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Full text of "Zeitschrift für Volkskunde"

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ZEITSCHRIFT 

des 

Vereins  für  Volkskunde. 


Begründet  von  Karl  Weinhold. 


Im  Auftrage  des  Vereins 

herausgegeben 


Johannes  Bolte. 


17.  Jahrgang. 


Mit  achtzehn  Abbildungen  im  Text. 

BERLIN. 

BEHREND  &  0°. 

(vormals  A.  Asher  &  Co.  Verlag) 

1907. 


1907. 


I 


Ik 


Inhalt. 


Abhandlungen  und  grössere  Mitteilungen. 


i^uiti- 


Beiträge  zur  vorgloichemleu  Sagenlorschiing,  ]I:  Naliinli.'utiiiig  und  Sageti- 
entwickluug.  Vou  Oskar  Dähuhardt.  (A.  Äsopische  Fabeln:  Zeus  und  der 
Affe.  Die  Hasen  uud  die  Frösche.  Der  Storch  als  Froschkönig.  ^ 
B.  Märchen:  Strohhalm,  Kolilo  und  Bohne.  Der  lliehende  Pfannkuchen. 
Die  versenkten  Schlüssel) 1— IG.     l--".t-l  t-'. 

Die  menschlichen  Altersstufen  in  Wort  und  Bild.  Von  Anton  Englert  (3.  Die 
zehn  Alter  der  Welt,  vou  Martin  Schrot  l.')7l.  —  1.  Die  männlichen  und 
weibliclien  Altersstufen  von  Christofano  Bcrtelli,  um  1.370.  —  5.  Deutsche 
und  niederländische  Flugblätter  aus  dem  17.  und  18.  Jahrhundert).  Mit 
vier  Abbildungen.  —  Nachtrag:  Die  vier  Lebensalter  werden  auf  den  Tod 
vorbereitet.     Von  J.  B •.    .        Hl—  42 

Drei  spätmittelalterliche  Legenden  in  ihrer  Wanderung  aus  Italien  durch  die 
Schweiz  nach  Deutschland.  Von  Heinrich  Dübi.  (1.  Vom  Landptleger 
Pilatus.  —  2.  Vom  Ewigen  Juden.  —  :'■  Frau  Vrene  uud  der  Tanu- 
häuser)    .    .  ,. ^ 42— 1;5. 14r,-lG0.     24il~2G4 

Der  Krapfen.     Von  Max  Hötler.    Mit  drei  Abbildungen G.')—  7i'> 

Kurdische  Sagen.   Von  Bagrat  Chalatianz.   (15.  Die  mythologische  Bedeutung 

der  Sagen) 7G-  80 

Fortpflanzung,  Wochenbett  und  Taufe  in  Brauch  und  Glauben  der  weiss- 
russischen  Landbevölkerung.  Nach  Angaben  von  Frau  Olga  Bartels  auf 
Koslowka,  Gouv.  Smolensk.  zusammengestellt  von  Paul  Bartels IGii  — 171 

Zur  Geschichte  vom  weisen  Haikar.  Von  Theodor  Zachariae.  (1.  Die  Auf- 
gabe, Stricke  aus  Sand  zu  winden.  —  2.  Der  Ursprung  der  Haikar- 
geschichte)  IrJ  — r.i.) 

Nachlese  zu  den  Sammlungen  deutscher  Kinderlieder.     Von   Georg  Schläger 

(Nr.  1-2(X)) 2G4-29S.     :;S7-414 

Volksrätsel    aus    Osnabrück    und  Umgegend.     Gesanmielt   vou    August  Brunk 

;Nr.  1-lOG) ^ :.';iS-:;o7 

Feuer  imd  Licht  im  Totengebrauche.     Von  Paul  Sartori .".Gl— o8G 

Die  iranische  Heldensage  bei  den  Armeniern,  Nachtrag.  Von  Bagrat  Chalatianz. 
vVorwort.  1.  Rostom  uud  Salman.  —  2.  Rostam.  —  :).  Kostam  und  seine 
Enkel.  —  4.  Rostam  und  die  Frauen.  -  ö.  Bedjän.  —  G.  Sam) 414-424 

Bilderbogen  des  IG.  und  17.  Jahrhunderts.  Von  Johannes  Bolte.  (1.  Die  Hasen 
braten  den  Jäger.  —  2.  Die  Gänse  hängen  den  Fuchs.  —  ;.!.  Der  Fuchs 
predigt  den  Gänsen.  —  4.  Der  Wolf  predigt  den  Gänsen.  —  5.  Sechzehn 
Eigenschaften  eines  schönen  Pferdes.  —  G.  Tierische  Eigenschaften  der 
Menschen^ 425-+41 


1  \  Iiilialt. 


Kleine  Mitteilungen. 

Seite 

Nachtrag  zu  dem  Artikel  'Sicbensprunä,''.     Von  K.  II  er  mann 81 —  85 

Zum  Faugsteinchcnspicle.    Von  E.  Lemke  und  J.  Holte 85—  SS 

Drei    russische   Wurfspiele    mit    Knöcheln      Von    K.    Lemke    (1.    Altscha.    — 

2.  .Ssakämauci.  —  3.  Cidjätochaia.') Si)—  !)1 

Das    ostprcussisclie  Hölzchen-    oder  Klötzchcnspiel.     Von    E.  Schnippel   (mit 

zwei  Allbildungen) 111 —  IM 

Ein  Johannisbaum  in  den  Pyrenäen.     Von  M.  Ilöfler  (mit  einer  Abbildung).    .  91—  95 

Zum  St.  t.'oronagcbet.     Von  W.  Ilöfler iO—  90 

liadischc  Volksbräucho  des  17.  Jahrhunderts.     Von  ü.  Heilig    (1.  Wägen    der 

Knaben.  —  '2.  Mailehen) !l(i—  97 

Sagen  von  Tautenburg  (l-l?-).     Von  1'.  Mitz-schkc <.)S— 100 

Volkslegenden  aus  dem  Böhni'^rwalil  und  dem  Kuhland  (1 — 9;.    \un  D.  Stratil  lOi— 10.') 

Die  schönste  der  Feen,  rumänisches  JMärchen,  übersetzt  von  E.  Richter  .    .    .  105—109 
L'ngarisdie   Volksmärchen,    übersetzt   von    E.  Rona  -  Sklarek    (1.    Der    liolz- 

geschnitzte  Peter) Iii9— 112 

Albert  Voss  f.     Von  M.  Koediger 113 

Der  grüne  Wirtshauskranz.     Von  R.  Andree    (mit  fünf  .Abbildungen)    ....  195 — 2<X) 
Das    Fahnenschwingen    der  Fleischer  in  Eger.      Von    A.  John    (mit  einer  Ab- 

bildnng) 201-203 

Volkslieder  aus  Vorarlberg  i,l — 10),  gesammelt  von  A.  Dörlcr 307  —  311 

Tierstimnien  im  IJraunsclnvcig'ischen.     Von   0.  Schütte 311-313 

Ein  Wettorsegcn  aus  dem   IG.  Jahrhundert.     Von  P.  Beck .'513  —  314 

Alte  Türriegcl.    Von  W.  v.  Schulenburg 314 

Ein  Aberglaube  der  portugiesischen  Seeleute.     Von  M.  Abeking ;')14 

Ein  merkwürdiger  Fall  vou  Durchziehen.     Von  Th.  Zachariae 315 

Beiträge  zur  Volkskunde  des  Ostkarpatheiigebietes.    Von  R.  J.  Kaindl.    (1.  Drei 
historische  Volkslieder  der  Bukowiner  Ruthencn.  —  2.  Das  Ortschaftslied.  — 

;>.  Sagen  vom  Herrn  Kaniowski.  —    I.  Totenhoelizcit) 315—321 

Volksbräuche    aus    dem    Cliicmgau.     Von  K.  .\drian    (2.  Die  Rockenfahrt.   — 

'■''.  Der  Hoarer.  —   1.  Flodererfahren  und  Kreisfangen) 321—325 

'Einem  die  Hölle  heiss  machen'.     Von  R.  Neubauer 325—328 

Scheibensprüche  aus  Oberösterreich  (l-(i).    Von  R.  Zoder 441—442 

Alte  Studentenliedor.     Von  P.  Beck  (mit  Anmerkungen  von  J.  Holte)  .    .    .    .  II'!— 417 

Zum  Sielicnspruuge.     Von  E.  Loluneycr 417 

Hausinschriften  aus  Detmold.    Von  H.  Henft 4-17—448 

Kindorreim  und  Aberglauben  aus  Weimar  und  Ettersbnrg.    Von  P.  Slitzschke  418—449 

Die  zwölf  goldenen  Freitage.     Von  K.  Reiterer 449  —  4.50 

Segensprüche  aus  den  Alpen.    Von  K.  Reit  er  er I.jo 

Braunschweigischc  Segensprüchc.    Von  0.  Schütte 151 

Charles  Perrault  über  französischen  Aberglauben.    Von  J.  Holte 452 — 454 

Ein  Innslirucker  Hausinventar  aus  dem  Jahre  Ki'JG.    Von  A.  Sikora 454 

Das  neue  vläniischc-  Museum  für  Volkskunde  in  Antwerpen.     Von    R.   .\ndrce  457—  l'io 

Spielmannsliusse  im  14.  Jahrhundert.     Von  J.  Holte I'il 

Die    Aufgabe,    Stricke    aus    Sand    zu    winden    (vgl.    S.    172 — 18ü).     Von    4'h. 

Zaebari.-ie Ii;i-li;2 

Berichte  und  Bücheranzeigen. 

Neuere  Arbeiten  über  das  deutsche  Volkslied.    Von  J.  Rolte 203—210 

Neuere  Marchenliteralur.    Von  J.  Holte 3-29-342 

Neuere  .Arbeiten    zur  slawischen  Volkskunde,    1.  Polnisch  und  Böhmisch.     Vou 

A.  Brückner.  —  Südslawisch  und  Russisch.     Von  G.  Polivka    210-234.  313— :i.54 


Inhalt.  V 

i^eito 

d'Ancoiia,  A.:  La  poesia  popolare  italiana,  2.  edizione  (J.  Bolte)  ......  242- -Jl;; 

Bjerge,    P.  og   TIi.    J.  Söegaard,    Dauske    Vidßr   og  Vcdtregter    1:    berne 

(A.  Heusler) 241—241 

Böckel,  0.:    Psjcliologie  der  Volksdichtung  (K.  Reuschel) Uli— 121 

Bonus.  A.:    Isländerinich,  Sammlung  1  und  2  (A.  Heusler) H\j 

Caland,  W.:  De  studio  van  hat  Sanskrit  in  verband  met  etlinologie  en  klassieke 

Philologie  (Th.  Zachariae) 4(18-472 

Crome,  B.:    Das  Markuskreuz  vom  Göttinger  Leinebusch  (A.  Heusleri  ....  UM— 115 

Dames,  M.  L.:    Populär  poetry  of  the  Baloches  4  —  2  (J.  Bolte) 405 KiT 

Fataburen.    Eine  schwedische  kulturgeschichtliche  Zeitschrift  (R.  Andree) .    .  2iiy— 241 

Feilberg,  H.  F.:    Jul  1-2   (J.  Bolte) '    .  115— ik; 

Günter,  H.    Legenden-Studien  (H.  Lohre) 23(1 2.")7 

THouet,  A.:    Zur  Psychologie  des  Bauerntums  (,0.  Ebermann) 46ä_4t;a 

Jacob,   G.:    Geschichte  des  Schattenthoaters  (J.  Holte) 354  — .'iSö 

Keller,  A.:    Die  Schwaben  in  der  Geschichte  des  Volkshumors  (H.  Lohrei  .    .  4{j:l-4G4 

Klemm,  0.:  G.  B.  Vico  als  Geschichtsphilosoph  und  Völkerpsycholog  (H.  Michel)  235— 2o(i 

Kluge,  F.:  Unser  Deutsch.     Einfülining  in  die  ;\luttersprache  (H.  Michel)    .    .  2."i4  — 2;!.'i 

Kronfeld,  E.  M.:    Der  Weihnachtsbaum  (.J.  Bolte) 243—249 

Lucius,   E.:     Die   Anfänge    des    Heiligenkultes    in    der    christlichen    Kirche 

(H.  Lohre) 23('i— 237 

Maeterlinck,    !>.:    L.  genre  satirique    daris    la  peiüture  tlamande.     2.  cdition 

(•'•  Bolte) ::!55— 35ü 

Martin,  A.:   Deutsches  Badewesen  in  vergangenen  Tagen  (P.  Bartels)   ....     2.37 2.'!'.l 

Pfaff,  F.   s.  Volkskunde. 

Reitzenstcin,  R  :    Hellenistische  Wundererzählungen  (H.  Lucas) 12?— 12G 

Sebestyen.    G.:    Sannnlung    aus    dem   rechtsseitigen    Donaugebiet    (E.  Rona- 

Sklarek) 4(;7_4(J8 

Sebillot,  F.:    Le  folk-loro  de  France  3:  La  faiine  et  hi  flore  (J.  Bolte)  .    .    .  121  —  122 

Volkskunde  im  Breisgan,  hsg.  durch  F.  Pfaff  (,J.  Bolte) 244 

Notizen  (.0.  Arnstein,  R.  Brandstetter,  A.  van  Gennep,  M.  Gerhardt,  F.  Heine- 
mann, E.  Hoffmann-Krayer,  R.  F.  Kaindl,  G.  Kropatschek,  P.  v.  Lipper- 
heide,  E.  Rabben,  A.  Schullerus,  K.  Spiess,  J.  Leite  de  Vasconcellos.  — 
R.  Andree,  R.  Basset,  E.  G.  Bourne,  V.  Dingelstedt,  A.  Forke,  H.  Gaidoz, 
0.  C.  van  de  Graft,   P.  R.  T.  Gurdon,  F.  Heinemann,    A.  Hellwig,  Ahmed 

Hikmet.  M.  Höfler,  A.  W.  Howitt,  M.  Löhr,  G.  Paris,  K.  Reuschel)  244— 240.  356-358 

Aus  den  Sitzungs-Protokollon  des  Vereins  für  Volkskunde.    Von  0.  Ebermann, 

G.  Minden,  J.  Bolte  und  K.  Brunner 127—128.     245—248.  358-:!(J0 

Register 47;;_47'.) 


Beiträge  zur  vergleiclienden  Sagenforscliiiiig.') 

Von  Oskar  Dälinhardt. 


IT.    Natnrdeutung-  und  Sagenentwicklung-. 

„Um  alles  iiieiiscliliclieii  Sinnoii  Ungewöluiliche,  was  die  Natur  eines 
Laiulstriclis  besitzt,  oder  wessen  ihn  die  Geschichte  gemahnt,  sammelt 
sich  ein  Duft  von  Sage  und  Lied,  wie  sich  die  Ferne  dos  Himmels  blau 
aulässt  und  zarter,  feiner  Staub  um  Obst  imd  Blumen  setzt.  Aus  dem 
Zusammenleben  untl  Zusammonwohnen  mit  Felsen,  Seen,  Trümmern, 
Bäumen,  Pflanzen  ents])ringt  bald  eine  Art  Verbindung,  die  sich  auf  die 
Eigentttmlichkeit  jedes  dieser  Gegenstände  gründet  und  zu  gewissen 
Stunden  ihre  Wunder  zu  vernehmen  berechtigt  ist."  Mit  diesen  Worten 
oeben  die  Brüder  Grimm  in  der  Vorrede  zu  den  deutschen  Sagen  eine 
treffliche  Wegweisung  zum  Verständnis  der  Sagenpoesie.  Nirgends  aber 
hat  das  Wort  von  dem  Zusammenleben  mit  der  Natur  und  dem  Erfassen 
ihrer  Eigenart  so  volle  Gültigkeit  wie  bei  den  Urs])rungssageu,  die 
die  Entstehung  oder  das  Wesen  einer  Naturerscheinung  aus  einer  märchen- 
haften Begebenheit  ableiten.  Denn  wie  die  Rätsel  der  Schöpfung  sich  in 
unermesslicher  Fülle  der  Menschheit  darbieten,  so  gibt  auch  die  Mensch- 
heit in  unermesslicher  Fülle  ihre  Antworten,  verschieden  zu  verschiedenen 
Zeiten  und  Orten,  aber  immer  mit  dem  ernsten  Willen,  das  ewige  Warum 
zu  ergründen. 

Die  älteste  Naturerklärung,  das  ist  unzweifelhaft,  geschah  in  sinn- 
vollen Mythen,  in  die  des  Glaubens  ganze  Kraft  gelegt  war.  Solche 
Mythen  hat  jedes  Volk  auf  der  Kindheitsstufe  ersonnen  und  innerlich 
erlebt:  sie  folgten  der  Naturanbetuug  und  mussten  folgen;  denn  das  kau- 
sale Denken  verlangte  sein  Recht. 

Zu  den  Anfängen  der  Religion  kamen  dann,  wenn  man  so  sagen  darf, 
die  Anfänge  der  Naturwissenschaft,  insofern  die  Wissenschaft  fordert,  den 
Gründen  der  Erscheinungen  und  ihren  Zusammenhängen  nachzuspüren, 
und  andererseits  die  Mannigfaltigkeit  der  Natur  den  Menschen  schon  früh- 


1)  Vgl.  oben  16,  3C9-:'.96. 
Zuitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1907. 


•_>  Dälmhaidt: 

zeitig  zum  Sehen  uml  Erkennen  anleitete.  Freilieh  ijelangte  diese  erste 
lernende  Betätigung  des  menschlichen  Geistes  nicht  ülier  die  Sago  hinaus. 
Während  der  primitive  Mensch  wie  mit  staunenden  Kinderaugen  dieses 
grosse  Bilderbuch  der  Natur  überblickte,  da  ist  die  Poesie  über  ihn 
gekommen,  nicht  lehrhaft,  nein,  fröhlich,  mit  fruchtbarem  Schaffensdrang. 
Und  während  or  den  beobachtenden  Geist  und  das  empfindende  Herz 
denen  zuwandte,  die  ihm  unter  allen  Geschöpfen  am  nächsten  standen, 
den  Tieren,  da  erwuchs  ihm  der  köstlichste,  unvergängliche  Besitz:  das 
Tiermärchen.  „Das  echte  Tiermärchen",  das  ist  auch  ein  Wort  Grimm- 
scher Prägung'),  „kennt  nur  die  unschuldige  und  freie  Lust  an  der  Poesie: 
es  will  zunächst  nur  ergötzen  und  überlässt  es  seiner  inneren  Kraft,  in 
dem  recliten  Augenblick  auf  das  Gemüt  des  Menschen  zu  wirken." 

Erst  später  entsteht  auf  dem  Boden  der  Sage  die  Fabel.  Beide  ver- 
bindet eine  enge  Verwandtschaft,  so  dass  ihre  Grenzlinien  sehr  oft  inein- 
ander übergehen  und  es  kaum  möglich  ist,  sie  zu  scheiden.  Zwar  heisst 
es:  die  Fabel  belehrt,  das  Märchen  unterhält.  Aber  die  belehrende  Idee 
fehlt  doch  auch  dem  Märchen  nicht,  und  es  gibt  Fabeln,  deren  Moral  wir 
durchaus  nicht  als  den  auskliugenden  Akkord  empfinden.  Mag  sie  auch 
äusserlich  hinzugefügt  sein,  sie  tritt  hinter  den  Stoff  zurück.  In  dem 
Augenblick  aber,  wo  der  lehi-hafte  Charakter  verschwindet,  ist  das  Märchen 
fertig.  Diese  Wandlung  vom  Lehrhaften  zum  Märclienhaften  ist 
nicht  selten  in  der  Yolksüberlieferung  zu  beobachten.  In  der  Gunst  der 
Völker  hat  allezeit  die  Poesie  der  beiden  älteren  Gattungen,  des  Natur- 
mythus und  der  Natui'sage,  höher  gestanden,  als  die  Didaktik  der  jüngeren. 
Und  so  kommt  es,  dass  gar  manche  Fabel,  die  in  den  Yolksmund  ge- 
langt ist,  zur  Xatursage  wurde.  Ursprünglich  lehrhaft  gemeint,  diente 
sie  nunmehr  vorwiegend  zur  blossen  Ergötzung,  gleich  dem  Märchen. 
Somit  ist  denn  eine  ganz  neue  Schicht  von  Natursagen  entstanden,  die 
nichts  zu  tun  hat  mit  jenen  älteren,  und  wir  erhalten  das  eigentümliche 
Bild,  dass  die  aus  der  Sage  hervorgegangene  Gattung  wieder  zu  dieser 
zurückkehrt.  Zu  den  Faktoren  aber,  die  die  Fabel  zur  Sage  umschaffen, 
gehört  die  Deutung  des  naturgeschichtlichen  Ursprungs,  die  sich 
häufig  an  die  Stelle  der  Moral  setzt,  um  so  häufiger,  je  grösser  die 
Vorliebe  der  Völker  für  solche  Ursprungsgeschichten  ist. 

Doch  nicht  nur  die  Fabeln  erhalten  dadurch  ein  wesentlich  verändertes 
Aussehen.  Auch  Märchen,  Schwanke  und  Legenden  werden  zur 
poetisclien  Ausdeutung  natürlicher  Dinge  und  Vorgänge  benutzt.  Es  ist 
psychologiscli  höchst  interessant,  zu  beobachten,  wie  naturerklärende 
Wanderstoffe  und  Wanderniotive  fortwährend  Anstoss  geben  zur  Neu- 
bildung und  Umbildung  von  Traditionen,  so  dass  sich  die  Sageugeschiciite 
auf  diesem  Gebiete  ungemein  bewegt  und  lebensvoll  gestaltet. 

1)  Wilbclm  Grimm,  Tlncrfabcln  bei  Jen  Meistcrsüngern  (.1855)  S.  '-'O  --  Kloiiio 
Scliriflcn  i,  388. 


Beiträge  zur  vergleichenden  Sagenforschung.  3 

Die  naturerklärenden  Sagen  zerfallen  demuacli  in  zwei  von  Grund  aus 
verschiedene  Gruppen: 

1.  Die  rein  naturdeutendeu  (ätiologischen)  Sagen,  d.  h.  solche,  die 
aus  dem  Bedürfnis  der  poetischen  Naturerklärung  hervorgegangen  und 
lediglich  zu  diesem  Zwecke  erfunden  sind.  Die  Erfindung  hat  in  ihrem 
ganzeu  Aufbau,  vom  Anfang  bis  zum  Ende,  nichts  anderes  als  das  eine 
Ziel  im  Auge:  das  Warum  der  Naturerscheinung  zu  beantworten.  Diese 
Sagen  sind  religiös  oder  zur  Ergötzung  bestimmt,  ein  Ausdruck  innigen 
Naturgefühls. 

2.  Die  willkürlich  naturdeutenden  (willkürlich  ätiologischen)  Sagen, 
d.  h.  solche,  die  ursprünglich  zu  anderen  Zwecken  als  dem  der  Natur- 
erklärung erfunden  und  infolge  der  Vorliebe  für  die  poetische  Natur- 
erklärung umgestaltet  sind.  Die  Erfindung  hat  in  ihrem  ganzen  Aufbau 
keineswegs  die  Naturdeutung  im  Auge,  sondern  es  wird  plötzlich  —  zu- 
meist am  Schlüsse  —  das  Thema  verlassen  und  mit  oft  überraschender 
Wendung  zum  naturgeschichtlichen  Ursprung  übergegangen. 

Solche  Wendungen  ergeben  sich  bisweilen  zwanglos,  und  es  hat  einen 
besonderen  Reiz,  die  ästhetischen  Beweggründe  aufzudecken,  aus  denen 
die  Yarianteu  hervorgegangen  sind.  Oft  findet  man  sinnige  oder  witzige 
Einfälle,  Erzeugnisse  einer  Künstlerlaune,  die  mit  dem  Stoffe  spielt.  Oft 
freilich  versucht  sich  an  des  Künstlers  Stelle  der  rohe  Handwerker,  dem 
es  am  nötigen  Geschmack  fehlt,  etwas  Rechtes  zu  schaffen.  Sehr  reich 
an  willkürlicher  Ätiologie  sind  die  kirchlichen  Legenden.  Hier  ist  ent- 
weder auf  einen  heidnischen  Mythus  eine  christliche  Ätiologie  aufgepfropft, 
oder  es  ist  einer  rein  christlichen  Legende  die  ätiologische  Pointe  ver- 
liehen.    Nicht  anders  im  Islam  und  bei  den  Juden. 

Soweit  es  sich  nun  bei  den  willkürlich  naturdeutenden  Sagen  um 
Schlüsse  handelt,  die  auf  der  Vorliebe  für  jjoetische  Ursprungsgründe 
beruhen  und  nach  dem  Muster  der  rein  ätiologischen  Sagen  ersonnen  sind, 
darf  mau  getrost  behaupten:  ihre  Anzahl  ist  so  gross,  dass  sie  zu  den 
formelhaften  Schlüssen  zu  rechnen  sind.  Es  käme  sonach  zu  den 
fünf  Gruppen,  die  Robert  Petsch  aufgewiesen  hat,  noch  eine  sechste  hinzu. 

Einige  Beispiele  mögen  diese  Aufstellungen  erläutern. 

A.    Äsopische  Fabeln. 

1.   Zeus  imd  der  Affe.*) 

Äsop  erzählt,  dass  Zeus  alle  Tiere  mit  ihren  Jungen  vor  sich  kommen  Hess, 
um  zu  entscheiden,  welche  Mutter  den  Preis  verdiene.  Auch  die  Affin  erscheint 
und  erregt  mit  ihrem  hässlichen  Sprössling  das  Lachen  der  Götterversammlung. 
Sie  aber  ruft  aus:    Zs-ug  julv  oToe  r-/,v  vi'zvjv    ef/.o\  ol  navTwv  üvtci;  sor:  xciKkutiv,    oder, 


1)    Aesop  Nr.  o6i  (Halm)  =  Babrius  Ö6.     Danach  Avian  14,  nach  diesem  Steinhöwel 
125,  Boner  79,  Burkhard  Waldis  1,  81  (mit  Anm.  von  Kurz). 

1* 


4  Dübnhardt: 

wie  es  in  der  deutscnen  Bearbeitung  Steinhöwels  heissl:  .Obrister  got,  du  kennest, 
daz  der  sig  an  mir  ist;  und  ob  ieman  anders  holTnuug  hette  zuo  synem  kind,  so 
ist  doch  niyn  iirlail,  daz  niyne  kind  über  alle  kind  die  schönsten  synt." 

Eine  leichte  Änderung  dieses  dankbaren  Stoffes  weist  eine  lateinische  Be- 
arbeitung auf.')  Die  Affenniutter  kommt  vor  den  Löwen  und  hofft  auf  dessen 
Lob.  Aber  mit  Lächeln  erwidert  er:  Ihr  scheint  mir  mehr  merkwürdig  als  lobens- 
würdig.  (Daran  schliesst  sich,  locker  angeknüpft,  eine  Fortsetzung,  die  von  einer 
anderen  Fabel  herstammt.) 

Wie  liier  an  die  Stelle  des  Götterkönigs  der  Tierkönig  getreten  ist, 
so  finden  wir  anderswo  auch  den  Beherrscher  der  Vögel,  den  Adler;  als 
vcrl>]en<U;'te  Jlutter  erscheint  nnnnielir  die  Eule.  Diese  Fabel  steht  bei 
Absteinius'j:  Der  Adler  hat  in  einer  Yogelversammlung  erklärt,  er  wolle 
die  schönsten  Vogelkinder  zu  seinem  Hofgesinde  erwählen.  Nimm  die 
meinigen,  sagt  die  Eule,  denn  sie  überragen  alle  dui'ch  Schönlieit.  Wie 
sehen  sie  denn  aus?  fragt  der  Adler.  Wie  ich,  antwortet  die  Eule.  Und 
alle  lachen  sie  aus. 

Noch    einen    Schritt    weiter,    und    wir    gelangen    zu    l^afontaines') 

Fabel  'L'aigle  et  le  hibou'  (5,  18),  in  der  die  Eule  den  Adler  bittet,  das 

Leben    ihrer    Kinder    zu    schonen.     Auf   die  Frage,    wie    er    sie    von  den 

übrigen  Vögeln  unterscheiden  könne,  erwidert  sie:  Es  sind  die  schönsten. 

Als  der  Adler  gleichwohl  die  Jungen  frisst,  klagt  sie  ihn  bei  den  Göttern 

an,  aber  es  wird  ihr  die  Antwort: 

N'  cn  accuse  que  toi 
Ou  plutöt  la  commune  loi 
Qui  veut  qu'on  trouve  son  scniblable 
Beau,  bicn  fait  et  sur  tous  ainiable. 
Tu  lis  de  tes  cnfants  ä  Tai-rlc  ce  portrait: 
En  avoicnt-ils  le  moindre  trait? 

Eine  andere  Version*)  setzt  mit  gutem  Geschmack  den  räuberischen 
Habicht  statt  des  königlichen  Adlers  ein. 

Sehen  wir  uns  nun  in  der  Volksflberlieferung  um,  so  haben  wir  zu- 
nächst eine  rumänische')  Fabel  der  des  Abstemius  an  die  Seite  zu 
stellen. 

Nachdem  Gott  die  Welt  geschaffen  halte,  versammelte  er  alle  lebenden  Wesen 
mit  ihren  Sprösslingcn,  um  selbst  zu  sehen,  was  jedes  seiner  Geschöpfe  hervor- 
gebracht hatte,  und  sie  zu  belohnen.  Schon  hatte  er  alle  Tiere  an  sich  vorbei- 
ziehen lassen,  da  stellte  sich  die  Krähe  mit  ihrem  Jungen  vor.  Als  Gott  sah, 
wie  hässlich  das  war,  sprach  er:  Es  ist  unmöglich,  dass  dein  Junges  mein  Ge- 
schöpf sein  soll.  Es  ist  zu  hässlich  und  zu  schmutzig.  Geh  und  suche  ein 
anderes.    Schmerzerfüllt   suchte  die  Krähe  überall  auf  Erden,    aber  nirgends  fand 

1)  Romuhis  app.  :!G  (Oestcrley,  mit  Anni.)  =  llcrvieux,   Los  fabulistes  latins  2,  528. 

2)  Novelcti  Mythologia  Aesopica  KilO  p.  üH3. 

3)  Variante  bei  Hobcrt,  Fables  inodites  (1825)  1,  348  (Fuchs  und  Krähe).  Vgl.  auch 
Vcrdizotti,  Cento  favole  morali  1577  nr.  5:  J-'aquila  e  il  guffo. 

l)   Desbillous,  Fabulac  acsopicac  8,  1:  Accipitcr  et  noctua. 
5)    Rcviio  des  trad.  pop.  9,  G20. 


Beiträge  zur  vergleichenden  Sagenforscliuug.  5 

sie  ein  niedlicheres.  Abermals  kam  sie  zu  Gott  und  erklärte  ihm  rund  heraus: 
ihr  Junges  sei  der  Gipfel  der  Schönheit,  und  es  sei  schlechterdings  kein  schöneres 
zu  finden.  Du  hast  Recht,  sagte  Gott,  so  sind  alle  Mütter;  und  er  bedachte  auch 
sie  und  ihr  Junges. 

Während  diese  Erzählung  noch  deutlich  an  Äsop  anklingt,  zugleich 
aber,  indem  ein  hässlicher  Vogel  auftritt,  auch  an  Abstemius  erinnert,  so 
stellt  sich  eine  polnische^)  Version  neben  die  Fabel  von  Lafontaine 
und  deren  Parallele  vom  Habiclit  und  der  Eule.  Doch  zeigt  sie  (und 
damit  begegnet  uns  zum  erstenmal  diese  einschneidende  Änderung)  jenen 
ätiologischen  Schluss,  der  für  den  Volksgeschmack  so  überaus  charakte- 
ristisch ist. 

Gott  befahl  dein  Habicht,  kleine  Vögelchen  zu  fressen.  Als  die  Eule  das 
hörte,  war  sie  entsetzt,  dass  er  ihre  Kinder  rauben  werde,  lud  den  Habicht  ins 
Wirtshaus  ein,  gab  ihm  zu  trinken  und  bat  ihn,  er  möchte  ihre  Kinder  in  Ruhe 
lassen.  Woran  kann  man  deine  Kinder  erkennen?  fragte  der  Habicht.  —  Daran, 
dass  sie  die  schönsten  sind,  gab  sie  zur  Antwort.  Lange  flog  nun  der  Habicht 
umher  und  suchte  seine  Nahrung,  bis  er  einmal  den  kleinen  Eulen  begegnete. 
Da  sie  aber  sehr  hässlich  waren,  frass  er  sie  auf.  Seitdem  fliegt  die  Eule 
nicht  bei  Tage,  sondern  nur  in  der  Nacht  herum,  aus  Scheu,  dass 
man  sie  verhöhnen  könnte. 

Man  sieht,  wie  die  Fabel  zur  Natursage  geworden  ist.  Das  Motiv 
der  Feindschaft  der  Vögel,  die  die  Eule  verfolgen,  kommt  in  zahlreichen 
Volksüberlieferungen  vor,  und  oft  dient  es  —  genau  so  wie  hier  —  zur 
Begründung  des  lichtsclieuen  AVeseus  der  Eule.  In  weiterem  Zusammen- 
hang sind  auch  alle  die  Sagen  zu  nennen,  die  sich  mit  den  Ursachen  der 
Lebensweise  der  Tiere  beschäftigen.  Sie  bevorzugen  namentlich  die 
Scheuen,  die  Gespenstigen,  wie  denn  überhaupt  das  Ungewöhnliche  in  der 
Natur  weitaus  den  meisten  Sagenstoff  geliefert  hat. 

Blicken  wir  von  hier  aus  noch  einmal  auf  unseren  Ausgangspunkt, 
auf  die  Fabel  von  Zeus  und  dem  Affen,  zurück,  so  liegt  die  erstaunliche 
■Wandelbarkeit  dieses  Gegenstandes  deutlich  vor  Augen.  Hätten  wir  nicht 
die  vermittelnden  Glieder,  man  könnte  zweifeln,  ob  die  polnische  Natur- 
sage wirklich  äsopischer  Herkunft  sei.  Aber  bei  aller  Sagenforschung 
muss  man  an  dem  Grundsatz  festhalten,  dass  Verwandtschaft,  sei  sie  auch 
noch  so  fern,  immer  dann  bestellen  kann  (nicht  muss),  wenn  der  Grund- 
gedanke oder  das  Hau})tmotiv  gemeinsam  ist. 

Wie  frei  aber  mit  diesem  Hauptmotiv,  der  Affenliebe,  verfahren 
wurde,  erhellt  auch  aus  einer  zweiten  Sagenform,  die  in  ihrem  Kern 
ebenfalls  zu  Zeus  und  dem  Affen  gehört,  die  aber  in  selbständiger  Weiter- 
entwicklung eine  neue  Sagenkette  hervorgebracht  hat.  Es  ist  eine  Form, 
die  weit  mehr,  als  die  vorige,  den  Einflüssen  der  Naturdeutung  ausgesetzt 
war  und  darum  als  Typus  solcher  Wandlungen  gelten  darf. 


1)    Zbiör  wiad.  do  anthrop.  krajowej.  ö,  1;U  Nr.  17.     Stan.  Ciszewski,  Krakowiacy  1. 
Nr.  274. 


I ,  Dülinliardt : 

ßei  Udo  von  Sheiriugton  lieisst  es'): 

Als  die  Tiere  einmal  eine  Versaminiung  halten,  schici<te  die  Kröte  ihren 
Sohn  hin,  doch  vergass  er  seine  neuen  Schuhe.  Da  berief  sie  den  Hasen, 
weil  er  so  gut  laufen  kann,  zu  sich  und  trug  ihm  für  guten  Lohn  auf,  ihrem 
Sohne  die  Schuhe  zu  bringen.  Der  Hase  fragte:  Wie  kann  ich  ihn  in  solcher 
A'ersammlung  herausfindony  Die  Kröte  erwiderte:  Der,  der  am  schönsten  ist 
unter  allen  Tieren,  ist  mein  Sohn.  —  Etwa  die  Taube  oder  der  Pfau?  sprach  der 
Hase.  —  Keineswegs,  war  die  Antwort,  da  ja  die  Taube  einen  schwarzen  Leib 
und  der  Pfau  hässlicho  Füsse  hat.  —  Wie  sieht  also  dein  Sohn  aus?  -  Die 
Kröte  sagte:  Wer  einen  solchen  Kopf  hat,  wie  ich,  solchen  Bauch,  solche  Beine, 
solche  Füsse,  das  ist  der  schönste:  mein  Sohn.  Und  dem  übergib  die  Schuhe!  — 
Der  Hase  kommt  mit  den  Schuhen  hin  und  erzählt  dem  Löwen  und  den  anderen 
Tieren,  wie  die  Kröte  ihren  Sohn  allen  übrigen  vorziehe.  Der  Löwe  sagt:  Ky 
crapaud  aymc,  hi  lune  ly  semble.     Si  quis  amat  ranam,  ranam  putat  esse  Dianam. 

Es  ist  klar,  dass  der  Kerniiihalt  noch  iiniiier  der  gleiche  ist,  wie  in 
der  ersten  Sageurcihe,  die  mit  der  Fabel  vom  Affen  beginnt.  Mit  der 
durch  Abstemius  überlieferten  Fassung  stimmen  sogar  Einzelheiten  überein. 
Man  vergleiclie 

bei  Abstemius:    Qua  forma,  inquit  aquila,  sunt  filii  tui? 

Qua  ego  suni,  bubo  respondit. 
bei  Odo:  l)i.\it  lepus:  qualis  igitur  est  filius  tuus? 

Dixit  bufo:  qui  tale  caput  habet,   quäle  est  meum,  talem  ventrem  usw. 

Das  ist  "im  grossen  und  ganzen  dasselbe.  Ein  Unterschied  liegt 
eigentlich  nur  —  in  einem  einzigen  Buchstaben.  Wir  haben  jetzt  bufo, 
die  Kröte,  statt  bubo,  der  Eule.  Ist  das  ein  neckischer  Zufall,  oder  darf 
man  nicht  vielmehr  annelimen,  dass  hier  eine  Verweclishuig  stattgefunden 
habe?  In  diesem  Falle  wäre  also  eine  von  beiden,  die  Kröte  oder  die 
Eule,  bloss  durcli  einen  Fehler  zur  Sagenfigur  geworden.  Indessen  muss 
man  einräumen,  dass  auch  das  so  häufig  bemerkbare  Streben  nach  Ab- 
vveciislung  den  Persouentausch  herbeigeführt  haben  kann.  Wenn  nun  des 
weiteren  nicht  die  Kröte  selbst,  sondern  nur  die  Erzählung  ihrer  Einfalt 
belacht  wird,  so  schwäclit  das  zwar  die  ^Virkung  ab,  andererseits  gibt 
die  Einführung  einer  neuen  Person,  des  Hasen,  der  Handlung  melir 
Leben  und  Fülle. 

Diese  Rolle  des  Überbringers  hat  in  der  Volksüberlieferuug  die 
törichte  Mutter  selbst,  so  dass  sie  auch  selbst  falso  wie  in  der  ersten 
Sagenreihe)  verlacht  wird. 

In  einer  kleinasiatischen  Variante^)  fehlt  freilieli  dieser  letzte  Zug, 
aber  sie  muss  hier  erwähnt  worden,  da  sie  ein  wichtiges  Glied  in  der 
Entwicklungskette  bildet.     Sie  erzählt: 

1)  Ernst  Voigt,  Kleinere  lat.  Denkmäler  der  Tiersuge  1S79  S.  114;  auch  Hervioui  •_', 
(;i)-l  =  Wriglit,  Latin  stories  app.  .j.S,  doch  cnthaltcu  beide  die  Szene  vor  dem  Löwen 
nicht,  die  durch  die  oben  erwähnte  Sagonform  (Affe  vor  dem  Löwen)  bestätigt  wird. 

2)  Gcorgeakis  et  Pineau,  Le  folk-lorc  de  Lesbos  1801  p.  98. 


Beiträge  zur  vergleichenden  Sagenforschung.  7 

Die  Vögel  und  andere  Tiere  schicliten  ihre  Kleinen  zur  Schule,  und  die 
Mütter  brachten  ihnen  mittags  zu  essen.  Einmal  hatte  das  Rebhuhn  keine  Zeit  hin- 
zuo-chen,  und  da  sie  gerade  ihre  Nachbarin,  die  Schildkrüte,  bemerkte,  bat  sie 
diese,  an  ihrer  statt  das  Frühstück  mitzunehmen.  Sehr  gern,  sagte  die  Schild- 
kröte, aber  leider  kenne  ich  ja  deine  Kleinen  nicht.  —  Sieh  dir  alle  genau  an, 
erwiderte  das  Rebhuhn;  die  schönsten,  das  sind  die  meinigen.  Die  Schildkröte 
nahm  also  das  Frühstück  des  Rebhuhns  und  ging  zur  Schule.  Dort  sali  sie  sich 
rechts  und  links  um,  —  keins  der  Kinder  war  schöner,  als  ihre;  und  sie  gab 
ihnen  nicht  nur  ihr  eigenes  Frühstück,  sondern  auch  noch  das  des  Rebhuhns. 
Die  Rebhuhnkinder  mussten  für  diesmal  hungern. 

Sehen  wir  von  dem  modernen  Aufputz  dieser  niedlichen  Geschichte 
ab  und  vergleichen  wir  sie  mit  der  Fabel  bei  Odo,  so  ergibt  sich  die 
Übereiustimmung,  dass  eine  vergessene  Sache  dem  Kinde  nach- 
gebracht wird.  Dabei  kommt  die  Lächerlichkeit  der  Affenliebe  zutage. 
Wenn  das  Verlachen  der  Mutter  hier  nicht  mit  erwähnt  ist,  so  findet  es 
sieh  wiederum  in  einer  nahe  verwandten  Legende  der  Aromunen^),  die 
aber  andererseits  eine  neue  und  nicht  nnerhebliclie  N'erschiedenheit  auf- 
weist: sie  lässt  die  Jungfrau  Maria  auftreten  und  fügt  die  natur- 
geschichtliche Pointe  hinzu. 

Die  Mutter  Maria  sass  neben  dem  Ausgang  der  Schule,  um  ihrem  Sohne 
einen  Kuchen  zu  bringen.  Sie  forderte  die  Schildkröte  auf,  ihn  dem  schönsten 
Kinde  in  der  Schule  zu  geben.  Jene  sah  sie  allesamt  an  und  gab  ihn  ihrem 
eigenen  Sohne.  Da  mu.sste  Maria  lachen  und  sagte:  Jede  Mutter  hält  doch  ihr 
Kind  für  das  schönste.  Weil  du  aber  trotz  meines  Unglücks  mich  zum  Lachen 
gebracht  hast,  sollst  du  in  Zukunft  im  schönsten  Grase  leben,  und  deine  Gebeine 
sollen  nicht  verwesen. 

Nahe  verwandt  ist  ferner  eine  mazedonische  Ijogende"),  die  die 
Entstellung  der  Seidenraupe  erklärt: 

Die  Mutter  Maria  traf  auf  dem  Wege  zur  Schule,  wo  sie  das  Brot  zum 
Abendmahl  austeilen  wollte,  die  Schildkröte.  Sie  beauftragte  das  Tier,  für  sie  zur 
Schule  zu  gehen  und  den  Kindern  dort  das  Brot  zu  spenden.  Die  Schildkröte  tat 
es,  hob  aber  das  schönste  Stück  Brot  bis  zuletzt  auf  und  reichte  es  ihrem  Sohne. 
Verwundert  fragte  Maria,  warum  sie  so  gehandelt  habe.  Die  Schildkröte  antwortete: 
Das  schönste  Stück  habe  ich  für  den  schönsten  Sohn  bestimmt,  und  dieser  hier 
ist  der  schönste.  Da  musste  Maria  lachen,  aber  sie  bereute  es  bald,  denn  jede 
Mutter  findet  bekanntlich  keinen  Sohn  schöner  als  den  eigenen.  Voll  Abscheu 
gegen  das  Lachen  spuckte  sie  aus,  und  ihr  Speichel  wurde  zur  Seiden- 
raupe. Maria  sagte  zu  ihr:  Laub  sollst  du  essen  und  Seide  hervorbringen.  Man 
darf  dieses  Tier  nicht  schimpfen,  noch  anrühren,  noch  darf  man  reden,  wenn  es 
Seide  fertigt,  denn  sonst  stirbt  es  sofort. 

Diese  beiden  Legenden  erkennt  man  leicht  als  ein  Gemisch  nicht 
zusammengehöriger  Bestandteile.     Und  zwar  sind  dies: 

1.  Sagen  von  Maria  und  der  Kröte,  der  sie  wünscht,  niemals  zu 
verwesen,  sondern  zu  verdorren. 


1)  Papahagi,  Liiu  liter.  poporaua  a  Aronünilor  ISKHt  S.  7Ü9. 

2)  Marianu,  Insectele  190.3  S.  2&). 


8  Dähnliardt: 

a)  Maria  zieht  voll  Schmerz  um  den  Gekreuzigten  des  Weges  und  trifft  eine 
Kröte,  deren  zwölf  Söhne  von  einem  Rade  zermalmt  sind.  Die  Kröte  sagt:  Weine 
nicht  um  den  einen!  Auch  ich  weine  nicht  um  meine  zwölf.  Die  Jungfrau  ver- 
flucht die  Gefühllose.     (Ungarisch').) 

b)  Als  der  Herr  Jesus  gekreuzigt  war,  ging  ein  Bauer  auf  die  Wiese,  um  zu 
mähen,  und  aus  Mutwillen  mühte  er  vier  kleinen  bVöschlein  die  Köpfe  ab.  Da 
geschah's,  dass  die  hl.  Jungfrau  in  grosser  Betrübnis  über  den  Tod  ihres  Sohnes 
durch  die  Wiese  schritt,  und  als  die  Muttor  der  Frösche  sie  erblickte,  sprach  sie 
zu  ihr:  0  Frau,  bekümmere  dich  nicht;  sieh  mich  an!  Ich  hatte  vier  Kinder,  und 
der  Bauer  hat  sie  mir  weggemäht.  Die  Mutter  Gottes  war  dem  Frosch  für  diesen 
Trost  dankbar  und  sprach  zu  ihm:  Weil  du  so  gut  warst  und  mich  in  meinem 
Kummer  tröstetest,  wird  deine  Nachkommenschaft  niemals  verwesen.  (Polnisch-).) 
(Hier  ist  also,  wie  in  der  Legende  derAromunen,  Marias  Wunsch  nicht 
als  Fluch  aufgefasst.) 

c)  Maria  trifft  eine  Kröte,  die  den  Tod  ihrer  neun  vom  Rade  zermalmten 
Söhne  beklagt,  und  bittet  sie,  ihr  die  Toten  zu  zeigen.  Bei  dem  Anblick  der 
Toten  ekelt  sich  Maria  dermassen,  dass  sie  die  Kröte  anspuckt  und  sie  ver- 
wünscht: Du  sollst  nicht  verwesen.     (Rumänisch').) 

"2.  Die  Sage  von  der  Schildkröte  iiml  der  Entsirlmiij;  «lor  Seideii- 
würmer. 

Als  man  Christus  zum  Kalvarienberg  führte,  folgte  ihm  seine  Mutter  Maria 
klagend  und  weinend.  Auf  dem  Wege  sah  sie  eine  Schildkröte,  und  da  lächelte 
sie.  Aber  bald  bereute  sie  das  Lächeln,  und  sie  verwünschte  sich  selbst  und 
sagte:  Möge  doch  mein  Mund  Würmer  bekommen!  Kurz  danach  spuckte  Maria 
aus,  und  was  erblickte  man?  Aus  ihrem  Munde  kamen  Würmer,  das  waren  die 
Seidenwürmer,  die  bis  heute  existieren.'')  (Hier  findet  sich  also  das  Motiv  des 
Bereuens  und  Ausspciens  wieder,  das  schon  oben  begegnete.) 

Ein  Überblick  über  diese  Mariensagen  zeigt,  dass  sie  in  die  Sage  von 
der  zur  Schule  wandernden  Schildkröte  eingedrungen  sind.  liieriier  gehört 
übrigens  noch  eine  polnische  Sage"),  die  mir  sehr  altertümlich  klingt, 
und  die  zu  der  Yermutung  Anlass  geben  könnte,  dass  alle  diese  Marieu- 
sagen erst  eine  späte  Verchristlichnng  älterer  Traditionen  seien.    Sie  lautet: 

Sieben  Jahre  wehte  der  Wind  nicht,  als  der  Sohn  ihm  starb,  so  dass  die 
ganze  Welt  mit  Spinnweben  überdeckt  war  und  jede  Kreatur  Mühe  hatte,  zu  atmen. 
Er  war  beständig  voll  Trauer,  und  niemand  konnte  ihn  erheitern,  bis  endlich 
einmal  ein  Hahn  zum  Winde  kam  und  ihm  sagte,  dass  ihm  alle  Tage  hundert 
Söhne  stürben,  und  er  deshalb  doch  nicht  bekümmert  sei.  Und  er 
sprang  auf  den  Zaun  und  krähte  freudig  Kikeriki,  bis  der  Wind  lächelte. 
Seitdem  begann  der  Wind  weiter  zu  wehen.  (Die  Auffassung,  dass  die  Worte 
des  Hahnes  zum  Tröste,  nicht  zum  Abscheu  gereichen,  war  schon  in  der  obigen 
polnischen  Variante  auffällig.) 


1)  Oben  l:i,  74  ^  Magyar  Nyclviir  5,  ö7ü. 

2)  Zbiur  wiad.  d.  anthrop.  kriij.  7,  HC  Nr.  3;!. 

;!)  Sezatoarea  ."i,  3G.     Zs.  f.  öslorr.  Volkskandc  '.i,  172. 

4)  Revue  des  trad.  pop.  S,  284  =  Mariunu,  Inscctolo  S.  28<>,  Variante  =  Politis, 
MeXhat  Nr.  330.  Fast  wörtlich  gleich  Strausz,  Die  Bulgaren  S.  85  (nach  Sapkarcv, 
Narodni  starini  o). 

5)  A.  Pleszczynski,  Bojarzy  mifdzyrzcccy  lf>3,  Nr.  4  (Warschau  18!»3). 


Beiträge  zur  vergleichenden  Sasenforschimg.  9 

Es  ist  ein  langer  Weg  von  Zeus  und  dem  Att'en  bis  zu  Maria  und 
den  Seidenwürmern.  Er  hat  uns  gelehrt,  dass  das  Eindringen  märchen- 
hafter Elemente  in  die  Fabel  diese  selbst  zum  Märchen,  oder  besser  zur 
Natursage  macht.  Und  er  hat  uns  gelehrt,  dass  solche  fremden  Elemente 
»eradezu  eine  Sagengabelung  herbeiführen  können,  indem  die  grenzen- 
lose Willkür  der  Phantasie  nach  auseinauderstrebenden  Richtungen  schweift. 
Aber  mehr  noch,  vielleicht  das  Beste:  er  hat  uns  die  Macht  eines  unbe- 
kannten Genius  gezeigt,  der  unter  dem  Namen  des  Asop  durch  die  Jahr- 
tausende hindurcli  anregend  und  gestaltend  zu  wirken  vermochte.  Man 
hat  sehr  viel  Fleiss  und  Scharfsinn  auf  die  literarische  Geschichte  der 
äsopischen  Fabel  im  Mittelalter  verwendet.  Ich  meine  aber:  wer  Äsops 
Einfluss  auf  das  Geistesleben  Europas  in  seinem  ganzen  Umfang  ermessen 
will,  der  muss  auch  die  Fäden  aufweisen,  welche  die  Volksschichten  mit 
dem  Altertum  verbinden,  der  darf  an  diesen  ihren  Sagen  nicht  achtlos 
vorübergehen.  Die  Fülle  der  auf  Äsop  zurückweisenden  Überlieferungen 
kann  man  aus  einem  einzigen  Beispiel  freilich  nur  aiuien.  Zur  Ergänzung 
niö<>e  daher  noch  das  Fortleben  einer  zweiten  äsopischen  Fabel  beleuchtet 
werden. 

2.  Die  Hasen  und  die  Frösche.^) 

Die  Fabel  von  den  Hasen  und  Fröschen  berichtet,  dass  die  Hasen  in  der 
beschämenden  Erkenntnis  ihrer  Furchtsamkeit  und  Schwäche  den  Beschlnss  fassen, 
sich  zu  ertränken.  Als  sie  an  ein  Ufer  kommen,  an  dem  Frösche  sitzen,  springen 
diese,  von  dem  Lärm  der  herannahenden  Menge  erschreckt  in  das  Wasser.  Darauf 
wendet  sich  einer  der  Hasen  zu  den  übrigen  und  ermahnt  sie  zur  Umkehr,  denn 
andere  Tiere  seien  ja  noch  schlimmer  daran,  als  sie. 

Diese  Fabel  hat  sich  nicht  nur  einer  weiten  literarischen  Verbreitung") 
erfreut,  sondern  auch  andauernder  Beliebtheit  in  der  mündlichen  Erzählung, 
wo  sie  zunächst  natürlich  in  einer  Form  fortlebte,  die  der  äsopischen 
gleich  oder  nahekommt.  Von  den  nur  nahekommenden  führe  ich  eine 
kleinrussische')  Version  an,  die  nur  von  einem  Hasen  handelt,  von 
dem  gemeinsamen  ßeschluss  also  nichts  weiss.     Sie  erzählt: 

Der  Hase  dachte  bei  sich:  Ich  bin  der  schwächste  von  allen  auf  der  Welt, 
vor  allem  muss  ich  mich  fürchten.  Wenn  nur  ein  Vogel  flattert,  hab  ich  Angst. 
Lieber  ertränk  ich  mich.  Er  geht  also  nach  dem  Sumpf  und  geht  am  Ufer  ent- 
lang und  sucht,  wo  er  am  besten  ins  Wasser  springen  könne.  Da  sass  ein  B>osch, 
und  plumps!  sprang  er  ins  Wasser.  Oho!  denkt  der  Hase  bei  sich.  So  werd  ich 
mich  doch  nicht  ertränken.  Denn  es  gibt  noch  welche  auf  iler  Welt,  die  sich 
vor  mir  fürchten. 


1)  Halm  Nr.  L>:i7  und  237  b,  danach  Babrius  Nr.  2.').   Phaedrus  app.  2.    Ronmlus  2,  It. 
Hervieux,  Les  fab.  latins  2  an  verschiedeneu  Stellen. 

2)  Oesterley  zu  Kirchhof,  Wendunmuth  7,  I.jS.     Kurz  zu  Waldis  1,  2:'..     Dazu  Pauliii 
Paris,  Mscr.  franQ.  4,  87. 

3)  Öubinsky,  Trudy  1,  Ö5. 


1 0  Dälinliardt  : 

Mit  ilioser  oiler  der  äsopischen  Gestalt  der  Fabel  stimmen  mehrere 
andere')  fast  durchaus  überein.  „Wesentlich  für  die  Verbreitung  dieser 
Fabel  war  die  Einfachheit  des  (iei,'enstandes,  die  Klarheit  des  moralischen 
Grundgedankens,  die  Möglichkeit,  ihn  jeweilig  didaktisch  zu  verwerten. 
Bei  Äsop  ist  die  Folgerung  die,  dass  man  bei  persönlichem  Unglück  dessen 
eingedenk  sein  soll,  dass  es  noch  unglücklichere  Menschen  gibt.  Oder, 
wie  es  Mickiewicz  (Poezye  2,  IW2)  ausdrückt:  es  hat  jeder  seineu  Frosch, 
der  vor  ihm  flieht,  und  seinen  Hasen,  der  ihn  fürchtet."")  Aber  es  ist 
doch  nicht  immer  die  Moral  gewesen,  die  der  Fabel  ihre  Unsterblichkeit 
verliehen  hat.     Eine  französische')  Fassung  lautet  nämlich  so: 

Da  die  Hasen  von  aller  Welt  und  auch  von  den  Tieren  schlecht  angesehen 
wurden,  versammelten  sie  sich  eines  schönen  Tages  und  sprachen  untereinander: 
Wir  müssen  uns  ertränken.  Als  sie  an  einen  Sumpf  kamen,  tauchten  die  Frösche 
unter,  die  sie  gehört  hatten.  „Es  gibt  doch  noch  Tiere,  die  uns  fürchten'',  sprachen 
sie  und  begannen  sich  dabei  anzusehen  und  so  sehr  zu  kichen,  dass  sich  «eit- 
dcm  ihr  Maul  gespalten  hat. 

Wie  man  sieht,  ist  der  Entschluss  der  Hasenversammlung,  die  ge- 
meinsame Flucht  und  der  Schrecken  der  Frösche  völlig  wie  in  der 
griechischen  Urform  erhalten.  Aber  das  Knde  ist  märchenhaft  und  lenkt 
ab  von  der  lehrhaften  Idee.  Das  (ileiche  linden  wir  in  anderen  Beispielen  *) 
flögen  sie  auch  bisweilen  nur  von  einem  Hasen  berichten  oder  dessen 
T.ebensinüdigkeit  auslassen,  in  der  Hauptsache  stimmen  sie  überein:  in 
dem  willkürlieh  gewählten  Schlusrs  der  ätiologischen  Spielerei.  Denn  mehr 
als  eine  witzige  Spielerei,  eine  gefällige  Arabeske  ist  dieser  Einfall  doch 
wohl  nicht.     Eine  kleine  Abweichung  zeigt  folgende  estnische  Variante";: 

Als  der  Hase  einmal  flüchtete,  erschreckte  er  durch  seine  Hast  eine  Herde 
Schafe  so,  dass  sie  auseinanderstob.  Diese  Furcht  vor  einem  Hasen  kam  dem 
Hasen  selbst  so  komisch  vor,  dass  er  in  ein  unmässiges  Gelächter  ausbrach,  wo- 
von ihm  die  Oberlippe  platzte. 

Diese  Form  entfernt  sich  etwas  weiter  von  Asop,  insofern  sie  von 
Schafen  erzählt,  ausserdem  wieder  von  nur  einem  Hasen  und  von  dem 
geborstenen  Maul.  Sie  hat  sich  offenbar  nicht  unmittelbar  aus  der  Ur- 
gestalt  der  äsopischen  Fabel  entwickelt,  sondern  aus  einer  zwischen  beiden 
vermittelnden  Form,  wie  sie  in  folgender  russischer  Fassung")  vorliegt: 


1)  Asmus  und  Kuoop,  Sagen  und  Erzählungen  aus  dem  Kroisc  Kolbcrg  und  Körlin 
S.  (IS.  IJIr.  Jahn,  Volkssagcn  S.  449.  Blätter  f.  ponun.  Volksk.  1,  147.  Wallonia  1,  54. 
Kolbcrg,  Lud  8,  238.  Ciszewsky,  Krakowiacy  1,  --'Tl.  Zbiur  wiad.  1,  11  Xv.  ■'<':  T.  IrtO 
Nr.  8.    VercsJagin,  Votjaki  Sosnov.  Kraja  7:«. 

'2)  leb  entiiclime  dies  der  .■Vbliandliing  von  Sunicov  iibor  den  llason  in  ilor  Volks- 
überliefcrung,  Etiiograf.  Obozrinic  10,  ti'.)  - S.j. 

;l)  Revue  des  trad.  pop.  10,  57G. 

4i  Kevue  des  trad.  pop.  f.,  :J15.  Rolland  1,  87.  Mout  cn  Cock,  Vlaanischc  Vertelsels 
1898S.  9.j.    Rond  den  Heerd  1,  31)8. 

.'»)  Wiedoniann,  Aus  dem  inneren  und  äusseren  Leben  der  Ehsten  !'^7(i  8.  I.'il. 

(!)  Etnogral.  Shornik  li  (18(!l)  Abt.  I,  .'ä. 


Heiträgc  zur  vei-j.'leichen(lün  Sagenforschmii;-.  l\ 

Der  Hase  lief,  um  sich  in  Verzweiflung  zu  ertränken.  Was  bin  ich  un- 
glücklich, sprach  er.  Mir  ist  am  elendesten  auf  der  Welt.  Ich  fürchte  alle,  und 
mich  fürchtet  niemand.  Da  erblickte  ihn  eine  Herde  Schafe  und  ergriff  die  Flucht. 
Der  Hase   blieb  stehen:  Ach,    so    gibt  es  doch  welche,    die  sich  vor  mir  fürchten. 

Hier  ist  zwar  auch  sclion  von  Schafen  die  Rede,  aber  noch  nicht  von 
der  gespaltenen  Lippe.  Auch  fehlt  nicht,  wie  oben,  die  Absicht  des  Er- 
tränkens.  Sobald  nun  die  Naturdeutung  sich  der  Fabel  bemächtigt  hatte, 
war  es  leicht  möglich,  dass  der  so  veränderte  Stoff  ein  noch  bunteres 
Aussehen  erhielt.  Märchenhaft,  wie  die  Ätiologie  einmal  ist,  verbindet 
sie  sich  mit  dem  Märchen  vom  Wettlauf  zwisclien  dem  Hasen  und  der 
Schnecke.')  Der  Hase,  nachdem  er  die  Wette  verloren,  will  ins  Wasser 
gehen,  sielit  aber  die  Angst  der  Frösche  und  lacht,  dass  ihm  die  Lippen 
platzen.^)     Aber  es  entstanden  auch  Erweiterungen  von  innen  heraus. 

1.  Die  Hasen  kamen  einst  zusammen  und  überlegten  miteinander,  dass  sie 
weglaufen  wollten,  dioweil  sie  vor  allen  Tieren  flüchten  müsstcn.  Als  sie  nun  so 
im  Laufen  waren,  t;elangten  sie  an  eine  Brücke,  darauf  sass  gerade  ein  Frosch, 
der  wurde  bange  vor  ihnen  und  sprang  von  der  Brücke  und  kroch  hinunter.  Als 
die  Hasen  seine  Angst  sahen,  sprachen  sie  zueinander:  'Nun  wollen  wir  bleiben!' 
und  fingen  an  zu  lachen,  dass  ihnen  das  Maul  offen  barst.  Seitdem  haben  alle 
Hasen  ein  geborstenes  Maul.  Der  Frosch  aber  sass  unter  der  Brücke  und  wagte 
sich  nicht  wieder  weg,  solange  bis  einmal  ein  dicker,  schwerer  Kerl  hinüberging. 
Der  trat  auf  den  Frosch,  dass  ihm  der  Rücken  zerbrach.  Seit  der  Zeit  haben 
alle  Frösche  den  Rücken  zerbrochen.     (.4us  Oldenburg.)-') 

2.  Einstmals  trafen  sich  Fuchs  und  Hase.  Der  Fuchs  sagte  verächtlich  zum 
Hasen:  'Dich  fürchtet  doch  niemand!'  —  'Wer  fürchtet  dich  denn?'  fragte  der 
Hase.  —  'Mich  fürchtet  jedermann',  meinte  der  Fuchs.  'Ich  besitze  einen  langen 
Schwanz,  deshalb  hält  man  mich  aus  der  Ferne  für  den  Wolf  und  fürchtet  mich. 
Aber  dich  fürchtet  doch  niemand!'  —  'Lass  uns  eine  Wette  eingehen',  sagte  der 
Hase,  'ich  werde  dir  zeigen,  dass  auch  ich  gefürchtet  bin.'  —  Danach  wandelten 
die  beiden  miteinander  dahin,  da  erblickte  der  Hase  eine  Herde  Schafe,  die  hinter 
einem  Zaune  ruhte.  Mit  einem  Satze  sprang  er  mitten  unter  sie.  Im  blinden 
Schrecken  darüber  stoben  die  Schafe  auseinander,  so  schnell  sie  nur  irgend  konnten. 
Der  Hase  war  überglücklich,  seine  Wette  gewonnen  zu  haben,  und  fing  an  zu 
lachen  und  lachte  so  unbändig,  dass  ihm  das  Mäulchen  kreuzweise  zerriss.  Von 
der  Zeit  an  tragen  alle  Hasen   die  Lippen  kreuzweis  gespalten.     (Aus  I'innland.)'') 


1)  Revue  des  trad.  pop.  G,  'Ml. 

'2)  Die  Ausschmückung  des  Wettlaufmärchens  durch  Ätiologie  ist  ein  Thema  für  sich. 
Hier  will  ich  nur  ein  lettisches  Märehen  (aus  Lerchis-Puschkaitis  5, 59)  anmerken,  das  kaum 
bekannt  sein  dürfte:  Der  Igel  will  den  Hasen  anführen  und  wettet  mit  ihm,  wer  schneller 
laufen  könne.  Wenn  der  Igel  verliere,  will  er  zehn  Stachel  aus  seinem  Pelz  hergeben; 
verliert  der  Hase,  so  soll  ihm  der  Igel  ebensoviele  Haare  aus  dem  Schnurrbart  raufen 
dürfen.  Der  Hase  unterliegt  infolge  der  bekannten  List.  „Der  Igel  riss  dem  Hasen  zehn 
Barthaare  aus  und  steckte  fünf  seinem  Bruder  und  fünf  sich  selbst  an  die  Lippen.  Seit- 
dem haben  alle  Igel  solche  Hasenbärte  au  den  Lippen." 

3)  Strackerjan,  Aberglaube  und  Sagen  aus  dem  Herzogtum  Oldenburg  2,  9;!. 

4)  E.  Schreck,  Finnische  Märchen  1887  S.  22S. 


12  Üäliiiliaidt: 

."3.  Ganz  frei  ist  das  Motiv  vom  Hasen,  der  über  den  Frosch  lacht,  in  einer 
niederländischen  Variante')  verarbeitet.  Der  Hase  wäscht  sich  an  einem  Bache 
Pfoten  und  Maul,  kämmt  sich  die  Haare  und  spiegelt  sich.  Ein  Frosch  kommt 
darüber  zu  und  lacht  ihn  regelrecht  aus.  Der  Hase  wird  wütend  und  gibt  dem 
Frosch  einen  so  gewaltigen  Schlag  mit  der  Pfote,  dass  dieser  halbtot  hinfällt. 
Wie  nun  der  Spötter  so  daliegt,  quakt  und  zappelt,  bricht  der  Hase  in  ein  solches 
Gelächter  aus,  „dat  zijnc  lippo  spieet". 

Die  Frage,  woher  dieser  ätiologische  Schluss  in  die  äsopische  Fiibul 
liiueingerateu  ist,  lässt  sich  vielleicht  durch  den  Hinweis  auf  andere  Natur- 
sagen lösen,  die  denselben  Sciiluss  aufweisen.  Je  öfter  wir  iliesen  an- 
treffen, je  klarer  zeigt  sicii's,  dass  diese  Ätiologie  sich  dem  Märchen- 
erzähler als  etwas  Reizvollos  aufdrängte,  dass  sie  gleichsam  in  der  J^uft 
lag,  und  man  nur  danach  zu  greifen  brauclite,  um  sie  für  irgend  eine 
Geschichte,  in  der  der  Hase  vorkam,  zu  verwenden.  Und  so  wurden 
Hase  und  Hasenscharte  auch  da  zusammengebracht,  wo  keine  innere  Not- 
wendigkeit vorhanden  war. 

Die  Belege  für  die  Beliebtheit  gerade  dieses  Naturdeutungsstoffes 
lassen  sich  bei  allen  A'ölkern  nachweisen.  Ich  erwähne  in  raschem 
Überblick: 

1.  Das  Murchen  vom  Hasen,  der  den  vom  Hären  geprellten  Fuchs 
auslacht..  Der  Bär  frisst  ein  Pferd,  das  er  getötet  hat.  Der  Fuchs  kommt  und 
fragt  den  Bären,  wie  er  es  angefangen  habe.  Der  Bär  sagt,  er  habe  sich  mit  den 
Zähnen  an  dem  Schweif  des  sich  sonnenden  Pferdes  angeklammert  und  daran 
gezerrt,  so  dass  das  Pferd  zu  laufen  anfing  und  lief,  bis  es  platzte.  Der  Fuchs 
will  nun  dasselbe  Mittel  versuchen.  Das  Plerd  setzt  sich,  den  Fuchs  am  Schweife, 
in  Galopp.     Der  Hase  lacht  sich  die  Lippen  entzwei.-) 

•2.  Die  Sage  vom  Ursprung  des  Todes,  in  der  der  Hase  eine  Bolschaft 
des  Mondes  an  die  Menschen  falsch  ausrichtet.  Der  Mond  wird  zornig  und  schlägt 
ihm  mit  einem  Beil  die  Hasenscharte.^)  Auch  hier  ist  die  Spaltung  der  Lippe 
ein  willkürlich  gewählter  Schluss,  wie  die  Vergleichung  mit  anderen  Märchen 
derselben  Gruppe  ergibt.*) 

3.  Das  Cherokesenmärchen  von  dem  Kaninchen,  das  den  Feuer- 
stein tötet.")  Es  trieb  ihm  einen  scharfen  Keil  in  den  Leib,  so  dass  es  einen 
lauten  Knall  gab  und  die  einzelnen  Stücke  umhcrilogen  (wovon  die  vielen  Feuer- 
steine kommen).  Ein  solches  Stück  traf  das  Kaninchen  an  der  Lippe  und  erzeugte 
die  Scharte. 

1)  Joo.-;.  Vcrlolscls  "J,  SG. 

2)  Krohn,  Här  (Wolf)  und  Fuchs  1888  S.  70  mit  Varianten  und  Parallelen. 

:5)  IJleek,  Reineke  Fuchs  in  Afrika  1870  S.  Ü5.  Derselbe,  A  brief  account  of  Bushman 
Folklore  187.')  S.  !).  Wood,  De  onbcscliaafde  volken  1,  :V22.  A.  Seidel,  Geschichten  und 
Lieder  der  Afrikaner  S.  14ö. 

■1)  .IiHiod,  Chants  et  contes  des  Basronga  1S'.I7  S.  IM.  Block,  Reineke  Fuchs  S.  öS, 
Anm.  Walhmia  1,  1G4.  Hahn,  Sprache  der  Nama  S.  öl.  F.  Müller,  Grandriss  d.  Sprach- 
wissenschaft (1877)  S.  21.  Büttners  Ztschr.  f.  afrikan.  Sprachen  1,  .'»ü  --  Revue  des  trad. 
|)op.  i,  11  =  Basset,  Contes  d'Afriquo  p.  20'.i.  Vergleichbar  Petitot,  Trad.  indiennes  du 
Canada  Nord  Ouest  p.  IIa. 

öl  Moonoy,  V.K  aiinual  report  of  Ihe  bur.  of  American  Ethnology  to  the  Secr.  of  Ihe 
Smithsonian  Institution  p.  274. 


Beiträge  zur  veigleicliendeii  Sagcnl'oischuug.  13 

4.  Eingehende  Betrachtung  verdient  endlich  ein  lettisches  Märchen.')  Gott 
zürnte  einst  den  Mücken  und  befahl  dem  Hasen,  das  in  einen  Sack  gesammelte 
Ungeziefer  zu  ertränken.  Der  Hase  öffnete  aus  Neugier  den  Sack.  Die  befreiten 
Mücken  drehten  sich  vor  Freude  in  der  Runde,  was  ihnen  seither  zur  Gewohnheit 
ward.  Nachher  will  sich  der  Hase  aus  Gram  ertränken,  aber  ein  Krebs  kneift  ihn 
in  die  Lippe,  die  seitdem  gespalten  ist. 

Zweierlei  kommt  uns  bekanut  vor:  die  Absicht,  sich  aus  Gram  zu 
ertränken,  ist  äsopisch,  die  Hasenscliarte  ist  die  in  Äsops  Fabel  hinein- 
getragene Ätiologie.  Diese  aber,  die  dort  bereits  eine  willkürliche  Zutat 
war,  hat  sich  hier  zum  zweitenmal  und  zwar  mit  einer  ganz  fernliegenden 
Stoffgruppe  verbunden  —  ein  schöner  Beweis  für  ihre  Ausbreitungskraft. 
Es  verlohnt  sich,  jene  Stoffgruppe  ins  Auge  zu  fassen.  Ich  greife  zunächst 
folgende  rumänische")  Sage  heraus: 

Es  war  einmal  eine  sehr  neugierige  Frau,  die  alles  wissen  wollte.  Eines 
Tages  sammelte  Gott  sämtliche  Insekten  der  Welt  in  einen  Sack,  der  gut  zuge- 
bunden war,  licss  die  Frau  kommen  und  befahl  ihr,  den  Sack  ins  Meer  zu  werfen, 
ohne  ihn  aufzumachen  und  hineinzusehen.  Kaum  war  sie  hundert  Schritte  weit 
gegangen,  so  band  sie  den  Sack  auf.  Da  schwirrten  Tausende  von  Insekten  heraus 
und  stürmten  in  Baumhöhlungen  hinein,  ins  Gras  usw-.  Die  Frau  lief  wie  närrisch, 
um  die  Insekten  aufzusammeln,  aber  es  war  vergebens.  Um  sie  zu  strafen,  ver- 
wandelte Gott  sie  in  einen  Specht  und  sagte  ihr,  dass  sie  nicht  eher  wieder  zur 
Frau  werden  würde,  als  bis  sie  alle  Insekten  der  Erde  aufgesammelt  habe. 

Die  Ähnlichkeit  des  Gegenstandes  mit  jener  lettischen  Erzählung  ist 
augenscheinlich.  Anderswo  wird  indes  (und  so  wird  die  Urform  gelautet 
haben)  nicht  von  Insekten,  sondern  von  Gewürm  erzählt,  das  in  dem 
Sacke  verschlossen  war,  und  der  Neugierige  wird  in  einen  Storch  vei- 
wandelt,  der  nun  bis  ans  Ende  der  Welt  die  hinausgekroehenen  Tiere  zu 
sammeln  hat.') 

Am  interessantesten  aber  ist  folgendes  polnische  Märchen'';: 

Der  liebe  Gott  gab  einmal  dem  Reiher  und  dem  Wolf  einen  Sack  Geld.  Um 
ihn  nicht  zu  verlieren,  lieh  der  Wolf  das  Geld  unter  den  Menschen  aus,  der 
Reiher  dagegen  ging  mit  dem  Sack  an  einem  Wasser  vorbei  und  verlor  ihn.  Er 
kehrte  also  zum  Wolf  zurück  und  beklagte  sich  bei  ihm.  Der  Wolf  sagte,  er 
solle  den  Sack  dort  suchen,  wo  er  ihn  verloren  habe.  Darum  geht  der  Reiher 
beständig  am  Wasser  entlang,  indem  er  das  Verlorene  sucht.  Der  Wolf  dagegen 
nimmt  von  den  Menschen  das  Vieh  als  Darlehnszins. 


1)  Aus  der  Saniinhmg  von  Lorchis-  Piischkaitis  1,  171  Nr.  IC'^  mir  freuiidliclist 
mitgeteilt  vo7i  M.  Böhm. 

2)  Revue  des  trad.  pop.  8,  42  =  Marianu,  Ornitologia  1,  81;  vgl.  2,  :i40. 

3)  Dragomanov,  Mal.  narodn.  predaiiia  8  Nr.  26  uud  die  durchaus  ähnliche  Variautc 
im  Etnograf.  Zbiraik  12  Nr.  27  (beide  kleinriissiscli).  W.  N.  .lastrebow,  Materiali  po  ctnogr. 
nowoross.  kraja  18  (Der  Herr  macht  die  Sünden  einer  reuigen  Sünderin  zu  Fröschen  und 
Schlangen.  Sie  trägt  sie  im  Sack  an  den  Fluss.  Eine  neugierige  Nachbarin,  die  ihr 
folgt,  -wird  zum  Storch).  A.  Pleszczyi'iski,  Bojarzy  migdzjrzeccy  155  Nr.  8.  Lettisch: 
Revue  des  trad.  pop.  2,  484.  Varianten  bei  Lerchis  -  Puschkaitis  5,  179  Nr.  69.  7,  11(17 
Nr.  Xr,  m-W;  vgl.  7,  1160f. 

4)  Zbiör  wiad.  d.  antr.  kraj.  5,  125  Nr.  '.K 


14  Däbnliardt: 

Das  Märchen  ist  deshalb  interessant,  weil  es  einem  deutsclien  Tier- 
niävehen  des  Mittelalters  sehr  naiie  steht,  das  wir  aus  einem  Meistergesang 
aus  der  ersten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  kennen.  Wilhelm  tJrimm  hat 
es  in  den  Tierfabeln  bei  den  Meistorsängern  veröffentlicht  und  gibt  seinen 
Inhalt  (S.  ö.  ^S  =  Kl.  Sehr.  4,  :i7\.  391.  400)  in  folgender  Weise  an: 

Wolf  und  Storch  haben  sich  zusanimengctan  und  errichten  eine  Weinschenke. 
Das  Gold  wird  gemeinschiiftjich  eingenommen;  als  aber  der  Gewinn  nach  einem 
halben  Jahr  soll  berechnet  werden,  sieht  es  schlecht  aus:  kaum  die  Hiilfte  der 
Gäste  hat  gezahlt,  das  übrige  steht  auf  Borg.  Der  Wolf  zeigt  sich  grossmütig. 
.,lch  will  auf  meinen  Teil  verzichten",  spricht  er,  „du  sollst  keinen  Verlust  er- 
leiden; lieber  will  ich  erfrieren,  als  dass  man  spräche,  ich  wäre  gewaltsam  um 
dir  verfahren."  Der  Storch  antwortet:  „Ich  niuss  fort  in  ferne  Lande,  liebster 
Geselle.  Gib  mir  das  bare  Geld!  Du  kannst  dafür  die  Schulden  eintreiben. 
Wenn  die  Schuldner  nicht  zahlen  wollen,  so  nimm  ihnen  Gänse,  Kühe,  Schweine 
und  Schafe  und  treib  sie  hinweg!''  „Da  du  so  sehr  nach  dem  Geld  verlangst", 
sagte  der  Wolf,  „so  will  ich  es  dir  ohne  Zaudern  geben."  Er  bindet  es  in  ein 
Tüchlein,  das  er  dem  Storch  um  den  Hals  hängt,  und  das  leicht  über  den  schm.-ilen 
Kopf  geht.  Der  Storch  erhebt  sich  in  die  Luft  und  kommt  auf  seiner  Fahrt  über 
einen  See,  in  welchem  er  eine  Menge  Frösche  erblickt.  Von  Hunger  gequält, 
lässt  er  sich  herab.  Als  er  aber  den  Kopf  ins  Wasser  steckt,  rutscht  das  Tüchlein 
mit  dem  Geld  darüber  hinab  und  sinkt  auf  den  Grund.  Der  Storch  sucht  mit 
seinem  langen  Hals  geraume  Zeit,  doch  vergeblich.  Er  muss  endlich  weiter 
fliegen,  hasst  aber  die  Frösche,  weil  er  ihnen  den  Verlust  des  Geldes 
beimisst.^) 

Wilhelm  Grimm  bemerkt  hierzu  (S.  (i):  „Ganz  geschickt  ist  an  die 
äsopische  Fabel  angeknüpft,  die  den  Storch  zur  Herrschaft  über  die  Frösche 
gelangen  lässt.  "Warum  er  sie  schlecht  behandelt,  wird  dort  nicht  gesagt, 
liier  erfahren  wir  den  Grund  seines  Hasses.  Doch  in  einem  Umstand 
scheint  die  Überlieferung  verderbt:  nicht  der  Wolf  musste  darin  auftreten, 
sondern  der  Fuchs,  mit  dem  der  Storch  elier  in  Gemeinschaft  leben  konnte, 
und  dessen  Natur  es  augemessen  war,  seineu  (gesellen  listig  um  sein  Geld 
zu  bringen,  während  er  sich  dabei  noch  scheinheilig  anstellen  konnte. 
Dem  Fuchs  war  es  ein  leichtes,  die  Schuldner  durch  den  Raub  der  Hühner 
und  Gänse  schon  hinlänglich  in  Schrecken  zu  .setzen.  Der  Wolf  war  dazu 
nicht  nötig.''  Grimms  Urteil  bedarf  der  Berichtigmig.  Die  einfache 
Handlung  des  polnischen  Märchens,  die  am  Schlüsse  nur  das  Suchmotiv 
verwendet,  und  die  übrigen,  auf  dem  gleichen  Motiv  beruhenden  Märchen 
weisen  deutlich  darauf  hin,  dass  in  jenem  Stoff,  den  der  Meistersinger 
bearbeitete,  ursprünglich  keinerlei  Beziehung  zum  Froschkönigmotiv  vor- 
handen war.  In  dem  Meistergesang  erscheint  das  ganz  unvermittelt,  ja 
störend,  weil  man  in  der  Tat  den  Schluss  erwartet:  seitdem  sucht  der 
Storch  den  Sack.  Was  aber  den  Wolf  anlangt,  so  ist  auch  dieser  in  dem 
polnischen  Märchen  und  darum  zugleich  in  dem  deutschen  völlig  einwauds- 

J;  ^Dieselbe  Pointe  hat  Uaii.s  ,->uiIi.->lii.-.  iMiislerlied  "Der  sciilürchet  storch'  von  1.538 
=  Fabeln  und  Schwanke  hsg.  von  Goetzo  uud  DrcBclier  3,  197.) 


Beiträge  zur  vcrglcichemlen  Siigenfoischung.  l,j 

frei.  Denn  iler  polnische  Scbluss,  dass  der  Wolf  seit  jener  Zeit  das  Vieh 
raubt,  beweist,  dass  dies  Märchen  zu  einer  in  Osteuropa  heimischen  Gruppe 
gehört,  die  sich  mit  der  Frage  befasst:  Warum  der  Wolf  rauben  darf,  und 
darauf  die  auffällige  Antwort  gibt:  Gott  liat  es  ihm  erlaubt  (so  wie  hier 
der  Wolf  durch  Gottes  Geld  zum  Gläubiger  der  Menschen  wird,  der 
seinen  Zins  fordern  darf).') 

Dieser  kleine  Exkurs  von  den  Hasen  und  Fröschen  zu  der  Fabel  des 
Meistersingers  ist  nicht  unabsichtlich  gemacht  worden.  Xicht  deshalb,  weil 
unterwegs  ein  Ergebnis  aufzulesen  war,  sondern  weil  er  zeigt,  dass  das 
Ineinandergreifen  der  Märchenniotive  zwar  von  einer  Gruppe  zur  anderen 
füln't,  dass  es  aber  docli  möglich  ist,  zu  einem  klaren  Überblick  über 
Echtheit  und  Unechtheit  zu  gelangen.  Wer  der  Märchenforschung  fern- 
steht, der  glaubt  leicht  an  die  Unmöglichkeit  brauchbarer  Ergebnisse. 
Sicherlich  gleicht  die  Wirrnis  der  Stoffe  und  Motive  dem  Labyrinth,  aber 
wie  Thoseus  sich  am  Ariadnefaden  entlang  tastete,  so  findet  auch  der 
Märchenvergleicher  tastend  den  Weg  ins  Freie,  wo  er  aufatmen  kann. 
Denn  dass  einem  manchmal  der  Atem  vergelit,  wer  möcht  es  leugnen? 

3.    Der  Storch  als  Fro.schkönig.-) 

Da  oben  auf  die  äsopische  Fabel  von  der  Herrschaft  des  Storches 
über  die  Fi'ösche  Bezug  genommen  wurde,  so  darf  im  Vorübergehen  auch 
auf  diese  ein  rascher  Blick  geworfen  werden.  Zwar  kann  icli  hier  die  Ver- 
breitung im  Volksmunde  nicht  nachweisen,  aber  es  verdient  Beachtung, 
dass  die  willkürliche  Ätiologie  diesmal  auch  in  die  Literatur  eingedrungen 
ist.  Bekanntlich  erhalten  die  Frösche,  da  sie  mit  dem  von  Zeus  gesandten 
Klotz  unzufrieden  sind,  den  Storch  als  König,  und  dieser  räumt  nun  unter 
ihnen  auf.  Damit  ist  die  Fabel  zu  Ende,  die  Auflehnung  gegen  Zeus  ist 
bestraft.  Die  ätiologische  Fortsetzung  berichtet  aber,  dass  die  Frösche 
seitdem  immer  aufs  neue  um  einen  anderen  Herrscher  bitten;  das  ist  es, 
was  wir  quaken  nennen.  So  heisst  es  bei  Erasmus  Alberus  Nr.  5  (hrsg. 
von  W.  Braune  S.  29): 

Sie  schreien  auff  den  hcutgeu  tag.  Ihn  wird  kein  ander  nimmermehr. 

Das  jhn  kein  ander  werden  mag,  Der  Jupiter  fragt  nichts  darnoch. 

Dann  wann  der  Storck  ist  schlaffen  gangen,      Wenn  sie  schon  schrien  noch  so  hoch  .  .  . 
So  pflegen  sie  dann  anzufangen  Der  Storck  niuss  nun  jhr  König  bleiben. 

Mit  heiser  stimm  zu  gecken  selir, 


1)  Diese  Auffassung  des  Wolfsrechtes  hängt  wohl  mit  dem  Glauben  an  St.  Georg 
zusammen,  der  als  Patron  der  Wölfe  diesen  Befehle  erteilt,  wo  und  womit  sie  sich  er- 
nähren sollen.  Eine  russische  Redensart  heisst:  Was  der  W'olf  frisst,  hat  ihm  Georg 
gegeben,  und  es  herrscht  der  Aberglaube,  dass  der  Wolf  nicht  ein  einziges  Geschöpf 
erwürgt  ohne  Gottes  Erlaubnis. 

■2)  Aesop  7(j.  Oesterley  zu  Kirchhof,  Wenduumut  7,  157.  Kurz  zu  Waldis  1,  17. 
I  Jacques  de  Vitry,  Exempla  ed.  Grane  Nr.  24.  Wickram,  Werke  4,  92.  Anzeiger  f.  K.  d. 
d.  Vorzeit  1859,  :'.(_;S.l 


16  Englflvt: 

Ebenso  führt  Burkhaiil  WaUlis  (1.  17)  diesen  Gedanken  au>.  Beide 
Dichter  fanden  ilm  bereits  in  ilirer  Quelle,  einer  Fabel  des  Goudanus'), 
liio  ihrerseits  auf  dem  sogen.  Anonymus  Neveleti  beruht,  der  wiederum 
auf  Komuhis  (2,  i)  zurückgellt.  Die  Ätiologie  ist  eigene  Zutat  des  Gou- 
dauus.  Es  iieisst  dort:  „Nam  et  hodie  adliuc  queruntur.  Yesperi  enim 
ciconia  cubitum  eunte  ex  antris  egressae  rauco  ululatu  murmurant,  sed 
surdo  canunt"  etc.  Dieser  naturdeutende  Zusatz  ist  zweifellos  nach  dem 
Vorbild  entsprechender  Volkssagen  gemacht  worden.  Zwei  Gegenstücke 
solcher  literarischen  Ätiologie  liefert  uns  Hans  Sachs,  wenn  er  die  Fabel 
Ton  dem  Jlanne  mit  den  zwei  Frauen,  von  denen  die  eine  ihm  die 
sciiwarzen,  die  andere  die  weissen  Haare  auszupft"),  benutzt,  um  davon 
die  Kahlheit  der  Männer  lierzuloiten,  und  wenn  er  den  Scliwank  von 
Petrus  als  Drescher,  der  zweimal  von  der  Häuorin  gerauft  wird''),  mit 
dem  Einfall  schliesst,  dass  Petrus  seitdem  jene  Glatze  hatte,  mit  der  er 
immer  abgebildet  ist.  Es  tritt  einem  hier  wieder  einmal  die  volkstümliche 
Eigenart  dieses  trefflichen  Nürnbergers  recht  eindrucksvoll  vor  Augen. 
Denn  woher  sonst,  als  aus  ähnlicluni  Volksätiologieu  stammt  diese  herz- 
hafte Frische  des  so  kühn  di'aufgesetzten  Schlusses?  Der  Einfluss  der 
Natursagon  ist  unberechenbar.  Sie  kamen  aus  fühlenden  Herzen,  und 
darum  mussteu  sie  zu  Herzen  gehen.  Darum  drangen  sie  auch  in  die 
Poesie  ein, -aber  nicht  nur  in  Fabel  und  Scliwank,  sondern  auch  in  Jlärclien 
und  Legende.  Die  Ilücksiclit  auf  den  mir  zustehenden  Kaum  zwingt  mich, 
zu  den  Märchen  überzugehen  und  von  ilmeii  einige  Proben  zu  geben. 

Lei])  zig. 

(Fortsetzuii'!:  folgt.) 


Die  menschlichen  Altersstufen  in  Wort  und  Bild, 

Von  Anton  Euglert. 

(Scliluss  zu  Bd.  1.3,  39it— lli.» 


:5.   'Die  zehn  Alter  der  Welt'  von  Martin  Schrot  (1574). 

In  der  Abliaiidhing  über  die  Altersstufen,  die  Goedeke  in  seiner 
Ausgabe  von  Pamphilus  Gengenbachs  Schriften  den  Erläuterungen  zu 
dessen  Zehn  Altern  vorausgeschickt  hat,  weist  er  (S.  578)  auf  eine  Schrift 


1)  In  dem  Bucli:  Fabiiinrum  (piac  lioc  libro  contincutiir  ititorpretes  atquc  autoros... 
1.J16,  fab.  17. 

2)  Kolioausgabc  2,  1,  107  =  Fabeln  uiul  .Sc  liwänkr  ■_',  117.    3,  ,tJ. 

;))  Fabeln  und  Schwiinko  5,  184.     Holte,  Zoitsclir.  f.  vgl.  l.iteraturgoseb.  N.  F.  7,  -153. 
11.  fü".     [Montanus,  Scliwankbiicber  S.  483.] 


Die  menschlichen  Altersstufen  in  Wort  und  Bild.  17 

des  Augsburger  Meistersingers  Martin  Schrot')  hin,  deren   Vorhandensein 

ihm    dureli    den  Katalog  eines  Augsburger  Antiquars  bekannt  war,    die  er 

jedoch    selbst    nicht    zu  Gesicht    bekam. ^)     Ein  Exemplar    derselben   fand 

ich    in    der    hiesigen   Universitätsbibliothek.")     Das  Büchlein    besteht    aus 

2Ü   Blättern  in  4".     Der  Titel  lautet: 

Die  X.  Alter  |  der  weit,  mit  jrem  lauf  |  vnd  aygenschal'ften  erkläret,  |  nach 
dem  Gesatz  gaistlicher  weiß,  |  vnd  in  Reymen  verfaßt,  durch  |  Martin  Schrot,  im  1574.  | 
.lar,  lieblich  zi'i  lesen  |  vnd  hören  !C.  |  1.  Johan.  am  3.  cap.  |  Die  Welt  vergeht  mit  jrem 
glust,  I  wer  aber  Gottes  willen  thüt,  |  der  wirt  bleiben  in  |  ewigkait.  |  Cum  gratia  &  priui- 
legio.  I  Getruckt  zu  Augspurg,  durch  |  Philipp  VUiarf)  —  Rückseite  des  Titelblattes  leer. 
Auf  der  Kiickseite  des  letzten  Blattes  das  Druckerzeichen  des  Verlegers. 

Auf  dem  zweiten  Blatte  beginnt  die  aus  53  Reimpaaren  bestehende 
Vorrede,  deren  Inhalt  in  Kürze  folgender  ist:  Bei  der  Erschaffung  der 
Welt  setzte  Gott  den  Menschen  über  alle  anderen  Wesen.  Dieser  übertrat 
jedoch  Gottes  Gebot  und  brachte  damit  Sünde  und  Tod  über  das  ganze 
Menschengeschlecht.  Dies  möge  uns  zur  Warnung  dienen  und  uns  ver- 
anlassen, nicht  wie  die  in  dem  vorliegenden  Büchlein  dargestellten  Mensehen 
sorglos  und  in  Sünden  daliinzuleben,  sondern  ein  gottgefälliges  jjebeu  zu 
fühi'en,  um  einst  die  ewige  Seligkeit  zu  erlangen. 

Die  Voi-rede  endet  auf  der  Rückseite  des  dritten  Blattes.  Die  nächsten 
41  Seiten  (A4a  bis  F4a)  sind  mit  Holzschnitten  versehen.*)  Der  erste 
stellt  den  Sündenfall  dar.  Dann  folgen  abwechselnd  je  zwei  Bilder  zur 
Versinnbildlichung  einer  Lebensstufe  des  Mannes  und  des  Weibes  und  je 
zwei  Darstellungen  aus  der  Bibel.  Unter  sämtlichen  Holzschnitten  be- 
finden sich  fünf  Reini])aare,  ausserdem  noch  je  ein  Reimpaar  über  elf 
biblischen  Bildern  und  über  allen  Darstellungen  der  Lebensalter.  Auf 
Bl.  F  4b  beginnt  ein  aus  29  Reimpaaren  bestehender  Epilog  'Zum  Be- 
schluss  der  zeheu  Alter',  welcher  Betrachtungen  über  die  Ijasterhaftigkeit 
der  Menschen  und  ihr  Trachten  nach  zeitlichen  Gütern  nebst  einer  Mahnung 
zu    tugendhaftem  Leben    enthält.     Er    schliesst  mit  dem  Verse:    „Das  diß 


1)  Vgl.  über  ilm  Roethe.  ADB.  32,  556  f.  Hierzu  teilt  mir  mein  Freund  Prof.  Dr. 
Fr.  Roth  auf  Grund  eigener  Nachforschungen  im  Augsburger  Stadtarcliiv  folgende  Er- 
gänzungen und  Berichtigungen  mit:  Schrot  war  nicht  in  Augsburg,  sondern  in  München 
geboren  (Riitsdekrete  154G  Bl.  9a  und  1547  Bl.  5Sb:  Martin  Schrot(t)  von  Munichen;,  war 
Uhrmacher,  suchte  1540  ohne  Erfolg  und  1547  mit  Erfolg  um  das  Augsburger  Bürgerrecht 
nach  (ebenda),  lebte,  wie  sieh  aus  der  Geringfügigkeit  des  von  ihm  geleisteten  Steuer- 
beitrags schliessen  lässt,  in  sehr  dürftigen  Verhältnissen  (Steuerbücher  1547  bis  1558)  und 
starb  1557  oder  1558  (in  der  'Steuerbeschreibung'  vom  1(3.  Okt.  1557,  S.  41c  wird  er  noch 
selbst  aufgeführt,  in  der  vom  IG.  Okt.  155S  dagegen  'Martin  Schrots  witib').  Über  Schrots 
protestantische  Tendenzdichtungen  wird  Fr.  Roth  im  :'..  Bande  seiner  Augslmrger  Reforma- 
tionsgeschichte einiges  Neue  bringen. 

2)  Auch  Roethe  blieb  die  Schrift  unzugänglich. 

3)  Dem  Vorstand  und  den  Beamten  dieser  Bibliothek  spreche  ich  aucli  an  dieser 
Stelle  für  ihr  stets  freundliches  Entgegenkommen  meinen  verbindlichsten  Dank  aus. 

4)  Vgl.  über  Ulhart,  ADB.  39,  186f. 

5)  Sämtliche  Holzschnitte  des  Büchleins  sind  in  dem  mir  vorliegenden  Exemplare 
koloriert. 

Zeitsclir.  il.  Vereins  f.  Volkskunde.    1907. 


18  Englert: 

gescliech  wünsclit  Martin  Schrot."  Dann  folgen  noch  Darstcllnnmen  des 
lachenden  Philosophen  Deniokrit  und  des  weinenden  Philosophen  Heraklit 
mit  je  einem  Keimpaar  als  Überschrift  und  fünf  Reimpaaren  unten. 

Die  Anregung  zu  seiner  Dichtung  hat  Schrot  vermutlich  durch 
Gengenbachs  Stück  'Die  .X.  alter  dyser  weit")  erhalten.  Jedenfalls  war 
ihm  dieses  Stück,  von  dem  zwei  der  frühesten  Drucke  in  Augsburg  er- 
schienen^), wohl  bekannt.  Auffallend  ist  zunächst  die  Ähnlichkeit,  welche 
der  Titel  der  Schrotschen  Dichtung  mit  dem  des  Geugenbachschen  Fast- 
nachtspiels aufweist.  Letzterer  lautet^):  'Die  .X.  alter  dyser  weit  Hie 
findt  man  die  zehen  alter  nach  gemainem  lauff  der  wält  mit  vyl  schönen 
hystorien  begryffen,  vast  licplich  zii  läsen  vniid  zu  lioiiMi  seynd.  etc.' 
Die  gesperrt  gedruckten  Worte  finden  sich  fast  ebenso  im  Titel  des 
Schrotschen  Gedichtes.  Auch  in  der  Anlage  erinnert  dieses,  von  der 
nichtdramatischen  Form  und  der  Heranziehung  der  weibliclien  Altersstufen 
abgesehen,  an  das  Gengenbachsche  Stück.  Wie  das  letztere  enthält  es 
einen  Prolog  und  lilpilog,  und  zwar  mit  ganz  ähnlichem  (iedankengang. 
wenn  auch  nirgends  mit  wörtlicher  Anlehnung;  wie  bei  (iengeubach  werden 
die  Lebensalter  durch  Selbstschilderungen  der  fast  bis  zum  Tode  in  Lastern 
dahinlebenden  Vortreter  der  einzelnen  Altersstufen  gekennzeichnet,  und 
ebenso  wie  dort  werden  diesen  Selbstbekenntnissen  fromme  Lehren. 
Mahnungen  Und  Bibelstellen  entgegengehalten,  nur  mit  dem  Unterschiede, 
dass  diese  ebenso  wie  das  Vor-  und  Nachwort  dort  dem  Einsiedler  in  den 
Mund  gelegt  werden,  während  hier  der  Dichter  selbst  s])riclit.  Auch  der 
Hinweis  auf  die  Verführung  der  Dina  durch  Sichern,  den  Schrot  Bl.  B3b 
im  Ansehluss  an  den  Keim  auf  das  zwanzigjährige  .Mädchen  bringt,  ist 
wohl  durch  dun  in  ähnliciieiii  Zusammenhang  vorkommenden  Hinweis  des 
Einsiedlers  bei  (iengeubach  (V.  ■234 ff.)  veranlasst  worden. 

Schrots  Verse  sind  sehr  hölzern,  und  seine  Darstellung  verrät  nirgends 
auch  nur  den  leisesten  Anflug  einer  dichterischen  Begabung,  so  dass  trotz 
der  Seltenheit  seiner  Schrift  ein  vollständiger  Abdruck  derselben  kaum 
ratsam  erscheint.  Ich  teile  deshalb  hier  nur  die  den  bildlichen  Dar- 
stellungen der  Lebensalter  beigegebenen  Verse  nebst  einer  kurzen  Be- 
schreibung dieser  Bilder  mit,  die,  obwohl  etwas  roh,  doch  einige  Gewandt- 
heit in  der  Charakterisierung  der  menschlichen  Gesichter  zeigen. 

A.    Die  männlichen  Altersstufen. 

Holzschnitte.  —  10  J.:  Knabe,  der  mit  dem  Keif  spielt.  Neben  ihm  ein  sprinfj^endt  s 
Geisböckchen.  20  J.:  Stolz  cinlicrschreitendcr  vornehmer  Jüng;ling  mit  Barett  und  Dcgeu, 
die  Rechte  in  gestikulierender  Bewegung  ausgestreckt.  Ihm  zur  Seite  ein  springendes 
Kalb.    30  J.:    Vornehmer  Herr    mit  Dogen.     Neben    ihm   ein  Stier.     tO  J.:    Geliarnischfcr 


1)  Abgedruckt  in  Goedekes  l'aniphilus  Gengenbach  S.  54— 7ü. 

2)  B  und  C.    Vgl.  Boltc  in  G.  Wickrams  Werken  Rd.  .''.  (Tübingen  l!»0:l)  S.  XXIX. 

3)  In    der   ersten  Ausgabe.     Die    hier   in   Frage    kommenden  Worte    kehren    in   den 
späteren  Ausgaben  gleichlautend  wieder. 


Die  menschlichen  Altersstufen  in  Wort  und  Bild. 


19 


mit  Schwert  und  Lanze.  Ihm  zur  Seite  ein  Löwe.  50  J.:  Mann  mit  Geldbeutel  (?). 
Neben  ihm  sitzt  ein  Fuchs.  ISO  J.:  Älterer  Mann,  nachdenklich  dahinschreitend,  in  der 
Rechten  einen  Stab,  mit  der  Linken  die  Spitze  seines  langen  Bartes  haltend.  Neben  ihm 
■ein  Bär.  70  J.:  Ein  barfüssiger  Alter  sitzt  sinnend  auf  einem  Lehnstuhl,  den  Kopf  auf 
die  rechte  Hand  gestützt.  Auf  seinem  Schosse  liegt  eiu  aufgeschlagenes  Buch.  Neben 
ihm  liegt  ein  Hund.  80  J.:  Alter  5Iann  in  zerlumpter  Bettlerkleidung,  sich  mit  den 
Händen  auf  einen  Stock  stützend.  Neben  ihm  eine  räudige  Katze.  90  J.:  Ein  mit  den 
Händen  gestikulierender  Greis,  in  einem  Lchnstuhl  sitzend,  einen  Stock  zwischen  den 
übereinandergeschlagenen  Beinen  haltend.  Neben  ihm  liegt  ein  Esel  100  J.;  Ein  im 
Lehnstuhl  sitzender,  sterbender  Greis,  mit  langem  gesträubtem  Haar,  eine  Krücke  haltend. 
Neben  ihm  der  Tod  mit  zottigen  Haaren,  in  der  Linken  das  Stnndengla.';,  in  der  Rechten 
die  Sense.     Vor  dem  Alten  ein  Gänserich. 

I'ber  den  einzelnen  Bildern  stehen  die  folgenden  Reimpaare: 


n)  III.  Jar  uin  Knähl  hüpsch  vnd  fein. 
Springt  wie  ain  Gaisbocklin  herein. 

I')  Jit.  Jar  aufferwachssen  halb, 
Ist  gleich  aim  vnuerjärten  Kalb. 

c)  .'iO.  Jar  in  der  schönen  lustzier, 
Vergleicht  sich  aim  stosseuden  Stier. 

■/'  4(1.  Jar  ain  iMann  also  gut 

Bekumbt  aiiis  rechten  Löwens  mut. 

«)  öd.  Jar  ain  geschwinder  Lux, 
Wirt  listig  wie  ain  arger  Fux. 


/■)  60.  Jar  schwecht  das  leben  seer, 
Drumb  wirt  er  ain  grauneter  Beer. 

g)  70.  Jar  macht  jn  vngsund, 

Wirt  zu  aim  faulen  alten  Hund. 

/«)  80.  Jar  wiii  jm  als  widertratz,') 
Schnurrt  wie  ain  alt  schöbige  Katz. 

i)  90.  Jar  ist  niemandts  gesell, 
Ain  alter  vnwerder  Esel.-) 

A)  100.  Jar  ist  des  menschen  zal, 
Ain  alter  Ganser  in  aim  stal. 


Unter  den  Bildern  stehen  folgende  Keime: 
a) 
TCH  bin  ain  knablin  frisch  vii  jung. 

Wie  ain  Kitzlin  hab  ich  mein  sprüg. 
Die  boßliait  eygt')  sich  zejt  in  mir. 
Zum  freyen  willen  hab  ich  gir. 
Dann  was  ich  sich  in  diser  wellt. 
Das  anilre  thuu  mir  auch  gefeilt. 
Wachs  in  meim  freyen  willen  auff, 
Vnd  leern  bey  zeyt  der  weite  lauff. 
Das  hangt  mir  an  mein  lebenlang. 
Frag  nit  wies  mir  am  end  ergang. 

1') 
TCH  bin  ain  Jüngling  stoltz  vnd  geyl. 
Mit  tantzen,  springe  vil  kurtzweyl. 
Mir  ist  gar  wol  zu  aller  stund, 
Ich  frag  nit  vil  nach  Gottes  buud. 
Hab  lieb  die  weit  vnd  als  jhr  than, 
Im  Wollust  will  ich  fallen  an. 
Alsi^  will  ich  mein  junge  tag. 
Zubringen  also  lang  ich  mag. 
In  üppigkait  die  jngent  lebt, 
Der  zucht  vnd  tugeut  widerstrebt. 


c) 
TCH  hab  gefreyt  ain  junges  weib. 

Zu  Wollust  meinem  gsunden  leib. 
Mit  der  will  ich  gar  frölich  sein, 
Vnd  leben  nach  dem  willen  mein. 
Dann  was  ist  das  die  zeyt  verzert. 
Dann  gsundes  leben  das  eruert. 
Das  alter  ist  voller  vnmiit. 
Das  der  jung  allzeit  hassen  thut. 
Dann  wann  das  traurig  alter  kümbt, 
All  irrdischer  woUust  abnimbt. 

d) 
TCH  hab  mich  schon  gar  wol  versucht. 
In  meiner  Ee  wen  mein  weib  flucht. 
Gib  nichts  darumb  bin  widerfieg,*) 
Gfellt  mir  dsach  nit  ich  lauff  in  krieg. 
Vnd  henck  mich  an  ain  trunckne  rott, 
Ich  treib  auß  jren  werten  spott. 
Solt  das  weib  den  mann  leeren  hie, 
Das  wer  mir  von  jr  die  gröst  mie. 
Drumb  muß  nach  meinem  willen  gan, 
Vnd  solt  ich  setzen  als  daran. 


1)  Vgl.  Schmeller-Frommann,  Bayrisches  Wörterbuch  1,  GSlf. 

2)  Zu  diesem  Reim  vgl.  Vierteljahrsschrift  f.  Litgesch.  1,  7G. 
.'.)  Vgl.  DWB.  3,  90. 

4)  Gehört  wohl  zu  fechen,  DWB.  3,  1386. 


20 


Englert: 


e) 
TCII  liab  vil  versaiimbt  da  ich  war, 
Ain  junger  mann  mein  erste  jar. 
Nun  will  ichs  wider  bringen  ein, 
Vnd  schawen  auff  den  vortail  mein. 
Wie  man  mich  offt  betrof;on  hat, 
Also  mein  willen  widrunib  stat. 
Das  ich  lier  wider  bring  mein  gii(, 
Ich  sich  wie  jm  ain  andrer  thiit. 
ürumb  körn  vmb  saltz  sey  wie  jni  well. 
Ja  nimmer  gellt  nimmer  gut  gsell.') 

f) 
\l  All  spricht  witz  kuiii  vor  jaren  nitt, 

Vnweiß  sein  ist  der  jugent  sitl. 
Nun  will  ich  wider  bringen  das, 
So  ich  etwan  versaumig  was. 
Weyl  yederman  ist  so  vntrow. 
In  aignein  nutz  on  alle  sclicw. 
Thii  ich  auch  als  sey  ich  nit  fruih, 
Das  ich  wider  zum  meinen  kuni. 
Kan  nit  vertragen  vngelück, 
Beweiß  vil  lieber  widrumb  dick. 

g) 
]^An  predigt  wol  man  solt  sein  i'ruili, 
Die  boßhait  laßt  mich  nit  kurtzuiii. 
Ob  ich  mich  schon  erlust  die  zcyt, 
Am  end  mir  Got  mein  sünd  vergeyt. 
Ich  bin  ain  armer  süudcr  zwar, 
Vnd  hab  aull  mir  die  alten  jar. 
Hab  noch  nie  gschaut  wie  man  werd  irum. 
Ach  das  vns  Got  zu  hil£fe  kuiii. 
Verzcich  vns  vnser  missethat, 
Weyl  Christus  für  vn.s  glitten  hat. 


h) 
TCH  hab  vil  verschlemt  vnd  verpraßt. 

Vnd  schönen  frawen  aufi'gefaßt.') 
Das  rewt  mich  sehr,  kümmer  mich  druiii. 
Nun  will  ich  werden  karg  vnd  fruifi. 
Auß  erlernetem  schaden  hie, 
Das  hab  ich  vor  betrachtet  nie. 
Biß  ich  bin  kummen  vmb  mein  hab. 
Des  trag  ich  nun  den  Hettelstab. 
Vnd  Wirt  das  Spital  mir  zu  teyl, 
Vnd  warte  des  Todts  stund  allweyl. 

i) 
TCH  denck  das  ich  ain  Hirschen  jagt. 
Yetzt  bin  ich  am  Schnecke  verzagt. 
Muß  mich  setzen  in  todes  sal, 
Mein  reichthumb  erwirbt  das  Spital. 
Hab  mir  kain  schätz  gesamblet  ein, 
Dem  weib  vnd  auch  den  kindern  mein. 
Vil  weniger  zum  himelreich. 
Des  tregt  mein  gwissen  grosse  scheicb. 
Vnd  klagt  mich  an  auff  jhenem  tag. 
Dem  niemandt  nit  entweichen  mag. 

k) 
"VrVn  ist  es  auß  mit  mir  geleich, 

Also  geht  es  mit  arm  vnd  reich. 
Wer  recht  hat  glebt  vnd  guts  gethoii. 
Dem  i;ibt  der  Richter  vollen  lohn. 
Zur  soligkait  sein  wir  erwölt, 
Wann  wir  das  thun  das  Got  gefölt. 
Wer  das  nit  thut  im  loben  sein. 
Der  geht  zur  Hochzeyt  nit  hinein. 
Die  Got  mit  seinem  Sun  bereit. 
Wer  die  versäumt  kumbt  nit  zur  treüdt. 


B.    Die  weiblichen  Altersstufen. 

Holzsclinilte.  —  10  J.:  Kleines  Mädchen  mit  einer  Puppe  in  der  linken  Hand  und 
einem  Zeisig  auf  der  rechten.  20  J.:  Vornohme  junge  Dame  mit  einem  Blumenzweig  (?) 
in  der  Rechten  und  Handschuhen  in  der  Linken.  Neben  ihr  eine  Weberdistel,  auf  der 
eine  Nachtigall  sitzt.  .SO  J.:  Vornehme  Frau  mit  Handschuhen  in  der  Rechten.  Neben 
ihr  ein  radschlagcuder  Pfau,  in  .T.:  Matrone  mit  missmutigem  »jesicht.  Ihr  zur  Seite 
ein  grimmig  blickender  Adler.  j(i  J.:  Biirgersfrau,  in  Nachdenken  versunken.  Neben  ihr 
eine  Henne.  60  J.:  Altes  Weib  mit  einem  Siiinnrocken  in  der  Hand  Neben  ihr  eine 
Elster.  70  J.:  Alte  Frau  in  der  Tracht  einer  Nonne,  mit  der  Linken  sich  auf  einen  Stock 
stützend,  in  der  Rechten  ein  aufgeschlagenes  Buch  haltend,  in  dem  sie  zu  lesen  scheint. 
Vor  ihr  eine  Taube.  SO  J.:  Alte,  an  einem  Stock  gehend,  iu  der  linken  Hand  eiiu-u 
Kranz  haltend.  Neben  ihr  hockt  eine  Eule.  90  J.:  Altes  Weib,  an  einem  Stock  dahiii- 
humpelnd,  in  der  Linken  einen  Beutel  ['f)  haltend.  Neben  ihr  eine  fressende  Gans. 
1(10  J.:  Sterbende  Alte  im  Lehnstuhl,  die  Hände  faltend.  Neben  ihr  der  Tod  mit  zottigem 
Haar,  Sanduhr  und  Sense  haltend.    Unten  eine  flatternde  Fledermaus. 

Über  den  Bildern  folgende  Reimpaare: 


1)  Zu  'Korn  vmb  saltz'  vgl.  Wanders  Sprichwörterlexikon  2.  Iö42;  zu  ..Nimmer  gellt, 
nimmer  gut  gsell"  ebd.  1,  l.">it3. 

2)  Druckfehler?    Soll  es  aufgepasst  heissen? 


Die  menschlichen  Altersstufen  in  Wort  und  Bild. 


21 


a)  Das  10.  Ji'irio-  ^Indien  klein 

Grillet')  gleich  wie  ain  Jungs  Zeyßleiu. 

b)  20.  Jar  ain  Junckfraw  wol  gefall, 
Singt  wie  ain  helle  Nachtigall. 

c)  ;!0.  Jar  ain  hochfertige  fraw, 

Gleich  wie  sein  schwantz  außbrait  der  Pfaw 

d)  Ain  40.  Järige  fraw  mit  ehr, 
Erhebt  jr  gmüt  wie  ain  .Adler. 

«)  Ain  öO.  Jarigs  weil)  zu  erkennen, 
Scharret  im  haulj  wie  ain  Leghennen. 

Unter  den  Holzsclmitten  befinden  sich 

a) 
TCH  bin  ain  Mndlin  jung  vnd  klein, 

Drüb  laßt  man  mir  den  willr  mein. 
Weyl  ich  noch  waiLi  kain  vnderschait. 
Bi(.j  man  mich  lert  mit  bschaidenhait. 
Zu  Gottes  lob  vud  Tugeiit  iVuin, 
Vor  der  zeyt  waiß  ich  nichts  darum. 
Gillt  mir  als  gleich  dann  was  ich  sich, 
Das  mir  gefeilt  thü  lieben  ich. 
Also  die  Jugent  diser  zeit. 
Wechiät  aiiff  in  aller  eytelkeit. 


/)  Das  GO.  Järig  weib  mit  schwetzen, 
Vergleicht  sich  ainr  schnatter  Hetzen.') 

g)  Das  70.  Järig  weib  on  sin, 
Wirt  ain  wollüstige  Täubin. 

h)  Das  SO.  Järig  weib  allweyl. 
Mutzt  sich  wie  ain  vngstalte  eyl. 

()  Das  'JO.  Järig  Weib  glust  ains  Mannß, 
Dattert^)  gleich  wie  ain  alte  Gannß. 

/,•)  Das  10*1.  Järig  weib  mit  grauß, 
Ist  vnwerd  wie  ain  Fledermauß. 

die  folgenden  Reime: 

dj 
TCH  bab  aucli  in  der  Ee  versucht. 

Das  man  nit  so  vil  bett  als  flucht. 
Weyl  ains  die  haußsorg  hart  anficht, 
Macht  ains  der  kümer  offt  entwicht,'') 
Dann  haußlialten  zu  aller  frist, 
Nit  heytzlen  noch  hiinr  nagen  ist.'') 
Anfechtung  macht  vil  manchen  stritt,*) 
Läßt  manche  nacht  auch  schlaffen  nit. 
Dann  yeder  tag  sein  vbels  bringt, 
Das  in  der  Ee  gar  ofl't  mißlingt. 


TCH  bin  ain  schöne  Junckfraw  jung, 
^  Kurtzweylig,  gail,  behend  im  sprüg. 
Mir  liebt  die  weit  mit  jrer  freüdt, 
In  mir  ist  nicht  vil  gaistligkeit. 
Mein  sinn  vnd  mut  steht  mir  allein. 
Zu  ainem  jungen  gsellen  fein. 
Dem  zier  ich  mich  zu  gfallen  stet, 
Er  licht  mich  an  zu  tisch  vnd  bett. 
Dann  was  hat  die  jugent  auch  sunst, 
Zu  (leneken  dann  der  liebe  prunst. 

c) 
TCH  hab  mich  in  die  Ee  begeben, 
Zu  haben  lust  vnd  fiölich  leben. 
Mit  meinem  schonen  jungen  Man, 
Will  ich  mein  zeyt  wol  legen  an. 
Mit  tantzen,  hupfen,  vnd  auch  springen, 
Lachen,  schertzeu,  lieben  vnd  singen. 
Dann  wann  das  alter  kumbt  herein, 
Weren  die  ding  verloren  sein. 
Da  erhebt  sich  groß  angst  vnd  not, 
Vnd  das  man  sicli  versün  mitt  Got. 


TCH  hab  so  lange  jar  gehaußt. 

Wann  ich  dran  denck  das  mir  gleich  graußt. 
Was  muh  vnd  arbait  ach  vnd  wee. 
Zu  banden  stoßt  wol  in  der  Ee. 
Das  bedenckt  die  jugent  nit  hie. 
Was  im  alter  für  große  mie. 
Bedarff  biß  mau  kumbt  zu  dem  end. 
Ach  Got  was  armut  vnd  eilend. 
Derhalb  ain  heüßlichs  weih  so  schau. 
Lobet  gar  hoch  der  Weyse  man. 

f) 
ICH  maint  es  hett  nun  mer  kaia  fei. 

So  wirt  mein  Man  yedermas  gsel. 
Bringt  mich  zu  mancher  eyfersücht. 
Damit  man  krieg  vnd  häfen  bricht.') 
Gibt  kains  vmbs  ander  das  ist  war, 
Da  zeucht  man  die  strebkatz  beim  har.') 
Betten,  fasten,  vnd  gaistlich  sein, 
Ist  nit  der  brauch  in  dem  hauß  mein. 
Sonder  schelten,  fluchen  entwicht, 
Vnd  scheucht  nit  Gottes  letst  gericht. 


1)  Vgl.  Schmeller-Frommann  1,  993. 

2)  Vgl.  Grimm,  DWB.  42,  1270  und  1271. 

3)  Vgl.  DWB.  2,  828. 

4)  Vgl.  DWB.  3,  (;57. 

5)  Sprichwort?     Zu  'heytzlen'  vgl.  DWB.  42,  929:  auch  89li  und  «11. 
li)  Vgl.  Schmeller-Frommann  2,  820. 

7)  Vgl.  Wander  2,  1(544;  Zeitschrift  •"),  359.   G,  29.s,  Anm.  1. 

8)  Vgl.  Wander  4,  898. 


•2-2 


Englert: 


TCH  solt  gaisHich  vnd  weltlich  sein, 

Hab  Seligkait  vnd  Helle  pciu. 
Auff  aincr  Wag  die  solt  ich  than. 
Baides  ich  nit  vülbringon  kan. 
Zway  Herren  zu  dienen  ist  mir, 
Zu  vil  all  tag  in  gleicher  khir. 
Got  wolt  ich  geren  dienen  zwar, 
Aber  die  weit  bsitzt  mein  hertz  gar. 
Der  kan  ich  nit  wol  wider  ston, 
Drunil)  empfach  ich  mit  jr  den  Ion. 

Ii) 
VE  eltr  ich  wird  ye  erger  ich  bin, 

Damit  so  geht  die  zeyt  dahin. 
Hab  mich  noch  nit  versünt  mit  Got, 
Vn  schleicht  mir  all  stüd  nach  der  tndt. 
Die  zeit  ist  wir  hingloffcn  schnei. 
Bin  nit  .sicher  an  leib  vnd  .s<el. 
-Mir  bleibt  über  diser  sententz, 
Betriebter  gaist  böß  conscientz. 
Auklag  der  sünd  trauriges  endt. 
Des  bin  ich  worden  gantz  verblendt. 


i) 
AV^^le  ist  mir  auff  erden  so  bang. 

Mein  zeit  ist  mir  verdrießlich  lang. 
Bin  vnwerd  bcy  yederman  gar. 
Bin  nichts  nier  werdt  an  haut  vn  bar. 
Dann  m  der  jugent  galts  mir  gleich, 
Das  bölj  fürs  gut  het  drab  kain  scheich. 
Nun  tindt  siclis  im  alter  gar  fein, 
Mein  sündigs  leben  gar  vnrein. 
Wie  wol  der  wollust,  gelt  vnd  gut, 
Der  jungen  mann  anfechten  thnt. 

k) 
(\  Got  erbarm  dich  mein  am  end,  • 

Mein  gaist  befilch  ich  in  dein  hend. 
Ich  far  dahin  auB  diser  weit. 
Dort  ist  mir  schon  mein  vrtel  gstelt. 
Hab  ich  recht  glebt  so  gnenß  ich  da.^;. 
Wa  nit,  so  ist  mir  Got  gehas. 
Dann  er  den  tod  des  Sünders  nicht, 
Bcgeren  thüt  wie  er  selbst  spricht. 
Drumb  rOst  sich  ^edor  auff  die  fart. 
Da  kain  guts  hie  nit  werd  gespart. 


4.  Die  inäuulicheu  und  weiblichen  Altersstufen  von  Ohristofano  Bertelli 

(iini  i:)70). 

Aus  dem  Verlage  des  italienischen  Kupferstechers  Christofaiio  Bertelli, 
der  in  der  zweiten  Hälfte  des  1(!.  Jahrliunderts  in  Modeua  arbeitete, 
rühren  zwei  vielleicht  von  ilim  selbst  gestochene  Blätter  her.  von  denen 
das  eine  die  Stufenjalire  des  IMaunes,  das  andere  die  des  Weibes  zun» 
Gegenstand,  hat.')  Ein  Exemplar  des  letzteren  Stiches  befindet  sich  im 
Besitze  des  Antiquars  Ludwig  Rosentiial  daliier.  welclier  mir  in  entgegen- 
kommendster Weise  die  Veröffentlichung  der  auf  dem  Blatte  befindlicheu 
italienischen  Verse  gestattete.  Eine  sehr  genaue  Kopie  des  Stiches  mit 
spanischen  Versen  liegt  mir  in  einer  von  Miss  S.  Minus  in  Boston")  mir 
zur  Verfügung  gestellten  photograpliischen  Nachliiblung  vor.  Das  Original 
des  Berteliischen  Kupfersticlies,  welcher  die  Altersstufen  des  Mannes  dar- 
stellt, habe  ich  nicht  zu  Gesicht  belvommen,  docli  ist  ein  mir  gleichfalls 
in  photographischer  Wiedergabe  vor  Augen  liegendes  Blatt  mit  spanischen 
Versen,  das  ein  Gegenstü(dv  zu  den  weiblichen  Lebensaltern  bildet  und 
zweifellos  von  derselben  Künstlerhand  entworfen  ist,  sicher  eine  Kopii^ 
jenes  Stiches. 

Ich  lasse  nun  eine  Beschreibung  dieser  Blätter  folgen. 


1)  Vgl.  Meyers  Allg.  Künstlerlcxikon  :!,  701. 

■J)  Auch  alle  übrigen  im  nachfolgenden  unter  Nr.  I  und  .">  im  Texte  liesi)rochenei» 
Blätter  ausser  dem  Originalstichc  von  Bertelli  und  dem  Holzschnitt  von  Albrecht  Schmid 
besclircibc  ich  nach  photographischen  Kopien,  welche  Miss  Minns  nach  den  ihr  gehörende» 
Originalen  für  nach  anfertigen  liess.  (Vgl.  oben  1.'),  40t).  Ich  nehme  hier  nochmals 
.Anlass,  ihr  für  ihre  ausserordentliche  Güte  meinen  wärmsten  Dank  auszusprechen. 


Die  meuschlichen  Altersstufen  in  Wort  und  Bild.  •2'■^ 

A.    Altersstufen  des  Mannes  (Kopie  mit  spanischem  Text). 
Der    Kupferstich    ist   40  cvi    hocli    und   .'lO  cvi    breit.     Als    Überschrift 

trägt  er  die  Verse: 

AQVEL  yVE  EN  BIENES  PONE  SV  ESPERANQA 

SIN  CONFIAR  EN  OTRO  VA  HERRADO 

PVES  EN  LA  MVERTE  DE  ELLOS  ES  PRIVADO. 

Die  männlichen  Lebensalter  sind  durch  einen  grossen  Treppeubau 
mit  1)  links  auf-  und  rechts  niedersteigenden  Stufen')  veranschaulicht,  auf 
denen  folgende  Vertreter  der  einzelnen  Lebensabschnitte    dargestellt  sind: 

1  J.-):  Kind  im  Laufstulil,  "mit  Breilöffel  und  Lutschbeutel.  10  J. :  Knabe  mit  einem 
Buch  in  der  Linken,  in  römischer  Tracht,  wie  die  meisten  folgenden  Figuren.  20  J. 
.Jüngling  mit  einem  Zweig  in  der  erhobenen  Rechten.  Neben  ihm  Amor  mit  Köcher  und 
Bogen,  den  er  im  Begriff  ist  zu  spannen.  30  J.:  Mann  iu  römischer  Kriegertracht  mit 
Schild  und  Lanze.  10  J.  (oben):  Auf  dem  Throne  sitzender  Jlann,  eiu  Stockbündel  in  der 
Rechten.  5(1  .T  :  Mann  mit  Tintenfass  (? l :  auf  dem  Boden  eine  Sanduhr  und  zwei  Bücher. 
tJO  J.:  Mann  mit  einem  Zweig  in  der  niedergehaltenen  Rechten,  auf  eine  am  Boden  liegende 
Rüstung  tretend.  70  J.:  Geldzählender  Alter  mit  Brille,  im  Pelzmantel,  so  J  :  Greis  auf 
dem  Deckel  eines  Sarges  sitzend,  den  Kopf  auf  den  Arm  gestützt,  mit  einem  Fuss  im 
Sarge.  —  Unterhalb  der  Figuren  befinden  sich  in  Nischen  die  folgenden  Tiergestalten: 
Schwein  (Kümmel  fressend),  Lamm,  Rehbock,  Stier,  Löwe,  Fuchs,  Wolf,  Dachshund,  E^el. 

Darüber  die  Heiminsehriften'): 

a)  AI  puerco  el  nino  en  esta  edad  parece  e)  El  liombre  de  ipiarenta  es  Rey  Uamadu 
•         En  ser  suzio  coniino  asta  que  crecc  Como  el  leon  mitre  los  brntos  corouado 

h)  A  un  cordero  rcmeda  el  de  diez  aüos  /')  Zorra  astuta  el  hombre  en  tal  estado 

Que  no  se  afligc  por  males  ni  danos  Semeja  con  sus  mafias  y  cuidado 

<•)  Ligero  como  corro  es  el  in  an(.'ebo  </)  Solo  en  aum^en)tar  hazienda  atiende 
Instigado   de  amor  que  es  proprio  cebo  Este  como  en  hurtar  el  lobo  entiende 

r/)  En  fuerca  yguala  al  toro  el  de  treinta  li)  Como  el  podenco  se  recrea  en  la  i-aija 
aüos  Este  en  contar  dineros  se  embarara 

Que  por  coufiarse  o  muerc  o  causa  /)  El  hombre  en  esta  edad  es  comparado 
('«"'OS  AI  asno  viejo  que  siempre  esta  echado 

In  einem  unten  im  Mauerwerk  angebrachten  Gewölbe  steht  der  Tod 
als  geflügelter  Knochenmann,  seine  Sense  wetzend.  Links  davon  ein 
Engel,  einen  Gestorbeneu  aufhebend,  um  ihn  zum  Himmel  emporzutrageu. 
Rechts  eine  Feuer  aus  dem  Munde  speiende  teuflische  Figur  mit  Hörnern, 
stacheligen  Flügelu,  Krallen,  Schwanz,  in  der  Linken  eine  grosse  Gabel 
und  eiserne  Kette  haltend,  in  der  Rechten  eineu  Toten,  den  er  am  Fusse 
hält,  fortschleifend.  In  der  oberen  Erke  links  Christus  auf  den  Wolken 
thronend,  von  Eugelschareu  umgeben.  Darunter  ein  Mann,  den  ein  Engel 
durch    die    Lüfte    emporträgt,    indessen    ein    zweiter,    dem    Himmel    ent- 


1)  VgL  ZfdPh.  L'O,  405  Nr.  G. 

2)  Auf  den  einzelnen  Stufen  sind  römische  Ziffern  (I,  X,  XX  usw.)  zur  Bezeichnung 
der  Lebensjahre  angebracht. 

.'!)  Bei  Feststellung  der  spanischen  Texte  war  mir  Herr  Bibliotheksekretär  Dr.  Eugen 
StoUreither  in  verbindlichster  Weise  behilflich  Den  Herren  Dr.  E.  W.  Bredt  und  Dr.  Fr. 
W.  Hoü'mann  bin  ich  für  verschiedene  mir  bezüglich  des  figürlichen  Teiles  der  von  mir 
beschriebenen  Blätter  erteilte  Auskünfte  zn  Dank  verpflichtet. 


24  Englert: 

schwebender  Engel  ihm  mit  ausj^ebreiteten  Armen  entgegeneilt.  In  der 
oberen  Ecke  rechts  der  liollenfürst  mit  grosser  Gabel  in  der  Tlüiid,  auf 
einem  drachenartigen  Untier  reitend  und  von  Teufeln  umgeben.  Darunter 
zieht  ein  mit  einem  Beil  bewaffneter  Teufel  einen  Mann,  der  von  einem 
anderen  Dämon  getragen  wird,  empor.  All  diesen  Gruppen  und  zum 
'iVil  auch  den  einzelnen  Figuren  sind  Verse  beigefügt. 

B.    Altersstufen  des  Weibes  (Abb.  1). 

Das  Original  und  der  Nachstich  haben  dieselbe  Grösse:  38  cm  Höhe 
und  51  cm  Breite.  Die  Darstellungen  des  Stufenbaues,  die  des  Himmels 
und  der  Hölle  in  den  oberen  Ecken  und  diejenige  des  Todes  in  dem 
Mauergewöll)e  sind  den  auf  dem  oben  geschilderten  Bogen  ganz  ähnlicli. 
Auch  die  neben  der  Figur  des  Todes  und  uiitcrliall)  des  Himmels  und 
der  Hölle  befindlichen  DarstelluTigen.  in  denen  hier  natürlich  Frauen  statt 
der  Männer  erscheinen,  leimen  sich  in  der  Hauptsache  ziemlich  eng  au 
die  entsprechenden  Bilder  auf  jenem  Blatte  an. 

.\uf  den  Stufen  befinden  sicli  folgende  Figuren'): 

Wickflkinil  in  dpr  Wiege.  l(l  J.:  Mädcbeii  in  antikem  Gewände,  mit  einem  Kissen 
(Klöppelkissen?)  in  der  Hand.  20  J.:  Jungfrau  in  antiker  Tiacht  (wie  mehrere  der  folgenden 
Frauen  I,  mit  Stab  in  der  Rechten,  Fackel  in  der  Linken.  30  J.:  Stillende  Mutter.  40  .1. 
(oben:)  Frau,  einen  Zweig  in  der  erhobenen  Hechten  und  einen  in  der  gesenkten  F.inken 
emporhaltend.  .']0  J.:  Fran  mit  Schlüsselbund  und  Geldtasche,  einen  Fuss  anf  eine  Schild- 
kröte setzend.  CO  J. :  Frau  mit  zerbrochenem  fiogen  und  zerbrochenem  Pfeil  in  der 
Rechten  und  einer  mit  der  Wurzel  ausgerisseneu  Pflanze  in  der  Linken,  knch  auf  dem 
Boden  liegen  Stücke  eines  Pfeiles.  70  J.:  Alte  Frau  in  Nonncnklcidung,  mit  gefalteten 
Händen  und  einem  Rosenkranz.  SO  J.:  Alte  Frau,  auf  einem  Sarge  sitzend,  den  Kopf 
auf  die  rechte  Hand  gestützt. 

Als  Tiergestaltcn  erscheinen  hier  in  den  unterhalb  der  Figuren  befindlichen  Nischen: 
Elster,  Truthenne,  Pfaufasan,  Gluckhenne,  Vogel  Straus.s,  Ente,  Papagei.  Rabe,  Gans. 

Der  Originalsticli  liat  die  Überschrift: 

ECCOTI  SAGGIU  ET  DISCRETO  LECTORE 

ET  TV  SPECVLATOR  DI  DONNE  IL  GRADO 

CHE  NVOVAMENTE  INDRIZZO  AL  VOSTRO  HONOBE. 

Über  den  Nischen  liest  man  die  folgenden  JJeime: 

a)  Non  cessa  di  parlar  hi  garuletta  d)  Como  la  cocca  li  suo  polecini 

lin  che  co'l  becco  al  cibo  nii"  si  metta  nodrisse  co'l  beccar  fra  Therbe  <•  spini 

cosi  fa  tal  faneiuUa  per  la  tetta  cosi  io  co'l  latfo  canpo  i  miei  banbini 

0)  Comc  la  poUa  indiana  uagha  e  snella  e\  Mostra  la  struzza  la  sua  grä  fortezza 
con  presti  passi  e  con  dolce  fauella  nel  ferro  padir  di  cotanta  durezza 

ne  ua  cosi  la  semplice  donzella-)  cosi  la  dona  alli  trauagli  auezza 

c)  Fagia  d'Argo  nodrita  per  giuuone  f)  Come  l'Auera  in  acgua  si  nutrica 
ch'  all'  atto  tenpo  '1  pompeggiar  depone  e'n  pigliar  cibo  gli  usa  gran  fatica 

concorda  e  con  tal  donne  e  tal  pcrsonc  cosi  costei  nel  cor  sua  uoglia  implica 

1)  Ziffern  zur  Bezeichnung  der  einzelnen  Lebensalter  sind  hier  nicht  beigefügt. 

2)  Im  Original  steht  das  d  verkehrt. 


Die  menschlicheu  Altersstufen  in  Wort  und  Bild. 


25 


f/)  La  papagalla  pe'l  parlar  giocoso  /i)  Leggiadra  bella  non  com'hor'uecclna  orba 

tenuta  e'n  gran  delicie  e  gran  riposo  ucnir  uoria  ma  faccio  come  corba 

cosi  tal  donno  in  fal  stato  doglioso  morte  espettando  ch'in  me'l  suo  fere  sorba 

/)  Com  occlia  son  sueggiata  uecchia  secca 
cli'il  cibo  con  faticha  sgiialza  e  becca 
cosi  mia  lingua  lo  sepiilcro  lecca 


■VI      ^ 

■—      O 


<   E 


Weitere  Verse  sind  aucli  auf  diesem  Blatte  und  dem  Nachstich  den 
in  den  oberen  Ecken,  im  unteren  Teile  und  auf  den  Seiten  befindlichen 
Gruppen  und  Figuren  beigefügt.  Unter  der  ersten  Nische  links  steht: 
Chrktophe?io  bertdlo.  —  Der  Nachstich,  der  ebenso  wie  sein  Gegenstück 
weder  Verleger-  noch  Stecherzeichen  trägt,  hat  die  Überschrift: 


26 


Englert : 


LAS  FIÜVRAS  PRESENTES  ENTENDIDO 
LECTOR.    TE  MVESTKAN  CLARO  LAS  EDAÜES 
DE  MVGERES  QVE  SON.    SERAN.     Y  AN  SIDO 

Die  Verse  unter  den  Figuren  lauten: 

a)  No  ccssa  de  parlar  la  uo  discrcta  «)   Muestia  cl  auestruz  su  fortalezii 

l)ica(;a  hasta  que  el  cebo  cn  pico  meta  digeriondo  el  hierro  y  sii  dureza 

lo  mesmo  hazc  la  nina  por  la  teta  y  la  hcmbra  entre  trabajos  su  fineza 

b)  Como  la  polla  Indiana  que  es  muy  bella    f)  De  el  anade  oll  afjua  es  su  recreo 


se  pierdc  si  la  dexan  sola  ä  ella 
asi  mesmo  haze  la  simple  donzclla 

c)  El  pauon  en  pulir  sa  rueda  entiende 

y  la  donzella  en  esta  edad  atiende 
ymitarlo  y  otro  no  deprende 

d)  Como  cria  la  clueca  sus  poUittos 

entre  spinas  y  hieiuas  muy  eiiequittos 
assi  crio  yo  con  leche  mis  liijittos 

(■)  Vieja  secca  como  anser  sierajjri 


buscar  el  pasto  siempre  alli  le  ueo 
y  yo  en  esta  edad  oro  deseo 

g)  El  papagaio  por  parlar  gracioso 

!o  quieren  y  yo  puos  perdi  lo  hermos" 
con  la  mesma  atrayo  al  que  es  goloso 

h)  No  uieja  como  aora  mas  hermosa 
querria  tornar  mas  ya  la  espantosa 
linierte  nie  canta  el  cueriio  dolorosa 
nuela 


estoy  sin  que  mi  bocca  teusa  niuela 
para  el  sepnlccro  tengo  ya  la  tela. 


5.   Deutsche  und  iiiedeiiändische  Flugblätter  aus  dem 
17.  uud  18.  Jahrhundert. 

l)r<'i    tier    mir    vorliegenden  Blätter   sind  aus  der  Kupferstecherei  des 
Gerhard  Alzcnhach')  liervorgegaugen. 

A.    Eines  derselben,  das  älteste,  stammt  aus  dem  Jahre  1616  (Abb.  •_'). 

Das  Bild  ist  31  cm  hoch,    2")  cm  breit.     Die  Mitte    des  Stiches    nimmt  ein 

längliches  Viereck    ein,    in    welchem   man   den  Tod  als  Knochenmann  am 

]<;ingang    eines  Friedhofes    stehend,    mit    der  Sense  und  drei  Pfeilen  (mit 

den  Aufschriften:  Freterif..  Fresens,  Futurum')  erblickt.    Über  seinem  Haupte 

ein    Spruchband    mit    der    Inschrift:    VIGILATE  QVIA   XESCITIS  QVA 

IIORA  DNS  VENIET.    Matt.  25.     Links  und  rechts  sieht  num  ein  Stück 

der  Friedhofsmauer,    auf   deren  Gesimsen  Totenschädel   liegen.     Auf  dem 

Kande    des  Gesimses    zur  Linken    liest  man:    OMNIA  MIHI  S^VBDITA, 

darunter    auf    einer  an  der  Mauer  angebrachten  Tafel:  For»iosita.<t  —  Elo- 

qttenlia  —  Virüifas  —  Magnißcentia  —  Maiesttix  —  Pnidentio.  —   (iuia  ci'nis 

fumus  et  umbra.     Eine  auf  dem  Mauergesims  rnlicnde  Steinplatte,    auf  der 

die  Sanduhr  des  Todes  steht,  hat  die  Insciirift: 

Non  iuuat  hie  se  excus- 
Noc  ad  Apostolici  sede  appell- 
is        Dona  promit(t)ere  aut  don- 
Seu  clam  se  volle  alien- 


Sum  qui  non  euro  tjuis  aiil  qua- 
Nil  mihi  dignitas  Papa- 
Nec  valet  maiestas  Rega- 
Stultus  et  sapiens  aequa- 
Diues  et  pauper  est  morta- 


Pacem  non  mecfi  est  tract- 
Nee  dico  quando  quis  vol  qu- 


1)  Vorleger,  vielleicht  auch  Kupferstecher:  war  im  17.  Jahrhundert  in  Köln  tätig. 
Sein  Geschäft  blühte  von  1Ü13  bis  1672.  Vgl.  ADH.  1,  :!7.'')  und  ^ü\.  Mey.r,  Allgemeines 
Künstlcrlexikon  1   (Leipzig  1870),  561  f. 


Die  menscblicheii  Altevsstufeu  in  Wort  und  Bild. 


•27 


2.     Der  Tod  mit  den  zolin  Lebensalteru, 
Kupfersticli  von  Gerhard  Alzenbach  in  Köln  (IGIG). 


Auf  dem  Mauergesimse  reclits  steht:  SVM  QVOD  ERIÜ  ES')  QVOD 
FVl.'')    Darunter  auf  einer  Tafel:  Messov  falce^)  decus  formosis  clemetit  arvis 


1)  Im  Original  felilt  das  „S". 

2)  Vgl.  hierzu  R.  Kohlers  Kleinere  Schriften,  hrsg.  von  J.  Bolte,  2,  27  f.  'Der  Spruch 
der  Toten  an  die  Lebenden' ;  ferner  Fr.  X.  Kraus,  Die  cliristlicheu  Inschriften  der  Rhein- 
lande 2  (Leipzig  1894),  'iS;  Sprüche  zu  Grabschriften  etc.  von  einem  emeritierten  Priester, 
Augsburg  1843,  S.  215  (unter  „AUg.  Grabschriften  aus  mehreren  Gottesäckern"):  „Cure 
viator!  —  Ne  abhorreas  ossa  mea,  — -  Etiam  Tu  l'ui  in  vita,  —  Etiam  ß/o  eris  post  mortem": 
Generalanz.  der  Münch.  Neuest.  Nachrichten,  9.  März  1906  Nr.  llö  S.  1  (Grabschrift  des 
lt;7.j  verstorbenen  Hofmalers  Kaspar  Amort,  auf  dem  ehemaligeu  Friedhofe  neben  der 
Salvatorkirche  in  München):   „Ich  liege  hier,  sieh'  über  dich,  —  Geh  Niemand  vorbey,  er 


■28  Englert: 

Attmanü  properäs  hat-  ego  falco  decus.  Zu  Füssen  des  Todes  liegt  ein  zer- 
fetzter Lorbeerkranz,  eine  erlöschende  Kerze,  zertrünunerte  Waffen  und 
llüstungeii,  eine  zerbrochene  Krone,  ein  Buch  mit  zerfetztem  Deckel,  eine 
xerschellte  Vase  und  andere  in  Trümmer  zerfallene  Zeichen  menschlicher 
Kraft.  Weisheit  und  Grösse. 

Unter  dem  Mittelbilde  befindet  sicli  ein  Schild  mit  einem  posaunen- 
blasenden Engel  auf  Jeder  der  beiden  Seiten  und  der  folgenden  zwei- 
spaltigen Inschrift*): 

Hoffait  bespingel  dich  hieran.  Was  würden  ihr  seit  arm  vnd  reich 

Ehrgeitz  Schaw  dieses  Bild  recht  an,         Hie  habt  ihr  ein  schöne  Figur, 
Du  vbernmht  tritt  auch  herbey  Was  der  mensch  seye  von  natur. 

Vnd  denck  waß  Entlich  dein  lohn  sey.       Weisheit  Thorheit  vnd  frölichkeit, 
Ihr  vntugenden  in  gemein  Verkehrt  eich  in  genielter  zeit. 

Last  euch  dieses  ein  beyspiel  sein,  Vnd  wird  in  ein  solch  Bildt  verwent 

Jugent  vnd  alter  allzugleich,  So  diese  ziel  lauffen  zuendt. 

Der  Oberrand  und  die  Seitenränder  sind  von  zehn  links  unten  be- 
ginnenden und  rechts  unten  endigenden  Darstellungen  der  Altersstufen 
ausgefüllt,  die  von  Blattwerk  und  herabhängendem  Zierrat  umrahmt  sind. 
Sie  zeigen  folgende  Figuren: 

10  J.:  Knabe  mit  Steckenpferd  und  Peitsche,  Mädchen  mit  Puppe.  20  J.r  Lauten- 
spielender Jüngling,  Mädchen  mit  Korb  und  Blumcnstrauss.  30  J.:  Krieger  mit  Schwert 
und  Fahne,  von  einer  Frau,  die  ein  Taschentuch  in  der  Linken  hält,  Abschied  nehmend. 
40  J.:  Spazierengehendes  Ehepaar.  .')(!  J.:  Jüdisch  aussehender  Mann  mit  einer  Frau  im 
<";espräch.  GO  J.:  Manu  und  Frau  im  Gespräch.  Diese  hält  einen  Rosenkranz  in  der 
Hand.  70  J.:  Alter  Mann  mit  einem  Buch,  alte  Frau  mit  Gebetbüchlein  in  der  Hand, 
Geldtäschchen  und  Schlüsselbund  an  der  Seite.  SO  J.:  Alter  Mann  mit  Brille,  mit  der 
Rechten  auf  einen  Stock  gestützt,  in  der  Linken  einen  Becher  haltend.  90  J.:  Greis  und 
<jreisin  auf  Krücken,  beide  stark  gebückt.  100  J.:  Zwei  Alte  in  Lehustühlcn,  das  Angesiclit 
zum  Himmel  aufwärts  gerichtet.  Neben  der  Frau  ein  Sarg.  Hinter  dem  Manne  der  Tod. 
in  der  Linken  das  Stundenglas  haltend,  mit  der  Rechten  einen  Pfeil  auf  die  Frau  ab- 
schiessend. 

Den  mänulichon  Figuren  sind  folgende  Ticrgestaltcu  beigegeben:  Affe'),  Kalb,  Stier, 
Lowe,  Fuchs.  Wolf  (mit  den  Zähnen  eine  Gans  am  Kragen  packend),  Hund.  Katze,  Esel, 
Schwan;  den  weiblichen:  .Vffe,  Tauhe,  Pfau,  Glucke,  Storch,  Gans,  Geier,  Eule,  Fleder- 
maus, — . 

Unter  den  Abbildungen  der  Lebensstufen  stehen  die  folgenden  deutschen 

und  französischen  Reime: 

a;.  X  Jahr  ein  kindt.  b)  XX  Jahr  ein  Jüngling. 

A  (lii  ans  A  vingt  ans  la  Junntsse 

sunl  enfnnii.  na  point  de  fat/etse. 

bet'  für  mich.  —  Gedenk',  o  Mensch  auf  Erden,  —  Was  ich  jetzt  bin,  musst  du  noch 
•werden."  Vgl.  auch  noch  Das  Bayerland  Ü!,  '-iöi  (Nürnberger  Grabschrift),  11,  58  (Grab- 
schrift aus  Nussdorf  bei  Rosenheim),  14,  65  (Inschrift  auf  einem  Toteuschädel  in  Alten- 
beuern  bei  Rosenheim).     |Petak,  Grabschriften  aus  Osterreich  1!K)4  S.  I-Jf.] 

3)  Im  Original:  face. 

i)  Im  Original  ist  jede  zweite  Verszeile  eingerückt. 

ö)  Auf  einem  Baum  über  dem  Mädchen  sitzend.    Gilt  wohl  für  beide  Geschlechter. 


Die  menschlichen  Altersstufen  in  Wort  und  Bild.  2f*. 

c)  XXX  Jahr  ein  mann.  g)  LXX  Jahr  ein  greiß. 

C"es<  icy  la  viyeur  Le  vieltard  garde  sa  iiiaison 

et  de  la  vie  la  fleur.  et  tout  ce  qu'ä  a  de  bon. 

d)  XL  Jahr  wolgetahn.  h)  LXXX  Jahr  nimer  weiss. 

Le  soin  icy  comence  Leg  dents  tombans  du,  vin  vn  traict 

d'aquerir  clieuance.  C'est  des  viellards  le  doulx  Laict. 

e)  L  Jahr  Stillstahn.  i)  XG  Jah(r)  der  kinder  spott. 

Fin  et  caut  pour  ynigner  Du  monde  estant  la  moctjuerie 

]'a  son  nid  prekärer.  la  viort  chez  soy  nous  cöuie. 

f)  LX  Jahr  gehts  alter  an.  k)  C  Jahr  begnad  dir  Gott.') 

En  ce  degre  de  vie  De  cent  ans  ayant  atteint  l'aage, 

Vliomme  de  tous  se  desfie.  Paradis  c'est  nostre  partage. 

fii  der  Mitte  des  oberen  Randes  befindet  sich  ein  durcli  eine  Fratze- 
einen Frauenkopf  und  Blattwerk  gebildetes  Ornament  und  darüber  die 
Jahreszahl:   161(1. 

Im  unteren  Rande  des  Mittelbildes  steht:  J.  u.  </.  hdde^)  und  etwas^ 
weiter  rechts  G.  Ahenbach  e.vcu. 

B.  Eine  freie  Nachbildung  dieses  Stiches  liegt  in  einem  von  denv 
bekannten  Maler  und  Radierer  Johann  Elias  Ridinger^)  im  Rokokostil 
ausgeführten  Schabkunstblatte  vor.  Das  64  cm  hohe,  48  em  breite  Biiil 
zeigt  ebenfalls  in  einem  viereckigen  Mittelfeld  die  Figur  des  Todes, 
jedoch  nicht  als  Gerippe,  sondern  als  halbverwesteu,  spärlich  von  einem 
Tuch  umhüllten  Körper  mit  langem  Bart  und  grossen  Flügeln.  In  der 
Rechten  hält  er  das  Stundenglas,  in  der  Linken  die  Sense.  Mit  dem 
linken  Fuss  tritt  er  auf  einen  sich  entleerenden  Geldsack,  der  mit  ver- 
schiedenen Emblemen  irdischen  Glückes,  Ansehens,  Strebens  und  Könnens- 
auf dem  Boden  liegt.  In  der  Loggia  eines  auf  der  linken  Seite  befind- 
lichen, im  Renaissancestil  gehaltenen  Beinhauses  liegen  Toteusehädel  auf- 
einandergeschichtet.  Den  Hintergrund  der  Mittelfläche  bildet  eine  hügelige 
Landschaft,  in  der  man  eine  posaunenblasende  und  eine  paukenschlagende 
Totengestalt  zu  Pferd  erblickt.  Um  das  Mittelbild  reihen  sich  in  derselben 
Anordnung  wie  auf  dem  oben  geschilderten  Blatte  oval  umrandete  Dar- 
stellungen der  zehn  Lebensalter.  Die  Vertreter  der  männlichen  Alters- 
stufen erscheinen  auf  all  diesen  Bildern  mit  Ausnahme  des  ersten  auf  der 
rechten,  die  der  weiblichen  auf  der  linken  Bildseite,  während  die  Anordnung 
auf  dem  Alzenbachschen  Blatte  umgekehrt  ist.  Sonst  lehnt  sich  Ridinger 
in  der  Darstellung  bald   mehr  bald  weniger  an  seine  Vorlage  an.     Einige- 


1)  Vgl.  die  Zusammenstellung  verschiedener  Fassungen  des  deutschen  Spruches  iu 
der  ZfdPh.  23,  390  f. 

•>)  Geb.  um  l.')70  in  Strassburg,  gest.  1G37  in  Frankfurt  a.  M.  Vgl.  Naglers  Künstler- 
lexikon (j,  IGOf.  (hier  unter  Nr.  5  das  oben  beschriebene  Blatt  erwähnt)  und  Singers  Allg. 
Künstlerlexikon  2,  17J.  Nach  dem  obigen  Vermerk  ist  wohl  v.  d.  Heide  der  Stecher,. 
Alzenbach  der  Verleger  des  Blattes.     Vgl.  hierzu  Jul.  Meyer  a.  a.  0. 

3)  Geb.  1695,  gest.  17G7.  Vgl.  über  ihn  ADB.  'JS,  505f.  und  Singer.  Allg.  Künstler- 
lexikon 4,  G4. 


30  Englert: 

auffalleiulere  Abweichungen,  besonders  solclie,  die  sich  auf  die  beigegebeneu 
Attribute  und  Tiersynibole  beziehen,  will  ich  hier  verzeichnen: 

10  J.:  Das  Mädchen,  wclclics  wie  der  Knabe  und  die  Paare  auf  den  Dttclibtfülgendiii 
Bildern  in  Uoiiokotraclit  gekleidet  ist,  hat  in  der  Linken  eine  Traube,  in  der  Rechten 
eiTiei!  Stab.  Ausser  der  Kloinen  und  dem  steckenpferdreitenden  Jungen,  erscheinen  nodi 
zwei  weitere  Kinder  auf  dein  Bildclien,  ein  Knabe  mit  Schalmei  und  ein  anderer  mit 
Dudelsack.  20  J.:  Das  Miidclien  hält  niclits  in  der  Hand,  der  Jüngling  trägt  einen 
Schäferstab  Schäfchen  statt  des  Kalbes.  Taube  fehlt.  :'.0  J.:  Stier  fehlt.  10  J.:  Frau 
mit  Sonnenschirm,  Manu  mit  Spazierstock.  Löwe  fehlt.  50  J.:  Löwe  statt  des  Fuchses. 
Storch  fehlt.  (10  J.:  Mann  mit  SpeiT  und  Jägerhorn.  Frau  ohne  Rosenkranz.  Hund  statt 
des  Wolfes.     70  J.:  Geier  fehlt     90  J.:  Fledermaus  fehlt.     1(X)  J.:  Gans  fehlt. 

Die  deutschen  Verse  unter  den  Ovalbildcrn  zeigen,  von  der  Schreibung  abgesehen, 
folgende  .Abweichungen:  L  Jahr  stille  stalm;  0  Jahr  gcnad  dir  Gott:  die  französischen! 
d'acqucrir  la  substance;  Fin  et  sage  pour  gagner  il  veut  son  n.  pv.;  Avant  attcint 
de  cent  ans  Tage  Le  Paradis  est  n.  p. 

Der  Scliild  im  Unterrande  wird  von  zwei  lialbnackteii  Männern  ge- 
halten, einem  jüngeren  mit  lorbeerbekränzteni  Haupt  und  einer  Palme  in 
der  llantl  auf  der  linken  Seite  und  einem  älteren,  der  gleich  ilem  Tode 
im  Mittelbild  Flügel  trägt  und  eine  Sichel  im  Arme  hält,  auf  der  rechten 
Seite.  Die  Verse  auf  dem  Schild  weisen  verschiedene  sprachliche  und 
metrische  Verbesserungen  anf.     Sie  lauten  liier: 

Hofl'art  be.'ipieglc  dich  hieran  ihr  niögct  seyu  arm  oder  reicli 

Ehrgeiz  schau  dieses  Bild  recht  an  Hier  seht  ihr  an  dieser  Figur 

Du  Uebermuth  tritt  auch  herbcy  was  der  Mensch  ist  von  Natur 

Sieh  was  dein  Lohn  am  Ende  sej-  Weisheit  Thorheit  und  Frölichkeil 

Ihr  Laster  last  euch  insgemein  hört  endlich  auf  nach  dieser  Zeit 

dieses  ein  redend  Beyspicl  sevn  und  wird  in  ein  solch  Bild  verkehrt 

Junge  und  alte  allzugleich  das  niemand  mehr  zu  sehn  begehrt. 

Im  unteren  Eande  rechts  steht:  loh.  El.  Ridinger  e.rc.  Aug.    Vind. 

Ausser  dem  oben  beschriebenen  Blatte  aus  dem  Verlage  von  0«.  Aizen- 
bach  liegen  mir  noch  zwei  von  der  gleichen  Künstlerhand  stammende  und 
in  demselben  Verlage  wie  jenes,  vermutlich  um  ItifiU  hergestellte  Stiche 
vor,  von  denen  der  eine  die  männlichen,  der  andere  das  Seitenstück  zu 
diesem,  die  weiblichen  Altersstufen  zum  Gegenstand  hat.')  Beide  sind 
27  cm  hoch  und  38  cm  breit.  Der  erstere  (C:  vgl.  Abb.  3)  zeigt  auf  einer 
Bandrolle  die  Überschrift: 

.\uff  vnd  Nidernanu':  Deß  ManiilicJien  alters. 


1)  Von  beiden  Stichen  erhielt  auch  die  hiesige  Kgl.  Graphische  Sammlung  durch  den 
letztgenannten  Herrn  Antiquar  Ludwig  Rosenthal  dahier  ein  Exemplar  (Kat.  1  LS  Nr.  407). 
Im  Germanischen  Museum  in  Nürnberg  befinden  sich  im  ganzen  ziemlich  getreue,  doch 
in  wenigen  ICinzelheiten  abweichende  Nachbikliiugcn  der  beiden  Blätter,  von  denen  die 
«ine  (die  der  männlichen  Stufenjahre)  den  Vermerk  'A.  Aubry.  Excudit'  (vgl.  Nagler  L  18'>f.). 
die  andere  kein  Verlegerzeichen  trägt.  Abraham  Aubry,  deutscher  Kupferstecher  und 
Kupferstichverleger  aus  Oiipenhoim,  war  um  K'i.X)  in  Strassburg  für  den  Verlag  seines 
Bruders  tätig,  arbeitete  auch  für  den  Kunsthändler  Paul  Fürst  in  Nürnberg:  nach  1()5."> 
beschäftigte  ihn  der  Vorleger  und  Kupferstecher  Gerhard  Alzcnbach  in  Köln.  Vgl.  Meyers 
Allgemeines  Künstlerlcxikon  2,  .■!76f. 


Die  menschlichen  Altersstiifen  in  Woit  und  Bild. 


31 


Auff  vnJ  Nidergang  Deß  Mannlichen  alters, 
Kupferstich  von  G.  Ahenbach  in  Köln. 


32  Englert : 

Oben  in  den  Ecken  stehon  die  V(>rse: 

links:  rechts: 

Von  Jung:  vnd  alten  Kcutli,  Dem  Mensch  wirdt  vorgestelt 

schaw  hier  den  vndcrschoidt.  Sein  auff  vnd  Nider  geh(n). 

Merck  hier  das  griinun  Holtz,  Ein  trap  der  ander  nach 

wie  dan  die  bliiin  abfeit.  steigt  er,  bleibt  nimmer  stchn. 

Tlieils  mutig  vnd  gcschwindt,  Baldt  ihn  die  Jahren  anff 

Theils  wünschen')  auch  ihr  endt.  vnd  darnach  bringen  ab, 

Theils  Heiratlien  zu  sambt,  Bill  er  zu  jjuluer  wirdt. 

Das  grab  ist  aller  endt.  vnd  aschcn  in  seim  grab. 

Die  verschiedenen  Alter  sind  liier  wie  auf  den  nbiMi  unter  Nr.  i 
beschriebenen  Stichen  dnrch  ciuoii  Stufenbau  mit  auf-  und  absteigenden 
Personen  veranschauliclit. 

Links  unten  liegt  ein  Wickelkind;  neben  ihm  steht  ein  Bridpliinuchoii.  Darüber 
sieht  man  auf  einer  stufenförmigen  Erhöhung  ein  in  einem  Laufstuhl  stehendes  Knäbchen 
mit  Hammer  und  Nagel  (':■)  in  der  Hand:  daneben  ein  Strauch.  Nun  beginnen  die  eigent- 
lichen Stufen  mit  folgenden  Figuren:  10  J.:  Knabe  beim  Spiele,  mit  einem  Stecken  in 
der  rechten  und  einem  Hölzchen  in  der  linken  Hand.  20  J.:  Junker  mit  Stulpstiefeln, 
einen  Federhut  in  der  Hand  haltend.  oO  J.:  Mann  mit  Federhut  und  Degen,  eine  Laute 
unterm  Arm  tragend.  40  J.:  Bewaffneter  Kiieger.  .")0  J.  (oberste  Stufc'l:  Bürger  mit 
Handschuhen.  GO  J.:  Mann  mit  hagerem  Gesicht  und  Judennase,  eine  Geldtasche  am 
Gurt  tragend.  70  J.:  Alter  Mann  mit  langem  Bart,  im  Talar,  mit  der  rechten  Hand  eine 
Bewegung  machend.  80  J.:  Greis  im  Pelz,  auf  einen  Stock  gestützt,  mit  Rosenkranz. 
iHJ  J.:  Gj-cis  im  Pelz,  auf  zwei  Krücken  geliend,  von  zwei  Kindern  verspottet.  100  J.: 
(ireis  auf  dem  Sterbebett,  die  lliinde  gefaltet:  zu  seinen  Häupteu  ein  Engel. 

Den  einzelnen  Personen  sind  folgende  Tierge.^talteM  beigegeben:  .\lTe  (mit  Birne), 
Kalb,  Ochse,  Löwe,  Fuchs,  Wolf  (mit  den  Zähnen  eine  Gans  am  Kragen  fassend,  Hund, 
Leopard,  Esel,  Schwan. 

Unter  den  Figuren  stehen  die  Verse: 

Wickelkind:  Die  blum  im  Knopf  ein  Hoffnung  macht. 

Knäbchen:     Die  KoB  geht  auff  die  Mutter  Laclit. 

/OJ.:  Ich  spiel  gern  wie  der  äff.  60./.:  Des  wolffs  begirligkeit  gefeit  mir. 

20  J.:  Ich  dantz,  ich  spring  wie  ein  Jungs        70  J.:  Die  schätz  der  Hundt  hütt  vnd  bewacht. 

Kalb.  80  J.:  Zorn  vnd  grim  ist  beim  Leopardt, 

SO  J. :  Zur  arbeit  ich  wie  ein  ocks  geh.  90  J. :  Sehr  langsam  mit  dem  Esell  bin. 

40  J. :  Wie  ein  Low  starck  vnd  nuitig  steht.      100  ./.:  Beim  Todt  der  gerecht  wie  ein  schwau 
■'jOJ.:  Des  Fucks  klugheit  du  lind  es  hir.  singt. 

Auf   den    zehn    eigentlichen  Stufen    sind    noch  Schilde  mit  folgenden 

Versen  unterhalb  der  obigen  angebracht: 

Zehen  Jahr  Ein  Kindt.  Sechstzig  Jahr  gehets  alter  ahn. 

Zwantzig  Jahr  Ein  Jüngling.  Siebentzig  Jahr  ein  Greil.i. 

Dreißig  Jahr  ein  Man.  Achtzigh  Jaln-  nimer  weilJ. 

Viertzig  Jahr  wolgethan.  Neuntzig  Jahr  der  Kinder  spott. 

Funfftzig  Jahr  still  stahn.  Himdert  Jahr  begnadt  dir  Gott. 

Die  Verse  stimmen  in  der  Fassung  (abgesehen  von  'gehets' 
für    'gehts')     vollständig     mit    denen     des    Alzenbachschen     Blattes     von 


1)  Für  den  Laut  ii  lindet  sich  hier  und  sonst  auf  den  beiden  Sticlien  durchaus  ein  «. 


Die  menschlichen  Altersstufen  in  Wort  und  Bild.  33 

1616     übereiu'),     von     dein     auch     die     Tiersymbole     herübergeuommeu 
sind.  -) 

Links  von  dem  Trep]3enbau  sieht  man  einen  belaubten,  rechts  einen 
fast  gänzlich  verdorrten  Baum  mit  einer  Eule  auf  einem  dürren  Aste. 
Hinter  einem  in  der  Mitte  des  Mauerwerks  befindlichen  Torbogen  mit  der 
Aufschrift:  Ein  Jeder  doch  bedenck  den  dag  Dem  Niemandt  gantz  entgehen 
mag,  erblickt  man  eine  Darstellung  des  jüngsten  Crerichts,  hinter  zwei 
kleineren  Torbogen  links  und  rechts  mit  den  Aufschriften:  Der  Anfang 
ist  sehr  lieb  vnd  siiefs,  Das  Endt  den  bürden  tragen  mii/'s  eine  Wochenstube 
und  einen  Trauerzug.     Ein  Schild    unten    in  der  Mitte  träot  die  Inschrift: 

Wachet,  dan  ihr  wist  noch  den  tag,  noch  die  stundt.    Hat:  C.  25.  V.  13. 
Selig  ist  der,  der  Gottes  will.  Beim  Richter  wirdt  er  woU  bestehn 

auf  alle  trappen  stelt  sein  Zill.  Sein  lohn  wirt  frewdt  vnd  triumph  sein. 

Linlcs  von  dem  Schild  ein  nackter  Knabe  mit  einer  brennenden  Ampel 
und  einem  Stabe,  an  dem  eine  Tafel  mit  folgendem  Keim  befestigt  ist: 
Bestell  dein  Hau/'s  zu  deinem  best.  Der  Todt  dem  leben  folgt  zu  letz.  Kein 
bleiben  Ist  hier  auff  der  erdt.  Such  droben  nur  wafs  ewig  werdt.  iSTeben 
dem  Knaben  ein  Kreisel  mit  Peitsche,  ein  Lineal,  ein  Masstab,  eine  Abc- 
tafel, ein  Fibelbuch,  ein  Büchei'brett,  ein  Leuchter  mit  Kerze,  eine  Sand- 
uhr. Rechts  von  dem  Scliild  der  Tod  in  einem  Sarge  sitzend,  in  der 
Linken  einen  Pfeil,  in  der  Rechten  einen  Stab  mit  einer  Tafel  haltend, 
welche  die  folgende  Aufschrift  hat:  Bedencken  lehr  vnfs  alle  zeit  Da/s  wir 
dem  todt  zu  gehn  bereit,  Damit  Keiner  betrogen  sey  Mag  difs  all  zeit  bedericken 
frei).  Neben  dem  Tod  eine  Ampel  mit  erlöschendem  Licht,  ein  zer- 
brochenes Stundenglas,  ein  Totenbein,  ein  Spaten,  eine  grosse  Gabel,  eine 
Krücke.     Unter  der  ersten  Stufe  links  steht:  G.  Altzenbach  e.i-c. 

D.  Das  tregenstück  zu  diesem  Blatte  zeigt  auf  einem  Bandstreifen 
die  Überschrift; 

Auff:  vnd  Nidergang  Deß  Weiblichen  alters. 

Die  in  den  oberen  Ecken  befindlichen  Reime  jenes  Blattes  erscheinen 

hier  in  folgender  Umgestaltung: 

links:  rechts: 

Der  .Jung:  vud  alten  Leuth  ihr  Zeit,  Der  Mensch  gcborn  geht  auff,  vud  ab, 

Daß  grön  vnd  DürHoltz  vnderscheidt  Bleibt  nimmer  stehn  biß  zu  dem  grab 

Theils  mutig  gehn,  starck  vnd  geschwindt  Die  Trappen  sichs  du  hier^)  gestelt. 

Der  Todt,  vnd  grab  sie  alle  gewindt.  Von  allen  er  dem  Todt  zufiilt. 


1)  Der  den  beiden  Blättern  gemeinsamen  Lesart  heijnad  begegnen  wir  in  keiner  der 
ZfdPh.  23,  390f.  zusammengestellten  Fassungen  des  Spruches. 

2)  Nur  ist  an  Stelle  der  Katze  der  Leopard  getreten.  --  Der  Affe  als  Symbol  für 
den  lOjähr.  Knaben  und  der  Schwan  als  Symbol  für  den  Hundertjährigen  findet  sich  in 
keiner  der  ZfdPb.  2.3,  403  zusammengestellten  Bilderreihen. 

3)  Im  Original:   lieir. 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1907.  ^ 


34  Englcrf: 

Das  Bild  zeigt  denselben  Stufenbau  wie  sein  Seitenstück  mit  der 
gleichen  Anordnung  der  einzelnen  Figuren'): 

Links  unten  wieder  ein  Wickelkind  mit  Ureipfiiniiclifii.  Darüber  ein  kleines  i[ädchen 
mit  Puppe  in  einem  Laufstulil;  daneben  zwei  blühende  Kosensträuthe.  Dann  auf  den 
eigentlichen  Stufen:  10  J. :  Mädchen  mit  einer  Kose  in  der  rechten  Hand  und  einem  Affen 
auf  dem  linken  Arm.  20  J.:  Vornehm  gekleidete  Jungfrau.  110  J.:  Vornehme  Dame  mit 
grossem  Federhut  und  Fächer.  40  J.:  Schwangere  Frau  im  Mantel  und  Barett.  50  J.: 
Frau  im  Mantel  und  Barett,  mit  Handschuhen.  (10  .1.:  Bürgersfrau  mit  Handschuhen  in 
der  Rechten  und  mit  Mantel  und  Barett  auf  dem  linken  Arm.  70  J.:  Ältere  Frau,  die 
Hände  faltend.  SO  J.:  Alte  Frau,  einen  Rosenkranz  betend.  90  J.:  Greisin  auf  Krücken, 
von  zwei  Kindern  verspottet.  100  J.:  Greisin  auf  dem  Sterbebett,  einen  Rosenkranz  in 
der  Hand.  Neben  ihr  der  Tod  mit  emporgehaltenem  Stundenglas,  zu  ihren  Häupten  ein 
Kngel. 

Bei  den  einzelnen  Gestalten  linden  sich  folgende  Tiersymbole:  Küchlein,  Wiedchoi)!', 
Pfau,  Gluckhenne,  Kranich,  Gans,  Adler,  Eule,  Fledermaus,  — . 

Unter  den  Figuren  stehen  die  Verse: 

Wickelkind:  Der  RosenKnopf  in  windlein  ligt. 
Kleines  Mädchen:  Die  Roß  hir  völlig  sich  außgibt. 

10  J.:  Daß  Rüslein  rieht,  dz  hünelein  spist.        60  J.:  Wie  ein  ganß  ich  mich  mesten  kan. 
20  J.:  Der  wittop  hier'-')  sich  schmückt  10  J.:  Der  Adler  hoch  fleucht,  ich  zu  Gott, 

vnd  ziert.  80  J.:  Ich  wie  ein  EuU  bin  der  weit  spott. 

30-1.:  Die  Juffer  wie  ein  pfaw  stoltzerl.  90  J.:  Ich  Fladermauß  dz  hauß  verwahr. 

40  J.:  Wie  ein  Hiui  ich  mein  Kinder  nehr.       100  .1.:  Ich  sege  die  weit,  zum  Himmel  fahr. 
50  J. :  Wie  ein  Kranich  bin  icli  wachtsam. 

An  "Stelle  der  auf  dem  anderen  Blatte  befindlichen  Schilde  mit  den 
Versen  „Zehen  Jahr  Ein  Kindt  usw."  zeigt  dieser  Stich  Totenköpfe  in 
Nischen.  Auf  dem  verdorrten  Baume  zur  Hechten  fehlt  in  dem  vor- 
liegenden Bilde  die  Eule,  die  hier  der  SOjährigeu  Frau  als  Symbol  bei- 
gegeben ist.  Statt  des  jüngsten  Uericlits  erblicken  wir  hier  hinter  dem 
mittleren  Torbogen  eine  fCirche  mit  Friedhof  und  Beinhaus.  Hinter  den 
beiden  anderen  Bogen  sehen  wir  aucli  auf  diesem  Stiche  eine  Wochenstubo 
und  einen  Leichenzug,  und  zwar  in  ganz  ähnlicher  Darstellung  wie  auf 
dem  anderen  Blatte.  Auf  dorn  mittleren  Torbogen  steht:  Der  Mensch 
gebohren  geht  auf  vnd  ab,  Ist  Elendts  coli  bifs  zu  dem  Grab,  auf  dem  linken: 
Von  allen  Trappen  Her  zu  Kompt,  auf  dem  rechten:  Geiri/ii  iaf  der  Todt, 
vngewifs  die  stundt.  Der  unten  in  der  Mitte  befindliche  Schild  enthält 
dieselben  Verse  wie  der  entsprechende  auf  dem  anderen  Blatte;  nur  liest 
die  erste  Zeile  „die,  die"  für  „der,  der",  die  dritte  „sie"  für  „er".  Die 
links  und  rechts  von  dem  Schilde  befindlichen  Figuren  und  (iegenstände 
sind  die  gleichen  wie  auf  jenem  Blatte.  Audi  die  Verse  auf  den  von 
dem  Knaben    und    dem  Tode    getragenen  Tafeln    sind,    von    kleinen  Ab- 


1)  Miss  Minus  besitzt  noch  einen  diesen  beiden  Blättern  in  allen  Teilen  ganz  ähn- 
lichen Stich  von  Gcrh.  Alzenbach  mit  der  Überschrift  „Ein  trapp  der  vornembsten  Ständt 
der  Welt  vom  Höchsten  biß  zum  Niedrigsten  usw."  Statt  der  Vertreter  der  Lebensalter 
erscheinen  hier  solche  der  verschiedenen  Stände  auf  den  Stufen.  Ein  fünfspaltiges  Gedicht 
nimmt  mehr  als  die  Hälfte  des  Blattes  ein. 

2)  Im  Original:  heir. 


Die  menschlichen  Altersstufen  in  Wort  und  Bild.  35 

weicliuiigen  in  der  Schreibung  uml  der  Lesart  'lehrt'  für  „lehr"  abgesehen, 
ganz  dieselben.  —  In  der  unteren  Ecke  rechts  steht:  G.  Altzenbach  e.ec. 

An  diese  Darstellungen  lehnen  sich  zwei  um  dieselbe  Zeit  erschienene 
holländische  Kupferstiche  an,  von  denen  der  eine  die  beiden  Geschlechter, 
der  andere  die  Frau  allein  auf  den  verschiedenen  Altersstufen  vorführt. 
Beide  Blätter  zeigen  einen  ähnlichen  Stufenbau  wie  die  Alzeubachschen 
Sticlie').  links  davon  ebenfalls  einen  belaubten,  rechts  einen  fast  kahlen 
Baum  mit  einer  Eule  auf  einem  Ast.  Den  einzelnen  menschlichen  Figuren 
sind  keine  Tiersymbole  beigefügt. 

E.    Das   Bild,    welches    die   Stufenalter    des  Mannes    und    des  Weibes 
darstellt,     trägt     auf    einer     Bandrolle     die     Überschrift:     TRAF    DES 
OUDERDOMS.     In  den  oberen  Ecken  stehen  die  Reime: 
links:  rechts: 

Bedencken  leert  ons  telcken  keer  Beschickt  u  huys  tot  u  beclyven 

l)at  wy  doch  sterven  moeten  Heer  Stervcn  moet  ghy  niet  levend  blyven 

Op  dat  wy  daer  door  onbedroghen  Geon  blyfstadt  hier  u  mens  gebeurt 

To  recht  verstandich  werden  mögen.        Dus  soeckt  een  stadt  die  eewich  duert. 
Psalm  00  vers  20. 

Unter  der  ersten  Stufe  links  zwei  Wickelkinder,  daneben  ein  Breipfannchen.  Auf 
«iuer  kleinen  stufenförmigen  Erhiihung  ein  Knäbchen  mit  Tronniiel  und  ein  kleines 
Mädchen  mit  Puppe.  Auf  den  eigentlichen  mit  den  arabischen  Ziffern  10,  20  usw.  und 
den  römischen  Zahlen  I,  II  usw.  bezeichneten)  Stufen  sieht  man  zunächst  einen  Knaben 
mit  Schultasche  und  ein  Mädchen  mit  Stickrahmen,  dann  Junker  und  Fräulein,  hierauf 
yerschiedene  vornehme  Paare,  dann  (70  .1.)  Mann  in  langem  Talar,  Frau  mit  Schlüsselbund. 
(80  J.)  Mann  im  Pelz,  mit  Stock,  Frau  mit  Mufl',  (90  J.)  zwei  Alte  an  Krücken,  die  Frau 
mit  Brille,  dann  unten  rechts  ein  Ehepaar  auf  dem  Sterbebett,  daneben  zwei  Engel,  auf- 
wärtsdeutend. 

Verse  sind  hier  auf  den  einzelnen  Stufen  nicht  angebracht.  In  der 
Mitte  des  Mauerwerks  befindet  sich  in  einem  Zierrahmen  eine  Darstellung 
des  jüngsten  Gerichts;  ein  Spruchband  im  Unterrande  dieses  Bildes  trägt 
die  Aufschrift:  Finis  coronat  opus.  Links  davon  ein  Torbogen  mit  der 
Yerszeile:  Een  soet  hegin  geeft  goet  behagen;  hinter  dem  Bogen  erblickt  mau 
einen  Taufgaug.  Rechts  ein  Torbogen  mit  der  Yerszeile:  Maer  ieynde  sal 
het  -pa.i-ken  drugen  (beide  Zeilen  in  grossen  Buchstaben):  dahinter  ein 
Leichenzug. 

unten  in  der  Mitte  ein  Schild  mit  der  Inschrift: 

Het  leeven  daer  de  mensch  in  woeld,  Nu  Rystmen  en  stracx  daeltmen  weer, 
Is  Pen  gestage  stryd.  't  Is  altyt  Ebb  en  vloed: 

Wanneer  den  eene  vreugd  gevoeld  Die  hier  wel  leeft  krygt  van  den  Heer, 
Den  ander  karmt  en  kryt,  Oock  namaels  't  Eeuwig  goet. 


1)  Im  iiermanischen  Museum  in  Nürnberg  befindet  sich  ein  ähnliches  Blatt,  das  auf 
13  auf-  und  absteigenden  Stufen  die  durch  hohes  Lebensalter  ausgezeichneten  Männer 
des  alten  Testamentes  vorführt.  Überschrift:  „C/j  en  Afyaenden  Trap  van  s'  Menschen  Leven 
in  d'  Eerste  U'etidt.'-  In  den  oberen  Ecken  Verse,  unten  Prosatext.  Links  unten  steht 
S.  Savry.    (Um  1640.     Vgl.  N  agier  15,  52  f.) 

::5* 


36  Englert: 

Links  von  dem  Schild  ein  nackter  Knabe  mit  einer  Seifenblase;  neben 
ihm  fast  sämtliche  Gegenstände  wie  auf  den  zwei  Alzenl)achschen  Stichen. 
Rechts  der  Tod  sitzend,  mit  Stundenglas  und  Pfeil. 

Unter  dem  Bild  steht  in  grossen  Buchstaben: 

Des  menschen  op  cn  nedergangh,  Valt  d'ene  soet  en  d'ander  bangh. 

Darunter  in  sechs  Spalten  die  Verse: 

a)  De  borsten  voen  d'onnosellipyt,  <T)  Maer  op  de  vyfde  is  't  juist  dien  dagh, 

Zoo  langh't  in  d'ecrste  windels  leyt:  Daer  in  die  Son  niet  hoogcr  magh. 

En  komt  de  Pap  pot  op  de  baen,  De  seste  maeckt  na  d'oude  wys, 

Soo  kanmen  pas  in  rollen  staen.  Door  loop  der  tyt  de  haercn  grys. 

Ii)  Daer  hauglitnien  op  de  eerste  trap,  e)  De  zevende  voor  heur  verdriet 

Aen  't  Poppe  al  syn  wetenschap;  Eiuts  kinderen  met  blytschap  siet; 

Maer  die  de  twcedc  traj)  betreen,  Maer  treetmen  eens  op  d'aghste  ti-eo 

Vcrfocyen  sigh  te  syn  alleen.  Soo  sleeptmen  nict  dan  wccdora  mee. 

c)  De  darde  trap  wil  syn  getrout:  /)  En  op  de  negen  sietmen  al 

De  vicrde  eerst  de  bruyloft  haut,  Het  geen  men  was  en  worden  sal. 

En  geeft  met  een  getnygenis  Als  hondert  jaer  de  oogcn  sluyt, 

Wanneer  hy  vaer,  sy  raoeder  is.  Dan  is  des  loopcrs  leeven  uyt. 

In  der  linken  unteren  Ecke  des  Bildes  steht:  Fmnsoys  van  Beusecom^) 
Excudit. 

F.  Die  weiblichen  Stufenalter  (Abb.  4)  zeigen  auf  einer  Bandrolle 
die  Überschrift:  VROUWEN  SPIEGEL.  In  den  oberen  Ecken  stehen 
die  Reime: 

links:  rechts: 

Koom  hier,  cn  zie  dit  zinno  l)eeld.  Hoor  Jlaagden,  Vrysters  Bruyd  ö  vrouw: 

Daer  Yder  vrouw'er  Rol  in  speeld.  M:  Moeder,  Weduw.  koom  aenschouw 

Let,  hoe  de  leugd  van  tyd  tot  tyd,  Hoe  't  Spruytje  groent  en  hoc  "t  verdort, 

Eerst  klirat,  en  dan  naer't  graf  toe  glydt.  En  't  Vlees  weerom  tot  Aerde  wordt. 

Unter  der  ersten  Stufe  links  ein  Wickelkind,  daneben  Brcipfännchon  und  Saugflasche. 
Darüber  auf  einer  kleinen  Stufe  ein  Kind  im  L-jufstuhl,  mit  einer  Kinderklappcr.  Auf 
den  eigentlichen  Treppenstufen:  10  .1.:  Jlädchen  mit  Stickrahmen  und  Blume.  "20  J.: 
Fräulein  mit  Fächer.  :iO  J.:  Junge  vornehme  Frau.  40  J.:  Schwangore  Bürgersfrau  mit 
Körbchen.  50  J.:  Vornehme  Dame.  CO  J.:  Dame  mit  eingefallenen  Wangen.  70  J.: 
Gebückte  alte  Frau  mit  Sehosshündchen  auf  dem  Arm.  80  J.:  Am  Stock  gehende  Alte. 
90  J. :  Stark  gebückte  Alte  auf  Krücken.  100  J.:  Greisin  auf  dem  Totenbett:  neben  ihr 
ein  Engel. 

Neben    den    bei<len  Figuren   links  unten  stehen  die  Verse:    "Eerst  als 

een  block'  und  '2  Nu  spei  en  lok'. 

Unter  den  auf  den  Stufen  befindlichen  Figuren  liest  man: 

10  Ik  leef  gerust  CO  Myn  blos  vergaet 

20  'k  Heb  liefde  en  lust  70  'k  Lccf  nu  alleen 

30  'k  Gaf  vreugd  voor  kru(i)s  80  Ik  kug  en  steen 

40  'k  Vermeer  myn  huis  90  'k  Lil  als  een  gras 

50  'k  Plecg  Huwli.\raed  100  'k  Werd  det  ik  was 


1)  Beusokom,  Frans  van,  Kupferstecher  und  Verleger  von  Kupferstichen;  arbeitete 
nm  die  Mitte  des  17.  Jahrb.  in  Amsterdam.  Vgl.  Allg.  Künstlerlexikon  von  J.  Meyer  :i, 
722  und  Biographisch  Woordenbock  der  Nederlanden  door  A.  J.  van  cler  Aa  2  (1853),  476. 


Die  meuschlichen  Altersstufen  in  Wort  und  Bild. 


37 


In  der  Mitte  des  Mauerwerkes  befindet  sich  eine  Darstellung  des 
ersten  Menschenpaares  nach  dem  Sündenfall.  Die  Umrahmung  derselben 
bildet  eine  Girlande  aus  Äpfeln,  um  die  sich  oben  eine  Bandrolle  mit  der 
Aufschrift:  Door^t  woord  geplät  en  weer  verbräd  (in  grossen  Buchstaben)  und 
unten  ein  Band  mit  dem  Spruch:  Finis  coronat  opus  schlingt.  Links  und 
rechts  sind  Medaillons  mit  Darstellungen  des  Sündenfalls  und  der  Ver- 
treibung  ans  dem  Paradiese,    das  erste  mit  der  Umschrift:    Met  vreugd  en 


TlFN    VFlTviRSLYT    £T  VROUWE    KLEED       MtT  VREUGD  EN  D  ANDER  WEER  MET   LEET 

i;Sä,v„/.~-V/Jl-     Jir/«,,^/.i-r-'''-''-»2'      ai.'Ji'VI^-«'"'^^^  ■^L"ii-y/J'-'-~i^-V       -f'^..^..^  i~:^^t         f..,^X,.j,^.;r.,.    4- 
UtZ,ti„L„l.iJ    .i^Ml.^,,^1^..-     S^^J-J-ß-^v.-"  l-^ßJi^M-^j-^V'-     .Ä.«,^„.,/^„.      J„IX.J^  S~t^ji^ 


4.  Frauenspiegel, 
Kupfersticli  von  Rombout  van  den  Hoeye  in  Amsterdam  (um  lü50). 


tuet  cennaer  is  liet  begin  geschiedt,  das  zweite  mit  der  Umschrift:    Maer  laes 
teil  lesten  ist  macr  iammer  en  verdriet  (in  grossen  Buchstaben). 

Unten  in  der  Mitte  ein  Schild  mit  demselben  Reim  wie  auf  dem 
Blatte  'Trap  des  ouderdoms',  jedoch  ohne  die  beiden  letzten  Verse.  Links 
von  dem  Schild  ein  Knabe  mit  brennender  Ampel  und  einem  Fähnchen 
mit  der  Aufschrift:  Vit  zondig  zaed  —  Zeer  boos  en  quaed  —  Ik  zoo  'k  beken 
—  Geboren  ben.  Psal.  51.  Neben  dem  Knaben  dieselben  Gegenstände 
wie    auf   dem    zuvor    beschriebenen  Blatte.     Rechts    von    dem  Schild    der 


38  Enprlert: 

Tod  sit/.oiiil,  mit  Stuiuloiiglas  luid  i'feil  uiul  oiueiii  Fahnclieii  mit  doiii 
Reim:  0!  Mensch  u  leev<\  —  En  fi/d,  is  eeven  —  Gehjk  een  Bloem  —  Uaest 
zonder  Roem.  Psal.  103.  —  Unter  dem  Bilde  steht  in  grossen  Buclistaben: 
Den  een  verslyt  et  vrouwe  klced  Met  vreugd  en  d'ander  weer  met  leet. 
Daniiiter  in  sechs  Spalten  dieselben  Verse  wie  auf  dem  Blatte  'Trap 
des  oiulerdoms',  jedoch  in  einer  tler  vorliegenden  Darstellung  angepassten 
Umgestaltung.     Sie  lauten  hier: 

a)  De  borsten  voen  d'onnozellipid,  d)  Maer  op  de  vyfde  is"t  inist  dien  dag 
Zoo  lang  "t  iu  d'eerste  windzels  lejt.  Daer  in  liaer  zon  niet  hoogcr  mag. 

En  koomt  de  Pap-pot  op  de  baen,  De  seste  maekt  naer  d'oude  wys. 

Zoo  kan't  pas,  in  de  steun-stoel  staen.  In  weduwschap,  de  hairen  grys. 

h)  Ja  't  hangt,  al  is  't  op  d'eerste  trap  e)  De  zeevende,  voor  heur  verdrict 
Aen't  Poppen  al  er  weetenschap.  Kints  kiudere,  met  Wydscbap  ziet. 

Maer  die  de  twede  trap  betreet  Maer  treet  zy  ecns  op  (Pachtste  tree. 

Verlangt  terstont  naer  t'  Bruydloft  kleed.  Zoo  sleep  ze  miets  dan  weedom  mce. 

t)  De  darde  trap  pronckt  met  de  Trouw.  /)  En  op  de  Neegen  ziet  zy  al 
En  draegt  eerst  een  volkome  vrouw.  Het  gecn  zy  was  en  worden  zal. 

Do  vierdc  geeft  getuygcnis  Doch  Honderdiaer  heur  ogen  sluit: 

Wanneerze  V^rouw  en  Moeder  is.  Dan  is  des  leevens-loper  uit. 

In  der  linken  unteren  Ecke  steht:    Rombout  van  den  Hoeye^')  E.i-cv</i/t. 

G.  .Vielfache  Ähnlichkeit  mit  der  "i'ra])  des  ouderdoms"  in  den  Figuren 
und  im  Beiwerk  zeigt  ein  etwa  in  den  neunziger  Jahren  des  17.  Jahr- 
hunderts von  einem  Augsburger  Fornischneider  und  Briefmaler  namens 
Albrecht  Schmid")  in  etwas  roher  Manier  angefertigter  Holzschnitt  mit 
der  Überschrift  in  Tyj)endruck: 

Das  Alter  steigt  hinan,  die  Kräfften  nehmen  ab,  Zu  waclisen 
immer  thut  der  Mensch  zu  seinem  Grab.') 

Jedoch  ist  daraus  nicht  mit  Bestimmtheit  zu  folgern,  dass  ihm  gerade 
dieser  Stich  vorgelegen  haben  muss.  Die  Darstellung  mag  ihm  recht 
wohl  durch  eine  Nachbildung  des  Beusekomschen  Blattes  vermittelt  worden 
sein.  Wenn  er  aber  dieses  benützte,  so  war  es  nicht  sein  einziges  Vorbild. 
Jedenfalls    kannte    er    auch   die    beiden    späteren  Alzenbachschen    Blätter 

1)  Kupferstecher  und  Kunsthändler:  um  die  Mitte  des  17.  Jahrli.  iu  Amsterdam  tätig. 
Vgl.  A.  J.  van  der  Aa,  Biographisch  Woordenboek  8  (18GT),  89(1  und  Naglers  Künstler- 
lexikon G,  :j33. 

'J)  Nagler  gibt  iu  seinem  Künstlorlcxikon  l.\  -JK  ühn  ilin  an:  „Schmidt  oder  Schmid, 
Albrecht,  Kupferstecher,  lebte  im  18.  .lalirhundeit  zu  Augsburg,  hatte  da  auch  eine  Kunst- 
handlung.-' N'ach  gütigen  Mitteilungen  des  Augsburger  Stadtarchivars  Herrn  Dr.  Pins 
Dirr  und  des  Herrn  Apothekers  H.  Weissbecker,  Vorstandes  der  Augsburger  Kugfcrstich- 
sammluiig,  war  Schmid  in  Ulm  geboren  imd  heiratete  1694  eine  Bürgerstochter  von  Augs- 
burg, Euphrosina  Ulrich.  Nach  den  Grnndbucliauszügen  besass  er  kein  eigenes  Haus. 
Im  Steuerbuche  1717  kommt  er  noch  vor  und  wohnte  dazumal  ..Sachsengasse  vom  neuen 
Bad  auf  dem  Marfüssergraben".  was  der  Gegend  des  auf  dem  Holzschnitt  erwähnten 
unteren  Grabens  entspricht. 

;!)  Höhe  dos  Bildes  30,5  cm,  Breite  34,5  ':m.  Das  im  Besitze  der  Miss  S.  Minns 
befindliche  Exemplar  ist  mit  der  Hand  koloriert. 


Die  menschlichen  Altersstufen  in  Wort  und  Bild.  39 

oder  DarstellunsRU  bzw.  Naclibilduugeii  mit  den  gleichen  Reimen,  da  die 
über  seinem  Bilde  befindlichen  Verse  aus  Sprüchen,  die  sich  auf  jenen 
Blättern  zerstreut  finden,  zusammengestellt  sind.  Auch  der  Umstand,  dass 
Schmid  die  zwei  links  auf  der  kleinen  Stufe  befindlichen  Kinder  in  einem 
Laufstuhl  darstellt,  weist  auf  eine  weitere  Vorlage  hin. 

Der  Holzschnitt,    der    einen    ähnlichen  Stufenbau    wie  die  im  vorher- 
gehenden geschilderten  Bilder,  mit  einer  Darstellung  des  jüngsten  Gerichts 
hinter    einem    im   Mauerwerk    befindlichen  Bogen    imd   ähnlichen  Motiven 
im  Unterrande  zeigt,  enthält  folgenden  eingeschnittenen  Text: 
Links  unten:  kindisch')  Mein  Mueder  Mich  gebahr. 
Auf  den  Stufen: 

klein  Bin  Ich  Noch  zu  10  Jahr  (>0  Muß  ich  IJchon  stcign  ab 

Zu  20  Jahr  fang  ich  an  zlieben  70  Rieht  ich  mich  zum  grab 

30  In  dem  hau(s)stant  zu  üeben  SO  Ich  Nichts  :Mehr  Nime  Hir 

40  Ein  Man  Recht  in  der  that  '.»0  Ich  zu  der  Erdt  marßchier 

50  Sthe  ich  im  hechsten  grat  100  Ich  Stürb  das  Endt  ist  hier. 

Auf  dem  Torbogen  im  Mauerwerk: 

Bedenkh  das  Lezt  gericht  Steh  ab  von  deinen  Siiiden  —  Dann  Nach  dem  du  gelobt 
Nach  dem  Wirdt  dich  gott  fünden. 

Auf  dem  unten  in  der  Mitte  befindlichen  Schild: 

Wie  der  Mensch  stcuget  auf  In  Driebsai  Manigfalt 

AUso  steugt  Er'^)  auch  ab  Biß  Man  in  trw/t  zu  grab. 

Ausserdem  enthält  das  Blatt  noch  folgende  Verse  in  Typendruck: 

Unter  dem  Titelreime  in  sechs  Spalten: 

a)  Der  Mensch  geborn  geht  auf-  und  ab,  r/)  Kein  bleiben  ist  allhie  auf  Erd, 

Ist  Elend  voll  biß  in  das  Grab,  Such  droben  nur  das  ewig  wehrt, 

h)  Der  Anfang  ist  sehr  liob  und  süß,  e)  Bedencken  lehr  uns  allezeit, 

Das  End  die  Bürde  tragen  muß,  Daß  wir  dem  Todt  zugehn  bereit, 

c)  Drum  bestell  dein  Hauß  zu  deim  best,  f)  Damit  keiner  betrogen  sey. 

Der  Todt  dem  Leben  folgt  zu  letzt,  Mag  diß  bedencken  allzeit  frey. 

Unter  dem  Bilde  in  sechs  Spalten: 

a)  Ein  solchen  Anfang  haben  wir  (!)  SecA^aig  tritt  das  Alter  ein, 

Allesambt,  wie  stehet  allhier,  Sc/meeweiß  will  das  Haare  seyn. 

Biß  auf  zehen  Jahr  ein  Kind,  Wen«  die  Sibentzig  vorbey, 

ünvermöglich,  Sinnen  blind.  Achtzig  seynd  halb  Witze  frey. 

A)  Hat  man  zwantzig  Jahr  erlebt,  e)  Neuntzig  machen  dich  zum  Spott. 

Unser  Witz  sich  was  anhebt.  Seynd  wir  hun4ert  gnad  uns  GOtt. 

Wer  zu  dreyßig  Jahren  geht,  Wohl  dem  der  die  gantze  Zeit, 

Jetzt  für  einen  Mann  besteht.  Sich  zu  seinem  Todt  bereit, 

c)  Viertzig  Jahr  seynd  voller  Müht,  /')  Sihe  deines  Lebens  Lauff, 

Geben  uns  das  beste  Blut.  Gehet  wie  die  Rosen  auf, 

Fünfftzig  stehen  in  der  Waag,  Fiillet  wie  die  Blatter  ab, 

Und  du  Mensch  lebst  im  Mittag.  Wann  dich  GOtt  bescheid  zum  Grab. 


1)  Im  Original:  l^imlihfs. 

2)  Die    kursiv    gedruckten  Buchstaben    sind  in  dem  Exemplar  der  Miss  Minus  durch 
einen  Bruch  im  Blatte  gar  nicht  oder  schwer  leserlich. 


40  Englert: 

Unter  diesen  Reimen  steht: 

AiKjspurg  zu  finden,  bei)  Albrecht  Sclimid,  Foiinschneider  und  Brieffmahler 
Hmifs  und  Laden  auf  dem  untern  Graben}') 

Zum  Schlüsse  lasse  ich  noch  eine  Zusammenstellung  der  auf  einer 
Anzahl  der  oben  beschriebenen  Blätter  vorkommenden  Tiersymbole  folgen, 
wobei  ich  auf  die  von  Zacher-Mattliias,  ZfdPh.  -23,  403  gegebene  Über- 
sicht ver\Yeise: 


1)  JEiss  Minns  besitzt  auch  einen  um  1800  in  Paris  bei  Gentry  nie  St.  Jacques  Nr.  33 
erschienenen  Stahlstich  (31x2U;h)  ^Us  Diffi-rem  Ikyre's  des  Ages"-,  der  die  beiden  Ge- 
schlechter in  zehn  Lebensaltern  auf  an-  und  absteigenden  Stufen  vorführt  und  auch  wie 
mehrere  oben  beschriebene  ältere  Blätter  eine  Uarstellung  des  jüngsten  Gerichts  enthält. 
Den  .Al)bildungen  der  einzelnen  Stufenjahre  sind  keine  Verse  beigefügt,  nur  kurze  Be- 
merkungen wie:  .,40  Agc  de  discretion",  „70  Age  de  dccadcnce".  Miss  Minns  macht  mich 
auch  auf  die  von  Felix  Soleil  in  seiner  Schrift  Les  Heures  Gothiques  etc.,  Rouen  188-2 
S.  311".  (vgl.  auch  S.  88 f.  1041".  l.'jSf)  aus  den  'Ileures'  von  Simon  Voslre  (MOS)  abgedruckten 
12  Vierzeiler  aufmerksam,  in  denen  zwölf  je  einen  Zeitraum  von  sechs  Jahren  umfassende 
Lebensabschnitte  mit  den  Monaten  in  Beziehung  gebracht  werden.  Miss  Minns  besitzt 
einige  von  Soleil  nicht  erwähnte  Livres  d'Heures  mit  ähnlichen  Versen,  darunter  eine 
Ausgabe  der  Heures  von  Thielman  Kerver  vom  2.  Jan.  1524  (die  von  Soleil  S.  151  f.  be- 
schriebene ist  vom  i;i.  Juni  lü-J.")  daticrti  mit  Varianten  fast  ausscliliesslich  rein  ortho- 
graphischer Art.  —  Im  Germanischen  Museum  in  Nürnberg  befindet  sich  ein  Kupferstich 
mit  der  l''berschril't;  'Lustige  Ählnldung  Der  drey  Siitiirlichen  Lüsten  defs  Menschen  liier  au  ff 
Erden,  nach  dem  gemeinen  Sprichwort,  Aller  guter  hinge  sollen  Drey  seyn.'  Das  Bild  zeigt 
links  einen  auf  einem  Stuhle  sitzenden  Junker  mit  seiner  Geliebten  auf  dem  Schosse,  in 
der  Mitte  einen  mit  dem  Reif  spielenden  und  einen  auf  dem  Steckenpferd  reitenden  Knaben, 
rechts  einen  alten  Mann,  der  ein  Weinglas  in  der  Hand  hält,  bei  seiner  Frau  am  Tische 
sitzend.  Unter  der  Abbildung  in  drei  Spalten  je  1(1  Verse  auf  die  Neigungen  der  Kind- 
heit, der  Jugend  und  des  .alters  und  darunter  die  Adresse  „Zu  finden  bey  Paulus  Fürst 
Kunsthändlern,  1652."  —  Im  letzten  Herbst  sah  ich  in  Graz  im  Schaufenster  eines  Anti- 
quitätenhändlers eine  Folge  von  neun  Kupferstichblättern  aus  dem  18.  Jahrhundert  (der 
zehnte  fehlte)  mit  Darstellungen  der  Lebensalter  ausgestellt,  welchen  je  einer  der  folgenden 
Verse  beigesetzt  ist:  10.  Jahr  hindischer  Art.  —  20.  Jahr  ein  Jüngling  Zart.  —  30.  Jahr 
ein  starcker  Mann.  —  40.  Jahr  ein  wohl  gethan.  —  50.  Jahr  stille  stehen.  —  60.  Jahr  ins 
Alter  (jehen.  —  10.  Jahr  ein  .-Uter  Greifs.  —  80.  Jahr  nicht  mehr  u-eifs.  —  90.  Jahr  der 
Kinder  Spott.'-  Unter  jeder  Darstellung  befindet  sich  ein  lateinisches  und  ein  deutsches 
Gedicht  von  je  12  Zeilen.  Der  deutsche  Spruch  auf  dem  ersten  Bogen  beginnt  mit  dem 
Verse:  ,So  bald  ein  Kind  auf  schwachen  Füssen.-  Im  Unterrande  eines  jeden  Blattes 
steht  „Dan.  Hertz  inv.  del.  et.  exe.  Aug.  Vind."  Als  Stecher  sind  genannt  Jac.  Gottl.  Thclol, 
Wangner  nni  Lindeman.  (Vgl.  Nagler  G,  139;  18,  302;  21,115;  7,  533 f.).  -  Eine  poetische 
Behandlung  des  Stoffes  aus  neuerer  Zeit  liegt  uns  in  einem  Gedicht  'Die  Stufenjahre'  vor, 
das  sich  in  den  'Sagen  und  Bildern'  des  Grafen  Moritz  zu  Bentheim-Tecklenburg 
2.  Aufl.  Würzburg  1853  S.  26 f.  findet.  Es  sind  fünf  Lobensstufen  unterschieden  (Kind, 
Knabe,  Jüngling,  Mann,  Greis),  die  in  je  einer  achtzolligen  Strophe  charakterisiert  werden. 
Eine  im  Jahre  1829  in  Fulda  erschienene  'Ode'  von  K.  Wolf,  'Die  Lebensalter'  blieb  mir 
unzugänglich. 

Nachtrag.  Zu  Nr.  2  meines  Aufsatzes  (oben  15,  404 f.)  sei  hier  noch  liemerkt,  dass 
Wolckenstcrn,  wie  mir  der  Herausgeber  dieser  Zeitschrift  gütigst  mitteilt,  den  Titel 
seines  Gedichts  (oben  15,  407)  wohl  dem  'Zodiacus  vitae'  des  Palingen  ins  nachgebildet 
hat,  der  aber  nichts  von  den  Lebensaltern  sagt. 


Die  menschlichen  Altersstufen  in  Wort  und  Bild. 


41 


Alter  der  Männer 

Alter  der  Frauen 

1. 

2. 

3. 

4. 

5. 

1. 

2.        ' 

3. 

4. 

Discorso 

Schrot 

Bertello 

Alzenbach 
KllG 

Alzenbach 
A.  u.  N. 

Schrot 

Bertello 

Alzenbach  Alzenbach 
1616       A.  u.  N.') 

1 

Schwein 

_ 

Elster 



— 

10 

Eich- 
hörnchen 

Geiss- 
böckchen 

Lamm 

Affe 

Affe 

Zeisig 

Trut- 
henne 

Affe 

Küchlein 

20 

Lamm 

Kalb 

Rehbock 

Kalb 

Kalb 

Nachti- 
gall 

Pfau- 
fasan 

Taube 

Wiede- 
hopf 

30 

Reh- 
böckchen 

Stier 

Stier 

Stier 

Ochse 

Pfau 

Gluck- 
henne 

Pfan 

Pfau 

40 

Pferd 

Löwe 

Löwe 

Löwe 

Löwe 

Adler 

Vogel 
Strauss 

Gluck- 
henne 

Gluck- 
henne 

50 

Ochse 

Fuchs 

Fuchs 

Fuchs 

Fuchs 

Henne 

Ente 

Storch 

Kranich 

60 

Löwe 

Bär 

Wolf 

Wolf 

Wolf 

Elster 

Papagei 

Gans 

Gans 

70 

Elefant 

Hund 

Dachs- 
hund 

Hund 

Hund 

Täubin 

Rabe 

Geier 

Adler 

80 

Kamel 

Katze 

Esel 

Katze 

Leopard 

Eule 

Gans 

Eule 

Eule 

'JO 

Bär 

Esel 

— 

Esel 

Esel 

Gans 

— 

Fleder- 
maus 

Fleder- 
maus 

100 

Affe 

Gänserich 

— 

Schwan 

Schwan 

Fleder- 
maus 

_ 

— 

[Tod] 

110 

Dachs 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

120 

Maulwurf 

— 

— 



— 

— 

1 

— 

Müucheu. 


Nachtrag:  Die  sieben  Lebensalter  werden  auf  den  Tod  vorbereitet. 

Die  Kenntnis  der  folgenden  bisher  unbekannten  nd.  Reime  des 
l.j.  Jahrhunderts  auf  die  Lebensalter  verdanken  wir  Herrn  Dr.  R.  Lüdicke 
in  Charlotteuburg.  Er  fand  sie  im  Staatsarchiv  Münster  in  einem  Register- 
buche des  Klosters  Abdinghof  in  Paderborn,  das  die  Besitzungen  in  der 
GJraischaft  Schaumburg,  Rezeptur  Gr.  Wieden  1442—1542  enthält,  auf  Bl.  4  a. 
Offenbar  waren  die  Verse  zur  Unterschrift  von  acht  Bildern  bestimmt,  auf 
denen  jedesmal  ein  Geistlicher  dargestellt  war,  wie  er  einem  Vertreter  der 
sieben  Lebensalter,  die  hier  mit  den  sieben  Horae  canonicae  in  Parallele 
gesetzt  sind,  auf  dessen  Selbstvorstellung  eine  strenge  Mahnung  an  den 
Tod  vorhält.  Wie  zur  Bestätigung  seiner  Warnung  erscheint  schliesslich 
der  Tote  (Mors),  der  des  göttlichen  Gerichtes  harrt. 

Dem  Ganzen  liegt  derselbe  Gedanke  zugrunde  wie  dem  1511  [?]  in 
Basel  aufgeführten  Fastnachtspiele  Gengenbachs  von  den  zehn  Altern  und 


1)  Vgl.  zu  'Alter  der  Männer'  1  oben  l.j,  404:  zu  2  oben  S.  18,  zu  3  S.  23,  zu  4 
S.  26,  zu  5  S.  30:  zu  'Alter  der.  Frauen'  1  oben  S.  20,  zu  2  S.  24,  zu  3  S.  26, 
zu  4  S.  33. 


4-2 


Dübi: 


dem  Walilbruiler'),  nur  dass  die  Aufforderiini;-  zur  Besserung  liier  in  die 
knappste  Form,  den  immer  wiederkehrenden  Hinweis  auf  den  Tod,  zu- 
sammengedrängt ist.  Abweicliend  sind  auf  cincui  ülasgemälde  zu  Troyes^) 
von  1498  oder  1510  die  sieben  Lebensalter  mit  einer  Frauengestalt  grup])iert, 
die  jedem  ein  bedeutsames  Geschenk  (Kirchenmodell,  Schiff,  Monstranz, 
Uhr,  Schwert  usw.)  reicht;  da  erklärende  Unterschriften  fehlen,  deutet 
Wackernagel ')  diese  Frau  mit  hoher  Wahrscheinlichkeit  als  das  personi- 
fizierte Leben. 


Infaiitia  to  metten 
lok  bj-n  clcyne  vnde  werde  noch  grot. 
Doctor 

Kyiit,  (ly  eil  is  nicht  so  wys  als  i\r.  (hn't.' 

I'iiericia  to  priiiic 
Myn  leuen  is  iny  noch  vnbekant. 

Doctor 
Ja  kynt.  de  doet  mach  konien  altehant. 

Adoloscentia  to  lernen 
Alle  tijt  byn  ick  van  herten  vre. 

Doctor 
De  doet  wyl  koinen  su  wal  toe. 

•luucnis  to  Sexten 
Ick  byn  van  jaren  eyn  vrolick  man. 

Doctor 
Du  inoest  steruen.  dencke  daran! 


Vir  to  none 
De  «erlt  is  nu  au  iny  gestoruen. 

D  o  c  1 0  r 
10  De  doet  mach  koinen  auent  ifte  morgen. 

Senei  to  vesper 
Ick  ga  iip  krucken  vnde  byn  kranck. 

Doctor 
De  doet  wy|l|  dy  volgen  altehaut. 

Decrepitus  to  complete 
De  doet  kummet,    vnde   ick  moet  de  werlt 

Doctor  vorlaten. 

Hefftu  wat  gudes  gedaen,  dat  sol  dy  baten. 

Mors  toem  lesten 
15  Ick  byn  doet.  na  mynen  werken  schal  ick 
Ooctor  'oe"  "itfaeu. 

Dat  is  war,  weute  weder  keren  is  nu  gedaen. 

J.  13. 


Drei  spütmittelalterliclie  Legenden  in  ihrer  Wanderung 
aus  Italien  durcli  die  Schweiz  nach  Deutschland. 


Von  Heinrich  Dübi. 


Dass  Legenden  des  j\littclalters,  die  in  Italien  oder  Frankn'icli  ihren 
Ursprung  genommen  oder  wenigstens  ihre  erste  feste  Form  gewonnen 
hatten,  in  der  Schweiz  vorübergehend  oder  dauernd  lokalisiert  wurden 
und  hier  ein  speziell  schweizerisches  (lepräge  erhielten,  ist  eiiir  mehrfach 
beobachtete  Tatsache.  Den  Weg  aber  nachzuweisen,  auf  welchem  diese 
Einwanderungen  geschahen,  ist  nicht  immer  leicht;  denn  manchmal  sind 
es    nur    unbedeutende  und  nebensächliche  Sagenzüge,    welche  uns  auf  die 


1)  Pampliihis  Gengenbach  hsg.  von  Goedeke  ISöti  S.  448;  vgl.  Wickrams  Werke  5,  XV  f. 

2)  Didron,  Annales  archeologiques  1.  434f. 
:!)  Wackcruagel,  Die  Lebensalter  1S6'2  S.  2ü. 

4)  Der  Tod  das  Gewisseste:  U.  Kiihler,  Kleinere  Schriften  _',  IJs. 


Drei  spätmittelalterliche  Legenden.  43- 

Spur  führen,  ein  auffälliges  Wort,  eine  hingeworfene  Vergleichung  und 
dergleichen.  So  bin  ich  zuerst  durch  den  Umstand,  dass  Conrad  Justin ger 
in  seiner  'Berner  Chronik'  (1420—30)  einmal  das  Wort  'RunzifalF  im 
Zusammenhang  mit  einer  kriegerischen  Niederlage  gebraucht,  darauf  ge- 
führt worden,  hierin  eine  Einwirkung  der  Sage  von  Karl  dem  Grossen 
und  seinen  Paladinen,  die  französischen  Ursprungs  ist,  zu  erblicken.  Denn 
etwas  anderes  als  die  Niederlage  der  Franken  unter  Roland  im  Tal  von 
Roncevaux  Hess  sich  doch  in  dieser  Anspielung  nicht  vermuten.  Aber 
wie  war  die  Kunde  davon  nach  Bern  gekommen  und  hatte  sich  dort  so 
zähe  festgesetzt,  dass  'in  Runzifall  kommen'  heute  noch  volkstümlicher 
Ausdruck  für  'in  schweren  Schaden  geraten'  ist?  Deutsche  Übersetzungen 
der  Chanson  de  Roland  in  Versen  kommen  allerdings  in  Deutschland  seit 
1133  vor,  und  bernische  Pilger,  die  nach  San  Jage  di  Campostella  wall- 
fahrteten,  konnten  auf  ihrem  Wege,  der  sie  durch  das  Tal  von  Roncevaux 
führte,  die  lokale  Tradition  vernehmen  und  nach  Hause  bringen.  Aber 
es  ist  doch  viel  wahrscheinlicher,  dass  die  Erinnerung  an  das  Ereignis 
von  Roncevaux  aus  der  in  der  Schweiz  und  besonders  in  Zürich  beliebten 
allgemeinen  Karlssage  stammt,  deren  Spuren  wir  auch  in  einer  der  drei 
von  uns  zu  behandelnden  Legenden  wiederfinden  werden.  Das  Volksbuch 
vom  Kaiser  Karl  ist  uns  aus  einer  Züricher  Handschrift  des  15.  Jahrh. 
bekannt,  geht  aber  sicher  auch  iu  der  Scliweiz  in  viel  frühere  Zeit  zurück, 
wenn  wir  die  Quellen  auch  nicht  nachweisen  können.  Die  Überlieferung 
dieses  Sagenstoffes  von  Volk  zu  Volk  ist  also  vorzugsweise  auf  schrift- 
lichem Wege  erfolgt,  und  es  spielen  dabei  die  Klöster  und  die  Geistlichen 
wie  für  andere  literarische  Cfebiete  eine  erhebliche  Rolle. 

Das  nämliche  gilt  von  den  drei  Legenden,  die  wir  uns  zu  behandeln 
vorgenommen  haben,  und  die  mit  der  Karlssage  das  gemeiu  haben,  dass 
sie  auf  fremdem  Boden  erwachsen,  durch  zufällige  Veranlassungen  nach 
der  Schweiz  verpflanzt  wurden.  Aber  mehr  als  diese  haben  die  Erzählungen 
vom  Landpfleger  Pilatus,  vom  Ewigen  Juden  und  von  Frau  Vrene 
und  dem  Tannhäuser  hier  Wurzel  gefasst  und  sind  aus  den  Zellen 
der  Mönche  in  die  Werkstätten  der  Bürger  und  in  die  Hütten  der  Bauern 
eingedrungen  und  iu  deren  Phantasie  und  Glauben  zu  frischem  Leben 
gelangt. 

Wenn  wir  die  drei  Legenden  hier  iu  eine  literarische  Einheit  bringen, 
so  ist  das  durchaus  nicht  willkürliche  Mache,  sondern  nur  die  äussere 
Form  für  ihren  inneren  Zusammenhang.  Dass  Pilatus  und  Ahasverus 
stofflich  zusammengehören,  ist  ohne  weiteres  verständlich;  beide  Figuren 
treten  in  einem  'provenzalischen  Mysterium'  des  15.  Jahrhunderts  neben- 
einander auf),  und  unter  der  Einwirkung  heidnischer  Mytiiologeme  sind 
sie  in  der  Schweiz,  speziell  im  Aargau  und  Baselland  geradezu  ineinander 


1)  Vgl.  Gaston  Paris,  Legendes  du  moyen  ägc  l'.IÜO  p.  lißf. 


44  l^üb'  ■ 

geflossen.     Scheinbar  fremd  steht  dagegen  die  Tannhäusersage  den  beiden 
hinderen  gegenüber,    aber  gerade  liier  glaube  ich  den  Nachweis  führen  zu 
können,    dass  die  Nachbarschaft,    in  welcher  Pilatussee  und  Venusberg  in 
Italien    zueinander    stehen,    sich   in  der  Schweiz  wiederholt,    und  dass  das 
Taunhäuserlied  in  seinen  schweizerischen  Formen  den  Ursprung  aus  Italien 
deutlich  verrät.    Jedenfalls  aber,  und  dies  scheint  mir  bisher  nicht  genügend 
beachtet    worden    zu    sein,    sind  Schweizer    oder    in    der  Schweiz  lebende 
Literaten  an  der  Ausbreitung  aller  drei  Legenden   in  Mitteleuropa  hervor- 
ragend beteiligt  gewesen,  und  dieser  Umstand  rechtfertigt  wohl  eine  Neu- 
beliaudlung    der    mit    ihnen  verknüpften  Fragen.     Es  wird  dabei  nicht  zu 
vermeiden  sein,  dass  Bekanntes  wiederholt  wird,  aber  in  einen  neuen  Zu- 
saninuMihang    gebracht,    dürfte    es    doch    auch  den  Kenner  dieser  ziemlich 
umfangreichen    Literatur    interessieren.      Für    die    schweizerische    Sagen- 
forschung  wird    sich  aus  den  nachfolgenden  Untersuchungen  die  Tatsache 
ergeben,    dass    von  der  Mitte,    vielleicht  schon  von  Anfang  des  1.3.  Jahrh. 
hinweg  über  die  Bergpässe,  die  aus  Italien  in  die  an  der  Rhone,  der  Reuss, 
der  Limmat  und    der  Aare    im  Entstehen  begriffenen  Eidgenossenschaften 
führten,    nicht  nur   Gesittung    und  Kaufmannsgüter,    sondern    auch    Sagen 
unil    Legenden    eingedrungen    sind    und    von    einer    noch    geistig  frischen 
Bevölkerung    wie   in  einem  guten  Nährboden  begierig  aufgesogen  wurden. 
Wie    lue  Verpflanzung    und  Verbreitung  geschah,    köimen  wir,    wie  schon 
iingedeutet  wurde,  nicht  in  allen  Fällen  nachweisen,  aber  die  zeitliche  und 
räumliche  Begrenzung    der  Sagenströme,  ist  klar,    und  der  ganze  Vorgang 
bietet  durch  mehrere  Jahrhunderte  hindurch  ein  anschauliches  Bild  geistigen 
Lebens    und    manche  Überraschungen    und    merkwürdige  Vertauschungen. 
Und    auch    das    ist    literarhistorisch  merkwürdig,    dass  die  drei  Legenden, 
nachdem  sie  einmal  aus  dem  Orient  nach  Italien  und  von  da  in  die  Schweiz 
gelangt  waren,  dort  solche  Aufmerksamkeit  und  Neugierde  erregten,    dass 
umsekehrt   schweizerische   Reisende,   Geistliche  und  Weltliche,   Gebildete 
und    Ungebildete    in    Italien    und    im    Orient  Anknüpfungsi)unkte    an    die 
ihnen  in  der  Heimat  liebgewordenen  Erzählungen  suchten  und  fanden,  und 
dass  für  alle  drei  Legenden  und  ihre  Anhängsel  die  wichtigsten  literarischen 
Belege    aus    schweizerischen  Schreiberzellen  und  Buchdruckerpressen  her- 
vorgegangen sind.    Einen  Abriss  der  Geschichte  dieser  Wechselbeziehungen 
zu    geben   und  die  Rolle,    welche  die  Schweiz  bei  der  Vermittlung  dieses 
Sageuaustausches  gespielt  hat,  anzudeuten  ist  der  Zweck  der  nachfolgenden 
Skizzen.     Vollständigkeit  in  der  Genesis  der  betreffenden  Sagen  und  eine 
zusammenfassende  Darlegung    ihrer  Ausbreitung  und  Verzweigung  ausser- 
halb   der  Schweiz    war    dagegen  nicht  beabsichtigt;    es  ist  aus  dem  über- 
reichen Stoffe  nur  das  herangezogen  worden,    was  geeignet  schien,  unsere 
These  von   der  Einwanderung  der  Legenden  aus  Italien,    gelegentlich  mit 
dem  Umweg  über  Frankreich,  zu  erläutern. 


Drei  spätmittelalterliche  Legenden.  45 

1.   Vom  Landpflegei-  Pilatus.') 

Die  Erzählung  von  der  Bestrafung  und  dem  Tode  des  römischen 
Statthalters,  welcher  den  Juden  zuliebe  die  ungerechte  Hinrichtung  Christi 
zugelassen  hatte,  war  im  Mittelalter  im  südlichen  und  mittleren  Europa 
sehr  verbreitet  und  niusste  in  der  Schweiz  um  so  populärer  werden,  al» 
sie  in  Verbindung  gebracht  worden  war  mit  der  Zerstörung  Jerusalems 
durch  Vespasian  und  Titus,  welche  als  Gründer  von  Avenches  gewisser- 
massen  Bürgerrecht  in  der  Schweiz  erworben  hatten.  Die  älteste  ausser- 
halb Italiens  bekannte  Form  der  Sage  scheint  die  dem  Abt  Hugo 
von  Flavigny^)  in  Burgund  um  1100  vorliegende  zu  sein,  wonach  Pilatus 
von  einem  Abgesandten  des  Kaiser  Tiberius,  namens  Velosianus.  zusamriiei\ 
mit  der  hl.  Veronica  nach  Rom  gebracht  und  vom  Kaiser  Tiberius  ver- 
urteilt worden  wäre.  Amaria  in  Tuscien  wurde  ihm  als  Exil  angewiesen  j 
von  dort  wurde  er  zurückberufen,  aber  von  Nero,  weil  er  sich  durch 
Selbstbeschneidung  als  Juden  bekannte,  getötet.  Dies  ist  eine  Entstellung 
der  quasi-historischen  Berichte,  welche  Flavius  Josephus  in  seinen  Jüdischen 
Altertümern  und  Eusebius  in  seiner  Kirchengeschiclite  über  die  Strafen 
der  Behörden  geben,  die  sich  an  Christus  und  den  Juden  vergangen  hatten. 
Darnach  wären  unter  Caligula,  Pilatus,  Herodes  Anti]ias  und  Archelaus 
wegen  schlechten  Regiments  abgesetzt  und  nach  Rom  gefordert  worden. 
Herodes  wurde  in  Lyon,  Archelaus  in  Vienne  interniert.  Pilatus  endete 
durch  Selbstmord ;  sonst  ist  über  sein  Schicksal  die  älteste  gelehrte  Tradition 
stumm.  Desto  beredter  ist  die  spätere  und  ilie  Volksüberlieferung.  Schon 
Otto  V.  Freising'),  der  seine  Chronik  um  1150  herum  schrieb,  weiss  zu 
berichten,  dass  Pilatus  nach  Vienne  verbannt  und  dort  in  einem  noch 
vorhandenen  Schloss  verwahrt  worden  sei.  Dann  sei  er  in  der  Rhone 
ertränkt  worden,  die  Stelle,  wo  dies  geschah,  sei  heute  noch  für  die 
Schiffahrt  gefährlich.  Der  nämliche  kennt  aber  auch  schon  die  Meinung- 
des  Kirchenvaters  Orosius,  wonach  Pilatus,  um  den  Verfolgungen  Caligulas 
zu  entgehen,  sich  selbst  (in  Rom?)  getötet  habe.     Diese  beiden  Elemente 


1)  Aus  der  umfangreichen  Literatur  über  die  hier  zur  Behandlung-  kommeuden  Legenden 
führe  ich  zur  Orientierung  nur  diejenigen  neueren  Schriften  an,  die  mir  für  die  Aus- 
arbeitung wegleitend  waren.  Dies  sind  für  die  Pilatussage:  H.  Runge,  Pilatus  und 
St.  Dominik,  in  den  Mitteilungen  der  Antiquarischeu  Gesellschaft  in  Zürich  l-J,  159  —  176- 
(1859);  W.  Creizenach,  Legenden  und  Sagen  von  Pilatus,  in  Paul-Braunes  Beiträgen 
zur  Geschichte  der  deutschen  Sprache  und  Literatur  1,  89  —  107  (187o);  A.  Schönbachs 
Anzeige  von  Tischendorfs  Evangelia  apocrypha  (2.  Aufl.  1870)  im  Anzeiger  für  deutsches 
Altertum  und  deutsche  Literatur  2,  149-212  (1876j,  eine  vorzügliche  Arbeit,  auf  die  ich 
leider  erst  aufmerksam  geworden  bin,  nachdem  die  meine  im  wesentlichen  abgeschlossen 
war;  Arturo  Graf,  Miti,  leggende  e  superstizioni  del  medio  evo  (Torino  189:i)  2,  41— GG: 
'Un  monte  di  Pilato  in  Italia'. 

2)  Hugo  von  Flavigny,  Chronicon  ed.  Pertz  in  den  Mouumenta  Germaniae  historica, 
Scriptores  8,  288.     Im  folgenden  zitiere  ich  die  Mouumenta  mit  MG.  Scr. 

3)  Otto  v.  Freising,  Chronicon  1.  III,  c.  13.  (Ausgaben  von  Cuspinianus,  Strass- 
burg  1515  und  R.  Wilmanns  in  den  MG.  Scr.  20,  83—494.) 


46  Diibi; 

ei'sclieineii   in    der  -Goldeuen  Legende"  des  Biscliofs  von  Genua    Jacotuis 
a  Voragine^),    gest.    1298,    kombiniert    und    weiter    ausgeschmückt,    und 
bilden    den  Anfang  einer  ganzen  Kette  von  Varianten  und  Erweiterungen 
bis    ins    17.  Jahrhundert    hinunter.      Die    Aiifangserzähhing,    wie    sie    hei 
Jacobus    a  Yoragine    und    in    dem    Mors  PiUiti    genannten  Abschnitt    des 
Evangelium  Nicodemi  vorliegt,  lautet  etwa  folgendermasseu:  Tiberius,  der 
an    einer    unheilbaren    Krankheit    leidet    (nach    den    einen  ist  es  Aussatz, 
nach    anderen    blutiger  Schweiss)    und    hört,    dass    zu  Jerusalem    ein    be- 
rühmter Arzt,  Namens  Jesu,  sei,  der  durch  das  blosse  Wort  heile,  schickt, 
weil    er    nicht    weiss,    dass    die  Juden    um!  Pilatus    diesen   getötet  haben, 
seinen  Diener  Volusiauus  (in  anderen  Krziihlungcn  heisst  er  .\driaiuis  oder 
Albaims)    zu    Pilatus    mit    dem    Befehl,    diesen   Arzt    ihm    nach    Koni    zu 
senden.     Pilatus    sucht    sich  auszuredeii,    dass  er  Jesum  als  Übeltäter  mit 
Pecht  getötet  habe  (nach  iuideren  Erzählungen  verschweigt  er  dessen  Tod 
und  erbittet  sich  eine  Frist  von  14  oder  :^1  Tagen).     Volusiauus  begegnet 
auf   dem  Wege    nach    seiner  Herberge    der  hl.  Veronica    und  erfährt  von 
ihr    lue   Wahrheit,     Sie    fährt  mit  Yolusianus  und  dem  heiligen  Schweiss- 
tuih    nach  Koni,    wo  Tiberius    durch    den  Anblick    der    heiligen  Reliquie 
und  durch  den  Glauben  an  den  Erlöser  von  seiner  Krankheit  geheilt  wird. 
Er    zieht    den  Pilatus  vor   sein  Gericht  nach  Rom.     Der  ungetreue  Lanil- 
pfleger'  wird  mehrmals  durch  die  wunderbare  Wirkung  des  unzertrennteu 
Rockes  Christi,    den  er    unter  der  Toga  trägt,    vor  dem  Zorn  des  Kaisers 
gerettet,    dann    aber    entlarvt    und    zum    schimpflichsten    Tode    verurteilt. 
Aus  Furcht    tötet    er    sich    selbst    mit    einem  Messer,    das    er    sich  in  die 
Kehle    stusst    (nach  anderen  Erzählungen  stürzt  er  sich  in  sein  Schwert). 
Sein    Leichnam    wird    in    den  Tiber    geworfen    und,    da    seinetwegen    die 
Dämonen    hier  Unwetter  und  Überschwemmungen  erzeugen,    nach  Vienne 
geschaff't    und    dort    in    die  Rhone    versenkt.     'Yienna'  scheint  ilem  geist- 
litlien  Verfasser  der  Legenda  aurea  oder  vielleicht  schon  dem  unbekannten 
römischen  Autor    der  Erzählung    ein    geeigneter  Begräbnisplatz    für  einen 
solchen  Bösewicht,    denn  es  ist  'quasi  via  Gehennae",    gleichsam  der  Weg 
zur  Hölle,  die  einem  ruchlosen  Selbstmörder  geziemt. 

Da  sich  hier  die  bösen  Zeichen  wiederholen,  wird  der  Leichnam  zur 
Bestattung  in  das  Gebiet  von  Lausanne  geschaif't.  Aus  dem  gleichen 
Grunde  weisen  die  Bewohner  ihn  auch  hier  aus  und  „versenkten  ihn  in 
einem  rings  von  Bergen  umgebenen  Pfuhl,  wo  er  nach  der  Meinung 
einiger  immer  noch  gewisse  dämonische  Erscheinungen  hervorrufen  soll." 
In  dieser  ältesten  Tradition  ist  also  der  Bergsee,  in  welchem  Pilatus 
endlich  Ruhe  findet,  anonym;  wir  werden  später  sehen,  wie  und  warum 
er    in  der  Gegend  von  Luzern  lokalisiert  wurde.     Zuvor  aber  müssen  wir 


1)    Jacobi    a  Vorafrinc,   Legenda   aurca    vulgo    historia   Loinbardioa   dicta,   rec. 
Tb.  Gracsse  (Breslau  1890)  cap.  53  De  passione  Doinini,  p.  -iäS— t!ö,  bes.  p.  231—35. 


Drei  spätmittelalterliche  Legenden.  47 

noch  zwei  andere  Erzählungen  über  die  Schicksale  des  Pilatus  berück- 
sichtigen, die  auf  die  schweizerische  Pilatus  -  Sage  einen  erkennbaren 
Einfluss  ausgeübt  haben  und  hier  weitergesponnen  wurden. 

Die  eine  betritft  seine  Bestrafung,  bei  welcher  Titus  und  Vespasian 
eine  grössere  Rolle  spielen  als  Tiberius.  Die  Erzählung  ist  am  ausführ- 
lichsten in  den  von  C.  v.  Tischendoif ')  nach  einer  Mailänder  Handschrift 
des  14.  Jahrhunderts  herausgegebenen  Apokryphen  Evangelien  unter 
dem  Titel  „Die  Hache  des  Erlösers"  zu  lesen.  Es  winl  hier  erzählt, 
wie  in  den  Tagen,  da  unter  dem  Kaiser  Tiberius,  dem  Tetrarchen  Herodes 
und  dem  Landpfleger  Pontius  Pilatus  Christus  den  Juden  überantwortet 
und  gekreuzigt  ward,  ein  Unterkönig  des  Tiberius,  Namens  Titus,  in 
Aquitanien  in  der  libyschen  Stadt  Burdigala  regierte.  Dieser  hatte  eine 
krebsartige  Wunde  am  rechten  Nasenflügel,  welche  sein  Antlitz  bis  zu 
dem  Auge  hinauf  entstellte.  Zu  iiini  kommt  aus  Judäa  Nathan,  der  Sohn 
des  Naum,  ein  reisender  Ismaelit.  Dieser  ist  auf  dem  Wege  zu  dem  an 
den  neun  Arten  der  Lepra  erkrankten  Tiberius,  wird  aber  durch  den 
Nordwind  nach  Libyen  (sie!)  verschlagen  und  nach  Strandrecht  gefangen 
genonmien.  Von  dem  kranken  Titus  verhört,  erklärt  Nathan,  dem  Titus 
und  dem  Tiberius  hätte  der  von  den  Juden  gekreuzigte  Wundertäter 
Emanuel  helfen  können,  wenn  er  am  Leben  geblieben  wäre.  Da  Titus 
seinen  Glauben  an  dem  auferstandenen  Erlöser  bekennt,  fällt  der  Gesichts- 
krebs ab.  Titus  lässt  sich  taufen  und  schwört  Rache  an  den  Feinden 
Christi.  Mit  Hilfe  Vespasiaus,  des  Statthalters  von  Gallicia,  der  nach 
einer  anderen  Erzählung  durch  den  (ilauben  au  Christi  Wunderkraft  von 
den  Wespen  befreit  worden  ist,  die  seit  seiner  Jugend  in  seiner  grossen 
Nase  nisteten,  belagert  nun  Titus  Jerusalem.  Archelaus  (Herodes,  nach 
anderer  Version)  stürzt  sich  in  sein  Schwert.  Nach  siebenjähriger  Be- 
lagerung töten  sich  riOOüMann  der  Besatzung.  Die  Vierfürsten  ergeben 
sich  mit  dem  Reste.  Die  Juden  werden  gesteinigt  oder  verkehrt  gekreuzigt 
oder  als  Kriegsgefangene  verteilt  in  vier  Losen,  wie  es  mit  den  Kleidern 
des  Herrn  geschehen  war.  Und  weil  sie  einst  den  Herrn  um  30  Silber- 
linge  verschachert  hatten,  so  kommen  Vespasian  und  Titus  dahin  überein, 
dass  sie  je  30  Juden  um  einen  Silberling  hergeben  wollen.  Daraufnehmen 
die  Römer  den  Pilatus  gefangen  und  spei-ren  ihn  ins  Gefängnis,  wo  er 
von  viermal  vier  Soldaten  ständig  bewacht  wird.  Nach  einer  Variante 
der  Erzählung  wird  er  in  einem  eisernen  Käfig  nach  Damaskus  verbracht, 
dort  in  der  eben  beschriebenen  W^eise  verwahrt  und  von  vierundvierzig 
Soldaten  bewacht.  Auf  die  Botschaft  von  der  Eroberung  Jerusalems 
schickt  Tiberius  seinen  Diener  Volusianus  nach  Palästina,  der  den  Pilatus 
verhört  und  des  Todes  würdig  findet,  ihn  aber  im  Gefängnis  zu  Damaskus 

1)  C.  V.  Tischendorf,  Evanp^elia  apocrjpha,  Leipzig  1853  p.  433:  'Mors  Pilati'; 
p.  448:  'Vindicta  Salvatoris'  =■  2.  Aufl.  1876  p  450  und  471. 


48  Dübi: 

lässt  und  dem  Kaiser  darüber  Bericht  erstattet,  dass  die  Strafe  an  den 
gottlosen  Juden  vollzogen  worden  sei. 

Aber  nicht  nur  von  dem  Ende,  sondern  auch  von  den  Anfängen 
des  Pilatus')  wusste  man  im  Mittelalter  Sagenhaftes  zu  berichten,  und 
gerade  diese  Züge  bringen  ihn  der  Schweiz  auffällig  nahe.  Nach  einer 
lateinischen  Prosaerzilhlung  aus  dem  12.  Jahrhundert,  die  in  französischen 
Versnovellen  und  deutschen  Volksbüchern  melirfach  wiederkehrt  und  auch 
in  die  Legenda  aurea  Aufnahme  fand,  war  der  spätere  Landpfieger  von 
Jiidäa  der  uneheliche  Sohn  eines  sternkundigen  Königs  von  Mainz,  der 
bald  Tyrus,  bald  Atus  heisst  und  in  Forchheim  oder  in  Berleich  zu  Hause 
sein  sollte.  Erjagte  in  der  Nähe  von  Babenberg,  als  er  aus  den- Sternen 
erkannte,  dass  ein  Kind,  das  von  ihm  in  dieser  Nacht  erzeugt  würde,  zu 
den  höchsten  Dingen  berufen  sei.  Der  König  lässt  sich  daher,  da  seine 
Gemahlin  ferne  ist,  von  seinen  Jagdgefährten  eine  Jungfrau,  Namens  Pila, 
die  Tochter  eines  Müllers  der  Gegend,  zuführen  und  erzeugt  mit  ihr  einen 
Sohn.  Die  Mutter  schickt  diesen,  als  er  erwachsen  ist,  an  den  Hof  seines 
Vaters.  Dort  tötet  er  im  Streit  seineu  Bruder,  den  rechtmässigen  Sohn 
des  Königs  und  wird  zur  Strafe  als  Geissei  nach  Rom  geschickt.  Dort 
erschlägt  er  einen  englischen  Fürstensohn  Paynus  oder  Paginus  und  wird 
zur  Strafe  nach  Pontus  geschickt,  welches  Land  er  bezwingt.  Daher  sein 
Beiname  Pontius.  Pilatus  heisst  er  nach  seiner  Mutter  und  seinem  Vater 
oder  nach  anderer  Version  seinem  Grossvater,  dem  Müller.  Von  Pontus 
beruft  ilin  Herodes  als  Mitregenten  nach  Palästina.  Er  verdrängt  bald 
den  Herodes  und  wird  selber  Landpfleger.  Es  folgt  dann  das  Auftreten 
Christi  und  das  Verhältnis  des  Pilatus  zu  ihm,  und  das  Ende  des  Pilatus, 
wie  wir  es  oben  nach  der  goldenen  Legende  und  dem  damit  überein- 
stimmenden Evangelium  des  Nikodemus  erzählt  liaben. 

Dass  in  diese  Erzählung  Züge  aus  der  antiken  Cyruslegende  und  iler 
Karlssa-e  verwoben  sind,  ist  klar,  braucht  aber  hier  nicht  näher  ausein- 
andergesetzt  zu  werden.  Dagegen  erübrigt  uns  noch  der  Beweis,  dass 
diese  Erzählungen  von  den  Anfängen,  den  Sünden  und  der  Strafe  des 
Pilatus  auch  wirklich  in  der  Schweiz  verbreitet  und  gekannt  waren. 
Dieser  Beweis  ist  aber  leicht  zu  führen. 

In  Spuren  (einer  Handschrift  in  Strassburg,  die  1870  verloren  gegangen 
ist,  und  einer  noch  erhaltenen  Münchener  Handsclirift)  lässt  sich  diese  Er- 
zählung bis  ins  12.  Jahrhundert  hinauf  verfolgen.  Dagegen  müssen  An- 
sätze dazu  schon  100  Jahre  früher  existiert  haben;  denn  die  Chronik 
von  Petershausen'),    welche    von  976  —  1-24!)  reicht,    erzählt  zum  Jahre 


1)  Der  in  einer  Handschrift  des  Prosakommentars  zu  Conrad  von  Viterbos  Siieculuni 
regnm  erhaltene  Libcr  de  ortn  Pilati  wird  hier  zitiert  nach  den  MG.  Scr.  22,  71 
gegebenen  Auszügen. 

2)  Die  Chronik  von  Petershausen  bei  Konstanz  ist  u.  d.  T.  'Casus  Monasterij 
Petrishausen'  von  Mono  in  der  Quellcnsanimluug  der  Badischen  liandcsgcschichte  1,  löT 
und  von  0.  Aböl  und  L.  Weihiud  in  den  MG.  Scr.  20,  021-080  herausgegeben  worden. 


Drei  spätmittelalterliche  Legenden.  4.9 

1077,  es  liabe  damals  das  Volk  Lieder  von  dem  Herzog  Rudolf  gesuno-en, 
als  ob  der  andere  Pilatus  wieder  gekommen  wäre.  Sie  weiss  auch,  dass 
Pilatus  in  Porchlieim  geboren  sei.  Ausführlich  sind  diese  Erzähluno-en 
niedergelegt  einerseits  in  dem  'Fabularius'  des  Züricher  Kantors  Conrad 
von  Mure^),  welcher  am  14.  August  1273  in  der  Handschrift  abgeschlossen 
uud  um  das  Jahr  147G  zu  Basel  bei  „Berchtold  Ruppel  von  Hanau,  Knecht 
lies  Magister  Guttenberg"  gedruckt  wurde,  andererseits  in  einem  deutschen 
Yolksbuche"),  das  uns  in  einer  Züricher  Handschrift  des  lö.  Jahrhunderts 
vorliegt  und  von  S.  Singer  1889  in  der  Bibliothek  des  Literar.  Vereins 
in  Stuttgart  herausgegeben  worden  ist.  Aus  dieser  oder  einer  ähnlichen 
Quelle  ist  auch  die  Bilderserie  mit  Text  des  Luzerner  Stadtschreibers 
Johannes  Fründ^)  von  etwa  1440  geflossen,  von  welcher  wir  unten  zu 
sprechen  haben  werden. 

Aus  dem  Vorhergehenden  geht  mit  Sicherheit  hervor,  dass  die  Pilatus- 
sage nicht  vor  dem  13.  .lahrhundert  mit  der  inneren  Schweiz  in  Verbindung 
gebracht  wurde  uud  dass  die  Einwanderung  aus  Italien  erfolgte.  Aber 
auf  welchem  Wege?  Man  hat  bisher  angenommen,  dass  das  auf  dem 
Umweg  über  Frankreich  geschehen  sei,  und  die  Erwähnung  von  Vienne 
uud  Jjausanne  scheint  für  den  Weg  von  Westen  her  zu  sprechen.  Den- 
noch ist  es  mir  wahrscheinlicher,  dass  die  Pilatussage  von  Süden  her  über 
die  Alpenpässe  nach  der  Schweiz  und  eher  nach  Zürich  als  nach  Luzeru 
gelangt  sei,  in  dessen  Nähe  sie  später  lokalisiert  erscheint.  Meine  Gründe 
siud  folgende.  Magister  Conrad  von  Mure,  der  ein  für  seine  Zeit  sehr 
belesener  und  literarisch  vielseitig  tätiger  Mann  war,  bietet  in  seinem 
alphabetischen  „Repertorium  auserlesener  Wörter  aus  der  Rhetorik,  Poesie 
und  Geschichte  mit  treuer  Erzählung  derjenigen  Dinge,  welche  in  diesen 
Wörtern  doppelte  Bedeutung  haben''  neben  vielen  antiken  Mythen  auch 
die  Legende  von  Pilatus  in  grosser  Ausführlichkeit  u)ul  in  einer  von  den 
oben  charakterisierten  Quellen  in  manchen  Einzelheiten  unabhängigen  und 
dadurch  um  so  interessanteren  Form.  So  legt  er  Gewicht  auf  den  Konflikt 
<les  Pilatus  mit  Herodes  und  betont,  dass  die  Auslieferung  Christi  an  die 
Juden  der  Preis  der  Aussöhnung  zwischen  den  beiden  gewesen  sei.  Nach 
seiner    Darstellung    herrschen  Vespasian    und  Titus    gleichzeitig    und    ge- 


1)  Der  sogen.  'Fabularius'  des  Conrad  v.  Mure  liegt  nur  einmal  gedruckt  vor 
u.  d.  T.  'Repertorium  vocabulorum  exquisitonim'  etc.  ohne  Kustoden,  Signatur,  Seitenzahl 
und  Tnitialien  in  einem  Basler  Wiegendruck  von  etwa  147G,  147  Bl.  in  fol.  Ich  benutzte 
ein  auf  der  Stadtbibliotbek  in  Bern  liegendes  Exemplar. 

2)  A.  Bachmann  und  S.  Singer,  Deutsche  Volksbücher  aus  einer  Züricher  Hand- 
sclirift  des  15.  Jahrh.  1889  (Bibliothek  des  Literar.  Vereins  in  Stuttgart  185).  Das  Ende 
des  Pilatus  ist  da  erzählt  S.  3G1  f.,  eine  andere  Version  S.  358. 

-  3) 'Die 'nicht  edierte  Bilderchronik  Fründs  ist  besehrieben  in  der  auch  für 
mehrere  andere  Notizen  über  Pilatus  lehrreichen  Abhandlung  von  J.  L.  Brandstetter, 
Die  Namen  Bilsteiu  und  Pilatus  (in  der  Festschrift  zur  Eröffnung  dos  neuen  Kautons- 
schulgebäudcs  in  Luzern,  1893)  S.  12  des  Souderabdrucks. 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1907.  4 


50  ""'''■• 

meiusain,  der  erste  im  Occidciit,  der  zweite  im  Orient.  Beide  werden 
von  Krankheit  geheilt,  Vespasian  von  den  Wespen  in  seiner  Nase,  weil 
er  bei  dieser  Nase  gescliworen  liat,  den  Tod  Christi  an  den  Juden  zu 
rächen,  Titus  vom  Aussatz  durch  das  Tuch  der  iil.  Nerouica.  Sie  sind 
es  auch,  welclie  den  Pilatus  bestrafen.  Darüber  erzählt  der  Kantor  Conrad: 
,.Auf  den  Hat  des  Titus  zitierte  Vespasianus  den  Pilatus,  der  sich  im  Be- 
wussts(un  seiner  Schuld  mit  einem  Messer  entleilite.  Sein  Leichnam  wird 
in  die  Khone  nahe  bei  der  Stadt  Yienne  geworfen.  An  dieser  Stelle  wird 
die  Schiffahrt  gefährdet.  Die  erschreckten  Bewohner  von  Yienne  wenden 
sich  an  die  von  Lyon  um  Rat.  Der  Leichnam  des  Pilatus  wird  im  Flusse 
aufgefunden  und  in  die  Alpen  nach  dem  Septimer  geschafft,  wo  er  noch 
spuken  soll.  Denn  sowie  man  den  Pilatus  nennt  oder  ruft,  entsteht  dort 
ein  heftiger  nml  lärmender  Streit  dos  Landpflegers  mit  seinem  alten  Feinde 
Herodes."  Diese  Erwähnung  des  Septimer  ist  in  mehr  als  einer  Hinsicht 
merkwürdig. 

Der  Septimer  erscheint  als  ein  gebräuchlicher  Pass  seit  895;  zur  Zeit, 
wo  der  Singmeister  Conrad  sein  Fabelbucli  schrieb,  existierte  ein  Hospiz 
des  hl.  Petrus  auf  der  Höhe  des  Passes,  und  100  Jahre  später  legte  ein 
Bischof  von  Chur  eine  zum  Teil  fahrbare  Strasse  über  den  „Settmerberg" 
au.  Es  lässt  sieh  also  gar  wohl  denken,  dass  Säumer  die  Sage  von  dem 
in  einem  Bergsee  hausenden  Gespenst  des  Pilatus,  die  in  Italien  allerdings 
erst  im  14.  Jahrhundert  nachweisbar,  aber  dort  wie  der  Kest  der  Sage 
einheimisch  ist,  in  und  üb(>r  die  Alpen  gebracht  hätten.  Nicht  allzu 
grosses  Oiewicht  möchte  icli  auf  folgenden  Umstand  legen.  Ein  Maiensäss 
auf  der  Bergellerseite  des  Passes  oberhalb  Maloja  am  hin,  der  dem 
Lunghinersee  entfliesst,  heisst  heute  nocli  Pila,  und  Aqua  di  Pila  soll 
einst  ein  vom  Septimer  kommender  Zufiuss  des  Sees  geheissen  haben. 
Solche  Namen  sind  ja  sonst  wegleitend  für  die  Geschichte  der  Sagen- 
wanderung, aber  sie  können  eben  auch,  wenn  schon  vorher  vorhanden, 
Anlass  zu  willkürlicher  Lokalisierung  der  Sage  gegeben  haben.  So  hat 
das  Vorkommen  von  Ortsnamen  wie  Pilat  oder  Pilatte  und  Pons  oder 
Ponsaz  in  der  Gegend  von  Yienne  und  Lyon  auf  die  Verbreitung,  wenn 
nicht  auf  die  Entstehung  der  Pilatuslegende  in  dieser' Gegend  nachweisbar 
eingewirkt. 

Weil  zu  Nus  im  Aostatal,  also  auf  dt>m  Weg  zum  kleinen  St.  Bernliard. 
ein  aus  der  Mitte  des  J2.  Jalnlnniderts  stammendes  „Chäteau  de  Pilatc" 
existierte,  entstand  dort  die  Lokaltradition,  dass  Pilatus  auf  seinem  Wege 
nach  Vienne  sich  bei  einem  ihm  befreundeten  Senator  aufgehalten  habe. 
Wo  ein  Ort  Ponza,  Imponzo  u.  dgl.  in  Kalabrien,  Friaul  usw.  vorkommt, 
soll  Pontius  Pilatus  geboren  sein.  Nicolas  (Miorier,  dem  wir  di»  rein- 
lichste Kenutnis  der  Altertümer  des  Dauphine  so  gut  verdanken  wie  das 
unsauberste  Buch  über  die  „Geheimnisse  der  Liebe"  (es  geht  unter  dem 
Namen  des  Meursius),    bezeugt  1G61,   dass  im  Mittelalter  die  Städte  Lyon 


Drei  spätmittelalttrliche  Legenden.  51 

und  Vienue  sich  um  die  Elire  stritten,  der  Geburtsort  des  Pilatus  zu  sein. 
Und  noch  im  Mai  1767  wurde  dem  Elsässer  Adjunkten  Oberlin,  wie 
Schlözer')  in  seinem  Briefwechsel  erzählt,  bei  St.  Yallier  an  der  Rhone 
zwischen  Lyon  und  Vienne  ein  Schloss  des  Pilatus  gezeigt.  Dergleiclien 
ortsetymologische  Spielereien  beweisen  also  nicht  viel,  und  ebenso  konnte 
jeder  sogen.  Hagelsee,  deren  es  in  der  Schweiz  unzählige  gibt,  zu  dem 
Namen  des  Pilatus  gelangen.  So  gil)t  es  einen  Lago  di  Pilato  in  der 
Yalle  Bavona  im  Tessin^),  aber  wir  wissen  nicht,  wann  der  Name  dort 
zuerst  auftritt,  und  da  das  Maggiatal  mit  seinen  Verzweigungen  zu  der 
„ennetbirgischen  Vogtey  Lugarus"  gehört,  welche  den  acht  alten  eid- 
genössischen Orten  unterstand,  so  kann  der  Name  ebensogut  aus  der 
Innerschweiz  als  aus  der  Lombardei  dorthin  gelangt  sein. 

Immerhin  ist  aber  die  Beweiskraft  des  Namens  Septimer  bei  Conrad 
von  Mure  wesentlich  grösser  als  die  der  eben  besprochenen  Ortsnamen. 
Denn  er  liegt  auch  der  Tradition  bei  dem  Fortsetzer  des  sog.  Minoriten 
Martin'),  der  „Goldenen  Legende",  dem  „Evangelium  des  Nikodemus"  und 
dem  Buch  „von  den  Anfängen  des  Pilatus"  zugrunde.  Nach  diesen  Er- 
zählungen wird  der  Leichnam  „auf  einem  ungenannten  Berge  in  einen 
tiefen  Brunnen,  wo  noch  jetzt  ein  schrecklicher  Pfuhl  ist,"  geworfen. 
Dann  schreitet  die  Lokalisierung  weiter  zu  der  Bezeichnung  „in  den 
Alpen  auf  einem  hohen  Berge,  der  von  anderen  Bergen  umgeben  oder 
einer  von  sieben  Bei-gen  ist  und  davon  seinen  Namen  hat,  wird  der 
Leichnam  in  einen  unreinen  Pfuhl  geworfen."  Conrad  von  Mure  seheint 
übrigens  den  Namen  „Septimus"  dem  „Tioben  des  Pilatus",  das  in  einer 
MünchenerHandschrift  des  12., Jahrhunderts  erhalten  ist,  eutnommen  zu  haben. 

Wenn  wir  das  Vorhergehende  zusammenfassen  wollen,  so  können  wir 
etwa  sagen,  dass  am  Ende  des  13.  Jahrhunderts  die  ursprünglich  stadt- 
römische Sage  von  der  Verdammnis  des  Pilatus  in  der  Schweiz  im  Westen 
in  der  Gegend  von  Lausaune,  im  Süden  am  Septimer  lokalisiert  und  in 
dieser  Form  in  Zürich  wohl  bekannt  war.  Von  Luzern  ist  in  der  Legende 
nirgends  die  Rede.  Dieser  Schritt  wird  erst  im  14.  Jahrhundert  getan, 
zu  gleicher  Zeit,  wo  in  Italien  <lie  Kunde  von  einem  dämonischen  See 
bei  Norcia  sich  verbreitet. 

Zu  dem  an  den  italienischen  Pilatussee  sich  anknüpfenden  Sagen- 
kreis, welcher  die  schweizerische  Gegend  erheblich  beeinflusst  hat,  müssen 
wir    nun  übergehen.     Der  erste,    welcher  davon  spricht,  ist  der  1362  ver- 

1)  A.  Schlözer,  Briefwechsel  (Göttingen  1780)  4,  49. 

2)  Bollettino  storico  della  Svizzera  italiana  11,  92  (188',t). 

2)  Der  sog.  Minorit  Martin  schrieb  in  Schwaben  um  1290.  Seine  Nachrichten  sind 
bis  1350  fortgesetzt  von  einem  anderen  Minoriten,  der  gewöhnlich  Hermann,  in  Meuschens 
Ausgabe  dei-  Flores  temporum  s.  chronieon  universale  (Leiden  174.'!)  Hermannus  Gygas 
heisst.  Nur  in  dieser  interpolierten  Fassung  steht  die  obenerwähnte  Nachricht:  die 
kritische  Ausgabe  der  Flores  temporum  in  den  MG.  Scr.  24,  22G  enthält  nichts  über 
Pilatus. 

4* 


52  Dübi: 

storbene  Benediktinermöiicli  Picrro  Bersuire')  in  seinem  Keductorium 
moi'ale.  Nach  ilim  liegt  im  Apennin  bei  Norcia  ein  See.  nur  den  Nekro- 
manten  zugänglich,  die  hier  ihre  Büclier  dem  Teufel  weihen  gehen.  Den 
in  dem  See  hausenden  Dämonen  wird  jährlich  von  der  Stadt  Norcia  ein 
Verbrecher  zum  Opfer  dargebracht,  damit  sie  Stadt  und  Land  mit  Un- 
wetter verschonen.  Bersuire  hat  dies  von  einem  Bischof  gehört,  er  weiss 
auch,  dass  der  Zugang  zum  See  mit  Hauern  verwahrt  und  von  "Wächtern 
gehütet  wird,  welche  die  Nekromanten  von  ihrem  teuflischen  Beginnen 
abhalten  sollen.  Im  Dittamondo  spricht  Facio  degli  überti"),  der  um 
1367  starb,  von  einem  Berg  des  Pilatus  und  einem  dämonischen  See, 
wohin  diejenigen  gehen,  welche  gleich  Simon  dem  Magier  ihre  nekro- 
mantischen  Bücher  vom  Bösen  weihen  lassen  wollen,  woraus  Ungewitter 
entstehen;  deshalb  werden  seine  Zugänge  bewacht.  Dass  unter  dem  Monte 
di  Pilato  der  bei  Xorcia  gemeint  sei,  bemerkt  ausdrücklich  der  Kom- 
mentator des  Dittamondo,  Guglielmo  Cappello.  Aber  noch  im  14.  Jahrh. 
erscheint  der  Pilatussee  bei  Luzern  als  Schauplatz  ganz  ähnlicher  Vor- 
gänge. Um  1384  berichtet  die  Konstauzer  Weltchronik^):  „Tiberius 
tet  auch  Pylato  gar  we  als  lang,  bisz  er  sich  selber  ertötet  und  in  den 
See  bei  Luzern  geworfen  ward."  Diese  Chronik  schöpft  aus  der  älteren 
des  Minbriten  Martin,  nennt  aber  den  „See  bei  Luzern"  auf  eigene  Faust. 
Dass  nicht  der  grosse  Vierwaldstättersee,  sondern  der  kleine  auf  der 
Bründlialp  gemeint  ist,  geht  aus  dem  gleich  zu  schildernden  Vorgang 
hervor.  Am  Sonntag  nach  S.  Laurentius  des  Jahres  1387  mussten  vor 
Schultheiss  und  Rat  der  Stadt  Luzern  die  Kleriker  Johannes  Machofried 
von  Geugenbach,  Johannes  Brunollwer  von  üeberlingen,  Nicolaus  Bruder 
von  Thurgau,  Ulrich  Gürtler  von  Leuzberg,  Rudolf  Xitwe  und  Johannes 
Rathsinger,  beide  von  Luzern,  Urfehde  schwören  wegen  der  Gefangen- 
schaft, in  die  sie  gelegt  worden  waren  dafür,  dass  sie  versucht  hatten 
den  Gipfel  des  Frakmout  und  den  Pilatussee  zu  ersteigen.*)  Man  beachte, 
dass  hier,  wie  noch  lange  nachher,  der  Berg  selbst,  auf  dessen  westlichem 
Abhang  und  tief  unter  dem  Gipfel  der  berüchtigte  See  liegt,  nicht  Pilatus, 
sondern  Frakmont    lunsst.     Dieser  Name    scheint    von  der  zackigen  Form 


1)  Pierre  Bersuire,  Rcductorimn  mnnile  lib  XIV.  cap.  :10.  Dieser  noch  unge- 
gedruckte  Traktat  wird  hier  zitiert  nach  Artiiro  Graf,  Miti,  leijfrende  e  su))Pvsti7.iotii  dal 
medio  evo  1893  2,  141— CG:  'IJn  monte  di  Pilato  in  Italia.'  Aus  dieser  Quelle  haben  alle 
geschöpft,  die  in  neuerer  Zeit  sich  mit  der  Pilatussage  beschilftigt  haben.  Die  Stellen 
aus  P.  Bersuire  stehen  S.  15(t  und  1()2. 

2)  Facio  degli  Uberti,  Dittamondo  1.  IIL  cap.  1.  Das  mir  nicht  zugänglich 
gewordene  Werk,  eine  iingierte  visionäre  Rcisebeschreibung,  wird  hier  zitiert  nach  Graf  2, 151. 

3)  Konstanzer  Wcltchronik  aus  dem  Ende  des  14.  Jahrh.  hsg.  von  Th.  v.  Kern 
in  der  Zeitschrift  der  Gesellschaft  für  Beförderung  der  Gescliichts-,  Altertums-  und  Volks- 
kunde von  Freibuvg,  dem  Breisgau  und  den  angrenzenden  Landschaften  1  (1S()7— (>9) 
S.  179-2G5:  siehe  bes.  S.  207-10. 

4)  Der  betreffende  Hatsbcschluss  ist  (mit  dem  Datumfehler  1307  statt  13S7)  erstmals 
gedruckt  bei  Oappeller,  Pilati  Montis  historia  (Basel  1767)  p.  9. 


Drei  spätmittelalterliche  Legenden.  53 

des  Massivs  abgeleitet,  haftet  aber  an  zwei  Alpen  auf  der  Xord-  und  Süd- 
seite des  Pilatusberges/)  Schwieriger  zu  verstehen  ist  der  Vorgang  selbst. 
War  es  blosse  Neugierde,  wie  man  bisher  angenommen  hat,  welche  diese 
Kleriker,  die  in  der  Mehrzahl  von  auswärts  kamen,  antrieb,  auf  den  be- 
rüchtigten Berg  zu  gehen?  Und  warum  ward  dieser  Versuch  mit 
harter  Strafe  geahndet?  Wir  werden  später  sehen,  dass  ein  päpstliches 
Verbot,  den  See  von  Xorcia  zu  nekromantisclien  Zwecken  zu  besuchen, 
schon  in  diese  Zeit  hinaufreicht,  und  dass  die  weltliche  Obrigkeit  sich 
bemühte,  diesem  Verbot  Nachachtung  zu  verschaffen.  Etwas  Ähnliches 
setzen  wir  für  Luzern  voraus,  wozu  uns  die  grosse  Ähnlichkeit  der  Vor- 
gänge auch  im  einzelnen  das  Recht  zu  geben  scheint.  Diese  nimmt  im 
If).  Jahrhundert  beständig  zu.  In  der  Schweiz  konzentriert  sich  die  Sage 
auf  die  Umgegend  von  Luzern,  in  Italien  auf  die  von  Norcia,  und  bald 
werden  die  beiden  Pilatusseen  miteinander  verglichen. 

Ein  aus  dem  Anfang  des  15.  Jahrhunderts  stammendes  Passionale  in 
deutsclien  Versen  von  Johannes  Rothe")  weiss,  dass  der  Leichnam  des 
Pilatus  zuerst  in  den  Rodan  geworfen,  dann  bei  Lausanne  begraben, 
schliesslich  in  einem  Sumpf  auf  dem  Gipfel  eines  hohen  Berges,  zwei 
oder  drei  3Ieilen  von  Konstanz,  nalie  dem  Rhein,  im  Gebiet  des  Herzogs 
von  Osterreich  versenkt  worden  sei.  Man  kann  sich  darunter  trotz  der 
unklaren  Topographie  kaum  etwas  anderes  denken  als  den  „See  bei 
Luzern"  der  Konstanzer  Weltchronik.  Um  die  gleiche  Zeit  verlegt  auch 
der  Prosakommentar  zum  'Königsspiegel '  des  Gottfried  von  Viterbo") 
den  Begräbnisplatz  des  Pilatus  in  einen  „Sumpf  in  den  Bergen  um  Lau- 
sanne bei  Luzern".  Der  mit  der  Schweiz  ziemlich  vertraute  Verfasser 
des  Kommentars  (er  kennt  auch  Bern  und  den  alemannischen  Namen 
Wiflisburg  für  Aventicum)  fügt  seiner  Erzählung  über  den  Pilatussee  die 
Bemerkung  hinzu:  „Es  ist  gewiss,  dass,  so  oft  irgend  ein  Mensch  etwas, 
wenn  auch  noch  so  kleines,  in  den  See  wirft,  daraus  sogleich  Stürme, 
Hagel,  Blitz  und  Donner  entstehen.  Deshalb  sind  Wächter  aufgestellt, 
welche  im  Sommer  hüten,  dass  kein  Fremder  hinaufsteige."  Johannes 
Fründs  Weltchronik*)  von  li'26  erklärt  bündig:  „Tiberius  tet  och  Pilato 
vast  we,  also  lang,  untz  er  sich  selber  ertöte  und  in  den  Sew  bi  Lucerne 
geworfen  ward."  Fründ  ist  in  Luzern  geboren,  hier  und  in  Schwyz 
tätig  gewesen  und  vertritt  gewissermassen  die  Meinung  des  um  den  be- 
rüchtigten Berg  herum  wohnenden  Landvolkes.    Aber  auch  in  Zürich  und 


1)  Nach  Uraudstetter,  Die  Namen  Bilstein  und  Pilatus  1893  S.  'J. 

2)  Johannes  Eothe,  Passionale,  hsg.  von  A.  Heinricli  in  den  Germanist.  Ab- 
handlungen Heft  -JG  (Breslau  1906). 

3)  Gottfried  von  Viterbo,  Speciilum  reguni,  abgedruckt  in  MG.  Scr.  ii,  21—93: 
die  hier  zitierte  Stelle  über  Pilatus  steht  p.  71. 

i)  Die  handschriftliche  \Yeltchronik  des  Johannes  Fründ,  eine  Kopie  der  Kon- 
stanzer, liegt  auf  der  Bürgerbibliothek  in  Luzern.  Die  hier  zitierte  Stelle  ist  abgedruckt 
bei  Brandstetter  1893  S.  11. 


54  l>"l)i: 

Engolberg-  war  niaii  dioser  Meinung.  ])as  von  uns  öfters  genannte  deutsche 
Volksbuch  über  Pihitus,  das  im  wesentlichen  eine  Übersetzung  des 
Evangelium  Nicodemi  ist,  aber  auch  aus  dem  ebenfalls  lateiniscli  ge- 
schriebenen Pilatusbuch  schöpft,  liegt  uns  in  vier  Handscliriften  vor,  einer 
Züricher,  einer  Münchener,  einer  von  Freiburg  i.  B.  und  einer  von  Sarnen, 
alle  aus  dem  15.  Jahrhundert  stammend.  In  der  Züriclier  Handscin-ift 
wird  die  Wanderung  des  toten  Pilatus,  die  ja  aucli  eine  Wanderung  der 
Sage  ist,  folgeudermassen  erzählt:  „Do  der  Keyser  hört,  wie  Pylatus  tod 
was,  do  sprach  er:  Werlich,  er  kunt  nit  schamlicher  tod  sin.  Und  hies 
den  Schelmen  slaipfen  in  die  Tyber,  die  flüsset  durch  Rome.  Do  kamen 
die  tüfel  und  fuorten  in  in  die  lüfte  und  wider  in  das  wasser  und  eut- 
reinden  mit  (Lücke)  erden,  lüfr  und  wasser  und  bewegten  die  wölken  und 
die  elementa,  daz  da  wurden  bliczgen  und  tonren  und  iiaglen,  daz  die 
lüte  groz  arbeit  und  schrecken  liten.  Do  wurden  die  Römer  ze  rate  unil 
namen  in  u(.i  dem  wasser  und  schickten  in  zuo  Vienne  und  hießen  in  chi 
werfen  in  ein  wasser,  das  da  heisset  der  Rodan.  Uml  do  man  in  in 
den  Roden  gewarff,  do  fnor  der  tüfel  mit  im  als  vor,  daz  in  die  (Lücke) 
Vienne  nit  erliden  möchten,  und  schickten  in  zuo  einer  Stadt,  die  lieisset 
Losen,  daz  man  in  da  sölto  begraben.  Do  möchten  die  von  Losen  sin 
nit  erliden  und  sauten  in  uff  daz  (iebirge,  daz  da  heisset  die  Alpen.  Da 
stat  in  dem  wild  gebirg  ein  berg,  der  heisst  Toricoiuus;  da  steht  ein  un- 
reiner pfal  Ipfuol]  uffen.  Da  wart  der  schelm  in  geworff'en.  Der  berg  ist 
umefangen  mit  siben  grossen  bergen.  Da  litt  er  noch  hüt  dis  tages  in  aller 
tüfel  nanien,  und  wil  man,  daz  da  gar  ungehür  sig,  und  daz  der  tüfel 
noch  hüt  dis  dags  bösi  spil  mit  in  machin.  Amen."  Die  Sarner  Hand- 
schrift, die  um  1478  von  dem  Lehrmeister  Heinrich  Kramer  ans  Zürich 
geschrieben,  ins  Prauenkloster  zu  Engelberg  und  bei  dessen  Verlegung 
nach  Sarnen  gekommen  ist,  hat  folgenden  interessanten  Zusatz:  „Das  hatt 
der  unrein  böswicdit  wol  verschult,  und  hatt  man  die  selben  gelegenheit 
gar  in  guotter  huot,  also  das  nienian  dar  uff  konien  getar  by  hocher  buosse; 
wan  so  da  ieman  dar  uff  gienge  dur  wunders  willen  oder  durch  muott- 
willen,  so  wunle  gar  gros  ungewitter  von  liaglen  und  von  tonreu,  das 
grosser  schade  da  von  keme,  als  dik  beschechen  ist;  und  die  iimmsessen  und 
die  landlüt  umm  und  umni  wit  und  nach  die  nemnent  den  berg  Freck- 
münd  oder  Pylatusberg,  und  lit  in  der  Eitgnosschaft  zwo  mil  von  Luzern 
oder  darby."') 

Wir  finden  also  hier  die  Pilatussage  endgültig  lokalisiert  und  in 
ihren  llauptelemcnten  ausgebildet.  Die  Folgezeit  hat  nur  noch  ausge- 
schmückt und  erweitert,  zum  Teil  auch  entstellt   und  nicht  Dazugehöriges 


1)  Diese  Erzälilung  vom  Eudc  und  der  Strafe  des  Pilatus  ist  nach  der  Sarncr  Hand- 
schrift allgedruckt  bei  A.  I.ütolf,  Siigcii,  liräuche  und  Legenden  aus  den  fünf  Orten 
(Luzern  L%.5),  S.  7-].".. 


Drei  spätraittelalterliche  Legenden.  55 

liineiugetrageu.  Dass  aber  diese  Hauptelemeute  nielit  einheimisch,  soiideni 
italienischer  Herkunft  sind,  haben  wir  schon  angedeutet  und  werden  es 
im  folgenden  noch  ausführlicher  beweisen.  Zuvor  aber  müssen  wir  noch 
einem  Einwand  begegnen,  der  aus  den  Namen  Toricomus  oder,  wie  er  in 
den  anderen  Handschriften  lautet  Toritonius,  Caratonimus  oder  Carato- 
ininus  gegen  unsere  These,  die  Sage  hafte  ursprünglich  am  Öeptimer,  her- 
geleitet werden  könnte.  Die  Versuche,  diese  rätselhaften  Xamen  zu 
deuten,  die  bisher  gemacht  wurden,  haben  zu  keinem  Resultat  geführt; 
ich  bin  überzeugt,  dass  sie  auf  einem  missverstandeneu  Wort  der  latei- 
nischen Vorlage  beruhen,  kann  das  aber  einstweilen  nocii  nicht  mit 
Sicherheit  beweisen. 

Verfolgen  wir  nun  die  Entwicklung  der  Pilatussage  einerseits  in  der 
Schweiz,  andererseits  in  Italien  und  die  Geschichte  ihrer  Wechsel- 
beziehungen weiter,  so  müssen  wir  zunächst  auf  die  Bilderchronik') 
eingehen,  welche  der  Luzerner  Stadtschreiber  Fründ  um  das  Jahr  1440 
herum  verfasst  hat.  Es  sind  dies  28  Federzeichnungen  aus  einem  deutschen 
Manuskript,  welches  die  Sage  vom  Schweisstuch  Christi  und  die  (Teschichte 
der  Belagerung  Jerusalems  durch  Titus  behandelte.  Leider  ist  der  Text 
dadurch  bis  auf  ein  kurzes  Bruchstück  verstümmelt  uud  unleserlich  ge- 
macht worden,  dass  ein  früherer  Besitzer  die  Bilder  ganz  scharf  ohne 
Land  aus  dem  Manuskript  herausgeschnitten  und  dann  als  Zimmerschmuck 
auf  Tapeten  aufgeklebt  hatte.  Nur  das  Bruchstück  auf  der  Rückseite  des 
einzigen  nicht  aufgeklebten  Bildes  und  die  erklärenden  Unterschriften 
der  übrigen,  die  von  einer  Hand  aus  dem  Anfang  des  19.  Jahrhunderts 
stammen,  erlauben  uns  den  Schluss,  dass  Fründ  zu  seinem  Text  neben 
dem  deutschen  „Evangelium  des  Nicodemus"  noch  eine  andere  Quelle 
benutzt  haben  muss,  in  welcher  der  Geschichtsschreiber  Josephus  und  der 
Pabst  Linus  eine  Rolle  spielten  und  Velosianus  durch  Nicodemus  ersetzt 
war.  Auf  eiuem  der  Bilder  ist  der  au  blutigem  Schweisse  leidende 
Tiberius  abgebildet,  auf  einem  anderen,  wie  Pilatus  sich  in  sein  Schwert 
stürzt.  Aus  der  Abbildung  ist  nicht  ersichtlich,  wo  und  unter  welchen 
Umständen  dies  geschieht.  Dass  aber  Pilatus  nun  endgültig  Besitz  von 
dem  nach  ihm  benannten  See  genommen  hatte,  beweisen  folgende  Notizen. 
Der  aus  seiner  Parteinahme  für  Österreich  gegen  die  Eidgenossen  be- 
kannte Zürcher  Chorherr  Felix  Hemmerlin")  widmet  in  seinem  zwischen 
1444  und  1450  verfassten,  1497  zu  Basel  erstmals  gedruckten  politischen 
Pamphlet  'De  uobilitate  et  rusticitate'  dem  Pilatussee  und  seiner  Sage 
eineu  längeren  Abschnitt:  „Man  muß  wissen,  daß  auf  dem  Gebirge,  welches 
gemeiniglich  Fracmont  genannt  wird,  im  Bistum  Konstanz,  am  Fuße  dessen 


1)  Siehe  oben  S.  49,  Anm.  3  und  bei  Brandstetter  189:i  S.  1l'. 

2)  Felix  Heninimerlin    oder  Malleolus,    De   nobilitate  et  rusticitate  dialogus  (Basel 
ll'.)7)  cap.  3i>,  Bl.  CXXVI  und  seinen  Tractatus  exorcismornm  Bl.  LSXIX. 


56  D»"^': 

die  Stadt  Luzeni  mit  fiiuMii  grossen  See  liegt,  drei  andere  Seen  auf  dem 
Gipfel  des  Berges  sich  befinden,  nnter  denen  einer  rund  und  von  der 
Breite  einer  Juchart  gewölnilich  Pilatussee  genannt  wird.  Seit  .McnscluMi- 
gedenken  bleibt  er  immer  gleich  und  von  gleichem  Umfang.  WCiin  rm 
Mensch  liinzutritt  und  schweigt  und  das  Wasser  weder  mit  einem  Worte 
nocli  mit  einer  Handlung  stört,  so  mag  er  ungeschädigt  davonkommen. 
^\  enu  er  aber  irgend  welche  Worte  vorliringt  und  besonders  wenn  er  den 
Pilatus  nennt  oder  irgend  einen  auch  noch  so  kleinen  Gegenstand  ins 
Wasser  wirft  oder  dieses  berührt  oder  aufrührt,  dann  entsteht  aucli  bei 
heiterstem  Himmel  ein  sehr  starkes  Unwetter  in  den  Wolken'),  und  es  folgen 
Hagel,  Scliuee  und  Regengüsse,  welche  die  am  Fal.ie  des  Gebirges  liegenden 
Länder  zu  überschwemmen  drohen;  ja  wie  die  Erfahrung  lehrt,  oft  tat- 
sächlich die  umliegenden  Äcker  und  Wiesen  und  sogar  viele  Teile  der  ob- 
genannten  Stadt  zerstören.  Und  wenn  ein  Pferd,  Rind  oder  anderes  Tier 
dem  See  sich  naht,  hinein-  und  heraustritt,  so  entsteht  daraus  kein  Schaden. 
Deshalb  werden  beständig  Wachen  an  den  Aufstieg  zum  Berge  geschickt, 
damit  nicht  durch  hinzutretende  Menschen  Schaden  angerichtet  werde." 
Ob  aber  solche  Hagelwetter  künstlich  oder  natürlich  oder  als  Strafe  Gottes 
entstehen,  will  Hemmerlin  Berufeneren  zu  entscheiden  überlassen.  Er 
kennt  die  Nachrichten,  welche  die  „Goldene  Legende"  in  dem  Abschnitt 
von  der  Passion  unseres  Herrn  über  den  Tod  und  die  Strafe  des  Pilatus 
geben,  und  meint  fälschlicli,  dass  damit  der  Pilatusberg  und  -see  bei 
Luzern  gemeint  seien.  Dann  fügt  er  die  für  uns  wichtige  Notiz  bei:  „Es 
ist  mir  bekannt,  dass  in  den  Alpen  zwischen  Bologna  und  Pistoja  nalie 
dem  Castell  Sambuco  ein  älmliclier  Berg  und  ein  See  sich  befinden,  welche 
die  nämliche  Eigenschaft  Ijesitzen,  Unwetter  hervorzurufen."  Wir  werden 
auf  diese  Anspielung  unteu  mehrfach  zurückkommen  müssen,  wollen  alier 
hier  vorausnelimen,  dass  HcninierUn  seine  Kenntnis  des  Pilatussees  bei 
Norcia  seinem  Aufenthalt  in  Bologna  um  1420  am  Hof  des  Papstes 
Johann  XXIU.  verdankt,  ebenso  wie  seine  Kenntnis  der  Sibyllengrotte. 
Man  braucht  sich  daher  über  die  Übereinstimmung  der  Sagenzüge  au 
beiden  Orten  nicht  zu  verwundern. 

Viel  weniger  bestimmt  und  ausführlich  drückt  sich  über  diese  Sache 
der  Dekan  des  Beuediktinerklosters  Eiiisiedeln,  Albrecht  von  Bou- 
stetten^),  1-180  in  seiner  dem  König  Ludwig  XL  von  Frankreich  dedi- 
zierten  'Beschreibung  der  oberdeutschen  Eidgeuossenschaft'  aus.  Im 
deutschen  Texte  lautet  die  an  Luzern  geknüpfte  Notiz  folgendermassen: 
„Die  spicz  des  Frackmout  sind  da  nacli  und  werdent  einer  grossen  höhe 
"•esechen,  uf  die  in  eim  sewly  iler  verdampuote  Poucius  [soll]  besweren  sin. 
Man  redet  deshalben,    der  gedaciit  berg  in  gemeinrem  namen  Pilatusberg 

1)  [Über  diesen  Glauben  vgl.  Sobillot,  Folklore  de  France  1.  2-):5.     2,  iü:',.  372.  4(!l.| 

2)  A.  V.  Bonstettcn,  Supciioris  Gcnnaniae  conl'o'ili'iatinnis  ilesciii>Ho,  abirodruckt 
in  ^iuellcn  zur  Schweizer  Geschichte  13,  236  und  2.")7. 


Drei  spätmittelalterliche  Legenden.  57 

geheyssen  wirt."  Im  Auscbluss  an  Bonstetteii  iienut  der  Mailänder  Balcus') 
in  seiner  um  1500  verfassten  Descriptio  Helvetiae  den  See  des  Pilatus  und 
den  Frakmont,  ohne  der  Sage  zu  gedenken,  die  in  Luzern  lebendig  blieb. 
Denn  ein  Heidelberger  Franziskaner"),  der  1481  über  Luzern  uud  den 
Gotthard  nach  Italien  und  dem  heiligen  Lande  zog,  notierte  in  seinem 
Tagebuche:  „Am  Dienstag,  den  18.  des  September  betraten  wir,  von  Basel 
kommend,  die  Stadt  Luzern,  bei  der  ein  sehr  hoher  Berg  ist,  dessen 
Namen  ich  nicht  behalten  habe,  aber  er  ist  beständig  ziemlich  mit  Schnee 
bedeckt.  Und  auf  dem  Gipfel  dieses  Berges  ist  ein  sehr  tiefer  See,  in 
welchen,  wie  mir  glaubhafte  Männer  dieser  Stadt  berichteten,  der  unge- 
rechte Richter  und  Landptieger  Pilatus  geworfen  wurde,  der  in  diesem  See 
seit  vielen  Jahren  und  von  vielen  angesehenen  Männern  am  Karfreitag 
schwimmend  gesehen  wurde.  See  und  Berg  werden  sorgfältig  bewacht 
auf  Befehl  der  Bürger  von  Luzern,  damit  keiner  ohne  ihre  Erlaubnis  den 
Berg  ersteige  oder  etwas  in  den  See  werfe;  denn  sonst  entstehen  daraus 
für  Stadt  und  Land  verderbliche  Uugewitter." 

Es  ist  auffällig,  dass  in  allen  diesen  Schilderungen  (nur  die  Sarner 
Handschrift  des  Volksbuches  macht  davon  eine  Ausnahme)  der  luzernische 
Pilatussee  anf  die  Spitze  des  Berges  verlegt  wird,  während  er  sich  tat- 
sächlich sehr  weit  unten  befindet.  Das  kommt  meines  Eraehtens  zum 
guten  Teil  von  der  Lage  des  Hexensees  von  Xorcia  her,  zu  dem  wir  nun 
wieder  übergehen  wollen. 

Wir  besitzen  über  diesen  aus  dem  15.  Jahrhundert  eine  Reihe  von  Be- 
richten, welche  beweisen,  da:ss  er  sehr  populär  war  und  häufig  aufgesucht 
wurde.  Von  Luigi  Pulci')  freilich,  der  in  seinem  vor  1488  gedruckten 
Morgante  maggiore  behauptet,  auf  dem  Sibyllenberg  gewesen  zu  sein  und 
in  seinem  Herzen  noch  den  Hoffnungsfunken  hegt,  dessen  „verzauberte 
Wasser"  wieder  zu  sehen,  ist  es  dennoch  fraglich,  ob  er  den  Pilatussee, 
der  an  einem  dem  Sibyllenberge  gegenüberliegenden  Berge  sich  befindet, 
wirklich  selbst  gesehen  liat.  Auch  der  Predigermönch  Bernardino 
Bonavoglia^),  der  auf  der  Kanzel  zu  Foligno  die  Gläubigen  vor  dem 
Besuch  des  verrufenen  Sees  warnen  zu  müssen  glaubte,  kennt  ihn  nur 
von  Hörensagen.  Dennoch  verdient  sein  Bericht  Glaubeu  wegen  seines 
Inhaltes  und  der  Autoritäten,  die  er  anführt.  Bruder  Bernardino  weiss 
zu  erzählen,  der  Leichnam  des  Pilatus  sei  einst  von  den  Teufeln  auf 
einem  Ochsenwaoen    zum  See    a;eschafft  worden.     An  diesen  Ort  kommen 


1)  Balci  Descriptio  Helvetiae  ist  in  den  Quellen  zur  Schweizer  Geschichte  (i,  77— 93 
abgedruckt.     Die  Stelle  über  den  Pilatussee  steht  S.  87. 

2)  Der,  wie  es  scheint,  sonst  nirgends  veröffentlichte  Reisebericht  ist  nach  einem 
Brief  von  Prof.  Sollwerk  an  Th.  v.  Liebenan  im  Bollettino  storico  della  Svizzora  italiana 
14,  4  (189'J)  auszugsweise  mitgeteilt. 

3)  Luigi  Pulci.  II  Morgante  mag^dore,  Canto  -24,  v.  11-J— 3. 

4)  Bernardino  Bonavoglias  Predigt   ist   nicht   gedruckt   und    wird  hier  nach  Gra 
ä,  1Ö2  und  1G3  zitiert. 


58  Diibi: 

aus  nalien  und  fernen  Gegeutlen  ilio  Xekronianteii.  um  ihro  Zauberbücher 
vom  Teufel  weihen  zu  lassen.  Der  dabei  übliche  Hokuspokus  wird  iienau 
beschrieben.  Ein  solclier  Zauberlehrling  erhält  einmal  auf  seine  Be- 
schwörung die  Autwort,  der  von  ihm  gewünschte  Teufel  sei  in  Geschäften 
nach  Aseoli  gegangen.  Verwundert  unternimmt  er  selbst  die  Reise  nach 
Ascoli,  um  zu  erfalireu,  was  daran  wahr  sei.  Er  gelangt  zu  einem  Mino- 
ritenkloster,  wo  ihm  der  ehrwürdige  Bruder  Savinus  de  Canipello  mitteilt, 
dass  in  der  Tat  in  der  vorhergehenden  >>aclit  der  Satan  in  Ascoli  sein 
böses  Werk  vollbracht  habe  usw.  Von  diesen  noch  problematischen  Er- 
zählungen wollen  wir  zu  dem  Reisebericht  übergehen,  den  Antoine  de 
la  Säle')  über  seinen  Besuch  bei  dem  See  von  Norcia  erstattet  hat. 

Der  französische  Edelmann  dieses  Namens  ist  den  Literarhistorikern 
wohl  bekannt.  Man  weiss,  dass  er  den  trotz  mancher  ermüilenden  Längen 
interessanten  Ritterroman  'Le  petit  Jelian  de  Xaintre'  geschrieben  hat. 
Kein  geringerer  als  Gaston  Paris  hat  ihm  zugetraut,  dass  er  auch  das 
leichtfertige,  aber  sehr  lustige  Buch:  „Les  quinzc  joyes  de  mariage"  ge- 
schrieben und  zu  den  „Cent  Xouvelles  Nouvelles  du  bon  roi  Louis  XI" 
einige  der  riskierteston  Beiträge  geliefert  und  die  Redaktion  des  Ganzen 
besorgt  habe.  Diese  letzteren  Autorschaften  hat  man  neuerdings  lebhaft 
bestritten,"  und  die  pikante  Frage  ist  noch  nicht  gelöst.  Aber  wenn  Antoine 
auch  dieses  Verdienst  nicht  zukommen  sollte,  so  müssen  wir  ihm  doch 
für  die  Beiträge,  die  er  zu  unserer  Kenntnis  der  Pilatus-  und  der  Tann- 
häuserlegende beigesteuert  hat,  dankbar  sein.  Dass  man  erst  in  neuester 
Zeit  auf  diese  aufmerksam  geworden  ist,  kommt  davon,  dass  sie  in  einem 
sonst  für  moderne  Leser  ungeniessbaren  Werk  versteckt  sind.  'La  Salade' 
nannte  Antoine  de  la  Säle  den  Traktat  über  ritterliche  Erziehung,  den  er 
in  diMi  Jahren  143X  — 42  für  seinen  Zögling  Jean  d'Anjou,  Sohn  des  König 
Reue  von  Neapel  verfasst  hat.  Den  bizarren  Titel  der  im  übrigen  dürftigen 
historisch  -  moralischen  Kompilation  hat  Antoine  gewählt,  teils  mit  Rück- 
sicht auf  seinen  Familiennamen,  teils,  wie  er  sagt,  „pour  ce  qu'en  la  salade 
se  mettent  plusieurs  bonnes  herbes".  Zu  diesen  guten  und  schmackhaften 
Kräutern  geliört  nun  in  erster  Linie  der  Abschnitt  „Du  mont  de  la  Sibille 
et  de  son  lac  et  des  choses  que  je  y  ay  veu  et  oy  dire  ou  gens  du  pais". 
Der  Autor  war  35  Jahre  alt  und  schon  längere  Zeit  in  Italien  tätig,  als 
es  ihm  im  Mai  1420  einliel,  diese  Stätten  zu  besuchen,  von  <leren  selt- 
samen Wundern  er  schon  in  früher  .lugend  gehört  hatte.  JOinen  Auszug 
seines  Reiseberichtes,  dessen  voller  Reiz  leider  in  der  Übersetzung  ver- 
loren geht,  bringen  wir  hier,  den  anderen  später  im  Auschluss  an  die 
dritte  der  von  uns  zu  besprechenden  Gegenden.    Antoine  beginnt: 

1)  Die  den  Pilatusberic  iiml  -seo  betreffenden  .\bschnittf!  aus  Antoino  de  la  Sales 
•Salade'  sind  peinlich  fjenaii  abgedruckt  bei  A.  Socderlijelin,  Antoino  de  la  Säle  et  la 
le;;endc  du  Tannhäusor  (Memoires  de  la  societe  neo-philol()i;iiiue  ä  Helsiiijj'.'ors  2,  lOS 
bis  110.    1S'.I7). 


Urei  spätmittelalterliche  Legenden.  ,");> 

,,Erfitens  werde  ich  vom  Berg  des  Sees  der  Königin  Sibylle  sprechen, 
welchen  einige  den  Berg  des  Sees  des  Pilatus  nennen,  weil  im  Gebiet  des 
Herzogtums  Spoleto  und  der  Stadt  Norcia,  wo  Berg  und  See  liegen,  man  sich 
erzählt,  dass,  als  Titus,  Sohn  des  römischen  Kaisers  Vespasian,  die  Stadt 
Jerusalem  zerstört  hatte,  was,  wie  einige  sagen,  aus  Rache  für  den  Tod 
unseres  Herrn  Jesu  Christi  geschah  (und  weil  unser  Herr  für  30  Silber- 
linge  verkaitft  wurde,  sagen  sie,  liess  Titus  30  Juden  um  einen  Silberling 
verkaufen),  auf  der  Rückkehr  nach  Rom  er  den  Pilatus  gefangen  mit 
sich  führte,  der  zu  dieser  Zeit  Befelilshaber  für  das  riimische  Volk  in 
Jerusalem  war.  Und  vor  den  Augen  des  ganzen  Volkes  liess  er  ihn 
sterben,  nicht  weil  Pilatus  je  unseren  wahren  Heiland  Jesum  Christum 
verurteilen  wollte,  sondern  weil  er  seine  Pflicht  nicht  getan  hatte,  jenen 
vor  dem  Toile  zu  bewahren.  Und  dies  ist  die  Erzählung  der  Leute  dieses 
Landes.  Auch  sagen  die  Leute,  als  Pilatus  sah,  dass  er  sein  Leben  nicht 
retten  könne,  bat  er  um  eine  Gnade,  die  ihm  gewährt  wurde,  nämlich, 
dass  sein  Leichnam  auf  einen  von  zwei  Paar  Büffeln  gezogenen  Karren 
geworfen  und  dahin  gefahren  würde,  wohin  es  den  Tieren  belieben  würde 
zu  gehen.  Der  Kaiser,  verwundert  über  diese  Bitte,  Hess  den  Wagen 
verfolgen.  Die  Büffel  gingen  stracks  vorwärts  bis  zu  dem  See.  warfen 
hier  den  Wagen  um  und  stürzten  den  Leichnam  des  Pilatus  in  den  See 
mit  einer  Eile,  als  ob  man  sie  mit  Schlägen  verfolgte.  Aus  diesem  Grunde 
nennt  man  ihn  den  See  des  Pilatus;  andere  neuneu  iim  den  See  der 
Sibylle,  weil  der  Berg  der  Sibylle  davor  liegt  und  sich  anschliesst,  nur 
dass  ein  kleiner  Bach  dazwischen  tliesst."  —  Ich  übergehe  die  genaue  Topo- 
graphie des  Gipfels,  die  beweist,  dass  Antoine  oben  gewesen  ist,  also  auch 
den  See  wirklich  gesehen  hat.  Von  diesem  berichtet  er:  „Die  Leute 
behaupten,  der  See  sei  unergründlich,  nach  meiner  Schätzung  hat  er  den 
Umfang  der  Stadt  Saumur.  In  der  Glitte  ist  eine  kleine  Felseniusel,  die 
einst  ringsum  gemauert  war,  wovon  man  noch  an  mehreren  Stellen  die 
Fundamente  sieht.  Vom  Lande  auf  diese  Insel  führte  einst  eine  gei)fiasterte 
Strasse,  die  aber  verschwunden  ist.  Sie  wurde  zerstört,  damit  die  Nekro- 
manten  nicht  mehr  auf  die  Insel  gelangen  und  hier  ihre  Bücher  weihen 
lassen  könnten.  Auch  wird  die  Insel  von  den  Leuten  des  Landes  streng 
bewacht;  denn  wenn  jemand  heimlich  hinkommt  und  hier  die  Knust  des 
bösen  Feindes  ausübt,  so  bricht  ein  Unwetter  über  die  Gegend  herein, 
das  alle  Früchte  und  Güter  zerstört.  Wenn  deshalb  die  wachehaltenden 
Leute  hier  jemand  finden,  so  bereiten  sie  ihm  einen  schlechten  Empfang. 
Vor  noch  nicht  langer  Zeit  wurden  zwei  Männer  gefangen  genommen, 
von  denen  der  eine  Priester  war.  Dieser  wurde  in  die  Stadt  Norcia  ge- 
führt und  dort  gemartert  und  verbrannt,  der  andere  wurde  gevierteilt  und 
in  den  See  geworfen  von  denjenigen,  die  ihn  gefangen  hatten.  Aber 
wenn  jemand  Lust  hat,  den  See  zu  besuchen  mit  aller  Sicherheit  für 
seine    Person,    so    niuss    er    sich    an    die   Behörden    der    genannten    Stadt 


60  Ofibi: 

wenden,  welche  ihm  gerne  Krhuibnis  und  Geleit  zum  Besuche  geben, 
wenn  ei*  sich  als  Eiirenmanu  ausweist." 

In  dem  später  zu  besprechenden  Bericht  über  seinen  Besuch  der 
Sibyllengrotte  notiert  Antoine  de  la  Säle  noch,  dass  „der  Papst  Innocenz  Yl., 
1352 — 62,  alle  diejenigen  exkommunizierte,  welche  ohne  Erlaubnis  bei 
dem  Pilatussee  gewesen  waren  und  nicht  Absolution  f'iir  diese  Sünde  nacli- 
suchten.  Der  nämliche  Hess  den  auf  die  Insel  führenden  Dammweg  durch- 
stechen wegen  der  Nekromanten,  die  ihn  zu  benutzen  pHegten."  Diese 
Massregeln  sind  wohl  für  das  Luzerner  Verbot  von  1387  vorbildlich  ge- 
wesen. Dass  aber  die  unerlaubten  Besuche  des  Sees  bei  Norcia  damit 
doch  nicht  aufhörten,  geht  aus  mehreren  Beobachtungen  hervor,  von  denen 
die  folgende  für  unsere  These  von  Bedeutung  ist. 

Der  Dominikaner  Leandro  Alberti')  zitiert  in  seiner  1550  erschienenen 
und  unserem  Conrad  (lesner  wohlbekannten  'Beschreibung  von  ganz  Italien" 
in  dem  Abschnitt  über  den  Bezirk  Ancona  eine  Erzählung  des  Domini- 
kaners Razzano  von  Palermo,  der  1492  als  Bischof  von  Lucera  starb, 
von  einigen  in  der  Magie  erfahreneu  Deutschen,  welche,  von  der  allge- 
meinen Sage  angelockt,  mit  grossen  Kosten  hergereist  waren,  um  sich  im 
See  ihre  Bücher  vom  Teufel  weihen  zu  lassen,  sich  aber  in  ihren  Hoff- 
nungen schniählicli  betrogen  sahen.  Xicht  besser  wäre  es  wolil  Ben- 
venuto|  Cell  in  i")  ergangen,  wenn  er  den  ihm  im  Coliseo  zu  Rom  von 
einem  sizilianischon  Nekromanteu  eingegebenen  Plan,  den  See  von  Norcia 
zu  besuchen,  ausgeführt  hätte,  unter  den  Deutschen,  welche  kamen,  den 
See  des  Pilatus  und  die  Grotte  der  Sibylle  zu  besuchen,  sei  der  Patrizier 
von  Köln  Arnold  von  Harff^)  erwähnt,  der  1497  seine  Pilgerreise  von 
Rom  nach  Venedig  und  weiter  zu  diesem  frivolen  Zwecke  imterbrach. 
Der  einzige  Erfolg  waren  Erinnerungen  an  die  ehemaligen  Praktiken  in 
der  Ortstradition. 

Im  1().  Jahrhundert  hat  dann  oCFenl)ar  in  Italien  das  Interesse  für  den 
See  des  Pilatus  wie  für  die  Grotte  der  Sibylle  abgenommen.  Trissino*) 
kennt  in  seinem  Epos  'Das  von  den  Goten  befi'eite  Italien'  noch  beide 
und  s])richt  von  dem  See,  dessen  bleifarbene  Gewässer  voll  von  Dämonen 
und  Fischen  sind,  welche  jederzeit  zwischen  den  Ufern  hin  und  her 
schiessen.  Der  oben  genannte  Leandro  Alberti  und  nach  ihm  Paulus 
Merula*^)  in  seiner  Kosmographie  wissen  zu  berichten,  dass  in  dem  nicht 


1)  Fra  Leandro  Alberti,  Descrittiono  di  tutta  l'ltalia,  XIII"  regione  Marca  Aiico- 
nitana,  Bologna  15.J0.  Da  ich  das  Buch  nicht  zu  Gesiclit  bekommen  habe,  zitiere  ich 
nach  Graf  2,  l.'il  und  IG-i:  'Edizione  di  Venezia,  159l>,  fol.  'JT.'!  r.  e  v.' 

2)  Benvcnutü  Cellinis  Autoljiographie   I,  c.  (ilf. 

3)  Die  Pilgerfahrt  des  Ritters  Arnold  von  Harff,  hrsg.  von  Dr.  E.  von  Groote. 
(Köln  ISCO)  p.  37  —  38:  zitiert  nach  Graf  p.  153  und  Kit. 

4)  Trissino,  L'ltalia  liberata  dai  Goti,  canto  24. 

5)  Paulus  Merula  (Paul  van  Merle),  Cosmographia  gcnerali.s.  Amsterdam  lG-21  p.  .j7!) 
(zuerst  ICiö):  zitiert  nach  Graf  2,  15-1  und  lü4. 


Drei  spätmittelalteiliche  Legenden.  61 

weiliger  als  die  Sibylleiigrotte  berüchtigten  Lago  di  Norsa  im  Appenniu 
nach  der  Meinung  der  Ungebildeten  die  Dämonen  herumschwimmen  und 
das  Wasser  in  beständigem  Aufruhr  erlialten  zur  grossen  Verwunderung 
eines  jeden,  der  dies  zu  sehen  bekommt;  denn  die  Xorsiner,  erschreckt 
durch  das  Zusammenströmen  der  Zauberer,  welche  diese  rauhen  und  hohen 
Berge  in  böser  Absicht  durchstreifen,  haben  den  Zugang  zur  Grotte  ver- 
sperrt und  halten  gute  Wache  bei  dem  See.  Alberti  nennt  also  den 
Pilatus  nicht  mehr,  obschon  er  die  Verse  des  Fazio  kennt,  die  von  ihm 
sprechen.  Bald  darauf  verschwindet  der  italienische  Pilatussee  aus  der 
Literatur,  und  heutzutage  ist  sein  Andenken  in  der  Gegend  von  Xorcia 
liis  auf  wenige  Spuren  verschwunden. 

Desto  lebendiger  ist  Pilatus  im  Andenken  der  Bewohner  der  Inner- 
schweiz geblieben,  zu  welcher  wir  nunmehr  zurückkehren  wollen. 

