die Be-
stimmungen des österreichischen Handelsgesetzbuches.
lieber Grösse und Leistungsfähigkeit der österreichischen Schiffahrts-
ünternehmungen gibt folgende auf das Jahr 1900 (Ende October) bezügliche
Zusammenstellung betreffend die zwei und mehrere Dampfer besitzenden
Rhedereien Aufschluss.
390
Lippert.
Schiifahrtsgesellschaft, Eheder
Weite Fahrt;
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Tonnengehalt
Brutto
^etto
Bemannung
Indicierte
Pferde-
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Dampfschiffahrts-Gesellschaft des
österreichischen Lloyd in Triest
Gehrüder Cosulich und Genossen
in Triest
Schiffahrts-Gesellschaft Austro-
Americana in Triest
Gebrüder C. v. Gerolimich und
Genossen in Lussinpiccolo
Thomas Cossovich und Genossen
in Triest
Matthäus Marinoviö und Genossen
in Eagusa
Eacic Johann und Genossen in
Eagusavecchia
Johann L. Premuda und Genossen
in Triest
Matthäus Katicic und Genossen
in Eagusa
Eugen Chierini und Genossen
in Triest
Eagusaner Dampfschiffahrts-
Unternehmung in Eagusa
Schiffahrts-Unternehmung Serafino
Topic und Genossen in Lissa
Dampfschiffahrts-Unternehmung
Gebrüder Eisinondo in Macaisca
Dampfschiffahrts-Gesellschaft
Istria-Trieste in Triest
Dampfschiffahrts-Gesellschaft
Negri & Comp, in Sebenico
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kl. K. . . 4
gr. K. . . 1
kl. K. . . 6
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19.147
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10.661
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2.000
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1.506
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418
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Die Entwicklung der österreichischen Handelsmarine.
391
Schiffahrtsgesellschaft, Eheder
"Weite Fahrt
grosse \ Küsten-
kleine / fahrt
Tonnengehalt
Brutto
Netto
Bemannung
indicierte
Pferde-
kräfte
Dampfschiffahrts-Unternehmung
Gravosa-Metkovic
Capodistrianer Dampfschiffahrts-
Gesellschaft
Zaratiner Dampfschiffahrts-
Unternehmung in Zara
Schiffahrts-Unteniehmung Lorenz
Eosso und Genossen in Pirano
Dampfschiffahrts-Gesellschaft
Trieste-Muggia
Lagunen-Dampfschiffahrts- Gesell-
schaft Grado-Aquileja in Grado
Dampfschiffahrts- Gesellschaft
Cattaro-Castelnuovo
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kl. F.
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299
107
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304
153
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243
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1.093
485
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350
285
184
305
175
Den Schiffahrtsverkehr im Haupthafen der Monarchie während der
letzten Jahre stellen nachstehende zwei Uebersichten dar. (Siehe Tabellen
S. 392 und 393.)
Es ist naheliegend, dass die österreichische Flagge selbst den grössten
Antheil an dem Verkehre bildet. Hierauf folgt Italien, dessen Dampfer und
Segelschiffe häufig in Triest erscheinen, ferner England, Griechenland. Deutsch-
land und die Türkei, das sind also im allgemeinen die geographisch nächst-
gelegenen Länder und die beiden grossen, die ganze Welt umspannenden
Seemächte.
Anderwärts gestalten sich die Schiffahrtsbeziehungen nicht sehr leb-
haft; ausser österreichischen, italienischen, französischen, kleinasiatischen,
griechischen und englischen Bestimmungshäfen kommen andere für die aus
Triest abgegangenen Schiffe weniger in Betracht. Nicht erwünscht ist für
den Hafenplatz, dass ziemlich viele Schiffe lediglich in Ballast wieder aus-
laufen, dass also Rückfracht mangelt.
Die Regierung war namentlich in jüngster Zeit^) darauf bedacht, der
Handelsmarine, und zwar sowohl dem Schiffsbaue als auch dem Schiffahrts-
1) Nach dem Kriege zwischen Oesterreich, Frankreich und Sardinien im Jahre 1859,
welcher die österreichische Handelsschiffahrt durch die Ausübung des Seekriegsrechtes
seitens der Alliierten schwer schädigte, tauchte zum erstenmale der Gedanke auf, den
Ehedem einen Vorschuss unter staatlicher Bürgschaft zuzuwenden. Der Gedanke ward
vielfach unterstützt und kam auch tliatsächlith zur Ausführung. Die Nationalbank
392
Lippert.
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394 Lippert.
betriebe selbst Vortheile und Begünstigungen zuzuwenden. Abgesehen von
dem Gesetze vom 30. März 1873, K.-G.-Bl. Nr. 51 und der Ministerial-
verordnung vom 1. Mai 1888, R.-G.-Bl. Nr. 58, betreffend die zollfreie
Behandlung der zum Bau- und zur Ausrüstung von Seeschiffen erforderlichen
Gegenstände, worauf diejenigen Anspruch erheben können, welche den Bau
von Seeschiffen gewerbsmässig betreiben und zu diesem Zwecke bestimmte
Schiffswerften oder Stapel besitzen oder innehaben, ferner dem Gesetze vom
19. Juni 1890, R.-G.-Bl. Nr. 303, welches den im Inlande erbauten Dampfern,
sofern sie ganz aus inländischem Eisen oder Stahl hergestellt wurden, auf
die Dauer von 15 Jahren und rücksichtlich der übrigen auf 10 Jahre vom
Tage der Ausfertigung des Registerbriefes angerechnet, weiters den ganz
aus inländischem Eisen oder Stahl erbauten Segelschiffen auf 15 Jahre
Befreiung des Betriebes von der Erwerbs- und Einkommensteuer gewährte,^)
war das grundlegende Gesetz in dieser Beziehung jenes vom 27. De-
cember 1893, R.-G.-Bl. Nr. 189, welches am 1. Jänner 1894 in Wirksam-
keit trat und durch 10 Jahre in Kraft bleibt. Seinem Titel zufolge bezweckt
es die „Unterstützung der Handelsmarine", und zwar durch Gewährung
staatlicher Betriebs- und Reisezuschüsse an jene nicht über 15 Jahre alten
Dampfer und Segelschiffe, welche während der bezeichneten Geltungsdauer
im österreichischen Schiffsregister für weite Fahrt oder die grosse Küsten-
fahrt eingetragen, dann wenigstens zu -/s Eigenthum österreichischer Staats-
angehöriger sind und die beste Veritasclasse (A I oder 11) besitzen. Der
Betriebszuschuss wird bis zum Ablauf des 15. Jahres vom Tage des Stapel-
laufes an gerechnet, erfolgt und beträgt im ersten Jahre nach dem letzteren
für jede Tonne des Nettoraumgehaltes: 6 fl. für Dampfer aus Eisen und
Stahl, 4 fl. 50 kr. für Segelschiffe aus Eisen und Stahl, 3 fl. für Segelschiffe
aus Holz oder gemischter Construction. Diese Zuschüsse werden mit Beginn
des zweiten Jahres um 5 Proc. derselben jährlich vermindert. Der Betriebs-
zuschuss wird für Schiffe aus Eisen oder Stahl, welche nach dem 1. Jänner
1894 auf inländischen Werften erbaut werden, um 10 Procent und, wenn
sie wenigstens zur Hälfte aus inländischem Materiale hergestellt sind, um
25 Proc. erhöht. Alle am 1. Juli 1893 im Schiffsregister für weite Fahrt
oder für die grosse Küstenfahrt eingetragenen Schiffe, seit deren Stapellauf
mehr als 15 Jahre verstrichen sind, erhielten vom 1. Jänner 1894 an auf
die Dauer von fünf Jahren den Amortisationszuschuss von 1 fl. jährlich für
die Nettotonne Raumgehalt unter der Voraussetzung, dass sie wenigstens die
bewilligte ein Darlehen von einer Million zur Unterstützung der Eheder in Triest, Istrien
und Dalmatien für die Dauer Ton fünf Jahren zu 4 Proc. und die Allerhöchste Ent-
schliessung vom 7. August 1859, welche dies genehmigte, sicherte die Deckung etwaiger
Verluste aus dem Staatsschatze zu. Die Durchführung des ganzen Geschäftes wurde der
Börsendeputation übertragen. Die mit Vorschüssen betheilten Eheder hatten 6 Proc. zu
zahlen; die Vorschüsse durften ^3 ^^^ genau erhobenen Wertes des zu belehnenden
Schiffes nicht übersteigen. Die ganze Operation war von wohlthätigem Einflüsse auf die
Ehederei und wickelte sich ohne irgendwelchen Anstand ab.
^) Staatlicherseits unterstützte Fahrtenbetriebe waren von der Begünstigung aus-
geschlossen.
Die Entwicklung der österreichischen Handelsmarine. 395
Classe B I I beim österreichiscli-ungarischon Veritas ^) oder einer anderen
heimischen Anstalt von gleichem Werte besitzen.
Den Keisezuschuss von fünf Kreuzern für je 100 Seemeilen Fahrt
und jede Nettoraumtonne erhalten Schiffe der erwähnten Art für Keisen
ausserhalb der Grenzen der kleinen Küstenfahrt (Gesetz vom 7. Mai 1879,
K.-G.-B1. Nr. 65 über die Kegistrierung der Seehandelsschiffe) von oder nach
österreichischen Häfen, wenn diese Reisen im Interesse des einheimischen
Handels und Verkehres nicht mit Dampfern neben einer von der Staats-
verwaltung unterstützten regelmässigen Linie unternommen werden.
Endlich wurden alle Seehandelsschifte, vom 1. Jänner 1894 angefangen,
auf die Dauer von fünf Jahren von der Entrichtung der Eiwerbs- und Ein-
kommensteuer befreit, ebenso alle während der Geltungsdauer des Gesetzes
auf inländischen Werften neu erbauten Seehandelsschiffe auf fünf Jahre, vom
Tage der Ausfertigung ihres Registerbriefes angefangen.
Ausgeschlossen von den Begünstigungen dieses Gesetzes sind Schiffe;
a) welche von der Staatsverwaltung bereits gesetzlich unterstützten Unter-
nehmen angehören; h) welche in bestimmten regelmässigen auf Grund eines
Vertrages mit der Postverwaltung stattfindenden Fahrten verwendet werden;
c) welche einem industriellen Unternehmen angehören und von letzterem
nur für die Zufuhr des eigenen Materiales benützt werden.
Für die Unterstützung der Handelsmarine erscheinen in den Staats-
voranschlägen der Jahre
1894 294.000 Kronen 1898 1,066.000 Kronen
1895 294.000 „ 1899 1,302.740 „
1896 308.800 „ 1900 1,400.000 „
1897 668.600 „ 1901 1,400.000 „ eingestellt.
Das Mehrerfordernis des Jahres 1897 wird damit erläutert, dass das-
selbe in der vom Gesetze bezweckten Vermehrung des Standes der Handels-
marine und der ebenfalls eingetretenen grösseren Theilnahme der ein-
heimischen Schiffahrt an dem Verkehre in unseren Häfen begründet sei. Im
Jahre 1900 wird diesbezüglich angeführt, dass der Mehraufwand in dem zu
gewärtigenden Zuwachs neuer Schifte, dem zunehmenden Dampferverkehr
mit den amerikanischen Häfen und der in neuester Zeit sich entwickelnden
unmittelbaren Kohleneinfuhr aus England mittelst österreichischer Schiffe
seine Erklärung finde.
Anfänglich glaubten die Rheder, dass von den Bestimmungen des
Gesetzes hinsichtlich der Dampfer am günstigsten Gebrauch gemacht werden
1) Das Amt des österreichischen Veritas wurde im Jahre 1858 nach dem Vorbilde
des seit 1824 in London bestehenden Lloyd's Register und des französischen Bureau Veritas
(seit 1828) geschaffen, um eine genaue Classification der einzelnen, zum Seehandel ver-
wendeten Schiffe in Bezug auf ihre Tüchtigkeit zu erzielen. Die beim Veritasamte ange-
meldeten Schiffe werden von hiezu bestimmten Sachverständigen untersucht und je nach
ihrer Beschaffenheit in verschiedene Classen eingereiht deren Erfordernisse reglement.
massig festgestellt sind. Die Classificfcrung muss nach einem bestimmten Zeiträume, oder
so oft das Schiff eine Havarie erlitten hat, erneuert werden und dient als Grundlage
beim Abschlüsse der V^ersicherungsverträge.
396 Lippert.
könnte, wenn man schon vorhandene Schilfe zu billigen Preisen erwerbe,
um an Anlagecapital zu sparen. Hiezu wurden sie auch durch den zur selben
Zeit niedern Stand der Preise veranlasst. Im Laufe der Zeit machte sich
aber ein Wandel der Anschauungen geltend. Man lernte an der Hand der
Erfahrung, dass man bei alten Schiffen wegen der Kosten für Ausbesserungen,
Betrieb, höherer Versicherung nicht die richtige Rechnung finde und dass
es weit mehr entspreche, den Erwerb guter neuer Dampfer in Aussicht zu
nehmen. In den letzten Jahren hat man sich ganz diesem Grundsatze zuge-
wendet. Der Kreis jener Capitalisten, welche sich beim Ankaufe von Schiffen
betheiligen, erweiterte sich nun zusehends und insbesondere in der Richtung,
dass sowohl an der Küste bisher der Rhederei fernergestandene Personen
unter den Schiffseigenthümern erscheinen, als auch aus dem Inlande bedeu-
tende Capitalien zufliessen. Dazu kommt noch das in den letzten Jahren
steigende günstige Erträgnis der freien Rhederei, welches eine gute Ver-
zinsung des Capitales abwirft.^) Wenn auch in dieser Beziehung ein Rückschlag
eintreten kann, wie ein solcher im Seefrachtwesen sich zeitweilig und unaus-
weichlich ergibt, so gestatten doch bei richtiger Voraussicht die heutigen
günstigen Verhältnisse eine entsprechende Fürsorge für Zeiten niederer
Ertragsfähigkeit und ist darum, wenn man die Zukunft nicht ausser Auge
lässt, eine empfindliche Krisis wohl vermeidbar.
Man kann unbestritten sagen, dass das erwähnte Gesetz vom 27. De-
cember 1893 eine rettende That für unsere Handelsmarine gewesen ist und
vor allem einen grossen moralischen d. i. belebenden Einfluss geübt hat.
Die Steuerbefreiung hat späterhin eine auf Grund des § 14 des
Staatsgrundgesetzes vom 21. December 1867, R.-G.-Bl. Nr. 141, erlassene
kaiserliche Verordnung vom 27. December 1900, R.-G.-Bl. Nr. 229, auch
für die Zeit vom 1. Jänner 1899 bis zum 31. December 1903 zugestanden
dergestalt, dass der Entrichtung der Erwerbsteuer nach dem Gesetze vom
25. October 1896, R.-G.-Bl. Nr. 220, während dieses Zeitraumes keines der
bereits gebauten Schiffe unterliegt und auch jedem innerhalb dieser Frist
vom Stapel gelassenen Schiffe die fünfjährige Steuerfreiheit zutheil wird.
Nach der älteren Steuergesetzgebung unterlag die Schiffahrt der Erwerb-
beziehungsweise Einkommensteuer. Das Eigenthum am Schiffe als solches
ward hievon nicht berührt. Die Erwerbsteuer betraf den Schiffahrtsbetrieb
und zwar unabhängig davon, ob er thatsächlich einen Gewinn abwarf oder
nicht. Die Einkommensteuer dagegen traf das aus dem Schiffahrtsbetrieb
erzielte Einkommen. Die Erwerbsteuer wurde nach festen, gesetzlich vorge-
sehenen Tarifsätzen unter Berücksichtigung des Betriebsumfanges, der Trag-
fähigkeit der Schiffe und dergleichen bemessen und eingehoben. Rücksichtlich
der Segelschiffe hatte sich in der Praxis die Besteuerung nach dem Tonnen-
gehalte als zweckmässig und im Interesse der Gleichförmigkeit der Steuer
gelegen bewährt. Die Einkommensteuer wurde auf Grund des Durchschnitts-
einkommens der drei Vorjahre, beziehungsweise wenn die Schiffahrt noch
*) 15 — 20 Proc. Die Capitalstilgung geht sonach rasch von statten.
Die Entwicklung der österreichischen Handelsmarine.
397
nicht so lange währte, des kürzeren Zeitraumes und im ersten Betriebsjahr
vom Wahrscheinliclikeits-Einkommen mit 5 Proc. nach Abzug der Erwerb-
steuer, jedoch nie mit einem geringeren Betrage als einem Drittel der
Erwerbsteuer bemessen. Zur Erwerb- und Einkommensteuer wurde noch ein
ausserordentlicher Staatszuschlag eingehoben, welcher, wenn die Erwerb-
und Einkommensteuer zusammen 30 Gulden überstieg, 100 Proc, sonst
jedoch bloss 70 Proc. der Steuer betrug.
Nachstehendes Schema zeigt, wie hoch sich die Erwerb- und Ein-
kommensteuer für Segler mit verschiedenem Tonnengehalte im allgemeinen
belief, und zwar für den Fall, wo die Einkommensteuer mit dem dritten
Theile der Erwerbsteuer vorzuschreiben war:
Tonnengehalt
Erwerbsteuer
Einkommen-
steuer
Zusammen
Staatszuschlag
70 Proc.
Summe
G u 1 d
91 bis 140
141 „ 200
201 „ 280
281 „ 400
1.601 „ 2.000
2.001 u. darüber
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31.50
210 —
315-—
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70 —
105-—
14-
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28-
42-
280-
420--
9-80
14-70
19 60
100 Proc.
42-—
280-—
420- —
23-80
35-70
47-60
84-—
560-—
840-—
Dampfschiffe wurden im Hinblick auf die grössere Ertragsfähigkeit
gegenüber Segelschiffen mit höheren Erwerbsteuersätzen belegt; kleinere
Fahrzeuge, welche eine Erwerbsteuer von nicht mehr als 8 fl. 40 kr. ent-
richteten, waren von der Einkommensteuer befreit. Ein Unterschied in der
Steuerbehandlung in- und ausländischer Schiffe wurde nicht gemacht. Mit
Rücksicht auf die geringe Ertragsfähigkeit des Schiflfahrtsbetriebes und in
Anbetracht des schlechten Geschäftsganges war man jedoch in den letzten
Jahren vor dem Gesetze vom 27. Deceraber 1893, R.-G.-Bl. Nr. 189, häufig
weit unter die oben dargestellten Steuerziffern heruntergegangen und hat
vom Erwerb- und Einkommensteuer-Ermässigungsrechte weitgehendsten Ge-
brauch gemacht.
Betreffs Besteuerung der Schiffahrtsunternehmungen, soweit sie nicht
nach den gegenwärtigen gesetzlichen Bestimmungen befreit sind, wären nach
der neuen Steuergesetzgebung folgende Punkte ins Auge zu fassen:
Eine zur öffentlichen Rechnungslegung verpflichtete Actiengesellschaft
unterliegt der Erwerbsteuer nach dem zweiten Hauptstücke des Gesetzes
vom 25. October 1896, R.-G.-Bl. Nr. 220, und zwar im allgemeinen im
Ausmaasse von 10 Proc. des steuerpflichtigen Reinertrages (beziehungsweise
im Interesse eines entsprechenden Gesammterträgnisses der directen Personal-
steuern vorläufig noch 10^/3 Proc, § 100, Absatz 5), jedoch nicht mit
weniger als eins vom Tausend des gesammten Anlagecapitales. Schiftahrts-
Zeitscbrift für Volks Wirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. X. Band.
27
398
Lippert.
unternehmen, welche als offene Gesellschaften oder Commanditgesellschaften
zustande kommen, zahlen die Erwerbsteuer nach dem ersten Hauptstücke
des bezogenen Gesetzes, ebenso Vereinigungen von Ehedem ohne solche
Rechtsform, oder einzelne Kheder. Hiebei ist (gemäss § 33) die mittlere
Ertragsfähigkeit von der Erwerbsteuercommission in freier Würdigung aller
erhobenen, oder ihr sonst bekannten maassgebenden Verhältnisse, insbesondere
der wesentlichen Merkmale des Betriebsumfanges zu beurtheilen. Unter
Anwendung des zu § 32 gehörigen Schemas B enthaltend die bei der Ver-
anlagung der allgemeinen Erwerbsteuer anzuwendenden Steuersätze gestalten
sich die Steuervorschreibungen für die oben erwähnten Segelschiffe etwa
mit 48, 72, 100, 160 . . . .1160, 1640 Kronen vorbehaltlich des Repar-
titions-Zuschlages oder -Abschlages.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Maassnahmen der Gesetzgebung
zur Unterstützung der Handelsmarine fördernd und anregend auf den hei-
mischen Schiffbau gewirkt haben, dessen Leistungen in den letzten zehn
Jahren folgende Zusammenstellung veranschaulicht:
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Anzahl
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19
19
21
19
18
17
17
20
18
18
26
27
25
28
26
24
24
25
23
20
21
11
211
8.526
16
11
263
3.339
8
5
204
7.560
14
4
242
2.380
13
7
263
6.201
10
9
381
2.416
12
7
355
11.313
19
8
298
4.088
26
15
362
11.962-5
20
7
161
14.406
3,207.440
1,561.394
3,118.352
774.160
3,559.430
1,356.886
4,966.722
1,761.012
4,826.760
5,528.320
96
94
163
129
145
112
138
93
80
66
160
148
137
101
151
97
124
147
148
160
497
276
394
380
297
296
304
328
353
312
151.240
145.289
175.846
163.944
213.859
157.660
193.977
174.658
264.210
249.124
5,284.696
5,479.484
4,136.346
3,851.870
4,133.334
3,782.106
3,809.280
3,934.000
3,859.206
3,818.945
3.422
3.555
3 637
4.055
4.017
4 450
3.337
4.563
4.719
4.840
Das Verhältnis von Cantieri- Werften und Squeri-Schiffsbauplätzen, welche
sich lediglich durch ihre Grösse unterscheiden, indem auf ersteren Schiffe
von 200 Tonnen Tragfähigkeit aufwärts gebaut werden, blieb so ziemlich
gleich. Die Zahl der Squere nahm naturgemäss etwas ab, seit der Bau
grösserer Fahrzeuge mehr und mehr durchgreift. Die bedeutendsten Werften
besitzen das Lloydarsenal und das Stabilimento tecnico in Triest. dann der
Rheder Martinolich in Lussin; kleinere Schiffsbauplätze befinden sich
in Capodistria, Isola, Porto Rose, Grado, Rovigno, Cittanuova, auf der Insel
Lussin, in Zara, dann im Bezirke von Spalato und Ragusa. Sie beschäftigen
Die Entwicklung der österreichischen Handelsmarine. 399
zuweilen vorübergehend noch mehr Arbeitskräfte, als in dem Ausweise
angegeben wurden. Der Umfang der Neubauten war namentlich in den letzten
Jahren ein ganz ansehnlicher, wie aus den Ziffern des Gesammttonnengehaltes
augenfällig hervorgeht und dann auch in dem erheblichen Gesammtschätzungs-
werte ^) zum Ausdrucke gelangt. Es befinden sich unter den Schiffen übrigens
auch solche, die für auswärtige Kechnung gebaut, sonach nicht unserer
Handelsmarine einverleibt wurden. Die Ausbesserungsarbeiten sind wohl der
Menge, nicht aber dem Werte nach gewachsen, in letzerer Hinsicht viel-
mehr zurückgegangen. Diese Erscheinung ist das nothwendige Gegenstück
zur Vermehrung und Erneuerung der Handelsflotte.
Es dürfte hier am Platze sein, eine das Alter der Handelsfahrzeuge
darstellende üebersicht einzufügen. (Siehe Tabelle S. 400.)
Nur für die kleine Küstenfahrt werden noch sehr alte Fahrzeuge ver-
wendet, vorwiegend dem Typus kleinerer Segler angehörig und zumeist wohl
auch durch lange Zeit als Erwerbsmittel einer Schifferfamilie von Geschlecht
zu Geschlecht vererbt.
Die Dampfer weiter Fahrt der letzten zwei Jahrzehnte — von den
27 Stück früher gebauten und sicherlich nach und nach bald ausgeschiedenen
kann füglich abgesehen werden — weisen ein Durchschnittsalter von sieben
Jahren auf.
Bezüglich des Abstossens der Dampfer muss darauf Bedacht genommen
werden, dass mehrfache Wandlungen im Schiffbau stattgefunden haben von
einer Neuerung zur andern, von einer Verbesserung zur andern. Der üeber-
gang vom alten zum neuen System könnte jeweils nicht sofort eintreten,
ohne beträchtlichen Nachtheil für die Ehedereien.
Der Stand der österreichischen Handelsmarine (Triest sammt Gebiet,
Istrien und die quarnerischen Inseln, Görz-Gradisca und Dalmatien) ^) hat
sich überhaupt von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wesentlich verändert. (Siehe
Tabelle S. 401.)
^) Bei der Schätzung gelangen folgende Maasstäbe zur Anwendung:
Für eiserne Ead- oder Schraubendampfer bis 100 Brutto -Kegistertonnen je
340 Kronen, für hölzerne Dampfer 360 Kronen; für eiserne Ead- oder Schraubendampfer
von 100 — 500 Brutto-Kegistertonnen je 280 Kronen, für hölzerne Dampfer 340 Kronen
für eiserne Ead- oder Schraub endampfer von 500 — 1000 Brutlo-Eegistertonnen je
220 Kronen, für hölzerne Dampfer 820 Kronen; für eiserne Ead- oder Schraubendampfer
über 1000 Brutto-Eegistertonnen je 200 Kronen, für hölzerne Dampfer 280 Kronen.
Maschinen und Kessel werden besonders und zwar mit 200 Kronen für jede indicierte
Pferdekraft berechnet. Bei Passagierdampfem kommt die Ausstattung noch eigens in
Anschlag.
Eiserne, unter Ueberwachung des Veritas gebaute, erstclassige Segelschiffe werden
mit 280 Kronen für jede Brutto-Eegistertonne bewertet; Segelschiffe aus Eichenholz je
nach Verwendung von Kupfer- und Eisenbeschlag u. s. w. mit 260, 240, 230, 210 Kronen
für eine Brutto-Eegistertonne; Trabakel, Brazzeren u. s. w. mit 190 Kronen für eine
Brutto-Eegistertonne.
2) Von 1866 angefangen, entfällt das venetianische Küstenland im Ausweise.
27*
400
Llppert.
Schiffs-Gattung
Baujahr
1811
bis
1860
1861
bis
1870
1871
bis
1880
1881
bis
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1886
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1890
1891
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137
135
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1.483
Die Entwicklung der österreichischen Handelsmarine.
401
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402
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Die Schlüsse, welche diese allgemeine Uebersicht nahelegt, sind zwecks
genauerer Erfassung der thatsächlichen Erscheinungen noch unter folgende
Gesichtspunkte zu stellen: Man muss zwischen dem österreichischen Lloyd
und den andern Rhedereien und bei letzteren wiederum zwischen der Epoche
der Segelschiffahrt und jener unterscheiden, in welcher der Dampf das
Uebergewicht erlangt hat. Ausserdem erscheint es nothwendig, die Kategorien
der Schiffahrt auseinanderzuhalten.
Was zunächst die Segel Schiffahrt anbetrifft, so hat sie ehemals eine
ganz erhebliche Rolle gespielt und erfreute sich in den 50er Jahren des
abgelaufenen Jahrhunderts einer für die Rhederei günstigen Blüthe, die etwa
zur Zeit des Krimkrieges den Höhepunkt erreicht haben mag. Dann aber
verlor sie im Verkehre in den heimischen Häfen mehr und mehr an Gebie-
und begegnete im internationalen Zwischenverkehre dem durch die Dampf-
schiffahrt gesteigerten Wettbewerbe. Es folgte ihr unaufhaltsamer Rückgang
und man kann sich angesichts der schlagend beweisenden Ziffern der An-
schauung nicht mehr verschliessen, dass die Zeit der Segelschiftahrt für die
österreichische Marine vorüber sei.
Die Entwicklung der weiten Dampfschiffahrt — ohne Lloyd — hat
seit dem 1. Jänner 1894, dem Zeitpunkte in welchem das Gesetz vom
27. December 1893 über die Unterstützung der Handelsmarine in Kraft
trat, folgenden Verlauf genommen:
Ende
Zahl
der Dampfer
Eegister-
Tonnengehalt
1893 ... 13
10.259
1894
13
10.924
1895
17
18.537
1896
28
31.724
1897
36
52.035
1898
39
62.278
1899
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65.901
1900
51
91.408
Abgang
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5
7
10
11
Zuwachs
1
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10
11
22
Der Abgang ergab sich zumeist durch Verkauf von Schiffen an fremde
Flagge, in einigen Fällen auch durch Schiffbruch oder Brand.
Von den 1900 vorhandenen 51 Dampfern gehörten 6 der Rhederei
Austro-Americana in Triest, 5 der Rhederei Eredi C. Cav. Gerolimich & Comp,
in Lussinpiccolo, 11 der Rhederei Fratelli Cosulich in Triest, 5 der Rhederei
T. Cossovich in Triest, 4 der Rhederei Marinovich in Ragusa (s. g, Napried.
Consortium), 3 dem Rheder G. Racich in Ragusa, die übrigen verschiedenen
andern Rhedereien an.
Die Anzahl der Theilhaber (Caratbesitzer)^) wechselt bei den verschie-
denen Dampfern derart, dass an den einzelnen Dampfern der von demselben
Leiter geführten Rhederei nicht immer die gleichen Theilhaber interessiert sind.
*) Die Theilung geht bis ins Unglaubliche, sogar bis über 200 Mitbetheiligte an
dem Eigenthuxne eines Schiffes.
Die Entwicklung der österreichischen Handelsmarine.
403
Es ist sicher eine bedeutsame Erscheinung, dass heute die Khederei
der weiten Fahrt an Schilf szahl nahezu den Lloyd erreicht hat, welcher
Ende 1900 54 Dampfer weiter Fahrt mit 94.214 Tonnen registriert hatte.
In der grossen Küstenfahrt sind die Aenderungen von minderem
Belange, weil man es vorzieht, Dampfer welche nicht für bestimmte Fahrten
beschränkter Ausdehnung ausschliesslich verwendet werden, für weite Fahrt
zu registrieren, um je nach Lage der Conjunctur freie Hand zu haben.
Deshalb erscheinen im Register der grossen Küstenfahrt nur jene
Lloyddampfer, welche die adriatischen Linien bedienen und höchstens noch
auf einer Levantiner Linie ausnahmsweise eingestellt werden können; ebenso
lassen die anderen Rhedereien nur die zu regelmässigen Fahrten in der
Adria bestimmten Dampfer eintragen.
Ueber die Bewegung der Dampfer grosser Cabotage gibt folgende
Tabelle Auskunft; es waren vorhanden
Oesterreichischer Lloyd
Dampfer R. -Tonnen
16 mit 6.543
Andere Ehedereien
Dampfer R.-Tonnen
9 mit 1.898
1893 .
1894 .
1895 .
1896 .
1897 .
1898 .
1899 .
1900 .
Die Anzahl der Lloyddampfer nahm ab, weil man infolge des neuen
Hafengebürengesetzes vom 21. Febiuar 1897 ^) die nur an der österreichischen
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5.899
14
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3.753
^) § 2. Die Pflicht zur Entrichtung der Hafengebür tritt in dem Augenblicke ein,
in welchem das Schiff die Handelsoperation beginnt.
§ 6. Einheimische und diesen gleichgestellte fremde Dam'pfer zahlen für jede Netto-
tonne folgende Gebüren:
a) wenn sie aus dem Auslande kommen und in demselben Kalenderjahre
von der ersten und zweiten Reise einlaufen 40 kr.;
„ „ dritten und vierten „ „ 30 kr. ;
„ „ fünften und jeder ferneren Reise einlaufen . 20 kr.;
b) wenn sie aus dem Inlande kommen, ohne Unterschied der Reihenfolge des Ein-
laufens 15 kr.
Dampfer, welche eine dieser Gebüren bezahlt haben, sind 20 Tage, vom Tage des
ersten Einlaufens an gerechnet, für welches die Gebür entrichtet wurde, in allen inlän-
dischen Häfen, Rheden und an allen anderen Punkten der Seeküste gebürenfrei, voraus-
gesetzt, dass sie während dieser Zeit keinen ausländischen Hafen berühren, beziehungs-
weise dass die unter a) erwähnten Dampfer zwischen inländischen Häfen, Rhedeu u. s. w.
keinen Verkehr vermitteln.
§ 8. Einheimische und diesen gleichgestellte fremde Dampfer, welche ausschliess-
lich zwischen inländischen Häfen, Rheden u. s. w. verkehren und ausländische Häfen
nicht berühren, können für ein Kalenderjahr von der Entrichtung der im § 6 festgesetzten
Hafengebüren befreit werden, falls dieselben für jede Nettotonne bei einem Raumgehalte
bis 100 Nettotonnen den Betrag von 50 kr., bei einem solchen über 100 Nettotonnen
den Betrag von zwei Gulden bezahlen.
404
Li'iJpert.
Küste verkehrenden Schiffe in das Kegister der kleinen Schiffahrt über-
schreiben Hess, während dagegen bei den anderen Khedereien die regel-
mässigen Fahrten längs unserer Küste sich vermehrt haben. Die kleine
Dampfercabotage hat die kleinen Segler, welche einst fast ausschliesslich
den Verkehr zwischen Orten geringerer Bedeutung vermittelten, sehr zurück-
gedrängt.
Die Leistungsfähigkeit unserer Handelsmarine in der weiten Fahrt,
welche für den grossen Verkehr^) allein Ausschlag gibt, stellt sich nun in
folgendem Zahlenbilde (runde Ziffern) dar, wobei der Kegister-Tonnengehalt
als Maasstab gelten und das Verhältnis der Dampfer- zur Segeltonne wie
372^1 angenommen^) sein soll:
Segler
Dampfer der Rhedereien ohne Lloyd
Lloyd
Zusammen . . .
Register-Tonnen am Ende des Jahres
1900
1890
13.000
320.000
329.000
62.000
14 000
24.5.000
662.000
321.000
1880
154.000
2.600
214.000
370.600
^) Nach dem Lloyd's-Register-ßook bestand die Welthandelsflotte am 1, Jänner 1901
aus 28.422 Schiffen mit einem Gesammttonnengehalt von 29,043.728 Tonnen. Hievon
besassen England und seine Colonien die Hälfte, die anderen Staaten zusammen die andere
Hälfte. Nach der Leistungsfähigkeit reihen sich die Mächte, wie folgt:
Grossbritannien 10.838 Schiffe mit 14,261.254 Tonnen
Vereinigte Staaten von Nordamerika 3.135 „ „ 2,750.271 „
Deutschland 1.710 „ „ 2,650.033 „
Norwegen 2.380 „ „ 1,640.812
Frankreich 1.214 „ „ 1,350.562
Italien 1.176 „ „ 983.855
Spanien 599 „ „ 684.780
Schweden 4.433 „ „ 637.272 „
Japan 1.066 „ „ 574.557
Holland 408 „ „ 530.278
Dänemark 802 „ „ 519.014 „
Oesterreich-Ungarn 270 „ „ 416.084
Griechenland 869 „ „ 245.094
Brasilien 332 „ „ 163.087
Belgien 117 „ „ 162.913
'Türkei 305 „ „ 143.400
Poitugal 304 „ „ 111.055
Chili 127 „ „ 110.978
England besitzt 1600 Dampfer mit je mehr als 3.000 Tonnen, Deutschland hat
deren 127, die Vereinigten Staaten 120, Frankreich 60.
2) Man kann annehmen, dass ein Dampfer, weil weniger abhängig von Wind und
Seegang und durch Maschinenkraft viel rascher bewegt, in derselben Zeit drei- bis vier-
mal so oft dieselbe Reise hinterlegen kann wie ein Segelschiff.
Die Entwicklung der österreichischen Handelsmarine. 405
Solche Ziffern sind ein klarer und beredter Beweis des stattgehabten
Aufschwunges und Fortschrittes. ^)
Dieser grosse, beinahe zwei Jahrhunderte umfassende Ueberblick möge
gezeigt haben, aus wie bescheidenen Anfängen unsere Handelsmarine entstand,
aus welchen Grundbedingungen sie hervorwuchs, welche Elemente ihr förder-
sam sind und was naturgemäss aus ihr heraus entwickelt werden kann. Es
soll keine künstliche Ernährung stattfinden; was nicht festgefügt ist, vermag
— bildlich und natürlich gesprochen — den Stürmen auf die Dauer nicht
zu widerstehen. Mit gutem Grund jedoch ist, anknüpfend an vor einem
Vierteljalirhundert gesprochene Worte, ^) die Behauptung gestattet, dass
unsere Marine seither eine gedeihliche Entwicklung genommen habe, dass
eine breite, feste Grundlage für den weiteren Ausbau geschaffen ist. Und
in diesem Sinne soll der 1861 gethane Ausspruch des K. u. k. Viceadmirals
und nachmaligen Handelsministers Freiherrn v. Wüllerstorf-Urbair
die vorliegende Skizze beschliessen: „Wir besitzen einen Handelsstand, eine
Handelsflotte, eine Industrie, die nur äusserer Anregung bedürfen, um Grosses
zu leisten."
^) In einem in der Verkehrs- und Industriezeitnng zu Nr. 13.107 der „Neuen
Freien Presse" vom 19. Februar 1901 erschienenen Aufsatze tritt der vormalige Präsident
der Seebehörde E. Becher „den vielen, immer wiederkehrenden und nie überprüften
Behauptungen von dem Untergänge der österreichischen Handelsmarine" mit aller Ent-
schiedenheit entgegen. Obige Ziffern sind diesem Aufsatze entnommen.
-) Ernst Becher, die österreichische Seeverwaltung 1850—1875, aus dem Schluss-
wort; „Wenn nach abermals tünfundzwanzig Jahren, an der Wende des Jahrhundertes,
der Faden dort aufgenommen werden sollte, wo wir ihn heute beendeten, dann möge
der künftige Berichterstatter von der steigenden Bliithe und dem segensreichen Gedeihen
dieser Marine und von der Sorgfalt erzählen können, welche die Seeverwaltung unver-
drossen ihr zuwendete."
DIE ÖSTERREICHISCHE SEEMANNSORDNUNG.
VOM
DR- MILLANICH.
Das Herrenhaus hat in seiner Sitzung vom 25. Mai 1. J. den Kegierungs-
entwurf einer Seemannsordnung mit den von der Specialcommission, vorgeschlagenen
wenigen wesentlichen, das Verhältnis zu Ungarn nicht tangierenden Aenderungen
angenommen.^)
Der Gesetzesentwurf ist — könnte man sagen — in historischer Beziehung
ein legislatosriches Curiosum; er soll entsprechende Normen aufstellen für ein
Gebiet, auf welchem derzeit trotz der vielen seither eingetretenen Wandlungen
im Seeverkehre — noch ein über 125 Jahre altes Gesetz, das Editto politico di
navigazione, als Grundgesetz nebst vielen schwer übersehbaren Kegierungs-
verordnungen und Verfügungen Geltung hat; derselbe hat aber selbst, als Embryo
in beinahe allen seinen wesentlichen Bestimmungen, das für einen Embryo
respectable Alter von ungefähr 15 Jahren und soll nun endlich, von allen
Seemannskreisen sehnlichst erwartet, zu lebensfähiger Existenz gelangen, Gesetzes-
kraft erhalten.
In Anlehnung an die deutsche Seemannsordnung vom Jahre 1872 verfasst,
wurde ein dem gegenwärtigen mit geringen Varianten gleicher Entwurf im
Jahre 1886 im österreichischen Abgeordnetenhause eingebracht und mit einigen
Aenderungen im Jahre 1889 in dritter Lesung angenommen, jedoch, mangels
Erledigung desselben im ungarischen Abgeordnetenhause, der Schlussfassung des
österreichischen Herrenhauses nicht unterzogen. Im Jahre 1891 und dann im
Jahre 1896 wurde der Entwurf mit wenigen vom österreichischen einvernehmlich
mit dem ungarischen Ministerium vorgeschlagenen Aenderungen der vom öster-
reichischen Abgeordnetenhause im Jahre 1889 vorgeschlagenen Fassung im
österreichischen Abgeordnetenhause wieder eingebracht, in dieser Fassung vom
ungarischen Abgeordnetenhause angenommenen, konnte aber im österreichischen
Abgeordnetenhause wegen des bekannten Stillstandes der Action dieses Hauses
nicht erledigt werden. Schliesslich wurde der Entwurf Anfangs dieses Jahres
von der Regierung im Herrenhause eingebracht, und wird nun in der von
letzterem beschlossenen Fassung dem Abgeordnetenhause unterbreitet werden.
') Der Text der Seemannsoidnung folgt im nächsten Hefte.
Die österreichische Seemannsordnung. 407
Bezüglich des Verhältnisses zu Ungarn ist in Ansehung dieses Gesetzes
hervorzuheben, dass die einvernelimliclie Behandlung dieses Gegenstandes
auf dem Artikel VI des Zoll- und Handelsbündnisses beruht, demzufolge die
Ausübung der Seeschiffahrt beider Ländergebiete nach gleichen Normen und
überhaupt in möglichst übereinstimmender Weise erfolgen soll. Die Seehandels-
schiffe beider Theile führen die vorgeschriebene gemeinsame Flagge, die Schiffe
beider Theile geniessen in beiden Ländergebieten die gleiche Behandlung; die
Qualificationscertificate der Seeleute sind in beiden Ländergebieten an die gleichen
Bedingungen geknüpft und haben die gleiche Giltigkeit; in beiden Ländergebieten
soll ein gleiches Privatseerecht in Anwendung kommen. Dass diese gleichartige
Behandlung der in Kede stehenden Gegenstände auch dem beiderseitigen Interesse
dieser Ländergebiete entspricht, von demselben postuliert wird, bedarf wohl keiner
näheren Begründung.
Das in Rede stehende Gesetz regelt indessen nur einen beschränkten Theil
von seerechtlichen und seepolizeilichen Verhältnissen; dasselbe normiert: 1. die
verschiedenen Eangeigenschaften der Seeleute und die dafür erforderlichen
Befähigungsnachweise, 2. die Art und Weise des Eintrittes in das Dienst-
verhältnis und die Evidenzhaltung der Dienstverhältnisse, 3. die meritorischen
Bestimmungen über das Dienstverhältnis selbst in disciplinären, in privat- und in
strafrechtlicher Beziehung, endlich 4. die für die Ueberwachung und die Rechts-
sprechung in diesen Beziehungen competenten Behörden und das bezügliche Verfahren.
Es gibt nun eine grosse Menge wichtiger, das Seewesen betreffender
Materien privat-öffentlichrechtlicher und administrativer Natur, welche ausserhalb
des Rahmens des in Rede stehenden Gesetzes liegen, und noch einer erschöpfenden
systematischen Regelung bedürfen — beispielsweise die Stellung des Schiffers im
allgemeinen, dessen Verhältnis zum Rheder, zum Schiffseigenthümer und zum
Staate, die Vorschriften über die erforderliche Bemannung und zulässige Belastung
der Schiffe, über Hafenplätze, Schiffbrüche, über das Rettungs- und Lotsenwesen,
über Stellenvermittlung für Schiffsleute, über Unfallversicherung zur See u. dgl. m. —
Materien, M^elche vielfach in ausländischen Seegesetzgebungen — so im italienischen
Gesetze für die Handelsmarine, im französischen, im schwedischen, im norwegischen
Seegesetze geregelt sind.
Wenn die Regierung sich zunächst auf das obenbezeichnete Gebiet der
Seemannsordnung beschränkt hat, und die systematische Regelung der sonstigen
das Seewesen betreffenden Materien späterer Vorlagen, die sich zum Theile schon
in der Ausarbeitung befinden sollen, vorbehalten hat, nicht alles in einem Gesetze
zusammenfassen wollte, so ist dies wohl damit zu rechtfertigen, dass zunächst
auf dem Gebiete der Seemannsordnung das Bedürfnis nach einer Reform besteht
und am dringendsten sich kundgegeben hat; eine alle Materien umfassende
Gesetzesvorlage aber die Reform auf diesem Gebiete in eine weite Ferne hinaus-
schieben würde. Rascher Wandel ist hier unaufschiebbar, und es Messe wohl das
Bessere zum Feind des Guten machen, wollte man diese Theilarbeit zurückstellen,
um die Vorlage des Totaloperates abzuwarten.
Im grossen und ganzen übersehen, besteht das Markanteste und Charakte-
ristische in dem vorliegenden Entwürfe
408 Millanich.
a) in der Hervorliebung der Schiffer, der Schiffsofficiere und Scliiffsunter-
officiere gegenüber der übrigen Schiffsmannschaft und in der Anforderung
einer b e stim mte n theoretischen und praktischen, durch
Prüfungen docu montierten Ausbildung der ersteren ;
h) in Bestimmungen, wornach der Eintritt und Austritt der Schiffsmannschaft
in den Seedienst unter staatlicher Intervention und Controle erfolgt, und
eine ständige Evidenzhaltung der Dienstverhältnisse gesichert ist;
e) in zum Schutze der Schiffsleute, als der wirtschaftlich Schwächeren, nor-
mierten Beschränkungen der Vertragsfreiheit und in der Aufstellung klarer
gesetzlicher Bestimmungen für Fälle, wo contractliche fehlen;
d) in der mit Rücksicht auf die Wichtigkeit des Dienstes und die aus Pflichten-
verletzungen sich ergebenden schweren Folgen angemessenen Regelung der
disciplinären und strafrechtlichen Verhältnisse.
In Betreff des I. und des II. Ab s ch n itte s des Gesetzes, welche die
Bestimmungen enthalten, auf welche Schiffe das Gesetz Anwendung findet, welche
Aemter zur Handhabung der Seemannsordnung berufen sind (im Inlande die
Hafenämter, im Auslande die Seeconsulatsämter), welche Personen zur Schiffs-
mannschaft, welche von diesen zur Kategorie der Schiffsofficiere, welche zu der
der Schiffsunterofficiere gehören, welche Qualificationen für diese letzteren
erforderlich sind, verdient Folgendes hervorgehoben zu werden.
Namentlich mit Rücksicht auf die grosse Entwicklung, welche auch der
Seeverkehr genommen hat, und mit Rücksicht darauf, als die Dampfschiffahrt die
Segelschiffahrt und die grossen schwerer lenkbaren und grössere Güter und
Menschenmengen transportierenden Schiffe die kleinen Schiffe zurückdrängen,
erscheint es geboten, wie es in dem Gesetze geschieht, dass für die Erlangung
der Qualification der Eigenschaften eines Schiffers (Capitän), sowohl der kleinen
als der grossen Küstenfahrt und der weiten Fahrt dann für die Erlangung
der Eigenschaft als Steuermann, Schiffsmaschinist nebst einem bestimmten Alter,
eine Praxis von bestimmter Dauer und ^-ewisse Prüfungen, für die Eigenschaft als
Bootsmann und Maschinenwärter ebenfalls eine gewisse praktische Ausbildung
und eine mit Erfolg abgelegte Prüfung verlangt wird. Die Feststellung der
Gegenstände dieser Prüfungen und die Art der Ablegung derselben muss dem
Verordnungswege vorbehalten bleiben, nachdem in dieser Richtung locale Ver-
hältnisse und eintretende Aenderangen in den technischen Verhältnissen von
Einfluss sind und daher hiefür generelle, auf lange Geltung reflectierende
Gesetze nicht erlassen werden können. — Wenn auch den erwähnten Erforder-
nissen entsprochen wird, kann nach dem Gesetze (§ 17) die Zuerkennung der
Eigenschaft eines Schiffers, Schiffsofficiers oder Schiffsunterofficier verweigert
werden, wenn der betreffende Seemann wegen eines Verbrechens, eines Vergehens
oder einer üebertretung rechtskräftig verurtheilt wurde und sich aus dem That-
bestande der strafbaren Handlung begründete Zweifel rücksichtlich der Fach-
kenntnisse oder der Vertrauenswürdigkeit derselben ergeben. Mit diesem Erforder-
nisse der vorhandenen Vertrauensunwürdigkeit, damit die in Rede stehenden
Rangseigenschaften verweigert werden können, ist der billigen Rücksicht Rechnung
getragen, dass nicht jemandem, der eine strafbare Handlung begangen hat, die
Die Osterreichische Seetnannsordnung. 409
seine Vertrauenswürdigkeit nicht tangiert, jene Ilangseigenschaften versagt werden
können. Ausserdem ist die Zulässigkeit der Verweigerung bei Uebertretungen auf
die Dauer von 6 Monaten, vom Zeitpunkte der überstandenen Strafe an gerechnet,
beschränkt.
Gegenüber den Bestimmungen des italienischen Gesetzes für die Handels-
marine in Betreff der erforderlichen Qualificationen findet man, dass das italienische
Gesetz, was das Alter anlangt, etwas strengere Bestimmungen hat, während
rücksichtlich der theoretischen und praktischen Ausbildung und der geforderten
Prüfungen das österreichische Gesetz strenger erscheint. Beides ist erklärlich.
Unsere Volksstämme, die sich dem Seedienste widmen, insbesondere die anerkannt
besten Matrosen, die Dalmatiner, sind im allgemeinen körperlich kräftiger ent-
wickelt und daher in einem früheren Alter zum Seedienst tauglich; die Schul-
ausbildung dürfte in unseren Ländern namentlich gegenüber dem Süden von
Italien, auf welchen das italienische Gesetz Kücksicht nehmen musste, eine solche
sein, die grösseren Ansprüchen genügt.
In der Commission wurden auch die misslichen Verhältnisse zur Sprache
gebracht, die sich für Aspiranten auf Capitäns- und Lieutenantsstellen daraus
ergeben, dass, um zur Capitäns- beziehungsweise Lieutenantsprüfung zugelassen
zu werden, der Nachweis erforderlich ist, dass der Candidat einen Theil der Zeit
seiner Einschiffung und zwar der Candidat für die Charge eines Capitäns in der
Eigenschaft als Lieutenant auf einem Segelschiff zugebracht habe. Die Erfüllung
dieser Bedingung wird bei dem immer mehr fortschreitenden Kückgange
der Segelschiffahrt von Jahr zu Jahr für diese Aspiranten schwieriger und eine
nicht kleine Anzahl absolvierter nautischer Schüler und Mercantillieutenants
bewirbt sich stets vergeblich um die Einschiffung auf Segelschiffen. Das
Zugeständnis, den Einschiffungsdienst auch auf fremden Segelschiffen ableisten zu
dürfen, brachte keine fühlbare Abhilfe, da bei den fremden Schiffen üeberzahl
an nationalen Candidaten besteht, und fremde Schiffe vielfach die Aufnahme
nicht nationaler Seeleute verweigern. Die Commission glaubte es der Regierung
nahelegen zu sollen, diesen Schwierigkeiten in angemessener Weise, sei es im
Wege der Einführung zulässiger Erleichterungen oder Einschränkungen in der
Ableistung des Segelschiffdienstes oder sonstiger zweckmässiger Einrichtungen
(Subventionen an Schiffseigenthümer oder Kheder für Aufnahme von solchen
Aspiranten auf Segelschiffen) zu begegnen.
Im III. Abschnitte, welcher die Seedienstbücher und die Musterung
normiert, ist das Minimalalter für die Zulassung zum Seedienste auf das vollendete
12. Lebensjahr fixiert, während nach der deutschen Seemannsordnung das vollendete
14. Lebensjahr gefordert wird. Die niederere Fixierung nach dem österreichischen
Gesetze lässt sich vollends rechtfertigen durch die frühere Reife unserer Küsten-
bevölkerung gegenüber der Küstenbevölkerung des Nordens, aus welcher sich die
Seemannschaft im grossen und ganzen recrutiert. Es muss freudig begrüsst
werden, dass nach diesem Abschnitte sowohl der Eintritt, als der Aus-
tritt aus dem Seedienste unter staatlicher Intervention und
unter persönlicher Anwesenheit des Schiffsmannes erfolgen soll. Es hat dies den
grossen Vortheil, dass die intervenierende Seebehörde darüber wachen kann, dass
410 Millanich.
erstens klare Vertragsbestimmungen und zweitens, dass nicht solche Vertrags-
bestimmungen getro£fen werden, welche contra legem sind. Dass ferner die
wesentlichen Vertragsbestimmungen sowohl in das Seedienstbuch (das Docuraent
des Schiffsmannes) als in die Musterrolle (das Document des Schiffes) eingetragen
werden, liefert eine Gewähr, dass ein Streit darüber, was contractlich festgestellt
wurde, nicht leicht vorkommen kann. — Das Dienstbuch ist für den Schiffsmann
der Pass, dasselbe berücksicht auch die sonstigen Verhältnisse, z. B. Schul- und
Wehrpflicht, welche in administrativer Beziehung zu beachten sind. Dass während
der Reise das Dienstbuch sich in Verwahrung des Schiffers befinden soll, ist nur
eine zweckmässige präventive Maassregel gegen, oft das ganze Schiff gefährdende
Entweichungen. — Dem Seedienstbuche sollten nach Wunsch der Commission des
Herrenhauses auf Grund einer entsprechenden Verordnung auch ein Abdruck der den
Schiffsmann betreffenden disciplinären und strafrechtlichen Bestimmungen bei-
gegeben werden, und sollten diese letzteren auch sonst auf dem Schiffe in für
jedermann leicht zugänglichen Abdrücken aufliegen.
Der IV. Abschnitt behandelt das Vertragsverhältnis der Schiffsmann-
schaft. — Das Charakteristische der bezüglichen Bestimmungen wurde im allge-
meinen bereits eben hervorgehoben.
Die Giltigkeit des Vertrages wird nicht, wie in der italienischen Gesetz-
gebung, von der schriftlichen Form abhängig gemacht.
Abgesehen davon, dass in der österreichischen Handelsmarine die münd-
liche Form der Vertragsschliessung die überwiegende üebung ist, könnte ein
praktisches Bedürfnis für die schriftliche Form als ein wesentliches Erforder-
nis des Heuervertrages umsoweniger geltend gemacht werden, als bei der
Anmusterung nicht nur die Verlautbarung des geschlossenen Heuervertrages,
sondern auch dessen Eintragung in die Musterrolle unter behördlicher Intervention
zu geschehen hat (§§ 24, 25), worin die Gewähr gegen nachträgliche Abänderungen
oder etwa nicht zulässige, unklare oder sonst zu Streitigkeiten Anlass gebende
Stipulationen gelegen ist.
Eine Eeihe von Paragraphen bezweckt hauptsächlich die Klarstellung des
Eechtsverhältnisses. § 38 stellt fest, was unter Verheuerung auf die Gesammtreise
was unter Verheuerung auf Zeit — die gegenwärtig in unserer Handelsmarine
übliche — zu verstehen sei, und bestimmt, dass wenn die Verheuerung weder auf
eine Gesammtreise noch auf bestimmte Zeit geschieht, jedenfalls im Heuervertrage
der Umstand klarzustellen sei, bei dessen Eintritt das Dienstverhältnis gelöst
wird. Die § 39 und 40 normieren die Fälle, wo ein Schiffsmann sich verheuert,
obwohl er durch einen früheren Heuervertrag gebunden ist, oder wo ein Schiffs-
mann erst nach Anfertigung der Musterrolle geheuert wird und in Betreff seines
Dienstverhältnisses keine näheren Vertragsbestimmungen getroffen werden.
In den §§ 41 — 47 werden die Verpflichtungen des Schiffsmannes näher
präcisiert; wann er verpflichtet ist, den Dienst anzutreten, die Folgen der Ver-
letzung dieser Pflicht (Recht des Schiffers, den Schiffsmann zu derselben zu ver-
halten, oder vom Vertrage zurückzutreten), Feststellung der Arbeitsdauer, Dienst-
leistung bei Seegefahr, bei der Verklarung (Feststellung von Seeschäden), sowie
der für den Schiffsmann aus dieser Arbeits- und Hilfeleistung entstehenden
Die österreichische Seenaannsorcfnung. 411
Forderungen und Entschädigungsansprüche. — Wenn das Schiif in einem Hafen
liegt, so ist der Schiffsmann nicht verpflichtet länger als 10 Stunden, einschliess-
lich des Wachtdienstes täglich zu arbeiten, wobei jedoch die Zeit für die East
und die Mahlzeiten in die Arbeitszeit nicht eingerechnet wird.
An Sonntagen ist der Schiffsmann im Hafen nur zu unaufschiebbaren
Arbeiten verpflichtet (§ 44). Bei dieser Beschränkung der Arbeitszeit ist der
Gesetzentwurf socialpolitischen Anforderungen noch weiter entgegengekommen als
andere, insbesondere die deutsche Seemannsordnung vom Jahre 1872 und selbst
der neueste deutsche Entwuif einer Seemannsordnung vom Jahre 1900, welcher
in die zehnstündige Arbeitszeit einen zweistündigen Wachtdienst nicht einrechnet,
eine Ueberschreitung dieser Arbeitsdauer in dringenden Fällen zulässt, und die
Beschränkung auf Schiffsofficiere für nicht anwendbar erklärt.
Im Schosse der Commission haben sich Stimmen für die Abänderung des
§ 44 im Sinne der vorgedachten einschränkenden Bestimmung der deutschen
Seemannsordnung mit dem Hinweise ausgesprochen, dass die Statuierung einer
solchen Ausnahme für dringende Fälle in den Rücksichten für den durch
den Schiffahrtsbetrieb zu vermittelnden öffentlichen Verkehr geboten erscheine.
Diese Eücksichten seien es, die ähnlich den bei anderen öffentlichen Verkehrs-
anstalten und Verkehrsgewerben bestehenden Verhältnissen, bei der heutigen
ausserordentlichen Entwicklung des Seeschiffverkehres durch die Seedampf-
schiffahrt es auf diesem Arbeitsgebiete unvermeidlich machen, in Fällen, wo es
sich im Interesse des allgemeinen Personen- und insbesondere des Warenverkehres,
wie beispielsweise beim Löschen und Laden, um unumgängliche und unaufschieb-
bare Arbeiten handelt, die Kräfte der Schiffsmannschaft über die zehnstündige
Arbeitszeit in Anspruch zu nehmen, zumal diese Arbeitszeit nach der Norm des
§ 44 ohnehin durch die Begünstigung der Anrechnung des Wachedienstes als
Arbeit zum Theile reduciert erscheine.
Die überwiegende Mehrheit der Commission erachtete aber sich gegen eine
solche Abänderung des § 44 der Vorlage in der Erwägung aussprechen zu
sollen, dass, abgesehen von der Dehnbarkeit des Inhaltes des Begriffes „dring-
licher Fälle" und der damit verbundenen Zugänglichkeit von Streitigkeiten aller
Art, es hier füglich den freien Vereinbarungen zwischen Schiffer und Schiffs-
mann zu überlassen sei, sowohl das Maass der Inanspruchnahme der Arbeitskraft
des Schiffsmannes über die Maximalarbeitszeit im Hafen wie auch die näheren
Bestimmungen über Art und Maass der Entlohnung für geleistete Ueberstunden-
arbeit entweder im vorhinein oder von Fall zu Fall festzustellen.
Für den Dienst in Seefahrt ist eine ähnliche Beschränkung wie für den
Dienst im Hafen, wie alle Seegesetzgebungen anerkennen unthunlich, zumal durch
die herkömmliche Eintheilung in zwei Wachen für die erforderliche Ruhe der
Mannschaft gesorgt ist.
Bemerkenswert ist auch die gegen Arbeitsausbeutung gerichtete Bestimmung,
dass wenn die Zahl der Mannschaft sich während der Reise um mehr als ein
Sechstel verringert, der Schiffer dieselbe auf Verlangen der verbleibenden Schiffs-
leute ergänzen m u s s, soferne die Umstände eine Ergänzung gestatten.
412 Millanich.
Die §§ 49— 54 regeln die Verhältnisse betreffend die Entlohnung des
Schiffsmannes — die Heuer — .
Dass die Auszahlung der Heuer im allgemeinen am Ende des Dienst-
verhältnisses zu erfolgen habe, entspricht nicht nur dem Herkommen, sondern
rechtfertigt sich auch damit, dass das Interesse des einzelnen Schiffsmannes mehr
an das Schiff geknüpft, dem nicht selten vorkommenden Uebel der Entweichung
wesentlich vorgebeugt, und endlich verhütet wird, dass der Schiffsmann —
welcher vollständige Verpflegung auf dem Schiffe hat, beim Anlegen in Zwischen-
häfen den verdienten Lohn leichtsinnig vergeude. Diese Bestimmung, betreffend
den Auszahlungstermin der Heuer, musste aber im Interesse der Schiffsleute eine
gewisse Einschränkung erfahren, da dieselben insbesondere vor Antritt der Eeise
meist darauf angewiesen sind, einen Vorschuss zu erhalten, um sich mit Effecten
und ihre Angehörigen mit etwas Bargeld zu versehen.
Es wurde deshalb im Gesetze die Bestimmung aufgenommen, dass abge-
sehen von einer entgegenstehenden ausdrücklichen Vereinbarung der Schiffs-
mann das Eecht hat, vor Antritt der Reise und bei Zwischenreisen auch
während der Fahrt Vorschüsse bis zu einer gewissen Maximalhöhe zu verlangen.
Diese Vorschüsse hinwiederum zu beschränken, lag auch im wichtigen Interesse
der Schiffsleute, welche durch den Besitz von für actuelle Bedürfnisse nicht
nöthiger Barschaft leicht zu leichtsinnigen Geldausgaben verleitet werden.
Wir begegnen weiter im Gesetzentwurfe einer Reihe von Bestimmungen in
Betreff der Heuer, welche im Interesse des Scbiffsmannes getroffen sind. Vor
Antritt der Reise hat der Schiffer ein Abrechnungsbuch anzulegen, in welches
alle Zahlungen einzutragen und in welchem diese vom Schiffsmanne zu quittieren
sind. Ausserdem erhält aber der Schiffsmann ein Zahlungsbuch, in welchem der
Schiffer jede Zahlung bescheinigt. Wenn die Zahl der Mannschaft, welche zur
Bedienung des Schiffes und der Maschine bestimmt ist, sich während der Reise
ausser durch Entweichung verringert und nicht wieder ergänzt wird, so kommen
die dadurch ersparten Heuerbeträge den dienstfähig verbleibenden Schiffsleuten
derselben Kategorie zugute. In allen Fällen, in welchen ein Schiff länger als
zwei Jahre auswärts verweilt, tritt in Ermanglung einer anderweitigen Abrede für
den in Dienst befindlichen Schiffsmann eine 25proc. Erhöhung der nach Zeit
bedungenen Heuer ein.
In den §§ 55 — 68 sind die Bestimmungen in Betreff der Unterkunft und
Beköstigung, der Verpflegung und Heilung nach Antritt des Dienstes erkrankter
Schiffsleute, über die Rückbeförderungen derselben, die Vorkehrungen im Falle
des Ablebens von Schiffsleuten normiert und entsprechen diese Bestimmungen
dem humanen Geiste und der Fürsorge für den wirtschaftlichen Schwächeren,
von welchen ein modernes Gesetz ausgehen soll. Die dem Schiffsmanne für den
Tag mindestens zu verabreichenden Speisen und Getränke, die Grösse und Ein-
richtung des ünterkunftsraumes und die mindestens mitzunehmenden Heilmittel
werden im Verordnungswege bestimmt. Wenn bei ungewöhnlich langer Dauer der
Reise oder wegen eingetretener Unfälle eine Kürzung der Rationen oder eine
Aenderung hinsichtlich der Wahl der Speisen eintreten muss, muss dies im
Schiffstagebuch genau verzeichnet werden, und das eventuell hiedurch erzielte
I
Die österreichische Seemannsordnung. 4;£3
Ersparnis wird unter die Schiffsmannschaft gleichmässig vertheilt. Wenn die
Mehrheit der Schiffsbemannung in Betreff der Seetüchtigkeit des Schiffes oder
wenn ein Drittel davon in Betreff der Beköstigung Beschwerde führt, so hat das
Seemannsamt darüber eine sorgfältige Untersuchung zu pflegen.
Die Kosten der Verpflegung und Heilung des nach Antritt des Dienstes
erkrankten Schiffsmannes trägt der Eheder, und wenn der Schiffsmann die Eeise
nicht antritt bis zum Ablauf eines Monates seit der Erkrankung; wenn er mit
dem Schiff nach einem inländischen Hafen zurückkehrt, bis zum Ablauf von drei
Monaten seit der Eückkehr des Schiffes; wenn die Eückreise nicht in einem
inländischen Hafen endet, bis zum Ablauf von sechs Monaten seit der Eückkehr
des Schiffes, und wenn der Schiffsmann während der Eeise am Lande zurück-
gelassen werden musste, bis zum Ablaufe von sechs Monaten seit der Weiterreise
des Schiffes. Dem Schiffsmanne gebürt, falls er nicht mit dem Schiffe nach dem
Ausmusterungs- oder Heimatshafen zurückkehrt, freie Zurückbeförderung nach
Wahl des Schiffers nach einem dieser Häfen. Die Kosten der Verpflegung,
Heilung und etwaigen Zurückbeförderung sind vom Schiffer in sicherer Weise zu
deponieren.
§ 61. Die Heuer bezieht der erkrankte oder verwundete Schiffsmann:
wenn er die Eeise nicht antritt, bis zur Einstellung des Dienstes ;
wenn er die Eeise antritt und mit dem Schiffe zurückkehrt, bis zur
Beendigung der Eückreise, wenn er während der Eeise am Lande zurückgelassen
werden musste, bis zu dem Tage, an welchem er das Schiff verlässt. Ist der
Schiffsmann bei der Vertheidigung des Schiffes in Kriegsgefahr oder gegen
Seeräuber beschädigt, so hat er überdies auf eine angemessene Belohnung
Anspruch, über welche unter Vorbehalt des Eechtsweges das Seemansamt ent-
scheidet.
Die Commission des Herrenhauses hat bei Besprechung dieser Punkte die
Xothwendigkeit der baldigen Vorlage eines Gesetzes über die Unfallversicherung
der Seeleute betont und wurde von der Eegierung die Erklärung abgegeben,
dass die Ausarbeitung eines solchen Gesetzes sich in Vorbereitung befinde.
In den §§ 68 — 75 w^erden klare Bestimmungen über die Endigung des
Dienstvertrages und die damit verbundenen Eechtsfolgen normiert. Insbesondere
wird dem Schiffsmann das Eecht zuerkannt, seine Entlassung zu fordern, wenn
sich der Schiffer ihm gegenüber einer schweren Verletzung seiner Pflichten, durch
Misshandlung oder durch grundlose Vorenthaltung von Speise und Trank schuldig
gemacht hat, und hat derselbe in diesem Falle den Anspruch auf die im § 270
festgesetzte Entschädigung, Die §§ 76 — 81 regeln in präciser Weise, was alles
der Anspruch auf Eückbeförderung umfasst, wie im Falle die Heuer in Bausch
und Bogen zu bemessen, dieselbe für einen nach Zeit gebürenden Theil derselben
zu bemessen ist ; wie dieselbe, wenn sie strittig ist, sichergestellt ist, endlich
dass der Schiffer den Schiffsmann im Auslande unter keiner Bedingung während
des Bestandes des Heuervertrages zurücklassen darf.
I m V. A b s c h n i 1 1 e ist die Verpflichtung jedes österreichischen Seehandels-
schiffes, welches aus einem ausländischen Hafen nach einem inländischen bestimmt
ist, normiert, inländische Seeleute, welche im Auslande im hilfsbedürftigen
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitilc und Verwaltung. X. Band, 28
414 Millanich.
Zustande sich befinden, behufs Zurückbeförderuug in das Inland auf schriftliche
Anweisung des Seemannsamtes gegen eine im Verordnungswege festzustellende
Entscheidung nach seinen Bestimmungshafen mitzunehmen, ausser wenn die
Mitnahme aus den im § 84 specificierten gerechtfertigten Gründen verweigert
werden kann.
Der VI. Abschnitt behandelt die Schiffsdisciplin, der VII. die geringen
strafbaren Handlungen (seepolizeiliche Uebertretungen) der VIII. Abschnitt die
schweren Vergehungen (Seereate).
Die Disciplinargewalt steht dem Schiffer zu und muss sich naturgemäss nicht
bloss auf die Schiffsmannschaft, sondern auch auf die Reisenden erstrecken, sie
umfasst auch eine Strafgewalt, weil die Disciplinargew'alt eines Schiffers nur dann
edn entsprechenden Effect haben kann, wenn er die ihm unterstehenden Personen
sofort zur Verantwortung ziehen darf und nicht erst abwarten muss, bis ein
Seemannsamt einzuschreiten in der Lage ist.
In Betreff der Disciplinarstrafen — für S chi f f s o ff i ci e r e und
S chif f sunterofficiere. 1. Bordarrest bis zu 8 Tagen, Cabinenarrest bis
zu 4 Tagen, 2. Geldbussen bis zum Betrage einer Monatsheuer, im Wiederholungs-
falle bis zu 2 Monatsheuern; für die sonstige Mannschaft: 1. massige
Erschwerung des Dienstes, 2. Geldbussen wie für Officiere und Unterofficiere —
kann man es nur billigen, wenn von der nach der deutschen Seemannsordnung
zulässigen Strafe der Kostschmälerung abgesehen wurde. Der Schiffsmann muss
für den schweren Seemannsdienst immer in einem kräftigen Zustande erhalten
werden und ist deshalb eine Schmälerung seiner Kost unter keinem Umständen
angezeigt.
Die im VII. Abschnitte behandelten Seepolizeiübertretungen sind
Vergehungen geringeren Grades, welche sofern dieselben nicht strafgerichtlich zu
ahnden sind, der Judicatur des Seemannsamtes unterliegen. Als solche sind
insbesondere in Betreff des Schiffsmannes hervorgehoben : die Entweichung, die
unbefugte Abwesenheit vom Schiffe, uncorrecte Angaben bei der Musterung,
Weigerung, bei der Verklarung mitzuwirken, auf unwahre Behauptungen gestützte
Beschwerden über Seeuntüchtigkeit des Schiffes ; in Betreff des Schiffers : Miss-
brauch der Disciplinargewalt, ungenügende Verproviantierung des Schiffes,
Uncorrectheiten in Betreff der Musterung u. dgl. Diese Vergehungen werden alle
mit Geldstrafen geahndet.
Die im VIII. Abschnitte behandelten Seereate sind schwerere
Vergehungen, welche mit der Schiffsdisciplin und mit sonstigen Bestimmungen
der Seeemannsordnung im engen Zusammenhange stehen. Sie unterliegen der
Judicatur der ordentlichen Strafgerichte, sind theils als Verbrechen, theils als
Vergehen, theils als Uebertretungen bezeichnet, mit Kerker, strengem rücksichtlich
einfachem Arrest bedroht, und haben zum Gegenstande die Auflehnung gegen
die Vorgesetzten mit Gewalt oder nach vorausgegangener Verabredung, ferner
den böswilligen Missbrauch der Disciplinargewalt, die die Gesundheit oder das
Leben von Personen gefährdende mangelhafte Verproviantierung, die Vernach-
lässigung der Vorschriften zur Verhütung von Zusammenstössen von Schiffen
auf See, zur Hilfeleistung in Seenoth oder in Bezug auf Noth- und Lotsen-
fl
Die österreichische Seemannsordnung. 415
Signale, wenn hiedurch ein Schaden an Schiff oder Gut eingetreten ist. Bei
diesem Abschnitte hat die Specialcommission des Herrenhauses einige erheblichere
Aenderungen an der Regierungsvorlage vorgenommen, um die betreffenden Bestim-
mungen mit dem derzeit geltenden Strafgesetze besser in Einklang zu bringen.
Hiebei kamen nicht wie bei den übrigen Bestimmungen materiellen Inhaltes
Rücksichten auf die zwischen den bei den Regierungen getroffenen Vereinbarungen
in Frage, nachdem jedem der beiden Ländergebiete vorbehalten bleibt, diese
Materie im Einklänge mit der eigenen besonderen Strafgesetzgebung zu regeln.
Der IX. Abschnitt des Gesetzentwurfes regelt das Verfahren. In
administrativen Angelegenheiten ist das Seemannsamt die erste, die Seebehörde
die zweite, das Handelsministerium die oberste Instanz.
Die Beschwerden gegen disciplinäre Verfügungen und Strafverhängungen
sind bei dem Seemannsamte, welches zunächst angegangen werden kann, vor-
zubringen ; sie hemmen indessen nicht die Ausführung und den Vollzug der
Strafen, weil sonst die Disciplinargewalt des Schiffers oft illusorisch oder sehr
wenig M'irkungsvoU bleiben würde.
Eine sehr zweckmässige schon derzeit vielfach in Uebung stehende Bestim-
mung ist im § 134 in Ansehung auch von contractlicheu Differenzen zwischen
Schiffer und Schiffsmann getroffen. Das Seeamtsamt hat diesfalls vorerst einen
gütlichen Ausgleich zwischen den Parteien zu versuchen ; bleibt dieser Versuch
erfolglos, so hat das Seemannsamt die Entscheidung zu fällen, welche vorläufig
vollstreckbar ist, jedoch die Betretung des Rechtsweges nicht ausschliesst. Die
Parteien können sich auch einverständlich dem Schiedssprüche des Seemanns-
amtes unterwerfen. Eine ähnliche in Uebung befindliche Intervention unserer
Seemannsämter hat sich vortrefflich bewährt. Die österreichischen Seemannsämter
— man kann dies ihnen zum Lobe nachsagen — functionieren sehr gut, stehen
bei den Schiffsleuten in grossem Ansehen und geniessen das Vertrauen derselben.
Durch die oben erwähnte Procedur werden Streitigkeiten raschestens und kostenlos
geschlichtet und in den seltensten Fällen kommt es vor, dass Parteien sich
diesfalls an die ordentlichen Gerichte wenden, was ihnen auch nun unbenommen
bleiben wird.
üeberblickt man die Bestimmungen des in Rede stehenden Gesetzentwurfes,
so muss man anerkennen, dass dieselben zweckmässig sind, und auf einer
genauen Kenntnis auch der localen Bedürfnisse und sonstigen Verhältnisse
beruhen. Wenn auch hie und da in nicht wesentlichen Punkten in der Special-
Kommission Wünsche aufgetaucht sind, die zurückgestellt wurden, so kann dies
gewiss nur gebilligt werden, da wenn solchen Wünschen hätte Rechnung getragen
werden wollen, neue Verhandlungen mit der ungarischen Regierung hätten
gepflogen werden müssen, und das Zustandekommen des so sehnlich erwarteten
Gesetzes ad calendas graecas verschoben worden wäre. Es ist nun nur zu
wünschen, dass dasselbe auch im Abgeordnetenhause bald der Beschlussfassung
und entsprechenden Erledigung zugeführt werde und auf einem wichtigen Gebiete
unseres Verkehrswesens die unabweisbare und dringliche Reform zur Aus-
führung gelange.
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ÜBER DAS GESETZ VOM 8. JULI 1901, R.-G.-B. N^^- 86,
BETREPF-END DIE
ERHÖHUNG DER B RAN TWE INABGABE UND ZUWENDUNG
EINES THEILES DES ERTRAGES DIESER ABGABE AN
DIE LANDESFONDE
DER IM
REICHSBATHE VERTRETENEN KÖNIGREICHE UND LÄNDER.
vos
EDMUND BEENATZKY,
K. K. MINISTERIALRATH IM FINANZMINISTERIUM.
Zu den Haupteinnahmsquellen der Landesfonde zählen neben den Zuschlägen
zu den directen Steuern die Zuschläge zu der Wein- und Fleischsteuer, sowie
die selbständigen Auflagen auf Bier und gebrannte Flüssigkeiten. Die Einhebung
der Zuschläge zur Wein- und Fleischsteuer geschieht durch dieselben Organe
gleichzeitig mit der Stammsteuer, daher kostenlos. Ganz anders verhält es sich
dagegen bei den Landesumlangen auf Bier und gebrannte geistige Flüssigkeiten.
Diese können, sollen Production und Handel nicht getroffen werden, nur als
selbständige Auflagen, als Kleinverschleissabgaben, im Wege der Abfindung, Ver-
pachtung oder der eigenen Eegie zur Einhebung gelangen. Bei der abfindungs-
oder pachtweisen Einhebung wird naturgemäss der Steuergegenstand nicht voll
erfasst und ergibt sich für den betreffenden Landesfond ein nicht unbeträcht-
licher Entgang.
So erzielte beispielsweise Salzburg bei einem Consum von jährlich rund
6000 Hektoliter Alkohol und einer Auflage von 6 Kronen per Hektoliter gebrannter
geistiger Flüssigkeit in den Jahren 1896 bis 1899 einen Maximal-Nettoertrag
von nur 14.210 Kronen und Galizien bei einem Consum von rund 305.000 Hekto-
liter Alkohol und einem Auflagesatze von 6 Heller per Hektolitergrad Alkohol einen
solchen von nur 986.406 Kronen. Die regiemässige Einhebung dagegen ist, wenn sie,
wie z. B. in Krain, stricte durchgeführt wird, mit einer einschneidenden Belästigung
der Steuerpflichtigen und mit hohen Kosten verbunden.
Bis zur Erlassung des den Gegenstand dieser Erörterung bildenden Gesetzes
bestanden auf gebrannte geistige Flüssigkeiten in den meisten Ländern —
Böhmen, Mähren, Schlesien, Ober- und Niederösterreich, dann Vorarlberg aus-
genommen — selbständige Auflagen auf gebrannte geistige Flüssigkeiten in
verschiedenem Ausmaasse. So wurden für nicht versüsste Brantweine eingehoben
in Galizien und in der Bukowina 6 Heller, in Tirol 14 Heller, in Kärnten
I
Ueber das Gesetz vom 8. Juli 1901, E.-G.-B. Nr. 86 etc. 417
24 Heller, in Steiermark 30 Heller, in Krain 60 Heller und in Triest 70 Heller
per Hektolitergrad Alkohol, in Dalmatien, Salzburg, Görz und Gradiska und
Istrien dagegen ohne Eücksicht auf die Gradhältigkeit 6, 36 und 207 Heller per
Liter Brantwein; versüsste Brantweine und Liqueure wurden etwas höher belastet,
als es der zu ihrer Herstellung verwendeten Alkoholmenge entsprechen würde.
Zweifelsohne wären bei der notorischen Finanznoth der Landesfonde auch die
übrigen Länder in kürzester Zeit zur Einführung dieser Auflage gezwungen werden.
Im Hinblick auf diese Verhältnisse entschloss sich die Kegierung schon
im Jahre 1898 anlässlich der damals geplanten 40 bis 50proc. Erhöhung der
Bier- und Brantweinsteuer zu einer Hilfsaction für die Länder, indem sie dem
damaligen Abgeordnetenhause einen Gesetzentwurf unterbreitete, demzufolge den
Ländern aus dem Ertrage der zu erhöhenden Bier- und Brantweinsteuer der
Theilbetrag von IOV2 Millionen Gulden (= 21 Millionen Kronen) vorläufig bis
Ende 1909 alljährlich jedoch nur unter der Bedingung überwiesen werden sollte,
dass die Länder auf die weitere Einhebung der bisherigen, den Verkehr empfindlich
belästigenden, dabei aber relativ hohe Einhebungskosten erfordernden selbständigen
Auflagen auf den Verbrauch von Bier und gebrannten geistigen Flüssigkeiten
verzichten.
Die Zuweisung sollte nach einem fixen Schlüssel, welcher auf Grund der nach
dem Consum von Bier und Brantwein entfallenden Staatssteuer berechnet wurde,
erfolgen, wobei jedoch jenen 5 Ländern, welche aus den bisher eingehobenen
selbständigen Auflagen auf Bier und gebrannte geistige Flüssigkeiten einen
höheren als nach diesem Schlüssel entfallenden Nettoertrag gehabt hatten, der
ungeschmälerte bisherige, dabei kostenlose Ertrag gesichert bleiben sollte. Auch
eine wesentliche Steigerung des staatlichen Abgabeertrages sollte den Ländern
zugute kommen, denn der Gesetzentwurf bestimmte, dass, wenn der Gesammt-
bruttoertrag der Bier- und Brantweinsteuer 98 Millionen Gulden übersteigen
sollte, 15 Proc. des Ueberschusses verhältnismässig auf die Länder aufzutheilen
seien. Nach den Ausführungen des Motivenberichtes fasste die Regierung die
Zuwendung eines Theiles der erhöhten Bier- und Brantweinsteuer an die Landes-
fonde stets nur als eine Fortsetzung der mit der Personalsteuerreform begonnenen
Action zur Sanierung der nothleidenden Landesfinanzen auf und liess von dieser
Hilfsaction auch dann nicht ab, als die bezügliche Regierungsvorlage infolge des
Fallenlassens der geplanten Bier- und Brantweinsteuererhöhung gar nicht in
Verhandlung genommen wurde.
Da aber der Weg der Reichsgesetzgebung unter den ungünstigen parlamen-
tarischen Verhältnissen gänzlich ungangbar war, sollte, um baldigst zum Ziele
zu gelangen, der in dem gegebenen Falle technisch weit schwierigere Weg der
Landesgesetzgebung betreten werden.
Zu diesem Ende wurde sämmtlichen Landtagen gleichzeitig eine Regierungs-
vorlage, betreffend die Einführung eines Zuschlages zur staatlichen Brantwein-
abgabe, unterbreitet, welcher von den staatlichen Organen gleichzeitig mit der
staatlichen Brantweinabgabe eingehoben werden sollte.
Die aus dem Auslande eingeführten gebrannten geistigen Flüssigkeiten sollten
bei der Verzollung von dem Zuschlage getroffen werden, während die aus Ungarn,
418 Bernatzky.
Bosnien und Herzegowina eingeführten gebrannten geistigen Flüssigkeiten, welche
ohnehin dem reichsgesetzlich geregelten sogenannten Uebergangsverfahren unter-
liegen, mit einem Zuschlagsäquivalente belegt worden wären.
Selbstverständlich musste in den bezüglichen Landesgesetzen auch dafür
Vorsorge getroffen werden, dass der Zuschlag für die ausserhalb der im Eeichs-
rathe vertretenen Königreiche und Länder abgesetzten gebrannten geistigen Flüssig-
keiten entweder nicht eingehoben oder restituiert wird.
Schon die aus diesem Anlasse nothwendige Controle hätte den Handels-
verkehr nicht unwesentlich belastet.
Der Gesammtertrag des in allen Ländern eingehobenen Zuschlages sollte nach
dem Consumschlüssel auf die einzelnen Länder aufgetheilt werden. Der Auftheilungs-
schlüssel war jedoch nur für die ersten drei Jahre fix, während für die folgenden
Triennien eine auf Grund des zu ermittelnden Brantweinconsumes jedes Landes vorzu-
nehmende Revision geplant M'ar und zu diesem Zwecke jeder Versender solcher Flüssig-
keiten verpflichtet werden sollte, jede Versendung von gebrannten geistigen Flüssig-
keiten von mehr als einem Liter aus einem Lande in ein anderes der zuständigen
Finanzwachabtheilung anzuzeigen. Dabei sollte den Ländern Steiermark, Kärnten
und Krain, in welchen die Zuweisung den Ertrag aus der bisherigen Landes-
auflage nicht erreicht hätte, das Recht gewahrt bleiben, die bisherigen Landes-
auflagen, wenn auch in entsprechend reduciertem Maasse, weiter einzuheben.
Von besonderer Bedeutung für die ganze Action war die Bedingung, von
deren Erfüllung von allem Anfange an die Regierung das Zustandekommen der
ganzen Action abhängig machte, bezw. abhängig machen musste. Die geplante
Einhebung des Zuschlages zur staatlichen Brantweinabgabe durch die staatlichen
Organe war nämlich ohne gleichzeitige Einführung einer förmlichen Steuerlinie
zwischen den einzelnen Ländern nur dann möglich, wenn dieser Zuschlag in
allen Ländern und in gleicher Höhe eingeführt wird, und es war daher das
Zustandekommen der ganzen Action von der Uebereinstimmung der Beschlüsse
aller Landtage abhängig. Da diese Uebereinstimmung nicht zustande kam, war
auch diese neuerliche Action als gescheitert zu betrachten.
Erwähnt muss noch werden, dass es auch an Stimmen nicht fehlte, welche
namentlich mit Rücksicht auf den Wortlaut des § 11 lit. c des Staatsgrund-
gesetzes vom 21. December 1867, R.-G.-Bl. Nr. 141, Bedenken verfassungs-
rechtlicher Natur gegen die geplante Einführung des Zuschlages erhoben.
Diese Bedenken dürften jedoch nicht begründet gewesen sein, weil der
§11 lit. c des Staatsgrundgesetzes nur dahin verstanden werden kann, dass die
Steuergesetzgebung nur insoweit dem Reichsrathe zusteht, als es sich um legislative
Acte auf dem Gebiete der staatlichen Besteuerung handelt, wogegen das Besteuerungs-
recht für Landeszwecke, und um ein solches handelt es sich im vorliegenden Falle,
den Landtagen zukommen muss. Dies geht auch aus dem Wortlaute der verschiedenen
Landesordnungen hervor, welche deutlich und ausdrücklich den Landtagen das Recht
der Besteuerung für Landeszwecke, sowie das Recht für Landeszwecke Zuschläge
zu den directen Steuern oder sonstige Landesumlagen zu beschliessen, einräumen.
Die Regierung liess sich jedoch auch durch dieses neuerliche Fehlschlagen
der Action in ihrer Sorge um die nothleidenden Landesfinanzen nicht beirren
Ueber das Gesetz vom 8. Juli 1901, R.-G.-B. Nr. 86 etc. 419
und beeilte sich, wieder auf den Weg der Keichsgesetzgebung zurückkehrend,
dem mittlerweile zusammengetretenen Eeichsrathe die nunmehr Gesetz gewordene
Vorlage, betreffend die Erhöhung der Brantweinabgabe und Zuwendung eines
Theiles des Ertrages dieser Abgabe an die Landesfonde, zu unterbreiten.
Durch dieses Gesetz wird das Ausmaass der Brantweinabgabe um 20 Heller
per Hektolitergrad (Liter) Alkohol mit der Wirksamkeit vom 1. September 1901
erhöht und die auf diesen Theilbetrag von 20 Heller per Liter Alkohol ent-
fallende Quote des gesammten Brantweinsteuerertrages, welche mit 19"2 Millionen
Kronen veranschlagt wird, jenen Landesfonden vorläufig bis Ende 1909 über-
wiesen, welche während der Wirksamkeit des Gesetzes wie immer benannte
Landesauflagen auf gebrannte geistige Flüssigkeiten nicht einheben. Die aus der
Nachversteuerung sich ergebende Einnahme soll gleichfalls den Landesfonden
zugute kommen.
Die Vertheilung des Ueberweisungsbetrages an die Länder erfolgt auch
nach diesem Gesetze im Principe nach dem unter den gegebenen Verhältnissen
nur allein möglichen Consumschlüssel.
Die Festsetzung dieses Schlüssels war mangels einer amtlichen Statistik
über den Landesconsum an gebrannten geistigen Flüssigkeiten nicht leicht.
Schon seit Mitte der 90 er Jahre wurde aus Anlass einer Resolution des
Abgeordnetenhauses durch eingehende Erhebungen der Finanzorgane bei den
Steuerpflichtigen, den Grosshändlern, Liqueurfabrikanten, dann durch Umfragen
bei den Transportanstalten fortlaufend sichergestellt, welche Mengen von gebrannten
geistigen Flüssigkeiten aus jedem Lande in die anderen Länder, bezw. ins Ausland
weggebracht und welche Mengen andererseits in jedes Land eingebracht werden.
Die in jedem Lande versteuerten Mengen Brantweines mehr den eingebrachten
und abzüglich der weggebrachten ergaben sodann den Consum jedes Landes.
Wenngleich diese Art der Erhebung des Consumes nicht Anspruch auf
unbedingte Vollständigkeit machen kann, so bietet doch der Durchschnitt dieser
durch Jahre hindurch ermittelten Consummengen die Gewähr der unter den
gegebenen Verhältnissen überhaupt erreichbaren Richtigkeit, und ist die Feststellung
fixer Procentsätze für die Länderantheile unbedingt der früher geplanten drei-
jährigen Revision des Schlüssels und der damit verbundenen " Belästigung des
Handelsverkehres vorzuziehen. Würde jedoch der den Ländern zukommende Antheil
an der erhöhten Brantweinabgabe lediglich nach diesem Schlüssel aufgetheilt
werden, so wären jene Länder, welche bisher schon eine unverhältnismässig hohe
Landesauflage eingehoben haben, wie Krain, Kärnten und Steiermark, bei der
Auftheilung insofern schlecht weggekommen, als für sie die ganze Action eine
Verringerung der Landeseinnahmen bedeutet hätte. Bei der beabsichtigten Ein-
führung eines Zuschlages zur Brantweinsteuer im Wege der Landesgeset;gebung
konnte der Schwierigkeit nur dadurch begegnet werden, dass den genannten drei
Ländern eine Ausnahme von dem sonst geforderten Verzichte auf die Einhebung
selbständiger Landesauflagen auf Brantwein concediert wurde.
Nachdem es sich dagegen bei der geänderten Form der Action nicht mehr
um die Schaffung unmittelbarer Einnahmen der Länder, sondern um die Dotierung
der Landesfonde aus Staatsmitteln handelte, konnte die Forderung nach eine
420 Bernatzky.
ausnahmslosen Aufhebung der Landesauflagen auf gebrannte geistige Flüssigkeiten
wieder gestellt und die mehrgenannten Länder gegen einen Ausfall der Einnahmen,
welcher bei Steiermark 240.903, bei Kärnten 66.128 und bei Krain sogar
545.318 Kronen betragen hätte, dadurch geschützt werden, dass der auf dem
Brantweinconsum aufgebaute Vertheilungsschlüssel zu Gunsten dieser Länder so
corrigiert w^urde, dass sich ein Ausfall nicht ergab.
Bezüglich der präcipualen Vortheile dieser drei Länder war ursprünglich in der
Eegierungsvorlage eine Art Aufsaugungsprocess in der Art vorgesehen gewesen, dass
die im Falle eines Anwachsens des Brantweinsteuerertrages und damit der Gesammt-
überweisung auf Steiermark, Kärnten und Krain entfallenden Mehrbeträge auf Rechnung
der diesen Ländern zugestandenen Präcipuen hätten in Abschlag gebracht werden sollen
und hiedurch eine allmähliche Beseitigung dieser Präcipuen angebahnt worden wäre.
Der Ausschuss des Abgeordnetenhauses hat indes über Andringen der
Vertreter der betreffenden Länder zu Gunsten der letzteren diese Zusatzbestimmung
eliminiert, so dass also auch diese Länder an einer allfälligen Steigerung des
Brantweinsteuerertrages sofort nach Maassgabe ihres im Gesetze festgestellten
Percentualschlüssels theilnehmen werden. Die Regierung hatte dieser Modification
ihrer Vorlage bereitwillig zugestimmt.
Die Regierung war sich, wie aus dem Motivenberichte zu entnehmen ist.
bei der Abfassung dieses in seiner Art neuen Gesetzes gar wohl bewusst, dass
die Sanierung der Landesfinanzen auf die Dauer keinesfalls dutcli eine systemlose
und stückweise Ueberlassung eines Theiles des Ertrages einzelner directer oder
indirecter Steuern erreicht werden könne, dass eine solche Sanierung vielmehr
eine allerdings nur allmählich durchführbare organische Ausgestaltung und eine
principielle Theilung der für den Staat und die Länder gemeinsamen Hilfsquellen
erfordere. Sie hat daher, um einer solchen künftigen organischen Ausgestaltung
nicht den Weg zu verlegen, die durch die augenblickliche Sachlage gebotene
Zuweisung eines Theiles des Ertrages der erhöhten Brantweinabgabe zeitlich so
begrenzt, dass der Ablauftermin dieser Ueberweisung mit jenem der den Ländern
kraft der Art. IX bis XIII der Einführungsbestimmungen zu dem Gesetze vom
25. October 1896, R.-G.-Bl. Nr. 225, gebürenden Zuwendung zusammenfällt.
Durch die ganze Action wird zwar eine vollständige Sanierung der Landes-
finanzen nicht erzielt, es ist jedoch, wie aus der Regierungsvorlage zu entnehmen
ist, für die Länder als jährlicher Gesammtantheil an der erhöhten Brantwein-
abgabe, der immerhin ansehnliche Betrag von 19*2 Millionen Kronen zu gewärtigen.
Hinsichtlich des Effectes dieser Zuwendung in den einzelnen Ländern
müssen drei Gruppen unterschieden werden.
Für die erste Gruppe, welche die Länder Böhmen, Mähren, Schlesien,
Oberösterreich, Niederösterreich, Triest und Vorarlberg umfasst, bedeutet die
Ueberweisung die Erschliessung einer neuen Einnahmsquelle, weil in diesen Ländern
Landesauflagen auf gebrannte geistige Flüssigkeiten nicht bestanden. Für Triest
allerdings bedeutet die Zuweisung mit Rücksicht auf die Identität von Gemeinde-
und Landesverwaltung nicht mehr eine reine Einnahme, doch wird die Ueber-
weisungsquote den durch die geforderte Herabsetzung des Gemeindezuschlages
zu gewärtigenden Einnahmeausfall voraussichtlich übersteigen.
Ueber das Gesetz vom 8. Juli 1901, R.-G.-B. Nr. 86 etc.
421
Der zweiten Gruppe, zu welcher die Bukowina, Dalmatien, Galizien, Görz und
Gradiska, Istrien, Salzburg und Tirol zu rechnen sind, bringt zwar die Action gleich-
falls eine effective Steigerung der Landeseinkünfte, jedoch nicht um das volle Aus-
maass des zu gewärtigenden Ueberweisungsantheiles, weil dieser Zuwendung der
Verzicht auf die bisherige, den künftigen Ueberweisungsantheil allerdings nicht
erreichende Einnahmsquelle, nämlich die selbständige Auflage auf gebrannte
geistige Flüssigkeiten, gegenübersteht.
Die Länder Steiermark, Kärnten und Krain ■ endlich bilden die dritte
Gruppe. Diesen Ländern soll durch die üeberweisung^ wie schon erwähnt wurde,
wenigstens vorläufig nur der bisherige Keinertrag der bisher bestandenen aller-
dings sehr hohen und mit 1. September 1901 eingestellten selbständigen
Landesauflagen auf Brantwein sichergestellt werden, so dass die Ueberweisungs-
action rücksichtlich dieser Ländergruppe, insolange die Gesammtüberweisung den
in der Regierungsvorlage präliminierten jährlichen Betrag von 19 2 Millionen
Kronen nicht überschreitet, die Zuwendung einer Mehrein nähme nicht bedeutet.
Zur leichteren Uebersicht wird eine Tabelle angeschlossen, aus welcher für jedes
Land die Daten über die Grösse der Bevölkerung, des Brantweinconsums und der bis-
herigen Netto-Einnahme aus der Landesauflage aufgebrannte geistige Flüssigkeiten
zu entnehmen sind. Zugleich enthält diese Tabelle eine Nebeneinanderstellung der
Zuweisungen nach der früheren in den Landtagen eingebrachten Regierungsvorlage
und dem gegenwärtigen Gesetze.
Uebensichts -Tabelle.
Länder
Einwohner-
zahl nach
der Volks-
zählung
1890
Brantwein-
Consum in
Hektoliter
Alkohol
Bisheriger
grösster
Nettoertrag
der Landes-
auflage auf
Brantwein
in Kronen
Auftheilung der
präliminierten
19,200.000 JT nach
der den
Landtagen
vorgelegten
Regierungs-
vorlage
dem gegen-
ständlichen
Gesetze
Böhmen
Dalmatien
Galizien
Niederösterreich . .
Oberösterreich . . .
Salzburg
Steiermark . . . .
Kärnten
Krain
Bukowina
Mähren .-
Schlesien
Tirol
Vorarlberg . . . .
Istrien
Görz und Gradiska .
Triest sammt Gebiet
5,843.094
527.426
6,607.816
2,661.799
785.831
173.510
1,282.708
361.008
498.958
646.591
2,276.870
605.649
812.696
116.073
317.610
220.308
157.466
202.455
5.661
305.088
115.892
9.851
6.116
35.173
27.428
17.266
38.895
169 882
57.145
24.539
2.223
3 463
3.486
5.058
27.839
986.406
14.210
900.000
580.000
868.861
192.000
272.964
13.370
50.000
3,793.749
106.080
5,716.961
2,171.669
184.595
114.606
659.097
513.872
323.543
635.149
.3,183.372
1,070.825
459.830
41.656
64.892
65..323
94.781
3,611.096
100.973
5,441.713
2,067.112
175.708
109.088
900.000
580.000
868.861
604.569
3,030.106
1,019.269
437.691
89.651
61.768
62.178
90.217
422 Bernatzky.
Gesetz vom 8. Juli 1901, betreffend die Erhöhung der Brantweinabgabe
und die Zuweisung eines Theiles des Ertrages dieser Abgabe an die
Landesfonde der im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder.
Nr. 86 R.-G.-Bl.
Artikel I.
Das im § 2 a des Gesetzes über die Brantweinbesteuerung vom 20. Juni 1888,
R.-G.-Bl. Nr. 95, festgesetzte Ausmaass der Brantweinabgabe wird erhöht, und
zwar jenes der Productionsabgabe von 70 h auf 90 h, jenes des niedrigeren
Satzes der Consumabgabe von 70 h auf 90 h und jenes des höheren Satzes der
Consumabgabe von 90 h auf \ KKi h für jeden Hektolitergrad (Liter) Alkohol.
Dementsprechend wird die Abgaberückvergütung für den über die Zollinie aus-
geführten Brantwein, auf dem die Abgabe nicht haftet, mit 45 h per Liter
Alkohol geleistet und ist sowohl der Bemessung des Abgabepauschales im Falle
der Pauschalierung nach der Leistungsfähigkeit der Brennvorrichtung als auch
der Straf bemessung der um 20 h erhöhte Abgabesatz zugrunde zu legen.
Artikel IL
Die in den freien Verkehr übergegangenen geistigen Flüssigkeiten, welche
am 1. September 1901 im Geltungsgebiete des gegenwärtigen Gesetzes vorhanden
sind, sowie jene, welche in den Ländern der ungarischen Krone und in Bosnien
und der Herzegowina in der Zeit vor dem 1. September 1901 an Empfänger
im Geltungsgebiete des gegenwärtigen Gesetzes versendet werden, jedoch erst
nach dem 1. September in diesem Gebiete einlangen, unterliegen einer Nachsteuer
von 20 h per Liter Alkohol, auf welche die für die Consumabgabe geltenden
Bestimmungen sinngemässe Anwendung finden
Artikel m.
A. In der Zeit vom 1. September 1901 bis 31. December 1909 wird
den Landesfonden der im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder mit
dem sub 2? vorgesehenen Vorbehalte aus dem Bruttoertrage der Brantweinabgabe
(Productions- und Consumabgabe) abzüglich der Gefällsrückgaben und Restitutionen
jene Summe überwiesen, welche auf den Theilbetrag von 20 h der mit Artikel I
des gegenwärtigen Gesetzes festgesetzten Abgabesätze entfällt. Mit demselben
Vorbehalte {B) wird den Landesfonden der im Reichsrathe vertretenen König-
reiche und Länder der Reinertrag der kraft Artikel II des gegenwärtigen Gesetzes
einzuhebenden Nachsteuer überwiesen.
Die Berechnung der den Landesfonden zukommenden Ueberweisungsbeträge
erfolgt für die Zeit vom 1. September bis 31. December 1901 spätestens im April 1902
und in der Folge nach Ablauf jedes Kalenderjahres spätestens im April des dem
Abrechnungsjahre folgenden Jahres, und zwar, falls die Berechnung bis dahin nicht
endgiltig abgeschlossen werden könnte, vorbehaltlich der nachträglichen Richtigstellung.
Die jeweilig ermittelten Ueberweisungsbeträge werden an die einzelnen
Landesfonde zunächst nach folgendem Procentualschlüssel vertheilt:
Königreich Böhmen 18*8078 Proc.
Königreich Dalmatien 0*5259 „
lieber das Gesetz vom 8. Juli 1901, R -G.-B. Nr. 86 etc. 423
Königreich Galizien und Lodomerien mitdemGrossherzogthuraeKrakau 28'3423 Proc.
Erzherzogthum Oesterreich unter der Enns 10' 7662 „
Erzherzogthura Oesterreich ob der Enns 0*9152 „
Herzogthum Salzburg 0'5682 „
Herzogthum Steiermark 4*68 7 5 „
Herzogthum Kärnten 3'0208 „
Herzogthum Krain 4*5253 „
Herzogthum Bukowina 3*1488 „
Markgrafschaft Mähren 15*7818 „
Herzogthum Ober- und Niederschlesien 5*3087 „
Gefürstete Grafschaft Tirol 2*2796 „
Land Vorarlberg 0*2065 „
Markgrafschaft Istrien , 0*3217 „
Gefürstete Grafschaft Görz und Gradiska 0*3238 „
Stadt Triest mit ihrem Gebiete 0*4699 „
Den Landesfonden werden für Kechnung der denselben jeweilig zukommenden
Ueberweisungsantheile Vorschüsse erfolgt, und zwar für die Zeit vom 1. September
bis 31. December 1901, am 31.'December 1901 und in der Folge am 31. März,
30. Juni, 30. September und 31. December jedes Jahres.
Die am 31. December 1901 zu erfolgenden Vorschüsse dürfen zusammen
die Summe von 6,000.000 K und die jeweiligen Quartals Vorschüsse den vierten
Theil jener Beträge nicht überschreiten, welche sich als Ueberweisungsantheile
ergeben würden, wenn die Abrechnung unter Zugrundelegung der einschlägigen
Ziffernansätze des Staatsvoranschlages für das betreffende Jahr gepflogen würde.
J5. Der Anspruch auf die im Vorstehenden geregelte Antheilnahme an dem
Ertrage der Brantweinabgabe oder auf die gemäss Artikel IV des gegenwärtigen
Gesetzes eventuell an Stelle dieser Antheilnahme tretende Zuwendung wird auf
jene Länder beschränkt, in welchen während des im Eingange dieses Artikels
bezeichneten Zeitraumes wie immer benannte Landesauflagen auf gebrannte geistige
Flüssigkeiten nicht eingehoben werden.
Beträge, welche wegen Nichterfüllung dieser Voraussetzung nicht zur Aus-
zahlung gelangen, verfallen zu Gunsten des Staatsschatzes.
Artikel IV.
Im Laufe des Jahres 1909 sind die aus dem gegenwärtigen Gesetze fliessenden
Zuweisungen an die Länder neuerlich im Gesetzeswege zu regeln.
Die Antheilnahme der Länder an dem Ertrage der Brantweinabgabe kann auch
in einem früheren als dem in Artikel III A vorgesehenen Zeitpunkte im Wege der
Gesetzgebung ausser Kraft gesetzt werden, wenn den Ländern gleichzeitig — abge-
sehen von den nach Maassgabe der Artikel IX, X, XII und XIII des Gesetzes vom
25. October 1896, E.-G.-Bl. Nr. 220, oder eines besonderen Rechtstitels gebürenden
Zuwendungen — aus Staatsmitteln anderweitige jährliche Beträge für den Rest der in
Artikel III A vorgesehenen Zeitperiode überwiesen werden, welche den jedem einzelnen
der Länder im Durchschnitte der drei letzten Kalenderjahre zugekommenen Betrag aus
der Antheilnahme an dem Ertrage der Brantweinabgabe erreichen oder überschreiten.
DIE CUMULATIVEN WAISENCASSEN
ALS FÖRDERER DER VOLKSERZIEHUNG.
DK- JOHANN WINCKLER.
Das Institut der cumulativen Waisencassen, eine ureigene, noch aus den
Zeiten der Patrimonial-Gerichtsbarkeit stammende Schöpfung der österreichischen
Verwaltungspolitik ^), welche durch eine kaiserl. Verordnung vom 9. November 1858
regeneriert und dem Organismus der österreichischen Justizverwaltung einverleibt
wurde, hat anerkanntermaassen in allen jenen Reichstheilen, in welchen es ein-
geführt und in entsprechender Weise gepflegt wurde, ^) nach zweifacher Richtung
hin segensreich gewirkt.
Diese Gassen haben nämlich einerseits durch Sammlung, unentgeltliche
Verwaltung und gemeinschaftliche Fructificierung aller jener Pupillen- und
Curandengelder, welche ihres geringen Betrages wegen zur selbständigen Capitals-
anlage (sog. Singularisierung) nicht geeignet waren, auch den Kindern der minder
bemittelten Volksschichten eine dem landesüblichen Zinsfuss entsprechende Ver-
zinsung ihrer kleinen Barschaften gesichert nnd andererseits den darlehens-
bedürftigen Realitätenbesitzern, insbesondere den kleinen Wirtschaftsbesitzern auf
dem Lande, eine verhältnismässig billige Geldquelle eröffnet, welche um so lieber
•) Der Bestand einer Einrichtung, welche das Princip einer cumulatiren Waisencasse
im technischen Sinne dieses Wortes verwirklichte, lässt sich bereits vom Jahre 1715 ab,
und zwar bei den Oberkammeramte der Stadt Wien urkundlich nachweisen. Der Artikel
II der „Pupillar-Raithkammer-Reformation" vom 1. März 1715 enthält nämlich folgende
Bestimmung: „Der Pupillen Erbtheil und Vermögen, es möge in so kleinen Posten
bestehen als es immer wolle, soll nicht feiernd gelassen, sondern so gut als möglich
verinteressiert werden, und zu dem Ende bei gemeiner Stadt Ober-Kammeramt, wann
allda verschiedene solche kleine Pupillar- Posten erliegen, solche in eine Summam
zusammengeschlagen, davon das gewöhnliche Interesse gereichet und über solche Posten
sowohl bei gedachtem Ober-Kammeramt als auch bei der Pupillen-Ra3-thkanimer ein
ordentliches Protokoll, wem dieselben gehören, gehalten und auch die eingehenden
Interessen unter die Partheien pro ratio portionum ausgetheilt werden." (Codex Austriacus
Tarn. III. pag. 788 Edit. Quarient.)
2) Am Schlüsse der vormärzlichen Zeit hatten sich die Waisencassen nicht nur in
ganz Niederösterreich, Böhmen, Mähren und Schlesien eingebürgert, sondern auch auf
manchen Gutsgebieten in Oberösterreich und Steiermark und vereinzelt selbst in Salzburg
und in Westgalizien Eingang gefunden. (Siehe „Statistische Monatschrift" XVII. Jahr-
gang [1891] Seite 571 und 573.)
Die cumulativen Waisencassen als Förderer der Volkserziehung. 425
aufgesucht wurdft, als die Verwalter der Waisencassen — die Gerichte im Verein
mit den Steuerämtern — keine kostspieligen Gesuche, keinerlei Provision, keinen
Kegiekostenbeitrag oder andere, was immer für einen Namen habende Neben-
gebüren beanspruchten und obendrein — was für manchen Darlehenswerber
schwer in die Wagschale fiel — auch keine Annuitätenzahlungen verlangten.^)
Es ist darum begreiflich, dass die Waisencassen in jenen Roichstheilen,
in welchen sie sich schon von altersher eingebürgert hatten, eine zahlreiche, mit
jedem Jahre zunehmende Clientel gewannen und dies trotz der starken Concurrenz,
welche ihnen im Laufe der Jahre in Gestalt von Actien-Pfandbrief-Instituten,
Landes-Hypothekenanstalten, Sparcassen, Vorschusscassen und reformierten Contri-
butionsfondscassen erwuchs, und trotz des Umstandes, dass sie keineswegs zu
einem billigeren Zinsfuss Darlehen gaben als diese Anstalten.^)
Die am Schlüsse des Jahres 1898 aushaftenden Hypothekardarlehen der
570 Waisencassen beliefen sich auf 104.178 (gegen 95.434 am Schlüsse des
Jahres 1888) im Gesammtbetrage von 92,783.270 fl. (gegen 67,684.895 fl. am
Schlüsse des Jahres 1888), davon entfielen 38.186 im Betrage von 39,422.127 fl.
auf Böhmen, 30.093 im Betrage von 26,327.742 auf Niederösterreich, 23,928 im
Betrage von 20,180.415 fl. auf Mähren, 5.260 im Betrage von 4,393.873 fl.
auf Schlesien, 5.315 im Betrage von 1,787.000 fl. auf Galizien, 431 im Betrage
von 433.025 fl. auf Oberösterreich und 985 im Betrage von 239.088 fl. auf die
Bukowina, welches Land erst seit dem Jahre 1897 Waisencassen (derzeit 8) besitzt.