Im  Jahre  1555  gab  der  berühmte  Züricher  Gelehrte  Conrad  Gesner^), 
der  Vater  des  Alpinismus  in  der  Schweiz,  in  einem  botanischen  Traktate 
eine  lateinische  'Beschreibung  des  Frakmünt  oder  Pilatusberges',  das 
Resultat  einer  zu  Studienzwecken  mit  einigen  Freunden  unter  obrigkeit- 
lichem Geleite  zu  dem  See  und  in  dessen  Umgebung,  aber  nicht  auf  den 
Gipfel  des  Pilatus  selbst  unternommenen  Reise.  Gesner  kennt  die  auf 
den  Pilatussee  bezüglichen  Sagen,  an  deren  Wahrheit  er  nicht  glaubt,  die 
er  aber  auch  nicht  zu  widerlegen  unternimmt.  Er  kennt  auch  die  Mond- 
oder Mannloch  genannte  Höhle  am  Pilatus,  von  der  die  Sage  ging,  dass 
sie  am  liinteren  Ende  mit  einer  eisernen  Türe  verschlossen  sei.  Von  Seen 
mit  ähnlichen  Sagen  zitiert  Gesner  den  von  Heramerlin  genannten  „zwischen 
Bologna  und  Pistoja  beim  Kastell  Sambuco"  und  aus  einer  lateinischen 
Schrift  Boccaccios  den  See  „Scaphagiolus  im  Apennin  zwischen  Pistoja 
und  Modena".  Er  selber  hat  „in  Hochsavoyen  in  der  Gegend  der  Bodiontier 
hinter  Cluses  einen  See  gesehen,  rund  und  klein,  aber  von  solcher  Tiefe, 
dass  er  bis  ins  Erdinnere  zu  gehen  scheine,  und  dass  Überreste  eines 
darin  verunglückten  Rindes  in  einer  Quelle  am  Fuss  des  Berges  nahe 
bei  Cluses  wieder  zum  Vorschein  gekommen  seien.''  Von  Autoritäten 
über  die  Pilatussage  nennt  Gesner  den  Jacobus  a  Voragine  und  wiederholt 
den  Irrtum  Hemmerlins,  dass  dieser  für  das  Grab  des  Pilatus  im  See  bei 
Luzeru  zeuge,  den  Eusebius  und  Otto  von  Freisiug.  Unter  den  seinem 
eioenen  Traktat  beio-eo'ebenen  Reisebeschreibungen  ist  für  uns  wichtig 
die  lateinische  'Beschreibung  des  Pilatusberges  in  Frankreich"  von  dem 
Lyoner  Botaniker  Jean  du  Choul"),  ebenfalls  von  1555  datiert.  Von 
dem    Mont    Pilat,    einem    westlichen   Vorsprung    der    Cevennen,    berühmt 


1)  Conrad  Gesner,  Uescriptio  montis  liacti  seu  ilontis  Pilati  in  der  Schrift:  De 
admirandis  herbis  etc.  1555.  Die  Stelle  über  das  Mondloch  steht  p.  54,  die  über  den  See 
in  Savoyen  p.  53. 

2)  Jean  du  Choul,  Pilati  Montis  in  Gallia  doscriptio,  Lyon  1555  und  bei  Gesner, 
De  admirandis  herbis  p.  GS— 75. 


6-2  Dübi: 

durcli  seltene,  namentlich  niedizinisclie  Pflanzen  (im  18.  Jahrliiinilert  war 
er  ein  beliebtes  Reiseziel  der  Botaniker,  nnter  denen  wir  nur  l^inne, 
J.  J.  Rousseau  und  Haller  zu  nennen  brauchen),  berichtet  der  gelehrte 
Korrespondent  Gesners  eine  Reihe  uns  interessierender  Sagenzüge:  den 
Umwohnern  ist  er  unter  dem  Namen  des  Pilatus,  der  Cliristus  kreuzigen 
liess,  bekannt;  im  Schoss  des  (leblrges  ruht  ein  stiller  Bergsee,  der 
Brunnen  des  Pilatus  genannt,  von  dem  Ungewitter  ausgehen  sollen:  der 
Brunnen  wurde  verschüttet,  damit  das  Vieh  keinen  Schaden  nehme,  denn 
einst  soll  ein  Hirte  mit  seinen  Schafen  darin  ertrunken  und  einise  Tao-e 
später  in  der  Rhone  wieder  zum  Yorsrliein  gekommen  sein.  Du  Choul 
liült  iiielits  von  diesen  Erzählungen:  der  sugeniumte  Bruuni'H  des  Pilatus 
sei  die  wahre  Quelle  des  Flusses  Gers.  Dass  Hagelwetter  aus  diesem 
See  entstehen  könnten,  bestreitet  Du  Choul,  dagegen  diene  der  Berg  zur 
Wetterprognose,  je  nach  der  Wolkenbildung  am  Gipfel.  Diese  Bemerkung 
ist  für  uns  wertvoll.  Sie  erlaubt  uns  zu  sagen,  dass  die  Etymologie 
Pilatus  =  Pileatus,  der  „Berg  mit  dem  Wolkenhut",  die  in  der  Schweiz 
meines  Wissens  zuerst  1661  ia  J.  L.  Cysats')  'Beschreibung  des  Luzerner 
Sees  auftaucht,  hier  nicht  autochthon,  sondern  auf  literarischem  Wege  ein- 
geschleppt ist  und  dann  dazu  l)eigetragen  hat,  den  alten  Namen  des 
Frakmünt  für  den  Berg,  besonders  das  Tomlisliorn  und  deu  Esel  zu  ver- 
ilräugen.  Dabei  soll  nicht  bestritten  werden,  dass  schon  lange  vorher  der 
Pilatusbei'g  den  Umwohnern  als  Wetterprophet  diente.  Das  entsprechende 
Sprüchlein  in  Frankreich  lautet:  „Quaud  Pilat  prend  son  chapeau,  voyageur, 
prend  ton  manteau."  Auch  ist  wahrscheinlich,  dass  der  Name  Pilat  au 
<ler  Rhone  sehr  alt  ist  und  zu  der  Lokalisierung  der  Pilatussage  bei 
\  ienne  und  J>yon  Veranlassung  gegeben  hat,  während  umgekehrt  bei 
Luzeru  Pilatus  nachweisbar  von  dem  anfangs  anonymen  Hagelsee  Besitz 
ergriffen  hat  und  zwar  erst  im  14.  dalirlnuidert,  von  dem  Berg  sogar  erst 
im  1.').  unter  deutlicher  Einwirkung  des  italienischen  Doppelgängers.  Aber 
die  Ausgestaltung  der  Sage  in  der  Schweiz  ist  ungemein  lebendig  und 
zeigt  originale  Züge  neben  den  aus  Italien  und  Frankreich  herüber- 
genommenen. 

Ungemein  zähe  haftet  das  Gespenst  des  Pilatus  an  seinem  See  und 
seinem  Berg.  Nachdem  doch  Vadian  und  der  Herzog  Ulrich  von  Württem- 
berg 1518,  Conrad  Gesner  und  seine  Freunde  ir)5ö,  Felix  Plater  vor  1580 
den  See  besucht  hatten,  ohne  irgend  etwas  Merkwürdiges  zu  erlebcTi,  der 
Dekan  Johannes  Müller  im  Jahre  1587  sogar  den  bösen  Landpfleger  mir 
den  Worten:  „Pilat,  wirf  aus  dein  Kät"  und  durch  Steiuwürfe  ungestraft 
provoziert  und  die  Obrigkeit  159-1')  befohlen  hatte,  den  See  abzugraben, 
was    freilich    unterblieb,    erzählte    dennoch    im    Jahre  U)56    dem  Jesuiten 


1)  Joli.  Leopold  Cysat,  Beschreibung  des  heiülinibdii  I.uzeruer  oder   l  W'aldstätter- 
sees  etc.  (,l."«crn  IGGl)  S.  252. 

2)  BrandstPttcr  1893  S.  U. 


Drei  spätmittelalterliclie  Legenden.  63 

Loreti'),  der  den  See  besah,  der  begleitende  Hirte,  dass  der  Dämon  all- 
jährlich am  Karfreitag-  den  Pilatus  an  einer  eisernen  Kette  auf  die  Ober- 
fläche bringe,  wo  dieser  auf  seinen  Thron  sich  setze  und  die  Hände  wasche. 
Und  Joh.  Leopold  Cysat  kannte  1661  schon  23  Fabeln  über  Pilatus  und 
seinen  Bergsee. 

Um  iliese  Zeit  war  die  Kunde  vom  Pilatussee  bei  Luzern  auch  in 
Deutsehland  verbreitet;  denn  von  einem  1677  ohne  Druckort  heraus- 
gekommenen Volksbuclie,  dessen  wir  noch  öfter  zu  gedenken  haben 
werden,  lautet  der  abgekürzte  Titel:  „Curieuse  Relationen,  deren  die  I. 
von  einem  Zeit  Christi  Leiden  zu  Jerusalem  verwahrt  behaltenen  Juden, 
die  II.  von  einem  seit  Christi  Leiden  stets  herumwallenden  Juden,  die 
VII.  das  Schreiben  Pilati  an  Tiberium  von  Christo,  die  YIII.  noch  ein 
anderes  Schreiben  Pilati  von  Christo,  die  XII.  von  der  Verurteilung  Christi, 
samt  einem  Anhang  etlicher  Relationen  von  dem  Pilatussee  bey  Lucern 
in  der  Sehweitz  der  VerwandschafFt  wegen  beyammen  herausgegeben." 
Wer  diese  Verwandtschaft  der  Malchus-,  Ahasver-  und  Pilatussage  in  der 
Schweiz  vermittelt  hat,  werden  wir  bei  Besprechung  der  zweiten  unserer 
Legenden,  der  vom  Ewigen  Juden,  ausführen 

In  seiner  1680  lateinisch,  später  auch  deutsch  herausgegebenen 
'Kuriosen  Xaturgeschichte  des  Scliweizerlandes'  widmet  der  Züricher 
J.  J.  Wagner")  dem  Pilatussee  einen  kurzen  Anhang.  Er  fasst  die  zu 
seiner  Zeit  noch  bestehende,  nach  seiner  Meinung  unglaubwürdige  Tradition 
so  zusammen:  1.  man  nennt  ihn  den  See  des  Pilatus;  2.  er  soll  auf  dem 
Gipfel  des  Frakmünt  sein;  3.  an  einem  einsamen  und  waldigen  Orte; 
4.  von  schrecklichem  Anblick;  5  so  tief,  dass  der  Grund  nicht  sondiert 
werden  kann;  6.  er  werde  von  keinem  Winde  bewegt;  7.  er  sei  ohne 
Ein-  un<l  .Vusfluss,  werde  im  Winter  nickt  grösser  und  im  Sommer  nicht 
kleiner;  8.  sein  Wasser  sei  schwärzlich,  und  er  sei  eingehegt,  damit  er 
von  niemanden  gestört  werde;  9.  was  absichtlich  in  den  See  geworfen 
werde,  errege  die  grössten  Stürme  und  Überschwemmungen,  was  aber 
zufällig  hineingerate,  schade  nichts,  wie  wenn  der  See  mit  Vernunft  begabt 
wäre  und  wüsste,  dass  es  keine  unbewusste  Sünde  gebe:  10.  die,  welche 
den  Frieden  des  Sees  stören,  büssen  es  mit  ihrem  Haupte;  11.  die  Um- 
wohner werden  jährlich  durch  Eid  verpflichtet,  niemanden  zum  See  zuzu- 
lassen, der  nicht  von  einem  rechtschaffenen  Bürger  von  Luzern  zum  Zeichen 
der  obrigkeitlichen  Erlaubnis  begleitet  sei."  Es  wird  dem  Verfasser  nicht 
schwer,  das  Unhaltbare  dieser  Erzählungen  nachzuweisen;  was  er  aber 
nicht  beurteilen  kann,  ist  die  Herkunft  einiger  dieser  Sagenzüge,  die  wir 
nachgewiesen    haben.     Wenn   wir   sie  mit  dem  vergleichen,    was  um  1480 


1)  Der   Bericht   Loretis    steht   bti    P.  .'Vthanasius  Kircher,    Jlimdus  subterraiieus 
üb.  8,  Sectio  4,  cap.  "2  (IGU.")). 

2)  J.  J.  Wagner,  Historia  naturalis  Uelvetiae  curiosa  (Tiguri  1G8Ü),  S.  59. 


64  Dübi:  Drei  spähnittelalterliche  Legenden. 

herum  iu  der  Scliweiz   über  Pilatus  und  seinen  See  bekannt  war,  so  finden 
wir,    dass    die  Sage    in   den  zwei  Jalirhunderten  sich  stark  bereichert  hat. 
Noch    grösser    ist    ihr  Inventar  um   IKiT.    da  A.  Cappeller')  seine  latei- 
nische   Beschreibung    des    Pilatusberges    veröffentlichte.     Cappeller    weiss 
als    für    uns    neu    zu    erzählen,    dass   das  Gespenst  sich  nicht  auf  den  See 
beschriinkte,    sondern    den    ganzen    Berg    unsicher    machte    zum    grossen 
Schaden    für  Menschen  und  Vieh.     Da  habe  ein  Rosenkreuzerbruder  oder 
fahrender  Schüler  von  Salamanca  das  Gespenst    wieder  in  seinen  frühereu 
Abgrund  gebannt.    Der  Exorzisierende  habe  sich  zuerst  auf  den  westlichen 
Punkt    des  Gipfels    gesetzt,    von    welchem   aus,    wie  von   einer  Warte  das 
Gespenst  die   umliegende  Gegend  zu  überblicken  pflegte,  daher  schwanke 
der  Felsblock,  Gnepfstein  genannt,    heute  noch;    eine  zweite  Station  habe 
der  Beschwörer  dann  auf  dem  „Widderfelde"  gemacht,  wo  ein  von  Rasen 
eiitblösster  Fleck  Erde    noch    von    ihm  zeuge.     Damit  Pilatus  in  den  See 
ohne  Zögern  zurückkehre,  habe  der  fahrende  Schüler  iiim  ein  dämonisches 
Ross    untorgegeben,    dessen  Hufspur    noch    unweit    des  Sees    sichtbar  sei. 
Nach    seinem  Bannspruch    dürfe  Pilatus   ungorufen  nur  am  Karfreitag  aus 
dem  See  auftauchen  und  sich  auf  seinen  llichterstuhl  setzen.     Seitdem  sei 
»hirch  Mandate  der  Zugang  zum  See  verboten  und  <iii'  Hirten  von  Eigental 
jährlich    durch    einen  Weibel,    der  dafür  einen  rheinischen  Gulden  Boten- 
lohn   erhielt,    daraufhin    vereidigt    worden,    dass    sie    den  Weg    zum    See 
weder    zeigen  noch  freigeben  wollten.     Aber  der  Bann  des  Zauberei's  von 
Salamanca    erwies    sich    in    der  Folge    doch    als  machtlos  gegenüber  dem 
dem    verwünschten  Landpfleger    iuuewohneuden  Wandertrieb,    den    er  mit 
einem  anderen  Feinde  Christi,  dem  ewigen  Juden  gemein  hat.     Nach  den 
von  E.  L.  Rochhoiz")  1856  gesammelten  Aargauer  Sagen  nimmt  Pilatus, 
wenn  er  seinem  gelobten  Lande  wieder  einmal  einen  Besuch  machen  will, 
den  Wog  von  seinem  Berge   aus  allemal  durch  das  Suhrtal  und  zwar,    da 
er  ein  Unhold  ist,    bald  als  J'ferd  oder  Füllen,   bald  als  Kalb  oder  Hund. 
Eine    andere  Sage  erzählt:    „Vom  Pilatusberge  her  kommt  alljährlich  um 
Neujahr    ein    nicht    unfreundlich   aussehender  Mann  durch  den  Aargau  an 
den  Rhein    gereist.     Im  Freienamte  nennt  man  ihn  Pilatus;    an  einzelnen 
Orten    heisst   er  auch  der  Pilger  von  Rom,    weil  er  ganz  in  einer  l'ilger- 
tracht    erscheint    mit    grossem    Rundhut,    hohem    Stab,    langer  Kutte    mit 
Mantelkragen    und    mit    stark    beschlagenen  Schuhen.     Er  übernachtet  in 
einem    leerstehenden  Häuschen    der  Weinberge    und    lässt  zum  Lohn  den 
Trottenbesitzern  ein  Stück  der  Moudmilch  liegen,    die  er  aus  einer  Grotte 
am  Pilatusberge    in    seiner  Pilgertasche  mit  sich  führt  und  die  gut  gegen 
Gliederreissen  ist." 


1)    Siehe  oben  S.  i>'2,  Anm.  I.     Die  •2'i  Fabeln  über  Pilatus  (nach  J.  L.  Cysat  p.  252) 
stehen  S.  b;  die  übrige  lokale  Tradition  über  Pilatus  S.  6—8. 

2j    E.  L.  Rochholz,  Schweizersagen  aus  dem  Aargau  2,  2;>  (Aarau  \KA'>\. 


Höfler:  Der  Krapfen.  (55 

Mit  diesem  Sagenzuge,  der  uns  Pilatus  in  der  Umwandlung  zu  Ahas- 
verus  begriffen  und  im  Zusammenhange  mit  den  schweizerischen  Wander- 
sagen zeigt,  wollen  wir  die  Betrachtung  unserer  ersten  Legende  schliessen. 

Bern. 


Der  Krapfen. 

Von  Max  Höfler. 


Der  Krapfen    geht   als  (lebäckbezeichuung  bis  in  die  althochdeutsche 

Zeit  zurück  und  ist  wolil  das  älteste  schriftlich  bezeugte  deutsche  Gebildbrot: 

9.  Jahrh.  Krapfilin  -  ccliiidros  (Hattemer,  Dcnkm.  1,  'liX.  Diefeubach,  Gloss.  1,  111), 
cilinda  =  est  pauis  tenuis  dünn  prot,  zeit,  Diefenb.  Gloss.  nov.  2,  313;  chrapfe  =  artocrea 
vel  rapheola  [rufeole,  rufella,  roöolus;  ital.  raviuoli;  dialect.  rofi»!,  Diefenb.  2,  313;  ital. 
raffio  =  Krapfen];  mlat.  (k)rapbeola  =  kreppelen,  cbrapbe  (.Steinmeyer,  Ahd.  Gloss.  3,  61G. 
Diefenb.  1,  484);  demnach  war  schon  damals  der  german.  Krapfen  eine  ins  Romanische 
aufgenommene  Uezeichnung  für  ein  mit  Fleischgeliäcksel  gefülltes  Hohlgebäck:  krapfo, 
kräko,  cbrücho,  crapho  =  artocreas,  Diefenb.  1,  öl;  umog  =  Brot,  x(>£ai  =  Fleisch:  krephelin 
=  artocreae  (Stoinmeyor  3,  213);  crepelen  (pl.)  =  artocopus  [ugio-y.o.-iog  =  Brotbäcker] 
=  panis  pistus  labore  in  oleo  vol  buttyro,  also  ein  in  heissem  Fett  (()1,  Butter)  vom 
Bäcker  hergost.elltes  Gebäck;  chrapphen  =  artocree,  meri  panes  (Steinmeyer  4,  181),  also  ein 
besseres,  aus  Weizenmehl  hergestelltes  Gebäck. 

Audi  im  Altsächsischen  ist  der  Krä])pel  bereits  bezeugt: 

13.— 14.  Jahrb.  creppel,  crephele  =  laganum  (Diefenb.  1,  31G),  ein  verauitlich  mit 
Farce  gefülltes  pastetenartiges  Gebäck. 

In  mittelliochdeutsciier  Zeit  finden  sich  folgende  Glossierungen: 

1307  turtullac  quae  dicuntur  krapphen  (Schweiz.  Idiot.  3,  843)  =  Törtlein  (tortulae), 
Küchlein;  1383  krappellä,  krapfe  =  artocrea  (Ztschr.  f.  Wortforsch.  2,  173);  14 — 15.  Jahrh. 
crappfe  =  crepida  [xQijjridsi':!]  (Diefonbach  2,  156);  1429  crapf  =  artocrea  (Schnieller,  Bayer. 
Wörterb.  1,  1379):  krapf  =  pastillum,  Pastete,  Gebäck  mit  Farce  (Diefenbach  2,  282); 
15.  Jahrh.  laganum  est  genus  sartaginis,  ein  clirapfen  (ebd.),  also  ein  Pfannengebäck; 
15.  Jahrh.  krnppolc,  kropphel,  krophen,  kropele,  croppele,  kreffel,  krapff  =  pastillum, 
krepfly,  kreppelen,  krapff,  craph  =  artocreas,  artocopus  (Diefenbach  1,  51.  2,  :!ü  282); 
eyn  crnppele  =  laganum  (Diefenb.  2,  227);  mhd.  krapfe  =  ein  hakenförmiges  (?)  Gebäck 
(Kluge,  Wörterbuch  »  S.  57.  Heyne,  Deutsche  Hausaltert.  2,  277),  auch  =  Hoden  (Lexer, 
TaschonvTörterb.  132),  also  zumeist  ein  Pfannengebäck  in  rundgeballter  Form  (in  Schlesien 
heissen  auch  die  Pfcrdekotballen  Krapfeu);  l.")37  kreppflin  speiß  auß  Fleisch  und  Brot, 
artocrea  (Elsäss.  Wörterb.  1,  522). 

Im  Mittelniederdeutscheu: 

1385  kroppe,  kropele,  oreppel,  croppeles,  crnppe,  croppel  =  artocrea,  cibus  ex  pane  et 
carne  et  pasta  factus,  pistus  in  oleo  (Schiller-Lübben  2,  57S);  croppcluick  =  croppeliuk 
=  artocrea;  1435  item  so  schollen  de  garbradere  de  cropele  on  der  vasfene  backen  vnde 
scholen  see  güd  rnde  grot  raaken  (ebd.).  —  Wolfram  von  Eschenbach  (1203)  erwähnt  im 
Parzival  184,  24  die  Krapfen,  die  in  der  Pfanne  prasseln:  „ein  Trühendingaer  phanne  mit 
kraphen  selten  da  erschrei";  auch  in  einem  Bruchstücke  des  Herzogs  Ernst  von  Bayern 
heisst  es:  „weder  krapfe  noch  daz  smalz  von  diu  werden  mannen  selten  lüte  in  der  phannen" 
Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1907.  5 


66  Hödpr: 

Zs.  f.  (I.  Altert.  7,  l'&i).  IG.  .Taliili.  kropffen  -  placenta  (Diefenbacli  1,  439);  krapffen  in 
dem  ofe7i  oder  in  der  eschen  ^ebachen  =  collyrida  ao/./.voa,  y.o'/./.iinöu  üotoc,  aus  grobem 
Mehlteigc  gebackenes  Brot,  Casaubonus  zu  Atlienaeus  3,  214,  vermutlich  ein  im  Olenrain 
anf  der  Glutasche  hergestelltes  Gebäck;  IGOO  kroepfflein  =  crcpida  (Üiefenbaeh  1,  löG): 
1711  kroeppcl  =  scriblita  (Diefenbach  1,  525;  2,  332),  also  ein  straubenförmiges  Schmalz- 
gebäck nach  Art  der  mittelrhein.  Kräppel:  1793  kroppel  =  ein  Klumpen  Mehl  in  Leinöl 
(=  Ol  der  Fastenzeit)  gebacken,  Faschings-Landgebiick  (Küster,  Manuskript:  Schlesisclies 
Gebäck). 

Laudschaftliclie  Beneniumj^eii  des  Krapfengebäckes  sind  in  der  Rhön- 
gegend: Kräppol;  Frankfurt  a.  M.:  Kräbbel  m.  f.;  Ilertfcld:  Krapfen: 
Sclinialkalden:  Kröpfelien;  I^eipzig:  Krcbblichen  (plur.  demin.);  Henne- 
borg:  Kröpfle  (auch  „heisse  Meisen");  Tliiiringcn:  Kraebbel,  Kröppei; 
Zürich:  Kraoboli,  Kraepfli;  Groedenertal:  grafongs,  chropflime;  bei  den 
«leutschsprechendeu  Juden  Südrusshinds:  krapen,  kräplech;  Bretagne:  crepes. 

Das  auch  in  Italien,  Spanien  usw.  bekannte  Kra])feugebiick  heisst  in 
Tanger:  bunuelos;  in  Schweden:  bullar  (Ballen);  in  Dänemark:  pande- 
kager  (Pfannkuchen). 

Im  Angelsächsisclien  ist  (nach  Diefenbach  2,  "2S2)  liunegapel  (Honig- 
apfel) mit  pastellus  (Crebäck)  glossiert,  das  also  ein  apfelrundes,  mit  Honig 
gefülltes  Küchlein,  cfin  Krapfen  mit  Honigfarce  war. 

Von  dieser  älteren  Bedeutung:  rundballiges,  gekrüpftes,  mit 
Farce  (Honig,  Fleisch  usw.)  gefülltes  Pfannengebäck  ist  jeden- 
falls auszugehen. 

Das  nach  Italien  importierte  grappa  bedeutet  auch  Kralle;  auch  das 
ahd.  kräpfo  hat  die  Bedeutung:  gebogene  Klaue  oder  Kralle  (Kluge  " 
S.  224);  der  mhd.  Krapfen  bedeutet  aucii  Hoden,  Pferdekotballen.  Diese 
Nebenbedeutungen  sind  nur  ilaun  verständlich,  wenn  wir  annehmen,  dass 
die  mit  einer  Farce  gefüllten,  runden  Teigballen  heim  Kochen  im  heisseu 
Pfannenfette,  in  dem  sie  schwimmen,  gckrüpfte,  krallenförmige,  krustige, 
harte  Vorsprüngo  erhalten;  diese  Krüpfung  sucht  man  noch  besonders 
stark  hervorzurufen,  indem  man  auf  der  Oberfläche  dos  runden  Teig- 
ballens mit  der  sog.  Krapfenschere*  oder  dem  Krapfenradi*  oder  Krapfeii- 
reisser')  vor  dem  Backen  des  Teiges  krallen-  oder  hakenförmige  Zipfel 
ausschneidet  und  zum  Zwecke  des  stärkeren  Aufspringens  derselben  auf 
der  Oberfläche  in  das  siedende  Fett  etwas  Wasser  zugiesst,  wobei  das 
stark  aufprasselnde  und  aufschreckende  heisse  Fett  in  der  Infamie  mit 
einem  Holzdeckel  rasch  zugedeckt  wird.  Die  zapfigen,  gekröpften  Krallen 
auf  der  hartkrustigen  Oberfläche  des  rundballigen  Gebäckes  fühlt  man 
mehr  als  sie  auf  photographischen  Abbildungen  sichtbar  sind;  je  krustiger, 
je  aufgerissener  und  krallenförmiger  sie  aufspringen  im  jirasselnden  heissen 
Fette,    desto    schmackhafter    gelten  sie.      Joder   echte  Krajifen  hatte    und 


1)  S.  Verhandig.  d.  Wiener  Anthrop.  Ges.  25,  119;  Schweizer  Id.  3,843;  Salzburger 
Kochbuch  4,  85  f. 


Der  Krapfen.  67 

liat  aber  iüimer  einen  Farce-Iulialt;  ein  solciier  könnte  sich  in  einer  länglich 
schmalen  Klammer-  oder  Hackenform  k  nicht  erhalten,  sondern  nur  in  einem 
dichten,  die  Farce  umhüllenden  Teigballen,  der  auch  bei  manchen  flachen 
Kriipfelformen  aus  solchen  ausgeschnittenen  Teigklammern  oder  Zipfeln 
besteht,  die  über  die  Farce  hinweg  zusammengeschlagen  werden  (Abb.  2 
und  3),  doch  ist  dies  nur  eine  Spielart  des  echten,  volksüblichen  Krapfens, 
tlie  in  Klöstern  von  den  Nonnen  (Nonnenkräpfel)  zuerst  ausgeführt  worden 
zu  sein  scheint.  Diese  werden  auch  nicht  im  prasselnden  Fette  der 
Schmalzpfanne,  sondern  auf  dem  Kuchenbleche  im  Ofenfeuer  gebacken, 
sind  also  schon  nach  ihrer  Herstellungsart  jünger. 

Der  echte  Tj^pus  eines  Krapfens  wäre  demnach  so  wie  Abb.  1. 

Die  zackigen  Fortsätze  stehen  nur  an  der  oberen  Peripherie  des 
runden  Ballens  ab,  gleichsam  wie  die  Flammenzackeu  am  Herzbilde  oder 
wie  die  gekröpften  Yors]irünge  an   einem  Ka]iitäle. 


Wegen  der  runden  Ballenform  und  wegen  des  lockeren,  viellöcherigen 
<Tefüges  des  inneren  Teiges  haben  einige  frühere  Schriftgelehrte  das 
Symbol  des  biblischen  Essigschwaninies  Christi  in  dem  Krapfengebäcke 
sehen  wollen. 

Dass  die  Kraeppel  (Kröppel,  Kraebbel)  eine  'donnerkeilförmige' 
Gestalt  haben,  wie  Simrock  (Mythologie  S.  .350)  und  Wolf  (Beiträge  1,  78) 
anführen,  ist  nicht  recht  verständlich;  sollte  damit  eine  Triangelform  ge- 
meint sein,  dann  wären  solches  die  sog.  dreieckigen  Krapfen,  die  aber 
keine  eigentlichen  Krapfen  sind. 

Über  die  verschiedenen  Abarten  des  Krapfengebäckes  werden 
wir  gleich  ■weiter  sprechen. 

Die  deutsch  sprechenden  Juden,  die  nach  Südrussland  ausgewandert 
waren  und  mit  der  deutschen  Sprache  auch  ihr  heimisches  Gebäck  mit- 
genommen hatten,  kennen  dort  noch  die  'Krapen"  und  'Kraplech",  kleine, 
maultaschenartige  Pasteteukräpflein  mit  Fleischgehäck  oder  Apfelmus  ge- 
füllt und  in  Honig  gebacken;  sie  werden  dort  am  Vorabende  des  Ver- 
söhnungsfestes oder  an  den  letzten  Tagen  des  Laubhüttenfestes  verzehrt 
(Globus  1906,  S.  29j;  solche  flache,  die  Farce  umhüllende  Teigkrapfen 
sind  natürlich  nicht  so  alt  wie  die  ballig  runden,  kugeligen  Krapfen.  Das 
Salzburger  Kochbuch  (1719)  führt  4,  80  auf:  Zopfkrapfen,  d.  h.  zopf- 
förmig    geflochtene    Strützeln    oder    Strauben,    die    in    Schmalz    gebacken 


(;8  Höflcr: 

werden  uml  deshalb  auch  Krapfen  genannt  werden:  denn  in  volksüblicher 
Verallgemeinerung  wurde  schliesslich  fast  jedes  im  siedenden  Fette  der 
Pfanne  gekochte  Schmalzgebäck  (Nudeln,  Kücheln  usw.)  als  Krapfen  be- 
zeichnet. Die  bei  Schmeller  1,  1379  aufgeführten  Straubeukrapfen  sind 
ebenfalls  solche  im  heissen  Fette  sich  struppig  aufrollenden  Gebäcke 
(Öpritzgebaekenes).  Die  dreieckigen  Kröppel,  welche  in  Argovia  3,  21 
als  hessisches  Gebäck  erwähnt  werden,  haben  ebensowenig  wie  die 
Straubeukrapfen  mit  dem  eigentlichen,  d.  h.  rundballigen,  eine  Farce  um- 
hüllenden Krapfen  eine  formelle  Gemeinsamkeit. 

Am  meisten  variieren  die  Krapfen  je  nach  ihrem  Füllsel  und  dann 
nach  ihrer  sonstigen  Bereitungsart;  so  gibt  es  in  der  Schweiz  sog. 
Ofenkrapfen;  im  Salzburgischen  (1719)  Pfannen-,  Rainlein-,  Büchsen-, 
Spritz-,  Brand-,  Butter-,  Schmalz-,  gebackene,  (Schweiz),  schwimmende 
(Hessen),  Krapfen,  Kräpfel,  Kraeppelen,  je  nachdem  der  Teig  in  einer 
Pfanne,  im  Rainl  auf  der  Asche,  in  einer  Büchse  gesotten  oder  durch 
einen  Trichter  oder  eine  Spritze  (Büchse)  in  das  brodelnde  Fett  (Öl, 
Butter,  Schweineschmalz,  Sesamöl,  Bucheckeröl  usw.)  gegossen  wird, 
wobei  die  Teigrollen,  die  in  dem  Fette  schwimmen,  sieh  struppig 
(=  Strauben.)  aufrollen  und  brandig-braun  verfärben.  Die  liefe-  oder 
Germkrapfen  (1719)  sind  mit  Hefeteig  gemacht.  Die  Oblatenkrapfen 
(1719)  sind  in  Oblaten  gehüllte,  krapfenförmig  rundgeballte  Häufchen  von 
Fruchtfarce  (Salzburger  Kochbuch  4,  lüf)),  die  sog.  Bauernkrapfen  sind 
ebenfalls  solche  walnussgrosse,  auf  Oblate  gebackene,  gelbbraune  Teig- 
ballen (Universal-Lexikon  der  Kochk.  1,  74).  Ausserdem  gibt  es  Spinat- 
(Böhmen),  Kraut-  (Gründonnerstag),  Fleisch-  (1412),  Krebs-  (1719), 
Karpfen-  (1(571),  Lungen-,  Mark-,  Nuss-,  Erdbeer-,  Vanille-,  Honig-, 
Mohn-  (1719  Magen-),  Schokolade-  (1756),  Ziegen-  (Schweiz,  1712), 
Käse-,  Gries-  (175ö),  Apfel-  (1756),  Birnen-,  Anis-,  Biber-  (piper-), 
Kümmel-,  Mandel-Krapfen,  -Kräpfchen,  -Kräpfel  (Schmeller  1,  1379; 
Germania  9,  --'Ol;  Salzburg.  Kochb.  4,  81;  Eis.  Wörterb.  1,  52-2;  Universal- 
Lexikon  der  Kochk.  1,  24.  31.  2,  48).  Diese  eben  erwähnten  Krapfeu- 
arten  ergeben  sich  in  bezug  auf  ihre  Deutung  von  selbst.  Die  im  Salz- 
burger Kochbuche  (4,  110)  aufgeführten  (1719)  Spiess-  oder  Prügel-, 
Schnur-  oder  Spagatkrapfen  sind  um  einen  Spiess  oder  drehbaren  Ilolzstab 
gewickelte,  bei  offenem  Feuer  gebackene,  tabakrollen-  oder  ochsengurgel- 
artige,  mit  Spagatschnur  gebundene,  innen  mit  Oblatenmarmelade  gefüllte 
Faselnacht-  und  Hochzeitgebäcke  aus  Blätterteig  (Niederösterreich).  Die 
obersteierschen  Pfötelkrapfen  (Universal-Lex.  '2,  192,  1,  373)  sind  wohl 
aus  pfettern  (=  pedere,  farzen)  abgeleitete  Färzlein.  —  Die  in  Rumpoldts 
Kochbuch  (1587)  und  im  Salzburger  Kochbucho  (1719)  aufgeführten 
Schlung-,  Schluck-,  Schlickkrapfen  oder  -kräpfel  sind  die  oben  schon  ein- 
mal erwähnten  romanischen  (li)ravioli  [chraviöli  =  Kräpfli],  halbrunde,  auf 
einen  Bissen  leicht    schlingbare,  kleine  Nudelteigballen    mit    einer  Farce. 


Der  Krapfen.  69 

Die  Glas-  oder  Eiskrapfen  tragen  eine  Zuckei-glasuv;  die  mürben  (marwen) 
Kräpflein  sind  aus  sog.  Miirbteig  gebacken.  Die  Marzipankräpflein  (1.587) 
sind  auf  Oblaten  gebackene  Mandel-  oder  Oblatenkrapfen.  Die  nieder- 
bayerisclieu  ausgezogenen  Krapfen  sind  Nudeln,  deren  Teig,  wie  bei  den 
Tiroler  Krapfen,  mit  der  Handmedian  ausgezogen  wird  vor  dem  Ein- 
legen ins  lieisse  Fett.  Die  Lochkrapfen  der  Deutsciien  in  Ungarn  sind 
'eine  Art  von  handbreiten,  röschen  Schneeballen  (Gebäck)  mittels  Finger- 
hüten durchlöchert',  ein  Hochzeitgebäck  vermutlich  im  formalen  Gegen- 
satze zum  schon  erwähnten  Prngelkrapfen  (Ethnolog.  Mitteilgn.  aus  Ungarn 

4,  im).  Die  in  der  Literatur  (s.  Höfer  2,  265,  295,  Eochholz,  Drei  Gau- 
göttinnen S.85,  Schmeller  1,  1759,  Leipziger  Illustr.  Ztg.  18G8,  Nr.  12D2, 

5.  229)  oft  besprochenen  Nonnen-,  Nunnen-  (1845),  Klosterkräpfli, 
-kräpflein,  -kröpfchen,  -krapfexdn  sind  die  bekannten  Xonnenfärzlein,  die 
in  Frauenklöstern  in  verschiedenen  Formen  (rundgeballt,  mondsichel- 
furmig,  maultaschen-  oder  kotballenartig  usw.)  gebacken  werden;  sie  ent- 
halten immer  eine  Farce  (daher  der  Name  Färzlein,  Förzlein);  sie  gleichen 
den  Fehmarnschen  Kräppeln  oder  Kröpplen,  die  auf  der  Ostseeinsel 
Pehmarn  als  Erntegebäck,  vermutlich  ehemals  für  die  Klosterdienstleute 
als  Erntekröpeln  oder  sog.  Korinthennudeln  gebacken  werden.  Der 
Fehmarnsche  Weizen  war  besonders  um  1600  berühmt  und  teuer  bezahlt. 
Zur  Erntezeit  kamen  viele  Arbeiter  aus  der  Umgegend  auf  die  Insel,  um 
neben  Geldlohn  auch  zugleich  die  leckeren,  fetten,  durch  Korinthen  versüssten 
Ernteküchel  zu  erhalten  (Globus  189.'),  S.  93).  Diese  landschaftlichen 
Krapfenabarteu  häufen  sich  besonders,  scheinbar  von  Salzburg  aus- 
strahlend, im  südöstliclien  Gebiete;  so  die  Pusterer  Krapfen  nach  der  im 
Pustertale  üblichen  Form  (Schoepf  S.340),  die  Paznauner  Magen-  (=  Mohn-) 
krapfen  (oben  7 ,  350),  die  steierischen  Krapfen  des  Murztales  (=  aus- 
gezogene Küchel)  (oben  8,  290);  Linzer  Krapfen  sind  kleine,  runde 
Bällchen  mit  einem  Pruchtfüllsel  (Universal-Lex.  der  Kochkunst  2,  43); 
Vollauer  Krapfen  sind  mit  dem  Krapfenradi  halbmondförmig  aus- 
geschnittene, in  siedendem  Wasser  gekochte  und  dann  mit  Quarkkäse  be- 
streute und  überbackene  Krapfen  (Universal-Lex.  2,  602);  die  böhmischen 
Krapfen  sind  Hefekrapfen  in  Schmalz  gebacken  (ebenda  1,  106);  aber 
auch  die  Schweiz  liefert  solche  landschaftlichen  Varietäten,  z.  B.  die 
St.  Galler  Kräpfli,  ein  dreieckiges  (also  schon  abgeartetes),  eine  Kahm- 
farce (Creme)  enthaltendes,  oberflächlich  braun  gebackenes  Konfekt; 
Badener  Kräweli  sind  geweihzacken-  oder  krallen-  (=  krapfen-)  ähnliches 
Schwabenbrötli  oder  Anisgebäck,  das  in  der  schweizerischen  Stadt  Baden 
gebacken  wird,  und  über  das  wir  schon  oben  14,  2G7  geschrieben  haben; 
es  ist  kein  eigentliches  Krapfengebäck;  es  hat  nur  seinen  Namen  von  der 
Form  der  Geweihzacken  (=  Krapfen),  die  das  Hirschgebäck  substituieren 
(pars  pro  tote)  (Schweizer.  Idiot.  3,  779;  Rochholz  in  der  Illustr.  Ztg. 
1868,  S.  383).     Auch  die  Genueser  Kräpfchen  sind  nur  Ausartungen,  runde 


70  Höfler: 

oder  ausgezackte,  kleinballige  Schaumliäufclieii  in  InauiuT  Krapfenfarbe 
(Universal-Lex.  1,  360);  ebenso  sind  die  1820  in  der  Sclnveiz  als  Tiroler 
Krapfen  bezeichneten  Gebäcke  dreieckige  Stücke  aus  Mandelteig  in 
Schmalz  gebacken  (Scliweizcr.  Id.  3,  S44). 

"Wie  sicli  aus  Obigem  deutlich  ergibt,  übertrug  sich  die  Bezeichnung 
Krapfen  eben  auch  auf  ganz  verscliicilen  geformte  Sclinialzgebäcke  oder 
sonstige  in  heissem  Pfannonfette  hergestellte  Teiggebible;  die  über- 
wiegende Mehrzahl  aber  dei'selbeu  stimmt  darin  überein,  dass  sie  eine 
mehr  weniger  rundballige,  oben  klauen-  oder  zackentöniiig  gekrüpfte, 
krallig  zerrissene  Form  und  einen  von  Teighüllen  oder  gelvrüpfteu  Teig- 
klammern umhüllten,  meist  süssen  oder  auch  gut  duftenden  Inhalt  (Füllsel. 
Farce)  umsehliessen. 

Dazu  wollen  wir  nnch  fügen,  dass  die  Zillertaler  Bauern,  die  unter 
Salzburger  Kultureintiuss  standen,  die  Blume  Anthyllis  vulneraria  L. 
'unser  Frauen  Kraptien'  (.lessen,  l'flanzennanien  33)  wegen  ihrer  oben 
krallenartig  gestellten  Blütenköpfe  nennen-,  dann  müssen  wir  doch  über- 
zeugt sein,  dass  der  Typus  des  Krapfengeb.äckes  nicht  ein  symboli- 
scher Kleiderhaken  in  Gestalt  eines  schlangenförmig  gewundenen  römischen 
S  oder  J.  sein  kann,  sondern  dass  jene  kugelförmige,  runduebaJlte.  einen 
Inhalt  nmschliessende  Form  der  ursprüngliche  Typus  ist.  der  nur  durch 
die  krallige  Oberflächenbildung  seineu  uralten  >'amen  erhielt.  Die  alt- 
hochdeutsche Bezeugung,  seine  überwiegende  Ballen-  und  Kugelform,  sein 
in  dieser  Form  am  besten  l)ewahrter  Inhalt  (Farce,  Füllsel)  sichern  diesem 
süddeutschen  Krapfen  (an  anderen  Orten  auch  'Berliner  Pfannkuchen' 
genannt)  seine  Priorität  vor  dem  mittelrhcinischen  Kräbbel  (vgl.  'Die 
Frankfurter  Kräbbel,  eine  Faschingsbetrachtung"  in  Frankfurter  Nach- 
richten 1906,  4.  Febr.  Nr.  .34,  S.  6),  der  ganz  augenscheinlich  nur  eine 
aus  Volksetymologie  entsprungene  Ausartung  sein  dürfte  und  der  nach 
seiner  ganzen  Form  niemals  einen  Inhalt  (Füllsel)  bergen  konnte. 

Solche  Straubenkrapfen  (Strauben),  Krapfenuudelu  und  Krapfenküchel 
sind  nur  Abarten  aus  flem  primären,  rundballigen  Krapfen  (Hohlkugel 
mit  Inhalt). 

Der  zünftige  Krapfenlwcker  (!48-_')  stellte  ihn  fast  nur  auf  Fasel- 
nacht, aber  auch  an  anderen  heiteren  l^esttageu  (Jul,  Neujahr,  heilige 
drei  Könige)  und  bei  Hochzeiten  her.  und  als  solches  Festbrot  einer  be- 
stimmten Kultzeit  hiess  er  auch  'Krapfenbrot'  (Schleswig:  grapenbrot). 
Wie  die  meisten  Festbrote  hat  auch  das  Krapfenbrot  ein  bestimmtes 
Gewürz  (Koriander),  das  die  Luzerner  als  lirotgewürz  -Krapfeidcörner"  be- 
nennen. Noch  heute  stellt  die  Hausfrau  diese  Krapfen  an  bestimmten 
Festtagen  (Faselnacht)  selbst  her;  daher  heisst  es  im  österreichischen 
Volksliede:  'Mei'  Mutta  backt  Kräpf'n  wie"s  Dodamannr.  so  unförmlich 
wie  ein  Tattermännleiu  (Yernalecken,  Mythen  u.  Gebr.  in  Osterr.  S.  "JS"-')- 
Nach  der  schleswigschen  Volkssage  verzehren  die  nach  Herzl)lnt  durstigen 


Der  Krapfen.  71 

Hexen  auch  die  Krapfen  zu  Fleisch  uud  Bier  (Müllenhoff,  Sagen  S.  213); 
bekanntlich  standen  die  Hexen  im  Glauben,  dass  sie  auch  der  Menschen 
Herzen  essen.  Krapfen  und  Kücheln,  die  die  Tiroler  Bergmahder  mit- 
bekonimeu,  wenn  sie  auf  den  Bergwiesen  mähen,  haben  die  weissen 
Fräulein  oder  die  Wildfräulein  in  Martell  besonders  gerne  (Zingerle, 
Sagen  "  S.  48.  Meyer,  Mythol.  der  Germ.  S.  210).  'Im  Krapfenwaldl  bei  Wien 
^Yünschte  sich  an  einem  Faschingstage  [um  diese  Zeit  backt  man  in  Wien 
und  Umgebung  die  sog.  Faschingkrapfen]  ein  Haudwerksbursehe  Krapfen; 
sogleich  stand  eine  Schüssel  voll  vor  ihm.  Darüber  erschrack  er  anfangs, 
und  als  er  weiter  gegangen,  begegnete  ihm  ein  schwarzes  Männchen. 
Dieses  trug  ihm  noch  eine  Schüssel  voll  an,  wenn  er  ihm  seine  Seele  ver- 
schreibe' usw.  (Ternalecken,  Mythen  S.  274).  Man  sieht  aus  diesen  Volks- 
sagen, dass  der  Krapfen  eine  Rolle  als  Kultgebäck  spielte,  namentlich  in 
der  heiteren  Faschingszeit,  die  der  Zeit  der  römischen  Bacchanalien  in  die 
Frühlingszeit  entspricht  wie  auch  den  grossen  oder  städtischen  Dionysien, 
die  im  Monat  Elaphebolion  (März)  als  Frühlingsfest  unter  Beteiligung  aller 
Gaue  begangen  wurdtMi.  Wir  dürfen  annehmen,  dass  aus  diesem,  noch 
um  355  n.  Clir.  in  Rom  üblichen  Bacchuskulte  die  Faschingkrapfeu  sich 
ableiten,  welche  als  spätere  Fastenkrapfen  [14.  Jahrh.  'vastenkrapfen"  im 
Buch  von  guter  Speise  (Bibliothek  des  Stuttgarter  liter.  Ver.  9),  S.  20; 
Schmeller,  Bayer.  Wb.  1,  1379;  Askenasy,  Frankfurter  Mundart  S.  123; 
Witzschel  2,  190]  durch  die  christliche  Fastenzeit  sich  fortsetzen.  Als 
klösterliche  Fastenspeise  mit  allerlei  sog.  Fastengeräte  (Grünkraut,  Spinat, 
Fische,  Krebse  usw.)  gefüllt,  erhielt  sich  der  Krapfen  besonders  in  der 
lieiteren  Frühlingszeit,  beim  Erntefeste  und  bei  Yerlobungen,  Hochzeiten 
(nicht  aber  im  Totenkulte);  er  wurde  so  auch  eine  Gesindespeise  uud  ein 
Yolksgericht  und  artete  bei  der  Konkurrenz  der  zünftigen  Krapfenbäcker 
später  in  Strauben-  und  Klammerform  aus.  Auch  in  die  Fastenzeit  vor 
Weihnachten  übertrug  sich  da  und  dort  (aber  nicht  allgemein)  der  Fasten- 
krapfen als  'Glöcklerkrapfen"  (im  Salzburgischen);  vgl.  Adventsgebäcke  in 
der  Müuchener  Monatsschr.  für  Volkskunst  uud  Volkskunde  1906  S.  8, 
Ztschr.  für  öst.  Volksk.  1896,  S.  302.  In  Kellers  Fastnachtsspielen  S.  G24, 
(i28,  640.  641,  722  erscheinen  'vastnachtskrapfen'  (neben  Sülze,  Eier  und 
Schweinenbraten)  'aus  kes  gepachen';  'wen  zuo  aini  ietlicheu  vassnacht- 
krapffen  gehörent  acht  dinck:  zuo  dem  ersten  semelin,  mel,  ayr,  wasser, 
gewürtze,  füll,  salz  öl  fewr  und  ein  pfann,  darin  der  Krapfi'  gebaehen 
werd"  (Hagelstange,  Süddeutsches  Bauernleben  S.  235).  Auch  Goethe  in 
seinen  Briefen  an  Frau  von  Stein  2,  159,  schrieb:  'Die  (Fastnacht-) 
Kräppel  schmeckten  fürtrefflich."  In  der  Schweiz  sind  die  fetten  Fast- 
nachtkrapfen so  allgemein  um  diese  Zeit,  dass  selbst  der  Vagabund  sicli 
ilaran  gut  tut  (Schweizer.  Idiot.  3,  843).  In  der  Wetterau  heisst  es:  Wer 
zu  Fastnacht  keine  Kräppel  backt,  der  kann  das  ganze  Jahr  hindurch 
nicht    froli  werden    (Wolf,  Beiträge  1,  228,    Simrock,  Mythologie   S.  549); 


7-2  Hüllcr: 

'an  der  Weiber  Fastiiaclit  miiss  man  Kra]it'en  backen  und  so  oft  esssen, 
als  der  Hund  den  Schwanz  bewegt"  (Sinirock  S.  574).  In  Aleiningen 
schnitzt  man  zu  Fastnacht  die  Ackerpflugkeile,  taucht  sie  in  das  Krapfen- 
fett und  schlägt  sie  später  bei  der  Pflugzeit  in  den  Pflug  (ein  antizipiertes 
Saatopfer  an  die  Unterirdischen),  'das  hilft  dem  Wachstum  und  Gedeihen 
der  Saat"  (Witzschel  •_',  lUO).  Ähnliches  geschieht  in  liiihnien  am  Fast- 
nachtdienstag und  in  der  Pflugzeit.  Die  am  Rhein  und  Neckar  mit 
Kräppeln  (=  Zeitsynibol)  besteckten  Stäbe  bezeichnen  den  Fruchtbarkeits- 
zauber für  das  neue  kommende  Frühjahr.  'Und  gebt  ihr  uns  kein 
Kräppel  nit,  dann  legen  eucli  die  Hühner  nit ,  singen  ilaselbst  die  Kinder 
(s.  Archiv  für  Religionswiss.  8,  Beiheft  S.91;  Ztschr.  für  rhein.Volksk.  iMlil). 
Wie  sein-  bekannt  der  Fascliingskrapfen  als  Zeitgebäck  des  Frühlings  ist 
lehrt  uns  die  süddeutsche  Wetterregel:  Faschingskra])fen  in  der  Sunn', 
die  roten  Eier  in  der  Stub'n  (=  grüne  Weihnachten,  weisse  Ostern).  Nach 
oberösterreicbischem  Brauche  wirft  man  beim  Backen  der  Faschings- 
krapfen  den  ersten  Krapfen  ins  Feuer  (als  Opfer  an  die  Herdgeister)  'für 
die  armen  Seelen'  (Baumgarten,  Das  Jahr  und  seine  Tage  S.  9  Anm.  1). 
In  Tirol  gil)t  es  eigene  'Ki'apfenschnapper".  gleichsam  eine  Verlängerung 
des  Krapfen  eintragenden  Armes  <hirili  eine  oben  auf  Zug  mit  einer 
Schnur  sicii  'öfl'nende,  hölzerne  Stange  mit  Sciniabel  (^Schnappvorrichtung), 
um  die  beim  Perchtonumzuge  geschenkten  Krapfennudeln  von  den  iiöheren 
Hauslaubeu  (Balkon)  besser  herabholen  zu  können  (Originale  im  Bozener 
Volkskunde-Museum).  Auch  in  der  Poitou  (civitas  Pictonum,  Vicnne)  be- 
ginnt der  Frühling  mit  den  Lichtmesskra])fen,  welche  die  Kinder  dort 
unter  dem  Gesänge  'A  la  ehaudelou  les  crepes  roulent  partout'  heischen. 
Man  verspeist  sie  dann  in  dem  Glauben,  dass  das  Getreide  nicht  brandig 
werde  (Volkskunde  11,  174). 

An  den  alten  Neujalirstagen  (Weihnacliten,  Jul,  Martini,  heilige  drei 
Könige  usw.)  treten  die  Krapfen  ebenfalls  auf;  in  Nördlingen  als  'Weih- 
nachtskrapfen", in  Tirol  als  'süsse  Krapfen',  in  Württemberg  (Hertfeld) 
bei  der  sog.  Krapfenzeche  am  heiligen  Dreikönigstag  (Birlinger,  Aus 
Schwaben  2,  -21 ;  Kochholz  in  der  Leipziger  Illustr.  Ztg.  18()8,  Nr.  129'2, 
S.  -i^!);  Ztschr.  für  österr.  Volksk.  19ü.'),  11.  Suppl.  o,  38;  oben  14,  274). 
in  Tirol  als  Dreikönigs-  oder  Stampfakrapfen  (Krapfennudeln):  in  Ober- 
bayern am  St.  Martinstage  als  Martinikrapfon,  in  Tirol,  Schwaben,  Bayern. 
Österreich,  Schweiz  auch  als  Kirchweih-,  Kirchtag-,  Kirta-,  Kilbikrapfen. 
Im  Stubaital  macJit  das  Volk  einen  eigenen  Kirchtagkrapfen -Stampf. 
Im  Urer  Isentale  erhalten  die  Burschen  von  ihren  Mädchen  Krapfen  und 
duftende  Blumensträusschen  (Schweizer.  Idiot.  3,  843)  als  Substitut  des 
Herzsyml)ols.  In  Salzungen  (Thüringen)  ist  'Maienkrapfen'  ein  den  Acker- 
knechteu  beim  ersten  Frühlingspiiuggeschäfte  mitgegebenes  PHugbrot  in 
Gestalt  von  Schmalzkrapfen  (Witzscliel  '_',  'Jlti.  ■_'!!•). 


0er  Krapfen.  73 

In  Oberbayeru  erhielt  das  Gesinde  am  Sommersonnenwendtag  den 
sog.  Krapfenzwülfer,  d.  h.  eine  Geldspende  an  Stelle  des  üblichen  Schmalz- 
j^ebäckes  der  betr.  Kultzeit. 

In  Fehmaru  gab  es,  wie  schon  erwähnt,  als  'Erntekröpeln'  in  Fett 
gekochte  sog.  Förtjen  (Färzchen),  die  während  des  dreitägigen  Weizen- 
niähens  zum  Nachmittagskaffee  gegeben  werden,  am  ersten  Tage  je  6, 
am  zweiten  je  i,  am  dritten  je  3  Kröpel.  Es  ist  dies  nach  aller  Wahr- 
scheinlichkeit ein  durch  die  mönchische  Bodenkultur  dorthin  gelangtes 
Klostergesindebrot,  das  noch  etwas  die  ursprünglich  geballte  Krapfenform 
bewahrt  hat.  Auch  in  der  Steiermark  hat  sich  der  'Drescherkrapfen'  als 
altes  Ernteopfer  und  Gesinderecht,  Dreschernudeln  in  Krapfenform,  er- 
halten (Ztsclir.  für  Österreich.  Volksk.  189(j,  196).  Im  Hessischen  (Fulda, 
Werragegend)  i'rlialten  zur  Zeit  der  ausgehenden  Dresclierarbeit  (Ende 
Xoveinber  bis  Ende  Dezember)  die  Drescher  sog.  Schütte-  oder  Staub- 
kräppeln,  angeblich  damit  sie  den  Staub  beim  Ausschütten  des  ge- 
drosciienen  Getreides  hinunterschlucken  (Yilinar,  Idiot.).  In  Oberösterreieh 
spielen  am  Bartholomäustage  (Weideschi uss.  Herbstanfang)  die  schon  oben 
erwähnten  Pfötelkrapfen  eine  Rolle. 

Im  Steiermärkischeu  gibt  es  auch  'Brautkrapfen',  krapfenförmige 
Xudeln,  die  zum   Brautmahle  gebacken  werden. 

Kurzum,  wir  sehen  bis  jetzt  die  Krapfen  nur  an  den  Tagen  heiterer 
Festesfreude  des  Volkes:  nirgends  hat  der  gegenwärtige  [!]  Krapfen 
Beziehung  zum  Totenkulte  oder  zur  Totenfeier.  Nun  ist  es  ganz 
auffällig,  dass  das  gleiche  auch' vom  Herzgebäcke  Geltung  hat,  und  dass 
auch  letzteres  hauptsächlich  in  der  Frühlingszeit  volksüblich  ist.  Wir 
haben  über  das  Herzgebück  schon  im  Archiv  für  Anthropologie  190(5, 
S.  '264  gesprochen  und  fügen  dieser  Arbeit  noch  an,  dass  es  kein  blosser 
Zufall  sein  kann,  wenn  sowohl  im  Elsass  als  im  Krainischen  gerade  zur 
Krapfenzeit  im  Frühling  (Fasching)  die  Mädchen  deren  Bursehen  herz- 
förmige Gebäcke  zum  Geschenke  machen  (Elsäss.  Wtb.  1,  42"2:  Ztschr. 
für  Österreich.  Volksk.  1906,  160).  Das  Herzgebäck  ist  überhau])t,  wie 
wir  in  eben  erwähnter  Abhandlung  im  Archiv  für  Anthropologie  nach- 
wiesen, ein  häufiges  modernes  Symbol  der  Liebe,  das  Gegenliebe  er- 
zeugen soll.  Wie  das  Herzgebäck,  so  finden  wir  auch  den  Krapfen 
auch  bei  Hochzeiten  und  Verlobungen.  Darum  gibt  es  auch  eigene 
'Liebeskrapfen',  die  die  moderne  Bäckerei  als  runde,  gegitterte  Obst- 
pastetchen  herstellt;  es  sind  Liebeskuchen  in  Krapfenform,  wobei  der 
duftende  Inhalt  des  Krapfens  wie  der  Duft  der  Blumen  und  wie  der 
Seelenduft  des  Herzens  Gegenliebe  erzeugen  soll.  Beim  magischen 
Liebeszanber  wurdeu  im  11.  Jahrhundert  menschliche  Sekrete  (Menstruum, 
.Menses,  Semen  virile)  von  den,  Frauen  in  das  Liebesgebäck  gemengt 
(vgl.  Wascherschleben,  Bussordnungen  S.  662.  664).  Nach  Grimm,  D.  Myth. 
1232,    Eckermann,    Handbuch    der   Religionsgesch.  3,  77    wälzten  sich  die 


74  Höfler: 

Frauen  im  ll.Jalirli.  mit  Honig  bosclnnicrt.  sonst  nackeml.  auf  Weizen; 
sie  Hessen  dann  sicii  die  Woizenkönier,  die  mit  ilirem  l.ustdnfte  im- 
prägniert waren,  vom  Körper  absammeln  und  das  Korn  in  einer  Jlühle 
der  Sonne  zu  mahlen;  daraus  \vurd<'  ein  Brot  gebacken,  welches  Gegen- 
liebe erzeugen  sollte.  Auch  in  Tirol  gibt  es  nach  der  Volkssage 
(Zingerle  '  S.  426)  das  sog.  Heiratsi)ulvor,  das  man  unter  den  Teig  der 
Krapfennudeln  mengt,  um  Gegenliebe  zu  erzeugen  (vgl.  auch  Ztschr.  für 
rhein.  u.  westf.  Volksk.  1906,  62);  auch  um  den  Hoflnnid  an  seinen 
Herrn  zu  fesseln,  gibt  mau  ihm  im  Futter  ein  Brot  zu  fressen,  das  mit 
der  Duftseele  in  Schweiss  und  Haaren  des  Herrn  gemengt  ist  (Wuttke. 
;;j  G7!l;  Kühnau,  Jütteil.  26).  In  Tirol  gibt  der  Jäger  seinem  Hunde,  um 
ihn  auiiäugiich  zu  maclicn,  Katzenlier/.en  zu  fressen  (Bechstein- Al]ieii- 
burg  3S0).  Die  Herzen  von  Turteltauben  in  Brot  verbacken  galten  im 
15.  Jahrhundert  in  Breslau  ebenfalls  als  ein  Liebesmittel  (Blätter  für 
hessische  Volksk.  3,  148);  man  sieht  also  deutlich,  wie  das  Herz  als 
Sitz  des  Seelenduftes  und  der  Liebestriebe  sioli  im  Volksglauben  bemerk- 
l)ar  macht  (vgl.  auch  oben  1.  182;  E.  H.  Meyer,  1).  Volksk.  S.  166; 
Andree,  Braunschvi'eigische  Volksk.  8.  297,  21,');  Bartsch,  Sageu  aus 
Mecklenburg  2,  352:  Frischbier,  Hexenspruch  S.  159;  Haziitt,  National 
Faiths  and  Populär  Customs  1,  197.  331:  Wuttke  'S.  36(;:  Unpiell  3.  59; 
^'ermoloff.  Landwirtsch.  Volkskalender  1.  159  usw.). 

Aus  dieser  Literatur  geht  genügend  hervor,  dass  man  gewisse  <ie- 
bäcke,  namentlich  aber  auch  das  Gebildbrot  des  Krapfens,  der  mit  einer 
duftenden  Farce  gefüllt  ist.  wie  auch  ilas  Gebildbrot  des  menschlichen 
Herzens,  das  mit  duftenden  Blumen  geziert  ist,  als  Symbole  der  Liebe 
und  als  Vermittler  der  Gegenliebe  lietraditete  uml  dass  man  dem  Lust- 
dufte wie  dem  Blutdunste  im  Herzen  und  dem  am  Körper  getragenen, 
duftenden  Liebesapfel  eine  liesonders  sympathisclie  Rolle  in  diesem 
Glaulieii  zunmtete. 

Hat  nun  die  Krapfenform  aucb  mit  der  Herzform  einen  bezüglichen 
vergleichbaren  Zusammenhang?  Wir  müssen  diese  Frage  entschieden  be- 
jahen, wenn  wir  von  der  heute  üblichen  gelappten  Herzform,  wie  sie 
durch  das  koptische  Christentmu  dem  Mittelalter  übergeben  wurde,  ab- 
sehen. Der  Krapfen  als  relativ  grosses,  rundes,  einballiges  Hohlgebilde 
ohne  inneren  festeren  Kern,  aber  mit  einer  meist  duftemlen,  süssen  inneren 
Farce  gleicht  dem  mit  dem  Seelendufte  ausgestatteten,  rundballigen,  alt- 
römisch-griochischen  Herzschema.  Nacii  Lobeck  (Aglaophamos  p.  709)  gab 
es  auch  im  griechisch-römischen  Kulte  des  Dionysos-Bacchus  herzförmige 
Opferkuchen.  Das  Herz,  dessen  Gestalt  von  den  (Iriecheu  mit  dein 
y.Mvog:  rov  otooßü.ov,  d.  h.  mit  dem  dickeirnnden  lMnienza]d'en  verglichen 
wurde,  war  dem  Dionysos  heilig.  Nach  der  Mythe  des  Bacchus  verzehrte 
Zeus  das  noch  rohe,  wanne,  zuckende  Herz  des  von  den  Titanen  bald 
nach    seiner    Geburt    zerrissenen    Zagrous    (=  Bacchus)    (l'reller.    Criech. 


Der  Krapfen.  75 

Mythol.  "  1,  553).  In  Nachalimung-  dieses  ius  Mythische  verlegten  Yor- 
gauges  wurde  auch  bei  dem  bacchantischen  Opfermahle  das  noch  zuckende 
Fleisch  eben  zerrissener  Opfertiere  roh  (warm)  verschlungen  (Baltzer, 
Apollonius  von  Tyana,  S.  189).  Nach  dem  pythagoräischen  Vorbilde  wird 
sehr  wahrscheinlich  an  Stelle  des  rohen,  warmen  Zuckfleisches  des  tieri- 
schen Herzens  das  heisse,  herzförmige,  rundgeballte,  mit  einem  duften- 
den Inhalte  vei'sehene  Gebildbrot  des  Krapfens  getreten  sein;  gerade  in 
der  bacchantischen  Fastnacht^)  spielen  auf  ehemals  römischem  Boden 
(Termaniens  die  heiss  verzehrten  Hetwecken  (=  heissen  Wecken),  heissen 
Kreuzbrote,  heissen  Muscheln,  heissen  Krapfen  volksüblich  eine  grosse 
Rolle,  und  nicht  bedeutungslos  ist  es,  dass  die  herzenfressenden  Hexen 
in  der  Volkssage  auch  Krapfen  essen. 

Obwohl  im  Mittelalter  die  oben  doppellappige,  unten  zugespitzte  Herz- 
form der  ägyptischen  Kopten  das  römische,  rundballige  Herzscliema  fast 
ganz  verdrängte,  so  blieb  doch  in  der  deutschen  Volksmedizin  (siehe  das 
Organvotiv  im  Janus  1901,  S.  "23),  in  dem  deutschen  Volksbrauche  und  in 
der  deutschen  Volkssage  ein  gewisser  Zusammenhang  mit  dem  letzteren 
bestehen;  als  solches  Uberlebsel  sehe  ieli  aucli  den  rundballigen,  hohlen, 
mit  einer  duftenden  Farce  innerlich  gefüllten  Krapfen  an,  der  als  placenta 
bacchica,  d.  h.  als  Kultbrot  der  Zeit  der  Bacchanalien  aus  dem  römischen 
Kolouistenbrauche  durch  Vermittelung  der  Klosterkücheu  auf  germanischeu 
oder  deutschen  Boden  sich  übertragen  haben  kann,  wo  er  als  Faschings- 
gebäck, Erntebrot  und  Hochzeitsküchel  sich  forterhielt  und  sich  in  ver- 
schiedenen anderen  Abarten  weiter  entwickelte. 

Bad  Tölz. 


1)  Der  Hauptfastenflsch  der  Mönche  lieferte  als  Fiebermittel  sein  lebendes  rohes 
Herz;  vgl.  ein  Rezept  des  lü.  Jahrh.  für  das  Fieber  bei  Jühling,  Die  Tiere  in  der  Volks- 
medizin S.  25:  „Nim  das  Hertz  von  einem  frischen,  lebendigen  Hecht  vnud  verschlinge 
es,  -weil  es  noch  lebt,  vund  faste  danach  einen  halben  tagk."  Hier  ist  die  Omophagie 
der  Bacchanalien  zum  Essen  eines  rohen  Fastenfisches  herangemildert.  Am  Grossfasten- 
abend (Sonntag  nach  Fastnacht)  müssen  in  Geerhardsbergen  Bürgermeister,  Dekan, 
Schöffen  und  Ratsherren  einen  lebendigen  Gründling  aus  einem  Becher  Wein  hinab- 
schlueken;  auch  dieser  seit  l;iOS  bezeugte,  von  der  Kirche  geduldete  Brauch  (Volkskunde 
18,  liiCf.)  vertritt  die  Omophagie  der  Bacchanalien.  Über  das  athenische  Hauptseelenfest 
der  dionysischen  Anthesterien  vgl.  Rohde,  Ps_yche  '  1,  237.  2,  45;  über  Dionysos  als 
Henn  der  Seelen  ebd.  2,  13;  über  die  Beziehungen  der  Fastnacht  zum  Dionysoskult 
Krause,  Tuiskoland  S.  343.  389.  Obgleich  also  das  Erapfengebäck  gegenwärtig  keine  Be- 
ziehung zum  Totenkult  aufweist,  kann  doch  das  römische  Bacchusfest  solche  gehabt 
haben. 


7(5  Clialatiaii?.: 

Kurdische  Sagen. 

Von  Bagrat  Chalatiaiiz. 

(Vyl.  oben  15.  :J22.    IG,  X>.  -Ha) 


15.   Die  niythologisclie  IJedcutung  der  Sagen. 

Von  den  vorstehenden  Sagen  können  nur  wenige  als  rein  kui'dische 
gelten;  domi  aiisgeiionimen  die  von  Siamandb  und  Xgcsare,  Sevahage  und 
vielleicht  auch  liainutcSchanke,  tragen  sie  ilasGeprägo  orientalischer  Märchen, 
in  denen  sich  uralte  Anschauungen  des  Morgenlandes  deutlich  wiilcr- 
spiegeln.  Im  besonderen  gehören  hierher  die  Astralmythen,  die  man  in 
zwei  IliUiptgruppen  scheiden  kann:  die  Sonnen-  und  Mondsagen  und  die 
Sonnenmytiien.  Der  Kultus  der  liiuinielsgestirne  scheint  die  erste 
Religionsstufe  eines  jeden  Naturvolkes  gewesen  zu  sein.  Hohe  Verehrunng 
genossen  der  Sonnengott  (Samas)  und  der  Mondgott  (Sin)  bei  den  alten 
Babyloniern,  deren  Gestirnenreligion  die  Weltanschauung  der  späteren 
Geschlechter  für  unabsehbare  Zeit  bestimmt  hat.  Die  jüngsten  Aus- 
grabungen in  Babylonien  förderten  /.ahlreiche  Tempel  zutage,  die  der 
Sonne  und  dem  Mond  geweiht  waren;  auch  in  den  religiösen  Keilschrift- 
texten nehmen  beide  Gottheiten  einen  Ehrenplatz  ein.  Die  ältesten 
Kultusstätten  des  Mondgottes  waren  in  Uru  (der  heutigen  Triimmerstätte 
el-Mugeir)  und  in  Xarran  (in  Mesopotamien),  die  ilos  Sonneugottes  in 
Barsa  und  in  Sippar  (den  heutigen  Ruinen  Senkereh  und  Abu  Ilabba). 
Der  Moudgott  wurde  als  'Vater'  mit  langem  Bart,  auch  als  'junger  Stier" 
mit  grossen  Hörnern  bezeichnet.  Seine  Gemahlin  hiess  Ningal  und  seine 
Tochter  Istar  (Venusstern).  Andererseits  galt  Nergal  (sonst  Somnierglut- 
sonne  und  der  Planet  ]\lars)  als  Gott  des  abnehmenden  Mondes,  der  mit 
Sin,  der  zunehmenden  Mondsichel,  die  grossen  Zwillinge  bihlet.  Samas 
wurde  ebenfalls  als  inännliclie  (iestalt  gedacht,  während  in  Siidarabien 
die  Sonne  weiblich  ist.  Dass  der  Mond  einige  Tage  verschwindet  und 
dann  allmählich  seine  frühere  Grösse  wieder  erreicht,  dass  die  Sonne 
al)en(ls  vorsinkt  und  frühmorgens  wieder  erscheint,  dass  sie  ihre  Kraft  im 
Winter  verliert,  hinter  schwarzen  Wolken  verborgen  bleilil  und  erst  mit 
Anfang  des  Frühlings  wieder  ihren  Glanz  erreicht,  dies  alles  muss  stark 
auf  die  Phantasie  aller  Völker  einwirken.  Das  eine  Gestirn  stellt  die 
Dauer  des  Tages  und  der  Jahreszeiten,  das  andere  die  des  Monats  fest. 
Dalun-  finden  wir  bei  den  Babyloniern  beide  in  ihren  Hauptphasen  streng 
unterschieden;  man  verehrte  Sanias  als  Prühjahrs-(Morgen-)sonne,  Sommer- 
(Mittag-)sonne,  Herbst-(Abend-)sonne  und  Wiutersonne,  und  der  Moud 
wurde  in  abnehmdeen  und  zunehmende  Gottheiten  geteilt.  Mit  den 
Gestirnknlten    aber    waren  zahlreiche  Mythen    verknüpft.      Es  muss  schon 


Kurdische  Sagen.  77 

in  der  Urzeit  eine  Periode  gegeben  haben,  wo  die  religiösen  Mythen  auf 
die  Menschen  übertragen  wurden  und  allmählich  in  Heldensagen  über- 
gingen. Die  Gottheit  wurde  ein  Halbmonsch,  der  Mythus  eine  Erzählung 
von  Helden.  Diese  Übergangsperiode  stellen  noch  jetzt  die  orientalischen 
Märeiien  diir;  derselbe  Held,  der  die  Sonuengottheit  vertritt,  vollführt 
seine  Taten  mit  Hilfe  derselben,  (ileichzeitig  muss  auch  die  Nationali- 
sierung der  Astralmythen,  d.  h.  ihre  Übertragung  auf  Nationalhelden,  wie 
wir  sie  bei  den  Griechen,  Römern,  Persern,  Armeniern  u.  a.  finden,  statt- 
gefunden haben. 

Die  Sonneu-  und  Mondsagen  zerfalleu  in  zwei  Gruppen;  in  einer  sind 
Sonne  und  Mond  als  zwei  Brüder  (Zwillinge),  in  der  zweiten  al.s  Schwester 
und  Bruder  gedaclit.  Dioskurensagen  begegnen  uns  bei  allen  Völkern 
des  Altertums,  bei  den  Hebräern  (Kain  und  Abel,  Jakob  und  Esau),  bei 
den  firiechen  (Dioskuren),  Römern  (Romulus  und  Remus),  Germanen  (Baidur 
und  Hüdhrj.  Der  eine  Bruder  als  Mond  stirbt  (Abel,  Remus,  Agamemnon, 
Harmodios)  oder  wird  als  Blinder  vorgestellt  (Hödhr).  Der  Einfluss  dieses 
Sagenkreises  lässt  sich  auch  in  den  kurdischen  Erzählungen  von  QüUeq  und 
Kiaro,  Dalu  Hamza  und  Dalu  Mehmet  erkennen.  Qülleq  stirbt,  Dalu  Hamza 
schläft  infoige  der  Zauberkunst  der  Hexe  drei  Tagelang,  um  wieder  aufzu- 
erstehen.^) Zu  den  Sagen,  in  denen  die  Sonne  weiblich  und  der  Mond  männlich 


1)  Bei  den  Babylonieru  war  der  folgende  Dioskiireninythus,  in  welclieni  auch  die 
Schwester  der  Üioskurcn,  Istar,  erdcheint,  im  UniUuife  (F.  Haupt,  Das  babylonische 
Nimrodepos  1884.  ]891.  Deutsch  bei  Jensen,  Kcilinseliril'tlichc  Bibliothek  (i,  1,  llü— 265). 
(iilgames,  der  Herrscher  von  Ereeh  (zwischen  Nord-  und  Südbabylouienj,  sieht  in  mehreren 
Traumbildern,  die  seine  Mutter  deutet,  den  Helden  Ea-bani  (nach  Zimmermann  und 
Jensen  KB.  1,  425.  571  Bel-KuUati  oder  Bel-Kissati  =  Herr  der  Allheit  zu  lesen)  als 
seinen  künftigen  Freund.  Dieser,  der  in  der  Steppe  unter  wilden  Tieren  haust,  wird  durch 
eine  Dirne  zu  Gilgames  gelockt;  beide  schliessen  Freundschatt  und  unternehmen  einen 
Z'.ig  nach  dem  heiligen  Zedernwald,  dem  Wohnorte  der  Göttin  Irnira-lstar.  Der  von  Bei 
bestellte  Wächter  Chumbaba,  der  jeden  durch  seine  Stimme  in  Schrecken  setzt,  wird  im 
Kampfe  erschlagen.  Als  Gilgames  die  Liehe  der  Göttin  Istar  verschmiilit,  bittet  sie  ihren 
Vater  Anu,  einen  Himmelsstier  zu  schauen,  der  Gilgames  vernichten  soll.  Allein  der 
Held  erlegt  mit  Hilfe  Ea-banis  den  Stier  und  bringt  dessen  Homer  seinem  Gotte  Lugal- 
banda  als  Weihgeschenk  dar.  Darauf  stirbt  Ea-bani.  Um  Unsterblichkeit  zu  erlangen, 
begibt  sich  Gilgames  zu  seinem  unter  die  Götter  versetzten  Ahnen  Ut-Napistim;  auf  den 
Rat  eines  Skorpionmenschen  zieht  er  durch  die  Masu-Herge  und  erreicht  den  an  der 
Meeresküste  gelegenen  'Götterpark'.  Hier  'auf  deui  Thron  des  Meeres'  sitzt  die  Göttin 
Siduri-Sabitu,  die  auf  die  Frage  der  Helden,  wie  er  zu  Ut-Napistim  gelange,  antwortet: 
„Über  das  Meer  ging  (nur)  Sanias,  der  Gewaltige;  wer  ausser  Samas  geht  hinüber?'' 
Doch  mit  Hilfe  eines  Schiffers  erreicht  Gilgames  die  'Wasser  des  Todes',  den  Wohnsitz 
seines  Ahnherrn.  Dieser  schildert  ihm  die  Sintflut  und  lässt  ihn  auf  seine  Bitte  durch 
den  Schifter  zum  'Waschort'  bringen;  dort  muss  Gilgames  sich  waschen,  ein  neues  Gewand 
und  eine  neue  Kopfbinde  anlegen  und  dann  heimkehren.  Um  das  stürmische  Meer  zu 
beruhigen,  taucht  er  auf  den  Rat  des  Ut-Napistim  unter  und  schneidet  auf  dem  Meeres- 
boden ein  Wuuderkraut  ab,  das  Greise  wieder  jung  zu  machen  vermag.  Dann  weist  ihm 
eine  Schlange  den  Weg.  In  Erech  angelangt,  bittet  Gilgames  den  Gott  Ea,  ihn  mit  Ea- 
banis  Geist  zusammenzuführen.  Dieser  gebietet  dem  Gotte  des  Totoureiches  Nergal, 
Ea-banis  Geist  aus  der  Erde  emporzusenden,  der  nun  seinem  Freunde  Gilgames  das 
Totenreich  beschreibt.    Damit  schliesst  das  Epos. 


(!^ 


Clialatianz : 


dargestellt  winl,  gehört  eine  ariiieiiisilie  Überlieferung,  luuli  der  oiiist  ilio 
(tcschwister  Sounc  und  Blond  im  Flusse  badeten.  Der  Mond  wollte  die 
schöne  Schwester  nackt  sehen  und  tauchte  aus  dem  Wasser  auf;  die 
Schwester  aber  erriet  seine  Absicht  und  flog  gen  Himmel;  der  Mond  setzte 
ihr  nach,  ohne  sie  erreichen  zu  können;  die  Sonne  aber  sticht  mit  ihrm 
Strahlen  joden,  der  ihre  Nacktheit  anzuschauen  sucht.  Ebenso  werden  in 
der  schönen  arabischen  Erzählung  von  Laila  und  Modjnun  (oben  15,  3:^8) 
die  beiden  Liebenden  zu  zwei  Sternen,  die  getrennt  im  Kreise  herum- 
zielien.  Vielleicht  liegt  dieser  Astralmythus  auch  der  gleichfalls  aus 
Arabien  stammenden  Sage  von  Mamo  und  ZinC-  (oben  16,  35.  402)  zu- 
grunde: Mamo  wird  in  die  Grube  geworfen  und  stirlit,  worauf  ihm  seine 
Geliebte  in  den  Tod  folgt;  die  beiden  aus  ihrem  Grabe  hervorwachseiideii 
Blumen  entsprechen  den  zwei  Sternen. 

Auch    die    alten  Armenier    erzählton  von  der  verhängnisvollen  Liebe 
der  assyrischen  Königin  Samiram  (Semiramis)  zu  dem  armenischen  Könige 
Ära  dem  Schönen;    als  der  König  Ninos  nach  Kreta  geflohen  war,   sandte 
Samiram  Botschaft  zu  Ära,  er  solle  entweder  sie  heiraten  oder  sie  besuchen 
und    dann    holmkehren.      Als    Ära    diese    Forderung    stolz    abschlug,    zog 
Samiram  mit  eiuem  Heer  nach  Armenien  und  lieferte  ihm  auf  dem  Felde 
Airarat  eine  Schlacht,  in  der  Ära  fiel,  obwohl  die  Königin  befohlen  hatte, 
ihn  lebend  zu  fangen.     Sie  Hess  seinen  Leichnam  in  den  Oberstock  ihres 
Palastes    legen    und  verkündete    den  Armeniern,    die    ihren  König  rächen 
wollten,  sie  hätte  den  Göttern  geboten,    seine  Wunden  zu  lecken,  uud  er 
werde  wieder  erwachen.     Als  aber  ihre  Zauberei  misslang  uud  der  Leich- 
nam verfaulte,    befahl  sie,    ihn  in  eine  grosse  Grube  zu  werfen  und  diese 
zuzudecken;    dann    schmückte    sie    einen    von  ihren  Liebhabern  und  ver- 
kündete, die  Götter  hätten  den  Ära  geleckt  und  ihn  wiederbelebt.')    Ära 
entspricht  seinem  Wesen  nach  der  Mondgottheit,   wie  ja  nach  Plato")  die 
Armenier    von    dem   auferstandenen  Er    ())g=Ara)    erzählten:    die    liebe- 
heischende   Semiramis    aber    verkörpert    die    brennende    Sonne.      Dafür 
sprechen    die    von  Moses    von    Chorene  S.  88   angeführten  Yolksüberliefe- 
rungen    'vom    Tode    der  .Samiram,    von    ihrer  Flucht    zu  Fuss,    von    dem 
Durst,    von  dem  Trinken,    von  dem  Einholen  der  Schwertträger,  von  den 
ins  Meer    geworfenen  Zauberkorallen    und   von  dem  Liede    darüber:    Die 
Korallen  der  Samiram  ins  Meer'.      Denn  die   dem  Meer  nahende,    daraus 
trinkende,  mit  strahlenden  Korallen  gesckmückte  Samiram  gleicht  der  ins 
-Meer  tauchenden  Sonne. 

Die  besonderen  Mondsagen  sind  verhältnismässig  selten,  da  sie  wahr- 
scheinlich von  den  Sonnonmythen  verdrängt  worden  sind  oder  sich  derart 
mit  ihnen  verschmolzen  haben,  dass  sie  nicht  mehr  wiederzuerkennen 
sind.     Vielleicht  gehört  hierher  die  noch  heute  in  der  armenischen  Kirche 


1)  Jloses  von  Chorene,  Gcscliiclite  Armeniens  ^Venedig  1881)  S.  7.') -TT. 

2)  Plato,  De  republica  X,  IJ14B.    Ära  bedeutet  im  Persischen  den  'Schönen'. 


Kurdische  Sagen.  7i) 

übliche  Darstellung  des  Moses  mit  zwei  Hörneru  auf  der  Stirn  und  die 
l']rzäliliing  vom  gehörnten  Alexander  dem  Grossen.  Und  eine  Spur  des 
Moudkultiis  ist  der  orientalische  Volksglaube,  dass  der  wachsende  Mond 
jedem  Uuteruehiiien  ülück  und  der  Krankheit  Heilung  verheisse,  und  der 
Brauch,  die  auf  dem  Wege  gefundenen  Hörner  und  Hufeisen  als  Glücks- 
talismane aufzubewahren. 

Viel  grössere  Verbreitung  haben  die  Sonnenmythen.  Schon  im  grauen 
Altertum  ward  die  Sonne  als  ein  lieilbringeuder  Held  gepriesen,  der  die 
Menschen  von  einem  Ungeheuer  (der  Finsternis  und  dem  Winter)  be- 
freit. Die  Frühsoune  wurde  in  den  Dichtungen  als  ein  Knäblein  in  einem 
auf  dem  Wasser  schwimmenden  Kasten  bezeichnet.  Und  der  assyrische 
König  Sargon  von  Agade')  erzählt  von  seiner  Geburt^):  „Ich  bin  Sarrukin, 
der  mächtige  König,  König  von  Agade.  Meine  Mutter  war  aus  edlem 
Geschlechte,  mein  Vater  ist  unbekannt,  der  Bruder  meines  Vaters  aber 
bewohnte  das  Gebirge.  Meine  Stadt  ist  Azupiränu,  am  üfer  des  Euphrat 
gelegen.  Meine  Mutter  aus  edlem  Geschlechte  empfing  mich,  und  im 
Verborgenen    gebar  sie  mich.      Sie  legte  mich  in  einen  Kasten  von  suru 

und  verschloss mit  p]rdpech.     Sie  warf  mich  in  den  Fluss,  welcher 

nicht  hoch  war.  Kr  trug  mich  weg  und  brachte  mich  zu  Akki,  dem 
Wassergiesser.  Akki  der  Wassergiesser  hob  micli  auf,  zog  mich  zum 
Knaben  auf.  Er  machte  micli  zum  Gärtner."  Derselbe  Mythus  ist  bei 
tlen  Hebräern  auf  Moses  übertragen  worden;  und  so  wird  auch  Nacar 
Ogli  (oben  lli,  411)  in  einem  Kasten  gefunden  und  zum  Knaben  auf- 
gezogen; sein  Vater  ist  ebenfalls  unbekannt.  Von  der  Geburt  des  Sonnen- 
gottes Vahagn  sangen  die  alten  Armenier  nach  Moses  von  Chorene')  das 
folgende  Lied: 

„lu  Geburtswehen  layen  Himmel  und  Erde, 
In  Geburtswehen  lag  auch  das  purpurne  Meer: 
Geburtswehen  im  Meere  hielten  ein  Schilfrohr  ergriffen. 
Aus  der  Kehle  des  Schilfrohres  stieg  Rauch  auf. 
Aus  der  Kehle  des  Schilfrohres  stieg  Flamme  auf, 
Aus  der  Flamme  lief  ein  Knäblein  hervor, 
Es  hatte  Feuer  als  Haar, 
Es  hatte  Flamme  als  Bart, 
Und  seine  Augen  waren  Sonnen. 

Wir  haben  selbst  mit  unseren  Oliren  gehört,  wie  manche  dies  mit 
Begleitung  des  'Bambiren'  sangen.  Weiter  trug  man  im  Liede  vor,  dass 
er  (Vahagn)  mit  Dracheu  kämpfte  und  diese  besiegte." 

In  den  Heldentaten  des  Knaben,  der  seine  Gefährten  überwältigt,  ist 
die  zunehmende  Kraft  der  Sonne  zu  erkennen.  Das  Sitzen  des  Helden 
in  der  Grube,  in  die  er  von  dem  Feinde  (oder  seinen  Brüdern)  geworfen 
wird,  ist  das  beliebte  Motiv  der  morgenländischen  Sagen  von  Joseph  (im 

1)  Nordbabylonien.     Sargon  regierte  um  -2800  v.  Chr. 

2)  Rawlinson,  The  cuneiform  inscriptions  of  Western  Asia,  Vol.  III,  1.  7. 
0)  Moses  von  Chorene  S.  127  f. 


80  ('halatianz:  Kurdische  Sagen. 

Koran),  von  Rustein  und  Bejan  bei  <lcn  Persern,  von  Artavazdes  und 
ilher  bei  den  Armeniern,  von  Iliya  bei  den  Küssen.  Nach  dein  Zeugnis 
Kzniks')  erzählte  man  von  Alexander  dem  Grossen,  dass  er  von  Divs  ge- 
fesselt gehalten  ward.  Nacar  Ogli  kann  als  ein  Typus  dieser  Sagengruppe 
gelten,  in  der  der  Held,  nachdem  er  ein  Ungeheuer  erschlagen,  die 
Sclii)ne  befreit  und  aus  der  Grube  heraussteigt.  In  dieser  verbreiteten 
Erzählung  ist  die  Darstellung  des  Sieges  der  Frühsonne  über  die  Finsternis 
oder  den  Winter  und  die  Befreiung  der  Erde  von  der  Kälte  zu  sehen; 
der  Held  besteigt  ein  Feuerross  oder  einen  Feuervogcl,  um  in  die  'Helle 
Welt'  zu  gelangen,  d.  h.  die  Sonne  gelangt  wieder  zu  ihrer  Kraft.  —  Zu 
demselben  Sagenkreise  gehört  das  Märchen  von  dem  versteinerten  Reiche. 
Der  Held  tötet  den  Drachen  (Hexe,  Ungetüm),  bespritzt  mit  dessen 
Blut  die  Steine  und  macht  diese  wieder  zu  lebenden  Menschen  (vgl. 
Gathl  (iahraman,  obcMi  15,  ;^!)3f.).  Von  scniicm  Kuss  erwacht  die  schlafende 
Schöne,  die  Königstochter,  die  der  Held  heiratet. 

In  der  Rolle  des  Weltbefreiers  erscheint  bei  den  Babyloniern  der 
Sonnengott  Marduk,  der  deswegen  als  Herrscher  über  das  ganze  All  und 
als  neuer  W^eltschöpfer  verherrlicht  wird.  Er  zieht  gegen  die  Götter- 
mutter Tiauiat,  die  im  L5ündnis  mit  Riesenschlangen,  Drachen,  Molchen 
sich  gegen  die  neue  Göttergeneration  i'inpört.  Marduk,  mit  'Lichtflut' 
bewaffnet,  besiegt  sie  und  sehlägt  ihren  Leichnam  in  zwei  Stücke. 

Eine  Parallele  dazu  bietet  die  Sage  von  einem  löwenartigen  Ungetüm 
namens  Labbu,  das  einer  von  den  Göttern  erlegt,  der  in  einer  Wolke 
vom  Himmel  iierabsteig-t.  —  Eine  dritte  Sage  bezieht  sich  auf  den  Sturm- 
vogelgott  Zu,  den  ein  Gott  tötet  und  ihm  die  von  demselben  geraubten 
Schicksaistafelu  entreisst^').  Wahrscheinlich  liegt  allen  drei  Mythen  der 
Kampf  des  Lichtgottes  Marduk  mit  einem  Ungeheuer  (der  Finsternis)  zu- 
grunde. 

Die  aus  uralten  Trünimeiu  wieder  zum  Leben  gerufene  NVelt- 
anschauung  der  ßabylonier  ist  eine  Entdeckung  der  jüngsten  Zeit,  und 
ein  Versuch,  diese  mit  unseren  Anschauungen  in  Zusammenhang  zu  bringen, 
muss  mit  grosser  Vorsiclit  ausgeführt  werden;  denn  der  Zusammeniiang 
der  Kultur  des  alten  Orients  mit  der  klassischen  und  unserer  Welt  lässt 
sich  niciit  verfolgen.  Deshalb  begnügte  ich  micli  mit  einem  iiiuwi'ise  auf 
einige  Hau])tzüge  unserer  Sagen,  die  sich  aus  den  Astralmythen  des  alten 
Orients  erklären. 

Leipzig. 


1)  Eznik,  Gegen  die  Ketzereien,  Paris  18G0,  S.  100. 

2)  King,  Cuneiform  Texts  froni  Habylonian  Tal>lpts,  Vol.  YIII.      In  deutscher  Über- 
setzung von  Jensen,  Kciliuschriltlidie  Jiililiulliek,  Bd.  VI. 


Hermann;  Kleine  Mitteilungen.  81 


Kleine  Mitteilimgeii. 


Nachtrag  zu  dem  Artikel  'Siebensprung'  (oben  15,  ^S^— 311). 

Durch  die  Güte  mehrerer  Herren  ist  es  mir  möglich  geworden,  neue  Nach- 
weise für  den  Siebensprung  zu  erbringen. 

A.    Auf  deutschem  Sprachgebiet: 

Schweiz.  In  Gottfried  Kellers  Roman  'Der  grüne  Heinrich'  (Stuttgart  190ö) 
2,  265  wird  der  Siebensprung  bei  einem  Leichenschmaus  getanzt. 

Thüringen.  In  Löfflers  Roman*  'Martin  Bötzinger'  (Lpz.  1897)  wird  ein  Tanz 
erwähnt,  mit  dem  der  Siebensprung  gemeint  scheint.  (Auf  beides  macht  mich 
Herr  cand.  phil.  Knauer  in  Neuses  bei  Coburg  aufmerksam.) 

Bayern.  München:  Eine  Siebensprungmelodie  wurde  im  vorigen  Jahre  bei 
einem  der  Kellerkonzerte  gespielt.  (Mitteilung  des  Herrn  Kaufmanns  R.  Albrecht 
in  München.) 

Rechtenbach  in  der  Kheinpfalz.  abweichend  von  den  Abgaben,  oben  15, 
284f.;  vgl.  290,  Anm.  1,  die  sich  wohl  nur  auf  den  Nachbarort  Schweigen  zu  be- 
ziehen haben: 

Nr.  36. 


S N N  ,S       S       ,S       S S_  __l_A__fc &  .S       ,N       S       ,^ 


N 


Danz  mer    e   -   mol    de    sie  -  we  -  te  Sprung!  Danz  mer   e  -   mol    de    sie-we-te 

*«      N      ^      A      .N  N  .^       N N      ,1^    >     ^    .      J N  J\__fc 


Sprung I  Mach  mer's      fei-ne     al  -  le    sie-ben,inach  mer's,  dass  ich  dan-ze  kann, dan-ze 


i 


^   s   s         I  ^   n" i    ^   s"  etc. 


-f— 7- 


-7—7- 


wie  ein    E  -  del  -  manni  's  ist  eins  etc. 

In  dem  benachbarten  Schleithal  im  Elsass  lautet  die  Melodie  wieder  anders. 
(Mitteilung  des  Herrn  Lehrers  Lang  in  Rechtenbach.)  Es  liegt  auf  der  Hand,  dass 
auch  dieser  Text  die  Mundart  nicht  rein  wiedergibt,  vgl.  jedoch  die  Bemerkungen 
unten  zu  dem  Text  von  Oevenum  auf  Föhr  (S.  So). 

Hessen.  Giessen:  Nach  der  Mitteilung  des  Herrn  Geh.  Hofrats  Behaghel 
wird  der  S.  hier  wieder  in  den  ersten  Kreisen  getanzt  (und  zwar  nach  Böhme). 

Rheinland.  Köln:  Weyden*,  Köln  vor  50  Jahren  (i.  e.  1812),  S.  128:  Hier 
—  bei  Gelegenheit  der  Bayen-Kirmes  auf  dem  Bayengraben  —  klangen  die  alten 
Tanzweisen,  der  kölnische  Ländler  und  die  'Sibbesprüng'.  Vgl.  auch  Honig*, 
'V^örterbuch  (1877),  S.  147. 

Der  Tanz  soll  nur  vom  niederen  Volke  aufgeführt  worden  sein.  In  den 
Landkreisen  Köln  und  Bonn  war  er  vor  Jahren  noch  sehr  gebräuchlich,  besonders 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1907.  l> 


82 


Hermann: 


auf  der  Brühler  Kirmes.     (Nach  einem  Brief  des  Herrn  Oberlehrers  Dr.  W'rede 
in  Köln,  mir  durch  die  Güte  des  Herrn  Museumsdirektors  Dr.  Foy  übermittelt.) 

Westfalen.  In  H.  Wettes  Roman  'Krauskopf  (Lpzg.  190;5)  S.  186  wird  er- 
zählt, wie  im  Münstcrlande  am  Lambertusabend  das  Volk  um  die  Lambertus- 
pyramide  tanzt  und  singt: 

Wer,  wer  kann  die  sieben  Sprünge? 
0  Buer,  wat  kost't  diu  Heu? 
Der  Herr,  der  schickt  den  Jäjrer  aus, 
Der  sollt  die  Birnen  schmeissen. 

(Diesen  Nachweis  verdanke  ich  dem  Herrn  Herausgeber  dieser  Zeitschrift.) 

Hannover.  Früher  war  der  Siobensprung  im  Reg.-Bez.  Osnabrück  ge- 
bräuchlich und  wird  noch  in  Grafeid  und  Orthe,  Kr.  Bersenbrück,  getanzt.  Bei 
dem  Trachtenfest  des  Artlandes  in  Badbergen  1905  stand  der  Siebensprung 
mit  auf  dem  Programm  der  altertümlichen  Tänze.  Der  Text  ist  im  Hannoverischen 
verschieden,  meist  plattdeutsch.  7  Touren:  Grosse  Ronde  erst  nach  rechts,  dann 
nach  links.  Sprünge  wie  in  Eckwershcim  (oben  1.'),  284).  (Mitteilung  des  Herrn 
Tanzlehrers  Ortland  in  Badbergen). 

Die  Melodie  lautet  zu  den  Artländer  'Sieben  Sprüngen'  nach  Ortland,  Artländer 
alte  Tänze  für  Piano,  Selbstverlag,  S.  4: 

Nr.  37. 


^'fTEgÜI 


Aus    einer   hannoverischen    Gemeinde,    den  Vierlanden    gegenüber,    stammt 
folgende  Melodie  (sieben  Touren): 

Nr.  38: 

,  Sehr  schnell. 


'—t- 


mmm^mm 


■0 — •  ß- 


•  -^-f=r— »-f— * 


-J2=^ 


l-7mia 


-ß-0 


i 


(Mitteilung  des  Herrn  Lehrers  Mindt  in  Ncuengamme). 

Schleswig-Holstein.  In  Dithmarschen  muss  der  Siebensprung  ehedem  gut 
bekannt  gewesen  sein,  so  weiss  man  von  ihm  noch  nicht  nur  in  Schafstedt  bei 
Heide,  sondern  man  erinnert  sich  seiner  noch  sehr  gut  in  Bunsloh,  Osterborstel 
und  Albersdorf.  Bis  vor  dreissig  Jahren  etwa  tanzte  man  ihn  hier  bei  der 
Fastnachtsfeier  in  vorgerückter  Stunde;    in  Albersdorf  wurde  er  vor  einem  halben 


Kleine  Mitteilungen. 


83 


Jahre  noch  bei  einer  Hochzeit  getanzt.  Während  der  ersten  acht  Takte  wurden 
zwei  Schritte  nach  rechts  und  zwei  nach  links  gemacht,  darauf  folgte  Rundtanz 
bis  zu  den  Sprüngen.  Die  Männer  hielten  einander  bei  der  Hand  oder  fassten 
einander  von  hinten  um  die  Taille.  13  Touren,  Sprünge  wie  in  Eckwersheim, 
aber  erst  rechts,  dann  links. 


Lus-tigistder  Sie  -  ben-,  Sie-ben-,  Sie-ben-,lus-tigistder  Sie-ben-, Sie-ben-sprnng. 


(Zum  zweiten  Teil  singt  man  keinen  Text  mehr.) 


1-7  mal. 


Die  beiden  letzten  Töne  werden  länger  ausgehalten,  als  sie  es  dem  Takt  nach  sollten. 

Der  'Söwensprung'  in  Husum.  Ob  es  sieben  oder  dreizehn  Touren  waren, 
weiss  ich  nicht.  Herren  und  Damen  standen  getrennt  auf  zwei  Seiten,  fassten  ein- 
ander an,  wie  zu  einer  grande  chaine,  näherten  sich,  gingen  wieder  zurück  und 
hüpften  bei  den  letzten  zwei  Tönen  in  die  Höhe. 


Sl^^^^g^f^i 


Auf  der  Insel  Pöhr  war  der  Tanz  ehemals,  wie  es  scheint,  durchweg  besonders 
gut  bekannt;  in  der  Erinnerung  der  ältesten  Bewohner  lebt  er  noch  in  den  meisten 
Ortschaften  fort,  so  in  Wyk,  Wrixum,  Nieblum,  Goting,  Oevenum,  Oidsum,  Ütter- 
sum.  Eine  aus  Wrixum  gebürtige  Frau  erinnert  sich  noch  des  Söwensprüngs,  so 
bei  den  Priesen  genannt,  dessen  Melodie  ihr  von  dem  Vater  oft  vorgesungen  wurde. 
Die  Sprünge  wurden  gezählt,  und  dabei  wurde  aufgestampft  und  gekniet  usw.;  ob 
ein  deutsches  oder  friesisches  Lied  gesungen  wurde,  vermag  die  Frau  nicht  mehr 
anzugeben. 

In  Oevenum  wurde  der  Siebensprung  auf  einer  Hochzeit  im  Jahre  1883  zum 
letzten  Male  getanzt.  ,Nu  möt  wi  mal  de  Söwensprung  dansen",  hiess  es.  Es 
wurden  acht  Takte  Polka  getanzt  und  dann  Sprünge  gemacht. 

Nr.  41. 

j^ _^ ^s . .     .    js 


Kennt  ji  nich  den    Sö-wen-,  Sö-wen-,  kennt  ji  nich  den  Sö-wen-sprung?  Dat's  een 

usw. 

Bemerkenswert  ist,  dass  "Kennt  ji'  nicht  Pöbringer  Platt  ist,  sondern  fest- 
ländisches Platt;  im  Föhringer  Platt  mü.sste  es  'kennen  jem'  heissen. 

Ganz  besonders  beliebt  war  der  Siebensprung  in  Nieblum,  einem  Ort  in  der 
Mitte  der  Insel,  der  viel  früher  seine  friesische  Sprache  verkir  als  die  Nachbar- 
orte.    Hier    wurde    der  Söwensprung  oder  friesisch  Söwenspriing  vor  etwa  vierzig 

6* 


84 


Hermann: 


Jahren  allsonntäglich  getanzt;  vom  Westerland  strömten  die  Priesenburschen  mit 
ihren  Mädchen  in  ihrer  Nationaltracht  rogelmässio-  nach  Niobium  zum  Tanzboden. 
Den  Sprüngen  gingen  entweder  eitiigo  Takte  Schottisch  voraus,  oder  sie  folgten 
ihnen.  Es  tanzten  nur  zwei  Paare,  bei  den  Sprüngen  standen  die  beiden  Burschen 
innen,  einander  zugekehrt,  während  die  Mädchen  aussen  weiter  tanzten.  Die 
Sprünge  wurden  erst  rechts,  dann  links  ausgeführt;  1.  und  li.  Aufstampfen  'A.  und 
4.  Knien,  ä.  und  0.  Knien  und  Aufstützen  dos  Ellenbogens,  7.  Knien  mit  Ver- 
beugung und  Ausbreiten  der  .\rme.     7  Touren. 


i 


1  —  7  mal 


m 


Man  tanzte  den  Siebensprung  aber  auch  nach  der  Melodie  des  Liedes:  'Herr 
Schmidt,  Herr  Schmidt,  was  bringst  dem  Mädle  mit'  usw.  (Die  Nachrichten  aus 
den  Dithmarschen  und  die  Aufzeichnung  der  Husumer  und  führingischen  Melodien 
verdanke  ich  der  Liebenswürdigkeit  des  Herrn  Lehrers  Schröder  in  Schafstedt.) 

Auf  den  Gütern  bei  Getdorf  bei  Kiel  wurde  der  S.  vor  vierzig  Jahren  und 
mehr  getanzt. 

Eine  Krau  aus  Barkeisberg  bei  Eckernförde  teilte  Herrn  H.  Carstens  in 
Dahrenwurth  bei  Lunden  folgenden  Text  zum  Siebensprung  mit: 

Trutjern,  mien  Hahn, 
Mien  söte  Katrien, 
Du  schass  ja  förwahr 
Mien  Eegendom  sien. 

Der  Tanz  war  aber  wesentlich  anders,  als  ihn  Herr  Carstens  im  Urdsbrunnen, 
Bd.  <i,  beschrieben  hat. 

D.  Dänemark.  In  Neuvaret  bei  Ribbe  bei  Hvidding,  hart  an  der  deutschen 
Grenze,  kannte  man  ehedem  den  'Sivspring"  ebenfalls. 


Auf  eine  Nachricht  über  den  Siebensprung  in  der  Beilage  zum  Eilenburger 
Xachrichtenblatt  1905,  Nr.  255  macht  mich  Herr  Oberlehrer  Uhde  (Bergedorf ^ 
aufmerksam.     Unter  der  Überschrift  'Kirmes'  heisst  es  daselbst: 

Könnt  ihr  nicht  die  sieben  Sprung, 

Könnt  ihr  sie  nicht  tanzen? 

Da  ist  mancher  Edelmann, 

Der  die  sieben  Sprung  nicht  kann. 

Ich  kann  se,  ich  kann  se. 

Der  Tänzer  gibt  sich  in  dem  folgenden  Reim  gewissermassen  selbst  die 
Antwort: 

Wer  kann  die  sieben  Sprung, 
Wer  kann  sie  tanzen? 
Wackres  Mädchen,  pass  auf  mich, 
Hast  du  Geld,  so  heirat  mich! 
Ich  kann  se,  ich  kann  sc. 


Kleine  Mitteilungen.  85 

Leider  konnte  mir  die  Redaktion  des  Blattes  den  Verfasser  niclit  nennen,  so 
bin  icli  auf  Vermutungen  angewiesen.  Ich  glaube  nicht,  dass  der  Verfasser  die 
Responsion  irgendwo  vorgefunden  hat,  sondern  er  scheint  zwei  in  der  Umgegend 
Bonns  übliche  Varianten  des  Textes  (vgl.  oben  15,  298)  eigenmächtig  zu  dieser 
Responsion  zusammengeschmiedet  zu  haben. 

Da  die  Nachträge  meist  aus  dem  nördlichsten  Deutschland  stammen,  vermögen 
sie  die  noch  unentschiedenen  Fragen  nicht  zu  fördern  (vgl.  oben  15,  .iOl  u.  309); 
wohl  aber  bestätigen  sie  manche  meiner  Vermutungen,  so:  die  Bezeichnung  'Sieben- 
sprung' (Husum,  Führ,  plattdeutsch  und  friesisch,  Neuvaret),  13  Touren  (Albers- 
dorf), Reihenfolge  der  Sprünge  (Artland,  Albersdorf,  Nieblum),  Zählen  der  Sprünge 
(Rechtenbach,  Wrixum,  Oevenum).  Für  den  Text  ist  bemerkenswert  die  Variante 
'Danz'  gegenüber  'Mach',  vgl.  den  Kusterdinger  Text  (oben  15,  295);  mein  Verdacht 
wegen  der  Variante  „Feine"  in  Schweigen  (oben  15,  290,  Anm.)  ergibt  sich  aus 
dieser  Strophe  als  unbegründet.  Für  die  Frage  der  Heimatsbestimmung  ist  viel- 
leicht nicht  unwesentlich,  dass  wir  wieder  auf  plattdeutschem  Boden  mehrere 
hochdeutsche  Texte  finden  (Schafstedt,  Artland),  und  dass  andererseits  in  Oevenum 
der  plattdeutsche  Text  nicht  mundartlich  abgeändert  ist;  der  Anfang  'Kennt  ji'  in 
letzterem  stimmt  zu  der  norddeutsch-holländischen  Gruppe;  besonders  zu  dem  von 
Abcoude  (oben  15,  297). 

Die  Melodien  ordnen  sich  teilweise  sehr  deutlich  in  die  anderen  ein.  Nr.  39 
(Albersdorf)  ist  bis  auf  die  Taktabteilung  des  zweiten  Teiles  identisch  mit  Nr.  5 
(Fünen).  Nur  im  ersten  Teil  identisch  hiermit  ist  Nr.  40  (Husum),  aber  auch  im 
zweiten  Teil  sehr  ähnlich.  Auch  Nr.  37  (Artland)  und  3S  (Prov.  Hannover)  stimmen 
im  ersten  Teil  hierzu  ganz  genau,  abgesehen  von  dem  Auftakt  und  dem  Tempo  in 
Nr.  38;  im  zweiten  Teil  von  Nr.  37  und  'iü  ist  VI  und  VIII  gleich  den  dänischen 
Melodien  Nr.  13  und  14,  nur  mit  anderem  Tempo.  Nr.  41  (Oevenum)  gehört 
ebenso  wie  Nr.  3(i  (Rechtenbach)  zwar  zur  ersten  Gruppe  (Nr.  1 — 18),  aber  beide 
sind  sehr  stark  entstellt;  Nr.  3G  meidet  übrigens  im  Gegensatz  zu  den  anderen 
süddeutschen  Melodien  (vgl.  oben  15,  3ü5)  in  VI  und  VllI  das  Hinuntersteigen 
zur  unteren  Oktave  nicht.  Nr.  42  (Nieblum)  scheint  so  wie  Nr.  30 — 35  eine 
fremde  Melodie  zu  sein,  wie  es  ja  die  andere  Nieblumer  Melodie  (Herr  Schmidt) 
wirklich  ist. 

Dass  der  Rendsburger  Barbiertanz  (oben  15,  300)  seine  Melodie  aus  der 
Preziosa  bezogen  hat,  wird  noch  wahrscheinlicher  dadurch,  dass  man  auch  in 
Albersdorf  das  'Barbierstückchen'  kennt  und  dazu,  wie  mir  Herr  Schröder  schreibt, 
nach  der  Melodie  singt:  „Gestern  abend  war  Vetter  Michel  da". 

"Wie  mich  Herr  Oberlehrer  Dr.  Brinckmann  in  Bergedorf,  ein  geborener  Oldon- 
burger,  belehrt,  habe  ich  s'  in  dem  Oldenburger  Text  (oben  15,  296)  falsch  auf- 
gefasst,  es  ist  die  Abkürzung  von  'so'.  Zugleich  bitte  ich  an  dieser  Stelle  'überein' 
zu  streichen  und  S.  295,  Z.  2  'es'  zu  schreiben. 

Bergedorf.  Eduard  Hermann. 


Zum  Fangsteinchenspiele. 

Der  vor  einem  Jahre  erschienene  Aufsatz  über  die  Verbreitung  des  Fang- 
steinchenspieles (oben  16,  46—66)  hat  uns  nicht  nur  eine  freundliche  Anerkennung 
von  Herrn  Dr.  Chr.  Walther  in  Hamburg  (Nd.  Korrespondenzbl.  26,  89)  eingetragen, 
sondern  auch  eine  Reihe  von  Nachträgen  zugeführt,  unter  denen  wir  die  der 
Herren  Dr.  C.  P.  Seybold  in  Tübingen,  W.  v.  Schulenburg  in  Zehlendorf  und 
Prof.  Dr.  E.  Wrangel  in  Lund  mit  besonderem  Danke  hervorheben  müssen. 


86  ]ycmkc  iiml  Boltc: 

8.47^:  In  Fersien  hoisst  die  eine  Seite  des  Knöchels  duzd  =  Dieb  (so  is 
statt  dudz  zu  lesen)  oder  tschik  (Vullers,  Lexicon  persicolatinum  s.  v.),  die  andere 
dihban  (Dorfvorstelier)  oder  dihgün  (Dörfler,  Landedelmann).  Auch  C.  Niebuhr 
(lleisebeschreibung  nach  Arabien  1,  17"2.  1774)  erwähnt  eine  solche  verschiedene 
Bedeutung  der  vier  Flächen  der  Knöchel  beim  arabischen  Lab  el  käb  [li'b  al 
ka'b]:  [Dies]  „spielet  man  mit  kleinen  Knochen  aus  den  Gliedern  in  den  Beinen 
der  Schafe  oder  Ziegen  nach  gewissen  Regeln,  was  eine  jede  der  vier  Seiten, 
welche  oben  kömmt,  gelten  soll.  Dies  Spiel  hat  wahrscheinlich  Anlass  zur  Er- 
findung der  Würfel  gegeben." 

S.  49:  Von  italienischen  Bezeichnungen  des  Spieles  sind  nachzutragen: 
a  cincu  (bei  Pitre,  Giuochi  fanciulleschi  siciliani  iS«:!  p.  llii  no.  .")<J  beschrieben) 
—  alle  cinque  pietri  (Cosenza  in  Calabrien.  G  Steine,  der  sechste  „zum  Mit- 
spielen") —  aj  oss  (monferrinisch  bei  Ferraro,  Archivio  delle  tradiz.  pop. 
ital.  1,  I2(i).  —  a  li  pisuli  (=  Steinchen.  Pasqualino,  Vocabolario  siciliano  1.  1"24: 
„Fit  a  puerulis  humi  considentibus  et  manu  calculos  in  altum  proiicientibus,  ut 
arreptis  aliis,  qui  in  terra  sunt,  iterum  vola  decidentes  suscipiant."  Pitrü,  Giuochi 
p.  110  no.  54:  a  pigghialu,  a  petra  pigliari,  a  li  pitredduli,  a  pitrauta,  a  petranndru, 
a  scaggia  all'  autu,  a'  u  baddru,  a  li  vasti,  ö  picci,  e  novi  ä  mamma  etc.)  — 
a  spuraposta  (Pitre,  Giuochi  p.  112  no.  •").^:  auch  a  cuntrice,  pällice,  riinchiulo, 
'u  sciäuch  de  la  rugne,  a  cinque  sassi  a  ripigliare,  a  ripiglino,  a  breccetta,  a  garen, 
a  brüz,  a  pasadigg,  a  bagnetta,  a  pedinna,  a  galina  porta  in  ca,  a  maneta,  a  vira- 
nian  etc.).  Über  die  Namen  der  einzelnen  Gänge  und  die  dabei  üblichen  Reimi» 
gibt  Pitru  ausführlich  Nachricht. 

S.  50:  Die  spanischen  Bezeichnungen  'cornicoles"  und  'carvicol'  sind  natür- 
lich gleichbedeutend  mit  carnicoles').  —  Die  24  Teile  des  juego  de  las  Chinas 
(Steinchen)  beschreibt  R.  Marin''),  Cantos  populäres  espafioles  1882— iS3,  1,  89. 
150—159.    5,  38 — 40:    vgl.  Machado  y  Alvarez,  Archivio  delle  tradiz.  pop.  ital.  1, 


1)  Den  spanischen  Ausdruck  taba  leitet,  wie  Herr  Dr.  C.  F.  Seybold  bemerkt, 
Dozy  (Glo.ssairc  des  mots  espagnols  et  portugais  derivcs  de  l'arabe  1869  p.  341)  mit  Recht 
vom  arabischen  ka'ba  =  Knöchel  ab:  vgl.  Pedro  de  Alcalä,  Vocabulista  arävigo  en  letra 
castellana  (Granada  150.')):  carnicol  ka-ba.  Diese  nächstliegende  Etymologie  bestreitet 
Eguilaz  ((ilossario  ctimolügico  188G  p.  49(>)  und  denkt  an  das  arabische  täba  =  pelota, 
Ballschläger,  das  aber  erst  ein  modernes  Lehnwort  der  Araber  ist.  Ka'ba  ist  uns  ja  auch 
durch  die  heilige  Ka'ba  zu  Mekka  (Würfel,  Kubus,  Viereck)  geläufig. 

2)  Es  wird  von  Mädchen  mit  5  Steinen  gespielt.  In  Osuua,  i'rov.  Sevilla,  mit 
24  Gängen:  1.  A  mis  nadas  (man  wirft  1  Stein  (la  madre)  in  die  Höhe  und  rafft  die 
anderen  4  einzeln  auf  und  spricht  dazu:  'Nadita  una,  N.  dos,  N.  tros,  N.  fu6'). 
2.  A  mis  media.s  (2  Steine  aufgenommen,  dann  der  S.  und  4.).  :1.  A  mis  dos  condos. 
I.  A  mis  tros.  ö.  A  mi  pon.  (i.  A  nii  rcmudita  i,l  Stein  aufnehmen  und  zugleich  den 
früheren  faUen  lassen:  'Remudita,  Puntadita,  Chorro  chorro,  A  lu  madro  se  Kajorro',  dann 
wie  Nr.  1:  'Tu  eres  mia.  Tu  tambien,  Tii  ere'  'r  gato,  Pä  rebana  er  plato'). 
cuchillito  (mit  Versen).  8.  A  mi  calabozo.  9.  A  mi  pcrcgil.  10.  A  mi  pic. 
rodilla.  12.  A  mi  codo.  Vi.  A  mi  Senor  peque.  14.  A  mi  Senor  pecandero. 
garganta.  16.  A  mi  barba.  17.  A  mi  beso.  18.  A  mi  nariz.  19.  A  mis  ojos. 
Ircnte.  2L  A  mi  mira-cielo.  22.  A  mi  mira-suelo.  23.  A  barrer  la  casa. 
puentccito.  —  In  Ron  da,  Prov.  Malaga,  19  Gänge:  A  mi  una.  A  mis  do.«,  A  mis  tres, 
A  mis  todas,  A  mi  pica,  Mi  mostaza,  Senor  peqno,  Cuadrilito,  Sobaquitn,  .Vljofifa,  Agujita, 
Cazolita,  Trevcditas,  CuchillKo,  Dcdalito,  Horno,  Canipana,  Mis  todas  con  una  mano,  El 
clavel.  —  In  Fregenal,  Prov.  Badajoz,  7  Gänge,  von  denen  nur  einige  besondere  Namen 
führen  (El  pon,  La  polla,  El  arco).  —  InGuadalcanal,  Prov.  Sevilla,  6  Gänge.  —  In 
Zaragoza  mit  Reimversen. 


7. 

A  mi 

11. 

A  mi 

15. 

A  mi 

20. 

A  mi 

24. 

A  mi 

Kleine  Mitteilungen.  87 

'i^i — 288.  408 — 415.  —  Chinata  (E.  Pichardo,  Diccionario  de  voces  y  frases 
cubanas  1875  s.  v.). 

Portugiesisch:  Jogo  das  pedrinhas,  joco  das  mecas  (J.  Leite  de 
Vascoucellos,  TradiQoes  populäres  de  Portugal  1882  p.  98  nr.  221). 

Wallonisch:  jower  äx  ohion  (=  osselets.  J.  Delaite,  Glossaire  des  jeux 
vvallons  de  Liege  im  Bulletin  de  la  soc.  liegeoise  de  litterature  wallone  2.  serie 
14,  160.  1889,  der  auch  P.  Dillaye,  Les  jeux  de  la  jeunesse  zitiert). 

S.  ."Jl:  Aus  dem  deutschen  Sprachgebiete  kommen  hinzu:  Bickeln  (Caro, 
Nd.  Jahrbuch  32,  71:  am  Tisch,  4  Knöchel,  1  Ball).  —  Bomsern  (Roben, 
Kr.  Leobschütz,  Oberschlesien:  5  Steine.  Mädchen).  —  Drusch  (Martin-Lienhart, 
Wtb.  der  elsässischeii  Mundart  2,  7li6:  4 — 5  Steinchen  werden  nach  und  nach  in 
die  Höhe  geworfen  und  fallen  wieder  auf  den  konvexen  Teil  der  Hand,  während 
man  die  auf  dem  Tische  liegenden  schnell  mit  dem  konkaven  Teil  derselben  er- 
greift). —  Et  er  (Dirschau,  Westpreussen:  3  und  mehr  Bohnenringe).  —  Grap- 
stein  spielen  (Landsberg  a.  W.  5  Steine.  „Wenn  die  Kinder  mit  Steinen 
spielen,  wird  teuere  Zeit;  wenn  sie  mit  Lehm  spielen,  dann  wird  das  Brot 
billig").  —  Gruddeln  (Pr.-Holland,  Ostpreussen:  5  Steine  oder  ')  Päckchen  von 
je  5  aufgefädelten  Bohnen.  Mädchen  und  Knaben).  —  Jraspeln  (Nutheniederung, 
Kr.  Teltow).  —  Judenlöper,  Judenpaduk  (Hamburg.  Heckscher,  Mitt.  zur 
jüd.  Volkskunde  16,  108.  190.J.  Vgl.  Richey,  Hamburg.  Idiotikon  S.  10.>.  Schütze, 
Holstein  Idiotikon  3,  48.  204).  —  Kater  Lük  (Nd.  Korrespondenzblatt  26,  63. 
Prenssen,  Hilligenlei  1905  S.  183:  „Im  Winter  nach  dem  Schweineschlachten 
spielen  die  Kinder  Katerlücken").  —  Keducken  (Vietz  a.  Elbe,  Provinz  Han- 
nover). —  Knöcheln  (Guhrau,  Rb.  Breslau:  5  'Kalbsknorpel').  —  Knötschen 
(Priegnitz).  —  Knüll  (Reuter,  Werke  hrsg.  von  Seelmann  4,  132:  „Wir  spielten 
Ball,  Kreller,  Knüll").  —  Knut  (Neu-Ruppin  um  1826.  Th.  Fontane,  Meine 
Kinderjahre  1894  S.  55).^)  —  Kuttchen  fangen  (Güldenboden,  Westpreussen: 
5  Knöchel  oder  Steinchen  oder  Bohnenpäckchen.  Einerchen,  Zweierchen,  Dreierchen, 
Vierchen,  Pünfchcn.  Touren:  Wurstchen  schieben.  Töpfchen  fangen,  Grossvater, 
Grossmutter,  Pinger  eins  [mit  dem  kleinen  Pinger  der  rechten  Hand  den  Pang- 
stein  treffen],  Vielliebchen  [die  Pinger  beider  Hände  miteinander  verschränken, 
mit  den  Handflächen  den  Stein  aufwärts  werfen  und  ihn  mit  den  Handrücken 
fangen]  usw.).  —  Banken  (Nutheniederung,  Kr.  Teltow.  Auch  in  der  Nieder- 
lausitz).-) —    Paschen,  Pasch  spielen  (Grünberg).    —    Paxen  (Schönewald  in 


1)  [Ein  Dielenloch  iu  der  Kinderstube]  „wurde,  wenn  wir  bei  schlechtem  Wetter 
nicht  hinaus  konnten,  zum  bevorzugten  Spielplatz  für  uns  Kinder,  wo  wir  mit  vier  würfel- 
förmigen Steinen  unser  Liebliugsspiel  spielten.  Dies  Liebliugsspiel  hiess  Knut,  war  also 
vielleicht  dänischen  Ursprungs  und  lief  darauf  hinaus,  dass  mau,  den  vierten  Stein  hoch 
in  die  Luft  werfend,  ihn  im  Niederfallen  unter  gleichzeitigem  Aufraffen  der  im  Sande 
liegen  gebliebenen  drei  anderen  Steine,  wieder  auffangen  musste." 

2)  Haupt  u.  Schmaler,  Volkslieder  der  Wenden  2,  2-26  (1843)  bemerken:  „Das 
Panken,  Penken  (panka,  die  Schale;  pankowae)  geschieht  mit  den  Schalen  von  Hasel- 
nüssen, welche  in  die  Höhe  geworfen  und  mit  der  Hand  aufgefangen  werden.  Manche 
dieser  Schalen  sind  zierlich  ausgeschnitten,  und  diese  haben  den  Vorrang  vor  den  übrigen. 
Das  Nähere  dieses  Spieles,  welches  vom  Kottbuser  Kreise  an  bis  Finsterwalde  und  in  das 
Deutsche  hinein  gebräuchlich  ist,  blieb  uns  unbekannt."  —  Nach  Pfuhl  (Lausitzisch- 
wendisches  Wörterbuch  1S66  S.  444)  heisst  bei  den  Oberlausitzer  Wenden,  jedenfalls  im 
Königreich  Sachsen,  ein  Spiel  „mit  Nussschalen  werfen"  pankowae.  —  Zwahr  (Nieder- 
lausitz-wendisches Wörterbuch  1847)  berichtet:  „Pan,  obsolet.  =  Herr,  kommt  nur  noch  in 


88  Lemki'  und  lioltc: 

der  Neumark,  Kr.  Oststernberg).  —  Sinipati  schupi'on  (Wien:  5  Steine).  — 
Stana  scliupfen  (Wien:  1 — 6  Steine.  Mädchen  und  Knaben).  —  Steinchen 
fangen  (Landkreis  Königsberg  i.  Pr.:  j  Steine).  -  Stollen  werfen  (Wien: 
5  'Stollen'  vom  Pferde). 

S.  G'2:  Schwedisch:  spcla  knack  (um  170(1):  att  pjexa  oder  pjäksa, 
spela  pjexa;  kasta  sten,  stenspelet. 

S.  64:  Zu  dem  wendischen,  um  Muskau  üblichen  Ausdrucke  'Kamuskowaii' 
kommt  das  in  der  vorigen  Anmerkung  erwähnte  pankowac.  —  L'ber  das 
polnische  Bierki-Spiel  ist  die  S.  91  folgende  Darlegung  von  Prof  E.  Schnippe! 
zu  vergleichen. 

S.  6j:  Russisch:  Igra  w  kamnini  =  Steine  spielen  (Astrachan:  1.^  oder 
weniger  glatte,  aus  dem  Wasser  genommene  Steine). 

Von  dem  arabischen  Spiele  Laqüt  au  bilxami,  bei  dem  man  einen 
Stein  oder  Knöchel  in  die  Höhe  wirft  und  vier  andere  aufnimmt,  gibt  Tallqvist 
(Arabische  Sprichwörter  und  Spiele,  Ilelsingfors  1S97,  S.  143 — 145)  eine  aus- 
führliche Beschreibung  und  führt  auch  den  Namen  la'b  el-liusa  =  jeu  de  galet 
Rieselsteinspiel  (nach  Almkvist,  Kleine  Beiträge  zur  Lexikographie  des  Vulgär- 
arabischen lö91  S.  427  und  Nofal,  Guide  de  la  conversation  arabe  et  frangaise, 
Beyrouth  1S92  p.  220)  an.  Dagegen  gehört  das  oben  S.  86  zitierte  li'h  al-ka'b 
zu  den  anderen  Astragalenspielen,  die  so  häutig  mit  dem  Fangstoinchenspiele  ver- 
wechselt werden. 

Unter  den  Sioux-Indianern  Nordamerikas  führt  unser  Spiel  den  Namen 
Woskate  tasihe,  game  with  foot  bones  (R.  Walker,  Journal  of  american  folk- 
ore  18,  288.  1905).  Wenn  aber  im  Elsässischon  Wörterbuch  von  Martin- 
Lienhart  2,  7()()  behauptet  wird,  auch  Chateaubriand  habe  dies  Spiel  bei  den 
Indianern  gesehen,  so  scheint  diese  Behauptung  auf  einer  Verwechselung  des 
Fangsteinchenspiels  mit  einem  Würfelspiele  zu  beruhen,  das  Chateaubriand  1791 
bei  den   Inilianern  beobachtete  und  im  'Voyage  en  Amerique'')  beschreibt. 

Berlin.  Elisabeth  Lemke  und  .1.   Holte. 

einem  Hirtenspielc  vor,  d;is  mit  Haselnusssclialcn  (pauki),  nach  Art  des  Spieles  mit  fünf 
runden  Steinchen,  gespielt  wird.  Die  Höhe  des  ersten  Wurfes,  bei  dem  man  die  Formel 
'Moj  pan  bogaty  chojzi  pojsy  rogaty' ,  d.  i.  Mein  reicher  HeiT  geht  gehörnt 
einher,  ausspricht,  bestimmt  allemal,  wer  das  Spiel  eröffnet,  das  paukowac  ge- 
nannt wird." 

1)  Chateaubriand,  Oeuvres  completes  ü,  lS4f.  (1827):  „Au  jeu  des  osselcts,  appele 
aussi  le  Jen  du  plat,  deux  joueurs  senls  tiennont  la  main:  le  reste  des  joneurs  parle  pour 
ou  contre:  Ics  deux  adversaires  ont  chacun  leur  marqueur.  La  partie  se  joue  sur  une 
table  ou  simplement  sur  le  gazon.  Las  deux  joueurs  qui  tiennent  la  main  sont  pourvns 
de  six  ou  huit  dez  ou  osselets,  rcssemblant  ä  des  noyaux  d'abricot  taillos  ä  six  faces 
inegales;  Ics  deux  plus  largos  faces  sont  pointes  rnne  en  blanc,  Tautre  en  noir.  Les 
osselets  se  mülent  dans  un  plat  de  bois  un  pcu  concavc:  Ic  jouenr  fait  pirouetter  ce  plat; 
puis  frappant  sur  la  table  ou  sur  le  gazon,  il  fait  sauter  cn  l'air  les  osselets.  Si  tous 
les  osselets,  en  tombant,  pruscntent  la  memc  couleur,  celui  qni  a  joue  gagne  cinq  points; 
si  cinq  osselets  sur  six  ou  huit,  amenent  la  münie  couleur,  le  joueur  no  gagne  qu'uu  point 
pour  la  premiere  fois;  mais  si  le  mcme  joueur  repete  le  meme  coup,  il  fait  ralle  de  tont, 
et  gagne  la  partie,  qui  est  en  quarante.  A  mesurc  que  l'on  prend  des  points,  on  cn 
defalque  autant  sur  la  partie  de  Tadvcrsaire.  Le  gagnant  coiitinue  de  tenir  la  main:  le 
perdant  cede  sa  place  ä  Tun  des  parieurs  de  son  cötc,  appele  i  volonte  par  le  marqueur 
de  sa  partie"  etc. 


Kleine  Mitteilungen.  39 

Drei  russische  Wurfspiele  mit  Knöchelu. 

In  meinem  Aufsatze  über  das  Pangsteinchenspiel  (oben  16,  6.j)  erwähnte  ich, 
dass  man  in  Astrachan  mit  fünf  Schafknöchein  'Altschiki'  spielt.  Hier  kann  ich 
über  drei  andere  russische,  in  Astrachan  übliche  Spiele  mit  Schafknöcheln  be- 
richten, bei  denen  es  sich  jedoch  um  Werfen  nach  dem  Ziele  handelt. 

I.  Altscha. 

Vorzugsweise  von  Knaben  gespielt.  Die  Anzahl  der  zum  Teil  gefärbten 
Knöchel  richtet  sich  nach  Anzahl  und  Wunsch  der  Beteiligten.  Die  Knöchel 
werden  gewöhnlich  mit  der  von  Ostern  (d.  h.  vom  Eierfärben)  übriggebliebenen 
Farbe  gefärbt.     Unser  Beispiel  führt  zwei  Spieler  vor:  X.  und  Y. 

„Wieviel  werden  wir  stellen?  Zu  eins,  zu  zwei,  zu  fünf?"  Es  sind  jedem 
höchstens  sechs  Kniichel  gestattet.  X.  und  Y.  haben  je  zwei  Knöchel  gestellt, 
die  hintereinander  stehen.  Ihre  Wurfknöchel,  die  mit  Blei  gefüllt  sind,i)  müssen 
vorschriftsmässig  in  der  rechten  Hand  gehalten  werden.  Der  Daumen  ruht  auf 
der  Knöchelflächc,  die  tagan  heisst,  d.  i.  die  einigerraassen  glatte  (und  geglättete) 
Fläche,  die  auf  der  Abbildung  oben  IG,  65  als  2  bezeichnet  ist;  der  Zeigefinger 
auf  altscha,  d.  i.  die  entgegengesetzte,  ausgehöhlte  Seite  (oben  16,  65  als  1  be- 
zeichnet). Man  hat  den  Knöchel  sehr  locker  zu  halten,  aber  nur  in  seiner  vorderen 
Hälfte,  und  ihn  so  lange  wie  ein  rollendes  Rädchen  sich  drehen  zu  lassen  (wobei 
der  dritte  Pinger  unterwärts  nachhilft),  bis  man  sich  sicher  fühlt,  die  vier  (oder 
mehr)  aufgestellten  Knöchel  zu  treffen.  Bevor  das  eigentliche  Spiel  beginnt,  sind 
noch  andere  Fragen  zu  entscheiden. 

1.  X.  wirft  seinen  mit  Blei  gefüllten  Knöchel  geradeaus  vor  sich  hin,  d.  h.  in 
der  Richtung  auf  die  aufgestellten  Knöchel;  Y.  wirft  hinterher.  Stossen  diese 
zwei  Knöchel  aus  Versehen  zusammen,  so  hält  man  sie  der  Länge  nach  neben- 
einander I  I,  um  mit  ihnen  zu  würfeln.  Derjenige,  dessen  Knöchel  auf  tagan  oder 
altscha  steht,  beginnt  nun  das  Spiel.  Wenn  sich  die  Knöchel  nicht  treffen,  spielt 
derjenige  zuerst,  dessen  Knöchel  weiter  von  den  vier  aufgestellten  liegt.  Nach 
diesen  vier  Knöcheln  wird  geworfen. 

Es  kann  nun 

a)  X.  verfehlen.     Y.  schlägt  einen  Knöchel  oder  mehr  heraus;  er  hat  das 
Spiel  gewonnen  und  erhält  alle  vier  Knöchel. 

b)  Beide  verfehlen.    Dann  fängt  das  Spiel  von  neuem  an. 

c)  X.  trifft  sogleich  und  gewinnt  alles. 

Der  Gewinner  lässt,  wenn  nun  das  Spiel  fortgesetzt  wird,  2  der  gewonnenen 
Knöchel  als  Einsatz  stehen,  1'  steckt  er  in  die  Tasche.  Wer  verspielt,  muss  aus 
seinem  Vorrat  die  zwei  Satzknöchel  liefern. 

2.  ,Wenn  einer  der  zum  Beginn  geworfenen  Knöchel  auf  dem  tagan  steht, 
muss  sein  Besitzer  einen  Knöchel  zusetzen,  der  seinen  Platz  rechts  oder  links  von 
den  vier  aufgestellten  Knöcheln  erhält.  Wenn  jedoch  der  Knöchel  auf  altscha 
steht,  dann  erhält  sein  Besitzer  von  dem  zweiten  Spieler  einen  Knöchel.  Falls 
viele  spielen,  haben  alle  jedem,  dessen  Knöchel  auf  altscha  steht,  je  einen  Knöchel 
zu  liefern. 


1)  Der  Knöchel  ist  etwa  70  mm  weit  dm-chbohrt;  es  ist  gleich,  in  welcher  Richtung 
und  ob  einmal  oder  mehrfach,  ob  durchgehend  oder  nicht.  Das  Blei  erscheint  wie  ein 
eingeschlagener  dicker  Nagel. 


90  ,  Lemke: 


2.  Ssakamanei. 

Auch  dieses  Spiel  ist  besonders  bei  Knabe»  beliebt.  Es  kiinnen  sich  viele 
daran  beteiligen;  es  seien  aber  hier  nur  zwei  Spieler  gedacht.  Die  Anzahl  der 
Knöchel  wird  vorher  bestimmt.  Wer  anfangen  soll,  hängt  nur  von  Verabredung 
ab;  Würfeln  findet  nur  in  Streitfällen  statt.  Es  ist  nicht  üblich,  die  Wurfknöchel 
zur  Entscheidung  auszuwerfen  wie  beim  .Mtschuspiel. 

Zunächst  wird  ein  etwa  1'/^ '«  i™  Durchmesser  aufweisender  Kreis  im  Sande 
gezogen.  X.  nimmt  zwei  Knöchel  und  legt  sie  genau  in  die  Mitte  des  Kreises.  -^ 
Y.  legt  zwei  darüber,  .j^  Wenn  sehr  viele  Spieler  sind,  formt  man  den  Bau 
meistens  nicht  mehr  kreuzweise,  sondern  aufs  Geratewohl.  In  jedem  Fal^  jedoch 
wird  streng  darauf  geachtet,  dass  es  die  Mitte  des  Kreises  sei.  Bei  jedem  Wurf 
soll  man  —  aus  verabredeter  Entfernung  —  nicht  nur  diese  aufgebaute  Figur 
treffen,  sondern  es  müssen  auch  allemal  Knöchel  aus  dem  Kreise  fliegen; 
mindestens  muss  ein  Knöchel  hinausbefördert  werden.  Wurde  gar  kein  Knöchel 
'hinausgeschlagen',  so  hat  man  das  Ganze,  das  wohl  etwas  oder  mehr  erschüttert 
wurde,  wieder  aufzubauen,  wonach  der  nächste  Spieler  an  die  Reihe  kommt.  Hat 
X.  vielleicht  zwei  Knöchel  hinausbefördern  können,  so  steckt  er  diese  in  die 
Tasche,  um  dann  von  der  Stelle  aus  nocii  einmal  zu  werfen,  wo  sein  Wurf- 
knöchcl  liegt.  Dann  zielt  er  auf  die  liegen  gebliebenen  Knöchel.  Er  kann  beide 
zusammen  trelTen.  Trifft  er  aber  nur  einen,  so  muss  er  danach  auf  den  zweiten 
zielen.  Wenn  er  keinen  trifft,  dann  zielt  Y.  nach  den  zweien.  Y.  'schlägt'  in 
diesem  Falle  vom  Rand  des  Kreises  aus,  aber  auch  wenn  nur  ein  Knöchel  von  X. 
weggeschleudert  wurde.  Dies  geschieht  auch,  wenn  viele  Mitspieler  und  demnach 
viele  Knöchel  sind. 

Wenn  Y.  gewonnen  hat,  sein  Wurfknöchcl  aber  zu  weit  vom  Kreise  entfernt 
liegt,  so  benutzt  er  den  vielleicht  dem  Kreise  nähcrliegenden  Wurfknöchel  von 
X.,  d.  h.  er  zielt  auf  diesen,  um  ihn  zu  berühren.  Durch  das  Berühren  gewinnt 
Y.  das  Recht,  seinen  Wurf  knöchel  auf  den  vom  'feindlichen'  Knöchel  verlassenen 
Platz  zu  legen  und  den  'Verjagten'  auf  den  Rand  des  Kreises'  zu  stellen,  um  ihn 
mit  seinem  Wurfknöchel  dort  hinaus  und  aus  dem  gesamten  Spielbereich  zu 
treiben.  (Vor  Beginn  des  Spieles  wird  festgesetzt,  wie  oft  dies  feindliche  Vor- 
gehen -  es  kann  nämlich  sofort  ein  paarmal  hintereinander  ausgeführt  werden, 
falls  der  feindliche  Knöchel  nicht  fern  genug  flog  —  gestattet  sei;  gewöhnlich 
heisst  es:  dreimal).  Wenn  ein  getroffener  Knöchel  (gleichviel  wie  viele  noch 
stehen)  auf  den  Rand  des  Kreises  kommt,  muss  man  mit  ihm  würfeln.  Steht  er 
dann  auf  altscha  oder  tagan,  so  steckt  man  ihn  in  die  Tasche;  steht  er  auf  dschik 
oder  bug,  so  legt  man  ihn  wieder  in  den  Kreis.  Bei  jedem  Wurf,  sowohl  am 
Anfang  wie  mitten  drin  wie  am  Ende,  muss  man  sagen:  Ich  will  in  den  manei 
treffen,  d.  s.  die  Knöchel  innerhalb  des  Kreises;  oder:  Ich  will  in  die  ssakä') 
treffen,  d.  i.  der  Knöchel  eines  anderen.  Der  zuerst  Werfende  kann  nur  in  den 
noch  unberührten  manei  werfen. 

3.  Cidjätechaja. 

Von  Mädchen  und  Knaben,  meist  aber  von  letzteren,  und  von  beliebig  vielen 
Parteien  gespielt.  Wenn  man  beim  Spielen  sitzt,  spricht  man  vom 'Sitzspiel'.  Jeder 
nimmt  einen,    zwei  oder    mehr  Knöchel,    die  nach  Verabredung  geworfen  werden. 


1)  Sowohl  bei  Altscha  wie  bei  Ssakümanei  hcissen  die  Wurfknöchcl  ssakä. 


Kleine  Mitteilungen.  91 

Altscha  ist  das  höchste  und  'nimmt'  die  dschiks;  bei  tagan  muss  ein  Knöchel 
'aus  der  Tasche'  zugelegt  werden;  wenn  tagan  und  altscha  zusammentreffen,  so 
heisst  es,  der  Spieler  sei  gestorben  (man  drückt  sich  aber  drastischer  aus)  und 
könne  nicht  weiterspielen. 

Berlin.  Elisabeth  Lemke. 


Das  ostpreussische  Hölzchen-  oder  Klötzchenspiel. 

In  dem  wertvollen  und  umfassenden  Aufsatze  über  das  Fangsteinchenspiel 
(oben  16,  64')  erwähnt  Frl.  E.  Lemke  u.  a.  auch  das  von  ihr  als  , polnisch'  be- 
zeichnete Bierki-Spiel.^)  Es  ist  der  gelehrten  und  um  die  Volkskunde  Ost- 
preussens  so  verdienten  Verfasserin  dabei  auffallenderweise  entgangen,  dass  dieses 
Spiel,  das  eine  besonders  interessante  und  nach  verschiedenen  Richtungen  hin 
merkwürdige  Weiterbildung  des  alten  Knöchelspiels*)  darstellt,  noch  bis  vor  kurzem 
in  dem  grössten  Teile  von  Ostpreussen  ziemlich  allgemein  üblich  gewesen  ist,  ja 
nach  zuverlässigen  Mitteilungen  auch  jetzt  noch,  wenngleich  seltener  und  nur  ver- 
einzelt auf  dem  Lande,  nach  alter  Art  gespielt  wird,  auch  wo  niemals  Polen  hin- 
gekommen sind.  So  vor  20 — ^30  Jahren  nach  den  Berichten  meiner  Gewährs- 
männer, d.  h.  vor  allem  meiner  Schüler  und  Kollegen,  namentlich  bei  Wehlau, 
Zinten,  Heiligenbeil,  Drengfurt  und  im  ganzen  Süden  der  Provinz,  noch  gegen- 
wärtig bei  Rössel  im  Ermlande,  in  gewissen  Teilen  Masurens  und  im  ost- 
preussischen  Oberlande,  zumal  dem  'Holzlande',  d.  h.  der  Gegend  der  grossen 
Wälder  im  Kreise  Osterode. 

Ich  bin  in  der  Lage,  nicht  nur  nach  einem  vollständigen  Exemplar  eines 
solchen  Spieles  vom  Jahre  1905  (aus  Alt-Marxöwen,  Kreis  Orteisburg),  das  der 
Osteroder  Gymnasialsammlung  gehört,  unter  1.  eine  Abbildung  der  dazu  erforder- 
lichen Klötzchen  in  -/j  Grosse  zu  geben,  sondern  auch  nach  genaueren  Ermitt- 
lungen über  das  Spiel  selber  nachfolgendes  zu  berichten.  Gebraucht  werden  dazu 
in  der  Regel  lil  Paar  Hölzchen  oder  Klötzchen,  zusammen  also  38  Stück.  Eine 
wunderliche  Zahl,  die  sich  aber  sehr  einfach  daraus  erklärt,  dass  ein  Paar 
'doppelt  gilt',  also  zusammen  20  Paar  gerechnet  werden  müssen  — wahrschein- 
lich weil  beim  Fünfsteinspiel  meist  ja  vier  Spieler  tätig  und  für  jeden  derselben 
5  Paar  gerechnet  wurden.^)  Eine  noch  grössere  Zahl  als  38,  wie  sie  der  'alte 
Pole'  Frl.  Lemke  angab,  entsprang,  wie  es  scheint,  nur  persönlicher  Liebhaberei 
oder    willkürlicher    Übertreibung,    obwohl    mir    z.  B.    auch    aus  Thierberg,    Kreis 


1)  Bierki,  Plm-.  von  Bierka,  dem  Dim.  von  Biera,  bezeichnet  ganz  allgemein  die 
Spielsteine,  allerdings  auch  u.  a.  Schachfiguren,  Damensteine  usw.  Die  Abstammung  des 
Wortes  ist  dunkel. 

2)  Auch  im  ostpreussischen  Oberlande  benutzten  die  Kinder  früher  mit  Vorliebe 
beim  Fünfsteinspiel  gewisse  vom  Sonntagsbraten  gerettete  Schwanzwirbelknochen  vom 
Schöps  usw.  Jetzt  werden  namentlich  auch  zu  Kniiueln  zusammengebundene  kugelförmige 
Schuh-  oder  üachrunde  hörnerne  Hosenknöpfe  verwandt. 

3)  Eine  Anlehnung  an  die  32  Figuren  des  Schachspieles  erscheint  weniger  wahr- 
scheinlich, wenngleich  vielleicht  ursprünglich  bei  der  Gestaltung-  einiger  Figuren  (Königl) 
auch  gewisse  Figurenpaare  des  Schachspieles  vorgeschwebt  haben  mögen.  Ob  die  ver- 
einzelt vorkommende  Bezeichnung  Bauernscbach  oder  Sehacht  spiel  [!]  sich  auf  das 
vorliegende  Spiel  bezieht,  war  nicht  mit  Sicherheit  zu  ermitteln. 


d-2 


Schnippcl: 


Osterode,  wo  'der  Hirt,  der  Knecht  und  der  Kutscher'  das  Spiel  zusammen  spielten 
(1904!)  und  der  Knecht  die  Hölzchen  selber  ijüsehnilzt  hatte,  berichtet  wird,  dass 
dieser  'immer  die  ganze  Tasche  volT  von  solchen  gehabt  habe.  Wodurch  die 
Zahl  immerhin  beschränkt  ist,  wird  sich  unten  ergeben. 

Wie  das  Spiel  von  Kindern  sowohl  als  von  Erwachsenen  jedes  Alters  gespielt 
wird,  so  werden  auch  die  Figuren  von  den  verschiedensten  Verfertigern  hergestellt, 
namentlich  aber  von  alten  Schäfern,  von  besonders  geschickten  Hirten-  und  Hüte- 


1.    Hölzchenspiel  aus  Alt-Marxöweu,  Kr.  Orteisburg. 


jungen,  die  viel  Müsse  haben,  zum  Zeitvertreib,  aber  auch  von  Mägden,  Schul- 
kindern usw.  Naturgemäss  aus  den  dazu  geeignetsten  Holzarten,  wie  sie  in  der 
ostpreussischen  Landschaft,  zumal  im  nahen  Walde,  zur  Hand  waren.  Früher 
öfters  aus  dem  Holze  des  'Spillbaumes",  d.  h.  des  richtigen  Spindelbaunics  (Euo- 
nymus  europacus,  auch  PfafTenhütlein  genannt),  aus  dem  im  benachbarten  Russ- 
land, z.  li.  bei  Bialystok,  noch  jetzt  die  Spindeln  gefertigt  werden  und  der  nicht 
zu  verwechseln  ist  mit  der  Prunus  insititia,  deren  Früchte  auch  bei  uns  'Spillen' 
genannt  werden.  Dessen  Holz  ist  hart  und  zäh,  aber  fest  und  gut  zu  schnitzen. 
Oft  auch  aus  Weidenholz,  das  weich  und  leicht  zu  bearbeiten  und  zumal,  was 
sehr  wünschenswert  ist,  besonders  leicht  an  Gewicht  ist,  am  richtigsten  aber  aus 
dem  Haselstrauch!  Der  'ist  so  schon  weiss  im  Holz'  und  'lässt  sich  am  besten 
verzieren',  wie  auch  Abb.  2  zeigt.  Die  in  Abb.  1  abgebildeten,  recht  rohen 
Klötzchen  sind  freilich  aus  ganz  gemeinem  Kiefernholz! 


Kleine  Mitteiluiigeu.  93 

Mit  dem  Schwinden  der  Fertigkeit  des  volkstümlichen  Hnlzschnitzens,  das  ja 
sehr  mannigfache  Ursachen  hat,  ist  allerdings  nunmehr  auch  das  Schnitzen  dieser 
Hölzchen  und  damit  auch  das  Spiel  selber  mehr  und  mehr  geschwunden.  Ur- 
sprünglich aber  wurden  die  einzelnen  Figuren  mit  einer  gewissen  Liebe  und  mit 
unverkennbarer  Sorgfalt  hergestellt  und  auch  verziert,  namentlich  mit  einem  boden- 
ständigen und  originellen  Kerbschnitt.  Abb.  2,  deren  Originale  aus  der  Gegend 
von  Grasnitz,  Kreis  Osterode,  stammen,  gibt  davon  nur  eine  schwache  Vorstellung. 
Die  vier  Seiten  jedes  Klötzchens  mussten  jede  mit  anderen  Einkerbungen  ver- 
sehen werden,  und  man  wetteiferte  geradezu  in  der  Erfindung  der  Muster  und  in 
der  Mannigfaltigkeit  der  Verzierungen  in  dieser  zwar  primitiven,  aber  volkstüm- 
lichen Kunstübung. 

Ein  besonderer  alteinheimischer  Name  des  Spieles  ist  mir  bisher  noch  nicht 
vorgekommen.  'Holzkespeel'  im  Natangschen  ist  natürlich  nur  die  plattdeutsche 
Form  der  modernen  'gebildeten'  Bezeichnung.  Dagegen  haben  sehr  viele,  ur- 
sprünglich wohl  alle  einzelnen  Figuren  besondere  Namen.  Denn  wie  ein  Blick 
auf  Abb.  1  zeigt,  sind  sie  zweifellos  zum  grössten  Teil  zurückzuführen  auf  die 
Bilder  ganz  bestimmter  Gegenstände,  worauf  denn  auch  eben  jene  Namen  meist 
hinzuweisen  scheinen    —    wenngleich    es  natürlich  nicht  ausgeschlossen    ist,    dass 


i.  Hölzchenspiel  aus  Haselholz. 

man  auch  nachträglich  nach  irgend  einer  Forraenähnlichkeit  neue  Namen  erfunden 
hat.  Wie  die  Figuren  selber,  die  ja  in  ihrer  charakteristischen  Eigenart  mög- 
lichst leicht  unterscheidbar  sein  mussten,  sich  an  den  verschiedensten  Stellen  in 
überraschend  gleichmässiger  Form  vorfinden,  sind  denn  auch  die  Namen  der 
einzelnen  Paare  überall,  wo  das  Spiel  gespielt  ward  und  wird,  meist  die  gleichen. 
Bisher  habe  ich  die  folgenden  ermitteln  können:  König  (das  mittelste  Paar 
oben),  Herzog,  Mann,  AV^eib,  Schornsteinfeger,  Säge  (in  runder  und  eckiger  Form, 
siehe  die  am  weitesten  rechts  und  links  liegenden  Stücke),  Bock  und  Stiefelknecht 
(das  an  beiden  Enden  schräg  eingeschnittene  und  quergekerbte  Paar),  wobei  mir 
freilich  für  manche  Bezeichnungen  jegliche  Erklärung  fehlt. ^)  Die  Zahl  der  Spieler 
kann  von  zwei  bis  zu  acht  betragen,  meist  sind  es  jedoch  nur  etwa  drei  bis  fünf. 
Dass  vier  die  Normalzahl  gewesen  zu  sein  scheint,  ist  schon  oben  bemerkt 
worden. 


1)  Nachträglich  sind  mir  noch  genannt  worden:  Kronprinz,  Hund,  Ziege  (danach 
vielleicht  Kos'chen  =  Zickleinspiel?),  Uach  und  Halbdach,  Stuhl,  Mangelholz,  einfacher 
und  doppeltt'r  Stiefelknecht,  Puppe,  Semmel,  Stiefel,  Brett,  Beil,  Steckenpferd,  Zeiderpfahl 
(Frischbier,  Ostpreuss.  Wtb.  unter  Tider  und  zoidern)  u.  a.  —  Ein  vollständiges,  doch  nur 
aus  lii  Paaren  bestehendes  Spiel  v.  J.  1906,  das  ich  nachträglich  aus  Thierberg,  Kreis 
Osterode  erhielt  und  dem  Berliner  Museum  für  deutsche  Volkstrachten  überwies,  enthält 
folgende  Figuren,  die  mehrfach  von  den  sonstigen  abweichen  :  je  zwei  'Suwaden',  d.  h. 
Hexen,  die  doppelt  gelten,  Könige,  Kronprinzen,  Fischer,  Hunde,  Hündinnen,  Bullen,  Kühe, 
Pferdemähnen,  Stampen,  d.  h.  Graupen-  oder  Grützstampftröge,  Stühle,  Sägen  und  Ton- 
oder Tombretter,  d.  h.  seitliche  Einsatzbretter  von  Leiterwagen  (s.  auch  Tombank  bei 
Frischbier,  Wtb.),  alles  bezeichnend  für  das  ländliche  'Kulturrailieu'  der  Spieler. 


<)4  Höfler: 

Die  Spielregel  selber  ist  eine  seit  alters  feststehende  und  in  den  Tcrschiedenen 
Landschal'ten  wiederum  ganz  merkwürdig  übereinstimmende,  so  dass  man  ver- 
sucht sein  könnte,  an  einen  einzelnen  einstigen  Erfinder  des  Spieles  zu  denken. 
Der  Kern  der  Sache  ist  allerdings  auch  hier,  dass  von  den  mit  der  Handflüche 
emporgeworfenen  Klötzchen  möglichst  viel  mit  dem  Rücken  der  Uand  aufgefangen 
werden  müssen,  doch  müssen  nun  hier  stets  möglichst  viele  zusammengehörige 
Paare  aufgefangen  werden.  Zunächst  wird  die  Reihenfolge  der  Spieler  festgestellt, 
indem  jeder  von  ihnen  sämtliche  Klötzchen  (danach  ist  Zahl  und  Grösse  der 
letzteren  eben  eine  beschränkte!)  in  die  hohle  Hand  nimmt  und  möglichst  viele 
davon  mit  dem  Handrücken  aufzufang(;n  sucht.  Wer  dabei  die  meisten  Paare 
aufgefangen  hat,  beginnt  das  Spiel,  die  andern  folgen,  je  nachdem  von  ihnen  mehr 
oder  weniger  Paare  erwischt  sind.  Nun  wird  in  derselben  Weise  fortgespielt. 
So  lange  der  erste  Spieler  'Paare  fängt',  darf  er  diese  beiseite  legen  und  weiter- 
spielen; gelingt  ihm  ersteres  einmal  nicht,  so  hört  er  auf  und  der  nächste  beginnt 
in  gleicher  Weise  mit  allen  Klötzchen  zu  spielen,  bis  seine  Kunst  ebenfalls  einmal 
versagt  —  und  so  kommen  der  Reihe  nach  alle  Spieler  heran.  Wenn  auch  der 
letzte  einmal  'kein  Paar  gefangen  hat',  so  versucht  wieder  der  erste  mit  der  ver- 
ringerten Zahl  der  Klötzchen  von  neuem  sein  Heil  und  so  fort,  bis  einer  sämt- 
liche Paare  hat  ausscheiden  können  und  damit  gewonnen  hat.  Wer  alsdann  die 
wenigsten  Paare  aufgefangen  hat,  der  hat  verloren  und  wird  'gestempelt',  d.  h.  es 
wird  ihm  die  gekerbte  Querfläche  oder  auch  wohl  die  scharfe  Kante  eines 
Klötzchens  möglichst  fest  auf  den  Rücken  der  rechten  Hand  eingedrückt,  und  das 
ist  dann,  namentlich  unter  jungen  Burschen  und  Mädchen,  der  llauptspass.  Dass 
um  irgend  einen  ausgesetzten  'Preis'  gespielt  worden  wäre,  habe  ich  nicht  er- 
fahren.^) 

Osterode,  Ostpr.  Emil  Schnippel. 


Ein  Johannisbanm  in  den  Pyrenäen. 

Von  Sr.  Exzellenz  Herrn  General  Rathgen  erhielt  ich  beifolgende  Photo- 
graphie eines  Johannisbaumes  mit  nachfolgenden  Begleitzeilen: 

Bei  der  wunderbaren  alten  Kirche  von  St.  Aventin  pres  Luchon  (Pyrenees),  in 
deren  Mauern  gallo-römische  Votivsteine  mit  Barbarennamen  eingemauert  sind 
ausser  sonstigen  römischen  Baustücken,  fand  ich  auch  einen  Johannisbaura. 
Eine  dicke  Tanne,  etwa  8 — 10  w  hoch,  deren  geschälter  Stamm  mit  dem  dünnen 
Ende  eingegraben  ist,  während  das  dickere  Ende  aus  dem  Boden  herausragt. 
Dieser  ganze  frei  aufragende  Teil  des  rindenlosen  Holzpfahles  ist  durch  zahl- 
reiche, verhältnismässig  dünne  Längsstreifen,  die  von  unten  aus  sich  abgabein 
oder  Zwieseln,  so  auseinander  zerfasert,  zerlegt  oder  gespalten,  dass  durch  ein- 
getriebene Holzkeile  zwischen  den  Längsstreifen  in  der  Mitte  oder  Achse  des 
Baumstammes    sich    ein  Hohlraum    bildet;    diese    Längsfasern    würden    sich    nach 


1)  [Beim  Späuclienspiel  der  Litauer  (Tetzncr,  Die  Slawen  in  Deutschland  19u2 
S.  87)  setzt  jeder  Mitspieler  5  Kopeken  und  nimmt  dann  der  Reihe  nach  die  12  gleich 
kleinen  und  das  grössere  (Karalus)  Holzspänehen  in  die  Lohle  Hand,  -wirft  sie  in  die 
Hohe,  fängt  sie  mit  dem  Handrücken  auf  und  wirft  die  auff,'cfangencn  alsbald  wieder 
hoch,  um  sie  mit  offener  Hand  aufzufangen.  Wieviel  Spänchen  er  aufgefangen  hat,  soviel 
erhält  er  Kopeken.    Der  König  (Karalus)  gilt  2,  der  König  allein  1-.] 


Kleine  Mitteilunffen. 


95 


oben  ast-  oder  fächerförmig  auseinander  begeben,  wenn  sie  nicht  am  oberen 
Ende  ganz  oben  durch  Blumengirlanden  zusammengehalten  würden,  die  sich  von 
unten  nach  oben  hinaufwinden  und  das  zu  oberst  befindliche  Kreuz  schmücken. 
Der    Baum    wird    am    Johannistag    feierlich    aufgerichtet,    bleibt    das   Jahr    über 


Johannisbaum  aus  St.  Aventin  bei  Luehon,  Pyrenecs. 

stehen  und  wird  am  Abend  vor  Johannis  feierlich  verbrannt.  Die  Geistlich- 
keit nimmt  stellenweise  an  dieser  Feier  teil.  Es  soll  dies  allgemein  verbreitete 
Sitte  sein." 

Es  handelt  sich  also  um  einen  Weihnachtsbaum  der  Sommersonnenwende;  vgl. 
W.Mannhardt,  Wald-  und  Feldkulte  1,244.   [Sübillot,  Folklore  de  France  3,  401  f.] 

Bad  Tölz.  Max  Hofier. 


Zum  St.  Coronagebet  (oben  15,  423). 

Schon  in  meinem  'Jahr  im  oberbayerischen  Volksleben'  S.  21  unterm  14.  Mai 
habe  ich  angeführt,  dass  Coronakapellen  an  Orten  mit  Schatzsagen  sich  vor- 
finden; dass  man  in  Oberbayern  (also  nicht  bloss  in  Steiermark  und  Böhmen)  zur 
hl.  Corona  um  99  000  Dukaten  gangbare  Münze  bete  und  dass  eine  der  drei 
heiligen  Schwestern  Corona  heisst;  dazu  kann  ich  nunmehr  einige  Nachträge 
bringen. 

In  der  Nähe  von  Gaissach  (Bez.-A.  Tölz)  stand  eine  St.  Coronakapelle  an 
der  Stelle,  wo  das  Volk  Schätze  vergraben  sein  lässt;  in  der  Nähe  befinden  sich 
vorgeschichtliche  Gräber,  ein  'Hell- Weg',  ein  'heiliger  Acker';  1485  wird  eine 
Wiese  ebenfalls    in    der  Nähe  dieser  eingegangenen  St.  Coronakapelle  'Schätzelin' 


96  Heilig: 

benannt;  dazu  kommt  die  Sage  von  kopflosen  Gespenstern,  vom  umgehenden 
Landrichter  usw.  Die  dortige  Pfarrkirche  (St.  Michael)  bewahrt  noch  einen  Mess- 
kelch mit  dem  wertvollen  Emailbildc  der  spanischen  Benediktinerin,  wie  sie 
zwischen  zwei  Bäumen  aufgehängt  und  auseinandergeschnellt,  d.  h.  durch  die 
auseinanderschnellenden  Bäume  zerrissen  wird  (nach  der  Legende  i.  J.  1-10).  Die 
Märtyrerkrone  machte  sie  zur  'Schatzmeisterin  des  Himmels'.  Gaissach  ist  die 
älteteste  Kirche  des  Isarwinkels.  —  Herr  Expeditor  Stadler  in  Simbach  weiss  von 
der  St.  Coronakapelle  zu  Arget  bei  Holzkirchon  (Überbayern)  zu  erzählen,  dass 
dort  der  sog.  'Kroanetsschimmcl'  (Coronaschimmel)  umgeht;  das  beste  Fohlen  der 
Rossherde  geht  dieser  Kapelle  zu  und  verhungert  darin  (ähnliches  wird  auch  bei 
St.  Georgskapelleu  vom  Volke  behauptet).  Ein  Schimmel,  der  vom  Gewitter  in 
die  Kapelle  getrieben  wurde,  wehrte  dadurch  eine  Viehseuche  ab.  —  Im  nieder- 
bayerischen Koppenwahl  bei  Mainburg  ist  eine  Kirche  der  hl.  Corona,  wo  die 
Leute  einen  Gürtel  aus  Bronzeschienen  umlegen  und  durch  die  Altarmensa 
schlufen,  die  hohl  gemauert  ist  (Deutsche  Gaue  1902,  Heft  67— 08,  S.  88.  V,  124), 
ein  uralter  medizinischer  Ritus.  —  In  .\ltenkirchen  bei  Frontonhausen,  ebenso 
in  Dingolfing  befinden  sich  Coronakapellen.  —  Zu  Piain  bei  Salzburg  sind 
Aubet,  Corona  und  Bevina  die  drei  heiligen  Schwestern.  —  Nach  Angabe  des 
Herrn  Stadler  betet  man  das  St.  Coronagebet  9  Tage  hintereinander  und  stellt 
12  Stühle  um  einen  frischgedeckten  Stuhl,  um  99  000  Dukaten  zu  erhalten. 

Es  knüpft  sich  nach  obigem  der  Bestand  der  St.  Coronakapellen  an  Stätten, 
welche  ehemals  germanisch-heidnische  Kultorte  gewesen  sein  dürften,  in  deren 
Nähe  Begräb'hisstätten  aus  dieser  Zeit  die  Veranlassung  zu  Schatzsagen  gegeben 
haben  werden.') 

Bad  Tölz.  Max  Höfler. 


Badische  Volksbräuche  des  17.  Jahrhunderts. 

I.    Wägen  der  Knaben.-) 

Die  Speierer  Protokolisammlung  Nr.  7950  (1026)  auf  dem  Karlsruher 
Generallandesarchiv,  Liber  Visit,  gener.  Cap.  Ruralis  Bruchsaliensis  de  anno  1683, 
S.  7  bietet  unter  Unter-Grombach  (Amt  Bruchsal)  folgende  'Gravamina': 

Pessima  hie  et  scandalosa  ac  superstitionibus  plena  consuetudo  ponderandi 
pueros,  eos  praesertim,  qui  phtysi  consumuntur,  bis  legibus: 

1.  Puer  cujuscunque  aetatis  et  Status  debet  esse  plane  nudus,  ne  filum  ei 
etiam  in  crinibus  adhaerere,  etiam  in  summo  frigore. 

2.  debet    imponi    uni    lanci  in  ccciesia  parochali  ante  medium  altaris  summi, 

3.  Alteri  lanci  debet  imponi  pondus  aequale  purissimae  siliginis, 

4.  a  custode  et  non  alio  debet  ponderari, 

5.  his  praemissis  verbis: 

Gott  grüsse  Euch,  ihr  edle  ritter. 

Es  kombt  zu  Euch  ein  armer  Krippel, 

Er  bittet  Euch  durch  den  heiligen  Geist, 

Ihr  wolt  ihm  von  Gott  erwerben  sein  gesnnt.s  bluth  und  fleisch. 

Im  namcn  Gott  f  deß  Vaters,  des  t  Sohnes  und  des  f  heyligen  Geists.    Amen. 

1)  [Coronagebete  au.s  Dcutscliböhmen  sind  abgedruckt  in  der  Erzgebirgszeitung  22, 
230.  254  und  bei  A.  John,  Sitte,  Brauch  und  Volksglaube  im  deutschen  Westböhmen  190.Ö 
S.  307f.;  vgl.  S.  282.] 

2)  [Vgl.  Bartels,  oben  l'^,  3.57—359.  Über  die  Wilsnackcr  Sündenwagc  s.  Breest, 
Märkische  Forschungen  16,  149.  1881.] 


Kleine  Mitteilungen.  97 

6.  lias  preces  debet  ter  repetere,  et  post  singulas  facere  profundam  reverentiam 
tiltari. 

T.  nihil  debet  hinc  cxigere  certe  sedituus,  sed  reiiiiquere  singulorum  discretae 
voluntati. 

8.  nudum  puerum,  ita  nuduiii,  tertio  debet  circum  altare  circuraferre  obstetrix 
atque  post  singulas  circunigestationes  oraie  unum  Pater  et  Ave  in  honorem 
sanctissimae  Trinitatis. 

9.  postera  indutum  puerum  altari  imponcre  atque  una  cum  puero  supra  altare 
siliginem  offerro  ac  recitare  5  pater  et  Ave.  Quarura  ceremoniarum  si  vel 
levifsima  omitteretur,  nihil  omnino  proficoret. 

10.  Praxin  hanc  modernus  Ludimagister  didicit  a  suo  parente,  29  annis  hujus 
loci  ludimagistro,  atque  hie  a  praetore,  praetor  a  curatoribus,  ut  modus  ille  hoc  loco  ita 
inoleverit,  ut  nee  a  pastoribus  nee  ab  episcopo  [von  Speier]  a  50  et  pluribus  annis  inde 
abstrahi  non  potucrint,  atque  jam  etiam  in  ipsa  ecciesia,  quando  nos  contra  locuti, 
publice  contra  protestati,  unde  factum,  ut  qui  corbes  illas  lineo  obductas  panno, 
una  cum  libra  mos  sub  abitum  nostrura  in  nostra  praescntia  fecerimus  exuri,  eos  ad 
consistoriuni  aut  ipsum  Em[inentissi]mum  remitti  pro  licentia  novae  lancis.  Afserentes 
otTerre  pondus  agri  in  siligine  etiam  centies  multipiicatum  nos  non  inhibere, 
inhibere  tantum  cum  hisce  circurastantijs  fieri.  Posse  proinde  eos  librare  senes 
et  juvenes  in  ouria  ac  siliginem  in  ecciesia  offerre,  facere  in  ecciesia  nos  absolute 
nos  [lies:  non]  possc  permittere;  posse  eos  ab  altiori  accipere  potestatem  id  ipsum 
praestandi 

2.   Mailehen.  1) 

Die  Speierer  Protokollsamni hing  Nr.  7952  ebenda  (Abschrift  von  Nr.  7950,  doch 
vollständiger).  Pars  II  et  III  Visit.  General.  Capit.  Rur.  Marcbiae  Badensis,  Weiller- 
stadt, Bruchsall  etc.  de  anno  1(583,  S.  173  berichtet: 

Ad  Rheinsheim  (Amt  Bruchsal).  Superstitiones  hoc  loco  gliscunt  diversac  .... 
Abusus  in  juventute  mit  dem  lahntgenru  fen  [=  Lehnchen  rufen].  Quod  fit  hoc 
modo:  Convenit  Juventus  utraque  una  cum  civibus  et  quotquot  possunt  domo  abesse 
ad  ingressum  in  sylvam,  ubi  duo  designati  duas  ascendunt  arbores  sibi  invicem 
respondentes,  alijs  sub  illis  haerentibus,  fitque  hoc  loco  pridie  S.  Georgij  ["2;1.  April], 
(|uando  horum  unus  altissima  voce  incipit  in  hunc  modum: 

Höret  ihr  burger  vberall, 

Wafs  gebeutet  Euch  des  Königs  liochwürdiger  marschall! 
Wals  er  gebeut,  vndt  dal's  soll  sein. 
Ex[empli]  causa:  Hauß  Claulsen  soll  Mai'greten  lols  [?loos]  buhler  sein. 
Drei  schritt  ins  Korn,  undt  drey  wieder  zurück, 
Vber  ein  jähr  gehet  es  ein  braut  herauß. 

Hac  ratione  Omnibus  solutis,  tarn  viduis  quam  alijs,  suum  assignant  procum 
et  saepe  non  absque  gravi  laesione  famae  et  causa  gravium  dissidiorum,  imo  turpi- 
tudinum,  cum  procus  teneatur  illam  curare  in  symposijs,  saltu  etc.,  illa  suo  proco 
offer[en]te  flores. 

Ettlingen  (Baden).  Otto  Heilig. 


1)  [Über  die  Mailelien  oder  Madchenversteigerung  vgl.  Uhland,  Schriften  3,  390. 
Böhme,  Geschichte  des  Tanzes  1, 153.  ErkBöhme,  Liederhort  2,  733.  643.  Mannhardt,  Wald- 
und  Feldkulte  1,  449-455.  Hess.  Blätter  f.  Volkskunde  1,  72.  221  (Lehen  ausrufen  1599 
im  Nassauischen).    Schweiz.  Archiv  f.  Volksk.  G,  195.   Zs.  f.  rhein.  Volkskunde  2,  317.  3,  248."' 


Zeitschr.  tl.  Vereins  f.  Volkskunde.    1907. 


98  Mitzschke: 

Sagen  von  Tauteuburg. 

Das  Dörfchen  Tautenburg,  neuerdings  als  Sommerfrische  viel  aufgesucht, 
liegt  im  ostcrläiidischcn  Teile  des  Grossherzogtums  Sachsen-Weimar,  wenige  Kilo- 
meter östlich  von  der  Saale,  und  ist  auf  allen  Seiten  von  den  bewaldeten  Höhen 
des  Tautenburger  Porstes  umgeben.  Um  eine  vorspringende  hohe  Bergzunge,  auf 
deroii  Spitze  sich  die  l'berreste  des  alten  Schlosses  der  Schenken  von  Tautenburg 
belinden,  hat  sich  der  Ort  angesiedelt  und  dadurch  eine  charakteristische  liuC- 
eisenform  angenommen.  Die  stille  Waldeinsamkeit  ist  der  Sagenbildung  und 
Sagenerhallung  günstig  gewesen,  und  so  habe  ich  während  eines  Aufenthaltes  dort 
aus  dem  Jlundo  verschiedener  Bewohner  eine  Reihe  von  Sagen  des  Schlosses 
und  des  Forstes  aufzeichnen  können,  die  hier,  vermehrt  um  einige  aus  der  orts- 
geschichtlichen Literatur,  den  Lesern  dargeboten  seien. 

1.  Der  l^au  des  Schlosses  Tautenburg  soll  ursprünglich  nicht  auf  seiner 
jetzigen  Stelle  beabsichtigt  gewesen  sein,  sondern  südöstlich  davon  im  Forstorte 
'Salzkopf.  Es  wollte  jedoch  nicht  gelingen,  dort  etwas  aufzurichten,  denn  so 
sehr  sich  auch  die  Bauleute  mit  ihrer  Arbeit  Mühe  gaben,  jeden  Morgen  w.n-  ihr 
Werk  zusammengeworfen  und  zerstört.  Da  unterliess  man  den  Bau  an  dieser 
Stelle  und  führte  ihn  auf  dem  Burgberge  aus,  wo  er  ohne  Anstoss  vonstatten  ging. 
Auf  dem  'Salzkopf'  aber  sieht  man  noch  jetzt  zwei  waliartige  Steinkreise,  die  von 
dem  angefangenen  Bau  herrühren  sollen.')     (Mündlich.) 

2.  Am  Milchkellcr  auf  dem  Tautenburger  Schlosse  ward  früher  oflnuiis  die 
Erscheinung  einer  weissen  Frau  beobachtet.  (Bericht  des  Amtsverwaiters  Götz 
von  1G98.  Vgl.  Mitzschke  im  Xauraburger  Kreisblatt  ISTIJ  Nr.  I4(i  u.  1411,  und  in 
der  Zeitschrift  des  Vereins  für  thüring.  Geschichte  ti.  P.  2,  271.) 

li.  Im  Schlosse  Tautenburg  traf  um  HiGö  der  damalige  Ortspl'arrer,  als  er  zur 
Mitternachtszeit  einmal  das  leere  Tafelgemach  betrat,  zwei  grosse  brennende  Lichter 
auf  der  Tafel  an,  so  dass  er  „einen  trelflichen  Schauer"  davor  bekam.  Ungefähr 
zu  derselben  Zeit  wurden  über  diesem  Tafelgemache  sieben  lange  Zinnen  ein- 
gerissen. In  einer  derselben  fand  man  einen  ^grossen  Klump"  von  allerhand 
Schlüsseln.  Seitdem  hat  es  im  ganzen  Schlosse  über  ein  Jahr  lang  „kontinuierlich 
gespuket  und  sehr  irre  gegangen'',  bis  man  an  Stelle  der  weggerissenen  Zinnen 
einen  neuen  Turm  erbaute.  (Bericht  des  Amtsverwalters  Götz  von  1G9.S.  Vgl. 
zu  Nr.  2.) 

4.  Der  nachmalige  Amisverwalter  von  Tautenburg,  Johann  Jakob  Götz,  spielte 
als  Knabe  um  das  Jahr  1G6Ö  einmal  mit  seiner  Schwester  im  Schlosshofe  zu 
Tautenburg  am  Weinkeller.  Als  er  da  die  Erde  aufgrub,  kamen  plötzlich  die 
schönsten  Ferien  in  unzähliger  Menge  zutage,  so  dass  der  ganze  Flatz  weiss  aus- 
sah. Die  Herrlichkeit  verschwand  aber  sehr  schnell  wieder,  als  Götzens  Schwester 
unter  lauten  Verwunderungsrufen  hinzulief.  Nur  fünf  Perlen,  die  der  Knabe  schon 
ergrilfen  hatte,  wurden  erhalten  und  viele  Jahre  lang  aufbewahrt.  An  derselben 
Stelle  des  Schlosshofes  beim  Weinkeller,  und  ebenso  beim  sogen.  'Schwarzen 
Gewölbe',  in  dem  die  Leiche  Christians,  des  letzten  Thüringer  Schenken  von 
Tautenburg,  1640 — 1G47  auf  der  Bahre  gelegen  hatte,  schlug  bei  verschiedenen 
Versuchen  1G98  die  Wünschelrute,  in  wessen  Händen  sie  sich  auch  befand,  sehr 
heftig  auf  den  Boden.  Es  wurde  daraufhin  an  diesen  Stollen  nach  Schätzen  ge- 
graben, aber  erfolglos.    (Bericht  des  Amtsverwalters  Götz  von  1G'J8.    Vgl.  zu  Nr.  "2.) 

1)  Wahrscheinlich  die  Stätte,  auf  der  vorzeiten  das  Gericht  für  die  Umgegend  gehegt 
wurde.    Vf:l.  I.chfeklt,  Bau-  und  Kunstdeiikmiiler  dos  .^intsgerichthezirks  Jena  188S  S.  206. 


Kleine  Mitteilungen.  99 

5.  Vom  Schlosse  Tautenbarg  soll  ein  unterirdischer  Gang  nach  drei  Häusern 
am  Fusse  des  Schlossberges,  ein  anderer  bis  zum  Nachbardorfe  Frauenpriessnitz 
geführt  haben.  (Mündlich.  —  Stölten,  Wanderfahrt  nach  Dornburg  und  Tautcnburg 
S.  32  =  2.  Auü.  S.  36.) 

<).  Als  das  alte  Bergschloss  Tautenburg  17yO  niedergelegt  ward,  versenkte 
man,  wie  die  Sage  berichtet,  drei  goldene  Glocken,  die  sich  dort  befanden,  in  den 
tiefen  Brunnen  und  schüttete  diesen  zu.  In  stillen  Sommernächten  hört  man  seit- 
dem oftmals  leises  Glockengeläute  aus  dem  Schlossberge  hervordringen.  Ein 
armer  Ortsbewohner,  der  nach  den  goldenen  Glocken  grub,  wurde  durch  das 
stärker  und  stärker  werdende  Geläut  von  seiner  nächtlichen  Schatzgräberei  verjagt. 
(Mündlich.  —  Stölten,  Wanderfahrt  S.  32  =  2.  Aufl.  S.  36.) 

7.  Im  Forstorte  'Rod',  zwischen  Dorndorf  und  Tautenburg,  ist  es  nicht  recht 
geheuer.  Häufig  haben  Wanderer,  die  zur  Nachtzeit  dort  durchgegangen  sind,  ein 
Licht  wie  das  einer  Laterne  über  dem  Boden  schweben  sehen.  Das  Licht  bewegt 
sich  hin  und  her,  bald  ist  es  mehr  unten,  bald  erhebt  es  sich  bis  zu  3  lu  Höhe 
über  den  Boden.  Es  begleitet  die  Wanderer  in  der  Richtung  nach  dem  Forstorte 
'Toter  Mann'  zu.  Ein  Forstbeamter,  der  mit  seiner  Tochter  einmal  spät  am  Abend 
die  Stelle  passierte,  sah  die  Erscheinung  auch  und  ging  mit  dem  Gewehr  darauf 
zu,  aber  ehe  er  das  Licht  erreichen  konnte,  war  es  erloschen.  Von  Sachver- 
ständigen ist  die  Stelle  bei  Tage  nach  phosphoreszierenden  Stoffen  abgesucht 
"worden,  ohne  dass  etwas  zu  entdecken  gewesen  wäre.  Andere  Leute  haben  bei 
späten  Wanderungen  durch  das  'Rod'  und  weiterhin  durch  die  'Scheiteln'  bis  in 
die  Xähe  von  Tautenburg  etwas  Geheimnisvolles,  Unnennbares,  Geisterhaftes  ge- 
spürt, das  immer  dicht  neben  ihnen  einherschwebte.     (Mündlich.) 

8.  Einstmals  stand  ein  Forstaufseher  zur  Abendzeit  im  Forstort  'Unterer 
Steinweg'  bei  Tautenburg  auf  dem  Anstände,  um  wilde  Kaninchen  zu  erlegen. 
Plötzlich  erhob  sich  wenige  Schritte  von  ihm  entfernt  wie  aus  dem  Boden  hervor- 
gezaubert die  Gestalt  eines  weissen  Mannes  und  blieb  unbeweglich  stehen.  Tödlich 
erschrocken  zuckte  der  Aufseher  zusammen,  aber  nach  kurzer  Zeit  war  die  weisse 
Gestalt  wieder  verschwunden.  Auch  andere  Leute  aus  der  Umgegend  sind  an 
derselben  Stelle  durch  die  gleiche  Erscheinung  in  Schrecken  versetzt  worden. 
(Mündlich.) 

9.  Aus  der  oberen  Öffnung  der  hohlen  'alten  Eiche'  am  Forstorte  'Tongruben' 
südwestlich  von  Tautenburg  sieht  man  zuweilen  in  den  heissen  Mittagsstunden 
den  Kopf  und  Oberkörper  eines  schönen  blondlockigen  Knaben  hervorragen,  der 
in  jeder  Hand  einen  Tonziegel  hält.  Die  Erscheinung  ist  immer  nur  von  kurzer 
Dauer.     (Mündlich.) 

10.  Die  Zietschkuppe  am  Südende  des  Tautenburger  Forstes  oberhalb  des 
Dorfes  Löberschütz  soll  vorzeiten  eine  heidnische  Opferstätte  gewesen  sein. 
(Stölten,  Wanderfahrt  S.  43  =  2.  Aufl.  S.  48.) 

11.  Ein  alter  Kreuzstein')  im  gleichnamigen  Forstorte  bei  Tautenburg  be- 
zeichnet, wie  die  Sage  will,  den  Punkt,  auf  dem  vorzeiten  zwei  Jäger  einander 
erschossen  haben.  Xach  anderer  Erzählung  liegen  dort  Offiziere  mit  ihren  Soldaten 
begraben.     (Mündlich.) 

12.  Am  Vogelgrunde,  der  sich  südostwärts  von  Tautenburg  im  Walde  hin- 
zieht, liegt  unmittelbar  vor  dem  Dorfe  der  Forstort  'Kriegsgründchen'.  Es  soll  in 
diesem  Namen  die  Erinnerung  an  Kämpfe  und  eine  Belagerung  des  Schlosses  ums 


1)   Eine  Abbildung   des  Steines   bei  Lehfeldt,   Bau-    und  Kuiistdenkmäler  des  Aints- 
gerichtsbezirkes  Jena  S.  200. 

7» 


100  Stratil: 

Jahr  IISO  fortleben.  Über  die  auffällii^c  üenennung  des  ansrenzenden  Forstortes 
'Heiliges  (irab'')  hat  sich  keine  volkstümliche  Überlieferung  erhalten.  (Stülten, 
Wanderfahrt  S.  '24  =  2.  Aufl.  S.  27.) 

13.  In  glühend  heisser  Sommerszeit  weidete  einmal  ein  Schäfer  seine  Herde 
im  'Sperbergrunde'  des  Tautenburger  Forstes.  Weit  und  breit  gab  es  kein  Wasser, 
und  die  Schafe  waren  schon  dem  Verschmachten  nahe.  Da  griff  der  Hirt  mit  der 
Hand  an  ein  felsiges  Gestein  und  sagte:  „Ach  wollte  doch  Gott  aus  diesen  Steinen 
Wasser  für  meine  armen  Schafe  fliessen  lassen!"  Und  siehe,  sogleich  sprudelte 
aus  dem  Gestein  ein  dünner  Quell,  an  dem  die  Schafe  ihren  Durst  löschen  konnten. 
Dieser  Waldquell  heisst  das  'Sperberbürnchen'.  Er  steht  trotz  seiner  geringen 
Wassermenge  im  Rufe  der  Unversiegbarkeit.  Als  in  dem  überaus  dürren  Sommer 
1842  alle  Quellen  der  Umgegend  vertrockneten,  soll  das  'Sperberbörnchen'  sein 
Wasser  unverändert  weiter  gespendet  haben.     (Mündlich.) 

Weimar.  Paul  Mitzschke. 


Volkslegenden  ans  dem  liöhmerwald  und  dein  Kuhland. 

1.  Die  Mutter  des  heiligen  Martin.^) 

Die  Mutter  des  heiligen  Martin  war  eine  grosse  Sünderin.  Sie  wurde  nach 
ihrem  Tode  in  den  äussersten  Abgrund  der  Hölle  Verstössen  und  litt  grosse  Pein. 
St.  Martin  aber  betete  so  inständig  für  seine  Mutter,  dass  Gott  sie  bei  jedem 
Gebete  des  Sohnes  im  Höllenschlundc  ein  Stückchen  emporschweben  liess.  Bald 
konnte  St.  Martin  wahrnehmen,  wie  sie,  die  Hände  gefaltet,  immer  näher  kam. 
Doch  an  den  Saum  ihres  Kleides  hatten  sich  ein  paar  arme  Seelchen  angehängt, 
um  mit  ihr  der  Erlösung  teilhaftig  zu  werden;  und  wie  die  Mutter  dies  bemerkte, 
löste  sie  die  gefalteten  Hände  und  streifte  die  Seelchen  vom  Rocksanme  ab.  so 
dass  sie  traurig  in  die  Hölle  zui-ückflatterten.  Die  Sünderin  glaubte  jetzt  leichter 
emporsteigen  zu  können;  aber  sie  fiel  alsbald  mit  entsetzlichem  Gepolter  zurück 
in  den  Abgrund.  —  (Erzählt  von  J.  ßäunil  in  Konraditz.) 

2.  St.  Peter  und  Nährvater  Joseph. 

St.  Peter  hat,  wie  bekannt,  die  Torschlüssel  des  Himmelreiches.  Er  ist  für 
die  Eingelassenen  verantwortlich  und  nimmt  sein  Amt  sehr  genau.  Trotz  seiner 
Pünktlichkeit  bemerkte  man  einst  verdächtige  Gestalten  vor  dem  Throne  Gottes. 
Petrus  kannte  sie  nicht;  er  hatte  sie  nicht  hereingelassen.  Darob  grosser  Aufruhr 
in  des  Himmels  Höhen.  Wie  kamen  die  Unwürdigen  lierein';'  Ein  flatterndes 
Engelchen  konnte  Auskunft  geben:  Nährvater  Joseph  kann  auch  im  Himmel  sein 
Handwerk  nicht  lassen,  und  in  seiner  mürrischen  Weise  hat  er  sich  ein  Pförtchen 
gezimmert,  ohne  es  jemand  zu  melden.  Während  der  Arbeit  waren  nun  einige 
arme  Seelen  durch  die  Öffnung  hineingeschlüpft,  ohne  dass  St.  Joseph,  in  seine 
Arbeit  vertieft,  es  bemerkt  hätte.  Jetzt  ist  das  Pförtlein  wohl  fertig,  und  kein 
Unwürdiger  darf  hinein;  denn  nur  St.  Joseph  und  die  Gottesmutter  haben  den 
Schlüssel.  —  Aber  der  Himmelspförtncr  fühlte  sich  gekränkt  und  stellte  den 
heiligen  Joseph    zur  Rede:    er    allein   habe  die  Schlüssel,    kein  anderer  dürfe  das 


1)  Von    der  Wallfahrt   eines  Schenken   von  Vargula  -  Tautenburg  nach  dem  heiligen 
Grabe  berichtet  eine  Sage  bei  Witzscbel,  Sagon  aus  Thüringen  2.  IS  Nr.  42. 

2)  [Dasselbe  wird  sonst  von  der  .Mutter  des  li.  Petrus  erzählt;    vgl.  R.  Kühler,  .A.uf 
Sätze  über  Märchen  und  Volkslieder  1894  S.  50.] 


Kleine  Mitteilungen.  101 

Himmelreich  öffnen,  und  das  neue  Pförtlein  müsse  venaramüit  werden.  Doch  da 
kam  er  schön  er  an.  —  „Wenn  ihr  mir  mein  Pförtlein  nicht  lasset,  so  nehme  ich 
meine  Braut  und  das  Jesukind  und  wandere  zum  zweiten  Male  nach  Ägypten," 
murmelte  St.  Joseph  in  seinen  Bart.  Bestürzt  zog  sich  Petrus  zurück;  denn  was 
wäre  das  Himmelreich  ohne  die  Königin  mit  dem  Jesusknaben !  So  blieb  das 
Pförtlein  bestehen.  Und  wer  durch  das  grosse  Himmelstor  sich  nicht  traut  aus 
Angst  vor  dem  zornmütigen  Petrus,  vertraut  sich  der  Himmelskönigin  oder  dem 
heiligen  Joseph  an.  Sie  gewähren  noch  heute  Eiulass,  allerdings  nach  genauer, 
doch  milder  Prüfung.  —  (Aus  dem  Kuhland). 

3.    St.  Anton  der  Nothelfer  Im  Himmelreiche.') 

Die  durch  St.  Joseph  Eingelassenen  betrugen  sich  in  der  himmlischen  Gesell- 
schaft ganz  sittsam,  so  dass  sie  bleiben  durften,  obwohl  sie  Petrus  früher  durchaus 
hinausbringen  wollte.  Aber  nach  der  Rede  St.  Josephs  verflog  seine  Hitze  gerade 
so  wie  damals,  als  der  Herr  gebot:  , Stecke  dein  Schwert  in  die  Scheide!"  und 
mit  der  Zeit  beruhigte  er  sich  ganz. 

Einer  jedoch  war  nicht  zu  brauchen  in  des  Himmels  Räumen.  Es  war  ein 
Jude,  und  nach  seiner  Erdengewohnheit  blieb  er  nicht  bloss  beim  Bewundern  und 
Betasten  der  goldenen  Stühle  und  Einrichtungen  des  Himmels  stehen,  sondern  er 
schabte  auch  gern  ein  bisschen  Gold  ab,  wenn  er  sich  unbemerkt  glaubte.  Obwohl 
schon  einige  Male  verwiesen,  setzte  er  seine  Gepflogenheit  bald  wieder  fort;  ja 
selbst  der  Goldschaum  der  Engelsflügel  und  der  Thron  Gottes  war  vor  ihm 
nicht  sicher.  Alles  klagte  über  die  Unart;  doch  einen  Gewaltstreich  wagte 
niemand  aus  Rücksicht  für  cfen  gütigen  Nährvater.  In  Güte  ging  aber  der  Ein- 
dringling nicht. 

Da  klagte  Petrus  dem  heiligen  Antoni  seine  Not.  „Wir  werdens  schon 
machen,"  war  des  Findigen  Rede.  Schnell  war  die  grosse  Trommel  zur  Hand, 
(St.  Antons  Lieblingsinstrument,  weil  sie  nur  „an  Ton"  hat),  und  lustig  fing  er 
an  zu  musizieren,  dass  bald  das  ganze  Himmelreich  auf  den  Beinen  war.  „Was 
ist  los?"  fragte  jeder.  „Vor  dem  Himmelstore  heute  nachmittags  1  Uhr  grosse 
öffentliche  Lizitation  von  im  Himmelreiche  abgebrauchten  alten  Gold-  und  Wert- 
sachen!" rief  St.  Anton  und  eilte  weiter  mit  der  Kunde.  Jeder  lachte,  keiner  aber 
wusste  dies  zu  deuten.  Doch  der  Erfolg  blieb  nicht  aus.  Zu  St.  Peter  kam  der 
Jude  und  bat  flehentlich:  „Lass  mich  auf  ein  Stündchen  hinaus!  Kann  doch  ein 
<jeschäft  nicht  versäumen."  Flugs  war  die  Tür  offen,  der  Jude  draussen;  aber 
herein  kam  er  nicht  mehr,  weder  durch  die  Türe  noch  durch  die  Pforte.  —  Und 
wer  auch  an  Maria  und  Joseph  sich  ni(flit  wagt,  der  versuche  es  getrost  beim 
•heiligen  Antoni;  denn  er  wirds  schon  machen. 

4.  St.  Anton  und  der  Regimentstambour. 

Ein  Regimentstambour  hatte  bei  seinen  Musikproben  die  üble  Gewohnheit, 
bei  dem  kleinsten  Fehler  seiner  Kapelle  zuzurufen:  „St.  Peter!  du  Schafskopf, 
fis,  fis!"  oder  „Marand-Joseph,  sancta  simplicitas,  pianissimo!"  Doch  wenn  bei 
der  Generalprobe  alles  klappte,  so  pflegte  er  zu  sagen:  „Gott  sei  Dank  und  Anton 
von  Padua  —  ist  gut."  All  dies  wiederholte  sich  viele,  viele  Male,  ersteres 
natürlich  mehr  bei  der  Rekrutenabrichtung,  letzteres  im  Verlaufe  des  Jahres. 

Endlich  starb  der  Regimentstambour  und  wurde  mit  allen  militärischen  Ehren 
begraben.      Als    er    nun   zum  Himmelstor  kam,    ohne    an  seine  Beleidigungen  des 


1)  [Vgl.  E.  Köhler,  Aufsätze  S.  5.5f.] 


102  Stratil : 

Hinimelsprörtners  zu  denken,  iiirnete  St.  Petrus  bloss  das  Schiebfensterchcn  und 
rief:  ,,Na,  na,  so  ein  Schafskopf  bin  ich  nicht,  dass  ich  dich  jetzt  noch  in  den 
Himmel  einlasse."  Aber  der  Tambour  liess  sich  nicht  abschrecken,  sondern  ging- 
mit  dem  bestürzten  Murmeln:  „Sancta  simplicitas!"  zur  Pforte  des  hl.  Joseph. 
Doch  auch  dieser  sah  ihn  scheel  an  und  sagte:  „Eine  so  heilige  Einfalt  bin  ich 
auch  nicht,  dass  ich  dir  öffne."  —  „Hl.  Anton  von  Padua.  ist  gut,"  meinte  der 
entschlossene  Soldat,  „ich  gehe  auf  die  grüne  Wiese  zu  den  Juden  und  Un- 
getauften."  Doch  Anton  von  Padua  hatte  ihn  gehört.  Solch  einen  Verehrer 
mochte  er  im  Himmelreiche  nicht  missen;  flugs  nahm  er  seine  grosse  Trommel, 
gin;^-  vor.s  Himmelstor,  und  bald  wurden  die  beiden  Musiker  handelseins.  Ein 
Trommelfell  wurde  abgeschraubt  und,  nachdem  der  Tambour  hineingeschlüpft, 
notdürftig  wieder  geschlossen.  Keuchend  kam  St.  .^nton  mit  der  schweren 
Trommel  ins  Paradies  zurück  und  liess  dort  den  fast  Atemlosen  wieder  heraus. 
Seitdem  hört  man  die  Trommel  St.  Antons  bei  starkem  Gewitter  ganz  besonders 
wohlgestimmt  erklingen;  und  das  ist  das  Verdienst  des  Regimentstambours  im 
Himmelreiche. 

5.    Die  Beterin  vor  St.  Antons  Bild.') 

Ein  hübsches,  aber  wählerisches  Mädchen,  das,  nachdem  es  manchen  Korb 
ausgeteilt,  zum  Schluss  sitzen  geblieben  war,  wandte  sich  in  seiner  Not  an  den 
heiligen  Anton,  der  in  der  Ortskirche  nicht  nur  ein  schönes  .\ltarbild,  sondern 
auch  eine  lebensgrosse  Statue  auf  hohem  Sockel  hatte.  Oftmals  zündete  sie  hier 
ein  Kerzlein  an  und  betete  laut  und  inbrünstig:  „Heiliger  Antoni,  du  Kirchen- 
patron, führ  mich  in  den  Himmel;  doch  zuvor  gib  mir  an  Moni" 

Lange  war  ihr  Flehen  umsonst.  Endlich  fiel  dem  Kirchendiener,  einem 
hinkenden  Witwer,  die  demütige  Frömmigkeit  des  Mädchens  auf.  Neugierig  stellte 
er  sich  hinter  den  starken  Sockel  und  vernahm  da  ihr  lautes  Gebet.  Schnell  ent- 
schlossen übernahm  der  Kirchendiener  die  Stelle  des  schweigsamen  Heiligen  und 
murmelte  feierlich:  „Uabe  nur  noch  einen  Witwer  zu  vergeben I"  dass  es  im 
leeren  Kirchenraume  wie  eine  Stimme  von  oben  klang.  Sprachlos  stand  die  Magd 
und  sah  sich  scheu  um.  Doch  da  sie  niemandeu  gewahrte,  rief  sie  schnell  ge- 
fasst:  „Ok  nur  an  Moa,  a  Mandle,  a  süsses  Stück  vo  an  Mandie!"  Da  trat  der 
Kirchendiener  rasch  hervor,  umarmte  die  Betroffene,  und  das  Paar  wurde  bald 
einig. 

6.    Noch  etwas  von  St.  Petrus  und  St.  Joseph.'-) 

Ein  Bauer  war  ohne  Beichte  und  letzte  Ölung  gestorben.  Da  er  sonst  recht 
und  schlecht  gelebt  hatte,  vorlangte  er  Einlass  in  den  Himmel.  St.  Petrus  fragte 
nach  dem  Beichtzettel.  „Es  ging  nicht,"  sagte  der  Bauer,  „der  Tod  kam  zu  schnell." 
Da  es  aber  ohne  Nachlass  der  Sünden  unmöglich  ist,  ins  Himmelreich  einzugehen, 
rief  St.  Petrus  ein  Engelchen,  das  einen  Priester  aus  dem  Himmel  zum  Beicht- 
hören holen  sollte.     Bald  kam  dieses  zurück:  „Es  ist  keiner  zu  finden." 

St.  Peter  war  darüber  erstaunt,  wollte  aber  die  Vorschrift  nicht  übertreten, 
und  traurig  zog  der  biedere  Landmann  weiter.  -Vm  Pförtehen  sasson  aber  Maria 
und  Joseph;  die  hatten  einst  auf  der  Reise  nach  Jerusalem  und  Bethlehem  bei 
einem  Bauer  im  Stalle  Unterkunft  gefunden,  darum  riefen  sie  den  armen  Land- 
mann freundlich  herbei  und  hiessen  ihn  eintreten. 

1)  [Vgl.    die  Anmerkung   zu  Yid.  Schumanns  Nachtbüchlein    lSi>ö  Nr.  M  und  Frey, 
Gartengesellschaft  18%  S.  281.J 

•21  [Vgl.  Mcrkens,  Was  sich  das  Volk  crzfihlt  2,  Nr.  38.  1895.] 


# 


Kleine  Mitteiffiigeii.  103 


7.    Der  Schneider  im  Himmel. i) 

Ein  Schneider  iiam  zum  Himmelstor.  St.  Petrus  aber  wollte  ihn  nicht  ein- 
lassen und  verstattete  ihm  auf  vieles  Bitten  nur,  durch  die  halbgeöffnete  Himmelstür 
zuzusehen,  wie  Gott  Vater,  von  den  heiligen  Engeln  begleitet,  einen  Umzug  im 
Himmel  hielt.  Wie  nun  St.  Peter  die  schuldige  Reverenz  machte  und  nicht  auf 
den  Schneider  achtete,  schlüpfte  dieser  eilig  durch  die  Torspalte  in  den  Himmel, 
was  ihm  bei  seiner  Schlankheit  keine  grosse  Mühe  machte.  Im  Himmel  an- 
gekommen, bewunderte  der  Eindringling  die  Herrlichkeiten.  Zuletzt  blieb  er  beim 
goldenen  Thronsessel  des  Himmelsvaters  stehen  und  setzte  sich  keck  darauf. 
Sogleich  nahm  er  alles  wahr,  was  auf  Erden  vorging.  Unter  anderem  bemerkte 
er  auch  seinen  Nachbar,  der  über  den  Zaun  stieg,  um  aus  des  Schneiders  Garten 
Kraut  zu  stehlen.  Da  fasste  diesen  der  Zorn.  Doch  sein  Rufen  war  vergebens; 
so  weit  reicht  eine  Menschonstimme  nicht.  Nun  suchte  er  nach  einem  Stein,  um 
nach  dem  Diebe  zu  werfen,  fand  aber  keinen.  In  seinem  Grimme  fasste  er  den 
goldenen  Pussschemel  vor  dem  Gottesthrone  und  schleuderte  ihn  auf  die  Erde 
hinab. 

Kaum  war  dies  geschehen,  so  packte  ihn  die  Furcht,  und  er  versteckte  sich 
hinter  dem  Throne,  um  so  mehr  als  er  Gott  den  Herrn  selbst  nahen  sah.  Dieser 
wollte  nach  dem  Umgange  wieder  ein  wenig  auf  dem  Thron  ausruiien  und  zu- 
gleich die  Welt  übersehen  und  bemerkte  alsbald  das  Pehlen  der  Schemelstufe. 
Da  niemand  wusste,  wohin  der  Schemel  gekommen,  so  wurde  St.  Peter  gerufen, 
ob  er  nicht  Auskunft  wisse.  Mit  Schrecken  erinnerte  sich  der  Hininielspförtnor 
des  Schneiders,  ob  der  sich  nicht  eingeschlichen  und  die  Untat  vollführt  hiltte. 
Bald  war  der  Missetater  entdeckt  und  dem  Herrn  vorgeführt.  Zitternd  gestand 
der  Arme  seinen  Zorn  und  die  darauf  folgende  übereilte  Handlung.  Gottvater 
aber  sagte  ihm  hierauf  nur  mild  verweisend:  „Wenn  ich  bei  jedem  'Petersfleck', 
den  du  in  deine  'Hülle'  gesteckt  hast,  etwas  vom  Himmel  hinabgeworfen  hätte,  so 
wäre  wohl  schon  das  ganze  Himmelreich  ausgeräumt." 

8.    Der  Schuster  im  Himmel.-) 

.Auch  ein  Schuster  kam  zum  Himmelstor.  Umsonst  war  sein  Bitten  um 
Einlass,  da  er  manches  auf  dem  Gewissen  hatte;  aber  er  bat  so  flehentlich,  dass 
der  Himmelspförtner  ilui  endlich  durch  die  halbgeöflnote  Tür  in  die  himmlische 
Herrlichkeit  hineinsehen  liess.  Voll  Erstaunen  oder  mit  Absicht  liess  der  Schuster 
seinen  runden  dreibeinigen  Sessel,  von  dem  er  sich  selbst  auf  der  weiten  Reise 
nicht  hatte  trennen  können,  durch  den  Torspalt  in  den  Himmel  hineinrollen.  In- 
ständig bat  er  jetzt  St.  Petrus,  ihm  sein  Eigentum  wieder  herauszugeben.  Dieser 
jedoch  wollte  den  mit  Pech  und  Schusterpapp  beschmierten  Sessel  nicht  in  die 
Hand  nehmen  und  sagte:  „Hol  dir  ihn  selbst  und  schau,  dass  du  weiter  kommst! 
Den  Duft  kann  man  bei  uns  nicht  gebrauchen."  Mit  einem  Satz  war  der  Schuster 
im  Himmel  und  setzte  sich  auf  seinen  Stuhl.  „Wirst  du  bald  hinausgehen, "•  rief 
erbost  Petrus;  aber  Meister  Pech  schrie  frohlockend:  „Ich  sitz  auf  meinem  Eigen- 
tum, ich  sitz  auf  meinem  Eigentum."  Und  da  ihn  niemand  anzurühren  wagte 
aus  Furcht,  sich  mit  dem  Pech  die  Finger  zu  beschmieren,  blieb  der  Schuster  im 
Himmel  sitzen. 


1)  [Vgl.    Grimm,    KHM.    :;.ö.     Frey,    Gartengesellscliaft    1S9G    Nr.  100.      Wickrams 
Werke  .5,  SM  zu  Nr.  110.] 

•J)  [Vgl.  R.  Kollier,  Aufsätze  S.  51.  59.] 


!tr*il 


104  Strlfil,  Richter: 

9.    St.  Petrus  und'dep  Reitersmann.») 

Ein  Rcitersoldat  (der  Sage  nach  soll  es  so^ar  der  berühmte  Preussenkönig 
Fritz  gewesen  sein)  sprengte  lustig  auf  dei'  Landstrasse  einher,  obwohl  er  nur 
o  Böhm  (böhmische  Groschen)  in  der  Tasche  hatte.  Da  lag  im  Strassenyraben 
ein  Bettler,  der  betete  so  andächtig,  dass  der  Reiter  ihm  einen  Böhm  zuwarf  und 
fröhlich  weiterritt.  In  liurzor  Zeit  bemerkte  er  wieder  einen  Bettler,  der  noch 
bedürftiger  schien.  Gutherzig  warf  ihm  der  Heiter  den  zweiten  Groschen  zu,  er 
selbst  werde  sich  mit  dem  letzten  schon  zurecht  finden.  Aber  bald  darauf  traf  er 
nochmals  einen  Bettler,  der  ihm  so  elend  vorkam,  dass  er  ihm  mitleidsvoll  den 
letzten  Böhm  opferte.  Freilich  hatte  er  nun  eine  weite  Strecke  zurückzulegen  und 
war  ohne  Wegzehrung.  Zu  seinem  Staunen  hielt  ihn  der  Bettler  an  und  sprach: 
„Ich  bin  der  erste,  der  zweite  und  der  dritte  Bettler  in  einer  Person  und  habe 
dich  nur  angesprochen,  um  dein  Herz  zu  prüfen;  denn  ich  bin  der  heilige  Petrus. 
Zum  Lohne  für  das  gute  Her/.,  das  du  bewiesen,  sind  dir  drei  Wünsche  gewährt. 
Wünsche  dir  also  etwas!"  Der  Reiter  sagte:  „So  wünsche  ich  mir  eine  Pfeife 
Tabak.''  Sogleich  fühlte  er  die  dampfende  Pfeife  zwischen  seinen  Lippen.  Petrus 
aber  sprach:  „Wie  du  siehst,  ist  dein  erster  Wunsch  schon  erfüllt.  Wünsche  dir 
etwas  anderes,  besseres!"  Flott  wünschte  der  Reiter  ein  Kartenspiel.  Auch 
dieser  Wunsch  ward  prompt  erfüllt.  „Nun  den  dritten  Wunsch,"  rief  Petrus, 
„vergiss  aber  das  Beste  nicht!"  Ohne  lange  zu  zögern,  wünschte  Fritz  sich  einen 
Sack,  der  alles  festhalte,  was  er  hineinwünsche.  Im  Nu  hing  der  Sack  am  Sattel, 
der  Bettler  aber'  war  verschwunden. 

Sorglos  trabte  der  Kelter  fort,  bis  es  Abend  wurde.  Da  kam  er  in  einen 
dichten  Wald,  doch  nirgends  war  ein  Unterkunftsort  zu  sehen.  Er  kletterte  des- 
halb auf  einen  hohen  Baum  und  hielt  Umschau.  Richtig  sah  er  in  der  Ferne  ein 
Licht.  „Auf  das  mnsst  du  zugehen!"  dachte  er,  und  um  die  Richtung  nicht  zu 
verfehlen,  warf  er  seinen  Hut  gegen  den  Lichtschimmer  vom  Baume  herab. 
Unten  angekommen,  hob  er  den  Hut  auf  und  ritt  in  der  Richtung  weiter,  bis  er 
zu  einer  alten  Burg  kam.  Mit  Mühe  fand  er  in  dem  verfallenen  Gebäude  das 
Gemach,  in  dem  das  Licht  brannte,  und  bemerkte  dort  einen  Tisch,  einige  Stühle 
und  eine  annehmbare  Lagerstätte.  Nun  band  er  sein  Pferd  an  und  kaute  dann 
an  seinem  Brote.  Da  sprangen  plötzlich  drei  Teufel  herein,  die  ihn  angrinsten 
und  aufforderten,  mit  ihnen  Karten  zu  spielen.  „Gut,"  sagte  er  furchtlos,  „aber 
ich  spiele  nur  mit  meinen  Karten."  So  setzten  sich  die  Spieler,  und  Fritz  gewann 
mit  den  Karten  des  heiligen  Petrus  fortwährend,  bis  die  Teufel  unwillig  wurden 
und  mit  ihm  zu  balgen  anfingen.  Schon  war  er  nahe  daran,  zu  unterliegen,  als 
er  ausrief:  „Marsch  in  meinen  Sack!"  Sogleich  staken  die  Teufel  drinnen;  der 
Reiter  band  den  Sack  zu  und  bearbeitete  ihn  nach  Herzenslust  mit  Fäusten  und 
Füssen,  mit  Säbel  und  mit  Sporen,  bis  die  armen  Teufel  um  Gnade  baten.  Da 
öffnete  er  den  Sack,  und  die  Teufel  fuhren  voller  Beulen,  zerstossen  und  zerkratzt 
eilends  zur  Hölle.  Fritz  legte  sich  nieder  und  gelangte  des  anderen  Morgens 
wohlgemut  wieder  unter  Menschen  und  glücklich  an  seinen  Bestimmungsort.  Dann 
lebte  er  fleissig  bei  seinen  Geschäften  in  den  Tag  hinein. 

Eines  Tages  klopfte  ihm  der  Tod  auf  die  Schulter  und  sprach:  „Komm  mit!" 
„Warte  ein  bisschen,"  sagte  Fritz,  „ich  muss  mir  noch  meinen  Sack  holen." 
Kaum  hatte  er  diesen  gefunden,  als  er  rief:  „Marsch  hinein!"  Alsbald  lag  auch 
schon  der  Tod    im  zugebundenen  Sack  in  einem  Winkel.      Natürlich  konnte  jetzt 


1)  [Vgl.  Grimm,    KHM.  81.     Kühler,   AufsUtze    S.  Gl.     Bolle,   Zs.  f.  dtseh.  Phil. 
.".1)9.     Oben  IG,  l»i»'.| 


Kleine  Mitteilungen.  105 

niemand  mehr  sterben,  und  es  wurden  bald  soviel  Menschen  auf  der  Erde,  dass 
einer  neben  dem  anderen  kaum  stehen  konnte.  Die  damit  verbundene  allgemeine 
Not  ging  Fritz  zu  Herzen;  er  erinnerte  sich  des  gefangenen  Todes  und  gab  ihn 
wieder  frei.  Sogleich  brach  eine  furchtbare  Seuche  aus,  und  alles  starb,  was 
während  der  Gefangenschaft  des  Todes  demselben  hätte  anheimfallen  sollen;  Fritz 
aber  blieb  am  Leben,  weil  sich  der  Tod  an  ihn  nicht  heranwagte.  Da  er  aber 
jetzt  allein  dastand  ohne  Freund  und  seinesgleichen,  wurde  er  des  Lebens  über- 
drüssig. Er  erinnerte  sich  seines  guten  Freundes,  des  heiligen  Petrus,  sattelte 
seinen  Schimmel  und  ritt  zur  Himmelstür.  Petrus  aber  wollte  ihn  nicht  einlassen. 
„Habe  ich  dir  nicht  gesagt;  Vergiss  das  beste,  die  Seligkeit,  nicht!  Jetzt  kann 
ich  dir  nicht  helfen,"  sagte  der  Heilige  und  schlug  die  Himmelstür  zu.  Ent- 
schlossen wanderte  nun  Fritz  der  Hölle  zu.  Dort  aber  hielten  gerade  seine  drei 
Teufel  Wache.  Kaum  hatten  sie  ihren  Mitspieler  erblickt,  so  flog  die  Höllen- 
pforte dröhnend  zu.  Sie  fürchteten  eine  neue  Auflage  der  Prügel  und  hatten  doch 
die  alten  noch  in  zu  guter  Erinnerung. 

Traurig  ritt  Fritz  zu  St.  Petrus  zurück.  Dieser  wollte  abermals  nicht  öffnen. 
Da  jedoch  gerade  ein  Zug  selig  Verstorbener  nahte,  musste  er  diesen  doch  das 
Himmelstor  aufmachen.  Jetzt  gab  der  alte  Soldat  kurz  entschlossen  seinem 
Schimmel  die  Sporen  und  sprang  über  die  Köpfe  der  Eintretenden  und  den 
heiligen  Petrus  selbst  mitten  in  das  Himmelreich  hinein. 

Pulnek.  Doniitius  Stratil. 


Die  schönste  der  Feeu. 

Rumänisches  Märchen.') 

Es  war  einmal  ein  grosser,  mächtiger  Kaiser,  der  hatte  drei  Söhne.  Als  sie 
erwachsen  waren,  zerbrach  er  sich  den  Kopf,  wie  er  es  mache,  sie  glücklich  zu 
verheiraten.  Kann  sein,  dass  er  einmal  nachts  ein  Gesicht  hatte;  morgens 
berief  er  seine  Söhne;  sie  bestiegen  die  Warte  eines  Turmes,  der  im  Garten  stand. 
Jeder  der  Söhne  musste  Pfeil  und  Bogen  nehmen  und  schiessen.  „Schiesst, " 
sagte  der  Kaiser,  „und  wohin  der  Pfeil  eines  jeden  fällt,  dort  ist  sein  Glück." 

Die  Söhne  unterwarfen  sich  ohne  viel  Widerrede;  denn  sie  waren  überzeugt, 
dass  der  Vater  wüsste,  was  er  spreche.  Sie  schössen,  und  der  Pfeil  des  ältesten 
Sohnes  blieb  im  Hause  eines  benachbarten  Kaisers  hängen,  der  des  zweiten  im 
Hause  eines  mächtigen  Bojaren  des  Kaisers;  aber  der  Pfeil  des  jüngsten  erhob 
sich  in  den  hohen  Himmel.  Sie  verrenkten  sich  die  Hälse,  ihm  nachzusehen, 
nach  und  nach  entschwand  er  ihren  Augen.  Endlich  sahen  sie  ihn  herabfallen 
und  in  einem  hohen  Baume    stecken  bleiben,    der  in  einem  grossen  Walde  stand. 

[Die  beiden  älteren  Söhne  ziehen  aus,  jeder  holt  sich  eine  schöne  Braut  und 
kehrt  mit  ihr  heira.l 


1)  t'bersetzt  aus  F.  Ispirescu,  Legende  sau  basmele  Romäniloru  1882  S.211  — L'IS: 
'Dina  pinelorü'.  Wiirtlich  bis  auf  drei  gekürzte  Stellen,  die  durch  Klammern  kenntlich 
gemacht  sind.  —  [1.  Pfeile,  von  den  heiratslustigen  Prinzen  abgeschossen  (K.  Köhler, 
Kleinere  Schriften  1,  :')10.  .J.j4).  —  -2.  Tierhaut  der  Braut  verbrannt  (R.  Köhler  1,  37t)).  — 
3.  Der  Jüngling  sucht  die  entschwundene  Fee  und  nimmt  streitenden  Erben  mehrere 
Wunschdinge  fort  (R.  Köhler  1,  308:  Liombruno).  —  -1.  Unsichtbar  weilt  er  im  Palast 
der  Fee  (R.  Köhler  2,  409.  412).] 


|0(j  Richter: 

Auch  clor  jüngste  zog  aus.  Er  durchmass  die  Welt,  bis  er  zu  dem  grossen 
Walde  kam,  wo  sein  Pfeil  hängen  geblieben  war.  Er  tappte  durch  den  dichten  Wald 
und  stiess  endlich  auf  den  Baum,  wo  sein  Pfeil  steckte.  Dieser  Baum  war  hoch  und 
dick  und  alt,  aus  der  Zeit,  als  Gott  die  Welt  erschuf.  Er  kroch  hinauf,  bis  es 
ihm  gelang,  sich  an  einen  Zweig  zu  hängen.  Und  nun  gings  von  Zweig  zu 
Zweig,  bald  an  den  Händen,  bald  an  den  Füssen  hängend,  bis  in  den  Wipfel. 
Dort  streckte  er  die  Hand  aus  und  nahm  seinen  Pfeil.  Voll  Trauer  und  Sorge  in 
der  Brust  kam  er  unten  an,  bei  dem  (icdanken,  dass  er  ohne  alles  Glück  bleibe, 
denn  das,  meinte  er,  hätte  er  doch  in  dem  Baume  finden  sollen.  Nicht  genug,  dass 
er  dort  nicht  .sein  Glück  gefunden  hatte,  nicht  genug,  dass  er  einen  solchen  Weg 
umsonst  zurückgelegt  hatte,  es  ereignete  sich  noch,  dass  als  er  sich  von  dem  Baume 
entfernen  wollte,  eine  Eule  sich  an  seinen  Rücken  klammerte.  HuppI  hinauf,  hupp! 
hinunter  zuckte  er  mit  den  Achseln,  damit  die  Eule  ihm  vom  Rücken  gehe,  um- 
sonst. Sie  hakte  sich  an  ihn,  die  Teufelin,  mit  Krallen  wie  ein  verzauberter 
Häher  und  liess  auch  nicht  einen  Augenldick  locker. 

Wieder  drehte  er  sich  und  wendete  er  sich,  dass  er  sich  vor  dieser  Unannehm- 
lichkeit rette,  aber  umsonst.  Da  er  sah,  dass  es  so  war,  entschloss  er  sich,  nach 
Hause  zu  gehen  mit  der  Hexe  auf  dem  Rücken,  und  begab  sich  auf  den  Weg.  Unter- 
wegs bemerkte  er  auch,  dass  andere  sechs  Eulen  sich  hinter  ihm  hielten.  & 
ging,  der  Ärmste,  mit  dem  Gefolge  auf  den  Fersen  und  gedachte  wenigstens  nachts 
nach  Hause  zu  kommen,  damit  er  nicht  auch  noch  den  Gassenbuben  zum  Spotte 
werde.  Als  er  .in  seine  Kammer  eintrat,  setzte  sich  jede  Eule  irgendwo  hin,  iiber 
die  siebente,  die  ihm  auf  dem  Rücken  gehockt  hatte,  setzte  sich  in  sein  Bett. 

Wieder  stand  er,  der  arme  Wicht,  dachte  und  überlegte  und  dachte,  und 
schliesslich  kam  er  zu  dem  Entschlüsse,  es  gehen  zu  lassen,  es  werde  daraus, 
w^as  werden  wolle,  um  so  mehr  da  er  sich  von  der  Hexe  auf  seinem  Rücken 
befreit  sah. 

Und  da  er  von  Müdigkeit  ganz  gebrochen  war  nach  einer  solchen  Wanderung 
und  nach  all  dem  Merkwürdigen,  was  sich  unterwegs  begeben  hatte,  schlief  er, 
kaum  dass  er  nur  den  Kopf  senkte,  als  ob  er  mit  dem  Kopfe  in  eine  Kante  ge- 
fallen wäre. 

Am  nächsten  Tage,  was  sehen  seine  Augen?  Neben  ihm  im  Bette  eine  so 
schöne  Fee,  dass  bei  ihrem  Anblick  jeder  verstummt,  er  sei,  wer  er  sei.  Aber 
zu  Häupten  des  Bettes  waren  sechs  Dienerinnen,  eine  schöner  als  die  andere. 
Ferner  sah  er  in  einem  Winkel  des  Gemaches  sieben  Eulenhiiutc,  eine  über  die 
andere  geworfen. 

[Der  älteste  Bruder  heiratet,  der  jüngste  erscheint  allein  auf  der  Hochzeit, 
da  die  Fee  nicht  mitkommt.] 

Plötzlich  überraschte  sie  ihn  uml  reihte  sich  neben  ihn  in  den  Tanz.  Er 
kannte  sich  nicht  vor  Freude,  als  er  sie  sah.  Er  durfte  wahrhaftig  prahlen; 
im  ganzen  Kaiserreiche  und  dem  der  Nachbaren  fand  man  nicht  ihresgleichen. 
Alle  Hochzeitsgäste  waren  wie  geblendet;  die  anderen  Kaisersöhne  und  die 
Herren,  die  zur  Hochzeit  geladen  waren,  umlagerten  die  Dienerinnen,  die  mit  der 
Fee  gekommen  waren,  und  jeder  bemühte  sich,  an  ihrer  Seite  zu  tanzen.  So 
unterhielten  sie  sich  bis  zum  Abend.  Bei  Tische  setzte  sich  die  Fee  neben  den 
jüngsten  Sohn  des  Kaisers.  Sie  assen  und  belustigten  sich  bis  Mitternacht.  Dann 
ging  jeder  nach  Hause.  Der  jüngste  Sohn  dos  Kaisers  ging  in  sein  Gemach.  Die 
Fee  hinter  ihm.  Sie  legten  sich  nieder  und  schliefen  wie  richtige  Kaiser.  Als  er 
morgens  aufstand  und  die  Eulenhäutc  da  liegen  sah,  ergriff  ihn  ein  Zittern  vor  Ekel 
bei  der  Vorstellung,  was  sie  in  ihnen  leiden  müsste. 


Kleine  Mitteilungen.  '  107 

[Auch  die  Hochzeit  des  zweiten  Sohnes  wird  gefeiert;  der  jüngste  kommt 
wieder  allein.     Die  Fee  taucht  plötzlich  wieder  zum  Tanze  auf.] 

Sein  Herz  schlug  höher  vor  Freude  und  Stolz,  besonders  als  er  sah,  dass  den 
anderen  Kaisersöhnen  und  Herren  das  Wasser  im  Munde  zusammenlief  nach 
einem  solchen  Bissen.  Sie  mussten  sozusagen  die  Erdbeeren  stehen  sehen  und 
die  Blätter  essen.  Sie  machten  ihrem  Unmut  Luft,  indem  sie  mit  den  Dienerinnen 
tanzten.    Abends  setzte  man  sich  wieder  zu  Tisch. 

Der  jüngste  Sohn  des  Kaisers  (der  Teufel  legt  es  ihm  in  den  Sinn)  steht  vom 
Mahle  auf,  geht  in  sein  Gemach,  nimmt  die  Eulenhiiute  und  wirft  sie  ins  Feuer. 
Dann  kommt  er  und  setzt  sich  vvieder  zu  Tische. 

Auf  einmal  entstand  eine  Bestürzung  unter  den  Tischgenossen.  Und  das  war 
es:  Eine  der  Dienerinnen  rief:  „Herrin,  wir  sind  in  Gefahr!''  Die  andere  sagte: 
„Herrin,  mir  riecht  es  nach  Gesengtem!  Es  ist  um  uns  geschehen."  .\ber  sie 
antwortete:  „Schweig!  Just  habt  ihr  euch  zur  Tafel  eingefunden  und  sprecht  Un- 
angenehmes?" —  Es  dauerte  nicht  lange,  so  sagte  die  dritte:  ..Herrin,  es  gibt 
kein  Entrinnen;  wir  sind  elend  verkauft  und  verraten." 

In  diesem  Augenblicke  spürte  sie  selbst  etwas  in  der  Nase.  Der  Geruch 
der  versengten  Häute  war  wohl  auch  zu  ihr  gedrungen.  Plötzlich  erhoben  sie 
sich  alle  von  der  Tafel  und  verwandelten  sich  in  sieben  Tauben.  Dann  sagte 
die  Fee  zum  jüngsten  Sohne  des  Kaisers: 

„Du  bist  undankbar  gewesen.  Ich  bin  in  gutem  zu  dir  gekommen.  Nun  lebe 
wohl!  Bis  du  nicht  zuwege  bringst,  zu  tun,  was  kein  Mensch  auf  der  Welt  getan 
hat,  wird  deine  Hand  mich  nicht  berühren."  Sie  erhob  sich  in  den  hohen 
Himmel  und  entschwand  seinen  Augen. 

Umsonst  baten  die  Tischgenossen  den  jüngsten  Sohn  des  Kaisers,  dass  er  sich 
wieder  an  die  Tafel  setze,  umsonst  ermutigten  ihn  Eltern  und  Brüder,  sich  keinen 
Kummer  zu  machen,  er  blieb,  die  Augen  nach  der  Taube  gerichtet,  und  setzte  sich 
nicht  wieder  zu  Tisch. 

Am  nächsten  Tage  in  der  Morgendämmerung  brach  er  auf,  seine  Braut  zu 
suchen.  Er  fühlte  wohl,  dass  er  ohne  sie  nicht  leben  könne.  Er  nahm  Abschied 
von  den  Eltern  und  Brüdern  und  begab  sich  auf  die  Wanderung. 

Er  durchzog  Berge,  Täler,  Hügel,  betrat  nie  betretene,  undurchdringliche  Wälder, 
kam  zu  Sümpfen  und  Lachen  und  konnte  nicht  auf  die  Spur  der  Tauben  kommen. 
Er  dachte  und  forschte,  er  suchte  und  fragte,  doch  ohne  Erfolg.  Mit  gebrochenem 
Mut,  mit  sorgengequälter  Seele  und  glühender  Sehnsucht  nach  der  Geliebten 
wanderte  er  wie  ein  Drache,  wie  ein  Held.  Aber  alles  umsonst.  Einmal  kam  es  ihm 
in  den  Sinn,  sich  ein  Leid  anzutun,  sich  in  den  Fluss  zu  stürzen  oder  den  Kopf  gegen 
die  Steinkanten  der  Berge  zu  schlagen;  aber  etwas  in  seiner  Seele  sagte  ihm,  dass 
einmal,  einmal  all  sein  Ungemach  enden  könne,  und  plötzlich  kam  er  zu  sich  und 
begab  sich  neuerdings  auf  den  Weg  mit  grösserem  Mut  und  stark  in  der  Über- 
zeugung, dass  wer  genau  und  beharrlich  sucht,  auch  finden  und  ans  Ziel  Icommen  muss. 

Gebrochen  von  Müdigkeit,  setzte  er  sich  ein  wenig  in  den  Schatten  in  einem 
Tälchen,  um  auszuruhen  und  etwas  zu  Kräften  zu  kommen  Und  wie  er  dort  war, 
überkam  ihn  der  Schlaf.  Plötzlich  wachte  er  durch  einen  Lärm  von  menschlichen 
Reden  auf  und  sprang  in  die  Höhe.  Was  sieht  er?  Drei  Teufel,  die  mit- 
einander streiten,  Schaum  vor  dem  Munde.  Er  ging  geradeaus  auf  sie  zu  und  sagte 
ihnen:  „Kein  Streit  ohne  Schlägerei  wie  keine  Hochzeit  ohne  Musikanten.'"  — 
„Das  passt  wie  die  Faust  aufs  Auge,"  antworteten  sie;  „wir  streiten  ja  gar  nicht, 
wir  zanken  uns  nur."  —  „Und  warum  zankt  ihr  euch?"  fragte  er;  ..denn  das 
Geschrei,  das  ihr  macht,  könnte  einen  Toten  aufwecken."  —  „Sieh,  wir  haben  vom 


108  Richter,  Rona: 

Vater  eine  Erbsehaft:  ein  paar  ()pani;en  und  eine  Kappe  und  eine  Peitsche,  und 
wir  können  uns  nicht  vergleichen,  was  jeder  sich  nehmen  soll."  —  ..Wozu  ist  denn 
der  Plunder  gut,  um  den  ihr  zankt?''  —  „Wenn  jemand  die  Opanken  anzieht,  so 
geht  er  übers  Meer  wie  über  trockenes  Land;  wenn  er  die  Kappe  aufsetzt,  sieht 
ihn  nicht  einmal  der  Teufel,  und  wenn  er  ihm  mit  dem  Pinger  ins  Auge  Hihrt.  Aber 
wenn  er  die  Peitsche  in  der  Iland  hält  und  sie  über  seine  Feinde  schwingt,  ver- 
steinert er  sie."  —  „Da  habt  iiir  recht,  dass  ihr  zankt,  meiner  Treu!  Aber,  eines 
ohne  das  andere  taugt  der  Plunder  nicht  mehr  als  zwei  gefrorene  Zwiebeln.  Seht, 
was  mir  einfallt,  und  wenn  ihr  auf  mich  hören  wollt,  so  spreche  ich  euch  menschliches 
Recht."  —  n^^'^i''  hören,  wir  hören,"  schrien  die  Teufel  wirr  durcheinander,  „sprich  I 
Wir  werden  sehen."  —  „Seht  ihr  die  drei  Berge,  die  uns  hier  gegenüber  stehen? 
Jeder  von  euch  besteige  einen  von  ihnen,  dann  werde  ich  euch  ein  Zeichen  geben, 
und  wer  dann  am  raschesten  herabliluft,  dem  soll  alles  gehören."  —  ^Das  hat 
Euer  Gnaden  gut  gesprochen!  So  wollen  wirs  machen.  Hravo!  Da  haben  wir 
einen  Menschen  getroffen,  der  uns  Recht  spricht."  Und  sofort  flogen  sie  davon, 
jeder  auf  einen  anderen  Berg. 

Eins,  zwei,  zog  der  Held  die  Opanken  an,  setzte  sich  die  Kappe  auf  und 
nahm  die  Peitsche  in  die  Iland.  Als  die  Teufel  auf  den  Berggipfeln  ankamen 
und  warteten,  dass  er  ihnen  ein  Zeichen  gäbe,  schwang  der  jüngste  Sohn  des 
Kaisers  dreimal  die  Peitsche,  nach  jedem  der  drei  Teufel  zu,  und  versteinerte  sie 
an  Ort  und  Stelle.  Dann  machte  er  sich  auf  den  Wi>g  in  seiner  eigenen  An- 
gelegenheit, woliin  ihn  die  Sehnsucht  trug. 

Kaum  hatte  er  etwa  zehn  Schritte  gem.acht,  als  er  einen  Zug  von  sieben 
Tauben  sah.  Er  folgte  ihnen  mit  den  Augen,  bis  er  sah,  wo  sie  sich  niederliessen. 
Dorthin  richtete  er  also  die  Wanderung,  auf  der  er  sich  seit  so  langer  Zeit  be- 
mühte. Er  ging  über  Meere  und  Wässer  wie  auf  dem  Trockenen:  endlich  kam  er  zu 
einem  hohen,  hohen  Berg,  dessen  Gipfel  bis  in  die  Wolken  reichte.  Dort  hatte 
er  gesehen,  dass  sich  die  Tauben  niederliessen.  Er  machte  sich  daran,  hinauf- 
zusteigen, und  von  einer  Schlucht  zur  anderen,  von  Steinwänden  zu  Felszacken, 
von  Abhang  zu  Abhang,  bald  an  die  Kanten,  bald  an  den  First  der  Berge  ge- 
klammert, so  erreichte  er  eine  Höhle.  Eintretend,  blieb  er  wie  vom  Donner 
gerührt,  als  er  einen  Palast  sah  wie  für  einen  Herrscher  und  meisterlich  auf- 
geführt, wie  man  es  auf  unserer  Erde  nicht  sieht.  Dort  wohnte  seine  Braut,  die 
schönste  der  Feen.  Als  er  sie  durch  den  Garten  spazieren  gehen  sah  mit  den 
Dienerinnen  hinter  ihr,  erkannte  er  sie.  Ein  Kind  von  grosser  Schönheit  folgte 
ihr  munter,  belustigte  sich  unter  den  Blumen  und  rief  fortwährend  die  Fee  an, 
dass  sie  ihm  alle  Schmetterlinge  zeige.  Vermutlich  war  die  Fee  schwanger  ge- 
wesen, als  sie  von  der  Tafel  wegflog,  und  das  war  nun  sein  und  ihr  Kind. 

Der  jüngste  Sohn  des  Kaisers  kannte  sich  nicht  vor  Freude.  Er  hätte  wie 
ein  Toller  hinrennen,  das  Kind  nehmen  und  küssen  mögen.  Aber  er  wollte  lieber 
niemand  erschrecken.  Ihn  selbst  sah  ja  niemand,  da  er  die  Kappe  auf  dem  Kopfe 
hatte.  Es  fing  an  zu  dämmern,  und  er  wusste  nicht,  wie  er  sich  zeigen  solle. 
.\ls  bald  darauf  die  Fee  zu  Tisch  gerufen  wurde,  ging  auch  er  und  setzte  sich 
zwischen  sie  und  das  Kind.  Die  Speisen  wurden  aufgetragen.  Er  ass  wie  ein 
hungriger  Wolf,  denn  er  erinnerte  sich  gar  nicht  mehr,  seit  wann  er  nicht  mehr 
warmes  Gemüse  gegessen  hatte.  Die  Fee  wunderte  sich,  dass  die  Speisen  so 
rasch  zu  Ende  gingen,  und  befahl,  noch  mehr  aufzutragen.  Aber  aucli  dies  war 
in  einem  Nu  verschwunden. 

Inzwischen  verschob  er  ein  klein  wenig  die  Kappe  auf  der  Seite,  wo  das 
Kind  sass;  plötzlich  erblickte  es  ihn  und  rief:  „Sieh  den  A'ater,  Mutler!"  —  „Dein 


Kleine  Mitteilungen.  \Q\) 

Vater,    mein  Liebling,    wird    nicht    auf  uns    stossen,    bis    er    nicht  eine  Zaubertat 
vollbracht  hat,"  erwiderte  die  Mutter. 

Er  zog  sich  rasch,  rasch  die  Kappe  über  die  Augen  und  begann  wieder  zu 
essen,  dass  es  schien,  als  schlügen  die  Wölfe  in  seiner  Kehle  eine  Schlacht. 
Als  auch  diese  Speisen  zu  Ende  waren,  befahl  die  Fee  voll  Verwunderung,  noch 
andere  zu  bringen,  damit  es  doch  genug  wäre. 

Der  Kaisersohn  zeigte  sich  wieder  ein  bisschen  dem  Kinde,  voll  Freude,  dass 
sein  Sohn  ihn  erkannte.  Das  Kind  sagte  es  wieder  der  Mutter,  und  diese  glaubte 
wieder,  es  sehe  schlecht;  denn  es  kam  ihr  nicht  in  den  Sinn  zu  glauben,  ihr 
Mann  habe  irgendwelche  Wundertaten  vollbracht,  durch  die  er  zu  ihr  gelangen 
könne.  Sie  wusste,  dass  nicht  einmal  ein  Zaubcrvogel  dahin  gelangen  konnte. 
Das  Kind  schwieg,  darum  zog  der  Vater  sich  die  Kappe  sogleich  über  die 
Augen. 

Er  ass  wieder,  bis  die  Speisen  zu  Ende  waren.  Wahrhaftig,  er  ass  und  konnte 
nicht  satt  werden.  Da  nun  nichts  mehr  da  war,  was  man  auf  den  Tisch  setzen 
konnte,  fing  die  Fee  an  zu  schelten,  dass  für  die  Dienerinnen  nichts  übrig  ge- 
blieben sei.  Da  plötzlich  begann  das  Kind  wieder  zu  schreien:  „Mutter,  siehst 
du,  dass  es  der  Vater  ist!"  —  ,Aber  wo  ist  er  denn?  Sprichst  du  denn  ganz  irre?" 
„Ganz  und  gar  nicht  spreche  ich  irre,  nicht  im  geringsten.  Sieh  ihn  doch,  er  ist 
hier  bei  mir,  sieh,  und  nimmt  mich  in  den  Arm."  Die  Fee  erschrickt,  wie  sie 
das  hört.  Aber  nun  zaudert  er  nicht  länger,  sich  zu  zeigen,  damit  sich  nicht 
etwas  Schlimmes  ereigne.  Die  Kappe  vom  Kopf  nehmend,  sagte  er:  „Da  hast  du 
mich  selbst.  Du  hast  unserem  Sohne  nicht  glauben  wollen,  als  er  dir  sagte,  er 
habe  mich  gesehen.  Ich  habe  nicht  gewusst,  was  ich  denken  soll,  wie  ich  die 
widerlichen  Häute  sah,  und  ich  habe  gemeint,  etwas  Gutes  zu  tun,  wenn  ich 
sie  verbrenne,  damit  ich  euch  von  ihnen  erlöse."  —  „So  sind  wir  verurteilt  ge- 
wesen, zu  leiden,"  antwortete  die  Fee.  „Aber  lass  jetzt  die  vergangenen  Leiden 
und  erzähle  mir,  wie  es  dir  gelungen  ist,  bis  hierher  zu  kommen!" 

Darauf  erzählte  er  alle  seine  Abenteuer,  alles  was  er  erlitten.  Sie  umarmten 
sich,  er  küsste  das  Kind  und  blieb  mit  ihnen  dort.  Er  wollte,  dass  sie  wieder 
auf  die  Erde  zurückkämen,  und  sie  gehorchte.  Sie  kehrten  zusammen  zum  Kaiser, 
dem  Vater  des  Helden,  zurück;  dort  wurde  die  Hochzeit  gefeiert,  dass  man 
in  der  ganzen  Welt  davon  sprach.  Da  der  Kaiser  alterte,  wählten  Volk  und 
Bojaren  den  jüngsten  Sohn  zum  Kaiser,  weil  er  ein  kräftiger  Rumäne  war,  von 
lauterem  Sinne  und  geradem  Verstand.  Und  sie  lebten  und  herrschten  in  Glück, 
und  ihr  Name  und  ihr  Andenken  leben  für  alle  Zeit. 

Wien.  Elise  Richter. 


Ungarische  Yolksmärchen.^) 

4.   Der  Holzgeschnitzfe  Peter.-) 

Es  war  einmal  ein  guter  Landwirt  und  seine  Frau,  die  hatten  nie  ein  Kind 
gehabt.  Einstmals  sprach  der  gute  Landwirt  zu  seiner  Frau:  „Na  Frau,  ich  habe 
mir  was  ausgedacht."  —  „AVas  denn,  Vater?"  —  „Nichts  anderes,  als  dass  ich  in 
den  Wald  gehen  werde  und  ein  Kind  aus  Holz  schnitzen."      Darüber  lachten  das 


1)  Vgl.  oben  13,  70—75. 

2)  Übersetzt  aus  Magyar  Nepköltesi  Gyüjtemeny  7,  372  =  Mailand  Oszkär,  Szekely- 
földi  Gyüjtes    No.  1   (Fäböl-Faragott  Peter;.     Vgl.    über   diese  Sammlung  oben   16,   470. 


IIQ  Roiia: 

Gesinde  und  die  Frau  sehr,  dass  er  aus  Uolz  ein  Kind  schnitzen  wollte.  „Na 
also  Frau,  packe  mir  Essen  für  drei  Tage  ein,  damit  ich  in  den  Wald  f,^ehen 
kann!"  Die  Frau  packte  ihm  auch  Brot,  Speck  und  einen  Krug  mit  gutem  Brannt- 
wein ein,  und  der  Landwirt  zog  hinaus  in  das  grosse  Schneegebirge. 

Dort  traf  er  einen  Mann,  der  einen  Getreidekasten  zimmerte.  „Gott  zum 
Gruss,  lieber  Mann!"  —  „Schönen  Dank,  guter  Mann!'^  —  „Was  führt  Euch 
hierher?"  —  ,,Nur  eine  Kleinigkeit,'^  sagte  dieser,  „aber  lasst  uns  niedersitzen 
und  ein  bisschen  Branntwein  trinken!"  Sie  setzten  sich  auch  nieder  und  lingen 
an  von  dem  guten  Branntwein  zu  trinken.  Als  sie  tranken,  sagt  der  Landwirt: 
^Gebt  mir  einen  kleinen  Klotz!  Ich  bezahle  ihn  mit  Geld."  —  ^Wir  verlangen 
nichts  dafür:  aber  wenn  wir  können,  helfen  wir  Euch."  —  „Ich  brauche  keine 
Hilfe,  aber  wenn  Ihr  ihn  aufspalten  würdet,  würde  ich  es  Euch  danken.'-  Da 
spaltete  er  ihn  schnell,  und  er  nahm  ihn  und  schnitzte  ein  Kind. 

Abends  kam  er  mit  dem  Kinde  heim,  gerade  als  das  Abendbrot  fertig  wai'. 
Laut  lachten  das  Gesinde  und  seine  Frau,  dass  er  ein  Kind  aus  Holz  brachte. 
Dann  stellte  er  es  in  den  Türwinkel,  und  sie  setzten  sich  an  den  Tisch  und  assen 
zu  Abend.  Als  sie  gegessen  hatten,  blieb  noch  ein  bisschen  Essen  übrig.  Sprach 
die  Frau:  „Na,  gerade  unseres  Sohnes  Teil  ist  übrig  geblieben."  Dann  gingen 
sie  schlafen.  Da  sagte  die  Frau  zu  ihrem  Mann:  „Geht,  Vater,  holt  das  Kind; 
wir  wollen  es  zwischen  uns  legen,  wenn  es  nun  doch  einmal  unser  Kind  ist."  Da 
stand  der  Landwirt  auf,  nahm  das  Kind  und  legte  es  zwischen  sie.  Sie  schliefen  ein. 
Auf  einmal,  gegen  Mitternacht,  beginnt  das  Kind  zu  reden:  „üeda,  meine 
liebe  gute  Frau  Mutter,  schlaft  Ihr  fest?"  —  «Wir  schlafen  nicht,  mein  liebes 
Kind."  —  „Na,  wenn  Ihr  nicht  schlaft,  steht  auf  und  gebt  mir  mein  .•Vbendbrotteil 
her,  dass  ich  es  esse!"  Im  Nu  wurden  alle  wach  und  gewahrten  mit  grossem 
Staunen,  wie  das  Kind  aus  Holz  wirklicli  lebendig  wurde.  Sic  waren  voller  Freude 
und  unterhielten  sich,  bis  es  schon  tagte. 

Als  es  tagte,  riefen  sie  den  Pfarrer,  dass  er  es  taufe,  und  als  Paten  luden  sie 
den  Stuhlrichtur  und  den  Dorfrichter.  Der  Pfarrer  kam  herbei;  aber  er  glaubte 
es  nicht  und  lachte,  dass  sie  ein  Kind  hätten,  und  sah  erstaunt,  dass  da  wirklich 
das  lebendig  gewordene  Kind  war.  Fragte  der  Pfarrer,  wie  sie  es  taufen  wollten. 
Da  rief  der  Knabe:  „Natürlich  Aus  Holz  geschnitzter  Peter".  Da  taufte  ihn  auch 
der  Pfarrer  Holzgeschnitzter  Peter. 

Als  er  drei  Tage  alt  war,  bat  er,  dass  sie  ihn  auf  die  Gasse  liessen,  damit 
er  sich  einen  Gespielen  suche.  Der  kleine  Knabe  ging  hinaus  vors  Tor,  und  als 
er  hinausgetreten  war,  da  wartete  gerade  ein  Knabe  auf  ihn.  PVagte  der  Holz- 
geschnitzte Peter:  „He,  Geselle,  wohnt  in  dieser  Stadt  ein  Schwertmeister?"  Ent- 
gegnete der  kleine  Knabe:  „Na  und  ob,  Bruder!  Gerade  dort  drüben  wohnt  er, 
nicht  weit  von  hier."  —  «N'a,"  sagte  er,  „warte  ein  bisschen!  Ich  laufe  nur 
hinein;  aber  ich  komme  gleich  wieder."  Damit  ging  er  hinein  zu  seinem  Vater 
und  sprach:  „Seid  so  gut  und  gebt  mir  acht  Kreuzer!"  —  „O  mein  liebes  Kind, 
dort  ist  Gold,  Silber,  Demanten;  nimm  dir  nur,  soviel  du  brauchst!"  Sprach  der 
Knabe:  „Ich  brauche  nur  acht  Kreuzer." 

Damit  lief  er  hinaus  und  ging  mit  seinem  Geführten  zum  Schwertmeister  und 
ging  hinein.  Sprach  der  Holzgeschnitzte  Peter:  „Gott  zum  Grusse,  Herr  Schweri- 
meister!  Seid  so  gut,  gebt  mir  für  acht  Kreuzer  jenes  Schwert,  das  Ihr  zuerst 
machtet!"  Sprach  der  Schwertmeister  zum  kleinen  Knaben:  „0  mein  liebes 
Brüderchen,  das  hat  der  Rost  schon  aufgefressen:  aber  hier  sind  kupfer-,  gold- 
uud  demantgriffige.  Welches  dir  gefällt,  das  nimm!  Ich  verlange  dafür  keinen 
Kreuzer."  —  „Das  gehört  nicht  in  eines  Knaben  Hand,"  sprach  der  Holzgeschnitzte 


Kleine  Mitteilungen.  1 1 1 

Peter,  ,,aber  sucht  jenes  Schwert  heraus,  an  welchem  Ihr  zuerst  lerntet!  Das 
brauche  ich."  Da  ging  der  Schwertmeister  und  wühlte  so  lange  unter  den 
Schwertern,  bis  er  jenes  rostige  Schwert  zu  fassen  bekam,  das  er  zuerst  gemacht 
hatte.  Wiederum  begann  er  herumzuwühlen  und  griff  jene  Scheide,  in  die  das 
Schwert  passte.  „Na  also,  hier  ist  das  Schwert,  das  ich  zuerst  machte."  Der 
Holzgeschnitzte  Peter  nahm  das  Schwert,  gürtete  es  um  Und  sieh,  es  passte  so 
auf  seinen  Leib,  als  ob  es  auf  seiner  Hüfte  gewachsen  wäre.  Sprach  der  Holz- 
geschnitzte Peter;  „Nun,  hier  sind  die  8  Kreuzer;  denn  das  erste  Werk  rauss  man 
auch  bezahlen.'-     Dann  ging  er  in  grosser  Freude  heim. 

Gerade  anderen  Tags  gab's  einen  Jahrmarkt  in  jener  Stadt.  Da  sagte  der 
Holzgeschnitzte  Peter  zu  seinem  lieben  Vater:  „Lieber  Vater,  wir  wollen  in  die 
Stadt  gehen,  damit  ich  sehe,  was  da  los  ist."  —  „Aber  ich  wollte  gerade  auch, 
lieber  Sohn,  dass  wir  gehen  und  zwei  Ochsen  kaufen."  Sie  gingen  auf  dem  Platz 
zwischen  den  Ochsen  herum;  da  hören  sie  plötzlich,  dass  ausgerufen  wird,  hier 
seien  zwei  Ochsen  mit  zwei  Goldketten  zusammengebunden.  Wenn  sich  ein  Held 
fände,  der  die  Ketten  entzweischlüge,  dessen  sollten  die  zwei  Ochsen  sein.  Sprach 
der  Holzgeschnitzte  Peter  zu  seinem  lieben  Vater:  „Lasst  uns  dorthin  gehen,  mein 
Vater,  auf  dass  ich  sehe,  was  für  zwei  Ochsen  das  sind!"  —  „Das  wollte  ich 
gerade  auch,  mein  lieber  Sohn."  Und  da  sahen  sie,  dass  es  zwei  schöne  Gold- 
ochsen waren;  aber  es  waren  schon  so  viele  der  verstümmelten  Schwerter  um 
sie  herum,  dass  die  vielen  Schwortspitzen  ihnen  schon  bis  an  die  Brust  reichten. 
Sprach  der  Holzgeschnitzte  Peter:  „Wenn  es  erlaubt  wäre,  würde  ich  auch  drein 
hauen.''  Sie  wunderten  sich,  was  dieser  kleine  Knabe  wolle;  aber  sie  mussten 
es  erlauben.  Da  hieb  der  Holzgeschnitzte  Peter  drein,  und  so  zerschlug  er  die 
Goldketten,  dass  der  Schall,  der  Klang  durch  siebzehn  Königreiche  erscholl.  Dann 
warfen  die  beiden  Ochsen  ihre  Schwänze  in  die  Höhe  und  liefen  geradewegs  in 
ihren  Stall.  Da  sagte  der  Mann:  „Nun,  du  Holzgeschnitzter  Peter,  geh  heim  und 
gib  ihnen  das  ihrige!  Doch  wisse,  dass  du  ihnen  vergebens  was  auch  immer  für 
gute  Speisen  anbieten  wirst;  denn  sie  fressen  nur  Glut." 

Na,  dann  ging  der  Holzgeschnitzte  Peter  heim  und  zündete  12  Klafter  Holz 
an.  .41s  die  12  Klafter  Holz  durchgebrannt  waren  und  alles  in  Gilut  geraten  war, 
da  nahm  er  den  Trog  und  schüttete  die  Glut  hinein.  Da  frassen  die  beiden 
Ochsen  die  12  Klafter  Holzglut  bis  auf  die  letzte  Paser  auf.  Und  alsobald  richteten 
sich  die  beiden  Ochsen  auf;  einer  ging  gen  Sonnenuntergang,  einer  ging  gen 
Sonnenaufgang. 

Da  sprach  der  Holzgeschnitzte  Peter  zu  seinem  lieben  Vater:  „Nun,  lieber 
Vater,  kommt  mit  mir!  Ich  werde  Euch  was  zeigen."  Da  kam  sein  Vater,  und 
sie  gingen  hinaus  vors  Tor  Auf  zwei  Stellen  in  der  Türangel  schlug  der  Holz- 
geschnitzte Peter  mit  dem  Finger,  und  aus  einer  Stelle  floss  klarer,  roter  Wein, 
aus  einer  floss  klarer  Branntwein.  „Nun,  lieber  Vater,  stellt  Tische  und  Gläser 
her,  und  jeder  kann  hier  trinken,  soviel  er  mag.  Und  nun,  lieber  Vater,  seht  Ihr 
diesen  Ackerkarren?"  —  „Ich  sehe  ihn,  mein  lieber  Sohn."  —  „Und  seht  Ihr 
auch  diesen  Mühlstein?"  —  „Ich  sehe  ihn,  lieber  Sohn."  —  „Also,  wenn  dieser 
Ackerkarren  sich  vor  die  Tür  stellt,  und  dieser  Mühlstein  von  selbst  auf  den 
Ackerkarren  steigt  und  der  Wein  sich  zu  Wasser  wandelt,  der  Branntwein  jedoch 
zu  rotem  Blut,  dann  wisset,  dass  ich  im  Sterben  liege.  Dann,  wenn  Ihr  mich 
suchen  wollt,  so  setzt  Euch  auf  den  Ackerkarren!  Denn  der  fährt  gerade  dorthin. 
■wo  ich  bin.  Jetzt,  lieber  Vater,  muss  ich  in  die  Welt  ziehen,  mein  Glück  zu 
versuchen,"  Doch  sein  lieber  Vater  bat  den  Holzgeschnitzten  Peter:  „Ziehe  nicht 
Ton    dannen,    mein   Sohn!      Du    hast    hier   genug   zum  Leben,    du    brauchst    kein 


112  Rona,  Roediger:  Kleine  Mitteiluufren. 

Spanchon     anzurühren     und    kannst    dieses    Vermögen    sogar    nicht    einmal    auf- 
brauchen." 

Aber  der  Holzgeschnitzte  Peter  machte  sich  auf;  sieben  Reiche,  sieben  Welten 
durchwanderte  er  und  langte  in  einer  Künigssladt  an.  „Gott  zum  Grusse,  mein 
erlauchter  Vater  König."  -  „Schönen  Dank,  mein  Herr  Bruder.  Was  führt  dich 
her?"  —  „Nichts  Böses  führt  mich  her,  sondern  ich  bin  ausgezogen,  um  zu 
dienen,  mein  Glück  zu  versuchen."  —  „Gerade  jetzt  ist  mein  Tischdiener  ge- 
storben; was  verlangst  du  für  ein  Jahr?"  —  „Ich  verlange  nichts  als  Essen  und 
Trinkon;  am  Jahresschluss  zahlt  mir  nur  das,  was  ich  verdient  habe."  Und  so 
übernahm  also  der  Holzgeschnitzte  Peter  die  Tischbedienung.  So  geschickt  und 
nett  benahm  er  sich,  dass  der  alte  König  ihn  sehr  lieb  gewann.  Der  König  hatte 
eine  Tochter;  die  gewann  dun  Holzgeschnitzton  Peter  so  lieb,  dass  sie  sterben 
wollte,  wenn  man  ihn  ihr  nicht  zum  Gemahl  gäbe.  „Na,"  sagte  der  König,  „ehe 
sie  sich  selbst  umbringt,  lieber  erlaube  ich,  dass  er  sie  heiratet."  Und  darauf 
richteten  sie  eine  grosse  Hochzeit  aus.  Es  kamen  Grafen,  Barone,  Herzöge, 
Prinzen,  Pfarrer,  Henker.  Der  Pfarrer  traute  sie,  der  Henker  peitschte  sie.  Dann 
lebten  sie  am  königlichen  Hof  als  Mann  und  Frau. 

Doch  einstmals  da  kam  ein  Schreiben  an  den  König,  er  solle  alles  in  Reih 
und  Glied  stellen  und  dort  und  dort  sich  zum  Kampf  einfinden.  Als  der  König  das 
gehört  hatte,  weinte  er  sehr.  Fragt  ihn  der  flolzgeschnitzte  Peter:  ..Nun,  mein 
erlauchter  Vater  König,  warum  weinst  du  denn?"  —  „Wie  sollte  ich  nicht  weinen, 
mein  lieber  Sohn,  wenn  solch  ein  Schreiben  anlangt,  ich  soll  alles  in  Reih  und 
Glied  stellen  und  dort  und  dort  soll  ich  mich  zum  Kampf  einfinden!"  —  „Na, 
darum  grämt  Euch  nicht,  mein  erlauchter  Vater  König:  denn  ich  werde  ganz 
allein  dahin  gehen."  —  n'^ch  du  lieber  Sohn,  was  wirst  du  dort  allein  ausrichten! 
Das  wäre  wie  die  Mücke  neben  dem  Büffel." 

Da  zog  der  Holzgeschnitzte  Peter  allein  hinaus,  und  er  hieb  so  tapfer  drein, 
dass  sich  um  ihn  schon  so  viele  Leiber  türmten,  dass  er  nur  noch  oben  den  Arm 
rühren  konnte.     Da  wurde  auch  ihm  das  Haupt  abgeschlagen. 

Und  siehe  da,  eines  Morgens,  als  die  schöne  Dämmerung  anbrach,  da  fuhr 
der  Ackerkarren  vor  die  Tür,  der  Mühlstein  stieg  von  selbst  auf  den  Ackerkarren, 
der  Wein  wandelte  sich  in  Wasser,  der  Branntwein  zu  rotem  Blute.  Da  setzte 
sich  der  Landwirt  auf  den  Ackerkarren  und  fuhr  dorthin,  wo  sie  den  Holz- 
geschnitzten Peter  erschlagen  hatten.  Und  da  sah  er,  dass  so  viele  Leichname 
dort  lagen,  dass  kein  Grashalm  zwischen  ihnen  zu  sehen  war.  Und  von  Sonnen- 
aufgang kam  der  eine  und  von  Sonnenuntergang  der  andere  Goldochse,  so  dass 
der  Mann  meinte,  Himmel  und  Erde  stürzten  zusammen.  Nun  begannen  die 
beiden  Goldochsen  mit  ihren  Hörnern  die  vielen  Leichen  uraherzuschleudern,  bis 
sie  den  Holzgeschnitzten  Peter  herausgeholt  hatten.  Doch  sein  Hals  war  durch- 
schnitten, und  kein  Leben  war  in  ihm.  Da  fragt  der  eine  Ochse  den  anderen: 
„Nun,  was  weisst  du?"  —  „Ich  weiss  ihn  zusammenzufügen.  Und  was  weisst  du?" 
erwiderte  der  andere.  „Ich  weiss  die  Seele  hineinzusenden."'  Da  fügte  ihn 
der  eine  zusammen,  der  andere  blies  die  Seele  ein.  Sprach  der  Holzgeschnitzte 
Peter:  „Ach,  wie  habe  ich  geschlafen!"  —  „Wahrlich,  du  hättest  auf  ewig  ge- 
schlafen, wenn  wir  nicht  gewesen  wären." 

Da  machte  sich  der  Uolzgeschnitzte  Peter  auf,  und  sie  gingen  heim.  Als  sie 
zu  Hause  anlangten,  rief  der  König  die  Grafen,  Barone,  Herzöge,  Prinzen,  aus- 
erlesene Zigeunerburschen  zusammen,  und  sie  wählten  ihn  zum  König.  Noch  bis- 
zum  heutigen  Tag  führt  er  die  Königsherrschaft,  wenn  er  nicht  gestorben  ist. 

Berlin.  P^lisabet  Rona-Sklarek. 


Ileusler;  Bericlite,  und  Büclieranzeigcn.  113 

Alhei-t  Voss  t-0 

Am  i;t.  Juli  1!)0()  Yoilor  der  Verein  für  Voll^skuiide  durcli  den  Tod  ein  Mit- 
glied, das  ihm  seit  seiner  Begründung  angehiirt  hat,  Herrn  Dr.  med.  Albert  A^oss, 
Geheimen  Regierungsrat,  Direktor  der  prähistorischen  Abteilung  des  Kgl.  Museums 
für  Völkerkunde  und  der  Kgl.  Sammlung  für  deutsche  Volkskunde  in  Berlin. 
Sein  Tod  kam  vielen  überraschend,  denn  obwohl  man  wusste,  dass  seine  Gesundheit 
seit  langem  erschüttert  war,  hat  er  in  seiner  bescheiden  zurückhaltenden  Art,  die  es 
nicht  liebte,  die  Aufmerksamkeit  auf  sich  zu  lenken,  sein  sich  mehr  und  mehr  ver- 
schlimmerndes Leiden  still  getragen,  bis  ein  schnelles  Ende  eintrat.  Geboren 
war  er  am  24.  April  1^37  zu  Fritzow  bei  Kammin  in  Pommern  und  ging  aus  der 
ärztlichen  Tätigkeit  zur  Beschäftigung  mit  der  Frähistorio  ülier.  Die  vorgeschicht- 
liche Abteilung  des  Museums  für  Völkerkunde  hat  er  aus  kümmerlichen  Anfängen 
zu  ihrer  jetzigen  Höhe  erhoben  und  nahm  sich  in  seinen  letzten  Jahren  der  ihm 
neu  übergcbenen  Sammlung  für  deutsche  Volkskunde  mit  regstem  Eifer  an. 
Beide  durch  Hinzufügung  einer  mittelalterlichen  Abteilung  zu  einem  vollen  vater- 
ländischen Museum  auszubilden,  war  das  letzte  Ziel  seines  Strebens.  Im  Aus- 
schuss  unseres  Vereins  sass  er  von  Anbeginn  und  hat  uns  zu  dauerndem  Danke 
durch  die  Boreitwilligkeit  vevpllichtet,  mit  der  er  Stücke  der  volkskundlichen 
Sammlung  bei  uns  zur  Schau  bringen  Hess.  Die  Ausstellung  vorgeschichtlicher 
und  anthropologischer  Funde  Deutschlands  zu  Berlin  ly.SO  war  im  wesentlichen 
sein  Werk,  wie  er  denn  auch  den  Katalog  dazu  vcrfasste.  Mit  Stimming  zu- 
sammen behandelte  er  18>!ii  die  vorgeschichtlichen  Altertümer  aus  der  Mark 
Brandenburg,  verfasste  ein  höchst  nützliches  Merkbuch,  Altertümer  aufzugraben 
und  aufzubewahren,  beschrieb  die  Bronzeschwerter  seines  Museums,  widmete  dem 
vielumstrittenen  Silberkessel  von  Gundestrup  eine  Monographie,  legte  ein  Ver- 
zeichnis der  voUcskundlichen  Sammlungen  und  Museen  an  usw.  Dass  er  der 
Volkskunde  jetzt,  wo  er  in  der  Lage  war,  sie  kräftig  zu  fördern,  so  schnell  ent- 
rissen wurde,  erfüllt  uns  mit  nicht  geringerer  Trauer,  als  der   persönliche  Verlust. 

Berlin.  MaxRoediger. 


Berichte  und  Büclieranzeiffen. 


IJruuo  Croine,  Das  Markuskreuz  vom  Göttinger  Leiuebusch.  Eiu  Zeugnis 
und  ein  Exkurs  zur  deutsclien  Heldensage.  Mit  einer  Tafel.  Strass- 
burg,  Trübnei    lilO(i.     -1!)  S.    8°. 

Markuskreuz  nennt  der  Verf.  dieses  Steinkreuz  der  Göttinger  Altertumssamm- 
lung, weil  er  annimmt,  dass  es  bei  der  Rogation  des  Markustages  als  Hagelkreuz 
gesetzt  worden  sei.  Die  lückenhafte  Jahreszahl  der  einen  Seite  ergänzt  er  durch 
eine  scharfsinnige  Folgerung  zu  1260.  Ob  sich  Art  und  Ausstattung  des  Kreuzes 
mit    einem    Hagelkreuze    vereinigen    und    nicht    eher    auf   ein    Grabmal    oder  ein 


1)  Vgl.  den  Nachruf  von  Lissauer,  Zs.  f.  Ethiiol.  .38,  7(Uf.    und  von  Brauner  in  den 
^litteilungen  aus  dem  Verein  d.  Kgl.  Sammig.  f.  d.  Volkskunde,  Bd.  2,  14'Jf. 
Zeit.schr.  d.  Vereins  f.  Volkskiinilc.    1!>07.  ü 


]  [^  Housler,  Boltc: 

Marterl  weisen,  kann  lief,  nicht  beurteilen.  Den  Beitrag  zur  Heldensage  aber 
soll  die  Aufschrift  der  einen  Seite  liefern,  die  uns  im  Lichtbildc  vorgeführt  wird. 
Die  beiden  Kreuzarme  zeigen  einen  Hammer  und  eine  Zange,  dazu  einen  dritten 
Gegenstand,  der  ein  Fleischcrmesser  oder  sonst  etwas  sein  kann,  nur  gewiss  kein 
Vogelilügcl  (S.o.s),  weder  ein  natürlicher  noch  ein  geschmiedeter!  Dazwischen  eine 
Inschrift,  die  Urome  so  liest:  WlLLEllELM  •  EX.  •  WYLAENDIS.  Die  Buch- 
staben X,  A,  N  bezeichnet  er  selbst  als  unsicher.  In  der  Tat  ist  bei  dem 
erstijenunnten  Zeichen  eine  Senkrechte  zu  erkennen,  die  zu  einem  Majuskel-X 
nicht  stimmt.  Statt  des  A  würde  man  nach  der  Tafel  ein  N  oder  vielleicht  ein 
(defektes)  R  ansetzen;  der  breite  Kaum  davor  führt  auf  die  Vermutung  einer 
"Wortgrenze.  Unglaubhaft  erscheint  nach  der  Abbildung  ferner  das  D  an  dritt- 
letzter Stelle:  wenn  der  letzte  Buchstabe  wirklich  ein  (mehr  kursives)  S  ist,  kann 
man  den  Schluss  nur  als  ...  SIS  lesen;  aber  ein  zu  erwartendes  EN  geht  nicht 
voraus.  Dass  die  vier  letzten  Zeichen  auffällig  nach  einem  arabischen  löl.J  aus- 
sehen, ist  mehreren  Betraclitern  der  Tafel  unabhängig  aufgestossen. 

Aber    nehmen  wir  einmal  an,    das  Original  sei  weniger  verzweifelt  und  lasse 
Cromes  Lesung    zu!      Der  Verf.    begnügt  sich   nun  nicht  mit  der  Annahme,    dass 
die  Familie   eines  gewissen  Wilhelm    den  Namen    des  sagenberühmten  Schmiedes 
Wieland    erhalten    hatte    und  dessen  Handwerksgerüt  als  Wappen  führte  (wie  der 
Wiitich  der  Sage).      Nur  falsche  Vorsicht,    die    sich    nie  in  das  Dunkel  wagt,    so 
meint    er,    könne    mit  dieser  Lösung  des  Rätsels  zufrieden  sein.      Ihn  selbst  ver- 
langt mich  einem  'befriedigenderen  Ausblick',  und  so  schreitet  er  denn  vor  zu  den 
Sätzen:  Das  Kreuz  wurde  errichtet  zur  Erinnerung  an  einen  sagenhaften  Wilhelm, 
den  man  zum  Geschlechte  Wiclands  rechnete.      Dieser  Wilhelm  war  der  Meister- 
schütze; die  Denkmäler  des  8.-13.  Jahrhunderts  überliefern  uns  nur  seinen  Bei- 
namen Egil;    der    wirkliche  Eigenname  kommt,    vom  Göttinger  Kreuze  abgesehen, 
erst  im  Ij.— 16.  Jahrhundert  an  die  Oberiläche:  im  Wilhelm  Teil  und  im  William 
of  Cloudesly    der    englischen    Ballade.      Der  Urncr    Schütze    aber,    so   glaubt  Cr. 
folgern  zu  dürfen,  drang  unter  die  Heiligen  der  christlichen  Kirche  ein  (dass  man 
den    hl.  Wilhelm    einfach    als  Schutzpatron    seines  profanen  Namensvetters  ansah, 
wäre  für  Cr.  vermutlich  wieder  falsche  Vorsicht)    —    und    diese  allerdings  merk- 
würdige Erhöhung   des  Freiheitsheldcn    rührt    daher,    dass   etwas  Grösseres  hinter 
ihm    steckt,    ein    göttlicher   Held    und  Helfer    der  Menschheit,    wohlberaerkt    im 
heidnischen  Sinne,  mit  'mythischem  Urgrund'.     So  niuss  auch  unser  Willehelm,  da 
er    auf    einem    kirchlichen  Weihekreuz    steht,    eine    heilige,    religiöse  Bedeutung 
haben:  der  mythische  Schütze  schirmt  das  arme  Menschenvolk  vor  den  Dämonen 
des  Unwetters,  der  Pest  und  des  schnellen  Todes.     Cr.  steht  zuletzt  staunend  vor 
seinem  eigenen  Kinde,  dem  Urheber  der  Inschrift,  'diesem  seltsamen  Manne,    der, 
ein     christlicher    Priester,    mit    unerhörtem   Grade    von  Bewusstheit    Heidnisches 
und  Christliches  in  Verbindung  bringt  .  .  .'  (S.  4G). 

Beim  Leser  aber  wächst  das  Staunen,  wenn  er  bedenkt,  dass  dieser  Schützen- 
•  gläubige  seinem  wunderlichen  Heiligen  die  eigenen  Abzeichen,  den  Pfeil  und  den 
Bogen,  vorenthält,  um  ihm  das  Handwerkszeug  des  Bruders,  Hammer  und  Zange, 
aufzuhalsen,  und  dass  er  ihn,  statt  schlecht  und  recht  Frater  Wylaendi  zu  sagen, 
unverständlicherweise  ex  Wylaendis  tituliert.  Diese  Umstände  allein  schon 
schliessen  die  Deutung  auf  den  Meisterschützen  aus.  Aber  auch  der  ganzen 
Beweisführung  fehlt  das  Einvernehmen  mit  dem  Überlieferten.  Von  dem  Sagen- 
helden Egil  wissen  wir  ja  einiges:  es  weist  wahrlich  nicht  in  der  Richtung  des 
übermenschlichen  Ale.xikakos.  Will  man  in  die  germanische  Sage  den  echten 
Heros,    den  Halbgott    hereinbringen,    so    wähle    man    doch    lieber    einen  anderen 


Bericilte  und  Büclieraiizeigen.  \l') 

Angriffspuiilil.  Der  Verf.  hat  seltsame  Vorstellungen  von  dem  Wesen  germa- 
niächer  Heldendichtung,  wenn  er  in  der  Umwandlung  des  Schützen  zum  vater- 
ländischen Freiheitshelden  eine  Art  Entweihung  der  hehren  Sage  erblickt  (S.  34). 
Und  bei  der  Xacherziihlung  der  Wielandgeschichte  S.  17  f.  muss  man  fragen: 
Wann  hört  man  endlich  auf,  die  gliederreichen  Biographien  als  die  ursprüngliche 
Sage  auszugeben?  Mit  seinen  Beweisstücken  kann  Cr.  eigentümlich  umspringen; 
S.  32  erklärt  er:  'So  erscheint  denn  hier  der  S.  Wilhelmus  allein  als  der  eigent- 
Itche  Schutzpatron  der  Kirche'  —  und  die  von  ihm  selbst  angerufene  Quelle  hat 
in  dem  Passus,  den  er  durch  drei  Punkte  ersetzt,  die  klaren  Worte  'auch  St.  Petter 
und  Paulo  als  Patronen  diß  GozhulV!  Man  darf  gewiss  Quellenzitate  verkürzen, 
aber  das  Übergangene  sollte  man  doch  lieber  gelesen  haben. 

Es  ist  vieles  an  der  Schrift  auszusetzen  und  von  ihrer  Hauptthese  nichts  zu 
retten.  Und  doch  erinnert  sie  an  den  Most,  der  am  Ende  noch  guten  Wein  geben 
kann.  Die  kritischen  Ausfalle  treffen  ein  paarmal  das  Ziel,  und  auf  zwei  Stellen, 
die  Positives  bringen,  sei  ausdrücklich  hingewiesen:  S.  14  die  Deutung  der 
oberen,  wagerechten  Gestalt  auf  dem  ^-Egilibilde  des  englischen  Runenkästchens; 
S.  111  weshalb  die  Mannen  des  Niäuär  im  Wiolandsliede  einen  einzelnen  Ring 
wegnehmen  (besser  als  die  übliche,  zuletzt  bei  Boer  Arkiv  23,  12«  wiederholte 
Erklärung).  Man  hofft,  dem  Yerf.  wieder  zu  begegnen,  wenn  er  sich  abgewöhnt 
hat,  den  Wunsch  als  Vater  des  Gedankens  zu  legalisieren  und  moralischen  Eifer 
für  ein  überzeugungskräftiges  Argument  zu  halten.  Die  Fachgenossen  sind  viel- 
leicht nicht  ganz  so  sonnenfeindlich,  wie  er  S.  16  meint;  aber  bisweilen  gilt  dem 
einen  als  Irrlicht,  was  der  andere  für  die  Sonne  nimmt. 

Berlin.  Andreas  Heusler. 

H.  F.  Eeilberg,  Jul.  forste  bind:  Allesjajlestiden,  liedeiisk,  kristeii  jule- 
fest.  Knbeuhavn,  Det  Schubotheske  Forlag  1!KI4.  366  S.  8".  —  Audet 
bind:  Jnlemorkets  löndom,  juletro,  juleskik.  ebii.   1904.    VIII,  395  S.  8°. 

Ein  umfängliches,  gemeinverständlich  geschriebenes,  aber  auf  wissenschaft- 
licher Grundlage  ruhendes  Werk  über  die  Weihnacht  bietet  uns  der  ehrwürdiffe 
Verfasser,  der  auf  ein  langes,  im  Dienste  der  Kirche  und  der  Volkskunde  ver- 
brachtes Leben  zurückschauen  darf.  Sein  Ziel  versinnbildlicht  uns  das  Titelbild, 
auf  dem  ein  Totengerippe  und  ein  Engel  friedlich  gesellt  erscheinen,  als  eine 
Charakteristik  des  heidnischen  Julfestes  und  der  Christigeburtsfeier.  Denn  während 
man  ehedem  im  Jul  eine  Feier  der  Sonnenwende  erblickte,  stimmt  Feilberg  (vgl. 
oben  12,  3i)8)  fln  ganzen  dem  Satze  Bilfingers  zu,  dass  bei  genauer  Betrachtung 
der  alten  Nachrichten  vom  germanischen  Jul  feste  nichts  Urgermanisches  übrig 
bleibe  als  der  Name  Jul;  er  sucht  jedoch  den  bereits  von  Mogk  in  seiner  Germa- 
nischen Mythologie  ausgesprochenen  Gedanken,  das  heidnische  Winterfest  sei  ein 
Totenfest    gewesen,    durch    eine    geschickte   Begründung    zu  stützen. 

Die  altnordischen  Sagas  schildern  das  Julfest  als  ein  mit  einer  Opferfeier  (zu 
Ehren  Preyrs?)  verbundenes  Trinkgelage,  das  zur  Winterszeit  abgehalten  ward. 
Dazu  stimmt  der  Name,  der  mit  altengl.  geohhol,  lat.  ioculus,  zusammenhängt  und 
'Lustigkeit'  bedeutet.  Die  Nachricht,  Hakon  der  Gute  habe  um  960  das  norwe- 
gische Julfest  aus  dem  Januar  auf  die  Zeit  des  christlichen  Weihnachtsfestes  ver- 
legt, in  der  Bilfinger  (Zeitrechnung  der  alten  Germanen  2,  119)  eine  wertlose 
Hypothese  Snorris  sieht,  möchte  Feilberg  nicht  ohne  weiteres  verwerfen.  Spuren 
eines  bei  dieser  Gelegenheit  geübten  Sonnenkultes  lassen  sich  in  der  isländischen 
Literatur  nicht  nachweisen;  wohl  aber  gilt  hier  der  lange,  dunkle  Winter  als  die- 

8* 


]  ](;  Bolto.  Keusdiel: 

jenige  Zeit,  in  der  die  im  üunkel  wohnenden  Toten,  die  Eiben.  Dämonen  und 
Hexen  den  Menschen  in  feindlicher  Absicht  nahen.  Und  noch  leben  in  den 
Bräuchen  und  Sagen  der  europäischen  Völker  zahlreiche  Spuren  eines  einst  zu 
dieser  Zeit  gefeierten  Totenfestes  fort.  Indem  Feilberg  die  Nachrichten  über 
solche  den  verstorbenen  Ahnen  gewidmeten  Feste  bei  den  Japanern,  Chinesen, 
Indiern,  Persern,  die  griechischen  Anthestericn  und  die  römischen  Fcralien  und 
Parentalien  mustert,  hebt  er  als  deren  besondere  Züge  hervor  die  angezündeten 
Lichter  und  die  Mahlzeit,  zu  der  die  Toten  eingeladen  und  von  der  sie  nachher 
l'ortgewiesen  werden.  Eine  Anerkennung  dieses  alten  Seelenkultes  sieht  er  in  dem 
ums  Jahr  lOOO  hinter  dem  AllerheiliKCntage  des  I.November  eingerichteten  christ- 
lichen Allerseelenfeste;  auch  hier  erwartete  und  bewirtete  das  Volk  die  Seelen 
der  Verstorbenen,  die  nach  seiner  von  der  Kirchenlehre  durchaus  abweichenden 
Vorstellung  in  Krötengcstalt  in  der  Erde  oder  in  Bäume.  Berge,  Eisklunipen  ge- 
Ijannt  hausten  und  nur  in  dieser  Nacht  zurückkehren  durften.  Man  meinte,  die 
unheimlichen  Gäste  mit  den  Stühlen  und  dem  hingestellten  Geschirr  klappern  zu 
hören,  fürchtete  aber,  sie  durch  unzeitige  Neugier  zu  stören  und  suchte  am  anderen 
Tage  ihre  Fussspurcn  in  der  Asche  oder  im  Sande.  Vielleicht  warb  man  auch 
deshalb  um  die  Gunst  der  Toten,  weil  man  ihnen  Macht  über  das  in  die  Erde 
gesenkte  Saatkorn  zuschrieb.  Dass  sich  dann  mit  der  Vorstellung  vom  Besuche 
der  Toten  auch  die  von  anderen  dämonischen  Wesen  und  vom  wilden  Heere  ver- 
band, ist  durchaus  begreiflich. 

Ausser  dieser  Untersuchung  über  das  heidnische  Julfest,  deren  Resultat  mir 
recht  annehmbar  erscheint,  gibt  uns  F.  ausführliche  Schilderungen  über  den  Ver- 
lauf der  heutigen  Weihnachtsfeier  in  Skandinavien,  die  Schulfeier  am  Thomastage, 
den  Ritt  am  Stephanstage,  die  verkleidete  Lucia  mit  der  Lichterkrone,  die  Jul- 
krone,  die  verschiedenen  Speisen,  die  Fütterung  der  Haustiere  und  Vögel,  die 
scherzhaften  Verkleidungen,  den  Julklapp  usw.,  um  im  2.  Bande  auf  die  in  ganz 
Europa  verbreiteten  Vorstellungen  vom  Geisterbesuch  in  der  Heiligen  Nacht,  von 
den  in  den  Zwölften  eingeholten  Orakeln  über  Glück,  Heirat,  Wetter  und  Ernte- 
segen, vom  Weihnachtsbaum,  der  erst  um  ls2()  von  Norddeutschland  aus  nach 
Dänemark  drang,  von  den  Weihnachtsschauspielen,  dem  Weihnachtsbischof  und 
der  Feier  des  Silvester-  und  Dreikönigsabends  eingehend  zu  handeln  und  in 
einem  Schlussabschnitte  die  Ergebnisse  seiner  Forschungen  übersichtlich  zusammen- 
zufassen. In  ungemein  reichhaltigen  Anmerkungen  (über  1(  <i  Seiten  kleinsten 
Satzes)  hat  F.  seine  ausgebreitete  Kenntnis  der  Volksüberlieferungen  von  ganz 
Europa  aufs  neue  dokumentiert  und  für  die  vergleichende  Volkskunde  Wertvolles 
geleistet.  Hier  und  da  hätte  vielleicht  eine  knappere  Fassung  und  eine  straffere 
Disposition  der  Wirkung  des  Werkes  Vorteil  gebracht:  so  halte  ich  es  z.  B.  nicht 
für  glücklich,  dass  die  Schilderung  des  heutigen  dänischen,  norwegischen  und 
schwedischen  Julfestes  (1,  IU3— -J-'i')  dem  Abschnitte  über  die  christliche  Weih- 
nacht vorangeht.  Aber  diese  Ausstellung  mindert  nicht  die  aufrichtige  Dankbar- 
keit, die  wir  dem  verehrten  Vf.  für  dies  eingehendste  und  vielseitigste  Werk  über 
das  Weihnachtsfest  schulden. 

Berlin.  Johannes  BoUe. 

Otto    Böckel,    Psychologie    der    Voiksdiclituiii;-.      Druck    und  Verlag    von 
H.  (i.  Teubner  iu  Leipzig  1906.     V  und  432  S.  S".     7  Mk. 
Das  Werk    bildet  eine  Fortsetzung  der  Studien,  deren  Ergebnisse  Böckel   in 
der  Einleitung   zu  seinen   vor  zwei  Jahrzehnten    erschienenen    'Deutschen  Volks- 
liedern aus  Oberhessen'  niedergelegt  hat.     Dieser  Umstand  darf  als  günstiges  Vor- 


Beiiclite  und  liüclieraiizeigen.  117 

zeichen  gelten,  denn  mit  jener  tief  eindringenden  Abhandlung  hat  sich  der  Ver- 
fasser ein  entschiedenes  A'erdienst  um  die  Kunde  vom  Volksliede  erworben.  Auf 
den  Grundmauern  ist  ein  stattlicher  Bau  erwachsen,  der  durch  seine  Massigkeit 
■wirkt  und  einen  schönen  Gesamteindruck  hinterlässt,  wenn  auch  manche  Einzcl- 
ausführung  bei  näherem  Betrachten  nicht  ganz  befriedigt.  Ohne  kräftigen  inneren 
Anteil  und  starkes  künstlerisches  Empfinden  lässt  sich  eine  solche  Arbeit  nicht 
tun:  Böckel  verfügt  über  beides,    und  es  fehlt  ihm  auch  die  zähe  Ausdauer  nicht. 

In  zweiundzwanzig  Abschnitten  bietet  Bücke!  den  Stoff  dar.  Er  spricht  zu- 
nächst vom  Ursprünge  des  Yolksgesanges,  dann  vom  Wesen  und  der  Entstehung 
des  Volksliedes,  legt  weiter  die  Zusammenhänge  zwischen  Volksart  und  Volks- 
dichtung bloss,  beschäftigt  sich  mit  der  Sprache  der  Volksdichtung,  mit  den  Volks- 
sängern, mit  der  volkstümlichen  Prauendichtung,  insbesondere  den  Totenklagen, 
mit  den  Stätten  des  Volksgesanges,  seiner  Lebensfähigkeit  und  weiten  Verbreitung; 
er  schildert  die  Wettgesänge,  sucht  die  Wirkung  des  Volksliedes  zu  ermitteln, 
zeigt  die  optimistische  Auffassung  der  Verhältnisse  in  der  Volksdichtung,  verfolgt 
die  Beziehungen  zwischen  Mensch  und  Natur  und  das  Gefühlslebeii  im  Volks- 
liede, weist  nach,  wie  der  Volksgesang  Humor  und  Spott  liebt,  behandelt  das 
Verhältnis  zwischen  Geschichte  und  Volkslied,  gedenkt  der  Gattungen  des  Kriegs- 
liedes und  des  Hochzeitsliedes,  stellt  das  Hinsiechen  der  Volksdichtung  fest  und 
gibt  in  dem  letzten,  Ausklang  betitelten  Teile  der  Hoffnung  Ausdruck,  dass  dem 
Volkslied  eine  neue  Blüte  beschieden  sein  möge. 

Es  war  nötig,  die  Stoflanordnung  vorzuführen,  weil  sie  zur  Beurteilung  des 
Buches  nicht  uitwesentlicli  beiträgt.  Dass  eine  allseitige  psychologische  Würdi- 
gung der  Volksdichtung  in  diesen  Kapiteln  erreicht  worden  sei,  erscheint  als  aus- 
geschlossen. Wo  bleibt  das  Kinderlied?  Wo  sind  die  Zusammenhänge  zwischen 
Volkslied  und  Volkssage  oder  Volksmärchen  erörtert?  Und  da  man  nicht  an- 
nehmen darf,  dass  der  Verfasser  nach  Spinozas  Lehre  Natur  gleich  Gott  setzt 
oder  diese  Gleichsetzung  beim  einfachen  Menschen  als  selbstverständlich  ansieht, 
so  vermisst  man  einen  Abschnitt  über  das  Verhältnis  des  Menschen  zur  Gottheit 
oder  allgemeiner;  zum  Übernatürlichen.  Manches  dahin  Gehörige  enthält  übrigens 
der  Absatz  über  den  Optimismus.  Nirgends  wird  eingehender  über  den  Stil  der 
Volkslieder  gehandelt.  r)ie  musikalische  Seite  dos  Volksliedes  ist  kaum  berührt, 
es  fehlt  auch  eine  Darlegung  über  den  Volksgesaii^  im  Kreislaufe  des  Jahres. 
Die  Hauptmängel  aber  liegen  an  anderen  Stellen.  Weder  auf  dem  Titelblatte 
noch  im  Vorwort,  erst  auf  Seite  1  erwähnt  Böckel,  dass  er  die  Ausdrücke  Volks- 
dichtung, Volksgesang  und  Volkslied  als  gleichbedeutend  gebraucht.  Die  beiden 
letztgenannten  mag  man  als  einen  Begriff  bezeichnend  gelten  lassen,  aber  dass 
zur  Volksdichtung  viel  mehr  als  das  Volkslied  gehört,  begreift  jeder.  Wer  über 
die  Psychologie  des  Volksmärchens,  der  Volkssage,  des  Volksschauspieles,  des 
Sprichwortes  unterrichtet  sein  will,  braucht  das  Buch  nicht  aufzuschlagen.  Ferner 
ist  klar,  dass  die  Einteilungsgründe,  nach  denen  der  Verfasser  seinen  Stoff  zurecht- 
legt, voneinander  sehr  abweichen.  Schon  an  den  ersten  drei  Kapiteln  ersieht  man, 
dass  streng  logischer  Aufbau  nicht  Böckeis  Sache  ist.  Da  wird  uns  zuerst  der 
Ursprung,  dann  das  Wesen  und  schliesslich  das  Entstehen  des  Volksliedes  gezeigt. 
Der  zweite  Abschnitt  gehört  doch  an  die  Spitze,  und  statt  dem  Eingangskapitel 
und  der  dritten  Abteilung  hätten  die  allgemeinen  und  die  besonderen  Ursachen 
des  Ursprungs  und  der  weiteren  Entwicklung  des  Volksgesanges  erörtert  werden 
müssen.  Übrigens  soll  nicht  verkannt  werden,  dass  die  zwanglose  Art,  in  der  die 
einzelnen  Fragen  zur  Behandlung  kommen,  auch  ihr  Gutes  hat  und  wahrschein- 
lich zu  dem  frischen  Eindruck  des   Buches   wesentlich  beiträgt,    nur  erwartet  man 


]1,S  Rcuscliel: 

bei  dem  engen  Zusamnienhanj-e  zwischen  Psychologie  und  Logik,  dass  die  letztere 
in  einer  Psychologie  der  Voliisdichtung  sich  stiirkor  bemerkbar  mache.  Sodann 
wäre  eine  ausgedehntere  Benutzung  der  philosophischen,  namentlich  individual- 
und  völkerpsychologischen  Literatur  nötig  gewesen.  Zu  einer  Zeit,  wo  ein  Wandt 
den  grossartigen  Gedanken  einer  Völkerpsychologie  zur  Ausführung  bringt,  wird 
eine  solche  Forderung  gewiss  nicht  überraschen. 

Damit  glaube  ich  meine  grundsätzlichen  Bodenken  deutlich  genug  bekannt  zu 
haben.     Die  sehr  umfangreiche  Belcsenheit  und  die  rein  sachliche  Erörterung  des 
Gegenstandes    sind   zwei  Vorzüge  des  Buches,  die  nicht  genug  gewürdigt  werden 
können.      Nirgends  kämpft  der  Verfasser  gegen  fremde  Ansichten.      Er  entwickelt 
einfach    seine  Meinung    oder  Überzeugung   und    gesteht  auch   offen  ein,    wenn  er 
eine  Entscheidung   nicht  herbeizuführen  vermag.      Als    er  die  viel  erörterte  Frage 
nach    dem    Begrilf   des    Volksliedes    erwähnt,    gibt    er    seine    Definition    (S.   lö): 
„Volkslied  ist  der  dem  Gefühlsleben  unmittelbar  entsprungene  Gesang 
der  Naturvölker,  d.  h.  aller  derjenigen  Stämme,  die  der  Kultur  noch  fernstehen 
und    im    unmittelbaren  Zusammenhange    mit    der  Natur    leben."      Bei  dem  Worte 
, Kultur'    denkt    er    auch    an    die  Kultur   der  Neuzeit.      Meines  Erachtens  hat  sich 
Böckcl  mit  seiner  Auffassung  wichtige  Beobachtungsobjekte,  die  sog.  Kunstlieder 
im  Volksmunde,  entgehen  lassen.     Die  Psychologie  des  Volksliedes  vermögen  wir 
gerade   aus    den  Umgestaltungen,    die    sie    erfahren,    gut   zu    ergründen.  —   Aus- 
gezeichnet weiss  der  Verfasser  die  Entstehung  des  Volksliedes  aus  dem  im  Affekt 
ausgestossenen  Rufe    darzulegen,    feinsinnig    zeigt    er,    wie  das  improvisierte  Ge- 
bilde zurechtgesungen  wird.     Überhaupt  bietet  er  eine  Fülle  von  gesicherten  Tat- 
sachen und  Anregungen.      Dass  die  Darstellung  oft  skizzenhaft  bleibt,    ist  freilich 
nicht    zu    leugnen.    —    Am    auffälligsten    vielleicht    erweist  dies  das  Kapitel  über 
Volksart    und  Volksdichtung.      Selbst    der    dürftige  Überblick,    den    ich  im  Ab- 
schnitte 'Die  deutschen  Landschaften  und  das  Volkslied'   meiner  'Volkskundlichen 
Streifzüge'  gegeben  habe,  hätte  einigen  Stoff  geboten.   Eine  Geographie  des  Volks- 
liedes hat  für  Frankreich  Tiersot  (Julien)  versucht  in  seiner  Histoire  de  la  chanson 
populaire  en  France,    Paris  iss;).      Auch  im  Vorwort  zu  Tiersots  Chansons  popu- 
laires    des  Alpes    frangaises    (Grcnoblc-Moutiers  IW'i)    finden    sich  ein  paar  treff- 
liche Bemerkungen.     Colson  stellt  Wallonia  '^,  83  bei  Gelegenheit  der  Besprechung 
von    Beauquiers    Liedersamijilung   aus  Franche-Comte    fest:    'Ghosc    curieuse,    les 
melodies    d'un   niouvcment    vif   nous    semblent    generalement    d'un  rythme    raoins 
precis    que    chez    nous.       Les    airs    gais    eux-mömos    vout    raremcnt    sans     une 
pointe    de    melancolie.'      Neuerdings    macht    Alfred    Tobler    (Das    Volkslied    im 
Appenzellerlande.    Zürich     190.D,    S.  51f.)    volkspsychologische    Bemerkungen    über 
den  Charakter    der  Appenzeller  [;ieder.      In   dieses  Kapitel  gehört  auch  die  Frage 
nach    dem  Anteil    der  Mundart  am  Volksliedersehalz.      Die  Stammes-  und  Volks- 
psychologie   könnte    von    einer    eingehenderen  Behandlung    solcher  Dinge  groszen 
Nutzen    haben.    —    Recht    anschaulich    und    lehrreich    ist   der  Abschnitt  über  die 
Volkssängor.      Dass    man    die  Blimlen    als  Schöpfer   und  Verbreiter  der  Volks- 
lieder jetzt  im  französischen  Volksgesange  nicht  mehr  findet  (S.  71),  stimmt  nicht 
zu  Tiersot,  Chansons  pop.  des  Alpes  S.  76.    Auch  Beauquier  (Chansons  pop.  rec. 
en  Franche-Comte,    Paris  1894  S.  9)    betont    die  Rolle    der  Blinden  als  'vehicules 
de  la  poesie  et  du  chant'. 

Zu  dem  Abschnitte  über  die  Frauen  und  ihren  Anteil  am  Volksgesang,  der 
am  richtigsten  mit  dem  darauffolgenden  über  die  Totenklagen  vereinigt  worden 
wäre,  ist  an  die  Mitteilung  K.  H.  Prahls  (Das  deutsche  Volkslied  4)  'Das  Volks- 
lied an  der  wcstpreussischen  Wasserkante'    zu    erinnern,    dass  er  aus  dem  Munde 


Berichte  und  Büclieranzcigen.  119 

seines  aus  Saspe  bei  Neufahrwasser  gebürtigen  Dienstmiidchens  1"23  Lieder  auf- 
gezeichnet hat  ohne  die  allbekannten.  Mit  vieler  Sorgfalt  wird  weiter  der  Sitte 
der  Totenklagen  nachgegangen.  Dabei  weist  der  Verfasser  nach,  dass  den 
Mannern  nur  ganz  au.snahiTisvveiso  die  Rolle  zufiillt,  für  den  Schmerz  um  den 
Verstorbenen  dichterisch-gesanglichen  Ausdruck  zu  suchen.  Das  Kapitel  gehört 
zu  den  besten  des  Buches.  Es  ist  selbstverständlich  ein  Leichtes,  die  Ausführungen 
zu  vervollständigen,  und  nichts  wäre  ungerechter,  als  wenn  man  hier  den  Vorwurf 
der  Lückenhaftigkeit  erheben  wollte.  Die  Worte  Senecas:  „Multum  adhuc  restat 
operis  multumque  restabit;  nee  ulli  praecludetur  occasio  aliquid  adhuc  adjiciendi' 
darf  auch  ßoeckel  für  sich  in  Anspruch  nehmen.  So  sei  denn  gleich  der  Anfang 
mit  Nachträgen  und  Berichtigungen  gemacht.  Aus  Herders  Volksliedern  2,  l'o 
ergibt  sich,  dass  bei  den  Grönländern  die  Totenklage  der  Frauen  erst  auf  die  der 
Männer  folgte.  Die  Tatsache  der  norwegisch-isländischen  dräpa  als  Lobgesang 
eines  Skalden  auf  einen  Verstorbenen  lässt  doch  wohl  auf  eine  volkstümliche 
Übung  bei  Männern  schliessen  (vgl.  den  Anfang  vom  0.  Buch  der  Ilistoria  Danica 
des  Saxo  Gramraaticus).  Ein  Überrest  der  in  Dialogform  gekleideten  Totenklage 
liegt  noch  im  Departement  Ille-ct-Vihüne  vor  (Ad.  Orain,  Folk-Lore  de  l'llle-et- 
Vilaine  "2,  292).  Dass  die  italienische  Sitte  der  berufsmässigen  Totenklägerinnen 
auch  bei  den  nach  Nordamerika  (New  York)  ausgewanderten  Italienern  nicht  ver- 
loren ist,  berichtet  Karl  Knortz  (Was  ist  Volkskunde '.■'  ^  117).     Am  gleichen 

Orte  erwähnt  er  denselben  Braucii  bei  den  Iren  in  New  York.  Irrig  ist  die  Auf- 
fassung, dass  in  Sardinien  (im  Gegensätze  zu  Korsika)  die  Rachewut  in  der 
Totenklage  beinahe  völlig  fehle.  Francesco  Poggi,  Usi  natalizi,  nuziali,  funebri 
della  Sardogna  (18!i7)  widerlegt  S.  105  ff.  diese  Ansicht.  Nach  ihm  sind  die 
prefiche  in  Sardinien  gewöhnlich  Mitglieder  der  Familie.  Portugiesische  Verhält- 
nisse behandelt  M.  Abeking,  Der  Urquell,  N.  F.  2,  löSff.  Die  dialogische  Form 
(Duettform)  der  Totenklage  bei  den  Rumänen  der  Bukowina  schildert  auch 
Ad.  Flachs,  Rumän.  Hochzeits-  und  Totengebräuche,  Berlin  1899,  S.  51.  Über 
die  Klage  seitens  der  dazu  bestellten  Weiber,  der  Mutter  oder  Schwiegermutter 
bei  den  Armeniern  der  Bukowina  (sie  findet  hier  auf  dem  Woge  zur  Kirche  oder 
zum  Friedhof  statt)  schreibt  Demeter  Dan,  Zs.  f.  österr.  Volkskunde  10  (1904), 
106.  —  Die  Stätten  des  Volksgesanges  weiss  der  Verfasser  sehr  gut  zu  schildern. 
Dass  er  für  die  viel  verkannte  Spinnstube  ein  gutes  Wort  einlegt,  soll  nament- 
lich hervorgehoben  sein.  Der  Ausdruck  'Spinnchte'  (S.  134)  ist  in  Sachsen  sicher 
nicht  weit  verbreitet,  Hutzenstub  darf  nicht  bloss  als  TOgtländisch,  sondern  als 
zentral-erzgebirgisch  gelten.  Bei  dieser  Gelegenheit  hätte  auch  daran  erinnert 
werden  können,  dass  in  einigen  Teilen  des  Obererzgebirges  und  Vogtlandes  die 
gemeinsame  Arbeit  im  Klöppeln  besteht.  Die  Quelle  spielt  als  Ort,  wo  der  Volks- 
gesang erschallt,  auch  bei  anderen  als  den  S.  l.')l  f.  genannten  Völkern  und 
Stämmen  eine  Rolle.  —  Nicht  minderen  Reiz  bieten  die  Ausführungen  über  die 
Lebensfähigkeit  (Dauer,  Zähigkeit)  des  Volksliedes.  Einige  Altersbestimmungen 
bei  Georges  Doncieux,  Le  romancero  populaire  de  la  France,  Paris  1904,  hat  sich 
der  Verfasser  entgehen  lassen.  Dieses  Buch  würde  auch  für  den  folgenden  Ab- 
schnitt über  die  Wanderungen  der  Lieder  Stoff  geliefert  haben.  Nicht  erwähnt 
sind  die  Mischstücke  aus  zwei  Sprachen.  —  Beim  Kapitel  über  die  Wirkung  des 
Volksgesanges  hätten  die  sprachlichen  Gleichungen  zwischen  Singen  und  Zaubern 
in  ausgedehnterem  Masse  berücksichtigt  werden  dürfen.  Gorade  hier  wird  manches 
nicht  zur  Sache  Gehörige  erwähnt.  —  Dass  der  Volksdichtung  unverwüstlicher 
Optimismus  innewohne,  sucht  Böckel  in  einem  weiteren  Abschnitte  zu  zeigen. 
Der  Nachweis  scheint  mir  nicht  gelungen  zu  sein.     Es  ist  das  Gegenteil  richtiger. 