Zur segensreichen Wirksamkeit, welche die Waisencassen im wirt-
schaftlichen Interesse der minder bemittelten Volksschichten bisher entwickelt
haben — und dies auch in kritischen Zeiten, an die man sich gegenwärtig unter
total geänderten Geld- und Zinsfussverhältnissen kaum mehr erinnert — wird
sich aber künftighin noch eine weitere, in manchem Betracht noch höher zu
veranschlagende, wenn auch nur indirecte Wirksamkeit gesellen, nämlich die
Förderung der erziehlichen Interessen der verwaisten, verlassenen oder
verwahrlosten Jugend, und zwar auf Grund des jüngst erschienenen und mit dem
Tage seiner Kundmachung in Wirksamkeit getretenen Eeichsgesetzes vom
3. Juni 1901, R.-G.-Bl. Nr. 62.
Nach diesem in Folge jahrelanger Bemühungen menschenfreundlicher Volks-
vertreter, nach langwierigen Verhandlungen und nach endlicher Ueberwindung
von allerlei staatsrechtlichen Competenz-Scrupeln zustande gekommenen Gesetze
haben nämlich die in Böhmen, Mähren, Schlesien, Oesterreich u. d. E., Oester-
reich ob d. E. und in Galizien bestehenden Waisencassen während der Jahre 1901
bis einschliesslich 1910 alljährlich von der Gesammtsumme ihrer Gebarungs-
überschüsse eine Procentual-Quote an die betreffenden Länder abzuführen.
^) Eine facultative Tilgung der Darlehen in Annuitäten wurde bei den Waisen-
cassen erst durch die Verordnung vom 8. März 1896, R.-G.-Bl. Nro. 38, eingeführt.
2) Infolge des Gesetzes vom 18. März 1876, E.-G.-Bl. Nr. 51, war der Zinsfuss für
Darlehen aus den Waisencassen der gleiche wie für die Verzinsung der von ihnen
verwalteten Pfleglings-Barschaften. Er betrug bis zum Schlüsse des Jahres 1880 sechs
Procent, wurde nach dem Jahre 1880 in den einzelnen Oberlandesgerichtssprengeln
wiederholt herabgesetzt und beträgt gegenwärtig vier Procent, bei den Waisencassen in
Westgalizien vier und ein halbes Procent.
426 Winckler,
Der Procentsatz dieser Quote hat Y^q Proc. weniger zu betragen, als der
bei der Waisencasse am Schlüsse des Ausweisjahres vorschriftsmässig bestandene
Zinsfuss. Von den hiemach sich ergebenden Beträgen ist jedoch ein Eegiekosten-
beitrag von zwei Procent in Abzug zu bringen und als Staatseinnahme zu
verrechnen.
Diese den betreffenden Ländern überwiesenen Beträge sind zur Pflege und
Erziehung armer Waisen bis zur Zurücklegung des 18. Lebensjahres, sowie
verwahrloster oder verlassener Kinder zu verwenden, wobei die Waisen von im
Kriege oder sonst in unmittelbarer Ausübung des Wehrdienstes um das Leben
gekommenen Militärpersonen vorzugsweise Berücksichtigung zu finden haben.
Da den Waisencassen ihre durch eine nahezu 41jährige eifrige und
umsichtige Gebarung angesammelten Keservefonde — welche zunächst zur Deckung
der Forderungen der Waisencassen-Interessenten an Capital und Zinsen dienen
und am Schlüsse des Jahres 1898 den Betrag von 21,125.695 fl. erreicht
hatten — auch fernerhin ungeschmälert verbleiben und die den Ländern jährlich
zu überweisenden Beträge nur um ^/^^ Proc, weniger ausmachen, als die Waisen-
cassen von ihrem Keservefonde an Zinsen beziehen, so werden einerseits dieselben
in der Erfüllung ihrer Verbindlichkeiten gegenüber ihren Pflegebefohlenen in
keiner Weise beeinträchtigt und andererseits den betreffenden Ländern zur Durch-
führung der im Gesetze bezeichneten humanitären Einrichtung bedeutende Geld-
mittel zur Verfügung gestellt, welche es ihnen möglich machen werden, zur
Förderung der Waisonpflege und zur Linderung des traurigen Loses verlassener
und verwahrloster Kinder erheblich mehr thun zu können, als sie bisher
leisten konnten.
Die aus dem Erträgnisse der angesammelten Gebarungsüberschüsse den
betreffenden Ländern künftighin zufliessenden Gelder werden — nach Abzug
des zweiprocentigen Eegiekosten-Beitrages — in runder Summe jährlich bei
826.000 fl. betragen ; davon werden auf Böhmen 276.000 fl,, auf Niederösterreich
253.000 fl., auf Mähren 209.000 fl., auf Schlesien 37.000 fl,, auf Galizien 30.000
und auf Oberösterreich 21.000 fl. entfallen. Das im Gesetze weiters noch
erwähnte Land Salzburg wird voraussichtlich nur einen kaum nennenswerten
Betrag erhalten, da es nur eine einzige Waisencasse (für den Gerichtsbezirk
Abtenau) besitzt und der Eeservefond dieser Waisencasse nur ein jährliches Erträgnis
von wenig mehr als 40 fl. abwirft. Alle übrigen Reichstheile dagegen werden
leer ausgehen, weil in denselben cumulative Waisencassen entweder niemals
bestanden haben oder seit mehr als 50 Jahren wieder eingegangen sind. Leider
trifft dieses Missgeschick zumeist solche Länder, welche mit Anstalten zur Unter-
bringung schutzbedürftiger Kinder nur in unzulänglichem Ausmaass versehen sind.
Nach den letzten statistischen Nachweisungen gab es am Schlüsse des
Jahres 1898 in den Reichsrathsländern 207 Waisenhäuser, in welchen
14.934 Kinder untergebracht waren; davon befanden sich in Niederösterreich
42 mit 4,502 Kindern, Böhmen 42 mit 1.379 Kindern, Galizien 35 mit
2.281 Kindern, Mähren 15 mit 742 Kindern u, s. w. in absteigender Reihen-
folge, Am kärglichsten waren mit solchen Anstalten versehen : das Küstenland
(5 Anstalten mit 502 Kindern), die Bukowina (5 Anstalten mit 282 Kindern)
Die cumulativen Waisen cassen als Förderer der Volkserziehung. 427
Xrain (3 Anstalten mit 282 Kindern), Dalmatien (3 Anstalten mit 123 Kindern)
und Vorarlberg (1 Anstalt mit 17 Kindern).
Besserungsanstalten für jugendliche Corrigenden besitzen — wenn man
von den wenigen auf Privatwohlthätigkeit beruhenden oder von Ordensschwestern
ins Leben gerufenen Rettungsanstalten absieht — nur Niederösterreich (3),
Böhmen (2), Mähren (2), Schlesien (1), Kärnten (1) und Vorarlberg (1) zusammen
mit einem Belagraum für höchstens 1.600 Pfleglinge, unstreitig eine zu geringe
Zahl im Verhältnis zu der leider ziffermässig unbekannten Masse schutzbedürftiger
Kinder, deren Anzahl — nach den so häufig wiederkehrenden Klagen über die
heutige verwahrloste Jugend zu urtheüen — wohl eine sehr beträchtliche sein
muss und leider in dem Maasse noch zunehmen wird, in welchem der mit dem
Anwachsen der Bevölkerung immer schwieriger sich gestaltende Kampf ums
Dasein in den unbemittelten Volksschichten beide Elterntheile zwingt, nach Arbeit
auszuschauen und ihre Kinder mehr oder weniger zu vernachlässigen.
Gesetz vom 3. Juni 1901, Nn. 62 R.-G.-Bl., betreffend die Verwendung
von Theilen der Gebarungsüberschüsse der gemeinschaftlichen
Waisencassen.
§ 1.
Die in Böhmen, Mähren, Schlesien, Oesterreich unter der Enns, Oesterreich
ob der Enns, Salzburg und in Galizien bestehenden gemeinschaftlichen Waisen-
cassen haben während der Jahre 1901 bis einschliesslich 1910 alljährlich von
der Gesammtsumme ihrer Gebarungsüberschüsse, die sich bis zum Schlüsse des
jeweils zweitvorausgegangenen Jahres nach den genehmigten Jahresausweisen
ergeben, eine Procentualquote an die betreffenden Länder abzuführen. Der Procentsatz
dieser Quote hat ^/^^ Proc. weniger zu betragen, als der bei der Waisencasse
am Schlüsse des Ausweisjahres vorschriftsmässig bestandene Zinsfuss. Von den
hienach sich ergebenden Beträgen ist jedoch ein Eegiekostenbeitrag von zwei
Procent in Abzug zu bringen und als Staatseinnahme zu verrechnen.
§ 2.
Die gemäss § 1 den Ländern überwiesenen Beträge sind zur Pflege und
Erziehung armer Waisen bis zur Zurücklegung des achtzehnten Lebensjahres, sowie
verwahrloster oder verlassener Kinder zu verwenden, wobei die Waisen von im
Kriege oder sonst in unmittelbarer Ausübung des Wehrdienstes um das Leben
gekommenen Militärpersonen vorzugsweise Berücksichtigung zu finden haben. Die
näheren Bestimmungen hierüber bleiben der Landesgesetzgebung vorbehalten.
§ 3.
Sollte sich bei einer gemeinschaftlichen Waisencasse ein durch deren Eeserve-
fond nicht gedeckter Verlust ergeben, so ist der Fehlbetrag aus den Gebarungs-
überschüssen anderer gemeinschaftlicher Waisencassen des betreffenden Landes
zu decken.
GESETZ VOM 11. JUNI 1901, R.-G.-B. N" 66,
BETREFFEND DEN
BAU VON WASSERSTRASSEN
UND DIE
DURCHFÜHRUNG VON FLUSSREGULIERUNGEN.')
§ 1.
Der Bau von Wasserstrassen, und zwar: a) eines SchifFahrtscanales von der
Donau zur Oder, b) eines Schiffahrtscanales von der Donau zur Moldau nächst
Budweis nebst der Canalisierung der Moldau von Budweis bis Prag, c) eines
Schiffahrtscanales ^om Donau-Odercanal zur mittleren Elbe nebst Canalisierung
der Elbestrecke von Melnik bis Jaromef, d) einer schiffbaren Verbindung vom
Donau-Odercanal zum Stromgebiete der Weichsel und bis zu einer schiffbaren
Strecke des Dniester — ist vom Staate auszuführen, wenn das Land, in dem einer
der unter a bis d genannten Canäle oder Canaltheile hergestellt werden soll,
beziehungsweise eine der oben angeführten zu canaJisierenden Flusstrecken sich
befindet, sich verpflichtet, die Zahlung eines jährlichen Betrages zu leisten, der
zur Verzinsung und Amortisierung eines Achtels jener Obligationen hinreicht,
welche zur Herstellung des betreffenden Canales oder Canaltheiles, beziehungs-
weise zur Canalisierung der betreffenden Flusstrecke (a bis d) emittiert werden.
Zu diesem Zwecke ist das Land berechtigt, die Interessenten heranzuziehen. Die
Beiträge der Länder sind nach Maassgabe der den Staat aus diesem Anlasse
treffenden Zahlungen zu leisten und haben aufzuhören, wenn die Einnahmen des
betreffenden Canales nach Abzug der Erhaltungs- und Betriebskosten den zur
Verzinsung und Amortisierung des Nominalanlagecapitales dieses Canales erforder-
lichen Betrag durch zwei aufeinanderfolgende Jahre überschritten haben.
§ 2.
Die Vorsorge für Beiträge aus Landesmitteln, sowie die Art der Heranziehung
der innerhalb der einzelnen Königreiche und Länder in Betracht kommenden
Interessenten bleibt der Landesgesetzgebung vorbehalten. Der Landesbeitrag kann,
*) Zur Ergänzung des in dem vorigen Hefte enthaltenen Artikels von Gel wein
ist hier der wesentliche Inhalt des Gesetzes wiedergegeben.
Gesetz vom 11. Juni 1901, R.-G.-Bl. Nr. 66, etc. 429
falls eine diesbezügliche Vereinbarung zwischen der Staatsverwaltung und dem
betreffenden Lande zustande kommt, auch durch die Herstellung einzelner in den
Bauprojecten vorgesehenen Anlagen (Häfen, Anlandeplätze, Zufahrtsstrassen u. s. w.),
durch die Abtretung von Grundeigenthum, Einräumung von dinglichen Rechten
und Ueberlassung von Wasserrechten, Materiallieferungen, sowie sonstige Sach-
und Arbeitsleistungen abgestattet werden.
§ 3.
Für die einheitliche Leitung der im § 1 näher bezeichneten Arbeiten ist
in entsprechender Weise Vorsorge zu treffen. Es ist ein aus Fachmännern und
Vertretern der Interessenten bestehender Beirath zu bestellen. Die Hälfte der
Mitglieder des Beirathes ist von der Regierung, die andere Hälfte von den Landes-
ausschüssen der betheiligten Länder zu ernennen. Die näheren Bestimmungen
über Zahl und Vertheilung der Mitglieder und die Geschäftsführung sind im
Verordnungswege zu erlassen. Bei der Zusammensetzung dieses Beirathes ist auf
die Interessen des Handels, der Industrie, des Gewerbes, der Land- und Forst-
wirtschaft, sowie der Arbeiterschaft Rücksicht zu nehmen.
§ 4.
Die Verwaltung der nach § 1 dieses Gesetzes herzustellenden Wasserstrassen,
sowie die Festsetzung und Einhebung der Abgaben und Gebüren für die
Benützung der Wasserstrassen und der dazu gehörigen Anlagen erfolgt durch
den Staat. Bei Feststellung dieser Abgaben und Gebüren ist auf den ausgiebigsten
Schutz der gesammten heimischen Production, insbesondere durch entsprechende
tarifarische Maassregeln, vollste Rücksicht zu nehmen.
§ 5.
Behufs Sicherstellung der Regulierung derjenigen Flüsse in Böhmen,
Mähren, Schlesien, Galizien, Nieder- und Oberösterreich, welche mit dem im § 1
genannten Canälen, canalisierten und in Canalisierung begriffenen Flüssen ein
einheitliches Gewässernetz bilden und, sei es wegen der Zufuhr von Wasser,
sei es mit Rücksicht auf die Geschiebebewegung für die in Betracht kommenden
Wasserstrassen besondere Bedeutung besitzen, sind die Verhandlungen mit den
betheiligten Königreichen und Ländern sofort einzuleiten, wobei für die finanziellen
Leistungen der Königreiche und Länder die bei solchen Maassnahmen bisher
üblichen Gesichtspunkte Anwendung zu finden haben. Die Regulierung dieser
Flüsse muss spätestens gleichzeitig mit dem Bau der Canäle (§ 6, Absatz 1) in
Angriff genommen werden.
Für alle übrigen Wasserläufe in den im Reichsrathe vertretenen König-
reichen und Ländern, hinsichtlich welcher sich eine Regulierung als nothwendig
darstellt, ist dieselbe thunlichst rasch vorzubereiten und sobald die entsprechenden
Vorarbeiten vorliegen, ehestens in Angriff zu nehmen. Die behufs Durchführung
solcher Regulierungen erforderliche Erhöhung des jährlichen Staalsbeitrages für
den Meliorationsfond ist durch ein besonderes Gesetz festzustellen. Die Ein-
stellung von Dotationen für Wasserbauten in die jeweiligen Staatsvoranschläge
bleibt hiedurch unberührt.
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. X. Band. 29
430 Gesetz vom 11. Juni 1901, R.-G.-Bl. Kr. 66, etc.
§ 6.
Der Bau der im § 1 bezeichneten Wasserstrassen, hinsichtlich welcher
seitens der Vertretungen der betreffenden Länder zustimmende Beschlüsse im
Sinne des § 1 gefasst worden sind, hat längstens im Jahre 1904 zu beginnen.
Die erforderlichen Vorarbeiten sind derart rechtzeitig durchzuführen, dass dieser
Zeitpunkt eingehalten und der Bau längstens binnen 20 Jahren vollendet werden kann.
§ 7.
Beim Bau der Canäle und der Canalisierung der Flüsse sind, soweit dies
mit dem gedeihlichen Fortgang der Arbeit vereinbar ist, inländische Techniker
und Arbeiter sowie die heimische Industrie zu beschäftigen.
§ 8.
Die Kosten der Herstellung der im § 1 bezeichneten Wasserstrassen und
der nach § 5, Absatz 1, durchzuführenden Flussregulierungen sind erforderlichen-
falls, soweit diese Kosten nicht durch die Leistungen der Länder oder sonstiger
Interessenten, beziehungsweise aus dem Meliorationsfonde gedeckt wurden, durch
eine mit höchstens 4 Procent steuerfrei zu verzinsende, auf Kronenwähruug
lautende, in 90 Jahren zu tilgende Anleihe zu beschaffen. Die Eegierung wird
ermächtigt, von dieser Anleihe in der Bauperiode 1904 bis Ende 1912 einen
Maximalbetrag von 250 Millionen Kronen Nominale auszugeben. Der hieraus
erzielte Erlös darf nur zur Deckung der Herstellungskosten der im § 1 bezeichneten
Wasserstrassen und der im § 5, Absatz 1, vorgesehenen Kegulierungen verwendet
werden.
Von dem Anlehenserlöse ist ein Betrag im Höchstausmaasse von 75,000.000 K
für die erwähnten Eegulierungen zu widmen.
Die Eegierung hat alljährlich zugleich mit der Einbringung des Staats-
voranschlages einen Ausweis vorzulegen, aus welchem die Beträge der auf Kechnung
der erwähnten 250 Millionen Kronen Nominale ausgegebenen Obligationen, sowie
die Verwendung des Erlöses derselben während der letztabgelaufenen Eechnungs-
periode und die in dieser Zeit stattgehabten Arbeiten genau zu ersehen sind. . . .
§ 10.
Die Eegierung wird ermächtigt, die Trace und die technische Anlage der
im § 1 erwähnten Wasserstrassen nach Einvernahme der Landesausschüsse der
betreffenden Länder endgiltig festzusetzen
§ 13.
Für die im § 1 und § 5, Absatz 1, bezeichneten Anlagen steht das Ent-
eignungsrecht, insbesondere auch das Eecht auf gänzliche oder theilweise Ent-
ziehung von Privatgewässern und Wasserrechten zu, wobei für die Durchführung
der Enteignung die Bestimmungen des Gesetzes vom 18. Februar 1878, E.-G.-Bl.
Nr. 30, betreffend die Enteignung zum Zwecke der Herstellung und des Betriebes
von Eisenbahnen, sinngemässe Anwendung zu finden haben.
I
Gesetz vom 11. Juni 1901, E.-G.-Bl. Nr. 66, etc. 431
Bei der Aufstellung und Ausführung der Projecte ist nach Thunlichkeit
auf die Interessen der Wasserwirtschaft und insbesondere darauf Rücksicht zu
nehmen, dass der Bedarf an Trinkwasser, sowie an dem zum Wirtschaftsbetriebe
und für die Fälle der Feuersgefahr nöthigen Wasser für die Gemeinden, Ort-
schaften und Ansiedlungen gedeckt bleibe.
Bei der Feststellung der Projecte, sowie beim Betriebe der künstlichen
Wasserstrassen ist insbesondere auch auf die bestehenden landwirtschaftlichen
Meliorationen, so namentlich auf die Bewässerungen und Entwässerungen thun-
liche Rücksicht zu nehmen, wobei jedoch auch nach Möglichkeit dahin zu wirken
ist, dass in Verbindung mit den neuen Wasserstrassen solche den landwirtschaft-
lichen Betrieb fördernde Anlagen neu hergestellt werden können. Hiebei sind
in erster Linie die Interessen des bäuerlichen Grundbesitzes zu berücksichtigen
§ 14.
Sobald eine der im § 1 und § 5, Absatz 1, angeführten Bauten in Angriff
genommen wird, ernennt der Handelsminister im Einvernehmen mit dem Minister
des Innern die erforderliche Anzahl von Gewerbeinspectoren, deren Thätigkeit im
Sinne des Gesetzes vom 17. Juni 1883, R.-G.-Bl. Nr. 117, sich auf die üeber-
wachung der betreffenden Bau-, Erd- und Wasserbauarbeiten erstreckt. Auf diese
Gewerbeinspectoren finden alle Bestimmungen des bezeichneten Gesetzes Anwendung.
Sie sind Mitglieder des Beirathes (§ 3). Nach Bedarf sind ihnen die nöthigen
Hilfsorgane an die Seite zu stellen. Diese Gewerbeinspectoren sind insbesondere
verpflichtet, in den von ihnen alljährlich zu erstattenden Berichten genaue Angaben
über die Lohn-, Wohnungs- und Sanitätsverhältnisse der bei der Ausführung
der bezeichneten Bauten beschäftigten Arbeitspersonen, sowie über die Art der
Arbeitsvergebung und über die Arbeitszeit zusammenzustellen.
Die durch die Bestellung und Amtsführung dieser Gewerbeinspectoren her-
vorgerufenen Kosten fallen zu Lasten der Baufonde.
Zur üeberwachung des sanitären Zustandes unter den bei der Ausführung
der bezeichneten Bauten beschäftigten Arbeitspersonen sind nach Bedarf besondere
ärztliche Organe zu bestellen.
§ 15.
Sämmtliche Bestimmungen des VI. Hauptstückes der Gewerbeordnung,
einschliesslich der Bestimmungen der §§ 88 a, 96 a, 96 b finden auf alle Kategorien
von Arbeitern Anwendung, welche bei der Ausführung einer der im § 1 und
§ 5, Absatz 1 angeführten Bauten beschäftigt sind.
29*
LITEßATUEBERICIlT.
Dr. Franz Walter, Privatdocent an der Universität München. Die Propheten
in ihrem socialen Beruf und das Wirtschaftsleben ihrer Zeit. Freiburg i. B. Herder'sche
Verlagsbuchhandlung 1900. S«. XVI und 288 S.
Der Verfasser will, wie schon der Titel seiner Schrift' zeigt, „die Wiiksamkelt
des Prophetenthums . .im Zusammenhang mit der damaligen Zeitlage und der historischen
Entwicklung, welche das wirtschaftliche Leben Israels durchläuft" schildern, da sie nur
in diesem Zusammenhange ganz begriffen werden könne. Er beginnt deshalb seine Dar-
stellung mit einer „Skizze der damaligen socialen und wirtschaftlichen Entwicklung, wie
sie dem Auftreten der Propheten vorangieng" (S. 14 — 96), deren Gedankengang in
Folgendem möglichst getreu wiedergegeben werden soll.
„Von einer Volkswirtschaft der Israeliten in strengem Sinn", führt Walter aus,
„lässt sich erst von dem Zeitpunkt ab sprechen, als auf der Grundlage des mosaischen
Gesetzes der israelitische Staat in dem neu eroberten Land Kanaan ins Leben getreten
war". Nach vollzogener Landnahme „waren die Israeliten, dem Charakter des Landes
und ihren eigenen Neigungen entsprechend, ein in einfachen Verhältnissen lebendes
Bauernvolk" geworden, das dem Ackerbau und der Viehzucht oblag. „Aber verschiedene
Umstände treffen und wirken zusammen, um die ursprüngliche Einfachheit der Sitten
allmählich im Verlaufe von etliclien Jahrhunderten zu beseitigen." Allerdings gelingt es
den Israeliten, in fortwährenden Kämpfen, zum Theil auch in friedlichem Zusammenleben
mit den culturell höher stehenden kanaanitischen Ureinwohnern diese zu vernichten oder
aufzusaugen. Allein „sie nehmen auch infolgedessen manche Elemente kanaanitischer
Cultur in sich auf" und werden vor allem auch „nach und nach ein handeltreibendes
Volk, welches den ursprünglichen Bewohnern es abzulernen versteht, die reichen Producta
des Bodens gewinnbringend zu verwerten". Der Ueberschuss an den letzteren über den
Eigenbedarf wird „gelegentlich durch die Vermittlung durchziehender Händler zu guten
Preisen ausser Landes verkauft" und gewerbliche Erzeugnisse, insbesondere Luxusgegen-
stände, werden hiefür eingetauscht. „Der so sich allmählich regende Handel findet sich jedoch
innerhalb bescheidener Grenze;i." Von der Meeresküste abgeschnitten und in alter Zeit auch
von den in feindlichem Besitze befindlichen Karawanenstrassen ausgeschlossen, ist auf Seite
der Israeliten von einer Betheiligung am See- oder auch nur am Karawanenhandel keine
Eede. „Vielleicht war es lange Zeit gar nicht einmal ein Handel ausser Landes. Denn wenn
auch bei der Vertheilung des Landes jeder Familie Grundbesitz zugewiesen worden war,
so konnte es doch leicht vorkommen, dass für eine besonders zahlreiche Familie in
manchen Jahren der Getreideertrag nicht ausreichte, oder dass einer verarmte aus irgend-
welchen Ursachen und um sein Grundstück kam; bis zum nächsten Jobeljahr lebte er
deshalb nicht von seinem eigenen Grund und Boden, sondern war gezwungen, im Tausch-
verkehr sein Brotgetreide sich zu beschaffen. Desgleichen machte jeder Miswachs in
diesem Lande den Kornhandel unentbehrlich ; namentlich aber musste das Land jenseits
des Jordan, wo weit weniger Ackerbau als Viehzucht betrieben wurde, auf den Getreide-
überschuss der westlichen Provinzen angewiesen gewesen sein." — Auf israelitischer
Seite ist der Handel übrigens anfänglich nur Passivhandel gewesen. „Der Activhandel
wurde .... weitaus überwiegend von den Kanaanitern und benachbarten Phöniziern
besorgt, (die) nach Art von Hausierern im Lande umherzogen.
Einen Wendepunkt in diesem Zustande bedeutet erst das Aufkommen des König-
thums und besonders die davidische Zeit. Das Königthum, nothwendig geworden durch die
I
Literaturbericht. 433
militärische Inferiorität Israels infolge innerer Zerrissenheit und des Mangels einheitlicher
Führung während der Richterzeit, ertheilt der Volkswirtschaft jenen kräftigen Impuls,
dessen sie nur bedurfte, „um den Uebergang aus der Naturalwirtschaft zur Tauschwirt-
schaft, die nicht bloss für den Eigenbedarf, sondern vor allem auch für den Absatz
produciert, zu bewerkstelligen." Gerade weil das Königthum in erster Linie militärischen
Charakter trug, eigneten ihm von vornherein despotische Züge, die sich im Laufe der
Zeit immer mehr vertieften. Die alte Freiheit und Gleichheit werden dadurch vernichtet
oder stetig abgeschwächt. Ein luxuriöser Hof, ein stehendes Heer und eiu Kriegsadel
zehren nun mit an dem Wohlstande des Volkes. Dazu aber gesellt sich die andere
Thatsache, „dass die Könige das in stiller Abgeschiedenheit lebende Volk ... in den
hochgehenden Strudel des phönizischen und ägyptischen Handelslebens hineinziehen
sollten." War die israelitische „Volkswirtschaft vorher von dem Princip der Autarkie
beherrscht", so „vollzog sich nun der Uebergang aus dem reinen Agriculturstaat in den
Handelsstaat ziemlich rasch. Fast sprungweise und unvermittelt ... trat Israel aus dem
Stadium des passiven Kleinhandels in die Epoche des Grosshandels und in den damaligen
Weltverkehr." Glückliche Kriege unter David bringen die Israeliten ans rothe Meer,
sowie in den Besitz von Damaskus und der wichtigsten Durchzugsgebiete für den
Handel. Die Gründung der Residenzstadt Jerusalem als Knotenpunkt der wichtigsten
Karawanenstrassen schafft nicht nur ein Handels-, sondern auch ein politisches und
religiöses Centrum, in dem „ein glanzvolles Städteleben sich zu entfalten begann". Die
wachsende städtische Bevölkerung „vermehrte naturgemäss die Comsumtion, und damit
steigerte sich der Absatz nach der Stadt." Zahlreiche fremde Kaufleute lassen sich in
Jerusalem nieder. Der Aufschwung der Stadt in baulicher Beziehung führt zu regem
Austauschverkehr mit den Phöniziern. Diese sind es, die „Baumaterialien, Bauleute und
Architekten beistellen und als Entgelt die köstlichen Landesproducte der Israeliten",
auf die sie in der Versorgung mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen angewiesen waren,
erhielten. Salomo selbst ist der grösste Handelsherr seines Landes. Er betheiligt sich
an den phönizischen Ophirfahrten, er monopolisiert den Handel mit ägyptischen Rossen
und Kriegbwagen, er begründet und fördert auf alle Art die israelitische Schiffahrt.
Kurz, seine „Politik war eine ausgesprochene Handelspolitik", und „der Ackerbau hatte
bloss den Zweck, dem Handel zu dienen".
Denn landwirtschaftliche Erzeugnisse sind es, die Israel ausführen kann und allein
auszuführen hat: Oel, Wein, Balsam, hauptsächlich aber Getreide. Letzteres machte das
Land zur „Kornkammer Phöniziens und durch Vermittlung der Phönizier wohl auch noch
anderer Länder" und brachte im Verein mit den anderen genannten Erzeugnissen „riesige
Massen an Edelmetall" ins Land. Die starke Ausfuhr nicht nur, auch der wachsende
„Geldreichthum" und der starke inländische Consum — da „die Hauptnahrung des
Volkes Brot war" — revolutionierten die Preise. „Was bis zu der Zeit, in der wir stehen,
am billigsten war, das Getreide, wird nun wegen der lockenden Absatzgelegenheit im
Auslande ein im Preise hochstehender Artikel" und eben deshalb „Handelsobject, Ware
und Gegenstand kaufmännischer Speculation". „Aus dem in patriarchalischer Sitte und
in eng begrenzten Lebensverhältnissen dahinlebenden Bauern wird der weitblickende,
berechnende, geriebene Getreidehändler." Der König Salomo selbst hatte — aller-
dings nur zu Speculationszwecken — „staatliche Getreidelagerhäuser" errichtet und dadurch
die Reflexwirkung erzielt, dass Hungersnoth im Lande selbst verhindert wurde. Nach
ihm aber wurde „ohne Rücksicht auf Reserven für den Fall ungünstiger Erntejahre das
letzte erlangbare Korngetreide von den Grosshändlern aufgekauft und exportiert". Die
Folge war unausbleiblich. „Das reiche Kornland ward mehrmals mitten im tiefsten
Frieden von Hungersnoth heimgesucht." Die Veränderung in den Grundlagen des Wirt-
schaftslebens hatte aber noch andere unheilvolle Folgen auf materiellem, geistigem und
vor allem reglosem Gebiet. — Hatte früher den allgemeinen Tendenzen in der Richtung
der Herbeifülirung von Besitz- und Wohlstandsdifferenzierungen die Institution des
Jobeljahres und des ungetheilten Ueberganges der Bauerngüter auf einen Erben entgegen-
gewirkt, so wird es jetzt anders. Die „Geldwirtschaft und die Geldherrschaft", der
434 Literaturbericht.
wachsende Luxus und Bedarf des Hofes, die dadurch nothwendig gewordene und stetig
sich steigernde Besteuerung, alles das zerstört die alte Besitzgleichheit, vernichtet den
Mittelstand und schafft Herren und Knechte in einem Lande, das nie „Feudalverhältnisse,
Hintersassen und Hörige gekannt hatte". Umsomehr, als „dem begehrlichen Handels-
geiste der Capitalisten daran liegen liegen musste, möglichst viel von dem hochrentierenden
Getreideboden in ihre Hände zu bekommen und sich an dem Gesetz des Jobeljahres
vorbeizudrücken". — Die zahlreichen fremden Kaufleute finden Gastfreundschaft und
Duldung auch in ihren Cultgebräuchen. „Dem platten Lande gieng selbstverständlich
mit verführerischem Beispiel die Eesidenzstadt voran", wenn es galt, die fremden geistigen
und götzendienerischen Strömungen aufzunehmen imd sich anzueignen. Das Ende ist ein
vollständiger sittlicher und religiösei Auflösungsprocess, der „moralische Bankrott".
Auf diesem Boden erwächst das Prophetenthum. Durch die geschilderte Entwicklung
ist seine Aufgabe umschrieben. Die Propheten „erkannten in dem Abfall vom ererbten Glauben
das Grundübel ihrer Zeit, und alle die socialen Misstände, die sie rings um sich erblickten,
führten sie auf diese vergiftete Quelle zurück". „Die Untreue gegen Gott hat die Untreue
unter den Menschen, den unsocialen Kriegszustand der Volksgenossen aus sich heraus-
geboren." Die Propheten sind aber keine Revolutionäre. Sie wollen keine Reform „durch
Abänderung der socialen Unordnung, wie sie nach aussen in die Erscheinung tritt",
sondern durch innere Wiedergeburt der Menschen. Der Verfasser vergleicht sie daher
mit den modernen Nationalültonomen ethischer Richtung, hebt aber zugleich hervor, dass
sie nifß^t eigentlich Politiker, sondern Bussprediger und Sittenlehrer waren, die gleich entfernt
ichtbarem Optimismus wie Pessimismus auch die reale Welt realistisch beurtheilten.
Tie sie ihre Mission durchführten und welche Gebiete sie besonders erfassten, führt
[ter nun im einzelnen vor. (S. 96 flF.)
Die betreffende Schilderung wird genügend durch den Hinweis auf nachfolgende
Schlagworte charakterisiert: Die Klagen der Propheten über die allgemeine Verderbtheit
der Sitten; ihr Kampf gegen den Luxus, insbesondere gegen den Alkoholismus und
die Frauenemancipation, sowie für die Reinerhaltung von Ehe und Familie, für Recht und
Gerechtigkeit im wirtschaftlichen Verkehr, für geordnete Rechtspflege ; ihre Agrar- und
Mittelstandspolitik.
In einem Schlusscapitel (261 flf.) werden vom Verfasser die Hindernisse und
Schwierigkeiten geschildert, mit denen das Prophetenthum zu kämpfen hatte: „Reichthum,
Macht und Regierung standen gegen sie und sogar die Religion wurde in fürchterlicher
Weise von pflichtvergessenen Priestern und falschen Propheten gegen sie ins Feld geführt,
um ihre Autorität zu erschüttern".
Referent hat den Inhalt des Walter'schen Buches möglichst ausführlich und
getreu wiederzugeben gesucht, weil es nach zwei Richtungen hin interessant ist : als
Versuch einer Untersuchung über „altjüdische Wirtschaftsgeschichte", deren bisheriges
Fehlen der Verfasser mit Recht beklagt; dann aber auch durch die absolut bibelgläubige,
auf Kritik verzichtende Art dieses Versuches. Das macht denselben unwissenschaftlich.
Eine nähere Begründung dieses Vorwurfes ist unnöthig. Sie ist zur Genüge enthalten in
der vorstehenden Skizze der altjüdischen Wirtschaftsgeschichte selbst, die meist aus Ver-
muthungen und unbewiesenen Behauptungen zusammengesetzt ist und überdies eine über-
triebene Neigung verräth, moderne- Vorstellungen und Maasstäbe in eine ferne Ver-
gangenheit zu übertragen.
Wien. Carl Grünberg.
John Bates Clark: The distribution of wealth, a theory of wages, interest and
profits, New York, Macmillan Company, 1899, XXVIII und 445 pag.
Nur mit einigen Zeilen sei auf das Werk Clarks aufmerksam gemacht, welches
zeigen und nachweisen will, „dass die Vertheilung des gesellschaftlichen Einkommens
von einem Naturgesetze controliert werde, und dass dieses Gesetz, wenn es ungestört
wirken könne, jedem Productionsfactor diejenige Menge von Wertobjecten zuweise, welche
er erzeugt hat". Den Terminus Naturgesetz (natural law) versteht Clark im Sinne eines
statischen Gesetzes, einer Tendenz. Das Werk ist durchaus theoretisch. Dieser Umstand
Literaturbericht. 435
allein schon macht es unmöglich und zwecklos, hier, in einer kurzen Anzeige, eine Kritik des-
selben zu bieten oder auch nur den Inhalt anzugeben. Dazu kommt, dass Clark in
diesem Buche im wesentlichen nur eine systematische Zusammenstellung schon früher
in verschiedenen Zeitschriften veröffentlichter Artikel bietet. Da Clark den Gedanken
der Grenzproductivität all seinen Betrachtungen über Lohn und Zins zugrunde
legt, rückt er der österreichischen Schule nahe, er muss sich also auch mit ihr auseinander-
setzen; zu Böhm-Bawerk scheint er eingehender erst Stellung nehmen zu wollen in
einem zweiten Werke, das den dynamischen Theil der Einkommensvertheilung behandeln
soll. Natürlich musste neben präcisen Begriffsbestimmungen auch die Theorie des Wertes
in ihrem Verhältnis zum Einkommenprobleme und die Eentenlehre in Betracht gezogen
werden, letztere schon deswegen, weil die Rente theoretisch in solchem Zusammenhange
mit Lohn und Zins steht, dass man diese letzteren in einer Weise betrachten kann, die
die Anwendung des Rentenprincips auf sie könnte zulässig erscheinen lassen. —
Aus dem Gesagten ist wohl ersichtlich, dass Clarks Werk einen sehr weiten Kreis
theoretischer Betraclitungen in sich schliesst. Der Grundgedanke ist insbesondere im
4., 5. und 12. Capitel entwickelt („die Grundlage der Vertheilung in allgemeinen,
wirtschaftlichen Gesetzen", „die heutige Vertheüungsform ein Ergebnis der socialen
Organisation", „die Grenzproductivität als Regulator von Lohn und Zins"); statische
Gesetze beherrschen"^ auch die sich entwickelnden (dynamischen) Gesellschaften, unter
ihnen das Princip der Grenzproductivität von Arbeit und Capital. Mit dem Lohne im
besondern befassen sich die Capitel 7 und 8, mit dem Capitale (Clark unterscheidet
Capital und Capital-goods, die Erträge der Capitalgüter sind Rente, das Product des
Capitals ist Zins), die Capitel 9 und 10. Die Rente bespricht vor allem das Capitel 13.
Die weiteren Abschnitte sind vorwiegend Erklärungen und Beweisführungen für die
früher aufgestellten Thesen gewidmet. Schullern.
Johannes Conrad: Grundriss zum Studium der politischen Oekonomie, III. Theil,
Finanzwissenschaft, II. Auflage. Jena, Fischer 1900.
Wir machen hiemit auf das Erscheinen einer zweiten vermehrten Auflage dieses
Grundrisses aufmerksam, die sowohl im theoretischen Theile, als auch in allen andern
Partiea allen Anforderungen an eine concise, klare und das Wesentliche erschöpfende
Darstellung entspricht. Dass der historische Theil auch statistisches, bis in die unmittel-
bare Gegenwart reichendes Materiale (für Preussen, Grossbritannien, Frankreich und
Oesterreich) bietet, bedarf nur der Erwähnung.
Eugen V. Böhm-Bawerk: Capital und Capitalzins, zweite vielfach vermehrte
und verbesserte Auflage, I. Abtheilung: Geschichte und Kritik der Capitalzinstheorien,
Innsbruck, Wagner 1900.
Es genügt, hier auf das Erscheinen der zweiten Auflage dieses Werkes die
wenigen Fachleute, welche davon etwa noch nicht Kenntnis haben, aufmerksam zu
machen und zu erwähnen, dass der Verfacser dasselbe wesentlich erweitert hat, indem
er auch John Rae in den Kreis seiner Betrachtung aufnahm, die neueste Literatur über
Capital und Capitalzins in einem Anhange in seine Kritik einbezog und sich mit den
Angriffen Walkers und Marschalls gegen die erste Auflage auseinandersetzte.
Annuaire de la legislation du travail, public par Foffice du travail de
Belgique, III. Annee 1899, Bruxelles 1900, 563 pag.
Erst vor kurzem waren wir in der Lage, in dieser Zeitschrift den zweiten Band
dieser verdienstlichen Publication anzuzeigen, und nun liegt bereits der dritte vor.
Auch in ihm finden wir alles Wesentliche, was auf dem Gebiete des Arbeiterschutzes
und der Arbeiterversicherung in der Berichtsperiode geleistet worden ist, vor, so dass
auch dieser Band als ein durchaus verlässliches Nachschlagebuch bezeichnet werden
kann; leider zeigt auch er, dass einer der wichtigsten Zweige der Gesetzgebung gegen-
wärtig in den meisten Staaten in seiner Entwicklung stockt und dass das meiste, was
geschieht, sich in mehr oder weniger nebensächlichen Verordnungen erschöpft. Das
Deutsche Reich bietet nur das Gesetz vom 13. Juli 1899 über die Invalidenversicherung;
436 Literaturbericht.
dem allgemeinen Interesse gemäss, das es beanspruchen kann, ist seinem Texte eine
eingehende Einleitung vorausgeschickt, welche vor allem seine Geschichte und die
Bedeutung der in ihm festgestellten Abänderungen des Gesetzes vom 22. Juni 1889
beleuchtet. Oesterreich documentiert leider noch immer eine unselige Sterilität in seiner
Gesetzgebung; hoffentlich wird sich bei uns bald ein frischer Zug fühlbar machen.
Ich erwähne noch das kais. russische Decret vom 7. Juni 1899, durch welches
ein Industrie- und Bergwerksrath eingesetzt wurde und das interessante neuseeländische
Gesetz vom 28. October 1899 über die Lohnzahlungen. Schullern.
Les Industries a Domicile en Belgiqiie, Office du travail, Volume II,
Bruxelles 1900.
lieber den ersten Band dieser gross angelegten Sammlung ist in dieser Zeitschrift
vor kurzem eingehend berichtet worden, so dass die Bedeutung des Gesammtwerkes
wohl genügend charakterisiert sein durfte. Wir beschränken uns daher darauf, von dem
Erscheinen des zweiten Bandes Kenntnis zu geben und mitzutheilen, dass derselbe
folgende, reich mit statistischem Materiale, Kartogrammen und Diagrammen ausgestattete
Monographien enthält:
Die Wollweberei-Hausindustrie in Flandern (Ernest Dubois), 223 S.
Die Hausstrohflechterei im Geerthale, d. h. in den Provinzen Lüttich und Limburg
(Maurice Anciaux), 82 S.
Die Schuhwaaren-Hausindustrie im flamändischen Gebiete (Ch. Gilles de
Pelichy) 152 S.
Die erste Abhandlung verdient eingehendes Studium; sie enthält auch eine
Menge legislativ-historischen Materiales, das auf Jahrhunderte zurückgeht. Aus der
zweiten Abhandlung sei besonders der historische Theil erwähnt, sowie die kurze Dar-
legung der technischen Organisation des Gewerbes. Auch auf die Schilderung der
heutigen Absatz- und Lohnverhältnisse sei verwiesen, die auf das baldige Verschwinden
dieser Industrie schliessen lassen, wenn nicht eine ausgedehnte Gründung von Genossen-
schaften, insbesondere Consumvereinen im letzten Augenblicke Rettung bringt.
Die Schuhindustrie der von Vlämen bewohnten Landestheile hat für uns auch
nationales Interesse und ist wirtschaftlich und social von der allergrössten Bedeutung;
insbesondere tritt hier das Genossenschaftswesen in verschiedenen Formen, freilich erst
langsam in Wirksamkeit und ihm mag es zu danken sein, wenn dieses Hausgewerbe
wenigstens örtlich noch seine Blüte für längere Zeit erhalten wird. Schullern.
Jean Jaures: Action socialiste. Premiere sörie. Paris, Georges Bellais, Editeur.
1899. 8«. VI und 558 S.
Das vorstehend angezeigte Buch ist eine Sammlung von Parlamentsreden und
Artikeln des Verfassers aus der Zeit von October 1886 bis zum März 1899. Es zerfällt
in zwei Abtheilungen. Die erste enthält unter dem zusammenfassenden Titel: „Le socialisme
et Tenseignement" 21, die zweite unter der Ueberschrift: „Le socialisme et les peuples"
24 Reden und Aufsätze. Insgesammt sind sie von socialdemokratischem Geiste getragen
und wollen auch nichts anderes sein als Aeusserungen eines socialdemokratischen Partei-
mannes. Dieser Parteimann nimmt aber nicht nur eine führende Stellung in der
französischen Arbeiterbewegung ein; er schreibt und spricht auch glänzend. Aus diesen
beiden Gründen verdient daher die Sammlung ernsthafte Beachtung von Seite aller, die
sich für die socialdemokratische Bewegung überhaupt und diejenige Frankreichs insbe-
sondere interessieren. Besonder» hervorgehoben seien aus der ersten Abtheilung: „Ecoles
municipales populaires"; „Les universit6s regionales"; „La crise de Funiversit^";
„L'instruction morale ä l'ecole"; aus der zweiten: „Paix et revanche"; „La d^mocratie
fran^aise en Europe"; „Nos camarades les socialistes allemands"; „La Conference de
Berlin"; „La France et le socialisme". — ig —
Beiträge zur neuesten Handelspolitik Oesterreichs. Herausgegeben vom
VereinefürSocialpolitik. Leipzig 1901, Duncker & Humblot. (XCIII. Band der Schriften
des Vereines für Soicalpolitik) X und 314 S.
I
II
Literaturbericht. 437
Zehn Monographien zur neuesten österreichischen Handelspolitik sind in diesem
Bande vereinigt. Die erste, von Dr. Alex. v. Matlekovits, welche die handelspolitischen
Interessen Ungarns behandelt, enthält in gewissem Sinne eine Negation einer specifisch
österreichischen Handelspolitik durch die scharfe Betonung nicht bloss der ungarischen
Interessen, sondern auch ihrer selbständigen Geltendmachung in der Handelspolitik der
Monarchie, Immerhin versucht der Verfasser, der ja auch ein überzeugter Anhänger des
österreichisch-ungarischen Zoll- und Handelsbündnisses ist, einen gemeinsamen Boden
aufzufinden, von dem aus die österreichisch-ungarischen Handelsverträge der nächsten
Zeit mit Erfolg negociiert werden können. Die forstwirtschaftlichen Producte der
Monarchie haben nach des Verfassers Meinung die Sicherung ihres Absatzgebietes durch
Zollmassregeln nicht nöthig, selbst wenn Deutschland keine entgegenkommende Haltung
beweisen sollte. Dagegen hat Ungarn ein grosses Interesse an der Erleichterung seines
Exportes von Getreide (mit Ausnahme von Gerste und Hirse, von denen aber mindestens
die erstere vom österreichischen Standpunkte aus gleich zu beurtheilen ist), landwirt-
schaftlichen Producten und Schlachtvieh; damit im Zusammenhange stehe das Interesse
an zollbegünstigter Behandlung jener einheimischen Industrieartikel, welche direct mit
der Landwirtschaft in Verbindung stehen, wie Mehl, Mahlproducte, Malz, Bier, Stärke,
Kleister und Dextrin, Zucker und Spiritus, Holzwaren u. dgl. Die Haltung der West-
staaten, insbesondere aber Deutschlands wird in dieser Hinsicht auch von grossem Ein-
flüsse für das österreichisch-ungarische Handelsverhältnis zu den östlichen, insbesondere
der Balkan-Länder. Eine Zollermässigung, welche Deutschland für landwirtschaftliche
Producte an Oesterreich-Ungarn gewährt, kann von diesem auch den Ostländern gewährt
werden, womit die Monarchie natürlich auch eine wertvolle Position bekäme, um für
ihre Industrie eine zollbegünstigte Einfuhr in die Balkanländer zu erlangen,
Hien.it ist in der That ein sehr wesentlicher Punkt gleichgearteter Interessen
beider Eeichshälften aufgezeigt. Sollen aber die agrarischen Einflüsse auf deutscher
Seite wirksam bekämpft werden, dann muss auch mit der Eventualität gerechnet werden,
dass unser Verhältnis zu den Balkanländem in einer Weise geregelt werde, welche die
Deutschen abzuwehren ein starkes Interesse haben müssen. Darüber hat sich der Ver-
fasser, als specifisch ungarischer Handelspolitiker, allerdings nicht ausgesprochen. Er hat
zwar genug politisches Empfinden, um auch aus einer eventuell feindseligen Haltung
Deutschlands in der Frage der AgrarzöUe nicht die Consequenz zu ziehen, dass dann
unbedingt ein ähnliches, feindseliges Verhalten den östlichen Nachbarn gegenüber zu
verfolgen sei. Wenn der Verfasser aber die volle Consequenz dieses Standpunktes
ziehen würde, so müsste er auch zugeben, dass eine eventuell ganz ernste Inaussicht-
nahrae eines ZoUbündnisses mit den Balkanländern auf Deutschland allein einen Eindruck
ausüben könnte. Freilich wüide eine solche Ordnung der Dinge dem specifisch ungarischen
Interesse weniger als dem Oesterreichs entsprechen. ; aber wenn das Operieren mit
begünstigten Industrieexporten Oesterreich-Üngarns nach dem Balkan als Mittel zur
Erlangung begünstigter AgrarzöUe im Deutschen Reiche sich wirksam erwiese, dann
würden wohl auch die Ungarn für diese Handelspolitik ein Verständnis haben. Jedenfalls
aber dürfte die officielle ungarische Handelspolitik nicht auf dem Standpunkte des
Verfassers stehen, der meint, Ungarn (!) könne als ausreichende Gegengabe fi|r eine
Bindung und Ermässigung der AgrarzöUe dem Deutschen Eoiche die Herabsetzung, bezw.
Festlegung unseres gegenwärtigen autonomen Tarifs für Industrieartikel bis an die
Grenze der deutschen Zollsätze zugestehen. Dieses Geschenk aus fremder Tasche
widerspricht doch direct dem Grundsatze, dass das Maass der Opfer, welche jeder der
beiden Reichstheile dem einheitlichen Zollwesen bringt, im geraden Verhältnisse zu der
Grösse des Interesses stehen muss, das jeder an der Erreichung eines bestimmten
handelspolitischen Erfolges hat.
Die übrigen Abhandlungen dieses Bandes betreffen die handelspolitischen Be-
ziehungen Deutschlands und Oesteireichs (von Dr. J. Grunzel) und die Frage einer
Zollunion mit Deutschland vom Standpunkte der österreichischen Textilindustrie (von
D. E. V. Stein), ferner die handelspolitischen Interessen der österreichischen Land-
, Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltunff. X. Band. 30
438 Literaturbericht.
Wirtschaft (von Dr. K. Allesina v. Schweitzer), der österreichischen Glasindustrie
(von J. Reich), der Holzbranche, der Thonindustrie (von J, Buk); eine Darstellung
der handelspolitischen Beziehungen Oesterreich- Ungarns zu Rumänien, Serbien und
Bulgarien (von Professor M. Grünberg), über internationale Veterinärconventionen (von
Professor G. Marchet) und über Zollverwaltung und Zollverfahren (von Dr. R. Kobatsch).
Es wird Gelegenheit sein, auf die zum Theile sehr lehrreichen Ausführungen, welche
diesen Band der Schriften des Vereines für Socialpolitik besonders auszeichnen, ndch
des näheren zurückzukommen. J.
Beiträge zur neuesten Handelspolitik Deutschlands. Herausgegeben vom
Verein für Socialpolitik, I. Band. Leipzig 1900. Duncker & Humbio t. 336 S.
Dieser sehr wertvolle 90. Band der Schriften des rührigen Vereines für Social-
politik umfasst 4 Beiträge: 1. Die Handelspolitik der Vereinigten Staaten 1889 — 1900
von Dr, George M. Fisk, Professor an der handelspolitischen Abtheilung des Tome
Institute, Port Deposite, Maryland. 2. Die Stellung der landwirtschaftlichen Zölle in
den 1908 zu schliessenden Handelsverträgen Deutschlands von Professor Dr. J. Conrad
in Halle a. S. 8. Zollpolitische Einigungsbestrebungen in Mitteleuropa während des
letzten Jahrzehnts. Von Professor Dr. Ernst Francke in Berlin. 4. Die deutsch-
russischen Handelsbeziehungen von Privatdocent Dr. Karl Ballod in Beilin.
Direct mit Oesterreich beschäftigt sich nur der 3. dieser Beiträge, und zwar ist
es der Gedanke eines Zoll- und Handelsbündnisses mit dem Deutschen Reiche, dessen
Chancen hier besprochen werden. In den mannigfachsten Formen, Wendungen und
Schattierungen ist im Laufe des letzten Decenniums dieser Gedanke in der Donau-
monarchie diesseits und jenseits der Leitha immer wieder zutage getreten, freilich auch
immer wieder bekämpft worden. Im Deutschen Reiche hat der Gedanke im allgemeinen
nur eine geringe Resonanz gefunden. Aber die Verhältnisse sind doch auch hier
so wenig geklärt, die Interessengegensätze so gross, dass es sich erst erweisen muss, ob
nicht im Reich wie in Oesterreich-Ungarn sich schliesslich doch eine Mittellinie der
Interessen herausstellen wird, welche sich nahe berührt und den Gedanken — im Hin-
blicke auf die handelspolitischen Gefahren aus West und Ost — vielleicht als annehm-
barer erscheinen lassen, als er sich auf den ersten Blick darstellt. J.
A. (x. Raunig, Der Zolltarif und die Reciprocitäts-Verträge der Vereinigten
Staaten von Amerika. Wien, Verlag des „Industriellen Club" 1901. 40 S.
Die kleine Schrift von Raunig wird auch neben der viel grösseren und eingehen-
deren Abandlung von Fisk (s. o.) immer noch ihren Wert behaupten. Sie legt zuerst
die Construction des Generaltarifs, besonders nach der Dingley-Bill 1897 dar, gibt
lehrreiche Details über die Handhabung des Tarifs und die Bedingungen, welche bei
der Einfuhr nach den Vereinigten Staaten zu erfüllen sind, sowie über das Restitutions-
verfahren und erörtert sodann eingehend die Anwendung des Princips der Gegenseitigkeit
(Reciprocität), mit welchem die amerikanische Handelspolitik mindestens ebenso wichtige
Erfolge wie mit seinem Generaltarif erzielt, und das bestimmt scheint, in immer grösserem
Umfange an die Stelle der Meistbegünstigung oder der DifFcrenzialzöUe zu treten.
Insbesondere in der amerikanischfn Auffassung der Meistbegünstigungsclausel trirt dies
zutage. Oesterreich-Ungarn, das mit den Vereinigten Staaten keinen Reciprocitäts-
vertrag abgeschlossen hat, sondern nur eine allgemeine Meistbegünstigung beanspruchen
kann, ist darnach von allen Zollermässigungen ausgeschlossen, welche nur gegen bestimmte
Gegenleistungen einem anderen Staate gewährt worden sind. Die zahlreichen Auszüge
aus der Handelsstatistik, welche Raunig seiner Schrift einverleibt hat, illustrieren in
wirksamer Weise die Erfolge des neuesten zollpolitiscben Systems der Vereinigten Staaten.
Ig. Zuclter. Lose Blätter über die österreichische Zoll- und Handelspolitik nebst
einem Blicke auf die inneren Verhältnisse. Wien, Manz 1901. 48 Seiten.
Vier Forderungen stellt der Verfasser als nothwendig zur allgemeinen Aufrichtung
unserer Handels- und Wirtschaftspolitik auf: Die bevorstehenden Handelsverträge nur im
Sinne eines ausgiebigen Schutzes der einheimischen, industriellen Interessen abzuschliessen;
das Reatitutions verfahren in Oesterreich zu erweitem, um es allen Interessenten zu ermöglichen,
Literaturbericbt. 439
davon in leichter Weise Gebrauch zu machen; zur Unterstützung der Industrie und zur Hebung
des Seeverkehrs Differentialzölle auf breiterer Grundlage einzuführen und endlich eine
Kohstofftarif zu construieren, der Massen- und Schwergüter allgemeinen Verbrauches
unter den billigsten Transportbedingungen befördert. Von diesen Forderungen ist nur
eine, die Erweiterung des Restitutionsverfabrens, näher ausgeführt. Der Verfasser hat
auf diesem Gebiete offenbar eigene, praktische Erfahrungen, die seinen allgemeinen
Ausführungen sehr zustatten gekommen sind. Das Restitutionsverfahren bei Fabrikaten-
exporten, welche aus eingeführtem und verzolltem Rohstoff gearbeitet sind, ist zwar in
in Oesterreich schon lange gesetzlich geordnet, aber die Modalitäten, welche erfüllt
werden müssen, um von der Zoll-Restitution Gebrauch machen zu können, sind so um-
ständlich und schwer, dass praktisch sehr wenig Nutzen aus dieser Einrichtung für den
Export daraus resultiert. Eine reichere Ausbildung und freiere, einfachere Behandlung
des Restitutionsverfahrens gehört allerdings zu den berechtigten Postulaten unserer
Exportkreise. J.
Dl*. Heinrich Dietzel: Weltwirtschaft und Volkswirtschaft, Dresden, v. Zahn
und Jaensch 1900, 120 S. (Jahrbuch der Gehestiftung V.)
Mit wachsendem Erstaunen wird wohl jeder, der nicht auf die Freihandelsidee
eingeschworen ist, dieses geistvolle Buch lesen; von Seite zu Seite wird er sich immer
mehr zum Widerspruch herausgefordert fühlen, ja manchmal wird ihm der Gedanke nicht
fernsein, der Verfasser ergehe sich in Paradoxen; nun, mir ist es beim Lesen diesem
Werkes in gewissem Sinne auch nicht anders ergangen; trotzdem halte ich dafür, dass
es nothwendig ist, Dietzels Buch zu lesen, denn es stellt ein vollständiges Waffendepöt
der Freihandelsidee dar und was auf den ersten Blick paradox erscheint, ist oft gerade
die gefährlichste Waffe. Wer trotz Dietzel die Entnationalisierung der Volkswirtschaft
noch immer verwirft, auch nachdem er sein Buch mit vollem Verständnisse studiert hat,
der ist erst vollkommen qualificiert, gegen die Freihandelstheorie, — ich halte diese,
wenigstens unter den heutigen Verhältnissen Mitteleuropas und vom Standpunkte dieses
Gebietes, also unter allen Umständen, wenn als allgemein giltige These aufgestellt, für
eine Irrlehre, — erfolgreich zu Felde zu ziehen, denn er kennt das Schlachtterrain und
die "Waffen der Gegner.
Dietzel hält dafür, dass der Volksreichthum durch den Anschluss der nationalen
an die Weltwirtschaft qualitativ und quantitativ gehoben werde und meint im
Rahmen dieses Gedankens: bei „kosmopolitischer" Arbeitstheilung werde die Arbeit eines
jeden Volkes nationaler, weil sie dann nur mehr jene Productionszweige betrifft, für die
Land und Volk besonders geeignet sind. Sollte diese letztere These nicht etwa nur dann
verständlich sein, wenn übersehen wird, dass die Wirtschaft im allgemeinen und die
Volks-, ja sogar die sogenannte Weltwirtschaft nicht Selbstzweck, sondern Mittel für
die Erreichung des allgemeinen Culturzweckes, aber nicht etwa nur der „Menschheit"
als solcher, sondern zum mindesten zunächst jedes einzelnen, für sich existenzberechtigten
und daher nicht nur staatlicher, sondern auch möglichst grosser wirtschaftlicher Unab-
hängigkeit bedürftigen Volkes ist? Sollte eben diese These nicht dann von selbst wider-
legt sein, wenn man bedenkt, dass die Völker unter dem Gesichtswinkel unseres
Problems nicht nur statisch, sondern auch dynamisch betrachtet werden müssen und
dass Wissenschaft und Technik den wirtschaftlichen Wert jedes Landes verändern und
erhöhen können? Dass der Anschluss an die Weltwirtschaft die Stetigkeit des Wirt-
schaftslebens fördert, mag richtig sein; dass durch eine vollständige Angliederung aber
eine Hälfte der Menschen wenigstens während einer vielleicht sehr langen Uebergangs-
periode der andern aufgeopfert, die Stetigkeit des Wirtschaftslebens also sehr theuer
erkauft würde, darf dabei auch nicht übersehen werden; es liegt da ein Argument vor,
das wir nur zu oft in der Getreide-Terminhandelsfrage gehört haben; man sah — auf
internationalem Standpunkte stehend — in der preisnivellierenden Function des Termin-
handels ein Verdienst desselben und vergass, dass den Vortheil dabei die reichen Länder
haben, welche die armen, unter ungünstigen Productionsbedingungen schmachtenden, auf
diesem Wege wirtschaftlich zertreten.
440 Literaturbericht.
Dass im allgemeinen die Lebensverhältnisse der Bevölkerung sich gebessert haben,
mag richtig sein; dass diese Erscheinung aber nur oder aber auch nur zum erheblichen
Theile dem „Anschlüsse an die Weltwirtschaft" zu danken sei, muss ich bestreiten,
vorausgesetzt, dass man darunter nicht etwa nur meint, dass ein Verkehr mit aus-
ländischen Productionsgebieten überhaupt hiezu nöthig war; ein Verkehr auf der Basis
des Freihandels war gewiss nicht nothwendig; das zeigt uns eia Blick auf das Deutsch-
land List's.
Nur insoweit Dietzel den Anschluss an die Weltwirtschaft in diesem letztern
Sinne versteht, insoferne er also fordert, die heimische Eohproduction und Industrie sei
ohne Zollschutz dem wilden Spiele der sogenannt „freien" Concurrenz mit den Productionen
der auswärtigen Länder zu überantworten, insoferne er von „kosmopolitischer Arbeits-
theilung" redet, die auf die heutige Lage der nationalen Arbeit und auf die für die
wichtigsten Bedarfsartikel gegebenen, nationalen Arbeitsbedingungen keine Rücksicht
nimmt, gelten die obigen Einwendungen, Hier aber ist der entscheidende Punkt und
hierin kann uns Dietzel auch durch seine so scharfsinnige „Kritik der gegen den
Anschluss an die Weltwirtschaft erhobenen Bedenken und der auf Grund dieser Bedenken
geforderten Politik der „Nationalisierung" nicht zu seiner Auffassung bekehren. Hier
steht eine Grundanschauung einer andern gegenüber, wenn wir im Gegensatze zu
Dietzel nicht wünschen, dass die einzelnen Volkswirtschaften mit dem „weltwirtschaft-
lichen Organismus" so verschmolzen werden, dass sie in demselben die Function von
Gliedern erhalten. Uns ist die Nation, uns ist der Staat ein selbständiges Wirtschafts-
subject mit jeweils nur ihm eigenen Bedingungen für sein wirtschaftliches Gedeihen und
für die Erreichung der ihm eigenen Culturaufgaben. Alles übrige ist eine Frage nach
dem Maasse, welches der Protectionismus einhalten muss, wenn er nicht auch jenen
Verkehr mit auswärtigen Volkswirtschaften unterbinden soll, der auch von unserem
Standpunkte aus nothwendig und nützlich ist, und der sich als ein einigendes Band um
die Völker schlingen soll, ohne zu einem Strick zu werden, welcher sie in ihrer nationalen ^j;
Subjectivität und Selbständigkeit erdrosseln würde. Schullern. ^"I^
DAS AUSWANDEßUNGSPßOBLEM
UND DIE
REGELUNG DES AUSWANDERÜNGSWESENS
IN ÖSTERREICH.
VON
DR. JOSßF BUZEK.
I. Das Auswandepungsppoblem.
1. Einleitung.
In der Reihe der wirtschaftlichen und socialen Gesetzesvorlagen, die
(auf Grund des in der Allerhöchsten Thronrede enthaltenen Programmes) in
der laufenden Session des Reichsrathes zur Erledigung gelangen sollen,
dürfte das Auswanderungsgesetz das Interesse weiter Kreise der Bevölkerung
nicht besonders erregt haben. Für die öffentliche Meinung in Oesterreich,
soweit diese durch die grossen Blätter der Hauptstadt bestimmt wird,
scheint überhaupt eine österreichische Auswanderungsfrage nicht zu existieren.
Mehr als das! Selbst die österreichische Wissenschaft hat sich bisher mit diesem^
Problem so gut wie nicht beschäftigt. Es ist demnach zu befürchten, dass
die auf die Regelung des Auswanderungswesens bezügliche Action der
Regierung unter völliger Theilnahmslosigkeit weiterer Kreise durchgeführt
werden wird.
Die auf den ersten Blick sehr befremdende Thatsache, dass bei uns
wohl die Auswanderung aus Deutschland, aus England etc. eifrig studiert^
dagegen die aus Oesterreich-Ungarn fast übersehen wurde, findet ihre
natürliche Erklärung in den nationalen Verhältnissen der Monarchie. Es fehlen
rege geistige Beziehungen zwischen den das Reich bewohnenden Volks-
stämmen, und so weiss der Deutsche nicht, was dem Polen noth thut, und
dem Italiener ist das Wohl und Wehe des Böhmen fremd. Jeder Deutsch-
österreicher, der sich mit der Frage beschäftigt, weiss wohl, dass z. B. in
Italien die Auswanderungsfrage für gewisse Gegenden so wichtig ist, dass
es ihn gar nicht wundert, wenn mitten in den wildesten Obstructionskämpfen
des Vorjahres die italienische Kammer einhellig die auf die Regelung des
Auswanderungswesens bezügliche Regierungsvorlage der Verhandlung unter-
warf. Er weiss aber nicht, dass es in Oesterreich ganze Länder oder
wenigstens sehr grosse Gebiete gibt, für die die Regelung des Auswanderungs-
' Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitlk und Verwaltung. X. Band. 31
442 Buzek.
Wesens eine wahre Nothstandsangelegenheit ist, von der Hunderttausende
von Existenzen berührt werden. Hier mit Informationen zu dienen, das
Problem der österreichischen Auswanderung zu formulieren, die Aufgaben
und Ziele einer Regelung des Auswanderungswesens zu bestimmen, ist die
erste Aufgabe der vorliegenden Abhandlung.
Das Problem der österreichischen Auswanderung hängt wesentlich
davon ab, was wir unter Auswanderung verstehen wollen. Der Begriif, so
klar er auch auf den ersten Blick zu sein scheint, umfasst doch eine Scala
von Unterscheidungen, angefangen von der engen Definition des § 1 des
Auswanderungspatentes vom 24. März 1832 (J.-G.-S. Nr. 2557) bis zu
der von Freiherr von Call de lege ferenda vorgeschlagenen Aenderung,
wonach unter Auswanderung jede Entfernung „in das Ausland, um dort
Erwerb zu suchen" zu verstehen ist. ^)
Die Auswanderung ist nur eine Form der Wanderbewegungen, die
seit Sanctionierung des Princips der Freizügigkeit eine der wesentlichsten
Bedingungen unseres wirtschaftlichen und socialen Lebens bilden. Es sind
in der Regel dieselben Motive, die zur Uebersiedlung in eine nahegelegene
Stadt, oder ein benachbartes Industriecentrum und die zur Auswanderung
nach fremden Ländern und selbst über die See treiben. Der Unterschied
besteht nur in den Wirkungen für den Wanderer selbst, wie für die culturelle,
politische und wirtschaftliche Gemeinschaft, der er angehört hat und in ^
er eintreten will. *i^
Die erwähnten Wirkungen sind für alle Betheiligten wesentlich anderer
Art, wenn der Wanderer noch immer im Bannkreise der alten Gemeinschaft
verbleibt, als wenn er denselben verlässt. In ersterem Falle sprechen wir
von einer Wanderung schlechthin, im zweiten Falle bezeichnen wir den
Wegzug als Auswanderung,
Von diesem Standpunkte aus betrachtet müsste als österreichische
Auswanderung wohl nur die Wanderbewegung über die Grenzen des Staates
hinaus bezeichnet werden. Die wirtschaftlichen und nationalen Gegensätze,
die innerhalb der Staatsgrenzen existieren, bewirken aber, dass die Wanderung
aus dem agrarischen Galizien zum mährisch-schlesischen Kohlenbecken, wie
die aus czechischen Gegenden in deutsche Bezirke erfolgende Zuwanderung
nicht als Ab- und Zuzug sondern als Auswanderung und Immigration
empfunden werden. Im ersten Falle hat der Wanderer seine wirtschaftliche,
im zweiten seine nationale Sphäre verlassen, und die Wirkungen sind derart,
dass sie nicht nur die unmittelbar Betroffenen, sondern auch den Staat
interessieren. Bei der Formulierung des Problems der österreichischen Aus-
wanderung wird also auch auf diese Thatsachen eingegangen werden müssen.
Das Problem der Auswanderung aus Oesterreich kann nur auf Grund
eines Studiums der Entwickelung und des gegenwärtigen Standes derselben
aufgestellt werden. Wir werden uns also zuerst über die Ursachen, die
Richtungen, den Umfang und die Folgen der österreichischen Auswanderung
I
^) Artikel: Auswanderungsgesetzgebuug in Oesterreich, Handwörterbuch der Staats-
wissenschaften, Jen^a 1899, II. Band, S. 117.
/
Das Auswanderungsproblem und die Eegelung des Auswanderungswesens etc. 443"
ZU äussern haben. Der internationalen Bedeutung der Bewegung wegen
werden wir dabei gelegentlich auch die Entwickelung der Auswanderung aus
den Ländern der ungarischen Krone in den Kreis unserer Betrachtungen ziehen.
2. Die Geschiehte der österreichischen Auswanderung
bis zum Ende der Siebziger jähre.
Die Geschichte der österreichischen Auswanderung ist bisher nicht
geschrieben. Die Bewegung erstreckt sich auf national und culturell so
differenzierte Territorien, dass für den einzelnen die Sammlung des Materials
fast unmöglich ist. Wir müssen versuchen, auf Grund der uns zugänglichen
Quellen den Verlauf der Auswanderungsbewegung aus den wichtigsten
Theilen des Kelches so weit zu skizzieren, als dies für die Zwecke der vor-
liegenden Arbeit nothwendig erscheint. Wir wollen hiebei mit dem Jahre 1851
anfangen, da ein Rückblick auf die frühere Periode wegen der im Jahre 1848
eingetretenen Aenderung der Verhältnisse nicht mehr interessiert. ^)
Die Wanderbewegung ist in Oesterreich, wie in den allermeisten
übrigen Staaten, nie Gegenstand erschöpfender statistischer Beobachtung
gewesen. Bis zum Jahre 1884 waren auf Grund der H.-K.-V. vom
17. März 1820 und des Hofdecretes vom 7. Februar 1823 die politischen
Behörden verpflichtet, alljährlich sogenannte Emigrationstabellen auszustellen,
und darin alle jene Personen auszuweisen, die die Monarchie verliessen und
„sich in einem fremden Staat begaben mit dem Vorsatze, nicht wieder
zurückzukehren", mögen sie die Erlaubnis der Behörden erhalten oder ohne
dieselbe die Grenzen verlassen haben. Die Tabelle sah besondere Rubriken
nur für das Geschlecht, das Alter und das mitgenommene Vermögen der
Auswanderer vor. Die Emigrationstabellen bezogen sich also sowohl auf die
erlaubte, als auch auf die unerlaubte Auswanderung, und sollten ihrer
Anlage nach einen Ueberblick über den Umfang der dauernden Aus-
wanderung sowohl nach europäischen, als auch nach überseeischen Ländern
ermöglichen. Bis zur gesetzlichen Feststellung der Auswanderungsfreiheit,
die bekanntlich durch Art. 4 des Staatsgrundgesetzes vom 21. December 1867
(R.-G.-Bl. Nr. 142) erfolgte, mögen diese Nachweisungen so ziemlich
zuverlässig gewesen sein. Nach 1867 entgiengen aber immermehr Aus-
wanderungsfälle der Kenntnis der Behörden und die Daten der Emigrations-
tabellen wurden schliesslich so unbrauchbar, dass im Jahre 1884 die statistische
Central-Comission sich entschliessen musste, auf diese Art der Erhebung
überhaupt zu verzichten.^) Seit dieser Zeit veröffentlicht die „Statistische
*) In der ersten Hälfte .des neunzehnten Jahrhunderts war die österreichische
Auswanderung immer eine sehr unbeträchtliche gewesen und erreichte, wenn nicht
besondere Zeitereignisse eine Hebung hervorriefen, nie die Höhe von 1.000 Individuen;
im Jahre 1820 wanderten 1.211, 1830 541 Personen aus. 1840 wieder nur 663, 1845 745;
namhafter ist die österreichische Auswanderung jedenfalls in der bewegten Zeit der
Revolutionsjahre 1848 und 1849 gewesen, doch fehlen hierüber jedwede verlässliche
Aufschreibungen.
2) Vergleiche Ferd. S c h m i d, Oesterreichisches Staatswörterbuch, (von U 1 b r i c h-
Mi seh 1er), Band I, Artikel Auswanderung.
31*
U4
Buzek.
Monatsschrift" bloss die Daten der überseeischen Auswanderung, und dies
auf Grund des von den Behörden der wichtigsten Ein- und Ausschiffungs-
häfen gesammelten Materiales. ^) Wie unvollkommen diese Nachweisungen
sind, geht schon daraus hervor, dass nicht einmal die Gesammtzahl der
Auswanderer aus Oesterreich sich exact berechnen lässt und auf Schätzungen
gegriffen werden muss. -)
Abgesehen von den durch die unmittelbare Beobachtung der Wander-
bewegung gewonnenen Daten, kann die Intensität der Wanderbewegungen
näherungsweise auch auf die Art berechnet werden, dass man die Zunahme
des Bevölkerungsstandes, die durch zwei unmittelbar aufeinander folgende
Volkszählungen festgestellt wird, dem Geburtenüberschüsse des Zeitraumes
zwischen diesen Volkszählungen gegenüberstellt. ^) Die Beobachtung richtet
sich hier auf die ganze Wanderbewegung, umfasst namentlich auch die
Binnenwanderungen, auf ihr sollen denn auch die weiteren Ausführungen
basieren.
Wird nur die Civilbevölkerung in Betracht gezogen, dann betrug:
I. Das Plus der Einwanderung (-{-), resp. das Plus der Auswanderung ( — ) in der Periode
Nieder-Oesterreich .
Ober-Oesterreich . .
Salzburg
Steiermark ....
Kärnten
Krain
Küstenland ....
Tirol und Vorarlberg
Böhmen
Mähren
Schlesien
Galizien
Bukowina
Dalmatien
Staatsgebiet .
1857—1869*)
1870—1880*)
+ 169.089
+ 4.198
+ 4.355
+ 21.741
— 10.001
— 22.356
— 2.043
— 11.819
— 183.045
— 35.821
— 3.741
+ 67.415
+ 1.916
— 20.776
20.888
4- 199.272
— 1.801
+ 6.704
-f 21.926
— 2.694
— 15.268
+ 8.929
— 15.079
— 173.115
— 79.840
— 7.545
— 1.997
+ 13.083
— 0.286
66.594
1881—1890»)
+ 171.092
— 2.023
+ 5.221
+ 11.237
— 6.648
— 20.587
— 6.955
— 15.994
— 198.493
— 53.976
— 7.731
— 81.997
— 2.952
— 14.787
224.593
^1^^1900^)
+
163.180
23.024
9.810
7.430
16.185
32.720
251
3.472
— 127.725
— 80.799
— 1.730
^ 340.833
— 14.282
— 15.750
+
484.317
II
^) Dr. Probst, Die österreichische überseeische Auswanderung insbesondere in
den Jahren 1889 und 1890. Statistische Monatsschrift, Band XVIII, S. 1 ff.
2) Vergleiche Statistische Monatsschrift. Band XIIT, S. 132, Band XIV, S. 39,
Band XVI, S. 149, Band XVIII, S. 1, Band XIX, S. 379, N. F. Band II, S. 580, N. F.
Band V, S. 72.
3) Vergleiche von Mayr, Bevölkerungsstatistik, S. 335.
*) Oesterreichische Statistik, V. Band, 3. Heft, S. IV. (Ergebnisse der Volkszählung
vom 31. December 1880.)
^) Eigene Berechnungen.
Das Auswanderungsproblem und die Regelung des Auswandeningswesens etc. 445
II. Der jährliche Geburtenüberschuss
Das jährliche Plus der
Einwanderuug (-}-), resp.
Auswanderung ( — )
auf 100 Civileinwohner
in der Periode
1857
bis
18691)
1870
bis
1880')
1881
bis
1890
1891
bis
1900
.1857
bis
18692)
1870 I 1881 1891
bis I bis i bis
18802) 1890 I 1900
Nieder-Oesterreich
Ober-Oesterreich . .
Salzburg
Steiermark
Kärnten
Krain
Küstenland ......
Tirol und Vorarlberg
Böhmen
Mähren
Schlesien
Galizien
Bukowina
Dalmatien
Staatsgebiet . .
0-63
0-23
002
0-43
0-35
0-61
1-01
0-38
0-99
0-73
1-33
1-39
0-97
118
0-87
0-65
0-30
0-14
0-J3
0-37
0-59
0-5S
0-42
1-06
1-03
1-06
0-86
0-81
0-47
0-65
036
0-27
0-48
0-54
0-79
0-86
0-35
0-84
0-81
081
1-08
1-22
131
0-79
0-85
0-89
0-52
0-53
0-61
0-61
0 83
0-85
0-47
0-99
101
1-18
1-47
1-42
1-52
107
+ 0
+ 0'
+ 0
+ 0
— 0
— 0
— 0
— 0
— 0
— 0
— 0
-f-0'
+ 0'
— 0'
0-01
+ 0-90
— 002
+ 0-39
+ 0-17
— 007
-0-30
+ 0-14
— 015
— 0-31
— 0-36
— 0-13
-0-00
+ 0-23
— 012
003
+ 0-69.
-0-03
+ 0-81
+ 0 09
— 0-19
-0-42
— 011
— 0-18
— 0-35
— 0-25
— 0-13
-0-13
-0-05
-0-29
— 0-10
-f 0-57
-0-26
+ 0-54
-0-06
-0-45
— 0-65,
-0-00
4-003
— 0-21
-0-39
— 0-02
— 0-49
— 0 21
-0-28
0-20
Noch anfangs der 60er Jahre durfte der französische Schriftsteller
Legoyt 3) behaupten, dass die Bewohner Oesterreichs im ganzen keine
einigermaassen bemerkenswerte Neigung zur Auswanderung zeigen. Als
Ursachen gelten ihm die Maassnahmen der Kegierung, welche den Auswanderern
Hindernisse in den Weg lege, der ziemlich befriedigende ökonomische Zustand
namentlich der landwirtschaftlichen Bevölkerung, die grössere Entfernung
vom Orte der Einschiffung, sowie das Vorhandensein fruchtbarer, noch
unbebauter Landstriche im Innern.
Mögen auch die von Legoyt angeführten Gründe nicht zutreffen, die
Thatsache ist unbestreitbar, dass in den 50er Jahren die Wanderbewegung
in der Mehrzahl der österreichischen Länder, die Auswanderung in allen
nicht besonders rege war. Dass aber schon damals in einzelnen Gebieten ein
reiches Auswanderungsmaterial vorhanden war, zeigt das plötzliche Auftreten
einer ziemlich intensiven Auswanderung aus dem südlichen Böhmen in den
Jahren 1853 bis 1857.
1) Oesterr eichische Statistik, V. Band, 3. Heft, S. IV. (Ergebnisse der Volkszählung
vom 31. December 1880.)
2) Eigene Berechnungen.
^) Emigration Europeenne, Paris 1861.
446
Es wanderten aus:
Buzek.
\
im Jahre
aus Oesterreich
männlich
1850
278
1851
474
1852
627
1853
2.403
1854
3 691
1855
2.027
1856
1.459
1857
1.500
1858
1.139
1859
804
weiblich
230
390
552
2.281
3.450
1.978
1.320
1.336
987
627
zusammen
508
864
1.179
4.684
7.141
4.005
2.779
2.836
2.126
1.431
Davon aus
Böhmen
166
341
427
3.419
6.128
3.021
2.088
2.167
1.341
842
Das plötzliche Anschwellen der Auswanderung }m Jahre 1853 wurde
hervorgerufen durch die Entdeckung der Goldfelder iQaliforniens und die
sich daran anschliessende Thätigkeit der Auswanderungsagenten. Wie aus
den Zahlen ersichtlich, beschränkte sich die Bewegung auf das Königreich
Böhmen, hier aber brach in einzelnen Bezirken ein wahres Auswanderungs-
fieber aus. Selbst Mahnungen, welche im Auftrage der Regierung von den
Kanzeln herab verkündet wurden, blieben ohne Erfolg. Vor allem waren es
die Bewohner des czechischen Flachlandes, die sich zur Auswanderung
entschlossen. So zogen im Jahre 1853 aus dem Pilsener Kreise 1.311, aus
dem Budweiser 1.009 Menschen fort, im nächsten Jahre aus dem ersteren
Kreise 1.946, aus dem letzteren 1.386, aus dem Pardubitzer 1.068. Im
Jahre 1855, in welchem bereits die Neueintheilung Böhmens in 13 kleinere
Kreise durchgeführt war, verlor der Taborer Kreis 649, der Chrudimer 499,
der Egerer und der Pilsener je 426 Individuen. Am längsten währte die
Erregung im Pilsener Kreise, aus welchem noch 1856 636, 1857 756 Personen
in die Fremde zogen. Hierauf legte sich die Wanderlust, im Jahre 1859
sank die Zahl der Auswanderer aus Böhmen auf 842 herab. Zu bemerken
ist aber, dass obige Daten ^) etwa um die Hälfte hinter der Wirklichkeit
zurückstehen. Die Zahl der in der Zeit des californischen Schwindels nach
den Vereinigten Staaten ausgewanderten Oesterreicher betrug nämlich in
Wirklichkeit circa 25.000 Personen. War doch die Zahl der in den Vereinigten
Staaten ermittelten und in Oesterreich geborenen Personen im Laufe des
Decenniums 1850—1860 von 946 auf 25.061 gestiegen -J
Nach Böhmen stellte (abgesehen von Dalmatien, dessen überschüssige
Bevölkerung seit jeher über das Meer wanderte) in den 50er Jahren Tirol
das grösste Contingent der österreichischen Auswanderung. Während aber
I
II
0 Entnommen den „Mittheilungen aus dem Gebiete der Statistik"^ Jahrgang 17^
Heft 3, S. 89 ff.
2) Ziffern des Census vom 1. Juni 1850, resp. 1. Juni 1860.
Das Auswanderungsproblein und die Eegelung des Auswanderungswesens etc. 447
die Emigration aus Böhmen alle Merkmale eines plötzlich hervorbrechenden
Auswanderungsfiebers trägt, zeichnete sich die Wanderung aus Tirol durch
einen ruhigen Verlauf aus. Die Nordtiroler waren seit alter Zeit gewohnt,
in das benachbarte Bayern zu wandern, wo sie bei den Alpenwirtschaften,
dann als Handlanger und Arbeiter in den Städten gerne gesehen wurden.
Ebenso pflegten die Südtiroler im Winter in der Lombardei, im Sommer
in anderen Ländern Erwerb zu suchen. Auf diese zum grossen Theile zeit-
weilige Auswanderung entfällt das Hauptcontingent der Auswanderer aus
Tirol. Dass es aber überdies nicht an solchen gefehlt hat, welche sich zum
dauernden Wegzuge über das Meer entschlossen, beweist das Entstehen der
Colonien am Pozuzu in Chile.^) Die Gründer dieser ersten österreichischen
Colonie in Amerika stammen aus dem oberen Innthal.^)
In den 60er Jahren bilden, wie aus der an die Spitze gestellten
Uebersicht hervorgeht, Nieder- und Oberösterreich, Steiermark und Salzburg,
Galizien und die Bukowina Zuzugsgebiete. Eine starke Abwanderung hatten
(immer abgesehen von Dalmatien) Böhmen, gewisse Gebiete von Tirol,
sodann Krain, Kärnten und Mähren. Die allermeisten Abwanderer fanden
eine neue Heimat in benachbarten Gegenden des Kelches, zumal in den
wirtschaftlich emporstrebenden Theilen Nordböhmens, im mährisch-schlesischen
Kohlenreviere, in Wien und Umgebung, in der nördlichen Steiermark. Für
die Auswanderung blieb somit nicht viel Material übrig. Auch in den
60er Jahren kommen als eigentliche Auswanderungsherde nur die czechischen
Landbezirke Südböhmens, sowie einige Theile Tirols in Betracht. Besonders
intensiv gestaltete sich dabei nur die Auswanderung aus Böhmen.
Es wanderten aus :
aus Oesterreich
männlich
weiblich
zusammen
Davon aus
Böhmen
1.124
1.370
890
863
1.288
1.572
1.996
4.829
2.216
2.882
3.134
908
1.143
692
652
1.034
1.382
1.811
4.470
1933
2.677
2.786
2.032
2.513
1.582
1.515
2.322
2.954
3.807
9.299
4.149
5.559
5.920
1.302
1.927
1.246
1.124
1.950
2.417
3.089
7.430
3.220
4.507
4.519
') Vergl. die Mittheilung Dr. Karl Scherzers im 3. Bande des Werkes über
die Weltreise der Fregatte „Novara".
2) Richard Schroft, Die österreichisch-ungarische überseeische Culturarbeit und
Auswanderung, Wien 1894.
3j Mittheilungen aus dem Gebiete der Statistik, Jahrgang XIX, Heft 2, S. 126 ff.
448
Buzek.
Die öesammtzahl der Auswanderer aus Oesterreich in den Jahren 1850
bis 1868 beziffert sich nach den Emigrationstabellen auf 57.726 Personen;
davon stammten nicht weniger als 43.645 aus Böhmen, und 2.827 aus
Tirol; aus den grossen Ländern Mähren, Galizien und Bukowina, Nieder-
österreich wanderten dagegen bloss 2.608, resp. 1.415, und 1.340 aus.
Für Böhmen waren es anfangs der 60er Jahre insbesondere die
Verheissungen reicher Bodenverleihungen und lohnender Feld- und Bergwerks-
arbeit in Kussland, die viele Auswanderer in Bewegung setzten. Im
Jahre 1860 und 1861 wanderten aus dem Budweiser Kreise 449, resp. 828,
aus dem Taborer 183 resp. 505 Personen aus; als dann infolge der schlechten
Erfahrungen, die viele Auswanderer machten, die Auswanderung nach
Kusslaad abliess, begann alsbald eine immer steigende Bewegung nach den
Vereinigten Staaten. Das Kriegsjahr 1866 kann als der Anfang
«inergrossen und continuierlichen Wände rungaus Oester-
reichnachAmerikaangesehenwerdsen.
Der Umfang dieser Bewegung ist aus ^IM Daten der Emigrations-
"tabellen nicht voll zu ersehen. Wir greifen deswegen auf die Angaben der
ausländischen Hafenstatistik. Allein über die deutschen Häfen Hamburg
und Bremen wurden darnach im Jahre 1866 8.154, 1867 17.852, 1868 8.108,
1869 8.528, 1870 8.884 Auswanderer aus Oesterreich-Üngarn befördert.
Dass dabei die ungarische Wanderung gar nicht in Betracht kommt, ist
daraus zu ersehen, dass im Jahre 1870 in den Vereinigten Staaten bloss
3.737 Ungarn, dagegen 70.797 Oesterreicher ermittelt wurden.
Wie in den 50er Jahren, waren es wiederum die czechischen Landes-
theile, die das Hauptcontingent der Auswanderer stellten. Nach den Angaben
-der Emigrationstabellen wanderten aus :
aus dein Kreise
im Jahre
1866
Tabor .
Pilsen .
Budweis
Pisek .
584
795
285
195
1867
1868
2.277
1.085
992
796
1.074
460
403
327
Mehr als die Hälfte der österreichischen Auswanderung der drei Jahre
stammte somit aus obigen vier Kreisen.
In den 70er Jahren beginnt der Strom der österreichischen Aus-
wanderung auf weitere Gebiete hinüberzugreifen. Ein wenn auch unansehnliches
Plus der Auswanderung weisen in dieser Periode auch Oberösterreich und
Galizien auf, die bisher Einwanderungscentren waren. Die Abwanderung aus
Böhmen, Tirol, Schlesien, insbesondere aber aus Mähren, dessen Geburten-
überschüsse eine wesentliche Erhöhung erfahren haben, hat sich erheblich
Das Auswanderungsproblem und die Regelung des Auswanderungswesens etc. 449
verstärkt, verringert hat sich nur die aus Krain, aus dem Küstenlande,
insbesondere aber aus Kärnten, dessen Eisenindustrie sich in jener Zeit
einer leider nur vorübergehenden Periode des Aufschwunges erfreute. Wohl
fanden noch die meisten Abwanderer Unterkunft in den aufstrebendeu
Industriecentren des Inlandes, so insbesondere die aus Mähren und Krain.
Immerhin beginnen sich neben Böhmen und Tirol auch andere Länder an
der Auswanderung zu betheiligen.
Das wichtigste Ziel der österreichischen Auswanderung blieb auch in
den 70er Jahren die nordamerikanische Union. Die Emigration dorthin
beruht nicht mehr, wie in den 50er und zum Theile noch in den 60er Jahren,
auf vorübergehender, durch die Thätigkeit von Agenten hervorgerufener
Erregung der Bevölkerung, sondern auf wohl überlegten wirtschaftlichen
Motiven. Dies beweist ihr regelmässiger Verlauf. Ueber Hamburg und Bremen
wanderten aus Oesterreich-Ungarn aus:
im Jahre
1870 .^
. 8.884
Pei
sonen
im Jahre
1875 .
. 7.659 Personen
» »
1871 .
. 9.500
n
71 n
1876 .
. 8.434
ji fi
1872 .
. 9.498
•n
n n
1877 .
. 7.016
71 »
1873 .
. 11.228
n
n K
1878 .
. 5.620
» n
1874 .
. 9.919
t>
n j)
1879 .
. 8.154
An diesen Ziifern hat die Auswanderung aus Ungarn so gut wie
keinen Antheil; die Zahl der in Ungarn geborenen Personen war in den
Vereinigten Staaten im Decennium 1870/80 nur von 3.737') auf 11.526')
gestiegen, und es waren in dieser Zeit überhaupt nur 9.960") Ungarn ein-
gewandert, davon die meisten im Jahre 1880.^) Dagegen wurden durch den
€ensus des Jahres 1880 bereits 124.024 in Oesterreich geborene Personen
ermittelt, davon 85.361 Böhmen. (Nach der Anlage des amerikanischen
Censuswerkes bedeutet diese Ziffer nicht so die Zahl der in Böhmen
geborenen Personen, als die Zahl der Czechen und Mährer.)
Während die Czechen und Deutschen fast ausschliesslich nach den
Vereinigten Staaten sich wandten, suchten die Südtiroler und die Küsten-
ländev mit Vorliebe Südamerika auf, insbesondere Brasilien und Argentina.
Die ersten Massenwandernngen dorthin sind auf die Wirkungen der durch
die dortigen Eegierungen angeregten und durch Agenten in deren eigenem
Interesse geschürten Agitationen zurückzuführen. Insbesondere muss dies von
der Auswanderung nach Brasilien gesagt werden. Während bis zum
Jahre 1875 nur einzelne Personen nach Brasilien auswanderten, weist die
brasilianische Statistik für das Jahr 1876, 1877 und 1878 3.530. 1.606 und
1.110 Einwanderer aus Oesterreich-üngarn aus. Damit war aber auch das
Auswanderungsfieber erloschen. In den Jahren 1879—1882 war die Bewegung
minimal: 1879 312, 1880 292, 1881 83, 1882 57 Personen. Einen viel
1) Ziifern des Census vom 1. Juni 1870, resp. 1880.
2) Quarterly Eeport of the Chief of the Bureau of statistics, Washington, 188b,
p&g. 407.
3) 6.668.
450 Buzek
normaleren Verlauf zeigt die Auswanderung nach Argentina. In den Jahren
1857 — 1863 wanderten nach den Angaben der argentinischen Statistik 511,
1864—1870 601, 1871—1877 741, zusammen in 21 Jahren also 1.853
Oesterreicher und Ungarn ein. Dabei war die Einwanderung bis zum
Jahre 1868 nie über 100 gestiegen und schwankte auch später nur zwischen
dem Minimum von 50 (1870) und dem Maximum von 187 Einwanderern (1873).
Erst die Massenauswanderung nach Brasilien gab den Anstoss zu einer
intensiveren Bewegung ; viele der Brasilienmüden übersiedelten nach Argentina,
das doch besseres Eortkommen versprach. Ihr Beispiel zog andere aus der
Heimat nach. Im Jahre I878 schnellte die Auswanderung aus Oesterreich-
Ungarn auf einmal auf 920 an, im Jahre 1879 erhob sie sich auf 1.774»
im folgenden Jahre behauptete sie sich noch immer auf 907. Damit hatte
die überseeische Auswanderung aus dem Trentino (die aus
dem Küstenlande nach Brasilien hatte nur etfien ephemeren Fiebercharakter)
in Argentina ein festes Ziel gefunden.
Nicht alle österreichischen Einwanderer nach Brasilien in den Jahren
1876, 1877 und 1878 stammten aus dem Trento und dem Küstenlande. In
der Statistik des Hamburgischen Staates finden wir, dass im Jahre 1872 195,
im Jahre 1878 804, 1874 148, 1876 1.433, in den folgenden Jahren 1.506,
dann wieder nur 66 Auswanderer aus Oesterreich-Ungarn sich im Hafen
von Hamburg nach Brasilien einschifften. Diese Auswanderer stammten
aus Galizien und ihr Ziel war Parana. Wie einst die Californienwanderung'
für Böhmen, so war diese Auswanderung das erste Anzeichen, dass in
Galizien ein für eine Massenauswanderung vortrefflicher Boden vorhanden ist.
Galizien zeichnet sich durch eine verhältnismässig dichte Bevölkerung
(bereits 1869 kamen 69 Einwohner auf 1 km^)^ wie durch sehr hohe
Geburtenüberschüsse(imDiirchschnitteder Jahre 1857— 1869 jährlich 1*39 auf
100 Civileinwohner, im folgenden Decennium trotz der Choleraepidemie des
Jahres 1873 0*86) aus. Beides charakterisiert insbesondere die Avestlichen,
von Polen bewohnten Landestheile. So war denn auch Westgalizien seit
jeher der Nährboden einer starken Wanderbewegung. Die Wanderung vollzog
sich aber bis Ende der 60er Jahre fast ausschliesslich innerhalb der Landes-
grenzen. Die polnische Bevölkerung zog, wie in den früheren Jahrhunderten,
nach Osten, d. h. nach den ruthenischen Landestheilen, die seitdem
immer mehr von Polen durchsetzt wurden. Die Wanderung erstreckte sich
selten über die Keichsgrenze nach Eussland, häufig dagegen in die Bukowina,
wo wir bereits im Jahre 1869 17.464 Angehörige des Königreiches Galizien,
zum allergrössten Theile Polen finden. Den Eichtungen dieser Wander-
bewegung ist es zu danken, dass bis zum Jahre 1870 Galizien ein
Einwanderungsgebiet war, in den 70er Jahren die Abwanderung aus Galizien
minimal blieb. Immerhin genügte in den 70er Jahren der Osten des Landes
nicht mehr, um die ganze Masse der masurischen Auswanderer aufnehmen
zu können. Allmählich beginnt sich somit eine Bewegung
nach dem Westen zu entwickeln. Insbesondere waren es die
industriellen Theile von Böhmen, Mähren, Schlesien und Niederösterreich,
I
Das Auswanderungsproblem und die Regelung des Auswanderungswesens etc. 451
die den Ueberschuss aufnahmen. Gerieth so die Auswanderung aus Galizien in
Fluss, so war doch noch die spontane Auswanderung in fremde Staaten
oder gar in überseeische Länder nicht bedeutend. Die Auswanderung nach
Parana war künstlich hervorgerufen worden, im Jahre 1873 durch die
Thätigkeit der Agenten der Colonisationsgesellschaft Pereira Aloes, B e n d a-
s z e w s k i und Com p., seit dem Jahre 1876 infolge der Bemühungen des
damaligen Präsidenten des Staates Parana Dr. Laraenha Lins.^)
Den galizischen Auswanderern des Jahres 1876 ist es in Brasilien nicht
schlecht gegangen. Während die von den im Jahre 1873 Ausgewanderten
gegründeten Colonien Eufrosina und Pereira zugrunde giengen, gedeihen
die von den Auswanderern des Jahres 1876 im Innern Paranas gegründeten
Colonien Thomas Coelho und Nowa Polonia auf das beste. Wenn nichts-
destoweniger in den folgenden Jahren die Auswanderung aus Galizien nach
Parana gänzlich ins Stocken gerieth, ist dies bloss ein Beweis, dass die
Bewegung des Jahres 1876 nicht aus dem organischen Bedürfnisse der
polnischen Bevölkerung Galiziens hervorgieng, sondern durch zufällige Um-
stände (totale Missernte des Jahres 1875, Agitation der Auswanderungs-
agenten) hervorgerufen wurde.
Das charakteristische Merkmal der österreichischen Auswanderung der
50er, 60er und 70er Jahre beruht darin, dass die Auswanderung, soweit
sie nicht sporadisch, sondern als Massenbewegung auftrat, Familienaus-
wanderung war und dauernde Uebersiedlung nach fremden Ländern bedeutete.
Nur die Auswanderung aus Südtirol war vorwiegend eine Waiderung lediger
Männer, die nicht so eine feste Ansiedelung, als vorübergehenden Erwerb in
der Fremde zu finden hofften. Eine Arbeiterauswanderung war auch die
Bewegung überall dort, wo sie nur vereinzelt auftrat. Ziiferraässig prägt
sich dieser Charakter der ersten Periode der österreichischen Auswanderung
dadurch aus, dass nicht nur Männer, sondern auch Frauen, nicht nur
Erwachsene, sondern auch Kinder auswanderten.
Nach den Daten der Emigrationstabellen wanderten aus Oester-
reich aus:
im
Jahrzehnt
Personen
mann-
lichen
weib-
lichen
Geschlechtes
Es standen im Alter von
bis
7 Jahren
7 bis 17
Jahren
17bis40
Jahren
40 bis 50
Jahren
über 50
Jahren
Von je 100 Aus-
wanderern waren
Frauen
Kinder
unter
7 Jahren
1851—1860
1861—1870
1871-1880
15.248
21.040
38.772
13,829
18.580
32.913
5.586
8.337
14.595
6.826
8.083
14.954
11.556
17.182
29.338
3.706
4.197
8.041
1.403
1.871
4.757
47-56
46-88
45-92
19-21
21-04
20-36
*) Dr. Josef Siemiradzki, Opis stanu Parana, Lwöw 1896.
452 Buzek.
Nach den Angaben dieser Tabelle waren 46 — 477o der österreichischen
Auswanderer weiblichen Geschlechtes, und entfiel auf die Kinder unter
7 Jahren 19 — 217o, auf die Jugend unter 17 Jahren sogar 41 — 437o der
^österreichischen Auswanderung! Dass gerade diese Verhältnisse von der
österreichischen Statistik richtig wiedergegeben werden, folgt daraus, dass
die Ziffern des hauptsächlichsten Einwanderungslandes dasselbe besagen:
von den 63.009 Oesterreichern, die in den zehn Fiscaljahren 1870/71 bis
1879/80 in die Vereinigten Staaten einwanderten, waren 34.575 männlichen
und 28.434 weiblichen Geschlechtes, 45-17o der Einwanderer entfällt demnach
auf die Frauen I
Während so der Hauptstrom der österreichischen Auswanderung, d. h.
vor allem die Auswanderung aus Böhmen ^a^jernde Ausbürgerung bezweckte,
war die Auswanderung aus Südtirol und aus Dalmatien in der Hauptsache
eine Wanderung Erwerb suchender Männer, die in der Regel in der Absicht,
wieder zurückzukehren, die Heimat verliessen. In vielen Fällen wurde zwar
die ursprünglich als zeitweilig gedachte Auswanderung zu einer definitiven,
zumal wenn der Auswanderer in der Fremde eine Familie gründete.
Zahlreiche und selbst solche, die sich Frau und Kinder später haben nach-
kommen lassen, kehrten nach vielen Jahren als vermögende Leute zurück,
um den Kest ihrer Tage in beschaulicher Ruhe unter dem lachenden Himmel
Südtirols zu verbringen.
Der Charakter dieser südtirolischen Auswanderung wird am besten
durch die Stftistik Argentinas, wohin sich die allergrösste Anzahl der
Tridentiner wandte, wiedergegeben. Von den 26.363 Oesterreichern und
Ungarn (in der Hauptsache Südtiroler), die vom 1. Jänner 1857 bis zum
31. December 1896 nach Argentina einwanderten, waren nicht weniger als
20.059 männlichen und nur 6.304 weiblichen Geschlechtes, waren 22.369 Er-
wachsene und bloss 3.994 Kinder unter 12 Jahren. Auf das weibliche
Geschlecht entfallen somit bloss 23*74, auf die Kinder bloss 15*377o der
Einwanderer.
Für die Beurtheilung der österreichischen Auswanderung vor dem
Jahre 1880 kommt noch ein Avichtiger Umstand in Betracht. Nach den
Emigrationstabellen, die insbesondere seit 1867 den völligen Umfang der
Auswanderung nicht wiedergeben konnten, wanderten aus Oesterreich in
den Jahren 1858—1869 39.650, in den Jahren 1869—1880 77.244 Personen
aus; in Wirklichkeit muss die Auswanderung auf das Doppelte veranschlagt
werden. Nichtsdestoweniger ergibt sich aus einer Gegenüberstellung der
Geburtenüberschüsse und des Bevölkerungsstandes im Zeitpunkte der drei
in diese Zeit fallenden Volkszählungen, dass in den Jahren 1857 — 1869
Oesterreich, wenn von Dalmatien abgesehen wird, noch ein Einwanderungsland
war, in den 70er Jahren dagegen effectiv bloss 66.594 Personen durch die
Wanderbewegung verlor. Es ist klar, dass bis 1880 der grösste Theil der
österreichischen Auswanderer durch einwandernde Staatsfremde ersetzt wurde.
In gewisser Hinsicht kann sogar von einer Verdrängung der Einheimischen
^
Das Aus Wanderungsproblem und die Regelung des Auswanderungswesens etc. 45^
durch die Einwanderung fremder Staatsangehörigen gesprochen werden.
Wenn z. B, die Zahl der in Niederösterreich ermittelten ungarischen Staats-
angehörigen von 63.437 im Jahre 1869 auf 119.170 im Jahre 1880 gestiegen
war, so mussten jährlich circa 6.000 Ungarn nach Niederösterreich zu-
gewandert sein. Nun wissen wir aber, dass im allgemeinen die Bevölkerung
die Tendenz hat, Nah Wanderungen Fernwanderungen vorzuziehen, dass sie
sich zu letzteren überhaupt nur dann entschliesst, wenn in benachbarten
Gebieten lohnender Erwerb nicht zu finden ist. So haben insbesondere die
Auswanderer aus den böhmischen Landbezirken zuerst die industriellen
Theile Nordböhmens, dann Niederösterreich, Steiermark etc. überflutet, und
erst als hier der Kaum zu enge wurde, entschlossen sie sich zur Aus-
wanderung über das Meer. Es ist evident, dass die Concurrenz, die die
ungarischen Einwanderer nach Niederösterreich den czechischen Zuzüglern
machten, viele der letzteren bewegen musste, sich über das Meer zu wenden.
3. Die Auswanderung der Achtzigerjahre.
Mit dem Beginn der 80er Jahre wird Oestereich entschieden zum
Auswanderungslande. Der effective Verlust, den Oesterreich durch die Aus-
wanderungsbewegung im Verlaufe der nächsten zehn Jahre erleidet, beziffert
sich bereits auf über 200.000 Personen und wächst in den 90er Jahren
auf über 450.000. Gleichzeitig damit ändern sich die Zusammensetzung^
und der Charakter der Bewegung. Es beginnt eine neue Periode.
Die hauptsächlichste Ursache des Umschwunges liegt darin, dass für
den nachdrängenden Geburtenüberschuss, der sich gegenüber den Vorjahren
in der Kegel erheblich erhöhte, innerhalb der Staatsgrenzen kein genügender
Nährraum vorhanden war. Die intensiven Binnenwanderungen der 70er Jahre
hatten die in Gegenden mit reger wirtschaftlicher Entwickelung bestehende
Nachfrage nach Menschenmaterial beft-iedigt, dazu war die Periode der
grossen Investitionen vorüber, war das Tempo der industriellen Entwickelung
ein langsameres geworden. Die gegenüber den Vorjahien erheblich grössere
Zahl der Abzügler aus Galizien, Krain, Böhmen, Tirol, dem Küstenlande,
die zahlreichen Abwanderer aus Mähren (vergleiche die Daten der an die
Spitze des Abschnittes gestellten Uebersicht), konnten nicht mehr mit der
Leichtigkeit, wie in den folgenden Jahren, im Binnenlande placiert werden.
Sie mussten sich nunmehr nach dem Auslande wenden. Der innige Zu-
sammenhang, der zwischen jenen Binnenwanderungen und der Auswanderung
der 80er Jahre besteht, wird am besten durch folgende Ziffernreihen
illustriert:
Es wurden ermittelt im Jahre :
454
Buzek.
Zuständige nach
1869
1890
Böhmen.
In Nieder-Oesterreich
„ Ober-Oesterreich
„ Steiermark
„ Mähren '....,
„ Schlesien
„ Tirol
„ Dalmatien
„ Ungarn
Mähren.
In Nieder-Oesterreich
„ Ober-Oesterreich
„ Steiermark
„ Böhmen
„ Schlesien
„ Ungarn
K r ain.
In Nieder-Oesterreich
„ Steiermark
„ Küstenland
„ Ungarn
G al i z i e n.
In Bukowina
„ Schlesien
„ Mähren . .
„ Böhmen « .
„ Nieder-Oesterreich
„ Ungarn
In das Ausland (also Staatsfremde).
In ganz Cisleithanien
Davon Ungarn
_ Deutsche
208.350
21.249
13.725
43.080
2.848
1.351
330
16.384
102.064
1.869
3.927
10.164
12.756
10.513
2.493
7.346
10.743
6.089
17.461
4.547
2.574
1.559
9.466
6.393
204.950
91.162
64.438
309.960
34.139
21.512
63.432
5.074
3.235
920
23.915
176.025
3.582
6.419
23.711
21.247
17.007
5.787
14.140
14.693
13.385
24.315
11.660
7.669
5.360
22.077
10.246
350.013
183.422
93.442
387.912
39.880
24.474
84.596
7.249
6.392
2.184
39.722
228.599
4.976
8.421
34.388
27.549
28.670
6.437
20.006
18.373
15.900
35.691
21.189
12.625
4.963
29.513
20.991
422.357
228.647
103.433
Interessant sind zunächst die für die Vermehrung der Zahl der
Staatsfremden in Oesterreich angeführten Ziffern. Während in den 70er Jahren
die Zahl der in Oesterreich lebenden Ungarn sich mehr als verdoppelte,
die Zahl der Angehörigen des Deutschen Eeiches um 50 7o gestiegen war,
ergeben die 80er Jahre für Ungarn bloss einen Zuwachs von nicht ganz
257o5 für die Keichsdeutschen eine Steigerung von nur 107o- Die Aufnahms-
Das Auswanderungsproblera und die Regelung des Auswanderungswesens etc. 455
fähigkeit der österreichischen Länder ist also bedeutend zurückgegangen.
Der Rückschlag auf die Wanderbewegung war unausbleiblich. Die auf das
Verlassen der heimatlichen Scholle hingewiesene Bevölkerung konnte in
Nahwanderungeu nicht mehr so leicht placiert werden. Aus der obigen
Tabelle ist ersichtlich, dass in den 80er Jahren die Zahl der nach Böhmen,
Mähren und Krain Zuständigen und ausserhalb dieser Länder gezählten
Personen überall dort, wo es sich um Nahwanderungen handelt (Böhmen
in Niederösterreich, Steiermark, Oberösterreich, Mähren und Schlesien,
Mährer in Niederösterreich, Steiermark, Böhmen und Schlesien, Krainer in
Steiermark, Niederösterreich und Ungarn, Galizier in der Bukowina), bei
weitem langsamer gewachsen war, als in den 70er Jahren. Dagegen
war z. B. die Zunahme der nach Böhmen Zuständigen in Tirol, Dalmatien
und Ungarn in den 80er Jahren bedeutender als in den 70er Jahren,
ebenso die Zunahme der nach Galizien Zuständigen in Ungarn und im
mährisch-schlesisc|ien Kohlenrevier. Die Fernwanderungen, für Galizien
ausserdem der Zug nach Westen, haben eben an Bedeutung gewonnen.
Ein grosser Theil der österreichischen Auswanderer wandte sich in
die benachbarten europäischen Länder, insbesondere nach den aufblühenden
Industriebezirken Deutschlands und in die noch dünn bevölkerten Balkan-
staaten, insbesondere nach Rumänien, Serbien, Bulgarien, in das neu
erworbene Bosnien und die Herzogowina, und darüber hinaus nach Aegypten.
So wurden in Serbien im Jahre 1880 nur 199 Oesterreicher gezählt, im
Jahre 1890 bereits 3.939, in Bulgarien 1880 387 Oesterreicher und Ungarn,
im Jahre 1893 bereits 5.161, davon 905 mit czechischer Muttersprache,
in Aegypten im Jahre 1880 2.835, im Jahre -1897 bereits 7.117; auf die
Intensität und Zusammensetzung der Auswanderung nach Bosnien kann
aus folgenden Ziffern geschlossen werden:
Zahl der österreichischen Staatsangehörigen in Bosnien
und der Herzegowina (Civilbevölkerung).
Zuständig nach
im Jahre
1880
männlich weiblich zusammen
1895
männlich weiblich zusammen
Dalmatien
Böhmen .
Krain . .
Galizien .
Mähren .
Steiermark
Nieder-Oesterreich
Tirol
Ueberhaupt Oesterreich
1.057
858
318
172
144
133
104
111
2.669
859
1.916
3.517
2.929
265
6-23
2.043
1.890
144
462
1.665
924
83
255
1.266
1.144
89
233
1.213
1.035
97
2.30
903
849
83
187
522
591
61
172
539
511
1.841
4.510
13.107
10.911
6 446
3.933
2 589
2.410
2.248
1.752
1.113
1.050
24.018
456
Buzek.
Von den 24.018 Oesterreichern, die im Jahre 1895 in Bosnien und
der Herzegowina gezählt wurden, waren nur 5.395 im Lande selbst geboren.
Die Zuwanderung in den 15 Jahren seit 1880 muss demnach mindestens
14.000, d. h. circa 1000 jährlich betragen haben. Am grössten war die
Zuwanderung aus den benachbarten Auswanderungsgebieten Dalmatien und
Krain, sodann aus den entfernteren Emigrationsherden Böhmen, Mähren und
Galizien.
Die österreichische Auswanderung nach Bosnien ist zu einem Drittel
Auswanderung von Colonisten, zu einem Fünftel Intelligenzemigration, zur
Hälfte Arbeiterwanderung; der Eest ge^rt dem Handwerkerstande und dem
Warenhandel an. Es waren beschäftigt: in der Land- und Forstwirtschaft
8.124 Personen, davon Forstwirtschaft allein 1.278 ; in der Industrie
7.334 Personen, davon Baugewerbe 1713, Getränke und Genussmittel 1.083,
Holz- und Schnitzstoife 1070, Bekleidungsindustrie 598, Nahrungsmittel 482»
Eisen und Stahl 415; im Handel und Verkehr 3.385, davon Transport zu
Lande 2.216, Warenhandel 497 ; in freien Berufen 5.175, davon Hof- und
Staatsdienst 3.637.
Bei weitem bedeutender wie die Auswanderung nach Osten, war die
Bewegung nach Westen, insbesondere nach Deutschland.
Es wurden im Deutschen Eeiche gezählt:
1
Preussen . .
Sachsen . .
Bayern . . .
Württemberg
üeberhaupt .
Oestereicher
und Ungarn
1. Dec. 1880
24.175
30.359
47.486
3.900
116.720
Oesterreicher
1. Dec. 1885 1. Dec. 1890
41.515
43.314
51.381
4.041
153.096
46.143
66.361
60.150
4.405
194.291
2. Dec. 1895
59.439
68.895
64.648
4.541
216.107
Die Wanderung nach Süddeutschland hat, wie aus obigen Ziffern
ersichtlich, an Intensität bedeutend eingebüsst. Wenn nichtsdestoweniger
in den 80er Jahren circa 80 — 90.000 Oesterreicher nach Deutschland aus-
wandern konnten, so ist dies dem ungeahnten industriellen Aufschwünge
Norddeutschlands zuzuschreiben. Binnen 10 Jahren hat sich in Sachsen die
Zahl der Oesterreicher mehr als verdoppelt. In Preussen trat dies sogar nach
5 Jahren (1880 — 1885) ein. Wenn nach 1885 die Zahl der Oesterreicher nur
langsam zunehmen konnte, ist dies u. a. der zielbewussten Bevölkerungspolitik
des preussischen Staates zuzuschreiben. Wie Preussen die Zusammensetzung
insbesondere der Grenzbevölkerung zu beeinflussen versteht, geht unter
anderem daraus hervor, dass in dem industriellen Kegierungsbezirke Oppeln
mit einer Bevölkerung von 1,702.567 am 2. December 1895 nur 6.421 Oest^er-
Das Auswanderungsproblem und die Regelung des Auswanderungswesens etc. 457
reicher gezählt wurden, wogegen in Oesterreichisch-Schlesien, das nur
605.649 Einwohner zählte, am 31. December 1890 genau 12.122 Preussen
sich aufhielten. Dabei ist der Regierungsbezirk Oppeln auf seinem halben
Umfange vom österreichischen Gebiete umschlossen !
Abgesehen von Deutschland war die continentale Westwanderung aus
Oesterreich in den 80er Jahren nicht besonders stark. So war z. B. die Zahl
der österreichischen Staatsangehörigen in Frankreich von 8.728 im Jahre 1881
bloss auf 9.468 im Jahre 1891 gestiegen, ebenso die Zahl der Oesterreicher
in der Schweiz in der Periode 1880—1888 von 12.859 auf 13.741. Umso
gewaltigere Dimensionen nahm die Auswanderung nach den überseeischen
Ländern an. In den 80er Jahren ist gewiss bereits mehr als die Hälfte des
durch die Auswanderung verursachten Menschenverlustes Oesterreichs auf
die überseeische Auswanderung zurückzuführen, in den 90er Jahren bereits
circa drei Viertel. Wir wollen den Verlauf der Bewegung nach den wichtigsten
Einwanderungszielen etwas näher verfolgen.
Das Wachsen der Auswanderung nach den Vereinigten Staaten illustriert
am besten folgende Uebersicht:
In den
Quinquennien
(Fiscaljahre)
wanderten ein
aus Oesterreich-
Ungarn
davon aus
Böhmen
aus dem übrigen
Oesterreich
aus Ungarn
1880—1885
1885—1890
1890-1895
1895—1900
148.590
205.129
281.778
315.269
20.655
26.610
29.982
12.579
70.759
108.014
133.090
149.681
51.176
76.505
118.706
153.009
Mit dem Jahre 1880 tritt die österreichische Einwanderung in die
Vereinigten Staaten in eine ganz neue Phase. Zunächst zeigt das Jahr 1880
eine gegenüber den 70er Jahren mehr als doppelt so starke Einwanderung,
indem in diesem Jahre 18.252 Oesterreicher und zum erstenmale auch eine
beträchtliche Anzahl Ungarn (6.668) einwanderten. Die Immigration aus
Ungarn verdoppelte sich bereits im Jahre 1882 (11.602), erreichte im
Jahre 1886 das Dreifache (18.110), im Jahre 1890 das Vierfache (24.994).
Die Einwanderung aus Oesterreich schwankte in der ersten Hälfte des
Decenniums zwischen dem Minimum von 16.456 (1885) und dem Maximum
von 21.437 (1881), im Jahre 1886 wuchs sie auf 22.006, erreichte im
Jahre 1889 allmählich die Höhe von 26.424, bis sie im Jahre 1890 die
noch nie bisher erzielte Ziffer von 38.125 aufwies.
Mit diesem gegen frühere Verhältnisse immensen Wachtsthum gieng
eine völlige Veränderung des Charakters und der Zusammensetzung der
österreichischen' Einwanderung. Schon im ersten Jahre der starken Ein-
wanderung (1880) tritt die noch im Vorjahre alles beherrschende Bedeutung
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolltik. und Verwaltung. X. Band. Qp
458
Buzek.
der böhmischen Einwanderung in den Hintergi'und. Jetzt überwiegt die
Einwanderung aus den übrigen Ländern Oesterreichs, d. h. insbesondere
aus Tirol, Krain, aus Galizien, Mähren und einigen deutschen Ländern^
insbesondere Nordtirol, Kärnten, Westschlesien. Je mehr die Einwanderung
aus Oesterreich wächst, desto mehr geht der procentuelle Antheil der
böhmischen Einwanderung zurück. In den 80er Jahren stammten nur mehr
Ye — Ys der österreichischen Immigration aus Böhmen. Die überseeische
Auswanderung aus Oesterreich hat damit aufgehört, eine
speci fisch böhmische Auswanderung zu sein.
Wichtiger ist, dass zugleich damit die österreichische Einwanderung"
nach den Vereinigten Staaten zum überwiegenden Theile eine vorübergehende
Einwanderung wurde. Die Südtiroler, die Krainer, die galizischen Polen,
zum Theile auch die Deutschen, sodann die Slovaken und die Croaten,.
aus denen die ungarische Einwanderung bestand, wanderten in der Regel
nicht deshalb aus, um in der Union sesshaft zu werden, sondern um dort
durch einige Jahre zu arbeiten, und dann mit den Ersparnissen in die
Heimat zurückzukehren. Dagegen war die Auswanderung der Czechen, eines
Theiles der Deutschen, dann die der Juden, die aus Galizien und der
Bukowina hinzuströmen begannen, eine colonisatorische, d. h. bezweckte
eine dauernde Ansiedelung im Einwanderungslande. Aeusserlich drückt sich
dieser Gegensatz in der Zusammensetzung des Einwandererstromes nach
Geschlecht und Alter aus :
n
Geschlecht und Alter der Einwanderer vom I.Juli 1880
bis 30. Juni 1890.
]Männ-
lieh
Weib-
lich
Zu-
sammen
Davon im Alter von
Vor
100 Einwanderern waren
"^'^^ 15-40
Jahren J*»»-
über
40
Jahre
mann
liehen
weib-
liehen
unter
15
Jahren
15-40
Jahre
über
40
Jahre
Ge.schlechtes
aus Böhmen .
aus dem übrigen
Oesterreich .
aus Ungarn . .
24.836
117.385
94.243
22.429
61.388
33.438
47.265
178.733
127.681
50.020
18.785
149.909
95.635
26.109
13.261
52-6
65-7
73-8
47-4
34-3
26-2
\ 221
147
66-3
74-9
11-6
10-4
Der Gegensatz der Familienauswanderung aus Böhmen, der Arbeiter-
auswanderung aus Ungarn, und der überwiegend zeitweisen (gemischten)
Auswanderung aus dem übrigen Oesterreich tritt in diesen Ziffern klar hervor.
Interessant ist die berufliche Gliederung der österreichischen Ein-
wanderer :
Im Durchschnitte der 10 (Fiscal)jahre 1880—1890 gehörten von
100 Einwanderern an :
Das Auswanderungsproblein und die Regelung des Auswanderungswesens etc. 459
Liberalen Berufen (Musiker, Lehrer, Geistliche, Advo-
caten, Aerzte etc.)
Berufen mit Vorübung (Grobschmiede, Zimmerleute,
Drucker, Gärtner etc.)
Verschiedenen Berufen (unqualificierte Arbeiter, Farmer,
Dienstboten, Kaufleute etc.)
Beruf nicht festgestellt und ohne Beschäftigung . .
Böhmen
0-28
6-22
28-64
64-86
Ö IIOQ-foWOl a1
016
3-78
60-79
35-27
Oesterreich
0-48
7-76
44-41
47-39
Die Frauen und die Kinder der Einwanderer werden, insofern sie
nicht einen selbständigen Beruf ausüben, zu den beruflosen gezählt. Dem-
entsprechend sind von den Böhmen nur 35*14 Proc. berufsthätig, dagegen
von den Ungarn 64*73 Proc, von den Einwanderern aus dem übrigen
Oesterreich 52-6 Proc. Von den productiv Thätigen gehören den gelernten
Berufen etwa V20 ^^^ Ungarn, dagegen bereits ^/g der Oesterreicher und
gar Ve ^^^' Böhmen. Böhmen liefert demnach das wertvollste Einwanderungs-
material. Zu betonen ist aber, dass auch bei den Böhmen die unqualificierten
Arbeiter das grösste Contingent stellten (im Durchschnitte der 10 Jahre 1.028
unter durchschnittlich 1.841 berufsthätigen Einwanderern). Der Unterschied
zwischen ihnen und den Arbeitern der übrigen Nationalitäten beruht nur
darauf, dass diese in der Regel vorübergehend, jene dauernd in Amerika
bleiben wollten.
Die Böhmen sind der erste Volksstamm der Monarchie, die an der
Colonisierung der überseeischen Gebiete, und zwar ausschliesslich der Ver-
einigten Staaten theilgenommen haben. Es ist deswegen besonders interessant,
über die Resultate dieser czechischen Colonisation einiges mitzutheilen.
Nach dem Censuswerke vom 1. Juni 1890 lebten in den Vereinigten Staaten
118.106 in Böhmen geborene Personen, die meisten davon in Illinois, dem
nördlichen Ohio, Iowa und insbesondere Nebraska. Das Gros bildeten
Arbeiter, die für manche Branchen, namentlich in der Tabakfabrication, als
Schuhmacher und Bauarbeiter sehr gesucht waren und als findig, tüchtig
und genügsam galten. Die wichtigsten czecho-slavischen Colonien sind nach
einem Berichte desk.u.k. General- Consulates in New York vom 1. October 1891
die folgenden: a) im Staate Dacota: Walsh County und Bon Homme
County mit zusammen circa 800 böhmischen Familien; b) im Staate Illinois:
Chicago und Umgebung mit circa 8.000, Will County circa 150, zerstreut
circa 100 Familien; c) im Staate Kansas: Ellsworth County mit 349,.
Republik County mit 296 Familien; d) im Staate Michigan ungefähr
500 Familien; e) in Minnesota circa 3.000 Familien, die meisten in
Montgommery und Lacoeur County; /) in Missouri circa 2.000 Familien,
davon in St. Louis 1.500; g) in Nebraska ungefähr 10.100 Familien, davon
in Douglas County mit der Stadt Omaha circa 6.100, h) in Ohio circa
32*
460
Buzek.
21.000 Familien, darunter in Cleveland und Umgebung etwa 20 000; i) in
Massachusetts circa 150, im Staate New York etwa 14.500 Familien, davon
in der Stadt selbst 11.000; k) in Pennsylvanien circa 800 Familien, davon
die Hälfte in Pittsburg und Umgebung; I) in Texas ungefähr 2.600 Familien,
davon 700 in Fayette County, die übrigen zumeist in Lavaca County;
m) in Wisconsin endlich etwa 3.900 Familien, davon in Manitowac County
eirca 900.^)
Wir sehen, die czechische Einwanderung in die Vereinigten Staaten
krystallisiert sich um gewisse Brennpunkte und bildet so neue Centren
des heimischen Volkslebens in der Fremde. Alle diese Centren liegen jedoch
weit zerstreut und sind von verhältnismässig geringer Dichte. Im Jahre 1890
waren Nord- und Süddacota am dichtesten mit Slaven besetzt; aber auch
hier waren bloss 4'71, respective 3'107o <3er Bevölkerung in slavischen
Ländern geboren. In anderen Staaten war das Verhältnis noch geringer, in
Nebraska 2-367o, in Minnesota l-977o, in Wisconsin l-927o, in New
York l*777oi in Illinois l'757oi in Michigan l'467o u. s. w. In dem Völker-
getümmel, dessen Tummelplatz die Vereinigten Staaten sind, lassen sich
grössere geschlossene nationale Territorien nicht bilden, und selbst die
Entstehung bedeutenderer Minoritäten ist unmöglich. Es ist dies den
Czechen ebensowenig gelungen, wie den unverhältnismässig zahlreicheren
Deutschen.
Dagegen ist nicht zu verkennen, dass die Auflösung des czechischen
Elementes in der grossen Masse der englisch sprechenden Bevölkerung
viel langsamere Fortschritte macht, als die Amalgamierung der sprach-
verwandten Deutschen. Die Daten des Census vom Jahre 1890 illustrieren
dies in schlagender Weise.
Darnach wurden am 1. Juni 1890 in den Vereinigten Staaten ermittelt:^)
Deutschland
Frankreich
Böhmen . .
Ungarn . .
Personen,
die geboren
waren
Personen,
deren beide
Eltern
geboren waren
Personen, Personen,
deren Mütter deren Väter
in den Vereinigten Staaten
deren Väter deren Mütter
geboren waren
in den nebenbezeichneten Ländern
2,784.894
42.712
118.106
62.435
5,776.186
177.007
205.365
69.761
833.261
62.055
6.853
1.437
242.117
16.426
3.296
321
Zusammen
Personen mit
fremder Ver-
wandtschaft
6,851.564
255.488
215.514
71.519
') Dr. FriedrichProbst, Die überseeische österreichische Auswanderung, ins-
besondere in den Jahren 1889 und 1890. Statistische Monatsschrift, XVIII Jahrgang S. 17.
2) Report on Population of the United States at the eleventh Census, 1890, Part I,
Washington 1895.
Das Auswanderungsproblem und die Regelung des Auswanderungswesens etc. 461
Die Einwanderung aus Ungarn ist eine Arbeitereinwanderung, dieBewegung
zudem jüngsten Datums. Somit bestand die ungarische Colonie fast aus-
schliesslich aus Personen, die in Ungarn geboren waren. Nicht so die
Einwanderung aus Frankreich und Deutschland, die schon in den 50er Jahren
eine Massenbewegung war und vorzüglich auf die dauernde Besiedeliing
gerichtet war. Hier schliesst sich an den Kern der Personen, deren Wiege
in der Heimat gestanden war, eine dreimal respective eine ebensogrosse
Zahl von Personen, die zwar in den Vereinigten Staaten geboren waren,
aber von Eltern, die beide noch die alte Heimat im Gedächtnisse hatten.
Ausser diesen Personen finden wir noch zahlreiche Personen von gemischter
Herkunft, und zwar solche, die von amerikanischen Müttern und europäischen
Vätern, oder umgekehrt, oder aber von europäischen Eltern verschiedener
Nationalität stammten. Das Verhältnis der Mischlinge der beiden zuerst
genannten Kategorien zu den der dritten Kategorie (die leider von der
amerikanischen Statistik nicht erschöpfend dargestellt wird) ist nun das
sicherste Merkmal, ob sich der Amalgamierungsprocess glatt oder unter Wider-
ständen vollzieht.
In dieser Hinsicht ist es bezeichnend, dass bei den Deutschen die Zahl
der amerikanischen Mischlinge 1,075.378 beträgt, die Zahl der europäischen
Mischlinge dagegen nur höchstens 280.000,^) wogegen bei den Czechen
den 10.149 amerikanischen Mischlingen nicht weniger als circa 15.000^)
europäische Mischlinge gegenüberstehen. Die grossen ethnischen Unterschiede
zwischen der anglosaxonischen und der czechischen Kasse bewirken, dass
Czechen lieber unter Ungarn, Polen, Küssen und selbst lieber unter
Deutschen als unter Amerikanern heiraten. Dies ist aber in der ersten
Generation. Wie die Verhältnisse in der zweiten Generation sich gestalten,
wird von der Statistik nicht mehr erhoben. JedenfalL? steht es fest, dass,
wenn einmal der Zuzug aus der Heimat nachlässt, die Auflösung des
czechischen Elementes, eben wegen seiner territorialen Zersplitterung mit
rapider Geschwindigkeit eintreten muss.
Während die deutschen und die slavischen Auswanderer aus Oester-
reich sich fast ausschliesslich nach den Vereinigten Staaten wandten,
wanderten die italienischen Südtiroler, ebenso wie ihre Stammesgenossen
aus dem Königreiche, vorzugsweise nach Südamerika. Dabei hielten sie sich
in der Regel ferne von Brasilien, wo sie in den 70er Jahren so schlechte
Erfahrungen gemacht haben. Die österreichische Auswanderung nach diesem
Lande hielt sich somit ab 1883 auf der immerhin bescheidenen Ziffer von
jährlich circa 500 Personen; erst im Jahre 1888 schnellte sie plötzlich
wieder auf 1.156 empor, sodann wieder im Jahre 1890 auf 2.246 und im
Jahre 1891 gar auf 4.244, sank im nachfolgenden Jahre 1892 auf 574, um
1893 neuerdings auf 2.737 zu steigen und 1894 wieder auf 798 zu fallen.
Dieses unstete Schwanken zeigt am besten, dass bei der Entstehung der
Bewegung die Agitation fremder Einflüsse sich geltend machte. In der That
*) Diese Zahlen lassen sich nur approximativ bestimmen.
462 Buzek.
hatte die Kegierung seit dem Jahre 1888 mit Gesellschaften und Privaten
10 Contracte zur Einführung von Einwanderern und 255 Contracte zur
Ansiedelung von einheimischen und fremden Arbeitern auf Colonien im
Innern des Landes abgeschlossen, für welche dem Staate unter dem Titel
Mon Prämien, Subventionen und Zinsengarantien finanzielle Verpflichtungen in
der Höhe von über 744 Millionen Milrei's erwachsen waren. Im Jalire 1892
ist sogar mit der Companhia Metropolitana ein Vertrag geschlossen worden,
nach welchem dieselbe verpflichtet^twar, binnen zehn Jahren vom 1. Jänner
1893 an gerechnet, eine Million Einwanderer nach Brasilien zu bringen.
Mit diesen Verträgen war die Periode der subventionierten Auswanderung
nach Brasilien herangebrochen. Allein von Genua reisten im Jabre 1889
mit von der brasilianischen Kegierung bezahlter Ueberfahrt 957 Personen
ab, 1890 3.353, 1891 4.203, 1892 1.611, 1893 1.538, 1894 1.090. Aus-
wanderer, die auf eigene Kosten dorthin gereist wären, gab es fast keine.
Die Auswanderer dieser Jahre stammten nur zum kleinsten Theile aus
dem Tridentino, die meisten vielmehr aus dem Küstenlande (der öster-
reichische Lloyd allein beförderte in der Zeit vom 25. October bis zum
27. December 1888 1.123 Auswanderer [691 Männer, 432 Frauen] aus dem
Küstenlande nach Brasilien), aus Krain, sodann aus Croatien und Slavonien
und zum Theile auch aus Galizien (zumeist über Bremen). Ihr Los war bei
weitem schlechter als das der galizischen Einwanderer der 70er Jahre. Die
Regierung hatte sie angeworben, damit sie die Kaffeepflanzungen von
S. Paulo und die heisse Zone des Nordens bevölkern. ^) Viele geriethen in
unwürdige Abhängigkeit, viele giengen zugrunde, sehr viele kehrten ent-
täuscht zurück; nur der Rest, dem es geglückt war, in den südlichen Staaten
angesiedelt zu werden, gedeiht. Aus dieser Zeit stammen die südslavischen
Colonien in S. Paulo und Rio Grande do Sul.
Im stricten Gegensatze zur Eimvanderung nach Brasilien steht die
Entwickelung der Arbeitereinwanderung nach Argentina. Sie ist keinen so
heftigen Schwankungen unterworfen, zeigt vielmehr eine bemerkenswerte
Stetigkeit der Entwickelung. Im Jahre 1881 wanderten aus Oesterreich-
Ungarn 490 Personen ein, im Jahre 1882 672, in den drei nächsten Jahren
«tieg die Ziffer successive auf 1.056, 1.329 und 1.982, sank im Jahre 1886
auf 1.015, um 1887 auf 2.498, 1888 auf 2.333 zu steigen und im Jahre
1889 mit der noch nie erreichten Ziffer von 4.225 zu eulminieren. Die
Einwanderer stammten zum grössten Theile aus Südtirol. Es ist angezeigt,
auch die Bewegung aus diesem Centrum der österreichischen überseeischen
Wanderung näher zu charakterisieren. Wir thun dies an der Hand einer.
Veröffentlichung des Curaten von Quadra, Lorenzo Guetti. ^) Darnach
sind in den Jahren 1870 — 1886 aus den italienischen Decanaten (25) Süd-
tirols ausgewandert:
*) Die ganze Bewegung trägt den Charakter einer Familien Wanderung.
^) Statistica dell' Eraigrazione americana avvenuta nel Trentino dal 1870 in poi,
compilata da un Curato di campagna, 1889.
Das Ausvvanderungsproblem und die Regelung des Auswanderungswesens etc. 463
Zahl
. / verheiratet 5.428
l nicht verheiratet 11.155
/ verheiratet 3.013
l nicht verheiratet 3.906
nach Südamerika 18.487
nach Nordamerika 5.068
Zusammen . . . 23.486
Hievon sind in Amerika gestorben 1.008
„ hatten in der neuen Heimat guten Erfolg . . . 14.060
„ „ „ „ , „ schlechten Erfolg . 1.651
„ „ „ „ „ „ unsicheren oder un-
bekannten Erfolg 8.135
Hievon sind zurückgekehrt 1.991
Die Auswanderung aus Südtirol ist eine Auswanderung unverheirateter
Männer. Nur selten reisen auch verheiratete Männer ab, die entweder ihre
Prau sogleich mitnehmen, oder dieselbe später nachkommen lassen. In
diesen Fällen handelt es sich zumeist um eine dauernde Auswanderung, in
anderen Fällen um eine Arbeiterwanderung, die freilich auch oft zur
dauernden Ansiedelung führen kann. Die Bewegung regelt sich im ganzen
und grossen nach wirtschaftlichen Motiven, wie die Regelmässigkeit ihres
Verlaufes beweist. Daraus erklärt sich auch, dass die Auswanderung
zumeist Erfolge aufzuweisen hat. Die geringe Zahl der in die Heimat Zurück-
gekehrten erklärt sich daraus, dass die Auswanderung in grösserem Maass-
stabe bis 1885 noch frischen Datums war, die Auswanderer aber in der
Begel ein Decennium und mehr in der Fremde verbringen, weil eben erst
nach einer solchen Zeit die Ersparnisse gross genug sind.
In Bezug auf den zuletzt besprochenen Punkt werden übrigens die
Ergebnisse der privaten Arbeit Guettis durch die officielle Statistik
Argentinas rectificiert. Nach dem letzten argentinischen Census wohnten am
10. Mai 1895 auf dem Gebiete der Republik 12.803 Oesterreicher und
Ungarn. Die Einwanderung von 1857 bis Ende 1894 betrug aber 24.851.
Abgerechnet die geringe Zahl von Verstorbenen, muss demnach circa die.
Hälfte der Einwanderer aus Oesterreich wieder das Land verlassen haben.
Der allergrösste Theil der österreichischen Einwanderer fand in Argen-
tina als Feldarbeiter Erwerb, sodann als industrielle Arbeiter. Erheblich
ist auch die Zahl der Kaufleute, Handwerker und Colonisten, wie die der
Gärtner und Maurer. Von den 26.471 Einwanderern der Jahre 1876 bis
1897 waren — abgerechnet 4.904 ohne Berufsangabe und 3.885 ohne speciell
ausgewiesenen Beruf — 10.204 Feldarbeiter, 2.842 Taglöhner, 1.424 Kaufleute,
1.340 Colonisten, 1.072 Handwerker, 384 gehörten liberalen Berufen an,
289 waren Maurer und 127 Gärtner.
Die territoriale Vertheilung der österreichischen Colonie in Argentina
erhellt aus folgender Zusammenstellung.
464
Buzek.
Am 10. April 1895 wurden gezählt Oesterreicher und Ungarn -.i)
in der Provinz, resp. Territorium
Hauptstadt *!^4
Santa F^
Buenos Aires . .
Entre Rios
Cordoba
Mendoza
Tucuman
Choco •../.•....
Andere Provinzen und Territorien . . .
Summe ....
männlich
2.036
1.968
1.923
1.248
626
172
142
100
470
8.685
weiblich zusammen
Davon
Eigenthümer
von
Immobilien
1.021
928
535
941
367
77
34
74
141
4.118
3.057
2.896
2.458
2.269
993
249
176
174
611
12.803
193
547
189
416
371
42
26
71
105
1.954
n
Diejenigen Provinzen, in denen die meisten Oesterreicher Immobilien
besassen, weisen auch den grössten Procentsatz österreichischer Frauen aus.
Da nach dem argentinischen Gesetze vom 1. October 1868 die Argentinerin,
die einen Ausländer heiratet, die Staatsbürgerschaft des Mannes nicht an-
nimmt, folgt daraus, dass die „Colonisten" ihre Frauen aus der Heimat
haben mitnehmen müssen. Sehr bemerkenswert ist, dass die Zahl der
Immobilienbesitzer beträchtlich grösser ist, als die Zahl der aus Oesterreich
eingewanderten Colonisten. Es muss zahlreichen Arbeitern gelungen sein,
aus ihrem Verdienst ländlichen Besitz zu erwerben.
4. Die Aus Wanderungsbewegung seit dem Jahre 1893.
In den 90er Jahren tritt die österreichische Auswanderungsbewegung
in eine neue Phase. Sie wird hervorgerufen durch die wirtschaftliche
Depression, die im Jahre 1892 in Argentina, im Jahre 1893 in den Ver-
einigten Staaten zum Ausbruch kam, durch den wirtschaftlichen Aufschwung
Deutschlands und einiger Provinzen Oesterreichs seit dem Jahre 1895,
endlich durch das Eingreifen der Bevölkerung Ostgaliziens in die Wander -
bewegung. Prüfen wir näher jede dieser Thatsachen.
Die Einwanderung in die Vereinigten Staaten erreichte nach der
Constanten Steigerung in den 80er Jahren ihren Culminationspunkt im
Jahre 1892, indem in diesem Jahre 80.136 Oesterreicher und Ungarn
einwanderten. Im Jahre 1893 beginnt plötzlich eine rückläufige Bewegung.
In diesem Jahre erschütterte nämlich eine starke Krisis das wirtschaftliche
Leben der Union, deren Wirkungen mehrere Jahre lang nachklingen sollten.
*) Segundo Censo de la republica Argentina, Tomo IT, Buenos Aires 1898.
Das Auswanderungsproblem und die Regelung des Auswanderungswesens etc. 465
Die ' Krisis machte Hunderttausende von Arbeitern erwerbslos. Nach der .
Erhebung der Arbeitslosen im December 1893 gab es in 119 Städten der
Union 801.000 Arbeitslose, deren Familien 1,956.000 Personen umfassten.^)
Im Staate New York, wo im Jahre 1891 die Sparcasseneinlagen die Kündi-
gungen um 17,031.000 Dollars überschritten, wurden im Jahre 1896
34,518.000 Dollars mehr gekündigt als deponiert.^) Natürlich mussten die
Arbeitslöhne jäh sinken. Bereits die Löhne des Jahres 1893 waren durch-
schnittlich gegen das Jahr 1892 um 29 Proc. niedriger und die Jahre bis
1896 brachten noch weitere Rückgänge. Die Wirkung auf die Einwanderung
konnte nicht ausbleiben. Während im Jahre 1890/91 560.319, 1891/92
sogar 623.084 Personen einwanderten, sank die Einwanderung bereits 1892/93
auf 502.917, und sodann auf 314.467 und 279.948; im Jahre 1895/96
erholte sich zwar die Einwanderung auf 343.267, aber in den folgenden
zwei Jahren war sie wieder auf 230.832, respective 229.299 d. h. auf den
tiefsten Stand der 70er Jahre gesunken. Erst in den beiden letzten Jahren
des Decenniums, nachdem die durch die Krisis des Jahres 1893 geschlagenen
Wunden geheilt waren und das wirtschaftliche Leben lebhafter zu pulsieren
begann, stellte sich eine Erhöhung der Einwanderung ein, im Jahre 1898/99
auf 311.715, im Jahre 1899/1900 auf 448.572.
Die Art, in welcher diese Aenderungen im wirtschaftlichen Leben der
Union auf die Einwanderung aus Oesterreich-Ungarn einwirkten, ist für die
Ursachen dieser Bewegung im höchsten Grade charakteristisch. Wir geben
deswegen folgende Tabelle, die die jährlichen Schwankungen der öster-
reichischen Einwanderung wiedergibt:
Im Fiscaljahre
wanderten in die Vereinigten Staaten ein
aus Böhmen und
Mähren
üalizien und
der Bukowina
übriges
Oesterreich
Ungarn
1890/91
1891/92
1892/93
1893/94
1894/95
1895/96
1896/97
1897/98
1898/99
1899/1900
11.7583)
8.2783)
5.8503)
2.5363)
1.9733)
2.709
1.954
2.468
2.382^)
3.056^)
30.918
34.367
30.584
20.572
4.324
12.696
5.767
12.417
24.167^)
42.582*)
11.898
18.800
10.285
8.233
5.846*)
8.878*)
28.366
37.236
23.501
14.397
15.206
30.898
15.025
16.662
30.096*)
60.331*)
^) C. Closson, The unemployed in American Cities, The Quartedy Journal of
econoraics, Band VIII, 1894.
2) Ottolenghi, La nuova fase dell' immigrazione del lavoro agli Stati Uniti d'
America, Giornale degli economisti, Roma 1899, S. 349.
3) Nur Böhmen.
*) Seit dem Jahre 1898/99 classificiert die nordameriisanische Statistik die Ein-
wanderung aus Oesterreich-Ungarn nicht nach dem Herkunftslande, sondern nach der
466 Buzek.
Die Einwanderung aus Böhmen versieht es am besten sich der wirt-
schaftlichen Conjunctur anzupassen. Sie culminiert im Jahre der höchsten
industriellen Bluthe 1890/91, nicht unmitte bar im Jahre vor der Krisis, hält
sich, nachdem diese ausgebrochen, constant auf der gegenüber den Vorjahren
unbedeutenden Höhe von 1.900 bis 2.500 Personen jährlich. Ebendasselbe
gilt von der deutschen und der italienischen Einwanderung, nicht aber von
der slovenischen, die in den %ifs das übrige Oesterreich gegebenen Ziffern
(bis 1898) einbegriffen ist. Dagegen dürfte sich bei der Einwanderung aus
Galizien ein Rückgang kaum eingestellt haben. Sie weist starke Schwan-
kungen auf, die unmöglich auf rein wirtschaftliche Motive zurückgeführt
werden können.
Nach der Besserung der wirtschaftlichen Lage in der Union beginnt
die Einwanderung seit 1898 aufs neue zu steigen. An dieser Steigerung
nehmen die Böhmen und die Deutschen keinen besonderen Antheil. Das
rege wirtschaftliche Schaffen der Heimat und der Nachbarländer hält sie
auf dem Continente zurück. Dagegen steigt die Auswanderung aus Galizien
und aus Ungarn im ungeahnten Maasse; bereits im Jahre 1897/98 stammt
mehr als die Hälfte der österreichischen Einwanderung aus Galizien. im
Jahre 1898/99 bereits %, im Jahre 1899/1900 fast Vs- Gegenwärtig
ist die österreichische Einwanderung in der Hauptsache
eine Einwanderung aus Galizien
Im laufenden Jahre hat sich die Hochconjunctur in Eisen und Kohle
ausgelebt, die wirtschaftliche Entwickelung überhaupt ist in Deutschland
und wohl auch in Oesterreich ins Stocken gerathen. Es steht zu erwarten,
dass die Auswanderung aus Böhmen und den deutschen Ländern Oesterreichs^
sich wieder erheblich erhöhen wird. Aus Ursachen, die noch später erörtert
werden, ist anzunehmen, dass die Auswanderung aus Galizien nicht ab-,
sondern zunehmen wird. Für den Fall, dass sich in der Union kein wirt-
schaftlicher Rückschlag einstellt, kann schon jetzt mit Sicherheit behauptet
werden, dass die österreichische Einwanderung in die:
Union sich in den nächsten Jahren auf 80 bis 100.000
jährlich stellen werde (ohne die ungarische Einwanderung).
Wir wollen deswegen die Beschaffenheit des Auswanderungsmaterials näher
prüfen.
Die nationale Zusammensetzung der österreichisch-ungarischen Ein-
wanderung der beiden letzten Jühre gibt folgende Tabelle:
Nationalität der Einwanderer. Behufs Herstellung obiger Uebersicht wurden die Polen,
Euthenen und Israeliten Galizien, die Deutschen, Italiener, Dalmatiner dem übrigen
Oesterreich, die Slovaken, Magyaren, Croaten und Sl'ovenen Ungarn zugetheilt. Dass
diese Zutheilung im grossen richtig ist, bestätigen die Angaben der Statistik der euro-
päischen Häfen.
Das Auswanderungsproblem und die Regelung des Auswanderungswesens etc. 467
I. Deutsche
Italiener
Dalmatiner, Bosnier, Herzogowiner
Andere
Oesterreicher schlechthin ....
IL Böhmen und Mährer
III. Polen
Ruthenen und Russen
Juden
IV. Slovaken
Croaten und Slovenen ....
Magyaren
Serben
Rumänen
Ungarn schlechthin
Zusammen
Es wanderten ein aus
Oesterreich-Ungarn imFiscaljahre
1898/99
1899/1900
4.313
1.050
367
18
98
2.382
11.660
1.436
11.071
15.757
8.612
4.873
41
29
784
62.491
6.901
1.287
672
18
3.056
22.802
2.860
16.920
29.183
17.163
13.776
34
175
114.847
Das grösste Contingent der Einwanderer aus Oesterreich stellen die
Polen und die Juden, dann die Deutschen. Die czechische und ruthenisclie
Einwanderung ist im Verhältnis zur Kopfzahl dieser Volksstämme unbe-
trächtlich, absolut klein, relativ aber bedeutend ist die Einwanderung der
Italiener, Dalmatiner und in vielleicht noch höherem Maasse die Einwande-
rung der Slovenen aus Krain; bemerkenswert ist endlich, dass seit dem
Jahre 1898 unter den Ungarn auch magyarische Einwanderer in starker
Zahl auftreten. Von allen Volksstämmen der Monarchie sind also gegenwärtig
an der Wanderbewegung nur die Rumänen unbetheiligt.
Behufs genauer Erfassung der Art der Einwanderung seien folgende
Daten angeführt. (Siehe Tabelle S. 468.)
Die Ziffern für das Jahr 1897/98 beziehen sich auf die Einwanderung
aus den einzelnen Theilen der Monarchie, die für das Jahr 1899/1900 da-
gegen auf die Immigration der einzelnen Nationalitäten, wobei die Staats-
angehörigkeit nicht mehr berücksichtigt wird.
Nach der geschlechtlichen und der Altersgliederung zu schliessen. ist
die Einwanderung aus Böhmen und Mähren eine colonisatorische. Dauernden
Charakter hat auch die israelitische Immigration, insbesondere die aus
Galizien. Dagegen bezweckt die italienische, deutsch-österreichische, polnische,
ruthenische und insbesondere auch die slovenische Einwanderung wie die
aus Ungarn vorwiegend vorübergehenden Aufenthalt zum Zwecke des Er-
werbes. Dass auch hier unter Umständen der Procentsatz der auswandernden
468
Buzek.
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Das Auswanderungsproblem und die Regelung des Auswanderungswesens etc. 469
den Frauen verhältnismässig hoch ist, erklärt sich daraus, dass verheiratete
Arbeiter (insbesondere die polnischen und die Slovaken) die Frau mitnehmen,
trotzdem sie willens sind, später in die Heimat zurückzukehren. Viele lassen
sich nach 1 oder 2 Jahren, sobald die Verhältnisse es erlauben, Frau und
Kinder nachkommen, noch andere reisen in die Heimat und holen die Ihrigen
selber. In allen diesen Fällen kann natürlich sehr leicht die ursprüngliche
Absicht fallen gelassen werden und die Sesshaftmachung im Auslande
erfolgen. Wie gross die Zahl der nachreisenden Angehörigen zumal in Jahren
schwächerer Einwanderung ist, und wie verhältnismässig häufig Fälle der
wiederholten Einwanderung sind, zeigen die Ziifern der beiden letzten
Spalten. Von den slovakischen Einwanderern des Jahres 1899/1900, die
mehr als 15 Jahre alt waren, war fast Vg t>ereits früher in der Union
gewesen, von den Italienern gar V51 dagegen von den Juden und Czechen
nicht einmal 3, respective 7 Proc.
Der zeitweilige Charakter der polnischen Einwanderung aus Galizien,
die dauernde Emigration der galizischen Juden sind Thatsachen, die für die
Zusammensetzung des Bevölkerungsstandes Galiziens von nachhaltigstem
Einflüsse sind. Im Jahre 1890 betrug die israelitische Bevölkerung Galiziens
770.468 Seelen, im Jahre 1900 810.845. i) Die Zunahme beträgt also
40.377. Der Geburtenüberschuss der israelitischen Bevölkerung Galiziens ist
aber ausserordentlich hoch und stellt sich durchschnittlich jährlich auf
circa 16.000 (1895 16.538, 1896 16.156, 1897 16.244). In den zehn Jahren
1891 bis 1900 hätte also die israelitische Bevölkerung um circa 160.000
zunehmen sollen. Dies ergiebt, dass circa 120.000 Israeliten in den
90er Jahren aus Galizien ausgewandert sein müssen. Die polnische Wander-
bewegung ist bei weitem intensiver als die der Juden. Wenn nichtsdesto-
weniger die Gesammtsumme der galizischen Polen, die in den 90er Jahren
auswanderten, auf höchstens 135.000 veranschlagt werden kann, so liegt
-die Ursache eben in dem verschiedenen Charakter beider Wanderungen.
Die slavischen Einwanderer aus Oesterreich-Ungarn weisen, wenn wir
von Böhmen und Mähren absehen, eine erschreckend hohe Ziffer von
Analphabeten aus. Genau die Hälfte der erwachsenen Ruthenen kann weder
schreiben und lesen, von den Croaten und Slovenen sind 38 Proc, von den
Polen 33 Proc, Analphabeten. Es ist natürlich, dass die slavische Ein-
wanderung die unterste Kategorie unter den Einwanderern einnimmt, von
den Einwanderungsinteressenten am meisten ausgebeutet wird, dass sie das
grösste Risico zu tragen, die geringsten Erfolge aufzuweisen hat. Dazu
kommt die mangelhafte technische Vorbildung der slavischen Einwanderer;
die meisten sind Landleute, die über dem Meere in industriellen Arbeiten
einen lohnenden Erwerb finden wollen. Natürlich müssen sie mit den
schlechtest entlohnten Arbeiten niedrigster Art vorlieb nehmen.
In welchen Berufen die österreichischen Einwanderer in die Vereinigten
Staaten sich bethätigen, erhellt aus folgender Zusammenstellung.
^) Summarische Ergebnisse der Volkszählung, veröffentlicht in der amtlichen
---GaictaXwdwsia"^ .
470
Buzek.
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Das Auswanderungsproblem und die Regelung des Auswanderungswesens etc. 471
Am vortheilhaftesten stellt sich die israelitische Einwanderung dar.
Die grosse Mehrzahl dieser Einwanderer gehört gelernten Berufen an. Ein
starkes Contingent qualificierter Arbeiter stellen ferner die Czechen, sodann
die Deutschen und auch die Norditaliener; bei den Polen. Ruthenen, Slo-
vaken, Croaten, Slovenen und Magyaren ist dagegen der unqualificierte
Arbeiter der bei weitem vorherrschende Typus. Merkwürdigerweise ist bei
diesen Slaven die Neigung oder Möglichkeit, sich als landwirtschaftlicher
Arbeiter zu verdingen, viel geringer als bei den deutschen und italienischen
Arbeitern. Besonders muss vermerkt werden, dass die Zahl der Personen,
die eine Farm erwerben wollten, eine verschwindend kleine ist. Grösser ist
die Zahl der einwandernden Dienstboten (für persönliche und häusliche
Dienste). Circa V4 bis Vs der einwandernden czechischen Frauen gehört
diesem Stande an.
Von dem Berufe, dem sich die Einwanderer zuwenden wollen, hängt
zum Theile ab, in welchen Theilen der Union sie ihren Aufenthalt wählen.
Von ausschlaggebender Bedeutung ist hier aber die territoriale Vertheilung
der bereits in der Union bestehenden Sprachinselchen derselben Nationalität.
Die Czechen ziehen in der Regel nach Gebieten, in welchen bereits viele
Czechen wohnen, ebenso gravitieren die Polen nach polnischen Centren etc.
Die Staatsangehörigkeit der Einwanderer bleibt dabei in der Regel ohne
jede Bedeutung. Der Verlauf dieser Bewegung ist von Jahr zu Jahr in so
hohem Maasse identisch, dass der Kundige aus der territorialen Vertheilung
der Ankömmlinge sofort mit Sicherheit deren Nationalität erräth. (Siehe
Tabelle S. 472.)
Während also die grössere Hälfte der Czechen in die nordwestlichen
Staaten wandert und einen stärkeren Arm nach Texas abzweigt, begeben
sich die übrigen slavischen Einwanderer, ebenso wie die Magyaren zum
allergrössten Theile in die neuenglischen Staaten, insbesondere nach Penn-
sylvanien, dessen Bergbau und Eisenindustrie das Hauptattractionsmittel
dieser Einwanderung bildet. Die Juden bleiben zunächst fast ausschliesslich
in New York, von wo sie erst später, nachdem sie ein kleines Capital
gesammelt, weiter nach Westen rücken. Etwa die Hälfte der deutschen
Einwanderer wandert in die neuenglischen Staaten, die andere Hälfte sucht
dagegen sofort den Nordwesten auf, insbesondere die Staaten Ohio, Wisconsin,
Illinois und Nebraska. Immerhin ist die Zersplitterung der deutschen Ein-
wanderung beträchtlicher, als die der übrigen Nationen. Das Gegenstück
dazu bildet die Immigration der Norditaliener, die sich in ausgeprägter
Weise in einigen wenigen Staaten concentriert.
Ein zweites Moment, dass in den nächsten Jahren in unabsehbarer
Weise die Ziffern der Auswanderung aus Oesterreich wachsen lassen kann,
ist der Beginn einer starken Auswanderung aus Ostgalizien von fast aus-
schliesslich colonisatorischem Charakter. Ihr Ziel ist nicht das zeitweilige
Aufsuchen fremder Arbeitsmärkte, sondern die dauernde, zumal landwirt-
schaftliche Besiedelung entlegener Gebiete; die Träger der Bewegung sind
472
Buzek.
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Das Äuswanderungsproblem und die Regelung des Auswanderungswesens etc. 473
nicht mehr die westgalizischen Polen, sondern zum kleineren Theil die
masurischen Volkselemente, die in früheren Jahren in Ostgalizien angesiedelt
wurden und nun eine Rückwanderung beginnen, zum grösseren Theile die
Ruthenen, die jedoch im Auslande zumeist als Polen auftreten, weshalb die
ganze Bewegung vielfach als eine neue Aera einer polnischen Colonisation
aufgefasst wird.
Die Bewegung begann im Jahre 1892 in den podolischen Bezirken,
dem Hauptherde dieser Wanderung, mit einer Massenemigration nach Russ-
land. Die Umstände, unter denen die Bewegung entstand und verlief,
wiederholten sich später immer wieder von neuem, und sind für diese Aus-
wanderung geradezu typisch. Sie sollen deswegen auch näher gewürdigt
werden.
Im August 1892 verbreitete sich in den podolischen Bezirken die
Nachricht, dass die russische Regierung unter die aus Galizien kommenden
Bauern Grund und Boden vertheile. Bald wurde in den Schenken und den
Bauernhütten, auf dem Felde bei der Arbeit, auf Wochenmärkten und bei
kirchlichen Zusammenkünften nur von den Grundstücken, die sammt Wohn-
haus, Inventar und der ganzen Einrichtung gratis vergeben werden,
gesprochen. Man erzählte, dass die Grundstücke, die man in Russland ver-
theile, deutschen Colonisten, die dieselben verlassen hatten, dann wieder,
dass sie den vertriebenen Juden gehört hätten, dass beide Kaiser sich in
der Frage der Auswanderung nach Russland verständigt hätten u. dgl. m.
All dies wurde geglaubt und ab Mitte August begann die Landbevölkerung
scharenweise über die Grenze zu ziehen. Vor allem waren es Taglöhner,
welche weder Boden noch Hütte hatten, und Häusler, welche bloss eine
Hütte und einen kleinen Garten besassen, weiter das Hofgesinde, und zwar
sowohl Leute, welche augenblicklich keinen Dienst hatten, als auch Knechte
und Mägde in Stellung, schliesslich, wenn auch in geringerer Anzahl, die
Besitzer von 2 — 3 Joch Feld, namentlich die am meisten verschuldeten
oder mit Executionen bedrohten. Die Auswanderer verkauften ihre Mobilien,
ihr Getreide und Vieh, oft auch die Immobilien, selbstverständlich zu Spott-
preisen. Die meisten nahmen Familie, Frauen und Kinder, manchmal auch
die Eltern mit; andere giengen vorderhand allein. Nach Verlauf von zwei
Wochen hörte plötzlich die Bewegung wie mit einem Schlage auf. Die-
jenigen, die zuerst ausgewandert waren, waren zurückgekehrt und ihre
Erzählungen "mussten Glauben finden: die russische Regierung gab nicht
nur keine Grundstücke, sondern sie liess die Leute arretieren, sendete sie
unter Escorte von einem Amt an das andere, unterbrachte sie hierauf in
leerstehenden Kasernen, oder bei Bauern, gewährte denjenigen, die gänzlich
mittellos waren, einen kleinen Unterstützungsbeitrag und überliess sie im
übrigen sich selbst. Die Geschichte von der Betheiligung mit Grundstücken
war einfach erfunden.
Hier der ziffermässige Ausweis über die Opfer dieser Bewegung:
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung X. Band. 33
474
Buzek.
Politischer Bezirk
Es wanderten
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Husiatyn
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779
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29
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1.095
163
236
2.828
Nach der missglückten Massenwanderiing nach Russland ^) kam die
Magsenauswanderung nach Brasilien. Auf Grund des im Jahre 1892 mit der
brasilianischen Regierung abgeschlossenen Vertrages hatte die Companhia
Metropolitana Verträge mit den Schiifahrtsgesellschaften abgeschlossen, kraft
deren diese 148 Francs per Einwanderer zugesichert erhielten, während
die Gesellschaft selbst sich den Rest der von der Regierung bewilligten
Prämie von 6' 15 Pfund Sterling (also etwa 20 Francs per Einwanderer)
als ihren Gewinn vorbehielt. Die Schiffahrtsgesellschaften errichteten in den
wichtigsten Auswanderungsgebieten besondere Agenturen, die die Aus-
wanderer anwerben sollten. Den günstigsten Boden fanden diese Agenten in
Ostgalizien. Konnten sie doch ausser Grund und Boden in Brasilien noch
freie üeberfahrt versprechen. Durch das Eingreifen der ostgalizischen Aus-
wanderung schwoll nun die subsidierte Auswanderung nach Brasilien in
kolossaler Weise an.
Im Jahre
1895
1896
1897
1898
wanderten nach Brasilien aus
über Genua
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Oesterreicher und Ungarn
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2.634
553
11.119
7.158
2.450
480
ausserdem über
Hamburg und Bremen
Oesterreicher
1.149
5.383
133
428
Die Auswanderer der Jahre 1895 und 1896 waren zum allergrössten
Theile Galizier, die der beiden nachfolgenden Jahre stammten, wie vor 1898,
1) Die Auswanderung aus den podolischen Bezirken nach Russland im Jahre 1892,
von Prof. Dr. Thad. Pilat, Statistische Monatsschrift, XIX. Jahrgang.
Das Auswanderungsproblem und die Regelung des Auswanderangswesens etc. 475
Überwiegend aus den südlicheu Ländern der Monarchie. Mit dem Jahre 1899
stellte die brasilianische Eegierung wegen Mangel an verfügbaren finanziellen
Mitteln die weitere Subsidiening der Einwanderung ein. Damit war die
Periode der „Gratis "-Auswanderung aus Oesterreich nach Brasilien beendet.
Die Einwanderer der folgenden Jahre kamen zumeist auf eigene Spesen.
Während die italienischen und südslavischen Einwanderer der Jahre
1895 bis 1897 das Schicksal der vor 1895 Ausgewanderten theilten,
wurden die galizischen Polen in compacten Maassen in Parana angesiedelt.
Der k. u. k. Consul in Curityba, Pohl, schätzt die Zahl der 1895 und 1896
in Parana sesshaft gewordenen Polen auf circa 19.000.
Parana war seit den 70er Jahren der Hauptzielpunkt der colonisatorischen
Auswanderung nicht nur der galizischen, sondern auch der preussisch-
schlesischen und der russischen Polen. In den Jahren 1890, 1891 und 1892
war es sogar zu einer Masseneinwanderung aus Russisch-Polen gekommen,
indem allein in den beiden letzteren Jahren 8.661 Polen aus Russland
augesiedelt wurden, Kein Wunder, dass in dem dünn bevölkerten Lande
(nach der Volkszählung vom 31. December 1890 wohnten in Parana auf
einer Fläche von 221.319 km'^ 249.491 Menschen) das polnische Element
die Oberhand gewann und auf der gesunden Hochebene im Innern des
Landes in fast geschlossenen Massen wohnte. Natürlich machte sich bald
in der gebildeten polnischen Gesellschaft ein reges Interesse für Parana
bemerkbar. Es bildete sich in Lemberg eine Gesellschaft des heiligen liafael
zum Schutze der Auswanderer nach Parana, die den Emigrantenzügen des
Jahres 1895 und 1896 Führer auf den Weg gab, die sie auf der Hinreise
vor Ausbeutung schützen und in Brasilien auf ihre baldigste Ansiedelung,
und zwar nicht in den Nordstaaten, sondern in Parana, hindrängen sollten.
Namentlich letzteres gelang, und die Ankömmlinge wurden ziemlich glatt
in den alten polnischen Colonien Rio Claro, Luceua, Rio Negro, in den
Gegenden von Lapa und Säo Jose dos Pinhaes, sowie in der neugegrüudeten
Colonie Olyntho angesiedelt.
in den Jaliren 1897 und 1898 gerieth die galizische Auswanderung
nach Parana ins Stocken. Im Jahre 1897 wanderten 271, im Jahre 1898
310 Galizier ein. Nicht, dass es den Ansiedlern der Vorjahre schlecht
gegangen wäre. Wäre dies der Fall gewesen, dann hätte sich eine eben
so starke Reemigrationsbewegung, wie bei der slovenischen und der italienischen
Einwanderung, eingestellt. Dies ist aber nicht eingetroffen. Im Jahre 1897
hielten es nur 217, im Jahre 1898 nur 99 Personen für gut zurückzukehren.
Der Grund liegt darin, dass das zur Besiedelung zubereitete Land aus-
gegangen war, die Ankömmlinge also zumeist zuna Ankaufe von Privät-
ländereien gezwungen waren. Erst im Jahre 1899 wanderten wiederum nach
den Angaben der Bremer Statistik zu schliessen, circa 1.000 galizische-
, Polen" ein. Eine bemerkenswerte Ziffer, wenn wir bedenken, dass diese
Einwanderer bereits auf eigene Kosten reisten! Im zweiten Semester lOOO^
scheint aber die Bewegung so ziemlich aufgehört zu haben, und zwar, wie
wir aus dem „Berichte über die Thätigkeit des Reichscommissars für das.
33*
476
Buzek.
Auswanderungswesen während des Jahres 1900" erfahren, einerseits deswegen,
weil der Norddeutsche Lloyd wegen starker Inanspruchnahme durch die
Truppentransporte nach China seine regelmässigen Verbindungen mit Süd-
brasilien unterbrochen hatte, anderseits weil die brasilianische Re-
gierung ein Verbot gegen die Einwanderung von Galiziern
erlassen hätte. Was für Ursachen die brasilianische Regierung zu einem
solchen Verbote bestimmen konnten, ist mir unbekannt.
In den ersten Monaten des Frühjahres 1896 war die Massenauswanderung
aus Galizien nach Parana beendet ; sofort fand die colonisatorische Thätigkeit
der Bevölkerung Ostgaliziens ein neues Ziel: Canada. Die Agenten
streuten aus, dass in Winnipeg Jeder über 18jährige Auswanderer von der
Regierung 113 österreichische Morgen gänzlich kostenlos erhalte" und zu
diesem Zwecke für die Reise von Hamburg nach Winnipeg „in Schlaf-
waggons" (!) nur 112 fl. zu bezahlen habe. (Circulare der Firma Falck
und Comp, in Hamburg.) Das Anglocontinentale Reisebureau in Rotterdam
versprach sogar gerührt von dem „Elend des galizischen Volkes, das in die
brasilianische^) Sclaverei verkauft werde", jedem, der sich in Canada ansiedeln
wollte, 250 Morgen ganz umsonst, und dies nur um den Preis von 100 fl.
für die Schiffskarte von Amsterdam nach Winnipeg. In dem Wettbewerb
siegten nichts desto weniger vorderhand die Hamburger Agenten; es wanderten
nach Canada aus :
Im Jahre
Oesterreicher
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Ungarn
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31
76
57
97
138
85
122
45
92
161
Im laufenden Jahre dürfte die Auswanderung nach Canada über Ham-
burg, wenn wir recht unterrichtet sind, ziemlich erheblich gesunken sein.
Dagegen scheinen Tausende über Rotterdam ausgewandert zu sein.
Wie die Auswanderung nach Russland, die Anfänge der Auswanderung
nach Brasilien und nach Canada, ist auch die Entstehung der galizischen
Emigration nach Argentina auf die Agitationen der Auswanderungsagenten
zurückzuführen.
^) Die Originaltexte der Circulare sind abgedruckt im Sprawozdanie z czynnosei
dep, VI. wydzialu krajowego za czas od 16. listopada 1898 do 15. listopada 1899,
Allegat 14.
Das Auswanderungsproblem und die Regelung des Auswanderungswesens etc. 477
Infolge der ökonomischen Krisis, die seit dem Jabre 1889 auf Argen-
tina schwer lastete, war in der ersten Hälfte der 90er Jahre die österreichische
(tirolische) Auswanderung nach diesem Staate stark zurückgegangen und
bezifferte sich im Jahre 1891 auf nur 379, in den Jahren 1892 bis 1894
auf 707, resp. 770 und 763, im Jahre 1895 auf 615 Personen ; im Jahre 1896
wanderten wieder 1.131, im Jahre 1897 gar 1.870 ein. Die starke Steigerung
im letzteren Jahre ist bereits ausschliesslich der Einwanderung aus Galizien
zuzuschreiben; nicht weniger als 1.004 der Einwanderer des Jahres 1897
waren Galizier „polnischer" Nationalität. Seit dieser Zeit stellen
die Galizier das Hauptcontingent der österreichischen
Einwanderung nach Argentina.
üeber die Ursachen der ersten Auswanderung galizischer Polen nach
Argentina soll ein gewiss competenter Kenner, der Director derEinwanderungs-
direciion in Buenos Aires, vernommen werden.^)
„Im Laufe des Jahres 1897 kamen zahlreiche polnische Einwanderer,
die merkwürdigerweise zum Unterschiede von den übrigen Einwanderern
fast immer mit ihren Familien, die viele Mitglieder zählten, ankamen. Aus
naheliegenden Gründen beschloss die Direction, über die Ursachen dieser
Einwanderung nachzuforschen. Es ergab sich, dass die Einwanderung auf
die rege Thätigkeit der Schiffahrtsagenten von Hamburg und Bremen
zurückzuführen ist. Viele kamen mit Karten der Republik, auf welchen auf
die Verhältnisse des Landes bezügliche Notizen eingetragen waren, die so
ziemlich der Wirklichkeit entsprachen, insoweit es sich um die Vortheile,'
die das Land den Einwohnern bietet, handelte, in Bezug auf die vom Staate
gewährte Hilfe dagegen entschieden übertrieben. So besagte z. B. eine
Notiz, dass die Regierung Grundstücke gratis verleihe, was durchaus nicht
zustimmt, weil Grund und Boden nur zu solchen Bedingungen angeboten
werden, dass der Erwerb nur Leuten, die über gewisse Mittel verfügen,
möglich ist."
Der Bericht schildert breit die Schicksale der durch solche Verspre-
chungen Herangelockten. Sie kamen in das staatliche Emigrantenhotel und
nahmen, aller Mittel entblösst. die Hilfe des nationalen Arbeitsamtes in
Anspruch. Man vermittelte sie in alle Theile des Staates, wo eben in der
Winterszeit eine Arbeitsgelegenheit sich finden liess. Da ergaben sich neue
Schwierigkeiten; die Nachfrage nach Arbeitskräften war in keinem Verhält-
nisse zur Menge der gelandeten Polen, die meisten Unternehmer schickten
die Angeworbenen wieder zurück, da sie sich mit ihnen nicht verständigen
konnten. Die Leute wurden von Hotel zu Hotel, von Unternehmer zu Unter-
nehmer fortgesclioben. Der Erwerb, den sie unter solchen Umständen endlich
fanden, war natürlich in der Regel so wenig lohnend, die eingegangenen
Arbeitsbedingungen so drückend, dass viele durchgiengen und bettelnd von
Ort zu Ort zogen. Nur nach und nach, nach vielen Misserfolgen waren die
Leute so weit mürbe, dass sie sich in ihr Schicksal ergaben. Sie wurden
1) Memoria de la Direcciön de Inmigraciun, 1899, S. 129 ff., sodann 1900, S. 89 ff.
478 Buzek.
in den verschiedensten Provinzen und Territovien als Arbeiter untergebracht
(in San Juan, Mendoza, Cordoba, Rio Negro, Entre Kios und Santa Fe).
Nur wenigen gelang es, das Ziel ihrer Wünsche zu erreichen. Auf den
Vorschlag des Gouverneurs der Missiones, Herrn Lanusse, beschloss die
Regierung, zur Probe aus Polen eine kleine landwirtschaftliche Colonie zu
gründen. Einige Dutzend Familien wurden nach „Apostoles" in die Missiones
gebracht, die Regierung leistete ausnahmsweise die erste Beihilfe, und es
zeigte sich bald, dass der Pole im allgemeinen „ein guter Landwirt und
arbeitskräftig sei", und dass es genüge, diese Einwanderer nicht zu zerstreuen,
•damit diese guten Eigenschaften zum Vorschein kommen. Nun fieng die
Regierung an, das nationale Verhalten der Polen zu studieren. Die Beobachtung
ergab kein schlechtes Resultat. „Diese Pulen bilden keinen fremden, wider-
strebenden Körper. Sie schicken ihre Kinder in die Schulen des Territoriums,
wo diese die nationale Sprache lernen und moralisch an unser Land gefesselt
werden." Mit einem Worte, die Regierung war unbesorgt und mit der
Probe zufrieden. Sie beschloss, die Polen nicht mehr als Arbeiter über das
ganze Reich zu zerstreuen, sondern sich dem Wunsche der Ankömmlinge
zu fügen und sie in eigenen Centren polnischer Ansiedelung zu concentrieren.
Nach Begründung der Colonie Apostoles entwickelte sich die weitere
Einwanderung galizischer Polen verhältnismässig glatt: „Die polnischen
Landwirte konnten jetzt Landsleuteu, die die zum ßodenerwerbe noth-
wendigen Mittel nicht besassen, so lange Arbeit geben, bis diese ihrerseits
Grundbesitz erwarben." Dies war im Jahre 1898 der Fall. Es landeten
nur 510 Oesterreicher und Ungarn, davon 402 Polen (270 im ersten, 132 im
zweiten Semester). Noch für das Jahr 1899 konnte die Direction berichten i):
„Es landeten auch 950 Oesterreicher, zum grössten Theile Polen. Diese
Einwanderung hat sich verringert und weist die Tendenz auf, sich in
vernünftiger Höhe festzuhalten" — „Dank den in den Missiones und Entre
Rios gebildeten Sprachinselchen finden sich jetzt Stützpunkte vor, die
die Placierung dieser Einwanderer ohne grössere Schwierigkeiten erlauben."
Der Bericht erwähnt also ausdrücklich, dass die Placierung der Leute nur
deswegen leicht war, weil die Einwanderung sich auf einer „vernünftigen
Höhe" erhält. Die Agenten beachteu diese Bedingung natürlich nicht. Im
Jahre 1900 wurden bereits über 2.000 Oesterreicher nach Argentina
befördert, im laufenden Jahre dürfte die Zahl noch beträchtlich höher
werden. Wenigstens berichteten die galizischen Blätter über eine massenhafte
Auswanderung ostgalizischer Bauern nach Argentina (über Genua und
Bremen). Aus Delatyn allein sind am 10. Mai 2 Züge mit je circa 200 Personen,
■darunter etwa die Hälfte Kinder, dorthin aufgebrochen. Die Leute führten
viel Gepäck mit, insbesondere Pflüge, Eggen, Sägen, Sensen etc., weil
dergleichen in Argentina nur um schweres Geld zu bekommen sei. Auf die
Frage, warum sie auswandern, gaben sie an, dass die argentinische Regierung
ihnen Grundstücke ä 50 bis 60 ha, wie viel ein jeder von ihnen verlangen
1) Cit. Bericht pro 1899, S. 11.
Das Auswanderungsproblem und die Regelung des Auswanderungswesens etc. 479
werde, gegen Zahlung von 13 fl. durch zehn Jahre und länger anweisen
werde. Auch hätten sie Briefe von früher Ausgewanderten erhalten, die
die argentinischen Zustände priesen. Schliesslich seien einige zurück-
gekommen, um ihre Frauen zu holen, der beste Beweis, dass es ihnen nicht
schlecht gegangen ist. Aus dieser Schilderung ^) ist zu entnehmen, dass der
Agent der italienischen Linie, der die Vermittelung besorgte, in den bereits
früher Ausgewanderten mächtige Helfer fand, aber nichtsdestoweniger
Versprechungen machte, die dazu führen müssen, dass in Argentina viele
Auswanderer Enttäuschungen erleben werden.^) Er weiss ganz genau, dass
von den Getäuschten viele doch an das Ziel ihrer Wünsche gelangen, und
ihre Wohlfahrt für ihn bei der nächsten Gelegenheit Zeugnis ablegen wird.
Gegenbeweise der Zahlreicheren, die missglücken, fürchtet er nicht. Denn
diese haben nicht die Mittel zurückzukehren und schämen sich, in Briefen
ihren Bekannten gegenüber einzugestehen, dass sie Schiffbruch gelitten.
Mit der Darstellung der Wanderbewegung nach Eussland, Canada,
Brasilien und Argentina ist die Geschichte der in jüngster Zeit von der
Bevölkerung Galiziens unternommenen colonisatorischen Versuche keineswegs
abgeschlossen. Kleinere Trupps siedelten sich in Bosnien und der Herzogowina
an, andere fanden eine neue Heimat in Neu-Seeland, viele aber, die
die gewissenlosen Landversprechungen aus der Heimat gelockt hatten, und
die nicht so glücklich waren, einen eigenen Herd gründen zu können, durch-
irrten, nach Erwerb und Verdienst suchend, selbst die ungeeignetsten
Einwanderungsgebiete. Dass dabei sehr viele in eine unwürdige Abhängigkeit
von Plantagenbesitzern und anderen Unternehmern geriethen, zu weissen
Sclaven im buchstäblichem Sinne des Wortes wurden, ist eines der
traurigsten Capitel dieser Bewegung.
Das dritte Moment, das die österreichische Auswanderung der Gegenwart
charakterisiert, ist das Aufkommen der massenweisen „Sachsengängerei*
der galizischen Landbevölkerung.
Die Agrarverfassung Galiziens krankt an der oft bis zur Unglaublichkeit
fortgeschrittenen Bodenzersplitterung. Mangels jedweder Industrie an Ort
und Stelle, bei der übermächtigen Concurrenz, mit der der christliche
Handwerker in Galizien von west- österreichischen Fabriken und der israe-
litischen Handwerkerbevölkerung im Lande bedrängt wird, ist es natürlich,
dass der Bauer sein Grundstück nicht ungetheilt an einen Erben überträgt,
sondern entweder selbst im Testamente alle Kinder mit Landtheilen bedenkt
oder, was die ßegel ist, überhaupt kein Testament hinterlässt, um die
Theilung vom Erbschaftsgerichte vornehmen zu lassen. Es ist dies die
einzige Art, seine Kinder auszustatten. Auf diese Weise ist in vielen Theilen
des Landes der bäuerliche Mittelbesitz überhaupt zugrunde gegangen, und
an seine Stelle traten Zwergwirtschaften, die zur Ernährung der Familie
nicht genügen oder wenigstens einer gedeihlichen wirtschaftlichen Entwickelung
1) Kraj, RokXX, Nr. 20. Petersburg, 18. (31.) Mai 1901.
') Vergleiche die Bestimmungen des argentinischen Colonisationsgesetzes vom
3. November 1882.
480 Buzek.
unfällig sind. Während so auf der einen Seite von einem besitzlosen
Proletariat in v^ielen Gegenden Galiziens gar nicht die Rede sein kann,
ist anderseits in eben diesen Gebieten die grössere Mehrzahl der bäuerlichen
Wirtschaften auf einen Nebenerwerb angewiesen, um die Einkünfte aus
dem eigenen Grundstücke soweit zu ergänzen, dass sie zur Ernährung
der Familie genügen, die Bezahlung der Steuern und Schuldzinsen, die
Verbesserung oder Neuaufführung von Wirtschaftsgebäuden, die Ergänzung
des Inventars, die Vornahme von Investitionen überhaupt ermöglichen.
Diesen Nebenerwerb sucht die ruthenische Bevölkerung Ostgaliziens bis
auf die Gegenwart beim benachbarten Gutsbesitzer, die energische Be-
völkerung Westgaliziens dagegen begann ihn bereits 10 bis 20 Jahre nach
der Grundentlastung auf der Wanderung zu suchen.
• Die ursprünglichste Form dieser Wanderung beruhte auf einer Aus-
nützung der klimatischen Verhältnisse des Landes. Die Erntezeit und
überhaupt die Perioden der intensivsten Feldarbeit fallen in den gebirgigen
Landestheilen auf einen späteren Zeitpunkt, als im Flachlande, ebenso
später im Westen, früher im Osten des Landes. Ohne die eigene Wirtschaft
vernachlässigen zu müssen, können also die Bewohner der Berge sich in
der Ebene zur V^ollendung der Erntearbeiten verdingen, können masurische
Bauern an der Bestellung ostgalizischeu Bodens mitwirken. Der polnische
Bauer ist im allgemeinen bei der Arbeit bei weitem energischer, als
der ruthenische. Dazu kommt, dass bei ihm die Zahl der kirchlichen
Feiertage nicht so gross, die effective Arbeitszeit also eine längere ist. ^)
Aus beiden Gründen entschlossen sich bereits frühzeitig viele ostgalizische
Grundbesitzer wo möglich masurische Arbeitskräfte zu gebrauchen. Sie
schickten beim Beginne des Frühlings ihre Angestellten oder andere
Vertrauenspersonen in die westlichen Landestheile, die die Arbeiter anwarben
und durch ein kleines Angeld verpflichteten. Seltener gebrauchten solche
Gutsverwaltungen der Vermittlung concessionierter und nicht concessionierter
Agenten, da diese oft recht theuer zu stehen kommen, und nicht selten
Landstreicher anwerben. Solche Arbeiter blieben schon die ganze Saison in
Arbeit, die Bestellung der eigenen Grundstücke der Familie überlassend.
Erst nach Beendigung der Feldarbeiten kehrten sie zurück.
Diese Saisonwanderung überflutete bald die Grenzen des Landes und
erstreckte sich nach Ungarn, nach Rumänien, in grösserem Uraifang auch
nach Russland; der polnische Arbeiter wurde auch hier von den Wirt-
schaften mit intensiverem Betriebe dem heimischen Arbeiter vorgezogen.
Insbesondere zogen die russischen Zuckerrübendistricte und die Kukuruz-
*) Nach einer in den 70er Jahren vom Landesstatistischen Amte in Lemberg ver-
anstalteten Enqußte gab es in 34 Bezirken Galiziens im Jahre 100 — 120 arbeitsfreie
Tage, in 22 Bezirken 120—150, in 16 Bezirken 150—200! Dabei werden zu den arbeits-
freien Tagen nur die Sonn- und Feiertage, die Ablass- und Kirchweihfeiertage und die
damit verbundenen arbeitsfreien Tage, endlich die Jahrmarktstage gezählt. In Ostgalizien,
wo sowohl die katholischen, wie die griechischen Feiertage gefeiert werden, und wo die
Kirchweihfeste mehrere Tage lang dauern, ist die Zahl der arbeitsfreien Tage die grösste.
Seit den 70er Jahren dürften sich die Verhältnisse kaum gebessert haben.
n
m
Das Auswanderungsproblem und die Regelung des Auswanderungswesens etc. 481
felder Kumäniens zahlreiche polnische Saisonarbeiter an. Binnen kurzem
beschränkten sich die Wanderarbeiter nicht bloss auf landwirtschaftliche
Arbeiten, sondern fiengen an, sich in allen ihnen zugänglichen Erwerbs-
arten zu bethätigen. Zuerst verdingten sie sich insbesondere als Erdarbeiter
bei den grossen Eisenbahnbauten in Galizien und den Nachbarländern. Im
Verkehre mit qualificierten Arbeitern erwarben sich die tüchtigeren ver-
schiedene technische Fähigkeiten und fiengen an, in der Arbeiterhierarchie
emporzusteigen. Sie fanden als Maurer, als Zimmerleute bessere Arbeits-
bedingungen als die Erdarbeiter, die das Gros dieser Saisonwanderung
bildeten und noch gegenwärtig bilden.
In den 80er Jahren gewann die Bewegung an Umfang. Die polnischen
Saisonarbeiter überfluteten gleichzeitig mit anderen zeitweilig Ausgewanderten
das mährisch-schlesische Kohlenrevier, die grösseren Städte Ungarns, die
angrenzenden Theile Preussens, sie drangen bis nach Nieder-Oesterreich
und Wien vor. Anfangs der 90er Jahre handelt es sich bereits nach fast
allen Richtungen um Ströme, die nach Tausenden, ja Zehntausenden von
Individuen zählten. So wird von einem Kenner die Zahl der polnischen
Saisonarbeiter in Russisch-Polen allein auf über 10.000 gezählt.^) Die
Abwanderung nach Preussen hat schon damals solche Dimensionen ange-
nommen, dass die preussische Regierung aus national-politischen Gründen
eine statistische Beobachtung des ümfanges der Bewegung verfügte. Wir
geben hier die Ziffern für das Jahr 1891 und 1892, ^'i da die Resultate der
späteren Erhebungen nicht publiciert wurden.
Zuzug polnischer Arbeiter aus Galizien nach den ostpreussischen
Provinzen. (Siehe Tabelle S. 482.)
Der Kern unserer zeitlichen Auswanderung nach Preussen bestand
idemnach noch Anfang der 90er Jahre aus Bergleuten, sowie gewerblichen
Saisonarbeitern, die eigentliche , Sachsengängerei " war noch unentwickelt
und die ganze Bewegung hat noch die Grenzen des benachbarten Regierungs-
bezirkes Oppeln nicht überschritten.
Sowohl die gewerblichen, wie die landwirtschaftlichen Saisonarbeiter
begeben sich in der Regel im März bis Mai in die Fremde, wo sie bis
October-November verbleiben. Nur nach Preussen bestehen für die gewerb-
liche Wanderung, ziim Theile — zumal früher — auch für die landwirtschaft-
liche wesentlich andere Termine, die von der preussischen Regierang bestimmt
werden. Darnach berechnet sich die durchschnittliche Saisondauer für die
ausserpreussischen Arbeiter auf circa 170 Arbeitstage. Die Wanderarbeitei-
wiederholen die Wanderung so viele Jahre, bis der wirtschaftliche Zweck
derselben erreicht ist. Natürlich gibt es zahlreiche Besitzer der kleinsten
Wirtschaften, die, solange die Kräfte reichen, jahraus jahrein die Wanderung
wiederholen. Erst wenn diese schwinden, müssen sie sich mit der am Orte
i)BoleslawKoskowski, Wychodztwo zarobkowe wloscian w krölestwie polskiem.
Warszawa 1901.
2) Veröffentlicht von v. Mayr, Statistik der Binnenwanderungen, Schriften des
Vereins für Socialpolitik, Band LVIII.
482
Buzek.
Regierungsbezirk
beziehungsweise Provinz
Landwirt-
schaftliche
Gewerbliche
Arbeiter
männ-
lich
lich
männ-
lich
weih- männ-
lich lieh
Bergarbeiter
weib-
lich
Zusammen
männ-
lich
weib-
lich
im .Tahre 1891
Oppeln
Breslau
Liegnitz
Zusammen Schlesien
Grossherzogthum Posen
Westpreussen
Schlesien
Posen
Westpreusen
Ostpreussen
Zusammen ....
Davon in der Zeit
vom l./I. bis 31./III.
„ l./IV. „ 30./VI.
„ 1/VII. „ 80 /IX.
, i./x. „ 3i./xn.
798
399
3 658
15
1.566
6.022
9
12
40
1
—
—
49
57
51
185
43
—
—
242
864
462
8.883
59
1.566
—
6.313
62
7
16
—
—
—
78
29
—
7
1
—
—
88
414
18
94
521
7
1
im Jahre 1892
617
375
658
10
372
1647
44
2
11
1
—
—
55
50
22
18
1
—
—
68
48
6
4
—
—
—
52
759
405
691
12
372
—
1.822
80
27
334
7
320
734
i .889
289
47
4
—
—
436
252
78
260
1
1
—
513
88
11
50
—
51
—
139
385
3
23
6
417
34
293
79
11
selbst sich darbietenden Arbeitsgelegenheit begnügen. Sie helfen dann oft
den Familien, deren Väter oder Söhne in der Fremde weilen, oder nehmen
beim Grossgrandbesitzer Arbeit.
Der ungewöhnliche Aufschwung der deutschen Industrie in der zweiten
Hälfte der 90er Jahre bewirkte eine radicale Aenderung in dem Umfange
und den näheren Umständen der galizischen Saisonwanderung. Die Industrie
der Provinzen Westphalen. der Eheinprovinz. dann des Königreiches Sachsen
sog mit liberraschender Schnelligkeit das ganze verfiigbare Menschenmaterial
Westdeutschlands auf und die Landwirtschaft dieser Keichstheile sah sich
zur Verwendung von Wanderarbeitern aus den polnischen Provinzen Preussens
gezwungen (dieser Process vollzog sich zum grösseren Theile bereits vor
1895). In Bälde gieng auch der grössere Theil dieser Arbeiter zur Industrie
über, so dass ein grosser Theil der preussischen Landwirtschaft, sowohl in
den ostelbischen, als in den westelbischen Provinzen, der nothwendigen
Arbeitskräfte entbehrte. Die preussische Regierung sah zwar die Einwanderung
ausländischer Arbeiter slavischer Nationalität höchst ungerne, aber den
gebieterischen Forderungen der Landwirte gegenüber konnte sie unmöglich
Das Auswanderuiigsproblein und die Regelung des Auswanderungswesens etc. 483
taub bleiben. Sie beschloss, die Wanderarbeiter zuzulassen und nur darüber
zu wachen, dass diese ihren Aufenthalt in Deutschland nicht über die
hiefür gesetzten Termine verlängern. Und es begann denn die Massen-
einwanderung polnischer „Sachsengänger" aus dem Königreiche Polen und
aus Galizien.
Auf Grund der von den Bezirkshauptmannschaften gesammelten Daten
betrug die Zahl der Sachsengänger im Jahre 1896 11.405, im Jahre 1897
12.596, im Jahre 1898 18.981, im Jahre 1899 26.283, die allermeisten
hievon aus Westgalizien. insbesondere aus den Bezirken Kolbuszowa,
Bochnia, Brzesko. Nisko, Wadowice und Tarnobizeg, nur wenige aus den
ostgalizischen Bezirken Cieszanöw und Jaworöw. Die angegebenen Ziffern
müssen ungefähr auf das Dreifache erhöht werden. Einmal fallen die Aus-
weise mehrerer Bezirke, die notorisch stark an der Bewegung participieren,
und dann versichern Sachkundige, dass ihnen genau bekannte Gemeinden
mehr „Sachsengänger" gestellt haben, als die Ausweise der politischen
Behörden für den ganzen Bezirk ausweisen. ') Speciell für das Jahr 1899
wird die Zahl der galizischen Sachsengänger von Hofrath von Pilat auf
wenigstens 40.000 geschätzt,-) von Dmowski mit 100.000 angegeben.^)
In einer sehr schätzbaren Zuschrift, die wir der Freundlichkeit W. Kinn er s,
des Vorstehers des Arbeitsnachweises der Landwirtschaftskamraer für die
Provinz Schlesien, verdanken, und die wir noch des öfteren gebrauchen
wollen, wird die Angabe mit 40.000 als zu niedrig, die mit 100 bis 200.000
als , wesentlich zu hoch gegriffen" bezeichnet. Herr Kinn er, der kraft
seiner amtlichen Stellung und Dank der centralen Lage Breslaus für die
galizische Einwanderung wohl am besten informiert sein dürfte, glaubt,
dass im Vorjahre (1900) die Abwanderung aus Galizien etwa 70.000, im
laufenden Jahre vielleicht 80—90.000 betragen hat.
Das Gros der „ Sachsengänger " wird von ledigen Mädchen gestellt,
sodann von jungen Burschen. Doch sind auch verheiratete Männer und
Frauen durchaus nicht selten. Die meisten finden Arbeit in Schlesien, in
der Provinz Posen, in den beiden Sachsen und in Thüringen, in West-
preussen und Brandenburg, viele gelangen jedoch bis nach Hannover und
Westphalen, sehr viele nach Dänemark. Gewöhnlich theilen sich die
Abwanderer eines Dorfes in mehrere Gruppen, deren jede bei einem und
demselben Unternehmer eintritt. Die Leute bleiben so auch in der Fremde
unter Bekannten.
Solange die Nachfrage nach landwirtschaftlichen Arbeitern in Deutsch-
land keine grosse war, besorgten die Vermittelung zwischen Arbeitgebern
und Arbeitern zum grossen Theile die sogenannten Schlepper, d. h. galizische
Bauern, welche selbst in Deutschland gearbeitet haben und sich dem
Gutsherrn gegenüber verpflichteten, ihn für das kommende Jahr mit Arbeitern
zu versehen. Sie waren dem Gutsbesitzer immer willkommen, da sie sich
^) Krzyzanowski, Studya Agrarne, S. 319, Krakau 1900.
^ Pilat, Wychodztwo robotniköw rolnych za zarobkiem do Niemiec, Lemberg 1900.
') R. Dmowski, Wychodztwo i osadnictwo, I. Theil, Lemberg 1900, S. 104.
484 Buzek.
mit einer geringen Vermittelungsgebflr begnügten. Den Arbeitern gegen-
über waren diese Schlepper allerdings nicht immer besonders genügsam;
Fälle crasser Ausbeutung waren nicht selten. Im ganzen scheinen diese
Schlepper dieselbe Rolle zu spielen, wie die nordamerikanischen ,padrons"
Es war auch nur billig, dass die Behörden für ihre Thätigkeit ein wach-
sames Auge hatten, sie als nichtconcessionierte Agenten ansahen und dem-
entsprechend behandelten. Die Härte lag nur darin, dass, wenn ein solcher
Agent gefasst wurde, auch die von ihm angeworbenen Leute, die sich in
der Regel bereits auf der Reise befanden, auseinandergetrieben wurden, um
ihre Vorauslagen kamen und dem Zufall preisgegeben waren.
Mit dem Wachsen der Nachfrage wurde die Beschaifung der Arbeits-
kräfte durch die Schlepper immer mehr ungenügend. Einerseits konnten
sie nur kleine Arbeitertransporte über die Grenze bringen, anderseits boten
sie dem Arbeitgeber nicht die geringste Gewähr für eine einigermaassen
pünktliche Lieferung der Leute. In den Vordergrund, fast zur ausschliess-
lichen Herrschaft trat somit die Vermittelung concessionierter oder auch
unconcessionierter Agenten, fast ausschliesslich galizischer Israeliten. Erst
ihr Eingreifen machte eine Massenbewegung möglich.
Die Agenten fangen mit der Agitation bereits im Spätherbste an. Sie
bereisen zu Pferd oder per Wagen die Dörfer ihres Bezirkes und sparen
nicht mit Versprechungen und mit „diversen Flaschen Schnaps", „um bei
den Leuten eine gewisse Anhänglichkeit für das kommende Jahr hervor-
zurufen". Insbesondere suchen sie sich mit den Würdenträgern der Gemeinden
bis zum Nachtwächter herab auf guten Puss zu setzen. Nach dieser Vor-
bereitung des Terrains kann der rührige Agent mit Beginn des neuen Jahres
„mit voller Kraft ins Geschäft gehen". „Es erfolgt die zweite Bereisung
des Bezirkes, diesmal eingehender, denn es sind endgiltige Abmachungen
zu treffen, und die Ausfertigung der Pässe in Angriff zu nehmen. Ganz
nüchtern geht die Sache keineswegs ab, denn auch hier wird an Alkohol
nicht gespart".^)
Dies war der Vorgang bei der Werbung der Saisonarbeiter, als die
deutsche Landwirtschaft sich sozusagen über Nacht gezwungen sah, die
Zahl der beschäftigten fremden Arbeiter um Zehntausende zu vermehren;
natürlich kamen dabei die Vermittler besonders gut weg, die Leute nur
insofern, als ihnen Bedingungen gewährt wurden, die sie im Vergleiche mit
dem heimischen Arbeitsmarkte in dem Maasse vortheilhafter finden mussten,
dass eine Massenbewegung in Scene gesetzt werden konnte. Die Agenten
bezogen damals geradezu horrende Vermittelungsgebüren. W. Rinn er
berechnet die Geschäftsunkosten pro vermittelte Person auf höchstens
12 Mark, wobei schon der Preis des Eisenbahnbillets, das der Agent für
die Beförderung des Angeworbenen bis Myslowitz, Oswiecim, Dzieditz an-
zukaufen hatte, mitgerechnet ist und auch das Verlustconto des Agenten
^) W. R i n n e r, Zur Beschäftigung ausländischer Feldarbeiter, Sonderabdruck aus
Heft 48 und 49 der Zeitschrift der Landwirtschaftskammer für die Provinz Schlesien.
Die Schilderung beruht auf den Darstellungen der Agenten selbst.
II
Das Auswanderungsproblem und die Regelung des Auswanderungswesens etc. 485
reichlich berücksichtigt wird. Die Agenten bezogen jedoch selbst am An-
fange der Saison, bei Lieferungen von 200 Personen, zwei- bis dreimal so
hohe Vermittelungsgebüren. Noch für 1900, wo schon die Verhältnisse
wesentlich anders lagen, berichtet W. K i n n e r, dass er Verträge schlesischer,
brandenburgischer und posen'scher Landwirte mit galizischen Agenten gesehen
hat, in denen 22, 23 und selbst 25 und 30 Mark pro vermittelte Person
frei Myslowitz zu zahlen waren. Dass diese maasslosen Agentengewinne auf
die den Arbeitern gewährten Löhne drücken mussten, ist klar. Aber dies
war bei weitem nicht das Aergste! ,.In vielen Fällen werden seitens der
Agenten die Arbeiter derart geliefert, dass eine kaum nennenswerte Pro-
vision verlaugt wird, der Agent sich jedoch die Auszahlungen der Löhne
vorbehält. Hiebei werden den Leuten willkürliche Abzüge gemacht, so dass
der Agent — je nach seinem engeren oder weiteren Gewissen bis 60, 80
und mehr Mark verdient, wovon allerdings etwaige Eeisekosten in Abzug
zu bringen sind — moderner Sklavenhandel." „Soweit mir bekannt, sind
noch in diesem Herbst seitens einiger schlesischer und sächsischer Zucker-
fabriken solche Verträge abgeschlossen worden; der Agent ist alsdann leicht
imstande, die Leute pro Kopf für 8 Mark frei Fabrik nach Niederschlesien
und für 15 Mark in die Umgebung von Halle zu liefern, fliessen doch von dem
Arbeitsverdienst dieser Leute pro Kopf täglich 0-45 Mark in seine Tasche."'-)
Mit der weiteren Entwickelung der Bewegung suchten sich sowohl die
Unternehmer, als auch die Wanderarbeiter von den Agenten unabhängig zu
machen. Der erste Schritt geschah von Seiten der Unternehmer. Um den
Agenten gegenüber einheitlich vorgehen zu können, erwies es sich als an-
gezeigt, dass die Landwirte nicht direct, sondern durch die Vermittelung
eines Centralorganes mit den Agenten verkehren. Die provinziellen Land-
wirtschaftskammern errichteten besondere Arbeitsnachweise, denen die In-
teressenten die von ihnen benöthigten Arbeitskräfte anzugeben haben. Die
Arbeitsnachweise suchen sodann die betreffenden Aufträge direct durch
Arbeiter, die sich bei ihnen melden, zu decken, falls dies aber unmöglich
wäre, leiten sie das Mandat weiter an ihre galizischen Agenten, die plsdann
die gewünschte Anxahl in der verlangten Zusammenstellung nach der Grenze
bringen. Hier warten bereits die Angestellten des Arbeitsnachweises (^oder
des Arbeitsgebers), um den Agenten zu bezahlen, die Leute zu empfangen,
und sie an ihren Bestimmungsort zu bringen.
Die Intervention der Landwirtschaftskammern diente vor allem dem
Interesse der Landwirte, in nicht geringerem Grade aber auch dem der
Arbeiter. Die Landwirtschaftskammer setzte eine Erniedrigung der Provi-
sionen der Agenten durch; bereits im Jahre 1899 schwankte die für die
Beschaffung von Monatslöhnern vom Breslauer Arbeitsnachweise eingefor-
derte Gebür zwischen 16 und 20 Mark frei Grenzstation pro Person und*
die nachfolgenden Jahre brachten weitere Ermässigungen bis auf die Hälfte,
ja sogar ein Drittel der ursprünglichen Ansprüche. Dann traten die Land-
wirtschaftskammern energiscli der früher geschilderten Art des Seelenver-
^) ß i n n e r, op. cit.
486
Buzek,
kaufes entgegen, ohne allerdings diesen Missbrauch gänzlich beseitigen zu
können. Endlich verpflichteten sich die Arbeitsnachweise die Angeworbenen^
indem sie dieselben im Namen der Auftraggeber schriftliche Contracte
unterfertigen Hessen, so dass die Arbeiter genau wussten, unter welchen
Bedingungen sie angeworben werden. Zum Vertragsabschlüsse wurden ge-
druckte Formulare verwendet, deren Inhalt demnach für die Arbeitsbedin-
gungen der „Sachsengänger" typisch sein dürfte. Im folgenden soll der
wesentlichste Inhalt zweier solcher Vertragsformulare wiedergegeben werden.^)
Der eine dieser Contracte ist verfasst von der Breslauer, der andere
von der Posener Landwirtschaftskammer. Beide stimmen in der Kegel selbst
dem Wortlaute nach überein, w^o sie sich unterscheiden, spiegeln sie
materielle Verschiedenheiten der Arbeitsbedingungen in beiden Provinzen
wieder. Insbesondere variieren die Bestimn)ungen über die Arbeitszeit und
den Arbeitslohn.
Nach dem Posener Contracte dauert die tägliche Arbeitszeit von
Sonnenaufgang, bezw. von 5 Uhr bis Sonnenuntergang mit einstündiger
Mittagspause und je halbstündiger Frühstücks- und Vesperpause. Der
schlesische Vertrag verlangt nur tägliche Arbeit von 5 Uhr morgens bis
7 Uhr abends und gewährt 2 bis 3 Stunden Pausen (je Ya Stunde für
Frühstück und Vesper, 1 bis 2 Stunden für das Mittagsbrot). Dafür be-
stimmt der schlesische Vertrag ausdrücklich, dass die Arbeit punkt 5 Uhr
morgens mit dem Weggange vom Gutshof an zu beginnen und punkt 7 Uhr
abends an Ort und Stelle zu enden hat, und fordert in dringlichen Fällen
ausdrücklich die Leistung von Ueberstunden, welche bei Männern und
Burschen über 18 Jahre mit 10 Pf., bei Frauen, Mädchen und jungen
Burschen mit 8 Pf. pro Stunde entlohnt werden. Ueberdies wird statuiert,
dass der Arbeiter ausser an evangelischen Fest- und Sonntagen nur noch
an sechs genau fixierten Tagen feiern dürfe.
Für Posen galten -seit jeher Taglöhne, für Schlesien bis 1899 Monats-
löhne, seit 1900 aber bereits auch Taglöhne. Die Löhne betrugen in der
Saison 1899:
^
Für Männer
grosse Burschen (Pferde-,
Ochsenknechte) . . . .
kleine Burschen . . ^ .
Frauen und Mädchen . .
Posen: Taglöhne
0-85
0-65
0-65
Schlesien: Monatslöhne
gewöhnlich in der Ernte gewöhnlich in der Ernte
Mark
1-15
0-80
0-80
20—22
18
16
16—18
keine
Erhöhung
dto.
dto.
dto.
^) Abgedruckt in dem cit. Berichte des Depart. VI des galizischen Landesaus-
ßchusses.
Das Auswanderungsproblem und die Regelung des Auswanderungswesens etc. 487
Nach dem Posener Vertrag geschah die Entlohnung wöchentlich am
Samstag, 30 Proc. des Lohnes der ersten drei Monate wurden jedoch erst
beim ordnungsmässigen Abgange des Arbeiters fällig. Der schlesische
Vertrag enthält analoge Bestimmungen^), zählt jedoch taxativ auf, wann
der Abgang nicht ordnungsmässig ist, wann also der zurückgehaltene Theil
des Lohnes verfällt. Ausser dem Contractbruch gehören hier alle Gründe^
die den Arbeitsgeber zur Lösung des Arbeitsverhältnisses berechtigen. (Nicht-
befolgung der dienstlichen Anordnungen des Arbeitgebers oder dessen Stell-
vertreters selbst auf zweimalige Aufforderung hin, Beschimpfung oder gar
thätlicher Widerstand gegen den Arbeitgeber oder dessen Stellvertreter,
Stehlen, Schwangerschaft einer unverheirateten Person, Aufwiegelei, Thier-
quälerei, Unfähigkeit des Arbeiters.)
In allen übrigen Bestimmungen deckt sich der Inhalt der Posener und
der schlesischen Contracte. Ausser dem Lohne erhält jeder Arbeiter Nahrungs-
mittel in natura, nach den in den Verträgen angeführten Quantitäten zu
schliessen, in reichlicher Menge. Weiters wird eine gemeinschaftliche
Wohnung im Arbeiterhause, getrennt nach Geschlechtern, gewährt. Jeder
hat Anspruch auf eine Lagerstätte und eine wollene Decke. Ebenso hat der
Arbeitgeber eine gemeinschaftliche Feuerstelle zum Kochen und zur Eeini-
gung der Wäsche abzutreten und das erforderliche Brennmaterial beizu-
stellen. Das Essen wird von einer Frau, zumeist der Frau des Aufsehers,
gekocht, welche auch sämmtliche Wohn- und Schlafzimmer zu reinigen und
das Schälen des jedesmaligen Tagesquantums von Kartoffeln zu besorgen
hat. Dieser ist die hiezu nothwendige freie Zeit zu gewähren. Die Leute
erhalten freien Arzt, freie Medicamente und Krankenpflege. H i e g e g e n
wird der Lohn in Abschlag gebracht.
Die Kosten der Hinreise zum Dienstorte werden vom Arbeitgeber vor-
geschossen; diejenigen Arbeiter, die die vereinbarte Arbeitszeit nicht ein-
halten, müssen dem Arbeitgeber das vorgeschossene Keisegeld ersetzen.
Wegen dieser und anderer Forderungen (Schadenersatzansprüche wegen Be-
schädigung der Arbeitswerkzeuge etc.) steht dem Arbeitgeber das Ketentions-
recht an den Sachen des Arbeiters zu. (Für alle aus dem Arbeitsvertrag
sich ergebenden Rechtsstreitigkeiten gilt als Gerichtsstand Breslau [Posen].)
Demjenigen Arbeiter, der die vereinbarte Dienstzeit eingehalten, wird das
vorgeschossene Reisegeld erlassen und das gleiche Reisegeld zur Rückkehr
aus den Mitteln des Arbeitgebers gewährt. Dagegen wird das Angeld
(5 Mark) bei der Schlussrechnung in Anrechnung gebracht.
Die allgemeinen Eintrittsbedingungen sind folgendermaassen formuliert:
Die Arbeiter verpflichten sich vom Frühjahr (März, April) ab, die Ehefrauen
mit Genehmigung ihrer Männer, die unmündigen Personen mit Zustimmung
ihrer Väter, den Tag des Antrittes den Bestimmungen des Arbeitgebers
vorbehalten, bis zum Herbste so lange in Arbeit zu bleiben, bis alle Feld-
^) Er setzt jedoch zweimonatliche Auszahlungen fest und gewährt nur wöchentliche
Vorschüsse auf Wunsch bis zu 1 Mark.
488 B'i^ek-
und Rübenarbeiten beendet sind. Sie verpflichten sich, jede ihnen über-
tragene Tages-, wie Accordarbeit. die in der Landwirtschaft vorkommt, mit
gewissenhafter Treue und mit Fleiss auszuführen, sie liaben zu versichern,
dass sie vollständig gesund und ohne jedwede, die Arbeit behindernde Gebrechen
(Weiber auch nicht schwanger) seien. Ein jeder hat einen vollständig aus-
gefertigten Pass am Tage des Eintrittes abzugeben, andernfalls er sich die
Ausschliessung von der Reise gefallen lassen muss.
Dem Inhalte dieser Verträge ist nur hinzuzufügen, dass die Löhne
schon im Jahre 1899 in Westdeutschland wesentlich höher waren, als in
den Grenzprovinzen Schlesien und Posen. Das folgende Jahr brachte aber
auch hier eine Erhöhung der Löhne, unter gleichzeitiger erheblicher Heiab-
setzung des Deputats. Ausserdem gab auch der schlesische Arbeitsnachweis
das System der Monatslöhne auf und ersetzte es durch Taglöhne haupt-
sächlich deshalb, damit die Arbeiter an Regentagen nicht unwillig die Arbeit
verrichten und zur Uebernahme von Accordarbeiten bereitwilliger werden.
Der Taglohn betrug für das Jahr 1900 nach den vom Breslauer Arbeits-
nachweise vermittelten Verträgen pro Mann 0*90 Mark täglich bis zum
15. April, von da ab 1 Mark, pro Weiber und ältere Burschen 0-80, bezw.
(nach dem 15. April) 0*90 Mark, für jüngere Burschen 0-70, resp. 0*80 Mark.
Das Jahr 1901 brachte keine weiteren Erhöhungen: gegenwärtig sind die
Ansprüche der Arbeitgeber und Arbeiter in feste Grenzen gezogen, sclireibt
uns Herr R i n n e r.
Die Ausbeutung der Saisonwanderer durch die Agenten (unter anderm
häufig auch die Nichtausfolgung des Angeldes) wurde dadurch wesentlich
erleichtert, dass nach den Beobachtungen Rinners der galizische Land-
arbeiter aus den mittleren und insbesondere aus den östlichen Landestheilen
fast als ein „grosses Kind" angesehen werden muss, das nicht in der Lage
und gewöhnt ist, selbst zu denken, und es daher als eine Erleichterung
empfindet, wenn andere für ihn dies übernehmen, selbst wenn er hierdurch
finanziell ungünstiger sich stellen sollte*. Nun, die Wanderung hat nach
und nach die Denkfähigkeit und die Selbständigkeit dieser Leute entwickelt.
Nachdem der galizische Arbeiter zwei, aucli drei Jahre durch Agenten nach
Deutschland vermittelt wurde, fand er zuerst, zumeist mit Recht, dass er
von den Agenten benachtheiligt werde, später aber auch, dass er bei einer
Abwanderung auf eigene Faust sich wesentlich günstigere Arbeitsgelegen-
heit zu schaifen vermöchte. Er weiss bereits einige Arbeitsstellen, „wo er
bei vorjährig zufriedenstellender Leistung stets wieder willkommen ist",
hat zur Noth sich in deutscher Sprache zu verständigen gelernt und kennt
die deutschen Verhältnisse. Die Auffindung einer lohnenden Arbeit ist für
ihn kein unlösliches Problem mehr; wie Herr Rinn er uns zu schreiben
die Freundlichkeit hatte, sind „bereits im Vorjahre und in vermehrtem
Maasse in diesem Jahre grosse Arbeitertrupps ohne Agenten auf eigene
Faust nach Deutschland gewandert, um sich eine Arbeitsstelle zu suchen;
in der Mehrzahl der Fälle, falls der Arbeiter nicht zu zeitig nach hier ab-
wandert, gelingt ihnen dies auch vollständig, und nur selten, sind Arbeiter
II
Das Auswanderungsproblem und die Regelung des Auswanderungswesens etc. 489
gezwungen, wieder nach ihrer Heimat zurückzukehren. Meist sind dies
jedoch ältere, gebrechliche oder sonst Dicht leistungsfähige Personen, die
sich auf gut Glück einem solchen Transporte angeschlossen haben, deren
Annahme vielleicht auch von einem Agenten in Anbetracht ihrer geringen
Leistungsfähigkeit verweigert worden ist". Dass mit der Entwickelung der
selbständigen Abwanderung auch die Missbräuche der Agenten seltener und
nicht so crass wurden, bestätigt sowohl Rinn er, als auch die galizische
Landesregierung.^)
In der gegenwärtigen Saison scheint die Sachsengängerei der Bevöl-
kerung Westgaliziens ihren Culminationspunkterreicht zuhaben. In demMaasse,
als die wirtschaftliche Entwickelung Deutschlands ein langsameres Tempo
einschlägt, muss die Reservearmee der industriellen Arbeiter wachsen, muss
nach und nach die Leutenoth der deutschen Landwirtschaft geringer werden.
Die Verwendung der galizischen Wanderarbeiter wird dann von dem Ver-
halten der preussischen Regierung, sowie von dem Dafürhalten der preussischen
Landwirte abhängen.
Die preussische Regierung duldet die Zuwanderung polnischer Sachsen-
gänger nur deswegen, weil diese gegenwärtig von der einheimischen Lands
Wirtschaft nicht entbehrt werden können. Nach Wegfallen dieser Zwangslage
wird sie trachten, die Polen vom deutschen Arbeitsmarkte möglichst fern-
zuhalten. Wird sie bei diesem Bestreben auf die ernste Opposition der
preussischen Landwirte stossen?
Die Frage ist kaum zu bejahen. Die Furcht vor dem „grosspolnischen"
Gespenst ist in Deutschland so gross, dass selbst der deutsche Landwirt-
schaftsrath zur Beseitigung des acuten Arbeitermangel's des Jahres 1900
„weitere Zulassung ausländischer Arbeiter, jedoch unter Wahrung der
nationalen Interessen" verlangte.^) Dazu kommt, dass die preussischen Land-
wirte mit den ausländischen Arbeitern durchaus nicht so zufrieden sind,
dass sie ihretwegen der Regierung Schwierigkeiten bereiten würden, sobald
sie ihren Bedarf an landwirtschaftlichen Arbeitern auf dem heimischen Ar-
beitsmarkte decken können.
Der galizische Wanderarbeiter ist gegenüber den preussischen Arbeitern
schon dadurch im Nachtheile, dass er sich erst den für ihn neuen Bedin-
gungen des deutschen landwirtschaftlichen Betriebes anzupassen hat. Die-
jenigen preussischen Landwirte, die zumal innergalizische Arbeiter, die zum
erstenmale nach Deutschland gekommen waren, beschäftigten, hatten nament-
lich in der ersten Zeit nach der Einstellung mit vielen Schwierigkeiten zu
kämpfen. Aber das würde sich mit der Zeit schon geben. Schwerer fällt in
die Wagschale, dass der galizische Arbeiter „in' seinen zweifelhafteren Ele-
menten mit dem andauernden intensiven Arbeiten, wie dies in den preussischen
Betrieben der Fall ist, zumeist wenig einverstanden ist". „Nach einigen
Wochen der Arbeit fühlt er das Bedürfnis, sich selbst für diese Ueber-
1) Promemoria des k. k. Präsidiums der Statthalterei an den galizischen Landes-
ausschuss vom 22. Juni 1899, Z. 5.982.
^) Archiv des deutschen Landwirtschaftsrathes, XXIV. Jahrg., S. 346, Berlin 1900.
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. X. Band. §4
490 Buzek.
Windung durch einige arbeitsfreie und trinkfrohe Tage zu belohnen, und
da ihm dies an seiner Arbeitsstelle nicht zugestanden wird, verlässt er die-
selbe heimlich, führt einige Tage ein ungebundenes Leben und sucht erst
dann ein neues Unterkommen, wenn die Noth ihn dazu zwingt. Den Wert
von Ausweispapieren weiss er dabei genügend zu schätzen und als vor-
sichtiger Mann hat er schon bei der Abreise aus der Heimat einen zweiten,
mitunter noch einen dritten Pass eingesteckt, um auf alle Fälle gerüstet
zu sein. Seelenruhig verlässt er dann vorkommenden Falles seine Arbeits-
stelle und wird in der Regel von dem erste« Besitzer, dem er seine wert-
volle Arbeitskraft anträgt, angenommen, da er im Besitze von ordnungs-
mässigen Papieren und nach seiner Aussage direct aus der Heimat kommt".
— Noch mehr als durch diese doch nicht gar zu häufigen Ausreisser wird
aber die Saisonwanderung nach Deutschland durch die unreelle Geschäfts-
führung der Agenten ihren preussischen Auftraggebern gegenüber compro-
mittiert. Die Agenten liefern die Leute, die sie etwa für Februar versprochen
haben, recht prompt, da in dieser Zeit eben die Nachfrage noch eine geringe
ist. Je näher jedoch der Sommer heranrückt und die Nachfrage wächst,
desto ungeordneter werden die Verhältnisse. Endell-Kiekrz erzählt
darüber in den Verhandlungen des deutschen Landwirtschaftsrathes,^) dass
der posensche Arbeitsnachweis die Leute, die er für Mai und Juni ver-
sprochen hat, überhaupt nicht mehr liefern konnte. „Es hatten sich an der
Grenze Verhältnisse entwickelt, die gar nicht zu beschreiben sind. Unsere
Angestellten, die wir zur Abholung der Arbeiter hinausgeschickt hatten,
fuhren mif 200 Arbeitern von Oswiecini ab, in Jarotschin hatten sie nur
noch 5 bis 10; ja unsere Angestellten bekamen an der Grenze von den
Agenten und dort angesammeltem Gesindel einfach Prügel." Die Agenten
haben eben die Leute nicht demjenigen, für den diese contr actlich
angeworben waren, abgetreten, sondern demjenigen versteigert, der ihnen
die höchsten Vermittelungsgebüren bezahlte.
Wir haben im obigen bloss die Saisonwanderungen galizischer
Arbeiter besprochen, nicht etwa deswegen, weil sie die einzige aus Üester-
reich, sondern weil sie die wichtigste ist. Ausser Galizien sind speciell in den
letzten Jahren an der Sachsen gängerei nach Preussen die Slovaken der
mährisch-ungarischen Grenze in der Gegend zwischen Waag — Bistritz und
Klobouk, sodann die südungarischen Schwaben betheiligt. Doch ist die Zahl
dieser Arbeiter nicht besonders gross: im laufenden Jahre dürften sich, wie
uns Herr Ein n er mittheilte, nicht über 500 bis 600 Slovakeii, und höchstens
3.000 bis 4.000 Deutsch-Ungarn aus dem Bäcs-Bodrogher Comitate und dem
Banate als Landarbeiter in Deutschland befinden. Als Saisonwanderung
kommt sodann die Kinderwanderung aus nordtirolischen Bezirken nach
einigen Gegenden Süddeutschlands in Betracht, ebenso ein Theil der süd-
tirolischen Wanderung nach der Schweiz, Westdeutschland und Luxemburg.
Bei der ersteren Bewegung handelt es sich um die Befriedigung der in
m
^) XXVIII. Plenar-Versammlung vom 5. bis 9. März 1900, S. 333.
Das Auswanderungsproblem und die Regelung des Auswanderungswesens etc. 491
Süddeutschland aufgetretenen Nachfrage nach Hirten, letztere ist Yorwiegend
industriell. Bemerkenswert ist, dass die Kinderbewegung von der nord-
tirolischen Geistlichkeit organisiert und geschützt wird. Nichtsdestoweniger
gellen Missbräuche vorgekommen sein. — Andere Länder scheinen an der
Saisonwanderung ins Ausland unbetheiligt zu sein. Insbesondere scheint die
in den letzten Jahren starke Abwanderung czechischer Arbeiter nach
Thüringen und Sachsen, sowie die bedeutende Emigration slovenischer
Arbeiter nach den rheinisch-westphälischen Industriebezirken ausschliesslich
eine zeitweilige, nicht aber eine Saisonwanderung zu sein.
5. Die Ursachen und die Wirkungen der österreichischen
Auswanderung.
Die österreichische Auswanderung hat sich im Verlaufe der letzten
fünfzig Jahre aus ganz unscheinbaren Anfängen zu einem bedeutungsvollen
Factor entwickelt. Während in den 50er Jahren bis in die 60er Jahre das
Plus der dauernden Auswanderung jährlich bloss circa 2.000 betrug, respective,
wenn Dalmatien ausser Berechnung bleibt, noch ein Plus der Einwanderung
resultierte, beziffert sich der durch die dauernde Auswanderung bewirkte
Menschenverlust in den 70er Jahren bereits auf circa 6.000 jährlich, in den
80er Jahren bereits auf circa 22.000, in den 90er Jahren endlich auf
48.000 jährlich. In noch höherem Maasse stieg die zeitweilige Auswanderung,
sowie die Saisonwanderung. Noch in den 60er Jahren beschränkte sie sich
auf höchstens einige Tausend jährlich, gegenwärtig bildet sie die Grundlage
der wirtschaftlichen Existenz von mindestens hunderttausend Familien,
bildet den Pfeiler, auf dem die culturelle Entwickelung grosser Gebiete
(Westgalizien, Südtirol), ja ganzer Länder (Krain) basiert.
Die wichtigste Erkenntnis, die wir aus der geschilderten Entwickelung
der österreichischen Auswanderung gewinnen mussten, ist, dass dieselbe
als ganzes genommen — also abgesehen von gewissen Ausnahmen — eine
wirtschaftliche Bewegung ist und von den wirtschaftlichen Verhältnissen
des Ursprungsortes der Auswanderer, wie nicht minder von der wirtschaft-
lichen Lage der übrigen österreichischen Länder und der angrenzenden
Staaten, in hohem Grade auch von den Oscillationen des wirtschaftlichen
Lebens in den wichtigsten Einwanderungsgebieten jenseits der Meere abhängt.
Die Ursachen der Auswanderung sind dieselben, wie die der Wanderbewegung
überhaupt. Ob die Wanderung bis zur nächstgelegenen Stadt oder in ein
inländisches Industriecentrum gerichtet ist oder über die Staatsgrenzen
flutet, ob sie eine vorübergehende Abwesenheit oder ein definitives Verlassen
der staatlichen Gemeinschaft bedeutet, hängt theils von der augenblicklichen
wirtschaftlichen Conjunctur, theils von den Easseneigenthümlichkeiten, den
wirtschaftlichen Verhältnissen und den socialen Sitten der betheiligten
Bevölkerungskreise ab.