1  •)()  Rciischel.  Rolti': 

Robert  Petsch  hat  zweifellos  unsere  Kenntnis  duicli  seinen  Vortraf,'  über  Volks- 
dichtung und  volkstümliches  Denken  (Hessische  Blätter  für  Volkskunde  2)  viel 
besser  gefördert.  Dem  Satz:  „Die  Volksdichtung-  kennt  kein  Niemals!"  (S.  207) 
kommt  trotz  der  grossen  Sicherheit,  mit  der  er  ausgesprochen  wird,  keine  all- 
gemeine Geltung  zu.  tbrigens  war  zu  der  Umschreibung  von  'niemals'  noch  auf 
Üskar  Weises  Aufsatz  im  H.  Hände  der  Zs.  für  hochdeutsche  Mundarten  auf- 
merksam zu  machen  und  zum  Bilde  vom  Rosengarten  (S.  -214)  auf  die  Arl)cit  von 
Ed.  Jacobs  in  den  Neujahrsblättern,  hg.  von  der  hist.  Kommission  der  Provinz 
Sachsen,  21  hinzuweisen.  Über  das  französische  Lied  'Jesus-Christ  s'habille  en 
pauvre'  (S.  223)  ist  Doncicux  S.  SGCIf.  zu  vergleichen.  Die  Verwendung  von  Ver- 
kleinerungswörtern mit  dem  Optimismus  des  Volksliedes  in  Verbindung  zu  bringen, 
wie  es  S.  2:)lfr.  geschieht,  dürfte  recht  gewagt  sein.  —  Ein  sehr  dankbares  Gebiet 
behandelt  der  Abschnitt  Mensch  und  Natur,  in  dorn  sich  reichster  Stoff  übersicht- 
lich angeordnet  findet.  Der  Licbesgruss  durch  den  Wind  kommt  beiläufig  bemerkt 
auch  im  holländischen  Indien  vor.  Bei  Bezemer,  Volksdichtung  aus  Indonesien 
(Haag  1904)  ruft  ein  Jüngling  (S.  2(H)):  „Ich  habe  weder  Ruhe  noch  Rast  und 
beauftrage  jeden  Windhauch,  dir  zu  sagen,  wie  sehr  ich  dich  liebe."  Vermisst 
wird  eine  .Hindeutung  auf  den  Aufsatz  von  Eliz.  Marriage  in  Birlinger-Pfaffs 
Alemannia  26.  —  Mehrfach  berührt  sich  das  Kapitel  über  das  Gefühlsleben  im 
Volksliede    mit    schon    früher  Erörtertem.      Der  S.  278  herausgehobene  Vierzeiler 

1  hiib  allweil  g'inant,       l  iid  liiaz  hiib  is  datragn. 
I  tragats  gär  iiia,  Abv  fragt  mi  uit  wia, 

ist  doch  wohl  ein  Stück  Heinrich  Heine  im  Volksmunde.  Zum  Steigerungsmotiv 
(S.  290)  wäre  z.  B.  auf  A.  Wirth,  Typische  Züge  in  der  schottisch-englischen 
Volksballade  Teil  1  (Progr.  Realgymnasium  Rernburg  1Ü03)  S.  •'>  und  S.  IG  ff., 
Talvj,  Volkslieder  der  Serben  I  (Halle  l.s2.j},  Ca  f.  und  Holger  Pedcrsen,  Zur 
albancs.  Volkskunde,  Kopenhagen  1898,  S.  123  hinzuweisen.  —  Am  breitesten 
angelegt  hat  der  Verfasser  den  Abschnitt  über  Humor  und  Spott.  Dass  alles 
hier  Gesagte  am  rechten  Platze  sei,  lässt  sich  nicht  behaupten.  So  bleibt  es 
unklar,  was  der  Satz  (S.  Sltj):  „Das  A'olkslied  hat  schon  lange  vor  Schiller  ge- 
wusst,  dass  in  der  kleinsten  Hütte  die  Liebe  Raum  hat"  in  dem  Kapitel  soll. 
Wenn  der  Müller  im  ganzen  ungünstige  Beurteilung  erfährt  (S.  336),  so  wird  er 
doch  im  französischen  Volkslied  (nach  Morf  in  Herrigs  Archiv  111,  115)  als  Ge- 
liebter sehr  begehrt.  —  Entschieden  zu  weit  geht  die  Schlussbemerkung  im 
Kapitel  über  Geschichte  und  Volksdichtung:  „Das  Volkslied  ist  als  Geschichls- 
(juelle  unbrauchbar:  es  besteht  weder  geschichtlicher  Sinn  noch  das  Bedürfnis 
danach,  geschichtliche  Ereignisse  im  Volksliede  festzuhalten.  Es  ist  deshalb  auch 
unmöglich,  von  einer  Gattung  geschichtlicher  Volkslieder  zu  reden."  Ich  berufe 
mich  auf  meine  Volkskundlichen  Streifzüge  S.  13J.  Um  nur  ein  paar  Beispiele 
zu  nennen,  das  von  Böckel  an  anderer  Stelle  angeführte  Fluchtlied  „Mit  Mann 
und  Ross  und  Wagen"  darf  doch  fast  den  Wert  einer  Geschichtsquelle  bean- 
spruchen. Oder  wie  stellt  sich  der  Verfasser  zu  dem  französischen  Sang  von  der 
Gefangenschaft  des  Königs  Franz  (Doncicux  S.  53)?  S.  354  fragt  er  sich,  ob  das 
Andenken  an  den  Seeräuber  Störtebeker  in  der  Volkssagc  erloschen  sei.  Nein. 
wie  A.  Haas,  RUgensche  Sagen  und  Märchen  '  (Stettin  1903)  190  und  Sagen  und 
Erzählungen  von  den  Inseln  Usedom  und  Wollin  (Stettin  1901)  194  zeigen. —  Mit 
den  Abschnitten  über  das  Kriegslied  und  das  Hochzeitslied  boschliesst  Böckel 
seine  Einzelausführungen.  Im  ersteren  liesse  sich  wieder  eine  bessere  Anordnung 
denken.  Das  Gebotene  ist  sehr  reichhaltig.  Munjoie  tritt  als  französischer 
Schlachtruf    schon    im    Rolandslied    auf.     nicht     erst     bei    Simon    von   Montfort 


Bi'iiclitc-  und  Bücherauzeigeii.  121 

(S.  3(;i).  —  Wie  der  Verfasser  angesichts  des  grössten  Teils  der  Hoctizeitslieder 
seine  Meinung  vom  Optimismus  der  Volksdichtung  aufrecht  erhalten  kann,  ist 
schwer  versländlich.  Mit  Recht  betont  Paul  Fink  (Das  Weib  im  französ.  Volks- 
liede,  Berlin  1904,  S.  09)  die  durchaus  pessimistische  Auffassung-  der  Ehe  in  fast 
allen  Volksliedern  Frankreichs.  Auch  sonst  überwiegt  jedenfalls  die  Schilderung 
des  Hässlichen,  das  die  Frau  im  Ehestand  erwartet,  bedeutend. 

Das  meiste,  was  die  beiden  letzten  zusammenfassenden  Kapitel  enthalten, 
verdient  volle  Zustimmung.  Dass  es  Bockel  mit  seiner  Sorge  um  die  Erhaltung 
des  schönen  Volksgesangos  tief  ernst  ist,  gibt  er  in  treffenden,  oft  zu  Herzen 
gehenden  Worten  zu  erkennen.  Voll  reifer  nationalökonomischer  Einsicht  weiss 
er  hier  wie  auch  sonst  in  dem  Buche  die  nahen  Beziehungen  zwischen  Volks- 
dichtung- und  Volkswohlfahrt  zu  schildern.  Ob  er  mit  seiner  Hoffnung  auf  er- 
neute Pflege  des  Volksliedes  recht  behalten  wird?  Das  grosse  Unternehmen  der 
Sammlung  aller  Volkslieder  in  Österreich  war  übrigens  bereits  19U2  in  die  Wege 
geleitet,  noch  ehe  der  deutsche  Kaiser  eine  ähnliche  Anregung  gab.  Nach  welcher 
Richtung  hin  sich  die  Wiederbelebung  des  Volksgesanges  bewegen  wird,  ist  mir 
seit  dem  Sommer  dieses  Jahres  nicht  mehr  zweifelhaft.  Da  habe  ich  beobachtet, 
wie  die  ansprechenden  I;ieder  des  wackeren  Sängerdichtors  Anton  Günther 
(Gottesgab  am  Fichtcl-  und  Keilberge)  überall  im  Erzgebirge  heimisch  geworden 
sind.  Hunderte,  ja  Tausende  von  Gebirgswanderern  tragen  sie  hinaus,  und  schon 
hört  man  sie  auch  in  der  siichsi.schen  Schweiz.  Leid  und  Freud'  des  Gebirgs- 
bewohners drücken  sie  sinnig  aus.  Vaterlandsliebe  und  Heimatsliebe  wecken  sie. 
Vertraut  mit  Hunderten  von  fremden  Liedern  hat  Anton  Günther  seine  eigenen 
geschaffen  und  alte  Dinge  in  neue  Form  gekleidet.  Für  Sachsen  wenigstens,  so- 
weit überhaupt  noch  Platz  für  das  Lied  übrig  ist,  und  für  das  nördliche  Deutsch- 
böhmen ist  er  der  Volksdichter  und  -Sänger  geworden.  —  Das  Buch  über  die 
Psychologie  der  Volksdichtung  mussto  in  manchen  Punkten  zur  Kritik  heraus- 
fordern. Der  Stoff,  der  zu  behandeln  war,  i.st  riesengross  und  schwer  übersehbar. 
Durum  iinden  sich  zuweilen  Wiederholungen,  selbst  Widersprüche.  Wenn  auch 
die  Anordnung  nicht  immer  genügt,  die  Einzelurteile  sind  fast  sämtlich  Ergebnisse 
eifrigsten  Nachforschens  und  demnach  zuverlässig.  So  hat  das  aus  Begeisterung 
und  treuer  Sorgfalt  hervorgegangene  Werk  als  eine  wertvolle  Gabe  zu  gelten 
Möchte  es  auch  nichtgelehrte  Kreise  für  das  Volkslied  gewinnen! 

Dresden.  Karl  Reuschel. 


Paxil  Sebitlot,    La  folk-lore   de  France,    tome  troisieme:   La   faiine   et  la 
flore.     Paris,  E.  (Juilmoto   190(;.  2,  541  S.     18  Frcs. 

Mit  besonderem  A'ergnügen  begrüssen  wir  den  dritten  Band  von  Sebillots 
erstaunlich  reichhaltigem  "Werk  (vgl.  oben  1.'),  3G2.  Kl,  118),  welcher  die  franzö- 
sischen Volksmeinungen  zusammenstellt,  die  sich  auf  die  Tier-  und  Pflanzenwelt 
beziehen.  Der  verdiente  Forscher  konnte  sich  hierbei  auf  die  grossen  Sammel- 
werke von  E.  Rolland  (Faune  populaire  de  la  France,  (>  Bände;  Flore  populaire, 
ö  Bände)  und  A.  de  Gubernatis  (Mythologie  zoologique;  Mythologie  des  plantes) 
stützen;  doch  weicht  er  von  ihrer  Methode  insofern  ab,  als  er  auf  mythologische 
Spekulationen  verzichtet  und  nicht  jedes  Tier  und  jede  Pflanze  für  sich  behandelt, 
sondern  grössere  Gruppen  bildet,  in  denen  die  ähnlichen  abergläubischen  Vor- 
stellungen und  Sagen  übersichtlich  zusammengefasst  werden:  wilde  und  zahme 
Säugetiere,    wilde  nnd  zahme  Vögel,  Reptilien,   Insekten,  Fische,  Bäume,  kleinere 


].)2  BoUc,  Lucas: 

Pllanzen.  Er  bespricht  jedesmal  zuerst  die  dualistischen  Scliöpfungssagen.  die 
den  Teufel  als  ungeschickten  oder  boshaften  Nachahmer  Gottes  nach  dem  Menschen 
einen  Affen,  nach  dem  Schaf  den  Wolf,  nach  dem  Adler  die  Eule,  nach  der  Biene 
die  Wespe,  nach  dem  Aal  die  Schlange,  nach  dem  Weizen  den  Buchweizen  er- 
schaffen lassen,  die  verschiedenen  Beziehungen  zum  Menschen,  der  aus  dem  An- 
gang der  Tiere,  aus  den  Blättern  der  Pllanzen  Vorzeichen  kommender  Ereignisse 
herausliest  oder  dämonische  Wesen  in  ihnen  vermutet,  ferner  die  Verwendung 
zur  Zauberei  und  Heilkunde,  das  Vorkommen  in  Gebräuchen  und  Spielen,  in 
Sagen  und  Märchen  u.  a  Dagegen  treten  die  Namen  und  Sprichwörter,  die  bei 
Rolland  eine  grosse  Rolle  spielen,  verhältnismässig  zurück.  Die  wohldurciulachte 
Anordnung  und  die  knappe,  sachliche  Darstellung  haben  es  ermöglicht,  einen  ge- 
waltigen Stoff  auf  engem  Räume  zu  vereinigen:  neben  systematischen  Umfragen, 
die  nicht  immer  erfolgreich  waren  (S.  217),  hat  Sebillot  auch  die  Literatur  früherer 
Jahrhunderte,  z.  B.  die  Contes  de  fees  und  Restif  de  la  Bretonne,  zur  Ergänzung 
der  volkskundiichcn  Werke  herangezogen.  —  Um  einen  Begriff  von  der  Viel- 
seitigkeit des  Inhalts  zu  geben,  greife  ich  aufs  Geratewohl  einige  Einzelheiten 
heraus:  Taufnamen  der  Tiere  (S.  V.K  '■)!.  löi'.  179^  Heilige  der  Haustiere  (107), 
Wolf  hingerichtet  ("27),  Kröten  gemartert  ("JiSÜ),  Segen  wider  Wolf  und  Schlangen 
(33.  277),  für  Pferde  und  Bienen  (110.  133.  ol7f.),  Psalmen  zur  Beschwörung 
rezitiert  (87.  107.  277  f.  310),  Anreden  an  zauberkräftige  Kräuter  (494),  Seele  als 
Maus  oder  Kröte  (58.  -jeii.  281),  Tiere  und  Bäume  als  Abbilder  des  Jenseits 
(151.  '211.  li'Mj,  Hufeisen  (125),  Wünschelrute  (399),  Übertragung  von  Krankheiten 
auf  Pflanzen  (412.  497),  Durchkriechen  (417),  benagelte  Bäume  (42.')),  Saat-  und 
Erntebräuche,  Gruss  beim  Säen  (4.')9),  Beschütten  des  Brautpaares  (401.  51  f.), 
Johannisnacht  (10.>.  475),  Maibaum  (402.  525),  Gänsegreifen  (240),  Kinderspiele 
(326.  407.  520),  Blumensprache  (403.  517)  usw.  Der  Brauch  des  Vielliebchen- 
essens  heisst  französisch  Philippine  (411).  Die  Kartoffelkrankheit  von  1845 
schrieben  (nach  S.  401)  die  Wallonen  der  Einfülirung  der  Polka  zu;  denn  dieser 
Tanz  sei  bei  Christi  Verurteilung  von  den  Juden  getanzt  worden.  Lebhaft 
wünschen  wir  dem  Verfasser  zur  Fortsetzung  des  trefflichen  Werkes  weitere 
Rüstigkeit  und  Ausdauer.  J-  "• 

K.  Reitzeusteiu,  Hellenistisciie  Wuuilerorziililinigen.  Leipzii;-.  'reul)iu'r 
190(;.  172. S.  8».  .j.Mk. 
Im  achten  Bande  des  Archivs  für  Religionswissenschaft')  hatte  Reitzenstein 
einleuchtend  gezeigt,  dass  der  sog.  'Hymnus  der  Seele'  der  Thomasakten  in  Wahr- 
heit ein  heidnischer  Mythus,  eine  Unterweltsfahrt,  ist.  Die  Erweiterung  dieser 
Untersuchungen  hat  zu  dem  vorliegenden  Buche  geführt,  welches  unternimmt,  die 
hellenistische  Wundererzählung  in  ihrer  Entwicklung  zu  verfolgen  und  ihren  Ein- 
fluss  auf  die  frühchristliche  Literatur  nachzuweisen.  Jene  Literaturgattung  benennt 
der  Verfasser  Aretalogie  (ursprünglich  Preis  der  Wundertaten  eines  Gottes, 
späterWundercrzählung  überhaupt)  und  bezieht  in  deren  Bereich  heidnische  Er- 
zählungen (Satire,  Roman,  Philosophen-  und  historische  Viten),  sowie  altchrist- 
liche  Wundergeschichten  (Evangelien,  Apostelakten,  Mönchserzählungen).  In  einem 
zweiten  Hauptteil  werden  zwei  hervorragende  Beispiele  solcher  Arctalogien,  der 
Hymnus  der  Seele  und  das  Hochzeitslied  aus  ilen  Thomasakten,  ausführlicher  be- 

1)  S.  IGTfl'.,   mit   geringen  Veränderungen    wieder   abgedruckt  in   dem  neuen  Buche 
S.  10:5-122. 


Berichte  und  Bücheranzeigeu.  123 

handelt  und  der  Zusammenhang  zwischen  heidnischer  und  christlicher  Wunder- 
erzählung-,  ihre  x^bhängigkeit  von  ägyptischer  Literatur  dargelegt. 

Bei  den  bekannten  Vorzügen  des  Verfassers,  seiner  ausserordentlichen  Be- 
lesenheit, Kombinationsgabe  und  frischen  Energie  in  der  Bewältigung  neu  auf- 
tauchender literaturgeschichtlichor  Probleme,  wie  sie  die  noch  immer  zuströmende 
Fülle  der  Papyri  aus  den  iigyptischen  Gräbern  bringt,  ist  es  selbstverständlich, 
dass  auch  diese  Schrift  reich  ist  an  einleuchtenden  Beobachtungen  und  an- 
regenden Gedanken,  und  es  darf  dem  Buche  nachgesagt  werden,  dass  es,  als 
Ganzes,  einen  entschiedenen  Portschritt  der  Wissenschaft  bedeutet  und  niemand 
es  ohne  lebhaften  Dank  aus  der  Hand  legen  wird.  Dennoch  soll  nicht  verhehlt 
werden,  dass  auch  viele  Aufstellungen  des  Verfassers  sovvie  seine  oft  zu  rasche 
Schlussfolgerung  zu  starkem  Widerspruch  herausfordern. 

Schon  die  Hauptsache,  auf  die  es  dem  Verfasser  vor  allem  ankam,  ist  als 
raisslungen  zu  bezeichnen:  der  Beweis,  dass  jene  zahlreichen,  von  ihm  heran- 
gezogenen Literaturerzeugnisse  Aretalogicn  geheissen  haben  und  eine  eigene 
Literaturgattung  darstellen,  ist  ganz  und  gar  nicht  erbracht  Aus  den  S.  8 f.  zu- 
sammengestellten Belegen  für  das  Wort  ap^TuXcyla.  und  Verwandtes')  geht  mir 
vielmehr  mit  Gewissheit  hervor,  dass  das  Wort  niemals  geschriebene  Erzählung 
bedeutet,  also  im  eigentlichen  Sinne  Literatur,  sondern  immer  nur  mündliche 
Äusserungen  (auch  das  Philodemzitat  ist  nicht  anders  aufzufassen).  Dem  ent- 
spricht auf  der  anderen  Seite,  dass  unter  all  den  zahlreichen  Literaturwerken, 
denen  R.  allzu  bereitwillig  den  neuen  Namen  anhängt,  es  auch  kein  einziges 
gibt,  das  nachweislich  irgendwo  als  cipEToXo-'/ia.  bezeichnet  worden  wäre.  Es  ist  ja 
auch  nicht  abzusehen,  warum  die  Lebensbeschreibung  eines  Heiligen  oder  eines 
Philosophen  (wie  Apollonios  von  Tyana)  aus  einem  abergläubischen  Zeitalter,  die 
ja  erklärlicherweise  mit  Wundergeschichten  durchsetzt  sein  muss,  wegen  dieser  Zu- 
taten aufhören  sollte,  eine  Biographie  (z.  T.  allerdings  in  enger  Berührung  mit  dem 
Roman)  zu  sein  und  eine  neue  Gattung  bilden  müsste.  Dasselbe  gilt  von  der  ernsten 
und  parodistischen  Satire"),  dem  Roman  und  den  anderen  Gattungen,  die  der  Verf. 
ohne  jeden  Beweis  für  das  einzelne  als  Aretalogien  in  Anspruch  nimmt.  -  Ich 
vermute  übrigens,  dass  neben  der  ursprünglichen  technischen  (religiösen)  Be- 
deutung von  Aretalogos  (Priester,  der  die  Wundertaten  seines  Gottes  auslegt  oder 
verkündet),  die  dann  schliesslich  abgeschwächt  wurde  zu  Fabulist,  Lügner,  Schwätzer, 
sich  mit  der  Zeit  eine  zweite  technische  Bedeutung  entwickelt  habe:  berufsmässiger 
Märchenerzähler,  wie  man  sie  ja  noch  heute  in  orientalischen  Ländern  (Tunis) 
findet,  wofür  manche  Stellen  (wie  Sueton,  Div.  Aug.  74)  zu  sprechen  scheinen 
(vgl.  die  Äusserungen  von  R.  selbst,  S.  8.  17.  19,  2).  In  diesem  Sinne  würde  ich 
auch  Lucians  Wahre  Geschichten,  die  erste  wirkliche  Münchhausiade,  als  eine 
Aretalogie  auffassen,  d.  h.  eigentlich  nicht  das  rhetorisch  aufgeputzte,  parodistisch 
übertreibende  Schriftwerk,  sondern  die  mündliche  Volkserzählung,  aus  der  Lucian 
ohne  Zweifel  geschöpft  hat. 

Statt  aber  Einzelheiten  zu  kritisieren,  welche  mir  anfechtbar  vorkommen,  er- 
scheint es  zweckmässiger,  einige  Stellen  von  besonderem  volkskundlichen  Interesse 
hervorzuheben  oder  durch  kleine  Nachträge  dem  Dank  für  das  Gelesene  Ausdruck 
zu  geben. 


1)  Sie  sind  auch  gesammelt  und  zutreffender  gewürdigt  von  Crusius  in  dem  Artikel 
Aretalogoi  bei  Pauly-Wissowa,  Realencycl.  ]I,  1  Sp.  GTOf. 

2)  Dass   neben  der   Satire  IS   des  Horaz    auch    Sat.  I  1,1  ff.    und  l.jfl'.  .Aretalogien 
sein  sollen  (S.  -jf.),  wird  schwerlieh  vielen  Beifall  finden. 


l-_>4  l.uciis: 

Zu  den  S.  .'U'.  im  Anschluss  an  Radüiinacher  (Rhein  Mus.  1!M»5,  31.')  f.)  bo- 
liandelten  Geschichten  von  Schlangcnbeschwüiungen  möchte  ich  erinnern  an 
Kreutztvald,  Ehstnische  Märchen  S.  26fr.  (Schiangcnkönig  mit  Krone  im  Schlangen- 
haufen),  ferner  an  die  von  R.  selbst  (S.  115)  angezogene  ägyptische  Zauber- 
geschichte,  bei  Maspero,  Contes  pop.  de  TKgypte  anc.  ''  p.  ll'i,  jetzt  auch  bei 
VViedemann,  Altügyptische  Sagen  und  Märchen  S.  127  f.  (Der  Volksmund,  Bd.  d, 
Leipzig  19ÜC).  —  S.  5,  :'>:  Zu  der  durch  Goethe  bekannten  Geschichte  vom  Zauber- 
lehrling aus  Lucian,  Philopseudcs  c.  35  f.  lässt  sich  Aelian,  nat.  anim.  IX  33  als 
Parallele  stellen.  Die  burleske  Fiktion  Lucians  (S.  '21)  im  Icaromenipp  (c.  15), 
dass  Mcnipp  zum  Monde  emporgeführt  wird,  von  dort  in  das  Innere  der  Häuser 
blickt  und  sieht,  was  darin  für  Schandtaten  getrieben  werden,  mag  das  Vorbild 
abgegeben  haben  für  die  Einklcidunj^-  neuerer  Romanerzählungeii,  wie  Lesages 
Hinkender  Teufel  (mit  Anlehnung  an  den  Spanier  Guevara)  und  Dickens  Weihnachts- 
abend. 

S.  32,  2  werden  mit  Unrecht  in  einem  Passus  eines  ägyptischen  Märchens 
(Märchen  von  den  zwei  Brüdern,  jetzt  Wicdemann  S.  7;if.)  Seelenwanderungs- 
vorstellungen pythagoreischen  Charakters  angenommen  und  die  Fortpllanzung  des 
ägyptischen  Märchens  bis  in  die  neuere  Zeit  behauptet.  Das  Motiv,  dass 
die  treulose  Frau  die  Tötung  des  Stieres  erbittet,  w-orin  ihr  Gatte  verzaubert  ist, 
dass  aus  zwei  Blutstropfen  des  Getöteten  zwei  Perseabäume  erwachsen  usw.. 
ist  ein  ganz  geläufiges  Mürclienniotiv;  ich  führe  nur  an:  v.  Hahn,  Griech.  M.  I 
8.272  (vgl.  1  7(1.  1G3.  IGü).  Schmidt,  Griech.  M.  S.  74.  Künos,  Türk.  Volksm. 
S.  20s.  Maspero,  Contes  p.  XVII.  Ob  diese  Züge  volkstümlicher  Überlieferung 
und  ähnliche,  wie  Verwandlungssagen  (griech.  Metamorphosen:  Dähnhardt,  Xatur- 
geschichtl.  Volksmärchen),  Verwandlung  des  Getöteten  in  einen  Vogel  (z.  B. 
Grimm,  KHM.  47  'Machandelbaum',  womit  wir  in  das  umfangreiche  Kapitel  von  den 
Seelentieren  kämen),  in  ihrem  letzten  Grunde  nicht  doch  auf  eine  Art  von  primi- 
tiven, dem  Menschengeiste  angeborenen  Seelenwanderungsvorstellungen  zurück- 
gehen (Hertholet,  Soolenwanderung,  Religionsgesehichll.  Volksbücher  III  l',  S.  •i<tfl'.), 
kann  man  hier  auf  sich  beruhen  lassen.  Jedenfalls  sind  dem  Märchenerzähler 
solche  weiten  Perspektiven  von  einem  Kreislauf  der  Lebewesen  unbekannt  und 
unbewusst.  t'berhaupt    legt    der  Verf.    gar   zu  gern  einfachen  märcheiiartigen 

Zügen  einen  tieferen  mystischen  Sinn  bei.  So  werden  die  ein  Zauberbuch  ein- 
schliessenden  sieben  Kisten  von  wertvollem,  aber  verschiedenartigem  Material  in 
einem  anderen  ägyptischen  Märchen  (Wicdemann  S.  125.  128)  S.  115f.  bezogen 
auf  die  ^.sieben  Himmelstore  und  Himmelsräume,  aus  deren  Innerstem  der  Prophet 
seine  Weisheit  holt".  Ich  kann  darin  nichts  anderes  finden,  als  etwa  was  Schwanz, 
Sagen  der  Mark  S.  25  erzählt:  Bestattung  eines  Riesenkönigs  in  goldenem,  silbernem 
und  eisernem  Sarge  (vgl.  Schwartz  S.  152  und  173  und  etwa  noch  den  Glassarg 
Schneewittchens).  In  gewisser  Hinsicht  lässt  sich  auch  hierher  beziehen  das  be- 
kannte Märchenmotiv  der  „Seele  des  Riesen",  welche  z.  B.  in  einem  Ei  in  einer 
Ente  in  einem  Widder  unter  einem  Stein  unter  der  Schwelle  verborgen  ist.') 

Sehr  merkwürdig  ist  die  Verwandtschaft  der  S.  66  erzählten  Geschiebte  von 
dem  Asketen  Sarapion  (aus  der  Historia  Lausiaca)-)  mit  den  oben  16,  133 — 138 
von    Zachariae    raitgeteiKen    salomonischen  Urteilen    aus   Indien.      Der   auf   seine 

1)  Auch  „der  Mann  ohne  Herz"  (Bechstoiii,  Märchenbuch  S.  84)  oder  „das  vorborgem; 
Leben"  (Simsen,  Melcager).  Vgl.  R.  Kühler,  Kl.  Sehr.  1,  löSff.  (57.  348.  lOJ).  v.  llahu. 
Griech.  M.  1,  5Gf.  n.  31  ^^Skyllafurmel").  Radermacher,  Das  Jenseits  im  Mythus  der 
Hellenen  S.  IJlff.    Kiinos,  Türk.  M.  n.  17.  22.  41.    Afanassjew,  Russ.  M.  n.  ;il.  :'.5. 

2)  Über  diese  vgl.  Berliner  l'hil.d.  Wochenschrift  1906,  67Sff. 


Belichte  und  Bücherauzeigen.  ]-2.> 

Heiligkeit  eifersüchtige  Sarapioii  stellt  in  Rom  eine  ihm  als  besonders  tugendhaft 
gerühmte  Asketin  auf  die  Probe,  indem  er  sie  sich  nackt  ausziehen  und  so,  die 
Kleider  auf  der  Schulter,  hinter  ihm  her  durch  die  Stadt  ziehen  heisst.  Ihre 
Schamhaftigkeit  weist  das  als  unmöglich  zurück,  worauf  er  sich  als  überlegen 
erklärt,  da  er  der  Welt  mehr  abgestorben  sei.  Das  Urteil  R.s  über  diese  Ge- 
schichte muss  danach  modifiziert  werden.  —  Der  hübsche  Zug  von  dem  weiber- 
feindlichen ländlichen  'Herakles'  Agathion  (S.  71),  aus  einem  Briefe  des  Herodes 
Atticus  (bei  Philostrat,  V'itae  Sophist.  11  p.  G2  Kays.),  welcher  ihm  angebotene 
Milch  mit  den  Worten  zurückweist:  .,Die  Milch  ist  nicht  rein,  denn  eine  Prauen- 
hand  fasst  mich  an",  worauf  angestellte  Nachforschungen  die  Richtigkeit  seiner 
Empfindung  erweisen,  reiht  diese  Figur  unter  die  'scharfsinnigen  Leute'  des 
Märchens,  die  ja  auch  schon  bei  den  Griechen  begegnen.')  — Die  S.  7.5  f.  aus  der 
Historia  Lausiaca  mitgeteilte  Geschichte  vom  „.Aschenbrödel  im  Nonnenkloster" 
hat  in  Wahrheit  nichts  mit  dem  Aschenbrödel  des  Märchens  zu  tun,  sondern 
gehört  in  die  erste  Gruppe  der  von  Simrock,  Der  gute  Gerhard  und  die  dank- 
baren Toten  gesammelten  Erzählungen  (S.  21  aus  Herders  Legenden)  [R.  Köhler, 
Kl.  Sehr.  2,  392  und  oben  11,  465]. 

Den  für  die  Volkskunde  wichtigsten  .-\bschnilt  des  Buches  bilden  die  Dar- 
legungen über  den  , Hymnus  der  Seele"  aus  den  Thoraasakten,  der  S.  107  f  nach 
einer  syrischen  Passung  mitgeteilt  wird.  Ein  Prinz  wird  von  seinen  Eltern  weit 
nach  dem  Westen,  nach  Ägypten  geschickt,  um  eine  Perle  zu  gewinnen,  die 
eine  Schlange  im  Meere  hütet.  Unterwegs  wird  er  von  den  Ägyptern  überlistet 
und  durch  eine  Speise  in  tiefen  Schlaft)  versenkt.  Man  bemerkt  dies  zu  Hause 
und  sendet  einen  geflügelten  Brief,  der  den  Jüngling  aufweckt,  worauf  dieser  (wie 
Jason)  die  Schlange  durch  Zauber  einschläfert,  die  Perle  gewinnt  und  nach  Haus 
bringt,  nachdem  er  ein  herrliches  Prunkgewand  angelegt,  dessen  Bedeutung  absolut 
unklar  bleibt  (irrig  die  Erklärung  S.  119).  Es  ist  ein  Verdienst  R.s,  diesen 
Hymnus,  der  in  seiner  Umgebung,  der  Geschichte  des  Apostels  Thomas,  als 
Zauberhymnus  aufgefasst  und  auf  Christus  bezogen  wird,  als  weltliche  Wunder- 
erzählung erkannt  zu  haben.  Es  ist  eine  jener  zahlreichen  Volkserzählungen, 
welche,  in  verschiedener  Gestalt  als  Märchen  oder  Sagen  auftretend,  im  Grunde 
eine  Fahrt  in  die  Unterwelt  zur  Erlangung  eines  Kleinods  (goldenes  Vliess,  goldene 
-\pfel,  goldene  Haare,  Rinder,  Wasser  des  Lebens  usf.),  oft  unter  Bedrängung 
durch  Dämonen,  schildern  und  ursprünglich  gewiss  mythische  Bedeutung  haben. 
Ich  verweise  nur  auf  die  Märchen  Grimm  n.  29,  bl  und  97^)    und  die  Sagen  von 


1)  Rohdc,  Griech.  Rom.-  S.  ö88f..  bes.  589,3.  Dazu  noch  zu  stellen  llerodot  I  471'. 
(Lucian,  Jupiter  confut.  14,  Bis  accus.  1).  Vgl.  feiner:  Die  sieben  wei.scn  Meister  Cap.  4. 
Cento  novelle  ant.  n. ."!.  Hamlet,  bei  Simrock,  Quellen  des  Shakespeare  1,  112f.,  dazu 
l.'Uf.  V.  d.  Lejen,  Indische  Märchen  S.  (15.  149.  Preindlsberger-Mrazovic,  Bosnische 
Volksm.  S.  68ti-.  Dunlop-Liebrecht  S.  212  u.  487  Anm.  282.  "Oesterley,  Baital  Pachisi 
S.  l(;2ff.  u  212ff.  Heisenberg,  Verhandl.  der  47.  Philologen -Vers,  zu  Halle  (1904^,  S.  m. 
Endlich,  um  der  Kunstmärchen  nicht  zu  vergessen,  Hauffs  Geschichte  von  Abner,  dein 
Juden,  der  nichts  gesehen  hat.  [Wetzel,  Die  Reise  der  Söhne  üiaffers  ed.  Fischer 
u.  Bolte  1896  S.  198  f.J 

2)  Wie  Psyche  auf  ihrer  Unterweltsfahrt,  und  der  tjrische  Herakles  (Hahn,  Griech. 
M.  1,  33).       ■ 

3)  Besonders  schön  u.  29  ,Der  Teufel  mit  den  drei  goldeuen  Haaren".  Vgl.  die 
Anmerkungen  3,  56 f.  uud  E.  Köhler,  Kl.  Sehr.  1,  102.  4GG.  Zu  dem  zweiten  Teil 
des  Märchens,  auf  den  es  uns  hier  allein  ankommt  —  der  erste  enthält  das  Kyros- 
Romulus  Motiv  —  notiere  ich  noch:  Hahn,  Griech.  M.  2il  vgl.  1,  00  n.  40).  Gonzenbach, 
Sicil.  M.  r>4    (vgl.  2,  241  f.).     Chalatianz,   Armen.  M.  5.     Sehreck,   Finn.  M.  IG.     Usener, 


|-)i;  Lucas:  Berichte  und  Büchevanzeigen. 

lason,  Theseus,  Herakles  (Ilesperiden,  Geryones,  Alkestis),  Gilgamesch,  Thors 
Fahrt  nach  Hymirs  Kessel  u.  a.  Man  kann  daher  als  möglich  zugeben,  dass  der 
in  Form  einer  Erzählung  auftretende  ägyptische  Wundzauber'),  welchen  R.  S.  KM  f. 
aus  einem  demotischen  Papyrus  mitteilt:  Errettung  des  auf  einer  Fahrt  von  dfu 
Feinden  getöteten  Horus  durch  seine  Mutter  Isis  vermittels  eines  zauberkräftigen 
Gegenstandes  (Herz?J,  letzten  Endes  auch  eine  Unterweltswanderung  gewesen  sein 
mag;  aber  weiter  darf  man  nicht  gehen.  R.s  Bemühungen,  diese  beiden  Ge- 
schichten (den  griech.  Hymnus  und  den  ägypt.  Zaubersegen)  und  gar  das  Fragment 
eines  manichäischen  Liedes  (S.  111),  das  mit  der  Sache  absolut  nichts  zu  tun  hat 
und  nur  übereinstimmt  in  den  formelhaften  Anfangsworten,  einander  anzugleichen, 
durch  ihre  Kombinierung  eine  einheitliche  Fassung  zu  gewinnen  und  die  ägyptische 
als  die  originale  hinzustellen,  sind  völlig  verfehlt.  Daran  ändern  auch  nichts  die 
mannigfachen  interessanten  und  an  sich  nützlichen  Parallelen  aus  den  ägyptischen 
Totenbuehern.  Übrigens  einen  vollen  Sinn  in  die  lückenhafte  und  nicht  sanz 
verständliche  Horusgeschichto  hineinzubringen,  wird  wohl  niemals  gelingen.  Denn 
als  Zauberspruch  konnte  schwerlich  eine  Geschichte  dienen,  die  für  jedermann 
verständlich  war.  Viel  wäre  vielleicht,  vermute  ich,  für  diese  Geschichte  zu  ge- 
winnen aus  dem  merkwürdig  verwandten  ägyptischen  Zaubersegen  bei  Erman 
.  Krebs,  Aus  den  Papyrus  der  Kgl.  Museen  S.  -iöTf. 

In  der  Beurteilung  dagegen  des  in  den  Thomasakten  von  dem  Apostel  bei 
der  Hochzeit  einer  Königstochter  gesungenen  Hochzeitsliedes  und  des  darauf 
folgenden  Vorganges  wird  man  II.  (S.  134  tf.)  zustimmen  müssen.  Thomas  wird 
nach  seiner  Beglaubigung  durch  eine  Wundertat  von  dem  König  in  das  Braut- 
geraach geführt,  um  durch  sein  Gebet  Christus  herabzuziehen.  Dieser  erscheint, 
predigt  den  Vermählten  Enthaltsamkeit,  und  die  Braut  erklärt  sich  am  folgenden 
Morgen  als  in  einer  höheren  Ehe  Gott  vermählt.  Auch  darin  wird  II.  recht 
haben,  dass  die  dieser  Erzählung  zugrunde  liegende  Anschauung,  Gott  und  Mensch 
müssten  zusammenwirken  bei  der  Zeugung  eines  künftigen  Königs,  auf  die  be- 
kannten Vorstellungen  der  .\gypter  von  dem  König  als  Sohn  des  Gottes  zurück- 
gehen. Er  erinnert  treffend  an  die  Rolle  des  Ägypters  Nectanebus  in  der  Sage 
von  der  Geburt  Alexanders  des  Grossen  (Zacher,  Pseudokallisthenes  S.  114).  Ähn- 
liche Vorstellungen  begegnen  aber  auch  sonst  bei  den  Griechen:  s.  Mar.\,  Griech. 
Märchen  von  dankbaren  Tieren  S.  122.  Die  interessanten,  S.  141,  1  gesammelten 
Erzählungen  von  lüsternen  Priestern,  die  unter  der  Maske  eines  Gottes  Zugang 
finden  zu  leichtgläubigen  Frauen,  und  denen  ich  noch  den  11».  Brief  des  Aeschiues 
(erzählt  aus  Ilion,  Magnesia  und  Epidamnus)  hinzufügen  möchte,  bringen  mich 
auf  die  Vermutung,  dass  der  Kern  der  bekannten  Novelle  des  Boccaccio  IV  n.  -' 
(hierzu  Landau,  Quellen  des  Dek.  S.  293  f.,  der  schon  richtig  Nectanebus  heran- 
zieht, und  Lovatelli,  Rom.  Essays  S.  lüä),  Masuccio  1  2,  Cent  nouv.  nouv.  14 
schon  antik  ist,  also  wahrscheinlich  eine  griechische  (milesische'^)  Novelle  war. 
Charlottenburg.  Hans  Lucas. 


Rhein.  Mus.    IWtl,  48511'.     Singer,   Schweizer  M.    1,  Ö9.     Raaermaclier,    Das  Jenseits    im 
llythos  der  Hellenen  S.  78 ff.     Ferner,  etwas  anders:  Kreutzwald,  Ehstnische  M.  14. 

1)  Bekanntlich  haben  Zaubersprüche  oft  die  Form  von  Erzählungen,  wie  die  be- 
kannten ;\[erseburger  Formeln,  dio  Sprüche  bei  Grimm,  DM.  ',  Anhang  p.  CXXYIff.  n.  X. 
XI.  XYIII.  XLVIl,  und  die  ägyptischen  bei  Erman  u.  Krebs,  Aus  den  Papyrus  dei- 
Kgl.  .Museen  zu  Berlin  8.  25711. 


tljcrmaiiii.  Mimlcn.  Bolte:  Piotokolle. 


Aus   di'll 

Sitzunss-Protokolleu  des  Yereius  für  Yolkskimde. 


Freitag,  den  2<>.  Oktober  V.HHi.  Der  Vorsitzende  widmete  dem  am  10.  Juli 
d.  J.  verstorbenen  Mitgliedo,  Herrn  Geheimrat  Dr.  Alb.  Voss,  einen  warmen  Nachruf. 
Darauf  legte  Herr  Stadtverordneter  H.  Sökeland  einige  für  die  Kg\.  Sammlung 
für  Volkskunde  erworbene  Gegenstände  aus  Schlesien  und  Thüringen  vor,  dar- 
unter einen  Spinnwirtel  aus  Glasraosaik,  Prauenhauben,  einen  bemalten  Schellen- 
bogen und  ein  zu  Taschenspielerkünsten  benutztes  Messer.  Über  die  Steine  von 
Rietz  und  den  Schwurstein  von  Müschen  sprach  Herr  Hermann  Maurer.  Ein 
näheres  Eingehen  auf  den  Inhalt  des  gehaltvollen  Vortrages  ist  an  dieser  Stelle 
nicht  möglich,  da  der  ganze  Vortrag  demnächst  an  anderem  Orte  gedruckt  werden 
soll.  Herr  Dr.  Eduard  Hahn  erstattete  Bericht  über  den  Anthropologenkongress 
in  Görlitz.  Die  zahlreichen  Photographien,  mit  denen  der  Herr  Redner  seine  Dar- 
stellungen veranschaulichte,  wurden  der  Kgl.  Sammlung  für  Vkd.  überwiesen. 

Freitag,  den  23.  November  1000.  Der  Vorsitzende  berichtete  über  die 
seitens  des  Vorstandes  und  Ausschusses  getroffenen  Vorbereitungen  zur  Tagung 
des  Verbandes  deutscher  volkskundiicher  Vereine,  die  zu  Pfingsten  l'JOT  in  Berlin 
stattfinden  soll  und  schilderte  näher  die  volkskundliche  Abteilung  der  jüngsten 
Dresdener  Kunstgewerbcausstellung.  —  Herr  Oberlehrer  Dr.  E.  Samter  legte  eine 
Reihe  trefflicher  Photographien  aus  dem  Engadiner  Museum  zu  Ponteresina  vor.  — 
Fräulein  Elisabeth  Lemke  hielt  einen  Vortrag  über  das  menschliche  Haupthaar. 
Sie  besprach  die  Volksmeinungon  über  Farbe  und  Art  des  Haares,  die  Haartrachten 
des  Altertums,  Mittelalters  und  der  neueren  Zeit  und  den  Haarersatz  der  höheren 
Stände,  für  den  die  in  Europa  wie  in  China  und  Japan  unter  dem  niederen  Volke 
herumziehenden  Händler  sorgen  müssen.  In  Frankreich  hat  z.  B.  die  Vertreibung 
der  geistlichen  Orden  Einfluss  auf  den  Haarmarkt  ausgeübt.  Den  Beschluss  machte 
eine  Musterung  des  an  die  Haare  sich  knüpfenden  Zauberwesens  und  der  noch 
Tor  .jti  Jahren  beliebten,  aus  Haaren  hergestellton  Zierrate.  In  der  darauf  folgenden 
Besprechung  vertrat  Herr  Prof.  Dr.  Schulze-Veltrup  die  Ansicht,  dass  die 
Redensart  „Haare  auf  den  Zähnen  haben"  mit  haaren  =  schärfen,  dengeln  zusammen- 
hänge. —  Endlich  sprach  Herr  Dr.  H.  Michel  über  Volksetymologie,  deren  Begriff' 
vor  etwa  öo  Jahren  durch  den  kürzlich  verstorbenen  Ernst  Förstemann  in  die 
^Vissenschaft  eingeführt  worden  ist.  Wir  verfügen  über  ein  ansehnliches  Material 
von  Wörtern,  die  durch  Volksetymologie  entstanden  sind  oder  doch  entstanden  sein 
können:  aber  es  fehlt  an  einer  Systematik,  die  die  typischen  Paktoren  erkennen 
lässt.  Nicht  kulturgeschichtliche  Prinzipien  dürfen  hier  massgebend  sein,  wie  in 
dem  bekannten  und  als  Stoff'sammlung  sehr  schätzbaren  Buche  vonAndresen;  viel- 
mehr müssen  der  psychische  Vorgang  bei  der  Volksetymologie  und  sein  Ergebnis, 
die  neueWortform,  die  Hauptkriterien  liefern.  Der  Vortragende  teilte  demzufolge 
alle  Volksetymologien  in  fünf  Klassen  ein  und  erläuterte  die  theoretische  Um- 
schreibung jeweils  durch  praktische  Beispiele.  Er  sah  in  der  Volksetymologie  weit 
mehr  als  „eine  drollige  Phantasiegestalt,  die  sich  an  die  Schleppe  der  prosaischen 
Wissenschaft  hängt",  wie  sie  neuerdings  Rudolf  Thurneysen  in  seiner  sonst  ganz 
vortrefflichen  Rede  'Die  Etymologie'    (Freiburg  1905,  S.  32f.)  genannt  hat.     Nicht 


128  Ebcnnanii,  Mimlon,  Holte:  Protokolle. 

nur    manche  Wortbildung-,    sondern    auch    manche    Sagenbildung    iiaben    wir    dir 
Volksetymologie  zu  verdiinlicn. 

Freitag,  den  28.  Dezember  ÜHJO.  Herr  Dr.  K.  Brunner  legte  aus  der 
Kgl.  Sammlung  für  Volkskunde  einen  Pfahl  aus  einer  Baumschule  zu  Lübeck  vor, 
auf  dem  in  eigenartiger  ZilTorschrift  die  Zahl  der  Biiunie  eines  bestimmten  Feldes 
eingekerbt  war,  ferner  eine  von  dem  Kgl.  Konservator  Herrn  Ed.  Krause  geschenkte 
kleine  tönerne  Kochmaschine  in  Form  eines  Kanonenol'ens,  wie  sie  in  Barmen  die 
Kinder  als  Spielzeug  zu  Weihnachten  erhalten,  und  zwei  ebendaher  stammende 
Teigpuppen  mit  Tonpfeifen  (Klaskerle).  —  Herr  Dr.  E.  Hahn  zeigte  einige  Gebäck- 
formen, die  seit  löJO  in  der  Familie  v.  Bezold  im  Gebrauch  sind,  uud  Herr  Stadt- 
verordneter H.  Sökeland  besprach  eine  aus  München  stammende  hölzerne  Marien- 
statnette,  welche  die  Himmelskönigin  mit  schwarzer  Hautfarbe  darstellt.  ■  Solche 
schwarzen  Marienbilder  existieren  z.  B.  auch  in  C/.enstochau,  Moskau,  Kasan,  Prag, 
in  Köln,  Würzburg,  Regeiisburg.  Altütting,  Einsiedeln,  und  man  erzählt  zur  Er- 
klärung bisweilen,  dass  das  Bild  aus  einem  Kirchenbrande  unversehrt,  aber  ge- 
schwärzt hervorgegangen  sei  oder  dass  damit  eine  Anspielung  auf  das  Hohelied  1,4: 
«Nigra  sura,  scd  forraosa"  beabsichtigt  sei,  während  der  Pariser  Gelehrte  l'onimerel 
(1901)  die  schwarze  Färbung  aus  dem  heidnischen  Kulte  der  Magna  mater  oder 
der  Isis  ableiten  will.  Der  Vortragende  dagegen  suchte  diese  Eigentümlichkeit 
auf  die  byzantinische  Malerei  zurückzuführen;  da  nach  dem  von  Didron  heraus- 
gegebenen Malerbuche  vom  Berge  Athos  die  Gestalten  der  Heiligen  zuerst  rot 
umrissen  und  dann  mehrmals  schwarz  unterlegt  wurden,  bevor  die  Fleischfarbe 
darüber  aufgetragen  wurde,  so  konnte  die  letztere  oder  der  Firnis  später  leicht  nach- 
dunkeln und  so  eine  Erinnerung  an  jene  längst  auf  Maria  bezogenen  Worte  des 
Hohenliedes  wachgerufen  werden.  —  Endlich  hielt  Herr  Dr.  E.  Hahn  einen  Vor- 
trag über  den  Hirse  im  deutschen  Volksleben.  Während  der  Getreidebau  der 
alten  Welt  sich  auf  Europa,  Nordafrika,  Vorderasien  und  Nordchina  beschränkt, 
ist  das  Gebiet  des  Hirses  bis  in  die  Tropen  und  bis  Nordjapan  ausgedehnt,  und 
.sein  Anbau  ist  älter  als  der  unserer  Getreidearten.  Verdrängt  ist  der  Hirse,  der 
einst  eine  grosse  Rolle  in  der  Kultur  spielte  und  in  Indien,  China  und  Japan  zu 
den  heiligen  Pflanzen  gehörte,  bei  uns  durch  drei  Faktoren:  als  Morgenspeisc 
durch  den  Kaffee,  als  Mittags-  und  Abendgericht  durch  die  Kartolfel  und  als  Fest- 
gericht bei  Hochzeit,  Taufe,  Leichenniahl,  Neujahrsfeier  durch  den  Reis.  Während 
die  vier  Gelreidearten,  Erbsen,  Linsen,  Rüben  zum  Ackerbau  des  Mannes  gehören, 
ward  der  Hirse,  der  Spatenkultur  erfordert  und  gejätet  werden  muss,  im  Garten 
der  Bäuerin  angepflanzt  und  steht  in  besonderem  Verhältnis  zum  Lein-  und 
Hanfbau.  In  den  römischen  Sakralvorschriften  wird  er  nicht  der  Ceres,  sondern 
der  Pales  zugewiesen.  In  der  Schweiz  ward  in  der  Fastnachtszeit  der  Hirse 
öffentlich  gekocht  und  an  die  Narren  verteilt  (Hirsnarr,  Hirsmontag,  hirsen  =  sich 
vermummen.  Reise  des  Zürcher  Hirstopfes  nach  Strassburg).  Heut  wird  in  Deutsch- 
land und  Ungarn  nur  noch  wenig  Hirse  geliaut,  unser  Hirse  kommt  meist  aus 
Siidrussland.  An  der  dem  Vortrage  folgenden  Besprechung  beteiligten  sich  ins- 
besondere die  Herren  Maurer,  Schulze -Vellrup,  Weinitz,  Roediger.  —  Die  Ver- 
sammlung wählte  den  bisherigen  Vorstand  durch  Zuruf  für  das  Jahr  1!'07  wieder. 

0.  Ebermann,  G.  Minden,  J.  Bolte. 


Beiträge  zur  vergleichenden  Sagenforschiing. 

Von  Oskar  Diihnhardt. 


II.    Natui'deutung  und  Sagenentwicklung. 

(Vgl.  oben  S.  1— IG.) 

B.  Märchen. 
1.    Strohhalm,  Kohle  uud  Bohne. ') 

Ein  bekanntes  Grimmsches  Märchen,  das  plattdeutsch  auch  von 
Wisser  in  Ostholstein  aufgezeichnet  wurde  (Wat  Grotmoder  verteilt, 
N.  F.  87),  erzählt  folgende  tragikomische  Begebenheit:  Strohhalm,  Kohle 
und  Bohne  reisen  zusammen  und  kommen  an  einen  Bach.  Der  Strohhalm 
legt  sich  als  Brücke  hinüber.  Die  Kohle  betritt  ihn,  der  Halm  zerbrennt, 
die  Kohle  fällt  ins  Wasser,  zischt  und  ertrinkt.  Die  Bohne  aber  muss 
«lermassen  lachen,  dass  sie  platzt.  Zum  Glück  kommt  ein  Schneider  des 
Weges,  der  näht  sie  wieder  zu,  aber  mit  scliwarzem  Zwirn,  und  seitdem 
haben  die  Bohnen  die  bekannte  Naht. 

Dieser  Schluss  ist  nichts  als  anekdotenhafter  Aufputz,  wie  sicli  aus 
einer  Durchmusterung  der  Varianten  ergibt.  Ich  beginne  mit  einem 
russischen  Märchen,  das  mir  die  beste  uud  ursprünglichste  Gestalt  zu 
bieten  scheint  (Afanasjev  1,  1-1(5).  Die  Übersetzung,  die  ich  Herrn 
Geheimrat  Leskien  verdanke,  stammt  aus  einem  umfangreichen  Manu- 
skript, das  dieser  einst  für  eine  von  Reiuhcld  Köhler  geplante  Märchen- 
sammlung angefertigt  und  mir  in  freundlichster  Weise  überwiesen  hat. 
Es  heisst  dort: 

Es  gab  einmal  eine  Blase,  einen  Strohhalm  und  einen  Bastschuh;  die  gingen 
in  den  Wald,  Holz  zu  schlagen,  kamen  an  einen  Fiuss  und  wussten  nicht,  wie 
sie  hinüborkoramen  sollten.  Da  sprach  der  Bastschuh  zur  Blase:  Blase,  lass  uns 
auf  dir  hinüberschwimmen!  —  Nein,  Bastschuh,  besser  ist  es,  der  Strohhalm 
streckt  sich  von  einem  Ufer  zum  andern,  und  wir  gehen  auf  ihm  hinüber.  Der 
Strohhalm  streckte  sich,  der  Bastschuh  ging  auf  ihm  hin  und  brach  durch.  Der 
Bastschuh  fiel  ins  Wasser,  die  Blase  lachte  und  lachte  so  heftig,  dass  sie  platzte. 


1)  Grimm,  KHM.  18.     Waldis,  Esopus  3,  97. 
Zeitschr.  d.  Verein.s  f.  Volkskunde.    1907. 


130  Dähnhardt: 

Diese  Geschichte  ist  völlig  einwandsfrci  uiul  unverdächtig.  Das 
spannend  anhebende  Abenteuer  der  drei  seltsamen  Wanderer  hat  sich  in 
nichts  aufgelöst;  der  YerblüfFungshumor,  der  im  Volke  eine  so  grosse 
Rolle  spielt,  hat  seinen  Trumpf  liiiigegebeu,  die  Komik  bedarf  keines 
weiteren  Zusatzes.  Auch  ist  das  Platzen  «ler  Blase  ein  so  natürlicher') 
Voi'gang,  dass  sie  offenbar  besser  als  die  Bohne  zum  Abschluss  des 
Ganzen  geeignet  ist.  Eine  Bestätigung  dieses  Abschlusses  gewährt  über- 
dies eine  wendische  Variante  (Haupt  und  Schmaler  2,  IGO),  auf  die 
schon  in  den  Grimmschen  Anmerkungen  aufmerksam  gemacht  ist. 

Drei  gute  Kameradon,  Kühlclien,  Bliischcn  und  Strohhälmchen,  gingen  zu- 
sammen in  die  Fremde.  Unterwegs  auf  ihrer  Heise  kamen  sie  an  einen  Pferde- 
tritt voll  Wasser  und  wussten  lange  nicht,  wie  sie  über  das  Meer  kommen  sollten. 
Zuletzt  fassten  sie  aber  doch  den  Boschluss,  dass  sich  Strohhälmchen  querüber 
legen  solle,  und  die  anderen  wollten  auf  ihm  das  Meer  überschreiten.  Das 
Köhlchen  ging  voran.  Als  es  aber  bis  zu  Strohhälmchens  Hälfte  gekoinmen  war, 
wollte  es  sich  ein  Weilchen  umsehen,  durchbrannte  aber  hierbei  Strohhälmchen, 
und  beide  ertranken.  Bläschen,  dem  schon  sonst  alles  lächerlich  war,  fing  an. 
hierüber  go  sehr  zu  lachen,  dass  es  zerplatzte.  Und  Steinchen,  welches  zusah, 
sagte:  „Ja  doch,  ja;  jemandes  Schaden,  jemandes  Spott.  Aber  bisweilen  gerät 
es  den  Spöttern  doch  auch  übel." 

Diese  Variante,  deren  moralischer  Zusatz  natürlich  ein  ganz  junges 
Anhängsel  ist,  darf  auch  nach  anderer  Hinsicht  als  bemerkenswert  gelten. 
Sic  zeigt  die  Änderung,  dass  statt  des  Bastschuhes  die  Kohle  auftritt.  °)  In 
der  Tat,  eine  sehr  glückliche  Änderung,  da  die  tragische  Notwendigkeit 
des  Unglücksfalles  gesteigert  wird.  Das  Umgekehrte,  dass  etwa  die 
wendische  Fassung  älter  und  die  russische  eine  Verschlechterimg  wäre, 
ist  freilich  wohl  denkbar  —  aber  was  ist  wahrscheinlicher:  dass  man  den 
Schub  durch  die  viel  drastischere  Kohle  ersetzte,  oder  dass  man  statt  der 
Kohle  ohne  jede  Nötigung  den  Bastschuh  nahm? 

Auf  deutschem  Boden,  in  der  Schweiz  und  in  Holland  macht 
der  Stoff  eine  neue  Wandlung  durch:  zwar  verbleiben  Strohhalm  und 
Kohle,  aber  die  Blase  verschwindet,  und  an  ihre  Stelle  werden  Maus 
oder  Bohne  gesetzt. 

1.  Glühkohle  und  Maus  kommen  an  einen  Bach,  über  dem  ein  Strohhalm 
als  Brücke  liegt.  Der  Halm  verbrennt  unter  der  Kohle,  sie  fällt  hinein  und  macht 
zschl  Die  Maus  lacht,  dass  ihr  der  Pelz  platzt.  Daran  schliesst  sich  ein 
Häufungsmärchen,  worin  die  Maus  schliesslich  den  Schuster  dazu  bringt,  ihr  den 
Pelz  zu  flicken  (Schweiz.  Sutermeister  Nr.  5)  An  diese  Version  erinnert  ein 
lateinisches    Gedicht    des    Mittelalters   (Mdschr.  in  Strassburg),    dessen  In- 


1)  Ebenso  natürlich  iu  folgendem  kleinen  Märchen  bei  Afauasjev:  Eimnal  si""*-'" 
zwei  Alte  des  Weges  und  traten  in  ein  leeres  Ilüttclicn,  lun  sich  auf  dein  (ifchen  zu 
wärmen:  Bläschen  und  l'läumchen.  Bläschen  schickte  Fläumchen  hin:  „Geh,  schür  das 
Feuerchen I*  Fläumclieu  ging,  blies  ins  Feuerchen  und  loderte  auf.  Bläschen  aber 
lachte  und  lachte  so  heftig,  dass  es  vom  Öfchen  fiel  und  platzte. 

2)  [.■Vuch  in  einer  russischen  Variante  J'ermski  sbornik  7,  l'Jl)  erscheint,  wie  Herr 
Prof.  M.  Buehni  mitteilt,  ein  Köhlchen  statt  des  Bastschuhes). 


Beiträge  zur  vergleichenden  Sagen forschung-.  131 

tialt  in-  den  Grimmschen  Anmerkungen  angedeutet  ist.  Dort  reisen  ebenTalls  Maus 
und  Kohle.  Beide  wallfahrten  in  die  Kirche,  um  ihre  Sünden  zu  beichten 
(mönchische  Ausschmückung!);  beim  Übergang  über  einen  Bach  fällt  die  Kohle 
hinein,  zischt  und  verlischt. 

2.  Statt  der  Maus  erscheint  die  Bohne:  wie  bei  Grimm,  "Wisser  und  Burk- 
hard Wal'dis,  nach  dem  vermutlich  die  lateinischen  Verse  der  Nugae  venales 
vom  Jahre  1648  (siehe  Grimms  Anm.)  gedichtet  sind,  so  auch  im  Nieder- 
ländischen. V^gl.  Rond  den  Heerd  7,  •3i)7;  Joos,  Vertolsels  1,  23  Nr.  1  (nur 
dass  dort  der  Schuster  der  lachenden  Bohne  Pech  ins  offene  Mäuichen  wirft  und 
daher  der  schwarze  Fleck  der  Bohne  kommen  soll);  Mont  en  Cook,  Vlaamsche 
Vertelsels  S.  II.'),  doch  ohne  den  Handwerker  („das  Lachen  muss  arg  gewesen 
sein,  denn  noch  sieht  man  das  Mal  davon.") 

Eine  neue  Änderung  in  einem  elsässischen  Märchen  besteht  darin,  dass 
statt  der  Kohle  die  Katze  auftritt.  Offenbar  dienten  hier  andere  Märchen,  in 
denen  Katze  und  Maus  zusammen  agieren,  als  Vorbild.  Der  Strohhalm  als  Brücke 
der  Katze  zerbricht  unter  ihr,  die  Katze  fällt  ins  Wasser.  Die  Maus  lacht,  dass 
ihr  der  Bauch  platzt  (Stöber,  Elsäss.  Volksb.  9.')). 

Trotz  der  mehrfachen  Veränderung  ist  die  Haudhing  in  einem  Punkte 
■überall  gleich:  das  Zerbrechen  des  Strolihalmes  erweist  sich  als  ein  un- 
bedingt notwendiges  Ereignis,  das  zum  plötzlichen  Ende  hintreibt.  Auch 
in  einem  anderen  Grimmschen  Märchen  (Nr.  80)  führt  die  gefährliche 
Halmbrücke  zum  Tode  des  Ertrinkens.  Sie  ist  ein  echtes  und  rechtes 
Märchenerfordernis. 

Es  gibt  nun  noch  eine  letzte  Variante,  eine  siebenbürgische,  in  der  diese 
Brücke  fehlt.  Dort  kommen  Ente,  Frosch,  Mühlstein  und  Glühkohle  an  einen 
Fluss,  die  Ente  trägt  alle  hinüber,  aber  mitten  drin  taucht  sie  unter,  um  einen 
Fisch  zu  fangen,  und  Mühlstein  und  Kohle  ertrinken.  Ente  und  Frosch  lachen 
darüber,  und  seitdem  lachen  sie  noch  heute,  die  Ente,  wenn  sie  schnattert,  der 
Frosch,  wenn  er  quakt.  (Haltrich,  Zur  Volkskunde  der  Siebenbürger  Sachsen 
•S.  90  =  Volksmärchen  *  S.  2GÜ.) 

Diese  Version  ist  die  schlechteste  von  allen;  die  Gründe  der  Ent- 
stellung liegen  auf  der  Hand.  Demselben  Bestreben  nach  überraschender 
Zuspitzung,  welchem  das  Grimmsche  Märchen  den  Witz  von  der  Bohnen- 
naht verdankt,  ist  die  Deutung  des  Hchnatterns  und  Quakeus  entsprungen. 
Ente  und  Mühlstein  stammen  aus  dem  Märchen  von  Herrn  Korbes  (Grimm 
Nr.  41),  der  Frosch  sowie  das  Motiv  des  Untertauchens  aus  der  Fabel  vom 
Frosch,  der  die  Maus  über  das  Wasser  trägt.  Wenn  Herr  Professor 
S.  Singer  in  seiner  Schrift  über  'Schweizer  Märchen'  (S.  46)  gerade  dieses 
Motiv  als  Basis  unseres  Märchens  angenommen  und  daran  sogar  Ver- 
mutungen über  die  ursprüngliche  Gestalt  der  Batrachomyomachie  geknüpft 
hat,  so  ist  das  zwar  recht  interessant  und  hübsch  ausgedacht,  aber  es  fehlt 
jeglicher  Beweis. 

Die  Vergleichuug  der  einzelnen  Varianten  hat  gezeigt,  dass  die  Er- 
klärung der  Bohnennaht  eine  Pointe  ist,  auf  die  das  Märchen  ursprünglich 
.gar  nicht  hinauslief.     Zur  weiteren  Stütze  dieses  Ergebnisses  sei  noch  auf 

0* 


132  Dähnhardt: 

eiu    ganz    ilhiiliclies  BeisjjiL'l    solflicr  Poiiitciisucht  hingewiesen,    eine  Ge- 
schichte von  der  Erbsennaht. 

Jedermann  kennt  (iriinnis  Märchen  (Nr.  23)  von  dein  Mäuschen, 
Vügelcheu  und  der  Bratwurst,  die  zusammen  einen  Haushalt  fuhren. ')■ 
Die  Maus  holt  Wasser,  der  Vogel  Holz,  und  die  Wurst  kocht  das  Gemüse. 
Um  es  schmackhaft  zu  machen,  windet  sie  sich  ein  paarmal  hindurch. 
Der  Vogel  aber  ist  mit  seiner  Beschäftigung  nicht  zufrieden:  er  will 
Wasser  holen.  Da  geht  denn  die  Wurst  in  tlen  Wald  nach  Holz,  aber 
ein  Hund  frisst  sie  unterwegs  auf.  Die  Maus  will,  wie  einst  die  Wurst, 
durch  das  Gemüse  schlüpfen  und  verbrüiit.  Der  Vogel  endlich  ertrinkt 
mit  dem  schweren  Eimer  im  Brunnen.  Mit  allen  dreien  ist's  aus,  genau 
so  aus  und  vorbei  wie  mit  Strohhalm,  Bastschuh  und  Blase.  Hier  wie 
dort  ist  der  Vorwitz  bestraft,  die  abenteuerliche  Wanderung  und  die 
törichte  Vertauschung  der  Ämter.  Solche  Ähnlichkeit  mag  wohl  mit  dazu 
beigetragen  haben,  dass  sich  die  willkürliche  Naturdeutung  auch  dieses 
zweiten  Märchens  bemächtigte.      Es  gibt  folgende  preussische  Variante :"■') 

Wurst,  Maus  und  Erbse  wohnten  zusammen  in  einem  kleinen  Häuschen.  Die- 
Woche  über  hatte  jeder  sein  Geschäft  und  bekümmerte  sich  nicht  viel  um  den 
andern;  jedoch  Sonntags  —  so  machten  sie  es  unter  sich  aus  —  sollte  gemein- 
schaftlich Küche  gehalten  werden  und  eines  von  ihnen  zu  Hause  bleiben,  um 
Kohl  zu  kochen,  indem  die  anderen  beiden  nach  der  Kirche  gingen.  Nun  traf 
sichs  immer,  wenn  das  Würstchen  zu  Hause  blieb  und  Kohl  kochte,  dass  derselbe 
ganz  vorzüglich  gut  schmeckte.  Und  das  Mäuschen  konnte  sich  nicht  enthalten, 
das  Würstchen  zu  fragen:  Wie  maakst  du  doch  datt,  leevct  Worstke,  datt  dien 
Kohl  ömmcr  so  schön  schmeckt,  wenn  du  koakst?  —  Na,  seh'  ee  mahl,  öck  niaak 
ett  so  —  sagte  das  Würstchen:  wenn  hei  so  recht  ömm  Kaake  öss,  denn  lopp 
öck  so  ee  paarmal  dorch,  on  denn  schmeckt  hei  so  goot!  Das  Mäuschen  war 
hierauf  ganz  still,  und  am  nächsten  Sonntage,  da  gerade  an  ihr  die  Reihe  war, 
Kohl  zu  kochen,  machte  sie  es  ebenso,  wie  sie  vom  Würstchen  gelernt  hatte,  er- 
trank aber  und  zerkochte  im  Kohltopfe.  Das  Würstchen  und  Erbschen  kamen 
nach  Hause  und  suchten  und  suchten,  fanden  aber  das  Mäuschen  ;ncht.  Würstchen 
war  ganz  untröstlich.  Erbschen  aber  sagte:  .4h,  haal  ehr  dei  Dievol.  nii  hungert, 
gütr  man  dem  Topp  her!  Als  sie  nun  den  Kohl  auf  die  Schüssel  gössen,  da 
fanden  sie  die  Knochen  von  dem  Mäuschen.  Die  Erbse  fand  dieses  so  lächerlich, 
dass  sie  loslachte,  bis  ihr  das  Hinterteil  platzte.  Sie  mussto  zum  Schuster  gehen 
und  sich  einen  Flicken  aufnähen  lassen.  Und  seit  der  Zeit  haben  auch  noch 
alle  Erbsen  einen  schwarzen  Flecken.  —  Hieran  schliesst  sich  ein  Häufungs- 
märchen.') Das  Würstchen  setzt  sich  auf  die  Türschwelle  und  beweint  das 
Mäuschen.  Ein  Hund  kommt  dazu  und  fragt:  Worstke,  watt  grienst  du?  Antwort: 
Na,  sull  öck  nich  griene?  Muuske  öss  ömm  Kohltopp  versaapel  Der  Hund  bellt 
dem  Zaune  zu.  Von  diesem  nach  der  Ursache  befragt,  antwortet  er:  Na,  sull  öck 
nich  belle?  Muuske  öss  ömm  Kohltopp  versaape,  Worstke  sott  opp  dei  Schwell 
on  grient.      Sull    öck  denn  nich  hello?      Der  Zaun  fällt  um  und  wird  vom  Baum 


1)  [Vgl.  dazu  oben  lö,  illl.) 

2)  Neue  preuss.  Provinzialbliitter  1,  230  (IS-iG),  mitgeteilt  von  Funck. 

3)  [Vgl.  It.  Köhler,   Kleinere  Schriften  1,  3G1.    S,  :t.V)f.  Sklarck,   Ungar.  M.  Nr.  31.: 


Beiträge  zur  vergleichenrlen  Sagenforschimg.  133 

T)efragt.  Der  Baum  lässt  sein  Laub  fallen,  der  Brunnen  liisst  das  Wasser  laufen, 
die  Miigd  schlügt  den  Eimer  entzwei,  der  Herr  schlagt  den  Wagen  entzwei.  Der 
Knecht  endlich  schliesst  die  Tragikomödie  mit  den  Worten:  Ah,  denn  wöll  öuk 
renne  bött  öck  steort!     On  nu  rennt  hei  noch,  wenn  hei  nich  schons  gestecrt  öss. 

Auffalleml  ist  die  grosse  Ähnlichkeit  mit  dem  Schweizer  Märchen 
von  Strohhalm,  Kohle  und  Bohne,  da  ja  auch  dort  Bohuennaht  und 
Häufungshuraor  zusammen  vorkommen.  Nur  ist  der  Inhalt  der  Häufungen 
■verschieden.  Die  des  Schweizermärchens  gehören  zu  Grimm  Nr.  80  (vom 
Tode  des  Hühnchens;  gemeinsames  Motiv:  Hilfe  wird  erst  dann  gewährt, 
nachdem  eine  Gefälligkeit  erwiesen  ist),  die  des  preussischen  Märchens 
gehören  zu  Grimm  Nr.  30  (Läuschen  und  Flöhchen;  beide  führen  eben- 
falls gemeinsamen  Haushalt,  Läuschen  fällt  in  die  Eierschale,  in  der  sie 
Bier  brauen.  Flöhchen  schreit,  Tür  knarrt,  Besen  kehrt,  Baum  schüttelt 
sich,  Magd  zerbricht  Wasserkrug,  Brunnen  fliesst,  und  in  dem  Wasser  er- 
trinkt alles).  In  beiden  Fällen  hat  also  die  Willkür  des  Erzählers  mit 
den  gleichen  Mitteln  gearbeitet,  um  den  Stoff  zu  erweitern  und  neue 
Wirkung  zu  erzielen.  Bei  der  Beliebtheit  des  Häufungsmotivs  lag  es 
nahe,  gerade  dieses  zu  verwenden. 

Ein  Rückblick  auf  die  hier  besprochenen  Varianten  zeigt,  dass  die 
einfachste  Form,  die  russische,  als  die  beste  zu  gelten  hat.  Wo  man 
aber  die  Heimat  des  Märchens  suchen  soll,  lässt  sich  nur  durch  Herbei- 
ziehung der  osteuropäischen  oder  noch  weiter  östlichen  Quellen  lösen. 
Für  die  Darlegung  des  Einflusses  der  naturgeschichtlichen  Ätiologie  ge- 
.nügt  es,  die  vermutlicli  echte  Urform  festzustellen. 

2.  Der  fliehende  Pfannkuchen. 

Auch  hier  stelle  ich  eine  vorzügliche  Fassung;  aus  Russland  an  die 
Spitze  und  schreite  dann  weiter  nach  Westen  vor. 

1.    Russisches  Märchen  (Afanasjev  1,  54.')    Übersetzt  von  Leskien). 

Es  war  einmal  ein  Mann  und  eine  Frau.  Der  Mann  bat:  Backe  einen  Pfann- 
kuchen-), Alte.  —  Woraus  denn  backen?  Wir  haben  kein  Mehl.  —  I  was,  Alte! 
Kralz  tien  Mehlkasteii  aus,  kehr  den  Scheunenverschlag  aus  (einen  in  der  Scheuer 
abgeteilten  Raum  zum  Korneinschütten)!  Es  wird  schon  Mehl  zusammenkommen.  — 
Da  nahm  die  Alte  einen  Flederwisch,  kratzte  den  Mehlkastcn  aus,  und  es  kamen 
noch  so  zwei  Hände  voll  Mehl  zusammen.  Das  i'iihrte  sie  mit  Milch  an,  buk  es 
in  Butter  und  setzte  das  Gebiick  ins  Fenster  zum  Abkühlen.  Der  Pfannkuchen 
lag  dort  eine  Weile,  auf  einmal  rollte  er  hinab,  vom  Fenster  auf  die  Bank,  von 
der  Bank  auf  den  Fussboden,  am  Boden  hin  zur  Tür,  sprang  über  die  Schwelle 
in  den  Hausflur,  vom  Flur  auf  die  Vortreppe,  von  der  Treppe  in  den  Hof  vom 
Hof  zum  Tor  hinaus  und  lief  immer  weiter.     So  rollte  der  Pfannkuchen  den  Weg 


1)  Guberuatis,  Die  Tiere  in  der  indogenn.  Mjtholujiie  -  S.  438  Anm.  nennt  .\f.  IV,  IS. 

2)  Für  das  russ.  Kolobok,  eine  Art  rundlichen  Milchbrotes.  Pfannkuchen  ist  hier 
in  dem  Sinne  des  kugeligen  Gebäckes  genommen,  das  man  in  Mitteldeutschland  so 
nennt.     Leskien  übersetzt:  Topfkuchen. 


134  Dälmhardt: 

entlang.  Da  begegnete  ihm  ein  Hase:  Pfannkuciicn,  Pfannkuchen,  ich  will  dich 
essen.  —  Du  sollst  mich  nicht  essen,  schief  beiniges  Häschen;  ich  will  dir  ein 
Liedchen  singen,  sagte  der  Pfannkuchen  und  hub  an: 

Aus  (lein  Kasten  kr.itzt'  man  mich. 

Aus  dem  Verschlage  kehrt'  man  mich, 

Mit  der  Milcli  mischt"  man  iiiich, 

In  der  Butter  Imk  man  mich, 

An  dem  Fenster  kühlt"  man  mich, 

Bin  dem  Alten  weggelaufen, 

Bin  der  .^Iten  weggelaufen: 

Dir,  Häschen,  kann  ich  leicht  entlaufen. 

Damit  rollte  er  weiter,  und  der  Hase  verlor  ihn  aus  den  Augen.  Auf  dem  weiteren 
Wege  begegnete  ihm  ein  Wolf  ....  Es  wiederholt  sich  nun  dieselbe  Szene  mit 
dem  Wolf  und  noch  einmal  mit  einem  begegnenden  Bären.  Das  Lied  wird  dem- 
gemüss  bei  dem  Wolfe  fortgesetzt: 

Uem  Hasen  hin  ich  entlaufen: 
Auch  dir,  Wolf,  kann  ich  leicht  entlaufen; 
bei  dem  Bären: 

Dem  Hasen  bin  ich  entlaufen. 

Dem  Wolf  bin  ich  entlaufen, 

Dir,  Bär,  kann  ich  leicht  entlaufen. 

Endlich  begegnet  dem  Pfannkuchen  ein  Fuchs,  der  ihn  anredet:  Guten  Tag.  Pfann- 
kuchen, wie  bist  du  hübsch!  —  Darauf  begann  der  Pfannkuchen  sein  Lied: 

Aus  dem  Kasten  kratzt"  man  mich  usw. 

Dem  Bären  hin  ich  entlaufen, 

Dir,  Fuchs,  werd  ich  erst  recht  entlaufen. 

Was  für  ein  schönes  Liedchen,  sagte  der  Fuchs,  aber  weisst  du,  Pfannkuchen, 
ich  bin  alt  geworden  und  höre  schlecht.  Setz  dich  doch  auf  meine  Schnauze  und 
sing  noch  einmal  ein  bisschen  lauter!  Der  Pfannkuchen  sprang  dem  Fuchs  auf 
die  Schnauze  und  stimmte  dasselbe  Lied  an.  —  Danke,  Pfannkuchen.  Das  Lied 
ist  wunderschön,  ich  möchte  noch  zuhören.  Setz  dich  doch  auf  meine 
Zunge  und  sing  es  noch  einmal  her,  zum  letztenmal!  —  So  sprach  der  Fuchs 
und  steckte  seine  Zunge  her;ius.  Der  Pfannkuchen  in  seiner  Dummheit  hüpfte 
ihm  auf  die  Zunge,  und  der  Fuchs  schnappte  zu  und  verspeiste  ihn. 

2.  Deutsche  Miirclieii  ohne  iiatunleuteiulen  Seiiliiss  (sämtlich. 
Häufungsmiirchen). 

a)    Aus  Ostpreusson  (Iv  Leiiiko.  Volkstünil.  in  Ostpreussen  2.  218). 

Drei  Mädchen  backen  zusammen  ein  Kuckelchcn.  Keine  hat  [jUst,  es 
aus  dem  Ofen  zu  nehmen.  Während  sie  darüber  beraten,  wer  es  tun  soll, 
entläuft  das  Kuckelchen.  Es  begegnet  einem  Fuchs,  der  es  fragt:  Bruder  Kuckel, 
wo  läufst  du  hin?  Es  antwortet:  Fuchs-Puchs,  ich  bin  drei  faulen  Mägden 
weggelaufen,  ich  werd  auch  dir  weglaufen.  Darauf  trilTt  es  nacheinander  einen 
Hasen  (Has-Pas),  einen  alten  Hund  und  ein  Schwein.  Das  rief  ihm  zu: 
Bruder  Kunkel,  wo  läufst  du  hin?  Nun  wurde  aber  mein  Kuckelchen  schon  un- 
geduldig und  sagte  ärgerlich:  Ach,  du  dummes  Schwein,  ich  bin  drei  faulen 
Mägden  weggelaufen,  ich  bin  dem  Fuchs-Fuchs  weggelaufen,  ich  bin  dem  Has- 
Pas  weggelaufen,  ich  bin  dem  alten  Hund  weggelaufen,  ich  werd  auch  dir  weg- 
laufen. —  Was?  fragte  das  Schwein  und  richtete    sich  auf.     Was  erzählst  du  da?' 


Beiträge  zur  verglpichenden  Sagenforschunf;.  135 

Ich    kann    nickt    gut    hören.     Komm    doch    ein    bisschen   näher  und  sag 
mir's  noch  einmal! 

Mein  Kuckelchen  ging-  richtig  näher  heran  —  ja  du  mein  Gott!    Da  schnappte 
das  Schwein  zu  und  verschlang  es. 

Variante  (Neue  Preuss.  Provinzialblätter  1,  -446.    184:G): 

Twey  olle  Wiwcrkens  beckte  sich  enmool  ene  Pankok.  Als  sei  ober 
fertig  weer,  un  sei  eni  op  dei  .Schettcl  Icgde,  so  wer  gerad  dci  Deer  ope,  un  hei 
Icep  ene  weg.  Do  begegend  sei  enen  Holthauer,  dei  Holthauer  segt:  Pankok,  wo 
rennst  henV  —  I,  eck  si  entlope  twey  olle  Wiewer,  un  di  Holthauer  dem 
Schedder  wer  eck  uck  woll  entlope.  —  Begegend  sei  enen  Redder,  dei  segt: 
Pankok,  wo  rennst  hen?  —  I,  eck  si  entlope  twey  olle  Wiewer,  Holthauer  dem 
Schedder,  un  di  Ritter  dem  Redder  war  eck  woll  uck  entlope.  —  Begegend  sei 
cnem  Hos,  dei  segt:  Pankok,  wo  rennst  hen?  —  I,  eck  si  enllope  twey  olle 
Wiewer,  Holthauer  dem  Schedder,  Ritter  dem  Redder,  un  di  Hoske  Wepersch 
war  eck  woll  uck  entlope.  —  Begegend  sei  ene  olle  Su,  dei  segt:  Pankok,  wo 
rennst  henV  —  I,  eck  si  entlope  twey  olle  Wiewer  usw.,  und  di  ole  Su  wer  eck 
woll  uk  entlope.  —  Do  segt  de  Su:  Wat  sogst  du,  lewer  Pankok?  Eck  si 
e  beske  dof,  seg  doch  noch  e  mol!  Do  well  dei  Pankok  der  Su  dat  ent 
Ohr  sege,  aber  do  schnapt  dei  Su  to,  un  fi-et  eni  op.     Da  wer  met  emailer. 

b)  Aus  der  Nietlerlausitz  (üander,  Niederlausitzer  Yolkssagen 
S.  122,  Nr.  319). 

Zwei  Frauen  in  Jetzschko  buken  einen  Eierkuchen,  und  als  er  ziemlich 
gar  war,  bekamen  sie  Streit  um  ihn,  weil  jede  ihn  ganz  haben  wollte.  Die  eine 
sagte:  Den  Eierkuchen  nehm'  ich  mir!  Die  andere:  Nein,  den  will  ich  ganz 
haben.  Ehe  sie  sich's  versahen,  bekam  der  Eierkuchen  Püsse,  sprang  zum  Tiegel 
heraus  und  lief  fort.  Da  begegnete  er  dem  Fuchse.  Dieser  sagte  zu  ihm: 
Eierkuchen,  Eierkuchen,  wozu?  wozu?  Der  Eierkuchen  erwiderte:  Ich  bin  zwei 
alten  Weibern  fortgerannt,  dir  werde  ich  auch  fortrennen!  Darauf  begegnete  er 
einem  Häschen.  Das  rief  auch:  Eierkuchen,  Eierkuchen,  wozu?  Dieser  ant- 
wortete: Ich  bin  zwei  alien  Weibern  fortgerannt,  dem  Fuchse-Kanell,  und  dir 
werde  ich  auch  fortrennen.  Dei-  Eierkuchen  lief  weiter  und  kam  an  ein  Wasser. 
Auf  dem  kam  ein  Schiff  mit  Leuten  geschwommen.  Diese  schrien  auch: 
Eierkuchen,  Eierkuchen,  wozu?  Er  sagte  wieder:  Ich  bin  zwei  alten  Weibern 
fortgerannt,  Fuchse-Kanell,  Hasen  gar  schnell,  und  euch  werde  ich  auch  fort- 
rennen. Jetzt  begegnete  ihm  ein  grosses  Schwein,  das  rief  ihn  auch  an:  Eier- 
kuchen, Eierkuchen,  wozu?  wozu?  —  Ach,  spiach  er,  ich  bin  zwei  alten  Weibern 
fortgerannt,  Fuchse-Kanell,  Hasen  gar  schnell,  Schiffe  mit  Leiten,  dir  werd  ich 
auch  noch  entsclareiten !  Das  Schwein  sagte:  Eierkuchen,  ich  hure  nicht  gut, 
du  musst  mir's  ins  Ohr  sagen.  Da  ging  der  Eierkuchen  nahe  heran,  und 
waps!  waps!  hatte  das  Schwein  ihn  weg  und  frass  ihn  auf,  und  damit  hat 
die  Geschichte  ein  Ende. 

c)  Aus  Pommern  (Blätter  f.  poinm.  Volksk.  !»,  ti2). 
Dat  wäre  drei  Mäkens,  dei  backde  sich  Pannkoken  und  were  dabi  in- 
schlapen,  un  dei  Pannkok  dei  leip  en  weg.  Da  kam  ein  Holthauger  und 
seggt:  Fett  Pannkok,  wo  leppst  du  hen?  Dei  Pannkok  säd:  Ick  bin  drei  fule 
Mäkens  weglope,  un  di  lop  ick  uck  .  .  .  Es  folgen  Hund,  Katze,  Bäcker, 
Ochs.  Da  kam  ein  Ochs  un  seggt:  Fett  Pannkok,  wo  leppst  du  hen?  Dei 
Pannkok  säd:  Ick  bin  drei  fule  Mäkens  weglope,  Holthauger,  Hundehauger,  Katt- 


136  Dähuhardl: 

niiauger,  Kütskebiicker,  un  di  lop  ick  uck.  Dei  Ochs  seggt:  Wat  seggst  du? 
Ick  kann  nich  recht  here!  un  ging  neger  to  den  Pannkok  ran.  Wat  seggst 
du?  un  schnappt  to  un  schluckt  cm  up.  De  drei  Mükens  wagde  up  un 
hadden  nischt  up  de  Pann.  —  Hierzu  gehört  die  Rügensche  Redensart:  En  oll 
ful  AView  un  twe  oll  fule  Dierns  löppt  de  Pannkoken  weg.  (Eine  Alte  und 
zwei  Mädchen  kommen  in  der  unten  angeführten  Fassung  aus  Ditmarschen  vor, 
sie  müssen  aber  auch  in  Rügen  so  vorgekommen  sein.) 

il)  Mecklenburg.  Vielfach  vorhanden  (Mitteilung  von  Richard 
Wossidlo). 

e)  Aus  Hannover  (Colshorn  Xr.  .57  =  Dähnhardt,  Deutsches  Märchen- 
buch 2,  -23). 

Der  dicke,  fette  Pfannkuchen  entläuft  drei  alten  Weibern  und  begegnet  dem 
Häschen  Wippsteert,  dem  Wulf  Dickstccrt,  der  Zicke  Langbart,  dem  Perd 
Plattfaut,  der  S  u  Haff.  Jedesmal  Frage  und  Antwort  mit  entsprechender  Häufung. 
Zuletzt  kommen  drei  arme  Waisenkinder  und  bitten:  Lieber  Pfannkuchen,  bleib 
stehen!  Wir  haben  noch  nichts  gegessen  den  ganzen  Tag.  „Da  sprang  der  dicke, 
fette  Pfannkuchen  den  Kindern  in  den  Korb  und  Hess  sich  von  ihnen  essen.'' 

f)  Vom     Niederrhein.       Märchen     mit     Lokalnamen     (Dülkener 

Mundart).^) 

Fei  Jenneken  bocket  eene  Kook.  Du  woar  deä  so  fett,  dotte  ute  Pann  loopc 
geng.  Du  leip  e  bi  Heumoon,  den  aa  Gries.  0,  säät  deä,  do  kömmt  Hrauär 
Kook!  —  0,  säät  Brauär  Kook,  ich  bön  Fei  Jenneke  loope  gcgange,  ich  sali  dich 
aa  Gries  ooch  wähl  loope  goan.  —  Du  leip  e  bi  Schmecken  Bellken.  On  du  säät 
di  ooch  allwerr:  0,  doa  kömmt  Brauär  Kook!  Ho,  ich  bön  Fei  Jenneke  loope 
gegange,  on  ich  bön  Heumoon  den  aa  Gries  loope  gegange,  on  sali  dich  Schmecken 
Bellken  ooch  wähl  loope  goan.  —  On  du  leip  e  werr  bis  bi  Bokkese  Paus,  on  du 
säät  dö  Puus:  Ho,  doa  kömmt  Brauär  Kook!  —  Du  säät  e:  Ich  bön  Fei  Jenneke 
loope  gegange,  ich  bön  Heumoon  den  aa  Gries  loope  gegange,  ich  bön  Schmecken 
Bellken  loope  gcgange,  ich  sali  dich,  Bokkese  Puus,  ooch  wähl  loope  goan.  — 
Du  leip  e  en  der  Muäsel.  On  du  koam  der  decken  TöUcr  on  reip:  Halt,  halt,  halt, 
doa  kömmt  Brauär  Kook.  —  Du  säät  e:  Ich  bön  Fei  Jenneke  loope  gegange,  ich 
bön  Heumoon  den  aa  Gries  loope  gegange,  ich  bön  Schmecken  Bellken  loope  ge- 
gange, ich  bön  Bokkese  Puus  loope  gegange,  ich  sali  dich  decken  Töller  ooch 
wähl  loope  goan.  —  Du  leip  e,  du  leip  e  on  koam  en  öt  Goostes  bi  Frinkes- 
männken,  deä  koam  möt  dör  Carabiner  on  wau  öm  duät  scheiten.  Du  säät  e: 
0,  ich  bön  Fei  Jenneken  loope  gegange,  ich  bön  Heumoon  den  aa  Gries  loopi^ 
gegange,  ich  bön  Schmecken  Bellken  loope  gcgange,  ich  bön  Bokkese  Puus  loope 
gegange,  ich  bön  Bokkese  Puus  loopc  gegange,  ich  bön  den  decken  Töller  loope 
gegange,  on  du  Frinsmännken  kriggs  mich  ooch  neit.  —  Du  leip  e  werr  bös  an 
dö  Poart  Du  koam  der  Kuur  (Nachtwächter)  Päsers  Friddcs  möt  öt  Hoarcn  on 
wau  öm  öt  Hoaren  drop  schloan.  Du  koam  e  Friddes  ooch  derduär  on  leip  de 
Poart  ut  bis  an  et  brook  bi  de  Wäschwiever  on  säät:  Ich  bön  Fei  Jenneken  loope 
gegange,  ich  bön  Heumoon  usw.,  ich  bön  Päsers  Friddes  loope  gegange,  on  ör 
Wäschwiever    kriggt  mich  ooch  neit.      Du  koanien  du  Wäschwiever  mÖt  de  Geit- 

1)  Hans  ZurmühlcD,  Nk'derrheiiiischo  Volkslieder  i,2.  Ausg.  von  Des  Dülkener  Fiedlers 
Liederbuch)  1879,  S.  1  l.j.  Den  Hinweis  auf  diese  versteckte  Variante  verdanke  icli 
Rieh.  Wossidlo. 


iträge  zur  vergleichenden  Sagenforschung.  137 

klömp  on  leipen  öni  uoa  on  kriägen  öm  doch  neit.  Du  leip  e  bis  an  öt  Heigen- 
hüsken  an  öt  Reulen-Enk.  Du  koam  ed  aat  Buremännken  on  säät:  O  Brauür 
Kook,  kömras  du  ooch.  Jong!  Nu  welle  wör  os  get  setton  on  os  räesten. 
Du  trock  dot  Buremännken  höäschkes  e  Knippken  ut  de  Teüsch  on 
schniät  Brauiir  Kook  medsen  duür  on  oat  öm  op. 

3.  Norwegisches^)  Märchen.  Asbjörnseii,  Xorske  Folke-Eventyr,  iiy 
Sämling  1871  Xr.  104:  'Pandekagen'  =  Norske  Hiüdre-eventyr  og  Folkesagn 
1870  =  Auswahl  norwegischer  Volksmärchen,  übers,  von  Denhardt  1881 
S.  53.  (Frau  und  sieben  Kinder  laufen  ilem  flüchtigen  Kuchen  nach;  er 
trifft  einen  Manu,  Henne,  Hahn,  Ente,  Gans,  Gänserich,  Schwein.  Das 
Schwein  erbietet  sich,  ihn  über  den  Bach  zu  setzen,  nimmt  ihn  auf  den 
Rüssel  und  verschlingt  ihn). 

4.  Dänische  Märchen,  a)  Gruudtvig,  Gamle  danske  minder  1861 
1,  -214  nr.-2b2:  Dku  stör  Kag  (fra  Haderslev-Amt).  —  b)  Ebd.  2,  1-23 
nr.  119:  Kagen  pä  Vandring. 

c)  Skattegraveren  udg.  af  E.  T.  Kristensen  2  (Kolding  1884),  31 
nr.  233:  De  tre  lade  moer.  (Die  faulen  Schwestern  hören  nicht  auf  den 
Pfannkuchen,  der  sie  auffordert,  ihn  umzuwenden;  er  klettert  aus  dem 
Schorn.stein.  beoeunet  eiuem  Fuchs  und  einer  Sau,  entläuft  ihnen  und 
bleibt  in  den  Brennesseln  stecken.)  —  d)  Ebd.  2,  127  nr.  663:  Pande- 
kagen. (Der  Pf.  begegnet  eiuem  alten  Manne  mit  Brennholz,  einer 
Butterfrau,  Eierfrau,  Sau.  Raps,  sagt  die  Sau  und  frisst  ihn.)  —  e)  Ebd. 
12  (1889),  220  nr.  804:  Kagen.  (Frau  und  füuf  kleine  Kinder.  Der 
Kuchen  begegnet  einem  Fussgänger,  Reiter,  Fuhrmann,  Hasen,  Fuchs, 
Wolf;  <ler  Wolf  heisst  ihn  sich  auf  seinen  Rücken,  Nacken,  Kopf,  Nase, 
Schnauze  setzen  und  frisst  ihn.) 

f)  Kristenseu,  Danske  Dyrefabler  og  Kja^deremser  1896  S.  .58 
nr.  113:  Kagen,  der  lob  siuYej.  (Der  Kucheu  begegnet  einer  Henne  mit 
Küchlein.  Hahn,  Hase,  Fuchs,  Sau  mit  Ferkeln,  ist  müde  und  setzt  sich 
auf  den  Rücken  der  Sau.  „Ich  falle,  ich  falle."  Setz  dich  auf  mein 
Kinn,  Schinken,  Ohren,  Schnauze!  „Ich  falle,  ich  falle."  Ja,  fall  nur; 
du  war.st  so  schlecht  gegen  die  kleinen  Kinder  und  bist  ihnen  entlaufen. 
Der  Kucheu  fällt  ins  Wasser,  und  nun  frisst  ihn  die  Sau.)  —  g)  Ebd. 
S.  224,  nr.  597:  Kagen  og  Soen  (Wanderer,  Reiter,  Fuhrmann,  Hase, 
Fuchs,  Sau).  —  h)  Ebd.  S.  225  nr.  598:  Kagen,  der  blev  slugt.  (Frau 
und  sieben  kleiue  Kinder.  Kuchen  entflieht  und  trifft  Henne,  Hahn,  Ente, 
Oans.  Gänserich,  Fuchs.  Der  Fuchs  heisst  ihn  sich  auf  seinen  Schwanz 
setzen,  auf  den  Rückeu,  Nacken,  Kopf,  Nase  und  verschlingt  ihn.)  — 
i)  Ebd.  S.  226  nr.  599:  Pandekagen  og  RiEven.  (Frau  und  sieben  Kinder. 
Torfträger  wirft  seineu  Torf  uach  ihm,  Eierfrau  ihre  Eier,  Sau,  Fuchs. 
Fuchs  will  ihn  auf  der  Schnauze  übers  Moor  tragen,  lässt  ihn  fallen  uml 


1)  Sämtliche    nordische  Varianten   hat    mir  Herr  Prof.  Bolte  freundlichst  mitgeteilt. 


138  DUlinhardt: 

verzehrt  ihn.)  —  k)  Ebd.  S.  2-27  iir.  (iOO:  .Mo.sjö  PaiuU'kage.  (^Drei  alte 
Frauen.  Der  IM'.  trilVt  Mann  mit  ]5ri'iiitliolz,  Eierfrau,  Butterniann,  difr 
iiire  Last  nacli   ihm  wi'rt'cu:  die  Sau  macht  'Grabs').') 

5.    Aus  Euglaud  uud  Schottland. 

a)  Aus  Chambers,  Populär  rhymos  of  Scotland  y.  ^l'  =  IJrui')  re.  Contes 
pop.  de  la  tirande-Bretagne  1875  p.  349. 

1.  Aus  Ayrshire:  Eine  alte  Frau  bückt  zwei  bunnocks  (Haferkuchen).  Ihr 
Mann  kommt  und  bricht  einen  durch,  der  andere  läuft  weg.  Die  Frau 
ihm  nach.  Er  liiuft  in  ein  Haus,  drei  Schneider  sitzen  am  Ofen.  Die  Frau  ruft: 
Fangt  ihn,  so  i,^eb  ich  euch  Milch!  Sie  können  ihn  aber  nicht  erreichen.-  Der 
bunnock  trifft  darauf  einen  Weber  mit  seiner  Frau,  ein  Weib,  das  buttert,  einen 
Müller,  einen  Schmied,  liiuft  in  mehrere  Farmhiiuser,  deren  Bewohner  ihm  nach- 
eilen, und  gerät  zuletzt,  als  es  dunkel  wird,  in  ein  Fuchsloch.  Der  Fuchs  frisst 
ihn  a  u  f. 

2.  Aus  Dumfriesshire:  Der  bunnocli,  dem  Topf  und  Pfanne  nachgeworfea 
werden,  entläuft  Mann  und  Frau,  begegnet  zuerst  zwei  Brunnenwäscherii  und 
entläuft  ihnen  mit  dem  Lied; 

I  fore  ran 
A  wee  wee  wife  and  a  wee  wee  man 
A  wee  wee  pot  and  a  wee  wee  pan, 
.\nd  sao  will  I  You,  an  I  can. 

Es  begegnen  ihm  mehrmals  Bauern  und  Arbeiter,  je  paarweise,  und  es  wiederholt 
sich  das  Entlaufen  mit  jedesmal  verlängertem  Liede.  Endlich  frisst  ihn  der  Fuchs. 
.T.  Aus  Selkirkshire:  Der  bunnock  entläuft  Mann  und  Frau,  die  sich 
streiten,  und  begegnet  dem  Schaf,  der  Ziege,  dem  Fuchs.  Das  letzte 
Häufungslied  lautet  dann: 

1  \e  beat  a  wee  wife, 

And  I  'vo  beat  a  wee  mau, 

\uA  I  've  beat  a  wee  sheep, 

And  I  've  beat  a  wee  goat, 

Aiid  I  '11  fry  and  beat  Ye  too,  if  I  can. 
Der  Fuchs  sagt:  Steig  auf  meinen  Rücken,  ich  will  dich  tragen.  —  Nein.  —  Tu'a 
nur,  ich  trag  dich  über  den  Bach.  —  Er  tut  es.  Der  Fuchs  dreht  sich  um  und 
beisst  ein  Stück  von  ihm  ab.  —  0  du  knabberst,  du  knabberst!  —  Ich  kralzfr 
mich  nur!  —  Er  beisst  wieder  ein  Stück  ab.  Der  Kuchen  sagt  wieder:  0  du 
knabberst,  du  knabberst!  Aber  der  Fuchs  versichert,  er  kratze  sich  nur.  und 
beisst  noch  ein  ganz  klein  bisschen  weiter,  und  da  fällt  der  bunnock  in  den  Bach. 

b)  Aus  Joseph  Jacobs,  English  Fairy  Tales  p.  Iö5: 

Johnny-cake  entläuft  und  begegnet  nach  und  nach  zwei  Brunnengräbern,  zwei 
Grabenarbeitern,  Bär,  Wolf  und  Fuchs  und  macht  jedesmal  geltend:  ich  bin 
dem  und  dem  entlaufen  und  kann  dir  auch  entlaufen.  Der  Fuchs  tut,  als  höre 
er  nicht  gut,  lässt  ihn  immer  näher  kommen  und  verschlingt  ihn. 

c)  Aus  J.  F.  Campbell,  Populär  tales  of  the  West  Highlauds  o.  100: 


1)  In  diesen  skandinavischen  Kindermärchen  beruht  der  Reiz  auf  dorn  Dialo;;,  in 
dem  der  Pfannkuchen  jedem  Rcgegnenden  einen  reimenden  Zunamen  gibt:  im  norwegi- 
schen z.  B.  üod  Dag,  Pandekage,  sagde  Manden.  Gud  signe,  Maud  Brand,  sagde 
Pandckagcn.  —  God  Dag,  Hune  Pnuc.  —  God  Dag,  Haue  Pane,  —  Ande  Vande  —  Gaase 
Vaase  —  Gasse  Vassc  —  Gylte  Giisesyltc. 


Beiträge  zur  vergleichenden  Sagenforsehung.  139* 

Der  Pfannkuchen,  der  schon  anderen  entlaufen  ist,  triflt  zuletzt  am  Ufer  eines 
Sees  den  Fuchs.  Dieser  erbietet  sich,  ihn  überzusetzen.  Als  der  Pfannkuchen 
sich  in  seinen  Mund  begibt,  frisst  er  ihn  auf. 

d)   Aus  Aberdeeu  (Moir,  Folk-lore  Journal  •_',  71.    1884:  The  Baunockie). 

Aus  all  diesen  Varianten  kann  mau  ohne  Mühe  erkennen,  dass 
der  Schluss  der  Urform  lautete:  Der  Fuchs  frass  den  Pfann- 
kuchen auf.  Was  im  übrigen  echt  und  unecht  in  den  verschiedenen 
Fassungen  ist,  wird  sich  später  zeigen.  Anstatt  des  Fuchses  ist  in  einigen 
Varianten  (aus  Ostpreussen,  der  Niederlausitz,  Dänemark  und  Xorwegen) 
das  Schwein  gesetzt:  es  packt  zu  und  verschlingt  den  Ausreisser.  Hier 
setzt  nun  eine  Sagengabelung  ein,  und  wir  hören  den  naturerklärenden 
Schluss,  dass  der  Pfannkuchen  dem  Schwein  entkam,  sich  in  den 
Erdboden  machte,  und  dass  das  Schwein  seit  jener  Zeit  in  der  Erde 
wühlt,  um  den  Kuchen  zu  finden. 

1.  Aus  Westfalen  (Woeste,  Volksüberlieferungen  der  Grafschaft 
Mark  1848  =  Rochholz,  Naturmythen  S.  252;  vgl.  Westfälischer  Bauern- 
kalender 1882,   126). 

Da  waren  einmal  zwei  Dirnchen,  die  buken  sich  einen  Pfannkuchen  und' 
setzten  ihn  ins  Fenster,  dass  er  bald  kalt  werden  sollte.  Aber  der 
Pfannkuchen  kniff  aus  und  entlief  in  die  Berge.  Da  kam  ihm  ein  altes  Männchen 
entgegen  und  fragte:  Pfannküchelein,  wo  willst  du  hin?  Da  sprach  dies:  Ich  bin 
zwei  Dirnchen  entlaufen,  dir  Männchen  Graubart  will  ich  auch  wohl  entkommen, 
und  damit  liefs  weiter.  Auf  ein  kurzes  traf  es  einen  Hasen,  der  fragt  auch: 
Pfannküchelein,  wo  willst  du  hin?  Da  sprachs:  Zwei  Dirnchen  bin  ich  entlaufen 
und  dem  Männchen  Graubart;  dir  Häschen  Weisskopp  soll  ich  auch  noch  wohl 
entkommen.  Wieder  über  ein  Weilchen  kommt  ihm  der  Fuchs  Dicksterz  ent- 
gegen. Darauf  das  Schwein,  das  Vögelchen  Wicksterz,  dann  der  Wolf 
(ohne  Beinamen)  und  der  wilde  Eber.  Alle  fragen  und  erhalten  ihren  Bescheid. 
.Aber  der  letzte  schnappt  zu  und  erwischt  den  halben  Pfannkuchen.  Difr 
andere  Hälfte  entkommt  in  die  Erde,  darum  wühlen  die  Säue  noch 
immer. 

Dieselbe  Geschichte  erzälilt  Adalb.  Kuhn,  Sagen  aus  Westfalen  2,  235, 
aber  besser,  nämlich  mit  ausführlicher  Wiedergabe  der  Häufungsrede  und 
mit  Weglassung  des  Schweins,  das  doch  nur  eine  Wiederholung  des 
wilden  Ebers  ist. 

2.  Aus  Ditmarschen  (Müllenhoff,  Sagen,  Märchen  und  Lieder,  S.  4(!9). 
Der    Kuchen    entläuft,    als    er    halb    gar    ist,    einer    alten  Hexe    und    zwei 

schmucken  Mädchen,  begegnet  dem  Has  Wippsteert,  dem  Fuchs  Dicksteert,  dem 
Reh  Blixsteert,  der  Kuh  Swippsteert.  Sie  alle  wollen  ihn  fangen,  fallen  um  und 
sind  tot.  Endlich  kommt  er  an  die  Sau  und  bohrt  sich  in  den  Grund.  Do  fangt 
de  oel  Sseg  an  to  wrreten  (wühlen)  unn  wull  em  der  heruut  hebben,  kunn  em 
awers  nich  krygen  Un  vun  disse  Tyt  an  wrseten  de  Swyn  noch  all  inne  Grünt 
unn  wüUen  de  Koek  heruet  söken,  hebbt  em  awer  noch  nich  wedder  funden. 

Ein  wesentlicher  Zug,  der  in  den  beiden  westfälischen  Fassungen 
noch  an  die  erste,  nicht-ätiologische  Sagenreihe  erinnert,  felilt  bei  Müllen- 
hoff: das  Zuscliuappen  und  Erfassen. 


140  Dähnhardt: 

3.  Eine  andere  wesentliche  Eigenart,  die  Häufuugsrede,  fehlt  in  einer 
Variante  aus  Rügen  (Haas,  Schnurren  von  der  Insel  Rügen  1899  S.  102): 

In  einem  Dorfc  lebten  mehrere  Frauen,  die  überaus  faul  waren.  Als  sie 
■eines  Tajres  Kuchen  bulicn,  waren  sie  zu  faul,  den  Kuchen,  der  auf  der  einen 
Seite  bereits  braun  gebaci<en  war.  umzuwenden.  Schliesslich  taten  sie  es 
doch,  ohne  dabei  aufzustehen;  dazu  waren  sie  zu  faul.  Infoige  dieser  Nach- 
lässigkeit riss  der  Kuchen  auseinander,  und  die  eine  Hälfte  desselben 
fiel  zur  Erde.  Alsbald  schnappte  die  Mutt  (weibl.  Schwein),  die  dicht  dabei 
stand,  nach  dem  zur  Erde  gefallenen  Stück  und  frass  es  auf.  Aber  das  Schwein 
merkte  sogleich,  dass  es  nur  ein  halber  Kuchen  war,  und  fing  an.  nach  der 
anderen  Hälfte  umherzuschnüffeln.  Da  diese  aber  nicht  zu  linden  war,  so 
schnüffelt  und  wühlt  es  bis  auf  den  heutigen  Tag  weiter  danach. 

4.  Ein  friesisches  Märchen')  (W.  Dykstra,  Uit  Frieslauds  volks- 
leveu  •_',  135:  'Iloe  de  zwijnen  wroeten  hebben  geleerd"  =  Volkskunde  8. 
187.  1895  — yö)  klingt  in  dem  Zwiegespräch  zwischen  Schwein  uml  Pfann- 
kuchen wieder  melir  an  das  russische  an. 

Eine  alte  Frau  bäckt  einen  Pfannkuchen,  läuft  aber  davon,  um  Sirup  zu 
holen.  Da'  sie  lange  ausbleibt,  wird's  dem  Pfannkuchen  in  der  Pfanne  zu  heiss. 
er  springt  (iuich  den  Schornstein  hinaus  und  rollt  den  Weg  entlang.  Ein  Mann 
fragt  ihn:  „Pfannkuchen,  wo  kommst  du  her?"  Er  antwortet:  „Ich  bin  aus  der 
heissen  Pfanne  gesprungen  und  bin  einer  alten  Frau  entflohen  und  werde  dir 
wohl  auch  entkommen."  Ebenso  erwidert  er  einem  Hunde  und  anderen  ihm  Be- 
gegnenden. Endlich  trifft  er  ein  Schwein,  das  fragt:  „Traust  du  dich  wohl,  auf 
meinem  Rücken  zu  sitzen?"  —  Warum  nicht?  sagt  der  Pfannkuchen  und  springt 
hinauf.  —  „Traust  du  dich  auf  meinem  Nacken  zu  sitzen?'-  ^  Gewiss,  auch  das. 
—  „Komm  mal  auf  meinen  Kopf!"  —  Denkst  du,  dass  ich  das  nicht  wage?  — 
,Du  bist  mutig,  das  gesteh  ich;  aber  ich  weiss,  auf  meiner  Schnauze  zu  sitzen 
traust  du  dich  nicht."  —  Ach,  warum  nicht?  sagte  der  Pfannkuchen  und  setzte 
sich  auf  die  Schnauze.  Hap!  machte  das  Schwein,  biss  die  Hälfte  vom  Pfann- 
kuchen ab  und  frass  sie  auf.  Die  andere  Hälfte  fiel  auf  die  Erde  und  verkroch 
sich  da.  Da  begann  das  Schwein  danach  zu  suchen  und  wühlte  mit  der  Nase  so 
lange  in  der  Erde  herum,  bis  die  Nase  entzwei  ging.  Nun  steckte  ihm  sein  Herr 
einen  eisernen  Ring  durch  die  Nase.  Solchen  Ring  tragen  die  Schweine  noch 
heut,  damit  sie  nicht  in  der  Erde  wühlen;  aber  sie  wollen's  doch  nicht  lassen, 
denn  sie  suchen  noch  immer  nach  der  anderen  Hälfte  des  Pfannkuchens. 

Diese  ätiologischen  Märchen  aus  Deutschland  und  Friesland  verdienen 
Beachtung.  Je  weniger  das  internationale  Wesen  der  Märchen  Stoffe  es 
gestattet,  irgendwelche  Schlüsse  hinsichtlich  des  Charakters  eines  sie  er- 
zälilendeu  Volkes  zu  ziehen,  um  so  sorgfältiger  muss  die  Art  der  Stoff- 
bearbeitung bei  den  einzelnen  Völkern  ins  Auge  gefasst  werden.  Das 
wird  die  schöne  Aufgabe  der  Zukunft  sein  (einer  glücklichen  Zukunft,  die 
mit  Stoffsainmeln  nichts  mehr  zu  tun  liat!).  Hier  haben  wir  so  ein  Bei- 
spiel, das  uns  klipp  und  klar  den  derb  humorvollen  Zug  der  Nord- 
deutschen enthüllt.     Denn  liegt  nicht  eine  köstliche  Bauernlaune  in  dieser 

1  Für  gütige  Übersetzung  dieses  Märchens  bin  ich  wiederum  Herrn  Prof.  Dolte  zu 
Jierzlichstem  Danke  verpllichtet. 


Beiträge  zur  vergleichenden  Sagenforschung.  141 

phantastischen  Auffassung  des  grunzenden  Wühlers,  ein  schnurriges  Be- 
ilagen in  dem  Gedanken,  dass  es  gerade  ein  Pfannkuchen  sein  niuss,  der 
da  gesucht  wird?  Das  ist  ja  eine  der  beliebtesten  Mehlspeisen  des  wohl- 
häbigen  Bauern.  Mit  innigem  Verständnis  mag  er  also  jenes  unablässige 
Sehnen  seines  Schweines  begreifen,  wenn  er  ihm  zuschaut,  die  Pfeife  in 
den  Mundwinkel  gequetscht.  Ein  für  den  Grossstädter  entzückendes  Bild: 
dort  die  geschäftige  Sau,  hier  der  Buer  in  Holsken,  und  in  seinem  Kopfe 
spukend  ein  neckisches  Märchen.  Er  ahnt  es  nicht,  dass  die  Wissenschaft 
es  kennt  —  besser  kennt  als  er  selber,  und  er  würde  den  Studierten  für 
nicht  ganz  richtig  halten,  der  ihm  sagte:  Das  Märchen  ist  von  Russland, 
vielleicht  noch  weiter  her  gekommen.  Im  Ernst,  die  russische  Fassung 
ist  wiederum  die  beste. 

Hier  finden  wir  Mann  und  Frau,  wie  in  England,  hier  finden  wir  das 
Fenster,  in  das  der  Pfannkuchen  zum  Abkühlen  gesetzt  wird,  wie  in 
Westfalen,  hier  finden  wir  nur  die  Waldtiere,  Hase,  Wolf,  Bär  und  Fuchs, 
die  anderswo  mit  Menschen  oder  mit  Haustieren  zusammen  erwähnt  sind, 
hier  finden  wir  die  List  des  Fuchses:  Ich  höre  nicht  gut,  komm  doch 
ein  bisschen  näher  usw.,  wie  in  so  manchen  anderen  Passungen  auch. 
Aber  die  anderen  haben  immer  nur  einzelne  dieser  Märchenzüge  auf- 
zuweisen, das  russische  hat  sie  alle  zusammen.  Interessant  ist,  wie  aus 
dem  zum  Abkühlen  weggesetzten  Kuchen  —  also  aus  dem  halbfertigen  — 
ein  halb  garer  (Ditmarschen,  Niederlausitz)  oder  ein  halb  braungebackener 
(Rügen)  wird  und  nun  in  weiterer  Entstellung  ilie  Hälfte  dieses  Kuchens 
herunterfällt  und  alsdann  (wie  in  der  ersten  Sagenreihe  der  ganze  Kuchen) 
aufgefressen  wird  (Rügen),  wie  anderswo  wieder  die  Entstellung  resultiert, 
dass  der  Mann  den  Kuchen  durchbricht  und  die  andere  Hälfte  wegläuft 
(Schottland).  Interessant  ist  auch,  wie  aus  der  Beratung  von  Mann  und  Frau, 
w^ovon  der  Kuchen  gebacken  werden  soll  (Russland),  die  Beratung  wird, 
wer  ilin  backen  soll  (Ostpreussen),  und  wie  auf  diesem  Wege  das  Motiv 
der  Faulheit  entsteht. 

Was  endlich  die  willkürliche  Ätiologie  betrifft,  so  ist  auf  die  Vorliebe 
für  das  Suchmotiv,  das  wir  schon  oben  kennen  gelernt  haben,  noch  ein- 
mal hinzuweisen.') 

3.   Die  versenkten  Schlüssel. 

Nicht  nur  der  Schluss  eines  Märchens  wird  mit  dieser  uaturgeschicht- 
ichen  Fabelei  gekrönt.    Gelegentlieh  gefäUf's  dem  Erzähler,  auch  inmitten 

1)  Zu  den  oben  S.  13f.  angeführten  Härchen  von  dem  geöffneten  Sack  sind  hier 
z.  B.  hinzuzufügen;  Lederbogen,  Kameruner  M.  Nr.  ?>1  (Schwein  sucht  heilende  Steine). 
Folklore  3,  3G4  (Huhu  sucht  verlorene  Nadeil.  Landes,  Contes  annamites  13G — 139 
(Tümmler  sucht  ein  verlorenes  Herz  oder  Schätze).  Büttner,  Lieder  u.  Gesch.  der  Suaheli 
S.  127  (Delphin  sucht  Salomos  Ring).  Dyer,  Folklore  of  Plauts  p.  ;100  (Kormoran  taucht 
nach  untergegangenem  Schiff).  Revue  des  trad.  pop.  2,  2G.  3,  2132  (Maulwurf  und  Fisch 
sind  verwandelte  Kinder,  die  den  Vater  suchen). 


14'2  Dähnhardt:  Beiträge  zur  verglciclicnden  Sagenforschurg. 

seiner  Geschichte  soldie  Arabesken  aiizubrinutMi.  Ich  greife  ein  Beispiel 
heraus,  das  sicli  um  kürzesten  abtun  lässt.  In  den  Aufgabeninärchen,  in 
<lenen  ein  Jüngling  die  schwierigsten  Bedingungen  zu  erfüllen  hat,  spielt 
das  Motiv  der  ins  Meer  versenkton  Schlüssel,  die  heraufzuholen  sind,  eine 
grosse  Rolle  (Köhler,  Kl.  Sehr.  1,  iöi.  Coscjuin  I,  32 — 49).  Wenn  es 
dann  heisst,  dass  ein  Fisch  die  Schlüssel  findet  und  bringt,  so  hat  in  den 
Küstengegenden,  in  denen  allein  die  Fischsagen  gedeihen,  die  Lockung 
nahegelegen,  gerade  diesen  Einzelzug  durch  besonderen  Schmuck  hervor- 
zuheben. 

In  einem  dänischen')  Märchen  wird  also  erzählt,  dass  die  Fische 
lange  suchten,  aber  nichts  fanden.  Das  tat  den  Weissfischon  so  leid,  dass 
sie  zu  weinen  anfingen,  und  daher  kommt  es,  dass  sie  noch  immer  rote 
Augen  haben.')  Allein  endlich  kam  doch  ein  alter  Hornhecht  mit  dem 
Schlüsselbund  angeschwommen.  Er  hatte  es  zwischen  zwei  grossen  Steinen 
gefunden,  und  dort  hatte  es  so  festgesessen,  dass  er  sich  den  einen 
Schnabel  abgebrochen  liatte,  als  er  es  losriss.  Und  daher  kommt  es,  dass 
der  Hornhecht  noch  einen  langen  und  einen  kurzen  Schnabel  hat. 

Ein  pommersches'')  Märchen  berichtet,  wie  Prinz  Getreu  zum  Fisch- 
könig fährt  und  ihn  bittet,  ihm  die  ins  Meer  geworfenen  Schlüssel  zu 
suchen.  Der  Fischkönig  war  dazu  bereit;  er  schickte  sämtliche  Fische 
aus,  aber  sie  kamen  wieder,  ohne  etwas  gefunden  zu  haben.  Zuletzt  kam 
ein  kleiner  Kaulbarsch  und  trug  die  Schlüssel  auf  seinem  Rücken.  Yon 
der  Last  war  sein  Rücken  aber  ganz  krumm  geworden.  Seit  der  Zeit 
haben  alle  seine  Naciikommen  krumme  Rücken. 

Schlusswort. 

Nachdem  wir  die  freie  Beweglichkeit  naturdeutender  Märchenniotive 
erkannt  haben  und  sowohl  in  den  biblischen  Legenden  (oben  IG,  369 ff.) 
und  .Vsopischeu  Fabelu  (oben  S.  1  ff.),  als  auch  in  den  Älärchen  selbst 
deren  EinHuss  auf  die  Gestaltung  der  Stoffe  dargelegt  haben,  darf  der 
Satz  aufgestellt  werden,  dass  diese  Motive  nicht  nur  überaus  flüchtig, 
sondern  auch  fruchtbar  sind  und  zu  Neubildungen  von  Sagen  ebenso  sich 
eignen  wie  anregen.  Je  beweglicher  aber  diese  Motive  sind,  um  so  mehr 
Stoffe  dürfen  als  „willkürlich-ätiologische"  (oben  S.  3)  gelten.  So  ergibt 
sich,    dass    die  Natur    selbst    in  weit  weniger  Fällen,    als    man  annohnii'u 


1)  Grunrltvig,  Danskc  folke.Tventyr,  ny  saiiiliug  1ST8  Nr.  1:  '.Mons  Tro'  =  Gnmdtvig, 
Dänische  Volksmärchen,  übers,  von  Strodtmann  2,  1  (1879). 

2)  Parallelen:  üer  Fisch  Rotauge  bei  Wossidlo,  Mecklenburgische  Volksüberlicfcrungen 
2,  Nr.  9r.  und  S.  314.  Rote  Augen  der  Kröte:  Wossidlo,  ebd.  S.  1-20.  321— :M5.  Bl.  I. 
pomni.  Volksk.  1,  llli.  KU.  8,  löO.  9,  41:  des  Kuckucks:  Revue  des  trad.  poi).  3,  2G2, 
Nr.  2C;  des  Truthalins:  Journal  of  Am.  Folklore  .'i,  3(»U.  (Ebd.  grüne  Augen  der  Holz- 
taube.) 

3)  Bl.  f.  pomin.  Vk.  2,  73f.     Vgl.  U.  .lahu,  Vni.  aus  l'oinmorn  1,  f)9. 


Dübi:  Drei  spätmittelalterliclie  Legeuden.  143 

möchte,  die  unmittelbare  Veranlassung  der  Natursagen  gewesen  ist, 
sondern  dass  sie  nur  mittelbar  durch  fortwährendes  Wandern  ätiologi- 
scher Motive  deren  Entwicklung  beeinflusst  hat.  Die  Naturliebe  des 
Volkes,  insbesondere  die  Freude  an  der  Naturdeutung,  ist  deshalb  nicht 
Äeriuifer  zu  bewerten.     Im  Gegenteil,  es  ist  erstaunlich,  wie  sie  alle  mög- 

■OD  O  '  '  *- 

liehen  Stoffe  in  ihren  Dienst  stellt.  Und  eben  darin,  dass  die  Spärlichkeit 
einer  ursprüngliclien,  aus  der  Natur  schöpfenden  Erfindung  durch  den 
Reichtum  unaufhörlicher  Stoffverwandlung  ersetzt  wird,  zeigt  sich  das 
lebendige  Walten  einer  wahrhaft  naturfreudigen  Volksphautasie. 

Leipzig. 


Drei  spätmittelalterliclie  Legeuden  in  ihrer  Wauderung 
aus  Italien  diircli  die  Schweiz  nach  Deutschland. 

Von  Heinrich  Dübi. 

(Vgl.  S.  42— G5.) 


2.   Vom  Ewigen  Juden.') 

Ungefähr  um  die  nämliche  Zeit,  wo  die  Pilatuslegeude  in  Italien  ihre 
«rste  schriftliche  Aufzeichnung  fand,  taucht  die  Kunde  von  der  Schuld  und 
Strafe  eines  anderen  Verfolgers  Christi  im  Abendlande  auf.  Die  Chronisten 
von  St.  Albans  in  England,  Roger  von  AVendower  (f  1237)  und  nach 
ihm  Mattliew  Paris")  (f  1259),  dessen  lateinisch  geschriebene 'Geschichte 
Englands  von  Wilhelm  dem  Eroberer  bis  zum  letzten  Jahre  Heinrichs  III.' 
1571  in  London  und  1589  in  Zürich  bei  Froschauer  gedruckt  wurde,  be- 
richten zum  Jahre  1228,  wie  ein  zum  Besuch  der  heiligen  Reliquien  nach 
England  gekommener  Erzbischof  aus  Gross -Armenien  dem  Abt  und  den 
Konventualen  von  St.  Albans  auf  Befragen  erzählt  habe,  dass  in  Armenien 
ein  gewisser  Cartaphilus  noch  lebe,  der  einst  bei  der  Verurteilung  Christi 
als  Pförtner  des  Pilatus  zugegen  gewesen  sei  und  dem  den  Gerichtssaal 
Terlassenden  Jesus    mit    der  Faust    einen  Stoss    in    den  Rücken    gegeben 


1)  Vgl.  Th.  Graesse,  Die  Sage  vom  Ewigen  Juden,  Dresden  und  Leipzig  1844: 
=  Der  Tannliäuser  und  der  ewige  Jude,  Dresden  18G1,  S.  74-130;  Gaston  Paris,  Les 
legendes  du  nioyen-ägc,  2.  edition,  Paris  1904,  S.  149— -221:  Le  Juif  errant  (1880.  1891); 
L.  Neubaur,  Die  Sage  vom  ewigen  Juden,  Leipzig  1884;  2.  durch  neue  Mitteilungen 
(24  Seiten)  vermehrte  Ausgabe,  Leipzig  1893;  ferner  Bibliographie  der  Sage  vom  ewigen 
Juden  im  Centralblatt  für  Bibliothekswesen  10,  249—267.    297-316  (1893). 

2)  Matthaei  Paris,  monachi  Albanensis,  Historia  major,  a  Guilielmo  conquaestore 
ad  ultimum  annum  Henrici  tertii.  Tiguri  in  officiua  Froschoviana  1589  p.  339.  Die  erste 
Londoner  Ausgabe  von  1571  ist  wieder  abgedruckt  in  llatthaei  Parisiensis  Chronica 
maiora  ed.  Luard  (London  1880)  3,  161  und  5,  340f.  (Besuch  von  1252). 


144  Oiilii: 

liabe  mit  den  Worten:  „Geh  schneller,  Jesu!  Was  zögerst  (luy  Da  habe 
Jesus  mit  streni>om  Antlitz  sich  umgewendet  und  geantwortet:  „Ich  gehe, 
du  aber  sollst  warten,  bis  ich  wiederkomme."  Seit  dieser  Zeit  wartet 
Cartaj)hilus,  der  in  der  Taufe  durch  Ananias  den  Namen  Jose])hus  er- 
halten hat,  auf  dif  Wiederkehr  Christi,  von  dem  er  für  seiiu'  unwissent- 
liche Sünde  Verzeihung  am  jüngsten  Tage  erhofft.  Er  verkehrt  viel  in 
beiden  Armenien,  wird  auch  dort  von  l^euten  aus  allen  Ländern  besucht, 
ilenen  er  mit  Ernst  und  Bescheidenheit  Auskunft  über  die  heilige  Passion, 
die  Auferstehung  uml  Himmelfahrt,  ilie  Aussendung  der  Apostel  usw.  gibt. 
I']r  ist  ein  nücliterner  und  frommer  Mann,  verkehrt  nur  mit  Bischöfen 
und  l'rälaten  der  Kirche,  zu  deren  Tafel  er  sich  ziehen  lässt,  weist  aber 
alle  Geschenke  zurück.  Alle  100  Jahre  verfällt  er  in  einen  ekstatischen 
Schlaf,  aus  welchem  erwachend  er  sich  wieder  in  dem  Alterszustand  be- 
iludet, in  dem  er  zur  Zeit  der  Passion  Christi  war.  Als  Zeugen  für  die 
Richtigkeit  dieser  Erzählungen  werden  zitiert  ein  französischer  Ritter  aus 
Antiochia,  welcher  dem  Erzbischof  als  Dolmetscher  diente  und  einem 
Diener  des  Abtes  von  St.  Albans,  Heinrich  Spigurnel,  persönlich  bekannt 
war,  ferner  der  Ritter  „Richard  von  Argentomium",  der  als  Pilger  im 
Morgenlande  gewesen  war,  und  der  Bischof  (iaieranus  von  Beyrut  in 
Syrien.  1252  kamen  andere  Armenier,  ilaruuter  ein  Bruder  des  l>z- 
bischofs,  nach  St.  Albans  und  bezeugten,  dass  Cartaphilus  noch  lebe. 

Für  uns  ist  dieser  Bericht  darum  wichtig,  weil  sein  Inhalt  gegen 
Ende  des  16.  Jahrhunderts,  kurz  vor  Erscheinen  des  ältesten  Volksbuches 
über  den  Ewigen  Juden,  in  der  Schweiz  ilurcli  den  Druck  verbreitet 
wurde.  An  sich  gehört  diese  Legende  nur  indirekt  zum  Sagenkreis  des 
Ewigen  Juden.  Denn  Cartaphilus,  in  dessen  Namen  jener  Jünger  steckt, 
der  beim  heiligen  Abendmahl  am  Herzen  Jesu  lag  und  von  dem  die  Rede 
unter  den  Aposteln  ging:  „Dieser  Jünger  stirbt  nicht",  ist  als  Pförtner 
<les  Pilatus  kein  Jude,  sondern  ein  Römer  oder  Grieche;  er  muss  auch 
nicht  in  der  Welt  heruniwandern,  sondern  bleibt  im  Orient.  Aber  Züge 
der  Josephus-,  der  Malchus-  und  der  Ahasverlegende  sind  doch  in  der 
Figur  deutlich,  und  jedenfalls  war  diese  Form  in  iMiropa  populär,  bis  sie 
durch  die  italienische  von  Buttadeo  und  die  deutsche  von  Ahasver  ab- 
gelöst wurde  oder  mit  ihr  verschmolz.  Im  gleichen  Jahre  wahrscheinlich 
wie  in  St.  Albans  war  der  armenische  Erzbischof  auch  in  Köln  und  in 
Tournai,  wo  er  sich  um  die  Fastenzeit  drei  Tage  lang  aufhielt  und  die 
Erzählung  von  Cartaphilus  wiederholte,  ohne  dessen  Namen  zu  nennen. 
Wenigstens  kommt  er  in  der  um  r24.'5  geschriebeneu  Chronik  des  wallo- 
nischen Reimers  Philippe  Mousket')  nicht  vor.     Über  die  Versündigung 


1)  Chronique  riniee  de  Philippe  Mouskcs,  publice  par  le  Baron  de  ßciffenbcrg:  2, 
191  V.  25185  (lS:i8)  und  MG.  Scr.  20,  777.  Unsere  Stelle  ist  auch  abgedruckt  bei 
Graesse  (1845)  S.  53ff.  und  bei  Neubaur  (1884)  S.  100. 


Drei  spätraittelalterliche  Legenden.  145 

des  Cartaphilus  lag  Mousket  eine  andere  Tradition  vor:  Als  die  treulosen 
Juden  den  Sohn  Gottes  zum  Kreuzestode  führten,  sprach  dieser  Mann  zu 
ihnen:  „Wartet  ein  wenig!  Ich  komme  auch  mit,  um  den  falschen 
Propheten  sterben  zu  sehen."  Jesus  wendet  sich  um,  sieht  ihn  an  und 
sagt:  „Sie  werden  nicht  auf  dich  warten,  du  aber  wirst  auf  mich  warten."  — 
Diese  Variante  verlegt  also  den  Schauplatz  der  Versündigung  an  den  Weg 
nach  Golgatha,  mildert  aber  die  Schuld  erheblich,  so  dass  die  Sti-afe  fast 
unverständlich  wird.  Ganz  klar  hingegen  sind  beide  in  den  Erzählungen, 
welche  seit  der  Mitte  des  13.  Jahrhunilerts  in  der  Levante  und  in  Italien 
umgingen  über  den  Mann,  der  Christus  geschlagen  hatte  und  dafür  ver- 
dammt worden  war,  bis  zum  jüngsten  Tage  zu  leben  und  zu  wandern. 

Der  erste,  der  von  ihm  spricht,  ist  1"250 — 55  Sir  Felippe  de 
Novaire'),  welcher  in  seinem  'Livre  de  forme  de  Plait',  einer  Auf- 
zählung der  Formeln,  die  in  den  Gerichtshöfen  von  Cypern  und  Jerusalem 
im  Gebrauche  waren,  den  Jehan  Boutedieu  als  Beispiel  aufführt  eines 
ungewöhnlich  lange  lebenden  Menschen.  Dabei  scheint  angenommen,  dass 
der  Boutedieu,  d.  h.  der,  welcher  Gott  gestossen  hat,  im  Orient  lebe.  Um 
das  Jahr  1300  macht  Cecco  Angiolieri"),  der  bekannte  Feind  Dantes 
aus  Siena,  in  einem  Sonette  die  nämliche  Anspielung.  In  den  Keise- 
handbüchern  für  den  Gebrauch  der  Pilger^)  in  Jerusalem,  die  in 
Handschriften  des  14.  und  15.  Jahrhunderts  vorliegen,  wird  gleich  nach 
der  Station  des  Simon  von  Kyrene  und  dem  Hause  des  Judas  das  Haus 
des  Johannes  Buttadeus  erwähnt,  „welcher  den  Herrn  stiess  und  schalt, 
da  er  gebunden  zum  Kreuzestode  ging,  und  dafür  bis  zum  jüngsten  Tage 
am  Leben  bleiben  muss."  In  einer  handschi'iftlichen  italienischen  Pilger- 
erzälilung*)  von  1274  berichtet  ein  Wallfahrer  einem  Eremiten  seinen 
Entschluss,  jenen  Mann  im  Orient  aufzusuchen,  zu  dem  Christus  sagte: 
„Ich  werde  gehen,  du  aber  erwarte  mich,  bis  ich  wiederkomme!"  In 
diesen  Erzählungen  haftet  die  Figur  des  Verbrechers  immer  noch  an  dem 
Tatorte  oder  wenigstens  dem  Erdteile  seines  Verbrechens.  Aber  das 
Interesse,  welches  die  aus  Italien,  besonders  aus  Siena  und  Florenz, 
stammenden  Erzähler  an  dem  Vorgang  nehmen,  beweist  doch,  dass  der 
Buttadeo  eine  in  Italien  populäre  Figur  war. 

Und  in  der  Tat  soll  ein  Mann  dieses  Namens  1267  Forli  in  der 
Romagna  auf  seinem  Wege    nach  Sau  Jago  passiert  haben.      Zeuge  dafür 

1)  Livre  de  forme  de  Plait  par  Sir  Felippe  de  Nuvaire  im  Recueil  des  Historiens 
des  Croisades  1,  570  (Paris  1841)  zitiert  nach  Neubaur  (1S93)  S.  2  und  Gaston  Paris 
p.  19L 

2)  Nach  Neubaur  (1893)  S.  2. 

3)  Z.  B.  in  der  nicht  publizierten  Hs.  63  der  Bibliothek  von  Evreux,  genannt  Liber 
terre  sancte,  und  in  dem  1S22  zu  Florenz  gedruckten  Viaggio  in  terra  santa  fatto  e 
descritto  da  Ser  Mariano  da  Siena  nel  1431  (vgl.  Gaston  Paris  p.  198). 

4)  Hs.  der  Magliabecchischen  Bibliothek  in  Florenz,  ed.  F.  Cassini.  Bologna  1882: 
Tgl.  Neubaur  (1893)  S.  1  und  Romania  1883,  112. 

Zeitschr.  d,  Vereins  f.  Volkskunde.  1907.  10 


146  Dübi: 

ist  der  berühmte  Astrolog  Guido  Bonatti')  aus  Forli.  den  Dante 
(Inferno  XX,  118)  in  die  Hölle  versetzt  hat  und  der  unter  den  wenigen, 
welche  „die  gi'ossen  Jahre  Alcocoden  gelebt  haben",  einen  gewissen 
liicardus  nennt,  der  bohauptete,  ein  Scliildträger  Karls  des  Grossen  oder 
des  Oliver  gewesen  und  400  Jahre  alt  zu  sein.  Bonatti  hat  ihn  selbst  zu 
Ravenna  im  Jahre  1223  gesehen.  Ferner  nennt  er  den  Johannes  Butta- 
deus,  der  zur  Zeit  Jesu  Christi  gelebt  haben  wollte  usw.  wie  in  der  ge- 
wohnten Erzählung.  —  Jener  Ricardus  war  sicherlich  ein  Betrüger,  der 
sich  darin  gefiel,  die  Rolle  des  sagenhaften  Johannes  a  Stanipis  oder 
a  Teniporibus  wieder  aufzunehmen,  der  1139  im  Alter  von  angeblieh  341 
oder  361  Jahren  gestorben  war.  Aber  der  Betrüger  hat,  namentlich  durch 
die  Anerkennung,  die  er  am  Hofe  Friedrichs  II.  fand,  Schule  gemacht. 
Sein  Nachahmer  benutzte  die  oben  angeführten,  aus  dem  Orient  stammenden 
Legenden,  die  in  Italien  besser  zogen  als  die  dem  Sagenkreiso  Karls  des 
Grossen  entnommenen.  Die  leibhaftigen  Erscheinungen  des  Giovanni 
Bottadio  mehren  sich  in  Italien  und  nehmen  bald  eine  gewisse  Regel- 
mässigkeit der  Phasen  von  100  zu  100  Jahren  an.  Zwischen  1310  und 
1320  soll  er  in  Mittelitalien  gewesen  sein.  Autorität  dafür  ist  Antonio  <li 
Francesco  di  Andria"),  dessen  Begegnung  mit  dem  geheimnisvollen 
Wanderer  zwar  erst  100  Jahre  später  fällt,  dem  aber  die  'alten  Leute" 
die  "Wahrheit  der  früheren  Erscheinung  bestätigt  haben.  Um  1400 
passierte  Bottadio  Sioua  und  erklärte  ein  eben  fertig  gewordenes  Bild  des 
kreuztragenden  Heilandes  von  Andrea  di  Vanui  für  das  ähnlichste,  das  er 
je  gesehen  habe.  Dies  hat  Sigismondo  Tizio*),  der  Chronist  von  Siena, 
von  alten  Leuten  erkundet ;  was  sonst  das  Volk  Wunderbares  von  Johannes 
Buttadeus  erzähle,  hält  er  für  unglaubwürdig. 

Audi  in  den  Berichten  von  Augenzeugen  über  die  Begegnungen  mit 
Giovanni  Bottadio  im  15.  Jahrhundert  ist  Dichtung  imd  Wahrheit  so 
durcheinander  gemischt,  dass  wir  den  wahren  Charakter  der  Person, 
welche  als  ewiger  Jude  die  Städte  Mittelitaliens  durchzog,  nicht  genau 
feststellen  können.  Jedenfalls  hat  er  seine  Rolle  gut  gespielt.  Er  nannte 
sich  lieber  'Servo  di  Dio'  (Knecht  Gottes)  als  Bottadio,  welchen  Namen 
er  nicht  richtig  fand  und  durch  Batte-Iddio  (welcher  Gott  schlug)  ersetzt 
wissen  wollte.  Diese  Äusserung  Giovannis,  die  Antonio  di  Andrea  in 
seinem  Tagebuch  aufzeichnete,  beweist  einmal,  dass  Giovanni  doch  nicht 
alle  italienischen  Dialekte  verstand  und  spracli,  wie  man  es  von  ihm  be- 
hauptete, und  ferner,  dass  ihm  über  die  Misshandluug,  welche  Christus 
erfahren  hatte,    verschiedene  Traditionen    geläufig  waren.      Diejenige,  der 


1)  Guidonis  Bonati  Foroliviensis  Matheinatici  de  astrouomia  tractatus  X  (Basel 
1550)  p.  20".).  Eine  deutsclu'  Ausgabe  von  dem  Traktat  Bonattis  erschien  in  Basel  1Ö72. 
Ich  zitiere  nach  Gaston  Paris  p.  189—01  und  Neubaur  (1884)  S.  11.  71f.   111. 

2)  Vgl.  Gaston  Paris  p.  207  und  Neubaur  (1893)  S.  3. 

3)  Vgl.  Gaston  Paris  p.  liK). 


Drei  spätmittelalterliche  Legenden.  147 

er  selbst  den  Vorzug  gab,  lautet  folgendermassen:  Als  Jesus  den  Berg 
Golgatha  hinaufstieg,  während  seine  Mutter  und  andere  Frauen  ihm  unter 
Weinen  und  Klagen  folgten,  wandte  er  sich,  um  mit  ihnen  zu  sprechen. 
Da  stiess  ihn  Giovanni  mit  der  Faust  in  die  Rippen  und  sagte:  „Geh 
schnell",  worauf  Jesus  antwortete:  .,Du  selbst  wirst  so  schnell  gehen,  dass 
du  auf  mich  warten  musst."  Ich  muss  es  mir  versagen,  auf  die  Aben- 
teuer und  Gespräche  einzugehen,  die  Giovanni  in  den  Jahren  1416  ff.  hatte 
auf  dem  Wege  zwischen  Borgo  a  San  Lorenzo  und  Bologna,  namentlich 
in  dem  Dorfe  Scaricalasino^),  in  Vicenza,  in  den  Marken  von  Treviso 
und  Ancoua,  in  Agliana,  wo  der  Podestä  Salvestro  Mannini ")  ihn  einem 
Verhör  unterzog,  und  besonders  in  Florenz,  wo  er  nicht  nur  die  etwas 
naiven  Gebrüder  Andrea,  sondern  auch  Messer  Lionardo  d'Arezzo,  den 
gelehrten  Kanzler  der  Signoria,  und  Giovanni  Morelli,  den  Vikar  des 
Mugello,  durch  seine  Kenntnisse  und  geheimen  Künste  verblüffte.  Sie 
lesen  sich  nach  dem  Urteil  von  Gaston  Paris  in  den  Originalen,  welche 
S.  Morpurgo*)  in  einer  trefflichen  Schrift  nach  zeitgenössischen  Auf- 
zeichnungen gegeben  hat,  wie  Renaissancenovelleu  des  Trecento  und  sind 
auch  von  kulturhistorischem  Interesse.  Ich  hebe  nur  diejenigen  Züge 
hervor,  welche  der  Sage  vom  ewigen  Juden  schon  vorher  angehörten  oder 
durch  Giovannis  Auftreten  in  sie  hineingebracht  worden  sind:  Giovanni 
ist  menschenfreundlich,  namentlich  gegen  Kinder,  er  geht  wunderbar 
schnell  und  heimlich,  er  trägt  Möuehskleider,  hat  kein  Gepäck  und  geht 
barfuss  oder  trägt  nur  eine  Sandale,  er  kennt  alle  Sprachen  und  Dialekte, 
alle  Geheimnisse  und  die  Zukunft,  gibt  gern  und  uneigennützig  den  vielen 
Fragern  guten  Rat.  Er  meidet  die  Menge  nicht,  weicht  aber  indiskreten 
Fragen  über  die  heiligsten  Dinge  geschickt  aus.  Er  kann  sich  und  seine 
Begleiter  unsichtbar  machen,  Ketten  und  Bande  fallen  von  ihm  ab,  und 
er  entschwindet  aus  dem  festesten  Gefängnis;  er  ist  gastfrei,  lässt  sich  in 
Essen  und  Trinken  nichts  abgehen,  öffnet  dann  die  Hand  und  lässt  die 
dem  Wirte  zukommenden  Münzen  herausfallen,  die  sich  immer  wieder 
ersetzen.  Er  schläft  in  keinem  Bette  und  weilt  nie  länger  als  drei  Tage 
in  einer  Provinz.  Er  soll  alle  100  Jahre  wiederkehren  und  wandern  bis 
zum  jüngsten  Tage.  —  Kurze  Zeit  nach  diesem  wiederholten  Auftreten 
verschwindet  der  Bottadio  aus  Italien,  aber  seine  etymologischen  Spuren 
sind  in  dem  Juan  Espera-en-Dios  oder  Voto-a-Dios  spanischer  und 
portugiesischer  Legenden  und  Theaterstücke  des  16.  und  17.  Jahrhunderts, 
dem  Boudedeo  eines  bretonischen  Gwerz  oder  geistlichen  Volksliedes,  ja 
dem  Bedeus  der  Siebenbürger  Sachsen  noch  im  18.  und  19.  Jahrhundert 
erhalten.*) 

1)  Vgl.  Gaston  Paris  p.  207.    Neubaur  (189:3)  S.  4  f. 

2)  Vgl.  Gaston  Paris  p.  218.     Neubaur  (1893)  S.  5. 

o)  S.  Morpurgo,  L'Ebreo  errante  in  Italia  (Florenz  1891).     Vgl.  Gaston  Paris  und 
Xeubaur. 

4)  Vgl.  Gaston  Paris  p.  180.  188.  19.5  f.  200. 


148  Dübi: 

In  einem  kleinen  p.rovenzalischen  Mysterium  des  15.  Jahrhunderts') 
figurieren  im  Personenverzeichnis  neben  den  Henkern  Christi  Botadieu 
und  Malchus.  Der  letztere,  im  Evangelium  ein  römischer  Kriegsknecht, 
dem  Petrus  das  Ohr  abhaut,  Christus  aber  es  wieder  anheilt,  ist  in  der 
mittelalterlichen  Legende  zu  einem  der  Henker  geworden,  welcher  Christus 
mit  einem  eisernen  Handschuh  ins  Gesicht  schlägt.  Zur  Strafe  muss  er 
in  einem  unterirdischen  Gefängnis  auf  die  Wiederkehr  Christi  oder  auf 
den  jüngsten  Tag  warten.  llanche  Pilger  haben  ihn  in  Jerusalem  in 
seinem  Verliesse  noch  lebend  gesehen,  und  die  Volksbücher  entwerfen 
schauerliche  Schilderungen  von  dem  unglücklichen.  Andere  .  haben 
wenigstens  seine  verruchte  Hand  im  Tempel  Salomonis  an  einem  Pfeiler 
hangen  sehen.  So  unter  anderen  Jan  Aertsz')  aus  Mecheln,  der  sich 
148-t  einer  portugiesischen  Expedition  ins  heilige  Land  angeschlossen 
hatte  und  dessen  Reiseaufzeichnungen  in  Handschriften  des  16.  Jahr- 
hunderts und  in  Flugblättern  von  1595  und  1652  grosse  Verbreitung  ge- 
funden haben.  Er  erzählt  darin  ausser  von  Malchus  Hand  auch  von  einem 
zu  Jerusalem  hinter  acht  hölzernen  und  einer  eisernen  Tür  gefangen 
gehaltenen  Manne,  Jan  Roduyn  oder  Baudewyn,  der  unseren  Herrn,  als 
er  mit  dem  Kreuze  beladen  vorüberschritt,  von  der  Schwelle  seines  Hauses 
aus  mit  Scheltworten  zu  eiligerem  Todesgange  gehetzt  hatte,  worauf  ihm 
Jesus  antwortete:  „Ich  werde  gehen,  und  du  wirst  stille  stehen,  und  jedes 
Jahr  wirst  du  nach  meiner  Rückkehr  fragen."  Und  in  der  Tat  fragt  er 
jeden  Karfreitag,  ob  der  Mann  mit  dem  Kreuze  nicht  wiedergekommen 
sei.  In  dieser  Erzählung  liegt  eine  Verwechslung  in  bezug  auf  die  Strafe 
mit  der  Malchuslegende  vor,  sonst  aber  beweist  sie,  dass  die  Legende  von 
dem  ewigen  Juden  in  Jerusalem  haften  geblieben  war. 

In  allen  bisher  besprochenen  Wandlungen  der  Sage  ist  an  dem  guten 
Glauben  der  Zeugen,  die  von  ihr  sprechen,  nicht  zu  zweifeln,  und  selbst 
der  in  Italien  um  1416  als  Bottadio  Wandernde  war  noch  ein  naiver  Be- 
trüger. Vom  Ende  des  15.  Jahrhunderts  weg  kommt  aber  ein  neues 
Element  in  die  Legende,  das  der  raffinierten  literarischen  Fälschung. 
Diese  findet  sich  zuerst  bei  einem  verwandten,  ans  der  Pilatuslegende 
stammenden  Stoffe.  Schon  das  Mittelalter  hatte  in  den  Akten  des  Pilatus, 
welche  später  das  Evangelium  des  Xikodemus  heissen,  Anläufe  zu  solchen 
Erfindungen  gemacht;  dahin  gehören  der  Briefwechsel  des  Pilatus  mit 
Tiberius.  der  angebliche  Bericht  des  Herodes  an  den  Senat,  die  beide 
von  der  Verurteilung  Christi  handeln.  Jetzt  aber  ging  man  darauf  aus, 
die  Akten  dieses  Prozesses,  der  die  ganze  Christenheit  interessierte,  kunst- 
gerecht wiederherzustellen.  Wer  zuerst  Hand  an  dies  unnütze  Werk  ge- 
legt hat,    wissen  wir  nicht.     Zwar   findet  sich  das  Urteil  des  Pilatus  über 


1)  Vgl.  oben  S.  14:!  und  Gaston  Paris  p.  19.3f. 

2)  Vgl,  Neubaiir  (1884)  S.  1-.'  und  111  und  (1893)  S.  8. 


Drei  spätmittelalterliche  Legenden.  149 

Jesus  abgedruckt  im  'Reißbuch  gen  Hierusalem"  des  Melchior  Lussy 
(Freiburg  im  üechtland,  bei  Abraham  Gemperlin  1590  S.  31 — 35).  Der 
Verfasser,  der  als  Landamman  in  Nidwaiden  seine  Reise  1583 — 84  machte, 
berichtet:  ,,Die  Abschrifft  dieser  ürtheil  ward  mir  auf  meiner  Pilgerfahrt 
in  Hebräischer  Sprach  mitgeteilt,  welche  ich  in  Frantzösische  und  volgends 
in  unser  Teutsehe  Sprach  verdollmetscheu  lassen."  Trotz  dieser  Be- 
hauptung ist  Lussy  nicht  der  Fälscher;  denn  L.  Neubaur')  hat  in  seineu 
gründlichen  Studien  über  die  Sage  vom  ewigen  Juden  einen  zu  Paris 
1581  erschieneueu  'Tresor  admirable  de  la  sentence  de  Pilate  contre 
Jesus  Christ'  und  eine  in  Magdeburg  bei  Johaun  Francke  1584  erschienene 
'Cxlaubwürdige,  warhaflfte  ordentliche  Yerzeichnus  und  Beschreibung  des 
ergaugenen  unschuldigen  Bluturteils  usw."  nachgewiesen.  Beide  Flug- 
schriften erzählen,  dass  die  Sentenz  des  Pilatus  in  der  Stadt  Aquila  in 
einem  Marraorkästlein  verborgen  und  mit  hebräischen  Buchstaben  auf 
Pergament  geschrieben  beiui  Abbrucli  eines  Hauses  zum  Vorschein  ge- 
kommen sei.  Ähnlich  sollten  später  die  Protokolle  dos  Hohen  Rates  von 
Jerusalem  über  die  Veriu-teilung  Christi,  „wie  sie  auf  einer  ehernen  Tafel 
gestanden"  von  einem  Herrn  Anton  oder  Heinrich  Rantzau,  der  1623  eine 
Reise  ins  gelobte  Land  machte,  abgeschrieben  und  nach  Hause  gebracht 
worden  sein,  eine  ebenso  plumpe  Fälschung  und  Bucldiändlerspekulatiou 
wie  die,  zu  der  wir  jetzt  übergehen. 

Nachdem  das  ganze  16.  Jahrhundert  hindurch  keine  Kunde  von  dem 
im  Abendlande  wandernden  ewigen  Juden  erschollen  war  (denn  seine 
angeblichen  Besuche  in  Hamburg  1542,  in  Madrid  1574  und  in  Danzig 
1599  sind  Fiktionen),  erschien  1602  die  erste  Ausgabe  des  Volksbuches, 
welches  diese  Figur  mit  einem  Schlage  in  ganz  Mittel-  und  Nordeuropa 
populär  machte  und  eine  wahre  Flut  von  Flugschriften,  Volksliedern, 
Holzschnitten  und  Abliandluugen  in  allen  Sprachen  hervorgerufen  hat. 
Der  schon  genannte  Sagenforscher  L.  Neubaur  hat  189;t  an  Ausgaben 
dieses  Volksbuches  von  1602  bis  1850  zusammengestellt:  in  deutscher 
Sprache  61,  in  vlämischer  3,  in  französischer  10,  in  dänischer  4,  in 
schwedischer  10;  dazu  139  Schriften  und  Aufsätze  über  die  Sage  aus  den 
Jahren  1604  bis  1893.  Aus  dieser  Flut  wollen  wir  nur  einiges  heraus- 
fischen, was  geeignet  ist,  unsere  These  von  der  besonderen  Entwicklung 
dieser  Sage  in  der  Schweiz  zu  unterstützen.  Dabei  könuen  wir  gleich 
mit  der  ersten  Ausgabe  beginnen.  Diese  „Kurtze  Beschreibung  und  Er- 
zaehlung  von  einem  Juden  mit  Namen  Ahasverus"  ist  angeblich  gedruckt 
„zu  Leyden  bei  Christoff  Creutzer  Anno  1602".  Dass  dies  ein  Pseudonym 
ist,  geht  schon  aus  der  Druckernotiz  unter  der  zweiten,  in  der  gleichen 
Offizin  und  mit  den  gleichen  Lettern  gedruckten  und  mit  der  Editio 
princeps  genau  übereinstimmenden  Ausgabe  hervor:  „Gedruckt  zu  Bautzen 


1)  Vgl.  oben  S.  143'. 


150  üübi: 

bei  WolfFgang  Suehnach  anno  1602."  ])ass  ferner  Leyden  und  C'reutzer 
Anspielung  auf  die  Passion,  Bautzen  für  1602  eine  anachronistische  Ortho- 
graphie und  Wolffgang  Suehnach  ein  Yexiernamo  sei,  ist  nachgewiesen, 
(lerade  der  letztere  führt  uns  aber  vielleicht  auf  die  richtige  Spur.  Weller 
(Die  falschen  Druckorte  1858  S.  9)  schreibt  unter  anderem  den  folgenden 
Druck:  „Eine  newe  Zeitung,  vom  jetzigen  Auffruhr  und  grossen  Ent- 
börung,  in  Teutschlandt,  wie  dieselbige  mehrentheils  von  den  zarten 
Jesuiten  und  Pfaffen  angespunneu,  gedruckt  zu  Leiden  bey  Wolffgang 
Suehnach  1610"  dem  Basler  Buchdrucker  Johannes  Schröter  zu.  Dieser 
war,  wie  mir  Dr.  C.  Chr.  Bernoulli  freundlichst  mitgeteilt  hat,  aus 
Schlcisingen  in  Württemberg  gebürtig  und  wurde  1591  Bürger  zu  Basel. 
Seine  Drucke  sind  von  1597  an  nachzuweisen;  er  war  öfter  für  Eudwig 
König  tätig,  als  selbständiger  Drucker  gab  er  meistens  kleinere  Schriften, 
wie  Disputationen,  Leichenpredigten,  geistliche  Lieder  und  dgl.  heraus. 
Leider  besitzt  die  Universitätsbibliothek  in  Basel  die  ältesten  Ausgaben 
des  Volksbuches  vom  Ewigen  Juden  nicht,  so  dass  man  nicht  durch 
Typenvergleichung  herausbringen  konnte,  ob  Schröter  der  Drucker  dieser 
ersten  Ausgaben  ist  oder  nicht.  Was  mich  aber  in  meiner,  übrigens 
schon  von  Neubaur  geäusserten  Vermutung,  dass  Basel  die  Heimstätte 
des  Volksbuches  über  den  l'jwigen  Juden  sei,  bestärkt,  ist  folgendes. 
Eine  der  ältesten  Ausgaben,  angeblich  gedruckt  ,.zu  Dantzig  bei  Jacob 
Rothen  Erben,  im  Jahr  1602",  aber  tatsächlich  nach  einer  der  Ausgaben 
„Bautzen  ])ei  Wolffgang  Suehnach"  gemacht,  enthält  zum  erstenmal  den 
Zusatz  zum  Titel:  „Kurtze  Beschreibung  und  Erzehluug  von  einem  .luden, 
der  sich  nennet  Ahaßverus,  aber  von  Guidone  Bonato,  einem  vortreff- 
lichsten Astronomo  auß  Ursachen  Johan  Buttadeus  genennt  wird"  und  auf 
Seite  7  in  lateinischer  und  deutscher  Sprache  die  oben  erwähnte  Nach- 
richt des  Bonatti  über  den  Besuch  des  Buttadeus  in  Eorli  im  Jahr  1267. 
Nun  ist  die  zweite  lateinische  Ausgabe  von  Bonattis  astronomischem 
Traktat  in  Basel  1550,  eine  deutsche  in  Basel  1572  erschienen 

Wenn  wir  also  einstweilen  annehmen,  der  unbekannte  Verfasser  des 
Volksbuches  sei  in  Basel  zu  suchen,  so  bleibt  es  rätselhaft,  wie  er  dazu 
gekommen  ist,  den  Generalsuperintendenten  der  evangelischen  Landes- 
kirche von  Schleswig  -  Holstein  zum  Hauptzeugen  für  seine  Erfindung  zu 
machen.  Beziehungen  des  Paul  von  Eitzeii  oder  seines  Landeslierrn  uml 
geistlichen  Oberhirten,  des  Herzogs  Adolf  von  Holstein-Gottorp,  mit  Basel 
sind  nicht  nachzuweisen,  und  ob  Eitzen  die  von  späteren  Literarhistorikern ') 
ihm  zugeschriebene  Absicht  ausgefülirt  hat,  einen  Kommentar  zur  Passions- 
geschichte zu  schreiben,  ist  sehr  zweifelhaft.  An  sich  ist  die  formale  Er- 
findung des  Volksbuches  nicht  schlecht.  Es  berichtet  bekanntlich  in  der 
Form    eines  Briefes,    datiert  Schleswig   den  9.  Junii  anno   1564,    dass  der 


1)  Moller,  Cimbria  litterata  .3,  23G  (nach  Neubaur  1803  S.  10). 


Drei  spätmittelalterliche  Legenden.  151 

Bischof  von  Schleswig  dem  Briefschreiber  und  anderen  Studenten  erzählt 
habe,  wie  er  als  Student  zu  Wittenberg  im  Winter  1542  zu  seinen  Eltern 
nach  Hamburg  gereist  sei  und  dort  die  Bekanntschaft  des  ewigen  Juden  in 
der  Kirche  gemacht  habe.  In  einem  Anhang  wird  beigefügt,  dass  die  im 
Auftrage  des  Herzogs  Adolf  wegen  rückständiger  Soldgelder  nach  Spanien 
geschickten  Secretarius  Christoph  Ehringer  und  M.  Jacobus  von  dort  die 
Nachricht  zurückgebracht  hätten,  sie  hätten  den  ewigen  Juden  1574  zu 
Malduit  in  bekannter  Gestalt  und  Kleidung  angetroffen  und  er  habe  ein 
gutes  Spanisch  geredet.  Am  Schluss  des  Briefes  ist  noch  hinzugesetzt: 
„Dieser  mann  oder  Jud,  soll  so  dicke  Fußsohlen  haben,  dass  maus  ge- 
raessen, zweyer  Zwergfinger  dick  gewesen,  gleich  wie  ein  hörn  so  hart 
wegen  seines  langen  gehen  und  Reysen,  er  soll  auch  anno  1599  zu 
Dantzig  im  December  gesehen  worden  sein."  In  dem  nach  der  Sitte  der 
Zeit  sehr  ausführlichen  Titel  und  im  Text  wird  gerühmt,  wie  der  Ewige 
Jude  an  Paul  von  Eitzen  über  das,  was  sicli  in  den  orientalischen  Landen 
seit  Christi  Tod  zugetragen,  über  die  Taten  und  den  Märtyrertod  der 
Apostel  usw.  ausführlichen  und  guten  Bericht  gegeben  habe.  Aber  aus 
dem  Fingblatt  selbst  gewinnen  wir  den  Eindruck,  dass  dessen  Verfasser 
ausser  dem,  was  er  bei  Paris  und  Bonatti  gelesen  hatte,  über  Ahasver 
herzlich  wenig  wusste  und  ziemlich  arm  an  Erfindungskunst  war.  Was 
er  Neues  hinzugefügt  hat  und  warum,  wollen  wir  in  Kürze  auseinander- 
setzen. Der  Ewige  Jude  ist  ein  Schuster  und  heisst  Ahasver.  Dieser 
Name  ist  höchst  ungeschickt  gewählt,  weist  aber,  wie  Gaston  Paris  be- 
merkt, auf  einen  protestantischen  Autor ;  ein  Katholik  würde  die  Form 
der  Yulgata  Asverus  gewählt  haben.  Seine  Verschuldung  ist  die  all- 
gemeine der  Juden,  er  habe  an  der  Gefangennahme  und  Verurteilung 
Christi  tätigen  Anteil  genommen,  und  eine  persönliche,  er  habe  sein 
Hausgesinde  zur  Betrachtung  des  Todesganges  aufgefordert  und  Christus, 
da  er  ausruhen  wollte,  von  seiner  Türe  weggewiesen  und  zum  Tode 
gehen  heissen.  Dem  entspricht  auch  die  Strafe;  er  muss  immer  wandern, 
sieht  seine  Frau  und  Kinder  nicht  wieder,  seine  Vaterstadt  nur  in 
Trümmern.  Nach  seiner  eigenen  Meinung  soll  er  als  lebendiger  Zeuge 
für  Cliristus  gegen  die  Juden  und  die  Ungläubigen  dienen,  vielleicht  bis 
zum  jüngsten  Tage.  Deswegen  kann  er  auch  Blasphemien  nicht  aus- 
stehen. Als  Almosen  nimmt  er  nur  "_'  Schillinge,  die  er  gleich  wieder  den 
Armen  gibt,  denn  Gott  lässt  es  ihm  an  nichts  fehlen.  In  der  Kirche 
macht  er  sich  auffällig  durch  seine  Devotion.  Dass  er  getauft  sei,  be- 
liauptet  er  nicht,  spriclit  aber  von  der  Passion  wie  ein  Christ. 

Das  ist,  wie  man  sieht,  ein  ziemlich  ärmlicher  Inhalt,  und  aus  diesem 
protestantischen  Traktätlein  gegen  Juden  und  Atheisten  wäre  sicherlich 
nicht  die  populäre  Legende  entstanden,  wenn  in  der  Weiterentwicklung 
nicht  die  volkstümlichen  Züge  der  Sage,  wie  sie  in  Italien  umgingen,  sich 
auf   unbekannten    Wegen    wieder    in    dem  Volksbuch,   ja    in    den    Streit- 


152  Dübi: 

schrii'teu  der  Gelehrton  für  uiui  wider  den  ewigen  Juden  eingefunden 
hätten.  Diese  Entwicklung  müssen  wir  nun  im  Fluge  durcheilen,  nur 
da  verweilend,  wo  wir  für  unseren  Hauptzweck  Belehrung  finden.  Denn 
dieser  ist  eben  nicht,  die  ganze  Sage  auszuschöpfen,  sontleru  ihre 
schweizerischen  Formen  zu  erklären. 

Die  neue  Kunde  verbreitete  sicli  ausserordentlich  rasch,  und  mit  ihr 
mehrten  sich  schneeballartig  die  Erscheinungen  Ahasvers  und  die  Flug- 
schriften, die  diese  beschrieben.')  Zum  14.  Januar  löOS  notierte  sich  der 
Lübecker  Jurist  Anton  Colerus")  in  sein  Tagebuch,  dass  der  ewige  Jude 
in  der  Stadt  gewesen  sei;  im  Jahre  1604  war  es  nach  Cluver").  all- 
gemeines Gerede,  dass  der  ewige  Jude  sich  in  Sachsen  zeige.  Im  näm- 
lichen Jahre  erklärte  der  Pariser  Advokat  Rodolphe  Bouthrais^),  dass 
ganz  Europa  den  ewigen  Juden  kenne  und  das  Volk  in  Frankreich  allent- 
hallien  von  ihm  spreche.  In  der  Tat  ist  eine  'Cüm])lainte  en  forme  et 
mauiere  de  chanson'  über  die  Thema,  zu  singen  nach  der  Jlelodie  'Dames 
dlioiineur  usw.",  dem  IG  10  zu  Bordeaux  erschienenen  'Discours  veritable 
dun  juif  errant'*)  einverleibt,  welcher  nichts  anderes  ist  als  die  Über- 
setzung des  deutschen  Volksbuclies  mit  geringen  Änderungen  des  Ivokals. 
Dagegen  bestreitet  der  Je.suit  Jules  Cesar  Boulenger')  1604,  dass  Ahasver 
je  in  Paris  gewesen  sei.  Aber  noch  im  gleichen  Jahre  im  Oktober  sah 
ihn  der  Jurist  Tjouvet')  mit  anderen  Personen  in  Beauvais  beim  Yer- 
lassen  der  Kirche,  wie  er  Kinder  zum  Respekt  vor  den  heiligen  Dingen 
mahnte,  kam  aber  nicht  dazu,  selber  mit  ihm  zu  sprechen.  Besser  scheint 
dies  zwei  Edelleuten  geglückt  zu  sein,  die  ihm  ebenfalls  1604  in  der 
Champagne  begegneten.')  1614  wird  er  in  Fontainebleau,  Ghälons-sur- 
Marne  und  Isle-de-France    gesehen,    wo    er  anf  den  Prinzen  Conde  stösst 


1)  Die  Editio  piinccps  des  Volksbuches  von  Ahasver  ist  wieder  abKedniciit  bei 
Gracssc,  Die  Sage  vom  Ewigen  Juden  (18  lä)  und  bei  Neubaur  1.S81  S.  5:>— Gö.  Eaksimilo 
des  Titels  der  Ausgabe  von  Kil'.)  bei  Koenig,  Geschichte  der  deutschen  Literatur  1,  i'jo 
(189,")).  [Zu  Ncubaurs  Nachweisen  sei  noch  ein  IClü  verfasstes  Gedicht  Daniel  Suder- 
manns im  Berliner  Ms.  gcrm.  fol.  Sü,  151.  ■1-J2a  nachgetragen.) 

'_')  Henricus  Bangertus,  Commentarius  de  ortu,  vita  et  eicessu  Ant.  Ooleri  Icti 
Lubecensis  und  Cluver,  Historiarum  totius  mundi  cpitome  a  prima  rerum  origine  usque 
ad  annum  Christi  KJöO  (Breslau  1<>7;5)  p.  Tl.!:  zitiert  nach  Neubaur  1884  S.  11 1  und  11.'). 

;'))  Rud.  Botereius,  Commentariorum  de  rebus  toto  paenc  orbe  gestis  (1594— l(JO'.t) 
liber  XI,  p.  385;  zitiert  nach  Keubaur  1881  S.  119. 

4)  Vgl.  Neubaur  1893  S.  15  f. 

.'))  I.  C.  Boulcnger,  Historia  sui  temporis  (Paris  1C04)  ]>.  357;  vgl.  Gaston  Paris 
p.  173  und  Neubaur  1884  p.  120. 

G)  l.ouvct,  Histoire  et  antiquitcs  du  diocese  de  Beauvais  i Beauvais  1G35)  2,  677: 
zitiert  nach  Gaston  Paris  p.  173f. 

7)  (P.  V.  P.  Cajet),  Chronologie  scptenaire  de  THistoire  de  la  Paix  entrc  les  Roys 
de  France  et  d'Espagne,  Allemagne  etc.  depuis  Ic  commencemcnt  de  Tan  1598  jusques 
i  la  fin  de  l'an  1G04.  A  Paris  1605,  Bl.  442-  I  IG  (zum  Jahr  1604):  'Histoire  d'un 
Juif  crrant". 


Drei  spätmittelalterliche  Legenden.  153 

und  iliin  Vorwürfe  macht,  dass  er  die  Waffeu  gegen  seineu  König  und 
dessen  Mutter  führe.')  Dies  ist  meines  Wissens  der  einzige  Fall,  wo  sich 
Ahasver  in  politische  Dinge  mischt,  wie  das  Bottadio  in  Italien  regel- 
mässig tut.  Aber  in  Frankreich  hat  die  Legende  überhaupt  die  volks- 
tümliche Form  wieder  gewonnen,  wie  die  sprichwörtlichea  „ciuq  sous  du 
Juif  errant"  und  sein  in  Verse  gebrachter  Dialog  mit  dem  „bon  homme 
Misere" '')  beweist.  Cyrauo  de  Bergerac  zählt  in  seiner  „Lettre  pour  les 
Sorciers"  und  damit  übereinstimmend  in  einer  Szene  des  Pedant  joue 
unter  den  ihm  bekannten  dämonischen  Erscheinungen  neben  dem  Paladin 
Hugo  von  Tours,  dem  Teufel  Vauvert  und  dem  wilden  Jäger  aus  dem 
Walde  von  Fontainebleau  auch  den  Ewigeu  Juden  auf.')  Um  die  nämliche 
Zeit,  wo  Cyrano  dies  niederschrieb,  16i4,  will  der  angebliche  'Türkische 
S])ion  an  den  christlichen  Höfen  von  Europa'  (diese  gefälschten  Briefe 
sind  von  dem  Italiener  J.  P.  Maraua*)  ItiBB  verfasst)  den  Ewigen  Juden 
unter  dem  Namen  Michob  Ader  iu  Paris  am  Hofe  Ludwigs  XIV.  an- 
getroffen haben.  Als  Isaac  Laquedem"^)  begegnet  er  im  Sonienwalde, 
wo  es  auch  sonst  nicht  geheuer  ist,  16-40  zwei  Bürgern  aus  der  Gerber- 
strasse in  Brüssel  und  erzählt  ihnen  sein  Erlebnis  mit  Christus  und  seine 
wunderbaren  Abenteuer  in  aller  Welt.  1681  soll  er  sich  als  Wallbruder 
mit  dem  Namen  Ahasvorus  in  der  Pfalz*)  herumgetrieben  haben.  1694 
tauchte  der  alte  Cartaphilus')  wieder  in  England  auf  und  mystifizierte 
die  hoho  Gesellscliaft,  wie  die  Herzogin  von  Mazarin  nach  Frankreich 
schrieb.  Der  Betrüger  hatte  Matthew  Paris  gelesen,  gab  sich  aber, 
moderner  und  vornehmer,  für  einen  'Offizier  des  hohen  Kates  von  Jeru- 
salem' aus.  Aber  niclit  nur  die  Namen,  sondern  aucji  die  übrigen 
Personalien  des  Ewigen  Juden  werden  sagenhaft  verändert.  Im  Volks- 
buche von  1602,  wird  er,  ich  glaube,  zum  ersten  Male  als  Schuster  be- 
zeichnet. Die  Folge  war,  dass  in  späteren  Auflagen  desselben  (der  Zug 
ist  für  162.J  bezeugt,  vielleicht  schon  wesentlich  älter)  Ahasver  den  Christus 


1)  La  Eencontre  faite  cos  jours  passcz  du  Juif  errant,  par  Monsieur  le  Prince, 
ensemble  les  Discours  teuus  eutr'eux.  Paris,  Anth.  du  Breuil  Kü.j :  vgl.  Neubaur  1884  S.  :'.3 
und  120. 

2)  Dieser  Dialog  ist  skizziert  bei  Neubaur  1884  S.  3.5 f.  und  zum  Teil  abgedruckt 
1893  S.  17. 

3)  Vgl.  H.  Dübi,  Cyrano  de  Bergerac,  sein  Leben  und  seine  Werke  (Bern,  Francke 
1906)  S.  27  und  52.  Cyrano  hat  seine  Nachricht  wohl  aus  Charron,  Histoire  universelle  etc. 
(.Paris  1G21)  c.  142. 

4)  (J.  P.  Marana),  L'E.spion  du  Grand  Soigneur  daus  les  cours  des  princes  Chrestiens, 
Paris  1684.     Vgl.  Gaston  Paris  p.  187. 

5)  Dieser  aus  dem  Hebräischen  fabrizierte  Name  kommt  noch  in  einer  augeblich 
1774,  vielleicht  aber  erst  1800  entstandenen  französischen  'Complainte'  und  in  einem 
vlämischen  Volksliede  vor.    Vgl.  Gaston  Paris  p.  17Gf. 

6)  Joh.  Georg  Hadccus,  Nathanielis  Christiani  Relation  eines  Wallbruders  mit  Namen 
Ahasverus,  eines  Juden  1G81.    Vgl.  Neubaur  18S4  S.  117. 

7)  Dom.  Calmet,  Dictionnaire  de  la  Bible  2,  472. 


l-)4  Dübi: 

mit  seinem  Handwerkszeug-,  einem  Leisten  sehlägt.  Deswegen  empfängt 
er  in  der  Taufe  den  Namen  Buttadeus.  Eine  andere  Überlieferung,  in 
welcher  die  Erzählung  von  Ahasver  verknüpft  ist  mit  den  Legenden  vom 
Kreuzweg,  von  Judas,  Veronica,  Longin  usw.  und  die  uns  in  dem  noch 
aus  dem  17.  Jahrhundert  stammenden  französischen  Volksbuch:  'Histoire 
admirable  du  Juif  errant")  vorliegt,  macht  den  Ahasver  zum  Sohne  eines 
Zimmermanns  aus  dem  Stamme  Xaphthali.  Die  'Histoire  admirai)l('"  legt 
grosses  Liewicht  auf  die  Wanderungen  des  Ewigen  Juden,  was  dem  Ver- 
fasser Gelegenheit  gibt  seine  phantastischen  Kenntnisse  in  Geographie  und 
Kuriositäten  auszukramen,  i'iir  die  Sage  von  Ahasver  lernen  wir  daraus 
nichts,  dagegen  wohl  aus  einer  Bemerkung  des  deutschen  Alchimisten 
Libavius.")  Dieser  polemisiert  in  seiner  1604  gedruckten  'Praxis 
Alchymiae'  gegen  die  Meinung  von  der  Tjanglebigkeit  des  Ahasver,  die 
er  mit  den  Fabeleien  vergleicht,  die  die  Adepten  über  Paracelsns  er- 
zählen. Er  findet  Widersprüche  in  der  Tradition;  denn  man  behaupte, 
Ahasver  habe  nach  seiner  Tat  nicht  mehr  nach  Jerusalem  zurückkehren 
dürfen,  und  doch  finde  er  die  Stadt  iiacli  einigen  Jahrhunderten  so  ver- 
wüstet, dass  er  sie  nicht  wieder  erkannte;  ferner  habe  er  die  Geschichte 
aller  Ereignisse  im  Orient  erzählen  können,  während  er  doch  nach  einigen 
Jahrhunderten  in  eine  Gegend  kam,  die  er  nicht  wieder  erkannte;  endlich 
nennen  ihn  einige  Ahasver,  andere  Buttadeus  oder  noch  anders.  Den 
ersten  Widerspruch,  der  keiner  ist,  schöpfte  Libavius  aus  seiner  Lektüre 
des  Volksbuches,  den  zweiten  aber  konnte  er  weder  dort  noch  bei  Bonatti, 
den  er  offenbar  kennt,  finden.  Wir  begegnen  hier  der  ersten  Anspielung 
auf  den  gewiss  sehr  alten  Sagenzug,  wonach  der  ewige  Wanderer  immer 
nach  hundert  oder  mehr  Jahren  die  früher  durchwanderte  Gegend  zum 
Schlinnneren  verändert  findet.  Diese  Form  ist  besonders  in  den  schweize- 
rischen Sagen  stark  entwickelt. 

Diese  periodischen  Veränderungen  im  Klima  der  Gegenden,  durch 
welche  Ahasver  kommt,  sind  der  italienischen  Legende  von  Bottadio 
unbekannt;  es  ist  auch  nirgends  eine  Andeutung  dafür  vorhanden,  dass 
der  verfluchte  Ahasver  andern  Schaden  bringe,  wie  dies  im  Koran  voi\ 
Samiri,  dem  Verfertiger  des  goldenen  Kalbes,  erzählt  wird,  dessen  Nähe 
Fieber  erzeugt.  Auch  geben  die  Worte  Cln-isti  an  den  Verdammten  dazu 
keine  Veranlassung.  Sie  lauten  in  dem  Volksbuch  von  KiO'J:  „Ich  will 
stehen  und  ruhen,  du  aber  solt  gehen";  die  Yerballhornung,  welche  ihnen 
iler  angebliche  Ghrysostomus  Dudulaeus^J    aus   Westfalen    in    einer    un- 


1)  Die  bekannteste  Ausgabe  ist  'Histoire  ailmirable  du  Juif  ciTanf  etc.,  BrugeslTlO. 
Vgl.  Gaston  Paris  p.  175  f.  und  Ncnbaur  1881  S.  33— 3G  und  121. 

2)  Libavius,  Praxis  Alchymiae,  Frankfurt  1(;01  p.  637.     Vgl.  Ncnbaur  1884  S.  111. 

3)  Der  Name  ist  offenbar  iingicrt;  woher  er  stammt  und  zu  welchem  Zwecke  er 
erfunden  wurde,  ist  bisher  nicht  lierausgehraiht  worden.  Abgedruckt  ist  diese  Autlage 
des  Volksbuches  als  No.  10  bei  Ncnbaur  18SI  S.  ö.i— ('.."i. 


Drei  spätmittelalterliche  Legenden.  155 

datierten  Ausgabe  des  Volksbuches  hat  angedeihen  lassen,  lautet:  „Ich 
will  alliie  stehen  und  ruhen,  aber  du  solt  gehen  hiß  an  den  jüngsten  tag." 
Als  Wanderer,  der  nicht  sterben  kann,  war  übrigens  Ahasver  dem  Volks- 
buch schon  aus  Paris  und  Bonatti  bekannt.  Auffällig  ist,  dass  sich  in 
einer  angeblich  „Zu  Schleßwig  bey  Niclaus  Wegener  anno  1502  (sie!)" 
gedruckten,  aber  von  der  Bautzener  Ausgabe  von  1602  abhängigen  Aus- 
gabe des  Volksbuches  hinter  der  Erzählung  von  dem  Auftreten  des 
Juden  in  Madrid  noch  der  Zusatz  findet,  dass  ein  vornehmer  Bürger  der 
Hansestadt  Bremen,  seines  Amtes  ein  Buchführer,  in  seiner  Jugend  in 
Danzig  gewesen  und  daselbst  den  Juden  in  der  Pfarrkirche  vor  dem 
Kruzifix  habe  stehen  sehen  und  bezeugen  hören,  „das  er  die  gantze 
Christenheit  durchgezogen  und  noch  keines  gesehen,  das  dem  Herren 
Christo  so  gleich  und  ehnlich  gewesen,  wie  dasselbige."  Diese  Erzählung, 
die  für  Danzig  und  l.J4()  gar  keinen  Sinn  hat,  niuss  auf  Umwegen  aus 
der  Chronik  von  Siena  und  von  1400  stammen  untl  bestätigt  unsere 
Meinung,  dass  die  an  Bottadio  auknüj)fen<ien  Hagen  auch  in  Deutschland 
bekannter  waren,  als  man  glauben  sollte.  Sagenhafte  Züge  aber  kommen 
auch  bei  anderweitigem  Auftreten  des  Ewigen  Juden  in  Deutschland  vor, 
auf  die  wir  jetzt  noch  einzugehen  haben. 

Nach  handschriftlichen  Aufzeichnungen  eines  Kantors  der  Peter-Pauls- 
kirche in  Naumburg,  die  der  thüringische  Theolog  Mitternacht^)  um 
1630  aufgefunden  haben  will,  soll  sich  in  einem  unbekannten  Jahre  der 
ewige  Jude  in  eben  dieser  Kirche  so  auffällig  benommen  haben,  dass 
ihn  die  einen  für  einen  Verrückten,  die  anderen  für  einen  Betrüger  hielten, 
Als  man  ihn  am  anderen  Tage  verhören  wollte,  war  er  verschwunden. 
Ebenso  taucht  um  das  Jahr  1642  in  Leipzig  ein  eisgrauer  Mann  in  der 
Tracht  des  Ewigen  Juden  auf  und  verschwindet  spurlos,  als  man  ihn  ver- 
haften will. 

Aus  dem  18.  Jahrhundert  haben  wir  nur  wenige  gleichzeitig  bezeugte 
Spuren  von  dem  Ewigen  Juden  in  Deutschland.  Am  22.  Juli  1721  wird 
er  am  Isartor  in  München  nicht  eingelassen,  treibt  sich  dann  hausierend 
in  der  Umgegend  herum  und  erklärt  das  von  dem  Hofblldiiauer  Gabriel 
Loidl  zu  München  aus  Blei  gegossene  Kruzifix  auf  dem  Gasteigberg  für 
die  „rechte  Abbildung  unseres  Herrn  und  die  Länge  und  in  allen  gleich." ") 
Diese  einem  Münchener  Diarium  einverleibte  Notiz  ist  sichtlich  eine 
Dublette  aus  dem  erweiterten  Volksbuch,  auf  lokale  Verhältnisse  und  eiue 
spätere  Zeit  übertragen.  Ein  andermal  soll  der  Ewige  Jude  auf  der 
Frankfurter  Messe  erschienen  sein,  um  einen  mit  Pelz  gefütterten  Rock 
oefeilseht  und  dem  Trödler  eine  Goldmünze  mit  dem  Bildnis  des  Tiberius 


1)  J.  S.  Mitternacht,   Dissertationes    de    Johannis  XXI    Paragr.  22     Apud  Mart. 
Müllerum  1G65.     Vgl.  Neubaur  1884  S.  115  und  117. 

2)  Nork  in  Scheibles  Kloster  li',  428. 


l.-)6  l>übi: 

dafür  gegeben  haben,  die  er  vor  1400  Jahren  (sie!)  in  Rom  erhalten  haben 
wollte.  Diese  Legende  ist  zwar  erst  im  11».  Jahrhundert  notiert  worden'), 
aber  dass  Interesse,  welches  der  junge  Goethe  der  Figur  entgegenbrachte, 
sclieint  doch  zu  beweisen,  dass  Ahasver  im  18.  Jahrhundert  in  Frank- 
furt a.  M.  populär  war.  Nach  einer  Quelle,  deren  Alter  ich  nicht  kon- 
trollieren kann  (ich  habe  die  Notiz  wie  die  meisten  der  vorhergehenden 
aus  L.  Neubaurs  Scln-iften).  soll  der  Ewige  Jude  die  Neujnhrsiiacht  von 
1766  in  einem  Schafstall  im  Dorfe  Altbach  am  Neckar  in  Württemberg 
zugebracht  und  sich  durch  eine  noch  10  Jahre  später  vorhandene  Inschrift 
für  die  Hei'berge  bedankt  ha1)en.  Zwei  Jahre  später  finden  wir  ilm  zum 
ersten  Male  in  der  Schweiz  und  zur  Darstellung  dieses  den  Erforschern 
der  Sage  nur  ungenügend  bekannten  Besuches  wollen  wir  nun  über- 
gehen. 

Der  Zürcher  Pfarrer  Johann  Caspar  Ulrich")  berichtet  darüber  in 
seiner  'Sammlung  jüdischer  (iescliichten  in  der  Schweiz'  f(dgendes: 

„Die  zweyte  Merkwürdigkeit,  die  wir  von  Bern  zu  berichten  haben,  betrift 
den  ewigen  oder  unsterblichen  Jud;  wir  haben  schon  in  verschiedenen  Helvetischen 
Reis-Beschreibungen  wackerer  Miinner  gelesen,  daß  man  auf  der  Bernerischen 
Bibliothek  einige  Dcnkmahlc  vom  unsterblichen  Jud  aufbehalte.  Über  dasjenige 
(hinaus),  was  wir  schon  aus  diesen  geschriebenen  Reisebeschreibungen  wußten, 
meldete  uns  noch  unlängst  ein  hoher  Gönner  folgendes:  Ich  habe  gestern  mit 
dem  Hr.  N.  H.,  der  sich  dermalen  hier  in  Zürich  befindet,  geredt  und  Er- 
läuterung begehrt  über  jüngst  verdeutetes  kostbares  Stück,  so  auf  der  Oberkcit- 
lichen  Bibliothek  zu  Bern  unter  anderen  aufbehalten  wird,  welches  aus  einem 
Stecken  und  einem  paar  Schuhen  von  dem  Ewigen  Juden  bestehet.  Er  sagte  mir, 
es  seyc  wahr,  daß  diese  köstliche  tiberbleibsel  sich  alldort  befinden,  und  müsse 
man  aus  der  Bibliothek  etliche  Tritte  herunter  in  ein  Soutcrain  steigen,  allwo  ein 
Türkischer  Habit  zu  sehen,  den  ein  Herr  Heerport  dahin  verehret.  In  gleichem 
Kabinet  befinden  sich  auch  des  unsterblichen  Juden  Stecken  und  Schuhe.  Der 
Stecken  seye  ziemlich  grob  und  stark  (vielleicht  ist  es  Samgars  Ochsen-Stecken), 
die  Schuhe  seyen  auch  ungemein  gross,  und  von  hundert  Bletzen  zusammen- 
gesetzet,  und  scheinen  ein  Meisterstück  von  einem  Schuhmacher  zu  seyn,  weil  sie 
mit  vieler  Mühe,  Fleiß  und  Geschicklichkeit  aus  gar  vielen  lädernen  Theilen  zu- 
sammengeflickt worden."  —  Über  die  Sage  von  Ahasver  sagt  Ulrich:  ,Die  Sache 
ist  nach  der  alten  Tradition  kurz  folgende:  Als  unser  Herr  zum  Tod  des  Creutzes 
ausgeführt  worden,  befände  sich  in  Jerusalem  ein  Bürger,  seines  Handwerks  ein 
Schuster,  namens  Ahasverus.  Dieser  wollte  nicht  zugeben,  daß  der  ermüdete 
Heiland  für  seiner  Haußthür  etwas  ausruhete,  sondern  schlüge  den  Heiland  mit 
dem  Leist,  den  er  eben  in  der  Hand  hatte;  worauf  ihn  Christus  mit  zornigem 
Angesicht  angesehen,  und  zu  ihm  gesagt  habe:  Ich  zwar  will  hier  ruhen,  du 
aber  seist  gehen  bis  ich  wiederkomme!  Darauf  der  Jud  sogleich  sein  kleines 
Kind,    so    er  auf   dem    Arm  gehabt,    niedergesetzt,    Christo    zur  Richtstatt    nach- 


1)  Aus  'Souvenir  d'un  ])elcrinage  en  l'honncur  de  Schiller',  mitgeteilt  von  Baron  de 
Reiffenberg  im  Annuaire  de  la  Bibliotliequo  royale  de  Bcigique  3,  200f.  I.sl2.  VstI. 
Neubaur  1881  S.  IIG. 

2)  J.  C.  Ulrich,  Sammlung  jüdischer  Gcscbiclitcn  in  der  Schweiz  (1.  Autl.  Basel  17GS). 
'J.  Aufl.  Zürich  1770  S.  löl. 


Drei  spätmittelalterliche  Legenden.  157 

gefolget,  sein  Leiden  und  Tod  selbst  mit  angesehen,  nachdeme  aber  nicht  nacher 
Jerusalem  wieder  zurückkehren  dörffen.  Er  habe  also  sein  Weib  und  seine  Kinder 
nicht  mehr  zu  sehen  bekommen,  sondern  seye  in  der  Welt  herumgereiset,  habe 
sich  tauffen  lassen,  und  seye  ein  Christ  worden,  wandere  aber  noch  bis  auf  den 
heutigen  Tag  umher." 

Ulrich  kennt  und  zitiert  von  der  oben  besprochenen  Literatur  den 
Mathaeus  Paris,  den  Brief  des  Dudulaeus,  datiert  Eeval  1614  und  die 
'Relation'  des  Pfälzer  Predigers  J.  G.  Hadecus  von  1681,  verweist  im 
übrigen  seine  Leser  auf  die  umständlichen  Berichte  bei  Schudt  und 
Holberg.  Was  er  also  nicht  von  diesen  Gelehrten  hatte  (und  dies  ist 
gerade  der  Besuch  Ahasvers  in  Bern)  verdankte  er  seinem  ungenannten 
Korrespondenten  und  dieser  gewiss  der  in  Bern  umlaufenden  Sage.  Dass 
es  Sage  ist,  was  von  den  Reliquien  des  Ewigen  Juden  in  Bern  berichtet 
wird,  geht  aus  dem  Umstände  hervor,  dass  in  keiner  der  zahlreichen 
gedruckten  Reisebeschreibungen  (die  'geschriebenen'  sind  eine  Flunkerei 
Ulrichs)  von  1621  ab,  wo  Martin  Zeiller  in  Bern  war,  bis  1768  unter  den 
Merkwürdigkeiten  der  Bibliothek  in  Bern  die  Schulio  und  der  Stecken 
Ahasvers  figurieren,  ebensowenig  in  den  Akten  der  Stadtbihliothek  selbst, 
die  allerdings  gerade  für  1765 — 1774  lückenhaft  sind.  Aber  die  Sage 
blieb  auch  nach  1770  geschäftig.  Der  etwas  unkritische  Sagenforscher 
E.  L.  Rochholz  weiss  in  seinen  1856  erschienenen  Schweizersagen  aus 
dem  Aargau  2,  SOG  zu  berichten,  dass  Ahasver  Wanderstab  und  Schuhe 
bei  seinem  Weggang  aus  Bern,  wohin  er  über  ihis  Matterjoch  und  die 
Grimsel  gekommen  sei,  zurückgelassen  liabe  und  dass  der  Züricher  Pfarrer 
Ulrich  sich  beides  daselbst  habe  zeigen  lassen.  Wie  die  zweite  Nachricht 
nachgewiesenermassen  falsch  ist,  so  beruht  auch  die  erste  nur  auf  einer 
Kombination.  Das  nämliche  muss  auch  der  Fall  sein  mit  der  Notiz  in 
dem  1854  zu  Leipzig  erschienenen  'Schweizerischen  Sagenbuch'  von  Kohl- 
rusch 1,  93.  „Als  zur  Sage  von  Ahasver  auf  der  Grimsel  gehörig,  muss 
schliesslich  hier  noch  eines  alten,  aus  ledernen  Riemen  geflochtenen  Schuhes 
erwähnt  werden,  der  in  einer  Plunderkammer  unter  der  Bibliothek  in  Bern 
liest  und  von  dem  es  heisst,  eben  bei  iener  Wanderung  ül)er  die  Grimsel 
habe  ihn  Ahasver  von  seinem  Fuss  verloren."  Ich  widerstehe  der  Ver- 
suchung in  diesem  einen  Schuh ^)  Ahasvers  die  eine  Sandale  des  Bottadio 
wiederzuerkennen,  von  der  oben  die  Rode  war.  denn  ich  glaube  nicht, 
dass  Kohlrusch  die  Tradition  unbefangen  und  ungeschminkt  wiedergibt. 
Ebenso  möchte  ich  auch  die  wolil  nur  im  Scherz  vorgebrachte  Tradition 
verwerfen,  von  der  Professor  K.  Pabst  in  seinem  Vortrag  über  Gespenster 
in  Sage  und  Dichtung  (Bern  1869)  sprach  und  wonach  Ahasver  Stab  und 
Schuhe  als  Pfand  für  Zechschulden  hätte  zurücklassen  müssen. 

Aber  sagenecht  und  für  unsere  These  von  der  grössten  Bedeutung  sind 
die  Erzählungen  über  die  Wanderungen  des  Ewigen  Juden  in  der  Schweiz. 


1)  [Auch  in  Ulm  erzählte  man  von  dem  Schuh  Ahasvers.    Sartori,  oben  4,  -Jit-i.] 


158  Dübi: 

Fast  ausualimslos  gehen  tliese  Wanderungen  von  Süden  nach  Norden,  von 
don  Alpen  oder  Voralpon  ins  Flachland  hinaus;  sie  erfolgen  in  regel- 
mässigen Perioden  und  der  „ewig  Alte"  konstatiert  dabei,  wie  Ohidcr. 
der  „ewig  Junge",  dass  die  Welt  ininior  schlechter  wird.  Aufgeschrieben 
worden  sind  diese  Sagen  in  der  Schweiz  erst  spät,  aber  sie  haben  dennoch 
ein  altertümliches  Gepräge  und  einen  lokalen,  sozusagen  alpinen  Charakter. 
Beim  ersten  Überschreiten  des  sagenberühniten  Matterjochs')  fand  .\hasvpr 
dort  eine  Stadt,  in  welcher  ihm  die  Herberge  verweigert  wm'de,  beim 
letzten  eine  unwirtliche  Schnee-  und  Eiswüste.  Auf  seinem  Wege  von 
hier  zur  Grimsel  sollen  die  Bauern  häufig  den  Ewigen  Juden  im  Goms, 
der  obersten  Stufe  des  Rhonetals  gesehen  haben.'")  Als  er  zum  ersten- 
mal die  Maienwang  oberhalb  dos  Rhonegletschers  emporstieg,  fand  er 
oben  einen  Weinberg,  das  zweitemal  einen  Tannenwald,  das  drittemal 
eine  Schnee-  und  Felswüste.  Von  den  Tränen,  die  er  über  diesem 
Anblick  vergoss,  entstand  der  See  beim  Hospiz.^)  In  dem  1827  in  den 
'Alpenrosen'  anonym  erschienenen  Artikel  „Scliattierungen  zum  Licht- 
gemäldo  der  Orimsel  und  der  ürimselstrasse"  erzählt  der  Verfasser, 
Pfarrer  J.  J.  Schweizer  (S.  392)  von  seinem  Ausflug  zum  Aaregletscher 
am  23.  August  1820    in  Begleitung    des  Spittlers    und    eines    (icnisjägors: 

„Bei  dein  Abschwang  wies  uns  der  Gemsenjäger  in  tiefer  Eiskluft  die  soge- 
nannte Jägerhütte,  eine  schauerliche  Felsenhöhle;  er  erzählte,  dass  Ahasverus,  der 
Ewige  Jude,  bey  seiner  ersten  Durchreise  gerade  hier  unter  einer  Rebcnlaube 
geruhet,  und  in  seiner  Umgebung  nur  einen  unermeßlichen  Weinberg  gesehen,  bei 
seiner  Wiederkunft  dann  hier  unter  Waldgebüschcn  gesessen  und  die  Gebirge  mit 
Tannen,  Fichten  und  Erlen  bekränzt  angestaunt;  zum  drittenmal  kommend,  die 
Herberge  mit  starrem  Eise  verrammelt  und  nichts  als  Schnee-  und  Eisfelder  an- 
getroffen, dann  aber  prophezeit  hätte,  dass  er  beim  vierten  Kommen  von  Brienzer- 
see  weg  auf  einem  Gletscher  nach  dem  Wallis  wallfahrten  werde." 

Dass  er  schon  dreimal  die  Grimsel  überschritten  habe,  erzählte  nach 
H.  Pröhle  (Deutsche  Sagen  1863  S.  166 — 170)  Ahasver  auch  in  Leissigen 
am  Thuuersee,  wo  er  im  sogenannten  Heidenhaus  um  die  Weihnachtszeit 
einkehrte  und  ruhelos  in  seinem  Zimmer  bis  zum  .Morgeu  auf-  unil  abging. 
In  Gsteig  bei  Saanen  kam  er  vor  langer  Zeit  einmal  vorbei  und  sagte, 
wenn  er  uoch  einmal  komme,  werde  es  daherum  so  wild  sein,  wie  oben 
auf  dem  Sanetschpass  (Th.  Vernaleken,  Alpeusagen,  Wien  1858,  S.  12). 
Von  einer  Verschuldung  der  Einwohner,  die  solche  Veränderung  hervor- 
gerufen hätte,  ist  hier  nicht  die  Rede;  wohl  aber  in  einer  anderen  in  der 
gleichen  Sammlung  (S.  13)  aufgezeichneten  Sage:  Die  Kirche  des  Dorfes 
Blumeastein    (iu  der  Nähe  von  Thun)    soll    früher   zu    einer  Stadt  gehört 


1)  Brüder  Griram,  Deutsche  Sagen  Nr.  344  (Berlin  18lj5)  und  Tscheinen  und  Ruppcn, 
Walliser  Sagen  (Sitten  1872)  S.  951".' 

2)  L.  Stehler,  Das  Goms  und  die  Gomser  S.  8  (Beilage  zum  Jahrbuch  des  Schweizer 
Alpenklubs  .'JS.    1902). 

3)  C.  Vogt,  Im  Gebirg  und  auf  den  Gletschern  (Solothurn  181 1)  S.  42. 


Drei  spätmittelalterliche  Legenden.  159 

haben.  Zum  ersten  Male  als  der  Ewige  Jude  diese  Gegend  bereiste,  sei 
sie  eingesegnet  worden;  das  zweite  Mal  habe  er  die  Stadt  wegen  ihrer 
Sittenlosigkeit  zu  einer  unfruchtbaren  Wilde  verwünscht,  und  wenn  er 
das  dritte  Mal  wiederkomme,  so  werde  diese  Gegend  zu  Gletscher  werden. 
Veranlassung  zu  dieser  Sage  hat  wohl  der  Umstand  gegeben,  dass  die 
Kirche  von  Blumenstein,  eine  ehemalige  Burgkapelle,  ziemlich  weit  entfernt 
und  über  dem  Dorfe  liegt;  aber  es  ist  doch  charakteristisch,  dass  die 
Motivierung  an  den  Ewigen  Juden  und  dessen  Propheteugabe  geknüpft 
wurde.  Übrigens  lag  Blumenstein  an  seinem  Wege,  wenn  er  vom  Sanetsch 
lier  kommend  nacli  Bern  wollte.  Wiederholt  ist  er  auch  durch  das  Entle- 
buch  (bei  Luzern)  gekommen.')  Hier  erhebt  sich  südwestlich  vom  Dorfe 
Flickli  der  langgedehnte  Bergstock  des  Schratten.  Beim  ersten  Besuche 
Ahasvers  war  der  Schratten  ein  Weinberg,  hernach  eine  Alp  und  zuletzt 
teilweise  nur  noch  ein  kahler  Fels.  Schuld  daran  ist  die  Sünde  der 
Schrattenjungfrau  (Lütolf,  Sagen  aus  den  fünf  Orten  S.  58).  Hier  ist 
also  das  Schicksal  Ahasvers  kombiniert  mit  dem  einer  anderen  Ver- 
dammten. Wir  haben  schon  gesehen,  dass  er  gelegentlich  mit  Pilatus 
zusammenfällt;  wir  werden  später  sehen,  dass  im  Entlebuch  auch  der 
Tannhäuser  einheimisch  ist. 

In  den  aargauischen  Dörfern  Lengnau  und  Endingen,  wo  Juden- 
gemeinden sind,  sowie  im  katholischen  Prickthale  ist,  wie  Rochholz'') 
bezeugt,  der  nämliche  Pilger,  der  im  Suhrtale  als  Pilatus  gilt,  unter  dem 
Kamen  des  Ewigen  Juden  bekannt.  Wenn  er  diesen  Landstrich  und  die 
angrenzende  Basellandschaft  bereist,  so  übernachtet  er  stets  in  seinem 
gleichen  Wirtshause,  obschon  er  die  Nacht  ausser  dem  Bette  zubringt  und 
immerwährend  bis  zum  Morgen  in  seiner  Stube  hei'umläuft.  In  Baselland 
erzählt  er,  er  habe,  als  er  das  erste  Mal  in  diesen  Rheiuwinkel  gekommen 
sei,  wo  nun  Basel  stehe,  nur  einen  schwarzen  Tannenwald,  das  zweite 
Mal  nur  ein  breites  Dornengestrüppe,  das  dritte  Mal  aber  eine  vom  Erd- 
beben zerrissene  grosse  Stadt  vorgefunden.  Wenn  er  zum  letzten  Male 
dieses  Weges  komme,  werde  man  stundenweit  gehen  müssen,  um  Reiser 
zu  einem  Besen  zusammenzufinden.  Auch  im  Kanton  St.  Gallen  ist,  wie 
O.  Henne -Am  Rhyn  (Die  deutsche  Volkssage  1874  S.  378  f.)  berichtet,  der 
Ewige  Jude  gewesen.  In  den  Gemeinden  Gaiserwald  und  Andwil  erschien 
er  als  uralter  Mann,  der  Almosen  sammelte  und  beim  Essen  hin  und  her 
ging.  Zu  Niderbüren  wollte  man  gesehen  haben,  wie  sein  Schatten  eine 
halbe  Stunde  weit  reichte.  Damit  und  mit  manchen  anderen  Zügen  kommt 
Ahasver  in  der  Schweiz  anderen  ewigen  Wanderern  heidnisch -mytho- 
logischen Ursprungs  nahe  und  wenn  auch  die  Parallele,  die  Rochholz 
zwischen  ihm  und  Wuotan  s:ezogen  hat,    in   dieser  Ausdehnung    unrichtig 


1)  E.  Osenbrüggen,  Wanderstudien  aus  der  Schweiz  1,  256f.  (18(!7). 

2)  li.  Eochholz,  Schweizer  Sagen  aus  dem  Aargau  2,  306. 


1(50  Bartels: 

ist,  so  darf  doch  gesagt  werden,  ilass  die  Aliasversage  in  der  Schweiz  Von 
dem  Traktätlein  von  160"_'  weniger  beeinflusst  wurde,  obschon  es  wahr- 
scheinlieli  hier  entstand,  als  von  der  älteren  Legende  über  den  Bottadio, 
deren  Einwanderung  wir  freilich  nicht  so  vorfolgen  können,  wie  die  der 
Legende  des  Pilatus. 

Das  deutsche  Yolksbuch  vom  J']\vigcn  Juden  ist  natürlich  iuich  in  der 
Schweiz  sehr  verbreitet  gewesen,  und  wenn  die  seltsame  Frau  Margret  in 
G.  Kellers  'Grünem  Heinrich'  den  sie  besuchenden  Trödeljuden  weiss- 
niachen  wollte,  sie  hätte  selbst  vor  zwölf  Jahren  einmal  zwei  Stunden 
vor  dem  Wirtshaus  zum  „Schwarzen  Bären"  in  Zürich  vergeblich  auf  den 
darin  übernachtenden  Ahasver  gepasst,  da  er  schon  vor  Tagesanbrucii 
weiter  gewandert  sei,  so  hatten  die  Juden  das  Recht  ungläubig  zu 
schmunzeln;  denn  diese  Anekdote  ist  schwerlich  durch  die  lebendige 
Tradition,  sondern  durch  die  Lektüre  des  Volksbuches  veranlasst,  wie  die 
Geschichte,  welche  Julius  Mosen  aus  seiner  Kindheit  (um  ISIO)  von  dem 
Besuch  des  Ewigen  Juden  zu  Marieney  im  Vogtland  erzählt  (Samt!. 
Werke  2,  261.  1880).  Aber  auch  dort  findet  Ahasver  ein  Dorf,  wo  1000  Jahre 
früher  nichts  als  Wälder  gewesen  seien,  ein  Zeichen,  dass  die  Sage  dank 
den  uralten  Elementen,  die  sie  enthält,  im  Yolksmunde  lebendig  ge- 
blieben war. 


Fortpflaiiziing,  Wochenbett  und  Taufe  in  Braucli  und 
Glauben  der  Weissrussischen  Landbevölkerung. 

2^ach  Angaben   von  Erau  Olga  Bartels  auf  Koslowka,  Gouv.  Smolensk, 
zusammenorestellt  von  Paul  Bartels. 


Im  Jahrgang  1904  (Bd.  63, 120—156)  der  „Etnograficeskoje  obozrenije" 
(Ethnogr.  Rundschau)  veröffentlichte  Fräulein  Vera  Charusina  in  Moskau 
ein  'Programm  zur  Erforschung  der  auf  Geburt  und  Taufe  bezüglichen 
Gebräuche  bei  der  bäuerlichen  Bevölkerung  und  den  andersartigen  Völker- 
schaften Russlands'.  Diese  Schrift  war  mir  zunächst  nur  aus  einem 
Referate  bekannt  geworden,  das  Prof.  Stieda  (Königsberg)  im  Zentral- 
blatt für  Anthropologie  1906,  S.  149  —  152  erscheinen  Hess.  Der  freund- 
lichen Vermittelung  meiner  Tante,  Frau  Olga  Bartels,  Besitzerin  des 
Gutes  Koslowka  im  Gouvernement  Smolensk,  und  der  Gefälligkeit  von 
Fräulein  Gh.  verdanke  ich  es,  dass  mir  diese  Arbeit,  die  mir  für  eine 
neue  Auflage  des  früher  von  Ploss  und  meinem  verstorbenen  Vater 
heraus-ren-ebenen    Werkes    'Das  Weib    in    der  Natur-    und    Völkerkunde' 


Brauch  und  Glauben  der  -weissrussischen  Landbevölkerung.  Ißj 

von  Wichtigkeit  erschien,  auch  im  Original  zugänglich  wurde;  da  ich 
aber  leider  der  russischen  Sprache  nicht  mächtig  bin,  so  wäre  mir  auch 
damit  noch  wenig  gedient  gewesen,  wenn  nicht  mein  Schwager,  Herr  cand. 
phil.  Rudolf  Fuchs  (Berlin),  die  grosse  Freundlichkeit  gehabt  hätte,  die 
ziemlich  umfangreiche  Schrift  durchzuarbeiten  und  mir  wenigstens  die 
wichtigsten  Stellen,  vor  allem  die  sämtliclien  256  Fragen  des  der  Schrift 
beigegebenen  Fragebogens,  zu  übersetzen.  Ich  spreche  auch  an  dieser 
Stelle  meinen  herzlichsten  IJank  für  alle  mir  zuteil  2:ewordene  Förderuns: 
aus;  vor  allem  aber  Frau  Olga  Bartels,  die  auf  meine  Bitte  es  unter- 
nommen hat,  einen  (von  ihr  ausgewählten)  Teil  dieser  Fragen  Mitgliedern 
der  weiblichen  Bevölkerung')  des  Gutes  und  Dorfes  Koslowka  vorzulegen 
und  mir  ihre  Antworten  zu  vermitteln. 

Frau  Olga  Bartels  hat  bereits  früher  auf  eine  Bitte  meines  Vaters 
hin  einiges  „Aus  dem  Leben  der  Weissrussischen  liandbevölkerung  im 
Gouvernement  Smolensk"  mitgeteilt  (Zeitschr.  f.  Ethn.  1903,  S.  650  667); 
und  zwar  waren  es  neben  einer  kurzen  Zusammenstellung  der  „Geburt, 
Hochzeit  und  Sterben"  betreffenden  Gebräuche  und  Vorstellungen  haupt- 
sächlich Angaben  über  „das  Bauernjahr",  über  die  Bedeutung  der  einzelnen 
Tage  des  Jahres  im  Glauben  und  Leben  des  Weissrussischen  Bauern,  die 
in  dieser  Schrift  abgehandelt  wurden. 

Es  ist  gerade  aus  der  russischen  Volkskunde,  wenigstens  soweit  die 
hier  berührten  Fragen  in  Betracht  kommen,  noch  verhältnismässig  wenig 
bekannt.  In  dem  genannten  Werke  von  H.  Ploss  und  M.  Bartels,  in 
welchem  ja  mit  möglichster  A'ollständigkeit  gerade  auch  die  sogenannten 
abergläubischen  Gebräuche  und  Vorstellungen,  soweit  sie  das  Leben  des 
Weibes  betreffen,  berücksichtigt  sind,  finden  sich  denn  auch  nur  ziemlich 
spärliche  Angaben  aus  der  Volkskunde  Russlands.  Und  das  hat  seinen 
Grund  darin,  dass  die  russischen  Forscher  ihre  Veröffentlichungen  meist 
in  ihrer  Muttersprache  gegeben  haben,  wähi-end  z.  B.  schon  die  süd- 
slawische Volkskunde  durch  hervorragende,  in  deutscher  Sprache  ge- 
schriebene Arbeiten  (ich  nenne  z.  B.  nur  Krauss)  allgemeiner  bekannt 
und  damit  besser  verwertbar  gemacht  worden  ist.  So  glaube  ich,  dass 
die  folgenden  Mitteilungen  mancherlei  enthalten,  was  für  die  Kenntnis  der 
russischen  Volkskunde  als  'neu'  wenigstens  in  dem  Sinne  betrachtet  werden 
dai'f,  als  es  bisher  in  keiner  der  drei  Weltsprachen  im  Original  oder  in 
irgend  einer  Zusammenstellung  veröffentlicht  worden  ist. 

Bei  der  Anordnung  des  Stoffes  habe  ich  mich  nur  teilweise  und  nur 
im  groben  nach  der  von  V.  Charusina  befolgten  Einteilung  (sieben 
Kapitel  mit  256  Fragen)  gerichtet.  Im  übrigen  darf  man  aber  aus  dem 
Folgenden  weder  auf  die  Reihenfolge  noch  auf  die  Anzahl  der  von 
V.  Charusina    vorgeschlagenen    Fragen     schliessen.      Ich     muss    übrigens 


.     1)  Darunter  eine  alte  „Babka"  (Hebamme)  des  Dorfes. 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    l'.K)7.  H 


Ui-2  Paul  Rartels: 

gestehen,  dass  eine  so  ins  einzelne  geliende  Fragestellung  (Kapitel  V 
umfasst  allein  104  Fragen),  die  wesentlich  aus  den  Angaben  der  speziellen 
Literatur  zusaniinengeütollt  zu  sein  scheint  (wobei,  nebenbei  gesagt,  aus 
der  deutschen  Literatur  vor  allein  Ploss'  Werk  über  das  Kind  genannt 
wird,  während  das  Werk  über  das  Weib  der  Verfasserin  wohl  nicht 
bekannt  war),  nach  meiner  Ansicht  manches  Bedeukliciie  iiat.  Fjs  liegt 
die  (iei'ahr  voi',  dass  der  J'^ragende,  wenn  er  nicht  Fachmann  ist,  in  gleicher 
Weise  wie  der  Gefragte  ermüdet  wird  und  das  Interesse  verliert,  und 
andererseits  durch  die  vielen  Spezialisierungen  der  Fragen  manches  hcraus- 
gefragt  wird,  was  nicht  von  wesentlicher  Bedeutung  ist:  über  die  Mängel 
dieser  Methode  ist  sich  Y.  Ch.  auch  vollständig  klar.  ,  Imiiierhin  darf 
dieser  Versuch  als  eine  wertvolle  Anregung,  die  auch  in',  u-nserem  Falle 
sich  als  fruchtbringend  erwies,  mit  Dank  begrüsst  werden;  noch  dankbarer 
würden  wir  freilich  der  Verf.  sein,  wenn  sie  nun  auch  ihrerseits  uns  mit 
möglichst  vielen  Antworten  aus  dem  grossen  Russland,  in  tatsächlicher 
Ausführung  ihrer  Gedanken,  die  bisher  luu-  Vorschläge  sind,  erfreuen  würde. 

1.   Unfruchtbarkeit:  uneheliche  Kinder. 

Ist  einer  Ehe  der  Kindersegen  versagt,  so  gilt  «lies  als  ein 
Unglück.  Man  lässt  es  die  Frau  zwar  niolit  gerade  entgelten,  indem  man 
ihr  etwa  mit  Geringschätzung  entgegentritt,  wie  bei  den  Südslawen 
(Krauss),  aber  es  entstehen  ihr  doch  Nachteile  daraus;  sie  ist  z.  B. 
im  Falle  des  Todes  ihres  Mannes  nicht  erbberechtigt  und  hat  keinen 
Anspruch  an  seinen  Landanteil,  wenn  sie  ihm  keinen  Sohn  geboren  liat. 
So  sucht  eine  solche  Frau  denn  durch  (ielübde  und  strenge  Buss- 
übungen die  Gnade  des  Himmels  zu  gewiuuen:  während  des  Gottes- 
dienstes steht  sie  regungslos  in  der  Kirche;  sie  unterwirft  sich  strengem 
Fasten,  nicht  nur  Mittwoclis  und  Freitags,  sondern  auch  am  Jlontag;  sogar 
das  Wasser  wird  nicht  genossen  l)is  Sonnenuntergang.  Im  Frauenkloster 
zu  Smolensk  befindet  sich  eine  Puppe');  am  Ilimmelfahrtstage  pilgern 
viele  Bäuerinnen  dort  hin.  die  keine  Kinder  haben  und  sich  solche 
wünschen,    und  wiegen    dann  diese    l'uppe    in    den   Armen,    während   eine 


1)  Auf  iiiciiic  Bitte  hat  Frau  O.  Bartels  mittlerweiU'  einen  .Aufenthalt  in  Smolensk 
dazu  benutzt,  um  das  Kloster  zu  liesiichen  und  diese  Pup])e  womöglich  zu  sehen.  Letzteres 
gelang  freilich  nielit.  auch  war  es  nicht  möiilich.  eine  Abbildung  zu  erlialten.  Es  Hess 
sich  dort  nur  iu  Erfahrung  bringen,  ,dass  es  wirklich  cineu  Holzengel  geben  soll  (als 
Kontrebande  natürlich,  da  die  Kirche  nur  Heiligenbilder  duldet),  der  eine  .Abbildung  des 
Engels  sein  soll,  der  auf  dem  Grabe  Christi  sass  und  die  Aufersteliung  des  Herrn  ver- 
kündete; es  ist  ein  kleiner  Holzengel,  der  auf  einem  Stein  sitzt.  Diese  Puppe  (die  keine 
Keliqnic  ist),  wird  nur  am  Himmelfabrtstage,  an  dem  grossen  Wallfahrtsfcste,  dem  Volk 
zugänglich  geuiaclit."  —  „Wer  Knaben  haben  will,  opfert  dem  kleinen,  mit  einem  Brokat- 
hemdchen  bekleideten  Popanz  ein  männliches  Kleidungsstück,  welches  er  ihm  überwirft: 
wer  Mädchen  haben  will,  opfert  ein  weibliches  Kleidungsstück.  Wer  eine  grüssere  Spende 
gibt,  bekommt  sogar  ein  geopfertes  Kleidungsstück  als  Keliqnic  mit  nach  Haus." 


Brauch  und  Glauben  der  Weissrussischen  Landbevölkerung.  163 

Nonne  neben  ilmen  Uebete  liest,  in  denen  um  Befreiung  von  dem  Unglück 
der  Unfruchtbarkeit  gebeten  wird.  Man  glaubt,  dass  Kinderlosigkeit 
durch  bösen  Zauber  hervorgerufen  werden  kann,  auch  durch  Über- 
tretung kirchlicher  Gelübde. 

Die  ausser  eheliche  Schwangerschaft  gilt  dagegen  für  eine 
Schande,  weniger  bei  einer  Frau,  als  bei  einem  ledigen  Mädchen.  Wenn 
durch  drei  Generationen  hindurch  uneheliche  Kinder  geboren  wurden 
(Grossmutter,  Mutter  und  Tochter),  so  ist  die  dritte  Person  ein  Zauberer 
oder  eine  Hexe.  Ein  uneheliches  Kind  winl  spöttisch  bezeichnet  als  Find- 
ling, Vaterloser,  Breunnesselbub,  doch  lässt  man  es  sonst  den 
Fehltritt  der  Mutter  nicht  entgelten.  Diese  dagegen  muss  Schimpf  und 
Spott  erdulden.     So  singt  man  dort: 

„Die  ^[utter  hat  der  Tochter  verboten,  sich  weiss  und  rot  zu  schminken 
und  sich  mit  den  Knaben  abzugeben.  Sie  hat  der  Mutter  nicht  gefolgt,  bat  sich 
Weiss  und  rot  geschminkt  und  hat  sich  mit  den  Knaben  abgegeben." 

„Das  Mädchen  kam  erst  zu  sich,  als  sieh's  ihr  im  Leibe  regte;  es  begann 
zu  weinen,  als  es  in  der  Wiege  krähte:  und  das  ganze  Leid  lernte  sie  erst 
kennen,  als  es  auf  ihren  Armen  zu  hüpfen  begann." 

In  einem  anderen  Verse  ruft  die  Arme: 

„Yäterchen,  hilf,  hilf!    Mache  mir  eine  Wiege! 
Brüderchen,  hilf!  win<le  die  Stricke  zur  Hängewiege! 
Mütterchen,  hilf!  bereite  die  Windeln! 
Schwesterchen,  hilf!   reiche  das  Wickelband !" 

Unter  den  Vorzeichen  bedeutet  der  Schrei  einer  Eule  die  Geburt 
«ines  mielielichen  Kindes;  auch  der  Kuckucksruf  soll  keine  gute  Vor- 
bedeutung sein. 

2.   Schwangerschaft. 

Der  Angabe  von  V.  Charusina,  dass  im  Olouetzschen  Gouvernement 
drei  Ta"e  als  der  Zeitabschnitt  angesehen  werden,  den  der  Keim  braucht, 
um  sich  zu  bilden,  sei  die  in  Koslowka  gegebene  Antwort  auf  eine  ent- 
sprechende Frage  augereiht,  nach  der  diese  Zeit  zwölf  Wochen  betragen 
soll;  ich  kann  allerdings  den  Verdacht  nicht  unterdrücken,  dass  damit  in 
diesem  Falle  die  Zeit  gemeint  war,  nach  der  man  (für  den  Hausgebrauch) 
mit  einer  gewissen  Siclierheit  darauf  rechnen  kann,  dass  das  Eintreten 
der  Schwangerschaft  mehr  als  ein  blosser  Verdacht  war.')  Dass  eine  Frau 
ein  Mädchen  zur  Welt  bringen  wird,  erkennt  sie  daran,  dass  sie  die 
Fruclit    links    fühlt;    rechts    entstehen    Knaben,    also    ähnlich    wie    die 

1)  Eine  mittlerweile  erneute  Anfrage  ergab,  dass  drei  Tage  als  der  Zeitraum  be- 
trachtet werden,  die  der  Same  brauche,  um  in  das  Ei  zu  dringen.  Das  Werden  des 
Kindat,  die  weitere  Entwicklung,  vergleichen  die  Bauern  dann  mit  der  Entstehung  eines 
Gewebes,  bei  dem  zuerst  die  Kette  in  langer,  mühseliger  Arbeit  gemacht  werden  muss, 
ehe  durch  das  Herstellen  des  Einschlages  das  eigentliche  Weben  beginnen  kann;  den 
Ausdruck  für  das  Herstellen  der  Kette  gebrauchen  die  Bauern,  um  die  erste  Entwicklung 
zu  bezeichnen:  „molodoje  ssnujiotsia  12  nediel",  d.  h.  das  Junge.  Zukünftige,  kettet 
sich  12  Wochen. 

11* 


Jß4  Paul  Bartels: 

bekannte,    schon  bei    griecbischen    Philosophen     und    auch    in     d<-u    alten 
geburtshilflichen  Schriften  unseres  Vaterlandes  vorkonuncnde  Anschauung, 
ilass    die    rechte    Seite,     „als    die    stärkere,    heiligere    und    glücklichere"- 
(Ploss-Bartels  8.  AuH.    1,  770)  für  die   Erzeugung  der   Knaben,   die   linke 
für    die    der    Mädchen    bestimmt    ist.      Knaben    sind    schwerer    zu    tragen, 
weil  sie  meist  grösser  sind,  und  sie  werden  zwei  Wochen  länger  getragen. 
Die  Frau  zeigt  ihren  Zustand    mit  Stolz,    wenn  sie  jung  ist:    die  ältere 
Frau    freilich    verbirgt    ihn,    solange    sie    kann.      Man    schont    sie    nach 
.Möglichkeit    und    sucht    ihr    schwere    Arbeiten    zu    ersparen:    iti     armen 
Familien    ist    man  allerdings    oft    weniger  rücksichtsvoll.      Ilire    Gelüste 
sucht  man  zu  erfüllen.     Vor  (Jemütsbewegungen,    besonders   vor  heftigem 
Schreck,  muss  sich  die  Schwangere  zu  bewahren   suchen.       Heftiges    Kr- 
schrecken  bei  Feuerschaden  bewirkt,  dass  das  Kind  mit  einem  Feuermal 
zur  "Welt  kommt:    letzteres  entsteht    an    denjenigen  Körperstellen,    welche 
die    entsetzte  Frau    mit    der  Hand    berührt    hat.      Haben    die  Eltern    die 
Enthaltsamkeitsgesetze,  welche  die- Kirche,  allerdings  nicht  sehr  erfolgreich, 
für  die  Fastenzeiten    und    die  Vorabende    der    grossen    Feste    vorschreibt, 
übertreten,  so  können  sie  durch  die  (ieburt  von  Zwillingen    oder   eines 
missgestalteteu    Kindes   gestraft  werden;    besonders   der    Buckel   wird 
dieser  Übertretung  zugeschrieben.     Man  erzählt,  dass  eine  Frau  ein  Kind 
mit  einem  Pferdekopf   geboren  habe:    ein  anderes  Kind   soll    ein  Frosch- 
gesicht   und    Froschaugen    gehabt    haben    (vielleicht    ein    Anencephalus!) 
Hexen  und  Zauberer  sind  imstande,    solches    zu  bewirken;    noch    vor  der 
Trauung  können  sie  die  junge  Frau  verderben,    dass    sie  kinderlos  bleibt 
oder  die  Kinder  nicht  austragen  kann.    Die  Schwangere  darf  über  keinen 
Strick  treten,    sonst  legt  sich  der  Nabelstrang    um    den  Hals    des  Kindes, 
ein  auch  sonst    in  Europa    verbreiteter  Glaube.      In   allen   ihren  Anliegen 
wenden    sich    schwangere  Frauen,    wie    auch    sonst    in    Russland,    an    die 
.Muttergottes    und    die    heilige    Anastasia-Fessellöserin,     deren    Tag 
am    22.  Dezember    ist.      Um    eine    leichte    Entbindung    zu    bewirken, 
wird  folgendes  Verfahren  angewendet:    Bei  der  Einweihung   eines  Hauses 
wird  je  ein  Wachslicht  an  jede  Wand  des  zu  weihenden  Hauses  geklebt; 
ein  solches  Lichtstümpfclien  wird    über  der  Schwelle    angesteckt    und  die 
Schwangere    dreimal    darüber  hinweggeführt.      Übrigens    kann    die   junge 
Frau  schon    in    der  Brautnacht    dafür  Sorge    tragen,    dass    die    Geburts- 
schmerzen   auf    den  Mann    mit    übergehen,    indem    sie   sich  dreimal 
über  ihn   herüberwälzt.      Auch    können  Zauberer  schon    bei    der  Trauung 
bewirken,  dass  der  Mann  alle  Beschwerden  der  Schwangerschaft,  Übelkeit, 
Erbrechen,  Kreuzschmerzen,  mitemi)fimlen  muss.     Die  Schwangere    ist  im 
allo-emeinen    irgendwelchen  Beschränkungen    nicht  ausgesetzt.     Doch  ver- 
meidet    sie    es,    eine    Patenschaft    zu  übernehmen,  und    zwar  wird    das 
damit  begründet,    dass    das  Kind    ihr    im  Leibe    erdrückt  werden    könne, 
wenn  sie  den  Täufling  darüber    hielte.      Dies    erscheint  mir    recht  inter- 


Braucli  uml  Glaubea  der  weissrussisclien  r.andbeviilkorunij.  165 

essant,  deuu  es  steht  in  naher  Beziehung  zu  dem  von  R.  Andree  (ßvaun- 
-schweiger  Volkskunde  S.  210)  für  Braunschweig  gescliilderten  Gebrauche: 
„Eine  Frau,  die  guter  Hoffnung  ist,  soll  iiiclit  (ievatter  stehen,  das  schadet 
dem  Täufling  und  ihrer  Leibesfrucht,  ja,  beide  können  infolgedessen  zu- 
grunde gehen.  Dem  kann  aber  vorgebeugt  werdeu,  wenn  die  schwangere 
Patin  zwei  Schürzen  statt  einer  während  des  Taufaktes  anzieht."  Diese 
Verdoppelung  der  Schürze  soll  also  offenbar  einen  Schutz  für  das  un- 
geborene, darunter  verborgene  Kind  darstellen.  In  Russland  wird  nun 
eine  rein  körperliche  Ursache,  der  Druck  des  darüber  gehaltenen  Täuflings, 
als  die  Schädlichkeit  angesehen.  Ob  nicht  vielmehr,  da  die  Frauen  doch 
sonst  nicht  allzu  ängstlich  wegen  körperlicher  Anstrengungen  sind,  es 
mehr  der  Umstand  sein  mag,  dass  etwas  Ungetauftes,  also  Unheiliges,  der 
eigenen  Leibesfrucht  nahe  gebracht  wird,  wird  sich  nicht  sicher  entscheiden 
lassen,  erscheint  mir  aber  wahrscheinlicher.  Nicht  unerwähnt  soll  bleiben, 
dass  mein  Vater  (Ploss- Bartels,  Das  Weib,  8.  Aufl.  \,  860)  die  Meinung 
•ausgesprochen  hat,  dass  ursprünglich  die  Schwangere',  als  eine  gewisser- 
niassen  nicht  ganz  normale,  daher  nicht  vollgültige  Persönlichkeit,  von 
der  Patenschaft  ausgeschlossen  bleibt,  wie  ihr  auch  vielfach  verwehrt  ist, 
als  Zeugin  vor  Gericht  aufzutreten,  und  dass  erst  später  die  mystische 
Ursache,  die  Gefährdung  des  Ungeborenen  und  des  Täuflings,  vom  Volke 
als  J<]rklärung  augeführt  wurde;  ich  möchte  allerdings  eher  diese  mystische 
Ursache,  die  Nähe  von  etwas  Ungeweihtem,  für  das  ursprünglichste 
halten. 

Wie  überall  in  Russland,  so  glauben  auch  in  Koslowka  die  Bauern, 
dass  die  Seele  dem  Kinde  von  den  Engeln  gegeben  wird. 

3.   Geburt. 

Die  Geburt  findet  an  einem  abgesonderten  Orte  statt,  im  Sommer 
meist  in  der  'Banja',  der  Badehütte,  oder  in  einem  leeren  Stall,  im  Winter 
im  eigenen  Hause,  oder,  wenn  die  Familie  dort  zu  gross  ist,  viel  Männer 
und  Kinder  in  der  Hütte  sind,  in  dem  Hause  einer  Nachbarin,  die  keine 
Familie  hat  oder  deren  'Männer"  (d.  h.  männliche  Familienangehörige) 
abwesend  sind.  Die  Badohütte  von  Koslowka  ist,  nach  Aufnahmen 
meines  Vaters,  abgebildet  im  'Weib'  2,  Fig.  429  u.  430.  Es  liegt  in  dem 
Brauche  der  Absonderung  der  Gebärenden,  wie  mein  Vater  vermutungs- 
weise ausgesprochen  hat  (2,  S.  44),  sowie  doch  wohl  auch  in  der  Sitte, 
dass  die  Entbundene  40  Tage  lang  vom  Kirchenbesuch  ausgeschlossen 
ist,  gewiss  noch  eine  Andeutung  der  ursprünglich  bestehenden  Anschauung 
von  der  Unreinheit  der  Wöchnerin.  Das  Volk  ist  sich  dessen  freilich, 
in  Koslowka  wenigstens,  nicht  bewusst,  wie  ausdrückliche  Nachfragen  er- 
gaben. Auch  bei  den  Südslawen  durfte  die  Niederkunft,  früher  wenigstens, 
nicht  im  Hanse  stattfinden  (Krauss  S.  537).  Die  Hilfe  leistet  die 
'Babka"    (Hebamme),     auch'  'Babussja",     'Babus.sjenka'    (Grossmütterchen, 


ICG  l'aul  Bartels: 

Grosschen)  genannt.  Die  Anwesenlieii  anderer  Personen  ist  niclit 
erwünscht,  junge  Miidclien  dürfen  auf  keinen  Fall  bei  der  Entbindung 
zugegen  sein.  Einen  Wanderer,  der  etwa  zu  dieser  Zeit  an  die  Hütte 
klopft,  vermeidet  man  einzulassen,  aus  Furcht  vor  dem  bösen  Blick.  Die 
Babka  zündet  ein  Lichtchen  vor  den  Heiligenbildern  an,  spricht  (lebete 
oder  Beschwörungen  als  Mittel  gegen  das  böse  Auge,  meist  über  dem 
Wasser,  das  sie  der  Leidenden  reicht.  Eine  solche  Beschwürungs- 
forinel    lautet: 

„Heute  haben  wir  einen  {?ereclitcn  Taur,  den  heiligen  Sonnta;;  (oder  einen  anderen 
Tag).  Da  schöpfte  der  Frau  Helene  die  Magd  Alexandra,  unserere-  Königin 
das  Wasser.') 

Der  Fluss  entschwand  im  lichten  Glanz,  mit  ihm  die  steilen  Berge,  die 
steilen  Ufer,  der  gelbe  Sand,  und  die  kühlen  Quellen.  Darin  haben  wir  alles 
Schlechte  abgewaschen. 

Kommt  ihr  Engel  zur  Hilfe  und  beschwört  mit  mir  allen  bösen  Zauber,  den 
männlichen,  weiblichen  und  kindlichen,  und  behütet  uns  vur  dem  grauen  Auge 
und  dem  schwarzen  Auge,  vor  allem  Neid,  aller  Missgunst  bis  zu  diesem  Tage, 
bis  zu  dieser  Stunde,  dem  lichten  gerechten  Sonntag! 

Komm  Herrgott,  nimm  meine  Fürsprache  gnädig  an  und  sende  der  Helene 
gute  Gesundheit  lüs  zum  heutigen  Tage  und  dieser  Stunde !" 

Die  Tätigkeit  der  'Babka'  schildert  das  folgende  Lied: 

„Ach  die  Prossitschka  (Name  der  Gebärendem  wandert  im  Vorhaus  umher 

Und  Grosschen  führt  sie  an  der  Hand. 

Du  stolze  'Babussja",  mit  Deiner  Hilfe  ist  das  Gebären  leicht. 

Ich  schenke  Dir  ein  buntes  Ferkel, 

Bähe  Du  mir  das  schmerzende  Kreuz! 

Ich  schenke  Dir  sieben  Scheffel  Hanfsamen, 

Richte  mir  dafür  den  kranken  Leib  zurecht!" 

Kamillentee,  viel  Branntwein  mit  Pfeifer,  auch  .Mutterkorn,  werden 
als  geburtsfördernde  Mittel  gegeben;  auch  lässt  man  die  Gebärende  stark 
in  eine  Flasche  blasen  (bei  den  Südslawen  in  ein  Glas,  ein  Rohr 
[Krauss  S.  540]),  nach  dem  so  weit  verbreiteten  tilaubeu  der  Hebammen, 
dass  das  Mitpressen  auch  schon  vor  der  Austreibungsperiode  von  Nutzen 
.sei,  während  es  doch  nur  dazu  dient,  die  Leidende  zu  erschöpfen.  Ist 
die  Geburt  schwer,  so  löst  man,  nach  auch  sonst  vielfach  geübtem  Brauch, 
(s.  a.  Krauss,  Südslawou  S.  53!)),  alles  Yorschliessende  auf:  die  Ge- 
1)ärende  und  ebenso  die  Mädchen  im  Hause  lösen  die  Zöjife,  der  Ehe- 
mann seinen  Gürtel,  auch  sein  Hemd;  dei^  Gebärenden  werden  alle 
beengenden  Kleidungsstücke  abgenommen.  Man  öffnet  Kisten,  Schieb- 
laden, Ofentüren,  löst  alle  Kneifen,  nimmt  der  Gebärenden  die  Hinge,  die 
Ohrringe  ab.  Man  fülut  sie  um  den  Esstisch,  wo  sie  au  jeder  Ecke  ein 
Körnchen  Salz  nimmt.  Sie  tritt  über  einen  leeren  Sacli,  über  das  Henn! 
des  Mannes,  in  verzweifelten  Fällen  über  diesen  selbst.  (Letzteres  ist  ab- 
gebildet,   nach    der    russisch    geschriebenen    Arbeit    von    Pokrowsky,    im 

1     lias  AVassi'r  ist  die  Kr.nigin;  l/arilza-MiMlitza  ist  der  Klang  im  Bnssischon. 


Brauch  und  Glauben  der  weissrussischeu  LaiKlbevölkerimg.  167 

'AVeib'  "i,  Fig.  505).  Schliesslich  bittet  mau  den  Popen,  die  Tür  des 
AUerheiligsten  zu  öffueu,  und  ein  'entbindendes'  Gebet  zu  sprechen;  auch 
legt  man  der  Leidenden  einen  Gegenstand,  etwa  ein  Hemd,  über,  welches 
man  erst  auf  das  Muttergottesbild  gelegt  hat,  man  gibt  ihr  Wasser  zu 
trinken,  mit  dem  man  das  Heiligenbild  benetzt  hat.  Endlich,  und  hier 
kommen  wohl  uralte  Erinnerungen  zum  Vorschein,  lässt  man  die  Ge- 
bärende das  helle  Licht  und  die  Erde  sowie  alle  Familien- 
mitglieder um  Verzeihung  bitten. 

Ist  endlich  das  Kind  zur  Welt  gekommen,  so  durchschneidet  die 
Babka  den  Nabelstrang  mit  einem  Messer  und  unterbindet  ihn  mit 
einem  Ijeinfaden  und  dem  Haare  der  Mutter.  Damit  gute  Heilung  der 
Wunde  eintrete,  muss  man  sie  öfter  mit  der  Muttermilch  befeuchten. 
Wenn  der  Nabelschnurrest  abfällt,  legt  man  ihn  in  das  Astloch  einer 
Eiche  und  spricht  dazu:  „Werde  stark  wie  die  Eiche  und  lebe  so  lange, 
wie  der  Eiclibaum  stellt!"^)  Lst  das  Kind  etwa  scheintot  zur  Welt  ge- 
kommen, so  bläst  man  ihm  ins  Ohr.  War  es  in  der  sog.  Haube  (bei 
uus  nud  vielfach  sonst  'Glückshaube')  geboren,  so  ist  dies  ein  gutes  Zeichen: 
Die  Mädchen  werden  gute  Hausfrauen,  Knaben  gute  Wirte,  bei  denen  alles 
Vieh  gedeihen  wird.  Wenn  der  Vater  des  Kindes  das  Häubchen  mit  aufs  Feld 
zum  Säen  des  Getreides  nimmt,  so  gibt  es  eine  gute  Ernte.  Kopf  und  Glieder 
werden  dem  Kinde  von  der  Babka  'gereckt',  sie  badet  es,  wickelt  es; 
dann  wäscht  sie  ihre  Hände  mit  Hafer,  ebenso  die  Wöchnerin  und 
alle  Anwesenden;  hierbei  sagen  sie:  „Ich  wasche  meine  Hände  und  du 
vergib  mir  meine  Schuld."  (Also  wohl  auch  ein  Anklang  an  eine 
Reiuiguugszeremonie.)  Das  Badewasser  wird  fortgeschüttet,  die  Nach- 
geburt von  der  Babka  vergraben,  meist  in  der  Banja  unter  der  Diele, 
wobei  sich  die  Hebamme  nach  allen  vier  Himmelsrichtungen  verbeugt; 
dabei  bekreuzigt  sie  sich  aber  nicht,  sondern  hält  die  Hände  auf  dem 
Kücken,  denn  die  Banja  ist  ein  ungeweihter  Raum.") 

Kindern  erklärt  mau  das  Erscheinen  des  neuen  kleineu  Weltbürgers, 
indem  man  sagt,  die  Babka  hat  uus  eine  Puppe  mitgebracht  —  was 
annehmbar  klingt,  da  die  Geburt  in  einem  abgelegenen  Räume  stattfand. 
In  dem  Hause  wird  dann  das  Licht  gelöscht,  eine  besondere  Bewachung 
der  Wochenstube,  wie  sie  vielfach,  z.  B.  auch  bei  den  Südslawen,  in 
der  ersten  Nacht  üblich,  findet  nicht  statt,  und  alles  geht  zur  Ruhe.' 

4.   Die  Wöchnerin  nnd  der  Säugling. 

40  Tage  ist,  wie  schon  erwähnt,  die  junge  Mutter  vom  Kirehen- 
besuch  ausgeschlossen;    auch    muss  sich  der  Mauu    so  lange  von  ihr  fern- 


1)  Also  eine  Form  des  Verpflöckens.  Bei  Hellwig,  Das  Einpflöcken  von  Krank- 
heiten (Globus  lOüG  Bd.  00,  Nr.  1(5)  finde  ich  in  der  reichen  Zusammenstellung  das  hier 
verpflöckte  Objekt  nicht  erwähnt. 

'-*)  Nb:    und  der  Braucli  wohl  iilter  als  das  Christentum! 


168  Faul  Bartels: 

halten.  Sie  eiupt'iluj^t  nun  die  liosuciie,  nieiiiaml  darl'  koninieii.  dlinc 
ein  Goschenic  an  Esswaren  mitzubringen;  meist  sind  es  'Hlini .  iiiuh- 
weizenfladen  ^itli'v  eine  Art  Weizeukuchen,  Weissbrot  oder  Kringel.  Auch 
dem  Kinde  werden  Geschenke  gemacht.  Zur  Stärkung  erhält  die 
Wr.chnerin  schwarze  Johannisbeeren,  auf  Branntwein  gestellt.  „Neun 
Tage'-,  heisst  ein  Sprichwort,  „steht  das  Grab  der  Wöchnerin  olfen."  Am 
dritten  Tage  werden  Mutter  und  Kind  in  der  Banja  gebadet.  Schiesst 
die  Milch  zu,  was  manchmal  erst  am  dritten  Tage  geschehen  soll,  so  legt 
die  Mutter  das  Kleine  an,  nachdem  sie  es  bekreuzigt  und  ein  Gebet  ge- 
sprochen hat.  Die  fremde  Brust  bekommt  das  Kiml  nur  dann,  wenn 
die  Mutter  keine  Milch  hat.  Sie  nährt  es  je  länger  desto  besser  (auch 
bei  den  Südslawen  sehr  lange;  Krauss  S.  .544,  545),  meist  zwei  Jahre: 
nur  falls  eine  zweite  Schwangerschaft  dazwischen  kommt,  setzt  sie  es  ab. 
Für  sehr  schädlich  gilt  es,  nacli  Absetzen  des  Kindes  nach  einigen 
Tagen  wieder  mit  dem  Nähren  zu  beginnen:  solche  Kinder  be- 
kominen  den  bösen  Blick  (bei  den  Serben  werden  sie  Hexen,  und  haben 
.solche  Macht,  dass  sie  durch  einen  einzigen  Blick  einen  Reiter  vom  Boss 
hinabstürzen  können.  Krauss  S.  545).  Verliert  die  Mutter  die  Milch, 
so  taucht  sie  das  Tragholz,  an  dein  die  Eimer  hängen,  in  den  Brunnen, 
und  trinkt  die  Tropfen,  die  beim  Herausnehmen  von  dem  Tragholz  fallen.  — 
Sie  schneidet  abends  schweigend  ein  Stück  von  einem  ganzen  Laib  Brot 
ab,  trägt  es  zum  Brunnen  oder  zur  Quelle,  legt  es  dort  ein  unc^  lässt  es 
über  Nacht  daselbst  liegen.  .\m  anderen  Morgen  muss  sie  als  erste  vor 
Tau  und  Tag  am  Brunnen  sein  und  das  Brot  essen,  ^^'enn  die  Milch 
dann  doch  nicht  wiederkommt,  so  ist  eben  noch  jemand  vor  ihr  am 
Brunnen  gewesen,  der  das  Mittel  unwirksam  gemacht  hat.  — 

Krkrankt  die  Brust,  stellen  sich  Schmerzen,  Verhärtung  ein,  so 
reibt  man  die  kranke  Brust  mit  einem  Schleifstein  oder  einem  leicht 
bröckelnden  Stein  (sie!),  wirft  ihn  (huin  zwischen  den  Beinen  liindnrcii 
in  einen  Winkel  und  spriclit:  „Zerfalle  (vergehe),  du  Schmerz,  wie  dieser 
Stein  zerfällt!"  Beim  Absetzen  des  Kindes  näht  die  Mutter  den  Schlitz 
des  Hemdes  auf  der  Brust  zusammen,  koclit  dem  Kinde  Grütze  im  Töpfchen, 
bekreuzigt  das  Kind  uinl  s])riclit:  „Hier  hast  du  jetzt  Salz  und  üntt;  nähre 
dich  von  tlem.  was  wir  essen:  deine  Zeit  ist  um!"') 

1)  Einen  ganz  ähnlichen,  aber  anders  motivierten  Brauch  beschreibt  Krauss  (S.  515) 
bei  den  Südslawen:  Die  Mutter  muss  in  den  Busenlatz  von  oben  nach  unten  eine  Nadel 
stecken,  damit  auch  die  ]ililch  nach  unten  sich  verlaufe.  So  recht  ein  Beispiel  für  die 
nicht  seltenen  Fälle,  wo  man  sich  verlockt  fühlt,  der  Frage  nachzugehen,  ob  beide  Ver- 
sionen, was  wohl  unwahrscheinlich,  unabhängig  voneinander  entstanden,  oder  auf  eine 
alte  Form  zurückgehen,  ob  die  eine  oder  die  andere  die  primäre,  und  welche  Jtotivierung 
also,  infolge  NIchtverstchens  eines  alten  Brauches  oder  seines  Rudimentes,  die  unrichtige, 
erst  später  erdachte,  sei!  Bei  den  Südslawen  knetet  übrigens  die  Mutter  mit  eigener 
Milch  einen  kleinen  Kuchen  an,  bäckt  ihn  und  gibt  ihn  dem  Kinde  zu  essen:  bei  den 
Weissrussen  aber  hcisst  es,  ähnlich  und  doch  anders:   Iss,  was  wir  essen! 


Brauch  und  Glauben  der  Weissrussischen  Landbevölkerung.  169 

War  (las  Kind  bei  Neumond  oder  zunehmendem  Monde  geboren, 
so  ist  dies  ein  gutes  Vorzeichen  für  sein  Gedeihen;  bei  abnehmendem 
Monde  geborene  Kinder  gehen  zugrunde.  Zahnt  das  Kind  früh,  so  werden 
ihm  balil  Geschwister  folgen.  Sehr  sündhaft  ist  es,  wenn  die  Mutter  den 
Namen  des  Teufels  nennt,  oder  das  Kleine  schimpft:  die  Kinder 
können  dem  Blödsinn  anheimfallen  oder  zu  Krüppeln  werden.  Einmal 
hat  der  Böse  ein  Kind  fortgeholt,  weil  die  Mutter  dieses  in  der  Banja, 
dem  ungeweihten  Räume,  zum  Teufel  gewünscht  hat.  Von  dieser  Tod- 
sünde Iiandelt  der  letzte   Vers  des  folgenden  Liedes: 

„In  der  Kirche,  der  Kathedrale,  vor  Gottes  heiligem  Altäre,  versammeln  sich 
die  sündigen  Seelen. 

Da  sprach  die  eine  Seele: 

Am  Georgstage  (2:!.  April)  bin  ich  in  der  Frühe  aufgestanden,  habe  das 
Vieh  auf  den  Gottestau  getrieben,  habe  den  Kühen  die  Milch  genommen  und 
diese  unter  die  weisse  Birke  gegossen.  Dafür  findet  meine  Seele  keine  Ver- 
gebung, keinen  Ablass  meiner  Sünden! 

Die  andere  Seele  sprach: 

Ich  bin  am  Johannistage  in  der  Frühe  aufgestanden,  habe  im  Roggen  einen 
.,Salom"')  gebrochen:  auch  dafür  findet  meine  Seele  keine  Vergebung,  keinen 
Ablass  meiner  Sünden! 

Die  dritte  Seele  sprach: 

Ich  habe  im  Leibe  die  Frucht  vcrllucht,  habe  sie  ein  ungetauftes  Geschöpf 
genannt.     Ach,  und  dafür  linde  ich  nie  Vergebung,  nie  Ablass  meiner  Sünden!'' 

VAner  unfrommen  Mutter,  die  ihr  Kind  nicht  bela-euzigt,  kann  der 
Böse  das  Kind  gleichfalls  fortholen  und  dafür  Holzklötze  hinlegen. 

Ist  ein  Kind  nicht  wohl,  so  nimmt  man  zunäclist  au,  dass  es 
sich  „erschreckt"  hat.  Dagegen  wird  der  folgende  interessante  Brauch 
angewendet  (übrigens  auch  bei  Erwachsenen): 

Man  stellt  den  Kranken  in  die  Sonne,  dass  sein  Schatten  auf  die 
Diele  oder  draussen  auf  die  Erde  fällt.  Sodann  kratzt  man  mit  dem 
Messer  etwas  Schmutz  oder  Erde  von  dem  Schatten  des  Hauptes,  der 
Glieder,  des  ganzen  Leibes  ab,  und  legt  alles  in  einen  Scherben.  Hierauf 
misst  man  Länge  und  Breite  des  Körpers,  sowie  aller  Glieder  mit  einem 
Leinenfaden  und  legt  diese  Masse  auch  in  den  Scherben.  Dann  bestreut 
man  den  Krauken  mit  Asche,  besprengt  ihn  mit  Wasser,  sammelt  dann 
die  feuchte  Asche,  ballt  sie  zu  einem  Klünipchen  und  sucht  darin  nach 
einem  Haar.  Findet  man  ein  Menschenhäar,  so  war  ein  Mensch  die 
Ursache  des  „Schrecks";  findet  man  das  Haar  eines  Tieres,  so  war  dieses 
Schuld  daran.  Schliesslich  wird  alles  zusammen  auf  Kohlen  verbraunt, 
der  Kranke  damit  geräuchert  und  eine  Beschwörung  gesprochen.     (Erst 


1)  ^Salom"  ist  ein  böser  Zauber.  Im  Roggen  wird  ein  kleiner  Kreis  ausgetrampelt, 
und  der  Roggen  in  der  Mitte  entzweigebrochen  und  verdreht.  Das  soll  dem  Eigentümer 
Unheil  bringen. 


170  ''"i'l  Bartels: 

eine    Reihe    uuverstäiKiliclier,     .siiuilüser.    iiiuib(!r.si'tzb;irL'r     \\  uitc.     ihuiu 

heisst  es): 

„Alexandra  rilucliorte  den  Peter  vor  dem  tollen  Kojif,  vor  dem  lieisseu  Blut, 
der  schwarzen  l.eber,  den  hellen  Augen,  den  schwarzen  Augenbrauen,  und  dem 
verlogenen  Herzen,  bis  auf  diesen  Tag,  bis  zu  dieser  Stunde.  Komm  uns,  Herr, 
zur  Hilfe,  ihr  Kngel  zum  Schutz!  Steige  hernieder,  grosser  Gott,  und  nimm 
meine  Fürbitte  gnädig  an.  Gib  dem  Peter  gute  Gesundheit  bis  zum  heutigen 
Tag,  bis  zu  dieser  Stunde!" 

In  Krankhcitsfiillon  wendet  man  sicli  nieist  an  ilif  lleUannnen 
oder  an  .Männer,  die  verschiedene  Krankheiten  wirksam  besprechen 
können,  seltener  schon  an  einen  .\rzt.  Wenn  das  Kind  Hitze  hat,  nn- 
ruhig  ist,  so  bestreicht  man  ilnn  die  Schhifon  mit  Muttermilcli.  (Auch 
grösseren  Kindern  gibt  man  etwas  Muttermilch  mit  Salz  zu  trinken.) 
Oder  man  gibt  Wasser,  in  welchem  drei  glüiiende  Kohlen  gelöscht  sind, 
innerlich  oder  als  Waschung. 

Stirbt  die  Wöchnerin,  so  legt  man,  wie  bei  allen  Toten,  40  Tage 
lang  ein  Handtucli  auf  die  Fensterbauk  und  stellt  ein  (iefäss  mit  Wasser 
hin.  Stirbt  das  Kindchen,  so  bettet  mau  ihm  so  lange  die  Wiege  auf. 
War  die  tote  Mutter  eine  Zauberin,  so  besucht  und  nährt  sie  ihr  Kind 
sechs  Wochen  lang.  Dies  verhindert  man,  ind(>m  man  durcli  den  (ieist- 
lichen  Beschwörungen  vornehmen  lässt.  Stirbt  eine  Frau  mit  dem  Kinde, 
so  legt  man  ihr  Windeln  mit  ins  Grab.  Hat  eine  Frau  das  Unglück 
gehabt,  iiii-  Kindchen  im  Schlafe  zu  erdnicken,  so  glaubt  mau,  dass  der 
„Verfluchte"  dies  vernrsaclit  liat,  weil  die  Mutter  versäumte,  vor  dem 
Schlafengeheu  das  Kind,  seine  Wiege  und  die  vier  Wände  des  Raumes 
zu  bekreuzigen.  Es  gilt  für  eine  schwere  Sünde,  die  mit  hohen  Kirchen- 
strafen belegt  wird.  Früher  wurden  solche  Frauen  zur  Nacht  in  die  Kirche 
gebraciit  und  mussten  so  lange  und  so  oft  dort  bleiben,  bis  ihnen  das 
tote  Kind  erschien  und  Vergebung  brachte. 

5.  Taufe. 

Wird  das  Kind  abends  oder  nachts  geboren,  so  wird  es  erst  am 
folgenden,  anderenfalls  noch  am  selben  Tage  getauft,  und  zwar  auf  den 
Namen  des  betreffenden  Heiligen.  Die  Babka  übergibt  das  Kind  <ler 
Patin,  die  es  zur  Kirche  bringt,  und  zwar  in  einem  Hemde  des  Vaters, 
wenn  die  Eltern  wünschen,  dass  das  nächste  Kind  ein  Knabe,  in  einer 
Schürze  der  Mutter,  wenn  es  ein  Mädclien  sein  soll.')  Nach  der  Rück- 
kehr aus  der  Kirche  wird  auf  der  Fensterbank  ein  Pelz  ausgelegt; 
der  Pate  nimmt  den  'l'äufliug  aus  den  Armen  der  Patin,  legt  ihn  auf  den 
Pelz,  liebt  ihn  von  dort  mit  dem  Pelz  emjior  und  bringt  ihn  dem  Vater 
mit  den  Worten:     „Hier    ist    euer  Neugeborenes,    unser    Täufling.     Möge 


1)  Über   den  Zauber   mit   männlichen    und    weiblichen  Kleidungsstücken    vergleiche 
man  auch  das  oben  gelegentlich  der  Puppe  zu  Snioloii^k  (Jes.itrte. 


Brauch  und  Glauben  rler  weissrussischen  Landbevölkerung.  1  7  I 

es  wachsen  uns  zur  Freude,  euch  zum  Nutzen.  So  rein,  wie  es  jetzt  au 
seinem  Tauffeste  ist,  möge  es  auch  am  Hochzeitstage  sein!"  (russicli: 
unter  dem  Kranz  wie  unter  dem  Kreuz).  Der  Vater  übergibt  dann  das 
Kleine  der  Mutter.  Darauf  folgt  ein  Imbiss.  mau  trinkt  ein  (TÜischen 
Branutweiu.  Das  eigentliche  Taufessen  kommt  erst  am  Abend,  es  wird 
geschmaust,  reichlich  Schnaps  getrunken,  auch  die  Dorfjugend,  die 
draussen  an  der  Tür  lärmt'),  wird  mit  Grütze  bedacht,  lustige  Lieder 
werden  gesungen.  Pate  und  Patin,  die  nun  in  ein  verwandtschaftliches  Ver- 
hältnis treten,  beschenken  einander;  sie  erhält  '4  Rubel,  er  ein  gesticktes 
Handtuch.  Die  Babka  sowie  die  Mutter  bekommen  gleichfalls  ein  kleines 
Geldgeschenk  vom  Paten  „für  Seife".  Pate  und  Patin  trinken  ab- 
wechselnd dreimal  aus  demselben  Glase  und  küssen  siidi  dann.  —  Vor 
den  Paten  geniesst  die  Babka  der  grössten  Achtung;  das  Kind  tritt  zu  ihr 
in  ein  verwandtschaftliches  Verhältnis,  es  wird  ihr  Enkel.  Bei  seiner 
Hochzeit  sitzt  sie  S])äter  am  Ehrenplatz,  an  der  Schmalseite  des  Tisches, 
während  Pate  und  Patin  an  der  Breitseite  unter  den  Heiligenbildern 
sitzen.  Sollte  das  Kindchen  sterben,  so  sind  Pate  und  Patin  die  Haupt- 
personen und  sitzen  nebeneinander  auf  dem  Ehrenplatz  beim  Totenmahl. 
Ist  der  Pate  ein  Zauberer,  so  kann  er  dem  Kinde  schaden,  wenn  er  sich 
auf  der  Fahrt  zur  Kirche  seiner  Kraft  erinnert;  denkt  er  aber  erst  auf 
der  Rückfahrt  daran,  so  hat  er  die  Macht,  dem  Kinde  zu  seliaden,  ver- 
loren.    Doch  gibt  es  jetzt  schon  weniger  Zauberer  als  früher.  — 

Ich  sehliesse  hiermit  diese  Mitteilungen  ab.  Der  A' ersuchung.  mich 
auf  die  Anführung  von  Parallelen  oder  auf  Deutungen  in  noch  weiterem 
umfange,  als  bereits  geschehen,  einzulassen,  die  bei  einzelnen  Gelegen- 
heiten, z.  B.  dem  Schattenzauber,  dem  Baumzauber  u.  a.,  besouders  gross 
war,  habe  ich  widerstehen  zu  sollen  geglaubt,  weil  unsere  Kenntnisse, 
selbst  aus  dem  eigenen  Vaterhmde,  noch  allzu  lückenhaft  sind,  und  nur 
grosse  Vergleichsreihen  geeignet  sein  können,  das  Verständnis  dieser 
Gebräuche  und  Anschauungen,  in  denen  sich  offenbar  uralter  Besitz, 
vielleicht  auch  Neuentstandenes,  mit  kirchlichen  und  modernen  Vorstellungen 
gemischt  hat,  zu  erschliessen.  Möchte  bald  recht  viel  neues  Material,  nach 
V.  Charusinas  Vorschlägen  in  gründlicher  Weise  gesammelt,  dazu  bei- 
tragen, über  die  vielen  dunklen  oder  schwer  verständlichen  Äusserungen 
der  Volksseele  auf  diesem  gerade  die  lebenswichtigsten  Vorgänge  be- 
rührenden Gebiete  Licht  zu  verbreiten. 

Berlin. 


1)  Siehe  0.  Bartels,  Zeitschr.  f.  Ethnol.  lOO.'J,  S.  a'>0. 


172  Zathariae: 

Zur  Gescliiclite  vom  weisen  Haikar. 

Von  Theodor  Zachariae. 

1.   Die  Aufgabe,  Stricke  aus  Sand  zu  winden. 

Unter  Avu  IJiitseln  und  Aufgabüii,  iIltimi  Lösung  König  I'liarao  von 
dem  weisen  llaikar  (Achikar,  Akyrios)  verlangt,  erscheint  aucli  die 
Forderung,  Stricke  aus  Sand  zu  drehen.  In  der  syrischen,  arabischen 
und  slawischen  Version')  der  Haikargeschichte  pariert  llaikar  diese 
Forderung  zunächst  mit  der  Gegenforderung:  'Lass  mir  einen  Strick  aus 
<leinen  Magazinen  bringen,  dass  icli  dir  einen  gleichen  drehe"  (1001  Nacht, 
übers,  von  Henning  "J'i,  .30).  Wit  dieser  Erwiderung  ist  König  Pharao 
jedoch  nicht  zufrieden;  und  nun  erfüllt  llaikar  des  Königs  Forderung  in 
einer  überaus  gekünstelten  Weise:  er  l)ohrt  Löcher  in  die  Mauer  des 
königlichen  Palastes,  sammelt  Sand  vom  l'lussbett  und  tut  ilin  darein,  'so 
dass,  wenn  die  Sonne  aufstieg  und  durch  den  Zylinder  schien,  der  Sand 
im  Sonnenliclit  wie  Stricke  aussah'  (Henning  a.  a.  0.). 

Wie  längst  bekannt,  findet  sich  eine  ganz  gleiche  Aufgabe  auch  in 
der  Gescliiclite  von  Mahausadha  und  Visäkhä  im  tibetischen  Kaudschur 
(Schiefner-llalston,  Tibetan  Tales  1882  p.  1.37f.).  Die  Forderung  des 
Königs  .lanaka,  einen  hundert  l'^Uen  langen  Strick  aus  Sand  zu  schicken, 
beantwortet  Mahausadha  mit  der  Gegenforderung  einer  Elle  als  Cluster. 
Diese  Erwiderung  empfiehlt  sich,  wie  Cosquin  ausgeführt  hat,  durch  ihre 
Einfachheit  und  Ursprünglichkeit;  was  in  der  Haikargeschichte  noch  folgt, 
die  künstlielie  Erzeugung  eines  Bildes  von  gedrehten  Stricken,  nimmt 
sich  wie  ein  Zusatz  des  gelehrten  Verfassers  der  Haikargeschichte  aus. 
'Immediatement",  schreibt  Cosquin,  'reparait  le  litterateur'),  avec  la  trans- 
formation  qu'il  essaie  d'un  jeu  d'esprit,  d'une  ri])Oste  preste  et  degagee 
<le  tout  pedantisme  en  une  lourde  machine  ii  pretentions  scientifiques' 
(Revue  biblique  8,  72;  vgl.  Paul  Marc,  Studien  zur  vergl.  I^iteratur- 
geschiehte  2,  408.  L.  Ginzberg,  Jewish  Encyclopedia  1,  28ya).  Indien, 
so  scheint  es,  ist  die  Heimat  der  Saudstrickaufgabe  (um  sie  kurz  so  zu 
bezeichnen)  und  ihrer  einfachen  Lösung.  Denn  die  tibetische  Geschichte 
von  dem  klugen  Mahau.^adha  geht  auf  indische  Quellen  zurück.  Welclies 
sind  diese  indischen  Quellen?      Lässt    sich  ihr  Alter   feststellen?     Dm   ich 

ll  The  Slovy  uf  Aliikar  fioin  thc  Syriac,  Arabic,  Armenian,  Ethiopic,  Greck  and 
Slavonic  vcisions,  London  ISüS,  p.  20.  78.  111.  Mark  Lidzbarski,  Die  neu-aramäisclien 
Handschriften  der  Kgl.  Bibliothek  zu  Berlin  2  (ISOO),  S.  :W.  In  iler  syrischen  Version 
werden  lunf,  in  der  arabischen  zwei  Sandstricke  gefordert,  l'ber  die  Sandstrickanfgabe 
in  der  armenischen  Version  vgl.  The  Story  of  Ahikar  p.  .^0:  P.  Vetter  in  der  Theo- 
logischen Quartalschrift  Sli,  Ji.JS. 

2l  Zu  diesem  'littcratcnr'  vgl.  Cosi|uin,  Revue  biblique  internation.ilc  8  (181)9),  p.  7U. 


Zur  Geschichte  vom  weisen  Hail^ar.  17S 

in  den  zahlreiclieii  Arbeiten,  die  in  den  letzten  Jahren  über  die  Haikar- 
gescbicbte  erschienen  sind,  einen  Hinweis  auf  diese  Quellen  vermisse,  so 
soll  es  der  nächste  Zweck  dieser  Zeilen  sein,  die  indischen  Werke,  in 
denen  die  Sandstrickaufgabe  vorkommt,  namhaft  zu  machen.  Daran 
mögen  sich  einige  Bemerkungen  über  das  sonstige  Vorkommen  der  Auf- 
gabe anschliessen. 

Zunächst  findet  sich  die  Öandstrickaufgabe,  zusammen  mit  einer 
ganzen  Reihe  von  ähnlichen  Aufgaben,  in  dem  umfangreichen  Mahäum- 
maggajätaka  (Nr.  546  in  dem  von  V.  Fausböll  herausgegebenen  Jätaka- 
buche;  Bd.  6,  S.  329—478).  Eine  englische  Übersetzung  dieses  Jütaka 
lieferte  T.  B.  Yatawara"),  aber  nicht  nach  dem  Päli-Origiual.  sondern 
nach  der  singhalesischen  Übersetzung  des  Jätakabuches,  die  ums  Jahr 
1300  n.  Chr.  in  Ceylon  angefertigt  wurde.  Das  Mahäummaggajätaka, 
wohl  das  wichtigste  von  allen  Jätakas^),  besteht  aus  einer  Menge  von 
kürzeren  oder  längeren  Geschichten  und  entspricht  im  ganzen  und  grossen 
der  Geschichte  von  Mahausadha  und  Visäkhä  bei  Schiefner  -  Ralston, 
Tibetau  Tales  Xr.  8.  Eine  vollständige  Inhaltsangabe  des  Jätaka  kann 
hier  nicht  gegeben  werden.  Ich  analysiere  nur  den  Anfang  des  Jätaka, 
der  allein  von  Interesse  für  uns  ist. 

lu  Mithilä  regiert  König-  Vedeha.  Seine  Berater  sind  die  vier  Paiulits 
(klugen  Leute)  Senaka,  Pukkusa,  Kävinda  und  Devinda.  Einst  sieht  der 
König  einen  wunderbaren  Traum.  Senaku  deutet  ihn  dahin:  es  wird  ein  fünfter, 
unvergleichlicher  Paridit  geboren  werden,  der  die  vier  Pai.idits,  Senaka  usw.,  über- 
treffen und  in  den  Schatten  stellen  wird.  —  Dieser  fünfte  Paudit  ist  kein  anderer 
als  der  Bodhisatta  (Buddha)  selbst,  der  in  dem  Dorfe  Yavamajj  haka^)  östlich 
von  Mithiifi,  als  Sohn  des  Kaufmanns  Sirivaddhaka  und  seiner  Gattin  Sumanadevi, 
zur  Welt  kommt.  Von  dem  wunderkräftigen  Heilmittel,  das  ihm  der  Gott  Sakka 
(Iiidra)  verleiht,  erhält  er  den  Namen*)  Osadhakumära»)  oder  Mahosadha 
(grosses  Heilmittel).  Erste  Tat  des  jungen  Mahosadha:  unter  seiner  Anleitung 
wird  für  ihn  selbst  und  die  mit  ihm  zugleich  gebornen  tausend  Knaben  eine  Halle, 
mit  Teich  und  Garten,  erbaut.  Nach  Ablauf  von  sieben  Jahren  gedenkt  König 
Vedeha  seines  Traumes  und  sendet  vier  Minister  aus,  um  den  Pai.idit.  dessen 
Geburt  ihm  prophezeit  worden  war,  zu  suchen.  Der  Minister,  der  die  Stadt  durch 
das  östliche  Tor  verlässt,    entdeckt    den  Mahosadha,    den  berühmten   Erbauer    der 


1)  Ummagga  Jätaka  i^the  story  of  the  tuuiiel),  London  1898. 

2)  So  urteilt  J.  J.  Meyer  in  der  Einleitung  zu  seiner  Cbersetzunt;-  des  Dasakumrtra- 
carita  S.  ilG. 

3)  Im  Jätaka  werden  vier  Dörfer  (Vorstädte,  .Marktflecken)  nanieus  Yavamajjhaka 
unterschieden:  ein  östliches,  ein  südliches,  ein  westliches  und  ein  nördliches.  Statt 
Yavamajjliaka  finden  wir  Yavakacchaka  im  Mahävastu  2,  8.'>,  17;  Püruakaccha  in  den 
Tibetan  Tales  p.  1.32.  Die  Namensform  Yavamajjhaka  ist  inschriftlich  bezeugt:  siehe 
Oldenberg,  Zs.  der  deutschen  morgenl.  Gesellschaft  Ö2,  G43. 

4)  Das  Jätaka  (G,  3:'>2,  1)  spielt  hier  auf  die  alte  Sitte  an,  einem  Kinde  den  Namen 
des  Grossvaters  beizulegen.  Vgl.  dazu  W.  Crooke,  Populär  Religion  1,  IT'.i.  Vincent 
A.  Smith  im  Indian  Antiquary  35,  125.  291.  A.  Dieterich,  Mutter  Erde  1905  S.  21.  \Yilhelm 
Schulze  in  der  Zeitschrift  für  vergleichende  Sprachforschung  40,  409ff. 

5)  Vgl.  Buddhist  Birth  Stories  transl.  by  T.  W.  Rhys  Davids  p.  67. 


]  74  Zachaiiac: 

wunderbaren  Halle.  Es  ist  klar,  dass  Mahosadlui  der  (iesuchte  ist.  Der  König 
fragt  den  Senaka,  ob  er  den  Mahosadha  kommen  lassen  solle.  Der  eifersüchtige 
Senaka  erwidert,  die  Erbauung  der  Halle  sei  keine  Leistung,  die  zur  Führung  des 
Titels  Pai.ulit  berechtige.  So  beschliusst  denn  der  König,  den  Mahosadha  durch 
.seinen  Minister  auf  die  Probe  steilen  zu  lassen. 

Es  folgen  nunmehr  zunächst  neunzehn  ')  einander  mehr  oder  weniger  ähnliche 
Geschichten,  'in  denen  einmal  nach  dem  anderen  der  weise  Mann  mit  immer  dem- 
selben Scharfsinn  einen  unentscheidbaren  Stn.Mt  entscheidet,  ein  unlösbares  Rätsel 
löst  oder  irgend  etwas  Unmögliches  möglich  macht  und  so  jedesmal  von  neuem 
alles  Volk  in  immer  dasselbe  höchste  Erstaunen  versetzt'  (H.  Oldenberg,  Die 
Literatur  des  alten  Indien  l'-ifl-"  S.  129).  Die  einzelnen  Geschichten  (im  P;lli: 
panha  d.  h.  Frage)  sind: 

1.  Ein  Habicht  hat  ein  Stück  Fleisch  gestohlen  und  fliegt  damit  auf  und 
davon.  Die  Spielkameraden  des  Mahosadha  verfolgen  den  Vogel,  um  zu  be- 
wirken, dass  er  seine  Beute  fahren  lässt.  Dies  gelingt  ihnen  nicht.  Mahosadha 
aber  läuft,  ohne  in  die  Höhe  zu  sehen,  schnell  wie  der  Wind,  tritt  auf  den 
Schatten  des  Habichts,  klatscht  in  die  Hände  und  schreit  laut.  Der  geängstete 
Vogel  lässt  das  Fleischstück  fallen;  Mahosadha  fängt  es  in  der  Luft  auf. 

2.  Wie  Mahosadha  einen  Ochsendieb  entdeckt.  Diese  Geschichte  ist  kurz 
mitgeteilt  worden  in  dieser  Zeitschrift  Iti,  14i. 

3.  Maho.sadha  überführt  eine  Frau,  die  einer  anderen  ein  Halsband  gestohlen 
hat.  Er  stellt  nämlich  fest,  dass  der  Schmuck  nicht  nach  dem  Parfüm  riecht, 
womit  ihn  die  Diebin  parfümiert  zu  haben  vorgibt,  sondern  nach  dem,  den  die 
rechtmässige  Eigentümerin  immer  zu  gebrauchen  l)chauptet. 

4.  In  ähnlicher  Weise  entdeckt  Mahosadha  die  Diebin  eines  Baumwollen- 
knäuels. Übersetzung  der  Geschichte,  nach  dem  singhalesischen  Text,  bei 
W.  Geiger,  Literatur  und  Sprache  der  Singhalesen  S.  7  (Grundriss  der  indo- 
arischen Philologie  1,  10). 

.5.  Das  salomonische  Urteil.  Oft  mitgeteilt:  z.  B.  von  Rhys  Davids, 
Buddhist  Birth  Stories  p.  XIV  (nach  dem  singhalesischen  Text)  und  von  H.  Olden- 
berg, Literatur  des  alten  Indien  S.  114  (nach  dem  Pälitext). 

0.  Mahosadha  entscheidet  den  Streit  zwischen  Golakäla  und  Dighapitthi,  der 
ersterem  dessen  F'rau,  namens  Dighatiilä,  entführt  hat.  Vgl.  oben  lii,  145,  wo 
bereits  auf  die  ähnliche  Geschichte  bei  Schiefner-Ralston,  Tibetan  Tales  p.  134  —  1:^6 
verwiesen  worden  ist. 

7.  Mahosadha  entscheidet  den  Streit  zwischen  dem  Eigentümer  eines  Wagens 
und  dem  Götlerkönig,  Sakka,  um  den  Besitz  dieses  Wagens.  Siehe  oben  16,  139, 
Anm.  3. 

8.  Mahosadha  zeigt,  welches  von  den  beiden  Enden  eines  Stabes  die  Spitze 
und  welches  die  Wurzel  ist.  Eine  sehr  verbreitete,  in  verschiedener  Weise  gelöste 
Rätselaufgabc.  Benfey,  Kl.  Sehr.  3,  Ißöf.  171.  174f.  199f.  Schiefner-Ralston, 
Tibetan  Tales  p.  120,  165.  Pulle,  Un  progenitore  Indiano  del  Bertoldo  1888 
j).  7.  21.  Polivka  im  Archiv  für  slavische  Philologie  27,  (>17.  Ii2t).  The  Jowish 
Encyclopedia  1,  290a. 

9.  Mahosadha  entscheidet,  welcher  von  zwei  Köpfen,  die  der  König  zu  den 
Bewohnern  des  östlichen  Yavamajjhaka  sendet,  einem  Manne,    und  welcher  einem 


ll  l)io  auf  die  ersten  19  Geschichten  folgenden  weiteren  Geschichten  können  hier 
nicht  berücksichtigt  werden.  Ich  bemerke  noch,  dass  die  zu  den  einzelnen  Geschichten 
von  mir  angeführten  Nachweise  durchaus  kein.'ii  Ans|ini(li  auf  Vollständigkeit  erheben. 


Zur  Geschichte  vom  weisen  Haikar.  17.") 

Weibe  angehört.  'Die  Nähte')  an  dem  Kopfe  eines  Mannes  sind  gerade,  die  an 
dem  Kopfe  eines  Weibes  sind  krumm".  —  Entfernt  ähnlich  eines  der  Rätsel  der 
Königin  von  Saba.  Sie  bringt  männliche  und  weibliche  Wesen  herbei,  alle  von 
gleichem  Aussehen,  gleicher  Grösse  und  gleicher  Kleidung,  und  spricht  zu  Salomo: 
'Sondre  mir  die  männlichen  von  den  weiblichen!'  W.  Hertz,  Zs.  f.  deutsches 
Altertum  27,  1 — o'.'>  =  Gesammelte  Abhandlungen  1905  S.  41.'i — 4.')5. 

10.  Mahosadha  entscheidet,  welche  von  zwei  Schlangen  das  Männchen  und 
welche  das  Weibchen  ist.  Das  Männchen  hat  einen  dicken  Schwanz,  das  Weibchen 
einen  dünnen:  bei  jenem  ist  der  Kopf  dick,  bei  diesem  lang;  jenes  hat  grosse, 
dieses  kleine  Augen  usw.  Vgl.  Benfey,  Kl.  Sehr.  3,  174:  Schiefner-Ralston,  Tib. 
Tales  p.  16.')  (in  der  Auflösung  abweichend). 

11.  Der  König  fordert  einen  Stier,  der  ganz  weiss  ist.  Hörner  an  den  Füssen 
und  einen  Höcker  auf  dem  Kopfe  hat  usw.  Mahosadha  erklärt,  dass  ein  weisser 
Hahn  gemeint  sei.-) 

12.  Wie  aus  Jätaka  ö,  olO,  17  bekannt  ist,  hatte  Sakka  einst  dem  König 
Kusa  einen  wunderbaren  Edelstein  geschenkt  (vgl.  Köhler,  Kl.  Schriften  1, 
523).  Der  Faden,  woran  dieser  Edelstein  hängt,  ist  alt  und  schiecht  geworden: 
niemand  aber  vermag,  den  alten  Faden  herauszuziehen  und  durch  einen  neuen  zu 
ersetzen.  Mahosadha  bringt  es  zustande:  er  beschmiert  das  Loch  in  dem  Stein. 
wo  der  Faden  hindurchgezogen  ist,  an  beiden  Seiten  mit  Honig,  dreht  einen  Woll- 
faden, beschmiert  ihn  an  dem  einen  Ende  gleichfalls  mit  Honig  und  schiebt  ihn 
ein  Stück  in  die  Ütfnung  des  Steines  hinein.  Den  Stein  legt  er  in  einen  Ameisen- 
haufen. Die  Ameisen,  von  dem  Duft  des  Honigs  angezogen,  verzehren  den 
Honig  mitsamt  dem  alten  Faden  und  ziehen  zugleich  den  neuen  Faden  durch  die 
Öffnung  hindurch. 

Kl.  Der  König  sendet  einen  dicken,  scheinbar  trächtigen  Stier:  der  soll  ent- 
bunden und  mit  seinem  Kalbe  zum  König  gebracht  werden.  Mahosadha  pariert 
diese  Forderung  mit  einer  ähnlichen  Gegenforderung^);  ein  Mann  muss  weinend 
und  klagend  vor  den  König  treten  und  sagen:  'Mein  Vater  hat  schon  seit  sieben 
Tagen  die  Wehen  und  kann  nicht  niederkommen;  gib  mir  ein  Mittel  an,  das  ihm 
zur  Entbindung  verhilft!'  —  Siehe  Schiefner-Ralston,  Tibetan  Tales  p.  140f.  Fast 
noch  näher  steht  Radioff,  Proben  der  Volksliteratur  der  türkischen  Stämme  Süd- 
sibiriens 1,  198—200  (Järän  Tschätschän  schickt  dem  Vater  des  klugen  Mädchens 
einen  fetten  Ochsen  zu.  Von  diesem  Ochsen  soll  der  Greis  ein  Kalb  gebären 
lassen). 

14.  Es  soll  Reis  unter  acht  Bedingungen  gekocht  und  zum  König  gebracht 
werden;  gekocht  z.B.  ohne  Wasser  und  Feuer,  gebracht  weder  von  einer  Frau 
noch  von  einem  Manne,  und  nicht  auf  einem  Wege.  —  Aufgabe  und  Lösung 
stimmen    ziemlich    genau    zu  Schiefner-Ralston,    Tib.  Tales    p.  138,    vgl.  S.  XLVl 


1)  Vgl.  Julius  Jolly,  [Indische]  Medicin,  Strassburg  1901,  S.  14. 

2)  Der  Titel  oder  das  Stichwort  dieser  'Frage'  lautet  'Habu'.  Man  beachte,  dass  in 
den  später  zu  erwähnenden  Jaina-Tciten  unter  diesem  Stichwort  eine  durchaus  ab- 
weichende Geschichte  erzählt  wird:  Pulle,  Un  progenitore  p.  4,  l'.t-20.  Studi  italiani  di 
filologia  indo-iranica  2  (1898),  p.  4. 

;l)  So  auch  sonst;  z.  B.  in  der  Sandstrickaufgabe  (Nr.  15).  Dies  ist  der  so  häufige 
'trick  of  proving  the  impossibility  of  a  thing  by  showiug  thc  impossibility  of  another 
thing":  Journal  of  the  Anthropol.  Soc.  of  Bombay  G,  141.  Benfey,  Kl.  Sehr.  3,  209. 
Köhler,  Kl.  Sehr.  1,  458.  53;'i.  Chaiyin,  Bibliographie  arabe  6,  39.  201  (Reduction  ä  l'absurde). 
Bolte  in  seiner  Ausgabe  von  Jakob  Freys  Gartengesellschaft  189G,  S.  279.  Siehe  auch 
Uhland,  Schriften  3,  21:1.     Lüders,  Zs.  der  deutschen  morgen!.  Gesellschaft  58,  703. 


176  Zacliariae: 

und  namentlich  Köhler,  Kl.  Sehr.  1,  445 — 456  (wo  die  tibetische  Geschichte  an- 
geführt ist).  3,  514.  In  der  Jinistischen  Überlieferung  zerfällt  die  buddhistische 
Geschichte  in  zwei  Geschichten:  1.  es  soll  Milchreis  ohne  Feuer  gekocht  werden: 
•2.  der  junge  Rohaka,  von  dem  noch  die  Rede  sein  wird,  soll  unter  verschiedenen 
Bedingungen  zum  König  kommen,  z.  B.  nicht  durch  die  Luft  und  nicht  zu  Fuss'), 
nicht  auf  einem  Wege  und  nicht  ausserhalb  eines  Weges.  Siehe  Pulle,  Un  pro- 
genitore  Indiano  Jel  Bertoldo  p.  XXIX.  0.  21. 

l.x  Die  Sandstrickaufgabe,  üer  König  wünscht  sich  auf  seiner  Schaukel 
zu  schwingen;  der  Sandstrick  aber,  an  dem  die  Schaukel  hängt,  ist  zerrissen.  Da 
lässt  der  König  den  Bewohnern  des  östlichen  Yavamajjhaka  sagen:  sie  sollten  ihm 
einen  neuen  Sandstrick  senden,  sonst  müssten  sie  KKiO  Gulden  Strafe  zahlen. 
Mahosadha  beruhigt  die  besorgten  Dorfbewohner,  lässt  ein  paar  redegewandte 
Männer  kommen  und  heisst  sie  zum  König  also  sprechen:  '0  König,  die  Dorf- 
bewohner kennen  das  Mass  des  Strickes  nicht,  sie  wissen  nicht,  ob  er  dick  oder 
dünn  ist.  Sie  bitten  daher  um  ein  Stück  des  alten  Sandstrickes,  eine  Spanne 
oder  vier  Daumenbreiten  lang;  danach  werden  sie  dann  einen  neuen  Strick  drehen'.  — 
Tibetisch:  Schiefner-Ralston  p.  137  f.  Iber  eine  jinistische  Parallele  spreche  ich 
weiter  unten. 

1<).  Der  König  verlangt  von  den  Dorfbewohnern,  dass  sie  ihm  einen  neuen, 
mit  fünf  Lotusarten  bedeckten  Teich  bringen.  Ähnlich  wie  in  Nr.  15  schickt 
Mahosadha  einige  redegewandte  Leute  mit  triefenden  Haaren  und  Kleidern,  mit 
Schlamm  bedeckt,  Stricke,  Stöcke  und  Erdklösse  in  den  Händen  tragend.  Diese 
Leute  müssen  dem  König  sagen:  'Wir  hatten  einen  für  dich  passenden  TeicK 
aus  dem  Walde  geholt;  als  der  aber  die  Stadt  sah  mit  ihren  Mauern,  Gräben  und 
Türmen,  wurde  er  von  Furcht  erfasst,  zerriss  die  Stricke  und  tloh  wieder  in  den 
Wald  zurück.  Wir  haben  ihn  mit  Erdklössen  und  Stöcken  bearbeitet,  vermochten 
aber  nicht,  ihn  zur  Rückkehr  zu  bewegen.  Gib  uns  doch  den  alten  Teich  mit, 
den  du  aus  dem  Walde  geholt  hast!  Wir  wollen  beide  zusammenbinden  und 
dann  hierher  bringen!'  —  Zu  dieser  und  der  folgenden  Aufgabe  vgl.  Schiefner- 
Ralston,  p.  13!tf.,  sowie  Pulle,  Progenitore  p.  6.  "JO,  wo  es  sich  zuerst  um  das  Herbei- 
schaffen eines  Brunnens^)  mit  klarem  und  süssen  Wasser  handelt. 

1)  Diese  Forderung  findet  sich  auch  in  der  runiiinischcn  Version  (und  nur  in  dieser,. 
soweit  ich  sehe)  der  Haikargeschichte.  Als  König  l'liarao  von  der  Hinriclitung  des  weisen 
.\rkirie  bort,  da  sendet  er  einen  Boten  zu  König  Sanagriptu:  er  solle  ihm  einige  Arbeiter 
senden,  denn  er  wünsche  ein  Schloss  zu  erbauen,  das  weder  im  Himmel  noch  auf  dei 
Erde  ist:  und  diese  Arbeiter  sollen  weder  zu  Fuss  noch  reitend,  weder  an- 
gekleidet noch  nackt  zu  ihm  kommen.  (Journal  of  the  Royal  Asiatic  Societj- 190», 
■Mit) 

2)  Man  wird  an  das  erinnern  dürfen,  was  die  Weisen  Athens  (oder  ilos  Athenacums 
in  Koni)  zu  dem  Rabbi  Josna  Bon  Chananja,  einem  Zeitgenossen  Hadrians,  sagen:  'Wir 
haben  auf  der  Wiese  einen  Brunnen;  bringe  ihn  uns  herein!'  l>a  holte  er  Kleie  und 
warf  sie  vor  ihnen  mit  den  Worten  hin:  'Drehet  mir  Stricke  aus  Kleie,  so  will  ich 
ihn  euch  hereinbringen'.  Darauf  sie:  'Wer  kann  Stricke  aus  Kleie  drehen?'  Darauf  er: 
'Wer  kann  einen  Brunnen,  der  auf  der  Wiese  ist,  hereinbringen?'  (Der  babylonische 
Talmud  in  seinen  haggadischcn  Bestandteilen  übers,  von  A.  Wünsche  '2,  4,  G5.  Leipzig 
18»!).)  Zu  der  .\ufgabe,  die  die  Weisen  stellen,  bemerkt  Wünsche  in  seiner  Rätsclweisheit 
bei  den  Hebräern,  Leipzig  1S8.'5,  S.  :'.7:  'Sic  wollten  damit  andeuten,  ob  Israel  seinea 
alten  Glanz  jemals  wieder  herstellen  könne'.  Vgl.  sonst  Singer  in  dieser  Zeitschrift  "_', 
2%.  Meissner  in  der  Zs.  der  dcuts<;licn  niorgenl.  Gesellschaft  18,  195.  L.  Ginz- 
bcrg,  The  Jewish  Encyclopcdia  1,  2898.  1'.  Vetter,  Theologische  Quartalschrift  87,. 
:!föff. 


Zur  Geschichte  vom  weisen  Haikar.  ]77 

17.  Eine  Variante  von  Nr  16.  Der  König  verlangt  einen  neuen,  mit  schön 
blühenden  Bäumen  besetzten  Garten.  (Im  Dhammaddhaja-Jätaka  Nr.  220  muss 
der  Bodhisatta  auf  das  Geheiss  des  Königs  Yasapüni  erst  einen  Garten,  dann  einen 
Teicb,  ein  Haus  usw.  hervorzaubern.) 

18.  Eine  lungere  Geschichte,  die  hier  nicht  ausführlich  wiedergegeben  werden 
Itann.  Mahosadha  zeigt,  dass  unter  Umständen  der  Sohn  mehr  wert  ist  als  der 
Vater.  —  Nahe  steht  Schiefner-Ralston,  Tibetan  Tales  p.  141 — 144. 

19.  In  einem  Krähennest  auf  einem  Palmbaum  am  Ufer  eines  Teiches  be- 
findet sich  ein  kostbarer  Edelstein.  Der  Widerschein  dieses  Edelsteins  auf  dem 
Teiche  erweckt  den  Glauben,  dass  der  Edelstein  im  Teiche  liegt.  Senaka  soll 
den  Stein  zur  Stelle  schaffen.  Er  stellt  Leute  an,  die  das  Wasser  des  Teiches 
ablassen  und  den  Grund  aufgraben  müssen;  aber  der  Stein  will  sich  nicht  finden. 
Mahosadha,  vom  König  befragt,  zeigt  zunächst,  dass  der  Stein  ebensogut  in  einem 
Wassertopf  wie  in  dem  Teiche  erscheint  und  dass  sichs  also  nur  um  einen  Wider- 
schein handelt;  dann  gibt  er  an,  wo  der  Stein  zu  finden  ist.  —  Vgl.  Schiefner- 
Ralston,  Tibetan  Tales  p.  lliö  gegen  Ende. 

Die  Frage  nach  dem  Alter  der  vorstehenden  Erzählungen  lässt  sich 
nicht  trennen  von  der  Frage  nach  dem  Alter  der  Jätaka- Erzählungen 
überhaupt,  einer  Frage,  die  hier  kaum  angeschnitten,  geschweige  denn 
erledigt  werden  kann.  Die  Jätakas  bestehen  aus  Versen  (gäthäs)  und 
Prosa.  Jene,  die  Verse'),  hatten  von  alters  her  einen  festen  Wortlaut; 
'sie  bilden  ohne  Zweifel  den  ältesten  Bestand  des  Jätakabuches.  Die 
Prosaerzähluug  dagegen  stand  nicht  nach  ihrem  Wortlaut,  sondern  höchstens 
nach  ihrem  Inhalt  fest;  die  Ausführung  im  einzelnen  war  dem  freien  Er- 
messen des  Erzählers  überlassen.  Überliefert  ist  die  Prosa  nur  durch 
einen  aus  späterer  Zeit  stammenden  Kommentar  (Atthakathä).  So  etwa 
nach  Oldenberg,  Literatur  des  alten  Indien  VMS  S.  125,  wo  noch  hinzu- 
gefügt wird:  Demnach  kommt  der  Überlieferung  der  Prosa  in  der  Tat 
nicht  dieselbe  volle  Authentizität  zu  wie  derjenigen  der  Verse.  In 
wenigen,  vielleicht  in  vielen  Details  ist  gewiss  für  die  Überlieferer  der 
echte  Inhalt  der  Prosapartieii  verwischt  gewesen  oder  haben  sie  sich  ihrer- 
seits unberechenbare  Freiheiten  genommen.  Im  ganzen  ergeben  doch  die 
Prüfungen,  die  wir  hier  anstellen  können,  ein  für  die  Überlieferung 
durchaus  günstiges  Resultat.'') 

Es  treten  nun  für  das  verhältnismässig  hohe  Alter  der  obigen 
19  Geschichten  auf  indischem  Boden,  sowie  überhaupt  für  das  Alter 
des  Mahäummagg-ajätaka,  das  diese  Geschichten  enthält,  folgende  zwei 
Umstände  ein. 


1)  Von  den  oben  analysierten  Erzählungen  enthalten  die  dritte  und  die  achtzehnte 
je  einen  Vers. 

2)  Ebenso  spricht  Oldenberg  auf  S  103  die  ÜberzeuL'unir  aus,  dass  die  literatur- 
geschichtliche Betrachtung  das  Eecht  habn,  sich  auch  nut  die  Prosahestandteile  der 
Jatakas  zu  stützen.  Vgl.  sonst  die  von  Oldenherg  S  291  zitierte  Literatur  und  jetzt 
namentlich  noch  den  -wichtigen  Aufsatz  von  H.  Lüil-rs  ül^er  die  Jatakas  unJ  die  Epik  in 
der  Zs.  der  deutschen  mortrenläudischen  Gesellschaft  58,  (i87  714  uml  die  Mitteilung  von 
J.  Hertel  ebendaselbst  60,  399—401  und  in  dnr  vcirlieyenilpn  Zeitschrift  lü,  262f. 

Zuitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskundö      1901.  j^2 


jyg  Zucliariae: 

Zunächst  ist  darauf  liiiiy-uweisen,  flass  ilie  l'J  Gesuliiclituii  durch  «hfi 
Halhverso')  eingeloitet  werden,  in  denen  die  Titel  oder  die  Stichwörter 
der  einzelnen  Geschichten  aufgezählt  sind.  Die  etste  Geschichte  führt 
den  Titel  'Fleisch',  die  zweite  den  Titel  'Ochse'  usf.;  die  fünfzelmte,  die 
Geschichte  von  den  Sandstrickon,  den  Titel  'Sand".  Diese  Memorial- 
verse —  wie  man  sie  mit  Hecht  benannt  hat  —  sind  ohne  Zweifel  alt. 
Es  finden  sich  solche  Memorialverse  aucli  in  anderen  Literaturen  oder 
IJteraturgattungen");  so  z.  B.  in  der  Clironik  von  Ceylon,  dem  Dipa- 
vamsa  ('Inselchronik').  Ob  nun  freilicli  die  einzelnen,  zu  den  Titeln 
'Fleisch'  usw.  gehörenden,  im  Kuninientar  erzählten  Geschichten  in 
alter  Zeit  eben.so  erzählt  worden  sind,  wie  sie  später  scliriftlich  fixiert 
wurden,  mus.s  nach  dem  ol)en  Bemerkten  (hihingestellt  bleiben.  Ich  für 
mein  Teil  bin  jedoch  geneigt,  die  meisten  Geschicliten  hinsichtlicli  ihres 
Inhalts  für  alt  zu  erklären,  in  erster  Linie  die  fünfzehnte,  die  die  Sand- 
strickaufgabe enthält.  In  dem  einen  oder  anderen  Falle  mag  ja  an  dii- 
Stelle  der  altüberlieferten  Geschichte  eine  neue  getreten  sein. 

Weiter  haben  wir  für  die  frülie  Existenz  des  Mahäummaggajätaka,  in 
das  die  19  Geschichten  hiiicinverwebt  sind,  das  beste  Zeugnis,  das  man 
sich  wünschen  kann:  ein  ins  ehr  iftlic  lies.  Unter  den  Skulpturen  des^ 
berühmten  Stiipa  von  Bharhut  (Banihat),  die  aus  der  Zeit  um  200 
vor  Ohr.  stammen,  findet  sich  die  Darstellung  der  folgenden  Szene.  In 
der  Mitte  sitzt  ein  Mann  in  königlichen  Gewändern;  zu  sein(>r  Linken 
steht  eine  Frau,  die  auf  drei  offene  Körbe  hinzeigt,  aus  denen  sicli 
Köpfe  erheben;  zwei  Männer  zu  seiner  Rechten  tragen  einen  vierten,  noch 
gescldossenen  Korb;  einige  Gestalten  um  den  König  herum  stellen  sein 
Gefolge  dar.*)  Der  russische  Orientalist  Minayeff  hat  zu  einer  Zeit,  wo 
das  Mahäummaggajätaka  noclit  nicht  im  Druck  veröffentlicht  war.  in 
glänzender  Weise  erkannt  und  nachgewiesen,  dass  die  auf  dem  Stiipa  dar- 
oestellte  Szene  in  den  engsten  Beziehungen  zu  einer  Geschichte  in  jciicni 
Jätaka  steht.*)  Diese  Geschichte  lautet  in  einem  kurzen  Auszuge  wie 
folgt  (Jätaka  (>,  368,  14-370,  '24): 

Nachdem  erzählt  worden  ist,  wie  Mahosadha  seine  Frau,  die  iiluge  .\ma- 
rädevi,  gewinnt'),  heisst  es  weiter:    Senaka  merkt,  dass  es  itini   und  seinen  drei 

1)  Auf  eiue  Kritik  dieser  Verse  (die  vielleicht  das  Krarolmis  liaben  wfirdo,  dass  es 
ursprünglich  nur  IS  Geschichten  waren)  kann  ich  mich  hier  nicht  einlassen. 

'2)  W.  Geiger,  üipavamsa  und  Mahävainsa  und  die  ge.'Jchichtlicho  Ühcrlieferung  in 
Ceylon,  Leipzig  lUOö,  S.  8.   R.  Pischel  in  den  Göttiugischen  gelehrten  Anzeigen  ISiU,  O.3G. 

3)  A.  CunniDgham,  The  Stüpa  of  Bharhut:  a  Buddhist  monument  ornamented  with 
rumerous  sculptures  illustrative  of  Buddhist  legend  and  histoiy  in  the  third  Century  B.  C. 
(London  1H79.)    Platc  XXV,  lig.  :V 

•1)  Minayeff,  Recherches  sur  Ic  Bouddhisme,  Paris  1891,  p.  11s— l.'i!  (Annales  du 
musde  Guimet;  Bibliotheque  d'etudes,  Tomo  4). 

5)  Jätaka  i\,  'M?,,  "iö-MS,  14.  Eine  Übersetzung  dieser  in  üaudins  Da.sakumä- 
racarita  wiederkehrenden  Geschichte  hat  J.  J.  Meyer  in  der  Einleitung  zu  seiner  Iber- 
setzung  des  Dasakuinäracarita  S.  ".W-lcr,  geliefert.     Es  gibt  eine   Anzahl  von  näher  oder 


Zur  Geschichte  vom  weisen  Haikar.  J79 

Genossen  (Pukkusa,  Küvinda,  Devindu)  nicht  so  leicht  gelingen  wird,  des  Maho- 
sadha  Herr  zu  werden;  hat  doch  Mahosadha  eine  Frau  genommen,  die  noch 
klüger  ist  als  er  selbst.  Senaka  schlügt  daher  seinen  Genossen  vor,  ihren  gemein- 
samen Gegner  bei  König  Vedeha  zu  verleumden.  Zu  diesem  Zwecke  stehlen 
sie  vier  Schmuckgegenstande  des  Königs  und  befördern  sie  auf  geschickte  Weise 
in  Mahosadhas  Haus;  doch  errät  Amarädevi,  in  deren  Hände  die  Schmucksachen 
zunächst  gelangen,  sehr  wohl  die  Absicht  der  vier  Hofleute.  Eines  Tages  fragen 
die  Hofleute  den  König,  warum  er  die  Schmucksachen  nicht  trage.  Es  ergibt 
sich,  dass  die  Gegenstände  nirgends  zu  finden  sind.  Da  bezeichnen  die  Hofleute 
den  Mahosadha  als  den  Dieb.  Mahosadha,  davon  in  Kenntnis  gesetzt,  ersucht  den 
König  um  eine  Audienz,  um  sich  vor  ihm  zu  rechtfertigen.  Der  König  verweigert 
die  Audienz  und  befiehlt,  den  Mahosadha  gefangen  zu  nehmen.  Mahosadha  wird 
gewarnt  und  ergreift  die  P'lucht.  Er  verlässt  in  V'erkleidung  die  Stadt,  begibt  sich 
nach  dem  südlichen  Yavamajjhaka  und  betreibt  dort  das  Töpferhandwerk  im 
Hause  eines  Töpfers.  Schnell  verbreitet  sich  das  Gerücht,  dass  Mahosadha  ge- 
ilohen  ist;  und  nun  boschliessen  die  vier  Hofleute,  die  Abwesenheit  ihres  Gegners 
zu  benutzen  und  seiner  Gattin  die  Tugend  zu  rauben.  Ohne  einander  davon 
wissen  zu  lassen,  schicken  sie  der  Amarädevi  Geschenke.  Diese  nimmt  die 
Geschenke  an  und  bestellt  einen  jeden  auf  eine  bestimmte  Zeit.  Als  die  Hofleuto 
ankommen,  schert  sie  ihnen  das  Haupt  kahl,  wirft  sie  in  eine  Senkgrube'),  quält 
sie  auf  alle  mögliche  Weise  und  steckt  sie  in  Körbe,  die  aus  Matten  zusammen- 
gefügt sind.  Dann  lässt  sie  die  Hoflcute  und  die  Schmucksachen  in  den  Palast 
des  Königs  schaffen.  Vor  dem  König  weist  sie  nach,  dass  die  Sachen  nicht  von 
Mahosadha,  sondern  von  Senaka  und  seinen  Genossen  gestohlen  worden  sind. 
Der  König  befiehlt  den  Hofleuten,  ein  Bad  zu  nehmen  und  nach  Haus  zu 
gehen.  —  Als  der  König  später  die  Hofleute  zu  sich  entbietet,  weigern  sich  diese 
zunächst  zu  erscheinen:  sie  seien  kahl  geschoren  und  schämten  sich  deshalb  über 
die  Strasse  zu  gehen.  Da  sendet  ihnen  der  König  vier  Kappen'^)  zu,  die  sie  auf 
den  Kopf  setzen  sollen.  Damals,  so  wird  im  Jätaka  hinzugefügt,  sind  diese 
Kappen  entstanden  (in  die  Mode  gekommen). 

Die  in  die  vorstehende  Jätaka -Erzählung  hineinverwebte  Erzählung 
von  der  Aniarädevt  und  den  vier  ihr  naclistellenden  Hofleuten  ist,  bei- 
läufig, eine  berühmte,    im  Orient  wie  im  Okzident  gleich   weit  verbreitete 


ferner  stehenden  Parallelen  zu  der  Jätaka- Geschichte.  Da  Meyer  nicht  eine  einzige 
nennt,  so  will  ich  (.nach  Oldenburg.  .Tourn.  I!.  Asiatic  Society  1S;)3.  ;J38~l  die  folgenden 
anführen:  Schiefner-Ralston,  Tibetan  Tales  ]).  l,j.')— 162;  die  als  Jätaka  bezeichnete  Ge- 
schichte von  der  Amarä,  der  Tochter  eines  Schmiedes,  im  Mahävastu  2,  83—89:  das 
Sücijataka  (d.h.  Nadel-Jätaka)  Nr.  387:  'Tho  story  of  the  Nobleman  who  became  a 
Needlemaker'  bei  S.  Beal,  Romautic  Legend  of  Säkya  Buddha  from  the  Chinese-Saoscrit 
1875  p.  93— DG  (dazu  Schiefner-Ralston  p.  .360)  und  Divjävadäna  öi'lf.  Die  Kunstfertig- 
keit, die  der  Bodhisatta  als  N ad  1er  in  den  vier  zidetzt  genannten  Geschichten  ent- 
wickelt, erinnert  an  die  Kunstfertigkeit  der  Nähnadelfabrikanten  von  Birmingham  in  einer 
von  Masius,  Deutsches  Lesebuch  "  1,  117  mitgeteilten  Geschichte. 

1)  Auch  die  Dienerinnen  der  Dovasmitä  werfen  die  vier  Kaufleute,  die  ihrer  Herrin 
nachstellen,  in  eine  mit  Unrat  gefüllte  Grube:  Kathäsaritsugara  13,  148  (Tawneys  Über- 
setzung 1,  90). 

2)  In  der  Geschichte  von  der  Devasmitü  legen  die  vier  Kaufleute  Binden  um  ihre 
Köpfe,  um  die  Hundefüsse  zu  verdecken,  womit  sie  gebrandmarkt  worden  sind  (Köhler, 
KI.  Sehr.  2,  462). 

12* 


180  Zachariae: 

Erzählung.')  Im  Jütaka  erscheint  sie  freilich  'sous  la  forme  d'un  rapide 
sommaire',  um  Jlinayefi's')  Ausdruck  zu  gebrauchen;  anderswo  wird  sie 
viel  besser  erzählt.  Aber  daran  kann  kein  Zweifel  bestehen,  dass  der 
Künstler,  dem  das  oben  beschriebene  Relief  verdankt  wird,  mit  dem 
Jätaka  bekannt  war.  Dies  ergibt  sich  zum  Überfluss  auch  noch  aus  der 
Überschrift,  die  er  über  das  Relief  gesetzt  hat.  Diese  lautet:  Yavamajha- 
kiyani  Jätakam.  Das  ist  nun  allerdings  nicht  der  offizielle  Titel  des 
Jätaka  in  der  grossen  kanonischen  Sammlung  der  Jätaka -Erzählungen. 
Aber  derartige  Diskrepanzen  kommen  auch  sonst  vor.^)  Wenn  der 
Künstler  die  Bezeichnung  'Jätaka  von  Yavamajjhaka'  statt  'Mahäummagga- 
jätaka'  gebraucht,  so  benennt  er  das  Jiitaka  nach  dem  östlich  von 
Mithilä  belegenen  Dorfe  Yavamajjhaka,  aus  dem,  wie  wir  oben  gesehen 
haben,  Mahosadha  stammte;  oder  etwa  nach  dem  Dorfe  Yavamajjhaka 
nördlich  von  Mithilä,  aus  dem  Amarädevi,  die  Heldin  der  auf  dem 
Stüpa  dargestellten  Szene,  gebürtig  war  (Jätaka  6,  364,  8). 

Alles  in  allem  wird  man  sagen  dürfen:  Geschichten,  wie  die.  in  denen 
Mahosadhas  Scharfsinn  auf  die  Probe  gestellt  wird,  oder  Gescliicliten,  wie 
die  von  der  klugen  und  tugendhaften  Amarädevi,  kursierten  in  Indien 
bereits  in  den  vorchristlichen  Jahrhunderten.*)  Ist  die  Sandstrickaufgabe 
nicht  in  Indien  erfunden,  sondern  von  Westen  her  nach  Indien  einge- 
führt worden,  so  muss  dies  in  ziemlich  früher  Zeit  geschehen  sein. 

Nun  aber  treffen  wir  die  Sandstrickaufgabe,  zusammen  mit  einer 
ganzen  Reihe  von  ähnlichen  Aufgaben,  nicht  nur  in  der  buddhistischen 
Tjiteratur  (im  Jätakabuche  und  im  tibetischen  Kandschur),  sondern  auch 
in  der  Jinistischen  Literatur,  in  der  Literatur  der  Jainas.  Und  zwar 
liesen  die  Verhältnisse  hier  ähnlich  wie  in  der  buddhistischen  Literatur: 
ein  bemerkenswerter  Umstand,  der  nur  geeignet  sein  dürfte,  das  Urteil, 
das  wir  bisher  über  das  Alter  der  Sandstrickaufgabe  gewonnen  haben,  zu 
bekräftigen. 

Was  ich  über  das  Vorkommen  der  Sandstrickaufgabe  in  der  jinistischen 
Literatur  zu  sagen  habe,  findet  man  fast  oline  Ausnahme  in  Fr.  L.  Falles 


1)  Indische  und  andere  Parallelen  z.  B.  bei  Cunningham,  Stüpa  of  Bharhut  p.  53—58. 
J.  .7.  Meyor  in  seiner  Übersetzung  des  Dasakumriracarita  S.  lo;!.  W.  A.  Clou.ston,  The 
book  of  Sindibfid  1884  p.  214— L>17.  ,'^11-32-J.  K.  Köhler,  Kl.  Sehr.  2,  444 -40 1.  Amalli 
In  dieser  Zeitschrift  5,  71—76.  Lidzbarski,  Neuaramäische  Handschriften  2,  188— li>ö. 
Siehe  auch  Weinhold,  Altnordisches  Leben  S.  250. 

2)  Recherchcs  sur  le  Rouddhisrae  p.  150.  Vgl.  p.  151,  wo  Minayefi  bemerkt:  II  se 
peut  quo  dans  la  redaction  que  lisait  ou  entendait  l'artiste,  IVpisode  de  cette  galanteric 
inanqucc  ait  eu  dans  le  cycle  entier  des  ri'cits  une  iniportauce  plus  considerablc  ({ue  celle 
que  lui  attribue  le  canon  jifdi. 

.'{)  Vgl.  z.  B.  The  Jätaka  together  with  its  commentary  vol.  7,  p.  XV.  Oldenberg, 
Zs.  der  deutschen  morgenl.  Gesellschaft  52,  6411. 

4)  As  theso  talcs  have  been  represented  at  an  carly  period  under  tho  form  of  rcliefs, 
tbey  must  have  been  widely  circulatcd  and  well  known  (Üines  Andersen  im  siebenten 
Bande  der  grossen  Jätaka-Ausgabe,  London  1897,  S.  XV). 


Zur  Geschichte  vom  weisen  Haikar.  181 

Schrift:  Un  progenitore  Indiano  del  Bertoldo,  Venezia  1888.  Ich  kann 
mich  daher  kurz  fassen.  In  der  genannten  Schrift  hat  Pulle  eine  Anzahl 
von  Geschichten  aus  einem  jinistischen  Werke,  dem  Antarakathäsamgraha 
des  Räjasekhara  (etwa  14.  Jahrh.  n.  Chr.)  in  Text  und  Übersetzung  ver- 
öffentlicht.') In  der  ersten  Reihe  dieser  Geschichten  (Pulles  Übersetzung 
8.  17 — 22)  fungiert  als  kluger  Rätsellöser  Rohaka,  ein  Sohn  des  Schau- 
spielers Bharata'),  der  in  einem  Schauspielerdorfe')  nahe  bei  der  alt- 
berühmten Stadt  Ujjayini  wohnt.  Dann  folgen  noch  weitere  sieben 
Geschichten  verwandten  Inhalts.  Wegen  der  einzelnen  Geschichten  ver- 
weise ich  auf  Pulles  Übersetzung.  Hier  sei  nur  die  Geschichte  aus- 
gehoben, die  die  Sandstrickaufgabe  enthält  (Pulle  S.  20),  damit  mau  sehe, 
wie  nahe  die  Jinistische  Überlieferung  der  buddhistischen  steht. 

Nach  Ablauf  einiger  Tage  schickte  der  Konig  abermals  (an  die  Bewohner  des 
Dorfes)  einen  Befehl  (folgenden  Inhalts):  'In  der  Nähe  eures  Dorfes  gibt  es 
allenthalben  überaus  schönen  Sand;  macht  mir  daher  ein  paar  Stricke  aus  starkem 
Sand  und  sendet  sie  mir!'  Auf  diesen  Befehl  hin  versammelte  sich  alles  Volk 
ebenso  («ie  in  den  vorhergehenden  Füllen)  und  fragte  den  Rohaka  um  Rat. 
Dieser  gab  folgende  Rückantwort:  'Wir  sind  Schauspieler,  wir  verstehen  uns 
wohl  auf  Tanz  u.  dgl.,  aber  nicht  auf  das  Drehen  von  Stricken.  Dennoch  muss 
der  Befehl  des  Königs  unbedingt  ausgeführt  werden.  Nun  der  Palast  des  Königs 
ist  gross;  da  werden  sich  doch  wohl  ein  paar  aus  alter  Zeit  stammende  Sand- 
stricko  vorfinden.  Schicke  einen  von  diesen  als  Ebenbild  (Muster),  damit  auch 
wir  danach  Sandstricke  machen!'  Dies  wurde  von  Männern,  die  man  beauftragte, 
dem  König  gemeldet.  Und  der  König,  der  darauf  nicht  antworten  kann,  verhält 
sich  schweigend. 

Die  von  Pulle  veröffentlichten  Geschichten  sind  aber  nicht  die  eigene 
Erfindung  des  Räjasekhara,  eines  sehr  späten  Autors.  Nicht  nur,  dass  die 
meisten  dieser  Geschichten  in  anderen,  älteren  Literaturwerken  ihre  Ent- 
sprechung haben*):  Räjasekhara  selbst  sagt  uns,  er  habe  sie  dem  Kommentar 
des  Malayagiri  zur  Nandi  entlehnt  (Pulli?  p.  XVI— XIX).  Die  Geschichten 
finden  sich  ausserdem,  wie  ich  nach  einer  Mitteilung  Leumanns  hinzu- 
fügen kann,  in  den  Kommentaren  zum  Avasyaka.^)     W^enn   nun  auch  die 

1)  Den  Text  findet  mau  auch  in  den  Studi  italiani  di  filolngia  Indo-irauica  2 
(Firenze  1898),  1—18. 

2)  Über  diesen  Namen  vgl.  Leumann,  Zs.  der  deutschen  morgenländischen  Gesell- 
schaft 48,  65—83. 

3)  Vgl.  dazu  Bühler,  Epigraphia  Indica  1,  381. 

4)  Vgl.  obeu  meine  Analyse  der  19  Geschichten  aus  dem  Mahaummaggajätaka.  — 
Zu  der  ersten  Geschichte  bei  Räjasekhara  (Pulle  S.  17)  hat  Pulle  bereits  auf  Kathäsarit- 
sügara  14,  37-56  (Tawncy  1,  96)  verwiesen;  vgl.  noch  Sukasaptati,  textus  ornatior  50 
(Spiegelungsmotiv:  F.  v.  d.  Lej'cn,  Archiv  für  neuere  Sprachen  115,  283').  Auch  zu 
der  Geschichte  von  dem  Widder,  der  so  gefüttert  werden  soll,  dass  sein  Gewicht  weder 
zu-  noch  abnimmt  (Pulle  S.  19)  hat  Pulle  S.  XXV  Parallelen  nachgewiesen.  Ich  bemerke 
dazu,  dass  es  auch  im  Mahüummaggajätaka  (Jritaka  6,  349  —  355)  eine  'Widder-Frage' 
gibt.    Diese  ist  aber  von  der  jinistischen  Erzählung  bei  Räjasekhara  ganz  verschieden. 

5)  Genauer:  im  neunten  Kapitel  der  Avasyakaniryukti,  d.h.  des  ältesten,  vielleicht 
noch  der  vorchristlichen  Zeit  angehörenden  Kommcntares  zum  Avasyaka.  —  Die  Nandi  und 
das  Avasyaka  gehören  zu  den  heiligen  Schriften  (Siddhänta)  der  Jainasekte. 


182'  Zacliariac. 

Aufzoichnung  der  (ieschichten  in  den  ueiianiitiMi  Koinmi'iitaren  nach- 
weislich einer  späteren  Zeit  angehört,  so  muss  doch  sicherlich  eine  dieser 
Zeit  voranliegende  Periode  der  iiii'indlichen  Überlieferung  angenommen 
werden:  (ieschichten,  wie  die  erwähnten,  nnd  viele  andere  dienten  einst 
zur  Erläuterung  der  jinistischen  Lehrsätze,  zur  Belebung  des  Unterrichts. 
Beweisend  aber  für  das  hohe  Alter  der  Geschichten  ist  die  Tatsache,  dass 
bereits  jenen  alten  Texten,  der  Nandi  und  dem  Ävasyaka,  Memorial- 
verse  (Gäthäs)  eingefügt  sind,  in  denen  die  Titel  oder  Stichwörter  der 
einzelnen  Geschichten  aufgezählt  werden.  Wir  haben  also  hier,  worauf 
ich  bereits  hinwies,  ähnliche  Verhältnisse  wie  in  der  buddhistischen  Literatur. 
Der  Memorialvers,  der  für  uns  hier  in  Betracht  kommt,  ist  bereits  von 
Pulle  S.  3;^  mitgeteilt  worden.')  Ich  habe  daher  nur  noch  ausdrücklich 
zu  bemerken,  dass  das  Stichwort  'välua'  d.  h.  Sand  in  dem  Verse  ent- 
halten ist. 

So  viel  über  die  indischen  Werke,  in  denen  <lie  Sandstrickaufgabe 
erwähnt  wird.  Aber  die  Sandstricke  spielen  auch  sonst  in  allerhand 
Gescliichten  eine  KoUe.  Im  Anschiuss  an  Costjuiu,  Kevue  Biblique  8,  71 
will  ich  zunächst  die  Fälle  nennen,  wo  die  Forderung,  etwas  Unmögliches 
zu  leisten,  z.  B.  aus  einem  Stein  ein  Kleid  zu  nähen,  mit  der  Gegen- 
forderung, Stricke  (oder  Fäden)  aus  Sand  zu  drehen,  beantwortet  wird. 
Nach  dem  Vorgang  anderer  macht  Cos([uin  aufmerksam  auf  die  jüdische 
Geschichte  von  dem  zerbrochenen  Mörser,  den  ein  Athener  zu  einem 
Schneider  bringt,  damit  er  ihn  zusammennähe.")  Der  hebt  eine  Hand 
voll  Sand  auf  und  spricht:  'Drehe  mir  daraus  Fäden,  so  will  ich  ihn  zu- 
sammennähen" (A.  Wünsche,  die  Kätstdweisheit  bei  den  Hebräern  1.S83 
S.  38  Anm.).  In  diesem  Zusammenhang  sei  auch  nochmals  auf  die  Stricke 
aus  Kleie  hingewiesen,  die  der  Rabbi  Josua  Ben  Chanan.ja  verlangt,  als 
man  ilyii  zumutet,  einen  Brunnen  von  der  Wiese  hereinzubringen 
(Wünsche  S.  37).      Ferner  verweist  Cosquin  auf   die   Erzählung    aus  Süd- 


1)  Vgl.  sonst  A.  Webers  Verzeichnis  der  Berliner  Sanskrit-  und  l'raliit- Hand- 
schriften "2,  G76. 

2)  ifit  dieser  Aufgabe  vergleiclit  sich  die  letzte  Aufgabe,  die  dem  weisen  Hailiar 
gestellt  wird.  Haikar  soll  einen  zcrlirochonen  Mühlstein  zusammennähen.  Du  verlangt  er, 
dass  die  Schuhllicker  aus  einem  anderen  Stein,  den  er  liegen  sieht,  Schusterahle,  Nadeln 
und  Schere  beschaffen  (11X)1  Nacht,  übers,  von  Henning,  22,  30f.).  Aufgabe  und  Lösung 
kehren  im  Talmud  wieder  (Wünsche,  Rätselweisheit  S.  38).  Cosquin  erinnert  auch  an  die 
Geschichte  vom  Sandelholzhändler  nnd  dem  blinden  alten  Mann  im  persischen  Sindbad- 
buche,  wij  die  Forderung,  aus  einem  Stück  Marmor  ein  Paar  Hosen  nnd  ein  Hemd  zu 
verfertigen,  mit  der  Gegenforderung,  aus  Eisen  den  Nähfaden  zu  weben,  beantwortet  wird 
(W.  A.  Clonston,  The  book  ofSindibruf  18S4  p.  KU.  lOo.  Die  von  Cosquin  2itiorte  Quelle: 
Clouston,  Populär  Tales  and  Fictions  2,  IOC  ist  mir  nicht  zugäufilich'.  Nach  dem 
Vorgang  von  Chauvin,  Bibliographie  arabe  8,  Gl  verweise  ich  noch  auf  Henri 
A.  Junod,  Les  chants  et  Ics  contes  des  Baronga  de  la  Baie  de  Delagoa  p.  29r)r,  wo 
zum  Zusammennähen  eines  zerbrochenen  Steines  Nadeln  und  ein  Faden  aus  Erde  verlangt 
werden. 


Zur  Geschichte  vom  weisen  Haikar.  183 

Sibirien  bei  Radioff,  Proben  der  Volksliteratiir  der  türkischen  Stämme  Süd- 
&ibiriens  1,   197— "204  ('Die  beiden  Fürsten').     Die  Aufgabe^)   lautet   hier: 

Ein  alter  Mann,  der  Vater  eines  klugen  Mädchens,  soll  in  drei  Tagen  aus 
drei  Steinen  Stiefel  verfertigen.  So  hat  der  Fürst  Järän  Tschätschän  befohlen. 
Am  dritten  Tage  kommt  Järän  Tschätschän,  mit  seinen  Räten  und  Grossen  kommt 
er.  Auf  dem  Wege,  auf  dem  er  kommen  wollte,  wartete  sie  (das  kluge  Mädchen). 
Als  sie  den  Järän  Tschätschän  kommen  sah,  scharrte  das  Mädchen  Sand  zu- 
sammen und  goss  ihn  in  einen  Sack.  Järän  Tschätschän  kam,  nachdem  er  das 
Mädchen  Sand  sammeln  gesehen,  sprach  er:  -Was  machst  du  da,  mein  Kind?' 
Das  Mädchen  sprach:  'Ich  sammle  Sand'.  'Was  willst  du  mit  Sand  machen?' 
Das  Mädchen  sprach:  'Zwirn  will  ich  machen.'  'Wer  hat  denn  jemals  aus  Sand 
Zwirn  gemacht?"  Das  Mädchen  sprach:  'Wer  hat  denn  jemals  aus  Steinen  Stiefel 
gemacht?'     Järän  Tschätschän  lachte  innerlich,  freute  sich  und  kehrte  zurück. 

Hinzuzufügen  ist  das  hürkauische  Märchen  in  Schiefners  Ausführlichem 
Bericht  über  Baron  P.  v.  Uslars  hürkanische  Studien  (Memoires  de  l'Ac. 
des  Sciences  de  St.  Petersbourg  7,  17  Xr.  8)  S.  9i) — 101:  'Der  vom 
Armenier  gesehene  Traum'.  Vgl.  dazu  die  musterhafte  Analyse  dieses 
Textes  und  der  verwandten  Texte  von  Polivka  im  Archiv  für  slavische 
Philologie  27,  (Jü — ()2!t  (hier  namentlich  S.  G21;  s.  auch  Köhler,  Kl. 
Sehr.  ],  4r)9). 

Der  hürkanische  Text  enthält  drei  Rätselaufgabcn:  1.  Der  Sultan  sendet  drei 
Kisten,  in  deren  Innerem  sich  ein  altes  Weib,  ein  junges  und  ein  Mädchen  be- 
finden. Es  soll  bestimmt  werden,  was  in  jeder  Riste  befindlich  ist.  Der  Jüngling 
entscheidet  die  Frage  dadurch,  dass  er  die  Kisten  wiegt.  "2.  Der  Sultan  sendet 
drei  Stuten:  es  soll  ermittelt  werden,  welche  die  Mutter  ist,  welche  das  Kind  ist, 
welche  des  Kindes  Kind  ist.  Der  Jüngling  entscheidet  auch  diese  Frage:  wie, 
wird  nicht  gesagt  o.  Der  Sultan  sprach:  Aus  dem  grossen  Stein  nähe  mir  ein 
Kleid!  Der  Jüngling  sprach:  Lass  mich  hinausgehen!  Der  Jüngling  ging  hinaus, 
grub  und  brachte  Sand  herbei  und  gab  ihn  dem  Sultan:  Mache  du  Zwirn,  sagend. 
Der  Sultan  sagte:  Kann  man  denn  solchen  Zwirn  machen?  Solche  Kleidung 
kann  man  nur  mit  solchem  Zwirn  nähen,  sagte  der  Jüngling. 

Die  eigentliche  Sandstrickaufgabe  aber,  und  zwar  genau  in  der 
Form,  wie  sie  iu  den  indischen  Texten  erscheint,  ist  mir  nur  noch  ein 
einziges  Mal  vorgekommen. 

Es  gibt  eine  Anzahl  von  Geschichten,  in  denen  gezeigt  wird,  auf 
\velche  Weise  die  einst  allgemein  verbreitete  Sitte,  die  alten  Leute  zu 
tüten,  abgekommen  ist;  in  denen,  um  Sartoris '*)  Worte  zu  gebrauchen,  der 
Gedanke  von  der  Nützlichkeit  der  Greise  und  der  Notwendigkeit  ihrer 
Erhaltung  ausgedrückt   und  zugleich  der  historische  Verlauf   (des  allmäh- 


1)  Radioff  1,  "2110.  Vorher  geht  die  Aufgabe:  'Vom  Ochsen  möge  er  ein  Kalb  ge- 
bUien  lassen',  die  mitsamt  ihrer  Lösung  der  1?>.  Geschichte  des  Mahüummaggajätaka 
entspricht  (s.  oben).  Dass  der  Anfang  der  von  Radioff  mitgeteilten  Erzählung  im  Tibe- 
tischen (Benfey,  Kl.  Sehr.  3,  169ff.;  seine  Entsprechung  hat,  ist  bekannt. 

2)  P.  Sartori,  Die  Sitte  der  Alten-  und  Krankentötung  (Globus  G7,  129b).  Sonst 
vgl.  namentlich  Köhler,  Kl.  Sehr.  2,  324.  401,  und  die  reiche  Literatur  bei  Bolte  zu  Freys 
Gartengcsellschaft  Kap.  120.     [B.  Schmidt,  NJb.  f.  Phil.  11,  G23  (1003).] 


j[g4  Zachariae: 

liehen  Aufhörens  jener  Sitte)  in  einen  Akt  zusammengedrängt  ist.  Einige 
von  diesen  Geschiciiteu  sind  so  gewendet:  In  einer  Stadt  beschliessen 
die  jungen  Leute,  iliro  alten  Väter  zu  töten,  um  deren  Plätze  in  der 
Katsversammlung  einzunehmen.  Ein  einziger  Jüngling  liisst  seinen  Vater 
am  Leben  und  versteckt  ihn.  Ein  fremder  König,  der  sich  der  Stadt  be- 
mächtigen will,  prüft  zunächst  die  "Weisheit  ihrer  Bürger.  Er  stellt 
Rätselfrageu  und  Aufgaben;  diese  werden  von  jenem  Jüugling,  der  seinen 
Vater  um  Rat  fragt,  gelöst.  Man  erkennt  den  Nutzen  der  (ireise  und 
hebt  die  Altentötung  auf.  —  So  oder  ähnlich  bei  Joh.  l'auli,  Sdiimpf 
und  Ernst  Nr.  ii'2  vgl.  446,  und  bei  Jakob  Frey,  Gartengesellschaft 
Kap.  129.  Es  lässt  sich  nicht  verkennen,  dass  diese  Form  der  Gesoliichte 
eine  gewisse  Ähnlichkeit  mit  dem  zweiten  Teil  der  Haikargesciiichte 
besitzt.')  Und  da  ist  es  nun  nidit  zu  verwundern  und,  meine  ich.  von 
nicht  geringem  Interesse,  dass  die  Sandstrickaufgabe  in  zwei  slawische 
Parallelen")  zu  der  oben  skizzierten  (beschichte  eingedrungen  ist.  Diese 
Parallelen  sind  mitgeteilt  von  G.  Poli'vka  in  seinem  Aufsatz:  Seit  welcher 
Zeit  werden  die  Greise  nicht  mehr  getötet?  (oben  8,  '2b — "29). 

Die  erste  Parallele  ist  ein  bulgarisches  Märchen,  aufgczeiclinet  in  Ochrida  in 
Mazedonien.  Der  Anfang  verlauft  so  wie  in  der  obigen  Skizze.  Als  sich  in  der 
Ratsversammlung,  so  heisst  es  weiter,  nur  junge  Leute  einstellen,  fragt  der  Vor- 
steher erstaunt,  wo  die  A'iiter  sind.  Die  sind  an  Krankheiten  gestorben,  sagen  die 
Jünglinge.  Der  Vorsteher  will  ihnen  zeigen,  wie  nötig  sie  die  Ratschläge  ihrer 
greisen  Väter  brauchen.  Es  sei  vom  Kaiser  der  Befehl  gekommen,  für  die 
Pferde')  Stricke  aus  Sand  zu  beschaffon.  Niemand  vermag  die  Aufgabe  zu 
lösen.  Nur  der  Jüngling,  der  das  Leben  seines  Vaters  geschont  hat,  weiss  eine 
Antwort:  es  gebe  zwar  solche  Handwerker,  die  Stricke  aus  Sand  machen;  hierzu 
aber  brauchten  sie  Mauleselsmilch'),  mit  etwas  anderem  lasse  sich  der  Sand 
nicht  anmachen.  Stricke  würden  weiters  sehr  wenig  begehrt,  daher  auch  nicht  ver- 
fertigt, so  dass  die  Handwerker  schon  vergassen,  wie  sie  gemacht  würden:  er 
bitte  also  um  ein  Stück  von  einem  solchen  Strick  als  Muster.  —  Der  Vorsteher 
erkennt,  dass  aus  dem  Mund  des  Jünglings  die  Weisheit  eines  Greises  spricht; 
der  Jüngling  muss  gestehen,  dass  er  seinen  Vater  am  Leben  gelassen  hat.  Der 
Vorsteher  zeichnet  ihn  sehr  aus;  die  anderen  Vatermörder  tötet  er. 

Die  zweite  Parallele  ist  in  Veles  in  Mazedonien  aufgezeichnet.  Die  Maul- 
eselsmilch wird  in  dieser  Variante  gar  nicht  erwähnt;  es  wird  bloss  um  das 
Muster    eines  Sandstrickes    gebeten,    da    man  nicht  wisse,    ob    der  Kaiser    einen 


1)  Siehe  Joh.  Bolle  zu  Freys  Gartengcscllschaft  Kap.  129  S.  2G3.  [Frey  benutzte 
vielleicht  Geilers  Navicula  fatuorum  l.')10  Bl.  Q6b,  Turba  45,  2.] 

2)  In  einer  anderen  Parallele  (oben  8,  27)  erscheint  auch  eine  wohlbekannte,  von 
mir  bereits  erwähnte  Aufgabe.  Der  Sohn  (eines  greisen,  von  ihm  versteckten  Vaters), 
der  Richter  werden  will,  soll  in  der  l'rühe  kommen,  weder  barfiissig  noch  beschuht, 
weder  zu  Fuss  noch  zu  Pferd. 

H)  In  der  rumänischen  Version  der  Haikargesciiichte  sagt  der  weise  Arkirie  zum 
König:  'Send  and  tie  the  foals  up  quickly  with  that  rope,  so  that  I  may  twist  another.' 
(.lourn.  of  the  R.  As.  Society  1!MX),  .'iOS.) 

4)  Siehe  Bolte  zu  Frey,  Gartengesellschaft  S.  2G;?. 


Zur  Geschichte  vom  weisen  Haikar.  185 

dicken  oder  dünnen  Strick  wünsche  (ähnlich  wie  im  Jätaka,  Bd.  6,  S.  341,  16, 
und  im  MS.  Canon  der  armenischen  Version  der  Haikargeschichte:  The  Story  of 
Aliikar  p.  äO  n.).  Als  der  Kaiser  erfahren  hat,  dass  diese  Antwort  von  einem 
hundertjährigen  Greise  stammt,  verbietet  er,  hinfort  die  Greise  zu  töten. 

Ein  paar  Worte  noch  über  das  sonstige  Vorkommen  der  Sandstricke 
in  der  Literatur.  Stricke  aus  Saud,  wie  auch  Stricke  aus  Spreu  u.  dgl. ') 
gehören  zu  den  zahllosen  Ausdrücken,  womit  unmögliche,  ungereimte^ 
unnütze  Dinge  bezeichnet  werden.")  Zunächst  sei  auf  eine  Stelle  in 
Butlers  Hudibras  hingewiesen,  die  Eiselein,  Sprichwörter  und  Sinnreden 
des  deutschen  Volkes  1840  S.  539  angeführt  hat.  Butler  sagt  von  dem 
Helden  seines  Gedichtes: 

For  he  a  Rope  of  Sand  cou'd  twist 
As  tough  as  learned  Sorbouist.^j 

Die  Geschichte,  auf  die  Butler  in  dieser  Stelle  angespielt  haben  soll, 
ist  nicht  ohne  Interesse.  Ich  lasse  sie  nach  Zachary  Greys  Ausgabe  des 
Hudibras  (Dublin   1744)   1,  21   hier  folgen. 

A  Gentleman  of  Paris,  who  was  reduced  in  Circumstances,  Walking  in  the 
fields  in  a  melancholy  manner,  was  met  by  a  Person  in  the  habit  of  a  Doctor  of 
the  Sorbon;  who  enquiring-  into  his  case,  told  him,  that  he  had  acquired  so  much 
by  his  Studics,  that  it  was  in  his  power  to  relieve  him,  and  he  would  do  it, 
provided  the  Gentleman  would  be  at  his  devoirs,  when  hc  could  no  longer 
employ  him?  the  agreement  was  made,  and  Ihe  Cloven  Foot  soon  began  to 
appear;  for  the  Gentleman  set  the  Sorbonist  to  fill  a  Sieve  with  Water,  which 
he  performed  after  stopping  the  holes  with  Wax:  Then  he  ordered  him  to  make 
a  Rope  of  Sand,  which  the  Devil  not  being  able  to  do  scratch'd  his  Head,  and 
march'd  off  in  confusion. 

Ferner  treffen  wir  die  aus  Sand,  Spreu  u.  dgl.  gedrehten  Stricke  im 
Lügenmärchen;  im  Volkslied,  in  den  Liedern  von  unmöglichen  Dingen*); 
im  Sprichwort.  So  lässt  sich  in  dem  Lügenmärchen  bei  Grimm,  KHM.  Nr.  112 
(vgl.  Köhler,  KI.  Sehr.  1,  322f.)  ein  Bauer  an  einem  Seil,  das  er  aus 
Haferspreu    gedreht    hat,    vom    Himmel    auf    die   Erde    herab.      Bereits 


1)  Seide  von  Haberstroh  gesponnen:  ühland,  Schriften  3,  •2V^{.  (Müllcr-Fraureuth, 
Die  dtsch.  Lügendichtungen  1881  p.  87.] 

2)  Auf  indischem  Boden  begegnen  Ausdrücke  wie:  der  singende  Aö'c,  der  auf  dem 
Wasser  schwimmende  Stein  (vgl.  Uhland,  Schriften  3,  217),  die  im  Westen  aufgehende 
Sonne,  der  auf  Bergeshöhen  wachsende  Lotus.  Unmöglich  ists,  Ol  aus  Sand  zu  pressen; 
unmoglicli,  Milch  aus  einem  Stein  zu  melken  (vgl.  Pischel,  Festgruss  an  R.  von  Roth  1893 
S.  Uli;  Leben  und  Lehre  des  Buddha  1906  S.  58).  Sehr  häufig  wird  ein  Unding  mit  dem 
Ausdruck  'Hasenliorn'  bezeichnet  (z.  B.  Somadeva  übers,  von  Tawney  1,  370.  Auch  das 
Pferdehorn  kommt  vor;  Journal  of  the  Prdi  Text  Society  1887,  74).  Eine  ganze  Reihe 
von  unmöglichen  Dingen  am  Schluss  des  Atthanajätaka  (Nr.  425);  vgl.  Schiefner-Ralston, 
Tibetan  Tales  p.  234.  Ein  Manithi-Sprichwort  lautet:  String  cannot  be  made  from  stone 
(Journ.  of  the  American  Or.  Soc.  27,  26*). 

3)  Hudibras  1,  1,  157;  Variante:  And  with  as  delicate  a  band  Cou'd  twist  as  tough 
a  Rope  of  Sand. 

4)  Siehe  oben  12,  47 f.  407f     Uhland,    Schriften  ?,,  213ff.    Köhler,    K).  Sehr.  3,  515. 


186  Zachsriac: 

ürjmm  liat  in  der  Anmerkung  zu  KHM.  112  auf  die  anderwärts  vor- 
kommenden Seile  aus  Sand  hingewiesen.') 

Über  Sandseile  im  Volkslied  vgl.  (irinini  a.  a.  O.  inicl  L'hland, 
Schriften  3,  33(;  Aum.  2(i3.     [Erk-Böhme  3,  34 f.] 

Die  Griechen  sagten  tii  t(')v  äÖvvdzcov,  nach  dem  Zeugnis  der  Paroeniio- 
graplien:  ff  äjujuov  cyotvlov  nUxeir.  Siehe  die  Stellen  bei  Leutsch  zu 
Oregorius  Cyprius  M.  3.  4(1  (Corpus  Paroemiographornm  Graecoruin  '2,  114) 
und  hei  A.  Otto,  Die  Spriehwörter  der  Römer  ISItO  S.  160.  Über  Stricke 
oder  Seile  aus  Sand  im  ih'utschen  Spricliwort  vergleiche  man  das  Deutsclie 
Wörterbuch  10,  1,  209  (Seil)  und  Wander,  Deutsches  Sprichwörterlexikou  3, 
1861  f.  4,  518.  912.  Französisch:  tresser  des  cordes  de  sable;  Qnitard, 
Etudes  sur  les  proverbes  fram/ais  (1860)  j).  199.  Maurer,  Island.  Volkssagen 
p.  160.  Liebrecht,  Germ.  2.  24.').  .j,  121.  W.  Scott,  Poetical  works  1,  277 
(Lord  Soulis). 

2.   Der  Trsprung  der  Haikargeschichte. 

Zu  der  Geschiclite  vom  weisen  llaikar,  von  der  wir  ausgegangen 
sind,  keliren  wir  nocli  einmal  zurück.  Trotz  der  eingehenden  Unter- 
suchungen von  Meissner,  iiidzbarski,  J.  Kendel  Harris  und  anderen*) 
herrsciit  keine  Einigkeit  über  die  ursprüngliche  Heimat  der  Geschichte, 
über  die  Sprache,  worin  si(>  ursprünglicli  abgefasst  war.  über  das  Ver- 
hältnis der  verschiedenen  NCrsionen  zueinander.  Xnr  ist  Benfeys  Hypothese 
von  dem  indischen  Ursprung  der  (Teschiclite  neuerdings  stark  erschüttert, 
ja,  ganz  verworfen  worden.  Die  Haikargeschichte  geht,  so  bemerkt 
Meissner  an  einer  wenig  beachteten  Stelle  (Archiv  f.  Keligionswissen- 
schaft  .'),  234f.),  ohne  Zweifel  auf  ein  altes  babylonisches  Original  zurück. 
Die  Entstelmngszeit  möclite  Meissner  etwa  ins  Jahr  2CKJ0  v.  Ciir.  setzen. 
Ähnlich  haben  sich  Th.  lieinach,  Eevue  des  etudes  Juives  38,  10  und 
P.  Vetter,  Theol.  Quartalschrift  87,  352.  540  geäussert.  Nicht  Indien  ist 
die  ursprüngliche  Heimat  der  Haikargescliichte;  vielmehr  ist  der  Stoff, 
oder  sind  die  verschiedenen  im  Haikarliucho  vereinigten  Stoffe  nach 
Indien  eingewandert.  So  Meissner,  Zs.  der  deutschen  moi-geul.  Ges.  48, 
196;  Harris,  The  story  of  Ai.iikar  p.  XXI;  Vetter,  Theol.  Quartalschrift  87, 
539.  Dennoch  hat  wieder  Cos(|uin  in  einem  bemerkenswerten  Aufsatze 
(Revue  Biblicpie  8,  bes.  S.  62  —  72)  für  den  Kahmen  der  tiesrliichte 
sowohl  wie  für  einzelne  Episoden  indischen  Ursprung  beliauptet.  \nA\ 
Marc  ist  für  den  indischen  Ursprung  wenigstens  des   zweiten    Teiles  der 


1)  Zu  der  von  Grimm  aus  der  Edda  angezogenen  Stelle  vgl.  Niedner,  Z.s.  für 
deutsches  Altertum  31,  264. 

2)  Einen  Überblick  über  die  vprschiedencn  Untersuchungen  zur  Haikargeschichte 
gewährt  Paul  Marcs  Aufsatz:  Die  Achikarsage,  ein  Versuch  zur  Grupiiiernng  der 
Quellen  (Studien  zur  vergleichenden  Litiraturgescliichte  2,  o93— 111.  Ein  Nachtrag 
ebenda  3,  ü'Jl'.). 


Zur  Geschichte  vom  weisen  Haikar.  187 

Haikargeschichte  eingetreten.')  Unter  diesen  Umständen  möge  es  ge- 
stattet sein,  hier  auf  eine  Einzelheit  hinzuweisen,  die  bisher  noch  nicht 
beachtet  worden  ist.  Sollte  das  Haikarbuch  wirklich  aus  Indien  stammen; 
sollte  wenigstens  der  Stoff  sozusagen  durch  indische  Hände  gegangen  sein: 
so  müsste  sich  doch  eine  Spur  davon  in  den  vorliegenden  Versionen  ent- 
decken lassen.")     Eine  solche  Spur  glaube  icli  gefunden  zu  haben. 

Icli  gehe  von  den  Zahlenangaben  aus,  die  sich  im  weisen  Haikar 
vorfinden.  In  allen  Erzeugnissen  der  Volksliteratur  werden  gewisse 
Zahlen  mit  Vorliebe  gebraucht,  auch  da,  wo  es  auf  eine  bestimmte  An- 
gabe gar  nicht  ankommt.  Allgemeine  Angaben  wie:  einige,  mehrere, 
viele  (z.  B.  Söhne)  genügen  dem  Erzähler,  dem  Hörer  oder  Leser  nicht. 
Feste  Zahlen  dienen  als  Schmuck  der  Rede,  sie  befördern  die  An- 
schaulichkeit.^) Viele  von  diesen  'typischen'  Zahlen  mögen  ursprünglich 
bedeutungsvoll  gewesen  sein:  in  der  Volksliteratur  dienen  sie  meist  nur 
dazu,  eine  unbestimmte  Vielheit  auszudrücken.  Ferner  sind  gewisse 
Zahlen  ausserordentlich  weit  verbreitet  und  in  den  verschiedensten 
Literaturen  anzutreffen;  andere  wieder,  so  scheint  es,  sind  auf  ein  engeres 
Gebiet  beschränkt.  Durchmustern  wir  nun  die  Geschichte  vom  weisen 
Haikar,  so  treffen  wir  da,  unter  anderen,  die  sehr  gewöhnliche  Zahl  40. 
Nachdem  Haikar  aus  dem  Gefängnis  befreit  worden  ist,  muss  er  sicli  zu- 
nächst auf  das  Geheiss  des  Königs  Sanherib  40  Tage  laug  ausruhen. 
Dann  erbittet  er  sich  noch  eine  Frist  von  40  Tagen,  um  sich  auf  die 
Lösung  der  Aufgabe,  die  König  Pharao  dem  Sanherib  gestellt  hat,  vor- 
zubereiten (1001  Nacht  -22,  21f.  in  Henning»  Übersetzung;  vgl.  Zs.  der 
deutschen  morgenl.  Ges.  48,  174).  „Man  findet  die  Zahl  40",  bemerkt 
Lidzbarski*),  „unverhältnismässig  häufig  in  allen  literarischen  Erzeugnissen 
der  Semiten,  besonders  in  der  Volksliteratur.  Sie  spielt  bekanntlich  in 
der  Chronologie  der  Bibel  eine  grosse  Rolle,  und  wie  beliebt  sie  bei  den 
Arabern    ist,    zeigt    der  Umstand,    dass   ein  Bibliograph  nicht  weniger  als 


1)  Studien  z.  vgl.  Lit.  i,  40(iff.     Marc    zerlegt    die  Haikargeschichte    in  zwei  Teile: 

1.  Die  Geschichte  von  dem  Verrat   und    der  Bestrafung    des  undankbaren  Adoptivsohnes; 

2.  Die  Geschichte  von  dem  in  Ungnade  gefalleuen  Minister,  der  aus  seinem  Gefängnis 
wieder  hervorgezogen  wird,  um  die  seinem  König  gestellten  Aufgaben  und  Rätsel  zu 
lösen,  und  der  zu  diesem  Zweck  eine  Reise  zu  dem  fremden  König  unternimmt 
(S.  400.    *)5). 

•>)  Marc,  Stud.  2,  403  bemerkt  allerdings:  In  den  uns  vorliegenden  Versionen  hat 
die  Länge  der  Zeit  und  die  internationale  Wanderung  die  ursprünglichen  Charakteristika 
nivelliert  und  die  Merkmale  der  Heimat  ausgelöscht. 

o)  Wilhelm  Knopf,  Zur  Geschichte  der  typischen  Zahlen  in  der  deutscheu  Literatur 
des  Mittelalters  (Uiss.  Leipzig  1902)  S.  9G.  —  Über  die  Zahlen  in  den  modernen  indischen 
Märcheu  vgl.  Steel  and  Temple,  Wide-awake  Stories  (Bombay  1884)  p.  431— 43G;  über  die 
Zahlen,  die  bei  den  Buddhisten  beliebt  sind,  vgl.  L.  Feer,  Annales  du  musee  Guiraet  2, 
485-489. 

4)  Die  neuaramäischen  Hss.  der  Kgl.  Bibliothek  zu  Berlin  (1S9G)  2,  67.  Vgl.  sonst 
W.  Knopf  S.  81-  84.     Oben  IG,  244.     Zs.  für  Völkerpsychologie  18,  47G. 


]  88  Zachariae : 

60  arabische  Schriften    nennt,    die    den  Titel    'Vierzig'    iiaben 

Von    den    Arabern    aus    drang    die    Vorliebe    für    sie    auch    zu    anderen 
asiatischen  und  halbasiatischen  Orientalen." 

Kine  andere,  gleichfalls  sehr  beliebte  Zahl,  die  Zahl  GO,  treffen  wir 
gleich  im  Anfang  der  Ilaikargeschichte.  Haikar  hat  (SO  Frauen  geheiratet 
und  ihnen  tiO  mächtige  Schlösser  errichten  lassen.  Er  ist  schon  60  Jahre 
alt  geworden;  und  noch  immer  hat  er  keinen  Sohn  (Lidzbarski,  Neu- 
aramäische  Hss.  2,  5.  The  Story  of  Ahikar  p.  "24).  „Die  Bevorzugung 
der  Zahl  60",  meint  Vetter,  Theol.  Quartalschrift  87,  364,  „ist  an- 
scheinend babylonisch,  weil  mit  dem  babylonischen  Sexagesimalsystem 
zusammenhängend"),  sie  kann  aber  auch  talmudisch ^)  sein."  In  jedem 
Falle  ist  die  60  eine  runde,  die  unbestimmte  Vielheit  ausdrückende  Zahl.') 
Wenn  die  Zahl  von  Haikars  Frauen  als  60  angegeben  wird,  so  finden 
wir  ähnliche  hohe  oder  noch  höhere  Zahlen  gerade  in  solchen  Geschichten, 
die  ebenso  wie  die  Haikargeschichte  mit  dem  Motiv  der  Kinder- 
losigkeit beginnen.  Im  hebräischen  Text  des  Sindbadbuches  werden 
dem  König  Bibor  80  Frauen  zugeteilt.  Im  spanischen  Text  hat  Alcos 
90  Frauen.  Im  neupersischen  Text  (Sindbäd  Name)  hat  der  König  von 
Indien  100  Frauen  in  seinem  Harem.  Im  Dsanglun  Kap.  13  wird  erzählt, 
dass  in  früher  längst  vergangener  Zeit  hier  auf  Dschanibudwip  ein  König 
namens  Mahäschakuli  [d.  h.  Mahä.sakunij  lebte,  der  über  öOO  Vasallen- 
fürsten*) herrschte.  Er  hatte  zwar  500  (iemahlinneii,  aber  von  ihnen 
keinen  einzigen  Sohn  als  Nachfolger  auf  dem  Tliroiie.^)  500  (iemaliliiinen 
hatte  auch  Rinpotsche  gotscha  (Dsanglun  Kap.  23);    20()0(>  hatte  Schingta 


1)  Th.  Reinach,  Eevue  des  etudes  juives  38,  10. 

2)  The  Jewish  Kncyclopedia  1,  2S8a:  In  the  Arauiaic  folk-loro  of  the  Talmud  the 
number  siity  is  a  favorite  one  and  usually  denotes  any  lartje  number. 

3)  Joh.  Schmidt,  Die  Urheimat  der  Indogermanen  und  das  cuioi)äischo  Zahlsjstem, 
Berlin  1890,  S.  41. 

4)  Die  Zahl  500  ist  in  buddhistischen  Geschichten  ausserordentlich  häutig.  Doch 
kommt  sie  auch  sonst  vor.  So  in  der  armenischen  Version  des  weisen  Haikar:  von 
Ägypten  bis  nach  Ninive,  heisst  es  da,  sind  es  "jOO  Meilen.  In  dem  von  Zaclier  hei'aus- 
gegebencn  .\lexandri  Magni  iter  ad  Paradisum  besteigt  Alexander  mit  500  der  Aus- 
erlesensten seiner  Leute  ein  Scliiff.  Ein  japanisches  Märchen  spriclit  von  einem  Fels- 
block, den  500  Menschen  kaum  hätten  heben  können  (S.  Lüttich,  l'bcr  bedeutungsvolle 
Zahlen,  eine  kulturgeschichtliche  Hctrachtung.  Naumburger  Programm  von  1801,  S.  34). 
Siehe  sonst  Knopf  S.  92-94.    Archiv  f.  slav.  Philologie  25,  4.59. 

5)  Die  Stellen  aus  dem  tibetischen  Dsanglun  hat  Paulus  Cassel,  Misihle  Sindbad, 
Berlin  1888  S.  G7,  angeführt.  Sie  dienen  ihm  dazu,  den  buddhistischen  Ursprung  der  Ein- 
leitung zum  Sindbadbuche  zu  erweisen.  Anderer  Ansicht  ist  Harris  (The  Story  of 
Ahikar  p.  LXXIX).  Für  ihn  ist  das  'model  of  composition',  wonach  der  Verfasser  des 
Sindbadbuches  die  Einleitung  formte,  vielmehr  —  der  Anfang  der  Geschichte  vom  weisen 
Haikar.  Ich  komme  darauf  zurück.  Für  den  indischen  Ursprung  des  Sindbadbuches  ist 
neuerdings  wieder  Warren  eingetreten  in  seinem  Aufsatz:  Het  indische  originecl  van  den 
griekschen  Syntipas  (Verslagen  en  Mededcelingen  der  K.  Ak.  van  AVctenschappen 
te  Amsterdam,  Afd.  Letterkunde  4,  5,  41—58). 


Zur  Geschichte  vom  weisin  Haikar.  189 

nimo  (Kap.  13).  König  Okkäka  hatte  16  000  Frauen  (Kusajätaka  Nr.  531 ; 
viele  1000  Frauen:  Mahävastu  2,  42i,  14);  desgleichen  Käsiräja  im  Muga- 
pakkhajätaka  Nr.  538.     Siehe  auch  Benfey,  Pantschatautra  1,  595. 

Während  somit  das  Vorkommen  der  Zahlen  40  und  60  in  der  Haikar- 
geschichte nichts  Auffallendes  hat,  so  wird  man  das  gerade  Gegenteil  von 
einer  anderen  Zahl  sagen  dürfen,  die  gleichfalls  im  Anfang  der  Geschichte 
begegnet:  von  der  Zahl  acht.  Haikar  hat  seinen  Neffen  Nadan  adoptiert. 
Der  war  noch  jung  au  Jahren  und  ein  Säugling.  Daher  überantwortete  er 
ihn  acht  Ammen  und  Wärterinnen,  ihn  zu  nähren  und  aufzuziehen.  Und 
sie  zogen  ihn  bei  der  erlesensten  Kost  mit  leckerster  Speise  auf  und 
kleideten  ihn  in  Zindel,  Scharlach  und  Karmesin,  und  er  sass  auf  seidenen 
Plüschdecken.  —  So  in  1001  Nacht.  ^)  Auch  die  syrische  Version  erwähnt 
die  acht  Ammen.  Die  armenische  sowie  die  slawische  Veraion  lassen  sie 
allerdings  aus.  Dennoch  werden  wir  zu  der  Annahme  berechtigt  sein, 
dass  die  acht  Ammen  zu  dem  ursprünglichen  Bestand  der  Haikargeschichte 
gehören.^)  Diese  acht  Ammen  aber  weisen  uns  mit  Sicherheit  nach 
Indien;  es  sei  denn,  dass  ein  Zufall  sein  Spiel  treibt.  Fest  steht,  dass 
ich    nur    in    der    indischen    und    in    der    von    dieser    direkt    abhängigen 


si 


o'o^ 


Literatur  eine  Achtheit  von  Ammen  sehr  oft  nachweisen  lässt.  Mindestens 
wird  man  die  acht  Ammen  für  ein  'Zusatzmotiv'  halten  dürfen,  das  von 
Indien  her  in  die  Haikargeschichte  eingedrungen  ist. 

Zunächst  über  die  Zahl  8  ein  paar  Worte.  Ich  habe  bereits  oben  15, 
77,  wo  ich  von  den  acht  glückbringenden  Dingen  handelte,  darauf  hin- 
sewiesen,  dass  die  8  bei  den  ludern  eine  selu'  beliebte  Zahl  ist.  Mit  Vorliebe 
wird  sie,  wenn  auch  nicht  ausschliesslich,  von  den  Budd  histen  gebraucht. 
Dies  hat  schon  Benfey,  Pantschatautra  1,  595  bemerkt.     Auch  S.  Lüttich ^) 


1)  Henning  '22,  G.  In  der  neuaramäischen  Version,  wo  die  Erzählung  in  der  ersten 
Person  gehalten  ist,  sagt  Haikar  von  sieh  selbst:  'Ich  zog  ihn  gross  mit  Öl,  Honig 
und  Sahne,  kleidete  ihn  in  Seide  und  Purpur  und  Hess  ihn  auf  weichen  Teppichen  und 
Sammetstoffen  liegen.'  Aber  die  acht  Ammen,  die  den  Knaben  säugen  und  erziehen 
sollen,  werden  auch  hier  erwähnt  (Lidzbarski,  Neuaramäische  Hss.  2,  6).  Ebenso  im 
Beimter  Text  (Zs.  der  deutschen  morgen!.  Ges.  48,  172). 

2)  Harris  freilich  ist  geneigt,  alles,  was  in  den  Texten  über  die  Erziehung  des  jungen 
Nadan  gesagt  wird,  dem  Ur-Haikar  abzusprechen.  Eine  im  Britischen  Museum  befind- 
liche, fragmentarische  Hs.  des  syrischen  Textes  enthält  nämlich  kein  Wort  über 
Nadans  Erziehung  ^The  account  of  the  earlier  years  of  Nadans  bringing  up  is  omitted; 
if  indeed  it  existed  in  the  first  form  of  the  story.  —  The  Story  of  Ahikar 
p.  56  n.).  Mir  scheint  die  Annahme  des  englischen  Gelehrten  nicht  genügend  gestützt  zu 
sein.  —  Eine  auffällige  Anzahl  von  Ammen  kommt  sonst  noch  in  der  neuaramäischen 
Version  der  Haikai geschichte  vor.  Haikar  sagt  zu  seiner  Gattin:  'Gib  die  beiden  uns 
gehörenden  Knaben  Nabuchal  und  Tabschalim  sieben  Ammen,  dass  sie  sie  säugen  und 
grosszieheu''  (Lidzbarski,  Neuaram.  Hss.  2,  25).  In  der  armenischen  Version  ist  an  der 
entsprechenden  Stelle  nur  von  zwei  Ammen  die  Rede. 

3)  Über  bedeutungsvolle  Zahlen,  Naumburg  1891,  S.  32.  Hier  weist  Lüttich  unter 
anderem  darauf  hin,  dass  die  8  auch  in  den  Märchen  der  Japaner  auffallend  oft  auftritt. 
Vgl.  sonst  W.  Knopf,  Zur  Geschichte  der  typischen  Zahlen  S.  49  -  52.  Hahn,  Sagwissenschaft- 
liehe  Studien;  Register  unter  Zahlen.    Archiv  für  slavische  Philologie  25,  456. 


190  Zacliariae: 

betont,  dass  die  8  im  liiiililliismiis  eine  grosse  Rolle  spielt.  Julius 
Weber  bezeichnet  die  8  als  eine  bei  den  Buddhisten  heilige  Zahl 
(Zs.  der  deutsehen  niorgenl.  (ies.  45,  586").  Sonst  mag  man  vergleidien 
P.  Cassel,  Misehle  Simibad  S.  '.'IS.  die  Yerliandliingen  des  neunten 
Orientalistenkoiigresses  1,  245 ff.  und  die  Zusammenstellungen  von  Feer, 
Annales  du  musee  Guimet  2,  487. 

Übrigens  ist  die  8,  so  oft  sie  auch  vorkommt,  keine  jirimäre,  sondern 
eine  abgeleitete  Zahl.  Mit  Reclit  fasst  sie  Lüttich  8.  Hl  f.  als  eine  Ver- 
doppelung der  4  auf.i)  Weitere,  öfters  vorkommende  Steigerungen  der  4  oder 
8  sind,  wie  Lüttioh  ebenfalls  zeigt,  Kl,  "-'4,  32  u.  s.  f.  Maitrakanyaka,  so 
lieisst  es  in  einer  sehr  verbreiteten  buddhistischen  T.,egende*),  verdiente 
im  Kleinhandel  4  Karsapanas  (Otterki)pf('lien)  täglich,  als  Parfumerie- 
hiindler  8,  als  Goldschmied  erst  l(i,  dann  :V2  Kar.säpanas.  Nachher  ver- 
brachte er  viele  Jalire  in  vier  verschiedenen  Städten;  in  der  ersten 
leisteten  ihm  4,  in  der  zweiten  8,  in  der  dritten  Ki.  in  der  vierten 
3"2  iiimmlisehe  Mädchen   (iesellsehnft. 

Nun  zu  den  acht  Ammen.  Einem  Kinde  eine  grössere  Anzahl  von 
Ammen  zuzuteilen,  ist,  soweit  meine  Beobachtungen  reichen,  durchaus  eine 
Eigentümlichkeit  der  buddhistischen  und  jinistischen  Schriften.  Ich 
habe  das  in  den  Göttingischen  gelehrten  Anzeigen  189"_',  Mf) — (548  aus- 
führlicli  dargetan.  Was  im  weisen  Ilaikar  oder  auch  anderwärts  ver- 
einzelt dasteht,  ist  in  den  genannten  Ijiteraturen  die  Regel.  Und  so 
finden  wir  denn  zunächst  die  acht  Ammen,  denen  der  junge  Nadan  an- 
vertraut wird,  sehr  oft  wieder  in  der  nordbnddhistischen  Literatur. 
Eine  genügende  Zahl  von  Belegen  habe  ieli  a.  a.  O.,  S.  647  gegeben. 
Hier  will  ich  nur  verweisen  auf  Schiefner-Ral.ston,  Tibetan  Tales  p.  5i'. 
■i.')7.  ■_*7ö.  ■_>7!t  und  auf  das  Avadäuasataka,  eine  Sammlung  von  100 
buddhistischen  Legenden,  die  Leon  Teer  in  einer  französischiMi  Über- 
setzung bekannt  gemacht  hat  (Annales  du  innsee  Guiniet  18.    Paris  1891). 

1)  Ich  kann  es  mir  niclit  vcrsaffen,  hier  eine  Ausscrunj^  Lcumanns  über  die  hei  den 
Jainas  ebenso  wie  hei  den  Buddhisten  beliebten  Zahlen  1  und  S  wicderzn^ehen.  'l)io 
Vierzahl  oder  auch  Achtzahl  von  Personen,  welclie  als  Kameraden,  Gattinnen  oder  sonst 
irgendwie  die  nähere  Umgehung  von  jemand  bilden,  ist  in  der  Jaina- Literatur  eine 
typische  Erscheinung Meist  sind  es  himmlische  Wesen,  deren  Gefolge  in  der  ange- 
deuteten Weise  normiert  ist.  Ua  nun  unter  jenen  die  Deitikationen  der  Weltgegenden  in 
vielfältigster  Weise  wiederkehren,  so  ist  klar,  dass  die  stereotype  Tetras  von  Freunden, 
ja  sogar  wohl  auch  sonstige  Tetradcn  und  Oktaden  von  Personen  ihre  numcrisehc 
Filierung  in  letzter  Linie  einer  I  lierfragung  von  hinimlisclien  auf  irdische  Phantasien 
verdanken:  Die  Vierer-Konzeption  ist  augenscheinlieh  von  den  vier  Haupt-  und  vier  Neben- 
richtungen der  Windrose  ausgegangen;  von  da  wird  sie,  weil  jene  Richtungen  von  alters 
her  personifiziert  wurden,  erst  in  die  Kombinationen  über  Zusammensetzung  des  Göttcr- 
staatcs  eingedrungen  und  schliesslich  auch  auf  menschliche  Verhältnisse  Anwendung  ge- 
funden haben'  (Wiener  Zs.  für  die  Kunde  des  Morgenlandes  G,  .'^5,  mit  einigen  Aus- 
lassungen.    Vgl.  auch  (),  '.Vt). 

2)  Bhadrakalpavadana  2S;  vgl.  ( "Idenhurg,  Buddhistische  Legenden  S.  40 — 4S.  79—80 
und  die  Studie  von  Feer  im  Journal  Asiatiquc.  7.     Serie  11,  .'ViO— 44it.  • 


Zur  Geschichte  vom  wt-iscii  Haikar.  191 

Die  Entstehung  des  Werkes  setzt  Speyer')  um  das  Jahr  100  unserer 
Ära.  Eine  chinesische  Übersetzung  des  Avadanasataka  wurde  zwischen 
223  und  253  u.  Chr.  verfasst.  Wie  in  anderen  buddhistischen  Texten,  so 
finden  sich  auch  im  Avadanasataka  eine  Reihe  von  fast  gleichlautenden, 
oft  wiederkehrenden  Stellen.  Diese  hat  Feer  auf  S.  1  — 14  seiner  Über- 
setzung unter  dem  Titel  iieux  commuiis  Bouddhicjues  et  developpements 
divers'  übersichtlich  zusammengestellt.  ^)  Einer  von  diesen 'Gemeinplätzen' 
kommt,  wenn  icli  recht  gezählt  habe,  niclit  weniger  als  27mal  im 
Avadanasataka  vor  und  lautet  nach  Feers  Übersetzung  S.  o: 

L'enfant  N...  fut  conße  ü  hait  nourrices,  deux  pour  le  tenir  sur  les 
genoux,  deux  pour  lui  donner  le  sein,  deux  pour  le  laver.  deux  pour  le  faire 
jouer^);  ces  huit  nourrices  l'elevent,  le  fönt  g-randir  (nourri)  de  lait.  de  lait 
caille,  de  beurre  frais,  de  beurre  clarifie,  d'extrait  de  beurre  ciarifie,  et  d'autres 
ahinents  chauffes  et  de  premier  choix:  11  croit  rapidement  comrae  un  lotus  dans 
son  etang. 

Soweit  ich  sehe,  ist  8  die  am  öftesten  vorkommende  Zahl.  Docii 
werden  in  nordbuddhistisehen  Texten  auch  4  oder  82  Ammen  genannt 
(GGA.  1892,  646.  648).  Im  Mügapakkhajataka  Nr.  .V3S  erhält  Temiya- 
knmara  ()4  Ammen;  desgl.  Yessantara  im  Yessantarajataka  Nr.  547.  Die 
birmanische  Übersetzung  des  Müga])akk]iajätaka  hat  240  Ammen  statt  der 
€4  des  Päli-Originals: 

And  for  the  youthful  Bodlüsat  they  searclied  out  i40  young  wetnurses  with 
good  breasts  of  milk,  |ileasant  and  sweet;  four  were  appointed  for  euch  hour  o( 
the  sixty  liours  of  the  day  and  night:  one  to  hold  llie  baby,  one  to  wasli  it,  one  to 
dress  it,  and  the  other  to  fondlc  and  play  with  it.  (Journal  of  the  Royal  Asiatic 
Society  18:t3  p.  niVä.) 

Es  fragt  sieh  jetzt,  ob  sich  ausser  den  acht  Auunen  uocii  andere 
Einzelheiten  im  Anfang  der  Haikargeschiclite  finden,  die  man  ebenfalls 
an  indische  Vorbilder  anknüpfen  konnte. 

1)  Verslagen  en  Mededeelins;eu  der  K.  Ak.  van  Wetenschappen,  Aid.  Lettcrkunde  4, 
3,  384.  Eine  Ausgabe  des  Avadrma-ataka  veranstaltet  jetzt  Speyer  in  der  Bibliotheca 
Buddhica. 

2i  Vgl.  auch  Feers  Bemerkungen  über  die  'developpements  repetes'  im  Karma- 
sataka:    Journal  Asiatique,  9.     Ser.  17,  .j9  (1901). 

3)  Wörtlicher:  Uas  Kind  wird  acht  Ammen  übergeben,  zwei  Tragammen,  zwei 
Milchammen,  zwei  Schmatzammen,  zwei  Spielammen.  (Aus  dieser  so  oft  wiederkehrenden 
Stelle  geht  klar  hervor,  dass  4  die  ursprüngliche  Zahl  der  Ammen  ist.)  Die  genaue 
Angabe  der  Obliegenheiten  der  Ammen  findet  sich  auch  sonst;  so  in  Beals 
Koniantic  Legend  of  Sakya  Buddha  1875  p.  .'UG  (His  parents  procured  for  him  the  best 
nurses  for  the  various  purposes  required-viz.,  to  fondle,  to  feed,  to  accompany  in  out-of- 
door  walks,  to  play  and  laugh)  und  in  der  Geschichte  'Canis'  im  Siebenmeisterbuche 
(z.  B.  in  der  Historia  septem  Sapientum  ed.  G.  Buchner  1889  p.  IG:  Mi  les  tantum  in- 
fantem  dile.vit,  quod.  III.  nutrices  pro  pueri  custodia  ordinauit:  prima  nutris,  ut  eum 
aleret;  secunda,  ut  eum  a  sordibus  lauaret;  tercia,  ut  eum  ad  dormiendum  alliceret). 
Sind  auch  im  weisen  Haikar  Spuren  davon  erhalten:-'  Vgl.  z.  B.  1001  Nacht 
(Henning)  22,  (J. 


192  Zachariae: 

Für  die  folgende  Betrachtung  ziehen  wir,  nacli  «lein  Vorgang  von 
Harris,  The  Story  of  Ahikar  p.  LXXIX,  den  Anfang  des  Sindbadbuches 
in  der  syrisclien  Version  mit  heran.  Die  syrische  Erzähhing  vom  weisen 
Sindban  beginnt,  nach  Baetligens  l'bcrsetzung: 

Es  war  einmal  ein  König,  der  hiess  Kures.  Er  hatte  sieben  Frauen;  aber  er 
war  schon  alt  geworden  und  hatte  noch  keinen  Sohn.  Da  stand  er  auf,  betete, 
tat  ein  Gelübde  und  salbte  sich.  Und  es  gefiel  Gott,  ihm  einen  Sohn  zu  geben. 
Der  Knabe  wuchs  und   schoss   empor   wie   eine   Zeder.') 

Harris  ist  nun  der  Meinung,  dass  der  Autor  des  Siudbadbuches  den 
Anfang  der  Haikargeschichte  nachgeahmt  habe.  Er  bemerkt:  The  opening 
of  the  story  is  common  matter  to  an  Eastern  novelist,  but  there  are 
allusions  which  botray  tlie  use  of  a  model  of  co:n])osi tion.  To  j>Ht 
Ahikar  into  the  form  Cyrus  was  not  difficult  in  viow  of  the  Slavonic 
Akyrios  for  the  same  name;  'seven  wives'  is  the  modification  of  a  later 
age  on  the  original  'sixty  wives'  of  .\hikar;  but  wiiat  is  conclusive  for 
the  use  of  the  earlier  legend  is  the  remaric  tliat  tlio  king's  son  'shot  np 
like  a  cedar'.  —  Einige  Versionen  der  Haikargeschichte  (es  siiui  die- 
selben, die  dem  Nadan  acht  Ammen  zuteilen)  lassen  nämlich  den  jungen 
Nadan  aufschiessen  'wie  die  schlanke  Libanonzeder',  oder  'wie  die  ge- 
priesene Zeder'.  Und  am  Schluss  der  Geschichte  sagt  Haikar  zu  Nadan: 
'0  mein  Söhnlein,  ich  lehrte  dich  und  pflegte  dich  in  sorglichster  Pflege 
und  Hess  dich  wachsen  wie  die  hohe  Zeder  des  Libanon'  (1001  Nacht  '22,  34 
Henning). 

Es  entzieht  sich  meiner  Beurteilung,  ob  der  Ausdruck  'wachsen  wie 
die  Zeder  des  Libanon'  so  auffällig  und  selten  ist,  dass  er  in  der  Frage 
nach  der  Abliängigkoit  des  (syrischen)  Sindbadbuclies  vom  weisen  Haikar 
als  entscheidend  angesehen  werden  kann.  Man  vorgleiche  immerliin 
Psalm  9'2,  LS.  Aber  was  Harris  für  das  Sindbadbuch  annimmt:  'a  model 
of  composition",  das  muss,  meine  icli,  im  Prinzip  auch  für  das  Haikar- 
buch zugestanden  werden;  mindestens  für  den  uns  hier  allein  beschäftigenden 
Passus  des  Haikarbuches,  für  den  Passus,  der  von  der  Jugenderziehung 
des  Nadan  handelt.  Hat  doch  Harris,  wie  wir  bereits  gesehen  haben,  die 
Vermutung  ausgesprochen,  dass  der  Bericht  über  die  ersten  Jahre  von 
Nadans  Erzielumg  in  der  Urform  des  Haikarbuciies  nicht  gestanden  hat 
(The  Story  of  Ahikar  j).  50).  Unter  allen  Umstanden  scheint  mir  die 
Tatsache  bemerkenswert  zu  sein,  dass  die  oben  genannten  nord- 
buddhistischen Texte  an  derselben  Stelle  ein  Gleichnis  gebrauchen,  wo 
im  Haikarbuche  das  Wachstum  Nadans  mit  dem  einer  Zeder  verglichen 
wird.  Anstatt  der  'gepriesenen  Zeder'  erscheint  in  jenen  Texten,  wie 
sich  von  selbst  versteht,    ein    berühmtes   Gewächs    der    indischen   Flora. 


1)  Der  priechischc  Syntipas:  w;  dhi^ooy  iinwrov  tjvSijre  rij  i/Xixi'n..     Harris  veinintet, 
dass  derÖQoy  ümoxur  ein  blosser  Felilor  für  xiönog  änioiij  ist. 


Zur  Geschichte  vom  weisen  Haikar.  193 

Ich  wiederhole  kurz  den  oben  schon  angeführten,  so  oft  wiederkehrenden 
Gemeinplatz:  Das  Kind  N.  N.  wird  acht  Ammen  übergeben,  die  es  nähren 
und  grossziehen  mit  Milch  usw.;  und  so  wäcJist  es  sclinell  heran  wie  ein 
Lotus   im  Teiche.") 

Statt  des  Lotus  findet  sich  aber  auch,  genau  wie  im  weisen  Haikar, 
das  Bild  eines  Baumes.  Als  Buddhas  Mutter  Mayä  gestorben  ist,  über- 
nimmt ihre  Schwester  Mahäprajäpati  Gautami  die  Pflege  des  Kindes. 
Ausserdem  werden  32  Wärterinnen  angestellt  (eight  to  nurse  the  child, 
eight  to  wash  him,  eight  to  feed  him,  eight  to  amuse  him).  Dann  heisst 
es  weiter:  So  the  child  gradually  waxed  and  iucreased  in  strength;  as 
the  shoot  of  the  Nyagrodha^)  tree  gradually  increases  in  size, 
well-planted  in  the  earth,  tili  itself  becomes  a  great  tree,  thus  did  the 
child  day  by  day  increase,  and  lacked  nothing  (S.  Beal,  Romantic  Legend 
of  Siikya  Buddha  from  the  Chinese-Sanscrit  1875  p.  64.  Vgl.  Mahavastu  2, 
423,  ]"2:  Es  gedeiht  der  Tugendhafte  wie  der  Nyagrodha  auf  einem  guten 
Platze).  Ganz  ähnlich  der  Bericht  über  die  Jugenderziehung  des 
Mahävira,  des  Stifters  der  Jainasekte.  Mahävira  wird  fünf  Ammen') 
anvertraut:  eine  gibt  ihm  Milch,  eine  sorgt  für  die  Reinlichkeit,  eine 
kleidet  ihn,  eine  .spielt  mit  ihm,  eine  trägt  ihn  auf  dem  Schosse.  So 
wächst  er  heran  wie  der  Campaka-Baum  in  einer  Bergschlucht 
(Äyäramgasutta  2,  15,  13;  Sacred  Books  of  the  East  22,  192). 

Um  es  zusammenzufassen:  dass  ein  Kind  einer  bestimmten  Anzahl 
von  Ammen  übergeben  und  dass  sein  Wachstum  mit  dem  einer  Pflanze 
(eines  Baumes)  verglichen  wird,  das  ist  vereint  schwerlich  irgendwo 
so  häufig,  so  gewöhnlich  wie  in  der  indischen,  speziell  buddhistischen 
Literatur;  es  ist,  um  Peers  Ausdruck  zu  gebrauchen,  ein  buddhistischer 
Gemeinplatz.  Sollte  dieser  Gemeinplatz  von  Indien  nach  dem  Westen 
gewandert  sein? 

Wer  die  Mögliclikeit  dieser  Wanderung  zugibt,  der  könnte  noch 
einen  Schritt  weiter  gehen  und  auch  für  das  erste,  bis  zu  Nadans 
Adoption  reichende  Stück  der  Haikargeschichte  ein  indisches  Muster  an- 
nehmen. Die  Haikargesellichte  beginnt  mit  dem  Motiv  der  Kinder- 
losigkeit. Das  ist  ein  sehr  oft,  zumal  in  orientalischen  Geschichten, 
wiederkehrendes  Motiv,  wie  schon  Benfey,  Kl.  Sehr.  3,  182  und  Harris 
betont  haben.  Ich  erinnere  an  die  '/oropia  yjvxü)(peh]^  von  Barlaam  und 
Joasaph.  König  Abenner,  der  gross  ist  an  Reichtum  und  Macht,  hat  zö 
t)]g  äxexviag  y.axöv  zu  beklagen^);    eQrj/tio?    yuQ    vjtdoxmv  naiScDv,    diu  cpgov- 

1)  Im  Original:  hradastham  iva  pankajam.  Es  ist  vielleicht  beachtenswert,  dass  diese 
Worte  den  Ausgang  eines  Verses  bilden.    Vgl.  Divyavadana  589,  7. 

2)  Nyagrodha,  die  Banianc  (Ficus  indica),  wohl  der  berühmteste  Baum  der  indischen 
Flora. 

3)  In  den  mir  bekannten  Jainatexten  wird  die  Zahl  der  Ammen  immer  als  fünf  an- 
gegeben.   Gott,  gel,  Anzeigen  1892,  648. 

4)  Vgl.  dazu  P.  Cassel,  Aus  Literatur  und  Symbolik  S.  lööff. 
Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1907.  13 


]94  '/achariae:    Zur  Geschichte  vom  weisen  Haikar. 

tido;  eiye  Tiolk}]?  u:itx)i,  xov  Toiorruv  h'üek  deauov^).  Tey.voiv  y.hj&eti]  .-raTz/o, 
7iQä'/fj.a  idig  TioXloi?  evxraiÖTaTOv.  Und  im  Syntipas  heisst  es  von  König 
Kyros:  ))v  dk  ujiaig-  o&ev  xai  Jiaidcov  dgeyöjuevog^)  ^eo/uoTdico?  nnoexdXei 
ro  Mov  Tov  Tj}?  a-ia((W«s  h'Orjvru  dsa/ior.  Es  geht  kaum  an.  irgend  einer 
Literatur,  etwa  der  indischen,  das  Motiv  der  Kinderlosigkeit  als  besonders 
eigentümlich  zuzusprechen.  Dennoch  möge  es  gestattet  sein,  im  Anschluss 
an  den  bereits  angeführten  budtlhistischen  Gemeinplatz  hier  noch  auf 
einen  zweiten  hinzuweisen  und  den  Anfang  der  Haikargeschichte  damit 
zu  vergleichen.  Der  Gemeinplatz  ist  ausgehoben  von  Feer  in  seiner 
Übersetzung  des  Avadänasataka  S.  4,  unter  der  Ibersehrift  'Maniere 
d'obtenir  des  enfants.'  Mit  nur  geringen  Varianten  kommt  die  Stelle 
achtmal  im  Avadänasataka  vor')  und  lautet  in  ihrem  Anfang  ungefähr 
wie  folgt: 

N.  N.  (ein  reicher  Mann,  ein  mächtiger  König)  hat  keinen  Sohn,  keine 
Tochter.  Die  Wange  auf  die  Hand  gestützt,  sitzt  er  da,  in  Gedanken  versunken: 
'Viele  Schätze  habe  ich  in  meinem  Hause  aufgehäuft,  aber  ich  halie  weder  einen 
Sohn,  noch  eine  Tochter;  nach  meinem  Hinscheiden  wird  mein  ganzes  Ver- 
mögen, da  ich  keinen  Sohn  habe,  an  den  König  fallen'  (oder  auch,  wenn  sichs 
um  einen  kinderlosen  König  handelt:  'nach  meinem  Hinscheiden  wird  das  Königs- 
geschlecht erlöschen').  Da  sprechen  die  Sramanas  und  Brähmanas,  die  Wahr- 
sager, seine  Freunde  und  Verwandten  zu  ihm:  'Huldige  den  Göttern;  dann 
wird  dir  ein  Sohn  zuteil  werden'  Der  nun,  soimlos,  Söhne  begehrend, 
fleht  den  Siva,  Varui.ia,  Kubera,  Indra,  Hrahnian  usw.  an,  und  andere  besondere 
Gottheiten  (die  einzeln  aufgezählt  werden). 

Diesem  buddhistischen  Gemeinplatz  steht  am  nächsten  der  Anfang 
der  arabischen,  in  1001  Xaclit  vorliegenden  Version  der  Haikargeschichte. 
Alle  anderen  Versionen  weichen  mehr  oder  weniger  ab:  so  auch  die  neu- 
aramäische Übersetzung  des  arabischen  Textes,  die  Lidzbarski  veröffent- 
licht hat  (Die  nouaramäischen  Hss.  der  Kgl.  Bibliothek  zu  Berlin  2,  5). 
Diese  lässt  die  Zauberer,  Sterndeuter  und  Wahrsager  dem  Haikar,  als  er 
noch  jung  war,  prophezeien,  dass  er  keinen  Sohn  haben  werde. 
Ähnlich  der  syrische  und  der  slawische  Text.  In  1001  Nacht  ist  davon 
keine  Rede.  Hier  fordern  vielmehr  die  Astrologen  und  Zauberer  den 
kinderlosen  Haikar  auf,  den  Göttern  zu  opfern  uml  ihre  Huld  zu  er- 
flehen. Die  Frage,  ob  wir  berechtigt  sind,  den  Anfang  der  (iesehiehte, 
wie  er  in  1001  Nacht  vorliegt,  für  einen  treuen  Reflex  der  ursprünglieiu-n 
Fassung    zu    halten,    vermag    ich    nicht    zu    entscheiden.      Dass    sich    der 


1)  Man  beachte  diesen  (an  und  für  sich  aul'fälliKen?),  dem  griechisclien  liarlaam  und 
dem  Syntipas  gemeinsamen  Ausdruck.  Beide,  Abenncr  und  Kyros,  wünschen  von  der 
Fessel  der  Kinderlosifjkeit  erlöst  zu  werden. 

2)  Es  entsiirechen  Stellen  wie  Divyävadäna  p.  1,  ü  so  ■putrali  put  raliliiiiandi 
Öivavarui.iakuvcra.sakrabrahmädin  äy.ucatc  (der,  soluilos,  Söhne  begeliriMid,  llolit  den 
Siva,  Varuna,  Kuvera,  Sakra,  Hralunan  usw.  an). 

3)  Auch  sonst:  vfjl.  z.  B.  Divyävad.nna  1  ff.  57.  439f.  Schiefner  im  Bulletin  der 
Petersburger  Akademie  20  (187i>),  382.    Scliiernci-K.-ilston.  Tilietan  Tales  p.  .■)0f. 


Andree:    Kleine  Mitteilungen.  195 

arabische  Text  im  weiteren  Verlauf  der  Geschichte  von  der  ursprüng- 
lichen Textgestalt  entfernt,  hat  P.  Vetter,  Theol.  Quartalschr.  87,  357 
dargelegt;  s.  auch  Cosquin,  Revue  biblique  8.  54,  n.  4. 

Die  Geschichte  von  Haikar  dem  Weisen  beginnt  in  Hennings  Über- 
setzung von  1001  Nacht  (22,  5;  mit  einigen  Kürzungen)   wie  folgt: 

In  den  Tagen  des  Königs  Sancharib  lebte  ein  "Weiser,  namens  Haikar.  ein 
Grande  von  übergrossem  Reichtum  und  unbegrenztestem  Vermögen;  und  dabei 
war  er  klug  und  weise,  ein  Philosoph,  und  begabt  mit  Wissen,  Rat  und  Er- 
fahrung. Er  hatte  <)0  Frauen  geheiratet,  für  deren  jode  er  in  seinem  Palast  ein 
eigenes  Gemach  gebaut  hatte;  jedoch  hatte  er  keinen  Sohn,  den  er  hätte  pflegen 
können  (But  with  it  all  he  had  no  child  by  any  of  these  women,  who  might  be 
his  heir;  The  Story  of  Aliikar  p.  S7,  nach  Sajliäni,  Contes  Arabes  p.  1),  so  dass 
er  deshalb  schwer  bekümmert  war  und  eines  Tages  die  Sachverständigen, 
Astrologen  und  Zauberer,  versammelte  und  ihnen  seinen  Fall  vortrug,  sich  über 
seine  Unfruchtbarkeit  beklagend.  Sie  antworteten  ihm:  'Geh  hinein,  opfere 
den  Gottheiten,  frag  sie  um  Rat  und  flehe  sie  um  ihre  Huld  an;  sie 
werden  dir  dann  vielleicht  das  Geschenk  eines  Kindleins  gewähren.' 
Der  Weise  tat,  wie  sie  ihn  geheissen  hatten,  und  brachte  Üpferspenden  und 
Schlachtopfer  ror  die  Bilder,  ihre  Hilfe  erflehend  und  sich  in  Bitte  und  Gebet 
demütigend. 

Halle  a.  S. 


Kleine  Mitteilungen. 


Der  grüne  Wirtshauskranz. 

Welcher  jirüne  Strauss 
Hat  keine  Blümelein?  — 
'Der  Strauss  au  dem  Wirtshaus 
Hat  keine  Blünielein', 

heisst  es  in  einem  älteren,  in  „Des  Knaben  Wunderhorn"  mitgeteilten  Rätsel- 
liede'),  und  ein  von  Studenten  noch  vielgesungenes  Lied  Wilhelm  Müllers  beginnt 
,Im  Krug  zum  grünen  Kranze,  da  kehrt  ich  durstig  ein'',  wobei  an  das  nieder- 
deutsche Krug,  Krog,  Kraug  für  Wirtshaus  zu  denken  ist,  nicht  etwa  an  den 
Krug,  urceus.  Schon  diese  Lieder")  deuten  auf  die  weit  in  Deutschland  ver- 
breitete Sitte  hin,  die  Schenke  mit  einem  'Buschen'  oder  grünen  Kranze  zu 
schmücken,  zum  Zeichen,  dass  man  dort  Einkehr  halten  und  einen  frischen 
Trunk,  sei  es  Wein  oder  Bier,  erhalten  kann.  Aber  nicht  nur  über  deutsche 
Lande    ist    der   grüne   Wirtshauskranz    verbreitet;    auch    bei    den    Nachbarvölkern 


1)  [2,  407  =  2,  418  ed.  Birlinger-Crecelius  =]  Reclams  Ausgabe  S.  584. 

2)  [Vgl.  Erk-Böhme,  Liederhort  2,  683:  'Wo  wollt  ihr  denn  Wein  hernehmen?' 
sprach  die  alte  Schwieger.  „Wo  der  Weinkranz  hängt,  da  wird  Wein  geschenkt",  sprach 
das  junge  Mädchen  wieder.] 

13* 


19g  Andrec: 

finden  wir  ihn,  und  es  ist  gesagt  worden,  dass  er  schon  bei  den  alten  Römern 
zu  Hause  war.  Mag  es  sich  da  nicht  verlohnen  ihn  einmal  durch  die  Zeiten  und 
Länder  zu  verfolg^en,  dem  Ursprünge  nachzugehen  und  zu  zeigen,  wie  mannigfache 
Formen  diese  Einladung  zur  Stillung  des  Durstes  angenommen  hat?  Die  nach- 
folgenden Zeilen  sollen  dazu  einige  Beiträge  liefern;  denn  nur  auf  weiten  Reisen 
und  bei  regem  Sammeln  in  Europa  licsse  sich  einigermassen  die  Verbreitung 
feststellen,  was  dem  einzelnen  kaum  gelingt.  Die  Literatur  hat  sich  auch  noch 
nicht  eingehend  mit  diesem  freundlichen  Symbol  beschäftigt,  wobei  ich  als  Aus- 
nahme einen  Aufsatz  von  H.  G.  Bolton')  hervorhebe,  der  mir  Anregung  gegeben 
hat  und  zur  Vervollständigung  weiter  hier  mitgeteilten  Merke  benutzt  ist. 

In  der  Tat  ist  der  Kranz,  wie  ich  kurzweg  zusammenfassend  sagen  will,  über 
ganz  Deutschland  verbreitet  und  selbst  wo  man  ihn  in  natura  nicht  mehr 
heraussteckt  und  durch  frisches  Laub  erneuert,  ist  oft  wenigstens  der  Name  als 
Wirtshausschild  geblieben.  Schon  im  Mittelalter  ist  der  ausgesteckte  Kranz  als 
Wirtshauszeichen  neben  einem  Fassreifen  oder  einer  Kanne  nachgewiesen.  Fischart 
erwähnt  ihn  ausdrücklich  zu  solchem  Zwecke,  und  es  gibt  auch  alte  Abbildungen, 
auf  denen  er  erscheint.  =)  Oft  genug  sehen  wir  den  Kranz  abgebildet  auf  nieder- 
ländischen Schenken  bei  den  Meistern  des  16.  und  17.  Jahrhunderts  und  unter 
ihm  die  raufenden  und  betrunkenen  Bauern.^) 

Bei  der  Vergänglichkeit  und  dem  schnellen  Eintrocknen  des  frischen  Laubes 
traten  bald  Ersatzmittel  an  seiner  Stelle.  Weit  verbreitet,  zumal  in  den  Alpen- 
ländern, benutzt  man  daher  Hobelspäne,  die,  lustig  im  Winde  flatternd,  die 
Schenken  anzeigen.  Aber  auch  diese  genügen  nicht  und  werden  durch  noch 
festeren  Stoff  ersetzt,  durch  hobelspanartige  Eisenbändchen,  die  künstlich  zu  einer 
Art  Krone  zusammengesetzt  werden,  dabei  aber  in  Bayern,  den  Ursprung  be- 
zeugend, 'ßierboschen'  heissen.  Sie  finden  aber  auch  bei  Weinschenken  Ver- 
wendung und  zu  Marburg  an  der  Drau  sah  ich  das  in  Abb.  1  abgebildete  Wirts- 
zeichen, welches  den  Bierboschen  aus  Eisen  (ganz  wie  in  Bayern)  und  den  aus 
Blech  fein  säuberlich  gestalteten  Kranz  von  Weinlaub  und  Trauben  vereinigt. 

Noch  andere  Zeichen  treten  an  die  Stelle  des  Kranzes,  diesen  ersetzend.  Am 
häufigsten    das  Pentagram ma,    der    in    einem  Zuge    gezogene    fünfeckige  Stern, 

1)  The  Journal  of  American  Folk-Lore  20,  40. 

2)  M.  Heyne,  Das  deutsche  Wohnungswesen.  1890.  S.  190  [Fischart,  Bieucnkorb 
(nach  Marnii)  1Ö88  Bl.  89b:  „tilcicli  wie  dasclbs  gemeiulich  ein  Keyff  oder  ein  grüner 
Krantz  oder  Kandt  auBhengt,  anzuzeigen,  daB  diß  Hauß  ein  Wirtzliauß  seye'...  In  den 
Niederlanden  bestand  im  IG.  Jahrhundert  für  die  Wirtshäuser  geradezu  die  gesetzliche 
Verpflichtung,  „ein  Zeichen  oder  einen  Kranz",  in  späterer  Zeit  auch  zwei  Kannen  oder 
zwei  Fässchen  auszuhängeu  (J.  van  Lennep  eu  J.  ter  Gouw,  De  Uithangteckens  1868 
1,  25.  6;).  8Gf.  123).  Auch  ein  grüner  Zweig,  Husch  oder  Maien  genannt,  diente  als 
Zeichen  (ebenda  1,  143  2,  379.  Schweizerisches  Idiotikon  4,  4).  Vom  (>berrheine  be- 
richtet Mone  (Zs.  f.  d.  Uesch.  des  Überrheins  3,  --'Im.  1852  =  Alemannia  4,  49.  1877): 
.Solche  zeitweise  Schenken  hiess  man  Busch-  oder  Strausswirtschaftcn,  weil  ein  solcher 
Bauernwirt  statt  des  Schildes  einen  grünen  Ast  oder  Busch  über  seiner  Tür  liinaus- 
strcckte.  In  früheren  Zeiten  wurde  statt  des  Strausscs  auch  ein  Reif  oder  Kranz  vor  die 
Tür  gesteckt,  woher  noch  die  Krunzwirtschaften  rühren."  Im  Etschlandc  bedeutet 
Buschen  auch  eine  Schenke  (Zingerle,  KHM.  aus  Süddeutschland  1854  S.  323).  hn 
Elsass  wird  noch  jetzt  neuer  Wein  durcli  einen  Kranz  aus  Rebeiiranken  angezeigt  (Martin- 
Lienhart,  Wtb.  der  elsäss.  Mundarten  2,  238).  Das  Zeichen  der  Biersclienkcn  war  neben 
einem  Kranze  oder  Reise  auch  ein  Strohwisch  oder  ein  Kegel  (Grimm,  DWIp.2,  2.  5,  38Ü.)] 

3)  Z.  B.:  Auf  einem  Bilde  von  Isaak  van  Ostade  (1621-1049  in  der  alten  Pinakothek 
zu  München  Nr.  379.     [Hirth,  Kulturgeschichtliches  Bilderbuch  1,  Nr.  303.   326.] 


Kleine  Mitteilungen. 


197 


weicher  zugleich  Zauberschutz  gewährt,  aber  zuweilen  durch  einen  sechseckigen 
vertreten  wird.  Seine  Anwendung  als  Wirtshauszeichen  soll  auf  die  Pythagoräer 
zurückgehen,  wenigstens  erzählt  Wuttke  ohne  nähere  Quellenangabe'),  dass  ein 
sterbender  Pythagoräer  dem  Wirte,  den  er  nicht  bezahlen  konnte,  das  Penta- 
gramma  als  Erkennungszeichen  für  vorbeiwandernde  Genossen  hinterlassen  habe, 
um  ihn  so  durch  frische  Kundschaft  schadlos  zu  halten.  Zu  solchen  Stell- 
vertretern gehört  auch  ein  Kranz  aus  Holzkugeln  gebildet,  den  in  meiner  Heimat 
Braunschweig  die  einst  dort  zahlreichen  kleineren  Brauereien  an  einer  Stange 
aussteckten,  wenn  bei  ihnen  das  'Süssbier'  zu  haben  war.  Das  alles  sind  nur 
einige  Beispiele  über  das  heute  noch  vor- 
handene Vorkommen  des  Kranzes,  die  sich 
leicht  durch  weiteres  Nachforschen  in  deutschen 
Landen  vermehren  lassen. 

In  der  Schweiz  ist  der  Kranz  so  gut 
wie  bei  uns  vertreten.  Im  Hinterlande  von 
Luzern  hangt  das  Aufsetzen  des  Wirtshaus- 
busches nicht  vom  Wirte  ab,  sondern  findet  bei 
der  Kirchweih  der  Buben  (Buebechilbi)  unter 
besonderen  Feierlichkeiten  statt.  Niemals  wird 
dabei  ein  gewöhnliches  Restaurant  berück- 
sichtigt, sondern  er  prangt  nur  an  einer  Wirt- 
schaft, wo  man  Gäste  beherbergen  kann,  die 
Tavernenrecht  besitzt.  Der  'Chilbi-Chranz'  wird, 
meterbreit,  aus  Hasel-,  Eschen-,  Eichen-  oder 
Weidenzweigen  dicht  gewunden,  mit  gefärliten 
Hobelspänen  und  bunten  Fähnchen  geschmückt 
und  in  seinem  Innern  vom  Küfer  mit  einem 
Fässchen  versehen.  Dann  wird  er  da,  wo  die 
Kirchweih  abgehalten  wird,  über  der  'Tafäre" 
(Wirtshausschild)  befestigt,  wo  er  mehrere  Jahre 
aushalten  muss.-) 

Auch  in  Prankreich  ist  der  aus  Hülsen 
(Hex),  Buchs,  Epheu  und  selbst  aus  Stroh  ge- 
bildete 'bouchon  de  cabaret'  verbreitet;  er  gilt 
selbst  als  Bezeichnung  einer  Kneipe  schlecht- 
hin, wie  aus  der  Redewendung  „II  n'y  a  dans 
ce  village  qu'un  mauvais  bouchon"  hervorgeht. 
H.  C.  Bolton  hat  gefunden,  dass  schon  in  einem 
Erlasse  des  Königs  Karl  VI.  vom  Jahre  141Ö  die  couronne  oder  der  cerceau  nur 
da  geführt  werden  durften,  wo  der  Wein  mit  Salbei  oder  Rosmarin  gewürzt 
wurde.') 

In    Italien    erblicken    wir    den    Wirtshausbusch    als 
Erscheinung,    wenn    auch    in  recht  verschiedener  Form. 
Adria  beobachtete  ich  ihn  meist  als  frischen  Lorbeerzweig  oder  Zweig  eines  anderen 


l.  Weinlaubkranz  aus  bemaltem 

Blech,  darunter  der  Bierbuschen 

(Marburg  in  Steiermark'!. 


eine    ganz    gewöhnliche 
In    den   Städten    an  der 


1)  Der  deutsche  Volksaberglaube  ^  S.  18L  [An  der  Hauptstelle  über  das  Penta- 
gramma  der  Pythagoräer,  Lucian  Pro  lapsu  in  salutando  c.  5,  steht  nichts  davon;  eben- 
sowenig bei  A.  G.  Lange,  Vermischte  Schriften  18152  8.  152:    Der  Drudenfuss.J 

2)  Schweizerisches  Archiv  für  Volkskunde  10,  257. 

3)  [Taverniers  mettront  enseignes  et  bouchons,  heisst  es  in  der  'Ordonnance  de 
Louis  XIV',  chap.  7,  art.  23.] 


198  Andree: 

immergrünen  Gewächses  und  in  Norditalien,  wo  solches  nicht  immer  zur  Hand 
ist,  kann  man  auch  statt  des  Buschs  die  Hobelspäne  sehen,  die  vielleicht  entlang 
den  Eisenhahnen  aus  den  Alpenländern  dorthin  vorgedrungen  sind.  Sie  finden 
sich  auch  in  Venedig  und  wenn  man  diese  Frasca  über  den  Türen  der  Osterien 
näher  untersucht,  so  sieht  man,  dass  die  graziös  herabhängenden  Hobelspäne  alle 
am  Grunde  mit  einem  Holzknopfe  natürlich  zusammenhängen,  dass  sie  also,  um 
als  Wirtshausbusch  zu  dienen,  besonders  vom  Tischler  hergestellt  sein  müssen; 
auch  der  i'bergang  dieser  vergänglichen  Hobelspäne  zu  nachgeahmten,  solideren, 
eisernen,  wie  in  Bayern  oder  Kärnten,  kann  im  Venetianischen  beobachtet  werden. 
Mannigfaltiger  sah  ich  die  Einladung  zum  Weintrinken  in  mittelitalienischen 
Städten  und  an  der  Westküste.  Traditionell  bedeutet  dort  für  den  Analphabeten 
ein  schwarzer  Kreis,  der  auf  einem  Brette  vor  der  Osteria  angebracht  ist,  einen 
Soldo  und  aus  der  Zahl  dieser  Kreise  erkennt  er,  wieviel  Soldi  der  Liter  kostet 
(Abb.  2).  Zuweilen  ist  da  noch  ein  R  oder  B  hinzugefügt,  was  darauf  deutet, 
dass  es  sich  um  vino  rosso  oder  bianco  handelt.  Mannigfaltig  und  hübsch  heraus- 
geputzt, mit  einlachen  Mitteln,  sind  die  in  Terracina  ausgesteckten  Tafeln,  von 
denen  ich  einige  zeichnete.  Hat  der  Verkäufer  nichts  anderes  zur  Hand,  so 
nimmt  er  ein  paar  Bogen  weisses  Papier,  gestaltet  sie  zu  Tüten  und  hängt  sie 
als  Schmuck  an  die  Tafel,  auf  welcher  das  Wort  Vino  prangt;  lustiger  sieht  es 
aus,  .wenn  er  frisches  Fenchelkraut  daran  hängt,  am  schönsten,  wenn  er  einige 
frische  Orangen  samt  dem  Laube  benutzt  und  dazwischen  buntfarbige  Papier- 
spiralen,  die  im  Winde  flattern  (Abb.  3 — 5). 

Im  übrigen  glaubt  der  Italiener,  dass  auch  ohne  unser  Zeichen  der  gute 
Wein  von  selbst  Absatz  habe,  wie  das  Sprichwort  bezeugt:  'AI  buono  vino  non 
bisogna  frasca.'^) 

Der  grüne  Kranz  ist  auch  nach  England  hinübergewandert,  und  hier  lautet 
das  dem  italienischen  wörtlich  entsprechende  Sprichwort  'Good  wine  nceds  no 
bush.'  Die  englische  Literatur  ist  reich  an  Hinweisungen  auf  diesen  Busch,  und 
hier  muss  ich  auf  die  von  H.  C.  Boltou  gesammelten  Belege  hinweisen.  Schon 
bei  Chaucer  findet  er  den  entsprechenden  'Ale-stake'  belegt,  der  sich  (1532)  bei 
Thomas  More  wiederholt.  In  der  Zeit  der  Königin  Elisabeth  ist  der  Epheubusch 
als  Zeichen  der  Weinschenken  oft  wiederholt,  und  Shakespeare  benutzt  das  gang- 
bare Sprichwort  im  Epilog  zu  "As  You  like  it',  indem  er  sagt:  „If  it  is  true  that 
good  wine  needs  no  bush,  It  is  trne  that  a  good  play  needs  no  epilogue."  Im 
weinreichen  Istrien  und  Dalmatien,  wo  es  gleichfalls  an  Analphabeten  nicht 
fehlt,  wie  in  Italien,  hat  man  auch  die  schwarzen  Kleckse  zur  Bezeichnung  des 
Weinpreises  eingeführt,  nur  dass  sie  hier  Kreuzer  bedeuten  und  auf  weissem 
Papierbogen  vor  den  Wirtshäusern  prangen. 

Und  nun  zum  Ursprung  unseres  Kranzes.  Es  lässt  sich  ja  nicht  ohne 
weiteres  abweisen,  dass  er  hier  und  da  ohne  Entlehnung  selbständig  entstanden 
sein  kann.  Wenn  wir  aber  annehmen,  dass  er  mit  dem  Weinbau  narh  Deutsch- 
land usw.  gekommen  ist,  zuerst  an  Weinwirtschaften  (den  noch  im  Namen  in 
Süddeutschland  erhaltenen  römischen  Tavernen)  dem  Zecher  winkte,  wenn  der 
Gerraane  sah,  wie  der  Legionär  unter  diesem  Zeichen  sein  Seidel  (situla)  trank, 
und  ihm  nachahmte,  so  mag  er  auch  mit  vielen  anderen  Wörtern  auf  den  Wein 
zurückgehen,    den  römische  Legionare  im  dritten  Jahrhundert    an    den  Rhein  ver- 


1)  [Ebenso  im  Deutschen:  'Guter  Wein  darff  keines  außgestocktcn  Rejffs  (Busches, 
Kranzes)'  und  in  vielen  anderen  Sprachen:  Wander.  Sprichwörtorlexikon  ü,  i'T.  —  Aus 
Spanien  sei  das  Sprichwort  angclührt:  'Quien  ranio  pone,  su  vino  quicre  vender' 
(Wander  2.  1587).] 


Kleine  Mitteilungen. 


199 


pflanzten,  deren  Sprache  noch  nachklingt  in  unserer  Kelter  (calcatura),  dem  Spund 
(puncta),  dem  Most  (raustum),  dem  Essig  (acetum),  dem  süddeutschen  Ausdruck 
für  Kelter  'Torkel'  (lorculum)  und  im  Worte  Wein  selbst. 


_9_ 


VINO 


1',    Wi'insdiild   für  Aiialplialieton,    mit 

der   Bezeichnunn'  von   3  und  4  Soldi 

(TerracinaV 


Weinschild  mit  Papiertüten  ^Terracina\ 


4.    Weinschild  mit  frischem  Fenchelkraut       5.   Weinschild  mit  Orangen  und  farbigen 
(Terracina).  Papierspiralen  (.Terracina). 


Nun  fragt  sich,  ist  der  Kranz  als  Wirtshauszeichen  auch  bei  den  alten  Römern 
belegt?  Ist  er  etwa  aus  dem  Epheukranze  des  Bacchus  hervorgegangen,  dem  zu 
Ehren    man    solche   Kränze    trug?     Häufig    finden   wir  angegeben,    das   man   dem 


200  Andrce,  John: 

Bacchus  zu  Ehren  Epheukriinze  trug.    So  heisst  es   z.  B.  im  Festkalender  (III,  767) 
von  einer  Alten: 

Epheii  schmückte  sie,  Epheu  ist  des  Bacchus  Kehagen, 
und  im  zweiten  Buche  der  Makknbüer  (6,  7)  wird  erzählt,  dass  die  Römer  die 
Juden  zwangen,  am  Bacchusfeste  Epheukriinze  dem  Gotte  zu  Ehren  zu  tragen. 
Oft  kehrt  in  den  Ornamenten  antiker  Trinkschalen  der  Epheu  wieder.  Xun  will 
H.  C.  Bolton  in  der  angeführten  Abhandlung  den  Nachweis  führen,  dass  der  Wirts- 
hauskranz schon  sicher  bei  den  alten  Römern  vorhanden  gewesen  sei,  und  zieht 
dafür  die  Sentenzen  des  Publius  Syrus  und  das  Werk  Columellas  De  re  rustica 
an.  Allein,  so  sehr  ich  mich  auch  bemühte  in  beiden  Schriftstellern  und  in  den 
verschiedensten  Ausgaben  derselben  die  von  Bolton  angeführten  Zitate  zu  finden  — 
ich  kann  nur  sagen:  sie  sind  an  beiden  Stellen  nicht  vorhanden,  und  damit  fällt 
der  Nachweis,  dass  —  wenigstens  nach  diesen  Quellen  —  der  grüne  Wirtshaus- 
busch bei  den  Römern  vorhanden  und  der  Vater  des  unserigen  gewesen  sein  könne. 
Aber  wiederholt  wird  in  älteren  Werken  gesagt,  bei  den  Römern  sei  es  Redensart 
gewesen,  dass  man  da  keinen  Epheu  habe  auszustecken  brauchen,  wo  es  guten 
Wein  gäbe. 

Ich  verweise  hier  auf  das  für  seine  Zeit  recht  tüchtige  Lexikon  von  Zedier'), 
wo  es  heisst:  „Man  pflegte  auch  vor  denen  Häusern  Epheu- Uräntze,  als  ein 
Zeichen  zu  hängen,  allwo  Wein  sollte  verkauffet  werden.  Hinc  vino  vendibili  non 
opus  est  suspensa  hedera."  Leider  fehlt  auch  bei  Zedier  die  Angabe,  wo  bei 
irgend  einem  klassischen  Schriftsteller  diese  Redensart  vorkommt,  so  dass  ich  es 
einem  besser  beschlagenen  Philologen  überlassen  muss,  deren  Ursprung  nach- 
zuweisen,*) Dass  der  römische  Epheukranz  nach  dieser  Stelle  nicht  vonnöten  ist 
einen  guten  Wein  an  den  Mann  zu  bringen,  stimmt  wörtlich  übercin  mit  den  oben 
angeführten  deutschen,  italienischen,  französischen  und  englischen,  noch  heute  ge- 
brauchten Redensarten.  Bestätigt  sich,  dass  die  Römer  den  Epheukranz  schon 
als  Wirtshauszeichen  verwendeten,  dann  kann  dieses  heute  noch  bei  uns  gebrauchte 
Symbol  auf  das  ehrwürdige  Alter  von  zweitausend  Jahren  zurückblicken. 

München.  Richard  Andree. 


1)  Grosses  vollständiges  Universallexikon  8,  VM'A  unter  Epheu.   (Halle  und  Leipzig  lläi). 

2)  [An  dem  antiken  Ursprünge  dieses  zuerst  bei  dem  Italiener  Aiigido  Poliziano 
(t  1494)  in  einem  Briefe  an  Ermolao  Barbaro  (Epistolae  1,  11  ^  Opera,  Paris  1519  1, 
Bl.  7a)  auftauchenden  Sprichwortes  möchte  auch  ich  zweifeln.  Erasmus  hat  es  zwar 
in  seine  Adagia  (Basel  löl3  Bl.  158a  nr.  1521  =  Frankfurt  1599  S.  164)  aufgenommen, 
bemerkt  aber  in  seinen  Collcctanea  adagiorum  veterum  (Argentorati,  M.  Schürer  1512 
Bl.  32b.  Zuerst  1509)  darüber:  „Vino  vendibili  suspensa  hedera  nihil  opus.  E  niedio 
sumptum  videtur  et  recentius.  Hoc  enim  tempestatis  vinariis  taberuis  Iniiusmodi  signum 
praetenditur.  Apud  Politianum  legitur.  Quam  scntentiam  Plautus  in  Poenulo  [I.  2, 
v.  128]  lepidissimis  verbis  cxtulit: 

Inveudibili  mcrci  oportet  nitro  eniptorem  adducere, 
Proba  merx  facile  emptorem  rccipit,  tametsi  in  abstruse  sita  est." 
Irrig  schreiben  F.  Michel  und  E.  Fournier  (Histoire  des  hötelleries  1,  100.  1859)  wie  auch 
Bolton  das  Sprichwort  dem  Pulililius  Syrus  zu:  nirgends,  wo  in  der  neueren  wissenschaft- 
lichen Literatur  von  antiken  Wirtshauszeichen  die  Rede  ist  (z.B.  Bccker-<iöll,  Gallus  3, 
45.  1882),  wird  es  angeführt;  Zedier  mag  es  aus  Martin  Jlylius  (llortus  philosophicus, 
Görlitz  l.')97  S.  321  unter  'Hedera')  und  dieser  wieder  aus  Erasmus  entlehnt  haben.  — 
Auch  die  antike  Redensart  'sub  Corona  vendero'  (als  Sklaven  verkaufen)  bezieht  sich 
nicht  etwa  auf  einen  aufgchiingten  Kranz,  sondern  nach  Gellius  7,  4,  3  darauf,  dass  die 
Kriegsgefangenen  selber  (wie  Opfertiere)  bekränzt  wurden.  —  J.  Bolte.] 


Kleine  Mitteilungen. 


201 


Das  Fahnenschwingen  der  Fleischer  in  Eger. 

Das  diesjährige  Pahnenschwingen  der  Fleischer  in  Eger  am  \'2.  Februar  1907 
war  vom  schönsten  Wetter  begünstigt  und  hat  durch  einige  glückliche  Erweiterungen 
und  Ausgestaltungen  des  alten  Brauches  zu  einem  Festspiel  sehr  gewonnen. 
Bekanntlich  geht  dieser  Brauch  zurück  auf  einen  mittelalterlichen  Fehdezug,  den 
die  Egerer  i.  J.  1412  gegen  die  Raubfeste  Neuhaus  im  Selber  Waide  unter- 
nahmen. Die  Feste  wurde  gebrochen,  die  Gebrüder  Forster  gefangen  genommen 
und  die  auf  der  Burgzinne  prangende  „Goldene  Sonne"  im  Triumph  nach  Eger 
geführt.  Bei  diesem  Zuge  hatte  sich  die  Zunft  der  Fleischer  besonders  aus- 
gezeichnet. Deshalb  gewährte  ihr  der  Rat  zu  Eger  das  Privileg,  am  Faschings- 
dienstag die  Zunftfahne  vor  das  Haus  herauszuhängen,  diese  mit  dem  roten  Feld- 
zeichen zu  zieren    und  sie  unter  Trorapetenschali  neunmal   zu  schwingen.     Dieses 


Das  Fahnenschwingen  der  Fleischer  zu  Eger. 


Vorrecht  des  Fahnenschwingens  der  Fieischerzunft,  das  in  einigen  Jahren 
schon  500  Jahre  alt  wird,  hat  sich  nun  in  der  Stadt  Eger  bis  heute  lebendig 
erhalten,  wiederum  ein  Zeichen,  dass  gewisse  Bräuche,  mögen  sie  auch  in  der 
Ungunst  der  Zeiten  zuweilen  versiegen,  in  Epochen  nationalen  Aufschwungs  eben- 
falls wieder  neues  Leben  und  erhöhte  Bedeutung  gewinnen.  Ursprünglich  wurde 
dies  Privilegium  in  der  allereinfachsten  Weise  von  Meisterssöhnen  und  Jung- 
meistern ausgeübt,  als  interner  Zunftbrauch  vor  dem  Hause  des  jeweiligen  Zunft- 
meisters, woran  sich  abends  ein  Tanz  in  der  „Auflage"  (einem  Wirtshause)  schloss 
und  am  anderen  Tage  ein  fröhlicher  Umzug  mit  Musik  von  einem  Meister  zum 
anderen,  wobei  Fleisch  gesammelt  und  der  Ertrag  dann  verzehrt  wurde.  Diese 
Feier  fand  alljährlich  statt  und  war  derart  bekannt,  dass  sie  nur  wenig  Neugierige 
versammelte. 

In  den  achtziger  Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts  trat  eine  Änderung  ein. 
Der  bisher  nur  im  Kreise  der  Zunft  gepOegte  Brauch  sprengte  jetzt  diese  engen 
Bande,    trat  offen  hinaus,  und  das  Fahnenschwingen  wurde  zu   einem  historischen 


202  Joliii:    Kleine  Mitteilungen. 

Feste  erweitert,  das  auf  öffentlichem  Marktplatze  unter  dem  Zusammenströmen 
einer  grossen  Menge  Einheimischer  und  Fremder  stattfand.  So  geschah  es  zum 
ersten  Male  im  Jahre  1SS(;  und  dann  jcdos  weitere  fünfte  Jahr,  immer  am  Faschings- 
dienstag (18iM,  1890  und  IftOl,  im  letzteren  Jahre  ausnahmsweise  am  S.Sep- 
tember). In  dieser  Form  wurde  das  Pahnonschwingen  wiederholt  geschildert  (so 
in  „Unser  Egerland"  3,  4  und  5,  38),  in  Photographien  verherrlicht  und  in  einer 
eigenen  Festschrift  beschrieben  (Eger  1901,  Verlag  der  Egerer  Fleischerzunft). 
Schon  im  Jahre  1901  wurde  in  dem  Festzug,  der  jedesmal  nach  Beendigung  des 
Fahnenschwingens  durch  die  Strassen  Egors  zog,  ein  Postwagen  mitgeführt,  der 
die  Feste  Neuhaus  darstellte.  Man  hat  nun  in  diesem  Jahre  versucht,  sich  nicht 
bloss  auf  den  Brauch  des  Pahnenschwingens,  auf  das  .\usüben  eines  alten  Privi- 
legiums zu  be.schränken,  sondern  das  ganze  Bild  eines  mittelalterlichen  i^ehde- 
zuges  zur  Darstellung  zu  bringen,  so  dass  man  sich  mitten  im  Leben  und  Treiben 
Alt-Egers  wähnen  konnte.  Dieser  Versuch  ist  sehr  gut  gelungen.  Der  Paschings- 
dienstag  (l-2.  Februar)  1907  war  ein  Pesttag  für  Eger.  Schon  am  frühen  Morgen 
strömte  die  Bevölkerung  von  nah  und  fern  zusammen,  und  jeder  Bahnzug  brachte 
ganze  Schwärme  Fremder  und  Neugieriger.  Die  Idee  des  vorbereiteten  Fest- 
spieles: Siegreiche  Heimkehr  der  Egerer  aus  dem  Pehdezug  —  Empfang  des 
Zuges  auf  offenem  Marktplatz  durcii  die  Bürgermeister  und  den  Rat  der  Stadt, 
Begrüssung  desselben  und  Verlesen  des  Privilegiums  durch  den  Stadtschreiber  — 
schliesslich  das  Fahnenschwingen  —  wurde  vortrefflich  gelöst  und  sehr  gut  zur 
Darstellung  gebracht. 

Um  9  Uhr  waren  auf  der  Tribüne  des  oberen  Marktplatzes  bereits  der  Senat 
von  Eger  vom  Jahre  1412  mit  den  vier  Bürgermeistern  und  dem  Ratsschreiber 
versammelt,  alle  in  ernstes  Schwarz  gekleidet  mit  weissen  Halskrausen,  und  schon 
kam  es  auch  von  allen  Strassen  mit  schmetternder  Musik  heran,  umzog  den 
Marktplatz  und  nahm  dann  Aufstellung.  Der  siegreich  heimkehrende  Fehdezug 
der  Egerer  wurde  von  mehreren  Herolden  eröffnet,  dem  IG  Trommler  und  Pfeifer 
folgten,  die  einen  alten  Siegesmarsch  spielten.  Dann  kam  ein  Zug  Mannen, 
reisiges  Fussvolk,  mit  Spiessen  und  Hellebarden,  ein  Festwagen  mit  der  Burg 
N'euhaus  und  der  von  der  Spitze  gebrochenen  „Goldenen  Sonne",  eine  Abteilung 
Reitervolk,  dann,  von  Hellebardierorn  begleitet,  die  zwei  gefangenen  Raubritter, 
schliesslich  Rüstwagen,  mit  Beute  und  Proviant  reichlich  beladen,  wiederum  Fuss- 
volk und  Berittene,  Diesem  historischen  Zug  folgte  die  Zunft  der  Fleischer, 
voran  die  Schützonmusik,  dann  zwölf  Meister  zu  Pferde  mit  schwarzrotgoldenen 
Schärpen  und  zwei  Züge  Gesellen  (.')<;  Mann,  Ausrüstung:  weisse  Janker,  weisse 
Schürzen,  grüne  Samtkappe,  blauroten  Schlips  und  das  Beil,  das  Zeichen  der 
Fleiseherinnung  auf  der  Schulter)  mit  der  Zunftfahne,  die  man  vom  Zunft- 
meister abgeholt  hatte.  Nachdem  die  beiden  Züge  sich  geordnet  und  vor  dem 
Senate  Aufstellung  genommen,  berichtete  der  Anführer  des  historischen  Zuges  von 
der  siegreichen  Erstürmung  der  Feste  Neuhaus  und  übergab  die  Trophäe  „die 
Goldene  Sonne  von  Neuhaus",  die  Gefangenen  und  die  übrigen  Beutestücke  in 
die  Hände  des  Bürgermeisters  und  Rats.  Der  Bürgermeister  hielt  hierauf 
eine  bcgrüssende  Ansprache,  und  liess  dann  durch  den  Stadtsehreiber  die  be- 
treffende Pergamentrolle  verlesen,  welche  der  Fleischerzunft  das  Privilegium  des 
Fahnenschwingens  verleiht.  Hierauf  begann  das  Fahiienschwingen  in  der  üblichen 
Weise. 

Mittags  fand  ein  Festessen  im  Hotel  .,Zu  den  zwei  Prinzen"  statt,  um  'i  Uhr 
ein  Festzug  der  Zunft  und  der  sämtlichen  historischen  Gruppen  durch  die 
Strassen    der  Stadt.      Dann  folgten  noch  Reigenspiele    des   Fussvolkes  am  Markt- 


Bolte:    Berichte  und  Büclieranzeigen.  203 

platz,  das  Spiel  mit  dem  wilden  Mann  u.  a.  und  abends  ein  F'estball  im  Schützen- 
hause. Diese  Ausgestaltung  und  Erweiterung  des  alten  Brauches  zu  einer  Art 
historischen  Pestspiels  muss  als  vollkommen  gelungen  bezeichnet  werden.  Die 
zum  Teil  vom  Verein  „Deutsche  Heimat"  in  Wien  gestellten  Kostüme  waren 
wohl  etwas  farbenbunt,  wirkten  aber  im  Gesamteindruck  gut.  ja  einzelne  Gestalten 
kamen  vollendet  zur  Geltung. 

Eger.  Alois  John. 


Berichte  und  Bücheranzeisen. 


Neuere  Arbeiten  über  das  deutsche  A'olkslied. 

Die  umfänglichste  und  wichtigste  Arbeit  allgemeiner  Art,  die  seit  unserem 
letzten  Berichte  (oben  15,  350 — 356)  über  das  deutsche  Volkslied  erschienen  ist, 
bietet  das  bereits  von  Reuschel  ausführlich  charakterisierte  (oben  S.  116),  von 
grosser  Sachkenntnis  und  warmer  Liebe  zum  Gegenstande  zeugende  Werk 
O.  Böckeis'),  das  namentlich  durch  die  umfassende  Heranziehung  der  aus- 
ländischen Volksliteraturen  eine  erfreuliche  Weite  des  Blickes  für  das  Echte  und 
Ursprüngliche  erhält.  Die  Keime  der  Dichtung  bei  den  Urvölkern  beleuchtet 
Erich  Schmidts^)  ausgezeichnete  obwohl  knappe  Übersicht,  der  auch  ausge- 
wählte Literaturangaben  nicht  mangeln,  während  Andree^)  die  dichterische  Tätig- 
keit der  Frau  an  den  Wiegen-,  Liebes-,  Klage-  und  Arbeitsliedern  der  Naturvölker 
darlegt.  Die  seit  alters  bei  der  Leichenwache  und  beim  Begräbnis  angestimmten 
Lieder  mustert  Blümml*)  in  einer  lehrreichen  Übersicht;  als  Inhalt  der  noch  im 
11.  Jahrhundert  bezeugten  'diabolica  carraina  et  saltationes'  (ahd.  sisuua)  der  Ger- 
manen vermutet  er  eine  Beschreibung  des  Weges,  den  der  Tote  einzuschlagen 
hat,  wie  sie  auch  in  einem  Totenliede  des  Rigveda  10,  14  gegeben  wird.  In 
christlicher  Zeit  kommt  zu  den  naheliegenden  Motiven  der  Klage  um  den  Ver- 
storbenen und  der  Lobpreisungen,  die  z.  B.  in  den  lateinischen  Planctus  des  Mittel- 
alters stehend  sind,  die  Fürbitte.  Angehängt  sind  die  Texte  42  neuerer  Toten- 
lieder aus  dem  Pustertal,  in  drei  Gruppen  geordnet:  der  Tote  spricht,  die  Hinter- 
bliebenen reden,  oder  die  Qualen  des  Fegfeuers  werden  geschildert.  Grossenteils 
stammen  diese  Dichtungen  übrigens,  was  nicht  gesagt  wird,  aus  gedruckten  Gesang- 
büchern   oder    sind    bekannten    Liedern    nachgebildet.      Da    die  wichtigen  Bücher 


1)  Buckel,  Psychologie  der  Volksdichtung.    Leipzig,  Teubner  1906.    V,  432  8.  7  Mk. 

2)  Erich  Schmidt,  Die  Anfänge  der  Literatur  und  die  Literatur  der  primitiven 
Völker.  27  S.  (=  Die  Kultur  der  Gegenwart  hsg.  von  P.  Hinneberg  1,  7.  ebd.  190G).  — 
[Bespricht:  Poetische  Triebe,  Rhythmus,  chorische  Urpoesie,  Urformen,  Gattungen 
choriseher  und  individueller  Lyrik  (Gebet,  Rätsel,  Kosmogonie,  Ackerlieder,  Erotik,  Tier- 
poesie, Frauen,  Arbeit,  Kampf,  Totenfeier,  Satire),  Ausblick  auf  das  Drama,  auf  das 
Epos.] 

3)  R.  Andree,  Frauenpoesie  bei  Naturvölkern  (Korresp.-Blatt  der  d.  Ges.  f.  Anthro- 
pologie 37,  Nr.  9-11.    1906). 

4)  E.  K.  Blümml,  Germanische  Totenlieder  mit  besonderer  Berücksichtigung  Tirols 
(Archiv  f.  Anthropologie  n.  F.  .'>,  149—181.    1906). 


204  Bolt«: 

John  Müiers  über  Kunstlied  und  Volkslied  bereits  oben  16,  3(J4  angezeigt  wurden, 
wenden  wir  uns  von  den  allgemeinen  Arbeiten  gleich  zu  den  Textpublikationen. 

Für  das  ältere  Volkslied  hat  wiederum  A.  Kopp')  drei  recht  wertvolle  Ver- 
ölfontlichungen  gespendet:  neben  einem  Bericht  über  eine  Kölner  Hs.  des  16.  Jahr- 
hunderts zunächst  eine  Übersicht  der  interessanten,  über  20(1  Lieder  und  Melodien 
enthaltenden  Handschrift,  die  der  Student  Petrus  Fabricius  um  1605  in  Kiel  an- 
legte, dann  eine  Untersuchung  des  um  1700—1710  in  Sachsen  gedruckten  Berg- 
liederbüchlcins,  das  mit  seinen  2.)3  Nummern  die  wichtigste  und  reichhaltigste 
Volksliedersammlung  in  dem  Zeitraum  von  16CX)-1770  darstellt  und  daher  bereits 
von  Uhland,  Erk  und  Böhme  ausgebeutet  wurde,  und  der  nur  in  einer  Kopie 
erhaltenen  Sammlung  galanter  und  schäferlicher  Modedichtungen,  die  1740—1792 
von  der  aus  Poniraern  stammenden,  im  Schwarzburgischen  ansässigen  Frau  Sophie 
Margarete  v.  Holleben  angelegt  wurde.  Endlich  beschreibt  K.  das  .Ol  Nummern 
enthaltende  Heft  v.J.  1747  'Gantz  neu  entsprossene  Liebes-Rosen',  auf  das  schon 
HolTmann  v.  Fallersleben  hingewiesen  hatte.  Wie  in  früheren  Fällen  fügt  er  dem 
Verzeichnis  einen  Nachweis  der  Quellen  und  Parallelen  sowie  den  Abdruck  der 
bemerkenswerten  Stücke  ein.  —  Einzelne  Texte  aus  älterer  Zeit  und  Bemerkungen 
zu  solchen  gaben  Blümml-)  und  Bolte.')  —  Der  hübsche  und  wohlfeile  Neu- 
druck des  'Wunderhorns',  den  E.  Grisebach*)  zu  dessen  hundertjährigem  Jubiläum 
erscheinen  Hess,  zeichnet  sich  durch  sorgfältige  Textbehandlung  und  eine  sach- 
kundige Einleitung  aus;  ohne  Kürzungen,  Änderungen  und  kritische  Zutaten  er- 
halten wir  hier  das  Werk  so,  wie  es  einst  auf  die  Zeitgenossen  wirkte.  Der  ge- 
lehrte Benutzer  freilich  muss  sich  darein  finden,  dass  die  Zusätze  der  Ausgabe 
von  184Ö  — 1S46  nicht  aufgenommen  sind,  und  wird  noch  mehr  bedauern,  dass  die 
Seitenzahlen  der  alten  Originalausgabe  nicht  am  Rande  angegeben  sind  und  so 
die  Auffindung  von  Zitaten  erleichtern.  —  Eingehender  und  mit  Benutzung  von 
Steigs  und  Lohres  Forschungen  charakterisiert  J.  E.  V.  Müller'^)  die  Tätigkeit 
der  beiden  Sammler  des  Wunderhorns,  die  beide  produktiv  veranlagt,  ihre  Texte 
nicht  mit  wissenschaftlicher  Treue  gaben,  sondern  zustutzten,  ergänzten  und  durch 
Einschaltung  eigener  Dichtungen  mehrten,  Arnim  mehr  als  unbefangener  Drauf- 
gänger auf  die  Gegenwart  gerichtet,  Brentano  in  literarischen  Dingen  urteilsfähiger 
und  zu  künstlicher  Nachahmung  älterer  Sprache  geneigter.  Ihr  Verhältnis  zu  den 
Vorlagen  wird  in  der  'Einzeluntersuchung'  von  zehn  Liedern  dargelegt. 

1)  A.  Kopp,  Die  Darmstadter  Handschrift  nr.  1213  (Zs.  f.  dtsch.  Philologie  37, 
5(»9-515).  —  Die  Liederhandschrift  des  Petrus  Fabricius  (Archiv  f.  neuere  Sprachen  117, 
1—16.  241-25.')).  —  Ältere  Liedersammlungen,  1.  Sächsisches  Bergliederbüchlein,  2.  Der 
Frau  von  Holleben  (geb.  v.  Norniann)  Liederhandschrift.  Leipzig,  G.  Schönfeld  1906. 
VI,  21.'!  S.  geb.  4,50  Mk.  (=  Beiträge  nn  Volkskunde  hsg.  von  E.  Mogk,  4.  Heft).  —  Liebes- 
rosen  1747  (Hess.  Blätter  f.  Volkskunde  5,  1—26). 

•_')  E.  K.  Blümml,  Volkslied-Miszellen  II  (.Vrchiv  f.  neuere  Rpr.  115,  30-66).  — 
Johanneslied  (Mitt.  f.  d.  Gesch.  der  Deutschen  in  Böhmen  41,  270-272).  —  Gcnovcfalied 
aus  Steiermark  (Die  Kultur  1906,  204-209).  —  Notizen  zum  steirisohen  Volksliede  (oben 
16,  324—328.  436— 4-lü/.  —  Zur  Motivengeschichte  des  deutschen  Volksliedes,  1:  Die  Lilie 
als  Grabesptlanze  (Studien  zur  vgl.  Litgesch,  6,  409-427). 

3)  J.  Boltc,  Zum  deutschen  Volksliede  22-30  (oben  16,  181-190). 

4)  Des  Knaben  Wunderhoru.  Alte  deutsche  Lieder,  gesamm-^lt  von  L.  A.  v.  Arnim 
und  C.  Brentano.  Drei  Teile  in  einem  Bande.  Hundcrtjahrs-Jubelansgabe  hsg.  von 
E.  Grisebach.  Mit  Nachbildung  der  fünf  Kupfortitel  der  Original-Ausgaben.  Leipzig, 
Max  Hesse  1906.    XXI,  aSS  S.  geb.  2  Mk. 

5)  J.  E.  V.  Müller,  Arnims  und  Brentanos  romantische  Volkslied-Erneuerungen,  ein 
Beitrag  zur  Geschichte  und  Kritik  des  'Wunderhorns',  I.  Progr.  d.  Hansaschule  in  Bcrge- 
dorf  l'.KX;.   74  S.  8°. 


Berichte  und  Bücheranzeigen.  205 

Von  neuen  Sanamlungen,  die  das  ganze  deutsche  Sprachgebiet  betreffen,  seien 
erwähnt  das  für  den  Schulunterricht  bestimmte,  ö5  ältere  Lieder  mit  guten  Er- 
läuterungen enthaltende  Werkchen  von  J.  Sahr'),  die  bescheiden  auftretende,  mit 
Kenntnis  der  Literatur  und  Geschmack  ausgewählte  Lese  volkstümlicher  Kinder- 
lieder von  Maria  Kühn-)  und  das  Volksliederbuch  für  die  deutschen  Männerchor- 
vereine'),  das  auf  Befehl  Kaiser  Wilhelms  IL  von  einer  unter  der  Leitung  des 
Preiherrn  Rochus  von  Liliencron  und  seines  Vertreters  Max  Friedlaender 
stehenden  Kommission  von  Musikern  und  Musikgelehrten  bearbeitet  worden  ist. 
Das  letztgenannte  Werk  sollte  nach  der  mehrfach  verkannten  Absicht  des  hohen 
Auftraggebers  nicht  etwa  alle  aus  dem  Volke  hervorgegangenen  oder  im  Volks- 
munde lebenden  Liedertexte  und  Weisen  für  die  Wissenschaft  fixieren,  sondern 
den  Gesangvereinen  eine  Auswahl  des  Besten  aus  dem  Liederschatze  des  letzten 
Jahrhunderts  wie  der  älteren  Zeit  bieten,  die  sie  vor  Verkünstelung  und  Einseitig- 
keit bewahre.  Dabei  sollte  es  sich  nicht  auf  die  eigentlichen  'Volkslieder' 
beschränken  (denn  von  jeher  haben,  wie  R.  v.  Liliencron  in  seiner  trefflichen 
Einleitung  ausführt,  Kunstgesang  und  Volksgesang  in  Wechselwirkung  gestanden), 
sondern  auch  volkstümliche,  d.  h.  solche  Kunstlieder  aufnehmen,  die  durch  die 
charakteristischen  Eigenschaften  des  Volksgesanges,  Unmittelbarkeit,  Wahrheit, 
Einfachheit,  Schlichtheit,  Innigkeit,  auch  schlichten  Menschen  verständlich  und 
ergreifend  werden.  Nach  ihrem  musikalischen  Werte  wurden  aus  etwa  ].')  OÜU  Liedern 
schliesslich  610  Nummern  ausgewählt  und  rund  -j^  davon  für  den  Männergesang 
neu  gesetzt;  sie  sind  dem  Inhalte  nach  in  zwölf  Gruppen  geschieden  und  mit  An- 
merkungen über  ihren  Ursprung  und  Geschichte  versehen;  neben  Volksliedern 
des  15.  bis  19.  Jahrhunderts  erscheinen  Kompositionen  von  Orlando  Lasso, 
H.  Albert,  Händel,  Mozart,  Beethoven  usw.  bis  auf  Hegar  und  R.  Strauss.  Für 
den  vierstimmigen  Satz,  durch  den  das  schlichte  Volkslied  an  sich  schon  in  die 
Sphäre  der  Kunst  gehoben  wird,  galt  als  Ziel,  nicht  nur  einfachen  und  kleinen 
Chören,  sondern  auch  grösseren  und  leistungsfähigen  \'ereinen  lohnende  und  reiz- 
volle Aufgaben  darzubieten.  Vierzig  Künstler  verschiedener  Richtung  haben  sich 
daran  beteiligt;  wieweit  das  Erstrebte  erreicht  ist,  mögen  berufene  Richter  ent- 
scheiden. 

Eine  einheitlich  organisierte  Aufzeichnung  und  Sammlung  der  lebenden  Volks- 
lieder der  einzelnen  Landschaften  ist  erfreulicherweise  in  Österreich  wie  in  der 
Schweiz  in  die  Wege  geleitet  worden.  Für  die  vom  Wiener  Kultusministerium 
berufene  Kommission,  die  aus  den  Herren  Prof.  A.  Hauffen,  0.  Hostinski,  A.  Ive, 
E.    Mandyczewski   und    J.    Pommer    besteht,    hat    J.    Pommer*)    den    1905    aus- 


1)  J.  Sahr,  Das  deutsche  Volkslied  ausgewählt  uud  erläutert.  2.  Auflage.  Leipzig, 
Göschen  1905.     189  S.  geb.  0,80  Mk 

2)  Maria  Kühn,  Macht  auf  das  Tor!  Macht  auf  das  Tori  Sammlung  deutscher 
Volks-Kinderlieder,  Reime,  Scherze  und  Spiele.  Mit  Melodien.  Düsseldorf,  Langewiesche 
[1905].   231  S.    1,80  Mk.  (=  Lebende  Worte  und  Werke  6). 

3)  Volksliederbuch  für  Männerclior,  hsg.  auf  Veranlassung  Seiner  Majestät  des 
Deutschen  Kaisers  Wilhelm  II.  Partitur.  I.eipzifr,  C.  F.  Peters  [1907J.  XV,  816  und  III, 
792  S.  6  Mk.  —  Vgl.  die  Besprechung  von  K.  Nef,  Schweizerische  Musikzeitung  1907, 
S.  101  -  103. 

4)  Das  Volkslied  in  Österreich.  Anleitung  zur  Sanimluug  und  Aufzeichnung.  JFrage- 
bogen.  24  S.  16°  o.  0.  u.  J.  =  Das  deutsche  Volkslied  8  iWien  1906),  S.  105—107.  125f. 
141—143.  157  —  159.  —  Vgl.  auch  J.  Pommer,  Über  das  älplerische  Volkslied,  und  wie 
man  es  findet  ^Das  dtsch.  Volkslied  8,  3.  22f.  41f.  54-56.  74f.  89-91.  109f.  150f. 
9,  5-7.  25f.  43-45). 


206  «ölte: 

gearbeiteten  'Grundzügen'  1906  eine  recht  praktische  'Anleitung  zur  Sammlung  und 
Aufzeichnung'  nebst  Fragebogen  folgen  hissen,  die  von  den  Arbeitsausschüssen  für 
Steiermark,  Niederösterreich,  Mähren  und  Schlesien  angenommen  ward.  Auf- 
gezeichnet werden  soll  mit  grösster  Treue  alles,  was  das  Volk  auswendig  singt, 
ohne  dass  es  ihm  durch  Schule  oder  Gesangverein  vermittelt  wäre;  die  Scheidung 
zwischen  Volks-  und  Kunstlied  zu  machen  wird  den  Aufzeichnern  nicht  zu- 
gemutet. Für  Böhmen')  ist  bereits  durch  die 'Gesellschaft  zur  Förderung  deutscher 
Wissenschaft'  in  den  Jahren  l.S!)4 — 1900  systematisch  gesammelt  worden,  so  dass 
es  höchstens  noch  einer  probeweison  Nachforschung  in  besonders  abgelegenen 
Gegenden  bedarf,  und  hier  wird  A.  Hauffen  im  Verein  mit  H.  Rietsch, 
H.  Tschinkel,  H.  Weyde,  A.  Kahler  und  R.  v.  Prochdzka  eine  Gesamtausgabe  der 
deutsch-böhmischen  Volkslieder  veranstalten.  In  ähnlicher  Weise  haben  sich  in 
der  Schweiz  die  Schweizerische  Gesellschaft  für  Volkskunde,  der  Schweizerische 
Lehrerverein  und  der  Verein  Schweizerischer  (iesang-  und  Musiklehrer  zu  einer 
Sammlung  der  deutschen  Volkslieder  und  Volksmusik  vereinigt  und  eine  Kommission 
gewählt,  die  unter  dem  Vorsitze  von  John  Meier  im  November  190G  zu  Basel 
zusammentrat  und  einen  Aufruf  und  Fragebogen  herausgab');  sie  besteht  aus 
Prof.  E.  Hoffmann-Krayer,  John  Meier,  A.  L.  Gassmann,  O.  v.  Greyerz,  K.  Nef, 
S.  Rüst,  Ryffel;  das  Volksliedarchiv  befindet  sich  in  Basel,  Augustinergasse  8. 
Wir  begrüssen  diese  schönen  Anfänge  mit  wärmster  Teilnahme  und  wünschen, 
dass  den  rüstigen  Arbeitern  das  verständnisvolle  Interesse  der  weitesten  Kreise  zu 
Hilfe  komme.  Möchten  nun  auch  im  deutschen  Reiche  die  verschiedenen  Vereine 
für  Volkskunde  sich  zu  gleichem  Zwecke  die  Hand  reichen  und  mit  derselben 
Tatkraft  und  Ausdauer  die  Schätze  des  Volksliedes  heben!  Dann  wird  aus 
all  den  Einzelarbeiten  einst  ein  grosses  Liederwerk  aufgebaut  werden  können,  das 
die  gesamte  deutsche  Volksdichtung  in  ihrem  Werden,  ihrer  Ausbreitung  und 
Mannigfaltigkeit  vorführt. 

Inzwischen  hat  die  V^eröffentlichung  einzelner  Lieder  und  Liedergruppen  nicht 
gerastet.  Ich  muss  mich  allerdings  wiederum  auf  die  Heraushebung  einiger  Arbeiten 
beschränken.  Als  ersten  Band  einer  billigen,  nett  ausgestatteten  Sammlung  'Der 
Volksmund'  lieferte  F.  S.  Krauss  einen  Abdruck  der  18'14  von  Tschischka  und 
Schottky')  in  '2.  Auflage  herausgegebenen  österreichischen  Volkslieder,  den  wir 
dankbar  willkommen  heissen;  nur  hat  Krauss  leider  übersehen,  dass  diese  'ver- 
besserte und  vermehrte'  '2.  Auflage,  um  für  die  neuen  Stücke  Raum  zu  schaffen, 
einfach  43  Lieder  des  ersten  Druckes  von  1819  weglässt'')  und  auch  in  der  An- 
gabe   der    Melodien    minder   genau    verfährt.      oM    Ausseer    Schnaderhüpfel,    die 


1")  A.  Hauffeil,  Das  deutsche  Volkslied  in  liöhmen  I.  (Deutsche  Arbeit  6,  üil— 71. 
190G). 

2)  Jühn  Meier,  Sammlung  schweizerischer  Volkslieder  (Vortrag  im  Scliweizerischcn 
Lehrerverein).  GS.  —  Aufruf  zur  Sammlung  deutsch -schweizerischer  Volkslieder  (Basel, 
Nov.  1906).  3  S.  —  Sammlung  deutsch  -  schweizerischer  Volkslieder,  Fragebogen 
(Basel  1906).     8  S. 

3)  F.  Tschischka  und  J.  M.  Schottky,  Österreichische  Volkslieder  mit  ihren 
SintrweisPn,  nach  der  zweiten  verbesserten  und  vermehrten  Auflage  hsg.  von  F.  S.  Krauss. 
Leipzig,  Deutsche  Verlagsaktiengesellschaft  1906.  XXIII,  160S.  1  Mk.  (Der  Volksmund, 
alte  und  neue  Beiträge  zur  Volksforschung  hsg.  von  F.  S.  Krauss  1). 

4)  Darunter  gerade  recht  hübsche,  wie  S.  96:  'Sizt  a  schcns  Vegcrl  afni  Danua- 
bain"  (=  Erk- Böhme,  Liederhort  .'i,  406)  oder  S.  1'22:  'Den  Biiam,  den  i  nid  mag.  Den 
siiich  i  alli  Dag;  Dcar  mi  von  Iloarzn  gfraif,  Dear  is  fjoar  waid.'     Dazu  oben  12,  j3. 


Berichte  und  Bücheranzeigen.  207 

Kraiiss  1883  aufzeichnete,  hat  Blümml')  jetzt  mit  fleissigen  Parallelennachweisen 
und  einem  Anhang  von  einem  weiteren  Hundert  Vierzeiler  zum  Druck  befördert; 
beigegeben  hat  er  einen  Abschnitt  über  die  Verspottung  des  Schneiders  im  Vier- 
zeiler. In  einer  metrischen  Untersuchung  über  li'5  von  Liebleitncr  publizierte 
Kärntner  Vierzeiler  gehtBlümmP)  auf  Reim,  Strophenbau  und  Rhythmus  ein  und 
stellt  im  Gegensatze  zu  Brenner  (189G)  drei  Typen  auf:  die  aus  zwei  Yi-Takten 
bestehende  raonopodische  Kurzzeile,  die  dreitaktige  monopodischc  Langzeile  und  die 
viertaktige  dipodische  Langzeile.  Viele  einzelne  Lieder  aus  Österreich,  auch  in 
mehrstimmigen)  Satze,  bringt  wiederum  die  schon  bis  zum  ii.  Jahrgange  gediehene 
Zeitschrift  des  unter  J.  Pommers  Leitung  stehenden  Deutschen  Voiksgesang- 
vereins  in  Wien  'Das  deutsche  Volkslied'.  Eine  dritte  Nachlese  zu  den  oben 
15,  db'i  rühmend  erwähnten  'Volksliedern  aus  Tirol'  Hess  KohP)  erscheinen. 
Ein  besonderes,  bisher  selten  betretenes  Gebiet,  das  der  obszönen  Lieder,  haben 
Krauss,  Reiskcl  und  Bliimral*)  in  Angriff  genommen;  ihre  ausschliesslich  für 
den  wissenschaftlichen  Benutzer  bestimmten  Publikationen  enthalten  erotische, 
nicht  selten  witzige  und  bilderreiche  Vierzeiler,  deren  V^orfahren  schon  in  den 
Carmina  Burana  zu  finden  sind,  ferner  schmutzige  Parodien  bekannter  Lieder  und 
endlich  Erzeugnisse  städtischer  Bordelle,  von  denen  man  sich  mit  Ekel  abwendet.  — 
In  Siebenbürgen,  wo  A.  Schullerus  und  G.  Brandsch  eine  Sammlung  der 
Volkslieder  vorbereiten,  hat  der  letztere")  sich  mit  der  fortwährenden  Umwandlung 
der  Volksmelodien  in  ihrem  tonalen  und  rhythmischen  Bestände  beschäftigt.  Er 
zeigt,  das  im  17.  Jahrhundert  neben  die  dipodischen  Versmasse  und  die  zwei- 
taktigen  {*l^  oder  */^)  Melodien  (vielleicht  durch  Einwirkung  romanischer  Tanz- 
weisen) der  monopodische  '/^-Takt  trat,  der  sich  in  den  süddeutschen  Schnader- 
hüpfeln  mit  daktylischem  Textraetrum,  in  Mitteldeutschland  aber  auch  mit  dem 
alten  iambisch-trochäischen  Masse  verbindet.  Mehrfach  hat  sich  der  "/g- Rhythmus 
aus  dem  ■'/^-Takt  entwickelt,  doch  auch  die  umgekehrte  Wandlung  des  Tripel- 
taktes in  den  geraden  kommt  vor.  Anlass  zur  Verlängerung  der  Melodiezeile 
bietet  oft  die  Unterlegung  eines  neuen  Textes.  Weitere  Beobachtungen  des  Auf- 
taktes, der  Schlussdehnung,  der  metrischen  Wortverkürzung  und  der  Cäsur  unter- 
richten uns  über  die  Abweichungen,  die  das  Normalschema  der  zweitaktigen 
Melodiezeile  im  lebendigen  V^olksgesange  erleidet.  Eine  reichhaltige  und  über- 
sichtlich   geordnete    Sammlung    siebenbürgischer    Kinderlieder,    teils    hochdeutsch. 


1)  E.  K.  Blümml  und  F.  S.  Krauss,  Aussecr  und  Ischler  Schnaderhüpfel.  Als 
Anliang:  Vierzeiler  aus  dem  bayrisch  -  österreichischen  Sprachgebiet.  Mit  Sing^Yeisen 
gesammelt  und  hsg.  ebd.  lOOti.     IX,  IGl  S.    1  Mk.  (=  Der  Volksniund  3). 

2)  E.  K.  Blünunl,  Das  Kärntner  Schnaderhüpfel,  eine  metrische  Studie  (Beiträge 
2.  Gesch.  der  dtsch.  Sprache  l^il,  1  -  421. 

3)  F.  P.Kohl,  Volkslieder  aus  Tirol,  dritte  Nachlese,  für  gemischten  Chor  gesetzt. 
Wien,  Last  1907.    48  S.    1,50  Kr.  (27  Nr.). 

4)  E.  K.  Blümml,  P.  S.  Krauss  und  K.  Reiskel,  Erotische  Lieder  aus  Österreich 
(Anthropophyteia  2,  70-ll(i.  1905).  —  K.  Reiskel,  Schnadahüpfeln  und  Graseltänze 
(ebd.  2,  117-121).  —  E.  K.  Blümml,  Erotische  Volkslieder  aus  Deutsch-Österreich  mit 
Singnoten,  gesammelt  und  hsg.  Privatdruck.  183  S.  o.  0.  u.  J.  (Wien  1007.  —  Vgl.  zu 
S.  18  oben  11,  104  und  16,  45  Nr.  93:  'Dein  und  Mein.'  Zu  S.  30  Nicolai,  Feyner  kleyner 
Almanach  1,  Nr.  12:  'Guten  Jlorgen,  libes  Lysorl.'  Zu  S.  93:  'Einst  ging  ich  am  Ufer' 
Lewalter,  Niederhessen  5,  84  und  Treichel,  Westpreussen  Nr.  17). 

5)  G.  Brandsch,  Zur  Metrik  der  siebenbürgisch-deutschen  Volksweisen  (Progr.  des 
Seminars  in  Hermannstadt).  Nagyszeben,  Krafft  1905.  43  S.  1  Mk.  —  Über  Werden  und 
Vergehen  der  Volksweisen  (aus  den  Akademischen  Blättern  190G,  Nr.  8).  Ebd.  20  S 
0,30  Mk. 


208  '  Boltc: 

teils  mundartlich,  mit  Ausnutzung;  der  iiltoren  Werke  von  Schuster  und  Ihiltrich, 
doch  ohne  gelehrten  Apparat,  <ral)  Höhn.')  Aus  der  Buliowina  sind  Lieder- 
aufzeichnungen von  tvaindi  (oben  15,  2ti()— 274),  aus  dem  üstiichen  Böhmen 
solche  von  Langer'^)  zu  erwähnen.  —  Auch  in  der  Schweiz  fehlt  es  trotz  der 
Vorbereitungen  zu  der  grossen  Volksliedersammlung  nicht  an  Einzelpublikationen. 
Durch  Reichhaltigkeit  und  Sorgfalt  zeichnet  sich  Gassmanns^)  Ausgabe  von 
254  Liedern  und  Melodien,  sowie  einiger  Jodler  der  "Wiggertäler  im  Kanton 
Luzern  aus;  es  sind  fast  alle  Gattungen  des  geistlichen  und  weltlichen  Volksliedes 
und  des  volkstümlichen  Liedes  vertreten,  insbesondere  viele  alte  Balladen.  Die 
nötigen  Farallelennachwcise  zu  den  Texten  tribt  John  Meier  in  den  Anmerkungen, 
die  auch  manche  wertvolle  Bemerkung  über  die  Verbreitung  der  Melodien  ent- 
halten; ins  Register  sind  nicht  bloss  die  Anfänge  der  Lieder,  sondern  auch  die 
aller  Strophen  aufgenommen.  Aus  einem  grossen,  durch  verschiedene  Sammlerinnen 
und  Sammler  aufgezeichneten  Materiale  von  Schiiffhauser  Kinderliedern  stellt 
P.  Fink*)  die  typischen  Formen  recht  übersichtlich  zusammen  unter  den  Über- 
schriften: Wiegen-  und  Koseliedchen,  Kniereiterliedchen,  Volksweisheit,  Abzähl- 
reime, Neckereien,  spielerische  Reimereien,  Kinderspott,  Liebes-  und  Tanzliedchen, 
Tierreich,  Feste  und  erläutert  sie  mehrmals  durch  französische  Seitenstücke. 
Statt  einer  solchen  Übersicht  greift  Fräulein  Züricher*),  der  wir  schon  eine 
hübsche  Sammlung  bernischer  Kinderlieder  (1902)  verdanken,  ein  einzelnes  Knie- 
reiterliedchen „Ryti,  ryti,  Rössli",  heraus,  um  durch  eine  Darlegung  und  Er- 
läuterung sämtlicher  Varianten  eine  Probe  des  geplanten  grossen  Werkes  über  die 
schweizerischen  Kinderlieder  zu  geben;  sie  schreibt  dem  Stücke  schweizerischen 
Ursprung  zu  und  stellt  der  herkömmlichen  mythologischen  Deutung  der  drei  darin 
erwähnten  Jungfrauen  (Marien,  Nonnen)  auch  die  Abstammung  aus  einer  von  ihr 
rekonstruierten  Ballade  als  möglich  gegenüber. 

Unter  den  reichsdeutschen  Landschaften  nimmt  das  Elsass  eine  gesonderte 
Stellung  auch  hinsichtlich  seiner  Volkslieder  ein.  Die  von  Mündel  dort  (liS84)  ge- 
sammelten 2öfi  Stücke  unterzieht  Teichmann")  einer  methodisch  wertvollen  Be- 
trachtung. Ein  Drittel  davon,  das  in  anderen  deutschen  Sammlungen  nicht  zu  finden  ist, 
scheint  wenigstens  teilweise  elsässischen  Ursprunges  zu  sein.  Ins  IG.  Jahrhundert 
reichen  nur  einige  Licbeslieder  zurück;  die  meisten  heut  gesungenen  Lieder,  unter 


1)  A.  Höhr,  Siebonbürgisch-sächsische  Kinderreimc  und  Kinderspiele,  gesainnielt  und 
erläutert.  Progr.  des  Gymn.  in  Schässburg  (Segesvär).  Hermannstadt,  Knifft  19(i3.  IX, 
143  S.    4«. 

2)  E.  Langer,  Stundenrufe  (Deutsche  Volkskunde  aus  dem  östlichen  Böhmeu  4, 
66-70).  Tuschlieder  (ebd.  4,  70-72  180-191.  274—280.  ö,  58-64.  li)4-200).  Hochzeits- 
tänze (ebd.  4,  245—248).    Kirmeslieder  (ebd   4,  274.  5,  57 f. l. 

U)  Ä.  L.  Gassniann,  Das  Volkslied  im  Luzerner  Wiggertal  und  Hinterland,  aus  dem 
Volksmunde  gesammelt  und  lisg.  Basel  1901!.  XI,  215  S.  (Schriften  der  Schweizerischen 
Gesellschaft  lür  Volkskunde  1).  —  [Zu  Nr.  62  vgl.  noch  Erk-Böhme  Nr.  914:  Der  Tod 
von  Basel;  zu  Nr.  111  oben  15,  341:  "Feine  Familie':  zu  Nr.  113  oben  15,  271  Nr.  20: 
'Wochenlied'.  Der  in  Nr.  U2  genannte  Iwo  ist  natürlich  der  1303  verstorbene  heilige 
Ivo  von  Orleans,  der  .Advocatus  pauperum  ] 

4)  1'.  Fink,  Kinder-  und  Volkslieder,  Keime  und  Spruche  aus  Stadt  und  Kanton 
Schaffhausen,  gesammelt  von  Elise  StoU.     Zürich,  Schulthess  k  Co.     1907,    93  S. 

5)  Gertrud  Züricher,  Das  Ryti-Hüssli-Licd,  vorlaufige  Probe  aus  der  im  Werk  be- 
griffenen Sammlung  schweizerischer  Kinderlieder  und  Kinderspiele.  Bern,  A.  Francke  1906. 
39  S.    0,80  Mk. 

6)  W.  Teichmann,  Unsere  elsässischen  Volkslieder  (Jahrbuch  f.  Gesch.  Elsass-Lotb- 
ringcns  20,  130-160). 


Berichte  und  Bücheranzeigen.  209 

denen  viel  Mittelgut  steckt,  stammen  aus  dem  Ende  des  18.  und  dem  Beginne  des 
It).  Jalirhunderts;  auch  ein  paar  Übersetzungen  aus  dem  Französischen  erscheinen. 
Neue  Aufzeichnungen  in  Baden  machten  Meisinger'),  der  13  Nummern  aus  dem 
Wiesentale  gab,  Pecher,  der  22  Soldatenlieder  mit  den  nötigen  Nachweisen  ver- 
öffentlichte, und  Kahle^),  der  mehrere  erzählende  Gedichte  untersuchte.  Aus 
Schwaben  stammen  die  von  Beck  (oben  10,  432 — 43G)  aus  früheren  Nieder- 
schriften hervorgezogenen  geistlichen  und  erotischen  Stücke;  Balladen  aus  dem 
Münsterlande,  aus  Holstein  und  Schlesien  haben  Schönhoff  (oben  16,  440f.), 
Wisser  (oben  15,  331 — 36)  und  PradeP)  mitgeteilt,  während  wir  Wehrhan*) 
eine  Lese  von  22ü  Kinderliedern  aus  dem  Lippischen  verdanken. 


Wenn  wir  zum  Schlüsse  noch  einen  Blick  auf  die  stammverwandten  germa- 
nischen Länder  werfen,  so  haben  wir  zunächst  des  rüstigen  Fortschrittes  zu  ge- 
denken, den  die  schon  wiederholt  (oben  12,  371.  1.5,  464)  gewürdigte  grosse 
niederländische  Liedersammlung  des  trefflichen  viämischen  Forschers  Fl. 
van  Duysc^)  seither  genommen  hat.  Vom  dritten  und  letzten  Bande,  der  die 
geistlichen  Lieder  vor  und  seit  der  Reformation  enthält,  sind  11  Lieferungen  mit 
den  Nr.  47ö — G'.).j  erschienen  und  somit  das  Ganze  dem  Abschlüsse  nahegerückt. 
Wir  kommen  demnächst  darauf  ausführlich  zurück.  Da  von  den  durch  R.  Ghes- 
quiere  zusammengebrachten  viämischen  Kindcrliedcrn  bereits  oben  (16,  117)  die 
Rede  war,  verweise  ich  nur  noch  auf  verschiedene  hergehürige  Artikel  in  der 
Genter  Zeitschrift  'Volkskunde'  (ed.  P.  de  Mont  &  A.  de  Oock,  18.  Jahrgang  1 906) 
und  in  den  ütrechter  'Dricmaandelijksche  Bladen  uitg.  door  de  Vereeniging  tot 
onderzoek  van  taal  cn  volksleven  in  Nederland'  (ed.  K.  Later,  G.  Jahrg.  19(i7). 

Auch  zum  dänischen  Volksliede  sind  zwei  interessante  Arbeiten  erschienen. 
Der  Londoner  Professor  Ker")  sucht  durch  eine  Betrachtung  der  formalen  Be- 
sonderheiten der  dänischen  Balladen  zu  ihrer  Entstehung  vorzudringen.  Die  ein- 
fache oder  doppelte  Kehrzeilo  zeigt  hier  ilen  ursprünglichen  Charakter  des  Tanz- 
liedes deutlicher  als  in  den  englischen  und  deutschen  Liedern,  sie  stammt  aber 
nach  Jcanroy  (Origines  de  la  poesie  lyrique  en  France  1889)  direkt  aus  der  mittel- 
alterlichen französischen  Dichtung,  deren  Strophenbau  in  Dänemark  begieriger  als 
in  England  oder  Deutschland  nachgeahmt  und  nicht  bloss  für  ausländische  Stoffe, 
sondern  auch  für  solche  der  eigenen  Geschichte  verwendet  ward.  In  einer 
methodisch    wichtigen    Arbeit    nimmt    E.  v.  d.  Recke^)    das    schwierige  Problem 


1)  0.  Meisinge r,  Volkslieder  aus  dem  Wiesentale'  (Volkskunde  im  Breiegau  hsg. 
von  F.  Pfaff,  Freiburg  i.  B.,  Bielefeld  1906,  S.  135— 148).  —  K.  Pecher,  Marschlieder 
(ebd.  S.  107— 134).  [Zu  S.  113  vgl.  Erk-Böhmc  Nr.  1318:  'Eiu  prcussischer  Husar';  zu 
S.  122  Erk-Böhme  Nr.  1428.] 

2)  B.  Kahle,  Über  einige  Volksliedvarianten  (1.  das  Volkslied  vom  Eisenbahn- 
unglück. 2.  Die  Mordtat  des  Soldaten.  3.  Der  lieimkehrende  Soldat.  4.  Vor  der  Ein- 
stellung).   Alemannia  n.  F.  G,  49— 5G.  —  Zu  1  vgl.  Jimgbauer,  ZföVk.  12,  215  —  217. 

3)  F.  Pradel,  Schlesische  Volkslieder  (Mitt.  der  schles.  Ges.  f.  Volksk.  14,  94—104). 

4)  K.  Wehrhan,  Lippische  Kinderlieder  (Zs.  f.  ihein.  Volksk.  2,  55—73.  98  —  127). 

5)  F.  van  Duyse,  Het  oudo  nederlaudsche  Lied.  Lieferung  30 — 42.  's  Gravcnhage, 
M.  Nijhoff  1905-1907  (=  Teil  :i,  S.  1837— 2668).    4".     Die  Lief.  1,90  Fr. 

6)  W.  P.  Ker,  On  the  danish  ballads  (The  scottish  historical  review  1,  .357 — 378. 
1904)  =  Om  de  danske  folkeviser  (Danskc  studier  1907,  1  —  24). 

7)  Ernst  von  der  Recke,  Nogle  folkevisercdaktioncr,  bidrag  til  visekritiken. 
Kobenhavn,  Gyldendal  1906.    208  S. 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.  1907.  14 


210  Holte,  Brückner: 

auf,  aus  den  zahlreichen,  von  S.  Grundtvig  musterhaft  gesammelten  Varianten  der 
dänischen  Kämpeviser  ihre  ursprüngliche  Fassung  zu  rekonstruieren,  schwierig 
deshalb,  weil  die  Entstehung  der  besten  von  ihnen  in  die  Zeit  von  1200— i;^.JÜ 
fallt  und  die  frühesten  Aufzeichnungen  erst  aus  dem  lii.  Jahrhundert  stammen. 
Grundtvig  selber  hat  in  seiner  1882  erschienenen  'Auswahl'  die  verschiedenen 
Fassungen  meist  so  zusammengearbeitet,  dass  er  aus  jeder  deren  besondere  Züge 
aufnahm;  v.  d.  Recke  aber  misst  der  Tradition,  die  willkürlich  ändert,  uniformiert 
und  ausschmückt,  nicht  soviel  Wert  bei  wie  anderen  Kriterien,  der  inneren 
Einheit,  dem  Zeugnis  anderer  skandinavischer  Versionen,  Metrum,  Reime,  der 
Sprache  usw.,  und  untersucht  namentlich  die  verschiedenen  Balladen  gemeinsamen 
Strophen,  um  zu  entscheiden,  wo  diese  ursprünglich,  wo  formelhafte  oder  gedankenlose 
Wiederholung  sind.  Daher  enthält  seine  Rekonstruktion  von  'Ribold  und  Guld- 
borg'  nur  48  Strophen  gegen  105  bei  Grundtvig.  Im  ganzen  analysiert  er  zehn 
von  den  nahezu  500  Nummern  des  Grundtvigschen  Werkes')  ausführlich,  zunächst 
vier  mit  der  genannten  Entführungsgeschichte  in  Verbindung  stehende  Lieder  und 
die  doch  wohl  mit  der  deutschen  Hallade  vom  grausamen  Bruder  (Erk-Böhme 
Nr.  18G)  zusammenhängende  von  'König  Waldemar  und  seiner  Schwester',  der 
eine  an  eine  Grabschrift  im  Kloster  Vestervig  angeknüpfte,  ganz  unhistorische 
Ortssage  zugrunde  liegt,  dann  Aage  und  Else,  Sivard  und  Brynild,  Jon  Remorsons 
Tod,  Peters  Tod  und  gibt  von  allen  eine  kritisch  hergestellte  Fassung,  die  vielleicht 
nicht  in  allen  Einzelheiten  unanfechtbar  ist,  aber  jedenfalls  grosse  Sachkenntnis 
und  poetischen  Sinn  offenbart. 

In  England  endlich  ist  eine  ausserordentlich  nützliche  und  handliche  Be- 
arbeitung von  Childs  trefflicher  zehnbändiger  Sammlung  der  englischen  und 
schottischen  Volksballaden  erschienen^),  welche  sämtliche  305  Nummern  enthält, 
aber  meist  nur  eine  Version  jeder  Nummer  mitteilt,  Einleitungen,  Anmerkungen 
und  Glossar  erheblich  kürzt  und  den  kritischen  Apparat  fortlässt.  Die  Einleitung 
handelt  bündig  über  den  BegrilT  der  Ballade,  die  Entstehungszeit  und  die  Um- 
wandlung der  einzelnen  Stücke  in  den  Überlieferungen,  die  Kehrzeile,  stehende 
Formeln,  die  Sänger  u.  a.  Neue  Versionen  und  Forschungen  hat  insbesondere 
das  'Journal  of  american  folklore'  gebracht,  während  mir  von  dem  Wirken  der 
1904  gegründeten  Londoner  Polksong  Society  bisher  leider  keine  genauere  Kunde 
zukam. 

ßerlin.  Johannes    Holte. 


Neuere  Arbeiten  zur  slawischen  Volkskunde. 
I.   Polnisch  und  Böhmisch. 

Im  letzten  Jahresbericht  (oben  1(5,  202)  ist  einiges  bloss  bibliographisch  ver- 
zeichnet, was  näheres  Eingehen  verdiente.  Zumal  eine  Publikation,  die  ganz  in 
die  pommersche  Landeskunde  hineingehört,  die  'Slowinzischen  Texte',  hsg.  von 
Dr.  Friedrich  Lorentz  (Petersburg,  Akademie  190(i,   VI,  150  S.).')   Slowinzen  nennt 


1)  Zuletzt  erschien:  A.  Olrik,  Danmarks  gamle  folkcviser  efter  forarbeider  af 
Svend  Grundtvii:  udgivne  .S,  1.  Kobenbavn,  Wroblcwski  1905.  1-28  S.  4»  (enthält  Nr.  4G7  bis 
475,  darunter  Paris  og  dronning  Ellen,  David  og  Solfager,  Allegast,  Tistram  og  Isold). 

'2)  Helen  Child  Sargent  and  George  L.  Kittrcdge,  English  and  scutlish  populär 
ballads,  cditeil  from  tlie  coUection  of  Francis  James  Child.  I.nndon,  1).  Nutt.  Boston, 
Houghton,  iMifllin  &  co.     1905.    XXXII,  729  S.     14  Mk. 

3)  Vgl.  auch  Polivkas  Besprechung,  oben  IG,  461—464. 


Berichte  und  Bücheranzeigen.  211 

man  die  Kaschuben  im  Kirchspiele  Garde  und  Schmolsin  im  pommerschen  Kreis 
Stolp;  im  Garder  Kirchspiel  hat  allerdings  das  Slowinzische  (Kaschubische)  nirgends 
mehr  Leben,  auch  nicht  in  Familienkreisen,  weil  es  nur  der  ältesten  Generation 
bekannt  ist;  auch  im  Schmolsiner  Kirchspiel  wird  es  nur  noch  bisweilen  in  den 
sog.  Klücken  wirklich  gesprochen;  alles  in  allem  mag  es  heute  kaum  noch 
200  Menschen  geben,  denen  das  Slovinzische  bekannt  ist,  und  bald  wird  es,  wie 
z.  B.  seit  1898  in  Vinthow,  überall  ausgestorben  sein,  da  die  slowinzisch  Sprechenden 
nur  der  älteren  Generation  angehören  und  seit  fast  einem  halben  Jahrhundert  es 
niemand  mehr  neu  gelernt  hat.  Mit  anderen  Worten,  es  geht  mit  dem  Slowin- 
zischen,  wie  es  dem  'Drawenischen'  im  Lüneburger  Wendlande  vor  bald  drei  Jahr- 
hunderten ergangen  ist,  und  doppelt  sind  daher  die  Mühen  von  Dr.  Lorentz  zu 
schätzen,  der  sozusagen  im  letzton  Augenblick  noch  alles  aufgeboten  hat,  um  den 
Sprachbestand  aufzuzeichnen  und  vor  dem  sicheren,  baldigen  Untergang  zu  retten. 
Auf  seine  ausführliche  Grammatik  dieser  'Sprache'  (es  handelt  sich  nur  um  lokale 
Dialekte)  Jässt  er  jetzt  Texte  in  Prosa  und  Versen  folgen.  Es  war  nicht  leicht 
sie  zu  sammeln;  die  wenigen  Erzähler  verfügen  über  ein  gar  geringes  Repertoir, 
aus  manchen  ist  überhaupt  zusammenhängende  Rede  nicht  mehr  herauszubringen, 
sie  verfallen  immer  wieder  ins  Deutsche;  deutsch  sind  ja  Gedanken,  Satzverbin- 
dung, Syntax,  die  nur  einen  polnischen  Mantel,  d.  i.  Laute  und  Formen,  um- 
hängen. Denn  um  einen  altpolnischen  Dialekt  handelt  es  sich  in  der  Tat;  auf  den 
ersten  Blick  muten  ja  einen  die  Texte  fremdartig  an,  das  macht  aber  nur  die 
phonetische  Transskription,  die  in  aller  Konsequenz  angewendet,  die  Etymologie, 
d.  i.  den  Zusammenhang  der  Worte  ganz  verdunkelt;  man  denke  nur,  wie  fremd 
dem  ungewohnten  Deutschen  streng  phonetisch  niedergeschriebene  deutsche  Texte 
vorkommen.  Sowie  man  sich  hineingelesen  hat  in  die  vielen  krausen,  neu  er- 
fundenen Zeichen  oder  sich  nur  die  Texte  laut  liest,  merkt  man  sofort  den  Ursprung 
und  Zusammenhang  der  angeblichen  „Sprache",  richtiger  des  Dialektes. 

Was  aufgezeichnet  ist,  erinnert  ganz  an  niederdeutsche  Überlieferungen.  Die 
'Unterirdischen'  (nur  unter  diesem  deutschen  Namen  bekannt)  spielen  eine  grosse 
Rolle,  dann  Riesen,  Mahren,  Wchrwölfe;  sogar  Rübezahl,  alle  mit  ihren  deutschen 
Namen  natürlich;  Hexen,  die  den  Kühen  Milch  rauben,  der  Zauberer  mit  seinem 
'Spiegel',  in  dem  man  den  Dieb  und  die  Hexe  sieht;  Glockensagen,  brennende 
Schätze,  verwunschene  Schlösser,  die  Müllerstochter  und  die  Räuber,  Diebes- 
streiche, Schildbürgerstreiche,  mit  denen  man  die  Nachbarn  hänselt,  Tiersagen 
(Wolf  und  Fuchs).  Vieles  ist  kurz  und  wiederholt  sich  fortwährend,  doch  gibt 
es  auch  seitenlange  Erzählungen,  vom  tapferen  Schneider,  vom  Glasberg,  von  der 
schweigenden  Königin  und  den  sieben  Raben,  ihren  Brüdern,  die  sie  vom  Tode 
retten')  u.  a.  Die  Texte  sind  mehrfach  gar  dürftig.  Freilich,  die  Verse  sind  es 
ungleich  mehr,  kaum  ein  und  das  andere  Volkslied,  stark  gekürzt,  ist  erhalten, 
sonst  nur  Spottverse,  auch  gemischtsprachig,  deutsch  und  slowinzisch.  Die  Samm- 
lung beansprucht  Interesse,  meist  aber  der  Sprache  wegen,  die  trotz  ihrer  Germa- 
nismen vieles  Eigenartige,  Alte  bietet,  im  Wort-  und  noch  mehr  im  Formenschatz, 
der  letzte  Rest  des  alten  Pommerschen,  das  vom  Polnischen  einst  nur  wenig 
abwich  und  förmlich  auf  einer  Lautstufe  desselben  erstarrte.  Die  peinliche 
Genauigkeit  der  Aufzeichnung,  die  für  den  Druck  viele  besondere  Typen  er- 
forderte, kann  nicht  genug  hervorgehoben  werden. 


1)  km  liiliifigstea  wird  durch  den  beleidigten  oder  gekränkten  ■Zauberer'  der  Be- 
leidifier  am  Weilerfaliren  durch  das  Auseiuanderfallen  des  Wagens,  Unmöglichkeit  der 
Reparatur  u.  dgl.,  gehindert. 

14* 


'212  lirückner: 

Bei    dem    regen  Interesse,    das    gerade  heute    in   Deutschland    allen   Ilunen- 
fragen  entgegengebracht  wird    (man  vgl.  die  neuesten  Arbeiten  von   R.  M.  Meyer, 
Grienberger  u.  a.)  darf  hier  ohne  weiteres  das  Werk  von   Dr.  Jan  Leciejewski, 
Runy    i    runiczne    pomniki    siowiaiiskie    (Runen    und   shuvische  Runendenkmälcr. 
Lemberg    1906.    V,    207  S.)   genannt    werden.      Man    ist   geradezu    erstaunt,    auf 
slawischem  Boden,  bei  Russen  und  Polen,  in  Pommern  und  Mecklenburg,  keinerlei 
Runen    zu    linden;    man    hätte    sie    unbedingt    erwartet,    von    den    Normannen    in   - 
Nowgorod  und  Kijew,    bei    den    innigen  Beziehungen,    die    vom    10.  bis  12.  Jahr- 
hundert zwischen  Polen,  Pommern-Rügea    und  Skandinavien  vorheirschten;    wenn 
nach    Thictmar    von    Merseburg    die    slawischen    Götterbilder    in    Radigost    (im 
Mecklenburgischen)    Aufschriften  trugen,    so  können    es    kaum    andere    als  Runen 
gewesen  sein.     Was    'gefunden'    ward,    ist    leider    alles    als    Fälschung    befunden 
worden,    so    die  berüchtigten   Prillwitzer    'obotritischen'    Götterchen,    so    die    Neu- 
strelitzer  vierzehn  Runensteine,    die  Hagenow  ISSG    beschrieben  hat.     Nach  einer 
sehr   guten  Auseinandersetzung  über  Geschichte,    Art  usw.  der  nordischen  Runen, 
gibt  Leciejewski  eine  Übersicht  dieser  u.  a.  gefälschter  slawischer  Runen,  um  nach 
deren  Ausscheidung   zu    den  echten    zu  übergehen.     Den  Hauptplatz  (8.97—156) 
nehmen    die    Mikorzyner    Steine    ein,    heute    in    den    Sammlungen    der    Krakauer 
Akademie    der  Wissenschaft  befindlich,    ausgegraben   180.0    und   18;')(;    in  Mikorzyn 
im  Posenschen  durch  den  Besitzer  des  Rittergutes,  Droschcwski;  im  M.  Bande  der 
Jahrbücher    der  Posener  Gelehrten  Gesellschaft  (1876)    ist  der  eingehende  Bericht 
der    mit    der    Untersuchung    der  Authentizität    des  Fundes    betrauten    Kommission 
niedergelegt.      Der    eine  der  beiden  Steine    stellt  eine  menschliche  Figur  dar,  die 
in  ihrer  Linken  ein  Dreieck  hochhält,  mit  Runen  unter  ihr;  der  zweite  ein  Pferd, 
um  das  herum  Runen  eingeritzt  sind.     Bedenken  an  der  Echtheit  der  Steine  sind 
gleich  bei    ihrem  Funde  geäussert  und  nie  völlig  ein  wandsfrei  unterdrückt  worden; 
auch  Leciejewski,   der  vou  der  Echtheit  überzeugt  ist,  ist  dies  nicht  gelungen.    Er 
geht  davon  aus,  dass  iäöö  niemand  eine  solche  Kenntnis  der  Runen  und  des  Alt- 
polnischen gehabt  haben  kann,  dass  er  hätte  derartiges  fälschen  dürfen;   aber  das 
Altpolnische,  das  er  aus  diesen  beiden,  nach  ihm  eng  zusammenhängenden  Steinen 
herausgelesen  hat,    ist    einfach  unmöglich;    und    auch  in   den  Runen  selbst  linden 
Kenner  gar  bedenkliche  Anlehnungen  an  die  Zeichen,  wie  sie  gerade  in  polnischen 
Runenwerken,    eines  Leiewel  z.  B.,    vor  18öö  veröffentlicht  waren.     Andere  Denk- 
mäler,   die  er  heranzieht  und  erläutert,    sind  ganz  offenkundige  Fälschungen,    wie 
die  böhmischen  des  Krolmus,  oder  sind   ganz  rätselhafte  Sachen,   die  alles  hindere 
eher    als    slawische    Runen    enthalten    mögen:    dass    der    bekannte    Braktcat    von 
Wapno    im  Posenschen,    heute  in  Berlin    (erläutert  von  Müllenhoff  und  Henning), 
polnisch  sein  soll,    hat    er  auch  nicht  erweisen  können.     Man    liest    die  Aufschrift 
als  Sabar;    „Was  ist  aber  mit  Sabar  anzufmgcn,'-    fragt  Müllenholf  und  bleibt  die 
Antwort  schuldig;    Henning  verstieg   sich  zu  den  Burgunden,    als    ob    diese  je  in 
Wapno  gesessen  hätten;  Wimmer  zählt  das  Stück  nicht  zu  den  sicher  germanischen. 
Der  Brakteat    ist    einfach  von  irgendwoher    nach  Wapno  verschleppt:   Leciejewski 
liest  die  Aufschrift    neben    dem  Helm  als  Zabaw  und  bestimmt    die  Zeit  als  erste 
Hälfte    des    9.  Jahrhundorts;    wohl    kommt   der  Name  Zabaw    im  Evangelium  von 
Cividale    (um  850)    vor,    aber   diese  Lesung    ist    mir  zu  unsicher,    ich    bleibe  bei 
Sabar  und    bei    einer  nordischen  Herkunft  des  Stückes.      Und  das  ist  das  einzige, 
unanfechtbare  Stück    in    der  ganzen  slawischen  Runensammlung;    alles  andere  ist 
entweder  gefälscht   oder  völlig  problematisch.     Ein    slawisches  Runendenkmal    ist 
somit  auch  durch  diese  Publikation  nicht  erwiesen,  so  sehr  man  auch  ein  solches 
gerade  auf  pommcrsch-meckicnburgischem  Boden  erwarten  durfte. 


Berichte  und  Bücheranzeigen.  213 

EingetrofTen  ist,  was  oben  IG,  199  als  leider  bevorstehend  bezeichnet  war, 
die  Warschauer  'Wisla'  hat  mit  dem  19.  Bande  ihr  Erscheinen  eingestellt;  der  bis- 
herige Herausgeber,  E.  Majewski,  konnte  sie  krankheitshalber  nicht  weiterführen, 
und  Ersatz  war  nicht  zu  beschaffen,  auch  nicht  durch  die  Lemberger  ethno- 
graphische Gesellschaft,  die  mit  ihrem  eigenen,  aus  Krakau  zurückgekehrten  'Lud' 
vollauf  beschäftigt  ist.  Das  Schlussheft  des  19.  Bandes  wurde  im  Juni  1906 
herausgegeben.  Es  enthült  den  Schluss  der  slawischen  Ortsnamen  von  Preussisch- 
Schlesicn,  die  St.  Drzazdzynski  mit  gleicher  Sorgfalt,  mit  der  Fülle  von  urkund- 
lichen Belegen  und  der  Unzahl  von  Parallelen  aus  slawischer  Nomenklatur  aus- 
gestattet hat,  wie  die  früheren  Beiträge;  im  einzelnen  kann  freilich  die  Erklärung 
schwanken,  so  könnte  ich  keinenfalls  Zabelkau  (1.373  Sabulkow  in  polonico  et  in 
vulgo  Neuschurgerdorf)  als  poln,  Zabkow  (von  zaba  Frosch)  mit  'anormalem 
1-Einschub'  deuten;  die  heutige  Naniensform  Zabelkow  streitet  ebenso  entschieden 
dagegen.  Interessant  ist  z.  B.  Ottonis  villa,  vulgaritcr  Ocycy  sive  Ottyndorf 
appellatur;  man  sieht,  wie  das  patronyraische  Suffix  ici  (deutsch  -ingen)  einfach 
possessiv  fungiert;  oder  Silberkopf,  eine  hybride  Bildung,  übersetzt  das  slawische 
Srebrnik  (von  srebro,  Silber),  nur  ist  ein  (unberechtigtes)  -kow  auch  noch  zu  -köpf 
umgedeutet;  man  könnte  vermuten,  dass  die  ursprüngliche  Form  srebrniki  (Silber- 
leute) gewesen  ist,  mit  jener  in  Deutschland  ganz  unbekannten,  den  Slawen  desto 
geläufigeren  Bezeichnung  des  Ortes  nach  der  Dienstleistung  seiner  Hörigen,  z.  B. 
koniary  Pferdehüter,  zduny  Töpfer  usw.  —  Der  zweite  Aufsatz,  mit  drei  Tafeln, 
ist  einem  Kinderspiele  gewidmet,  Klötzchen  verschiedener  Grösse  und  Gestalt, 
benannt  zum  Teil  nach  Schachfiguren,  nachgeahmt  Werkzeugen  u  a.,  die  die 
Knaben  von  der  hohlen  Hand  aufwerfen  und  fangen^),  die  bierki  (denselben 
Namen  trägt  auch,  im  ganzen  Osten,  bis  nach  dem  Altai,  eine  Schafart,  doch 
glaube  ich,  nur  durch  Zufall).  Es  verdient  nun  hervorgehoben  zu  werden,  wie 
schwer  es  fällt,  Ursprung,  Verbreitung  usw.  des  Spieles  und  seiner  Namen  fest- 
zustellen; denn  schon  die  alten  sprichwörtlichen  Wendungen  des  16.  und  17.  Jahr- 
hunderts beweisen,  dass  es  einst  nicht  auf  der  Kinderwelt  beschränkt,  sondern 
ein  Hazardspiel  der  Alten  war,  das  sich  neben  Würfeln  behaupten  konnte  und 
erst  Karten  den  Platz  räumte.  Diesen  Aufsatz  von  Licii'iski  begleitete  H.  Lopa- 
cinski  mit  sprachlichen  u.a.  Ausführungen,  leider  seine  letzte  Arbeit;  denn  ein 
unglücklicher  Zufall  raffte  im  August  190i;  den  unermüdlichen,  vielseitigen,  um 
lie  Heimats-  und  Volkskunde  ausserordentlich  verdienten  Forscher  weg;  der  Tod 
wn  Lopacii'iski  bezeichnet  eine  durch  niemanden  wieder  zu  ersetzende  Lücke, 
nimentlich  verliert  in  ihm  Lublin  den  berufenen  Historiker  von  Stadt  und  Um- 
gebung. Wir  wünschen  und  hoffen,  dass,  wenn  endlich  Ruhe  in  dem  heim- 
gesuchten Lande  eingekehrt  ist,  auch  die  'Wishi'  nach  dieser  unfreiwilligen  Pause 
wilder  zum  Leben  erweckt  wird.  Vorläufig  bleibt  dies  ein  frommer  Wunsch;  die 
all^meine  Aufgeregtheit  und  Unsicherheit  ist  jeglicher  wissenschaftlichen  Arbeit 
feinl,  und  speziell  die  Volkskunde  leidet  am  empfindlichsten. 

Aus  dem  Nachlass  des  unvergesslichen  Begründers  der  Wisla,  J.  von  Karlo- 
wici,  wird  sein  grosses  dialektisches  Wörterbuch  fortgeführt;  es  erschien  davon, 
im  \'5rlage  der  Krakauer  Akademie,  der  vierte  Band,  der  Buchstabe  P  (Slownik 
gwar  polskich  etc.,  Krakau  1900.  466  S.  doppelspaltig),  doch  waltet  über  dem 
Untenehmen  ein  Unstern;  von  den  beiden  Forschern,  die  es  zunächst  fortführten, 
ist  dei  eine,  Taczanowski,  in  der  Mandschurei  gefallen,  der  andere,  Lopacii'iski, 
verungückte    in  Lublin;    so    hat  Prof.  J.  -Los    in  Krakau    die    weitere  Redaktion 


1)   Vgl.  dazu  oben  16,  64  und  17,  91. 


214  Brückner: 

dieser  volkskundlichen  Quelle  ersten  Ranges  übernommen;  denn  es  ist  kein 
blosses  Wortverzeichnis,  sondern  bietet  durch  ausführliche  Auszüge  erwünschte 
Nachweise  über  Leben,  Spiel,  Kleidung  usw.  des  polnischen  Volkes  aller  Gegenden. 
Dagegen  kann  das  zweite  hinterlassene  Werk,  das  grosse  Fremdwörterbuch,  mit 
seinen  eingehenden  etymologischen  und  kulturhistorischen  Nachweisen  leider  nicht 
zu  Ende  geführt  werden;  es  ist  zwar  noch  ein  drittes  Heft  (Buchstabe  L-M. 
S.  333 — 411.  Krakau  19(i.'))  herausgegeben,  aber  auch  dieses  ist  eher  nur  ein 
Torso;  es  fehlen  wichtige  Artikel,  andere  sind  unvollständig  ausgeführt.  —  Von 
vergleichenden  Arbeiten  seien  zwei  genannt;  eine  ist  der  Mythologie  und  Märchen- 
kunde  entnommen:  W.  Klinger,  Ambrozya  i  Styks  a  woda  zywa  i  martwa  (Ab- 
handlungen der  Krak.  Akad.  d.  Wiss.,  philoiog.  Klasse  1906.  -11,  313— 3.sO). 
Ambrosia  ist  nicht,  wie  Röscher  zu  beweisen  suchte,  der  Göttermet,  sondern  das 
Lebenswasser  und  Nektar  ist  dasselbe,  wie  es  bereits  Buttmann  und  Bergk  an- 
gedeutet hatten;  es  werden  die  Argumente  Roschers  für  die  angebliche  Naturbasis 
der  Himmelsspcisen  widerlegt;  neben  dem  Göttertrank  gab  es  eine  Götterspeise, 
die  Äpfel  der  Hesperiden  (der  Baum  wächst  ja  neben  dem  Quell  des  lebenden 
Wassers);  die  himmlischen  Verhältnisse,  blosse  Idealisierung  von  irdischer  Speise 
und  Trank,  sind  dann  auch  in  das  Seelenheira  projiziert  worden,  deren  kühles 
Wasser  elienfalls  Unsterblichkeit  verleiht.  Wie  dem  Lebensbaum  der  Todesbaum  in 
der  hebräischen  Schöpfungslegende  (in  einer  ursprünglicheren  Fassung;  die  er- 
haltene verwischt  beides)  entgegentritt,  so  ist  auch  der  Styx  nur  das  Gegenteil 
der  Ambrosia,  aber  frühe  erfolgte  die  Vermischung  des  Styx  mit  der  Lethe,  die 
doch  ebenso  wie  der  Cocytus,  nur  eine  Abart,  Abzweigung,  des  Styx  selbst  ist; 
dann  erfolgte  auch  eine  Lokalisierung  des  Styx  auf  der  Erde  (zumal  in  Arkadien) 
und  eine  Vermischung  mit  dem  Acheron,  der  ursprünglich  nur  das  Wasser  war, 
über  das  die  Seelen  der  Abgeschiedenen  wandern  müssen;  den  Äpfeln  des  Lebens- 
baumes stehen  die  Granatäpfel  des  Aidoneus  als  Todesfrucht  gegenüber.  Die 
modernen  Erzählungen  vom  Lebens-  und  Todeswasser  beruhen  nur  auf  den 
antiken  mythischen  Konzeptionen.  Klingers  lichtvolle,  wohldokumentierte  Dar- 
legung wirkt  völlig  überzeugend.  —  Gleiches  erkennen  wir  der  .Vbhandlung  von 
St.  Ciszewski  über  die  Couvaile  zu  (Kuwada,  studjum  etnologiczne.  Abhandl. 
der  Krak.  Akad.,  histor.  Klasse  lllOU.  48,  84—14-2).  Im  Gegensatze  zu  den 
phantastischen  Annahmen  einer  Überwindung  des  Matriarchates  durch  das 
Patriarchat,  die  sich  in  dieser  sonderbaren  Sitte  aussprechen  sollte,  wird  durcl 
eine  Fülle  von  Beispielen  aus  aller  Herren  Ländern  erwiesen,  dass  es  sich  bei  dtr 
Couvade  um  zweierlei  handelt:  einmal  um  prophylaktische  Massregeln,  im  Ver- 
halten von  Mutter,  Vater,  sogar  von  dritten  Personen,  die  mit  ihnen  in  Berühruig 
kommen,  die  das  Gedeihen  der  Nachkommenschaft  (rasches  Wachsen,  Geh.'n, 
Sprechen  usw.)  sichern  sollen  und  die  einfach  dem  weiten  Gebiete  der  Synipatlie- 
mittel  entnommen  sind;  andererseits  um  eine  Parodie  des  Geburtsaktes;  wieder 
Vater  das  Empfangen  verursacht,  soll  er  auch  an  der  Geburt  selbst  betdiigt 
werden,  und  das  kann  er  nur  erzielen,  wqnn  er  die  realen  Schmerzen  der 
Mutter  usw.  simuliert.  Die  Beweisführung  ist  evident  und  bringt  die  Ansi;hten 
eines  Starcke  (Primitive  Familie),  Ploss  u.  a.  zu  ausschliesslicher  Geltung:  die 
Belege  sind  ausserordentlich  reichhaltig,  namentlich  ist  das  gesamte  slavische 
Gebiet  in  schier  unheimlicher  Fülle  herangezogen.  —  Von  allgemeineren  Dar- 
stellungen sei  noch  das  trelTliche  historiosophische  Studium  von  .1.  Kochancwski, 
Die  Menge  und  ihre  Führer  (Tlum  i  jego  przewodcy,  Warschau  lüuü,  GU  S.) 
genannt;  da  es  aber  sowohl  in  den  Annales  de  SocioJogie  wie  nachher  in  deutscher, 
italienischer  u.  a.  Übersetzung  erscheinen  wird,    sei    hier  auf  diesen  Niettrschlag 


Berichte  und  Bücherauzeigen.  215 

von  Beobachtungen  in  anima  vili  (während  des  Belagerungszustandes  in  Warschau) 
nur  aufmerksam  gemacht;  die  Rolle  einzelner  Elemente  und  Motive  bei  den  ge- 
waltsamen Umwälzungen  aller  Zeiten  wird  klar  auseinander  gehalten. 

Von  volkskundlichen  Publikationen  sei  zuerst  eine  kleinrussisehe  genannt, 
•weil  sie  viel  polnisches  Material  bringt,  die  Studie  von  Dr.  J.  Franko,  Do 
istorii  ukrainskoho  wcrtepa  18.  wika  (Zur  Geschichte  des  ukrainischen  Krippen- 
spieles des  18.  Jahrhunderts),  Lemberg  lOflß.  152  S.  (aus  den  Denkschriften  der 
Szewczenkogescllschaft  Bd.  71 — 73).  Das  polnische  und  russische  Krippenspiel 
(szopka-wertep),  hat  heute  keine  Parallele  mehr  im  Westen,  aus  dem  es  doch 
gekommen  ist:  es  beruht  auf  einer  eigenartigen  Verquickung  des  Marionetten- 
theaters mit  seinen  ganz  weltlichen,  komisch-satirischen  Szenen,  und  eines  Weih- 
nachts-,  Herodes-  und  Dreikönigspieles.  Von  diesem  Spiel  ist  die  'Krippe'  im 
engeren  Sinne  (poln.  jaselka)  völlig  zu  trennen,  die  in  der  Kirche  selbst,  in 
blosser  Ausstellung  stummer  Figuren  (der  Krippe  und  ihrer  Beigaben)  stattfand, 
wobei  die  Andächtigen  fromme  Weihnachtslieder  sangen;  die  jaseiki  und  szopka, 
Krippe  und  Krippenspiel,  werden  mehrfach  unkritisch  zusammengeworfen,  obwohl 
sie  nichts  Gemeinsames  haben.  Der  Verfasser  sammelt  dann  Zeugnisse  und  Texte 
des  ukrainischen  Krippenspieles;  sie  gehen  nicht  über  den  Ausgang  des  17.  Jahr- 
hunderts zurück,  gegenteilige  Angaben  über  höheres  Alter  (IG.  Jahrhundert)  sind 
nur  irreführend. 

Die  polnische  archäologische  und  numismatische  Literatur  müssen  wir  übergehen ; 
wir  nennen  höchstens  die  trefflichen  Reproduktionen  des  berühmten  Michalower 
Goldfundes  ('skythisch'),  die  im  Auftrage  des  Gräflich  Dzieduschyzkischen 
Museums  in  Lemberg  der  Archäolog  Hadaczek  in  Krakau  1904  (23  Tafeln  und 
30  S.  Text)  herausgab;  die  numismatischen  Beiträge  z.  B.  eines  Mar.  Gumowski 
in  den  Krakauer  Abhandl.,  histor.  Kl.  lltOG.  48,  179—259  (Vollständiges  Ver- 
zeichnis aller  polnischen  Münzfunde),  Studien  von  demselben  über  die  Wenden- 
pfennige u.  a.  Die  Prähistorie  ist  besonders  berücksichtigt  in  der  neuen  illustrierten 
Geschichte  Polens  von  Prof.  W.  Czermak  (Illustrowane  Dzieje  Polski,  1.  Band, 
Wien  1905.  337  S.,  nur  bis  zum  10.  Jahrhundert  reichend).  Ebenso  übergehen 
wir  Kunstgeschichtliches,  wofür  der  neue  Band  der  Berichte  der  kunsthistorischeu 
Kommission  in  Krakau  (VII,  4.  1905,  mit  138  Abb.)  reiches  Material  liefert 
(Untersuchungen  von  Sokotowski  über  die  rotrussische  Kirchenarchitektur, 
sowie  über  die  mittelalterlichen  iiikastellierten  Kirchen,  die  für  Polen  so 
typisch  waren,  dass  hier  Kastell  Kirche  bedeutet;  Handschriftenminiaturen;  über 
den  poln.  Marmor,  in  Checiny  usw.);  doch  verdient  eine  neue  Publikation,  Muzeum 
Polskie  (bisher  5  Hefte),  besonders  genannt  zu  werden,  die  hauptsächlich  die 
Krakauer  Kunstschätze  reproduziert  und  erläutert;  in  der  Regel  ist  je  ein  Heft 
je  einem  Maler  oder  Bildhauer  gewidmet.  —  Von  historischen  Publikationen  sei 
die  treffliche  Monographie  von  J.  Warminski,  Andrzei  Samuel  i  Jan  Seklucjan 
(Posen  19()G.  XVI,  550  S.),  hervorgehoben,  die  die  Anfänge  des  Protestantismus 
in  Posen,  die  Geschichte  seiner  ersten  Verkünder,  die  zu  Herzog  Albrecht  nach 
Preussen  entwichen,  und  die  literarische  Tätigkeit,  die  Seklucjan  von  Königs- 
berg aus  für  diese  Propaganda  entfaltete,  abschliessend  darstellt  und  alle  Fabeln,  die 
zuletzt  noch  Wotschke  z.  B.  in  der  Posener  historischen  Zeitschrift  vertrat,  für 
immer  beseitigt;  ein  Werk  rastlosen  Pleisses,  scharfer  Kritik  und  belebter,  zugleich 
möglichst  unparteiischer  (der  Verf.  ist  katholischer  Geistlicher)  Behandlung  des 
spröden  Stoffes;  es  ist  noch  ein  Beitrag  zum  Jubiläum  des  grossen  Protestanten, 
Mik.  Rey,  des  'Vaters'  der  polnischen  Literatur.  Seinen  Namen  trug  auch  die 
Tagung,    zu    der    anfangs   Juli    1906    in    Krakau    polnische    Literarhistoriker    und 


■Jlt'  Brückner: 

Philologen  sich  einfanden,  die  neben  Vortrügen  und  Berichten  über  den  Stand 
der  Forschungen  Beschlüsse,  zumeist  über  die  IJerausgabe  eines  vielbändigen 
enzyklopädischen  Werkes  über  Polen,  Land  und  Leute,  Kultur  und  Geschichte, 
Literatur  und  Philologie,  gefasst  hat;  bereits  Anfang  1908  wird  mit  der  Druck- 
legung begonnen.  Den  Inhalt  historischer  Zeitschriften  (es  sind  ihrer  zwei, 
die  Lemberger  Vierteljahrsschrift  und  die  Warschauer  Revue),  anderer  Monats- 
schriften, historischer  Publikationen  übergehen  wir;  doch  sei  als  interessanter 
Beitrag  zu  deutschem  höfischen  Leben  um  1720  erwähnt  das  im  Lemberger 
Przevvodnik  Naukowy  i  Literacki  (Anzeiger  von  Wissen  und  Literatur,  Bd.  34. 
190Ö)  gedruckte  Tagebuch  des  Przebendowski,  der  den  nachmaligen  August  IIL 
von  Sachsen  und  Polen  auf  seiner  Reise  durch  die  westeuro[)äischen  Residenzen 
begleitete  und  über  jeden  Besuch  in  Bayreuth  usw.  genau  berichtete.  Dann  das  nach- 
gelassne  Werk  von  S.  Morawski,  Die  polnischen  Arianer  (Arjanie  Polscy,  Lcm- 
berg  1906.  XXVII,  564  S.  mit  Illustrationen),  das  auf  Grund  archivalischer,  ge- 
richtlicher und  geistlicher  Protokolle  einen  tielflichen  Einblick  in  das  Leben  dis 
IV.  Jahrhunderts,  die  Unsicherheit  und  Überfälle,  die  nahenden  Glaubens- 
verfolgungen gewährt.  Als  Pendant  dazu  diene  eine  Probe  aus  dem  Martyrologium 
des  polnischen  Bauers,  die  M.  Handcisman  aus  dem  Autograph  herausgab: 
Zywot  chlopa  polskiego  na  poczatku  XIX  wieku  (Leben  eines  polnischen  Bauers 
zu  Anfang  des  19.  Jahrhunderts),  Warschau  1907.  101  S.  —  Von  der  altpolnischen 
Bibliographie,  dem  monumentalen  Werke  von  K.  Estreicher,  ist  ein  neuer  Band 
erschienen,  der  Buchstabe  L  (Krakau  1! OG.  550,  IX  S.,  doppclspaltig).  Ungleich 
wichtiger  für  unsere  Zwecke  ist  eine  andere  eben  abgeschlossene  Bibliographie, 
Prof  L.  Finkeis  Bibliografia  Historyi  Polskiej  (B.  der  p.  Geschichte,  Lemberg- 
Krakau  1891  — 1906.  XLVIII,  -ilöO  S.,  doppclspaltig).  Ethnographie,  Archäologie  usw., 
sind  hier  vollständig  zusammengestellt,  die  Volkskunde  nach  dem  Schema  von 
K.  Weinhold  behandelt:  es  sind  kaum  ;-!4(Hiii  Nummern  im  ganzen,  aber  manche 
Nummer  enthält  viele  Hunderte  Positionen  (z.  B.  Verzeichnis  der  Beschreibungen 
aller  kirchlichen  oder  Profanbauten  unter  je  einer  Nummer,  mit  alphabetischer 
Ordnung  der  Belege).  Auf  einem  sehr  beschränkten  Raum  ist  eine  Riesenfülle 
von  Material  zusammengedrängt,  was  nur  durch  stärkste  Kürzung  von  Titel  und 
bibliographischer  Angaben,  sowie  durch  engen  Druck  erreicht  werden  konnte; 
gegenüber  der  ausserordentlichen  Ausführlichkeit  von  Zibrts  böhmischer  Biblio- 
graphie mutet  die  polnische  einen  oft  wie  das  blosse  Skelett  einer  Bibliographie  an. 
Trotzdem  bleibt  sie  eine  hochverdienstliche  Leistung,  die  das  Studium  der  Ethno- 
graphie usw.  ausserordentlich  erleichtert  und  die  bequemste,  wenn  auch  knappste 
Übersicht  schafft.  Von  dem  reich  illustrierten  Werke  über  polnische  Orden  und 
Ehrenzeichen  ist  das  Schlusshcft  erschienen  (H.  Sadowski,  Ordery  i  oznaki 
zaszczytne  n  Polsce,  Warschau  1907,  S.  9')  — 194,  gr.  4").  Die  Adelslexika  von 
Boniecki  u.a.,  von  denen  oben  16,  203  die  Rede  war,  sowie  das  grosse  Wörter- 
buch der  polnischen  Sprache,  das  zum  ersten  Male  auch  die  Volkssprache  berück- 
sichtigt, werden  trotz  aller  Unruhen  in  Warschau  regelmässig  weitergeführt 
(letzteres  mit  Heft  2-2  bis  poko-  reichend).  —  Prof  Ant.  Kaiina,  der  Vorsitzende 
der  Lemberger  ethnographischen  Gesellschaft,  die  von  neuem  den  Lud  (Volk)  heraus- 
gab, ist  1906  verstorben.  Der  Gesellschaft  und  Zeitschrift  nahm  sich  Prof.  Kallen- 
bach  an;  unter  seiner  Redaktion  erschienen  die  letzten  Hefte  von  Band  11  und 
zwei  neue  von  Band  12;  sie  enthalten  Beiträge  von  Bruchnalski  (Zur  Geschichte 
der  polnischen  Volkskunde);  vergleichende  Aufzeichnungen  über  Zauberzahlen 
(3  und  9),  über  Volksmedizin;  Darstellungen  von  Fest-  und  Hochzeitsbräuchen 
(Czaja,  über  den  Fasching  u.  a.);  Texte  aus  alter  und  neuer  Zeit  u.  a.    Der  neueste 


Berichte  uud  Bücheranzcigen.  217 

Band  der  Krakauer  Materialien  der  anthropologisch-archäologischen  Kommission 
der  Akademie,  Krakau  lüOG,  enthält  aus  dem  Nachlass  von  0.  Koiberg-  ethno- 
graphische Materialien  aus  Oberschlesien,  sowie  besonders  ausführliche  Beiträge  zur 
Ethnographie  Grosspolens  (d.  i.  Posen),  139  Nr.  mit  fünf  kolorierten  Tafeln. 

Von  dem  oben  genannten  Dr.  J.  Franko  sei  noch  ein  wichtiger  Beitrag  zur 
Hagiographie  genannt:  Der  heilige  Klemcns  in  Cherson  (kicinruss.,  Leraberg  l9Uö. 
317  S.  Aus  den  Denkschriften  der  Szewczenkogesellschaft,  IM.  4G — 6b).  In 
zwölf  Kapiteln  wird  unser  Wissen  über  den  wirklichen  Clemens  Romanus,  über 
den  Roman  des  Pseudoklemens  und  seinen  Nachhall  in  der  späteren  christlichen 
Literatur  (Eustachius-Placidus,  sowie  die  Novelle  vom  geduldigen  Weibe,  in  ihren 
vier  Typen;  das  Motiv  der  Liebes  Werbung  mit  Hilfe  der  Magie,  Legenden  von 
Cyprian  u.  a.)  besprochen.  Dann  Kleniens  als  Papst  und  die  Legende  von 
Theodora  und  Sisinius,  wie  der  Papst  den  blinden  Heiden  heilt  und  bekehrt, 
woher  diese  Legende  stammt.  Es  folgen  das  angebliche  Martyrium  des  Klemens 
in  Cherson  und  Ancyra,  Jugend  und  Widersprüche  dieser  Angaben,  die  alten 
Quellen  völlig  fremd  sind;  Untersuchung  der  Legenden  über  die  chersonesischen 
Märtyrer,  Zeit  und  Ziel  derselben;  das  Wunder  des  Klemens  mit  dem  Knaben  auf 
dem  Meeresgrunde,  der  seiner  Mutter  heil  zugeführt  wird.  Den  Mittelpunkt  der 
Beweisführung  bildet  die  Wiederauffindung  der  Klemensreliquien  durch  den 
Slawenapostcl  Cyrill  um  86(i.  Franko  sucht  nachzuweisen,  dass  dies  eine  jüngere 
Erfindung  ist,  dass  Cyrill  selbst  sich  dieses  Verdienst  nicht  angemasst  hätte.  Vgl. 
den  Bericht  im  Arohiv  für  slawische  Philologie  "28  über  diese  Ausführungen,  die 
mich  durchaus  nicht  überzeugt  haben.  Der  Klemenskultus  in  Mähren  und  Russland 
sowie  Spuren  des  Klemenskultus  in  Westeuropa  bilden  den  Abschluss  des  inter- 
essanten, lehrreichen  Werkes,  dem  Abdruck  slawischer  und  griechischer  Texte 
beigegeben  ist.  BVeilich  bleibt  wegen  der  Lückenhaftigkeit  des  Materials  manches 
recht  problematisch. 

Mit  den  Namen  Lopacii'iski  und  Kaiina  ist  der  Nekiolog  von  rJ(.)G  leider 
nicht  erschöpft;  es  starb  in  Krakau  Prof.  Piekosiiiski,  der  unermüdliche  Er- 
forscher polnischer  Heraldik,  Numismatik,  Kulturgeschichte  (Stadt-  und  Zünfte- 
ordnungen, Urkunden,  Gerichtseintnigungen  des  Mittelalters);  in  Mähren  der  eigent- 
liche Begründer  der  mährischen  Volkskunde,  Frant.  Bartos,  der  Herausgeber  des 
grossen  mährischen  dialektischen  Wörterbuches,  Sammler  mährischer  Lieder  und 
Bräuche,  ein  unermüdlicher  Popularisator  der  Volkskunde  für  Jung  und  Alt;  auch 
diese  Lücke  ist  nicht  zu  ersetzen. 

In  der  böhmischen  Literatur  gilt  es  zuerst,  eine  neue  periodische  Publikation 
vorzuführen.  Die  Gesellschaft  des  böhmischen  ethnographischen  Museums  gab 
bisher  einen  Sbornik  (Sammelband)  heraus,  über  den  wir  stets  berichtet  haben, 
zuletzt  über  den  10.,  mit  den  ausführlichen  und  interessanten  Märchenstudien  von 
Prof.  Polivka;  der  11.  enthält  eine  stattliche  Sammlung  von  Paul  Sochän,  Schnitt- 
muster (mit  24  Tafeln)  und  Hochzeit  in  Lopasov  im  Neutraschen  Komitat,  bei  den 
Slowaken.  Seit  190G  veröffentlicht  die  Gesellschaft  eine  Monatsschrift,  deren  erster 
Jahrgang  abgeschlossen  vorliegt:  Närodopisny  Vcstnik  Ceskoslovansky  (Böhmischer 
ethnographischer  Anzeiger;  Redaktion  J.  Jakubec,  A.  Kraus,  J.  Polivka),  Prag  190G, 
10  Hefte,  304  S.  Es  ist  durchaus  kein  Konkurrenzunternehmen  gegenüber  dem 
Lid;  es  verfolgt  andere  Ziele  auf  anderen  Wegen.  Es  gibt  sich  als  Fachzeit- 
schrift mit  längeren  Aufsätzen  und  Studien,  ein  oder  zwei  im  Hefte,  mit  einer 
geradezu  musterhaften  Bibliographie,  die  alles  auf  Volkskunde  im  weitesten  Sinne 
des  Wortes,  in  allen  Ländern  und  Zungen,  was  eben  erreichbar  war,  zusammen- 
stellt   (oft   mit    Inhaltsangaben    und    kritischen    Bemerkungen);    daneben    einzelne 


218  Brückner: 

ausführliche,  kritische  Besprechungen.    Al.s  sehr  verdienstlich  sei  bezeichnet,  dass 
eine   gcniiuo    deutsche   Inhaltsangabe    aller  Aufsätze    und  Rezensionen    dem  Jahr- 
gange beigegeben  wurde;    der  Lid  bringt  nur  kurze   französische  Somraaires    (wie 
sie  die  Wisla  gab).    Aus  dem  Inhalte  dieses    ersten  Bandes  seien  hervorgehoben, 
nach  der  Programmerklärung  von  V.Tille,  die  eingehenden  kritischen  Bemerkungen 
zu  dem  Werke  von  Rauchberg    über   den  nationalen  Besitzstand    in  Böhmen    und 
über  die  Bedeutung  der  Volksbewegung  in  Böhmen  im  Jahrzehnt  1>)90 — IHOO,  die 
vor    einseitigen,    übereilten    Schlüssen    warnen.      Die    ausführlichste    Studie    (mit 
Illustrationen)  widmete  K.  Chotek  dem  slowakischen  Cerovo  im  Hontaer  Komitat; 
es  zieht  sich    fast  durch    alle  Hefte  und  er.schöpft    aus   dieser  beschränkten  Stätte 
alles,  was  über  Leben,    Bauten,    Bräuehe,    Aberglauben,  Feste,   Spiele,  Lieder  und 
Melodien,  über  die  sozialen  und  sanitären  Verhältnisse,    Lage  und  Geschichte  des 
Dorfes  sich  erkunden  liess;    nur  von  der  Sprache    ist  abgesehen.     Prof.  Poli'vka 
stellt  die  Erfahrungen  zusammen,    die    man    in  Österreich  durch    die  sog.  Balkan- 
kommission   der    Wiener    Akademie    und    in    Russland    durch    Private    mit    dem 
Phonographen  im    Dienste  der  Volkskunde  gemacht  hat;    unsere  Erwartungen  be- 
züglich dialektologischer  Ergebnisse  sind  nicht  recht  erfüllt;    dagegen  bewährte  er 
sich  vorzüglich,    was  Melodien  anbelangt,    so  dass  man  von  der  Willkür  der  Auf- 
zeichner, die  die  Melodien  nach  ihrem  Besserwissen  zurechtstutzen,  unabhängig  wird. 
Mit  Absicht  bevorzugt  der   'Anzeiger'    allgemeine  Themen,    beschränkt   sich    nicht 
ausschliesslich   auf  Böhmisches,  wahrt  sich  einen  weiteren    Blick    und  Zusammen- 
hang; so  schildert  der  Russe  Jacimirskij  den  Ursprung  der  Künste,  vorläufig  der 
tonischen,    nach    alten  und  neuen  Theorien,    von  Bucher,  Anitkov  u.  a.     So  pflegt 
der  Anzeiger  vor  allem  auch  die  Kritik;  aus  der  Reihe  eingehender  Besprechungen 
seien  nur  zwei  genannt,  eine  von  P.  Vykoukal,  die  dem  bedeutenden  Werke  von 
A.  John,    Sitte,    Brauch  und  Volksglaube  im   deutschen  Westböhmen,    trotz  aller 
Einwendungen  im  einzelnen,    volle  Gerechtigkeit  widerfahren    lässt,    und    die    von 
Prof.  Niederle  über  Peisker.    Peisker  hat  in  einer  ausserordentlich  anregenden 
Schrift    'Die    älteren    Beziehungen    der    Slawen    zu    Turkotataren    und    Germanen' 
(Abdruck  aus  der  Vierteljahrsschrift  für  Sozial-  und  Wirtschaftsgeschichte  3.   1905) 
seine  von  den  gangbaren  völlig  abweichenden  Ansichten  formuliert  und  begründet; 
ihm  sind  die  Slawen    immer  nur,    wie    schon    ihr  Name  lehrt,    Sklaven    der  Ger- 
manen   oder  Turkotataren    gewesen,    verurteilt  zu    dem    erniedrigenden    Ackerbau, 
während  die  fremden  Herren    Jäger   und    Hirten    verblieben,    den    Slawen    eigene 
Viehzucht  unmöglich  machend;  ihm  wirken  diese  Verhältnisse  noch  in  den  Staram- 
sagen    (vom  Bauern  Przeraysl  in  Böhmen)   und  in  den  Einsetzungszerimonicfn  des 
Herzogs  an  dem  Kärnthener  Feldstein  nach,  die  auf  einstige  erfolgreiche  Revolution 
slawischer  Bauern    gegen    fremde  Suppanen-IIirten  hinweisen,    sowie    noch  in  den 
sozialen  Verhältnissen    der  Meissener  wie    der  steierischen   Suppuno    des    Ti.  und 
13.  Jahrhunderts:    auch   grosses  philologisches  Rüstzeug,    namentlich    die    uralten 
Lehnwörter    im    Slawischen,    aus    dem  Westgermanischen,    nicht  Gotischen,    wird 
hierzu  aufgeboten.     Niederles  Kritik  schränkt    diese  Ausführungen    erheblieh    ein. 
In  den  Rezensionen    ist  gerade    die  deutsche  Literatur  stark   berücksichtigt.     Das 
Januarheft   des  neuen  Jahrganges   hält  sich  an  dasselbe  Schema.     Niederle  be- 
richtigt auf  Grund  neuen,  zuverlässigen  Materials  seine  slowakische  Sprachgrenzen 
(die    der    Sbornik  9  gebracht  halte);    es    folgt    eine   eingehende  Studie    über    den 
Rhythmus  der  böhmischen  Volkslieder,  der,  gegen  die  Behauptungen  anderer,   als 
vom  Wortakzent  unabhängig  erwiesen  wird;    nach  allerlei  Rezensionen    folgt  eine 
erstaunlich    reiche  Bibliographie    von  Märchen,    Schwänken,    Legenden  usw.     Aus 
der  neuen  Prager  Zeitschrift    (in  deutscher  Sprache)  'Öechische  Revue'  (1907)  sei 


Berichte  und  Bücheranzeigen.  219 

ein  trefflich  orientierender  Aufsatz  von  Niederle  'Das  letzte  Dezennium  der 
böhmischen  Archäolog-ie'  genannt,  der  den  entgegengesetzten  Standpunkt,  den  Pic 
gegenüber  den  Forschungen  von  Buchtela  und  Niederle  vertritt,  scharf  beleuchtet; 
sowohl  Niederle  wie  Pic  sehen  in  dem  Burgwall  bei  Stradonice  an  der  Beraun 
mit  seinen  reichen  Fundschiitzen  das  Marobudum  des  Markomannen  Marbod 
(der  darüber  handelnde  Teil  in  dem  grossen  Werke  von  Pic  über  Böhmens  Alter- 
tümer erschien  190.'i  in  französischer  Übersetzung:  Le  Hradischt  de  Stradonitz  en 
Boheme  par  J.  Pic,  ouvrage  traduit  du  tscheque  par  Le  Dechelette,  Leipzig  1906). 
—  L.  Niederles  Slawische  Altertümer  (Slovanske  Starozitnosti)  haben  einen  be- 
deutenden Schritt  vorwärts  getan:  der  erste  Band  'Ursprung  und  Anfänge  der 
Slawen'  ist  abgeschlossen  (XV^  und  .')"2>)  S.),  und  vom  _'.  Teil  'Ursprung  und  An- 
fange der  Südslawen'  (d.  i.  die  Geschichte  ihrer  Einwanderung  auf  dem  Balkan) 
ist  190Ö  das  erste  Heft  ("280  S.)  erschienen;  Kap.  1  behandelt  Land  und  Leute 
des  vorslawischen  Balkan;  Kap.  '2  die  bisherige  Darstellungen  des  Slawentums  auf 
dem  Balkan  (autochthonische  und  Einwanderungstheorie);  Kap.  3  erweist  das  Vor- 
dringen einzelner  Slawen  an  die  Donau  und  Sau  schon  in  früher  Zeit,  was  teil- 
weise angefochten  werden  kann;  Kap.  4  behandelt  die  Einfälle  und  Niederlassungen 
im  5.  bis  7.  Jahrhundert,  Kap.  ä  die  Heimat  und  Herkunft  der  Serbochorwatcn. 
Die  stupende  Gelehrsamkeit,  das  kritisch  nüchterne  Verfahren,  die  Vorurteils- 
losigkeit des  Verfassers  kann  nicht  genug  gerühmt  werden;  nun  endlich  wird 
Safariks  Darstellung,  auf  die  wegen  Mangels  eines  zusammenhängenden  Werkes 
immer  zurückgegriffen  werden  musste,  völlig  überholt:  dass  dem  Archäologen  vom 
Fach  die  archäologischen  Ausführungen  bestens  gelingen,  ist  selbstverständlich; 
seine  kühle  Zurückhaltung  gegen  alle  archäologischen  Romane  und  sein  begrün- 
detes Misstrauen  gegen  alle  voreilige  Konstruktionen,  mit  denen  man  uns  regaliert, 
sei  besonders  betont;  für  den  Balkan  steht  das  archäologische  Kapitel  noch  aus. 
Da  wir  schon  bei  alter  Geschichte  sind,  sei  gegen  unseren  Grundsatz  das 
deutsche  Werk  des  böhmischen  Historikers  Jos.  Pekar,  Die  Wenzels-  und 
Ludmila-Legenden  und  die  Echtheit  Christians  (Prag  1906.  443  S.),  hier  erwähnt. 
Auf  Grund  des  Chronisten  Christian,  der  kein  Pseudochristian  des  14.  Jahrhunderts 
ist,  sondern  im  lU.  Jahrhundert,  also  lange  vor  Cosmas  schrieb,  hatte  ich  den 
Bericht  über  die  Libussa  des  Cosmas,  den  Bruderstreit  usw.  als  eine  Erfindung 
des  Cosmas,  nicht  als  echte  böhmische  Volkssage,  hingestellt;  Pekaf  hatte  zuerst 
Echtheit  und  Alter  des  Christian  in  einer  Reihe  böhmischer  Publikationen  er- 
wiesen. Er  fand  Gegner,  die  ihn  namentlich  deutsch  bekämpften,  ßretholz,  Bach- 
mann  u.  a. ;  um  nun  selbst  vor  dem  deutschen  historischen  Publikum  zu  Worte 
zu  kommen,  hat  er  die  äusserst  umfassende,  sorgfältige  kritische  Untersuchung 
(mit  mehreren  alten  Texten)  veröffentlicht,  gegen  die  die  ganz  unbegründeten  Ein- 
wände seiner  Gegner  wohl  nicht  länger  aufkommen  werden.  Die  Echtheit 
Christians  erweist  die  Unechtheit  der  Libussasagen,  zu  deren  Retter  sich  Schreuer 
vergebens  aufgeworfen  hat.  Ich  behauptete,  dass  Libussa  ein  Mannsname  war, 
und  fand  jetzt  wirklich  einen  böhmischen  Kleriker  dieses  Namens  im  14.  Jahr- 
hundert. —  Aus  dem  ersten  Heft  der  böhmischen  historischen  Zeitschrift  (13,  1. 
Prag  1907),  die  die  Professoren  Goll  und  Pekar  herausgeben,  sei  die  Abhandlung 
von  Zd.  Nejedly,  dem  trefflichen  Kenner  der  tonischen  Künste,  über  'Die  Reform 
des  Kirchenliedes  durch  Hus'  hervorgehoben;  in  seiner  Geschichte  des  böhmischen 
Kirchenliedes  bis  Hus  (I)  hatte  er  die  Resultate  ausführlich  bewiesen,  die  er  hier 
kurz  zusammenfasst,  um  daran  die  Fortsetzung  zu  knüpfen.  Ihm  verdanken  wir 
die  völlige  Aufklärung  eines  Feldes,  auf  dem  ganz  unbegründete  Tradition  den 
Sachverhalt    völlig  entstellte:   es    gab    kein    Kirchenlied    vor   Hus,    eine    nationale 


220  Brückner: 

Hymne  bloss  seit  dem  \'2.  Jahrhundert,  zu  der  im  13.  und  N.  Jahrhundert  je  ein 
Lied  hinzukam,  ausserdem  im  U.Jahrhundert  von  den  Passionsspielen  noch  eins, 
und  in  üeutschhmd  war  es  nicht  anders;  die  Prager  Deutsclien  z.  B.  hatten  kein 
deutsches  Kirchenlied;  die  überlieferten  religiösen  Lieder  waren  nicht  für  Volk  und 
Kirche,  sondern  für  die  Erbauung  des  einzelnen  bestimmt.  Eine  Änderung  brachten 
die  [jussitcn  und  böhmische  Brüder,  deren  Einlluss  sich  auch  das  deutsche 
protestantische  Kirchenlied  niclit  entzogen  hat;  doch  darüber  handelt  Xejedly  erst 
in  der  Fortsetzung.  Fr.  Marcs  schildert  das  Auftauchen  der  Wiedertäufer  in 
Böhmen  und  Mähren,  wie  sie  aus  Böhmen  vertrieben  in  Mähren  sich  festsetzten 
und  erst  vor  der  Reaktion  nach  der  Schlacht  am  weissen  Berge  nach  Ungarn  und 
der  Slowakei  auswichen,  wo  sie  die  reiche,  eigenartige  Uabaner  Majolika'  ge- 
schaffen haben,  mit  der  sie  die  Länder  der  Wenzelskronu  und  Ungarns  über- 
schwemmten; doch  erfahren  diese  Ausführungen  eine  Korrektur  durch  den  Aufsatz 
von  P.  Sochart  im  böhmischen  liltlinographischen  Anzeiger  1,  l'S't — 143,  der 
nachweist,  dass  die  Habaner  (d.  i.  Hafner!  deutsch)  Wiedertäufer  die  Kunst  der 
Majolika  nicht  mit  sich  aus  der  Schweiz  oder  den  Niederlanden  mitgebracht,  sondern 
sie  erst  in  der  Slowakei  von  den  böhmischen  Exulanten,  von  den  Brüdergemeinden, 
erlernt  und  nur  weiterverbreitet  haben;  der  trellliche  Ton  und  die  Befähigung  der 
Slowaken  für  ürnamentierungen  haben  diesen  Erzeugnissen  den  Weg  gebahnt.  — 
Einmal  auf  dem  Gebiete  der  Technik  angelangt,  nennen  wir  einschlägige  Arbeiten 
eines  gelernten  Bierbrauers,  Otakar  Zaehar,  dem  wir  neben  zahlreichen  Beiträgen 
in  der  Zeitschrift  für  chemisches  Gewerbe,  neben  einer  populären  Skizze  über 
'Handwerker  und  Zünfte'  in  Kladno  in  alter  Zeit  (bei  Kladno  liegt  seine  Brauerei), 
19üt),  Studien  und  Publikationen  über  böhmische  Alchemie  und  Alchemiker  ver- 
danken; dem  Abdruck  altböhmischer,  alchemistischer  Traktate  ('Der  gerechte  Weg 
in  der  Alchemie',  'Des  Raimund  Lullus  Praktik  des  Te.slamentes',  Prag  litÜ4) 
und  der  Studie  (im  Anzeiger  der  böhm.  Gesellschaft  der  Wiss.  1902)  über  den 
jüngeren  Bavor  Rodovsky  von  Hustiran  folgt  jetzt  'Laurentius  Ventura  de  ratione 
conftciendi  lapidis  philosophici  l.')?!'  in  der  böhmischen  Übersetzung  des  Rodovsky 
vom  Jahre  IJJSä,  nach  einer  Leidener  Handschrift  (Kladno  1907.  XV,  i'U>  S.). 
Die  Ausgaben  von  Zaehar  zeichnen  sich  dadurch  aus,  dass  in  umfassenden  Ein- 
leitungen der  Leser  in  die  auf  den  ersten  Blick  so  befremdende  Gedankenwelt 
dieser  das  Lebenselixier  und  den  Stein  der  Weisen  unermüdlich  suchenden,  dar- 
benden, keuschen,  ernsten  Männer  eingeführt  wird,  die  sich  für  das  Misslingen 
ihrer  Experimente  in  einer  Phantasiewelt  ihrer  eigenen  Erfindung  schadlos  hielten. 
Zaehar  beabsichtigt  die  ganze  einschlägige  altböhmische  Literatur  in  ihrem  Reich- 
tum (Rudolf  II.  in  Prag!)  uns  nach  und  nach  vorzuführen,  d.  i.  ein  aufgegebenes 
Geschichtsfeld  neu  zu  eröflnen. 

Der  'Cesky  Lid'  unter  der  kundigen,  umsichtigen  Redaktion  von  Prof.  C.  Zibrt 
hat  seinen  15.  Jahrgang  beschlossen  und  den  lli.  im  trefflichen  Gedeihen  eröffnet. 
Nochmals  sei  der  populäre  Charakter  dieser  Zeitschrift  betont,  die  das  Literesse 
der  Menge  für  das  heimische  Altertum  und  Volkstum  beleben  und  erhalten  soll. 
Diesem  Ziele  dient  in  erster  Reihe  der  reiche  bildnerische  Schmuck;  Illustration 
ist  erfolgreicher,  wirkt  lebhafter  als  blosser  Text,  und  in  richtiger  Erkenntnis 
davon  wendet  sich  der  Lid  gerade  mit  seinen  Bildern  an  die  Menge.  Bauten  und 
Trachten  nach  alten  Holzschnitten  oder  modernen  Aufnahmen  sind  in  erstaun- 
licher Fülle  über  jedes  Heft  ausgestreut;  die  Mannigfaltigkeit,  Abwechslung  des 
Inhaltes  wird  durch  die  Kürze  der  Texte,  die  sich  daher  oft  über  viele  Hefte 
hinziehen  mUssen,  erzielt.  Aus  dem  Inhalte  sei  zuerst  ein  alter  Text  hervorgehoben; 
die    verloren    geglaubte    Handschrift    des    Jos.    Gallas    über    die    Eigenart    der 


Berichte  und  Büclieranzeigcn.  221 

mährischen  Wallachen  (d.  i.  Hirten)  im  Prerauer  Lande  ist  in  den  reichen  Samm- 
lungen des  Lemberger  Kanonikus,  A.  Petruszewicz,  gefunden  und  wird  hier  ab- 
gedruckt. Die  'arkadische  Natur'  dieses  Hirtenvolkes  (wir  sind  ja  im  sentimen- 
talen 18.  Jahrhundert),  sein  Leben,  Lieder,  Sprache,  Glaube  usw.  wird  von  einem 
trefflichen  Kenner,  allerdings  in  idyllischem  Schimmer,  beleuchtet,  mit  eigenen 
Zeichnungen  der  alten  Trachten.  Hierzu  passen  Beiträge  aus  der  Korrespondenz 
der  trefflichen  Erzählerin  aus  dem  Leben  und  den  Überlieferungen  des  böhmischen 
Volkes,  der  Frau  Bozcna  Nemcovä.  Alte  Texte  druckte  Zibrt  selbst  in  Fülle: 
das  Fragment  einer  böhmischen  Überarbeitung  des  Dedekindschen  'Grobianus' 
aus  dem  Buche  des  Tesak  Mo.sovsky  von  lüOl  (in  seinem  'Frantrecht'  hatte  er 
das  'Grobiansrecht'  nach  einem  Druck  vom  Ende  des  17.  Jahrhunderts  veröffent- 
licht); die  ergötzlichen  Etymologien  böhmischer  Worte  des  Benesovsky  von  1587; 
das  Interessanteste  ist  der  vollständige  Abdruck  einer  ausführlichen  handschrift- 
lichen Reimerei  aus  dem  Ende  des  17.  Jahrhunderts.  Nach  dem  Satze  ,Je  langer, 
desto  schlimmer  wird  es"  bespricht  der  Anonymus  satirisch  strafend  alle  Verhält- 
nisse, namentlich  bei  den  Handwerkern;  er  liisst  deren  Vertreter  ihre  Klagen  über 
die  schlechten  Zeiten  und  grossen  Lasten  anstimmen,  worauf  ein  'Einfältiger'  in 
begründete  Vorwürfe  über  die  Handwerker  selbst,  über  ihre  Unredlichkeit,  Faul- 
heit usw.  ausbricht,  um  von  einem  'Wortkargen'  zurückgewiesen  zu  werden.  So 
entrollt  sich  ein  recht  buntes  Bild  des  Treibens  in  den  Zünften  und  auf  den 
Märkten;  aus  der  Zeit  des  tiefen  Verfalles  der  böhmischen  Literatur  ist  dies  eines  der 
lebhaftesten  und  interessantesten  ihrer  Erzeugnisse.  Neben  diesen  grösseren  Auf- 
sätzen eine  Fülle  kleinerer  Beiträge  aus  dem  Volksmunde,  Lieder  (mit  Melodien) 
und  Tänze,  Sagen  und  Märchen;  die  vollständige  Nomenklatur  z.  B.  der  böhmischen 
Mühle,  der  Vogelwelt  (mit  den  einschlägigen  Sagen  und  Scherzen,  Deutungen  der 
Rufe),  botanische;  Beiträge  zur  Volksornamcntik  in  Web-  und  anderen  Mustern; 
die  Volksküche  (als  Gegenstück  dazu  Zc'chnungen  der  alten  Küche  nach  den 
Titelblättern  der  Kochbücher  des  IG.  Jahrhunderts);  urkundliche  Beiträge, 
Korrespondenzen  aus  alter  Zeit  (17.  Jahrhundert)  und  eine  Fülle  kleiner  Mit- 
teilungen, wie  bibliographischer  Berichte.  Unter  den  Illustrationen  sei  besonders 
hervorgehoben  der  „Block  volkstümlicher  Lieder  und  Sprüche",  mit  Zeichnungen 
von  Ales,  die,  wie  nicht  leicht  andere,  echtböhmischen  Volksgeist,  Originalität 
atmen.     Dem  Andenken  von  Fr.  Bartos  sind  tief  empfundene  Zeilen  gewidmet. 

Aber  der  Lid,  der  sich  durch  alle  Anfechtungen  seiner  Neider  und  gegen  die 
Gleichgültigkeit  weiter  Kreise  unverdrossen  seinen  Weg  bahnt,  ist  nur  eine  der 
Publikationen  seines  unermüdlichen  Redakteurs.  Auch  die  böhmische  Museal- 
zeitschrift (Casopis  Musea  usw.)  wird  von  ihm  allein  herausgegeben;  es  wurde 
1906  ihr  80.  Band  abgeschlossen,  der  81.  1007  begonnen.  Aus  dem  reichen  In- 
halte von  Abhandlungen  und  Besprechungen  sei  genannt  die  Anzeige  eines  klein- 
russischen Lucidarius  aus  dem  17.  Jahrhundert,  der  einem  böhmischen,  aber  bisher 
unbekannten  Text  entstammt.  Simak  verzeichnet  alle  Böhmen,  die  auf  deutschen 
Universitäten  vom  14.  bis  18.  Jahrhundert  studierten.  Zibrt  und  Flajshans 
geben  allerlei  Bohemica,  der  letztere  mittelalterliches,  zumal  aus  dem  reichen 
Nachlass  von  Hus  heraus;  auf  theologische  Streitschriften  und  Streiter  des  !.'>.  Jahr- 
hunderts beziehen  sich  Beiträge  von  Svoboda,  Skalsky  u.  a.;  Havlik  unter- 
sucht die  Frage  von  Zeit  und  Verfasser  der  , Grazer  Handschrift"  aus  der  Mitte 
des  14.  Jahrhunderts  mit  vorwiegend  religiösen  Dichtungen.  Präsek  beschreibt 
Brandeis  a  d.  Elbe,  ein  Lieblingsschloss  Rudolphs  II.  Wichtige  Beiträge  zur 
Kulturgeschichte  des  Landes,  z.  B.  über  die  auch  germanisatorische  Tätigkeit  des 
Bischofs  Hay;    zur  Vorfassungsgeschichte,    vom  Steuerwesen  unter  den  Jagelionen 


222  Brückner,  Tolivka: 

angefangen  bis  zu  staatsrechtlichen  Fragen  von  1898;  zur  konfessionellen  Geschichte 
des  Landes  von  den  Hussiton  bis  zur  Propaganda  des  Runguschen  Ueutsch- 
katholizismus,  seien  nur  im  Vorübergehen  erwähnt.  Aus  dem  ersten  Hefte  des 
neuen  Jahrganges  (19l>7)  mache  ich  aufmerksam  auf  die  Abhandlung  von 
Dr.  Kap  ras  über  die  Landbücher  von  Oppeln-Ratibor.  Auffällig  ist,  dass  Ober- 
schk'sien  (Oppoln-Katibor)  mit  seiner  ausschliesslich  polnischen  Bevölkerung,  in  der 
erst  nach  dem  13.  Jahrhundert  ein  geringer  deutscher  Einschlag  auftrat  (ganz 
anders  als  in  Mittel-  und  Niederschlesien),  seit  dem  Ende  des  15.  Jahrhunderts 
böhmisches  Recht  und  Amts-  (Gerichts-)  spräche  so  vollkommen  aufnahm,  dass 
die  Landesordnung  von  L')(1'2  jegliche  andere  Sprache  vor  Gericht  verpönte; 
deutsche  oder  lateinische  Urkunden  durften  an  Gerichtsstelle  nur  mit  beglaubigter 
böhmischer  Übersetzung  eingereicht  werden;  einzelne  schlesische  (oppelnsche) 
Fürsten  konnten  gar  nicht  deutsch,  sondern  sprachen  z.  H.  in  Neisse  1497  nur  böh- 
misch untereinander,  ('her  diese  Rezeption  des  Böhmischen,  ihre  Gründe  und  Dauer 
(von  17-10  stammt  das  letzte  böhmische  Rubrum),  gibt  die  Abhandlung  treffliche  Aus- 
kunft. J.  Voll  handelt  über  den  Anteil  der  böhmischen  Herrscher  an  den  deutschen 
Reichsheerfahrten  (bis  zum  Interregnum  im  l.'i.  Jahrhundert):  wie  weit  ging  diese 
Verpflichtung,  wie  wurde  sie  faktisch  geübt?  Zibrt  gibt  die  voll.ständige  Inhalts- 
übersicht der  Bohemica  des  Jan  Jeni'k,  d.  i.  der  grossen  Sammlung  von  Ab- 
schriften und  Kuriosa  jeglicher  Art,  die  sich  der  Genannte  zu  Anfang  des  19.  Jahr- 
hunderts angelegt  hatte  und  die  manches  Unikum  vor  dem  Untergang  bewahrt 
hat;  das  in  den  Besitz  des  böhmischen  Nationalmuseunis  gelangte  Exemplar  ist 
die  Grundlage  anderer  Abschriften  und  Redaktionen  dieser  Bohemica  und  daher 
bfesonders  wichtig.  Anderes  (die  Korrespondenz  des  'Sehers'  Drabi'k  von  1G27  bis 
1671  usw.)  übergehen  wir,  ebenso  den  reichhaltigen  kritischen  Anzeiger.  —  Auch 
bezüglich  der  Fortsetzung  der  'Böhmischen  historischen  Bibliographie',  einea 
geradezu  monumentalen  Werkes  von  0.  Zibrt,  dessen  wir  schon  öfters  gedachten, 
begnügen  wir  uns  mit  der  blossen  Hervorhebung  des  Faktums  des  Neuerscheinens 
zweier  weiterer  Hefte. 

Berlin.  A.  Brückner. 


{ 


2.    Südslawisch  und  Russisch. 

Von  der  unter  der  Redaktion  des  Prof  K.  Strekelj  von  dem  Verein^ 
'Slovenska  Matica'  in  Laibach  herausgegebene  Sammlung  slowenischer  Volks- 
lieder wurden  seit  unserem  letzten  Berichte  (oben  IG,  209)  zwei  neue  Hefte 
herausgegeben,  das  zweite  und  dritte  des  dritten  Bandes  (S.  213 — 648).  Sie  ent- 
halten 1.  Reigen-  und  Tanzlieder  (S.  213 — 231)  mit  einer  Beschreibung  der  einzelnen 
Reigen  und  Tänze;  2.  Ilochzeitslieder  (232  —  332),  zusammengestellt  nach  dem 
Fortgange  der  Gebräuche,  zugleich  mit  einer  Beschreibung  derselben;  3.  Trink- 
lieder (333 — 525):    a)  Lieder  zum  Lobe    der  Rebe    und    des  Weines    (334 — 365), 

b)  Lieder  in  lustiger  Gesellschaft,  zum  Lob  und  Dank  dem  Gastgeber  (366 — 376), 

c)  Trinksprüche  (367 — 432'),  d)  Trinklieder  religiösen  Charakters  (43:i — 476), 
e)  Der  Trinker  als  Prahler,  lustiger  Bruder,  armer  Teufel  (477—500),  f)  ver- 
schiedene Trinklieder  (5(Kl— 525);  4.  Totenlieder  (526-646):  a)  Lieder,  die  bei 
der  Leichenwache  gesungen  werden,  b)  Toienklagen  (610 — 612),  die  sich  nur 
bei  den  Weisskrainern  erhalten  haben,  c)  versilizierte  Nekrologe,  die  grösstenteils 
von  Küstern  oder  Mesnern  verfasst  wurden  zu  Ehren  verunglückter  Jünglinge  oder 
Mädchen,  u.  a.:    hie  und  da  wurde  so  ein  Lied  sehr  beliebt    und  in    den  mannig- 


Berichte  und  Bücheranzeigen.  223 

faltigsten  Variationen  aufgezeichnet,  so  Nr.  63ö3— 6367  und  63G8— 6400.  Im 
Anhang  dazu  wurden  noch  einige  solche  Lieder,  ohne  Zweifel  Kunstpoesie,  mit- 
geteilt aus  verschiedenen  älteren  Sammlungen  aus  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahr- 
hunderts. Vielfach  sind  in  den  Anmerkungen  auch  Melodien  abgedruckt.  Die 
beiden  Hefte  zeichnen  sich  durch  dieselbe  Sorgfalt  aus,  die  wir  schon  in  unseren 
früheren  Berichten  rühmend  hervorhoben.  —  Das  österreichische  Ministerium  für 
Kultus  und  Unterricht  hat  in  der  neuen  Zeit  eine  Gesamtpublikation  des  Lieder- 
schatzes aller  österreichischen  Völker  in  Aussicht  genommen  und  zu  diesem 
Zwecke  besondere  Kommissionen  bei  den  einzelnen  österreichischen  Völkern  ge- 
bildet. Diese  Kommissionen  sind  mit  ölfentlichen  Aufrufen  hervorgetreten,  die 
slowenische,  in  der  wohl  Prof.  Strekelj  die  leitende  Rolle  haben  wird,  mit  einer 
recht  eingehenden  „Anleitung  und  Fragebogen  zum  Sammeln  und  Verzeichnen 
der  Lieder,  Musik,  Tänze  des  Volkes,  wie  auch  der  Gebräuche,  die  sich  darauf 
beziehen"  (Laibach  I'.KIO.  36  S.,  mit  einem  Fragebogen).  Trotz  des  grossen 
Materials,  welches  in  Strekeijs  Publikation  vorliegt,  ist  die  slowenische  Sektion 
der  Meinung,  dass  bisher  kaum  die  Hälfte  des  slowenischen  Liederschatzes  auf- 
gezeichnet ist,  von  den  Melodien  kaum  der  achte  Teil.  In  der  Anleitung  (S.  3— -28) 
wird  mit  Rocht  darauf  hingewiesen,  das  Text  und  Melodie  der  Lieder  mit  der 
grösstmöglichen  Genauigkeit  aufgezeichnet  und  jede  Änderung  absolut  vermieden 
werden  muss.  Besonders  sollen  die  Sammler  beim  Niederschreiben  der  Texte 
alle  phonetischen  Eigentümlichkeiten  auf  das  genaueste  wiederzugeben  suchen, 
und  zur  Wiedergabe  der  mannigfachen  Laute  und  Lautnuancen  wird  eine  grosse 
Reihe  verschiedener  Schriftzeichen  vorgeschlagen;  sogar  die  Satzphonetik  soll 
peinlichst  aufgezeichnet  werden.  Ich  fürchte,  dass  hier  etwas  zuviel  gefordert 
wird,  und  dass  kaum  jemand  diesen  Anforderungen  wird  genügen  können,  der 
nicht  eine  besondere  linguistische  Vorbildung  genossen  hat.  Für  die  Bestimmung 
des  Ursprungs  eines  Liedes,  wie  auch  der  Wege  seiner  Verbreitung  hat  gewiss 
die  Beibehaltung  der  dialektischen  Eigentümlichkeiten  eine  entscheidende  Be- 
deutung, aber  in  der  Aufzeichnung  aller  phonetischen  Feinheiten  wird  wohl  etwas 
eingehalten  werden  müssen.  Es  soll  ja  nicht  Material  für  phonetische  Studien 
gesammelt  werden.  Bis  in  das  kleinste  Detail  gehen  die  Fragen  (S.  21—33);  sie 
betreffen  1.  die  Beliebtheit  und  Art  der  Verbreitung  der  Lieder,  Musik,  Tänze, 
ihre  Träger,  Püeger  und  Verbreiter.  (Wird  etwa  Zauber  angewendet  zur  Er- 
langung oder  Verrichtung  des  Gesanges,  der  Musik,  des  Tanzes?)  '2.  den  Gesang 
(Singen  Männer  und  Frauen  dieselben  Lieder  oder  verschiedene?  Singen  mehr 
verheiratete  oder  ledige  Personen  und  welchen  Geschlechtes?  Gibt  es  Lieder,  die 
bloss  Kinder  singen,  verschiedene  für  Knaben,  für  Mädchen,  für  Burschen,  ver- 
heiratete Männer?  Singt  das  Volk  Lieder  in  einem  anderen  Dialekt,  als  es  spricht? 
Singt  es  fremdsprachliche  Lieder  oder  makkaronische  Lieder  u.  a.  m.).  3.  Musik, 
Musikinstrumente.  4.  Tanz,  dessen  Verhältnis  zu  Gesang  und  Musik,  Namen  und 
Beschreibung  der  einzelnen  Tänze  u.  ä. 

Einen  sehr  wertvollen  Beitrag  zur  slowenischen  Volkskunde  lieferte  der 
Pfarrer  Ivan  Saselj  mit  seinem  Buche  'Perlenschnüre  aus  dem  weisskrainerischen 
Volksschatze'  (Rudolfswert.  7,  333  S.).  Es  enthält  Sprichwörter  und  Redensarten. 
(S.  3— IG),  eine  ziemlich  stattliche  Sammlung  von  Liedern  mannigfachen  Inhalts 
(S.  21—179),  Aberglauben,  Prognostica,  Wetterregeln,  Gebräuche  (183—209), 
Mythologisches  (213—220),  Erzählungen  und  Märchen  (223—237)  und  schliesslich 
ein  Wörterbuch.  In  der  Liedersammlung  wird  vielfach  auf  Varianten  in  Strekeijs 
grosser  Sammlung  hingewiesen,  doch  wäre  es  gewiss  von  Vorteil  gewesen,  wenn 
der  Herausgeber  noch  andere  Sammlungen  herangezogen  hätte,  besonders  die  von 


224  Polivka: 

der  Matica  Hrvatska  lieraussegebenGn  'kroatischen  Volkslieder'  (Bd.  1.  1896); 
dort  finden  wir  gerade  z.  H.  Varianten  zum  Liede  von  Set.  Peter  und  seiner  Mutter 
Nr.  21-22,  S.  .306  (T.,  die  Schwester  des  hl.  Laurenz  Nr.  9  S.  21:  'Der  reiche  Gavan' 
Nr.  :^1  S.  04,  .51711.;  das  S.  88  abgedruckte  Liedchen  Nr.  30  gehört  wohl  in  den 
Kreis  des  bei  Kroaten  und  Serben  stark  verbreiteten  Fjiedes:  'Die  Heiligen  ver- 
teilen die  Gaben',  vgl.  dort  Nr..")  S.  9.  44711.  Diese  Lieder  erzählenden  Inhaltes 
sind  gewiss  vielfach  serbokroatischen  Ursprunges,  wie  wir  aus  dem  zehnsilbigen 
Verse  und  einigen  sprachlichen  Eigentümlichkeiten  schliessen  dürfen.  In  der  Ab- 
teilung 'Mythologisches'  finden  wir  eine  Saiie  vom  wilden  Mann  (S.  213),  der 
gefangen  wurde  dadurch,  dass  aus  der  Quelle,  aus  welcher  er  trank,  das  Wasser 
abgeleitet  und  Wein  hineingegossen  wurde;  dann  von  böswilligen  Geistern  (Wind- 
geistern'?) namens  Vidövin,  Vidövina  (S.  215f.),  A'ilen  (S.  21(if).  Erzählungen 
Nr.  2  Stiefmutter  und  Stieftochter,  zu  Köhler  I.  371  Nr.  2:  Nr.  4  S.  224  Kraljevi.'- 
Marko  führte  Krieg  mit  Christus;  Nr.  7  S.  iiii  Vom  reuigen  Räuber;  Nr.«  S.  230f. 
zu  Krauss,  Südslaw.  M.  1,  Nr.  97.  Köhler  2,  GIO;  Nr.  9  S.  234  Das  Märchen  vom 
goldenen  Vogel,  verbunden  mit  dem  Märchen  von  der  Schwanenjungfrau.  Als  der 
Held  der  entschwundenen  Pfauenprinzcssin  naht,  versenkt  ihn  die  Königin,  die 
ihn  zu  ihrem  Schwiegersohn  haben  will,  in  tiefen  Schlaf,  und  so  muss  der  Prinz 
weiter  suchen,  wie  bei  Grimm,  KHM.  93.  Er  findet  endlich  in  einer  Burg  einen 
gefangenen  Drachen,  stillt  seinen  Durst  und  befreit  ihn  (wie  bei  Krauss  1,  Nr.  76. 
7'.i.  sl.  .S8),  bekommt  endlich  die  Schöne  mit  Hilfe  dos  Pferdes,  das  er  sich 
erwählt  hatte,  als  er  drei  Tage  Stute  und  Füllen  der  He.xe  mit  Hilfe  der  Fische, 
Füchse  und  Mäuse  gehütet  hatte.  —  Unter  den  Gebräuchen  und  Aberglauben 
finden  wir  ein  Verzeichnis  der  glücklichen  und  unglücklichen  Tage  (S.  201),  Toten- 
gebräiiche  {'20.')),  die  bei  den  Scrbokroaten  und  Bulgaren  noch  häufige  llaargod- 
schaft  (2(19)  u.  a.  —  Im  Zbornik  der  Agramer  Akademie  l(i,  .■>24  ist  ein  beim  Be- 
stellen des  Weingartens  gesungenes  Lied  aus  der  südlichen  Steiermark  abgedruckt. 
Dieser  die  Erforschung  des  serbischen  und  kroatischen  Volkslebens 
pfiogende  Agramer  'Zbornik'  bringt  ferner  zwei  Aufsätze  von  Frau  Jelica 
Belovic;  in  dem  ersten  „Über  die  Entwicklung  unserer  volkstümlichen 
Ornamentik  in  der  Textilkunst"  (10,  IGl — 180)  versucht  die  Verf.  nach  einer 
kurzen  polemischen  Bemerkung  gegen  Fr.  S.  Krauss  die  aus  der  mythologischen 
Zeit  stammenden  Motive  der  Ornamentik  nachzuweisen  und  zeigt,  wie  gewisse 
Ornamente  bestimmte  Anwendung  im  Aberglauben  haben,  vor  bösen  Geistern 
schützen  sollen  u.  ä.  Trotzdem  sie  von  Ornamenten  spricht,  die  ihre  Wiege  in 
Ägypten  haben,  dann  nach  Byzanz  und  zu  den  Slawen  übertragen  wurden,  will 
sie  doch  den  Anfang  der  serbokroatischen  Ornamente  in  den  Resten  ,.der  einst 
grossen  slawischen  Kultur''  erblicken,  und  deren  weitere  Entwicklung  in  der  Be- 
rührung der  Slawen  mit  verschiedenen  Völkern.  Weiter  analysiert  sie  die  Ein- 
flüsse des  byzantinischen  Christentums  und  der  türkischen  Zeit  und  streift  nebenher 
den  italienischen  Einlluss  in  Dalmatien,  ohne  die  Frage  aufzuwerfen,  ob  er  weiter 
nach  Osten  reichte.  In  dem  zweiten  Aufsatz  „Die  Stickkunst  bei  den  Kroaten 
und  Serben"  (11,  1— öl)  beschreibt  die  Verf.  eingehend  die  Technik  derselben 
und  unterscheidet  1.  die  Stickerei,  in  der  die  Fäden  gezählt  werden  ('vez  brojera', 
die  Stickerei  durch  Zählen)  und  2.  die  Stickerei,  bei  der  das  Ornament  vorher 
aufgezeichnet  wird  ('vez  po  pismu'),  sowie  einige  Abarten,  die  Kreuzstich- 
stickerei u.  a.,  und  die  mannigfaltigsten  Muster.  Bei  einzelnen  versucht  sie  nach- 
zuweisen, dass  sie  slawisch,  nicht  von  den  Türken  übernommen  sind,  so  bei  dem 
sog.  türkischen  Dreieckstich  (S.  7),  den  Spitzenarbeiten  (S.  is)  und  Perlenstickereien 
(S.  30).    Einzelne  Ornamente  und  Farben  haben  symbolische  Bedeutung  im  Volks- 


Berichte  und  BücheranzeiKen. 


.'■_'a 


brauch  und  Aberglauben  (S.  28.  39  f).  —  Abgeschlossen  ist  nun  die  ausführliche 
Abhandlung-  über  das  Volksleben  und  Gebräuche  in  der  Landschaft  Poljica  in 
Dalmatien  von  Franc  Ivanisevic  (10,  180—307;  vgl.  oben  Bd.  16,  211).  Es 
werden  da  besonders  die  poetischen  Traditionen  des  Volkes  mitgeteilt,  neben 
einigen  Liedern  besonders  Märchen,  Erzählungen,  Schwanke  u.  a.,  dazu  kurze 
l^emerkungen  über  das  Benehmen  der  Zuhörerschaft.  S.  118ff.  zu  Grimra  Nr.  IGT: 
Der  arme  Bruder  heilt  Blinde  mit  den  Lorbeerblättern,  besonders  eine  blinde 
Königstochter.  S.  191f.  Die  einleitenden  Motive  des  Meisterdiebes.  Schuh  ge- 
worfen u.  a.  S.  192f.  Das  dumme  Weib,  ähnlich  wie  bei  Zingerle,  KHM.  1,  75; 
der  Mann  geht  in  die  Welt,  noch  dümmere  Leute  suchen.  S.  193  Des  Räubers 
Beichte,  zu  den  Sagen  vom  reuigen  Räuber;  der  verkohlte  Weidenstock  grünt, 
als  der  Räuber  ein  Weib  getötet  hatte,  welches  gerade  den  hundertsten  jungen 
Bräutigam  umbringen  wollte,  ähnlich  wie  z.  B.  in  den  Serbischen  Märchen  von 
Kosta  Ristii;  und  L.  Loncarski  S.  8  Nr.  2.  —  S.  194  'Sie  gingen  das  Unglück 
suchen',  d.  i.  Polyphem.  —  S.  194  f.  'Drei  Diebe'  tauschen  und  hintergehen  sich 
gegenseitig;  vgl.  Köhler  2,  .i>93  und  Roman.  Meistererzähler  2,  61  f.  —  S.  19.3f. 
Der  Teufel  versucht  umsonst  unter  musterhaften  Eheleuten  Hass  zu  säen,  ein  Weib 
erreichts  in  einem  Tage,  vgl.  Schumann,  Xachtbüchlein  S.  326.  41.'3.  Jak.  Ulrich, 
Die  100  alten  Erzählungen  S.  XXXIII  Nr.  42.  —  S.  197  Drei  Prinzessinnen  in 
einem  verwünschten  Schlosse,  befreit  von  drei  Brüdern,  da  wenigstens  der  jüngste 
es  dort  8  Jahre  3  Monate  aushält,  weiter  ähnlich  wie  bei  Grimm  Nr.  93.  —  S.  199 
Dienstvertrag:  Wer  zornig  wird,  Herr  oder  Knecht,  dem  wird  die  Haut  vom 
Rücken  abgezogen.  —  S.  2t)Ü  'Zigeuner  und  Türke',  d.  i.  Unibos.  —  S.  202  'Lügen- 
märchen'. Drei  Brüder  finden  Feuer  bei  einem  Bären,  gefangen,  freigelassen, 
wenn  sie  eine  Lüge  erzählen  können;  ähnlich  wie  bei  Valjavec  Nr.  bd,  Strohal  2, 
100.  —  S.  2n4f.  Zu  den  Zahlenliedern  oben  11,  400.  —  S.  206  Die  Brombeere 
vom  trunkenen  Noah  gesegnet.  Seit  wann  die  Steine  nicht  mehr  wachsen. 
Warum  darf  der  Rabe  in  den  trockenen  drei  Sommermonaten  kein  Wasser  trinken? 
Ähnlich  wie  der  Geier  im  Sbornik  mater.  kavkaz  18,  Abt.  3,  S.  238  u.  a.  —  S.  206 
Geschnitten!  Geschoren!  —  S.  2()7  Fuchs  und  Wolf,  zu  Grimm  Nr.  74.  —  S.  207 
Fuchs  und  Rabe,  ähnlich  Fuchs  und  Storch.  —  Schwanke  S.  208  z.  B.  wie  Pauli, 
Schimpf  und  Ernst.  Nr.  324  Spott  über  Nachbarn.  S.  213  z.B.  S.  218  Leute  von 
Brazzo  kauften  in  Venedig  Verstand,  d.i.  eine  Maus  in  einem  Gefässe;  zu  Hause 
öffneten  sie  es  am  Ufer,  die  Maus  sprang  ins  Meer  einer  Insel  zu;  nun  wollten 
sie  diese  mit  Stricken  packen  und  zu  Brazzo  heranziehen;  vgl.  oben  1,  344.  Archiv 
f.  slav.  Phil.  8,  274.  Strohal,  Hrvat.  nar.  pripov.  3,  280.  —  Rätsel  S.  219f.  — 
Glaube.  Über  die  Entstehung  der  Welt  S.  222  f.  Am  Anfang,  als  Gott  die  Welt 
erschuf,  waren  in  der  Sonne  zehn  Strahlen,  neun  trank  der  Drache  aus,  den 
zehnten  rettete  die  Schwalbe  mit  ihren  Flügeln;  daher  ist  es  eine  Sünde  die 
Schwalbe  zu  töten.  Sonnenfinsternis  (Antichrist),  Gewitter.  Einst  waren  'Giganten' 
auf  der  Welt.  Sonne,  Mond,  die  Sterne  haben  grosse  Kraft.  Prognostika.  Schlangen- 
sagen. Der  Diener  versteht  die  Sprache  aller  Pflanzen  und  Tiere,  als  er  bloss  den 
Saft  des  Schlangenbratens  gekostet  hat  (S.  225).  Vierblätteriger  Klee  (226).  Die 
Zigeuner  zu  ewiger  Wanderschaft  verdammt,  weil  sie  die  Nägel  für  Jesu  ge- 
schmiedet haben  (227).  Zauber  und  Zauberinnen,  die  jedes  verheimlichte,  ge- 
stohlene Gut  entdecken  können  u.  a.  Schlangenbändiger  (228).  Zaubermittel  gegen 
Meeresstürme,  Gewitter  und  Hagelschlag,  welche  der  böse  Geist  hervorruft  (i29). 
Hexen  una  ihre  Zusammenkünfte  (231).  Wie  und  wann  eine  Hexe  zu  erkennen 
ist  (232).  Vileiiak,  ein  Jüngling  der  mit  den  Vilen  (Feen)  Umgang  hat  (239). 
Von  Priestern,    der  Macht  ihrer  Gebete  u.  a.  (240).      Der  Teufel    aus   Besessenen 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1!I07.  15 


2-2G  Polivka: 

vertrieben  (242).  Werwolf  (24(;f.).  Vom  Fall  der  Engel,  Teufel,  böse  Geister 
auf  Erden  und  in  der  Luft  (-204).  Vila  =  Fee  (254).  Morina  =  Alb  (262).  Maci.' 
(2G5),  ähnlich  dem  Cikavac  im  Giasnik  zem.  mus.  Bos.-Herceg.  12,  WS,  dem 
kleinrussischeu  hodovanec  oder  chovanec  (Etnograf.  Zbirnyk  15,  'J6f.  Nr.  li  1—174. 
184.  Bd.  16,  375)  und  dem  böhmischen  hospodaii'cok,  ein  Hauskobold  aus  einem 
Ei  von  einer  ganz  schwarzen  Henne  unter  dem  linken  Arm  ausgebrütet.  Jrudica 
(267),  ein  böser,  weiblicher  Geist,  der  in  der  Luft  und  in  den  Wolken  herum- 
schweift. Kuga  (-268),  die  Pest.  Andere  böse,  riesenhafte  Wesen  sind  der  Drache, 
der  einäugige,  wilde  Mann,  Ovasar  (268)  ein  anderes  Scheusal,  Sraetinak,  Mani- 
morgo  (269),  Wesen,  die  sich  in  die  Gestalt  eines  Esels,  Maulesels  oder  eines 
anderen  Tieres  verwandeln  und  die  Menschen  zum  besten  haben;  Gespenster  (271), 
das  jüngste  Gericht  (278).  Die  Seelen  der  Verschiedenen  vor  Gottes  Gericht. 
Erscheinungen  von  Seelen  aus  der  Hülle  oder  dem  Fegefeuer  (279).  —  Wetter- 
prophezeiungen (281).  Wahrsagungen  (284),  nach  Träumen  (2^7).  Zauber,  Be- 
schwörungen (287).  Der  böse  Blick,  Beschreien  und  Mittel  dagegen;  Mittel  bei 
schwerer  Geburt,  Epilepsie  (29ii)  und  andere  Krankheiten,  verschiedene  Be- 
schwörungsformeln. Aberglauben  bei  der  Hochzeit,  wenn  die  Frau  keinen  Knaben 
gebären  will  (294),  wie  die  Hexen  zu  erkennen  sind  (294).  Von  den  Heiligen 
und  ihrer  Macht,  wie  auch  Heiligenlegenden  (295).  Jesus  verwandelt  den  hab- 
süchtigen Gastwirt  auf  ein  Jahr  in  einem  Esel  (vgl.  Krauss  2,  Nr.  65);  die  Flöhe 
erschaffen  wegen  des  faulen  Weibes  (296).  Amulette  (296).  Vorstellungen  des 
Volkes  von  der  Welt,  Sonne,  Mond,  den  Sternen,  Donner,  Regen  (297).  Einteilung 
des  Jahres  (300).  Geographische  und  historische  Kenntnisse  des  Volkes  (301), 
Ansichten  des  Volkes  über  Familie,  Heimat,  soziale  und  politische  Verhältnisse 
(303).  Sprichwörter  (307).  —  Weiter  wird  das  Leben  der  Bevölkerung  der 
Gemeinde  Smiijun  und  Umgebung  in  der  Lika,  Kroatien  beschrieben  (10,  308  bis 
322)  Haus  und  Hof,  Tracht  u.  a.,  dann  in  zwei  Dörfern  des  Bz.  ügulin,  .^usiievo 
selo  und  Cakovac  (11,  80—107):  Leben  in  der  Familie,  Erziehung  der  Kinder, 
Geschlechtsleben  der  heranwachsenden  Kinder  (94),  Leben  und  Beziehungen  der 
reifenden  männlichen  und  weiblichen  Jugend,  sehr  eingehende  Schilderungen.  —  Es 
folgt  eine  Beschreibung  der  Hochzeitsbräuche  in  Retkovci,  einem  Dorfe  Slawoniens 
(11,  108—128),  am  Schluss  einige  Zaubermittel,  um  frühes  oder  zu  oftes  Gebären 
abzuwehren,  dann  die  Beschreibung  von  Weihnachtsgebräuchen  in  Bosnien 
(IJ,  142)  und  auf  der  Insel  Gherso  (11,  149— l.Jö),  endlich  Brauch  im  gewöhn- 
lichen Leben,  besonders  Rechtsgebräuche  in  Montenegro  im  Bz.  Rijeka  (11, 
52_79)_  hierbei  auch  Aberglauben,  Mittel  gegen  Beschwörungen,  Bauopfer  (56). 
„Der  Wolf  in  der  Volkstradition  in  Bukovica.  Dalmatien"  (11,  129—137):  aber- 
gläubische Gebräuche,  um  den  Wolf  abzuhalten;  Fabeln,  wie  der  Wolf  vom 
Fuchs  überlistet  wird,  Wolf  und  Fuchs  bei  dem  kranken  Löwen;  in  Sprichwörtern. 
„Bienen  in  der  Volksüberlieferung"  (11,  145—148).  Abderitengeschichten  von  Be- 
wohnern des  Dorfes  Borovica  in  Bosnien  (11,  138—141).  Nr.  1  Die  Stute,  ein 
verwünschter  Efendi,  wie  der  verwunschene  Esel  bei  Köhler  1,  507  f.  Nr.  2 
Der  Block,  zu  kurz  abgehackt,  wird  ausgezogen,  dass  er  länger  wird.  Nr.  4  Nebel 
für  Baumwolle  gehalten,  wie  Sbornik  za.  nav.  rauotvor.  14,  Abt.  3,  S.  116,  und 
sonst  ein  Flachsfeld  für  das  blaue  Meer  (Köhler  1,  112).  —  Die  Kynokephalen 
(11,  157  f.)  sind  einäugig  und  haben  Ziegenfüsse,  weiter  ähnlich  Grimm  Nr  15. 
Endlich  finden  wir  kleinere  Berichte  über  einige  Gebräuche,  Segnen  des  Feuers  u.  a., 
und  über  Mädchenraub  in  Val  di  Canali  (Konavle)  in  Dalmatien  (10,  323;  11,  158ff.). 
Ausser  diesem  volkskundlichen  Organe  finden  wir  vereinzelt  Beiträge  in 
anderen  Zeitschriften,  so  im  'Giasnik'  des  Landesmuseums  in  Bosnien  und  Herze- 


Berichte  und  Bücheranzeigen.  227 

g'owinii  Bd.  18  (1906)  eine  Sammlung  bosnischer  und  herzegowinischer  Volkslieder 
und  Melodien  von  L.  Kuba  (S.  183—208.  .355—366.  499—508),  bloss  einen  kleinen 
Teil  einer  über  1000  Nummern  zählenden  Sammlung.  Vorausgeschickt  ist  eine 
Einleitung  besonders  über  ihre  musikalischen  Eigentümlichkeiten,  beigelegt  sind 
zwei  Druckbogen  mit  1"20  Melodien.  Derselbe  Glasnik  bringt  im  Bd.  17  eine  aus- 
führliche Beschreibung  der  in  der  oberen  Herzegowina  gebräuchlichen  Volksspiele 
und  Tänze  von  Toma  A.  Bratic  und  St.  Deli('  (S.  53—172).  St.  Delic  gibt 
weiter  noch  eine  ausführliche,  noch  nicht  abgeschlossene  Beschreibung  der  Hoch- 
zeit im  Bezirke  Gacko  (S.  509—540).  Von  der  regelmässigen  Hochzeit  und  ihren 
Gebräuchen  wird  der  Mädchenraub  unterschieden:  wieder  etwas  anderes  ist  „das 
Stehlen  des  Mädchens",  wenn  nämlich  das  Mädchen  mit  der  Entführung  einver- 
standen ist,  und  das  'scheinbare  Stehlen  der  Braut',  wie  es  besonders  bei  armen 
Leuten  geschieht,  um  die  grossen  Kosten  einer  ordentlichen  Hochzeit  zu  ver- 
meiden; endlich  gibt  es  noch  Fälle,  wo  das  Mädchen  selbst  in  das  Haus  des 
Bräutigams  kommt.  Diese  Braut  hat  dann  auch  ihren  besonderen  Namen: 
samodosiica,  d.  h.  die  Selbstgekommene.  Alle  diese  Fälle  kommen  bei  Ortho- 
doxen wie  bei  Mohammedanern  vor.  Sie  sind  durch  eine  Reihe  von  Erzählungen 
wirklicher  Fälle  illustriert.  Ein  kleiner  Aufsatz  des  Dr.  Alex.  Mitrovic  über  die 
Heirat  im  nördlichen  Dalmation  (aus  dem  Belgrader  'Archiv'  abgedruckt)  hat  mehr 
die  sozialen  Verhältnisse  im  Auge,  die  ein  zeitgemässes,  eheliches  Bündniss  un- 
möglich machen;  vgl.  Letopis  mat.  srpske  Bd.  240,  S.  107 f.  Toma  A.  Bratiö 
beschrieb  ausserdem  im  Glasnik  18,  229 — 243  die  Volkstracht  in  der  Herze- 
gowina, und  noch  die  Weberei  in  diesem  Lande  (391—399).  Endlich  lesen 
wir  daselbst  18,  114f.  eine  eigene  bosnische  Version  der  bekannten  Sage  von 
Dido,  nur  dass  sich  hier  der  bosnische  Held  ausbedingt,  dass  all  das  Land  ihm 
gehöre,  welches  er  in  einem  Tage  umreiten  könne,  und  dass  sein  Pferd  vor  dem 
Ziel  erschöpft  niedersinkt.  Die  Zs.  Bosanska  Vila  brachte  neben  verschiedenen 
Volkstraditionen,  besonders  epischen  Liedern,  eine  Abhandlung  über  die  Behaubung 
und  Bedeckung  des  Kopfes  der  Braut  im  Volksbrauch  und  Zeremoniell  von 
Svetozar  Grubac  (Nr.  13fr.).  Weiter  zeigt  im  Jahrbuche  'Hrvatsko  Kolo'  2,  274  bis 
280  St.  Banovic,  dass  Gundulic  die  Volkslieder  gekannt  und  in  seinem  epischen 
Gedichte  'Osman'  auch  benutzt  hat.  Fr.  Kuba«',  druckt  daselbst  einige  kroatische 
Lieder  mit  Melodien  ab  (S.  375— 384);  die  'mythologischen'  Erklärungen  desselben 
von  dem  'verdienten'  Mythologen  Dr.  Grzetic  hätte  die  Redaktion  besser  unter- 
drückt. 

Von  den  in  Serbien  erschienenen  Arbeiten  sind  in  erster  Reihe  die  von 
Andra  Gavrilovic  gesammelten  'Zwanzig  serbischen  Volksmärchen'  (Belgrad  1906. 
104  S.)  zu  erwähnen,  denen  der  Herausgeber  sogar  einen  'wissenschaftlichen 
Kommentar'  beigegeben  hat.  Leider  ist  dieser  wenig  befriedigend  ausgefallen; 
ohne  ausreichende  Kenntnis  der  bisher  erschienenen  serbischen  und  südslawischen 
Märchensammlungen  konnte  er  weder  die  nötigen  Hinweise  auf  andere  süd- 
slawische Fassungen,  noch  auf  die  Varianten  der  anderen  Balkanvölker  geben, 
ebensowenig  standen  die  Arbeiten  der  westeuropäischen  Forscher  dem  durch  seinen 
Beruf  au  eine  Landstadt  Serbiens  gefesselten  Herausgeber  zu  Gebote.  Das  dürfen 
wir  ihm  nicht  sehr  verargen,  da  auch  ein  in  der  serbischen  Residenzstadt  arbeitender 
Gelehrter  auf  diesem  Felde  mit  schier  unüberwindlichen  Schwierigkeiten  zu 
kämpfen  hat.  Hr.  Gavrilovic  hat  nur  vereinzelte,  ihm  zugängliche  Arbeiten  aus- 
genutzt, d.  h.  aus  ihnen  die  Parallelen  ausgezogen,  selbständig  aber  nur  wenig 
gearbeitet,  und  wo  dies  geschah,  mit  geringem  Erfolge.  So  kennt  er,  Nr.  6,  eine 
Version  der  bekannten  Sage  von  der  Geburt  Konstantins,  des   hl.  Andreas,   weder 

15* 


228  Polivka: 

die  Untersuchungen  Wesselofskys,  Dragomaiiovs,  noch  R.  Köhlers.  Nr.  7  (Der 
Hirt  heiratet  die  einzige  Königstochter,  nachdem  die  Krone  sich  dreimal  auf 
seinen  Kopf  gesetzt),  Nr.  11,  Variante  zu  der  von  Köhler  behandelten  Legende 
vom  verzückten  Mönche  (vgl.  Zbornik  za  nar.  zivot  juznih  Slavena  1,  "2 ff.  lU,  IIT.); 
Nr.  18,  vom  zerbrochenen  Milchtopf  (vgl.  Montanus,  Schwankbücher  cd.  Bolte, 
S.  fiOS  Nr.  .')>!).  Lobend  ist  hervorzuheben,  dass  der  Herausgeber  überall  genau 
über  die  Quellen  seiner  Märchen  berichtet.  Nur  die  kleinere  Hälfte  hat  er  selbst 
gesammelt,  die  anderen  hat  er  von  verschiedenen  Seiten  bekommen.  Leider  ist 
nicht  zu  verkennen,  dass  der  echte  volkstümliche  Ton  mehr  oder  weniger  ver- 
wischt ist.  —  Zwei  Aufsätze  des  Dr.  S.  Trojanovi(5  haben  weniger  Interesse 
für  die  Volkskunde.  In  dem  einen  (Srpski  kniz.  Glasnik  17,  104  —  111)  bespricht 
er  die  in  einem  nun  serbokroatischen  und  grösstenteils  katholischen  Städtchen 
Janjevo,  südlich  von  Pristina,  am  Amselfeld  betriebene  Hausindustrie.  Aus  einem 
eigenen  Metallgemisch  (auf  1  kn  Kupfer  -100'/  Zink)  werden  Ringe,  Ohrringe, 
Heftel,  Hängelampe  vor  Heiligenbildern  u.  a.  Ziergerät  verfertigt  auf  eine  recht 
primitive  Weise.  Die  Bewohner  treiben  damit  regen  Handel  weit  und  breit  im 
ganzen  Südosten  Europas,  in  neuerer  Zeit  bis  nach  Rus.sland.  In  dem  zweiterv 
Aufsatz,  der  in  dem  Sbornik  zu  Ehren  des  Prof.  Lamanskij  erschien  (St.  Peters- 
burg 19O0.  1()  S.),  worden  die  im  Volksgedächtnis  und  in  älteren  Schriftdenk- 
mälern erhaltenen  Erinnerungen  an  den  Bos  priraigenius  (tur)  und  an  Bos  priscus 
(zubar)  zusammengestellt  und  auch  das  im  alten  llagusa  gefeierte  Maskenfest 
(turico)  beschrieben,  obwohl  der  Verfasser  keineswegs  einen  Zusammenhang  des 
Namens  tnrice  mit  dem  serbischen  Namen  des  Auerochsen  (tur)  beweisen  will. 
Auch  die  Bemerkungen  über  die  Ethnographie  der  Slawen  Makedoniens  von 
Dr.  J.  Cvijic  (Belgrad  1906.  (i9  S.),  die  auch  in  russischer,  französischer  (Annales 
de  Geographie  Bd.  lö)  und  englischer  Übersetzung  (London,  Horace  Cox;  s.  Petor- 
manns  Mittig.  b'!,  Litber.  176)  erschienen,  haben  mit  der  eigentlichen  Volkskunde  nichts 
zu  schaffen.  Doch  wollen  wir  sie  nicht  unerwähnt  lassen,  da  sie  über  die  Masse 
der  'makedonischen'  Literatur  ausreichend  und  objektiv  Aufschluss  geben,  wenn 
auch  der  gelehrte  serbische  Geograph  sein  patriotisches  Gefühl  in  dieser  brennenden 
Frage  nicht  ganz  verleugnen  kann.  Das  sehr  ausführliche  Buch  von  I.  Ivanic 
„Makedonien  und  die  Makedonier"  (12,  312  S.),  welches  neben  geographischem, 
statistischem  Material  auch  ethnographisches  bringt,  gehört  dagegen  in  die  grosse 
Anzahl  tendenziöser  AVerkc,  wie  es  ein  serbischer  Rezensent  (Srpski  kuiz  Glasnik  lii, 
620ff.  699f)  eingehend  darlegt  (vgl.  auch  Cvijic'  S.  56  Anm.).  —  Zum  Schluss  sei 
noch  erwähnt,  dass  kürzlich  zwei  Dozenten  für  Ethnographie  an  der  Universität 
Belgrad  ernannt  wurden,  Dr.  Tih.  R.  Gjorgjevid  und  Dr.  Jovan  Erdeljanovic, 
von  denen  der  erste  wohl  mehr  die  Volkskunde,  der  andere  die  Ethnologie 
pflegen  wird.  Die  Antrittsvorlesung  des  ersteren  'Über  Ethnologie'  erschien  im 
Srpski  ki'iiz.  Glasnik  17,  .V20— 532,  die  des  zweiten  über  'Ethnologie,  Ethnographie 
und  verwandte  Wisschenschaften'  in  der  Zs.  Deio,  Oktober  1906  (SA.  l.'!S.). 
Nicht  unerwähnt  soll  noch  bleiben  eine  Studie  des  Tih.  Gjorgjevic  über  die 
Rumänen  in  Serbien  im  Srpski  kniz.  Glasnik  Bd.  16  (SA.  93  S.). 

Der  wichtigste  Beitrag  zur  bulgarischen  Volkskunde  im  verflossenen  Jahre 
ist  der  Versuch  des  Dr.  M.  Arnaudov,  eine  systematische  Übersicht  der  bul- 
garischen Märchen,  Erzählungen  und  Legenden  zu  geben,  im  Sbornik  za  narodni 
umotvorenija  Bd.  21.  Ein  bleibendes  Verdienst  dieser  ziemlich  umfassenden 
Arbeit  (110  S.)  ist,  das  in  verschiedenen  periodischen  Publikationen  zerstreute 
Material  in  eine  gewisse  Ordnung  gebracht  zu  haben.  Wenn  A.  aber  nach  einer 
flüchtigen  Übersicht  der  bisherigen  Erklärungsversuche  über  Bedeutung,  Entstehung 


Berichte  und  Bücheranzeigen.  229 

und  Verbreitung^  der  Märchen  besonders  G.  v.  Hahns  Versuch  einer  Klassi- 
fizierung der  Märchen  kritisiert,  so  muss  man  leider  auch  seinem  Versuche  die 
Zustimmung  versagen;  auch  ihm  eignet  höchstens  der  Wert  einer  praktischen 
Übersicht.  Ohne  auf  die  übliche  Einteilung  in  Märchen,  Novelle,  Schwank  usw. 
.  Rücksicht  zu  nehmen,  teilt  A.  die  bulgarischen  Prosaüberlieferungen,  nachdem  er 
die  eigentlichen  Sagen  ausgeschlossen,  in  vier  grosse  Gruppen:  1.  Erzählungen 
von    den    Abenteuern    des  Helden    oder    der    Heldin,    2.  Legenden,    3.  Tierfabeln, 

4.  Anekdoten.  Diese  Gruppen  werden  weiter  in  kleinere  Gruppen  eingeteilt.  Den 
Begriff  'Legende'  hat  er  viel  zu  weit  gefasst.  Er  zählt  in  diese  Gruppe  alle  Er- 
zählungen überhaupt,  deren  Gegenstand  die  Glaubensansichten  und  Vorstellungen 
des  Volkes  sind,  nicht  bloss  also  biblisch-apokryphische,  religiöse,  ethische, 
sondern  auch  dämonologische  und  ätiologische.  Danach  werden  die  Legenden  in 
vier  Gruppen  eingeteilt,  die  vierte  ätiologische  hat  der  Verfasser  jedoch  nachher  aus 
seiner  Übersicht  ausgelassen.  So  finden  wir  unter  den  'Legenden'  z.  B.  die  Er- 
zählung vom  'Recht  und  Unrecht'  (S.  32  Nr.  31),  den  ganzen  Kreis  vom  Schicksal 
und  dessen  Unabänderlichkeit,  z.  B.  vom  König  und  dem  neugeborenen  Knaben 
auf  S.  83  Nr.  32  (Köhler  2,  357.  679),  Piacidus-Eustachius  unter  Nr.  41.  Dagegen 
ist  die  Geschichte  vom  Mann,  Löwe  (Schlange)  und  Fuchs,  die  doch  auch  eine 
ethische  Idee  zur  Grundlage  hat,  in  die  Tierfabeln  eingereiht;  daselbst  der  ge- 
stiefelte Kater  S.  103  Nr.  12  (hier  übernimmt  der  Fuchs  die  Rolle  des  Katers). 
Den  grössten  Widerspruch  erweckt  die  erste  Hauptgruppe,  die  nach  ganz  äusser- 
lichen  Motiven  in  kleinere  Abteilungen  geteilt  wird,  erstens,  je  nach  dem  er  oder 
sie  die  Hauptrolle  spielt,  und  dann  weiter,  wie,  auf  welche  Weise  er  in  den 
glücklichen  Hafen  der  Ehe  gelangt:  a)  mit  Hilfe  der  dankbaren  Tiere,  über- 
natürlicher Wesen  oder  der  Wunderdinge,  b)  mit  Hilfe  angeborener  oder  später 
erworbener  Eigenschaften,  c)  mit  Hilfe  der  von  übernatürlichen  oder  dankbaren 
Wesen  erhaltenen  Wunderdinge  u.  a.  Jede  dieser  Gruppen  zerfällt  wieder  in 
kleinere  Unterabteilungen,  so  z.  B.  vom  dankbaren  Toten,  von  der  verräterischen 
Mutter,  von  der  Schwanenjungfrau  u.  a.  In  die  Unterabteilung  von  der  treulosen 
Mutter  hat  er  auch  den  Stoff  vom  seltsamen  Vogel,  Vogel  Goldschweif  (Haltrich  1856 
Nr.  ü,  Zingcrle  2,  2G0,  Grimm  Nr.  60,  122  u.  a.  eingereiht),  obwohl  jenes  Motiv  nur 
einigen  Versionen  dieses  Stoffes  eigen  ist.  In  der  Abteilung  b,  die  wieder  in  vier 
kleinere  Unterabteilungen  zerfällt,  finden  wir  u.  a.  den  Stoff  vom  Zauberer  und  seinem 
Lehrling,  von  der  zum  Reden  gebrachten  Prinzessin  (Benfey,  Pantschatantra  1,  489), 
von  dem  Fell  der  riesigen  Laus  (Gonzenbach  Nr.  22),  Varianten  zur  Reise  der 
Söhne  Giaffers  S.  198,  Meisterdieb  u.  a.  Einige  Stoffe  aber,  die  der  Verfasser 
nicht  einreihen  konnte,  führt  er  unter  'Varia'  an,  so  die  drei  Ratschläge,  die 
Froschprinzessin.  Kurz,  ohne  uns  in  eine  weitere  Kritik  dieses  Aufsatzes  einzu- 
lassen, müssen  wir  sagen,  dass  er  keine  wissenschaftliche  Einteilung  der  Märchen 
liefert  und  der  Übersichtlichkeit  ermangelt.  Der  Verf.  hat  bloss  die  bulgarischen 
Volkserzählungen  gruppiert  ohne  Rücksicht  auf  die  Versionen  der  nächsten  be- 
nachbarten Völker,  ohne  Rücksicht  auf  die  einzelnen  Märchenstolfen  gewidmeten 
SpezialStudien.  Er  fügte  seinen  Anmerkungen  zu  den  Auszügen  der  einzelnen 
Märchen  auch  keine  Hinweise  auf  die  Fachliteratur  hinzu,  nicht  einmal  auf 
Köhlers  Kleinere  Schriften.  —  Ausser  dieser  Abhandlung  sind  nur  einige  kleinere 
Aufsätze  zu  erwähnen,  der  kompilatorische  von  A.  P.  Stoilov  über  die  Verehrung  des 
Feuers  (Period.  Spisanie  67,  IJ8 — 85)  und  M.  Pironkov  'Die  Schwalbe  in  unseren 
Volkstraditionen'    (Izvestija    des  Seminars  f.   slav.  Phil,    an    der  Universität   Sofia 

5.  2.51 — 262).  —  Neue  Materialien  wurden  nur  in  sehr  geringem  Masse  mitgeteilt; 
im  Sbornik  za  nar.  umotvor.  Bd.  21  finden  wir  eine  Sammlung  von  Volksliedern 


230  Polivka: 

aus  der  Gegend  von  Trn  (S.  G4),  und  eine  Sammlung  von  Volksliedern  samt 
Melodien  aus  der  Gegend  von  Belgrad  in  Bessarabien  (S.  17),  ausserdem  noch  in 
der  Zs.  'Rodopski  naprednk'  Bd.  4,  besonders  Lieder  der  nioliamniedanisehen  Bul- 
garen. Ebenda  lesen  wir  noch  eine  Legende,  wie  Gott  faule  Leute  in  Esel  ver- 
wandelte (S.  133),  und  Legenden  von  der  Sintilut:  die  Schlange  schickt  den  Käfer 
(sonst  die  Mücke)  aus,  zu  ermitteln,  wessen  Fleisch  (sonst  Blut)  das  süsseste 
wäre;  die  Schwalbe  beisst  ihm  die  Zunge  aus  (vgl.  Carnoy  et  Nicola'ides,  Tradit. 
de  l'Asie  Mineure  p.  ■229.  Revue  des  trad.  pop  1,  Sdf.).  Die  Katze  fängt  die  Maus, 
als  sie  eben  ein  Loch  in  die  Arche  nagen  will.  —  Die  grösste  Beachtung 
widmeten  die  Herausgeber  des  'Sbornik  za  nar.  umotvor.'  der  Volksmedizin.  Einige 
Ärzte,  Dr.  S.  Vatev,  Dr.  S.  Petkov  u.  a.  stellen  S.  G8  „Materialien  zur  Volks- 
medizin in  Bulgarien"  .zusammen,  aus  verschiedenen  Gegendon  des  Landes,  doch 
ohne  festes  Programm.  Teilweise  wurde  auch  anderer  Aberglauben  gesammelt, 
Vorstellungen  von  übernatürlichen  Wesen  mitgeteilt,  ohne  dass  sie  besonders 
Bezug  auf  die  Gesunclheitsverhältnisse  hätten,  so  von  den  Schicksalsgöttinnen 
(S.  33),  Feen  'Samodivi',  Rusalien  (S.  34),  mitgeteilt  auch  die  Sage,  wie  einem 
neugeborenen  Knaben  bestimmt  wurde,  dass  er  zu  einer  gewissen  Zeit  am  Brunnen 
sterben  werde,  vgl.  Arnandov  S.  85  Nr.  37.  —  Hieran  schliesst  sich  ein  „Beitrag 
zur  bulgarischen,  botanischen  Volksmedizin"  von  A.  Java.sev  im  selben  Sbornik  '21, 
62,  d.  i.  eine  botanisch  angeordnete  (ibersicht  der  in  der  Volksmedizin  gebrauchten 
Pflanzen  und  Kräuter.  Ausserdem  bringt  derselbe  Sbornik  (S.  28)  eine  Beschreibung 
der  Hochzeit  in  Rhodopc  von  P.  Apostolov.  Über  den  Mädchenraub  in  den 
Rhodopcr  Hoch/.eitsgebräuchen  schreibt  St.  N.  Si.skov  in  Rodopski  Naprednk  4, 
r)3f.,  der  ebenda  auch  Bemerkungen  über  den  Totcnkult  bei  den  mohammedanischen 
Bulgaren  inRhodope  (S.  0)  und  über  einige  Rechtsgebräuche  (S.  lä(>f)  macht.  Über 
Hausbau  und  Tracht  im  Dorfe  Bracigovo  schrieb  M.  Georgijev  in  den  Izvestija 
des  Seminars  f.  slav.  Phil,  an  der  Universität  Sofia  (S.  117),  und  einige  ethno- 
graphische Bemerkungen  über  die  Bewohner  der  Landschaft  Debra  machte  daselbst 
(S.  263)  L.  Dimitrov.  Eine  ethnographische  Charakteristik  der  Bevölkerung  der 
Gegend  von  Ivratovo  lieferte  St.  Simic  (Srpski  kiiiz.  Glasnik   17,  206). 


Ehe  wir  zur  (Jbersicht  der  letzten  Arbeiten  zur  russischen  Volkskunde 
schreiten,  sei  des  grossen  Verlustes  gedacht,  den  unsere  Wissenschaft,  die  ver- 
gleichende Literaturwissenschaft  überhaupt,  durch  den  Tod  Alexander  Wesselofskys 
am  23.  Oktober  1906  erlitten  hat.  Die  Grundlage  zu  der  grossartigen  Sprach- 
kenntnis Wesselofskys  wurde  schon  im  Elternhause  gelegt.  Auf  der  Universität 
Moskau  weckte  Buslajev  in  ihm  Interesse  und  Liebe  zu  Grimms  Forschungsgebiet, 
und  diesem  blieb  er  bis  zum  Schluss  der  sechziger  Jahre  des  V.K  Jahrhunderts 
treu.  Das  äusserte  er  schon  in  einer  Anzeige  von  Haupts  Zeitschrift  für  deutsches 
Altertum  (Letopisi  russkoj  literatury  18ö;i),  und  auch  später,  so  in  seiner  Anzeige 
italienischer  Märchensammlungen  im  2urnal  min.  nar.  prosv.  Bd.  140.  Seine  ersten 
grösseren  Arbeiten,  Früchte  seiner  italienischen  Studien,  waren  der  italienischen 
Renaissance  gewidmet,  besonders  '11  paradiso  degli  Alberti  ritrovi  e  ragionamenti 
del  1389,  roraanzo  di  Giovanni  da  Prato'  (1867 — 68),  welche  dann  noch  1S70  in 
russischer  Sprache  bearbeitet  wurde  (Villa  Alberti  Novyje  malcrialy  dlja 
charakteristiki  literaturnago  i  obsiestvcnnago  pereloma  v  italjanskoj  zizni  14 — 15  stol. 
Vgl.  Liebrecht,  Heidelb.  Jahrb.  f.  Lit.  187(i,  66  5).  Nur  die  Untersuchung  der  in 
dem  Roman  enthaltenen  neun  Novellen  betrifft  die  Sloffwissenschaft.  Dem  Studium 
der  italienischen  Renaissance  blieb  er  bis  in  spätere  Jahre  treu.   Besonders  fesselte 


Berichte  und  BücheranzeigeD.  231 

ihn  Boccaccio;  1891—92  erschien  seine  Cbersetzun":  des  'Decamerone'  und 
1893_94  seine  zweibändige  Monographie  'Boccaccio,  jego  sreda  i  sverstniki'.  Eine 
seiner  letzten  Arbeiten  war  'Petrarca  in  der  poetischen  Beichte  des  Canzionere' 
gewidmet  (1905  in  der  Moskauer  Zs.  Nau(noje  Slovo).  Weit  mehr  berührt  die 
Stoffwissenschaft  seine  erste  grössere  Arbeit  'Xovella  della  flglia  del  re  di  Dacia' 
(Pisa  186G.  Vgl.  Felix  Liebrecht,  Gott.  Gel.  Anz.  I.s67,  5G5).  Hier  war  Wesselofsky 
noch  im  Banne  der  Grimmschen  Schule,  doch  bald  schlug  er  andere  Bahnen  ein. 
Dazu  trieb  ihn  nicht  so  sehr  der  Einfluss  von  Benfej^s  Theorie,  gegen  die  er 
bereits  1871  in  einem  Aufsatze  'Neue  Beziehungen  der  Muromschen  Legende  von 
Peter  und  Fevronia  und  die  Saga  von  Ragnari  Lodhbrok'  iiarn.  min.  nar.  prosv. 
Bd.  LH)  Stellung  nahm,  besonders  gegen  die  angenommenen  Wege  der  Miirchen- 
wanderung  von  Indien  nach  Europa,  als  vielmehr  Dunlops  bekanntes,  von  Liebrecht 
bearbeitetes  Buch  und  Pypins  'Skizze  einer  Literaturgeschichte  der  alten  russischen 
Sagen  und  Märchen'  (1857).  Dies  bekennt  Wesselofsky  selbst  in  seiner  Auto- 
biographie (Pypin,  Geschichte  der  russischen  Ethnographie  2,  427).  Seinen  neuen 
Standpunkt  vertrat  Wesselofsky  besonders  in  seinem  Buche:  'Aus  der  Geschichte 
des  literarischen  Verkehrs  des  Ostens  mit  dem  Westen,  slawische  Überlieferungen 
über  Soloman  und  Centaurus  und  die  westeuropäischen  Legenden  überMorolf  und 
Merlin'  (1872).  Mit  vollem  Recht  konnte  V.  Jagii;  (Archiv,  f.  slav.  Phil.  1,  132) 
sagen:  „Die  umfassendste  Belescnheit  und  seltene  Kombinationsgabe  zeichnen 
dieses  Werk  in  einem  solchen  Grade  aus,  dass  man  es  ohne  Überschätzung  zu 
den  wichtigsten  Monographien  der  europäischen  Literaturen  auf  dem  Gebiete  der 
vergleichenden  Literaturgeschichte  zählen  darf."  Jagic  machte  wohl  mit  Recht 
Einwendungen  gegen  Wesselofskys  allzu  schroffe  Beurteilung  der  süd-  und  ost- 
slawischen Bearbeitung  der  Salomo-Sage  und  gegen  die  Unterschätzung  ihrer 
Produktivität  und  Gestaltungskraft  (ebd.  1,  111).  Über  die  Grimmsche  und  die 
Benfeysche  Theorie  spricht  sich  W.  klar  in  der  Einleitung  aus.  Nach  seiner 
Meinung  schliessen  sich  diese  zwei  Richtungen  durchaus  nicht  aus,  sondern  er- 
gänzen sich;  nur  hat  der  Versuch  einer  mythologischen  Erklärung  erst  dann  an- 
zufangen, wenn  man  mit  der  historischen  Erforschung  nicht  mehr  weiter  kommt. 
Als  eine  allgemein  anerkannte  Wahrheit  gilt  ihm  der  Einfluss  der  orientalischen, 
besonders  buddhistischen  Vorstellungen  auf  die  europäischen;  aber  er  fordert  -vor 
allem,  die  Umstände,  unter  welchen  jener  Einfluss  stattfand,  wie  auch  die  Wege 
der  Wanderung  genauer  festzustellen.  Die  Übereinstimmung  zweier  Erzählungen 
aus  dem  Orient  und  dem  Okzident  ist  an  und  für  sich  noch  kein  Beweis  ihrer 
historischen  Verbindung.  Wesselofsky  spricht  bereits  den  Gedanken  aus,  dass 
die  Übereinstimmung  auch  Folge  einer  gleichartigen  psychischen  Entwicklung  sein 
kann.  Er  fordert  daher  eine  genaue  Analyse  des  Stoffes,  die  Bestimmung  der 
Wege  und  Richtungen  ihrer  Verbreitung,  ebenso  der  kulturellen  Bedingungen, 
unter  welchen  er  sich  verbreitete,  änderte,  entwickelte  oder  verfiel.  Von  dem 
Studium  der  südostslawischen  Traditionen  erwartet  er  eine  gründlichere  Erklärung 
der  Literatur  Westeuropas.  Eine  grosse  Rolle  in  den  literarischen  Beziehungen 
des  Westens  zum  Osten  spielte  Byzanz  und  nach  Wesselofsky  besonders  jene 
synkretistischen  Sekten,  die  zu  den  christlichen  Grundlagen  die  religiösen  Vor- 
stellungen Irans  hinzumischten  und  den  buddhistischen  Legenden  eine  pseudo- 
christliche Färbung  gaben.  Hauptsächlich  wies  er  hierbei  auf  die  Sekte  der  Bogo- 
milen  hin,  denen  man  eine  ganze  Reihe  apokrypher  Legenden  zuschrieb,  allerdings, 
wie  die  philologische  Kritik  später  nachwies,  mit  Unrecht.  In  der  Einleitung 
berührt  Wesselofsky  noch  eine  Reihe  allgemeiner  Fragen  über  die  west- 
europäischen Liteiaturen  im  Mittelalter,  die  wir  hier  übergehen.    Vom  Herbste  1870 


232  PoHvka: 

an  war  Wesselofsky  an  der  Petcrsburf^cr  Universität  tätig,    zuerst    als   honorierter 
Dozent   des  neugegründeten  Lehrstuhls  für  vergleichende  Literaturgeschichte,    seit 
1h72  als  ausserordentlicher,  seit  1879  als  ordentlicher  Professor.    Seit  1876  gehörte 
er    der    kaiserlichen  Akademie    der  Wissenschaften    in  Petersburg   an,    zuerst   als 
korrespondierendes    Mitglied,    von    1877    als   Adjunkt,    1879    als    ordentliches  Mit- 
glied.      Im    Herbst    1901     trat    er    endlich    an     die     Spitze     der    Abteilung     für 
russische    Sprache    und    Literatur,    an    der    er    mit  dem    grössten    Eifer  arbeitete. 
Seine    wissenschaftlichen  Arbeilen    erschienen    grösstenteils    in  den    Publikationen 
der    Akademie,    ausserdem    besonders    im    Zurnal    minist,    nar.    prosv.,    auch    in 
der    bekannten   Revue    'Vestnik    Evropy'    u.  a.      Deutsche    Auszüge    aus    seinen 
Arbeiten    veröffentlichte    er   vielfach    in    der    'Russischen  Revue'    (seit  1873),    im 
'Archiv    f.  slav.  Phil.'    (seit  1876),    seltener    anderwärts.      Seine    wissenschaftliche 
Produktivität  war  grossartig,  extensiv  und  intensiv.    Grössere  Untersuchungen  und 
kleinere  Aufsätze  wechselten  mit  umfangreichen  und  gedankenreichen  Rezensionen 
der  wichtigsten  westeuropäischen  und  russischen  Werke  auf  dem  Gebiete  der  ver- 
gleichenden Literaturwissenschaft,  Stoffkunde    und  Volkskunde.     Seine  wichtigsten 
Arbeiten  waren:    'Versuche  über  die  Geschichte    der  Entwicklung  der  christlichen 
Legende'    (^urnal    min.   nar.   prosv.  Bd.  178.   183.  189.  191),    'Untersuchungen    im 
Bereiche  des  russischen  religiösen  Epos'    (Sbornik    der  Abteilung  f.  russ.  Spr.  u. 
Lit.  Bd.  2».  '21.  -IS.  32.  4ti.  53),    'Südrussische  epische  Lieder'    (ebd.  Bd.  22.  36), 
'Bemerkungen    zur  Literatur   und    den  Volkstraditionen'    (ebd.   Bd.   32),    'Kleinere 
Bemerkungen    zu    den  epischen  Liedern'    (Zurnal    min.    nar.  prosv.  Bd.  242.    252. 
263.  268.  269.  306)  u.  a.      Besondere  Aufmerksamkeit  widmete    er    den  Romanen, 
die  teils   durch    byzantinische  Vermittlung-,    teils    aus  den  romanischen  Literaturen 
zu  den  Südslaven  und  dann  nach  Kussland  kamen,  wie  die  Geschichte  von  Troja, 
die    Romane    von    Tristan,    Bovo  d.  i.    Eueres  d'Hanstone,    Attila.     Von  solchen 
literatur-  und  stoffwissenschaftlichen  Arbeiten  schritt  W.  zu  rein  theoretischen  vor. 
Er  beabsichtigte  eine  'historische  Poetik'  zu  schreiben,  doch  verötfentlichte  er  von 
1«94— 1898  nur  Proben  davon    (Zur.  min.  nar.  prosv.  Bd.  29.?.  Ö02.  310.  312.  313). 
In  SA.  erschienen  1899  'Drei  Kapitel  aus  der  historischen  Poetik':  Zur  Geschichte 
des    Epithetons,    epische    Wiederholungen    als    ein    chronologisches  Moment,    Der 
psychologische  Parallelisnius  und  seine  P'ornicn  in  den  Ruilexionen  des  poetischen 
Stiles,  Der  Synkretismus  der  ältesten  Poesie  und  die  Anfänge  der  Dilferenzierung 
der  Gattungen  der  Poesie,  Vom  Sänger  zum  Poeten,  Die  Sprache  der  Poesie  und 
die  Sprache  der  Prosa.     In  den  letzten  Lebensjahren  zog  ihn  die  neuere  russische 
Literatur  an;    neben  kleineren  akademischen  Arbeiten    über  Puschkin   beschäftigte 
er  sich  mit  V.  A.  ^ukovskij,  dem   eifrigen  Vermittler  westeuropäischer  Poesie  mit 
Russland;    eine  ausführliche  Monographie  über  diese  sympathische  Gestalt  (1904) 
und  ein  Aufsatz  über  Zukovskij  und    A.  J.  Turgenev    in  den  literarischen  Kreisen 
Dresdens    1826—27    beschlossen    seine    reiche    literarische    und    wissenschaftliche 
Tätigkeit.     Eine  bibliographische  Übersicht    aller  Arbeiten  Wesselofskys   und  eine 
kleine  biographische  Skizze  mit  gutem  Register  veröffentlichte  unlängst  P.  K.  Simoni 
(St.  Petersburg  1906.  20  +  55  S.).     Die  Petersburger  Akademie  der  Wissenschaften 
beschloss  gleich    nach    dem  Tode    des  grossen  Gelehrten,  an  eine  Gesamtausgabe 
seiner  Werke  zu  gehen;    wir  wünschen    diesem  Beschlüsse    baldigste  Ausführung. 
Unter   den    neuesten    russischen    volkskundlichen  Werken    ragt    am    meisten 
hervor  E.  V.  Aniikovs  Buch:  'Das  Lied  des  Prühlingskultus  im  Westen  und  bei 
den  Slawen',  dessen  erster  Teil  'Vom  Kultus  zum  Lied'  oben  15,  220  besprochen 
wurde.     Aus    dem    zweiten  Teile    'Vom  Lied    zur  Poesie'    (Petersburg.    Akademie 
1905.  12  + 404 S.)  berühren  uns  eigentlich  nur  Kapitel  1—3:    Die  Frühlingsspiele 


Berichte  uud  Büclieranzeigcn.  233 

und    Unterhaltungen    (S.  1— 99),    Die    Liebesmotive    in    den   Frühlinp^sliedern    und 
Spielen  (S.  100 — 209)  und  das  Verhältnis  des  Frühlingskultus  zur  Ehe  (S.  210  bis 
304),    wogegen  das  vierte  Kapitel    'Die  Entstehung  der  Poesie'   (S.  305 — 380)    das 
engere  Gebiet    der  Volkskunde    verlässt.      Wie    im   ersten  Teil    vergleicht  A.    die 
Lyrik  der  alten  Troubadours,    Tiouveres  und  Minnesänger  mit  den  ost-  und  süd- 
osteuropäischen Volksliedern,  z.  B.  Nitharts  von  Riuwental  Lieder  mit  einem  klein- 
russischen (S.  od),  und  versucht  danach  ein  Bild  der  Volkspoesie  des  frühen  Mittel- 
alters im  romanischen  und  germanischen  Westen  zu  entwerfen.    In  diesen  Reigen- 
liedern sind  dargestellt  die  künftige  Lage  der  Teilnehmerinnen  an  diesen  Frühlings- 
reigen in  der  Familie,    die  Lieder    des  verheirateten  Weibes    (hierbei    scheint  das 
Motiv    des  Mädchenraubes    in    den  Hochzeitsgebräuchen   mitzuwirken,    S.  59),    der 
Kampf  der  Tanzfreude  mit  dessen  Gegnern,  der  Streit  der  Mutter  mit  der  Tochter, 
die  in  deutschen  und  "russischen  Reigenliodern  auftretenden  Gestalten  des  Mönches 
(Priesters)    und  der  Nonne    (S.  flu)  u.  a.     Dann  geht  der  Verfasser    zu  den  männ- 
lichen Spielen    über    (Kampfspiele  S.  72),    untersucht    den   mittelalterlichen  Mairitt 
und  dessen  noch  erhaltene  Reste  (Maigraf)  und  weist  gegen  Mannhardt  nach,  dass 
er  ein  reines  Kriegerspiel  ist,  das  in  den  Gebräuchen  der  mittelalterlichen  feudalen 
Gesellschaft  wurzelt,  und  für  das  mythologische  Erklärungen  nutzlos  sind.    Hieran 
schliessen    sich    das  Papageischiessen,   Wettlaufen  u.  a.,    hobby    horse  and  Robin 
Hood  in  England  (S.  93).      Den  Ursprung    der  Maigrafen    sucht  der  Verfasser    in 
Westeuropa    und  zwar    im  Kreise  der  Städte;   der  Osten  kennt  ihn  garnicht.     Die 
Untersuchung  der  Liebesmotive  in  den  Frühlingsliedern  und  Spielen  (S.  lüO)  führt 
zu  den  Quellen    des  poetischen  Schaffens.     Diese  erotischen  Motive    sucht    A.    im 
Kampfe    der   Tanzfreudigkeit    mit    ihren  Widersachern    und    im    Streite    zwischen 
Mutter  und  Tochter.    Der  Zusammenhang  Nitharts  mit  dem  Langtanz  des  17.  Jahr- 
hunderts   besteht   trotz    Bielschowskys    Einwendungen   (S.  109).      Das    Motiv    der 
'mal  mariee'    erklärt    A.  gegen  Jeanroy  mit  G.  Paris  vorzüglich,    wenn   nicht  aus- 
schliesslich   als    ein  Tanzmotiv,    vi'ie    schon    das  westeuropäische  Mittelalter  zeigt. 
Weiter  untersucht  er  das  von  Novati  herausgegebene  italienische  Lied  des  15.  Jahr- 
hunderts, das  provencjalische  'A  Fentrade  dcl  tens  dar',    endlich  'Les  repliques  de 
Marion',    wo    er   gegen  Nigra  den  tragischen  Schluss  für  später  hält  (S.  139),  und 
bespricht    das  Verhältnis    der  mittelalterlichen  Frühlingslieder    zur    antiken  Erotik 
(S.  14(;).     Ist    die  Vorstellung    der  mittelalterlichen  Kunstlyrik    von    dem   Frühling 
als  der  Zeit    der  Liebe    auch  volkstümlich?      Der  Frühlingskultus    der  Venus    im 
alten  Rom  war  ursprünglich  orientalisch  und  später  nach  Rom  übertragen,  und  die 
Vorstellung  vom  Frühling  als  der  Liebeszeit  drang  auf  literarischem  Wege  zu  den 
Troubadours.     Nun    wendet    sich    der    Verfasser    zu    den   Frühlingsfesten  (S.  171) 
und    untersucht    den    Brauch    des  Maiensteckens,    gegen  Mannhardt  polemisierend 
(S.  182),    der  Mailehen    und  Mädchenversteigerung  (S.  184),  verschiedene  erotische 
Spiele  und  Unterhaltungen  (IJS?),    den  slawischen  Brauch,    Kränzlein  in  den  Fluss 
zu  werfen  und    daraus    den  Zukünftigen  zu  erraten  (195),    die  Gevatterschaft  oder 
Bruderschaft,    die    im    Frühjahr   zwischen    Jünglingen   und    Mädchen    geschlossen 
wird.      Es    gibt    eine    Übersicht    von    der   Jahreszeit    der  Eheschliessungen    nach 
Westermarck  (S.  2i)6),    ohne  ein  endgültiges  Urteil  über  den  erotischen  Charakter 
der  Frühlingsgebräuche  zu  fällen  (209).      Im    dritten  Kapitel  wendet    er   sich  zur 
Beziehung    der  Frühlingskulte    zur  Ehe.     Er   zeigt,    wie    sich   religiöse    und    wirt- 
schaftliche Ansichten    gegenseitig  durchdringen,    besonders    in  Beziehung    auf   die 
Eheschliessung  und  das  eheliche  Leben.   Das  weissrussische  Spiel  Tereskas  Heirat, 
das  in  der  Zeit    nach  Weihnachten    bis  zur  Fastenzeit  aufgeführt  wird,    vergleicht 
er  mit  den  Saturnalien  der  oberindischen  Stämme  (21G).    Im  Mai  und  im  Frühjahr 


234  Polivka,  Michel: 

werden  keine  Hochzeiten  abgehalten,  weil  die  Vorräte  bereits  aufgezehrt  sind  (229). 
Unter  den  ehoverheisscnden  Liedern  sind  einige  deutsche  und  französische  Balladen 
wahrscheinlich  ausLiedern  dieses  Frühlingskuilus  hervorgegangen,  deren  symbolischer 
Charakter  später  eine  realistische  Deutung  erfuhr.  Er  analysiert  besonders  das  Lied 
'L'anncau  perdu'  (S.  20.5),  dann  das  deutsche  von  der  Losgekauften  (S.  2fi!i),  wo 
der  Schilfer  nur  ein  Symbol  für  den  Bräutigam  sein  soll.  Da  die  Frühlings- 
liebeslieder das  künftige  Familienglück  schildern  wollen,  sind  die  Symbole  der 
Frühlingsbegrüssungslieder  nahe  verwandt  mit  den  Hochzeitsliedern.  Dass  der 
Frühling  die  Zeit  des  Freiens  war  und  die  Ehe  erst  nach  der  Ernte  gefeiert 
wurde,  zeigt  ein  Lied  bei  Bujeaud,  Chants  de  l'Ouest  1,  ISO.  Für  einige  slawische 
Reigcnlieder  verwirft  er  die  mythologische  Erklärung  und  vermutet,  dass  die 
Grundlage  derartiger  erotischer  Unterhaltungen  freie,  geschlechtliche  Beziehungen 
waren  (S.  2yy).  Da  nach  Einführung  des  Ackerbaues  das  Eheschliessen  im  Früh- 
jahr und  Sommer  unmöglich  wurde,  sank  die  Frühlings-Erolik  zu  einem  blossen 
Spiel  herab.  Das  vierte  Kapitel  behandelt  die  Entstehung  der  Poesie  (S.  'Mb  bis 
3(J0).  Das  Lied  ist  nicht  das  Resultat  einer  nutz-  und  ziellosen  Richtung  der 
Lebensenergie,  sondern  eine  Hauptlichtung  und  zweckbewusste  Tätigkeit.  Der  Ent- 
wicklungsprozess  des  ursprünglichen  Liedes  zeigt,  wie  sich  in  dieser  künstlerischen 
Tätigkeit  das  ästhetische  Bewusstsein  entwickelt.  Dieses  entspringt  bei  dem 
traditionellen  Begehen  der  Feste,  wobei  das  Lied  den  letzten  Anstoss  bekommt, 
sich  in  Poesie  zu  verwandeln.  Dann  behandelt  A.  das  Verhältnis  des  Volks- 
sängers zum  Dichter  (S.  ööl)  und  legt  dar,  wie  in  der  romanischen  und 
deutschen  Poesie  des  Mittelalters  anfangs  die  Volkspoesie  hervortritt  und  später 
im  13.  Jahrhundert  das  Interesse  für  diese  wieder  auflebt  (S.  o54).  Er  bespricht 
die  Entstehung  der  persönlichen  Poesie  (S.  :i:)b)  und  der  aristokratischen  Poesie 
aus  dem  Volks-Frühlingsliede  (S.  357),  die  Weltanschauung  der  mittelalterlichen 
Lyrik  (S.  3G2),  das  unaufhaltsame  Aussterben  der  Volkspoesie  (S.  371).  Den 
Gebrauch  dieses  inhaltreichen,  gedankenreichen  und  anregenden  Buches  erleichtert 
ein  genaues  Sach-  und  Namenregister  und  ein  Verzeichnis  aller  in  dem  Buche 
analysierten  Lieder. 