Die Bevölkerung zieht aus naheliegenden Gründen Nah Wanderungen
Fernwanderungen vor. Sie versucht zuerst in den benachbarten Bezirken
desselben Landes oder in nahe gelegenen Ländern unterzukommen. Erst wenn
34*
492
Buzek.
dies nicht gelingt, entschliesst sie sich nothgedningen zur Auswanderung i»
entlegenere Gebiete, eventuell weit über die See. Dieses Merkmal ist der
Wanderbewegung aller österreichischen Kronländer charakteristisch. Um nur
die Vorgänge der letzten Jahre zu recapitulieren, sei hier noch einmal
an das nach dem Verfalle der alpenländischen Eisenindustrie eingetretene
Anschwellen der slovenischen Wanderung nach den rheinisch-westphälischen
Industriebezirken und nach Nordamerika erinnert, sei auf die oben geschil-
derte Entwickelung der polnischen Wanderbewegung hingewiesen, sei des
in den 90er Jahren eingetretenen Kückganges der Abwanderung aus Böhmen,
des Aufhörens der argentinischen Auswanderung aus Südtirol (seit 1898)
gedacht. Nachzuholen ist in diesem Zusammenhange noch eine kurze
Darstellung des Verlaufes der israelitischen und der ruthenischen Aus-
wanderung aus Galizien, die zum Theile von der allgemeinen Regel
abzuweichen scheint.
Die jüdische Bevölkerung Galiziens war, wie aus nachfolgender
Uebersicht hervorgeht, bis zum Jahre 1890 in einer viel rascheren Zunahme
begriifen, als die christliche Bevölkerung.
Im Jahre
1817
1851
1857
1869
1880
1890
1900
Civil-, seit 1869
Gesammt-
bevölkerung
Galiziens
Davon
Israeliten
Auf je
hundert Ein-
wohner entfallen
Israeliten
3,515.373
4,555.477
4,682.866
5,444.689
5,958.907
6,607.816
7,317.023
200.402
333.451
448.973
575.918
686.596
772.213
810.845
5-70
7-32
9-69
10-58
11-52
11-66
11-08
Die Geburtenüberschüsse der jüdischen Bevölkerung übertreffen in
Galizien die der christlichen in der Regel um das Doppelte, ausserdem
reissen Epidemiejahre (1853 — 1855, 1873) in der christlichen Bevölkerung
viel grössere Lücken, als in der israelitischen. Dazu kommt eine starke
Einwanderung russischer Juden. Während sich so die Bevölkerung
Galiziens seit dem Jahre 1817 verdoppelte, stieg die Zahl der Israeliten
auf das Vierfache! Nun ernährt sich aber die israelitische Bevölkerung
ausschliesslich vom Kleinhandel und Kleingewerbe. Auf diesem Gebiete ist
sie der christlichen Bevölkerung überlegen und hat diese auch im siegreichen
Concurrenzkampfe in zahlreichen Branchen so gut wie völlig aus dem Felde
geschlagen. Darüber hinaus erwies sich aber die jüdische Bevölkerung nur
insofern expansionsfähig, als sie einen bedeutenden (in manchen Bezirken
ein Drittel, ja sogar die Hälfte) Theil der Besitzungen des galizischen
Das Auswanderungsproblem und die Regelung des Auswanderungswesens etc. 493
•Grossgrundbesitzes sei es durch Kauf, sei es durch Pacht in ihre Wirtschafts-
sphäre zog. Der harten Zähigkeit des galizischen, insbesondere des polnischen
Bauers konnte dagegen die an angestrengte Feldarbeit nicht gewohnte
israelitische Bevölkerung keinen Kaum abgewinnen, ebenso wie sie im
allgemeinen der polnischen Arbeiterschaft in den Städten nicht gewachsen
war. Unter solchen Umständen erwies sich bald — insbesondere nachdem die
polnische Landbevölkerung durch intensive organisatorische Arbeit, ohne
irgendwelche antisemitische Agitation, einen bedeutenden Theil des Detail-
handels an sich brachte — die Uebervölkerung des galizischen Handels
und Kleingewerbes eine so fürchterliche, dass bereits in den 80er Jahren
die proletarisierten jüdischen Volksraassen nach den westösterreichischen
Ländern, insbesondere nach Schlesien^') Mähren und Niederösterreich, dann
auch nach Ungarn abzuwandern begannen. Als auch hier ihnen der Boden
zu enge wurde, begann die Wanderung nach Deutschland, England, Nord-
amerika, bis Ende der 90er Jahre letztere Wanderung allein jährlich nach
Zehntausenden^ zählte.
Während die sociale Bewegung der israelitischen Bevölkerung nur
insoferne eigenen Gesetzen folgte, als sie zunächst nur eine Expansion im
Inneren des Landes bezweckte und erst, als dies als unmöglich sich erwies,
zunächst zu Nahwanderungen, später zur eigentlichen Auswanderung wurde,
beobachten wir bei den Ruthenen keine eigentlichen Nahwanderungen, sondern
fast ausschliesslich eine überseeische Emigration, die, wie wir gesehen haben,
seit 1895 jährlich 5 — 10.000 Individuen umfasst. Die Ursache ist nicht so
darin zu suchen, dass die näher gelegenen Einwanderungsgebiete durch die
Zuwanderung benachbarter Volksstämme bereits gesättigt sind, als in der
geringen Concurrenzfähigkeit oder, genauer ausgedrückt, Arbeitskraft der
Ruthenen. Ein ruthenischer Arzt, der im Dienste der erzherzoglichen Kammer
in Teschen steht, erzählte uns, dass er die Uebersiedlung einiger Hundert
Ruthenen in das schlesische Kohlenrevier (nach Karwin) vermittelt hat. Die
Probe sei misslungen, da der ruthenische Arbeiter den Anforderungen, die
die intensive Arbeit in den Kohlenbergwerken an ihn stelle, nicht gewachsen
sei. Gegenwärtig dürften sich nicht mehr als 500 Ruthenen im ganzen
mährisch-schlesischen Kohlenrevier befinden. Es sind also angeborene oder
anerzogene Rasseneigenschaften des Ruthenen, die ihn zur Fernwanderung
zwingen. Er muss dort auswandern, wo er keine Concurrenz zu bestehen
hat. Er kann im Kampfe ums Dasein nur als Eigenthümer eines wenn
auch kleinen Grundstückes bestehen, und dies ist zugleich die Lösung des
Räthsels, warum seine Auswanderung auf die dauernde, landwirtschaftliche
Oolonisierung unbewohnter oder schwach besiedelter Gebiete gerichtet ist.
Ebenso wie das Wanderungsziel, hängt auch der Charakter der
Wanderbewegung überwiegend von wirtschaftlichen, zum Theile aber auch,
wie wir bereits gesehen, von den Rasseneigenthümlichkeiten der betreffenden
^) Im kleinen Fürstenthume Teschen allein stieg die Zahl der Israeliten haupt-
sächlich durch Zuwanderung aus Galizien von 2.054 im Jahre 1857 auf 7.070 im
Jahre 1890.
494 Buzek.
Bevölkerungskreise ab. Nur spielen hier letztere Momente, insbesondere auch
das Heimatsgeffihl. eine grössere Kolle. Die Handel und Gewerbe treibenden
Israeliten kennen im allgemeinen nur eine dauernde Auswanderung, ebenso
diejenigen deutschen und czechischen Auswanderer, die schon hier in der
Heimat ihrem Berufe nach zur industriellen Arbeiterschaft gehörten. Das
Verhalten der ländlichen Auswanderung hängt theils von dem Grade der
Anhänglichkeit des betreffenden Volksstammes an den heimatlichen Boden,
und der Neigung zur landwirtschaftlichen Beschäftigung, insbesondere
aber davon ab, ob in dem Auswanderungslande die bäuerlichen Grundstücke
ungetheilt auf einen Erben übergehen, oder ob die Freitheilbarkeit der
allgemeinen Volkssitte nach herrscht.^) Die Auswanderung aus den erst
genannten Gebieten (Nordtirol, Böhmen, Oberösterreich, Kärnten) ist zumeist
eine dauernde, auch dann, wenn sie, wie es ja gegenwärtig die Kegel ist,
eine Arbeiterwanderung ist, die Auswanderung aus den letzteren (Südtirol,
Krain, Galizien) ist dagegen in der Regel eine zeitweilige und bezweckt
dann nichts mehr und nichts weniger, als den Auswanderer nur noch desto
fester an die alte Heimat zu ketten. Interessant ist insbesondere der Charakter
der polnischen Auswanderung. Die Polen ziehen die zeitweilige Auswanderung
der dauernden gegenwärtig nicht deswegen vor, als ob sie keine colonisatorischen
Fähigkeiten in sich verspürten. In früheren Jahrhunderten und bis in die
70er Jahre war ja ihre Auswanderung vorzüglich, wenn nicht ausschliesslich
auf die Colonisation der weiten Steppen Südrusslands, respective nach der
Theilung Polens, des östlichen Theiles von Galizien und der Bukowina
gerichtet. Gegenwärtig gestatten ihnen aber die wirtschaftlichen Verhältnisse
der Nachbarländer, wie die dem Stamme eigene Arbeitsenergie, eine wesent-
liche Besserung ihrer materiellen Lage zu erreichen, ohne dass eine dauernde
Auswanderung nothwendig wäre. Erst wenn die zeitweilige Auswanderung
nicht mehr lohnend, respective möglich wäre, würden sie sich nothgedrungen
zur dauernden Auswanderung entschliessen.
Ausser dem bereits Dargelegten ist es für die Beurtheilung der
Entwickelung der Auswanderung aus Oesterreich in der Zukunft von besonderer
Wichtigkeit, festzustellen, dass es unrichtig ist, wenn das nackte physische
Elend, der Hunger, als die Hauptursache der Auswanderung bezeichnet wird.
Der geschichtliche Verlauf der Wanderbewegung lehrt was anderes. Sie tritt
zuerst bei den culturell entwickeltsten Volksstämmen der Monarchie auf,
bei den Deutschen, Czechen und den Italienern, viel später gerathen die
Massen der polnischen Bevölkerung und die Slovenen, noch später die
Slovaken und die Croaten, erst in der allerjüngsten Zeit die Magyaren und
die Ruthenen in Bewegung. Die Rumänen Siebenbürgens und der angrenzenden
Theile Ungarns haben bisher überhaupt keine einigermaassen intensive
%
^) Auf diesen Causalnexus wurde ich zuerst aufmerksam durch den Gegensatz
zwischen der Abwanderung der Gebirgsdörfer und der übrigen Dörfer Ostschlesiens. In
den Gebirgsdörfern Ostschlesiens herrscht die Preitheilbarkeit der bäuerlichen Grund-
stücke vor. Die Abwanderung ist hier eine zeitweilige. In der Ebene werden die Grund-
stücke ungetheilt vererbt. Hier bezwecken die Abzüge dauernde Aussiedelung.
Das Auswanderungsproblem und die Eegelung des Auswanderungswesens etc. 495
Auswanderung aufzuweisen. Nun wird jeder ohne weiteres zugeben, dass in
den 50er Jahren die Massen der bäuerlichen Bevölkerung Südböhmens
besser situiert waren, als der galizische Kleinbauer jener Epoche. Ebenso
wird niemand, der die Entwickelung der Mortalitätsverhältnisse Galiziens
eingehender betrachtet/) leugnen können, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse
dieses Landes im Verlaufe der letzten Decennien eine so bedeutende Besserung
erfuhren, dass trotz der ungewöhnlich grossen Zunahme der Bevölkerung
die wirtschaftliche Lage derselben viel befriedigender ist, als früher. Gleich-
zeitig und in noch schnellerem Tempo war aber auch die allgemeine Bildung
des Volkes gestiegen, und damit auch die Scala seiner Bedürfnisse, üeberall,
wo die wirtschaftliche Entwickelung hinter diesem Wachsthum der Bedürfnisse
zurückgeblieben war, begann die Bevölkerung abzufliessen,^) um in fremden
Ländern das gestörte Gleichgewicht zwischen Bedürfnis und Befriedigung
herzustellen. Die Bewegung geschieht aber nicht so unter dem Drucke des
physischen Elends, 2) als im Zeichen der Verbesserung der wirtschaftlichen
Lage bis zu dem durch die neu erwachten Bedurfnisse erhöhten Niveau.
Und darin liegt die Unversiegbarkeit des Auswanderungsstromes, liegt speciell
für Oesterreich die hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Auswanderung in den
nächsten Jahren noch an Umfang gewinnen dürfte.
Ueber die Ursachen, wie die Wirkungen der zeitweiligen Aus-
wanderung, insbesondere aus Westgalizien, informiert in vorzüglicher Weise
eine vor kurzem erschienene Monographie Dr. Bujaks über die wirtschaft-
lichen und socialen Verhältnisse des in der Bezirkshauptmannschaft Brzesko
gelegenen Dorfes Maszkienice. Da diese Verhältnisse für Westgalizien typisch
sind und auch für die Beurtheilung der zeitlichen Auswanderung aus den
übrigen Theilen Oesterreichs nicht ohne Interesse sein dürften, soll im
folgenden näher auf die Ausführungen Dr. Bujaks eingegangen werden.*)
Nach den vorläufigen Ergebnissen der letzten Volkszählung wurden in
Maszkienice 238 Häuser, 227 Wohnparteien und 1.067 Einwohner gezählt
In Uebereinstimmung damit führt Dr. Bujak an, dass im Jahre 1899 in
der Gemeinde 236 wirtschaftliche Einheiten bestanden, von denen jede,
selbst die ärmste, in der Kegel ein Häuschen und ein Stück Erde ihr
') Vergl. Dr. Buzek, Der Einüuss der Ernten, resp. der Getreidepreise auf die
Bevölkerungsbewegung in Galizien in den Jahren 1878 — 1898. Statistische Monatsschrift,
S. 209 flf.
2) Wenn oft behauptet wird, dass radicale Agitationen zur Steigerung der Aus-
wanderungslust beitragen, so ist dies nur insoferne richtig, als dadurch in der Bevöl-
kerung neue Bedürfnisse geweckt wurden. Dies mag zum Theile bei der leichtgläubigen
Bevölkerung Ostgaliziens der Fall gewesen sein, dagegen darf mit Sicherheit behauptet
werden, dass die Auswanderung aus Westgalizien unabhängig von solchen Einflüssen
wuchs. Jedenfalls ist es charakteristisch, dass viele ruthenische Auswanderer sich mit
dem Hinweise auf den Steuerdruck in der Heimat zu rechtfertigen suchen.
3) Wenn Hunger das treibende Motiv der Auswanderung wäre, dann müssten
Missjahre die Bewegung besonders intensiv gestalten. Von alledem ist selbst bei der
Auswanderung aus dem ärmsten Kronlande, Galizien, keine Spur.
^) Maszkienice, wies powiatu Brzeskiego, Publicationen der Krakauer Akademie der
Wissenschaften, Krakau 1901, S. 45 ff.
496 Buzek.
Eigen nannte. Nur 9 Häuslerfamilien besassen ausser ihrenri Hause kein
Stück Feld, umgekehrt besassen 6 Inwuhner und 5 Ausgedingler eine
„Handbreit" Erde, wohnten jedoch in fremden Häusern. Nach den Ausweisen
des Hypothekenamtes ist die Bodenzerstückelung unglaublich weit fort-
geschritten. Von den 543 „Besitzungen" des Grundbuches hatten eine
Fläche von
Besitzungen
1 bis 100 Quadratklaftern 31
101 „ 300 „ 31
301 „ 600 , 22
601 „ 1.200 , 54
1.200 „ 1 Joch 55
Besitzungen
1 bis 2 Joch 153
2,4, 142
4 „ 8 „ 45
8 , 16 „ 6
über 16 - 3
193 Besitzungen umfassten demnach weniger als 1 Joch, 295 1 — 4 Joch
und nur 54 mehr als 4 Joch ! Glücklicherweise deckt sich der Begriff der
Besitzung durchaus nicht mit dem Begriffe einer Wirtschaft, indem durch-
schnittlich jede "Wirtschaft 2-3 Besitzungen umfasste, auf jede Familie
demnach ein Grundbesitz von durchschnittlich 5 Joch entfällt. Immerhin
ist aber die Vertheilung des Grundbesitzes eine solche, dass von den
236 Familien, wenn sie nur auf die Einkünfte aus ihrem Grundbesitze sich
beschränken wollten, bloss 11 als vermögend angesehen werden könnten,
30 als ziemlich vermögend, 65 Familien würde noch ihr Grundbesitz genügend
ernähren, dagegen würden 105 Familien nur ein sehr knappes Auskommen
finden und 25 Familien würden in völligem Elende leben müssen (all dies
nach den in der Gemeinde herrschenden Begriffen). Von den mit Elend
bedrohten Familien entsenden nun 15, von den mit Entbehrungen kämpfenden
Familien 80 ihre Mitglieder in die Fremde. Ueberdies nimmt fast die Hälfte
der Familien (31), die ihr Grundbesitz ernähren könnte, an der Wander-
l)ewegung theil, um den Wohlstand zu erhöhen oder dem zeitweise auf-
tretenden Geldmangel abzuhelfen. Von den mit Elend oder Entbehrungen
kämpfenden Familien bleiben nur 35 Familien in der Gemeinde, und zwar
lediglich, weil ihre Mitglieder den Anstrengungen des Erwerbslebens in der
Fremde physisch nicht gewachsen sind. Diese Familien verdingen sich in
der Gemeinde als landwirtschaftliche Arbeiter bei den vermögenden oder bei
den abwesenden Grundbesitzern. Die Gesammtzahl der im Jahre 1899 aus
der Gemeinde abgewanderten Saisonarbeiter betrug 132 Personen (also Vs
der Bevölkerung!), die zu 116 wirtschaftlichen Einheiten (also die Hälfte
aller Wirtschaften !) gehörten.
Das Gros der Wanderung (nämlich 116 Männer) entfällt auf die
Saisonwanderung nach Westösterreich. Diese Abwanderer gehören 101 Wirt-
schaften an, da 4 Väter zusammen mit den Söhnen arbeiteten und
11 Wirtschaften je 2 Söhne auf die Wanderung entsendeten. Sonst ist es
die Eegel, dass je ein Familienmitglied in die Fremde wandert. Das Alter
und die Beschäftigung dieser Abwanderer nach Westösterreich gibt folgende
Tabelle :
Das Auswanderungsproblem und die Regelung des Auswanderungswesens etc. 497
Alter ^™^^^- Maurer
l| ieute
Erd-
arbeiter
Zusammen
13-17 Jahre
18-25 „
26-30 „
31—40 ^
über 40 „
Zusammen .
10 —
17 1
1 23 3
4 —
8
21
18
6
5
8
31
36
32
9
: ö4
4
58
116
j
i
Die Zimmerleute arbeiteten in Ostrau, die Maurer in Tarnow, von den
Erdarbeitern 26 in Ostrau, 17 in Wien, 15 in Troppau.
Interessant ist. dass die jüngeren Altersclassen als Erdarbeiter ausziehen,
dagegen die älteren die besser entlohnte Zimmermannsarbeit verrichten.
Das Leben der Saisonwanderer in der Fremde ist reich an Entbehrungen.
Sie wohnen in Arbeiterbaracken — ' in denen jedem ein 60 cm breiter Raum als
Lagerstätte und Wohnung zugleich angewiesen ist. Die meisten geben täglich
30 kr. aus und nähren sich in folgender W^eise: zum Frühstück Kaffee und Brot,
das um 10 kr. für den ganzen Tag eingekauft wird, zum Mittagessen Suppe und
Yg hg Fleisch mit Erdäpfeln oder Keis, zum Abendessen Brot und Speck um 5 kr.
Ist der Arbeitsort weiter von den Baracken entfernt, dann wird obiges Mittagessen
abends eingenommen; zum Frühstück und Mittagessen dient in diesem Falle
Brot undSpeckwie oben; jeden Freitag wird gefastet;das auf diese Weise Ersparte
wird. zum Einkaufe von Tabak und Bier, das jedoch nur Sonntag nachmittags
getrunken wird, verwendet. Diese Verhältnisse sind als die normalen zu be-
trachten. Ein gewisser Theil, insbesondere die Erdarbeiter, nähren sich jedoch
schlechter. Es gibt solche, die von trockenem Brot leben, indem ihre täglichen
Ausgaben nicht mehr als 14 kr. betragen. Anderseits gibt es aber auch solche,
die zwar mehr als 2 fl. wöchentlich ausgeben, davon aber das allermeiste für
den Samstagsschnaps und für das Sonntagsessen verwenden, sonst essen sie
trockenes Brot. Diese Kategorie der Arbeiter gehört aber zu den Ausnahmen.
Bei dieser Lebensweise ist der wirtschaftliche Erfolg der Auswanderung
ein ganz bedeutender. Die Ersparnisse der Arbeiter betrugen :
bei einem
Taglohn von fl.
in Procenten des Taglohnes
Zusammen
0
25—40
41—50
51—65
66-70
71—85
über 85
0-60- 0-80
0-81— 100
101—1-25
1-26— 1-50
1-51-1
Zusammen
1
2
1
2
1
2
1
1
1
12
11
1
15
1
3
10
5
17
2
1
3
19
3
1
16
25
10
57
8
7
2
3
40
37
26
r
116
498 Buzek.
Wir sehen, von 116 Arbeitern machten nur 7 keine Ersparnisse,
dagegen ersparten mehr als ^/^ die Hälfte bis zwei Drittel des Lohnes, Y3 66 bis
70 Proc, mehr als Y5 sogar 71 — 85 Proc! Das Resultat der ganzen
Saison berechnet sich auch für alle 116, resp. 109 Arbeiter nach massigster
Berechnung auf 11.194 fl. 11 — 12 Tausend Gulden fliessen jährlich in eine
Gemeinde, deren Reinertrag aus Grund und Boden nicht einmal 10.000 fl.
erreicht! Die zeitliche Auswanderung hat die Ei n kommen s-
verhältnisse der Gemeindeeinwohner um mehr als das
Doppelte gebessert!
Die Ergebnisse der Saisonwanderung, resp. der zeitlichen Auswande-
rung in das Auslaud sind relativ noch höher. Speciell von der Wanderung
nach Preussen berichtet Dr. Bujak, dass im Jahre 1898 16 Mädchen im
Alter von 18 bis 24 Jahren dorthin aus Maszkienice wanderten. Von diesen
Mädchen brachte jede 90 — 120 fl. mit, drei Schwestern, die in Dänemark
gearbeitet haben, ersparten jedoch 400 fl. Von diesen .•) Schwestern zählte
die jüngste 15, die andere 16 Jahre und nur die dritte war bereits erwachsen.
Dasselbe Resultat brachte die Saison 1899 und 1900. In letzterem Jahre
wendeten sich überdies 6 Erdarbeiter, die bisher in Wien beschäftigt
gewesen, nach Deutschland und brachten nach 3 Monaten je 150 fl. mit.
Freilich beklagten sie sich über die Art der Arbeit (Wegebau bei Magde-
burg), sie mussten oft Tage lang im Morast bis an die Knie waten.
Die Resultate der zeitlichen Auswanderung nach Amerika aus allen
Theilen der Monarchie sind dieselben, wie die der galizischen und wohl
auch die der übrigen österreichischen Saisonwanderung nach dem europäischen
Festlande oder nach anderen österreichischen Ländern. So erzählt der Bericht
über die Thätigkeit der Reichscommissäre für das Auswanderungswesen
während des Jahres 1900,^) dass die slavischen Auswanderer aus Oesterreich-
Ungarn, die sich fast ausschliesslich nach den Bergwerken, Eisen- und Stahl-
werken Pennsylvaniens, Ohios und 'Illinois' wenden, dort ,als fleissige
Arbeiter gern gesehen werden" und bereits nach 4 bis T) Jahren solche
Ersparnisse gemacht haben, dass sie in die alte Heimat zurückkehren können.
Im Jahre 1900 sind durch die Vermittelung einer Bremer Firma allein
6 Millionen Kronen aus den Ersparnissen unserer Auswanderer nach Oester-
reich geflossen. Damit stimmt vollkommen, dass nach einer Notiz des
Berichtes über die Thätigkeit des Departements VI des galizischen Landes-
ausschusses allein die Auswanderer der kleinen Bezirkshauptmannschaft
Strzyzöw aus Amerika in der Zeit vom 1. Jänner bis 25. April 1899 mehr
als 90.000 fl. ihren zurückgebliebenen Familien übermittelten.
Die Ersparnisse dienen den Bedürfnissen der Familie und der eigenen
Wirtschaft des Auswanderers. Aus ihnen wird die Aushilfe bezahlt, die zur
Bestellung der Felder nothwendig wird, wenn die Arbeitskraft der zurück-
gebliebenen Frau, resp. der zurückgelassenen Kinder nicht ausreicht; weiter
dienen die Ersparnisse zur Tilgung von Schulden und Steuerresten — zur
1) Reichstag, 10. Legislaturperiode, II. Session 1900/1901, Nr. 148.
Das AuswanderuDgsproblem und die Eegelung des Auswanderungswesens etc. 4 99
Bescliaifung von Viehfutter, zum Ankaufe von Lebensmitteln, wenn die Wirt-
schaft zu klein ist, um diese oder jene in genügender Menge zu liefern.
Ein grosser Theil der Auswanderer wird von angehenden Grundbesitzern/
die nicht lange verheiratet sind, gebildet. Diese verwenden das Ersparte
zur Ergänzung des lebendigen und des todten Inventars, zur Eegelung der
unbeglichenen Erbansprüche ihrer Geschwister. Junge unverheiratete Männer
sammeln immer häufiger in der Fremde ein kleines Capital, um sodann die
mit der üebernahme der Wirtschaft verbundenen Auslagen bar bestreiten
zu können. Im allgemeinen, schreibt Dr. Bujak, wächst augenscheinlich
der Wohlstand in den Wirtschaften, die an der Wanderbewegung theil-
nehmen, im Gegensatze zu den übrigen, die mit fortwährendem Geldmangel
zu kämpfen haben — deren Besitzer mehr arbeiten und sich doch schlechter
ernähren müssen, „Der bodenständige Bauer stirbt, ohne sein Vermögen
gemehrt zu haben, während der wandernde für seine alten Tage besser
aufgehoben ist und ausserdem die Mittel zur Ausstattung seiner Kinder
besitzt, sei es, dass er eine Geldsumme hinterlegt oder ein Stück Feld
zugekauft hat.''
Von nicht geringerer Bedeutung, als der unmittelbare Erfolg, ist der
culturelle und erziehliche Wert der zeitlichen Auswanderung, insbesondere
insoweit diese nach Westen gerichtet ist. Die Auswanderer verbessern ihren
Standard of life, kleiden sich besser, essen besser, wohnen bequemer, kom-
men für die Volkswirtschaft immer mehr als Consumenten in Betracht. Die
5 — 10 Millionen Gulden, die allein aus dem Auslande jährlich nach Galizien
an Ersparnissen der Auswanderer fliessen, kommen für den westösterreichischen
Exporteur nach Galizien in sehr hohem Grade in Betracht. Während der
Wanderung fällt dem Auswanderer so manches in die Augen, was sich
dauernd dem Gedächtnis einprägt und den geistigen Horizont erweitert. Die
Auswanderer lernen viele technische Fortschritte und Fertigkeiten kennen,
die sie sodann, sei es in der eigenen Wirtschaft, sei es als Arbeiter an Ort
und Stelle, verwenden können. So erzählt Dr. Bujak, dass die Erdarbeiter,
die aus Maszkienice im Jahre 1900 nach Preussen gewandert waren, voll
Bewunderung für die preussische Landwirtschaft zurückkehrten. Sie haben
bemerkt, dass die dortigen Aecker ebenso versumpften Boden hatten, wie
die ihrigen. Der Unterschied war nur der, dass die preussischen Aecker
herrliche Früchte trugen, da sie drainiert waren und die Entwässerung trefflich
eingerichtet Avar, während ihr eigener Boden aus Mangel dieser Einrich-
tungen uncultiviert bleiben musste. Von besonderer Wichtigkeit ist, dass die
Westwanderung, wie oben geschildert, aus „grossen Kindern" denkfähige,
selbständige Männer macht, dass sie ferner die Auswanderer an intensive
Arbeit gewöhnt. Die durchschnittliche Arbeitszeit der landwirtschaftlichen
Arbeiter beträgt in Westgalizien 10 — 12, in Ostgalizien 8—10 Stunden.
„Zumal in den östlichen Landestheilen ist es allgemeiner Brauch, ins-
besondere zur Erntezeit spät am Morgen die Lohnarbeit zu beginnen. Je
unentbehrlicher sich die Leute wissen, desto später pflegen sie zu erscheinen.
Dann ist der ostgalizische Arbeiter träge und benützt jede Gelegenheit, um
500 Buzek.
die Arbeit zu unterbrechen." ^) Man war in Galizien nicht imstande, die
Leute zu intensiver Arbeit zu erziehen. Dies besorgt nun das Ausland. Hof-
rath Pilat führt an, dass er oft von Leuten, die aus Amerika zurückgekehrt
waren, die Aeusserung vernommen hat: „Wenn man bei uns so viel wie in
Amerika arbeiten würde, würde man auch Ersparnisse machen."
Den Vortheilen der zeitlichen Auswanderung stehen aber auch Nach-
theile gegenüber. Wir übergehen die sittlichen Gefahren, die zumal mit der
„Sachsengängerei" verbunden sind, weil hier die Meinungen getheilt sind.
Einige Beobachter wollen von diesen Nachtheilen nicht viel bemerkt haben.
Dr. Bujak führt an, dass wohl am Anfange der Bewegung um das
Jahr 1894 mehrere Mädchen aus der Umgebung von Maszkienice in anderen
Umständen zurückgekommen waren, dass aber „seit mehreren Jahren
kein solcher Fall mehr sich ereignete, obschon z. B. aus Przyboröw und
Leki je 50 unverheiratete Mägde hinausgewandert waren." Er meint sogar,
dass das gemeinschaftliche Leben in der Fremde und die Schwierigkeit, sich
abzusondern, die Mädchen vor den Gefahren der Verfühiung mehr als in
der Heimat sichert. Andere dagegen legen gerade auf die moralischen
Gefahren der Bewegung grossen Nachdruck. ^) Mehr Beachtung verdient
schon die Befürchtung, dass die landwirtschaftliche Cultur der Besitzungen
der zeitweiligen Auswanderer leiden muss, da ja die Bestellung der Felder
oft ausschliesslich Frauen, Kindern und Greisen überlassen ist. In Krain
2. B. kommt es gar häufig vor, dass der Bauer und die Bäuerin in Amerika
oder in Westphalen jahrelang weilen, und 10- bis 14jährige Kinder — aller-
dings unter Aufsicht eines Vertrauensmannes — die Wirtschaft führen.
„Wenn schon die Erwerbsarbeit an Ort und Stelle ungünstig wirkt, desto
nachtheiliger muss sich ein längerer Aufenthalt in der Fremde äussern." Aller-
dings gibt, wie wir gesehen haben, die zeitliche Auswanderung die finanziellen
Mittel, um die abwesenden Arbeitskräfte zu ersetzen. Ob aber die Abwesenheit
des Faniilienhauptes selbst voll ersetzt werden kann, ist zu bezweifeln.
Die Sorge für die Erfolge der Wirtschaft des Auswanderers selbst
kann füglich ihm selbst überlassen werden. Würde die Wanderung seiner
Wirtschaft mehr Nachtheile als Vortheile bringen, würde er eben daheim
bleiben. Anders verhält es sich mit dem Schaden, den die bisher auf seine
Arbeitskraft angewiesenen Wirtschaften erleiden. Bei der starken Abwanderung
muss endlich ein Augenblick eintreten, in dem die Nachfrage das Angebot
an Arbeit übertrifft und im Lande ein fühlbarer Arbeitermangel sich bemerk-
bar macht. Da die Auswanderung aus Oesterreich zu mindestens 7io ^^^
agrarischen Gebieten stammt, kann dies zumal in agrarischen Ländern zu
Katastrophen führen, die nicht nur die unmittelbar betroffenen, sondern die
Gesammtheit tangieren. Infolge des ungewöhnlichen Anwachsens der Saison-
wanderung nach Deutschland scheint dieser Moment speciell für Galizien
nicht mehr ferne zu sein.'')
^) PilatjWychodztwo robotniköwrolnychzazarobkiera do Niemiec, Lwöw 1900,8.11.
') Kärger, Die Sachsengängerei, S. 180.
3) Krzyzanowski. Studya agrarne, S. 327.
Das Auswanderungsproblem und die Eegelung des Auswanderungswesens elc. 501
Die zeitweilige Auswanderung aus Galizien steht seit der immensen
Steigerung der Bewegung im Jahre 1899 nicht mehr im Verhältnis zur
Lage des Arbeitsmarktes im Lande, und sie nimmt mehr Arbeitskräfte weg^
als dies der Sachlage nach zu erwarten wäre. In dieser sozusagen über-
zähligen Auswanderung ist nicht mehr das allgemeine Gesetz des Angebots
und der Nachfrage entscheidend, hier spielen psychische Momente, üeber-
redung, Nachahmung etc. eine grosse Kolle. Diejenigen, für die es noch
augenföUig vortheilhaft war, in die Fremde zu wandern, ziehen durch ihre
Erzählungen, durch ihr Beispiel auch solche nach, die an Ort und Stelle
ebenso vortheilhaft ihre Arbeitskraft verwerten könnten. In Galizien mussten
Regulierungsarbeiten der Regierung (im Bezirke Mielec) unterbrochen werden^
weil die Arbeiter nach Preussen ausgewandert waren, obgleich es sich
später herausstellte, dass sie im Lande mehr verdient hätten, als in der
Fremde. Im Jahre 1899 schnellten zur Zeit der Haupt- und dann wieder
der Kartoffelernte in vielen Gegenden die Arbeitslöhne auf eine ungewöhn-
liche Höhe empor, nichtsdestoweniger konnten viele Gutsbesitzer die Ernte
nicht zur gelegenen Zeit heimbringen, mussten manche die Kartoffelernte
gänzlich aufgeben. Der Arbeitermangel war — theilweise auch wegen der
besonderen Gestaltung der klimatischen Verhältnisse des Jahres 1899 —
sogar so gross, dass ihn grössere Bauernwirtschaften zu spüren begannen.
Aus dieser Zeit datiert die Petition sämmtlicher Bürgermeister der Bezirks-
hauptmannschaft Kolbuszowa, in der die Landesregierung aufgefordert wird,
die zeitweilige Auswanderung minderjähriger Personen mit Rücksicht auf
die dieselben bedrohenden sittlichen Gefahren zu verbieten. Man sage ja
nicht, dass es sich hier nur um das Interesse der Gutsbesitzer und Gross-
bauern handle. Die Landwirtschaft kann nicht warten, bis die Arbeiter
zurückkehren. Sie verliert gegebenenfalls die Production des ganzen Jahres,
während der Industrielle in der Regel bloss den Verlust der Verzinsung
des investierten Capitals zu tragen hat. Dass aber der Ausfall der Ernte
in einem agrarischen Lande das Interesse aller berührt, ist evident.
Ueber die Wirkungen der dauernden Auswanderung aus Oesterreich
können wir uns kürzer fassen. Das Allgemeine darüber kann man in jedem
'Compendium, das die Auswanderung behandelt, lesen. Im besonderen wäre
zu wiederholen, dass die dauernde Auswanderung aus Oesterreich zum
grossen Theile eine continentale Auswanderung ist, die rechtlich in der
Regel ohne Bedeutung bleibt. Während nämlich die Gesetzgebung der
amerikanischen Staaten die Aufnahme in den Staatsverband den Ausländern
sehr erleichtert, oft dieselben wider ihren Willen ihrer alten Staats-
angehörigkeit geradezu , beraubt",^) sind die europäischen Staaten in der
^) Hier z. B. die bezüglichen Bestimmungen des Artikels 69 der brasilianischen
Constitution vom 24. Februar 1891: „Brasilianische Bürger sind: 1. die in Brasilien
Geborenen, auch die, deren Vater ein Ausländer, der nicht in Diensten seines eigenen
Staates steht, ist ; 2 3 4. die Ausländer, die sich am 15. November 1889
in Brasilien befinden und nicht binnen 6 Monaten nach dem Tage des Eintrittes der
Gesetzeskraft der Constitution ausdrücklich den Willen, ihre Staatsangehörigkeit zu
behalten, erklären; 5. die Ausländer, welche in Brasilien wohnen und dorten Immobilien
502
ßuzek.
Verleihung des Bürgerrechtes an Ausländer in der Kegel sehr zurückhaltend.
Somit bleiben dieselben in mehrfacher Beziehung, zumal auch mit Rücksicht
auf die militärische Dienstpflicht, der alten Heimat erhalten.
Zur Beurtheilung der dauernden Auswanderung über die See ist zu
bemerken, dass sie gegenwärtig, dank der oben geschilderten wirtschaftlichen
Conjunctur, fast nur Volkselemente umfasst, deren Verlust kaum als Nachtheil
empfunden werden kann. Es sind in der Hauptsache israelitische Handwerker
und Kleinhändler, sowie ruthenische Bauern. Durch den Wegzug der ersteren
wird die unerträgliche üebervölkerung des galizischen Handwerkes und
Kleinhandels behoben, die Abwanderung der letzteren schafft dagegen dem
tüchtigeren polnischen Elemente im Lande mehr Raum und verringert auf
diese Weise den Abfluss dieses wertvolleren Bevölkerungsmaterials.
Der polnische Bauer zeichnet sich durch grosse Lebensenergie, durch
die Fähigkeit zur Selbsthilfe aus ; für den Staatszweck kommt er ausserdem
als vorzüglicher Soldat in Betracht. Him gegenüber tritt die Inferiorität
des Ruthenen schon dadurch hervor, dass dieser die eigene Lage nur durch
Agrarsocialismus, durch agrarische Strikes, durch das gänzliche Verlassen
der alten Heimat zu verbessern sucht. Die Auswanderung letzteren Elementes
könnte erst dann als Nachtheil empfunden werden, wenn an seine Stelle
nicht ein mehrwertiges Element treten würde. Gerade dies ist aber in Galizien
der Fall; an Stelle der auswandernden Ruthenen treten zum grossen Theile
Polen, die wahrscheinlich auch ausgewandert wären, wenn ihnen eben die
ruthenischen Abzügler nicht Platz gemacht hätten.
Das Vordringen des polnischen Elementes in Galizien wird durch
folgende Ziffern illustriert:
Im Jahre
Es wurden gezählt in Galizien
römisch-katholisch
1851
1857
1869
1880
1890
1900
2,067.292
2,072.633
2.509.015
2,714.977
2,999.062
3,352.308
griechisch-katholisch
2,129.764
2,077.112
2,315.782
2,510.408
2,790.577
3,103.410
besitzen oder mit einer Brasilianerin sich vermählen oder in Brasilien gebotene Söhne
haben, falls sie nicht ausdrücklich erklären, dass sie ihre Staat'isan gehörigkeit nicht ändern
wollen. 6 " Diese horrenden Bestimmungen werden nur noch durch die horrendere
Praxis überboten. Die brasilianischen Behörden nehmen Proteste der Ausländer gegen
die stillschweigende Naturalisation im Sinne der citierten Bestimmungen einfach nicht
zur Kenntnis, ausgenommen den seltenen Fall der Intervention der betreffenden Consulate.
Vergl. das Werk des italienischen Ministeriums der Aeussern, Emigrazione e Colonie,
Eoiiia 1893, S. 142.
Das Auswanderungsproblem und die Regelung des Auswanderungswesens etc. 503
Bis Ende der 60er Jahre war nach diesen Ziffern das polnische
Element im raschen Vordringen begriffen, es colonisierte eben damals den
Osten des Landes. Nach Beginn der polnischen Auswanderung in den
70er Jahren bleibt das Kräfteverhältnis beider Volksstämme bis 1890
ungeändert. Erst in den neunziger Jahren, d. h. nach Beginn der ruthenischen
Auswanderung, verschiebt sich das Verhältnis wieder zu Gunsten der Polen:
der Vorsprung der polnischen Bevölkferung vor der ruthenischen wächst
von 208.000 im Jahre 1890 auf 249.000 im Jahre 1900.
Diese Erscheinung ist ja nicht auf die grösseren Geburtenüberschüsse
der polnischen Bevölkerung zurückzuführen. Zwar betrug im Durchschnitte
der Jahre 1895 bis 1898 die Zahl der
bei den
Lebend-
geborenen
Gestorbenen
Geburten-
überschuss
Römisch-katholischen
Griechisch-katholischen ....
. 135.805
139.295
87.156
99.321
48.149
39.974
woraus im ganzen für die römisch-katholische Bevölkerung jährlich ein
Plus des Geburtenüberschusses um circa 8.000 resultiert. Nun ist aber die
Wanderbewegung der polnischen Bevölkerung circa lOmal so stark, wie
die der ruthenischen. Die Zahl der Polen müsste demnach trotz dieses Plus
des Geburtenüberschusses rapid abnehmen, wenn diese eben nicht befähigt
wären, ihr Auslangen mit der zeitlichen Wanderung zu finden. So bleibt
die Hauptmasse der Wanderer der Heimat erhalten, zumal der Kest, der
zur dauernden Auswanderung gezwungen ist, zum Theile in den von den
Ruthenen evacuierten Gebieten Aufnahme findet.
Während die Thatsache der dauernden Auswanderung je nach Umständen
nachtheilig oder vortheilhaft sein kann, ist die Thatsache der Ansiedelung
heimischer Volkselemente in der Fremde — an und für sich betrachtet —
im allgemeinen nur von Vortheil. Allerdings unter einer Bedingung: dass
sich die Auswanderer auch weiterhin als Bestandtheile der alten Volks-
gemeinschaft fühlen und als solche handeln. Die weltwirtschaftlichen Ver-
bindungen beeinflussen gegenwärtig im hohem Maasse die Entwickelung der
heimischen Volkswirtschaft. Dass diese Verbindungen durch die Ansiedelung
von Staatsangehörigen in der Fremde gefestigt, oft überhaupt erst an-
geknüpft werden, wird durch die Erfahrungen Italiens und Deutschlands in
Südamerika dargelegt. Dass eben dasselbe auch für Oesterreich möglich ist,
dafür nur zwei Beispiele. — Wie wir aus einem Artikel des Krakauer
„Czas" erfahren, fragte vor kurzem das Handelsministerium bei der Krakauer
Handels- und Gewerbekammer nach, was für eine galizische Fabrik denn
Maschinen nach Sumatra exportiere. Es ergabsich, dass eine galizische Gesellschft
in Sumatra Bohrungen nach Petroleum vornehmen Hess und damit einen
findigen masurischen Bauer betraute. Dieser bestellte die nothwendigen
504 Buzek.
Werkzeuge natürlich bei einer ihm aus der Heimat wohlbekannten Firma. —
Ein anderes Beispiel: aus dem Berichte des Einwanderungsdirectors der
argentinischen Kepublik erfahren wir, dass die „polnischen" Einwanderer
in die Missiones, bei allen Vortheilen, die sie für die neue Heimat bedeuten,
doch darin nicht convenieren, dass sie in ihrer Tracht, Sitte und Lebens-
weise gar zu conservativ sind. Sie sind keine Consumenten für argentinische
Producte. Sie weigern sich, ihre Kleidung und Wäsche der nationalen Sitte
des Landes anzupassen, ja diese aus nationalen Materien machen zu lassen.
Wir haben Aehnliches bei unserem Zollkriege mit Rumänien erfahren. Als
gewisse österreichische Waren der exorbitanten Zölle wegen nicht importiert
werden konnten, hofften fremde Staaten den Markt mit ihren Erzeugnissen
versehen zu können. Vergebens, die Bevölkerung war an die betreffenden
österreichischen Artikel so gewöhnt, dass sie die fremden Importeure zum
Ankaufe der österreichischen Waren zwang. Es ist sicher, dass zugleich
mit dem ersten Auswanderungsstrom nach Argentina auch unsere Handels-
beziehungen in diesem Staate gekräftigt werden könnten. Es scheint dies
nun nicht geschehen zu sein, und die argentinischen Polen fangen nun an,
die spanische Tracht anzunehmen.
6. Das Auswanderungsproblem und die principiellen
Gesichtspunkte der Aus Wanderungspolitik.
Als Synthese des bisher Dargelegten ist das Problem der österreichischen
Auswanderung nicht schwer zu formulieren. Die Auswanderungsfrage bedeutet
in ihrer weitesten Fassung nichts mehr und nichts weniger als die Lösung
des Problems, auf welche Weise die Tausende von Staatsbürgern, welche
die Heimat nicht mehr ihren Bedürfnissen entsprechend ernähren kann,
unterzubringen sind.
Das Missverhältnis zwischen Ernährungsraum und Volkszahl entsteht
auf zweierlei W*eise. Einerseits erfolgt zumal in agrarischen Gebieten die
natürliche Zunahme der Bevölkerung viel rascher, als die Steigerung der
Productivkräfte des Landes, anderseits sind insbesondere in der Gegenwart
in culturell rückständigen Gebieten die Bedürfnisse der bereits vorhandenen
Bevölkerung infolge der Hebung der allgemeinen Bildung in Zunahme
begriffen. Sowohl die natürliche Zunahme der Bevölkerung, als die Hebung
ihres culturellen Niveaus sind für die Zwecke des Staates so erfreuliche
und wünschenswerte Erscheinungen, dass sie als Auswanderungsursache
nicht in Betracht kommen können. Somit bleibt nur die Steigerung der
Productivkräfte des Landes, auf die der Staat destomehr bedacht sein muss,
als sonst die Bevölkerung zur Selbsthilfe, d. h. zur Auswanderung greifen,
oder ihre Lebenshaltung gewaltsam herabdrücken müsste, welch letzteres
schwere wirtschaftliche, sociale und politische Nachtheile nach sich ziehen
würde.
Die allgemeine Wirtschaftspolitik des Staates wird, soweit sie die
zweckmässigste Lösung des Auswanderungsproblems im Auge hat, berück-
sichtigen müssen, dass, wie oben erwähnt wurde, in Oesterreich alle Ab-
I
Das Auswanderungsprobleni und die Eegelung des Auswanderungswesens etc. 505
und Zuzüge, die den Auswandeier in eine fremde nationale oder wirtschaftliche
Sphäre bringen, als Aus-, respective Einwanderung empfunden werden. Um
die nationalen Reibungen möglichst zu mildern und die agrarischen Gebiete
möglichst vor den Nachtheilen des continuierlichen Abströmens von Arbeits-
kräften und Consumenten zu schützen, wird es erforderlich sein, möglichst
gleichmässig für die wirtschaftliche Entwickelung der einzelnen Reichstheile
zu sorgen. So gebietet z. B. ein eminent staatliches Interesse, die Polen,
die gegenwärtig das mährisch-schlesische Kohlenrevier überschwemmen
und den nationalen ^Besitzstand" der Czechen in Ost-Schlesien bereits
erschüttert haben, in dem Grenzbezirke Mährens ernstlich gefährden — - was
alles die czechische Presse in den jüngsten Tagen ganz aus dem Harnisch
bringt — , möglichst im Innern des Landes durch die Entwickelung des
galizischen Bergbaues, des Anbaues von Zuckerrüben, der Petroleum- und
Holzindustrie und anderer Gewerbe, die schon in den 90er Jahren als aus-
wanderungshemraend sich erwiesen haben, festzuhalten. Eben dasselbe gilt
in Bezug auf die czechische Einwanderung nach deutschen Gebieten etc.
Selbst die intensivste Fürsorge des Staates für eine dem Wachsthum
der Bevölkerung und der Bedürfnisse derselben entsprechende Entwickelung
der wirtschaftlichen Kräfte, und selbst die eingehendste Würdigung des
localen Moments wird immer nur theilweisen Erfolg haben können. Jedenfalls
wird der Staat nicht imstande sein, zu verhindern, dass fremde Staaten sich
noch rascher entwickeln und ihrer Bevölkerung bessere Lebensbedingungen
ermöglichen, als er den eigenen Bürgern verschaffen kann. Die Auswanderung'
wird auf diese Weise für unabsehbare Zeiten das bleiben, was sie gegenwärtig
ist — eine wirtschaftliche Nothwendigkeit. Der Staat muss diese Thatsache
hinnehmen wie sie ist. Eine künstliche Hinderung der Auswanderung würde
nicht nur nicht ihren Zweck erreichen, sondern — wie die Geschichte
der österreichischen Wanderbewegung bezeugt — das gerade Gegentheil,
eine Auswanderung über das Maass des wirtschaftlich Nothwendigen hinaus
zur Folge haben, würde ausserdem die Möglichkeit, die Auswanderung den
Staatszwecken dienstbar zu machen, benehmen. An dem Principe der
Auswanderungsfreiheit darf demnach nicht gerüttelt werden. Wohl wird es
aber nothwendig sein, die näheren Bedingungen, unter denen das allgemeine
Princip mit Rücksicht auf höhere Staatszwecke nicht realisiert werden kann,,
so festzusetzen, dass die Möglichkeit der Ausnützung der Auswanderung-
nicht benommen, die erwähnten Lebensinteressen des Staates und seiner
Mitglieder nicht verletzt werden. Die gesetzliche Festlegung dieser Bedingungen
gehört zur Lösung des Auswanderungsproblems s. str.
Soll einerseits der Staat der Auswanderung keine künstlichen Hindernisse
in den Weg legen, so darf er aber auch anderseits die Auswanderung nicht
durch künstliche Mittel fördern. Nirgends in Oesterreich findet sich ein so»
übervölkertes Gebiet vor, dass im Interesse der Gesammtheit und auf deren
Kosten eine Evacuation nothwendig wäre. Auch wenn dieses der Fall
wäre, steht dem Staate das Recht nicht zu, einen Theil seiner Bevölkerung
in die Fremde, ins Elend auszusetzen. Unbrauchbare Elemente (Arme,.
' Zeitschrift für Volkswirtschaft, Soeialpolitik und Verwaltung. X. Band. 35
506 Buzek.
Krüppel etc.) etwa in der Form über die See zu transportieren, wie dies
seinerzeit viele deutsche und schweizerische Gemeinden thaten, und wie es
gegenwärtig noch die russischen Communen und die englischen Armen-
verbände practicieren, würde dem Staatszwecke und den internationalen
Verpflichtungen widersprechen. Leistungsfähige Personen hinauszubringen
und dann — noch immer auf Kosten der Gesammtheit — für deren
Portkoramen zu sorgen, wäre endlich ein offenbares Unrecht gegenüber den
in der alten Heimat zurückgebliebenen, natürlich den Fall ausgenommen,
dass diese Auswanderer eine für das Gesammtinteresse wichtige Function
zu verrichten haben (etwa die österreichische Auswanderung nach den
Occupationsgebieten).
Der unmittelbar vorhergehende Abschnitt scheint^) für Oesterreich bloss
akademischen Wert zu besitzen. Hingegen scheint es wichtiger, zu bestimmen,
wie sich der Staat zu der aus unwirtschaftlichen Motiven ohne sein directes
Zuthun entstehenden, Auswanderung zu verhalten hat.
Des Charakters einer aus rein wirtschaftlichen Motiven fliessenden
Bewegung wird die Auswanderung, wie wir gesehen haben, im allgemeinen
durch zwei Umstände entkleidet: 1. durch die künstliche Nährung der
Auswanderungslust, 2. durch die spontane Auswanderung von Personen, die
in der Heimat ein besseres Fortkommen hätten finden können. Die künstliche
Hervorrufung der Auswanderung ist meist auf die Thätigkeit von Aus-
wanderungsagenten und anderer an einer starken Auswanderung interessierter
Personen (die Schilfsrheder etc.) zurückzuführen. Im eigensten Interesse
schildern diese Unternehmer die Lage des Auswanderers in der Heimat in
den düstersten Farben ^) und versprechen ihm eine glänzende Zukunft über
dem Meere, fast immer durch Anführung unwahrer oder, genauer ausgedrückt,
halbwahrer Angaben. Dieses Capitel gehört in den Abschnitt über den
Auswandererschutz. Die sonst häufig vorkommende unwirtschaftliche Aus-
wanderung wird dadurch hervorgerufen, dass der einzelne Auswanderer
unmöglich die wirtschaftlichen Verhältnisse der Nachbarländer und die
des eigenen Staates so gut übersehen kann, dass er die Möglichkeit einer
vernünftigen Wahl hätte. Er weiss nur, das z. B, in Preussen oder in
Amerika seine Bekannten im Vorjahre guten Unterhalt gefunden haben, und
weiss nicht, dass er möglicherweise auch im Heimatsstaate mit Vortheil
seine Arbeitskraft verwenden könnte. Natürlich wird er auswandern. Bereits
im laufenden Jahre kam es vor, dass Saisonwanderer nach Deutschland
rückwandern mussten, nachdem sie auf der vergeblichen Suche nach Arbeit
ihre ganze Barschaft eingebüsst haben. Viele von ihnen mussten polizeilich
in die Heimat zurückbefördert werden. In den nächsten Jahren dürfte die
Zahl dieser Enttäuschten sich verzehnfachen. Die Arbeiter haben keine
Ahnung, dass seit der Jahreswende die wirtschaftlichen Verhältnisse
II
I
II
^) Wie wir unten sehen werden, sind die oben entwickelten Grundsätze auch auf
die österreichische Auswanderung anzuwenden.
^) Dies ist unter anderem einer der wesentlichsten Punkte der in Galizien ver-
breiteten Circulare.
Das Auswanderuugsproblem und die Regelung des Auswanderungswesens etc. 507
Deutschlands in rückläufiger Entwickelung sich befinden, dass somit die
Nachfrage nach industriellen Arbeitern sich verringert, der Abfluss der landwirt-
schaftlichen Arbeiter in die industriellen Bezirke ins Stocken gerathen wird.
Sie werden somit in derselben oder in noch grösserer Anzahl über die
Grenze strömen, wo sie natürlich nicht alle werden placiert werden können.
Das Verhindern solcher planlosen Wanderungen durch die zweckmässige
Berathung der Auswanderer ist ein weiteres Postulat des Auswanderer-
schutzes. Gleichzeitig damit muss jedoch der Auswanderungslustige auch
auf die Fülle der Arbeitsgelegenheiten innerhalb der Staatsgrenzen aufmerksam
gemacht und ihm die Möglichkeit geboten werden, von diesen Arbeits-
gelegenheiten wirklich Gebrauch zu machen. Damit wird die zweckmässige
Organisation der Arbeitsvermittelung im Innern des Landes zu einer
der auf die Lösung des Auswanderungsproblems bezüglichen staatlichen
Maassnahmen.
Mit der, Anerkennung der aus wirtschaftlichen Motiven entstandenen,
und mit der Bekämpfung der unwirtschaftlichen Auswanderung ist die
Aufgabe des Staates durchaus nicht erschöpft: insbesondere wird er die
Art und das Ziel der Wanderbewegung zu beeinflussen haben und wird die
an Ort und Stelle auftretenden Folgen der Auswanderung auszunützen,
respective abzuschwächen haben.
Wir haben oben constatiert, das die Bevölkerung im allgemeinen
Nahwanderungen Fern Wanderungen vorzieht, dass sie überhaupt lieber innerhalb
der Staatsgrenzen bleibt, als dieselbe verlässt. Sie wird auf diese Weise der
Vortheile der heimischen Wohlfahrts- und socialen Schutzeinrichtungen nicht
verlustig, was bei einer Abwanderung in die Fremde gar oft der Fall
ist. Der Staat wird diese Eigenthümlichkeit der Wanderbewegung auszunützen
haben, wird insbesondere — im eigenen Interesse und zum Vortheile der
Wanderer — die Placierung landwirtschaftlicher Arbeiter in inländischen
Industriecentren, und selbst die Ueberschreitung der dem Wanderer eigenen
nationalen Sphäre der Auswanderung in das Ausland vorziehen. Durch die
Organisation einer den ganzen Staat umfassenden Arbeitsvermittelung werden
zahlreiche Individuen, die sonst ausgewandert wären, dem Vaterlande
erhalten bleiben.
Die zeitliche Auswanderung aus Oesterreich bringt dem Lande entschieden
grössere wirtschaftliche Vortheile, als die dauernde Emigration. Es ist
daher Vorsorge zu treffen, dass erstere gegenüber der anderen bevorzugt,
dass sogar etwaige Widerstände, die ihr seitens fremder Regierungen
in den Weg gelegt werden, beseitigt werden. Der Staat muss insbesondere
sorgsam darüber wachen, dass die wichtigsten Arbeitsmärkte der zeitweiligen
Auswanderung nicht in künstlicher Weise gesperrt werden. Ein grösserer
Theil der zeitweiligen Auswanderer würde in diesem Falle definitiv die
Heimat verlassen, und die dauernde Auswanderung würde die Oberhand
gewinnen. Die Offenhaltung der ausländischen Arbeitsraärkte für unsere
überschüssige Arbeitskraft ist eine der wichtigsten Aufgaben unserer
diplomatischen und commerziellen Vertretung im Auslande.
35*
508 Biizek.
Wie die zeitweilige der dauernden Auswanderung vorzuziehen ist, so
ist innerhalb der ersteren der Saisonwanderung vor der eigentlichen zeit-
weiligen Auswanderung der Vorzug zu geben, ebenso innerhalb der anderen
der continentalen vor der überseeischen, der colonisatorischen Auswanderung
s. str. (Parana, Argentina) vor der dauernden Arbeiterauswanderung. Die
Mittel dazu haben Inhalt der auf die Kegelung des Auswanderungswesens
bezüglichen gesetzlichen Bestimmungen zu bilden.
Es gilt im allgemeinen als Axiom, dass es die tüchtigsten Elemente
sind, die der Heimat den Kücken kehren. Die Beobachtung des historischen
Verlaufes der Auswanderung aus Oesterreich lehrt, dass soweit es sieb
nicht um Individuen, sondern um Volksstämme handelt, unter gewissen
Bedingungen das gerade Gegentheil eintreten kann. In allen diesen Fällen
kann der Staat die Abwanderer ohne Nachtheil scheiden lassen. Sein Bestreben
wird nur darauf gerichtet werden müssen, dass jene Bedingungen, die den
tüchtigeren Stamm im Lande halten, erhalten bleiben, im übrigen wird er
seine Bevölkerungs- und Wirtschaftspolitik darnach einrichten, damit die
Abwanderer möglichst vollständig durch das mehrwertige Element ersetzt
werden. Geschieht dies, dann hat die dauernde Auswanderung dem Lande
mehr genützt, als geschadet.
Gewinnt die Auswanderung (die zeitliche, wie die dauernde) an Umfange
dann werden alle jene Unternehmer, die an die Arbeitskraft der Abgewanderten
angewiesen waren, geschädigt, und zumal bei Grossgrundbesitzern und
Grossbauern kann der Schaden so beträchtlich werden, dass er das Interesse
aller berührt. Die Lösung des Auswanderungsproblems muss auch den
Gegenstand von dieser Seite in Betracht ziehen. Für die Kegelung des
Auswanderungswesens kann das Interesse dieser Kreise allerdings nicht in
Betracht kommen, da jede Beschränkung der Auswanderungsfieiheit von
diesem Gesichtspunkte aus nicht angezeigt ist, von berufenen Sprechern
der Interessenten selbst perhorresciert wird. ^) Es wäre aber eine Reihe
von gesetzlichen Bestimmungen zu erlassen,^) die es diesen Kreisen ermöglicht,
sich aus eigener Thatkraft und Initiative vor den sie treffenden Nachtheilen
zu schützen. Zur Durchführung dieser Bestimmungen sind zumeist die
Landtage competent.
Wir haben im obigen auf die Bedeutung der wirtschaftlichen Erfolge
der zeitweiligen Auswanderung, auf die Vortheile, die der Staat und die
Gesellschaft aus der Ansiedelung von Volksgenossen in fremden Ländern
ziehen können, hingewiesen. Soll die Auswanderung das höchste Maass der
möglichen Erfolge bringen, respective soll sich der erwartete Nutzen
überhaupt einstellen können, dann muss noch eine Bedingung erfüllt werden.
Der Auswanderer muss vor den ihn bei der Entstehung und Realisierung
des Auswanderungsplanes bedrohenden Gefahren geschützt werden, damit er
seine Leistungsfähigkeit für die Zwecke seiner nationalen Gemeinschaft
1) P i 1 a t, op. cit., S. 20.
2) Vergleiche Pilat, op. cit., S, 9 ff., insbesondere S. 16 if.
Das Auswanderuiigsproblem und die Regelung des Auswanderungswesens etc. 509
nicht nur nicht verliert, sondern dieselbe möglichst steigert. Hier ergibt
sich ein weites Feld für die Thätigkeit der ausländischen Staatsbehörden,
hier werden aber auch insbesondere die inländischen Behörden zahlreiche
Oelegenheit zum Einschreiten und zur fruchtbringendsten Thätigkeit finden.
In der zweckentsprechendsten Lösung dieser Aufgaben liegt der Kernpunkt
der gesetzlichen Kegelung des Auswanderungswesens. Gelingt diese, dann
wird die weitere Ausnützung der dauernden Auswanderung insbesondere
getrost der Privatinitiative und der Politik der Gresammtmonarchie im Aus-
lande überlassen werden können.
Die gesetzliche Kegelung des Auswanderungswesens beschränkt sich
nach dem Dargelegten in der Hauptsache auf die Verhütung unwirtschaftlicher
Auswanderung, insoweit diese durch Agitationen hervorgerufen wird, auf
den Schutz und die Leitung der Auswanderung, sowie auf die Regelung der
Auswanderungsfreiheit. Darüber werden wir uns in den nächsten Capiteln
des Näheren zu verbreiten haben. Schon aus dem Obigen ist aber zu ersehen,
dass mit dem Erlasse des Auswanderungsgesetzes nur die Lösung' eines
Theiles des Auswanderungsproblenis versucht wird. Es bleibt ausserdem ndch
ein weites Feld für die übrige Gesetzgebung des Staates und der Länder, für
die Verwaltungsthätigkeit des Staates und der Gesammtmonarchie, nicht
zum letzten auch für die private Bethätigung Einzelner, Vereine und
Körperschaften übrig. Aber selbst, wenn dieses Feld bestellt ist, wird die
Auswanderungsfrage nach wie vor eine der wichtigsten wirtschaftlichen,
socialen und politischen Fragen des Reiches bleiben.
Die Auswanderung ist eine der schärfsten Formen des Kampfes
um das Dasein. Todte und Verwundete wird es dabei immer geben. Der
Schutz und die Leitung der Auswanderung wird zwar die Zahl der Opfer
mindern, die Vortheile der Wanderung für die Betheiligten wie für die
Gesammtheit steigern. Das wichtigste Stück Arbeit bleibt aber noch
immer übrig. Es ist zu bedenken, dass der grösste Theil unserer zeitweiligen
Auswanderung auf der tiefsten Stufe der geistigen Bildung und des technischen
Könnens steht. Ein Drittel unserer Auswanderer sind Analphabeten, 7io ver-
mögen nur die gewöhnlichste, d. h. die am schlechtesten entlohnte Arbeit
zu verrichten. Dass sie gegenüber den Arbeitern anderer Nationen im
Nachtheil sein müssen, ist begreiflich. Ohne Hebung der allgemeinen Bildung,
ohne Vervollkommnung der technischen Ausbildung ist an eine durchgreifende
Besserung der gegenwärtigen Verhältnisse nicht zu denken.
Die Ausnützung der dauernden Auswanderung nach überseeischen
Ländern zumal ist nur dann möglich, wenn es gelingt, den nationalen
Charakter der Auswanderer und ihrer Nachkommen zu erhalten. Der Staat
kann hierbei nur dadurch mitwirken, dass er die Concentrierung unserer
Auswanderung an geeigneten Punkten nach Kräften fördert. Deutschland
und Italien verwenden weiters erhebliche Summen zur Unterstützung
nationaler Volksschulen und sonstiger Bildungsanstalten in fremden Ländern,
so auch insbesondere in Südamerika. Italien hat sogar die Errichtung
italienischer Parallelclassen an argentinischen Lyceen erwirkt. Oesterreich
510 9 ^"'^^■
dürfte sich zu einer ähnlichen Subventioniernng der von Volksgenossen
erhaltenen Schulen kaum entschliessen. Die Schulen der Auswanderer
aus dem Tridentino, falls solche existieren, kann Oesterreich nicht unterstützen,
da sich ja diese, sowie sie die Reichsgrenzen verlassen^ als Italiener
gerieren und über der See vollständig mit den Stammesgenossen aus
dem Königreiciie verschmelzen. Die deutschösterreicliischen Auswanderer
vergessen zwar in der Fremde im allgemeinen nie, dass sie Oesterreicher sind,
überall dort jedoch, wo sie in kleinerer Zahl einem mächtigen Stocke von
Reichsdeutschen beigemengt sind, fühlen sich bereits ihre Kinder als
Deutsche. Die Anziehungskraft der grösseren Masse ist eben unwiderstehlich.
Mit Vortheil kann also Oesterreich deutsche Schulen, etwa in den Balkan-
staaten subventionieren, in Nord- oder Südamerika wäre es zwecklos. Hier
könnte nur die Subventionierung slavischer, insbesondere polnischer Schulen
von Vortheil sein; es ist jedoch fraglich, ob gerade dies mit Rücksicht auf die
inneren Verhältnisse des Staates angezeigt ist. Somit bleibt die Sorge um
die Entwickelung des geistigen Lebens, um die Pflege des nationalen
Gefühles ausschliesslich der spontanen Thätigkeit der betreffenden nationalen
Gemeinschaft anheim gestellt. Hier ist das Hauptgebiet der organisatorischen
Kleinarbeit nationaler Vereine und Institutionen.
Die Wahrung der Nationalität der ausgewanderten Volkstheile ist
übrigens nur dann möglich, wenn die Auswanderer selbst fähig und gewillt
sind, an dem geistigen Leben der Volksgenossen in der Heimat theilzunehmen.
Die in London erscheinenden Bücher und Zeitungen werden überall, wo
Engländer wohnen, gelesen und sie sind eines der wirksamsten Mittel
der nationalen Einheit Englands und seiner Colonien. Es gilt die Aus-
wanderer auf diese Höhe der geistigen Bildung zu erheben, dass sie unsere
Dichter lesen, unsere Geschichtsschreiber studieren, mit uns gemeinsam
denken und fühlen. Diese Aufgabe ist insbesondere gegenüber den Analphabeten
Galiziens schwer zu lösen. Es muss ja zugegeben werden, dass der
polnische Auswanderer sehr bildungsfähig ist und eben dies ihm —
in der Heimat und noch mehr über der See — das Uebergewicht über die
ruthenischen Heimatsgenossen verschafft. Immerhin sind wir der Meinung,
dass wir für die Erhaltung der Nationalität insbesondere der galizischen
Auswanderer mehr durch die Hebung des geistigen Niveaus in der Heimat,
als durch ähnliche, allerdings unumgänglich nothweudige Bestrebungen in
der Fremde zu leisten vermögen. *)
Das Auswanderungsproblem vertieft sich auf diese Weise immer mehr
zu einem Ganzen mit den übrigen Lebensfragen der staatlichen Gesellschaft,
mit der Wirtschafts-, mit der Bevölkerungs-, mit der Schul- und Erziehungs-
politik etc. Nach Klarstellung dieses Zusammenhanges, der für die nüchterne
Würdigung der zu erwartenden Erfolge einer gesetzlichen Regelung des
Auswanderungswesens von höchster Wichtigkeit ist, können wir nunmehr zur
*) Vergl. B 0 8 c 0, La legge e la questione dell' emigrazione in Italia, Giornale
fiegli economisti, Lüglio 1900.
Das Auswanderungsproblem und die Regelung des Auswanderungswesens etc. 511
Besprechung der näheren Modalitäten dieser Eegelung übergehen. Es handelt
sich darum, die Mittel anzugeben, mittelst welcher die durch ein Aus-
wanderungsgesetz s. str. zu lösenden Aufgaben erfüllt werden können. Bei
der complexen Natur der Erscheinung bleibt nichts anderes übrig, als
vor allem die wesentlichsten Bestimmungen der fremden Gesetzgebung zu
prüfen und sich überall die Trage vorzulegen, welchen Zwecken diese
Bestimmungen nach der Intention des Gesetzgebers dienten und wie sie
diese Zwecke zu erfüllen imstande waren. Nach dieser Sichtung der
ausländischen Gesetzgebung dürfte es nicht so schwer fallen, zu entscheiden,
ob und inwiefern die fremden Auswanderungsgesetze für die Kegelung
unserer Auswanderung vorbildlich sein können.
(Ein SchluBsartikel folgt.)
VORSCHLAG EINER REFORM
DER "''■'
RECHTS- UND STAATSWISSENSCHAFTLICHEN
STUDIEN IN ÖSTERREICH.
VON
PROF. DK. JULIUS V. ROSCHMANN-HÖRBURG (CZERNOWITZ).
Die Erweiterung und Vertiefung der Staatsaufgaben und die ungeahnt
rasch vor sich gehende Entwickelung des Verkehres stellen an den Juristen
immer zunehmende ^Anforderungen, zu deren Bewältigung sein altes Küstzeug
nicht mehr genügt. Neue Rechtsdisciplinen sind theils entstanden, theils sind sie
im Werden, ehemals Wichtiges tritt vor den brennenden Fragen des Tages an
Bedeutung zurück ; der junge Jurist aber steht diesen schweren Aufgaben meist
hilflos gegenüber. Einer solchen Massenerscheinung gegenüber wäre es ungerecht
und unrichtig, die Ursache in individuellen, in subjectiven Momenten zu suchen,
der Grrund des Uebels muss allgemeiner Natur sein, muss in den objectiv
gegebenen Verhältnissen liegen.
Als die eigentliche Quelle der Misstände erweist sich die geltende Unterrichts-
ordnung, welche den Studiengang und das Prüfungswesen an den rechts- und
staatswissenschaftlichen Facultäten regelt, Sie scheint mir auf veralteter Grund-
lage zu beruhen, die so äusserst nothwendige, gegen den Umsturz eine sichere
•Gewähr bildende sociale Rechtsentwickelung mehr zu hemmen als zu fördern, dem
Schüler weder in wissenschaftlicher noch in praktischer Beziehung die genügende
Ausbildung zu sichern und von der Arbeitskraft des Lehrers einen unökonomischen
und gleichzeitig gefährlichen Gebrauch zu machen.
Soll die Thätigkeit des akademischen Lehrers ihren Zweck erfüllen, so
muss sie in der Erschliessung der Wissenschaft, nicht in der Vermittelung einer
Kunde bestehen : Ueber die Alphabete der verschiedenen Sprachen handelt die
Wissenschaft, das A B C aber ist kein Gegenstand derselben. Dies will sagen,
dass der akademische Vortrag nur dann und nur dort einzusetzen habe, wann
und wo für ihn die seinem Wesen entsprechende Voraussetzung gegeben ist : dass
er wissenschaftlich, d. i. dass er systematisch, kritisch und, in logischer
Consequenz, productiv sei.
Vorschlag einer Reform der rechts- und staatswissenschaftiichen Studien etc. 513
Das lebendige und belebende Wort soll dem Jünger der Wissenschaft
deren Grundbegriffe und systematische Grundlagen vermitteln. Hier hat der freie
akademische Vortrag — für den jungen akademischen Bürger ein neuer,
ungewohnter geistiger Genuss — das Interesse des Hörers so sehr zu erwecken
und zu fesseln, dass er diesen über die Schwierigkeiten des Anfanges gleichsam
spielend hinüberführt und im Studenten jene Liebe zum Fache entzündet, ohne
welche eine wirkliche geistige Vertiefung unmöglich ist. Für den akademischen
Lehrer aber ist. diese Aufgabe keineswegs eine unwürdige oder allzu leichte. Sie
ist auch nicht unwissenschaftlich, denn, um bei dem früheren Bilde zu bleiben,
nicht das AB C sx)ll er lehren, sondern die Lautgesetze und die genetische
Entwickelung des Alphabetes hat er darzustellen. Nur der kann 'dem Laien die
Grundlagen einer Wissenschaft klar und präcise aufzeigen, welcher sie durch und
durch beherrscht.
Für so richtig und wichtig ich es halte, die Einführung des Anfängers in
die Grundlagen der einzelnen Kechtsdisciplineu dem akademischen Vortrage,
u. zw., wenn irgend erreichbar, dem freien akademischen Vortrage zu überweisen,
für ein ebensosehr unrichtiges, logisch nichtiges Beginnen erachte ich es, die
Darstellung des Detailinhalt6s der verschiedenen juristischen Disciplinen in die
Vorlesungen zu verlegen. Letzterer leider allgemein geübte Vorgang bringt es
regelmässig mit sich, dass der Stoff entweder dem Umfange oder dem Inhalte
nach nicht erschöpft wird. Es entsteht die grosse Gefahr, dass entweder dhr
Lehrer den Stoff seinen Hörern in pragmatischer Darstellung so breit vorträgt,
dass er vor lauter Gründlichkeit nicht zum gedeihlichen Abschlüsse gelangen
kann, oder aber, dass er sofort mit der wissenschaftlichen Kritik eines isolierten
Theiles seiner Disciplin beginnt, zu einer Zeit, zu welcher sein Auditorium vor
allem nöthig hätte, den Gesammtinhalt der Disciplin systematisch überblicken zu
lernen und sich mit dem materiellen Stoffe des Faches vertraut zu machen. Im
ersten Falle raubt er sich und seinen Schülern die Zeit, im zweiten verwirrt er
mehr, als dass er Klarheit schafft : dem überwiegenden Theile der Hörer flösst
er — gerade w^eil Unwissenden gegenüber die Kritik Nimbus verleiht —
das verderbliche Jurare in verba magistri ein, den kleineren, aber tüchtigeren
Theil stösst er ab. Ganz unbestritten ist der mündliche systematische Vortrag
auch des materiellen Stoffes dort unvermeidlich, wo keine oder nur eine ungenügende
Literatur vorhanden ist. Im allgemeinen aber muss man sägen, dass der Student
mit den wesentlichen positiven Wissensergebnissen, und vor allem mit dem
materiellen dogmatischen Inhalte der Disciplinen schneller, besser, objectiver,
weitaus systematischer und gründlicher durch die meist in so reichem Ausmaassfe
vorhandenen Lehrbücher bekannt gemacht wird, als es durch die zeitlich, ja
immer arg beschränkten Vorträge auch des besten und hingehendsten Lehrers
möglich wäre.
Dann, wann der Studierende die Vorstufe der Wissenschaft erklommen,
wann er den materiellen Inhalt der Disciplin receptiv aus Gesetz und Lehrbuch
in sich aufgenommen hat, dann, und erst dann beginnt die wissenschaftliche
Vertiefung des Studiums. Jetzt tritt an den akademischen Lehrer wie Schüler
eine neue Aufgabe heran, die man in Oesterreich bei der Einführung des
514 Roschmann- Hörburg.
Institutes der Seminare wohl geahnt, aber weder voll erfasst, noch consequent
ausgestaltet hat. Auch auf dieser Stufe des akademischen Studiums ist der
junge akademische Bürger nur Jünger der Wissenschaft : Er soll methodisch
zusammenfassen, kritisch sichtfii. er soll bei bereits einigermaassen vorhandener
Kenntnis des materiellen Stoifinhaltes erlernen, diesen wissenschaftlich zu
-erfassen und zu verarbeiten. Von ihm anderes als Uebungsleistungen, von ihm
schon productive Erfolge verlangen, hiesse ihn zur Unreife erziehen, ihn verschulen.
Nunmehr haben die allgemeinen und an alle gerichteten Vorträge zwar nicht
ganz zu entfallen, aber sie haben im Vergleiche mit der Einzelarbeit und der
Arbeit mit dem Einzelnen diesen gegenüber zurückzutreten. In Rede und Wechsel-
rede hat der Lehrer mit den Schülern ganze Rechtsinstitute und einzelne Rechts-
fälle zu erörtern, Gemeinsames wie Differentes zu erläutern. Ueber die Literatur,
u. zw. nicht nur des heimischen Rechtes, sind von den Studierenden schriftliche
zusammenfassende Referate zu liefern, über welche eine Discussion zu führen ist.
Die Bearbeitung praktischer Rechtsfälle soll mit der Anwendung des Rechtes und
den processualen Vorgängen vertraut machen. An Meister wie Schüler werden
grosse Anforderungen gestellt. Wenn irgendwo, so tritt hier, wo die Methode eine
gewichtige Rolle spielt, die Individualität des Lehrers scharf hervor. Aufgabe der
zu bestellenden Assistenten wird es sein, den Professor dadurch zu unterstützen,
dass sie den Schülern die Quellen erschliessen, ihnen mit technischer Beihilfe
an die Hand gehen und praktische Uebungen mit ihnen abhalten.
Der nach solcher Unterrichtsmethode vorbereitete und geschulte Rechts-
hörer hat wissenschaftlich zu erfassen, hat juristisch zu denken und praktisch zu
arbeiten gelernt: Er ist beim Scheiden von der Universität reif für Prüfung
und Leben, der jetzt die Hochschule Verlassende ist unreif für beide.
Den dermaligen akademischen Studiengang erachte ich für verfehlt auch
aus einem zweiten Grunde. Noch immer ist die Basis des ganzen Rechtsstudiums
das römische Recht. Seine krystallklare Systematik, seine glänzende Logik sollen
den Anfänger das juristisch Denken lehren. Das ist ein Sieg der Form über das
Wesen. Wenn der Inhalt des Rechtes darin besteht, die jeweilige sociale Ordnung
in den Beziehungen der Einzelnen zur Gesammtheit und zueinander zu gewähr-
leisten, so soll die Einführung in das Rechtsstudium mit der Darstellung des
Werdeganges der socialen Verhältnisse der Gegenwart und mit der Klarlegung
der zu gewärtigenden socialen Veränderungen beginnen, nicht aber von Social-
zuständen ausgehen, die nach Inhalt wie Form der Gegenwart meist fremd sind,
ja dieser zum Theile als criminelles Unrecht erscheinen. Man wende zur Verthei-
digung der grundlegenden Stellung des römischen Rechtes nicht einen Parallelismus
mit der Pflege des antiken Geistes im Gymnasium ein, man sage nicht, wie für
die Mittelschulbildung die Sprache der Römer, so müsse für die juristische
Hochschulbildung deren Recht die Grundlage bilden. Der durch keine andere
Mittelschule erreichbare Zauber und Segen des Gymnasiums liegt vielmehr noch
als in der grammatikalisch-logischen Schulung darin, dass der Jugend das
strahlende Bild der Lichtseiten, also das idealisierte Bild eines abgeschlossenen
Völkerlebens gezeigt wird. Daran kann und muss sie sich ideale Begeisterung
fürs ganze Leben holen. Und wenn das Gymnasium, wie es in Oesterreich
I
II
Vorschlag einer Reform der rechts- und staatswissenschaftlichen Studien etc. 515
glücklicherweise der Fall ist, und zwar in höherem Grade als im Deutschen
Eeiche, auch die sogenannten Realfächer gründlich lehrt, dann stattet es seine
Jünger mit einer wahrhaft gediegenen Charakter- und Wissensbildung aus. Hat
doch der Realschüler vor dem Gymnasiasten eigentlich nur die Kunstfertigkeit
des Zeichnens und die Bekanntschaft mit der darstellenden Geometrie wahrhaft
voraus Der Geist der gymnasialen Sprachpflege und Bildung ist der
Humanismus, der Geist des römischen Rechtes aber ist der Egoismus. Nichts
liegt mir ferner, als die Bedeutung der historischen Methode für Unterricht und
Forschung anzuzweifeln, für den Unterricht aber muss sie eine real-materielle,
nicht nur eine formale Basis bieten. Die ganze sociale, wie folgerichtigerweise,
die ganze Rechtsentwickelung der Gegenwart und gewiss noch mehr jene der
Zukunft, stellt einen immer siegreicheren Kampf gegen die sociale Auffassung
der Römer und deren Festlegung im Rechte dar — und da sollte die Einführung
in das römische Recht die richtige Vorbereitung für das Studium des geltenden
Rechtes und für die Beurtheilung und Würdigung der nach Geltung ringenden
Rechtsbestrebungen und Rechtsideen sein? Nein, nein und wieder nein! Leider
sind die wichtigsten unserer Rechtsordnungen nur allzusehr von römisch-rechtlichem
Geiste durchdrungen, Soll nun diese traurige Thatsache die Veranlassung bieten
dürfen, den logischen Zwiespalt zwischen geltendem Rechte und socialem Rechts-
bedürfnisse zu perennieren, und in den jungen Köpfen Vorstellungen und Ansichten
zu erwecken und zu züchten, die das rasch pulsierende Leben der Gegenwart
verwirft und bekämpft? Frisch keimender Same soll gesäet, nicht Leichengift soll
eingeimpft werden ! Darum ist das römische Recht aus der Vorbereitungsstufe zu
verbannen. Seine hohe wissenschaftliche Bedeutung sichert ihm an anderer Stelle
einen Ehrenplatz, dort, wo es nur nützen und nicht mehr schaden kann. Die
Einführung in das juristische Denken und Studium aber sollen andere Disciplinen
vermitteln, die zeigen, wann und wie Recht entsteht. Wie könnte
auch anderes, als die Erkenntnis des Rechtsursprunges das Wesen des Rechtes
verstehen lehren !
Die geistigen Strömungen der Gegenwart, auch die im Gebiete jener
Disciplinen, die man mit einem zwar gang und gäben, aber recht unglücklich
gewählten Ausdrucke die Geisteswissenschaften nennt, unterscheiden sich von
jenen der Vergangenheit wesentlich in zweifacher Beziehung : Der Individualismus
verliert gegenüber dem Collectivismns, und die Induction gewinnt gegenüber der
Deduction an Boden. Die individual-atomistische Auffassung räumt in Recht und
Wirtschaft der socialen immer mehr das Feld, und auch das deductive Grübeln
und Tatzensaugen tritt vor der bescheidenen, fleissigen, sich selbst ehrlich
controlierenden indnctiven Forschung immer mehr zurück. Diesen Thatsachen
darf eine den Bedürfnissen der Gegenwart und Zukunft dienende Studienreform
nicht etwa nur so nebenher Rechnung tragen, sie muss es vielmehr voll und
ganz: Sie muss von ihnen ausgehen. Die Lehre vom Volke, in seinem
natürlichen und socialen Dasein, der Einblick in die Cultur-
entwickelung derMenschheit, dieKenntnisdersich historisch
ausgestaltenden socialen und wirtschaftlichen Massenbedürf-
nisse, das sind die erziehlichen Vorbereitungsmittel für jene kommenden Juristen-
516 Roschmann-Hörburg.
generationen, derer die schwere Aufgabe harrt, dem 'Volke ein wahrhaft social-
basiertes und socialförderndes Eecht zu schaffen.
Aus der Geschichte ist zu ersehen, dass die blosse Aufhebung eines ßechts-
institutes, ohne Einführung einer neuen Organisation, das Nichts, den Verfall
bedeutet. Eine neue Organisation kann ihre Begründung aber nicht in vagen
allgemeinen Anschauungen und Tendenzen, oder in den Ideen des überlebten
und deshalb verfallenen früheren Rechtes finden, sondern einzig und allein in
der richtigen Erkenntnis der historisch erfassten Entwickelungszustände des
eigentlichen Rechtssubjectes, des socialen Körpers. Darum ist die von historischem
ireiste durchsättigte Sociologie die eigentlichste und beste Grundlage der Rechts-
wissenschaft und der gesunden Weiterbildung und Reform des Rechtes selbst.
Sie allein erweist überzeugend die historische Relativität der Rechtswohlthat, die
absolute Nothwendigkeit der ständigen und stetigen Rechtsreform. Und gerade
deshalb wäre in erster Reihe die Sociologie berufen, in das Rechtsstudium ein-
zuführen. Leider ist aber die Sociologie noch nicht zu jener wissenschaftlichen
Selbständigkeit gelangt, um als Disciplin einen eigenen Lehrgegenstand bilden
zu können ; gegenwärtig müssen wir uns noch damit bescheiden, aus der Demo-
graphie und den Ergebnissen der Socialstatistik unser Wissen vom socialen
Körper und von seinen Gesetzen zu schöpfen.
Nie und nimmer kann man das Wesen und die Aufgaben des Rechtes aus
einer seiner Phasen, aus der jeweiligen Erscheinungsform eines oder mehrerer
Rechtsinstitute dieser oder jener Rechtsordnung alter oder neuer Zeit erlernen ;
immer wird man auf seinen genetischen Ursprung, auf die rechtsbildenden
Kräfte zurückgreifen müssen. Aus diesem Grande kann auch nicht die Rechts-
geschichte, die ja die Kenntnis des zu Erklärenden eigentlich schon voraussetzt,
sondern können, neben Demographie und Socialstatistik, nur die reine allgemeine
'Geschichte der Völker und Staaten und jener Theil der Geschichte, den wir
sociale Culturgeschichte nennen, für das Rechtsstudium vorbereiten und in die
Genesis der Rechtsbildung einführen. Als die für die Gestaltung der socialen
Cultur besonders wichtigen Elemente werden wir die socialen Einrichtungen des
Cuitus, die Familienordnung und die sociale Gliederung des Volkes, wie dessen
Wirtschaftsleben bezeichnen müssen. Die Wirtschaft des Volkes ist eine der
treibendsten Kräfte der Rechtsbildung und Rechtsumgestaltung. Deshalb ist auch
die Wirtschaftsgeschichte berufen, an der Seite der bereits erwähnten Disciplinen
auf das Rechtsstudium vorzubereiten. Ihre genaue Kenntnis fördert, ja bedingt
das Verständnis ebensowohl der Rechtsgenesis und Rechtsentwickelung, wie des Elnt-
stehens und der Geltungsgewalt der volkswirtschaftlichen Gesetze und der Lehren der
Volkswirtschaftspolitik und Verwaltungslehre. Sie ist es, die vor dogmatischer Ueber-
schätzung der volkswirtschaftlichen Gesetze bewahrt, indem sie deren zeitliche und
örtliche Relativität darlegt. Die Hauptaufgabe des Collegs über Wirtschaftsgeschichte,
u.zw. vorwiegend deutsche Wirtschaftsgeschichte, wird es daher sein, ein genaues
Bild derEntwickelung der wirtschaftlichen Cultur und der zur Rechtsbildung drängen-
den Massenbedürfnisse und Kräfte darzubieten. Selbstverständlich hat das Studium
der Wirtschaftsgeschichte jenem der theoretischen Nationalökonomie, der Volkswirt-
schaftspolitik, der Verwaltungslehre und der Finanzwissenschaft voranzugehen.
I
Vorschlag einer Eeform der rechts- und staatswissenschaftlichen Studien etc. 517
Historische Colleglen haben Wert für die Vorbereitung zam juristischen
Studium, wenn sie nicht nur die äusserlichen Thatsachen, sondern wenn sie mit
aller Klarheit und Entschiedenheit die für Entstehen, Blühen und Verfall der
Staaten und nationalen Culturen wirkenden Kräfte und entscheidenden Causal-
verhältnisse darlegen. Dieser Aufgabe haben drei historische Collegien zu dienen,
eines über allgemeine, eines über deutsche und eines über österreichische
Geschichte.
Das Colleg über Culturgeschichte könnte natürlich nicht diese ganze Disciplin
umspannen, sondern müsste auf die Darstellung der Sitte und Recht am wesent-
lichsten gestaltenden Elemente des Volkslebens beschränkt werden. Als solche
möchte ich bezeichnen : Religionswesen, Familienordnung und sociale Schichtung.
Ein Colleg über Geschichte der Philosophie wäre dazu bestimmt, nicht nur
das allgemeine Bildungsniveau des Juristenstandes zu heben und die juristischen
Anfänger mit den Anschauungen der einzelnen Völker und Culturepochen über
die menschliche Gesellschaft vertraut zu machen, sondern auch in den jungen
Köpfen die heilsame Erkenntnis zu reifen, von der relativen Geltung und der
Vergänglichkeit menschlicher Weisheit und rein deductiver Geistesarbeit.
Aufgabe der Vorträge über Demographie ist es, die Gesetzmässigkeit in den
natürlichen Lebenserscheinungen des Volkskörpers darzulegen, zu zeigen, dass
für das Entstehen, Bestehen und Vergehen, wie für die innere Structur des Volkes
Gesetze bestehen, die, nur für die Gesammtheit geltend, den Beweis erbringen,
dass das Volk ein Organismus mit ihm eigenthümlichen Lebensfunctionen ist.
Gleicherweise hat für das Gebiet des Sociallebens die Socialstatistik den
Beweis zu erbringen, dass auch hier Gesetzmässigkeit walte. Die socialstatistischen
Vorträge haben dann noch im besonderen darzulegen, wann und wie die socialen
Massenerscheinungen in causalem oder functionellem Zusammenhange mit der
Rechtsentwickelung stehen.
Schliesslich muss sich die Vorbereitung für das Rechtsstudium auch darauf
erstrecken, dem werdenden Juristen das äussere Rüstzeug zu bieten, dessen er
technisch zum Studium bedarf. Diesem Zwecke hat ein Colleg über allgemeine
Rechtslehre zu dienen. Es soll den Studierenden mit der schematischen Eintheilung
der juristischen Disciplinen und mit der wissenschaftlichen Terminologie bekannt
machen, ohne dabei von irgend einem speciellen Rechte, etwa gar dem römischen
auszugehen.
Die erwähnten Collegien : allgemeine Geschichte, deutsche Geschichte,
österreichische Geschichte, Culturgeschichte, Geschichte der Philosophie, Wirtschafts-
geschichte, Demographie, Socialstatistik und allgemeine Rechtslehre, bilden
zusammen den Complex der ebensowohl für das staatswissenschaftliche, wie für
das rechtswissenschaftliche Studium vorbereitenden Disciplinen. Ihrer Behandlung
ist das erste Studienjahr gewidmet.
Die zweite Stufe des Studienganges, wieder von einjähriger Ausdehnung^
umfasst die politischen Wissenschaften. Der gewaltigen Entfaltung des Wirtschafts-
lebens und der dadurch verursachten Ausbildung der politischen Disciplinen muss
durch tiefgreifende Erweiterung des Unterrichtes und Studiums entsprochen
werden. Nicht nur ist das Stundenausmaass für die Vorträge über theoretisch&
518 Eoschmann-Hörburg.
Volkswirtschaftslehre, über rinanzwissenschaft und über Volkswirtschaftspolitik
nebst der Verwaltungslehre zu erhöhen, sondern es ist das Studium durch
Einführung von Uebungscollegien zu vertiefen. Als neue hätten sich den alten
Obligat- Collegien anzureihen solche über das positive, geltende Steuerwesen, über
Eechnungs- und Controlwesen und endlich noch statistische Uebungen. Zu
entfallen hätte das bisherige Colleg über allgemeine und österreichische Statistik,
für das, der Demographie und Socialstatistik gegenüber, die Zwecksberechtigung
entfällt. Die Kenntnis des geltenden Steuerwesens ist heutzutage für jeden Juristen
unentbehrlich geworden; ihre Vermittelung dem Colleg über Finanzwissenschaft
anvertrauen, hiesse aber nur zu sehr den rein wissenschaftlichen Charakter
jenes Collegs gefährden. Mit Vorträgen über das ßechnungs- und Controlwesen
glaube ich einem wesentlichen Bedürfnisse zu entsprechen und eine oft recht
schmerzlich empfundene Lücke im Können und Wissen des praktischen Juristen
auszufüllen. Volkswirtschaftspolitik und Verwaltungslehre sind untrennbar, ich
möchte sie daher in einem Colleg vereinigt wissen. Die statistischen Uebungen
haben sich auf die Gebiete der Demographie, Sociologie, der Volks- und Staats-
wirtschaft zu erstrecken.
Soll der Entwickelung, welche das moderne Recht, namentlich das Verkehrs-
und Verwaltungsrecht, genommen hat und voraussichtlich auch fürderhin nehmen
wird, Rechnung getragen werden, sollen den modernen, stets zunehmenden
Anforderungen des Lebens gewachsene Juristen die Universität verlassen, so
muss auch in der dritten, dem geltenden inländischen Rechte gewidmeten Studien-
abtheilung eine wesentliche Ausgestaltung der Collegien eintreten. Eine Reihe von
Rechten, die dermalen nur im allgemeinen und meist nur in groben Umrissen
im Rahmen des Handelsrechtes und des Verwaltungsrechtes ihre akademische
Behandlung finden, soll selbständige, u. zw. Obligat-Collegien erhalten. Hierher
gehören aus dem Gebiete des Verkehrsrechtes das Eisenbahn- und Transportrecht,
das Seerecht und das Versicherungsrecht. Das Verwaltungsrecht, jene Rechts-
organisation, welche im eminentesten Sinne die sittlich-culturolle und ökonomisch-
materielle, wie die physische Wohlfahrtspflege zu ordnen und zu gewährleisten
hat, verdient, ja benöthigt eine um vieles weiter gehende Berücksichtigung, als
ihm die geltende Studienordnung angedeihen lässt. Die Vorträge über das
Verwaltungsrecht im allgemeinen hätten den Charakter einer die historische
Entwickelung voll berücksichtigenden encyklopädischen Einführung in diesen Zweig
des öffentlichen Rechtes zu wahren, während eigene, selbständige Collegien
(Vorträge und Uebungen) berufen wären, die wichtigsten Inhaltsgebiete einer
vertieften Behandlung zuzuführen. Diesem Zwecke hätten Collegien über Agrar-
recht, Bergrecht, Gewerberecht und Wasserrecht zu dienen. Den Obligat-
Collegien über allgemeines und österreichisches Staatsrecht, über Völkerrecht, über
Strafrecht und Strafprocess, über bürgerliches Recht und Civilprocess, über
Handels- und Wechselrecht, über Verwaltnngsrecht hätten sich nebst den bereits
erwähnten, noch neue Obligat-Collegien über Polizeistrafrecht und über gerichtliche
Medicin anzuschliessen. Im Colleg über materielles und formelles Strafrecht wäre,
ihrer wachsenden Bedeutung entsprechend, auf die strafrechtlichen Hilfswissen-
schaften Rücksicht zu nehmen. Alle Fächer, mit Ausnahme des Völkerrechtes,
Vorschlag einer Keform der rechts- und staatswiesenschaftlichen Studien etc. 519
erfahren eine bei manchen sogar schwer ins Gewicht fallende Erhöhung der
Unterrichtszeit. Dieser Abtheilung der Studien sind zwei Jahre gewidmet.
Scharf tritt auf der vierten Stufe, dem fünften Studienjahre, die Einschränkung
der rechtshistorischen Disciplinen hervor. Eömisches, canonisches und deutsches
Privatrecht wären vorwiegend vom rechtshistorischen Standpunkte aus, mit Ausser-
achtlassung kleiner Details zu behandeln. Wenn sie den Charakter einführender,
für das Kechtsstudium grundlegender Vorträge verlieren, was ja eine der essen-
tiellsten Forderungen dieses Reformvorschlages ist, dann können auch die Obligat-
Collegien aus dem Gebiete dieser Disciplinen eine weitgehende Beschränkung
erfahren. Das Gleiche gilt von dem Colleg über deutsche und österreichische
Eechtsgeschichte. Die durch jene Eindämmung der rechtshistorischen Hochflut
gewonnene Zeit sei der Erfüllung zweier wesentlicher Aufgaben gewidmet. Es
Messe wahrhaftig mehr als altvaterisch, es Messe verkehrt sein, wollte man der
jüngsten Entwickelungsphase des Civilrechtes, dem neuen bürgerlichen Eechte des
Deutschen Reiches, eine mindere Sorgfalt zuwenden, als den Vertretern der
ältesten Phase, den Herren Gajus und Consorten. Das wichtigste Recht eines
Landes, mit dem man in rapid steigendem Verkehre steht, muss man aus
wissenschaftlichen, wie aus praktischen Gründen der akademischen Darstellung
und Pflege an den eigenen Universitäten für durchaus wert erachten. Ein Obligat-
Colleg von mindestens demselben Stundenausmaasse, das dem römischen Rechte
zugebilligt wurde, sei auch für den Unterricht aus dem neuen reichsdeutschen
bürgerlichen Rechte bestimmt. Die beste wissenschaftliche Vertiefung und juristische
Schulung gewährt die Rechtsvergleichung. Wirklich gewinnbringend kann sie
natürlich nur für denjenigen sein, der über ein beträchtliches Maass juristischen
Wissens verfügt. Ist dieses vorhanden, dann führt sie dessen Träger zur vollen
Reife des juristischen Denkens. Darum möge denn auch den Abschluss der rechts-
und staatswissenschaftlichen Studien ein Uebungscolleg über Rechtsvergleichung
bilden.
Jeder Unterrichtsgang muss planmässig sein, soll er zu erfolgreichem Ziele
führen. Die Methode dieses Reformentwurfes und der ganze Aufbau des Lehr-
gebäudes bedingen eine bestimmte Reihenfolge in den Unterrichtsfächern und das
Institut der Obligat- Collegien. Ich sehe darin keine Verletzung der Lehr- und
Lernfreiheit, dass die Abhaltung gewisser und der Besuch gewisser Collegien,
u. zw. in bestimmter Reihenfolge, Lehrern und Schülern zur Pflicht gemacht
wird. Ich sehe darin nur eine planvolle Fürsorge. Raum für freie Bethätigung
bleibt Lehrenden wie Lernenden hinlänglich gewahrt.
Der durch die geltende Studienordnung normierte Lehrstoff kann nur
sehr schwer und in kaum entsprechender Weise in vier Jahren bewältigt werden.
Für die durch den Reformentwurf gesetzte weit grössere und schwierigere Aufgabe
sind fünf Jahre unbedingt erforderlich.
Das ganze Studium wird in Aner Abtheilungen getheilt, von denen die
erste, zweite und vierte je ein Jahr, die dritte zwei Jahre umfassen soll. Der
Aufstieg von einer Stufe zur nächsten wäre für inländische ordentliche Hörer von
der erfolgreichen Ablegung einer Staatsprüfung abhängig zu machen.
520
Roschmann-Hörbuig.
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Zeitschrift fär Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung;. X. Band.
36
522 Eoschmann-Hörburg.
Die erste, der allgemeinen Vorbereitung- dienende Abtheilung ist die einzige,
in welcher der Unterricht, wenigstens dermalen noch, auf den reinen Vortrag
allein beschränkt bleiben müsste. Auf jeder der folgenden Stufen käme dem
Vortrage in steigendem Maasse der Charakter der blossen systematischen
Einführung in die einzelnen Disciplinen zu. Das Schwergewicht des Unterrichtes
fiele immer mehr auf die den Vorträgen folgenden Uebungscollegien. In der
ersten, zweiten und dritten Studienabtheilung wären dem Unterrichte in den
einer Staatsprüfung vorangehenden Semestern je 20, in den anderen Semestern
je 30 Wochenstunden gewidmet, in der vierten Abtheilung wäre das Ausmaass
in beiden Semestern das gleiche, 30 Stunden in der Woche. Auf dieser Stufe
des Studiums entfällt eine Eücksichtnahme auf die bevorstehende Prüfung, weil
eine rege Betheiligung an den zahlreichen Uebungscollegien die beste Vorbereitung
für die Prüfung gewährt. Von der gesammten Unterrichtszeit sind in den vier
Abtheilungen den Vorträgen 100, 60, 57 und 40, den UebergangscoUegien 0,
40, 43 und 60 Percente gewidmet.
Soviel über die Obligatcollegien. Es ist einleuchtend, dass der Charakter
und die Aufgabe der Universität als Pflegestätte wissenschaftlichen Fortschrittes
es erfordern, dass an der Universität nicht nur das Bildungserfordernis des Alltags-
juristen befriedigt werde, sondern dass sie volle Eücksicht nehme auf die weiter
ausgreifenden wissenschaftlichen Bestrebungen ihrer Jünger. Diesem Zwecke zu
dienen, sind einerseits die Seminare berufen, andererseits wird es aber Aufgabe
der Unterrichtsverwaltung und der akademischen Lehrer sein, dafür zu sorgen,
dass der Charakter der universitas litterarum gewahrt bleibe und durch ein
reiches Ausmaass von Specialcollegien die innere wissenschaftliche Vertiefung
des Unterrichtes in den verschiedenen Disciplinen gesichert werde. Dies gilt eben-
sowohl von den socialpolitischen und den Eechtswissenschaften, wie von den
der Vorbereitung für diese dienenden Disciplinen. Es wäre nicht zweckentsprechend,
eine Liste der notliwendigen oder wünschenswerten freien Specialcollegien auf-
zustellen. Sie ergeben sich zum grossen Theile ohnehin von selbst aus früherer
Uebung, aus den entstehenden Bedürfnissen und aus den Fortschritten der
Wissenschaft. Vor allen anderen würden die rechtshistorischen Disciplinen eine
Vervollständigung und Erweiterung des Unterrichtes für die mehr als das
Durchschnittsausmaass der juristischen Bildung Anstrebenden durch mannigfache
nichtobligate Specialcollegien benöthigen. Aber auch die moderne Civil- und
Strafrechtswissenschaft verdient und bedarf, dass ihre Disciplinen akademisch
weiter ausgestaltet werden. Erwähnt seien nur Collegien — die, dem allgemeinen
Plane entsprechend, natürlich wieder aus Vorträgen und Uebungen zu bestehen
hätten — über französisches Civilrecht, über Grundbuchsrecht, über Criminologie,
Criminal-Anthropologie, Criminalpsychologie, Criminalpolitik, Pönologie, Criminalistik,
über die modernen neuen Strafrechte anderer Staaten (Deutschland, Bern etc.;.
Wenn die Behandlung des Staats-Kirchenrechtes auch regelmässigerweise im
CoUeg über Staatsrecht, zum Theile wohl auch in jenem über Verwaltungsrecht
zu erfolgen hat, so bleiben, nicht nur vom rechtshistorischen Gesichtspunkte aus,
noch genug Materien aus dem Kirchenrechte, die einer eingehenden akademischen
Darstellung meist ermangeln, so z. B. das geltende orientalische Kirchenrecht.^
I
Vorschlag einer Reform der rechts- und staatswissenschaftlichen Studien etc. 523
Und vollends im Gebiete der sogenannten politischen Wissenschaften bieten die täglich
auftauchenden neuen Probleme und socialpolitischen Aufgaben in Hülle und Fülle
die Gelegenheit zu fortschreitender akademischer Ausgestaltung der Disciplinen.
Ganz besondere Wichtigkeit kommt für die intensive wissenschaftliche
Ausbildung dem Institute der Seminare zu. Es bedarf nicht nur der Entwickelung,
sondern in wesentlichen Theilen einer gründlichen Eeform.
Nur derjenige, der so gründlich gebildet ist, dass er über ein ganz
erkleckliches Maass scharf durchdachten, systematisch geordneten, geistig verar-
beiteten Wissens verfügt, wird in eigener, selbständiger Arbeit producieren, die
Wissenschaft wirklich bereichern können. Aber auch das will gelernt sein. Dieses
Ziel, das selbständige productive wissenschaftliche Arbeiten zu lehren, methodologisch
zu lehren, ist die Aufgabe der mit den Universitäten verbundenen Seminare. Es
ist nach dem Gesagten selbstverständlich, dass ich die Theilnahme an den
Seminaren nur jenen offen gehalten wissen will, welche durch die Schlussprüfling
erwiesen haben, dass sie nicht nur positives Wissen, sondern auch wissenschaftliche
Eeife besitzen. Die Seminare sollen keine Hörsäle, sondern Werkstätten sein, in denen
der Zögling, in streng wissenschaftlicher Zucht gehalten, es erlernt, ein Problem zu
erfassen und zu verarbeiten. Vorlesungen sind hier nicht am Platze, nur gemeinsame-
Arbeit des Lehrers mit seinen Schülern. Gleich den naturwissenschaftlichen Laboratorien-
haben die Arbeitsräume der Seminare ihren Besuchern stets offen zu stehen. Und.
ununterbrochen soll für Eath und Unterweisung gesorgt sein. Gemeinsame Unter-
suchungen und Excursionen sollen die Anwendung der inductiven Methode lehren,
und sichern. Kurz, die Seminare haben den Charakter streng wissenschaftlich geführter
Unterrichts- und Forschungsinstitute anzunehmen. Die derart reorganisierten'
Seminare werden aufhören, lediglich Uebungsplätze zu sein, die Gefahr der
Verschulung unreifer Köpfe wird von ihnen genommen sein, und sie werden-
endlich zu dem werden, was sie eigentlich sein sollen, Pflanzstätten der echten,
gewissenhaften wissenschaftlichen Forschung und des akademischen Nachwuchses^
Der skizzierte Studienplan stellt an Professoren wie Studenten ausserordentlich
gesteigerte Anforderungen, und doch verlangt er eigentlich nicht mehr, als dass-
jene, unter Verzicht auf die bequemen Collegienhefte, intensiv lehren, diese,,
unter Entsagung auf das semesterweise Nichtsthun, wirklich das thun, was ihre-
Standespflicht gebietet, intensiv lernen. Meine Eeform verfolgt den Zweck, ani
die Stelle des äusseren, immer peinlich wirkenden Zwanges die CoUegien zu
besuchen, die aus der Unterrichtsmethode sich ergebende innere Nothwendigkeit
der CoUegienfrequenz zu setzen. Wenn der Student sieht, dass ihm die für
Prüfung und Leben nothwendigen Dinge an der Universität und nur an dieser,,
und weder in Büchern noch in lithographierten Vorlesungsheften geboten werden,,
wenn er wahrnimmt, dass die Unterrichtsmethode Pausen in der Arbeit nicht
zulässt, diese aber, vom ersten Tage angefangen, anregend und sofort gewinn-
bringend ist, dann wird er das Schwänzen bleiben lassen und einleitende-
Vorträge wie Uebungscollegien genau so fleissig besuchen, wie der Chemiker
sein Laboratorium, der Techniker seinen Constructionssaal. An die Stelle dos
Nichtsthuns mit nachfolgendem sinn- und planlosen Büffeln wird methodische-
Geistesarbeit der sich gegenseitig aneifernden Collogen treten.
36*
524 . Roschmann-Hörburg.
Vom akademischen Lehrer verlangt diese Unterrichtsmethode sein bestes
Können und seine ganze Kraft. Dabei ist die Erweiterung des Lehrstoffes eine
so bedeutende, dass eine Vermehrung der Professuren unabweislich würde. In
den UebungscoUegien sowohl, wie namentlich in den Seminaren gibt es viel
Nebenarbeit nicht streng wissenschaftlicher, oft sogar untergeordneter Art, die
gleichwohl geleistet werden muss. Auch sie dem Professor zuweisen, hiesse von
der Arbeitskraft des Professors einen sehr unökonomischen Gebrauch machen.
Mit der Besorgung dieser Hilfsarbeit betraue man ständige Assistenten. Sie hätten
den wissenschaftlichen Apparat bereitzustellen, in den UebungscoUegien den
Studenten, in den Seminaren den Zöglingen mit technischem Käthe an die Hand
zu gehen etc. Bestimmt wären sie zur Unterstützung des Professors, nie aber
zu seiner Vertretung.
Theorie und Praxis sollen sich gegenseitig corrigieren und fördern. Ich
halte es daher für sehr zweckdienlich, wenn den akademischen Lehrern die
Gelegenheit geboten wird, im Gerichte und in der politischen Verwaltung, ein-
schliesslich des Finanzdienstes, im Nebenamte, sich die oft sehr berichtigenden
und sehr oft anregenden Erfahrungen der Praxis zu erwerben. Ja, ich möchte
diese Nebenverwendung zur ständigen Einrichtung erhoben wissen.
Einer gründlichen und tiefgreifenden Eeform bedarf das Prüfungswesen.
Gerade durch die gegenwärtig und schon seit langer Zeit beliebte Art, die
Prüfungen, Staatsprüfungen, wie Doctoratsprüfungen zu gestalten, werden unsere
Pacultäten immer mehr zu juristischen Fachschulen herabgedrückt. Nur allzuoft
sind die Staatsprüfungen, ja selbst die sogenannten Rigorosen nichts anderes
als Fachprüfungen aus dem positiven Rechte. Das Gesetzeswissen genügt, die
Wissenschaftlichkeit tritt zurück. Das ist eine grundfalsche Auffassung von dem
eigentlichen Zwecke jeder Prüfung. Den Wortlaut dieses oder jenes Paragraphen
kann der Mann der Praxis sofort im Gesetzbuche finden, nur für Eines findet
er keinen Behelf ausser in sich selbst, für das juristische und sociale Denken.
Jede Prüfung, heisse sie wie sie wolle, muss eine Reifeprüfung sein. Ein
Candidat, der eine wichtige Stelle des G aj u s oder der Pandekten scharfsinnig
interpretiert, imponiert mir viel mehr, als einer, der das ganze Schema eines
ganzen Rechtsinstitutes mit allen den schönen Namen der einzelnen Klagen
herunterleiert. Glücklicherweise gibt es im Gebiete der ökonomischen Wissen-
schaften noch keine Paragraphen ! Die Gegenwart schon verlangt vom Juristen
Höheres. Und erst die Zukunft ! Es ist für die Gesellschaft wahrhaftig nicht
gleichgiltig, wess Geistes Kind die sind, denen in der Verwaltung die Durchführung
der Staatsaufgaben in die Hand gelegt oder denen der Schutz der Rechtsgüter
anvertraut wird. Die Staatsprüfungen haben viel weniger eine akademische als
eine gesellschaftliche Function zu erfüllen. Die Maschen des Siebes müssen enger
werden, ja mehr, die Prüfungen müssen nicht nur strenger werden, sie müssen
auch, und zwar vor allem, den Charakter grösserer Wissenschaftlichkeit annehmen.
Gilt diese Forderung schon für die Staatsprüfungen, um wie vieles noth-
wendiger stellt sie sich heraus gegenüber der bei den sogenannten strengen
Doctoratsprüfungen allmählich ganz allgemein geübten Praxis. Das Doctorat ist
nachgerade zur verhöhnenden Farce geworden !
Vorschlag einer Reform der rechts- und staatswissenschaftlichen Studien etc. 525
Das von Gelehrten ausgestellte Zeugnis, dass der Träger des Doctortitels
ein Gelehrter sei, ist allein dieses Titels vernünftiger Sinn und gesellschaftliche
Berechtigung. Sinn und Berechtigung gehen aber sofort verloren, wenn gesell-
schaftliche Rücksichten und nicht einzig und allein das Urtheil der gelehrten
Richter für das Ausmaass der Verleihungen von ausschlaggebender Bedeutung
werden. Das ist aber der Fall, wenn für die Ausübung irgendeines staatlichen
oder gesellschaftlichen Amtes die vorangegangene Erwerbung des Doctorgrades
zur öffentlichrechtlichen Bedingung erhoben wird. Hier entscheidet dann nicht
mehr das Gelehrtenurtheil über die Gelehrtenqualification rein und unbeeinflusst;
die sociale Rücksicht macht sich geltend und verwischt immer mehr den Charakter
des einst stolzen Standeszeugnisses. Wenn man, was wahrhaftig noththut, das
Doctorat reformieren will, so beschränke man sich nicht auf Neuerungen im
formalen Theile, im Modus seiner Erwerbung, sondern man gehe auf das Wesen
der Sache ein, man gebe dem Doctorate seinen inneren Charakter wieder, löse
es los von der Qualification zu Amt und Beruf, und sei es selbst der akademische !
Ist dem Doctorate sein inneres Wesen wiedererstattet, ist es neuerlich zum
Gelehrtenzeugnisse bestimmt, dann ergeben sich die Grundsätze für die Verleihung
aus dem Charakter eines solchen Zeugnisses von selbst. Der Erwerber muss, bei
freier Würdigung der verleihenden Richter, nachweisen, dass er ein Gelehrter sei.
Das innere Kriterium des Gelehrten liegt nun gewiss nicht in der Auf-
speicherung reicher Wissensschätze allein, sondern vornehmlich dazu in der
harmonischen geistigen Zusammenfassung, in jener systematischen Beherrschung
des Gesammtstoifes, die, der allgemeinen Erkenntnislücken klar bewusst geworden,
aus sich selbst heraus ihren Innehaber mit innerer Nothwendigkeit zu eigener
productiver Arbeit antreibt.
Es ist also vom Bewerber um das Doctorat der Beweis jenes harmonisch
zusammenfassenden reichen Wissens und des eigenen productiven Könnens zu
erbringen. Dieser Nachweis ist zu leisten durch eine selbständige Arbeit des
Bewerbers, eine durch ihre Drucklegung der allgemeinen Controle und Kritik
überlieferte Dissertation, und durch eine sehr strenge, echt wissenschaftliche
Prüfung.
Das Gespenst der Dissertationsfabrikanten, das an manchen reichsdeutschen
Hochschulen sein Unwesen treiben soll, schreckt mich ganz und gar nicht. Fallen
die praktischen Vortheile des Doctorates fort, und wird dieser Studienplan und
damit auch die vorgeschlagene Organisation der Seminare zur Wirklichkeit, so
wird die Zahl der Bewerber gar gewaltig sinken. Keine äussere Nothv/endigkeit,
nur mehr innerer Trieb führt dann vor den akademischen Richtertisch. Dort aber
wird so strenge des Amtes gewaltet werden, dass auch der eitelste, gewissenlose
Streber es sich angesichts eines hochnothpeinlichen Prüfungsverfahrens doppelt
und dreifach überlegen wird, sich eines Titels wegen der Gefahr auszusetzen,
von diesem vor ein anderes Forum verwiesen zu werden. Es ist vielmehr zu
erwarten, dass die Dissertationen ganz regelmässig aus den Seminaren hervorgehen
und dadurch ein Zeugnis ihres legitimen Ursprunges besitzen werden. Die ausser-
ordentlich strenge zu gestaltende Prüfung hat, von der Dissertation ausgehend,
deren Vaterschaft sicherzustellen. Formal ist der Vorgang also der gleiche, wie
526 Roschmann-Hörburg.
bei der Habilitation. Während aber bei dieser das Colloquium den Beweis
erbringen soll, dass der Bewerber das Fach, für das er sich zu habilitieren
beabsichtigt, gründlich beherrsche, ist es die Aufgabe des ßigorosums, zu
erweisen, dass der Candidat im ganzen Gebiete der Facultätsdisciplinen gediegenes,
in mindestens einer Disciplin aber geradezu hervorragendes Wissen besitze, dass
er, des inneren Zusammenhanges der einzelnen Fächer und der gegenseitigen
Function zwischen den juristischen und socialpolitischen Disciplinen voll bewusst,
über jene harmonische Schulung verfüge und jene systematische Beherrschung
der Wissenschaft sein Eigen nenne, über die nur der echte Gelehrte verfügt.
Es ist ein wesentlicher und grosser Vorzug der österreichischen vor den
meisten reichsdeutschen Studienordnungen, dass die sogenannten politischen
Disciplinen nicht der philosophischen oder einer staatswirtschaftlichen, sondern
der juristischen Facultät zugewiesen sind. Das ganze Heil und der ganze Fortschritt
der juristischen wie der socialökonomischen Disciplinen liegt in ihrer gegen-
seitigen Durchdringung. Die Socialökonomen und Socialpolitiker bedürfen gar
dringend der juristischen Schulung, die Juristen der socialpolitischen Auffassung:
Das Kecht muss mit socialem Geiste gesättigt werden, für den Socialökonomen
soll die volle Beherrschung des Rechtes das Mittel sein, in allen Gebieten sein
43estes Streben und Können dem realen Fortschritte praktisch dienstbar zu machen.
Jurisprudenz und socialökonomische Wissenschaften sind untrennbar, stellen
diese doch jener in wissenschaftlicher Erfassung, in Gestalt der socialen Massen-
bedürfnisse, die Probleme und Aufgaben. Wenn von irgendjemandem, so muss
man vom Gelehrten verlangen, dass er sich der geistigen Zusammengehörigkeit
beider Gebiete voll bewusst sei. Darum soll es auch nur ein einheitliches
Doctorat geben.
Die zur Nachsicht verleitenden und entwürdigenden Taxbezüge hätten zu
entfallen, dafür sei den Facultäten und Universitäten das Recht eingeräumt, die
sittliche Würdigkeit desjenigen, dem sie den akademischen Adelsbrief verleihen
sollen, oder verliehen haben, ihrer freien Würdigung zu unterziehen und bei
Mangel an Würdigkeit den Doctortitel zu verweigern oder zu entziehen.
ENTWURF EINES GESETZES, WOMIT EINE
SEEMANNSORDNUNG FÜR DIE ÖSTERREICHISCHE
HANDELSMARINE ERLASSEN WIRD.')
(NACH DEN BESCHLÜSSEN DES HERRENHAUSES.)
I. Abschnitt. Einleitende Bestimmungen.
§ 1.
Die Vorschriften dieses Gesetzes finden auf alle österreichischen Seehandels-
schiffe Anwendung.
§ 2.
Schiffer im Sinne dieses Gesetzes ist der Führer des Schiffes, in Erman-
gelung oder Verhinderung desselben sein Stellvertreter.
§ 3.
Seemannsämter im Sinne dieses Gesetzes sind im Inlande die Hafenämter,
im Auslande die Seeconsularämter.
§ 4.
Im Sinne dieses Gesetzes gehören zur Schiffsmannschaft mit Ausschluss
des Schiffers auch die Schiffsofficiere, die Schiffsunterofficiere und alle übrigen
Personen, welche nach § 26 des Gesetzes vom 7. Mai 1879 über die Registrierung
der Seehandelsschiffe, R.-G.-Bl. Nr. 65, in der Musterrolle zu verzeichnen sind
II. Abschnitt. Befähigungder Seeleute
§ 6.
Zur Erlangung der Eigenschaft als Cadet ist die mit Erfolg abgelegte
Schlussprüfung an einer zur Ausstellung staatsgiltiger Zeugnisse berechtigten
nautischen Schule erforderlich.
§ 7.
Für die Erlangung der Eigenschaft als Schiffer der kleinen Küstenfahrt
■wird erfordert: a) Ein Lebensalter von mindestens 20 Jahren; b) ein wenigstens
^) In Ergänzung des in dem vorigen Hefte enthaltenen Artikels von Millanich
ist hier der wesentliche Inhalt des Gesetzes wiedergegeben.
528 Entwurf eines Gesetzes, womit eine Seemannsordnung etc.
dreijähriger Dienst auf Seeschiffen; c) die mit Erfolg abgelegte Prüfung für
Schiffer der kleinen Kästenfahrt.
Für die Erlangung der Eigenschaft als Schiffer der grossen Küstenfahrt
wird erfordert: a) Ein Lebensalter von mindestens 20 Jahren; h) ein wenigstens
36monatlicher Dienst in Seefahrt. Jene Seeleute, welche an einer zur Ausstellung
staatsgiltiger Zeugnisse berechtigten nautischen Schule die Schlussprüfung mit
Erfolg abgelegt haben, brauchen nur einen 24monatlichen Dienst in Seefahrt
nachzuweisen; c) die mit Erfolg abgelegte Prüfung für Schiffer der grossen
Küstenfahrt. Dem Schiffer der grossen Küstenfahrt steht die Führung von Segel-
schiffen der grossen und der kleinen Küstenfahrt, von Dampfern dieser Kategorie
jedoch nur dann zu, wenn er auch die Prüfung aus der Schiffsmaschinenkunde
mit Erfolg abgelegt hat
§ 9.
Für die Erlangung der Eigenschaft als Steuermann wird erfordert: a) Ein
Lebensalter von mindestens 19 Jahren; h) der Nachweis über die an einer zur
Ausstellung staatsgiltiger Zeugnisse berechtigten nautischen Schule mit Erfolg
abgelegte Schlussprüfung; c) ein wenigstens 18monatlicher Dienst in Seefahrt
nach Ablegung der unter h) erwähnten Prüfung; d) die mit Erfolg abgelegte
Steuermannsprüfung. Dem Steuermanne steht die zeitweilige Vertretung des Schiffers
der weiten Fahrt und, sobald er das 20. Lebensjahr zurückgelegt hat, auch die
Führung von Schiffen der grossen und der kleinen Küstenfahrt zu.
§ 10.
Für die Erlangung der Eigenschaft als Schiffer der weiten Fahrt wird
erfordert: a) Ein Lebensalter von mindestens 22 Jahren; h) ein wenigstens lömonat-
licher Dienst in Seefahrt als Steuermann oder als Schiffer der grossen Küsten-
fahrt; e) die den diesfalls geltenden Vorschriften entsprechende Führung eines
Particularjournals durch wenigstens ein Jahr der Dienstzeit als Steuermann, oder
bei Schiffern der grossen Küstenfahrt der Nachweis, durch wenigstens ein Jahr
das Schiffstagebuch persönlich und regelrecht geführt zu haben, und die Bei-
bringung der für das Particularjournal der Steuermänner vorgeschriebenen Rech-
nungen; d) die mit Erfolg abgelegte Prüfung für Schiffer der weiten Fahrt.
Schiffer der grossen Küstenfahrt müssen, um zu dieser Prüfung zugelassen zu
werden, dem Erfordernisse des § 9 lit. b) entsprochen haben. Dem Schiffer der
weiten Fahrt steht die Führung von Seeschiffen jeder Kategorie zu.
§ 11.
Als Schiffsarzt kann nur derjenige bedienstet werden, welcher im Inlande
zur Ausübung der ärztlichen Praxis berechtigt ist. Im Falle dringenden Bedarfes
kann jedoch im Auslande ein anderer zur Ausübung der Praxis befugter Arzt,
zeitweilig, gegen nachträgliche Rechtfertigung beim nächsten Seem^nnsamte, in
Verwendung genommen werden.
^
Entwurf eines Gesetzes, womit eine Seemannsordnang etc. 529
§ 12.
Für die Erlangung der Eigenschaft als Schiffsmaschinist wird erfordert:
a) Ein Lebensalter von mindestens 20 Jahren; h) eine wenigstens einjährige
•Verwendung bei der Wartung von im Betriebe befindlichen Schiffsdampfmaschinen,
und c) die mit Erfolg abgelegte Prüfung für Schiffsmaschinisten. Wer als erster
Maschinist auf Dampfern angemustert werden will, muss wenigstens zwei Jahre
Dienste als Maschinist auf entsprechenden Dampfern geleistet haben.
§ 13.
Für die Erlangung der Eigenschaft als Bootsmann wird erfordert: a) Ein
wenigstens dreijähriger Dienst auf Seeschiffen ; b) die mit Erfolg abgelegte Prüfung
für Bootsraänner.
§ U.
Für die Erlangung der Eigenschaft als Maschinenwärter wird gefordert:
a) Eine wenigstens zweijährige Dienstleistung in einer Maschinonwerkstätte; b) eine
wenigstens sechsmonatliche Praxis bei im Betriebe befindlichen Schiffsmaschinen;
c) die mit Erfolg abgelegte Prüfung für Maschinenwärter
§ 16.
Oesterreichische Seeleute dürfen auf österreichischen Seehandelsschiffen in
keiner höheren Eigenschaft angemustert werden, als diejenige ist, über deren
Erlangung sie sich nach Vorschrift dieses Gesetzes auszuweisen vermögen. Die
Eigenschaft als Schiffer der kleinen oder der grossen Küstenfahrt, als Steuermann
oder als Schiffer der weiten Fahrt kann nur Oesterreichern zuerkannt werden.
§ 17.
Die Zuerkennung einer der im § 5 bezeichneten ßangseigenschaften kann
einem Seemanne verweigert werden, wenn derselbe wegen eines Verbrechens, eines
Vergehens oder einer Uebertretung rechtskräftig verurtheilt wurde und sich aus
dem Thatbestande der strafbaren Handlung begründete Zweifel rücksichtlich der
Fachkenntnisse oder der Vertrauenswürdigkeit desselben ergeben. Die Zulässigkeit
dieser Verweigerung ist jedoch bei Uebertretungen auf die Dauer von 6 Monaten,
vom Zeitpunkte der überstandenen Strafe an gerechnet, beschränkt. Wenn gegen
einen Seemann eine strafgerichtliche Untersuchung wegen Verbrechens oder Ver-
gehens anhängig oder eine strafgerichtliche Verhandlung wegen einer Uebertretung
angeordnet ist, so kann demselben die Zuerkennung der im § 5 angeführten
Eangseigenschaften bis zum rechtskräftigen strafgerichtlichen Erkenntnisse verweigert
und die weitere Entscheidung von dem letzteren abhängig gemacht werden.
III. Abschnitt. Seedienstbücher und Musterung.
§ 18.
Kein österreichischer Staatsangehöriger darf als Schiffsmann in Dienst treten,
bevor er nicht von dem zuständigen Hafenamte (§ 22) ein Seedienstbuch aus-
gefertigt erhalten hat. Kein österreichischer Staatsangehöriger darf vor vollendetem
530 Entwurf eines Gesetzes, womit eine Seeniannsorduung etc.
zwölften Lebensjahre, ein Minderjähriger nicht ohne väterliche oder vormund-
schaftliche Genehmigung zur Uebernahme von Schiffsdiensten zugelassen werden.
Das Seedienstbuch, welches zugleich als Reisepass dient, ist bezüglich seiner
Giltigkeitsdauer, dann der Kategorie und Nationalität der Schiffe, für welche die
Verheuerung gestattet ist, genau innerhalb der Grenzen auszustellen, welche die
zuständige politische Behörde mit Rücksicht auf die Schulpflicht, die Militär-
verhältnisse und etwaige andere Umstände für den betreffenden Schiffsmann vor-
zeichnet
§ 20.
Wer bereits ein Seedienstbuch ausgefertigt erhalten hat, muss behufs
Erlangung eines neuen Seedienstbuches das ältere vorlegen oder den Verlust des-
selben glaubhaft machen. Dass dies geschehen, wird von dem Seemannsamte; in
dem neuen Seedienstbuche bemerkt. Wird der Verlust glaubhaft gemacht, so ist
in dieser Anmerkung zugleich eine Bescheinigung des Seemannsamtes über die
früheren Rang- und Dienstverhältnisse, sowie über die Dauer der Dienstzeit,
insoweit der Schiffsmann sich hierüber genügend ausweist, beizufügen.
§ 21.
Wer nach Inhalt seines Seedienstbuches angemustert ist, darf nicht von
neuem angemustert werden, bevor er sich über die Beendigung des früheren
Dienstverhältnisses durch die in das Seedienstbuch einzutragende Anmerkung
(§§ 33, 35) ausgewiesen hat. In Ermangelung eines solchen Nachweises
genügt, sobald die Beendigung des Dienstverhältnisses auf andere Art glaubhaft
gemacht ist, eine vom Seemannsamte hierüber einzutragende Anmerkung im See-
dienstbuche
§ 23.
Der Schiffer hat die Musterung (Anmusterung, Abmusterung) der Schiffs-
mannschaft nach Maassgabe der folgenden Bestimmungen (§§ 24 bis 35) zu
veranlassen. Der Schiffsmann hat sich, wenn nicht ein unabwendbares Hindernis
entgegensteht, zur Musterung zu stellen.
§ 24.
Die Anmusterung besteht in der Verlautbarung des mit dem Schiffsmanne
geschlossenen Heuervertrages vor einem Seemannsamte. Sie muss unter Vorlegung
der Seedienstbücher für die in inländischen Häfen liegenden Schiffe vor Antritt
oder Fortsetzung der Reise, für andere Schiffe, sobald ein Seemannsamt angegangen
werden kann, erfolgen.
§ 25.
lieber die geschehene Anmusterungsverhandlung wird vom Seemannsamte
die Musterrolle ausgefertigt. Die Musterrolle muss enthalten: Namen und Nationalität
des Schiffes, Namen und Heimatsort des Schiffers, Namen, Heimatsort und
dienstliche Stellung jedes Schiffsmannes (§ 4) sowie die von beiden Theilen
unterzeichneten Bestimmungen des Heuervertrages, einschliesslich etwaiger
besonderer Verabredungen. Insbesondere muss aus der MusteiTolle erhellen, was
Entwurf eines Gesetzes, womit eine Seemannsordnung etc. 531
dem Schiffsmanne an Heuer, sowie für den Tag au Speise und Trank gebürt. Im
übrigen wird die Einrichtung der Musterrolle im Verordnungswege bestimmt
§ 27.
Bei jeder Anmusterung wird vom Seemannsamte hierüber und über die Zeit
des Dienstantrittes eine Anmerkung in das Seedienstbuch jedes Schiffsmannes
eingetragen. Das Seedienstbuch ist hierauf vom Schiffer für die Dauer des
Dienstverhältnisses in Verwahrung zu nehmen
§ 28.
Wenn ein angemusterter Schiffsmann durch ein unabwendbares Hindernis
ausserstande gesetzt wird, den Dienst anzutreten, so hat er sich hierüber sobald
wie möglich gegen den Schiffer und das Seemannsamt, vor welchem die Musterung
erfolgt ist, auszuweisen.
§ 29.
Die Abmusterung besteht in der Verlautbarung der Beendigung des Dienst-
verhältnisses von Seite des Schiffers und der aus diesem Verhältnisse aus-
scheidenden Mannschaft. Sie muss, sobald das Dienstverhältnis beendigt ist,
erfolgen, und zwar vor dem Seemannsamte desjenigen Hafens, wo das Schiff
liegt. Nach Verlust des Schiffes hat die Abmusterung vor demjenigen Seemannsamte
2;u erfolgen, welches zunächst angegangen werden kann.
§ 30.
Vor der Abmusterung hat der Schiffer dem abzumusternden Schiffsmanne
im Seedienstbuche und, wenn derselbe ein Ausländer ist und als solcher mit
einem Seedienstbuche nicht versehen sein sollte, in einem abgesonderten Zeugnisse
(Dienstzeugnis) die bisherigen Rang- und Dienstverhältnisse und die Dauer der
Dienstzeit zu bescheinigen. Auf Verlangen des Schiffsmannes hat der Schiffer
demselben auch ein besonderes Führungszeugnis kostenfrei zu ertheilen. Das
letztere darf in das Seedienstbuch nicht eingetragen werden
§ 32.
Verweigert der Schiffer die Ausstellung des Führungszeugnisses (§ 30) oder
enthält dasselbe Beschuldigungen, deren Richtigkeit der Schiffsmann bestreitet,
so hat auf Antrag des letzteren das Seemannsamt den Sachverhalt zu unter-
suchen und das Ergebnis der Untersuchung dem Schiffsmanne kosten- und stempel-
frei zu bescheinigen.
§ 33.
Die erfolgte Abmusterung wird vom Seemannsamte in dem Seedienstbuche
des abgemusterten Schiffsmannes, beziehungsweise auf dem Dienstzeugnisse (§ 30)
und in der Musterrolle angemerkt.
§ 34.
Wenn eine neue Masterrolle ausgefertigt wird, so ist die bisherige Muster-
rolle von dem Seemannsamte, welches die neue Musterrolle ausfertigt, zu über-
nehmen und an das Seemannsamt des Heimatshafens des Schiffes zu übersenden.
532 Entwurf eines Gesetzes, womit eine Seemannsordnung etc.
■ § 35.
Wenn der Bestand der Mannschaft Aenderiingen erfährt, bei welchen eine
Musterung (§ 23) nach Maassgabe vorstehender Bestimmungen ohne Verzögerung
der Reise unausführbar ist, so hat der Schiffer diese Veränderung des Mannschafts-
standes sammt Gründen in sein Schiffstagebuch einzutragen, sich über dieselben
wo möglich von der Localbehörde ein Zeugnis zu verschaffen und, sobald ein
Seemannsamt angegangen werden kann, bei demselben unter Darlegung der
Hinderungsgründe die Musterung nachzuholen, oder sofern auch diese nachträg-
liche Musterung nicht mehr möglich ist, den Sachverhalt anzuzeigen. Eine
Anmerkung über die Anzeige ist vom Seemannsamte in die Musterrolle und in
die Seedienstbücher der betheiligten Schiffsleute einzutragen.
IV. Abschnitt. Vertragsverhältnis.
§ 36.
In Beziehung auf die privatrechtlichen Verhältnisse zwischen der Schiffs-
mannschaft, dem Schiffer und Eheder haben, insoweit dieser Abschnitt keine
besonderen Bestimmungen enthält, das Privatseerecht, dann die Seegewohnheiten,
endlich das allgemeine bürgerliche Recht zur Anwendung zu kommen.
§ 37.
Die Giltigkeit des Heuervertrages ist durch schriftliche Abfassung nicht bedingt»
§ 38.
Unter Verheuerung auf die Gesammtreise ist die Verheuerung auf unbestimmte
Daner für alle Fahrten des Schiffes vom Anmusterungshafen bis zurück in
den Ausreisehafen oder in den Heimatshafen zu verstehen. Bei Verheuerung
auf Zeit wird, wofern nicht ein anderes bedungen ist, keine Rücksicht auf die
Richtung der während derselben vorzunehmenden Fahrten genommen. Geschieht
die Verheuerung weder auf eine Gesammtreise noch auf bestimmte Zeit, so hat
aus dem Heuervertrage der Umstand ersichtlich zu sein, bei dessen Eintritt das
Dienstverhältnis gelöst wird.
§ 39.
Wenn ein Schiffsmann sich für eine Zeit verheuert, für die er durch einen
früher geschlossenen Heuervertrag gebunden ist, so hat der Anspruch auf
Erfüllung des zuerst geschlossenen Vertrages den Vorzug. Hat jedoch eine
Anmusterung auf Grund des späteren Vertrages stattgefunden, ohne dass auch
auf Grund des ersten Vertrages angemustert ist, so geht jener vor.
§ 40.
Wird ein Schiffsmann erst nach Anfertigung der Musterrolle geheuert, so
gelten für ihn in Ermangelung anderer Vertragsbestimmungen die nach Inhalt
der Musterrolle mit der übrigen Schiffsmannschaft getroffenen Abreden; insbesondere
kann er nur dieselbe Heuer fordern, welche nach der Musterrolle den übrigen
Schiffsleuten seines Ranges gebärt.
I
Entwurf eines Gesetzes, womit eine Seemannsordnung etc. 533
§ 41.
Die Verpflichtung des Schiffsmannes, mit seinen Effecten sich an Bord
einzufinden und Schiffsdienste zu leisten, beginnt, wenn nicht ein anderes bedungen
ist, mit der Anmusterung. Wenn der Schiffsmann den Dienstantritt irgendwie
verzögert, ist der Schiffer zum Eücktritt von dem Heuervertrage befugt. Die
Ansprüche wegen etwaiger Mehrausgaben für einen Ersatzmann und wegen sonstiger
aus der Verzögerung erwachsener Schäden werden hierdurch nicht berührt.
§ 42.
Den Schiffsmann, welcher nach der Anmusterung dem Antritte oder der
Fortsetzung des Dienstes sich entzieht, kann der Schiffer, sofern er nicht von der
Befugnis des im § 41 demselben vorbehaltenen Rechtes des Rücktrittes vom
Heuervertrage Gebrauch machen will, zur Erfüllung seiner Pflicht durch das
Seemannsamt zwangsweise anhalten lassen. Die daraus erwachsenden Kosten hat
der Schiffsmann zu ersetzen.
§ 43.
Der Schiffsmann ist verpflichtet, in Ansehung des Schiffsdienstes den Anord-
nungen des Schiffers oder seiner sonstigen Vorgesetzten unweigerlich Gehorsam
zu leisten und zu jeder Zeit alle für Schiff und Ladung ihm übertragenen Arbeiten
zu verrichten. Er hat diese Verpflichtung zu erfüllen sowohl an Bord des Schiffes
und in dessen Booten als auch in den Lichterfahrzeugen und auf dem Lande,
sowohl unter gewöhnlichen Umständen, als auch unter Havarie. Ohne Erlaubnis
des Schiffers darf er das Schiff bis zur Abmusterung nicht verlassen. Ist ihm eine
solche Erlaubnis ertheilt, so muss er zur festgesetzten Zeit zurückkehren.
§ 44.
Wenn das Schiff in einem Hafen liegt, so ist der Schiffsmann nicht ver-
pflichtet, länger als zehn Stunden einschliesslich des Wachdienstes täglich zu
arbeiten, wobei jedoch die Zeit für die Rast und die Mahlzeiten in die Arbeitszeit
nicht eingerechnet wird. An Sonntagen ist der Schiffsmann im Hafen nur zu
unaufschiebbaren Arbeiten verpflichtet.
§ 45.
Bei Seegefahr, besonders bei drohendem Schiffbruch, sowie bei Gewalt und
Angriff gegen Schiff oder Ladung hat der Schiffsmann alle befohlene Hilfe zur
Erhaltung von Schiff und Ladung unweigerlich zu leisten, und darf ohne Ein-
willigung des Schiffers, solange dieser selbst an Bord bleibt, das Schiff nicht
verlassen. Er bleibt verbunden, bei Schiffbruch für Rettung der Personen und
ihrer Effecten, sowie für Sicherstellung der Schiffstheile, der Geräthschaften und
der Ladung, den Anordnungen des Schiffers gemäss nach besten Kräften zu
sorgen und bei der Bergung gegen Fortbezug der Heuer und der Verpflegung
Hilfe zu leisten.
§ 46.
Der Schiffsmann ist verpflichtet, auf Verlangen bei der Verklarung mit-
zuwirken und seine Aussage eidlich zu bestärken. Dieser Verpflichtung bat er
534
Entwurf eines Gesetzes, womit eine Seemannsovdnung etc.
gegen Zahlung der etwa erwachsenden Reisekosten und gegen Bezug der zuletzt
genossenen Heuer und Verpflegung während der Zeit seiner Verwendung nach-
zukommen, auch wenn der Heuervertrag infolge eines Verlustes des Schiffes
beendigt ist (§ 69).
§ 47.
Wird nach Antritt der Reise entdeckt, dass der Schiffsmann zu dem Dienste,
zu welchem er sich verheuert hat, untauglich ist, so ist der Schiffer befugt, die
bedungene Heuer verhältnismässig zu verringern. Diese Bestimmung findet auf
die Schiffsofficiere keine Anwendung. Gegen diese Maassregel steht dem Schiffs-
manne die Berufung an das nächste Seemannsarat zu. Macht der Schiffer von
dieser Befugnis Gebrauch, so hat er die getroffene Anordnung dem Betheiligten
zu eröffnen, auch in das Schiffstagebuch einzutragen, dass und wann dies geschehen.
Vor der Eröffnung und Eintragung tritt die Verringerung der Heuer nicht in
Wirksamkeit.
§ 48.
Das Recht des Schiffsmannes auf den Bezug der Heuer beginnt, in Erman-
gelung einer anderweitigen Abrede, vom Zeitpunkte des Dienstantrittes.
§ 49.
Die Heuer ist dem Schiffsmanne, sofern keine andere Vereinbarung getroffen
ist, erst nach Beendigung der Reise oder bei der sonstigen Beendigung des
Dienstverhältnisses zu zahlen. Der Schiffsmann kann jedoch bei Zwischenreisen
schon in dem ersten Hafen, in w^elchem die Ladung ganz oder zum grösseren
Theil gelöscht wird, die Auszahlung der Hälfte der bis dahin verdienten
Heuer (§ 78) verlangen, sofern bereits seclis Monate seit der Anmusterung verflossen
sind. In gleicher Weise ist der Schiffsmann bei Ablauf je weiterer sechs Monate
nach der früheren Auszahlung neuerlich berechtigt, die Auszahlung der Hälfte
der seit der letzten Auszahlung verdienten Heuer zu fordern.
§ 50.
Vor dem Antritte der Reise ist dem Schiffsmanne, wenn nichts anderes
vereinbart worden ist, auf Verlangen eine Vorschusszahlung zu gewähren, lieber
die Höhe derselben entscheidet die darüber getroffene Vereinbarung. Die Vor-
schusszahlung darf jedoch nie in einem höheren als dem folgenden Ausmaasse
geleistet werden: 1. Bei Verheuerung auf Zeit im Betrage des fünften Theiles der
auf die gesammte Heuerzeit entfallenden Heuer. 2. In allen anderen Fällen im
Betrage der zweimonatlichen Heuer, doch darf die Vorschusszahlung nie mehr
als die Hälfte des mit Hinblick auf die voraussichtliche Dauer der Heuerzeit
entfallenden Gesammtheuerbetrages ausmachen. Ist die Vorschusszahlung durch
Vereinbarung nicht ausgeschlossen und über die Höhe derselben eine besondere
Vereinbarung nicht getroffen worden, so hat der Schiffsmann das Recht, den
hier angegebenen gesetzlichen Maximalbetrag des Vorschusses zu verlangen. Auf
die Schiffsofficiere findet diese Bestimmung keine Anwendung.
Entwurf eines Gesetzes, womit eine Seeniannsordnung etc. 535
§ 51.
Alle Zahlungen an Schiffsleute müssen, wenn nicht ein anderes vereinbart
ist, bar und wenn sie in einer bestimmten Münzsorte oder Währung bedungen
wurden, in dieser geleistet v/erden
§ 54.
In allen Fällen, in welchen ein Schiff länger als zwei Jahre auswärts
verweilt, tritt in Ermangelung einer anderweitigen Abrede für den seit zwei
Jahren in Dienst befindlichen Schiffsmann eine Erhöhung der Heuer ein, ^wenn
diese nach der Zeit bedungen ist. Diese Erhöhung beträgt in Ermangelung einer
anderweitigen Abrede 25 Proc. der im Heuervertrage bestimmten Heuer.
§ 55.
Dem Schifismanne gebürt Beköstigung für Eechnung des Schiffes von dem
Zeitpunkte des Dienstantrittes an. Er darf die verabreichten Speisen und Getränke
nur zu seinem eigenen Bedarfe verwenden und nichts davon veräussern, vergeuden
oder sonst beiseite bringen.
§ 56.
Die Schiffsmannschaft hat an Bord des Schiffes Anspruch auf einen ihrer
Zahl und der Grösse des Schiffes entsprechenden, nur für sie und ihre Effecten
bestimmten wohlverwahrten und genügend zu lüftenden Unterkunftsraum. Kann
dem Schiffsmanne infolge eines Unfalls oder aus anderen Gründen zeitweilig ein
Unterkommen auf dem Schiffe nicht gewährt werden, so ist ihm ein anderweitiges^
angemessenes Unterkommen zu verschaffen.
§ 57.
Die dem Schiffsmanne für den Tag mindestens zu verabreichenden Speisen
und Getränke (§ 55), die Grösse und die Einrichtung des Unterkunftsraumes
(§ 56) und die mindestens mitzunehmenden Heilmittel werden im Verordnungs-
wege bestimmt.
§ 58.
Der Schiffer ist berechtigt, bei ungewöhnlich langer Dauer der Reise oder wegen
eingetretener Unfälle eine Kürzung der Rationen oder eine Aenderung hinsichtlich
der Wahl der Speisen und Getränke eintreten zu lassen. Das hiedurch eventuell
erzielte Ersparnis ist unter die Schiffsmannschaft gleichmässig zu vertheilen ....
§ 59.
Wenn die Mehrheit der Schiffsbemannung bei einem Seemannsamte Beschwerde
darüber erhebt, dass das Schiff, für welches sie angemustert ist, nicht seetüchtig
sei, oder wenn ein Drittheil der Mannschaft in derselben Weise Beschwerde
führt, dass die Vorräthe, welche das Schiff für den Bedarf der Mannschaft an
Speisen und Getränken mit sich führt, ungenügend oder verdorben seien, so hat
das Seemannsamt eine Untersuchung des Schiffes, beziehungsweise der Vorräthe
zu veranlassen und deren Ergebnis in das Schiffstagebuch einzutragen. Auch hat
dasselbe, falls die Beschwerde sich als begründet erweist, für die geeignete-
Abhilfe Sorge zu tragen.
536 Entwurf eines Gesetzes, womit eine Seemannsordnung etc.
§ ÖO.
Falls der Schiifsmaiin nach Antritt des Dienstes erkrankt ist oder eine
Verletzung erlitten hat, so trägt der Rheder die Kosten der Verpflegung
und Heilung: 1, Wenn der Schiffsmann wegen Krankheit oder Verletzung
die Eeise nicht antritt, bis zum Ablauf eines Monates seit der Erkrankung oder
Verletzung. 2. Wenn er die Reise antritt und mit dem Schiffe nach einem
inländischen Hafen zurückkehrt, bis zum Ablauf von drei Monaten seit der Rück-
kehr des Schiffes. 3. Wenn er die Reise antritt und mit dem Schiffe zurückkehrt,
die Rückreise des Schiffes jedoch nicht in einem inländischen Hafen endet, bis
zum Ablauf von sechs Monaten seit der Rückkehr des Schiffes. 4. Wenn er
während der Reise auf dem Lande zurückgelassen werden musste, bis zum
Ablaufe von sechs Monaten seit der Weiterreise des Schiffes. Auch gebürt dem
Schiffsmanne, falls er nicht mit dem Schiffe nach dem Hafen, in welchem er
angemustert wurde oder nach dem Heimatshafen des Schiffes zurückkehrt, nach Wahl
des Schiffers freie Zurückbeförderung nach einem dieser Häfen unter sinngemässer
Anwendung der §§ 76, 77. Der Schiffer hat den für die Kosten der Verpflegung,
Heilung und etwaigen Zurückbeförderung entfallenden Betrag beim Seemannsamte,
oder, wenn ein solches in dem betreffenden Hafen sich nicht befindet, in anderer
sicherer Weise zu hinterlegen.
§ 61.
Die Heuer bezieht der erkrankte oder verletzte Schiffsmann: Wenn er
die Reise nicht antritt, bis zur Einstellung des Dienstes; wenn er die Reise
antritt und mit dem Schiffe zurückkehrt, bis zur Beendigung der Rückreise;
wenn er während der Reise auf dem Lande zurückgelassen werden musste, bis
zu dem Tage, an welchem er das Schiff verlässt. Ist der Schiffsmann bei der
Vertheidigung des Schiffes in Kriegsgefahr oder gegen Seeräuber beschädigt, so
hat er überdies an eine angemessene Belohnung Anspruch, über welche unter
Vorbehalt des Rechtsweges das Seemannsamt entscheidet
§ 63.
Auf den Schiffsmann, welcher sich die Krankheit oder Verletzung durch
eine gesetzlich untersagte Handlung oder absichtlich zugezogen hat, finden die
§§ 60 und 61 keine Anwendung. Hiedurch wird aber der Anspruch auf die
verdiente Heuer nicht berührt (§ 78).
§ 64.
Stirbt der Schiffsmann nach Antritt des Dienstes, so gebürt seinen
Erben die verdiente Heuer (§ 78), wofern er das Schiff nicht verlassen hat,
bis zum Todestage, wenn er aber auf dem Lande zurückgelassen werden musste,
bis zu dem Tage, an welchem er das Schiff verlassen hat. Die Bestattungskosten
sind vom Rheder zu tragen. Wird der Schiffsmann bei Vertheidigung des Schiffes
in Kriegsgefahr oder gegen Seeräuber getödtet, so hat der Rheder überdies
seinen Erben eine angemessene Entschädigung zu entrichten, welche unter Vor-
behalt des Rechtsweges das Seemannsamt bestimmt
^
Entwurf eines Gesetzes, womit eine Seeinannsordnung etc 537
§ 67.
Endet bei 'einer Verheuerung auf die Gesammtreise die Rückreise nicht in
dem Hafen, von welchem das Schiff seine Ausreise angetreten hat, oder in dem
Heimatshafen, so hat der Schiffsmann, wenn nicht eine andere Vereinbarung
vorliegt, Anspruch auf freie Zurückbeförderung je nach Wahl des Schiffers nach
«inem dieser Häfen (§§ 76, 77) und auf Fortbezug der Heuer während der Eeise.
§ 68.
Nach beendigter Reise kann der Schiffsmann, möge er auf Gesammtreise-
oder auf Zeit verheuert sein, seine Entlassung nicht früher verlangen, als bis
das Schiff vertäut, die Ladung gelöscht, das Schiff gereinigt und auch die etwa
erforderliche Verklarung abgelegt ist. Ist der auf Zeit abgeschlossene Heuer-
vertrag während der Reise abgelaufen, so kann der Schiffsmann in dem nächsten
Hafen seine Entlassung fordern, sofern derselbe nicht lediglich wegen höherer
Gewalt oder um Ordre einzuholen angelaufen wurde, und sobald die im voran-
stehenden Absätze festgesetzten Bedingungen erfüllt worden sind. Falls der Heuer-
vertrag zu einer Zeit endigt, wo das Schiff in einem Hafen liegt, in welchem
laut Bescheinigung des Seemannsamtes oder, in Ermangelung eines solchen, der
Localbehörde, es dem Schiffer unmöglich ist, neue Mannschaft anzuheuern, ist
der Schiffsmann verpflichtet, gegen eine 25procentige oder, falls die ortsüblichen
Heuersätze höher sind, eine denselben gleichkommende Erhöhung seiner bisherigen
Heuer den Dienst weiter bis zu jenem Hafen zu versehen, in welchem die erwähnte
Unmöglichkeit aufhört. Eine solche Erstreckung der Dienstzeit darf jedoch drei
Monate keinesfalls übersteigen.
§ 69.
Der Heuervertrag endet, wenn das Schiff durch einen Zufall dem Rheder
verloren geht; insbesondere wenn es verunglückt; wenn es als reparaturunfähig
oder reparaturunwürdig condemniert wird; wenn es geraubt wird; wenn es auf-
gebracht oder angehalten und für gute Prise erklärt wird. Dem Schiffsmanne
gebürt alsdann nicht allein die verdiente Heuer (§ 78), sondern auch nach Wahl
des Schiffers freie Zurückbeförderung (§§ 76, 77) nach dem Ausreise- oder
Heimatshafen.
§ 70.
Der Schiffer kann den Schiffsmann, abgesehen von den in dem Heuer-
vertrage bestimmten Fällen, vor Ablauf der Dienstzeit entlassen: 1. Solange die
Reise noch nicht angetreten ist, wenn der Schiffsmann zu dem Dienste, zu
welchem er sich verheuert hat, untauglich ist; 2. wenn der Schiffsmann eines
groben Dienstvergehens, insbesondere des wiederholten Ungehorsams, der fort-
gesetzten Widerspenstigkeit oder der Schmuggelei sich schuldig macht; 3. wenn
der Schiffsmann sich eines Verbrechens oder einer aus Gewinnsucht begangenen
strafbaren Handlung schuldig macht; 4. wenn sich der Schiffsmann durch eine
gesetzlich untersagte Handlung oder absichtlich eine Krankheit oder Verletzung
zuzieht, welche ihn arbeitsunfähig macht; 5. wenn die Reise, für welche der
Schiffsmann geheuert war, wegen Krieg, Embargo oder Blockade oder wegen
eines Ausfuhr- oder Einfuhrverbots oder wegen eines anderen, Schiff oder Ladung
Zeilschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. X. Band. 37
538 Entwurf eines Gesetzes, womit eine Seemannsordnung etc.
betreffenden Zufalls nicht angetreten oder fortgesetzt werden kann. Die Entlassung^
sowie der Grund derselben muss dem Scbiffsnianne angezeigt und in den Fällen
der Ziffern 2 bis 5 in das Schiffstagebuch eingetragen werden.
§ 71.
Dem Schiffsmanne gebürt in den Fällen der Ziffern 1 bis 4 des § 70
nicht mehr als die verdiente Heuer (§ 78), in den Fällen der Ziffer 5 hat er,
wenn er nach Antritt der Reise entlassen wird, Anspruch nicht allein auf die
verdiente Heuer, sondern auch auf freie Zurückbeforderung (§§ 76, 77), je nach
Wahl des Schiffers, nach dem Ausreise- oder Heimatshafen.
§ 72.
Der Schiffsmann, welcher aus anderen als den im § 70 erwähnten Gründen
vor Ablauf des Heuervertrages entlassen wird, behält, wenn die Entlassung vor
Antritt der Reise erfolgt, als Entschädigung die etwa empfangenen Hand- und
"Vorschussgelder, soweit dieselben den vertragsmässigen oder gesetzlich zulässigen
Betrag nicht übersteigen. Sind Hand- und Vorschussgelder nicht gezahlt, so
erhält er als Entschädigung jenen Betrag, welcher der im § 50 festgesetzten
Maximalhöhe der Vorschüsse gleichkommt. Ist die Entlassung erst nach Antritt
der Reise erfolgt, so hat er Anspruch auf freie Zurückbeforderung (§§ 76, 77)
nach dem Ausreise- oder Heimatshafen nach seiner Wahl. Auch erhält der
Schiffsmann ausser der verdienten Heuer (§ 78) noch die Heuer für zwei oder
vier Monate, je nachdem er in einem europäischen oder in einem nicht europäischen
Hafen entlassen ist, jedoch nicht mehr, als er erhalten haben würde, wenn er erst
nach Beendigung der Reise entlassen worden wäre. Den europäischen Häfen sind
die nicht europäischen Häfen des Mittelländischen und des Schwarzen Meeres,
dann die Häfen des Suezcanales und des Rothen Meeres gleichzustellen.
§ 73.
Der Schiffsmann kann seine Entlassung fordern: 1. Wenn sich der Schiffer
ihm gegenüber einer schweren Verletzung seiner Pflichten, insbesondere durch
Misshandlung oder durch grundlose Vorenthaltung von Speise und Trank
schuldig macht; 2. wenn das Schiff die Flagge wechselt; 3. wenn bei einer Ver-
heuerung auf die Gesammtreise nach Beendigung der Ausreise eine Zwischenreise
beschlossen oder wenn eine Zwischenreise beendigt ist, sofern seit dem Dienst-
antritte zwei Jahre verflossen sind, jedoch nur in dem Falle, als die Rückreise
noch nicht angeordnet wäre. Der Wechsel des Rheders oder Schiffers gibt dem
Schiffmanne kein Recht, die Entlassung zu fordern
§ 75.
Im Auslande darf der Schiffsmann, welcher auf Grund der Bestimmungen
des § 73 seine Entlassung fordert, ausser in dem Falle eines Flaggenwechsels
nicht ohne Genehmigung eines Seemannsamtes (§ 81) den Dienst verlassen. Ist
der Schiffsmann mit der Zurücklassung einverstanden und lässt sich eine Genehmigung-
hierzu seitens des Seemannsamtes ohne Verzögerung der Reise nicht einholen, so
ist der Schiffer befugt, den Schiffsmann ohne diese Genehmigung zu entlassen.
Entwurf eines Gesetzes, womit eine Seemannsorduung etch 539
§ 76.
Wenn nach den Bestimmungen dieses Gesetzes ein Anspruch auf freie
Zurückbeförderung begründet ist, so umfasst derselbe auch den Unterhalt während
der Reise.
§ 77.
Dem Ansprüche auf freie Zurückbeförderung wird genügt, wenn dem Schiffs-
raanne, welcher arbeitsfähig ist, mit Genehmigung des Seemannsamtes ein seiner
früheren Stellung entsprechender und durch angemessene Heuer zu vergütender
Dienst auf einem inländischen Handelsschiffe verschafft wird, welches nach dem
Heimatshafen, nach dem Hafen, von welchem das Schiff seine Ausreise angetreten
hat, oder nach einem diesen Häfen nahe gelegenen Hafen geht. Wird der
Schiffsmann in einem anderen Hafen, als jenem ausgeschifft, in den er zurück-
befördert werden soll, so gebürt ihm für den Eest der Reise eine entsprechende
Vergütung. Ist der Schiffsmann kein Oesterreicher, so wird ein Schiff seiner
Nationalität einem inländischen Schiffe gleichgeachtet und der Schiffsmann hat,
woferne keine andere Vereinbarung erzielt wird, den Anspruch auf die Rück-
beförderung in den Ausreisehafen.
§ 78.
In den Fällen der §§ 49, 63, 64, 69, 71, 72 und 74 wird die verdiente-
Heuer, sofern die Heuer nicht zeitweise, sondern in Bausch und Bogen für die
ganze Reise bedungen ist, mit Rücksicht auf den vollen Heuerbetrag nach Ver-
hältnis der geleisteten Dienste sowie des etwa zurückgelegten Theiles der Reise
bestimmt. Zur Ermittelung der im § 72 erwähnten Heuer für einzelne Monate
wird die durchschnittliche Dauer der Reise einschliesslich der Ladungs- und
Löschungszeit unter Berücksichtigung der Beschaffenheit des Schiffes in Ansatz,
gebracht und danach die Heuer für die einzelnen Monate berechnet.
§ 79.
Insoweit über den Anspruch, welcher dem Schiffsmanne gegen den Schiffer
nach diesem Gesetze zusteht, zwischen denselben eine Vereinbarung nicht zustande
kommt, hat der Schiffer den streitigen Betrag bei dem nächsten Seemannsamte
in der von demselben bestimmten Höhe zum Zwecke des weiteren gesetzlichen
Verfahrens zu erlegen.
§ 80.
Der dem Schiffsmanne als Lohn zugestandene Theil an der Fracht oder am
Gewinn wird als Heuer im Sinne dieses Gesetzes nicht angesehen.
§ 81.
Der Schiffer darf einen Schiffsmann im Auslande während des Bestandes
des Heuervertrages nicht ohne Genehmigung des Seemannsamtes zurücklassen^^
Wenn für den Fall der Zurücklassung eine Hilfsbedürftigkeit des Schiffsmanne»
zu besorgen ist, so kann die Erth eilung der Genehmigung davon abhängig
gemacht werden, dass der Schiffer gegen den Eintritt der Hilfsbedürftigkeit für
einen Zeitraum bis zu drei Monaten Sicherstellung leistet. Die Bestimmungen des-
§ 131 werden hierdurch nicht berührt.
37*
540 Entwurf eines Gesetzes, womit eine Seemannsordnung etc.
V. Abschnitt. Verpflichtung zur Mitnahme hilfsbedürftiger
Seeleute.
§ 82.
Jedes österreichische Seehandelsschiflf, welches aus einem ausländischen
Hafen nach einem inländischen bestimmt ist, ist verpflichtet, inländische Seeleute,
welche im Auslande in hilfsbedürftigem Zustande sich befinden, behufs ihrer
Zurückbeförderung in das Inland auf schriftliche Anweisung des Seemannsamtes
gegen eine im Verordnungswege festzustellende Entschädigung nach seinem
Bestimmungshafen mitzunehmen. Dieselbe Verpflichtung gilt für österreichische
Seehandelsschiff'e, welche zwar nach einem ausländischen Hafen bestimmt sind,
von dem jedoch die weitere Rückkehr des hilfsbedürftigen Seemannes erleichtert
wird. Zur Erfüllung dieser Verpflichtungen kann der Schiffer vom Seemannsamte
zwangsweise angehalten werden
§ 84..
Die Mitnahme kann verweigert werden: 1. Wenn und soweit an Bord kein
angemessener Platz für die Mitzunehmenden vorhanden oder die Beschaffung des
erforderlichen Proviantes unmöglich ist; 2. wenn der Mitzunehmende bettlägerig
oder mit einer die Gesundheit oder Sicherheit der Mannschaft gefährdenden
Krankheit behaftet ist; 3. wenn und soweit die Zahl der Mitzunehmenden ein
Vierttheil der Schiffsmannschaft übersteigt; 4. wenn die Anweisung des Seemanns-
amtes zur Mitnahme bei Segelschiffen nicht mindestens zwei Tage, bei Dampfern
nicht mindestens zwei Stunden vor dem Zeitpunkte erfolgt, an welchem das Schiff
zum Abgehen fertig ist. Die Entscheidung über den Grund der Weigerung steht
dem Seemannsamte zu.
§ 85.
Während der Eeise erhält der Mitgenommene Kost und Unterkunft von
Seite des Schiffers. Er ist der Disciplinargewalt des Schiffers unterworfen.
§ 86.
Die Auszahlung der Entschädigung erfolgt im Bestimmungshafen durch
das Seemannsamt gegen Auslieferung der wegen der Mitnahme ertheilten An-
weisung (§ 82).
§ 87.
Der Mitgenommene haftet für die durch die Zurückbeförderung verursachten
Auslagen. Die Vorschriften, welche den Eheder oder andere Personen zur Erstattung
solcher Auslagen verpflichten, w^erden durch dieses Gesetz nicht berührt.
VI. Abschnitt. S c h i f f s d i s c i p 1 i n.
§ 88.
Der Schiffsmann ist der Disciplinargewalt des Schiffers unterworfen. Dieselbe
beginnt mit dem Antritte des Dienstes und erlischt mit dessen Beendigung. . . .
m
Entwurf eines Gesetzes, womit eine Seemannsordnung etc. 541
§ 94.
Als Disciplinarvergehen der Schiffsmannschaft werden insbesondere angesehen :
Nachlässigkeit im Dienste; Ungehorsam gegen den Dienstbefehl eines Vorgesetzten;
ungebürliches Betragen gegen Vorgesetzte, gegen andere Mitglieder der Schiffs-
mannschaft oder gegen Eeisende; Verlassen des Schiffes ohne Erlaubnis oder
Ausbleiben über die festgesetzte Zeit; Wegbringen, wegbringen lassen eigener
oder fremder Sachen von Bord oder an Bord bringen oder an Bord bringen
lassen von Gütern oder sonstigen Gegenständen ohne Erlaubnis; eigenmächtige
Zulassung fremder Personen an Bord und Gestattung des Anlegens von Fahrzeugen
an das Schiff; Trunkenheit im Schiffsdienste; Unvorsichtigkeit mit Feuer und
Licht; Vergeudung, unbefugte Veräusserung oder Beiseitebringen von Proviant.
§ 95.
Der Schiffer kann als Disciplinarstrafe über die Schiffsmannschaft mit
Ausschluss der Schiffsofficiere und Schiffsunterofficiere verhängen: 1. Massige
Erschwerung des Dienstes; 2. Geldbusse bis zum Betrage von einer Monatsheuer
und im Falle der Wiederholung bis zu zwei Monatsheuern (§ 78).
§ 96.
Ueber die Schiffsofficiere und Schiffsunterofficiere kann der Schiffer als
Disciplinarstrafe verhängen: 1. Bordarrest bis zu acht Tagen; 2. Cabinenarrest
bis zu vier Tagen; 3. Geldbusse bis zum Betrage von einer Monatsheuer und
im Falle der Wiederholung bis zu zwei Monatsheuern (§ 78)
VII. Abschnitt. Strafgewalt der Seemanns ämter
VIII. Abschnitt. Seereate
IX. Abschnitt. Verfahren
X. Abschnitt. Schlussbestim raun gen.
§ 140.
Ein Exemplar dieses Gesetzes sowie der über Kost und Unterkunft im
Mannschaftsraume geltenden Vorschriften (§ 57) muss der Schiffsmannschaft und
den Passagieren jederzeit zugänglich sein
NOCH EIN WORT ÜBER DIE THEORETISCHEN
GRUNDLAGEN DER DOPPELTEN BUCHHALTUNG.
VON
DR- EICHARD REISCH UND DR- J. C. KREIBIG.
I.
llerr Professor S e i d 1 e r hat an zwei Stellen des laufenden Bandes dieser
"Zeitschrift (I, S. 52 S. und III, S. 325 ff.) Gelegenheit genommen, unserem
Buche „Bilanz und Steuer" zwar im allgemeinen dankenswertes Wohlwollen
entgegenzubringen, gleichzeitig aber den Vorwurf zu machen, dass dasselbe
der Theorie nicht die gebärende Beachtung schenke und auch auf nur mangel-
haften theoretischen Grundlagen beruhe; demnach hat Herr Professor Seidler
seinerseits unternommen, „die Einrichtungen der doppelten Buchhaltung überall
auf ihre letzten Gründe zurückzuführen, um hierdurch ein sicheres Fundament
zu schaffen, auf dem die praktische Lehre in leicht fasslicher Weise aufgebaut
werden kann'^
Ersteren Vorwurf hätten wir vielleicht unschwer schweigend ertragen: Der
Vorwurf richtet formell seine Spitze weniger gegen den Inhalt, als gegen die
Verwertung der „Theorie* in unserer Darstellung, berührt sohin weniger
das buchhalterische, als das methodologische oder doch pädagogische Gebiet, auf
welches hier einzugehen wohl nicht der Platz ist; weiter wird aber auch gar
nicht der Versuch unternommen, darzulegen, warum die von uns consequent
durchgeführte, in Deutschland und in der Schweiz geradezu schon allgemein
anerkannte Theorie der doppelten Contenreihen eine unrichtige sei; endlich wird
dieser Vorwurf ja nicht uns allein, sondern der gesammten, so umfangreichen
buchhalterischen Literatur gemacht, welcher schlankweg eröffnet wird, dass es
ihr „bisher nicht gelungen ist, eine befriedigende theoretische Erklärung zu
finden", daher sie „die Theorie mehr als Beiwerk und Aufputz behandelt". Diesem
Pauschalvorwurfe an dieser Stelle entgegenzutreten, fühlen wir uns nicht berufen,
mag derselbe auch angesichts der geradezu zahllosen und theilweise sehr geist-
reichen Erklärungsversuche noch so verwunderlich sein. Es sei in dieser Beziehung
nur flüchtig erinnert an die mathematische Principformel Fr. Schars, an die
Theorien Augspurgs, Hüglis und Berliners, an die langwierigen Discussionen
Noch ein Wort über die theoretischen Grundlagen der doppelten Buchhaltung. 543
über die materialistische und personalistische CIrundauffassung in der Buch-
haltung, aus welchen die so literaturreiche Logismographie ihren Ursprung her-
leitet, an die älteren Versuche einer graphischen oder algebraischen Deutung
der Contentheorie u. a. m.
Nicht ohne Erwiderung aber glauben wir jene Ausführungen lassen zu
sollen, in welchen Herr Professor Seidler seine neuen theoretischen Grundlagen
der doppelten Buchhaltung wiedergibt — und dies hauptsächlich aus dem Grunde,
weil diese Ausführungen sowohl mit Rücksicht auf ihren Inhalt, als ganz insbe-
sondere mit Rücksicht auf die höchst angesehene fachwissenschaftliche Stellung
des sehr geschätzten Herrn Verfassers nur zu leicht geeignet wären, das kaum
beginnende Verständnis der Juristenwelt für die kaufmännische Buchführung
aufs neue zu erschüttern und auf Abwege zu führen.
Zu diesem Behufe sei es gestattet, ganz kurz — gewissermaassen mit
Schlagworten — den Inhalt der von uns vertretenen Theorie ' der Doppelreihen
von Conten zu, recapitulieren und dem sodann gegenüberzustellen, was Herr^
Professor Seidler als theoretische Grundlage der doppelten Buchhaltung verstanden
haben will.
II.
Was ist das Problem bei der theoretischen Grundlegung der doppelten
Buchführung, was ist für den Lernenden und was ist auch im Sinne der Dar-
stellung Professor Seidlers jener Punkt, welcher einer besonderen Erklärung
bedarf? Das Erklärungsbedürftige besteht bekanntlich darin, dass es in der
doppelten Buchführung einerseits Conten gibt, bei welchen Wertzuwächse auf
Soll gebucht werden (z. B. eingehende Waren auf Warenconto), während
anderseits gleichzeitig Conten existieren, bei welchen Wertzuwächse auf Haben
gebucht werden (z. B. Zinsen und Sconti zu unseren Gunsten auf Zinsen- und
Scontoconto). Es muss sohin sowohl die Natur der Bezeichnung „Soll" und „Haben",
als auch der Unterschied zwischen den beiden in Betracht kommenden Kategorien
von Conten derart festgestellt werden, dass diese auffallende und das Verständnis
der doppelten Buchführung so sehr erschwerende Erscheinung eine befriedigende
Aufklärung erfahre. Die von uns vertretene Theorie der doppelten Contenreihe
lässt sich nun in diesen beiden Punkten etwa dahin formulieren, 1. dass „Soll"
und „Haben" in der doppelten Buchhaltung Bezeichnungen für Functionen
der mathematischen Vorzeichen „-}-" und „ — " darstellen und 2. dass in der
doppelten Buchhaltung nicht bloss eine Verrechnung der Vermögensbestand-
theile, des Bruttovermögens, sondern parallel hiermit auch eine Verrechnung
des Reinvermögens und der Erfolge stattfindet, indem einerseits die
Veränderungen des Bruttovermögens, anderseits (sei es fortlaufend,
sei es beim Bücherabschlüsse) auch die hierdurch bewirkten Ver-
änderungen des R e i n V e r m ö g e n s verzeichnet werden. Diese Verrechnung
geschieht auf zwei getrennten Contenreihen — auf der Contenreihe der Ver-
mögensbestandtheils- Verrechnung und auf jener der Reinvermögens- und Erfolgs-
verrechnung.
ad 1. Innerhalb der Contenreihe der Vermögensbestandtheils-Verrechnung
werden jene Buchungen, welche einen Wertzugang zum Ausdrucke bringen, auf
544 R'-isch und Kreibig.
Soll, jene, welche einen Wertabgang ausdrücken, auf Haben gebucht; es
bedeutet also Soll +, Haben — (umgekehrt bedeutet aber in der Contenreihe
der Beinvermögensverrechnung, wie wir ad 2 sehen werden, Soll — , Haben -|-).
Die Technik der doppelten Buchhaltung beruht nun darauf, dass jeder
Buchung auf Soll eine gleich grosse Buchung^) auf Haben entspricht,
wodurch die stete Uebereinstimmung aller Soll- und Habenposten herbeigeführt
wird. Da die doppelte Buchhaltung aber eine Doppelrechnung (über das Brutto-
vermögen einerseits, das Reinvermögen und die Erfolge anderseits) führt, bedeutet
das gegenseitige Stimmen der Soll- und Habenposten mehr wie das bloss formale
Gleichsein zweier Colonnenadditionen, es ist die innere Zusammenstimmung einer
zweifachen reciproken Verrechnung.
ad 2. Das Keinvermögen eines Unternehmens ist bekanntlich die Differenz
zwischen Activen und Passiven; eintretende Aenderungen der Activen und Passiven
werden diese Differenz nur insolange unverändert lassen, als sie sich gegenseitig
paralysieren, andernfalls aber auch eine Aenderung der vorhandenen Differenz,^
d. i. des Reinvermögens, bewirken, u. zw. in demjenigen Sinne, in welchem die
Aenderung des Minuend oder Subtrahend überwiegt; derartige Aenderungen
werden bewirkt durch erzielte „Erfolge" (Gewinne oder Verluste).
Mathematisch stellt sich dies folgendermaassen dar:
A (Activa) — P (Passiva) = R (Reinvermögen).
Wenn a ^ p :
(A + a) — (P + p ) = R; oder A + a — P = R + p und A — P — p =
R — a.
Wenn a > p und a — p :^ -f- c :
(A-f-a) — (PH-p) = A — P-|-c = R + c; wenn aber a -< p und
a — p = — c, so ergibt sich A — P — c=:R — c.
Die linke Hälfte der Gleichung stellt uns die Vermögensbestandtheils-
Verrechnung, die rechte Hälfte aber die Reinvermögens- und Erfolgsverrechnung
dar; wir ersehen aus den vorstehenden Gleichungen aber auch, dass in allen
Fällen jene Grösse, um welche sich per Saldo die linke Hälfte ändert, mit
demselben Vorzeichen auch auf der rechten Seite erscheint. Es kann
dies ja auch nicht wundernehmen, weil selbstverständlich die Gleichung „Rein-
vermögen gleich Differenz zwischen Activen und Passiven" nur unter der
Bedingung richtig bleiben kann, dass bei einer einseitigen Vergrösserung der
Activen oder Verringerung der Passiven (i. e. bei erzieltem Gewinn) gleich-
zeitig auch eine ebenso grosse Erhöhung, bei einer einseitigen Verringerung der
Activen oder Vermehrung der Passiven (i. e. bei erlittenem Verluste) eine-
ebenso grosse Verminderung des Reinvermögens verbucht wird.
Für das Gebiet der doppelten Buchhaltung aber resultiert aus diesem
rechnerischen Ergebnisse die Schwierigkeit, dass sie zwei Buchungen mit dem-
selben Vorzeichen vornehmen muss; soferne die Doppik also das Vor-
zeichen + allgemein mit „Soll" bezeichnen würde, müsste sie zwei Verbuchungen
^) Eventuell auch mehrere, per Summa gleich grosse Buchungen.
Noch ein "Wort über die theoretischen Grundlagen der doppelten Buchhaltung. 545
auf der Sollseite (ohne Gegenverbuchung auf der Habenseite) durchführen, was
dem Grundprincipe ihrer technischen Anlage widerspräche. Dieser Schwierigkeit
hat nun die doppelte Buchhaltung in der Weise abgeholfen, dass sie der
Bezeichnung „Soll" und ,,Haben" in der Eeinvermögens-Verrechnung genau die
entgegengesetzte Bedeutung beilegte, wie in der Vermögensbestandtheils-Verrechnung,
so dass das „Soll" in der Keinvermögensverrechnung ,als — , das Haben aber als
+ zu gelten hat.
Infolgedessen kann jeder Betrag, welcher sowohl für die Vermögensbestand-
theils-Verrechnung, als auch für die Eeinvermögensverrechnung mit dem Vor-
zeichen -f- zu buchen ist, gleichwohl die herkömmliche Gegenverbuchung im
Soll der ersteren und im Haben der letzteren Verrechnung finden. Es handelt
sich bei dieser Lösung der aufgetauchten Schwierigkeit unleugbar um einen
technischen Kunstgriff der doppelten Buchhaltung ; derselbe alteriert
jedoch selbstverständlich weder das Wesen, noch die mathematische Eichtigkeit
der vorstehend, entwickelten Aufgaben der doppelten Buchhaltung, sondern
emöglicht vielmehr erst die Anlage und systematische Durchführung derselben.^)
m.
Die Unrichtigkeit dieser vorstehend vielleicht präciser als bisher formulierten,
im übrigen insbesondere von F. Hügli^) bereits wiederholt und vorzüglich
entwickelten Theorie hat Herr Professor S e i d 1 e r, wie bemerkt, nicht nachge-
wiesen und sich vielmehr nur auf die Bemerkung beschränkt, dass sein Versuch
der theoretischen Grundlegung, soferne er gelungen sei, indirect auch eine
Widerlegung aller anderen Theorien enthalte (S. 326). Wir müssen uns daher
nunmehr der Frage zuwenden, ob seinen Darlegungen thatsächlich eine befrie-
digendere Lösung des Problems gelungen ist.
') Ueber die Thatsache, dass die Divergenz in der Bedeutung von „Soll" einer-
seits in der Vermögensbestandtheils- Verrechnung, anderseits in der Reinvermögens-
verrechnung eine künstlich und absichtlich herbeigeführte ist, um für jede Habenbuchung
eine Gegenverbuchung auf Soll durchführen zu können, lässt sich durch keine „Theorie"
hinwegkommen. Es sei daher schon hier constatiert, dass auch Herr Professor Seidler
die gegensätzliche Bedeutung von „Soll" auf den Bestandconten einerseits, Capital-,
Bilanz- und Gewinn- und Verlustconto anderseits ausschliesslich darauf zurückfährt,
dass man den letztgenannten „Uebersichten" die Form von Conten gegeben hat. „Die
Stellung der Passiven im Soll, der Activen im Haben des Capitalconto beruht aus-
schliesslich auf dem formalen Grunde, dass diese Grössen sich in den Particular-
conten (Bestands- und Personenconten) auf der entgegeng< setzten Seite befinden..."
(S. 62). Wir wollen dem Urtheile des Lesers überlassen, inwieferne diese Erklärung —
abgesehen von den später vorzubringenden anderweitigen Einwendungen — besser geeignet
sein könnte, die Einrichtungen der doppelten Buchhaltung „auf ihre letzten Gründe
zurückzuführen", als die von uns gegebene Theorie, welche die divergierende Bedeutung
von „Soll" in der einen und der anderen Contenreihe durch die mathematischen
Aufgaben der doppelten Buchhaltung als einer Parallelverrechnung von Brutto-
und Nettovermögen erklärt.
2) Vgl. F. Hügli: „Die Buchhaltungssysteme und Buchhaltungsformen", Bern 1887,
vor allem aber seine als „Buchhaltungsstudien", Bern 1900, erschienenen gesammelten
Aufsätze.
546 Reisch und Kreibig.
Innerhalb der Ausführungen des Herrn Professors Seidler lassen sich
unschwer zwei voneinander scharf getrennte Theile unterscheiden, ein positiver
und ein negativer. Der erstere geht von der Behauptung aus, „dass jeder
Geschäftsfall ökonomisch die Umänderung einer Wertform (A) in eine andere
Wertform (B) bedeutet, woraus sich von selbst für die Buchführung die Folgerung
ergibt, jeden Geschäftsfall in der Eechnung beider Wertformen in Evidenz zu
halten ... In der Eechnung der einen Wertform ist eine Vermehrung, in der
Rechnung der anderen eine Verminderung zu verzeichnen" (S. 55). Wertver-
mehrungen werden im Soll, Wertverminderungen im Haben verrechnet; dieser
Grundsatz gelte nicht nur für Conten der Vermögensbestandtheils-Verrechnung,
sondern auch für die (von uns als Conten der Eeinvermögens-Verrechnung erklärten)
Erfolgsconten. Denn auch Betriebsausgaben stellen erworbene
Werte dar, „im Soll werden die im Betriebe ,zu consumierenden' Wertzugänge,
im Haben die im Betriebe ,producierten' Wertabpänge gebucht" (S. 58).
Der negative Theil der Ausführungen Professor Seidlers besteht darin,
dass er den Reinvermögensconten (Capital-, Gewinn- und Verlust- und Bilanz-
conto) schlechthin den Charakter von Conten abspricht und sie zu blossen
„Uebersichten" degradiert, welchen aus rein formalen Gründen „die Gestalt von
in Soll und Haben getheilten Conten" gewährt wird, ^j
IV.
Der positive Theil der von Professor S e i d 1 e r aufgestellten Theorie beruht
bis zu einem gewissen Grade lediglich auf einer absonderlichen Terminologie,
welche z. B. in der Begleichung von ßegieauslagen, etwa für Beleuchtung und
Reinigung der Geschäftslocalitäten, in der Entrichtung der Steuern und in der
Gewährung milder Gaben an Arme „ Wertzugänge " erblicken will. Uns scheint
diese Terminologie, auch wenn wir nur gezahlte Arbeitslöhne, entrichtete Geschäfts-
miete oder beglichene Passivzinsen in Betracht ziehen, schon nationalökonomisch
nicht zutreffend; vom Standpunkte des Buchhalters aus ist sie es ganz zweifellos,
weil diese immateriellen „Wertzugänge" jedenfalls keinen Gegenstand seiner
Buchführung bilden.
Denn Gegenstand der Buchführung sind nur Bestände oder Erfolge, nicht
aber auch dem Betriebe im allgemeinen erM'aclisende, concret in keiner Weise
fassbare „Vortheile", wie Nutzeffect des gemieteten Locales oder der geleisteten
Arbeit: Für den Buchhalter existiert nur die Ausgabe für gezahlte Löhne, aber
der Gegenwert, die Arbeitsleistungen, werden von ihm als solche nicht verbucht;
es wäre also eine arge Fiction, die auf Soll des Lohncontos erscheinenden
1) Warum es „viel klarer" sein sollte, die auf Bilanzconto verrechneten Grössen
„als das zu bezeichnen, was sie ihrer Natur nach sind, als Activa und Passiva, beziehungs-
weise als positive und negative Elemente des Reinertrages" (S. 62), bleibt unerfindlich:
Wird die rechte Seite der Bilanz statt mit „Haben" mit „Passiva" überschrieben, so
erscheint das Reinvermögen und der Gewinn als Passivum der Unternehmung, was dem
Laien wahrscheinlich ebenso unklar bleiben wird, als wenn er diese Grössen unter
„Haben" veibucht findet; dass aber in dm Büchern des Unternehmers das Bilanzconto
nicht mit „Activa" und „Passiva" überschrieben sein wird, ist selbstverstäudlicli, weil
jede Verbuchung aus Eintragungen auf „Soll" und „Haben" bestehen muss.
Noch ein Wort über die theoretischen Grundlagen der doppelten Buchhaltung. 547
rgezahlten Löhne gleichwohl als einen „Wertzuwachs" deuten zu wollen. Bei
steuern, Spenden, Strafgeldern und ähnlichen, eines unmittelbaren oder auch nur
mittelbaren Aequivalentes entbehrenden Ausgaben aber versagt selbst diese
Fiction vollständig; es ist daher wohl nicht erst nothwendig, etwa noch auf
Privatconto oder Haushaltungsconto zu verweisen: Oder sollen auch die auf Soll
dieser Conten gebuchten Cassa-Ent nahmen des Chefs „Wertzugänge"
bedeuten, etwa weil der Unternehmer sich für dieses Geld „Lebensgenuss" ver-
schafft?
Unsere Theorie deutet diese Fälle ganz ungezwungen, wie folgt: Den
vorerwähnten Ausgaben steht eine Erwerbung von in der Buchführung zu verzeich-
nenden Vermögensäquivalenten nicht zur Seite ; die Ausgaben bewirken daher
eine Minderung der vorhandenen Activa und damit zugleich auch eine
Minderung des vorhandenen Keinvermögens; sie sind nach der
Formel A — a — Pz=R — a auf Cassaconto Haben, aber auf Erfolgconto (Eegie-,
Spesen-, Steuer-^ Privatconto) Soll zu verrechnen, weil das mathematische Vor-
zeichen — bei der Brattovermögens- Verrechnung durch Habenbuchungen,
bei der Nettovermögens-Verrechnung aber durch Sollbuchungen zur Geltung
gebracht wird. Diese Deutung entspricht offenbar in allen Fällen der jedermann
ersichtlichen materiell-wirtschaftlichen Sachlage und der dargelegten mathe-
matischen Aufgabe der doppelten Buchführung.
V.
Vermögen wir so den positiven Theil der Theorie des Herrn Professors
S e i d 1 e r aus terminologischen, aber auch aus sachlichen Gründen nicht als
richtig anzuerkennen, so glauben wir in ihm überdies und insbesondere auch
noch den Urheber des gleichfalls inacceptablen negativen Theiles der Theorie
bekämpfen zu müssen; denn dieser negative Theil lässt sich füglich auch dahin
formulieren : Was sich ausser den Erfolgsconten sonst noch dem aufgestellten
Lehrsatze: „Wertzuwächse sind auf Soll. Wertabgänge sind auf Haben zu buchen"
nicht beugt, wird nicht als echter Conto, sondern nur als „Uebersicht" anerkannt!
Warum dieses Anathema über alle Reinvermögensconten, insbesondere auch über
den für die doppelte Buchhaltung geradezu grundlegenden Capitalconto gesprochen
wurde, ist uns ganz unerklärlich geblieben.
Das vom Unternehmer in die Unternehmung eingebrachte Reinvermögen
(nehmen wir der Einfachheit halber an 100.000 K bar) ist doch gewiss so gut
ein Wert, würdig in der Buchführung berücksichtigt zu werden, wie irgendein
anderer Wert; warum soll also diesem Werte nicht genau ebenso ein Conto
eröffnet werden, wie den später mit diesem Capitale angekauften Realitäten,
Waren oder Effecten ? Warum soll gerade die erste Buchung auf Cassaconto
unvollständig sein, Cassaconto das empfangene Reinvermögen nicht genau so
dem Capital conto schuldig werden, wie es später eingehende Verkaufspreise
dem Realitäten-, Waren- oder Effectenconto schuldet? Herr Professor Seidler
erwähnt ja selbst (S. 65), dass „einseitige Wertzugänge oder Wertabgänge" ein-
treten können (z. B. spätere Capitalseinzahlungen des Unternehmers oder
Diebstähle), „welche auch eine Correctur (!) auf dem Capitalconto als dem Ueber-
548 Keisch und Kreibig.
sichtsconto des anfänglichen Vermögens" erfordern. Ja warum soll denn eine
spätere Capitaleinzahlung oder ein Diebstahl eine „Correctur" auf dem „Ueber-
sichtsconto" und nicht vielmehr lediglich eine Normalverbuchung auf einem
normalen Capitalconto erfordern? Warum sollen „logischerweise" ^.derartige
einseitige Vermögensveränderungen auch nur auf dem einen Conto gebucht
werden, welches den Wertzugang oder Wertabgang erfahren hat" (S. 65),
während doch unzweifelhaft in diesen Fällen der Wertzugang oder Wertabgang
nicht nur beim Brutto-, sondern auch beim Nettovermögen eintritt und daher
nichts im Wege steht, auf einem für letzteres Vermögen eröffneten
Haupt- oder Nebenconto den Wertzugang oder Wertabgang gleichfalls zu ver-
buchen ? Wenn der Verbannung des Capitalconto und der übrigen Eeinvermögens-
conten aus der Eeihe der „echten" Conten etwa die Meinung zu Grunde liegt,
dass auf echten Conten nur „Geschäftsfälle" verbucht werden dürfen, so könnte
auch dieser Unterscbeidungsgrund nicht als stichhältig erkannt werden. Abgesehen
davon nämlich, dass der Inhalt der „Geschäftsfälle" von Professor Seidler zu
enge umschrieben wird (Umänderung einer Wertform in eine andere), weil
gezeigtermaassen nicht jede Aenderung einer Wertform zur Erwerbung einer
anderen Wertform führt, und abgesehen davon, dass füglich auch neue Capitals-
einlagen und Diebstähle ungezwungen als „Geschäftsfälle" im weiteren Sinne
aufgefasst werden können — ist es doch zweifellos, dass auch auf echten Conten
Buchungen vorkommen, welche nicht durch Geschäftsfälle hervorgerufen sind —
so alle Abschlussbuchungen, so die Buchung von Wertabschreiöungen.
Wir gestehen, dass wir keinen einzigen sachlichen Grund zu ersehen ver-
mögen, warum das altehrwürdige Capitalconto nicht als ein vollwertiges — aller-
dings den Buchungsgesetzen der Reinvermögens-Contenreihe unterliegendes —
echtes Conto anerkannt werden sollte; seine Verweisung unter die „Uebersichten"
zeitigt keinerlei Vortheil, würde aber das gegenwärtig thatsächlich vorhandene,
in sich vollkommen geschlossene System doppelter Verbuchung grundlos zer-
stören: Nicht nur bei der ersten Einlage des Geschäftscapitales, sondern bei
jeder weiteren Einlage oder Entnahme und bei jeder Gewinn- oder Verlustüber-
weisung würde die Gegenverbuchung fehlen ! Vollends unhaltbar aber würde die
Construction des Capitalconto als einer ausserhalb des Contensystemes stehenden
„Uebersicht" bei Gesellschaftsfirmen und speciell bei Actiengesellschaften, bei
welchen das Capitalconto mehrfach (z. B. bei fehlenden Einzahlungen, Amor-
tisationen etc.) in unmittelbare Verbindung mit den Conten der laufenden
Verrechnung treten muss.
Ganz ähnlich wie bei Capitalconto steht es mit Bilanz- oder Gewinn- und
Verlustconto : Zu leugnen, dass hier wirkliche, selbständige, constitutiv zum
Systeme der doppelten Buchhaltung gehörige Conten vorliegen, heisst nichts
anderes, als das System der doppelten Buchhaltung überhaupt negieren. Man
denke sich nur den Abschluss, z. B. eines Warencontos, bei welchem der vor-
handene Endvorrath und der erzielte Gewinn nicht auf ein gleich berechtigtes Bilanz-
conto und Gewinn- und Verlustconto, sondern auf eine ganz ausserhalb des Systemes
stehende, nur „zufällig" in die Form eines Contos gekleidete „Uebersicht" über-
tragen werden müsste — und umgekehrt die Eröffnung eines solchen Contos :
^
Noch ein Wort über die theoretischen Grundlagen der doppelten Buchhaltung. 549
In all diesen Fällen könnte ja überhaupt nicht mehr von einer organisch
zusammenhängenden Contierung, sondern nur mehr von zusammenhanglosen
Eintragungen, also von Halbheiten die Eede sein, welche ausnahmslos vermieden
zu haben gerade den Ruhm und Stolz der doppelten Buchhaltung bildet.
VI.
Herr Professor S e i d 1 e r hat in seiner theoretischen Grundlegung der
doppelten Buchhaltung eben gänzlich ausser Betracht gelassen, dass die doppelte
Buchführung keineswegs nur laufende Geschäftsfälle zu verrechnen bestimmt ist,
sondern dass eine ihrer wichtigsten Aufgaben, ja geradezu die Krönung des
ganzen Werkes die Darstellung der Erfolge und der Reinvermögens-
bewegung ist. Zu diesem Behufe bedarf die doppelte Buchhaltung eigener, echter
Conti und eines ziemlich verwickelten Complexes von Abschluss- und Eröffnungs-
buchungen, welche nicht concreten Geschäftsfällen entsprechen, sondern nur aus
dem vorskizzierten Wesen der doppelten Buchhaltung als einer theils fortlaufenden,
theils aber erst beim Bücherabschluss nachzutragenden M Parallel Verrechnung des
Reinvermögens und der erzielten Erfolge nebeji jener des Brutto Vermögens
erklärt werden können. Diese Parallelverrechnung unterscheidet die doppelte
Buchhaltung principiell von der einfachen ; es beruht denn auch auf dem üeber-
sehen dieses grundlegenden Unterschiedes, wenn Herr Professor S e i d 1 e r (S. 326)
vermeint, dass wir die einfache Buchhaltung „nach hergebrachter Schablone" als
selbständiges System behandelten, „obgleich sie bei richtiger Erkenntnis nichts
anderes ist als unvollständige doppelte Buchhaltung, die ihre beste Dar-
stellung darin findet, dass man einfach die Theile der doppelten Buchhaltung^
welche wegzulassen sind, namhaft macht."
Wir wollen es dahingestellt sein lassen, inwieweit letzterer Weg bei der
vielfach wesentlich verschiedenen Anlage der Bücher in der einfachen und der
doppelten Buchführung — wir erinnern nur an das Hauptbuch — überhaupt
gangbar, geschweige denn, inwieweit er pädagogisch empfehlenswert wäre : Wenn
wir uns eines Beispieles bedienen dürfen — wir glauben nicht, dass es eine
tadelnswerte „hergebrachte Schablone" der Physik-Lehrbücher ist, dass sie das
Wesen des Thermometers nicht in der Weise zu schildern pflegen, dass sie
^) Die Buchungen auf den sogenannten reinen Erfolgsconten weisen, wie wir dies
sub IV für Spesenconto etc. gezeigt haben, gleichzeitig mit der Verbuchung des
Geschäftsfalles auf den Verraögensbestandtheilsconten auch schon den durch den Geschäfts-
fall für das Reinvermögen erzielten Erfolg aus, und bedarf es der Uebertragung des
Saldos der Erfolgsconten auf Capitalconto nur, um daselbst das Reinvermögen in Einer
Summe dargestellt zu erhalten. Die Buchungen auf den sogenannten Bestand-Erfolgsconten
hingegen unterscheiden zunächst nicht zwischen blossen Aenderungen in der Vermögens-
zusammensetzung und erzielten Erfolgen, vielmehr werden die erzielten Erfolge hier
erst beim Abschlüsse dieser Conten ausgemittelt und sohin auf Gewinn- und Verlust-
conto, beziehungsweise Capitalconto übertragen. Es ist dies eine — übrigens auch im
Wesen des kaufmännischen Betriebes begründete — technische Unvollkommenheit der
doppelten Buchhaltung, welche durch allerdings übel angebrachte Aufwendung bedeutender
Arbeitsleistungen (Oontoabschluss nach jedem Geschäftsfall, beziehungsweise Gewinn-
berechnung für jeden einzelnen Verkaufsact) schliesslich auch beseitigt werden könnte.
550 ßeisch und Kreibig.
sagen : Wenn man Dieses und Jenes beim Maximalthermometer weglässt, gelangt
man zum einfachen Thermometer! Die doppelte Buchhaltung weist zum Unter-
schiede von der einfachen ausser den jeweiligen Veränderungen des Brutto-
vermögens auch den Stand des Keinvermögens und der einzelnen Erfolge aus,
ähnlich wie das Maximalthermometer zum Unterschiede von dem einfachen
Thermometer ausser den jeweiligen Temperatur- Aenderungen auch die erzielte
höchste Temperatur verzeichnet : Wie aber für Temperatur-Messinstrumente das
Grundlegende der Ausweis der jeweiligen Temperatur ist (mag auch die hiermit
verbundene weitere Function noch so sinnreich und weitausgreifend ersonnen
sein), so ist auch für die kaufmännische Buchführung die Verzeichnung des
jeweiligen Bruttovermögens das Primäre. Wird mit der Bruttovermögens-Verrechnung
auch die Nachweisung des Reinvermögens verbunden und aufs innigste ver-
knüpft, so kann hieraus ein neues buchhalterisches System — die doppelte
Buchhaltung — entstehen, dies benimmt jedoch der einfachen Buchführung nicht
den Charakter eines seine wirtschaftliche Aufgabe voll erfüllenden, selbständigen
Systemes der Buchführung.
Wer freilich, wie Professor Seidler, auch in der doppelten Buchfülirung
nur die Verrechnung von Geschäftsfällen sieht, der ist berechtigt, die
einfache Buchführung lediglich als unvollkommenere Form der doppelten Buch-
führung hinzustellen. Aber hierin liegt keine Verbesserung der „hergebrachten
Schablone", sondern ein wesentlicher Rückschritt gegenüber der bereits erreichten
theoretischen Erkenntnis des Wesens der doppelten Buchhaltung, welches
unzweifelhaft in der systematischen Verrechnung auch des Reinvermögens und
der erzielten Erfolge neben der gleichzeitig erfolgenden Nachweisung der Ver-
änderungen in den Vermögensbestandtheilen erblickt werden muss.
n
ZEITSCHRIFTEN-ÜBERSICHT.
Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, hggf. v. Conrad, Elster, Loenlng, Lexis, 111. V.
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Scialoja: L'abuso della consegaa nossale da parte dello schiavo. — Vaccaro: Resistenza e progresso.
La Riforma Sociale. Direttori: f-r. S. Nitti, L. Roux, L. Einaudi. Anno VIII. Vol. XI.
Gobhi: II ribasso nel saggio d'interesse e la convenienza dell' assicurazioni sulla vita.
Bei der Redaction eingelaufene Bücher und Schriften.^)
Crüger H.: Die internationalen Genossenschaftsoongresse in Paris im Jahre 1900. Berlin, Guttentag 1901,
113 S.
Ditirich P.: Praktische Anleitung zur Begutachtung der häufigsten Unfallschäden der Arbeiter. Wien,
Braumüller 1901, XI und 224 S.
Eberstadt /?.: Der deutsche Capitalmarkt. Leipzig, Duncker & Humblot 1901, 280 S.
Festgabe für Albert Schaff le zur siebenzigsten Wiederkehr seines Geburtstages. Tübingen, Laupp 1901,
VIII und 390 S.
Fuchs C. y.: Volkswirtschaftslehre (Sammlung Göschen). L°ipzig, Göschen 1901, 136 8.
Gerber A.: Beitrag zur Geschichte des Stadtwaldes von Preiburg i. B. (Volkswirtschaftliche Abhandlungen
der Badischen Hochschulen.) Tübingen, Mohr 1901, XII und 130 8.
Gottl F.: Die Herrschaft des Wortes. Einleitende Aufsätze. Jena, Fischer 1901, 224 8.
Grünberg K. : Studien zur ös.erreichiscben Agrargeschichte. Leipzig, Duncker & Humblot 1901, 281 S.
») Ausser den hier genannten ist bei der Redaction noch eine grössere Zahl von Büchern undi
Schriften eingelaufen, die sich bereits in den Händen der Recensenten befinden.
552
Zeitschriften-Uebersicht.
Hartlehen A. : Kleines statistisches TascheDbucli über alle Länder der Erde 1901. Wien, Hartleben 1901, 103 S.
Huber F. C: Deutschland als Industriestaat. Stuttgart, Cotta 1901, XVIII und 512 S.
Inama-Sternegg A". Tk.: Deutsehe Wirtsthaft^gescbichte. III. Bami, 2. Theil, Leipzig, Duncker & Humblot
1901, XVIII und 558 S.
Kaerger K.\ Landwirtschaft und Colonisation im spanischen Amerika. 2 Hände, Leipzig, Duncker & Humblot
1901, 939 und 743 S.
Kaizl y.i Finan/.wissenschaft. 2. Theil, Wien, Manz 1901, 274 S.
Kowalesky Maxime : Die ökonomische Entwicklung Europas bis zum Beginn der capitalistif>chen Wirt-
schaftsform. 1. Band. (Bibliothek der Volkswirtschaftslehre und Gesellschaftsnissenschaft.) Berlin,
Prager 1901, 539 8.
Kreibig J. C. : Staaili<he Institutionen für Lebens- und Rentenversicherung. Wien 1901, Holder, 35 S.
Lts salaires dans IHndustrie Gantoise, 1 vol. Brüssel, Lebigue 1901, XIV und 596 S.
Meyer Robert: Das Zeilverhältnis zwischen der Steuer und dem Einkommen und seinen Theilen. Wien,
Manz 1901, X und 186 S.
Müller Josef: Das sexuelle Leben dtr Xaturvölker. Augsburg, Lampart & Comp., IX und 73 S.
Norikus F.: Die Organisation der Gesellschaft in Vergangenheit und Gegenwart. Stuttgart und Wien,
Roth 1901, VIII und 1.54 S.
Offenbacker M.: Confession und sociale Schichtung. (Vulkswirtschaftliche Abhandlungen der Badischen
Hochschulen.) TAbingen, Mohr 1900, 102 S.
Pctrenz 0.x Die Entwicklung der Arbeitsiheilung im Leipziger Gewerbe von 1751—1890. (Staats- und
Socialwlsijpnschai'tliche Forschungen.) Leipzig, Duncker & Humblot 1901, 92 S.
Ä luchberg H. : Die Berufs- und Gewerbezählung im Deutseben Reiche. Berlin, Heymann 1901, XVI und 422 .S.
Rittershaus Adeline: Ziele, Wege und Leistungen unserer Mädchenschulen und Vorschlag einer Reforni-
schule. Jena, Fischer 1901, 41 8.
Schulte F.: Die Entwicklung des Sparcassenwesens im Grossherzogthume Baden. (Volkswirtschaftlicbe
Abhandlungen der Badischen Hochschulen.) Tübingen, Moiir 1901, 88 S.
Sil H.\ Les classes rurales et le regime domanial en France au moyen age. Paris, Giard & Brifere 1901,
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Tugan-Baranowsky M. : Studien zur Theorie und Geschiscbte der Handelskrisen in England. Jena, Fischer
1901, VIII und 428 S.
Westergaard H.: Die Lehre von der Mortalität und Morbilität. Zweite vollständig umgearbeitete Auflage.
Jena, Fischer 1901, 703 S.
Worms St. : Das Gesetz der Güterconcentration in der individualistischen Rechts- und Wirtschaftsordnung.
1. Halbband. Jena, Fischer 1901, XV und 238 S.
Norwayx Ofticial publication for the Paris exhibition Kristiania Aktie- Bogtrykkeriet 1900, XXXIV und 626 S.
I
%
DAS AUSWANDERUNGSPßOBLEM
UND DIE
REaELUNG DES AUSWANDERUNGSWESENS
IN ÖSTERREICH.
VON
DK- JOSEF BUZEK.
(FORTSETZUNG UND SCHLUSS.)
II. Die Regelung des Auswanderungswesens im allgemeinen.
1. Die Leitung der Auswanderung und die übrigen auf die
Erhaltung der Nationalität der Auswanderer bezüglichen
Maas sn ahmen.
Die Leitung der Auswanderung kann je nach der Auswandenings-
politik des Staates zweierlei Ziele verfolgen: entweder beschränkt sich der
Staat auf den möglichsten Schutz der Auswanderer, und dann sucht er die
Auswanderung nach Ländern, die er als ungeeignete, d. h. für das Wohl-
ergehen des Auswanderers selbst gefährliche erachtet, zurückzudämmen, um
so die hauptsächlichste Quelle des Auswandererelends zu verstopfen. Seine
Thätigkeit gibt hier der Kichtung des Aus^andererstromes negative Direc-
tiven. — Umgekehrt kann es der Staat versuchen, seine Auswanderer in
bestimmten Ländern zu concentrieren, wo die Hoffnung vorhanden ist, dass
sie dem Mntterlande nicht verloren gehen, sondern zu dessen politischer
oder wirtschaftlicher Stärkung verwertet werden können. In diesem Falle
wird der Staat seine Auswanderer sowohl von ungeeigneten, als auch von
unerwünschten Auswanderungszielen abzulenken versuchen, er wird dafür
bestrebt sein, positive Directiven dem Wanderstrome zu geben. Die Leitung
der Auswanderung steht hier nicht mehr im ausschliesslichen Dienste des
Auswandererschutzes, sondern wird zum Mittel einer weit in die Zukunft
blickenden National- und Wirtschaftspolitik.
Der Versuch, Auswanderer in deren eigenem Interesse von ungeeigneten
Auswanderungszielen abzulenken, ist bisher in doppelter Form unternommen
worden. Entweder beschränkt sich der Staat auf generelle Verkündigungen,
die Auswanderungslustige vor diesem oder jenem Lande warnen, oder er
gibt sich überdies die Mühe, jedes einzelne Individuum, das ilim seine
Absicht, in ein ungeeignetes Land auszuwandern, kundgibt, auf das
nachdrücklichste vor den seiner harrenden Gefahren zu warnen.
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. X. Band. 38
554 Buzek.
Die Unzulänglichkeit und Wirkungslosigkeit der generellen Verwar-
nungen ist speciell in Oesterreich bekannt. Theils gelangen diese nicht zur
Kenntnis der gefährdeten Volkskreise, theils schenken diese den lockenden
Verheissungen der Agenten grösseren Glauben. In Ländern mit geregeltem
Auswanderungswesen Hess man es dementsprechend bei solchen Verwar-
nungen nicht bewenden, man untersagte vielmehr den Unternehmern die
Beförderung, den Agenten die Vermittlung von Auswanderern nach ungeeig-
neten Auswanderungszielen. (Vgl. den Erlass des königl. preussischen Handels-
ministeriums vom 3. November 1859, womit Brasilien aus der Keihe der
erlaubten Auswanderungsziele ausgeschlossen wurde.) Doch auch dies vermochte
dem Uebel nicht gänzlich zu steuern. Den flagrantesten Beweis bildet dafür
der Umfang der brasilianischen Auswanderung aus Preussen. Obgleich
Brasilien auf Grund des citierten von der Heydt'schen Kescriptes vom
Jahre 1859 bis zum Jahre 1896 zu den von der Kegierung verpönten
Auswanderungszielen gehörte, wanderten dorthin allein aus den polnischen
Provinzen Preussens in den Siebzigerjahren Tausende aus. Die Gesammt-
zahl der deutschen Einwanderer nach Brasilien beträgt nach der brasilianischen
Statistik in den Jahren 1861 bis 1894 nicht weniger als 50.814 Personen.^)
Bessere Kesultate kann das System der individuellen Verwarnungen
erzielen. Zunächst kommt hier die aufklärende Thätigkeit der Hafenbehörden
in- Betracht. So ist z. B. dem österreichischen Consulate in Genua der
Auftrag ertheilt worden, Auswanderern nach den Kaffeeplantagen von San
Paulo die zur Einschiffung nothwendige Fertigung der Papiere zu verweigern,
wenn sie nicht erklären, dass ihnen die Art ihrer Verwendung und ihrer
socialen Abhängigkeit in Brasilien wohlbekannt ist. Diese Art der individuellen
Verwarnung ist eine repressive und kann — zumal in Ländern mit un-
geregeltem Auswanderungswesen — von den Agenten leicht umgangen
werden. Dazu kommt sie zur Anwendung erst im Einschiffungshafen, kann
somit im besten Falle, d. h. wenn sie den Auswanderer zur Eückkehr
bestimmt, den materiellen Verlust, den das Verlassen der Heimat und die
Keise verursachten, nicht wieder gut machen. Im ganzen wäre diese Maass-
regel nur für die allergefährlichsten Auswanderungsziele zu empfehlen, dann
aber ihre Wirksamkeit durch entsprechende Cautelen zu sichern.
Das System der präventiven individuellen Verwarnungen hat zur
Voraussetzung das Bestehen einer weiteren Volkskreisen zugänglichen
Auskunftsstelle. Dadurch, dass diese auf Verl angen über alle die tausend
Dinge informiert, deren Kenntnis für Auswanderer nothwendig ist, erweckt
sie deren Zutrauen, und es kann erwartet werden, dass diese auch die in
Bezug auf das Auswanderungsziel ertheilten Rathschläge befolgen werden.
Es könnte scheinen, dass die Aufgaben einer Auskunftsstelle am besten
von privaten Vereinigungen erfüllt werden könnten. Die grossen Massen sind
nur allzu geneigt, alle officiellen Maassregeln und Rathschläge mit Miss-
I
^) Dr. R. A. Hehl, „Die Entwicklung der Einwanderungsgesetzgebung in Brasilien",
Schriften des Vereines für Socialpolitik, Bd. LXXII.
Das Auswaiiderungsproblem und die Regelung des Auswanderungswesens etc. 555
trauen aufzunehmen. In der That ist auch überall mit privater Auskunfts-
ertheilung angefangen worden. Zumal in England war die aufklärende
Thätigkeit von Privatpersonen und privaten Vereinen von dem grössten
Umfange. Erstens sind die Arbeitervereine, die Trade Unions, die Friendly
Societies, die Young Men's Christian Association durch ihre Zweigvereine
in allen Ländern englischer Zunge über die dortigen Verhältnisse informiert
und statutarisch zur Auskunftsertheilung an die Mitglieder verbunden. Sodann
existieren zahlreiche Auswanderungsvereine, an deren Spitze erfahrene, reiche
Männer stehen; wir erinnern nur an die Church Emigration Society, welche
eine besondere Auswandererzeitung, „The Emigrant", publiciert, an die Seif
Help Emigration Society, an den East End Emigration Found, an die
Emigrationscomites der Society for promoting Christian Knowledge, der
Charity Organisation Society, an das hochangesehene Imperial-Institute,
welche alle zahlreiche Informationsbiicher an Auswanderungslustige vertheilen
und ihnen mit Rath und That beizustehen haben. — Nichtsdestoweniger
erwies sich selbst in England die Auskunftsertheilung durch Private als
ungenügend und gefährlich. Ein gründlicher Kenner der Verhältnisse, Arnold
White, behauptete, dass die private Information „meist unverantwortlich,
phantastisch und veraltet" sei. Den Privatvereinen fehlen eben die Mittel,
sich zuverlässige, zeitgemässe Informationen aus weit entlegenen Ländern
zu beschaffen. Sie stehen allein der Staatsgewalt zur Verfügung.
Der Thätigkeit staatlicher Auskunftsstellen steht, wie erwähnt, die
geringe Neigung der Volksmassen, sich von der Eegierung Eaths zu erholen,
im Wege. Während private Vereinigungen über schlechte Informationen und
viele Abnehmer dafür verfügen, hat der Staat gute Informationen, aber
wenig Abnehmer. In Deutschland ertheilt seit langem das auswärtige Amt
sehr ausführliche und genaue Auskünfte an Auswanderungslustige. Nichts-
destoweniger ist der Kreis der Personen, die um Auskunft ersuchen, ein
sehr geringer. Es wurden Auskünfte ertheilt
im Jahre
1895 1896
nach Amerika 26 28
„ Südafrika 30 138
, anderen Ländern 22 8
Zusammen .... 78 1) 174 1)
Dabei entfällt das Gros der Auskünfte (60 Proc.) an Angehörige der
gebildeten Stände (Kaufleute, Aerzte, Lehrer, Gewerbetreibende), die für die
Auswanderung nur wenig in Betracht kommen, dagegen nur circa V? auf Land-
wirte und V.i auf Arbeiter, Handwerker und Dienstboten, die das Haupt-
contingent der Auswanderer stellen. Allerdings ist nicht zu verkennen, dass
in vielen Fällen ein Bittsteller im Namen zahlreicher Personen, etwa der
Freunde, Verwandten, Berufsgenossen, angefragt haben mag.
^) Es berührt eigenthümlich, dass bei diesen Ziffern der Motivenbericht zum Ent-
würfe eines Gesetzes über das Auswanderungswesen (Reichstag, 1895 — 1897, Anlagen,
Actenstück 706) von „zahllosen" Anfragen spricht.
38*
556 B»zek.
Unter allen staatlichen Auskunftsstellen scheint noch die Thätigkeit
des schweizerischen Auswanderercomissariates am wirksamsten zu sein.
Dieses ist die sogenannte commissarische Abtheilung des dem Departement
des Auswärtigen beigegehenen Auswanderungsbureaus und hat ausser der
allgemeinen Vertretung der Interessen der schweizerischen Auswanderung
die Ertheilung von Auskunft, Kath und Empfehlungen an Auswanderer zur
Aufgabe. Die Berichte des Bundesrathes preisen das Commissariat als eine
„gemeinnützige Einrichtung", die „von Tag zu Tag volksthümlicher wird",
und dies ohne Anwendung „geräuschvoller Reclame, sondern einfach ver-
mittelst discreter Bekanntmachungen, welche in keiner Weise zur Aus-
wanderung ermuntern können". Der Bundesrath constatiert mit Vergnügen,
dass »die Zahl der Gemeindebehörden und der Herren Geistlichen, die für
andere nachfragen, immer mehr zunimmt", und dass die Cantonsregierungen
„durch vorsichtige Bekanntmachungen auf das Bestehen des eidgenössischeu
Auswanderungscommissariats mit Erfolg hingewiesen haben." Unter den um
Auskunft ansuchenden Auswanderungslustigen überwiegen gelernte Arbeiter,
wie Schlosser, Mechaniker, Schmiede, aber auch Landwirte, Dienstboten,
Kellner, sodann erst Architekten, Aerzte, Lehrer, Wirte und junge Kaufleute,
denen in überseeischen Gegenden, besonders in den Tropen, Stellen offeriert
werden. Das bedeutet, dass das Commissariat das Vertrauen tieferer Schichten
gewonnen hat. Bei alledem fällt es auf, dass die officiellen Geschäftsberichte
des Commissariates wohl sehr detaillierte Eelativzahlen über die Verhältnisse
der Fragesteller anführen, dagegen die absoluten Ziffern consequent ver- ■
schweigen. Sollten diese etwa so niedrig sein, dass sie das schöne Bild
dunkler nuancieren könnten ?
Die Auswanderungspolitik der Schweiz verzichtet darauf, die Leitung
der Auswanderung von national-politischen Gesichtspunkten aus anzustreben.
Nicht etwa deshalb, weil sie an die Nützlichkeit concentrierter Ansiedelung
ihrer Bürger in fremden Ländern nicht glauben würde. War doch gerade
die schweizerische Eegierung eine der ersten, die den Satz aufstellte, dass
„die Zunahme schweizerischer Ansiedlungen in irgend-
einem überseeischen Landein der Regel eine Zunahme des
schweizerischen Handelsverkehrs mit demselben zur Folge
hatte."^) Nur ist die schweizerische Regierung der Ansicht, dass sich die
Concentrierung der Auswanderer in gewissen Gebieten von selbst vollzieht,
sie erklärt dementsprechend eine diesbezügliche Action der Regierung für
überflüssig (Geschäftsberichte und Sendschreiben des Bundesrathes passim),
und beschränkt sich allein auf den Schutz der Auswanderer. Um ferner den
wirtschaftlichen Charakter der Auswanderung zu wahren und ja nicht zum
Auswandern zu ermuntern, verzichtet sie selbst auf jede geräuschvolle
Reclame ihrer Auskunftsstelle. Darauf dürfte zurückzuführen sein, dass diese
anfangs nur wenig in Anspruch genommen wurde. Erst nach und nach
konnte sie festere Wurzeln schlagen, vorzüglich Dank der Thätigkeit jener
I
^) Geschäftsbericht des Bundesrathes für das Jahr 1862.
Das Auswanderungsproblem und die Eegelung des Auswanderungswesens etc. 557
Gemeindebehörden und Geistlichen, denen der Geschäftsbericht so innigen
Dank spendet. Sie sind das Medium, durch das die Informationsbedürftigen
von der Auskunftsstelle aufgefunden werden, sie stellen die Privatpersonen
dar, denen der Staat seine guten Informationen anvertraut, und die ihm
dafür Clienten zuführen. In der Praxis wirkt gegenwärtig das Auswanderungs-
commissariat mehr durch private Vertrauensmänner als direct.
Bei den Ausschussberathungen des neuen deutschen Auswanderungs-
gesetzes vom 9. Juni 1897 ist von einem Ausschussmitgliede die Resolution
beantragt worden, es seien die verbündeten Regierungen zu ersuchen, die
von den Consuln und Commissären über die Verhältnisse der Einwanderungs-
länder fortlaufend zu erstattenden Berichte in geeigneter Weise zur all-
gemeinen Kenntnis zu bringen.^) Der Antrag bezweckte die fortwährende
Informierung der Oeffentlichkeit über die Auswanderungsverhältnisse, damit
der Auswanderungslustige nicht erst lange nach Auskunft zu suchen habe.
Auf Betreiben der Regierung wurde der Antrag verworfen, hauptsächlich,
weil man fürchtete, es würde durcli derartige Publicationen zur Auswanderung
ermuntert werden, dann aber auch mit Hinweis auf die durch das aus-
wärtige Amt ertheilten Auskünfte. Damit war die Frage nach der Organi-
sation der Auskunftsertheilung von der Tagesordnung gesetzt, aber durch-
aus nicht begraben. Die Unzulänglichkeit der Auskunftsstelle im auswärtigen.
Amte trat immer klarer zutage, bis sich endlich im laufenden Jahre die
Regierung entschloss, das Problem auf Grund der schweizerischen Erfahrungen
zu lösen. Sie schuf eine Auskunftsertheilung durch Vertrauensmänner auf
Grund der vom Reiche gesammelten Informationen. Die Grundzüge der
Organisation sind folgende:
Von der deutschen Colonialgesellschaft wird in Berlin eine Auswanderer-
auskunftsstelle geschaffen, die zwar nur die Verwaltungsabtheilung der
genannten Gesellschaft sein, aber unter Oberaufsicht des Reichskanzlers
stehen wird. Der Reichskanzler erlässt die Geschäftsordnung und bestätigt
die Anstellung des Vorstandes. Als Aufsichtsorgan wird dem Präsidenten
der Gesellschaft ein Beirath beigegeben, der aus Vertretern des Ausschusses
und aus Delegierten solcher Vereine, die sich schon bisher mit der Ertheilung
von Auskünften an Auswanderungslustige befasst haben, zu bestehen hat.
Das auswärtige Amt wird Berichte der Vertreter im Auslande, die für das
Auswanderungswesen von Interesse sind, der Auskunftsstelle zur Verfügung
stellen, auch ihren Anträgen wegen Beschaffung weiteren Materials nach
Möglichkeit entsprechen. Vom Reiche wird ausserdem für die Kosten der
Auskunftsertheilung ein angemessener jährlicher Zuschuss beigesteuert. Die
Auskünfte werden kostenlos, mündlich, brieflich oder durch Veröffentlichungen
ertheilt, und zwar entweder unmittelbar durch die Auskunftsstelle oder
mittelbar durch Vertrauensmänner oder durch innerhalb des Reichsgebietes
nach Bedürfnis zu errichtende Zweigstellen. Als solche können ausser den
^) Bericht der zwanzigsten Commission, Reichstag, 1895 — 1897, Anlagen, Acten-
stück Nr. 769.
558 Buzek.
Abtheilungen der Colonialgesellschaft auch andere im Beiratli vertretene
Aus Wanderungsvereine dienen. Die Auskunftsertlieilung soll den Auswanderungs-
lustigen zuverlässiges, thatsächliclies Material über die sie interessierenden
Länder sowie über die Reise nach diesen liefern. Sie bezieht sich auf
sämmtliche nicht zum Deutschen Reiche gehörende Länder einschliesslich
der Schutzgebiete.
Auf eine ganz originelle Weise ist die Frage der Hintanhaltung der
Auswanderung nach ungeeigneten Gebieten und die der Auskunftsertheilung
von dem italienischen Gesetze vom 31. Jänner 1901 gelöst worden. Das
Ministerium des Aeusseren kann im Einvernehmen mit dem Ministerium
des Innern die Ausw^anderung nach einer bestimmten Gegend verbieten, aber
nur „aus Gründen der öffentlichen Ordnung, oder wenn das Leben, die
Freiheit oder das Eigenthum des Auswanderers schweren Gefahren ausgesetzt
sein sollten." (Art. 1.) Ein Verbot gewisser Auswanderungsziele aus national-
politischen Gründen ist somit ausgeschlossen, und die ganze Bestimmung
hat lediglich den Schutz des Auswanderers vor besonders gefährlichen
Gegenden im Auge. Sonst soll die Auskunftsertheilung genügen. Als Organe
derselben sind gedacht fast alle die zahlreichen Behörden, welche durch
das neue Gesetz ins Leben gerufen werden. So hat insbesondere die Central-
behörde, das Commissariat, das Recht der kostenlosen Affichierung aller
seiner Bekanntmachungen in jeder Agentie und Geschäftsstelle, in den
Dampfschiffen und allen Transportunternehmungen zu Wasser und zu Lande
(Art. 8, al. 2). Von besonderer Bedeutung sind sodann die Districts- und
die communalen Auswanderungscomites, welche in den Auswanderungs-
centren errichtet werden können, unentgeltlich functionieren und aus
dem Prätor oder, wo dieser fehlt, dem Friedensrichter, dem Syndicus
oder dessen Stellvertreter, dem Pfarrer oder einem anderen Geistlichen,
dem Arzte (letztere 3 Mitglieder werden vom Auswanderungscommissariate
bestimmt), endlich aus einem Vertreter der localen landwirtschaftlichen
oder Arbeiterverbände (diesen hat der Gemeinderath zu wählen), bestehen.
Das Comite bestellt also aus den Vertrauensmännern der Regierung und
der interessierten Bevölkerung, es umschliesst conservative (der Syndicus
ist in den meisten Gemeinden Süditaliens der Grossgrundbesitzer) und fort-
schrittliche Elemente, so dass die Gewähr vorhanden ist, dass es einerseits
den Weg zu den tiefsten Schichten der Bevölkerung finden, anderseits aber
die ihm vom Commissariate anvertrauten Informationen nicht missbrauchen
und namentlich nicht auswanderungsfördernd wirken wird. Ueberdies bietet
diese Organisationsform der Auskunftsertheilung die Möglichkeit, die Aus-
wanderer nicht nur von ungeeigneten, sondern auch von unerwünschten
Auswanderungszielen abzuhalten, es kann somit in aller Stille, — was
bei der delicaten Natur dieser Materie ausschlaggebend ist, — zum vor-
trefflichen Werkzeuge einer nationalen Auswanderungspolitik werden.