Prag.  Georg  Polivka. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Friedrieh  Kluge,  Unser  Deutsch.  Einführung  iu  die  Muttersprache. 
Leii)zig,  tjuelle  &  -Aiever  11)07.  VI,  UG  S.  8».  1  3Ik. 
Die  in  diesem  Büchlein  vereinigten  Vorträge  und  Aufsätze  beschäftigen  sich 
zumeist  mit  der  Geschichte  des  deutschen  Wortschatzes.  Nicht  alles,  was  der 
V^erfasser  sagt,  kann  ich  unterschreiben:  so  scheint  er  mir  in  der  Ablehnung  der 
Fremdwörter  zu  weit  zu  gehen  —  übrigens  nur  in  der  Theorie,  denn  in  der 
Praxis  scheut  er  sich  verständigerweise  durchaus  nicht,  Wörter  wie  'Adepten, 
'Organe',  'Motto',  'Kategorien',  'Charakteristik'  usw.  zu  gebrauchen.  Aber  es  ist 
hier  nicht  der  Ort,  bei  der  vielverhandeltcn  Fremdwörterfrage  zu  verweilen.  Eine 
Geschichte  des  Fremdwortes  im  Deutschen,  wie  sie  Kluge  (S.  19)  fordert,  wäre 
jedenfalls  äusserst  wünschenswert.  Für  unsere  Zwecke  kommen  besonders  die 
fünf  Aufsätze  in  Betracht,  die  den  Standes-  und  Berufssprachen  gewidmet  sind. 
Hier  ist  der  Verfasser  ganz  in  seinem  Element.  Niemand  hat  sich  der  Erforschung 
unserer  Standes-  und  Berufssprachen,  deren  Wichtigkeit  bereits  Leibniz  (im  Ein- 
vernehmen mit  Schottelius)  erkannt  hat,  mit  solcher  Energie  angenommen  wie  er; 


Berichte  und  Büeheninzeigen.  235 

seine  'Deutsche  Studentensprache'  (Strassburg  1895),  sein  noch  nicht  abgeschlossenes 
Werk  über  die  Gaunersprache  ('Rotwelsches  Quellenbuch'.  Strassburg  1901)  und 
mancher  Beitrag  zu  seiner  'Zeitschrift  für  deutsche  Wortforschung'  legen  davon 
Zeugnis  ab.  Auf  die  Studentensprache  und  die  Gaunersprache  geht  auch  das 
vorliegende  Büchlein  ein.  Daneben  enthält  es  lehrreiche  Ausführungen  über  die 
Seemannssprache  und  die  Weiduiannssprache.  In  einer  zusammenfassenden  Über- 
sicht über  die  bemerkenswertesten  deutschen  Standes-  und  Berufssprachen  betont 
Kluge,  dass  unsere  Schriftsprache  so  gut  wie  unsere  Umgangssprache  sich  stets  aus 
diesen  Sprechweisen  erneuern.  So  stammen  z.  B.  heute  allgemein  übliche  Wörter,  wie 
'naseweis'  und'vorlaut'  aus  derWeidmannssprache,  'Ausbeute'  und  'Fundgrube'  aus  der 
Bergmannssprache,  'Hängematte'  aus  der  Seemannsprache,  'Dietrich'  aus  der  Gauner- 
sprache. Auch  Übertragungen  von  einerStandessprache  zur  andernkommen  nicht  selten 
vor;  'flott',  ursprünglich  seemännisch,  und  'prellen',  ursprünglich  weidmännisch,  sind 
zunächst  in  die  Studentensprache  und  wohl  aus  dieser  in  die  Umgangssprache  ein- 
gedrungen. So  hat  jedes  Wort  seine  Geschichte,  und  in  diesem  Sinne  beruft  sich 
Kluge  (S.  TS)  auf  den  Goetheschen  Vers:  „Der  Deutsche  ist  gelehrt,  wenn  er 
sein  Deutsch  versteht"  (der  Stammvater  des  Verses  ist,  nebenbei  bemerkt,  der 
Freiherr  von  Canitz,  wie  Michael  Bernays,  Schriften  2,  "217  f.  gezeigt  hat).  Und 
bescheiden  fügt  er  hinzu:  „Aber  niemand  fühlt  sich  von  der  Erfüllung  dieses 
Dichterwortes  weiter  entfernt  als  eben  der  Sprachforscher."  Nun,  wenn  alle  an 
der  Verwirklichung  dieses  Ideals  mit  gleichem  Eifer  arbeiteten  wie  Kluge,  wir 
würden  ihm  in  einiger  Zeit  eine  gute  Strecke  näher  kommen. 

Berlin.  Hermann  Michel. 


Otto  Klemm,    G.   B.  Yico    als  Geschichtsplulosoph  und   Völkerpsycholoij. 
Leipzig,  Wilhelm  Engelmann  190G.     XII  und  '235  S.     8°.     5  Mk. 

Über  Vico  (11)08—1744)  ist  in  Deutschland  verhältnismässig  wenig  geschrieben 
worden.  Das  hängt  mit  der  sibyllinischcn  Art  seines  Philosophierens  zusammen, 
die  das  Eindringen  in  seine  unruhig  hin-  und  herwogende  Gedankenwelt  be- 
trächtlich erschwert.  Er  lässt  sich  am  besten  mit  unserem  Hamann  vergleichen, 
wie  schon  Goethe  (Italiänische  Reise  5.  März  17«7)  getan  hat.  Das  Problem,  an 
dem  sich  beide  —  schliesslich  doch  erfolglos  —  abgemüht  haben,  ist  philosophisch 
und  philologisch  zugleich,  denn  es  betrifft  das  Verhältnis  von  Sprache  und  Er- 
kenntnis. Dass  dieses  gewaltige  Problem  tatsächlich  den  Mittelpunkt  des 
Hamannischen  Denkens  bildet,  hat  vor  einiger  Zeit  Rudolf  Unger  in  seinem  aus- 
gezeichneten Buch  über  'Hamanns  Sprachtheorie'  (München  1905)  gezeigt.  Mag 
auch  Vicos  Geistesrichtung  nicht  in  so  eminenter  Weise  von  der  Rätselfrage  nach 
den  Beziehungen  zwischen  Sprechen  und  Denken  beherrscht  worden  sein  wie 
Hamanns,  so  wäre  es  doch  sehr  verdienstvoll  gewesen,  auch  bei  ihm  dies 
Problem  zum  Ausgangspunkt  zu  nehmen  und  seine  Lösungsversuche  achtsam  zu 
verfolgen. 

Der  Verf.  des  vorliegenden  Buches  hat  sich  eine  andere  Aufgabe  gestellt 
oder  vielmehr  stellen  lassen,  denn  der  Titel  gibt  das  Thema  einer  Preisarbeit 
wieder,  die  die  philosophische  Fakultät  der  Universität  Leipzig  vor  wenigen 
Jahren  ausgeschrieben  hat.  Ob  es  nicht  gefährlich  ist,  mit  so  modernen  Begriffen, 
wie  Geschichtsphilosophie  und  Völkerpsychologie  an  einen  Denker  vergangener 
Zeiten  heranzutreten,  mag  unentschieden  bleiben.  Auch  ob  der  Verf.  in  der  An- 
wendung Wundtischer  Termini    und  Klassifizierungen  nicht    zu   weit  gegangen  ist, 


236  Michel,  I.ohre,  l':iul  Bartels: 

will  ich  unerörtert  lassen.  Man  kann  aus  diesem  Buche  so  viel  lernen,  dass  man 
die  Mängel,  die  ihm  anhaften,  leicht  in  den  Kauf  nimmt.  Nur  dass  der  Verf. 
einem  so  namenreichen  Werke  kein  Personenregister  beigegeben  hat,  möchte  ich 
ernstlich  rügen.  Im  übrigen  hat  er  es  wahrlich  nicht  an  Fleiss  und  Eifer  fehlen 
lassen.  Zu  einer  ausführlichen  Hesjjreehung  ist  hier  nicht  der  Ort.  Lediglich 
einen  Punkt  möchte  ich  herausgreifen. 

Vicos  Stellung  in  der  Geschichte  der  Philosophie  ist  bestimmt  durch  seine 
Polemik  gegen  Descartes  und  den  Cartesianismus  Der  geometrischen  Methode 
stellt  Vico  die  Methoden  der  einzelnen  Wissenschaften,  dem  Rationalismus  einen 
Historismus  entgegen,  der  nicht  nur  in  der  Überlieferung  eine  besondere  Erkenntnis- 
quelle sieht,  sondern  für  den  auch  alles,  was  geschichtlich  entstanden  ist,  ein 
besonderes  Erkenntnisgebiet  abgibt.  So  finden  wir  in  dem  System  Vicos  einen 
der  frühsten  Versuche  zu  einer  logischen  Begründung  der  Geisteswissenschaften. 
Der  Hauptgedanke  dieses  Systems  lautet:  es  ist  möglich,  das  Leben  der  Völker 
nach  wissenschaftlichen  Prinzipien  darzustellen,  mithin  eine  allgemeine  Völker- 
wissenschaft zu  schaffen,  sofern  es  gelingt,  das  Wesen  der  Dinge  aus  ihrer  Ent- 
stehung zu  begreifen  und  die  beiden  Erkenntni.squellen  des  Menschen  (Vernunft 
und  i'berlicferung)  zu  vereinigen.  'Entstehung  der  Dinge'  bedeutet  aber  bei  Vico 
zweierlei:  zunächst  den  realen  Ursprung  der  Dinge,  sodann  aber  auch  die  psycho- 
logische Entwicklung  unseres  Wissens  von  den  Dingen.  Der  Verf.  meint,  es  wäre 
ungerecht,  wollte  man  sagen,  dass  Vico  diese  beiden  Begriffe  verwechselt  habe,  da 
er  sich  ihres  Unterschieds  gar  nicht  bewusst  geworden  sei.  Aber  eben  das  ist 
meines  Erachtcns  der  Grund  gewesen,  weshalb  Vico  trotz  unzweifelhaft  genialen  An- 
sätzen doch  nie  zur  Klarheit  gekommen  ist.  Hätte  er  noch  Kants  Kritik  der 
Herderischen  Geschichtsphilosophie  erlebt,  ihm  w'ären  vielleicht  die  Augen  auf- 
gegangen. So  sehr  er  nämlich  dem  oberilächlichen  Blick  gerade  ein  Vorläufer 
Herders  zu  sein  scheint,  die  tiefsten  Wurzeln  seiner  Geistesrichtung  berühren  sich 
weit  mehr  mit  denen  Kants.     Denn  sie  liegen  in  der  Platonischen  Ideenlehre. 

Berlin.  Hermann  Michel. 

H.  Günter,  Legenden-Studien.     Köln,  Baelieni,    190G.     IX,  192  S. 

Ernst    Lucius,     Die    Anfänge    des    Heiligenkultes     in    der     christlichen 

Kirche,    hsg.    von    G.  Anricii.     Tübingen,    J.   C.   B.   Mohr,    1904.     XI, 

526  S. 

Das  auf  einer  ausgebreiteten  Kenntnis  der  hagiographischen  Quellen  basierte 
W'erk  des  Tübinger  Historikers  Günter  hat  zum  wesentlichen  Thema  den  Prozess 
fortschreitender  Übermalung  der  historischen  Heiligengestalten  durch  die  Legende. 
Um  hiervon  eine  klare  Vorstellung  zu  vermitteln  nimmt  der  Verf.,  anders  als  die 
retrospektive  Darstellung  Delehayes  (vgl.  oben  IG.  123),  den  Ausgang  von  den 
authentischen  Märtyrerakten,  hebt  sorgsam  diejenigen  Stellen  aus  ihnen  heraus, 
die,  ohne  Wunder  sein  zu  wollen,  doch  des  Auffallenden  genug  hatten,  um  für 
eine  vergröbernde  Auffassung  Wunder  zu  werden,  und  zeigt  dann,  zu  welch 
krausen  und  krassen  Gebilden  die  nachkonstantinische  Legende  derartige  Keime 
aufquellen  Hess.  Da  die  Phantasterei  und  Vergröberung  vornehmlich  dem  Wunder 
galt,  ist  diesem  ein  besonderer  Abschnitt  gewidmet;  aber  auch  die  sonstige  roman- 
hafte Entstellung  der  ursprünglichen  schlichten  Berichte  wird  an  gutgewähltcn  und 
ausführlichen  Vergleichen  (z.  B.  dem  von  Hrotswitha  behandelten  Duicitius-Stoffc) 
gezeigt.     Der  Einbürgerung  der  nach  G.  wesentlich  orientalischen  Märtyrerlegende 


Berichte  und  Bücheranzeigen.  237 

im  Abendlande  gilt  ein  besonderes  Kapitel;  der  umfangreiche  Schlussabschnitt  über 
die  13ekenner-Vita  liisst  nicht  nur  die  mannigfache  Verwandtschaft  mit  der  Milrtyrer- 
legende,  sondern  auch  die  charakteristischen  Eigenheiten  der  Gattung  erkennen, 
die  durch  die  neuen  Erscheinungen  des  wirklichen  Lebens  (Merowingische  Mystilc) 
vor  Versteinerung  bewahrt  blieb.  Der  Historiker  als  Verfasser  verleugnet  sich 
nicht  in  dem  Streben  nach  exakter  chronologischer  Fixierung  der  einzelnen  Stadien 
der  Legendenentwicklung;  im  vierten  Jahrhundert  noch  einfache  Auffassung, 
authentische  Akten;  im  fünften  und  sechsten  Jahrhundert  Entstehung  und  Aus- 
breitung des  phantastischen  Typs;  im  siebenten  Jahrhundert  Einbürgerung  im 
Abendlande.  Als  Historiker  hält  sich  der  Verf.  durchweg  an  das  Dokumentarisch- 
Belegbare;  er  vermeidet,  das  Werden  der  Legenden  im  dichtenden  Volke  im 
einzelnen  zu  beschreiben.  Bleibt  durch  diese  Zurückhaltung  sein  Buch  ärmer  an 
eigentlich  volkskundlichem  Materiale  wie  Delehaye,  so  werden  doch  auch  frucht- 
bare, dem  Folkloristen  ferner  liegende  Gesichtspunkte  geltend  gemacht;  so  bei  der 
ausführlichen  Besprechung  der  F>age,  wie  die  Gruppe  der  14  Nothelfer  sich  zu- 
sammengefügt habe,  die  Bemerkung:  „Endgültig  wird  die  Frage  erst  an  der 
Hand  einer  Statistik  der  deutschen  Kirchenpatrone  des  Mittelalters  zu  beantworten 
sem'-  (S.  12.-.). 

Das  nachgelassene  "Werk  des  Strassburger  Theologen  Lucius  (f  1902)  hat 
mit  der  Legende  nur  vorübergehend  zu  tun,  da  es  dem  Heiligenkult  überhaupt 
gilt.  Diesen  schildert  es  nach  der  ganzen  Breite  der  Erscheinungsformen,  die  er 
im  christlichen  Altertum  ausbildete,  und  vor  allem  nach  seinen  Voraussetzungen 
in  der  griechisch-heidnischen  Religion.  Über  diese  letzteren  Zusammenhänge 
dürfte  kaum  irgendwo  anders  ein  so  reiches  Material  zusammengetragen  sein  wie 
hier;  Kleines  und  Grosses,  kultische  Einzelheiten  wie  metaphysische  Grundlagen 
werden  gleicherweise  berücksichtigt.  Eine  nicht  geringe  Zahl  christlicher  Heiliger 
wird  als  direkte  Erben  antiker  Gottheiten  wahrscheinlich  gemacht.  Bei  der 
Schilderung  der  Heiligenfeste  wird  auch  die  weltliche  Seite  (Gelage  bei  den 
Gräbern;  Vergnügungen,  Märkte)  gelegentlich  einbezogen.  Der  Wert  der  Legende 
wird  einsichtig  an  der  sonstigen  zeitgenössischen  Literatur  gemessen;  ein  Vergleich 
der  Märtyrerlogende  mit  der  Heldensage  wird  durchgeführt  (S.  83  f.),  der  allerdings 
von  einem  etwas  ad  hoc  gemodelten  BegrilTu  der  Heldensage  ausgeht.  Die  ge- 
drängte, gute  Charakteristik  der  Legende  glaubt  feststellen  zu  können,  dass  die 
Farben  für  die  Schilderung  der  Verfolgungen,  soweit  nicht  blosse  Phantasterei 
waltet,  wesentlich  den  diokletianischen  Verfolgungen  entlehnt  sind.  Im  ganzen 
ein  sehr  anregendes  Buch;  die  Darstillung  hält  sich  den  Quellen  so  nahe,  dass 
beinah  jeder  Satz  seine  Belegstelle  unter  dem  Strich  erhält,  bleibt  aber  dabei 
vorzüglich  lesbar.  Diese  gewissenhafte  Angabe  der  Belege  und  ein  sorgfältiges 
Register  machen  das  Buch  zu  einem  guten  Hilfsmittel  auch  für  Spezialstudien. 

Berlin.  Heinrich  Lohre. 


Alfred  Martin,  Deutsches  Badeweseu  in  vergangenen  Tagen.  Nebst  einem 
Beitrage  zur  Geschichte  der  deutschen  Wasserheilkunde.  Jena, 
L.  Diederichs  1906.     448  S.     4^"  mit  159  Abbildungen.     14  Mk. 

In  diesem  Werke  sind  mit  bewundernswerter  Belesenheit  die  Materialien  zu 
einer  Geschichte  des  deutschen  Badewesens  zusammengestellt,  und  nicht  nur 
durch  eine  sehr  grosse  Menge  von  Belegstellen  für  all  die  vielen  Einzelheiten 
(das    Literaturverzeichnis    umfasst    700    Nummern),    sondern    auch    durch    Repro- 


238  l'aiil  Harteis,  Andrcc: 

duktionen  zahlreicher  gleichzeitiger  Abbildungen  die  geschilderten  Verhältnisse 
ins  rechte  Licht  gerückt.  Nach  einem  kurzen  fberblick  über  das  Wenige,  was 
über  den  Gebrauch  der  Bilder  bis  zur  Karolingerzeit  bekannt  oder  zu  vermuten 
ist,  (die  ursprüngliche  Bedeutung  des  [nach  M.  Heyne]  echt  deutschon  Wortes 
Stube  als  Raum  zur  Erzeugung  von  stiebendem  Wasser,  Badestube,  die  weite 
Verbreitung  der  ßadestube  z.  B.  auch  bei  den  slawischen  Völkern,  die  gelegentlich 
zu  Taufen  verwandten  Badegeräte,  Baderäume  im  Kloster  St.  Gallen  usw.)  werden 
zunächst  , Badebräuche,  die  dem  ürgermanentum  entstammen",  geschildert  (S.  10  bis 
38):  das  Frühlingsbad,  genauer  das  Maibad,  nocii  spezieller  das  in  der  Walpurgis- 
nacht gehaltene  mit  seiner  Wunderwirkung,  das  Johannisbad,  auf  deutschem 
Boden  zuerst  durch  Petrarca  für  Köln  beglaubigt,  und  zwar  hier,  wie  es  scheint, 
speziell  als  ein  jährliches  Ileinigungsfest  der  Frauen,  das  Osterbad,  werden  in 
ihrer  Verbreitung  und  in  ihrer  mit  uralten  mythischen  Vorstellungen  zusammen- 
hängenden Wunderkraft  geschildert;  heilige  Quellen  (z.  B.  Schwesternbruniien  = 
Nornenbrunnen  nach  Panzer),  überhaupt  die  Heiligkeit  des  Wassers  unter  be- 
sonderen Umständen  (heilväc  =  Weihnnchtswasser;  Ostcrwasser;  Taufwasser:  das 
Wasser  zur  Urteilsfindung  und  Urteilsvollstreckung  usw.)  ausführlich  besprochen. 
Das  ^  Baden  und  Schwimmen  unter  freiem  Himmel"  (S.  39 — C4),  zu  allen  Zeiten, 
besonders  von  der  Jugend,  gern  geübt,  war  oftmals,  z.B.  im  13.,  IG.,  17., 
18.  Jahrhundert,  durch  obrigkeitliche  Verfügung  aus  den  verschiedensten  Gründen 
zuweilen  eingeschränkt  oder  ganz  verboten,  bis  es  in  der  Xeuzeit,  z.  T.  auf  Be- 
troiben der  Arzte,  wieder  zu  höherer  Blüte  gelangte.  In  den  ^die  ehehaften 
Badestuben  und  das  Badergewerbe"  (S.  64— 102),  „die  privaten  Bäder"  (S.  103  bis 
143)  und  ..die  Vorgänge  in  den  öffentlichen  Badestuben"  (S.  144 — 171)  behandelnden 
Abschnitten  wird  ein  recht  lebendiger  Beitrag  zur  Sittengeschichte  geliefert,  der 
nicht  nur  für  den  Kulturhistorikor  und  den  Arzt,  sondern  für  jeden  Gebildeten 
von  Interesse  sein  dürfte.  Während  die  Schilderung  der  Entwicklung  der  Bado- 
stubeninhabcr  und  -Diener  zu  Zünften,  der  Verleihung  von  Badestubenprivilegien 
('chchafte'  Badestuben),  der  Verbreitung  der  öfrontlichen  und  privaten  Badestuben 
und  ihre  Einrichtung  in  den  verschiedenen  Jahrhunderten  von  historischem  Werte 
ist,  findet  der  Arzt  einen  belehrenden  Überblick  über  die  ersten  Anfänge  und  die 
weitere  Entwicklung  des  Badorgewerbes,  seine  Rechte  und  Pflichten,  seine  Tätig- 
keit und  seine  Hilfsmittel;  von  ganz  allgemeinem  Interesse  aber  ist  das  ab- 
geschlossene Bild,  das  jeder  Leser  von  den  uns  oft  naiv  anmutenden  mittelalter- 
lichen Badesitten,  die  freilich  schliesslich  zu  Unsitten  sich  auswachsen,  erhält; 
noch  mehr  vielleicht  ist  dies  der  Fall  in  dem  nächstfolgenden  Abschnitte  über 
„Badoleben  im  späteren  Mittelalter  und  in  nachmittelalterlichcr  Zeit"  (S.  17'J  bis 
19.5).  Auch  besonderen  Zwecken  dienende  Einrichtungen  von  Bädern  werden 
erwähnt,  die  Sitte  der  Braut-  oder  Hochzeitsbäder,  Kindbettbäder,  Seelenbäder 
(Stiftungen  freier  Bäder  für  Arme,  als  gutes  Werk  oder  als  Busse);  auch  die 
Judenbäder  werden  besprochen,  hier  aber  als  solche,  die  heut  noch  sich  erhalten 
haben,  nur  die  Anlagen  von  Friedberg  i.  H.  und  Speyer  genannt,  das  Judenbad  in 
Worms  a.  Rh.  aber,  das  dritte  heut  noch  in  Deutschland  vorhandene,  ist  unerwähnt 
geblieben.  , Rückgang  und  Aufhören  der  öffentlichen  Badestuben"  (S.  li)ü — 221) 
ist  bedingt  z.  T.  durch  die  zunehmenden  Missbräuche,  z.  T.  durch  die  grossen 
Seuchen  (Aussatz,  Pest,  Syphilis).  „Die  deutschen  Mineralbäder  im  Mittelalter 
und  die  aus  diesem  in  die  Neuzeit  hinübergenommen  Badegebräuche"  (S.  222  bis 
271)  und  „die  Gesundbrunnen  in  nachmittelalterlichcr  Zeit  bis  zum  dreissigjährigen 
Kriege  (S.  272 — 351)  bilden  zwei  Abschnitte,  die,  wie  mir  scheinen  will,  teilweise 
etwas  gar   zu  ausführlich  gehalten,    wieder    für  die  Sittengeschichte    der  Zeit  von 


Berichte  und  Büclicranzeigen.  239 

grossem  Interesse  sind,  das  durch  die  reiche  Zusammenstellung  einer  Menge  wert- 
voller Abbildungen  immer  von  neuem  angeregt  wird.  Mit  dem  dreissigjiihrigcn 
Kriege  tritt  eine  völlige  Änderung  des  Badelebens  ein,  wie  j:i  diese  Zeit  überhaupt 
in  dem  gesamten  Leben  und  Denken  unseres  Volkes  oder  doch  der  Gebildeteren 
eine  Wende  bezeichnet.  Vorbei  ist  es  mit  dem  üppigen  Leben  in  den  Bädern, 
das  allerdings  allmählich  zu  einem  öffentlichen  Schaden  sich  entwickelt  hatte,  wie 
uns  die  gleichzeitigen  Berichte  und  Abbildungen,  auch  manch  kräftiger  Spottvers 
lehren  (wie  z.  B.  das  [allerdings  spätere]  im  Liebenzeller  Badehause  unter  einem 
Gemälde  befindliche  Gedicht  von  dem  Ehemanne,  der  seine  Frau  wegen  ihrer 
Kinderlosigkeit  ins  Bad  schickt,  und  das  mit  den  Worten  schliesst:  „Weiss  nicht 
wie  es  ging,  gut  war  die  Stund,  Schwanger  ward  das  Weib,  die  Magd  und  der 
Hund").  Die  neue  Gestaltung,  die  sich  nun  herausbildet,  wird  im  letzten  Kapitel 
„die  deutschen  Mineralbäder  seit  dem  dreissigjährigen  Kriege.  Die  Wasserheil- 
kunde" (S.  .352—398)  abgehandelt,  das  besonders  für  den  Arzt  von  Wert  ist. 
Hier  findet  sich  der  Versuch  einer  ausführlichen  Darstellung,  der  teils  durch  die 
Mode,  teils  durch  die  Fortschritte  in  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis  beeinflussten 
Anschauungen,  die  schliesslich  zu  einer  vernünftigen  Verwertung  der  Badekuren 
und  zu  den  guten  Erfolgen,  die  die  ärztliche  Wissenschaft  mit  der  sachgeraässen 
Anwendung  der  Wasserheilkunde  erreicht  hat,  indem  sie  sie  den  Händen  der 
Laien  entzog,  geführt  haben;  auch  die  „Luff-  und  „Sonnenbäder",  übrigens  wie 
die  „Priessnitz-Kur"  schon  lange  vor  ihrer  „Erfindung"  einmal  eine  Zeitlang  geübt 
oder  in  Mode,  werden  kurz  erwähnt.  Die  letzten  50  Seiten  enthalten  Nachträge, 
Literatur-,  Abbildungs-,  Namen-,  Ortsverzeichnisse,  und  geben  durch  ihren  Umfang 
einen  Begriff  von  der  Grösse  der  vom  Verfasser  geleisteten  Arbeit,  die  ihm 
hoffentlich  durch  eine  weite  Verbreitung  des  interessanten  W^orkes,  dem  ich  nur 
bei  einer  Neuauflage  eine  Erhöhung  der  Übersichtlichkeit  und  Lesbarkeit  durch 
Abwechslung  im  Druck  und  durch  Kürzung  mancher  Abschnitte,  sowie  alphabetische 
Anordnung  des  Literaturverzeichnisses  wünschen  möchte,  gelohnt  werden  wird. 

Berlin.  Paul  Bartels. 


Eine  schwedische  kulturgescliichtliche  Zeitschrift. 

Mit  dem  Beginne  des  verflossenen  Jahres  ist  im  Nordischen  Museum,  unter 
Leitung  von  Professor  Bernhard  Salin,  eine  neue  kulturgeschichtliche  Zeitschrift 
ins  Leben  getreten,  die  den  Titel  Pataburen  führt,  was  man  etwa  mit  „Vorrats- 
kammer" übersetzen  kann.')  Wie  alle  wissenschaftlichen  .arbeiten,  welche  von 
Schweden  ausgehen,  ist  auch  diese  neue  Zeitschrift  durch  Gründlichkeit  und 
schöne  Ausstattung  ausgezeichnet;  vorzügliche  Mitarbeiter  zeigen  in  ihren  Ab- 
handlungen nicht  nur  überall  die  tüchtigste  Sachkenntnis  auf  dem  eigenen 
schwedischen  Gebiete,  sondern  beherrschen  auch  völlig  die  einschlägigen  Arbeiten 
des  Auslandes,  namentlich  die  betreffende  deutsche  Literatur.  Es  ist  zu  beklagen, 
dass  bei  uns  die  doch  für  uns  leicht  zu  erlernende  schwedische  Sprache  noch 
verhältnismässig  wenig  verstanden  wird,  trotzdem  wir  dort  reiche  wissenschaft- 
liche Schätze  heben  können. 


1)  Nordiska  Museet.    Fataburen,  kulturhistorisk  tidskrift,  utgifven  af  Bernhard  Salin, 
Museets  styresman.     Stockholm,  0.  A.  Liljegrens  bokhandel  190G.     "252  S.     (4  Hefte). 


240  Androp,  Heusler: 

Der  Inhalt  ist  ein  sehr  mannigfaltiger,  biolet  aber  bisher  vorherrschend  volks- 
kundlicho  Arbeiten,  wie  aus  der  hier  folirenden  kurzen  Übersicht  der  wichtigsten 
Artikel  zu  erkennen  ist.  Mit  den  alten  Sitten  und  Gebräuchen  von  Hornborg  By 
in  Westergotland,  wie  sie  noch  bis  zum  Jahre  1860  ungetrübt  bestanden,  be- 
schäftigt sich  Jesper  Svedenborg,  wobei  auch  das  Klotspel,  eine  Art  Kegelspiel, 
eingehende  Berücksichtigung  findet.  Über  die  Ausstattung  der  Bräute  in  Härjedalen 
erfahren  wir  Näheres  durch  N.  Keyland.  Hier  ist  es  die  hohe,  mit  künstlichen 
Blumen,  Flittergold  u.  dgl.  auf  einem  Drahtgestell  errichtete  Braulkrone,  welche 
zu  Vergleichen  auffordert;  denn  nach  Form  und  Stoff  gleicht  sie  jenen,  die  durch 
einen  grossen  Teil  Mitteleuropas  verbreitet  sind  und  die  Hottcnrot  in  seinem 
Trachtenwerko  ohne  die  geringste  Berechtigung  auf  slawischen  Ursprung  zurück- 
führen wollte.  Von  Belang  ist  auch,  was  uns  Nils  Lithberg  über  Brautsitten, 
Brautlauf  u.  dgl.  in  Gotland  mitteilt;  und  hier  treffen  wir  auf  die  Errichtung  einer 
Ungmansstang,  Jungmännerstange  (in  Kyrkbinge  ,  welche  in  ihrer  Form,  und  bis 
•20  Eilen  hoch,  mit  Fichtenkriinzen  und  Fichtongewinde  geschmückt,  völlig  den 
Eindruck  der  Maibäumo  macht,  wie  wir  sie  in  jedem  oberbayenschen  Dorfe  treffeu. 
Auch  in  Schweden  ist  die  Verteilung  der  Ostereier  (Päskäggen,  vom  jüdischen 
Passah)  weitgehender  Brauch,  und  in  einer  umfangreichen  Abhandlung  sucht  Louise 
Hag  borg  deren  heidnischen  Ursprung  nachzuweisen.  Wie  bei  uns  das  Osterei 
in  heidnischen  Sarkophagen  bei  Worms  von  Kühl  gefunden  wurde,  so  in  den 
heidnischen  Gräbern  von  Birko  am  Mälarsee.  Die  Verfasserin  gibt  einen  guten 
Überblick  über  die  weite  Verbreitung  des  Ostereies  und  der  damit  verknüpften 
Sitten  in  slawischen  und  deutschen  Gegenden,  begleitet  von  vielen  Abbildungen, 
w^obei  die  Beraalung  der  schwedischen  Ostereier  gegenüber  den  anderen  auffällt: 
sie  sind  sehr  naturalistisch  mit  Kornähren  bemalt.  Auch  über  alte  Musikinstrumente, 
die  ehemals  in  Dalarne  gebräuchlich  waren,  erhalten  wir  Auskunft.  Nur  in  wenigen 
Exemplaren  haben  sich  diese  Instrumente  erhallen,  die  teils  einer  Laute,  teils  der 
mit  dem  Bogen  gestrichenen  Kantele  gleichen,  die  in  Pinnland  noch  vielfach  im 
Gebrauche  ist.  Volksweisen  und  Tanzmelodien  aus  Westergotland  mit  Noten  teilt 
Samuel  Landtmanson  mit,  die  zum  grossen  Teil  ein  recht  originelles  Gepräge 
zeigen,  während  die  drei  mitgeteilten  Polkamelodien  Entlehnung  verraten.  Es  ist 
dabei  zu  bedenken,  dass  wir  die  Erfindung  dieses  Tanzes  durch  die  tschechische 
Bäuerin  Anna  Chadim  aus  Petrowitz  um  das  Jahr  1830  herum  ganz  genau  kennen; 
von  ihr  aus  hat  er  seinen  Gang  durch  die  Welt  gemacht,  und  mit  den  Polen  hat 
er  nichts  zu  tun,  wie  das  alles  in  Prof.  Ö.  Zibrts  schönem  Werke  Jak  se  kdy 
V  öechiich  tancovalo  (Prag  1895)  urkundlich  belegt  nachzusehen  ist. 

Auch  das  Haus  und  seine  Einrichtung  sind  in  dem  ersten  Jahrgange  der  neuen 
Zeitschrift  berücksichtigt.  Besonders  bemerkenswert  ist  der  Aufsatz  von  A.  Roland 
über  die  sogenannten  „Mesulakonstruktionen",  die  ein  Mittelding  zwischen  Block- 
haus- und  Fachwerkbau  darstellen  und  von  einer  Säule  in  der  Mitte  getragen 
werden.  Sie  sind  in  Westergotland  zu  Hause  und  werden  unter  Beigabe  zahl- 
reicher Abbildungen  genau  beschrieben.  Was  die  innere  Einrichtung  der  Häuser 
anbetrifft,  so  ergibt  sich  hier,  wenn  vom  Bauernhausrat  abgesehen  wird,  der  allge- 
meine Kulturzusammenhang  mit  den  übrigen  europäischen  Ländern.  Wenigstens 
vermag  ich  in  den  von  Axel  Romdahl  abgebildeten,  im  nordischen  Museum  be- 
findlichen Sesseln  und  Stühlen  aus  dem  17.  Jahrhundert  nicht  den  geringsten 
originellen  Zug  zu  entdecken,  und  ähnlich  verhält  es  sich  mit  den  von  Sune 
Ambrosiani  beschriebenen  eisernen  Kachelöfen,  d.  h.  Üfen  mit  eisernem,  aus 
Platten  zusammengesetztem  Heizraume  und  darüber  errichtetem  Kachelofen.  Die 
gegossenen  Platten  sind  mit  Darstellungen  aus  der  biblischen  Geschichte,  Wappen  usw. 


Berichte  und  Büclieranzeigeu.  241 

genau  so  versehen,  wie  die  Harzer  Ofenplatteii  aus  Gitte]de;  es  kommen  auch 
solche  mit  deutschen  Inschriften  vor.  Die  spiiteren  Windöl'en  mit  eisernem  Heiz- 
kasten zeigen  dagegen  ein  mehr  schwedisches  Gepräge,  und  die  Übergänge  vom 
Kachelofen  zum  vollslämiigen  Eisengnssofen  des  18.  Jahrhunderts  werden  in  sehr 
lehrreicher,  durch  Abbildungen  belegter  Art  nachgewiesen. 

In  die  alten  schwedischen  Jagdzeiten  und  Jagdraethodeii  führt  uns  eine  aus- 
führliche Arbeit  von  Nils  Key  land.  Hier  macheich  besonders  auf  die  Konstruktion 
der  Fallen  (für  Bären.  Ottern  usw.)  aufmerksam,  die  oft  sehr  sinnreich  konstruiert 
sind.  Das  Gebiet  des  Fallonstellens  ist  noch  nicht  zusammenhängend  und  ver- 
gleichend behandelt  worden,  und  doch  ergeben  sich  hier,  wenn  man  einige  Sach- 
kenntnis auf  diesem  Gebiete  hat,  merkwürdige  Übereinstimmungen.  Wie  weit  da 
auf  Entlehnung  zu  schliessen,  wie  viel  auf  selbständige  Erfindung  zurückgeht, 
ist  eine  zu  lösende  Frage.  Ich  vermag  z.  B.  zwischen  raalayischen,  sehr  sinnreich 
hergestellten  Fallen  und  solchen  aus  Amerika  schlagende  I  bereinstimmung  nach- 
zuweisen, wobei  natürlich  von  Entlehnung  keine  Rede  sein  kann.  In  das  Gebiet 
der  Jagd  gehört  auch  was  uns  Adolf  Pira  über  alte  Urhörner  mitteilt.  Während 
sich  die  Skelette  des  Bos  primigenius  massenhaft  erhalten  haben,  die  Hornzapfen 
stets  vorhanden  sind,  ist  das  eigentliche  Hörn  überaus  selten,  so  dass  z.  B.  ein 
Fund  Nehrings  im  Torfmoore  bei  Treten  in  Pommern,  welcher  Zapfen  und  Hörn 
brachte,  Aufsehen  erregte.  Da  der  Ur,  wie  wir  wissen,  ziemlich  spät  ausstarb, 
so  wurden  in  alter  Zeit  seine  Hörner  noch  benutzt,  und  solche,  ein  Pulverhorn 
in  der  Stockholmer  Rüstungskammer  und  ein  Jagdhorn  mit  polnischer  Inschrift 
von  1620,  sind  es,  die  hier  behandelt  werden. 

Noch  erwähne  ich  einen  ausführliehen  Aufsatz  von  (iunnar  Rudberg  über 
die  Mühlsteiiibrüche  von  Lugnas  und  deren  Betrieb  und  die  merkwürdigen 
plastischen  Darstellungen  von  Aalen  und  Löwen  in  der  Stockholmer  Hauptkirche 
von  Otto  Rydbeck,  denen  sich  ähnliche  mittelalterliche  Figuren  in  der  Lunder 
Domkirche  anschliessen.  Wir  wissen  ja,  wie  lebhaft  die  Phantasie  der  Stein- 
metzen in  romanischer  Bauzeit  war  und  wie  deren  Erzeugnisse  (z.  B.  an  S.  Jakob 
in  Regensburg)  und  Tiorgestalten  dem  Architekten  wie  Kirchenhistoriker  schwierige 
Aufgaben  stellen.  Dahin  gehören  auch  Löwe  und  Löwin  durch  einen  Aal  ver- 
bunden in  der  Stockholmer  Kirche,  über  denen  eine  spätere  plattdeutsche  Inschrift 
steht,  die  uns  allerdings  auch  nicht  weiter  führt  und  die  (hochdeutsch)  lautet: 
„Der  Aal  ist  fett,  auch  ein  starker  Fisch.  Mit  ledigen  Händen  ist  er  nicht  gut 
zu  fangen,  das  ist  sicher.  1521.  Wer  ihn  will  verwahren,  darf  Säcke  oder  Kisten 
an  ihm  nicht  sparen."  [Vgl.  dazu  die  fischende  Katze  bei  Montanus,  Schwank- 
bücher 1S99  S.  623f.] 

München.  Richard  Andree. 


Daiiske  Vider  og  Vedtsej^ter  eller  ganile  Landsbylove  og  Byskräer  udgivne 
af  Poul  Bjerge,  Hojskolelarer,  og  Tliyge  J.  Söegaard,  Oberstlojtuaut. 
I.  Gerue  ved  Poul  Bjerge.  Kjobenhavu,  Lehmann  &  Stage,  1904  bis 
1906.     XII,  504  S.    8". 

Die  zwei  Herausgeber  haben  sich  vereinigt,  um  die  dänischen  Dorfweistümer, 
Bauersprachen,  Markordnungen,  die  bäuerlichen  Genossenschaftsrechte  zu  sammeln. 
Das  meiste  lag  noch  ungedruckt  in  den  Bibliotheken  und  Archiven  der  Städte  und 
Dörfer,  und  die  Ausbeute  übertraf  die  Erwartungen.  Söegaard  hat  Jütland  über- 
nommen, das  Material  von  den  dänischen  Inseln  legt  Bjerge  in  dem  jetzt  voll- 
endeten ersten  Bande  vor. 

Zeitschr.  ri.  VereiDs  f.  Volkskuiid«.     1907.  j^g 


•34.2  Heusler,  Bolte: 

Zur  Aufzeichnung  dioser  bäuerlichen  Gewohnheitsrechte  schritt  man  vuni 
Kl.  Jahrh.  an.  Das  älteste  Stück  der  Sammlung  ist  von  1554.  Sie  ziehen  sich 
l)is  ans  Ende  des  LS.  Jahrh.  hin.  Ihr  Inhalt  gilt  einerseits  dem  gemeinsamen 
[>and\virtschartsbetriebe:  Satzungen  über  Weidegang,  Instandhaltung  der  Zäune, 
Grenzfrevel,  über  den  Dorfhirten,  den  Dorf  bullen  u.  a.  m.;  anderseits  regelt 
die  Genossenschaft  ihre  Zusammenkünfte,  die  Trinkgelage,  die  von  denen  der 
mittelalterlichen  Zünfte  abstammen,  sowie  ihre  Ehrenämter,  den  Oldcrniann,  den 
'Stuhlbruder'.  Das  Gelage  erscheint  so  recht  als  das  Lebensorgan  dieser  Dorf- 
gemeinden: die  Bussen  sind  meist  in  Bier  als  dem  nervus  rerum  zu  entrichten. 
Man  geht  mit  Pfändung  gegen  den  Schuldigen  vor,  selbstherrlich  im  engen  Kreise; 
die  Gesetze  und  Gerichte  des  Landes  halten  sich  gleichsam  im  Hintergrunde,  auf- 
gespart für  den  Ernstfall;  unsere  Dorfrechte  sind  eine  Verfassung  für  sich,  die 
das  Alltsujslcben  beherrscht.  'Nur  als  Mitglied  der  Genossenschaft  konnte  der 
einzelne  zur  Geltung  kommen,  sich  Recht  verschallen,  auf  Hilfe  zählen  bei  Krank- 
heit oder  Feuersnot  und  schliesslich  zu  einem  ehrlichen  Begräbnis  gelangen' 
(S.  XI). 

Die  Volkskunde  empfängt  aus  diesen  (Quellen  einen  nicht  allzu  abwechslungs- 
reichen, aber  unbedingt  echten,  ersthandigen  StofI'.  Das  Register  mit  Wort- 
erklärungen, das  für  den  zweiten  Band  versprochen  wird,  ist  willkommen:  Kalkars 
alldänisches  Wörterbuch  reicht  nicht  immer  aus. 

Berlin.  Andreas  Heusler. 


Alessandro    (l'Aiicoiia,     La    poesiii    jiopolaro    italiaiia.    studj.     2.   edizione 
accresciuta.     Tjivoriio,  K.  (iiusti   1 !)()().     VIII,  571  8.     8°. 

Die  Studien  zur  italienischen  Volksdichtung,  die  der  hochverdiente  Pisaner 
Literaturhistoriker  von  neuem  in  die  Welt  sendet,  sind,  obwohl  sie  fast  100  Seiten 
mehr  als  die  1878  erschienene  erste  Ausgabe  enthalten,  in  der  Anlage  unverändert 
geblieben.  Nicht  systematisch  beschreibend,  sondern  streng  historisch  vorgehend, 
zeigt  der  Vf.  mit  ausgebreiteter  Materialkenntnis,  dass  bereits  im  12.  und  lo  Jahr- 
hundert ein  italienischer  Volksgesang  existierte,  der  sowohl  politischen,  geistlichen, 
moralischen  wie  erotischen  Inhalt  hatte  und  dessen  Nachwirkungen  sich  z.  T.  bis 
heut  fortgepUanzt  haben.  In  den  P'lorentiner  Chroniken  des  14,  bis  16.  Jahr- 
hunderts, in  den  Komödien,  den  Novellen,  in  den  Melodioangaben  der  geistlichen 
Gesänge  (laude)  tretl'en  wir  auf  zahlreiche  Liederspuren,  und  oft  haben  Kunst- 
dichter wie  der  elegante  Polizian  und  der  derbere  Pulci  die  Formen  des  Volks- 
liedes nachgeahmt,  dem  sie  gleichzeitig  neue  Gedanken  und  Motive  zuführten: 
15ä()  setzte  der  Maler  Agnolo  Bronzino  seine  Serenata  quodlibetartig  aus  bekannten 
Volkslicdcranfängen  zusammen.  Unter  den  eingeflochtenen  Texten  und  Einzel- 
untersuchungen befinden  sich  auch  zwei  Balladenstoffe,  deren  italienische  Herkunft 
wohl  unanfechtbar  ist:  Donna  Lombarda,  der  D'Ancona  ein  höheres  Alter  als 
Gaston  Paris  zuschreibt,  und  La  bella  Cecilia,  über  die  oben  li',  (i4  zu  vergleichen 
ist.  Die  zweite  Hälfte  des  Buches  (S. -209-474)  ist  der  Betrachtung  der  Liebes- 
lyrik, der  Geschichte  ihrer  Formen,  der  Verbreitung  einzelner  Lieder  durch  alle 
italienischen  Landschaften  und  ihrer  Heimat  gewidmet.  Für  eine  grosse  Zahl  von 
Liedern  erweist  der  Vf.  aus  Sprache,  Reim  und  anderen  Indizien,  dass  ihr 
Ursprung  nicht  in  Toscana,  sondern  in  dem  liederreichen  Sizilien  zu  suchen  ist, 
dessen  dichterischer  Ruhm  bis  in  die  Zeit  des  Hohenstaufenkaisers  Friedrich  IL 
zurückgeht.     In  Toscana  wurden    sie    einer    sprachlichen  Umwandlung  (toscaneg- 


Bericlite  umi  Bncheräuzei^cu.  '243 

glaniento)  unterzogen  und  drangen  von  hier  aus  in  die  anderen  Provinzen.  Auch 
die  Entwicklung  der  Form  dos  Rispetto  oder  Strambotto  bestätigt  diese  Wahr- 
nehmung. Aus  der  ursprünglichen  sizilischon  vierzeiligen  Strophe  entstand  sowohl 
die  mit  einer  Coda  versehene  Strophe  Toskanas,  wie  die  nur  zwei  Reime  ent- 
haltende Ottava  siciliana,  aus  der  dann  die  gewöhnliche  Ottave  hervorging;  die 
dreizeiligen  Stornelli  aber  sind  in  Toskana  zu  Hause.  Bei  der  hohen  poetischen 
Begabung  des  italienischen  V'olkes,  das  seinen  Ariost,  Tasso  und  Berni  teilweise 
auswendig  weiss,  und  bei  der  gegenseitigen  BeeinQussung  von  Kunst-  und  Volks- 
poesie  (D'A.  vergleicht  sie  S.  472  zwei  getrennt  nebeneinander  fliessenden  Strömen, 
die  sich  bisweilen  vereinen  und  dadurch  einer  etwas  von  des  andern  Farbe  an- 
nehmen) ist  natürlich  eine  Scheidung  zwischen  Volkslied  und  Kunstlied  oft 
schwierig;  trotzdem  kennzeichnet  D'A.  verschiedene  Stücke  in  den  Sammlungen 
von  Tigri  und  Giannini  als  unecht  und  weist  für  viele  Nummern  der  hsl.  und  ge- 
druckten Liederbücher  des  Volkes  den  literarischen  Ursprung  nach  Man  sieht, 
auch  der  deutschen  VolkslicUforschung  bietet  die  mit  sicherer  Methode  geführte 
Untersuciiung,  der  noch  umfängliche  Liedertexte  und  Verzeichnisse  aus  dem 
Mi)  bis  17.  Jahrhundert  iingehüngt  sind  (S.  175 — .')<il),  wertvolle  Parallelen.  Dass 
der  Vf.  dabei  selten  über  die  Grenzen  seines  Landes  hinausblickt,  die  Heimat- 
frage für  internationale  lialladenstoffe  (wie  die  Grossmutter  Schlangenköchin 
S.  124)  nicht  aufwirft  und  die  musikalische  Seite  des  Volksliedes  unberührt  liisst, 
kann  un.sere  Dankbarkeit  für  das  Gebotene  nicht  schmälern.  Zu  vielen  von  ihm 
behandelten  Motiven  (S.  103  Kettenreime,  98.  258  Vogel  als  Bote,  2.31.  399  Ver- 
wandlungen des  Liebhabers,  225  trauernde  Taube,  2s.')  Sieben  Schönheiten, 
23!i  Und  wenn  der  Himmel  war  Papier  usw.)  hätte  er  bei  Uhland,  R.  Köhler 
und  anderen  deutschen  Forschern  weitere  Nachweise  finden  können. 

Berlin.  J.  Holte. 


■E.  M.  Kronfeld,  Der  Weihnachtsbaum.  Botanik  und  Geschichte  des  Weih- 
nachtsgrüns.  Seine  Beziehungen  zu  Volksglauben,  Mytho.s,  Kultur- 
geschichte, Sage,  Sitte  und  Dichtung.  Mit  25  Abbildungen.  Olden- 
burg und  Leipzig,  Schulzesche  Hofbuchhandlung  o.  J.  [1906J.  VIII, 
'233  S.  8".    4  Mk. 

Keine  erschöpfende  wissenschaftliche  Untersuchung  bietet  uns  der  Wiener 
Botaniker,  aber  eine  anmutig  zu  lesende  und  durch  Quellennachweise  genügend 
fundierte  Sammlung  von  allerlei  Wissenswertem  über  die  mit  der  Weihnachts- 
feier in  Zusammenhang  stehenden  Pflanzen:  die  Christrose  (Nieswurz),  die 
blühenden  Kirsch-  und  Apfclbaumzweige,  die  immergrüne  Tanne,  Fichte,  Föhre, 
Eibe,  Mistel.  Stechpalme,  den  Mäusedorn  und  ihre  Verwendung  im  Kultus  und 
Volksgebrauch,  um  sich  endlich  der  Geschichte  des  mit  Lichtern  und  Äpfeln  be- 
hängten Weihnachtsbaumes  zuzuwenden.  Wenngleich  die  reichlich  eingestreuten 
Dichterzitate  dem  Stile  eine  feuilletonistische  Färbung  verleihen,  so  ist  doch  her- 
vorzuheben, dass  die  allmähliche  Verbreitung  des  um  1600  zuerst  in  Strassburg, 
im  18.  Jahrhundert  im  protestantischen  Mitteldeutschland  erscheinenden  und  im 
1'.).  Jahrhundert  auch  in  die  katholischen  Gegenden  eindringenden  Weihnachts- 
baumes sorgfältig  geschildert  wird;  mit  gutem  Erfolge  hat  K.  selbst  eine  Reihe 
von  bejahrten  Leuten  in  Österreich  darüber  befragt  und  z.  B.  festgestellt,  dass  in 
Wien    die   ersten  Weihnachtsbäume  seit  1817  durch  die  Gemahlin  des  Erzherzogs 

16* 


244  Bolte:    Berichte  und  Bücheranzei^en. 

Kiirl.  eine  hessische  Prinzessin,  durch  den  Maler  Rudoli'  Alt  aus  Frankfurt  und 
den  Schauspieler  Anschütz  eingeführt  worden  sind.  Feilbergs  grosses  Werk  'JuT 
(1904)  blieb  dem  Vf.  leider  niihekaniit:  auch  unsere  Zeitschrift  hätte  ihm  ver- 
schiedene Noti/en  geliefert.  •'•  H 


Volkskunde  im  llreisgau,  lierausgegeben  vnni  Madisclicu  Verein  für  Volks- 
kunde   diireli    Prof.    Dr.    Fridrich   Pfaff.     Freibiirg   1.   B..    .1.  Hielefeid 
imu;.    189  S.    8".    3  Mk. 
Diese  dem  badischen  Fürstenpaarc  zum  uoldenen  Hochzeitsfeste   dargebrachte 
Gabe  besteht  aus    acht  .Vbhandlungen,    die  sämtlich  von  Volksüberlieforungen  des 
badischen  Landes  ausgehen.     F.  Pfaff  erläutert  umsichtig  die  Sage  vom  Ursprung 
der  Herzoge  von  Zähringen,  die  der  l.r.'B  verstorbene  Freiburger  Kaplan  Joh.  Sattler 
auf"ezeichnet  hat.    aus  den  historischen    und  örtlichen   Verhältnissen   und    aus  der 
Verbindung  mit  der  Dietrichsago,    die  ja  auch  in  der  Anknüpfung  der  Harlungen 
an  Breisach  zu  Tage  tritt    —  Weiter  schildert  Pfaff  das  alte  volkstüiulielir  Krafi- 
und    Schorzspiel    'Katzenstriegel'    oder  Strebekatze,    bei    dem    zwei   Kämpfer,    die 
Hände  auf  die  Erde  gestemmt,   niederknieten  und  an  einem  Handtuche  zogen,  das 
sie  entweder  mit  den  Zähnen  packten  oder  um  den  Nacken  gelegt  hatten.     Hierzu 
hätte  P.  weitere  Zeugnisse  finden  können  bei  Bolte  und  Sccimann,  Niederdeutsche 
Schauspiele  189.')  S.  *.'U— *.34;    Philo  vom  Walde,    Schlesien  in  Sage   und   Brauch 
18S:5  S.  141    (Strabelkatze\    Vöges,    Sagen   aus  Braunschweig  ISfl.'j   Nr.  170.     Ver- 
wandt  ist   das    'jeu    de  panoye',    bei    dem   die  Gegner    die   Füsse  gegeneinander 
stemmen,  bei  Moerkerken,  De  Satire  in  de  nederlandsche  Kunst  der  Middeleeuwen 
1904  S.  19S    und    in    einer  kleinen  Bronzegruppe    des  finnischen  Bildhauers   Rob. 
Stiuett,    die    ich    auf   der  diesjährigen  Berliner  Kunstausstellung  sah.      Der  Name 
erklärt  sich  wohl    aus   einem  Scherze,    zwei  wirklieiic  Katzen  zusammcnzukoppeln 
und  dann  gegen  einander  zu  hetzen.    —    F.  Laniey  beschreibt  in  seinem  Artikel 
'Fastnachtssebräuche    aus  Bernau  bei    St.  Blasien'.    wie  die  Burschen  am  Sonntag 
Invocavit    eine    'Hexe"    genannte   Strohpu|)pe    verbrennen    und    glühend    gemachte 
runde  Holzscheiben    den   Berg    hinunterschleudern.     —     O.    Haffner    bringt  337 
Volksriitsel    aus    ganz  Baden  in  der  von    E,  H.  Meyer  vorgeschlagenen  stofriichen 
(iruppierung  und  mit  sorgsamen  Verweisen  auf  Wossidlos  und  andere  Sammlungen 
zum  Abdrucke,  das  Ergebnis  einer  1893  bei  den  badischen  VolkssehuUehrern  ver- 
anstalteten Umfrage.    —    Schon    oben  S.  ■209  erwähnt   wurden    die   beiden  Lieder- 
sammlungen   von  K.  Pecher,  der  '1±  Marschlieder    des  .x    Badischen   Infanterie- 
Regiments  Nr.  113  samt  den  Melodien  aufgezeichnet  hat.  und  von  0.  Meisinger, 
13  Volkslieder  aus  dem  Wiesentale.   -    F.  Kl  uge  verfolgt  die  Geschichte  der  1777 
von  Wieland  als  schwäbisch  bezeugten  'lieblichen  Wortbildung'  Anheimeln  bis  auf 
Bismarck,    Rosegger  und  Heinrich  Seidel,    und  E.  Eckhardt  analysiert  drei  'alte 
Schauspiele  aus  dem  Breisgau",    nämlich  das   l.")99  geschriebene,   aus  einem  Fron- 
leichnams-   und    einem  Passionsspiele    zusammengesetzte    Freiburger  Drama,    das 
z.  T.  auf  diesem  beruhende,  aber  auch  durch  den  protestantischen  Schweizer  Ruef 
beeinflusste  zweite  Freiburger  geistliche  Spiel  von   U>04  und  endlich  das  Endinger 
.ludcnspiel,    das  K.  v.  Amira   1880  herausgab.      Zu  S.  I7Ü  bemerke    ich,    dass  die 
Namen  der  Wächter    am  Grabe  Christi    auf   den  Engländer  Grimald    zurückgehen 
(Archiv  f  neuere  Sprachen  105,  9).  J-  HoHo. 


l^otizen.  24o 

Notizen. 

0.  Arnstein,  Volkskunde  (Bibliographie  für  11)03.  14G4  Nr.\  Jahresberichte  für 
neuere  deutsche  Literaturgeschichte  14,  36 — 75. 

R.  Brandstetter,  Ein  Prodromus  zu  einem  vergleichenden  Wörterbuch  der  malaio- 
polynesischen  Sprachen  für  Sprachforscher  und  Ethnographen.  Luzern,  E.  Haag  l'.)U('i. 
74  S.  (In  origineller,  für  jeden  Sprachwissenschaftler  interessanter  Weise  stellt  der  \'f. 
neue  theoretische  Forderungen  für  ein  vgl.  Würtorbuch  des  durch  W.  v.  Humboldt  be- 
rühmt gewordenen  Kawi  und  1 1  neuerer  malaio-polynesischer  Sprachen  auf,  behandelt 
zur  Probe  die  Benennungen  von  20  Körperteilen  und  sondert  endlich  unter  diesen  die 
höflichen,  euphemistischen,  poetischen  und  derben  Ausdrücke.  An  sieben  frühere  Hefte 
von  Bs.  Malaio-polyuesischen  Forschungen,  die  zumeist  Übersetzungen  von  Erzählungen 
bieten,  sei  hierbei  erinnert^. 

A.  van  Gennep,  De  Theraldisation  de  la  marque  de  propriete  et  des  origines  du 
blason,  etude  ethnographique  (aus  Revue  hcraldique).  Paris  1906.  23  8.  (Nicht  nur  in 
Deutschland,  sondern  auch  in  Ru^sland,  Ägypten,  Arabien,  Japan  ist  die  Hausmarke  oft 
zum  Wappen  geworden;  selbst  das  Totemticr  eines  Stammes  wird  bisweilen  als  Eigentums- 
niarke  gebraucht.     Der  Ursprung  des  Wappens  ist  offenbar  polygenetisch.) 

Max  Gerhardt,  Der  Aberglaube  in  der  französischen  Novelle  des  IG.  Jahrhunderts. 
Rostocker  Diss.  Schöneberg,  Langenscheidt  l'.)06.  XII,  158  S.  (Die  fleissige  und  gut- 
geordnete Materialsanimlung  bietet  ein  Seitenstück  zu  Roemcrs  Diss.  über  den  Aber- 
glauben im  frz.  Renaissancedrama  1903:  die  beigegebenen  Erläuterungen  sind  etwas  ungleich 
ausgefallen,  Sebillots  Folklore  ile  France  wird  nirgends  herangezogen.  Ein  Sachregister 
erhöht  die  Brauchbarkeit.) 

Franz  Heinemann,  Teil-Bibliographie,  umfassend  1.  die  Tellsage  vor  und  ausser 
Schiller  (15.  bis  20.  Jahrhundert)  sowie  2.  Schillers  Tell-Dithtung  (1804-li)06).  Bern, 
K.  J.  Wyss  1!)07.  1«)  S.  4  Mk.  (Der  Verf.  der  oben  13,  110  besprochenen  trefflichen 
Teil- Ikonographie  gibt  eine  Übersicht  über  die  Ausgestaltung  der  Tellsage  und  die 
Geschichte  des  wissenschaftlichen  Streites,  indem  er  viele  Buchtitel  mit  einer  kurzen 
Charakteristik  versieht,  und  bringt  im  zweiten  Teile  eine  wertvolle  nachträgliche  Gabe 
zum  Schillerjubiläum). 

E.  Hoffmann  -  Krayer,  Schweiz,  Vcdkskunde.  (Seographisches  Lexikon  der 
Schweiz  5,  .3;!— 48.  1907  (behandelt  kurz,  aber  mit  Angabe  der  Literatur  die  Sitten, 
Bräuche,  Feste,  Spielo  sowie  die  Volksdichtung). 

R,  P.  Kaindl,  Völkorkunde.  Volkskunde  und  Völkerwissenscliaft.  Osterreichische 
Rundschau  4,  14:1 — l.'il). 

Gerb.  Kropatschek,  De  amuletorum  apud  antiquos  usu  capita  duo.  Greifswalder 
Diss.  1907.  72  S.  (Sammelt  übersichtlich  die  antiken  Stellen  über  Schutzmittel  gegen 
böse  Geister  und  Krankheiten  und  die  heilkräftigen  Pflanzen,  die  man  als  Amulete 
trug,  statt  sie  zu  verzehren.  Über  die  erhaltenen  antiken  .Amulete  will  der  Vf,  später 
handeln). 

Franz  Frhr.  v.  Lipperheide,  Spruchwörterbuch,  Lief.  9-20.  Berlin,  Expedition 
des  Spruchwörtorbuchs  19()i;.  S.  .385  ^  960.  Lief,  je  0,60  Mk.  (Heiraten -Wahrheit.  Die 
oben  1(),  365  angezeigte  sehr  beachtenswerte  Sammlung  sehreitet  rüstig  dem  Abschluss 
zu:  nur  noch  zwei  Lieferungen  stehen  aus.) 

E.  Rabben,  Die  Gaunersprache  (chochuui  loschen)  gesammelt  und  zusammengestellt 
aus  der  Praxis  für  die  Praxis.  Hamm  i.  \V.,  Breer  &  Thiemann  1906.  167  S.  (Ein  Polizei- 
beamter veröffentlicht  ein  in  der  Praxis  gesammeltes  Vokabular,  ohne  Kenntnis  der  von 
Kluge  verzeichneten  früheren  Ijiteratur  [oben  15,  467];  er  unterscheidet  die  süddeutsche, 
norddeutsclie  und  jüdische  Gaunersprache.) 

A.  SchuUerus,  Kalender  des  Siebenbürger'  Volksfreundes  für  1907.  Hermannstadt, 
J.  Drotleff.  176  S.  0..50  Kr.  (Darin  u.  a.  Lebensskizzen  von  Friedrich  Teutsoh  und 
0.  V.  Meltzl.  E.  Sigerus,  Sächsische  Leinenstickereien.  A.  SchuUerus,  Das  Brot  im 
Spiegel  unserer  Mimdart). 


246  l^otizcn.    Brumicr; 

K.  Spicss,  Das  Sprichwort  (Preuss.  Jalirbücher  12.'),  270—288.  IJorlin  190(jj.  — 
Volkskunde  und  Volksleben  (Grenzboten  1906,  3,  670-677). 

J  Leite  de  Vasconcellos,  Ensaios  ethnographicos,  vol.  H.  Lisboa,  Imprcnsa 
Lucas  1906.  VIII,  40S  S.  (l>ie  hier  sosammeltcn  Zcitschriftenartikcl  sind  teils  Anzeigen 
Vülkskundliohcr  Literatur  von  1S81  — !SJ,  teils  betreffen  sie  portugiesischen  .Aberglauben 
(1879  —  81'  umi  Festkalender  (.1.S80— 81);  ferner  liefert  der  Vf.  Nachträge  zu  seiner  ver- 
dienstlichen, oben  14,  ;j.')8  erwähnten  Bibliographie  der  portugiesischen  Volkskunde.) 

J.  Leite  de  Vasconcellos,  lieligiJes  da  Lusitania  na  parte  que  principalmcnte  sc 
refore  a  Portugal,  vol.  IL  Lisboa,  Imprensa  uacioual  190.').  XVIII,  373  S.  i.Dem  oben 
9.  34')  besprochenen  priihistorischen  Teile  folgt  die  ebenso  gründliche  und  gelehrte  Unter- 
suchung über  die  Religion  Portugals  in  protohistorischer  Zeit.  d.  h.  bis  zum  Erscheinen 
der  Kömer  auf  der  iberischen  Halbinsel.  Keben  den  vereinzelten  Notizen  antiker  Schrift- 
steller llicssen  hier  reichlicher  die  monumentalen  Quellen,  gesanimell  im  Berliner  Corpus 
inscriptionum  lat.  II,  vom  Vf.  aber  sorgfältig  nachgeprüft  und  in  guten  Abbildungen  und 
Karten  vorgeführt,  üa  erscheinen  die  Gottheiten  Endovellicus,  Ategina,  Matres,  Larcs, 
Nymphae,  Genius,  Navia,  Trebaruna,  Kunesocesius  u.  a.,  deren  Besprechung  der  Vf.  cin- 
li'itcnde  Kapitel  über  die  Geographie  und  Ethnologie  Portugals,  den  Kultus  der  Gestirne, 
Berge,  Wälder,  Küsten,  Flusse,  heiligen  Tiere,  auch  über  den  von  den  Phcinikiern  ein- 
geführten Heraklcs-Mclqart  voraufschickt.  Weitere  Ausfüliningon  über  Totenknlt,  Opfer, 
Standbilder  usw.  sollen  im  dritten  Bande  folgen.) 


Aus  deu 

Sitzuiiffs-Protokollen  des  Yereiiis  für  Yolkskiiudo. 


Freitag,  den  25.  Januar  1907.  Herr  Professor  Ludwig  berichtete  über 
Reste  volkstümlicher  iberliererungcn  und  Aberglaulien  bei  der  Pisciierbevölkerung 
in  Horst  an  der  Ostsee.  Kr  gab  auch  Beispiele  der  dortigen  Volksmedizin  durch 
Besprechung  und  Bestreichen.  Herr  Dr.  Ebermann  wies  darauf  hin,  wie  schwer 
es  sei,  alte  Segensprüche  in  Deutschland  chronologisch  zurückzuverfolgen,  während 
es  in  Frankreich  eine  bis  ins  Ui.  Jahrhundert  zurückzuführende  Tradition  gebe; 
auch  bei  den  llezeptbüchern  volkstümlichen  Charakters  sei  keine  Tradition  vor- 
handen. Herr  Prof.  Dr.  Schulze-Veltrup  wies  auf  'Albertus  Magnus'  als  Quelle 
für  Segensprüche  und  Rezepte  hin,  Herr  Prof.  Dr.  Roediger  auf  den  sogen. 
'Feurigen  Drachen",  ein  wohl  ironisch  gemeintes  Handbuch  für  Zauberkünste, 
Herr  Prof.  Dr.  Bolte  legte  das  oben  S.  91  abgebildete  Fangespiel  aus  ge- 
schnitzten Hölzchen  vor  und  besprach  das  in  einem  Berliner  Theater  aufgeführte 
Tiroler  Kripjjcnspicl  von  Greinz.  Herr  Maurer  führte  zu  dem  Hölzchonspicl  eine 
Parallele  aus  Südafrika  an.  Herr  Oberlehrer  Dr.  Fuchs  sprach  ausführlich  über 
die  Keule  im  Kasten,  die  bekannte  Sage  von  den  undankbaren  Kindern,  denen 
die  Eltern  ihr  Erbe  schon  bei  ihren  Lebzeiten  übergeben  haben.  Die  bekannteste 
Fassung  der  Sage  lehnt  sich  an  das  Wahrzeichen  von  Jüterbog,  die  Keule,  an; 
auch  in  anderen  norddeutschen  Orten  sind  Erinnerungen  an  solche  Wahrzeichen 
erhalten.  Der  Sagenstoff  ist  aber  nicht  nur  in  Deutschland,  sondern  auch  in  be- 
nachbarten und  ferneren  Ländern  bekannt,  so  in  Frankreich,  England,  Spanien  usw. 
Die  Variationen  beziehen  sich  besonders  auf  den  Behälter,  worin  der  Vater, 
nachdem    er    die  Undankbarkeit  seiner  Kinder  erkannt,    seine  angeblichen  Schätze 


Protokolle.  247 

bewahrt;  bisweilen  leiht  er  von  seinen  Kindern  einen  Scheffel,  in  dem  er  nachher 
einig-es  Geld  zurücklässt;  an  Stelle  der  Keule  erscheint  in  England  öfter  ein  Hammer. 
Das  Alter  dieser  Sage  wird  durch  das  Schachbuch  des  Jakobus  di  Cessolis 
d-'.  Jahrhundert)  bezeugt;  die  älteste  niederdeutsche  Fassung  des  Spruches:  ..Wer 
seinen  Kindern  gibt  das  Brot  usw.*^  in  drei  Reimen  des  16.  Jahrhunderts  stammt 
aus  Rostock.  Dass  Hammer  oder  Keule  eine  Erinnerung  an  die  alte  Sitte  dar- 
stelle, untaugliche  Greise  zu  erschlagen,  bestritt  der  V^ortragende  durchaus,  viel- 
mehr hielt  er  die  Keule  für  eine  spätere  und  überflussige  Zutat.  An  der  Diskussion 
beteiligten  sich  Herr  Bolte  und  Roediger.  In  den  Ausschuss  wurden  für  das 
Jahr  1907  gewählt:  Fräulein  El.  Lemke  und  die  Herren  Behrend,  Kriedel,  Götze, 
Hahn,  Heusler,  Lemke,  Ludwig,  Maurer,  Mielke,  Samter,  Schmidt.  Als  Schrift- 
führer für  Herrn  Oberlehrer  Dr.  Ebermann  ward  der  Unterzeichnete  kooptiert. 

Freitag,  den  22.  Februar  1907.  Der  Vorsitzende  machte  Mitteilung  vom 
Hinscheiden  des  Prof.  A.  Kirchhoff  in  Halle  und  legte  den  von  Herrn 
Mielke  erstatteten  Bericht  über  den  erfreulichen  Fortgang  der  'Landeskunde 
der  Provinz  Brandenburg'  vor.  Den  Vortrag  des  Abends  hielt  Herr  Postdirektor 
Esslinger  aus  Leer  in  Ostfriesland  über  ostfriesländisches  Kunstgewerbe  unter 
Vorlegung  vieler  ausgezeichneter  Stücke  aus  seinen  reichen  Sammlungen.  In 
vielen  Beziehungen  zeigt  das  ostfriesländische  Kunstgewerbe  Verwandtschaft  mit 
Westfriesland.  Da  die  Ostfriesen  von  alters  her  Seefahrer  sind,  so  kann  man 
unter  den  Erzeugnissen  des  alten  Kunstgewerbes  vielfach  Erinnerungen  an  aus- 
ländische Natur-  und  Kunstgebilde  bemerken  In  der  Marsch  sind  durch  den 
Reichtum,  den  daraus  folgenden  Luxus  und  die  Neuerungssucht  die  alten  Über- 
lieferungen sehr  verblasst,  während  die  Geestbewohner  noch  manchen  alten  Hausrat 
sich  bewahrt  haben.  Zugleich  mit  dem  allgemeinen  Rückgänge  des  Handwerks 
im  19.  Jahrhundert  hat  auch  das  ostfriesische  Kunstgewerbe  viel  von  der  alten 
Frische  und  Kraft  eingebüsst.  Das  alte  Geschlecht  der  Kunsthandwerker,  die  nach 
Jahrhunderte  alten  Vorlagen  in  Musterbüchern  arbeiteten,  ist  jetzt  ausgestorben. 
Ihre  Erzeugnisse  zeichneten  sich  durch  grosse  Stilreinheit  und  Wahrhaftigkeit  in 
der  Verwendung  des  Materials  aus,  Grundsätze,  auf  welche  das  moderne  Kunst- 
gewerbe zurückgegriffen  hat.  Auf  der  dritten  deutschen  Kunstgewerbe-Ausstellung 
in  Dresden  1906,  wo  Herr  Esslinger  grosse  Teile  seiner  Sammlungen  vorgeführt 
hatte,  wurden  diese  charakteristischen  Vorzüge  allgemein  anerkannt.  Die  Trachten 
der  Ostfriesen  wurden  durch  zwei  Anzüge  beider  Geschlechter  und  mehrere 
Frauenhüte  veranschaulicht.  Die  Prauentracht  erinnert  an  die  holländische  der 
Insel  Marken.  Eine  grosse  Sammlung  von  Modellen  für  Schuhschnallen  bewies, 
mit  welcher  Gründlichkeit  der  Redner  das  Gebiet  des  ostfriesischen  Kunstgewerbes 
durchforscht  hat.  In  früherer  Zeit  war  die  Leinenweberei  in  Lehe  sehr  bedeutend 
und  ihre  Erzeugnisse  wurden  weithin  ausgeführt.  Die  Regierung  Friedrichs  des 
Grossen  liess  sich  auch  hier  die  Seidenraupenzucht  angelegen  sein.  Unter  den 
Korbwaren  befand  sich  ein  originelles  stuhlförmiges  Gerät  zum  Anwärmen  und 
Trocknen  der  Kinderwäsche.  Hochentwickelt  war  die  Holzschnitzerei  der  oft  blau, 
rot  und  grün  bemalten  Möbel  und  der  Lehnen  der  zweiräderigen  Wagen,  die  aber 
nur  im  Sommer  benutzt  werden  konnten.  Mit  Kerbschnitzerei  verziert  waren  die 
sog.  Schultafeln,  kleine  Holzkästen  mit  Deckel  und  Handgriff,  die  gleich  unseren 
Schulmappen  zur  Aufnahme  der  Schulbücher  dienten  und  vom  Dorfmaler 
schön  geschmückt  waren.  Die  Sitte  der  Geschenkfenster  wurde  durch  einige  be- 
malte Scheiben  veranschaulicht,  wie  sie  bei  föstlichen  Gelegenheiten  (Fenster- 
bieren)  die  Bauern  einander  schenkten.  Die  Zinn-  und  Gelbgiesser  schmückten 
Küche  und  Stube    mit    getriebenen  Tellern    mit  biblischen  Darstellungen  und   mit 


248  Brunuer.   Protokolle. 

den  janjcffestielten  Hcttplaniien,  die  man  an  die  Wände  hängte,  nachdem  abends 
die  Hausfrau  damit  alle  Betten  durchwärmt  hatte.  Eiserne  Schmiedearbeiten  von 
^•rosser  Schönheit  stellten  den  alten  ostl'riesischen  Grob-  und  Kleinschmieden  ein 
ehrenvolles  Zeugnis  aus:  leinziselierie  Wurströsten,  Huthalter  in  der  Art  der  Vier- 
länder, Kessel-  und  Lampenhaken,  Zungen  zum  Baelven  der  Neujahrskuchen. 
Wetterfahnen,  Fischereeräte  und  der  den  Marschbauern  eigentümliche  zweigespitzte 
'Patstock',  der  als  Waffe  und  als  Springstock  diente.  Hervorragendes  leisteten 
die  Goldarbeiter  in  der  Herstellung  feiner  und  eigenartiger  Schmucksachen.  Ihre 
Piiigrantechnik,  die  sie  wohl  von  Holländern  überkamen,  zeichnet  sich  durch  grosse 
Feinheit  und  schwungvolle  Linienführung  aus.  Seine  grossen  Sammlungen  wünscht 
der  Redner  in  einem  neu  zu  begründenden  öll'untlichen  ostfriesischen  Museum  zu 
voreinigen,  wofür  er  seine  derzeitigen  Landsleute  zu  gewinnen  sucht. 

Freitag,  den  22.  iMiirz  1907.  Der  Unterzeichnete  legte  Fhotographien  von 
Kacheln  eines  Winterthurer  Kayence-Ofens  von  lüny  aus  der  Sammlung  für  deutsche 
Volkskunde  vor.  Das  Mittel,>;child  enthält  die  Namen  der  Besteller  und  das  Mono- 
gramm des  Uafnermeisters  Hans  Heinrich  Graf.  Die  Kacheln  sind  mit  Dar- 
stellungen der  zehn  Lebensalterstufen  des  Mannes  von  10  bis  zu  100  Jahren  in 
farbiger  Malerei  versehen.  Symbolische  Tiere  und  Pilanzen  fehlen  bei  diesen  Dar- 
stellungen, dagegen  ist  ihnen  ein  Spruch  beigefügt,  der  dem  von  A.  Eiiglert  oben  17, 
32  unten  zitierten  entspricht.  Ferner  legt  derselbe  eine  Reihe  von  Neuerwerbungen 
vor,  welche  sich  auf  die  Geschichte  der  Volkstracht  im  Fürstentum  Schaumburg- 
Lippe  beziehen.  An  den  Beispielen  der  in  Bückeburg,  Lindhorst  und  Frille  zur- 
zeit üblichen  Frauenhaube  wurden  drei  Trachtengruppen  in  Schaum  bürg -Lippe 
besprochen,  welche  vor  etwa  äO  Jahren  weit  weniger  unterschieden  waren  als 
heute,  wie  an  der  Hand  älterer  Abbildungen  gezeigt  wurde.  Herr  Prof.  Bolte 
machte  auf  Darstellungen  der  Altersstufen  an  Fayence-Üfen  im  Germ.  Mus  in 
Nürnberg  aufmerksam.  Herr  Dr.  P.   Bartels  machte  interessante  Mitteilungen 

über  Volksglauben,  Volkslieder  und  Sagen  der  Weissrussen.  —  Herr  Dr.  jur. 
A.  HcUwig  sprach  dann  über  Vei brechen  und  Aberglauben.  Er  zeigte  an  zahl- 
reichen gerichtsbekannten  Beispielen,  wie  noch  heute  der  Glaube  an  Hexerei, 
Wahrsagerei,  biisen  Blick,  an  die  Zauberkraft  von  Amuletten,  Wünschelruten  u.  dgl. 
in  Stadt  und  Land  nicht  ausgestorben  sei.  Da  der  Aberglaube  oft  zu  Verbrechen, 
ja  zu  Mord  führt,  ist  seine  Kenntnis  auch  für  Juristen  von  der  grössten  Bedeutung. 
Denn  häufig  ist  es  müglieli  aus  den  Spuren,  welche  der  Verbrecher  in  aber- 
gläubischem Wahn  am  Tatorte  hinterliess,  den  Täter  zu  ermitteln.  Vielfach  wird 
man  auch  bei  Vergehen  wie  Baurabeschädigungen  aus  der  Kenntnis  der  sym- 
pathetischen Kuren  mildernde  Umstände  für  den  Frevler  ableiten  dürfen.  Bei 
schweren  Verfehlungen  dürfte  allerdings  abergläubische  Gesinnung  des  Verbrechers 
nicht  immer  als  Unzurechnungsfähigkeit  gelten.  Der  Kampf  gegen  den  Aberglauben 
ist  zwar  schwer-  zu  führen,  weil  die  Betrogenen  sich  meist  schämen,  ihre  Torheil 
einzugestehen,  aber  er  ist  eine  Kulluraulgnbe  ersten  Ranges,  die  nicht  den  einzelnen 
deutschen  Staaten  überlassen  werden  darf,  sondern  vom  Reiche  aus  organisiert 
werden  muss.  In  der  folgenden  Oiskussion  vermisste  Herr  Dr.  Fiebelkorn  eine 
wissenschaftlich  genügende  Iiefinition  des  Begriffes  Aberglauben,  da  z.  B.  der 
Glaube  an  die  Wünschelrute  als  Aberglaul)e  angesehen  würde,  während  nach  seiner 
Meinung  die  Frage  nach  ihrer  Wirksamkeit  oder  Unwirksamkeit  noch  nicht  ent- 
schieden sei.  Herr  Prof.  Roediger  wies  darauf  hin,  dass  für  gerichtliche  Ver- 
folgung des  -Vberglaubens  wohl  nur  der  etwa  angerichtete  Schaden  und  die 
daraus  folgende  Entsehädigungspilicht  in  Frage  kommen  dürfte. 

Steglitz.  K.    Brunner. 


Drei  spätmittelalterliche  Legenden  in  ihrer  Wanderung 
aus  Italien  durch  die  Schweiz  nach  Deutschland. 

Von  Heinrich  Dübi. 

(Vgl.  S.  42—65.     143—160.) 


3.  Frau  Vrene  und  der  Tannbäuser. ') 

Man  nimmt  gewöhnlich  an,  dass  die  durch  Wagners  Oper  so  bekannt 
gewordene  Legende  von  dem  Ritter,  der  im  Yenusberge  gewesen  war 
und  dafür  vom  Papste  verflucht  wurde,  wie  sie  an  einen  deutschen  Namen 
anknüpft,  so  auch  deutschen  Ursprunges  und  an  irgend  einem  Berg  in 
deutschen  Landen  einheimisch  sei.  Der  Hörselberg  in  Thüringen  freilich 
ist  erst  im  19.  Jahrhundert  der  Ehre  gewürdigt  worden,  der  Schauplatz 
auch  dieses  legendären  Ereignisses  zu  sein,  wie  er  schon  vorher  andere 
Helden  der  Volkssage  beherbergt  hatte.  Aber  weder  der  Stoff  noch  das 
Lokal  der  Taunhäusersage  sind,  wie  Gaston  Paris  in  seinen  'Legendes 
du  moyen  äge'  (2e  edition,  Paris  1904)  S.  116f.  nachgewiesen  hat,  ur- 
sprünglich germanisch;  deutliche  Spuren  weisen  darauf  hin,  dass  der 
erstere  ursprünglich  keltisch  ist.  In  der  Form  aber,  wie  und  nach  dem 
Orte,  wo  sie  zuerst  literarisch  verarbeitet  erscheint,  gehört  die  Taun- 
häusersage in  den  Kreis  der  Legenden,  welche  sich  in  Italien  an  den 
Kamen  der  Sibylle  anknüpfen.  Aus  Italien  ist  die  Legende  durch  Ver- 
mittlung der  Schweiz  nach  Deutschland  gelangt.  Diesen  schon  von  Gaston 
Paris  S.  135  vermuteten  Weg  der  Sage  zu  beweisen,  ist  der  Zweck  der 
nachfolgenden  Erörterungen. 

Der  Minnesinger  'Herr  Tannhäuser' oder  'der  Tanhüsajre',  über 
dessen  Lebensschicksale  (1205 — 1270)  wir  nur  sehr  ungenügend  unter- 
richtet sind  (dass    er    aus    einem    salzburgischen  Adelsgeschlecht  stamme, 


1)  Vgl.  Erich  Sclimidt,  Tannhäuser  in  Sage  und  Dichtung  (Nord  und  Süd  1892, 
Nov.  =  Charakteristiken,  2.  Reihe  1901  S.  24—50).  A.  Soederhjelm,  Antoine  de  la  Säle 
et  la  legende  du  Tannhäuser,  in  Memoires  de  la  societti  ueo-philologique  ä  Helsing- 
fors  2,  107  ff  (1897);  Gaston  Paris,  Legendes  du  moyen  äge  1900  p.  17—109:  'Le 
paradis  de  la  reine  Sibylle'  (1807)  und  p.  113 — 145:     'La  legende   du  Tannhäuser'  (1898). 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.     1907.  17 


250  l'übi: 

ist  unsiclier:  spätere  Tradition  machte  ihn  zu  einem  fränkischen  oder 
schwäbischen  Ritter),  nennt  in  seinen  sinnenfrolien,  in  der  Art  Neidharts 
von  Reuenthal  gedichteten  Liedern  weder  Frau  Venus  noch  den  Minneberg. 
In  dem  gegen  Ende  des  13.  Jalirhunderts  entstandenen  'Wartburg- 
krieg''), einem  poetisch  fast  wertlosen  Produkt  des  ausgehenden  Miune- 
singertums,  ist  die  Rede  von  Felicia,  der  Tochter  der  Sibylle,  die  mit 
Juno  und  Artus  in  einem  hohlen  Berge  lebt.  Woher  der  Verfasser, 
wahrscheinlicli  ein  Mainzer  Meister,  die  seltsame  Notiz  hat,  ist  nicht  be- 
kannt. Sie  mag  aus  der  Volkssage  stammen,  ist  aber  in  diese  importiert, 
wie  auch  der  bretouische  König  Artus.  Ich  darf  wohl  schon  hier  darauf 
aufmerksam  machen,  dass,  nachdem  1838  der  aus  dem  'Wartburgkrieg' 
stammende,  aber  durch  die  Novelle  von  E.  T.  A.  Ilotfmann  unigenioilelte 
Heinrich  von  Ofterdingen  für  identisch  mit  dem  Tannhäuser  des  Volksliedes 
erklärt  war,  R.  Wagner  es  war,  der  diese  neue  Figur  mit  dem  Kreise 
der  Wartburg  einerseits,  des  Hörselbergs  anderseits  in  Verbindung  setzte. 
Der  im  Wartburgkrieg  noch  unbekannte  Berg  und  ilie  Grotte  der 
Sibylle-Venus  wird  1391  in  Italien  benannt,  lokalisiert  und  genau  be- 
schrieben. Es  geschielit  dies  in  dem  5.  Buch  des  Prosaromaus  'Guerino 
il  Moschino'  von  Andrea  dei  Magnabotti.")  Der  Verfasser  mag  die 
in  altfranzösischen  Fableaux  vorkommenden  Schilderungen  des  Liebes- 
gai-tens  gekannt  haben,  ist  aber  doch  im  wesentlichen  von  der  an  Ort 
und  Stelle  vorhandenen  Tradition  abhängig,  die  er  offenbar  selbst  er- 
kundet hat.  Sein  Held  ist,  wie  Telemach,  auf  der  Suche  nacli  seinem  Vater 
und  begehrt  Auskunft  über  ihn  von  der  Sibylle,  die,  wie  man  iiun  sagt,  nicht 
mehr  bei  Cumä,  sondern  im  Apennin  bei  Norcia  haust.  Die  Bewohner 
von  Norcia  wollen  ihn  von  seinem  Vorhaben  abwendig  machen,  indem  sie 
ilim  erzäiilen,  dass  nach  einer  Schrift  Messire  Lionel  de  France  vergeblich 
versucht  habe  in  die  Grotte  einzudringen,  indem  er  durch  einen  schreck- 
lichen Wind  zurückgetrieben  worden  sei.  Auch  ein  anderer  Mann  habe 
es  versucht,  sei  aber  nie  wiedergekommen.  Guerino  bleibt  bei  seinem 
Vorhaben,  gelangt  über  Schloss  Castelluccio  zu  frommen  Eremiten,  die  ihn 
mit  ihrem  Rate  stärken,  ersteigt  schreckliche  Felsen  über  gähnenden  Ab- 
gründen und  kommt  schliesslich  zu  einer  Höhle  mit  vier  Eingängen.  Er 
verfolgt,  eine  Kerze  in  der  Hand,  einen  unterirdischen  Gang  bis  zu  einer 
metallenen  Türe,  auf  deren  Flügeln  lebenswahr  gemalte  Dämonen  die 
Inschrift  tragen:  'Wer  zu  dieser  Pforte  eingeht  und  innerhalb  eines  Jahres 
nicht  wieder  herauskommt,  muss  darinnen  bleiben  bis  zum  jüngsten  Tage 
und  ist  dann  verdammt".  Guerino  klopft  an  und  findet  lunlass.  Der 
Aufenthalt  bei  der  Sibylle  und  ihren  Frauen  wird  als  ein  paradiesischer 
geschildert.     Aber  Palast,  Reichtümer  und  Garten  beruhen    auf  Zauberei. 


1)  Der   Wartburgkrieg,  herausgegeben   von  K.   Simrock   (Stuttgart   und   Augsburg 
1858)  S.  111.    Über  Felicia  und  den  Freudenberg  s.  unten  S.  203'. 

2)  Vgl.  Gaston  Paris  p.  88—111. 


Drei  spiitmittelalterliche  Legenden.  251 

Jedeu  Samstag  verwandelu  sich  die  Bewohner  iu  Schlangen  und  Skorpionen 
und  bleiben  in  dieser  Yerwandlung  bis  Montag  zu  der  Stunde,  wo  der 
Papst  seine  Messe  beendigt  hat.  Die  Sibylle  sucht  Guerino  zur  Liebe  zu 
verführen,  er  widersteht  ihr,  aber  es  gelingt  ihm  auch  nicht,  ihr  ihre 
Geheimnisse  zu  entlocken.  Am  letzten  Tage  des  Jahres  verlässt  er  sie 
und  kehrt  au  die  Oberwelt  zurück.  Über  die  Eremitenklause  und  Norcia 
begibt  er  sich  nach  Rom,  wo  ihm  der  Papst  in  Ansehung  seiner  löblichen 
Absicht  und  seines  tugendhaften  Benehmens  die  Absolution  erteilt. 

Guerino  ist  eine  Romanfigur;  Andrea  dei  Magnabotti  ist  vielleicht 
nie  auf  dem  Monte  della  Sibilla,  wie  der  Bergzug,  man  weiss  nicht  seit 
welcher  Zeit,  heute  noch  heisst,  gewesen,  und  die  'Schrift',  welche  von 
Messire  Lionels  Besucli  in  der  («rotte  handelte,  hat  nie  jemand  gesehen. 
Aber  aus  dem  15.  Jahrhundert  sind  eine  Reihe  von  Besuchern  mit  und 
ohne  Namen  bekannt.  Man  wird  sich  erinnern,  dass  wir  dies  auch 
(oben  S.  57  f.)  für  den  dem  Sibyllenberg  benachbarten  Pilatussee  nach- 
gewiesen haben,  und  es  sind  grösstenteils  die  nämlichen  Autoritäten,  die 
wir  für  beide  profane  Wallfahrtsziele  zu  zitieren  haben. 

Ich  beginne  mit  dem  Züricher  Chorherrn  Felix  Hemmerlin  oder 
Malleolus'),  weil  sein  Zeugnis  das  älteste  ist  und  er  am  deutlichsten  den 
Zusammenhang  beider  Sagen  zu  ahnen  scheint.  In  der  Tat  verweist  er  am  Ende 
von  cap.2l:i,in  welchemerdenPilatussee  undseine  dämonischenErscheinungen 
schildert,  auf  das,  was  er  in  cap."26  seines  Dialogs  zwischen  deniEdelmann  und 
dem  Bauern  über  die  ähnlichen  Erscheinungen  am  Venusberg  berichtet  habe. 
Dieser  in  ziemlich  barbarischem  Latein  abgefasste  Bericht  lautet  in  Kürze 
folgendermassen :  Nahe  bei  der  Stadt  Norcia  und  dem  Kastell  'Montifortino' 
liegt  der  Sibyllenberg,  wo  durch  das  Hinschweifen  der  Menschen  über 
diese  Berge,  ähnlich  wie  dies  bei  Luzeru  geschieht,  Stürme  und  Hagel- 
wetter entstehen,  die  für  die  umliegenden  Orte  sehr  lästig  sind.  Wie 
Hemmerliu  deutlich  gesehen  und  von  Ortskundigen  erfahren  hat,  sind 
diese  Berge  voll  von  Höhlen  und  Grotten,  die  bis  ins  Innere  des  Berges 
reichen,  und  unpassierbaren  Gängen.  Der  Berg  heisst  gemeiniglich 
Venusberg,  weil  Venus,  die  Gattin  des  Vulcan,  hier  ihr  vom  Feuer 
unzertrennliches  Wesen  treibt.  In  diesen  Grotten  sind  dämonische  Wesen, 
Incubi  und  Succubi,  in  der  Gestalt  schöner  Weiber,  die  von  irgendwoher 
gekommene  Männer  betören.  Zur  Zeit,  wo  der  Papst  Johann  XXIII. 
mit  der  Kurie  in  Bologna  verweilte,  hat  Hemmerlin  einen  'einfalten' 
(simplicianus)  Mann  aus  Schwyz  gesehen,  der  bekannte,  dass  er  in  diesen 
Bergen  bei  den  unsauberen  Geistern  ein  Jahr  iu  Wollust  zugebracht  habe. 
Wegen  seiner  aufriclitigen  Reue  und  mit  Worten  und  Geberden  bezeugten 
Zerknirschung  über  die  mit  Verläugnung  der    gebeuedeiten  Jungfrau  und 


1)  Vgl.  oben  S.  55-  und  Felix   Hemmerlin,    Ue  nobilitate    et    rusticitate  dialogus 
(Basel  1497)  cap.  i'G,  S.  XCIIII. 

17* 


252  t)iibi: 

aller  Heiligen  und  V'erziclit  auf  die  Gnade  Gottes  verknüpften  Sünde 
wurde  ihm  auf  Veranlassung  Hemmerlins  durch  einen  päpstlichen  Beichtiger 
in  der  Kirche  des  h.  Petronius  zu  Bologna  die  Absolution  zuteil.  Auf 
Befragen  berichtete  er  ausführlicii,  wie  er  mit  zwei  Gefäiirten  aus 
Deutschland  (Alemania)  in  die  Grotten  eingedrungen  sei.  Sie  fanden 
darin  einen  reizenden,  ebenen  Platz.  Er  glich  einem  von  dem  Kreuzgang 
umschlossenen  grossen  Klostcrgarten,  mit  zwölf  Türen  im  Hintergrunde, 
durch  welche  man  nach  freier  Wahl  zu  zwölf  nach  den  Monaten  klimatisch 
wechselnden  Gärten  gelangte.  Und  obwohl  der  'Simplicianus'  im  Jlärz 
in  den  Berg  gedrungen  war,  fand  er  l)eim  Offnen  der  Türe  einen  mit 
allen  Früchten  des  Septembers  gezierten  Obstgarten.  Ebenso  frei  und 
wechselnd  ist  der  'tröstliche"  Verkehr  mit  den  schönen  Frauen  und  der 
Genuss  eines  mit  allen  Reizen  jugendlicher  und  weltlicher  Lustbarkeit 
geschmückten  Lebens.  Aber  ein  wohlmeinender  Greis  warnt  beim  Eintritt 
den  Schwyzer  und  seine  Gefährten,  nicht  über  ein  Jahr  zu  verweilen, 
sonst  müssten  sie  immer  in  dem  Berge  bleiben.  Er  wiederholt  die 
Warnung  nach  einem  Jahre,  das  den  Erschrockenen  wie  ein  Monat  ver- 
flossen ist.  Während  seine  Gefährten,  durch  die  wundei'baren  Erzählungen 
der  Frauen  verführt,  bleiben,  entrinnt  der  Schwyzer  einzig.  Er  hat  auch 
drinnen  verschiedene  zu  ewigem  Bleiben  verdammte  Personen  aus  ver- 
schiedenen Ländern,  namentlich  aus  England,  gesehen,  unter  anderen 
einen  alten  (antiquum)  Mann  und  seinen  Sohn,  die  an  der  allgemeinen 
Freude  keinen  Anteil  nahmen. 

Diese  bisher  fast  unbeachtete  Erzählung,  welche  auf  die  Jahre 
1410 — 18  zurückgeht,  scheint  mir  auf  das  allerdeutlichste  zu  beweisen, 
dass  die  Sage  von  Tannhäuser  im  N'enusbei'g  mit  vielen  später  bekannten 
Einzellieiten,  den  getreuen  Eckart  eingeschlossen,  um  die  Wende  des 
14.  Jalirhunderts  in  Italien  ausgebildet  war  und  von  dort  durch  Vermittlung 
der  Schweiz  nach  Deutschland  gelangte.  Hemmerlins  Pamphlet  war 
handscliriftlicli  schon  1456,  vielleicht  früher,  verbreitet  (begonnen  ist  es 
1440),  ist  aber  erst  durch  einen  Basler  Wiegendruck  von  14!I7  allgemein 
bekannt  geworden. 

Der  prophetische  Charakter  der  Sibylle,  der  noch  im  Guerino  hervor- 
ti'itt,  ist  in  dieser  Erzählung  fast  ganz  vorwischt.  Die  Scliildorung  des 
ü])pigen  Lebens  in  der  Venusgrotte  ist  in  für  einen  (ieistlichen  recht  leb- 
haften Farben  gehalten;  die  Vergebung  erfolgt  wie  im  Guerino,  nur  dass 
der  Papst  durch  einen  Stellvertreter  ersetzt  wird.  Viel  deutlicher  und 
dem  Tannhäuserlied  sich  nähernd  ist  die  KoUe  des  Papstes  in  der  Er- 
zählung des  Antoine  de  la  Salc.')  Wie  wir  oben  S.  58  berichtet  haben, 
wurde  die  'Salade',  in  welcher  auch  der  Abschnitt  über  das  Paradies 
der  Königin  Sibylle    zu    den  'guten   und  schmackhaften  Kräutern'  gehört, 


1)  Vgl.  oben  S.  58'  und  Soederlijelm  S.  111  ff. 


Drei  spätmittelalterliche  Legenden.  253 

zwischen  1438  und  1442  uieclergeschrieben.  Gedruckt  ist  die  'Salade'  aber 
erst  im  16.  Jahrhundert,  zuerst  ohne  Datum,  dann  1527  zu  Paris.  Beide 
Ausgaben  sind  sehr  selten;  allgemein  zugänglich  sind  aber  nun  die 
Auszüge,  welche  Professor  Sopderjhelm  seinem  vorzüglichen  Artikel: 
'Antoine  de  la  Säle  et  la  legende  de  Tannhäuser'  in  den  Memoires  de  la 
socit'te  neo-philologi(iue  iiHelsingfors,tome2  p.  107  ff., nach  einem  Manuslcript 
der  Bibliotheque  royale  in  Brüssel  aus  dem  15.  Jahrhundert  beigegeben 
hat.  Antoine  de  la  Säle  hat  seinem  Reisebericht,  der  vom  Mai  1420 
datiert  ist,  eine  Karte  beigefügt,  die  für  jene  Zeit  reclit  gut  ist  und 
beweist,  dass  ihr  Verfasser  die  Gegend  des  Pihitussees  wie  der  Sibyllen- 
grotte aus  Autopsie  kennt.  Wir  müssen  es  uns  hier  versagen,  die 
to]iographischeu  Einzelheiten  der  Reise,  die  für  die  Geschichte  des  Berg- 
steigens und  des  'hmdschaftlichen  Auges'  Bedeutung  haben,  zu  wieder- 
holen, und  beschränken  uns  auf  das,  was  de  la  Säle  von  der  Grotte  selbst 
und  der  Sage  zu  erzählen  weiss. 

In  Begleitung  eines  Doktors  aus  der  Gegend,  Messire  Jehan  de  Sore,  und 
einiger  Leute  aus  dem  Städtchen  Monte  Monaco,  die  als  Führer  dienen,  gelangt 
er  von  der  Felsterrasse  des  Gipfels,  in  welchem  die  Grotte  liegt,  durch 
einen  trichterförmigen,  schmalen  und  niedrigen  Einschlupf  in  eine  10  bis 
12  Fuss  im  Geviert  messende  und  ebenso  hohe  Höhle,  die  durch  ein  Loch 
in  der  Decke  ein  spärliches  Licht  empfängt  und  mit  in  den  Seitenwänden 
eingehauenen  Sitzen  versehen  ist.  Von  hier  aus  gehört,  klang  das  Wiehern 
der  am  Fuss  der  Felskuppe  auf  einer  schönen  Wiese  zurückgelassenen 
Pferde  wie  das  Geschrei  eines  weit  entfernten  Pfaus.  Dass  es  Stimmen 
aus  dem  „Paradies  der  Sibylle"  (wörtlich  so)  seien,  wie  seine  Begleiter 
meinten,  will  der  skeptische  Franzose  nicht  glauben.  Auch  weist  er  es 
ausdrücklich  von  sich,  dass  er  in  die  Geheimnisse  der  Grotte  weiter  als 
bis  zu  der  ersten  Kammer  eingedrungen  sei  oder  habe  eindringen  wollen. 
Eine  Möglichkeit,  durch  einen  Ausgang  der  Ecke  der  Kammer  weiter  vor- 
zudringen, kennt  er,  hat  sie  aber  für  seine  Person  nicht  benutzt,  weil  er 
da  nichts  zu  suchen  hatte  und  die  Sache  ihm  gefährlich  schien.  Dagegen 
hat  er  gehört,  dass  fünf  junge  Wagehälse  aus  Monte  Monaco,  versehen 
mit  Lebensmitteln,  Laternen  und  Stricken  dies  versucht  hätten;  zwei  von 
ihnen  liat  Antoine  selbst  gesprochen.  Nach  ihren  Berichten  erweiterte 
sich  das  Loch  nach  Armbrustschussweite  so,  dass  man  darin  aufrecht 
stehen  und  2 — 3  Mann  nebeneinander  gehen  konnten.  Nachdem  sie  so 
etwa  3000  (Fuss  oder  Schritte?)  hinabgestiegen  waren,  stiessen  sie  auf  eine 
Erdspalte,  der  ein  so  starker  Wind  entströmte,  dass  sie  ihr  Vorhaben  auf- 
geben mussten.  An  diesen  kärglichen,  aber  nüchternen  Bericht  schliesst 
de  la  Säle  nun  die  Erzählungen  an,  welche  die  Leute  von  Monte  Monaco 
ihm  überlieferten.  Ein  Priester  des  Ortes,  Messire  Antoine  Fume,  wollte 
weiter  gegangen  sein.  Die  Windspalte  erwies  sich  als  kurz  und  ungefähr- 
lich, desgleichen  eine  lange,  anscheinend  nur  fussbreite  Brücke,  unter  der 


254  Düb': 

ein  Giessbacli  brauste.      Auf   breitem  Wc>>e,    au    zwei  künstlichen  feuer- 
speienden Drachen  vorbei  kommt  iiuin    auf  ein  viereckiges  Plätzehen  vor 
eine  metallene  Tür,    deren  Flügel   uuaufliörlich    zusammenschlagen.     Don 
Antonio  Fumato    ging    nicht    weiter.     Zwei  Deutsche,    die    er  bis  vor  die 
eherne  Türe  geführt  iiatte,  wagten  es,  kehrten  aber  nicht  wieder  zu  dem 
ihrer  harrenden  Priester    zurück.      Wenn    schon    der  Umstand,    dass  Don 
Antonio  Fumato  als   nicht  ganz    gesund  im  Kopfe  galt,  Zweifel  an  seiner 
(ilaubwürdigkeit  erregte,  so  findet  de  la  Salo  die  Gescliichten  von  anderen, 
die    durch    die    metallene    Pforte    eingedrungen    sein    sollten,    schwer    zu 
glauben,  obschon  er  sie  mit  wenigen  Einzelheiten  auch  in  anderen  Ländern 
gehört  hat.     Folgendes  haben  ihm  die  Leute  in  der  Gegend  erzählt:    Ein 
deutscher  Kittor  (die  Deutschen    sind  auf  solche  Abenteuer  besonders  er- 
picht)   drang    einst    mit   seinem    Knappen    ein    und    gelangte    durcli    das 
metallene  Tor  vor  ein  kristallenes.     Auf  ihre  Anmeldung  werden  sie  ein- 
gelassen,   reich    bekleidet    und    unter    dem  Klang    von  Instrumenten    und 
Gesängen  durch  prächtige  Hallen  und  Gärten  voll  von  Rittern  und  Damen 
vor  die  Königin  geführt,  welche  sie  in  ihrer  Muttersprache  anredet.   Denn 
alle    Bewohner    des    Berges    sprechen    nach    330    Tagen    Aufenthalt  jede 
Sprache  der  Welt;    nach    9  Tagen    verstehen    sie  wenigstens   jede.      Die 
Königin  erklärt  ihnen    nun  die  Geheimnisse    des  Lebens  im  Berge.     Man 
darf  9  oder  30  oder  330  Tage    lang    bleiben.     Wer    den    letzten    Termin 
verstreichen    lässt,    muss    ewig    im  Berge    bleiben,      lütter    und    Knappe 
müssen  jeder  eine  Gefährtin  wählen,    was  namentlicli  dem  Knappen  sehr 
behagt.     Aber  auch  dem  liitter  gefällt  das    paradiesische  Leben,  bei  dem 
ein  Tag    nur    eine  Stunde    scheint,    zunächst    ganz  gut.     Zwei  Dinge  nur 
beunruhigen  ihn.     Die  Königin  will    nicht  mit  der  Sprache  herausrücken, 
was  aus  ihr  und  ihrem  Hofstaat  am  Ende    aller  Diuge  werden  wird,    und 
jeden  Freitag  um  Mitternacht  werden  sie  und  ihre  Frauen  zu  Ottern  und 
Schlangen  und  bleiben  so  24  Stunden  lang.      Iv'achher  kehren  sie  freilich 
um    so    schöner    zu    ihren  Kavalieren    zurück.      An    diesem  Zeichen  und 
einem  Winke  Gottes  (durch  Traum?)  erkennt  der  deutsche  Herr  die  Ge- 
fahr und  entzieht  sich    ilir  am    letzten   erlaubten  Tage.     Sie  nehm(>n  Al.- 
schied  von  der  Königin  und  ihren  Gefährtinnen,  die  darüber  sehr  betrübt 
sind.    Die  des  Ritters  ül)ergibt  iiim  einen  Talisman  in  Form  eines  goldenen 
Ringes.     Sie  erhalten  ihre  früliereu  Kleider  wieder    und  finden  mit  Hilfe 
von  zwei  Kerzen,  die  nachher  von    selbst  auf  immer  erlöschen,  den  Weg 
zur  Oberwelt    zurück.      Der  Ritter    eilt    nach  Rom,    um  seine  Sünde  ab- 
zubüssen,  aber  kein  Beichtiger  will  ilin  absolvieren,  er  wird  an  den  Papst 
gewiesen.     „Nach  den  einen  wäre  dies  Innocenz  VI.  vom  Jaiire  13.')2,  nach 
den    andern    Urban  V.    vom  Jahre    1362    oder  VH.    vom    Jahre  1377  ge- 
wesen."    Der  Papst    ist  erfreut    über    die  Reue    des  Sünders,    verweigert 
aber,  um  ilni  noch  mürber  zu  machen,    die  Absolution    und  jagt  ilm  fort. 
Ein  Kardinal  legt  sich  ins  Mittel,  aber  unterdessen  weiss  der  Knap])e,  der 


Drei  spätmittelalterliche  Legendeu.  255 

sich  nach  den  Freuden  des  Venusberges  zurücksehnt,  seinen  Herrn  durcli 
das  Vorgeben,  sie  seien  mit  einem  Ketzerprozess  bedroiit,  zur  Rückkelir 
in  den  Berg  zu  überreden.  Als  der  Papst  die  Flucht  aus  Rom  vernimmt, 
bereut  er  seine  Härte  und  schickt  Boten  mit  der  Absolution  aus.  Aber 
diese  finden  nur  die  Hirten,  welchen  der  Ritter  weinend  seinen  Entschluss, 
in  den  Berg  zurückzukehren,  und  den  Grund  dafür  mitgeteilt  hat,  und 
bringen  dem  Papst  den  für  den  Stadthauptmanu  von  Monte  Monaco  zu- 
rückgelassenen Brief,  der  in  Kürze  lautet:  „Allen  denjenigen,  welche 
Nacliricht  wissen  wollen  von  dem  Ritter,  dem  der  Pabst  nicht  hat  ver- 
zeihen wollen,  kund  und  zu  wissen,  dass  man  mich  im  Paradies  der 
Königin  Sibylle  finden  wird."  Hierauf  nennt  de  la  Säle  ausdrücklicii 
Innocenz  VI.  als  denjenigen,  welcher  die  Absolution  verweigerte,  den 
Brief  des  Ritters  verbrennen  Hess  und  den  Zugang  zur  Grotte  ungangbar 
machte.  „Aber",  fügt  er  hinzu,  „dennoch  steigt  man  immer  nocli  hinauf, 
wenn  aucli  mit  grossen  Beschwerden". 

In  der  Tat  fand  Antoine  de  la  Säle  selber  an  den  Wänden  des  von 
ihm  besuchten  Teils  der  Grotte  Inschriften,  von  denen  er  zwei  notierte: 
„Herr  Hans  Wanbanbourg  (so  das  Mscr.;  im  Druck  steht  Wanbranboiu'g) 
Borg  intravit"  und  „Thomin  de  Pons"  oder  „de  Pous"  (de  la  Säle  konnte 
wegen  der  Verwitterung  die  Buchstabenform  nicht  ontsclieideu).  Von 
dem  ersteren  meint  de  la  Säle  wegen  des  'Intravit',  dem  kein  exiit  bei- 
gefügt sei,  das  sei  vielleicht  der  deutsclie  Ritter  und  Tliomin  de  Pons, 
der  gar  nichts  beifügte,  sein  Schildknappe.  Anderseits  aber  kommt  ihm 
dieser  Name  französisch  oder  engliscli,  d.  h.  normanniscli  vor.  De  la 
Säle  hat  dann  seine  eigenen  Namen  und  seine  Devise  'II  convient'  ein- 
gekratzt; jetzt  sind  alle  drei  Namen  längst  verschwunden.  Für  die  Sage 
von  Bedeutung  sind  nocli  zwei  Erzälilungen  Antoiues. 

Ein  sehr  alter  Manu,  Celle  de  la  Mandelee,  hat  vor  etwa  40  Jahren 
einen  Grandseigneur  aus  Languedoc  Namens  de  Pacs  oder  de  Pacques 
in  die  Grotte  geführt,  wo  derselbe  nach  einem  verschwundenen  Bruder 
forschte,  der  von  einer  Reise,  die  ihn  mit  anderen  Edelleuten  nach  Ancona 
gebracht  hatte,  aus  unbezwingbarer  Neugierde  zum  Sibyllenberg  gegangen 
und  vou  dort  nicht  heimgekehrt  war.  Der  Name  stand  auch  richtig  an 
der  Wand,  der  betrübte  Bruder  Hess  ilm  auskratzen,  wurde  dann  aber 
durch  eiuen  Traum  in  der  Grotte,  wo  er  in  Ohnmacht  gefallen  war,  ge- 
tröstet und  belehrt,  dass  der  verloren  Geglaubte  gerettet  sei. 

Ferner:  Als  de  la  Säle  1422  in  Rom  war,  schwur  ihm  ein  gewisser 
Gaucher  de  Ruppes,  dass  ein  Onkel  seines  Vaters  behauptet  habe,  im 
Venusberg  gewesen  zu  sein.  In  der  Familie  sei  man  überzeugt,  dass  er 
dahin  zurückgekehrt  sei.  De  la  Säle  konnte  mit  gutem  Gewissen  er- 
klären, dass  er  davon  nichts  wisse.  Die  Leute  von  Monte  Monaco  hatten 
ihm  versichert,  dass  seit  dem  obrigkeitlicli  erlaubten  Besuch  des  Seigneur 
de  Pacques  niemand  mehr  in  der  Grotte  gewesen  sei  bis  auf  ihn,  Antoine 


256  Dübi: 

de  la  Säle,  tler  für  seinen  Besueli,  ,,le  XYlll""'  jour  de  niny  lau  niil 
IUP  XX"  ebenfalls  den  Geleitsbrief  des  Podestii  von  Monte  Monaco  mit- 
gebracht hatte.  Diese  Erlaubnis  war  olfenbar  notwendig,  weil  Innocenz  VI. 
(1352 — 13(i"2)  alle  diejenigen  exkommuniziert  hatte,  „welche  hier  und  beim 
See  der  Sibylle  gewesen  waren,  wenn  sie  nicht  zu  wahrer  Reue  und 
apostolischer  Absolution  zurückkehrten".  De  la  Säle  schliesst  seinen  Be- 
richt, den  er  nur  zum  Spass  und  Zeitvertreib  geschrieben  haben  will,  in- 
dem er  seinen  Zögling  und  dessen  junge  (iattin,  die  Dame  de  Calabre,. 
zu  einem  Besuch  der  Grotte  auffordert. 

Solche  Besuche  haben  in  der  Tat  das  ganze  15.  Jahrhundert  hindiircii 
stattgefunden,  namentlich  von  Deutschland  aus.  Der  schon  früher  als 
Zeuge  für  den  Besuch  des  Pilatussees  bei  Norcia  zitierte  Pietro  llazzano 
(t  1492)')  berichtete  in  seinen  unediert  gebliebenen  Schriften,  dass  sich 
mehrere  Betrüger  gerühmt  hätten,  in  der  Sibyllengrotte  gewesen  zu  sein 
und  deren  Wunder  geschaut  zu  haben. 

In  einem  Brief  an  seineu  Bruder,  den  Juristen  Georg  Piccolomiui 
schreibt  Aeneas  Sylvius'),  der  spätere  Papst  Pins  II:  „Überbringer 
dieses  ist  eben  zu  mir  gekommen,  um  mich  zu  fragen,  ob  ich  nicht  einen 
Venusborg  in  Italien  wüsste,  in  welchem  magische  Künste  gelehrt  würden^ 
nach  denen  sein  Herr,  ein  Sachse  und  grosser  Astronom,  grosses  Verlangen 
trage.  Ich  sagte,  ich  kenne  einen  Porto  Venere  bei  Luna  an  der  Ligurischen 
Küste,  an  welchem  Ort  ich  auf  der  Reise  nach  Basel  drei  Nächte  zu- 
gebracht habe.  Auch  fand  ich,  dass  in  Sizilien  ein  der  Venus  geweihter 
Berg  Eryx  sei,  aber  ich  wüsste  nicht,  dass  dort  Magie  gelehrt  werde. 
W^ährend  dos  Gespräches  aber  kam  mir  in  den  Sinn,  es  gebe  zu  Umbrien, 
im  alten  Herzogtum  Spoleto,  nahe  bei  Norcia  einen  Ort,  wo  unter  einem 
steilen  Berg  eine  grosse  Grotte  liege,  in  welcher  Wasser  fliesse.  Hier, 
erinnere  ich  mich  gehört  zu  haben,  seien  Hexen  und  Dämonen  und  nächt- 
liche Schatten,  wo  kühne  Leute  Geister  sehen  und  besprechen  und  magische 
Künste  lernen  können.  Das  habe  ich  selbst  weder  gesehen,  noch  sehen 
wollen;  denn  was  mau  nur  mit  Sünde  lernt,  lässt  man  besser  nngekannt. 
Aber  der  des  Zivilrechts  kundige  Savinus,  der  im  Wirtshaus  bei  der 
Camilla  wohnte,  hat  mich  versichert,  dass  dies  wahr  sei,  hat  mir  den  Ort 
genannt  uiul  beschrieben;  aber  mein  Gedächtnis  ist  schlüpfrig  wie  ein 
Aal;  deshalb  bitte  ich  Dich,  dass  Du,  wenn  Sabinus  noch  lebt,  diesen 
Mann  zu  ihm  führest  und  ihm  empfehlest.  Dies  wird  mir  ein  grosser 
Dienst  sein;    denn    sein  Herr    ist  der  Leibarzt  des  Herzogs  von  Sachsen, 


1)  Die  Notiz  des  P.  Razzano  ist  -wicdergcgcbon  von  Fra  Leaudro  Alberti  (siehe 
oben  S.  60 ')  in  dessen  1550  heransgekouiiiioner  Descrittione  di  tutta  l'Italia,  terzadccima 
regione,  Marca  Anconitana,  fol.  270  der  Ausgabe  Venedig  15SH>. 

2)  Aeneas  Sylvius,  Epistolao  1,  46=  Opera  (Basel  1551)  p.5;U.  Auf  diesen  Brief 
liat  aufmerksam  gemacht  Alfred  Rcumont  in  seinem  mir  leider  unzugänglich  gebliebenen 
Arfilrel  'II  monte  di  Venere  in  Italia'  in  'Saggi  di  storia  e  letteratura'  (1880)  p.  ;iS9. 


Drei  spiUraittelalterliche  Legendea.  257 

ein  reicher  und  mäclitiger  Mann."  Dieser  auch  wegen  einer  darin  stehen- 
den Nachricht  über  ein  uneheliches  Söhnlein  des  Euea  Silvio  pikante 
Brief,  der  kurz  nach  1431  geschrieben  sein  muss,  beweist  uns,  dass  da- 
mals die  Deutschen  den  Venusberg  in  Italien  suchten,  die  Sage  also  in 
Deutschland  noch  nicht  lokalisiert  war.  Sie  ist  es  auch  noch  nicht  1453, 
wo  Hermann  von  Sachsenheim')  in  der 'Möhrin'  den  verzauberten  Berg 
beschreibt,  wo  paradiesische  Freuden  in  einem  ewigen  Frühling  herrschen 
und  wo  'der  Tanhuser  uß  Franckenlant'  der  Gemahl  der  Königin  Venus 
ist.  Ebensowenig  in  dem  um  die  gleiche  Zeit  entstandeneu  Meisterlied 
vom  Tannhäuser''),  wo  dieser  seine  Reue  darüber  ausdrückt,  dass  er  in 
den  Venusberg  gegangen  sei,  und  erzählt,  der  Papst  ürban  IV.  habe  ihm 
die  Absolution  verweigert,  er  hoffe  aber  auf  die  Gnade  Gottes.  Ich  trete 
nicht  in  die  Frage  ein,  wie  und  warum  Urban  IV.  in  die  Sage  vom  Tanu- 
häuser  hineingekommen  ist;  jedenfalls  ist  diese  Angabe  spät  und  vereinzelt, 
beweist  also  niclits  für  deutschen  Ursprung  der  Sage.  Dagegen  tritt  die 
Härte  und  Ungerechtigkeit  des  Papstes  hier  stärker  hervor,  als  in  der 
offenbar  absichtlich  abgeschwächten  Erzählung  des  Antoine  de  la  Säle. 
Dass  der  Papst  damit  sich  selber  verdammt,  ist  ein  Zug,  der  erst  in  der 
Reformationszeit  und  nördlich  der  Alpen  scharf  zum  Ausdruck  kommt; 
aber  in  der  Reue,  die  der  Papst  empfindet,  ist  er  doch  schon  im  15.  Jahr- 
hundert vorgebildet. 

In  diesem  faliren,  wie  gesagt,  die  Besuche  im  Sibyllenberge  fort. 
Luigi  Pulci'')  rühmt  sich  im  zweiten  Gesänge  des  'Morgante  maggiore' 
seines  Besuches,  bei  der  Sibylle  als  eines  guten  Witzes  (bei  gioco), 
während  er  in  einem  seiner  Briefe  ihr  Andenken  herzlich  schlecht  macht. 
Bernardino  Bouavoglia'*)  scheint  in  seinen  Predigten  zu  Foligno  auch 
von  fremden  Besuchern  der  Sibyllengrotte  gesprochen  zu  haben  (siehe 
oben  S.  57).  Ein  solcher  war  der  Ritter  Arnold  von  Harff)  aus  Köln, 
der  1497  mit  Freunden  die  Grotte  besuchte.  Er  erzählt  davon  in  einem 
handschriftlichen,  erst  1860  gedruckten  Reisebericht.  Der  Kastellan  von 
Castellucio  führte  sie  dahin;  aber  sie  fanden  nichts  Blerkwürdiges  oder 
Wunderbares.  Wichtig  für  uns  ist,  dass  Harff  heimgekommen  war,  weil  er 
so  viele  seltsame  Geschichten  über  diesen  Venusberg  in  Deutschland  ver- 
nommen hatte. 

Um  die  Geschichte  der  Sibyllengrotte  in  Italien  zu  beendigen,  er- 
wähnen wir    aus  dem  16.  Jalirhundert,  dass  Ariosto")  der  'von  Dämonen 


1)  Hermann  von  Sachsenheim,  Die  Mörin  v.  3900  — 3911  (herausgegeben  von  Ernst 
Martin  187S  S.  165). 

2)  Abgedruckt  von  K.  Goedeke  1883    in  der  Germania  28,  44 f.  nach  der  Weimarer 
Folio-Hs.  418,  Bl.  670  (von  Wolf  Bauttner  geschrieben). 

3)  Vgl.  oben  S.  57'  und  II  Morgante  maggiore  Canto  24,  v.  112  f. 

4)  Vgl.  oben  S.  57  ^ 

5)  Vgl.  oben  S.  60'  und  Reumont,  Saggi  p.  390 f. 

6)  Ariosto,  Orlando  furioso  Canto  33,  St.  4. 


258  D&l'i: 

bewohnten  Nursinischeu  Grotten'  gedenkt-,  dass  der  arge  Spötter  Pietro 
Aretino^)  irgendwo  von  einem  verhexten  Brunnen  sagt,  es  wohnen  dort 
die  Schwestern  der  Sibylle  von  Norcia  und  die  Tanten  der  Fata  Mor- 
gana;  dass  dem  trefflichen  Bonvenuto  Celliui")  ein  Nekromant  die  Berge 
von  Norcia  und  deren  Bewohner  als  besonders  zauberkundig  zum  Besuche 
empfahl;  dass  Trissino')  im  vierundzwanzigsten  Gesang  seines  grossen 
Epos  'L'Italia  liberata  da'Goti'  den  Besuch  des  h.  Benedikt  von  Norcia 
in  der  Grotte,  den  Berg  Yittore,  „der  an  Höhe  joden  anderen  Berg 
übertrifft"  (heute  noch  heisst  die  höchste  Erhebung  der  Monti  Sibillini 
Monte  Vettore),  den  Ort  Gallo  (gemeint  ist  Santa  Maria  in  Gallo)  erwähnt 
und  „die  hohe  und  tiefe  Grotte"  als  den  Sitz  der  ältesten  Sibylle  und  der 
wahren  Weissagung  preist.  Etwas  länger  müssen  wir  uns  bei  der  Schil- 
derung aufhalten,  welche  Fra  Leandro  Alberti'')  15.30  in  seiner  'Des- 
crittione  di  tutta  Tltalia'  im  Abschnitt  über  die  Mark  Ancoua  von  der 
gleichen  Gegend  gibt,  weil  die  Schilderung  Sagenzüge  enthält,  die  uns 
bisher  noch  nicht  begegnet  sind.  „Nicht  weit  von  Santa  Maria  in  Gallo 
befindet  sich  die  grosse  und  schreckliche  Grotte  der  Sibylle,  von  der  die 
Tradition  oder  vielmehr  eine  unsinnige  Fabel  behauptet,  dass  hier  der 
Eingang  zur  Sibylle  sei,  welche  in  einem  schönen  Königreich  wohnt, 
geziert  mit  Palästen,  in  denen  Männer  und  schöne  Frauen  sich  den  Freuden 
der  Liebe  ergeben.  So  ist  es  am  Tage,  des  Nachts  aber  verwandeln  sich 
alle  in  schreckliche  Schlangen,  auch  die  Sibylle,  und  diejenigen,  welche 
das  Königreich  betreten,  müssen  sich  zuerst  die  Liebkosungen  dieser 
scheusslichen  Reptile  gefallen  lassen.  Keiner  ist  gezwungen,  über  ein 
Jahr  zu  bleiben,  nur  dass  jedes  Jahr  einer  von  den  Eingetretenen  bleiben 
muss.  Die  Austretenden  aber  werden  von  der  Sibylle  für  den  Rest  ihres 
Lebens  reich  beschenkt."  Alberti  will  diese  Ammenmärchen  in  seiner 
Jugend  gehört  haben.  Direkt  von  Alberti  abhängig,  also  für  uns  als 
Quelle  wertlos,  ist  die  Notiz  in  der  Cosmographia  generalis')  des  Holländers 
P,  van  Merle  1602;  dagegen  bietet  der  Umstand  für  uns  Interesse,  dass 
der  holländische  Geograph  A.  Ortel")  1570  in  die  Sibyllengrotte  den 
„Danielken",  d.  h.  den  niederländischen  Tannhäuser,  hineinbringt. 

Das  darf  uns    aber    nicht    wundernehmen;    denn  bereits  seit  1515  ist 
die  Vulgata')    des    Tannliäuserliedes    ausgebildet.      Ich    darf   ihren  Inhalt 


1)  Weder  J.  Burckhardt,  Kultur  der  Renaissance' 2,  297  noch  Reumont,  Saggi 
p.  385  geben  ein  genaueres  Zitat  aus  Ar^tins  Werken. 

2)  Vgl.  oben  S.  GO"  und  Ccllini,  Vita  1.  1,  c.  61. 

3)  Vgl.  oben  S.  GO*. 

4)  Vgl.  oben  S.  60'. 

5)  Vgl.  oben  S.  60  ^ 

6)  Zitiert  nach  Gaston  Paris,  Legendes  p.  1)6  Anm.  2. 

7)  Eine  gute  Vorstellung  von  der  Vulgata  des  Tannhäuserliedes  in  der  Schweiz 
gibt  das  Stück  Nr.  07  im  Sannnelband  Wiedmer  der  Stadtbibliothek  in  Bern  (Sign. 
Rar.  63.    Alte    Lieder).      Die    Überschrift    lautet:    Der    Dannliauser/    wie    er   in   Fraviw 


Drei  spätmittelalterliche  Legenden.  259 

als  bekannt  voraussetzen;  für  unsreu  Zweck  ist  nur  zu  betonen,  dass  die 
Geschichte  von  dem  dürren  und  wieder  grünenden  Stab  in  keiner  ita- 
lienischen oder  französischen  Erzählung  angetroffen  wird.  Es  finden  sich 
in  diesen  auch  keine  Ansätze  zu  dieser  Auszweigung  der  Legende;  denn 
die  'verjette  d'or',  welche  die  'compagne'  dem  deutschen  Ritter  zum  Ab- 
schied gibt,  ist  nach  dem  Sprachgebrauch  Antoine  de  la  Sales  ein  Ring, 
nicht  eine  Zauberrute.  Wann  dieser  den  Charakter  des  ganzen  um- 
gestaltende Zug  in  die  Tannhäusersage  kam,  ist  schwer  zu  sagen,  aber 
vermutlich  ist  dies  in  der  Schweiz  oder  in  Süddeutschland  geschehen, 
wohin  die  ältesten  Formen  des  Tannhäuserliedes  und  andere  Spuren  weisen. 
Der  Züricher  Dominikaner  Felix  Faber'),  der  1480  und  1483  von 
Ulm  aus  Pilgerfahrten  ins  Heilige  Land  unternahm  und  darüber  in  seinem 
'Evagatorium'  berichtet,  erzählt  bei  Anlass  seines  zweiten  Besuches  von 
Cypern,  dass  er  einmal  daselbst  Paphus,  die  Stadt  der  Venus  und  ihren 
Garten  (viridarium),  in  welchem  jetzt  die  Kirche  des  heiligen  Paulus 
steht,  und  den  Berg,  in  welchen  sie,  wie  die  Ungebildeten  glauben,  nach 
ihrem  Tode  versetzt  worden  ist",  besucht  habe.  Er  zeigt  sich  auch  wohl 
vertraut  mit  den  lokalen  Überlieferungen  und  macht  Andeutungen  über 
das,  was  wir  heute  den  Zusammenhang  der  Venus-  mit  der  Sibylleusage 
nennen  würden.  Nach  dem  Beispiel  dieses  ersten  Venusberges  und  seiner 
Grotten  seien  dann  in  heidnischer  Zeit  überall  Venusberge  gesehen  und 
in  , Historien'  genannt  worden.  Auch  in  'moderner'  Zeit  fable  das  un- 
gebildete Volk  von  einem  Berg  in  der  Toskana,  unweit  von  Rom,  in 
welchem  die  Frau  Venus  mit  gewissen  Männern  und  Frauen  den  Lüsten 
fröhne.  Auf  diesen  beziehe  sich  ein  Volkslied,  das  allgemein  in  Deutsch- 
land gesungen  werde,  wonach  ein  schwäbischer  Ritter,  Dauhuser  von 
Danhusen  bei  Dunkelspüchel,  eine  Zeitlang  in  dem  Berge  bei  Venus  ge- 
wesen sei,  hernach,  weil  ihm  der  Papst  die  Absolution  verweigerte,  dahin 
zurückgekehrt  sei  und  in  Freuden  darin  lebe  bis  zum  Tage  des  Gerichtes. 
Und  so  verbreitet  sei  diese  Sage,  dass  viele  Toren  dortliin  pilgern.    Wenn 

Venus  Berg  gezogen/  und  wie  es  jm  alda  ergangen  ist/  usw.  Im  Thon  wie  das  Frewliu 
mit  dem  Krug.  Dann  folgen  "_*G  vierzeilige  Strophen  und  die  Unterschrift:  Getruckt  zu 
Basel  bey  Samuel  Apiario  1584.  Sprachlich  stimmt  dieser  Druck  mit  den  drei  unten  zu 
erwälinenden  Volksliedern  überein,  ist  aber  für  keines  derselben  direkte  Quelle.  Übrigens 
ist  dieser  Druck  weder  der  älteste  noch  der  einzige  schweizerische  aus  dem  16.  Jahr- 
hundert; aber  ich  habe  die  (mindestens)  zwei  anderen  nicht  gesehen.  [Bibliographie  bei 
E.  Grisebach,  Der  neue  Tannliäuser,  Editio  ne  varietur  ISSö.  Vgl.  auch  Erk-Böhme, 
Deutscher  Liederhort  1,  39.    Zs.  f.  dtsch.  Altert.  35,  439.J 

1)  Fr.  Fei.  Fabri,  Evagatorium  in  Terrae  sanctae,  Arabiae  et  Egypti  peregrinationem, 
hsg.  von  C.  D.  Hassler  1843— 4",).  Eine  gekürzte  deutsche  'Eigentliche  Beschreibung 
der  Hin-  und  Wider  Fahrt  zu  dem  Heiligen  Landt  gen  Jerusalem'  usw.  erschien  in  Ulm 
155G.  Die  den  Venusberg  bei  Paphos  betreffenden  Notizen  stehen  im  Evagatorium  1,  171 
und  3,  221 — 222.  Die  Szene  wird  von  Gaston  Paris,  Legendes  p.  131  Anm.  1,  der  sich  auf 
E.  M.  de  Vogüe,  Sjrie,  Paliistine,  Jlont  Athos  p.  25  beruft,  fälschlich  auf  den  Mons 
S.  Crucis  bezogen,  der  von  Fabri  (siehe  1,  175)  zwar  besucht  wurde,  dessen  Legenden 
aber  den  Tannhäuser  nicht  angehen. 


■260  Dübi: 

ilann  einer  stirbt,  fabeln  seine  Freunde,  er  sei  von  Venus  in  den  Berg 
entrückt  worden  usw.  Dnlun-  habe  der  Papst  Nikolaus  V.  Verbote  gegen 
den  Besuch  erlassen,  und  reissende  Hunde  bewachen  den  Zugang  zu  dein 
verdächtigen  Orte." 

Ähnliches  berichtet  der  Junker  Melchior  Zurgilgeii  aus  Luzern, 
der  läli*  mit  Werner  Steiner  und  anderen  eine  Pilgerfahrt  nach  Jerusalem 
unternainn  und  auf  der  Rückreise  starb,  in  seinen  Reiseaufzeichnungen.') 
Nachdem  er  von  'Veneris  gart'  gesprochen,  bei  welchem  'Palas,  Juno  und 
Venus  ein  gezenk  haten  der  schenheit  halb',  sagt  er:  „By  derselben  stat 
(Paphos)  lit  ein  hocher  Borg,  wurd  genant  frow  Venusberg,  wan  da  hat 
sy  gewouet  und  das  laiid  Tustraain  (?)  also  genant  nie  gesechen.  Da 
ettlicli  lüt  sie  vermeinend  im  borg  versclilosen  sin  und  gros  lust  und  freud 
darin  haben,  daran  doch  nichts  ist".  Tannhäuser  ist  hier  als  (iast  der 
Frau  Venus  nicht  genanut,  aber  wir  werden  ihn  in  Verbindung  mit  dem 
Tiergarten  und  Berg  der  Venus  in  der  Schw^eiz  wiederfinden. 

Nach  l'^intragungen  im  T>uzerner  Turmbuch-')  lag  Hans  Wolil- 
gestanden  aus  dem  Etschland  1599  du  im  Oefängnis,  weil  er  sicli  für 
einen  fahrenden  Schüler,  der  im  Venusberg  gewesen,  ausgegeben  haben 
soll,  und  um  1600  erklärte  Hans  Meyer  von  Hallau  bei  Schaffhauseu  zu 
Protokoll:  „Das  er  angegeben  in  Venusberg  gsin  sye  und  in  Rootenmeer 
gebadet,  seye  nit,  denn  er  darvon  nütt  wüsse,  vil  weniger  an  denen  Ortten 
gsin.  Nit  weuiger  denn  das  Er  mit  J.  Niclaus  von  Mülinen  im  Jordan 
gsin,  gan  Hiorusalem  auch  wollen,  aber  nit  dahin  kommen  mögen." 

Beide  Nachrichten  weisen  auf  Überlieferungen  im  Orient,  zeigen  aber 
auch,  dass  die  Tannhäusersage  in  der  Schweiz  ungemein  lebendig  war. 
Wir  haben  nun  noch  zu  beweisen,  dass  sie  in  der  Schweiz  auch  lokalisiert 
war,  lange  bevor  das  in  Deutschland  geschah  und  dass  sie  hier  individuelle 
Züge  zeigt,  die  dort  nicht  vorkommen. 

Das  TannhäuserHed  ist  in  der  Schweiz  in  drei  alten  Varianten 
bekannt  aus  dem  St.  Galler  Oiierland,  dem  f^ntlebuch  und  dem  Aargau. 
Sie  sind  abgedruckt  bei  Lütolf  (Sagen  aus  den  fünf  Orten,  S.  87), 
Rochholz  (Drei  Gaugöttinnen  1870,  S.  147—149)  und  L.  Tobler  (Schwei- 
zerische Volkslieder  1,  102  und  2,  Kil).  Wir  wollen  sie  im  folgenden 
unter  den  Bezeichnungen  G  (St.  Gallen),  K  (Entlebuch)  und  A  (Aargau) 
besprechen  uud  unsre  Nachweise  daran  anknüpfen.  Aufgeschrieben  sind 
sie  alle  erst  im  19.  Jahrhundert,  aber  direkt  aus  dem  Volksniund  und  für 
G  und  E  lässt  sich  die  Tradition  bis  ins  16.  Jahrhundert  hinauf  verfolgen, 
während  A  sonst  sehr  alte  Formen  zeigt.  In  einer  bald  wieder  ein- 
gegangenen Lokalzeitschrift  'Die  Ostereier'  (Luzern  18G2)  wird  sogar  die 
Vermutung  aufgestellt,  das  Entlebucherlied  möchte  von  dem  Freiherrn 
Johann  von  Ringgeuberg  (1283 — 1335)  gedichtet    worden    sein.      Das    ist 


1)  Die  Notiz  ist  al)ge(iruckt  bei  A.  Lütolf,  Sagen  aus  den  fünf  Orten,  18G2,  S.  87. 

2)  Beide  Notizen  sind  abgedruckt  bei  A.  Lütolf,  Sagen  S.  KS. 


Drei  spätmittclalterliche  Legenden.  261 

natürlich,  ganz  abgesehen  von  der  Sprache,  unmöglich;  die  erhaltenen 
Sprüche  des  Ringgeiibergers  atmen  einen  ganz  anderen  Geist.  Das 
Tannhäuserlied  muss  aber  im  Entlebucli  schon  im  16.  Jahrhundert  ge- 
sungen worden  sein.  Nach  Lütolf  (S.  86)  kam  1576,  den  19.  Juni,  „Hans 
Sager  von  Kilchdorff  im  Bernpiet,  sonst  in  der  Kilchhöri  "Willisau  gsessen", 
wegen  Hexerei  zu  Luzei'u  in  den  Turm.  Das  oben  angeführte  Turmbuch 
notiert:  „Deß  Rütters  halb  uß  frow  Venusberg  ist  er  gichtig  (i.  e.  ge- 
ständig), wie  der  Brieff  zugibt."  Der  Xame  lautet  in  E  Danhuser  und  in 
Strophe  1  wird  er  als  „ein  ritter  guet"  bezeichnet.  In  Strophe  14  ist  er 
in  „Frau  Vrenen  Berg,  wolt  Gottes  gnad  erwarten".  Dass  „Verena  oder 
Vreneli  mythologisch  mit  der  römischen  Venus  identisch"  sei,  ist  im 
Schweizerischen  Idiotikon  1,  Sp.  917  nachgewiesen.  Tannhuser  ist  ein  noch 
vorkommender  Geschlechtsuame  in  Malters,  Kanton  Luzei'u.  Ein  Gabriel 
Tannhuser  war  1640  Pfarrer  in  Marbach,  ein  ,Tannehus'  gab  es  in 
Escholzmatt,  wo  der  Chorherr  Stalder  1830  das  Tannhäuserlied  aufzeichnete 
und  dem  Freiherrn  von  Lassberg  mitteilte.  (Danach  ist  es  in  Mones 
Anzeiger  1,  240  abgedruckt.)  Nach  einer  Anmerkung  von  A.  Lütolf,  deren 
Quelle  ich  nicht  kenne,  ist  ein  Christen  Tannhuser  urkundlich  in  Grau- 
bünden 1515  nachzuweisen.  Der  nämliche  Sagenforscher  weist  S.  87  darauf 
hin,  dass  „zu  Uffhausen  bei  Freiburg  i.  B.  am  Fuss  des  Schinberges  ein 
Veuusbei-g  sich  befindet,  wo  auch  die  Tannhäusergeschichte  lokalisiert  ist", 
und  verweist  auf  H.  Schreibers  Taschenbuch  für  Geschichte  und  Altertum 
in  Süddeutschland  (1839)  S.  348.  In  der  Tat  ist  hier  folgendes  zu  lesen: 
„Der  Venusberg  bei  Uffhausen,  am  Fuss  des  Schinbergs,  eine  Stunde  von 
Freiburg,  jetzt  ein  Rebhügel.  Die  Sage  erzählt:  Oben  auf  der  Schnew- 
burg  lebte  ein  Ritter,  der  jahrelang  grosse  Verbrechen  beging.  Da  ihn 
kein  einheimischer  Priester  freisprechen  wollte,  pilgerte  er  nach  Rom  zum 
Papst.  Dieser  versagte  die  Absolution:  eher  werde  des  Papstes  Stab 
Rosen  tragen,  als  dass  der  Ritter  Verzeihung  für  seine  Sünden  finde. 
Als  der  Ritter  bei  seiner  Rückkehr  zur  Schnewburg  den  Eingang  zum 
Venusberg  offen  fand,  stürzte  er  sich  mit  seinem  Pferde  hinein  und  ward 
uiclit  mehr  gesehen.  Nach  zwei  Jahren  trug  der  Stab  des  Papstes  Rosen. 
Der  Witwe  des  Ritters  auf  Schnewburg  wurde  Bericht  gegeben.  Sie  Hess 
im  Venusberg  nachgraben.  Man  fand  den  Ritter  tot  auf  seinem  Pferde 
sitzend.  In  neuerer  Zeit  gelange  man  bei  Grabungen  nie  mehr  bis  zum 
Saale  der  Frau  Venus,  die  Arbeiter  werden  immer  durch  irgend  etwas 
abgeschreckt."     Die    Sage,    die    ähnlich    auch    im  Badischen  Sagenbuch^) 


1)  (F.  Pfaff),  Badisches  Sagenbuch,  Freiburg  i.  B.  1898,  S.  77.  Ebenda  S.  275 
Anm.  die  Notiz,  dass  der  getreue  Eckart  vor  den  Vennsberg  bei  Ufiliausen  verbannt 
sei,  weil  er  aus  Rache  den  falschen  Ermenrich,  den  Mörder  der  Harlungen,  erschlagen 
habe.  Nach  Erkundigungen,  die  ich  durch  meine  Frau  an  Ort  und  Stelle  habe  einziehen 
lassen,  lebt  zu  Uffhausen  die  Sage  von  Tannhäuser  und  der  Frau  Venus  noch  im  Volks- 
munde. [F.  Panzer,  Deutsche  Heldensage  im  Breisgau.  Heidelberg  li)03.  Vgl.  auch 
Wickram,  Werke  5,  XLVIII.  8,  351.] 


262  l>öbi: 

erzählt  wird,  muss  sclion  tVüli  in  dieser  Gegend  lokalisiert  worden  sein; 
denn  die  Schnewburg  wurde  1^15  von  den  Freiburgem  zerstört  und  das 
Schloss  auf  dem  Schinberge  wurde  134!)  von  "Werner  von  Ilornliorg  dem 
Stift  von  St.  Gallen  vergabt,  welches  das  Lehen  an  verscliiedciio  l']delleuto 
der  Gegend  verlieh  bis  1621,  wo  das  Stift  das  Lehen  zurückkaufte.  Wegen 
dieser  Verhältnisse  und  der  Ähnlichkeit  der  Namen  mehr  als  der  Sagen- 
züge, gestatte  ich  mir  die  Vermutung,  dass  auch  hier  eine  Einwanderung 
aus  Italien  durch  die  Schweiz  vorliegt;  denn  ein  Uffliuscn  liegt  bei 
M'illisau  (Kt.  Luzern),  und  im  Entlebuch  gibt  es  einen  Schymberg.  Er 
steht  mitten  iune  zwischen  der  Schrattenfluh,  die  wir  aus  der  Ahasversage 
kennen  und  dem  Pilatus.  Es  stossen  also  hier  auf  einem  verhältnismässig 
engen  Raum  unsre  drei  Legenden  zusammen,  wie  sie  von  einem  solchen 
in  Italien  ausgegangen  sind. 

In  der  AVendung;  welche  die  Tannhäusersage  im  Entlebucherlied  ge- 
nommen hat,  treten  neben  den  schweizerischen  die  aus  Italien  stammenden 
Elemente  stark  hervor.  Danhuser  will  grosse  Wunder  schauen  und  geht 
in  den  grünen  Wald  hinaus  zu  'den  schönen  Jungfrauen.'  Die  heben 
einen  Tanz  an,  bei  dem  ein  Jahr  ist  wie  eine  Stunde.  Damit  er  bei 
ihnen  bleibe,  will  Frau  Vrene  dem  Danhuser  ihre  jüngste  Tochter  zu 
einem  ehelichen  Weibe  geben.  Danhuser  verschmäht  sie,  weil  in  ihren 
Augen  das  Höllenfeuer  brennt.  Ein  Traum  unter  einem  Feigenbaum 
mahnt  ihn,  von  Sünden  zu  lassen  Die  Wallfahrt  nach  Rom  geschieht 
mit  'blutten  Füßen'.  Der  Papst  versagt  die  Absolution  mit  dem  be- 
kannten Symbol  des  dürren  Stabes.  Im  Schluss  der  Erzählung  ist  die 
Frömmigkeit  des  Danhuser  und  seine  Zerknirschung  stark  ausgemalt,  und 
die  letzte  Strophe  spricht  den  eigentlich  ketzerischen  Gedanken  aus: 
„Der  Sünder  mag  sein,  so  gross  er  will,  kann  Gottes  Gnade  erlangen." 
Diese  Moral  ist,  wie  die  Erzählung  vom  wieder  grünenden  Stab,  im  Norden 
der  Alpen  dazu  gekommen,  aber  der  Zug,  dass  der  Papst,  wenn  es  zu  spät 
ist,  verzeilien  will,  ist  alt  und  italienisch. 

Die  dem  l^ntlebucherlied  nahe  stehende  Aufzeichnung  aus  Baden  im 
Kanton  Aargau  (A)  hat  doch  wieder  ihre  Besonderheiten.  Tannhäuser  ist 
hier  'ein  junges  Blut.'  Er  klopft  an  die  Pforte  von  Frau  Vrenelisberg 
und  begehrt  Einlass  in  deren  Orden.  Aber  vor  der  angebotenen  'Gespilinn' 
«iraut  ihm:  „Sie  ist  obem  Gürtel  wie  Milch  und  Bluet  und  drunter  wie 
Schlangen  und  Chrote."  Da  der  Papst  ihm  den  Ablass  weigert  mit  dem 
Hinweis  auf  den  dürren  Stab,  so  kehrt  er  alsbald  zu  Frau  Vrene  in  den 
Wald  und  auf  den  Berg  zurück.  Nach  dritthalb  Tagen  grünt  der  Stab 
nicht  nur,  sondern  er  trägt  drei  schöne  Blumen.  Die  Strophen  11 — 13 
sind  dialogisch  gehalten.  Die  Boten  des  Papstes,  die  den  Ablass  bringen, 
klopfiui  an  die  verschlossene  Pforte  und  erhalten  aus  dem  Iuium-u  des 
Berges  verneinende  Antwort.  In  den  Strophen  14—15  ist  Tannhäuser  zu 
dem  Kaiser  geworden,  dessen  Bart  dreimal  um  den  steineren  Tisch  wächst. 


Drei  spätraittelalterliche  Legenden.  263 

Da  dieser  auch  in  Luzernersagen  vorkommt,  so  brauchen  wir  nicht  anzu- 
nehmen, dass  die  Tannhäusersage  urgermanisch  und  der  Tannhäuser  ein 
verzauberter  Gott,  etwa  Wuotan  sei.  Eher  ist  darauf  zu  schliessen,  dass 
eine  ursprünglich  fremde  Sage  hier  angeklittert  worden  sei. 

Sehr  altertümliche  Formen  zeigt  das  Lied  G.  Im  St.  Galler  Ober- 
land, zwischen  Sargans  uud  Ragaz,  an  der  alten  Römerstrasse,  wo  einst 
heidnische  Opferstätten  uud  im  Mittelalter  eine  Gerichtsstätte  war,  lag 
einst  ein  Hügel  Thierget  oder  Thiergarteu,  von  alten  Leuten  Frau  Vrenes 
oder  Venesberg  genannt.  Ein  80  jähriges  Mütterchen  aus  der  Gegend  er- 
innerte sich  um  das  Jahr  1864,  dass  das  Danuserlied  in  ihrer  Jugend  als 
'Tiergetlied'  allgemein  bekannt  gewesen  sei.  Heute  gibt  es  an  dieser 
Strasse  oberhalb  Mels  noch  einen  Tierget  und  etwas  abwärts  von  der 
Ruine  Freudenberg')  einen  'Bühl'  und  nach  einer  mir  von  Stadtarchivar 
F.  Jecklin  in  Chur  freundlichst  nachgewiesenen  Urkunde  verkaufte  1519, 
am  25.  Januar,  'Anthoni  Tig'  Landammann  in  Sarganserland,  an  das 
Gotteshaus  Pfäfers  zwei  Gulden  Churer  Münze  jährlicher  ewiger  Gült  von 
und  ab  seiner  eigenen  unter  dem  Tiergart  gelegenen  Wiese  genannt 
Buchserau  usw.  Im  'Tiergetlied'  schaut  Danuser,  der  'wundrige  Knab' 
erst  zu  einem  Fensterlein  hinein  und  geht  dann  in  den  Berg  zu  Frau 
Vrene  und  den  drei  schönen  Jungfrauen:  „Die  sind  die  ganze  Wuche  gar 
schö,  mit  Gold  und  mit  Side  behänge,  händ  Halsschmeid  a  und  Maiekrö 
(Blunienkronen),  am  Suntig  sinds  Otre  imd  Schlange."  Nach  fast  Tjährigem 
Aufenthalt  schlägt  ihn  das  Gewissen.  Der  Traum  unter  den  Feigenbaum, 
der  auch  in  A  vorkommt,  ist  in  G  nur  durch  den  A'ers  angedeutet: 
„Und  wie  des  Morgens  Tag  es  war."  Dauhuser  will  zunächst  einem  Pfarrer 
beichten;  dieser  weist  ihn  an  den  Papst.  Durch  Kürze  undeutlich  ist  die 
Darstellung  der  Szene  vor  dem  Papst;  man  wird  fast  zu  der  Meinung  ge- 
drängt, der  dürre  Stab  sei  nicht  das  Zepter  des  Papstes,  sondern  der 
Pilgerstab  des  Tannhäuser  selbst.  Kecker  noch  als  in  A  ist  die  Haltuno- 
des  Danuser  nach  seiner  Verdammung;  er  scheint  sich  auch  vor  dem 
jüngsten  Tag  nicht  zu  fürchten.  Nach  dritthalb  Tagen  grünt  das  'Stabil' 
nicht  nur,  sondern  es  trägt  drei  rote  Rosen.  Die  Boten  des  Papstes 
können  den  Danuser  nicht  finden;  'Er  lit  wol  uf  der  Frau  Vrenes  Berg 
bi  dene  dri  schöne  Kinde.'  Aber  nach  kaum  einem  halben  Jahre  ist  der 
Papst  tot  und  in  Ewigkeit  verdammt.  Und  das  Lied  schliesst  mit  der 
Mahnung:  „Drum  soll  kei  Bischof  (kein  Kardinal  A),  kei  Papst  nid  mehr 
kei  arme  Sünder  verdamme;  gross  Gwalt  git  nu  Straf  (ostschweizerisch 
für  Leid,  Unehre),  nit  Ehr.     In  nomen  Domini.     Arne." 

Dass  in  dem  St.  Galler  Volksliede  die  Spuren  der  italienischen 
Legende  ganz  besonders  deutlich  sind,  wird  dem  aufmerksamen  Leser 
nicht  entgangen  sein.   Ich  will  kein  besonderes  Gewicht  auf  das  'Fensterli' 

1)  In  Italien  findet  sich  in  der  Nähe  des  Vennsberges  ein  Castellum  Felicitatis,    das 
wie  der  Freudenberg  ein  Benediktinerlehen  gewesen  zu  sein  scheint. 


•264  Schläger: 

legen,  das  an  die  kristallene  Pforte  des  Messire  Anthoine  Fume  erinnert, 
es  könnte  immerhin  blosse  Ausschmückung  sein  oder  aus  einem  anderon 
Sagenkreise  stammen.  Aber  der  Zug,  dass  die  drei  schönen  Jungfrauen 
sich  jeden  Sonntag  in  Schlangen  verwandeln,  stammt  direkt  aus  der 
Sibyllensage  und  findet  sieh  in  keiner  der  deutschen,  niederländischen 
und  dänischen  Varianton  des  Tannhäuserliedes.  Dass  der  Reuige  sich 
zuerst  an  einen  Priestor  wendet,  hat  schon  Magister  Hemmerlin  aus  Italien 
nach  Hause  gebracht.  In  E  erinnert,  um  dies  hier  nachzuholen,  die  Ge- 
berde des  Danhuser:  „er  kneuet  für  das  Kreuzaltar  mit  außgespannteu 
Armen''  und  sein  rührender  Abschied  von  „Unsrer  lieben  Frauen"  wört- 
lich an  die  Reucäusserungen  des  Simpliciauus  bei  Hemmerlin.  Da  nun 
diese  Züge,  wie  der  vom  Traum  unter  dem  Feigenbaum,  von  dem  „laugen 
Tanz",  Wendungen  wie  „ein  Jahr  war  ihnen  ein  Stunde"  nachweisbar 
aus  Italien  und  aus  der  Sibyllensage  stammen  und  dort  von  Schweizern 
schon  früh  aufgenommen  worden  sind,  so  ist  wohl  auch  für  diese  Legende 
der  Schluss  erlaubt,  dass  sie  aus  Italien  durch  die  Schweiz  nach  Deutsch- 
land gewandert  sei.     Und  mehr  habe  ich  nicht  beweisen  wollen. 

Bern. 


Nachlese  zu  den  Samiiilungeii  deutscher  Kiudeiiieder. 

Von  Georg  Schläger. 

In  den  folgenden  Blättern  übergebe  ich  den  Freunden  unserer  Volks- 
überlieferung das  Ergebnis  einer  ziemlich  langen,  aber  häufig  unter- 
brochenen und  nicht  eben  planmässigen  Beschäftigung.  In  früheren 
Jahren  war  es  mir  ein  lieber  Gedanke,  den  mir  zuwachsenden  Stoft"  ein- 
mal richtig  und  zur  eigenen  Befriedigung  verarbeiten  zu  können;  diese 
Hoffnung  ist  mir  leider  im  Amte  längst  geschwunden.  Dennoch  war  ich 
der  Meinung,  dass  wenigstens  der  grössere  Teil  des  Gesammelten  einen 
gewissen  Wert  beanspruchen  dürfe,  und  so  hab  ich  mich  entschlossen, 
diesen  Teil  in  Druck  zu  geben.  Dabei  hat  mich  das  Bestreben,  überhaupt 
einmal  fertig  zu  werden,  veranlasst,  nicht  noch  weitere  Entsprechungen 
aufzusuchen,  als  ich  es  bis  zum  vorigen  Jahre  schon  getan  hatte:  es  ist 
ja  bekannt,  wie  sehr  sich  gerade  auf  diesem  Felde  immer  eins  ans  andere 
hängt.  Ich  hoffe  jedoch,  die  vorhandenen  Nachweise  sind  sclion  aus- 
reichend; andere  Quellen  werden  sicli  mit  geringer  Mühe  vergleichen 
lassen. 

Über  die  Herkunft  jedes  einzelnen  Stückes  jetzt  noch  genaue  Rechen- 
schaft abzulegen,  ist  mir  nicht  möglich,  wäre  wohl  auch  belanglos,  dagegen 
will  ich  die  wichtigsten  Gruppen  kurz  nacli  Zeit  und  Herkunft  aufführen. 


Deutsche  Kinderlieder.  265 

Das  allermeiste  stammt  unmittelbar  aus  Kindermunde,  aufgezeichnet  ist 
alles  seit  1890,  weniges  nacii  IMOO.  Die  Weidaer  Stücke  sind  mir  grössten- 
teils aus  meiner  eigenen  Kindheit  geläutig,  nur  M'enige  erst  später  bekannt 
geworden,  sie  gehören  alle  in  die  Zeit  zwischen  1876  und  1891;  einige 
als  älter  bezeichnete  Texte  kenn  ich  durch  meine  älteren  Geschwister,  sie 
gehen  etwa  bis  1865  zurück.  Was  sonst  aus  dem  Neustädter  Kreise  aus- 
drücklich als  alt  angeführt  ist,  wurde  von  meiner  Mutter  beigesteuert  und 
gehört  in  die  Zeit  um  1840.  Noch  etwa  zehn  Jahi'e  älter  sind  die  wenigen 
von  meinem  Vater  mitgeteilten  Stücke  aus  Wiegendorf  bei  Weimar.  Der 
Aufzeichnung  gleichzeitig  (1890)  sind  alleTexte  aus  Halle  undGiebichenstein, 
Köthen,  Arnstadt,  Gelsenkirchen,  auch  die  meisten  aus  Osnabrück,  die  ich 
Herrn  und  Frau  Lelirer  Heuer  dort  verdanke.  Ungefähr  gilt  dies  auch 
von  denen  aus  Lehnstedt  (Herr  Pfarrer  Linschmann),  Grossschwabhausen 
(Herr  Pfai-rer  Alberti),  Kuuitz  (HeiT  Pfarrer  Grobe),  Löbstedt  (Frl.  Zimmer- 
mann), Jena  (Frl.  Müller);  etwas  älter  sind  die  aus  Sarnsthal  i.  d.  Pfalz 
(Frl.  Hauck),  Holstein  (Dr.  Hallier),  Koburg  und  Umgegend  (stud.  Zöller), 
(irossmölsen  bei  Erfurt  und  Rotheustein  a.  d.  Saale  (Frl.  Ett),  Remda  und 
Stadtilm  (Frl.  Ziegler).  Um  1860  mögen  die  von  Herrn  Pfarrer  Alberti 
aus  Wolfsgefährt  beigesteuerten  Stücke  anzusetzen  sein,  ebenso  die  von 
Herrn  Scholz  in  Jena  vermittelten  schlesischen  Sprüche.  Die  aus  See- 
hauseu  i.  d.  Altmark  stammenden  Stücke  verdank  ich  Herrn  Rektor  Franck 
dort,  sie  sind  im  September  1890  im  „Anzeiger  für  den  Amtsgerichts- 
bezirk Seehausen"  gedruckt.  Ganz  fi-isch  aus  dem  Kindermunde  ge- 
schöpft sind  die  Spiellieder  aus  Oberstein,  für  deren  Vermittlung  ich 
Herrn  Lehrer  A.  Müller  zu  danken  habe.  So  bin  ich  nach  vielen  Seiten 
hin  verpflichtet  —  leider  trifft  mein  Dank  manchen  nicht  mehr  unter  den 
Lebenden. 

Von  der  Buntheit  der  kindlichen  Überlieferung  gibt  meine  Sammlung, 
denk  ich,  ein  getreues  Bild.  Neben  vielem  m-sprünglichen  Kindergute  lassen 
sich  Spuren  der  Kinderliteratur,  des  Gassenhauers,  der  Operette,  des  Tingel- 
tangels und  der  ernsthaften  Literatur,  in  weit  höherem  Masse  aber  solche 
des  älteren  Gesellschaftsspiels  und  unmittelbare  Nachklänge  des  Volks- 
liedes verfolgen.  Die  letzteren  sind  nach  ihrer  Zahl  so  überwältigend, 
dass  der  engste  Zusammenhang  mit  dem  Volkslied  auf  der  Hand  liegt 
und  auch  für  die  grosse  Mehrzahl  aller  anderen  Stammgruppen  der  Durch- 
gang durch  die  Volksüberlieferung  zu  behaupten  ist,  wie  er  denn  z.  B. 
für  die  geschichtlichen  Erinnerungen  (Nr.  4,  5,  168,  gewissermassen  auch 
46)  keinem  Zweifel  unterliegen  darf.  Ich  kann  diesem  Verhältnis  hier 
nicht  weiter  nachgehen,  will  aber  meinen  in  langer  und  genauer  Be- 
trachtung gewonnenen  Standpunkt  dahin  in  Worte  fassen:  das  Kinderlied 
stellt  den  letzten  Niederschlag,  die  Restverdichtung  der  Volksüberlieferung 
mit  Einschluss  aller  darin  zu.sammengeflossenen  Strömungen  dar.  Un- 
mittelbare Einflüsse    anderer  Art,    wie  in  Nr.  •243  der    des  Struwelpeters, 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskuode.    1007.  J^g 


266  Schläger: 

sind  so  verschwimlend  selten  iiiul  räumlich  so  eingeschränkt,  dass  sie  gar 
nicht  in  Betracht  kommen;  aber  auch  was  man  als  ursprüngliche  Kindei-- 
dichtung  ansprechen  möchte,  ist  bei  näherem  Zusehen  mit  Yolkslicdresten 
durchwaclisen.  Auf  diese  Zusanuneniiängo,  wie  auf  die  (ileichartiglceit 
der  Schicksale  —  wir  finden  im  Kinderliede  ganz  dieseltien  Teilungen, 
Verwachsungen,  Verkürzungen,  Umdeutungen,  wie  sie  das  Hauptkenn- 
zeichen des  echten,  rein  mündlich  fortgepflanzten  Volksliedes  bilden  — 
hab  ich  besonders  geachtet,  und  ich  hoffe,  dass  diese  Seite  meiner  Arbeit 
eine  kleine  Bereicherung  unserer  Kenntnis  bedeutet.  Besonders  tritt  i-s 
klar  hervor,  wie  unbedingt  die  Dichtung  auch  hier  unter  dem  Zwange 
der  Tradition  steht,  und  wie  diese  durch  die  fortwährende  wechselseitige 
Verankerung  immer  mehr  formelhaft  verengt  wird.  Wir  können  be- 
obachten, wie  eine  festgewordene  Form.  z.  1>.  die  des  Sclinaderhüpfels, 
nicht  nur  in  die  AV'elt  des  Kinderliedes  eing(>drungen  ist  (Nr.  '20!)),  sondern 
auch  oöonbar  kindliche  Neudichtungen  liervorgerufeu  hat  (Nr.  170).  Ander- 
seits fehlt  es  nicht  ganz  an  bewusster  Umdichtung  gegenüber  der  sonst 
durchaus  herrschenden  Abschleifung,  aber  es  ist  gewiss  niclit  zufällig, 
wird  vielmehr  im  tiefsten  Wesen  begründet  sein,  dass  ein  Stück  wie  197 
keine  weitere  Verbreitung  gewinnt;  und  doch  sehen  wir  wieder  grad  an 
dieser  Parodie,  dass  die  alten  metrischen  Gepflogenheiten  des  Volks- 
liedes, durch  Tuktmässigkeit  und  Melodie  gestützt,  selbst  bis  dahin  fort- 
dauern. 

Jeuer  Standpunkt  l)riugt  denn  auch  ein  ganz  bestimmtes  Urteil  über 
den  wissenschaftlichen  W^ert  der  Kinderliedforschung  mit  sich:  sie  hat  vor 
allem  unsere  Anschauungen  über  die  Volksüberlieferung  klären  und  ver- 
tiefen zu  helfen.  Auch  die  vielumstrittene  Frage  nach  dem  mythisclien 
Gehalte  des  Kinderliedes  schneidet  er  ohne  weiteres  mitten  durch,  er  nötigt 
zu  der  bündigen  Entscheidung,  dass  Mythisches  nur  in  dem  Umfang  und 
mit  der  Bedeutung  im  Kinderlied  erwartet  werden  darf,  wie  es  aus  der 
Volksüberlieferung  in  T^ied  und  lebendigem  Aberglauben  hergeleitet 
werden  kann.  Damit  fällt  der  o-anze  altgermanische  Götterhimmel,  den 
man  so  oft  im  Kinderliede  hat  finden  wollen,  sogleicli  in  sicli  zusammen, 
und  es  bleibt  neben  christlichen  und  abergläubisch  gewendeten,  niclit  aber 
dem  Heidentum  entstammenden  Gestalten  wie  Petrus  usw.  im  wesentlichen 
nur  das  zeitlose  Gebiet  der  niederen  Jlythologie  übrig;  und  ich  meine, 
dass  sich  dies  mit  einer  unbefangenen  Betrachtung  des  Vorhandenen  am 
besten  verträgt.     [Vgl.  S.  Singer,  oben  13,  49 f.] 

Bei  meinem  jüngsten  Beutezug  unter  die  Obersteiner  .lugend  hat 
mich  der  Keichtum  an  älteren  und  neueren,  aber  unverkennbar  volks- 
tümlichen Balladen  überrascht,  die  zum  Gesänge  mimisch  aufgeführt 
werden  und  so  eine  jMittelstellung  zwischen  T>ied  und  S]iiel  einnehmen. 
Manches  dieser  Art  war  mir  ja  schon  bckamit  (Nr.  .')2,  DI,  9S,  !)9,  101, 
195,    238;   von  08  kann   ich   freilich  nicht  sagen,    ob   es  wirklich  gespielt 


Deutsche  Kinderlieder.  267 

wurde),  aber  daneben  fanden  sich  hier  noch  einige  Texte,  die  sonst 
wohl  nirgends  verzeichnet  sind:  Nr.  85,  92,  100,  241.  Dabei  tragen 
die  meisten  dieser  Stücke  deutlich  die  Spuren  der  Umwandlung  im 
Kindermunde,  so  <lass  an  der  Echtheit  ihrer  Überlieferung  nicht  zu 
zweifeln  ist.  Es  erhebt  sich  die  wichtige  Frage,  wie  weit  wir  solche 
Aufführung,  die  docli  etwas  anderes  ist  als  blosser  Schlussübergang  in 
ein  Sinei  wie  vielfach  bei  Nr.  91,  hinaufrücken  dürfen.  Ich  will  dabei 
erwähnen,  dass  neuerdings  ein  höchst  geistreicher,  wenn  auch  nicht 
in  allem  einzelnen  überzeugender  Versuch  gemacht  worden  ist,  für  die 
altfranzösischo  Lja-ik  Ahnliches  zu  erweisen  und  Stücke,  an  deren  Er- 
klärung man  zu  verzweifeln  anfing,  durch  die  Annahme  begleitender 
dramatischer  Darstellung  begreiflicher  zu  nuichen^),  und  will  die  Frage 
stellen,  ob  dergleichen  auch  für  die  ältere  deutsche  Dichtung  erlaubt  sein 
möchte.  Zwar  kann  mau  unsere  Beispiele  nicht  unmittelbar  dafür  ins 
Treffen  führen,  denn  sie  stellen  deutlich  eine  jüngere  Entwicklungsstufe, 
keinen  ursprünglichen  Zustand  dar.  Aber  es  liegt  auf  der  Hand,  dass  es 
ältere  Vorbilder  hierfür  gegeben  haben  muss,  und  für  die  lässt  sich  jene 
Frage  wohl  aufwerfeu;  wir  können  dabei  an  die  grosse  Anzahl  bekannter, 
■oft  sehr  altertümlicher  Kinderspiele  erinnern,  bei  denen  Gesang  und 
Handlung  anscheinend  von  Anfang  an  zusammengehören,  wie  bei  dem 
Spiele  von  der  Königstochter  im  Turm  oder  der  Spinnerin  auf  dem 
Weidenbaum  oder  unseren  Nr.  44,  88,  143,  275,  während  es  daneben  reine 
Tanz-  oder  Reigenlieder  wie  unsere  Nr.  280  gibt,  Ketten-  und  Nach- 
ahmungsspiele aber,  wie  Nr.  13,  25,  39,  97,  108,  216,  279,  kaum  verglichen 
werden  können.  Allerdings  darf  man  wiederum  den  Unterschied  nicht  ausser 
acht  lassen,  dass  wir  es  bei  den  verglicheneu  szenischen  Spielen  nicht  mit 
Erzählungen  zu  tun  haben,  wenigstens  nicht  in  den  heut  erreichbaren 
Fassungen;  und  es  lässt  sich  weiter  fragen,  ob  nicht  auch  jene  kleinen 
Singdranien  auf  dem  Wege  zu  derselben  Entwicklung  sind  und  vielleicht 
einmal  kurze,  verdunkelte,  formelhaft  gewordene  Spiele  ergeben  werden; 
im  ganzen  strebt  ja  die  kindliche  Überlieferung  danach,  die  Handlung 
zu  vereinfachen  und  die  Wechselrede  vorwiegen  zu  lassen,  wie  unsere 
Nr.  238  sehr  lehrreich  zeigt.  Ja,  ein  Stück  wie  99,  bei  dem  der  Inhalt 
verdunkelt  ist  und  die  Ausführung  auf  keine  bestimmte  Grundlage 
deutet,  lässt  sich  wohl  als  ein  formelhaft  gewordener  Rest  ansprechen. 
Es  ist  auch  nicht  zu  verkennen,  dass  manche  Texte  den  Keim  zum  Spiele 
von  Anfang  an  in  sich  tragen,  wie  unsere  Nr.  166.  —  In  alledem  liegt  noch 
viel  Stoff  zum  Nachdenken  verborgen,  an  den  bisher  wenig  gerührt 
worden  ist. 


1)  J.  Bedier,  R.  Meyer,  P.  Aubry,  La  Chanson  de  Bele  Aelis.  Paris,  Picard  1904.  — 
J.  Bedier,  Les  plus  auciennes  danses  frauQaises.  Revue  des  deux  Mondes  31  (Jahrgang  76, 
l'JDG),  398-424. 

18* 


'268  Schläger: 


Folgendes  sind  die  ständig  angezogenen  Werke: 

Böhme,  Deutsches  Kinderlied  und  Kinderspiel.     Leipzig  1897. 

Buckel,  Deutsche  Voliisliedor  aus  Oberhessen.     Marburg  1885. 

Ditfurth,    Deutsche  Volks-  und  Gesellschaftslicder  des  17.  und  18.  Jahrhunderts.    Xörd- 

lingen  1872. 
Drosihn,  Deutsche  Kinderreimc  und  Verwandtes  (hsg.  v.  Bolle  und  Polle).    Leipzig  1897. 
Dunger,  Kinderlieder  und  Kinderspiele  aus  dem  Vogtlando.     2.  Aufl.     Plauen  18;i-i. 
Erk-Böhme,  Deutscher  Liederhort.    ;5  Bde.     Leipzig  1893—1894. 
Erlach,  Vidksliedcr  der  Deutschen.    5  Bde.     Mannheim  1834-1S.^7. 
Handelmann,  Volks-  und  Kinderspiele  aus  Schleswig-Holstein.     Kiel  1871. 
Lewalter,  Deutsche  Volkslieder,  in  Niederhessen  aus  dem  Munde  des  Volkes  gesammelt. 

5  Hefte.     Hamburg  18'.I0-189I. 
E.  Meier,  Schwäbische  Volkslieder.     Berlin  1S55. 
H.  Meier,  Ostfricsland  in  Bildern  und  Skizzen.     Leer  1808. 

Müllenhoff,  Sagen,  Märchen  und  Lieder  der  Herzogt.  Schleswig  und  Holstein.   Kiel  1845> 
Müller,  Volkslieder  aus  dem  Erzgebirge.     2.  Ausg.    Annaberg  1891. 
Reiflerscheid,  Westfälische  Volkslieder  in  Wort  und  Weise.     Heilbronn  1879. 
Rochholz,  Alemannisches  Kinderlied  und  Kinderspiel  aus  der  Schweiz.    Leipzig  18,">7. 
Sachse,  l'ber  Volks-  und  Kinderdicbtung.     Progr.     Berlin  1SÜ9. 
Schollen,  Volkstümliches  aus  Aachen.    Aachen  1881. 
Schlossar,  Deutsche  Volkslieder  aus  Steiermark.    Innsbruck  1881. 
Schumann,  Volks-  und  Kinderreime  aus  Lübeck  und  Umgegend.     Lübeck  1899. 
Simrock,  Das  deutsche  Kinderbuch.     :1.  Aufl.     Basel  o.  .1. 
Stöber,  Elsässisches  Volksbüclilein.    2.  Aufl.     1.  Bändchen.     Mülhausen  1859. 
Süss,  Salzburgische  Volkslieder  mit  ihren  Singweison.     Salzburg  180.'>. 
Wegencr,    Volkstümliche    Lieder  aus  Norddeutscblaud.     1.  Heft:    Aus  dem  Kindcrleben. 

Leipzig  1879. 
Hierbei  ist  zu  beachten,  dass  eine  blosse  Ziffer  hinter  dem  Verfassernamen  stets  die 
Nummer  bezeichnet:   bei  Böhme  ist  dann  immer  der  erste  Teil  gemeint,    während  bein} 
zweiten  Seite  und  Nummer  angegeben  sind. 


1.    A  B  C, 
Die  Katze  lief  in  Schnee, 
Der  Hund  hinterdrein. 
Purzelten  sie  alle  beide  den  Berg  nein. 

Thüringen.    Vgl.  Böhme  1429f.,  Simrock  197  f.,  Sachse  S.  17.  Stöber  280,  Dunger  13,"). 
Grossschwabhausen  i.  Th.  nach  Z.  Ü: 

Biss  er  se  ins  Bein, 

Da  blutte  se  wie  e  Schwein. 

.\hnlich  als  Hcilspruch,  so  im  Neustädter  Kreise: 

2.    Heile,  heile  Kätzchen!  Hatte's  rote  Höschen  an. 

Das  Kätzchen  lief  den  Berg  hinan.       Sprang  ihr  ein  andrer  nach, 
Wie's  wieder  runter  kam.  Fielen  sie  alle  beide  in  Bach. 

Oder  statt  der  vier  letzten  Zeilen  echter: 

Wie's  wieder  runter  kam, 
War's  wieder  geheilt. 

Hierzu  Böhme  24iif.,  Wegener  202,  Rochholz  S.  ;!40f.;  ferner  unsere  Nr.  104.   [VVossidlo, 
Mecklenburgische  Volksüberliefcrungen  3,  108  nr.  5GÜ.] 


Deutsche  Kinderlieder.  269 

3.  Abraham  und  Lot,  Abraham  jedoch  nicht  faul 

Die  warfen  sich  mit  Kot.  Warf  seinen  Bruder  in  das  Maul. 

Da  kam  ein  Hirte  schnell  heran  Da  heulte  Lot  gar  sehr, 

und  s'ing  Loten  mit  zur  Hand.  Sie  warfen  sich  dann  nicht  mehr. 

Lehnstedt  b.  Weimar.  —  Vgl.  Schumann  3401f. ;  Simrock  880,  Böhme  lT2.j. 

4.  Ach  du  meine  Mütze,  Wern  mer  mitjenumm 
Sagte  Müllerfritze,                                      Un  in  Sack  jesteckt 
Wenn  dee  Bussen  kumra,                       Un  mit  foitjeschleppt. 

Kunitz  b.  Jena.  —  Die  Hussen  sind  wohl  eine  Kreuzung  aus  Russen  und  Husaren  — 
oder  gar  Hussiten?     Deutlicher  ist's,   wenn    ein  bekannter  Abzählreim  in  Remda  begann: 

1--20 

Die  Russaren  hielten  Tanz  usw.  (vgl.  Nr.  07). 

Für  deu  Inhalt  vgl.  einen  Vierzeiler  aus  Sarnsthal  i.  d.  Pfalz : 

^ 


ggg=^gia 


j.    Gestern  sin  de  Russe  kumme, 
Hiin  mei  Schätzel  mitgenumme. 
Kreuzsapperlott, 
Jetzt  isch  mei  Schätzel  fort. 

6a.    Ach  ich  bin  so  müde, 
Ach  ich  bin  so  matt, 
Möchte  gerne  schlafen  gehn. 
Morgen  wieder  (früh)  aufstchn. 

Weida,  Gotha,  Kunitz.    —    Eine  schnöde  Umdichtung  aus  Animcrbach  bei  Jena  gibt 
eine  Strophe  zur  Einleitung: 

Gb.   Und  nun  ist  der  Ball  vorüber,  xVch  ich  bin  so  müde, 

Sitzen  wir  zu  Hause  dann.  Ach  ich  bin  so  matt, 

Legen  uns  ins  Bettchen  nieder,  Meine  Krinoline 

Stimmen  dann  das  Liedchen  an:  Hat  'sen  dicke  satt. 

Eine  Parodie  hat  auch  Schumann  Nr.  158.  —  In  Koblenz  die  zweite  Hälfte  verbunden 
mit  einem  anderen  Verse,  zu  dem  Simrock  929 f.  und  Böhme  S.  446  zu  vergleichen: 

7.    Eierkranz,  Meister,  Meister,   schlofe  ginn, 

Wat  gilt  dii  Schanz?  Morge  froh  wieder  ofstinn, 

Eine  decke  Dahler.  Wenn  die  Pipcher  lege 

Wer  soll  bezahle?  Und  die  Hähncher  kriige: 

Glöckelche  of  der  Mauer  Kikerikiki! 

Schlägt  zwölf  Auer. 

8.    Adam  un  Eve 
Sassen  auf  der  Wefe  (=  Garnweife). 
Da  ging  die  Wefe  klipp  klipp  klapp, 
Un  beide  üeFn  in  Käsesack. 
Lehnstedt  bei  Weimar.  —  Vgl.  Böhme  1726;  Schollen  .56. 

9.    All  min  Gösseln,  kom  to  Hus!  :,:  Legt  Eier  ;,: 

Worum  denn?  worum  denn?  :,:  Wo  veel?  :,: 

De  Wulf  is  doa,  de  Wulf  is  doa.  :,:  Pief  bit  sößtein  :,: 

:,:  Wakt  mokt  he  denn?  :,:  All  min  Gösseln,  kom  to  Hus! 


270 


Schläger: 


Holstein.  —  Bekanntes  Durchlaufspiel,  hier  in  der  zweiten  Hälfte  wolil  mit  fiiieni 
anderen  Spiele  verwachsen.  Zu  vergleichen:  Simrock  !I40,  Böhme  S.  Ö72f.:  Müller  S.  19!): 
Handelmanti  S.  77f.,  Müllenhoff  S.  IST;  Firmenich  1,  124.  129.  131;  Lcwalter  Heft .% 
Nr.  58;  ohen  9,  394  Nr.  71. 


^EF!=gz=g=^.*--|--g:^4:p.pr;?:g--|:^:t:it::l 


'^mW^i 


lOa.   Als  ich  einmal  reiste, 
Reist  ich  nach  Tirolerland, 
Da  war  ich  die  kleinste 
In  dem  ganzen  Land. 


Schöne  (Viele)  Herrn  und  Damen 
Standen  (Kamen)  davormeiner(raeine)Tür, 
Wollten  sich  (mich)  beschauen 
Das  kleine  (Armes)  Murmeltier. 

Murmeltier  kann  (muss)  tanzen, 
Eins,  zwei,  drei  und  vier, 
Murmoltier  kann  (muss)  tanzen. 
Das  kleine  Murmeltier  (Eins,  zwei  und  drei). 

Giebichenstein,  Abweichungen  aus  Osnabrück.  Böhme  S.  .J02f.,  Lewalter  Hcftö,  Nr.  61. 
—  Literarischer  Ursprung  wahrsclioinlich.  Rochholzens  Reimpaar  S.  ÖOä.  Nr.  70:!  gehört 
wohl  zu  demselben  Liedc:  die  ganze  erste  Strophe  kehrt  anscheinend  ursprünglicher  in 
einem  ganz  anderen  Volksliode  wieder,  Ditfurth  10,  und  dieser  mutmasslielicn  Giundforni 
steht  der  Anfang  des  Murmeltierliedes  bei  Gerhardt  und  Petsch,  oben  '.),  3'.)2  Nr.  (1.0 
noch  näher.     Zu  vergleichen  auch  Lewalter  Heft  2,  Nr.  39. 

In  Osnabrück  ist  eine  Strophe  nach  der  Weise  „Kommt  ein  Vogel  geflogen"  vorgesetzt: 

1 1  a.    Die  Tiroler  sind  lustig. 
Die  Tiroler  sind  froh. 
Verkaufen  ihr  Bettchen 
Und  schlafen  auf  Stroh. 
Ähnliches  gibt  Sachse  S.  IG  in  einer  Art  (iuodlibet:  dazu  auch  AVunuerhorn,  Anhang 
S.  (!ü  =  Simrock  209. 

Anderes  und  als  selbständiges  Lied  bei  Lewaltcr  Heft  2,  Nr.  20,  dazu  folgende  Thüringer 
Fassung: 


Jena. 

1 1  b.    Die  Tiroler  sind  lustig, 
Die  Tiroler  sind  froh, 
Sie  sitzen  beisammen 
Und  unterhalten  sich  froh. 

Erst  dreht  sich  das  Weibchen, 
Dann  dreht  sich  der  Mann, 
Dann  fassen  sich  beide 
Und  tanzen  zusamm. 


Kölleda. 
1 1  c.    Tiroler  sind  lustig-, 
Tiroler  sind  fein, 
Sie  nuhm'n  sich  ein  Weibchen 
Und  tanzen  dabei. 

Erst  dreht  sich   das  Weibchen, 
Dann  dreht  sich  der  Mann, 
Dann  tanzen  sie  beide, 
Dann  geht  der  Mann. 


Dieses  Kinderlied  (Anfang  auch  Dünger  98)  entstammt  einem  sogenannten  Volks- 
liede  bei  Erlach  4,  37(5,  das  seinerseits  auf  eine  Operette  von  .Jacob  Haibel  'Der  Tyroler 
Wastl'  1795  zurückgeht,  s.  Buch  der  Lieder  (Kollektion  Litolft  SG4)  Nr.  1,')4,  und  Gerhardt- 
Petsch  oben  S,  410  Nr.  10.  [Böhme,  Vtl.  L.  187.  Scliweiz.  Archiv  5,  12.]  —  In  Oberstein 
wird  das  erstere  Lied  in  folgendem  Wortlaute  mit  mimischen  Bewegungen  gesungen: 


^j^^j.^^^3?|£ggSgEri 


lOb.    Als  ich  einst  reiste 
Durchs  Afrikanerland, 
War  ich  die  kleinste, 
Sehr  unbekannt. 


Ein  blauer  Kittel 
Und  ein  Hut  mit  Borsten  (oder:  Quasten) 
War  meine  Bitte  [dran 

Fürs  Schweizerlaud. 


Deutsche  Kinderlieder. 


271 


Ihr  Herrn,  ihr  Damen 
Und  ihr  Mädchen  vor  der  Tür, 
Kamen  zu  schauen 
Ihr  kleines  Murmeltier, 


Gaben  zu  speisen 
Und  zehn  Pfennig  in  der  Hand 
Für  meine  Reise 
Durchs  Japanerland. 


Str.  "J:  Über  Brust  und  Kopf  gestrichen.  J:  Wiederholte  Bewegung  beider  Hände 
von  der  Brust  nach  vorn  und  unten,  bei  „Murmeltier"  wiegende  Bewegung  der  Arme. 
4:  Essen  und  Geldgeben  nachgeahmt;  zum  Schlüsse  wird  ein  Kreis  gebildet  und  nach 
derselben  Melodie  auf  „La  la  la  .  .  ."  getanzt. 

Hier  stimmen  die  beiden  ersten  Strophen  deutlich  mit  Ditfurths  zweiter  Fassung 
überoin,  die  als  Ganzes  folgenden  Wortlaut  hat: 


Als  ich  einstmal  reiste 
In  das  Sachsenweimarland, 
Da  war  ich  der  reichste, 
Das  ist  der  Welt  bekannt. 

12.    (Auf  die  Frage:   Was?) 
Alt  Pass! 
Wenn's  regnet,  wird's  nass, 


Mit  meim  zerrissnen  Kittel, 
Jacken  und  Kamisol, 
Das  waren  meine  Mittel, 
Da  reiste  ich  davon. 

Wenn's  schneit,  wird's  weiss, 

Wenn's  gefriert,  wird's  Eis. 

(Und  du  bist  ein  kleiner  Naseweis). 


Thüringen,  sehr  verbreitet.  Ganz  ähnlich  Simrock  Klü,  Böhme  457,  Dunger  l'J9; 
dazu  Schumann  280,  Stöber  175,  Eochholz  S.  113;  bei  Wegener  17:1  abweichend  und  ohne 
die  erste  Zeile  mit  einem  Kettenreinie  verbunden.  Bei  Fischart,  Aller  Practick  Gross- 
mutter lS7ü  S.  1  hcisst  es:  „Nach  wind  kompt  regen,  wann  es  regnet  ist's  nass,  glaubst 
du  das'^' 


-^-3-i<-*-»-J^f-»-»-»-*-ai- 


1 ^ ^ i-m 

»— • K »— » »5 5 -. (^ T! ; ;; \A 

/ ^ i. — ^ — ^ ij 


i3a.    An  einer  Gartenmauer  (üa  oben  auf  dL'ra  Berge) 
Da  lag  ein  blauer  Stein  ( —  liegt  — ) 

Und  wer  den  Stein  verloren  hat  ( —  wer  ihn  hat  verloren) 
Der  hol'  ihn  wieder  'rein  (kriech'  ins  Loch  hinein). 

Ich  gebe  dir  die  Hand 
Mit  Prcuden  und  gewandt  ( —  unbekannt) 
Tirallala  tirallala  tirallalallala.     (Vidirallala  .  .  .) 


Ich  gebe  dir  'ncn  Kuss 
Mit  Freuden  und  Genuss, 
Tirallala  usw. 


Nun  aber  muss  ich  scheiden, 
Das  tut  mir  herzlich  leide, 
Tirallala  usw. 


Arnstadt,  Abweichuuoen  von  Osnabrück,  wo  die  Weise  der  bei  Böhme  S.  487,  Nr.  220 
sehr  ähnlich  ist.  In  Köthen  ist  die  Weise  wesentlich  dieselbe  wie  in  Arnstadt:  der 
.Anfang  lautet  mit  einer  weiteren  Spielstrophe: 

lob.  Dort  oben  auf  dem  Kirchenturm,  Ich  nehm  vor  dir  das  Mützchen  ab 

Da  steht  ein  blauer  Stein,  Und  sag  dir  guten  Tag, 

Und  wer  seinen  Schatz  verloren  hat,  Citirallala  usw. 
Der  nimmt  sich  einen  rein. 

Ähnlich  bei  Lewalter,  Heft  4,  Nr.  32.  —  Die  Weise  ist  mit  grösseren  oder  geringeren 
.\bweichungen  auch  sonst  häufig,  vgl.  z.  B.  Erk-Bölime  1,    117 e,  zweite  Melodie:  2,  527'', 


272 


Schläger: 


009.  1038.      Dein  Inhalte    nach  vergleichen    sich    andere  T;inz-    und  Spieltexte    wie    Krk- 
Böhuie  2,  üTJir. 


14.    Anna  Mariccheu, 
Wo  willst  du  hin? 
Immer  nach  Sachsen  nein, 


AVo  die  Husaren  sein. 
Ei  ei  ei, 
Anne  Marei! 


Gegend  von  Bürgel-Eisenberg:,    älter.     Ganz    ähnlich  Müller  S.  1 11.     Zugrunde  liegt 
wohl  Erk-Böhme  2,  G21. 


15.  Armer  Sünder,  zu  bedauern. 
Wie  du  da  stehst  und  rausst  lauern. 
Bis  dass  einer  kommt  und  dich  schlägt. 

Einmal  hat  er's  nicht  geraten, 
Ei  so  mag  er's  noch  einmal  sein. 

Einmal  hat  er's  jetzt  geraten, 
Ei  so   braucht  er's  nicht  mehr  zu  sein. 

Arnstadt.    Drosihn  290  ganz  ähnlich,    doch  wohl   aus  Pommern, 
tümlichen  Ursprungs. 

IG.    Auf  dem  Berge  Sinai 
Sitzt  eine  Frau  und  macht  Mini. 
Da  kommt  der  Jude  mett  mett  mett 
Und  nimmt  den  Vogel  nach  dem  Fett. 


Schwerlich   volks- 


Thüringen,    Gegend    von  Flaue. 
Schumann  :590iJ:  oben  ö,  201  Nr.  12f. 


Zum    Anfang   vgl.    Müller  211  f.;    Böhme    173G: 


17.    Auf  der  Juchhöh, 
Da  kochen  se  KalTee, 
Da  tun  se  was  nein, 
Da  schmeckt  er  wie  Wein. 

Niedcrpöllnitz.     Spott  auf  einen  ärmlichen  Ort  des  obere?i  Vogtlands. 

iSa.    Bergmann,  Bergmann, 
Wir  sind  auf  deinem  Berge, 
Fressen  deine  (kleine)  Zwerge. 
Womit  soll  ich  (Mit  was  soll  mer)  grasen? 
Mit  deiner  (der)  langen  Nase. 

Löbstedt,  Jena.  —  Ist  der  „Bergmann"  ein  zwergisches  Bergmännlein,  wie  man  nach 
Pauls  Grundriss  der  germ.  Phil,  l,  1032  wohl  vermuten  kann?  Einen  ^Zwergberg"  gibt 
es  nach  Grimms  Deutschen  Sagen  Nr.  ."!•'.  bei  Jena,  wahrscheinlich  haben  die  Gipsschlotton 
(„Teufelslücher")  am  Wege  nach  Wöllnitz  zu  allerlei  Sagen  Anlass  gegeben.  —  Ob  der 
Schlussreim  mit  dem  übrigen  zusammengehört,  ist  zweifelhaft,  da  die  lange  Nase  sonst 
den  Regenwolken  zugehört  (Simrock  564,  Uhland,  Schriften  3,  344  Anm.  307').  „Burck- 
hart  mit  der  Nasen,  komm  holff  mir  grasen"  in  Fischarts  Spielverzcichnis  (Geschichts- 
klitterung, Kap.  2ü)  hängt  sicherlich  damit  zusammen,  aber  wie?  Der  Vers  verdiente  nähere 
Nachforsclmng. 


1)  Doch  ist  es  möglich,    dass   in    diesem  Falle  die  Bedeutung  anders  liegt:    in  Ost- 
thüringen bezeichnet  die  'lange'  Nase  vielfacli  eine  solche,  die  tropft. 


Deutsche  Kinderlieder.  273 

Folgendes  ist  doch  wohl  eine  Umarbeitung: 

18b.    Mer  sin  in  Amtmanns  Garten;  Mit  der  lang  Nase. 

Wenn  der  Amtmann  kimrat,  Amtmann  kimmt  noch  lange  nich, 

Nimmt  er  uns  de  Sichel  ab;  Bis  de  Zeit  vergangen  is. 
Mit  was  soll  mer  grase? 

Grossschwabhausen  bei  Jena. 

19.    Bettel  bette),  meine  Hand, 
Der  Engel  hat  mich  abgesandt. 
Nicht  zu  gross  und  nicht  zu  klein, 
Wie  der  halbe  Mühlenstein. 

Neustadt  a.  Orla,  älter.  Vollständiger  ein  gleichfalls  ä.lterer  Vers,  mit  dem  in  Auina 
die  Kinder  am  ersten  Weihnachtstage  „frische  Grüne  peitschen"  gingen,  d.  h.  die  Lang- 
schläfer mit  Fichteureisig  kitzelten: 

20.    Frische  Grüne  hübsch  und  fein.       Nicht  zu  gross  und  nicht  zu  klein, 
Pfefferkuchen,  Branntewein.  Wie  ein  halber  Mühienstein. 

Sollst  mir  eine  Gabe  geben 

Hiervon  die  beiden  Anfangszeilen  bestanden  in  meiner  Kindheit  noch  in  Weida: 
anders  gewendet  sind  sie  mir  aus  Guhnitzsch  mitgeteilt  worden: 

21.  Guten  Morgen!   frische  Grüne  1 
PfelTerkuchen  und  Branntewein, 

Das  soll  meine  Gabe  sein. 

In  Kunitz  für  die  letzte  Zeile:    Steck  mir  tausend  Taler  ein. 
In  Stadtilm  hies  es  dagegen  am  Neujahrstage: 

22.  Ich  klinge  das  neue  Jahr  ein 
Mit  Pfefferkuchen  und  Branntewein 
Und  einem  Korb  Äpfel  hinterdrein, 

■wobei  sich  das    „Klingen"   an  dem  „Klingcltage"   gleichfalls  auf  das  Peitschen  mit  Ruten 
beziehen  soll,  s.  Weim.  Jahrb.  2,  128.  —  Ein  anderer  Weidaer  Frischegrüne-Reini  lautet: 

23.    Frische  Grüne  peitsche  ich. 
Ich  peitsche  sie  zu  Lohne, 
Ich  peitsche  sie  zur  Fröhlichkeit 
Und  für  dem  Herrn  N.  seine  Gesundheit. 

Vgl.  noch  Böhme  1719,  Muller  Ißü. 

24.    Bibel  babel  Quätschchenmuss, 

Gimseschnabel,  Wern  de  Kinner  all  bald  gruss. 

Hahuefuss, 

Grosssehwabhausen.  —  Wohl  aus  dem  Anfang  eines  Abzählreims  weitergebildet: 
Böhme  173S,  Drosihu  2l'2. 

2.3.    Blauer,  blauer  Federhut  Jungfrau,  sie  soll  stille  stehn, 

Steht  dem  Mädchen  gar  zu  gut.  Soll  sich  dreimal  umsehn. 

Jungfrau,  sie  soll  tanzen  Jungfrau,  sie  soll  knien. 

Mit  ihrem  schönen  Kranze.  Soll  sich  einen  ziehen. 

Schorkendorf  b.  Koburg.  In  Weida  missverstanden:  1  Fingerhut,  4  mit  dem 
blauen  Ranzen.  Äusserst  verbreitetes  Spiel,  hier  in  vereinfachter  Form:  vgl.  Böhme 
S.  4T3ff.,  Lewalter  Heft  o,  Nr.  22,  Simrock  !i;!2:  Erk-Böhme  2,  9G9.  975,  auch  die  fol- 
genden;   Dunger  374f.:    aus  einem  ganz  fremden  Liede  Müller  S.  63,   Z.  9f.,    Böckel  102. 


•)74  Schläger: 

—  Die  Eingangsformel,   vielfach    auch  als  Kehrreim  gebraucht,   findet    sich  iu  Brentanos 
Geschichte  vom  braven  Kaspcrl  und  der  schönen  Anna  in  folgender  Gestalt: 

Rosen  die  Blumen  auf  meinem  Hut. 
Hält  ich  viel  Geld,  das  wäre  gut. 
Rosen  und  mein  Liebchen. 
Dazu    Simrock    0:1:^,    wo    es    anscheinend   missverstanden   heisst:     Rosen    auf   mein 
Hütchen.    [Van  Duyse  2,  S.  1385.  Ghcsquiere  S.  35.]    Die  obeu  gegebene,  landlilulige  Ein- 
gangsformel .stammt  vielleicht  aus  einem  ganz  anderen  Verschen,  Schumann  .'.15. 

26.    Böttcher,  Böttcher  bum  bum  bum, 
Mach  mir  meine  Nase  krumm. 
Mach  sie  wieder  grade. 
Bist  auch  meine  Pate  (oder:    Sonst  sag  ich's  meiner  Pate). 

Woida,  auch  sonst  Thüringen.  -  Dunger  210;  ähnlich  Simrock  452  =  Böhme  i;U7; 
der  Anfang  kehrt  wieder  Schumann  ;'.90,  während  311  dem  Inhalte  nacli  nahesteht. 

27.    Bussel,  Bussel,  beiss  mich  nich! 
Ich  bin  von  Neckerode; 
Ich  will  e  Musikante  wem 
Und  kenn  noch  keene  Note. 

Lehnstedt  i.  Th.  —  Fischart  gibt  im  Spielverzeiclmis  (Geschichtklitterung,  Kap.  25) 
oine  ähnliche  Zeile;  WollY  bciss  mich  niclit,  die  aber  jedenfalls  zu  einem  anderen  Vers 
L'chört:    Böhme  087  (die  Weise  ist  offenbar  fehlerhaft  aufgezeichnet),  (188. 

•28a.    Christkind,  komm  in  unser  Haus, 
Leer  dein  goldig  Siickel  aus. 
Stell  den  Esel  auf  den  Mist, 
Dass  er  Heu  und  Hafer  frisst. 

Sarnsthal  i.  d.  Pfalz,  ganz  ähnlich  Böhme  157S.  —  2Sb.  Ravensberg-Mindcn  Z.  2: 
Deine  Taschen:  Z. .".:  Das  Pferdchen  untern  Tisch  usw.     Dann  folgender  Zusatz: 

Heu  und  Hafer  frisst  es  nicht.  Will  Vater  und  Mutter  gehorsam  sein.  — 

Zuckerplätzchen  kriegt  es  nicht.  —  Christkind,  komm.    Mach  mich  fromm. 

Ich  will  auch  immer  recht  artig  sein,       Dass  ich  in  den  Himmel  komm! 

Dieser  Zusatz  hat  dreierlei  Ursprung.  Die  beiden  ersten  Zeilen  ^aucli  Böhme  1577 
mit  der  Ilauptstrophe  verbunden)  linden  sich  in  anderem  Zusammenhange  Drosilm  215 
(mit  weiteren  Nachweisen)  und  Böhme  871  =  Simrock  tUO.  Das  folgende  aus  zwei  Kinder- 
gebeten :  von  dem  ersten  ist  mir  nur  die  zweite  Zeile  aus  Simrock  'M>  bekannt  geworden, 
das  zweite  steht  selbständig  bei  Simrock  275,  Böhme  1512,  Stöber  112,  Dunger  12S, 
ähnlich,  aber  auf  die  Rute  bezogen,  Böhme  UlOb,  mit  Erweiterung  Simrock  202  --  Böhme  1579: 
zu  vergleichen  auch  Böhme  1556  a, 

"29.    Da  droben  aufm  Berge 
Da  steht  e  Franzos, 
Der  w'ill  mich  dcrschiess 
Mit  em  Erdöpfelklos. 

Witzmannsberg  bei  Koburg.  —  Vgl,  E.  Meier  S.  G3,  Rochholz  S,  305  Nr.  705,  Erk-Böhme  2, 

S.  79 1  Nr.  105G,  29. 

30,    Dat  Schipp,  dat  Schipp  na  Holland  geiht 

Un  het'n  goden  Wind. 

Schipper,  wilt  du  wiken, 

Stürniann,  wilt  du  striken? 

Seit  de  Segel  op  den  Top 

Un  fohr  damit  na  Holland  rop. 


Deutsche  Kinderliedi'v.  275 

Un  US  dat  Schipp  in  Holland  kiim,      Dat  Peerd  fung  an  lo  brusen,  . 

Do  was  do  nüms  to  Hus  Stenner  ut'n  Husen, 

As  de  olle  Kluckhehn.  Hehn  op't  Heck 

De  Kluckhehn  wusch  de  Schütteln  up,      Füll  mit  de.  Nees  in  Dreck. 

De  Fleddermus  de  fegt  dat  Hus,  Krai  op'n  Stoken 

Un  in  de  grote  Schün  Füll  mit  de  Nees  in  Hoken. 

Do  döschen  se  de  Kopühn  (so),  Kam  oll  Wif,  wuU  ok  mol  sehn. 

Do  döschen  se  Kopphawerstroh;  Un  füll  mit  de  Nees  in  Rinnsteen. 

Holstein.  Eigentümlich  ist  hier  die  Verbindung  der  beiden  sonst  getrennten  Teile, 
die  eine  Veränderung  des  ersten,  zu  den  Eummelpottliedern  gehörigen  hervorgebracht 
hat  (Böhme  1709 f.,  Schumann  5G1,  Simrock  984).  Der  zweite  Teil  ist  ein  Lügenmärchen, 
wohl  ursprünglich  zu  einer  Tierhochzeit  gehörig;  es  enthält  hier  neben  wenigem  Selb- 
ständigen ein  paar  Fehler  und  Lücken,  die  mit  Hilfe  der  anderen  Fassungen  leicht  zu 
bessern  sind:   vgl.  bes.  Böhme  1255 f.,  Schumann  .')G1,  Wegener  325— ooO,  334,  :!oj. 

31.    De  guldne  Schnur  gieht  im  das  Und  ei  de  liebe  Kerche  gioht, 

Haus;  Setzt  se  siech  hien  an  ihren  Ort 

Es  guckt  ne  schiene  Jumfcr  raus,  Und  hieret  still  uff  Gottes  Wort. 

Sie  is  wie  eine  Tugend,  ja  Tugend.  Se  werd  siech  wull  bedenken 

Des  Sonntags,  wenn  se  früh  ufstieht  Und  werd  ins  och  was  schenken. 

Gegend  von  Breslau.  Sehr  ähnlich  Böhme  1G12,  aucli  1G15.  Unser  'Tugend'  ist 
aus  'Tocke'  missverstanden,  wozu  u.  a.  Weini.  Jahrb.  3,  327  zu  vergleichen.  Sehr  eigen- 
artig und  an  alte  Rechtsbräuche  erinnernd  ist  das  Einhegen  des  Hauses  mit  der  goldenen 
Schnur,  an  deren  Stelle  sonst  auch  eine  goldene  Kette,  ein  Seidenfaden  erscheint  (Erk- 
Böhme  3,  1184,  Mannhardt  S.  G77  und  sonst,  Reifferscheid  S.  93;  Böhme  lG32f.,  163G, 
164G,  1(;93.,  170G,  1715c).  Es  ist  wohl  anzunehmen,  dass  beim  Heischen  wirklich  mit 
einer  Schnur  abgesperrt  wurde,  ähnlich  wie  in  meiner  Heimat  (AVeida)  die  Hochzeits- 
wagen noch  heute  mit  einem  Faden  aufgehalten  werden  und  sich  auslösen  müssen. 
Anders  steht's  mit  dem  goldenen  Wickelbande  für  das  Kind,  das  Simrock  983,  Böhme  IGIG, 
Wunderhorn,  Anhang  S.  37  der  Frau  gewünscht  wird. 

Die  Schlussformel  erscheint  noch  öfter,  z.  B.  Böhme  IGlOff.;  so  auch  in  einem 
anderen  Ansingelied  aus  Hirschberg  i.  Schi.: 

32.    Die  Frau  N.  N.  hot  an  roda  Rock, 
Sie  greift  gor  gärn  in  EertoJ)p. 
Sie  ward  sich  wull  bedenka 
An  ward  mor  au  wos  schenka. 

Der  Rock,  zwar  nicht  ein  roter,  spielt  seine  Rolle  auch  in  den  genannten  Versen 
bei  Böhme  usw.;  zu  vergleichen  ist  auch  Simrock  978,  Wunderhorn,  Anhang  S.  31,  wo 
ein  goldener  Rock  gewünsclit  wird.  —  Ein  anderer  schlesischer  Heischespruch  (aus 
Landeshut)  sei  angeschlossen: 

Soa.    :,:  Rute  Rusen  :,:  wachsen  ufm  Stengel; 

:.:  Der  Herr  is  schien,  :,;  die  Frau  is  wie  a  Engel! 

A  Tiechel  lüsst  se  fliegen. 

An  Reichen  werd  se  kriegen 
(hierzu  Drosihn  407).    Oder  statt  der  letzten  Zeilen: 

Der  Herr  der  hot  ne  huche  Mitze, 

A  hot  se  vnll  Dukate  sitze; 

A  werd  sich  wull  bedenka 

Und  werd  mer  och  was  schenka. 
Hierzu  Böhme  1G13,    Erk-Böhme  3,  1225,   auch  Simrock  998,  Wunderhorn,    Anhang 
S.  :!1.     Der  Anfang  erinnert   an    den    bekannten    Erfurter    Ansingevers   in    Falckensteins 


276  Schlager: 

Historie  von  Erfiuth  (Uhland,  Schriften  :'.,  Jü  f.,  Aiim.  02  zu  Kap.  1  der  Abhandhing: 
Böhme  1656). 

Eichen  ohne  Gerten! 

Wir  kamen  vor  ein  :,:  Tälelein  :,: 

Rote  Rosenbliitterlein  usw., 

wozu  freilich  auch  Uhlaud,  Schriften  4,  11  (Anm.  zu  Volksl.  3)  zu  vergleichen  ist.  Er 
kommt  auch  sonst  überaus  häufig  in  Heischeliedcrn,  übertragen  auch  in  Kiltsprüchen  vor, 
vgl.  Weini.  Jahrb.  2,  12(;.  ?>,  327,  Alemannia  4,  ö.  Etwas  verändert  lautet  die  Eingangs- 
fonncl  in  Niedergcbra  bei  Bleichrode  (Aus  der  Heimat  188'.»  Nr.  42;; 

33  b.    :,:  Die  Rose  :,: 
Die  sitzt  an  einem  Stengel; 
:,:  Der  Herr  ist  schön,  :,: 
Die  Frau  ist  wie  ein  Engel 

Noch  mehr  verkürzt  in  Hirschberg  i.  Schi,  mit  weiteren  Wunschzeilen: 

H3c.    Roten,  roten  Stengel!  Sonder  Gott  beschere, 

:,:  Der  Herr  ist  schön,  :,:  :,:  Beschere  Gott,  :,: 

Die  Frau  ist  wie  ein  Engel.  Dass's  ein  rechtes  Glücke  hat. 
Dass  sie  Gott  ernähre, 

Die  Lobpreisung  des  Mannes  oder  der  Frau  hat  eigentlich  wohl  den  Sinn,  die  andere 
Ehehiilfte  günstig  zu  stimmen,  wie  Simrock998  zeigt:  von  Haus  aus  dürfte  demnach  nur  die 
eine  statthaben. 

Das  Eingangswort  des  oben  angezogenen  alten  Erfurter  Verses  hat  es  sicher  nicht 
mit  dem  Eichbaume,  sondern  mit  dem  Ei  zu  tun,  das  ja  vor  allem  beim  Frühlings- 
heischelied  eine  grosse  Rolle  spielt:  der  Anfang  scheint  mit  dem  des  Kreuznacher  Brunnen- 
eierliedchens  (Gärtlein,  Gärtlein,  Brunneneier,  s.  Wuuderhorn,  Anhang  S.  4i»)  ur- 
sprünglich eins  zu  sein.    Hierzu  sei  noch  ein  riosengebirgischor   Ansingereim    mitgeteilt: 

o4.    Summer,  Summer,  Mela  (Mailein?)! 
Gatt  mer  eck  a  Kla, 
Lusst  niiech  ock  ne  lange  stiehn, 
loch  muss  a  Häusla  weiter  giehn! 

Zum  Anfang  vgl.  Simrock  981),  auch  Stöber  20:  der  Schluss  erseheint  sonst  vorzugs- 
weise im  Dreikönigsspruche,  s.  unsere  Nr.  KiS. 

35.  De  Kukuk  un  de  Kiwitt  De  Kukuk  nehm  ou  Steen 

De  danzen  beed  am  Butendiek.  Un  smet  den  lütten  Swed  ant  Been. 

Do  kam  en  lütten  Swed,  Do  schrie  de  lütte  Swed: 

Wüirt  Spillwark  ok  mol  sehn.  Au  au,  lot  noh,  't  deiht  weh! 

Holsteiu.  Sehr  ähnlich  Simrock  6G7,  Böhme  726,  Wegener  288:  auch  Schumann  ISl 
und  Anhang  181  b.  Statt  'Swed'  ist  'Sprecn' -  Staar  einzusetzen.  —  Der  Schluss  erinnert 
sehr  an  Nr.  63,  67  b,  c,  174. 

36.  Der  Baubau  fiel  vom  Dache  Der  Baubau  musste  brummen 
Und  brach  sich  das  Genick,                        Dreihundert  Jahre  lang. 

Da  kam  die  Schutzmannswache  Und  als  die  Zeit  vergangen, 

Und  nahm  den  Baubau  mit.  Da  war  kein  Baubau  da. 

W'eisscnfels.    Jungen  Gepräges,  aber  offenbar  im  Kindermund  entstanden. 

37.  :,:  Der  Blumenkohl  :,:  :,:  Der  (Emil)  :,: 

Das  ist  die  schönste  Pflanze.  Der  geht  wohl  um  das  Haus. 

Und  wenn  (Mariechens)  Hochzeit  ist,        :,:  Was  macht  erV  :,: 
Dann  wolln  wir  alle  tanzen.  Er  stehet  da  und  lauscht. 


Deutsche  Kinderliedcr. 


•277 


Berlin.  Die  zweite  Strophe  ist  wohl  nur  ein  Stegreifzusatz  ohne  weitere  Verbreitung:. 
Die  Eingangsformel  häufig  an  Tanzliedchen,  z.  B.  Simrock  51(>f.,  Böhme  658,  1635, 
S.  494,  Nr.  237  III  =  Lewalter  Heft  5,  Nr.  34,  Schumann  15.3,  697,  am  ursprünglichsten 
vielleicht  Rochholz  S.  184,  No.  312.  —  Die  erste  Strophe  auch  in  Oberstein  nach  Le- 
walters Singweise,  zum  Schlüsse  wird  dann  herumgehüpft  mit  'Juchheirasa'. 

38.  Der  Kuckuck  ist  ein  Preiersmann,     Die  sechste  deckt  den  Tisch, 


Der  alle  Jahr  zwölf  Weiber  nahm. 
Die  erste  kehrt  die  Stube  aus. 
Die  zweite  trägt  den  Kehricht  naus. 
Die  dritte  schürt  das  Breuer  an. 
Die  vierte  setzt  das  Töpfchen  dran. 
Die  fünfte  siedet  den  Fisch, 


Die  siebente  schenket  Bier  und  Wein, 
Die  achte  streicht  die  Taler  ein, 
Die  neunte  schüttelt's  Bettstroh  auf, 
Die  zehnte  wirft  die  Kisschen  drauf, 
Die  elfte  bettet  weich  und  warm. 
Die  zwölfte  schläft  in  Kuckucks  Arm. 


Gegend  von  Ai-nstadt,  beim  Stricken  gesagt.     Vgl.  Erk-Böhme  2,  881.   Reifferscheid 
S.  147;  Böhme  727,  Wegener  287,  Müller  S.  215. 

39a.    Der  Schneider  hat  eine  Maus.     Er  kaui't  sich  einen  Bock. 


Was  macht  er  mit  der  Maus? 

Er  zieht  ihr  ab  das  Fell. 

Was  macht  er  mit  dem  Feli'r' 

Er  flickt  sich  einen  Sack. 

Was  macht  er  usw.  (so  jedesmal). 

Er  tut  hinein  sein  Geld. 


Er  reitet  in  den  Krieg. 

Er  schlägt  sie  alle  tot. 

Er  schlägt  sie  alle  mi-mi-mausetot. 

Was  macht  er  mit  dem  Tod? 

Er  scharrt  ihn  in  den  Sand. 


Löbstedt  b.  Jena.  Das  Ganze  wird  gesagt,  liisst  aber  bei  Zeile  lu,  der  ursprüng- 
lichen Sclilusszeile,  die  ältere  Ausführung  und  zwar  wohl  eine  gesangmässige  erkennen. 
In  Uemda,  wo  der  Spruch  schon  bei  Zeile  9  zu  Ende  ist,  ist  die  Ausführung  anders: 

;i9b.    Es  war  einmal  ein  Mann, 
Es  war  einmal  ein  mi-mu-Mausemann. 

Der  kauft  sich  eine  Maus, 

Der  kauft  sich  eine  mi-mu-Mausemaus  usw. 

Den  Grundstock  bildet  ein  Kettenreim,  vielleicht  als  Spottlied  entstanden  und  jeden- 
falls mit  Nr.  97  verwandt;  in  diesem  Umfang  auch  Simrock  1035  imd  Böhme  1239, 
Lewalter  Heft  3,  Nr.  28.  Die  Löbstedter  Erweiterung  könnte  auf  früheren  Gebrauch  beim 
Todaustragen  weisen.  Sie  kommt  auch  in  Nordhausen  vor  (Aus  der  Heimat,  Sountagsblatt 
zum  Norilliäuser  Courier,  1889  Nr.  19);  dort  leitet  die  letzte  Zeile  'Ergräbt  ihn  in  ein  mia- 
mia-Mauseloch'  wieder  zum  Anfange  zurück:  "Was  macht  er  mit  der  Jlaus?'  so  dass  eine 
endlose  Kette  entsteht  wie  in  dem  bekannten  Liede  'Wenn  der  Topp  aber  nu  ein  Loch 
hat'.  —  Eine  Fassung  aus  Leipzig  oben  5,  202  Nr.  '24.    [Kopp,  oben  14,  71  f.    Unten  S.  310.] 

In  Oberstein  entspricht  der  Text  wesentlich  dem  bei  Lewalter,  nur  folgende  Ab- 
weichungen; 

39c.   Str.    I  Ein  Schneider  hatt'  — 
Str.    7  Er  zählt  hinein  — 
Str.  11  Er  reitet  — 
Str.  13  Da  schiesst  man  — 


Auch  die  Singweise  geht  ein  wenig  anders: 


üüiig^fsgi^J 


•278  Schläger: 

■4(1.    Dort  drunne,  dort  drowe,  Dort  steht  die  (Jretel 

Wo  de  lieerebaam  steht,  Mit  fröhlichem  Mut 

Dort  wo  mer  ins  Nachbcrs  Und  steekt  ihrem  Hansel 

Garte  neigeht,  E  Sträussel  an  de  Hut. 

Sanistlial  i.  d.  Pfalz. 

41a.    Dreii  dich  nicht  rnm. 
Der  Plumpsack  geht  runi. 
Denn  wer  de  rumsicht  oder  lacht, 
Dem  wird  der  Buckel  rollgekracht. 
Hirschberg  i.  Schi. 

4 Ib.    Dreht  euch  nicht  herum. 
Der  Fuchs  geht  runi, 
Sonst  tanzt  er  auf  dem  Buckel  rum. 

Grosssclnvabhausen  i.  Th.     So    andi    Kunitz,    nur   Plumpsack  statt    Fuchs;    Zeile  3 

Kr  winl   euch  auf  den  Buckel    komm.    —    Biihme  S.  55ü,  Nr.  3G(;:  Handelmann  S.  öS  ff., 

Dunger  ;>47.    Vgl.  Rochholz  S.  411,  Nr.  29.     Das  Spiel   ist   schon  für    1GG3   bezeugt,  s. 
Holte  oben  4,  1S4,  danach  Böhme  S.  510. 

4i'a.    Dreie  sechsc  neune.  Anna  Marie  Rumpelkasten. 

Hinter  Lüfflers  Scheune  Wer  wird  nu  die  I^umpen  waschen? 

Harn  sie  o  kleines  Kind  gebracht.  Ich  oder  du. 

Wie  soll  das  nu  heissen?  Haus  bist  du! 

Dresden.    Verkürzt  in  Koburg: 

42  b.    Anna  Maria  Rumpelkasten, 
Wer  will  meine  Windel  waschen? 
Ich  oder  du, 
Möckerle  möckerle  muh. 

42c.    Dreie  sechse  nenne,  Wie  soll  das  Kindlcin  heissen? 

Im  Hofe  steht  die  Scheune,  Karl,  August,  Liese, 

Im  Felde  blüht  der  Weizen.  Du  musst  für  alle  büsse. 

Lehnstedt. 

Dieser  verbreitete  Abzählreim  steht  zu  vielen  Fassungen  des  Liedes  von  den  drei 
Jungfrauen  oder  Mareien  (Nr.  1G7)  in  Beziehung.  Vgl.:  Böhme  :!G9,  :^71ff.,  175So,  1S21, 
ISöGb.  Kochholz  S.  129,  Nr.  2Ü3.  Simrock  177,  178,  185;  S70;  S71  (für  den  Anfang). 
Drosihn  24  I  :  Schumann  r.92a.  Dunger  2S:5,  dazu  30,  32,  33.  Müller  S.  20G.  Süss  S.  10, 
Nr.  38.  Trsprunglich  hat  er  natürlich  nichts  damit  zu  tun.  Meist  bildet  das  Lied  von 
den  drei  Jungfrauen  den  Ausgangspunkt,  dann  ist  das  Auffinden  des  Kindes  der  einen 
zugeschoben.  Indes  kommt  auch  die  umgekehrte  Anordnung  vor,  wobei  die  Verknüpfung 
Uusseriichcr  durch  ein  Haus  anstatt  oder  ausser  der  Scheune  hingestellt  wird,  so  in  einem 
Braunschweigischen  Spruch  (Aus  der  Heimat  1889,  Nr.  28): 

43.    Dreie  sechse  neune,  Der  andre  wickelt  Seide, 

Im  Garten  steht  die  Scheune,  Der  dritte  sehliesst  den  Himmel  auf 

Im  Garten  steht  ein  Hühnerhaus,  und  lässt  ein  w'enig  Sonne  heraus, 

Da  gucken  drei  weisse  Engel  heraus.  Ein  wenig  lässt  er  driu. 

Der  eine  spinnt  Seide,  Annemarie,  spinn! 

Ahnlich  Böhme  1742—15,  1817,  Drosihn  243,  Dunger  282.  Das  Aufschliessen  des 
Himmels,  obwohl  sehr  häufig  (Simrock  179,  lS;)f.,  Wegencr  129,  200,  Hochholz  S.  145) 
gehört  ursprünghch  doch  nicht  in  diesen  Zusannnenhang,  sondern  ist  dem  Petrus  und 
allerlei  Himmclstierchen  eigen:    vgl.  Simrock  040,  557,  5G3,  auch  825,  unsere  Nr.  138,  175. 


Deutsche  Kiuderlieder. 


279 


Die  Schlusszeile  endlich  gehört  mit  der  von  Dunger  312  =  Böhme  1852  allem  Anscheine 
nach  zu  unserer  Nr.  58,  wenn  wir  annehmen  dürfen,  dass  oben  die  Schlusszeile  durcli 
(las  Vorhergehende  herbeigezogen  und  verändert  worden  ist. 


-*^-i 


I     1 


K--K- 


,^N.NN-J_4_, 


44a.    Dreimal  um  den  Kessel  rum, 
Ich  weiss  nicht,  was  ich  (es)  soll? 
Da  kam  ein  wackres  (schönes) 

Mädchen, 
Und  die  sprach  so: 

Weida,  Abweichungen    aus  Koburg. 


(Anna),  du  mein  liebes  Kind, 
Komm  häng  dich  an  mein  Schleier, 
Und  wenn  der  Schleier  in  Stücken 

g'cht  (reisst). 
So  falln  wir  alle  um. 


Ausführung:  ein  Mädchen  geht  um  den  Kreis 
und  holt  sich  nach  und  nach  Genossinnen,  die  an  ihr  Kleid  fassen  und  ihr  nachziehen. 
—  Die  unteren  Noten  gelten  für  Gelsenkirchen,  wo  der  Wortlaut  ist: 


44  b.    Dreimal  um  das  Kästchen, 
Ich  weiss  nicht,  was  da  flog? 
Da  flog  ein  schönes  Mädchen, 
Die  sprach  so; 

Ostheim  vor  der  Rhön: 

44  c.    Dreimal  um  den  Kessel, 
Man  weiss  nicht,  was  da  flogV 
Da  flog  ein  armes  Mädchen, 
Das  war  so: 


(Anna),  du  mein  liebes  Kind, 
Komm  fass  mir  an  den  Schleier, 
Und  wenn  der  Schleier  stolz  zerl)richt, 
So  falln  wir  alle.     Eial 


(Anna),  du  mein  liebes  Kind, 

Geh  hinter  meinem  Schleier, 

Und  wenn  der  Schleier  stecken  bleibt, 

Da  falln  wir  alle  um. 


Ganz  ähnlich  Oberstein.     Anfang:    Dreimal    ums  Haus  herum,    Ich    weiss  nicht  was 

da  floh?  Schluss:  Komm  hinter  meinen  Schi.,    Dann  machen  wir  alle  so  (springen 

in  die  Höhe). 

Sehr  verderbt  endlich  Remda: 

44d.    Dreimal  um  das  Gärtchen 
Flog  ein  schönes  Mädchen, 
Das  sprach  so: 

Ähnlich  Böhme  S.  4G7,  Nr.  1G6. 

Aus  Oberstein  ist  (ausser  der  Mischform  Nr.  281)  noch  eine  Ausartung  zu  ver- 
zeichnen, bei  der  die  Eingangszeilen,  freilich  verändert  nach  Böhme  S.  143,  Nr.  7:! f.,  zu 
einem  ganz  anderen,  mir  sonst  nicht  begegneten  Lied  überleiten: 


(Ann»),  du  mein  liebes  Kind, 
Geh  ab  Ton  meinem  Schleier, 
Sonst  fallen  alle  Eier. 


44 e.    Kreis,  Kreis,  Kessel, 
Ich  weiss  nicht,  was  da  sang? 
Da  sang  ein  kleines  Mäuschen: 
Meine  Mutter  liat  mich  geschlagen, 

Gesungen  wie  die  ersten  beiden  Zeilen  unserer  Nr.  281. 
45.    Driba  uf  der  Tenne 
Liegt  ane  gebrotne  Henne 
Unter  an  Gebindel  Struh  gesteckt 
An  mit  a  Sammel  zugedeckt. 


Mein  Vater  hat  mich  lieb  gehabt 
Und  hat  mir  alles  mitgebracht. 
Kreis,  Kreis,  Kessel! 


(Der  Mann:  Was  singst  du  denn  da?) 

Bist  du  nicli  a  dummer  M;in, 

Mer  singt  da  Kindern,  wos  nier  kaii. 


280  Schläger: 

Hirschberg  i.  Schi.  Die  Frau  hat  ihrem  Liebhabor  eine  Henne  gebraten  und  will 
es  ihm  in  Gegenwart  ihres  Mann^'s  zu  verstehen  geben.  Vgl.  Wegener  95,  Schumann 
G-11:  Erk-Böhnic  ;)Ül>.  Ähnliches  in  Boccaccios  Dccamcrone  7,  1:  ob  die  deutschen  Verse 
auch  in  eine  Schwankorziiblung  gehören''  [Bolto,  Sin;,'spiele  der  engl.  Kumödianten  180:'> 
S.  45'.  188.  Hoffmann  v.  F.,  Findlinge  1,  118  und  Ndl.  Volkslieder  J."i(j.  Brunk, 
Garzigar  S.  23  und  Beiträge  z.  Gesch.  Pommerns  lSi)8,  S.  2G0  Nr.  8.  Jahrb.  f.  d.  Landesk. 
Schleswigs  4,  IG'.).  7,  078.  Kristcnsen,  Skjämtesagn  l'JOO,  S.  1-24.  Afzelins,  Schwed.  Volks- 
sagen 18-12  2,  279.  Volkskunde  2,  49.  5,  20.  Kryptadia  2,  llö.  Revue  des  trad.  pop. 
0,  352.  10,439.     Lambert,  Chants  du  Languedoc  1,  &.| 

4(i.   Ehreson,  Ehreson  Wer  mit  will  fahren, 

Fuhr  in  seinem  Luftballon  Steig  nein  in  Kahn, 

In  die  Höh,  in  die  Höh  Ridirudiralhija 
Mit  der  Jungfrau  Salomo  (so!). 

Gegend  von  Koburg.  Erweitert  aus  Böhme  (üO:  Dünger  112  gibt  eine  andere  Er- 
weiterung, wohl  nach  dem  bekannten  ABC-Verse  vom  Kälzchen,  das  mit  weissen  Höschen 
aus  dem  Schnee  kam;    ich  selber  hörte    in  moiner  Kindheit  in  Weida    folgenden  Schluss: 

Als  sie  wieder  runter  kam, 
War  sie  eine  jung  Madam. 

Iber  die  geschichtliche  Herkunft  (Kobinson  =  Robertson^  vgl.  Böhme  a.  a.  0.:  der 
Vers  wird  einem  Kouplet  entstammen. 

47a.    Eia  popcia,  was  nistolt  im  Stroh? 
Das  sind  die  Ivleinen  Gänschen,  die  haben  keine  Schuh, 
Der  Schuster  hat  Leder,  keinen  Leisten  dazu, 
Da  kriegen  die  kleinen  Gänschen  noch  lange  keine  Schuii. 
Neustadt  a.  0.,  alt.     Statt  Z.  .')  und  4  auch: 

Müssen  wir  in  die  Stadt  nein  hiufcn 

Und  den  kleinen  Gänschen  Schuhe  kaufen, 

was  ich  in  den  mir  bekannt  gewordenen  Texton    noch  nicht   gefunden    habe.     Anderseits 
hat  das  Liedchen  in  Grossschwabhausen  i.  Th.  eine  noch  nicht  aufgezeichnete  Weise : 


iisi3ieäppiigiSEliHr}Egg 


mim^m^i^mm 


-r 

47b.    Eichen  popeichen,  was  raschelt  im  Stroh? 
Sind  die  Wullegänschen,  die  ham  keine  Schuh. 
Schuster  hat  Leder,  kein  Leisten  dazu, 
Gehn  die  Wullegänschen  ohne  Schuh. 

48.    Eichen  eichen  eichen, 
Koch  dem  Kindchen   Breichen 
Uiid  ein  bisschen  Zuckerchen  nein, 
Schmeckt  dem  Kindchen  gar  zu  fein. 

-Arnstadt.  Echt  thüringisch  mit  den  gehäuften  Kosesilben.  Vgl.  Wunderhorn,  .4nhang 
S.  65,  Str.  4  =  Simrock  217,  Böhme  55',  91,  |Wossidlo  15]:  anders  ist  der  Ausgang  Süss 
S.  22,  Nr.  96,  Wegener  22,  Drosihn  31,  wozu  auch  folgender  Jenaer  Vers: 

49  a.    Eie  beie  bisch  bisch  bisch. 
Morgen  kochen  wir  Fisch  Fisch  Fisch, 
Tun  ein  Stückchen  Zucker  dran, 
Dass  das  Kind  hübsch  babbeln  kann. 


Deutsche  Kinderlieder.  281 

Hier  liegt  natürlicli  eine  Kreuzung  vor,  der  zweite  Spruch  heisst    in  der  Gegend  von 
Koburg,  mit  Abweichungen  von  Grossschwabhausen: 

49  b.    Heia  popeia  wisch  wisch  wisch  (Eie  beie  bisch  b.  I3.), 
Morgen  essen  (kochen)  wir  Fisch  Fisch  Fisch, 
Übermorgen  Schweinebraten, 

Da  wird  Herr  N.  X.  cingehiden  (Da  woll'n  wir  das  Kind  zum  Gast 

einladen). 

Kunitz:  Heie  buie  bisch.  Da  wird  der  N.  X.  zu  Gaste  geladen.  Hierzu 
Dünger  13,  zu  vergleichen  auch  Simvock  "211,  Wegener  17  Anm.  —  48  uud  49  a  erinnern 
übrigens  sehr  an  eine  alte  Weihnachtsstrophe:  Simrock,  Deutsche  Weihnachtslieder 
S.  109,  Str.  4. 

5()a.    Ei  Herr  Papa  Jiiner,  Das  hat  er  lassen  stehn. 

Wie  hat  er  sich  versehn  I  :,:  Hat's  falsch  gemacht,  :,: 

Das  allerschönste  Miidchon,  Drum  wird  er  nun  auch  ausgelacht. 

Seehausen  i.  d.  Altmark.  Zum  Papagcnospiel  s.  Drosihn  288f.,  Böhme  S.  GoO, 
Nr.  516.  —  In  Jena  mit  einem  fremden,  aber  ganz  passenden  Eingang  versehen,  der  bei 
Drosihn  Nr.  100  selbständig  erscheint: 

50b.    Es  zogen  viele  Vögelein  Ei  ei,  der  Papa  Gerio, 

Durch  einen  grünen  Wald,  Wie  hat  er  sich  versehn! 

Die  sangen  ihre  Liederlein,  Er  hat  die  schönsten  Vögelein, 

Dass  alles  wiederhallt.  —  Die  hat  er  lassen  sehn  (so!) 

51.    Ein  alter  Postmeister  mit  sechzig  Jahren 
Der  wollt  mit  sechs  Schimmeln  in  Himmel  nein  fahren. 
Die  Schimmel,  die  Lümmel,  die  machten  Trab  Trab 
Und  warfen  den  alten  Postmeister  herab. 

Berga  a^  d.  Elster  (alt).  Zu  Böhme  426  =  Simrock  189,  Dunger  37.  Das  Verschen 
gehört  offenbar  zu  den  sogen.  Knieliedern,  der  Schhiss  ähnelt  denn  auch  dem  von 
Nr   234a.     [Wossidlo  489.] 


52a.  Ein  Bauermädchen  in  der  Stadt,  Ein  reicher  Herr  gegangen  kam. 

Die  Äpfel  zu  verkaufen  hat,  Der  ihr  die  Äpfel  all  abnahm. 

Sie  ging  die  Strasse  auf  und  ab:  Ach  Kind,  ach  Kind,  Sie  irren  sich. 

Wer  kauft  mir  meine  Apfel  ab?  Die  Äpfel  schmecken  säuerlich. 

-Vch  Herr,  ach  Herr,  Sie  irren  sich. 
Mit  saurer  Ware  handl'  ich  nicht. 

Lalala 

Köthen  und  Giebichenstein :  an  letzterem  Orte  fand  ich  die  Weise  völlig  gleich  der 
von  „Du  grünst  nicht  nur  zur  Sommerzeit"  usw.  Eine  andere  Melodie  gibt  Lewalter 
Heft  4,  Nr.  11.  —  Jlit  einer  Fortsetzung  lindet  sich  das  Lied  im  sogenaunten  Leipziger 
Kommersbuch:  vielleicht  stammt  es  wirklich  aus  dem  Studentenliedey  In  Oberstein,  wo 
es  mimisch  aufgeführt  wird  (und  zwar  muss  das  Mädchen,  der  landUluligen  Art  des  Korb- 
tragens entsprechend,  die  Hände  auf  dem  Kopfe  halten),  klingt  die  Weise  deutlich  an  die 
des  Gaudeamus  an,  die  freilich  auch  sonst  im  Kindermunde  zu  linden  ist  (vgl.  Nr.  144  bc): 

Zeitschr.  (1.  Vereins  f.  Volkskunde.    1907.  19 


•282  Schläpcr: 

52  b.    Es  ging  ein  Mädciicn  durch  die  Stadt, 
Das  Äpfel  zu  verkaufen  hatt. 
:,:  Di  hollali  di  hollala  :,: 

Ein  reicher  Herr  gegangen  kam,  Ach  nein,  ach  nein,  die  mag  ich  nicht, 

Die  Äpfel  von  dem  Kopfe  nahm  usw.       Die  Äpfel  sind  so  säuerlich. 

Ach  nein,  ach  nein,  Sie  irren  sich, 
Die  Apfel  sind  nicht  säuerlich. 

53  a.    Eine  kleine  weisse  L5ohne  Und  der  Schlüssel  abgebrochen. 

Ging  einmal  nach  Engelland;  He— ru— ri— raus  sein. 

Engelland  war  zugeschlossen 

Arnstadt,  Abzählreim.  Dazu  Simrock  823,  024,  926,  Böhme  1752  ff.,  Mannhardt, 
Germanische  Mjthen,  S.  :i28fl'.,  Schumann  429.  —  Eine  Schlus.serweiteruug  bietet  eine 
alte  Leipziger  Passung: 

53  b.    Eine  kleine  weisse  Bohne  Vier  Pferde  vor  dem  Wagen, 

Ging  mit  mir  nach  Engelland;  Hätt  ich  die  Peitsche,  wie  wollt  ich  sie 

Engelland  war  zugeschlossen  schlagen! 

Und  der  Schlüssel  abgebrochen. 

Ebenso  Böhme  1754,  17.')'.).  Dunger  295;  auch  Küchholz  S.  ;j98,  Nr.  IG.  Sie  erinnert 
an  einen  anderen  Abzählreim,  dessen  Grundform  schwer  zu  erkennen  ist;  eine  Kieler 
Fassung  lautet: 

54.  Ele  mele  nieklesohn,  Knacks  de  Lüs  op't  Teller  dod. 
Ha'k  en  Stock,  denn  wull'k  di  slohn         Wull'ns  nich  knacken, 

üp  dat  Käs-  un  Botterbrod,  Sloh's  an  de  Backen. 

Hierzu  Schumann  411,  auch  Drosilm  207,  Simrock  142:  man  vergleiche  auch  Nr.  125 
Häufiger  ist  die  Verbindung    mit  einem  Vierzeiler,    der  Wunilerhorn,    Anhang  S.  85, 

Simrock  C92,   Böhme  ÜG5,    i;i58,    Stöbev  110,    Erk-Böhmc  2,  775  Auni.  selbständig   steht. 

In  Weitramsdorf  b.  Koburg: 

55.  Enne  wenne  winne  wanne,  Dass  er  mich  nicht  bcissen  kann. 
Geht  der  Herr  nach  Engelland?  Beisst  er  mich,  so  straf  ich  dich, 
Engelland  ist  abgeschlossen  Tausend  Taler  kost  es  dich, 
Und  der  Schlüssel  ist  zerbrochen.  Oder  e  Bündel  Keisig. 

Bauer,  bind  dein  Pudel  an, 

Vgl.  Simrock  822,  Böhme  17:51  f.,  1755;  Jahrb.  des  Ver.  für  niederd.  Sprachf.  10,  113; 
Schumann  129b.  —  Die  Schlusszeile  der  obenstehenden  Fassung  erklärt  sich  wohl  aus 
Stöber  116:    Beisst  er  mich,  so  straf  ich  dich  Um  c  Gulder  drissig. 

56.    Einen  Glinzerglanz,  Einen  Birnenstiel  — 

Einen  Firlefanz,  Merk  auf,  wen  ich  dir  geben  will! 

Einen  Radenkranz, 

Culmitzsch    im  Neustädter  Kreise,    alt.     Ein  Ratespiel:    im    Anschluss   an    den  Vers 
wird  eine  Person    mit  Merkmalen  bezeichnet    und  muss  gefunden  werden.     Z.  :'>  mag  ein 
Erinnerung  ans  Kranzsingen  enthalten,   vgl.  Uhlands  Abhandlung  zum  Volksliede,  Kap.  3. 

57.    Ein  Kätzchen  kommt  gegangen. 
Das  wollt'  das  Mäuschen  fangen; 
Doch  kommt  das  Kätzchen  in  das  Haus, 
Läuft  schnell  das  Mäuschen  wieder  hinaus. 

Jena,  Weida.     Katz-  und  Maus-Spiel,  klingt  wenig  volkstündich. 


Deutsche  Kinderlieder.  ^83 

58.    Ein  Reiter  wollt  sein  Pferd  Miidel  um  die  Scheune, 

beschlagen,  Miidel  um  den  Ring, 

Wieviel  Nägel  muss  er  haben?  Alte  Hexe,  spring! 
1.  2.  3.  4.  5.  G.  7.  8.  neune, 

Norddeutscliland.  Zusammengewachsen  aus  zwei  Abzählreimen.  Der  erstere,  ge- 
legentlich in  anderen  Verbindungen,  Simrock  SiiGf.  (vgl.  dazu  l.')4 — 157  mit  Anhang), 
Böhme  2ajf.  1777f.  u.  S.  6:U,  Nr.  525:  Drosihn  50,  Scimmaun  !."4,  Dünger  -27—29,  28Ü, 
Müller  S.  17G,  Süss  S.  18,  Nr.  7;!.     Etwas  andere  Form  in  Gössel  b.  Plane: 

59.    Mein  Vater  Hess  einmal  ein  grosses  Rad  beschlagen; 
Wieviel  braucht'  er  Nägel  dazu? 
Das  rate  einmal  du! 

Hierzu  Müller  S.  210,  H.  Meier,  Ostfriesland  S.  2:'!4.  Der  zweite  Teil  selbständig 
Drosihn  245,  vgl.  auch  Simrock  871,  Böhme  1777  f.  und  allem  Anscheine  nach  Dunger  312 
=  Böhme  1852,  ferner  unsere  Nr.  42f.:  Schlusszeile  Böhme  ISXJ. 

60a.    Eins,  zwei,  drei,  Eins  lag  unterm  Tisch, 

Bicke  backe  bei,  Kam  die  Katze  und  frass  den  Fisch. 

Bicke  backe  Ohren,  Kommt  die  Mutter  mit  der  Rute, 

Es  wurden  mal  zwei  Kinder  geboren.  Schlug  das  Kätzchen  auf  die  Pfote, 

Eins  lag  auf  dem  Tisch,  Schrie  das  Kätzchen  miau. 

Grossmölsen  i.  Th.  .\l)nlich  Simrock  842,  Dunger  255;  Z.  1  —  4  Simrock  843 
=  Böhme  1790,  vgl.  Rochholz  S.  131.  —  Einen  anderen  Eingang,  der  bei  Nr.  213b  auf- 
geführt ist,  hat  eine  Jenaer  Fassung  mit  folgendem  Fortgang: 

60b.    ...  Eins  unterm  Tischchen,  Schlug  das  Kätzchen  auf  die  Leber. 

Zwei  gebratne  Pischchen.  Mie  mau  muff. 

Kam  das  Kätzchen,  wollte  naschen:  Schlag  nur  immer  druff! 
Kam  der  kleine  Leineweber, 

Bis  auf  den  hier  geiinderteu  Schluss  entsprechen  dem  Böhme  1766,  Dunger  254;  bei 
Schumann  365,  Müller  S.  205,  Drosihn  229  Anm.  statt  Leber  wohl  richtiger  Leder.  — 
Keiner  von  den  beiden  Eingängen  gehört  wohl  von  Haus  aus  zu  diesem  Reime.  Die  ge- 
läuiigste  Form  findet  sich  bei  Simrock  841  =  Böhme  17s<1,  Wunderborn,  Anhang  S.  84. 
Zu  vergleichen  sind  noch:  Simrock  840  =  Böhme  1763  wegen  des  Schlusses;  Drosihn  223; 
JMiederdeutsches  Korrespondenzblatt  8,  35,  Jahrbuch  10,  112;  Sachse  S.  15. 

61.    Eins,  zwei,  drei, 
Bicke  backe  hei, 
Bicke  backe  Hiftendorn. 
Ich  oder  du  musst  schnorrn. 

Culmitzsch  im  Neustädter  Kreise,  alt.  Der  Eingang  beim  folgenden  Verse;  die 
Schlusszeile  mit  anderem  Eingänge  Dunger  277,  allerlei  Erweiterungen  dazu  unter  Nr.  68. 

62.    Eins,  zwei,  drei,  Schnitzt  er  mir  'ne  Taum  (Daube?), 

Bicke  backe  hei,  Wer  will's  glaum? 

Bicke  backe  Hiftendorn,  Ich  oder  du 

Ist  mein  Vater  ein  Schnitzler  worn;  Oder  die  Kuh? 

Rossach  (Koburg).  Z.  5  ff.  anders  Böhme  1791  (dazu  1831)  nach  Simrock  846  und 
Wunderhorn,  Anbang  S.  85,  Dünger  256,  Schumann  372,  Stöber  124.  —  Öfters  begegnet  Ver- 

19* 


•J84  Schläper: 

waclisunj;  mit  oiiiom   ganz   anderen  S))ruchc,   so  Stübcr  12;>   und  Hölinio   hslile  aus    deui 
Elsass,  auch  in  Franken    Weitramsdorf  b.  Koburg,  Abweichungen  von  l'mmerstadt^: 

C3.    Enne  benne  (Bicke  backe)  (U.:  Droben  sassen  drei  lose  Buben. 

Hiftondorn,  Die  assen  alle  gelbe  Rüben.) 

Ist  mein  Vater  ein  Schnitzer  worn,  Der  erste  wollt  mich  mit  lass  essen, 

Schnitzt  er  mir  eine  lanijo  Schnur.  Der  zweite  hat  mich  ganz  vergessen. 

Dass  ich  nauf  zum  Himmel  fuhr.  Der  dritte  nahm  die  Schüssel 

Sitzen  drei  Engel  hinterm  Tisch,  Und  schlug  mich  auf  den  Rüssel. 
Essen  drei  gebackne  Fisch. 

Das  Hauptstück  daraus  Müller  S.  183  und  l'-22.  Dunger  :'.:'.(I  in  anderem  oder  viflmclir 
ausser  Zusammenhange,  mit  glaubhafterer  Einleitung  Dunger  V'G.  —  Die  Verwandtschaft 
mit  unserer  Nr.  W  ist  nicht  leicht  zu  greifen.  Dagegen  ist  das  Stück  im  Grund  ()frenl)ar 
gleich  unserer  Nr.  174,  zum  Eingang  vgl.  Nr.  lO-l.     • 

64.    Eins,  zwei,  drei.  s  Messer  liegt  daneben. 

Hicke  hacke  hei,  Wer  essen  will,  niuss  beten. 

Hickc  hacke  Lölfelstiel,  Beten,  beten  kann  ich  nicht, 

Alte  Weiber  essen  viel.  Beten  liegt  zu  Hamburg  nicht. 

Die  jungen  müssen  fasten.  Hamburg  ist  ne  grosse.  Stadt, 

's  Brot  liegt  im  Kasten,  Wo  mein  Schätzel  gheirat  hat. 

Sarn.sthal  i.  d.  Pfalz.  Das  erste  Stück  (Z.  1— T)  mit  anderem  Eingang  und  mit  einer 
Schlusszeile  „Ei  was  ein  lustig  Leben'':  Wunderhorn,  .Anhang  S.  37 f.  -■  Simrock  82,  Böhme 
21>"):  dazu  Böhme  S.  704,  Nr.  li)  eine  Erweiterung,  uns  aus  Nr.  153,  Z.  (!  f.  bekannt:  zu 
vergleichen  noch  Simrock  s:!  =  Bölmie  2 U!,  Böhme  181o:  Z.  G  u.  7  in  Klopfanliedern: 
Böhme  1G88,  Wcim.  Jahrb.  2,  128.  —  Z.  8:  vgl.  Simrock  87  ^  Böhme  4-lG.  Für  den  an- 
geflickten Schluss  weiss  ich  keine  Entsprechun;:.  —  Die  Eingnngsl'ormel  mit  der  Keimzeile 
erinnert  an  unsere  Nr.  212  in  der  Fassimg  Müller  S.  1?4,  Nr.  28  und  Dünger  IG.'):  ferner 
hat  denselben  Eingang  ein  Thüringer  Reim  bei  Böhme  222,  mir  aus  Grossmölsen,  Gross- 
schwabbausen  und  Kunitz  mit  etwas  anderer  Schlusszeile  bekannt:  Arme  Leute  essen  Dreck: 
in  Aninierbach  bei  Jena  ist  die  ganze  zweite  Hälfte  anders: 

G5.    Leier  leier  Löffelstiel, 
Arme  Leut(>  hann  nicht  viel, 
Keine  Kuh  und  keine  Ziege, 
Müssen's  bloss  vom  Bäcker  kriege. 

GG.    1,  2,  y,  4,  ö,  G,  7,  8 
Die  Kirche  kracht, 
Das  Haus  füllt  ein. 
Und  du  musst  es  sein. 
Koburg. 

i;7a.    1—20  Die  Soldaten  mussten  rennen. 

Die  Soldaten  gingen  zum  Tanz.  Ohne  Strumpf  und  ohne  Schuh 

Da  fing  es  an  zu  brennen  (sonst  auch:  Rannten  sie  der  Heimat  zu. 
Moskau  fing  an  usw.), 

.Icna.  Tanz  aus  Danzig,  statt  Soldaten  hcisst es  meist  Franzosen.  SoSimrock 
S77,  Böhme  1827,  Drosihu  247  f.,  2.J0,  Dunger  278,  Schumann  OOö,  dazu  Wegeucr  .)1,  GO. 
In  Rcmda:  Die  Uussarcn  hielten  Tanz  (vgl.  bei  Nr.  1),  Der  Tani  fing  an..,  DieR^... 
—  Das  Stück  enthält  sicherlich  echte  geschichtliche  Erinnerungen,  aber  diese  gehen  über 
das  nächstliegende  Ereignis  hinauf,  wie  sie  sich  anderseits  auch  mit  späteren  verschmolzen 
haben  (Böhme  1827  c).  Die  beiden  letzten  Zeilen  führen  in  einem  Schweizer  Reime, 
Rochhnlz  S.  .■>7,    Nr.  l.'iO   in  die  Zeit    der  franiösisoheii  Kovcliition.   und  ihr  Erscheinen  in 


Deutsche  Kinderlietler.  285 

einem  historischen  Volksliede  bei  Ditfurth  Nr.  121  und  126,  Erk-Böhme  2,  35li  lässt  ge- 
nauere Beziehung  auf  Jourdans  Rückzug  durch  Franken  im  Jahre  1798  erkennen;  sie  sind 
anderseits  späteren  Ereignissen  angepasst  worden,  s.  Erk-Böhme  2,  353b  —  kurz,  wir 
können  hier  im  kleinen  ein  wichtiges  Stück  Leben  aller  echten  Volksdichtung  erkennen.  — 
In  Lehnstedt  bei  Weimar  erweitert: 

()7b Das  biss  den  Hauptiiiiinn  in  das  Bein. 

Liefen  sie  nach  Frankreicli  zu.  Der  Flauptmann  schrie:  O  weh,  o  weh, 

In  Frankreich  war  ein  wildes  Schwein,     Mein  linkes  Bein  tut  mir  so  weh! 

.\Iinlich  in  Arnstadt,  nur  dass  es  hier  gleich  nach  Z.  2  heisst: 

G7c 

In  Danzig  war  ein  grosses  Schwein, 
Das  biss  den  Hauptmann  in  das  Bein. 
Da  schrie  der  Hauptmann:   Weh,  o  weh. 
Mein  linkes  Bein  das  tut  mir  weh! 

Hier  ist  Zusammenhang  mit  Nr.  35,  174  nicht  zu  verkennen,  auch  Simrock  ö2!l  klingt 
entfernt  au.  Jedoch  scheint  auch  hier  eine  echte  geschichtliche  Erinnerung  den  Zuwachs 
herbeigeführt  zu  haben:  man  vergleiche  Simrock  8G3  (1  —  7,  Wo  sind  die  Franzosen  ge- 
blieben? Zu  Moskau  in  dem  tiefen  Schnee;  Da  riefen  sie  alle:  0  weh,  o  weh,  Wer  hilft 
uns  aus  dem  tiefen  Schnee  V),  Schumann  384  und  Rochholz  S.  123,  Nr.  2I()a,  das  deutlich 
an  ein  echtes  historisches  Volkslied,  Erk-Böhme  2,  :110,  erinnert. 

68a.    1-13 
Wer  kauft  Weizen, 
Wer  kauft  Korn? 
Der  bleibt  vorn. 

Greiz.  Etwas  abweichend  von  der  gewöhnlichen  Fassung:  diese  bei  Simrock  87.5 
=  Böhme  1825  =  Dunger  27(i,  mit  leichter  Änderung  Schumann  3'J4,  mit  anderer  Wendung 
■der  ganzen  zweiten  Hälfte  Simrock  874,  Drosihn  24G.  Als  letzte  Zeile  erscheint  häufig 
,,Ich  oder  du  nmsst  schnorru"  wie  bei  Nr.  Ol,  z.  B.  Dunger  277  =  Böhme  1820  und  mit 
Änderung  Müller  S.  2(')0,  Nr.  14;  sonst  genau  der  Greizcr  Fassung  entsprechend  in  Koburg,  wo 
die  Schlusszeile  lautot  „Der  macht  sich  eine  gelbe  Schnorrn"  (offenbar  Schnurre  =  Schnurr- 
bart). In  Jena  und  Remda  erscheint  die  Greizer  Fassung  mit  der  Reimzeile  „Der  muss 
achnorrn"  um  folgende  zwei  Zeilen  erweitert:  „Wer  kauft  Asche?  Der  muss  hasche."  — 
In  Grossschwabhausen  i.  Th.  ist  noch  eine  ganze  Kette  zwischeneingeschoben: 

68  b.    1 — l.)  Der  muss  schnorrn. 

Wer  kauft  Weizen?  Wer  kauft  Kuchen? 

Wer  kauft  Gerschte?  Der  muss  suchen. 

Der  kriegt's  merschte.  Wer  kauft  Asche? 

Wer  kauft  Korn?  Der  muss  hasche. 

Hiervon  stammen  Z.  7  und  8  aus  einem  anderen  Abzählreime:  Simrock  835,  Müller 
S.  209,  Nr.  15. 

G9.    1—7 
Eine  alte  Bauersfrau  kocht  Rüben, 
Eine  alte  Bauersfrau  kocht  Speck, 
Und  du  rührst  und  schierst  dich  weg. 

Grossschwabhausen.  Sonst  lautet  in  Thüringen  die  Schlusszeile  den  bekannten 
Fassungen  gleich  oder  ähnlich:  Simrock  8G4,  Böhme  1814,  Sclmmann  389,  Rochholz  S.  123, 
Nr.  24Ga. 


-28G  SchlSger: 

70.    1—7  Mädchen  tragen  Myrtenkränze, 

Helft  mir  meinen  Schubkarrn  schieben  Buben  tragen  Rattenschwänze. 

Nach  Berlin,  nach  Berlin,  Mädchen  kommen  ins  Himmelreich, 

Wo  die  schönen  Mädchen  bliihn.  Buben  in  den  tiefen  Teich. 

Woida.  hl  Sachsen  Schiellbock  statt  Schubkarren;  eine  ältere  Leipziger  Fassung 
hat  nach  Z.  4:  jMädcheii  tlas  sind  goldne  Engel.  Jungen  das  sind  Gassenbengel.  Vgl. 
Müller  S.  IS],  Nr.  2G,  Dunfrcr  15'J,  Schumann  :»(!,  für  den  Anfang  Böhme  1812,  auch 
Anhang  Nr.  17.  —  In  Grossschwabhausen  wie  oben,  nur  mit  kürzerem  Eingang:  1—7  In 
Kerlin,  Wo  .  .  .,  in  Löbstedt  bei  Jena:  1—7  In  Berlin,  in  Stettin,  Wo  .  .  .  Madchen  das 
sind  reine  Engel,  Jungen  das  sind  Strassenbengcl;  Mädchen  kommen  ins  Himmelreich, 
Die  Knaben  drücken  wir  in  die  Pfützeu  gleich.  Hier  ist  wohl  eine  Eingangsfrafje:  ,.Wo 
ist  denn  mein  Schatz  geblieben?''  ausfrefallen,  vgl.  Böhme  Anhang  17  und  Schujnann  SSG, 
sowie  noch  Schumann  ;)8.'>,  B.ihme  S.  ÜK),  Nr.  227,  Erk-Bühme  2,  900,  Müller  S.  2()S,  Nr.  11 
(ebenso  Koburg)  und  folgende  Abänderung  aus  Löbstedt: 

71.  1—7 

Wo  ist  denn  mein  Schatz  geblieben? 

In  Berlin,  in  Stettin, 

Wo  die  Rosen  zweimal  blühn. 

Zu  den  Neckversen,  die  wohl  auch  oben  nur  angetlickt  sind,  vgl.  Nr.  10.3,  auch 
Böhme  1279,  Erk-Böhme  2,  Ofiilc. 

72.  1—7 

Lasst  mir  meine  Minna  giehn: 
Sie  kann  stricken,  sie  kann  nähn, 
Sie  kann  auch  das  Spulrad  drehn. 

Weida.  Sehr  ähnlich,  bis  auf  die  letzte  Zeile,  Müller  S.  208,  Nr.  10:  sonst  zu  ver- 
gleichen Dunger  45  =  Böhme  .">t)6,  auch  Böhme  öOSff.:  Simrock  352 -:h  7,  zu  15.52  Erk- 
Böhme  2,  853,  zu  353  (=  Wunderliorn,  Anhang  S.  79;  Nicolais  Kleiner  feiner  Almanach 
2,  23  und  Müller  131,  Nr.  2(1. 

73.  17 

Muss  ich  vor  der  Wiege  knien, 
Muss  ich  singen:  Husch  husch  husch, 
Kleiner  Schlingel,  halt  dei  Guschl 

Koburg.  .\hnlich  Dunger  272,  auch  311:  Zeile  2  ff.  erinnert  an  das  bei  Nr.  122b 
erwähnte  ältere  Volkslied  Weim.  Jahrbuch  3,  311  f..  Böckel  40,  Müller  S.  43  f.,  Erk-Böhme 
2,  5:;G,  wozu  auch  Simrock  248  f.,  Böhme  101  —  104,  Stöber  19,  unsere  Nr.  210e.    Schluss. 

74.    1 — 7  „Liebe  Tante,  sei  so  gut, 

Petrus  Paulus  hat  geschrieben         Schick  mir  ein  Zylinderhut, 
Einen  Brief  Nicht  zu  gross  und  nicht  zu  klein. 

Nach  Paris:  Sonst  musst  du  der  Haschmann  sein." 

Kiel.  In  Grossschwabhausen  i.  Th.  nach  Z.  2:  Nach  Berlin,  Wir  sollen  holen  l'ünf 
Pistolen.  Zu  Böhme  181G,  Dunger  27.5,  Schumann  3.S7,  Müller  S.  207,  Nr.  9,  auch  Simrock 
887,  Böhme  1727,  Dunger  :!!(;:  hier  die  Schlusszeilen  gleich  denen  von  Böhme  1809, 
Dunger  271.    Oben  8,  407,  Nr.  4o  wird  eine  Verwachsimg  mit    unserer  Nr.  70   behandelt. 

75.    1—7 
Schöne  Mädchen  muss  man  lieben. 
Liebt  man  schöne  Mädchen  nicht. 
Kommt  man  auf  das  Schiedsgericht. 

Hirschberg  i.  Schi.,  nicht  als  .Abzählreim  gcbrauclit. 


Jeua. 


Deutsche  Kindeilieder.  287 

7(i.    1,  2,  3,  4 
Hänschen  hat  das  Doppelbier. 
Sollt  es  Hänschen  nicht  mehr  ham, 
Hat  es  Meister  Grobian. 

77.    1,  2,  -i,  4 
In  dem  Riavier 
Steckt  eine  Maus, 
Und  die  muss  heri — ra— raus. 

Remda,  ebenso  Grossschwabhausen  ohne  die  Verzierung  iu  drr  letzten  Zeile.  Mit 
geringen  Abweichungen  sehr  verbreitet,  vgl.  Simrock  873,  Böhme  17118,  Schumann  377, 
MüUer  S.  ■_'07,  Nr.  8,  auch  S.  20fs,  Nr.  13. 

78.   Ena  dene  dernc. 
Gib  der  Ziege  Zwerne  (Zwirn), 
Gib  der  Ziege  Haferstroh, 
Sind  die  Bauern  alle  froh. 

Culmitzsch  im  Neustädter  Kreis,  alt.     Vgl.  Böhme  1769. 

79.    Ene  dene  dus, 
Der  dicke  Möppol  muss. 

Remda.    Vgl.  Simrock  831  =  Böhme  17G7. 

80.    Ene  klene  "Wurscht  is  nich  mehr  da, 
Mochte  gerne  noch  ene  grusse  ha. 

Endschütz  im  Neustädter  Kreise,  gesungen  nach  der  Weise  von  Nr.  --'GG.  Zu  ver- 
gleichen die  Heischelieder  wie  Simrock  981  usw. 

81.    Engel,  Bengel,  Zuckerstengel  usf. 

Weida.  Ein  Kind  wurde  dabei  von  zwei  anderen  auf  verschränkten  Händen  getragen. 
—  Zu  dem  alten  Abzähl-  oder  Kettonreimo  „Engel,  Bengel,  lass  mich  leben"  usw.  in  der 
Ballade  von  der  Herzogin  von  Orlamünde  (Wunderhorn  2,  232),  dazu  Simrock  1032, 
Böhme  1Ö20— 1524,  Altd.  Liederb.  öOl,  508;  zu  vergleichen  auch  Simrock  G32.  In  einem 
Quodlibet  vom  Jahre  IGIO:  Ach  lieber  Igel,  1.  m.  1.,  Ich  will  dir  meine  Schwester  geben 
(Zeitschr.  f.  deutsche  Phil.  15,  52,  Weim.  Jahrb.  :;,  12G-").  In  Gryphius'  Peter  Squenz 
(1877,  S.  3:!)  sagt  Thisbe:  0  lieber  I.öwe,  1.  ni.  1.,  Ich  will  dir  gerne  meine  Schaube  geben. 
Auch  Kinder-  und  Hausmärchen  Nr.  60  (und  97,  auch  Aum.  zu  108)  kommt  Ähnliches  vor: 
Nr.  141  bietet  als  .Abzählreim  eine  Kette  mit  dem  Anfang:  Eneke  beneke  lat  mi  liewen, 
Will  di  ock  min  Vügelkeu  gieweu,  was  denn  wohl  auch  die  ursprünglichste  Form  des 
Eingangs  ist.  —  Eine  gewisse  Ahnhchkeit  zeigt  sich  in  folgendem  alten,  anscheinend 
altertümlich-verderbten  Abzählreim  aus  Wiegendorf  bei  Weimar: 

82.    Engel  wengel  Dorchenstengel 
(=  durch  den  St.?), 
Eisne  Bücher  (so), 
Goldne  Tücher, 
Eckchen  Glöckchen  kling, 
Naus. 

■So.    Enne  wenne  wi  wa  wes,  Ospersee  di  gatter  ratter, 

Gatter  ratter  si  sa  ses,  Enne  wenne  wi  wa  wes, 

Gatter  ratter  ospersee,  Gatter  ratter  si  sa  ses. 

Koburg.     Abzählreim,  der  eine  fremde  Sprache  vortäuscht. 


288 


Sclilä"cr: 


:i^: 


f^3^ 


1 


84  a.    Es  fuhr  ein  Bauer  ins  Holz  Die  Magd  nahm  sich  einen  Knecht.  — 

(viermal),  üa  schied  der  Bauer  vom  Weibe. 

Der  Bauer  nahm  sich  ein  Weib.  Da  schied  das  Weib  vom  Kinde 
Das  Weib  nahm  sich  ein  Kind.  usw.     Zuletzt: 

Das  Kind  nahm  sich  eine  Muhme.  Da  steht  der  Knecht  alleinc. 
Die  Muhme  nahm  sich  eine  Magd. 

Küthen.  Dazu  Erk-Böhme  2,  Nr.  987,  Böhme  S.  OTS,  Nr.  G20.  oben  5,  202  Nr.  -.'3, 
[14,  63],  Schollen  3.s,  Lewaltcr  Heft  1,  Nr.  22,  Dunsrer  348,  Mfdler  S.  203.  Die  Einganss- 
zeile  in  einem  Quodlibet  des  Jahres  llilO:  Zs.  f.  deutsche  Phil.  1."),  51;  dabei  wird  auf 
Büscluni;,  Wiichentl.  Nachrichten  2,  2ö((  und  Hoft'mann  von  Fallersiebcn.  Monatsschrift 
von  und  für  Schlesien,  S.  545  verwiesen,  mir  nicht  zugänglich;  vgl.  aber  Erk-Böhme  1,  Uli: 
es  ist  ein  anderes  Lied  als  das  unsere.  —  Die  von  Böhme  gegebene  Weise  (=  Was  kommt 
dort  von  der  Höh)  ist  gebräuchlicher   sie  gehört  auch  zu  den  folgenden  Fassungen: 

•Slb.    :,:  Es  fuhr  ein  Bauer  ins  Holz  :,:    Der  Knecht  nahm  sich  ein  Pferd. 


Es  fuhr  ein  Bauer  ins  Kirmesholz, 

Si  sa  Kirmesholz, 

Es  fuhr  ein  Bauer  ins  Holz. 

usw.     Str.  4  ff.: 
Das  Kind  n^ihm  sich  eine  Magd. 
Die  Magd  nahm  sich  ein  Knecht. 


Das  Pferd  nahm  sich  ein  Wagen. 
Der  Wagen  nahm  sich  eine  Peitsche. 
Der  Bauer  schied  von  dem  Weib 

usw.     Schluss: 
:.:  Nun  ist  die  Kirmes  aus  :,: 
Nun  ist  die  si  sa  Kirmes  aus  usw. 


Arnstadt.  —  In  Giebichenstein  anderer  Eingang: 

84c.    :,:  Wir  geben  dem  Bauer  die  Ehr  :,: 
Wir  geben  dem  Bauer  die  Kirmesehr, 
Ja  ja  Kirraesehr  usw. 

Dann  wie  gewohnt:  Weib — Kind  —  Muhin  —  Knecht.  Zwei  Strophen  eingeschoben: 
Der  Knecht  tanzt  mit  der  Muhm;  Das  Kind  tanzt  mit  dem  Weib.  Hierauf:  Der  Knecht 
scheidt  von  der  Muhm  usw.,  zum  Schlüsse  die  Eingangsstrophe  noch  einmal.  —  In  Gross- 
schwabhauscn,  bei  derselben  Ausführung,  wieder  der  Anfang:  S4d.  Es  fuhr  ein  Bauer  ius 
Holz.  Dann:  nahm  sich  ein  Weib  —  Kind  —  Magd  —  Knecht:  schied:  zum  Schlüsse 
olgt  (wie  gesungen?}: 

Hier  steht  der  Gänsedieb 

Und  ohne  Frau 

Und  schämet  sich  zu  'rode. 

Ein  andrer  Mann,  der 's  besser  kann. 

Der  dreht  sich  um  die  Mode  (=  Magd?). 

Hierzu  vgl.  Nr.  262.  —  In  ühersteiu  kleine  Abweichungen  in  Text  und  Weise: 

Ei-IT. 


^^g^ 


— S— 


ii^^l 


Deutsche  Kindeilieder. 


2s;,) 


84  e.    :,:  Es  fuhr  ein  Bauer  ins  Holz  :.: 
Heisa  Viktorja,  es  fuhr  .  .  . 

Nun  wie  .S4b  bis  Knecht.  Der  Knecht  nahm  sich  ein  Huhn.  Dann:  Hund; 
Knochen.  Das  Wiederaustreten  aus  dem  Kreise  (in  Kötheu  dagegen  setzte  sich,  soweit 
ich  mich  erinnere,  immer  eins  auf  den  Schoss  des  Vorhcrgeliendenl  wie  oben  mit  schied. 
Schhiss:  Da  steht  der  Knochen  allein  (mit  Händeklatschen). 


3EE^ 


■■c-J-H^-N-J«— T -1 7—^ 


!=i=rHtja=}i&lE3=f=i=5Ei: 


iz 


85.  Es  ging-  ein  Miidehen  Wasser  holn 
An  einem  kühlen  Brunnen. 
Trarira,  trarira, 
An  einem  kühlen  Brunnen. 

Es  hat  ein  weisses  Kleidchen  an, 
Und  darauf  schien  die  Sonne  usw. 

Ein  reicher  Herr  gegangen  kam 
Und  sprach:  Du  bist  ja  meine! 

Ach  nein,  ach  nein,  das  kann  ich  nicht, 
Muss  erst  meine  Eltern  fragen. 

Und  wenn  du  sie  gefraget  hast, 
So  bringe  mir  drei  Rosen, 

Die  erste  weiss,  die  zweite  rot. 
Die  dritte  wie  Violen. 

Die  erste  weiss. 


Sie  gingen  über  Berg  und  Tal 
Und  konnten  keine  finden. 

Da  kamen  sie  an  ein  Malerhaus,  ■ 
Darinnen  sass  ein  Maler. 

Ach  Maler,  wenn  du  malen  kannst, 
So  male  mir  drei  Rosen, 

Die  erste  weiss,  die  zweite  rot, 
I^ie  dritte  wie  Violen. 

Der  zog'  ein  langes  Messer  raus 
Und  stach  ihr  in  das  Herze. 

Da  war  sie  tot,  da  war  sie  tot. 
Da  war  sie  immer  tote. 

Und  als  man  sie  begraben  hat. 
Da  pflanzte  man  drei  Rosen, 

die  zweite  rot. 


Die  dritte  wie  Violen. 

Oberstein,  sonst  als  Kindorrnnde  nicht  bekannt.  Zu  UhlanJ  llo,  Erk-Böiime  117, 
wo  weitere  Nachweise:  der  Anfang  mit  anderem  Fortgang  E.  Meier  S.  388.  Die  Schluss- 
ausweichung (wohl  das  Lied  von  Mariechen  und  dem  Filhiirich,  Nr.  195),  die  mit  Str.  1 
auf  Kindermund  zu  weisen  scheint,  ist  mir  sonst  nicht  begegnet.  Die  Bezeichnung  der 
Rosen  enispricht  der  fränkischen  Fassung  Krk-B<ihine  1,  Nr.  117 c  nach  Ditfurth,  Frank. 
Volkslieder  2,  3s,  vgl.  auch  Reifferscheid  S.  14.s.  |li.  Kühler  3,  24;i.  Kopp,  Ältere 
Liedersammlungen  190G  S.  92.]  —  Ausführung:  Im  Tanzkreis  ein  Mädchen,  bei  Str.  3 
ein  zweites.  7;  beide  aus  dem  Kreise.  8:  ein  drittes  Mädchen  hockt  im  Kreise  nieder. 
9  und  folgende:  alle  drei  im  Kreise.  Pantomime;  bei  der  vorletzten  Strophe  wird  auf  den 
Kopf  der  Niedergekauerten  getupft.     Gesungen  wird  durchgängig  von  allen. 


-^-f—^-^^— J-M-i;— ?— «— f-J— i— j— »i-i-j — » ' »-]-»— »—0— 0-- 

s: 1 i, u* 1 — 


iipS^i 


SG.    (Chor.)     Es  kam  ein  reicher 
Vogel 
Aus  seinem  Nest  gellogen; 
Er  setzt  sich  nieder  auf  die  Linde: 
Das  schenk  ich  meinem  Kinde! 


(.Allein,  vor  einem  Mädchen  im  Kreise 

knieend:) 
Ich  bin  so  arm  und  habe  nichts. 
Doch  alles,  was  mein  eigen  ist, 
Das  soll  ein  schwarzbraun  Miigdeleiu, 
Das  soll  (Johanna  Schulze)  sein. 


290  Schlfiger: 

Oberstein.  Zu  Böhme  S.  46G,  Nr.  I(i.5.  Ob  unsere  Fassung  etwa  auf  Ketsch,  Spiel- 
buch 1 12  zurückgeht,  worauf  Böhme  vorweist,  kann  ich  nicht  feststellen.  —  Es  ist  nicht 
unmöglich,  dass  die  beiden  Schlusszcilen  in  eine  Fassung  des  Liedes  ,Wir  treten  auf 
die  Kette"  (vgl.  meine  Abhandlung  in  Ztschr.  f.  d.  deutschen  Unterricht  19()7)  eingedrungen 
ist,  s.  Böhme  S.  l.il,  Nr.  HC). 

87.    Es  lief  ein  Reh 
Wohl  durch  den  Klee, 
Den  Tipp  den  Tapp, 
Und  du  bist  ab. 

Jena.     Vgl.  Simrock  886,  Wegener  100;   Simrock  890,  Schumann   li-'T  und  430. 


•SSa.    Es  regnet  auf  der  Brücke,  Und  zeig-  mir  deine  Schürze  her. 

Es  ward  (war)  nass.  Ei  ja  freilich, 

Es  hat  mich  was  verdrossen.  Wer  ich  bin,  der  bleib  ich, 

Ich  weiss  schon  was.  Bleib  ich,  wer  ich  bin! 

Komm  her,  mein  liebes  Kind,  zu  mir  Ado  (Adjc),  mein  liebes  Kind, 

Osnabrück,  Abweichungen  von  Löbstcdt  bei  Jena.  Die  Weise  entspricht  bis  Z.  ö 
ziemlich  genau  der  von  Böhme  S.  14S,  Nr.  OG  (Wir  treten  auf  die  Kette).  Aus  Jena  ist 
mir  noch  eine  ältere  Fassung  bekannt  mit  t'olgomlen  Abweichungen: 

88b.  Wir  treten  auf  das  Brückchen.  So  komm  doch  her,  mein  liebes  Kind, 

Es  ist  nass.  Es  sind  ja  nette  Leute  drin. 

Ich  hab  etwas  vergessen,  Ei  ja 

Ich  weiss  wohl  (oder  nicht)  was.  Ade,  mein  Sinn  (?). 

Z.  6  fehlt  in  Köthen  {88  c): 


Z.  2.  Und  es  ward  —  4.  Ich  weiss  schon  —  öff.  Mein  schönstes  Kind,  komm  lier 
zu  mir.  FA  ja  freilich,  wer  ich  bin,  der  bleib  ich.  Ich  bleibe,  wer  ich  bin,  .\dje  mein 
schönstes  Kind.    Fast  genau  entspricht  in  der  Weise  die  Obersteiner  Fassimg.    Text  (88di: 

Es  regnet  auf  die  Brücke,  Was  willst  du  dann? 

Und  ich  werde  nass.  Ein  Küssolein! 

Ich  hab  etwas  verloren  Ja,  ja,  freilich. 

Und  weiss  nicht  was.  Wo 

Komm  her,  mein  Kind! 

Ausführung:  Ein  Kind  im  Kreise,  bei  „komm  her"  holt  es  sich  aus  der  tanzeuden 
Reihe  ein  anderes  dazu,  sie  schütteln  sich  bis  zum  Schlüsse  die  Hände;  das  zweite  Kind 
bleibt  sodann  bei  der  nächsten  Runde  im  Kreis. 


Deutsche  Kinderlieder.  291 

Der  ganze  Mittelsatz  fehlt  in  üiebichenstein  (88e): 


latfli 


Z.  2.  Es  ward  —  4.  Weiss  nicht  —  äff.  Ei  ja  freilich  usw.  —  Der  ganze  zweite  Teil 
von  Z.  5  ab  ist  geändert  Böhme  S.  470,  Nr.  17-2,  mit  fast  derscllien  Weise  in  Kahla.  \vi> 
Z.  5-7  lauten: 

(88  f.)    Liebes  Mädchen  hübsch  und  fein, 
Komm  mit  mir  zum  Tanz  herein, 
Lass  uns  einmal  tiuizcn  und  lustig  sein! 

So  auch,  mit  scherzhafter  Veränderung  von  Z.  3  und  4,  Simrock  i)3G.  —  Dieses 
reizendste  aller  Kinderlieder,  dessen  Weise  (in  der  letzten  Fassung)  Hnmperdinck  mit 
Recht  berühmt  gemacht  hat,  schliesst  sich  an  ein  altes,  au.s  dem  Jahre  1514  teilweis 
überliefertes  Tanzlied  an,  s.  Erk- Böhme  2,  Nr.  '.)4;l,  Böhme  S.  470  Nr.  171.  Zu  vergleichen 
noch  Böhme  S.  4G9,  Nr.  170-179,  für  den  zweiten  Teil  Anhang  Nr.  32;  Lewalter  Heft  2, 
Nr.  (j:  Dünger  SGOf ;  Drosihn  309,  auch  28(i.  Über  den  Inhalt  und  die  mutmassliche 
Entwicklung:  M.  Gerhardt  und  R.  Petsch,  oben  9,  280ff.     [Züricher  1902  Nr.  9.j2.] 

89.    Es  regnet  grosse  Tropfen: 
Die  Mädchen  muss  man  klopfen, 
Die  Jungen  muss  miin  schonen 
Wie  die  Zitronen. 

Gegend  von  Koburg,  äliiilich  aus  Schwaben  in  Mörikes  Briefen  (herausgegeben  von 
Fischer  und  Krau.ss)  1,  281.  Zweite  HäUte  sonst  anders:  vgl.  Böhme  117,  1272ff.,  Stöbcr 
157  f.,  Rochholz  33.s. 

90.    Essenkehrer, 
Saumährer, 
Kehr  mir  meine  Esse  aus! 

Weida.  , Mähren"  hat  in  Ostthüringen  unter  anderem  auch  die  Bedeutung  „im 
Schmutze  wühlen".  Dem  Sinne  nach  trifft  der  Spottruf  mit  einem  vom  Jahre  IGIO  über- 
lieferteu  zusammen:  Schlotfege  Hoderlumpen,  Hoderlumpen  (Zeitschr.  f.  deutsche  Phil.  15, 
55).     Übrigens  konnte  man  in  Weida  wohl  auch  hören:  Essenkehre,  Saumehre. 

» 

"•^—nT—V— — S — «^-f — »if- rfs — m — » — • — • — '3 

Z 1 0—0—0 — 0 J 0 — 0  —0—0 l-l ^—y 1 

91a.    Es  trieb  ein  Schäfer  seine  Lämmer  Lämmer  aus. 
Er  trieb  sie  wohl  vor  eines  Edelmannes  Haus. 
:,:  Valleri  und  vallera  :,: 
:,:  Er  trieb  sie  wohl  vor  eines  Edelmannes  Haus.  :,: 

Und  der  Edelmann,  der  im  Fenster  lag, 
Der  bot  dem  Schäfer  einen  schönen  guten  Tag. 

"Herr  Edelmann,  lassen  Sie  die  Mütze  nur  oben 
Vor  einem  so  lumpigen  Schäferssohn!' 


292  Scliläjfcr: 

,,Und  bist  du  nur  ein  lumpiger  Schäferssohn, 
Und  kleidest  dich  in  Summet  und  Seide  schon?" 

'Und  was  geht  es  einen  lunijjigen  Edelmann  denn  an. 
Wenn's  nur  mein  Vater  bezahlen  kann'.-'' 

„Und  bin  icli  eiti  lumpiger  Edelmann  nur, 
So  will  ich  dich  werten  in  einen  Turm." 

:,:  'Herr  Edelmann,  :,;  verzeihn  Sie  mir  mein  Leben, 
Ich  will  Ihnen  auch  hundert  meiner  Lämmer  geben.' 

„Hundert  Deiner  Lämmer,  die  sind  mir  kein  Geld. 
Du  Schäfer  musst  sterben,  weils  mir  gefällt." 

:,:  'Herr  Edelmann,  :,:  verzeihn  Sie  mir  mein  Leben 
Ich  will  Ihnen  auch  alle  meine  Lämmer  geben." 

„Willst  du  mir  alle  deine  Lämmer  Lämmer  geben. 
So  sollst  du  meine  Tochter  zum  Weibe  nehmen." 

'Und  deine  Tochter,  die  will  ich  nicht, 
Denn  sie  ist  eine  Hexe,  das  weisst  du  nur  nicht.' 

„Und   wenn  meine  Tochter  eine  Hexe  war, 
So  wollt  ich,  dass  du  mit  ihr  auf  dem  Blocksberge  wärst." 

Arnstadt.  Die  Ballade  ist  zum  Krti.sspiele  geworden,  bei  den  letzton  Worten  muss 
der  Edelmann  den  Schäfer  liasclien:  älinliehe  Entwicklung  bei  Rcifforsclieid  S.  Itl  (nach 
Fiischbier),  Böekel  S.  OXX.KIl,  Müller  S.  IUI.  Die  Weise  i.st  .sehr  ähnlich  der  von  Erk- 
Hiiliine  1,  ISa. 

Nehmen  wir  die  von  Reiffer.<cheid  S.  141  vorgeschlagenen  drei  Gruppen  an,  so  ge- 
hört unsere  Fassung  zu  der  ersten  Gruppe:  sie  unterscheidet  sich  aber,  ebenso  wie  die 
bei  Müller  S.  191  uad  die  unten  mitzuteilende  aus  Köthcn,  von  allen  mir  sonst  bekannt 
gewordenen  dadurch,  dass  der  Schäferssohn  selber,  nicht  sein  Vater,  das  Lösegeld  bietet. 
—  Auch  Müllers  Fassung  gehört  zu  Heiflorscheids  erster  Gruppe,  sie  hat  mit  der  eben- 
dort  angeführten  Nr.  fi  gemeinsam,  dass  viidniehr  die  Schäferstochter  dem  Edelmann  an- 
geboten wird.  Dasselbe  findet  sich  in  iler  Kothener  Fassung,  die  jedoch  am  Schlüsse 
noch  durch  die  Krone  aus  Haberstroh  erweitert  ist.  Diese  gehört  natürlich  von  Haus 
aus  nicht  dem  Schäfer  zu,  sondern  seiner  Tochter  oder  der  Liebsten  des  Schäferssolmcs, 
wie  es  in  Reifferscheids  zweiter  und  dritter  Gruppe  vorkommt.  R.  sieht  darin  ein  Sinnbild 
der  verlorenen  Jungfräulichkeit:  es  ist  aber  daran  zu  erinnern,  dass  der  Kranz  ans  Haber- 
stroh im  Volkslied  auch  eine  Abweisung  bedeutet,  so  ühlands  Volkslieder  Nr.  öl.  —  Die 
Köthcner  Fassung  lautet  folgen  dermasson: 


mmi^M4lMi^^i^^l^i^M 


Olb.    Es  schaut  ein  Edelmann  zum  Fenster  raus: 
„Guten  Morgen,  guten  Morgen,  Herr  Schäferssohn  I 
:,:  Citirallalallala  :,: 
Guten  Morgen,  guten  Morgen,  Herr  Schäferssohn  I 

:,:  Ihr  geht  in  Sammet  und  Seide  schon?"  :,: 

'Was  geht  es  denn  den  Edelmann  an, 
Wenn's  nur  mein  Vater  bezahlen  kann?' 


Deutsche  Kiiulei'licdT.  293. 

Das  schien  den  Edelmann  zu  verdiiessen, 
Er  wollt  ihn  auf  der  Stelle  erschiessen. 

:,:  'Ach  Edelmann,  :,:  ich  bitt'  dich  um  mein  Leben, 
Ich  will  dich  fünfzig  Schafe  g'eben.' 

, Fünfzig  Schafe  haben  für  mich  keinen  Wert, 
Und  du  sollst  sterben  durch  mein  Schwert." 

:,:  'Ach  Edelmann  :,:  usw.  meine  Herde  — 
„Deine  Herde  hat  usw. 

:.:  'Ach  Edelmann  :,:  usw.  meine  Tochter  — 
.Deine  Tochter,  das  alte  Zig-eunergesicht, 
Die  mag  ich  nicht,  die  will  ich  nicht." 

:,:  'Ach  Edelmann  :,:  usw.  meine  Krone  — 

,,Deine  Krone  hat  für  mich  viel  Wert, 
Und  ihr  sollt  leben,  wie  ihr  wollt." 

Und  als  man  die  Krone  bei  Lichte  besah. 
Da  war  sie  nur  aus  Haferstroh. 

Eine  vergleichbare  Weise  hat  Süss  unter  Nr.  .'):i  zu  einem  ganz  fremden  Liede.  Zu 
den  Literaturangabeu  bei  Reifterscheid,  Erk-Böhmc  und  Böckel  zu  Nr.  80  vgl.  noch 
Erlach  :".,  Nr  454:  Alemannia  1',  1S8:  Mittler  Nr.  184,  188.  [Bender  nr.  149.  Gassmaun 
nr.  29.  Andree,  Brauuschw.  Volkskunde  S.  :)ö'2.  Bl.  f.  pomm.  Vk.  G,  14ö.  9,  95.  E.  Lemke, 
Vtl.  aus  Ostpreussen  1,  l.w.     Hüser,  Progr.  Warburg  1S98  S.  :!7.     Nntholz  1901  S.  44.] 

Zu  Frischbiers  prcussisclier  Fassung  gehiirt  das  folgende  Obcrsteiner  Spiel  mit 
Wechselgesang  und  Mimik,  wie  es  für  jene  bei  Keilferscheid  S.  Ml  angegeben  ist  (der 
Kehrreim  wird  stets  vom  Chore  gesungen): 


91c.    Es  kam  ein  Ritter  geritten  daher, 
Die  Schäfrin  weidet  die  Lämmer  daher; 
Vollri  voUra,  vollri  vollra, 
Die  Schäfrin  weidet  die  Lämmer  daher. 

Der  Riltcrsmann  zog  sein  Hütchen  ab 
Und  wünschte  der  Schäfrin  guten  Tag. 

'Ach  Rittersmann,  lassen  Sie  Ihr  Hütchen  auf. 
Ich  bin  eine  arme  Schäfersfrau'. 

.Sind  Sie  eine  arme  Schäfersfrau, 
Wie  konn  Sie  in  Samt  und  Seide  gehn?" 

'Was  geht  das  den  lumpigen  Edelmann  an, 
Wenn's  nur  mein  Vater  bezahlen  kann?' 

,,Dein  Vater,  der  hat  nicht  so  vieles  Geld, 
Und  du  musst  sterben,  wenn's  mir  gefällt." 

(Kniet).    'Ach  Rittersmann,  lassen  Sie  mir  mein  Leben, 
Ich  will  Ihn  hundert  Taler  geben'. 


294  SclilSger: 


, Hundert  Taler  ist  für  den  Edelmann  kein  Geld, 
Und  du  niusst  sterben,  wenn's  mir  f^e fallt  " 
(Tausend  Taler;  all  meine  Lämmer.) 

, Wollen  Sie  mir  all  Ihre  Lämmer  geben. 
So  soll  mein  Sohn  zum  Manne  werden." 

'Euer  Sohn  zum  Manne,  den  mag  ich  nicht. 
Er  ist  ein  Verschwender,  du  weisst  es  nicht.' 


„Mein  Sohn  ein  Verschwender,  das  glaub  ich  nicht; 
So  schert  Euch  hinaus,  ich  mag  Euch  nicht.'" 

0"2.    Es  war  einmal  ein  kleiner  Mann  fri  fra  fra. 
Es  war  einmal  ein  kleiner  Mann.  Ijiu  hm  hm. 

Er  nahm  sich  eine  grosse  Frau  usw.  Sah  der  Mann  ein  Honig-topf. 

Die  grosse  Frau  wollt  tanzen  gehn.  Der  kleine  Mann,  der  leckte  dran. 

Der  kleine  Mann  wollt  mit  ihr  gehn.  Als  die  Frau  nach  Hause  kam, 

Nein,  du  musst  zu  Hause  bleiben,  Sass  der  Mann  am  Honigtopf. 

Musst  die  Teller  reine  waschen.  Warum  hast  du  Houig  genascht? 

Und  als  die  Frau  gegangen  war.  Dafür  sollst  du  Schläge  haben. 

Oberstoin.  Zwei  Kinder  im  Kreise  führen  dys  Spiid  miniiscli  auf;  bei  Str.  7  tritt  die 
Frau  aus  dem  Kreise,  bei  10  wieder  herein.  —  Der  Einjiraiig  alleiu  bei  Erk-Böhnie  2,  895; 
sonst  sind  verwandt  ebenda  ',)07 — DO'.),  bei  letzterem  auch  die  Weise;  auch  Schumann  103. 
IKöhler-Meier  L'lo.     Bender  130.     Marriage  195.     Kohl  1899  nr.  181.] 

93.    Es  war  einmal  ein  Mann,  Da  kam  ein  grosser  Riese, 

Der  hiess  Pumpan,  Der  frass  ihr  ihre  Kliesse, 

Und  seine  Frau  hiess  Liese,  Da  musst  sie  dreimal  niese. 
Die  kochte  lauter  Kliesse; 

Kabla  Ausführlicher  als  Dunger  160  =  Böhme  1192;  die  Wiese  und  der  Topf  mit 
Klössou  erscheinen  auch  Dunger  73;  sonst  vergleicht  sich  Böhme  1191.     In  Weida  Z.  Iff.: 

Die  hatte  griene  Kliesse,  Da  musst'  sie  dreimal  niese. 

Da  ging  sie  auf  die  Wiese,  Und  denkt  euch  nur,  der  Riese, 

Da  kam  ein  grosser  Riese,  Der  frass  die  ganzen  Kliesse. 
Der  gab  ihr  eine  Prise, 

Dass  dieser  Kettenreim  echt  vogtländisch  ist,  wird  nicht  bestritten  werden.  Eben- 
falls in  Weida  ist  dem  Eingang  eine  nicht  ganz  säuberliche  Fortsetzung  gegeben  worden, 
aus  der  vielleicht  der  eine  oder  andere  Mythologist  den  ungefügen  Donnergott  heraus- 
finden wird: 

94.    Z.  3  IT.    Pumpan  hiess  er. 
Grosse  F  .  .  .  .  Hess  er. 
Kleine  gab  er  zu, 
Die  frasst  du. 

Ganz  anders  lautet  eine  Fortsetzung  zu  demselben  Eingang  in  Grossschwabhausen  i.  Th. : 

95.    ...  Da  ging  er  in  de  Schenke,  Da  schoss  er  en  grossen  Wurm. 

Da  sprang  er  über  Tisch  un  Bänke.  Da  ging  er  wieder  nach  Haus 

Da  ging  er  in  de  Kerche,  Un  steckte  seine  Frau  zum  Hause  naus 

Da  schoss  er  ene  grosse  Lerche.  Un  setzte  sich  auf  den  Karreetoi)f 
Du  ging  er  auf  den  Turm,  (SchlussV) 


Deutsche  Kinderlieder. 


295 


Mit    dieser  Kette    hängt   offenbar   eine  andere  eng  zusammen,    deren    ich   mich    aus 
Weida  erinnere: 


96.    Ging  mal  in  Keller, 
Fand  ich  en  Heller. 
Ging  ich  auf  den  Mark  (t), 
Kauft  ich  en  Quark. 

Zu  Z.  3  und   4  der  Grossschwabhiiuser  Kette   vgl.  Wegener 
letzten  Weidaer  Drosilin  328,  zu  Z.  ;')f.  unsere  Nr. '204. 

1)7  a.    :,:  Es  war  einmal  ein  Mann  :. 
Es  war  einmal  ein  Ledermann, 
Si  sa  Ledermann, 
Es  war  einmal  ein 

Der  Mann  nahm  sich  ne  Frau  usw. 
Die  Frau  die  hat  nen  Sohn. 
Der  Sohn  musst  in  die  Schul. 
Dort  lernt  er's  ABC. 
Dann  kommt  er  wieder  raus. 
Dann  musst  er  in  den  Krieg. 


Ging  ich  aufs  Rathaus, 
Reckt'  den  —  zum  Fenster  naus; 
Kamen  die  lieben  Herrn, 
Dachten,  's  warn  gebackne  Bern. 

8  und  .")0,    zu  Z.  5    der 


dann. 

Da  schiessen  sie  ihn  tot. 
Dann  holn  sie  den  Pastor. 
Dann  weinen  sie  auf  sein  Grab. 
Da  ruht  der  liebe  Sohn. 
Dann  steht  er  wieder  auf. 
Dann  sind  sie  alle  froh. 


Seehausen  i.  d.  Altmark.  Vgl.  K.  Müller,  oben  b.  203  Nr.  2.'),  desgleichen  auch 
unsere  Nr.  39.  —  Weise:  Was  kommt  dort  von  der  Höh.  Nach  Friedländers  Kommers- 
buch (Leipzig,  Peters)  zu  diesem  Liedc  scheint  das  Studentenlied  mit  unserem  Kindertexte 
geschichtlich  verwandt;  auch  sind  daselbst  noch  andere  Lieder  verglichen  [Kopp,  oben  14, 
Gif.     Unten  S.  310].  —  Anderer  Eingang  in  Oberstein: 


wm 


• — 0—\ 


97  b.    :,:  In  Polen  steht  ein  Haus,  :,: 

In  Polen  steht  ein  Ding-ling-ling  hopsasa, 
Li  Polen  steht  ein  Haus. 


Str.  10: 


Dann  legt  man  ihn  ins  Grab. 
Dann  deckt  man  ihnen  zu. 
Dann  schrieb  man  auf  den 

Stein: 
Hier  ruht  ein  guter  Sohn. 


Darinnen  wohnt  ein  Wirt. 
Der  Wirt  nahm  sich  eine  Frau. 
Die  Frau  nahm  sich  ein  Sohn. 

(Nun  wie  oben; 
Str.    7:    Da  kam  er  wieder  heim 
„      9:    Da  schoss  man  ihnen  tot.) 

Der  Anfang  dieser  Fassung  findet  sich  in  Brahms'Volkskinderliederu'  Nr.  7  wieder,  aber 
mit  gänzlich  anderem  Fortgänge;  auch  die  W^eise  ist  ausser  der  Obersteiner  Verzierung 
dieselbe. 

— ^ — m — I — i — I *? — P — '^ ■- 


^ T " Hl — H T ^ — ^ 1 


mmi^mmmwMmi^i^^^^ 


98.    L  Es  wohnt  ein  Kaiser  (König)  an  dem  (überm)  Rhein, 
Der  hatt'  drei  schöne  Töchterlein,         Töchterlein, 
Der  hatt'  drei  schöne  Töchterlein. 


296  Schläger: 

•2.    Die  orsto  wollt  die  reichste  sein,  :i    XYw  dritte  ins  f'ranzösche  Land, 

Die  zweite  zog  ins  Kloster  ein,  Da  war  sie  fremd  und  unliokannt. 

4.    An   einem  Wirtshaus   klopft'  ö.    AVer  steht  denn  draussen  vor  der 

sie  an,  TiirV 

Da  ward  die  Tür  ihr  aufgetan.  Eine  arme  Dienstmagd  liegt  dafür. 

(Und  als  sie  an  ein  Wirtshaus  kam,  (Frau  Wirtin  macht  ihr  auf  die  Tür: 

Klopft  sie  mit  ihren  fünf  Fingern  an.)  'ne  arme  Dienstmagd  liegt  dafür.) 

').    So  eine  Dienstmagd  may;  ich  nicht, 
Die  mir  des  Nachts  vor  der  Türe  liegt  (fehlt.) 

7.  „So  eine  Dienstmagd  bin  ich  nicht. 

Bin  ehrlich  und  bescheiden  (Ich  bin  ne  .lungfer  und  heirat  nicht). 

8.  Sie  nahm  sie  auf  ein  halbes  Jahr. 
Sie  aber  diente  sieben  Jahr. 

(Frau  Wirtin  mict  sie  auf  ein  Jahr, 
Und  daraus  wurden  sieben  Jahr.) 

1).    Und  als  die  sieben  Jahr  um  warn. 
Da  war  das  Miigdlein  (wurde  das  Mädchen)  schwach  und  krank. 

10.  Die  Wirtin  schenkt  ihr  (Frau  Wirtin  schenkt)  ein  Gläschen 

Wein 
Und  fragt,  was  (wer)  ihre  Eltern  sein. 

11.  ^Mein  Vater  ist  Kaiser  an  dem  Khein, 
Und  ich  bin  Kaisers  Tochtcrlein." 

(„Der  Kaiser  ist  mein  Bruder, 
Die  Kaisrin  meine  Mutter".) 

1'2.    (Ja,  Kind,)  Das  hättst  du  ehr  soUn  sayen. 
Gestickte  Kleider  (hättst  du  solin)  tragen. 

lo.    „Gestickte  Kleider  tr.ig  ich  nicht, 
Xach  meinem  Heiland  (meiner  Heimat)  sehn  ich  mich." 

14.  Und  als  sie  nun  gestorben  war, 
Drei  Lilien  wuchsen  auf  ihrem  Grab. 

15.  Darinnen  (Darunter)  stand  geschrieben: 
Bei  Gott  ist  sie  (Sie  war  bei  Gott)  geblieben. 

Weissenfeis,  Abweichungen  ans  Westthüringen,  wo  ausserdem  Str.  10— i:!  vor  Str.  8 
gerückt  sind:  die  Abweichung  in  Str.  11  erinnert  an  oin  anderes  Lied,  Erk-Böhme  IST. 
Sehr  ähnlich  (Leipzig)  oben  5,  l'oI  Nr.  l'S  —  Andere  Fassungen  Erk-Biihnie  I,  ISl*,  Böckcl 
Nr.  11.5  und  Lewalter  lieft  ,'),  Nr.  :)8.  [Köhlcr-Meior  Nr.  .'>.  Bender  l.')0.  Mavriage  K!. 
Züricher  1;M)'J  Nr.  Dli'J.    Zu  den  beiden  Schlussstrophen   vgl.  Sinirock  154f.,    Müller  S.  88. 


^l=r=f=sg=«3si:&=-^iig^f^^ 


1/ 

99a.    1.   Es  wollt  ein  Jäger  früh  aufstehn. 
Dreiviertel  Stund  vor  Sonnaufgehn. 

■J.    Er  nahm  sein  Liebchen  an  die  (bei  der)  Hand 
Und  führte  's  durch  das  ganze  (sie  durchs  Vater-)Land. 


Deutsche  Kinderlieder.  2!)7 

3.  Ade,  ade,  mein  liebes  Kind, 
Jetzt  muss  ich  von  dir  scheiden. 

4.  In  diesem  letzten  Augenblick 

Vergess  ich  auch  das  Knieen  (dein  Küsschen)  nicht. 