Die Mittel, deren sich die von handelspolitischen und nationalen
Machtbestrebungen beeinflusste Leitung der Auswanderung bedient, sind von
denen der Leitung zum Zwecke des Auswandererschutzes principiell verschieden.
Das Auswanderungsproblem und die Eegelung des Aus Wanderungswesens etc. 559
Diese fangen zu wirken an, nachdem der Betroifene bereits die Auswanderungs-
absicht geäussert hat, jene suchen dagegen auf den Auswanderer bereits
bei der Entstehung des Auswanderungsentschlusses einzuwirken, können oft
den Entschluss auszuwandern geradezu hervorrufen. Handelt es sich doch
hier nicht bloss um die Ablenkung von ungeeigneten und unerwünschten
Auswanderungszielen, sondern ausserdem um die Concentrierung der Aus-
wanderer in den ins Auge gefassten Gebieten. Untereinander unterscheiden
sich die Mittel der nationalen Leitung der Auswanderung nur nach demMaasse,
in welchem sie der Gefahr, auswanderungsfördernd zu wirken, begegnen wollen.
Handelspolitische und nationale Interessen haben sich bei der Eegelung
des Auswandererwesens am meisten in Deutschland und in England bemerkbar
gemacht. Der Motivenbericht zum Entwürfe des neuen deutschen Aus-
wanderungsgesetzes stellt ausdrücklich fest, dass der springende Punkt des
neuen Gesetzes in dem Bestreben liege, „das Deutschthum unter den Aus-
wanderern zu erhalten und für die Interessen des Mutterlandes nutzbar zu
machen, und zwar durch Ablenkung der Auswanderung von den in dieser
Hinsicht ungeeigneten und Hinlenkung nach geeigneten Zielen" oder praktisch
ausgedrückt, durch die „Ablenkung von Nord-, Hinlenkung nach Südamerika."
Ebenso ist die letzte That der englischen Regierung auf dem Gebiete des
Auswanderungswesens — die Errichtung des Emigrants Information Office —
dem Bestreben entsprungen, die englische Auswanderung im Sinne der
imperialistischen Losung der Zeit von den Vereinigten Staaten ab- und in
die englischen Colonien hinzulenken. Wir wollen die bezüglichen Maass-
nahmen der deutschen Gesetzgebung, respective der englischen Verwaltung,
einer näheren Prüfung unterziehen.
Die deutsche Regierung gieng von der Anschauung aus, dass — so
lang und soweit nicht eine etwaige Besiedlung deutscher Schutzgebiete in
Frage kommt — die rationelle und nationale Lenkung der Auswanderung
„weder durch Gesetzesparagraphe, noch durch allgemeine Kundgebungen der
Regierung oder durch irgendwelche legale Werbemaassnahmen der letzteren
verwirklicht werden und ebensowenig der Privatinitiative überlassen werden
könne, ohne dass man die Gefahr einer erheblichen Förderung des Aus-
wanderns laufen oder eine schwere Verantwortung für die Zukunft der Aus-
wanderer übernehmen würde." Die Hinlenkung der Auswanderung nach
Südamerika könne nur derart verwirklicht werden, dass nationale
Colonisationsgesellschaften in geeigneten und von der Regierung gut
geheissenen Gebieten Ländereien erwerben, um auf diesen auf eigene
Verantwortung und Haftung hin deutsche Auswanderer anzusiedeln.
Das nothwendige Auswanderercontingent wird sodann dadurch — ohne
specielle Agitation — gewonnen, dass die Regierung die Concessionen der
Auswanderungsunternehmer specialisiert, d. h. nur die Beförderung nach
dem ausersehenen Gebiete gestattet, dagegen nach anderen Theilen desselben
Landes oder auch nach anderen Ländern untersagt. Ebenso kann sie in den
Concessionen die Qualität und die Zahl der nach der geplanten Colonie
zu befördernden Auswanderer festsetzen.
560 Buzek.
Während das italienische Gesetz die Regierung ermächtigt, die Aus-
wanderung nach ungeeigneten Gebieten zu untersagen, verpflichtet der das
Specialisierungsprincip aussprechende § 6 des deutschen Gesetzes den Reichs-
kanzler, die Auswanderung nach geeigneten und erwünschten Gebieten
hinzuleiten. ^) Eben deswegen ist das Gesetz Gegenstand leidenschaft-
licher Anwürfe seitens der Interessentenkreise im Reichstage, zum Theile
auch in der wissenschaftlichen Literatur geworden. Die von gegnerischer
Seite ausgesprochenen Befürchtungen haben sich jedoch im allgemeinen
nicht erfüllt, hauptsächlich deshalb, weil die deutsche Regierung schon
von vorneherein entschlossen war, das Specialisierungsprincip nur auf
Südamerika anzuwenden, dagegen „bis auf weiteres" die Auswanderung
nach den Vereinigten Staaten, nach Canada und nach Australien gewähren
zu lassen. Nur in einer Hinsicht behielten die Schwarzseher Recht:
das Specialisierungsprincip verdarb die guten Beziehungen zwischen den
ausländischen Staaten, die zur Colonisierung ausersehen waren. Soweit uns
bekannt, hat die deutsche Regierung bis nun von den im § 6 enthaltenen
Befugnissen keinen Gebrauch gemacht. Nichtsdestoweniger vermochte die
unvorsichtige Redaction des Paragraphen und seiner Motivierung die ganze
öffentliche Meinung Brasiliens und zum Theile der Vereinigten Staaten in
Harnisch zu bringen. Im Vorjahre war in der Presse dieser Länder das
Kesseltreiben gegen die Pläne Deutschlands so gross, dass das Echo weit
vernehmbar durch Europa flog.
Während das deutsche Gesetz, um nicht auswanderungsfördernd zu
wirken, lieber die Auswanderungsfreiheit einschränkte, acceptierte die englische
Verwaltung den in Deutschland perhorrescierten Weg, durch öffentliche
Kundgebungen auf die Richtung der Auswanderung einzuwirken. Ihre Mittel
finden Ausdruck in der Thätigkeit des im Jahre 1886 unter dem Drucke
der Agitation nach einem Greater Britain und nach einer ,State-directed
Colonisation" errichteten Emigrants Information Office.
Die Aufgaben dieser Auskunftsstelle sind in der Geschäftsanweisung
folgendermaassen formuliert:
„Die Aufgaben dieses Amtes können nicht klar genug ausgesprochen
werden. Es hat möglichst genaue Nachrichten zu liefern über die Aussichten
der Auswanderung nach den britischen Colonien, über die Ver-
hältnisse des Arbeitsmarktes, Reisekosten, Preise nothwendiger Bedarfs-
artikel u. s. w., um Auswanderungslustigen die Beurtheilung zu ermöglichen,
ob es gerathen sei oder nicht, zu einer bestimmten Zeit nach einer bestimmten
Colonie auszuwandern. Die Genauigkeit dieser Nachrichten wird jedoch von
der Regierung nicht verbürgt,"
„Es gehört nicht zu den Aufgaben des Amtes, in irgend einer Weise
zur Auswanderung überhaupt oder zu einem besonderen Plane zu ermuntern
I
*) Der § 6 lautet: „Die Eiiaubniä (siehe Unternehraerconcession) ist nur für
bestimmte Länder, Theile von solchen oder bestimmte Orte und im Falle überseeischer
Auswanderung nur für bestimmte EinschiflFungshäfen zu ertheilen."
Das Auswanderungsproblem und dieEegeluiig des Auswanderungswesens etc. 561
oder abzurathen. Seine Aufgabe besteht darin, Thatsachen zu constatieren
und zu veröffentlichen."
Wir bemerken, dass das Emigrants Information Office nur nach den
englischen Colonien Auskünfte ertheilen sollte. Auf die Dauer liess sich
diese tendenziöse Einseitigkeit nicht aufrechthalten. Bereits im Jahre 1890
wurde die Auskunftsstelle angewiesen, auf Verlangen auch über die Ver-
einigten Staaten und die übrigen Einwanderiingsländer Auskünfte zu ertheilen.
Seit dem Jahre 1895 wird sogar von Jahr zu Jahr ein Rathgeber für Aus-
wanderer nach den Vereinigten Staaten, von Zeit zu Zeit auch nach Argentina,
Westindien etc. ausgegeben. Man überzeugte sich nämlich, dass durch Ver-
weigerung der Auskunft über diese Länder das Vertrauen der Bevölkerung
in die -Aufrichtigkeit des Amtes erschüttert werde ; ertheilt man dagegen
die Auskunft, so hat man immer Gelegenheit zu bemerken, dass es für den
Engländer unter allen Umständen am vortheilhaftesten sei, doch lieber nach
den englischen €olonien, deren Sprache, Gewohnheiten, Gesetze ihm bekannt
sind, zu wandern. Dieser Passus fehlt unter anderem in keinem der für die
Vereinigten Staaten ausgegebenen Rathgeber.
Das Emigrants Information Office liefert sowohl persönliche, als auch
allgemeine Informationen. Erstere werden sowohl mündlich, als auch schrift-
lich — nach eigens vorgedruckten Formularen und unter Mitgabe ent-
sprechender Brochuren — , in beiden Fällen ganz unentgeltlich ertheilt.
Letztere beruhen auf der Verbreitung periodischer Druckschriften, und zwar
der Handbooks, der free circulars und der Placate (Posters).
Die Handbooks erscheinen alljährlich im April, je eines für jede der
zehn Colonien, ausserdem ein elftes für die Auswanderer der gebildeten
Stände, ein zwölftes zur Orientierung über die in England und in den
Colonien geltenden Emigrationsgesetze, seit neuester Zeit ein dreizehntes für
auswandernde Frauen. Die für die grosse Masse der Auswanderer bestimmten
zehn Hefte umfassen 25 — 60 Druckseiten und sind überall um einen Penny
zu beziehen. Sie enthalten eine Karte der Colonie, eine geographische und
statistische Schilderung derselben, wichtige gesetzliche Bestimmungen, Rath-
schläge über die Fahrgelegenheiten, Gepäck und Ausrüstung, Preise von
Lebensmitteln, Löhne, Nachfrage nach Arbeit etc.
Jedes Vierteljahr publiciert das Emigrants Information Office drei
Circulare (für Südafrika, Australien, Canada), die umsonst — aber nach
vorheriger Verständigung — an die staatlichen und die autonomen Behörden,
an Arbeiterverbände, Geistliche, Volksschullehrer, Volksbibliotheken und
Lesehallen, an Wohlthätigkeitsvereine und Zeitungen etc. versendet werden.
Die Circulare sind eine Zusammenfassung und Ergänzung der Handbücher
ui)d informieren zumal über die augenblickliche Lage des Arbeitsmarktes.
Noch condensierter ist der Inhalt der gleichfalls vierteljährlich erscheinenden
Placate, die nur kurze Angaben über die Fahrtdauer und den Preis der
Reise nach den 10 Colonien, über Unterstützung der Auswanderung durch
die Colonialregierungen, Einrichtnngen zum Empfange der Einwanderer,
beste Jahreszeit für die Ankunft, Nachfrage nach Arbeit in den Colonien
5G2
Buzek.
und Warnungen gegen die Auswanderung nach Brasilien enthalten, im übrigen
aber auf das Amt und dessen Publicationen verweisen. Die Posters werden
gratis an alle Postännter^ auch an Vereine, Clubs etc. verschickt und
dort angeschlagen. Seit dem Jahre 1897 werden diese Placate auf allen
Stationen des Great Eastern und der South Eastern Kailway affichiert,
um auch auf die ländliche Bevölkerung einzuwirken.
Das Emigrants Information Office gilt — sehr gegen den eigenen
Willen — als ein Departement des Ministeriums für die Colonien. In
Wirklichkeit besitzt es einen halbofficiellen Charakter, indem dem leitenden
Managing Committee ausser zwei Beamten des Colonialministeriums nur
Privatleute (Fachmänner für die Auswanderung, Delegierte der Arbeiter-
verbände, Parlamentsmitglieder) angehören. Diese Zusammensetzung wurde
gewählt, um das Misstrauen der arbeitenden Classen zu bannen. Dass dies
gelungen ist, wird schon dadurch bewiesen, dass unter den Auswanderungs-
lustigen des Jahres 1898, die in der Centrale mündliche Information ein-
holten (2323 Personen), 28 Proc. unorganisierte Arbeiter, 12 Proc. Hand-
werker, 20 Proc. Commis und Schreiber, 9 Proc. Dienstboten und nur
31 Proc. organisierte Arbeiter und Angehörige höherer Bevölkerungsschichten
waren. Es sind somit die tiefsten Schichten der Bevölkerung, auf die das
Amt in erster Linie wirkt.
Der Umfang der Thätigkeit des Emigrants Information Office wird am
besten durch folgende Ziffern illustriert:
I
I
Iin .Tahre
1894
1895
1896
1897
1898
Es wurden
Handbooks verkauft
für
Pf. Sterl.
d. li. ca.
Exemplare
72
17.280
74
17.760
95
22.800
87
20.8^0
94
22.560
Wurden in der
Centrale
briefliche mündliche
Informationen
ertheilt
6682
7734
9598
9229
9151
2585
2282
2189
2200
2323
Die Centrale
erhielt
Briefe von
versendete
Briefe an
Nichtauswanderer
989
1097
1243
1334
1886
?
27.908
26,958
27.739
32.821
Die Aus-
wanderung
aus P]ngland
betrug
99.590
112.538
102.837
94.658
90.679
Der Einfluss, den das Emigrants Information Office auf die englische
Auswanderung ausübt, muss ein kolossaler sein. Auf 4 Auswanderer kommt
im Jahre 1898 ein verkauftes Handbook, auf je 10 eine schriftliche, auf je
40 eine mündliche Information. Dabei findet die Thätigkeit des Amtes, wie
aus den Ziffern der Spalte 6 und 7 hervorgeht, einen immer stärkeren
Rückhalt an nicht interessierten Privaten, Corporationen etc. Mit Aus-
nahme der ländlichen Bezirke, die nach den zahlreichen Klagen der Geschäfts-
berichte noch immer nicht erobert sind, hat das Amt den Weg zu den
Volksmassen gefunden.
Das Auswanderungsproblem und die Eegelung des Auswanderungswesens etc. 563
Die national-politischen Eesultate der Wirksamkeit des Emigrants
Information Office veranschaulicht folgende Tabelle.
Es wanderten aus England aus:^)
Im Jahre
Personen
Davon in
die Vereinigten
Staaten
Procentuell
1891
137.881
87.581
63-5
1892
133.815
84.667
63-3
1893
134.045
83.293
62-2
1894
99.590
54.253
54-5
1895
112.538
61.211
54-4
1896
102.837
48.434
47-1
1897
94.658
43.381
45-9
1898
90.679
42.244
46-6
1899
87.400
45.723
52-3
1900
102.448
49.445
48-3
In die übrigen
Länder, d. h. zu-
meist in die
Colonien
50.300
49.148
50.752
45.337
51.327
54.403
51.277
48.435
41.677
53.003
Wie Deutschland hatte auch England in der zweiten Hälfte der Neun-
zigerjahre eine Periode wirtschaftlichen Aufschwunges durchgemacht. Dieser
Thatsache entspricht der allgemeine Rückgang der englischen Auswanderung.
1897—1899 wanderten 40,000—50.000 jährlich weniger als in den Jahren
1891 — 1893 aus. Dieser Rückgang beschränkt sich ausschliesslich auf die
Auswanderung nach den Vereinigten Staaten. Zweifellos ist es für die Jahre
1894 — 1898 eine Folge der bereits im ersten Theile dieser Abhandlung mit
einigen Strichen dargestellten Krise in den Vereinigten Staaten. Seit dem
Jahre 1898 beginnt aber ein rasches Anschwellen der nordamerikanischen
Einwanderung, das untrüglichste Zeichen, dass die wirtschaftliche Entwicklung
dieses Landes in aufsteigender Linie sich bewegt. Wenn trotzdem die Ein-
wanderung aus Englaud stationär bleibt, ist dies nur damit zu erklären,
dass der Bann, den die Vereinigten Staaten auf die eng-
lische Auswanderung in früheren Jahren ausübten, durch
die Wirksamkeit des Emigrants Information Office
gebrochen ist. Trotz des südafrikanischen Krieges wendet sich gegen-
wärtig nur die kleinere Hälfte der englischen Auswanderung nach den Ver-
einigten Staaten.
Bereits im ersten Theile der Abhandlung wurde darauf hingewiesen,
dass die Möglichkeit der Ausnützung der dauernden Auswanderung nach
überseeischen Ländern davon abhängig ist, ob die Auswanderer und deren
Nachkommen ihre nationale Eigenart zu bewahren vermögen. Die Mittel,
*) Copy of Statistical Tables relating to Emigration and Immigration from and into
the United Kingdom.
564
Buzek.
mit denen dieses Ziel zu erstreben ist, sind — abgesehen von der Aus-
wanderungsleitung und dem Auswandererschutze — vor allem Sache der
Bethätigung privater Personen und Vereine, denen der Staat nur aufmunternd,
anregend, aushelfend beistehen kann.^) Die Nothwendigkeit gesetzlicher
Bestimmungen ergibt sich für den Staat nur insofern, als es gilt, das
staatsbürgerliche Band zwischen ihm und den Auswanderern zu erhalten
und damit die Grundlage fernerer Verbindung intact zu wahren.
Der Staat hat somit strenge darüber zu wachen, dass seinen Bürgern
nicht wider deren Willen eine fremde Staatsangehörigkeit aufgezwungen
wird, vor allem hat er aber seine gesetzlichen Vorschriften über den Verlust
der Staatsbürgerschaft in Einklang mit den Interessen seiner Auswanderungs-
politik zu bringen. Er wird alles vermeiden, was seine in der Fremde
lebenden ünterthanen zur Ausbürgerung treiben würde, er wird den persön-
lichen Verkehr der Auswanderer mit der alten Heimat möglichst zu erleichtern
suchen. Die beiden letztgenannten Ziele erreicht er am ehesten, wenn er
den Auswanderern in der Erfüllung der schwersten Bürgerpflicht, der Wehr-
pflicht, entgegenkommt.
In vorbildlicher Weise ist diese Seite des Auswanderungsproblemes
von dem neuen italienischen Gesetze gelöst worden. Wir wollen hier nur
die auf den Militärdienst bezüglichen Bestimmungen wiedergeben.
Durch Art. 33 wird die Kecrutierung im Auslande ausschliesslich
den Consular- und den diplomatischen Behörden anvertraut. Die Stellungs-
pflichtigen haben sich zur Hauptstellung bei dem nächsten Consulate, resp.
bei der nächsten Gesandtschaft einzufinden. Werden sie assentiert, dann
werden sie, falls sie sich in Amerika, Oceanien, Asien mit Ausnahme der
Türkei, Afrika mit Ausschluss der Nordstaaten und des italienischen Protec-
torates- aufhalten, vorläufig für die ganze Dauer ihres Aufenthaltes in der
Fremde beurlaubt. (Definitiv befreit werden sie erst nach dem vollendeten
zweiunddreissigsten Lebensjahre.) Nur im Falle einer allgemeinen Mobilisierung
der Armee und der Flotte sind sie verpflichtet, einzurücken, vorausgesetzt,
dass sie nicht von dieser Pflicht ausdrücklich enthoben werden. Bei einer
etwaigen Kückkehr nach Italien haben sich die Assentierten unverzüglich
zur Erfüllung ihrer Militärdienstpflicht zu melden. Nur dann, wenn sie nicht
länger als zwei Monate verweilen sollten, können sie durch specielle
Erlaubnis der Consular-, resp. diplomatischen Behörden davon befreit werden,
Studenten können sogar vom Kriegsministerium die Erlaubnis zu einem
längeren Aufenthalte erhalten, ohne dass sie zum Antritte des Präsenz-
dienstes verhalten wären. Dieser Passus wurde aufgenommen, um den Söhnen
der Auswanderer das Studium an italienischen Schulen zu ermöglichen.
Aehnliche Begünstigungen geniessen nach Art. 34 die italienischen Missionäre,
die sich nach fremden Ländern einschiften. Sind diese Missionäre doch eines
I
^1
^) Näheres siehe bei Freiherr v. Battaglia, „Versuch einer sj'stematischen und
kritischen Darstellung des allgemeinen modernen Auswanderungsrechtes,'' Triest 1897,
S. 73 ff., 76 ff., auch Hub er, Auswanderungswesen im Königreiche Wiirtemberg, Schriften
des Vereines für Socialpolitik. B. LH, S. 259 ff.
Das Auswanderungsproblem und die Eegelung des Auswanderungswesens etc. 565
der wirksamsten Bindeglieder zwischen der Heimat und ihren weit verstreuten
Xindern.
2. Das Problem der Auswanderungstechnik.
Die mit der überseeischen Auswanderung verbundenen Misstände sind
zum grössten Theile unmittelbare Folgen der Auswanderungstechnik. Ohne
eindringliche Vervollkommnung derselben ist somit an eine wirkliche Eegelung
des Auswanderungswesens nicht zu denken.
Die Auswanderungstechnik ist im Principe in allen Staaten des Con-
tinentes dieselbe. Der Auswanderungslustige schliesst den Vertrag mit dem
Eheder, resp. mit der Schiffahrtsgesellschaft, die ihn über das Meer
befördern soll, nur in den seltensten Fällen direct, in der weitaus grössten
Zahl der Fälle bedient er sich der Vermittelung von Auswanderungsagenten.
Die Agenten belehren ihn, wann er die Heimat zu verlassen hat, sie
instruieren ihn über die Eeiseroute, machen ihn mit den wichtigsten Bestim-
mungen der Gfesetze der Einwanderungsländer bekannt, sagen ihm, wie viel
Geld, welche Documente und Gepäckstücke er mitzunehmen hat, helfen bei
der Expedition des Gepäckes, besorgen den Kauf der Schiffskarten etc.
Je weiter die Entfernung vom Meere, je geringer die allgemeine Bildung
und die Findigkeit des Volkes, desto unentbehrlicher ist der Agent. In
dieser ünentbehrlichkeit wurzelt die verhängnisvolle Macht des Agenten.
Die Machtstellung des Agenten zwingt die Schiffahrtsunternehmungen,
ihn bei guter Laune zu erhalten, um ihn in die Dienste ihrer Interessen zu
spannen. Daraus entwickelt sich eine Eeihe weiterer Misstände. Die Unter-
nehmer zahlen dem Agenten für jeden Passagier, den sie seiner Vermittelung
verdanken, eine bestimmte Provision. Dies geschieht zumeist in der Art und
Weise, dass die von den Schiffahrtsgesellschaften publicierten Tarife ausser
den üeberfahrtsgebüren auch schon die Provision für die Agenten und dessen
Unteragenten enthalten. Der Agent cassiert die tarifmässigen Beförderungs-
kosten, streicht seine Provision ein und liefert den Eest an die Schiffahrts-
gesellschaft ein. In der Provision liegt für den Agenten ein allzustarker
Anreiz, als dass er sich auf die Expedition der sich bei ihm spontan
meldenden Auswanderer beschränken sollte. Er umgibt sich mit einem
Heere von Unteragenten, die per Kopf der angeworbenen Auswanderer ent-
lohnt werden. So verspricht z. B. die hamburgische Agentur Falck & Comp,
in dem in Galizien massenhaft verbreiteten Circulare vom 29. December 1898
ihren Subagenten für jeden dienten eine Provision von 5 fl. Die künstliclie
Hervorrufung der Auswanderung — und alle mit dieser verbundenen
Betrügereien — sind eine nothwendige Folge des Agentenwesens.
Ein weiterer Nachtheil, der dem Agentenwesen immanent innewohnt
und eben deswegen irreparabel ist, beruht darauf, dass der Auswanderer-
strom nicht gleichmässig im Jahre verläuft, sondern im Frühjahr und dann
wieder im Herbste mächtig anschwillt, im Hochsommer und in den Winter-
monaten dagegen zusammenschrumpft. Das Interesse der Schiffahrtsunter-
nehmungen verlangt aber einen möglichst gleichmässigen Verlauf der Wander-
566
Buzek.
bewegung. Diesem Postulat entspricht die Tarif- und die Provisionspolitik
der Schiffahrtsgesellscliaften. Der Auswandererflut entsprechen hohe Ueber-
fahrtspreise und niedrige Provisionen, der Ebbe niedere üeberfahrtspreise
und hohe Provisionen. Die Agenten müssen demnach mit aller Kraft bestrebt
sein, die Auswanderung auf die ungünstigste Jahreszeit hinzulenken. In
welchem Maasse dies speciell in Oesterreich gelingt, zeigt der Verlauf der
galizischen Einwanderung nach den Vereinigten Staaten. Während z. B. die
irische Einwanderung dorthin mit fast mathematischer Kegelmässigkeit ver-
läuft, culminiert die galizische im Jahre 1896 im Mai, 1897 im December (!),
1898 im März (ly) Und nun bedenke man. dass der Erfolg der Aus-
wanderung in sehr hohem Maasse von der Wahl des richtigen Zeitpunktes
abhängt. Jede Woche Erwerbslosigkeit, jede Woche nutzlosen Verweilens
jenseits der Meere bedroht die mitgenommene Barschaft des Auswanderers,
kann seinen Untergang herbeiführen. Wir sehen, das Agentenwesen vermag
auch der proprio motu entstehenden Emigration durch die im Geschäfts-
interesse des Agenten gebotene falsche Wahl der Abfahrtszeit von vorne-
herein den Stempel einer ungesunden Bewegung aufzudrücken.
Ein weiterer Misstand ergibt sich daraus, dass Rheder und Schiffahrts-
gesellschaften, die über voll ausgerüstete und schnellfahrende Schiffe ver-
fügen und regelmäs s ige Verbindungen unterhalten, eben deswegen nicht
in der Lage sind, den Agenten so hohe Provisionen zu gewähren, wie Rheder
mit schon abgebrauchtem, minderwertigem Schiffspark. Aus dem von der
italienischen Regierung gesammelten Materiale ist zu entnehmen, dass im
Jänner 1897 von Genua nach Brasilien und dem La Plata unter anderen
folgende Schiffe ausliefen:
I
Tag der
Abfahrt
Bezeichnung des
Dampf-
schiffes
Unternelimers
Ueberfahrts-
kosten
dritter Classe
pro Kopf
Gewinn
des
Agenten
Selbst-
kosten des
Unter-
nehmers
15
8
20
10
Oiion
Olbia
Italia
Agordat
Navigazione Generale Italiana
Puglia
Stefano Repetto
Ligure Brasiliano
Ebenso die übrigen Schiffe.
170
153
153
130
15
30
40
10
90
80
60
60
Je geringer die Selbstkosten der Unternehmer, desto höher die dem
Agenten gewährten Provisionen. (Eine scheinbare Ausnahme bemerken wir
beim Dampfer Agordat, wo aber die Üeberfahrtspreise von der brasilianischen
Regierung bezahlt waren, so dass es an Zulauf nicht fehlen konnte.) Die
Höhe der Provisionen schwankt noch mehr, wie die der Fahrpreise. Kein
1) Genaueres in Dr. Buzek, „Die überseische österreichische Wanderung in den
Jahren 1896—1898." Statistische Monatsschrift, N. F. II. Jahrgang, S. 86.
Das Auswanderungspioblem und die Regelung des Auswanderungswesens etc. 567
Wunder, dass der Agent kein Mittel unversucht lässt, um Leute, die etwa
am 8. Jänner mit der Olbia abfahren wollten, erst am 20. mit der Italia
zu expedieren. Ueber die einzelnen schändlichen Tricks und über die Folgen
für den Auswanderer sei auf die Schilderung der Navigazione Generale
Italiana (Atti parlamentari, Legislatura XX, Terza sessione 1899 — 1900,
seduta del 3 febbraio 1900, Nr. 97 e 97 bis A) verwiesen.^)
Die gänzliche Beseitigung der erwähnten, aus dem Wesen der Aus-
wanderungsagenturen entspringenden Misstände ist nur möglich mit der
Aufhebung der Institution selbst. Ist eine solche fundamentale Aendermig
der Auswanderungstechnik zweckmässig, unter welchen liedingungen und mit
welchem Erfolge ?
Gelegentlich der parlamentarischen Behandlung des neuen italienischen
Gesetzes wurde vielfach, namentlich von socialistischer Seite, die Bei-
behaltung des Agentenwesens gefordert. Man behauptete, dass dieses das
einzige Mittel sex, um die Auswanderer vor der Monopolstellung der Schiffahrts-
gesellschaften zu schützen. Wenn die Gesellschaften die Ueberfahrtspreise
gar zu sehr erhöhen, sind es die Agenten, welche ausländische Concurrenz-
linien herbeirufen, die Coalition der Rheder durchbrechen und eine Ermässigung
der Tarife erzwingen. Die von den Agenten bezogenen Provisionen belasten
den Auswanderer viel weniger, als es Coalitionen der Transportgesellschaften
thun würden.
Es ist allerdings richtig, dass die Monopolstellung der Schiffahrts-
gesellschaften denselben ermöglicht, Ueberfahrtspreise zu dictieren, die durch
nichts anderes als die Sucht, auf Kosten der Auswanderer den Profit zu
erhöhen, gerechtfertigt werden können. Ebenso aber ist es richtig, dass die
Agenten nicht das geeignete Werkzeug sind, um hier abzuhelfen. Unter
Umständen sind sie im Gegentheile das geeignetste Mittel, den Gesell-
schaften den Ausschluss jedweder Concurrenz zu garantieren. Als Beweis
diene der Vertrag, der zwischen fünf an der Auswandererbeförderung nach
Südamerika interessierten Gesellschaften und den Agenten von Neapel im
Jahre 1895 geschlossen wurde. Die Agenten verpflichten sich, „a lavorare
con tutta attivitä", um den coalierten Gesellschaften eine möglichst hohe
Anzahl von Passagieren nach Südamerika zu liefern. Sie verpflichten sich,
nicht coalierten Gesellschaften oder Ehedern unter keinen Umständen
Passagiere zuzuweisen, und versprechen. Jedwede Concurrenz mit allen
Mitteln" zu bekämpfen. Dagegen verpflichten sich die Unternehmer, den
Agenten ausser den für die Subagenten bestimmten Provisionen, deren Höhe
von Zeit zu Zeit bestimmt wird, für jeden Auswanderer 10 Lire Provision
zu bezahlen. Ebenso verpflichten sie sich, die Auswanderer der in
die Uebereinkunft nicht einbezogenen Agenten von der
Beförderung auf ihren Schiffen auszuschliessen. Wir sehen,
nicht bloss die Schiffahrtsgesellschaften, auch die Agenten streben eine
^) Alle auf das neue italienische Auswanderungsgesetz bezüglichen Drucksachen
des italienischen Parlaments verdanken wir der Liebenswürdigkeit Sr. Excellenz Luigi
Luzzatti, des Referenten des neuen Gesetzes.
568
Buzek.
Monopolstellung an, und der Interessengegensatz zwischen beiden ist nicht so
tief, als dass er nicht auf Kosten der Auswanderer ausgeglichen werden könnte.
Die Lösung der Frage, ob die Aufhebung des Agentenwesens zweck-
mässig sei, hängt demnach ausschliesslich davon ab, ob man glaubt, die
vermittelnden Functionen der Agenten durch Creierung anderer Organe so
vollständig ersetzen zu können, dass für die Thätigkeit unbefugter Winkel-
agenten kein Raum mehr übrig bleibt. Von allen Auswanderungsgesetzen,
die wir kennen, hält nur das neue italienische Gesetz vom 31. Jänner 1901
an der vollständigen Unterdrückung des Agentenwesens fest. Alle übrigen
Staaten mit moderner Auswanderungsgesetzgebung suchen dagegen mit einer
stricten Reglementierung und Ueberwachung der Auswanderungsagenten ihr
Auskommen zu finden.
Das neue italienische Gesetz überweist die bisher von den Agenten
ausgeübten Functionen theils den mit der Beförderung von Auswanderern
sich befassenden Rhedern (vettore d'emigranti), theils den bereits erwähnten
localen Auswanderungscomites. Nach Art. 16 können die Rheder unter
Zustimmung des Auswanderungscommissariates in allen Theilen des Landes
eigene Repräsentanten ernennen. Der Rheder übernimmt alle civile Ver-
antwortlichkeit für die Handlungen dieser Repräsentanten, wie er überhaupt
für alle Handlungen seiner Angestellten, anderer Rheder und jeder, anderen
Person, der er die Beförderung des Auswanderers, sei es auch mit dessen
Wissen und Zustimmung, ganz oder zum Theile überlässt, verantwortlich
ist. Die Repräsentanten dürfen ihre Mandate nicht weiter delegieren. Mit
Zustimmung des Commissariates können verschiedene Rheder einen gemein-
samen Repräsentanten bestellen. In allen Fällen ist es diesen verboten,
Auswanderern die Ueberfahrt auf Schiffen, die nicht ihrem eigenen Mandanten,
resp. ihren Mandanten gehören, zu vermitteln. Letztere Bestimmung ver-
hindert, dass die Institution der Repräsentanten wiederum den Charakter
der alten Agenten annehme.
An Orten, wo keine Localvertretung der Rheder besteht, haben die
Aufgaben der bisherigen Agenten die Localcomites zu übernehmen. Das
Commissariat hat ihnen die hierzu nothwendigen Informationen zu liefern.
Die Localcomites können die Auswanderer unter Anrufung der Intervention
der Auswanderungsinspectorate mit den Schiflfsrhedern in Verbindung bringen.
Man muss zugeben, dass die Normen des italienischen Gesetzes sehr
fein gedacht sind. Zwar sind die Rheder an der Unterhaltung des Aus-
wanderungsfiebers und an einer möglichst gleichmässigen Vertheilung des
Auswandererstromes über das Jahr hin zum mindesten ebenso wie die
Agenten interessiert. Es ist jedoch nicht zu verkennen, dass dieses Interesse
bei ihren fix angestellten Organen nicht mehr zutriift. Sodann stehen für
die Rheder gar zu grosse Interessen auf dem Spiele, als dass sie nicht,,
das wachsame Auge der Regierung fühlend, Benachtheiligungen der Aus-
wanderer lieber aus dem Wege gehen sollten. Uebrigens wird ihre
Thätigkeit in vielen Gegenden durch das Wirken uninteressierter Local-
comites ersetzt und in Schach gehalten.
I
Das Auswanderungsproblem und die Eegelung des Auswanderungswesens etc. 569
Die Hauptaufgabe der Staaten, die die Beibehaltung des Agentenwesens
für entsprechender hielten, musste darauf gerichtet sein, vor allem Mittel
und Wege zu finden, um den dem Agentenwesen immanenten Auswüchsen
— vor allem aber der Nährung eines künstlichen Auswanderungsfiebers —
wirksam zu steuern. Im Princip handelt es sich hiebei vor allem um eine
Keformation der Auswanderungstechnik, der hierbei fungierenden Organe
und der von diesen entwickelten Thätigkeit. Die in Betracht kommenden
Maassregeln sind auf den ersten Blick in allen Staaten so ziemlich dieselben;
erst eine feinere Betrachtung fördert auch hier charakteristische unter-
schiede zutage. Für die in Oesterreich beabsichtigte Eegelung des Aus-
wanderungswesens scheinen uns die zwischen der deutschen und der
schweizerischen Gesetzgebung obwaltenden Unterschiede besondere Bedeutung
zu besitzen. Wir beschränken uns daher auf die Darstellung der bezüglichen
Vorschriften des deutschen und des schweizerischen Auswanderungsgesetzes.
Das deutsche Gesetz beruft zur Mitwirkung an der Beförderung der
Auswanderer nur zwei Kategorien von Personen : 1. die concessionierten
Agenten, d. h. diejenigen, die „bei der Beförderung von Auswanderern nach
ausserdeutschen Ländern durch Vorbereitung, Vermittelung oder Abschluss
des Beförderungsvertrages gewerbsmässig mitwirken wollen", und die
concessionierten Unternehmer, die „die Beförderung von Auswanderern nach
ausserdeutschen Ländern betreiben wollen". Alle anderen Kategorien der
Vermittler werden vom Auswanderungsgeschäfte ausgeschlossen. Dadurch,
dass nach Wortlaut des § 5 die Unternehmerconcession nur dann ertheilt
werden darf, wenn der Ansuchende nachweist, dass ihm zur Beförderung
der Auswanderer geeignete eigene oder fremde gecharterte Schiffe zur
Verfügung stehen,^) werden die sogenannten binnenländischen Unternehmer
ausgeschlossen, welche bisher im eigenen Namen Beförderungsverträge
abgeschlossen haben, um sodann ihre Auswanderer — entweder auf Grund
zuvoriger Abkommen mit in- oder ausländischen Schiffahrtsgesellschaften
oder imter Ausnützung der jeweilig sich darbietenden Beförderungs-
gelegenheit — diesen oder jenen Schiffslinien zuzuweisen. Dadurch, dass
ferner nach § 13 jeder Agent (vide obige Definition) von einem conces-
sionierten Unternehmer bevollmächtigt sein muss, werden von dem Verkehr
mit dem Auswanderer zwei weitere Kategorien von Vermittlern ausgeschlossen':
die Schiffsagenten und die Unteragenten. So bleiben nur die erwähnten
zwei Kategorien am Platze, der Unternehmer im Einschiffungshafen, der
Agent im Innern des Landes ; den sachlichen Bedürfnissen der Auswanderung
ist damit genüge gethan und zahlreichen Misständen die Spitze genommen.
Die im obigen skizzierte Auswanderungstechnik des deutschen Gesetzes
erfährt ihren inneren Ausbau — wird zu einem lebensfähigen Gebilde —
erst durch die Statuierung des Unternehmerzwanges für die Agenten, des
Agentenzwanges für die Unternehmer. In ersterer Beziehung verfügt § 16 :
^) Eine Ausnahme von dieser Vorschrift ist nur im Interesse deutscher Colonial-
gesellschaften zugelassen.
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. X. Band. 39
570 Buzek.
„Für andere als den in der Eiiaubnisurkunde namhaft gemachten Unternehmer
sowie auf eigene Eechnung'' darf der Agent seine Agentengeschäfte nicht
besorgen." Es werden damit mit einem Schlage die Thätigkeit der Agenten im
Interesse solcher Schiffslinien, welche im Keichsgebiete nicht als Unter-
nehmer zugelassen sind, ausgeschlossen und die Agenten in eine Art
Repräsentanten bestimmter Rheder oder Gesellschaften verwandelt. Umgekehrt
wird durch das Frincip des Agentenzwanges dem Aufkommen unconces-
sionierter und uncontrolierter Winkelagenten vorgebeugt. Es wird nämlich
den Unternehmern untersagt, mit solchen Winkelagenten in geschäftlichen
Verkehr zu treten und die von diesen vermittelten Auswanderer zu befördern.
Ausserhalb des Gemeindebezirkes seiner gewerblichen Niederlassung und des
Gemeindebezirkes seiner etwaigen Zweigniederlassungen hat sich nach § 8
der Unternehmer bei der Ausübung seines gesammten Geschäftsbetriebes,
soweit es sich dabei nicht lediglich um die Ertheilung von Auskünften auf
Anfrage und die Veröffentlichung der Beförderungsgelegenheiten und
-bedingungen handelt — ausschliesslich seiner zugelassenen Agenten zu
bedienen. Der Gesetzgeber erachtet, dass durch die obigen Bestimmungen
den Unternehmern die nothwendige Bewegungsfreiheit eingeräumt, anderseits
aber den Auswanderern die Möglichkeit geboten ist, nicht bloss beim
Agenten, sondern auch direct beim Unternehmer sich den erwünschten Rath
zu holen.
Während das deutsche Gesetz die Verantwortlichkeit für die Beförderung
des Auswanderers auf den Agenten und den Unternehmer vertheilt, concentriert
das schweizerische Auswanderungsgesetz vom 22. März 1888 die ganze
Verantwortlichkeit auf eine einzige Person, die nach der in Deutschland
gebrauchten Terminologie als binnenländischer Unternehmer zu charak-
terisieren wäre, vom schweizerischen Gesetz aber schlechthin Agent genannt
wird. Dieselbe Kategorie von Vermittlern, die in Deutschland als schädlich
kaltgestellt wurde, wird in der Schweiz gerade in den Mittelpunkt der
Regelung des Auswanderungswesens gerückt. Die Ursache ist klar. Die
Schweiz ist ein Binnenland und muss ihre Auswanderer über fremde Häfen
befördern. Trotzdem wollte man den Schutz des Auswanderers während der|
ganzen Reise, vom Aufbruch aus der Heimat bis zur Ankunft im Bestimmungs-
lande, sichern. Dies konnte nur dadurch erreicht werden, dass die inländischen
Agenten „sowohl gegenüber den Behörden als gegenüber den Auswanderern
für ihre eigene Geschäftsführung und die ihrer Unteragenten, sowie für
diejenige ihrer Vertreter im Auslande persönlich verantwortlich" gemacht
wurden (Art. 7). Auch wenn die Benachtheiligung des Auswanderers aus-
schliesslich dem ausländischen Agenten oder Rheder zur Last fallen und
den Agenten gar kein Verschulden treffen sollte, ist er dem Auswanderer
zum Schadenersatz, den Behörden zur Rechenschaft verbunden. Es ist seine
Sache, sodann Regress bei dem Schuldtragenden zu suchen. Bei dieser Sach-
lage war es angezeigt, die Position des Agenten gegenüber den Schiffahrts-
unternehmern möglichst zu stärken. Dies wäre aber unmöglich, wenn der
kleine Agent unmittelbar dem Rheder gegenüber stehen würde. So wurde
I
Das Auswanderungsproblem und die Kegeluug des Auswanclerungswesens etc. 571
denn der über einen zahlreichen Stab von Agenten (Unteragenten) verfügende
„binnenländische Unternehmer" (Agent) beibehalten.
Im sonstigen unterscheidet sich die Auswanderungstechnik des schwei-
zerischen Gesetzes in nichts Erheblicherem von der deutschen : auch hier
herrscht Concessionspflicht für jeden Agenten und Unteragenten, sowie der
Unteragentenzwang für den Agenten und selbstverständlich auch umgekehrt.
Nur eines muss besonders hervorgehoben werden. Das schweizerische Gesetz
versucht den dem Agentenwesen immanenten Misständen dadurch vorzubeugen,
dass ausdrücklich festgesetzt wurde (Art. 3, al. 5),M dass Auswanderungs-
agenten (und ihre Unteragenten) weder in einem Dienst- noch in irgendeinem
Abhängigkeitsverhältnis zu einer überseeischen Dampfschiff- oder Eisenhahn-
unternehmung stehen dürfen. Durch Art. 9 wurden sodann die Agenten ver-
pflichtet, dem Bundesrathe alle von ihm über ihr Verhältnis zu den fremden
Schiffsgesellschaften verlangte Mittheilungen zu machen. Diese Bestimmungen
waren ein Schlag ins Wasser. Bereits der Geschäftsbericht des Bundesrathes
für 1895 erklärt offen: „In einem Abhängigkeitsverhältnis zu den Schiffahrts-
gesellschaften stehen alle Agenten, insofern es den ersteren freisteht, mit
letzteren in Geschäftsverkehr zu treten und die Bedingungen festzustellen,
unter denen sie von ihnen Auswanderer zur Beförderung übernehmen. Aus
diesem Grunde, und weil es schwer ist, Einsicht in die Verhältnisse der
Agenten zu den Schiffahrtsgesellschaften zu erlangen, ist die in Kede
stehende gesetzliche Bestimmung nicht von grossem Werte." Vor der Nach-
ahmung dieses Verbotes sei, wie vor jedem Eingriffe in die Natur der
Dinge, die österreichische Gesetzgebung gewarnt.
Schon durch eine den Verhältnissen angemessene Kegelung der Aus-
wanderungstechnik kann den immanenten Gefahren des Agentenwesens
wirksam begegnet werden. Der Kreis der an der Auswanderung interessierten
Personen wird möglichst enggezogen, die Verantwortlichkeit ist scharf um-
grenzt und in jedem einzelnen Falle leicht zu constatieren. Das weitere
können polizeiliche Gebote, Verbote, Cautelen besorgen. Insbesondere vom
Gesichtspunkte der Unterdrückung der Auswanderungspropaganda sind fol-
gende Maassnahmen von Wichtigkeit :
1. das allen modernen Gesetzen gemeinsame Verbot der Ausübung
des Agentenbetriebes in Zweigniederlassungen oder durch Stellvertreter, sowie
im Umherziehen. Erstere Verbote dienen zur Aufrechterhaltung des höchst
persönlichen, resp. des höchst localen Charakters der Agentenconcession,
letzteres sucht die besonders gefährliche Propaganda auf Jahrmärkten,
Kirchfesten, in Wirtsstuben, durch Begehung der Privathäuser etc. un-
möglich zu machen.
2. Die Bestimmung, dass die Unternehmer ihre an die Agenten und
die Auswanderer gerichteten Schreiben, die Agenten die Schreiben an die
Dnternehmer und Auswanderer zu copieren, sorgfältig aufzuheben und den
Behörden auf Verlangen zur Einsicht vorzulegen haben. Diese werden so in
^) Vergl. auch Art. 12 und 13 des Gesetzes.
39^*
572 Buzek.
den Stand gesetzt, die Geschichte jedes einzelnen Auswanderungsfalles
kennen zu lernen. (§ 24 der Bestimmungen über den Geschäftsbetrieb der
Auswanderungsunternehmer und Agenten, Bekanntmachung des Bundesrathes
vom 14. März 1898, K-G.-Bl. Nr. 10, Art. 9, schw. G.).
3. Das Verbot der schriftlichen Auswanderungspropaganda durch
Verbreitung von Broschüren, Circulären, Bildern, Karten etc. Im allgemeinen
werden den Interessenten nur Bekanntmachungen der Fahrtgelegenheiten
gestattet (Art. 17 ital. G., Art. 8, al. 2, schw. G., § 25 Bek. d. Bundes-
rathes vom 14. März 1898). Der Bewegungsfreiheit privater Personen werden
in der Regel weitere Grenzen gezogen. Das italienische Gesetz verbietet
z. B. nur die Ermunterung zur Auswanderung durch wissentlich falsche
mündliche oder schriftliche Informationen (Art. 17). Eine besondere Stellung
nimmt nur das schweizerische Gesetz ein, welches grundsätzlich die Aus-
wanderungsinteressenten und die unbetheiligten Privaten ganz gleich behandelt.
Es bestimmt, dass der Bundesrath in jedem einzelnen Falle zu entscheiden
hat, „ob und unter welchen Bedingungen Privaten, Gesellschaften oder
Agenten gestattet werden kann, ein Colonisationsunternehmen zu vertreten"
(Art. 10). Dabei wird ein Colonisationsunternehmen jedesmal angenommen,
,wenn durch propagandistische Mittel, wie Vertheilung von
Broschüren, Prospecten, Uebersichten über Lebensmittelpreise und Lohn-
verhältnisse, Gewährung von Vorschüssen, sei es für die üeberfahrtskosten,
sei es für die erste Einrichtung, die Auswanderung nach einer gewissen
Gegend oder einem bestimmten Lande zu lenken gesucht wird."^)
Ausnahmen von diesen Bestimmungen werden nur aus ganz besonderen
Gründen gestattet. So begünstigt das italienische Gesetz die zeitweilige
Auswanderung, unter der dauernden wiederum die colonisatorische. Dem-
entsprechend setzt es fest, dass privaten Unternehmern, sowie Colonial-
gesellschaften, „die von den Gesetzen des betreffenden Landes zugelassen
sind," vom Ministerium des Aeussern mit Zustimmnng des Ministeriums
des Innern unter Auflegung besonderer Bedingungen die
Erlaubnis ertheilt werden kann, ausschliesslich für eigene Rechnung die zur
Ausführung der Arbeit, resp. zur Besiedelung des erworbenen Terrains
nothwendige Anzahl von Personen anzuwerben." Das deutsche und selbst
das schweizerische Gesetz lassen genehmigte Colonisationsgesellst3haften
zu, ohne aber die Auswandererwerbung zuzulassen. In der Schweiz ist
sogar bei erlaubten Colonisationsunternehmungen nur die Ertheilung von
Auskünften und die Verabreichung von Veröffentlichungen an spontan sich
Meldende gestattet. (Bundesrathsbeschluss vom 12. Februar 1889, Bericht
des Bundesrathes vom Jahre 1899.)
4. Das Verbot der Beförderung von Auswanderern, für welche von
fremden Regierungen oder von Colonisationsgesellschaften oder ähnlichen
Unternehmungen der Beförderungspreis ganz oder theilweise bezahlt wird
oder Vorschüsse geleistet werden. Dieses Verbot ist schon deswegen auf-
I
^) Kreisschreiben des Bundesrathes vom 12. Februar 1889.
Das Auswanderungsproblem und die Regelung des Auswanderungswesens etc. 578
zunehmen, weil in der Kegel die gratis Beförderten später dem bittersten
Elend preisgegeben wurden, anderseits aber auch deswegen, weil die ünent-
geltlichkeit des Transportes erfahruugsgemäss eine unerwünschte Unruhe in
bisher sesshafte und leidlich zufriedene Bevölkerungkreise hineingetragen hat.
Auch in Bezug auf diese Bestimmung bestehen zwischen der italie-
nischen, schweizerischen und deutschen Gesetzgebung weitgehende Unter-
schiede. Das italienische Gesetz kennt sie überhaupt nicht, di:s deutsche
lässt Dispensen zu (§ 23 c), .das schweizerische zwar auch, es verbietet
aber ausdrücklich die Annoncierung in den Zeitungen und jedwede andere
Verölfentlichung über solche Passagevorschüsse.
5. Von besonderer Wichtigkeit ist ferner die Concessionierung einer
dem thatsächlichen Bedürfnis entsprechenden Zahl von Agenten, resp.,
Unteragenten. Eine allzugrosse Zahl von Agenten kann leicht die Hervor-
rufung einer künstlichen Ausw^yiderung zur Folge haben, eine allzukleine
das Aufkommen uncontrolierter Winkelagenten. ^) Die Ertheilung der Agenten-
concession muss demnach der arbiträren Entscheidung der Beh'örde über-
lassen werden ; es geht nicht an, den Petenten bei Erfüllung gewisser
Bedingungen einen Anspruch auf die Ertheilung der Concession zu ertheilen.
In technischer Hinsicht ist es deswegen rathsam, im Gesetze bloss fest-
zustellen, wann die Concession nicht er th eilt werden darf (§ 13 b,
§ 15 d. G.). — Die Festlegung der Bedingungen, unter denen eine Con-
cession ertheilt werden darf (so im schweizerischen Gesetze Art. 3),
führt dagegen zu Unzukömmlichkeiten^) und wird deswegen besser ver-
mieden.
6. Besonderes Augenmerk hat die Behörde bei der Ertheilun<j der
Concession auf die persönlichen Eigenschaften des Agenten zu richten. In
der Schweiz hat es sich herausgestellt, dass in einigen Cantonen fast
sämmtliche Agenten Wirte waren. Wer weiss, welche Mittel solche Agenten
in Bewegung setzen können, um aus der Situation den grössten Nutzen
herauszuschlagen, muss verlangen, dass Wirte womöglich principiell nicht
zu concessionieren sind. In einem Gesetze kann allerdings eine solche Aus-
schliessung einer ganzen Berufsclasse nicht verfügt werden. Für die Praxis
kann aber ganz wohl die Norm erlassen werden, bei Gesuchen von Wirten
besonders strenge die persönlichen Cautelen des Bewerbers zu prüfen. Eine
gesetzliche Ausschliessung könnte nur für Eine Personenclasse gerechtfertigt
erscheinen; wir meinen die öffentlichen, insbesondere aber die Gemeinde-
beamten, die in der Schweiz — bei uns insbesondere in Galizien — ihre
Stellung zu Auswanderungsagitationen in unverantwortlicher Weise miss-
brauchten.
Mit Obigem wären die zur Regelung der Auswanderungstechnik zu
ergreifenden Maassnahmen genügend charakterisiert. Es bleibt nur noch die
Frage übrig, inwieweit überhaupt die Regelung der Auswanderungstechnik
*) Vgl. Karrer, „Die schweizerische Auswanderung und die Revision des Bundes-
gesetzes, betreffend den Betrieb von Auswanderungsagenturen", S. 155.
-) Botschaft des Bundesrathes vorn 6. Juni 1887.
>74
Buzek.
ihr Ziel erreichen kann. Als x^ntwort sollen zunächst folgende Ziffern
angeführt werden :
Es betrug die Auswanderung aus der Schweiz
4
im Jahre
nach Argentinien
schweizerische argentinische
Statistik
nach den Vereinigten Staaten
schweizerische
amerikanische
Statistik
1888
1891
1895
1899
1334
282
354
245
1479
352
465
348
6759
6920
3697
2159
7622
6934
2513
1107
Die schweizerische Statistik beruht auf den Angaben der Agenten
über die von ihnen abgeschlossenen Beförderungsverträge (vide Art. 39 der
Vollziehungsverordnung vom 10. Juli 1888), die amerikanische Statistik
gibt dagegen die Zahl der in den Häfen der Union gelandeten Zwischendeck-
passagiere. Da Auswanderer in der Regel im Zwischendeck reisen, müssten
die Ziiferii der schweizerischen und amerikanischen Statistik im grossen
und ganzen übereinstimmen, vorausgesetzt, dass das schweizerische Gesetz
seinen Zweck, die gesammte Auswandererbewegung unter strenge Controle
des Bundes zu stellen, erreicht hat. Bis zum Jahre 1888/1889 sind nun
die von den schweizerischen Agenten angegebenen Ziffern um einiges nied-
riger, als die Zahlen der amerikanischen Statistik; in den Jahren 1890/1891
ergibt sich eine fast vollständige Uebereinstimmung, seit 1892 werden da-
gegen von der schweizerischen Statistik circa 1000 Auswanderer mehr, als
von der amerikanischen ausgewiesen. Letzterer üeberschuss ist damit zu
erklären, dass schweizerische Einwanderer zu den bemittelteren gehören und
nicht selten in Schiffscabinen reisen. Als solche werden sie aber in Nord-
amerika nicht zu den Einwanderern gezählt. Addiert man die Zahl dieser
Cabinenpassagiere (imFiscaljahre 1899/1900 1106) zur Zahl der Zwischendecks-
passagiere, dann ergibt sich eine fast vollständige Uebereinstimmung beider
Statistiken. Gegenwärtig ist der Zweck des schweizerischen
Auswanderungsgesetzes, soweit es sich um die Aus-
wanderung nach Nordamerika handelt, auf das voll-
ständigste erreicht. Nicht so bezüglich Südamerikas. Dorthin wendet
sich die italienische Bevölkerung des armen, verhältnismässig zurück-
gebliebenen Tessino. Dank der Unbildung der Bevölkerung hat sich hier
noch immer, wenngleich in sehr bescheidenem Umfange, die Thätigkeit
ausländischer Winkelagenten zu behaupten vermocht. Diese Thatsache ist
bei der Regelung des Auswanderungswesens in Oesterreich besonders zu
beherzigen.
Die Wirksamkeit des neuen deutschen und des italienischen Gesetzes
kann bis nun an der Hand von Ziffern nicht geprüft werden. Wohl lässt sich
Das Auswanderungsproblera und die Regelung des Auswanderungsr.'esens etc. 575
aber ziffernmässig der Nachweis führen, dass in Ländern mit einer geregelten
Allswanderungstechnik die Auswanderung in unvergleichlich höherem Maasse
ein Resultat rein wirtschaftlicher Kräfte ist, als in Ländern mit einem auf
altpolizeiliche Weise geregelten Auswanderungswesen. Speciell in Oesterreich
ist die Thätigkeit von Auswanderungsagenten verboten. Nachdem es die
Regierung nicht für entsprechend gehalten hat, auf Grund der im § 1 des
Gesetzes vom 21. Jänner 1897, R.-G.-Bl. Nr. 27, iraplicite enthaltenen
Befugnis im Verordnungswege die näheren Voraussetzungen des Betriebes
von Auswanderungsagenturen festzustellen, gelten bis zum heutigen Tage
die Bestimmungen des alten Auswanderungspatentes vom 24. März 1832,
J.-G.-S. Nr. 2557, und ist die Errichtung eigentlicher Auswanderungs-
agenturen gänzlich untersagt. Lediglich die berechtigten öffentlichen Agenten
und die Privatgeschäftsvermittler sind auf Grund eines Erlasses des
Ministeriums des Innern vom 23. October 1852, Z. 25.748 auf Grund
einer besonders zu ertheilenden . Erlaubnis berechtigten, einzelnen Parteien
auf deren Wunsch in Auswanderungsangelegenheiten Eath zu ertheilen.
Ihre Thätigkeit muss sich jedoch auf die Ertheilung dieser Aus-
künfte beschränken, und ist insbesondere jede Geschäftsverbindung mit
Expedienten oder Agenturen des Auslandes in Betreff einer Vermittelung
der Auswanderung untersagt. Mit einem Worte,, sie dürfen eigentlich
Agentengeschäfte nicht besorgen. Die ihnen gestatteten Geschäfte (Ertheilung
von Rath) können und wollen sie nicht betreiben, da ihnen dazu jeder
materielle Ansporn und folgerichtig auch die einschlägigen Kenntnisse
mangeln. Das sociale Bedürfnis der Bevölkerung begegnet sich mit dem
Interesse der Schiflfslinien, und beides ruft zahlreiche Winkelagenturen ins
Leben, die ohne jewede Controle ungescheut ihre „Arbeit" verrichten. Und
die Resultate? Sie sind im historischen Tlieile dieser Abhandlung zur Genüge
dargestellt worden.
Die Auswanderung aus Oesterreich ist in den letzten Jahren bedeutend
gestiegen, während gleichzeitig die Auswanderung aus Deutschland auf 74,
die aus anderen Staaten Westeuropas mit moderner Auswanderungsgesetz-
gebung ebenso stark gefallen ist. Dieser Abfall wurde durch die wirt-
schaftlichen Verhältnisse der betreffenden Staaten und der Einwanderunffs-
länder verursacht. Eben dieselbe Ursache hätte auch in Oesterreich eine
allerdings geringere Abnahme der Auswanderung hervorrufen sollen. Nun
geschah aber das Gegentheil. Die Erklärung findet sich leicht, wenn man
sich die Situation der Schiffslinien, die bis 1893 auf die Beförderung von
100.000 von Auswanderern gewohnt waren und nun bloss 10.000 befördern
sollten, vergegenwärtigt. Sie mussten sich um jeden Preis Auswanderer aus
anderen Ländern verschaffen und verlegten sich da natürlich auf die Länder
mit ungeregelter Auswanderungstechnik : Oesterreich und Russland. So
predigt denn gerade die Erfahrung der jüngsten Zeit die Richtigkeit des
Satzes : ohne Regelung der Auswanderungstechnik ist auf
eine Eindämmung der unwirtschaftlichen Auswanderung
nicht zu denken.
576 iJuzek.
3. Die Auswanderung und die nationale Marine.
Der Auswandererstrom ist für die Entwickelung der Handelsmarine von
hoher Bedeutung. Er verschaift ihr lohnenden Verdienst, belebt den Schiffs-
verkehr und trägt so zur Erweiterung des Aussenhandels bei.^) Eben da-
durch, wie an und für sich, wirkt er ausserdem fördernd auf den Aufschwung
der für die Einschiffung in Betracht kommenden Hafenplätze. Fügen wir
noch hinzu, dass der Ausschluss der Auswanderung von fremden Häfen,
und von fremden, den staatlichen Gesetzen nicht vollständig unterworfenen
Unternehmern von der allergrössten Bedeutung für den Ausbau der Aus-
wanderungstechnik ist, so wird es klar, warum die Leitung des Auswanderer-
stromes durch nationale Häfen eines der Hauptpostulate einer Regelung des
Auswanderungswesens sein muss.
Je nach den obwaltenden Verhältnissen ist dieses Postulat in mehr
oder weniger vollständiger Weise von allen ausländischen Gesetzgebungen
durchgeführt worden. Den Ausschluss aller ausländischen Häfen fordert
am schroffsten das küstenreiche Frankreich, auf dessen Häfen die Mehr-
zahl der schweizerischen, wie ein Theil der deutschen Auswanderer
angewiesen ist. Durch Erlass des Ministeriums des Innern vom 9. April 1894
und Erlass des Handelsministeriums vom 7. Juni 1894 wurde hier den
Auswanderungsagenturen der Erlass des Handelsministeriums vom 12. Februar
1889 in Erinnerung gebracht, dessen Bestimmungen ,s'opposent d'une
maniere absolue, ä ce qu'une agence puisse confier ses transports ä une
compagnie de navigation qui embarquerait des emigrants dans les ports
autres que les ports fran9ais.'' Die in Frankreich autorisierten Auswanderungs-
agenten seien vielmehr verpflichtet, sich jeder Intervention im Transporte
von Passagieren zu enthalten, „qui au lieu de choisir une ligne de navi-
gation ayant son port d'attache en France, preferent aller s'embarquer
dans un port etranger." Der Erlass vom 7. Juni 1894 geht sogar so weit,
allen Agenten mit der Entziehung ihrer Patente zu drohen, wenn sie in
irgendwelcher Form mitwirken sollten, „en vue d'assurer l'execution des
contrats d'emigration passes ä l'etranger par des agences etrangeres avec
des emigrants transitants ä travers la France pour etre diriges sur des
ports etrangers."
Von ähnlichen Gesichtspunkten geht das neue italienische Aus wanderungs-
gesetz aus. Zwar fand der Antrag des Deputierten Raffaele Corsi, den
Auswanderertransport ausschliesslich in Italien gebauten Schiffen italienischer
Flagge anzuvertrauen, um so die Entstehung einer nationalen Handelsflotte
zu fördern, keine Zustimmung der Kammermehrheit, die die Monopol-
stellung der nationalen Schiff'slinien als unvereinbar mit dem Wohle der
Auswanderer ansah. Dafür wurde das Verbot der Auswandererbeförderung
über fremde Häfen im Principe angenommen und sogar durch die liberale
Lösung der auf die Stellungspflicht und das Passwesen bezüglichen Fragen
Vorsorge getroffen, dass die hauptsächlichsten Ursachen der Auswanderung
^) Vergl. den Jahresbericht des k. u. k. Generalconijulatcs in Genua für das Jahr 1895.
I
Das Auswanderungsproblem und die Regelung des Auswanderungswesens etc. 577
über französische Häfeo beseitigt werden. Nur für den Fall, als ein
Kartell der italienischen Schiffslinien die Preise der Schiffskarten
übermässig erhöhen oder sonst zum Nachtheile der Auswanderer thätig
sein sollte, wurde das Auswanderungscommissariat ermächtigt, unter seiner
Aufsicht und Verantwortlichkeit die Einschiffung in fremden Häfen zu
gestatten.
Das deutsche Auswanderungsgesetz spricht zum Unterschiede von dem
italienischen Gesetze den Zwang der Beförderung deutscher Auswanderer
über deutsclie Häfen nicht aus, obgleich es die consequente Ausgestaltung des
deutschen S'ystems der Auswanderungstechnik dies unbedingt erfordert hätte.
Die Ursache liegt darin, dass z. B. im Jahre 1900 über deutsche Häfen
16.690, über fremde Häfen 5.619 deutsche Auswanderer befördert wurden,
wogegen in den deutschen Häfen 160.129 ausländische Auswanderer (darunter
87.395 Oesterreicher und Ungarn) sich einschifften. Deutschland hat angesichts
dieser Sachlage, um seinen östlichen Nachbarn kein schlechtes Beispiel zu
geben, im Interesse seiner Häfen — wenn auch nicht im Interesse seiner
Auswanderer — das Princip der Leitung der Auswanderer über nationale
Häfen unbedingt verleugnen niüssen.
III. Die Regelung des Auswanderungswesens in Oesterreich.
Wir haben im II. Abschnitte die grundlegenden technischen Mittel,
die der Regelung der überseeischen Auswanderung zur Verfügung stehen,
erörtert, haben dagegen die auf den Auswandererschutz, die Auswanderungs-
freiheit etc., sowie die auf die continentale Arbeiterauswanderung bezüglichen
Fragen übergangen. Während nämlich letztere verhältnismässig leicht zu lösen
sind, bereitet die richtige Auswahl der technischen Mittel zur Regelung
der überseeischen Auswanderung sehr erhebliche Schwierigkeiten, so dass
ein jeder, der hier mit einem Vorschlage hervortreten zu sollen glaubt, die
umfassendste Begründung vorausschicken muss, schon deshalb, um anderen,
die mit seinem Vorschlage aus diesem oder jenem principiellen Grunde nicht
einverstanden sein sollten, das Material zu einem neuen Vorschlage zu
liefern. Da die Lösung der auf die Auswanderungstechnik bezüglichen
Fragen dem inneren Ausbaue wie dem Erfolge der Regelung des Aus-
wandererwesens präjudiciert, sollen im ersten Capitel dieses Abschnittes
zunächst die Grundzüge der für Oesterreich zu postulierenden Auswanderungs-
technik skizziert werden. Hieran soll sich ein Capitel über die Leitung der
Auswanderung, über den Auswandererschutz, über die Organisation der
Auswanderungsbehörden und schliesslich über die Auswanderungsfreiheit
reihen. Specielle Fragen, die für die gesetzliche Regelung des Auswanderer-
wesens nicht in Betracht kommen, wie etwa die Frage der Colonisierung der
Occupationsländer, das Problem des Zusammenwirkens der Staatsgewalt und
der Privatvereine, die Frage nach der Gestaltung des staatlichen Aus-
wanderungsstudiums, sollen gleich dem Capitel über die zu erlassenden
Strafsanctionen übergangen werden.
578
Buzek.
A. Die Gestaltung der Auswanderungstechnik.
Die Wahl der Aus Wanderungstechnik muss dem geistigen Niveau des
Auswanderermaterials, den Fähigkeiten der Bureaukratie und dem socialen
Pflichtbewusstsein oder besser der Intensität der socialen Bethätigung der
gebildeten, an der Auswanderung nicht (materiell) interessierten Bevölkerungs-
kreise entsprechen. Je geringer die Bildung der Auswanderer, desto grösser
die Ausbeutung, die Irreführung derselben seitens der Auswanderungs-
interessenten, desto schwieriger aber auch für die Bureaukratie, die „grossen
Kinder" vor den sie bedrohenden Gefahren zu schützen. Ein classisches
Beleg hierfür sind die Erfahrungen, die Italien mit dem Auswanderungs-
gesetz vom 30. December 1888 (G.-S. Nr. 5866, Serie 3) gemacht hat.
Das Gesetz sicherte den Klagen der Auswanderer gegenüber Ueber-
vortheilungen seitens der Agenten oder Unternehmer einen eigenen Gerichts-
stand durch die Einrichtung besonderer Arbiträrcommissionen zu. In drei
Jahren wurden aber bei diesen Gerichten nur fünf Klagen anhängig. Die
Masse der Auswanderer hatte keine Ahnung von den zu ihrem Schutze
getroffenen Einrichtungen. Ganz anders stehen die Verhältnisse in der
Schweiz, wo der Bundesrath nicht über den . Mangel, sondern über den
Ueberfluss an Klagen zu klagen hat. Gegenüber einer tiefstehenden, in
ihrer Beschränktheit, Vertrauensseligkeit, Unbeholfenheit hilflosen Be-
völkerung kann der Staat nur dann einen vollen Erfolg erzielen, wenn er
alle seine Kräfte anstrengt, und wenn ihm überdies in der freiwilligen
Bethätigung social fühlender und dabei den betroffenen Bevölkerungskreisen
nahestehender Männer zahlreiche Bundesgenossen erwachsen.
Die besondere Gefährlichkeit der Answanderungsinteressenten gegenüber
den galizischen und krainischen Bauern, die das Gros der österreichischen
Auswanderung stellen, könnte die gänzliche Unterdrückung des Agenten-
wesens nach .italienischem Muster auch für Oesterreich als angemessen er-
scheinen lassen. Soweit wir die Verhältnisse kennen, müssen wir diese
Lösung auf das entschiedenste zurückweisen. Wir fürchten, dass es der
Staatsgewalt in absehbarer Zeit nicht gelingen würde, die Kräfte zu finden,
die die Thätigkeit geschäftsmässiger Auswanderungsvermittler überflüssig
machen würden. Ortscoraites Hessen sich ja überall leicht organisieren, es
ist aber mehr als wahrscheinlich, dass dies in den meisten Fällen auch der
einzige „Erfolg" wäre, wie wir dies bei so vielen Zwangsgenossenschaften
und selbst bei freien Vereinen beobachten können. Damit ist nicht gesagt,
dass man auf die Bildung solcher Ortscomites grundsätzlich verzichten
sollte. Im Gegentheile wäre diese Form der Auswanderungsvermittlung ganz
besonders zu bevorzugen, üeberall dort, wo sie keinen günstigen Boden
findet, wären jedoch Agenten zuzulassen. In dem Maasse und insoweit die
Thätigkeit der Ortscomites den Betrieb von Agenten überflüssig machen
sollte, könnte sodann an eine schrittweise Zurückdrängung der Agenten
gedacht werden.
Für die weitere Ausgestaltung der Auswanderungstechnik ist es von
entscheidender Wichtigkeit, ob das Gesetz die Leitung der Auswanderung
Das Auswanderungsproblem und die Eegelung des Auswanderungswesens etc. 579
durch nationale Häfen, d. li. vor allem Triest ausspricht, oder ob es weiter
die Auswanderer über die verschiedensten Häfen Europas ziehen lassen will.
Im folgenden soll angenommen werden, dass das Gesetz Triest und etwa
einige dalmatinische Häfen zu Einschiflfungshäfen für österreichische
Auswanderer bestimmt. Dafür spricht, abgesehen von dem im vorigen Ab-
schnitte Dargelegten, auch die Thatsache, dass bisher die Concurrenz der
von verschiedenen Häfen auslaufenden Schiffslinien sich in Oesterreich als
ausserordentlich auswanderungssteigernd erwiesen hat Man vergegenwärtige
sich nur das Anschwellen der österreichischen Auswanderung über Rotterdam
(Holland — Amerika-Linie) seit dem Jahre 1898.
Bei der Leitung der Auswanderung über Triest wäre
nur eine Kategorie von Agenten zuzulassen. Die Schiffs-
rheder hätten direct mit den kleinen Agenten in Verbindung zu treten und
es wären alle anderen Kategorien von Vermittlern auszuschliessen.^) Dabei
sollte im Gegensatze zu dem in Deutschland acceptierten Systeme auch der
Unternehmer an einer soliden Geschäftsführung des Agenten interessiert
werden. Zu diesem Zwecke wäre in das Gesetz die Bestimmung aufzunehmen,
dass der Unternehmer für den durch die Thätigkeit seiner Agenten ent-
standenen Schaden civilrechtlich verantwoitlich sei, strafrechtlich dann,
wenn er nicht nachzuweisen imstande ist, dass der Agent gegen die ihm
ertheilten Instructionen gehandelt hat. Ebenso hätte der Unternehmer für
jeden von ihm bestellten Agenten eine entsprechende Caution zu hinterlegen,
ausserdem aber auch für jeden Wechsel in der Person des Agenten eine feste
Taxe zu entrichten. Der Unternehmer ist eben verpflichtet, bei der Aus-
wahl seiner Agenten mit der grössten Gewissenhaftigkeit vorzugehen.
Im Anschlüsse an die zum grösseren Theile durch eine vierzigjährige
Praxis erprobten Bestimmungen des neuen deutschen Auswanderungsgesetzes
wäre sodann 1. die Concessionspflicht der Unternehmer und der Agenten,
2. der Agentenzwang für die Unternehmer, 3. der Unternehmerzwang für
die Agenten zu statuieren. In dieser Hinsiclit sei auf das im obigen bereits Mit-
getheilte verwiesen. Die speciell auf die Unterdrückung der Auswanderungs-
propaganda abzielenden polizeilichen Maassregeln wären im allgemeinen
nach dem Muster des schweizerischen Gesetzes, das gerade auf diesem
Gebiete Grossartiges zu leisten vermochte, zu acceptieren (vergl. oben II. B.,
Punkt 1 — 6). Aber mit zwei wichtigen Ausnahmen.
Die Entwickelung der österreichischen Auswanderung der letzten Jahre
überzeugt, dass in weiten Gebieten des Landes die Auswanderung als ein
starkes wirtschaftliches und sociales Bedürfnis empfunden wird. Aeusserlich
sind diese Gebiete schon durch die unverhältnismässig hohe Zahl von
Auswanderern, die sie stellen, erkennbar. In diesen Bezirken intensivster
Auswanderung verliert die sonst so gefährliche Propaganda ilire aus-
^) Eine Ausnahme wäre nur zu Gunsten inländischer Colonisationsgesellscliaften
zuzulassen. Diesen wäre die Befugnis zu ertheilen, Beförderungsverträge durch Ver-
mittelung concessionierter Agenten abzuschliessen und die Beförderung der Auswanderer
sodann zugelassenen ßhedern anzuvertrauen.
580 Buzek.
waiideruiigsfördernde Wirkung, und man kann hier sogar die Auswanderer-
werbung, respective die Vermittelung gratis beförderter Auswanderer zulassen,
wenn man dadurch die Art oder die Zusammensetzung, oder die Kichtung der
Auswanderung vortheilhaft zu beeinflussen hofft. Ohne Rücksicht auf obige
Umstände, d. h. bedingungslos wäre dagegen nm; die Werbung von Saison-
arbeitern, respective zeitweiligen Auswanderern überhaupt nach europäischen
Ländern zuzulassen. Es wären demnach in das Gesetz folgende Bestimmungen
aufzunehmen: 1. Gestattet ist die Werbung zeitweiliger Auswanderer nach
europäischen Ländern. 2. Die Regierung wird ermächtigt, unter von Fall zu
Fall festzusetzenden Cautelen die Werbung von Ansiedlern nach den
Occupationsgebieten, sowie nach den von österreichischen Colonisations-
gesellschaften in überseeischen Ländern angekauften Territorien zu gestatten.
3. Ebenso bleibt es der Regierung vorbehalten, nach gepflogenen Erhebungen
die Vermittelung von Auswanderern, die auf Kosten fremder Regierungen
oder Privater befördert werden sollen, zuzulassen. Die Annoncierung und
überhaupt jede öftentliche Bekanntmachung über die Gewährung von
Schiffsfreikarten oder Passagevorschüssen ist aber in allen Fällen — auch
für österreichische Colonisationsgesellschaften — zu verbieten.
Im besonderen soll hervorgehoben werden, dass in Bezug auf mündliche
oder schriftliche Agitationen Auswanderungsinteressenten und uninteressierte
Private grundsätzlich gleich zu behandeln wären. Die Regierung wäre ver-
pflichtet, sich auf das genaueste über die Verhältnisse der Einwanderungs-
länder zu informieren. Die Agenten, Vereine, Private etc., die irgendein
Auswanderungsziel vertreten wollten, wären verbunden, zuvor die Erlaubnis
der Regierung einzuholen. Je nach den gesammelten Liformationen wäre
diese Erlaubnis zu gewähren oder zu verweigern. Nur im ersteren Falle
stünde es den Bittstellern frei, den spontan sich meldenden Auswanderungs-
lustigen genehmigte Broschüren, Prospecte etc. zu verabreichen. Jede
anderweitige Agitation bliebe untersagt und wäre unter Umständen nach
den Bestimmungen des Gesetzes vom 21. Jänner 1897, R.-G.-Bl. Nr. 27,
zu ahnden.
Behufs vollständigen Ausbaues der Auswanderungstechnik wären in
das neue Gesetz auch Bestimmungen über den geschäftsmässigen Verkauf
von Passagebilletteu aufzunehmen. Auch derartige Betriebe wären der
Concessions- und Cautionspfiicht zu unterweifen, überhaupt im Geiste der
früheren Ausführungen zu behandeln. Selbstverständlich wären auch die
Bestimmungen der Ministerialverordnung vom 23. November 1895, R.-G.-Bl.
Nr. 181, in das neue Gesetz zu recipieren.
Ebenso wie die Bestellung der Unternehmer und Agenten, wäre auch
die Entziehung der Concession dem freien Ermessen der Behörde anheim-
zustellen. In technischer Beziehung ist die Textierung des deutschen
Gesetzes (§ 10 und 18) gegenüber der des schweizerischen (Art. 13 und
22, V.) vorzuziehen.
Im bisherigen haben wir die Technik der überseeischen Auswanderung
besprochen und haben nur hinzuzufügen, dass eben dieselbe Technik auch für
Das Auswanderungsproblem und die Regelung des Auswanderungswesens etc. 581
die dauernde Auswanderung nach europäischen Staaten anzuwenden wäre.
Für die continentale Arbeiterauswanderung wären besondere Vorschriften zu
erlassen. Vor allem wäre hier die Werbung zu gestatten. Zur Vermittelung
beim Abschluss der Dienstverträge, d. h. zur Werbung, wären nur gewerbs-
mässige Agenten zuzulassen. Die Werbung wäre jedoch nur auf Grund eines
vom Auftraggeber unterfertigten Contractes zu gestatten. In keinem Falle
dürften mehr Personen geworben werden, als auf wie viele der Auftrag des
Arbeitgebers oder dessen Vertreters lautet. Als Agenten wären nur un-
bescholtene, vertrauenswürdige Männer gegen Bestellung einer angemessenen
Caution zu concessionieren. Die Bestellung von Unteragenten wäre unter
Haftung des Hauptagenten und vorbehaltlich der Erlaubnis der politischen
Behörde zuzulassen. In keinem Falle dürfte ein solcher Agent oder Unter-
agent irgendwelche Geschäfte der überseeischen oder colonisatorischen Aus-
wanderung betreiben (insbesondere nicht als Zuweiser der Auswanderungs-
agenturen oder . -Unternehmer). Die Agenten hätten die Zahl der anzu-
werbenden Arbeiter und den Contract der Bezirksbehörde zur Kenntnis zu
bringen. Die Unteragenten wären mit einer legalisierten Abschrift des Ver-
trages, auf welcher die Zahl der von ihnen Anzuwerbenden zu vermerken
wäre, zu versehen. Die Werbung selbst wäre in der Art vorzunehmen, dass
die Angeworbenen den Vertrag (dessen Abschrift) in Gegenwart eines von
der Bezirksbehörde delegierten Vertrauensmannes (Mitglied eines Local-
comites) unterfertigen und der Vertrauensmann durch seine Unterschrift
bezeugt, dass alle Angeworbenen den Inhalt des Vertrages wohl verstanden
haben. Der Vertrauensmann hätte die Personalien der so Angeworbenen
zur Kenntnis der Bezirksbehörde zu bringen.
B. Die Leitung der Auswanderung und die auf die
Erhaltung der Nationalität der Auswanderer bezüglichen
Maas s nahmen.
Die Postulate, die wir an die Leitung der Auswanderung aus Oesterreich
zu stellen haben, sind folgende: 1. Bervorzugung der Arbeiterauswanderung
nach europäischen Staaten; 2. Hinlenkung der colonisatorischen Auswanderung
vor allem nach Bosnien und der Herzogowina, um die österreichisch fühlenden
Elemente gegenüber der separatistisch gestimmten Bevölkerung dieser Länder
zu stärken und so unsere Machtstellung auf dem Balkan zu sichern; 3. Ver-
wertung unserer überseeischen Auswanderung zu handelspolitischen Zwecken,
mit Ausschluss aller machtpolitischen Bestrebungen. Die wichtigsten
Mittel zur Verwirklichung des ersten und des zweiten Postulates haben
wir bereits bei der Besprechung der Auswanderungstechnik angegeben.
Behufs Erreichung des dritten Postulates halten wir eine positive Ein-
wirkung der Staatsgewalt auf das Auswanderungsziel für nicht noth wendig.
Es genügt dazu die naturgemäss aus sich selbst eintretende Concentrierung
der österreichischen Auswanderer in gewissen Ländern (vergl. den geschicht-
lichen Theil dieser Abhandlung), es genügt dazu die Thätigkeit der aus
privater Initiative entstehenden österreichischen Colonisationsgesellschaften.
582 Buzek.
Die Bedeutung dieser ist vor allem darin zu suchen, dass in Gebieten, die
bereits eine grössere Anzahl von Volksgenossen aufgenommen haben, dank
der planvollen Thätigkeit der Colonisationsgesellschaft^) rein nationale
Centreii, in denen sich das heimische Leben krystallisiert, und die die
nationale Entwickelung des ganzen Gebietes beeinflussen, entstehen. Nur von
diesem Gesichtspunkte aus wäre die Bildung und die Wirksamkeit öster-
reichischer Colonisationsgesellschaften zu unterstützen. Vom Standpunkte
des Gesetzes genügt dazu die Einräumung der bereits oben angeführten
Befugnisse; die Anwendung des gefährlichen Specialisierungsprincips ist
dagegen nicht nothwendig. ^)
Um den Zusammenhang der Auswanderer mit der alten Heimat
möglichst eng zu gestalten, muss die Regelung des Auswandererwesens in
Oesterreich unbedingt auf zwei ziemlich abseits liegende Gebiete eingehen.
Erstens wären die Bestimmungen über den Verlust der Staatsbürgerschaft
einer Neuredaction zu- unterziehen (gegenwärtig das Patent vom 24. März 1832
in Verbindung mit Art. IV des Staatsgrundgesetzes vom 21. December 1867,
R.-G.-BI. Nr. 142, vergl. auch § 82 a. b. G.-B.), und zweitens wären die
auf die Stellungs- und die Dienstpflicht der im Auslande lebenden Staats-
angehörigen bezüglichen Vorschriften gründlichst zu reformieren. Gegenwärtig
gewährt § 108 des ersten Theiles der Wehrvorschriften nur einige nichts-
sagende Erleichterungen bezüglich der Stellung, gar keine bezüglich des
Dienstes. Die Folge ist nicht etwa die, dass unsere im Auslande angesiedelten
Staatsangehörigen sich zum Kriegsdienst melden würden, sondern die, dass
sie der österreichischen Staatsangehörigkeit möglichst bald los zu werden
trachten oder wenigstens sich hüten, je wieder österreichischen Boden zu
betreten, wo sie als Stellungsflüchtlinge behandelt werden könnten. Den An-
forderungen der Wehrmacht wäre nicht geschadet, wenn man sich entschliessen
würde, den über dem Meere lebenden Volksgenossen die Erfüllung der Wehr-
pflicht ebenso leicht zu machen, wie etwa das italienische Gesetz. Einen
beachtenswerten Anfang hat ja das Landesvertheidigungsministerium bereits
mit der Verordnung vom 4. Mai 1900, R.-G.-Bl. Nr. 85, zu Gunsten der in
der Fremde im Interesse des Exporthandels thätigen Kaufleute und
Handelsangestellten gemacht. Die Opfer wären kleiner, die Resultate
grösser, wenn man sich entschlösse, zu Gunsten unserer dauernden Aus-
wanderung noch einen Schritt weiter zu gehen.
Im übrigen hätte die Auswanderungsleitung in Oesterreich sich stricte
auf den Boden des Auswandeierschutzes zu stellen. Die Auswanderung nach
völlig ungeeigneten Zielen wäre zu verbieten. lieber die minder geeigneten
Gebiete dürften Agenten Prospecte, Broschüren etc. überhaupt nicht vertheilea
I
^) Auch in Hinsicht auf die Auswahl des Auswanderermaterials.
2) Soweit uns hekaunt, existieren gegenwärtig in Oesterreich zweir Colonisations-
gesellschaften, die „österreichisch- ungarische Colonisationsgesellschaft" in Wien und
„Towarzystwo kolonizacyjno handlowe" in Leniberg. Vergl. E. S c h r o f t: „Das Programm
der österreichisch-ungarischen Colonialgesellschaft", sowie „Gazeta handlowo-geograficzna",
Jahrgang VIT, Nr. 6 vom 30. Juni 1901.
Das Auswanderungsproblem und die Regelung des Auswanderungswesens etc. 583
(selbst nicht an proprio motu sich Meldende). Die Hauptaufgabe hätte aber
eine bis zu den tiefsten Schichten der auswanderungslustigen Bevölkerung
(aber auch nur zu diesen) dringende Auskunftsertheilung zu lösen. Nur
durch eine ihre Aufgabe erfüllende Auskunftsertheilung liesse sich nebst
anderen wichtigen Momenten erzielen, dass der Zeitpunkt der Auswanderung
nicht mit Bücksicht auf das Interesse des Agenten, respective des Unter-
nehmers, sondern mit Kücksicht auf das eigene Interesse des Aus-
wanderers gewählt werde.
Die Informierung der Bevölkerung über die wichtigsten Einwanderungs-
länder wurde bisher in der Form versucht, dass die seitens der k. u. k. Missionen
und Consularbehörden an das Ministerium des Aeussern eingesendeten Berichte
an das Ministerium des Innern geleitet wurden, welches sodann den Inhalt
den Unterbehörden mittheilte. Dass diese Informationen nicht genügen,
liegt auf der Hand. Es muss eine Centralstelle geschaffen werden, die nacii
schweizerischem Muster sowohl direct, als insbesondere durch Vertrauens-
männer zu wirken sucht. Als ständige Abnehmer und Verbreiter der In-
formationen des Centralamtes wären insbesondere die Localcomites und ver-
trauenswürdige Vereine ins Auge zu fassen. Nur so kann gehofft werden,
dass die Informationen der Staatsgewalt imstande sein werden, den Ein-
flüsterungen der Auswanderungsinteressenten die Spitze zu bieten.
C. Schutz. der Auswanderer.
Mit der Kegelung der Auswanderungstechnik und der Organisierung
einer den Massen der Bevölkerung zugänglichen Auskunftsertheilung ist
zugleich derjenige Theil des Aus Wandererschutzes verwirklicht, den wir als
den Schutz der Bevölkerung gegen leichtsinnige oder übel berathene Aus-
wanderung bezeichnen würden. Ausserdem sind aber auch jene, die die
einmal gefasste Auswanderungsabsicht thatsächlich verwirklichen, zu schützen.
Es soll dafür gesorgt werden, dass sie nicht bei Gelegenheit der Ortsver-
änderung von den Auswanderungsinteresseuten geschädigt, übervortheilt
werden, dass sie nach Ankunft in das Bestimmungsland nicht gewissenlosen
Ausbeutern oder einer gewaltthätigen Kegierung zum Opfer fallen. Der
Zweck aller dieser Bestimmungen ist klar: der Staat soll die Grundlagen
für das wirtschaftliche Fortkommen der Auswanderer sichern, damit diese
in der Fremde gedeihen und so wirklich im Interesse der nationalen Ge-
meinschaft verwertet werden können. Der Inbegriff der auf dieses Ziel
gerichteten Normen bildet den Inhalt des Auswandererschutzes s. str. Für
das österreichische Gesetz seien folgende Schutzmaassregeln empfohlen:
A. Präventive Maass regeln zum Schutze gegen Unter-
nehmer und Agenten. 1. Verpflichtung der Unternehmer für sich
seihst wie für ihre Agenten, eine dem Umfange des Geschäftsbetriebes ent-
sprechende Caution zu hinterlegen.^) Diese hätte für alle anlässlich des
^) Die Unternehmer in Deutschland mindestens 50.000 Mark, in der Scliweiz
40.000 Francs, in Italien mindestens 3000 Lire; die Agenten in Deutschland mindestens
1500 Mark, in der Schweiz 3.000 Francs.
584 Buzek.
Geschäftsbetriebes der Agenten, respective der Unternelimer gegenüber den
Behörden und gegenüber den Auswanderern begründeten Verbindlichkeiten,
sowie für Geldstrafen und Kosten zu haften. Ausser dieser Caution wäre
in besonderen Fällen eine besondere Sicherstellung zu bestellen. Wer und
für wen keine Caution beigestellt wurde, ist von dem Verkehre mit Aus-
wanderern auszuschliessen. (Vergl. Art. 24 — 33 schw. V., § 26 — 31 d. B.,
§ 32 d. G., Art. 13, al. 5—8 ital. G.)
2. Verpflichtung der Unternehmer respective Agenten zur Einsendung
regelmässiger Berichte über die wichtigsten Punkte ihrer Thätigkeit an die
centrale Auswanderungsbehörde, Verpflichtung der Behörde. zur fortlaufenden
Inspicierung der Schiffstagebücher, der Controlen, Geschäfts- und Copier-
bflcher, sowie überhaupt der Scripturen der Unternehmer und Agenten.
(Art. 39 schw. G., Art. 37—38 schw. V., § 1—2, 3, 22 d. B.)
3. Umgestaltung der dispositiven Normen des Beförderungs Vertrages
zu Normen des zwingenden Kechtes, die, soweit sie Verbote enthalten, mit
Strafsanctionen verschärfte leges perfectae darstellen sollten. Der zwingende
Charakter der Vorschriften hätte sich sowohl auf die Form, als auch auf den
Inhalt des Beförderungsvertrages zu beziehen. In formeller Beziehung wäre
die schriftliche Abfassung des Auswanderungsvertrages nach einem behördlich
genehmigten Formulare und mit einem obligatorischen Inhalte zu fordern.
Die Ausfertigung hätte in zwei Exemplaren, wovon eines in den Händen
des Auswanderers bleiben muss, zu erfolgen. Im Beförderungsvertrage sind
die Auswanderer über die wichtigsten der ihnen gegenüber den Interessenten
zustehenden Kechte zu unterrichten und überdies mit besonders wichtigen
Rathschlägen zu versehen. Ebendasselbe gilt für Empfangscheine, die der
Agent in allen Fällen auszustellen hätte, wo er den Beförderungsvertrag
bloss vermittelt. (Art. 17 schw. G., § 22 d. G., § 4, 5 ff., 11—12,
17 d. B.) — In materieller Beziehung ist der Inhalt des Beförderungs-
vertrages so festzusetzen, dass die erfahrungsgemäss besonders häufigen oder
gefährlichen Uebervortheilungen unmöglich werden. Es handelt sich darum,
gewissermaassen die essentialia negotii festzusetzen, und zwar sowohl die
positiven, als auch die negativen.
Als positive Essentialia des Beförderungsvertrages hätte das 'öster-
reichische Gesetz aufzunehmen: ä) die Verpflichtung des Unternehmers, bei
Aufenthalt oder Verzögerung auf der Reise ohne nachweisbarer Schuld des
Auswanderers denselben kostenlos verpflegen und beherbergen zu lassen,
eventuell für eine anderweitige Beförderung mindestens ebenso guter Art zu
sorgen; b) das Recht des Auswanderers auf unentgeltliche ärztliche Behandlung
und auf anständige Bestattung im Todesfalle; c) das Recht auf Beköstigung
während der Seereise (mit obligatorischem Ausschluss der Selbstbeköstigung);
d) das Recht des Rücktrittes vom Vertrage in bestimmten Fällen. (Vergl.
§ 28 u. 29 d. G., Art. 21, al. 2 — 4 ital. G.) Andere derartige Bestimmungen
finden sich noch im Art. 20, 23 u. 24 des ital. G.
Als negative Essentialia kommen in Betracht: a) das Verbot der
Erhöhung des im Vertrage festgesetzten Beförderungspreises, das Verbot
Das Auswauderungsproblem und die Regelung des Auswanderungswesens etc. 585
der Berechnung besonderer Spesen für den Transport vom Schiffe bis zur
Landungsstelle etc.; h) Verbot der Beförderung auf Schiffen einer anderen
als der im Vertrage genannten Gesellschaft oder nach anderen Ausschiffungs-
häfen; c) Verbot des Verkaufes von Ueberlandbilletten.^) (Vergl. § 26 d. G.,
anders Art. 39 schw. V., noch anders Art. 19. al. 3 ital. G.); ä) die besonders
wichtige Bestimmung, dass der Fahrpreis weder ganz noch theilweise in
persönlichen Dienstleistungen bestehen, noch der Auswanderer in der Wahl
des Aufenthaltsortes oder der Beschäftigung beschränkt werden dürfe. Ebenso-
Avenig darf die scheinbar harmlosere Verpflichtung auferlegt werden, dass
der Beförderungspreis oder ertheilte Vorschüsse im Bestimmungslande
zurückzuerstatten sind.
Zu den Essentialia des Beförderungsvertrages gehört in der Schweiz
die Versicherung des Gepäcks des Auswanderers gegen Beschädigung und
Verlust, sowie die Versicherung des Familienhauptes, respective dessen Ver-
treters gegen Tod oder Unfall während der Keise (bei Tod und Invalidität
ersten Grades auf 500 Francs, bei Invalidität zweiten Grades 250 Francs).
Die Prämie beträgt im ersteren Falle % Proc. des Wertes, im zweiten
Falle 3 Francs. Das deutsche Gesetz kennt nur die Gepäcks Versicherung,
und diese nur als accidentale negotii. Wir würden dem deutschen Systeme
den Vorzug geben. Nach der amerikanischen Statistik kommen nämlich
Todes-, respective ünfallsfälle während der Keise nur selten vor. Dagegen
wäre eine andere Bestimmung des schweizerischen Gesetzes unbedingt auf-
zunehmen. In den galizischen Circularen der Auswanderungsagenten lasen
wir zu wiederholtenmalen, wie der Agent die Auswanderer mahnte, „in
eigenem Interesse" die mitgenommene Barschaft ja nur unter seiner Ver-
mittelung wechseln zu lassen. Der Agent muss offenbar dabei besonders viel
profitieren. Es wäre gesetzlich festzulegen, dass der Agent bei Uebernahme
von Geldbeträgen die betreffende Summe dem Auswanderer am Bestimmungs-
orte „bar ohne Abzug und zu einem Course auszubezahlen habe, welcher dem
Werte der dem Agenten geleisteten Einzahlung entspricht" (nach Maassgabe
des Wechselcourses). Dass es sich dabei um nicht geringe Summen handelt,
erhellt daraus, dass in der Schweiz z. B. im Jahre 1898 bei einer Gesamnit-
auswanderung von 2288 Personen 297.607 Francs bei Agenten einbezahlt
wurden. Bei uns dürfte der Gesammtbetrag weit über eine Million Gulden
ausmachen.^)
4. Das im Obigen bezüglich des Auswandererschutzes bei Abschluss
des Beförderungsvertrages Dargelegte kann sich naturgemäss nur auf die
überseeische Auswanderung beziehen. Für die continentale Auswanderung
werden besondere Beförderungsverträge so gut wie nicht geschlossen. Dafür
tritt hier bei der Arbeiter-, insbesondere aber bei der Saisonwanderung der
Dienstvertrag auf, der sehr oft Benachtheiligungen der Auswanderer enthalten
') Ausnahmen zulässig für Colonisationsgesellschaften.
2) Im Piscaljahre 1897/98 haben die 11.852 über 20 Jahre alten österreicliischen
Einwanderer in die Vereinigten Staaten ihr mitgenommenes Vermögen mit 191.479 Dollars
declariert, was gewiss viel zu niedrig ist.
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. X. Band. 4Q
TjSÖ Buzek.
kann. Im allgemeinen wird der Staat auf den Inhalt dieser Verträge nur
wenig Einfluss nehmen können. Wohl vermag er aber die Auswanderer vor
der Ausbeutung der vermittelnden Agenten zu schützen. Hieher wird auch der
Schwerpunkt der Schutzgesetzgebung zu verlegen sein.
Die Ausbeutungsforraen der Saison- und der zeitlichen Wanderung
sind noch wenig bekannt, überdies je nach Ziel und Yerwendungsart der
Arbeiter Aenderungen unterworfen. Selbst in Italien, wo man doch gerade
auf diesem Gebiete die grösste Erfahrung haben sollte, hat man es deswegen
für nothwendig gefunden, die Erlassung der zum Schutze der continentalen
Arbeiterwanderung bestimmten Normen (selbst der einschlägigen Straf-
sanctionen) dem Verordnungsvvege zu überlassen (das Gesetz sieht nur die
Bestellung besonderer ambulanter Inspectorate zum Sciuitze der continentalen
Auswanderung vor und lässt diese an der Wohlthat des besonderen Gerichts-
standes der Arbiträrcommissionen theilnehmen, Art. 29). — In gleicher
Weise hätte auch die österreichische Gesetzgebung gegenüber der con-
tinentalen Arbeiterwanderung vorläufig eine zuwartende Stellung einzunehmen.
Nur in Bezug auf die Saisonwanderung galizischer Arbeiter könnten bereits
jetzt zwingende Normen über die Gestaltung des Dienstvertrages und den
Geschäftsbetrieb der Agenten herausgegeben werden.
Den Agenten wäre zu verbieten, die angeworbenen Leute anderen als
den im Vertrage bezeichneten Unternehmern zu überlassen, es wäre fest-
zusetzen, dass ein vom Agent angeworbener, vom Unternehmer jedoch zurück-
gestellter Arbeiter berechtigt ist, ausser Schadenersatz den Agenten um die
Kosten der Kückreise und des Unterhaltes während derselben zu belangen.
In den Dienstvertrag wäre als Bedingung aufzunehmen, dass der Arbeitslohn
der Angeworbenen nicht zu Händen des Agenten ausbezahlt werden dürfe,^)
es wäre im Vertrage der Anspruch des Arbeiters auf kostenlose Behandlung
im Falle der Erkrankung durchzusetzen, es wäre endlich der Kegierung die
Erlaubnis zu ertheilen, im Verordnungswege die Agenten zur Versicherung
der Arbeiter gegen Unfall zwingen zu dürfen, ^j Der Verordnungsweg ist
deswegen zu empfehlen, weil es sich hier um eine Machtfrage handelt,
die nur bei grosser Leutenoth in Deutschland aufgeworfen werden darf.
B. Eepressive Maassregeln zum Schutze gegen Unter-
nehmer und Agenten. Das Gesetz hat eine rasche und wirksame
Ahndung jeder Benachtheiligung der Auswanderer seitens der Auswanderungs-
interessenten sicherzustellen. Zu diesem Zwecke ist zunächst Vorsorge zu
treffen, auf dass alle aus Auswanderungsgeschäften mit österreichischen
Auswanderern entspringende Civil- und Strafklagen vor österreichischen
Gerichten ausgetragen und nach österreichischem Kechte entschieden werden
können. Als Agenten können deswegen nur Oesterreicher, die im Inland
domicilieren, bestellt werden; da dies bei Unternehmern nicht wohl möglich
I
*) Antrag des Professors Dr. P i 1 a t im galizisclien Landtage in der Sitzung vom
29. December 1899, Allegat Nr. 39.
2) Die deutsche Unfall- und Invaliditätsversicherung gilt nämlich nicht für aus-
ländische Wanderarbeiter.
Das Auswanderungsproblem und die Regelung des Auswanderungswesens etc. 587
ist, ist die Pflicht ausländischer oder im Auslande domicilierender öster-
reichischer Unternehmer zur Bestellung von Stellvertretern und ausdrücklicher
Anerkennung des österreichischen Kechtes gesetzlich zu statuieren. (Vergl.
Art. 3 schw. G., § 3, 4, 43, al. 2 d. G., Art. 13, al. 2—4 ital. G.) Sodann
ist für eine rasche Urtheilsschöpfung und unverzügliche Executive vor-
zusorgen. Deswegen ist für die aus Auswanderungsgeschäften zwischen
Auswanderern einerseits, Agenten, Unternehmern, Auswandererwirten, Trägern
etc. anderseits entspringenden Civilsachen der gewöhnliche Eechtsweg aus-
zuschliessen, und sind diese Klagen der Competenz besonderer Gerichts-
stände zu überweisen, und zwar Bagatellsachen den in den Einschiffungs-
häfen zu bestellenden Auswanderungsinspectoraten sowie den Consular-
behörden, grössere Streitsachen besonderen Arbiträrcommissionen, die in
Auswanderungsgebieten bei jedem Kreisgerichte zu bestellen und aus
politischen und richterlichen Beamten, sowie aus Laien zu bilden wären.
Im Falle von Streitigkeiten hätte sich der Auswanderer an das Localcomite,
an die politische Behörde, an die Auswanderungsinspectorate, an die Consuln, die
über die Ankunft von Auswanderertransporten in Kenntnis zu setzen wären und
die Auswanderer zu empfangen hätten, zu wenden; diese Behörden hätten
die Beweise zu sammeln, ein Protokoll, das als Beweis — mit Vorbehalt
des Gegenbeweises — zu gelten hätte, aufzunehmen, um sodann, wenn
nothwendig, die Klage sammt allen Beilagen an die Arbiträrcommission zu
senden. Diese hätten nach einem summarischen Verfahren und inappellabel
zu entscheiden. Zur Befriedigung der zugesprochenen Ansprüche wäre
gegebenenfalls die Caution des Unternehmers zu verwenden; in dringenden
Fällen könnte die Behörde die zugesprochene Summe dem Auswanderer
vorschiessen. (Vergl. Art. 22, 23 schw. G., § 5, p. 27, § 29 d. B.;
Art. 26—27, 30 ital. G.)
C. Festsetzung der Höhe der üeberfahrtsp reise. Der
üeberfahrtspreis wird vertragsmässig zwischen dem Auswanderer und dem
Kheder festgesetzt, und es würde scheinen, dass der Staat auf diesem
Gebiete das Princip der Vertragsfreiheit zu respectieren habe. Thatsächlich
ist dies der Standpunkt der meisten ausländischen Gesetzgebungen.^) Eine
Ausnahme macht das neue italienische Gesetz. Es verfügt, dass die Tarife
der Schiffslinien vom Commissariate genehmigt werden müssen. Dieses ist
berechtigt, Maximaltarife festzustellen, die — unter Androhung des Con-
cessionsverlustes — von keinem Unternehmer überschritten werden dürfen.
Sollten die Kheder solidarisch Widerstand leisten, dann hat die Kegierung
die Localcomites in alle Agenden der Kepräsentanten der Kheder zu
substituieren, sie kann andere Gesellschaften, italienische wie fremde, zum
Geschäftsbetriebe zulassen, kann sogar die Einschiffung in ausländischen
Häfen erlauben und alle anderen geeigneten Maassregeln zum Schutze der
^) Das deutsche Gesetz z. B. verbietet bloss den Agenten, den Auswanderern
einen höheren als den vom Unternehmer festgesetzten Preis zu berechnen, geht aber auf
die eigentliche Frage gar nicht ein.
40*
)S8
Buzek.
Auswanderer ergreifen (Art. 14—15). Hat das österreichische Gesetz dem
italienischen Muster zu folgen?
Es ist bekannt, dass der Landhunger der galizischen Bauern eine der
wesentlichsten Ursachen zumal der colonisatorischen Auswanderung ist.
Der hohen Ueberfahrtspreise wegen wandern aber in der Regel nicht die
allerkleinsten Besitzer, sondern verhältnismässig besser situierte Bauern
aus. Es liegt aber offenbar im staatlichen Interesse, dass die Besitzer der
kleinsten Parcellen auswandern, die mittleren Besitzer dagegen ihren Land-
hunger durch den Ankauf der Liegenschaften dieser Wegzügler befriedigen.
Dies ist die Hauptursache, warum wir im obigen für die principielle
Zulassung der Gratisauswanderung eine Lanze brachen. Eben deswegen
behaupten wir auch, dass der Staat an niedrigen Ueberfahrtspreisen
interessiert sei. Dass diese ohne Eingriffe der Staatsgewalt sich nicht in
dem Maasse einzustellen pflegen, als dies offenbar möglich wäre, lehrt
folgende Uebersicht:
Preis der Schiflfskarten für Auswanderer aus Italien
nach dem
nach
Brasilien
nach New York von
La Plata
Genua Neapel
1895—1899
1898
unmittelbar vor dem Pool
der Schiifslinien
seit Mai 1899, d. h. nach
dem Pool
165
160
170
190
136
110
125
150
147
125
140
190
175
Eine Coalition der Eheder vermag also im Handumdrehen die Ueber-
fahrtspreise um 50 Proc. (Genua— New York) zu erhöhen und damit die
Richtung und die qualitative Zusammensetzung der Auswanderung zu be-
einflussen. Ein Machtwort der Staatsgewalt ist also dringend geboten; die
Frage aber ist die, ob der Staat überhaupt befähigt ist, gegen einen Pool
oder einen Trust der Schiffahrtsgesellschaften wirksam anzukämpfen, ja ob
er auch nur imstande ist, den volkswirtschaftlich angemessenen Preis zu
ermitteln. Die Frage ist nicht im [vorhinein zu lösen, und hier vor allem
gilt der Satz: Probieren geht über Studieren. Jedenfalls sollte das öster-
reichische Gesetz — im Interesse des Staates wie der Auswanderer —
der Regierung die Möglichkeit offen halten, unter Umständen den für
die italienische Regierung pflichtgemässen Weg wandeln zu dürfen.
B. Schutz während der Reise. Die Gefahren, denen die Aus-
wanderer während der Reise ausgesetzt sind, bedrohen theils ihre Habe,
theils die Gesundheit, das Leben, die Moral. Am sichersten können sich
die Auswanderer noch während der Eisenbahnfahrt fühlen, so dass hier
Das Auswanderungsproblem und die Eegelung des Auswanderungswesens etc. 589
besondere Scliutzvorschriften wohl überflüssig sind.^) Die Gefahren beginnen
auf grossen Umsteigstationen ^) und im Einschiffungshafen: Mangel an ent-
sprechender Unterkunft, Prellereien und Irreführungen durch die Aus-
wandererwirte, Uebervortheilungen durch allerlei Träger, Wegweiser und
andere Personen, deren Dienste die Auswanderer beanspruchen müssen.
Als Schutzmaassregeln seien empfohlen: 1. ein besonderer Gerichtsstand für
alle auf obige Weise entstehenden Civilsachen (vide oben); 2. Verpflichtung
der Unternehmer, den Auswanderern Führer für die Reise mitzugeben oder
dieselben wenigstens in den wichtigsten Eisenbahnstationen, im Ein- und im
Ausschiffiingshafen durch Bevollmächtigte empfangen zu lassen (Art. 16, al. 6
schw. G., Art. 40 schw. V.); 3. Sorge für entsprechende Unterkunft in den
Einschififungshäfen, entweder nach deutschem Muster durch strenge Ueber-
wachung der Auswandererlogierhäuser und der -Wirte und Einrichtung
eines besonderen Nachweisungsbureaus (vergi. Hamburgisches Gesetz vom
14. Jänner 1887 und 18. September 1896) oder nach italienischem Muster
durch Erbauung staatlicher Logierhäuser.
Von besonderer Wichtigkeit ist der Schutz während der Seereise. Es
handelt sich um die Fürsorge für die Seetüchtigkeit, die entsprechende
Ausrüstung, Einrichtung und Verproviantierung der Schiffe, um eine den
sanitären und moralischen Anforderungen entsprechende Unterbringung der
Auswanderer, um ihre Ernährung etc. Die bezüglichen Vorschriften haben
mit den Forcschritten der Schiflfstechnik gleichen Schritt zu lialten und
sind deswegen auf dem Verordnungswege zu erlassen, (Vergl. die Bekannt-
machung des Bundesrathes, betreffend Vorschriften über die Auswanderer-
schiffe vom 14. März 1898, die englischen Passenger Acts etc.) Um die strenge
Durchführung dieser Vorschriften zu sichern, wären die Schiffe vor der Ab-
reise und nach der Ankunft von besonderen Beamten zu inspicieren, wo
möglich auch während der Reise unter die fortdauernde Controle der
Regierung zu stellen. In letzterer Beziehung ist nachahmenswert die Vor-
schrift des neuen italienischen Gesetzes (Art. 11), dass der Schiffsarzt der
Auswanderungsschiffe ein Organ der Regierung sein soll, obgleich er
eigentlich vom Unternehmer gezahlt werden muss.
E. Schutz im Bestimmungslande und auf der Rück-
reise. Vielseitiger sind die Aufgaben des Auswandererschutzes nach der
Ankunft im Bestimmungslande. Abgesehen von dem Schutze gegen eine im
Lande etwa herrschende Rechtsunsicherheit (Brasilien: Unsicherheit der Besitz-
verhältnisse) oder gegen Gewaltacte der Regierung, sind sie wesentlich
organisatorischer Art und haben zum grösseren Tlieile die Förderung der
wirtschaftlichen und culturellen Entwickelung der Auswanderer zum Gegen-
stande. Für eine gesetzliche Regelung kommt hier in Betracht bloss die
Bestimmung der Behörden, die den Krystallisationspunkt aller dieser Be-
1) Vergl. jedoch Art. 16, al. 1 schw. G. und Art. 21, al. 5 ital. G.
2) Vergl. die Schilderungen im siebenten Jahrgange dieser Zeitschrift, S. 121
„Die österreichisch-ungarische Colonialgesellschaft, ein Kückblick auf ihre dreijährige
Wirksamkeit."
>90
Buzek.
strebungen zu bilden hätten, sowie etwa noch die Beschaffung der zu einer
intensiveren Thätigkeit erforderlichen materiellen Mittel.