Osnabrück:  Abweichungen  aus  Halle  a.  S.  und  Köthen,  wo  das  Liedchen  jedoch  nach 
der  Weise  ,Du  grünst  nicht  nur  zur  Sommerszeit"  usw.  gesungen  wird.  In  den  Worten 
«ntspricht  fast  genau,  in  der  Weise  erkennbar,  Böhme  S.  KO,  Nr.  .35G:  sonst  finden  sich 
Anklänge  an  die  Osnabrücker  Weise  im  zweiten  Teile  von  Böhme  S.  iiM),  Nr.  16.j.  —  Das 
Lied  ist  schwierig  zu  beurteilen.  An  einen  echten  Balladenanfang,  zu  dem  Erk-Böhme 
1,  96e  Anm.  und  9Gh,  Müller  S.  00  zu  Böckel  Nr.  .37  B  und  E,  sowie  das  bekannte  Volkslied 
von  den  , Brummelbeeren-  vErk-Böhme  1,  121)  und  das  von  der  verkauften  Müllerin 
(Erk-Böhme  1,  58)  zu  vergleichen  sind,  fügen  sich  spiclmässige  Strophen  (.3  und  4),  die  an 
unsere  Nr.  13  und  an  Erk-Böhme  2,  97.5 ff.  erinnern.  Die  zweite  Strophe  ist  eine  rechte 
Wanderstrophe:  sie  ist  gleichfalls  in  den  letztgenannten  Spielliedem,  aber  auch  in  dem 
Yolksliede  von  der  Müllerin,  z.  B.  in  den  Fassungen  Weim.  Jahrb.  3,  28C  und  Müller 
S.  82 — 84,  am  Schluss,  enthalten  und  kommt  auch  sonst  vor,  so  in  einer  Fassung  von 
, Ulrich  und  Ännchen-  bei  Schlossar  S.  340  und  in  einem  ganz  anderen  Liede,  Eik- 
Böhme  1,  79.  —  Vielleicht  haben  sich  die  Bestandteile  erst  im  Kindermunde  zusammen- 
gefunden; die  Weise  trägt  echt  kindliches  Gepräge,  wie  übrigens  auch  die  merkwürdig 
verwandt  klingende  des  vorhergehenden  Liedes. 

In  Oberstein  wird  das  Lied  nach  derselben  Weise  gesungen  und  aufgeführt  wie 
Nr.  .i2b  (wie  denn  auch  die  oben  gegebene  mit  der  von  52a  eng  verwandt  scheint): 

99b.    Str.  1:    Es  wollt  ein  Müller  — 
„     2:    —  durch  sein  Vaterland. 
„     4:    Und  in  dem  — 

—  das  Küssen  nicht. 

Ausführung:  die  ganze  Spielreihe  kauert  nieder,  zwei  gehen  mit  über  der  Reihe 
gefassten  Händen  beiderseits  auf  und  ab  und  senken  die  Hand  taktmässig  zwischen  je 
zwei  Köpfeu;  die  beiden  Mädchen,  bei  denen  sie  zuletzt  angelangt  sind,  geben  das  nächste 
Paar.  —  Auch  das  Volkslied  von  der  verkauften  Müllerin  (Erk-Böhme  1,  58,  zur  dortigen 
Literatur  noch  Böckel  Nr.  67  u.  S.  XXVI  [und  oben  15, 334])  wird  in  Oberstein  gesungen  und 
mimisch  dargestellt.  Die  Weise  gleicht  sehr  der  benachbarten  hochwäldischen  ebenda 
.ö8d,  die  übrigens  auch  in  Thüringen  ähnlich  vorkommt,  der  Text  zeigt  Verkürzungen,  die 
wir  zum  Teil  wohl  dem  Kindermunde  zuzuschreiben  haben. 


lOO.    Es  wollt  ein  Müller  früh  aufstehn, 
Wollt  in   den  Wald   spazieren  gchn, 
:,:  Wollt  sich  den  Wald  anschauen  :.: 

Und  als   er  in  den  Wald  nun  kam, 
Drei  Räuber  ihm  entgegen  kam. 
Drei  Räuber,  ja  drei  Mörder. 

Der  erste  zog  die  Gurt  heraus. 
Dreitausend  Taler  bot  er  aus 
Dem  Müller  für  sein  Weibchen. 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    ia07.  20 


•298  liiunk: 

Der  Müller  dacht  in  seinem  Sinn: 
Das  ist   kein  Geld  für  Weib  und  Kind, 
Mein  Weibchen  ist  mir  lieber. 

(6000,  9000  Taler). 

Der  Müller  dacht  in  seinem  Sinn: 
Das  ist  schon  Geld  für  Weib  und  Kind, 
Mein  Weibchen  sollst  du  haben. 

Und  als  der  Müller  nach  Hause  kam 
Und  seiner  Frau  die  Botschaft  sagt, 
Da  fing  sie  an  zu  weinen. 

,Ach  Gott,  wenn  das  mein  Bruder  wüsst,. 
Der  in  dem  Wald  der  Jäger  ist, 
Der  würd  euch   drei  erschiessen." 

Kaum   halt  sie  dieses  Wort  gesagt. 
Da  kam  ihr  Bruder  daher  gejagt 
Und  er  erschoss  die  dreie. 

Oberstein  a.  d.  Nahe. 

(Fort.setzung  folgt.) 


Volksrätsel  aus  Osnabrück  und  Umgegeud. 

Gesammelt  von  August  Brunk. 


1  a.    Tweebeen 
Seit  uppen  Dreebeen; 

Dau  keirap  Vccrbeen  un  woll  den  Tweebeen  bieten, 
Dau  ncimp  Tweebeen  den  Dreebeen  und  woll  den  Veerbeen  dormit 

smieten. 
üas  Milchmädchen   sitzt    auf   dem  ilreibeinigen  Stuhle    und  wirft  dann    damit  nacTt 
dem  Hunde.      (Umgegend  von  Bramsche.)     Vgl.  Wossidlo,    Mecklenburgische  Volksüber- 
lieferungen ],  Nr.  lö. 

1  b.    Tweebeen 
Sitt  up  Dreebeen; 
Tweebeen  un  Dreebeen  to  fiewe 
Sitt  unner  Veerbeen  sien  Liewe. 
Eine  .Magd  auf  einem  Mclkbock  melkt  eine  Kuh.    (Bad  Essen.)    Wossidlo  15. 

2.    Steeneken-Beeneken  seit  up  de  Bank, 
Steeneken-Beeneken  fiil  van  de  Bank; 
Is  kien  Dokter  in  Engeland, 
De  Steeneken-Beeneken  heilen  kann. 
Das  Ei.     ^Westerkappeln.)     Wossidlo  2o. 


Volksrätsel  aus  Osnabrück  und  Umgegend.  299 

ö.    Achter  usen  Huse  Nich  Beuken. 

Stöhnt  sierben  Lugen,  Xich  andern  Schlagholt. 

Nich  Eiken, 

Die  Siebensterne.     (Schinkel.)     Wossidlo  -Hl 

4.    Rosaroter  Garten 
Mit  weissen  Leoparden. 
Da  regnet  es  nicht  und  schneiet  es  nicht, 
und  ist  doch  immer  nass  darin. 
Der  Mund  und  die  Zähne.     (Schinkel.)     Wossidlo  42. 

.").    Achter  usen  Huse  7.    Achter  usen  Huse 

Häng  en  Krikrakruse.  Flöget  Kaspar  Kruse 

Wenn  de  leewe  Siinne  schient,  Ohne  Peerd  und  ohne  Flog. 

üse  Krikrakruse  grient.  Raut  mol  to,  wat  is  dat? 

Der  Eiszapfen.     (Bad  Essen.)  Der  Maulwurf.    (Umgegend  von  Melle.) 

Wossidlo  45.  Wossidlo  .33. 

0.    Achter  usen  Huse  s.    Wittland  hewwe  ick, 

Do  steht  ne  Krukukuse.  Schwatsaut  siige  ick; 

Sei  brennt  ne  ganze  Dag  De  Männlken,  de  doröwer  geht, 

ün  sticket  dat  Hus  nich  an.  Weet  nich,  wat  doruppc  steht. 

Die  Brennessel.  (Westerkappelu.)  Vgl.  Papier,  Schrift,  Feder.     (Schinkel.) 

Wossidlo  öl  u.  :578.  Wo.ssidlo  70. 

9.    As  ick  was  jung  un  kleen,  Däen  se  mi  en  Seil  ümt  Lief. 

Drög  ick  ne  blaue  Krön.  Met  Fietsken  shigen, 

As  ick  was  auld  un  stief,  Von  Fürsten  un  Königen  dragen 

Der  Flachs.    (Bad  Essen.)     Wossidlo  77. 

10.    Haus  voll  Essen,  Tür  vergessen. 
Das  Ei.    (Scliinkol.) 

IIa.    Ick  armet  Wiof  mott  Schildwach  stauhn, 
Ick  häwwe  kien  Been,  niott  immer  gauhn, 
Ick  häwwe  kien  Am,  mott  immer  siauhn. 
Die  Uhr.     (Umgegend  von  Bramsche).     Wossidlo  87. 

IIb.    Ick  weit  ein  Ding: 
Dat  häf  kine  Pöide  un  kann  doch  stauhn, 
Et  häf  kine  Beene  und  kann  doch  gauhn, 
Et  häf  kine  Hände  und  kann  doch  schlauhn. 
Die  Uhr.     (Leeden  b.  Tecklenburg).     Wossidlo  87. 

12.    Ick  weit  ein  Ding: 
Dat  häf  'n  Rügge  und  kann  nich  liggen, 
Et  häf  twei  Flittker  un  kann  nicht  üeigen. 
Et  häf  en  Been  un  kann  nicht  gauhn; 
Et  kann  aber  loupen  un  man  kann't  putzen. 
Paken  häf't  kinen  Nutzen. 
Die  Nase.    (Leeden  h.  Tecklenburg.) 

13.    Knickerdeknacker 

Lop  nwer  den  Acker, 

Häww  nich  mähr  Knee 

Esse  döttig  un  twee. 

Die  hölzerne  Egge.    (Umgegend  von  Bramsche.)     Wossidlo  109. 

■JO* 


300  Rriiuk: 

14.    Höllterölltelt 
Lop  öwer  dat  Feld. 

Wenn  ick  sau  vieile  Becne  harre  asse  Höllterölltelt, 
Lop  ick  niet  Höllterölltelt  öwer  dat  Feld. 
Die  Egge.    (Schinkel.)    Wossidlo  110b. 

loa.    Plattfötken  gong  owor  de  Brüggen, 
Hadd'n  Landshüron  sien  Bedde  up  den  Riiggon. 

Die    Gans.     (Umgegend    Ton    Uranische.)      Wickclwackel  .  .  .    Driig'n     König    sien 
Bedde  .  .  .  (Schüttorf  b.  Bentbeiin.)     Wossidlo  11l>. 

l.jb.    Spitzfötken  gong  ower  de  Brüggen, 
Har'n  Landshären  sien  Speck  up  den  Rüggen. 
Das  Schwein.     (Umgegend  von  Bramsche.) 

16.  Lüttken  un  en  Grauten, 
liuwwen  un  en  Blauten; 

Acht  Föte  un  eenen  Stäl. 
Is  dat  wol't  Rahen  wät? 
Frosch  und  Pferd.     (Umgegend  von  Bramsche.)     Wossidlo  11:!. 

17.  Veer  roe  Rellen, 
Twee  swatte  Kapellen, 
Putkebühl  un  Kniepsack. 
Ra  es  to,  wat  is  dat? 

Der  Kutschwagen  mit  Pferd  und  Kutscher,  der  eine  Peitsche  in  der  Hand  schwingt. 
(Umgegend  von  Bramsche.)     Wossidlo  119. 

18.  Rabberabberiepc, 
Gell  is  de  Piepe, 
Schwat  is  't  Gat, 

Wor  Rabberabberiepc  in  satt. 
Die  Wurzel  =  Mohrrübe.    (Schüttorf.)     Wossidlo  121. 

10.  Achtor  uson  Huse  stoh  twee  Paule,    Up  de  Gricpers  kuonit  twee  Kiekers, 
Up  de  Piiule  sitt'n  Fatt,  U|)  de  Kiekers  kuonu'n  Buschk, 

Up  dat  Fatt  kuonit  twee  Griepers,  Do  lopet  de  Hasen  un  Fösse  herup. 

Der  Mensch.  —  (Westerkappeln.)     Wossidlo  WA. 

20.    A'eer  Hängelers  21.    Et  steht  wat  uppen  Huse 

Un  tegen  Tengelers;  So  lang  un  so  graut, 

ünnen  'n  höltern  Jahnup  Häw  Beene  so  lang. 

Das  Euter,  zehn  Finger,  (ior  Milcheimer.  D"'  os  en  Staut. 
(Umgegend  von  Bramsche.)     Wossidlo  107.  Der  Storch.     (Bad  Essen.) 

22.    Es  steht  auf  dem  Acker 
Und  hält  sich  wacker. 
Hat  viele  Häute, 
Beisst  alle  Leute. 

Die  Zwiebel.    (Schinkel.)    Es  wächst  im  Gärtlciii,  hat  viele  ßöhrlein  ....  (Schinkel.) 
Wossidlo  l'M. 

'2'6.    Dor  kümp  nen  roen  Rüter  uowcr  usen  Hof,  sia:    „Mötet  ini  juggen 
Hahn  un  jugge  Höhner!     Yör  juggen  Hund  bin  ick  nich  bange  vor." 
Der  Regenwurm.     ^Umgegend  von  Bramsche  )     Wossidlo  210. 


Volksvätsel  aus  Osnabrück  und  Umgegend.  301 

24.    Erst  weiss  wie  Schnee, 
Dann  grün  wie  Klee, 
Dann  rot  wie  Blut; 
Schmeckt  allen  Kindern  gut. 
Die  Kirsche.     i;Schinkel.)     Wossidlo  217. 

25.    Gröner  esse  Gras,  2Ga.    Et  wör  mol  een, 

Witter  esse  Flass,  De  har  mol  een, 

Heuger  esse  'n  Hus,  'n  dicken  fetten 

Lüttker  esse  'n  Mus.  Tvvuschen  de  Been. 

DieWalnuss.  (Umgegend  von  Bramsche.)  Der  Reiter  zu  Pferde.    (Umgegend  von 

Wossidlo  219.  Melle.)     Wossidlo  2;33a*. 

26b.    Gon  Dag,  gon  Dag,   Hiir  Lecne, 
Wat  häbbet  Se  tüsken  de  Becne? 
Dick  un  fett, 

Rund  ümmeto  mit  Höre  besett. 
(Umgegend  von  Bramsche.)     Wossidlo  233 a*. 

27a.    Vorne  wie  ne  Gaffel,  27b.    Vorn  ist  'n  Zirkel, 

Mitten  wie  ne  Tonn,  Midden  ist  'n  Pökelfatt, 

Achter  wie  'n  Rissen  Flachs.  Achtern   ist  'n  Fliagelstafl  (Dresch- 

Die  Kuh.     (Umgegend  von  Melle.)  üegel). 

Wossidlo  2:14.  Die  Kuh.    (Un)gcgend  von  Bramsche.) 

28.    Vodden  lebennig,  mitten  daut, 
Achtern  macht't  wol  Speck  un  Braut 

Pferde,  Pflug.  Pilüger.    (Bad  Essen.)  .  .  .  K'aise  un  Braut.    (Umgegend  von  Bramsche.) 
.Wossidlo  241. 

29.    Ick  kenn  en  Ding,  das  der  achtern  l'rett  un  vorrun  schitt. 
Die  Häckselmaschine,    i  Umgegend  von  Bramsclie.)     Wossidlo  243. 

30.    Oben  spitzig,  unten  breit. 
Durch  und  durch  voll  Süssigkeit, 
Weiss  vom  Leibe,  blau  vom  Kleid, 
Kleiner  Kinder  grosse  Freud. 
Der  Zuckerhut.     (Schinkel.)    Wossidlo  247. 

31.  Van  binnen  ruww  un  van  buten  ruww  un  sieben  Jeilen  (Ellen) 
in  ne  Ase  ruww.     Rau  es  to,  wat  is  dat? 

Ein  Fuder  Heu  (Umgegend  von  Bramsche.)     Wossidlo  2G2. 

32.  Van  binnen    spitz    un    van  buten  spitz    un  sieben  Jeilen  in  ne 
Äse  spitz.     Rau  es  to,  wat  is  dat? 

Ein  Fuder  Dornen.     (Umgegend  von  Bramsche.) 

33.  Isern  Perd  mit  "n  Hassen  Start.      Je  düller  dat  Perd  löppt,   je 
körter  werd  de  Start. 

Die  Nähnadel  mit  dem  Faden.     (Schinkel.)    Wossidlo  2Gö. 

34.    üp  enen  rauten  Hügel 
Sitt  vierte  witte  Vögel. 

Die  Zähne  im  Munde.     (Bad  Essen.) 


302  nrunk: 

o.').    Wat  geht  in  'n  Holte  hen  un  her 
Uli  wieset  siene  Tiande  her. 
Die  Säge.    tUmgegend  von  Bramsche.) 

3().    Et    steht    ener    in'n   Holte    un   roop    un   roop    un    krieg    keene 
Antwort. 
Der  Pastor  auf  der  Kanzel.     (Rabber,  Kr.  Wittlage.)     VVossidlo  :U.S. 

37.    Et  geht  wat  achter  uscn  Huse,  schlührt  d'  Ingeweede  achterhiär. 
Die  Henne  mit  Küken.    (Rabber,  Kr.  Wittlage.)     Wossidlo  323. 

38.    Ick  hor'n  Vugel  rellen, 
Har  kien  Feeren  noch  kien   Fellen. 
Ick  hör'  ne  wol  un  seig  no  nich; 
Ick  greip  dernau  un  kreig  ne  nich. 
Der  Menschenwind.     (Umgegend  von  Bramsche.) 

39.  Ick    smietc    wat    Witt't    uppet    Hus    un    et    kunip    der    gieil 
wier  af. 

Das  Ei.     (Umgegend    von  Bramsche.)      Ick    sclimiet    et  witt  npt  Dack  un  .  .   (Els- 
fleth.)  .  .  dat  sali  der  raut  wier  af  kurmen.     (Nalnie.)    Wossidlo  328. 

40.  Rot  geht's  ins  Wasser,  schwarz  kommt's  heraus. 

Die    Kohle.      (Schinkel.)      Weiss    schmeisst    mau's    ins    Wasser  .  .  .     (Schinkel.) 
Wossidlo  330. 

41.  Ick    schmiete    wat    brennend    inne    Saut,    et    kiimp    brennend 
wier  rut. 

Die  Brennessel.     (.Schinkel.) 

4"2.    Ein  Bein  schmeisst  man  aufs  Dach,  zwei  Beine  kommen  wieder 
runter. 
Die  Schere.    (Schinkel.) 

43a.    Ick  will  et  kott  uppet  Hus  schmieten,  dat  sali  der  lang  wier 
af  kurmen. 
Das  Seil.    (Nahne.) 

43  b.    Ick  smiete  wat  Rundes  uppet  Hus,  dat  kunip  der  lang  wier  af. 
Das  Garnknäuel.    (Umgegend  von  Bramsche.)    Wossidlo  334. 

44  a.    Bie  Dage  es  et  vull,  nachts  lieg. 
Der  Schuh.     (Bad  Essen.)     Wossidlo  337. 

44  b.    Dages  vuUer  Fleesk  un  f^lout,  nachts  steiht't  un  japet. 
Der  Scliuli.     (Osnabrück.) 

44c.    Dages  hiift'n  Miil  vull  Fleesk,  nachts  is  el'n  hüllen  .lahnup. 
Der  Holzschuh.     (^Umgegend  von  Bramsche.) 

44  d.    Dages  geht't  den  Trippel  den  Trapp, 
Nachens  steht't  vorn  ßedde  un  gapj). 
Der  Uolzschuh.    (Schnttorf  bei  Bentheim  ) 

45a.    Dages  is't  'nen  goldnen  Knop. 
Nachens  is't  'nen  Frotenhop  (Maulwurfshaufcn). 
Die  glühende  Kohle,  die  nachts  mit  Asche  überschüttet  wird.  (Ledde  bei  Tccklenburg.) 


Volksrätsel  aus  Osnabrück  und  Umgegend.  303 

45  b.    Dages  schient  esse'n  golden  Knaup, 
Nachts  liehet  esse'n  Hunneworpshaup  (Maulwurfshaufen). 
Dasselbe.     (Umgegend  von  Bramsche.) 

46.    In'n  Sommer  frett't, 
In'n  Winter  schitt't. 
Die  Balkenluke.     (Westcrkappeln.)     Wossidlo  'Ml. 

47.  Ich  werfe  es  in  den  Brunnen,  das  können  keine  hundert  Pferde 
wieder  herausholen. 

Der  Zucker  oder  die  Nadel.     (Schiiikel.)     Wossidlo  ;i49  vom  Zucker. 

48.  Was  ist  fertig  und  wird  doch  täglich  gemacht? 
Das  Bett.     (Schinkel.)     Wossidlo  a51. 

49.    Gat  an  Gat 
Un  doch  gien  Dörgat. 
Der  Fingerhut.     (Schüttorf) 

50.    Baule    (bald)    graut,    baule    lüttk,    üwcr    docli    jümmer    eenen 
Foot  lang. 
Der  Schuh.     (Rabbcr,  Kr.  Wittlage.) 

öl.    Es  geht  aus 
Und  bleibt  doch  im  Haus. 
Die  Schnecke  oder  das  Feuer.    (Schinkel.)     Wossidlo  o.')9  von  der  Schnecke. 

52.    Was  geht  owert  Strauch  un  raschelt  nich? 
Der  Schatten.    (Umgegend  von  Bramsche.)     Vgl.  Wossidlo  f!72. 

5o.    Et  lüppt  un  lüppt  un  kummt  dock  nit  von  der  Steele. 
Die  Uhr.     (Elsfleth.)     Wossidlo  :!7G. 

54.  Et  löp  wat  im  Holte.     Et  iöp  un  löp  un  kümmp  nicks  wieder. 
Das  Spinnrad.    (Bad  Essen.)     Vgl.  Wossidlo  :i77  von  der  Mülile. 

55.  Ick  bin  en  Ding,  dat  heff  en  Auge  un  süht  nich. 
Die  Nähnadel.     (Schinkel.)     Wossidlo  :!85b. 

5G.    Der  Bauer  sieht's  jeden  Tag, 
Der  König  sieht's  selten. 
Der  liebe  Gott  sieht's  garnicht. 
Seinesgleichen.     (Schinckol.)     Wossidlo  :\di. 

57  a.    Wenn  man  doa  wat  tolegg,  denn  wed't  lüttker. 
Wenn  man  doa  wat  afnim,  denn  wed't  grötter. 
Das  Loch.     (Rabber,  Kr.  Wittlage.)    Wossidlo  397. 

57  b.    Je  grösser  es  wird,  wenn  man  nichts  dran  tut. 
Je  kleiner  es  wird,  wenn  man  was  dran  tut. 
Das  Loch  im  Strumpf.     (Schinkel.) 

58.    .\lles    wcd    lüttker,    wenn    man    der    wat    afnimmt;    eens    wed 
grötter,  wenn  man  der  wat  afnimmt. 
Die  Bodenluke.     (Umgegend  von  Bramsche.) 


304 


I5riink: 


ö9.    Es  sitt  wat  up  eii  Klösken 
Un  lucksct  sien  Pösken.') 
Je  länger  et  luckset, 
Je  lüttker  wed  et. 

Eine  spinnende  Magd.    (Bad  Essen.) 
Wossidlo  417. 

6üa.    Achter  usen  Huse  liowehawe, 
A'^ör  den  Füer  iniiwcmawe, 
Up  de  Deerlen  klippeklap[)e, 
In  den  Kohstall  strippestrappe. 

Das  Graben  und  Harkon  im  Garten, 
das  Schnurren  und  ^liauin  der  Katze,  das 
Dreschen,  das  Melken.     (Schinkel.) 

6(ib.    In  de  Püddo  schlippschlapp, 
Ur  de  Deele  klippklapp 
In  de  Kohstall  strippstrapp. 

Der   Frosch,    der  Dreschtlegel,    das 
Melken.     (Osnabrück.) 


ül.    Et  satt  ne  Mor  up  en  Steene 
Un  keik  sick  an  de  Beene 
Un  dacht:    „0  Himmel  und  Knien, 
Wat  will  do  noch  ut  werden I" 

Die  Henne  auf  den  Küken.     'NaIino.V 

(ii.    Graute  }fnese;;ro\vwe, 
Lig  alle  Nacht  innen  Dowwo, 
Häf  nien  Fleesk  of  Bloot 
Un  liewct  van  aliemanns  Goot. 

Die  Windmühle.     (Umgegend  von 
Bramsche.)    Wossidlo  -loG. 

Ü3.    Ick  kenn  ein  Ding 
Wie  'n  Pfitlerling. 
Kann  gehn,  kann  stehn 
Und  auf  dem  Kopf  nach  Hause  gehn. 

Der  Schuhnagel.    (Schinkel.)     Wos- 
sidlo 451. 


(34.    Ein  Biinner  seuch  oin'n  Hosen  loup'n,  ein  Lahmer  löp  en  nan» 
ein  Naketen  stock  en  in  de  Tasch.     Wat  is  dal? 
Eine  Lüge.     (Leeden  li.  Tecklenliurg.l     Wossidlo   1(57. 


05.    Im  Himmel  ist  ein  Ding, 
Das  ist  auch  in  der  Hölle; 
Die  Meisters  haben's  nicht. 


Das  haben  die  Gesellen, 
Die  Königs  haben  das  nicht, 
Das  haben  die  Soldaten. 


Der  Buchstabe  1.     (Schinkel.)     Vgl.  Wossidlo  473. 

t;6.    Vom  Felde  kommt's  in  die  67.    Auf  dem  Schnabel  läuft's, 

Scheune,  Schwarze  Farbe  säuft"s. 

Vom  Flegel  zwischen  zwei  Steine,  Viel  Tausenden  verdient's  das  Brot. 

Aus  dem  Wasser  endlich  in  grosse  Glut;  Lernst  du's  gebrauchen,    hat's   nicht 
Dem  Hungrigen  schmeckt's  allzeit  gut.  Not. 

Korn,   Mehl,  Teig,  Brot.     (Schinkel.)  Die  Schreibfeder.    (Schinkel.)     Wos- 

Wossidlo  4«).  sidlo  öiO. 

()8.    Wecke  es  de  Dümmste  im  Huse? 

Die  Milchseihe;    die  lässt  das  Beste,   die  Milch,  durch  und  behält   das  Schlechteste,, 
das  Unsaubere,  für  sich.    (Bad  Essen.)     Wossidlo  ö(>5. 

t)9.    Wat  es  enem  halben  Stuorknest  am  gliekslon? 
Die  andere  Hälfte.     (Bad  Essen.) 

70.  Wel  is  de  Driesteste  in  "n  Huse? 

Die  Feuerzange.    (Umgegend  von  Bramsche.)    Wossidlo  ö73. 

71.  Wel  is  de  Driesteste  in  de  Kirken? 

Dat  is  deFlegen,  de  sett  sick  den  Pastor  up  de  Niasen.    (Umgegend  von  Bramsche.) 
Wossidlo  Ö74. 


1)  Fösken  wird  hier  allgemein  als  'Füchschen'  aufgofasst,  wie  auch  in  dem  obszönciL 
Spiel  'Fösken  in'n  Düstcrii'. 


Volksrätsel  aus  Osnabrück  uud  Umgegend.  305- 

72.  Wat  blitzt  am  dullsten  inne  Kirken? 
Der  Tropfen  unter  der  Nase.    (Bad  Essen.)    Wossidlo  577. 

73.  Wocke  es  am  ersten  in  de  Kirken? 

Der  Schlüssel.    (Bad  Esseu.)    Der  Klang  vom  Schlüssel.    ^Umgegend  von  Bramsche.) 
Wossidlo  578. 

74.  AVel  hiiww  den  grötsten  Snuffdook? 

Das  Huhn,    das    putzt    den    Schnabel    auf   der   Erde.       (Umgegend    von  Bramselie.) 
Wossidlo  58>S. 

7').    Warum  fressen  die  weissen  Schafe  mehr  als  die  schwarzen? 
Weil  es  mehr  weisse  gibt.    (Schinkel.)     Wossidlo  G2-1. 

IG.    Wann  tun  dem  Hasen  die  Zähne  weh? 
Wenn  der  Hund  ihn  beisst.     (Schinkel.)     Wossidlo  G"25a. 

77.  W^enner  Jop  de  Hase  owern  Staken? 

Wenn  der  Baum  herunter  ist.     (Umgegend  von  Bramsche.)     Wossidlo  G.j8. 

78.  Wann  läuft  der  Hase  über  die  meisten  Löcher? 
Wenn  er  übers  Stoppelfeld  läuft.     (Schinkel.)     Wossidlo  (IdOa. 

7'J.    Wo  liegt  de  Hase  am  wamesten? 
In  der  Pfanne.     (Umgegend  von  Bramsche.)     Wossidlo  G90. 

80.  Wo  wird  Heu  gemäht? 

Nirgends:  Gras  wird  gemäht.     (Schinkel.)     Wossidlo  708. 

81.  Wo  lange  dregt  dat  Pierd  dat  Hofisen? 

So  lange  es  das  Bein  hochhebt:    sonst  trägt   das  Eisen  das  Pferd.       Umgegend  von-i 
Bramsche.)     Wossidlo  71;!. 

82.  Wohin  geht  man,  wenn  man  zwülf  Jahre  alt  ist? 
Ins  dreizehnte.     (Schinkel.)    Wossidlo  71'.) 

83.  Worum  drägt  de  Möllers  witto  Hüe? 

Um  den  Knpf  damit  zu  bedecken.     (Rabber,  Kr.   Wittlage.)     Wossidlo  723. 

84.  W^o  küramt  de  Flauh  na  Holland  hen? 
Schwarz.     (Rabber.)     Wossidlo  737. 

85.  AVarum  macht  der  Hahn  die  Augen  zu,  wenn  er  kräht? 
Er  weiss  alles  auswendig.     (Schinkel.)     Wossidlo  752. 

86.  Worümme  is  de  Hahnen  uppen  Tooren  und  kien  Hohn? 
Enners   mosse    de  Küster  jeden  Muoden    dor  upstiegen    un    de  Egger    deraf  baten. 

(Umgegend  von  Bramsche.)     Wossidlo  754. 

87.  Worümme  löp  de  Hase  owern  Berg? 

Weil  er  nicht  durch  den  Berg  laufen  kaun.    (Umgegend  von  Bramsche.)    Wossidlo  77.5^ 

88.  Worum  kiek  de  Möller  ut'n  Fenster? 

Weil  er  durch  die  Wand  nicht  sehen  kann.     (.Schinkel.)     Wossidlo  779. 

89.  Wer  lebt  von  Wind? 
Der  Müller.     (Schinkel.) 

90.  W'er  zieht  sein  Geschäft  in  die  Länge  und  wird  doch  fertig? 
Der  Seiler.     (Schinkel.) 


306  Bniiik:    Volksrätsel  aus  Osnabrück  und  rmgogcnd. 

91.    Welche  Schuhe  zerreisseii  nicht  an  den  Füssen? 
Die  Handschuhe.     (Schinkcl.) 

9-2.    Welches  Futter  fris.st  kein  Pford? 
Das  Rockl'utter.     (Schinkcl.) 

9o.    Was  kann  man  nie  mit  Worten  ausdrücken? 
Einen  nassen  Schwamm.    (Schinkel.) 

i'4.    Was  tut  die  Gans,  wenn  sie  auf  einem  Heine  steht? 
Sie  hebt  das  andere  in  die  Höhe.    (Schinkel.)     Wossidlo  SG.'). 

95.    Was  ist  schwerer,  ein  Pfund  Federn  oder  ein  Pfund  Bio  ? 
Beide  wiegen  gleich  viel,  ein  Pfund.     (Schinkel.)    Wossidlo  878. 

Uli.    Wovcele  Flöh  gohet  in  en  Schüpel? 
(jar  keine:  sie  springen  alle  heraus.     (Umgegend  von  Bramsche.)     Wossidlo  882 ji. 

97.    Et  es  weg 
Un  bliwt  weg 
Un  es  doch  doar. 
Der  Weg.     (Bad  Essen.)     Wossidlo  907. 

9S.    'n  Koh    un'n    Kalf  un'n  half  Kall'  half.     Woveel  Beene    hofT'n 
de  .  .  .  cf  (Deef)? 
Kin  Dieb  hat  zwei  Beine.     (Rabber.) 

99.    Welcher  Spieler  verliert  kein  Geld? 
Der  Musikant.    "(Schinkel.)    Wossidlo  92l>. 

um    De    graute    Steen    in    IJöne'),    wenn    de    Ilaliii    kraget,    denn 
japet  he. 
Nämlich  der  Hahn,  der  beim  Kraben  den  .Schnabel  iifinct.     i^Kahne.)     Wossidlo  930. 

101.    Was  brennt  länger,  ein  Wachslicht  oder  ein  Talglicht? 
Keins:  sie  brennen  beide  kürzer.     (Scliinkcl.)     Wossidlo  93ü. 

Iti2.    Keimp  en  Kiil  van  Köln, 
Har  en  Hund  essen  Füli'n. 
Fck  legge  di  dat  Wurt  innen  Mund. 
Rau  to,  wo  hat  de  Hund? 
Er  hiess  Rauto  (oder  Wo).    (Umgegend  von  Bramsche.)     Wossidlo  '.»Ö2. 

103.    Kaiser  Karl  hat  einen  Hund. 
Ich  lege  dir  das  Wort  in  den  Mund: 
Wie  heisst  der  Hund? 
Wie.     (Schinkel.)     Wossidlo  >)53  (vgl.  9Ö1\ 

104  a.    Ick  wör  cnniol  in  Engelland, 
Engelland  was  mi  bekannt. 
Keimen  mi  dree  Landsherren  in  to  Möte 


1)  Damit  sind  die  sog.  Karlssteino  im  Holme  in  der  Nähe  des  Piesbergcs  gemeint, 
,das  berühmteste  Steindenkmal  in  der  Osnabrücker  Gegend,  das  der  Sage  nach  von  Karl 
<lem  Grossen  durch  einen  Schlag  mit  der  Pappel-  oder  Weidenrute  in  Gegenwart  des 
Sachsenkönigs  Wittekind  zerstört  wurde,  imi  zu  beweisen,  dass  der  Christengott  dem 
Heidengott  überlegen  sei." 


\V.  Dürler;    Kleine  Mitteilungen.  307 

Uü  frögen,  wat  kleen  Hündken  sicn  Nam  -wör? 
Kleen  Hündken  sien  Nam  was  mi  versierten,  was  ehr  vergierten. 
Heww  et  dreemol  seggt;  säst  noch  nich  wierten? 
Der  Hund  iiiess  'Was'  =  AVasser.     (Naiine.)    Ick  was  emal  in  Pommcrland.  Pomnier- 
land  ....  (Scliinkel.)     Wossidlo  'J55. 

KUb.    Ick  was  enmaul  in  Poramerland, 
In  Pommerland  was  ick  bekannt. 
Dau  keimen  mi  dree  Hären  in  to  Möte, 
Frögen  mi,  wo  mien  Namen  böte. 
Ick  sä,  mien  Namen  was  mi  vorgietcn. 
Ick  häww't  dreeraaul  seggt,  schasset  noch  nich  vvicten'? 
Er  hiess  'Was'.     (Umgegend  von  Bramsche.) 

lOö.  Eine  Frau,  deren  Mann  zum  Tode  verurteilt  war,  ging  zum  Gericht.  Unter- 
wegs fand  sie  in  einem  Pferdekopf  ein  Nest  mit  fünf  Jungen.  Hieraus  machte  sie  ein 
Rätsel  und  gedachte,  damit  ihren  Mann  zu  befreien.     Sie  sagte  zu  den  Richtern: 

Sess  Koppe,  teggen   Beene.  Mög  ji  raienen  Mann  wol  brahen. 

Rahet,  ji  Hiiren,  intgemeene!  Könnt  ji  Hären  dat  nich  denken. 

Könnt  ji  Hären  dat  rahen,  Mög  ji  mienen  Mann  mi  schenkenl 

Das  Rätsei  haben  die  Richter  natürlich  nicht  raten  können,  und  der  Mann 
wurde  freigelassen. 

(Umgegend  von  Bramsche.)    Vgl.  Wossidlo  ;)()7- 

lOG.    Ein  Hauer  sät  Erbsen  und  sagt  dabei: 

Kummt  se,  dann  kummt  se  nich. 

Kummt  so  nich,  dann  kummt  se. 
'Se'  sind  abwechselnd  die  Saatkrähen  und  die  Erbsen.    (Schinkel.)     Wossidlo  !i92. 
Osnabrück. 


Kleine  Mitteihuiffen. 


Yolkslieder  aus  Vorarlberg:, 

1.S9G  in  Bregeuz  (Xr.  :).  8—10)  und  Schwarzacli  gesanunelt  von  f  Adolf  Dörler. 
1.   Der  Mädchenräuber.') 

1.  Es  rfitet  ein  Reiter  wohl  über  das  Ried,  ;!.  „Gibst  du  mir  dein  Treu  und  dein  Ehren, 
Er  saug  ein  wunderschönes  Lied,                     So  will  ich  dich  schon  lehren." 

Er  konnte  so  gar  schön  singen  Er  nahm  sie  bei  dem  blauen  Rock 

Ein  Lied  mit  dreierlei  Stimmen.  Und  schwang  sie  auf  das  hohe  Ross. 

2.  Und  als  er  zu  singen  anfang,  4.  Sie  ritten  auch  gscliwind  und  auch  balde 
Eine  Jungfrau  aus  ihrem  Zimmer  sprang:      Durch  einen  stockfinstereu  Walde. 

'Ach  könnt  ich  so  singen  wie  er  es.  Dem  Mädchen  war  die  Weile  lang. 

Da  gab  ich  meine  Treu  und  meine  Ehre'.      Es  war  ihm  um  das  Leben  schon  bang. 


1)  [Vgl.  Erk- Böhme,    Liederhort    1,  118  Nr.  41:    'Ulinger'.     Schweizerisches  Archiv 
f.  Volkskunde  5,  8.     Gassmann,  Das  Volkslied  im  Luzorner  Wiggertal  IKOG  Nr.  12.| 


■AOS 


W.  Dörlcr: 


5.  Sie  kuiiieii  zu  einer  Haselstauden, 
Da  sitzon  zwei  junge  Turteltauben, 
Die  tun  sich  wohl  gar  schon  biegen: 
'0  Jungfrau,  lass  dich  nicht  betrügen  I' 

(j.  Es  fing  ihr  an  zu  grausen, 
Ihre  goldgelben  Haare  standen 
Ihr  auf  wie  krausen. 
_0  Jungfrau,  was  tust  du's  bedauern? 

7.  Bedauerst  du  dein  Vatersgut? 
Bedauerst  du  dein  stolzen  Mut? 
Bedauerst  du  deiu  Ehrcnkranz? 
Er  ist  zerbrodieu  uuil  wird  nimmer  ganz." 

S.  'Ich   bedaure  nicht  mein   Vatersgut, 
Ich  bedaure  nicht  mein  stolzen  Mut, 
Ich  bedaure  nicht  mein  Elirenkranz, 
Weil  er  zerbrochen  und  nimmer  wird  ganz. 

9.  Ich  bedaui-e  nur  selbige  Tannen, 
Wo  elf  Jungfrauen  hangen'. 

„Das  lass  dir  nur  nicht  traurig  sein! 
Die  zwölfte  die  musst  du  sein." 

10.  'Ach,  Reiter,  lieber  Reiter  mein, 
Lasst  mir  drei  Bitten  schreini' 

„Das  erlaube  ich  dir;  es  wird  keiner 
Im  Walde  sein,  der  es  wird  hören  dein." 


IL  Den  ersten  Schrei,  und  den  sie  tut, 
Den  tut  sie  ihrem  Vater  zu: 
'Ach.  Vater,  kommt  gschwiud  und  auch  baldel 
Sonst  muss  ich  heut  sterben  im  W:iUle.' 

12.  Den  zweiten  Sclirci,  und  den  sie  tut. 
Den  tut  sie  ihrer  Mutter  zu: 

'.Vcli,  Mutter,  kommt  gsclnvind  und  auch  baldc! 
Sonst  muss  ich  heut  sterben  im  Walde.' 

13.  Den  dritten  Schrei  und  den  sie  tut, 
Den  tut  sie  ihrem  Bruder  zu : 

'Ach,  Bruder,  komm  gschwind  und  auch  baldc ! 
Sonst  muss  ich  heut  sterben  im  Walde'. 

11.  Ihr  Bruder,  der  ein  Jägersmann 
Und  alle  Tierlein  gut  treffen  kann. 
Hörte  sein  Schwcsterlein  schreien 
Und  machte  sein  Hündelein  schweigen. 

15.  Er  ladet  Pulverbüchse  und  spannt  den  Hahn 
Tnd  schie.sst  den  jungen  Reitersmann: 
..Jetzt,  Reiter,  habt  Ihr  euren  I.olm  empfangen. 
Da  Ihr  wollt  meine  Schwester  hangen.'' 

1().  Er  nahm  sie  bei  der  rechten  H;ind 
Und  führt  sie  in  ihr  Vaterland: 
,.Zu  Hanse  sollst  bleil)en,  zu  Hause 
Und  traun  keinem  Reiter  nicht  mehr.'' 


1.  Im  Ällgc,  im  Allge, 
Da  waren  zwei  Liebchen, 

Die  hattcns  einander  so  gern,  gern,  gern. 
Die  hattens  einander  so  gern. 

2.  Der  Jung-Graf  zog  in  den  Kriege, 
Sein  Herzliebste  steht  unter  der  Tür. 

3.  'Grüss  di  Gott,  du  Hübsclie,  du  Feine, 
Von  Herzen  gefallest  du  mir.' 

4.  „Ich  brauchs  dir  ja  nicht  zu  gefallen, 
Denn  ich  habe  schon  längstens  ein  Mann, 


2.   Der  eifersüchtige  Knabe.') 

•").  Und  dazu  an  hübsche. 


in  feine. 


Deres  mich  ernähren  kann." 

G.  Was  zog  er  ans  seiner  Tasche? 
Ein  Messer,  wo  spitzig  und  lang. 

7.  Das  stacli  er  der  Liebsten  ins  Herz  hinein 
Dass  sie  zu  Boden  sank. 

S.  Ihr  Jungfrauen  und  Junggesellen, 
Nehmt  eucli  ein  Exempel  ilaran, 

9.  .Auf  dass  keines  dem  andern  verspreche. 
Was  es  uicht  halten  kann! 


3.   Graf  und  Nonne.-) 

1.  Als  ich  stund  auf  hohen  Bergen,  ö.  Und  er  zog  von  seinem  Finger 

Schaut  hinab  ins  tiefe  Tal,  Ein  goldnes  Ringelein: 

Da  sah  ich  ein  Schilflein  schwimmen,  'Nimm  es  hin  du  hübsche  i'einel 

W'o  darin  drei  Grafen  waren.  Dies  soll  ein  Denkmal  sein.' 


2.  Und  der  jüngste  von  den  Grafen, 
Die  da  in  dem  Schifflein  waren. 
Der  gab  einmal  mir  zu  trinken 
Einen  Wein  ans  einem  Glas. 


4.  .Ich  weiss  von  keinem  Andenken, 
Weiss  auch  von  keinem  .Mann: 
In  ein  Kloster  will  ich  gehen. 
Will  werden  eine  Nonn." 


1)  [Vgl.  Erk-Böhme  1,    lü3  nr.  18.     Die    erste  Strophe    ans    dem  Liedc    ebd.  1,  170 
nr.  49:  vgl.  Marriage,  Badische  Volkslieder  nr.  19.     Gassmann,  Wiggertal  190(;  ur.  IS.] 

2)  [Vgl.  Erk-Böhme  1,  31.".  nr.  89.     Köhler-Mcier,   Volkslieder  von   der  Mosel  nr.  97. 
Marriage  nr.  3.] 


Kleine  Mitteilansen. 


309 


5.  'Willst  du  in  ein  Kloster  gelicn, 
Willst  (hl  worden  eine  Nonn, 

So  will  ich  die  Welt  umreisen, 
Auf  bis  dass  ich  zu  dir  komm.' 

6.  Und  der  Herr  sprach  zu  dem  Knechte: 
'Sattle  mir  und  dir  ein  l'ferd! 

Dann  wollen  wir  die  Welt  umreisen, 
Denn  der  Weg  ist  reisenswert'. 

7.  Als  sie  zu  dem  Kloster  kamen, 
Klopften  sie  ganz  leise  an: 

'Gebt  heraus  diejenige  Moune, 
Die  zuletzt  gekommen  anl' 

8.  „Es  ist  keine  angekommen. 
Dürfte  wob!  auch  keine  heraus."  — 
'Das  Kloster  wollen  wir  erstürmen 
Samt  dem  schönen  Gotteshaus.' 

!i.  Da  kam  sie  berbeigeschlichcn, 
Schön  weiss  war  sie  gekleidt, 
Ihre  Haare  abgeschnitten, 
Und  sie  war  zur  Nonn  geweiht. 


10.  Sie  hiess  den  Herrn  willkommen; 
,Bist  kommen  aus  fremdem  f.andV 
Und  wer  hat  dich  heissen  kommen. 
Wer  hat  dich  Ii ergesandt  ?■' 

11.  Der  Herr  fing  an  sich  zu  griimen. 
Da  ihn  diese  Red  verdross. 

Und  ihm  eine  heisse  Träne 
Über  die  Wange  floss. 

12.  Da  gab  sie  dem  Herrn  zu  trinken 
Aus  ihrem  Becher  Wein, 

Und  in  vierundzwanzig  Stunden 
Schlief  der  Herr  im  stillen  ein. 

13.  Und  mit  ihren  zarten  Fingern 
Grub  sie  ihm  ein  Gräbelein, 

Und  mit  ihren  zarten  Händen 
Legte  sie  ihn  selbst  darein. 

14.  Und  mit  ihrer  hellen  Stimme 
Stimmt  sie  ihm  ein  Grablied  an, 
Und  mit  ihrer  zarten  Zunge 
Stimmte  sie  den  Glockenton. 


4.   Der  verschlafene  Jäger.') 


1.  Es  wolltes  ein  Jäger  wohl  jagen 
Drei  Viertelstündlein  vor  Tagen, 

Er  ging  den  Wald  wohl  hin  und  her,  ja,  ja. 
Er  ging  den  Wald  wohl  hin. 

2.  Da  begegnet  ihm  auf  der  Reise 
Ein  Mädchen  in  schneeweissem  Kloide, 
Sie  war  so  wunderschön. 

3.  Er  tätes  das  Mädchen  wohl  fragen. 
Ob  sie  mit  ihm  nicht  wollt  jagen 

Ein  Hirschlein  oder  ein  Reh. 

4.  'Das  Jagen,  das  versteh  ich  nicht. 
Ein  andres  Vergnügen  versag  ich  nicht. 
Drum  sei  es  was  es  sei.' 


T).  Sie  setzten  sich  beide  wohl  nieder 
und  spielten  das  Hin  und  das  Wieder, 
Bis  dass  der  Tag  anbrach. 

6.  'Steh  auf,  du  fauler  Jäger! 
Die  Sonne  scheint  über  die  Berg, 
Deiu  [I]  Fräulein  bin  ich  schon.' 

7.  Das  wolltes  den  Jäger  verdriessen, 
Und  wolltes  das  Mädchen  crschiesscn. 
'Verzeihe  mir  diesmal!' 

8.  Der  Jäger,  der  tat  sich  bedenken 
Und  will  das  Leben  ihr  schenken 

Bis  auf  ein  anderes  Mal. 


5.   Die  Strickerin.-) 

1.  'I  ka  nimma  stricke,  hab  Schmerze  a'n  F'inger, 
Sie  tun  mer  so  weh.' 

„Strick,  strick,  meine  liebe  Tochter!     I  kauf  der  neu  Schnell " 
'Gelt,  gelt,  meine  liebe  Mutter  und  Schnalla  derzue?'     (Jodler) 

"2.  'I  ka  nimma  stricke,  hab  Schmerze  a'u  Finger, 
Sie  tun  mer  so  weh.' 

„Strick,  strick,  meine  liebe  Tochter!     I  kauf  der  a  Kueh." 
'Gelt,  gelt,  meine  liebe  Mutter,  und  's  Kälble  derzue?' 


1)  [Vgl.  Erk-Böhme  3,  299  nr.  1438—1440.    Köhler-Meier  nr.  23(5.    Bender  nr.  87 

2)  [Erk-Böhme  2,  G40  nr.  838.     Bender  nr.  13G.] 


310 


W.  Uörler,  Schütte: 


3.  'I  ka  iiimina  stricke,  liab  Schmerze  a'n  Finger, 
Sie  tuu  mer  so  weil.' 

„Strick,  strick,  meine  liebe  Tochter!     I  kauf  der  a  Schoss.') 
'Gelt,  gelt,  meine  liebe  Mutter,  dann  bin  i  wohl  gross?' 

4.  T  ka  nimma  stricke,  hab  Schmerze  a'n  Finger, 
Sie  tun  mer  so  weh.' 

„Strick,  strick,  meine  liebe  Tochter  I     I  kauf  der  an  Kranz." 
•Gelt,  gelt,  meine  liebe  Mutter,  dann  gehn  wir  zum  Tanz?' 


'6.  Kli  ich  mich  zum  Gehen  wende, 
Reich  mir  deine  weissen  Hände 
Und  dein  schönes  Angesicht: 


6.  Abschied  von  der  Liebsten.-) 

1.  Mass  CS  denn  ein  jeder  wissen, 

Dass  so  viele  Tränen  fliessen, 

Dass  mein  Herz  so  traurig  ist! 

Lebe,  lebe  wohl  und  vergiss  mein  nicht ! 

I.  Auf  dem  Grabstein  kannst  du's  lesen, 

"J.  Vater  und  Mutter  wollens  nicht  leiden,     Dass  ich's  dir  bin  treu  gewesen, 

Dass  wir  voneinander  scheiden  Treu  gewesen  bis  in  Tod. 

In  ein  Land,  wo's  besser  ist.  Lebe,  lebe  wohl  und  vergiss  mein  nicht! 


7.   Abschied  Im  Frühling. 


1.  Die  Kirschlein  blühen  weiss  und  rot, 
Ade,  ade,  ade! 

Die  Kirschloin  blühen  weiss  und  rot. 
Mein  Schätzchen  lieb  ich  bis  zum  Tod, 
Ade,  ade,  ade! 


2.  So  reisen  wir  zum  Tal  hinaus. 
Mein  Schätzchen  schaut  zum   Fenster  heraus. 

">.  So  steigen  wir  ins  Schiff  hinein, 
Vielleicht  soll's  unser  Grabstatt  sein. 


L  Heut  Nacht  fang  ich  a  Maus, 
Heut  Nacht  fang  ich  a  lederne  Maus, 
.\  u  a  je  lederne  Maus. 

"2.  Was  tust  du  mit  der  Maus? 
."!.  Ich  zieh  sie  aus  der  Haut! 

4.  Was  tust  du  mit  der  Haut? 

5.  Daraus  mach  ich  ein  Bund. 
().  ^Yas  tust  du  mit  dem  Bund? 

7.  Daraus  tu  ich  das  Geld. 

8.  Was  tust  du  mit  dem  Geld? 
'.).  Daraus  kauf  ich  ein  Weib. 

10.  Was  tust  du  mit  dem  Weib? 

11.  Das  Weib  bekommt  ein  Bis. 


8.   Die  lederne  Maus.^) 

iL'.  Was  tust  du  mit  dem  Bis?  ' 
lö.  Ich  schick  ihn  in  die  Schul. 
11.  Was  tut  er  mit  der  Schul? 
lö.  Darin  lernt  er  das  A  ß  C. 
ICi.  Was  tut  er  mit  dem  ABC? 

17.  Dann  wird  er  Offizier. 

18.  Was  tust  du  mit  dem  Offizier? 

19.  Dann  kommt  er  in  den  Krieg. 

20.  Was  tut  er  mit  dem  Krieg? 

21.  Dort  schickt  man  ihm  den  Tod. 

22.  Was  tut  er  mit  dem  Tod? 

23.  Dann  macht  man  ihm  ein  Grab. 

24.  Was  tut  er  mit  dem  (irab? 
2.').  Dann  brennt  man  ihm  ein  Licht. 


9.   Vom  Sterben.') 

1.  Krank  sein  ist  eine  harte,  harte  Buss, 
Gott  weiss,  wann  man  sterben  muss. 
Sterb  ich  heut,  so  bin  ich  morgen  tot. 
Vergräbt  man  mich  in  liöslcin  rot. 
Im  grünen,  grünen  Klee. 
Heut  sieht  man  mich,  morgen  nimmermehr. 

1}  =  Schürze.  —  2)  (Vgl.  Krk-Bohme  2,  -l;M  nr.  019.  Köhler- Meier  nr.  tij.  177. 
Bender,  Oberschefflenzer  \1.  nr.  40.]  —  .'!)  [Vgl.  Böhme,  Kinderlied  S.  25:t:  „Der 
Sclincider  .  .  ."  Kopp,  oben  14,  71.]  —  4)  [Erk-Böhme  3,  857  nr.  21.')9— 21(11.  —  Zu 
Str.  4  vgl.  R.  Kühler,  Kl.  Schriften  3,  293-318.     Oben  11,  331.  12,  170.] 


Kleine  Mitteiluiigcu.  311 

2.   Es  koinmen  vier  Männer  ins  väterliche  Haus, 
Sie  tragen  mich  aus  dem  väterliclien  Haus, 
Sie  tragen  mich  wohl  über  die  Gassen, 
Von  jedermann  bin  ich  verlassen. 
Sie  tragen  mich  in  den  Friedhof  hinein, 
Dort  soll  mein  Grabes  schon  offen  sein. 

o.  War  mein  Grabes  auch  noch  so  tief, 
So  war  mein  Leib  deren  Würmer  doch  süss,  so  süss. 
Und  wenns  der  Glockenschall  ausgeht. 
So  gchens  die  Freunde  wieder  nach  Haus. 
Sie  teilen  das  Geld,  sie  teilens  Gut 
Und  fragen  nicht,  wo  meine  Seele  ruht. 

4.  Wenns  der  Himmel  papierepiore  war, 
Und  jeder  Stern  a  Schreiber  war, 

Hätt  jeder  Schreiber  hundert  Hand,  küuntens  nicht  verschreiben. 
Was  meine  arme  Seele  muss  leiden. 

10.   Die  zehn  heiligen  Zahlen.') 

Guter  Freund,  ich  frage  dich: 
Guter  Freund,  was  fragst  du  mich? 
Die  zehn  Gebote  Gottes, 
Die  neun  Chöre  der  Engel, 
Die  acht  Stück  zur  Seligkeit, 
Die  sieben  Sakramente, 
Die  sechs  steinernen  Wasserkrüge  mit  rotem  Wein, 

Gott  der  Herr  schenkts  selber  ein  zu  Kanaa  Galiläa, 
Die  fünf  Wunden  Christi, 
Die  vier  Evangelisten, 
Die  drei  Patriarchen, 
Die  zwei  Tafeln  Moses 
Und  eins  ist  Gott  allein,  der  da  lebt  und  der  da  schwebt 

im  Himmel  und  auf  Erden. 
Guter  Freund,  ich  frage  dich: 
Guter  Freund,  was  fragst  du  mich? 

(Nun  geht  die  Reihenfolge  zurück.) 

"Wien.  W'ilhelm  Dürler. 


Tierstimmen  im  Bnxuuschweigischen. 

(Oben  10,  211.     US,  91.) 

Es  ist  eine  Lust,  zu  sehen,  wie  nicht  nur  der  Bauer,  sondern  auch  der 
gewöhnliche  Arbeitsmann  auf  dem  Lande  die  Stimmen  der  Tiere  in  Worte  umzu- 
setzen weiss.  Ohne  Frage  ist  es  ein  Zeichen  von  geistiger  Regsamkeit,  Tönen 
Worte  unterzulegen.  Und  mit  welcher  Geschicklichkeit  und  wie  guter  Beobachtung- 
geschieht  dies  häufig!  Das  Gekrächze  der  Nebelkrähe,  die  man  auf  dem  Lande 
treffend  Wamskräbe  nennt,  deutet  man:  „Wärk  wärk"  (=  wahre  dich,  nimm  dich 
in  acht),  während  man  den  Raben  schreien  lässt:  „Was  ich  hab',  sagt  der  Rab'". 
Den  Pinken  hält  der  Bauer  in  manchen  Orten  mit  einer  Selbsttäuschung  für  einen 


1;  [Erk-Böhme  3,  825  nr.  2130  f.    Bolte,  oben  11,  3S7.  13,  SC] 


Sl'2  Schütte,  Beck: 

Regcnverkündiger,  wenn  er  ihn  schhiycn  liisst:  .,"t  gütt.  "t  glitt,  "t  gütt"  (=  es  giesst). 
Den  AVachtelschlag,  der  in  vielen  Orten  so  sinnig  gedeutet  wird,  erklärt  man  sich 
in  Hondelage  bei  Braunschweig  als  „Pott  vull  Griitt".  Den  frechen  Spatzen  liisst 
man  als  Sittenrichter  auftreten,  indem  man  ihn  in  llützum  schimpfen  lässt:  ,Ik 
Schill  'k"  (=  ich  schulte  dich).  Des  Hahnes  Huf  wird  in  vielerlei  Weise  gedeutet. 
Richtig  mag  früher  die  Angabe  des  Preises  für  ein  Ei  gewesen  sein: 

Eier  sind  düer, 
Ein  kost  cn  Urier. 

Hat  er  das  Huhn  getreten,  so  fragt  er  es  selbsthewusst  und  übermütig:  „Hat  dik 
de  Hahne  hacktV"  oder  er  erklärt  ihm  seine  Freude  über  die  Ausübung  seines 
Amtes:  „Et  hat  mik  behaaagct"  oder:  „'t  is  wat  Raret".  Klagt  aber  dtis  Huhn: 
„Mik  sniarrt  min  Ars",  so  antwortet  er  einmal  kurz  und  ohne  Mitgefühl:  „"k  glob" 
et"  (=  ich  glaube  es),  ein  anderes  Mal  aber  tröstet  er  es  halb  hoch-,  halb  plati- 
deutsch:  „Es  verzieht  sich,  et  ward  sik  wol  vertrecken".  Wirft  ein  Junge  nach 
den  Hühnern  mit  einem  Steine,  so  taken  sie  erschreckt:  „Schöllen  'n  Dod  von 
hebben".  Die  eine  Gans  gackert  in  Wienrode  bei  Blankenburg  a.  H.  der  anderen 
zu:  „Philipp,  Philipp.  Zäre,  Zäre,  \va  wuiln  nän  llawern  gah".  Aber  sie  ant- 
wortet: „Wa  wa  \va  wa  dort  dat  nich". 

Von  den  vierfüssigen  Tieren  brüllt  die  Kuh,  wenn  sie  ihr  Futter  aufgefressen 
hat:  „Wat  en  nu?"  Auch  die  Ziege  verlangt  nach  Futter:  „Meck,  bring  mik  her". 
Bekommt  sie  nichts  Ordentliches  zu  fressen,  so  meckert  sie:  ,,"t  is  en  Elenne". 
In  dieser  Weise  liess  man  auch  die  Ziege  des  Lehrers  in  Flechtorf  ihre  Stimme 
erheben:  die  des  Pastors  jedoch,  die  besseres  Futter  bekam,  erwiderte:  „Dat  glöb' 
ik  nich".  Ein  Trunkenbold  in  Lcbenstedt  pflegte  seiner  Ziege  und  seinem 
Schweine  die  Frage  vorzulegen:  „Hat  de  Mutter  Geld?"  Darauf  antwortete  die 
Ziege  stets  „neeee"  und  kriegte  dafür  ihre  Schläge,  das  Schwein  aber  bejahte  die 
Frage  nach  seinem  Willen:  „Hm,  hm".  Eine  Ziege,  deren  Besitzer  mit  Vornamen 
Josef  hiess,  rief  diesen,  wie  er  sich  einbildete,  immer  mit  seinem  Namen.  Da 
sprach  er  zu  seiner  Frau:  „Wo  mag  das  Tier  von  wissen,  dass  ich  Josef  heisse':' 
Das  geht  nicht  mit  rechten  Dingen  zu,  ich  werde  sie  schlachten." 

Die  Katze  miaut:  „Melk,  en  bettchen  Melk",  der  Kater:  „Mau,  ik  sett'  er  op", 
oder  er  ruft  der  Katze  zu:  „Kumm  doch  emal  her",  aber  da  sie  weiss,  was  ihrer 
wartet,  möchte  sie  nicht  kommen  und  entgegnet:  „Deit  ja  so  weih".  Bekannt  ist. 
dass  ein  altes  Schaf  auf  die  Frage  eines  Lammes:  „Blää,  haste  mine  Mutter  nich 
eseihn?"  antwortet:  „Nä".  In  Denstorf  bei  Braunschweig  lässt  man  aber  das 
Lamm  weiter  blöken:  „Muttä".  Darauf  antwortet  nun  wirklich  seine  Mutter:  „Wat 
wutteV"  Lamm:  „Tittä".  Mutter:  „Na  sau  kumm  her".  Lamm  (hell,  vor  Ver- 
gnügen): „Blä".  Mutter  (recht  tief  und  weniger  vergnügt,  denn  sie  wird  recht 
gezockt):  „Blä". 

Auf  die  bekannte  Frage  der  Kuh:  „Is  de  Hochtit  nich  balle  ute?"  antwortet 
der  Hahn  in  (^»uerenhorst  bei  Helmstedt:  „Ritt  (reitet)  dik  de  Düwely" 

Den  grossen  und  den  kleinen  Hund  stellt  das  Volk  gern  gegenüber.  Wenn 
in  Lebeiistedt  ein  grosser  Hund  selbstbewusst  bellt:  „Ik  bin  von  en  groten  Hof, 
Hof,  Hof",  zeiht  ihn  ein  kleiner  Hund  der  Aufschneiderei,  indem  er  berichtigt: 
„Hei  hat  en  lütjen  Hof,  hei  hat  en  lütjen  Hof-'.  Ein  anderer  kleiner  Hund  )st 
viel  netter,  denn  auf  das  hochmütige  Gebell  des  grossen  Hundes,  dass  er  von 
einem  grossen  Hofe  sei,  erwidert  er  bescheiden:  „Wie  het  en  lütjen  Hof,  Hof, 
Hof,  un  krieg'  ik  keine  Wost,  so  krieg'  ik  doch  Slüe,  Slüe,  Slüe"  (=  Wurstschale). 

Auch  dem  Froschgequake  hat  man  bezeichnende  Worte  untergelegt.  Man 
lässt  die  Frösche    im  Zwiegespräche    auftreten.     Auf   die    Frage    eines    Frosches: 


Kleine  Mitteilungen.  313 

„Vaddersche,  wann  er  back'  ek  ek  ek?"  antwortet  diese:  , Morgen,  morgen, 
morgen".  Auch  ihr  Liebesleben  hat  man  beobachtet.  Das  Männchen  bittet  das 
Weibchen:  „Bor  mik  emal  erop  rop  rop".  Aber  da  dies  kein  Verlangen  nach  ihm 
hat,  weist  es  ihn  hart  ab:  „Ik  bore  dik  nich  rop,  un  wenn  du  glik  vorreckeckeckest". 
Ein  andermal  jedoch  ist  der  Frosch  nicht  zur  Liebe  geneigt  und  entgegnet  auf  die 
Bitte  der  Fröschin  „Jakob,  Jakob,  bör  mik  emal  erop  rop  rop":  „Ik  pimpere  dik 
nich,  un  wenn  du  vorreckst". 

Und  nun  noch  eine  Äusserung  des  Fuchses,  der  den  Beutel  eines  Bullen  be- 
trachtete. Da  er  ihm  lose  zu  sitzen  schien,  so  dachte  er,  er  würde  jeden  Augen- 
blick abfallen.  Daher  folgte  er  dem  Bullen  bis  vor  den  Stall.  Als  sich  aber 
seine  Hoffnung  nicht  erfüllte,  rief  er  enttäuscht  aus: 

,.I)at  harre  ik  doch  psworen, 

Dat  de  Bulle  harre  den  Biidel  verloren." 

Braunschweig.  ütto  Schütte. 


Ein  Wettersegen  aus  dem  seclizehuten  Jahrhundert. 

In  einem  Buche,  das  sich  im  Kapuzinerkloster  zu  Bregenz  befindet    und    den 
Titel  führt:    "Thielman  Kerver,    Höre  beate  marie  virginis,    Paris,    Gillet  Remacle 
L52(i',  befindet  sich  auf  den  Einschiagsblättern  folgender  handschriftliche  Wettersegen: 
'Für  das  Vngewitter  sprich  allso: 

Die  Muoter  Gottes  gieng  vberlaiindt,  |  was  fuort  s}'  an  irer  Hand?  |  Sie  fuort 
ircn  trautheu  Lieben  Sun  in  iercr  gottlicher  Hand.  |  Muoter  liebe  Muoter  mein,  [ 
■wier  fert  so  ain  schweres  weiter  dort  herein?  |  Sune  lieber  sune  mein,  |  Heb  auf 
dein  göttliche  Hand  |  Vnnd  sprich  den  segen  vber  mich  vnnd  dich  vnnd  vber 
alle  Land  |  Vnnd  trib  das  weiter  in  das  Rotte  meer,  |  Berg  vnnd  Spitz,  |  Da 
weder  Vieh  noch  Leüt  ist,  |  in  nomine  Patris  et  flly  et  spiritus  sancti  Amen.  —  1 
Caspar,  Melchior,  Baltassar,  |  Drejbt  daß  weiter  in  daf  rote  meer  |  Vnnd  an  die 
Spitz  vnnd  Berg,  |  Ua  weder  Vieh  noch  menschen  wonen  mag,  |  in  nomine  patris 
et  fily  et  spiritus  sancti,  Amen.  —  |  Jesus  Nazarenus  Res  Judeorum,  Dreyb  das 
Wetter  in  das  Rote  moer  Vnnd  an  die  berg  Vnnd  Spitz,  Da  weder  Vieh  noch 
Leut  ist  in  nomine  palris  et  fily  et  spiritus  sancti,  Amen.  —  Ich  bevilch  mein 
Vnd  meiner  nachbauren  Leib  vnnd  Seel  Hab  vnnd  Frucht  in  den  Schüirm  Hand 
vnd  gwalll  Got  def  Vatters  Suns  vnd  Haiiig  gaists  Amen.' 

Der  Segen  wurde,  wie  die  beigefügte  Jahreszahl  bezeugt,  l.')7.3  ins  Buch  ge- 
schrieben, und  zwar  von  dessen  erstem  Besitzer,  Frater  Franciscus  Busman, 
Parochus,  der  leider  den  Namen  seiner  Pfarrei  nicht  angibt.  Er  muss  übrigens  sonst 
ein  sehr  frommer  Herr  gewesen  sein;  denn  in  die  Endblätter  des  Buches  schrieb  er 
eine  andächtige  'Praeparatio  ad  missam'  und  auf  die  Innenseite  des  Deckels  klebte 
er  ein  Marienbild,  das  er  im  nämlichen  Jahre  1573  mit  der  Inschrift  schmückte: 

Alma  tuam  serva  Genitrix  pia  virgo  cohortem, 
Quae  te  candidula  mente  togaque  colit. 
Virgo  miserere  mei:  miserere  meorum, 
Affice  me  meritis  tempus  in  omue  tuum. 

Im  Jahre  L^74  fügte  er  noch  die  Worte  bei:  '0  Maria  Mater  Dei  miserere 
mei'  und  im  Jahre  1578  den  Reinispruch 'J: 

0  dulcis  amica  Dei,  rosa  vernans  at(pie  decora, 
Memor  esto  mei,  dum  mortis  uenerit  hora. 

1)  [Offenbar  zwei  leoninische  Hexameter:  das  0  gehört  an  den  Anfang  des  zweiten.] 
Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.  1907.  21 


314  Beck,  V.  Schulenburg,  Abeking,  Zachariac,  Kaindl: 

Wir  dürfen  darum  wolil  annehmen,  dass  er  das  Aberglüubischü  in  seinem 
Wettersegen  nicht  erfasste  und  diesen  optima  fide  gebrauchte.  Wir  werden  mit 
dieser  Annahme  aucli  der  Mahnung  gcreciii,  die  der  gute  Pfarrer  an  den  Schluss 
des  Buches  setzte:  Omnia  si  perdas,  famam  servare  memento! 

Ravensburg.  Paul  Heck. 

Alte  Türriegel. 

In  den  altan  Bauüberlieferungen  (oben  10.  76)  bemerkt  Herr  Mielke:  „Da- 
gegen ist  die  spätere  verwandte  Vorrichtung,  durch  einen  schweren  Balken  die 
Tür  zu  sperren,  welche  in  den  Lagelöchern  an  Kirchen-  und  Befestigungstoren 
zu  sehen  ist,  ebenfalls  schon  als  Riegel  in  der  Antike  bekannt.''  Solche  Türriegol 
sind  auch  heute  noch  in  alten  Bauernhäusern  im  Berchtesgadener  Liiiidchon 
zu  finden.  Wenigstens  habe  ich  wiederholt  in  einem  solchen  Hause  (das  urkund- 
lich seit  1.389  besteht)  gewohnt.  Die  Tür,  durch  die  man  auf  den  'Hausgang' 
(Flur)  gelangt,  ist  verschliessbar  durch  ein  eisernes  Schloss.  Inwendig,  links  von 
der  Tür,  etwa  in  halber  Türhöhe,  ist  ein  langes  Loch  in  der  Mauer,  85  cm  tief 
hinein  und  8  cm  im  lichten.  I)arin  liegt  ein  ebenso  langer  und  fast  ebenso  starker 
hölzerner  Klotz,  der  'Riegel'.  Vorne  daran  ist  ein  Leder  befestigt,  um  ihn  vorzu- 
ziehen. Immer  nachts,  aber  auch  bei  Tage,  zumal  wenn  Frauen  und  Mädchen 
allein  zu  Hause  sind,  zieht  man  ihn  vor  die  Tür.  Will  man  sie  öffnen,  schiebt 
man  ihn  wieder  in  die  Wand  zurück.  Besonders  Sonntags  vormittags,  während  der 
Kirchenzeit,  schliessen  sich  in  Oberbayern  vielfach  Frauen  und  Mädchen,  die  zurück- 
bleiben, sehr  sorgfältig  ein,  aus  Furcht  vor  durchziehenden  Strolchen  und  fahrendem 
Volk,  wegen  der  Landstrasse  (Mitteilungen  der  Anthropol.  Ges.  in  Wien  IG,  G2.  189()). 
Ein  ebensolcher  Riegel  ist  vorhanden  für  die  Tür  am  anderen  Ende  des  Hausganges. 

Zehlendorf.  Wilibald  v.  Schulenburg. 


Ein  Aberglaube  der  portugiesischen  Seeleute.') 

Die  Matrosen  von  Peniche  (nördlich  vom  Kap  da  Roca,  Estremadura)  sind 
sehr  fromm.  Ihre  Schutzheiligen,  die  sie  'Corpo  santo'  anrufen,  sind  San  Pedro 
Gon(;ales  und  Vicente  Ferrcira.  Bei  den  alljährlichen  grossen  Rirchenfesten  werden 
dem  Heiligen  Pedro  Goncales  kleine  grüne  Wachskerzen  in  die  rechte  Hand  ge- 
steckt und  angezündet.  Hunderte  von  solchen  Lichtern  kommen  während  des 
Gesanges  in  die  Hand  des  Heiligen  und  werden  danach  an  alle,  die  sich  zum 
täglichen  Kampf  aufs  Meer  begeben,  verteilt.  Jede  Barke,  jedes  der  kleinen,  ge- 
brechlichen Falirzeuge  führt  solches  Licht,  das,  beim  Unwetter  angezündet,  den 
Schutz  der  Heiligen  gegen  Blitzschlag  anruft  und  gutes  Wetter  herbeiführen  soll. 
—  Corpo  Santo  nannten  aber  die  alten  Seeleute  die  blauen  Flämmchen  elektrischer 
Entladungen,  die  sich  bei  Gewittern  häufig  an  den  Mastspitzen  zeigen  (St.  Elms- 
feuer), und  glaubten  den  Körper  des  Heiligen  darin  zu  schauen,  der  gutes  Wetter 
verkündigt.  Daraus  entstand  im  11.  Jaiirhundort  der  Gebrauch,  die  brennenden 
Kerzchen  mitzuführen,  um  jenes  Schutzmittel  vor  Gefahr  auch  dann  zu  haben, 
wenn  sich  die  elektrische  Entladung  verzögert  oder  gar  nicht  erscheint. 

Charlottenburg.  Marie  .\beking. 


1)  Kach  Antonio  Maria  Souto  Cervantes,  ßcvista  lusitana  1,  91  f.  —  [Über  das  St. 
Elmsfeuer  vgl.  Bassett,  Legcnds  and  supcrstitions  of  tlie  sca  1885  p.  :!02.  Sebillot. 
Legendes  de  la  mer  2,  87  (1887).] 


Kleine  Mittciluugon.  315 

Kin  merkwürdiger  Fall  von  'Durchziehen'. 

Cäsarius  von  Heisterbach  erzählt  in  seinem  Dialogus  miraculorum  2,  26,  wie 
an  einem  Judenmädchen  auf  ihr  eignes  Ansuchen  die  heilige  Taufe  vollzogen 
wird;  sie  erhält  den  Namen  Elisabeth.  Einige  Tage  darauf  begegnet  ihr  ihre  un- 
gläubige Mutter  und  versucht,  ihre  Tochter  zum  Judentum  zurückzuführen:  sie 
wisse  ein  Mittel,  wodurch  sie  die  Taufe  aufheben  könne.  Auf  die  Frage  der 
Tochter,  wie  sie  das  machen  wolle,  erwidert  die  Jüdin:  'Ego  tribus  vicibus  te 
sursum  traham  per  foramen  latrinae,  sicque  remanebit  ibi  virtus  baptismi  tui'.  — 
Quod  verbum  puella  audiens  et  exsecrans,  contra  matrem  spuit,  fugiens  ab  illa. 

Zu  dem  dreimaligen  Durchziehen  vgl.  diese  Zeitschrift  1  "2,  113;  zum  Durch- 
ziehen durch  das  Loch  des  Abortes  den  Brauch  norwegischer  Frauen,  „qui  fönt 
passer  leur  enfant  malade  par  la  lunette  d'une  latrine"  (Nyrop  bei  Gaidoz,  Un 
vieux  rite  medical  181*2  p.  54). 

Halle  a.  S.  Th.  Zachariae. 


Beiträge  zur  Volkskunde  des  Ostkarpatheugebietes. 

I.   Drei  historische  Voll<slleder  der  Bukowiner  Ruthenen. 

Nichts  hat  unseren  Bauern  mehr  bedrückt,  als  der  Herrendienst,  die  Robot. 
Die  Schilderung  ihrer  Leiden  und  die  Freude  über  deren  Aufhebung  bildet  den 
Inhalt  der  folgenden  drei  Lieder,  die  wohl  zu  den  wertvollsten  Erzeugnissen 
unserer  Yolkspoesie  zählen.  In  ihnen  spiegelt  sich  die  Bewegung  des  Jahres  1848 
wieder;  sie  sind  ein  Beweis,  dass  die  Quelle  und  Kraft  der  Volkspoesie  nicht  er- 
loschen ist,  und  dass  es  nur  eines  starken  Anstosses  bedarf,  um  sie  wieder  an- 
zuregen. Den  Urtext  der  Lieder  habe  ich  im  Etnograficznyj  Zbirnyk  5  (Lemberg) 
mitgeteilt.  Ich  beschränke  mich  hier  daher  auf  die  Mitteilung  der  Übersetzung 
und  die  nötigen  Anmerkungen. 

A.  Uer  Baucrnanfstaud  in  Toutry.') 

„Hei,  hei  im  Brünnlein  ist  frisches  Wässerlein:  zur  Zeit  des  Herrn  Armeniers  war 
der  Herrendienst  schwer.  Und  als  der  Herr  Moldauer  kam,  war's  um  die  Robot  i^nicht) 
leichter:  durch  die  ganze  \A''oche  Herrendienst  und  am  Samstag  'Klaka'  (ebenfalls  eine 
Art  unentgeltlicher  Arbeit);  am  Sonntag  aber,  am  Sountaglein,  da  alle  Glocken  läuten, 
treiben  die  Watamanen  (Aufseher)  das  ganze  Dorf  zur  Abrechnung.  Auch  ich  kam  vor 
den  Herrn  und  stellte  mich  zur  Rechnungslegung.  Da  sagte  der  Herr:  Futajmasa 
(Schimpfwort),  hast  keine  Henne  gebracht.  Ich  ging  nach  Hause  und  wollte  die  Henne 
fangen:  da  machte  der  Geschworene  Anstalten,    mein  Weib    für    die  Czerdaken  (d.  h.  für 


1)  Toutry  ist  ein  ruthenisches  Dorf  im  Norden  der  Bukowina.  Um  das  Jahr  1830 
war  hier  der  moldauische  Bojar  Janko  Doniez  Aga  Gutsbesitzer;  im  Licde  erscheint  er 
als  „Moldowan".  Dieser  liess  das  Gut  zumeist  durch  Pächter  bewirtschaften:  einer  von 
ihnen  war  der  Armenier  Holobasz,  im  l.iede  knrzwegs  Wermenen  (der  Armenier)  genannt. 
Infolge  der  harten  Herrschaft  dieser  Männer  kam  es  in  Tontry  1830  zu  einem  Bauern- 
aufstand, der  mit  Militärmacht  unterdrückt  werden  musste.  Der  Kreiskommissär  Apian 
leitete  sodann  die  Untersuchung  gegen  die  Rädelsführer.  Einer  der  Zeugen,  ein  blinder 
Mann,  soll  vor  diesem  Kommissär  seine  Äu.=serung  in  Versform  abgegeben  haben:  dies 
soll  unser  Lied  sein.  Ob  indessen  dies  sein  wahrer  Ursprung  ist,  konnte  bisher  nicht 
festgestellt  werden,  denn  historische  Zeugnisse  für  die  behandelten  Ereignisse  sind  bis 
jetzt   nicht    gefunden  worden.     Vom  Liede  selbst  kann  nur  Anfang  und   Ende   mitgeteilt 

21* 


316  Kaindl: 

die  Vernachlässignng  des  Grenzwachdienstos')  zu  sehlagen.  Ich  eilte  in  die  Stuhe  und 
konnte  mich  kaum  niedersetzen,  da  forderte  schon  der  Zehntmann  (Dcssetnyk),  dass  vor 
der  Hütte  den  Soldaten  Esseu  gegeben  würde " 

Das  Lied  ergeht  sich  weiter  in  ausführlicherer  Erzählung  über  die  Bedrückung 
des  Volkes,  seine  steigende  Unzufriedenheit,  den  Ausbruch  des  Aufruhrs  und  seine 
Unterdrückung  durch  Miiitiirmacht.  Auf  einen  Sieg  der  Bauern  über  die  Soldaten, 
der  aber  wohl  nur  ganz  vorübergehende  Bedeutung  hatte,  scheinen  sich  die  an- 
geblichen Schlussverse  zu  beziehen: 

„Herr  Bruder,  Herr  Bruder,  aber  (die  Soldaten)  flohen,  dass  sie  an  den  Gestränchorn 
ihre  breiten  Kleider  zerrissen". 

lt.    Die  Aufhebung  der  Robot.») 

Der  Kuckuck  rief  von  Ilain  zu  Hain,  als  das  Herrendienstlein  aus  unserem  Lande 
zog.  Als  es  aus  dem  Lande  Hob,  tingen  es  die  Herrlein:  ..Herrndicnstleiii,  unser  liebes, 
wie  gut  haben  wir  gelebt  1"  —  Popen  und  Kirchensiinger  kamen  zusammen  und  begannen 
zu  lesen:  „Kommt,  kommt  am  Mittwoch,  den  Herrndienst  zu  beerdigen!"  Den  Herrn- 
dienst haben  sie  beerdigt  und  ein  Kreuz  über  ihn  aufgestellt.  Dabei  haben  aber  alle  diese 
Toren  traurig  geweint.  —  „Weinet  nicht,  ihr  Narren,  das  wollten  wir;  bisher  arbeiteten 
wir  die  ganze  Woche,  und  niemand  nahm  Rücksicht  auf  uns;  wir  arbeiteten  (dem  Herrn) 
die  ganze  Woche  und  für  uns  bloss  am  Samstag;  kam  aber  der  Herr  heraus,  so  fluchte 
er  über  unsere  Faulheit.  —  Xun  werdet  ihr  Herrlein  wissen,  wie  ihr  uns  schätzen  sollt, 
wenn  ihr  nun  selbst  das  Getreide  schneiden  werdet  und  die  gniidigen  Frauen  es  binden 
werden. ä)  —  Gedankt  sei  Gott  und  unserm  Kaiser,  dass  das  Herrndienstleiu  dem  ganzen 
Lande  nachgesehen  wurde:  gedankt  sei  Gott  und  der  allerhöchsten  Kaiserin,  dass  das 
Herrndienstlein  der  ärmsten  Witwe  geschenkt  ist:  gedankt  sei  Gott  und  dem  allerhöchsten 
Kreuze,  dass  wir  nicht  mehr  die  Garngespunste  spinnen  und  keine  Hühner  (für  den  Guts- 
herrn) tragen.'') 


werden;  den  ganzen  Text  vermochte  ich  bisher  nicht  zu  erhalten.  Die  Mitteilung,  dass 
dasselbe  schon  1830  in  einer  Lembcrger  Zeitung  ,Kozmaito.>ei.  Beilage  zur  Lemberger 
Zeitung  ISSO)  gedruckt  worden  sei,  hat  sich  beim  Nachsuchen  nicht  bewahrheitet. 

1)  Czerdake  =  Wachhütte.  Die  Einrichtung  und  Erhaltung  derselben,  zum  Teil  auch 
der  Wachdienst  selbst  war  Sache  der  Bauern.  Die  Überlieferung  sagt,  dass  dieser  Wach- 
dienst wegen  der  in  Riissland  ausgobrochenen  Pest  damals  zu  leisten  war.  Tatsächlich 
war  dies  damals  der  Fall.  Vgl.  meine  Ausführungen  im  Jahrbuch  des  Buk.  Landes- 
museums VII  über  Friedrich  Graf  Hochenegg,  der  damals  den  Kordon  komman- 
dierte. 

2)  Ruthenisch,  aus  der  nördlichen  Bukowina.  Die  Aufhebung  des  L'ntertans- 
verhältnisses  erfolgte  im  Jahre  IS-J«.  Zum  Andenken  daran  wurden  in  vielen  Dörfern 
Kreuze  aufgestellt,  die  noch  jetzt  sorgsam  erhalten  werden.  Die  Auffassung,  dass  es  sich 
hierbei  um  eine  Beerdigung  der  Robot  handelte,  ist  interessant  und  stimmt  völlig  damit 
überein,  dass  vor  einigen  Jahren,  als  hier  der  Branntweinprophet  auftrat  und  gegen  die 
Trunksucht  eiferte,  an  vielen  Orten  der  Branntwein  feierlich  zu  Grabe  getragen,  eine 
Branntweiullasche  verscharrt  und  darüber  ein  Kreuz  aufgestellt  wurde.  Man  vergleiche 
meinen  Artikel  „Der  Prophet"  in  der  Miinchcner  Allgcm.  Zeitung  ISiU,  Nr.  'Jöi  (Morgen- 
blatt) und  ebenda  18;>8,  Beilage  S.  8.  Die  Bemerkung,  dass  nur  der  Samstag  dem  Bauern 
für  ihre  Arbeit  übrig  blieb,  beruht  auf  L'bcrtreibung.  Man  vergleiche  meine  Schrift 
,Das  Untertanswesen  in  der  Bukowina"  (Wien  1899).  Hier  auch  das  Nähere  über  die 
verschiedenen  VerpÜiclituugen  der  Bukowiner  Bauern:  zu  deu  Kleingaben  gehörten  auch 
die  Garngespunste  nnd  Hühner. 

3)  Tatsächlich  wollten  die  Bauern  nach  der  Aufhebung  der  Robot  im  Sommer  und 
Herbst  18^18  auch  gegen  Bezahlung  keine  Arbeit  verrichten. 

4)  Den  Urtext  findet  man  im  Etnogr.  Zbirnyk  5. 


Kleine  Jlitteilungen.  317 

C.  Väterchen  Kobjljcia  (Batkio  Kob.vljcla).^) 

Hört  gute  Leute,   was  ich  sagen    will,    das    ist  ein  neues  Lied,    das  ich  singen  will. 

—  Es  ist  ein  neues  Lied,  das  ich  singen  will:  es  begannen  die  Abgeordneten  mit  den 
Herrn  zu  verhandeln.  —  Es  sagten  die  Abgeordneten,  dass  bessere  Verhältnisse  (für  die 
Bauern)  eintreten  werden.  Versammeln  wir  uns;  es  wird  eine  Kommission  (Untersuchung) 
stattfinden.  —  Also  versammelten  sich  die  Bauern  in  grosser  Zahl  und  gingen  zum 
Marszowka  zur  Beratung.  —  Habt  ihr,  liebe  Leute,  schon  eine  solche  Neuigkeit  gehört? 
Kobylj-cia  hat  mit  dem  Jlarszewka  eine  Bittschrift  verfasst.  —  Er  hat  sie  geschrieben  und 
ans  Kreisamt  geschickt:  aber  es  kamen  zu  ihm  Soldaten  etwa  ein  halbes  Regiment.  — 
Oj,  man  sattelt  dem  Starosten  schwarze  Pferde  und  führt  nach  Putilla  zwei  Kompagnien 
Soldaten.  —  Oj,  sie  kamen  nach  Storonetz,  stellten  sich  dort  auf  in  Reih  und  Glied;  die 
Weiber  freuten  sich  dennoch  darüber.  —  0  möchtet  ihr  Weiber  von  der  Krankheit  hin- 
gerafft werden,  dass  ihr  zu  den  Soldaten  zusammenlaufet  wie  die  Juden  in  die  Schule 
(Synagoge)I  —  Der  Apfelbaum  mit  dürrem  Wipfel  will  nicht  Früchte  tragen:  schon  zogen 
sie  aus,  den  Kobjlycia  in  Ploska  zu  fangen.  —  Dort  haben  sie  ihn  überlistet  und  ihm  die 
Klage  vorgelesen,  und  haben  ihn  dort  sofort  gefesselt.  —  Sie  haben  ihn  gebunden,  hole 
ihn  der  Henker;  auch  haben  sie  dem  Kobylycia  seine  Hütte  in  Krasnodice  zerstört.  — •  Sie 
haben  ihn  gebunden  mit  dünnen  Schnüren  und  haben  ihn  geführt  llussabwärts  nach 
Storonetz.  —  Sie  führten  ihn  nach  Storonetz  und  traten  vor  dem  Herrn;  keinen  grossen 
Ruhm  gewann  Kobylycia  davon.  —  Es  kamen  alle  Herrlein  zusammen,  es  kamen  alle 
Heger  (Aufseher),  und  schlugen  Kobylycia  in  eiserne  Bande.-)  —  Ei,  Herr  Dzurdzuwan, 
dir  gehört  ganz  Wizuitz;  es  geht  in  Czernowitz  (im  Gefängnis)  Luiden  Kobylycia  zugrunde. 

—  Oj  Herr  Dzurdzuwan,  verkauf  die  grauen  Ochsen  und  löse  den  Kobylycia  aus  diesem 
Kerker!  —  0  man  schlachtet  graue  Ochsen,  es  teilen  sich  die  Soldaten;  Herr  Dzurdzuwan 
ist  ein  berühmter  Herr,  ihm  tun  sie  nichts.  —  Habt  ihr  gehört,  gute  Leute,  eine  solche 
Tat?  Man  eroberte  Putilla  im  grossen  Fasten.  —  Man  eroberte  Putilla  von  allen  vier 
Seiten;  man  schrieb  von  Putilla,  dass  hier  lauter  Räuber  wohnen.  —  Man  eroberte 
Putilla  im  grosseu  Fasten  uml  nahm  alle  Erdäpfel  weg,  so  dass  nichts  für  Same  übrig 
blieb. 

2.   Das  Ortschaftslied. 

Das  folgende  Lied  ist  eines  der  interessantesten,  die  mir  begegnet  sind. 
Seine  Form  ist  zwar  unbeholfen,  aber  sein  eigentümlicher  Inhalt  zeichnet  es  vor 
vielen  andern  aus.  Es  werden  nämlich  in  demselben  die  am  Czeremosz  und 
dessen  „weissen"    Quellfluss  (weissen  Czeremosz)    gelegenen  Orte    aufgezählt  und 


1)  lluthenisch-huzulisch.  Aufgezeichnet  von  Herrn  Pfaner  Georg  Hanicki  in  Sergie, 
gegenwärtig  Konsistorialrat  in  Czernowitz.  Kobylycia  stand  schon  im  Jahre  1843  an  der 
Spitze  eines  wegen  Urbarialstreitigkeiten  ausgebrochenen  Aufstandes  (Vgl.  meine  Schrift 
„Das  Untertanswesen  in  der  Bukowina"  S.  124).  Dann  war  er  1848/49  der  erste  Reichs- 
tagsabgeordneto  aus  dem  Huzulengebiet;  zugleich  leitete  er  einen  neuen  Aufstand  der 
Huzulen  gegen  ihre  Grundherrn.  Das  Nähere  über  ihn  in  meiner  Schrift  „Die  Bukowina  in 
den  Jahren  1848/49".  Wiznitz,  Putilla  oder  Storonetz,  Sergie,  Ploska,  Krasnodiu  sind 
Orte  im  Bukowiner  Anteil  des  Huzulengebirges.  Marszewka  war  offenbar  Ortsrichter  und 
Vertrauensmann  der  Bauern;  Dzurdzuwan  Gutsherr. 

2)  Wörtlich  heisst  es:  ,.und  bestiefelte  Kobylycia  mit  eisernen  Hufeisen".  Ich  wählte 
die  obige  t'bersetzung,  weil  von  einer  so  grausamen  Behandlung  Kobylycias,  wie  sie  die 
Worte  des  Liedes  andeuten,  sonst  keine  Nachricht  vorhanden  ist.  Dagegen  muss  fest- 
gestellt werden,  dass  nach  mündlichen  Mitteilungen  des  1891  verstorbenen  Finanzrats 
Franz  Adolf  Wickenhauser,  des  bekannten  Bukowiner  Historikers,  ein  Bukowiner  Gutsherr 
einem  Untertan,  der  mit  Klagen  in  Czernowitz  oder  Wien  gedroht  hatte,  Hufeisen  an  die 
blossen  Füsse  annageln  Hess,  mit  der  höhnischen  Bemerkung:  _Das  gebe  ich  dir  mit  auf 
den  Weg".  Vielleicht  spiegelt  sich  in  den  Worten  des  Liedes  eine  Erinnerung  au  einen 
derartigen  Vorgang. 


318  Kaimll: 

über  jeden  ein  mehr  oder  weniger  charakterische  Bemerkung  gemacht.  Das  Lied 
stammt  von  einem  Zimmermann  aus  All-Kuty  (Galizien),  der  jahraus,  jahrein 
seinen  Weg  längs  des  Czeremosz  hin-  und  zurückgewandert  war.  Die  lange 
Reihe  von  Ortschaften,  die  er  auf  dieser  Wanderung  berührt  und  an  die  ihn  allerlei 
Beziehungen  knüpfen,  besingt  das  Lied. 

Es  gab  nichts  und  wird  nichts  geben  über  das  Dorf  Kuty, 

Dort  kann  man  sich  im  Herbst  auf  den  Hochzeiten  gut  unterhalten. 

Es  gab  nichts  und  wird  nidits  geben  über  das  Dorf  Tudiow, 

Sie  (die  Tudiower)  holen  sich  Knoblauch  zahnweiso  aus  Kuty. ') 

Es  gab  nichts  und  wird  nichts  geben  über  das  Dorf  Gross-ßozien, 

In  dem  man  zu  keinem  Hause  mit  einem  Wagen  gelangen  kann.'-) 

Es  gab  nichts  und  wird  nichts  geben  über  das  Dorf  Rostoki, 

Dort  habe  ich  vier  Ziegen  verdient,  und  alle  waren  an  den  Seiten  weiss. 

Es  gab  nichts  und  wird  nichts  geben  über  das  Dorf  Hubki, 

Wo  sich  so  stolze  Leute  versammelt  haben. 

Es  gab  nichts  und  wird  nichts  geben  über  Bitobereska, 

Wo  man  zur  Marie  den  Steg  nicht  linden  kann. 

Es  gab  nichts  und  wird  nichts  geben  über  Chorocow, 

Wo  mir  das  Mädchen  Paraska  gefallen  hat. 

Es  gab  nichts  und  wird  nichts  geben  über  Barwinkow, 

Weil  dessen  Bewohner  mit  dem  in  der  Klause  wohnenden  Jlilcewicz 

den  Weg  hinter  dem  Berg  gemacht  haben. 
Es  gab  nichts  und  wird  nichts  geben  über  das  Dorf  U.-icieryki, 
Wohin  ich  auch  gehe,  ich  kehre  immer  beim  Seelchen  (d.  h.  bei  der 

seelenguten)  Marika  ein. 
Es  gab  nichts  und  wird  nichts  geben  über  das  Dorf  Stebne, 
Wo  es  wohl  vier  Ochsen  bei  der  Hütte  gibt,  aber  nicht  ein  Hähnchen 

Heu. 
Es  gab  nichts  und  wird  nichts  geben  über  Dolbopole, 
Welche  Schmerzen  habe  ich  Armer  um  eines  Mädchens  willen  I 
Es  gab  nichts  und  wird  nichts  geben  über  das  Dorf  Fereskul, 
AVo  mir  Wohlgefallen  hat  ein  Mädchen  namens  Paraska, 
Es  gab  nichts  und  wird  nichts  geben  über  Jablonitza, 

Es  trat  ein  Zigeuner  auf  die  Strasse  und  entblösste  den  H 

Es  gab  nichts  und  wird  nichts  geben  über  Jabjonöw^), 

Ich  singe  da  ein  bischen  und  gehe  nach  Hause. 

Es  gab  nichts  und  wird  nichts  geben  über  das  Dorf  Hryuiawa, 

Vier  Ochsen  treibe  ich  mir  auf  die  Alm, 

0  ich  treibe,  treibe,  am  HramitueBach  werde  ich  ruhen. 

Das  Pferdchen  werde  ich  absatteln  und  mir  eine  Knlescha')  kochen. 

Es  gab  nichts  und  wird  nichts  geben  über  Holoszyna, 

Wo  ich  lieben  lernte  ein  Mädchen  Wasylyua. 

Es  gab  nichts  und  wird  nichts  geben  über  Szekmaniuka, 

Wo  mir  wohlgefiel  eines  reichen  Wirtes  Tochter.') 


1)  Tudiow  liegt    unmittelbar   neben  Ktity:    die  Tudiower    können    also   jederzeit    in 
dieser  Stadt  sein  und  brauchen  nicht  grosse  Vorräte  heranfznschaffen. 

2)  Vor  einigen  Jahrzehnten  galt  dieses  Merkmal  von  den  meisten  Huzulendörfern; 
gegenwärtig  gibt  es  aber  fast  überall  gebahnte  Wege. 

3)  Gehört  nicht  in  die  Reihe  der  Ortschaften  am  Czeremosz;    dieser  Ort   geriet  nur 
wegen  seiner  Namenähnlichkeit  zu  Jablonitza  hierher. 

4)  Dicker    Maisbrei,     wichtigstes    Nahrungsmittel    der   Landbevölkerung    in    diesem 
Gebiete. 

5)  Das  Original  des  Liedes  habe  ich  im  Etnograficzny  Zbirnyk  veröfl'entlicht. 


Kleine  Mitteilungen.  319 

3.   Sagen  vom  Herrn  Kaniowski.^) 

Einst  stand  Herr  Kaniovvski  (Pan  Kaniowski)  im  Winter  am  Fenster,  da  sah 
er  einen  Juden  vorübergehen.  „Kannst  du,  Jude,  wie  ein  Kuckuck  rufen?"  fragte 
Kaniovvski.  „Ja,  Herrl"  lautete  die  Antwort;  denn  niemand  wagte  dem  Mächtigen 
zu  widersprechen.  „So  steig  auf  jenen  Baum  und  rufe!"  Der  Jude  tat  es.  Darauf 
schrie  Kaniowski  zum  Fenster  hinaus:  „Was  für  ein  Kuckuck  ist  das,  der  im 
Winter  ruft?  Solch  einen  dulde  ich  nicht";  er  ergriff'  sein  Gewehr  und  schoss 
den  Juden  vom  Baume.     [Vgl.  die  oben  6,  74  angeführten  Miirchen.] 

Ein  andermal  geschah  es,  dass  zu  einem  Kirchweihfest  viele  Leute  an  seinem 
Hause  vorbeizogen.  Da  trat  Kaniowski  vor  die  Tür  und  lud  einen  Zug  der  Vor- 
übergehenden ins  Haus.  Hier  Hess  er  sie  bei  einem  reichgedeckten  Tisch  Platz 
nehmen  und  befahl  ihnen  zuzugreifen.  Dieser  Aufforderung  leisteten  die  Leute 
mit  Freude  Folge.  Sie  waren  aber  unsorgfältig  und  verdarben  eine  Menge  von  den 
Speisen.  Als  sie  sich  an  dem  Essen  gesättigt,  noch  mehr  aber  verderbt  hatten, 
wollten  sie  Abschied  nehmen.  Da  rief  aber  Herr  Kaniowski  seine  Kosaken  herbei, 
Hess  die  bösen  Gäste  ergreifen  und  jedem  derselben  eine  Tracht  Prügel  verab- 
reichen. Später  stand  Herr  Kaniowski  wieder  vor  dem  Hause  und  lud  eine  neue 
Schar  ein.  Trotzdem  schon  die  Kunde  sich  verbreitet  hatte,  wie  er  seine  früheren 
Gäste  behandelt  hatte,  wagten  die  Eingeladenen  nicht  auszuschlagen.  Nachdem 
sie  gegessen  und  getrunken  hatten,  blieben  sie  bei  der  Türe  stehen.  „Warum  geht 
ihr  nicht?"  fragte  Kaniowski.  „Wir  haben  gehört,  dass  Ihr  Eure  Gäste  nach  der 
Bewirtung  zu  prügeln  pflegt",  antworteten  jene  demütig.  „Das  tue  ich  nicht 
ordentlichen  Leuten,  sondern  nur  Lumpen,  welche  die  Gaben  Gottes  nicht  schonen. 
Jene  haben  mehr  verderbt  als  genossen,  ihr  aber  habt  nur  gegessen  und  getrunken, 
um  Hunger  und  Durst  zu  stillen.     Geht  mit  Gott!" 

So  hat  Herr  Kaniowski  bald  mutwillige  Streiche  ausgeführt,  bald  trat  er  aber 
für  Recht  und  gute  Sitte  ein,  ganz  wie  es  ihm  gerade  einfiel.  Besonders  gern 
schützte  er  die  Armen  gegen  die  Bedrückung  durch  die  Reichen.  So  geschah  es 
einmal,  dass  ein  armer  Teerhändler,  der  durch  die  Dörfer  zog  und  den  Bauern 
Wagenschmiere  für  ihre  hölzernen  W^agenachsen  verkaufte,  auf  der  Strasse  einher- 
fuhr. Im  Wäglein  lag  sein  Teerfass,  das  sein  ganzes  Vermögen  enthielt.  Da 
kam  ein  Pope  mit  stattlichem  Gespann  rasch  herangefahren.  Der  Bauer  konnte 
ihm  nicht  schnell  ausweichen,  da  fuhr  der  Pope  mit  seiner  Deichsel  in  das  Pass 
und  stiess  diesem  den  Boden  aus.  Aller  Teer  floss  nun  auf  die  Strasse,  und 
wehklagend  stand  der  arme  Händler  neben  seinem  Wagen;  der  Pope  aber  fuhr 
rasch  davon.  Es  währte  indessen  nicht  lange,  da  kam  Herr  Kaniowski  mit  seinen 
zehn  Kosaken,  die  ihn  stets  begleiteten,  geritten.  „Warum  klagst  du?"  fragte  er 
den  Mann.  Dieser  erzählte  das  Geschehene.  Da  befahl  Kaniowski  sofort  seinen 
Kosaken,  dem  Popen  nachzueilen  und  ihn  herbeizuholen.  Dies  geschah;  nach 
einiger  Zeit  führten   die    Reiter    den    Übeltäter    herbei.      „Was    hast    du    getan?" 


1)  Erzählt  von  dem  Arbeiter  Jüsef  Krzysztalawicz  aus  Husiatyn  (Galizien).  Kaniowski 
ist  eine  historische  Persönlichkeit.  Sein  eigentlicher  Name  war  Nikolaus  Potocki;  er  lebte 
1712 — 1782  und  war  Starost  (hoher  polnischer  Beamter)  von  Kaniiiw.  Nach  diesem  Ort 
führt  er  seinen  Beinamen.  In  Ostgalizien  hatte  er  reiche  Besitzungen;  in  Baczacz  hielt  er 
sich  gern  auf.  Daher  wird  in  diesen  Gebieten  viel  von  ihm  erzählt.  Husiatyn  und  Sniatyn 
liegen  auch  hier.  Mitteilungen  über  ihn  findet  man  im  Etnogr.  Zbimyk  G,  285  ff.  8, 
133  ff.,  ferner  Zapyski  der  Lemberger  SevCenko -Gesellschaft  41,  Miscellanea  S.  4 ff.  In 
den  Erzählungen  spiegelt  sich  ein  gutes  Stück  der  ungezügelten  Macht  und  Willkür  der 
polnischen  Starosten  und  Gutsherren.  Übrigens  sind  auch  diese  Volksüberlieferungen 
Zeugnisse  moderner  Sagenbildungen. 


320  Kaindl,  Adrian: 

fragte  Kaniowski.  „Warum  ist  er  mir  nicht  beizeiten  ausgewichen?"  antwortete 
der  Pope  trotzig.  „Das  hattest  du  leichler  tun  können;  nun  steig  vom  Wagen 
herab  und  schlüpfe  in  das  Fassl"  Vergebens  versuchte  der  Pope  den  Herrn 
Kaniowski  zur  Zurücknahme  seines  Befehles  zu  bewegen.  Er  musste  in  das  Pass 
schlüpfen  und  wurde  mit  diesem  urahcrgewälzt,  bis  er  über  und  über  mit  Teer 
bedeckt  war.  Darauf  musste  er  den  Schaden  des  Teerhändlers  ersetzen,  und  erst 
dann  durfte  er  seines  Weges  weiterziehen. 

Einst  liess  Herr  Kaniowski  in  Husiatyn  eine  schöne  Kirche  bauen.  Als  diese 
fast  fertig  war,  fragte  er  die  Meister,  ob  sie  wohl  noch  ein  stattlicheres  Gottes- 
haus bauen  könnten.  „Warum  denn  nichf-,  antworteten  diese,  „sobald  wir  mit 
diesem  fertig  sein  werden,  wollen  wir  an  einem  anderen  Orte  eine  viel  grössere 
und  schönere  Kirche  bauen."  Dies  verdross  den  Herrn.  Als  die  Meister  oben 
am  Turmdach  beschäftigt  waren,  Hess  er  die  Gerüste  abtragen,  so  dass  sie  nicht 
herunterkommen  konnten.  Da  verfertigten  sich  die  Meister  Flügel  aus  Holz  und 
versuchten  mit  deren  Hilfe  herabzugelangen.  Einige  von  ihnen  retteten  sich  auf 
diese  Weise;  andere  fielen  aber  in  den  Pluss  und  ertranken.') 

Einst  lud  den  Herrn  Kaniowski  der  Kaiser  ein,  dass  er  nach  Wien  komme, 
doch  .sollte  er  im  Schlitten  gefahren  kommen,  trotzdem  Sommerzeit  war.  Da  liess 
Kaniowski  in  allen  Zuckerbäckereien  den  Zucker  aufkaufen  und  bestreute  damit 
die  Gassen.  So  fuhr  er  zum  Kaiser.  Nach  anderer  Meinung  musste  Kaniowski 
zum  Kaiser  weder  bekleidet  noch  nackt,  weder  reitend  noch  zu  F'uss  kommen. 
Da  hüllte  er  sich  in  ein  Fischernetz  und  setzte  sich  auf  einen  grossen  Hund,  so 
dass  die  Füsse  auf  dem  Boden  schleiften.     [R.  Köhler,  Kl.  Sehr.  1,  446f.] 

Ein  allgemein  verbreitetes  Lied  erzählt  folgendes:  Auf  einer  Tanzunterhaltung 
in  Sniatyn  war  auch  eine  junge  Bodnariuna  ( Fassbinderin)  erschienen.  Kaniowski 
kam  zum  Feste  und  tat  ihr  schön.  Sie  verstand  aber  keinen  Spass,  gab  ihm  einen 
Schlag  und  ergriff  dann  die  Flucht.  Von  den  Kosaken  des  Herrn  erreicht,  zog 
sie  es  vor,  zu  sterben,  als  sich  dem  Herrn  zu  ergeben.  Mit  den  Klagen  um  die 
Tote  und  der  Schilderung  der  Leichenfeier  endet  das  Lied. 

4.  Totenhochzeit. 

In  dem  eben  erwähnten  Liede  von  der  Fassbinderin  und  Herrn  Kaniowski 
heisst  es,  dass  man  die  Tote  für  die  Beerdigung  „wie  zur  Trauung'"  kleidete.-) 
Das  ist  keine  blosse  Phrase.  Es  sei  gestattet,  zur  Erläuterung  folgende  von  mir 
schon  einmal  im  „Globus"  gebrachton  Mitteilungen  zu  wiederholen: 

Bekanntlich  hat  0.  Schrader  in  seinem  Vortrag  'Totenhochzeit'  (Jena  1904) 
den  Beweis  erbracht,  dass  schon  in  der  indogermanischen  Urzeit  bei  den  Leichen- 
begängnissen auf  das  weitere  Schicksal  des  Toten  im  Jenseits  Rücksicht  genommen 
wurde,  insbesondere  Unverheirateten  auch  ein  Weib  mit  aller  Feierlichkeit  an- 
getraut wurde.  Schrader  verweist  auch  auf  allerlei  Beweise,  aus  denen  hervor- 
geht, dass  bei  den  Slawen  die  symbolische  D.irstellung  einer  ganzen  Hochzeit  bei 
Leichenbegängnissen  üblich  war.  [Oben  lö,  232.]  Zu  diesen  Ausführungen  hat  im 
Zentralblatt  für  Anthropologie  10,  147  f.  A.  Brunk  (Osnabrück)  aus  Pommern  einige 
Nachträge  gebracht.  Auch  ich  möchte  zu  dieser  höchst  interessanten  Arbeit,  die 
in  schlagender  Weise  die    hohe    Bedeutung   volkskundlicher    Forschungen    dartut, 


1)  Vgl.  ähnliche  Überlieferungen  aus  Wassilcn  am  Dniester  (Bukowina),  mitgeteilt 
von  mir  in  der  Zeitschr.  f.  östcrr.  Volksk.  8,  238 f. 

2)  Pislaly  starei'iku  w  solo  po  berwinok,  tak  ubraly  bodnariwnu  jak  do  >lubii  diwkii, 
d.h.  sie  .schickten  die  Alten  ins  Dorf  um  Immergrün  und  kleideten  die  Fassbinderlu  wie 
ein  Mädchen  zur  Trauung.    Immergrün  dient  zur  Herstellung  des  Brautkranzes. 


Kleine  Mittciluno-en.  321 

aus  meinem  engeren  Studiengebiete  einige  Mitteilungen  machen.  Bei  den  Huzulen 
(Gebirgsruthenen  in  den  Karpathen)  sind  Gebrauche  üblich,  die  deutlich  auf  die 
Totenhochzeit  weisen.  Ich  habe  darauf  schon  in  meinen  „Huzulen"  (Wien  ]8i)4) 
hingewiesen.  „Ausser  den  sonstigen  Vorbereitungen  zur  Beerdigung  wird,  wenn 
der  Verstorbene  ein  Kind  oder  doch  ledig  war,  für  denselben  noch  ein  Kranz  ge- 
flochten und  ein  Bäumchen  (deryuce)  mit  weisser  und  roter  Wolle  geschmückt, 
Vorbereitungen,  die  man,  wenn  der  Verstorbene  es  erlebt  hätte,  für  seine  Hoch- 
zeit gemacht  haben  würde.  Das  Bäumchen  wird  neben  die  Leiche  gestellt,  auf 
dem  Wege  zur  Kirche  und  zum  Friedhofe  aber  der  Leiche  vorangetragen,  um 
schliesslich  auf  dem  Grabhügel  aufgesteckt  zu  werden."  Über  die  Rolle  des 
Bäumchens  bei  der  Hochzeitsfeier  wolle  man  den  betreffenden  Abschnitt  in  den 
„Huzulen"  nachlesen.  Ferner  ist  hier  der  Text  eines  huzulischen  Klageliedes,  das 
einem  Kinde  gilt,  zu  erwähnen.  Es  lautet:  „0,  du  silberner,  goldener  Engel, 
warum  hast  du  uns  verlassen  .  .  .?  Warum  hast  du  dir  solch  eine  Hochzeit  ge- 
wählt? Warum  wolltest  du  mir  nicht  die  Augen  zudrücken,  sondern  ich  musste 
dir  diesen  Dienst  erweisen?  Warum  willst  du  zu  mir  nicht  sprechen...?"  In 
Czernowitz  und  Umgebung  pflegt  man  bei  den  deutsclien,  rumänischen  und 
ruthenischen  Einwohnern  der  schlichteren  Volksklasse  das  verstorbene  Mädchen 
ganz  „wie  eine  Braut"  zu  kleiden,  insbesondere  flicht  man  den  Brautkranz  und 
Brautschleier  ins  Haar.  Auf  einem  Pölsterchen  wird  ebenfalls  ein  Kranz  von 
einem  Burschen  dem  Sarge  voran-  oder  nachgetragen,  während  zwei  andere,  rechts 
und  links  geheud,  die  Bänder  desselben  halten.  Burschen  tragen  die  Bahre,  wenn 
diese  nicht  auf  einem  Leichenwagen  geführt  wird.  Im  letzteren  Falle  gehen  zwei 
Burschen  zu  beiden  Seiten  des  Sarges.  Neben  den  Burschen  gehen  Mädchen.  Es 
sind  dies  gewissermassen  die  Brautführer  und  die  Brautführerinnen;  daher  sind  sie 
auch  gerade  so  mit  Sträusslein  geschmückt  wie  zur  Hochzeit.  Auch  Musik  und 
Schmaus  werden  wie  bei  Hochzeiten  besorgt.  Ganz  ähnlich  sind  die  Bräuche  bei 
Jünglingen.     Knaben  werden  von  Mädchen  zu  Grabe  getragen. 

Czernowitz.  Raimund  Friedrich  Kaindl. 


Volksbväuche  aus  dem  Chiemgau. 

(Vgl.  oben  IG.  .".22.) 
2.  Die  Rockenfahrt. 

Von  der  Station  t'bersee  im  Süden  des  Ghierasees  führt  eine  Sackbahn  im 
Tale  der  Grossen  Ache  über  Marquartstein  nach  Unterwessen.  An  dieser  liegt 
auch  der  stattliche  Pfarrort  Grassau,  der  Schauplatz  der  Rockenfahrten,  eines 
eigentümlichen  Brauches,  der  die  Idee  des  Volksgerichtes,  wie  manche  ähnliche 
bajuvarische  Sitte,  in  sich  birgt.  Im  Winter,  wenn  die  Feldarbeit  ruht,  rüstet  sich 
das  weibliche  Hausgesinde  in  althergebrachter  Weise  zum  Spinnen;  um  aber  in 
die  etwas  eintönige  Beschäftigung  einige  Abwechslung  zu  bringen,  kommt  man 
jeden  Tag  in  einem  anderen  Hause  in  der  Nachbarschaft  zusammen.  Da  wird 
sehr  fleissig  gesponnen,  aber  nicht  weniger  fleissig  gesprochen,  und  worüber? 
Hauptsächlich  über  die  'Buam',  deren  gute  und  schlechte  Eigenschaften  gründlich 
zerlegt  werden.  Hat  sichs  einer  einfallen  lassen,  in  den  vergangenen  Sommertagen 
mit  einer  'Herrischen'  auf  die  Alm  zu  gehen  oder  beim  Schuhplatteln  im  Sommer- 
kelier  das  'Stadtfräulein'  mehr  in  die  Höhe  zu  heben  als  die  etwas  schwerfälligere 
Landschöne,  dann  wehe  ihm;  es  wird  bei  der  Unterhaltung,  die  man  als  Rockenfahrt 
bezeichnet,  kein  gutes  Haar  an  ihm  gelassen.     Es  darf   daher    niemand    wundern, 


322  Adrian: 

wenn  sich  die  milnnliche  Dorfjugend  verbündet,  um  sich  für  die  oft  an  Ver- 
leumdung- grenzende  Unterhaltung  zu  riichen.  So  eine  Roclicnl'ahrt  beginnt  ge- 
wöhnlich um  ein  Uhr  mittags  und  dauert  bis  fünf  Uhr  abends.  Um  drei  Uhr 
wird  von  der  Bauerin  eine  grosse  Schüssel  voll  dampfenden  Kaffees  aufgetragen, 
den  man  im  geselligen  Kreise  gemeinsam  verzehrt.  Hei  dieser  Mahlzeit  wird 
unter  dem  Gebote  strengster  Verschwiegenheit  veiabredet,  in  welchem  Hause  sich 
am  nächsten  Tage  die  Spinnerinnen  trelfen.  p]s  ist  nun  Aufgabe  der  Burschen, 
herauszubringen,  wo  diese  Zusammeniiunft  stattfindet;  entweder  erlauscht  es  einer 
der  Verschworenen  durch  das  Ofenloch  von  der  Stubenkammer  aus,  oder  beim 
abendlichen  Heimgange  gelingt  es  der  List  und  Schmeichelei,  das  sorgsam  gehütete 
Geheimnis  zu  entreissen. 

Ist  der  Ort  der  Schauerhandlung  entdeckt,  so  werden  gleich  nach  dem  Mittag- 
essen auf  verschiedenen  am  Wege  gelegenen  Verstecken  Posten  aufgestellt,  die 
auf  die  mit  Spinnrad  und  Werg  daherkommenden  Rockonfahrerinnen  zu  'passen' 
haben.  Wird  einer  der  Späher  dieselben  gewahr,  so  gibt  er  als  Signal  einen 
Pistolenschuss  ab,  worauf  es  ringsum  lebendig  wird.  Aus  den  Scheunen,  Häusern, 
Backöfen  und  anderen  Verstecken  stürzen  die  Burschen  heraus  und  verursachen 
mit  Kuhglocken,  Giesskannen,  Blechtafeln,  Gewehren,  Karfreitagratschen  usw.  einen 
solchen  llijllenlärm,  dass  er  das  Haberfeldtreiben  noch  übertrifft.  Sie  begleiten 
dann  mit  der  Musik  zum  Gaudium  des  ganzen  Dorfes  die  Rockenfahrerinnen  zum 
Haus.  —  Wird  das  Treiben  zu  arg,  so  mischt  sich  wohl  die  Gendarmerie  in  die 
Sache;  doch  auch  für  diesen  Fall  ist  gesorgt,  denn  an  verschiedenen  Ecken  stehen 
Leute  als  Aufpasser,  welche  beim  Herannahen  der  berufenen  Hüter  der  gesetz- 
lichon  Ordnung  ein  vorher  vereinbartes  Zeichen  geben,  worauf  sich  die  Schar 
schleunigst  zerstreut  und  in  den  Häusern  verschwindet;  wird  aber  der  eine  oder 
andere  um  die  Ursache  des  Lärmens  befragt,  so  stellt  er  sich  recht  dumm  und 
lässt  kein  Sterbenswörtchen  verlauten.  Öfter  als  einmal  wiederholt  sich  dieses 
Treiben  im  Laufe  des  Winters.     [Schmeller  2,  47.] 

3.  Der  Hoarer. 

Bei  der  Drischleg  spielt  d^r  'Hoarer'  eine  besondere  Rolle:  so  wird  nämlich 
der  genannt,  der  beim  Dreschen  mit  dem  DreschÜegel  den  letzten  Schlag  macht. ' ) 
Volksetymologisch  wird  dessen  Name  von  'harren'  (warten)  abgeleitet,  und  es 
dürfte  in  dem  Falle  damit  auch  das  richtige  getroffen  worden  sein.  Soviel  Ge- 
treide, als  auf  einmal  zum  Dreschen  auf  der  Tenne  ausgebreitet  wird,  nennt  man 
ein  'Stroh';  es  ist  die  Menge,  die  zu  einem  Schaub  zusammengebunden  wird.  Das 
'Stroh'  hat  gewöhnlich  vier  'Ruhen',  d  h.  es  wird  in  vier  (manchmal  auch  drei) 
Absätzen  ausgedroschen  und  inzwischen  drei-  oder  zweimal  umgewendet. 

Wenn  nun  das  letzte  'Stroh'  auf  der  Tenne  liegt  und  die  letzte  'Ruhe'  ge- 
droschen wird,  ist  schon  alles  begierig,  wer  wohl  der  'Hoarer  oder  'Hoarliug' 
werden  oder  den  'Hoarer'  bekommen  wird.  Nur  der  'V'ordrescher  oder  Tenn- 
meister hat  das  Recht,  aufzuhören,  vor  ihm  darf  niemand  seine  Tätigkeit  ein- 
stellen. Ehe  man  nun  beim  letzten  Gange  (bei  jeder  Ruhe  wird  zweimal  auf-  und 
abgegangen)  an  dem  Ende,  wo  regelmässig  aufgehört  wird,  anlangt,  hält  der 
Tennmeister  unvermutet  den  Dreschflegel  hoch.  Wer  dieses  übersieht  oder  die 
'Drischl'  nicht  mehr  aufhalten  kann,  so  dass  sie  noch  mit  lautem  Schlag  nieder- 
saust, der  ist  nun  der  'Hoarer".  Zunächst  wird  dieser  recht  ausgelacht,  bespöttelt, 
geneckt  und  in  jeder  Weise  gehänselt.     Ungezählte    Male    niuss    er    sich  'Hoarer' 


1)    [Vgl.  E.  H.  .Meyer,    Volkskunde  1&1»S  S.  '-»37.     iMannhanit,    iMythol.   Korschungen 
1884  S.  Gl.    Oben  1,  1.30.  5,  löO.    Die  dtsch.  Mundarten  6,  14.):   'Harrer'.] 


Kleine  Mitteilungen.  323 

rufen  lassen;  er  wird  mit  Russ  bemalt,  mit  Wasser  getauft  und  mit  alten  Ruh- 
glocken behangen,  schliesslich  auf  einen  Schlitten  gebunden  und  in  der  Nachbar- 
schaft herumgeführt,  wobei  ihm  noch  die  Aufgabe  zufallt,  sämtliche  Nachbarn  für 
den  Abend  einzuladen.  Doch  für  all  die  Neckereien,  die  sich  der  'Hoarer'  ge- 
fallen lassen  muss,  findet  er  auch  einige  Genugtuung.  Beim  Abendessen  wird  er 
besonders  gut  beköstigt;  er  bekommt  den  "Hoarlingskücher,  der  wohl  drei-  bis 
viermal  so  gross  ist  wie  die  übrigen  Küchel,  auf  einem  grossen,  mit  gedörrtem 
und  grünem  Obst,  Hlumcn  u.  dgl.  verzierten  Teller  vorgesetzt,  wobei  freilich  die 
übrigen  nicht  ermangeln,  im  rechten  Augenblicke  sich  etwas  von  den  Verzierungen 
anzueignen.  Der  'Hoarer'  braucht  sein  Küchel  nicht  gleich  zu  verzehren,  sondern 
darf  es,  nachdem  er  mit  den  übrigen  Dreschern  gegessen,  mit  nach  Hause  nehmen. 

Nach  dem  Abendessen  finden  dann  noch  Spiele  und  Tiinze  statt,  ganz  in  der 
Art  der  Drischlegspiele,  wie  sie  in  der  Südosteckc  Bayerns,  im  Innviertel  und  im 
nördlichen  Flachgau  Salzburgs  zu  Hause  sind.')  Zum  Beispiel  gibt  jemand  vor,  er 
könne  ein  Gefäss  an  die  Zimmerdecke  mit  Hilfe  eines  kleinen  Hölzchens  anheften. 
Zu  dem  Zwecke  steigt  er  auf  eine  Bank,  dreht  und  schiebt  das  Gefäss  an  der 
Decke  hin  und  her,  wobei  ihm  wie  zufiillig  das  Hölzchen  entfällt.  Ein  Un- 
erfahrener, der,  in  unmittelbarer  Nähe  stehend,  mit  gespannter  Aufmerksamkeit  die 
Bewegungen  des  Zauberers  verfolgte,  bückt  sich,  um  das  Hölzchen  aufzuheben; 
aber  in  dem  Augenblick  ergiesst  sich  ein  Strom  kalten  Wassers  aus  dem  Getässe 
über  sein  Haupt  und  ein  allgemeines  Gelächter  erfolgt,  in  das  schliesslich  auch 
der  Gefoppte  mit  einstimmt.  —  Manchmal  wiid  auch  ein  Sterngucken  ver- 
anstaltet. Einer  stellt  ein  Licht  auf  einen  erhöhton  Platz,  z.  B.  auf  ein  Gesims, 
und  lässt  nun  durch  einen  Joppenürmel  gucken,  wobei  er  beteuert,  dass  man  auf 
diese  Weise  das  Licht  als  den  schönsten  Stern  erblicke.  Jeder  muss  einen  Ver- 
such machen,  und  alle  bestätigen,  dass  es  sehr  schön  sei.  Wenn  dann  der  Nichts- 
ahnende sich  an  dem  schönen  Schauspiel  erfreuen  will,  so  schüttet  man  ihm, 
kaum  dass  er  den  Kopf  in  den  Ärmel  gesteckt  hat,  ein  mit  Wasser  gefülltes 
Geschirr  in  den  Nacken. 

Bei  diesen  Unterhaltungen  fehlen  nicht  einige  Leckerbissen  als  Nachtisch, 
z.  B.  Obst,  Branntwein,  Gebackenes  und  ähnliches,  bis  endlich  in  ziemlich  später 
Abendstunde  eine  gewisse  Abspannung  zum  Schluss  mahnt  und  die  Leute  aus- 
einander gehen.  Die  Auswärtigen  begeben  sich  heim.  Ist  der  'Hoarer'  unter 
ihnen,  so  wird  ihm  mit  Kuhglocken  das  'Geläute'  (!)  gegeben  und  der  Abschieds- 
gruss  'Hoarer',  solange  er  sichtbar  bleibt,  nachgerufen. 

4.  Fiodererfahren  und  Kreisfangen. 

Ein  hervorstechender  Charakterzug  des  Landvolkes  bajuvarischen  Stammes  ist 
die  Lust,  seinen  Mitmenschen  bei  allen  möglichen  Anlässen  zum  besten  zu  haben; 
auch  die  Sitte  des  'Flodererfahrens'  und  'Kreisfangens'  wurzelt  in  diesem  Grunde. 
Im  bayerischen  Achental  gilt  das  Fiodererfahren^)  als  einer  der  lustigsten  und 
gelungensten  Scherze,  dessen  Opfer  stets  ein  Neuling,  ein  Fremder  wird,  der  erst 
in  letzter  Zeit  eingewandert  ist  und  von  dem  man  weiter  voraussetzen  kann,  dass 
er  diesen  Spass  nicht  gar  zu  übel  aufnimmt.  Eingefädelt  wird  die  Sache  im 
Wirtshaus.  Wenn  der  hierfür  Erkorene  am  Tische  sitzt,  beginnen  zwei  aus  der 
Gesellschaft  sich  über  die  morgen  statthabende  Flodererfahrt  zu  unterhalten,  ein 
dritter  mischt  sich  ein,  und  in  andeutungsweisen  Sätzen,  im  halblauten  Tone  wird 
darüber  gesprochen.     Der  unkundige  Fremde  wird  stutzig  und  auf   das    Gespräch 


1)  [Vgl.  H.  v.  Prehn,  oben  14,  3G7.] 

2)  [In  der  Gaunersprache  bedeutet  'Flatterfalirer'  einen  Wäschedieb.] 


324  Adrian,  Neubauer: 

aurraerksam.  Er  fängt  an,  sich  nach  dem  merkwürdigen  Fahrzeug  zu  erkundigen; 
anfangs  beachtet  man  seine  Frage  kaum  und  liisst  durchblicken,  dass  es  eigentlich 
eine  geheime  Sache  sei,  die  man  nicht  gern  ausplaudere.  Nachdem  aber  der 
Fragende,  dessen  Neugierde  beinahe  unbezähmbar  ist,  immer  dringender  den 
Wunsch  äussert,  in  dieselbe  eingeweiht  zu  werden,  lässt  man  sich  endlich  herbei 
und  erklärt  ihm,  das  Fahrzeug  sei  eine  Maschine,  die  sich  in  der  Luft  fortbewegt, 
und  zwar  sahr  geschwind;  es  lasse  sich  lenken  nach  jeder  Richtung  und  werde 
mit  dem  sogenannten  'Schleudererpech'  in  Betrieb  gesetzt:  der  Wagen  lasse  sich 
nur  im  Gebirge  verwenden  und  verkehre  joden  zweiten  Tag  zwischen  den  beiden 
Nachbarorten.    Dabei  wird  nicht  vergessen,  den  Fremden  zu  einer  Fahrt  einzuladen. 

Im  Falle  nun  der  Fremde  der  Geschichte  nicht  recht  glauben  will,  geht  man 
von  dem  Gespräch  wieder  ab.  In  vielen  Fällen  aber  lässt  es  dem  Fragenden 
keine  Ruhe,  und  durch  allseitige  Beteuerungen  der  angerufenen  Zeugen,  welche 
sämtlich  die  Glaubwürdigkeit  bestätigen,  wird  der  Betreffende  endlich  so  weit  ge- 
bracht, dass  er  seine  Zusage  zu  einer  Fahrt  gibt.  Jetzt  wird  er  weiter  unter- 
wiesen, wie  er  sich  für  eine  solche  ausrüsten  soll.  Die  Fahrt  erfolgt  nämlich  in 
der  Nacht  bei  rasender  Geschwindigkeit,  zudem  sei  ts  schon  tief  im  Spätherbst, 
da  möge  er  sich  besonders  mit  warmer  Kleidung  versehen.  Vor  allem  ist  ein 
warmer  Mantel,  am  besten  ein  Kutscherpelz,  notwendig,  ferner  dürfen  ein  Fuss- 
sack  und  eine  Decke  nicht  fehlen.  Als  Ort  der  Auffahrt  wird  ein  einsamer,  von 
der  Ortschaft  mehr  als  dreiviertel  Stunden  entfernter  Platz  genannt:  dort  soll  er 
sich  am  nächsten  Abend  um  halb  neun  Uiir  pünktlich  einstellen.  Zur  angegebenen 
Zeit  sammeln  sich  die  Verschworenen  am  bezeichneten  Orte  und  erwarten  mit 
Spannung  den  Fahrgast.  Eilig  kommt  dieser  herangestolpert,  unter  der  Last  des 
schweren  Pelzmantels  keuchend;  erst  nach  manchen  Fragen  und  einigen  Irrgängen 
ist's  ihm  gelungen,  den  abgelegenen  Platz  zu  finden.  Wie  er  sich  nähert,  erkennt 
er  bereits,  dass  hier  keine  besondere  Einsteighalle  für  Flodererfaiirton  vorhanden 
sei.  Noch  klarer  ersieht  er  aber  aus  den  Gesichtern  der  Versammelten,  die  ihn 
mit  schallendem  Gelächter  begrüssen,  dass  er  gefoppt  ist.  Wohl  oder  übel  muss 
er  gute  Miene  zum  bösen  S])iel  machen  und  still  nach  Hause  gehen;  auch  tut  er 
gut,  die  Gesellschaft  einige  Zeit  zu  meiden,  weil  er  sonst  der  Zielpunkt  schlechter 
Witze  sein  dürfte.  Vielleicht  findet  sich  für  ihn  später  Gelegenheit,  auch  an  einer 
solchen  Verschwörung  teilzunehmen  und  über  ein  neues  Opfer  mitzulachen. 

Ahnlich  der  Flodererfahrt  ist  auch  das  Kreisfangen.')  Der  Kreis  ist  in 
dem  Falle  der  Name  für  ein  Tier,  das,  ähnlich  wie  der  Fischotter,  im  Wasse^ 
leben  soll,  und  zwar  in  einem  schwer  zugänglichen  Gebirgsbach.  Beim  Floderer- 
fahren  wird  der  Handlungsroisendc,  der  Fremde  besseren  Standes  geprellt;  beim 
Kreisfangen  scliaren  sich  die  jungen  Bürgerssöhne  und  Bauerburschen  um  einen 
fremden  Handwerksgehiifen,  der  sich  durch  Grosssprecherei  und  Prahlerei  über 
alles,  was  er  schon  erlebt  und  getan  habe,  auszeichnet  und  ersehen  ihn  zum 
Gegenstande  des  Spasses  aus.  Die  Einführung  ist  ähnlich  wie  beim  Floderer- 
fahren.  In  einem  Gasthaus,  worin  die  ganze  Burschenschaft  verkehrt,  teilt  sich 
diese  in  zwei  Parteien;  die  eine  setzt  sich  an  den  Nebentisch  und  plaudert  ganz 
geheimnisvoll  und  leise,  dass  heute,  wo  Neumond  und  eine  regnerisciie  Nacht  sei, 
die  günstigste  Zeit  zum  Kreisfangen  wäre.  Der  Betrelfonde  vorsteht  von  dem  Ge- 
hörten nur  hie  und  da  ein  Wort  und  fragt  seine  Kameraden  am  eigenen  Tisch, 
was  denn  die  anderen  so  geheimnisvoll  ausmachten. 


1)  (Vgl.  E.  Meier,    Deutsche  Sagen  aus  Schwaben,  ]8.y2,  Nr.  ICK):    'Den  Trilpetritsch 
jagen'.     101 :  'Den  Elbcrtrötsch  jagen'.    E.  U.  Meyer,  Volkskunde  1898  S.  237.] 


Kleine  Mitteilungen.  325 

Nun  hat  der  Funke  gefangen;  die  Burschen  freuen  sich  bestens  darüber  und 
beeilen  sich,  ihm  müglichst  genau  das  Tier  zu  beschreiben,  indem  sie  weiter  er- 
zählen: der  Fang  dieses  Tieres  ist  sehr  schwierig,  doch  gelingt  er  manchem,  wenn 
er  die  nötige  Geduld  dazu  besitzt.  Der  Kreis  ist  sehr  wertvoll,  für  das  Fell 
werden  immer  25  bis  oO  Mk.  bezahlt;  auch  das  Fleisch  ist  recht  schmackhaft. 
Nun  könnte  er  sich  wohl  auch  einmal  das  Geld  verdienen,  und  gerade  heute  wäre 
die  günstigste  Nacht  dazu.  Der  aufmerksam  Lauschende  ist  natürlich  gleich  voll 
Eifers  dabei.  Es  erheben  sich  dann  drei  oder  vier  Burschen,  um  zur  Jagd  auf- 
zubrechen. Jeder  nimmt  einen  grossen  Sack,  ferner  den  langen,  stachelbeschlagenen 
Bergstock,  und  fort  geht  es  trotz  Wmd  und  liegen  in  die  finstere  Nacht  hinaus; 
in  ihrer  Mitte  schreitet  erwartungsvoll  der  Kreissenjiiger.  Nach  langem,  beschwer- 
lichem Marsch  kommt  man  endlich  zu  dem  tosenden  Bach,  nicht  ohne  vorher  den 
Burschen  auf  allen  möglichen  Kreuz-  und  Irrwegen  herumgeführt  zu  haben.  Die 
Begleiter  flüstern  ihm  dann  in  ernstem  Tone  zu:  „Da  muss  der  Kreis  kommen, 
da  ist  sein  alter  Wechsel".  Nun  wird  dem  Burschen  aufgetragen,  den  Sack  in 
das  Wasser  zu  halten  und  sich  nicht  zu  rühren;  es  werde  freilich  ziemlich  lange 
dauern,  bis  dass  das  Tier  komme,  aber  heute  sei  man  sicher,  nicht  umsonst  ge- 
gangen zu  sein.  Die  übrigen  Teilnehmer  wollen  ihm  behilflich  sein  und  wie 
sonst  bei  Jagden  durchtreiben.  In  der  Gesellschaft  befindet  sich  nicht  selten  ein 
Wilderer,  ein  Umstand,  der  das  Unternehmen  noch  glaubwürdiger  erscheinen  lässt. 

Der  Geprellte  bleibt  mit  seinem  Sacke  stehen;  die  anderen  schlagen  mit  den 
Bergstöcken  an  die  Bäume,  und  das  Klapp,  Klapp  wird  allmählich  immer 
schwächer,  da  sich  die  angeblichen  Treiber  nach  allen  Richtungen  entfernen.  Der 
Kreissenjäger  wartet  ruhig,  und  obwohl  eine  Viertelstunde  nach  der  anderen  ver- 
rinnt und  er  längst  schon  ganz  durchnässt  ist,  will  er  doch  nicht  mehr  fort,  ohne 
das  Tier  gelangen  zu  haben.  Schliesslich  geht  aber  doch  seine  Geduld  zu  Ende, 
denn  er  sieht,  dass  sein  Warten  umsonst  ist,  desgleichen  schmerzen  ihn  von  der 
erzwungenen  Haltung  alle  Glieder;  daher  entscldiesst  er  sich  zum  Heimweg. 

Nun  geht  aber  erst  der  Ärger  an,  denn  es  ist  ihm  unmöglich,  Weg  und  Steg 
zu  finden,  weil  man  ihn  vorher  absichtlich  alle  möglichen  Umwege  geführt  hatte. 
Es  kam  öfter  vor,  dass  ein  solcherart  Geprellter  die  Nacht  im  Walde  verbringen 
und  den  Anbruch  des  Tages  abwarten  musste,  ehe  er  wieder  in  das  Dorf  zurück- 
fand. Dort  wird  er  dann  mit  Fragen  bestürmt,  wie  es  ihm  ergangen  sei,  und 
nachdem  er  seine  Erlebnisse  mit  allen  Einzelheiten  erzählt  hat,  erfolgt  schallendes 
Gelächter  von  selten  seiner  früheren  Jagdgenossen,  denen  nie  die  Zeit  zu  lang 
wird,  den  Unglücklichen  zu  erwarten. 

Die  Freude  an  einem  solch  gelungenen  Streich  dauert  oft  wochenlang,  und 
solange  sich  der  Gefoppte  in  der  Gemeinde  aufhält,  wird  er  nur  als  'Kreissenjäger' 
begrüsst. 

Salzburg.  Karl  Adrian. 


„Einem  die  Hölle  lieiss  machen". 

Die  bekannte  volkstümliche  Redensart  'einem  die  Hölle  heiss  machen', 
die  weiter  nichts  besagen  soll  als:  'einem  hart  zusetzen',  wird,  um  den  bild- 
lichen Ausdruck  zu  erklären,  gewöhnlich  gedeutet:  ,,einem  durch  Vorstellung  der 
höllischen  Qualen  das  Gewissen  zu  rühren  suchen"  (Sanders),  oder:  „ihm  die 
Hölle  als  heiss  vorstellen,  d.  i.  sein  Gewissen  auf  das  lebhafteste  rühren" 
(Adelung),  und  so  ähnlich  bei  allen  Lexikographen    oder  Erklärern.     „Vielleicht", 


82(i  Neubauer: 

heisst  OS  bei  Üorchardt-Wustniann  (Die  sprichwörtlichen  Redensarten  usw.,  5.  Aufl. 
1895.  S.  2;il)  .stammt  der  Ausdruci<  daher,  dass  die  Mönche  früher  reiche  Leute 
auf  ihrem  Sterbelager  durch  Androhung  von  Hölle  und  Teufel  und  allerlei  Qualen 
zu  beeinflussen  .  .  suchten.  Jedenfalls  geht  er  auf  die  grellen  Schilderungen  der 
höllischen  Feuorqualen  zurück,  durch  die  die  christliche  Geistlichkeit  zu  irgend 
welchen  Zwecken  auf  ihre  Zuhörer  einzuwirken  suchte".  Man  könnte  hierfür  auf 
andere  aus  dem  kirchlichen  Leben  herrührende  Volksausdrücke,  wie  'einem  die 
Leviten  lesen',  'einen  gehörig  abkanzeln'  und  ähnliche  Wendungen  hinweisen. 
Es  ist  aber  merkwürdig,  dass  man  nicht  erkannt  hat,  dass  bei  dieser  Erklärung 
der  Ausdruck  höchst  ungewöhnlich  und  in  mehr  als  einer  Hinsicht  Anlass  zum 
Anstoss  bietet.  Zunächst  soll  darauf  kein  allzugrosses  Gewicht  gelegt  werden, 
dass  die  Redensart  im  praktischen  Gebrauche  gar  nicht  den  strengen  Sinn  hat: 
einen  in  entsetzliche  Angst  versetzen,  einf^m  qualvolle  Vorstellungen  wachrufen, 
die  an  sein  Gewissen  rühren,  oder  ähnliches,  was  man  annehmen  niüsste.  wenn 
hier  die  wirkliche  Hölle  gemeint  wäre,  sondern  in  dem  milden  und  mehr  gemüt- 
lichen Sinne  verwendet  wird,  wie  die  andere,  dafür  auch  gebrauchte  Redewendung 
'einem  gehörig  einheizen',  so  dass  es  ihm  recht  unbehaglich  wird.  Aber,  fragen 
wir,  gibt  es  denn  in  der  Hölle  bloss  Hitze,  nicht  auch  andere  Qualen,  die  ebenso 
schrecken?  Warum  hat  man  da  nicht  einfach  gesagt:  'einem  die  Hölle  vormalen", 
oder  ähnlich,  statt  des  doch  recht  seltsamen  Ausdruckes  'einem  die  Hölle  heiss 
machen"?  Ist  denn  die  Hölle  nicht  eben  an  sich  schon  nicht  bloss  hciss,  sondern 
gerade  das  allerheissestc,  was  die  Phantasie  ersonnen  und  der  Volksglaube  sich 
denkt?  Die  Begnn"e  'Hölle'  und  'heiss'  sind  in  der  Volksvorstellung  so  eng  ver- 
bunden und  eins,  dass  die  alliterierenden  Wendungen  'die  heisse  Hölle',  ebenso 
wie  'Höllenhitze'  (mhd.  hcllohitze)  u  ä,  altformelhafte  feststehende  Verbindung 
gewesen  und  geblieben  ist.  AVas  soll  da  der  seltsame  Ausdruck  'die  (heisse) 
Hölle  heiss  machen'?  Von  jedem  anderen  denkbaren  Raum  könnte  gesagt  werden, 
'ihn  heiss  machen',  nur  eben  von  der  Hölle  nicht.  Freilich  liebt  das  Volk  die 
Übertreibungen  in  seinen  sprachlichen  Erfindungen  und  steigert  auch  gern  noch 
den  höchsten  Grad,  wobei  es  nach  der  Möglichkeit  gar  nicht  fragt,  vielmehr  oft 
gerade  in  der  Unmöglichkeit  den  Anreiz  zur  Bildung  eines  überraschenden  Aus- 
druckes findet.  So  könnte  auch  hier  eine  solche  volkstümliche  Hyperbel  vorliegen, 
und  der  Sinn  beabsichtigt  sein:  einem  die  Hölle  heizen,  d.  h.  sie  für  ihn  in 
einen  noch  heisseren  Zustand  bringen,  als  sie  ohnehin  schon  hat.  Das  wäre 
möglich,  wenn  es  hier  nicht  ungereimt  wäre:  'einem  die  Hölle  heizen'  hätte  nur 
dann  einen  guten  Sinn,  wenn  der  Betreffende  selber  darin  ist.  Aber  die  Redens- 
art soll  ja  nach  der  gangbaren  Erklärung  bedeuten:  'einem  die  Hölle  als  heiss 
vorstellen',  das  doch  wohl  den  Sinn  haben  soll:  einem  die  Hölle,  heiss  wie  sie 
ist,  vorstellen  Die  arme  Sprache,  was  muss  sie  sich  hier  gefallen  lassen!  Seit 
wann  denn  kann  der  Satz:  'einem  die  Hölle  heiss  machen'  sprachlich  bedeuten: 
einem  die  Hölle  als  heiss  vorstellen  oder  vorraalen  oder  ausmalen?  Oder 
gar  —  mit  noch  grösserer  Vergewaltigung  des  sprachlichen  Ausdrucks,  indem  man 
dem  prädikativen  Adjektiv  (heiss)  gewaltsam  eine  attributive  Stellung  gibt  — : 
einem  die  heisse  Hölle  vormalen?  Kann  denn  der  Satz,  'einem  ein  Zimmer  heiss 
machen'  sprachlich  je  etwas  anderes  bedeuten,  als  entweder  im  eigentlichen  Sinne: 
ein  Zimmer  für  jemanden  tüchtig  heizen,  oder  in  übertragener  Bedeutung:  einem 
ein  Zimmer  (so)  heiss,  d.  h.  unbehaglich,  machen,  dass  er  es  darin  nicht  aushält? 
—  Schon  diese  Vergewaltigung  und  Verrenkung  des  sprachlichen  Ausdrucks  er- 
weist zur  Genüge  das  Verkehrte  der  gangbaren  Erklärung,  ganz  abgesehen  von 
den  sonstigen  Anslössen. 


Kleine  JütteilungeG.  327 

Die  richtige  Deutung  liegt  hier  so  nahe,  dass  es  eigentlich  verwunderlich 
ist,  dass  bisher  niemand  auf  sie  gekommen  ist.  Will  man  einen  Lässigen  oder 
Gleichgültigen  zu  seiner  Pflicht  uns  gegenüber  indirekt  zwingen,  so  hat  die  volks- 
tümliche Sprache  dafür  eine  Reihe  von  Redewendungen,  die  alle  das  gleiche, 
vom  Feuer  entlehnte,  Bild  enthalten:  'Feuer  dahinter  legen',  'einem  ein  Bad  be- 
reiten, dass  er  schwitzen  soll',  'einem  die  Streu  unter  dem  Steiss  anzünden',  'einem 
gehörig  heiss  machen',  'einem  kräftig  einheizen',  u  a.  Sie  bedeuten  alle  das  näm- 
liche, je  nach  dem  Zusammenhang:  einem  keine  Ruhe  lassen,  ihm  gehörig  zu- 
setzen und  bange  machen,  ihn  in  innere  Erregung  und  Hitze  bringen,  ihm  Unruhe 
und  Sorge  bereiten,  ihn  aus  seiner  passiven  Gleichgültigkeit  und  Indolenz  auf- 
jagen, usw.,  nur  dass  der  eine  Ausdruck  stärker  ist  als  der  andere.  Dahin  ge- 
hört nun  auch:  'einem  die  Hölle  heiss  machen'.  Es  deckt  sich  völlig  mit  der 
Redewendung  'einem  gehörig  einheizen',  nur  dass  in  unserer  Redensart  der  Aus- 
druck etwas  individueller  geprägt,  d.  h.  sinnlich  anschaulicher  ist.  Wenn  das 
'Berliner  Tageblatt'  zu  der  Lässigkeit,  die  die  marokkanischen  Behörden  gegen- 
über den  berechtigten  Forderungen  Frankreichs  zeigen,  bemerkt:  „Die  Herren 
Burnusträger  lassen  sich  in  orientalischer  Gemächlichkeit  Zeit.  Frankreich  wird 
ihnen  indes  wohl  bald  kräftig  einheizen",  so  ist  diese  Redensart  hier  recht  glück- 
lich verwendet,  aber  ebensogut  hätte  auch  gesagt  werden  können,  dass  Frank- 
reich wohl  bald  ihnen  die  Hölle  heiss  machen  werde. 

Die  'Hülle',  die  in  dieser  Redensart  gemeint  ist,  ist  die  Hölle  der  alten 
deutschen  Bauernhäuser,  d.  h.  der  mit  einer  Ruhbank  (Höllbank)  versehene  Raum 
hinter  dem  grossen  Kachelofen,  zwischen  diesem  und  der  Wand,  der  ein  sehr  be- 
liebter Platz  zum  Ausruhen  und  zum  Schlafen  war.  „Der  ander  lag  noch  hinder 
dem  Ofen  in  der  Hell')  und  mocht  vor  Faulkeit  nit  aufston''  heisst  es  (um  nur 
ein  Beispiel  aus  der  älteren  Litteratur  anzuführen)  in  der  Schwanksammhing 
'Rollwagenbüchlein'  von  Georg  Wickram  (1555  Nr.  22).  Diese  Bezeichnung,  die 
mit  Moritz  Heyne  wohl  nur  als  eine  'volkswitzige  Übertragung'  der  Bedeutung 
von  der  eigentlichen  Hölle  auf  diesen  engen,  dunkeln  und  heissen  Raum  angesehen 
werden  muss,  lässt  sich  schon  aus  dem  15.  Jahrhundert  nachweisen  (Schmeller- 
1,  1080)  und  ist  volksmässig  auch  jetzt  noch  weit  verbreitet,  auch  in  der  neueren 
Literatur  gelegentlich  noch  anzutreffen  in  volkstümlichen  Schriften,  wie  bei 
Musäus,  Langbein,  Holtei,  auch  bei  Gustav  Freytag  und  anderen.  Bei  dieser 
Deutung  ist  jeder  Anstoss  beseitigt.  Und  so  kommt  nun  auch  das  Bild  unserer 
Redensart  voll  zu  seinem  Rechte:  es  wird  so  kräftig  eingeheizt,  dass  dem  faulen 
Musjö  Kehrmichnichtdran,  der  da  hinter  dem  Ofen  in  der  'Hölle'  sorglos  und 
gleichgültig  behaglich  ruht,  vor  Hitze  angst  und  bange  wird,  und  er,  weil  er's  nun 
nicht  mehr  aushalten  kann,  endlich  erregt  aufspringt. 

Bedenken  erregen  gegen  diese  Erklärung  könnte  der  Umstand,  dass  Luther 
(Jenaer  Ausg.  3,  228  b)  unsere  Redensart  einmal  in  diesem  Zusammenhang  er- 
wähnt: „Wie  man  itzt  spricht:  Sie  machen  uns  die  Hellen  heiss,  und  den  Teufel 
schwarz".  Der  Zusatz  „und  den  Teufel  schwarz''  beweist,  dass  Luther  hier  an 
die  eigentliche  Hölle  gedacht  hat.  Daraus  ergibt  sich  aber,  genau  genommen,  zur 
Aufklärung  nichts.  Die  Wendung  war  schon  damals  sprichwörtlich,  wie  Luthers 
Worte  zeigen  „wie  man  itzt  spricht",  und  kann  schon  damals  irrig  auf  die 
eigentliche  Hölle  gedeutet  worden  sein,  zumal  in  Gegenden,  wo  die  Bezeichnung 
'Hölle'  für  den  Platz  hinter  dem  Ofen  weniger  geläufig  sein  mochte,  denn  der 
-Ausdruck  ist  immer  nur  mundartlich  gewesen.     Auch  ist  nicht  zu  vergessen,  dass 


1)  Helle,  alte  Schreibuug  luv  Hölle,  das  erst  im  Kl.  Jahrhundert  aufkommt. 


328  Neubauer:    Kleine  MitteiluDfjcn. 

Luther  es  liebt,  mit  dem  Doppeisiiin  von  Worten  zu  spielen,  und  das  Wort 
■Hiille'  war  für  ihn  gerade  kaum  deniibar  ohne  die  Vorstellung  des  Teufels,  das 
eine  Wort  rief  bei  ihm  von  selbst  das  andere  wach,  so  dass  der  ZusatE  'und  den 
Teufel  schwarz',  der  ja  so  wie  so  der  Redensart  nicht  angehört,  recht  wohl  auch 
bloss  aus  solchem  das  Wort  umdeutenden  Spiel  mit  dem  Worte  'Hölle'  erklärt 
werden  kann.  Wer  in  Luthers  Schriften  belesen  ist,  der  kennt  diese  seine  eigen- 
tümliche, ich  möchte  sagen  wuchernde  Schreibweise,  die  nicht  gern  einen  neben- 
bei sich  zudriingenden  Einfall  oder  Gedanken  unterdrückt,  zur  Genüge.  So  ist 
also  Sicheres  aus  seiner  Anführung  unserer  Redensart  nicht  zu  entnehmen,  ausser 
(lass  sie  schon  damals  sprichwörtlich  war  und  vielleicht  schon  damals  falsch  ge- 
deutet wurde. 

Aber  freilich,  ein  leises  Bedenken  bleibt  immerhin  zurück,  ob  unsere  Deutung 
auf  die  Ofenhülle  hier  wirklich  das  Ursprüngliche  trifft.  Dass  an  die  eigentliche 
Hölle  nicht  gedacht  werden  darf,  und  die  gangbare  Erklärung,  wie  oben  dargetan, 
völlig  zu  verwerfen  ist,  bleibt  natürlich  bestehen.  Aber,  wie  so  manche  Volks- 
ausdrücke und  Redensarten  in  entstellter  Form  durch  die  Zeiten  umlaufen,  die  die 
ursprüngliche  Fassung  oft  gar  nicht  mehr  erkennen  lässt,  so  ist  auch  hier  eine 
solche  Möglichkeit  nicht  abzuweisen,  durch  die  das  Seltsame  und  Auffällige  der 
Redensart  begreiflich  würde,  voiausgesetzt,  dass  die  Beziehung  auf  die  üfenhölle 
aus  irgendwelchen  Gründen  nicht  zulässig  wäre.  In  diesem  Falle  wäre  die  Ver- 
mutung kaum  von  der  Hand  zu  weisen,  dass  die  Redensart  'einem  die  Hölle  heiss 
machen'  einer  Entstellung  aus  einer  schon  viel  älteren  Redewendung  ihren  Ur- 
sprung verdankt,  die  in  mittelhochdeutscher  Form  gelautet  haben  mag  'einem 
helleheij  machen',  was  man  heute  nennt  'einem  Himmelangst  machen'  oder 
im  modernsten  Deutsch  'einem  höllisch  heiss  machen'.  Neuhochdeutsche  Sprach- 
wendungen wie  'einem  angst  machen',  'einem  warm  machen"  und  ähnliche  sind 
auch  dem  Mittelhochdeutschen  nicht  fremd,  wie  wir  z.  B.  im  Parzival  3Sö,  20 
lesen:  'bluotec  sweij  im  machte  warm'  ('blutiger  Schweiss  ihm  machte  warm'). 
Und  das  Adjektiv  hellehei-;  (im  Neuhochdeutschen  höllenheissi  ist  im  Mittelhoch- 
deutschen eins  der  zahlreichen  mit  helle  (Hölle)  gebildeten  Composita.  Und 
konnte  man  im  Mittelhochdeutschen  sagen:  'einem  warm  machen',  so  konnte  man 
auch  sagen  'einem  hei,,  machon'  oder  noch  stärker  'einem  helleheij  machen'. 
Dass  dann  aus  lässiger  Sprech-  oder  Schreibweise  oder  auch  aus  Missverständnis, 
wenn  nicht  durch  eine  volkstümliche  Umdeutung,  wie  sie  in  solchen  Dingen  be- 
liebt war  und  ist,  aus  der  Fassung  'einem  helleheij  machen'  leicht  die  völlig  ver- 
kehrte 'einem  d'  (d.  i.  die)  helle  hei,^  machen'  entstehen  konnte,  bedarf  keines 
besonderen  Beweises.  Man  braucht  nur  beide  Wendungen  recht  schnell  hinter- 
einander zu  sprechen,  und  ein  fremdes,  nicht  sehr  aufmerkendes  Ohr  wird  kaum 
einen  Unterschied  zwischen  beiden  heraushören.  Um  so  näher  lag  das  Miss- 
verständnis, als  die  Formen  des  Artikels,  besonders  auch  diu  und  die,  als  blosses  d' 
meist  mit  dem  Anlaut  des  folgenden  Wortes  verschmolzen,  wie  noch  heute  in 
der  Volkssprache  (vgl.  Grimm,  Wörterbuch  '2,  973 f.),  so  dass  'helleheij'  und 
'd'helle  heij'  beim  schnellen  Sprechen  kaum  zu  unterscheiden  waren,  und  das  eine 
für  das  andere  verstanden  werden  konnte.  Auch  bei  dieser  Annahme  bleibt  es 
dabei,  dass  die  Redensart  mit  dem  Ausmalen  der  Höllenqualen  nichts  zu  tun  hat, 
sondern  dasselbe  besagt  wie  "einem  gehörig  einheizen'. 

Berlin.  Richard  Neubauer. 


Bolte:    Berichte  und  Büclieianzeigen.  329 


Bericlite  imd  Bücheranzeiffen. 


Keuere  Märchenliteratur. 

An  die  Spitze  unseres  diesjäiirigon  Berichts  gehört,  da  ich  Mac  Cullochs 
Childhood  of  fiction  (London  1905)  noch  nicht  zu  Gesicht  bekommen  konnte,  eine 
kleine  Abhandlung  des  kürzlich  (2.  Januar  lüO?)  verstorbenen  amerikanischen 
Gelehrten  NewelP),  der  gegenüber  Gummeres  etwas  mystischer  Theorie  vom 
Ursprünge  der  Poesie  festzustellen  sucht,  dass  die  Erfindung  eines  Märchens  oder 
eines  Liedes  auch  in  der  ältesten  Zeit  immer  von  einem  Individuum  ausging  und 
dass  durch  die  lange  mündliche  Überlieferung  naturgemäss  eine  Anpassung  dieser 
Dichtung  an  die  Anschauungen  der  Volksgemeinschaft  stattfand.  Für  die  Märchen- 
wanderung  hat  N.  schon  1891  am  Beispiele  der  'Schwanjungfrau'  die  Regel  ent- 
wickelt, dass  ihr  Weg  vom  höher  kultivierten  Volke  zum  tiefer  stehenden  geht, 
nicht  umgekehrt.  —  Sucher^)  berichtet  über  die  neueren  Forschungen  nach  dem 
Ursprünge  des  mittelalterlichen  Tierepos.  Wenn  J.  Grimms  Ansicht  von  einer 
den  lateinischen  Tierdichtungeu  des  10.  bis  12.  Jahrhunderts  zugrunde  liegenden 
altgermanischen  Tiersage  vielfach  auf  Widerspruch  stiess  und  jene  mönchischen 
Satiren  vielmehr  aus  antiken  und  indischen  Tierfabeln  abgeleitet  wurden,  so  haben 
seither  Sudre  und  Voretzsch,  ohne  solche  gelehrten  Einflüsse  zu  leugnen,  doch 
betont,  dass  sich  für  viele  Bestandteile  des  Tierepos  die  älteste  Form  in  den 
besonders  durch  Rrohn  nachgewiesenen  finnischen  und  estnischen  Tiermärchen 
erhalten  hat,  denen  jede  lehrhafte  oder  satirische  Tendenz  fehlt.  Natürlich  ward 
dieser  volksmässige  Stoff  mehrfach  umgewandelt:  der  mit  dem  Schwänze  fischende 
Bär  ward  zum  Wolfe,  der  indische  Schakal  zum  Fuchs.  Einzelne  Geschichten  des 
französischen  Roman  de  Renart,  die  Beuteteilung-,  den  Schinkendiebstahl,  die 
Buhlschaft  des  Fuchses  mit  der  Wölfin,  bespricht  S.  im  Einklänge  mit  Sudre,  ver- 
ficht aber  gegen  ihn  auf  Grund  der  deutschen  Tiernanien  Reinhart,  Isengrim, 
Brun  den  germanischen  Charakter  der  Tierdichlung.  —  Ein  einzelnes  Märchen- 
motiv, das  siegbringende  Zauberschwert,  das  der  Held  häufig  aus  einer  Höhle 
holen  muss,  verfolgt  Priebe^)  in  einer  etwas  umständlich  angelegten  Arbeit  durch 
die  deutschen  Märchen  und  die  Heldensage.  In  letzterer  wird  meist  auch  der 
Name  des  Schwertes  (Rose,  Eckesahs,  Nagelring,  Mirainc,  Balmunc  usw.)  und 
seine  Herkunft  berichtet;  als  Bewahrer  erseheint  eine  Schlange  oder  ein  Zwer"-. 
Den  Ursprung  des  Motivs  sieht  P.  richtig  in  der  prähistorischen  Periode,  wo  das 
einen  kräftigen  Hieb  ermöglichende  Eisenschwert  die  Bronzewaffen  verdrängte 
und  wo  man  den  Helden  ihre  Schwerter  ins  Grab  mitgab.  Förderlich  wäre  es 
gewesen,  wenn  er  noch  etwas  weitere  Umschau  gehalten  und  z.  B.  das  nordische 
Tyrfingschwert,  die  dänische  Ballade  'Orm  Ungersvend'  (Grundtvig,  DgP.  11)  oder 


1)  W.  W.  Newell,  Individual  and  collectivo  oharacteristics  in  folk-lore  (Journal  of 
americau  folk-lore  19,  1-15).  —  Vgl.  auch  ebd.  7,  14.  10,  337.  17,  59.  18,  33  und  The 
international  Folk-lore  congress  1891,  papers  and  transactions  p.  64. 

■2)  G.  Sucher,  Tierfabel,  Tierniärchen  und  Tierepos.  Prcyr.  der  Oberrealschule  zu 
Reutlingen  1905.    33  S.   4°. 

3)  U.  Priebe,  Altdeutsche  Schwertmärchen.    Kieler  Diss.    Stettin  1906.   86  S.   8".  — 
Zum  Stumpfmachen  der  Schwerter  durch  Zauber  (S.  45)  vgl.  oben  13,  213.  15   349. 
Zeitschr-  d.  Vereins  f.  Volkskunde.     1907.  on 


330  Holte: 

den  offenbar  der  Odyssee  10,  5.35  und  der  Aeneis  G,  2C0  zugrunde  liegenden 
Volksglauben  an  die  Zaulierkraft  dns  Eisens  berücksichtigt  hätte.  —  Zehn 
Schweizer  Miirchen  kommentiert  Singer')  in  einer  Fortsetzung  seiner  trefflichen 
Schrift  V.  J.  1903  (oben  14,  244),  indem  er  die  älteste  erreichbare  Erscheinungsform 
betrachtet  und  deren  Grundlagen  in  Glauben  und  Anschauung  ferner  Vorzeit  zu 
rekonstruieren  sucht.  Das  hierbei  manches  zweifelhaft  bleibt,  liegt  in  der  Natur 
der  Sache.  So  wird  beim  Aschenbrödchnärchen,  das  Geiler  schon  l.'JOl  mit  der 
verwandten  Legende  von  der  frommen  Hausmagd  (oben  11,  4()ö.  17,  12.JJ  zu- 
sammenstellt, nicht  jeder  die  aus  den  Benennungen  der  Heldin  gefolgerte  Wanderung 
des  Stoffes  für  sicher  halten,  bei  der  sich  aus  dem  provenzalischen  cuou-cendroulet 
(Aschenwächter)  oder  cendrouleto  bousofiö  (Aschenbliiser)  einerseits  das  italienische 
cenerentola,  andererseits  nid.  asgat,  assepoester,  nd.  aschenpüster,  md.  aschen- 
puddel,  obd.  aschengrüdel,  siaw.  popeljaha  usw.  entwickelt  habe,  oder  mit  Singer 
in  der  Nausikaacpisoile  der  Odyssee  das  älteste  Märchen  vom  Goldener,  dem 
männlichen  Aschenbrödel,  wiedererkennen.  Auch  das  S.  Li"  angeführte  russische 
Märchen  von  Fjodor  und  Anastasia  möchte  ich  nicht  mit  der  Siegfriedssage  in 
Verbindung  bringen.  Überzeugender  ist  dagegen  das  Märchen  vom  Schneider  und 
Schatz  auf  einen  von  Beatus  Rhenanus  berichteten  Baseler  Vorfall  zurückgeführt, 
mit  dem  die  Erlösung  einer  Schlange  durch  Kuss,  der  Spott  auf  die  Schneider 
und  die  Vorstellung  der  schatzhütenden  Schlange  in  der  Überlieferung  verknüpft 
wurde.  An  den  verbreiteten  Stoff  des  singenden  Knochens  erinnert  die  schweizerische 
Erzählung  vom  blutenden  Knochen,  die  aus  der  mittelalterlichen  Bahrprobe  ab- 
geleitet wird.  Eine  ausführliche  Untersuchung  widmet  S.  der  Legende  vom  jungen 
Herzog,  der  am  Hochzeitstage  ins  Paradies  entrückt  wird,  und  den  parallelen 
Dichtungen  vom  Blümelmacher,  von  der  Sultanstochter  und  von  Regina,  für  die 
er  auch  neues  hsl.  Material  heranzieht,  während  er  zwei  Versionen  des  Schwankes 
vom  Traumbrode  (oben  ItJ,  29ü)  und  des  'Bruder  Lustig'  kürzer  bespricht.  — 
Auch  Nyrops'^)  feinsinnige  Abhandlung  über  Toves  Zauberring,  der  den  dänischen 
König  Waldemar  noch  an  ihre  Leiche  fesselte,  gehört  hierher.  Abweichend  von 
Gaston  Paris  betrachtet  N.  als  älteste  Form  der  im  13.  bis  14.  Jahrhundert  bei 
Enikel,  im  Karlmeinet  und  bei  Petrarca  über  Karl  den  Grossen  und  Fastrada  be- 
richteten Sage  die  verwandte  um  1190  aufgezeichnete  norwegische  Erzählung  von 
Harald  llarfagrs  Liebe  zu  Snjofrid,  in  der  allerdings  noch  kein  Ring  als  Ursache 
der  den  Tod  überdauernden  Leidenschaft  erscheint;  und  einer  kühnen  Vermutung 
Moes^)  folgend,  leitet  er  diese  Sage,  die  durch  Wikinger  an  den  Niederrhein 
gelangt  sei,  aus  dem  verbreiteten  Märchen  von  Sneewittchen  her.  —  Die  Er- 
örterungen B.  Kahles  (oben  U!,  311 — 314)  über  die  Erzählung  von  der  freiwillig 
kinderlosen  Frau  und  O.  Dähnhardts  reichhaltige  Untersuchung  der  aus  dem 
biblischen  Sintflutsbericht  entsprossenen  ätiologischen  Märchen  (oben  16,  3t)9 — 396) 
und  mehrerer  aus  reiner  oder  willkürlicher  Naturdeutung  hervorgegangener  Tier- 
fabeln und  Märchen  (oben  17,  1 — 16.  129  —  143)  brauche  ich  unseren  Lesern 
nicht  eingehender  vorzuführen,  ebensowenig  R.  Reitzensteins  in  die  Märchen- 
kunde hineingreifendes  Buch  'Hellenistische  Wundererzählungen',  über  das  H.  Lucas 


1)  S.  Singer,  Schweizer  Märchen.  Anfang  eines  Kommentars  zu  der  veröffent- 
lichten Schweizer  Märchenlitpratur,  erste  Fortsetzung.  Bern,  A.  Franoke  10(16.  VI,  167  S. 
4  Mk.  (=  Untersuchungen  zur  neueren  S])ra('li-  u.  I.itgesch.  hsg.  von  O.  F.  Walze),  Heft  10). 

2)  Kr.  Nyrop,  Toves  tryllering.  Ki)lienhavn,  Gyldendal  1907.  111  S.  (=  Nyrop, 
Fortids  sagn  og  sänge  1). 

3;  M.  Moe,  Eveutyrligo  sagn  i  den  ajldre  historie.    Kristiania  1906. 


Berichte  und  Büclioranzcigen.  331 

oben  17,  122  berichtete.  —  Die  verlorenen  Milesiaca  des  Aristides  fasst  Lucas') 
nicht    als    einen  Roman,    sondern    wie  E.  Rhode  als    eine  Sammlung  schlüpfriger 
Novellen  auf,    die  aber  in  eine  zu  Miiet  spielende  Rahmenerzählung  eingeflochten 
waren;    den  Gedanken  einer  Beeinflussung    durch  orientahsche  Vorbilder  weist  er 
zurück,  indem  er  die  indische  Einschachtelungsmanier,  bei  der  es  sich  um  Rahmen- 
erzählungen von  selbständiger  Bedeutung  handle,  von  der  abendländischen  Technik 
scheidet;    doch    scheint    mir    die    vergleichende  Untersuchung    dieser   Erzählungs- 
technik noch  der  Vertiefung  zu  bedürfen.    —    Den  miiesischen  Märchen  gilt  auch 
eine  grössere  Arbeit  von  Amalfi-).     Durch    ausführliche  Darlegung  der  Ansichten 
über  den  Ursprung  der  Volksraärchen    und  der  spärlichen  antiken  Zeugnisse  über 
diese  sucht  er  die  These  zu  stützen,    dass  man  unter  miiesischen  Märchen  münd- 
liche   Erzählungen    erotischen    oder    schwankhaften     Charakters     und     vermutlich 
indischen  Ursprunges  verstand,  die  später  literarische  Bearbeitungen  erfuhren;  aus 
diesen  Dichtungen  gingen  dann  die  Liebesnovellen  des  Parthenios  wie  die  antiken 
Romane     hervor.      Verdienstlich     sind    die    stofflichen    Nachweise    zu    einzelnen 
Motiven  bei  Apuleius    und  Parthenios.   —    Die  antike  Novelle  von    der  säugenden 
Tochter,  die  in  Gent  zur  Ortssage  und  in  Deutschland  zum  Volksrätsel  geworden 
ist,  behandelt  A.  de  Cock^),    der    auch  die  verbreitete  indische  Parabel   von  der 
Anziehungskraft  der  Frauen    auf  einen  im  Walde  erzogenen  jungen  Klausner  ver- 
folgt.   —    Über    die  Geschichte    mehrerer    indischer  ErzählungsstofTe,    des   Baum- 
zeugen, des  salomonischen  und  anderer  scharfsinniger  Urleile,   des  Doppelgängers. 
der  im  Haikar-Romane  vorkommenden  Aufgabe  Stricke  ans  Sand  zu  flechten,    hat 
uns    Th.  Zachariae    (oben   16,    1-29  —  149.    17.    172  —  195)    wertvolle    Mitteilungen 
aus  unbeachteten  Quellen    und  eigene  Untersuchungen  gespendet;    und    J.  Hertel 
fügte  zu  seinem  Artikel    über    den  Esel  ohne  Herz  und  Ohren    (oben   16,  149  bis 
l.OG)    weitere    Berichte    über    verschiedene    Bearbeitungen    des    ehrwürdigen,    um 
20(1  V.  Chr.    in  Kaschmir  entstandenen   Paficatantra:    oben  16,   249  —  278  über  den 
liiGO    durch    den    Jaina-Lehrer    Meghavijaya    in    Kaschmir    angefertigten    Auszug, 
dessen  Abweichungen  von  den  übrigen  Texten  er  deutsch  wiedergibt,   und  ferner*) 
über    einen    interpolierten  Text    der    südindischen  Fassung,    der    86    Erzählungen, 
also  mehr  als  alle  anderen  Texte  enthält  und  in  einem  mangelhaften  Sanskrit  ge- 
schrieben ist      Auch  hier  hat    H.  die  neuen  Stücke,   die  offenbar  aus  unbekannten 
volkstümlichen  Bearbeitungen  des  Werkes  kompiliert  sind,  übersetzt  und  mit  Nach- 
weisen  orientalischer  Parallelen    versehen;    ich    bemerke  nur,    dass  darunter    sich 
der  Belfagor,    die  dankbaren  Tiere    und  undankbaren  Menschen,    der  seinen  Leib 
verlierende  König,    Maus  und  Elephant,    der  gelöste  Tiger  befinden,   und  verweise 
zu  Bd.  61,  S.  39   (Pferd  soll  die  Kuh  geboren  haben)    auf  R.  Köhler  1,  460.  4S6; 
Frey,    Gartengesellschaft    S.  279;    Chauvin  6,  39,    zu    S.  57    (Schatzfinder    morden 
einander)    auf  Montanus,    Schwankbücher    S.  564    und  Chauvin  8,    10(1,    zu    S.  59 
schwatzhafte  Frau,  Krähen)    auf  Montanus  S.  592,    Chauvin  8,    ]6S    und    zu  S.  6() 
(Rhampsinits  Schatz)  auf  Köhler  1,  200-209  und  Chauvin  8,  185.  —  Auf  mehrere 
persische  Seitenstücke  zu  europäischen  Sagen    (Meldung  vom  Tode  des  Lieblings- 


1)  H.  Lucas,  Zu  den  Milesiaca  des  Aristides  (Philologus  66,  16-35). 

2)  Gaetano    Amalfi,    Partenio    dl    Nicea    e    le    favole   milesie,    parte   1.     Napoli, 
G.  M.  Priore  1906.    57  S.    4". 

3)  A.  de  Cock,  De  Mammelokker  te  Gent  (Volkskunde  17,  45 — 61).    —    Hansje  met 
zijn  gansje  (ebd.  17,  185 — 216). 

4}  J.  Hertel,    Über   einen   siidlichen   Textus    amplior    des   Paiicatanfra    (Zs.  der  d. 
niorgenld.  Gesellsch.  60,  769-801.  61,  18-72). 

22* 


332  BoUo: 

pfcrdes,  Uido,  Tellschuss,  empfindliche  Prinzoss,  drei  Wünsche)  machte 
A.  Christensen')  aufmerksam.  —  Aus  der  wiederum  reichlich  vertretenen 
internationalen  Schwank-  und  Novellenliteratur  hebe  ich,  da  mir  die  zweite  Ver- 
deutschung von  Poggios  Facetien  durch  Floerke  und  Wcsselski  (München  1006) 
nicht  zu  Gesichte  kam,  nur  Wesselskis'^)  gewandte  und  mit  guten  stofTlichen 
Nachweisen  versehene  Verdeutschung  der  IG  Prosa-Novellen  des  um  14S()  ge- 
borenen Antonio  Cornazano  von  Piacenza  heraus,  die  zuerst  151.S  im  Drucke 
erschienen  und  gleich  dem  berüchtigten  Libro  della  origine  delli  volgari  proverbi 
des  Cintio  dei  Fabrizii  ein  wirkliches  oder  angebliches  italienisches  Sprichwort 
durch  eine  pikante  Geschichte  erläutern.  Nr.  S  ist  das  Märchen  vom  Wettlaufe 
des  Fuchses  und  Krebses  (Grimm  1S7),  die  anderen  Stücke,  die  z.  T.  auf  französische 
Fabliaux,  die  Cent  nouvelles  nouvelles  und  Poggios  Facetien  zurückgehen,  handeln 
ziemlich  unverblümt  von  den  Freuden  der  Liebe.  —  Auch  die  von  Frischlin^) 
veranstaltete  Auslese  aus  den  deutschen  Facetisten  des  lU.  Jahrhunderts.  Wickram, 
Frey,  Montanus,  Lindener  und  Schumann,  bringt  den  unbändigen  Volkscharakter 
jener  männischen  Zeit  zum  Ausdruck  und  enthält  vor  allem  derbe  Stücke,  nach 
Ständen  geordnet,  dazu  einige  Schauergeschichten;  die  Ausdrucksweise  und  Ortho- 
graphie blieben  im  Gegensatz  zu  Blümml  (oben  16,  452)  ungeändert,  das  Nachwort 
berichtet  kurz  über  die  Anlage  des  AVerkes  und  die  Lebensumstände  der  Autoren. 
Unter  den  Textsammlungen  von  Märchen  fällt  unser  Blick  zunächst  auf 
eine  für  die  Kinderwelt  bestimmte  und  hübsch  ausgestattete  Lese  von  33 
europäischen,  indischen  und  japanischen  Märchen,  die  Frau  Fuchs^)  mit  Geschmack 
aus  zuverlässigen  Quellen  ausgewählt  hat,  dann  aber  auf  die  unvergängliche 
Sammlung  der  Brüder  Grimra"),  die  nach  94  Jahren  nun  ihre  32.  Originalausgabe 
erlebt  hat.  Reinhold  Steig,  der  sie  besorgte,  hat  sich  nicht  begnügt,  einfach  auf 
die  7.  Auflage  von  \S:ü  als  die  Ausgabe  letzter  Hand  zurückzugehen,  sondern 
hat  den  Text  auch  sorgsam  mit  den  früheren  Drucken,  die  von  dem  zweiten  ab 
alle  die  nachbessernde  und  feilende  Hand  der  Sammler  verraten,  verglichen  und 
mehrfach  gebessert;  der  Satz  ist  weitläufiger  und  stattlicher  geworden,  und  statt 
moderner  Illustrationen  erscheinen  Reproduktionen  der  alten  Stiche  von  Ludwig 
Emil  Grimm,  die  keineswegs  bloss  historisches  Interesse  haben,  wenn  uns  auch 
unter  ihnen  besonders  das  Porträt  der  Zwehrner  Märchenfrau  willkommen  ist.  — 
Neue  Aufzeichnungen  aus  dem  Volksmunde  sind  nicht  allzu  viele  zutage  ge- 
fördert.     In    Holstein    hat    der    unermüdliche    Wisscr«)    fünf    neue    Stücke    im 


1)  A.  Christensen,  Persiske  og  nordiske  sagn  (Danske  studier  lOO.J,  213—218). 

2)  Antonio  Cornazano,  Die  Sprichwortnovellen  zum  ersten  Male  verdeutscht  von 
Albert  Wcsselski.  München,  G.  Müller  1906.  XIII,  176  S.  —  Zu  nr.  2  vgl.  Chauvin, 
Hildiograpliio  arabe  S,  12:  'Le  baigneur',  zu  nr.  3  Chauvin  6,  ISO,  zum  Schluss  von  ur.  it 
Frey,  Gartcngesellscliaft  nr.  30. 

3)  Leonhart  Frischlin,  Deutsche  Schwanke.  79  kurtzweylig  Schwenck  und  Fatz- 
bossen  gesammlct.    Leipzig,  J.  Zeitler  1906.    190  S. 

4)  Helene  Fuchs,  Volksmärchen  aus  aller  Welt,  gesammelt  und  hsg.  Berlin,  Globus 
Verlag  [1906].    240  S. 

5)  Brüder  Grimm,  Kinder-  und  llausmiirchen.  Originalausgabe  mit  Hcrman 
Grimms  Einleitung  nach  dem  Handexcniiilare  und  mit  acht  Bildern  von  Ludwig  Grimm. 
32.  Auflage  besorgt  von  R.  Steig.  Stuttgart  und  Berlin,  J.  G.  Cotta  Naclif.  19üii. 
XXXVIII,  .089 S.  —  Vgl.  R.  Steig,  Zu  Grimni,s  Märchen  (Archiv  f.  neuere  Sprachen  118, 
17—37). 

6)  W.  Wisser,  VolksmUrchon  aus  dem  östlichen  Holstein,  4:  De  twölf  Swön.  .').  De 
Prinzessin  mit  de  lang'  Ncs'.    (Niedersachsen  11,  353—357.  12,  335-338).  —  Undank  ist 


Berichte  uud  Büchoranzeigen.  333 

heimischen  Dialekt  veröffentlicht.  Das  erste  ist  allerdings  eine  ziemlich  will- 
kürliche Zusaiiimensetzung-  der  verschiedensten  Motive  (Wache  der  drei  Söhne  auf 
dem  väterlichen  Felde,  Raub  des  Schleiers  der  Schwanenjungfrau,  Wunschbeutel, 
wiederholt  versäumte  Erlösung,  ratapendender  Greis,  hilfreiches  Pferd,  Erlösung 
durch  Enthauptung),  die  anderen  aber  sind  bekannte  Themata:  Portunats  Wunsch- 
boutel,  die  gelöste  Schlange,  der  alte  Fritz  und  der  listige  Soldat,  endlich  eine 
aus  Kopenhagen  stammende,  besonders  ausführliche  Version  der  'vergessenen 
Braut'  (R.  Köhler  1,  lül— 175),  in  der  auch  das  oben  6,  204  besprochene  Motiv 
^Setz  deinen  Fuss  auf  meinen"  vorkommt.  —  Die  von  A.  Dörlor  (oben  lö, 
'27.S— 302)  in  Nordtirol  und  Vorarlberg  aufgezeichneten  Märchen  und  Schwanke 
zeigen,  dass  hier  nicht  bloss  alte  Stoffe  fortgepflanzt  werden,  sondern  dass  der 
Volkshumor  auch  neue  Blüten  treibt.  Ein  ebenso  trefflicher  Beweis  für  die  an- 
schauliche Darstellungsweise  und  das  erstaunliche  Gedächtnis  analphabeter  Erzähler 
liegt  in  den  von  Bunker')  gesammelten  heanzischen  Märchen  und  Sagen  vor, 
die  zum  Teil  unseren  Lesern  bereits  bekannt  sind.  Denn  diese  113  Nummern, 
von  denen  15  schon  in  Bd.  7—8  unserer  Zeitschrift  (mit  Anmerkungen  von  Wein- 
hold) und  3G  in  der  ZföVk.  5-4  gedruckt  waren,  stammen  sämtlich  aus  dem  Munde 
eines  einzigen  betagten  Üdenburgers,  Tobias  Kern,  der  des  Lesens  unkundig  ist 
und  sie  teils  von  seinem  Grossvater,  teils  von  niederösterreichischen  Arbeits- 
genossen  hörte.  Der  Herausgeber  hat  sie  getreu  im  Wortlaut  der  Mundart  auf- 
gezeichnet und  alle  irgendwie  auffallenden  Ausdrücke  in  Fussnoten  erläutert.  Aus 
der  letzten  Erzählung,  die  in  zwei  Aufzeichnungen  v.  J.  1«)5  und  1905  vorliegt, 
erkennt  man,  wie  sich  der  Wortlaut  in  zehn  Jahren  durchweg  verändert  hat,  der 
Inhalt  aber  im  wesentlichen  derselbe  geblieben  ist;  ebenso  sind  Nr.  67.  68  und 
71.  06.  98  nur  Variationen  desselben  Themas.  Ich  hebe  einige  Stücke  heraus,  zu 
denen  keine  Parallelen  nachgewiesen  sind"),  und  bemerke  noch,  dass  die  Er- 
zählung 'Ta  TäUi  hats  Recht  valaan'  (ZföVk.  4,  28)  hier  fortgeblieben  ist. 


der  Welt  Lohn  (Kieler  Zeituug  1907,  Sonntagsheilage  nr.  12  vom  21.  März).  —  De  holten 
Säwel  (De  Eekbom  25,  35.  1.  März  1907).  —  Alexander  und  Aimlcnore  (Deutsche  Welt  9, 
483-487.  501-.504.   5.  und  12.  Mai  1907). 

1)  J.  R.  Bunker,  Schwanke,  Sagen  und  Märchen  iu  heanzischer  Mundart,  bei  [!] 
Unterstützung  der  Kais.  Akademie  der  Wissenschaften  in  Wien  aufgezeichnet.  Leipzig, 
Deutsche  Verlagsactiengesellschaft  1906.  XVf,  436  S.  8".  —  Über  zehn  derbe  Schwanke, 
die  B.  aus  derselben  Quelle  veröffentlichte,  vgl.  oben  16,  452. 

2)  Xr.  1  Schuster  als  Pfarrer  vR.  Köhler,  Kl.  Sehr.  1,  41.  Bolte-Seelmanu,  Kd.  Schau- 
spiele älterer  Zeit  S.  *35.  ZföVk.  1,  2.52.  4,  250).  —  2  Doktor  Allwissend  (Kohler  1,  39). 
—  3  Fünfmal  getötet  (Köhler  1,  65.  190.  3,  164).  -  4  Vertrag  über  den  Ärger  (Köhler  1, 
326).  —  5  Der  alte  Hildebrand  ^Gri^lm  95.  Köhler  1,  386).  —  8  Knecht  mit  ver- 
schiedenen Namen  (oben  15,  74).  —  12  Die  dumme  Bauerntochter  (Gr.  34.  Köhler  1, 
218.  266).  —  13  Schildbürgerstreiche  (Köhler  1,  266).  —  14  Meisterdieb  (Gr.  192. 
Köhler  1,  256).  —  15  Listige  Streiche  (Gr.  61.  Köhler  1,  230).  —  10  Nein  sagen  (oben 
15,  09).  —  18  Tambur  belauscht  ein  Liebespaar  (Köhler  2,  594).  —  19  Ehebrecherin  will 
ihren  Mann  blind  machen  (.Montanus,  Schwankbücher  S.  611.  Oben  10,  74).  —  20  Narr 
und  Grossnasigcr  (Pauli  nr.  41.  Zum  unterschlagenen  Uriasbrief  oben  6,  169  nr.  75. 
Pitre,  Fiabe  nr.  156.  Donieuichi,  Facetie  1581  p.  117).  —  21  Kaiser  und  Abt  (Köhler  1, 
267.  492).  —  22  Nicht  nackt  und  nicht  bekleidet  (Köhler  1,  447).  —  26  Knabe  und 
Kruzifix  (Grimm,  Kinderlegenden  9).  —  27  Grabespflanze  (R.  Kühler  3,  278).  —  28  Toter 
bringt  dem  Fi-eunde  Botschaft  (Schönbach,  Die  Renner  Relationen.  SB.  der  Wiener 
Akademie  139,  5.  Landau,  Quellen  des  Dekameron  1884  S.  248).  —  34  Gutsherr  in  Pferd 
verwandelt  (oben  16,  420^).  —  36  Greise  nicht  mehr  getötet  (oben  8,  25).  —  37  In  den 
Wind   stechen    (Grimm,   Mjth.^   S.  599).   —   41   Brunzwick    (Feifalik,   Böhmische   Volks- 


334  Bolte: 

In  den  Niederlanden  ist  von  Boekenoogens')  Volkserzählungen  eine  Fort- 
setzung erschienen,  die  durchweg  Räubergeschichten  bringt;  die  unter  diesen 
berichtete  List  des  Knechtes,  der  dem  Räuber  unbedaclu  sein  iScinvert  und  sein 
Geld  gibt  und  ihn  darauf  bittet,  ihm  seine  linke  Hund  abzuhauen,  um  ihn  dabei 
von  hinten  zu  packen,  vermag  ich  schon  im  14,  Jahrhundort  bei  dem  Augsburger 
Magister  Derrer  nachzuweisen. 

In  Dänemark  hat  M.  Kristensen-)  eine  Fassung  des  Märchens  vom  Kaiser 
und  Abt  aus  einer  Handschrift  des  IG.  Jahrhunderts  verülfenllicht.  Zwei  Arbeiten 
sind  den  'Kunstmärchen'  Andersens  gewidmet,  die  natürlich  ebensogut  wie 
Musäus  und  Brentano  eine  Quellenuntersuchung  verdienen.  In  einem  umfäng- 
lichen Werke  stellt  Brix')  sorgsam  aus  Tagebüchern  und  Briefen  zusammen,  was 
sich  über  des  Dichters  Familie  und  Lebensgang  ermitteln  Hess,  und  sucht  dann 
bei  jeder  Märchendichtung  die  einzelne  Anregung  und  die  Stimmung,  aus  der 
jene  hervorging,  festzustellen.  Leider  aber  erfahren  wir  dabei  nichts  über 
Andersens  Verhältnis  zu  den  dänischen  Volksmärchen,  aus  denen  er  doch  nach 
seinem  eigenen  Bekenntnis    mehrfach    geschöpft  hat.     Dieser  Aufgabe    geht    dafür 


bücher  von  Rcinfrit  von  Brauuschweig.  SB.  der  Wiener  Akad.  20,  83.  o7,  :!22.  — 
42  Lenorcnsage  (Er.  Schmidt,  Charakteristiken-  1,  189).  —  4G  Der  Uerr  Gevatter 
(Gr.  42).  —  47  Mädchen  in  Rose  verwandelt  (oben  13,  72.  SchuUerus,  Siebenbg. 
Archiv  33,  433).  —  48  Schlange  lösen  (Köhler  1,  96.  412.  Chauvin  2,  120.  233.  9,  18).  — 
50  Kumpelstilzchen  (Grimm  55.  Gonzcnbach  84).  —  51  Der  Arme  und  der  Reiche 
(Gr.  87).  —  52  Fürchten  lernen  (Gr.  4).  —  54  Marienkind  {Gr.  3).  —  55  Tischlein  (leck 
dich  (Gr.  36).  —  56  Vergessene  Braut  (Gr.  193.  Gonzenbach  14).  —  60  Das  blaue  Licht 
(Gr.  116).  —  67.  68  Bärenhiiiiter  (Gr.  101).  —  09  Drei  Handwerksburschen  (Gr.  120).  — 
70  Ähnlich  Swift,  (iullivcrs  Reisen.  —  72  Treu  und  Ungetreu  (Köhler  1.  396.  467.  542.)  — 
73  Schwanenjungfrau  (Kühler  1,  441.  2,  413)  modernisiert:  Schilderung  Indiens  nnd  der 
Witwenverbreunung.  —  74  Drosselbart  (Grimm  .54.  Gonzenbach  18).  —  75  Fischer  und 
seine  Frau  (Gr.  19).  —  81  Aladdins  Zauberrinj?  (Chauvin  5,  55.  Köhler  1,  440).  — 
83  Räuber  und  Einsiedler  (Köhler  1,  40."..  Oben  13,  70).  —  84  Der  weisse  Wolf  (Gr.  88. 
Köhler  1,  315).  —  85  Prinzessin  im  Sarg  (Köhler  1,  320).  —  86  Dankbarer  Toter 
Köhler  1,  225 f).  —  87  Schlächtergeselle  (Simrock,  Märchen  S.  244.  Köhler  1,  304).  — 
88  Brüder  (Gr.  60  mit  verändertem  Schluss).  —  89  Dankbare  Tiere  (Köhler  1,  .397).  — 
90  Wasser  des  Lebens  (Köhler  1,  562).  —  91  Sclmned  und  Teufel  (Gr.  82).  —  93  Eiserne 
Stiefel  abnutzen  (Köhler  1,  316.  573);  alter  Schlüssel  wiedergefunden  (K.  1,  426';.  — 
94  Pfefferkern  (Köhler  1,  543.  Oben  9,  87  nr.  33).  —  95.  97  Treulose  Schwester  (Gonzen- 
bach 26).  —  100  Hasenhirt  (Köhler  1,  .58.  554).  —  101  Mädchen  ohne  Hände  (Gr.  31. 
Goiizenbach  24)  und  Genovefa.  —  104  Julianus  (Frey,  Gartengesellschaft  S.  280  zu  Val. 
Schumann  14).  —  107  Die  scliöne  Magolone,  hier  Magtalcnna  gelieissen  (Warbeck  ed. 
Bolte  1,S94).  —  110  Der  fliegende  Koffer  (aus  lüOl  Nacht.  Chauvin  .5,  232).  —  112. 
113  Räuberbräutigara  (Gr.  40). 

1)  G.  J.  ßoekenoogcn,  Xederlandsche  sprookjes  en  vertelsels  Nr.  90—96  (Volks- 
kunde 18,  92—97.  222-224.  Gent  1906).  —  Zu  Nr.  93  (18,  95)  vgl.  Konrad  Derrer  (um 
1340)  in  Zs.  des  histor.  V.  f.  Schwaben  31,  116.  Theatrum  Europacnm  13,  246.  Der 
auniuhtige  Historicus  1702  S.  101.  Hilarius  Salustius,  Jlclancholini  Weeg-Gefärth  1717 
S.  375.  Pröhle,  Märchen  f.  d.  Jugend  18:>4  S.  141.  Simrock,  D.  Märchen  1864  S.  214: 
'Der  Metzgerburschc'.  Bunker,  Schwanke  in  licanzieclier  Muiulart  190(5  S.  262.  Ethnol. 
Mitt.  aus  Unfjarn  3,  91:  'Das  Beil'.  Bei  Joos,  Vertelsels  van  hct  vlaamsche  Volk  3,  1()9 
(1891)  bittet  der  Knecht  den  Räuber,  ein  Locli  in  seinen  Kittel  zu  schiessen;  ebenso  bei 
J.  P.  de  Memel,  Lustige  Gesellschaft  1660  nr.  1118. 

2)  M.  Kristensen,  Abbeden  og  Hans  Kok,  et  kendt  .Tventyr  i  gammelt  kliedebon 
(üanske  Studier  1907,  llöf.). 

3)  H.B rix,  H.C.. Andersen  oghans  eventyr.    Kobcnhavn,  Schubothc  1907.    296  S.   8". 


Berichte  und  Büchcranzeigen.  335 

ein  früherer,  bei  Brix  jedoch  nicht  erwähnter  Aufsatz  von  G.  Christensen') 
nach,  der  sieben  Nummern  (das  Feuerzeug-,  der  grosse  und  der  kleine  Klaus,  der 
Reisekamerad,  die  wilden  Schwäne,  der  Schweinehirt,  Klotzhans,  Was  Vater  tut 
ist  immer  das  rechte)  mit  gedruckten  und  hsl.  dänischen  Märchen  vergleicht  und 
zur  'Prinzessin  auf  der  Erbse',  die  1843  sogar  in  die  Grimmschen  Märchen  nr.  l'S2 
überging,  auch  ausländische  Parallelen  heranzieht.  Durchweg  hat  Andersen  diese 
Überlieferungen  nach  eigenem  Geschmacke  ausgemalt,  die  Charaktere  umgemodelt, 
Derbheiten  gemildert  und  neben  süsslicher  Sentimentalität  auch  die  romantische 
Ironie  walten  lassen.  —  Von  Lölands")  norwegischer  Märchensammlung  ist 
die  zweite  Hälfte  mit  den  Nr.  29 — 75  erschienen;  die  Herkunft  ist  genau  angegeben, 
doch  fehlen  stoffgeschichtliche  Nachweise. 

In  Frankreich  brachten  die  'Revue  des  traditions  populaires'  und  die 
'Tradition'  wie  alljährlich  neue  Aufzeichnungen  aus  verschiedenen  Provinzen;  ich 
nenne  nur  die  bretonischen  Märchen  vom  jungen  Helden  mit  der  Eisenkeule 
und  von  den  drei  Haaren  des  Teufels,  die  korsischen  Schwanke  von  der  ge- 
beichteten Gedankensünde,  den  dem  Wandrer  aufgetragenen  Fragen,  den  getöteten 
Buhlern  (Frey,  Gartengesellschaft  S.  281  zu  V.  Schumann  19),  einige  Tiermärchen 
aus  der  Franche-Comte  und  aus  Flandern.')  —  Im  Vogesendorfe  Rougemont 
hat  G.  Froidure  d'Aubigne*)  aus  dem  Munde  eines  Kesselflickers  (magnin) 
(13  Schwanke  aufgezeichnet,  von  denen  freilich  die  besten  nicht  neu  sind,  sondern 
schon  vor  drei  Jahrhunderten  im  Elsass  umliefen  oder  auf  ein  noch  höheres 
Alter  Anspruch  machen  dürfen;  neben  den  Priestern  nimmt  hier. der  Volkswitz 
auch  die  Anabaptisten  und  die  Juden  zur  Zielscheibe. 

Recht  interessante  italienische  Märchen  aus  Pieniont,  Toscana  und 
Sizilien  enthält  der  neueste  Band  von  Pitres  Archivio"').      Von    den    durch   Bertha 


1)  G.  Christensen,  H.  C.  Andersen  og  de  danske  folkeeventyr  (Danske  Studier 
1906,  103-112.  161—174).  —  Zum  Klotzlians  (S.  166)  vgl.  R.  Köhler  2,  46.5. 

2)  R.  Laland,  Norsk  eventyibok  etter  uppskrifter  paa  folkemaalet  utgievne  av  det 
Borske  samlaget.     Oslo  1905.     VIII,  372  S. 

3)  F.  M.  liUzel  u.  a.,  Contes  et  legendes  de  Basse-Bretagne  nr.  46—50  (Revue  des 
trad.  pop.  21,  465-479;.  —  Julie  Filippi,  Contes  de  File  de  Corsa  (ebd.  21.  ;199f. 
456—462).  —  A.  Gasser,  Contes  populaires  de  la  Franche-Comte  (Tradition  20,  165  bis 
170).  —  L.  Villette,  Contes  des  Flandres  (ebd.  20,  170—173). 

4)  Contes  licencieux  de  l'Älsace,  racontes  par  le  magnin  de  Rougemont.  Paris, 
G.  Ficker  (1906).  XU,  274  S.  8"  (=  Contributions  au  folklore  erotique  2).  20  fr.  — 
Zur  Geschichte  der  Stoffe  notiere  ich :  Nr.  1  Le  prGtre  <pii  avait  des  piunes  (R.  Köhler  2, 
695.  3,  169).  —  7  Quand  on  epouse  quatre  femmes  (Vergleich  mit  vier  Tieren:  oben 
11,  25).  —  12  La  grand'mere  (Cent  nouv.  nouv.  50).  —  15  Le  chaton  (Frey,  Garten- 
gesellschaft nr.  93).  —  17  L'escalier  (nr.  51.  Pauli,  Anhang  nr.  28).  —  20  Le  colonel  et 
son  ordonnance  (Oben  15,  60  und  Montanus  S.  6;il).  —  22  Le  borgne  (Gesta  Rom.  122. 
Chauvin  9,  20).  —  23  Le  eure  qui  devint  diable  (Frey  S.  286  zu  Val.  Schumann  47).  — 
28  L'animal  inconnn  (oben  8,  11  und  Zs.  f.  vgl.  Litgesch.  7,  457.  11,71).  —  36  Qui  est  le 
plus  vieux  des  deux?  (Montanus,  Schwaukbücher  S.  623).  —  38  Le  mcunier  d' Aspach 
(Kirchhof,  Weudunmut  1,  ;t3l).  —  39  Le  plumeau  (Frey  nr.  130).  —  41  Celui  du  maitre 
d'ecole  (Cent  nouv.  nouv.  15).  —  43  Le  mauvais  outil  (Frey  S.  281  zu  V.  Schumann  17).  — 
44  Le  chat  dans  le  ventre  (Wickram,  Werke  3.  362  nr  4).  —  49  Graisse,  Kuterh'I 
(Liebrecht,  Zur  Volkskunde  S.  149).  -  .54  Le  jambon  de  päques  (oben  13,  72).  —  60  Dis 
toujours  Non!  (oben  15,  69-j.  —  61  La  vcuve  (Frey  nr.  84).  —  62  La  cheniise  de  Saint- 
Victorien  (Frey  nr.  87). 

5)  D.  Carraroli,  Leggende,  novelle  e  fiabe  piemontesi  (Archivio  delle  tradizioni 
pop.  23,   69-83.    —    Nr.  1    der   treue  Johannes;    2    der   starke  Hans;    3  Fitchers  Vogel; 


33G  Bolte: 

Ilg-')  fleissig:  gesamnielten  und  trefflich  Tcrdeutschton  nialtosiscIuMi  Märchen, 
die  oben  l'i,  ■i^ji  angezeigt  wurden,  liegt  der  -2.  ]!and  vor  uns,  der  die  Nummern 
7() — 13!),  sämtlich  schwankhaften  Charakters,  enthält.  Die  angehängten  Er- 
läuterungen betreffen  die  maltesische  Sprache,  die  von  Stumme,  Ronelli  und 
Magri  veröffentlichten  maltesischen  Scitenstücke,  wiederkehrende  Motive  und 
Schlussformeln  und  einzelne  Ausdrücke.  Die  internationalen  Ucziehungen  der 
Stoffe  möchte  ich  wiederum  durch  einige  Nachweise  verdeutlichen:  Nr.  76  (Die 
beiden  Brüder  und  der  Bauer)  R.  Köhler,  Kl.  Sehr.  1,  3iG.  —  77  (Die  zwei 
Hirtenknaben)  Köhler  1,  341.  7-2.  —  78  (Lebenswasser  holen)  Grimm  95,  .Köhler  1, 
386.  —  7!i  (Wie  die  Frau  des  Juweliers  entfloh)  a)  Unterirdischer  Gang:  Köhler  1, 
393;  b)  Entführung  auf  einem  Kaufmannsschiff:  Köhler  1,  464.  l',  344.  Oben  16, 
■242  nr.  19;  c)  Kleidertausch:  Chauvin  6,  178.  —  81  (Der  Kuss  des  Verurteilten) 
Pauli,  Schimpf  und  Ernst  19.  Chauvin  8,  113.  —  83  (Der  Schuhmacher  auf  der 
Totenbahre)  Wickram,  Werke  3,  3G8  nr.  iö.  —  84  (Der  Geizige  und  seine 
Photographie)  wird  auch  von  Rothschild  und  Horace  Vernet  erzählt.  —  87  (Der 
geizige  Kaufmann,  der  Gastwirt  und  der  Kapuziner)  a)  Klang  für  Geruch:  Wetzel, 
Die  Söhne  Giaffers  1895  S.  210;  b)  Teufelsbeschwörung:  Montanus,  Schwank- 
bücher S.  627  nr.  101.  —  S8  (Dumme  Leute)  Wickram  3,  391  nr.  107.  8,  347.  — 
89  (Katarin    und  Jannadschi)    Grimm  14    und  59.    —   91    (Dschahans  Abenteuer) 

a)  Gewinn  durch  öfteren  Tausch,  unten  S.  339  zu  D.  H.  Müller  3,  4;  b)  Verkauf  an 
Standbild:  Köhler  1,  99.  Chauvin  6,  126.  —  92  (Dschahan  und  der  weisse  Anzug) 
Köhler  1,  491,  2,  .")81.  —  97  (D.  und  sein  Ankläger)  Wickram  3,  370  nr.  35.  — 
99  (Die  Schwindlerin  Katarin)  a)  Esel  statt  Braut:  Frey  S.  216.   Montanus  S.  628; 

b)  wie  nr.  88;  c)  wie  nr.  77;  d)  Zuckerpuppo  statt  Frau  gemordet:  oben  6,  73 
zu  Gonzenbach  ö.j.  —  loi  (Der  l'aramentcnhändler;  Kirchhof,  Wendunmut  2,  176. 
—  102  (Der  Wirt  und  die  Zechpreller)  Reuter,  Werke  3,  iOl.  451  ed.  Seelmann. — 
103  (Der  blinde  Bettler)  K.  Köhler,  Aufsätze  1894  S.  115».  —  109  (Der  Reiche 
und  der  Freier  seiner  Tochter)  Montanus  S.  648  nr.  46.  —  110  (Der  arme  Freier) 
Montanus  S.  595  und  597,  nr.  13  und  20.  —  11 1  (Der  Schatz)  Frey  S.  243  nr.  77.  — 
113  (Xeunundneunzig  Goldstücke)  oben  13,  420.  —  114  (Die  zwanzig  Hennen) 
Montanus  S.  611.  —  119  (Seinezeit)  oben  16,  72.  —  120  (Jetztsagichsdir)  oben 
16,  71.  —  125  (Der  Kapuziner)  Pauli  nr.  435.  —  134  (Der  gestohlene  Strick) 
Wetzel,  Giaffer  S.  210.  —  137  (Der  schlaue  Mann  und  der  Beichtiger)  Wossidlo, 
Mecklenbg.  Volksüberlicferungen  1,  231  nr.  979.  —  138  (Ermahnungen  des  Geist- 
lichen befolgt)  Frey  S.  2.S0  nr.  42.  —  139  (Die  Käseverkäuferin)  Montanus  S.  603  f. 

Von  rumänischen  Märchen  liegt  uns  neben  der  oben  S.  105 — 109  von 
Elise  Richter  verdeutschten  Erzählung  die  zweite  Hälfte  der  oben  16,  454  an- 
gezeigten wertvollen  Sammlung  von  Paulino  Schullorus-)  vor.  Sie  enthält  die 
Nr.  36  — 126  aus  dem  Harbachtale    und  dazu  elf  Nummern  aus  dem  Alttal,    leider 


4  seltsame  Dinge  im  Jenseits:  5  die  zwölf  Brüder).  —  G.  Pitre,  Novelle  popolari  toscane 
(ebd.  23,  399-420.  —  Nr.  1  Aschenbrödel,  2  Tischlciii  dock  dich,  3  liisti^'c  Kreier  geäfft). 
—  R.  Castclli,  Leggende  Inbliche  e  religiöse  de  Sicilia  (ebd.  2:!,  211—223.  —  Nr.  8 
fauler  Knecht  und  flcissige  Magd;  9  gebratener  Kraniih  mit  einem  Bein;  10  Gevatter 
Tod:  12  Engel  und  Einsiedler;  i:>  Fragen  aufgetragen). 

1)  B.  Ilg,  Maltesische  Märchen  und  Schwanke,  aus  dem  Volksmundo  gesammelt, 
2.  Teil.  Leipzig,  G.  Schönfeld  1906.  VI,  137  S.  S»  geb.  3,50  Mk.  (Beiträge  zur  Volks- 
kunde hsg.  von  E.  Mogk,  3.  Heft). 

2)  P.  Schullerus,  Rumänische  Volksmärchen  aus  dem  mittleren  Harbachtale, 
Schluss  (Archiv  f.  siebenbürg.  Landeskunde  n.  F.  :!3,  469—692).  —  Vgl.  die  Anzeige  von 
A.  de  Cock,  Volkskunde  18,  237-240. 


Berichte  und  Büchcranzei^'en.  337 

ohne  Register  und  Parallelen.  Zu  Nr.  36  (Die  Tochter  und  der  Sohn  des  Königs) 
vgl.  oben  G,  71  zu  (3onzenbach  3-".  R.  Köhler,  Kl.  Sehr.  1,  125.  4()o.  —  38  (Die 
Kappe,  Taube,  Stöckchen)  R.  Köhler  1,  230.  251.  —  39  (Eine  Wette)  vgl.  Frey, 
Gartengesellschaft  LSDG  S.  276  (Katze  im  l;atzenlosen  Lande),  R.  Köhler  2,  444 
(Wette  über  Frauentreue)  und  2,  640  (Katze  hält  Licht).  —  44  (Der  Knabe  und 
der  Ochs)  Grimm  Nr.  1>:0.  Gonzenbach  Nr.  32.  Montanus,  Schwankbiicher 
S.  59L  —  4.)  (Ein  halber  Mensch)  und  92  (Eine  lügnerische  Mär)  vgl.  R.  Köhler  1, 
322  und  Rittershaus,  Island.  Vm.  S.  38G:  Lügenwette.  —  40  (Der  Wolf  mit  den 
Schuhen)  R.  Köhler  1,  96.  Sldarek,  Ungar.  Vm.  30.  —  47  (Der  Wolf  und  die 
zwei  Geislein)  Grimm  nr.  5.  —  48  (Ein  Mädchen,  welches  Menschen  frisst).  Zu 
den  Hundenamen  R.  Köhler  1,  304.  —  49  (Tischlein,  Hütlein,  Stöcklein)  Grimm 
nr.  36.  R.  Köhler  1,  67.  —  öO  (Der  goldene  Gürtel)  und  68  (Das  Patengeschenk) 
R.  Köhler  1,  303:  treulose  Mutter.  —  51  (Die  Gans  mit  einem  Puss)  Boccaccio, 
Decamerone  6,  4.  Montanus  S.  613.  —  52  (Chelteu)  Gonzenbach  nr.  83. 
R.  Kühler  1,  19(;.  546.  —  53  (Drei  Schafbesitzer  und  der  Teufel)  R.  Köhler  1, 
183.  Hackman,  Die  Polyphemsage  1904.  —  54  (Die  Kirche  des  Teufels) 
R.  Kühler  1,  320.  —  55  (Iklauer)  und  hi)  (George)  R.  Köhler  1,  52.  Ritters- 
haus S.  340.  —  59  iKonim,  wir  wollen  beichten)  Montanus  Gll.  H.  Sachs, 
Schwanke  6,  222.  Oben  10,  74.  —  60  (Die  Sonnenstrahlen)  R.  Köhler  !,  171. 
388  (auswerfen  auf  der  Flucht)  und  194  (Gefährten  mit  wunderbaren  Eigen- 
schaften). —  Gl  (Hundert  fyeben  auf  einen  Schlag  getötet)  Montanus  S.  560  — 
62  (Der  reiche  und  der  arme  Bruder)  Toldo  oben  13,  422.  —  G4  (Die  Kirche 
Gottes)  Montanus  S.  562.  Grimm  81.  —  G5  (Zwei  Mädchen)  ist  eine  absichtliche 
Umvt'andlung  der  Erzählung  von  dem  faulen  Knecht,  der  mit  der  fleissigeji  Dirne 
vermählt  wird  (Strauss,  Die  Bulgaren  S.  300.  Frey  S.  285  zu  V.  Schumann 
nr.  43);  hier  wird  der  Faule  in  den  Mond  versetzt  und  die  Magd  mit  einem 
üeissigen  Burschen  verheiratet.  —  66  (Juon  der  Arme).  Dem  Helden  hilft  ein 
Hahn  wie  in  Nr.  95  (Der  Fuchs  im  Kraut)  ein  Fuchs  und  sonst  der  gestiefelte 
Kater  (Gonzenbach  nr.  65.  R.  Kühler  1,  558);  eingelegt  ist  eine  Wanderung  der 
Tiere.  —  G7  (Ursitori)  die  Oedipussage,  verbunden  mit  dem  serbischen  Märchen 
vom  Glück  und  Unglück  (R.  Kühler,  Aufsätze  1894  S.  106).  —  69  (Der  Pfarrer 
ohne  Sorgen)  Grimm  152.  Pauli,  Schimpf  und  Ernst  nr.  55.  R.  Kühler  I,  267. 
492.  —  70  (Juon,  welcher  sieben  Könige  an  Verstand  übertraf)  und  91  (Der 
Traum  des  Knaben)  sind  Varianten  zum  weisen  Haikar:  R  Köhler  1,  430 
Schott,  Walach.  Märchen  1845  S.  125.  Polivka,  ZföVk.  5,  141  zu  59.  — 
71  (Staticot)  R.  Köhler  1,  543.  —  73  (Der  Zigeunerpfarrer)  Grimm  nr.  98. 
R.  Köhler  1,  39.  —  76  (Zwei  Brüder  mit  goldenen  Haaren)  Grimm  nr.  60. 
R.  Köhler  1,  387.  —  77  (Des  Teufels  Lohn)  Grimm  nr.  95.  R.  Köhler  1,  3!56.  — 
78  (Die  Spinnerin)  Grimm  nr.  14.  R.  Köhler  1,  47.  —  81  (Der  Wahrsager) 
Grimm  61.  R.  Köhler  1,  238.  —  82  (Wie  die  Schwalben  entstanden)  durch 
Verwünschung  eines  singenden  Kindes;  vgl.  118  (Die  böse  Schwiegermutter).  — 
83  (Die  Tochter  eines  armen  Fischers)  ist  der  Stoff  von  Shakespeares  Cymbeline. 
R.  Köhler  1,  375.  581.  G.  Paris,  Romania  32,  481.  —  86  (Die  tapfere  Königs- 
tochter) löst  dieselben  .Aufgaben  wie  der  Jüngling  bei  Köhler  1,  467.  542  und 
wird  dann  in  einen  Mann  verwandelt.  —  87  (Drei  Spieler)  R.  Köhler  1,  186. 
588:  Fortunat.  —  88  (Die  goldene  Henne).  Dasselbe  Motiv%  eingeleitet  durch  die 
Geschichte  von  den  beiden  Knaben,  die  das  Herz  des  Wundervogels  essen: 
Grimm  nr.  60.  Chauvin,  Bibliogr.  arabe  6,  170.  —  89  (Fritz  der  Tapfere,  ein 
Kind  geboren  aus  Blumen)  vgl.  R.  Köhler  1,  158  (Seele  des  Riesen  im  Ei)  und 
399.  430  (Drachenzungen  ausgeschnitten).  —  90  (Juon  ohne  Furcht)  R.  Kühler  1, 


338  Bolte: 

418.  5J1.  —  93  (Die  Kirche  der  Zigeuner)  oben  8,  8)  nr.  2.  Haltricii,  Zur  Volks- 
kunde der  Siebenbürger  Sachsen  1885  S.  IIU.  F.  Müller,  Siebenb.  Sagen  nr.  iSl.  — 
yti  (Pitiküt  =  Diiuraling)  Grimm  nr.  45.  —  97  (Der  verrückte  Knecht)  R.  Köhler  1, 
2G2.  326.  —  99  (Das  Tornisterchen)  R.  Köhler  1,  440.  Chauvin  5,  55.  — 
103  (Belohnte  Treue)  entspricht  der  verbreiteten  Ballade  von  der  Losgekauften: 
Erk-Böhme,  Deutscher  Liederhort  nr.  78.  Wislocki,  Zs.  f.  vgl.  Litgesch.  n.  F.  I, 
250.  Krohn,  Journal  de  la  soc.  finno-ougrienne  10,  111.  Weigand,  Die  Aromunen  2, 
151.  —  104  (Die  drei  Sterne)  R.  Köhler  1,  ai5.  —  105  (Die  herzlose  Schwieger- 
tochter) vgl.  Erk-Böhme  nr.  189:  „Ach  Mutter,  es  hungert  mich."  —  107  (Das 
Salz  im  Brot)  H.  Köhler,  Aufsätze  S.  V.  15.  Sklarek  nr.  34.  —  108  (Der  Zigeuner 
und  der  Hase)  Montanus,  Schwankbücher  S.  (SOo— 605.  —  110  (Die  taube  Frau) 
und  123  (Drei  Taube)  Wickrara,  Werke  3,  ;i65  zu  nr.  10.  —  111  (Der  fremde 
Grossvater)  Dialog  wie  zwischen  Rotkiippchen  und  dem  verkleideten  Wolf: 
Grimm  nr.  2G.  —  112  (Der  Fremde)  K.  Köhler  1,  128:  Blaubart.  —  113  (Die 
drei  Jäger)  Drachenzungen  ausgeschnitten  wie  in  nr.  M>.  —  114  (Radu  Bolfe) 
Meisterdieb:  Grimm  nr.  192.  R.  Köhler  1.  256.  —  115  (Das  goldene  Kreuz) 
Grimm  nr.  05.  Gonzenbach  nr.  24.  —  116  (Mundra  Lumi)  Grimm  57.  R.  Köhler  1, 
539.  —  111)  (Der  Löifclzigeuner)  Dialog  wie  in  der  Ballade  von  der  entführten 
Margaret:  Erk-Böhme  nr.  40  —  120  (Der  sind  die  Krähen  nicht  übers  Dach 
geflogen)  Grimm  nr.  128.  —  121  (Was  Gott  zusammenfügt  usw.)  Grabespflanzen: 
R.  Köhler  3,  274.  —  125  (Der  Fuchs  mit  dem  Ohrringel)  Kcttenerzählung: 
R.Köhler  3,  355.  —  126  (Die  Mär  der  Blumen)  TJersprache:  R.  Köhler  2,  010. — 
Anhang  Nr.  1  (Die  Steinsäule)  eine  Verbindung  des  BrUdermärchens  und  des 
treuen  Johannes  (Grimm  CO  und  0),  dazu  die  dankbaren  Tiere  und  die  dem 
^\'anderer  aufgetragenen  Fragen.  —  3  (Die  eigensinnige  Frau  und  der  Teufel) 
Macchiavellis  Belfagor,  oben  15,  104i.  16,  448^.  —  4  (Pacalä)  oben  6,  73  zu 
Gonzenbach  nr.  37.  —  5  (Ein  Traum)  vgl.  Nr.  91.  —  7  (Gottes  Lohn)  R.  Köhler  1,  5 
(Der  dankbare  Tote)  und  426  (Frage  vom  alten  und  neuen  Schlüssel).  —  8  (Der 
Schutzengel)  das  Buch  Tobit.  —  9  (Gott  und  der  Teufel)  oben  11,  394.  404.  — 
11  (Schöne  der  Welt)  vgl.  Nr.  90. 

Den  slawischen  Arbeiten,  die  bereits  oben  von  Brückner  und  I'oli'vka  be- 
sprochen wurden,  reihe  ich  noch  J.  Brandts')  niederländische  Übersetzung  von 
32  russischen  Tiermärchen  aus  Afanasjews  Sammlung  an.  Sie  folgt  der  Anordnung 
des  Originalwerkes  und  gibt  auch  einiges  aus  Afanasjews  Anmerkungen  wieder. 
Beigefügt  ist  eine  Lebensbeschreibung  des  Sammlers  nach  Grusinski  und  das 
allegorische  Märchen  Prinz  Chlor  der  Kaiserin  Katharina  II.  —  Aus  L'ngarn  sind 
die  oben  10,  470  angezeigten  Sammlungen  von  B.  Vikar  und  0.  Mailand,  sowie 
ein  von  Frau  E.  Rona  verdeutschtes  interessantes  Stück  (oben  S.  109 — 113)  zu 
nennen. 

Aus  dem  Orient  sei  zuerst  der  neun  altägyptischen  Märchen  gedacht,  die 
Wiedcmann-j  aus  Papyrustexten  des  2.  Jahrtausends  v.  Chr.  neu  übersetzt  und 
denen  er  Herodots  Erzählung  vom  Schatz  des  Rharapsinit  beigegeben  hat;  den 
Märchenforschern  waren    sie   ja  bereits    alle  durch  Maspcros  französische  Version 


1)  A.  N.  Afanäsiev,  Russische  volkssprookjes,  naar  de  derde  russische  uitgave 
van  A.  E.  Groezinskiej  vcrtaald  door  J.  Brandt.  1.  bnndel.  Amsterdam,  S.  L.  vau  Looy 
1904.   194  S. 

2)  A.  Wiedemann,  Altügyptiscbe  Sagen  und  Märchen.  Leipzig,  Deutsche  Vcrlags- 
actiengcscllschaft  1906.    VII.  1.5:!  S.    1  Mk.    (Der  Volksmund  Bd.  G). 


Berichte  uud  ]5üclierauzeigeu.  339 

zugänglich.  —  Arabische  Märchen  haben  uns  Basset')  und  Carnoy")  in 
französischer  Übertragung  zugeführt;  darunter  z.  B.  Noahs  Weinpüanzung  (Revue  21, 
190),  Sneewittchen  (Trad.  20,  5),  die  falsche  Braut  (ebd.  20,  46.  R.  Köhler  1,  125), 
der  vergeblich  verfolgte  Knabe  (20,  72.  Gesta  Rom.  20),  die  dankbaren  Tiere 
(-20,  138.  Gesta  R.  119),  die  Lövvenspur  (20,  143.  Chauvin  7,  120),  die  einander 
mordenden  Schatzfinder  (20,  148.  Montanus,  Schwankbücher  S.  5G4'),  Wolf  und 
Mensch  (20,  241.  Grimm  72),  Hase  und  Igel  (20,  27U.  Grimm  187).  —  Destaing'') 
verdanken  wir  ein  in  Kef  aufgezeichnetes  Märchen  vom  Zaubervogel  (R.  Köhler  1, 
565.  Chauvin  7,  !).')).  —  Den  beiden  im  vorigen  Bericht  (oben  IC,  408)  gerühmten 
Bänden  von  David  Heinrich  Müllers*)  Publikation  von  Erzählungen  und  Liedern 
in  der  südarabischen  Mehri-  und  Soqotri-Sprache  ist  der  dritte  gefolgt,  welcher 
56  Texte  in  der  am  persischen  Meerbusen  gesprochenen  ^hauri-Sprache  enthält. 
Sie  sind  1904  in  Wien  aus  dem  Munde  eines  Beduinen  Mliammed  aufgezeichnet 
und  z.  T.  durch  beigefügte  parallele  Fassungen  in  den  verwandten  Dialekten, 
immer  jedoch  durch  eine  wörtliche  Verdeutschung  erläutert.  Unter  den  47  Er- 
zählungen sind  manche  ohne  eigentliche  Pointe  und  märchenhaften  Charakter,  und 
unter  den  Märchen  zeigen  einige  deutlich  die  Zusammensetzung  aus  verschiedenen 
ursprünglich  selbständigen  Motiven.  S.  4  (Abu  Nuwäs  Hirsekorn)  ist  die  von 
Cosquin  (Contes  populaires  de  Lorraine  nr.  62)  und  Chauvin  (oben  15,  462  zu 
Stumme  nr.  25.  35)  behandelte  Geschichte  von  dem  durch  listigen  Tausch  immer 
Wertvolleres  gewinnenden  Manne;  eingeschaltet  ist  die  Schadenersatzforderung 
für  die  angebliche  Tötung  seiner  Mutter,  deren  Leiche  er  vor  das  Haus  des 
Sultans  gesetzt  hat  (R.  Köhler,  Kl.  Schriften  1,  231).  —  S.  9  (Der  Tölpel  und  der 
Ziegenbock).  Ein  Dummkopf  glaubt  sich  von  seinem  Schatten  verfolgt.  —  S.  15 
(Die  Hyäne  nnd  der  Fuchs)  erinnert  an  die  Fabeln  von  dem  durch  den  Fuchs 
betrogenen  Wolf.  —  S.  17  (Hirtin  und  Wehrwolf).  —  S.  23  (Die  Portia  von 
Gischin)  und  73  (Die  Portia  von  Zafär)  sind  Varianten  zu  der  schon  1,  149  auf- 
tretenden Geschichte  vom  Fleischpfande,  an  die  wiederum  die  Novelle  von  der 
treuen  Gattin,  die  drei  Liebhaber  äfft  und  brandmarkt,  angehängt  ist  (oben  16, 
459).  Merkwürdig  ist  nun  die  dritte  Version  dadurch,  dass  hier  die  Frau,  die  als 
Mann  verkleidet,  ihren  Gemahl  zweimal  aus  Lebensgefahr  errettet,  von  diesem 
erstens  die  Überlassung  seiner  Gattin  für  eine  Nacht  und  zweitens  den  Ring  der- 
selben verlangt.  Das  ist  natürlich  eine  ungeschickte  Vordopplung  desselben 
Motivs;  während  man  aber  die  Forderung  der  Gattin,  die  ja  auch  in  der  ersten 
Version  vorkommt,  als  ein  beabsichtigtes  Gegenstück  zu  der  Erprobung  der  treuen 
Frau  auffassen  kann,  stimmt  das  Begehren  des  Ringes  auffällig  mit  Ser  Giovannis 
Pecorone  und  Shakespeares  Kaufmann  von  Venedig  überein.  Doch  möchte  ich  in 
diesem  Zuge  noch  nicht  mit  D.  H.  Müller  eine  originale  orientalische  Schöpfung 
sehen,  deren  Entstehung  vor  die  Niederschrift  des  italienischen  Pecorone  fällt; 
dazu    ist    das    Gefüge    dieser    südarabischen    Erzählungen  viel    zu    locker;    schon 


1)  R.  Basset,  Contes  et  legendes  arabes  nr.  710-724  (Revue  des  trad.  pop.  21, 
188-194.  273-291.  387-:3'J2.  440-443). 

•_')  H.  Carnoy,  Contes  populaires  arabes  (Tradition  20,  2—9.  4(;— 55.  72—78.  1?8  bis 
148.  173—180.  241-244.  270-278). 

3)  E.  Destaing,  Le  fils  et  la  fiUe  du  rni  (Recueil  de  memoires  publie  en  l'honneur 
du  XIV.  congres  des  Orientalistes     Alger,  P.  Fontana  1905,  p.  179  —  195). 

4)  D.  H.  Müller,  Die  Mehri-  und  Soqotri-Sprache  3.  Wien,  A.  Holder  1907.  X, 
168  S.  gr.  4".  15  Mk.  (Südarabische  Expedition  der  kais.  Akademie  der  Wissenschaften 
Bd.  VII). 


340  Bolte: 

daraus,  dass  in  die  2.  Version  (S.  24)  das  unverstandene  Motiv  von  den  rätsel- 
haften Dingen,  denen  der  Wanderer  begegnet  (oben  6,  173  zu  Gonzenbach  nr.  88), 
und  in  die  3.  (S.  80}  die  List  der  verleumdeten  Frau,  die  ihren  Verkliiger  des 
Diebstahls  ihres  silbernen  Pantoffels  beschuldigt  (Gonzenbach  nr.  7;  oben  (i,  61) 
eingeschaltet  ist,  erkennen  wir,  wie  wenig  diese  Komposition  alter  Elemente  selbst 
auf  iiohes  Alter  Anspruch  machen  kann.  —  S.  34  (Aschenputtel;  oben  ]G,  458  zu 
Müller  1,  117.  —  S.  45  (Die  Geschichte  Josefs).  —  S.  ö2  (Die  Stiefmutter  und 
der  Vogel)  enthält  den  Eingang  des  Brüderniärchens  bei  Grimm  Nr.  60  (vgl. 
Chauvin,  Bibl.  arabe  6,  170),  das  Volksbuch  von  Fortunat  (R.  Köhler  1,  186) 
und  das  Motiv  von  Josephs  angeblich  gestohlenem  Becher.  —  S.  ÖO  (Die 
15runnengeister)  Bclauschung  durch  den  guten  und  den  bösen  Gefährten;  vgl. 
R.  Köhler  1,  286.  46j  Chauvin  b,  11  Nr.  8.  —  S.  63  (Die  Tochter  des  Armen) 
oben  6,  71  zu  Gonzenbach  nr.  33—34.  R.  Köhler  1,  125.  —  S.  87  (Die  ge- 
demütigte Sultanstocht<!r)  vgl.  Grimm  Nr.  52,  oben  6,  67  zu  Gonzenbach  Nr.  IS, 
Chauvin  5,  128.  —  S.  HG  (Der  Hamlet  von  Zafär).  Mektub  stösst  seinen  Oheim, 
der  seinen  Vater  getötet  und  ihn  vertrieben  hat,  vom  Throne,  nimmt  ihm  aber 
nicht  das  Leben.  Eine  innere  Verwandtschaft  mit  der  Hamletsage  besteht  nicht.  — 
S.  102  (Der  Töchterhasscr)  enthält  dieselben  drei  Motive  wie  2,  57  (oben  16, 
450):  ein  Jüngling  schont  die  Schwester,  die  er  töten  soll;  ein  Ungläubiger  sieht 
ein  Haar  von  ihr  und  sucht  sie  auf;  mit  Hilfe  der  treulosen  Schwester  entmannt 
dieser  den  Jüngling.  Dann  folgt  die  aus  1,  125  und  2,  8!)  bekannte  Geschichte 
seiner  Heilung  durch  Geister,  denen  er  dafür  die  Hälfte  seiner  Kinder  ver- 
sprechen muss.  Wie  ihn  seine  Gattin  an  ihren  Flechten  aus  dem  Fenster  lässt, 
erinnert  teils  an  Davids  Rettung  durch  Michal,  teils  an  das  Märchen  von 
Rapunzel  (Grimm  12).  —  S.  114  (Begelut)  Die  böse  Stiefmutter  will  das  hilfreiche 
Pferd  des  Knaben  schlachten  lassen;  vgl.  1,  61)  und  das  deutsche  Märchen  von 
Einäuglein  (Grimm  130.  Montanus,  Schwankbücher  S.  591).  Das  S.  116  er- 
wähnte Liebeszeichen  durch  Zuwerfen  einer  Zitrone  oder  eines  Apfels  ist  weit- 
verbreitet; vgl.  oben  4,  462.  13,  318;  Chauvin  8,  151;  Meissner,  Mitt.  der 
oriental.  Seminars  8,  92;  Museon  6,  76;  Kopisch,  Agrumi  1837  S.  143;  Talvj, 
Serbische  Volkslieder  2,  110.  194.  —  S.  136  (Das  mulige  Ehepaar).  Begegnet 
ganz  ähnlich  in  einem  deutschen  Schwankbuche  des  17.  Jahrhunderts,  dass  ich 
augenblicklich  nicht  wiederfinden  kann:  ein  Bauer  mit  seiner  Frau  trifft  einen 
Soldaten,  der  die  Frau  notzüchtigt  und  dem  Manne  gebietet,  unterdes  sein  Pferd 
zu  halten;  als  nachher  die  Frau  dem  Manne  Vorwürfe  macht,  erwidert  dieser, 
er  habe  inzwischen  den  Sattel  des  Reitersmannes  zerschnitten.  Im  Arabischen 
muss  der  armselige  Kerl  einen  Kothaufen  fächeln,  was  an  das  Bild  in  Wickrams 
Losbuch  (Werke  4,  38)  und  an  Hans  Sachsens  Schwank  vom  Säuei  (Fabeln  ed. 
Goetze  2,  597)  geraahnt.  —  S.  152  (Titschkerspiel)  vgl.  oben  16,  64  ^ 

In  einem  von  Gutmann')  mitgeteilten  afrikanischen  Negermärchen  ant- 
wortet ein  bezauberter  Klotz  statt  der  Entflohenen:  'Hier  bin  ich'  (R.  Köhler 
I,   171). 

Im  Nordosten  Indiens  hat  der  deutsche  Missionar  Hahn")  Erzählungen, 
Rätsel,    Sprichwörter    und    Lieder    der    Oraon-Kols    gesammelt    und    eine    will- 


1)  Gutmann,  Die  Fabelwesen  in  den  Märchen  der  Wadschagga  ((ilobus  Sil, 
239-243). 

2)  Fcrd.  Halin,  Blicke  in  die  Goistcswelt  der  heidnischen  Kols.  Sammlung  von 
Sagen,  Märchen  und  Liedern  der  Oraon  in  Chota  Nagpur.  Gütersloli,  Bertelsmann  1906. 
X,  116  S.    l.üü  Jlk.  —  Erschien  vorher  als:  Kurnkh  folk-lore  in  tlie  original,  Calcutta  1!KI5. 


Berichte  uud  Büchprar.zeigeu.  341 

koiiimeiie  Verdeutschung  davon  herausgegeljen.  Unter  den  Märehen  und  Schwänken 
begegnen  uns  viele  gute  Bekannte:  Nr.  1  und  7  Doktor  Allwissend  (Grimm  98); 
()  Wette  des  schweigenden  Paares  (oben  IG,  IiJ6);  8  Gestaltentausch  von  König 
und  Wesier  (Chauvin  ."),  286);  9  Mehrmals  getötet  (Chauvin  5,  180);  11  Alle 
beideV  (R.  Köhler  1,  151.  291)  und  Betrug  durch  falschen  Namen  (oben  15,  71); 
lo  die  hölzerne  FVau  (Grimm  129);  16  hilfreicher  Ochse  (Montanus,  Schwank- 
biicher  S  591)  und  Tierschwäger;  17  Ad  absurdum  geführt  (Chauvin  6,  SS); 
18  schwimmende  Locke  (R.  Köhler  1,  511.  571);  20,  24,  28  der  singende  Knochen 
(Grimm  28);  22  Halbhähnchen  (oben  8,  464  zu  104);  25  Asinus  perditus  (Poggio 
nr.  231);  29  Krähen  belauscht  (Grimm  107);  30  Brüderchen  und  Schwesterchen 
(Grimm  11);  33  und  36  Schlange  lösen  (R.  Köhler  1,  96.  412.  581);  34  Narren- 
streiche; 38  drei  Lehren  (oben  •;,  169);  39  Blaubart,  hier  als  Tiger.  —  Auf 
Dracotts"^)  Werk  hoffe  ich  später  zurückzukommen. 

Da  über  die  in  Nord-  und  Südamerika  aufgezeichnete  Volksliteratur  das 
sorgfältig  redigierte  'Journal  of  american  folk-lore'  berichtet,  kann  ich  mich  mit 
einem  Hinweise  auf  einige  Publikationen  begnügen,  die  für  die  Wanderung  der 
Märchenstoffe  der  alten  Welt  Zeugnis  ablegen  Wintemberg")  und  Skinner 
teilen  zwei  von  deutschen  und  französischen  Einwohnern  Canadas  herstammende 
Passungen  des  Märchens  vom  Schmied  und  Teufel  mit.  Gardner  zwei  von  Ein- 
geborenen der  Philippineninsel  Mindoro  vernommene  Versionen  des  Aschenbrödel- 
themas, die  nach  Newell  auf  die  chilenische  Erzählung  von  Maria  (Bibl.  de  las 
trad.  pop.  csp.  1,  114)  zurückgehen;  die  erste  ist  noch  mit  der  Geschichte  des 
Mädchens  ohne  Hände  verbunden.  Sechs  aus  europäischen  Überlieferungen  er- 
wachsene Märchen  der  argentinischen  Indianer  hat  R.  Lehmann-Nitsche  (oben 
16,  156 — 164)  veröffentlicht.  —  Besonders  deutlich  aber  lässt  uns  Jekylls')  reich- 
haltiges und  mit  guten  Erläuterungen  versehenes  Werk  über  die  Märchen  und 
Lieder  der  Neger  von  Jamaika  die  eigentümliche  Mischung  afrikanischer  und 
europäischer  Elemente  erkennen.  Während  die  Sprache  nur  ein  verstümmeltes 
Englisch  mit  wenigen  afrikanischen  Reminiszenzen  ist,  zeigen  Stoff  und  Anlage 
der  51  Erzählungen  noch  manche  Gemeinsamkeit  mit  denen  der  Westküste  von 
Afrika.  In  den  Tiermärchen,  deren  Personen  übrigens  durchaus  menschliches 
Gepräge  tragen,  fällt  die  Hauptrolle  der  Spinne  (Annancy)  zu  wie  anderwärts 
•dem  Hasen  oder  der  Schildkröte;  einem  Kameruner  Märchen  (Lederbogen  1902 
S.  81)  entspricht  z  B.  das  stumme  Kind  Nr.  27.  Auf  arabischen  Einfluss  dagegen 
gehen  direkt  oder  indirekt  Nr.  6  und  39  zurück,  verblasste  Erinnerungen  an  Ali 
Baba  und  die  vierzig  Räuber;  von  den  Portugiesen  mögen  die  Motive  des  er- 
ratenen Namens  (Nr.  2)  und  der  ausgeschnittenen  Drachenzunge  (Nr.  17)  entlehnt 
sein  (vgl.  oben  6,   172.  75    zu  Gonzenbach  Si    und   40);    aus    englischen  Märchen 


1)  A.  E.  Dracott,  Siinla  village  tales,  or  folk-tales  from  the  Himalajas.  London, 
John  Murrav  19<J6. 

2)  W.  J.  Wintemberg,  German  folk-tales  collected  in  Canada  (Journal  of  american 
folk-lore  19,  1'41  — 244).  —  Ch.  M.  Skinuer,  The  three  wishes,  a  ([uaint  legend  of  the 
Canadiau  habitants  (ebd.  19,  3411.).  —  F.  Gardner,  Filipino  (Tagalog)  versions  of 
Cinderella  (ebd.  19,  265—280). 

3)  W.  Jekyll,  Jamaican  song  and  story:  Annancy  stories,  digging  sings,  ring  tunen, 
and  dancing  tunes  collected  and  edited,  with  an  introduction  by  Alice  Werner  and  appen- 
dices  on  traces  of  african  melody  in  Jamaica  by  C.  S.  Myers  and  on  english  airs  and 
motifs  in  Jamaica  by  Lucy  E.  Broadwood.  London,  L).  Nutt  1907.  XXXIX,  288  S. 
S".    10  sh.  G  d.   (Publications  of  the  Folk-lore  Society  55;. 


342  Holte,  Polivka: 

und  Liedern  stammen  Xr.  3.  31  (Mord  durch  Vogel  verraten),  7  (Rätseldiiilog), 
lii  (Bhiuburt),  12  (Wettlauf  von  Kröte  und  Esel),  18  (Nur  der  Liebste  rettet. 
Erk-Bühme,  Liederhort  TS),  21  (Herzcnsschlüssol.  Erk-Böhme  371),  auch  die  Er- 
wähnung von  William  Teil  in  Xr.  8.  Begierig  haben  die  Neger  auch  die 
europäischen  Lied-  und  Tanzwcison  übernommen;  nicht  nur  bei  der  Feldarbeit, 
beim  Ketten-  und  Paartanz  erklingen,  wie  hier  durch  ausführliche  Mitteilungen 
dargelegt  wird,  englische  Melodien,  sondern  auch  die  Märchen  sind  durchzogen 
von  gesungenen  Versen;  so  begegnet  in  Nr.  29  z.  B.  die  bekannte  Melodie:  .,.Vh, 
voas  dirai-je,  maman".  —-  In  die  Sagenwelt  der  Urbewohner  Amerikas  leuchtet 
der  sehr  lehrreiche  Versuch  Ehrenreichs')  hinein,  ihre  vor  der  europäischen 
Invasion  liegenden  Kosmogonicn,  Heldensagen,  Tierfabeln  und  ätiologischen 
Logenden  auf  ihren  Gehalt  und  Zusammenhang  hin  zu  prüfen.  Mit  wohltuender 
Besonnenheit  gruppiert  er  die  südamerikanischen  Ülierliefcrungcn  von  der 
Schöpfung,  der  Flut  und  den  Gestirnen,  ohne  sich  die  ausschweifenden  Folgerungen 
eines  Siecke,  Stucken  oder  Frobenius  zu  eigen  zu  machen,  und  betrachtet  die 
Sagen  von  den  geheimnisvoll  empfangenen  Zwillingsbrüdern'-;,  die  den  Tod  ihrer 
Mutter  rächen  und  ihren  Vater  aufsuchen,  von  dem  Amazonenstaate  usw.  Von 
dem  peruanischen  Rcligionssystem  absehend,  unterscheidet  er  drei  Sagenkreise 
Südamerikas  und  schreitet  dann  zu  einer  Vergleichung  des  nordamerikanischen 
Sagenschatzes,  die  einen  organischen  Zusammenhang  beider  ergibt.  Ausserdem 
aber  findet  E.  verschiedene  Märchenraolive  der  alten  Welt,  die  nicht  durch 
Konvergenz  zu  erklären  sind,  wie  Baumspallen,  magische  Flucht,  Kampf  von  Vater 
und  Sohn,  Lausen,  Scheinessen,  Schwancnjungfrau,  Symplegaden,  Trugheilung. 
Diese  Elemente  sind  aus  Ost-  und  Nordasien  über  Nordwest-Amerika  eingedrungen, 
möglicherweise  auch  über  Polynesien  nach  Südamerika.  Dass  läns:st  ein  solcher 
Verbroitungsweg  über  die  Behringsstrasse  führte,  haben  ja  Bogoras  und 
Jochelson')  aus  den  Überlieferungen  der  Nordost-Asiaten  erwiesen.  —  Ganz  für 
sich  stehen  die  106  australischen  Sagen,  die  A  van  Gennep*)  aus  ver- 
schiedenen englischen  Werken  entnommen,  übersichtlich  geordnet  und  ausführlich 
erläutert  hat.  Fremdartig  klingen  uns  die  Erzählungen  von  der  grossen  Flut 
(p.  8t5),  vom  Ursprünge  des  Feuers  (p.  20.  64),  der  Gestirne,  insbesondere  der 
Plejaden  (p.  62),  der  Mondtlecken  und  des  Mannes  im  Monde  (p.  .'i?.  41.  Ki4)  und 
manche  anderen.  Den  Hauptteil  des  Werkes  bildet  übrigens  die  umfängliche  Ein- 
leitung, in  der  die  teilweise  noch  im  Flusse  befindlichen  ethnologischen  Probleme 
der  australischen  Kultur,  die  Verwandtschaftssysteme,  die  Primitivität  der  Arunta, 
die  Anschauungen  von  Geburt  und  Wiedergeburt,  der  Toteraismus,  die  religiöse  Be- 
deutung des  Schwirrholze.s,  die  Zauberhandlungen  u.  a.  eingehend  erörtert  werden. 

Berlin.  Johannes  Bolte. 


1)  P.  Ehrenreich,  Die  Mythen  und  Legenden  der  südamerikanischen  ürvölker  uud 
ihre  Beziehungen  zu  denen  Nordamerikas  und  der  alten  Welt.  Berlin,  A.  Asher  &  Co. 
1905.     107  S.     3  Mk     (Suppl.  zur  Zs.  f.  Ethnologie  37). 

2)  Vgl.  J.  Rendcl  Harris,  The  cult  of  the  heavenly  twins.     Cambridge  1906. 

3)  W.  Jochelson,  The  mythology  of  the  Koryak  (American  Anthropologist  n.  S.  6, 
413-425.    1904).  —  R.  Andrcc,  Globus  .S!,  245 f.  87,  260. 

4)  A.  van  Gennep,  Mythes  et  legendes  d'Australie,  etudes  d'cthnographie  et  de 
sociologie.    Paris,  E.  Guilmoto  1906.     CXVI,  ISS  S. 


Berichte  und  Bücheranzeigen.  343 

Neuere  Arbeiten  zur  slawischen  Volkskunde. 

2.    Südslawisch  und  Russisch. 

(Scliluss  zu  S.  222  —  234.) 

Einige  kleinere  Studien  sind  dem  russischen  Heldenepos  gewidmet.  Prof. 
Vsev.  Miller  behandelt  nochmals  die  Entstehung  des  Liedes  vom  Kampfe  des 
Ilja  Muromec  mit  seinem  Sohne  (Etnograf.  Obozr.  67,  79—94),  und  weist  die 
Unhaltbarkeit  der  Ansicht  A.  V.  Markovs  nach,  das  Lied  sei  in  dem  Polozker 
Land  in  der  ersten  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts  entstanden;  er  leugnet  jede 
Möglichkeit,  Ort  und  Zeit  seiner  Entstehung  sicher  zu  bestimmen,  und  will  auch 
nicht  feststellen,  ob  das  Motiv  vom  Kampfe  des  Vaters  mit  dem  Sohne  aus  dem 
Orient  oder  aus  dem  germanischen  Westen  nach  Russland  gelangte  und  wann  und 
wo  es  mit  der  Geschichte  des  Ilja  Muromec  verschmolz.  Eine  neue  Version 
dieses  Liedes  aus  Südrussland  ist  in  der  '2ivaja  Staiina'  15,  2.  Abt.,  S.  3—9  ab- 
gedruckt. Interessant  ist  eine  andere  Abhandlung  Vs.  Millers,  die  den  Einfluss 
der  bewegten  Zeit  des  Interregnums  auf  die  Ausgestaltung  des  epischen  Volks- 
liedes, besonders  von  Ilja  Muromec  untersucht  (Izvestija  der  Abt.  f.  russ.  Spr.  u. 
Lit.  d.  kais.  Akademie  Bd.  11,  H.  2,  S.  155—258).  Es  sind  teils  Reminiszenzen 
an  einige  hervorragende  Persönlichkeiten  in  das  Heldenepos  eingedrungen,  besonders 
an  den  falschen  Demetrius  und  Füist  Skopin-Sujskij,  der  sich  ganz  in  einen 
Helden  des  Fürsten  Wladimir  umwandelte.  Die  grösste  Teilnahme  des  Volkes 
lenkte  aber  Marina  Mniszek,  des  Pseudo-Demctrius  Gattin,  auf  sich;  Reminiszenzen 
an  sie  drangen  ins  Epos;  mit  ihr  zeugte  Ilja  Muromec  den  Sohn,  mit  dem  er  dann 
den  berühmten  Zweikampf  einging.  Auch  die  zweite  Frau  Iwans  des  Schreck- 
lichen, Marja  Temgrjukovna,  drang  in  die  Volkstradition.  Unter  dem  Einfluss  der 
Kosakenwirren  und  der  als  Thronkandidaten  auftretenden  vermeintlichen  Söhne 
des  Zaren  Fjedor  Joanovic  wurde  auch  die  Gestalt  des  Haupthelden  Ilja  Muromec 
umgestaltet.  Seit  dieser  Zeit  erst  wird  er  als  Kosake  geschildert,  und  als  Mittel- 
punkt der  wüsten  Orgien  an  Wladimirs  Hofe.  Miller  ist  auch  geneigt  zuzugeben, 
dass  auf  diese  Umgestaltung  der  von  den  Kosaken  ausgerufene  Prätendent  Petr 
Einfluss  übte,  der  eigentlich  Ilejka  aus  Murora  hiess.  Anders  als  Ilovajskij  will 
er  dem  Umstände,  dass  der  Held  des  Volksepos  und  jener  Prätendent  den  gleichen 
Namen  trugen,  keine  zwingende  Beweiskraft  zuerkennen;  denn  es  ist  fast  aus- 
geschlossen, dass  dieser  Pseudo-Petrus  weiteren  Kreisen  unter  seinem  Namen 
bekannt  war,  da  auch  die  schriftlichen  Quellen  darüber  sehr  im  unklaren  sind. 
In  der  ersten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  sind  diese  Kenntnisse  durch  die 
historischen  Lieder  nach  dem  russischen  Norden  gelangt,  ebenso  einige  unter  den 
Kosaken  umlaufende  und  umgearbeitete  epische  Lieder  von  Ilja  Muromec. 
A.  Markov  analysiert  die  russischen  Versionen  des  epischen  Liedes  von  Dobryiia, 
dem  Drachentöter  und  teilt  im  Anhang  einige  neue  Varianten  mit  (Etnograf. 
Obozr.  G7,  1  —  53).  Ein  anderes,  nur  am  Weissen  Meere  verbreitetes  Lied  von 
Michail  Kozarin  untersucht  A.  Jakub  (ebd.  65— 6G,  S.  96— 126),  stellt  das  Verhältnis 
der  einzelnen  Versionen  besonders  zu  dem  epischen  Lied  von  Aljosa  Popovic  fest. 
Beide  sind  nahe  Redaktionen  eines  und  desselben  epischen  Liedes,  nur  ist  die 
Redaktion  des  ersten  viel  später  als  die  des  zweitgenannten.  Endlich  wird  noch 
das  historische  epische  Lied  von  der  Eroberung  Kasans  durch  Joan  den  Schreck- 
lichen von  A.  Zacinjajev  untersucht  (2iv.  Star.  15,  lS9fl".).  Derselbe  stellt 
(Jzvestija  otdel.  rus.  jar.  11,  2,  147)  die  Nachrichten  über  epische  Dichtungen 
aus    den    Gouv.  Orlov,    Kursk    und  Voronez  zusammen,    darunter    die    Erwählung 


344  Polivka: 

eines  Dieners  zum  Zaren  Joan  licn  Schrecklichen  (das  vor  dem  Multcrgottesbilde 
auff^ehängte  Lämpchen  entzündet  sich  bei  seiner  Annäherung),  ein  Lied  vom 
Kampfe  des  llja  Muroraec  mit  seinem  Sohne,  und  einige  religiöse  Lieder.  Kürzere 
Bemerkungen  zur  Kritik  zweier  russischer  lyrischer  Lieder  gibt  A.  Sobolevskij 
(J;iv.  Star.  Li,  147  —  154).  Snhr  eingehend  vergleicht  A.  Orlov  die  prosaische  Erzählung 
von  der  Eroberung  Asows  im  Jahre  16.">7  (Rus  filolog.  vestnik  .')4,  -ilO — o60. 
55,  34 — 79.  56,  1 — 174)  mit  den  kleinrussischen  Liedern  und  Sagen  und  den 
grossrussischen  Liedern,  weist  die  Abhängigkeit  der  kleinrussischen  von  den  gross- 
russischen von  neuem  nach  und  zeigt,  dass  die  Grundlage  des  grossrussischen 
Liedes  von  der  Eroberung  Asows  die  Eroberung  der  persischen  Stadt  Ferhabad 
durch  Stenka  Rasin  war,  wie  sie  der  französische  Reisende  Chardin  (zuerst  1(586) 
erzählt.  Urkundlich  ist  freilich  die  List  Stenka  liasins,  als  Kaufleute  verkleidete 
Kosaken  in  die  Stadt  zu  senden,  nicht  bezeugt.  Die  Sage  ward  von  den  Kosaken 
nach  Russland  gebracht  und,  nachdem  man  die  unbekannte  persische  Stadt  ver- 
gessen, auf  die  Eroberung  der  türkischen  Festung  Asow  übertragen,  die  in  den 
Sagen  der  donischen  Kosaken  eine  führende  Stelle  einnahm,  etwa  wie  Kijew  in 
der  epischen  Poesie.  Hinzugefügt  ist  eine  bibliographische  Übersicht  über  die 
Sagen  über  die  Eroberung  einer  Festung  durch  verkleidete  oder  auf  verschiedene 
Weise  verborgene  Krieger  (Bd.  56,  S.  63);  leider  werden  dabei  die  beiden  Kriegs- 
listen nicht  voneinander  geschieden,  sondern  noch  andere  Motive  angereiht,  z.  B. 
wie  ein  I^iebhaber  verkleidet  zu  der  Schönen  gelangt.  Und  zwar  teilt  er  aus 
literarhistorischen  Werken  russischer  (belehrter,  besonders  Dragomanovs,  die  dort 
ohne  Quellenangabe  erwähnten  zwei  westeuropäischen  Lieder,  ein  französisches 
von  Rittern,  die  in  Säcken  versteckt  in  ein  Nonnenkloster  eindringen,  und  ein 
holsteinisches  von  der  Eroberung  eines  Schlosses  durch  Bauern,  die  in  Säcken 
versteckt  waren;  mit  letzterem  Liede  kann  aber  nur  die  von  .Alüllenholl  (Sagen, 
Märchen  und  Lieder  S.  10  Nr.  7)  berichtete  Sage:  'Graf  Rudolf  auf  Bökelnborg' 
gemeint  sein. 

Dem  Studium  der  prosaischen  Überlieferung  wird  viel  weniger  Aufmerksamkeit 
zugewendet  Eine  grössere  Arbeit  über  das  russische  Tierraärchen  begann  Ylad. 
Bobrov;  bisher  liegt  nur  die  Einleitung  ^Rus.  filolog.  vestnik  56,  246—283)  vor, 
mit  allgemeinen  Bemerkungen  über  die  Bedeutung  Jakob  Grimms,  einer  Charakteristik 
des  bisher  einzig  dastehenden  Werkes  von  L.  Kolmacevskij  und  einer  Besprechung 
der  Funkte,  in  denen  sich  die  russischen  Tiermärchen  von  den  westeuropäischen 
unterscheiden.  Der  Verfasser  wendet  sich  gegen  die  Gelehrten,  welche  die 
Existenz  eines  Tiermythus  leugnen,  wie  z.  B.  gegen  die  Worte  Alex.  Wesseiofskys 
(„Ich  kann  mich  nicht  überzeugen,  dass  alle  Kniffe  unseres  Fuchses  einst  in 
den  Wolken,  und  nicht  im  Hühnerstall  sich  abgespielt  hätten'")  und  Kol- 
macevskijs  („In  der  Sphäre  des  Tierepos  kann  man  unmöglich  Reste  von 
Wolkenmython  erblicken''),  und  stimmt  vielmehr  Krek  (Einleitung  in  die 
slaw.  Literaturgesch.  S.  640)  zu.  Er  wirft  Kolmacevskij  vor,  dass  er  das 
russische  Tierepos  nicht  scharf  vom  'slawischen'  getrennt  habe,  wie  es  not- 
wendig war,  da  die  'slawischen'  Tiermärchen  dem  Einflüsse  des  Westens  unter- 
lagen, während  auf  die  russischen  Tiermärchen  die  Wandertheorie  nach  seiner 
Ansicht  schwer  angewendet  werden  kann.  Gegen  Kolmaievskij  behauptet  Bobrov, 
dass  die  russischen  Tiermärchen  aus  einer  mit  dem  westeuropäischen  Tierepos 
gemeinsamen  Quelle  entsprungen  sind,  sich  selbständig  entwickelt  haben,  viele 
eigene  Züge  aufweisen,  die  weder  in  den  westeuropäischen  noch  in  den  'slawischen' 
vorkommen,  und  dass  die  russischen  Märchen  sich  zwar  nicht  immer  in  ihrer 
ursprünglichen  Reinheit,    aber  doch  unvergleichlich  besser  erhaltLMi  haben    als  die 


Berichte  und  Biicheranzeigon.  345 

westeuropäischen.     Frau  Jelena  Jeleonskaja  gibt  einige  Bemerkungen  über  die 
russischen    Volksmärchen    (Etnograf.   Obozr.  G7,    '.}i> — 105.    68 — 69,   63 — 72).      Sie 
bespricht  ziemlich  kurz  das  Märchen  von  dem  Mädchen  ohne  Hände,  erwähnt  eine 
Legende  aus  den  in  Belgrad  1808  gedruckten  'Wundern  der  Mutter  Gottes',    ohne 
auf  die  Entwicklung  derselben  einzugehen   [leider  war  ihr  die  oben  (1906,  S.  213) 
besprochene    Monographie    von    Pavle  Popovic  unzugänglich,    wo    S.  33    eine    er- 
schöpfende   Geschichte    dieser  Legende    gegeben   wird].      Ein  Verdienst   der  Ver- 
fasserin ist  es,    noch  auf   eine  von  Sipovskij    ('Russische  Erzählungen  des  17.  bis 
18.  Jahrhunderts')   I9üö  herausgegebene  Legende  'Wunder  der  allerheiligen  Mutter 
Gottes  an  der  Prinzessin  Persika,    der  Tochter    des  Zaren  Michael  von  Bulgarien' 
(S.  254 — 267)    hingewiesen    zu    haben,    die    im    schwülstigen    Stil    der    Heiligen- 
leben gehalten,    von    der  griechischen    in    des    Athener   Mönches    Agapius  Werke 
'AwocpruuXuuv  (Tuurvipia   (P.  Popovic  S.  25;    vgl.    Byzant.   Zs.  16,    150)    ganz  abweicht. 
Nach  Sipovskij    soll    sie    zur  Zeit    Peters  des  Gr.    den    alten  Heiligenleben    nach- 
gebildet worden  sein  [!].     Der  zweite  Aufsatz  bringt  einige  Bemerkungen  über  die 
in  den  Märchen    erhaltenen  animistischen  Anschauungen.    —  S.  Oldenburg  zeigt 
in  der  Fortsetzung  seiner  Studie  'Die  Fabliaux  orientalischen  Ursprunges'  (Journal 
d.  Minist,    f.  Volksaufklärung  r.»06,    Oktober,    S.  221—239)    gegen    J.  Bcdier    und 
seine  Methode  polemisierend,  dass  das  P^ablel  'Auberee'  aus  irgend  einer  orientalischen 
Version  des  Sindibad  entlehnt  ist.      Th.  Zelinskij    zeigt  in  seinem  Aufsatz    'Die 
antike  Lenore'  (Vestnik  Jevropy  1906,  Bd.  2,  S.  167—193),  dass  das  Lenoienmotiv 
von  den  antiken  Völkern  übernommen  wurde,    und  schildert    die  Entwicklung  der 
Geschichte    von    Protesilaos    and    Laodamia    in    der   griechischen    und  römischen 
Poesie;    besonders    die    von    dem    Vergilerklärer    Servius    aufgezeichnete  Version 
stimmt    mit    der  späteren  Ballade  überein,  deren  ursprüngliche  Entstehung  Z.  den 
mittelalterlichen    Klerikern  zuschreibt.      Er    bespricht    die  Tragödie  des  Euripides 
'Protesiiaos'  und  Ovids  Heroide  'Laodamia'  und  unterscheidet  in  der  antiken  Sage 
zwei  Motive:    Protesiiaos  kehrt   aus    dem  Hades  zu  seiner  Geliebten  zurück,    und 
Laodamia    lebt   mit    der  Statue   ihres  Geliebten.      Hieria  will    der  Verfasser    eine 
rationalistische  Bearbeitung    des  Lenorcnmotivs  erblicken.     In  den  Nachrichten  der 
Gesellschaft    für    Archäologie,    Gcschii-hte    und    Ethnographie    an    der    Universität 
Kasan  (Bd.  21,  S.  3.s2ff.)    teilt  N.  Katanov  aus  einem  in  Kasan  1766  gedruckten 
Buche  eine  kirgisische  und  eine  tatarische  Version  der  Siebenschläferlegende  mit. 
Einen    Beitrag    zu    den    Schatzsagen    liefert    S.  Vvedenskij    (ebd.  22,    S.  1—22). 
T.  Martomjanov  stellt  die  wenigen,   zumeist  nicht  im  Volke  selbst  entstandenen 
Lieder  und  Spiele  zusammen,  in  denen  das  tiefe  Leiden  des  Qurch  die  Leibeigen- 
schaft bedrückten  Volkes  zum  Ausdruck  kommt  (Istor.  Vestnik  Bd.  Idä,  S.  S52  bis 
868);    dass  deren  so  wenig  existieren,    wird    doch    durch    die  strenge  Zensur    der 
Gutsherren  nicht  genügend  erklärt.    Als  Kuriosität  kann  D.  A.  Speranskijs  Buch 
'Aus  der  Literatur  des  alten  Ägypten',  H.  1 :  'Die  Erzählung  von  den  zwei  Brüdern', 
'Die  Urquelle  der  Sagen    von  Kosrej',    wie  auch  vieler  anderer  ....   (St.  Peters- 
burg, 190iJ.    8  +  264  S.)  gelten.     Einer  Übersetzung    des    bekannten    altägyptischen 
Märchens  folgt  eine  Unmasse  der  kühnsten  Vermutungen,  die  man  sich  überhaupt 
vorstellen  kann.    Der  Verfasser  versucht  nachzuweisen,  dass  das  genannte  Märchen 
einen  ungemeinen  Einfluss    auf   die  Bildung    der  russischen  Sagen,    Märchen    und 
Lieder  hatte.      Die  aitägyptischen  Erzählungen  sollen    nach  Russland    teils    direkt 
lange    vor    der  Christianisierung    der  Russen    zu    ihren  'Vorfahren',    nämlich    den 
Skythen,  teils  indirekt  durch  griechische  Vermittlung  gekommen  sein.     Das  Motiv 
von    den    übernatürlichen    Eigenschaften    des   Herzen  Bitius    soll    im    engsten  Zu- 
sammenhang   mit    dem  verbreiteten  Märchen    von  dem   unsterblichen    Koscej    und 

Zeitschr.  d.  VereiDS  f.  Volkskunde.    iy07.  K)", 


346  Polivka: 

ühnlichea  Märchen  der  europäischen  und  asiatischen  Völker  stehen.  Dass  das 
A'ersteck  der  Seele  Koscejs  ein  ganz  anderes  ist  als  das  von  Bitius  Herzen,  dass 
Kosiej  stirbt,  wenn  das  Ei  an  seiner  Stirn  oder  anders  zerschlagen  wird,  Bitiu 
aber  stirbt,  als  der  Baum,  in  dessen  Blüte  sein  Herz  verborgen  ist,  gefällt  wird, 
und  wieder  lebendig  wird,  nachdem  sein  Bruder  das  Herz  gefunden  und  es  ihm 
in  Wasser  zu  trinken  gegeben  hat,  um  solche  Kleinigkeiten  kümmert  sich  der  Ver- 
fasser nicht,  um  seinen  Phantastereien  fesleren  Grund  zu  geben,  nimmt  er  seine 
Zuflucht  zu  unmöglichen  etymologischen  Erklärungen.  Den  Xameu  des  russischen 
Unholden  Kovsej  (so  heisst  er  in  einigen  Versionen  statt  Koscej)  bringt  er  in  Ver- 
bindung mit  Kausu,  Kus,  dem  Namen  der  Provinz,  deren  Verwalter  Bitiu  wurde. 
Mit  der  altägyptischen  Geschichte  hängt  eine  andere  Gestalt  des  russischen  'V'olks- 
cpos  zusammen,  Idolisce  poganoje,  und  zwar  mit  der  Zeit  der  l'J.  Dynastie, 
Ramscs  II.  Sesostris.  Diese  Gestalt  tritt  noch  unter  anderen  Namen  im  russischen 
Epos  auf,  wie  Badan  Badanovic,  Batyg  Batygovic-,  Kalin-car,  und  alle  diese  Namen 
werden  aus  der  altägyptischen  Geschichte  erklärt.  In  Nubion  war  ein  Negerstamm 
Namens  Kali,  ein  anderer  Namens  Tar-tar.  So  konnte  nun  der  schreckliche  König 
Kovsej,  d.  i.  llamses  IL,  oder  sein  späterer  Nachfolger  Sabakon,  in  den  Volks- 
traditionen car-Kalin  oder  Tatarin  nach  den  unterjochten  Völkern  genannt  werden. 
Wenn  Badan  auch  sobaka  (=  Hund)  -car  heisst,  so  ist  das  ein  Überbleibsel  aus 
der  altägyptischen  Geschichte,  ebenso  der  Name  seines  Sohnes  Torokaska;  so  hiessen 
die  letzten  Herrscher  der  glänzenden  Periode  .\gyptens  oder  wenigstens  seiner 
Selbständigkeit,  Sabakon  und  Tacharak.  Ähnlichen  Proben  eines  staunenswerten 
Scharfsinnes  begegnen  wir  im  Buche  auf  Schritt  und  Tritt.  —  A.  Wetuchow 
setzte  seine  oben  10,  '220  erwähnte  Studie  über  Bcschwörungs- und  Verwünschungs- 
formeln fort  (Rus.  filolog.  vestnik  Bd.  54,  271—293.  55,  246—274.  56,  284—323). 
Einen  Artikel  zur  Methodologie  des  Studiums  der  Volkspoesie,  zugleich  eine 
Kritik  der  verschiedenen  Theorien  wie  auch  eine  kurz  gedrungene  Übersicht  der 
Entwicklung  dieser  Wissenschaft  in  Russland  schrieb  N.  Trubicyn  (Rus.  filolog. 
vestnik  54,  S.  361 — 387).  Nicht  unerwähnt  soll  der  Aufsatz  S.  Kuznecovs 
'Zur  Frage  von  Biarmia'  (Etnograf.  Obozr.  65 — 66,  1 — 95)  bleiben;  es  werden  die 
betreffenden  Stellen  skandinavischer  Sagen  genau  analysiert,  alle  von  skandinavischen, 
finnischen,  russischen  Gelehrten  geäusserten  Erklärungen  von  neuem  kritisiert,  die 
Identifizierung  mit  Perm  abgelehnt  und  dieses  Land  bei  der  Varanger  Bucht, 
vielleicht  in  der  Nähe  der  Halbinsel  Kola  oder  etwas  weiter  westlich  vermutet. 

Allgemeine  ethnographische  Beschreibungen  einzelner  Stämme,  Bezirke, 
Dürfer  sind  selten.  Zu  erwähnen  ist  der  Aufsatz  von  Dm.  Zelenin  'Bei  den 
Orenburger  Kosaken'  (Etnograf.  Obozr.  67,  54  —  78)  eine  genaue  Beschreibung  eines 
Kosakendorfes  am  linken  Ufer  des  Flusses  Ural,  der  sozialen  Verhältnisse,  der 
Beschäftigung,  Haus,  Nahrung,  Tracht,  Hochzeit,  allgemeine  Charakteristik  der 
Leute  (im  ganzen  ein  sehr  tristes  Bild),  Sektenwesen  (einige  dort  ange- 
siedelte molokanische  Familien)  u.  a.  —  J.  Abramov  berichtete  über  den  Volks- 
stamm Sajanen  im  Gouv.  Kursk  (9av.  Star.  15,  S.  203 — 220),  über  die  Erklärungen 
dieses  Namens,  wahrscheinlich  nach  der  typischen  Tracht  der  Frauen,  über  die 
Tracht,  den  Dialekt,  teilte  noch  einige  Lieder  mit.  Über  einen  anderen  Stamm 
desselben  Gouv.,  die  sog.  Cukanen  schrieb  Andr.  Sidorov  (ebd.,  Abt.  4,  S.  54) 
einige  kurze  Bemerkungen.  Die  grösste  Arbeit  dieser  Art,  das  Buch  S.  V.  Martynovs 
'Das  Land  der  Petschora,  Skizzen  der  Natur  und  des  Lebens,  Bevölkerung,  Kultur. 
Gewerbe'  (St.  Petersburg  1905.  276  S.)  ist  uns  nur  aus  Rezensionen  bekannt 
(Etnograf.  Obozr.  67,  142iT.,  Vestnik  Jerospy  1906,  März,  S.  381  ff.).  Nach  diesen 
gibt    es  ein    vollständiges  Bild    der    das  Land  bewohnenden  Stämme    und  Völker, 


Berichte  und  Büclierauzeigen.  34.7 

bis  zu  den  Samojeden,  schildert  die  religiösen  Yerliilltnisse,  die  Staroobrjadzen  u.  a. ; 
Aberglauben,  Zauberer,  damit  er  den  Brautleuten  bei  der  Hochzeit  nicht  Schaden 
zufügen  könne,  ziehen  sie  unter  dem  Kleid  ein  Netz  an:  der  Teufel  muss  vorher 
alle  Knoten  des  Netzes  lösen,  um  Macht  über  sie  zu  erlangen;  Beschwörungs- 
formel; krankhaftes  Schluchzen,  besonders  bei  den  Frauen  stark  verbreitet,  u.  a. 
Hierher  gehört  noch  die  recht  düstere  Schilderung  der  Bauernbovölkerung,  ehe- 
maligen F'reisassen  aus  einem  Dorfe  des  Bz.  Niznedevick,  Gouv.  Voronez,  von 
Thed.  Polikarpov  in  dem  Almanach  des  Gouv.  Veronez  für  das  Jahr  lyOG  (vgl. 
Etnograf.  Obozr.  H.  08— 69,  143f.). 

Auch  das  letzte  Jahr  brachte  verschiedenes  neues  Material,  vorerst  aus  der 
epischen  Poesie.  N.  Sajzin  gab  eine  kleine  Sammlung  epischer  Volkslieder  aus 
dem  Lande  Olonec  heraus,  im  ganzen  14  Nummern  in  einem  eigenen  Büchlein 
'Oloneckij  Folklor'  (Petrozavodsk  1906.  U  +  176  S.  16»).  Vorausgeschickt  ist 
eine  kurze  Übersicht  der  bisherigen  Sammlungen  russischer  epischer  Lieder.  Die 
hier  abgedruckten  Lieder  sind  durchweg  Varianten  bereits  bekannter  und  gedruckter 
Lieder,  bis  auf  ein  ziemlich  langes,  241  Verse  zählendes  Lied:  'Die  verunglückte 
Werbung  des  Fürsten  Vladimir',  welches  bisher  nicht  aufgezeichnet  worden  ist, 
obwohl  wir  aus  diesem  Gebiete  die  umfangreichen  Sammlungen  Rybnikovs  und 
Hilferdings  besitzen.  Hier  bietet  .S.  eine  wirkliche  Bereicherung  der  russischen 
Epik.  Er  fügt  noch  einige  Bemerkungen  über  die  Rezitatoren  dieser  Lieder  hinzu, 
vier  Männer  und  zwei  Frauen,  von  denen  er  besonders  eine  Bäuerin  dem  besten 
Rezitator  Rjabinin  zur  Seite  stellt. 

In  unserem  letzten  Berichte  (oben  16,  221)  wurde  der  Tätigkeit  der  Mos- 
kauer Gesellschaft  der  Freunde  der  Naturwissenschaften,  Anthropologie  und 
Ethnographie,  für  Musikethnographie  gedacht.  Die  zu  diesem  Zwecke  eigens  bei 
dieser  Gesellschaft  gebildete  'Kommission'  gab  nun  den  ersten  Band  ihrer  Arbeiten 
(Trudy)  heraus.  Daraus  seien  hier  hervorgehoben  der  erste  Band  der  von 
A.  V.  Markov,  A.  A.  Maslov  und  B.  A.  Bogoslavskij  herausgegebenen 
Materialien,  die  im  Sommer  1901  im  Gouv.  Archangelsk  gesammelt  wurden,  und 
zwar  am  Winterufer  des  Weissen  Meeres:  1.  religiöse,  2.  epische  und  historische 
Lieder  und  3.  Klagegesänge,  ferner  zwei  kleinere  Aufsätze  von  N.  A.  Jancuk, 
deren  erster  über  das  Studium  des  Volksliedes  und  die  Tätigkeit  der  genannten 
Kommission  berichtet,  während  der  zweite  die  Bedeutung  der  Arbeiten  des 
Fürsten  V.  Th.  Odojevskij  für  die  Geschichte  der  russischen  kirchlichen  und 
völkischen  Musik  bespricht.  Leider  konnte  ich  bisher  diese  Arbeiten  trotz  direkter 
Bitten  nicht  zu  Gesicht  bekommen.  Über  eine  Handschrift  mit  Traumdeutungen 
und  Liedern,  auch  einigen  Volksliedern  aus  dem  ersten  Viertel  des  19.  Jahr- 
hunderts, berichtet  M.  N.  Speranskij  (Etnogr.  Obozr.  68 — 6!i,  98).  Neue  Fassungen 
der  Lieder  vom  Fürsten  Wladimir,  Ilja  Muromec,  Dobrynja  Nikitic,  Solovej 
Budirairovic,  Vasilij  Buslajev  u.  a.  wurden  in  der  Zs.  Zivaja  Starina  abgedruckt 
(Bd.  1.D,  Abt.  2,  S.  1—4.  81—88.  123—129),  daneben  auch  religiöse  epische  Lieder 
aus  dem  Gouv.  Novgorod,  die  bereits  in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts 
aufgezeichnet  worden  sind  (ebd.  S.  10 — 33),  unter  anderem  Golubinaja  Kniga, 
vom  hl.  Georg,  weiter  religiöse  Lieder  apokryphen  Inhalts  aus  dem  Gouv.  Jaroslav 
(ebd.  34—61).  M.  N.  Speranskij  besprach  (Etnograf.  Obozr.  H.  68—69,  S.  1—28) 
das  Liederrepertoir  des  Volkssängers  T.  Seraenov  und  gab  einige  von  ihm  ge- 
sungene epische  geistliche  Lieder  heraus.  Viel  Aufmerksamkeit  wird  den  kurzen 
vierzeiligen  Liedchen  zugewendet;  eine  grössere,  607  Nummern  zählende  Sammlung 
aus  dem  Gouv.  Nowgorod  gab  kritisch  geordnet  und  bearbeitet  D.  Zelenin  heraus 
(Etnograf.    Obozr.    65 — 66,    161 — 230),    eine    kleinere    aus    dem    Gouv.    Jaroslav 

23* 


348  Polivka: 

(ebd.  67,  120),  eine  andere  ans  Caricyn  an  der  Wolga  (iiv.  Star.  Bd.  15,  Abt.  2, 
S.  75 — 80),  andere  zweizeilige  'Liebeslicder',  eigentlich  Loidesiieder  ('stradanija"; 
stradat  =  leiden  synonym  mit  'Ijubit'  =  lieben)  aus  dem  Gouv.  Tula  (Etnograf. 
Obozr.  68 — 69,  IUI).  Auch  die  jüngsten  Produkte  der  'Volkspoesie'  finden  Eingang 
in  die  ethnographischen  Zeitschriften  (iiv.  Star.  Bd.  15,  Abt.  5,  S.  ><),  da  in  den- 
selben ein  Übergang  vom  alten,  absterbenden  Volksliede,  das  den  neu  sich  geltend- 
raachenden  Weltanschauungen  nicht  mehr  genügt,  zur  individuellen  Kunstpoesie 
erblickt  wird. 

Zur  Weissrussischen  Volkspoesie  finden  wir  sehr  wenige  Beiträge.  E.  Jakuskin 
macht  auf  eine  im  Jahre  liS84  in  nur  20  Exemplaren  gedrukte  Sammlung  weiss- 
russischer  Hochzeitslieder  aufmerksam  (Etnograf.  Obozr.  6.S — 69,  96).  Ausserdem 
wurde  noch  ein  weissrussisches  Lied  vom  Lazarus  (Äiv.  Star.  Bd.  15,  Abt.  2, 
S.  1U9)  verölTentiicht,  mit  einigen  Bemerkungen  über  das  Musikinstrument  'lira' 
und  die  'lirnik'  genannten  professionellen,  blinden  oder  mit  anderen  körperlichen 
Defekten  behafteten  Sänger  religiöser  Lieder.  —  Märchen,  Sagen  u.  ä.  wurden 
fast  gar  nicht  beachtet.  Bloss  aus  dem  Gouv.  Tula  wurde  eine  Legende  ab- 
gedruckt (2iv.  Star.  Bd.  15,  Abt.  5,  S.  ötif.),  warum  so  viel  Kinder  in  Russland 
sterben:  einer  unglücklichen  Mutter  erschien  die  Mutter  Gottes  und  zeigte  ihr, 
was  für  schlechte,  missgeratene  Leute  aus  ihren  Kindern  geworden  wären,  und 
daher  wurden  also  ihre  Kinder  nicht  am  Leben  gelassen.  Nicht  unerwähnt  soll 
bleiben  eine  von  P.  Gorodcev  (Etnograf.  Obozr.  H.  68 — 69,  S.  108)  abgedruckte 
westsibirische  Version  der  Sage  von  Uido  und  der  Eroberung  Karthagos.  —  Sprich- 
wörter und  Redensarten  teilte  V.  Antipov  aus  dem  Gouv.  Nowgorod  (2iv.  Star. 
Bd.  15.  Abt.  2,  S.  69 — 74),  und  G.  Jakovlev  aus  dem  Dorf  Saguny,  ßz.  Ostrogozsk, 
Gouv.  Voronez  mit,  eine  kurze  Beschreibung  des  Ortes  vorausschickend.  Eine 
Sammlung  von  Rätseln  aus  dem  Bz.  Totma,  Gouv.  Vologda  lieferte  M.  Jedemskij 
(ebd.  S.  62).  Nicht  ohne  ethnographischen  Wert  sind  Liebesbriefe  des  Volkes, 
solche  teilte  nun  auch  N.  Vinogradov  mit  (ebd.  Abt.  5,  S.  37). 

Wenige  Beiträge  finden  wir  über  Hochzeitsgebräuche,  so  über  die  Hochzeit 
bei  den  Russen  und  Zyrjanen  im  Gouv.  Tobolsk  (Jahrbuch  der  russ.  anthropol. 
Ges.  1,  327—354),  dann  einige  Bemerkungen  aus  dem  Gouv.  Kursk  (2iv.  Star. 
Bd.  15,  Ab.  5,  S.  1  f.).  Frau  V.  Charuzina  schrieb  einige  Berichte  über  Gebräuche 
beim  Gebären,  Taufen  und  bei  der  Kinderpflege  in  einem  Bezirke  des  Gouv. 
Olonee  (Etnograf.  Obozr.  68 — 69,  88 — 95).  D.  Zelenin  beschrieb  in  einem 
selbständigen  Buche  (Vjatka  1906)  ein  im  Gouv.  Vjatka  begangenes  Fest 
'Trojecypljatnica',  welches  mit  der  alten  Verehrung  der  Henne,  als  dem  Symbol 
des  Ehebündnisses,  zusammenhängen  soll.  Ein  eigentümlicher  Rest  des  alten 
Gebrauches  der  Leichenverbrennung  hat  sich  im  Gouv.  Smolensk  erhallen  nach 
einer  Notiz  in  der  2iv.  Starina  (Bd.  15,  Abt.  4,  S.  2).  Vereinzelt  sind  Beiträge  zur 
Kenntnis  des  Aberglaubens.  D.  Uspenskij  berührte  eine  sehr  interessante  Frage, 
den  Einlluss  des  Volksaberglaubens  auf  die  kirchliche  Ikonographie  zu  erforschen 
(Etnograf.  Obozr.  H.  6!S — 69,  S.  7;i  — 87);  hierher  gehört  nicht  nur  das  Abbilden 
von  Heiligen  mit  Hundeköpfen,  der  Schwester- Fiebergeister  u.  a.,  sondern  auch  auf  Ge- 
mälden des  jüngsten  Gerichtes  die  Darstellung  Lermontovs  oder  des  Grafen  LeoTolstoj 
in  der  Hölle.  N.  A^inogradov  stellte  in  einem  eigenen  Buche  (Kostroma  1905) 
die  bei  der  Bienenzucht  üblichen  Aberglauben,  Beschwörungsformeln  u.  a.  zu- 
sammen Über  'heilende  Bäume'  in  Weissrussland  berichtet  V.  Kostko  in  der 
2iv.  Star.  (Bd.  15,  Abt.  5,  S.  56);  es  sind  aber  eigentlich  nicht  heilbringende  Bäume, 
sondern  es  wird  das  weitverbreitete  Mittel  angewendet,  dass  besonders  mit 
psychischen  Krankheiten  behaftete  Leute  durch  das  Loch  im  Baum  kriechen  oder 


Berichte  uud  Büchenuizeigen.  ;349 

gezogen  werden;  dann  zerreissen  die  Leute  jenen  Teil  der  Kleidung,  welcher 
an  dem  wunden  Körperteil  sich  befand,  werfen  ihn  zu  dem  Baume  und  ziehen 
eine  neue,  speziell  dazu  mitgebrachte  Kleidung  an.  Wer  den  zerrissenen  Anzug 
nimmt,  erkrankt  an  derselben  Krankheit,  an  welcher  der  nun  Geheilte  litt.  — 
Einen  interessanten  Bericht  gab  N.  Bekarevic  in  den  'Trudy'  des  zweiten 
archäologischen  Kreistages  Twer  im  Jahre  l'.Ki.'i  über  die  im  Gouv.  Kostroma  in 
den  Hühnerställen  aufgehängten  'Hühnergöttcr',  kleine,  rohgeformto  Steinchen,  um 
Krankheiten  von  den  Hühnern  fernzuhalten.  Fürst  S.  N.  Trubeckij  untersuchte 
die  Frage  der  sog.  'Zolotaja  baba'  (Etnograf.  Obozr.  ß8 — 69,  62—62),  einer  bei 
den  Wogulen  und  bei  den  ugrischen  Stämmen  Sibiriens  verehrten  Gottheit,  die 
auch  zu  den  Stämmen  Perms  drang. 

Über  das  Bauernhaus  in  einigen  Ortschaften  des  Gouv.  Jekaterinoslav,  Bz. 
Verchnedneprovsk  schrieb  V.  Charuzina  (Etnograf.  Obozr.  H.  6,3 — 66,  S.  r27  bis 
147),  über  das  Haus  des  woissrussischen  Bauern  in  einigen  Ortschaften  des 
Bezirkes  Mglinsk,  Gouv.  Öernigov,  M.  Kosic  (:^iv.  Star.  Bd.  lä,  Abt.  1,  S.  74—93). 
Recht  wenig  Aufmerksamkeit  wird  der  Beschäftigung  des  Volkes  zugewendet. 
Über  die  Entwicklung  der  Töpfer-Hausindustrie,  sowie  auch  über  die  Verbreitung 
feuersicherer  Bauten  schrieb  M.  Bi'-Iavenec  in  den  'Zapiski'  der  kais.  russ. 
technischen  Gesellschaft  (39,  617—671),  über  primitive  Töpferei  im  Gouv.  Moskau 
machte  einige  Bemerkungen  N.  Smirnov  (2iv.  Star.  Bd.  15,  Abt.  1,  S.  170).  Nicht 
uninteressant  ist  ein  kleiner  Aufsatz  von  V.  Antipov  (ebd.  S.  129)  über  Lösung 
von  Grenzstreitigkeiten  bei  den  Bauern;  bisweilen  bestimmte  ein  vertrauenswürdiger 
Bauer  mit  einem  Stück  Rasen  am  Kopf  die  Grenze,  anderswo  entschied  ein  Zwei- 
kampf zwischen  zwei  Dörfern.  —  Ziemlich  zahlreich  sind  die  Arbeiten  über  das 
russische  Sektenweseii.  Über  die  Duchoborzen  handelt  S.  Stawrow  (Christianskoje 
Ctenije  1905  Nr.  2 — 3),  über  die  Stundisten,  Stundotolstovzen,  Chlysten  und  Skopzen 
im  Gouv.  Kursk  V.  yevalejevskij  (Das  kurskische  Sektenwesen.  Kursk  1905), 
ein  grösseres  Werk  über  Sektenwesen  veröffentlichte  A.  R.  Borozdin  (St.  Peters- 
burg 190ä);  über  die  Altgläubigen  schrieb  D.  Zelenin  (Kazan  190.'j;  vgl.  Etnograf. 
Obozr.  67,  139  f.),  derselbe  über  die  Verbreitung  geheimer  Sekten  in  dem  Lande 
an  der  Kama  (Etnograf  Obozr.  68 — 69,  lOö);  über  die  jetzigen  religiösen  Wirren 
bei  den  ehemaligen  russischen  Uniaten  in  Russisch-Polen  und  ihren  Hass  gegen  die 
Orthodoxie  berichtelete  P.  Korenevskij  'Unter  den  Kaiakuten'  (Istor.  V(''stnik  103, 
204).  — 

Unter  den  Arbeiten  zur  kleinrussischen  Volkskunde  sei  zuerst  erwähnt  die 
von  Alex.  Grusevskij  verfasste  Charakteristik  der  Tätigkeit  des  um  die  Hebung 
der  Schätze  der  kleiniussischen  Volkspoesie  hochverdienten  M.  Maksimovic 
(1804 — 1873),  bes.  seiner  historischen  Arbeiten  (Izvt-stija  der  Abt.  f.  russ.  Sprache 
Bd.  11,  H.  1,  S.  375 — 416).  Die  gesammelten  Abhandlungen  Mich.  Dragomanovs 
über  kleinrussische  Volkstradition  und  Literatur  sind  unter  der  Redaktion  von 
M.  Pavlyk  auf  Kosten  der  wissenschaftlichen  ^evöenko-Gesellschaft  bis  zum  dritten 
Bande  gelangt  (Lemberg  19U6.  6  und  362  S.),  der  kleinere  in  den  Jahren  1869  bis 
1889  in  verschiedenen  galizischen  und  in  westeuropäischen  Zeitschriften,  wie 
Rivista  Europea,  Londoner  Athenaeum,  Melusine  gedruckte  Aufsätze,  Rezensionen 
und  Referate  enthält.  Von  den  grösseren  Arbeiten,  die  Dragomanov'  nach  seiner 
Berufung  an  die  neugegründete  Universität  Sofia  in  dem  vom  bulgarischen  Kultus- 
ministerium herausgegebenen  'Sbornik'  veröffentlichte,  wurden  aufgenommen:  'Die 
slawischen  Erzählungen  von  der  Opferung  des  eigenen  Kindes'  (S.  149 — 183),  'Die 
slawischen  Erzählungen  von  der  Geburt  Konstantins  des  Grossen'  (S.  193 — 294), 
zugleich  mit  dem  Vortrage,  den  er  darüber  1889   im  internationalen  Kongress  der 


350  Polivka: 

Traditionisten  hielt  (S.  184  —  192),  und  'Slawische  Varianten  einer  Evangelienlegende' 
(S.  295—308.     Der  geizige  Bauer  wird  von  Jesus  in  einem  Esel  vorwandelt).    Hin- 
zugefügt  sind    aus  Dragomanovs  Xachlass  Nachträge    zu  seinen  eigenen  Arbeiten, 
alle,    obgleich   sie,    wie    auch    die  Originale    der    bulgarisch    veröfTentlichten    .-Vb- 
handlungcn,    grossrussisch  abgol'asst  wurden,    in    kleinrussischer    Übersetzung.    — 
Nicht  bloss  für  die  klcinrussischen  Volkstraditionen,  sondern  für  die  StofTgeschichte 
überhaupt  ist  höchst  wertvoll  der  Aufsatz  des    Dr.  Iwan  Franko    'Das  Lied  vom 
Recht  und  Unrecht'    (Mitteil,  der  Sevienko-Gcsell.  d.  Wissensch.  70,  1  —  70).     Er 
untersucht    die  kleinrussischen  Fassungen  dieses  Liedes,    das  grossrussische  Lied, 
den  Zusamniejihang  jener  mit  einem  altrussischen  Traktat  vom  Hecht,  der  vor  dem 
14.  Jahrhundert  auf  russischem  Boden  entstand;  da  die  literarische  Tradition  später 
in  die  breiteren  Massen    drang,    wird    die  Entstehung   des   grossrussisch'en  Liedes 
in  das  lü.,  des  klcinrussischen  in  das  17.  Jahrhundert    zu  setzen  sein.     Dazu  fügt 
Franko    eine    Übersicht    dieses    Stoffes    in    der    mittelalterliciien    Literatur    West- 
europas (S.  41)    und  des  Märchens  'Die  zwei  ungleichen  Brüder',    das  gewöhnlich 
mit  der  Wette  beginnt,  ob  Recht  oder  Unrecht  besser  sei  (R.  Köhler  1,  281.  465). 
Mit  Cosquin,    dessen  Ausführungen    er    durch   slawisches  Material    vervollständigt, 
sucht  Franko  die  indische,  buddhistische  Heimat  dieses  Stofl'es  zu  erweisen      Den 
Stoff  zu  erschöpfen,    war  nicht  sein  Ziel,    doch  hätte  er  das  indische  Material  aus 
Clouston  (Pop.  Tales  and  Fictions  1,  249.  464f.)  vermehren  und  für  den  Nachweis 
der  Wanderung  die  kaukasischen  Versionen  (Sbornik  mater.  kavkaz.  Bd.  10,  Abt.  2, 
S.  104.    Bd.  24,  Abt.  2,   S.  2.32),    und    die    der    Balkanvülker    heranziehen    können. 
Derselbe    Gelehrte    vergleicht    die    Legende    vom    Tode     des     Kosakenhetmans 
Nalivajko  auf  einem  ehernen  Stier   mit   der  alten  Legende  von  Phalaris,    wie  sie 
bei  Vincentius    Bellovacensis    erzählt    wird    (Naukovyj    Zbirnyk    zu    Ehren    Prof. 
M.  Hrusevskyjs   S.  76 — 90).      In    demselben    Bande    (S.  538 — ■■)75)    untersucht    ein 
jüngerer  Gelehrter,  Zenon  Kuzelja,  slawische  Balladen,  in  denen  ein  Jüngling  in 
Frauenkleidern  oder  in  einem  Sack  zur  Schönen  dringt  und  sie  verführt;    in  einer 
slowakischen  Ballade,  die  sich  westlich  bis  nach  15öhmen  und   in  die  Ober-Lausitz 
und  östlich  in  die  Ukrajne  verbreitet  hat,  spielt  König  Mathias  Corvinus  die  Rolle 
des    verkleideten    Liebhabers;    diese    Ballade   ist   verwandt  mit   der    italienischen 
'La  falsa  monaca'    oder    'Margherita'.      Die  deutschen    und  altdänischen    Balladen 
'Zeit  bringt  Rosen'   u.  a.    trennt    der  Verfasser    von    den  romanischen,    bringt    sie 
aber    in    ein    näheres    Verhältnis    mit    den    südslawischen    Liedern    vom    Uerzog 
Janko,  Tomica  Mesic  und  auch  neugriechischen  (Passovf  Nr.  47s  u.  a).     Das  Motiv 
des  Liebhabers  im  Sack  erscheint  in  polnischen  und  wendischen  Liedern,   die  mit 
den  deutschen  Liedern  vom  Edelmann  im  Habersack  (Erk-Böhme  Nr.  14G)  verwandt 
sind.    —    Kuzelja    stellt  ferner    in    einer    grösseren  Abhandlung    'Der  ungarische 
König  Mathias  Corvinus    in  der  slawischen  Volksdichtung.     Eine  Analyse  der  mit 
seinem  Namen  verbundenen  Motive'  (Mitteil,  der  Sevcenko-Ges.  d.  Wissensch.  67, 
1_5.5.   G8,   .'jö— 82.   69,   31—69.   70,   86—113;    auch  SA.),    die    Lieder   auf   König 
Mathias,  die  besonders  bei  den  südslawischen  Völkern  verbreitet  waren,  zusammen 
und    sucht    ihr  Verhältnis    zu  ähnlichen  romanischen    und  germanischen   Balladen 
festzustellen.     Bei    den    Serben    und    Kroaten    erscheinen    Lieder    von    der    Wahl 
Mathias  zum  König  von  Ungarn  und  seiner  Krönung;  die  Krone  wird  in  die  Luft 
geworfen  und  fällt  immer  auf  Mathias  Haupt.    Diese  Sage  ist  hauptsächlich  in  den 
Grenzen  Ungarns  lokalisiert,  kommt  aber  bereits  im  Alexanderromane  und  in  einem 
syrischen  Romane  vor  (Zs.  d.  deutsch,  morgenl.  Ges.  28,  278).    Andere  Sagen  des 
Westens   und    des  Orients  von  Königswahlen    und  Krönnngsweisen    hat  der  Verf. 
nicht  herangezogen.     Noch  beliebter    ist  König  Mathias    in  der  Volksdichtung  der 


Berichte  uud  Büclierauzeigeu.  351 

Slowenen.  In  einer  Ballade  befreit  er  seine  Frau  aus  der  türkischen  Gefangen- 
schaft. Dazu  vergleicht  K.  das  serbokroatische  Volkslied  von  Marko  Kraljevic 
und  Mina  Kosturanin  und  das  romanische  'II  moro  Saracino',  und  zeigt,  dass 
letzteres  die  serbokroatische  und  slowenische  Ballade  beeinflusste,  dass  aber 
zwischen  diesen  beiden  keine  direkte  Verwandtschaft  besteht.  Eine  zweite 
slowenische  Ballade  erzählt  von  der  Befreiung  des  Königs  Mathias  aus  der  tür- 
kischen Gefangenschaft  mit  Hilfe  der  Tochter  des  Sultans.  Auch  hier  vergleicht 
K.  zuerst  die  serbokroatischen  Lieder  von  der  Befreiung  des  Marko  Kraljevic 
durch  die  Sultanstochtcr,  prüft  deren  Verhältnis  zum  byzantinischen  Gedicht  von 
Digenis  und  Akritas  und  hebt  die  bedeutenden  Unterschiede  zwischen  ihnen 
hervor,  er  vergleicht  weiter  die  englische  Ballade  'The  fair  flower  of  Northumber- 
land'  u.  a.  und  zeigt,  dass  die  englische  Version  A  dem  serbokroatischen  Liede 
näher  steht  als  die  byzantinisch-griechische.  Die  Quelle  der  slowenischen  Ballade 
ist  schwer  zu  bestimmen;  sie  stellt  wohl  eine  Bearbeitung  des  in  Prankreich, 
England  und  Deutschland  populären  Thomas  dar  und  entstand  unter  dem  Einfluss 
des  serbokroatischen  Liedes  von  Marko  Kraljevic  wie  auch  heimischer  historischer 
Traditionen.  Ferner  bespricht  K.  die  slowenischen  Sagen  vom  Traume  und  der 
Rückkehr  des  König  Mathias  und  ähnliche  slawische  Erzählungen  von  schlafenden 
Rittern,  die  in  engem  Zusammenhang  mit  den  deutschen  Sagen  von  Friedrich 
Barbarossa  stehen;  er  zieht  auch  polnische  und  kleinrussische  Sagen  heran,  ohne 
jedoch  den  Stoff  zu  erschöpfen;  so  bleiben  z.  B.  zwei  kleinrussische  Sagen  aus 
Galizien  (Etnograf.  Zbirnyk  12,  Nr.  181  u.  19o)  unerwähnt.  Endlich  geht  er  kurz 
auf  die  Ballade  von  Mathias  ein,  die  er  schon  in  der  oben  erwähnten  Abhandlung 
genauer  untersucht  hatte.  K.  hat  in  dieser  seiner  ersten  grösseren  Arbeit  ein 
kolossales  Material  durchforscht  und  eine  gründliche  Kenntnis  nicht  bloss  der 
slawischen  Volksüberlicforungen,  sondern  auch  der  westeuropäischen  Literaturen 
gezeigt.  —  VI.  Danilov  versucht  Nachklänge  des  epischen  Liedes  vom  Kampfe 
Dobrynja  Nikitics  mit  dem  Drachen  in  den  kleinrussischen  Volkstraditionen  nach- 
zuweisen (Kijevskaja  Starina  1905,  H.  9,  S.  104);  ihm  erscheint  die  Legende  vom 
Kampfe  Dobrynjas  mit  dem  Drachen,  der  das  Heidentum  verkörpert,  als  ein 
Produkt  des  Kiewschen  Volksgeistes,  das  in  der  kleinrussischen  Sage  von  der 
Insel  Perun  nachklingt  (vgl.  Mitt.  der  Sevcenko-Ges.  74,  l(i3f.).  Derselbe  Verf. 
liefert  ausserdem  einen  kleinen  Beitrag  zur  Geschichte  der  kleinrussischen  geist- 
lichen epischen  Lieber  (ebd.  H.  1,  S.  7),  und  untersucht  die  Totenklagen  (ebd. 
H.  3— 4,  11—12,  vgl.  Mitteil,  der  8evcenko-Ges.  74,  227—230),  Wichtig  ist  der 
grossangelegte,  noch  nicht  abgeschlosseneAufsatz  von  Filaret  Kolessa,  'DieRhythmik 
der  ukrainischen  Volkslieder'  (Mitteil,  der  Sevcenko-Ges.  d.  Wiss.  69,  7 — .30.  71, 
44—9.3.  72,  80—111.  73,  (i.')- 118.  74,  33—68).  Nach  einer  Übersicht  der  wissen- 
schaftlichen Arbeiten  über  den  rhythmischen  Bau  der  ukrainischen,  grossrussischen 
und  serbischen  Volkslieder  geht  der  Verf.  im  2.  Kap.  zur  Untersuchung  der  Ent- 
wicklung der  Rhythmik  in  der.  kleinrussischen  Volksdichtung  über.  Nach  einigen 
Bemerkungen  über  den  Ursprung  des  Rhythmus,  über  die  bloss  von  Männern  und 
bloss  von  Frauen  oder  Mädchen  gesungenen  Lieder,  über  professionelle  Sänger  in 
Russland  vom  II.  Jahrhundert  bis  zu  den  neueren  Kobzaren-Banduristen  und 
Lirnykern,  hebt  er  die  älteren  und  jüngeren  Schichten  der  gesammelten  Lieder 
hervor.  Die  ursprünglichste  findet  er  in  zwei  Totenklagen,  dann  in  ähnlich  gebauten 
historischen  Liedern  (dumy);  andere  archaische  Formen  haben  sich  in  einigen 
Hochzeits-  und  Ernteliedern  erhalten.  Das  Streben  nach  Gleichförmigkeit  in  Text 
und  Melodie  äussert  sich  vorzüglich  in  den  Schlusversen  der  Lieder.  In  einem 
dieser  festen  Schlüsse  wird  der  letzte  Ton  der  musikalischen  Phrase  und  die  ent- 


35'2  Polivka: 

sprechende  Silbe  im  Text  verlängert,  in  einer  jüngeren  dagegen  der  vorletzte 
Ton  und  Silbe.  Die  weitere  Entwicklung  geht  auf  die  Feststellung  einer  be- 
stimmten Anzahl  von  Silben  im  Verse,  die  innere  Ausbildung  des  Verses,  seines 
Rhythmus,  die  Entwicklung  bestimmter  Cäsuren,  des  Refrains,  der  Palilogie, 
^Viederholung•  von  Halbverscn  u.  a ,  des  Strophenbaues,  des  Parallelismus,  der 
Alliteration,  des  Reimes,  der  gewöhnlich  zweisilbig,  doch  auch  einsilbig,  selten 
dreisilbig  ist,  manchmal  auch  Binnenreim.  Die  Entstehung  des  Reimes  möchte 
der  Verf.  nicht  ganz  westlichem  Einflüsse  zuschreiben.  In  den  folgenden  Kapiteln: 
„Der  musikalisch-syntaktische  Puss"  und  „Übersicht  der  Liederformen"  wird  der 
grosse  Reichtum  der  rhythmischen  Formen  der  kleinrussischen  Volkspoesie  und 
der  Bau  ihrer  Melodien  genau  analysiert.  Angehängt  ist  (74,  53)  eine  kurze 
Charakteristik  gleichartiger  Vorsmasse  und  Melodien  in  der  slawischen  Volkspoesie, 
deren  gemeinsame  Grundlagen  und  besondere  Züge  in  dem  rhythmischen  I5au  K. 
hervorhebt.  Die  Ähnlichkeit  im  Vers-  und  Strophenbau  der  slawischen  Volks- 
lieder und  der  lateinischen  kirchlichen  Hymnen  glaubt  er  nicht  einseitig  durch 
blosse  Abhängigkeit  der  ersteren  von  lateinischen  Mustern  erklären  zu  dürfen,  da 
die  Liederform  der  slawischen  Volkspoesie  weit  älter  als  die  ziemlich  späten 
westlichen  Einflüsse  sei.  Und  so  neigt  der  Verf.  zu  der  Meinung,  dass  sich  in 
der  Volkspoesie  der  Slawen  unabhängig  von  den  lateinischen  Mustern  das  Prinzip 
des  musikalisch-syntaktischen  Fusses,  die  Typen  des  Versraasses,  die  zweizeilige 
Strophe,  die  Hervorhebung  der  Schlüsse  syntaktischer  Ganze  durch  den. Akzent, 
und  vielleicht  sogar  der  Reim  (!)  gebildet  habe.  —  Kolessa  bespricht  ausserdem 
die  Sammlung  und  Harmonisierung  der  kleinrussischen  Volkslieder  (Artyst. 
Vistnyk  l!)(i5,  H.  2—.')).  —  Rüstig  schreitet  die  Publikation  neuer  Volkslieder- 
sammlungen vorwärts.  Von  diesen  ist  in  der  letzten  Zeit  die  grossartigste,  die 
von  Volodymyr  flnatjuk  besorgte  Sammlung  der  sog.  Kolomyjky  (Bd.  1,  43  -r  259  S. 
Bd.  2,  315  S.),  kurzer,  gewöhnlich  zweizeiliger,  doch  auch  vier-  bis  sechszeiliger 
Liedchon  in  zwölf-  bis  vierzehnsilbigen  Versen.  Sie  sind  auf  die  Ruthenen  von 
Nordungarn,  Bukowina  und  Gulizien  beschränkt,  doch  hier  ungemein  populär. 
Gesammelt  und  aufgezeichnet  wurden  sie  bereits  in  den  zwanziger  Jahren  des 
19.  Jahrhunderts  von  Zaleski  (Waclaw  z  Oleska),  und  bald  darauf  von  2egota 
Pauli,  in  grösserer  Masse  später  von  Jakob  Holowackyj.  Hnatjuk  stellte  seine 
Sammlung  grösstenteils  aus  handschriftlichen  Sammlungen  zusammen;  er  hatte  TG 
solche  zur  Verfügung,  die  das  Material  aus  213  Ortschaften  in  einem  Bezirk  Xord- 
ungarns,  3  bukowinischen  und  4.5  galizischen  Bezirken  bringen.  Ausserdem  be- 
nutzte er  die  älteren  gedruckten  Sammlungen,  die  er  teils  für  den  Text,  teils  für 
die  vergleichenden  Noten  verwendet.  In  den  vorliegenden  zwei  Bänden  sind 
5792  Liedchen  abgedruckt.  Sie  sind  in  verschiedene  Gruppen  eingeteilt:  I.Völker 
und  Volksstämme,  2.  Geographische  Namen,  3.  Taufnamen,  4.  Musik.  Tanz, 
Gesang,  5.  Tracht,  G.  Soldaten,  7.  Natur  (nicht  bloss  Naturerscheinungen,  Pflanzen. 
Tiere,  Körperteile,  sondern  auch  Nahrungs-  und  Genussartikel,  Krankheiten), 
•S.  Familienleben  (auch  häusliche  Beschäftigungen),  9.  gesellschaftliches  Leben. 
In  der  Einleitung  gibt  H.  eine  kurze  Charakteristik  dieser  Lieder,  gegen  Prof. 
Sumcov  polemisierend  und  gewiss  mit  Recht  eine  nähere  Verbindung  der 
Kolomyjky  mit  den  polnischen  Krakowiaken  abweisend.  —  Auch  der  Musik- 
Ethnographie  wendet  man  ein  intensiveres  Interesse  zu.  Von  Jos.  Rozdol'skyj 
und  anderen  wurden  seit  dem  Anfang  des  neuen  Jahrhunderts  in  Galizien  eine  grosse 
Anzahl  von  Melodien  mittels  des  Phonographen  gesammelt,  die  Stan.  Ljudkevyc 
in  Notenschrift  umgeschrieben  hat.  Der  erste  Teil  (Etnograf.  Zbirnyk  Bd.  21, 
23  +  1S7  S.)    enthält    7.'!  1  Melodien.      Die    Einleitung    betont    die    Wichtigkeit    des 


Berichte  und  Biicheranzeigen.  353 

Phonographen  für  derlei  Sammlungen  trotz  der  damit  verbundenen  Schwierigkeiten, 
legt  die  Gesichtspunkte  bei  der  Redigierung  dar,  und  gibt  Bemerkungen  über  das 
Verhältnis  der  ukrainischen  Melodien  zu  den  galizischen  (die  ersten  stehen  auf 
einer  höheren  Stufe  der  Volksmusik,  näher  der  musikalischen  Kultur),  über  die 
bedeutenden  Unterschiede  unter  den  galizischen  Liedern  selbst,  über  den  Einfluss 
fremder,  besonders  polnischer  Melodien.  Einen  mehr  populären  als  wissenschaft- 
lichen Zweck  Terfülgt  V.  Budzyno vskj'j  mit  seiner  Auswahl  kleinrussischer 
Volkslieder  (Kozacki  casy  v  narodnij  pisny,  Lemberg  ]90(i.  237  S.  Vgl.  die  aus- 
führliche Kritik  Iv.  Franko,  Mitteil,  der  Wiss.  .'^evcenko-Ges.  73,  205—211).  Ver- 
schiedene kleinere  Sammlungen  wurden  besonders  in  der  Zs.  'Kievskaja  Starina' 
gedruckt,  so  'Materialien  zur  Ethnographie  der  bessarabischen  Ruthenen'  (190,j, 
Bd.  10,  S.  73— 12.j),  ausser  Liedern  und  ein  paar  Erzählungen  noch  Rätsel  und 
Sprichwörter;  ferner  das  historische  Lied  von  Xecaj  in  neuen  Varianten  (ebd. 
Bd.  1,  66—88),  die  Ballade  von  der  Bondarivna  und  dem  Herrn  Kaniowski  (ebd. 
Bd.  o,  480 — 494.  Bd.  10,  9  fr.),  das  Lied  von  der  Befreiung  von  der  Leibeigen- 
schaft im  Jahre  1861  (ebd.  Bd.  9,  llOff.),  ein  Weihnachtslied  (ebd.  H.  1,  12ff.), 
eine  grössere  Anzahl  epischer  Lieder  und  auch  einiger  Märchen  (ebd.  1904, 
H.  2—11;  vgl.  Mitteil.  d.  Sevcenko-Ges.  70,  S.'Jl — 235)  und  eine  Sammlung  von 
Märchen  (ebd.  190.),  H.  6— 7,  S.  117—165;  vgl.  Mitteil,  der  Sevtenko-Ges.  73,  222), 
eine  Satire  auf  habsüchtige  Geistliche  (ebd.  H.  6,  242),  Schatzsagen  (ebd.  H.  1, 
S.  1).  Ausserdem  wurden  einige  Märchen  noch  in  den  'Ötcnija'  der  histor.  Gesell- 
schaft des  Chronisten  Nestor  (Bd.  18,  S.  3)  abgedruckt  (vgl.  Mitteil,  der  Sevcenko- 
Ges.  69,  20f.)  und  nebst  einigen  Ortssagen  eine  Beschreibung  des  Johannisabends 
in  Wolhynien  mitgeteilt  (i^ivaja  Starina  Bd.  15,  Abt.  1,  S.  155—169). 