Während das deutsche und das schweizerische Gesetz nur eine ent-
sprechende Verstärkung der consularischen und der diplomatischen Ver-
tretung, in den wichtigeren Einwanderungsländern überdies die Bestellung
besonderer Commissäre als Hilfsbeamten der ersteren fordern, ist im
italienischen Gesetze eine weitaus grössere Bethätigung der Staatsgewalt
vorgesehen. Ausser den Consuln und dem diplomatischen Corps werden fin-
den Schutz und das Gedeihen der Auswanderer besonders zu errichtende
staatliche Schutz-, Auskunfts- und Arbeitvermittlungsbehörden, sodann
ambulante Auswanderungsinspectorate zu sorgen haben. Praktisch nocli
erfolgreicher wird die vom neuen Gesetze vorgesehene Schaffung eines
Auswanderungsfonds sein. Ausser anderen Einnahmen hat in diesen der
Ertrag einer besonderen Auswanderersteuer — 8 Lire für jeden beförderten
Vollauswanderer — zu fliessen. Alle Einkünfte des Fonds sind ausschliesslich
zum Vortheile der Auswanderer zu verwenden. Die italienische Regierung
dürfte demnach jährlich 1 V2 Millionen Lire zu verausgaben haben, die
naturgemäss zumeist im Auslande zur Verwendung gelangen dürften.
Dieselben Motive, die die italienische Regierung gewissermaassen zur
Verstaatlichung der Fürsorge für die ausgewanderten Staatsangehörigen
trieben, bestehen auch in Oesterreich, und zwar in noch höherem Maasse.
Deswegen wären in dieser Beziehung die Maassnahmen des italienischen
Gesetzes zu acceptieren. Allerdings würde hier ein einheitliches Vorgehen
seitens der anderen Reichshälfte unumgänglich nothwendig sein. Sollte
Ungarn für eine besondere (vom Unternehmer zu entrichtende) Auswanderer-
steuer nicht zu haben sein, mtisste man sich mit dem deutschen und
schweizerischen Systeme begnügen. Es wäre nämlich zwecklos, Listitutionen
im Auslande ins Leben zu rufen, für die man keine genügenden finanziellen
Mittel zur Verfügung hätte.
Ausser den obigen wären noch folgende Maassregeln zum Schutze
der österreichischen Auswanderung in der Fremde zu ergreifen: 1. Eine
moderne Reform der ganz veralteten Bestimmungen über die Unterstützung
österreichisch-ungarischer Staatsangehörigen seitens der Consularämter (Hof-
kammerdecret vom 25. August 1840, Z. 26.278, Erlass und Instruction des
Seeguberniums vom 30. November 1840, Z. 23.174, Circular des k. k. Mini-
steriums des Aeussern vom 31. März 1866, Z. 2603/H. etc.V) 2. Gesetz-
liche Statuierung der Pflicht der Unternehmer zur Beförderung materiell
verunglückter Auswanderer zu bedeutend ermässigten Preisen in die Heimat.
(Vergl. Art. 25 ital. G.) 3. Schutz der aus überseeischen Ländern zurück-
kehrenden Auswanderer mindestens während der Seereise. 4. Schutz der von
den in den Vereinigten Staaten arbeitenden Auswanderern in die alte
Heimat zu übermittelnden Ersparnisse. Diese werden gegenwärtig in der Regel
') Vergl. Malfatti, „Handbuch des österreichiscli-ungaiisclien Consularwesens"',
Wien 1879.
Das Auswanderungsproblem und die Regelung des Auswanderungswesens etc. 591
kleinen amerikanischen Banqiiiers, oft den berüchtigten Padrons, anvertraut,
die sich gelegentlich der Umwechsliing in österreichische Valuta wucherische
Gewinne berechnen. Am besten wäre eine österreichische Sparcasse mit der
Sammlung, dem Schutze, der üebermittelung der Ersparnisse der Aus-
wanderer zu betrauen. In Italien ist diese Aufgabe durch ein besonderes
Gesetz (vom 1. Februar 1901, Z. 24) unter besonderen Modalitäten der
Bank von Neapel anvertraut worden.
D. Organisation der inländischen Behörden.
Die Organisation der Auswanderungsbehörden in Italien und in der
Schweiz (nicht so sehr in Deutschland) weist zwei charakteristische Züge
auf: 1. eine weitgehende Centralisation der Auswanderungsverwaltung (Art. 7
al. 1 des italienischen Gesetzes lautet: ,Im Ministerium des Aeussern wird
ein Commissariat eingesetzt, in welchem alle Agenten des Auswanderungs-
dienstes conceutriert werden) und 2. die Besorgung des Auswanderungs-
dienstes nicht durch Organe der allgemeinen Verwaltung, sondern durch
speciell ins Leben gerufene Behörden. Sowohl das Princip der Centralisation,
wie das der Specialisierung ergibt sich unmittelbar aus der Natur des
Auswanderungsdienstes. Der Schutz und die Leitung der Auswanderung
erfordern eine Summe von Erfahrungen und Kenntnissen, wie sie nur
Specialbehörden zuzutrauen sind, sie erfordern aber auch eine Gleich-
förmigkeit und Gleichmässigkeit der Verwaltung, wie sie bei einer
Decentralisation niemals erreiclit Averden könnte. Speciell für die Centrali-
sierung der auf den AusAvandererschutz bezüglichen Agenden spricht schon
die Art der Aus Wanderungstechnik. Hier gilt es die in einem Lande
gesammelten Erfahrungen unverzüglich in anderen anzuwenden, da man
sicher sein kann, dass die beobachteten Misstände auch dort vorkommen,
ohne dass sie jedoch ans Tageslicht treten. Handelt es sich doch in der
Regel um Agenten eines und desselben Unternehmers.
Was insbesondere die Centralisation anbelangt, so ist diese in zwei
Formen anzuwenden. Die Centralbehörde behält sich die Initiative und Ent-
scheidung in allen Fragen der Auswanderungsleitung und -Technik vor,
sie übt die Oberaufsicht über den Auswandererschutz, ist insbesondere von
jeder Uebervortheilung der Auswanderer seitens der Auswanderungsinter-
essenten zu informieren. Für die eigentlichen Organe des Auswanderer-
schutzes ist dagegen eine Centralisation der Vollmachten zu empfehlen.
Insbesondere die Hafeninspectorate wären auch mit den Vollmachten der
Sicherheitsbehörden auszustatten. Nur so kann vermieden werden, dass den
wohl unterrichteten Organen die Executivgewalt fehlt, wogegen den Executiv-
organen die Sachkenntnis mangelt.
Als Auswanderungsbehörden im Inlande wären in Oesterreich zu
errichten: 1. Eine Centralauswanderungsbehörde im Ministerium des Innern
mit dem bereits angegebenen Wirkungskreise. Ihr gegenüber käme den
politischen Behörden nur eine aushelfende Stellung zu ; die Behörden erster
Instanz hätten Informationen über die Auswanderungsbewegung, über die
592 Buzek.
Thätigkeit der Agenten, etc zu liefern, die Landesstellen hätten insbesondere
die Zulassung neuer Agenten zu begutachten und wären nur zur selb-
ständigen Concessionierung der Agenten für die continentale Arbeiterwanderung
zu berufen. 2. Besondere Localconiites zur Auskunftsertheilung und zum
Schutze der Auswanderer in den Centren der Auswanderungsbewegung. Die
Entstehung dieser Comites sollte im allgemeinen der Initiative der Gemeinden,
Bezirksvertretungen, auch Privater überlassen werden. In Bezug auf ihre
Zusammensetzung wäre im Gesetze bloss festzusetzen, dass den Vorsitz
ein von der Centralbehörde zu ernennender politischer Beamte zu über-
nehmen hat und dass die übrigen Mitglieder von dieser genehmigt werden
müssen. Nur so wäre zu erreichen, dass die gebildeten Comites auch wirk-
lich functionieren. 3. Ein besonderes Auswanderungsinspectorat in Triest
zur üeberwachung aller auf den Auswandererschutz bezüglichen Vorschriften.
4. Als berathendes und anregendes Organ in besonders wichtigen An-
gelegenheiten wäre der Centralbehörde ein besonderer Auswanderungsrath
beizugeben (in Deutschland „sachverständiger Beirath," in Italien „Emigra-
tionsrath"). In diesen wären neben Vertretern der interessierten Central-
behörden Vertreter der an der Einwanderung besonders interessierten Länder
(ernannt durch die Landesausschüsse), Vertreter der Wissenschaft und
Vertreter der landwirtschaftlichen und der Arbeiterverbände der wichtigsten
Auswanderungsgebiete (ernannt vom Ministerium des Innern) zu berufen.
Diese Zusammensetzung ist als ein Gegengewicht gegen die schroffe
Centralisation der Agenden des Auswanderungsdienstes zu denken.
Eine sehr wichtige Aufgabe der Centralbehörde wäre die fortdauernde
Beobachtung der Wanderbewegung und des Functionierens der geltenden
gesetzlichen Vorschriften. Wir können nicht hoffen, das Richtige auf den
ersten Wurf zu treffen. Um das Interesse an der Auswanderungsfrage wach
zu erhalten und zugleich ein Substrat für die öffentliche Beurtheilung
seiner Wirksamkeit zu liefern, wäre die Centralbehörde gesetzlich zu ver-
pflichten, jedes Jahr dem Eeichsrathe einen Rechenschaftsbericht über den
gesammten Auswanderungsdienst und die österreichische Auswanderung
überhaupt vorzulegen.
E. Die Regelung der Auswanderungsfreiheit.
Nach Artikel IV des Staatsgrundgesetzes vom 21. December 1867,
R.-G,-Bl. Nr, 142, ist in Oesterreich die Auswanderungsfreiheit „von staats-
wegen nur durch die Wehrpflicht beschränkt". Diese Bestimmung war in-
solange genügend, als die staatliche Verwaltung die Auswanderung principiell
ignorierte. Nach einer Regelung des Auswandererwesens genügt dieser
Standpunkt nicht mehr, es muss präcise bestimmt werden, wann und in-
wiefern die Auswanderungsfreiheit auch mit Rücksicht auf andere Pflichten
des Auswanderers, sowie in dessen eigenem Interesse zu beschränken sei.
Da wird nun der Staat gut thun, zAvei Kategorien von Einschränkungen
aufzustellen: die eine im öffentlichen Interesse, die andere im Interesse von
privaten Personen, sowie im eigenen Interesse des Auswanderers. Nur die
^
I
Das Auswanderungsproblem und die Regelung des Auswanderungswesens etc. 593
erstere kann ein mit Strafsanctionen für den Auswanderer selbst ver-
bundenes Auswanderungsverbot involvieren, die andere dagegen kann nur
ein Verbot an Agenten und Unternehmer, dem Auswandei'er bei der Ver-
wirklichung der Auswanderungsabsicht beizustehen, begründen. Im ersteren
Falle wollen wir von absoluten Auswanderungsverboten sprechen, da nur
hier ein Zurückhalten des Auswanderungslustigen durch polizeilichen Zwang
zulässig ist, im anderen von relativen Verboten.^)
Ä. Absolute Auswanderungsverbote wären in Oesterreich nur für die
Wehrpflichtigen, sowie für jene Personen zu erlassen, deren Verhaftung von
einer Gerichts- oder Polizeibeliörde angeordnet ist. In Bezug auf
die Auswanderung Wehrpflichtiger gilt gegenwärtig § 64 des Wehr-
gesetzes und der Erlass des k. k. Ministeriums für Landesvertheidigung
vom 1. November 1882, Z. 1465/pr, Diese Vorschriften wahren aus-
schliesslich das Interesse der Armeeverwaltung und enthalten zumal für
die sogenannte „selbständige Auswanderung" so horrende Bestimmungen,
dass die gegenwärtige Massenauswanderung aus Oesterreich einfach un-
möglich wäre, wenn sie mit aller Strenge befolgt würden. Als undurchführbar,
wären sie unbedingt zu reformieren. Dass die Anforderungen der nationalen
Wehrkraft und die der Auswanderung wohl zu versöhnen sind, beweisen die
Bestimmungen des deutschen und des italienischen Gesetzes. Das deutsche
verbietet bloss die Auswanderung von Wehrpflichtigen im Alter
vom vollendeten siebzehnten bis zum vollendeten fünfundzwanzigsten Lebens-
jahre, das italienische nur die Auswanderung von Stellungs-, respective
Militär di e n stpfli chti ge n im Alter von 18 — 28 Jahren, wobei in
normalen Zeiten Stellungspflichtige vom Präfecten oder ünterpräfecten, die
Soldaten der ersten Kategorie des Heeres vom Commandanten der Er-
gäuzungsbehörde dispensiert werden können und die Auswanderungsfreiheit
der Soldaten der zweiten und dritten Kategorie des Heeres überhaupt
Beschränkungen nicht unterworfen ist (Art. 1).
B. Kelative Auswanderungsverbote sind dem österreichischen Gesetze
bisher fremd geblieben, es sei denn, dass man hier die (zu beseitigende)
Vorschrift des Gesetzes vom 13. Juni 1880, K.-G.-Bl. Nr. 70, zählen wollte. -^
Im Interesse berechtigter dritter Personen wäre hier jedoch den Unter-
nehmern und Agenten zu verbieten die Beförderung: 1. von Eltern, sofern
dieselben unerzogene Kinder zurücklassen wollten und die zuständige
Armenbehörde nicht einverstanden wäre; 2. von minderjährigen oder unter
Vormundschaft stehenden Personen ohne schriftliche Einwilligung des
Inhabers der väterlichen oder vormundschaftlichen Gewalt. Im Interesse
der Auswanderer selbst wäre zu untersagen die Vermittelung. respective
') Das neue deutsche Gesetz kennt — abgesehen von der in der Anwendung
des Specialisierungsprißcips liegenden Einschränkung der Auswanderungsfreiheit — nur
absolute Verbote, das schweizerische nur relative, das italienische beide.
^) Die Militärtaxpflicht der Auswanderer gilt auch für die ganze Zeit, für die sie
noch diese Taxe zu entrichten hätten, wenn sie im Inlande geblieben wären. Bis zur
Entrichtung derselben soll die Ausfolgung von Reiseurkunden verweigert werden.
594 Buzek.
Beförderung: 1. Minderjähriger unter 16 Jahren, es sei denn, dass diese
von zuverlässigen Personen begleitet werden und für ihre gehörige Unterkunft
im Bestimmungslande gesorgt ist; 2. vollkommen ausweisloser Personen;
3. von Personen, die Avegen vorgerückten Alters, Krankheit oder Ge-
brechlichkeit arbeitsunfähig sind, soferne nicht eine hinlängliche Versorgung
derselben am Bestimmungsorte nachgewiesen wird; 4. von Personen, die
nach Gebieten auswandern wollen, in denen ihr Leben, ihre Freiheit, ihre
Habe schwere Gefahren laufen könnten. Ausser den genannten Verboten
enthält das schweizerische Gesetz noch das Verbot der Beförderung von
Personen: a) die nach Bestreitung der Keisekosten ohne Hilfsmittel am
Bestimmungsorte einlangen würden; b) denen die Gesetze des Einwanderungs-
landes den Eintritt verwehren; — das italienische Gesetz das Verbot der
Beförderung von Personen: c) die sich mit keinem Reisepasse ausweisen
können. Alle diese Bestimmungen halten wir entweder für überflüssig {b)
oder für zu weit gehend (a, cX Wir fordern nur, dass das österreichische
Gesetz den Auswanderern die Erlangung von Reisepässen möglichst er-
leichtere. Als Muster diene das italienische Gesetz, das die Auswanderer,
passe von der Stempel- und jeder anderen Abgabenpflicht befreit, und die
Behörden zur Ausfolgung des Reisepasses binnen 24 Stunden nach Ein-
bringung der vorschriftsmässig belegten Eingaben verpflichtet. (Vergl. Art. 5,
auch das königl. Decret vom 31. Jänner 1901 über die Lösung der Pässe
für das Ausland und die Instruction vom 1. Februar 1901 zur Ausführung
dieses Decretes.)
C. In diesem Zusammenhange sei noch auf die Maassregeln zum
Schutze unerwachsener Arbeiter und unerfahrener Mädchen, die unter allerlei
Vorwänden in die Fremde gelockt und dort der Prostitution in die Arme
getrieben werden, hingewiesen. Abgesehen von der Kinderauswanderung aus
Tirol recrutiert sich zumal die galizische Saisonwanderung zu einem sehr
erheblichen Percentsatze aus halbwüchsigen Burschen und Mädchen, die
durch die intensive Arbeit in der Fremde über ihre Kräfte angestrengt und
so in ihrer körperlichen Entwickelung zurückgehalten werden. Dr. Bujak
erzählt, dass die jungen Mädchen aus Maszkienice nach ihrer Rückkehr aus
Dänemark und Deutschland sehr abgespannt waren und wochenlang keine
Arbeit verrichteten. Dass diese vorzeitige Kraftausgabe die körperliche Ent-
wickelung gefährde, eine unwirtschaftliche Ausgabe v.7.z' £^o-/Yiv darstellt,
liegt auf der Hand. Der Staat hat solche Auswanderungsfälle möglichst zu
verhindern. Man sage ja nicht, dass diese Forderung das Princip der
Auswanderungsfreiheit bedrohe und dies ausschliesslich im Interesse der
Grossgrundbesitzer liege, bei denen die zurückgehaltenen Unerwachsenen doch
arbeiten würden. Erstens ist diese Arbeit keine so intensive, und zweitens
sind Schutzbestimmungen dieser Art in Italien erlassen worden, d. h. gerade
in dem Lande, das die unbeschränkteste Auswanderungsfreiheit gewährt.
Die Italiener waren eben in der Lage, die Wirkungen vorzeitiger W^anderungen
durch Jahrzehnte zu beobachten. Folgendes sind die Bestimmungen des
italienischen Gesetzes (Art. 2—4): Alle diejenigen, welche Kinder unter
Das Auswanderungsproblem und die Eegelung des Auswanderuiigswesens elc. 595
15 Jahren als Arbeiter in das Ausland anwerben oder vermitteln, ohne
zuvor die ärztliche Untersuchung derselben veranlasst zu haben, sind mit
einer angemessenen Geldstrafe zu belegen. Die Anwerbung, Zumittelung,
Anweisung oder üebernahme von Kindern, die im Auslande in einem
Hausiergewerbe oder in besonders gefährlichen Gewerben verwendet werden
sollen, ist mit Kerker bis zu 6 Monaten und mit einer Geldstrafe von
100 — 500 Lire zu bestrafen. Der Vormund verliert die Vormundschaft, der
Vater kann der väterlichen Gewalt entsetzt werden. Noch härtere Strafen
bedrohen endlich den, der einen ihm im Königreiche als Arbeiter für das
Ausland anvertrauten Minderjährigen unter 17 Jahren in der Fremde im
Stiche gelassen hat. Aehnliche Bestimmungen wären auch für Oesterreich
angezeigt. Sofort wäre den Agenten die Werbung ärztlich nicht Untersuchter
unter 16 Jahren zu verbieten. Weitergehende Verfügungen wären nur
zugleich mit dem Ausbaue der Gesetzgebung über den Schutz jugendlicher
Arbeiter am Platze.
Ein Schandfleck, der insbesondere die Auswanderung aus Oesterreich-
Ungarn compromittiert, ist der Mädchenhandel, der insbesondere aus Galizien
nach Argentina und Brasilien schwunghaft betrieben wird. Die Vermittelung
besorgen galizische Unternehmer, die ihren ordentlichen Wohnsitz in Süd-
amerika gewählt haben (sie stehen im stillschweigenden Einverständnis mit
der dortigen Polizei) und zwei- bis dreimal jährlich nach Europa reisen,
woher sie jedesmal mit reicher Beute zurückkehren. Die Anweibung
geschieht theils unter Vorspiegelung guter Posten in Amerika, theils werden
die Mädchen zunächst als Dienstboten nach Karlsbad, Franzensbad und
andere Badeorte für „amerikanische" Familien angeworben. In der Kegel
ist es nämlich viel leichter, in der Fremde zur Auswanderung nach Süd-
amerika zu bereden.^) Es ist darnach nicht leicht, den Schuldigen der
verdienten Strafe zuzuführen. Umso grösser soll die gesetzliche Straf-
sanction sein, umsomehr sind auch alle diejenigen zu bestrafen, welche
„mit Kenntnis des vom Thäter verfolgten Zweckes die Auswanderung der
Frauensperson vorsätzlich fördern". (Vergl. § 48 d. G., dagegen Art.
3. al. 3 ital. G.)
^) Nach einer Correspondenz des gewesenen Reichsrathsabgeordneten Kozakiewicz
aus Buenos Ayres an die Lemberger Zeitung: „Stowo polskie."
DIE ÖSTERREICHISCHE GEBÜRENNOVELLE
VOM 18. JUNI 1901.
VON
DK AUGUST FREIHERRN v. ODKOLEK.
Einleitung.
Unter den Novellen, welche zu dem Fundamentalgesetze des österreichischen
Gebürenwesens vom 9. Februar 1850 erflossen sind, nimmt das Gesetz vom
18. Juni 1901, betreffend Gebüren von Vermögensübertragungen, eine wichtige
Stelle ein. Sind es doch die zwei einträglichsten der mannigfaltigen Abgaben-
arten, welche in Oesterreich unter dem Namen „Gebüren" begriffen werden,
nämlich 1. jene für die üebertragung von Immobilien und 2. jene von Erb-
schaften, die durch das neue Gesetz recht einschneidende Veränderungen erfahren
haben, erstere in besonders radicaler Weise, sowohl dem Steuersatze wie der
gesammten Veranlagung nach, letztere hinsichtlich der Maassregeln, welche die
österreichische Finanzverwaltung zur Sicherung dieser Auflagen für geboten
erachtete.
Das Gesetz vom 18. Juni 1901 hat eine nicht uninteressante Vor-
geschichte, da es fast seinem ganzen Inhalte nach auf der im Auftrage des
Finanzministers Eitter von Bilinski als Eegierungsvorlage ausgearbeiteten
und sodann während der Parlamentswirren in Oesterreich unter dem Finanz-
minister Dr. Kaizl erlassenen Nothverordnung vom 16. August 1899 beruht,
einer Verordnung, deren Verfassungsmässigkeit nicht bloss in der Tages-
presse, sondern auch in öffentlichen Körperschaften und Vereinen manche
Anfechtung erfuhr. Aber auch ihr materieller Inhalt bildete zum Theile den
Gegenstand einer scharfen Kritik, wobei der neuen Veranlagung der Immobiliar-
gebüren, insonderheit der Aufhebung des Gebürennachlasses nach der Vorbesitz-
dauer, eine umso wichtigere Rolle beschieden war, als gleichzeitig eine nebenbei
gesagt über ganz Mitteleuropa hereingebrochene und auch derzeit noch keineswegs
überwundene Baukrise in den grösseren Bevölkerungscentren ausbrach. Als daher
mit Beginn des Jahres 1901 die Wiederaufnahme der Thätigkeit des Eeichsrathes
Die österreichische Gebürennovelle vom 18. Juni 1901. 597
in Sicht trat, fehlte es hinsichtlich des der Nothverordnung bevorstehenden Schicksals
nicht an allerhand düsteren Voraussagungen.
Kaum aber hatte die parlamentarische Verhandlung über die kaiserliche
Verordnung begonnen, so zeigte sich, dass diese gerade in besonders wichtigen
Punkten den traditionell gewordenen Wünschen der Volksvertretung entsprach,
so namentlich was die in ausgiebigster Weise gewährte Erleichterung des bäuer-
lichen und auch des kleinbürgerlichen Grundbesitzes und die progressive
Abstufung der Immobiliar^ebüren im allgemeinen betraf. Wohl bedurfte es
langwieriger Verhandlungen und einer wirkungsvollen, sowohl die Principien als
auch alle Details berührenden Vertheidigung der Verordnung durch, den Finanz-
minister ; das Facit aber war, dass der durch die kaiserliche Verordnung geschaffene
Eechtszustand im wesentlichen durch das Gesetz vom 18. Juni 1901 für die
Dauer festgelegt wurde. Nach dieser trockenen Erzählung des äusseren Herganges
mag die Erörterung der verfassungsrechtlichen Seite der Angelegenheit berufeneren
Federn überlassen bleiben ; wir gehen zur Betrachtung des sachlichen Inhaltes
der Novelle über und wenden uns zunächst ihrem ersten Abschnitte über die
Immobiliargebüren zu.
I. Immobiliargebüren.
a) Theoretisches,
Von altersher bildeten die Abgaben für die Uebertragung von Grund und
Boden eine ergiebige Quelle des Staatseinkommens. ^) Trotzdem gehört diebetreffende
Lehre, wie jene von den Gebüren und Verkehrssteuern überhaupt, auch heute
noch zu den bestrittensten Gebieten der Finanzwissenschaft. Die Zwiespältigkeit
der theoretischen Auffassung spiegelt sich im positiven Finanzrechte wieder, welches
die Abgaben für den Immobiliarverkehr im Staatsbudget bald den indirecten
Abgaben zurechnet (Oesterreich, Preussen), bald ihnen eine Sonderstellung
zuweist (Eussland, Italien). Bei den älteren deutschen Autoren (Umpfenbach,
Kau), welche den Gegenstand nur kurz berühren, ist eine systematische
Erklärung und Begründung der Immobiliarverkehrssteuern nicht zu finden. Zum
Theile mag dies daraus zu erklären sein, dass diese Abgaben in den einzelnen
Staaten des Deutschen Reiches vermöge ihres Ertrages bei weitem keine so
bedeutende Rolle im Staatshaushalte spielen, wie in Oesterreich und in den
romanischen Ländern, voran Frankreich. Dies erhellt klar und deutlich aus
folgender Tabelle :
1) Schon im alten Aegypten bestand anknüpfend an die Nothwendigkeit fort-
währender Katasterrevisionen infolge der Nilüberschwemmungen eine lOproc. Steuer auf
Besitzveränderungen. Schanz, Studien zur Geschichte und Theorie der Erbschaftssteuer,
in Schanz Finanzaichiv, XVII. Jahrgang, 1. Band. In Rom wurde schon in der ersten
Kaiserzeit eine allgemeine Verkaufsabgabe als vectigal (centesima) rerum venalium ein-
geführt. J. Lehr, Artikel „Verkehrssteuern" in Conrad Lexis, Handwörterbuch der
Staatswissenschaften 1894. In der Longobardenzeit mussten in Italien die Verträge über
unbewegliche Sachen in die Gemeindeacten eingetragen werden, damit der Staat nicht
um die Abgabe betrogen werden könne. Lndo Hartmann, Geschichte Italiens im
Mittelalter, L, S. 113, 1897.
198
Odkolek.
Finanzjahr 1900.
Name des Staates
Oesterreich
Russland .
Frankreich
Italien^) . .
Preussen
Baiern . .
Gesammteinnahme
1.585,811.822 Kronen
1.757,387.103 Eubel
3.523,133.264 Francs
1.688,479.205 Lire
2.472,266.033 Mark
421,296.854 Mark
Einnahme
an Stempel, Taxen,
Gebüren, Erbsteuer
Procentuelles
Verhältnis
zur Gesammt-
einnahme
150,430.000 Kronen
84,802.850 Rubel
730,913.000 Francs
182,850.000 Lire
67,000.000 Mark 2)
26,548.200 Mark
9-4
4-8
20-7
10-8
2-7
6-2
1
In der neueren deutschen Finanzwissenschaft wird grösstentheils die
Berechtigung der Verkehrssteuern überhaupt in Frage gestellt. So von Vocke,
Die Abgaben, Auflagen und die Steuer vom Standpunkte der Geschichte und der
Sittlichkeit, 1887, S, 590, der es unter den Postulaten einer gerechten Yerkehrs-
abgabe anführt, dass sie aus dem Ertrage oder Einkommen müsse bestritten
werden können, sie aber gleichwohl principiell verwirft. Kaum weniger ablehnend
verhält sich Cohn, System der Finanzwissenschaft, 1889, S. 354 ff. Auch
E h e b e r g, Finanzwissenschaft, 1895, S. 213 ff., hält die Immobiliar-Uebertragungs-
gebüren nur für erklärbar aus der geschichtlichen Entwicklung und aus finanziellen
Zwangslagen ; ihre gänzliche Abschaffung sei eine — derzeit allerdings aus
budgetären Gründen kaum erfüllbare — Aufgabe jeder gesunden Finanzpolitik.
Auch Schäffle (Die Steuern, besonderer Theil, 1897, S. 408) denkt sich die
Beseitigung dieser alten „Gebürensteuer" als Glied allgemeiner Steuerreform.
Einer rationellen Verkehrsbesteuerung reden unter den Deutschen Adolf
Wagner und Schall das Wort, und ein besonders warmer Vertheidiger ist
derselben in Hausmann (Verkehrssteuern. Ein Beitrag zur Vermehrung der
Eeichseinnahmen, 1894) erstanden.
Die moderne Auffassung der Verkehrssteuern in der deutschen Finanz-
wissenschaft datiert seit Lorenz von Stein, dem anerkannten Meister der
Dialectik ; doch könnte man nicht sagen, dass er die betreffende Lehre zu
befriedigendem Abschlüsse gebracht hätte. Stein bezeichnet den beim einzelnen
Verkehrsact erzielten Gewinn als Steuerobject und zugleich als Rechtfertigung
dieser Steuergattung überhaupt (Ge win n th e o r i e), eine Auffassung, an welcher
er später selbst zweifelte und verzweifelte, und die ihm bekanntlich die Klage
abpresste, jede Theorie der Verkehrssteuer müsse mit dem Geständnisse beginnen,
dass sie falsch sei. Zu den Einwendungen, welche gegen Steins „Gewinn-
theorie" — zum Theile schon von ihm selbst — erhoben worden sind, sei nur
1) 1899—1900.
2j Inbegriffen den auf Preussen entfallenden Antheil an Eeichsstempelsteuern.
Die österreichische Gebiirennovelle vom 18. Juni 1901. 599
ergänzungsweise bemerkt, dass ja der einzelne Verkehrsact keineswegs mit Xoth-
wendigkeit für die eine Vertragspartei einen Gewinn, für die andere einen
Verlust bedeuten muss, weil ja doch von vorneherein auf Seite beider Vertrags-
parteien auf einen zu erzielenden Vermögensvortheil gerechnet wird, der übrigens
sogar auf beiden Seiten wirklich eintreten kann, also keineswegs immer auf
Kosten des anderen Theiles gehen muss. üeberdies ist auch die Möglichkeit
nicht ausgeschlossen, dass gerade derjenige Vertragstheil, für welchen das
besteuerte Geschäft mit Verlust verbunden ist, von der Abgabe getroffen wird.
Soll nun der Verlust besteuert werden, vielleicht gar progressiv?
Noch anfechtbarer erscheint Steins Gewinntheorie, wenn die Trage
nach dem wirklichen Steuersubject (Ueberwälzung) erwogen wird. Zwar statuiert
die positive Finanzgesetzgebung in der Kegel die Abgabenpflicht beider Vertrags-
theile, so dass scheinbar eigentlich die Ueberwälzung ausgeschlossen ist. De facto
wird aber seitens der Finanz Verwaltung der Käufer zur Zahlung herangezogen,
wegen der in seiner Person durch den bücherlichen oder rechtlichen Besitz des
Verkehrsobjectes gebotenen grösseren Sicherheit. Gleichwohl findet hier fast
ausnahmslos die Ueberwälzung der Abgabe auf den Verkäufer statt, da sie schon
bei Vereinbarung des Kaufpreises in Eechnung gezogen wird, den in der über-
wiegenden Mehrheit der Fälle eben der Käufer bestimmt.
Eine zweite Auffassung erblickt die Grundlage der Liegenschaftsabgaben
von Besitzveränderungen darin, dass der Wert von Grund und Boden in constantem
Steigen begriffen, mithin die Erhebung einer Abgabe vom Wertzuwachse,
welcher eben anlässlich des Besitzwechsels in äussere Erscheinung trete (Kauf-
preis, Inventarswert), gerechtfertigt sei. Allein auch diese Theorie, welche wir
im folgenden der Kürze wegen Zuwachstheorie nennen wollen, und welche
namentlich von Schall, Verkehrs- und Erbschaftssteuern (in Schönberg,
Finanzwissenschaft, Vierte Auflage, 1897, S. 710 ff.) verfochten wird, dem hierin
Schäffle (Die Steuern, besonderer Theil, 1897, S. 370), beipflichtet, hat
manche Bedenken gegen sich. Allerdings ist nämlich die Bewegung der Werte
von Grund und Boden in unseren Zeiten im allgemeinen eine aufwärtsstrebende,
doch stellt diese Bewegung keineswegs eine constant ansteigende, sondern eher
eine krumme Linie dar, bei der es an Abwärtsbewegungen der Ee alitäten werte
nicht fehlt. Für solche Zeiten des Preisfalles würde aber die von der „Zuwachs-
theorie" bezeichnete Steuergrundlage gänzlich fehlen und käme man in thesi zu
der Folgerung, dass für die Dauer des Preisfalles die Auflegung der Immobiliar-
verkehrssteuer ganz ausgesetzt werden müsste, mithin zu der kaum haltbaren
Forderung einer je nach der Conjunctur intermittierenden Abgabe.
In den parlamentarischen Verhandlungen über die österreichische Gebüren-
novelle vom 18. Juni 1901 ist übrigens die „Zuwachstheorie" als Argument für
die Beibehaltung des „Gebürennachlasses" nach der Vorbesitzdauer herbeigezogen
worden. Beiden Auffassungen (Gewinntheorie und Zuwachstheorie) ist der Grund-
gedanke gemeinsam, dass ihr Object, nämlich der Gewinn, rücksichtlich der
Wertzuwachs, eigentlich von der directen Besteuerung getroffen werden sollte, sich
aber für dieselbe als nicht erreichbar erweist, weshalb die Iramobiliarverkehrssteuer
hier eigentlich als Correctiv der directen Steuern einzugreifen berufen sei.
600 Odkolek.
Während also die deutschen Autoren die Verkehrsabgabe entweder ganz
verurtheilen oder ihr nur vom Standpunkte einer Ergänzung des directen Steuer-
systemes Berechtigung zuerkennen, wird dieselbe bezeichnenderweise von den
französischen Schriftstellern, und zwar unter dem Gesichtspunkte der G e b ü r
verfochten, so noch neuestens von Leroy-Beaulieu, Traite de la science des
finances, Tom. I., 1899, S. 587, wo es diesbezüglich heisst : „La legitimite' de
la taxe en pareil cas est incontestable puisque I'Etat rend un Service evident
aux contractants en les garantissant contre toute ^viction, en pretant main
forte ä leur Convention, enfin en registrant et conservant l'acte, de maniöre
qu'il ait une date certaine, un caractere d'authenticite' et qu'il constituo un
titre regulier de propriete."
Diese dritte Auffassung, welche wir als eine historische bezeichnen möchten
und die Gebürentheorie nennen wollen, legt das Hauptgewicht darauf, dass
den Immobiliarverkehrssteuern der Gebürencharakter, d. i. der eines
Entgeltes für specielle staatliche Leistungen bis zu einem gewissen Grade
unbedingt zukommt, insoweit aber mit Rücksicht auf die Höhe des Abgaben-
satzes dieser Charakter nicht als ausreichend erkannt werden sollte, allerdings das
fiscalische Interesse als Rechtfertigung dieser Abgabenart dienen muss. Der
Gebürencharakter tritt nach zwei Richtungen hervor; erstens in dem Entgelte
für den seitens der Staatsverwaltung dem Immobiliarverkehre im allgemeinen
gewährten Rechtsschutz (ein Gesichtspunkt, der, ohne Widerspruch zu finden,
auch zur Begründung der verwandten Erbschaftssteuer geltend gemacht wird),
zweitens in dem Entgelte für die Inanspruchnahme der einen besonders wirksamen
Rechtsschutz gewährenden Institution der öffentlichen Bücher. In Oesterreich
möchte das positive Recht zur Unterstützung dieser Ansicht insofern geeignet
sein, als die bücherliche Eintragung der Immobiliarüb ertragungen von der
Eintragungsgebür unter der Bedingung fernbleibt, dass für das Rechtsgeschäft
die Uebertragungsgebür entrichtet wurde. ^) Die hier besprochene dritte Auffassung
wird zwar von der Mehrzahl der deutschen Autoren als ein überholter und veralteter
Standpunkt gekennzeichnet; gleichwohl möchten wir ihr mit einer gewissen Ein-
schränkung-) beipflichten, nicht allein unter dem Gesichtspunkte der historischen
Entwickelung dieser Abgabe in Oesterreich und ihrer herkömmlichen Classificierung,
sondern auch deshalb, weil die Abgabe in den breiten Bevölkerungsschichten
thatsächlich als Gebür aufgefasst und getragen wird.
Einer Verbindung von Zuwachstheorie und Gebürentheorie verdankt eine
ganz eigenartige Gruppe communaler Abgaben ihr Entstehen, welche damit
begründet wird, „dass die Eigenthümer, deren Grundstücke durch irgendwelche
von localen Behörden angeordnete Verbesserungsanlagen einen Wertzuwachs
erhalten, zu den Kosten dieser Anlagen beitragen sollen". (Hallgarten, Die
communale Besteuerung des unverdienten Wertzuwachses in England. Stuttgart,
1899, S. 179.) Die Heimat dieser Abgabenart — Betterment charge — und
1) Tarifpost 45Äa des Gesetzes vom 13. December 1862.
2) Die Einschränkung besteht darin, dass allerdings der Gebürencharakter vorwiegt,
über eine gewisse Höhe der Abgabe hinaus jedoch, die Momente einer ergänzenden
Ertragsbesten erung nicht zu verkennen sind.
Die österreichische Gebürennovelle vom 18. Juni 1901. ßOl
zugleich der einzige europäische Staat, wo sie bisher Wurzel fasste, ist England.
Ein Versuch, sie auf deutschen Boden zu verpflanzen, welcher in der Aera
Miquel im Anschluss an eine Rahmenbestimmung des preussischen Communal-
abgabengesetzes vom 14. Juli 1893 in einzelnen grösseren Gemeinwesen unter-
nommen worden ist (Bauflächensteuer), scheint nicht besonders geglückt zu sein
(vgl. Schäffle, a. a. 0. S. 437). Neuestens ist auch im Canton Basel (Stadt)
das Project einer besonderen Besteuerung der Gewinne vom Verkauf der Liegen-
schaften an der Erwägung gescheitert, dass derselbe schon im Wege der directen
Besteuerung hinlänglich getroffen sei (Schanz, Finanzarchiv, 17. Jahrgang,
S. 945.)
b) Den neue österreichische Tarif in theoretischer und praktischer
Beleuchtung.
Adolf Wagner^) erhebt gegen die bestehende Verkehrsbestenerung den
Vorwurf, dass sie meistens noch zu fiscalisch und zu schablonenhaft, ohne
genügende Unterscheidung der Fälle vorgegangen sei. Gegenüber dem neuen
Tarife der österreichischen Immobiliargebüren, wie er sich aus den §§1,2 und 3
des Gesetzes vom 18. Juni 1901 ergibt, dürfte der Vorwurf schablonenhaften
Vorgehens wohl kaum am Platze sein: eine so weitgehende Differenzierung der Sätze,
wie hier, ist schwerlich in der Gesetzgebung eines anderen Staates anzutreffen. Nicht
weniger als drei Hauptmoraente sind nämlich durch die Novelle als maassgebend
erklärt worden : erstens das Verwandtschaftsverhältnis der am Rechtsacte
betheiligten Personen, zweitens der Umstand, ob es sich um einen unentgeltlichen
oder um einen entgeltlichen Eechtsact handelt, drittens der Wert der über-
tragenen Liegenschaft. Daneben werden dann noch — durch alle drei oben
angeführten Kategorien hindurchgehend — specielle Begünstigungen für wirt-
schaftlich besonders schonungsbedürftige Bevölkerungseiassen, nämlich für Bauern
und Kleinbürger, gewährt, in dieser Hinsicht bereits vorhanden gewesene Special-
vorschriften ergänzend und erweiternd ; schliesslich sind auch, und zwar abgestuft
nach der Dauer des Vorbesitzes, für Uebertragungen von Gebäuden, welche unter
dem Gesichtspunkte der Förderung der Bauthätigkeit eine gelindere Behandlung
erheischten, ermässigto Procentsätze aufgestellt worden.
An der Hand der im Anhang in ihrem Wortlaute abgedruckten §§ 1, 2
und 3 des neuen Gesetzes ergibt sich folgender Tarif:
1. Normale Sätze:
a) für entgeltliche oder unentgeltliche Ueber-
tragungen zwischen Eltern und Kindern bei einem
Werte bis einschliesslich 30.000 K 1 Proc,
über 30.000 K V/, „
h) für Uebertragungen zwischen anderen Per-
sonen, und zwar für unentgeltliche Uebertragungen bei einem
Werte bis einschliesslich 20.0000 K V/^ Proc,
über 20.000 K 2 „
1) Finanzwissenschaft, Zweiter Theil, 1890, S. 560.
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. X. Band. 41
602
Odkolek.
für entgeltliche Uebertragungen bei einem Werte bis einschliesslich
10.000^ 3 Proc,
über 10.000 K bis einschliesslich 40.000 K SV^ ,
über 40.000 K 4 „
2. Begünstigte Sätze.
A. Für Bauern und Kleinbürger.
Für entgeltliche oder unentgeltliche Uebertragungen zwischen
Eltern, Kindern, Ehegatten bei einem Werte bis einschliesslich 5.000 K 0 Proc,
über 5.000 K bis einschliesslich 10.000 K V2 »
für Uebertragungen zwischen anderen Personen, und zwar:
1. durch unentgeltlichen Bechtsact bei einem Werte bis ein-
schliesslich 5.000 K 7* Proc,
über 5.000 X bis einschliesslich 10.000 ^ IVa „
2. durch entgeltlichen Bechtsact bei einem Werte bis 5.000 K \^/^ „
über 5.000 K bis einschliesslich 10.000 K 2'/^ „
B. Aus dem Titel der Bauführung.
Für Uebertragungen von Neu- und Umbauten aus einem
lästigen Titel bei einer Vorbesitzdauer, und zwar von nicht mehr
als 4 Jahren • 2^/^ Proc,
von mehr als 4, jedoch nicht mehr als 6 Jahren 3 „
Der neue Tarif enthält also 15 Positionen. Die scheinbar regellose Mannig-
faltigkeit dieser Sätze, welche soweit geht, dass in den einzelnen Gruppen die
maassgebenden Wertstufen und selbst die Anzahl dieser Wertstufen nicht durch-
gehends übereinstimmen, mag auf den ersten Blick befremden ; es prägt sich
darin aber einerseits die Eücksicht auf einzelne besonders schonungsbedürftige
Verkehrszweige, andererseits die Bedachtnahme auf das budgetäre Interesse aus,
indem jede einzelne der neuen Positionen auf sorgfältig ermittelter statistischer
Basis ruht. Schon vor geraumer Zeit wurden nämlich im österreichischen
Finanzministerium Einrichtungen geschaffen, welche eine statistische Erfassung
des Realverkehres und der ihn treffenden Abgaben bis ins kleinste Detail ermög-
lichen. Diese „Geb ür e nst ati stik" besteht darin, dass gleichzeitig mit der
Vornahme der Gebürenbemessung von jedem einzelnen Eechtsacte durch den
bemessenden Functionär ein „statistischer Auszug" angefertigt wird, in welchen
alle für die Statistik erheblichen Daten des Bemessungsfalles zu übertragen sind.
Diese Auszüge werden periodisch an ein eigenes Rechnungsdepartement des
Finanzministeriums übersendet, welches dieselben prüft und deren weitere statistische
Bearbeitung besorgt. Die Schaffung dieser für jede Reformarbeit im Gebürenwesen
geradezu unentbehrlichen Einrichtungen fällt in die Zeit, als Ernst v. Plener
Finanzminister war.
Auf dieser Statistik beruhen die der Regierungsvorlage (322 der Beilagen
zu den stenographischen Protokollen des Abgeordnetenhauses, XIV. Session, 1898,
und 211, XV. Session, 1898) angeschlossenen Tabellen über den Realverkehr und
dessen Gebürenbelastung im Jahre 1896, deren Ziffern zunächst bei Erstellung
Die österreichische Gebürennovelle vom 18. Juni 1901. 603
der neuen Tarifsätze als Grundlage gedient haben. Wenn sich hiehei die
beträchtliche Anzahl von 15 Sätzen ergab, so ist Schablonenhaftigkeit gewiss der
letzte Vorwurf, der dem neuen Tarife gemacht werden kann. Da die Vereinfachung
der Bemessungstechnik mit einen wichtigen Zweck der ganzen Eeformaction
bildete, so erhebt sich vielmehr umgekehrt die Frage, ob der neue Tarif nicht
etwa zu compliciert gerathen ist, zumal da derselbe nur um einen Gebürensatz
weniger enthält, als die frühere Gesetzgebung, welche unter Berücksichtigung des
Gebürennachlasses und der durch die Novelle vom 31. März 1890 geschaffenen
Erleichterungen für Bauern und Kleinbürger 16 Immobiliargebürensätze aufwies.
Soweit nun die bisherigen praktischen Erfahrungen reichen, kann diese Frage
verneint werden, vielmehr wird fast übereinstimmend eine Erleichterung und
Vereinfachung des Bemessungsgeschäftes constatiert, was daraus zu erklären sein
mag, dass es für die Handlichkeit eines Tarifes weniger auf eine recht geringe
Anzahl von Sätzen, als darauf ankommt, dass die Beurtheilung der Anwendbarkeit
der einzelnen Sätze auf den concreten Uebertragungsfall keine Schwierigkeiten
biete. Diesem Bedürfnisse aber hat das neue Gesetz durch Vereinfachungen der
Gebürenbemessung von Erbtheilungen, Theilungsverträgen, Fruchtgenüssen u. s. f.,
wie allgemein anerkannt wird, in ausgedehntem Maasse entsprochen.
Die Höhe des Tarifsatzes, speciell des Satzes für Uebertragungen
aus einem lästigen Titel unter Lebenden, bildet selbstverständlich eine der
wichtigsten Seiten der Angelegenheit. Gegenüber dem fiscalischen Interesse an einem
möglichst hohen Ertrage erhebt die Volkswirtschaft die Forderung, dass durch
eine überspannte Höhe des Abgabensatzes der Realitätenverkehr, insoweit er
ökonomisch günstig wirkt, nicht gehemmt und beeinträchtigt werden dürfe.
Daneben ist aber auch der Gesichtspunkt nicht gänzlich abzuweisen, dass einer
entsprechenden Veranlagung der Immobiliargebüren die Aufgabe zufällt, als
Regulator des Verkehres mit Liegenschaften zu dienen, eine übertriebene Güter-
speculation zu zügeln. Alle diese Factoren sind behufs einer gerechten Beurtheilung
der neuen Sätze in Betracht zu ziehen.
Werfen wir nun zunächst einen Blick auf die Gesetzgebung des Auslandes,
so finden wir bei Uebertragungen aus lästigem Titel in Frankreich ein droit
de mutation von 6*875 Proc, (einschliesslich des Decimenzuschlages) ; in Italien
eine tassa di registro von 4*8 Proc. (ebenfalls mit Einschluss des Decimen-
zuschlages); in Bus sl and wird aus dem gleichen Titel die sogenannte Krepost-
poschlin im Ausmaasse von 4 Proc. erhoben. Bedeutend geringer sind die Sätze
im Deutschen Reiche: so erhebt Preussen eine Stempelsteuer für die
„Auflassung" in der Höhe von 1 Proc, wozu aber in den grösseren Gemeinwesen
communale Umsatzsteuern treten (z. B. in Berlin 1 Proc, so dass sich dort
die Gesammtbelastung auf 2 Proc. stellt); in Baiern beträgt die „Gebür"
2 Proc (dazu kommt in München eine communale Umsatzsteuer von 1 Proc,
daher Gesammtbelastung 3 Proc) ; Baden hat eine Liegenschaftsaccisse von
2Y2 Proc Wird der neue österreichische Maximalsatz von 4 Proc. mit den
vorstehenden Sätzen verglichen, so hält Oesterreich ungefähr die Mitte zwischen
den romanischen Ländern (Italien und Frankreich) und den Staaten des Deutschen
Reiches.
41*
604 Odkolek.
Es darf aber nicht verschwiegen werden, dass der auffällig hohe Satz von
6*875 Proc, in Frankreich in diesem Lande selbst sehr ernste Gegner findet. So
besonders Leroy-Beaulieu, welcher die bezügliche Belastung eine exorbitante nennt
und geradezu eine Immobilisierung des Güterverkehres als deren Folge bezeichnet,
welche ihrerseits wieder bewirke, dass niemand, ausser nothgedrungen, sich sehies
Besitzes entäussere, aber auch jedermann durch die Höhe der Abgabe vom
Kaufe liegender Güter abgeschreckt werde.^)
Mag nun auch die Bemerkung, welche Leroy-Beaulieu bei diesem
Anlasse macht, dass ein möglichst häufiger Besitzwechsel liegender Güter volks-
wirtschaftlich nützlich und daher durch steuerliche Maassregeln zu fördern sei,
keineswegs einwandfrei sein, so wird man doch die Klage, dass ein Satz von
6"875 Proc. vielfach drückend wirke, verständlich finden. Der baulichen
Entwickelung der französischen Städte scheint die hohe Enregistrementsgebür
gleichwohl nicht hinderlich gewesen zu sein, wie denn auch die berühmte bauliche
Neugestaltung von Paris unter dem Seinepräfecten Baron Haussmann
(1857 — 1870) sich bei einem nur unwesentlich geringeren Satze der Uebertragungs-
gebür vollzog.
In der öffentlichen Discussion sind nun aus naheliegenden Gründen die
neuen österreichischen Sätze von 3, 3^ g ^^^ ^ Proc. nicht mit den wesentlich
höheren französischen oder italienischen Sätzen in Vergleich gezogen worden,
sondern mit den allerdings massigeren Gebüren der Staaten des Deutschen Reiches,
wobei aber vor allem übersehen worden ist, dass gerade diese Staaten vermöge
der verhältnismässig bescheidenen Rolle, welche die Gebüren in ihrem Staats-
haushalte spielen, kein taugliches Vergleichsobject abgeben. Ob nun unsere neuen
Sätze genau das Richtige treffen, steht dahin; ob sie auch, abgesehen von den
nachträglich für Neu- und Umbauten gewährten Erleichterungen, wirklich eine
üeberlastung des Realitätenverkehres darstellen, bedarf gleichfalls noch des
Beweises. Jedenfalls stellen sie das Minimum dessen dar, was bei Einführung der
so bedeutenden Erleichterungen für andere Gebiete des Realverkehres gefordert
werden musste, wenn der ohnehin beträchtliche finanzielle Ausfall nicht allzusehr
anschwellen sollte.
Was im Gefolge der neuen Sätze vor allem als Härte empfanden wurde,
war das Verschwinden einer österreichischen Specialität, des sogenannten Gebüren-
nachlasses. Dieser bestand darin, dass bei entgeltlichen und auch bei unent-
geltUchen Uebertragungen die Höhe des Gebürensatzes von der Vorbesitzdauer,
d i. von der Zeit abhieng, während welcher der Veräusserer die Realität besessen
hatte. Es gelangte also bei entgeltlichen Uebertragungen der volle Satz von
3Y2 Proc. sammt 25 Proc. Zuschlag = 4"375 Proc. nur dann zur Erhebung,
wenn die Vorbesitzdauer zehn Jahre überstieg; bei einer um je zwei Jahre
kürzeren Vorbesitzdauer verminderte sich der Satz um je ein halbes Proc. und
erreichte sein Minimum von 1 Proc. sammt 25 Proc. Zuschlag = 1*25 Proc. bei
einer Vorbesitzdauer von nicht mehr als 2 Jahren.
Dieser auf einer zufolge kaiserlicher Ermächtigung erlassenen Ministerial-
verordnung vom 3. Mai 1850, beruhende Gebürennachlass war bei seiner Ein-
1) a. a. 0., S. 587 und 588.
Die österreichische Gebürennoveile vom 18. Juni 1901. 605
führung damit begründet worden, dass der Wert der unbeweglichen Güter in
steter Zunahme begriffen sei, welche den Betrag der Uebertragungsgebüren nicht
nur ausgleiche, sondern nach deren Einbringung noch einen Ueberschuss zurück-
lasse. Nun trete jene Zunahme nur allmählich ein und sei in der Kegel nach
kürzeren Zeiträumen kleiner als nach längeren. Es könne daher nach einem
längeren Zeiträume, der eine Besitzveränderung von der anderen trennt, ohne
Nachtheil und Schwierigkeit eine höhere Gebür eingebracht werden, als bei einer
Besitzveränderung, die in kurzem auf eine andere folgt. ^)
Im Laufe der Zeit aber vollzog sich, wie rücksichtlich so vieler Fragen des
Gebürenwesens auch über die Nützlichkeit und Berechtigung des^ Gebürennachlasses
ein gründlicher Wandel der Anschauungen. Schon anlässlich früherer Reform-
versuche (1879 und 1883) war von Seite der Regierung die Abschaffung des Gebüren-
nachlasses, einstweilen noch erfolglos, vorgeschlagen worden. In dem Motiven-
berichte zu den beiden oben angeführten Regierungsvorlagen des Jahres 1898,
auf welchen das neue Gesetz vom 18. Juni 1901 beruht, werden die Argumente
gegen den Gebürennachlass in folgender Weise zusammengefasst :
„Der Gebürennachlass, welcher ausser in Oesterreich nur noch in Italien
— jedoch nur in sehr beschränktem Umfange — vorkommt, stellt sich als eine
wenig rationelle Begünstigung dar. Wenn der Zweck der Verkehrsabgabe in der
Besteuerung des aus dem einzelnen Verkehrsacte zugehenden Nutzens gelegen ist,
so ist nicht einzusehen, weshalb nicht alle gleichartigen Verkehrsacte auch der
gleichen Abgabe unterzogen werden sollten. Die durchschnittliche Häufigkeit
einer Gattung von Verkehrsacten ist zwar für die Höhe des Steuerfusses nicht
ohne Bedeutung, es folgt aber hieraus nicht, dass, wenn einmal bei einem
bestimmten Objecte die Besitzveränderungen rascher aufeinander folgen, eine
Ermässigung für die späteren einzutreten habe. Im Gegentheile lehrt die Erfahrung,
dass gerade bei der einen raschen Besitzwechsel erfordernden Speculation
in Grundstücken (Bauspeculation, Güterzertrümmerung) oft sehr bedeutende
Gewinne erzielt werden, die eine ausgiebige Belastung durch die Verkehrssteuer
sehr wohl vertragen, gegenwärtig aber durch den wie eine Prämie wirkenden
Gebürennachlass noch gesteigert werden. Hiezu tritt namentlich bei der Bau-
speculation noch die Anomalie, dass der Staatsschatz die volle Gebür nur von
dem ersten, in der Regel niedrigeren Preise (für den Baugrund), dagegen von
dem höheren Preise des Wiederverkaufes (für den Baugrund sammt Inädificat)
nur eine stark reducierte Gebür erhält.
Auf der anderen Seite sehen wir, dass diejenigen Bevölkerungskreise, welche
an der Scholle conservativ festhalten, insbesondere die bäuerliche Bevöl-
kerung, in der Regel von der vollen Immobiliargebür getroffen werden, so dass
das erhebliche Opfer, welches dem Staatsschatze durch den Gebürennachlass
auferlegt ist, dem consolidierten Realbesitze nur in geringem Maasse und als
eine Gunst des Zufalls zukommt."
*) Aus dem allerunterthänigsten Vortrage des Finanzministers Freiherrn v. Kraus
vom 27. April 1850, 13. Beilageheft zum allgemeinen Reichsgesetz- und Regierungsblatte
für das Kaiserthum Oesterreich, Jahrgang 1850.
606
Odkolek.
Diese Argumente der Eegierung fanden indessen in der Oeffentlichkeit
keine widerspruchslose Anerkennung ; vielmehr erstanden der Institution des
Gebürennachlasses neue Vertheidiger, gerade, als dieselbe am 6. October 1899,
als dem Tage, an welchem die kaiserliche Verordnung vom 16. August 1899 in
Wirksamkeit trat, zu bestehen aufgehört hatte. Ungefähr gleichzeitig machte sich
nämlich in Wien und in anderen grossen Städten des Reiches ein Stocken der
Bauthätigkeit bemerkbar, als dessen alleinige Ursache man vielfach die Aufhebung
des Gebürennachlasses bezeichnen hörte. Nur langsam brach sich die Erkenntnis
Bahn, dass doch mindestens auch andere Gründe für das Darniederliegen des
Baugeschäftes vorhanden sein müssten, zumal die Krise sich so ziemlich über
ganz Mitteleuropa erstreckte, so dass der Beweis geliefert war, dass sie durch
niedrige Sätze der Uebertragungsgebüren, wie in Deutschland, nicht verhütet,
somit auch durch höhere Sätze, wie sie in Ungarn seit längerem bestehen, nicht
heraufbeschworen wurde.
Bei dieser Erkenntnis verschlossen sich Regierung und Parlament nicht der
Erwägung, dass das zeitliche Zusammentreffen der Aufhebung des Gebürennachlasses
mit dem Ausbruche der Baukrise eine Verschärfung dieser letzteren herbeigeführt
haben mag. So hob denn auch der Bericht des Gebürenausschusses (662 der
Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Abgeordnetenhauses, XVII. Session,
1901) hervor, dass in den Städten die Bauunternehmung und der Realitätenverkehr
sich ganz eigenartige Formen geschaffen haben, die in der gegenwärtigen Gestaltung
der Verhältnisse unentbehrlich und durch die Aufhebung des Gebürennachlasses
thatsächlich sehr beeinträchtigt worden seien. Der Bericht fährt sodann fort:
„In den seltensten Fällen ist es heute, namentlich bei grösseren Bauten, noch der
Besitzer der Baufläche oder eines zum Umbaue bestimmten Hauses, welcher einen Neu-
bau oder Umbau unternimmt, sondern es schiebt sich als Zwischenhand zwischen den Besitzer
der Bauarea und dem künftigen Hausbesitzer im eigentlichen Sinne des Wortes, der das
Bauobject zum Zwecke einer dauernden Capitalsanlage erwerben will, entweder ein Bau-
unternehmer oder ein Baumeister ein, welcher die Bauarea erwirbt und den Neu- oder
Umbau sodaim veräussert. Diese Verkehrsform ist heute die Regel und ist unentbehrlich,
da das Risico, welches mit der Errichtung eines Neu- oder Umbaues unternommen wird,
von dieser Zwischenhand in der Hoffnung eines Gewinnes, der im Durchschnitte im
übrigen, wenn überhaupt, nur sehr massig auszufallen pflegt, getragen wird. Die Ueber-
tragungsgebür, von der man theoretisch annahm, dass sie den jeweiligen Käufer treffe,
ist jedoch bei der Erwerbung eines Neu- und Umbaues, wie wohl auch in den meisten
linderen Uebertragungsfällen aui den Verkäufer überwälzt und vermindert derart als ein
Theil der Productionskosten den Nutzen, welchen der Bauherr oder Baumeister als Ver-
käufer sonst zu erzielen vermocht hätte. Der Unterschied zwischen einer Uebertragungs-
gebür von 1^/4 Proc. bei der Veräusserung einer Realität, die nur 2 Jahre im Vorbesitze
gewesen ist, nach dem früheren Rechtszustande und zwischen 4 Proc. nach dem durch
die kaiserliche Verordnung herbeigeführten Rechtszustande ist ein überaus beträchtlicher,
zehrt oft den gesammten Nutzen auf und erklärt auch die Thatsache zur Genüge, dass
angesichts dieser Saclilage nicht nur die Veräusserung von Neu- unJ Umbauten wesentlich
beeinträchtigt, sondern auch das Interesse an der Unternehmung solcher Bauten ausser-
ordentlich gemindert worden ist. Die Rückwirkung auf die gesammte Lage des Bau-
gewerbes in den Städten und der vielen Tausende von ihm beschäftigten Gewerbs- und
Arbeitsleute ist somit vollkommen erklärt.
In Berücksichtigung dieser Verhältnisse wurde daher im § 3 des neuen
Gesetzes dem Gebürennachlasse auf dem Gebiete des Kealitätenverkehres mit
Die österreichische Gebürennovclle vom 18. Juni 1901. 607
Neu- und Umbauten wieder zum Eechte verhelfen, dergestalt, dass für die Ab-
stossung von Neu- und Umbauten statt der Sätze von 3, SVg und 4 Proc.
ermässigte Sätze von 2^^ und 3 Proc. in Geltung traten, wenn die zuletzt voraus-
gegangene Besitzübertragung innerhalb vier, rücksichtlich innerhalb sechs Jahren
vorgefallen ist. In diesen Sätzen ist ein nach langwierigen, mühevollen Verhand-
lungen zustande gekommenes Comproraiss zwischen den noch weiter gehenden
Anträgen und der auf budgetäre Interessen sich berufenden Eegierung zu erblicken.
Es kann übrigens hier auch die Bemerkung nicht unterdrückt werden, dass,
soweit die bisherigen Erfahrungen reichen, die Erwartungen einer Wiederbelebung
des Bauwesens, welche sich an die Ermässigung der Gebürensätze knüpften, zu-
nächst nur in einem bescheidenen Umfange in Erfüllung gegangen sind.
Im Laufe der parlamentarischen Verhandlungen trat indessen eine starke
Strömung für die Eestitution des Gebürennachlasses nach der Vorbesitzdauer im
allgemeinen hervor. Soweit nun diese Strömung nicht die mit der Bauthätigkeit
zusammenhängenden Uebertragungen betraf, sondern auch den sogenannten con-
solidierten Hausbesitz erfasste, erschien ihre Berechtigung weniger ausgemacht.
Das Leitmotiv aller bezüglichen Kundgebungen der Hausbesitzervereine u. s. w.
bildete meist der Hinweis auf die ohnehin grosse Belastung des Realitätenbesitzes
mit staatlichen Abgaben im allgemeinen, welchen durch die Erhöhung der üeber-
tragungsgebüren eine neue hinzugefügt worden sei. Fasst man aber die Verhält-
nisse des consolidierten Hausbesitzes schärfer ins Auge, so zeigt sich, dass die
Aufhebung des Gebürennachlasses gerade diesen Interessentenkreis, wenn überhaupt,
so doch nur in entfernterer Weise berührt. Zunächst kommt nämlich in Betracht,
dass die Uebertragungsgebür nicht etwa gleich der Grund- und der Gebäude-
steuer eine laufende Belastung des Eealitätenbesitzes bildet, sondern nur im
Falle der Veräusserung der Eoalität zur Erhebung gelangt, welche bei Ueber-
tragungen unter Lebenden doch regelmässig in die Willkür des Veräusserers gestellt
ist. Gerade die leichte Veräusserlichkeit der Eealitäten, der rasche Besitzwechsel,
kann an sich kaum als ein Interesse des consolidierten Hausbesitzes bezeichnet
werden, der andernfalls mit sich selbst in Widerspruch käme. Nun kann vielleicht
gesagt werden, dass der Besitz von Grund und Boden eine Capitalsanlagfe bilde
und dass es dem Eigenthümer nicht gleichgiltig sein könne, wenn durch hohe,
Uebertragungsgebüren die Eealitätenpreise in die Höhe getrieben und dadurch
die Abstossung seines Eealbesitzes, zu der er sich auch aus anderen als specu-
lativen Gründen genöthigt sehen kann, gehindert oder doch erschwert wird. Aber
einmal ist zu bedenken, dass bei Objecten grösseren Wertes, um die es sich
hier zunächst handelt, die Spannung zwischen dem geforderten und dem ange-
botenen Kaufpreise in der Eegel eine so bedeutende ist, dass darin die Ueber-
tragungsgebür bequem Eaum findet; sodann aber ist auch in Betracht zu ziehen,
dass für den „consolidierten Hausbesitz", bei welchem doch meist eine mehr
als zehnjährige Besitzdauer angenommen werden kann, durch die neuen Immo-
biliargebüren gegenüber den alten Sätzen überhaupt keine Erhöhung, sondern
im Gegentheile eine kleine Ermässigung eingetreten ist, indem für solche Ueber-
tragungen früher der volle Satz von 8Y2 Proc. sammt 25 Proc. Zuschlag =
4'375 Proc. galt, gegenwärtig aber bloss 4 Proc. zu entrichten sind. Insofern
608 Odkolek.
aber ein Hausbesitzer vor zehn Jahren in die Lage kommt, seine Eealität zu
veräussern, ist freilich der neue Maximalsatz von 4 Proc. höher als die alten
nach der Vorbesitzdauer abgestuften Sätze von 3*75, 3-125, 2*5, 1'875 und
1*25 Proc, wobei aber, wie ersichtlich, die Differenz bei einem Vorbesitze von
acht bis zehn oder sechs bis acht Jahren keine sehr bedeutende ist. Wohl konnte
unter der Herrschaft der kaiserlichen Verordnung auch der consolidierte. zehn
Jahre überschreitende Hausbesitz sich dann beschwert fühlen, wenn ein Haus
an einen Baumeister oder Bauunternehmer zum Zwecke des Umbaues verkauft
werden sollte. In diesem Falle lag es nämlich nahe, dass der Baumeister oder
Bauunternehmer schon bei Bestimmung des Kaufpreises für das abzubrechende
Haus die höhere Gebür für den Weiterverkauf in Anschlag brachte und dem-
gemäss sein Anbot reducierte. Durch die im § 3 des neuen Gesetzes gewährten
Ermässigungen für Uebertragung von Neu- und Umbauten erscheint aber auch
dieser Klage grösstentheils der Boden entzogen. Und so erübrigt denn nur die
eigentliche Häuser- und Bodenspeculation, namentlich auch der Handel mit Bau-
stellen, welche — vielleicht nicht zum Schaden der Volkswirtschaft — durch
die neuen Immobiliargebüren hemmend beeinflusst werden.
Indem wir von dem Gebürennachlasse Abschied nehmen, müssen wir con-
statieren, dass derselbe in der finanzwissenschaftlichen Literatur, soweit uns bekannt
ist, kaum einen einzigen Fürsprecher findet.^) Wagner bekennt sich als sein
Gegner-), und Schaff le a. a. 0. S. 408 meint, es werde sich für denselben nach
seiner Auffassung der Verkehrssteuern Stichhältiges kaum beibringen lassen. Auf
der anderen Seite darf nicht verschwiegen werden, dass sich noch neuestens in
der österreichischen Eeichsvertretung ernste Stimmen für dessen Beibehaltung erhoben.
Kehren wir nun zum Staffeltarife der §§ 1 und 2 des neuen Gesetzes
zurück, so finden wir, dass derselbe progressiv, oder vielleicht zutreffender
gesagt, degressiv aufgebaut ist, indem die Procentsätze der Abgabe mit der
Höhe des übertragenen Wertes ansteigen, oder unter dem Gesichtspunkte der
Degression gesprochen, mit dem bezeichneten Werte fallen. Wir stossen hier
auf die Principienfrage, ob denn überhaupt wirtschaftliche, aber auch wohl-
verstandene fiscalische Interessen eine progressive Gestaltung der Immobiliar-
umsatzsteuern rationell erscheinen lassen. Die ausländische Gesetzgebung kennt,
soweit uns bekannt, die Progression auf diesem Gebiete nicht, soweit man nicht
etwa die Freilassung ganz geringer Werte (z. B, in Preussen 150 M.) als
solche ansehen möchte. Zwar wird neuestens bei den Einkommensteuern die
Berechtigung der Progression zumeist für ausgemacht gehalten; auch die pro-
gressive Erbschaftssteuer wird vielfach gefordert, doch besteht diesfalls noch ein
tiefgehender Zwiespalt der Meinungen, ob progressiv nach der Gesammtheit der
Erbschaft (Massensteuer) oder nach der einzelnen Erbportion (Anfallssteuer), und
überdies ergibt sich hier die Frage, ob nicht bei Erstellung der Progression auf
die bisherige ökonomische Lage des Erben Eücksicht genommen werden müsste.
I
I
^) In den auswärtigen Gesetzgebungen finden wir den Gebür^nnachlass einzig und
allein in Italien, wo bei Uebertragungeri innerhalb zwei Jahren eine Ermässigung der
Gebür von 4*8 auf 3-6 Proc. eintritt.
^) Die Communalsteuerfrage. Leipzig und Heidelberg, 1878, S. 40.
Die österreichische Gebürennovelle vom 18. Juni 1901. 609
Letzteres Bedenken gegen die Progression besteht auch bezüglich der Immobiliar-
gebüren; ferner kann auch eingewendet werden, dass hier die Yeranlagung nach
dem Bruttowerte platzgreift und somit die subjective Steuerkraft doch nur in
recht verschleierter Form zutage tritt. Anderseits aber ist nicht zu leugnen,
dass Uebertragungen höherer Werte ungeachtet einer starken hypothekarischen
Belastung denn doch regelmässig einen gewissen Kückschluss auf die höhere
Steuerkraft der betheiligten Individuen gestatten. Die starken Bedenken, welche
einer progressiven Gestaltung der Immobiliargebüren entgegenstehen, bildeten
denn auch die Veranlassung, dass in dem neuen österreichischen Tarife, wie
schon erwähnt, nicht eigentlich das Princip der Progression, sondern jenes der
Degression zum Ausdrucke gelangt. Die Degression ist dahin zu verstehen, dass
z. B. bei den nach § 1, Z. 3, zu behandelnden entgeltlichen Uebertragungen
der Satz von 4 Proc. als der normale zu betrachten ist, welcher sich bei einem
Werte zwischen 10.000 und 40.000 K auf 3^2 Proc. und bei einem Werte
bis 10.000 K auf 3 Proc. ermässigt. Freilich könnte auch gegen die De-
gression im § 1 eingewendet werden, dass die hiernach milder zu behandelnden
Uebertragungen zumeist minderen Wertes in die Kategorie der bäuerlichen und
kleinbürgerlichen Uebertragungen fallen, welchen durch die Bestimmungen des
§ 2 ohnedies hinlängliche Berücksichtigung zutheil geworden ist. Allein dem sei
nun wie immer: Thatsache ist, dass die Gebürennovelle gerade im Punkte der
Abstufung der Sätze nach Wertclassen mit Beifall begrüsst worden ist, und dass
sich kaum eine Stimme des Tadels dagegen erhoben hat.
Wenn wir uns nun den Begünstigungen für Uebertragungen bäuerlichen
und kleinbürgerlichen Besitzes zuwenden, welche der § 2 normiert, so
berühren wir damit einen Angelpunkt der ganzen Eeforin. Lange schon war in
den Vertretungskörpern Oesterreichs dem Bedürfnisse nach diesen Erleichterungen
Ausdruck gegeben worden, und die Novelle vom 31. März 1890, durch welche
dieselben zunächst für solche Uebertragungen in der directen Verwandtschaftslinie
und zwischen Ehegatten eingeführt wurden, dankt einem Initiativantrage des Ab-
geordneten von Chamiec und Genossen ihr Entstehen.-^) Bereits in den parlamen-
tarischen Debatten über diese Novelle wurden aber die zugestandenen Erleichte-
rungen von manchen Seiten als unzulängliche bezeichnet, und fort und fort und
immer entschiedener trat seither im Abgeordnetenhause das Verlangen nach einer
Erweiterung derselben hervor. Als Frucht dieser Bestrebungen ist nunmehr, neben
anderen gleichfalls dem Bauernstande zustatten kommenden Bestimmungen des
neuen Gesetzes, der § 2 zu betrachten, auf dessen im Anhange abgedruckten
Wortlaut wir hiermit verweisen. Nur soviel sei hier hervorgehoben, dass erstens
die schon durch das vorerwähnte Gesetz ex 1890 gewährten Begünstigungen
für Uebertragungen in der directen Linie und zwischen Ehegatten durch Erhöhung
der Wertgrenzen, bis zu welchen die Begünstigung stattfindet, in ausgiebigster
Weise erweitert wurden; zweitens, dass auch Uebertragungen bäuerlicher und
kleinbürgerlicher Kealitäten zwischen anderen als den vorgenannten Personen in
den Kreis der Begünstigungen einbezogen worden sind; und endlich drittens,
*) Der resultierende Ausfall wurde damals mit ungefähr Tl Millionen Gulden
berechnet.
610 Odkolek.
dass die Bestimm iingen über die WertveranscWagung der Ausgedinge, welche
seit jeher von der Bauernschaft als ganz besonders drückende Last empfunden
wurden, eine erhebliche Milderung erfahren haben.
"Wenn nun auch — freilich vereinzelt — noch weitergehende Desiderien
aus den Kreisen der bäuerlichen Bevölkerung laut geworden sind, wenn ins-
besondere eine Erhöhung der begünstigten Wertgrenzen oder die Zulassung des
Abzuges der Hypothekarlasten angeregt worden ist, so muss doch constatiert
werden, dass die auf diesem Gebiete einem wichtigen producierenden Stande
gebotenen Erleichterungen, aber auch die dem Staatsschatze damit auferlegten
schweren Opfer, diesmal eine gerechte Würdigung ihrer Tragweite gefanden haben.
Einiges Interesse dürfte die Thatsache beanspruchen, dass auf dem euro-
päischen Continent, abgesehen von Oesterreich, nur in ßussland zufolge De-
cretes des Eeichsrathes vom 10. April 1895 derartige Sonderbegünstigungen
hinsichtlich der Uebertragungsgebüren, und zwar für alle nicht städtischen Kea-
litäten, sohin mit ausgesprochen agrarischem Charakter bestehen.^)
Noch ein weiterer Grundsatz des österreichischen Gebürenwesens ist im
neuen Gesetze beibehalten worden, nämlich der, dass bei unentgeltlichen Ueber-
tragungen unbeweglicher Sachen die Immobiliargebür vom Bruttowerte neben der
Bereicherungsgebür vom Keinwerte zu entrichten ist. Gegen eine solche „Zusatz-
gebür" ist eingewendet worden, dass sich dieselbe als eine Doppelbesteuerung
der üebertragungen unbeweglicher Güter darstelle. Dem ist aber nicht so, vielmehr
drückt sich in der „Zusatzgebür" nur ein höherer Steuerfuss aus, der auf dem
ganz richtigen Gedanken beruht, dass die Uebertragung unbeweglichen Vermögens
durch Schenkung oder Erbgang im einzelnen Falle einer höheren Belastung
als jene des beweglichen Vermögens fähig ist. Zunächst ist nämlich ein bedeutender
Unterschied, ob jemand unbewegliches, somit in seinem Ertrage wohl fundiertes
Vermögen, oder anderweitiges Gut erwirbt; auch ist zu bedenken, dass derjenige,
der etwa im Erbwege oder durch Schenkung bewegliches Vermögen erwirbt,
insofern er dasselbe zur Capitalsanlage in unbeweglichen Gütern verwenden
wollte, nachträglich doch die Immobiliargebür bezahlen müsste, dass somit deren
Application gerechtfertigt erscheint, insoferne Erbschaft oder Schenkung selbst
schon unbewegliches Gut zum Gegenstande haben.^) Uebrigens ist zu constatieren,
^) Siehe die Broschüre: „Die russischen Gesetze über Erbschaftssteut-r, Inimo-
biliarübertragurgs- und Kanzleigebliren", Wien, 1899, S. 58.
2) lieber die Berechtigung einer besonderen Zusatzgebiir äussert sich Schall, in
Schönberg, 1897, III., 1, S. 718, in folgender bemerkenswerter Weise: „Die Beschränkung
der Liegenschaftsabgabe auf ßesitzveränderungen infolge von Kauf- und Tauschverträgen,
wie sie bisweilen getroffen wird, führt zur stärkeren Belastung des inobilisierteren
städtischen Grundbesitzes gegenüber dem ländlichen und begünstigt gerade die steuer-
fähigsten Besitzer, welche ihren Besitz Generationen hindurch festzuhalten vermögen.
Die Ausdehnung der Liegenschaftsabgabe, wo sie einmal besteht, auf alle Besitzver-
änderungen ist daher eine Forderung der Gerechtigkeit und gestattet überdies bei gleicher
Höhe der Gesammtsteuerlast, dieselbe durch Vertheilung auf den gesamraten Liegen-
schaftsverkehr für die einzelnen Steuerpflichtigeu zu erleichtern. Die Liegenschaftsabgabe
von Besitzveränderungeu infolge von Erbschaften, Vermächtnissen oder Schenkungen für
den Todesfall, sowie bei der Succession in Lehen, Familienfideicommisse, Majorate
Die österreichische Gebürennovelle vom 18. Juni 1901. 611
dass das Institut der „Zusatzgebür" im vorbesprochenen Sinne auch in Baiern
unter dem Namen „Besitzveränderungsgebür" anzutreffen ist. Preussen erhebt in
Erb- und Schenkungsfällen neben der Erbschaft^rsteuer bei Immobilien keine ver-
hältnismässige Gebür.^)
Wenig rationell, namentlich bei unentgeltlichen Ueb ertragungen, erscheint
dem Unkundigen auf den ersten Blick auch die schon flüchtig erwähnte Ein-
richtung, dass die Immobiliargebüren stets nach dem B rutt o w e r t e, also ohne
Abzug der auf dem Immobile haftenden Lasten, zu bemessen sind. Doch ist es
auch hier die Betrachtung des Unterschiedes im Wesen der Bereicherungsgebür
und der Immobiliargebür, was die Sache verständlich macht. Bei der Bereicherungs-
gebür ergibt sich der Lastenabzug aus deren Natur; anders bei der Immobiliar-
gebür als Umsatzsteuer und Objectsabgabe, welche ja den Verkehrsgegenstand
in seiner Gänze, also auch in seinem belasteten Theile, zu treffen hat; auch ist
zu erwägen, dass anderenfalls bei belasteten Kealitäten im Falle nachträglicher
Abstossung der I^assiven von der bezüglichen Wertsquote die Immobiliargebür
nachgefordert werden müsste, um die steuerliche Gleichheit mit nicht belasteten
Liegenschaften herzustellen. Abermals ist es Russland, w^elches von dem allent-
halben herrschenden Grundsatze der Bemessung der Immobiliargebür vom Brutto-
werte abgewichen ist, indem es bei entgeltlichen Uebertragungen den Abzug
der Hypothekarlasten zulässt, doch nur insoweit, als der Gläubiger ein autori-
siertes Creditinstitut ist.
c) Statistik.
Es sei nun gestattet, die finanzielle Tragweite der Eeform an der Hand
des der Eegierungsvorlage (211 der Beilagen zu dem stenographischen Protokoll
des Abgeordnetenhauses, XV. Session, 1898) angeschlossenen statistischen Materiales
in Kürze zu beleuchten. Wenn auch die diesfälligen Ziffern über den statt-
gehabten Eealverkehr und die davon bemessenen Uebertragungsgebüren ins-
gesammt das Jahr 1896, somit eine fünf Jahre zurückliegende Periode betreffen,
so beanspruchen dieselben doch auch gegenwärtig noch actuelles Interesse, da
wohl die Höhe der einzelnen Ansätze gestiegen, ihr gegenseitiges Verhältnis
aber unverändert geblieben ist. Von den für unseren Zweck zunächst in Betracht
•kommenden Tabellen I bis VI über den gebürenpflichtigen Immobiliarverkehr in
den Eeichsrathsländern während des Jahres 1896 bringen jene sub I bis III
den Verkehr gesondert nach Ländern, jene sub IV bis VI gesondert nach Wert-
grenzen zur Darstellung. Die Tabellen I und IV betreffen speciell den Verkehr
unter Lebenden, jene sub II und V den Verkehr von todeswegen, und erscheint
sodann in der Tabelle III der Gesammtverkehr unter Lebenden und von todes-
wegen nach Ländern, in der Tabelle VI der Gesammtverkehr unter Lebenden und
Stamm- oder Erbgüter ist durch eine besondere Erbschaftssteuer nicht ausgeschlossen
weil neben der Erhebung einer Steuer von der subjectiven Bereicherung in der Form
einer Erbschaftssteuer auch die nachholende Erhebung einer Steuer vom objectiven
Wertzuwachs der übergegangenen Liegenschaften, sowie zum Zwecke der stärkeren Be-
lastung des Ueberganges von in Liegenschaften fundiertem Vermögen zulässig erscheint."
*) H e i n i t z, Commentar zumpreussischen Stempelsteuergesetz, Berlin, 1896, S. 179.
612 Odkolek.
von todeswegen nach Wertgrenzen zusammengefasst. Daneben sind alle diese Ta-
bellen so eingerichtet, dass ans ihnen die Anzahl der Uebertragungsfälle, der der
Immobiliargebür unterzogene Realwert, das jeweils zur Anwendung gebrachte G-ebüren-
ausmaass, endlich die bemessenen Abgabenbeträge ersehen werden können. Wir
wollen aus diesen Tabellen einige der interessantesten Daten hervorheben.
Nach der Tabelle I wurden im Jahre 1896 insgesammt Realitäten im Werte
von 570,873.659 fl. durch gebürenpflichtige Rechtsgeschäfte unter Lebenden über-
tragen; die Anzahl der Uebertragungsfälle betrug 380.087, der zur Vorschreibung
gelangte Gebürenbetrag 15,432.924 fl. Von diesen drei Ziffern entfallen auf
Niederösterreich 25.853 Uebertragungsfälle mit einem gebürenpflichtigen Realwerte
von 157,023.827 fl. und einer bemessenen Gebür von 4,084.635 fl.; auf Böhmen
66.858 Uebertragungsfälle mit einem gebürenpflichtigen Realwerte von
160,446.032 fl. und einer bemessenen Gebür per 4,409.034 fl.; auf Galizien
101.168 Uebertragungsfälle mit einem gebürenpflichtigen Werte von 65,767.229 fl.
und einer bemessenen Gebür von 1,956.129 fl. Es ergibt sich auch aus dieser
Tabelle, dass von dem gebürenpflichtigen Gesammtwerte per rund 570 Mill. Gulden
249 Mill., also etwas weniger als die Hälfte dem vollen Satze der Immobiliar-
gebür, d. i. ohne „Gebürennachlass" unterzogen worden sind.
Tabelle II zeigt uns, dass im Jahre 1896 von todeswegen Realitäten im
Gesammtwerte von 178,310.815 fl. gebürenpflichtig übertragen worden sind,
welcher Gesammtwert sich auf 67.989 Uebertragungsfälle vertheilt und wovon
3,296.839 fl. an Immobiliargebüren bemessen worden sind. Hiervon entfiel auf
Niederösterreich ein gebürenpflichtiger Realwert von 50,085.312 fl. mit 6329 Ueber-
tragungsfällen und ein Gebürenbetrag von 872.125 fl.; auf Böhmen ein Realwert
von 47,295.438 fl. mit 14.553 Uebertragungsfällen und ein Gebürenbetrag von
948.313 fl.; auf Galizien ein Realwert von 18,761.351 fl. mit 18.716 Ueber-
tragungsfällen und einem Gebürenbetrage von 320.619 fl. u, s. f. Auch kann
dieser Tabelle entnommen werden, dass von ungefähr 137,000.000 fl. Realwert,
also von circa drei Vierteln des Gesammtwertes die Gebür im vollen Ausmaasse
ohne Berücksichtigung des Gebürennachlasses vorgeschrieben worden ist. Während
also, wie wir bei Besprechung der Tabelle I gesehen haben, bei den Uebertragungen
unter Lebenden mehr als die Hälfte des übertragenen Realwertes des Gebüren-
nachlasses theilhaftig wurde, kam er bei den Uebertragungen von todeswegen
nur etwa einem Viertel des übertragenen Wertes zustatten.
Aus Tabelle III, welche die Daten der Tabellen I und II zusammenfasst,
ergibt sich nun, dass der gebürenpflichtige Immobiliargesammtverkehr (unter
Lebenden und von todeswegen) einen Umsatzwert von 749,184.474 fl. erreichte,
die Anzahl der Uebertragungsfälle aller Kategorien in der gleichen Periode 398.076
betrug und hiervon zu Gunsten des Staatsschatzes 18,729.763 fl.^) an Immobiliar-
gebür vorgeschrieben wurden.
Die Tabellen IV, V und VI, welche, wie schon erwähnt, den Immobiliar-
verkehr des Jahres 1896 nach Wertgrenzen zur Anschauung bringen, sind derart
^) Mit dieser Ziffer hatte also die Regierung zu rechnen, indem sie an die Er-
stellung der neuen Tarifsätze schritt.
Die österreichische Gebürennovelle vom 18. Juni 1901. 613
eingerichtet, dass daraus die auf die einzelnen Wertg-renzen entfallende Anzahl
der Uebertragungsfälle, desgleichen die gebürenpfiichtigen Werte, die angewendeten
Gebürensätze und die bemessenen Gebüren, alles dies gleichfalls nach Wert-
grenzen geordnet, ersehen werden können. Ueberdies wird in diesen drei Tabellen
der Immobiliarverkehr zwischen Eltern, Kindern, Ehegatten etc. und jenem zwischen
anderen Personen gesondert zur Darstellung gebracht. Nachstehende Ziffern aus
diesen Tabellen dürften von Interesse sein.
Laut Tabelle IV (Immobiliarverkehr pro 1896 unter Lebenden s. oben
Tabelle I) entfallen auf den Verkehr zwischen Eltern und Kindern, Ehegatten etc.
49.169 Uebertragungsfälle mit einem der Immobiliargebür unterzogenen Real-
werte von 104,183.219 fl. und einem Gesammtbetrage an bemessenen Gebüren
per 1,845.506 fl. Auf die Wertgrenze bis 1000 fl. kommen in dieser Gruppe
27,220 Uebertragungsfälle mit einem Immobiliarwerte von zusammen 10,835.941 fl.
und einer bemessenen Gebür per 172.555 fl. Dagegen gab es in der Wertgrenze
über 100.000 fl. nur 32 Uebertragungsfälle mit einem Immobiliarwerte von
5,947.932 fl. und einer Gebürenvorschreibung per 123.372 fl. Im Immobiliar-
verkehre unter Lebenden zwischen anderen Personen als Eltern und Kindern,
Ehegatten etc. ereigneten sich 280.918 Uebertragungsfälle mit einem Immobiliar-
gesammtwerte von 466,690.440fl. und einer Gebürenvorschreibung per 13,587.41 8 fl.
Hiervon hielten sich in der Wertgrenze unter 1000 fl. 229.954 Uebertragungs-
fälle mit einem gebürenpfiichtigen Werte von 52,499.502 fl. und einer Gebüren-
vorschreibung per 1,821.618 fl. In der Wertgrenze über 100.000 fl. lagen
435 Uebertragungsfälle im Gesammtwerte von 100,529.367 fl., wovon zusammen
2,746.448 fl. an Immobiliargebür vorgeschrieben wurden. Hier tritt auch recht
augenfällig die Thatsache hervor, dass der Gebürennachlass nach der Vorbesitzdauer
weniger den kleineren Umsätzen, sondern hauptsächlich den Uebertragungen hoch-
bewerteter Realitäten zugute kam. So wurde z. B. von dem in der Wertgrenzo
bis 1000 fl. liegenden Realwerte per 52,499.502 fl. die Gebür ungefähr bezüglich
drei Fünftel im vollen Ausmaasse vorgeschrieben und nur hinsichtlich zwei
Fünftel der Gebürennachlass gewährt. Dagegen traf in der Wertgrenze über
100.000 fl. bei einem Realwerte von 100,529.367 fl. nur auf weniger als ein
Drittel die volle Gebür, während bezüglich mehr als zwei Dritteln dieses Wertes
der Gebürennachlass zugestanden werden musste.
Der Tabelle V über den gebürenpflichtigen Immobiliarverkehr von todos-
wegen entnehmen wir, dass derselbe, soweit er sich zwischen Eltern und Kindern,
Ehegatten etc. abspielte, im Jahre 1896 eine Anzahl von 50.340 Uebertragungs-
fälle im Gesammtwerte von 154,445.461 fl. umfasste, wovon an Immobiliargebür
ein Gesammtbetrag von 2,655.239 fl. bemessen wurde. Auf die Wertgrenze bis
1000 fl. entfielen 28.356 Uebertragungen im Werte von 11,908.598 fl. und
eine Gebür von 184,599 fl., auf die Wertgrenze über 100.000 fl. dagegen
137 Fälle mit 43,834,999 fl, Wert und 735,329 fi, Gebür. Der Immobiliar-
verkehr pro 1896 zwischen anderen Personen als Eltern, Kindern, Ehegatten etc.
weist auf 17,649 Uebertragungsfälle mit einem gebürenpflichtigen Gesammtwerte
von 23,865.354 fl. und einer Vorschreibung von 641.599 fl. an Immobiliargebür,
Hiervon lagen in der Wertgrenze bis 1000 fl. 13.438 Uebertragungsfälle im
GU Odkolek.
Werte von zusammen 2,462.130 fl. und 67.386 fl. Gebür und in der Wertgrenze
über 100.000 fl. bloss 25 Fälle im Gesammtwerte von 5,247.767 fl. und 1 18.078 fl.
Gebür. Was den „Gebürennachlass" bei den in dieser Tabelle ausgewiesenen
Uebertragungen anbelangt, so ergibt sich, dass derselbe im Verkehre zwischen
Eltern und Kindern bei einem Gesammtwerte von 154,445.461 fl. nur rück-
sichtlich eines Betrages von ungefähr 34 Mill. Gulden, somit bei weniger als
einem Viertel angewendet, von dem Eeste hingegen per rund 120 Mill. Gulden
die Gebür im vollen Ausmaasse vorgeschrieben wurde. Aehnlich verhält es sich beim
Immobiliarverkehre zwischen anderen Personen, wo bei einem Gesammtwerte der
Uebertragungen per 23,865.354 fl. nur etwa 6 Mill. Gulden des Gebüren-
nachlasses theilhaftig wurden. Es ergibt sich aus diesen Ziffern, dass der Gebüren-
nachlass nach der Vorbesitzdauer bei unentgeltlichen Uebertragungen überhaupt
von geringerer finanzieller Bedeutung war.
Tabelle VI, welche nur eine Zusammenfassung der Ziffern aus Tabelle IV
und V darstellt, ergibt für den Immobiliarverkehr unter Lebenden und von
todeswegen im Verkehre zwischen Eltern und Kindern, Ehegatten etc. eine
Gesammtzahl von 99.509 Uebertragungen, einen Umsatzwert von 258,628.680 fl.
und eine Gebürenziffer von 4,500.746 fl. ; im Verkehre zwischen anderen Personen
eine Gesammtzahl von 298.567 Uebertragungen, einen Umsatzwert von
490,555.794 fl. und eine Gesammtvorschreibung an Immobiliargebüren per
14,229.017 fl.
Wenn wir uns nunmehr der Besprechung der Tabelle VII zuwenden, welche
nach Art einer Bilanz die Wirkung der neuen Gebürensätze der §§ 1 und 2
der Eegierungsvorlage, sowie einiger anderen erleichternden Bestimmungen der-
selben in Absicht auf den Ertrag und das Ausmaass der Immobiliargebüren
zum Ausdruck bringt, müssen wir die Bemerkung vorausschicken, dass zwar auch
die Mehrzahl der Ansätze dieser Tabelle auf verlässlichen Ermittlungen der Gebüren-
statistik beruht, dass es jedoch unvermeidlich war, in einigen Belangen auch
schätzungsweise Annahmen zur Berechnung heranzuziehen. Dies gilt insbesondere
hinsichtlich des Quotenverhältnisses, in welchem sich die nach § 2 begünstigten
Uebertragungen des bäuerlichen und kleineren städtischen Besitzes zum Kealitäten-
verkehre im allgemeinen bewegen. Im übrigen ist nun die Tabelle VII derart
eingerichtet, dass auf Grund des statistisch erhobenen Immobiliarverkehres des
Jahres 1896 die Immobiliargebüren sowohl nach den alten als nach den neuen
Sätzen berechnet und durch Gegenüberstellung der Resultate dieser Berechnungen
der voraussichtliche Ausfall ermittelt wird. Nach den alten Sätzen ergibt sich
nun ein Gesammtertrag an Immobiliargebüren per 18,729.763 fl.
nach den neuen ein solcher per 18,433.325 „
die Differenz per 296.438 fl.
stellt den zu gewärtigenden Ausfall dar. Wir ersehen weiters, dass das Gebüren-
ausmaass, welches unter der Herrschaft der alten Sätze im Durchschnitte 2*491 Proc.
betrug, sich nach den neuen Sätzen auf durchschnittlich 2"452 Proc. stellt. Um diese
Ziffern zu erhalten, wurde der gesammte Immobiliarverkehr in drei Gruppen getheilt,
nämlich Ä. Uebertragungen zwischen Eltern, Kindern, Ehegatten u. s. w. von todes-
wegen und unter Lebenden; B. Uebertragungen von todeswegen und unentgeltliche
Die österreichische Gebürennovelle vom 18. Juni 1901. 615
üebertragungen unter Lebenden zwischen anderen Personen; C entgeltliche Ueber-
tragungen unter Lebenden zwischen anderen Personen, In der Gruppe A ergibt sich
nun ein gebürenpflichtiger Wert per 259,370.140 fl., ein bisheriger Gebürenertrag
per 4,500.746 fl. mit einem durchschnittlichen Gebürenausmaass von 1*735 Proc.
Nach den neuen Sätzen ergibt sich der Gebürenertrag mit 2,445.443 fl., das durch-
schnittliche Gebürenausmaass mit 0'943 Proc. Es resultiert daher in dieser Gruppe
ein Minderertrag an Gebüren per 2,055.303 fl. und eine Herabsetzung des durch-
schnittlichen Gebürenausmaasses um 0"792 Proc. Die Gruppe J5 begreift in sich einen
gebürenpflichtigen Wert von 24,828.300 fl., welcher nach den alten Sätzen auf
Basis eines durchschnittlichen Gebürenausmaasses von 2*644 Proc. einen Gebüren-
ertrag von 656.446 fl. lieferte. Nach den neuen Sätzen stellt sich der Gebüren-
ertrag auf 399.910 fl. und der Durchschnitt des Gebürenausmaasses auf 1*611 Proc.
Es resultiert daher auch in dieser Gruppe ein flnanzieller Ausfall von 256.506 fl.
bei einer gleichzeitigen Herabsetzung des durchschnittlichen Gebürenausmaasses
um 1*033 Proc. Endlich betrug in der Gruppe C der gebürenpflichtige Wert
467,582.920 fl., wovon im ganzen Immobiliargebüren per 13,572.571 fl. vor-
geschrieben wurden und der durchschnittliche Gebürensatz sich auf 2*903 Proc.
stellte. Nach den neuen Sätzen ergibt sich ein Gebürenertrag von 15,587.972 fl.
und ein Durchschnittssatz von 3*334 Proc. Es verspricht daher diese Gruppe
einen Mehrertrag an Gebüren per 2,015.401 fl. bei gleichzeitiger Erhöhung
des Durchschnittssatzes um 0*431 Proc. In diesen Ziffern drückt sich eine der
Tendenzen der Vorlage dahin aus, dass im allgemeinen der Immobliarverkehr in
der d i r e c t e n Verwandtschaftslinie und — namentlich soweit es sich um be-
lastete Realitäten handelt, von deren belastetem Theile früher die Immobiliargebür
nach dem für entgeltliche Uebertragungen bestehenden höheren Satze zu ent-
richten war — auch der unentgeltliche Verkehr zwischen anderen Personen
eine Entlastung erfahren, hingegen zur theilweisen Deckung des verursachten
Ausfalles der entgeltliche Eealverkehr zwischen anderen Personen eine
massige Mehrbelastung erfahren soll. — - Aber noch eine zweite Tendenz tritt
aus den Ziffern der Tabelle VII plastisch hervor, nämlich die, durch degressive
Gestaltung der Abgabensätze und specielle Begünstigungen für Bauern und Klein-
bürger eine Entlastung des Verkehres mit Eealitäten geringeren Wertes zu erzielen.
In allen drei oben genannten Gruppen A, B und C ist nämlich auch die
Berechnung nach „Wertgrenzen", d. i. nach Abstufungen des gebürenpflichtigen
Wertes durchgeführt, und zwar für die Wertgrenzen bis 5000 K, von 5000 bis
10.000 K, von 10.000 bis 20.000 K und über 20.000 K, bezw. 40.000 K.
Und da sehen wir gleich in der ersten Gruppe, dass in der Wertstufe bis 5000 K
von etwa 57 Mill. Gulden gebürenpflichtigen Wertes nach § 2, Z. 1, lit. a) der
Eegierungsvorlage über 54 Mill. von der Immobiliargebür ganz freibleiben; dass in
der nächsten Wertstufe von 5000 bis 10.000 K bei einem Gesammtwerte von
rund 42 Mill. Gulden fast 40 Mill. dem begünstigten Gebürensatze von ^/^ Proc.
nach § 2, Z. 1, lit. b) der Vorlage zugewiesen sind und dass auch in den übrigen
Gruppen der Tabelle VII in den Wertgrenzen bis zu 10.000 K, bis wohin
speciell die Ermässigungen des § 2 reichen, ein ähnliches, wenn auch nicht
ganz so günstiges Verhältnis besteht. Zwar beruht die Auftheilung der Werte
616 Odkolek.
des begünstigten und des nichtbegünstigten Eealverkehres, wie bereits angedeutet,
zum Theile auf schätzungsweisen Annahmen, doch hat seither die Erfahrung
gelehrt, dass die für den begünstigten Realverkehr angenommene Quote ungefähr
den Thatsachen entspricht.
Zu dem oben ziffermässig berechneten Ausfalle per 296.438 fl. sind nun,
wie im Motivenberichte zur Regierungsvorlage S. 12 bis 15 näher ausgeführt
wird, noch verschiedene weitere Abgänge zu rechnen, welche sich theils als Folge
sonstiger zu Gunsten der Gebürenpflichtigen getroffenen Bestimmungen der Vorlage
darstellen (680.000 fl.\ theils auf das Conto zu niedriger Wertangaben zu setzen
sind (460.000 fl.). Der Ausfall erhöhte sich somit auf 1,440.000 fl. Auch ist
zu bemerken, dass im § 1, Z. 1, der kaiserlichen Verordnung vom 16. August 1899,
bezw. des neuen Gesetzes die Wertstufe gegenüber der Regierungsvorlage von
20.000 K auf 30.000 K erhöht wurde, was einen statistisch ermittelten weiteren
Ausfall von 100.000 fl. nach sich zog. Sonach war vom Zeitpunkt der Wirk-
samkeit der bezogenen kaiserlichen Verordnung angefangen mit einem Gesammt-
ausfalle von 1,540.000 fl. oder 3,080.000 iT zu rechnen.
Es entsteht nun naturgemäss die Frage, inwieweit diese Berechnungen sich
als zutreffend erwiesen haben. Da die kaiserliche Verordnung vom 16. August 1899
am 6. October 1899 in Wirksamkeit getreten ist, kommt als erste statistische
Einheit das Finanzjahr 1900 in Betracht. Nun ist zwar die Gebürenstatistik
dieses Jahres vor kurzem abgeschlossen worden, gleichwohl aber sind deren
Ziffern für unseren Zweck nicht völlig ausreichend, und zwar deshalb nicht, weil
in dieser Statistik zahlreiche und hoch bewertete üebertragungsfälle inbegriffen
sind, auf welche noch die älteren Vorschriften und insbesondere auch die Gebüren-
novelle vom 31. März 1890 anzuwenden waren. Demungeachtet bietet die Statistik
des Jahres 1900 eine Reihe interessanter Daten.
Zunächst constatieren wir, dass der Gesammtwert des Immobiliarverkehres
im Jahre 1900 1.728,389.165 K betrug, wovon auf den Verkehr unter Lebenden
1.249,485.809 K, auf den Verkehr von todeswegen 478,903.356 K entfallen.
Verglichen mit dem Realitätenverkehre des Jahres 1896 im Werte von 776.224.862 fl.^)
oder 1.552,449.724 K zeigt sich eine Wertzunahme von 175,000.000 K und
eine Vermehrung der Üebertragungsfälle von 398.076 auf 595.536. Von obigem
für das Jahr 1900 ausgewiesenen Immobiliaigesammtverkehre wurden als ge-
bü renpflichtig behandelt: 1. im Immobiliarverkehre unter Lebenden
354.244 Fälle mit einem Gesammtwerte von 1.148,512.787 K\ 2. im Immobiliar-
verkehre von todeswegen 108.957 Fälle mit einem Gesammtwerte von 419,164.931^".
G-ebürenfrei wurden behandelt, und zwar:
A. nach der Novelle vom 31. März 1890:
1. an Uebertragungen unter Lebenden 2360 Fälle mit einem Realwerte
von 756.804 K] 2. an solchen von todeswegen 15.130 Fälle mit einem Realwerte
von 4,724.552 K; zusammen 17.490 Fälle im Werte von 5,481.356 K.
B. nach der kaiserlichen Verordnung vom 16. August 1899:
1. an Uebertragungen unter Lebenden 69.386 Fälle mit einem Gesammt-
werte von 68,875.969 K; 2. an solchen von todeswegen 45.458 Fälle mit einem
1) Siehe Mittheilungen des k. k. Finanzministeriums, V. Jahrgang, 1. Heft, S. 169.
I
Die österreichische Gebürennovelle vom 18. Juni 1901. 617
Gesammtwerte von 52,058.490 K; zusammen 114.844 Fälle im Gesammtumsatz-
werte von 120,934.459 K.
Die Yorschreibung an Immobiliargebüren pro 1900 stellte sich, wie folgt:
Beim Immobiliarverkehre unter Lebenden wurde bemessen:
A. nach den vor Wirksamkeit derkaiserlichen Verordnung vom 16. August 1899
bestandenen gesetzlichen Vorschriften von einem gebürenpflichtigen Werte per
171,511.200 K ein Gebürenbetrag von 5,006.449 K 15 h;
B. nach der kaiserlichen Verordnung vom 16. August 1899 von einem gebüren-
pflichtigen Werte per 980,913.269 K ein Gebürenbetrag von 28,953.454 JS' 64 h;
im ganzen daher für die Immobiliarübertragungen unter Lebenden von
einem gebürenpflichtigen Werte per 1.152,424.469 K ein Betrag an Immobiliar-
gebür per 33,959.903 K 79 h.
Beim Immobiliarverkehre von todeswegen wurde bemessen:
Ä. nach den vor Wirksamkeit der kaiserlichen Verordnung vom 16. August
1899 bestandenctn gesetzlichen Vorschriften von einem Uebertragungs werte von
243,651.880 K eine Gebür von 4,430.695 K 90 h;
B. nach der kaiserlichen Verordnung vom 16. August 1899 von einem
Uebertragungswerte per 176,404.333^ eine Gebür per 2,141.098 J? 79 h;
im ganzen daher für die Immobiliarübertragungen von todeswegen von
einem gebürenpflichtigen Werte per 420,056.213 K eine Immobiliargebür
per 6,571.794 Ä 69 /i.
Es beziff'erte sich daher die Summe der im Jahre 1900 bemessenen Immobiliar-
gebüren auf 33,959.903 ^ 79 7* + 6,571.794 K 69 h z= 40,531.698 Ä 48 h.
II. Sicherungsmassregeln.
In Bezug auf den zweiten Theil des Gesetzes — „Sicherung der Ge-
büren von Nachlässen" — dürfen wir uns, dem Charakter dieser Zeitschrift
Eechnung tragend, kürzer fassen, weil das Hauptinteresse hieran weniger auf
wirtschaftlichem Gebiete, als auf jenem der Gebürentechnik, sowie der Fiscal-
jurisprudenz zu suchen ist. Die hier getroffenen Maassregeln, welche insgesammt
den fühlbar gewordenen Misständen auf dem Gebiete der Erbschaftsbesteuerung
abzuhelfen bestimmt sind, dienen einem doppelten Zwecke, einmal nämlich der
früher in hohem Maasse üblichen Verzögerung der Einbekennung des Erb-
vermögens und damit auch des Einfliessens der Erbgebüren ein Paroli zu bieten,
und zweitens der Verhütung von Steuerdefrauden. In ersterer Beziehung ist
nämlich angeordnet, dass im Falle die „Nachlassnachweisung", i. e. das Ver-
mögensbekenntnis nicht längstens binnen zwölf Monaten vom Todestage vorgelegt
wird, von da an 4 Proc. Zinsen bis zur Fälligkeit der Gebür zu entrichten sind
(§11 des Gesetzes). In der kaiserlichen Verordnung vom 16. August 1899 betrug
die erwähnte Frist sechs Monate und das Zinsenausmaass 5 Proc, und war diese
Bestimmung von der wohlthätigen Folge begleitet, dass sich ein rascheres Tempo
in der Abwicklung der gerichtlichen Verlassenschaftsabhandlungen bemerkbar
machte.
Was die Maassregeln zur Verhütung von Steuerdefrauden betrifft, so gehen
sie theils dahin, die gänzliche Verschweigung von Nachlassgegenständen zu
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. X. Band. 42
QIQ Odkolek.
erschweren, theils sind sie dagegen gerichtet, dass offenkundig vorhandenes Nachlass-
vermögen im Wege juristischer Fictionen entweder als schon unter Lebenden
verschenkt oder sonst als Eigenthum dritter Personen hingestellt und hierdurch
der Erbschaftsbesteuerung entzogen werde. In ersterer Eichtung soll der neu
eingeführte „M ani f e s t atio n s eid" Abhilfe schaffen (§ 12), der hier als
Novura in der österreichischen Steuergesetzgebung ^) erscheint und in der parla-
mentarischen Berathung des Gesetzes nicht bloss vom juristischen, sondern auch
vom religiösen Gesichtspunkte manche Anfechtung zu bestehen hatte. Wenn von
parlamentarischer Seite der Eegierung ein sparsamer Gebrauch dieses Mittels
empfohlen wurde, so dürften hierfür schon die vielen vom Gesetze geforderten Cautelen
die Gewähr bieten. Auch die Erfahrungen anderer Länder bestätigen dies: so soll
z. B. in Baiern die Abnahme einer eidlichen Versicherung in Erbschaftssteuer-
sachen zu den grössten Seltenheiten gehören. In der zweiten Beziehung werden
den juristischen Fictionen der Parteien einige Präsumptionen zu Gunsten
des Fiscus gegenübergestellt (§§ 13 bis 15), deren nähere Erörterung an dieser
Stelle wir uns aus dem schon angedeuteten Grunde versagen müssen, wiewohl
eine Hermeneutik dieser Bestimmungen manche interessante Ausblicke auf das
rein juristische Gebiet zu eröffnen geeignet ist. Im Anschlüsse an diese letzt-
erwähnten Bestimmungen wird im § 16 ein bemerkenswerter Versuch gemacht,
den gerichtlichen Zeugen- und Parteieneid als Beweismittel für das Verfahren
in Finanzsachen nutzbar zu machen.
Auch dieser Theil des Gesetzes wurde von einigen Seiten bekämpft, und
wenn er — von mehreren als zweckmässig erkannten Aenderungen abgesehen —
trotzdem unversehrt aus den parlamentarischen Verhandlungen hervorgegangen
ist, so mochte dies auf der allgemein verbreiteten Erkenntnis beruhen, dass etwas
zum Schutze der Erbschaftssteuer geschehen müsse. In der That bildet diese
Steuer ein Schmerzenskind der österreichischen Finanzverwaltung: hoch veranlagt,
trägt sie wenig ein; und gelingt es nicht, speciell das bewegliche Vermögen stärker,
als dies hergebracht ist, zur Steuer heranzuziehen, wird die jetzt so vielfach
verlangte Eeform der Erbschaftssteuer mit progressiver Gestaltung, Lacherben-
steuer und anderen derlei schönen Dingen nur ein Schlag ins Wasser sein.
* *
*
Nicht die Erzielung eines Mehrertrages aus den Immobiliargebüren, sondern
eine gleichmässigere und gerechtere Vertheilung der Abgabelast bildete nach
allem Gesagten den Zweck der Novelle, um welchen Preis die Eegierung auch
ein erhebliches finanzielles Opfer in den Kauf zu nehmen bereit war. Die Ein-
führung der grossen Erleichterungen für den bäuerlichen und kleinbürgerlichen
Eealitätenbesitz und für den Verkehr in der directen Verwandtschaftslinie erforderten
aber zu ihrer Ausgleichung unabweislich die Aufhebung des ziemlich allgemein
als veraltet erkannten Gebürennachlasses. Diesen letzteren, wie von einigen Seiten
verlangt wurde, neben den neuen Erleichterungen fortbestehen zu lassen, erschien
aus budgetären Gründen ein Ding der Unmöglichkeit. Jede Kritik, welche der
I
^) England und Holland haben gleichfalls den Manifestationseid in Erbschafts-
steuersachen, das deutsche Particularrecht kennt meist nur eine eidesstattliche Versicherung.
Die österreichische Gebürennovelle vom 18. Juni 1901. 619
Novelle gerecht werden will, muss die Gesammtlieit ihrer Bestimmungen ins Auge
fassen, auch vereinzelte und unvermeidliche Mehrbelastungen müssen unter diesem
Gesichtspunkte beurtheilt werden. Die rein atomistische Auffassung des Wirtschafts-
lebens freilich wird sich mit der Novelle kaum befreunden können.
Wir lassen nunmehr das neue Gesetz im Wortlaute folgen :
Gesetz vom 18. Juni 1901, betreffend Gebünen von Venmögens-
übentragungen.
Mit Zustimmung beider Häuser des ßeichsrathes finde Ich anzuordnen, wie folgt:
I. I m ni 0 b i 1 i a r g e b ü r e n.
§ 1.
Für die Uebertragjung fies p]igenthumes unbeweglicher Sachen sind unbeschadet
der vom reinen Werte einer Schenkung oder einer Vermögensübertragungvon todeswegen
entfallenden Gebüren folgende Gebüren zu entrichten:
1. Wenn die Uebertragung erfolgt
von Eltern an eheliche oder uneheliche Kinder oder deren Nachkommen und
umgekehrt;
von Eltern an die mit ihren Kindern die Ehe eingehenden oder durch dieselbe
schon verbundenen Personen;
von Stiefeltern an Stiefkinder und von Wahleltern an Wahlkinder;
zwischen weder geschiedenen, noch getrennten Ehegatten;
zwischen Brautleuten durch Ehepacte,
ohne Unterschied, ob es sich um eine Uebertragung von todeswegen oder durch ein
entgeltliches oder unentgeltliches Rechtsgeschäft unter Lebenden handelt :
a) bei einem Werte von nicht mehr als 30.000 K 1 Proc.
b) bei einem Werte über 30.000 -ST IV2 „
von dem Werte;
2. wenn die Uebertragung an andere als die unter Z. 1 bezeichneten Personen
von todeswegen oder durch ein unentgeltliches Rechtsgeschäft unter Lebenden erfolgt ;
a) bei einem Werte von nicht mehr als 20.000 Ä^ IV2 Proc.
b) bei einem Werte über 20.000^ 2 „
von dem Werte;
8. wenn die Uebertragung an andere als die unter Z. 1 bezeichneten Personen
durch ein entgeltliches Rechtsgeschäft unter Lebenden erfolgt :
a) bei einem Werte von nicht mehr als 10.000 K 3 Proc-
6) bei einem Werte über 10.000 bis 40.000 K 3^/2 ^
c) bei einem Werte über 40.000 Ä" 4 „
von dem Werte.
Für eine theilweise unentgeltliche Uebertragung unter Lebenden in den unter Z. 2
bezeichneten Fällen ist an Immobiliargebür zuzüglich der in der Tarifpost 91 B des
Gesetzes vom 9. Februar 1850, E.-G.-Bl. Nr. 50, festgesetzten Gebür nie weniger zu
entrichten, als für eine rein entgeltliche Uebertragung nach Z. 3 zu entrichten wäre.
Wird eine von todeswegen an jemanden gelangte unbewegliche Sache innerhalb
zweier Jahre nach dem Erbanfalle von todeswegen oder durch ein Rechtsgeschäft unter
Lebenden weiter übertragen, so ist die für die erste Uebertragung nach Z. 1 oder 2
entfallende Gebür in die nach diesem Paragraphen für die zweite Uebertragung zu ent-
richtende Gebür einzurechnen.
§2.
Bildet den Gegenstand der Uebertragung ein vom Eigenthümer ganz oder theil-
weise benutztes Gebäude oder eine der Landwirtschaft gewidmete, vom Eigenthümer,
42*
520 Odkolek.
beziehungsweise dessen Familie selbst, mit oder ohne Beihilfe von Dienstboten oder
Taglöhnern bearbeitete oder eine solche Liegenschaft, die nur deshalb auf die gedachte
Art nicht bearbeitet wird, weil dieselbe in Execution gezogen wurde, oder der Eigen-
thümer unter Vormundschaft oder Curatel steht, so ist in folgenden Fällen anstatt der im
§ 1 festgesetzten Gebüren, unbeschadet der im § 1, letztes Alinea, vorgesehenen Ein-
rechnung, zu entrichten:
1. wenn die Uebertragung an eine der im § 1, Z. 1, bezeichneten Personen erfolgt :
a) bei einem Werte von nicht mehr als 5000 K keine Immobiliargebür,
6) bei einem Werte über 5000 K, jedoch nicht mehr als 10.000 K V2 Proc. von dem
Werte;
2. wenn die Uebertragung an andere, als die in § 1, Z. 1, bezeichneten Personen
erfolgt, welche die unbewegliche Sache gleichfalls auf die oben gedachte Art benützen :
a) bei einem Werte von nicht mehr als 5000 K die Hälfte,
b) bei einem Werte über 5000 Ä", jedoch nicht mehr als 10.000^ drei Viertel
der im § 1, Z. 2 und 3, festgesetzten Gebürensätze.
Bei der Abtretung eines Haus- oder Grundbesitzes, dessen Benützung auf die oben
bezeichnete Art stattfindet, an ein eheliches oder uneheliches Kind oder an eine mit
einem solchen die Ehe eingehende oder durch dieselbe schon verbundene Person, an ein
Stiefkind oder ein Wahlkind des Eigenthümers, ist der Wert der zu Gunsten des Ueber-
gebers auf dessen Lebenszeit bedungenen Vorbehalte nur mit dem Fünffachen der jährlichen
Leistung zu veranschlagen. Dasselbe gilt, wenn die Vorbehalte auf die Lebenszeit zu
Gunsten des Ehegatten des übergebenden Elterntheiles oder zu Gunsten beider Eltern-
theile zur ungetheilten Hand auf deren Lebenszeit bedungen werden. Werden bei solchen
Abtretungen auch zu Gunsten der Geschwister des Uebernehmers zeitliche Vorbehalte
bedungen, so sind dieselben gleichfalls mit dem Fünffachen der jährlichen Leistung zu
veranschlagen, soferne nicht nach § 16, lit e) des Gesetzes vom 9, Februar 1850,
K.-G.-B1. Nr. 50, die Bewertung nach der dreifachen Jahresleistung einzutreten hat.
§ 3.
Für üebertragungen von Gebäuden, welchen zur Gänze eine zeitliche Steuerfreiheit
als Neu- oder Umbau bewilligt worden ist, wobei die Feststellung), ob ein Neu- oder
Umbau vorliegt, im Sinne des § 1, lit a) und b) des Gesetzes vom 25. März 1880
E.-G.-Bl. Nr, 39, zu erfolgen hat, sind an Stelle der im § 1, Z. 3, vorgesehenen Gebüren
2^2 Proc. vom Werte zu entrichten, wenn seit der zuletzt vorhergegangenen Uebertragung
der betreffenden Bauarea ein Zeitraum von nicht mehr als vier Jahren verstrichen ist,
und 3 Proc. vom Werte, wenn seit der zuletzt vorhergegangenen Uebertragung der
betreffenden Bauarea ein Zeitraum von mehr als vier, jedoch nicht mehr als sechs Jahren
verstrichen, und der Neu- oder Umbau innerhalb dieser Fristen vollendet und benutzbar
. hergestellt worden ist.
Soferne sich jedoch nach § 2, Z. 2, in Verbindung mit § 1, Z. 3, ein niedrigerer
Procentsatz ergibt, ist die Gebür nach diesem niedrigeren Satze zu berechnen.
Bei gemeinschaftlicher Uebertragung derartiger Gebäude mit anderen Gebäuden,
bei denen vorstehende Bedingungen nicht zutreffen, findet der Satz von 2V2 Proc,
beziehungsweiss 3 Proc. nur auf die zuerst erwähnten Gebäude Anwendung. Der Wert
der in einem solchen Falle im Sinne des ersten Absatzes zu begünstigenden Objecto
wird — falls sämmtliche den Gegenstand der Uebertragung bildende Gebäude der Haus-
zinsstener unterliegen — in der Art ermittelt, dass der Wert sämmtlicher übertragenen
Gebäude im Verhältnisse der auf die begünstigten Objecte entfallenden ganzjährigen,
nicht zahlbare Hauszinssteuer und der auf die nicht zu begünstigenden Objecte an Haus-
zinssteuer entfallenden Jahresvorschreibung aufgetheilt wird.
Beim Zusammentreffen bloss hausclassensteuerpflichtiger oder hauszins- und haus-
classensteuerpflichtiger Gebäude erfolgt die Wertermittelung in derselben Weise unter
Zugrundelegung der auf diese Gebäude katastermässig entfallenden Hausclassensteuer-
tarifsätze.
I
Die österreichische Gebürennovelle vom 18. Juni 1901. 621
Der Satz von 2^2 Proc, beziehungsweise 3 Proc. findet nur auf die dem Neu-
oder Umbaue unmittelbar folgende üebertragung Anwendung.
Um die Begünstigung ist unter Beibringung der erforderlichen Nachweise von der
Partei längstens binnen 30 Tagen nach Abschluss des betreffenden Rechtsgeschäftes bei
der Finanzbehörde einzuschreiten.
Kann der Nachweis über die bewilligten Baufreijahre mangels einer behördlichen
Entscheidung nicht erbracht werden, so erfolgt die Gebürenbemessung unter Ausschluss
dieser Begünstigung.
Wird jedoch das rechtzeitig eingebrachte Gesuch innerhalb der dreijährigen Frist
des § 77 des Gesetzes vom 9. Februar 1850 durch Vorlage der die zeitliche Steuer-
befreiung für das ganze Object gewährenden Entscheidung ergänzt und geht aus derselben
hervor, dass die Bauvollendung innerhalb der im ersten Absätze festgesetzten Frist statt-
gefunden hat, so ist bei Zutreffen der übrigen im ersten Absätze aufgestellten Bedingungen
die Rückvergütung, beziehungsweise die Abschreibung des entfallenden Mehrbetrages
zuzuerkennen.
§4.
Ein staatlicher Zuschlag zu den in den §§ 1, 2 und 3 angeordneten Gebüren, dann
zu der Gebür nach Tarifpost 45 Ab des Gesetzes vom 13. December 1862, R.-G.-Bl.
Nr. 89, ist nicht einzuheben.
§ 5.
Soferne nach den §§ 1 und 2 des gegenwärtigen Gesetzes oder nach der für Tirol
und Vorarlberg in Geltung stehenden Allerhöchsten Entschliessung vom 11. Jänner 1868
der Procentsatz der Gebür, beziehungsweise die gebürenfreie Behandlung einer Üeber-
tragung von einer Wertstufe abhängig gemacht erscheint, ist in Fällen, wo unabgesonderte
Theile (ideelle Antheile, § 361 a. b. G.-B.) einer Liegenschaft den Gegenstand der Üeber-
tragung bilden, der Wert der übertragenen unabgesonderten Theile und nicht jener der
ganzen Liegenschaft maassgebend.
Werden innerhalb eines Jahres durch freiwillige Rechtsgeschäfte unter Lebenden
von demselben Uebergeber an denselben Uebernehmer Liegenschaften übertragen, deren
Gesammtwert die zum Zwecke der Gebürenbemessung von einer dieser Uebertragun gen
angenommene Wertstufe überschreitet, so ist der Gesammtwert für die Gebürenbemessung
maassgebend, und wird daher der rücksichtlich der gedachten Üebertragung etwa zur
Anwendung gebrachte niedrigere Procentsatz, beziehungsweise die zugestandene Befreiung
verwirkt.
§ 6-
Die in der Anmerkung 3 zur Tarifpost 91 und in der Anmerkung 1 zur Tarif-
post 106 B des Gesetzes vom 9. Februar 1850 festgesetzte besondere procentuelle Gebür
für die unentgeltliche üebertragung der Dienstbarkeit des Fruchtgenusses oder des
Gebrauches einer unbeweglichen Sache wird aufgehoben.
Erfolgt die üebertragung durch ein entgeltliches Rechtsgeschäft, so unterliegt
dasselbe statt der in den Tarifposten 39 und 55 des Gesetzes vom 13. December 1862,
R.-G." Bl. Nr. 89, angeordneten 3 V2pro centigen Gebür nur der Gebür nach Scala II vom
Werte der gedachten Dienstbarkeiten.
Eintragungen in die öffentlichen Bücher zur Erwerbung der Dienstbarkeit des
Fruchtgenusses oder des Gebrauches einer unbeweglichen Sache oder einer ihr gleich-
gehaltenen Gerechtsame unterliegen der Gebür nicht mehr nach lit. Ä, sondern nach
lit. B der Tarifpost 45 des Gesetzes vom 13. December 1862, unbeschadet einer nach
lit. D dieser Tarifpost eintretenden allfälligen Befreiung.
§ 7.
Wird eine Sache, die zu einem mehreren Erben angefallenen Nachlasse gehört,
vor dessen Einantwortung von einem der Theilhaber ganz oder zu einem Theile, der ihm
nicht schon kraft des Erbrechtes zukam, erworben, so ist zum Zwecke der Gebüren-
bemessung ein neues Rechtsgeschäft nicht anzunehmen.
622 Odkolek.
§ 8.
Verträge, wodurch einzelne Sachen oder auch ein ganzes Vermögen unter den
Miteigenthümern getheilt werden, sind, soferne hiehei jeder Theilhaber nur soviel erhält,
als dem Werte seines Antheiles an der einzelnen Sache, beziehungsweise an dem ganzen
Vermögen entspricht, kein Gegenstand einer Uebertragungsgebür.
Wird jedoch einem Theilhaber mehr zugewiesen, als der reine Wert seines Antheiles
und die von ihm übernommenen, auf dem Gegenstande der Theilnng haftenden Lasten
betragen, so ist in Ansehung des Mehrerwerbes die Vermögensübertragungsgebür zu
entrichten. Erwirbt in einem solchen Falle der betreffende Theilhaber Sachen, welche der
Uebertragungsgebür nach verschiedenen Gebürensätzen unterliegen, so sind stets jene
Sachen als Mehrerwerb im vorbezeichneten Sinne zu behandeln, von welchen die geringere
Gebür entfällt.
§ 9.
Die Bemessung der Gebür für die Uebertragung des Eigenthumsiechtes unbeweg-
licher Sachen, sowie die Freilassung einer derartigen Uebertragung von der Gebür auf
Grund des § 2, Z. 1, lit. a) steht ausschliesslich den Finanzbehörden zu.
Die näheren Bestimmungen hierüber werden im Verordnungswege erlassen,
§ 10.
Der Abschnitt II der Verordnung des Finanzministeriums vom 3. Mai 1850,
E.-G.-Bl. Nr. 181, der § 2, Punkt 5, dann die §§ 3, 4 und 5 der kaiserlichen Verordnung
vom 19. März 1853, R.-G.-Bl. Nr. 53, endlich die §§ 1 bis 5 des Gesetzes vom
31. März 1890, R.-G.-Bl. Nr. 53, werden ausser Kraft gesetzt. Soweit im übrigen durch
die §§ 1 bis 9 dieses Gesetzes keine abweichenden Bestimmungen getroffen werden, haben
auf die daselbst bezeichneten Uebertragungen die allgemeinen Vorschriften der Gebüren-
gesetze Anwendung zu finden.
II. Sicherung der Gebüren von Nachlässen,
§ 11.
Wenn die zum Zwecke der Gebürenbemessung zu überreichende Nachweisung des
Nachlasses nicht längstens binnen zwölf Monaten, von dem Tage des Erbanfalles an
gerechnet, vorgelegt wird, so sind vom Ablaufe dieser Frist angefangen vier Proc. jähr-
licher Zinsen vom Betrage der für die Uebertragung des Nachlasses auszumittelnden
Gesammtgebür bis zu dem Zeitpunkte der Fälligkeit der Gebür (§ 60 des Gesetzes vom
9. Februar 1850) zu entrichten.
Erlangt der Gebürenpflichtige in einem späteren Zeitpunkte als dem Tage des
Erbanfalles Kenntnis von demselben, oder wird nach Erstattung der Nachlassnachweisung
ein vorher nicht bekanntes Verlassenschaftsvermögen aufgefunden, so läuft die zwölf-
monatliche Frist von dem Tage der erlangten Kenntnis. Beim Vorhandensein von
mehreren zur ungetheilten Hand für die Gebür Verpflichteten genügt es für den Beginn
des Laufes der gedachten Frist, wenn auch nur einer derselben Kenntnis von dem Erb-
anfalle erlangt.
Der Gebürenpflichtige kann sich von der Verbindlichkeit zur Entrichtung dieser
Zinsen dadurch und in dem Maasse befreien, als er auf Rechnung der auszumittelnden
Gebür einen Betrag zur Staatscasse erlegt.
§ 12.
Sobald die Nachlassnachweisung überreicht worden ist, kann die Finanzbehörde,
wenn sie solche Umstände anzuführen in der Lage ist, welche die Vermuthung begründen,
dass das Vermögen unrichtig oder unvollständig ausgewiesen worden ist, und dass der
zur Ueberreichung der Nachweisung Verpflichtete von der Unrichtigkeit oder UnvoU-
ständigkeit der Vermögensnachweisung Kenntnis hat, beim Abhandlungsgerichte den
Antrag stellen, dass dem Nachweisungspfiichtigen der Offenbarungseid abgenommen werde.
Die österreichische Gebürennovelle vom 18. Juni 1901. 623
Dieser Antrag kann längstens binnen zwei Jahren nach der Einantwortung des
Nachlasses und nur über Ermäclitigung des Finanzministers gestellt werden, welche dem
Gerichte nachzuweisen ist.
Das Gericht hat hierüber nach den Grundsätzen des Verfahrens ausser Streitsachen
die erforderlichen Erhebungen zu pflegen und insbesondere auch den Erben einzu-
vernehmen.
In dem über den Antrag gefassten Beschlüsse hat das Gericht, wenn es dem
Antrage stattgibt, unter sorgfältiger Würdigung der gegebenen Verhältnisse den Eidessatz
festzustellen, dessen Wortlaut eine Bezugnahme auf die überreichte Naclilassnachweisung
zu enthalten und sich gegen die wissentliche Verschweigung von einzubekennenden Ver-
mögensbestandtheilen zu richten hat.
Für die Anfechtung des gerichtlichen Beschlusses gelten die Bestimmungen der
§§ 9 bis 11, dann 14 bis 16 des kaiserlichen Patentes vom 9. August 1854, E.-G.-Bl.
Nr. 208. Die Eidesleistung darf erst nach Rechtskraft des Beschlusses erfolgen, wodurch
die Ablegung des Offenbarungseides angeordnet wird.
Dem Verpflichteten steht es frei, bei der der Eidesleistung vorangehenden Ein-
vemahme die Angaben der Nachlassnachweisung richtigzustellen oder zu ergänzen, in
welchem Falle ein Verfahren nach dem Gefällsstrafgesetze hinsichtlich der nachträglich
einbekannten Gegenstände nicht stattzufinden hat.
Wenn der Verpflichtete bei der zur Eidesleistung angeordneten Tagfahrt nicht
erscheint, ohne sich genügend zu entschuldigen, oder wenn er die Leistung des Eides ver-
weigert, so hat das Gericht zur Erzwingung der Eidesleistung auf Antrag eine Geldstrafe von
25 bis 1000 K über den Verpflichteten zu verhängen. Auf diese gesetzliche Bestimmung
ist der Verpflichtete in dem die Tagfahrt zur Eidesleistung anordnenden Bescheide
besonders aufmerksam zu machen. Desgleichen hat das Gericht in der Folge auf jeweiligen
Antrag der Finanzbehörde unter Anberaumung einer neuerlichen Eidestagsatzung eine
neuerliche, stets höhere Geldstrafe anzudrohen sowie diese, falls die Eidesleistung unter-
bleibt, zu verhängen, und dies solange zu wiederholen, bis der Gesammtbetrag der
Strafen nach Ermessen des Gerichtes eine den Umständen des Falles entsprechende Höhe
erreicht. In keinem Falle darf dieser Gesammtbetrag 50.000 K übersteigen.
Der Verpflichtete kann zu jeder Zeit beim Abhandlungsrichter beantragen, zu der
ihm aufgetragenen Eidesleistung zugelassen zu werden Dem Antrage ist ohne weiteres
Verfahren stattzugeben.
Wird der Nachlass nicht durch ein k. k. Gericht abgehandelt, so ist der Antrag
der Finanzbehörde auf Eidesabnahme bei dem Bezirksgerichte des Wohnsitzes des Ver-
pflichteten zu stellen, und steht diesem Gerichte die Beschlussfassung hierüber zu.
Die auf Grund der vorstehenden Bestimmungen verhängten Geldstrafen fliessen
dem Armenfonde des Ortes zu, in welchem der Verpflichtete seinen Wohnsitz hat, falls
aber der Verpflichtete im Geltungsgebiete dieses Gesetzes keinen bekannten Wohnsitz
haben sollte, dem Armenfonde jenes Ortes, in welchem das zur Beschlussfassung über
den Antrag auf Eidesabnahme berufene Gericht seinen Sitz hat.
§ 13.
Schenkungen, welche der Erblasser nicht früher als zwei Monate vor seinem Tode
gemacht hat, sind, wenn aus den Umständen die Absicht des Erblassers erhellt, der
TJebertragung im Erbwege vorzugreifen, zum Behufe der Gebürenbemessung in den
Nachlass einzurechnen, wenn für dieselben nicht ohnehin die Gebür als von einer
Schenkung unter Lebenden entrichtet worden ist.
Uebliche Geschenke sind somit dieser Einrechnung nicht unterworfen;
§ 14.
Wird ausser dem im vorhergehenden Paragraphen erwähnten Falle in einer
Erklärung des letzten Willens einer durch den Erblasser bei dessen Lebzeiten gemachten
unentgeltlichen Zuwendung Erwähnung gethan, ohne dass für dieselbe die Gebür als von
624 Odkolek.
einer Schenkung unter Lebenden entrichtet wurde, so ist eine solche Zuwendung, soferne
deren Thatsache von dem angeblich Bedachten nicht überhaupt in Abrede gestellt wird,
in Absicht auf die Gebürenbemessung so zu behandeln, als ob sie der Erblasser auf
seinen Todesfall angeordnet hätte.
Diese Bestimmung findet, wenn glaubhaft gemacht wird, dass die Schenkung that-
sächlich schon bei Lebzeiten des Erblassers vollzogen worden ist, keine Anwendung,
insbesondere nicht in Ansehung dessen, was der Erblasser bei Lebzeiten seiner Tochter
oder Enkelin zum Heiratsgute, seinem Sohne oder Enkel zur Ausstattung oder unmittelbar
zum Antritte eines Amtes oder was immer für eines Gewerbes gegeben oder zur Bezahlung
der Schulden eines grossjährigea Kindes verwendet hat (§§ 788 und 790 a. b. G.-B.).
§ 15.
Wird in einem Nachlasse eine Sache vorgefunden, von welcher der Erblasser letzt-
willig erklärt hat, dass sie nicht die seinige sei, oder erscheinen derlei Sachen, insbe-
sondere Wertpapiere oder Bargeld durch abgesonderte Verwahrung oder Aufschrift als
Eigenthum einer anderen Person bezeichnet, so ist diese Erklärung oder Bezeichnung in
Ermangelung einer anderen Glaubhaftmachung darüber, dass die gedachten Sachen nicht
zum Vermögen des Erblassers gehörten, in Bezug auf die Gebürenbemessung unwirksam,
und ist die Gebür von solchen Sachen wie von einem Bestandtheile des Nachlasses einzuheben.
Diese Bestimmung findet keine Anwendung, wenn der Erblasser Advocat, Notar
oder ein notorisch bekannter Treuhänder war, ferner auf Werteffecten oder andere Gegen-
stände, welche als Eigenthum von Personen bezeichnet sind, die entweder zu dem Erb-
lasser in einem Lohn- oder Dienstverhältnisse standen, oder zwischen denen und dem
Erblasser ein aus seinem Berufe, Amte oder Geschäfte hervorgehendes Vertrauens- oder
Bevollmächtigungsverhältnis bestand.
§ 16
Sofern es sich um Feststellung der nach § 13 maassgebenden Umstände oder um
die in den §§ 14 und 15 vorhergesehene Glaubhaftmachung handelt, kann die eidliche
Einvernehmung der Partei und die eidliche Abhörung von Zeugen über bestimmte That-
sachen, welche in dieser Hinsicht von Bedeutung sind, bei Gericht veranlasst werden.
Die Partei hat ihr Ansuchen, welches den Gegenstand der Fragestellung zu ent-
halten hat, bei der zuständigen Finanzbehörde zu überreichen. Auf Grund dieses Ansuchens
hat die Finanzbehörde die Beweisaufnahme unter Anführung der zu beweisenden Thatsachen
bei dem Bezirksgerichte des Wohnortes des zu Vernehmenden zu beantragen.
Von der Anordnung der Tagsatzung zur Aufnahme des Beweises ist ausser der
Partei die zuständige Finanzbehörde zu verständigen, welcher ebenso wie der Partei das
Recht zusteht, bei der Tagsatzung vertreten zu sein und Fragen zu stellen.
Gegen die schliessliche Entscheidung der Finanzbehörde ist die Beschwerde an
den Verwaltungsgerichtshof zulässig.
§ 17.
Für die Gebür von den in den §§ 13, 14 und 15 bezeichneten Vermögensbestand-
theilen sind ausschliesslich diejenigen Personen zahlungspflichtig, denen diese Vermögens-
bestandtheile zufallen.
§ 18.
Die in den §§ 13, 14 und 15 bezeichneten Vermögensbestandtheile sind, soweit
sie dem Erben bekannt sind, zum Zwecke der Gebürenbemessung in die Nachlassnach-
weisung einzustellen oder gleichzeitig mit der Erstattung derselben der Finanzbehörde
unmittelbar anzuzeigen.
in. Uebergangs- und Schlussbestimmungen.
§ 19.
Für die in Tirol und Vorarlberg bis einschliesslich 5. October 1909 vorfallenden
Ueb ertragungen unbeweglicher Sachen sind statt der in dem § 1, Z. 2, lit. b), und Z. 3,
I
I
Die österreichische Gebürennovelle vom 18. Juni 1901. 625
lit. c), festgesetzten Gebären von 2 und 4 Proc. nur solche von I72. beziehungsweise
von 3V2 Proc. zu entrichten.
§ 20.
Das gegenwärtige Gesetz tritt mit dem Tage seiner Kundmachung in Wirksamkeit;
an eben diesem Tage tritt die kaiserliche Verordnung vom 16. August 1899, R.-G.-Bl.
Nr. 158, ausser Kraft.
§ 21.
Mit dem Vollzuge dieses Gesetzes ist der Finanzminister und der Justizminister
betraut.
Schönbrunn, 18. Juni 1901.
Franz Joseph m. p.
Koerber m. p. Böhm m. p.
Spens m. p.
n
DAS GESETZ VOM 1. JULI 1901
ÜBER DIE
ARBEITSZEIT DER BEIM KOHLBNBEßGBAUE
IN DEE
GRUBE BESCHÄFTIGTEN ARBEITER.
VON
KARL THEODOR V. INAMA-STERNEGG.
Die erste gesetzliche Kegelung der Schichtdauer beim Bergbaue ist in
Oesterreich durch das Gesetz vom 21. Juni 1884, R.-G.-Bl. Nr. 115, erfolgt,
welches die maximale Schichtdauer bei Bergbauen im Allgemeinen mit 12 Stunden,
die tägliche Maximalarbeitszeit innerhalb derselben mit 10 Stunden festsetzte.
In der Praxis hat sich seitdem in den verschiedenen Zweigen des Berg-
baues eine sehr grosse Verschiedenheit der Schichtdauer ergeben. Es besteht
nach den Ausweisen der Regierung speciell beim
Braunkohlenbergbau Steinkohlenbergbau
eine Schichtdauer von .^ Procenten der betreffenden Arbeiter
weniger als 8 Stunden .... 0*01 0'17
8 Stunden 2M4 15*16
9 „ 11-29 11-83
10 „ 41-15 64-43
11 „ 14-29 6-05
12 „ 12-12 2-35
In den Kreisen der Bergarbeiter ist das Verlangen nach einer einheitlichen
Herabsetzung des Maximal arbeitstages mindestens für die Kohlengruben immer
energischer zum Ausdrucke gelangt ; der grosse Kohlenarbeiterstrike des
Jahres 1900 stand unter dem Schlagworte des Achtstundentages. Die Regierung,
welche schon früher Vorbereitungen zu einer Abkürzung der normalen Schicht-
dauer eingeleitet hatte, kam den inzwischen auch in den Kreisen der Bergbau-
interessenten und Socialpolitiker geltend gemachten Bedürfnissen nach einer
Neuordnung der Schichtdauer entgegen und brachte am 17. Mai 1900 im
Abgeordnetenhause den Entwurf einer Bergrechtsnovelle in der Form einer
Abänderung des § 3 des Gesetzes vom 21. Juni 1884 ein, durch welche die
Maximaldauer der Schicht für die beim Kohlenbergbaue in der Grube beschäftigten
Arbeiter auf neun Stunden herabgesetzt werden sollte. Diese Regierungsvorlage
wurde ohne erste Lesung am 18. Mai 1900 dem socialpolitischen Ausschusse
Das Gesetz vom 1. Juli 1901 über die Arbeitszeit der beim Kohlenbcrgbaue etc. 627
des Abgeordnetenhauses zur geschäftsordnungsmässigen Behandlung zugewiesen.
Der Ausschuss hat sich mit der Berathung dieser Vorlage in mehreren Sitzungen
beschäftigt; am 8. Juni 1900 wurde darüber der Bericht vorgelegt, der jedoch
infolge des am gleichen Tage stattgehabten Schlusses der XVI. Session des
Eeichsrathes nicht weiter behandelt werden konnte.
Im Frühjahr 1901 legte die Kegierung den Gesetzentwurf neuerdings in
unveränderter Fassung dem Abgeordnetenhause vor; am 10. Mai 1901 wurde
der Bericht des socialpolitischen Ausschusses erstattet, welcher der Regierungs-
vorlage mit unwesentlichen Aenderungen beistimmte. Am 23. Mai wurden diese
Anträge im Abgeordnetenhause zum Beschlüsse erhoben, dem Herrenhause wurde
dieser Beschluss bereits in der Sitzung vom 25. Mai vorgelegt und dort in
einer Specialcommission berathen, am 1. Juni der Beitritt zu den Beschlüssen
des Abgeordnetenhauses in dem Berichte dieser Commission beantragt und am
8. Juni 1901 vom Herrenhause beschlossen. Am 27. Juni 1901 erhielt das so
zustande gekommene Gesetz die allerhöchste Sanction und wurde in Nr. 81
vom 1. Juli 1901 im Reichsgesetzblatte publiciert.
Schon die Thatsache, dass die gesetzliche Festlegung des Neunstundentages
für die in der Grube beschäftigten Arbeiter der Kohlenbergbaue, sobald nur erst
einmal das Abgeordnetenhaus wieder arbeitsfähig geworden war, in so kurzer Zeit
von beiden Häusern des Reichsrathes erledigt wurde, lässt entnehmen, dass die
Frage inzwischen schon reif für eine Entscheidung geworden war.
Aber auch die Behandlung der Frage in den beiden Häusern lässt ersehen,
dass mit der Regierungsvorlage nur der Ausdruck für eine mehr oder weniger
allgemeine Ueberzeugung von der Nothwendigkeit einer ausgiebigen Herabsetzung
der Schichtdauer in den Kohlengruben gefunden war. Ein Widerspruch gegen
diese Herabsetzung ist im Abgeordnetenhause gar nicht, im Herrenhause nur von
einer Seite erhoben worden. Aber auch ein von socialistischer Seite eingebrachter,
wohl vorbereiteter Antrag auf Einführung der Acht stundenschicht konnte nur
vereinzelte Zustimmung finden. Allgemein wurde dagegen anerkannt, dass die
Bestimmungen der Gesetzesvorlage wohl geeignet seien, den Uebelständen einer
zu langen Schichtdauer gründlich abzuhelfen, ohne doch den Kohlenbergwerken
bei ihrer Einführung besondere Schwierigkeiten zu bereiten und ihre berechtigten
Interessen zu verletzen. Ebenso wurde aber auch anerkannt, dass das Bedürfnis
nach Herabsetzung der Schichtdauer nicht für alle Arten von Bergbauen in
gleichem Maasse bestehe, sondern vor allem in den Kohlenbergbauen und auch
hier nur für die in der Grube beschäftigten Arbeiter, welche am meisten den
Schädlichkeiten und Gefahren des Bergbaues ausgesetzt sind.
In den Verhandlungen des Herrenhauses ergab sich schliesslich noch eine
Controverse über den Begriff der Schichtdauer, welche der Gesetzentwurf ebenso
wenig definiert als das Gesetz vom Jahre 1884, das durch die vorliegende
Novelle nur in Bezug auf die Schichtdauer abgeändert werden soll. Das Abge-
ordnetenhaus hatte sich mit der Regierungserklärung zufrieden gegeben, wornach
darunter eine Gesammtschicht zu verstehen ist^ welche also für die gesammte
Mannschaft einer Grube und nicht für die Arbeitszeit des einzelnen Arbeiters
festgesetzt werden soll. Im Herrenhause wurde nun der Versuch gemacht, den
628 Das Gesetz vom I.Juli 1901 über die Arbeitszeit der beim Kohlenbergbaue etc.
ersten Absatz des § 3 so zu stilisieren, dass die neunstündige Schicht als
Maximalarbeitszeit für jeden einzelnen beim Kohlenbergbaue in der Grube
beschäftigten Arbeiter erscheine. Diese Auffassung wurde aber sowohl von der
Kegierung als von dem Berichterstatter als im Widerspruch mit der herrschenden
Uebung und mit den Intentionen des Gesetzes stehend zurückgewiesen, und ein
bezüglicher Antrag auf Abänderung der Eegierungsvorlage von dem Hause ver-
worfen. Der Berichterstatter brachte zu dieser Frage einige Ausführungen von
allgemeinerem Interesse vor, welche zum Schlüsse noch mitgetheilt seien.
„Soweit wir zurückblicken können, ist immer die Schichtdauer in der
Sprache des Bergmannes als Gesammtschichtdauer aufgefasst worden, von den
ältesten Ansätzen zu einer Eegelung der Schichtdauer bis in unsere Zeit herein.
Es heisst da in den alten Bestimmungen, wenn die Glocke tönt oder das Zeichen
gegeben wird, so beginnt die Schicht.
Nun wird nicht für jeden einzelnen Mann geläutet und ein Zeichen gegeben,
sondern immer nur für die Gesammtheit der Bergleute, die zu einer Grube, zu
einem Schacht und dergleichen gehören.
Es ist das auch für jeden, der mit dem Geiste des Bergrechtes vertraut
ist, eine selbstverständliche Sache, deshalb, weil die alten Bergleute ein so
starkes Solidaritätsgefühl gehabt haben, dass keiner für sich etwas haben wollte,
sondern jeder nur für alle und alle für einen eingetreten sind.
In demselben Geiste ist aber auch unser geltendes österreichisches Berg-
recht concipiert, auch hier ist die zwölfstündige Schicht als gesetzliche Schicht
im Jahre 1884 mit einer, die zehnstündige effective Arbeitszeit nicht über-
steigenden Dauer festgesetzt worden.
Damit ist schon angedeutet, dass die Schichtdauer etwas anderes ist, als
die Arbeitszeit jedes einzelnen Mannes. Aber selbst, wenn ich das beiseite setze,
wenn ich die Auffassung dessen, was Schichtdauer ist, als controvers bezeichne
— was ich nicht zugebe, was ich nur als eine Möglichkeit hinstelle — so darf
ich mir vielleicht gestatten, hervorzuheben, dass die Auffassung der Schichtdauer
als eine Individualschichtdauer von den englischen Bergwerken herrührt, und
zwar erst in unserem Jahrhunderte hat -man angefangen, from bank to bank zu
rechnen, das heisst von dem Betreten bis zum Verlassen der Bühne.
Das ist aber wieder in derselben Zeit gewesen, in welcher der Geist der
manchesterlichen Wirtschaftspolitik durchgehends herrschend gewesen ist, und wo
der Individualismus die Rechtsbildung auf diesem Gebiete, wie auf anderen,
beeinflusst hat.
Unser österreichisches Bergrecht hat sich davon nie beeinflussen lassen.
Es hat die Bergwerksgesetzgebung — wie auch die Bergwerksliteratur beweist —
immer daran festgehalten, dass wir nach der altösterreichischen Tradition die
Schicht als eine Gesammtschicht aufzufassen haben, und nur in diesem Sinne
kann für jeden, der die Continuität der Eechtsentwickelung im Auge hat, der
nicht ein vollkommenes Novum schaffen will, auch hier der Ausdruck ver-
standen werden.
Das ist auch gewiss der Grund gewesen, warum die hohe Regierung sich
nicht veranlasst gesehen hat, in diesem Paragraphen sich, wie verlangt wird,
Das Gesetz vom 1, Juli 1901 über die Arbeitszeit der beim Kohlenbergbaue etc. 629
einer noch grösseren Deutlichkeit zu befleissen, und warum auch von Seite des
Abgeordnetenhauses nicht verlangt worden ist, dass eine grössere Deutlichkeit
m § 3 platzgreife. Er ist deutlich, und zwar deswegen, weil die Bergwerkssprache
eine eigene Sprache ist, das Bergrecht von jelier ein eigenes Eechtsgebiet gewesen
ist, das in keiner Weise mit dem Rechtsgebiete der übrigen Industrien zusammen-
geworfen werden kann.
Aber selbst wenn ich das alles beiseite setze, so bleibt noch der eine
Umstand übrig, dass in der überwiegenden Mehrzahl aller Kohlenbergbaue die"
Divergenz zwischen Schichtdauer und der individuellen Arbeitsdauer eine so
geringfügige ist, dass wir es als eine Kleinigkeit, ich möchte fast sagen, als eine
Kleinigkeitskrämerei ansehen müssen, davon ein besonderes Aufhebens zu machen,
oder gar daraus die Consequenz abzuleiten, dass in diesem kritischen Augenblicke
das Gesetz noch geändert und zugleich auch gefährdet werden soll.
In der überfliegenden Mehrzahl der Bergbaue ist die Einfahrt und Ausfahrt
so leicht zu bewerkstelligen, dass die Differenz der Zeit vielleicht eine viertel
bis eine halbe Stunde ausmacht. Es bleiben nur verhältnismässig wenige, aller-
dings grosse Schächte übrig, in welche eine grosse Belegschaft eingeführt werden
muss. Da bitte ich aber nicht zu übersehen, dass hier eine Eeihe von Even-
tualitäten gegeben ist, durch welche die Bergwerksunternehmungen in der Lage
sind, wenn sie wollen, die Schichtdauer und Dauer der individuellen Arbeitszeit
einander viel näher zu bringen als gegenwärtig. Wir haben nicht bloss die
technische Möglichkeit, die Einfahrt zu beschleunigen, dadurch, dass man Förder-
schalen in mehreren Etagen baut, dadurch, dass man die Geschwindigkeit der
Fahrgelegenheiten vermehrt, sondern wir haben auch — und das ist, glaube ich,
in vielen Kohlenbergwerken schon geschehen — eigene Fahrschächte für die
Mannschaft, da, wo die Anlage der Schächte und Gruben im übrigen derart ist,
dass die Einführung der Arbeiter verhältnismässig viel Zeit kosten würde. Wir
haben die Möglichkeit durch mechanische Beförderung in der Grube die Zeit
von der Einfahrt bis zum Arbeitsort zu verkürzen, wir haben die Möglichkeit,
insbesondere auch die Zeitdauer zu vermindern, welche als sogenannte todte Zeit
zu bezeichnen ist, wo der Bergarbeiter zwar in der Grube ist, aber nichts zu
thun hat. Dies gilt von verschiedenen technischen Dingen, die ich hier des
Näheren nicht zu erörtern brauche.
Ich glaube, dass, wenn die Bergwerksunternehmungen die Absicht haben,
die Arbeitszeit des einzelnen Mannes mit der gesetzlichen Schichtdauer möglichst
in Ueberein Stimmung zu bringen, ihnen das bis auf einen sehr geringen Brnch-
theil vollkommen möglich sein wird. "
Gesetz vom 1. Juli 1901, womit bezüglich den beim Kohlenbergbaue
in der Grube beschäftigten Arbeiter das Gesetz vom 21. Juni 1884,
R.-G.-Bl. Nr. 115, über die Beschäfcigung von jugendlichen Arbeitern
und Frauenspersonen, dann über die tägliche Arbeitsdauer und die
Sonntagsruhe beim Bergbaue abgeändert wird.
Mit Zustimmung der beiden Häuser des Reichsrathes finde Ich anzuordnen,
wie folgt:
ß30 üas Gesetz vom 1. Juli 1901 über die Arbeitszeit der beim Kohlenbergbaue etc.
Artikel T.
Der § 3 des Gesetzes vom 21. Juni 1884, R.-G.-Bl. Nr. 115, tritt
bezüglich der beim Kohlenbergbaue in der Grube beschäftigten Arbeiter in seiner
gegenwärtigen Fassung ausser Kraft und hat zu lauten, wie folgt:
§ 3.
Die Schichtdauer für die beim Kohlenbergbaue in der Grube beschäftigten
Arbeiter darf neun Stunden täglich nicht übersteigen.
Der Beginn der Schicht wird nach der Zeit der Einfahrt, ihre Beendigung
nach der vollendeten Ausfahrt berechnet.
Die aus der Natur des Betriebes sich ergebenden, sowie die sonstigen
Kuhepausen sind in die Schichtdauer einzurechnen, ausgenommen, wenn solche
über Tag zugebracht werden, in welchem Falle auch die zur bezüglichen Aus-
und Wiedereinfahrt erforderliche Zeit in die Schichtdauer nicht einzurechnen ist.
Ausnahmsweise kann auch eine längere als die mit diesem Gesetze fest-
gesetzte Schichtdauer bis zum Ausmaasse von zwölf Stunden mit einer zehn
Stunden täglich nicht übersteigenden wirklichen Arbeitszeit gestattet werden,
wenn bei dem betreffenden Bergbau zur Zeit der Kundmachung dieses Gesetzes
eine längere Schichtdauer bereits bestanden hat und die Einführung der neun-
stündigen Schichtdauer oder eine Abkürzung der bisherigen Schichtdauer über-
haupt im Hinblicke auf die obwaltenden betriebstechnischen oder wirtschaftlichen
Verhältnisse die Aufrechthaltung des Betriebes unmöglich machen oder gefähr-
den würde.
Eine solche Ausnahme kann entweder für sämmtliche Grubenarbeiter oder
für einzelne Kategorien derselben gewährt werden.
Die Bewilligung einer derartigen Ausnahme kann nach Anhörung des
Bergbauunternehmers und des Localarbeiterausschusses (§ 23 des Gesetzes vom
14. August 1896, E.-G.-Bl. Nr. 156) auf die Dauer der erwähnten Verhältnisse
in erster Instanz die Berghauptmannschaft im Einvernehmen mit der politischen
Landesstelle, in zweiter Instanz das Ackerbauministerium im Einvernehmen mit
dem Ministerium des Innern ertheilen.
Ferner kann der Ackerbauminister für hochgelegene Kohlenbergbaue der
Alpenländer Ausnahmen von der im ersten Absätze bestimmten täglichen
Schichtdauer mit der Maassgabe bewilligen, dass die Gesammtdauer der von
einem Arbeiter in einer Woche verfahrenen Schichten nicht über 54 Stunden
betragen darf.
Die Berghauptmannschaft ist ermächtigt, im Falle ausserordentlicher
Ereignisse oder zeitweiligen dringenden Bedarfes nach Zahl und Dauer beschränkte
Ueberschichten zu gestatten.
Artikel IL
Dieses Gesetz tritt ein Jahr nach der Kundmachung in Wirksamkeit.
Artikel IIL
Mit dem Vollzuge dieses Gesetzes sind die Minister des Ackerbaues und
des Innern betraut.
LITEßATURBEßlCHT.
Haus V. Nostiz, Das Aufsteigen des Arbeiterstandes in England. Jena,
G. Fleischer, 1900, XXIV und 808 S.
Das heutige England ist in vieler Beziehung demokratisch geworden, die Wähler-
zahl beträgt gegenwärtig 6-8 Millionen. Die Macht der organisierten Arbeiter, die Noth-
wendigkeit der leitenden Politik, die öffentliche Meinung der breiten Schichten zu gewinnen,
haben bisher wenigstens den Unterbau des englischen politischen Systems wesentlich
geändert; die formelle Führung ist zwar noch immer in den Händen der oberen Classen,
aber diese müssen ihre Politik den Massen plausibel machen können. Dieser Umschwung
ist allerdings theilweise auf das Eindringen theoretischer radicaler Ideen, auf das amerika-
nische Vorbild, selbst auf einzelne continentale Einflüsse zurückzuführen, allein der
lebendige Untergrund dieser Entwicklung ist die fortschreitende Hebung der Arbeiter-
classe selbst, welche wirtschaftlich, social und politisch heute auf einer ganz anderen
Stufe steht als zu Beginn des vorigen Jahrhunderts. Diesen grossen Process zu schildern,
unternimmt das vorliegende Werk, das auf eingehendem Quellenstudium beruht, eine sehr
präcise und zugleich lebendige Darstellung gibt und durchwegs von einem ruhigen arbeiter-
freundlichen Urtheil durchiirungen ist. Die Lage der englischen Arbeiter hat sich gehoben
durch staatliche Thätigkeit, Schutzgesetzgebung, dann durch opferwillige social-
reformatorische Thätigkeit einzelner Kreise der oberen Classen, aber hauptsächlich durch
die eigene Kraft, Energie und Geschicklichkeit der Lohnarbeiter selbst, die nicht eine
unterschiedlose proletarische Masse, sondern eine ganze Schichtenreihe bilden, deren
stufenraässiges Aufrücken nicht bloss der günstigst gestellten Schichte unmittelbaren
Vortheil und Einfluss verschafft, sondern die allmähliche aufsteigende Bewegung auch der
tieferen Schichten fördert.
Die einzelnen Theile dieser merkwürdigen Entwicklung, welche der socialen
Bewegung auf dem Continent vielfach zum Vorbild diente, werden in ihren geschicht-
lichen Anfängen, ihrem Verlaufe und ihren Ergebnissen geschildert. Das Schulwesen
nimmt mit Recht einen grossen Raum ein (die Universitäten hätten vielleicht wegbleiben
können), die Volksschulgesetzgebung von 1870 war ein wirklicher Erfolg. Die neuen
Boardschulen haben das ganze Land mit einem Netz von Volksschulen überzogen, und
zugleich erhielten die von den kirchlichen Genossenschaften erhaltenen Schulen einen
neuen Antrieb und wirksame Geldunterstützung.
Von den vielen Erscheinungsformen, in welchen sich die aufsteigende Arbeiter-
bewegung in England vollzogen hat, sind unzweifelhaft die zwei markantesten und wirk-
samsten: die Trade Unions und die Fabriksgesetzgebung. Die ersteren gehören dem
Gebiete des socialen Kampfes an, aber, wie in der Welt kein grosser Erfolg ohne Kampf
erreicht und gesichert wird, so mussten die Arbeiter durch eine energische Kampf-
organisation die Unternehmer zwingen, mit ihnen zu rechnen und ihnen günstigere
Arbeitsbedingungen zuzugestehen. Die ganze Geschichte der Trade Unions ist einer der
interessantesten socialen Processe, und seine Schilderung wesentlich an der Hand der
Webb'schen Bücher und der letzten grossen Arbeiterenquete ist vielleicht der beste Theil
des interessanten Werkes. Erst intolerant, oft gewaltthätig, zunftmässig engherzig, haben
sich die englischen Gewerkvereine, wenigstens viele von ihnen, zu einer Aristokratie des
Arbeiterstandes emporgearbeitet, deren Erfolge nicht bloss ihnen selbst, sondern in vielen
632 Literaturbericht.
Fällen auch den nicht organisierten Arbeitern zugute kamen. Die Zahl ihrer Mitglieder
beträgt weit über eine Million, auf dem diesjährigen Congress in Swansea waren r2 Mil-
lionen Mitglieder vertreten. In der Leitung der Trade Unions, die sich grösstentheils in
den Händen von mit grossen Befugnissen ausgestatteten ständigen Beamten befindet,
liegt ein gewisser conservativer Zug, möglichster Concentrierung auf bestimmte Lohn-
fragen, keine unmittelbare Beschäftigung mit Politik. Auf den Jahresgesammtcongressen
erscheinen zwar auch allgemein radicale und socialdemokratische Anträge und Beschlüsse,
allein sie sind nicht von der revolutionären Leidenschaft französischer Arbeiter begleitet,
und manchmal werden solche coUectivistische Resolutionen im nächsten Jahre ganz
einfach wieder fallen gelassen. Die Hauptthätigkeit der Gewerkvereine war die Erhöhung
der Löhne, und mit Recht ; denn nur durch Lohnerhöhung erhebt sich der Arbeiter über
den hungernden Proletarier. Ein ordentlicher auskömmlicher Lohn ist das erste anzustrebende
Ziel einer vernünftigen Arbeiterbewegung. Die Trade Unions halten daher an den einmal
errungenen Lohnsätzen mit grösster Zähigkeit fest, und ihre ganze Kraft besteht darin,
dass ihre Mitglieder sich wehren, sich auf Hungerlöhne herabdrücken zu lassen. Die
steigende Tendenz der Löhne in England hat allerdings auch noch andere Ursachen,
allein es ist kein Zweifel, dass die Trade Unions einen ganz wesentlichen Antheil daran
haben, und zwar nicht bloss für sich, sondern auch für alle anderen Arbeiter, oft nicht
bloss desselben Gewerbes. Ihrer Agitation sind auch die verschiedenen fair wa^res-Resolu-
tionen des Parlaments zuzuschreiben, wornach der Staat für seine Werkstätten und bei
Submission öffentlicher Arbeiten nicht auf möglichst niedrige Löhne dringen, sondern
vielmehr den in der Regel durch die Gewerkvereine festgehaltenen, orts- und gewerbe-
üblichen Minimallohn anerkennen solle, Beschlüsse, denen eine Anzahl grosser Städte
für commuuale Arbeiten gefolgt ist. Als solcher Mindestlohn gilt gewöhnlich 24 Schilling
für männliche und 18 Schilling für weibliche Arbeiter per Woche. Die Lohnpolitik der
Trade Unions geht auf Sicherung der living icages, fixer auskömmlicher Minimalsätze, sie
sind daher principiell wenigstens gegen Stücklöhnung, die sich jedoch noch immer in der
Mehrheit der Fälle vorfindet und gewisse Industrien, wie Bergwerke und Textilindustrie,
ausschliesslich beherrscht; sie sind aber auch gegen Gewinnbetheiligung, die meines Er-
achtens die beste Lohnform ist, wenn ihr zugleich als Basis ein fixer Minimallohn zu Grunde
liegt, zu welchem je nach dem Gedeihen des Unternehmens ein Bonus hinzukommt. Für
gleitende Lohnscalen im Verhältnis zum Marktpreis der Producte sind sie eher eingenommen,
wenigstens in manchen grossen Kohlen- und Eisenwerken. Die Strikes sind begreiflicher-
weise in jenen Industrien, wo grosse gewerkschaftliche Organisationen bestehen, wie Berg-
bau, Eisen-, Textilindustrie, am ausgedehntesten und von langer Dauer, doch kann man
nicht gerade behaupten, dass die Führer, die Gewerkschaftssecretäre, leichtsinnig auf
Arbeitseinstellungen drängen, oft entstehen sie aus localen Lohndifferenzen und ergreifen
die ganze Branche ohne rechte Vorbereitung. Die Trade Unions streben den Abschluss
von CoUectivverträgen für das ganze Gewerbe wenigstens für einen bestimmten Bezirk
an, wie überhaupt die Tendenz dahin geht, dass Arbeiter- und Unternehmerverbände
gemeinschaftlich die Löhne festsetzen, an welche sich dann alle übrigen zu halten haben.
In diesem Sinne wirken auch die verschiedenen Einigungsämter; das schiedsgerichtliche
Verfahren über schon ausgebrochene Lohnstreitigkeiten ist noch immer nicht wirklich
geregelt, die darüber erlassenen Gesetze sind wesentlich auf dem Papier geblieben. Das
Handelsamt sucht den streitenden Theilen eine schiedsgerichtliche Organisation zur
Verfügung zu stellen, wobei aber jeder Zwang ausgeschlossen ist; oft haben Schiedssprüche
einzelner unbetheiligter Personen von hervorragender politischer oder socialer Stellung
mehr Erfolg, als die Anrufung eines formell organisierten Schiedsamtes.
Die gesetzliche Abkürzung der Arbeitszeit verdankt ihre Entstehung nicht der
Initiative oder Agitation der arbeitenden Classe, sie ist das Werk hervorragender Phi-
lanthropen aus den höheren Ständen, welche angesichts der entsetzlichen Zustände in
vielen Fabriken in den ersten Decennien des 19. Jahrhundertes die öffentliche Meinung
so laut zur Reformarbeit aufriefen, dass die Gesetzgebung folgen musste. Bekanntlich hat
sich auch hier die Entwicklung nur schrittweise vollzogen: erst textile Fabriken, und auch
I
I
Literaturbericlit. g33
hier selbst wieder eine successive Herabsetzung der Arbeitszeit, dann andere Fabriken
und endlich Werkstätten. Obwohl die Fabriksgesetzgebung sich nur auf Kinder, junge
Personen und Frauen bezieht, so ist doch thatsächlich wegen des Zusamroenarbeitens
der erwachsenen Männer mit den geschützten Personen auch die Arbeitszeit für die
Erwachsenen geregelt; nach den letzten Fabriksgesetzen beträgt die wöchentliche Arbeits-
zeit in textilen Fabriken 5672 Stunden^ in den übrigen 60 Stunden. Die Fabriksgesetz-
gebung, deren interessante Geschichte sehr lebendig und anziehend erzählt wird, hat
aber nur die erste, allerdings hauptsächlichste Grundlage für die Abkürzung der Arbeits-
zeit geschaffen, die weitere Entwicklung ist durch die Arbeiter selbst, insbesondere durch
die Gewerkvereine, vollzogen worden. In vielen Gewerben, namentlich dort, wo die Arbeiter
stark organisiert sind, betragen gegenwärtig die wesentlichen Arbeitsstr.nden 54, oft
sogar nur 51. Die Bewegung zu Gunsten eines Achtstundentages ist zwar nicht so all-
gemein erfolgreich gewesen, als es vor einigen Jahren schien, aber sie war immerhin
stark genug, um die staatlichen Werkstätten und sehr vie'e Gemeindeanstalten zur
Annahme dieser Abkürzung zu vermögen. Selbstverständlich wollen die Arbeiter die
kürzere Arbeitszeit ohne jede Verringerung des Lohnes, in vielen Fällen ist ihnen dies
auch gelungen. Wie die Arbeiter die grössere freie Zeit benützen, darüber fehlen begreiflicher-
weise vollständige Angaben; allein wenn auch in einigen Fällen vermehrter Wirtshausbesuch,
Schlemmerei und rohe Spiele die neue Müsse ausfüllten, so wird doch in der Mehrheit der
Fälle eine höhere Lebenshaltung, besseres Familienleben und eifriger Besuch von Fort-
bildungsschulen constatiert. Die Entwicklung drängt unzweifelhaft noch auf weitere
Abkürzung und namentlich auf Verallgemeinerung der jetzt doch nur einem Theil der
Arbeiter zukommenden kürzeren Arbeitsdauer. Die Einführung des Achtstundentages wird
auch vielfach als eine Art facultativer Maassregel gedacht, dass es vom Votum der
Gewerkvereine oder der localen Behörden, unter Umständen des Ministeriums des Innern
abhängen soll, ob und wo derselbe ins Leben treten soll, und dass daneben Exemtionen
von der Regel eintreten können. Im Kohlenbergbau sind bekanntlich zwei der mächtigsten
Gewerkvereine aus localen Gründen gegen den Achtstundentag, die übrigen Districte sind
für denselben eingetreten.
Die Lage der oberen Schichte der arbeitenden Classe ist unbestreitbar erfreulich,
ihr Genossenschaftswesen, ihre sociale Selbsthilfe haben sie kräftig und selbstbewusst
gemacht, die Pestsetzung der Löhne und der Arbeitsbedingungen vollzieht sich immer
mehr unter ihrer directen Mitwirkung, und der Verfasser hat Recht, wenn er darin eine
Art Theilhaberschal't erblickt, die an die Stelle des einseitig dictierten Lohnsatzes tritt.
Aber angesichts dieses glänzenden Bildes darf man nicht vergessen, dass es noch eine
grosse Masse Arbeiter gibt, die in die Segnungen der Fabriksgesetzgebung noch nicht
eingerückt sind, und von denen sich viele mit sehr niedrigen Löhnen begnügen müssen.
Sidney Webb schätzt in der Septembernummer des Mneteenth Century diese proletarische
Masse, die unter 1 Pf. Sterl. per Woche verdient, und innerhalb welcher das „Sweating"
noch immer seine Verbreitung findet, auf 8 Millionen Menschen, ein Fünftel der
Gesammtbevölkerung. Die Hebung dieser Masse auf das nationale Minimum der Lebens-
haltung ist das Ziel der Socialreformerj das aber auch nur schrittweise erreicht werden
wird. Je ergiebiger das Aufrücken sich vollzieht, desto sicherer ist der sociale Friede,
der in England äusserlich wenigstens weniger bedroht ist, als anderswo. Der eigentliche
revolutionäre Socialismus hat zwar immer eine Anzahl Anhänger und eine literarische
und publicistische Vertretung gehabt, hat aber in den letzten Jahren nicht zugenommen.
Noch vor wenigen Wochen beklagte einer der Socialistenführer, Hyndman, den Mangel
an Classenbewusstsein und revolutionärer Gesinnung bei den englischen Arbeitern.
Gewisse theoretische socialistische Postulate wie die Nationalisierung von Grund und
Boden scheinen sich allerdings in den Ueberzeugungen der arbeitenden Classen fest-
gesetzt zu haben, allein nirgends finden wir Anzeichen einer praktischen Agitation zu
ihrer Verwirklichung. Die politischen Erfolge der besonderen Labour party sind gering,
die meisten Arbeiter stimmen mit den bestehenden Parteien. Der Verfasser hofft von der
fortwährenden Bethätigung socialen Pflichtgefühls seitens der oberen und mittleren
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. X. Band. 43
634 Literaturbericht.
Classen, dass sich die weitere Entwicklung ohne leidenschaftliche Classenkämpfe voll-
ziehen wird. Damit schliesst das Werk, das als lehrreiche Schilderung und unbefangene
Beurtheilung eines der interessantesten Theile der modernen Culturgeschichte sowohl
fachmännischen Kreisen, als dem gebildeten Leser überhaupt nur auf das wärmste
empfohlen werden kann. E. Plener.
Leon Say, Les finances de la France sous la troisieme Ee'publique.
4 Bände, Paris 1898—1901.
L^on Say war einer der hervorragendsten Finanzminister, die Frankreich je
besessen^ ein bedeutender liberalconservativer Politiker und theoretisch durchgebildeter
nationalökonomischer Schriftsteller^ würdig des wissenschaftlichen Namens seines Gross-
vaters J. B. Say. Es war ein guter Gedanke seiner Freunde, seine zahlreichen Keden
und einige seiner kleineren Aufsätze in einer grossen Gesammtausgabe zu sammeln, die
nunmehr in vier umfangreichen Bänden vorliegt. Finanzminister zu wiederholtenmalen,
arbeitete er zuerst mit Thiers an der Wiederaufrichtung Frankreichs — die Steuern
mussten riesig erhöht, die Ordnung um jeden Preis geschaffen werden. Der Muth und
die Arbeitskraft der Staatsmänner jener Epoche, die mit Aufopferung ihrer persönlichen
Popularität alles aufboten, um das nach dem Krieg völlig zerrüttete Land wieder zu
heben, werden in der französischen Geschichte immer -eine rühmliche Anerkennung
bewahren. Seine klare Darstellung, seine ungewöhnliche Beherrschung aller Details stellen
ihn in den ersten Rang finanzpolitischer Redner, gerade sowie seine Berichte über die
Finanzlage nach dem Kriege (hier zum erstenmal veröifentlicht) und sein Bericht über
die Milliardenzahlung an Deutschland Musterstücke finanzieller Staatsschriften bilden.
Er war als Finanzminister streng, aber nicht kleinlich fiscalisch; derjenige, der den
Steuerträgern die Ungeheuern Lasten nach dem Kriege auferlegen musste, der eine
solche schwere Verantwortung auf sich genommen hatte, um die Finanzen wieder her-
zustellen, der musste das so mühsam gewonnene Gut des finanziellen Gleichgewichts so
hoch halten, dass er es um keinen Preis wieder gefährden lassen wollte. Darum war er
später im beständigen Kampfe mit der Kammer, die aus populären Rücksichten für die
Wähler leichtsinnig Steuerermässigungen und neue Ausgaben beschloss. Durch eine
Ironie des Schicksals verwickelte er sich selbst einige Zeit in eine solche Politik, als er
mit Gambetta und Freycinet das grosse „Investitions"programm entwarf. Bald
wurden aus den fünf Milliarden mehr als acht Milliarden, und die Ordnung der Finanzen
war dahin. Er hat diese Politik nicht bis zu Ende mitgemacht, er schuf zu Beginn dieser
Epoche die amortisable dreiprocentige Rente, bekämpfte nachher die Excesse dieser
Politik, war aber von ihrer theilweisen Urheberschaft nicht freizusprechen. In den
darauffolgenden Jahren predigte er unablässig Sparsamkeit, sprach sich gegen die Ver-
staatlichung der Eisenbahnen aus und gerieth angesichts der radicaleren politischen
Strömung immer mehr in eine conservative Richtung. Als Repräsentant der hohen
Bourgeoisie hieng er zwar an dem politischen Liberalismus, hatte aber zu wenig Ver-
ständnis und Sympathie für Socialpolitik und für moderne Steuerreformen, Er war ein
unerbittlicher Gegner der progressiven Einkommen- und Erbsteuer, als Hüter des
französischen Staatscredits wehrte er sich gegen jede Besteuerung der Rente. In diesen
Dingen blieb er hinter seiner Zeit und selbst hinter seinem Vorfahren zurück, er wurde
immer unzugänglicher und stand darum zuletzt ziemlich vereinsamt. Aber immer ver-
theidigte er seine Ansichten mit grossem Talent, eleganter Form und fester Consequenz.
Die vier Bände sind eine Fundgrube für die französische Finanzgeschichte und zugleich
eine anziehende Illustration des bewegten öffentlichen Lebens eines bedeutenden Maimes.
E. Plener.
Victor Felix v. Kraus, Die Wirtschafts- und Verwaltungspolitik des
aufgeklärten Absolutismus im Gmundner Salzkammergut. Auf Grund archi-
valischer Quellen dargestellt. (Wiener staatswissenschaftliche Studien, herausgegeben von
E. Bernatzik und E. v. Philippovich. L Band, 4. Heft.) Freiburg i. B. 1899. VH.
und 167 S.
Literaturbericht. 635
Ludwig' Bittner, Das Eisenwesen in Innerberg-Eisenerz bis zur Grün-
dung der Innerberger Hauptgewerkschaft im Jahre 1625. (Archiv für öster-
reichische Geschichte, Band LXXXIX, 2. Hälfte.) Wien 1901. 196 S.
Zwei der grössten und interessantesten, aber auch compliciertesten montanistischen
Betriebszweige Oesterreichs haben in den vorliegenden Schriften die erste eingehende
und fachkundige Darstellung ihres geschichtlichen Entwicklungsganges erfahren. Beide
die Gmundener Salinen, wie die Erzbergbaue und Hütten von Innerberg, sind vom Anfang
an Kammergut gewesen^ doch mit sehr verschiedener Intensität der staatlichen Ver-
waltung und mit sehr verschiedener Ausdehnung der fiscalischen Gewalt. In beiden
Gebieten beruhte die Production zunächst auf den vom Landesherrn verliehenen Productions-
stätten (Berglehen und Pfannhausstätten im Salzkammergute, Eadmeister und Hammer-
werke in Innerberg), welche in eigenen Berggemeinden unter Aufsicht und Leitung
landesfürstlicher Beamten ihre erste zusammenfassende Organisation fanden. In beiden
Gebieten wird auch in älterer Zeit eine weitgehende Fürsorge der landesherrlichen Ver-
waltung für den so wichtigen Holzbezug, die Land- und Wasserstrassen, die Sicherung
billiger Lebensmittel der Berg- und Hüttenarbeiter, des Absatzes der Producte und die
Preisbildung derselben entfaltet. Aber bald differenziert sich die Verwaltung dieser
beiden Gemeinwesen sehr bedeutend. Während die verschiedenartigen privaten Berech-
tigungen an den ^alzkammergutsalinen schon gegen Ende des Mittelalters wieder zur
landesfürstlichen Kammer eingezogen und damit die Voraussetzungen für einen einheit-
lichen Staatsbetrieb geschaffen wurden, ist in Innerberg die Entwicklung immer mehr
auf einen gewerkschaftlichen Betrieb hingedrängt worden, der schliesslich 1625 in der
Innerberger Hauptgewerkschaft seine erste feste Form fand. Zwar ist auch hierbei der
Ausgangspunkt der Kegalität des Erzberges festgehalten; die landesfürstliche Gewalt
greift, auf dieselbe gestützt, in die bestehenden Rechts- und Besitzverhältnisse rück-
sichtslos ein und zwingt die Rad- und Hammermeister von ihren Rad- und Hammer-
werken zu Gunsten der Gewerkschaft zurückzutreten und sich den Wert ihres Besitzes als
Einlagecapital bei derselben anrechnen zu lassen; auch die Forderungen der alten, nun-
mehr aufgelösten Eisenhandelsgesellschaft wurden zwangsweise in Einlagecapital bei der
Hauptgewerkschaft convertiert. Aber die Gewerkschaft selbst war doch durchaus eine
private capitalistische Erwerbsgesellschaft, die nur einer weitgehenden Staatsaufsicht
unterlag, ohne doch den Charakter eines Staatsbetriebes an sich zu tragen, während die
Salinen zur selben Zeit schon gänzlich zu einer Monopolsverwaltung entwickelt waren.
Es ist für das genauere Eindringen in die Besonderheiten staatlicher und staatlich
begünstigter Betriebsorganisationen sehr lehrreich, die Analogien und die Verschieden-
heiten zu verfolgen, welche gerade in diesen beiden grossen montanistischen Betrieben
zutage treten. Eine solche vergleichende Betrachtung ist durch die vorliegenden Arbeiten
zwar noch immer nicht ganz einfach, aber doch wesentlich erleichtert. Für v. Kraus,
den juristisch geschulten Nationalökonomen, stehen die Probleme der Verfassung und
Verwaltung des Salzkammergutes, die Arbeitsverfassung und die wirtschaftliche Lage der
Salinenarbeiter im Vordergrunde des Interesses; Bittner, der Historiker, ist viel ein-
gehender in der Feststellung der Einzelthatsachen des Berg- und Hüttenwesens, sowie
des Eisenhandels und der Eisenindustrie und ihrer technischen Processe, während die ver-
fassungs- und verwaltungsrechtlichen Fragen, sowie die eigentlich nationalökonomischen
Probleme in ihrer principiellen Bedeutung weniger scharf hervortreten. Aber doch orien-
tieren beide Schriften vollkommen ausreichend über alle wesentlichen Vorgänge in dem
jahrhundertelangen Entwicklungsprocess, welchen diese beiden hochwichtigen Productions-
gebiete durchgemacht haben. Die österreichische Wirtschafts- und Verwaltungsgeschichte
ist damit auf einem bisher wenig aufgehellten und doch so wichtigen Gebiete wesentlich
bereichert. J.
43*
Generalindex für die Bände I bis X.
Vorbemerkung'. Zweck dieses Generalindex ist nicht, einen genauen Ueberblick
über den Inhalt der ersten zehn Jahrgänge der Zeitschrift zu geben, sondern nur, die
Auffindung der einzelnen Artikel, der Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer
Volkswirte und der Literaturbesprechungen jedem zu erleichtern, der sich für eine
bestimmte Materie interessiert. Infolgedessen war möglichste Kürze und die Einreihung
der einzelnen Artikel u. s. w. unter einzelne Schlagwörter geboten. Die Kürze wurde
dadurch erreicht, dass die Titel der Abhandlungen, der recensierten Schriften u. s. w.
thunlichst abgekürzt und deren Wiederholung unter mehreren Schlagwörtern auf das
geringste Maass beschränkt wurde. Allerdings muss infolgedessen jeder, der sich über
einen bestimmten Gegenstand vollständig orientieren will, auch die sachlich verwandten
Schlagwörter durchsehen. Innerhalb jedes Schlagwortes ist unterschieden zwischen:
A. d. h. Abhandlungen.
V. d. h. Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte.
L. d. h. Literaturbesprechungen.
Die den einzelnen Abhandlungen etc. beigesetzten römischen Zahlen geben den
Band (Jahrgang), die arabischen die Seite an.
Das alphabetische Autorenregister am Schlüsse verweist mit den arabischen Zahlen
auf die Nummer der einzelnen Schlagwörter und soll die Auffindung der einzelnen
Abhandlungen in dem Generalindex erleichtern. Schiff.
^
1. Social- und Staatswissenschaft
im allgemeinen, Demographie.
A. Böhm -Bawerk, Unsere Auf-
gaben II. — John, Methode der
Socialwissenschaft I 212. — Peez, Ver-
einsleben I 480, II 584. — John,
Eealistische Wissenschaften 11 1, 228. —
Flamingo, Historische und orthodoxe
National Ökonomen III 598. — Fla-
mingo, Exclusivismus und Vererbung
V 317. — Sulz er, Gesellschaftswissen-
schaft V 548, VI 1. — Denis, Physio-
kraten und Wirtschaftsgesellschaft VI 89.
— Kleinwächter, Collectivbedürfnisse
und Gruppenbildung VII 161. — Ha-
welka, Spencer IX 283. — Grub er,
Alkoholismus X 333.
V. Geldwirtschaft V 310
L. Mollat, Geschichte der Staatswissen-
schaften I 662, III 333. — Hainisch,
Deutsch-Oesterreicher II 373. — Fischer,
Socialpädagogik II 379. — Marino, Scienze
morali sociali II 639. — Bernardo, Publica
amministrazione III 165. — Nitti, Popo-
lazione e sistema sociale III 167. — Loria,
Wirtschaftliche Grundlagen IV 356. —
Bücher, Entstehung der Volkswirtschaft IV
365. — Flamingo, Presociologia IV 358. —
Reichesberg, Statistik und Gesellschafts-
wissenschaft IV 505. — Mayr, Statistik
und Gesellschaftslehre V 166, VII 635. —
Flamingo, Protezionisrao sociale V 347.
— Hildebrand, Eecht und Sitte VII
139. — Literatur zur Frauenfrage VII 15*].
— Ethisch -social wissenschaftliche Curse VII
329. — Hecht, Colbert VII 524. — Hand-
wörterbuch VII 610, VHI 530, IX 215,
315, X 139. — Platter, Demokratie VII
615. — Lotmar, Berufswahl VII 637. —
Weltmann, Darwinismus und Socialismus
Generalindex für die Bände I bis X.
637
VIII 100. — Zenker, Eevolution 1848
VIII 227. — Gobbi, Eapporti contratuali
VIII 536. — Virgilii, Cooperazione IX
535. — Handels- und Machtpolitik IX 536. —
Brentano und Kuczynski, Deutsche
Wehrkraft IX 546. — Wörterbuch X 310.
— Zenker, Gesellschaft X 315.
2. Social- und Wirtschaftsgeschichte,
Geschichte der Wissenschaft.
A. Schwiedland, Hausindustrie I
146. — Zuckerkandl, Schutzzollidee
I 249. — Iiiama-Sternegg, Städte-
wesen I 521. — Schwiedland, Haus-
industrie I 485. — John, Eealistische
Wissenschaften JI 1, 228. — Fia-
mingo, Historische und orthodoxe Na-
tionalökonomie III 598. — Denis,
Physiokraten VI 89.
L. Literatur zur römischen Wirtschafts-
geschichte II 626. — Neu bürg, Goslars
Bergbau II 629. — Knies, Karl Friedrich
von Baden II 631. — Savagnone, Mae-
stranze Siziliane II 633. — Vallentin,
Westpreussen III 334. — Pöhlmann, An-
tiker Communismus III 464, X 310. —
Ha hl, Volkswirtschaftliche Ideen III 470.
— Singer, Recht auf Arbeit IV 364. —
Bücher, Entstehung der Volkswirtschaft
IV 365. — Mayr, Handelsgeschichte IV
635. — Schriften zur Verfassungs- und
Wirtschaftsgeschichte V 337. — SchüUer,
Classische Nationalökonomie V 656. —
Knittel, Geschichte des Genossenschafts-
wesens VI 172. — Kniep, Societas publi-
canorum VI 818. — Grünberg, Bauern-
befreiung VI 315. — Wret schko, Marschall-
amt VII 135. — Eberstadt, Magisterium
VII 136. — Michael, Geschichte des
deutschen Volkes VII 138.— Hildebrand,
Recht und Sitte VII 139. — Ehrenberg,
Fugger VII 327. — Häbler, Fugger VII
327. — Meitzen, Siedlungen VII 617. —
Knapp, Grundherrschaft VII 617. — Lewy,
Agrarische Ideen VIII 230. — Inama-
Sternegg, Wirtschaftsgeschichte VIII 443.
— Meli, Unterthanenstand VIII 549. —
Käser, Politische und sociale Bewe-
gung VIII 550. — Zycha, Bergbaurecht
Vni 550. — Souchon, Theories econo-
miques VIII 626. — Schmoller, Umrisse
und Untersuchungen VIII 626. — Gold-
stein, Urchristenthum IX 237. — Zanelli,
Condi/;ione di Brescia IX 239. — Ra-
dziwill, Stolbergischer Grundbesitz IX 320.
— Handels- und Machtpolitik IX 536. —
Geschichte von Wien X 809. — Walter,
Propheten X432. — Kraus, Salzkammergut
X 634. — B i 1 1 n e r, Innerberg-Eisenerz X 635.
3. Theoretische Nationalökonomie
(Politische Oekonomie).
A. Bonar, Gesetz in der National-
ükonoraie I 201. — Meyer, Mannig-
faltigkeit der Consumtion II 385. —
Komorczynski, Thünen III 27. —
Böhm -Bawerk, Güterwert III 185,
512. — Auspitz, Güterwert ÜI 489.
— Benini, Privatvermögen IV 369. —
Körner, Industrielle Maschine IV 398.
— Jäger, Theoretische Nationalökonomie
IV 513. — Denis, Physiokraten VI
89. — Böhm -Bawerk, Theoretische
Nationalökonomie VII 400. — Böhm-
Bawerk, Capitalstheorie VIII 105, 365,
553. — Montemartini, Grenzproduc-
tivität VIII 467. — Grabski, Skarbek
VIII 504. — Jäger, Smith IX 67. —
Zwiedine ck - Südenhorst, Minimal-
lohn IX 182. — Jäger, Lohnfonds-
theorie X 145. — Schwoner, Be-
wegung der Werte X 257.
L. Schullern, Nationalökonomie Ita-
liens I 198. — Smart, Theory of value
I 371. — Valenti, Theorie di valore I 372,
— Idee di Rogmanosi I 374. — Herrm ann,
Miniaturbilder I 375 — Lehr, Politische
Oekonomie I 505. — Patten, Dynamic
Econ. I 505. — Cossa, Econ. pol. I 660.
— Bonar, Philosophy and pol. econ. III
161. — Wicksell, Wert, Capital und Rente
III 162. — Philippovich, Politische
Oekonomie II 351, VIII 622. — Mähe im,
St. Marc, L'enseignement de T^con. pol. II
359. — Gau w es, Econ. pol. II 467, III 469.
— Maze-Dari, Econ. pol. II 638. — Feil-
bogen, Smith und Turgot II 684. —
Mclinari, Econ. pol. III 169. — Wieser,
Natural value III 827, — Benini, Valore
ni829. — Volt a, Salario III 330. — Tan-
go rra, Costo di produzione III 470. —
638
Generalindex für die Bände I bis X.
Kicca-Salerno, Valorein624. — Sulz er,
Wirtschaftliche Grundgesetze IV 352. —
Neumann, Wert IV 355. — Montanari,
Matematica applicata IV 505. — Vesanis,
Zinscapitalinhaber IV 634. — Gans-
Ludassy, Wirtschaftliche Energie V 340.
— Schober, Weiss, Volkswirtschaftslehre
V 357. — Schüller, Classische National-
ökonomie V 656. — Smart, Studies V 656.
— Montemartini, Risparmio V 658. —
Pierson, Staathuishoudkunde V 658. —
Pareto, Econ. pol. VI 159. — Fisher,
Appreciation VI 166. — Ler oy-Beaulieu,
Nationalökonomie VI 170. — Bachmann,
Volkswirtschaft VI 170. — Internationale
Vereinigung VI 174. — Einarsen, Capital
VI 321. — Off ermann, Fictives Capital
VI 825. — Röscher, Nationalökonomie
VI 334. — Walras, Econ. sociale VI 651.
— Bergmann, Wirtschaftskrisen VII 182.
— Bullock, Study of Econ. VII 134. —
Hecht,ColbertVlI524. — Koerner, Volks-
wirtschaftslehre VII 618. — Pareto, Econ.
pol. VIII 91. — Schmoller, Grundfragen
VIII 229. — Cossa, Consumo VIII 329.
— Paasch e, Festgabe für Conrad VIII
885. — Neuburg, Lehrs politische Oeko-
nomie VIII 535. — Luigi, Econ. pol. VIII
585. — Clark, Distribution of wealth X
434. — Cjonrad, Politische Oekonomie X
485. — Böhm-Bawerk, Capital X 485.
4. Wirtschaftliche Verhältnisst^
und Volkswirtschaftspolitik im all-
gemeincD.
A. Baernreither, Socialreform I
11. — Herkner, Erhaltung der Mittel-
classe II 209. — John, Genossen-
schaftsbewegung in 337. — Mataja,
Städtische Socialpolitik III 519. —
Pierson, Goldmangel IV 1. — Peez,
Ostasien IV 286. — Robert, Ost-
asien IV 618. — Robert, Australien
V 130. — Schiff, Wirtschaftliche
Gesetzgebung V 464. — Colonialgesell-
schaft VII 107. — Schroft, Aus-
wanderung VII 253. — Matlekovits,
Ungarn VII 529. — Philippovich,
Organisation der Berufsinteressen VIII 1.
— Industrie- und Landwirtschaftsrath
VIII 89. — Rauchberg, Wohnungs-
frage VIII 431. — Ausgleich mit Ungarn
1X301, 404. — Oppenheim er, Alters-
versorgung IX 549. — Schwartzenau,
Wohnungsgesetzgebung X 1. — Buzek,
Auswanderung X 441, 553.
y. Lebensmittelpreise und Approvisio-
njerung Wiens I 475. — Nordamerikanische
Krise III 147. — Wiener Wohnungsverhält-
nisse III 272, 412. — Colonialpolitik IV
250. — Ostasien IV 459. — Wirtschafts-
politik IV 469. — Socialpolitik und Statistik
VIII 271. — Bodenwert und Bodenpolitik
IX 361.
L. Herkner, Sociale Reform I 509.
— Philippovich, Wirtschaftlicher Fort-
schritt II 200. — Bahren d, Verstaatlichung
von Grund und Boden II 485. — Preuss,
Bodenbesitzreform II486. — Stieda, Social-
politik II 639. — Schultze-Gävernitz,
Grossbetrieb III 174. — Born hak, Social-
gesetzgebung III 626. — Platter, Sociale
Zustände III 638. — Loria, Wirtschaft-
liche Grundlagen IV 355. — Singer, Recht
auf Arbeit IV 364. — Bücher, Entstehung
der Volkswirtschaft IV 365. — Graziani,
Idee economiche IV 505. — Bellis, Guerra
al pregiudizio IV 506. — Teifen, Sociales
Elend IV 508.— Challey-Bert et Fon-
taine, Lois sociales IV 509. — Schriften
über die Wohnungsfrage V 194, 486. — V ir-
gilii, Avvenire sociale V 351. — Fltirsch-
heim, Währung und Weltkrise V 353. —
Müller, Consumgenossenschaften V 655.
— Stammhammer, Bibliographie VI 485.
— Conrad, Volkswirtschaftspolitik VII
134. _ Bach, Arbeitstheilung VII 184. —
Wörterbuch der Volkswirtschaft VII 611,
VIII 328. — Bücher, Wirtschaftliche Auf-
gaben der Stadtgemeinde VII 614. —
Schmoll er, Grundfragen VIII 229. —
Hellen, Italiens Volkswirtschaft VIII 586.
— Philippovich, Volkswirtschaftspolitik
VIII 622. — Schultze-Gävernitz, Russ-
land IX 529. — Nicolai-on Russland IX
529. — Steinbrück, Immobilarpreise IX
588. — Handels- und Machtpolitik IX
536. _ Matlekovits, Ungarn IX 636. —
Launhardt, Technischer Fortschritt X 144.
— Oppenheiraer,Wohnungsnoth X319. —
Abele, Wohnungsfrage X 320. — Hogge,
Serbie, X 322.
I
Generalindex für die Bände I bis X.
639
5. Sociale Frage, Socialismus,
Anarchismus.
A. Jolin, CoUectivismus IV 279. —
Singer, Ludwig Gall III 417. —
Bertolini, Socialistische Literatur IV
550. — Denis, Proudhon V 283. —
Komorczynski, Marx VI 242. —
Hawelka, Krapotkin X 289.
L. Jäger, Sociale Frage I 515. —
Cossa, Questione sociale I 660. — Wolf,
Socialismus II 185. — Stammhammer,
Bibliographie III 328. — Pöhlmann, An-
tiker Communismus III 464, X 310. —
Mac kay, Anarchisten IV 177. — Singer,
Kecht auf Arbeit IV 364. — Ofner, Er-
furter Programm IV 635. — Zenker, Anar-
chismus V 352. — ■' Haushofe n, Socialismus
V 357. — Brandt, Lassalle V 358. — So-
cialdemokratischer Parteitag VI 171. —
Questione sociale VI 173. — Platter, So-
cialismus VII 615. — Woltmann, Darwi-
nismus und Socialismus VIII 100. —
Destre'e und Vandervelde, Socialisme
en Belgique VIII 630. — Goldstein, Ur-
christenthum IX 237. — Eltzbacher, Anar-
chismus X 316. — Menger, Produit in-
tegral du travail X 329. — Jaures, Action
socialiste X 436.
6. Agrarwesen und Agrarpolitik.
A. Bräf, MeliorationscreditI227. —
Stockinge r, Landwirtschaft in Britisch-
indien II 152. — Schiff, Executions-
verfahren IV 573. — Schullern-
Schrattenhofen, Landarbeiter V 1. —
Janke, Landwirtschaftliche Genossen-
schaften V 88. — Navay, Arbeiter-
frage in Alföld VI 100. — Goemoery,
Landwirtschaftliche Arbeiter VII 75. —
Chrenozy - Nagy, Agrarstatistik VII
125. — Landwirtschaftsrath VIII 89. —
Lippert, Getreidepreise VIII 276. —
Schiff, Agrarrecht IX 291. — Creanga,
Bauernstand X 194.
T. Kentengüter III 140. — Agrartag
IV 305. — Termiuhandel VI 308. — Jagd
VII 391. — Entschuldung X 278.
L. Bianchi, Proprietä fondiaria I 517.
— Meitzen, Boden des preussischen Staates
IV 638. — Hasbach, Landarbeiter IV 639.
— Drill, Getreideproduction IV 653. —
Sering, Innere Colonisation V 181. —
Goltz, Agrarische Aufgaben V 186. —
B 0 de, Landwirtschaftliche Genossenschaften
V 190. — Wygodzinski, Gemeinsamer
Absatz V 190. — Fick, Erbfolge V 349.
— Virgilii, Problem a agricolo V 351. —
Fertilizzazione de suolo VI 173. — Grün-
berg, Bauernbefreiung VI 313. — König,
Englische Landwirtschaft VI 328. —
Wygodzinski, Vererbung VI 490. —
Buchenb erger, Agrarpolitik VII 143. —
Klinkowstroem-Korklack, Buchenber-
ger VII 143. — Richter, Berufsgenossen-
schaft VII 525. — Richter, Creditorganisa-
tion VII 526. — Meitzen, Agrarwesen VII
617. — Knapp, Grundherrschaft VII 617.
— Rabben 0, Questione fondi aria VII 629.
— Grieb, Oedland VII 629. Hager, Fami-
lienfideicommisse VII 630. — Weichs-
Glon, Brotfrage, Agraiisches Handbuch VIII
228. — Lewy, Agrarische Ideen VIII 230.
— Böhm, Kornhäuser VIII 230. — Ertl
und Licht, Landwirtschaftliche Genossen-
schaften VIII 330. — Schiff, Agrarpolitik
VIII 537. — Buchenberger, Agrarpolitik
VIII 540. — Goltz, Agrarpolitik VIII 541.
— Simon, Export landwirtschaftlicher Pro-
ducte VIII 542. — Brentano, Erbrecht
VIII 543. — Simkowitsch, Feldgemein-
schaft VIII 544. — Marchet, Agrarver-
hältnisse VIII 545. — Blum, Feldbereini-
gung VIII 630. — Geschichte der Land-
wirtschaft IX 228. — Hohenbruck, Biblio-
graphie IX 231. — Landwirtschaftlicher
Personalcredit IX 231. — Mayr, Anerben-
system 1X234.— Radziwill, Stolbergischer
Grundbesitz IX 320.— Hecht, BodencreditIX
321. — Borgius, Getreidehandel IX 323.
— Mar eh et, Recht des Landwirtes 1X450,
— Grabmayr, BodenentschuldungIX530. —
Hattingberg, Landwirtschaftlicher Credit
IX 532. — Steinbrück, Immobiliarpreise
IX 533. — Getreide im Weltverkehr X
221. — Aal, Rentengut X 327.
7. Gewerbe und Gewerbepolitik,
A. Wies er, Grossbetrieb und Pro-
ductivgenossenschaften I 102. —
Schwiedland, Hausindustrie I 146,
485. — Elkan, Einige Fabrications-
640
Generalindex für die Bände I bis X.
zweige II 615. — Schwiedland, Sitz-
gesellenwesen III 150. — Koerner,
Industrielle Technik IV 1 93. — K o e r n e r,
Industrielle Maschine IV 398. — John,
Productivgenossenschaften IV 289. —
Hasen öhrl, Sonntagsruhe IV 481. —
Gruber, Lebensmittelindustrie V 604.
— Schullern, Bergbaugenossenschaften
VI 137. — Zwiedineck-Südenhorst,
Betriebssysteme VII 15. — Industrierath
VIII 89. — Sprung, Actienregulativ
IX 599.
V. Handwerker IV 303. — Kleingewerbe
IV 462. — Lebensmittelindustrie V 311. —
Kunstwein VII 97. — Gewerbeförderung
VIII 407. — Gablonzer Industrie IX 168.
L. Baumberger. Stickereiindustrie I
188. — Trenkler, Modewarenfabrication
I 193. — Bücher, Betriebsformen I 675. —
Rabbeno, Cooperazione II 193. — Neu-
kamp, Reichsgewerbeordnung II 469. —
Paygert, Schuhmacherei II 473. — Hall-
wich, Leitenberger III 316. — Schultze-
Gävernitz, Grossbetrieb III 174. —
Francke, Schuhmacherei III 482. —
Koppen, Ind. minerale III 630. — Frey
und Mar e seh, Gewerberechte III 631. —
Hampke, Handwerkerkammern III 634. —
Schwiedland, Hausindustrie IV 186. —
Schneider, Bergbaupolitik VI .330. —
Freese, Fabrikantensorgen VII 329. —
Heilin g er. Gewerberecht VII 330. —
Schwiedland, Heimarbeit VII 519. —
Travail en Chamber VII 519. — Gewerbe-
ausstellung VIII 547. — Waentig, Mittel-
stand IX 223. — Holländer, Mühlen-
industrie 1X326. — Kustermann, Mühlen-
gewerbe IX 327. — Liefmann, Verlag
IX 329. — Industries ä domicile IX 53.3,
X 436. — Pohle, Cartelle IX 538. —
Kley, Krupp IX 539. — Trefz, Wirts-
gewerbe IX 539.
8. Handel und Verkehr, Handels-
und Verkehrspolitik.
A. Zuckerkandl, Schutzzollidee I
249. — Schwiedland, Freie Con-
currenz im Handel II 253. — Grunzel,
Handelspolitik II 460. — Hopfgartner,
Wasserstrassen IV 124. — Eobert,
Triest IV 167. — Hasen öhrl, Aus-
verkäufe IV 493. — Grub er, Lebens-
mittelverkehr V 604. — Verdin, Frei-
hafen Triest V 623. — Schullern,
Eatengeschäfte VI 154. — Bunzel,
Terminhandel VI 385. — Lippert,
Gotreidezölle VIII 276. — Neukamp,
Gesellschaften mit beschränkter Haftung
VIII 337. — Bunzel, Handels- und
Verkehrspolitik IX 130. — Levetus,
Grosseinkaufsgenossenschaften IX 199.
— Ausgleich mit Ungarn IX 301,
404. — Ei cht er, Handels Wissenschaften
IX 574. — Sprung, Actienregulativ
IX 599. — Lippert, Lagerhäuser X
98. — Eosenberg, Börsengeschäfte
X 163. — Oelwein, Wasserstrassen
X 233, 428. — Stefan, Lebensver-
sicherung X 299. — Lippert, Handels-
marine X 347. — Millanich, See-
mannsordnung X 406, 527.
V. Hausier- und Abzahlungsgeschäfte
I 276. — Wasserstrassen III 269. — Börsen-
enquete III 406. — Unlauterer Wettbewerb
IV 256. — Börsenscliiedsgerichte IV 261. —
Handelspolitik V 296. — Getreidetermin-
handel VI 308. — Handel mit Ostasien
VII 243. — Zoll- und Handelsbündnis IX
278. — Handelspolitik IX 282. — Pan-
amerika IX 357. — Eisenbahntarife X 192. —
Börsengeschäfte X 192.
L. Walker, Zolleinigung I 665. —
Mataja, Grossmagazine I 668. — Stege-
mann, Handelskammern III 324. — Ehmig,
Handel mit geistigen Getränken III 326. —
Rabbeno, Protezionismo Americano III 467.
— Fuchs, Handelspolitik III 476. —
Grunzel, Handelsbeziehungen III 632. —
Stegmann, Unlauteres Geschäftsgebaren
IV 183. — Cantillon, Commerce IV 185. —
Mayr, Handelsgeschichte IV 635. — Zepler,
Aerztliche Syndicate IV 637. — Weichs-
Glon, Moderne Verkehrsmittel IV 650. —
Cognetti, Pol. comm. VI 172. — Hasse,
Weltpolitik VII 637. — Böhm, Kornhäuser
VIII 230. — Bödiker, Versicherungsgesetz-
gebung VIII 333. — Simon, Export land-
wirtschaftlicher Producte VIII 542. —
Holländer, Handelspolitik IX 326. —
Generalindex für die Bände I bis X.
641
Lotz, Verkehrsentwickelung IX 331. —
Burmeister, Eisenbahntarife IX 450. —
Handels- und Machtpolitik IX 536. —
Borgius, Deutschland und die Vereinigten
Staaten IX 540. — Ehrenberg, Handels-
politik IX 541. — Handelspolitik IX 541. —
Getreide im Weltverkehr X 221. — Kraus,
Handelsbeziehungen X 322. — Manes,
Haftpflichtversicherung X 329, 330. —
Handelspolitik X 436, 438. — Eaunig,
Zolltarif X 438. — Zucker, Handelspolitik
438. — Dietzel, Weltwirtschaft X 489.
9. Arbeiterverhältnisse, Arbeiter-
gesetzgebung.
A. Baernreither, Socialreform I
11. — Gross, Arbeiterwolmungen I
279. — Hilse, Unfallversiclierung I
613. — Eabbeno, Arbeiterversicherung
IL 100. — Inama-Sternegg, Hilfs-
cassen II 287. — Elkan, Fabriks-
inspection II 337. — Schullern,
Trucksystem IL 609. — Inama-
Sternegg, Unfallversicherung III 435.
— John, Gewerkvereine IV 279, 289.
— Singer, Arbeitsnachweis IV 304.
— Elkan, Gewerbeinspection IV 318.
— Schullern- Schrattenhof en, Land-
arbeiter VI. — Mischler, Gewerbe-
inspection V 270. — Mataja, Arbeiter-
schutz V 361, 505. — Navay, Ar-
beiterfrage in Alföld VI 100. — Leth,
AltersversicherungVI626. — Goemoery,
Landwirtschaftliche Arbeiter VII 75. —
Kaan, Betriebsunfälle VII 433. —
Arbeitsstatistisches Amt VIII 89. —
Layer, Unfallversicherung VIII 147. —
Zwiedineck - Südenhorst, Minimal-
lohn IX 182. — Hainisch, Arbeits-
statistisches Amt IX 521. — Oppen-
heimer, Altersversorgung IX 549. —
Schwartzenau, Arbeiterwohnungen X
1. — Millanich, Seemannsordnung
X 406, 527. — Inama-Sternegg,
Bergarbeiter X 626.
y. Arbeiterwohnungen 1 178. — Arbeiter-
ausschüsse und Einigungsämter I 272, —
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und
Arbeiterversicherung I 472. — Colonien für
Arbeitslose III 272. — Arbeitsstatistik V
62. — Arbeiterunfallversicherung V 71. —
Arbeiterauswanderung V 300. — Arbeiter-
schutzcongresseVII 87. — Lohnsteigerungen
IX 170. —
L. Eies, Cigarrenarbeiter I 191. —
Antons, Fabriksgesetzgebung I 502. —
CossaDiminuzione delle ore dilavorol 515.
— Just, Invaliditätsversicherung II 470. —
Hahn, Krankenversicherung II 470. — Bel-
lom, Assurance ouvriere II 471, V 192. —
Paygert, Galizische Schuhmacher II 473. —
Menzel, Arbeiterversicherung III 172. —
Jay, Question ouvriere III 320. — Menzel,
Unfallversicherung III 331. — Arbeits-
statistik III 332. — Feilbogen, Alters-
versorgung III 475. — Herkner, Arbeiter-
frage III 627. — Liebich, Obdachlos III
629. — Hirsch, Arbeiterfrage III 630. —
Dubois, Trade-Unions IV 359. — Singer,
Eecht auf Arbeit IV 364. — Hasbach,
Landarbeiter IV 639. — Bödiker, Ar-
beiterversicherung V 192. — Labour-
Departement V 354, VI 491, VII 157, VIII
548, IX 535. — Literatur über die Arbeiter-
wohnungsfrage V 486. — Waxweiler,
Travail du dimanche VI 171. — Hirsch,
Arbeiterberufsvereine VI 172. — Kahler,
Gesindewesen VI 173. — Webb, Trade-
Unions VI 470. — Lohnarbeiterinnen VI
487. — Schmöle, Gewerkschaften VI
488. — Hirschberg, Arbeitende Classen
VII 329. — Schanz, Arbeitslosenver-
sicherung VII 332. — Fabriksgesetzgeöung
VII 519. — Dodd, Arbeiterschutz VII
639, IX 449. — Klo SS, Bergarbeiterschutz
VIII 101. — Wokurek, Unfallversicherung
VIII 102. — Mai, Wie der Arbeiter lebt
VIII 231. — Bödiker, Versicherungsgesetz-
gebung VIII 333. — Zacher, Arbeiter-
versicherung VIII 334. — Waxweiler,
Participation VIII 545. — Mataja, Ar-
beiterversicherung VIII 546. — Licht, Ar-
beitsvertrag VIII 546. — Cahn, Schlaf-
stellenwesen VIII546. — Bellom, Accidents
du travail VIII 547. — Legislation da
travail VIII 547, IX 539, X 435.— Seilhac,
Congres ouvriers VIII 630. — Schmidt,
Arbeiterbewegung IX 237. — Kulemann.
Gewerkschaften IX 328. — Will, Coalitions-
recht IX 450. — Boch, Töpferarbeiter IX
539. — Adler, Handlungsgehilfen IX
540. — Zwiedineck-Südenhorst, Lobn-
Verwaltung. X. Band. 44
642
Generalindex für die Bände I bis X.
Politik X 317. — Arbeiterschutz X 317. —
Nostiz, Arbeiterstand X 631.
10. Währungs-, Bank- und
Creditwesen.
A. Bräf, Meliorationscredit I 227.
— Mataja, Währungsenquete I 338.
— Inama-Sternegg, Währungs- und
Münzgesetzgebung I 625. — Schiff,
Convertierung der Hypothekarschulden
II 419, 497, in 382. — Nitti,
Bankfrage in Italien 11 589. — Zucker-
kandl, Währungsänderung in Britisch-
indien III 1. — Inama- Sternegg,
Einlösung der Staatsnoten III 449. —
Pierson, Goldmangel IV 1. — Wittels-
höfer, Coursgewinn der Bank IV 603.
— Berger, Banken V 160. — G. Seid-
ler, CassenverwaltungVIIl. — Bunzel,
Geld- und Creditwesen VII 337. —
Bunzl, Steuerfreie Banknoten VIII 400.—
Leth, Postsparcasse IX 241, 337, X 21.
Y. Währungsproblem III 263. — Bank-
frage IV 107. — Valutaregulierung IV
46. — Cassenverwaltung VII 104. — Eeichs-
bank VIII 406.
L. Landesberge r, Währungssystem
l 368. — Ferraris, Scienza Bancaria I
516. — Meng er, Währungsfrage, Ueber-
gang zur Goldwährung I 666. — Hertzka,
Währungsproblem II 182. — Baburger,
Credittheorien II 191. — Valutareform II
880. — Caro, Wucher III 325. — Helf-
ferich, Münzverein IV 189. — Flürsch-
heim, Währung und Weltkrise V 353. —
Matern, UmMilliarden VI 492. — Houdard,
Malentendu monetair VII 148. — Eauch-
berg, Clearingverkehr VII 521. — Richter,
Creditorganisation VII 526. — Viti de
Marco, Banca VII 614. — Landwirtschaft-
licher Person alcredit IX 231. — Hecht,
Bodencredit IX 321,— Grabmayr, Boden-
entschuldung IX 530. — Hattingberg,
Landwirtschaftlicher Credit IX 532. —
Kr eibig, Währung IX 540.
11. Finanzwesen,
A. Sax, Progressivsteuer I 43. —
Mataja, Reform der directen Personal-
-steuern I 377. — Thierl, Abgabe der
Wehrdienstfreien I 569. — Auspitz,
Reform der directen Steuern 11 25. —
Sommaruga, Stempelgebür II 131, —
Reisch, Directe Besteuerung in Holland
II 303, III 294. — Wiese r, Be-
steuerung ausländischer Gläubiger 11
563. — Benini, Italienische Finanzen,
III 231. — Schiff,Gebürenerleichterung
III 382. — Grohmann, Einkommen-
steuer III 610. — Robert, Bulgarische
Eingangszölle III 619. — Matleko-
vits, Staatshaushalt IV 52. — Körner,
Indirecte Besteuerung IV 193. — Krei-
big. Finanzpolitischer Vorschlag IV
346. — Robert, Accise IV 499. —
Plener, Einkommensteuer V 439. —
Bertolini, KatasterV 583. — Reisch,
Directe Steuern VI, 177, 337, 497.—
Widmer, Stempel und Gebüren VI
570. — Plener, Grundsteuernachlässe
VI 621. — Lippert, Alkoholmonopol
VII 212. — Lempruch, Umsatzsteuer
VII 302. — Mensi, Grundsteuerkataster
VII 488. — Staatsbeamtengehalte VII
596. — Meyer, Personaleinkommen-
steuer VIII -23. — Radnitzky, Budget-
technik Vm 212. — Kaizl, Steuer-
principien VIII 233. — Wagner, Erb-
steuer VIII 315. — Mosco-Wiener,
Zuckerprämien VIII 408. — S o d o f f s ky,
Liegenschaftssteuern VIII 602, IX 475.
— Friedenfels, Erwerbsteuer IX 367.
— Ulimann, Budgets X 66. — Ber-
natzky, Brantweinsteuer X 416. —
Odkolek, Gebürennovelle X 596.
V. Preussische Steuerreform I 172. —
Steuerreform und Selbstverwaltung I 270.
— Steuerreform II 125. — Transportsteuer
VII 99.
L. Mensi, Finanzen 0 Österreichs I
194. _ Thorsch, Geschichte der Staats-
schulden I 194. — Conigliani, Questione
giuridica dei pagamenti I 515. — Leo,
Erbsteuer II 364. — Horowitz, Bezirks-
unterstützungsfonde II 368. — Puviani,
I
I
Generalindex für die Bände I bis X.
643
Prodotto ricostituente II 379. — Cossa,
Finanza publica II 484, — Fürth, Ein-
kommensteuer II 640. — Mayr, Keichs-
finanzreform III 170. — Hausmann, Ver-
kehrssteuern III 471. — Vocke^ Finanz-
wissenschaft III 472. — Sitta, Spese
publiche III 634. — Seligman, Progres-
sive Taxation IV 181. — Pisani, Problema
finanziario IV 363. — Mittheilungen des
Finanzministeriums V 170. — Ricca-
Salerno, Dottrine finanziarie V 346. —
Cossa, Scienza delle finanze VI 167. —
Graziani, Scienza delle finanze VI 167. —
Maz6-Dari, Imposta progressiva VI 167.
Reisch, Personalsteuern VI 170. — Selig-
man, Taxation VI 322. — Sonnenschein,
Transportsteuer VII 145. — Colescu,
Rumänisches Steuerwesen VII 331. — Doll-
fuss, Einzige Steuer VII 332. — Bisch off,
Finanzwissenschaft VII 613. — Viti di
Marco, Economia e finanza VIII 548. —
Sieghart, Glücksspiele VIII 627. — Selig-
mann, Taxation IX 235. — Burmeister,
Eisenbabntarife IX 450. — Sieveking,
Genueser Finanzwesen IX 451. — Schwartz
und Strutz, Staatshaushalt IX 542. — Cohn,
Finanzen IX 544. — Kaizl, Finanzwissen-
schaft IX 545. — Nina, Grundsteuer IX
546. — Koczynski, Gebürenrecht X 225.
— Dreukoff, Steuerverhältnisse X 322.
— Reisch und Kreibig, Bilanz und Steuer
X 325. — Conrad, Finanzwissenschaft
X 435. — Say, Finances de la France X 634.
12. Statistik.
A. Mayr, Internationale Congresse
I 288. — ßauchberg, Ungarische
Volkszählung III 275. — Benini,
Privatvermögen IV 369. — Chrenöczy-
Nagy, Agrarstatistik VII 125. — Ar-
beitsstatistisches Amt VIII 89.
V. Arbeitsstatistik V 62. — Socialpolitik
und Statistik VIII 271.
L. Nordböhmische Arbeiterstatistik I
182. — Annuario statistico Italiano 1 195. —
Statistische Beschreibung Frankfurts II 483.
— Altonaer Arbeitsstatistik III 332. —
Jurasche k,Uebersichten der Weltwirtschaft
III 629. — Reichesberg, Statistik und
Gesellschaftswissenschaft IV 505. — Jahr-
buch deutscher Städte IV 510, VII 157,
VIII 447. — Statistik von Frankfurt IV
649. — Mayr, Statistik und Gesellschafts-
lehre V 166, VII 635. — Brünner Arbeitfr-
statistik V 173. — Rauchberg. Bevöl-
kerung V 178. — Statistische Mittheilungen
V 355. — Virgilii, Statistica VII 613.
— Mayrhofer v. Grünhübel, Volks-
zählung VIII G31, IX 332. — Matlekovits,
Ungarn IX 636.
13. Staats-, Verwaltung«- und
Civilrecht.
A. Schullern, Gläubigerconcurs I
420. — Peez, Yereinsleben I 480,
II 584. — Rauchberg, Heimatsrecht II
59. — Inama-Sternegg, Ililfscassen
II 287. — Kunwald, Arbeitercolonien
II 326, — Bazant, Markenschutz II
452. — Kunwald, Armenpflege III
63. — Schiff, Executionsverfahren IV
573. — Schiff, Urheberrecht und
Markenschutz V 102. — Schmid,
Unterrichtsanstalten V 201, 402. —
Inama-Sternegg, ^eichsrathswahlen
VI 123. — G. Seidler, Cassenverwaltung
VII 1. — Goldmann, Judengemeinden
VII 557. — Staatsbeamtengehalte VII
596. — Philipp ovich, Organisation
der Berufsinteressen VIII 1. — Plener,
Kreisordnung VIII 244. — Neukamp,
Gesellschaften mit beschränkter Haftung
VIII337. — G. Seidler, Conflict zwischen
Schweden und Norwegen VIII 449. —
E, Seidler, W^asserrecht IX 1. — Hab er-
mann, Stadt und Land IX 172, —
Schiff, Grundbücher IX 291. — Aus-
gleich mit Ungarn IX 301, 404. —
Tezner, Administrativverfahren 1X453.
— Oppenheimer, Armenrecht IX 549.
— Sprung, Actienregulativ IX 599. —
G. Seidler, Doppelte Buchhaltung X
53. — Winckler, Waisencassen X 424.
— Millanich, Seemannsordnung X 406,
527. ■ — Buzek, Auswanderung X 441,
553. — Roschmann-HörburgjRechts-
wjssenschaftliche Studien X 512, —
Reisch und Kreibig, Buchhaltung
X 542.
644
Generalindex für die Bände I bis X.
Autorenreffister.
V. Heimatsrecht II 130. — Patentgesetz
III 409. — Börsenschiedsgerichte IV 261.
— Concursverfahren V 78. — Civilprocess-
ordnung VI 300. — Cassenverwaltung VII
104. — I'acturengerichtsstand VII 235. —
Actiengesetzgebung VIII 84. — Wasser-
recht VIII 206. — Gesellschaften mit
beschränkter Haftung VIII 208. — Muster-
schutz X 271.
L. Ulbrich, Staatsrecht I 663. —
Bernatzik, Eepublik und Monarchie II
191. — Stengel, Wörterbuch des Ver-
waltungsrechtes II 345. — Laveleye,
Gouvernement dans la Democratie II 346.
— Beck-Managetta, Pateutrecht II 471,
— Kobatsch, Armenpflege II 634. — ^
Jellinek, Adam in der Staatslehre IH
632. — Meili, Rechtsstudium IV 507. —
Thudichum, Deutsches Privatrecht IV
651. — Eussel, Volkshochschulen V 354.
— Müller, Consumgenossenschaften V 655.
— Offermann, Parlamentarismus VII 150.
— Seh moller, Umrisse VIII 626. —
Schriften über Armenpflege IX 216. —
Jastrow, Recht der Frau IX 332. —
Lieb mann, Gesellschaften mit beschränkter
Haftung IX 450. — Marchet, Recht des
Landwirtes IX 450. — Wohlthätigkeits-
vereine X 143, — Grundriss des öster-
reichischen Rechtes X 143.
Autorenregister.
(Die den Autorennamen beigesetzten arabischen Ziffern geben die Nummer der Schlag-
wörter an, unter welche die Abhandlungen des Autors in vorstehendem Generalindex
subsuramiert sind.)
Auspitz 3, 11.
Baernreither ,^9. — Bazant 13. —
Benini 11, 12. — Berger 10. — Ber-
natzky 11. — Bertolini 11. — Böhra-
Bawerk 1, 3. — Braf 6, 10. — Bunzel
8. 10. — Bunzl 10. — Buzek 4, 13.
Chrenözy-Nagy 6.
Denis 1, 2. 3.
Elkan 7, 9.
Flamingo 1, 2. — Friedenfels 11.
Gömöry 6, 9. — Goldmann 13. —
Grabski 3. — Grohmann 11. — Gross
9. — Gruber 1, 7, 8. — Grunzel 8.
Habermann 13. — Hainisch 9. —
Hasenöhrl 7, 8. — Hawelka 1, 5. — .
Herkner 4. — Hilse 9. — Hopf-
gartner 8.
Inama-Sternegg 2, 9, 10, 13.
Jäger3. — Janke 6. — John 1, 2,4, 7, 9.
Kaan 9. — Kaizl 11. — Kleinwächter 1.
— Koerner 3, 7, 11. — Komorczynski
3, 5. — Kreibig 11, 13. — Kunwald 13.
Layer 9. — Lempruch 11. — Leth 9,
10. — Levetus 8. — Lippert 6, 8, 11.
Mataja 4, 9, 10, 11. — Matlekovits 4,
11. — Mayr 12. — Mensi 11. —
Meyer3, 11. — Millanich 8, 9, 13. —
Mischler 9. — Montemartini 3. —
Mosco-Wiener 11.
Neukamp 8, 13. —
Oppen-
Navay 6, 9.
Nitti 10.
Odkolek 11. — Oelwein 8.
heimer 4, 9, 13.
Peez 1, 4, 13. — Philippovich 4, 13.
— Pierson 4, 10. - Plener 11, 13.
Rabbeno9. — Radnitzky 11. — Rauch-
berg 4, 12, 13. — Reisch 11, 13. —
Richter 8. — Robert 4, 8, 11. —
Roschmann-Hörburg 13. — Rosen-
berg 8.
Sax 11. - Schiff 4, 6, 10, 11, 13. —
Schmid 13. — Schroft 4. — Schul-
lern-Schrattenhofen 6, 7, 8, 9, 13.
— Schwartzenau 4, 9. — Schwied-
land 2, 7. 8. — Schwoner 3. — E.
Seidler 13. — G. Seidler 10, 13. —
Singer 5, 9. — Sodoffsky 11. —
Sommaruga 11. — Sprung 7, 8, 13. —
Stefan 8 — Stockinger 6. — Sul-
zer 1.
Tezner 13. — Thierl 11.
Ullmann 11.
Verdin 8.
Wagner 11. — Widmer 11. — Wieser
7, 11. _ Winckler 13. — Witteis-
höfer 10.
Zuckerkandl 2, 8, 10. — Zwiedineck-
Südeiihorst 3, 7.
v^;
BINDING SECT. AU6 ^ 1967
HB
5
Z56
Bd. 10
Zeitschrift für Volkswirt-
schaft und Sozialpolitik
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