Weniger  zahlreich  sind  die  Beiträge  über  Brauch  und  Aberglauben.  Der 
wichtigste  und  wertvollste  darunter  ist  das  von  Dr.  Zenon  Kuzelja  bearbeitete 
Buch  'Das  Kind  in  Brauch  und  Glauben  des  ukrainischen  Volkes'  (Materialien  zui 
ukrainisch-russischen  Ethnologie  Bd.  8.  6  +  220  S.).  Die  Grundlage  des  Buches 
waren  von  einem  sich  bescheiden  unter  den  Anfangsbuchstaben  seines  Namens 
verbergenden  Ethnographen  im  Süden  des  Gouv.  Kiew  gesammelte  Materialien, 
die  grossenteils  von  den  Bauern  selbst  niedergeschrieben,  ein  um  so  getreueres 
und  zuverlässigeres  Bild  der  verborgensten  Winkel  ihres  physischen  und  psychischen 
Lebens  bieten.  Kuzelja  hat  sich  nicht  mit  einem  blossen  Abdruck  dieses  Materials 
begnügt,  sondern  es  mit  zahlreichen  wertvollen  Anmerkungen  und  Hinweisungen 
auf  ähnliche  Erscheinungen  im  Leben  anderer  verwandter  und  fremder  Völker 
versehen.  In  der  einleitenden  Studie  über  Schwangerschaft,  Geburt  und  Gebräuche 
und  Gewohnheiten  bei  der  Geburt  (S.  1 — 59)  zeigt  er  gründliche  Kenntnis  der 
einschlägigen  Literatur.  Der  grössere  Teil  des  Buches  ist  weniger  dem  Kinde 
gewidmet,  als  dem  geschlechtlichen  Leben  besonders  der  Frau.  Diese  Materialien 
werden  durch  eine  volkstümliche  Somatologie  und  den  einzelne  Teile  des  mensch- 
lichen Organismus  betreffenden  Aberglauben  eingeleitet.  Es  folgen  Berichte  über 
unnatürliche  Befriedigung  des  Geschlechtstriebes,  Menstruation,  deren  Verhältnisse 
zur  Schwangerschaft,  geschlechtlichen  Verkehr  während  der  Menstruation,  Beginn 
des  geschlechtlichen  Lebens,  geschlechtliches  Leben  der  Männer  (Pollution,  aus 
dem  Samen  Teufelchen);  Furcht  vor  Kindersegen,  Mittel  dagegen,  Ursachen  der 
Unfruchtbarkeit  und  Mittel  dagegen,  Verkehr  zwischen  Mädchen  und  Burschen 
(1  —  120);  das  Kind  vor  der  Geburt,  die  Frau  während  der  Schwangerschaft,  Frucht- 
vertreibung u.a.  (127 — 162);  Geburt  (163 — 171),  Zereraonial  und  Gebräuche  von 
der  Geburt  bis  zum  ersten  Kirchgang  der  Mutter  (177 — 207),  u.  a.  über  die  Namen- 
gebung;     das    uneheliche    Kind    bringt    Glück:     Erzählungen    von    Missgeburten 


354  Polivka,  Boltc: 

(S.  208f.)  und  Wechselbälgen  (S.  209f.).  —  Ausserdem  ist  ein  kleiner  Aufsatz  über 
die  Hochzeit  von  Vol.  Jablonovskyj  zu  verzeichnen  (Kiev.  Starina  1905.  H.  5, 
S.  205— 227).  Rechtsbräuche  betrelTen  zwei  kleinere  Aufsätze  Or.  Levickij  von 
der  Begnadigung  eines  Verbrechers,  den  ein  Mädchen  zu  ehelichen  verspricht 
(ebd.  H.  1,  S.  «9;  vgl.  Mitteil,  der  .-^evi-enko-Ges.  H.  73,  214)  und  über  Verlobung 
Minderjähriger  im  16.  Jahrhundert  (Kiev.  Star.  1906,  H.  1,  S.  164).  Einige  Be- 
merkungen über  die  "Weltanschauung  des  Volkes  eines  Dorfes  des  Bezirkes 
Radoraysl,  Gouv.  Kiew,  schrieb  Iv.  Savöenko  (Zivaja  Star.  1.'),  Abt.  2,  S.  lO.j), 
Vorstellungen  von  Himmel,  Sternen,  Sonne,  Mond  usw.  Den  Gebrauch  des  Mohns 
in  der  Volksmedizin  behandelt  Iv.  Brnkovskij  (Kiev.  Starina  191)5,  H.  4,  S.  34f.;; 
fernet  eine  Beschwüi-ungsforniel  gegen  Rotlauf  (^ebd.  H.  11 — 12,  S.  6()f.);  über 
Lostage,  besonders  die  Christwoche  (Strannik  19U5,  H.  12).  Interessante  Parallelen 
zwischen  den  ruthenischen  Stämmen  der  Karpathen  und  den  kaukasischen  Stämmen 
in  Tracht,  einzelnen  Produkten  der  Hausindustrie  u.  a.  weist  Dr.  Chv.  Vovk  nach 
(Naukovyj  Zbiniyk  zu  Ehren  Prof.  Hruscvskyj  S.  595).  Über  die  Nahrung  bei  den 
Bojken  schreibt  Vol.  Hnatjuk  (ebd.  S.  576-594),  über  das  Schmuggeln  von 
Tabak,  wie  auch  Rauchen  und  Kauen  in  den  Gebirgen  Galiziens  Mich.  Zubryckyj 
(ebd.  S.  409-4;;2).  Derselbe  schildert  ein  solches  Gebirgsdorf,  Msaner  (Mitteil. 
der  .Sevcenko-Ges.  70,  114—167.  71,  96—133.  74,  9.!— 12.s)  und  das  Leben  dort, 
nebst  einer  Katasterkartc  und  einigen  Urkunden  zu  seiner  Geschichte  vom  17.  bis 
zum  Anfange  des  19.  Jahrhunderts.  Zum  Schluss  sei  noch  ein  Aufsatz  von 
Vadym  Scerbakovskyj  über  aus  Holz  gebaute  Kirchen  in  der  Ukraine  (Mitteil, 
der  Sevcenko-Ges.  74,  lO— ::12)  mit  zahlreichen  .\bbildungen  registriert. 

Prag.  Georg  Polivka. 

Georg  Jacob,  Geschichte  des  Schatteutheaters.  Erweiterte  Neubearbeitung- 
des  Vortrags:  Das  Scliatteiitheater  in  seiner  Wanderung  vom  Morgen- 
land zum  Abendland.  Berlin,  Mayer  &  Müller  1907.   VIII,  159  8.  8°.  4Mk. 

Der  1896  in  Lyon  erfundene  und  heut  bei  uns  als  Volksbelustigung  weit  ver- 
breitete Kinematograph  hat  seinen  Vorläufer  in  dem  seit  mindestens  250  Jahren 
in  Europa  heimischen  Schattenspiel,  das  mit  den  Marionettenkomödien,  dem 
Raritätenkasten  und  der  Laterna  magica  verwandt,  von  umherziehenden  Schau- 
stellern vielfach  geübt  ward  und  auch  in  unserer  Literatur  seinen  Niederschlag 
fand;  so  Hess  Goethe  1774  im  Jahrmarktsfest  zu  Plundersweilen  einen  Schatten- 
spielmann auftreten,  und  Arnim,  Kerner,  Uhland,  Mörike,  der  Graf  Pocci  schrieben 
Schattenspieltexte.  Indes  ist  die  Kunst,  auf  einer  beleuchteten  Leinwand  mensch- 
liche Figuren  agieren  zu  lassen,  die  aus  einfarbigem  oder  transparentem  buntem 
Leder  geschnitten  waren,  schon  in  weit  früherer  Zeit  bei  asiatischen  Viilkern 
nachzuweisen,  und  Ethnologen  und  Sprachgelehrte  haben  neuerdings  diesen  kind- 
lichen AnHingen  dramatischer  Betätigung  reges  Interesse  zugewandt.  Ihre 
Forschungen  hat  der  tüchtige  Erlanger  Orientalist  Jacob,  der  sich  selbst  lebhaft 
daran  beteiligt  hatte,  1901  in  einem  Vortrage  zusammengefasst,  der  uns  nun  in 
erheblich  erweiterter  Form  vorliegt.  Er  gewährt  uns  einen  willkommenen  Über- 
blick über  die  weit  verstreute  Literatur,  die  er  ausserdem  in  bibliographischer 
Form  verzeichnet  hat'),  und  sucht  vor  allem  die  Stationen  des  Verbreitungsweges 


1)  G.  Jacob,  Erwähnungen  des  Schattentheaters  in  der  Weltliteratur.  Berlin,  Mayor  A; 
Müller  ISHW,  49  S.  mit  einer  Tafel.  2  Mk.  —  Angehängt  sind  einige  Nachweise  über  orien- 
talische Puppenspiele  und  eine  Abbildung  der  angeblichen  Grabschrift  des  Karagöz  7,u  Briissa, 
die  vielmehr,  wie  Jacob  ZdinG.  ."n^,  ^11  gezeigt  hat,  dem  Schattcnspider  Mustafa  Tcvlik  gilt. 


Bcricilte  und  Biicheranzeigen.  355 

historisch  zu  belegen');  zu  einer  abgerundeten  Darstellung,  die  auch  Technik  und 
Stoffe  gleichraässig  berücksichtigte,  ist  die  Zeit  noch  nicht  gekoinraen.  Zuerst 
erscheint  das  Schattenspiel  in  Indien  im  6.  Jahrhundert  n.  Chr.,  von  dort  drang 
es  spätestens  im  11.  Jahrhundert  nach  Java  und  nach  China;  bei  den  Muhani- 
medanern  ist  es  im  13.  Jahrhundert  nachweisbar.  Um  1270  sind  die  drei  er- 
haltenen Komödiontexte  des  ägyptischen  Arztes  Muhammad  ihn  D;inijäl  verfasst, 
die  J.  ausführlich  bespricht;  sie  führen  die  Hochzeit  mit  einer  hässlichen  Braut, 
das  Jahrmarktleben,  einen  Knaben  und  seinen  Liebhaber  vor.  Der  Name  der 
lustigen  Person  im  heutigen  türkischen  Schattenspiel  Karagöz  (=  Zigeuner)  taucht 
erst  im  17.  Jahrhundert  auf.  In  dieser  Zeit  muss  auch  das  Schattenspiel  von 
Tunis  nach  Neapel  und  Rom  gelangt  sein,  von  da  aus  kam  es  als  'italienische 
Schatten'  nach  Deutschland");  in  Frankreich  erhielt  es  im  18.  Jahrhundert  den 
Namen  'ombres  chinoises'.  Mit  Recht  zählt  es  also  J.  zu  dem  gleich  Schach, 
Dame,  Spielkarten,  Mailspiol  aus  dem  Orient  zu  uns  gewanderton  Zeitvertreib^).  — 
Zu  S.  117  verweise  ich  noch  auf  die  Nachrichten  über  Berliner  Schattenspieler 
aus  den  Jahren  1796— 18Ü3  (Mitt.  d.  V,  f.  Gesch.  Berlins  1889,  138),  zu  dem 
S.  118  erwähnten  Liede  über  Adam  und  Eva  auf  Kopp,  Archiv  für  Kulturgesch.  "2, 
317.  Aus  Max  Herrmanns  S.  I2ü  zitiertem  Buche  hätte  noch  der  Hinweis  auf 
den  'Raritätenkasten'  (Leipzig  1798  S.  336 — 342:  Abendvorstellungen  oder  Schatten- 
spiel an  der  Wand.  ■ —  Kerlin  Yz  5976)  entnommen  werden  können.  Der  1823 
als  Lehrer  der  Mathematik  in  Rossleben  verstorbene  A.  W.  Zachariä  verfasste: 
Kronprinzchen  von  Kinderland,  ein  Schattenspiel  (Leipzig  1821)  und  Das  neue 
Schattenspiel  aus  Kinderland  (o.  J.).  Dagegen  gehören  natürlich  Theseus'  Worte 
aus  Shakespeares  Sommernachtstraum  V,  1 :  'Das  Beste  in  dieser  Art  ist  nur  Schatten- 
spiel' nicht  in  die  Reihe  dieser  Zeugnisse.  Nicht  erwähnt  ist  auch  die  vor  30 
bis  4(1  Jahren  in  Norddeutschland  geübte  Form  des  Schattenspieles,  bei  der  nicht 
Figuren,  sondern  lebende  Menschen  mit  grossen  Pappköpfen  hinter  einer  aus- 
gespannten Leinwand  agierten;  so  haben  wir  als  Kinder  z.  B.  das  Narrenschneiden 
und  den  Gang  nach  dem  Eisenhammer  aufgeführt.  J.   Bolte. 


L.  Jlaeterlinck,  Le  geure  satirique  daus  Ja  peinture  flaniande.  '2e  editiou 
revue,  corrig-ee  et  considerablement  aiigmeiitee.  Bruxelles,  G.  vau  Oest 
&  Co.  1907.     VII,  386  S.    8". 

Maeterlincks  Werk,  das  zuerst  vor  vier  Jahren  in  den  Denkschriften  der 
Brüssler  Akademie  erschien,  behandelt  einen  sehr  anziehenden  Stoff  mit  aus- 
gebreiteter Monumentenkenntnis  und  in  flüssiger  Darstellung.  Wie  Schneegans, 
den  übrigens  unser  Autor  nicht  zitiert,  1894  den  Begritf  der  grotesken  Satire  an 
der  Gestalt  Rabelais'  darlegte,    so  bildet    hier    der  erst   neuerdings  gebührend  ge- 


1)  Also  ganz  anders  als  H.  S.  Rehnis  schwaches  'Buch  der  Marionetten'  (Berliü, 
Frensdorff  1905). 

2)  Ebenso  waren  die  Guckkasteumänner  zumeist  italieuischer  Herkunft:  vgl.  die 
Lieder  bei  Erk-Böhme,  Liederhort  3,  .jlö.  Kretzschmer-Zuccalmaglio,  VI.  1,  291.  Klainer 
Schmidt,  Werke  1,  399  (182G\  Kopp,  Zs.  i.  d.  Unterricht  9,  G04.  Friedlaender,  Lied  im 
18.  Jahrhundert  2,  444.    M.  Herrmann,  Jahrmarktsfest  zu  Plundersweilen  1900  S.  19. 

3)  Wenn  J.  aber  S.  151  auch  den  Papierdrachen  dazu  rechnet,  so  widerspricht 
dem,  dass  dieser  schon  auf  altgriechischen  Vasenbildern  begegnet  (ArchUolog.  Zeitanp: 
1867,  125.  Bnllett.  dell'Inst.  archeol.  1868,  35.  38.  Dalieini  1881,  Nr.  52,  Beilage.  1882, 
Nr.  8,  S.  126). 


356  Bolte:    Berichte  und  Bücheranzeigen.     Notizen. 

würdigte  Antwerpener  Maler  Peter  Breughel  der  ältere  den  eijjentlichon  Kern  und 
Mittelpunkt  der  Betrachtung.  Und  zwar  ist  weniger  von  seinen  Landschaftun  und 
biblischen  Bildern  die  Rede,  die  bereits  seine  kräftige  Selbständigkeit  und  seinen 
derben  Realismus  offenbaren,  als  von  seinen  für  die  Kulturgeschichte  und  Volks- 
kunde des  16.  Jahrhunderts  so  wertvollen  Sittenbildern  und  Allegorien,  in  denen 
sich  eine  gesunde  Moral  mit  seltsamer,  oft  düsterer  Phantastik  paart.  Breughel 
liefert  dorn  Volkskundler  eine  reichhaltige  Darstellung  vlämischer  Kinderspiele  und 
Sprichwörter,  er  hat  für  bekannte  Schwanke  wie  das  Schlaraffenland,  den  Krämer 
mit  den  Affen,  den  Kampf  um  die  Hosen  (das  Symbol  der  Herrschaft  im  Hause), 
die  dem  Narrenschneiden  verwandte  Operation  dos  Kei  (eines  in  der  Stirn  sitzenden 
Steinchens),  die  blinden  Blindenleiter  den  massgebenden  bildlichen  Ausdruck  ge- 
funden und  bekämpft  in  seinen  figurenreichen  Spukallegorien  die  Tyrannei  und  das 
Laster  ungescheut.  Hierbei  tritt  freilich  öfter  die  verwirrende  Häufung  grotesker 
Züge,  in  der  sich  der  Betrachter  kaum  zurechtfindet,  dem  reinen  künstlerischen 
Genuss  störend  entgegen,  ganz  wie  bei  Rabelais  und  Fischart.  Auf  die  Zeit- 
genossen aber  haben  diese  Kupferstiche  ungemein  anregend  gewirkt,  und  ihr 
Einfluss  lässt  sich  bis  ins  17.  Jahrhundert  hinein  verfolgen.  Maeterlinck  aber  hat 
sich  nicht  begnügt.  Breughel  nebst  seinen  unmittelbaren  Vorgängern,  unter  denen 
Hieronymus  Bosch  hervorragt,  und  Nachfolgern  zu  betrachten,  sondern  er  führt 
uns  in  zehn  voraufgehenden  Kapiteln,  die  mehr  als  die  Hälfte  des  Buches  ein- 
nehmen, auch  die  satirische  Richtung  in  der  antiken  und  mittelalterlichen  Kunst 
vor.  Er  bespricht  den  Einlluss  der  Tierdichtung  und  Ticifabel,  der  Teufelszencn 
in  den  Mysterien,  der  französischen  Fabliaux  und  Bestiaires,  der  vlämischen 
Literatur  auf  die  Miniaturen  der  Handschriften,  die  Teppiche  des  14.  Jahrhunderts, 
dann  die  religiösen  Bilder  des  !.'>.  Jahrhunderts,  die  deutschen  Stecher  und  Maler 
satirischer  Richtung  und  die  älteren  phantastischen  Darstellungen  des  jüngsten 
Gerichts,  dos  Totentanzes,  der  Versuchung  des  h.  Antonius  u.  a.  Man  sieht,  die 
Grenzen  sind  weit  gesteckt,  sowohl  in  örtlicher  als  in  sachlicher  Beziehung. 
Manches,  was  wir  als  Sittenbild  bezeichnen  würden  oder  was  uns  wohl  scherzhaft 
erscheint,  ohne  doch  ursprünglich  so  gemeint  zu  sein,  ist  hier  unter  den  Begriff 
des  Satirischen  eingeordnet.  Mit  Vergnügen  schöpfen  wir  aus  dem  reichen,  über- 
sichtlich ausgebreiteten  Stoffe  ('i.'JiJ  Illustrationen!)  Belehrung,  allein  bisweilen 
möchten  wir  die  Untersuchung  schärfer  geführt,  die  literarischen  Quellen  voll- 
ständiger berücksichtigt  sehen.  Beim  Streit  der  Weiber  um  die  Hosen  z.  B.  (p.  199) 
niusste  doch  auf  die  zugrunde  liegende  Bibelstelle  (R.  Köhler,  Kl.  Schriften  "J,  476), 
bei  Meldemanns  [nicht  Mildemanns]  Nasentanz  zu  Gümpelsbrunn  auf  Hans 
Sachsens  Gedicht  (oben  15,  30)  hingewiesen  werden.  Auch  die  in  der  Tijdschrift 
voor  nederlandsche  Taal-  en  Leiterkunde  14,  119  (1895)  besprochenen  nieder- 
ländischen Bilderbogen  des  16.  Jahrhunderts  hätten  vielleicht  Beachtung  verdient. 
Doch  genug  der  Bemängelungen,  die  niemandem  die  Freude  an  dem  interessanten 
Buche  verkümmern  sollen.  J.  Bolte. 


Notizen. 


K.  Andree,  Scapulimantia.  Boas  Memorial  Volume,  New  York  1906,  p.  143 — 165. 
—  i'bcr  die  Wahrsagung  aus  dem  Schulterblattc  eines  Schafes,  deren  Ursprung  bei  den 
Mongolen  Innerasiens  gesucht  wird. 

R.  Basset,  L'union  fait  la  force.  Revne  africaine  nr.  263  (1906,  4,  :^86— 39-J).  — 
Verfolgt  die  äsopische  Fabel  vom  Rutenbündel,  das  der  Vater  seinen  Söhnen  zum  Zerbrechen 
reicht,     durch     die    Weltliteratur,    wo    sie    auch    Skiluros,    Svatopluck,    Uschingiskhan, 


Notiz(>D.  357 

Sertorius  u.  a.  in  den  Mund  gelegt  wird.  Ich  verweise  noch  auf  Goedeke  zu  H.  Sachs  1, 
94  (1870),  dazu  Liebrecht,  Zur  Volkskunde  S.  Hi.  Viollet  Le  Dnc,  Ancien  theatre  frani'ois 
3,  93.     Huberinus,    Spiegel  der  Hauszucht  ir).j4  Bl.  Gg6b.     Revue  des   trad.  pop.  15,  (iöO. 

E.  ü.  Bourne,  Columbus,  Roman  Pane  and  the  beginnings  of  american  anthropology. 
Worcester  1906.  41  S.  (Proceedings  of  the  American  antiquarian  society). 

V.  Dingelstedt,  Cossacks  and  cossackdom.  (Scottish  geographical  magazine  1907, 
239—260). 

A.Forke,  Die  Völker  Chinas.  Berlin,  K.  Curtius  1907.  90  S.  1,50  Mk.  —  Die 
im  Berliner  Seminar  für  orientalische  Sprachen  gehaltenen  Vorträge  geben  in  knapper 
Form  dem  grösseren  Publikum  sachkundige  Belehrung  über  Chinas  Geschichte  und  Sitten. 

H.  Gaidoz,  Do  l'etude  des  traditions  populaires  ou  Folk-lore  en  France  et  ä 
l'etranger.  Explorations  Pjreneennes,  bulletin  de  la  societe  Ramond,  oe  stirie  1,  174  bis 
193.  Bagneres-de-Bigorre  1907.  —  Vor  eijiem  geographischen  Vereine  legt  der  um  unsere 
Wissenschaft  hochverdiente  Gelehrte  Umfang  und  Ziele  der  Volkskunde  übersichtlich  dar 
und  gibt  eiue  Geschichte  dieser  Studien  in  Frankreich.  Interessant  ist,  dass  die  unter 
Napoleon  III.  begonnene  Sammlung  der  französischen  Volkslieder  auf  eine  persönliche 
Anregung  J.  M.  Firmenichs,  des  Herausgebers  von  'Germaniens  Völkerstimmen',  zurück- 
geht. Mit  Recht  hedauert  G.,  dass  über  der  nächsten  Aufgabe  der  Sammlung  der  Über- 
lieferungen so  vielfach  die  höhere  und  schwierigere  der  vergleichenden  und  historischen 
Forschung  versäumt  wird. 

C.  C.  van  de  Graft,  Palmpaschen  (Driemaandelijksche  bladen  uitg.  door  de 
Voreeniging  tot  onderzoek  van  taal  en  volksleven  van  Nederland  7,  1  —  19).  • —  Durch  aus- 
führliche Nachforschung  wird  Art  und  Verbreitungsgebiet  der  oben  11,  215  von  Weinhold 
besprochenen  niederländischen  Palmsonntagszweige  festgestellt.  Die  Stöcke  sind  mit 
Buxbaum,  Tannonreisig  und  Papierstreifen  verziert  und  tragen  oben  oft  einen  vertikalen  oder 
horizontalen  Kranz  oder  Vogel  aus  Brotteig.   Abbildungen  und  eiue  Karte  sind  beigefügt. 

P.  R.  T.  Gurdou,  The  Khasis.  With  an  introduction  by  Sir  Charles  Lyall.  London, 
D.  Nutt  1907.  XXVII,  227  S.  7  Sh.  6  d.  —  Die  Schilderung  der  Sitten  und  Religion 
der  in  Assam  ansässigen  Khasis  enthält  auch  (S.  160  —  187)  15  Volkssagen,  darunter 
S.  171,  wie  der  Mond  seine  Schwester  verfolgend,  von  ihr  mit  Asche  beworfen  ward, 
S.  173  die  an  Polyphem  erinnernde  Tötung  eines  Menschenfressers  und  S.  LSl  eine 
Variante  zu  Simson  und  Delila. 

F.  Heinemann,  Aberglaube,  geheime  Wissenschaften,  Wundersucht,  I.Hälfte.  Bern, 
Wyss  1907.  XVII,  240  S.  (=  Bibliographie  der  schweizerischen  Landeskunde  Abt.  5,  5,  1). 
—  In  die  grosse,  von  der  Zentralkoramission  für  schweizerische  F,andeskunde  heraus- 
gegebene Bibliographie  ist  auch  ein  auf  fünf  Bände  berechnetes  Verzeichnis  der  volks- 
knndlichen  Literatur  eingegliedert,  an  dem  Heinemanu  seit  1897  arbeitet.  Es  soll  um- 
fassen: 1.  Aberglauben,  2.  Sekten,  Hexenprozesse,  Beehtsanschauungen,  3.  Sagen  und 
Legenden,  4.  religiöse  Gebräuche,  5.  weltliche  Sitten,  Sprichwörter,  Inschriften.  Die  vor- 
liegende 1.  Hälfte  des  1.  Bandes  erweckt  durch  Beichlialtigkeit,  gute  Systematik  und 
Genauigkeit  ein  günstiges  Vorurteil  für  das  ganze  Unternehmen.  Auf  einen  allgemeinen 
Teil  folgt  der  besondere  mit  den  Unterabteilungen  Alchemie  bis  Magnetismus.  Sollte, 
wie  es  scheint,  auch  einiges  aufgenommen  sein,  was  zu  der  Schweiz  nur  in  loserer  Be- 
ziehung steht,  so  wäre  dies  kein  grosser  Schade. 

A.  Hellwig,  Das  Einpflöcken  von  Krankheiten.  Globus  90,  245-249  (1906).  — 
Eine  gefährliche  Körperverletzung  infolge  Hexenglaubens.  Archiv  für  Strafrecht  54,  132 
bis  146  (1907).  —  Die  Beziehungen  zwischen  Aberglauben  und  Strafrecht.  Schweizer. 
Archiv  für  Volkskunde  10,  22-44. 

Ahmed  Hikmet,  Türkische  Frauen.  Nach  dem  Stambuler  Druck  Xaristan 
u-gülistan  von  1317  h  zum  ersten  Male  ins  Deutsche  übertragen  und  mit  Fussnoten  und 
einer  Einleitung  versehen  von  Friedr.  Schrader.  Berlin,  Mayer  &  Müller  1907.  IX, 
64  S.  2  Mk.  (Türkische  Bibliothek  hsg.  von  G.  .Jacob  7).  —  In  diesen  drei  Novellen 
(das  Wiegenlied,  Tante  Naqijje,  Salhas  Sünde)  schildert  der  1870  geb.  talentvolle  Autor 
mit   einem    den   neueren  Franzosen    abgelernten  Realismus    das    türkische  Familienleben, 


358  Brunner: 

dem  er  zugleich  Durchdringung  mit  modernem  Geiste  wünscht:  er  feiert  hier  die  Mutter-, 
Gatten-  und  Vatorlaudsliebe.  Wie  in  früheren  Bänden  der  Sammhing  hat  der  Verdeutscher 
sorgsame  Erläuterungen  unter  dem  Texte  beigefügt. 

A.  W.  Howitt,  The  native  tribes  of  South-east  Australia.     (Folk-lore  17,  174-189.\ 

M.  Höfler,    AUcrscelengebäcko,  eine  vergleichende  Studie  der  Gebildbrote  zur  Zeit 

des  Allerseelentages.     Mit  3(1  Abbildungen.      Wien  1907.     32  S.    (Aus   der    Zs.    f.  osterr. 

Volkskunde    13).    —    Bretzelgebäck.     Archiv   f.  Anthropologie  n.  F.  •!,   !H— 110.    —    Das 

■  Haaropfer  in  Teigform.    Ebd.  4,  130—148.  —  Das  Herz  als  Gebildbrot.    Ebd.  5,  263--J75. 

Max  Löhr,  Volksleben  im  Lande  der  Bibel.  Leipzig,  Quelle  &  Meyer  1907.  IV, 
134  S.  geb.  1,25  Mk.  (Wissenschaft  uud  Bildung,  hsg.  von  P.  Herre,  7).  —  Auf  an- 
ziehende Weise  führt  der  Breslauer  Gelehrte  einem  gebildeten  Publikum  das  heutige 
Palästina  in  sieben  Vorträgen  vor  Augen;  er  schildert  Land  und  Leute,  das  häusliche 
Leben,  die  Frauen,  Ackerbau,  Erwerb,  geistige  Interessen,  endlich  die  Stadt  Jerusalem, 
um  hie  und  da  Brücken  aus  der  Gegenwart  in  die  Vergangenheit  zu  sclilageu.  Für  uns 
interessant  ist  die  Erwähnung  des  Bauopfers  und  anderer  abergläubischer  Bräuche,  der 
altertümliche  Betrieb  des  Ackerbaues  u.  a.  Auf  einem  Versehen  beruht  das  S.  2  an- 
gegebene Todesjahr  Herodots. 

Gaston  Paris,  Esquisse  historique  de  la  litterature  franijaise  au  moyen  äge  (depuis 
Ics  origines  jusqu'ä  la  fin  du  15.  siecle).  Paris.  Armand  Colin  1907.  XI,  319  S.  —  Dies 
letzte  Werk  des  ausgezeichneten  Romanisten,  das  zuerst  1902  in  englischer  Übertragung 
veröffentlicht  ward  und  nun  dureli  verschiedene  Nachträge,  Anmerkungen  und  ein  Namen- 
register bereichert  hervortritt,  unterscheidet  sich  von  seiner  'Litterature  franraise  au 
moyen  äge'  (1S88)  durch  die  Einbeziehung  des  dort  fehlenden  15.  Jahrhunderts  und  durch 
das  historische  Einteilungsprinzip,  das  hier  au  die  Stelle  der  Gruppierung  nach  Literatur- 
gattungen getreten  ist.  Sehr  glücklich  hebt  der  Vf.  aus  seiner  innigen  Vertrautheit 
mit  der  altfranzösischen  Literatur  gerade  die  für  den  Nationalcharakter  bezeichnenden 
Züge  hervor. 

K.  Reuschel,  Über  die  Vnlkssagen  des  Königreichs  Sachsen  (^eingehende  Kritik 
von  A.  Meiches  Sagenbuch  1903\  Leipziger  Zeitung  1907,  23.  u.  30.  März,  wissensch. 
Beilage  Nr.  12-13. 


Aus  den 

Sitziiiigs-ProtokolhMi  des  Vereins  für  Volkskimde. 


Freitag,  den  26.  April  190".  Der  Vorsitzende  Prof.  Dr.  Roediger  teilte 
mit,  dass  der  Herr  Kultusminister  dorn  Verein  wiederum  eine  Beihilfe  von 
tioO  Mk.  für  das  laufende  Jahr  bewilligt  habe,  und  berichtete  über  die  am 
6.  September  1906  in  Wien  gehaltenen  Tagung  des  Gesamtvereins  der  deutschen 
Geschichtsvereine.  Der  Gründung  einer  zuniichst  von  Herrn  Dr.  Wossidio  in 
Waren  zu  verwaltenden  Zentralstelle  für  volkskundliche  Bibliographie  stimmte  er 
bei,  verwahrte  sich  aber  gegen  die  Errichtung  eines  neuen  Spezialmuseums  für 
Volkskunde.  Auch  widersprach  er  der  im  neunten  Jahresbericht  des  Vereins  für 
sächsische  Volkskunde  aufgestellten  Behauptung  von  einem  Gegensalze  der  volks- 
kundlichen Bestrebungen  zur  Philologie  und  Geschichte  und  wies  darauf  hin,  dass 
der  Volkskunde  vielmehr  dieselbe  historische  Methode  eigen  sei  wie  jenen 
Disziplinen  und  dass  die  Ergebnisse  aller  drei  Forschungszweige  zu  gegenseitiger 
Befruchtung  dienen. 


Protokolle.  359 

Den  Vortrag  des  Abends  hielt  Herr  Prof.  Dr.  Martin  Hartmann  über  Recht 
und  Brauch  im  Islam.  Er  zeigte,  wie  im  Islam  nur  das  Individuum  berücksichtigt 
und  jede  Gruppenbildung  als  gefährlich  unterdrückt  wird.  Der  islamitische  Staat 
ist  nicht  national,  sondern  ein  internationales  Reiigionsinstitut.  Daraus  folgt  ein 
gewisser  Absolutismus  der  Gläubigen  gegenüber  den  Ungläubigen  und  Ketzern, 
sowie  ein  Wcltmachtsdünkel,  der  den  Tatsachen  nicht  entspricht.  Der  Frömmste 
in  der  Gemeinde  ist  der  geehrteste  bei  Gott,  sagt  der  Koran.  Das  Ergebnis  ist 
aber  auch  weltliche  Ehrung  der  Frommen  und  Frömmigkeitsdünkel.  Den  neu- 
bekehrten Christen  und  Heiden  mussten  im  Beginne  Zugeständnisse  gemacht 
werden,  aus  denen  sich  der  Heiligenkultus  des  Islam  entwickelte,  obwohl  der 
Koran  ihn  verpönt.  In  seiner  Rechtfertigung  wurden  die  sog.  'heiligen  Über- 
lieferungen', d.  h.  lokale  Gebräuche,  in  das  geltende  Recht,  den  Koran,  ein- 
geschmuggelt. Andere  Zugeständnisse  sind  die  Schlachtopfer,  Speichelheilung  und 
Dattelölsalbung  an  Kindern.  Der  von  der  Priesterschaft  im  eigenen  Interesse 
gepflegte  individualistische  Zug  zeigt  sich  auch  in  der  Literatur,  wenn  von  einer 
solchen  überhaupt  gesprochen  werden  kann,  z.  B.  in  den  alten  Zunftbüchern.  Die 
Sprache  des  Islam  ist  das  Arabische,  das  man  von  Tanger  bis  Peking  findet. 
Ein  islamitisches  Staatsrecht  gibt  es  nicht.  „Die  Leitung  der  Gemeinde  ist  beim 
Stamme  Kureisch",  das  ist  der  einzige  staatsrechtliche  Grundsatz  des  Koran. 
Diese  Stelle  wird  aber  jetzt  auf  kaiserlichen  Befehl  im  Druck  fortgelassen.  Das 
islamitische  Strafrecht  verbietet:  Diebstahl,  Ehebruch,  Weintrunk  und  Beleidigung, 
enthält  aber  keine  Strafbestimmung  über  Mord  und  Totschlag.  Die  Rechtspflege 
ist  im  Islam  ein  sehr  wunder  Punkt  Die  Beweisführung  ist  sehr  erschwert  und 
Rechtsbeugung  fast  Regel. 

Herr  Prof  Dr.  Holte  legte  unter  Bezugnahme  auf  den  oben  S.  94  be- 
sprochenen Johannisbaum  in  den  Pyrenäen  eine  von  Herrn  Dr.  llöller  übersandte 
Abbildung  solcher  Bäume  zu  Thann  vor  und  besprach  die  weitverbreitete,  in 
England  noch  I85Ü  geübte  Skapulimantie,  die  Wahrsagung  aus  dem  Sehulterblatte 
des  Schafes,  deren  Ursprung  jüngst  R  Andrea  bei  den  mongolischen  Steppen- 
völkern Innerasiens  gesucht  hat.  Dazu  stimmt  gut,  dass  Jordanes  diesen  Brauch 
an  Attilas  Hofe  bezeugt;  keinen  Glauben  verdient  ein  byzantinischer  Gelehrter  des 
11.  Jahrhunderts,  der  ihn  auf  Plato  zurückführt.  Prophetische  Bedeutung  hatten 
entweder  die  weissen  und  roten  Flecken  des  frischen  (oder  gekochten)  Schulter- 
blattes oder  die  Risslinien,  die  sich  auf  dem  angebrannten  Knochen  bildeten.  — 
Herr  Prof  Dr.  Roediger  legte  ein  leinenes  Damasttisehtuch  aus  altem  Familien- 
besitz vor,  das  mit  reichen  Mustern,  einem  Wappen  mit  Hirsch  und  Vogelkralle, 
Streublumen  und  der  Zahl  1695  verziert  war. 

Freitag,  den  31.  3Iai  1907.  Der  Vorsitzende  machte  Mitteilung  vom  Tode 
des  früheren  langjährigen  Mitgliedes  Dr.  Gotthilf  Weissstein.  Dann  berichtete  er 
über  den  Delegiertentag  des  Verbandes  deutscher  Vereine  für  Volkskunde,  der 
am  24.  Mai  in  Eisenach  stattgefunden  hat,  und  von  ihm  und  Herrn  Prof.  Dr.  Bolte 
besucht  wurde.  Zum  1.  Vorsitzenden  des  Verbandes  wurde  Herr  Prof  Dr.  Mogk 
in  Leipzig  erwählt,  zum  2.  Vorsitzenden  Herr  Prof.  Seyffert  in  Dresden  und 
zum  Schriftführer  Herr  Dr.  Dähnhardt  in  Leipzig.  Der  nächste  Verbandstag 
soll  im  Herbst  IHOS  in  Berlin  stattfinden.  —  Herr  Dr.  Brunner  legte  eine  Aus- 
wahl litauischer  Webereien,  Stickereien,  Strickarbeiten  und  Trachtenteile  aus  üst- 
preussen  vor,  welche  der  Kgl.  Sammlung  für  deutsche  Volkskunde  seinerzeit  von 
Herrn  Direktor  Goerke  in  Berlin  geschenkt  worden  sind.  —  Dann  sprach  Herr 
Dr.  Fritz  Böhm  über  die  Metalle  im  antiken  Volksglauben.  In  Anknüpfung  an 
die  homerische  Erzählung    von  Odysseus    Aufenthalt   in    der  Unterwelt    zeigte  er, 


360  Briinuer:    Protokolle. 

wie  iQi  Aliertuui  die  Vorstellung  herrschte,  dass  die  Geister  oder  Seelen  vor  dem 
Eisen  sich  scheuten.  Im  deutschen  Volksglauben  sind  ähnliche  Vorstellungen 
nachweisbiir:  das  Schiessen  in  der  Walpurgisnacht,  der  Aberglaube,  dass  man  das 
Brot  nicht  brechen,  sondern  schneiden  müsse,  um  böse  Geister  fern  zu  halten, 
das  Hufeisen,  das  Kinderspiel  'Eisenzeck'.  Im  alten  Ilom  trug  die  Braut  einen 
eisernen  Ring,  und  ihre  Haartracht  wurde  unter  einer  ehernen  Lanze  geordnet. 
Aber  nicht  nur  die  Berührung  des  Metalls,  sondern  schon  der  Ton  ist  in 
dieser  Beziehung  wirksam.  So  lautet  man  bei  Gewitter  viellach  mit  den  Glocken. 
Schon  Lucian  sagt,  dass  Lärm  überhaupt  böse  Geister  abzuwehren  vermöge. 
So  lärmten  die  Kureten,  um  den  jungen  Zeus  zu  schützen.  Sonnenfinsteinisse  und 
andere  ungewöhnliche  Naturerscheinungen  wurden  bei  den  Alten  und  den  Germanen 
wie  auch  bei  wilden  Völkern  mit  Ijärm  begleitet.  Glöckchen  und  Schellen  trug 
man  an  Amuletten.  Schellen,  die  oft  in  Gräbern  gefunden  werden,  sollen  wohl 
die  Seelen  an  irdischer  Wiederkehr  hindern.  .\uch  andere  Metalle  als  Eisen  und 
Erz  dienten  im  Altertum  zur  Abwehr  der  Geister.  So  das  Gold.  Goldene  bullae 
sind  als  Amulette  zahlreich  erhalten.  In  alten  Gräbern  Russlands  fand  man  oft 
Goldblättchen  über  die  Toten  gestreut.  Flinius  berichtet  von  einer  Regel  der 
Volksmedizin,  wonach  die  heilkräftige  Pastinakwurzel  nur  mit  goldenem  "Werk- 
zeug ausgegraben  werden  müsse.  Anderseits  verpönte  der  konservative  Geist  im 
Kultus  bei  bestimmten  Zeremonien  und  bei  Herstellung  einzelner  Arzneien  gewisse 
Metalle.  Im  Vestadienste  in  Rom  wurde  Erz  dem  Eisen  vorgezogen.  Die  Aus- 
schliessung von  Metall  bei  der  Beschneidung  ist  bekannt.  Über  andere  Metalle 
ist  in  dieser  Hinsicht  nur  wenig  aus  dem  Altertum  überliefert.  Indessen  dürfte 
das  Blei  wie  im  neueren,  so  auch  im  antiken  Volksglauben  eine  gewisse  Rolle 
gespielt  haben.  Denn  man  findet  nicht  selten  in  alten  Gräbern  bleierne  Amulette 
und  Spruchtafeln.  —  In  der  Diskussion,  die  sich  an  den  Vortrag  anschloss,  fragte 
Herr  Direktor  Dr.  Minden,  ob  die  magnetische  Kraft  im  Altertum  vielleicht  auch 
in  dem  besprochenen  Sinne  betrachtet  worden  sei.  Diese  Frage  wurde  verneint, 
vielmehr  habe  man  den  Magnet  nicht  als  Metall,  sondern  als  Stein  angesehen. 
Herr  Prof.  Dr.  Bolte  verwies  u.  a.  auf  die  Telephossage  und  auf  deutsche  Sagen 
vom  Werfen  eines  Messers  in  "Windwirbel,  auf  die  Beschwörung  durch  kreuzweise 
gelegte  Schwerter  und  das  Schiessen  mit  silbernen  Flintenkugeln.  Herr  Prof. 
Dr.  Rudolf  Meyer  erörterte  gewisse  Widersprüche  in  den  Volksanschauungen 
über  die  Kraft  der  Metalle.  Im  ö.  Buch  der  Aeneis  gebietet  die  Sibylle  dem 
Aencas  blank  zu  ziehen,  während  sich  nachher  das  Eisen  als  unwirksam  gegen 
die  Schatten  erweist.  Ebenda  fährt  Charon  auf  einem  genähten  Boote  ohne  eiserne 
Nägel  über  den  Styx.  Demgegenüber  betonte  Herr  Dr.  Samter,  dass  zur 
Lösung  solcher  Widersprüche  der  Grundsatz  gelten  müsse,  Volksanschauungen 
nicht  aus  einem  Prinzip  heraus  erklären  zu  wollen.  Herr  Prof.  Dr.  Roediger 
fasste  solche  Widersprüche  als  Schichten  verschiedener  Zeitperioden  auf.  Aus 
eigener  Jugenderfahrung  berichtete  Herr  Sökeland  über  einen  Volksglauben  an 
die  abwehrende  Kraft  des  Eisens;  um  bei  aufziehendem  Gewitter  die  Gärung  zu 
erhalten,  tauchte  der  Bäcker  ein  glühend  gemachtes  Eisen  in  Wasser,  das  dann 
dem  Teige  zugesetzt  wurde. 

Steglitz.  K.  Brunner. 


Feuer  und  Licht  im  Totengebrauche. 

Von  Paul  .Sartori. 


In  einem  inhaltsreiclien  Vortrage  über  -Antike  und  moderne  Toten- 
gebrauche' (Neue  Jahrb.  f.  d.  klass.  Altertum  1905,  34ff.)  geht  E.  Samter 
von  dem  Gebrauch  von  Kerzen  beim  Todesfalle  und  bei  der  Bestattung 
aus.  Er  erinnert  bei  dieser  Gelegenlieit  mit  Recht  daran,  dass  man  bei 
der  Erklärung  eines  Brauches  nicht  eine  Einzelheit  herausgreifen  darf, 
sondern  alle  Fälle  seines  Vorkommens  im  Zusammenhange  betrachten 
muss.  Das  soll  im  folgenden  für  die  Verwendung  von  Feuer  und  Lieht 
im  Totengebrauche  versucht  werden. 

Schon  vor  dem  Eintritt  des  Todes  kommt  das  Licht  zur  Ver- 
wendung. In  Belgien  zündet  mau  auf  einem  Tische  neben  dem  Bett  des 
Sterbenden  die  au  Lichtmess  geweihte  Kerze  an.  In  der  Pikardie  wird 
die  Taufkerzo  zu  diesem  Zweck  aufbewahrt  (Bulletin  de  folklore  2,  333). 
Als  Ludwig  XV.  von  Frankreich  im  Todeskampfe  lag,  hat  man  ein  Licht 
ans  Fenster  gestellt  und  ausgelöscht,  als  der  Tod  eintrat  (Radermacher, 
Das  Jenseits  im  Mythus  der  Hellenen  S.  29).  In  Oberdeutschland  wird 
die  sog.  Sterbe-  oder  Römerkerze,  eine  kirchlich  gesegnete  Wachskerze 
(vgl.  dazu  Andree,  Votive  und  Weihegaben  S.  84),  dem  Verscheidenden 
brennend  vorgehalten  oder  in  die  Hand  gegeben.')  Die  Nachbarn  stehen 
betend  um  sein  Bett,  jeder  hat  dazu  seinen  eigenen  Wachsstock  brennend 
mit  in  die  Stube  hereingebracht.  Man  lässt  die  Romerkerze  auch  bei  der 
Leiche  fortbrennen;  selbst  im  Erlöschen  ist  ihr  Dampf  noch  wirksam. 
Er  kommt  deu  armen  Seelen  zugute.  Bei  der  Beerdigung  und  am  Schlüsse 
der  Totenmesse  wird  hierauf  nach  dem  Requiem  die  Kerze  vom  Priester 
feierlich  ausgeblasen  (Rochholz,  Deutseher  Glaube  und  Brauch  1,  167). 
In  Oberbayern  werden  (um  den  Teufel  fernzuhalten)  dem  Sterbenden 
brennende  rote  Wachskerzen  in  die  Hand  gegeben  oder  deren  beständiges 
Licht  unterhalten  (Am  Ür-Quell  2,  90).  In  der  Oberpfalz  wird  dem  Tod- 
kranken   ein    brennendes    Licht    vorgehalten,    Liehtmesswachs    oder    eine 


1)  [So  bei  J.  Frej,  Gartengesellschaft  1556  cap.  10,  Neudruck  von  Bolte  1896.] 
Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.   1907.  24 


362  Sartori: 

schwarze  Lorettokerze,  tue  ilie  ])ösen  Geister  uml  ilni  ZaiihiT  aliliiilt 
(Schönwerth,  Aus  der  Oberpfalz  1,  241;  vgl.  Verualeken,  Mytlien  und 
Bräuche  des  Volkes  in  Österreich  S.  311.  Oben  6,  408:  Iglau  in  Mähren). 
In  Böhmen  zündet  man,  wenn  die  Todesstunde  naht,  eine  am  Liclitmess- 
tage  geweihte  Sterbekerze  oder  einen  Wachsstock  im  uml  geht  dreimal 
damit  um  das  Bett  des  Sterbenden.  .Man  heisst  dies:  „es  wird  ihm  das 
Licht  gehalten"  oder  „er  wird  weggoleuchtet".  Andere  gehen  mit  einem 
kleinen  (ilöckchen  um  das  Bett  des  Kranken  herum  (John,  Sitte  im 
deutschen  Westböhmen  S.  166).  Audi  in  der  Eifel  wird  dem  Sterbenden  eine 
brennende  Kerze  in  die  Hände  gegeben  oder  vorgehalten,  und  mau  klingelt 
mit  der  'Benediktusschelle',  um  die  bösen  Geister  fernzuiuilteu  (Schmitz, 
Sitten  des  Eifler  Volkes  1,  6.')).  In  Franken  betropft  man  den  Sterbenden 
mit  der  Kerze  (Wuttke,  Volksaberglaube  §  7'2.3).  In  Rumänien  werden 
zwei  oder  mehrere  Kerzen  brennend  neben  dem  Kopfe  des  Sterbenden 
gehalten  und  dem  Toten  in  die  Hand  gegeben.  Doch  darf  diesen  Dienst 
kein  näherer  Verwandter,  auch  kein  intimer  Freund  verrichten,  weil  das 
den  Todeskampf  schmerzlicher  gestalten  wiinle;  aber  aucli  keiner,  den 
der  Sterbende  nicht  leiden  kann.  Die  brennende  Kerze  bedeutet,  dass 
der  Sterbende  Christ  sei  und  mit  allen  Jleuscheu  versölnit  aus  dem  Leben 
scheide,  und  gleichzeitig  soll  sie  ihm  den  Weg  ins  Jenseits  erleuchten. 
Anderswo  glaubt  man,  dass  sie  den  Teufel  fernhalte.  Im  ganzen  Bereiche 
des  rumänischen  Volkstums  bedeutet  das  Ableben  ohne  brennende  Kerze 
einen  'finsteren  Tod',  etwas  Sclirecküciies,  das  für  den  Toten  sowohl  wie 
für  die  Überlebenden  böse  Dinge  im  Gefolge  hat  (Flachs,  Rumänische 
Hochzeits-  und  Toteugebräuche  S.  43).  In  Schweden  wurden  im  Mittel- 
alter die  Hände  des  Sterbenden  in  betende  Stellung  gelegt  und  eine 
brennende  Kerze  hineingesteckt  als  Sinnbild  der  brennenden  Lampe,  mit 
der  die  Seele  dem  himmlischen  Bräutigam  entgegengehen  sollte  (Globus 
89,  38).  In  Dänemark  setzte  man  glühende  Kohlen  unter  das  Bett  des 
Sterbenden,  um  ihm  den  Todeskampf  zu  erleichtern  (Isäger,  Aus  der 
dänischen  Volksmedizin,  S.-A.  aus  Janus  1906,  S.  20). 

Auch  ausserhalb  des  Christentums  findet  sich  ähnliches.  Wenn  ein 
Hindu  stirbt,  wird  ihm  eine  Lampe  in  die  Hände  gegeben,  um  seinem 
Geist  in  das  Reich  Yamas  zu  leuchten.  Fromme  Leute  glauben,  dass  der 
Geist  860  Tage  für  diese  Reise  gebraucht,  dai'uni  werden  so  viele  Lampen 
geopfert.  Sie  werden  nach  Süden  zu  aufgestellt,  weil  der  Süden  das  Reich 
des  Todes  ist  (Crooke,  Populär  religion  and  folklore  of  Northern  India 
p.  219).  Wenn  bei  den  Togonegern  das  Leiden  zum  Tode  neigt,  so  wiril 
neben  der  Bettstatt  oder  der  Matte,  auf  der  der  Kranke  kauert,  ein  Kohlen- 
feuer entzündet;  auch  hält  nuiii  iliin  das  Kohlenbecken  vor  das  Gesicht, 
damit  er  die  Dämpfe  einatme  (Globus  72,  41).  Auf  Samoa  wird,  um  bei 
dem  Tode  eines  Menschen  die  Aitu  abzuhalten,  des  Nachts  Feuer  unter- 
halten,   geschrieen,    gesuugen    und    geschossen.      Aus  demselben    (irunde 


Feuer  und  Liclit  im  Totengebrauche.  363 

wird  bei  Schwerkrankeu    stets    das  Haus  erleuchtet  gehalten,   damit  nicht 
ein  Aitu  den  Kranken  fortführe,  d.  h.  er  sterbe  (Globus  68,  367). 

So  lange  der  Leichnam  noch  im  Hause  ist,  spielt  das  Licht 
seine  Rolle  weiter.  In  Japan  wird  gleich  nach  dem  Tode  ausser  Speiseu 
eine  brennende  Öllampe  neben  den  Leichnam  gesetzt  (Bird,  Unbetretene 
Reisepfade  in  Japan  1,  221).  Im  alten  Japan  aber,  wo  er  siebeu  oder 
«cht  Tage  und  Nächte,  nach  anderen  Berichten  14  Tage,  bei  Personen 
Ton  Rang  noch  viel  länger,  in  einer  moya  (Trauerhaus)  niedergesetzt 
wurde,  bis  die  Vorbereitungen  zur  Beerdigung  getroffen  waren,  wurden 
während  dieser  Zeit  Speisen  und  Getränke  in  der  moya  niedergesetzt  und 
ein  Feuer  vor  dem  Gebäude  angezündet  und  brennend  erhalten  (Lay  in 
Transactions  of  the  Asiatic  society  of  Japan  19,  507.  1891).  In  China 
werden  Kerzeu  um  den  Sarg  gestellt,  um  dem  Geiste  des  Toten  auf  seinem 
Wege  zu  leuchten  (Bennys,  The  folklore  of  China  p.  21.  Über  die  Sitte 
in  Peking  s.  Grube,  Zur  Pekinger  Volkskunde  S.  38).  Vor  einer  Leiche 
in  Longputi  (Südostborueo)  brannten  Harzlichter  (Ratzel,  Völkerkunde 
2,  461).  Wenn  bei  den  Wotjäken  die  Leiche  in  den  Sarg  gelegt  ist, 
klebt  man  an  den  Rand  des  Kopfendes  brennende  Wachslichter;  ebenso 
am  anderen  Ende  des  Zimmers  auf  eine  zum  Aufhängen  von  Kleidern 
dienende  Stange  in  der  Nähe  des  Ofens  und  bittet  die  früher  verstorbenen 
Verwandten,  auch  diesen  Toten  als  Gefährten  aufzunehmen  (Buch,  Die 
Wotjäken  S.  144).  Russische  Lappen  zündeten  nach  einem  älteren  Be- 
richte um  einen  Sarg  „viel  Tannenwürzel"  an,  die  wie  Lichter  brannten 
(oben  11,  434).  Wenn  in  Moskau  ein  Unbemittelter  stirbt,  stellt  man 
den  Sarg  auf  die  Strasse  mit  einer  Kerze  daneben.  Der  Vorübergehende, 
der  ein  Almosen  zur  Beerdigung  spenden  will,  steckt  sein  Geldstück  in 
die  Kerze  (Bulletin  de  folklore  2,  365.  145).  Die  Armenier  legen  gleich 
nach  dem  Leichenbade  zwei  Kerzen  in  die  Hände  des  Toten,  damit  er 
seine  Verwandten  und  Bekannten  in  jener  dunklen  Welt  erkenne  (Abeghiaii, 
Der  armenische  Volksglaube  S.  21  f.).  Bei  den  Letten  werden  um  die  auf- 
gebahrte Leiche  brennende  Lichter  aufgestellt.  Wenn  von  diesen  eines 
zu  Ende  gebrannt  ist,  sehen  die  alten  Weiber  strenge  darauf,  dass  das 
als  Ersatz  aufgesteckte  neue  nicht  an  der  Flamme  des  verlöschenden, 
sondern  mit  einem  Streichholz  entzündet  werde,  „weil  sonst  dem  Toten  im 
Jenseits  Feuer  (Licht  und  Wärme)  mangeln  würde"  (Globus  82,  367). 
Nach  jüdischer  Sitte  pflegte  in  dem  Zimmer,  wo  eine  Leiche  lag,  ununter- 
brochen Licht  zu  brennen  (Grüneiseu,  Der  Ahnenkultus  und  die  Urreligion 
Israels  S.  103).  In  der  Schweiz  muss  die  Leidfrau  das  Totenlicht  brennend 
erhalten  (Rochholz,  Deutscher  Glaube  1,  195).  In  der  Oberpfalz  darf  die 
zu  Häupten  der  Leiche  stehende  Wachskerze  nicht  erlöselien,  solange  der 
Tote  im  Hause  ist,  denn  niemand  würde  es  wagen,  sie  wieder  anzuzünden. 
Auch  darf  man  sie  nicht  stützen  (Schönwerth,  Aus  der  Oberpfalz  1,  246). 
Am  Böhmerwalde  entlang  brennt  ein  kleines  öllicht  ganz  matt,  damit  kein 

•24* 


364  Sartori: 

Lebender  den  Schein  davon  habe  (ebenda). ')  Bei  den  Deutschen  West- 
bölimens  sagt  mau  daher:  „Es  brennt  wie  ein  Totenlicht"  (Unser  Eger- 
land  8,  55).  Ein  schwaches  Öllicht  auch  beim  steirischen  Volke  im 
iMürztal  (Zs.  f.  öst.  Yolltsk.  4,  293;  vgl.  Vernaleken  S.  311:  Nensohl  im 
nördl.  Ungarn).  Im  Lechrain  kriegt  der  Tote  in  die  Hände  einen  iioch- 
geweiliten  Beter,  einen  Wachssttick  und  ein  Amulet;  neben  ihm  brennt 
die  geweihte  Sterbekerze  (Leoprechting,  Aus  dem  Lechrain  S.  250).  In 
Tuttlingen  brennt  bei  Leichen  von  Kindern  unter  sechs  Jahren  nachts  ein 
Liclit  (Birlinger,  Volkstüml.  aus  Schwaben  2,  403).  In  der  Höfer  Gegend 
wird  in  der  Nacht  vor  dem  Begräbnisse  in  der  Kammer,  wo  der  Ver- 
storbene liegt,  beständig  ein  Licht  gebrannt  (Köhler,  Volksbrauch  im 
Voigtlande  S.  252).  In  Ölsnitz,  so  lange  die  Ijoiche  im  Sterbehause  liegt, 
„damit  die  Seele  nicht  so  lange  im  Finstern  zu  wandeln  hat"  (ebenda  S.  442). 
Li  Franken  wird  neben  die  Leiche  eine  offene  Scheere  gelegt  gegen  die 
Hexen  und  ein  Talglicht  gegen  die  Mäuse  (Wuttke  S  729).  Ein  Licht 
muss  bei  dem  Toten  brennen,  sonst  fressen  iiini  die  Mäuse  die  Augen 
aus  (Schulenburg,  Wendische  Volkssag.  S.  234).  In  Ostpreussen  ist  Licht 
im  Sterbehauso  wohl  geboten,  wird  aber  oft  vernachlässigt.  In  der  zweiten 
Nacht  brennt  es  nur  kurze  Zeit,  und  dann  sagt  man  wohl:  es  ging  von 
selbst  au.s  (Lemke,  Volkstüml.  in  Ostpreussen  2,  279).  Auf  der  knrisciien 
Nehrung  lässt  man  Lichter  am  Sarge  brennen,  die  beim  Scheiden  des 
Geistes  von  selbst  verlöschen  sollen  und  zn  profanen  Zwecken  nicht  ver- 
wandt werden  (Globus  82,  291).  In  der  Eüneburger  Heide  lag  neben  der 
aufgebahrten  Leiche  der  Sargdeckel  und  trug  zwei  fvcuchter  mit  brennenden 
Lichtern.  "Während  iler  Tischler  den  Sarg  schloss,  wurden  die  Lichter 
von  der  Tütenfrau  zurückgestellt,  um  auszubrennen  (Kück,  Das  alte 
Bauernleben  der  Lüneburger  Heide  S.  262).  Auch  in  Westfalen  darf  das 
nachts  bei  der  Leiche  brennende  Eicht  am  Morgen  niclit  ausgelöscht 
werden,  sondern  muss  in  den  Tag  hinein  fortbrennen,  bis  es  von  selbst 
verlischt  (Kuhn,  Westfäl.  Sagen  2,  48  f.  nr.  133;  vgl.  Woeste  im  Nd.  Jahrb. 
1877,  150).  Auf  Sylt  brennt  (statt  der  früher  üblichen  Leichenwache) 
ein  lacht  in  der  Stube,  während  die  Leiche  im  Hause  ist.  Auf  einigen 
Halligen  waclien  bei  der  Leiche  zwei  Personen,  oder  es  brennen  zwei 
Liciiter  in  der  Stube,  so  lange  der  Sarg  noch  nicht  geschlossen  ist  (Jensen, 
Die  nordfries.  Inseln  S.  338;  vgl.  340).  In  einem  alten  Tanzliede  von 
Osterland-Föhr  wird  erwähnt,  dass  „so  viel  Wachskerzen  über  der  Leiche 
brennen  sollen,  als  Blutstropfen  von  ihr  gesprungen"  (ebenda  S.  340,  Anm.). 
Bei  den  Rumänen  brennen  Kerzen,  so  lange  der  Toto  im  Hause  weilt, 
damit    die  Seele  sehen    könne,    wo  sie  sich  befinde    (Flachs,   Rumänische 


I")  Dagegen  heisst  es  in  Nicdcröstcrrcich:  \\ei\a  das  Licht,  das  bei  einem  Toten 
steht,  trüb  und  „dumper"  brennt,  so  stirbt  bald  einer  nacli  aus  derselben  Freundschaft 
(Ztschr.  f.  dtsch.  Mythol.  4,  '29). 


Feuer  und  Licht  im  Totengebrauche.  365 

Hochzeits-  und  Totengebräuche  S.  47).  Die  Dörfler  kommen  alle  mit 
Kerzen  herbei,  um  sie  an  der  Totenkerze  anzuzünden  oder  neben  dem 
J^eichnam  niederzulegen.  Dann  muss  vor  allem  das  grosse  Totenlicht  aus 
reinem,  gelbem  Wachs  genau  in  der  Länge  des  Leichnams,  fingerdick  für 
einen  älteren  Toten,  dünner  für  einen  jüngeren,  gedreht  werden;  es  dient 
der  Seele  als  stützender  Stab  beim  Überschreiten  der  grossen  Brücke  vor 
dem  Paradies.  Diese  Kerze  wird  in  einen  grossen,  aus  der  Kirche  geholten 
Leuchter  gesteckt  und  dreimal  täglich,  wenn  die  Glocken  geläutet  werden, 
angezündet  (Flachs  S.  52f.).  Auch  bei  den  Bulgaren  werden  neben  dem 
Toten  Kerzen  angezündet  und  Äpfel  oder  anderes  Obst  neben  ihn  gelegt 
(Strauss,  Die  Bulgaren  S.  446).  Die  Huzulen  stellen  zu  Häupten  des 
Toten  auf  einen  umgestürzten  Topf  eine  Unschlittleuchte  und  ein  Töpfcheu 
mit  Brunnenwasser.  Leuchte  und  Töpfchen  schenkt  man  nach  der  Be- 
erdigung einem  Armen,  der  Topf,  auf  deni  die  Leuchte  stand,  wird  von 
einem  alten  Weibe  zerschlagen,  „damit  der  Tote  niemand  nach  sich  ziehe 
und  in  den  Träumen  nicht  erscheine."  Die  Zimmerleute,  die  den  Sars: 
gemacht  haben,  legen  nach  Vollendung  ihrer  Arbeit  ihre  Werkzeuge  auf 
den  Sarg  und  knieen  neben  ihm  nieder.  Hierauf  waschen  die  Verwandten 
den  Meistern  die  Hände,  trocknen  sie  und  reichen  jedem  ein  Licht,  ein 
Handtuch  und  ein  Brot.  In  der  Nacht  vor  der  Bestattung  brennt  vor  dem 
Hause  ein  Feuer  (Globus  69,  91).  In  Alzen  (Siebenbürgen)  werden  zwei 
Kerzen  aus  der  Kirche  unangezündet  neben  den  Toten  auf  die  Bank  oder 
in  den  Sarg  gelegt  (Schuller  im  Progr.  d.  Gymnas.  zu  Schässburg  1863,  44 
Anm.  30).  lu  Pepinster  (Prov.  Lüttich)  und  im  nördlichen  Hennegau 
zündet  man  Kerzen  um  den  Toten  an.  Diese  Kerzen  dürfen  nicht  zur 
Beleuchtung  dienen;  es  muss  eine  brennende  Lampe  im  Totenzimmer 
vorhanden  sein  (Bulletin  de  folklore  2,  340  nr.  48).  Im  Borinage  hält  jeder, 
der  den  Toten  sehen  will,  während  des  Besuches  die  geweihte  Kerze  in  der 
Hand  oder  bringt  zu  diesem  Zweck  die  geweihte  Kerze  seiner  Familie 
mit,  wenn  diese  eine  besitzt.  In  Charleroi  und  Umgegend  lässt  man  nur 
einige  Tropfen  geweihten  Wachses  in  Kreuzform  auf  den  Sarg  tröpfeln 
(ebenda  2,  341  nr.  53  f.).  In  Northumberland  pflegte  auf  einen  Leichnam 
eine  Kerze  gesetzt  zu  werden,  und  ein  ähnlicher  Brauch  herrschte  auf  der 
Insel  Man.  Im  schottischen  Tieflande  wird  eine  Kerze  dreimal  um  den 
Leichnam  geschwenkt,  wenn  er  gesegnet  wird  (Dennys  p.  21).  Von  der 
im  Mittelalter  in  Bayern  üblichen  Umräucherung  der  Leiche  mit  einer 
Glutpfanne  (Glühtl)  hat  sich  nur  noch  die  volkstümliche  Bezeichnung  des 
kirchlichen  Libera  als  'der  Rauch'  erhalten  (Am  Ur- Quell  6,  101). 
Übrigens  pflegten  auch  in  Rom  neben  den  lectus  Rauchpfannen  (acerrae, 
turibula)  aufgestellt  zu  werden  (Becker-GöU,  Gallus  3,  493).  In  Bengalen 
wird  der  Leiche  einer  Frau,  die  während  der  Menstruationszeit  oder  im 
Wochenbett  stirbt  und  darum  leicht  ein  schädlicher  Dämon  werden  kann, 
etwas  Feuer  auf  die  Brust  gelegt  (Crooke,  Populär  religion  S.  170).     Bei 


366  Sartori: 

den  Parsen  wird  nach  Beendigung  des  Sagdeed  (Zeremonie  des  'Sehens 
des  Hundes')  Feuer  ins  Zimmer  gebraclit  und  mit  duftendem  Sandelholz 
und  Weihrauch  in  einer  Vase  unterhalten.  Ein  Priester  sitzt  davor  und 
sagt  den  Zendavesta  her,  bis  der  Ijuichnaiii  weggebracht  wird  (Glolms 
64,  395). 

.Maiulmiiil  klimmen  die  i-ichter  nocli  kurz  vor  dem  Weiibriniren 
des  Sarges  zu  besonderer  Verwendung.  In  Iglau  in  Mähren  wird  un- 
mittelbar vor  der  Funes  (Leichenbegängnis),  sobald  die  Trauergäste  er- 
schienen sind,  abermals  die  geweihte  Kerze  angezündet  (oben  (i,  409). 
In  Osterstade  ist  bei  <ler  häusliclien  Totenfeier  der  Sarg  von  brennenden 
Lichtern  umgeben.  Auf  ilim  stehen  Teller  mit  Zitronen  und  glimmenden 
Rauchkerzen.  Zur  Leichenrede  tritt  der  Prediger  vor  den  Sarg,  wo  ein 
Tisch  niit  zwei  Lichtern  steht.  Nach  der  Jjeichenrede  werden  Lichter 
und  Räucherkerzen  entfernt  (Allmers,  Marschenbuch  S.  259f.).  Hat  man 
bei  der  Leichenrede  vergessen  die  Lichter  anzustecken,  so  kann  nach  dem 
Glauben  der  Kassuben  der  Tote  nicht  selig  werden  (Knoop,  Volkssag.  a.  d. 
östl.  Hinterpommern  S.  164  Nr.  97).  In  Mecklenburg  ist  allgemein  der 
Brauch,  dass  bei  einer  Leiche  die  letzte  Stunde  vorher,  ehe  sie  nach  dem 
Kirchhof  gebracht  wird,  ein  paar  Lichter  angezündet  werden.  Diese 
dürfen  nicht  mit  der  Lichtscheere  ausgelöscht  oder  ausgeblasen,  sondern 
müssen  mit  der  Hand  ausgeschlagen  oder  mit  einem  Tuche  ausgeweht 
werden  oder  müssen  ausbrennen.  Auch  werden  sie  nicht  eher  ausgelöscht, 
als  bis  die  Leiche  aus  dem  Dorfe  ist  oder  die  Leidtragenden  vom  Kirchhof 
zurückgekehrt  sind  (Bartsch,  Sagen  aus  Mecklenburg  •_',  94f.  nr.  313 — 317). 
Ähnlich  in  Braunschweig  (Andree,  Braunschweiger  Volkskunde  S.  225). 
Wenn  in  Gischow  bei  Bützow  eine  Leiche  im  Hause  ausgesungen  wird, 
steht  der  Sai'gdeckel  neben  dem  Sarg  auf  zwei  Stühlen.  Auf  dem  Deckel 
stehen  zwei  brennende  iiicliter.  Wird  nach  dem  Gesänge  der  Deckel 
zugemacht,  so  werden  die  beiden  Stühle  umgeworfen  iiiicl  die  Lichter 
daneben  gesetzt.  Die  Stühle  werden  nicht  eher  aufgehoben  und  iHe 
Lichter  nicht  eher  ausgelöscht,  als  bis  die  Leiche  aus  dem  Dorfe  ist 
(Bartsch  2,  94  nr.  315).  Ähnlich  verfäiirt  man  in  Böhmen,  „damit  niemand 
mehr  von  derselben  Familie  sterbe"  (John,  Sitte  im  deutschen  West- 
böhmen S.  174).  In  Oldenburg  dürfen  die  drei  Licliter,  die  am  Begräbnis- 
tage auf  dem  Sarge  brennen,  erst  nach  der  Rückkejir  des  Leicliengefolges 
ausgelöscht  und  zu  gewöhnlichen  Zwecken  nicht  wieder  angezündet  werden 
(Strackerjan,  Abergl.  a.  d.  Herzogtum  Oldenburg  2,  131).  Im  oberen 
Swauetien  (Kaukasus)  beginnt  etwa  zwei  Stunden,  bevor  die  Leiche  aus 
dem  Hause  getragen  w'ird,  und  wenn  sich  alle  Dorfbewohner  versammelt 
haben,  das  Beweinen  des  Toten.  Das  Zimmer,  wo .  der  Leiclinam  liegt, 
wird  durch  eine  Menge  von  Wachsliclitern  iMliellt,  die  an  die  Decken- 
pfosten, die  Wände  usw.  angeklebt  werileu.  Währenddes  vcrsammidn 
sich  die  Verwandten  und  nahen  Bekannten  des  Verstorbenen.   Dann  erfolgt 


Feuer  und  Licht  im  Totengebrauche.  367 

lautes  Weinen  und  Klagen.  War  der  Verstorbene  ein  Mann,  so  wird, 
ehe  man  ihn  aus  dem  Hause  trägt,  sein  Gefährte  und  Kamerad  bei  der 
Arbeit,  der  Ochse,  an  seinen  Sarg  geführt;  an  seine  Hörner  sind  an- 
gezündete Wachslichter  befestigt.  Nachdem  er  einige  Augenblicke  vor 
dem  Toten  gestanden,  führt  man  ihn  wieder  weg.  Das  ist  nach  dem 
(ilauben  der  Swaneten  die  letzte  Freude,  die  der  Verstorbene  ins  Jenseits 
mitnimmt    (Beilage    z.    Münchener    Allg.  Zeitung   1906,    Nr.  143,    S.  542). 

AVenn  die  Leiche  aus  dem  Hause  getragen  wird,  muss  man 
ihr  Feuer  und  Wasser  nachwerfen,  daun  wird  sich  der  Geist  des  Toten 
nachher  nicht  rühren  und  nicht  im  Hause  zeigen  (Bartsch,  Mecklenb. 
Sag.  2,  96  nr.  329).  Dieselbe  Sitte  mit  gleicher  Begründung  auf  Born- 
liolm  (Isäger,  Aus  der  dänischen  Volksmedizin  [aus  Janus  1906]  S.  20). 
Bei  den  Grönländern  schwingt  ein  altes  Weib  einen  Feuerbrand  hinter 
dem  Leichnam  her,  der  durchs  Fenster,  nicht  durch  die  Tür,  hinaus- 
geschafft wird,  und  ruft  dabei:  pickleruck  pock  (=  hier  ist  nichts  mehr 
zu  haben),  und  die  sibirischen  Tschuwaschen  schleudern  der  hinaus- 
getragenen Leiche  einen  glühend  roten  Stein  nach,  um  ihr  die  Rückkehr 
abzuschneiden  (Tylor,  Die  Anfänge  der  Kultur  2,  26). 

In  Rom  wurde  der  Leichenzug  (auch  am  Tage)  von  Fackeln  be- 
gleitet, nach  Servius,  weil  ursprünglich  die  Bestattungen  bei  Nacht  statt- 
fanden (Becker-Göll,  Gallns  3,  501.  Marquardt-Mau,  Das  Privatleben  d. 
Römer  S.  343£f.).  Angeblich  aus  demselben  (trunde  figurierte  auch  in 
Japan  im  Leichenzuge  ein  Laternenträger  (Lay  in  Transactions  of  the 
Asiatic  society  of  Japan  19,  510.  1891).  Nach  der  'Allgemeinen  Historie 
d.  Reisen  zu  Wasser  und  zu  Lande'  11,  669  (Leipzig  1753)  geht  im 
japanischen  Leichenzuge  u.  a.  vor  der  Leiche  „ein  einziger  Mensch  in 
aschgrauer  Kleidung,  welche  Farbe  sowohl  als  die  weisse  Trauer  bedeutet, 
mit  einer  Kühnfackel."  Bei  den  Sihongern  (Sfldost-Borneo)  schreitet  auf 
dem  Wege  zum  (vorläufigen)  Begräbnis  dem  Zuge  ein  Mann  mit  einer 
brennenden  Fackel  voran  (Ausland  57,  471).  Bei  der  altindischen  Be- 
stattung geht  vor  dem  Leichenzuge  der  Verrichter  mit  einem  Feuerbrand. 
Dann  kommen  noch  verschiedene  Arten  von  Feuern  (darunter  drei  irdene 
Schüsseln,  die  innen  mit  Kuhmist  bestrichen  oder  mit  leicht  entzündbaren 
Substanzen  gefüllt  und  in  Brand  gesetzt  sind),  u.  a.  auch  das  häusliche 
Feuer,  unmittelbar  nach  den  Feuern  kommt  der  Leichnam;  zwischen 
ihm  und  den  Feuern  darf  niemand  gelien.  Nach  einigen  Quellen  wird 
der  Leichnam  mitten  zwischen  den  Feuern  geführt  (Caland,  Die  alt- 
indischen Toten-  und  Bestattungsgebräuche  S.  19 f.).  Auch  wenn  die 
Sihänaka  einen  Toten  zu  Grabe  bringen,  muss  einer  aus  dem  Gefolge 
eine  grosse,  irdene  Schüssel  mit  brennendem  Kuhmist  auf  dem  Kopfe 
nachtragen,  die  neben  dem  Grabstein  niedergesetzt  wird  (Sibree,  Mada- 
gaskar S.  327).  Im  wallonischen  Gebiete  geht  eine  grosse  Zahl  kerzen- 
tragender Kinder  vor    dem  Leichnam   her.     Diese    Kerzen  wui-den    früher 


368  Sartori : 

Eigentum  des  Trägers,  der  lieute  statt  dessen  eine  Bezahlung  erhält. 
Anderswo  (im  Gebiet  von  Beaumont,  Hennegau)  werden  die  Kerzen  durch 
Fackeln  ersetzt  und  die  Kinder  durch  Greise  oder  Arme  (Bulletin  de 
folklore  '2,  358  nr.  120).  Beim  rumänischen  Leichenbegängnis  wird  die 
erstlich  schon  erwähnte  grosse  Totenkerze  (toiagul)  brennend  bis  zum 
Grabe  vorangetragen.  Yur  dem  Sarge  gehen  Männer  mit  Lateriu>n  und 
Heiligenbildern  (Flaeh.s,  Rumänische  llochzeits-  und  Totengebräuche 
S.  53.  58).  In  Hamburg  leuchteten  frülier,  als  noch  Abendleichen  Mode 
waren,  die  sog.  Lüchtendräger,  mit  Stocklaternen  bewehrt,  die  Leichen  zu 
Grabe  (Schütze,  Holstein.  Idiotikon  3,  32).  In  Oberbayern  müssen  alle 
beim  Totengange  benutzten  Kerzen  oder  Wachsstöcko  rot  sein  (Am  Ur- 
Quell  2,  102).  In  der  Gegend  von  Aalen  sitzt  (bei  Katlioliken)  auf  dem 
von  Ochsen  gezogenen  Leichenwagen  oft  eine  Frau,  die  ein  brennendes 
Licht  in  einer  gewöhnlichen  Laterne  hält  (Birlinger,  Aus  Schwaben  2,  316). 
In  Ditmarschen  fuhr  noch  vor  einigen  Jahren  die  Leichenfrau  mit  nach 
dem  Kircliliof,  um  die  Lichter  auf  dem  Sarge  in  der  Kirche  anzuzünden 
und  die  Totenlaken  mit  heimzunehmen  (Am  Ur-Quell  1,  32).  Auf  Sylt 
gehen  zwei  Frauen  als  Verwandte  der  Leiche  voran.  Die  eine  trägt  zwei 
Lichter,  die  sie  in  der  Kirche  auf  den  Altar  legt,  die  angezündet  werdtm 
und  wälirend  des  Gottesdienstes  brennen;  die  andere  hat  die  Begräbnis- 
gebühreu  für  Küster  und  Pastor  (Jensen.  Die  nordfries.  Inseln  S.  343). 

Im  Lande  Wursten  und  in  anderen  friesischen  Marschen  haben  alle 
Häuser,  bei  denen  ein  Leichenzug  vorbeikommt,  zur  Ehre  des  Toten  die 
nach  der  Strasse  liegenden  Fenster  hell  illuminiert;  die  Bestattungen  finden 
gegen  Abend  statt  (Allmers,  Marschenbuch  S.  318). ')  Erinnert  sei  auch 
an  die  in  grösseren  Städten  geübte  Sitte,  bei  besonders  feieidichen  Leichen- 
begängnissen die  Strassenlateruen,  an  denen  der  Zug  vorbeikommt,  an- 
zuzünden. 

"Wenn  die  Leiche  im  Kirchensciii  ff  aufgebahrt  ist.  wird  (bis 
Seelamt  gelesen.  Man  zündet  Kerzchen  zu  Ehren  des  Toten  an,  auf  dass 
das  ewige  Licht  ilim  leuchte.  Noch  während  des  Amtes  maclien  die 
Leidtragenden  einen  Opfergang  um  den  Altar.  In  manchen  Orten  opfert 
man  noch  nach  alter  Sitte  Wachskerzen  (oben  (i.  410:  Iglau  in  Mäliren). 
Äimlicho  Umgänge  mit  Kerzen,  die  dann  am  Altar  geopfert  wurden,  in 
Brüssel  und  im  wallonischen  Brabaut  (Bulletin  de  folklore  2,  365  nr.  146). 
In  Audenarde  in  Flandern  ist  es  noch  Brauch,  dass  bei  der  Seelenmesse 
bei  der  Beerdigung  der  nächste  Verwandte,  der  zum  Opfer  geht,  eine 
Kerze  oj)fert  und  in  diese  ein  (ieldstück  hineinsteckt,  das  er  opfern  will, 
während    die  Freunde  und  Nacliliarn.    wie  sonst  auch,    ihr  Geldstück    auf 


1)  Wenn  auf  Colebes  eiu  fürstlicher  Leichenzujr  die  Str.issc  passiert,  so  verliroiiucu 
die  Bewolmcr  der  anlicf^enden  Häuser  Salz,  um  die  Dänioueii  von  sich  fernzuhalten, 
die  durch  den  Lärm  des  Leichenzuges  erschreckt,  nach  allen  Seiten  auseinauderstiebeu 
(Schwally,  Semitische  Kriegsaltertümcr  1,  32 f.). 


Feuer  und  Licht  im  Totengebrauche.  369 

den  Teller  oder  iu  den  Klingelbeutel  legen  (ebd.  2,  365  nr.  145).  Vom 
Leichenbegängnis  eines  Meisters  vom  Tempel  lieisst  es  in  der  Regel  des 
Ordens:  Bei  seiner  Seelmesse  sollen  eine  grosse  Menge  Wachskerzen  und 
Lichter  brennen  und  unter  grossen  Eiirenbezeugungen  soll  er  begraben 
werden.  Dieses  helle  Kerzenlicht  soll  einzig  seiner  Meisterwürde  zu  Ehren 
entzündet  werden  (Körner,  Die  Templerregel  S.  62  ur.  198). 

Bei  einem  Überblick  über  diese  mannigfachen  Gebräuche  bis  zu  dem 
Augenblicke  der  Bestattung  des  Leichnams  ergibt  sich  als  gemeinsamer 
Grund  für  die  Verwendung  des  Feuers  und  Lichtes  iu  erster  Linie  offenbar 
die  Absicht,  böse  Einflüsse  von  dem  Sterbenden  oder  Toten,  aber  auch 
von  den  Überlebenden  fern  zu  halten.^)  Selbst  in  christlicher  Umgebung 
bricht  diese  Vorstellung  noch  überall  hindurch.  Nicht  nur  der  Sterbende 
und  Tote  erhält  sein  Licht,  sondern  aucli  die  ihn  Besuchenden  tragen  eins 
zu  ihrer  Sicherung  (Rumänien,  Belgien,  Oberdeutschland).  Reclit  deutlich 
tritt  die  Abwehr  hervor  in  dem  schottischen  l^rauche,  eine  Kerze  dreimal 


1)  Der  Gla-ube  an  die  abwehrende,  reinigende,  zauberbrechende  Kraft  des  Feuers  ist 
viel  zu  verbreitet,  als  dass  man  ihn  nicht  auch  im  Toteugebrauche  immer  zunächst  ins 
Auge  fassen  müsste.  —  Feuer  wird  verwandt  zum  Schutz  gegen  böse  Menschen  und 
Feinde  (Liebrecht,  Zur  Volkskunde  S.  319.  Schwally,  Semitische  Kriegsaltertümer  1,  i').  28. 
Oldenberg,  Religion  d.  Veda  S.  340):  gegen  Hexen  und  Alpdruck  (Wuttke,  Volksabergl. 
§  115f.  215.  414.  419.  Panzer,  Beitr.  z.  dtsch.  MythoL  1,  262  nr.  91):  gegen  böse 
Geister  (Tylor,  Anfänge  der  Kultur  2,  195ff.  Oldenberg  337  f.  Crooke,  Populär  religion 
S.  154.  Abeghian,  Der  armenische  Volksgl.  S.  o4f.  Mannhardt,  Wald-  u.  Feldkulte  1,  133. 
Glü.  Kuhn,  Mark.  Sagen  38.J  nr.  72.  Oben  3,  34);  gegen  Irrlichter  (Ztschr.  d.  Vcr. 
f.  rhein.  u.  westlal.  Volkskunde  3,  208);  gegen  Gewitter  (Andree,  Votive  u.  Weihegaben 
S.  84.  Reubold,  Beitr.  z.  Volkskunde,  Kaufheurcn  1905,  18:  im  Ansbachischen);  gegen 
Krankheiten  (Isäger,  Aus  d.  dänischen  Volksmedizin  S.  17ff.  Wolf,  Beitr.  z.  dtsch. 
Mythol.  2,  377f.);  für  Neugeborene  und  Wöchnerinnen  (Oldenberg  S.  337f  Kulin, 
Westfäl.  Sagen  2,  33f.  Müllenhoff,  Schlesw.- Holst.  Sagen  S.  .579.  Ausland  .ö7,  782: 
Halligfrieseu.  Jahrb.  f.  Schlesw.- Holst.  Landeskunde  4,  157.  Kahle  in  d.  Neuen  Jahrb- 
f.  d.  klass.  Altert.  1905,  720,  Anm.  4:  Schweden  u.  Norwegen.  Globus  89,  882:  Schweden. 
Bartsch,  Mecklenb.  Sagen  1,  4(i.  91.  2,  43.  (Jü.  Wuttke  §583.  Höfler,  oben  15,  315f. 
Lynker,  Deutsche  Sagen  usw.  in  hessischen  Gauen  S.  55.  Curtze,  Sagen  a.  Waldeck 
S.  219.  227.  Zs.  f.  rhein.  u.  westfäl.  Volkskunde  2,  178.  Reubold.  Beitr.  z.  Volkskunde 
S.  45:  Ansbach.  Monseur,  Le  folklore  wallen  p.  87.  Liebrecht,  Zur  Volkskunde  S.  31.  360. 
Mannhardt,  Wald-  u.  Feldkulte  2,  125,  1.  Philologus  64,  210);  für  die  Hebamme  auf 
ihrem  Amtswege  (John,  Sitte  im  deutschen  Westböhraen  S.  110);  bei  der  Taufe  (Alpeu- 
burg,  Aipensagen  S.  25.'3.  John  S.  114);  bei  der  Hochzeit  (Philologus  64,  210.  Bartsch, 
Mecklenb.  Sagen  2,  70  nr.  251;  John  S.  149.  Dennys,  The  folklore  of  China  p.  17):  bei 
der  Rückkehr  von  der  Kirchweih  (Reubold  S.  42:  Ansbach.  Nach  der  Kirchweih, 
Montags  früh,  Hessen  sich  die  Burschen  oft  wieder  nach  Hause  s[iieleu.  Dann  musste 
einer  von  den  Kellnern,  wenn  es  auch  schon  hell  war,  eine  Laterne  mit  brennendem  Licht 
an  einer  Ofengabel  tragen);  im  Hause  (Grüneisen,  Der  Ahnenkultus  Israels  S.  104. 
Hüser  im  Progr.  v.  Warburg  1898,  S.  24:  Auf  Agatha  lässt  man  noch  vereinzelt  in  allen 
Ställen  des  Gehöftes  Lichter  brennen.  Körner,  Die  Templerregel  S.  9  nr.  21:  wo  die 
Tempelritter  schlafen,  soll  Licht  brennen  bis  zum  Morgeu,  zum  Schutze  gegen  den  Erz- 
feind; vgl.  S.  14  nr.  37);  in  Feld,  Wald  u.  Flur  (Schwally,  Semit.  Kricgsaltertümer 
1,  8S.  IsUger  S.  18ff.  Witzschel,  Thüring.  Sagen  2,  189:  'Hollerad'.  Wolf,  Beitr.  2, 
378ff.:    Notfeuer.     Mannhardt,  Wald-  u.  Feldkulte  1,  520:    Johannisfeuer). 


370  Sartori: 

um  den  Leichnam  zu  schwenken'),  wofür  in  Bayern  das  Umräuchern  der 
Leiche  mit  einer  (Tlutpfanne  eintritt.  Auf  Schutz  und  Sicherung  deutet 
auch  wohl  das  Anzünden  der  Kerzen  in  einem  Zeitpunlcte,  wo  die  Gefalir 
böser  Einflüsse  am  grössten  zu  sein  scheint,  im  Augenblicke  des  Todes, 
kurz  vor  dem  Wegtragen  der  l^eiche,  auf  dem  Wege  zur  Bestattung.  Auch 
das  Verbot,  die  Kerzen  nicht  eher  auszulöschen,  als  bis  die  l^eiche  aus 
dem  Dorfe  ist,  ihre  Aufstellung  neben  dem  umgeworfenen  Stuhle  (in 
Mecklenburg)  bilden  besondere  Yorsichtsmassregeln.  Endlich  hat  auch 
wohl  die  rote,  die  Wirkung  des  Feuers  gewissermassen  verdoppelnde 
Farbe,  die  in  Oberbayern  für  allc^  beim  Totengange  benutzten  Kerzen 
vorgeschrieben  ist,  abwehrende  Kraft. ") 

(jegen  welche  Mächte  nun  die  Abwehrmassregeln  sicli  richten,  ist 
nicht  ohne  weiteres  und  für  jeden  Fall  bestimmt  zu  sagen.")  Der  Sterbende 
wird  gegen  böse  Geister  und  allerlei  Zauber,  vielleicht  noch  im  letzten 
Augenblicke  gegen  den  Tod  selbst  geschützt  werden  sollen,  der  Tote  aber 
bringt  seinerseits  die  Überlebenden  in  Gefahr,  teils  durch  die  lebeus- 
feindlichen  Mächte,  die  noch  längere  Zeit  an  ihm  haften,  teils  durch  seine 
eigene  Seele,  die  gern  andere  mit  sich  ins  Jenseits  zieht.*) 


1)  Bei  Hinduhochzeiten  werden  Lichter  und  andere  Gegenstände  der  Braut  und  dem 
Bräutigam  um  das  Haupt  geschwenkt  als  Schutz  gegen  böse  Geister  (Crooke,  Populär 
religion  p.  11)9). 

2)  Roter  Wachsstock  schützt  gegen  Behexung  der  Wöchnerin  (Wuttke  §  195. 
E.  H,  Meyer,  German.  Mythol.  209):  gegen  Alpdruck  (Wuttke  §419).  Rot  ist  die  Hoch- 
zeitsfarbe, um  gegen  allerlei  Zauber  zu  schützen  (Meyer  S.  213).  Rot  als  Zauberfarbc 
(oben  2,  113).    Heilende  Kraft  der  roten  Farbe  in  der  Volksmedizin  (Isäger  S.  22 f.). 

3)  In  einer  Sage  bei  Schell,  Bergischc  Sagen  S.  23  sitzt  auf  der  Leiche  eines 
Hexenmeisters  ein  graues  Tier,  iilmlich  einer  Katze,  das  sich  nicht  verscheuchen  lässt. 
Ein  Licht,  das  man  neben  den  Toten  setzt,  wird  immer  wieder  ausgelöscht  (jedenfalls 
durch  den  in  der  Katze  verkörperten  Dämon).  Auch  die  Üllerkens  können  fremdes  Licht 
nicht  vertragen  und  löschen  es  aus  (Jahn,  Volkssagen  a.  Pommern  u.  Rügen  S.  7Tf.). 
Vor  der  Leiche  eines  Missetäters  erlöschen  die  Kerzen  (Wolf,  Niedorl.  Sagen  S.  303. 
Oben  1."),  347).  In  einer  Elberfelder  Saire  versucht  die  Mutter  eines  kranken  Kindes  ver- 
geblich Feuer  zu  machen.  Sie  bittet  daher  eine  Naclibarin  auf  ihrem  Herde  etwas  kochen 
/.n  dürfen.  Als  sie  zu  ihrem  Kinde  zurückkehrte,  war  es  gestorben.  Sofort  brannte  das 
Herdfeucr  wieder  (Schell,  Neue  bergische  Sagen  S.  45).  In  der  Kapelle  zu  Ellingen  soll 
das  Licht  immer  erloschen  sein,  wenn  eine  Leiche  vorbeikam  (ebd.  S.  95).  —  Nach 
armenischem  Glauben  müssen  beim  Auslöschen  eines  Lichtes  in  der  Nacht  besondere 
Gebete  hergesagt  werden,  um  die  Wirksamkeit  böser  Geister  zu  lähmen  (Abeghian, 
Der  armen.  Volksgl.  S.  34 f). 

4)  Der  Gedanke,  dass  das  Feuer  auf  die  Seele  einen  belästigenden  Einfluss  ausübt, 
kann  umgekehrt  auch  dazu  füliren,  den  Gebrauch  von  Feuer  und  Licht  in  Rücksiclit  auf 
Sterbende  und  Tote  einzuschränken  oder  zu  untersagen.  Bei  den  Siebenl'ürger  Sachsen 
pflegt  man  hellen  Lichtschein  vom  Sterbenden  fernzuhalten,  weil  dadurch'  die  Auf- 
regung der  Seele  gesteigert  und  ihr  das  Scheiden  vom  Körper  erschwert  werde.  Man 
unterhält  daher  die  Nacht  hindurch  nur  ein  kleines,  nicht  hellschimmerndcs  Feuer  im 
Ofen  (SchuUcr  im  Progr.  Schässburg  l'G.'i,  40).  Dass  beim  Toten  nur  ein  schwaches 
Licht  stehen  soll,  wird  in  mehreren  der  obenerwähnten  Beispiele  betont.  In  Mentone 
zündet  man,  während  ein  Toter  im  Hause  liegt,  kein  Feuer  an  und  isst  kein  Fleiscli, 
„der  Tote  würde  darunter  leiden"    (Revue  des  tradit    popul.  9,  117).     Es  darf   überhaupt 


Feuer  und  Licht  im  Totengebrauche.  37 1 

Aber  das  Feuer  ist  nicht  bloss  ein  feindliches,  verzehrendes, 
scheuchendes  Element,  sondern  aucli  freundlich  und  hilfreich:  es  leuchtet 
und  wärmt.  Darum  findet  sich  vielfach,  wie  die  angeführten  Beispiele 
zeigen,  sein  Gebrauch  auch  mit  allerlei  anderen  Deutungen  verknüpft, 
namentlich  mit  der,  dass  es  dem  abgeschiedenen  Geiste  auf  dem  Wege 
ins  Jenseits  oder  im  Jenseits  leuchten  solle.  Auch  diese  Auffassung  ist 
Naturvölkern  nicht  fremd,  wie  gleich  noch  aus  anderen  Beispielen  hervor- 
gehen wird,  aber  sie  setzt  doch  schon  entwickeltere  Jenseitsvorstellungen 
voraus.  Vielleicht  hat  man  auch  in  der  Sitte,  den  Leichnam  mit  Feuer 
und  Licht  zu  Grabe  zu  geleiten,  hier  und  da  eine  gewisse  Gewähr  dafür 
gefunden,  dass  der  abgeschiedene  Geist,  der  weisenden  Flamme  folgend, 
seinen  Körper  auch  wirklich  zur  Bestattung  begleitet,  eine  Auffassung, 
die  freilich  auch  nur  die  Beseitigung  und  Unschädlichmachung  der  Seele 
im  Auge  haben  würde.')  Jedenfalls  muss  die  Angabe,  dass  die  Leiche 
auf  dem  Wege  zur  Bestattung  deshalb  von  Lichtern  begleitet  werde,  weil 
diese  ursprünglich  bei  Nacht  stattgefunden  habe,  als  eine  spätere  Um- 
deutung  betrachtet  werden.^) 


vielfach  im  Sterbehause  eine  bestimmte  Zeitlang  nicht  gekocht  worden:  vgl.  mein  Dort- 
munder Programm  190.J,  .'jGf.  In  Argos  mussten,  die  einen  Verwandten  oder  Genossen 
verloren  hatten,  ihr  Feuer  löschen  und  nach  der  Trauer  bei  Nachbarn  neues  anzünden 
(Preuner,  Hestia-Vesta  474).  In  Oldenburg  muss  nach  einem  Todesfall  das  Herdfeuer 
sofort  ausgegossen  werden,  sonst  kehrt  der  Tote  wieder  (Wuttke  S  737.  Hier  mag  freilich 
auch  die  Befürchtung  zugrunde  liegen,  dass  das  Feuer  irgendwie  verunreinigt  ist,  oder 
dass  gar  die  Seele  dadurch  angelockt  werden  und  darin  Wohnung  nehmen  könnte).  Die 
Fulbe  begraben  ibre  Toten  in  Häusern,  in  denen  dann  mit  Vorliebe  fremde  Gäste  ein- 
fjuartiert  werden:  doch  erhalten  diese  den  Wink,  kein  Feuer  darin  anzuzünden.  Sie 
wissen  dann,  dass  sie  sich  in  einem  Totenhause  befinden.  Auch  in  dem  Falle,  dass  ein 
solches  Haus  noch  von  einer  Familie  bewohnt  ist,  darf  kein  Feuer  in  ihm  angebraunt 
werden  (Passarge,  Adamaua  S.  502).  Lewy  erwähnt  (oben  3,  27)  aus  der  zum  talmudischen 
Schriftenkreise  gehörigen  Tosefla  die  Vorschrift:  „Stellet  das  Licht  auf  die  Erde,  damit 
die  Toten  sich  ärgern"  oder:  „Stellet  das  Licht  nicht  auf  die  Erde,  damit  die  Toten 
sich  nicht  ärgern",  und  vergleicht  damit  eine  Bestimmung  der  Synode  zu  Elvira  v.J.  SOG: 
„Cereos  per  diem  placuit  in  coemeterio  nou  incendi,  inquietandi  enim  sanctorum  Spiritus 
non  sunt." 

1)  Wenigstens  kann  die  ursprüngliche  Sitte  der  Abwehr  leicht  einmal  eine  solche 
mildere  Deutung  annehmen,  wie  man  denn  den  oben  aus  Westböhmen  angeführten  Brauch, 
das  Bett  des  Sterbenden  dreimal  mit  einer  Kerze  zu  umwandeln,  mit  den  Worten  erklärt: 
„es  wird  ihm  das  Licht  gehalten"  oder  „er  wird  weggeleuchtet."  Anderswo  wird  die 
gleiche  Verwendung  der  Glocke  dahin  gedeutet,  dass  sie  die  Seele  anlocke  und  auf  ihrem 
Scheidewege  geleite.  Siehe  darüber  oben  7,  .'tCSf.  Ganz  ähnlich  werden  Glocke  und 
Feuer  bei  den  Landdajakea  von  Sarawak  benutzt,  um  die  Seele,  die  den  Körper  eines 
Kranken  verlassen  hat,  wieder  zurückzurufen.  Der  Priester  wickelt  eine  kleine  Schale  in 
ein  weisses  Tuch  und  stellt  sie  zwischen  die  dargebrachton  Opfer;  dann  schreitet  er  mit 
einer  Fackel  in  der  einen  und  mit  einem  Rosenkranz  und  einer  klingenden  Schelle  in  der 
anderen  Hand  herum  und  spricht  die  Zauberformeln.  So  wird  die  Seele  wieder  heran- 
gelockt (Wilken,  Het  animisme  S.  KI). 

2)  Ähnlich  werden  die  als  Weihegaben  dargebrachten  Kerzen  unter  anderen  Deutungen 
darauf  zurückgeführt,  dass  die  ersten  Christen  zur  Zeit  ihrer  Verfolgung  nächtlich  oder  in  unter- 
irdischen Räumen  ihren  Gottesdienst  abhalten  mussten  (Andree,  Votive  u.  Weihegaben  S.  80). 


372  Sartori: 

Die  anlockende  Kraft  des  Feuers  wird  in  den  nachlicr  zn  hclianclclutlen 
15riiuclien  gelegentlich  noch  deutlicluT  /.um  Ausdruck  koniniun.  Aber 
schon  hier  mag  erwiilint  werden,  dass  die  Seele,  wie  sie  durch  IJcht  und 
Feuer  angelockt  wird,  aucli  sonst  vielfach  mit  ihm  iu  symjiathotische 
Beziehung  gebracht  wird.  Dazu  wird  auch  die  so  weit  verbreitete  An- 
schauung von  der  feurigen  Natur  der  Seele  beigetragen  liabcn.')  In 
Belgien  zieht  mau  aus  der  Sterbekerze  Schlüsse  auf  Loben  und  Tod  des 
Kranken.  Man  steckt  drei  Nadeln  in  gewissem  Abstände  von  eiuauder 
hinein.  Wenn  der  Kranke  nocii  nicht  tot  ist,  wenn  die  Kerze  bis  zur 
dritten  Nadel  abgebrannt  ist,  so  wird  er  genesen  (Bulletin  de  folklore 
"2,  333).  An  einigen  Orten  zündet  man,  wenn  man  nicht  weiss,  ob 
der  Tod  wirklich  eingetreten  ist,  ein  Licht  an,  und  wenn  dies  ganz 
niedergebrannt  ist,  zweifelt  man  nicht  mehr  an  dem  Tode  (ebd.  "2,  337 
ur.  22).=) 


1)  Hier  ist  zu  erinnern  an  die  todweissagende  Kraft  des  Lichtes.  Dieses  deutet 
auf  einen  bevorstelienden  Sterbefall:  a)  Durch  Erlöschen  (Wuttkc  § '2il7.  Oben  G,  407. 
Haupt,  Sajrenbuch  d.  Lausitz  1,  2(19.  Rochholz,  Aargausafien  1,  ;).')1).  Bei  der  Kon- 
lirmation  (Bartsch,  Mecklenb.  Sagen  2,  öü).  Bei  der  Trauung  (.John,  Sitte  im  deutschen 
Westböhraen  S.  144.  Oben  15,  438.  Reubold,  Beiträge  z.  Volkskunde  1905  S.  52.  Dennys, 
The  folklore  of  China  p.  17).  Bei  der  Krankenkommunion  (Wuttke  §  303).  In  der  Geister- 
kirche (Schönweith,  Oberpfalz  1,  277).  In  der  Christnacht  (oben  S,  290).  Am  Neujabrs- 
abend  (Niedersachson  11,  105:  Schleswig-Holstein).  Am  Lichtmessabend  (Birlinger, 
Volkstiiml.  aus  Schwaben  2,  19).  Erlischt  auf  dem  Altäre  ein  Licht,  so  stirbt  einer  der 
Geistlichen  (Haupt  1,  271.  Witzschel,  Thüring.  Sagen  2,  254  ur.  23.  Oben  2,  2()S.  3,  3G6. 
15,  347).  In  diesen  Fällen  wird  überall  das  Licht  mit  der  Seelu  und  dem  Leben  des 
Mensclien  identifiziert.  —  b)  Durch  Erscheinen:  auf  dem  Bette  des  Kranken  oder  im 
Zimmer  (Curtze,  Volksüberlicferungen  aus  Waldeck  S.  382  nr.  K).  Woestc  im  Nd.  Jahrb. 
1877,  148  nr.  15.  20.  Schütze,  Holstein.  Idiotikon  1,  225.  E.  Meier,  Sagen  aus  Schwaben 
S.  488).  Auf  dem  Wasser  und  im  Freien  (Am  IJr-Quell  1,  9:  Ditraarschen.  Müllenhoff, 
Sagen  S.  24G.  Wolf,  Deutsche  Märch.  u.  Sagen  S.  223).  Irrlichter  (Zingcrle,  Sitten  des 
Tiroler  Volkes  S.  44.  Ztschr.  f.  d.  dtsch.  Mythol.  2,  418:  Cevennen).  Hier  liegt  wohl  der 
Gedanke  zugrunde,  dass  das  mitunter  vielleicht  früher  Verstorbene  verkörpernde  Licht  die 
Seele  anlockt.  —  c)  Durch  besondere  Erscheinungen  an  dem  Lichte  selbst. 
Blane  Färbung,  Richtung  des  Rauches  der  Lichter  (Am  Ur-Qucll  1,  9:  Ditmarschen. 
Wuttke  §  303).  Wachs-  oder  Talgtropfen  am  Lichte  (Wuttke  §  29G.  Am  Ir-Quell  1,  9. 
Dennvs,  The  folklore  of  China  p.  17). 

2)  Wie  die  Seele  des  Menschen  mit  dem  Licht,  so  wird  sein  Körper  n)it  dem  Wachs 
oder  der  sonstigen  Substanz  dos  Louchtkörpcrs  sympathetisch  verbunden.  Die  Römer 
opferten  dem  Saturnus  Fackeln  statt  Menschen  (Wackcrnagel  iu  Zs.  f.  dtsch.  Altert.  G,  283). 
Bei  den  Rumänen  wird  das  grosse  Totciilicht  aus  Wachs  genau  in  der  Länge  des  Leich- 
nams, fingerdick  für  die  älteren  Leute,  dünner  für  die  jüngeren  gedreht  (Flachs,  S.  52  f.). 
Die  zu  Allerheiligen  in  mexikanischen  Dörfern  angezündeten  Wachskerzen  entsprechen  in 
ihrer  Grösse  dem  Alter  der  Verstorbenen  (Sartorius,  Mexiko  S.  2G2ff.).  Wenn  in  Moskau 
ein  Unbemittelter  stirbt,  stellt  man  den  Sarg  auf  die  Strasse  mit  einer  Kerze  daneben. 
Vorübergehende  stecken  Almosen  in  die  Kerze  (Bull,  de  folklore  2,  .'5(')5  nr.  145.  Sie 
reichen  damit  das  Almosen  dem  Toten  selbst).  Auch  beim  Opfer  von  Wachskerzen  ist 
die  Kerze  wohl  oft  als  Stellvertretung  für  den  Leib  des  Opfernden  gemeint  (vgl.  Andree, 
Votivn  S.  77 ff.).  Von  Geistern  getragene  Wachskerzen  werden  zu  Totenknochen  (Wolf, 
Nicderländ.    Sagen    S.  397  f.).      Bei    den    Rumänen    in    Südungarn    gehen   sechs   Wochen 


Feuer  und  Licht  im  Totengebrauclie.  373 

Auf  der  kurisclien  Nehrung  meint  man,  dass  die  Lichter  am  Sarge  lieim 
Scheiden  des  Geistes  von  selbst  verlöschen.  Auch  die  Vorschrift,  die 
Totenlichter  nicht  auszublasen,  die  Meinung,  dass  sie  von  selbst  eidöschen, 
werden  sich  manche  aus  sympathetischer  Beziehung  zur  Seele  erklären'), 
sovrie  das  trübe  Brennen  der  Lichter  gewiss  vielfach  auf  das  verglimmende 
Lebenslicht  bezogen  werden  wird. 

Aus  der  engen,  sympathetischen  Beziehung,  in  der  die  Seele  zu  Feuer 
und  Licht  steht,  erklärt  es  sich  auch,  dass  die  bei  der  Leiche  verwandten 
Lichter  öfters  als  'Tütenfetische'  benutzt  werden.*) 

Schliesslich  wird  dann  das  Licht  als  ein  Opfer  oder  als  eine  blosse 
Ehrung  für  den  Toten  aufgefasst. ")  Manchmal  sieht  es  beinah  so  aus, 
als  ob  man  zwei  verschiedene  Feuer  unterscheide,  von  denen  das  eine  als 


hindurch  nach  der  Beerdigung  morgens  drei  Weiber  zu  einem  fliessenden  Wasser  und 
lassen  auf  ihm  Brotrinden,  auf  die  angezündete  Wacliskerzen  gesteckt  werden,  frei 
scliwimraen.  Von  diesem  Augenblicke  an  hat  die  Seele  des  Verstorbenen  stets  Wasser 
zur  Verfügung  (Globus  G9,  198).  In  diesem  Zauber  soll  wohl  das  Brot  den  Körper,  das 
Licht  die  Seele  des  Toten  darstellen.  Das  gleiche  Mittel  wird  auch  benutzt,  um  die  Seele 
Ertrunkener  anzulocken.  In  der  Wetterau  und  in  der  Oberpfalz  schreibt  man,  um  die 
Leiche  eines  Ertrunkenen  zu  finden,  seineu  Namen  auf  ein  Brot  und  wirft  es  ins  Wasser, 
so  schwimmt  es  an  den  Ort,  wo  der  Ertrunkene  liegt  (Liobrecht,  Z.  Volkskunde  S.  o44f.). 
Statt  des  Namens  wird  nun  auch  eine  angezündete  Kerze  auf  das  Brot  gesetzt  (ebd. 
Böhmen,  England.  Vgl.  über  das  Brot  noch  von  Negelein,  Zs.  f.  Ethnol.  1902,  62 f. 
Anm.  6).  Die  russisclie  Landbevölkerung  im  Gouvernement  .laroslawl  bindet,  wenn  man 
einen  Ertrunkenen  nicht  linden  kann,  an  einen  mit  Weihrauch  uud  glühenden  Kohlen 
halb  angefüllten  Topf  ein  Kreuz  oder  ein  Heiligenbild  und  setzt  ihn  ins  Wasser.  Der 
Topf  schwimmt  an  die  Stelle,  wo  der  Ertrunkene  verborgen  liegt,  und  bleibt  hier  un- 
beweglich stehen  ^Globus  63,  214). 

1)  Auch  am  Geburtstagskuchen  des  Kindes  darf  das  Lebenslicht  nicht  ausgeblasen 
werden  (Kuhn  u.  Schwartz,  Nordd.  Sagen  4:')1  nr.  2G5).  Einem  das  Jjicht  ausblasen  heisst 
nun  einmal  einen  töten  (Kochholz,  Aargausagen  1,  36).  Die  'Römerkerze'  wird  am  Schlüsse 
der  Tütenmesse  vom  Priester  feierlich  ausgeblasen  (Rochholz,  Deutscher  Glaube  1,  167. 
Damit  ist  der  Tote  für  die  Kirche  erledigt). 

2)  Ol  von  der  Lampe,  die  in  der  Schweiz  beim  Toten  brennt,  soll  gut  sein  zur  Ver- 
rreibung  von  Geschwüren  (Rochholz  1,  1951.  Mit  dem  Docht  einer  Lampe,  die  in  einem 
Sterhezimmer  gebrannt  hat,  bestreiche  man  Kröpfe,  so  heilen  sie  (Wolf,  Beitr.  2,  377). 
Krauke  Haustiere  brennt  man  mit  einer  Kerze,  die  auf  einer  Leiche  gestanden  hat 
(Isäger,  Aus  der  dänischen  Volksmedizin  S.  18).  So  lange  ein  Rest  des  Lichtes,  das  auf 
dem  Sarge  gebrannt  hat,  im  Hause  ist,  können  keine  Diebe  kommen  (Bartsch,  Mecklenb. 
Sagen  2,  94  nr.  314  vgl.  313a).  Kerze  von  der  Bahre  des  Toten  zum  Liebeszauber  ver- 
wandt (Krauss,  Volksglaube  der  Südslawen  S.  142). 

3)  Toter  verlangt  selbst  sein  Licht  (Baader,  Neugesammelte  Volkssagen  aus  Baden 
S.  103).  Für  den  geächteten  Toten  war  dagegen  bei  den  Altfriesen  'neen  liacht  to  barnene' 
Meyer,  German.  Mythol.  S.  70).  Motten,  die  abends  das  Licht  uraschwirren,  soll  man  nicht 
töten:  es  sind  arme  Seelen,  die  Lichter  geopfert  haben  wollen  (John,  Sitte  in  West- 
böhmen S.  181),  Lichter,  die  zu  Ehren  des  Toten  bei  der  Bestattungsfeier  verwandt 
sind,  werden  öfters  auf  dem  Altar  der  Kirche  geopfert  (vgl.  Andree,  Votive  S.  77f. 
80.  83).  Auch  der  Dampf  der  ausgeblasenen  Kerze  ist  in  Schwaben  noch  wirksam:  er 
kommt  den  armen  Seelen  zugute  (Rochholz  1,  167).  Ursprünglich  gilt  auch  er  als 
geisterscheuchend:  ?a'xrcov  yäg  öa/iäg  oü  t/dovat  da!/.toi'eg  (Gruppe,  Griech.  Mythologie 
S.  894,  Anm   1\ 


374  Sartori: 

Abwehrmittel,  das  andere  in  irgend  einem  anderen  Sinne,  als  Repräsentant 
des  Toten,  als  Ehrung,  Opfer  oder  dergleichen  aufgofasst  wird. ') 

Betrachten  wir  nach  diesen  vorläufigen  Feststellungen  nun  die  weitere 
Behandlung  des  Toten.  Da  wird  uns  zunächst  nicht  selten  berichtet,  dass 
dem  Bestatteten  Licht  uinl  l'\'ufr  mit  ins  Grab  gegeben  wird.  In  der 
Riedlinger  Gegend  umwickelt  man  die  gekreuzten  Häiido  des  Verstorbenen 
mit  dem  Ende  eines  Wachsstockes  und  einem  Küster,  die  ihm  ins  Grab 
mitgegeben  werden  (Birlinger,  Volkstüml.  a.  Schwaben  1,  280).  Holz- 
leuchter lagen  neben  den  Alemannenleichen  zu  Oberflacht  (liochholz, 
Glaube  und  Brauch  1,  166).  Im  Sächsischen  Ob{>rerzgebirge  wird  u.  a. 
eine  Kerze  in  den  Sarg  getan,  damit  es  hell  sei,  wenn  der  Tote  erwache 
(ebd.  1,  189).  Das  früher  erwähnte  grosse  Totenlicht,  das  bei  den 
Rumänen  brennend  im  Leichenzuge  getragen  wird,  wird  in  manclien 
Gegenden  mit  eingegraben  (Flachs,  S.  o3).  In  römisclien  Gräbern  fehlten 
nicht  Lampen  und  Kandelaber  (Becker-Göll,  Gallus  3,  541.  Lam])en  in 
griechischen  Gräbern:  Hermann  -  Blümner,  Lehrbuch  d.  grieeh.  Anti- 
quitäten, 4,  380,  Aimi.).  Vielleicht  bezweckt  auch  die  im  Mittelmeer- 
gebiet verbreitete  Sitte,  die  Beliältnisse,  in  die  der  Tote  gebettet  wurde, 
rot  auszumalen,  einen  Ersatz  für  Feuer  nml  Licht  (v.  Dulin  im  Archiv  f. 
Religionswissensch.  9,  2,  14).  Den  Lappen  wurde  Stalil  iiiid  Feuerstein 
ins  Grab  mitgegeben  zum  T>ichtniachen  (Schwenck,  .Myiliul.  d.  Slawen, 
S.  430),  den  Letten  ein  Leuclitspan  (Globus  82,  369,  Anm.  11).  Bei 
den  Permiern  wird  zu  Füssen  des  Grabes  ein  Tongefäss  mit  Kohlen  ein- 
gegraben (ebd.  71,  372).  Peuerspuren  sind  in  vielen  Gräbern  der  Stein- 
zeit gefunden  worden,  und  S.Müller,  Gordische  Altertumskunde  1,  99  ff. 
erklärt  sie  damit,  dass  mau  den  Toten  gelegentlich  mit  Feuer  habe 
wärmen  wollen.  Auch  Funde  in  späteren  vorgeschichtlichen  Gräbern 
(auf  der  Alb)  scheinen  darauf  hinzuweisen,  dass  die  Teilnehmer  an  der 
Beerdigung  beim  Zuscliaufeln  des  (irabes  von  Zeit  zu  Zeit  eine  ILandvoll 
brennendes  Stroh    ins  Grab  nachgeworfen  haben  (Strack,    Volkskundliche 


1)  Bei  den  Rumäi;eii  z.  B.  wird  die  grosse  Tnteukerze  brennend  bis  zum  (jrabc  vor 
dem  Leichenzuge  getragen;  vor  dem  Sarge  gehen  Männer  mit  Ijaternen  (Flachs  S.  53.  58). 
In  Lüttich  und  Hennegau  dürfen  die  beim  Toten  angezündeten  Kerzen  nicht  zur  Be- 
leuchtung dienen:  es  muss  ausserdem  eine  brennende  Lampe  im  Totenzimmer  vorhanden 
sein  (Bull,  de  folklore  2,  340  nr  48\  Auch  in  der  Mindener  Gegend  brennt  (nach  schrift- 
licher Mitteilung)  ausser  den  drei  Kerzen  auf  dem  Sarge  ein  Lämplein  auf  dem  Herde, 
das  gleich  nach  der  Leichenfeier  gelöscht  wird.  Oder  mau  zündet  ausser  den  drei  Kerzen 
eine  der  früher  gebräuchlichen,  vierzipfligeu  t  Uhinipeu  an.  Darf  man  liier  an  den  alt- 
indischen Kitus  erinnern,  in  dem  neben  dem  Opferfeuer  noch  ein  heiliges  (däniouen- 
schcuchendes)  Feuer  gebraucht  wird?  (Oldcnberg,  Relig.  d.  Veda  S.  318 f.)  —  Nach  dem 
Tode  des  Familienvaters  muss  im  altindisclicn  Gebrauch  der  älteste  Sohn  ein  neues  Feuer 
anlegen  und  das  des  Vaters  beseitigen.  Während  der  Nacht  wird  es  in  Flammen  gehalten, 
gegen  die  Zeit  der  Morgenröte  wird  zuerst  eine  Lampe  auf  einer  Röstpfanne  neben  das 
alte  Feuer  gestellt,  dann  unter  allerlei  Zeremoniell  die  beiden  Feuer  symbolisch  geschieden 
und  das  alte  beseitigt  (Caland,  Die  altindischen  Totengebräuche  S.  113  f.). 


Feuer  und  Licht  im  Totengebrauche.  375 

Zeitschriftenscliau  f.  1903,  181).  In  Dänemark  wurde  noch  in  späteren 
Zeiten  den  Toten  Feuer  ins  Grab  nachgeworfen  (Isäger,  Aus  d.  dänischen 
Volksmedizin,  S.  24;  hier  als  Schutzmittel  gegen  alles  Böse  erklärt). 
Seeleute,  die  an  Bord  eines  Schiffes  verstorben  waren,  soll  man  im 
16.  Jahrhundert  (wo?)  mit  einem  Feuerbraud  ins  Meer  geworfen  haben 
(Melusine  2,  417).  Bei  den  Guatusos  in  Costarica  werden  dem  Toten 
Bananen  und  Kakao  sowie  Feuerzeug  (früher  eine  trockene  Schlingpflanze, 
von  der  zwei  gegeneinander  geriebene  Stücke  Feuer  gaben,  jetzt  einfach 
Zündhölzer  und  leicht  entzündliches  Holz)  mitgegeben  (Globus  76,  350). 
Die  Kaingang  in  Argentinien  machen  zur  Linken  der  Leiche  noch  eine 
Vertiefung  ins  Grab,  in  die  der  nächste  Verwandte  des  Verstorbenen 
einen  glimmenden  Feuerbrand  steckt,  damit  der  Tote  im  Jenseits  die 
Heide,  die  er  durchwandern  muss,  anzünden  und  von  Buschwerk  und 
Dorngestrüpp  befreien  kann.  Wenn  es  dann  einige  Tage  nach  dem 
Begräbnisse  regnet,  so  herrscht  grosse  Freude,  weil  der  Tote  nun  das 
Land  der  Seelen  erreicht  hat;  denn  dieser  Regen  ist  das  Zeichen,  dass 
die  Heide  in  Feuer  aufgegangen  ist  (Globus  74,  246).  Die  Makuschi 
geben  dem  Toten  Feuerholz  und  Feuerzeug,  Bogen  und  Pfeile  mit,  damit 
er  unterwegs  seine  Nahrung  schiessen  und  rösten  könne  (Koch,  Zum 
Animismus  d.  südamerikan.  Indianer,  S.  55).  Bei  den  Yabim  (Papuas) 
ruft  man  in  der  ersten  Nacht  nach  der  Seele  und  reicht  ihr  Feuer,  damit 
sie  es  mit  sieh  nehme  (Archiv  f.  Religionswissensch.  4,  344). 

Dass  durch  diese  Mitgaben  der  Tote  mit  Feuer  und  Licht  zu  seinem 
künftigen  Gebrauche  versehen  werden  soll,  ist  in  mehreren  der  ange- 
führten Beispiele  ausgesprochen.  In  anderen  wieder  werden  wir  das 
Bestreben  der  Abwehr  und  des  Schutzes,  sei  es  für  oder  gegen  den  Toten, 
nicht  verkennen  können.')  Ebenso  steht  es  mit  den  Fällen,  in  denen 
ein  Feuer  auf  oder  nebeu  dem  Grabe  angezündet  wird.  In  Nord- 
Queensland  wird  vor  der  Beerdigung  ein  Feuer  im  Grabe  angemacht,  und 
wenn  das  Grab  geschlossen  ist,  darüber  ein  Feuer  in  Brand  gehalten, 
beides  wohl,  um  die  bösen  Geister  zu  vertreiben  (Fräser,  The  aboricines 
of   New    South  Wales,    p.  81  f.).      Im   Westen    von    Victoria    besucht    der 


1)  Als  Abwehr-,  Schutz-  und  Sühnmittel  möchte  ich  das  Feuer  namentlich  auch  iu 
den  besonderen  Fällen  betrachten,  in  denen  es  Menschen  beigegeben  wird,  die  einem  von 
Sitte  oder  religiösem  Bi'auche  verlangten  gewaltsamen  Tode  überantwortet  werden.  Die 
lebendig  begrabene  Vestalin  wurde  mit  einigen  Speisen  und  Licht  versehen  (Preuner, 
Hestia-Vesta,  S.  2i)2).  Feuer  wurde  bei  Indianern  ausgesetzten  Kranken  beigegeben 
(Globus  07,  108).  Die  'Heiden'  sollen  ihre  über  00  Jahre  zählenden  Alten  getötet,  in 
Stücke  gehackt,  diese  in  grosse  Töpfe  getan  und  ein  Lämpchen  hineingesetzt  haben 
{Kuhn,  Westfäl.  Sagen  1,  100).  Auch  menschlichen  Bauopfern  wird  gelegentlich  Licht 
mitgegeben.  In  die  Brücke  von  Eosporden  wurde  ein  Kind  eingemauert,  das  in  der  einen 
Hand  eine  geweihte  Kerze,  in  der  anderen  ein  Stück  Brot  hielt  (Ztschr.  f.  Ethnologie 
1898,  27).  Eine  Kindesmörderin  wird  lebendig  begraben  und  ihr  Dornen,  Brennesseln 
und  glühende  ICohlen  untergelegt  (Seifart,  Sagen  aus  Hildesheim  2,  28). 


376  Sartori: 

Geist  des  Toten  eine  Zeitlang  sein  Grab;  darum  unterhält  man  jode  Nacht 
ein  Feuer  daneben  (ebd.  p.  85).  Die  Kamalarai  machen  kleine  Feuer 
um  das  Grab  herum,  um  böse  (Jeister  zu  vertreiben,  oder,  wie  andere 
sagen,  zur  Wohltat  für  den  Toten  (ebd.  8(1).  Der  Koiari-Stamni  an  der 
Südküste  von  Neu-Guinea  unterhält  monatelang  zu  Häupten  und  Füssi-ii 
des  Grabes  Feuer,  und  auch  die  Andamanoson  zünden  auf  dem  Grabe 
Feuer  an  und  setzen  Wasser  und  auderes  daneben  (ebd.  p.  86  f.).  Ein 
Buschmann  erzählte,  er  hätte  aus  Furcht,  seine  Frau  möclite  ihn  nach 
ihrem  Tode  beunruhigen,  den  Kopf  des  Leichnams  mit  schweren  Steinen 
zerschmettert,  ihn  dann  begraben  und  zu  aller  Sicherheit  auf  dem  Grabe 
ein  grosses  Feuer  angezündet  (Klemm,  Allg.  Culturgesch.  1,  345).  Die 
Siliänaka  setzen  eine  Schüssel  mit  brennendem  Kuhmist  neben  dem  Grab- 
stein nieder,  „damit  der  Tote  sich  Feuer  verschaffen  könne,  wenn  er 
etwa  frieren  sollte"  (Sibree,  Madagaskar,  S.  327).  Die  Sotho-Neger  be- 
graben am  liebsten  in  der  Nähe  des  Hauses,  damit  der  Tote  von  der 
Wärme  der  Lebenden  und  ihrer  Feuer  sein  Teil  bekomme.  Bei  PLäupt- 
lingen  muss  das  Vieh  des  Verstorbenen  über  dem  Grabe  schlafen,  um 
ihn  zu  erwärmen  (Ztschr.  f.  Ethnologie  6,  40).  Bei  den  Bagos  wird  alle 
Abende  auf  der  Stelle  des  (irabcs,  wo  der  Kopf  des  Toten  liegt,  ein 
Feuer  angezündet  und  mit  dem  Toten  Unterhaltung  gepflogen  (Klemm  3, 
298).  An  einigen  Orten  in  Unyamwesi  werden  in  kalten  Nächten  Feuer 
auf  den  Gräbern  angezündet,  damit  die  Seelen  sich  wärmen  können 
(Schneider,  Kelig.  d.  afrikan.  Naturvölker,  S.  155).  Dasselbe  tun  die 
Sherbro-Neger  (Spencer,  Die  Principien  der  Sociologie,  dtsch.  v.  Vetter  1, 
197).  Im  Gebiete  des  unteren  Kongo  und  des  Kwilu  wird  der  Leichnam 
in  der  Hütte  beerdigt  und  auf  ihm  während  eines  Monats  drei  Feuer 
unterhalten  (Bull,  de  folklore  3,  68).  Die  Dinka  zünden  am  vierten  Tage 
nach  dem  Begräbnisse,  wo  die  Trauerfasten  zu  Ende  sind,  auf  dem  Grabe 
ein  Feuer  an  und  töten  ein  Schaf  (Schneider,  S.  163).  Wäiirend  beim 
Leichenbegängnis  der  (iolde  die  Hütte  über  dem  (irabe  errichtet  wird, 
machen  die  Weiber  daneben  ein  grosses  Feuer  (Globus  74,  272).  Bei 
den  Otoe-  und  Missouri-Indianern  in  Nebraska  wird  nach  dem  Begräbnis 
vier  Nächte  hindurch  ein  Feuer  am  Grabe  angezündet  und  vou  den  Ver- 
wandten gewehklagt.  Nach  dieser  Frist  erhebt  sich  der  tote  Indianer 
und  reitet  in  die  seligen  Jagdgründe  (First  annual  report  of  the  bureau 
of  ethnology  1879/80,  97).  Bei  den  Klaniatli-  und  Trinity-Indianern  der 
Nordwestküste  wird  drei  Tage  lang  ein  Feuer  auf  dem  Grabe  unter- 
halten, und  die  Freunde  des  Toten  heulen  drumherum,  um  den  Dämon 
O-mah-ä  zu  verscheuchen,  der  die  Seele  bedroht  (ebd.  107).  Mexikaner 
und  Algonkins  unterhielten  vier  Nächte  lang  ein  Feuer  auf  dem  Grabe. 
Die  letzteren  meinten,  dass  dadurch  der  Seele  das  mühselige  Saiunndn 
von  Brennmaterial  auf  ihrer  Wanderung  ins  Jenseits,  die  vier  Tage 
dauert,   erspart  werden  könne  (ebd.  198.    Brinton,   The  myths  of  the  ncw 


Feuer  und  Licht  im  Totengebrauche.  377 

World,  p.  240).  Die  Yurok  von  Kalifornien  glaubten,  dass  die  Geister 
der  Abgeschiedeneu  das  Grabfeuer  nötig  hätten  zur  Beleuchtung  auf  ihrer 
Reise  ins  Jenseits,  namentlich  um  einen  Abgrund  auf  einer  dünnen, 
glatten  Stange  zu  überschreiten.  Eine  rechtschaffene  Seele  kommt 
schneller  hinüber  als  eine  böse,  danach  regeln  sie  die  Zahl  der  Nächte, 
in  denen  das  Licht  brennen  niuss.  Ein  ähnlicher  Glaube  soll  auch  unter 
Eskimos  leben  (First  annual  report,  p.  1!)8).  Bei  den  Irokesen  wurde 
nachts  auf  dem  Grabe  ein  Scheiterhaufen  aufgeschichtet,  um  dem  Geiste 
zu  ermöglichen,  seine  Speise  zu  bereiten  (Spencer  1,  197).  Die  Dakotas 
hängen  rings  um  den  Leichnam  Speise  auf  und  lassen  mehrere  Tage  lang 
ein  Feuer  dabei  brennen,  damit  die  Seelen  weder  frieren,  noch  Hunger 
leiden  (Knortz,  Märchen  u.  Sagen  d.  nordamerikan.  Indianer,  S.  23).  Bei 
den  Seminolen  wird  nachts  ein  Feuer  auf  dem  Grabe  unterhalten,  um 
die  schlechten  Nachtvögel  zu  vertreiben  (Steinmetz,  Etlniolog.  Studien  z. 
er.sten  Entwicklung  d.  Strafe  1,  159;  vgl.  nocli  Tylor,  Die  Anfänge  der 
Kultur  1,  477  Anm.).  Die  Insel-Karaiben  machten  ein  Feuer  rings  um 
das  Grab.  Bei  den  Goajiros  brennt  zwei  volle  Jahre  hindurch  allnächtlich 
ein  Feuer  vor  dem  Grabe.  Die  Makuschi  unterhalten  auf  dem  Grabe 
eines  dahingeschiedenen  Kriegers  nur  einige  Stunden,  die  Warraus  da- 
gegen mehrere  Tage  laug  ein  Feuer,  um  das  die  Witwe  und  die  weib- 
lichen Verwandten  sich  setzen  und  von  Zeit  zu  Zeit  einen  grässlichen 
Toteugesang  ertönen  lassen  (Koch,  Zum  Animismus  d.  südamerikan. 
Indianer,  S.  81).  Die  Maconis  stellen  auf  den  Grabhügel  der  Erwachsenen 
Fleisch  und  Früchte  und  zünden  Feuer  an,  damit  dem  Abgeschiedenen 
keines  seiner  Bedürfnisse  fehle  (ebd.  59).  Nach  anderen  Berichten 
zünden  brasilianische  Indianer  Feuer  auf  den  Gräbern  an,  um  die  Seelen 
zu  verscheuchen  (Müller,  Gesch.  d.  amerikan.  Urreligionen,  S.  287).  In 
Hagecks  böhmischer  Chronik  endlich  wird  (nach  Schwenck,  Mythol.  d. 
Slawen,  S.  325)  erzählt,  dass  bei  dem  Begräbnisse  der  Hruba,  der  Gattin 
des  Nezamysl,  die  Dienerinnen  drei  Tage  das  Feuer  auf  dem  Grabe 
unterhalten  und  beim  Weggehen  nach  heidnischer  Weise  Steine  hinter 
sich  geworfen  hätten. 

Das  Feuer  auf  dem  Grabe  finden  wir  nun  häufig  durch  Lampen  oder 
Kerzen  ersetzt.  Bei  den  Alfuren  der  Minahassa  (Celebes)  wird  auf  dem 
Grabe  Vornehmer  während  einiger  Tage  eine  Lampe  neben  den  hin- 
gesetzten Speisen  angezündet.  Man  glaubt,  der  Tote  käme,  um  sich  aus- 
zuruhen, zu  essen  und  zu  trinken  (Wilken,  Het  animisme  S.  107).  Ähn- 
lich auf  den  Palau- Inseln  (Steinmetz,  Ethnolog.  Studien  1,  246).  Bei  den 
dem  Namen  nach  christlichen  Colorados-Iudianern  westlich  von  Quito 
wird  das  Haus,  in  dem  die  Leiche  beerdigt  ist,  verlassen,  doch  lässt  man 
am  Grabe  einige  Lebensmittel  und  angezündete  Kerzen  zurück  (Globus 
89,  68).  Die  Wotjäken  zünden  auf  dem  frischen  Grabe  einige  Kerzen  an 
und  streuen    die  Brocken    von    drei    hartgekochten  Eiern    über    das  Grab 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.   1907.  "25 


378  Sartori: 

(Schwenck,  Mythol.  d.  Slawen  S.  456).  Die  Tschereniissen  setzen  auf  «las 
(trab  für  jeden  vorher  rerstorbenen  Freund  eine  Kerze  und  sagen:  Lebt 
verträglich!  Jeder  Begleiter  isst  bei  den  brennenden  Kerzen  einen 
Pfannkuchen  (ebd.  S.  HS).  Auch  die  Tschuwaschen  legen  bei  brennenden 
Kerzen  Speisen  auf  das  (irab  (ebd.  S.  45'2).  Bei  den  siebenbürgischen 
Rumänen  (Gemeinde  Langendorf)  begeben  sich  einige  Tage  nach  dem 
Begräbnisse  die  weiblichen  Hinterbliebenen  vor  Sonnenanfgang  mit  einem 
Topfe  mit  glühenden  Kohlen  sowie  mit  Weihrauch  und  einer  brennenden 
Kerze  zu  dem  Grabe  ihres  Verstorbenen.  Sie  stellen  den  Topf  auf  die 
Mitte  des  Grabhügels,  die  Kerze  aber  zu  dem  Haupte  des  Toten.  Dann 
streuen  sie  Weihrauch  auf  die  Kohlen  und  umgehen  mit  gefalteten 
Händen  dreimal  das  Grab  (Globus  57,  30).  Im  bosnischen  Savelande 
wird  am  dritten  Tage  nach  der  Beerdigung  am  Grabe  eine  Kerze  ange- 
zündet und  neben  dem  Kreuze  in  die  Erde  gesteckt.  Dann  findet  ein 
Totenmahl  statt  (Krauss,  Volksglaube  der  Südslawen  S.  löOf.).  Alinliche 
Bräuche  bei  den  Bulgaren  und  in  Sarajewo  (oben  11,  '20  f.).  In  mehreren 
portugiesischen  Provinzen  trägt  man  an  Sonn-  und  Festtagen  Brot  und 
Wein  samt  einem  brennenden  Licht  auf  das  mit  einem  Tischtuch  be- 
deckte Grab  (Urquell,  N.  F.  2,  204  f.).  In  Koni  wurden  die  in  die  Gräber 
gestellten  Lampen  an  gewissen  Tagen,  namentlich  am  Todestage,  ange- 
zündet. Es  galt  auch  als  ein  gutes  Werk,  eine  brennende  Lampe  in  oder 
auf  das  Grab  zu  setzen  (Marquardt-Mau,  Privatleben  der  Römer  S.  368). 
Am  Grabe  Arons  auf  dem  Berge  Hör  wird  Donnerstags  und  Freitags  eine 
Lampe  angezündet,  weil  an  diesen  Tagen  der  Prophet  sein  Grab  besuelit 
(Curtiss,  Ursemit.  Relig.  S.  87).  In  Bayern  trägt  am  7.  und  30.  Tage 
nach  dem  Gottesdienste,  bei  dem  Kerzen,  Geld  zum  Wein  und  Brot  am 
Altar  niedergelegt  werden,  die  Totenfrau  zwei  Lichter  auf  das  Grab 
(oben  II,  18;  vgl.  auch  Lippert,  Die  Relig.  der  europ.  Kulturvölker 
S.  148  f.).  Eine  ewige  Lampe  wird  am  Orte  eines  Mordes  gestiftet 
(Pröhle,  Harzsagen  S.  224)'). 


1)  Nachzutragou  ist  liior  noch  dor  deutliche  Schutz-  und  Abwehrzauber,  den  manch- 
mal die  Hinterbliebeneu  nach  der  Rückkehr  von  der  l)cstattun<r  an  sich  und  dem  Hause 
vornehmen.  Wenn  die  Verwandten  von  der  Verbrennung  des  Toten  zurückkehren,  sollen 
sie  nach  altindischem  Eitual  Feuer  berühren,  und  das  Haus  ist  mit  einem  Feuerbrand 
auszubrennen  und  mit  Kuhmist  zu  reinigen  (Caland,  Die  altind.  Totengebriiuche  S.  79). 
Zwischen  Dorf  und  Begräbnisstätte  wird  Feuer  gesetzt  (ebd.  S.  140,  171).  Bei  den 
Wotjäkeu  schreiten  nacii  der  Rückkelir  von  der  Beerdiguug  die  Begleiter  über  ein  beim 
Sterbehause  angezündetes  Feuer,  reiben  sich  die  Hände  mit  Asche,  baden  sich  usw. 
(Schwenck,  Mj-thol.  der  Slawen  S.  45G).  Bei  den  Jakuten  zündet  man  auf  der  Heimkehr 
vom  Begräbnisse  auf  dem  Wege  llolzhaufen  an,  und  die  Verwandten  des  Verstorbenen 
springen  durch  die  lodernde  Flamme,  um  sich  von  dem  bösen  Geiste  zu  befreien,  der 
sich  in  ihren  Kleidern  eingenistet  haben  könnte  (Globus  59,  8ö).  Bei  den  Bulgaren  wird 
am  nächsten  Tage  nach  der  Hcstattung  und  dem  Totenmahl  das  Haus  von  einem  Waisen- 
iiuidchcn  gefegt  und  gereinigt.  Das  Mädchen  hält  dabei  in  der  linken  Hand  eine 
Wachskerze  und  ein  von  den  Hinterbliebenen  erhaltenes  Geschenk  (Sirauss,  Die  Bulgaren 
S.  4.J1). 


Feuer  und  Licht  im  Totengebrauche.  379 

Ebenso  häufig  und  ebenfalls  in  Verbindung  mit  Speisungen  der  Toten 
kommen  Lichter  im  Trauerhause  während  einer  gewissen  Frist  nach 
dem  Sterbefalle  oder  zu  bestimmten  Zeitpunkten  zur  Verwendung.  Im 
Samoborer  Gebirgsland  in  Kroatien  zündet  beim  Beginne  des  Trauer- 
mahles der  älteste  Teilnehmer  eine  Wachskerze  an.  Nach  jeder  weiteren 
Speise  wird  das  wiederholt;  in  wohlhabenden  Häusern  tut  man  das  auch 
für  früher  Verstorbene  (Krauss,  Volksglauben  der  Südslawen  S.  151  f.). 
In  Rumänien  befindet  sich  bei  jedem  Gedeck  des  Totenmahles  neben 
einem  Kuchen  eine  Wachskerze,  die  bei  Eröffnung  des  Mahles  angezündet 
wird.  Die  Kerzen  werden  hierauf  ausgelöscht  und  an  den  Kuchen  geklebt, 
den  jeder  mit  nach  Hause  nimmt  (Flachs  S.  61).  Bei  den  Bulgaren  in 
Ungarn  erhält  beim  Totenschmaus  nach  Aufbahrung  der  Leiche  jeder 
Geladene  einen  Laib  Bi'ot,  zu  dem  eine  Kerze  mit  Tuch  gewunden  wird. 
Die  Kerzen  werden  im  Hause  angezündet  und  dann  wieder  verlöscht,  nun 
isst  man  das  Brot.  Jetzt  meinen  sie,  die  Seele  sei  erlöst  (Globus  90,  140). 
Die  südslawischen  Mohammedaner  glaulien,  dass  jeder  Tote  am  Abend 
seines  Be2;räbnistages  in  sein  Haus  auf  Besuch  heimkehre.  Zu  seiner 
Bewirtung  stellt  man  ein  Glas  frisches  Wasser,  mit  einem  reinen  Handtuch 
zugedeckt,  auf  denselben  Platz  hin,  auf  dem  er  ausgeatmet  hatte.  Dazu 
setzt  man  noch  ein  Näpfchen  mit  Mehl  und  steckt  mehrere  Uuschlitt- 
kerzen  ins  Zimmergebälke.  Am  nächsten  Tage  wird  das  Wasser  aufs 
Feld  geschüttet,  das  Näpfchen  mit  Mehl  schenkt  man  einem  Armen;  die 
Kerzen  aber  zündet  man  an,  damit  das  Haus  die  ganze  Nacht  beleuchtet 
sei  (Krauss,  im  Globus  Gl,  155).  In  Clenze  (hannoversches  Wendland) 
geht  man  nach  dem  Begräbnis  in  die  Bauernstube,  die  Angehörigen  müssen 
Bier  geben.  Auf  die  letzte,  leere  Tonne  setzt  man  zwei  Lichter,  ein 
•Glas  Bier  und  eine  Semmel  und  schliesst  die  Tür  zu.  Das  Seelcheu  soll 
dann  kommen  und  etwas  davon  nehmen  (Globus  81,  271).  In  Hohen- 
stein  wird  nach  dem  Begräbnis  ein  Stuhl  in  der  Stube  an  die  Tür 
gestellt,  ein  Handtuch  daneben  gehängt,  uud  die  Nacht  über  brennt 
ein  Licht.  Der  Tote  kommt  sich  bedanken  (Toppen,  Aberglaube  aus  Masuren 
S.  111). 

Bei    den  Wadschagga  werden    am   Tage    nach    dem    Begräbnis    eines 

Mannes  im  Hofe  (wo  die  Toten  auch  begraben  werden)  Feuer  angezündet 

und  zwei  bis  drei  Tage  lang    unterhalten.     An    dem  Feuer    soll    sich   die 

Seele  wärmen  und  sich  zugleich  an  den  Speisen  ergötzen,  die  ihr  zu  Ehren 

über   jenen  Feuern    gekocht  werden.     Auch    die  Kleider  und  Waffen  des 

Toten  werden  um  das  Feuer  herumgelegt.     Am  vierten  Tage  wird  es  mit 

Rasenstücken  ausgelöscht.     Für  eine  kinderreiche  Frau  werden  die  Feuer 

vier  Tage  lang  auf   dem  Hofe  ihres  Mannes  augezüudet    und    dann    noch 

zwei    Tage     auf    dem    Hofe    ihres    Vaters.      Ihre    Fellgewänder    werden 

jeden    Tag   bei   Neuanzündung    des   Feuers    gerieben,    dass    sie   knittern 

(Globus  89,  1981). 

25* 


380  Sartori: 

Die  Tagalen  ilcr  Philipi)iiuni  züiultMi  am  dritten  Tage  nach  dem 
Todesfall  in  der  Sterbehütte  Kerzen  an,  um  den  Toten  zum  Festmahle  zu 
erwarten  (Wilken,  Het  animisme  1,  107).  Die  Permier,  die  ebenfalls  am 
dritten  Tage  das  Totenmalil  feiern,  stellen  beim  Erscheinen  der  Gäste  im 
Anfange  der  Mahlzeit  brennende  Wachslichter  auf  die  Fensterbretter  und 
zu  beiden  Seiten  der  Türscliwelle  (Globus  71,  37-2).  An  manchen  Orten 
Rumäniens  wird  der  Rest  des  grossen  Totenlichtes,  das  im  Leichenzuge 
mitgetragen  ist  und  anderswo  mit  dem  Toten  eingegraben  wird,  mit  nach. 
Hause  genommen  und  an  den  di-ei  nächsten  Abenden  gleich  nach  Sonnen- 
untergang an  der  Stelle,  wo  des  Sterbenden  Kopf  war,  breiinoud  auf- 
gestellt, da  die  Seele  um  diese  Zeit  noch  zurückkommt;  damit  sie  sich 
stärke  und  den  Schweiss  abwische,  werden  Totenkuchen  und  ein  Handtuch 
vorbereitet  (Flachs  S.  53).  In  Flemalle  lässt  man  das  Haus  zwei  oder 
drei  Tage  nach  der  Beerdigung  erleuchtet  (Monseur,  Le  folklnre  wallon 
p.  40).  ^ 

Die  Tscheremissen  essen  am  zweiten  Gedächtnisfeste  des  Toten,  das 
am  siebenten  Tage  stattfindet,  bei  brennenden  Kerzen  im  Sterbehausc 
Kuchen  und  senden  einige  Bissen  nach  dem  Grabe  (Schwonck,  Mythol. 
der  Slawen  S.  448).  Bei  den  Juden  in  Ostgalizien  brennt  nach  Einnahme 
des  Totenmahls  sieben  Tage  lang  am  Fenster  des  Trauerhauses  ein  Öl- 
lämpchen  und  darüber  hängt  ein  kleines,  weisses  Tuch  von  Leinen.  Die 
Seele  des  Toten  weilt  während  dieser  sieben  Tage  noch  zu  Hause  unter 
den  Ihrigen  (Ur-Quell,  N.  F.  2,  109;  vgl.  Rochholz,  Glaube  imd  Brauch 
1,  1C7.  Grüneisen,  Ahnenkultus  Israels  S.  103f.).  In  Ljubinje  (Herzegowina) 
wird  im  Sterbehause  eine  Woche  durch  Feuer  unterhalten,  um  das  die 
Leute  oft  die  ganze  Nacht  hindurch  sitzen  und  warten,  ob  die  Seele  des 
Verstorbenen  wiederkehre  (Zs.  f.  Ethuol.  1902,  66).  Die  Armenier  lassen, 
wenn  der  Verstorbene  mehr  als  zehn  Jahre  alt  ist,  acht  Tage  lang  auf 
dem  Platze,  wo  seine  Leiche  gebadet  ist,  Kerzen  oder  Öllampen  brennen, 
damit  der  Weg  der  Seele  ins  Jenseits  erhellt  werde  (Abegiiian,  Der 
armenische  Volksglaube  S.  21).  In  Auersperg  in  Unterkrain  kommen  die 
Leichenträger  und  Leichenbegleiter  acht  Tage  lang  ins  Trauerhaus  uml 
legen  an  dem  Orte,  wo  der  Tote  gelegen  hat,  zwei  Wachskerzen  kreuz- 
weise übereinander,  zünden  sie  an  allen  vier  Ecken  an,  knieen  nieder  und 
beten  so  lange,  bis  sie  ausgebrannt  sind  (Rosenthal  u.  Karg,  Der  Deutsche 
und  sein  Vaterland  2,  329).  In  Mainvault  (Hennegau)  stellt  man  nach 
einem  Sterbefalle  brennende  Kerzen  in  kleine  Kapellen  in  der  Mauer 
wenigstens  acht  Tage  lang  auf.  Einige  zünden  sie  alle  Sonntage  während 
der  Messe  und  der  Vesper  an  bis  zum  Ende  der  Trauerzeit  (Bull,  de 
folklore  2,  846  nr.  73). 

Im  alten  Indien  wurde  während  der  Periode  der  Unreinheit  dem  Ver- 
storbenen ausser  anderen  Gaben  auch  täglich  eine  Lampe  dargeboten. 
Nach    späteren  Quellen    soll    sie    die  furchtbare  Finsternis,    die    auf   dem 


Feuer  und  Licht  im  Totengebrauclie.  381 

"Wege  nach  Yamas  Stadt  herrscht,  erleuchten  (Caland,  Die  altind.  Toten- 
gebräuche S.  82).  Nach  heutigem  Eitus  gräbt  im  Trauerhause  der  Haupt- 
leidtragende dicht  bei  dem  Platz,  wo  die  Leiche  gelegen  hat,  eine  kleine 
Grube  und  lässt  darin  zehn  Tage  und  Nächte  lang  eine  Lampe  brennen 
(ebd.  S.  84).  Bei  den  Parsen  wird  an  der  Stelle,  wo  der  Leichnam  auf- 
gebahrt war,  drei  Tage  lang  ein  Feuer  unterhalten  und  wohlriechendes 
Sandelholz  und  Weihrauch  darauf  verbrannt,  um  die  Krankheitskeime  zu 
Ternichten.  Die  Stelle  wird  auch  nachher  längere  Zeit  unbenutzt  gelassen. 
Zehn  Tage,  im  Sommer  dreissig  Tage  lang,  darf  keiner  den  Platz  be- 
treten. In  der  Nähe  muss  neun  Tage  lang  im  Winter  und  dreissig  im 
Sommer  eine  Lampe  brennen,  und  in  einen  kleinen  Topf  voll  Wasser 
werden  jeden  Morgen  frische  Blumen  getan.  Nach  Ablauf  der  erwähnten 
Periode  wird  das  ganze  Zimmer  gründlich  gewaschen  (Globus  64,  397). 
Huronen  und  Irokesen  nähern  sich  während  der  zehn  Tage  der  grossen 
Trauer  nicht  dem  Feuer  in  ihrer  Hütte  und  gehen  nur  nachts  aus 
<Globus  70,  341). 

In  den  Schweizer  Urkantonen  steht  bei  dem  Bett  des  Toten  eine 
brennende  Öllampe,  die  vom  Augenblicke  des  Hinscheidens  an  dreissig 
Tage  und  Nächte  fortwährend  brennen  soll,  neben  einem  grossen  Kruzifix 
xwei  brennende  Kerzen.  Nach  dem  Usäwisänä  ('Ausweisen')  am  dreissigsten 
Tage  löscht  man  das  Dreissigstlicht  (Homeyer,  Der  Dreissigste  S.  155  f. 
Vgl.  Leoprechting,  Lechrain  S.  254). 

Bei  Ruthenen  und  Huzulen  pflegt  man  im  Trauerhause  während  der 
■ersten  vierzig  Tage  hin  und  wieder,  besonders  in  den  ersten  Tagen,  neben 
■eine  brennende  Kerze  einen  Becher  voll  Wasser  und  Brot  hinzustellen 
(Globus  67,  357).  Im  Sterbebette  des  Serbenfürsten  Milosch  Obrenowitsch 
brannte  ein  ÖUicht  vierzig  Tage  lang,  daneben  standen  Speisen  (Roch- 
holz, Glaube  und  Brauch  1,  196).  In  Bulgarien  wird  die  ersten  drei  Tage, 
in  manchen  Häusern  vierzig  Tage  hindurch,  früh  und  abends  an  die 
Stätte,  wo  der  Tote  gebettet  war,  ein  Stein  gelegt  und  darauf  eine 
brennende  Kerze  gesteckt.  Die  Seele  soll  noch  vierzig  Tage  lang  nach 
dem  Tode  im  Hause  weilen  (Strauss,  Die  Bulgaren  S.  451).  In  Sarajewo 
schickt  man  vierzig  Tage  lang  je  eine  Kerze  und  einen  Teller  gekochten 
Weizens  in  die  Kirche  (oben  11,  21).  Bei  den  Permiern  im  Kreise 
Tscherdyn  wird  am  vierzigsten  Tage  und  am  Jahrestage  des  Todes  eine 
Bewirtung  des  Verstorbenen  veranstaltet.  Sobald  alles  angerichtet  ist, 
ergreift  das  Familienoberhaupt  ein  brennendes  Licht  imd  umkreist  damit 
dreimal  den  Tisch.  Nach  dem  Essen  geleiten  die  Verwandten  die  Person, 
<lie  den  Sarg  gezimmert  oder  die  Leiche  gewaschen  und  au  der  Tafel  der 
Bettler  und  Fremden  den  Vorsitz  geführt  hat,  mit  Kerzen  in  der  Hand 
vor  das  Dorf  (Globus  71,  372  f). 

Auf   der  kurischen  Nehrung    steckt    in    der    Silvesternacht,    die    dem 
Tode    eines  Ehemanns    oder    einer    Ehefrau    folgt,    der    überlebende  Teil 


382  Sartori: 

gewöhnlich  ein  Licht  zur  Erinnerung  an  den  Dahingeschiedenen  an.  Ist 
dies  aber  ausgeblasen,  so  erlischt  zu  gleicher  Zeit  die  Erinnerung  an  ihn 
(Globus  82,  292). 

Bei  den  Chewsuren  brennen  ein  Jahr  lang  Waclislicliter  vor  dou  in 
einem  Winkel  des  Hauses  niedergelegten  Kleidern  des  Toten  (Globus 
76,  209). 

In  Schwaben  brennen  Frauen  ein  Jahr  lang  für  verstorbene  An- 
gehörige beim  (iottosdicnst  den  Waehsstock  (Birlinger,  Aus  Schwaben 
2,  315.  Vgl.  Leoprechting,  Lechrain  S.  255.  Reubold,  Beitr.  z.  Volks- 
kunde S.  61:  Bezirksamt  Ansbach).  Am  Jahrestage  des  Todes  zündet 
man  im  Hause  ein  Ölläm])clien  vor  dem  Kruzifix  an  (John,  Sitte  in  West- 
böhmen S.  179).  Die  Juden,  die  an  jedem  Jahrestage  ihrer  verstorbenen 
Verwandten  von  einem  Abend  bis  zum  anderen  ein  Licht  anstecken, 
haben  besonders  dazu  hergestellte  Kerzen,  die  gerade  2-i  Stunden  lang 
brennen  (Rochholz,  Glaube  und  Brauch  1,  166f.). 

Diese  Vorwendung  des  Lichtes  bei  den  einzelnen  Toten  setzt  sich 
nun  in  den  verschiedenen  Gestaltungen  der  Allerseelenfeier  fort.  Die 
Iniler  gruben  für  die  Totenopfer  an  ihre  Vorfahren  (um  Neumond  und 
sonst)  Gruben  und  legten  einen  Feuerbrand  daneben,  um  die  bösen 
Dämonen,  die  sich  unter  die  „Väter"  eingeschlichen  liaben  könnten,  zu 
vertreiben  (Oldenberg,  Relig.  d.  Veda  S.  549).  Die  jetzigen  Hindus 
reinigen  und  beleuchten  am  Diwali  oder  Lampenfeste  ihre  AVolmungen, 
um  die  Seelen  der  Verstorbeneu  in  ihren  alten  Wohnungen  zu  empfangen 
(Crooke,  Populär  religion  of  Northern  ludia  p.  374  f.  vgl.  231).  Am  Vor- 
abend des  Ahnenfestes  in  Tongking  werden  die  verstorbenen  Verwandten 
durch  einen  auf  dem  Hof  aufgepflanzten  Bambus  zum  Mahle  eingeladen. 
Vor  der  Tür,  die  auf  die  Strasse  führt,  ist  ein  hoher,  mit  Palmblättern 
und  Federn  geschmückter  Mast  aufgestellt;  am  Abend  hängt  man  eine 
Laterne  daran  (Globus  51,  14).  In  der  letzten  Nacht  des  'Laternenfestes' 
der  buddhistischen  Japaner  (30.  August)  werden  Feuer,  deren  Licht,  wie 
mau  annimmt,  den  Pfad  der  Geister  bei  iiirer  Rückkeiir  ins  Seelenland 
erleuchtet,  zwischen  den  Gräbern  und  auf  benachbarten  Hügeln  ange- 
zündet (Transactions  of  the  Asiatic  soc.  of  Japan  19,  533).  Am  Aller- 
seelonfest  (im  Neujahrsmonat)  auf  Sumba  werden  die  Toten  zum  Essen 
in  die  Häuser  geladen.  Nach  Beendigung  des  Festes  werden  sie  unter 
Gesang  von  Männern  und  Frauen  ein  Stück  Weges  zurückbegleitet.  Diese 
haben  dabei  in  der  einen  Hand  einen  'klapperdop",  gefüllt  mit  etwas 
Essen,  und  in  der  anderen  Hand  ein  brennendes  Stück  Holz.  Wenn  man 
aus  dem  Dorfe  heraus  ist,  so  werden  diese  Gegenstände  in  der  Richtung 
des  Seelenlandes  geworfen,  womit  man  von  den  Toten  Abschied  nimmt 
(Wilken,  Het  animisme  S.  108).  Die  südslawischen  Moliammodaner 
glauben,  dass  die  Toten  jeden  siebenten  Tag,  einmal  vor  dem  Kamazän 
und    zweimal     während    des    Ramazäus    zur    Nachtzeit,     wenn    auf    den 


Feupi-  und  LicLt  im  Totengebrauche.  383 

Minareten  die  Lichter  angezündet  werden,  nud  an  jedem  Freitagabend  in 
ihr  Haus  heimkommen.  Man  zündet  dann  entweder  im  Hause  drei 
Kerzen  an  oder  schickt  welche  in  die  Moschee.  Das  Haus  ist  die  ganze 
Xaclit  hell  beleuchtet  und  wird  von  Zeit  zu  Zeit  mit  Weihrauch  aus- 
geräuchert (Globus  Gl,  155).  In  Armenien  verehrt  man  die  Seelen  bei 
den  fünf  grossen  Jahresfesten,  aber  auch  am  Vorabend  anderer  Feste  und 
jeden  Samstagabend.  Man  verbrennt  auf  dem  Herde  Weihrauch  oder 
trägt  ihn  überallhin,  wo  man  glaubt,  dass  die  „Seelen  der  Vergangenen" 
sich  aufhalten.  Ein  anderer  Brauch  besteht  in  der  'Unterhaltung  des 
Lichtes  der  Verstorbenen'  die  Nacht  hindurch,  damit  die  Seelen  in  das 
Haus  eintreten  können.  Finden  sie  es  dunkel,  so  speien  sie  durch  das 
Dachfenster  hinein  und  entfernen  sich  fluchend  (Abeghian  S.  23  f.).  In 
den  mexikanischen  Dörfern  werden  zu  Allerheiligen  den  Seelen  Speisen 
hingestellt  und  der  Zahl  der  Gerichte  entsprechend  Wachskerzen  ange- 
zündet. Die  Grösse  der  Lichter  entspricht  dem  Alter  der  Verstorbenen. 
Am  folgenden  Tage  zünden  die  Weiber  in  der  Kirche  ganze  Reihen 
kleiner  Wachskerzen  an  (Sartorius,  Mexiko  S.  '262  f.).  Bei  den  Wotjäken 
wird  in  jeder  Familie  in  der  Woche  vor  Palmsonntag  gegen  Mitternacht 
ein  Tisch  mit  Essen  für  die  Toten  besetzt,  daneben  steht  ein  Trog,  auf 
dessen  Rand  eine  brennende  Wachskerze  geklebt  ist.  Der  Hausherr  wirft 
einen  Teil  des  Fleisches  in  den  Trog  und  isst  den  Rest  selbst  (Buch, 
Die  Wotjäken  S.  145  f.;  vgl.  Schwenck,  Mythol.  d.  Slawen  S.  456).  Bei 
den  Tschuwaschen  setzt  jeder  Hausvater  bei  der  Totenfeier  im  Frühling 
(cjorda  gone  =  Lichtertag)  für  jeden  Toten,  den  er  verloren  hat,  etwas 
Speise  auf  den  Hof  und  zündet  jedem  eine  Kerze  au  (v.  Stenin  im 
Globus  63,  324;  vgl.  Schwenck  S.  452).  Ähnlich  in  Galizien  auf  den 
Gräbern  am  Ostermontag  (Kaindl  in  d.  Beilage  z.  Müncliener  Allg.  Ztg. 
1901,  Nr.  79,  5,  Anm.  7).  In  einigen  Gegenden  zünden  die  russischen 
Bauern  auf  ihren  Höfen  am  Weihnachtsabend  und  am  Vorabend  der 
heiligen  drei  Könige  Stroh  an,  damit  die  Verstorbenen  sich  wärmen 
können  (Globus  59,  236).  Im  skandinavischen  Norden  wird  in  der  Jul- 
nacht  das  Haus  zum  Empfang  der  Seelen  erleuchtet,  angezündete  Lichter 
stehen  auf  dem  gedeckten  Tisch,  eine  Kanne  besten  Julbiers  zwischen 
zwei  Lichtern.  Aber  man  trifft  auch  allerlei  Schutzmassregeln.  Vor  den 
Penstern  werden  Vorhänge  angebracht,  sowohl  damit  die  Geister  nicht 
hineinsehen,  als  auch  damit  sie  nicht  vom  Jullicht  gestört  und  aufgereizt 
werden.  Niemand  wagt  sich  in  der  Dämmerung  ohne  angezündetes  Licht 
aus.  Auf  dem  Herde  lodert  das  Feuer  hell.  In  Norwegen  pflanzt  man 
bisweilen  eine  grosse,  brennende  Fackel  in  einen  Schneehügel  ausserhalb 
des  Ha,uses,  und  in  Schweden  gehen  die  Kirchgänger  mit  Fackeln  nach 
der  fernen  Kirche  und  sehen  unterwegs  überall  helle  Fenster.  Auf  Island 
setzt  die  Hausmutter  in  jeden  Raum  der  Wohnung  angezündete  Lichter; 
kein  Winkel  darf  in  der  Juluacht  dunkel  sein  (Feilberg  in  den  Hessischen 


384  Sartoii: 

Blättern  f.  Volkskunde  b,  34)').  In  Ostpreusseu  wird  am  Noujalirstage  die 
Ofenbank  für  die  Seelen  freigelialton,  das  Feuer  im  Herde  oder  im  Ofen 
ano-ezündet  und  auch  in  manchen  Geilenden  ein  Licht  die  Nacht  hindurch 


o 


brennen  gelassen  (oben  11,  157).  Auch  in  Pommern  kommen  die  Ver- 
storbenen in  der  Silvesternacht  und  wärmen  sich  am  Ofen  (Knoop,  Yolks- 
sagen  a.  d.  üstl.  Tlinterpommorn  S.  177  nr.  212).  Um  einen  Seelenbesuch 
handelt  es  sich  wohl  auch  in  der  von  Bartsch  (Sagen  a.  Mecklenburg  2, 
231  nr.  1205)  berichteten  Sitte:  Am  Silvesterabend  sieht  man  in  vielen 
Häusern  einen  schön  geputzten  Leuchter  mit  einem  lirciinenden  Licht 
darauf,  das  an  diesem  Aljend  von  keinem  vom  Tisch  genommen  werden 
darf;  auch  auf  der  Hausdiele  brennt  um  diese  Zeit  den  ganzen  Abend 
eine  Lampe.  Nach  der  Abendmahlzeit  wirft  der  Hausvater  Geld  unter 
den  Tisch,  das  die  Tischgenossen  sogleich,  ohne  Licht  mit  unter  den 
Tisch  zu  nehmen,  aufsuchen.  (Unter  dem  Tische  sitzen  die  Seelen;  vgl. 
Feilberg,  Hess.  Bl.  f.  Volksk.  5,  38.)  Am  Cliristabend  (anderwärts  am 
Perchtentage)  werden  im  Salzburgischen  die  Esstische  mit  dem  sogenannten 
'Heiligenachttücher  und  mit  einer  Kerze,  die  nicht  ausgelöscht  werden 
<larf,  wie  auf  einem  Opfortischo  für  die  nächtlicherweile  einkehrenden 
Seelengeister  bedeckt  (Hötier,  Weiimachtsgebäcke  Ö.  10).  lu  Süddeutscli- 
land  werden  Wachsstöcke  neben  Lichtern  am  Allerseelentage  namentlich 
von  Frauen  vor  den  Altären  angezündet.  Sie  lieissen  dann  Seelenlichter, 
sie  brennen  zur  Tjabsal  der  armen  Seelen  im  Fegefeuer.  „Das  ewige 
Licht  leuchtet  ihnen"  |(Audree,  Votive  S.  83;  E.  Meier,  Sagen  aus 
Schwaben  S.  4.51  f.  nr.  173).  In  der  Oberpfalz  sitzen  die  Seelen  am 
Allerseelentage  den  ganzen  Tag  auf  ihren  Gräbern  und  freuen  sich  der 
Lichtleiu,  die  man  ihnen  darauf  brennt;  die  aber,  die  vergessen  sind, 
warten  traurig  des  Lichtes  den  ganzen  Tag.  „Für  diese  wird  abends  ein 
Feuer  angezündet,  um  sie  zu  wärmen"  ist  der  Spruch,  wenn  man  ein 
Grab  ohne  Licht  sieht  (Schönwerth,  Oberpfalz  1,  281.  283).  Um  Iglau 
in  Mähren  wird  am  Allerseelentage  ein  Lichtlein  auf  den  Gräbern  auge- 
zündet, wodurch  die  bösen  Geister  verscheucht  werden  (oben  B,  411).  In 
Deutschböhmen  brennt  man  zu  Allerseelen  im  ILiuse  und  auf  den 
Gräbern  Kerzen  an  (Reinsberg  -  Düringsfeld,  Festkalender  aus  Böhmen 
S.  4!)3;  John,  Sitte  in  Westbülimen  S.  !)7).  Anderswo  in  Böhmen  und 
in  Tirol  stellt  man  den  Seelen  eine  brennende  Lam]ie  auf  den  Herd,  ilie 
aber  nicht  mit  Ül,  sondern  mit  Butter  gefüllt  ist,  und  mit  dieser  be- 
streichen sie  sich  ihre  Brandwunden  (Wuttke  §  752).  Eine  besondere 
Art  von  Seelenfeier  fand  an  einigen  Orten  Westböhmens  am  Kirchweih- 
feste im  Herbst  statt.  Das  Hauptvergnügen  dieser  Tage  bestand  in  Tanz. 
Montag  war  der  Tanz  der  Verheirateten,  Dienstag  der  Tanz  der  Jugend, 
der  schon  morgens  nach  einem  Gottesdienst  für  die  Gestorbenen    begann. 


1)  [Ausführlicheres  bei  Feilberg,  Jul  (1904),  Register  unter  'Lys'.) 


Feuer  und  Licht  im  Totengebrauche.  385 

Mau  uaunte  diesen  Moi'gentaiiz  die  'Press'  oder  die  'goldene  Stund'.  Sie 
dauerte  nur  so  lange,  als  eine  bei  Beginn  angezündete  Kerze  brannte. 
Dann  ging  mau  wieder  nacli  Hause.  In  der  'Press'  dachte  man  sich  die 
Seelen  der  verstorbenen  Ortsleute  anwesend,  damit  sie  sich  auch  eiue 
«inzige  Stunde  mitfreuen  könnten.  Das  Licht  brannte  dabei,  damit  die 
Seelen  der  Toten  ausweichen  könnten  und  nicht  getreten  würden;  nach 
anderen  bloss  als  Zeitmesser  (John  S.  94,  42'2).  In  Brügge,  Dinant  und 
anderen  Städten  Belgiens  zündet  man  geweihte  Kerzen  in  den  Häusern 
an  und  lässt  sie  während  der  Naclit  brennen.  Vor  50  Jahren  wurde  in 
Yerviers  und  Jupille  eine  angezündete  Kerze  während  der  Nacht  auf  das 
Fensterbrett  gestellt;  man  sagte,  es  geschähe,  damit  der  Zug  der  Geister 
seinen  Weg  auf  der  Strasse  zurückfinden  könne  (Bull,  de  folklore  3,  '24). 
Überall  zündet  man  am  Allerheiligen-  und  Allerseelentage  Lichter  an  den 
-Gräbern  an.  In  Lüttich  werden  die  Lichter  in  die  Ei-de  gestellt,  sieben 
oder  neun  an  der  Zahl,  vor  oder  hinter  dem  Grabe,  aber  niemals  darauf. 
Man  lässt  sie  ganz  ausbrennen;  wenn  der  Wind  sie  auslöscht,  zünden  die 
Vorübergehenden  sie  wieder  an  (ebd.  3,  31).  Im  belgischen  Limburg 
setzt  man  an  das  Grab  der  im  letzten  Jahre  Verstorbenen  zu  Allerseelen 
ein  Strohkreuz.  Den  Abend  verbringt  man  dann  häufig  im  Wirtshaus 
mit  Trinken,  Spielen  und  Singen.  Aber  beim  ersten  Schlage  der 
Mitternachtsglocke  begibt  man  sich  von  neuem  zum  Kirchhof,  um  hier 
die  Strohkreuze  in  Brand  zu  stecken  (ebd.  3"_*).  In  den  Dörfern  der  Um- 
gegend von  Tongres  zündet  man  während  der  Weihnachtsnacht  und  der 
zwei  folgenden  Nächte  Kerzen  an.  In  Canne  bei  Tongres  wird  diejenige 
Kerze  des  Weihnachtsabends,  die  um  Mitternacht  nicht  ganz  aufgebrannt 
ist,  als  geweiht  betrachtet  Man  bewahrt  sie  auf,  um  sie  den  Sterbenden 
in  die  Hand  zu  geben  (ebd.  99). 

Damit  sind  wir  wieder  zum  Ausgangspunkte  unserer  Betrachtungen 
zurückgekehrt.  Auch  in  den  mancherlei  Verwendungsarten  von  Feuer 
und  Licht  nach  der  Bestattung  des  Toten  erkennen  wir  immer  wieder  die 
Absicht  zu  schützen  und  abzuwehren,  und  zwar  ist  es  nun  meist  die  Seele 
selbst,  vor  der  sich  die  Überlebenden  sichern  wollen.  Aber  das  darf  mau 
wohl  sagen,  je  weiter  zurück  der  Augenblick  der  Bestattung  liegt,  um  so 
öfter  kommt  doch  auch  die  Vorstellung  zur  Geltung,  dass  man  der  ab- 
geschiedenen Seele  einen  Gefallen,  einen  Liebesdienst  mit  der  Spendung 
von  Feuer  und  Licht  erweise.  Und  wenn  auch  diese  Meinung  wieder  die 
Absicht  in  sich  schliesst,  den  Toten  zufrieden  und  günstig  zu  stimmen, 
an  seinen  Ort  zu  fesseln  und  dadurch  vor  allerlei  unangenehmen  An- 
näherungsversuchen an  die  Lebenden  zu  hindern,  so  zeigt  doch  eben  die 
ümdeutung  des  ursprünglich  als  gewalttätiger  Zwang  gedachten  Gebrauches 
eine  mildere  Auffassung  und  ein  freundlicheres  Verhältnis  zu  den  Ge- 
storbenen. Dem  Toten  werden  Feuer  und  Licht  mit  ins  Grab  gegeben 
oder  darauf  angezündet,    damit  es  ihm  auch  hier  nicht  au  Helligkeit  und 


386  Sartori:   Feuer  und  Licht  im  Totengebrauche. 

Wärme  fehle,  damit  or  aiuli  im  Jenseits  sein  Essen  kochen  könne,  damit 
ilun  der  Weg  dorthin  beleuchtet  oder  von  Hindernissen  gesäubert  werde. 
Und  wenn  sich  die  Seelen  einmal  wieder  zum  Besuch  im  alten  Heim  ein- 
stellen, so  empfängt  sie  behagliche  Wärme  und  freumllicher  Lichterglanz, 
der  iimen  den  Ort  zeigt,  wo  sie  die  für  sie  hingesetzten  Speisen  entgegen- 
nehmen können.')  Das  Feuer  und  das  Licht  wird  zu  einer  Wohltat, 
einem  Labsal,  einem  Opfer  für  sie,  für  sie  wird  es  der  Kirche  dar- 
gebracht"), und  schliesslich  versinubildliclit  es  den  Christen  das  ewige 
Licht,  auf  das  sie  lioffen.  Aber  wie  gesagt,  immer  wieder  bricht  die 
Scheu  und  Angst  vor  der  unlieimlichen  Berührung  mit  der  Totenwelt 
hindurch  und  mischt  sich  oft  seltsam  in  die  so  liebenswürdig  drein- 
schauenden Handlungen.  Und  am  Ende  tut  man  doch  lieber  noch  ein 
übriges,  um  die  bedenklichen  Gäste  wieder  loszuwerden.  Wie  man  sie 
in  Japan  nach  beendeter  Feier  durch  Feuer  zwischen  den  Gräbern  ver- 
scheucht, so  in  Belgien  durch  das  Anzünden  der  Strohkreuze  auf  den 
Friedhöfen  um  Mitternacht.  Derselbe  Gedanke  an  den  entgegengesetzten 
Enden  Asiens  und  l-juropas. 

Dortmund. 


1)  Auch  hier  wird  wieder  das  Licht  in  einzelnen  Fällen  in  enge,  sympathetische 
Verbindung  mit  der  Seele  gesetzt.  Die  Tschereniissen  stellen  für  jeden  verstorbenen 
Freund  eine  Kerze  auf  das  Grab;  die  Grösse  der  Lichter  bei  der  Seelenspeisung  der 
Mexikaner  entspricht  dem  Alter  der  Verstorbenen.  Wenn  die  Bulgaren  40  Tage  lang  an 
die  Stätte,  wo  der  Tote  gelegen  hat,  einen  Stein  mit  einer  brennenden  Kerze  legen,  so 
soll  auch  hier  wohl  der  Stein  den  Körper  des  Toten  symbolisieren,  wie  das  Licht  seine 
Seele.  (Vgl.  dazu  mein  Dortmunder  Progr.  190,'!,  S.  i'i).  Ursprünglich  freilich  soll 
gerade  bei  der  Speisung  der  Seelen  das  Licht  den  Spendern  Schutz  gewähren.  Die  Toten 
sollen  zwar  das  Ihrige  erhalten,  aber  sie  sollen  auf  einen  bestimmten  Bezirk  beschränkt 
und  an  Übergriffen  in  den  Bereich  der  Lebenden  gehindert  werden. 

2)  In  Friesland  und  auf  den  Halligen  pflegt  man  der  Kirche  beim  Tode  eines  wohl- 
habenden Familienglicdes  eine  oder  zwei  Wachskerzen  zu  schenken,  die  dann,  vor  dem 
Altare  stehend,  bei  feierlichen  Gelegenheiten,  namentlich  aber  an  hohen  Festtagen  an 
gezündet  werden.  Eine  mit  schwarzen  Florbändern  an  ihnen  befestigte  Gedächtnistafcl 
meldet  den  Namen  und  den  Todestag  des  Verstorbenen.  Die  Lichter  des  zuletzt  Ver- 
storbenen finden  vor  der  Mitte  des  Altars  ihren  Platz  (Ausland  57,  S'JG.  Auch  hier  sieht 
es  fast  so  aus,  als  glaube  man  in  den  Lichtern  noch  eine  gewisse  Teilnahme  der  Heim- 
gegangenen am  Gottesdienste  zu  ermöglichen).  Ruthonen  und  Huzulen  pflegen  die  Endchen 
von  Wachslichtern,  die  insbesondere  zu  gottesdienstlichen  Zwecken  verwendet  werden,  auf 
die  Erde  zu  werfen  und  dort  ausglimmen  zu  lassen:  nach  der  Ansicht  des  Volkes  wird 
nämlich  den  Seelen  der  Ertrunkenen  nur  so  viel  Licht  in  der  anderen  Welt  zuteil 
(Globus  R7,  357). 


Schläger:    Deutsche  Kinderlieder.  387 


^(achlese  zu  den  Sammlungen  deutscher  Kindeiiieder. 

Von  Georg  Schläger. 

(Fortsetzung  zu  S.  204—298.) 


=i*= 


/ 

101.     1.    Es  zog  ein  Bauer  über  Rergestal,  ho  ho! 
Es  zog  ein  Bauer  über  Bergestal, 
Kilja  kilja  hopp  hopp  hopp! 

2.  Er  führt  sein  Rösslein  an  der  Hand  usw. 

3.  Was  hat  er  auf  dem  Rösselein? 

4.  Da  hat  er  eine  Leinewand. 

5.  "Was  macht  er  mit  der  Leinewand? 

6.  Er  trägt  sie  hin  zum  Schneiderlein. 

7.  „Guten  Tag,  guten  Tag,  mein  Schneiderlein! 

8.  Kannst  du  mir  machen  mein  Röckelein?" 

9.  „Guten  Tag,  guten  Tag,  Frau  Annebett! 

10.  Wie  steht  mir  denn  mein  Röckelein? " 

11.  „Es  steht  dir  gut  und  doch  nicht  gut." 

12.  „0  weh,  o  weh,  mein  Schneiderlein! 

13.  Du  hast  verpuscht  mein  Röckelein. " 

14.  „Ich  hab's  genäht  beim  Mondenschein." 

15.  „Und  ich  bezahlt's  beim  Sonnenschein." 

Oberstein.  Weise  uud  Ausführung  ähnlich  wie  Lewalter  Heft  :'.,  Nr.  2ä,  nur  dass 
beim  Sehluss  der  Bauer  dem  Schneider  ein  Geldstück  in  die  Hand  drückt;  die  Leinwand 
wird  durch  ein  Taschentuch  vertreten.  Str.  1 — (i  werden  vom  Chor,  7 — 10,  12,  13,  lö  vom 
Bauern,  11  von  Frau  Annebett,  14  vom  Sehneider  gesungen.  Zwischen  Str.  8  und  9  muss 
eine  Lücke  angenommen  werden,  wenn  der  Wortlaut  von  Str.  8  nicht  etwa  entstellt  ist 
aus  .Mach  mir  daraus  ein  Röckelein."  Der  Schneider  und  Frau  Annebett  werden  vom 
Bauern  bei  ihrem  Auftreten  (Str.  7  und  9)  mit  einem  Händedruck  begrüsst,  bei  Str.  12 
droht  der  Bauer  mit  dem  Finger. 

Unsere  Fassung  steht  trotz  des  verdorbenen  Schlusses  dem  Volkslied  Erk-Böhme  3, 1717 
(daselbst  weitere  Nachweise)  näher  als  die  Lewalters  =  Böhme  S.  547  Nr.  352  und  S.  717 
Nr.  75.  [Colshorn,  Märchen  1854  S.  130.  Schumann  1905  S.  31.  Marriage,  oben  12,  219. 
Kristensen,  Skjsemtesagn  1900  S.  113.] 

102.    Ettchen  dettchen  dittchen  dattchen 
Zedra  wedra  vvittchen  wattcheu, 
Zedra  wedra  wuh, 
Und  das  bist  du. 

Jena.  — •  Zu  Dunger  293. 


888 


Schläger: 


103.    Ettchen  dettchcn  dittchen  dattchen, 
Siewerde  biewerdc  borenattchen, 
Ettchen  dettchen  Rettchenfresser, 
Sicwerde  biewerde  puff. 

Greiz.  —  Dazu  Simrock  838,  Böhme  IT.')",  Müller  S.  209,  Dünger 302,  Schumann  420. 
In  Wcida  begannen  Z.  2,  3  und  -1:    Zwiewelde  biewelde. 


Da  hat  sc  e  rutes  Huschen  an. 
Eins  zwei  drei, 

Da  muss  de  Färze  Fürze  Pfeife  Pfeife 
fer-ti's  sei. 


Mi.    Farze,  Farze,  Pfeife! 
Mei  Vater  is  e  Schneider, 
Meine  Muttor  is  e  Gickelhahn, 
Da  fliegt  se  bis  zum  Himmel  nan. 
Wenn  se  wieder  runter  kommt, 

Lelinstedt  i.  Th.,  beim  „Farzcnmachen".  Auf  jede  Tonstollc  der  letzten  Zeile  wird 
ein  Schlaj,'  mit  dem  ^Messer  gegeben.  'Farze'  nennt  man,  mehr  treffend  als  schon,  eine 
Basthuppe  mit  tiefem,  schnarrendem  Tone.  —  In  anderen  Bastlösereimen  erscheint  ein 
Kätzchen,  das,  wie  im  ABC-  oder  Heilspruche  (,Nr.  2j,  den  Berg  hiuaufläuft;  als  Vater 
und  Mutter  öfter  ein  Pfaff  und  eine  Nonne.  Vgl.  Dunger  74f.  77;  Müller  S.  181  Nr.  21; 
Simrock  708,  Wegener  358,  Sachse  S.  17.  Unsere  Fassung  ist  wiederum  verwandt  mit 
unserer  Nr.  02  f.,  ohne  dass  ich  den  Zusammenhang  aufklären  könnte. 

105.    Fasslabend!    Pick  und  pick! 
Negen  Müs  beten  sick, 
Beten  sick  alle  krank  un  dod. 
Gif  nii  wat  in  Rnmmelpott! 

Holstein.  —  Beschreibung  des  Runimelpotts  bei  Handclmann  S.  Iit3  [oben  13,  220]. 
Der  Eingang  gehört  einem  ganz  anderen  Spruch  an,  s.  Dunger  31.'),  Drosilm  201,  Böhme 
1853.    Andere  Bummelpottsprnche:   Böhme  1709ff.,  vgl.  auch  unsere  Nr.  30. 

lOG.    Flitz,  flauz,  Flederwisch, 
Draussen  ist  mir's  gar  zu  frisch. 
Ich  will  mich  in  die  Stube  machen 
Und  den  Kindern  vertreiben  das  Lachen. 

Gegend  zwischen  Eisenberg  und  Bürgel.  Gehört  in  ein  vogtländisches  Weihnachts- 
spiel und  zwar  in  die  Rolle  des  Knechts  Ruprecht,  s.  Dunger  in  Wuttkes  Sachs.  Volks- 
kunde, 2.  Aufl.,  S.  271. 

107.    Frau,  Frau,  Frau,  was  hast  in  deinem  Korbe  drin? 
Nichts,  nichts,  nichts,  weil  eine  Bettelfrau  ich  bin. 

Thüringen.  Vgl.  Simrock  327,  Böhme  .".07  und  12111,  auch  3.08  und  1292,  Drosilm  2G. 
Sehr  anklingend  aus  dem  10.  Jahrh.  Erk-Böhme  2,  954. 


ei^s^ 


^^m 


108  a.    Geh  in  den  Kreis,  meine  Rosa, 
Geh  in  den  Kreis,  meine  Blumä, 
Geh  in  den  Kreis,  mein  AUorjettchen,  Allerjettchen,  getrost. 

"Wasche  dich  rein,  meine  Rosa  usw.  Steh  auf  .  .  . 

Kämme  dich  glatt  .  .  .  Geh  aus  dem  Kreis  . 

Fall  auf  die  Knie  .  .  . 


Deutsche  Kinderlieder. 


SS» 


Osnabrück.  Zu  Böhme  S.  473f.,  Nr.  184;  Zusammenhang  mit  dem  Gesellschafts- 
spiele vom  Pater  und  der  Nonne  und  ähnlichen  (Erk-Böhme  2,  975—977  [F.  van  Duyse, 
Het  oude  nederl.  Lied  2,  Nr.  384])  ist  wahrscheinlich,  demnach  auch  mit  unserer  Nr.  2.5. 
—  Ans  Oberstein  ist  mir  neuerdings  noch  folgende  Fassung  bekannt  geworden: 


IJ^iE^i 


108  b.    Geh  hinein,  du  liebe  Rosa, 
Geh  hinein,  du  liebe  Römer  (so), 
Geh  hinein,  du  Allerletzte,  Allerletzte  im  Kreis. 

Kniee  nieder  usw.;  dann  3 — .3  wie  Böhme  184a. 
6:   Geh  hinaus  usw. 


;=ai-g:Eg=^S=r^^^i:*— *— '— ^— g^t^ 


■«-—5- 


r* 


t-^- 


zMJLz 


iS^eil 


109.    :,:  Geht  heim,  ihr  Mädel,  :,: 
Der  Fuchs  der  liegt  im  Kraute; 
Er  nimmt  die  ganzen  Bliitter  weg, 
Er  nimmt  die  ganze  Staude. 

Culmitzsch  im  Neustildter  Kreis,  altes  Walzcrlied.  Den  Worten  nach  ähnlich  Lewalter 
Heft  2,  Nr.  28  =  Böhme  S.  558,  wo  das  Fuclis-  oder  Plumpsackspiel  (.unsere  Nr.  41)  sich 
geltend  gemacht  hat,  ohne  diese  Anlehnung  Müller  S.  223  und  225.  Eine  gewisse  Ähnlich- 
keit bieten  auch  manche  Fassungen  des  Wolf-  und  Gänsespiels  (unserer  Nr.  9),  z.  B. 
Lewalter  Heft  5,  Nr.  58  =  Böhme  S.  574  oben,  Drosihn  27G— 278.  Endlich  ist  gewiss 
verwandt  ein  altes  Lied  vom  Jahre  1544,  Böhme  312  d  =  Altdeutsches  Liederbuch  2s9: 

Der  Wind  der  ■we^,  der  Han  der  kret, 
Der  Fuchs  leufft  in  dem  Kraute. 
Ach  Madlin,  thu  das  Thiirlin  zu, 
Der  Koch  der  bringt  die  Lauten. 

Die  Anfangszeile  dieser  Strophe  ist  weitverbreitet,  findet  sich  beispielsweise  in  der 
sogenannten  Ammenuhr  (Simrock  2G7,  Böhme  311c  nach  dem  Wunderhorn,  Anhang  S.  G2) 
und  in  unserer  Nr.  151:  mit  derselben  Fortgangszeile  verbunden  ist  sie  in  einem  Danziger, 
von  Böhme  unter  311  d  nach  Frischbier  mitgeteilten  Reime,  mit  einer  sehr  ähnlichen  im 
Eingang  eines  Kettenreimes,  Böhme  152üf.,  dazu  Schumann  2CK1,  578c,  GlGe.  An  die 
dritte  Zeile  erinnern  dagegen  Böhme  1399  und  besonders  543,  das  gleichfalls  auf  einen 
Küchenball  deutet,  aber  auch  „Meydlin  thu  den  Laden  zu"  in  Fischarts  Spielverzeichnis 
(Geschichtsklitteruug  Kap.  25).  —  Unsere  Weise  gibt  Böhme  bei  Nr.  545  zu  einem  ganz 
anderen  Tanzliedchen  (=  Simrock  57). 

Hier  und  dort  und  anderswo 
Unter  diesen  allen: 
Nimm  dir  eine  bei  der  Hand, 
Die  dir  tut  gefallen. 


110  a. 


Gerne  wolFn  wir  Hafer 
schneiden. 
Gerne  wolTn  wir  binden. 
Hafer  hat  ein  feines  Lieb, 
's  wird  sich  wieder  finden. 


Wolfsgefährt  im  Neustädter  Kreis,  vor  1870.  Eine  Reihe  Fassungen  dieses  Spiels 
bei  Böhmens.  491ff.,  Nr.  231-235,  ferner  Erk-Böhme  2,  959,  Dunger  359,  Wunderhorn  3, 
118.    —    In  unserer  Fassung   ist  selbstverständlich  die  dritte  Zeile  verderbt,    sie  mag  ge- 


390  Schläger: 

lautet  haben:  „Hab  verlorn  mein  feines  Lieb",  cntsijrechend  Böhme  Nr.  2.'M  =  DunsrerSöO: 
auch  mag  das  Eingangswort,  zunächst  in  der  zweiten  Zeile,  aus  dem  „Gärble  binden" 
dieser  Fassung  hervorgegangen  sein.  Der  Wortlaut  bereitet  den  Übergang  vom  Wahl- 
spiele zu  einer  anderen  Spielform  vor:  das  finden  der  vierten  Zeile  brachte  die  Vor- 
stellung des  verlorenen  Schatzes  nahe  genug.  Dungers  Fassung  mit  dem  angefügten 
Schlüsse  weist  insbesondere  auf  das  Spiel  „Hier  ist  grün  und  da  ist  grün"  (unsere 
Nr.  143%  auch  Böhmes  Nr.  2:!:)  hat  einen  Anklang  an  diese  Spielgruppc.  Anderseits  hat 
der  Schluss  unseres  Liedes  auch  wieder  in  jenes  Spiel  Eingang  gefunden,  z.  B.  Simrock  '.)(i(! 
=  Böhme  213,  Lewalter  Heft  .3,  27,  Böhme  S.  482  Nr.  209,  484  Nr.  212 f.  -  Z.  4  und  .j 
unserer  Passung  deuten  darauf,  dass  Z.  4  ursprünglich  eine  Frage  enthält,  wie  sie  zwar 
auch  in  der  landläufigen  Fassung  (Böhme  Nr.  231,  mir  fast  genau  so  aus  Köthen  bekannt) 
nicht  mehr  vorhanden  ist,  wohl  aber  in  MüUenhoffs  Fassung  ^  Böhme  Nr.  235,  auch  bei 
anderem  Fortgang  Böhme  Nr.'2.".2.  Dabei  möchte  die  Abteilung  dieses  Textes  ursprünglicher 
sein,  so  dass  die  beiden  Stollen  des  Aufgesangs  je  ein  Ganzes  bilden.  |Schumann  lim.')  S.U.] 
Das  Haferraähespiel  ist  schon  für  1(;<13  bezeugt  (s.  Bolte  oben  4,  Isl,  darnach 
Böhme  S.  51'.)).  Es  scheint  aber  früher  ein  Hasche-,  nicht  ein  Tanz-  und  Wahlspiel  ge- 
•wesen  zu  sein,  wie  aus  folgendem  Verse  bei  Erlach  3,  500  zu  schliessen  ist: 

Amor  will  mit  Haber- binden. 
Hasch'  ein  jeder,  was  er  kann. 
Jeder  wird  die  Seine  finden, 
Gnade  Gott!  dem  letzten  Mann. 
Auf   solchen  Spielgebrauch    deutet   wohl    auch    die    folgende,    eigenartig   erweiterte 
Fassung  aus  Remda  hin: 

lUib.    Heute  wolFn  wir  Hafer  Lasst  uns  gehn,  lasst  uns  gchn, 

schneiden,  Lasst  uns  schnell  zu  Rosen  gehnl 

Gerste  woU'n  wir  binden.  Rosen  woU'n  wir  brechen; 

Wer  sein  Liebchen  nehmen  will,       Dass  uns  die  Dorn  nicht  stechen! 
Der  nehme  es  geschwinde.  —  Lasst  uns  alle  fröhlich  sein 

Eine  solche  schöne  Braut  Bei  den  Bursch  und  MiigdeJein! 

Mit  ihrem  goldnen  Kränzchen! 

Von  der  Fortsetzung  finden  Z.  5  u.  8  Entsprechendes  bei  Böhme  S.  482,  Nr.  209,  wohl 
aus  einem  anderen  Spiel  eingeführt:  .  .  .  Eine  Jungfrau,  schöne  Braut,  Sie  steht  in 
goldnen  Schnüren.  Lass  sie  gehn,  lass  sie  gehn,  Ich  will  bei  einer  andern 
gehn!  Auf  diese  letzte  Zeile  hätte  dann  wieder  ein  unter  Nr.  25  erwähntes  Lied  ein- 
gewirkt, dessen  eine  Fassung  bei  Simrock  03:'.  beginnt:  Kommt,  wir  wollen  nach  Rosen 
gehn.  —  Die  vorletzte  Zeile  von  110b  erinnert  an  unsere  Nr.  143b  und  195 a. 

111.  Gestern  Abend  beim  Mondenschein 
Rumpelt  was  über  die  Brücke, 

Führt  der  Storch  sein  Gatterle  heim 
Auf  der  Ofenkrücke. 
Weida.  Ähnlich  Böhme  590,  Erk-Böhmc  2,  885  [Weinhold  oben  3,  229]  als  Spott- 
lied auf  eine  ärmliche  Hochzeit  und  mit  einer  entsprechenden  Fortsetzung.  In  dem 
Weidaer  Spruche  steht  die  Ofenkrücke  wohl  an  Stelle  der  Ofengabel,  mit  der  sonst  der 
Storch  ausgerüstet  ist,  z.B.  Simrock  ü5i>,  Böhme  771  ff.  Eigentümlich  ist,  dass  in  einem 
•weiteren,  bei  Erk-Böhnie  mit  aufgeführten  Spoltreim  auch  Krücke  und  OTengabel  erscheinen: 
Kruckstiel  un  Ofengabel,  Das  sind  mino  Hochzitknabe.  Sollte  das  der  Keim  für  die  Um- 
wandlung sein? 

112.  :,:  Grau  Miinnel,  :,: 

Was  gräbst  du  hier'? 

Klee  Löchel. 

W^as  willst  du  mit  dem  kice  Löchel  machen y 

Holz  nein  tragen. 


Deutsche  Kinderlieder.  391 

Was  willst  du  mit  dem  Holze  machen? 

Feuer  anbrennen. 

Was  willst  du  mit  dem  Feuer  machen? 

Messer  schleifen. 

Was  willst  du  mit  dem  Messer  machen? 

Alten  Juden  den  Bart  abschneiden. 

Leipzig,  alt.  Solche  Kettengespräche,  die  im  einzelnen  manche  Ähnlichkeit  mit  dem 
unsrigen  bieten,  bei  Böhme  S.  560,  Nr.  387  ff.,  Simrock  '140,  Drosihn  27.J— l'7S,  Schumann 
125f.,  Müller  S.  217,  Nr.  4;  vgl.  duch  Rochholz  S.  409,  Nr.  27,  Handelmaiiu  S.  7Gf.  zu 
Müllenhoff  S.  488,  H.  Meier,  Ostfriesland  S.  241. 

113a.    Grete,  Grete  Schlenkerbeen  (Sperlingsbeen,  Sperlingsbeen) 
Kommt  de  ganze  Nacht  nich  heem. 
Hat  gesungen,  hat  gesprungen  (Koramt  .  .  .) 
Mit  dem  kleenen  Schusterjungen  (Mitm  polschen  Schüferjungen). 

Wolfsgefährt  im  Neustädter  Kreise,  vor  1870;  Abweichungen  aus  Kunitz  bei  Jena. 
Zu  Böhme  1392;  mit  verändertem  Eingang  oben  8,  412  Nr.  24.  In  Weida  um  1880 
etwas  anders: 

113b.    Hermann,  Hermann  Schlenkerbeen 
Kimmt  de  ganze  Nacht  nich  heem. 
Wenn  mer  denkt,  er  is  ze  Haus, 
Steigt  er  zum  Kammorfenster  naus. 

Diese  beiden  Schlusszeilea  bietet  in  anderem  Zusammouhauge  Böhme  l'M'.f.  —  In 
Orossschwabhausen  alles  beisammen: 

lloc.    Glaserjette,  Schlenkerbeen, 
Kommt  den  ganzen  Tag  nich  heem. 
Kommt  gesungen,  kommt  gesprungen 
Mitm  kleeneu  Schäferjungen. 
Wemmer  denkt,  se  is  ze  Haus, 
Is  se  wedder  hingen  naus. 

Zum  Abzählreime  gewandelt  in  Lehnstedt  bei  Weimar  (zur  Eingangsform  vgl. 
Schumann  351): 

113d.    Katherine  Rumpelbeen 
Kommt  den  ganzen  Tag  nich  heem. 
Katherine  Rumpeltasche 
Muss  den  ganzen  Tag  rumhascho. 

114.    (Gretel)  ist  ein  schöner  Name, 
(Gretel)  raöcht  ich  heissen; 
Morgen  wird  sie  aufgeboten 
Mit  dem  Prinz  von  Preussen. 

Ammerbach  bei  Jena;  früher  auch  in  Weida  vorhanden.  In  anderen  Fassungen 
kommt  der  Spott  deutlicher  zum  Vorschein,  so  Müller  S.  185,  Nr.  32.  Anders  gewendet 
Simrock  449  =  Böhme  1342,  wozu  folgende  Erweiterung  aus  Barnsthal  i.  d.  Pfalz: 

115.    Hansel  ist  ein  schöner  Name,         Von  de  Mädle  auf  de  Gasse. 
Hansel  möcht  ich  doch  nit  heisse;  Pfui  pfui,  ist  das  ne  Schand 

Hansel  hat  sich  küsse  lasse  Für  das  ganze  Vaterland! 

Ein  ähnlicher  Schluss  spricht  gelegentlich  die  Rache  für  vergebliches  Heischen  aus, 
z.  B.  Nr.  154.  —  Eine  andere  Fassung,  Stöber  171,  leitet  zu  unserer  Nr.  127  hinüber. 


392  Schläger: 


116.  Grün  und  gelb  ist  jämmerlich: 

Seh  mich  an  und  fress  mich  nich! 

Rot  und  blau  ist  Uauerntracht, 

Wer  das  trügt,  wird  ausgelacht. 
Kiinitz  bei  Jena. 

117.  Guten  Morgen,  Herr  Fischer, 
Was  machen  die  Giins? 

Sie  sitzen  im  Wasser 
Und  putteln  die  Schwänz. 

Sarnsthal  in  der  Pfalz.  Zu  Simrock  ^^2^  und  130,  Böhme  (50,  Stöber  IGT,  Roch- 
holz S.  37,  Nr.  54.  Unser  Einganj,'  -wohl  nach  einer  bekannten  sprichwörtlichen  Redensart 
[Titel  eines  von  W.  Friedrich  bearbeiteten  Vaudevilles  von  I.ockroy:  Theater  des  Aus- 
landes, Bd.  4.     Hamburg  1S.V2.] 

118a.    :,:  Guten  Tag,  :,:  Muss  ich  mich  erst  einmal  drehen 

Schöne  weisse  Dame!  (geschieht) 

Darf  ich  bitten  unverzagt:  Und  auf  morgen  wiedersehen. 

Schenk's  mir  eine  Tochter!  (zählt  ab):   Diese,  diese  will  ich  nicht, 

:.:  „Heute  uicht  :,:  Diese,  diese  mag  ich  nicht, 

Komm  Sie  morgen  wieder!"  Diese  will  ich  haben. 

Ostheim  vor  der  Rhön.  Spielart:  ein  Kind  der  Reihe  gegenüber,  man  geht  sich 
fragend  und  antwortend  entgegen;  das  Kind  wühlt,  bis  auf  der  Gegenseite  nur  noch  eins 
übrig,  dann  von  vorn.  —  Lewalter  Heft  1,  Nr.  7  und  Böhme  225  (nach  Eskuclie)  haben 
einen  anderen  Anfang:  Woll'n  die  weisen  Frauen  fragen,  ob  sie  keine  Töchter  haben; 
aus  diesem  sonderbar  entstellt  eine  (jetzt  von  der  Schule  ausgerottete)  Fassung  von  Eckol- 
stedt  bei  Kamburg: 

118b.    Wenn  die  weisen  Frauen  :,:  „Wählen  Sie,  :,: 

zanken,  Wen  Sie  wollen  haben  " 

Dürfen  Mädchen  nicht  vertragen.  Diese  usw. 

119.    Guten  Tag,  Herr  Meister.  „Raten  Sie" 

„Guten  Tag,  Herr  Scheister."  (Seh.  nennt  einen  Vogelnamen). 

Haben  Sie  viele  Vögel  zu  verkaufen?  „  .  .  •  flieg  aus, 

„Eine  ganze  Höhle  voll."  Komm  bald  wieder  in  mein  Haus!" 
Wie  heissen  sie? 

Grossschwabhausen  i.  Th.  Zu  Böhme  S.  588,  Nr.  428;  Sachse  30;  auch  Rochholz 
S.  450;  entfernt  verwandt  H.  Meier  S.  2;«l. 

120.    Hans,  bleib  da, 
Zieh  nicht  nach  .Amerika! 
's  kann  ja  ränno,  's  kann  ja  schnei, 
's  kann  a  schienes  Wätter  sei. 

Grossschwabhausen  i.  Th.  —  Im  Tingeltangel  entsinn  ich  mich  Ähnliches  gehört  zu 
haben:    Karl  bleib  da,  Du  weisst  ja  nicht,  wie's  Wetter  wird. 


|^lS3=£3E^^^j=^liy^ 


121a.    Häuschen  snss  im  Schornstein 
Und  flickte  seine  Schuh. 
Da  kam  ein  armes  (wackres)  Mädchen 
Und  sah  ihm  freundlich  (fleissig)  zu. 


Deutsche  Kinderlieder.  393 

Mädchen,  willst  dicli  freuen?  (du  freien?)  Drei  Dreier  sind  zu  wenig, 

So  freue  dich  (freie  doch)  mit  mir.  Drei  Groschen  sind  zu  viel; 

Ich  habe  noch  drei  (sechs)  Dreier,  Drum  geb  ich  dir  ein  Küsschen, 

Die  will  ich  geben  dir.  Dann  kannst  du  von  mir  ziehn. 

Grossmölsen  i.  Th.,  Abweichiingeu  aus  Sorddeiitschland,  wo  die  Schlusszeilen  auch 
lauten:  Ach  Hänscheu,  liebes  Häuschen,  Du  treibst  mit  mir  dein  Spiel.  Die  Thürino-er 
Fassung  ist  deutlich  im  Kindermunde  verwandelt:  am  nächsten  steht  ihr  ein  anderer 
Thüringer  Text,  Böhme  578 b,  auch  Drosihn  1S5.  —  Norddeutsche  Fassungen  haben  statt 
Str.  3  einen  verstümmelten  Fortgang:  :,:  Hans  nimm  sie  nicht  :,-,  Sie  hat  nen  krummen 
(oder:  schlimmen)  Fuss;  dazu  vgl.  Müller  S.  134,  Nr.  27,  Rochholz  S.  38,  Nr.  58. 
(H.  Meier  S.  242.  Frischbier  1869  S.  237.  Treichcl  S.  100.  Wegener  Nr.  1038-41. 
Nd.  Korrbl.  3,  72.  Nd.  Liederbuch  Nr.  44.  Notholz  1901  S.  33.  Bahlmann  189G  S.  47. 
Strack,  Hess.  Bl.  f.  Volksk.  1902,  4G  51.]  Zu  ergänzen  nach  folgendem  älteren  Bruchstück 
aus  Essen: 

121b.  Hänskcn,  wenn  du  freen  willst,  ;,:  Hans  nehm  se  nich,  :,: 

So  free  doch  mit  mir!  Se  hat  ein  schefen  Fot! 

Ick  heww  en  blanken  Dohler,  :,:  Dat  deiet  nischt  :,: 

Den  will  ick  gewen  dir.  He  werd  schon  wedder  god. 

Hierzu  Simrock  371.  Böhme  578a.  Erk-Böhnie  2,  S51.  Schumann  102,  mit  gänzlich 
anderer  Wendung  154.     An  jenen  Stumpfen  schliesst    sich  eine   Fortsetzung  anderer  Art: 

122a.  Als  die  Braut  in  die  Kirche  ging.     Die  Mutter  ging  nach  Dresden 

Da  waren  die  Haare  geflochten;  Und  kauft'  dem  Kind  ein  Besen. 

Als  sie  wieder  raus  kam,  ,.     „■     ,„•    ,„  ,    ,t  , 

'  Als  sie  wieder  nach   Hause   kam, 

Da  halt  sie  ne  kleine  Tochter.  ri^  ,„„„  ^i„     u--    i  u        i. 

Da  war  das  Kind  begraben 

Der  Vater  ging  nach  Pommerland        Mit  Schippen  und  mit  Spaten. 

Und  kauft'  dem  Kind  ein  Wickelband. 

.ähnliches  bei  Mannhardt,  Germanische  Mythen  S.  G87f.:  Schumann  102  und  G79 
auch  578c.  Das  Wiegenband  erscheint  sonst  in  Wiegenliedern  und  Abzählreimen,  z.  B. 
Böhme  366,  1838,  H.  Meier,  Ostfriesland  S.  20G,  Schumann  580,  Dunger  332.  Die  Fahrt 
nach  Dresden  (ursprünglich  auf  einem  Besen),  hier  ungehörig  zugesetzt,  stammt  aus 
Simrock  858,  wozu  ich  aus  meiner  Kindheit  folgendes  Bruchstück  angeben  kann: 

123.    Kauft  ich  mir  ein  Besen, 
Da  flog  ich  bis  nach  Dresden; 
Kauft  ich  mir  ne  Schnalle, 
Da  flog  ich  bis  nach  Halle. 

Der  Schluss  von  122a,  den  auch  einige  Fassungen  bei  Mannhardt  zeigen  (zu  vergleichen 
ist  Wegener  89,  Anm.\  erscheint  in  Seehausen  in  der  Altmark  etwas  anders  und  mit  einer 
Erweiterung,  indem  sich  übrigens  das  ganze  Stück  an  einen  anderen  Stumpfen  anschliesst: 

(.  .  .  .  Sechs  Dreier  sind  zu  wenig. 
Zwei  Groschen  sind  zu  viel.  — ) 

122  b.    Als  sie  in  die  Kirche  ging.  Als  er  dann  nach  Hause  kam, 

Da  war  ihr  Haar  geflochten;  Da  vi'ar  das  Kind  gestorben. 

Und  als  sie  dann  nach  Hause  kam,  Hab  ich  dir's  nicht  gleich  gesagt? 

Da  hatte  sie  ein  Kind.  Nimm  den  Fuchsschwanz  in  die  Hand, 

Häuschen  reist  nach  Pommerland  So  war  das  Kind  geblieben. 
Und  holt  dem  Kind  ein  AVickelband. 

Hier  ist,   wie   in  Böhmes   Nr.  118a   mit   Nr.  104   (nach  Mannhardt  689),    ein  Über- 
bleibsel eines  schon  unter   Nr.  73  erwähnten    älteren  Volkslieds    angefügt,   und    zwar    ef- 
Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.  1907.  26 


394  Schläger: 

innert  sein  Wortlaut  au  das  Bruchstück  in  einem  Quodlibet  aus  dem  Anfang  des  17.  Jalii- 
hunderts  (Zeitschr.  f.  d.  Phil,  lö,  55.  Weim.  Jahrb.  3,  läü,  Nr.  ü(j): 

Uab  ich  dir's  nicht  vor  gesagt? 
Bleib  mir  bey  der  Wiegen, 
Nirab  den  Fuchsschwantz  in  die  Hand 
Und  wehr  dem  Kind  die  —  Mucken. 

Hierzu  auch  Wunderhorn,  Anhang  S.  (il  und  Simrock 248.  [Zum  Fehlreim  VViekram, 
W.  :>,  LXXXI.] 

124a.    Hansel,  mein  Hausei, 
Geh  mit  mir  ins  Dorf, 
Da  singen  die  Waldvöglein, 
Da  klappert  der  Storch. 

Neustadt  a.  d.  Orla,  um  ISIO.  —  Vollständiger  bei  Wilibald  Alexis,  Ruhe  ist  die 
erste  Bürgerpflicht  1,  Il'h  als  oin  damals  (um  1803)  sehr  beliebter  Gassenhauer: 

124b.   Mein  Gustclien,  mein  Gustchen,  Da  tanzet  die  Maus, 

Komm  mit  mir  aufs  Dorf,  Da  fiedelt  die  Laus, 

Da  singen  die  Vögel,  Da  kukket  der  Kukkuk 

Da  klappert  der  Storch;  Zum  Fenster  hinaus. 

Hierzu:  Simrock  421  =  Böhme  l.;22:  Wegencr  33:!;  Böhme  1233.  [Ginsburg  und 
Marek,  Jüdische  Volkslieder  in  Russland  1001  S.  213  Nr.  260:  „Fiedelt  die  Maus,  Tanzt 
die  Laus,  Flieht  die  Fleih  Durchn  Fenster  araus".  Dähnhardt,  Volkstümliches  aus 
Sachsen  2,  125].  Über  die  Beziehungen  der  zweiten  Strophe  zu  Lügenmärchen  und  Bettel- 
mannshochzeit wird  bei  Nr.  219 e  gehandelt.  Man  darf  vielleicht  annehmen,  dass  diese 
Äuklänse  erst  hinzugekommen  sind;  der  eigentliche  Wortlaut  könnte  liarmloser  sein  wie 
etwa  in  folgender  Fassung  aus  Sarnsthal  i.  d.  Pfalz: 

124  c.    Kathrine,  mei  Mad,  Dort  springet  der  Ochs, 

Geh  mit  mer  ins  Gras,  Dort  tanzet  die  Kuh, 

Dort  peifen  die  Vögel,  Dort  schlägt  des  klee  Miinnel 

Dort  kleppert  der  Has.  Die  Trummel  dazu. 

Die  erste  Strophe  (hierzu  Erk-Böbme  2,  G70  und  entfernt  Simrock  436)  ist  hier  ver- 
ändert. Auffällig  ist  freilich  der  Schluss,  da  es  auch  in  einigen  Fassungen  der  Bettel- 
mannshochzeit heisst  „'s  Igele  schlägt  die  Trommel"  oder  ähnlich  (Böhme  .'iSS— .')1)1,  1228f). 
—  Ausserhalb  der  Verwandtschaft  steht  wohl  der  Weihnachtsvers  Schumann  j.JS  (wozu 
Simrock  927,  Wegener  306,  308  f.). 

125.    Hans,  Hans  Leberwurst,       Liegt  im  Bett  und  zappelt  noch.  — 
Lebt  denn  deine  Frau  noch?  —         Gib  ihr  ein  Stücke  Käsebrot 
Ja,  ja,  sie  lebet  noch.  Und  schlag  sie  mit  der  Keule  tot. 

Jena.  Z.  1—4:  Simrock  427,  Böhme  1321,  Dunger  172;  Wegener  221.  [Dälinhardt 
2,  150.]  Die  beiden  Schlusszeilen  gehören  zu  unseren  Nr.  54  und  212f.:  dazu  auch  Simrock 
142  und  41G,  Böhme  Nachtrag  4.'),  Wegener  .'!62.  —  In  Kunitz  bei  Jena  anders  gewendet: 

126.  Bitte,  bitte,  sei  so  gut. 
Schneid  mir  ein  Stückchen  Käsebrot, 
Schlag  mich  mit  der  Pritsclie  tot. 

127.  Hansjörg  hat  kein  Brot  im  Haus, 
Hansjorg  macht  sich  gar  nichts  draus. 
Hansjörg  hin,  Hansjörg  her, 

Ilaiisjörg  ist  ein  Zottelbär. 


Deutsdie  Kinderlieder.  395 

Sarnsthal  i.  d.  Pfalz.  In  einem  Wiegenlied  erscheint  dasselbe  Thema  bei  Sachse 
S.  10.  Stöber  171  gibt  einen  ähnlichen  Schluss  zu  einem  Eingänge,  der  unserer  Nr.  114  f. 
entspricht  (Urschele  isch  e  schener  Namme). 

128.    Hans  Michel  war  ein  grosser,  grosser  Mann, 
Könnt  machen,  was  er  wollt. 
Er  machte  sich  eine  Geige; 
Klipper  klapper  ging  das  Geigen 

usw.  mit  allen  möglichen  Instrumenten.  Löbstedt  bei  Jena,  zu  Erk-Böhme  o,  1748, 
Schumann  '175,  Lewalter  Heft  5,  Nr.  .J2;  auch  Simrock  104()  nach  Wunderhoru,  Anhang 
S.  47,  Böhme  S.  G69f.,  Nr.  (il4.  [R.Köhler,  Kl.  Sehr,  o,  2.34.  Züricher  Nr.  921.  Gass- 
mann 19()G  Nr.  lOG.  üinsburg-Marek  1901  Nr.  128.  Ghesquiere  p.  IIG.  Kristensen,  Dyre- 
fabler  S.  190;  Börnerim  S.  G'i'.K    Terrj-Chaumont,  Oramignons  1889  p.  25;i.  .V2G.] 

1-29.    Hast  du  Hunger? 
Geh  bein  Kummer. 
Hast  du  Durst? 
J5eiss  in  die  Wurst. 

Weida:  die  zweite  Hälfte  auch  in  Grossschwabhausen  i.  Th.  Statt  Kummer  hörte 
ich  in  Gera  Funger  —  beides  sind  ortbekannte  Namen.  Ähnliche  schnöde  Antworten 
Böhme  4.J3,  Rochholz  862,  Stöber  20G. 

130.    Hedu,    wenn    dein    Hedu    meinen    Hedu    noch    einmal    Hedu 
schimpft,  dann  geht  mein  Hedu  zum  Hedu  und  verklagt  deinen   Hedu. 

Weida.    Vgl.  Böhme  1484.  Dunger  228,  Eochholz  S.  25.     [Oben  IG,  291  nr.  2.J.1 

131.    Heedelbeer,  Schlug  mich  auf  mein  Beer-Beer-Schnabel. 

Mei  Topp  is  leer!  Schreit  ich  immer:    Beer  Beer  Beer, 

Kam  meine  Mutter  mit  der  Ofengabel,      Wenn  ich  doch  derheeme  war! 

Wolfsgefährt  bei  Weida,  in  den  sechziger  Jahren.  Vgl.  Böhme  9.50,  Dunger  8öf. 
[Dähnhaidt  2,  155.]  Z.  off.  gehören  ursprünglich  in  den  Zusammenhang  von  Nr.  60  usw.  — 
■Der  Eingangsreim  öfter,  so  in  folgendem  Ruf  aus  Weida: 

132.  Roll  roll  roll. 
Mein  Topf  ist  voll. 
Beer  Beer  Beer, 
Mein  Topf  ist  leer. 

Da:u  Simrock  702,  Böhme  947,  Müller  S.  181  Nr.  19,  Dunger  84,  86.  Ähnlich  auch 
in  einem  älteren  Spruch  aus  Culmitzsch  im  Neustädter  Kreise: 

133.  :,:  Juch  Beere,  :,: 
Mein  Topf  ist  noch  ganz  leere. 

Mein  Topf  ist  voller  Beere. 
Wer  seinen  Topf  nicht  voller  hat, 
Der  ist  ne  faule  Mähre. 

Hierzu  Böhme  949,  Müller  ebenda  Nr.  20,  Dunger  84. 

134a.    Heie  buie  sause!  Schmeisst  sie  in  die  Saale, 

Der  Rupprecht,  steht  im  Hause,  Schwimmen  sie  bis  nach  Kahle, 

Hat  nen  grossen  Schlitten  mit,  Schwimmen  sie  bis  nach  Ammerbach, 

Nimmt  die  garstgen  Kinder  mit,  Schrein  sie  alle:    Ach  ach  ach! 


Kunitz  bei  Jena. 


26* 


396  ScliUger: 

Hierzu  ein  Kettenreim  aus  Grossschwabhausen: 

134  b.    Ich  ging  emal   nach  Kups        Da  zerrt  'ch  en  wedder  raus, 

(Koppanz),  Da  war  er  wie  ne  gebädte  Maus. 

Da  kam  e  kleener  Mups;  Da  schmiss  'ch  en  wedder  nein, 

Den  fraht  ich,  was  er  raaclit,  Da  war  er  wie  e  Schwein. 

Da  stellt  er  sich  hin  un  lacht.  Da  schwamm  er  bis  nach  Ammerbach, 

Da  schmiss  'ch  en  in  de  Saale,  Da  schregen  de  Leute  .\ch  uii  Krach. 

Da  schwamm  er  bis  nach   Kahle. 

Z.  -1  kommt  ähnlich  auch  in  einer  anderen  Kette  vor,  Xr.  175.  Kahla  und  Ammer- 
bach lassen  darauf  schliessen,  dass  der  Grundstock  weiter  saalaufwärts  daheim  ist,  doch 
kann  im  Kinderverse  das  Wasser  wohl  auch  einnial  bergan  iliessen. 

135.  Heie  buie  sause! 
Hinter  Schulzens  Hause, 
Flinter  Schulzens  Gartentür 
Guckt  der  kleine  NX.  für. 

Kunitz  bei  .Jena. 

136.  Hemdenlecker, 
Ziegenböcker, 
Bullenbeisser, 
Hemden  — ! 

Weida.    Vgl.  Stöber  30  und  37. 

137.  Heppo,  Heppe  Rute! 
Geh  nach  Gelmerodo 

Bei  meine  alte  Pate. 

:,:  Gib  mir  Saft!  :,: 
Grossmölsen  i.  Th.  —  In  Zeile  ö  wurde  dem  Reim  entsprechend  auch  Bude  gehört. 
Die  Eingangszeile    ist    offenbar  gleich    mit   der   sonst   in  Thüringen    verbreiteten  .Hippe, 
Hippe,  rate!"  (vgl.  unsere  Nr.  l.'iO). 

138.    Herbstmütschel,  flieg  aus,  Lass  den  Löffel  drinne 

Flieg  nein  ins  Hirtenhaus,  Un  lass  en  nich  verbrenne. 

Saug  en  Topf  voll  Honig  aus, 

Niederpöllnitz  im  Neustiidter  Kreis.  Der  Name  Herbstmütschel  (-kühchen)  für  das 
Marienkäferchen  scheint  sonst  nicht  vorzukommen,  er  wird  aus  Herrgottsmütschel  ent- 
standen sein.  —  Ähnlich  Dunger  G4  tnid  (JG  =  Böhme  852,  Stöber  334 ;  auch  Böhme  8:>7  f , 
Simrock  G05f.,  Rochholz  S. 93f.;  Honigtopf  und  teilweis  auch  Löffel  erscheinen  ausserdem 
in  einem  ganz  fremden  Spruche:  Simrock  881,  Böhme  18G3,  Dunger  -270,  Müller  S.  211, 
Nr.  23,  Herrigs  Archiv  10:1,  -367,  dazu  auch  Böhme  1854:  .anderseits  kommt  ein  silberner 
Löffel  oder  Ahnliches  auch  sonst  in  Verbindung  mit  Mai-  oder  Marienkäfer  vor,  z.  B. 
Böhme  815,  830  (Messer  und  Gabel  855),  Rocliholz  S.  91,  Nr.  187.  Das  gegenseitige  Ver- 
hältnis ist  hier  schwer  zu  entwirren.  Die  Schlusszeile  möchte  man  zunächst  auf  den 
bekannten  Haus-  oder  Landbrand  zurückführen,  mit  dem  das  Käfercheu  geängstigt 
wird  —  in  dieser  Verbindung  zeigt  den  Löffel  Böhme  815  =  Mannhardt,  Germ.  Mythen  :M9  — , 
aber  auch  ein  Wettersprucb  erinnert  an  unseren  Vers,  Böhme  983  =  Mannhardt  255: 
Läfs  in  Reg'n  drina,  Läfs  in  Sehne  verbrina.  Doch  könnte  Böhme  984b  darauf  deuten, 
dass  hier  die  Formel  erst  aus  einem  Käferspruch  eingeführt  wäre. 

139.    Herr  Rekter,  Prisst  Schoten, 

"Wo  steckt  er?  —  Hintern  Scheunen, 

Aufm  Boden,  Bein  Schweinen. 
Weimar,  um  1880.    Dazu  Dunger  142. 


Deutsche  Kinderlieder. 


397 


140.    Heut  ist  Kirmes  in  dem  Dorf, 
Liesel,  tu  dich  putze! 
Tu  dei  rosii  Röckel  an 
ün  dei  grüne  Mutze. 


Sarnstlial  i.  d.  Pfalz. 


Guten  Abend,  Schätzell 
Back  du  mir  ne  Bretzel, 
Bretzel  wie  ein  Scheunentor, 
Bratwurst  wie  ein  Ofenrohr. 


141.    Heut  ist  Kirmes,  morgen  ist 
Kirmes 
Bis  den  Dienstag  Abend. 
Wenn  ich  zu  meim  Schiitzel  komm. 
Sag  ich  guten  Abend. 

Sarnstlial  i.  d.  Pfalz.  Die  erste  Hälfte  ähnlich  Böhme,  Nachtrag  Nr.  48,  der  Schluss 
stammt  aus  Heischebedern,  vgl.  Simrock  ÜT'.I,  Böhme  lG97f.  Zu  Z.  '■'<  und  4  vgl. 
Schumann  li'ö. 

142.    Hie  haec  hoc  —  der  Lehrer  mit  dem  Stock. 
Is  ea  id  —  was  will  er  wohl  damitV 
Sum  fui  esse  —  er  haut  dich  auf  die  Fresse, 
nie  illä  ilh'id  —  dass  dir  die  Nase  blutt. 

Weida.     (Hans  Meyer,  Der  richtige  Berliner  i;)04  S.  143  ur.  '.»2.] 


143  a.  Hier  ist  Grün  und  da  ist  Grün 
Wohl  unter  meinen  Füssen. 
Ich  hab  verloren  meinen  Schatz, 
Ich  werd  ihn  suchen  müssen. 


Dreh  dich  um,  dreh  dich  um, 

Ich  kenne  dich  ja  nicht! 

Ach  nein,  ach  nein,  er  ist  es  nicht. 

Scher  dich  heraus,  ich  mag  dich  nicht. 


Berlin.  [Hans  Meyer,  Der  richtige  Berliner  11)04  S.  141  nr.  T(i.  Dähnhardt  2,  G9. 
Schumann  l'.Mö  S.  10.]  In  Löbstedt  bei  Jena  nach  Z.  G:  Bist  du's  oder  bist  du's  nicht':' 
O  nein,  o  nein,  sie  ist  es  nicht,  Die  mir  ein  Küsschen  schuldig  ist.  —  Sehr  ähnlich  oben 
9,  390  Nr.  61 ;  Simrock  906  =  Böhme  213  mit  einer  Mittelstrophe,  die  wahrscheinlich  aus 
einem  anderen  Spiele,  unserer  Nr.  110,  stammt.  Vielleicht  ist  diese  Erweiterung  aus 
einer  anderen  Form  erwachsen,  wie  sie  folgende  Gelsenkircher  Fassung  zeigt: 


Nein,  nein,  du  bist  es  nicht. 
Scher  dich   ab,   ich    kenn  diel 


nicht. 


Hier  liegt  Sand  usw.  Schluss: 

Ja,  ja,  du  bist  es  wohl, 
Darum  lasst  uns  fröhlich  sein. 


14.Jb.  Hier  liegt  Sand  und  da  liegt 
Sand 
Unter  meinen  Füssen. 
Hab  verloren  meinen  Schatz, 
Kann  ihn  nicht  vermissen. 
Du  in  deinem  (blauen)  Kleid, 
Komm  mal  her,  ob  du  es  bist? 

Die  letzte  Zeile  ist  durch  den  mangelnden  Reim  verdächtig,  sie  findet  sich  wieder 
in  Nr.  110b,  195a:  echter  ist  wohl  Simrocks  Fassung.  —  In  Halle  fand  ich  die  erste 
Hälfte  verwachsen  mit  dem  Vers  vom  lustigen  Springer  (Böhme  S.  490  Nr.  228,  Drosihn283, 
Lewalter  Heft  3,  Nr.  3,  Schluss  auch  Böhme  S.  479  Nr.  198,  aber  nicht  dahin  gehörig, 
•wie  Drosihn  29.jf.  zeigt): 

143c.  Hier  ist  Grün  und  dort  ist  Grün  Kommt  ein  lustger  Springer  rein. 

Unter  meinen  Füssen.  Schüttelt  den  Kopf  und  stampft  das  Bein: 

Hab  verloren  meinen  Schatz,  Komm,  wir  wolln  zu  Tanze  gehn, 

Zum  Verdriessen!  Die  andern  müssen  stille  stehn. 

Das  Ganze  geht  nach  der  Weise  ,,Alles  neu  macht  der  Mai",  Zeile  4  folgendermassen: 


==ä=^Ei=; 


398  Scliläger: 

Eng  mit  diesem  Spiele  verwandt  und  offenbar  aus  derselben  Quelle  geflossen  sind 
zwei  andere  Formen:  Simrock  1105,  Böhme  S.  48011.  Nr.  201  ff.,  Lewalter  Heft  1,  Nr. -JO, 
Erk-Böhmc  •_>,  Ü7-J,  MüUenhoff  S.  485  und  Handelmann  S.  53,  .anderseits  Böhme  -iHff., 
Lewalter  Heft  3,  Xr.  31,  Müller  S.  li»  Nr.  1,  Dunger  352. 

Meine  Fassungen  weichen  von  den  sonst  veröffentlichten  etwas  ab: 

144a.   Jammer,  Jammer,  höre  zu.         Ich  will  gehii   und   will  sehn. 
Was  ich  dir  will  sagen.  Ob  ich  ihn  kann  finden. 

Hab  verloren  meinen  Schatz,  Wenn  ich  ihn  gefunden  hab, 

Macht  mir  auf  den  Garten.  Fall  ich  ihm  zu  Füssen, 

Stell  mich  vfieder  auf  meinen  Fuss 
Und  mache  einen  Diener. 

Osnabrück.  [Oben  0,  38t)  Nr.  GO.  Schumann  10o5  S.  12.]  Die  Weise  entspricht  dem 
ersten  Absätze  von  Böhmes  Nr.  207  (S.  482).  Der  Schluss  scheint  nach  Ausweis  des  Reims 
für  das  sonst  zum  eisernen  Bestand  gehörige  Küssen  eingetreten  zu  sein,  ebenso  in  der 
folgenden  Fassung  aus  Halle  a.  S.: 

144b.  Marjann,  Marjann,  nun  höre     Mach  auf,  mach  auf  die  Gartentür!  — 
zu,  F.s  tritt  herein  ein  Grenadier. 

Was  ich  dir  einwärts  sage  (so).  ■  u  ;•  n      r  u-       ,  .,;„,in^ 

°     ^    '  Ich  falle  dir  zu  tussen  nieder 

Ich  hab  verloren  meinen  Schatz,  Und  steh  auch  wieder  auf  zu  dir 

Der  mir  so  treu  gedienet  hat.  Und  mache  einen  Knix  dafür. 

Gesungen  nach  den  beiden  ersten  Zeilen  von  „Ein  freies  Leben  führen  wir",  ebenso 
im  eigentlichen  Thüringen,  wo  aber  das  Küssen  geblieben  ist  (sehr  ähnlich  auch  oben  9, 
273,  Nr.  60): 

144  c.    0  Jammer,  Jammer,  höre  zu, 
Was  ich  dir  einstmals  sage  (jetzt  will  sagen)! 

Ich  hab  verloren  meinen  Schatz, 
Macht  auf,  macht  auf  den  Garten! 

Ich  will  mal  sehn,  ob  ich  ihn  nicht  (—  zusehn,  ob  ich  ihn) 
Noch  einmal  (Wohl  jemals)  wiederfinde.  — 

Schaut  an,  schaut  an  (Schatz  ein,  Schatz  aus),  hier  ist  mein  Schatz, 
Drum  fall  ich  ihm  zu  Füssen, 

Und  den  ich  einst  (je)  geliebot  hab, 

Will  ich  auch  einstmals  (jetztmals)  küssen. 

Grossmölsen  bei  Erfurt,  die  Abweichungen  gehören  einer  älteren  Eisenaclier  Fassung 
an,  die  eigentümlicherweise  zum  Schluss  auch  noch  den  Knix  eingeführt  hat:  Nun  steh 
ich  wieder  auf  zu  ihm  Und  mache  mein  Empfehl-mich-Ihn.  —  Ganz  ähnlich  (.ohne 
den  Eisenacher  Schluss)  in  Arnstadt,  doch  lautet  Z.  4-6:  Den  will  ich  wieder  suchen. 
Schlicsst  auf,  schliesst  auf  die  Gartentür,  Will  sehn,  ob  ich  ihn  finde  hier.  Und  die 
SclilussstTophc:    Und  der  mich  einst  geliebet  hat,  Den  werde  ich  jetzt  küssen. 

Die  dritte  Form  lautet  in  Jena  ähnlich  Böhmes  Nr.  214,  aber  mit  kürzerem  Schlüsse: 

145  a.  Wer  steht  da  draussen  vorder  Und  der  ist  hier  auf  diesem  Platz. 

Tür  Schliesst  auf  die  goldne  Gartentür! 
Und  klopft  so  leise  an?  (Tritt  in  den  Kreis  und  sucht) 

Ich  bin  der  Herr,  ich  steh  davor,  Seht  an,   seht  an,   hier  ist  der  Schatz, 

Ich  hab  darin  zu  suchen;  In  den  er  sich  verliebet  hat. 
Ich  hab  verloren  meinen  Schatz, 


Deutsche  Kinderlieder.  399 

Die  Eingangsformcl  begegnet  mit  grösseren  oder  geringeren  Abweichungen  öfter, 
z.  B.  Erk-Böhme  1,  182.  —  Hiermit  haben  sich  anderwärts  Bestandteile  noch  eines  anderen 
Spieles  vereinigt,  das  bei  Böhme  S.  48.') f.  Nr.  217  selbständig  steht  und  nach  Erk- 
Böhme  2,  Ü73  aus  dem  Munde  der  Erwachsenen  genommen  ist.  Eine  solche  Mischform 
war  vor  1S70  in  Weida  vorlianden: 

145  b.  Wer  steht  da  draussen  vor  der  Du  stehst  mir  gar  nicht  an,  du  bist  so 

Tür  hitzig, 

Und  klopft  so  leise  an  die  Tür?  Und  deine  Redensarten  sind  so  spitzig. 

Ich  bin  der  Herr,  ich  steh  davor,  Du  auch  nicht,  du  bist  von  Flandern, 

Ich  hab  darin  zu  suchen;  Dich  hab   ich   Hingst  gekannt  vor  allen 
Ich  hab  verloren  meinen  Schatz  andern. 

Und  such  ihn  mir  auf  diesem  Platz.  Aber  du  bist  mein  lieber  Schatz, 

Macht  auf,  macht  auf  die  Gartentür!  —  Dir  will  ich  geben  einen  Schmatz. 

Hierzu  auch  Drosihn  2114.  [Dähnhardt  2,  121.]  Eine  neuere  Fassung  aus  Weitramsdorf 
bei  Koburg  stimmt  im  wesentlichen  mit  der  Weidaer  iiberein,  zeigt  aber  im  einzelnen  Ab- 
weichungen: 145c  Z.;!.  Ich  bin  der  Herr  von  Edelstein  (vielleicht:  der  Edelmann?);  statt 
(;  und  7:  Den  ich  vor  langen  Zeiten  Auf  diesem  Fels  {statt  Feld?)  verloren  hab.  Schliess 
auf  die  ganze  Gartentür!     Das  folgende: 

Du  bist  mir  viel  zu  hitzig 
Mit  deinem  eignen  Schwitzig  (vvohl  =  Geschwätz). 
Du  bist  mir  viel  zu  flandern. 
Hast  alle  Augenblick   ein   andern. 
Du  bist  mein  lieber  Schatz, 
Dem  möcht  ich  geben  einen  Schmatz. 

[Vgl.  Erk-Böhme  2,  >,i7:'..  Bolte,  oben  12,  218.  345.  Böhme  S.  48G.]  .,Vou  Flandern 
sein"  ist  im  älteren  Volkslied  eine  vielgebrauchte  Redensart,  z.  B.  'Mein  feins  Lieb  ist  von 
Flauderen,  Gibt  einen  umb  den  anderen'  im  Quodlibet  von  IGIO:  Zcitschr  f.  deutsche 
Phil.  15,  5:!,  Weim.  Jahrb. ;',,  12G,  Nr.  42,  wohl  aus  Uhland  Nr.  40,  Erk-Böhme  2,  474,  wozu 
Uhlands  Schriften  4,  4:ir.:  dazu  auch  Böhme,  Altd.  Liederbuch  14'J,  Str.  7,  Erks  Liederhort 
(alte  Ausg.)  113;  Uhland  Nr.  294=  Erk-Böhme  1,  Ü;  Erk-Böhme  1,  585,  Aum.  zu  Nr.  lOOd, 
Nr.  701;  Ziegler,  Deutsche  Soldaten- und  Kriegslieder  aus  fünf  Jahrhunderten,  Leipzig  1H84, 
S.  49;  Chr.  Günthers  Gedichte  von  1751,  S.  258.  — 

Endlich  gibt  Böhme  unter  Nr.  208  ein  kleines  Nebengewächs  künstlicherer  Art,  in 
dem  an  Stelle  des  Schatzes  ein  Ring  getreten  ist.  In  Oberstein  (ein  Kind  im  Kreise,  den 
Fuss  auf  dem  Ring;  es  kauert  sich  nieder,  sucht  und  findet  ihn,  hält  ihn  empor,  gibt  ihn 
einem  anderen,  das  nun  in  den  Kreis  tritt)  lauten  Text  und  Weise: 


»Tip? 


a—^-^ 1 — « 


r^ 


-N-TN 


14tJa.    Trauer,  o  welche  Trauer!  ich  hab  verloren  meinen  Ring! 
Ich  will  sehen  und  will  suchen,  ob  ich  finde  meinen  Ring. 

Freude,  o  welche  Freude!  ich  hab  gefunden  meinen  Ring! 
Ich  will  sehen  und  will  suchen,  wem  ich  gebe  meinen  Ring. 

Am  deutlichsten  ist  der  Zusammenhang  mit  Nr.  144,  besonders  mit  Böhme  Nr.  204 
und  207.     [Schumann  1905  S.  12.]     Wenig  abweichend  Seehausen  i.  d.  Altmark: 

I4Gb.  Trauer,  Trauer  über  Trauer,  Freude,  Freude  über  Freude, 

Hab  verloren  meinen  Ring.  Hab  gefunden  meinen  Ring. 

:,:  Will  mal  sehen,  :,:  :,:  Will  mal  sehen,  :,: 

Ob  ich  ihn  wohl  wiederfind.  Wem  ich  gebe  meinen  Ring. 


400  Schläger: 

147.  Hinter  mein  Herrle  sein  Kleiderschrank 
Kribbelt  un  krabbelt  e  Maus, 

Sie  kribbelt  un  krabbelt  die  ganze  Nacht, 
Sie  kribbelt  und  krabbelt  nit  raus. 

Weitramsdorf  bei  Knbur<r.    Herrle  =  Grossvater. 

148.  Hinter  mein  Herrle  sein  Tisch 
Sitzt  e  besch Lies, 

Un  hinter  mein  Herrle  sein  Stadel 
Da  sitzt  e  dreckiges  Madel. 

Schorkendorf  bei  Kobiirj:.     Vjrl.  Simrock  l'üG  =  Böhme  48. 

14!).    Hippe.  Hippe,  hüe! 
Sack  voll  Flühe  (spr.  Fliehe), 
Sack  voll  Wanzen, 
Muss  der  Schneider  tanzen. 
:,:  Drei  Butten  voll  Saft!  :.: 

Wolfsgefähtt,  vor  1870.  Hüe  ist  wolil  autreibeiider  Zuruf,  wie  an  ein  Pferd?  Bei 
der  letzten  Zeile  wird  das  W'eidenstück  mit  dem  Messer  nicht  mehr  geklopft,  sondern  ge- 
strichen. In  Kunitz  Z.  2ff.:  Hat  e  S.  v.  F.,  Hat  e  Sack  voll  Läuse,  Kann  se  nich  crbeisse, 
s.  aber  auch  Nr.  184.  —  Vsl.  Wegener  343. 

150.    Hippe,  Hippe,  rate!  Frisst  dich  halb. 

Wenn  du  nicht  geraten  willst.  Kommt's  Schwein, 

Werf  ich  dich  in  Graben:  Frisst  dich  ganz  und  gar  hinein. 

Komrat'.s  Kalb,  :,:  Drei  Butten  voll  Saft!  :,: 

Weida.  Hierzu  Simrock  700,  712,  713  =  Böhme  93Ü;  Böhme  913£f.,  1)22,  auch  931: 
Wegener  338,  34Ö,  367,  351,  3^16  f.  In  anderem  Zusammeohange  findet  sich  Ahnliches 
bei  Drosihn  J>s7  und  Stöber  77,  sowie  in  unseren  Nr.  23,")  und  237. 

läl.    Horch,   wie   dei'  Wind   weht. 
Horch,  wie  der  Hahn  kriiht! 
Unser  Hans  hat  Hosen  an. 
Die  sind  blau. 

Weida.  Dazu  Erk-Böhme  3,  11G3,  Rochholz  S.  313,  Nr.  710,  Drosihn  9!»,  Böhme  298 
und  namentlich  i99.  [John,  Egerländer  Volkslieder  1,  42.  1898.]  „Hans  hat  Hosen,  hat 
Wammes  darzu"  in  einem  Quodlibet  von  lülO,  Zschr.  f.  d.  Phil.  15,  52  (auch  Weim. 
Jahrb.  3,  ]2(>,  Nr.  331,  wozu  freilich  auch  Erk-Böhme  2,  1002  und  Böhme,  Altdeutsches 
Liederbuch  .j08b  verglichen  werden  kann;  ferner  oben  8,  407,  Nr.  23.  —  Zu  dem  weit- 
verbreiteten Eingange  vgl.  unsere  Nr.  109  und  ausser  dem  dort  Angeführteu  auch 
Simrock  390,  Müller  S.  171  Nr.  148.  Am  letztgenannten  Orte  dienen  Wind  und  Hahneu- 
kraht  zur  Weissagung,  anderwärts  (Erks  Liederhort,  alte  Ausgabe  40,  Str.  32)  hat  die 
Formel  ihren  Platz  in  der  Beschreibung  der  Unterwelt;  beides  weist  auf  hohes  Alter. 

152.    Hucke  hucke  Mesto  (Schaukel  schaukel  M.), 
Der  Bettelmann  hat  Gäste, 

Hat  ein  fettes  Schwein  geschlacht  ( —  eine  alte  Kuh  — ), 
Hat  die  Wurst  aus  Dreck  gemacht  (Und  hat  fürn  Dreier  Wurst  — ). 

Weida,  Abweichungen  aus  Grossseliwabhauscn.  In  ürossmölscn  die  letzte  Zeile: 
Hat  dem  Kind   keine  Wurst   gemacht.    —    Beim  Aulhoeken    der  Kinder.     Als  Wiegenlied 


Deutsche  Kinderlicder.  401 

äliiilich  Simruck  228,  Böhme  4ri;  Wegener  24.  —  Mit  einem  anderen  Spottvers  auf  Bettel- 
manns Hochzeit  (Wundprhorn,  Anliang  S.  92,  Erk-Böhme  2,  8S6,  Böhme  1228-1230, 
Simrock  321,  Wegener  80  Var.,  dazu  auch  Böhme  r)8Sff.)  verbunden  in  Weitramsdorf  bei 
Koburg  (Abweichungeu  ans  Ummerstadt): 

153.    Hiedele,  hildcle,  Geigt  die  Laus  (Tanzt  die  Maus), 

Hinterm  Städele  Hüpft  der  Floh  zum  Bodenloch  iiaus, 

Haben  die  Bettelleut  Hochzeit  gemacht,  Hüpft  er  sich  ein  Beinlo  aus, 

Haben's  ne  fette  Sau  geschlacht,  Macht  er  sich  ein  Pfeufle  draus, 

Haben  die  Wurst  aus  Dreck  gemacht.  Pfeuft  er  alle  Morgen, 

Sitzt  der  Alf  auf  dem  Dach  Vergehn  ihm  seine  Sorgen  (Höreii's  alle 
Und  hat  sich  zu  Tod  gelacht.  Storchen). 

Tanzt  die  Maus  (Hüpft  der  Floh), 

Ganz  ähnlich  Böhme  1231  (Dunger  90)  und  besonders  1232:  weitere  Beziehungen  waa-den 
bei  Nr.  219e  besprochen.  —  Z.  G  und  7,  die  häufig  in  demselben  Znsammenhang  uod  in 
Lügenmärchen  wiederkehren  (Simrock  504,  [G.50],  848;  Böhme  981,  1234,  1787,  1792,  auch 
S.  7(14,  Nr.  19;  Wunderhorn,  Anhang  S.  88;  Stöber  75;  Müller  S.  222  [Quodlibet], 
Wegener  330),  bilden  anderseits  den  Eingang  eines  von  1G15  überlieferten  selbständigen 
Liedes,  wobei  es  freilich  zweifelhaft  erscheint,  ob  Anfang  und  Fortgang  wirklich  zueinander 
gehören:    Erk-Böhme  2,  .501. 

154.  Hühnermist  und  Taubenmist, 
In  dem  Hause  kriegt  man  nischt. 

Ist  es  nicht  ne  Schande 
Im  ganzen  Lande? 

Hirschberg  i.  Schi.;  gesagt,  wenn  Heischende  abgewiesen  werden.  Zum  Schlüsse 
vgl.  Nr.  115. 

155.  Ich  bin  ein  kleines,  loses  Ding 
Und  keinen  Heller  vvert. 

Und  doch,  wenn  ich  mein  Liedchen  sing. 
So  stutzt  der  Reiter  und  sein  Pferd. 

Dreitzsch  bei  Neustadt  a.  d.  Orla,  nur  einmal  aus  dem  Mund  eines  kleinen  Mädchens; 
über  die  Herkunft  vermochte  ieli  keinen  Bescheid  zu  erlangen. 

15Ga.    Ich  bin  ein  Student,  Ich  steck  sie  in  Sack, 

Ich  wasch  mir  die  Hand,  Ich  stemm  sie  die  Seite  (so), 

Ich  trockne  sie  ab,  Mach:    wille  wille  weide. 

Jena.  Ballspiel,  vor  dem  Fangen  werden  jedesmal  die  dem  Test  entsprechenden 
Bewegungen  vollführt,  zur  letzten  Zeile  werden  die  Hände  gerieben.  Zu  Böhme  S.  71G 
Nr.  G9,  Gerhardt  und  Petsch  oben  9,  394  Nr.  74.  [Hans  Meyer,  Der  richtige  Berliner  1904 
t>.  142  nr.  7G.]     Nach  Z.  3  hab  ich  in  Jena  auch  folgenden  Schluss  gehört: 

lö6b.    .  .  .  Ich  kniee  nieder, 
Ich  steh  wieder  auf, 
Ich  fange  den  Ball  mit  einer  Hand  auf. 

157.    Ich  bin  krank. 
Antwort:    Mit  dem  Maul  im  Brotschrank. 

Weida,  Grossschwabbauseu.  Vgl.  Simrock  :ig:) - :'.G7 .  Böhme  4G7,  Wunderhorn, 
Anhang  S.  77. 


402  Scliläger: 

15S.  Ich  ging  einmal  nach  Pultewitz,     Und  dachte,  's  war  ein  Schwamm. 
Da  seh  ...  ich  auf  den  Damm.  Er  steckte  's  in  die  Pfeife  nein: 

Da  kam  der  Herr  von  Pultewitz  Pfui  Teufel,  das  muss  Seh  ...  .  sein! 

Weida. 

1Ö9.    Ich  hab  gedacht,  Drum  bitte,  bitte,  bitte, 

Ihr  habt  gesehlacht,  Gebt  mir  ne  recht  gross-  un  fett-  un  dicke 

Habt  gross-  und  kleine  Wurst  gemacht.  Nein  in  meine  kleine  Ficke. 
Grossschwabhausen,  vor  1870. 

1(50.    „Ich  seh  etwas,  was  du  nicht  siehst.    Es  sieht  ....  aus  und 
hat "     Errät  der  andere,  so  werden  die  Rollen  getauscht. 

Weida,  vor  1880.  Verwandt,  aber  ausführlicher  ein  anderes  Ratespiel  bei  H.  Meier 
S.  2Si{. 

1(!1.    Ich  taufe  dich  mit  Kaffeesatz, 
Un  du  bist  e  Schweinematz. 
Ich  taufe  dich  mit  Wein, 
Un  du  bist  e  Schwein. 

Grossschwabhausen.  In  Weida  lautete  der  Vers  um  1S8Ö  dem  von  Dünger  Nr.  1-2T 
gegebenen  gleich;  jedoch  vermute  ich,  dass  es  vielmehr  heissen  sollte: 

Ich  taufe  dich  mit  Wasser, 

Du  bist  ein  kleiner  Baster  (=  Bastard). 

Nach  Diesterwcgs  Rheinischen  Blättern  von  1S;»1,  S.  .".3:i  sagt  Berthold  von  Regens- 
burg 2,  Sj,  „wie  es  leider  hiiutig  vorkomme,  'daz  diu  kint  oder  die  schuoler  licr  nement 
ein  jüdelin  und  sie  sprechent,  sie  wellent  den  Juden  toufen,  und  stözent  ez  also  in  einie 
spotte  und  anders  nicht  in  ein  wazzer',  und  dass  nur  mit  Wasser  getauft  werden  dürfe 
und  nicht  mit  Milch,  Wein,  Sand,  Asche,  Erde  oder  gar  —  einem  Ameisenhaufen." 

162.    Ich  weefs,  was  ich  weefs: 
Der  Sehneider  hat  e  Geefs. 
Er  setzt  sich  auf  die  Hörner 
Un  reit  mit  durch  die  Dörner. 

Schorkendorf  bei  Koburg.     Zu  vergleichen  Nr.  2.")l'>. 

IGoa.  Ick  sei  dei  kleine  Käunig.     Mit  de  Besensteil! 
Giff  mei  nit  tau  weinig;  Lat    mci  nit   tau  lange   stän, 

Giff  mei  nit  tau  veil  Ik  nmt  noch  weider   snorren  gän. 

Scherfede  in  Westfalen,  zu  Böhme  16%,  Erk-Böhme  1188;  die  Schlusszeileu  auch  iu 
anderen  Heischeliedern,  z.  B.  Simrock  084,  Böhme  1646 f.,  Schollen  44,  Schumann  565, 
unsere  Nr.  ü4,  246:  der  Anfang  in  andern  Zusammenhang  gebracht  Böhme  1714.  Vgl. 
noch  Nicderd.  Korrespondenzblatts,  :)6IT.,  Muddersprake  (Braunschweig)  1889,  Nr.  11, 
S.  218,  Ans  der  Heimat  1889,  Nr.  42.  [Uälmhardt  1,  .'i2.  Oben  12,  471.]  —  Gewöhnlich 
vin  Mitteldeutschland)  fehlt  das  zweite  Reimpaar,  es  ist  wohl  zugesetzt.  Die  landläufige 
Fassung  ist  erweitert  in  Osterode  (Aus  der  Heimat  ISS'.i,  Nr.  47): 

lü;!b.  Ich  bin  ein  kleiner  König,     Ich  raöcht'  hin  nach  Polen. 
Gebt  mir  nicht  zu  wenig;  Polen  ist  ein  weiter  Weg, 

Lasst  mich  nicht  so  lange  stehn.        Seht   ihr  nicht,    dass   dunkel   wird? 
Ich  möchte  heut  noch  weiter  gehn. 
Ähnlicii  auch  in  Göttingen,  Böhme  1665. 


Deutsche  Kinderliedor.  403- 

1G4.    ,Im  Hemde,    guckt    zum    Schlitz    raus/      (Antwort    auf   die 
Frage,  wo  jemand  zu  suchen  sei). 

Weida.    Vgl.  Böhme  4."j8cd,  Stöber  181». 

16.ja.    Im  Maien,  im  Maien,  Die  Sorgen,  die  Sorgen, 

Im  schönen  grünen  Mai,  Die  kenn  wir  alle  schon. 

:,:  Da  wolln  wir  alle  lustig  sein  :,:   Es  muss  ne  schöne  Seele   sein. 

Im  schönen  grünen  Mai.  :,:  Mit  der  ich  tanzen  soll.  :,: 

Seehausen  i.  d.  Altmark.  Zu  Böhme  S.  49',»  Nr.  24(',— 2.Jo,  besonders  iM-'iöi.  Nebea 
diesem  Typus  bestehen  noch  zwei  andere,  die  sich  untereinander  und  mit  dem  ersten 
berühren.    Dem  zweiten  gehört  folgendes  Liedclieu  aus  Jena  an: 

l(J5b.  :,:Weihnachten,:,:  (sonst  meist:  :,:  Sie  freuen  sich  :,: 

Im  Sommer)  Und  sind  so  herzlich  froh. 

Da  ist  die  schönste  Zeit;  Und  wir  in  diesem  Kreise, 

:,:  Da  freuen  sich  :,:  Wir  machen 's  alle  so  (Klatschen,  Hüpfen^ 
Die  alt-  und  jungen  Leut.  usw.). 

Hierzu:  Böhme  ebenda  Nr. -.UO,  Dunger  oTT.  —  Den  dritten  Typus  bilden  Böhme 
Nr.  253,  Lewalter  Heft  .3,  Nr.  11,  Drosihn  299;  die  übrigen  Nummern  bei  Böhme  sind 
aus  II  und  III  gemischt.  —  Ob  nicht  vielmehr  diese  Typen  aus  einer  gemeinsamen,  aus- 
führlichen Grundform  verengert  sind,  muss  dahingestellt  bleiben.  In  diesem  Falle  müsste 
man  annehmen,  dass  der  Scbluss  des  ersten,  wie  ihn  am  echtesten  wohl  Böhme  2J0  und 
2Ö1  zeigen,  ursprünglich  fremd  sei. 

Viermal,  später  zweimal. 


166.  Immer  bunter  wird  die  Welt,     Kein  Schreiber  soll  es  sein'" 
Alle  Farben  sind  bestellt.  —  usw. 

Kommt  ein  Schreiber  ohne  Frau:     Bäcker:    Brötchen  fresserin. 

Jungfrau,  willst  du  meine  sein?  Schuster:    Schuheflickerin. 

„Nein,  Mama,  nein.  Zuletzt:    Goldschmied. 

Kein  Schreiber  soll  es  sein!  ^Ja,  Mama,  ja, 

Heiss  ich  ja  Frau  Schreiberin,  E'"  Goldschmied  soll  es  sein! 

Eine  Tintenkleckserin:  Heiss  ich   ich  ja  Frau   Goldschmiedin. 

Nein,  Mama,  nein,  Eine  Geldverdienerin"  usw. 

Osnabrück.  Das  hübsche  und  lehrreiche  Stück  ist  als  Kinderlied,  soviel  ich  weiss, 
noch  nicht  aufgezeichnet,  trägt  aber  alle  Merkmale  eines  solchen,  und  zwar  eines  Spiel- 
liedes, wozu  der  aus  anderen  Volksliedern  wohlbekannte  Anfang  (dazu  Uhlands  Schriften 
3,  13),  den  die  älteren  und  ueuereu  Fassungen  sonst  nicht  zu  haben  scheinen,  aufs  beste 
passt.  Inhaltlich  steht-  sehr  nahe  Liliencron,  Deutsches  Leben  im  Volkslied  Nr.  87  =  Erk- 
Böhme  2,  844;  sonst  gehören  demselben  Gebiet  an  Erk-Böhme  2,  841-84«,  Rochholz  ;:.4:">, 
E.  Meier  i"ä,  M  und  (J7  mit  Müller  S.  123,  Meinort,  Alte  teutsche  Volkslieder  82,  darnach 
Erlach  4,  242  und  323,  Weim.  Jahrb.  1,  128  (wozu  für  Str.  4  Simrock  44  und  ol  zu  ver- 
gleichen sind).  Übrigens  gibt  das  wählerische  Mädchen  auch  bei  fremden  Völkern  einen 
dankbaren  Stoff  ab,  fürs  neugriechische  Volkslied  vergleiche  z.  B.  G.  Meyer,  Essays  und 
Studien  1,  322.  [Feifalik,  Wiener  Sitzgsber.  3G,  1G9.  Hoffmann  v.  F.,  Ndl.  Volkslieder  14. 
Raber,  Sterzinger  Spiele  1,  2GT  (1886).  Bols  ur.  84.  Kristensen,  Skjämteviser  S.  135. 
148.  299.      Skattegraveren  2,   211.   3,  100.    ICl.    12,    17.      Lambert   2,   21.     Ungarisch: 


404  Scblägcr: 

Aigiier  S.  202.  Cserhalmi,  Ungar.  Dichtcnvald  1897  S.  15.  Kelcti  szcuile  1,  32!).  Zs.  f. 
vgl.  Litgesch.  n.  F.  1,  2Ö2.  Serbisch:  Gerhard  1877  S.  223.  Talvj-  2,  3G.  Wolff,  Poet. 
Hausscliatz  des  Auslandes  1848  S.  421  usw.j 

U)7a.    Inche  binche  Zuckerbinche,  Die  dritt  ging  längs  da  Bronne, 

Fahr  übern  Ehein,  Hat  e  Kinnche  gefonne. 

Fahr  über  Gottes  Haus,  Wie  soll  et  heissey 

Gucke  drei  schöne  Poppe  raus.  Inche  binche  Geisse. 

Die  eine  spinnt  die  Seid,  Wer  soll  de  Wcnnele  wüsche? 

Die  auner  weckelt  die  Weid,  Dau  sollst  d;i  Dreck  fresse. 

Koblenz  (aus  cinciii  kleinen  Wiirterbuclic  der  Koblenzer  Jlundart,  dessen  Titel  mir 
verloren  gcgangeu  ist).  Mit  anderem,  aus  Wettersprüchen  stammendem  Eingang  (Sonn 
Sonn  scheine;  oben  ist  doch  wohl  Bicncho  verstanden  und  an  bekannte  Käferverse  zu 
erinnern,  vgl.  Nr.  l.')8)  entspricht  ziemlich  genau  Simrock  177,  Wunderhorn,  Anhang  S.  7iif. 
Das  Stück  ist  deutlich  zusammengesetzt:  den  zweiten  Teil  kenneu  wir  bereits  aus  Nr.  12, 
er  ist  ganz  geschickt  in  das  Lied  von  den  drei  Jungfrauen,  hier  Puppen,  einbezogen.  — 
Dieses  letztere  möge  hier  in  einer  stark  verncucrtcn  Form  stehen,  die  jene  Verwachsung 
gleichfalls  erkennen  lässt,  aus  Gelsenkirchen: 

167  b.    Zu  Köln  da  steht  ein  Puppenhaus, 
Da  guckton  drei,  vier  Puppen  zum  Fenster  hinaus. 
Die  erste  sjjielte  aufs  Klavier, 
Die  zweite  trank  ein  Gläschen  Bier, 
Die  dritte  sprach;    wer  soll  das  Kindlcin  waschen, 
Ich  oder  du? 
Müllers  Kuh, 
Müllers  Esel  der  bist  du. 

Das  Kulturbildchen  ist  nicht  übel,  aber  von  dem  geheimnisvollen  Koiz  des  alten 
Spruches  ist  nichts  mehr  übrig.  —  Am  Schluss  ist  ein  selbständiger  Abzählreim  angekettet 
und  dadurch  das  Ganze  zum  Abzählreim  geworden;  vgl.  Simrock  SlOf.,  Böhme  18.'!4f.. 
Stöber  141,.  Rochholz  S.  112  Nr.  224,  auch  S.  114,  Müller  S.  213,  Dunger  317,  Schu- 
mann 407.  —  Die  zweite  Zeile  scheint,  wenn  nicht  einfache  Plapperei  vorliegt,  auf  eine 
weniger  geschickte  Verknüpfung  zu  weisen,  bei  der  die  ursprünglich  genannte  Zahl  über- 
schritten wird.  So  in  einem  sonst  ziemlich  ursprünglichen  Text  aus  Sarnsthal  in  der 
Pfalz,  der  allerdings  nachher  die  Verkettung  munter  fortsetzt: 

lt)7c.    Sonne,  Sonne,  scheine,  Hat  ein  Kindlein  gfunno.  — 

Fahr  über  Rheine,  Das  Kindlein  das  steht  an  der  Wand. 

Fahr  übers  Glockehaus,  Hat  nen  Apfel  in  der  Hand; 

Gucke  drei  schöne  Jungfraue  raus.  Möcht  ihn  gerne  braten, 

Die  eine  spinnt  Seide,  Ist  ihm  nicht  geraten; 

Die  andre  wickelt  Weide,  Mücht  ihn  gerne  essen. 

Die  dritt  spinnt  ein  roten  Rock  Hat  dazu  kein  Messer. 

Für  unsern  lieben  Herrgott.  —  Fällt  ein  Messer  oben  rab, 

Die  viert  geht  an  Brunne,  Schlägt  dem  Kind  das  Händchen  ab. 

Zum  dritten  Teile:  Böhme  1234,  vgl.  auch  520  und  die  Bemerkung  zu  :'>80,  Stöber 
75—78,  KKJ,  Rochholz  S.  .308,  JJr.  71il,  Süss  S.  13,  Nr.  .j3,  oben  8,  407,  Nr.  42,  während 
der  Anklang  bei  Wegener  205  wohl  nichts  besagt.  Simrock  G20  verwendet  das  Schluss- 
bild gänzlich  anders. 

Die  Tätigkeit  der  zweiten  Jungfrau  klingt  ziemlich  rätselhaft,  aber  der  Stabreim 
zeigt,  dass  wir  es  mit  einer  alten  Verbindung  zu  tun  haben.  Manche  Texte  lassen  eine 
der  Jungfrauen  Haferstroh  spinnen;  ich  nehme  daher  an,  dass  ursprünglich  die  eine 
Seide  aus  Haferstroh  spinnt,  wie  es  im  älteren  Volkslied  öfter  vorkommt.  —  Literatur  zu 


üeutsclie  Kinderlieder.  405 

den  drei  Jungfrauen:  Simrock  177—184,  (;:;7;  Böhme  38üff.,  7.'Jltt',  ;)78ff,  174-2ff., 
1817;  Eochholz  S.  139ff,;  Stöber  98ff.,  dazu  2G0,  und  S.  127— 129;  Wolf,  Beiträge  zur 
deutschen  Mythologie  2,  166-203;  Mannhardt,  Germanische  Mythen  S.  242ff.,  W.Menzel, 
Odin  270—281;  Grimms  und  Simrocks  Mythologie  a.  v.  0.;  Wegener  129,  Drosihn  242f.,, 
Müller  S.  222,  Dunger  328,  Schumann  19(i,  392b,  674:  Schläger,  Zeitschr.  für  den  deutschen 
Unterricht  1'.I07.     [Züricher,  Das  Byti-Rössli-Lied  1906.] 

168.    In  Closewitz 
Da  hat's  geblitzt, 

Da  harn  dio  Bauern  die  Ohm  e;espitzt. 
Da  halten  die  Preussen  ein  Haus  gebaut 
Von  lauter  Kartod'eln  und  Sauerkraut. 

Jena,  um  1860.  Closewitz  liegt  unweit  des  Jenaer  Schlachtfeldes.  —  Kurt  Müller, 
oben  5,  199,  Nr.  1  gibt  den  Spruch  mit  zwei  weiteren  Zeilen  aus  Leipzig,  aber  im  Eingang 
Oonnewitz,  auf  die  Leipziger  Schlacht  weisend.  Die  Beziehung  auf  die  Schlacht  bei 
Jena  mag  jedoch  echt  sein,  denn  mit  dem  Sauerkraut  werden  eher  die  Preussen  als  die 
Franzosen  geneckt  werden  dürfen;  oder  es  müsste  die  ganze  Wendung  fertig  aus  dem 
Volksuiunde  genommen  sein,  wofür  ich  bis  jetzt  keinen  Anhalt  habe.  In  Z.  5  verdient 
Müllers  Fassung  den  Vorzug:  Von  Leberwurst  und  Sauerkraut:  ob  seine  beiden 
Schlusszeileu  (Da  ist  es  wieder  eingekracht.  Da  haben  sie  sich  halbtot  gelacht)  ihrem. 
Wortlaute  nach  echt  sind,  ist  unsicher. 

169a.    In  der  bi-ba-bolschen  (=  polnischen)  Küche 
Kocht  der  bi-ba-bolsche  Brei, 
Und  die  bi-ba-bolschen  Kinder 
Tauchen  mit  dem  Finger  nein. 
Jena.  —  Grössere  Verbreitung  hat  folgende  Form: 

169  b.    In  der  bim-bam-bolschen  Kirche 
Geht  es  bim-bara-bolisch  zu. 
Tanzt  der  bim-bam-boische  Ochse 
Mit  der  bim-bam-bolschen  Kuh. 
Weida,  ähnlich,  aber  mit  Küche,  Schumann  435,  mit  anderem  Eingang  Müller  S.  164. 
Böhme  1209   gibt  diesen  Vers    um  den  ersten  erweitert  (Und    die  binibambolsche  Mutter 
kocht  usw.),  wozu  ich  aus  Jena  noch  zwei  eingeschaltete  Zeilen  mitteilen  kann: 

Und  der  b.-b.-b.  Vater 
Ass  den  b.-b.-b.  Brei. 

Allem  Anscheine  nach  ist  der  zweite  Vers  ursprünglicher  und  die  Erweiterung  erst 
möglich  geworden,  nachdem  aus  der  Kirche  eine  Küche  geworden  war:  indes  könnte  ein 
Abziihlreim  bei  H.  Meier,  S.  233  (Up  de  bi-ba-bumske  Brügge  Wohnen  bi-ba-humske  Lüh, 
Hebbeu  b.-b.-b.  Kinner,  Eten  b.-b.-b.  Papp  Mit  de  b.-b.-b.  Lepel  Ut  de  b.-b.-b.  Napp) 
auf  selbständige  Entstehung  des  Breiverses  und  nachträgliche  Verkuppelung  weisen.  — 
Zu  vergleichen  noch  oben  .">,  199,  Nr.  14.  —  RL  L.  Becker,  Der  Tanz  (Seemann)  S.  106 
führt  folgenden  Text  als  zu  einem  um  1820  bezeugten  Tanze  'Der  alte  Deutsche'  gehörig  auf: 

Hinger  Schulza's  Schuppla  jo  geht's  lustig  zu, 
Do  tanzt  a  pulscher  Uxe  mit  er  deutschen  Kuh. 

170.    Iserbahn,  Iserbahn, 
Lokoraotiv! 

Geht  er  ab,  kommt  er  an, 
Muss  erst  mal  pfif. 

Salzungen.  —  Gleichen  Anfang  hat  Müller  S.  141  Nr.  52:  der  ganze  Vierzeiler  ganz 
ähnlich  in  Salzburg,  s.  Süss  S.  2.')7,  Nr.  998. 


40() 


Schliige 


171.    I  wünscli  a  miis  Joar, 
A  Chi'istkindl  mit  krausm  lloai'. 
An  guidaran  Tiscli. 
In  niadm  Kck  an  brotna  Fisch, 
In  da  Mitt  a  Glasl  Wein, 
Dass  da  Herr  und  d"  Frau  recht  lusti  konn  sein. 

Dsutsch-Bohmcn,  Silvesteransingen  (Neues  Blatt  1891,  S.  279).  Die  M'üiischc  sind  in 
llcischeliodcrn  verbreitet,  vgl.  Simrock  978,  983,  988,  Süss  S.  IGG,  Böl)me  IGl.'if.,  1618, 
^\'lln(le^llorn,  Anhang  S.  31,  37,  -lO;  die  beiden  ersten  Zeilen  treten  mit  nachfulgeudem 
Ocgenwunsch  in  einem  Quodlibet  vom  Jahre  Hill)  in  folgender  Gestalt  auf  (Zs.  f.  deutsche 
Pliil.  1.".,  Ö7-: 

Guten  Morgen  /  ein  glückseligs  newes  Jar/ 
ein  schön  jungen  Gesclln  in  krausen  Haar/ 
Geh  euch  Gott  zwier  so  viel. 


^^Mll 


Dreimal. 


17'2.    Jakob  ging  und  wollte  sich  erquicken. 
Seine  Schüler  mochte  er  nicht  schicken, 
Ging  die  Strasse  wohl  auf  und  nieder. 
Bis  er  endlich  ein  Mädchen  fand. 
:,:  O  du  zuckcrsüsses  Mädclien, 
O  du  reizend  schönes  Kind!  :,: 

Oberstein.  Die  Kinder  sind  in  zwei  Reihen  aufgestellt,  Jakob  geht,  in  die  Hände 
klatscliond,  dazwischen  auf  und  ab.  Bei  „O  da  zuckcrsüsses  Mädchen"  nimmt  er  sich  ein 
anderes  Kind  und  tanzt  mit  ilnn  auf  und  ab;  dieses  niuss  nachher  den  Jakob  spielen.  — 
Zu  Böhme  S.  177f.  Nr.  19Ü,  Erk-Böhnie  2,  974:  Müller  S.  l'OO;  „Amor  ging"  (Kissentauz). 
(Hans  Meyer,  Der  richtige  Berliner  190i  S.  1  U  nr.  GG.    Schumann  r.HC)  S.  15.] 

173.    Jakob   hatte   sieben   Söhne, 
Sieben  Söhne  halt  Jakob. 
Sie  assen  nicht,  sie  tranken  nicht. 
Lebten  alle  liederlich, 
Machten's  alle  so. 

Nun  rascher,  stets  gesprochen,  mit  den  entsprechenden  Bewegungen,  am  ScLluss 
allgemeines  Umdrehen: 

Mit  den   Fingern  tipp  tipp  tipp, 
Mit  dem  Köpfchen  nick  nick  nick. 
Mit  den  Füsschcn  patsch  patsch  patsch, 
Mit  den  Händchen  klatsch  klatsch  klatsch. 

^Yeida.  In  Grossschwabhausen  nur  der  erste  Teil  ohne  Z.  1,  Adam  statt  Jakob. 
Simrock  9(MJ,  Böhme  S.  194  Nr.  237 f.,  Lcwaltcr  Heft  5,  Nr.  34.  [H.  Meyer,  Berliner  19iil 
S.  142  nr.  82.] 

Bei  Lewaltcr  ist  noch  ein  drittes  Gesiitz  (ähnlich  unserer  Nr.  37)  angehängt:  statt 
dessen  erscheint  in  Oberstein  folgender  Sohluss  (zu  Böhme  G4.'>): 


Deutsche  Kinderlieder.  407 

Alle  meine  Entchen 
Schwimmen  auf  der  See, 
Köpfchen  unterm  Wasser, 
Schwänzchen  in  der  Höh. 

Der  Textanfang  (ob  auch  diese  Art  des  Spiels?)  ist  alt,  er  findet  sich  in  Fiscliarls 
Spielverzeichnis,  Geschichtsklitterung  Kap.  "J.j  (Adam  hett  sieben  Söhn)  und  bei  Candorin 
(Konrad  von  Hövel,  s.  Bolte  oben  4,  S.  184)  erwähnt.  In  einem  Quodlibet  des  Jahres  ICH) 
(s.  Zs.  für  deutsche  Phil.  15,  5G)  ist  allerdings  der  Scherz  anders  gewendet:  „Adam  der 
hatt  sieben  Söhn  und  achte,  raht  was  sie  machten?"  (Antwort:  eine  Mandel).  —  Der  zweite 
Teil  kommt  im  Vogtland  und  in  Thüringen,  wohl  auch  anderwärts,  als  volkstümlicher 
Tanz  unter  dem  Xamen  'Vogelsteller'  vor,  s.  Nr.  -'03. 

174 Kam  ich  vor  ein  grosses  Die  dritte  nahm  'nen  grossen  Stein 

Haus,  Und  warf  mich  vor  mein  rechtes  Bein. 

Da  guckten  drei  alte  Hexen  raus.  <)  weh,  o  weh,  o  weh! 

Die  erste  bot  mir  Essen,  Ich  mag  nicht  wieder  nach  Jene  gehn. 
Die  zweite  bot  mir  Trinken, 

Grossmölsen  bei  Erfurt,  der  Eingang  ist  verloren.  Zu  Erk-Böhme  :!,  1>S94,  Simrock  ISS, 
Böhme  S.  .j45  Nr.  'MS-.  nahe  stehen  auch  Simrock  1089,  Böhme  6S9  und  l.j20f.,  Schu- 
mann l-21f.,  19S,  200a,  Müller  S.  l.JG  Nr.  101  (Anfang):  vgl.  noch  Mannhardt  GäGtf.  Das 
Motiv  ist  uns  schou  dreimal  begegnet,  s.  Nr.  :15,  G:'>,  G7 :  ursprünglich  wird  es  aber  ent- 
Tveder  in  63  oder  im  oben  gegebenen  Stücke  sein.  —  In  Thüringen  bis  ins  Vogtland  findet 
man  das  Ganze  auch  mit  einer  eigentümlichen  Einleitung  versehen  (Jena,  Al>weichungen 
aus  VVeida): 

175a.    Petrus  schloss  den  Himmel  auf. 
Warf  den  Korb  (Trug  en  Sack)  voll  Semmeln  raus  (nauf). 
Sagt  ich:    gib  mir  eine. 
Gab  er  mir  gar  keine. 
Sagt  ich:   gib  mir  zweie. 
Gab  er  mir  nur  eine. 

usw. 
Gab  er  mir  nur  zweie. 

Da  ging  er  mit  mir  (Schickt  er  mich)  zu  Biere. 
Da  schenkte  er  mir  (Strickt  er  mir  paar)  Strümi)fe. 
Da  nannte  er  mich  (Schimpft  er  mich  ne)  Hexe. 
Da  warf  er  mich  mit  Rüben  (Haut  er  mich  raitm  Riemen). 
Da  trat  er  hin  (Stand  er  da)  und  lachte. 
Da  führt  er  mich  in  eine  (Schickt  er  mich  in  die)  Scheune. 
Da  fuhr  er  mit  nach  Jene  (Schickt  er  mich  nach  Gene). 
Nun  Jena:    In  Jena  stand  ein  grosses  Haus, 
Da  guckten  zwei  alte  Hexen  raus. 
Die  eine  warf  mich  mit  eim  Stein, 
Die  zweite  trat  mich  auf  mein  Bein: 
0  ne! 

Ich  mag  nicht  wieder  nach  Jene  geb. 
Weida:    Als  ich  nach  Gene  kam, 

Standen  meine  vier  Paten  da. 
Die  erste  liess  mich  mit  essen. 
Die  zweite  sah's  nicht  gerne  an, 
Die  dritte  nahm  en  Kieselstein, 
Warf  mich  an  mein  böses  Bein. 


408  Schläger: 

„0  weh,  0  weh,  mein  böses  Bein, 
Wiir's  doch  nicht  der  Kieselstein!" 
Die  vierte  nahm  en  Suppentopf, 
Warf  niir'n  an  mein  bösen  Kopf. 
„O  weh,  0  weh,  mein  böser  Kopf, 
Wür's  (loch  nicht  der  Suppentopf!" 

Hierzu  Müller  S.  188  und  l'L'L'f.  fOähnliardt  -J,  14.]  Das  Vorgesetzte  ist  eine  Zälili^eschiclito- 
wie  Böhme  1210  und  erinnert  mit  einzelnen  Stellen  an  Böhme  ü80  und  l.V20f.  und  uusera 
Nuunuer  lölb.  Eigenartijf  ist  aber  der  Anfang.  Er  gemahnt  zunächst  an  Schumann  GTS 
und  muss  mit  diesem  und  den  eben  angeführten  Stücken  bei  Böhme,  wozu  noch  die 
früheren  Verweisungen,  eine  Sippe  bilden.  Petrus  aber  gehört  ursprünglich  einem  Wetter- 
spruch an,  vgl.  unsere  Nr.  loS  und  18(1  mit  Simrock  831  usw.,  Böhme  '.tS:!  lu-iw.;  dazu 
noch  Sinirock  82.")  und  Rochholz  S.  112  Nr.  22.').  —  Im  Anfang  und  sonst  in  mancherlei 
weicht  eine  vogtländisch-thüringische  Fa.ssung  ;ib,  die  bei  Dünger  285  aufgezeichnet  ist 
und  in  (jrossschwabhausen  (mit  Abweicliungen  ans  Wolfsgefährt  im  Neustiidter  Kreise  vor 
1870)  so  lautet: 

17,5  b.  c.    's  war  einmal  eine  alte  Frau, 
Die  hatte  gebackne  Birn. 
Sagt  ich:   gib  mir  eine, 
Da  gab  sie  mir  gar  keine. 
Sagt  ich:  gib  mir  zwee, 
Da  tat  sie  sich  ruradreh. 
Sagt  ich:  gib  mir  dreie, 
Da  tat  sie  mich  anschreie. 
...  Da  ging  sie  mit  mir  zum  Biere. 
.  .  .  Da  strickte  sie  mir  paar  Strümpfe. 
...  Da  tat  sie  mich  behexe. 
.  .  .  ?  (Da  stuss   sie  mich  in  die  Rieben) 
...  Da  stellte  sie  sich  hin  und  lachte. 

.  .  .  Im  Dorfe  steht  ene  Scheune  (Da  sperrt  sie  mich  in  die  Seh.) 
.  .  .  Ging  sie  mit  mir  nach  Jene  (Da  schickt  sie  mich  weg  nach  J.). 

Daran  schliesst  sich  in  Grossschwabhausen  die  Hexengeschichte  verkürzt: 

17.jb.  Kamen  w'ir  vor  ein  Bäckerhaus,  Die  dritte  stieg  aufn  alten  Baum, 

Guckton  drei  alte  Hexen  raus.  Der  krachte. 

Die  eine  lockte  mich  rein,  Da  stellten  sie  sich  hin  und  lachten. 
Die  zweite^ 

In  Wulfsgefährt  dagegen  wurde  weiter  gezählt: 

175c Da  frassen  mich  die  Wölfe. 

Um  zwölf  spien  sie  mich  wieder  aus, 
Um  eins  war  ich  wieder  zu  Haus. 

Dieser  Schluss  weist  auf  ganz  anderen  Zusammenhang,  etwa  eine  Fortsetzung  des 
Zählspiels  vom  wilden  Tier  oder  vom  Wolfe  (Böhme  S.  50:1  Nr.  072 ff.)?  —  „Im  Dorfe 
steht  ene  Scheune"  stammt  natürlich  aus  dem  Abzählreim  42  usw.:  in  einen  solchen  geht 
übrigens  Dungers  Aufzeichnung  am  Schluss  über. 

176.    Kauzkäfer,  flieg!  Ponimerhmd  ist  abgebrannt. 

Der  Vater  ist  im  Krieg,  Ist  sie  in  die  Kirch  gekrochen, 

Die  Mutter  ist  im  Pommerland,  Ist  der  Schlüssel  abgebrochen. 

Neustadt  a.  0.,  alt;  sonst  ohne  die  beiden  letzten  Zeilen.  In  Wiegcndorf  h.  Weimar 
auch  Marienkäfer,  in  Grossschwabhausen  Mütsclyckiebechen  (vgl.  Böhme  823  und  Herbst- 


Deutsclie  KimlerlieJer.  409 

mütschel  in  Nr.  l.'iS).  In  Koburg,  wie  wohl  allcrwärts  sonst,  Maikäfer:  statt  Pomnierland: 
Engelland.  —  Zu  Böhme  798£f.,  Simrock  .580,  Mannhardt  S.  350.  [Erk-Böhme  3,  1850. 
Marriage,  Badische  VI.  m:  27-4.]  Z.  4  im  Quodlibet  Müller  S.  222.  Die  Schlusszeile 
stammt  aus  Nr.  53  (vgl.  bes.  Böhme  822),  aber  die  Überleitung  scheint  hier  eigens  ge- 
geschaffen zu  sein. 

Eine  andere  Fortführung  der  ersten  Zeile  bietet  ein  Jenaer  Vers: 

177.    Marienkäfercheii,  fliege! 
Deine  Mutter  ist  ne  alte  Ziege; 
Dein  Vater  ist  in  Ammerbach, 
Läuft  allen  hübschen  Mädchen  nach. 

17S.    Kessel,  Kessel,  Taler,  Ring  — 
^Ver  sitzt  in  diesem  Kessel  drin? 
Des  Kaisers  jüngstes  Tüchterlein. 
Wer  muss  den  Kessel  schliessen? 

Sarusthal  i.  d.  Pfalz.  Gehört  offenbar  zu  dem  Eiede  von  der  eingemauerten  Königs- 
tochter, Böhme  S.  457  ff.,  zum  Anfang  vgl.  daselbst  namentlich  123,  127,  136—140,  143—145, 
156,  Kil,  auch  unsere  Nr.  281. 

17?.    Komm,  wir  wollen  wandern 
Von  einem  Ort  zum  andern. 
Da  kam  ein  alter  Mann, 
Der  sagte,  der  sagte; 
Ria  rutschika! 

Jena.  Ausführung  wie  bei  Böhme  S.  5',)4  Nr.  445  (»gl.  Nr.  11.S4  und  18(35  des  ersten 
Teils).  In  Knnitz  b.  Jena  die  Schlusszeile  des  landläufigen  Textes:  Wir  brauchen  keine 
Kutsch.  Vgl.  noch  Simrock  !I02,  Rochholz  S.  5ö  Nr.  127,  Schumann  G(»S,  Dunger  33i», 
Lewalter  Heft  5,  Nr.  4.  [H.  :\Ieyer,  Der  richtige  Berliner  1004  S.  142  nr.  73.  Dähnhardt  1,  73. J 
Aus  Grossmölsen  bei  Erfurt  hörte  ich  den  landläufigen  Text  ohne  den  Eingang,  aber 
mit  einer  Erweiterung: 

18(1.    Ri  ra  rutsch. 
Wir  fahren  in  der  Kutsch. 
Ri  ra  Res-chen, 
Wir  fahren  in  dem  Chaischen. 

181.  Kräh,  kräh,  kräh, 
Dein  Nest  brennt  an! 
Messerschleifer,  Kopfabschneider, 
Kommt  der  Jäger  pulf  pulf  puff. 

Glauchau,  um  1900.  Zu  Böhme  1139,  Simrock  621  f.,  Wegener  323.  Sonst  werden 
Mai-  und  Marienkäfer  mit  dem  Hausbrande  bedroht. 

182.  Kuchen weida, 
Zwiebacksgera, 
Betteigreiz, 
Mauseschleiz. 

Neustädter  Kreis,  vogtländischer  Ortsspott. 

183.  Laus  und  Flieh, 
Das  ist  mein  Vieh; 

Wenn  ich  schlafe,  arbeiten  sie. 
Kunitz  b.  Jena. 
Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskumle.    1907.  27 


•110 


Schläger: 


1x4.    Leier  leier  Maler, 
Hat'ii  Sack  voll  Taler: 
Hat'n  Sack  nicli  zugebung, 
Sin  sc  alle  rausgcsprung. 

GrüsGschwabbausen  b.  Jona,  gesungen  wie  Kingel  ringel  Reibe.  In  Kunitz  Anfang: 
SlüUer,  Müller,  Mahler,  und  Z.  Öf:  Hat'n  S:uk  voll  Läuse,  kann  se  nich  erbeisse,  wozu 
jedoch  auch  Nr.  149.  Vgl.  Sinirock  GOSf.,  Böhme  ST.")  (Anfang  auch  :').i.'!,  Sinirock  (J0;>, 
Stöber  342f.,  Schumann  51)0).  Über  die  Beziehung  des  MüUernamons  auf  weisse  Schmetter- 
linge s.  Stöber  S.  179,  auch  Uiez,  Etymol.  VVörterb.  unter  farfalla.  Aber  auch  die  Be- 
ziehung auf  das  Ungeziefer  hat  bestimmten  Anhalt:  Mnllermücken  heissen  im  Kinder- 
verse die  Läuse,  wie  MüUortlühe  bei  Grimmelsbausen. 

18J.    Lern  ewas,  da  kannste  was, 
Stiehl  dir  was,  da  iiaste  was, 
Lass  dich  aber  ju  ju  nich  kreiel 

Wiegendurf  b.  Weimar,  alt. 


Jtrjrri 


^^^l^V:^ 


m 


18G.    Liebe,  liebe  Sonne, 
Schein  eine  Viertelstunde! 
Mach  dein  kleines  Türchen  auf, 
Lass  die  liebe  Sonne  raus. 

Neustadt  a.  d.  Orla,  alt  (beim  Wäschetrocknen  gesungen).  In  Z.  :>  hat  eigentlich 
Petrus  oder  ein  anderer  Wottevmacher  zu  stehen,  vgl.  viele  Fassungen  des  Liedes  von 
den  drei  Jungfrauen  (Nr.  167)  sowie  manches  bei  Nr.  17.")a  Angeführte,  ausserdem 
Simrock  503,  .545,  557,  Wegener  205. 


187.    Lieber  Ofen,  ich  bet  dich  an: 
Sei  doch  mein  Gevattersmann  I 
Denn  ich  hab  in  diesen  Wochen 


P'ünfundzwanzig  Topf  zerbrochen, 
Und  das  war  noch  nicht  genug. 
Auch  den  alten  Essigkrug. 

Kemda.      Die    Anfangszeile    gehört    einem    Auslösevers    im    Pfänderspiel    an,    vgl. 
Simvock  975—977,  Böhme  S.  «80,  Dunger  .".S;!f.     [Schumann  1905  S.  ~i.] 

lS8a.    Lingel  lingel  Lerchen, 
Drei  Hasen  und  drei  Sperken  (=  Sperlinge). 
Ist  das  nicht  ein  Wunderding? 
Der  Vater  hat  non  Fingerring, 
Die  Mutter  hat  neu  Ohrenring  (.  .  -  das  Goldelein). 
Wisple  wasple  Jud,  komm  rein  (Herr  Storpion,  o  komm  herein), 
(Und)  such  das  liebe  Ilülzcloin. 

Kotli  bei  Koburg,  Abweichungen  aus  Schorkendorf.    Verwandtes  dazu  kenn  ieh  nicht 
ausser  folgendem  Vers  aus  Remda: 

188  b.    Ling  ling  Lerche, 
Zwei  Hasen  und  zwei  Zwerge. 
Der  Geier  hat  sein  Ring  verloren. 
Jude,  komm  herein! 

189.    Links,  rechts,  links,  rechts, 
Donnerwetter,  das  geht  schlecht! 


Deutsche  Kinderlieder.  4J1 

Weida,  Soldatenspiol.  Anders  Simrock  510,  mit  Erweiterung  Schumann  HO!),  wozu 
auch  Lewalter  Heft  4,  Nr.  24  und  ein  Vers  aus  Weisseufels  nach  der  Weise  des  Torgauer 
Marsches: 

19(1.    Soldaten,  Kameraden, 
Die  essen  gerne  Braten. 

Uli.    :,:  Machet  auf  das  Tor,  :,:  :,:  Was  will  er  denn?  :,: 

Es  kommt  ein  grosser  Wagen.  Er  will  die  NN.  holen. 

:,:  Wer  sitzt  darin?  :,:  :,:  Was  hat  sie  gestohl'n?  :.: 

Ein  Mann  mit  goldnen  Haaren.  Im  Garten  eine  Rose. 

Ostheim  V.  d.  Rhön:  zu  Böhme  S.  537 f.  Nr.  ;!34f.,  Lewalter  Heft  2,  Nr.  l'.i;  oben  !i,  392, 
Nr.  68.  [Züricher  1902  nr.  9G0.  Schumann  1905  S.  22.]  Die  goldnen  Haare  erscheinen  auch  in 
der  von  Petsch,  Herrigs  Archiv  103,  3(j7  mitgeteilten  Berliner  Fassung;  anderwärts,  auch  in 
Thüringen,  trägt  der  Mann  einen  roten  Kragen  und  erinnert  so  an  den  roten  Fuhrmann 
iu  einer  Fassung  des  Liedes  von  der  Königstochter  im  Turme  (Simrock  910  =  Böhme 
S.  461,  Nr.  146). 

192.  Madam,  brauchen  Sie  was 

Für  die  Ratt,  für  die  Maus, 

Für  die  Hopphopphopp, 

Für  die  Wandmaschien, 

Für  die  Liius? 

Gegend  von  (jlauchau,  um  1880.  Die  Sprechweise  der  slovakischen  Fallenhändler 
"wird  nicht  ohne  Humor  nachgeahmt.  Unter  Wandmaschien  hat  man  sich  gewiss  die  an- 
genehmen Tierchen  vorzustellen,  die  an  der  Wand  'maschieren'. 

193.  Mädchen  mit  dem  roten  Mieder, 
Gib  mir  meinen  Taler  wieder! 

Gibst  du  mir  mein  Taler  nicht. 
Bin  ich  auch  dein  Liebster  nicht. 

LöLstedt  bei  Jena. 

194.    Mädel,  Mädel,  wasch  dich,  putz  dich,  kämm  dich  schön. 
Wir  wollen  zusammen  zum  Tanzen  gehn. 

Kuuitz  bei  Jena.  —  [Wird  auch  einem  Signal  untergelegt:  H.  Meyer,  Berliner  1904  S.  150.] 

195  a.    Mariechen  sass  auf  einem  (oder:   breitem)  Stein 
(Giebichenstein:  Anna  sass  am  Gräfenstein), 
Sie  kämmte  sich  ihr  krauses  Haar. 
Da  trat  ihr  Bruder  Karl  zu  ihr: 
Mariechen,  warum  weinest  du? 
Ich  weine,  weil  ich  sterben  muss. 
Da  griff  er  in  die  Tasche 
Und  zog  sein  blankes  Messer  raus 
Und  stach  Mariechen  durch  das  Herz. 
Da  trat  der  stolze  Fähnrich  her: 
Nu,    Karl,    du    siehst   ja    blutrot    aus? 
Ich    sehe,    seh    so    blutrot   aus. 
Weil  ich  Mariechen  erstochen  hab. 
Mariechen  ward  ein  Engelein 

Und  Karl  das  war  ein  Bengelein   (oder:    Teufelein). 
Nun  lasst  uns  alle  fröhlich  sein. 

Doruburg;  mit  geringen  Abweichungen  und  teilweise  vollständiger  in  ganz  Thüringen. 
Die  Weise  ist  überall  die  von  Lewalter  Heft  1,  Nr.  25,  danach  von  Böhme  S.  546  gegebene.  — 

•27* 


412  Schläger; 

Die  ollige  Fassung  steht  in  der  Iiorvorgehobencn  Frage  dem  Volksliede  ^Böcl^el  Nr.  103, 
Lewaltcr  Heft  1,  Nr.  24,  Erk-Bolimc  1,  12c,  Röhme  S.  545)  näher  als  die  meisten  mir 
sonst  bekannten.  Der  Schluss  (ausser  clor  letzten  Zeile,  zu  der  Nr.  110b  zu  vergleichen) 
scheint  in  dieser  Form  einem  Thüringer  Neckverse  zu  entstammen  (Nr.  TOl  und  zeigt 
gelegentlich  noch  Erweiterungen,  z.  B.  oben  9,  3!i3  Nr.  70  und  in  anderer  Art  aus  Weida: 

Mariechen  kam  ins  Hiniraelreich 
Und  Adelbert  in  den  tiefen  Teich. 
M.  kriegt  ncn  Rosenkranz 
Und  Adelbert  nen  Kattenschwanz. 

Doch  findet  mau  auch  Ursprünglicheres,  das  diese  Zusätze  herbeigezogen  hat,  so  Kunitz 
und  Grossschwabhausen: 

Mariechen  ward  ins  Grab  gesenkt, 

Und  Karl  der  ward  an  Galgen  (Gr.:    Balken)  gehängt  — 

was  nicht  nur  im  Volksliede  wiederkehrt,  sondern  auch  an  den  Ausgang  des  alten  l'linger- 
liedes  erinnert.  —  In  Küthcn  wird  das  Lied  mit  einer  Erweiterung  ausgeführt: 

19öb.    Mariechen  sass  auf  breitem  Weil  ich  heute  sterben  muss. 

Stein  Da  ritt  er  wieder  weiter. 

Und  kämmte  sich  ihr  blondes  Haar.  Da  kam  der  stolze  Gare. 

Und  als  sie  damit  fertig  war,  Der  zog  sein  langes  Messer  raus 

Da  ging  sie  in  ihr  Kämmerlein.  Und  stach  Mariechen   durch   die  Brust. 

Da  legte  sie  sich   schlafen.  Da  fing  sie  an  zu  bluten. 

Und  als  sie  wieder  raunler  ward,  Maricchen  ward  ins  Grab  gelegt. 

Da  fing  sie  an  zu  weinen.  Mariechen  ward  ein  Engelein. 

Da  kam  ihr  Bruder  Karl  herein:  Karl  der  ward  ein  Bengelein. 

Mariechen,  warum  weinest  du'?  Caro  ward  ein  Stengelein. 

Eine  verkürzte,  am  Schluss  unserer  Nr.  98  angeglichene  Fassung  steht  oben  5,  204,. 
Nr.  20,  wo  noch  auf  Wegener  G7:'>  verwiesen  ist.  [Grüssler,  Mansfelder  Blätter  11,  188. 
Dähuhardt,  Volkstümliches  1,  GG.  2,  124.  Köhler-Meier  nr.  16.  Das  Land  G,  15  (1898). 
Frömmel  MG.  Adler,  Progr.  1901  S.  5.  Notholz  1901  S.  42.  Züricher  1902  Nr.  9G1— 965. 
Eskuchc,  Siegerländ.  Kinderliedchen  1897  S.  94  nr.  347.     Schumann  1905  S.  27]. 

Eine  Nachahmung   ist  offenbar,   was  in  Kunitz  nach  derselben  Weise   gesungen  umi 

gespielt  wird: 

196.    Die  Anna  sass  im  Kämmerlein 

Und  schrieb  ein  Brief  an  Bräutigam. 

Da  ging  die  Türe  kling  kling  kling. 

Da  trat  herein  der  Bräutigam, 

Und  reiciiten  sich  die  liänd  zusamm. 

So  noch  zweimal  Z.  3— 5  mit  „ürosspapa"  und  ..Grossmama".     Danu: 

Da  ging  die  Türe  usw. 

Da  trat  herein  der  böse  Wolf. 

Schliesslich  muss  der  Wolf  haschen.  —  Im  einzelnen  dem  ähnlich,  im  ganzen  aber  der 
landläufigen  Form  entsprechend  ist  die  Obersteincr  Fassung: 

19.')  c.    Maricchen  war  allein  zu  Haus  usw. 
Sie  kämmte  sich  die  Haare  fein. 
Da  fing  sie  an  zu  weinen. 
:,:  Da  ging  die  Türe  klingiingling, 
Da  kam  der  gute  Vater  (dann:  die  gute  Mutter)  herein: 
Mariechen,  warum  weinest  du?  :,: 


Deutsche  Kinderlieder. 


413 


Ei,  weil  ich  heute  sterben  muss. 

Da  ging-  die  Türe  klinglingling, 

Da  kam  der  Bruder  Fritz  herein. 

Er  nahm  ein  Messer  aus  der  Tasch 

Und  stach  Mariechen  durch   und  durch. 

Mariechen  war  ein  Engelchen, 

Der  Fritz,  der  war  ein  Uengelchen. 

Oberstciu  hat  ausserdem  eine  schnöde  Umdichtung  aufzuweisen,    die  jedoch  auf  eine 
andere  Grundform  zurückzugehen  scheint: 

197.    Anna  sitzt  auf  Rasen  usw. 
Und  trinkt  ihr  Schniipschen  Branntewein. 
Und  als  sie  damit  fertig  war, 
Da  fing  sie  an  zu  turkeln. 
Da  kam  eine  grosse  Bubenschar. 
Die  schrieen  alle:    Anna,  o! 


;^=:!5rjr::iv::iirsr:j|^ 


^iz^^Jd 


-.-^-1 


— • — 0 — •- 


-ä—ä—i^—', 


19Sa.    Meine  Mutter  backt  Küchle, 
Sie  backt  sie  so  hart, 
Sie  schliesst  sie  ins  Schrilnkchcn 
Und  gibt  mir  nit  satt; 
Sie  gibt  mir  drei  Brocken 
Für  die  Hühner  zu  locken. 
Wenn's  mir  aber  nochmal  so  geht, 


Adjö,  Mama,  adjö,  Papa, 

Didel  di  didel  di  hopsasa! 

Doch  komm  ich  nicht  weiter  bis  über  die 

Brück, 
Da  nehm  ich  mein  Bündel  und  geh  wieder 

zurück. 
Zurück  zu  Mama,  zurück  zu  Papa, 


So  schnür  ich  mein  Bündel  und  sag  adjö:     Didel  di  didel  di  hopsasal 

Sarnsthal  i.  d.  Pfalz.  Im  Neustädter  Kreise  hörte  ich  aus  älterer  Zeit  ein  Bruchstück, 
das  anscheinend  zu  demselben  Liede  gehört: 

198  b.    Wenn  mich  meine  Mutter  noch  mal  so  pufft, 
So  nehm  ich  mein  Eiinzel  und  geh  in  die  Luft. 

Indes  erinnert  dies  auch  an  Böhme  470b  =  Rochholz  S.  300  Nr.  709.  —  Böhme  506, 
908  und  Nachtrag  ;j9  stehen  unserer  Fassung  nahe.  Z.  5  und  0  stammen  aber  aus  einem 
anderen  Liede,  das  ich  iu  rein  volkstümlicher  Gestalt  nicht  nachweisen  kann,  sondern  nur 
in  J.  Brahms'  Volkskinderliedern  (Nr.  3:  Ach,  mein  Hennlein,  bi  bi  bi);  dasselbe  Bruchstück 
findet  sich  in  einem  Quodlibet  bei  Müller  S.  223,  dem  Zusammenhange  nach  könnte  es 
-wohl  aus  unserem  Liede  genommen  sein.  Indes  zeigt  sich  dieselbe  Verbindung  wie  in 
unserem  Te.\t  auch  in  der  Fassung  des  Wuuderhorns,  Anhang  S.  81.  —  Sehr  entfernte 
Ähnlichkeit  im  Hauptthema  zeigt  Erk-Böhme  2,  lOUO;  der  zweite  Teil  der  Weise  findet 
sich  ebenda  2,  1004.  —  In  Weida  hörte  ich  um  1880  ohne  das  Einschiebsel,  nach  der 
Weise:    Kommt  ein  Vogel  geflogen: 


198  c.    Meine  Mutter  bäckt  Küchel, 
Sie  bäckt  sie  so  hart, 
Sie  schliesst  sie  ins  Schränkel 
Und  gibt  mir  nicht  satt. 


Da  nehm  ich  mein  llänzel 

Und  sage  ade: 

Ade,  liebe  Mutter, 

Wir  sehn  uns  nicht  mehr! 


414  Chalatianz: 

Id'.K   Meine  Mutter  hat  geset: 
Nehm  dir  keine  BauermCd, 
,  Nehm  dir  eine  aus  der  Stadt, 

"Wenn  sie  tausend  Talor  hat. 

Wfida,  <ler  erste  Reim  peliiirt   alicr    der  ilörflichcn  Mundart  au.     Sclihisszeile  auchr 
Wenn  .sie  auch  kein  Hemde  hat.    Vgl.  Drosihn  350,  Erk-Böhme  2.  785  b.    [Dähnhardt  Ij.'JO.J 

200.    Meine  Mutter  schickt  mich  her,  Jetzt  schlägt's  eins,  jetzt  schlägt's  zwei. 

Ob  der  Kaffee  fertig  war.  Musst  du  (Muss  ich)  in  der  Schule  sei. 

„Nein,  mein  Kind,  du  nuisst  noch  warten,  Fragt  der  Lehrer,  wer  ich  hin: 

Geh  derweile  in  den  Garten  "  Ich  bin  Jungfer  Eigensinn. 

Grossschwabhausen  in  Thüringen,  alt.     \Vei.se  durchgängig: 


■4- 


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z3jz:zm:ZßZS=:f:.-Lp—ßZl^  nur  Zeile  5: 


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-a— 3 1— 

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*- 

Vgl.  Schumann  43(;a  und  Gerhardt- Petsch,  oben  9,  i'Tl  Nr.  44.  Dort  wird  richtig 
vermutet,  dass  der  zweite  Teil  angeflickt  sei,  und  für  den  ersten  auf  Wegener,  Volks- 
tümlirhe  Lieder  S.  281,  Nr.  99.3  hingewiesen,  wozu  ich  noch  Böhme  19Gf.  (mit  Anhang 
Nr.  44)  und  498  =  Simrock  512,  Schumann  (UC.  angeben  kann.  |H.  Meyer,  Berliner  190-1 
S.  147  ur.  173:  „Amtmann  Bär.']  Den  Fortgang  zeigt,  in  anderen  Zusammenhang  gebracht, 
Müller  S.  205  Nr.  2  und,  vielleicht  in  ursprünglicher  Fassung  bis  auf  den  hineingedrnngenen 
Kaffee,  Schumann  43(3 b. 

Oberslein  a.  d.  Nahe. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Die  iranische  Heldensage  bei  den  Armeniern, 

^^aclitrag. 

Von  Bagrat  Chalatianz. 
(Vgl  oben  14,  35—47.     290—301.     385— 3S5.) 


'    Vorwort. 

(Rustems  mythische    und    historische  Gestalt.    Seine  Popularität   bei  den  Nachbarvölkern 
Die    Umarbeitung    der    iranischen    Sagen    auf    dem    fremden    Boden.     Die    Wege    ihrer 

Verbreitung.) 

Für  die  Wichtigkeit  auch  dieses  Naclilialls  der  iranisclieii  Heldensage 
sprechen  die  interessanten  Züge,  die  von  Finlousis  Erzälilungcn  abweichen 
oder  dort  überhaupt  fehlen.  Nochmals  möchte  ich  lu-touon.  dass  ilie 
Feder  des  berühmten  Dichters  von  Tüs  nicht  alle  Taten  der  persischen 
Helden  verewigt  hat.  Das  Umherziehen  des  halbwahnsinnigen  Rustem 
mit    dem  J^eichuam    seines  Sohnes,    das  wir    in    den    kaukasischen  Nach- 


Die  iranische  Heldensage  bei  den  Armeniern,  Nachtrag.  415 

klängen  der  persischen  Sage  finden  (oben  14,  38ü  f.,  nnten  Xr.  8),  ferner 
die  ßefreiuno'  des  von  dem  Divenkönig  bedrängten  Königs  von  Turän 
durch  Rüstern  und  dessen  Krönung  zum  Herrscher  von  Turän,  dies  alles  ist 
dem  Schöpfer  des  Schali-Nameli  völlig  fremd.  Auch  das  Zeugnis  des  Moses 
von  Chorene  über  Rüstern  Sagcik  bestätigt  dies  (oben  14,  38).  Aussei'- 
dera  lernen  vrir  hier  einen  gefährlichen  Gegner  des  Helden,  den  Riesen 
Salman  Snti,  kennen,  von  dem  auch  eine  kurdische  Sage  zu  erzählen 
weiss  (oben  14,  "29')— '298);  und  Rustems  Grossvater  Sam  erlebt  märchen- 
hafte Abenteuer  und  heiratet  zwei  Frauen  auf  einmal. 

Wenn  wir  auch  nicht  fe.ststellen  können,  auf  welches  Vorbild  die 
gewaltige  Gestalt  Rustems,  des  Haupthelden  von  Iran,  zurückgeht,  so 
finden  wir  doch  in  ihm  manche  Züge  mythischer  Helden  wieder. 
Seine  Riesenkraft,  sein  langes,  an  Unsterblichkeit  grenzendes  Leben, 
seine  Kämpfe  mit  Ungeheuern  stellen  ihn  dem  babylonischen  GilgameS 
und  dem  griechischen  Herakles  zur  Seite.  Seinen  Aufenthalt  in  der 
Grube,  wo  er  seinen  Tod  finden  sollte,  möchte  ich  auf  den  uralten 
Sonnenmythus  der  Babylonier  zurückführen.  Er  ist  eine  heilbringende 
Kraft,  gerecht'),  edel,  Befreier  des  Landes,  Anwalt  der  Unterdrückten, 
unbesiegbar  im  Kampfe,  welche  Eigenschaften  nach  dieser  Richtung 
allein  der  Sonnengottheit  eigen  sind.  Die  langjährigen  Kriege  zwischen 
Iran  und  Turän,  welche  die  Volksphantasie  zu  regem  Schaffen  spornten, 
vereinigten  die  Helden  des  weiten  Landes  in  einem  harmonisch  zu- 
sammengefügten Epos.  So  entstand  ja  auch  das  Epos  der  (Triechen.  In 
diesen  Kriegen  tritt  die  Persönlichkeit  Rustems,  des  Herrschers  von 
Sehistän,  in  den  Vordergrund,  er  wird  zum  Haupthelden,  der  jede  Schlacht 
entscheidet  und  das  feindliche  Heer  in  Entsetzen  bringt.  Je  mehr  der 
mythische  Besieger  des  'Weissen  Div'  als  'Fürst'  auf  historischen  Boden 
gerückt  wird,  desto  mehr  wird  seine  ursprünglich  fabelhafte  Persönlichkeit 
als  unbesiegbare  Stütze  des  Landes  nationalisiert.  Es  war  Firdousi, 
der  den  rohen,  hochmütigen,  mit  Ungeheuern  kämpfenden  Pehlevan  des 
Altertums  veredelte,  vervollkommnete  und  zum  Nationalhelden  erhob. 
In  dieser  Umformung  drang  Rustems  Gestalt  dann  über  die  Grenzen 
seines  Landes  hinaus  und  lebte  in  den  Sagen  der  Nachbarvölker  fort. 
Die  Kurden  z.  B.  kennen  ganze  Stücke  aus  Firdousi  auswendig,  und  die 
Ai'menier  entnehmen  ihnen  manches,  das  sie  in  Prosa  weiter  fortpflanzen. 
Doch  auch  in  anderen  Fassungen  waren  Rustems  Taten  seit  alters  den 
fremden  Stämmen  wohlbekannt,  und  er  behauptete  auch  hier  sein  hohes 
Ansehen  als  mythischer  Held  und  als  iranischer  Pehlevan,  wenngleich  er 
begreiflicherweise  in  manchen  Gegenden  durch  einen  anderen  Recken 
verdrängt    oder    ganz    vergessen    ward.     Wenn  nun  hier  nur  einzelne  un- 


1)  Samas  (Sonne)  wird  stets  bei  den  ßabyloniern    als  'Richter  des  Himmels  und  der 
Erde'  bezeichnet. 


416  Chalatianz: 

verbundene  Abenteuer  Kustcms  bekannt  sind,  obwohl  Firdousi  sein  ganzes 
Leben  im  Zusammenhang  dargestellt  hatte,  so  ist  der  Grund  dafür  nicht 
allein,  dass  diese  Sagen  von  Hause  aus  auch  stückweise  zu  den  >'achbar- 
völkern  übergingen,  sondern  es  kommt  auch  die  prosaische,  freie  Über- 
lieferungsart bei  den  Armeniern  und  den  kaukasischen  Stämmen  in 
Betracht,  welche  den  engen  Verband  der  Teile  des  Epos  leicht  auflöst. 

Die  Übernahme  des  Sagenstoffes  ging  natürlich  auf  dem  fremden 
Boden  nicht  ohne  manche  Umwandlung  und  Änderung  vor  sich.  Dem 
(ieschmack,  dem  Verständnis  und  den  Anschauungen  des  Volkes  gemäss, 
ward  die  eingewanderte  Sage  mit  neuen  Einzelheiten  ausgeschmückt; 
namentlich  gingen  die  iranischen  Helden  in  der  neuen  Heimat  ihrer 
Herkunft  verlustig,  indem  sie  nationalisiert  wurden  und  in  die  Reihen  der 
einheimischen  Recken  als  deren  Blutsverwandte  eintraten.  So  wird  Zal 
in  einer  armenischen  Fassung  König  von  Sassun  und  Bruder  des  arme- 
nischen Nationalhelden  David  genannt  (oben  14,  "290);  eine  andere 
Version  nennt  Rustem  als  Vater  des  Mher  (unten  Nr.  2,  2),  der  sonst  Sohn 
des  David  ist  (s.  oben  12,  2B9);  der  Kampf  zwischen  dem  Vater  und  seinem 
unerkannten  Sohn  nimmt  hier  kein  tragisches  Ende;  «lie  Kurden  wissen 
auch  von  den  Taten  der  Söhne  Rustems,  Atambji  und  Düro.  zu  berichten 
(Nr.  3,  3).  Die  Osseten  endlich  lassen  Rustem  und  seinen  Bruder  Beza 
(sie)  einmal  ans  dem  Geschloehte  der  Dar(>dzanon,  ein  andermal  aus  dem 
der  Sanuasen  stammen  (oben  M,  38'.)). 

Weiter  ist  die  Uuzuverlässigkeit  des  Erzählers  zu  beacliten,  der  Itei 
der  AVioderholung  der  Sagen,  die  er  von  seinem  Vater,  einem  bekannten 
Erzähler  im  Dorfe,  von  einem  wandernden  Asugen")  oder  einem  Fremd- 
ling gehört  hat,  völlig  von  seinem  Gedäclitnis  abhängig  ist.  Da  die 
Sagen  nicht  in  Vorsform  abgefasst  sind  und  iiiciit  gesungen  werden,  wie 
z.  B.  bei  den  Russen  die  'Byliuy'  (Geschehnisse)  oder  auch  teilweise  bei 
den  Kurden,  so  ändern  sie  sich  im  IVlunde  der  Cberlieferer.  Das  Ge- 
dächtnis lässt  den  Erzähler  öfter  im  Stich  und  veranlasst  Verstümmlungen 
der  Eigennamen,  wie  auch  des  Inhaltes  selbst.  So  nennt  eine  Fassung 
den  Rustem  'Turänier'  (oben  14,  385).  Sein  bekanntes  Uebesabenteuer 
mit  der  Tochter  dos  Ivöuigs  von  Semeugan  und  der  Kampf  mit  dem 
Sohn  werden  vielfach  auf  andere  iranische  Helden:  Burze,  Fahramaz, 
Bezan  (Bijen)  (oben  14,  -29'.)  f.  389),  teilweise  auch  auf  Siawus  (unten 
Nr.  10)  übertragen.  Ebenso  wird  Bijens  Liebe  zu  Jlenije,  der  Tochter  des 
Königs  Afrasiab,  auf  Burze  und  die  von  Div  geliebte  Mirdjane  Djaz<> 
übertragen  (Nr.  9).  Der  Streit  Rustems  mit  dem  König  Key-Käos  wird 
in  zwei  schönen  Sagen  (Nr.  7.  12)  anders  begründet.  Nicht  selten  flicht 
der   Erzähler    auch    Märclionmotiv(>    ein;    so    erlebt  Gathl  Galiramaii.    ein 

1)  So  hcissen  waiidurndc,  mit  dorn  'Saz'  (einem  siebonsaitipon,  guitarrenartigeii 
Instrument)  versehene  Volkssänger,  deren  Kepertoir  in  Märchen  und  historischen 
Liedern  besteht. 


Die  iranische  Heldensage  bei  den  Armeniern,  Nachtrag.  417 

Sohn  Eustems,  in  einer  psaviscbeu  Fassung  Abenteuer,  die  häufig  in 
Märchen  vorkommen  (oben  14,  301).  Ja,  die  gewaltige  Gestalt  des  Helden 
verblasst  einmal  zu  einem  geschworenen  Prauenfeinde  (Nr.  4).  Eustems 
Sippschaft  löst  sieh  auf  verschiedene  Weise  anf:  ßurze  lieisst  oft  Sohn 
Eustems,  Bejan  (Beza  usw.)  bald  Bruder,  bald  Neffe  Eustems,  während 
jener  nach  der  persischen  Quelle  Sohrabs  Sohn  und  dieser  Givs  Sohn 
und  Eustems  Enkel  ist. 

,  Endlich  werden  die  Eigennamen  mannigfach  verstümmelt;  am  reinsten 
sind  erhalten  Eostani,  Eöstam,  Estam,  Estami  Zal,  Eostomela  (=Eustem'); 
Bejan,  Began,  Bego,  Yjan,  Beza,  Bezan  (=  Bijen);  Frazam,  Faramerz, 
Peramaz,  Fai'araaz  (=  Fahramaz);  Burze,  Burzi,  Bi'zo,  ßrzu  (=Barzu); 
ziemlich  verdorben  ist  Marudjan,  Maxmaridjan,  Mirdjane  Djazo  (=  Jlenije). 
Die  Namen  der  Könige  von  Iran  und  Turän  sind  bis  zur  Unkenntlichkeit 
verdreht:  Qeavgebad  (=  Key  Kobad),  Qev  Xosra,  Qeaxsir,  Qeavxsir 
ihn  Baraq  (  =Key  Xosrau),  Qaiqavüz,  Kevz,  Kekevoz  (=  Key  Käos), 
Alfasyan,  Alvasya,  Alfasya  üaba  Fisa,  Afrosuap  (=  Afrasiab).  Die  geo- 
graphischen Namen  fehlen  begreiflicherweise  fast  gänzlich;  durch  die 
grosse  Entfernung  entschwanden  sie  leicht  dem  Gedächtnisse  und  wurden 
durch  blosse  Gattungsnamen  (Land,  Stadt,  Fluss  usw.)  ersetzt.  Ausser 
Qeabl  (Kabul),  Astarx  (Istaxr)  und  Zahl  (Zabulistän)  sind  die  Orts- 
bezeichnungen meist  einheimisch  (Kafkufa  =  Kaukasus,  Narti,  Abraset, 
Karaia,  Sassuu,  Poladi  Darband,  Karadag  usw.). 

Dem  Inhalte  nach  lassen  sich  die  bei  ilen  oben  genannten  Völkern 
verbreiteten  Sagen  in  wenige  Grujipen  zusammenfassen;  die  beliebtesten 
Episoden  des  Schah-Nameh  sind:  1.  Das  Liebesabenteuer  Eustems  mit 
der  Tochter  des  Königs  von  Semengän  und  sein  verhängnisvoller  Zwei- 
kampf mit  seinem  Sohn  Zohrab,  wobei  der  Krieg  zwischen  Iran  und 
Turän  entweder  ganz  fehlt  oder  nur  nebenher  erwähnt  wird.  2.  Der 
Zank  Eustems  mit  Key-Käos,  verbunden  mit  dem  Einfall  der  Turänier 
und  deren  Vertreibung  aus  dem  Laude.  3.  Der  Kampf  Eustems  mit  dem 
Eiesen  Salman  Suti  (wahrscheinlich  iranischen  Ursprungs).  4.  Einige 
dunkle  Spuren  des  Kampfes  Eustems  mit  dem  (Weissen)  Diven  und 
5.  mit  Isfendiar,  der  hier  oft  Gan  Pile  oder  Gan  Poläd  (Eiserner  Körper) 
genannt  wird.  6.  Eustems  Sturz  ia  die  Grube,  die  der  böse  Cegal  ihm 
gegraben  hatte,  wobei  der  Held  von  seiner  Mutter  gerettet  wird  (!). 
7.  Sehr  populär  ist  Bijens  Liebesabenteuer  in  Turän,  welches  in  mannig- 
fachen Versionen  vorkommt.  8.  Endlich  überliefert  eine  Sage  die  Er- 
mordung   des    nach  Turän    geflüchteten  Kronprinzen  Siawus').     Von  dem 

1)  Eustem  ist  als  Eigenname  bei  den  Persern  und  bei  den  in  deren  Nachbarschaft 
■wohnenden  Armeniern  sehr  verbreitet. 

2)  Eine  Gruppe  für  sich  bilden  die  Sagen  von  Burze,  in  denen  ausser  Bijens  und 
Menijes  Liebesgeschichte  noch  fremder  Stoff  aus  anderen  Sagen  und  Märchen  zugeflossen 
ist.  Daher  scheint  es  mir  bedenklich,  diese  für  original  oder  auch  für  verwandt  mit  dem 
Barzu-Nameh  zu  halten. 


418  Chalatianz: 

teuflischen  Dahak,  der  bei  den  alten  Armeniern  unter  dein  Namen- 
Ajdaliak  bekannt  war,  und  von  dem  eine  der  schönsten  Partien  des 
Sfhah-Nameh  handelt,  wissen  unsere  Sagen  nichts  zu  berichten:  ebenso- 
wenig von  den  Abenteuern  Zals,  der  eine  ziemlich  unbedeutende  Rolle- 
spielt. Nur  weniges  wird  von  Isfendiar  erzählt,  den  Firdousi  dem 
Rüstern  als  dessen  ebenbürtigen  Nebenbuhler  gegenüberstellt:  waiirscliein- 
lich  sind  seine  Abenteuer,  die  viel  Ähnlichkeit  mit  denen  Rustems  haben,, 
auf  diesen  übertragen  worden,  der  auf  die  Yolksphantasie  einen  stärkeren 
Eindruck  gemacht  hatte. 

Der  Übergang  der  iranischen  Sagen  zu  den  Naclibarvulkern  war  nicht 
immer  unmittelbar.  Die  alten  Armenier,  welche  nicht  nur  geographisch, 
sondern  auch  politisch  und  kulturell  mit  den  Persern  eng  verknüpft 
waren,  empfingen  diese  Erzählungen  direkt  und  flochten  sie  in  den  Kreis 
ihrer  Nationalmythen  ein,  wie  die  Legende  von  liiurasji  Ajchihak  und  von 
ilessen  Besieger  Tigranes  zeigt  (oben  14,  86 — 38). 

Die  Zeit  und  der  Einfluss  des  arabischen  Märchenschatzes  verdrängten 
diese  Sagen  aus  dem  Gedächtnis  des  Volkes,  das  heut  seine  Kenntnis  von 
Rustami  Zal  in  Aderbeidjän,  der  Grenzprovinz  Persiens,  wieder  direkt 
aus  ])ersischer  Quelle  oder  aus  den  stückweisen  Bearbeitungen  der 
Kurden  entnimmt.  Für  diese,  die  zum  Teil  in  Persien  am  Urumiasee 
und  in  der  anstossenden  Provinz  der  Türkei  hausen,  standen  die  Türen 
des  iranischen  Sagenschatzes  stets  offen.  Doch  schmücken  die  poetisch 
sehr  begabten  Kurden  den  fremden  Stoff  oft  mit  eigenen  Zügen  aus.  So 
fügen  sie  an  die  Erzählung  von  Rustem,  den  seine  .Mutter  aus  der  Grube 
zieht,  nachdem  er  den  heimtückischen  Cegal  samt  dem  Baum  mit  einem 
Pfeilschuss  durchbohrt  hat,  noch  neue  Verse  an  (nuten  Nr.  2,  4).  Auf 
einem  anderen  Wege  ist  das  iranische  Epos  nordwärts  zu  den  kaukasi- 
schen Stämmen  gedrungen.  Wenngleich  sicii  hier,  Herodot  zufolge,  die 
persische  Herrschaft  schon  unter  Artaxerxes  I.  geltend  machte,  so  kamen 
doch  später  nach  armenischen  und  arabischen  Berichten  die  Alauen, 
Xazaren  und  andere  im  Nordosten  des  Kaukasus  hausende  turko-tatarische 
Horden  auf  dem  Kriegspfad  in  enge  Berührung  mit  den  Persern,  weini 
sie  bis  nach  Aderbeidjän  und  Ostarmenien  hineindrängen.  Die  auf 
diesem  Wege  zu  den  Osseten,  Imercten,  Svaneten,  Psaven  und  anderen 
kaukasischen  Bergstämmen  gelangten  iranischen  Sagen  wurden  von  den- 
selben Horden  weiter  nach  den  südrussischen  Steppen  gebracht,  wo  sie^ 
mit  den  russischen  Volkssagen  des  Wladimir-Zyklus  verwuchsen.') 


1)  Eingehend  handelt  darüber  Wsevolod  Miller,  Exkurse  in  das  Gebiet  des  russischen 
Yolksepos  (Moskau  1892).^ 


Die  irauische  Heldensage  bei  den  Armeuiern,  Nachtrag.  4111 

1.  Rostom  und  Salmau.') 

Salman  war  ein  Riesenheld,  gross  wie  ein  Berg;  sein  Name  erschreckte 
jeden,  der  ihn  hörte.  Am  anderen  Ende  der  Welt  lebte  Zal,  dessen  Sohn  der 
tapfere  Rostom  war.     Zal  allein  zahlte  dem  Salman  keinen  Tribut. 

Einst  bestieg  Zal  sein  Ross  und  zog  aus,  um  Salman  kennen  zu  lernen. 
Xach  langer  Reise  begegnete  er  einem  Riesen,  der,  eine  Pfeife  so  gross  wie  ein 
Schloss  rauchend,  an  ihm  vorüberritt,  ohne  ihn  zu  beachten.  Das  rechnete  Zal 
sich  zur  Schande  und  schleuderte  seinen  Speer  auf  den  Reiter;  dieser  kehrte  um, 
ergriff  ihn  am  Hals,  band  ihn  unter  sein  Ross  und  ritt  weiter.  Bei  einer  Quelle, 
wo  ein  Zelt  für  ihn  aufgeschlagen  war,  machte  er  Halt,  nagelte  Zals  Ohr  an  eine 
Säule  des  Zeltes  und  schlief  ein.  „Er  sagte  mir  nicht  einmal  seinen  Xamen,  wer 
er  sei,"  dachte  Zal.  Als  der  Riese  erwachte,  fragte  er:  „Bursch,  wer  bist  du?" 
„Ich  bin  aus  dem  Lande  des  Zal,"  erwiderte  dieser,  der  ihm  vor  Angst  seinen 
Namen  nicht  zu  nennen  wagte.  Der  Riese  befreite  sein  Ohr  und  entliess  ihn  mit 
den  Worten:  „Geh,  sage  dem  Rostom,  dem  Sohn  des  Zal,  er  solle  kommen  und 
sich  mit  mir  in  einem  Zweikampfe  messen,  um  zu  entscheiden,  ob  es  ein  oder 
zwei  Helden  auf  der  Welt  geben  soll!     Ich  bin  Salman." 

Seufzend  kehrte  Zal  heim.  Rostom  sprach:  „Rostom  ist  dein  Sohn,  und  du 
seufzest?"  Da  erzählte  Zal  sein  Abenteuer  mit  Salman.  Der  Held  nahm  seinen 
Neffen  Vjän  mit,  und  beide  verkleideten  sich  als  Derwische.  Rostom  hinterliess 
die  Weisung,  wenn  sein  Ross  Nachsebalag  mit  dem  Huf  die  Erde  scharren 
werde,  so  solle  man  seine  Rüstung  darauf  binden  und  es  freilassen.  Vjän  besass 
eine  ungeheuere  Stimraenkraft;  wenn  er  im  Osten  schrie,  hörte  man  ihn  im 
Westen.  Beide  Helden  nahmen  nun  ihren  Weg  durch  das  Land  der  Divs,  indem 
bald  Rostom  einen  Div  als  Keule  ergriff  und  mit  ihm  die  übrigen  erschlug,  bald 
Vjän  durch  sein  Geschrei  die  Argen  in  die  Flucht  trieb.  Sie  begegneten  einem 
geflügelten  Div,  der,  ein  Mädchen  in  den  Klauen  haltend,  durch  die  Luft  flog. 
Vjän  schrie,  Rostom  schleuderte  einen  Berg  nach  ihm,  und  der  erschrockene 
Böse  Hess  sein  Opfer  los.  Rostom  brachte  die  befreite  Jungfrau  (eine  Königs- 
tochter) zu  ihrem  Vater,  der  ihn  mit  seinem  Reisegefährten  bewirtete.  Plötzlich 
geriet  die  ganze  Stadt  in  Verwirrung;  es  kam  Salman,  um  den  Tribut  für  sieben 
Jahre  zu  holen;  der  aber,  der  den  Tribut  dem  Riesen  brachte,  ward  von  ihm 
weggeführt  und  umgebracht.  Vjän  erbot  sich,  die  Abgabe  zu  überbringen. 
Rostom  hörte  im  Traume  das  Geschrei  des  Vjän:  „Beeile  dich,  Rostom!  Salman 
hat  mich  entführt."  'Der  Held  erwachte;  Nachsebalaq  war  schon  da.  In  einem 
Augenblicke  war  er  in  Salmans  Schloss,  wo  er  Vjän  gebunden  fand.  Beide 
Recken  schritten  nun  zum  Kampf;  von  ihrem  gewaltigen  Ansturm  zerbrachen  die 
Speere;  da  stiegen  sie  von  den  Rossen  und  wurden  handgemein.  Und  sie 
kämpfen  noch  heute.  Von  dem  gewaltigen  Ringen  der  Helden  entsteht  das  Erd- 
beben, dann  hört  man  auch  Vjäns  Stimme  aus  der  Erdtiefe. 

2.  Kostam.-) 

1.  Rostam  und  Salman  Snti.     Zal  zog  zur  Jagd  nach  dem  Berg  Kafkufa.^) 
Dort  begegnete  er  einem  Riesen  auf  einem  Ross,   den  er  mit  seinem  Streitkolben 


1)  Veröffentlicht  vom  Bischof  G.  Sruanztiauz  in  seiner  Sammlung  'Mit  Geschmack 
und  Geruch'  (Konstantinopel  1884,  S.  201—204)  ohne  Nennung  des  Erzählers. 

2|  Die  Nr.  2-ü  sind  von  S.  Haikuni  1904  veröffentlicht  (Eminsche  ethnographische 
Sammlung,  hsg.  von  dem  Lazarewschen  Institut  der  orientalischen  Sprachen  in  Moskau 
.%  :3— 60:  'JVrmenisch-kurdische  Sagen').  Der  Erzähler  von  Nr.  2  ist  Petros  Vertoyan  aus 
Moks  (südlieh  vom  Wansee). 

3)  Gemeint  ist  wohl  der  Kaukasus,  der  im  Volke  auch  Kavkav  genannt  wird. 


420  Chalatianz: 

von  hinten  angrilT;  dieser  beugte  sich  bei  Seite  und  bat  den  Recken,  ihn  in  Ruhe 
zu  lassen.  Als  er  aber  sah,  dass  er  zum  zweiten  und  dritten  Male  verräterisch 
angegriffen  wurde,  packte  er  Zal  wie  ein  Kind  und  legte  ihn  unter  sich:  ^Ich 
will  dich  freilassen,  da  du  ein  armseliger  Mensch  zu  sein  scheinst,  wenn  du  den 
Iranier  Rostam  sendest,  dass  er  mit  mir  kämpfe.  Ich  bin  Salman  Snti,"  sagte  der 
Riese.  Zal  versprach  dies,  kehrte  traurig  heim  und  blieb  sieben  Jahre  im  ge- 
schlossenen Zimmer  sitzen,  bis  Rostam  herangewachsen  war.  Als  der  junge  Held 
Tom  Vater  erfuhr,  was  diesem  geschehen,  zog  er  mit  seinem  Xelfen  Pejün  aus, 
nachdem  er  zu  Hause  geboten  hatte,  ihm  sein  Ross  Aschari  Balaq  mit  seinen 
AVaffen  nachzuschicken,  sobald  es  mit  dem  Huf  die  Erde  scharren  werde. 
AVährond  Rostam  bei  einer  Quelle  einschlief,  erschlug  der  bei  ihm  wachende  Pejän 
zwanzig  Divs;  die  übrigen  zwanzig  töteten  sie  in  ihrem  Hause;  ihre  Schwester 
nahm  Pejän  zur  Frau;  sie  hiessen  jedoch  das  Mädchen  bis  zu  ihrer  Wiederkehr 
zurückbleiben.  In  einem  Dorfc  angekommen,  fanden  sie  dort  grosse  Verwirrung; 
die  Leute  des  Salman  Snti  waren  erschienen,  um  Tribut  zu  holen.  Rostam  er- 
schlug einige,  die  übrigen  trieb  er  fort  mit  den  Worten:  „Geht,  sagt  dem  Salman, 
er  solle  zum  Kampf  mit  Rostam  kommen!"  Salman  eilte  mit  seinen  Pehlevanen 
und  seiner  Schwester  nach  dem  Kampfplatz;  zuerst  sollte  PejTin  kämpfen:  er 
ward  aber  von  mehreren  Recken  angegrifTen  und  zu  Boden  geworfen;  du  rief 
Salmans  Schwester,  man  solle  ihn  in  ihr  Zelt  bringen,  damit  sie  ihn  selbst  töte, 
und  rettete  so  den  Helden  vom  sicheren  Tod.  l>er  Jüngling  aber  gewann  das 
Herz  der  Schönen,  und  sie  schonte  sein  Leben  und  verbarg  ihn  bei  sich.  Nun 
schritten  Salman  und  Rostam  zum  Kampf,  nachdem  Aschari  Balaq  mit  der 
Rüstung  vor  seinem  Herrn  erschienen  war;  bald  aber  stiegen  die  Streiter  von 
ihren  Rossen  und  wurden  handgemein.  Der  laute  Ruf  Pejäns,  der  dadurch  seinem 
Oheim  ein  Lebenszeichen  geben  wollte,  mehrte  die  Kraft  des  Helden,  er  über- 
wältigte Salman  und  trennte  ihm  den  Kopf  vom  Rumpfe.  Darauf  heiratete  er  die 
Schwester  des  Riesen  und  verliess  sie  nach  einiger  Zeit  mit  dem  Auftrag,  falls 
sie  einen  Sohn  gebäre,  solle  sie  ihm  seinen  Armring  an  den  Arm  binden. 

2.  Rostam  und  Mher.  Dem  Helden  wurde  ein  Sohn  geboren,  den  die 
Mutter  Mher  nannte.  Der  Knabe  zeichnete  sich  durch  ungewöhnliche  Kraft  aus. 
Als  seine  Altersgefährten  ihm  einst  vorwarfen,  er  habe  keinen  Vater,  zog  er  aus, 
seinen  Vater  zu  suchen.  Er  traf  ein  Heer,  das  im  Kampf  mit  Rostara  begriffen 
war,  und  schloss  sich  ihm  an.  Der  Entscheidungskampf  fiel  Rostam  und  seinem 
unerkannten  Sohne  zu;  drei  Tage  dauerte  ihr  Kampf,  endlich  besiegte  Rostam 
den  Gegner  und  wollte  ihm  schon  den  Todesstreich  versetzen,  als  er  an  dessen 
Armband  seinen  eigenen  Sohn  erkannte.  Beide  erschlugen  nun  die  Feinde  und 
kehrten  heim. 

•">.  Rostam  und  Djanpilr.  Der  aus  Eisen  geschmiedete  Djanpilr,  dessen 
Augen  von  Fleisch  waren,  schlug  dem  Rostam  täglich  3tiG  Wunden,  die  dieser 
mit  Hilfe  eines  Balsams  heilte.  Da  versammelte  Rostam  seine  Pehlevanen  und 
fragte  sie  um  Rat;  diese  schlugen  den  'Salomo'  auf  und  lasen  darin,  Djanpilö  sei 
ganz  von  Eisen,  der  Held  solle  zwei  Pfeile  anfertigen  und  seinem  Gegner  vor  dem 
Kampfe  zurufen:  , Zeige  mir  deine  Augen!  Dann  schlagen  wir  uns."  Als  nun 
DjanpilG  auf  Rostams  Forderung  ihm  seine  Augen  zeigte,  durchbohrte  er  sie  mit 
seinen  Pfeilen  und  tötete  den  Riesen. 

4.  Rostam  und  Tsegal.  Tsegal  war  Rostams  Feind.  Er  grub  auf  dem 
Kampfplatz  eine  Grube  40  m  tief,  40  m  lang,  und  bedeckte  sie  mit  Holz.  Dann 
bat  er  Rostam,  ihm  den  Gang  seines  Rosses  zu  zeigen.  Nichts  Böses  ahnend, 
ritt  der  Hold  über  den  Kampfplatz;  doch  das  kluge  Ross  witterte  die  Gefahr  und 


Die  iranische  Heldensage  bei  den  Armeniern,  Xachtrag.  421 

blieb  vor  der  Grube  stehen;  als  sein  Herr  die  Sporen  gebrauchte,  übersprang  es 
diese;  beim  zweiten  Male  aber  stürzte  es  in  die  Grube.  Da  nahm  Rostam  seinen 
Bogen  und  nagelte  Tsegal  mit  einem  Pfeile  an  den  Baum;  der  Pfeil  durchbohrte 
den  Verräter,  den  Baum,  den  Berg  Kafkufa  und  flog  bis  in  das  Land  der  Turanier. 
Vergebens  versuchte  man  den  Helden  aus  der  Tiefe  zu  befreien;  da  rief  Rostam 
seine  Mutter,  die  ihre  Haare  hinabliess  und  den  Sohn  herauszog.  Der  Held  sang 
sein  'Loblied'  (kurdisch): 

Den  Baum  und  den  Tsegal  und  den  Felsen  auch. 

So  war  der  Kustami  Zal. 

Er  lebte  'Xt'<  Jahre, 

Er  ist  noch  klein  wie  ein  Kind; 

Die  Mutter  nahm  ihn  auf  ihi-en  Busen  und  brachte  ihn  nach  Hause. 

3.  Rostam  und  seine  Enkel.') 

1.  Rostam  und  Asfandiar.  Als  Rostam  in  Not  war,  befahl  ihm  Gott  im 
Traume,  einen  Zügel  anzufertigen  und  ihn  ins  Meer  zu  werfen;  er  tat  dies,  und 
aus  den  Wellen  stieg  das  Feuerross  Rachsi  Balaq  empor,  das  er  heim- 
führte. 

Dem  Pamath  Schah  gebar  die  jüngste  seiner  40  Frauen  einen  Sohn,  der 
Asfandiar  genannt  wurde.  Der  König  versprach  seinen  Thron  dem,  der  Rostam 
mit  gebundenen  Händen,  barfüssig,  die  Schuhe  mit  Erde  gefüllt  um  den  Hals 
gehängt,  zu  ihm  bringe.  Asfandiar  erbot  sich  dazu  und  zog  aus.  Aber  Zittern 
ergriff  ihn,  als  er  sah,  wie  Rostam  einen  wilden  Ochsen  in  einer  Hand  über  das 
Feuer  hielt  und  briet.  Um  die  Kraft  des  Gegners  zu  prüfen,  rollte  Asfandiar 
einen  Pelsblock  vom  Berge  herab,  den  der  Held  aber  mit  einem  Fuss  zum  Stehen 
brachte.  Darauf  forderte  ihn  der  Königssohn  auf,  sich  ihm  zu  ergeben.  Rostam 
war  bereit,  ihm  zu  folgen,  wollte  aber  seine  Hände  nicht  binden  lassen;  und  es 
entspann  sich  ein  Kampf,  der  sieben  Tage  dauerte.  Zal  sah,  dass  der  Stern 
seines  Sohnes  sich  verfinsterte,  erkannte  daraus  seine  Gefahr  und  eilte  zu  Rostam, 
den  er  hart  bedrängt  fand.  „Wie  kannst  du  mit  ihm  kämpfen,  da  sein  Körper 
von  Eisen  ist!"  rief  er  dem  Sohne  zu.  Auf  den  Rat  seines  Vaters  verfertigte  der 
Held  aus  einem  besonderen  Holz  zwei  Pfeile,  und  als  Asfandiar  ihm  auf  seine 
Bitte  sein  Gesicht  zeigte,  durchstach  er  seine  Augen  mit  den  Pfeilen.  Der  er- 
blindete Held  bat  nun  seinen  Gegner,  ihm  ein  Haus  mit  einer  Säule  in  der  Mitte 
zu  bauen;  als  er  aber  [wie  Simson]  diese  ergriff  und  umriss,  um  so  Rostam  um- 
zubringen, sprang  Rostam  durch  die  offene  Tür  hinaus,  während  Asfandiar  drinnen 
sein  Ende  fand. 

2.  Rostam  und  Tsegal.  Pamath  Schah  fordert  T.segal  auf,  seinen  ihm 
verhassten  jüngeren  Bruder  Rostam  umzubringen;  er  lässt  daher  eine  Grube 
graben,  in  der  ein  Spiess  aufgerichtet  wird,  und  diese  mit  Kraut  bedecken.  Auf 
Tsegals  Bitte  reitet  nun  Rostam  seinen  Rachsi  vor  und  stürzt  in  die  Grube,  so 
dass  der  Spiess  ihm  das  Herz  durchbohrt;  Rostam  sieht  sein  Ende  nahe  und 
bittet  Tsegal  um  seinen  Bogen,  um  sich  vor  den  Vögeln  zu  schützen,  und  nagelt 
mit  einem  Pfeilscliuss  den  Verräter  an  den  Baum,  hinter  dem  er  sich  zu  ver- 
bergen sucht. 


1)  Der  Erzähler  ist  Vardan  Martirosian,  eiu  Landmann,  der  längere  Zeit  in  Wan 
lebte.     Die  Sage  wird  bei  den  Kurden  an  einigen  Stellen  gesungen. 


422  Chalatianz: 

3.  Atarabji  und  Düro.  Pamath  Schah  liess  das  Geschlecht  Rostaras  ver- 
tilgen; nur  zwei  schwangere  Frauen  vermochten  sich  zu  retten,  deren  eine  im 
Gebirge,  die  andere  zwischen  den  sieben  Meeren  Zuflucht  suchte;  der  greise  Zal 
ward  in  eine  Grube  geworfen.  Die  erste  Frau  gebar  den  Düro,  die  zweite  dun 
Atambji,  zwei  wahre  Hecken.  Eines  Tages  kam  Atumbji  in  die  Stadt  des  Pamath 
Schah,  wo  er  nach  seiner  Heldengestalt  als  ein  Nachkomme  Rostams  erkannt 
und  zu  Zal  in  die  Grube  geworfen  wurde.  Einst  bat  die  Königstochter  ihren 
Vater,  den  Recken  zu  ihr  zu  schicken,  sie  wolle  zur  Rache  für  ihren  Bruder 
Asfandiar  sein  Blut  trinken.  Die  Begleiter  des  Helden  machten  unterwegs  halt 
und  schliefen  ein;  zufällig  ging  Düro  vorbei,  sah  den  gebundenen  Pehlevanen  und 
erfuhr  von  ihm,  wer  er  war;  darauf  erschlugen  beide  Brüder  die  Wächter  und 
kehrten  zu  ihren  Müttern  heim.  Diese  wiesen  sie  an  Rostams  treuen  Vasallen 
in  Mesr,  mit  dessen  Hilfe  sie  an  Pamath  Schah  Rache  nehmen  könnten.  Unter- 
wegs begegneten  die  Brüder  dem  weissen,  roten  und  schwarzen  Div,  Rostams 
Dienern,  und  nahmen  sie  mit.  Aus  Mesr  zurückkehrend,  umzingelten  die  Helden 
mit  ihrem  Heer  die  Stadt  des  Königs.  Da  legte  die  Königstochter  Männerkleider 
an,  nahm  ein  Kästchen  mit  Arznei  und  ritt  zum  Kampfplatz.  Sie  forderte  Atambji 
auf,  vor  dem  Kampfe  an  dem  Kästchen  zu  riechen  zum  Beweise,  dass  er  ihr 
standhalten  könne.  Als  der  Held  roch,  verlor  er  das  Bewusstsein,  ward  von  der 
Prinzessin  entführt  und  in  ein  Zimmer  eingesperrt.  Durch  eine  Alte  aus 
Rostams  Haus  befreit,  eilte  der  Recke  wieder  zum  Kampfplatze,  wo  er  die 
Königstochter  seinem  Bruder  gegenüber  fand;  mit  einem  Hieb  warf  er  sie  vom 
Pferde  auf  die  Erde  und  wollte  ihr  schon  den  Todesstreich  versetzen,  als  er  zwei 
weisse  Brüste  erblickte.  Dann  tötete  er  den  Pamath  Schah,  der  sich  im  Meer  zu 
bergen  suchte,  erschlug  sein  ganzes  Geschlecht  und  befreite  Zal  aus  seiner 
Grube. 

4.  Rostam  und  die  Frauen.^) 

Als  Zals  Sohn  Rostam  vom  König  von  Spahan  wegen  seiner  Heldentaten  aus 
dem  Hause  gestossen  wird,  begibt  er  sich  in  die  Fremde;  ihn  begleitet  seine 
Mutter,  die  aber  bald  heimlich  ein  Liebesverhältnis  mit  einem  Div  anknüpft. 
Dieser  bewegt  sie  dazu,  den  Sohn  hinterlistig  zu  binden,  der  dann  vom  Div  ge- 
tötet wird.  Das  treue  Ross  bringt  den  Leichnam  seines  Herren  zu  einem  Alten, 
der  ihn  mit  Hilfe  des  'lebenden  Wassers  und  der  Pflanzen'  belebt,  die  einst  Rostam 
auf  Wunsch  seiner  Mutter  aus  dem  Garten  des  siebenköpfigen  Div  geholt  und 
die  der  weise  Alte  ihm  entwendet  hat.  Rostam  erschlägt  die  Mutter  samt  ihrem 
Buhlen  und  tut  das  Gelübde,  kein  weibliches  Wesen  zu  lieben,  das  mit  roher 
Milch  ernährt  sei.  —  Einem  armen  Manne,  bei  dem  Rostam  nachts  einkehrt,  wird 
ein  Mädchen  geboren,  das  der  Held  mitnimmt  und,  als  es  erwachsen  ist,  heiratet. 
Doch  die  Frau  bleibt  ihm  nicht  lange  treu;  durch  einen  Zauberspruch  haucht  sie 
einen  tiefen  Schlaf  von  einem  Monat  auf  ihn  und  bcgiebt  sich  zu  ihrem  Geliebten, 
einem  Div.  Das  zweite  Mal  aber  schläft  der  Held  nicht  ein,  sondern  folgt,  in  das 
Fell  eines  Hundes  gehüllt,  heimlich  seiner  Frau;  er  wird  aber  erkannt  und  von 
dem  Div  gebunden.    Nachts  bittet  Rostam  seinen  Sohn,  ihm  sein  Schwert  aus  den» 


1)  Der  Erzähler  ist  Davo  Aruthünian.  —  [Diese  drei  ncispiele  für  die  Treu- 
losigkeit der  Frauen  sind  auch  sonst  hckaunt:  al  die  treulose  Mutter  (R.  Köhler,  Kl. 
Sehr.  1,  :!03),  b)  der  vom  Buhler  gefesselte  und  vom  Sohne  gerettotc  Mann  (Liebrodit, 
Zur  Volkskunde  S.  42.  Oben  13,  149),  c)  der  Buhler  in  der  vom  Manne  getragenen  Kiste 
^Chauvin.  Hibl.  arabe  8,  nr.  24:  dazu  oben  15,  229).] 


Die  iranische  Heldensage  bei  den  Ariiieuiern,  Nachtrag.  4'2-^ 

Hause  zu  holen,  erschlägt  den  Div  samt  der  Frau  und  kehrt  mit  dem  Sohne 
heim.  —  Unterwegs  trifft  er  einen  Mann  mit  Frau  und  Kindern,  der  schon  sieben 
Jahre  eine  grosse  Kiste  auf  dem  Rücken  trägt.  Beim  Mahle  sieht  Rostam,  wie 
die  Frau  die  Kiste  heimlich  aufmacht  und  schnell  eine  Schüssel  voll  Speise 
hineintut.  Rostam  bietet  der  Frau  die  Hälfte  seines  Geldes,  wenn  sie  die  Kiste 
öffne;  als  sich  die  Frau  weigert  dies  zu  tun,  zertrümmert  er  die  Kiste  mit  einem 
Fussstoss,  und  ein  kräftiger  Jüngling  springt  heraus.  Sofort  begreift  der  Mann 
den  Sachverhalt  und  erschlägt  seine  Frau  samt  ihrem  Buhlen. 

5.  Bedjän.') 

Rostam  lebte  in  der  Stadt  Qaqavuz  mit  seinem  Neffen  Bedjän.  Einst  erbot 
sich  dieser,  den  Dieb  zu  fangen,  der  mehrmals  den  Obstgarten  einer  alten  Frau 
verwüstete.  Sein  Begleiter  Kiv,  der  sein  Pferd  halten  sollte,  ergriff  die  Flucht, 
als  er  das  Geschrei  des  nahenden  üivs  hörte,  und  rettete  sich  in  eine  Höhle,  aus 
der  ihn  Bedjän  herausholte.  Im  Zweikampfe  unterlag  der  Div,  ward  aber  vom 
Helden  verschont  und  übergab  zum  Danke  seinem  Besieger,  mit  dem  er  sich  ver- 
brüderte, einen  Büschel  seiner  Haare;  wenn  er  in  einer  Notlage  diese  anzünde, 
so  werde  er  ihm  zu  Hilfe  eilen. 

Bedjän  legte  sich  bei  einer  Quelle  bei  Spahan  nieder  und  schlief  ein.  Da 
ging  die  Königstochter  Maxmaridjän  mit  ihren  Dienerinnen  vorüber  und 
schickte  ein  Mädchen  Wasser  zu  holen;  dies  wurde  ohnmächtig,  als  es  die 
Schönheit  des  schlafenden  Helden  sah.  Nun  ging  Maxmaridjän  selbst  hin  und  nahm, 
von  Liebe  zum  unbekannten  Recken  hingerissen,  diesen  mit  sich.  Als  der  König 
das  erfuhr,  schickte  er  seine  Pehlevanen,  um  BedjTin  gefangen  zu  ihm  zu  bringen; 
aber  dieser  erschlug  sie  und  das  ganze  anrückende  Heer.  Am  nächsten  Tage 
setzte  er  den  Kampf  fort  und  blieb  Sieger.  In  Verzweiflung  lud  der  König 
den  Helden  zur  Mahlzeit  und  fragte  ihn,  womit  er  besiegt  werden  könne.  Als  er 
vernahm,  dass  nur  das  Haar  des  königlichen  Rosses  ihn  bändigen  könne,  Hess 
der  tückische  Fürst  ihn  wie  zum  Scherze  mit  diesem  Haar  binden  und  gebot,  ihm  den 
Kopf  abzuhauen.  Den  Henkern  tat  jedoch  der  tapfere  Recke  leid,  und  sie  warfen 
ihn  in  eine  Grube.  Auch  die  Königstochter  sollte  sterben,  doch  ward  sie  ebenfalls 
geschont  und  musste  halbnackt  umherziehen  und  durch  Betteln  Bedjän  und  sich 
ernähren. 

Rostam  erfahr  von  der  Gefangennahme  seines  Neffen  durch  einen  (in 
persischer  Sprache  verfassten)  Brief,  den  ihm  einige  'weise'  Leute  von  Maxmaridjän 
überbrachten.  Er  verkleidete  sich  als  Kaufmann  und  zog  mit  einer  Karaw-ane 
aus.  Auf  dem  Wege  nach  Spahan  traf  er  40  Divs,  unter  denen  sich  der  'Bruder' 
Bedjäns  befand;  diese  gaben  ihm  einen  Büschel  ihrer  Haare  mit  der  Aufforderung, 
sie  in  der  Xot  zu  Hilfe  zu  rufen  In  Spahan  angekommen,  bereitete  Rostam  ein 
Mahl  für  das  niedere  Volk.  Bedjän  erkannte  sofort  das  Essen,  das  ihm  Maxma- 
ridjän brachte;  denn  er  pflegte  dies  bei  seinem  Oheim  zu  essen.  Rostam  zündete 
den  Haarbüschel  der  Diven  an  und  eilte  zu  der  Grube,  aus  welcher  der  ein- 
gesperrte Held  von  seinem  Bruder- Div  herausgezogen  wurde.  Die  Stadt  wurde 
dem  Boden  gleich  geiuacht. 

Auf  dem  Heimwege  trafen  sie  den  Kiv,  den  Bedjän  im  Zweikampfe  mit  seinem 
.Speere  durchbohrte. 


1)  Erzählt  von  demselben  Davo  Arutliüuian. 


4-J4  Clialatianz:  Die  iranische  Heldensage  bei  den  Armeniern,  Nachtrag. 

6.  Sani.») 

Sam  war  der  Sohn  eines  Königs.  Einst  sandte  ein  heidnischer  Fürst  seirt 
Ross  Thurab  zu  seinem  Vater  mit  der  Aufforderung,  er  solle  entweder  es 
bändigen  oder  ihm  Tribut  zahlen.  Sam  ziiumte  es  und  zog  mit  ihm  auf  die  Jagd. 
Eine  Gazelle  verfolgend,  traf  er  in  einer  Höhle  eine  Alte,  bei  der  er  einkehrte; 
von  dem  Bild  einer  Schönen,  das  er  hier  erblickte,  entzückt,  entschloss  er  sich 
diese  um  jeden  Preis  zu  erlangen.  Die  Alte  riet  ihm,  er  solle  zuerst  sie  heiraten, 
dann  werde  er  die  Schöne  finden;  aber  Sam  wies  dies  Anerbieten  voll  Ekel  zurück. 
Auf  den  Rat  der  Alten  befreite  er  einen  Kaufmann  von  40  Räubern,  die  sich  ihm 
sofort  ergaben,  als  sie  seinen  Xamen  und  den  seines  Rosses  hörten.  Die  erneute 
Aufforderung  der  plötzlich  aufgetauchten  Alten  lehnte  der  Held  wiederum  ab  und 
schlug  den  Weg  nach  t^inimacin  (China)  ein,  wie  es  ihm  die  Alte  gebot,  und  er- 
legte unterwegs  einen  Div,  der  ihm  den  Weg  sperrte.  Am  Ziele  angelangt,  warb 
er  um  die  Hand  der  Königstochter  und  erlangte  auch  des  Königs  Zustimmung; 
allein  die  Mutter  wollte  ihre  Tochter  noch  nicht  fortgeben:  um  Sam  zu  verderben, 
stellte  sie  sich  krank  und  verlangte  zu  ihrer  Heilung  die  lieber  des  schwarzen 
Divs.  Der  Held  gewann  glücklich  dies  Heilmittel,  nachdem  er  eine  neue  Auf- 
forderung der  Alten  abgeschlagen  hatte.  Die  Mutter  verlangte  nun,  Sam  solle  den 
Drachen  töten,  der  seit  sieben  Jahren  in  der  Nähe  der  Stadt  hauste:  und  der  Held 
erlegte  den  Drachen.  Er  sollte  endlich  den  'Apfel  der  Unsterblichkeil'  aus  dem 
Lande  der  sieben  Divs  für  seine  Schwiegermutter  holen.  Die  Alte,  obgleich  von 
Sam  wieder  zurückgewiesen,  gab  ihm  einen  Rat,  durch  den  er  den  Zauberapfel 
gewann.  Als  er  sich  der  Stadt  näherte,  brachte  ihm  die  Alte  die  Kunde,  seine 
Braut  sei  gestorben.    Sara  wurde  ohnmächtig. 

Inzwischen  hatte  ein  Derwisch  Sams  Vater  verheissen,  seinen  vcrmissten 
Sohn  ausfindig  zu  machen.  Mit  Hilfe  eines  Divs,  des  treuen  Dieners  des  Helden, 
gelangte  er  zu  der  Stelle,  wo  dieser  noch  bewusstlos  lag.  Die  herannahende 
Gefahr  ahnend,  brachte  die  Alte  den  Helden  wieder  zum  Bewusstsein  und  gestand 
ihm,  die  Königstochter  sei  noch  am  Leben.  Sara  entführte  gewaltsam  seine  Braut 
und  kehrte  mit  dem  Derwisch  heim.  Als  er  die  erneute  Aufforderung  der  wieder 
aufgetauchten  Alten  zurückwies,  verwandelte  diese  sich  und  die  Königstochter  in 
Tauben  und  ilog  mit  ihr  fort.  Um  seine  Braut  wiederzufinden,  sollte  der  Held  in 
eisernen  Schuhen  und  einen  eisernen  Stock  in  der  Hand  die  Welt  durchwandern.') 
Eines  Tages  legte  er  sich  ermüdet  bei  einer  Quelle  nieder;  da  erschienen  zwei 
Tauben,  und  er  hörte  die  Stimme  der  Alten  fragen,  ob  er  sie  jetzt  heiraten  wolle. 
Sam  versprach  es,  und  sah  plötzlich  zwei  schöne  Jungfrauen  vor  sich,  die  er 
nicht  von  einander  unterscheiden  konnte.  Er  heiratete  beide  und  führte  sie  mit 
sich  heim. 

Leipzig. 


1)  Der  Erzähler  heisst  Sachö. 

2)  [Vgl.  R.  Köhler,  Kl,  Schriften  1,  31(i.  .jT3. 1 

(Schluss  folgt.) 


Bolte:    Bilderbogen  des  IG.  und  li.  Jahrhunderts.  425 

Bilderbogen  des  16.  und  17.  Jahrhunderts. 

Von  Johannes  ßolte. 


Da  es  mir  zweifelhaft  ist,  ob  ich  bald  zur  Ausführung  einer  lauo'e 
geplanten  Übersiclit  über  die  volkstümliche  Bilderdiclitung  der  älteren 
Zeit  gelangen  werde,  möchte  ich  einige  Stücke,  die  mir  der  Beachtung- 
wert  erscheineu,  lieber  schon  jetzt  den  Lesern  dieser  Zeitschrift  vor- 
legen.^) Leider  ist  es  aus  äusseren  Gründen  nicht  möglich,  jedesmal  der 
Bildbeschreibung  auch  eine  Reproduktion  beizugeben.  Sehr  erwünscht 
wäre  es,  dass  die  Bestände  unserer  öffentlichen  Bibliotheken  und  Museen  an 
solchen  Bilderdichtungen  durch  einen  nicht  bloss  kunstgeschichtlich,  sondern 
auch  literarhistorisch  geschulten  Faclunaun  aufgenommen  würden. 

1.  Die  Hasen  braten  den  Jäger. 

Im  Epilog  der  Flöhhaz  (1573)  zählt  Fischart"),  um  die  Daseins- 
berechtigung dieses  Werkchens  zu  erweisen,  eine  Reihe  von  Dichtungen 
auf,  die  gleichfalls  geringfügige  Stoffe  Ijehandeln: 

Wer  sieht  nicht,  was  für  seltzam  streit 
Vnser  Brieffraaler  malen  heut, 
85    Da  sie  führen  zu  Feld  die  Katzen 

Wider  die  Hund,  Mäuß  vnd  die  Ratzen  ? 
Wer  hat  die  Hasen  nicht  gesähen, 
AVie  Jäger  sie  am  Spiß  vuibdrähen, 
Oder  wie  wunderbar  die  Affen 


1)  Früher  veröffentlichte  ich:  Niederländische  Bilderbogen  des  IG.  Jahrhunderts 
(Tijdschrift  voor  uederl.  Taal-  en  Letterkunde  14,  119—103).  —  Bildergedichte  des  17.  Jahr- 
hunderts gesammelt  von  C.  Wendeler  (oben  lö,  27—45.  150— 1G5).  —  Bigorne  und 
Chicheface  (Archiv  f.  neuere  Sprachen  106,  1  —  18.  114,  80— 8G).  —  Niemand  (Jahrbuch 
der  Shakespearegesellschaft  iü,  9-'27.  90f.  Zs.  f.  vgl.  Litgesch.  9,  73-88).  —  Neidhart 
(oben  15,  14-27).  —  Doctor  Siemann  und  Dr.  Kolbraann  (oben  12,  296—307).  —  Zum 
Märchen  vom  Bauern  und  Teufel  (oben  8,  21 — 25.  11,  l'Gl).  —  Altweibermühle  (Archiv  f. 
neuere  Spr.  102,  241  -  253).  —  Zwei  böhmiscbe  Flugblätter  des  IG.  Jahrh.  (Archiv  f. 
slawische  Phil.  18,  126  —  137).  —  Zwei  Bildergedichte  von  Moscherosch  (Jahrbuch  f.  Gesch. 
Elsass-Lothringens  13,  165 — 170.  21,  1.59 f.).  —  Die  beiden  Nebenbuhler  zu  Colmar  (ebd. 
21,  156  —  159).  —  Zwei  Flugblätter  von  den  sieben  Schwaben  (oben  4,  430—437).  — 
Gedichte  auf  den  Pfennig  (,Zs.  f.  dtsch.  Altert.  48,  13 — 56).  —  Zwei  Bilderbogen  aus  der 
Reformationszeit  (Alemannia  25,  88  —  91).  —  Ein  Augsburger  Flugblatt  auf  den  Frieden 
zu  Rastatt  (ebd.  n.  F.  7,  289-291).  —  Soldatensegen  (Frey,  Gartengel&ellschaft  1896 
S.  184:  vgl.  G.  Liebe,  Der  Soldat  in  der  deutschen  Vergangenheit  1899  S.  97.  Alemannia 
11,  211.  Zs.  f.  Ost.  Vk.  5,  271).  —  Der  Krieg  zwischen  Katzen  und  Hunden  (Montanus, 
Schwankbncher  1899  S.  487).  —  Zwei  Bilderbogen  M.  Lindeners  (ebd.  S.  63G).  —  Satiren 
auf  verschiedene  Stände  (Wickiam,  Werke  5,  LXXXYI). 

2)  J.  Fischart,  Uer  Flöhhaz,  Abdruck  der  1.  Ausgabe  von  C.  Wendeler  1877  S.  67. 
Nach  der  2.  Ausgabe  von   1577  in  Fischarts  Werken  ed.  Hauff'en  1,  128  (1895). 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1907.  28 


426  Boltc: 

90    Des  Buttcukräniers  kram  betialTeny 
Vnd  andre  Prillen  vnd  sonst  grillen. 
Darnüt  heut  fast  das  Land  erfüllen 
Die  Hrieffmaler  vnd  Patronierer, 
Die  Laßbricfftrager  vnd  Hausierer? 

Unter  diesen  drei  Bilderbogen')  scheint  der  zweite  das  von  Hans 
Sachs  1550  verfasste  und  auf  einem  illustrierten  Folioblatte  Yeröffeut- 
lichte  Gedicht  'Die  hasen  fangen  vnd  praten  den  jeger'*)  zu  bezeichnen. 
Indes  ist  der  Gegenstand  schon  vor  Hans  Sachs  vielfach  bildlich  dar- 
gestellt worden.  Auf  Tonfiiesen  und  ^liniaturen  des  13.  bis  15.  Jahrh. 
erscheint  der  Hase,  hornblasend  auf  den  Jäger  Jagd  machend  oder  einen 
gefesselten  Hund  zum  Galgen  fahrend.')  Ein  von  den  Hasen  am  Spiesse 
gebratener  Jäger  figuriert  seit  Beginn  des  1(>.  Jahrh.  in  verschiedeneu 
durch  die  Nürnberger  Künstler  Nicolaus,  Albrecht  und  Georg  Glockendon 
illush-ierten  Gehetbüchorn*);  Cranach  malte  1549  "ein  Tuch,  da  die  Hasen 
die  Jäger  fahen  uud  braten';  Virgil  Solls  zeichnete  denselben  Gegenstand 
und  auch  Hirsche,  die  dem  Jäger  nachsetzen,  mit  der  Inschrift:  'Alle  ding 
verkhert  sich'  (Passavant  586);  Konrad  Saldörfer  Hunde,  die  von  Hasen 
o-eritten  werden.^)  Besonders  ausführlich  behandelten  diesen  Stoff  die 
Fassadenmalereien  eines  Wiener  Hauses,  das  von  Maximilian  I.  150;» 
dem  Haspelmeister  Friedrich  Jäger  verliehen  ward  und,  nach  einem  Brande 
um  1553  erneuert,  bis  zum  Jahre  1749  stand.")  Nach  den  erhaltenen 
Zeichnungen  war  auf  32  Feldern  dargestellt,  wie  der  auf  seinem  Throne 
sitzende  König  der  Hasen  den  Befehl  zur  Verfolgung  der  Jäger  und 
Hunde  erteilt,  wie  eine  Schlacht  geliefert  wird,  die  Gefangenen  von  den 
siegreichen  Hasen  heimgeführt  werden  und  den  Hasenkönig  um  ihr  lieben 


1)  Über  den  Streit  zwischen  Katzen  nnd  Hunden  vgl.  Montanas,  Scliwankbücher  1S99 
S.  487.  öüS;  über  den  Krämer  mit  den  Affen  II.  Sachs,  Fabeln  und  Schwanke  ed.  Goetzc 
2,  GS  nr.  220.  Meissner,  Archiv  f.  neuere  Spr.  Ö8,  242.  251.  Gö,  217.  Jlaeterlinck,  Le 
genre  satirique  dans  la  peinture  ilamande  11)07  p.  1G5.  242.  312.  D'AUemagiie,  I.cs  cartcs 
ä  jouer  1,  57  (190G). 

2)  H.  Sachs,  Fabeln  cd.  Goetze  1,  34G  nr.  128.  Mit  dem  Bilde  abgedruckt  in 
Scheibles  Kloster  1,  408  (ie46). 

;;)  Vgl.  oben  15,  158f.  Maeterlinck,  Le  genre  satirique  19it7  p.  1.5—17.  G:!.  Wander. 
Spricliwörterlexikon  2,  375:  'Der  Hase  würde  eher  den  Hund  jagen'.  Bergner,  Handbuch 
der  kirchlichen  Kunstaltertümer  1905  S.  ä72. 

4)  Gebetbuch  des  Kurfürsten  Albrecht  von  Mainz  1.024  in  Aschaffenburg,  Herzog 
Wilhelms  IV.  von  Bayern  1535  Bl.  54b  in  Wien,  Missale  von  1542  Bl.  7G  auf  der  Nürn- 
berger Stadtbibliothek  (Waagen,  Kunstwerke  in  Deutschland  1,  382.  Waagen,  Kunst- 
denkuiäler  in  Wien  2,  22.  Bredt,  Zs.  f.  Bücherfreunde  G,  484).  Messbuch  in  Pest 
(Wattenbach,  Archiv  f.  österr.  Geschichte  42,  513  und  Schriftwesen  im  Mittelalter'  1896 
S.  .".72').  Anzeiger  f.  K.  der  d  Vorzeit  1857,  217  Taf.  G  (Spielkarte)  =  D'Alleniagne,  Les 
cartcs  1,  44.    Notes  &  Queries  4.  ser.  7,  259.  352.  8,  137  (Bilder  in  England). 

5)  C.  Schuchardt,  L.  Cranach  1,  193  (1851).  A.  Bartseh,  Peintrc-graveur  9,  279 
nr.  271  nnd  Nagler,  Künstlerloxikon  17,  18.  Andresen,  Peintre-gravcur  2,  IG.  I,ichten- 
berg.  Über  den  Humor  bei  den  deutschen  Kupferstechern  1897  S.  85.  Gericht  der  Tiere 
über  den  Jäger,  grosser  Kupferstich  von  P.  Nolpe  (Weiler,  Annalen  2,  490). 

G)  Leisching,  Das  Wiener  Hasenhaus  (Zs.  f.  bildende  Kunst  n.  F.  4,  135-139.  1893). 
Baechtüld,  Georg  Königs  Wiener  Reise,  Progr.  1875. 


Bilderbogen  des  16.  und  17.  Jahrhunderts.  427 

anflehen,  dann  der  Prozess,  die  Folterung,  Hinrichtung,  das  Schlachten, 
Hängen  und  Braten  der  gefangenen  Jäger  und  Hunde,  endlicli  das  Fest- 
mahl und  die  Fascliingsfreude  der  Hasen.  Wie  diese  Motive  später  iu 
den  Zyklus  der  'verkehrteu  Welt'  aufgenommen  und  immer  wiederholt 
■wurden,  ist  oben  15,  158  angedeutet  worden.^) 

Auf  dem  hier  abgedruckten  Folioblatte  aus  der  Mitte  des  16.  Jalir- 
hunderts,  das  im  Sammelbande  2,  205  des  Herzoglichen  Museums  zu 
Gotha  erhalten  ist,  mischt  sich  noch  eine  Satire  auf  die  Geistlichen  ein, 
die  allein  neben  den  Jägern  bildlich  vorgeführt  werden,  obwohl  der  Text 
auch  über  Adlige,  Bauern  und  Handwerker  Klage  führt. 

On  vrsach  wir  keyn  Jeger  praten; 

Wir  kondens  lenger  nit  geraten, 

Wann  solchen  hochmut  sy  mit  vns  treyben. 

Daß  schier  keyn  haß  iui  land  kann  pleyben 
6     Autr  dem  feld  vnd  in  dem  wald, 

Wie  eben  er  sich  gleych  verhalt, 

Es  sey  in  standen  oder  hecken, 

So  hilHt  vns  yetzundt  keyn  verstecken. 
Vns  jagt  der  Adel  nit  allayn, 
10     Es  ist  yetzundt  eyn  gantze  gemayn. 

Die  pawren  jagen  in  dem  Schnee, 

Der  Adel  hatt  keyn  vorteyl  mee; 

Wann  er  dem  wilprett  lang  nach  laufft, 

So   hatt  es  der  pawer  heymlich  verkauiTt. 
15     Die  pfaffen  vnd  die  Nunnendrucker 

Machen  sich  auch  also  niucker 

Vnd  wollen  sich  Jagens  vndterstan, 

Deßgloychen  mancher  handtwercks  man 

Wc'iln  vns  vnd  vnser  kynder  fressen. 
20     Darumb  so  hau  wir  vns  vermessen, 

Solchen  knaben  nach  zd  deychen; 

Vnd  wenn  wir  denn   eynen   erschleychen. 

So  miiß  ers  zalen  mit  der  haw-t, 

Wiewol  mans  vns  nit  vertrawt. 


1)  Etwas  anderes  ist  es,  wenn  auf  einem  englischen  Bilde  Hase  und  Hahn  den 
Koch  braten  (Ashton,  Chap-books  of  the  18.  Century  1882  p.  SiiS)  oder  auf  einem  von 
M.  V.  Schwind  gezeichneten  Münchner  Bilderbogen  die  Tiere  trauernd  den  Jäger  zu 
Grabe  geleiten  oder  auf  einem  Nürnberger  Kupferstich  'Der  Thier  und  Jäger  Krieg' 
('Alles  ist  nun  umbgekehiet,  was  man  fast  sieht  in  der  Welt'  .  .  .  Nürnberg,  Paulus 
Fürst  1G52.  Im  Germanischen  Museum  zu  Nürnberg)  die  Tiere  eine  Stadt  der  Menschen 
belagern.  —  Die  letztere  Vorstellung  kehrt  übrigens  ähnlich  auf  einem  anderen  Kupfer- 
stiche desselben  Verlages  'Der  Maus  und  Katzen  Krieg'  ('Nach  dem  das  Katzen  Volck 
viel  Ratzen-Blut  vergossen'  .  .  .  Nürnberg,  P.  Fürst.  Ebendort.  Benutzt  ist  die  Fabel: 
Der  Katze  eine  Schelle  anhängen)  wieder.  Die  Katze  von  Mäusen  gefesselt  oder  be- 
graben: Rovinskij,  Russkija  narodnija  kartinki,  Atlas  1,  1G6  — 170  (1881)  und  Zs.  f.  Bücher- 
freunde 5,  177.  Jaime,  Musee  de  la  caricature  1,  162d  (1838).  A.  Laborde,  Reise  in 
Spanien  3,  180  (1811:    Tarragona).    .\rchiv  f.  n.  Sprachen  64,  10.  65,  "214.  217. 

28* 


428  Bolte: 

[Holzscliiiitt:  In  der  Mitte  sieht  man  die  Hasen  einen  Jäger  und  einen  Hund 
braten;  links  wird  ein  Jager  an  einem  Baume  eniporgezogen,  rechts  drei  gefangene  Hunde 
von  Hasen  geleitet.  Im  Hintergründe  führen  zwei  Hasen  einen  Mönch,  zwei  andere  einen 
Geistlichen  weg.     Im  Bilde  steht  über  dem  Mönche: 

Ich  het  nit  gemaint,  das  du  bettest  gegagt, 
Es  ist  notli  var  was  man  sagt.] 

Du  alter  schalck  Hans  Kützel  or, 
Du  hast  gejaget  manches  jar 
Vnd  vnnser  eitern  vil  gefangen, 
Drumb  so  niüstn  yetzundt  hangen. 

Die  hund,  die  wir  gefangen  han, 
Die  band  auch  groß  schult  daran; 
Wann  sy  nit  spürten  vnd  hiilffen  jagen. 
So  weren  wir  Jagens  olTt  vertragen. 


2.   Die  Gänse  hängen  den  Fuchs. 

Das  Motiv  dieses  im  Sammelbande  2,  206  dos  (lOthaer  Museums- 
erhalteneu  Querfolioblattes  aus  dem  IG.  Jahrli.,  der  durch  Gänse  auf- 
gehängte Fuchs,  ist  mit  Nr.  1  verwandt.  Es  begegnet  uns  bereits 
au  einem  Chorstuhl  zu  Sherbone  (Wright,  Histoire  de  la  caricature  1875 
p.  84),  in  anderen  mittelalterlichen  Kirchen^)  und  in  Georg  Glockendons 
Missale  v.  .1.  1542  (Zs.  f.  Bücherfreunde  6,  48()).  Als  etwas  Undenkbares, 
Unmögliches  erwähnt  Rosenplüt  (Keller,  Fastnachtspiele  1,  299;  vgl.  Alte- 
gute Scliwänke  S.  17.  32)  die  Zeit,  'wenn  die  gans  eiu  wolf  wirt  jagen'. 

Wer  gern  Leügt,  nascht  vnd  stilt, 
Stetz  müssig  get,  bult  vnd  spilt, 
Zuletzt  der  Meister  im  vergilt. 

[Holzschnitt  mit  dem  Monogramm  G  P  (ähnlich  Nagler,  Monogrammisten  o,  Nr.  i908, 
auch  Nr.  234.  235.  238.  242)  und  der  Jahreszahl  1541.  Rechts  unten  packen  drei  Gänse 
einen  Fuchs,  links  führen  sie  ihn  zu  einem  Baum,  an  dem  schon  drei  Füchse  hängen. 
Im  Hintergrunde  tragen  ein  Fuchs  und  ein  Wolf,  auf  den  Hinterbeinen  laufend,  mehrere 
Gänse  davon,  während  ein  Fnchs  sieben  mit  den  Hälsen  zusammengebundene  Gänse  auf 
einem  Kahne  übers  Wasser  fährt'-).] 

Herr  Fuchs,   seyt  keck   vnd  habt  gcdult, 
Ir  habt  den  todt  doch  wol  verschult. 
Dort  oben  hangt  ewr  vater  auch, 
Der  fraß  vil  Genß  in  seinen  bauch. 

5  'Wolan,  seyt  ich  denn  ye  muß  hangen 

Vnd  kan  kein  gnad  bcy  euch  erlangen, 
So  gebt  den  Wolfen  auch  solchen  Ion, 
Die  teglich  grössern  schaden  thun!' 


1)  Meissner,  Archiv  f.  n.  Sprachen  56,  278  f.  58,  248.  65,  21G.  226. 
2;  Vgl.  K.  Saldörfer  bei  Nagler,  Monogrammisteu  2,  266  nr.  14. 


Bilderbogen  des  IG.  und  17.  Jahrhunderts.  429 

Euch  Soll  gedeyen  geleycher  Ion 
Wann  yr  hawt  geleychen  schaden  dun 
An  enten,  huner,  gens,  han  vnd  hennen, 
Schmaltz,  kes  Tn[d]  ejr:   wer  kanß  als  nennen? 

'0  lieben  genß,  frischt  mir  mein  leben! 
Ich  will  mich  euch  gefangen  geben 
Vnd  schworen  einen  thewren  aid, 
Kainer  ganß  hinfiiren  zu  thun  kein  layd.' 

Schweyg  nur  still,  ich  kenn  dich  wol. 
Vertraw  ich  dir,  so  bin  ich  vol; 
Du  bist  ein  solcher  falscher  tropfl', 
Du  schwürst  ein  ayd  vnib  ein  genß  kopfT. 


3.  Der  Fuchs  predigt  den  Gänsen. 

Ein  mittelalterliclier  Scherz,  dem  erst  später  eine  gegen  die  Geistlich- 
keit gerichtete  satirische  Tendenz  untergelegt  wurde,  ist  die  auf  kirch- 
lichen Stein-  und  Holzreliefs  wie  auf  Gemälden')  so  häufig  dargestellte 
Predigt  des  Fuchses  vor  einer  Schar  von  Gänsen,  Hühnern  oder  Enten. 
Bisweilen  erscheint  statt  des  Fuchses  auch  der  Wolf,  wie  z.  B.  an  dem 
Wiener  Hause  'Wo  der  Wolf  den  (Jansen  predigt',  auf  dem  Priese  zu 
Schwärzloch,  in  der  Kirche  zu  Pforzheim  und  auf  dem  unten  als  Nr.  4 
folgenden  Blatte.")  Im  Reformationszeitalter  las  man  daraus  eine  anti- 
katholische  Polemik  heraus;  so  Placius,  der  im  Catalogus  testium  veri- 
tatis  1556  S.  677  eine  Fuldaer  Aesophandschrift  erwähnt  mit  Bildern  des 
den  Schafen  predigenden  Wolfes  und  der  den  Mäusen  predigenden  Katze, 
so  Fischart,  Joh.  Wolf  und  Wolf  hart  Spangenberg.  ^)  Daneben  lebt  aber 
die  alte,  harmlose  Freude  an  dem  Tiermärchen  weiter  fort.  Das  Lied 
vom  neuen  Schlauraffenlaud  (bei  ühland  nr.  241,  8)  berichtet  unter  den 
unmöglichen  Dingen:  'Da  gingen  die  gens  in  kirchen,  predigt  in  der 
Fuchs';  die  Unterschrift  eines  1760  angefertigten  Strassburger  Gemäldes, 
das  einen  Fuchs  auf  der  Kanzel  den  heranschwimmendeu  Enten  predigend 


1)  Otte,  Handbuch  der  kirchlichen  Kunstarchäologie ^  1,  495  (Brandenburg,  Wismar, 
Lübeck,  Ebstort).  Kraus,  Geschichte  der  cliristl.  Kunst  2,  411.  Wright,  Histoire  de  la 
caricature  1S75  p.  73  f.  Champtleury,  Histoire  de  la  caricature  au  moyeu-äge'-  1870 
p.  MG.  I.'i2.  156.  Langlois,  Stalles  de  la  cathedrale  de  Reuen  1838  p.  159  pl.  13.  Waagen, 
Kunstdenkmäler  in  Wien  2,  22  (Gebetbuch  des  Herzogs  Wilhelm  IV.  von  Bayern  1535 
Bl.  24  a).  Meissner,  Archiv  f.  neuere  Sprachen  .56,  276.  279.  58,  248.  254.  G5,  211.  218  f. 
221.  226.  229.  E.  aus'm  Weerth,  Kunstdenkmäler  in  den  Rheinlanden  2,  18  Taf.  23. 
Bergner,  Kirchl.  Kunstaltertümer  S.  571.    Annalen  f.  nassau.  Altertumskunde  19,  71. 

2)  W.  Spangenberg,  Dichtungen  1887  S.  116  (Ganskönig  1G07).  ühlaud,  Schriften 
3,  32G.  Wander,  Sprichwörterlexikon  5,  3G8:  'Wenn  der  Wolf  den  Gänsen  predigt,  so  ist 
der  Kragen  sein  Lehrgeld'.     Meissner,  Ai'chiv  f.  neuere  Spr.  5G,  273. 

3)  Fischart,  Die  Gelehrten  die  Verkehi-ten  v.  636  (2,  348  ed.  Kurz):  'Der  Fuchs  kan 
auch  den  Gänsen  predigen'.  Wolfius,  Lectiones  memorabiles  2,  9US  (1600).  Grimm, 
Reinhart  Fuchs  1834  S.  CXCII.  —  Hasen  predigen  den  Löwen:  Becker,  Holzschnitte 
alter  Kleister  2  (1810),  D21.     Lichtenberg,  Humor  1897  S.  84.    Waldis,  Esopus  4,  9(;. 


430  Bolte: 

zeigt,  warnt  nur  allgiMncin  vor  (1(m-  List  des  Fuchses '),  ganz  im  Sinne  des 
Sprichwortes:  'Wenn  der  Fuchs  predigt,  so  hüte  der  Gänse!'  (Wander  1,  I2ö2). 
Und  auch  unser  (icdicht,  das  ich  einem  Qucrt'olioblatt  dos  Ki.  Jahr- 
hunderts im  Saramelbande  "2,  178  des  Gotliaer  Museums  entnelimo,  schildert 
in  älinlicher  Weise  die  Hoffart  der  Gans  und  die  Tücke  des  Fuchses. 
Den  weiteren  Zug,  dass  Fuchs  und  Wolf  den  Gänsen  etwas  vorsingen, 
finden  wir  noch  bei  K.  Saldorfer  (Audrosen,  Peiutre-graveur  2,  17. 
Passavant  4,  209)  bildlich  vorgeführt.  Ironisch  redet  man  ja  auch  sonst 
vom  Wolfsgesange. ')  Der  'Reuterton',  den  der  Wolf  und  seine  Genossen 
anstimmen,  ist  vom  Verfasser  des  Flugblattes  ziemlich  unvollkommen 
nachgeahmt;  zwar  stimmt  die  Verszahl  bis  auf  eine  hinter  V.  53  fehlende 
Zeile  zu  der  neunzeiligen  Melodie  bei  Böhme  (Altdeutsches  Liederbuch 
nr.  426.  Erk-Böhme,  Liederhort  nr.  1292),  aber  Silbenzahl  und  Iveim- 
stellung  weichen  ab. 

[Holzschnitt:  Oben  links  predigt  der  Fuchs  den  Gänsen:  rechts  lehren  Wolf  und 
Fuchs  (jünsp,  Hühner  und  Storch  Chor  singen.  Unten  turniereu  Hahn  und  üans,  auf 
Fuchs  und  Wolf  sitzend,  daneben  zwei  Hunde  als  Kampfwärter.] 

Von  dem  vberflüssigen  gepreng  vnd  hochfart  der  Genß. 

Die   Ganß  spricht. 

Ich  byn  ein  Ganß  nach  meiner  art,  Mit  Pater  noster,  mantcl.  schaubeii,        lo 

Doch  dringet  mich  die  hoffart.  Auff  das  man  mir  fast  nach  thet  plickcn 

Wenn  ich  komm  in  die  kirchen  gangen  Vnd  ich  vil  äffen  möcht  verstricken. 

Mit  grosser  zir,  hoffart  vnd  prangen.  Das  wcre  mein  last,  frewd  vnd  begcr 

6   Gar  kleyn  ist  die  andacht  meyn,  Darumb  so  prang  ich  köstlich  her, 

Sonder  möcht  ich  die  schönst  seyn  Wiewol  Helena  durch  yr  prangen  is. 

Für  ander  all  in  dem  geschmuck  Ward  von  Paris  gewaltig  gefangen 

Vnd  sie  fürtreff  in  allem  stuck  Vnd  weg  gefürt  in  frembde  landt: 

Mit  schlayer,  goller,  ketten,  haubon,  Hochfart  bracht  sie  in  laster,  schandt. 

Der  Fuchß  spricht. 

Fraw  GanL),  ich  trit  feyn  leyß  hin  nach 
20    Vnd  kan  euch  hclffen  zu  der  sach. 
Auff  alle  ort  byn  ich  gefiert, 
Wie  gaucklers  wurffol  abgeriort, 
Kan  euch  die  federn  wol  abklauben. 
Vielleicht  wird  mir  ein  rauche  schauben, 


1)  Mündel,  Alemannia  9,  237  (vgl.  Gerard,  L'ancien  Alsace  ä  table  1862  p.  G3); 

Der  Fuchs  den  Enden  predigen  thut,  Vnd  wer  den  |  Fuchs  Schwantz  streichen  kan. 

Als  meinet  Ers  mit  ihnen  gut.  Der  ist  bclibt  bey  Jedermann. 

Er  singt  |  Ihnen  ein  so  Schön  gesang.  Darum  Nc  |  met  Euch  wohl  in  aclit  I 

Bis  er  Sie  am  Kragen  fang:  Fuclis  Schwänzen  hat  manchen  in  Ecid  bracht. 

Er  schmeichelt  |  Ihn  mit  seinen  Schwanz,  Vnd  ist  geschehen  in  diesem  Jahr 

Bis  er  sie  fier  an  den  Tliantz.  17G0,  als  der  Fuchs  bey  den  Enden  war. 

2j  Wackernagel,  Voccs  variac  animantium  1SG9  S.  75"". 


BililorbogCD  des  IG.  und  17.  Jahrhunderts.  i'.ii 

25     Eyn  new  par  Stiffel  vnd  Pantoffel. 

Ich  hilff  euch  machen  vil  gynlöffel. 

Wies  ein  end  neme,  laß  ich  euch  sorgen, 

Bin   hewt  bey  euch,   beym   andern  morgen. 

Darumb  schaw  ich  nur  auff  mein  schantz, 
30     Laß  euch  trotten  an  Affen  tantz, 

Bis  euch  eins  mals  der  wolff  erschnapt 

Vnd  bald  mit  euch  den  wald  eyntrapt. 

Alßdann  so  trab  ich  auch  meyn  straß, 

Bin  nit  als  trew,  wie  PrangeP)  was 
35     Fraw  Isalden  mit  leyb,  gut,  ehr; 

Der  selben  megd  lebt  keyne  mehr. 

Was  des  Wolffs,  Fuchs,  Hundts,  vnd  Storchß  gesang  ist. 
Der  Wolff  spricht. 
Ich  sing  hie  in  dem  Reütter  thon,        Das  die  bäum  schreyen  raordio, 
Im  stegreyfT  ich  mich  neren  kan.  Biß  mich  die  Bawren  kumraen  an, 

Wo  ich  vmbtrab  in  dicken  weiden;      Erschlagen  mich;  das  ist  mein  Ion, 
In  Märckt,  Stedte  kumb  ich  seiden.      So  gschicht  manchem  guten  Conipan.      tb 
Sonder  haw  holtz  im  wald  also. 

Der  Fuchs   spricht. 
Herr  Doctor  Wolff,  ich  hau  vil  list,      Geben  sies  nicht,  so  nynib  ich  selb,        50 
Ich  sing  auch  mit  zu  aller  frist.  Trag  das  zu  hauff  in  holes  gewelb. 

Die  Bawren  müssen  mir  geben  zinst       Zuletzt  mich  der  Hundt  hyn  rieht. 
Hüner,  genß,  entten  auff  das  minst.      Denn  hilfft  mein  schätz  mir  nichts  nicht 

Der  Hund  spricht. 

Herr  Doctor  Wolff,  ich  bin  der  dritt, 
66     Im  Reutters  thon  sing  ich  auch  mit. 

Ich  reyß  vnd  peyß  mich  vmb  ein  peyn 

Vnd  will  all  ding  haben  alleyn. 

Ich  schmeck  vnd  spür  auff  alle  ort. 

Das  mir  nichts  entlauff  hie   vnd   dort 
60     Es  gschech   mit  recht  oder  vnrecht. 

Bis  mich  der  schelm[en]schinder  schlecht. 

Solch  Ion  der  Nagenranfft  empfecht. 

Der  Storch   spricht. 
Herr  Doctor  Wolff,  ich  bin  der  vierdt.      Den  Frawcn  kan  ich  hendt  abschlahen. 
Der  Reutters  thon  wirt  wol  quintiert.      Das  jn  strümpff  an  der  gürtel  haben. 
Ich  kan  gar  maysterlich  zwacken  Vnd  greyff  zu  heymlich  frue  vnd  spat. 

Die  Frosch  vnd  Attern  aus  den  lacken.     Biß  mich  der  ...  '" 


4.  'Der  Wolff  den  Gänssen  Predigt'. 

[Kupferstich  des  17.  Jahrh.  in  Folio.  I).  Fimck  Excudit  30x22,5cm.  Auf  einer 
im  Freien  errichteten  Kanzel  steht  der  Wolf  und  predigt  den  um  ihn  versammelten 
Gänsen:  zwei  hat  er  bereits  au  den  Hälsen  gepackt  und  zu  sich  gezogen.]  —  (Berlin, 
Kgl.  Bibliothek). 


1)  Bei  Gottfried  von  Strassburg  Brangäne. 


432  Bolte: 


Gleich  wie  der  Wolll',  wenn  er  sich  gleich  erhöhet 
Und  auf  dem  StuI  als  wie  ein  Rabbi  stehet, 
Der  Lehren  wil  das  arme  giinßgeschlccht, 
Daß  man  vermeint,  er  were  schlecht  und  recht, 
Doch  gleichwol  tracht  zum  raul)c  zu  gelangen 
Und  eine  nach  der  andern  plK'gt  zu  fangen: 
So  ist  die  art  der  falschgesinnlen  Leute, 
Die  lauren  stäts  auf  eine  gute  beute 
Und  geben  doch  die  beste  roden  für, 
Daß  einer  Eid  und  Seele  für  sie  schwur. 
Wer  aber  traut,  wird  ihre  Pfaten  [!J  fühlen. 
Die  wie  der  WolfC  mit  feisten  gänsen  spielen. 


5.   Sechzehn  Eigenschaften  eines  schönen  Pferdes. 

'Welches  ist  das  schönste  Tier  auf  der  Welt?'  fragt  im  Buelie 
Siilrach'),  jener  um  1243  entstandenen  und  bis  ins  16.  Jalirhundert  in 
Frankreich,  Italien,  England  und  Niederland  vielgeleseuen  Kompilation 
mittelalterlichen  Wissens,  der  König  den  Weisen,  und  dieser  nennt  das 
Pferd  als  das  schönste  und  stärkste  Tier,  durch  das  man  Ehre  und  Herr- 
schaft gewinne.  Das  schönste  Pferd  aber,  fährt  Sidrach°)  auf  eine  neue 
Frage  des  Königs  fort,  muss  vier  lange,  vier  breite  und  vier  kurze  Dinge 
haben:  langen  Hals,  Beine,  Rückgrat  und  Schwanzhaare,  breite  Brust, 
Kreuz,  Maul  und  Nüstern,  kurze  Gelenke  [?J,  Rücken,  Ohren  und  Schwanz- 
knochen, dazu  grosse  Augen.  Diese  Gru])])ierung  der  Kennzeichen  der 
Schönheit  erinnert  an  die  mittelalterlichen  Definitionen  einer  schonen 
Frau,  über  die  Reinhold  Köhler  (Kl.  Schriften  3,  22)  gründlich  gehandelt 
hat.  Es  gibt  aber  auch  andere  Schönheitskataloge  für  Pferde,  in  denen 
ihre  Eigenschaften  denen  anderer  Tiere  gleichgesetzt  werden.  Der  kaiser- 
liche Stallmeister  L.  v.  C.  berichtet  in  seiner  'Ritterlichen  Reutterkunst" 
(Frankfurt  a.  M.  1584  Bl.  4b),  vor  alten  Zeiten  sei  ein  gemeines  Sj)ri('ii- 
wort  entstanden,  dass  die  fürnehmsten  Tugenden  eines  Pferdes  von  dreien 
Tieren,  iiämlich  von  Wolf,  Fuchs  und  Frau  hergenommen  seien  und  dass 
jedwedes  Ross  haben  müsse  'vom  Woltf  die  Augen  vnd  Gesicht,  die 
fressigkeit,  die  sterke  deß  Rückens,  vom  Fuchsen  gerade,  kurtze  vnd 
spitzige  Ohren,  langen  vnd  dicken  Schwantz  vnd  ein  sanfften  gang  oder 
trab,  von  der  Frauwcn  die  hochfahrt  schöne  Brust,  glatte  vnnd  zierliche 
Moni,  Haar  vnnd  gestalt  deß  Leibs  vnnd  lassen  gern  auffsitzen'.')   Ähnlich 


1)  II  libro  (li  Sidrach  pubbl.  da  A.  Bartoli  ISGS  oap.  307.  Das  Buch  Sidrach  (mnd.) 
hsg.  von  Jellinghaus  VMi  cap.  yöL 

2)  Sidrach  ed.  Bartoli  cap.  3(59  und  p.  XXII  (französisch).  Im  niederdeutschen 
Texte  fehlt  dies  Kapitel.  Im  französischen  Sirdrac  cap.  1 11  (Romania  13,  53()).  —  Ebenso 
in  den  Novelle  autiche  ed.  Biagi  1880  nr.  IMI 

i)  Ebenso  J.  Canierarius,  De  tractandis  oquis  s.  i.^.^oxotll>:<K  (Tubingae  l.'):i!l)  Bl.  "28a  = 
Caracciolo,   La  gloria    dol    cavallo  (Vcnozia  1589)   p.  IGS   und   Job.   Colerus,   Oeconomia 


Bilderbogen  des  IG.  und  17.  Jahrhunderts.  433 

verlangt  das  um  1505  gedruckte  Strassburger  Eätselbucli'),  dass  ein  gutes 
Pferd  zelui  Eigenschaften  habe,  zwei  vom  Hasen  (das  es  schnell  sey, 
bald  lauft';  das  es  thetig  sey  leichtlich  im  lauften  uff  all  selten  und,  wo 
not  ist,  sich  zu  winden),  zwei  vom  Fuchs  (das  es  dar  äugen  und  ein 
gut  gesicht  hab,  die  ander  eiu  feinen  scliwantz),  zwei  vom  Wolf  (das  es 
woll  essen  mag  und  das  es  sanfft  trab),  zwei  vom  Esel  (das  es  gut  starck 
hüfft  hab  und  das  hör  nit  fallen  loss),  zwei  von  der  Frau  (das  es  hoffertig 
sey,  ein  stoltzeu  freyen  gang  hab,  die  ander  das  es  tugendhafftig  und 
gehorsam  sey).  Nach  einer  französischen  RegeP)  soll  das  Pferd  15  Eigen- 
schaften nach  Jungfrau,  Fuchs,  Hirsch,  Esel,  Rind,  nach  einer  englischen^) 
ebenfalls  l.j  'propertyes  and  condicions'  haben,  je  drei  vom  Mann,  Weib, 
Fuchs,  Hasen  und  Esel;  nach  einer  deutschen  Aufzeichnung  aus  der  Mitte 
des  17.  Jahrhunderts*)  muss  ein  Ross  15  Tugenden  besitzen,  je  drei  vom 
Wolf,  Esel,  Hasen,  Jungfrau  und  Fuchs.  Zu  dieser  letzten  Liste  fügt  eine 
holländische')  noch  drei  Schönheiten  des  Pfauen,  während  eiu  lateinisches 
Epigramm  von  Celtes'*)  dem  Hirsch,  Eber,  Widder,  Esel,  Fuchs  und  der 
Frau  je  drei  Eigenschaften  entlehnt: 

Cervus,  aper,  vervex,  asinus,  vulpes  mulierque, 

Bis  trihus  his  notus  fit  generosus  equus. 
Sit  Caput  argutum,  cervix  elata  pedesque 

Aerei  et  graciles:   haec  tria  cervus  habet. 
5     Hiitus  sit  pila  spuraetque  per  ora  sonora, 

Sicut  aper  celeri  devoret  ore  cibum. 
Sitque  iunctura  brcvis  oculique  patentes, 

Costaque  sit  ventris  maxiraa  sicut  ovis. 
Par  sit  vox  asino   durumque   in  corpore  terguni, 
10  Sit  brevis  et  coeat  ungula  tota  teres. 


ruralis  UK)  Bl.  o2Ta.  Nach  einer  von  W.  Gregor  (Folklore  Journal  2,  lOG.  ISSl)  mit- 
geteilten schottischen  Regel  soll  ein  gutes  Pferd  drei  Eigenschaften  vom  Fuchs  (deep- 
ribbit,  straight-backit,  bushy-tailt),  drei  vom  Hasen  (clean-limbt,  quick-eot,  prick-Iuggit) 
und  drei  von  der  Frau  haben  (weel-hippit,  weel-breastit,  easy-mountit). 

1)  Hsg.  von  Butsch  lS7ö  nr.  135.  Ebenso  Camerarius  1531»  Bl.  28  a  (lepus,  vulpes, 
lupus,  asinus,  mulier),  der  noch  eine  dritte  Liste  von  je  zwei  Eigenschaften  vom  Fisch  lupus, 
anguilla,  serpens,  leo,  femina,  felis  anführt.  Uem  letzteren  Verzeichnis  fügt  Caracciolo 
158it  p.  IGS  noch  Fuchs  und  Rind  bei  und  zitiert  zwei  Ottaven  Luigi  Puhis. 

2)  Montaiglon,  Recueil  de  poesies  fran^oises  G,  198  (1857).  —  Aus  dem  Munde  eiues 
picardischcn  Pferdehändlers  stammen  'Les  qualites  d'une  bonne  jument'  (zwei  vom 
Rind,  drei  vom  Hirsch,  zwei  vom  Fuchs,  vier  von  der  Frau)  in  der  Revue  des  trad.  pop. 
1,  277  (1S8(;). 

3)  Wright  ic  Halliwell,  Reliquiae  antiquae  1,  232  (1842). 

4)  Memorial  des  Zacharias  Bünngier  von  St.  Gallen  (Handschrift  Md  458  der  Tübinger 
Universitätsbibliothek). 

5)  Koddige  en  ernstige  Opschriften  1,  227  [falsche  Seitenzahl  statt  245],  Amsterdam 
1690.     G.  J.  Meijer,  Oude  nederl.  Spreuken  en  Spreekwoorden  1836  S.  105. 

6)  Konrad  Celtes,  Epigramme  hsg.  von  Hartfelder  1881  S.  57  (III,  42):  'De  XXIV  ['?] 
ibonis  proprietatibus  equorum'.  —  Caspar  Reuschlein  (Hippiatria,  Strassburg  1593,  S.  2) 
führt  zehn  'Vergleichungen  der  Pferde'  mit  anderen  Tieren  an:  Hirsch,  Fuchs,  imgarischer 
Ochse  und  Ziegenbock,  Schwan,  Kamel,  Esel,  abermal  Hirsch,  Löwe,  Jungfrau,  Elefant 
Ebenso  nach  Jahns  (Ross  und  Reiter  1,  .52)  Albrecht  von  Constantinopel  (Hippopronia  1612). 


434  Boltc: 

ludo  aures  acuet,  molli  et  vestigia  gressu 

Explicet,  ut  vulpis  longaque  cauda  fluat. 
Protuberans  pectus,  einlies  cnu  fcmina  gestet, 

Siiscipiantqne  suuni  terga  libons  [!]  dominum: 
15     Qua  sine  dote  unquam  nnllus  laudabitur,   et  qui 

Vincat  Amyclaeum  Rucephalumque  ferum. 

In  diese  Gesellschaft  gehört  auch  unser  1618  gedruckter  Bilderbogen, 
der  gleich  dem  Strassburger  Rätsolbucli  vier  Tiere  (Hase,  Fuchs,  Wolf. 
Esel)  und  die  Frau  zur  Verglcichung  heranzieht,  aber  mehr  und  andere 
Besonderheiten  anführt.  Der  Kupferstecher  freilich  hat  sich  damit  begnügt, 
dem  Pferde  jene  vier  Tiere  beizugesellen').  —  Nebenher  bemerke  ich  noch, 
dass  sich  einige  Diclitungen  auf  eine  Parallele  von  Pferd  und  Weib  be- 
schränken; eine  'Coniparaison  de  la  femme  au  chevaF  steht  in  Le  cabinet 
satyrique  1,  220  (1667),  Theobald  Hock  (Schönes  Blumenfeld  1601  cap.  69; 
Neudruck  1899)  legt  dar,  dass  'Ein  schöne  Fraw  vnd  ein  schönes  Pferdt 
sollen  in  vier  stucken  gleicli  sein',  und  der  Altenburgor  Burgvogt  Georg 
Kiemsee  hetzt  diesen  Vorgleich  in  einem  langen  und  langweiligen  Keim- 
werke'*), das  zugleich  eine  grobe  Schmähschrift  auf  die  Weiber  darstellt, 
zu  Tode.  Er  zählt  11  Stücke  auf  (Kopf,  Augen,  Ohren,  Mähne,  Brust, 
Jugend,  Gesundheit,  Gang,  Gehorsam,  Besteigbarkeit,  Zaum)  und  fliclit 
allerlei  Exkurse  über  Frauenmoden,  Ifausraägde  u.  dgl.  und  breit  vor- 
getragene Historien  ein:  vom  umgetragenen  Heiltuni,  von  den  neun 
Häuten  der  Weiber  (oben  11,  257),  von  Hans  Sachsens  Gedicht  vom  Hausrat, 
vom  Weib  im  Brunnen,  Semiramis,  Tullia,  Rosimunda,  <\vr  ]\Iatrone  von 
Ephesus  u.  a. 

Kutzer  [sie!]  vnnd  eigentliclio  Beschreibung  deren  IG  Ej-genschafftcu,  |  welcher  ein 
schön  vnd  wol  proportionicrteü  Pferdt  an  sich  haben  sol.  |  [Kupferstich:  ]8,(;x  iS.i  cm. 
Ein  Rahmen  enthält  ein  kreisrundes  Hauptbild  (Pferd  in  Waldlandschaft)  und  vier  runde 
Nebeiibilder:  a)  ein  Hase.  Umschrift:  1.  Der  Haas  liuifft  schnei,  ■>.  Springt  leichtfertig, 
Vnd  zum  3.  Wirfft  sich  kurtz  hcrumb.  —  b)  ein  Fuchs.  Umschrift:  1.  Der  Fuchs  hat  ein 
kleinen  kopff,  2.  Kurtze  Ohren,  Vnd  zum  3.  ein  grossen  schwantz.  —  c)  ein  Wolf.  Um- 
schrift: Der  Wolff  hat  1.  ein  schaiff  gesiebt,  1>.  Ein  gut  gebiss,  Vnd  zum  3.  harte  haar.  — 
d)  ein  Esel.  Umschrift:  Der  Esel  hat  1.  ein  starcken  Rücken,  ■_>.  Stareke  huef,  Vnd  zum 
;i.  gute  Füss.  —  Darauf  folgt  der  Te.xt  in  vier  Spalten.]  Gedruckt  im  Jahr  1G18.  — 
(Wolfenbüttcl).    Zitiert  in  Wellers  Annalen  2,  477  nr.  989. 

1)  Vgl.  die  'Fürbildung  eines  gantz  Tnmangelhafftcn  Pferds'  (00  Verse)  bei  G.  Liebe, 
Der  Soldat  ]8',)9  S.  108. 

2)  Kurtze  Erklerung,  Wie  ein  Pferd  vnd  ein  Frawenperson  in  vielen  Stücken  mit 
einander  verglichen  werden,  auch  einander  gleichen  sollen.  Jetzt  auffs  new  vborsehen. 
1024  1  +  18  Bogen  8»  (Berlin  Yh  Dltll).  —  Allgemein  lautet  die  Sentenz  von  ICÖl  bei 
Hildebrandt,  Stammbuchblätter  des  norddeutschen  Adels  187t  S.  287:  'Weiber  und  Pferdt 
seindt  Lebens  wehrtt,  |  Seindt  sie  ohne  Tück,  ist  es  ein  groß  Glück.  |  Drumb  uiinb  wol 
wahr,  was  sie  vor  har!  |  Den  solcher  Kauf  hat  groß  Gefahr'.  Freien  und  Pferdckaufen 
worden  ja  auch  im  Sprichwort  miteinander  verglichen.  Rolland,  Faune  populaire  de  la 
France  4,  138.  Jahns,  Ross  und  Reiter  1,  77-81.  —  Endlich  gibt  es  auch  gerciinle  Auf- 
zählungen der  Fehler  eines  Pferdes:  Moncs  Anzeiger  f.  K.  des  t.  Mittelalters  1834,  17ü. 
Romania  24    14(i. 


Bilderbogen  des  IG.  und  H.  Jahrhunderts. 


435 


Mancher  mücht  groß  vcrwundrung-  hau, 
Was  dieses  Pferdt,  weichs  hie  thut  stan 
Beneben  den  vier  Thiern  hemm, 
Bedeuten  thet.     In  einer  Suni 
Wil  ich  solches  gar  kurtz  erklilrn, 
Den  Leser  darmit  nicht  beschwern. 

Ein  wol  proportionirt  Pferdt 
Sol  drey  eigenschafft  haben  wehrt 
Von  einem  Hasen;  denn  derseib 
Im  Peldt  laufft  gar  geschvvindt  vnd  schnell; 
Also  sol  auch  ein  gutes  Roß 
Schnell   vnd  gschwindt  laufTen   ohn   verdroß. 
Zum  andern  so  springt  auch  der  Haß 
Leichtfertig  hrumb  im  grünen  graß; 
Deßgleich  ein  adlich  Pferdt  auch  thut 
Ein  Sprung  in  andern  wolgemuth. 
Zum  dritten  so  wirft  sich  der  Haß 
Gar  kurtz  herumb  ebener  maß; 
Ein  gutes  Pferdt  sich  lencken  lest 
Vff  beyde  selten  vff  das  best. 

Vors  ander  so  sol  ein  schön  Pferdt 
Auch  han  drey  Eigenschafften  wehrt 
Von  einem  Fuchsen,  welcher  wird 
Mit  einem  kleinen  Kopff  geziert. 
Auch  kurtze  Ohren  hat  darnebn. 
So  jme  die  Natur  thut  gebn, 
Vnd  einen  grossen  Schwantz  darbey; 
Also  ein  Pferd  auch  gzier[e]t  sey 


436  Kolte: 

Mit  solchen  Stücken,  wiinns  sol  seyn 
Ein  scliöns  Pferdt  ohne  tadel  fein. 

Zum  dritten  muss  ein  Fferdt  auch  han 
Drey  Eygenschafften,  wanns  sol  bstan, 
Von  einem  Wolff.     Dann  deiselb  hat 

7.  Ein  scharir  Gesicht;  also  auch  gat 

Ein  Pferdt  bey  nacht,  als  wers  am  Tag, 
Vnd  sieht  sich  vmb  ohn  alle  Plag, 
Da  doch  sein  Reuter  nicht  kan  sehn. 
Wohin  odr  nauß  das  Pferdt  sol  gehn. 

8.  Zu  dem  so  ist  der  Wolff  begabt 
Mit  einem  guten  Gebiß  hart; 
Deßgleich  ein  Pferdt  auch  haben  sol 
Ein  gut  Gebiß,  sols  deyen  wol. 

9.  Vber  das  hat  der  Wolff  auch  har. 
Welche  gantz  hart  seyn  jmmcrdar; 

So  sol   ein   Pferdt  auch    harthärig  seyn, 
Welche  es  vberauß  ziehrn  fein. 

Zum  vicrdten  so  sol  auch  ein  Uoß 
Drey  eigenschaflt  vom  Esel  groß 
An  jhni   han   vnd   sich   darmit  schmückn.. 

10.  Dann  derselb  hat  ein  stanken  Riickn; 
Also  ein  Pferdt  auch  wol  bestat, 
Wann  es  ein  starcken  Rücken  hat. 

11.  Der  Esel  hat  auch  starcke  Fuß: 
Gleicher  weiß   ein   Pferdt  haben   muß 
Starcke  vnd  gar  gerade  Beyn, 
Wann  es  sol  wol  gezieret  seyn 
Vber  das  auch  der  Esel  hat 

12.  Gar  gute  Hüll',  daraud  er  gat; 
Wann  gleicher  massen  ein  gut  Pferdt 
Gut  Ilüffe  hat,  ists  lobcns  wehrt. 

Zum   fünirtcn   vnd   auch   letzten   fein 
Soln  an  eim  schönen  Pferdt  auch  seyn 
Vier  Eigenschaften  von  eim  Weib, 
Welche  sie  trägt  an  jrem  Leib. 

13.  Dann  sie  ist  fornen  wol  gebrüst 

14.  Vnd  binden  auch  gar  wol  gerüst; 
Also  ein  Pferdt  auch  ziehren  thut 
Ein  schöne  Brust  vnd  hindern  gut. 

15.  Ein  junge  Fraw  lest  gern  auffsitzen 

IG.     Vnd   trabt   gar  sanfft  ohn   alles  schwitzn; 
Gleicher  weiß  sol  ein  gut  Pferdt  than 
Vnd  sein  Herrn  gern  auffsitzen  hin. 
Auch  mit  jm  traben  sanITt  davon. 
So  thuts  allenthalb  wol  bestan. 

Diß  sindt  die  sechzehcn  EigenschafTt, 
Mit  welchn  ein  Pferdt  sol  seyn  bohafft. 
Wem  nun  ein  solch  Pfcirdt  ist  beschert, 
Dcrselbig  mag  es  halten  wehrt. 
Auch  achten  vor  ein  groß  Kleinat; 


Bilderbogens  des  IG.  und  17.  Jahrhunderts.  437 

Dann  man  derselben  wenig  hat,  so 

Die  solch  Eigenschafft  haben  all 
Vnd  deme  es  nicht  fehlt  zumal 
An  eim  oder  dem  andern  Stück. 
Derhalb  hat  der  ein  grosses  Glück, 
Der  da  bekompt  ein  solches  Pferdt;  ss 

Dann  es  ist  grosses  Geldt  wehrt. 
Gedruckt  im  Jahr  1G18. 


6.  Tierische  Eigenschaften  der  Menschen. 

Die  mittelalterliche  Tiersymbolik  und  deren  Weiterbildmig  bei  den 
Satirikern  des  l(i.  Jahrhunderts  zur  Erläuterung  des  folgeudeu  Bilder- 
l)ogens  zu  durchmustern,  würde  zu  weit  führen.  Ich  verweise  nur  auf 
V.  Brinkmann  (Die  Metaphern  1:  Die  Tierbilder  der  Sprache.  1878)  und 
R.  Riegler  (Das  Tier  im  Spiegel  der  Sprache.  1907)  und  führe  als  eine 
Parallele  aus  der  ersten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  eine  Aufzeichnung  des 
Fraters  Johannes  Hauser  (f  1548)  aus  der  oben  15,  20  zitierten  Wiener 
Hs.  4120,  Bl.  liyaan:  'De  naturis  animalium  quoad  abdicandam  propriam 

voluntatem'. 

1.  Leo.  Des  leben  natiir  für  firiclit 

lu  zorn,  sterk  vud  gesiebt. 
Also  sol  sein  dy  gerechtikayt 
Fursichtig,  streng,  massich  pereyt. 

2.  Aynliorn.     Das  aingehurfi  dy  natur  hat. 

Aller  raynikayt  es  nach  gat. 
Aso  sol  der  mensch  sein  perayt 
Mit  aller  rechter  raynikayt. 

3.  Hyersch.     Der  hyersch  ist  frey  an  zwang, 

Gan[z]   siecht   anfank,  mittel  vnd  außgang. 
Dem  sol  der  mensch  nachgan, 
Dy  drew  stukel  vor  äugen  hau. 

4.  Panther.     Dreyerlay  ist  des  panther  art. 

Ein  wurm,  ain  greyff,  ain  leopart; 

Das  ist  neydts,  grwdts  ['■'grimms]  vnd  zoren  vol. 

Vor  dem  sich  der  mensch  hutten  sol. 

5.  Elich.  Der  eich  sein  natur  helt. 

Das  er  dy  gehurfi  mert  vnd  feit. 
Dy  ret  sol  der  mensch  han, 
Ze  meinen  das  gut  vnd  das  poß  lan. 
[119b]    G.  Heifant.      Der  helfant  dy  natur  hat. 
Das  er  fast  vnd  stark  stat. 
Also  sol  der  mensch  sein  frey, 
Das  er  nit  wankelmütig  sey. 

7.  Roß.  Die  roß  seind  frech,  schnei  vnd  gut, 

Weun  man  sy  recht  zämen  thut. 
Also  sol  der  mensch  zart  vnd  rein 
Recht  geczämet  sein. 

8.  Maul.  Das  maul  ist  grob,  hart  zw  wenden. 

Wenn  man  es  praucht  an  allen  enden; 
Als  aygner  syn  an  frawn  vnd  man, 
Dy  man  hart  da  von  wenden  kan. 


rM> 


Bolto: 


!l.  Esol.  Der  csel  dy  art  an  3'm  luit, 

Das  er  von  stiaychen  uit  pald  gat. 
AI7,  etlicher  mensch  in  diser  zcyt, 
Der  da  niclits  vmb  straffen  geyt. 

10.  Och  1.1.  Der  ochß  pocht  vnd  stost  vast, 

Wann  man  ym  thut  vberlast. 
[rjOa|     Also  tliut  nianiger  man, 


11.  Puflfl.  Des  pufelß  naturlichkayt 

Ist  vast  stark  mit  .stolhait. 
Also  thut  der  mensch  zw  aller  frist, 
Der  da  gäch  vnd  zornig  ist. 
Das  kamoltyer  dy  hochfart  an  ym  hat, 
Das  es  geren  vnder  swarer  purdc  gat. 
Also  ist  aini  gebaltigen  pawren, 
Der  täglich  stelt  nach  trawren. 
Der  wollT  nur  dy  art  hat. 
])as  er  nur  dem  raub  nach  gat. 
Also  thut  der  mensch  zw  aller  frist, 
Der  allzeyt  poß  aygenwillig  ist. 
Der  saw  nerlichkayt, 
In  das  kot  sy  sich  legt  vor  faulkayt. 
Also  thut  der  mensch  alle  zcyt, 
Der  da  stark  pey  der  fülle  Icydt. 

SPECVLVM  BESTIALITATIS  |  Das  ist:  |  Der  vnvernünfftigen  Thier:   oder  Xarreu- 
spiegel,  darin-  nen  sich  ein  jeder  nach  seinem  Gefallen  stillschweigend  |  beschawen  kan. 


12.  Kameltycr. 


13.  Wolff. 


14.  Saw. 


(Kupferstich:  Ein  Cavalier  in  Federhut,  Reitstiofelu  und  Haudscliuhen  reitet  auf  einem 
Esel  auf  den  Beschauer  zu,  auf  der  erhobenen  Rechten  eine  Eule  haltend;  ringsum 
16  andere  Ticro.]  —  (Braunschweig  und  \Volfenbüttel.) 


Bilderbogen  des  Ki.  uud  17.  Jahrhunderts. 


439 


Vorred. 

Pythagoras  thut  fabulirn, 
Das,  wenn  die  Seelen  emigrirn 
Von  den  Thieren  all  in  gemein, 
So  kehrens  bey  den  Menschen  ein, 

5   In  jhr  Natur  sie  gantz  verkehrn, 
Wie  dieser  Spiegel  hie  thut  lehrn. 
In  diesn  ein  Jeder  sehen  soll 
Vnd  sich  darinnen  spiegeln  wol. 
Trifft  man  jhn  auch  in  diesem  Spiel, 

10   So  schweig  er  still  vnd  sag  nicht  viel ; 
Führt  er  ein  Bestialisch  Wesn, 
Er  ander  sich,  so  wird  er  gnesen. 

I.   Favus.     Pfaw. 

Der  Pfavf,  der  jhm  sein  Schön 
zumist. 
Ein  Spiegel  der  der  Holfart  ist, 
IS    Wann  einer  allein  oben  schwimt. 
Seiner  Gaben  sich  vbernimt. 
Schaw  an  die  Fuß,  das  End  sihe  an, 
So  wirst  die  Flügel  fallen  lahn. 

•2.  Canis.     Hund. 

Der  Neid,  der  vberall  regirt, 
io   Am  Hund  gantz  recht  wird  adum- 
brirt. 
Sein  Zän  gantz  scharpff  die  thut  er 

wetzen. 
Bald  diesn,  bald  ein  andern  verletzn. 
Gon  jedem,  was  jhm  gönnet  Gott, 
So  ghorstu  nicht  vnter  die  Hundsrott. 

3.  Gulo.     Vielfraß. 

25  Gulo  Vielfraß  zeigt  an  die  Leut, 

Welche  kränckt  Vnersattiglichkeit, 
Die  jhren  Hunger  nimmer  stilln, 
Ihr  gröste  Sorg  ist  den  Bauch  lülln. 
Der  Bauch  jhr  Gott,  dem  thun  sie 
gebn, 

30   Führen  ein  Bestialisch  Lehn. 

4.  Leo.     Lüw. 

Der  hat  eins  rechten  Löwen 
Gmüt, 
Der  durchauß  bei   sich   hat  kein 

Gut. 
Sein  Zor[e]n  den  kan  niemand  stilln, 
Vnd  thut  stets  wie  ein  Low  nur 
brüUn. 


Sein  Zorn,  damit  er  stets  durchgeht,       ss 
Zeigt  an  sein  Bestialität. 


Ui 


B( 


Im  Hunger  der  Beer  jmmcr  brumt. 
Also  der  Geitzig  nicht  erstumbt; 
Je  mehr  man  gibt,  je  mehr  er  will. 
Sein  Magen  hat  kein  Maß  noch  Ziel.         4« 
Drumb  ist  hernacher  diß  sein  Letzt, 
Daß  man  jhn  wie  ein  Beeren  hetzt. 

6.  Gallus.     Haan. 

Der  Haan,   der   Geilheit  rechtes 
Bild, 
Mit  einer  Hänn  ist  nicht  gestillt. 
Also  den  fleischlich  Hitz  anbrent,  n 

Mit  einem  Weib  ist  nicht  content. 
Endlich  man  jhm  den  Hals  absticht, 
Also  dem  Buhler  auch  geschieht. 

7.  Asinus.     Esel. 

Der  Esel  will  getrieben  seyn. 
Also  die  Faulen  in  gemein.  so 

Wo  Schlag  vnd  Streich  da  hören  auff. 
Da  taugt  gar  nichts  jhr  Gang   vnd 

Lau  11'. 
Das  Fleisch  kein  Nutz;  den  Danck  sie 

habn, 
Wie  Esel  werden  sie  begrabn. 

S.  Leviathan.     Krumme  Schlang. 

Die   Sachen  drehen,   wenden  55 

gschwind 
Das  ist  ein  Kunst  der  Menschenkind. 
Anders  der  Mund,  anders  das  Hertz, 
Das  treiben  sie,  ist  nur  ein  Schertz. 
Leviathan  die  krumme  Schlang 
Wird  endlich  jhnen  machen  bang.  oo 

9.  Crocodilus.     Crocodil. 
Crocodilszähren  werden  new, 
Gelinde  Wort  vnd  falsche  Trew, 
Betrug  ist  gross;   drumb   wol  zu 

schaw. 
Nicht  allen  Crocodilen  traw! 
Wem  [!J  Crocodils  sein  Tück  verübt,       es 
Ichnewraon  jhm  sein  Rest  bald  gibt. 

10.  Vulpecula.     Fuchs. 
WerLöwens  Haut  nicht  haben  kan. 
Ein  Fuchsbeltz  zieh  derselbig  an. 


440 


Bolte:   Bilderbogen  des  IG.  und  IT.  Jalirhunderts. 


Durch  List  bringt  man  zuwegen  viel, 

'0   In  die  Läng  es  nicht  glücken  will. 

Fuchs  imiss  man  doch  mit  Füchsen 

fangn, 
Doch  endlich  bleibens  beede  hangn. 

1 1.  Lepus.     Hase. 

Der  Haß  der  ist  ein  forchtsam 
Thicr, 
Gar  bald  wirfft  er  auff  sein  Panir, 
7i    Bey  der  Trommel  da  hält  er  nicht 
Also  auch  manchem  Hasen  gschicht; 
Für  seinem  Muth  hat  er  das  Glück, 
Daß  man  jhm  endlich  bricht  das 
Gnick. 

12.  Psittacus.     Pappengey. 

Auf  guti'  Spoiß  der  Pappengey 
80    Ist  abgericht,  redt  alles  frey. 
Viel  Pappengey  gibts  jederzeit, 
Die  sind  auch  abgericht  auf  die 

Leut, 
Vmb  Schmaussens  willen  jedes  Zill 
Reden  sie,  was  man  haben  will. 

13.  Pica.     Häher. 

80         Ein  Spottvogel  der  Häher  ist. 
Im  anschreyen  er  keins  vergist. 
Andre  vnd  beedes  sich  verräth. 
Also  es  auch  dem  Schweizer  geht; 
Wer  alles  nur  will  reformirn, 

90   Thut  sich  am  ersten  ruinirn. 

14.  ülula.     Stockeul. 

Die  Einbildung  bringt  eini  diß 
bey. 
Er  mein,  daß  sein  Eul  ein  Falck 

scy, 
Den  liebt  er  vnd  hält  jhm  gar  hoch. 
Also  gehts  in  der  Welt  auch  noch, 
sj  Man  laß  eira  recht,  vcrhüt  den 
Strauss; 
Ein  Eul  heckt  doch  kein  Paicken  auß. 

15.  Vespcrtilio.     Fledermauß. 

Der  Vogel  Sonn  vnd  Tage 
scheucht, 
Darumb  er  bey  der  Nacht  nun 
fleucht. 


Es  werden  angedeutet  mit 
Die  Schuldener,  da  kein  Credit;  lo» 

Verbergen  sich  deß  Tags  im  Hauß, 
Zu  Nachts  sie  je  sich  wagen  auß. 

IG.  Pica.     Hetz. 

Die  Hetz  die  last  jhr  hupffen  nicht, 
Schwctzen  vnd  hupffen  ist  jhi-  Sitl. 
Was  man   hat  gwohnt  von  Jugend         los 

auff, 
Endert  sich  selten;  merck  wol  drauff! 
Ein  Moren  man  nicht  waschet  weiß. 
Es  ist  verloren  Müh  vnd  Fleiß. 

17.  Simia.     Affe. 

Der  Äff,  so  alles  nach  will  than. 
Ein  solchen  Menschen  zeigt  er  an,        iio- 
Der  alls,  was  trefflich,  imitirt 
Vnd  ihm  hierzu  selbst  gratulirt. 
Doch  bleibt  ein  Äff  ein  Äff  allzeit, 
Wenn    man   jhm   anlegt  gülden 
Gschmeid. 

18.  Cancer.     Krebs. 

Der  Krebs,  der  alle  Ort  durch-      ns 
kreucht, 
Ein  rechten  Grübler  der  anzeigt. 
Der  alls  will  wissen,  als  ergrüudn: 
Kein  Kunst  ist  bey  jhm   nicht   zu 

findn, 
Als  geht  zurück,  er  steckt  im  Kott, 
Bringt  nichts  davon  denn  Hohn  vnd      iso 
Spott. 

An  den  Leser. 

Ein  guter  Spiegel  nimmer  treugt. 
Was  schön  vnd  häßlich,  er  anzeigt. 
Zeigt  er  ein  Macul  in  dem  Gsicht, 
Mit  dem  Spiegel  er  zörnct  nicht, 
Er  säubert  sich  vnd    macht  sich  12» 

rein, 
Daß  er  neben  andern  schön   müg 

seyn. 
Wer  meint,  er  sey  damit  verletzt, 
Zu  diesem  Mann  er  sich  hie  setzt. 
Bleibt  Singular  auff  seinem  Tand, 
Reit  mit  jhm  ins  Schlauraffenland.         130 
Vexation  die  machet  klug, 
Dem  Weisen  ist  diß  eben  gnug. 


Zodcr:    Kleine  Mitteiluiig:en.  441 

Clirys.i)  in   lib.  SO.  hom.  L'3. 

Quid  fideleni  te  dico?  nee  enlm  es  homo,  si  manifeste  possum  vidcro,  cum  tanquam 
asinus  recalcitres,  lascivias  autcm  ut  taurus,  tanquam  equus  verö  post  mulieres  hinnias. 
ventri  tanquam  ursus  indulgeas,  et  ut  malus  carnem  impingucs,  et  nialum  memoriae 
tenoas  velut  camelus,  porro  rapias  quidem  ut  lupus,  et  ut  serpcns  irascaiis,  ferias  ut 
seorpius,  sis  subdolus  ut  vulpcs,  nequitiae  vero  tanquam  aspis  et  vipera  venenum  serves, 
et  sicut  ille  malignus  Daemon  fratres  impugnes:  quomodo  te  cum  honiiuibus  connumerare 
valcam,  talis  in  te  naturae  signa  cum  non  intuear? 

ENDE. 

Zuiinden  in  Nurnbci-g,  bej  Paulus  Fürsten  Kunsthändler  allda,  etc. 

Berlin. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Kleine  Mitteilungen. 


Scheibenspriiche  aus  Obeiösterreich. 

Im  Salzkaminergute  zählt  ebenso  wie  in  den  anderen  Alpengebielen  das 
Scheibenschiessen  zu  den  sonntäglichen  Belustigungen  der  Bevölkerung.  Die 
Männer  und  älteren  Burschen  üben  sich  in  der  Handhabung  des  Scheibenstutzens, 
während  die  jüngere  Generation  sich  mit  der  harmlosen  Armbrust  (Baluster)  vergnügt. 
Bei  festlichen  Anlässen  werden  mit  Bildern  und  Sprüchen  versehene  Scheiben 
verwendet,  welche  nach  dem  Gebrauch  in  der  Schiesshalle  aufbewahrt  werden. 
So  zeigt  die  Schiesshütte  in  Laufen  bei  Ischl  eine  grosse  Anzahl  solcher  Pest- 
scheiben, unter  welchen  besonders  einige  aus  der  Zeit  der  Pranzosenkriego  mit 
Napoleonbildern  und  Darstellungen  von  Kriegsepisoden  interessant  sind.  Auch 
Vorkommnisse  aus  dem  täglichen  Leben  der  Älpler  werden  dargestellt,  wie  die 
unter  5  und  6  mitgeteilten  Sprüche  bezeugen. 

Die  ersten  vier  Sprüche  stammen  aus  Goisern  und  haben  Begebenheiten, 
welche  wahrscheinlich  nicht  ganz  frei  erfunden  sind,  zum  Stoff.  Die  Scheiben 
wiesen  die  Jahreszahl  UIOO  und  1901  auf  und  dienten  beim  Armbrustschiessen. 
Sie  hingen  im  Jahre  1903  in  einer  kleinen  Seitengasse  des  Marktes,  an  der 
Wand  eines  Stadels.  Im  darauffolgenden  Jahre  waren  diese  Zeugnisse  eines  ur- 
wüchsigen, derben  Humors  schon  verschwunden.  Alle  Sprüche  sind  in  der  Recht- 
schreibung des  Originales  wiedergegeben,  nicht  allein  der  Ursprünglichkeit  halber, 
sondern  auch  um  dadurch  ein  Beispiel  zu  geben,  wie  lautgetreu  die  Älpler  ihre 
Mundart  zu  schreiben  verstehen.-) 


1)  Gemeint  ist  Johannes  Chrysostomus,  Homiliae  in  Matthaeum  Nr.  4,  §  8  (Migne, 
Patrologia  Graeca  57,  48.    Paris  1862}. 

2)  Andere  Scheibensprüche  aus  Oberösterreich  veröffentlichten  F.  F.  Piger,  Zs.  f.  Osten. 
Volkskunde  4,  198ff.  (1898)  und  J.  R.  Bunker,  ebd.  13,  3f.  (19U7). 

Zeitschr.  (1.  Vereins  f.  Volkskunde     1907.  -"' 


44-2 


Zodor,  Beck: 


Dos  Gaßlngeh  wa  gar  nit  ra, 
wan  nit  oft  rccbtö  Diimheit  gsclia, 
(ia  sand  n  drei  Buani  Fönscrn')  gwön, 
■i  Lasern  -)  wo  oda  grad  daDüra. 
oaner  is  glei  mit  dn  Loatern  da, 
auf  oanial  bröchn  zwoa  Sprisl  a, 
(>r  schrei  was  a  kan: 
komts  gscliwind  Buain: 
ilawal  ligt  er  schon  drin 
ö  da  Scheißngrum. 
du  zögn  glei   auüer 
bo  Hand  und  Füßn, 
und  liamtu  wol  a  gstunkn, 
hat  ban  Bach  erst  waschu  niüsn. 

2. 

Zwoa  Poserer')  Menscha 
sand  spehn  ausganga, 
ÖS  thats  hold  soviel 
«in  Neiigkoit  planga, 
und  wias  a  so  glost  habn, 
o  jegerl,  auweh, 
da  komant  20  alln  Ureira^) 
a  Paß')  Buam  dahe, 
da  hoast's  gschwind  verstökn, 
ÖS  hats  no  niamt  kent, 
da  saut  dö  zwoa  Menscha 
hintern  Stadl  umigrent, 
auf  eimall  machts  an  Kracher, 
alles  is  hin, 

und  dö  zwoa  neigirina  Menscha 
liug  in  da  Scheißgruam  drin. 

3. 

Dö  lieinfalzer")  Menscher, 
al  Leut  sagns  für  gwis, 
habn  ausgschoptö  Wadl 
und  eingsötzte  Biss. 
oane  davan 

hatts  Biss  heut  valom, 
dö  hatt  schauderlö  gjainert 
und  wa  narrisch  bald  worn. 
Zorn  Glück  keman  grad  Holzknecht, 
dö  bittens  recht  sehen, 
dö  niüsn  mitn  Mentschern 

Wien. 


ÖS  Biss  sucha  gehn. 
obs  ÖS  gfundn  habm, 
do  wird  ma  uit  in, 
Bis  zou  Schützmahl 
hatts  do  wieda 
an  noin  Fröswcrkzeug  drin. 
1901. 

4. 

An  Bäckerbuani 

bon  Eisenniann') 

den   schnappt  a  blanigö*)   Goas 

ön  Geldbeitl  davon, 

e  is  bon  Daxn") 

ön  Berig  gwön, 

da  hert  a  wen 

ön  Goisstall  rön, 

e  hatt  gmoat, 

e  hat  s  Weibl  ghert, 

daweil  hatt  Goas 

bon  Fenserl  ausablert; 

dön  Geldbeitl 

den  a  ö  da  Hend  hatt  ghabt, 

dem  datt  cm  d'  Goas 

bon  Fenster  einigschnapt. 

Da   Bua  de  fangt  zon  trenzn  a, 

weil  e  ohc  Beitl 

nit  hoamgeh  kan. 


Das  Holzn  und  .lagn 
macht  an  hungrigen  Magn. 

6. 

Da  hat  ich  jetzt  a  Beb, 
do   kam   wieder  a  Hirscii  daher. 
Dort  launet")  Bis  bein  Bam, 
wo  der  Hirsch  herkam. 
1835. 

Das  Bild  zeigt  einen  Wildschützen,  der 
eben  ein  Reh  tragfertig  macht,  während  sein 
Gewehr  an  den  nahestehenden  Baum  gelehnt 
ist.  Von  dieser  Richtung  kommt  nun  ein 
stattlicher  Hirsch  daher. 

Raimund   Zoder. 


1)  fenstcrln.  —  2)  Ortschaft  bei  Goisern.  —  3)  Posern,  Ortschaft  nördl.  von  Goisoni. 
—  4)  Unglück.  —  ö)  Schar.  —  tj)  Rcinfalz  =  Häusergruppe  bei  Goisern.  —  7)  Bäcker  in 
Goisern.  —  8)  =  begehrliche.  —  !>)  Dam  ist  ein  Hausname  in  der  Ortschaft  Berg  bei 
Goisern.  —  10)  launet  =  lehnt. 


Kleine  Mitteilungen.  443 

Alte  Studenten  lieder. 

'Comerz- Lieder  der  Pursche'  ist  ein  11  Oktavbliitter  umfassendes,  bier- 
getränktes Heftchen  betitelt,  das  aus  dem  Nachlasse  des  gräflich  Beroldingischen 
Rats  und  Obervogts  Alois  Stapf  (geb.  den  30.  Okt.  1768  zu  Wangen  im  Allgäu, 
gest.  den  9.  Okt.  181-')  in  Ragenried  bei  Wangen)  stammt  und  während  seiner 
Würzburger  Studentenjahre  kurz  vor  1790  entstanden  ist.^) 

Es  enthält  folgende  12  Lieder: 

1.  Auf!    erthönet  frohe  Lieder  (3  Str.). 

2.  Der  Pursch  von  altem  Schrott  und   Korn  (23)'. 

3.  Pereat  trifolium,  pereant  Philistri  (G). 

4.  Ich  bin  meinem  Mägdchen  gut  (2). 

5.  Courage,  wohlauf  (5). 

6.  Pursche,  lermet,   sauft  und  schwärmet  (9).     Landesvater. 

7.  Brüder,  lasst  die  Väter  sorgen  (2).  —  Vollständiger  in  Pi,üiligers  Auswahl 
guter  Trinklieder,  Halle  1791  Nr.  90  (U),  Commersch-Buch  179.ä  Nr.  8  (8;,  Melzer  180s 
(Berliner  Ms.  germ.  oct.  204)  Nr.  9  (14  dreizeilige  Str.),  Berlinisches  Commersbuch  1817 
S.  34  (8),  Bonner  ßurschenlieder  1819  S.  70  (8). 

8.  Ein  reizend  Mägdchcn  und  gut  Bier. 

9.  In  sanitatem  omnium  (3).  —  Melzer  1808  Nr.  2.  Fink,  Musikalischer  Haus- 
schatz 1843  Nr.  474.  Leipziger  Commersbuch'^  1869  S.  206.  —  Stapfs  Fassung  hat  einen 
obszönen  Zusatz  zur  2.  Strophe. 

10.  Kosen  auf  den  Weg  gestreut  (4'i.  —  Str.  1—2  stammen  von  Hölty  her 
(1777.  Böhme,  Volkstumliche  Lieder  1895  Nr.  6Ö3,  Str.  1-3.  7.  Friedlaender,  Das  deutsche 
Lied  des  18.  Jahrh.  2,  272).    Dann  heisst  es  weiter: 

3.    Stosset  an!    sie  lebe  hoch,  4.    Stosset  an  auf  Josephs  wohl! 

die  uns  einst  beglücket,  Lange  soll  er  leben, 

die  am  Winterabend  noch  Friede,  grosser  Kaiser,  soll 

wie  im  Lenz  entzücket,  stets  sein  Haupt  umschweben, 
die  entfernt  von  Mode  Tänzen  [1.  Tand]       Blühe  in  dem  Rosenduft 

deutsche  Sitten  liebet,  und  beim  Saft  der  Eeeben, 

deutsches  Herz  und  deutsche  Hand  bis  dir  einst  der  Väter  Kruft 

am  Altar  uns  biethet.  gewünschte  Ruh  wird  geben. 

11.  Brüder!  nuz[t|  das  freye  Leben  (5).  —  Stimmt  zu  Kind  leben  s  Studenten- 
liederu  1781  S.  39  (5);  doch  sind  Str.  2  und  3  umgestellt  und  einige  Veränderungen  vor- 
genommen: 4,3  Champagner  --4,5  Blüh,  Saline  —  4, g  deine  Söhne  —  5, 1  König 
Friedrich.  Auch  im  Commersch-Buch  1795  S.  34.  Ohne  die  letzte  Strophe  bei  Keil 
S.  103,  Heizer  1808  nr.  3,  Bonner  Burschenlieder  1819  S.  129.    Vgh  Friedlaender  2,  324. 

12.  Herrlich,  herrlich  ist  dies  Lehen  (3).  —  Str.  1  und  3  stehen  mit  ge- 
ringen Abweichungen  in  (Rüdigers)  Trinkliedern  Halle  1791  S.  23:  'Freunde,  herrlich  ist 
das  Leben'  (12|,  Str.  3  und  5.  —  Str.  2  und  3  aus  Kindlebens  Lied:  'Brüder  lasst  die 
Sorgen  fahren'  (Studentenlieder  1781  S.  12  =  Rüdigers  Auswahl  guter  Trinklieder  1791 
S.  25),  Str.  8:  'Tränen  mag  ich  nicht  vergiessen'  und  Str.  5:  'Bruder,  auf  dein  Wohl- 
ergehen sey  dir  dieses  Glas  gebracht'.  Allein  die  letztgenannte  Strophe:  'Bruder,  auf 
dein  Wohlergehen',  die  wir  auch  in  einem  anderen  Liede  bei  Rüdiger  antrafen,  ist  schon 
1770  gedruckt;  vgl.  Friedlaender  2,  212. 

Als  hauptsächlich  beachtenswert  teilen  wir  die  Nr.  1—6  und  8  hier  voll- 
ständig: mit. 


1)  1790  starb  der  in  Nr.  6  und  10  erwähnte  Kaiser  Joseph  II. 


29* 


Ui 


Beck: 


1. 

1.  Auf!  erthönet  frohe  Lieder, 
frohe  Pursehe  Lieder, 

ladet  Freunde  ein! 

Es  ist  Weisheit,  meine  Brüder, 

meine  liehe  Brüder, 

sich  des  Lebens  freyen; 

dieweil  wir  hier  beysammen  soyn, 

ey  so  laßt  uns  lustig  scyn! 

Der  edle  Gerstern  Saft 

gibt  dem  Pursche  Kraft. 

2.  Mancher  will  nur  stets  studieren, 
stets,  nur  stets  studieren, 

und  immer  säur  sehen; 
er  will  Catonem  immitireu, 
ja  iramitiren, 
immer  iinster  sehen. 
Aber  der  gefält  uns  nicht, 
der  keine  Zeit  abbricht, 
Sorgenfrey  zu  scyn: 
di'um  schenkt  die  Gläser  ein! 

o.    Drum,  Herr  Bruder, 
du  solst  leben, 
du,  ja  du  solst  leben 
und  dein  mägdchen  auch. 
Laß  dir  noch  ein  frisch  Glaß  gebeu, 
frisch  Glas  Bier  dir  geben, 
saufts  nach  Purschen  Brauch 
hier  in  Ceres  lleiligthum! 
Brüder,  seye  es  Pflicht  und  rühm 
sorgcnfrey  zu  seyn 
Drum  schenkt  die  Gläser  ein! 


1.  Der  Pursch  von  altem  Schrott 

und  Korn') 
glüht  voll  von  edelrauth; 
am  schweren  Stiefel  glirt  der  Sporn, 
die  Feder  strozt  am  Hut. 

2.  Als  Pursche  führt  er  stets  bey  sich 
den  Schmuck,  woran  ihm  liegt, 

den  Hieber,  der  sich  fürcliterlich 
an  seiner  seite  wiegt. 


3.  Was  kümmerts  ihn,  wenn  aucli  ein  Loch 
den  Ellenbogen  zeigt! 

Man  kennt  den  Teutschen  Pursche  doch, 
vor  dem  sich  alles  beugt. 

4.  Er  höhnt  Senat,  Magnificum 
und  Rector  ins  Gesicht: 

was  liegt  ihm  am  consilium! 
Das  beugt  den  Pursche  nicht. 

ö.  Weh  dir.  wenn  du  dich  zu  ihm  drängst 
im  parfümirten  Rock, 
er  flucht  dir,  du  Pomadohongst, 
dir  droht  sein  Knoteustock. 

I).    Für  Brüder  schlägt  sein  Busen  warm; 
er  fühlt  mit  ihrer  noth; 
für  sie  braucht  er  den  starken  .\rm 
und  scheuet  keinen  Todt. 

7.  Wenn  er  von  Hermanns  edelmuth 
und  Schlacliten  singen  hört, 

so  mahnt  ihn  sein  Teutsches  Blut: 
Sey  du  auch  Hermanns  werth! 

8.  Will  dann  der  Philister  Häuf 
das  lang  geborgte  Geld, 

sitzt  er  liey  nacht  und  nebel  auf, 
und  fort  ins  freye  Feld. 

'.K   Wer  sah,  vor  dem  er  jemals  wich? 
wer  s:!h  ihn  jemals  feig? 
die  Schaude  nahm  er  nicht  auf  sich, 
nicht  um  des  Mogols  Reich. 

10.  Er  ist  so  munter  wie  ein  Reh, 
das  um  die  Quelle  tanzt, 

wenn  er  den  grossen  Biertisch  sieht 
mit  Brüder[n]  Braf  umpflanzt. 

11.  Die  Gläser  sind  jtzt  alle  leer, 
die  Krüge  aber  voll: 

Drum  bringt  dann  frisches  Bier  dalier 
und  trinkts  der  Freundschaft  wohl! 

12.  Schon  schäumt  aus  vollem  Krug  der  Saft 
ins  leere  Glas  hinein, 

und  unserer  trauten  Brüderschaft 
soll  das  geweyhet  seyn. 


1)  Steht  auch  im  Akademischen  Lustwäldlein  von  Kaufseisen  (Altdorf  1 1!>4)  Nr.  47 
(10  Str.),  in  Melzers  Burschenliedern  (Wittenberg  1808.  Berliner  Ms.  gerni.  oct.  204) 
Nr.  :50  (11),  im  Kommersbuch  Germania  (Tübingen  181»)  Nr.  25  (.21),  Kommersbuch 
Teutonia  (Halle  ISIG)  Nr.  1!>  (14),  im  Berlinischen  Kommersbuch  1817  Nr.  i;>  (21),  im 
Teutschen  Liederbuch  für  Hochschulen  (Stuttgart  1823)  Nr.  25ö  (19),  in  Scherers  Deutschen 
Studentenliedern  (Lpz.  1844)  Nr.  G7  (24).  Vgl.  Keil,  Studentenlicder  des  17.  und  18.  Jahr- 
hunderts S.  72  und  Hoflmaun-Prahl,  Unsere  volkstümlichen  Lieder  1900  S.  42. 


Kleine  Mitteilungen. 


445 


13.  Er  trinkt  den  vaterländischen  Saft 
und  fühlt  sieh  Teutsch  und  groß, 

im  Arme  wohnet  Riesenkraft, 
und  Freiheit  ist  sein  Looß, 

14.  Wenn  lauter  Donner  oben  rollt, 
das  Hohgewülbe  kracht, 

so  frafjt  der  Pursch,  was  es  noch  wolt, 
und  setzt  sich  hiu  und  lacht. 

15.  Führst  dn  einst  fideliter 
dein  Miigdchen  an  der  Hand, 
so  denk  an  unsere  Bruderschaft 
in  dem  Philister  landl 

IG.   Wie  seelit;-,  der  sein  liebchen  hat, 
■wie  seelig  lebt  der  mann! 
In  Friedrichs  oder  Josephs  Stadt 
ist  keiner  besser  dran. 

17.  Ein  mägdchen  lieben  mit  Verstand 
ist  keine  mode  mehr, 

man  gibt  [ausgestrichen]  Hand 
und  spricht:   Votre  serviteur. 

18.  Ein  mägdchen  sein  wie  Postpai)ier 
verguldet  an  dem  Schnitt, 

Ein  mägdchen  so  wie  dieses  hier 
verdient  wohl  einen  Ritt. 

li).    Am  großen  Hut  brangt  feyerlich 
die  Landesväter  Reih: 
er  schäzt  ihn  mehr  bei  jedem  Stich, 
als  war'  er  gut  und  neu. 

20.  Er  schwört  beym  größten  Pursche  Hut, 
und  was  ihm  heilig  scheint, 

sich  ewig  der  Philister  bruth 
als  abgesagter  Feind. 

21.  Laut  douuernd  hört  man  ihn  im  Kampf 
die  schlanke  Klinge  ziehn; 

man  sieht  vor  seinem  Hieb  wie  Dampf 
[Die]  Sch[n]urren  und  Philister  fliehn. 

22.  Und  uns  gehöret  Hermann  an, 
und  Teil,  der  Schweizerpursch  [1.  Hcld| 
und  jeder  deutsche  Biedermann, 

wer  hat  den  Sand  gezählt? 


23.   Mit  Eichenlaub  deu  Huth  bekränzt, 
frisch  auf  und  trink  das  Bier, 
das  schäumend  euch  entgegen  braust 
im  Vaterlande  hierl 


3. 

1.  Percat  trifolium,  pereant  Philistri '), 
pereat  Magnificus, 

Pedell  und  auch  der  Syndicus 
nobis  odiosi. 

2.  Ein  flottes  Leben  füliren  wir, 
ein  Leben  voll  der  Wonne, 

die  Gaß  ist  unser  Standquatier, 

bey  Sturm  und  Wetter  schwärmen  wir, 

der  Mond  ist  unsere  Sonue. 

3.  Mihi  sit  propositum 
in  taberna  mori, 

Vinum  sit  appositum 
moricntis  ori. 

4.  Und  haben  wir  im  Gersten  Saft 
die  Gurgel  ausgebadet, 

so  haben  wir  muth  und  kraft, 
machen  mit  dem  Teufel  Bruderschaft, 
der  in  der  Hölle  bratet. 

ö.    Vita  nostra  brevis  est, 
brevis  et  jucunda; 
post  [ex]actam  juventutem 
post  molestam  senectutem 
nos  habebit  tumulus. 

(>.    Stirb  verfluchtes  Kleeblatt  aus, 
fahr  zur  Hölle  nieder, 
stirb  du  auch  magnificus, 
du  Pedell  und  Syndicus! 
Ihr  seyd  uns  zuwider. 


1.    Ich  bin  meinem  mägdcheu  gut'-), 
aber  auch  dem  Weine: 
wenn  das  närrchen  spröde  thut, 
laß  ich  sie  alleine. 


1)  Ein  Mischmasch  aus  Schillers  Räuberlied  (1780.  Friedlaender,  Das  deutsche 
Lied  im  18.  Jahrb.  2,  388),  der  ersten  Strophe  von  'Meum  est  propositum'  des  Arcbipoeta 
Walther  (ZfdA.  15,  4i)0)  und  zwei  Strophen  aus  einer  1776  gedruckten  Fassung  des 
»Gaudeamus  igitur'  (Keil  S.  165  =  Enders,  Euphorien  11,  384)  nebst  der  ebenda  über- 
lieferten Verdeutschung  der  einen  Strophe. 

2)  Eine  bessere  Fassung  bei  Melzer  1808  Nr.  7  verteilt  jede  Strophe  an  Solo  und 
Tutti.  Str  1,5  trinkst  —  l,s  Sprach  sie:  Schmollis,  Zecher!  —  2,2  drückte  —  2,4  ent- 
zückte —  2,5  leb  sie  so  —  2,6  wir  heute  leben  —  2,8  Gläser  heben. 


446 


Beck,  Lühmeyer,  Heuft: 


und  trink  auf  ilir  Wohlergehen 
diesen  vollen  Becher; 
würde  dies  das  närrchen  sehn 
hieli  sie  mich  ein  Zecher. 

2.    Die  mich  einst  mit  Zärtlichkeit 
an  den  Busen  drücket, 
Der  sey  die[se]s  Glaß  gcwcyht. 
weil  sie  mich  entzücket. 
Hundert  Jalire  denk  nur  so, 
wie  wir  alle  denken; 
Liebe  Brüder,  laßt  uns  froh 
volle  Gläser  senken! 


1.  Courage,  wohl  auf! 
Mein  froher  muth  nicht  singt, 

so  lang  das  Geld  im  Beutel  noch  klingt, 
ich  lebe  vergnügt,  bin  ein  Student, 
der  all  das  seine  bald  bringet  zu  End. 

2.  Ich  gehe  in  die  Scliuhl,  wo  Venus 

mich  lehrt, 
wo  man  die  mägdchcn  mit  Küssen  verehrt, 
da  frequentire  ich  bey  Tag  und  bey  Nacht, 
weil  Bachus  mich  selbst  zum  Praeses 

gemacht. 

3.  Vivat  es  lebe  ein  brafer  Jurist, 
dems  Corpus  juris  das  liebste  nicht  ist; 
es  lebe  dabey  das  schöne  Geschlecht, 
das  dem  .luristen  in  praxi  ist  recht! 

I.    Ihr  Bücher  liinwog,  euch  acht  ich 
nicht  mehr, 
für  mich  taugt  mehr  ein  schönes  Gesicht. 
Cupido  allein  bey  Bier  und  bey  Wein 
soll  stets  Professor  in  studiis  seyn. 

ö.    Wer  uns  fudirt,  die  Galle  aufrührt, 
dem  würde   mit  Lachen  der  Buckel  ge- 
schmiert; 


des  nachts  auf  der  Straß  die  Klinge  mai> 

wetzt, 
mit  hauen  und  Stechen  wird  mancher  vcr- 

lezt. 

6. 
Landesvafer. ') 

1.  Pursclie  lermet,  sauft  und  schwärmet, 
nur  vermeidet  Zank  und  Streit, 

laßt  die  Pliz  Philister  lachen, 
laßt  sie  saure  minen  machen, 
nur  zum  sauffen  scyd  bereit! 

2.  Heinrictto,  die  BrunoUe, 
sey  bey  jedes  Bursche  Schmauß, 
sie  muß  sauffen,  taback  rauchen, 
muß  zu  jedem  Pursche  tauchen: 
sonst  mit  ihr  ins  nachtquatier. 

:>.    Furcht  und  Schrecken  kann  erwecken 
unser  ungeheurer  Hut. 
wenn  ihn  nur  Philister  sehen, 
müssen  sie  auß  Wege  gehen 
unser  Hut  ist  voller  Wuth. 

i.    Unser  Säbel  ist  capable 
jedem  Streich  zu  widerstehen, 
wenn  ihn  nur  der  Pursch  regieret, 
und  der  Kerl  den  Streich  verspüret, 
pereat  zum  Zeitvertreib. 

5.    Jagt  die  Buben  aus  der  Stuben. 
der  fidele  Pursche  sizt; 
wo  deutsche  Pursche  schwärmen, 
dürfen  keine  Buben  lermen, 
fort  mit  euch  ins  Knotenroich. 

(j.   Josephs  Söhne!  laut  erthöne 
unser  Vaterlands  Gesang! 
Den  Beglücker  deutscher  Staaten, 
den  Vollender  großer  Tliaten 
preise  unser  Lobgesang. 


1)  Über  die  verwickelte  Geschichte  dieses  Liedes  vgl.  Kopp,  Deutsches  Volks-  und 
Studentenlied  in  vorklassischer  Zeit  1899  S.  229— 2;5;>,  Friedlaendcr  2,  .'öl  und  Hoffmann- 
Prahl  S.  11.  Die  1.  Strophe  unserer  Fassung  erscheint  1775  (bei  Keil  S.  181);  'Bursche, 
lärmet,  sauft  und  schwärmet',  in  der  Liebcs-Kose  o.  J.  Nr.  3G;  'Musen,  lärmet',  in  Raufs- 
eisens Akademischem  Lustwäldlein  1794  Nr.  40;  'Brüder,  lärmet'  =  Berlinisches  Kommers- 
buch 1817  Nr.  58  (4);  umgodichtct  bei  Kindleben,  Studcntenlieder,  Halle  1781  S.  15: 
'Freunde,  singet,  tanzt  und  springet'  ^  Rüdigers  Auswahl  guter  Trinklieder  Halle  1791 
S.  19.  —  Str.  2  bei  Kindleben  S.  15:  'Antoinctte  die  Brünette  komm  an  unsre  treue  Brust' 
und  Rüdiger  1791  S.  49.  —  Str.  G-8  stammen  aus  A.  Niemanns  Vaterlandsliod  'Alles 
schweige',  dessen  Beginn  hier  als  9.  Strophe  folgt;  es  stellt  in  Niemanns  Akademischem 
Liederbuch,  Dessau  und  Leipzig  1782  S.  111.  Die  erste  Stroplie  auch  bei  Rüdiger  1791 
S.  47  und  im  Comracrsch-Buch  1795  S.  23. 


Kleine  Mitteilungen. 


447 


7.  Joseph  lebe,  ihn  erhebe 
nur  iler  brafe  musensohii, 

Herz  und  Hand  dir,  Herr,  zu  weyhen, 
fanden  wir  uns  hier  in  Reyhen, 
segnen  dich  auf  deutschem  Thron. 

8.  Leer  den  Becher,  junger  Zecher, 
trink  den  Saft  der  Fröhlichkeit I 
Jeder  inachs  so  meiner  Brüder, 

trink  das  Glas  hier  deutsch  und  bieder 
unserer  werthen  Freundschaft  zu. 

9.  Alles  schweige,  jeder  neige 
milden  Thönen  nur  sein  Ohr, 
hört  ich  siug  das  Lied  der  Lieder! 
hört  ihr  meine  lieben  Brüder, 
hört  ihr  Brüder  insgesamt! 

Ravensburg. 


(Das  folgende  Blatt,  welches  mindestens 
noch  5—6  Strophen  dieses  „Landesvaters" 
enthielt,  ist  leider  ausgerissen). 

8. 

Solo:    Ein  reizend  mägdchen  und  gut  Bier. 
Chor:    verjagen,    verjagen,    verjagen    Gram 

und  Grillen; 
Solo:    Drum,    liebe  Brüder,   laßt   uns  hier 
Chor:    fein  öfters  die  SchmoUis  Gläser  füllen: 
Solo:    Sauft  tapfer  bis  zum  Ueberfluß! 

Es  lebe  mein  mägdchen,  das  blühen 

muß, 
um  meinen  Durst  zu  stillen 
Chor:    um  deinen  Durst  zu  stillen. 

Paul   Beck. 

(Die  Anmerkungen  von  J.  Bolte.) 


Zum  Siebeuspruuge. 

(Oben  15,  282.  17,  81.) 
Einen  weiteren  kleinen  Nachweis  kann  ich  beibringen  aus  meiner  Vaterstadt 
Rinteln  an  der  Mittelweser,  wo  ich  1847  geboren  bin.  Dort  habe  ich  in  meinen 
Knabenjahren  —  es  wird  nach  Mitte  oder  gegen  Ende  der  fünfziger  Jahre  ge- 
wesen sein  —  mehrmals  die  Siebensprünge  tanzen  sehen.  Der  Tänzer,  der  von 
uns  Knaben,  auch  wohl  von  Erwachsenen,  zu  dem  Tanze  aufgefordert  wurde,  war 
ein  Mann  aus  dem  Volke  (Karl  Piffer);  sein  Tanz  galt  den  Zuschauern  als  eine 
Belustigung,  die  den  Tänzer  zugleich  mehr  oder  weniger  in  unseren  Augen  herab- 
setzte. Ich  erinnere  mich  bestimmt  der  folgenden  (von  dem  Tanzenden)  dabei 
gesungenen  (oder  mit  Singstimrae  gesprochenen?)  Worte,  die  ich  hochdeutsch 
in  der  Erinnerung  habe  und  die  wahrscheinii^ch  auch  damals  hochdeutsch  (früher 
sicher  plattdeutsch!)  gesungen  wurden:  „Tanz  mir  mal  die  Siebensprünge!  Seht 
mal,  wie  ich  tanzen  kann,  tanzen  wie  ein  Edelmann".  An  die  Singweise  habe  ich 
keine  bestimmte  Erinnerung. 

Kassel.  Edward  Lohmeyer. 


Hausiuschrifteii  aus  Detmold.') 

1.  DER  .  HEB  •  BEWAR  •  DEINEN  •  AVS  ■  VND  •  EINGANGK  •  VAN  •  NV  •  AN  •  BIS  • 
IX  •  EWICHEIT  •  ANNO  •  l-G-0-4- 

(Krummestrasse  Nr.  2). 

2.  DIS  IRDISCHE  HAVS  VERGENGLICH  IST,  DAS  HIMMELSE  HAVS  MEIN 
WONNVNG  IST,  EWIG  MEIN  FROMER  CHRIST- /  HEBMAN  •  KATO  •  ELIESABET  • 
LOMANS  .  ANNO  •  DOMINI  •  1645- 

(Krummestrasse  Nr.  42.     Der  Spruch  steht  in  einer  langen  Reihe.) 


1)  [Zu  der  oben  15,  428f.  verzeichneten  Literatur  über  deutsche  Hausinschriften 
kommt  noch  Aug.  Andrae,  Hausinschriften  aus  deutsehen  Dörfern  und  Städten  (Globus 
89,  181—189.  1906).  John,  Sitte  in  Westböhmen  1905  S.  245.  Kassel,  Jahrbuch  für 
Geschichte  Elsass-Lothringens  21,  265—347.  1905.  Bailas,  Hausinschriften  in  Linz  und 
Unkel  (Zs.  i.  rhein.  Volksk.  4,  216  f.)] 


448  Houft,  J[itzschke,  Rcitcrer: 

3.   CANDIDE  ET  CONSTANTER- 
ANNO  1734- 

(Neustadt  Nr.  6}. 

4.  HERR  ICH  TRAUE  AUF  DICH.  LAS  MICH  NIMMERMEHR  ZU  SCHANDEN 
WERDEN-  ERRETTE  MICH  DURCH  DEINE  GERECHTIGKEIT  UND  HILF  MIR- 
PS -71.1753  • 

(Schülerstrassc  Nr.  11.     Der  Spruch  steht  in  einer  langen  Reihe.) 

5.    I'ax  intrantibus.    Salus  exeuutibus.     Concordia  habitantibus. 
Vcv  l}'S.l\Vi  läyt  Sic  arf-,encY  aufs  her  cvbcii  roadjfen  unb  ein  rcruiiiiftioicr  rcradjtct  fic  iiidjt. 
Ernst  .Foliaiin  von  Schroederss.     17!)0. 
(Langestrasse  Nr.  55,  Hof'apotheke). 

6.  DIE  MIR  NICHTS  GÖNNEN  UND  NICHTS  GEBEN,  Ml'SSEN  DENNOCH 
LEIDEN,  DAS  ICH  KAN  LEBEN.  (JOTT  ERHALTE  DIE  EINWOHNEl!  IND  DIS 
HAUS. 

(Kruratnestrasse  Nr.  10.     Der  Spruch  ist  nur  eine  Reihe.) 

7.  MEIN  GOTT  LASS  DIR  BEKOHLEN  SEYN  DIESES  HAUS  SAMl'T  DIE 
DARINNEN  GROSS  UND  KLEIN.  ERHALTE  SIE  GESVNDT,  GIB  IHNEN  BRODT. 
BEWAHRE  SIE  VOR  UNGLÜCK  UND  FEUERSNODT. 

(Langestrassc  Nr.  20.     Eine  lange  Reihe.) 

8.  yKDIBVS  IN  PATRIS  MIHI  MANSIO  FIRMA  PAK-VIA  EST.  [Tunc?]  iERIiwS 
CVRIS  INVIDIAQVE  PROCVL. 

(Bruchstrasse  Nr.  8.    Eine  Reihe.) 

Oeldc  i.  "W.  Hans   Ileuft. 


Kinderreim  und  Aberglaube»  aus  Weimar  uud  Ettersburg. ') 

1.  In  der  Stadt  "Weimar  benutzen  die  spielenden  Kinder  beim  Aus/.äiilen 
neben    den    aligemein  verbreiteten  Verschen  auch    eins  von  lokaler  Färbung.     Es 

lautet: 

Weimar,  Jena,  Eisenacb, 
Oberweiniar,  Vicsolbach. 
Ehringsdorfer  Lagerbier 
Schmeckt  so  gut,  das  trinken  wir. 

(Ehringsdorf  mit  grosser  Brauerei  und  Oberweimar  liegen  südlieli  dicht  vor  Weimar, 
Vieselbach  au  der  Eisenbahnstreeke  nacli  Erfurt,  westlich  von  Weimar.) 

2.  In  Ettcrsburg  (nordwestlich  von  Weimar)  sagten  früher  die  alten  Leute 
von  einem,  der  sich  beim  Abendmahl  recht  fromm  und  andächtig  stellte,  im 
Leben  aber  keinen  christlichen  Wandel  zeigte:  „Dar  Halonke  duht,  als  wulle  är 
dr  lieben  Marie  de  Fiehschen  abbeisse". 

3.  Wenn  ebenda  die  grosse  Kirchenglocke  zuweilen  etwas  dumpf  und 
traurig  klang,  hiess  es:  „Horcht!  's  hängt  eens  au  dr  Glocke''  (=  es  wird  bald 
Traucrgeläut  für  einen  Gestorbenen  geben). 

•1.  An  Sonn-  und  Feiertagen  durfte  man  nicht  spinnen,  sonst  wickelte  Frau 
Holle  den  Spinnerinnen  Unrat  und  Schmutz  in  den  Rocken. 

1)  Die  erste  Nachricht  verdanke  ich  Herrn  Biirgcrschullehrer  Spangcnbcrg  in  Weimar, 
die  folgenden  Herrn  Bfirgerschullchrer  a.  D.  Unrein  in  Weimar,  gebürtig  aus  Ettcrsburg. 


Kleine  Mitteiluugen.  44!.) 

5.  Folgte  im  Sommer  auf  den  Regen  wieder  heller  Sonnenschein,  so  sagte 
man;    „De  liebe  Marie  trocknet  äre  Wengeln  (=  ihre  Windeln)  iifii  Zaune''. 

li.  Eegnet  oder  schneit  es  am  Karfreitag,  so  gibt  es  kein  gutes  Jahr,  denn 
„es  hat  dem  Herrn  Jesus  ins  Grab  geregnet  (geschneit)". 

7.  Wer  in  der  Osternacht  zur  Geisterstunde  stillschweigend  Wasser  aus 
dem  Dorfbrunnen  holt  und  den  rechten  Augenblick  trifft,  der  hat,  wenn  er  kostet. 
Wein  geschöpft.  Das  Osterwasser  muss  man  aufbewahren  und  sich  das  Gesicht 
damit  waschen,  dann  bekommt  man  „ein  Irisches,  schönes  Aussehen". 

8.  Am  Ostermorgen  kann  man  sehen,  wie  die  Sonne  beim  Aufgehen  „drei 
Freudensprünge  macht". 

!).  In  der  Walpurgisnacht  reiten  die  Hexen  auf  den  Blocksberg  und  „tanzen 
dn  Schnio  wäg".  Am  Abend  vor  Walpurgis  versteckte  man  daher  regelmässig 
<lie  Heu-  und  Mistgabeln,  sowie  die  Reisigbesen,  damit  sie  nicht  von  den  Hexen 
gestohlen  und  zum  Ritt  auf  den  Blocksberg  benutzt  würden,  und  machte  mit 
Kreide  drei  Kreuze  von  aussen  an  die  Stalitüren.  Im  Stallinnern  stellte  man  den 
Besen  mit  dem  Stiele  nach  unten  neben  die  Tür,  um  dadurch  den  Hexen  den 
Eintritt  zu  verwehren,  da  sie  sonst  das  Vieh  behexen  und  den  Kühen  die  Milch 
entziehen. 

10.  Der  Glaube  an  Hexen  war  allgemein  verbreitet  und  ist  noch  immer 
nicht  ausgestorben.  Einer  Hexe  durfte  man  nicht  Ja  und  Nein  antworten,  sonst 
wurde  man  behext.  Ebenso  allgemein  glaubte  man  an  Drachen,  und  zwar  „reiche", 
die  den  Menschen  allerlei  Gutes  durch  die  Feueresse  zutragen,  wie  „arme",  die 
alles  Gut  aus  dem  Hause  forttragen.  Wenn  eine  Hexe  einem  Drachen  nicht  zu 
Willen  ist,  so  wird  sie  von  ihm  „braun  und  blau  gedroschen";  daher  rühren  die 
braunen  und  blauen  Flecken  auf  den  Gesichtern  mancher  Hexen. 

11.  Schüttelt  der  Wind  in  den  zwölf  Nächten  tüchtig  die  Obstbäume,  so 
gibts  im  Herbst  viel  Obst.  Eine  reiche  Obsternte  erzielt  man  auch,  wenn  man 
in  der  Neujahrsnacht  in  blossem  Hemd  stillschweigend  die  Obstbäume  mit  Stroh- 
seilen umwindet. 

Weimar.  Paul   Mitzschke. 


Die  zwölf  goldenen  Freitage. 

Zu  der  oben  15,  96 — 98  mitgeteilten  hsl.  Empfehlung,  an  zwölf  Freitagen  zu 
fasten,  vermag  ich  jetzt  eine  gedruckte  Fassung  aus  einem  fragmentierten  Flug- 
blatte in  8"  nachzutragen: 

Geistliches  Gnadonbrünnlein  mit  zwölf  Röhren,  das  ist,  eine  kurze  Form 
und  Weise,  die  allerseligste  Mutter  Gottes  Maria  an  12  heiligen  Freytagen  zu  ver- 
ehren,  und  jede  Woche  doch  wenigstens  ein  Mal  um  ein  seliges  Ende  anzurufen. 

Papst  Eugeuius  [also  nicht  Clemens]  schreibt  um!  lehret:  wenn  ein  christlicher 
Mensch  nachfolgeude  12  Freytage  zu  Ehren  der  allerheiligsten  Mutter  Gottes  Maria 
bei  Wasser  und  Brod  fastet,  dem  schicket  sie  12  Tage  vor  seinem  Ende  zu  Hülf  und 
Trost  eine  Schaar  heiliger  Engel,  damit  er  von  Gott  nicht  könne  geschieden  -werden,  und 
ihm  werden  gegeben  sieben  Gaben  des  heiligen  Geistes:  Itens  daß  er  keines  bösen  Todes 
sterben  wird:  2tens  daß  er  wird  nicht  verdammet  werden,  wenn  er  dem  Guten  nachstrel)t; 
.'Uens  daß  er  in  keine  Armuth  kommen  wird,  wenn  er  entbehren  lernt;  4tons  daß  er  ohne 
(las  liochwürdigste  Sakrament  nicht  sterben  wird:  öteus  daß  er  sein  Ende  12  Tage  vorher 
erfahren  wird;  Gtens  daß  ihm  die  seligste  Mutter  Gottes  mit  allen  Heiligen  dienen  will; 
und  7tens  daß  sie  seine  Seele  in  das  ewige  Leben  führen  wird.  Wer  nun  diese  heiligen 
(Jebcthe  der  12  Freytage  weiß,  der  soll  sie  auch  andern  offenbaren. 


450  Reiterer,  Schütte: 

Die  zwölf  Freytage:  Der  erste  Frcjtag  ist  vor  des  Herrn  Fastnailif :  der  '2to 
vi)r  unser  lieben  Frau  Verkündiguiigstag;  der  ote  ist  der  heilige  Charfreytag;  der  -Ite 
ist  vor  Uüsers  Erlösers  Himmelfahrt;  der  öte  ist  vor  dem  heiligen  Pfingsttage:  der  6te 
ist  vor  St.  Johannis  Baptistatag:  der  7te  vor  St.  Petri  und  Paulitag;  der  8te  vor  unser 
lieben  Frau  Himmelfahrt:  der  9te  ist  vor  dem  St.  Michaelitag:  der  lOte  vor  St.  Simon 
Judätag:  der  Ute  ist  vor  dem  St.  Andreastag:  imd  der  12te  ist  vor  dem  heiligen  Christtage. 

[Bei  den  Rumänen  im  Harbachtale  in  Siebenbürgen  beginnt  der,  welcher  eine 
langwierige  Krankheit  hat  oder  einen  heissen  Wunsch  erfüllt  sehen  möchte,  ein 
zwölffreitiigiges  Fasten.  Er  fastet  jeden  Freitag  vor  einem  grösseren  Feiertag, 
also  vor  dem  h.  Theodor,  vor  den  40  Miirtyrern,  vor  Ostern,  vor  dem  h.  Georg, 
vor  Himmelfahrt,  vor  Pfingsten,  vor  Peter  und  Paul,  Ilie,  Christi  Verkliirung, 
Kreuz-Erhöhung,  Nicolai  und  Weihnachten.  (Paulinc  Schullerus,  Archiv  f.  siebenbürg. 
Landeskunde  n.  F.  33,  351.    190i3.)] 

Weissenbach,   Post   Liezen.  Karl    Ueiierer. 


Segenspniche  aus  den  Alpen. 

Meine  Nichte  Angela  Millinger  aus  St.  Martin  a.  d.  S.  brachte  mir  am  .s.  Oktober 
100.)  ein  geschriebenes  Buch,  in  dem  sich  mehrere  'Segen  und  Gebete'  beiinden. 
Der  Segen,  welcher  zu  beten  ist,  so  man  ausgeht,  lautet: 

Ein  schöner  Segen,  so  man  ausgeht. 

0  du  allerheiligste  Dreifaltigkeit  in  einer  Gottheit,  Gott  Vater  t,  Gott  Sohn  j,  und 
Gott  heiliger  Geist  f  behütet  mich  und  alle  meine  Leute,  die  mit  mir  ausgehen,  oder  zu 
Haus  bleiben,  anheute  diesen  ganzen  Tag  und  Nacht,  und  allzeit  vor  allem  Übel  und 
Herzcnleid,  am  Leib  und  an  der  Seelen,  und  am  Leben  allzeit,  Amen.  Sowohl  als  der 
Herr  Jesus  lebet  und  schwebet,  fileich  so  wahrhaft  wird  mich  auch  N.  N.  sein  hlg.  Kngcl 
behülhen,  im  ganzen  Hin-  und  Hergehen,  (iott  der  Vater  ist  meine  Macht,  Gott  der  Sohn 
ist  meine  Kraft,  Gott  der  hlg.  Geist  ist  meine  Weisheit.  Der  Engel  (iottes  schlage  alle 
meine  Feind  und  Wiedersacher  auf  die  Seiten,  Amen,  ttt 

Ein  gar  kräftiger  Segen 
(zur  Zeit  eines  bösen  Ungewitters  zu  sprechen). 

Jesus  Christus  ein  König  der  Glory  ist  gekommen  in  Frieden  t  Gott  ist  Menscli 
geworden  f  und  daß  Wort  ist  Fleisch  geworden  f  Christus  ist  von  der  Jungfrau  Maria 
geboren  worden  f  und  am  t  gestorben  t  Christus  ist  von  den  Todten  auferstanden  t 
Christus  ist  gegen  Himmel  gefahren  f  Christus  überwindet  f  Christus  herrschet  t  Christus 
regieret  f  Christus  wolle  uns  vor  allen  bösen  Wetter,  Donner.schlag,  Blitzstrahlen,  vor 
Hagel  und  Regengüssen  Behüthen  •]■  Christus  gieng  in  uiitten  unter  sie  im  Frieden  f  und 
das  Wort  ist  Fleisch  geworden,  und  hat  unter  uns  gewohnet  f  Christ  ist  bey  uns  mit 
.Maria  f  fliehet  ihr  wiedrigen  bösen  Geister  der  Elemente,  denn  der  Lob  von  dem  Geschlechte 
Juda,  die  Wurzel  Davids  hat  überwunden  f  o  hlg.  Gott  f  h.  starker  Gott  f  h.  unsterb- 
licher Gott  t  erbarme  dich  unser.    Amen. 

C  +  M  +  B 
'■->  Vater  unser  und  3  Ave  Maria. 

Weissenbach,  Post  Liezen,  Steiermark.  Karl   Heiterer. 


Kleine  Mitteilungen.  451 

Braunschweigische  Segeuspvüche. 

Ausser  den  Heilsegen,  die  ich  oben  10,  G2f.  veröffentlicht  habe,  sind  noch 
l'olgende  zu  meiner  Kenntnis  gekommen: 

1.  Gegen  das  Herzspann: 

Ribbenherzspann,  ik  strike, 
In  Goddes  Namen  wike. 
Im  Namen  usw. 

2.  Gegen  das  Bluten: 

Blut,  steh  stille, 
Denn  das  ist  Gottes  Wille. 

Wie  selig  ist  der  Tag,  Du  sollst  nicht  bluten  noch  schwären, 

Wie  selig  ist  die  Stunde,  Nicht  wehe  tun  noch  zehren. 

Wie  selig  ist  die  Wunde,  Im  Namen  der  Dreifaltigkeit,  Gott 

Wie  selig,  was  ich  sag!  Vater,  Sohn  und  heiliger  Geist. 

Dieser  Spruch  muss  dreimal  gesagt  werden,  wobei  man  drei  Pinger  der 
rechten  Hand  auf  die  Wunde  legt.  [Vgl.  Ebermann,  Blut-  und  Wundsegen  1903 
S.  71—75.] 

3.  Gegen  die  Rose.  Man  hauche  auf  diejenigen  Körperteile  des  Leidenden, 
die  von  der  Rose  ergriffen  sind,  und  sage  dabei  leise  folgende  Worte: 

Die  Rose  hat  in  dieser  Welt  +  Rose  +  Rose  +  weiche, 

Uns  Gott  als  Königin  gesandt  Flieh  auf  eine  Leiche 

Und  über  ihr  das  Sternenzelt  Und  lass  die  Lebenden  befreit 

Als  Krönungsmantel  ausgespannt.  Von  nun  an  bis  in  Ewigkeit!     Amen. 

(Diesen  letzten  Segen  habe  ich,  wie  den  vorigen,  von  einem  alten,  nun  ver- 
storbenen Manne  in  Schöningen  erhalten,  der  die  beiden  Sprüche,  wie  er  sagte, 
aus  einem  Kalender  in  sein  Notizbuch  geschrieben  hatte). 

Drei  Rosen  hatte  sie')  in  ihrer  Hand.  Die  dritte  verschwand 

Die  erste  vergab  sie,  In  ihrer  Hand. 

Die  zweite  zerbrach  sie,  Im  Namen  usw. 

Was  ich  hier  linde, 
Das  verschwinde. 

i.  Gegen  die  Gicht.  Die  Gicht  bespricht  man  bei  zunehmendem  Monde  drei 
Freitage  hintereinander  auf  einem  Kreuzwege  mit  den  Worten: 

Was  ich  sehe,  das  nehme  zu, 
Was  ich  fühle,  das  nehme  ab. 

5.    Gegen  das  Oberbein: 

Der  Mond,  den  ich  sehe,  der  nehme  zu,        Wie  der  Tote  im  Grab. 
Und  mein  Oberbein,  das  ich  bestreiche,  Im  Namen  Gottes  usw.,  aber  „amen"  darf 

Das  nehme  ab  nicht  gesagt  werden. 

G.  Gegen  Blasen  auf  der  Zunge  muss  dreimal  stillschweigend  gesagt  werden: 

Wer  mik  belügt,  will  ik  wedder  beieigen, 
Sali  drei  Schock  Kreien  dorch  en  Ars  üeigcn. 

Braunschweig.  Otto   Schütte. 


1)  Wohl  die  Mutter  Maria. 


45-2  nolte: 

Charles  Perrault  über  französischen  Aberglauben. 

Dass  Charles  Perrault  (geb.  1628,  gest.  1703)  nicht  bloss  von  literarischem 
Interesse  geleitet  ward,  als  er  die  Volksmärchen  zuerst  in  die  französische  Literatur 
einführte,  sondern  auch  zugleich  eine  gewisse  Freude  au  der  Beobachtung  der 
Erzählungsweise  des  Volkes  und  seines  Vorstellungskreises  empfand,  ist  ein  nahe- 
liegender Gedanke.  Einen  direkten  Beweis  jedoch  dieser  volkskundlicheu 
Neigungen  liefern  die  nachfolgenden,  bisher  ungedruckten  Aufzeichnungen  von 
ihm,  auf  die  erst  jüngst  Pletscher  (oben  lii,  451)  hingewiesen  hat.  Sie  stehen 
auf  zwei  Quartblättern,  die  der  auf  der  Pariser  Nationalbibliothek  (Fonds  francjais 
23  991.  84  El.  fol.)  befindlichen  Handschrift  von  Perraults  'Memoires  de  ma  vie' 
angehängt  sind  und  von  P.  Patte,  dem  ersten  Herausgeber  dieser  Memoiren 
(Avignon  1759),  nicht  beachtet  wurden.  Da  die  späteren  Editoren,  Collin  de 
Plancy  (18-26)  und  Paul  Lacroix  (1842  und  1878),  sich  mit  einem  Abdrucke  von 
Pattes  Text  begnügten,  blieben  auch  ihnen  diese  aus  dem  vorletzten  Lebensjahre 
Perraults  herstammenden  Blätter  unbekannt. 

Ich  habe  die  einzelnen  Sätze  Perraults  numeriert  und  mit  ein  paar  Literatur- 
nachweisen versehen,  auf  die  man  holfentlich  nicht  die  angehängten  tadelnden 
Bemerkungen  des  Autors  über  die  Zitierwut  unselbständiger  Jünglinge  anwenden  wird. 

[85a]  Des  superstitions  et  erreurs  Populaires. 

1.  Qui  pourroit  les  recueillir  toutcs,  feroit  Ic  plus  gros  liure  qui  fiit  jainais. 

2.  Qiie  c'est  vii  mauuais  presago  d'estre  treize  a  table  et  qu'il  cn  nieurt  dans 
ramie[e].     Si  cela  estoit  ainsi,  ce  seroit  encore  pis  d'j  estre  quatorze. 

:'>.  Que  de  manger  de  cerueaux  auant  la  St.  Laurent  cela  lait  auoir  mal  aux  dcnts 
a  ceux  (|ui  cn  mangent. 

4.  Quil  y  a  moins  de  mo6lle  dans  les  os  des  animanx,  lorsque  la  lune  est  eu 
decours  qiie  quand  eile  [est]  plainc,  qu'  II  y  a  plus  de  ehair  dans  les  ecreuisscs  en  pleine 
lune  qu'cn  vn  autre  temps  etc. 

5.  Talis  tota  qualis  quarta,  nisi  miitetur  in  soxta. 
t;.    Quand  II  pleut  a  la  St.  Geruais, 

II  pleut  quarante  jour.s  apres. 

V.  II  ii'y  a  aucune  assmance  aux  predictions,  quellos-quellcs  soient  particulicres 
aux  lioroscopes.  II  est  vray  qu'  II  arriue  quelque  fois  qu'elles  rencontrent  Wen,  mais  II 
vaudroit  mienx  qu'elles  ue  rcncont[r]assent  jamais;  car  si  elles  ne  rencont[r]oient  Jamals, 
oii  pourroit  tenir  pour  certain  le  contraire  de  ce  qu'elles  auoicnt  predit. 

8.    Qu'  II  y  a  des  jours  heureux  et  d'autres  malheureux. 

!•.    Que  les  pierrcs  sont  opiuiatres. 


2.  Ureizebn  bei  Tisch.     Wauder,  Deutsches  Sprichwörterloxikon  5,  1105. 

3.  .■Vndere  Keifehi  für  den  Laurentiusta«;  1 10.  August)  bei  Wander  2,  1821  und 
Yermoloff,  Die  landwirtschaftliche  Volksweisheit  1,  :'i57f.  (1!K>5). 

4.  über  den  Einfluss  des  Mondes  auf  das  Wadistum  der  Pflanzen  vgl.  Gerhardt, 
Der  Aberglaube  in  der  fz.  Novelle  des  16.  Jahrh.  (Diss.  Rostock  1906)  S.  116. 

6.  lObcnso  bei  Lc  lioux  de  Lincy,  Proverbcs  frauQais  1,  78  (1842).  Caleudrier  des 
bons  labourcurs  1618  (ebenda):  S'il  pleut  la  veille  saint  Gervais,  |  Pour  les  bleds  c'est 
signo  mauvais  |  .  .  .  A  cause  que  par  trente  jours  |  Le  temps  humide  aura  son  cours. 
Yermolofl"  1,  289  zum  V.K  Juni. 

7.  Horoskop:    Gerhardt  S.  115. 

8.  Über  Unglückstagc  vgl.  Wuttke,  Der  deutsche  Volksabcrglaube  §66.  Gerhardts.  118. 
9    l'ber  Beseelung   der  Felsen   vgl.  Siibillot,   Folklore    de  France  1,  325;    über  die 

Eigenschaften   der  Edelsteine   Rieh.   Schröder,   Glaube    und   Aberglaube   in   den   afz. 
Dichtungen  1886  S.  120-125. 


Kleiue  Mitteilungen.  ^y^ 

10.  Quo  de  rencoutrcr  vn  chati-e  le  niatin  au  sortir  de  son  legis  portc  malheur. 

11.  Que  de  repandre  du  Sei  sur  la  table  ou  on  mauge  porte  malheur. 

12.  Que  de  donner  vu  cousteau  ou  des  ciseaux  rompt  Paraitio  et  la  bounc  intelli- 
gence. 

IH.    Que  qui  rit  le  vendredi,  pleuve  le  dimancbe. 

14.  Que  la  rencontre  d'vne  belette  au  trauers  de  son  cheinin  est  de  mauuais 
augure. 

[85 b]  1').  Que  le  septierae  garcon  ne  saus  aucune  Alle  entre  eux  guerit  des  coucllos 
[?  ecrouelles]  et  que  la  septieme  fille  nee  sans  aucun  garcon  entre  elles  guerit  de  la 
tigne  [teigne]. 

IG.  Qu'  II  y  a  toujours  ((uelque  mouient  au  jour  du  samedi  ou  l'on  voit  hiire  le 
soleil. 

17.  Qu'vn  verre,  vne  Porcelaine  ou  vn  niiroir  casser  presage  quel(|uc  malheur. 

18.  Que  d'estre  en  vne  certaine  place  ou  d'estre  aupres  de  certaines  personnes  i)urto 
malheur  au  Jeu. 

19.  Qu'  11  y  a  des  saints  geleux  au  mois  d'Auril,  cest  a  dire  qu'  II  gele  plus 
ordinairement  le  jour  de  ces  saints  la  que  la  veille  ou  lendemain. 

20.  Qu'vn  borgne,  qu'vn  boiteux,  qu'vn  bossu  seit  plus  meritant  ou  ayt  plus  d'esprit 
qu'vn  autre. 

21.  Quo  le  chant  d'vno  ch[o]uetto  ou  d'vne  orfraye  presage  la  inort  d'vn  malade. 

22.  Que  de  jeunor  le  jour  de  Pasque  euipesche  d'auoir  la  fieure  pendant  toute 
l'anuee  et  jusqu'a  I'autre  Pasque  au  moius. 

23.  Que  le  nombre  impair  est  plus  heureux  que  le  nonibre  pair. 

24.  Que  l'hyuer  est  toujours  tel  que  le  jour  de  St.  Denis,  l'roid,  s"il  est  froid, 
pluuieux  s"il  est  pluuieux,  serein  s'il  est  sereln  etc. 

25.  Qu'  II  ne  faut  poiut  purger  ny  se  baigner  pendant  les  jonrs  caiiiculaires. 


10.  Der  Augang  eines  Entmannten:    Lucian  bei  Grimm,  Mythologie  .'!,  o23. 

11.  Salz  verschütten:  Wuttke  §  29;i.     Liebrecht,  Zur  Volkskunde  S.  ;!:U. 

12.  Messer  nicht  verschenken:  Les  evangiles  des  quenouilles  1855  p.  41  (vgl.  oben 
13,  457):  'Cellui  qui  estrine  sa  dame  par  amours,  le  jour  de  l'an,  de  couteaux,  sachiez 
que  leur  amour  relroidera'.     Wuttke  §  5(57. 

1:*).  Le  Roux  de  Lincy  1,  85:  'Tel  rit  le  vendredi,  qui  dimanche  pleurera'.  Wauder 
1,  1158.    Gerhardt  S.  118. 

14.  Angaug  eines  Wiesels:  Grimm,  Mytliol.^  S.  loSl.  3,  324.  Rolland,  Faune 
populaire  de  la  France  1,  53.  7,  123. 

15.  Heilkraft  des  siebeuten  Sohnes:  Grimm  '■'>,  440.  Wuttke  §47'.).  Liebrecht 
S.  346  f. 

16.  Le  Ploux  de  Lincy  1,  82:  'Nul  samedy  sans  soleil'  (Grnteri  Florilegium  1610) 
und:  'Le  soleil  par  excellence  |  Au  samedi  fait  la  reverencc'  (Calendrier  1618).  Wander 
4,  611 :  'Kein  Sonnabend  hat  so  wenig  Gluck,  die  Sonne  scheint  einen  Blick'.  Dictionnaire 
des  proverbes  danois  1761  p.  397:  'Ingen  loverdag  uden  soel'.  Harreboraee,  Spreekwoorden- 
boek  2,  .506:    'Geen  zaterdag  zoo  kvpaad,  oi'  de  zon  schijnt  vroeg  of  laat'.     Wuttke  §  72. 

17.  Zerbrechen  von  Glas:    Wuttke  §293. 
19.  Kalte  Tage  im  April:    Yermoloff  1,  201f. 

21.  Eulenschrei:  Grimm  3,  485  nr.  8.  Wuttke  §  274.  Evangiles  des  quenouilles 
p.  48:  'Quand  le  seigneur  d'un  Iiostel  est  malade,  et  un  corbauld  vient  crier  dessus  la 
cheminee,  c'est  grant  signe  qu'il  mora  de  ceste  maladie'.  Rolland  2,  46.  Roemer,  Aber- 
glaube bei  den  Dramatikeru  des  16.  Jahrh.  in  Frankreich  (Diss.  Rostock  1903)  S.  43f. 

23.  Vergil,  Ecl.  8,  75:  'Numero  deus  impare  gaudet'.  Festus  p.  109:  'Imparem 
numerum  autiqui  prosperiorem  hominibus  esse  crediderunt'. 

'24.   Calendrier  1618  (bei  Le  Roux  1,  77):   'Regarde  bien  auparavant  1  Et  apres  saint 
Denis  [9.  Okt.]  les  jours!  |  Car  si  tu  vois  qu'il  gele  blanc,  |  Les  vieux  assurent  que  toujours 
Le  semblable  temps  tu  revois  |  Avant  et  apres  sainte  Croix'.     Yermoloff  1,  438. 

'25.  Hundstage:   Liebrecht  S.  337f. 


454  Boltc,  Sikora: 

[8(1  a]  15  octobre  1702. 

Paradoxe 

Qu'  II  n'est  pas  vtilc  a  tont  homme  de  deueuir  scauant. 

II  iii'est  arriuc  ilc  dire  a  mcs  cnfans  vnc  chose  qu'aucun  Pcre  n"a  pcutcstrc  jamais 
ditte  a  scs  cnfaus.  Prencz  garde,  lenr  dis  je,  de  vous  jetter  a  corps  perdu  daiis  l'ostude 
des  Sciences  que  vous  n'ayez  bien  exaininö,  si  vostrc  cspiit  est  assez  fort  pour  en  porter 
le  poids  et  nc  pas  succnmber,  c;ir  11  eu  est  de  )a  scicnce  comnie  du  vin,  on  ne  doit 
preudie  de  Pvn  et  de  l'autrc  qu'autant  que  Ion  cn  peut  porter  et  de  sorte  que  Tesprit 
demcure  toujours  le  maismo.  pour  connoistre  l'effect  bon  ou  inauuais  que  fait  la  sciencc 
sur  celuy  qui  estudie,  II  n'a  qu'a  toir,  si  dans  la  conuersation  II  ne  peut  s'empcscher 
de  citer  les  passages  des  auteurs  qu'Il  a  lus.  car  cest  vnc  niarque  qu'  II  ne  digere  i)as 
ce  qu'Il  lit,  puisqu'Il  le  rend,  commc  II  la  pris.  11  doit  alors  rctranclier  qiiclque  chose 
de  ses  lecturcs  ou  Ics  quittcr  mesmes,  s'il  ne  peut  s'abstenir  de  sa  mauuaisc  liabitude  de 
citer  des  passages  a  tout  nioment.  II  est  euident  en  ce  cas  la  que  sa  science  doniiuo.  et 
gouucrne  son  esprit,  au  lieu  (jue  son  esprit  denroit  gouuerner  sa  science. 

Berlin.  Johannes  Bolte. 


Ein  Iimsbrucker  Hausiuventar  aus  dem  Jahre  IG'ifi. 

Selten  finden  wir  Nachrichten  über  die  Einrichtungen  kleinerer  Bürgerhäuser 
aus  der  älteren  Zeit;  gewöhnlich  sind  es  wohl  nur  Inventare  von  Schlössern  und 
dergleichen,  die  noch  auf  uns  gekommen  sind.  Nun  ist  es  mir  bei  meinen 
archivalischen  Forschungen  gelungen,  auch  ein  solches  von  der  ersteren  Art  auf- 
zufinden (im  Innsbrucker  Stadtarchiv),  das  nicht  nur  vom  kulturhistorischen,  sondern 
auch  vom  sprachlichen  Standpunkte  recht  interessant  ist. 

Das  Inventar  wurde  am  13.  November  1626  im  Siechenhaus  zu  Innsbruck 
aufgenommen,  als  ein  neuer  Pfleger  und  zugleich  Kirchpropst  zu  St.  Nikolaus  sein 
Amt  antrat.  Ich  will  hier  nicht  das  ganze  Inventar  wiedergeben,  weil  sich  vieles 
darin  wiederholt.  Interessant  vor  allem  sind  aber  die  Einrichtungsgegenstünde  in 
der  Wohnung  des  'Siechenvators',  namentlich  die  Art  der  Betten  und  die  ver- 
schiedenen Küchen-,  Speise-  und  Trinkgeschirre. 

Aus  diesem  Teile  des  Inventars  ist  hervorzuheben:  „Tischgwanndt.  2  Tiseh- 
tiecher  mit  plaben  Leisten  [mit  blauem  Rand]  —  2  claine  Tischtiechlon  auch  mit 
laben  Leisten  —  ain  härbes  [grobes]  Tischtiechl  in  Trylch  [Drillich]  ge- 
wirckht  —  7  Hanndticcher  mit  plaben  Leisten  —  mer  lö  allerhiy  Ilanndtiecher  — 
2  gwirckhte  gwiflete')  Vmbleg")  —  ain  Fazenet  [Schnupftuch]  mit  seiden  außgenäoth 
—  mer  ain  Fazenet  mit  Rostleißten  [rostfarben,  rot?]  —  ittem  2  in  Trilch  ge- 
wirckhtc  Tischtiecher. 

Pö th lein g wandt.  Ain  par  Leylach  [Leintuch]  mit  roten  Leisten  —  3  par 
Leylach  mit  plaben  Leisten  vnnd  angewirckliten  Prannßen  —  S  par  Leylach  mit 
Rostleisten    —    2  par  Leylacher,    ains  mit  Madelen  ^)    vnd  ander  mit  Franßen    — 


1)  Die  Bedeutung  dieses  Wortes  ist  nicht  ganz  klar:  es  könnte  auch  ver.icbrieben 
sein  für  ,gwirfelt';  doch  gibt  Schöpf  im  tirolischen  Idiotikon  für  ein  Wort  willen  die 
Bedeutung  „stampfen"  an,  was  hier  auf  die  Art  der  Herstellung  des  Stofl'es  deuten 
würde,  wahrend  Schmeller  im  ba^T.  Wtb.  für  ein  Wort  wiffcln  die  Bedeutung  kennt:  mit 
Nadel  und  Faden  verwoben,  zustechen  etwas  Zerrissenes,  und  ferner:   besticken. 

2)  Dafür  konnte  ich  keine  Erklärung  finden;  mit  Vmbleg  dürfte  vielleicht  ein  Überzug 
oder  sogar  eine  Art  Serviette  gemeint  sein. 

3)  Das  einzige  darauf  passende  Wort  scheint  mir  medel,  mädcle.  Dem.  von  madc  = 
Wurm  zu  sein,  das  vielleicht  eine  ähnliche  Form  der  Verzierung  bedeutete. 


Kleiue  Mitteilungen.  455 

mer  ain  par  hiirbene  Leylacher  mit  E'räuiißlen  —  2  hörbene  Petziechen  [Bett- 
überzüge] —  12  hörbene  Kißziechen  [Polsterüberzüge],  darunter  aine  mit  plaben 
Kölischi)  —  ittem  2  par  dergleichen  Leylacher  —  desgleichen  ain  grobs  par 
Leylach." 

Dieses  Bettzeug  war  'in  ainer  gefirneisten  Truchen'  aufbewahrt.  Nun  erfahren 
wir  weiter,  was  alles  im  Gebrauch  auf  einem  Bette  gewesen  ist.  In  'der  Herrn 
Camer'  waren  2  Betten  aufgestellt:  ^ain  Sponpethsläte-),  darauf  4  federritene^) 
Vnterpeth,  darunter  2  mit  zicchen  —  2  parchetene  Oberpeth  mit  khöllischer  ziechen  — 
ain  federritener  Polster  mit  ciain  geweglter  [?]  köllischen  ziechen  —  2  federritene 
Polster,  der  ain  mit  ainer  härbenen  ziechen  vnnd  der  ander  one  ziechen  —  ain 
parchetes  Khiß  [Kissen]  one  ziechen  —  mer  2  federitene  Kiß,  das  ain  mit 
ainer  vnd  das  andere  one  ziechen  —  ain  gfarbte  deckhen. 

Mer  ain  Petstat  mit  ain  halben  Himbl,  darauf:  2  federritene  vndterpeth  mit 
werchen  [aus  Werch  oder  gewirkt?]  ziechen  —  wider  2  vnterpeth  mit  plab 
geweglten  kellischen  ziechen  —  2  parchetene  Oberpeth  one  ziechen  —  1  parche- 
tener  Polster  mit  ainer  härben  ziechen  —  4  parchetene  Kiß  mit  daffet  besczt, 
vnnd  ains  mit  ainer  hörben  ziechen  —  1  parchetener  Polster  mit  ainer  zerrißenen 
kellischen  ziechen  —  aui  ennglische  Dockhen." 

Auf  den  9  'pedtstätten'  in  der  'Gastcamer'  des  Siechenhauses  befanden  sich 
je  ein  Unterbett,  ein  Oberbett  und  ein  Polster.  Auf  einem  Bett  'in  der  Camor 
darneben',  dann  auf  'ain  himblpedtstat'  und  einem  anderen  Bett,  die  'in  Vorhauß" 
standen,  und  auf  zwei  weiteren  Betten,  von  denen  das  eine  in  der  'Khöchin 
Caraerl'  aufgestellt  war,  war  das  gleiche  Bettzeug  mit  je  einem  Strohsack. 

Sehr  reichhaltig  war  der  Bestand  des  Geschirrs  zum  Kochen,  Essen  und 
Trinken  Vor  allem  einmal  allerlei  Kannen  aus  Zinn:  „3  Vierten*)  —  4  drey- 
drinckhen'^)  —  23  maß'*)  —  11  drinckhen  —  4  fröggen')  —  2  dreyfröggen ')  — 
<>  praite  nidere  Khandien.'" 

Ausserdem  gab  es  noch:  „ain  praun  erdener  Khrueg  mit  ain  zinen  Luckh 
[befestigter  Deckel]  —  S  Khätenflöschl  [?]  —  3  große  vnd  ain  cleinerer  Plan 
[flacher  Holzteller]  —  IG  groß  vnd  cleinere  Schißlen  —  l.j  Eßich  schißelen  — 
ain  Aiche**)  Gießfaß  —  ittem  zum  teglichon  gebrauch  Kandlen:  ain  vierten,  8  maß, 
2  drinckhen,  1  fröggen  vnd  ain  trinckh  khoßele." 

Aus'  Meßing  vnd  Gloggspeiß'  waren  folgende  Geräte:  „ain  Tischplan  [Platte]  — 
5  groß  vnd  cleinere  Peckheter  [Becken]  —  ain  gluet  pfänndl  —  ain  Tischring  [?]  — 
meßingene  Leichter  —  2  gloggspeißene  Höfen,  jeder  auf  3  fießen  —  mer  ain 
meßingene  Schißl  —  in  der  Khüchen  zum  teglichen  gebrauch:  ain  merser  sambt 
ain  meßingenen  Stempfl  —  2  gloggspeißene  Haffen.'' 


1)  Köliseh,  Goliscli,  Golsch,  gewöhnlich  weiss  und  blau  oder  weiss  und  rot  gewürfelte 
Art  Leinwand. 

2;  Spannbettstatt  oder  Spannbett,  tragbarer,  freistehender  Sitz,  dessen  Kissen  in 
einem  nach  Art  unserer  Jagd-  und  Peldstühle  gespannten  Gestelle  liegen  (Schmeller  2,  072); 
vielleicht  ein  zusammenlegbares  Bett. 

3)  Federitt  ist  eine  Art  geköperter,  oft  blaugestreifter  Leinwand,  welche  wegen  ihrer 
Dichtheit  besonders  zu  Unterbettziecheu  oder  Federgefässeu  gebraucht  wird. 

4)  1  Vierten  oder  Viertel  war  gleich  2  Maß  =  4  Seidl  oder  Trinket,  drinkhen. 

5)  Wahrscheinlich  =  3  Seidel  (s.  Note  4). 

C)  Der  Masskrug  war  gewöhnlich  aus  Steingut,  und  mit  einem  zinnenen  Deckel 
<Luck)  versehen. 

7)  Fröggen  =  frackele  =  7s  Mass.  -     - 

8)  Entweder  =  die  Eich,  ein  Mass,  oder  eichen,  aus  Eichenholz. 


401)  Sikora,  AudiPC: 

Ferner  'Kupfergschir':  „ain  Padplan  [?]  —  ain  drinckh  khößele  —  i'  claine  henng- 
khößelen  —  in  der  Kliüclien,  so  teglich  gebraucht  wicrdt:  ain  kupferne  pfann  — 
ain  cleinore  pfann  —  3  khupferne  Pöckliat  [Becken]  —  .'i  Seichpfannon  [ein 
Geschirr  zum  Durchseihen  von  Flüssigkeiten]  —  ain  khupfernes  Henngkhößele  — 
ain  Waßergazen  1)  —  ain  große  vnd  ain  cleinere  Leberpfan  [?J  —  ain  langgelcte 
[länglich]  Pratpfan  —  mer  ain  gluckhter  [mit  einem  Deckel  versehen]  großer 
^Vilßorkhül.il  —  ain  etwas  cleinerer  dergleichen  khüßl  —  ain  waßerwänndl  —  ain 
milch  khül,'.l  —  nier  ain  deines  drinckh  khöLiele  mit  ainen  Luckh  vnd  zapfen 
[eine  Art  Pipe  wie  beim  Fass?]  —  ain  kanndl  —  ain  kupfernes  Gießfaß  —  im  Päd: 
ain  eingemauerter  Khößl  von  4  Schaff  watier  groß." 

Ferner  war  noch  an  eisernem  Küchengeschirr  vorhanden:  „24  groß  vnd  cleinere 
Eißen  Pfannen  —  5  schöpf-  vnd  faimb-'-jkhällen'')  —  ain  große  vnd  ain  cleinere 
Pratpfannen  —  Ü  Mueßer')  —  3  Khiechlspieß")  —  2  Pralspicß  —  2  Kost  — 
2  Drej'fueß  —  ain  fcurhundt  —  ain  herdtpääl  [V]  —  ain  ofenplüch  —  ;;  eißono 
Leichter  —  6  Halfendeckhen." 

Im  übrigen  sind  noch  unter  'gemainer  varnus'  verschiedene  Truhen,  Kasten, 
dann  eine  'lainpanckh'  [Hank  mit  Lehne],  'ain  alter  schwarzer  Seßl,  ain  griener 
Seßl,  ain  lange  Spfilpilruchen  [zur  Aufbewahrung  von  Küchenvorrat],  ain  Sidl- 
druchen'^),  etlich  claine  drichlen'  und  noch  folgende  Geräte  verzeichnet:  „ain  eißene 
Schauin  —  ain  Lutern  [Laterne?]  —  24  hilzene  Schißlen,  ciain  vnd  groß  —  bcy 
50  hilzene  Tischtöller  —  etlich  hilzene  khällen  —  ain  Salztaufl')   —   2  Melltaufl') 

—  etlich  Khathöfen*)  —  ain  Pulffersib  —  ain  Asthackhcn  —  ain  Fleischpeill  — 
etlich  Protkherb  —  7  Waßerschäffer,  ciain  vnd  groß  —  ain  clains  Häckhl  —  ain 
Prothenng  —  ain  Nudlpredt  —  4  hilzene  Muelter  [die  Molter,  ein  Trog,  gewöhnlich 
zum  Anmachen  des  Teiges]  —  ain  Spuelradt  —  etlich  hilzene  Stazen')  — 
4  ziber'"),  ciain  vnd  groß,  guet  vnd  pcß   —   ain  Scharr  —  ain  drachter  [Trichter] 

—  ain  ganz  khornstiir")  —  ain  halbs  khornstiir  —  ain  straiffmesser  —  ain 
zanngen  —  ain  Spansag  [Säge]  —  ain  höchl  —  ain  haspl  —  ain  weißer  Seßl  — 
ain  Schneiwag  —  ain  Eßichkhrueg  —  2  Pfaneißen  —  ain  hilzeni-r  Pfannenkhnccht 
[Vorrichtung  zum  Halten  der  Pfanne]  —  ain  Pickhl  [kleine  Spitzhaue]  —  ain 
Flauen." 

Innsbruck.  Adalbert  Sikora. 


1)  Gatzen  ist  ein  dem  Schöpflöffel  ähnliches  Geschirr,  gewöhnlich  von  Kupfer,    zum 
Schöpfen  von  Flüssigkeiten  aus  einem  grösseren  Gefiiss. 

2)  faimen  hat  die  Bedeutung  schäumen  und  Schaum  wcguchinen. 

.'!)  Die  Kellen  ist  ein  Löffel  mit  langem  Stiele,  besonders  Kochlöffel. 

4)  Der  Löffel,  die  Kelle,  mit  der  das  l\Ius  in  der  Pfanne  gerührt  wird. 

5)  Küechel  -  in  Schmalz  gebackeuer  Kuolien  aus  feinerem  Teig:  Küechelspieß  =  Eisen, 
an  dessen  Spitze  die  gebackenen  Küechel  aus  dem  siedenden  Schmalz  geholt  werden. 

G)  Eine  iiank,  die  zugleich  Sitz  und  Behältnis  für  Wäsche,  Kleider  usw.  ist. 

7)  Melltaufl  ist  nach  Schmeller  (Bayr.  Wtb.  1,  IUI)    das  Mehlgcfüss  der  Älpler:    die 
Salztaufl  dürfte  demnach  ein  hölzernes  Gefäss  zur  Aufbewahrung  des  Salzes  sein. 

8)  Khat,  kät  =  Köt  =  Kot. 

9)  Stolzen,  Stamm,    Klotz.     Im  Gebirge:    rundes,    weites  Gefäss  für  Milch  usw.   ;\iis 
Linden-  oder  Ahoruholz. 

10)  =  züber,  offenes  Gefäss  zum  Waschen  mit  zwei  Handhaben. 

11)  Star  in  Tirol  Mass  für  Getreide  =  ',o  Wiener  .Motzen. 


Kleine  Mittoiluiii;cn.  4.")? 


Das  neue  vliimische  Museum  für  Volkskuixle  in  Antwerpen. 

Am  18.  August  1907  ist  in  Antwerpen  ein  Muzeum  voor  vlaamsche  Folklore 
eröITnet  worden,  das  ich  gleich  darauf  unter  der  Leitung-  seines  Vorstandes, 
Dr.  Max  Eiskamp,  besuchen  konnte  und  das  in  vieler  Beziehung  neues  und  von 
anderen  volkskundlichen  Museen  abweichendes  bietet,  so  dass  es  wohl  einer 
kurzen  Anzeige  an  dieser  Stelle  würdig  erscheint.  Kennzeichnend  für  diese 
Sammlung  ist  die  grosse  Liebe  und  Soriifalt,  mit  welcher  sie  zusammengebracht 
ist,  ferner  die  in  Gegenstilnden  vorgeführten  verschiedenen  Formen  des  Aber- 
glaubens, die  wir  sonst  meistens  nur  in  der  Beschreibung  kennen  lernen  und 
gewöhnlich  in  unseren  deutschen  volkskundlichen  Museen  fehlen. 

Das  neue  Museum  ist  in  einem  kleinen  mehrstöckigem  alten  Gebäude  in  dir 
Heiligengeiststrasse  Nr.  16  untergebracht,  dicht  neben  dem  bekannten  Museum 
Plantin.  Es  ist  nicht  nötig  hier  auf  den  Nutzen  der  neuen  Schöpfung  einzugehen, 
an  deren  Zustandekommen  eine  Anzahl  für  das  vliimische  Volk  begeisterter 
Männer  seit  Jahren  wirkten;  aber  dringend  nötig  war  es,  denn  in  dem  industriellen 
Belgien  schreitet  die  Nivellierung  und  das  Verschwinden  alter  Bräuche  und  Dinge 
womöglich   noch  schneller  vorwärts,  als  bei  uns. 

Zur  Belebung  des  vlämischen  Volksbewusstseins,  das  in  Antwerpen  ja  eine 
gute  Stätte  hat,  wird  das  neue  Museum  sicherlich  beitragen,  und  an  den  Wänden 
der  Säle  sind  auch  die  Namen  der  um  die  vlämische  Bewegung  verdienten 
Männer:  Willems,  Frudens  van  Duyse,  Pol  de  Mont,  de  Bo,  A.  de  Cock, 
Teirlinck  u.  a  angeschrieben  und  zwischen  ihnen  auch  unser  Hoffmann  von 
Pallersleben,  der  einst  dichtete:  'Vlamen,  bei  Tag  und  Nacht  denk  ich  an  euch!' 
Noch  fehlt  ein  boschreibender  Katalog,  aber  eine  gute  Naamlijst  der  verzamelde 
voorvverpen  ist  vorhanden,  welche  auch  erkennen  lässt,  nach  welchen  Grundsätzen 
das  Museum  errichtet  wurde.  Den  Beginn  macht  das  Haus  mit  allen  zu  seiner 
Einrichtung  gehörigen  Dingen,  namentlich  den  Ziegelarten,  unter  denen  die 
Fapensteene  hervoizuhebeu  sind,  die  von  den  Mönchen  in  S.  Bernhard  an  der 
Scheide  seit  dem  17.  Jahrhundert  in  den  Handel  gebracht  wurden,  darunter  solche 
in  Krötenform  (padden),  putsteene  (Brunnensteinej,  alle  gebrannt  in  offenen  Öfen 
(Klampen)  und  lehrreich  für  die  alten  Ziegelformen.  Die  Ilerd-,  Feuer-  und 
Leuchtgegenstände,  darunter  die  Kesselhaken  (halen),  zeigen  nur  wenig  Abweichendes 
von  den  auch  bei  uns  bekannten  und  gesammelten  Formen,  namentlich  in  nieder- 
deutschen Gegenden.  Wir  müssen  auf  dem  Gebiete  volkskundlichcr  Gegenstände 
jetzt  vergleichende  Reihen  schaffen,  nachdem  wir  aus  den  einzelnen  Land- 
schaften den  Stoff  gesammelt  haben.  Ich  wenigstens  habe  gefunden,  dass  vieles, 
namentlich  im  Beleuchtungs-  und  Hauswesen,  von  Portugal  bis  Siebenbürgen 
(und  gewiss  noch  weit  darüber  hinaus)  last  identisch  ist  und  die  gemeinsame 
Kultur  verrät.  An  das  Haus  schliessen  sich  die  Möbel,  die  Küche,  Speise 
und  Trank.  Wo  die  Gegenstände  sich  nicht  in  natura  bewahren  Hessen,  sind 
gute  Nachbildungen  in  Gips  oder  Holz  vorhanden,  so  bei  den  Butterklumpen 
(boterklompen),  wie  die  Bäuerin  sie  zu  Markte  brachte  und  die  mit  den  Molkereien 
natürlich  auch  verschwinden.  Reich  vortreten  sind  die  Lebkuchen  und  alten 
Lebkuchenformen,  bei  denen  die  Trachten  und  namentlich  die  Heiligendarstellungen 
hervorzuheben  sind,  wie  denn  ein  gut  katholischer  Zug  das  ganze  sich  hier  aus- 
prägende Volkstum  kennzeichnet.  Die  Brotgebäcke  in  den  verschiedensten  Formen 
fehlen  nicht,  wobei  auch  die  Jahreszeiten  berücksichtigt  sind,  was  Freund  Höfler 
in  Tölz  zur  Beachtung  empfohlen  sei.  Roggenbrot  wird  heute  in  Belgien  nicht 
mehr  gegessen;    um  so  beachtenswerter    sind    die    hier  ausgestellten   alten,  männ- 

Zcitsclir.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    10Ü7.  30 


4r)S  Andrec: 

liclien  und  weiblichen  Figuren  aus  ilunkleni  Roggcnniehl,  roh  gestaltet,  wie 
afrikanische  Fetischfiguren,  luit  sehr  ausgeprägten  niiinnlichen  und  weiblichen 
Geschlechtsteilen.  Das  sind  der  Roggen-vent  und  das  Roggen- wijf,  die  sich 
Vorliebte  scherzweise  in  der  F'astenzoit  gegenzeitig  schenkten. 

Folgt  das  Familienleben  mit  allem,  was  dazu  gehört,  mit  einer  reichen 
Sammlung  von  Kinderspiclzeug,  allem,  was  sieh  auf  die  Hochzeiten  und  den 
Tod  bezieht.  Auch  hier  findet  man  Totenkronen,  allerlei  Grabschmuck  und  den 
Seelenkuchen  (zielekoekje),  den  ersten  Pfannkuchen,  den  man  am  Weihnachts- 
abend bäckt  und  zum  Gedächtnis  der  verstorbenen  Familienglieder  ins  Feuer 
wirft.  Hier  schliesst  sich  an  die  weibliche  Handarbeit  mit  den  zum  Nähen, 
Kloppein,  Spinnen  nötigen  Geräten,  die  Kleidertracht  und  eine  reiche  Sammlung 
von  llolzschuhen  (Klorapcn)  in  verschiedenen  Formen  und  Verzierungen.  Die 
Abteilung  Schmuck  beginnt  mit  Tätowierungen,  die  auf  den  Abgüssen  der  be- 
trelTenden  Körperteile  nach  der  Natur  aufgemalt  und  namentlich  bei  den  Schiffern 
reieli  vertreten  sind.  Im  Lande  der  starken  Raucher  ist  dem  Tabak  und  den 
Pfeifen  eine  besondere  Abteilung  gewidmet.  Die  Tonpfeifen  mit  langem  dünnen 
Roiir  und  kleinem  Kopfe,  zuweilen  mit  Heiligendarstollungen,  spielen  da  eine 
Rolle,  und  es  fehlen  auch  nicht  die  oft  sehr  urtümlichen  Etiketten  der  alten  Tabaks- 
pakete in  rohen  Holzschnitten,  mit  schönen  Versen  und  qualmenden  Türken  oder 
Negern.  Wer  seinerzeit  berühmt  oder  beliebt  war,  erscheint  im  Hilde  auf  den 
bemalten  Pfeifenköpfen,  bis  herab  zu  den  Führern  im  letzten  Burenkriege:  de  Wet, 
l'otha,  Krüger.     Die  auf   den  Tabak  bezügliche  Sammlung  zählt    über  2(10  Stück. 

Die  auf  die  Handwerke  bezügliche  Abteilung  enthält  nicht  nur  die  Geräte 
und  Instrumente  der  einzelnen  Gewerbe,  sondern  auch  die  Darstellungen  der 
Festlichkeiten  der  Gilden  und  was  damit  zusammenhängt.  Auch  die  alten  originellen 
Aushängeschilder,  die  in  unseren  Städten  verschwunden  sind,  fehlen  da  nicht. 
Da  ist  ein  Schild:  Hier  verkoopt  men  Kanarienvogels,  deren  zwei  dabei  abgemalt 
sind  —  nur  eine  Kleinigkeit,  aber  immerhin  auch  in  eine  solche  Sammlung 
gehörig,  die  uns  eben  das  Volkskundliche  in  allen  seinen  Stufen  vorführen  will. 
Unter  den  Festlichkeiten  der  Gilden  finden  wir  den  alten  Neujahrswunsch  der 
Kraenkinders  (in  Kupferstich),  Arbeiter  an  den  Schiffskranen,  vertreten  mit 
französischem  und  vlämischem  Verse: 

Nous  soHimes  les  enfants  de  la  grue,  Kraenkinders  werken  den  vvijn, 

Nous  travaillons  le  vin  cru,  Voeren  voor  ieder  wie  magh  zijn, 

Pour  AI  M.  nogotiants  et  bourgeois,  Heeren  Koopliedcn   en   borgers  te  gaer. 

Nous  VOU.S  souhaitons  une  heureuse  annöc.  Wy  ü  weiischen  cn  zalig  nieujaar. 

Die  auf  das  soziale  Leben  bezügliche  Abteilung  umfasst  die  Schule,  den 
Kriegsdienst,  Vergnügungsgesellschaften,  öffentliche  Spiele,  Kirmessen  und  Umzüge. 
In  der  Abteilung  Schule  findet  man  z.  B.  Klapperinstrumente,  um  den  Rhythmus 
beim  gemeinsamen  Gebete  zu  regeln,  die  verschiedenen  Formen  der  Pennale, 
die  Formen  der  Tintenfässer  und  darunter  ganz  verschwundene.  Wie  ein  Traum 
aus  meiner  Jugend  tauchte  da  auch  der  'Stecher'  vor  mir  auf,  das  aus  Hern  ge- 
drechselte, unten  mit  einer  Stahlspitze  versehene  zylindrische,  wohlverschlossenc 
Tintenfass,  welches  man  ins  Kolleg  mitbrachte  und  vor  sich  in  die  Tafel  stiess. 
So  nur  wird  heute  noch  der  Vers  im  Studentenliede  verständlich: 

Wohl  gespitzt  die  Gänsefeder  Sass  ich  Ja  vor  dem  Katheder, 

Und  den  Stecher  tiiitcnvoU,  Dem   der  Weisheit  Born  entquoll. 

Das  ist  freilich  schon  ein  halbes  Jahrhundert  her,  und  welcher  Bruder  Studio 
weiss    heute  etwas    vom  Stecher   und    der  Gänsefeder?    Der  Abschnitt   über   das 


1977 
Negentien   hundert 
zeven   en  zeventig. 


Klpine  Mitteilungen.  4ö<) 

Soldatenleben  zeigt  Züge,  die  wir,  im  Lande  der  allgemeinen  Wehrpflicht,  nicht 
kennen.  In  Belgien  besteht  noch  das  Losen,  eine  hohe  Nummer  befreit  vom 
Dienste,  und  um  solche  zu  erlangen,  wenden  die  Rekruten  allerhand  Zauberraittel 
an,  die  reichlich  im  Museum  vertreten  sind.  Da  hält  der  Losende  den  Schädel 
einer  Ratte  in  der  Hand,  wenn  er  in  die  ürnc  greift,  er  trägt  einen  Maria- 
Thercsiataler  bei  sich,  der  als  besonderer  Talisman  der  heute  noch  in  Belgien 
verehrten  Kaiserin  Bildnis  trägt,  oder  ein  Stück  vom  Stricke  eines  Gehängten; 
Nr.  1398  zeigt  einen  gesegneten  roten  Faden  von  Hoogstraten,  welcher  das  dort 
verehrte  heilige  Blut  darstellt  und  gut  für  die  Befreiung  beim  Losen  ist,  auch 
das  'Kaiserkarlgebet'  tragen  die  Losenden  bei  sich,  dazu  allerlei  Heiligenmedaillen. 
Kommt  der  Mann  frei,  so  gestaltet  er  aus  seinem  Loszettel  ein  Dankvotiv,  lässt 
ihn  in  Silber  fassen  und  bringt  ihn  dem  Heiligen.  Solche,  mit  französischer  und 
viämischer  Inschrift,  sah  ich  vielfach  in  der  Augustinerkirche  in  Antwerpen.    Z.  B. 

Was  die  Fischer  gebrauchen  an 
Gerät,  die  in  Belgien  noch  sehr  häufigen 
Bogenschützengesel  Ischaften  (S.  Sebastians- 
gesellschaflen),  die  zahllosen  Vereine 
und  ihre  Vereinsal)zeichen  und  Me- 
daillen, allerlei  auf  Volksspiele  bezügliches 
Gerät  ist  mit  Erklärungen  hier  zu  sehen. 
Da     will      ich     nur     eine     bezeichnende 

Belustigung  hervorheben,  die  sich  auf  eine  Flasche  (Nr.  l.';41)  bezieht:  Das  Preis- 
pissen der  AVeiber.  Dieses  fand  unter  strengem  Ausschlüsse  der  Männer  auf 
Kirmessen  statt,  wobei  die  AVeiber  aus  ziemlicher  Entfernung  in  eine  mit  einem 
Trichter  versehene  Flasche  pissen  nuissten.^)  Diejenige,  welche  die  nicht  kleine 
Flasche  zuerst  gefüllt  hatte,  gewann  den  Preis.  Die  heute  noch  in  Belgien  ge- 
bräuchlichen Umzüge  der  Riesen  und  des  Rosses  Bayard  sind  nur  durch  Ab- 
bildungen vertreten,  während  ich  im  Museum  des  Stcen,  am  Antwerpener  Hafen, 
die  über  mannshohen  aus  Holz  geschnitzten  Köpfe  der  Riesen  sah.  (Gute  Nach- 
richten über  den  Umzug  mit  den  Riesen  in  Belgien  finden  sich  bei  v.  Reinsberg- 
Düringsfeld,  Das  festliche  Jahr,  Leipzig  lSt)3,  S.  i38ff.). 

Ich  übergehe,  um  nicht  zu  breit  zu  werden,  was  über  die  volkskundlichen 
Seiten  von  Verwaltung  und  Justiz  (Bestuur  en  Gerecht)  im  Museum  enthalten 
ist,  worunter  auch  Wilddiebereigeräte,  verbotene  Spiele,  falsche  Münzen,  Kerb- 
holzer sich  befinden,  und  gehe  über  zu  der  so  reichen  Sammlung,  die  sich  auf 
das  religiöse  Leben  bezieht,  die  religiöse  Erziehung,  Ablass,  Gebete,  Brüder- 
scluil'ten  und  Beginen,  Pilgerfahrten,  Prozessionen,  Votive,  allerlei  Devotionalien. 
Die  Sammlung  der  Litaneien  ist  da  höchst  beachtenswert;  wir  finden  solche, 
meistens  in  alten  Drucken,  vom  Evangelisten  Johannes  für  die  Keuschheit,  vom 
H.  Eligius  für  die  Gefangenen,  vom  H.  Rochus  gegen  die  Pest,  vom  Johannes 
V.  Nepomuk  gegen  das  Ertrinken,  vom  H.  Antonius  v.  Padua  für  Wiedererlangung 
verlorenen  Gutes,  von  S.  Hubertus  gegen  die  Hundswut  usw.  Die  Statuten, 
Regeln  und  Privilegien  der  geistlichen  Brüderschaften,  Beguinagen  usw.  sind  reich 
vertreten,  nicht  minder  alles,  was  sich  auf  die  noch  so  blühenden  Wallfahrten  und 
Pilgerschaften  bezieht,  die  jetzt  so  erleichtert  sind,  dass,  wie  ich  in  Ansehlägen 
in  den  Kirchen  Belgiens  und  am  Niederrhein  sah,  sie  nach  Rom  und  Jerusalem 
jetzt    'auf  Abzahlung'    veranstaltet   werden!     Die  Pilgerfahnen,    Anzüge,    Muscheln 


1)  [Vgl.  dazu  Val.  Schiimanus  Maclitbüchlein  1.S93  Nr.  T   und  J.  Freys  Gartengesell- 
fichaft  189(5  S.  27S.] 

30* 


460  Aiiilrcc,  Bulte,  Zacliariac: 

und  Stäbe  sind  teils  im  Orif,Mnal,  tuils  in  Abbildungen  vorhanden,  die  verschiedenen 
Heiligenbilder,  Legenden  und  Medaillen  der  zahlreichen  Gnadenstiitten  kann  man 
hier  bequem  überschauen.  Dazu  Votive  in  Wachs  und  Silber,  ganz  ähnlich  den 
süddeutschen,  doch  fehlt  in  Belgien  die  Kröte  (Gebärmutter},  dafür  treten  aber 
Hunde,  Katzen,  Kanarienvögel  auf,  die  wieder  in  Süddeutschland  fehlen.  Ich 
will  hier  bemerken,  dass  in  dem  nicdcrrheinischcn.  durch  Heinrich  Heine  be- 
sungenen Wallfahrtsorte  Kevclaer  seit  kurzem  von  der  Geistlichkeit  auf  das 
strengste  verboten  ist,  die  höchst  primitiven  'janzen  Körper',  Augen,  Püsse,  Hände 
aus  gelbem  Wachse  zu  verkaufen.  Es  gelang  nicht,  trotz  hohem  Angebot,  die 
noch  dort  vorhandenen  Exemplare  zu  erlangen.  Auch  Anschläge  in  den  Kirchen 
mit  den ,  Aufforderungen  zu  bedevaarten,  Ablassankündigungen  sind  gesammelt. 
In  den  katholischen  Teilen  Deutschlands  Hesse  sich  ähnliches  zusammenbringen; 
als  Kulturzeugnisse  von  grossem  Belange  dürften  sie  auch  in  unseren  volkskund- 
lichen Museen  nicht  fehlen. 

Ich  lasse  auch  die  Volksbücher,  die  gedruckton  Lieder,  alles  was  sich 
auf  Musik  bezieht,  die  Puppenspiele,  beiseite,  die  man  hier  vortrefflich 
studieren  kann  und  erwähne  zum  Schlüsse  nur  den  Teil  des  Museums,  der  uns 
den  Aberglauben  und  die  Zauberei  des  vlämischen  Volkes  vor  Augen  führt. 
Was  da  von  Zaubergeräten,  Wahrsagekünsten,  Sterndeuterei,  Geisterlehre,  Hexen, 
Kurpfuschern,  Zaubertränken,  Beschwörungen  usw.  mitgetedt  wird,  is-t  vortrefflich 
geordnet  und,  soweit  möglich,  durch  Gegenstände  oder  Abbildungen  erläutert. 
Sehr  vieles  deckt  sich  mit  dem  bei  uns  vorhandenen  Aberglauben,  aber  in  keinem 
unserer  Museen  ist  alles  das  so  übersichtlich  zusammengebracht,  und  Antwerpen 
verdiente  da  als  Vorbild  Beachtung.  Wir  finden  die  Zauberkarten,  die  Tabellen 
für  Traumdeutung,  das  in  der  Andreasnaclit  gegossene  und  gedeutete  Blei,  die 
Veranschaulichung  des  W'ahrsagens  aus  Mehl  oder  dem  Kaffeesätze,  das  Liebes- 
thermometer, den  Tierkreis,  Planetenstellungcn,  Waehsherzen  mit  Nadeln  durch- 
stochen, um  Rache  zu  nehmen,  Früchte  von  Tra|)a  natans,  dem  Teufel  geweiht, 
um  ihn  günstig  zu  stimmen,  Amulette  der  verschiedensten  Art  usw. 

Man  erkennt  aus  diesen  kurzen  Anführungen,  dass  die  gegen  3(i(.U)  Nummern 
zählende  Sammlung  sehr  vieles  enthält,  was  in  unseren  deutschen  volkskundlichen 
Museen  bisher  wenigstens  systematisch  nicht  gesammelt  wurde,  und  ich  möchte- 
sie  da  als  Vorbild  empfehlen. 

In  einem  Begleitwortc  heben  die  Begründer  des  vlämischen  Volkskunde- 
museums hervor,  dass  sie  es  aus  Liebe  zu  ihrem  Volke  geschaffen  hätten,  um 
die  stofflichen  Zeugnisse  seines  geistigen  Lebens  auch  der  Zukunft  zu  bewahren. 
Sie  wollten  auch  dem  gemeinen  Manne  sein  Museum  geben,  das  ihn  vielleicht 
mehr  zum  Nachdenken  veranlassen  würde  als  all  die  Museen  mit  köstlichen 
Kunstschätzen.  „Während  auf  unserer  Scheide  die  Schiffe  aller  Völker  der  Erde 
verkehren,  während  überall  die  Stimme  der  Völker  einen  gemeinsamen  Chor- 
gesang anheben,  ist  es  nötig,  dass  auch  wir  mitsingen.  Freilich  wird  unsere 
Stimme  nur  schüchtern  klingen,  aber  wir  wollen  doch  unsere  Musik  ertönen 
lassen.  Und  darum  soll  man  wiss(>n,  wie  bei  uns  die  Glocken  läuten,  wie  unsere- 
"Wohnungen  aussehen,  was  unsere  Arbeiten  sind,  wie  es  sich  mit  unserem 
Geschmack,  unserer  Nahrung,  unseren  Vergnügungen  verhält.  Darum  soll  in  dem 
grossen  Völkergesang  auch  die  Stimme  unseres  kleinen  Vaterlandes  miterkiingen  " 

Das  ist  durch  das  'Muzcum  voor  Vlaamsche  Folklore'  in  seiner  Weise  auch 
trefflich  erreicht  worden,  und  den  germanischen  Stammesbrüdern  an  der  Scheide- 
gebührt auch  von  unsrcr  Seite  aus  Dank  dafür. 

München.  Richard    Andree. 


Kleiue  Jlittoiluugen.  461 

Spielmannsbusse  im  14.  Jahrhundert. 

Zu  den  von  Gierke')  gesammelten  Zügen  des  Humors  im  alten  deutschen 
Recht  gehört  auch  die  folgende  Liineburger  Satzung-J  aus  dem  14.  Jahrhundert. 
Dass  rechtlosen  Leuten  für  einen  ihnen  zugefügten  Schaden  nur  eine  Scheinbusse 
gewährt  wird,  ist  längst  bekannt^);  hier  aber  müssen  sie  durch  ihr  eigenes  Gerät, 
die  Würfel,  die  Höhe  der  Busse  bestimmen,  die  ihnen  für  eine  Scheltrede  auf- 
erlegt wird; 

'Were  dat  yenich  loder  edder  gherende  mau  au  der  stad  queme,  de  gheld  neme  dor 
sines  gliylendes  willen,  vnd  wolde  de  enen  guden  man  vorhinien  mit  worden  edcr  mit 
dadeu,  werde  he  dar  vmme  tuchteghet  vnd  esschedc  he  beteringe,  nien  scholde  eme  dre 
worpele  in  de  band  doen;  alse  inannich  ogbe  be  worpe,  alzo  manigben  pennig  scliolde 
he  eme  to  beteringe  gheuen,  vnd  enscbolde  dar  nene  noed  mer  vmme  liden.  Dat 
enscliolde  auer  nicht  wesen  vuser  heren  ghesynde  eder  der  stad'. 

Eine  lateinische  Fassung  derselben  Bestimmung  aus  dem  15.  Jahrhundert 
lautet:  'Si  histrionos  quenquam  otfenderint  facto  vel  verbo,  et  correcti  fucrint  pro 
eodem,  et  si  requirant  eniendam,  tunc  tesscras  projiciant,  et  quot  oculos  sive  asses 
projecerint  cum  talibus  [talis],  tot  habebunt  denarios  pro  emenda.'  J.  B. 


Die  Aufgabe,  Stricke  aus  Saud  zu  winden. 

(Vgl.  oben  17,  172-186.) 

Herr  Professor  A.  Wünsche  macht  mich  darauf  aufmerksam,  dass  die  Sand- 
strickaufgabe auch  in  einer  hessischen  Sage  bei  J.  W.  Wolf,  Hessische  Sagen 
(ISö^-i)  Nr.  130  S.  88  vorkommt.  Die  Sage  selbst  ist  wiedergegeben  von 
A.  Wünsche  in  seinem  Buche:  Der  Sagenkreis  vom  geprellten  Teufel,  Leipzig 
und  Wien  1905  S.  50.  Zu  einem  hessischen  Hauer,  dessen  Gehöft  abgebraunt 
war,  und  der  kein  Geld  hatte,  es  wieder  aufzubauen,  kam  einst  der  Teufel  als 
grüner  Jäger  und  versprach,  ihm  zu  dienen,  wenn  er  stets  Arbeit  für  ihn  habe, 
sei  dies  aber  nicht  der  Fall,  so  sei  er  sein.  Der  Bauer  ging  auf  den  Vertrag 
ein,  denn  er  dachte,  Arbeit  will  ich  schon  immer  für  ihn  haben.  Zuerst  trug  er 
ihm  auf,  das  abgebrannte  Haus  wieder  aufzubauen,  doch  das  war  schon  am 
nächsten  Morgen  fertig.  Dann  musste  er  ihm  die  Äcker  pflügen  und  eggen,  doch 
auch  diese  Arbeit  war  in  einem  Tage  getan.  Hierauf  befahl  er  ihm,  eine  Strasse 
bis  zur  Stadt  zu  bauen,  was  ebenfalls  nur  einen  Tag  in  Anspruch  nahm.  Jetzt 
trat  dem  Bauer  der  Angstschweiss  auf  die  Stirn,  denn  er  sah  ein,  dass  er  sehr 
leichtsinnig  gehandelt  hatte.  Als  seine  Frau  ihn  so  trübselig  und  finster  umher- 
schleichen sah,  fragte  sie  ihn,  was  ihm  denn  fehle  und  warum  er  nicht  zufrieden 
sei.  Der  Bauer  erzählte  ihr,  was  vorgefallen  war  und  dass  er  nicht  mehr  lange 
zu  leben  habe,  da  der  Teufel  jede  ihm  aufgetragene  Arbeit  sehr  schnell  fertig 
bringe.  Da  lachte  die  Frau  und  sprach:  Da  ist  leicht  zu  helfen.  Sie  gab  ihm 
einen  so  guten  Rat,  dass  er  wieder  ganz  heiter  wurde.  Als  der  Teufel  am 
nächsten  Tage  hohnlachend  seine  Arbeit  forderte,  führte  ihn  der  Bauer  zu  einem 
Sandbuckel  nahe  bei  seinem  Hause  und  sprach  zu  ihm:    Das  Seil  am  Brunnen 


1)  0.  Gierke,  Der  Humor  im  deutscbou  Recht,  2.  Aufl.    Berlin  188G.    Vgl.  Liebrecbt, 
Zur  Volkskunde  1879  S.  414-430. 

2)  Das  alte  Stadtrocbt  von  Lüneburg  hsg.  von  W.  Tb.  Kraut  1S4G  S.  28f. 

3)  Grimm,  Rccbtsaltertümer^  S.  G78.     Gierke  S.  44. 


•16 2  Ebermann,  Loliie: 

ist  faul,  drohe  mir  aus  dem  Sand  ein  Suil,  das  meinen  Kindeskindern 
noch  uushältl  Kaum  hatte  der  Teufel  den  neuen  Auftrag  vernommen,  so  fuhr 
er  wütend  auf  und  sagte:  Das  hat  dir  ein  anderer  geraten,  der  klüger  ist  als  du. 
Damit  verschwand  er,  während  ihn  der  Hauer  herzlich  auslachte. 

In  der  Anmerkung  zu  dieser  Sage  (s.  Hessische  Sagen  S.  l'J9)  erinnert 
J.  \V.  Wolf  an  die  Sage  von  Michael  Scott  und  seinen  Teufelsgesellen,  denen  er 
nie  genug  Arbeit  geben  konnte,  bis  er  ihnen  endlich  befahl:  'Geht  und  windet 
mir  Seile,  welche  mich  auf  den  Mond  bringen  und  macht  sie  aus 
Mühle'nschlamm  und  Meersand.'  Das  verschaffte  ihm  Ruhe  und  wenn  es 
an  anderer  Arbeit  fehlte,  so  schickte  er  sie  ans  Seildrehen.  Zwar  glückte  es 
ihnen  nicht,  eigentliche  Seile  zustande  zu  bringen,  allein  man  sieht  doch  bis  auf 
diesen  Tag  an  dem  Meer  noch  Spuren  ihrer  Arbeit  (Irische  Elfenmiirchen;  Über- 
setzt von  den  Brüdern  Grimm.     Leipzig  182G.    Einleitung  S.  XX.W). 

Ich  verweise  noch  auf  die  Geschichte  von  dem  •Gentleman  of  Paris,  who 
was  reduced  in  Circumstances',  die  ich  oben  17,  Isö  nach  Greys  Ausgabe  des 
Hudibras  mitgeteilt  habe. 

Halle  a.  S.  Th.   Zachariae. 


Berichte  und  Bücherauzeioeii 


»^ 


A.  rilouet,  Zur  Psychologie  des  Bauorntuins.  Ein  Beitrag.  (Im  Anschluss 
an  synodale  Verhandlungen,  sowie  in  Verbindung  mit  dem  'Aiisseliuss 
für  AVolilfahrtspflege  auf  dem  Lande'  zusammengestellt).  Tübingen, 
J.  C.  B.  Mohr  (P.  Siebeck)  1905.     VI,  306  S.    8». 

In  unserem  Volksleben  vollzieht  sich  immer  mehr  eine  verhängnisvolle 
Spaltung:  auf  der  einen  Seite  überreizte  llochkultur,  auf  der  anderen  kerniges 
Bauerntum;  zwischen  beiden  oft  kaum  noch  die  Möglichkeit  einer  Verständigung. 
Hier  greisenhaftes  Absterben,  dort  jugendlich  kraftvolle  Gesundheit!  'Derselbe 
Unterschied  zwischen  Jugend  und  Alter,  zwischen  Mittelalter  und 
Neuzeit,  welcher  in  der  ganzen  Welt  grundsätzlich  andere  Lebens- 
prinzipien mit  sich  bringt....:  Dieser  selbe  unterschied  charak- 
terisiert unseres  Erachtens  den  Hauptteil  des  heutigen  Abstandes 
zwischen  Bauerntum  und  Kultur'  (IG.S).  Diesen  Satz  zu  beweisen,  ist  die 
ausgesprochene  Tendenz  des  Buches.  Nach  einer  eingehenden  Betrachtung  des 
bäuerlichen  Lebens,  seiner  äusseren  Bedingungen  und  Erscheinungsformen,  wird 
das  religiöse  Empfinden  des  Bauern  und  sein  Verhältnis  zum  Dogma  behandelt. 
Auf  eine  Untersuchung  und  Würdigung  der  bäuerlichen  Moral,  folgen  Vergleiche 
des  Bauernturas  mit  dem  Mittelalter,  der  Halbkultur  und  der  Kinderwelt. 

Verf.  hat  als  evangelischer  Pfarrer  lange  Zeit  in  inniger  Berührung  mit  dem 
niederdeutschen  Bauerntum  gelebt  und  stützt  und  erweitert  seine  auf  eigener  An- 
schauung beruhende  Kenntnis  durch  Heranziehung  einer  weitschichtigen  Literatur 
älterer  und  neuerer  Zeit     Wenn  so  das  Tatsachenmaterial  des  Buches  als  durchaus 


Berichte  uiul  Büchoraiizeiofcn.  463 

zuverlässig  angesprochen  werden  darf,  so  werden  —  bei  dem  polemischen  Charakter 
der  Darstellung  —  nicht  alle  Verallgemeinerungen  und  Folgerungen  unangefochten 
bleiben.  Die  Tendenz,  einer  dekadenten  Zeit  den  Spiegel  urwüchsigen  Bauern- 
tums vorzuhalten,  rechtfertigt  es  z.  B,  nicht,  't 'ber'-  oder  'Hochkultur'  einfach  durch 
'Kultur'  zu  ersetzen.  Der  Unterschied  von  Kultur  und  Hochkultur  wird  zwar 
(S.  VI)  hervorgehoben,  aber  die  Darstellung,  der  es  auf  die  Herausarbeitung 
starker  Gegensätze  ankommt,  vermeidet  es,  die  Stellung  der  gesunden  Kultur  zu 
präzisieren;  man  könnte  sie,  um  im  Bilde  zu  bleiben,  etwa  dem  reifen  Mannos- 
Hlter  vergleichen.  In  der  wohlwollenden  Beurteilung  bäuerlicher  Betrügereien, 
sofern  sie  an  Städtern  verübt  werden,  vermag  ich  dem  Verf.  nicht  zu  folgen. 
Immerhin  bietet  das  temperamentvoll  geschriebene  Buch  auch  dem  Leser,  der 
nicht  in  allen  Einzelheiten  mit  dem  Verf.  übereinstimmt,  Anregung  und  reiche 
Belehrung;  besonders  die  Abschnitte,  die  von  der  Bauernkirche  und  der  Bauern- 
schule handeln,  enthalten  Beherzigenswertes.  Freilich  ist  der  Verf  sich  bewusst, 
dass  seine  ideale  Schilderung  bäuerlicher  Verhältnisse  schon  heute  in  den  meisten 
Gegenden  nicht  mehr  zu  Eecht  besteht,  dass  besonders  die  bäuerliche  Moral  durch 
die  Berührung  mit  der  Hochkultur  schwer  gelitten  hat,  und  so  schliesst  das  Buch 
mit  einer  sorgenvollen  Betrachtung  der  weiteren  Entwicklung  des  Bauerntums. 
An  Druckfehlern  sind  mir  neben  Hundlungen  (S.  78),  ihren  (S.  143)  und  konigierten 
(S.  2.Jo)  aufgefallen:  Kossinna  (S.  42  Anm.  1)  und  daselbst  (Anm.  2)  Jak.  Bruckhardt. 

Wilmersdorf.  Oskar   Ebermann. 


Albrecht  Keller,  Die  Schwaben  in  der  Geschichte  des  Volkshuniors. 
Freiburg  (Baden).  J.  Bielefelds  Verlag  1907.  XVI,  388  S.  8".  BMlc, 
geb.   10  Mk. 

Die  Geschichte  weit  verbreiteter  Vorurteile  ist  immer  reizvoll  und  zuweilen 
belehrender  als  die  Geschichte  von  Tatsachen.  So  war  es  gewiss  auch  eine  dank- 
bare Aufgabe,  dem  absonderlichen  Leumund  der  Schwaben  genauer  nachzufragen, 
jenes  bestgehänselten  Stammes,  der  unter  anderem  Gesichtspunkte  doch  wieder 
so  ernst  genommen  werden  musste,  dass  der  Sprachgebrauch  des  18.  Jahrhunderts 
das  ganze  Mittelalter  als  'schwäbisches  Zeitalter'  nach  ihm  benannte.  Mit  grossem 
Fleisse  hat  K.  das  verstreute  Material  zusammengetragen,  das  den  wechselnden 
Ruf  der  Schwaben  beleuchtet.  Schon  zwei  Gedichte  des  10.  Jahrhunderts,  der 
Modus  Liebinc  und  der  Modus  Florum,  kennen  den  püftigen  Schwaben,  doch 
lässt  sich  eine  Ausnahmestellung  des  ganzen  Schwabenstammes  in  altdeutscher 
Zeit  nirgend  erweisen.  Die  Stauferzeit  ist  das  Ehrenzeitalter  der  Schwaben; 
schwäbische  Rittersitte  wird  vorbüdlich,  schwäbische  Sprache  gilt,  ohne  es  doch 
zur  Schriftsprache  zu  bringen,  für  besonders  fein,  die  Schwaben  haben  das  VoT- 
strittrecht  in  der  Schlacht  und  tragen  die  Reichssturmfahne;  von  ihrer  Tapferkeit 
künden  Mären,  deren  Nachhall  uns  in  Uhlands  'Schwäbischer  Kunde'  begegnet. 
Aber  die  folgende  Zeit  aufblühender  städtischer  Kultur  lässt  mit  den  ritterlichen 
Idealen  auch  die  ritterliche  Gloriole  der  Schwaben  erblassen;  das  Ende  der 
Stauferherrschaft  und  die  in  Schwaben  rasch  eintretende  staatliche  Zersplitterung 
vernichtet  ihr  politisches  Ansehen;  übelwollende  Nachbarn,  vor  allen  die  Schweizer, 
flicken  ihnen  viel  am  Zeuge.  So  finden  die  allenthalben  nach  Stoffen  aus- 
schauenden Schwankdichter  des  16.  Jahrhunderts  schon  viele  Schwabenneckereien 
im  Volksmunde  vor,  die  in  Bebeis  Pazetien  noch  harmlos,  ohne  ausgeprägte 
Spitze  gegen  die  Stammesart,   von  Späteren  aber  immer  deutlicher  als  die  Sünden 


464  Lohre,  Heuslcr,  Bolte: 

des  Sündenbockes  der  deutschen  Stämme  aufgetisclit  werden.  Der  einfältige,  der 
grobe,  der  gemütliche  Schwab  wird  stehende  P'igur  in  der  burlesken  Dichtung  bis 
zum  LS.  Jahrhundert.  In  der  Aufkliirungszeit  erhebt  sich  wohl  noch  manche 
bildungsstolze  Stimme  über  schwäbische  RückständigUeit,  aber  der  nüchterne 
Blick  der  Zeit  bemerkt  auch  die  Übertreibungen  der  Schwabenpossen,  und  so 
beginnt  jetzt  die  'Schwäbisch  Ehr-Rcttung".  Siegreich  wird  sie  aber  erst,  als 
Schwaben,  nach  Vischers  Wort,  „aus  seiner  engen  Existenz  die  Welt  auf  einmal 
mit  einem  Schiller,  Schelling,  Hegel  überrascht."  Unbesorgt,  noch  ferner  in 
seinem  eigentümlichen  Werte  verkannt  zu  werden,  kann  seither  der  Schwabe  mit 
Freiheit  auch  der  eigenen  Schwächen  gedenken,  und  so  sind  es  gerade  Schwaben, 
wie  L.  Aurbacher,  die  der  alles  verstehenden  Gegenwart  die  Streiche  der  sieben 
Schwaben  und  .\hnliches  humorvoll  erneuen. 

Das  ist  in  grossen  Umrissen  die  Geschichte  von  Schwabens  Ruf.  wie  sie  K. 
aus  reichlichen  Quellenzitaten  und  sparsamem  eigenem  Raisonnement  aufbaut. 
Nicht  auf  alle  Strecken  fällt  von  den  Quellen  her  gleiches  Licht.  Jener  grosse 
Umschwung,  der  aus  dem  ritterlichen  Schwaben  der  Stauferzcit  das  einfältige 
Sehwäblein  macht,  behält  trotz  der  Bemühungen  des  Verf.  etwas  Unvermitteltes, 
Dunkles;  wir  sehen  zu  wenig  von  dem  Keimen  und  Anwachsen  der  neuen 
Stimmung.  Bei  dem  erneuten  Umschwünge  im  ausgehenden  lä.  Jahrhundert 
werden  die  Anfänge  weit  besser  sichtbar;  vor  allem  war  hier  der  Verf.  in  der 
Lage,  aus  Schwaben  selbst  charakteristische  Weckrufe  zu  verzeichnen,  das  alte 
Vorurteil  durch  neue  Leistungen  zu  besiegen,  z.  B  aus  J.  M.  Armbrusters 
'Schwäbischem  .Museum'.  An  umsichtigem  Durchsuchen  der  Literatur  hat  es  K. 
gewiss  nicht  fehlen  lassen;  eher  verleiten  ihn  Sammellust  und  das  verzeihliche 
Streben,  in  seinem  Buche  die  unterhaltendsten  Schwabenanekdoten  beisammen 
zu  haben,  dazu,  allzuviel  von  den  innerschwäbischen  Ortsneckereien  aufzunehmen, 
die  sich  ähnlich  in  aller  Welt  Tindcn.  Beim  !',>.  Jahrhundert  erhalten  auch  Gegner, 
wie  Heinrich  Heine,  das  Wort;  sollten  die  Maschen  einmal  so  weit  gezogen  werden, 
so  wäre  vielleicht  auch  Grillparzers  Urteil  manchem  interessant,  das  mit  neuen 
Erfahrungen  alte  Vorurteile  bös  verquickt;  er  spricht  von  Schwaben  als  „Der  alten 
Heimat  alter  Sparren,  Zum  Märchen  schon  gewordenen  von  je.  Dem  Vaterlande 
der  Genies  und  Narren"  (Nachruf  an  Lenau,  Jub.-Ausg.  IbiU,  S.  •21-2).  Die  jüngste 
Gegenwart  hat  der  Verf.  zum  Schluss  nur  gestreift,  dafür  aber  der  Geschichte 
von  den  sieben  Schwaben  ein  recht  dankenswertes  Sondeikapitel  gewidmet,  das 
die  neuen  Forschungen  über  den  amüsanten  Stoff  zusammenl'asst,  Radlkofcrs  kleine 
Studie  in  Virchow-Holtzendorlfs  Vortragssammlung  überholt,  auch  die  älteste 
Fassung  der  Geschichte,  die  comedia  de  Icpore  quadam  aus  dem  Ende  des 
1.).  Jahrhunderts,  nach  Boltes  Montanus  abdruckt.  Ein  ähnliches  Sonderkapitel 
gilt  der  Geschichte  vom  Schwaben,  der  das  Lcberlein  gefressen.  —  K.'s  Dar- 
stellung ist  frisch,  aber  im  einzelnen  nicht  immer  genau  abgewogen;  dass  Hans 
Sachs  „den  gesaraten  geistigen  Besitz  seiner  Zeit  in  Verse  gebracht  habe" 
(S.  »I),  ist  etwas  kühn  gesagt,  'entzückende  Anmut'  für  dessen  Schwanke  ent- 
schieden schief,  auch  mit  dem  'herzigen  Schwäblein'  (S.  -2871  kann  ich  mich  nicht 
befreunden,  doch  haben  derartige  Einzelheiten  der  Gesamtleistung  gegenüber 
natürlich  geringes  Gewicht.  S.  Gil  wäre  wohl  dem  Satze;  „Dass  Franck  in  seiner 
Volkskunde  von  Bohenuis  abhängig  ist.  hat  Erich  Schmidt  nachgewiesen"  besser 
eine  Form  zu  geben,  die  sofort  deutlich  macht,  dass  es  sich  um  einen  jungen 
Forscher  dieses  Namens  handelt;  S  ol  lies  vor  dem  letzten  Zitat  'Gräfer"  statt 
'Gräber'. 

Berlin.  Heinrieh    Lohre. 


Bericlite  uiiil  Büclicranzeigpii.  465 

Arthur  Bonus,  Islämlerbuch  Sammluni;-  I  uml  K.  Herausgegeben  vom 
Kuustwart.  München,  C4eorg  D.  W.  Gallwey,  l'.)07.  XIII,  'im  iiinl 
310  S.    12". 

In  den  letzten  Jahren  hat  sich  kein  anderer  in  Deutschland  so  eifrig-  um  das 
Bekanntwerden  der  isländischen  Saga  bemüht  wie  Arthur  Bonus.  Mehrere  Artikel 
in  den  Preussischen  Jahrbüchern  und  im  Kunstwart  haben  jene  eigenartige  Erzähl- 
prosa von  neuen  Seiten  beleuchtet:  auch  der  Fachmann  kann  aus  diesen  weit- 
blickenden Aufsätzen  mit  ihren  kühn  durchgeführten  Leitgedanken  vieles  lernen. 
In  dem  vorliegenden  'Isländerbuch'  schenkt  uns  Bonus  Verdeutschungen  aus- 
gewählter Stücke  von  isländischen  Bauerngeschichten  und  Königsgeschichten. 
Eine  Quellensammlung,  die  etwa  dem  Kulturhistorikcr  den  Urtext  ersetzen  könnte, 
ist  es  nicht;  dafür  sind  die  Proben  zu  frei  aus  ihren  grösseren  Zusammenhängen 
herausgehoben,  dafür  reicht  auch  die  sachlich-sprachliche  Genauigkeit  im  einzelnen 
nicht  aus.  Aber  die  schmucken  Bändchen  wollen  mehr  bieten  als  vergnügliche 
Unterhaltung.  Bonus  denkt  an  Erziehung  des  geschichtlichen  Blickes  und  des 
Pormgefühls.  Er  hat  den  Eindruck  stark  erlebt,  der  von  diesen  ehrlichen, 
illusionslosen,  erdenhaften  Lebensbildern  ausgeht.  Sie  vermögen  in  der  Tat  „aus 
dem  Bann  der  Phrase  zu  reissen,  die  für  uns  alles  durchtränkt  hat,  was  'ger- 
manisch' oder  'deutsch'  mit  Betonung  heisst." 

Ich  glaube,  B.'s  Übertragungen  besitzen  die  Eigenschaften,  auf  die  es  am 
Ende  ankommt.  Wer  die  Originale  kennt  und  nun  B.  liest,  fühlt  sich  noch  in 
ähnlicher  Luft.  Es  ist  schwer,  diese  isländische  Prosa  zu  verdeutschen.  Schon 
das  genaue  Treffen  des  Gedankens  ist  keine  Kleinigkeit.  Und  dann  die  drei  zu 
meidenden  Klippen:  der  halbdichterische  und  altertümliche  Ausdruck;  der  buch- 
niässig  ungelenke;  der  matte,  unteralltägliche,  unerlaubt  triviale  (denn  eine  Art 
Trivialität  gehört  ja  zum  Stile).  Es  läge  nicht  im  Rahmen  dieser  Zeitschrift,  auf 
solche  Formfragen  einzugehen  und  Vorzüge  wie  Mängel  unserer  Texte  im  einzelnen 
zu  veranschaulichen.  Am  besten  ist  B.  der  zuletzt  genannten  Schwierigkeit  Herr 
geworden.  Seine  Sprache  schmeckt  nie  abgestanden;  oft  überrascht  sie  duicli 
einen  kecken  Treffer.  Mehr  Einfalt,  mehr  Freiluft  kann  man  ihr  da  und  dort 
wünschen.  Deutsche  volkstümliche  Erzähler  sind  wohl  dünn  gesät,  die  man  in 
unserem  Falle  brauchen  könnte,  um  ,,denselbigen  auf  das  Maul  zu  sehen,  wie  sie 
reden."  Aber  nachdem  ich  einmal  meinem  Zermalter  Bergführer  eine  übersetzte 
Saga  vorgelesen  hatte,  war  es  meinem  Sprachgefühl  eine  Stütze,  mir  ihn  als  Hörer 
zu  denken  und  den  Ausdruck  so  lange  zu  modeln,  bis  er  ihn  verstände. 

Dem  von  so  viel  Liebe,  Einsicht  und  Sprachbegabung  durchzogenen  deutschen 
Isländerbuch  wünschen  wir  auch  unter  den  Freunden  der  Volkskunde  viele  Leser. 

Berlin.  Andreas   Heusler. 


M.  Longworth  Dames,  Populär  poetry  of  the  Baloches,  vol.  1— "2.  London, 
D.  Xutt  1'.I07.  XXXIX,  -204.  VII,  2'24  S.  8°.  15  Sh.  (The  Folk-lore 
Society,  publicatious  b9  [1905]). 

Seit  islO  haben  Forscher  wie  Leech,  Burton,  T.  M.  Mayer  und  Dames  der 
Volkspoesie  der  am  Nordwestrande  Indiens  wohnenden  Balutschen  nachgespült; 
insbesondere  hat  Dames,  der  schon  ISSl  eine  Monographie  über  die  Sprache  der 
nördlichen  Balutschen  und   IfU-t    ein  Buch    über  ihr  Volksleben    (vgl.   auch  Folk- 


4G()  Bolte,  Rona-Sklarck: 

lore  13,  252 — 274)  verfasste,  sicli  um  ilio  Sauunlung  iiuer  Prosaerzähluiigen')  und 
Diflitungon  verdient  gemacht.  Das  vorliegende  Werk,  ein  würdiges  Seitenstück 
zu  üarniesteters  Chants  des  Afghanes  (1888— ÜO),  enthält  61  Balladen,  Liebes- 
lioder  und  Legenden,  darunter  viele  in  mehreren  Fassungen,  ferner  eine  Anzahl 
von  Wiegenliedern,  Schnaderhüpfeln  und  Rätseln:  der  1.  Hand  bringt  die  englische 
Übersetzung  nebst  Erläuterungen,  der  2.  die  Originaltexte,  unter  die  auch  alle 
früher  von  anderer  Seite  publizierten  Stücke  aufgenommen  sind.  Von  den 
historischen  Liedern  stummen  die  ältesten  aus  dem  lü.  Jahrhundeit,  wo  die 
Häuptlinge  der  Rinds  und  der  Lashäris,  Mir  Chilkur  und  Mir  üwaharam,  wegen 
der  schönen  Gohar  in  einen  dreissigjährigon  Kampf  gerieten,  dessen  Abschluss 
die  mit  Hilfe  der  'Türken'  aus  Herat  und  Kandahar  bewirkte  Vertieibung  der 
Lashäris  bildete;  aber  auch  noch  1881  ist  auf  den  Tod  eines  Häuptlings  ein 
langes  Lied  entstanden.  Den  Volkscharakter  kennzeichnet  es  wohl,  dass  in  diesen 
Balladen  als  ärgster  Fehler  der  Geiz  und  als  grüsste  Tugend  die  Grossmut  genannt 
wild:  mehrfach  werden  Helden  gefeiert,  die,  wenn  einer  Witwe  oder  einzeln 
stehenden  Frau  ihr  Vieh  geraubt  wird,  freiwillig  als  Rächer  eintreten.  Die 
metrische  Form  der  Lieder  ist  einfach:  eine  Anzahl  gleichartiger  Verse,  meist 
durch  den  Reim  verbunden,  aber  nicht  in  Strophen  gegliedert,  wird  nach  einer 
einförmigen  Melodie  zur  Begleitung  einer  Art  Gitarre  und  Violoncell  gesungen. 
Die  Verse  bestehen  in  der  R,egel  aus  vier  Hebungen,  denen  gewöhnlich  je  ein  oder 
zwei  Senkungen  folgen;  doch  auch  drei-,  fünf-  und  sechstaktige  Verse  kommen 
vor.  Die  Sänger  bilden  einen  besonderen  Stand;  sie  gehören  dem  Stamme  der 
Dombi  an,  die  auch  in  Afghanistan,  Persien  und  Nordwestindien  erscheinen  und 
mit  den  verschiedenen  Dialekten  dieser  Landschaften  vertraut  sind.  Ihr  Privileg 
wird  so  hoch  geachtet,  dass  ein  Balutsche,  der  ein  Gedicht  verfasst  hat,  es  nicht 
selber  vorträgt,  sondern  es  einen  dieser  berufsmässigen  Sänger  lehrt,  die  nur  in 
seltenen  Fällen  zugleich  Dichter  sind.  Vielmehr  wird  bei  den  meisten  Dichtungen, 
wie  bei  den  Davidischen  Psalmen,  im  Eingange  der  Name  des  Verfassers  genannt, 
z  1).:  „Roliiin  Khan  singt,  für  seine  Freunde  singt  er";  „Der  Dombki  Jrim  Durrak 
singt,  der  Märtyrer  der  Liebe  singt";  „Die  Bälächäni-Frauen  singen,  Hänl  Mirdosts 
Tochter  und  Rani  Sälfirs  Tochter  singen,  Segen  rufen  sie  auf  Mithä  herab.'' 
Auch  Allah  wird  angerufen,  oder  der  Lautenspieler  und  die  Zuhörer  werden  ermahnt. 
Es  gibt  auch  Lieder,  die  den  darin  auftretenden  Helden,  z.  15.  ChTikur  und  Gwaharäm. 
selber  zugeschrieben  werden  und  in  der  ersten  Person  abgefasst  sind;  man  wird 
aber  diesen  Angaben  selten  mehr  Glauben  beimessen  als  etwa  dem  'Ich'  im 
niederländischen  Xationalliede  'Wilholmus  van  Nassouwe'.  Die  Ausdrucksweisc 
ist  durchaus  volksmässig  und  einfach;  vom  Einllusse  der  persischen  Kunst- 
dichtung spürt  mau  höchstens  in  den  Liebesliedern  des  schon  genannten  Durrak 
(aus  dem  18.  Jahrh.)  etwas.  Fremde  Stolfe  werden  durchweg  nationalisiert,  so 
1,  111  die  arabische  Liebesgeschichte  von  Leila  uml  Medsehnun  (vgl.  oben 
15,  328),  die  persische  von  Ferluid  und  Schirin  (1,  117),  die  Legende  vom  edel- 
mütigen '.\li  (1,  IGl),    die   Schilderungen   des    jüngsten  Gerichtes,    der  Hölle    und 


1)  Biilochi  talcs,  in  dor  Zeitschrift  Folklore  Bd.  ;'.,  4  und  8  (21  Nummern:  19  ist 
doppelt  gezählt).  —  Zu  Folk-lore  3,  517  (Fuchs  lietzt  den  Tiger  auf  sein  Spiegelbild  im 
Brunnen)  vgl.  Benfcy,  Pantscliatantra  1,  179.  Kirchhof,  Wendunmut  7,  2():  zu  '■>.  518 
(kranker  Konig  verzichtet  auf  Heilung  durch  Kinderblut)  vgl.  llartmanns  Armen  Heinrich: 
zu  3,  .')22  (Tiger  vom  schlauen  Mann  erschreckt'  Benfey  1,  .")0<;:  zu  3,  524  (hölzerne  Frau) 
vgl.  Grimm,  KHM.  87  und  ebd.  4,  'JtJ5  (Drei  Freier  retten  die  tote  Jungfrau  durch  ihr 
Fernglas,  llicgendcs  Soplia  und  Perle:  der  erste  crhiilt  sie  zur  Frau,  weil  er  sie  entkleidet 
gesehen). 


Berichte  uud  Büclicranzeigcn.  467 

des  Paradieses,  das  Kampfgespräch  von  Jugend  und  Alter  (1,  165).  Eigentümlich 
ist  die  Legende  von  der  Strafe  eines  unbarmherzigen  Vaters  (1,  169),  der,  als 
ihm  40  Söhne  auf  einmal  geboren  werden,  od  davon  aussetzt  und  in  dessen  Hand 
sich  darauf  eine  Melone  in  ein  Menschenhaupt  verwandelt  (vgl.  R.  Köhler,  Kl. 
Sehr.  1,  l.')4.  Basset,  Nouv.  contes  herberes  p.  249)  und  die  Ballade  von  Dosten 
(1,  118),  der  aus  langer  Gefangenschaft  gerade  an  dem  Tage,  wo  seine  Braut 
einem  anderen  vermählt  werden  soll,  heimkehrt  und  unerkannt  ein  Lied  von 
seinem  Schicksal  singt.  Zwei  Varianten  zu  der  Legende  vom  Einsiedler  und 
Engel  (Gesta  Rom.  sO.  R.  Köhler  1,  148.  578.  Chauvin,  Bibl.  arabe  6,  190)  be- 
gegnen 1,  153  und  15G  auf  Moses  übertragen,  die  erste  verbunden  mit  dem  Motiv 
der  dem  Wanderer  aufgetragenen  Fragen;  die  Geschichte  von  dem  ungläubigen 
Sultan,  der  in  einem  Augenblick  die  Ereignisse  vieler  Jahre  durchlebt  (R.  Köhler 
2,  21U.  Chauvin  7,  100),  erscheint  1,  15'.i,  die  durch  eine  Taube  übermiUohe 
Liebesbotschaft  1,  115.  J.     Holte. 


Duiuiutüli  Gyüjtes  gyüjtcitte  es  szerkesztette  Dr.  SebestytJn  Gyula. 
(Sammlung  aus  dem  rechtsseitigen  Donaugebiet,  gesammelt  uud  heraus- 
gegeben von  Dr.  Gyula  Sebestyen.)  Budapest  Az  Athenacnim 
ReszvenytärsuUit  tulajdona  1906.     VIll,  599  S.    S". 

Den  jüngst  angezeigten  Bänden  der  von  der  Kisfaludy- Gesellschaft  heraus- 
gegebenen Sammlung  ungarischer  Volksdichtungen  (Magyar  Nepköltesi  Gyüjtemeny) 
ist  binnen  Jahresfrist  wieder  ein  neuer  Band  (der  achte)  gefolgt,  der  ungemein 
reiches  Material  zur  Kenntnis  ungarischer  A^olkspoesie  bringt.  Gyula  Sebestyen, 
der  bedeutende  ungarische  Volkskundler,  hat  darin  die  Ergebnisse  zwanzigjähriger 
Sammlerarbeit  niedergelegt.  Die  Sammlung  enthält  Volksbräuche,  Balladen, 
Lieder  (darunter  Kinderreime,  -reigen  und  -spiele),  Briefe  in  Versen,  Beschwörungs- 
formeln, Märchen,  Legenden  und  Sagen  aus  dem  Gebiet  rechts  von  der  Donau  — 
Aus  der  Fülle  des  Interessanten  sei  hier  besonders  hervorgehoben  die  grosse  Reihe 
der  Volksbräuche  und  V'olksschauspiele,  die  die  kirchlichen  Feste  begleiten.  Wir 
finden  Weihnachtsspiele,  Spiele  am  Dreikönigstag,  am  3.  Februar  zu  Ehren  des 
hl.  Blasius,  am  12.  März  zu  Ehren  des  hl.  Gregor  (Schulkinder  ziehen  von  Haus 
zu  Haus  mit  Gesängen,  die  das  Lernen  in  der  Schule  feiern,  und  werben  die 
Kinder  zum  Schulbesuch),  zu  Pfingsten  (ein  kleines  Mädchen  zieht  als  Pfingst- 
königin  unter  sehr  anmutigen  Gesängen  von  Gefährtinnen  umher),  am  Johannistag, 
am  13.  Dezember  (Lucia)  und  am  28.  Dezember  (Unschuldige  Kindlein).  Im 
Anhang  gibt  der  Herausgeber  eingehende,  lichtvolle  Aufschlüsse  über  die  Ent- 
stehung und  Verbreitung  dieser  Spiele,  wie  überhaupt  die  Anmerkungen,  die  über 
100  Seiten  umfassen,  eine  Fülle  der  Belehrung  bieten  Fast  jeder  neuen  Gruppe 
von  Dichtungen  geht  eine  kleine,  zusammenfassende  Abhandlung  voraus,  in  der 
mittelalterlichen  und  volksnachbarlichen  EinQüssen  nachgegangen  wird.  Die 
Notizen  zu  den  einzelnen  Dichtungen  beschränken  sich  dann  meist  auf  Anführung 
ungarischer  Varianten.  Die  Märchen  und  Sagen  werden  durch  Hinweise  auf 
R.  Köhlers  Kleinere  Schriften  dem  grossen  internationalen  Märchenschatz  ein- 
gegliedert. —  Durch  eine  Anzahl  Briefe  in  Versen  wird  unsere  Aufmerksamkeit 
auf  dieses  bisher  noch  ziemlich  vernachlässigte  Gebiet  gelenkt,  und  alle  werden 
wohl  dem  Wunsche  des  Herausgebers  beipflichten,  dass  künftige  Sammler  auch 
diese  Volksdichtungen  in  ihr  Bereich  ziehen  möchten.  —  Neun  Märchen,  sieben 
Legenden  und  sieben  Ortssagen    beschliesscn    die  Sammlung.     Die    Märchen    und 


468  Rona-Sklarek,  Zachariae: 

Legenden  behandeln  meist  sehr  bekannte  Stoire,  z.  B.  Marclien  Nr.  1 :  Das  Märchen 
vom  Wcttkampf  mit  dem  dummen  Teufel  (Der  Held  führt  den  Namen  Markalf; 
er  ist  ri^Mv  eines  Königs");  Nr.  i:  Variante  zu  Grimm  oG;  Nr.  -1:  Eine  Zusammen- 
stellung von  Narrenstreichen,  die  sehr  beliebt  ist;  Nr.  (>:  Märchen  vom  Stutenei. 
Legenden  Nr.  1:  Legende  vom  Hufeisen;  Nr.  2:  St.  Peter  als  Wettermacher; 
Nr.  C:  St.  Peter  auf  der  Weinlese;  Nr.  T:  Christus,  Petrus  und  der  Schmied. 
Hesonderes  Interesse  erregt  ein  Rahmenmärchen  Nr.  :!.  Es  unterscheidet  sich 
von  der  bekannten  Form  der  Rahmenerzählung  dadurch,  dass  der  Erzähler  selbst 
nur  den  Rahmen  erzählt  und  die  Zuhörer  von  ihm  aufgefordert  werden,  die  ein- 
geschobenen Geschichten  zu  erzählen.  Hier  handelt  es  sich  um  eine  arme  Frau, 
die  ihre  Kinder  (die  Zahl  richtet  sich  ganz  nach  der  Zahl  der  erzählfähigen  Zu- 
hörer) im  Walde  verlassen  hat,  sich  verirrt,  im  Traum  die  Weisung  erhält,  sieh 
ui  einem  Waldbrunnen  zu  waschen,  dann  werde  sie  das  Schicksal  ihrer  Kinder 
erfahren;  sie  tut  es  und  erblindet  Der  Erzähler  versichert,  dass  sie  erst  dann 
wieder  sehend  würde,  wenn  die  Kinder  erwachsen  seien,  und  (ordert  nun  jeden 
auf,  die  Geschichte  eines  Kindes  zu  erzählen,  denn  sonst  bliebe  die  arme  Frau 
bis  an  ihr  Lebensende  blind.  Jeder  Zuhörer  muss  die  Geschichte  seines  Helden 
bis  kurz  vor  die  Hochzeit  führen,  dann  wird  er  unterbrochen  und  dem  nächsten 
das  Wort  gegeben.  Wenn  alle  soweit  ?ind,  nimmt  der  Erzähler  den  Faden  wieder 
auf  und  führt  alles  zu  glücklichem  Ende.  Die  Mutter  wird  gesucht,  gefunden  und 
geheilt,  und  die  grosse  Hochzeit  wird  gefeiert.  —  Zum  Schluss  sei  als  Kuriosum 
noch  ein  Weinliedchen  angeführt,  das  eine  Situation  schildert,  die  den  Heraus- 
geber an  eine  ähnliche  in  Goethes  16.  römischer  Elegie  erinnerte.  Freilich  ist  der 
Verlauf  des  Erlebnisses  ein  anderer.  Der  ungarische  Sänger  kommt  im  Dunkeln 
zum  Stelldichein  zum  Weinberg  und  umarmt  in  der  Dunkelheit  einen  Pfahl  an 
Stelle  seines  Mädchens. 

Berlin.  Elisabet  Rona-Sklarek. 


^V.  l'alaud,  De  studio  vaii  liet  Sanskrit  in  verband  met  ethnologie  en 
klassieke  philologie.  Rede  uitgesprokcu  op  'ii  öctober  1906.  Utreelit, 
C.  H.  E.  Rreijer  (A.  Oosthoek)  1?06.    38  S.    8". 

Die  vorliegende  Schrift,  die  Antrittsrede  des  durch  sein  'Altindisches  Zaubcr- 
ritual'  (Amsterdam  19(1(1)  und  andere  Arbeiten  rühmlichst  bekannten  Verfassers 
bei  seiner  Ernennung  zum  ausserordentlichen  Professor  an  der  Universität  zu 
Utrecht,  handelt  von  der  Wichtigkeit  des  Studiums  der  Ethnologie  und  der  Sprach- 
wissenschaft für  den  klassischen  Philologen  und  den  Indologen.  Wir  beschäftigen 
uns  hier  nur  mit  dem  ersten  Teil  der  Schrift,  worin  gezeigt  wird,  welche  Früchte 
die  Verbindung  der  ])hilologischen  Studien  mit  dem  Studium  der  Ethnologie  und 
Volkskunde  zu  zeitigen  vormag  (S.  10 — 24),  und  heben  das  wichtigste  heraus.  — 
Der  primitive  Mensch,  so  führt  Caland  aus,  hegt  die  Überzeugung,  dass  gleiche 
Ursachen  gleiche  Folgen  haben,  und  dass  Dinge,  die  einmal  in  Berührung  mit- 
einander gewesen  sind,  auch  dann  noch  aufeinander  zu  wirken  fortfahren,  nachdem 
die  Berührung  aufgehört  hat  (vgl.  Frazer,  The  golden  bough-  1,  OfT).  Die 
Zauberei,  die  Bastardschwester  der  Wissenschaft,  wie  man  sie  genannt  hat,  beruht 
auf  dem  Prinzip  der  Jdeenassoziation.  Indem  man  z.  B.  durch  Schlagen  auf  eine 
Trommel  Donner  hervorbringt,  glaubt  man  Regen  erzeugen  zu  können  (nach- 
ahmende oder  mimetische  Magie);    man  kann    seinen  Feind  schädigen  oder  töten, 


Berichte  unfl  BücliPraiizoigen.  469 

wenn  man  sich  ein  Abbild  von  ihm  macht  und  dieses  wie  seinen  Feind  behandelt 
(sympathetische  Magie  oder  'Bildzaubor';  s.  Preuss,  Globus  80,  381I)-  Kein 
Wunder  ferner,  wenn  dem  Wilden  Unglück,  Krankheit  und  vorzeitiger  Tod  als 
eine  Folge  von  Behexung  gelten,  und  dass  er  allerlei  Vorsichtsmassregeln  dagegen 
ergreift.  In  einem  gefährdeten  Zustand  befindet  sich  ein  jeder,  der  als  besonders 
heilig  angesehen  wird  oder  der  mit  dem  Tode  in  unmittelbare  Berührung  kommt. 
Eine  solche  Person  heisst:  Tabu:  ein  mit  dem  lat.  sacer  begrifflich  vollständig 
übereinstimmendes  polynesisches  Wort.  Von  den  Grundanschauungen  der  Wilden 
finden  sich  auch  bei  den  Kulturvölkern  eine  Menge  Spuren.  Der  Kultus  der 
'Römer,  der  alten  Inder,  der  Chinesen  und  Assyrer  ist  nichts  anderes  als  eine 
organisierte  Magie.  So  sind  insbesondere  die  religiösen  Gebräuche  der  Inder  mit 
allerhand  Anschauungen  und  Praktiken  durchsetzt,  die  uns  lebhaft  an  die  An- 
schauungen und  Praktiken  der  Wilden  erinnern. 

Wie  weit  verbreitet  z.  B.  der  Glaube  ist,  dass  man  gewisse  Personen  schützen 
und  isolieren  muss,  weil  sie  heilig,  gefährlich  und  geTährdet,  kurz,  weil  sie  Tabu 
sind,  ergibt  sich  aus  dem,  was  berichtet  wird  über  den  indischen  Snätaka  (den 
Brahmanen,  der  das  die  Schulzeit  abschliessende  Bad  genommen  hat),  den 
Mikado  der  älteren  Zeit  (vgl.  Engelbert  Kämpfers  Bericht  aus  dem  17.  Jahr- 
hundert bei  Frazer  1,  234f)  und  den  Flamen  dialis  bei  den  Römern.  Aus  den 
zahlreichen  Vorschriften  über  das  Verhalten  des  Snätaka  hebt  Caland  einige 
heraus  und  vergleicht  sie  in  sehr  glücklicher  Weise  mit  den  Tabumassregeln,  die 
für  den  Mikado  und  den  Flamen  dialis  galten.') 

S.  16ff.  handelt  Caland  über  die  Vorstellungen,  die  sich  der  Wilde  von  dem 
Wesen  der  Seele  macht  (s.  Frazer  1,  247 ff).  Der  Wilde  denkt  sich  die  Seele 
als  ein  kleines  Männchen,  als  ein  Insekt,  als  einen  Vogel.  Er  glaubt,  dass  sie 
nur  in  sehr  loser  Verbindung  mit  dem  Körper  steht,  und  hält  es  darum  für  nicht 
ungefähilich,  zu  niesen  oder  zu  gähnen.  Man  denke  an  die  verschiedenen,  über 
die  ganze  Erde  verbreiteten  abwehrenden  Ausrufe  beim  Niesen  und  an  die  Sitte  der 
Inder,  wenn  jemand  gähnt,  mit  Daumen  und  Mittelfinger  xu  schnalzen,  um  die 
Seele  am  Entweichen  aus  dem  Körper  zu  verhindern.")  Wie  der  Wilde  glaubt, 
dass  die  Seele  während  des  Schlafes  zeitweise  vom  Körper  Abschied  nimmt,  so 
fürchtet  er  auch,  die  Seele  könne  im  wachenden  Zustand  entweichen,  wovon 
dann  Krankheit,    Wahnsinn    und  Tod    die  Folge   sind.     Ist    er    in   Berührung  mit 


1)  Eine  von  den  Tabuuiassrogeln,  denen  der  Flamen  dialis  unterworfen  war 
(propag-ines  e  vitibus  altius  praetcntas  non  succedit:  Gcllius  10,  15,  13\  erklärt  Caland 
anders  und  entschieden  richtiger  als  Frazer  (Golden  bough  1,  35.Sf.\  Doch  ist  Calands 
Erklärung,  soweit  ich  sehe,  nicht  neu;  vgl.  z  B,  Marquardt,  Römische  Staatsverwaltung  3 

1878 1,  S.  ol8. 

2)  Es  ist  wohl  kaum  nötig  zu  bemerken,  dass  die  KörperöfEnungen  wie  Nase  und 
Mund  nicht  nur  als  Ausgaugspforteu,  sondern  auch  als  Eingangspforten  etwa  für  böse 
Geister,  für  schädliche  Substanzen  augesobeu  werden.  Daher  kann  man  die  von  Caland 
i-rwähnten  Ausrufe  und  Gesten,  sowie  andere,  auch  erklären  aus  dem  Bestreben,  das 
Hiueinfliegen  von  etwas  Üblem  zu  verhindern.  Vgl.  nur  Tylor,  Anfänge  der  Kidtur 
(1873)  1,  !)7-104.  Ober  den  indischen  Gähnabcrglauben  sagt  Tavernier,  Voyages  des 
ludes  1.  3,  eh.  14:  Les  Idulatres  des  Indes  ont  cetto  coütunie,  qne  quand  quelqn'un  bäille 
ils  fönt  ciaquer  leurs  doigts,  en  criant  par  plusicurs  fois  Ginarami,  c'est  ä  dire,  souvien- 
toy  de  Narami,  qui  passe  parmi  ces  Idolatres  pour  un  grand-saiut.  11s  diseiit  quo  ce 
claquement  de  doigts  ne  se  fait  que  pour  empeschor  que  quelqne  mauvais  esprit 
n'entre   daus  le  Corps   de  celuy  qui  bäille. 


•170  Zachariae: 

oincni  Toten  gewesen,  so  ist  diese  Gefahr  besonders  gross,  da  die  Seele  des 
Verstorbenen  die  der  Lebenden  an  sich  gezogen  haben  kann  Dieser  Glaube  ist 
noch  bei  den  alten  Indern  sehr  lebendig  Bei  einem  gewissen,  den  'Vätern'  dar- 
gebrachten Opfer  findet  ein  'Zurückrufen'  der  Seele  statt  (Caland,  Aitindischer 
Ahnenkult  1893  S.  178f).  Ferner  verweist  Caland  auf  den  von  Frazer  1,  263 f. 
geschilderten  birmanischen  Brauch. 

Einen  interessanten,  wenig  beachteten  Fall  von  Durchkriechen  bespricht 
Caland  auf  S.  17f.  Wenn  im  alten  Indien  nach  der  Verbrennung  eines  Toten  die 
Verwandten  nach  Hause  zurückkehrten,  wurden  zwei  Äste  in  den  Boden  ge- 
schlagen und  oben  mit  einer  dünnen  Schnur  zusammengebunden.  Alle  Ver- 
wandten gingen  unter  diesem  Bogen  durch,  worauf  der  letzte  die  Schnur  durch- 
schnitt und  die  Äste  auseinanderwarf.  Caland  erklärt  diesen  indischen  Brauch 
ebenso  wie  Frazer  3,  399 — 401  die  entsprechenden  Bräuche  bei  anderen  Völkern: 
die  Verwandten,  die  mit  dem  Tode  in  Berührung  gewesen  sind,  verbarrikadieren 
einfach  dem  Geiste,  der  ihnen  folgen  möchte,  den  Weg;  sowie  der  letzte  durch 
den  Bogen  hindurch  ist,  wird  dieser  vernichtet,  damit  der  Geist  nicht  folgen  kann. 
—  Aber  haben  wirs  nicht  mit  einer  Ileinigungszercmonie  zu  tun  (vgl.  Oklenberg, 
Religion  des  Veda  S.  577)?  Im  übrigen  halte  ich  das  in  so  mannigfachen  Ver- 
wendungen vorkommende  Durchkriechen  oder  Durchziehen  im  Grunde  für  nichts 
weiter  als  eine  Nachahmung  des  Geburtsaktes,  eine  fj.lyy,a-ii  tvj;  yiveirtu«;  (zuletzt 
hierüber  Kahle,  oben  16,  318). 

Auf  S.  18  f  zeigt  Caland,  dass  sich  der  Inder,  genau  wie  die  wilden  Völker 
fFrax.er  1,  253),  die  Seele  als  ein  kleines  Tier  oder  einen  Vogel  vorstellen.  Vgl. 
die  Stellen  bei  Caland,  Die  altind.  Totengebräuche  189G  S.  78.  135;  Oldenberg, 
Rel.  des  Veda  S.  563.  581. 

Wenn  die  Gefahr  besteht,  dass  die  Seele  den  Körper  verlassen  könnte,  wenden 
die  Wilden  allerlei  Mittel  an,  um  sie  zum  Bleiben  zu  bewegen.  Besonders  gross 
ist  diese  Gefahr  bei  festlichen  Gelegenheiten;  man  fürchtet,  die  Seele  der 
Person,  um  derentwillen  ein  Fest  abgehalten  wird,  könne  von  missgünstigen 
Geistern  geraubt  werden,  und  bestreut,  um  das  zu  verhindern,  das  Haupt  dieser 
Person  mit  Reiskörnern  (Frazer  1,  254).  Caland  vergleicht  dies  Bestreuen  mit 
den  y.a.ra.'fy(TiM.-a.  bei  den  Griechen  und  wendet  sich,  im  Anschluss  an  Samter, 
mit  Recht  gegen  die  frühere  Auffassung  der  xarayvVuara  als  eines  Symbols  der 
Fruchtbarkeit.')  Nur  sei  es  nicht  nötig,  den  griechischen  Brauch,  wie  Saniter 
will,  als  das  Überbleibsel  eines  Sühnopfers  zu  erklären. 

Der  kulturlose  Mensch  hält  es  nicht  für  schwer,  die  Geister  zu  betrügen  und 
irre  zu  leiten.  Dieser  Glaube  lebt  noch  in  den  religiösen  Gebräuchen  der  Kultur- 
völker fort.  Caland  verweist  auf  das  römische  Fest  der  Compitalia;  die 
wollenen  Puppen,  die  man  den  Laren  an  diesem  Feste  zur  Nachtzeit  an  den 
Kreuzwegen  und  vor  den  Haustiiren  aufhing,  sollten  die  Laren  bewegen,  die 
Lebenden  zu  schonen  (ut  vivis  parcerent),  indem  sie  die  Puppen  an  deren  Statt 
annahmen.  Keinesfalls  ist  das  Aufhängen  der  Puppen  als  eine  Ablösung  ehe- 
maliger Menschenopfer  aufzufassen  (Frazer  2,  344.  352;  vgl.  jetzt  namentlich 
G.  Wissowa  im  Archiv  f.  Religionswissenschaft  7,  5.3  ff.),     Caland  verweist  ferner 


1)  Ähnlich  hat  P.  Stengel  neuerdings  .Hermes  41,  -242)  die  bei  verschiedenen  Gelegen- 
heiten gestreuten  y.arayyaftara  für  eine  Abündung,  'ein  Futter'  für  böse  Dämoiieu,  erklärt. 
Ich  darf  auch  auf  meine  eigenen  Ausführungen  über  die  Bedeutung  des  Körnerstreucns 
verweisen  (Wiener  Zs.  für  die  Kunde  des  Morgenlandes  17,  139.  20,  293). 


Berichte  und  Bücherauzeigen.  471 

auf  den  indischen  Traiy anibakahoma,  auf  das  dem  Rudra  Tryambaka  dar- 
j;ebrachte  Opfer  (A.  Hillebrandt,  Rituallitoratur  1897  S.  118  f.;  Üldcnberg,  Rel.  des 
Veda  S.  44-2f.  vgl.  yü.if.}-  Dieses  Opfer  findet  auf  einem  Kreuzweg  statt.  Am 
Schluss  der  Zeremonie  werden  die  Opferkiichen  hoch  aufgehängt,  als  'Weg- 
zehrung' für  den  Rudra,  damit  er  freundlich  vorübergehe,  ohne  die  Menschen  zu 
schädigen.  —  Hier  fehlt  der  Raum,  die  Einzelheiten  von  Calands  interessanten 
Ausführungen  wiederzugeben.  Nur  ein  Punkt  sei  hervorgehoben.  Wenn  der  er- 
wähnte römische  Brauch  in  der  Weise  geübt  wurde,  dass  den  Laren  'tot  pilae, 
quot  capita  servorum;  tot  effigies,  quot  essent  liberi,  ponebantur"  (Festus 
p.  230),  so  wurden  beim  Tryambaka-Opfer  so  viele  Opferkuchen  für  den  Rudra 
bereitet,   als   die   Familie  des  Opferers  Mitglieder  zählte  ') 

Dem  Wilden  gilt  die  ganze  Natur  als  beseelt;  Erde,  Pflanzen,  Bäume,  Flüsse 
haben  eine  Seele,  und  dementsprechend  werden  sie  von  ihm  behandelt  (Frazer 
1,  1G9).  Spuren  dieses  Animismus  bei  den  Kulturvölkern:  Wenn  der  Inder  eine 
gewisse  Pflanze  zum  Gebrauch  bei  Zauberhandlungen  ausgraben  wollte,  so  streute 
er  erst  -3x7  Gerstenkörner  oder  Bohnen  um  die  Pflanze  herum.  Caland  ver- 
weist ferner  auf  zwei  von  Plinius^)  geschilderte  Bräuche,  die  man  beim  Aus- 
graben der  Iris  und  der  Verbena  beobachtete,  und  auf  die  Vorschrift  des  Gato, 
wonach  man  ein  Schwein  als  Sühnopfer  schlachten  musste,  wenn  man  einen  Wald 
umhauen  oder  darin  graben  wollte.  Caland  macht  auch  hier,  wie  schon  in  seinem 
Altindischen  Zauberritual  S.  109.  15!>,  auf  einen  bei  den  Tschirokis  herrschenden 
Brauch  aufmerksam.  Wenn  der  Medizinmann  bei  den  Tschirokis  das  Zauberkraut 
aus  dem  Boden  gerissen  hat,  steckt  er  ein  Kügelchen  in  das  Loch  und  deckt  es 
mit  loser  Erde  zu;  'it  seems  probable  that  the  bead  is  intended  as  a  compen- 
sation  to  the  earth  for  tho  plant  thus  torn  from  her  bosom'  (Mooney,  The  sacred 
furmulas  of  the  Cherokees  p.  839)  Als  ein  beseeltes  Wesen  wird  die  Erde  in 
einem  Verse  des  Atharvaveda  (1:',  1,  oj)  angeredet:  Das  Loch,  das  ich,  o  Erde, 
in  dich  grabe,  das  möge  schnell  wieder  zuwachsen  usw. 

Die  vergleichende  Methode  isis,  die  die  Lösung  so  vieler  ethnologisch- 
philologischer  Problome  ermöglicht.  Oft  aber  sehen  wir  uns  vor  unlösbaie  Rätsel 
gestellt;  wir  müssen  zufrieden  sein,  wenn  wir  zu  einem  unerklärbaren  Brauche 
ein  oder  zwei  Parallelen  nachzuweisen  imstande  sind.  Vielleicht  finden  dann 
andere  die  Lösung  des  Rätsels.  Ein  solches  unlösbares  Rätsel  liegt,  nach  Caland 
S.  23f.,  in  folgendem  indischen  Brauche  vor.  Beim  indischen  Tieropfer  war  eine 
der  ersten  und  wichtigsten  Handlungen  das  Fällen  und  Herrichten  eines  Opfcr- 
pfostcns,  yüpa  (an  den  das  Opfertier  gebunden  wurde).  Man  zog  in  den  Maid, 
um  einen  geeigneten  Baum  auszusuchen.  Da  galt  nun  die  Vorschrift,  das  man 
nicht  den  ersten  Baum  nehmen  durfte,  der  passend  erschien;  auch  nicht  den 
zweiten  oder  dritten:  an  mindestens  drei  zum  yüpa  geeigneten  Bäumen  musste 
man  vorübergehen  (siehe  die  genaueren  Angaben  hierüber  nach  den  indischen 
Ritualbüchern  bei  J.  Schwab,  Altind.  Tieropfer  1886  S.  4).  Eine  merkwürdige 
Parallele  weist  Caland  nach  aus  der  vorhin  zitierten  Abhandlung  Mooneys  über 
die    heiligen  Formeln    der    Tschirokis.      Wenn    der   Medizinmann    der  Tschirokis 


1)  Und  obendrein  noch  ein  Opferkuclien;  für  die  noch  nicht  geborenen  Familien- 
glieder, wie  es  in  der  Oberlieferung  heisst  —  Darf  man  vielleicht  an  'den  Überschüssigen' 
denken?     Siehe  R.  M.  Meyer,  Archiv  f.  ßeligionswissenschaft  10,  8'.i. 

2)  Siehe  die  Stelleu  bei  Grimm,  Deutsche  Mythologie-  S.  11471.  In  der  einen 
Stelle  (favis  ante  et  nioUe  terrae  ad  piamentum  datis,  Plin.  n.  h.  '25,  107)  muss  Caland 
fabis  gelesen  haben,  denn  er  übersetzt:   'boonen  en  honig". 


472  Zacliariae:    Horiclitc  und  liiichcranzeiscn. 

auszieht,  um  ein  gewisses  Lleilkraut  zu  suchen,  so  nuiss  er  in  einigen  Fällen  (die 
Mooney  nicht  niiiier  bezeichnet)  an  den  ersten  drei  Kräutern,  die  er  findet,  vor- 
übergehen,  bis  er  ein  viertes  gefunden  hat;  erst  wenn  er  dieses  ausgezogen  hat, 
darf  er  zu  den  drei  ersten  zurückkehren.  Als  eine  zweite  Parallele  führt  Caland, 
mit  starken  Zweifeln  allerdings,  den  eigenartigen  mos  maiorum  der  Römer  an, 
der  den  ersten  Intorrex  daran  verhinderte,  die  Wahlcomitien  zu  halten  —  Soweit 
Caland.  Indem  wir  den  römischen  mos  maiorum  lieber  aus  dem  Spiele  lassen, 
machen  wir  wenigstens  einen  Versuch,  den  indischen  Brauch  zu  erklären.  Ist 
darin  ein  Rest  von  der  grossen  Scheu  zu  erblicken,  die  man  in  der  alten  Zeit 
ülierhaupt  vor  dem  Fällen  eines  Baumes  empfand?  Vgl.  z.  B.  Frazer,  Golden 
bough  1,  IMlff.;  namentlich  das,  was  er  auf  S.  184  über  die  Dajaks  auf  Borneo 
und  die  Gonds  in  Vorderindien  mitteilt.')  W.  Crooke,  Populär  religion  2,  f<l 
(prejudice  against  cutting  trees).  Oldenberg,  Rel.  des  Voda  S.  2ö(!f.  Öder  be- 
absichtigte man,  indem  man  sogar  an  solchen  Bäumen,  die  passend  waren,  vorüber- 
ging, eine  Täuschung  der  Geister,  die,  wie  bei  allen  wichtigen  Handlungen  nach 
dorn  primitiven  Glauben,  so  auch  bei  der  hochwichtigen  Prozedur  der  Bauni- 
auslcse  dun  Menschen  zu  schädigen  versuchten?  Und  noch  eins.  Da  es  in  den 
indischen  Ritualbüchcrn  heisst,  dass  man  mindestens  an  drei  Bäumen  vorüber- 
gehen d.h.  also,  sie  stehen  lassen  muss,  so  liegt  die  Versuchung  ausser- 
ordentlich nahe,  den  indischen  Brauch  zu  verknüpfen  mit  gewissen  Branchen  beini 
Einsammeln  der  Ernte,  beim  Suchen  von  Beeren  und  dergleichen:  die  Versuchung 
ist  um  so  grösser,  als  uns  auch  bei  diesen  Bräuchen  die  Dreizahl  entgegentritt. 
Einige  Andeutungen,  einige  wenige  Beispiele  aus  dem  von  Mannhardt.  U.  Jahn, 
und  anderen  gesammelten  überreichen  Material  müssen  hier  genügen.  W'iv  finden, 
dass  bei  der  Ernte  die  zuerst  geschnittenen  Ähren  besonders  ausgezeichnet 
werden.  Beim  Schneiden  der  ersten  Ahron  werden  feierliche  Zeremonien  beobachtet: 
man  lässt  sie  auf  dem  Felde  liegen,  oder  man  hängt  sie  in  der  Wohnstube  auf, 
oder  man  nagelt  sie  über  der  Haustür  an.  (Viel  häufiger  werden  allerdings  die 
letzten  .Uiren  oder  Halme  in  dieser  Weise  geehrt.)  Drei  Ähren  werden  sehr  oft 
erwähnt,  und  wir  erfahren  auch,  dass  man  drei  Ähren,  oder  einige  .\hren,  oder 
etwas  Getreide,  stehen  lässt  (Mannhardt,  Baumkultus  1875  S.  209f.).  In 
Ilussland  bleibt  ein  Streifen  Roggen  ungemäht  stehen,  und  die  .\hren  w^crden 
zusammengebunden;  'thc  unreaped  patch  is  looked  upon  as  tabooed:  and  it  is 
believed  that  if  any  one  meddies  wilh  it  he  will  shrivel  up,  and  bocome  twisted 
up  like  the  interwoven  cars'  (Ralston  bei  Frazer  2,  236').  Auch  bei  der  Flachs- 
ernte lässt  man  einige  Büschel  Flachs  stehen,  oder  drei  Hände  voll  Flachs,  oder 
drei  Flachsstcngel  (Wuttke  §435.  Jahn,  Opfergebräuche  S.  198).  Auf  den  Obst- 
bäumen lässt  man  immer  einiges  Obst  stehen,  'so  tragen  sie  später  reichlich" 
(Wuttke  4.'il.  G()9).  Wenn  die  Kinder  im  Walde  Erdbeeren  suchen,  so  legen  sie 
die  drei  ersten  Beeren  auf  einen  Baumstumpf  'für  die  h.  Maria',  oder  'für  die 
armen  Seelen':  beim  Pilzosammeln  legen  die  Weiber  die  drei  ersten  Pilze  in 
einen  hohlen  Baum  (Wuttke  43ti). 

Halle  a.  S.  Theodor  Zacliariae 


1)  When  the  Dyaks  feil  the  jungle  ou  thc  hills,  thcy  offen  Icave  a  few  trees  staiidini,' 
on  tlie  hill-tops  as  a  refuge  for  the  di^ossessod  tree-spirits.  Similarly  in  India,  tho 
Gonds  allow  a  grove  of  typical  trees  to  rcmain  as  a  hörne  or  rcscrve  for  tlie  woodland. 
spirits  whcn  llu'y  are  Clearing  away  a  jungle. 


Register. 

(Die  Namen  der  Mitarbeiter  siml  kursiv  gedruckt/ 


Aargauer  Sagen  G4. 

AnJria,  A.  di  146. 

Abdingliof,  Kloster  41. 

Angang,  allerlei  453. 

Ahel-ing,  M.     Aberglaube  der 

.\ngiolieri,  C.  145. 

liortugies.  Seeleute  ."il4f. 

Aulieimelu  244. 

Aberglaube    245.     248.    ;il4. 

Anickov,  E.  V   232. 

;)46f.  :!5:!f.  448.  452 

Antipov,  V.  348.  349. 

.'Vbraniov,  J.  34G. 

Antonius,  d.  h    101  f. 

Abstemius  4. 

Antwerpen  45 1. 

Abzählreime  27o.   278.    282f. 

Apfel  zuwerfen  :U(t. 

:i;il.  448. 

Apokryphe  Evangelien  4i. 

Acht  IS'.if. 

Apostohjv,  P.  2311. 

Ad  absurdum  führen  175. 

April  45: >. 

Adler  und  Eule  4. 

Arabische  Märchen 339.  Spiele 

Aifiiaii,     K.       Volksbriiucho 

88. 

aus    dem    Chiemgau  (2  -  4) 

Aretalogie  122. 

Ö21— :i25. 

Aretino,  P.  258. 

Aeneas  Sylvius    (Piccolomini) 

Arget  96. 

25G. 

Ariosto,  L.  257. 

Aertsz,  J.  148. 

Aristides  331. 

Afananasjew,  A.  N.  o38. 

Armenische  Sagen   414—424. 

Affe  3. 

Arnandov,  M.  228. 

Afrikanische  Märchen  12.  04ü. 

Ariistein,  0.  24.'>. 

Ägyptische  Märchen  124.  338. 

Aschenbrödel  125. 

"345. 

Äsopische  Fabeln  3  -  16 

Aliasverus  14111'. 

Astrachan  89. 

Ahikar  172. 

Astralmythen  77. 

Alimed  Hikniet  357. 

Ätiologische  Sagen  3.  330. 

Alberti,  L.  CO   258. 

Aubry,  A.  30. 

Alberus,  E.  15. 

Aufgabe,     einen     Stein     zu- 

AUerscelentag  115.  3S2, 

sammeunUhen  182.    Stricke 

Altenkirchen  9ü. 

ans  Sand  drehen  172-186. 

Altersstufen  1(5—42    248. 

461. 

Altscha  89. 

Aushängeschilder  458. 

AUenbiich,  G.  2G   31.  .34. 

Australische  Sagen  342. 

Amalfi.  G.  331. 

Ambrosia  214. 

Auibrosiani,  S.   240. 

Babylonische    Erzählung    76. 

Amerikanische  Märchen    341. 

186. 

Amme  190f. 

Radewesen  237  f. 

Anmiete  245. 

Badische  Volksbräuche  96. 

d'Aucona,  A.  242. 

Balcus  57. 

Andersen,  H.  C.  334. 

Balutschen:  Lieder  465. 

Aiidree,    Ji.     203.    342.    356. 

Banovio,  St.  227. 

Der   grüne  Wirtshauskranz 

Bär  12. 

195-200.      Das    neue    vlä- 

Bartels,  Olga  160. 

mische  Museum  für  Volks- 

Bartels, P.  248.  Fortptlanzung, 

kunde  in  Antwerpen  457  bis 

Wochenbett  und    Taufe    in 

460.    Rec.  239. 

Brauch    und    Glauben    der 

Zeitsclir.  d.  Vereiüs  f.  Volkskunde     1907. 


wei.ssrussischen  Landljevöl- 
kerung  160-171.    Ilec.  237. 

Bartos,  F.  217. 

Basset,  R.  333.  356. 

Bastlösereime  388. 

Bauern  -  aufstand  (Bukowina) 
315.  Gewohnheitsrechte  241. 
Psychologie  462.    Schuh  91. 

Bayern  81. 

Beck,  F.  Ein  Wettersegen 
aus  dem  16.  Jh.  313  f.  Alte 
Studenteulieder     443-447. 

Bckarevic,  N.  349. 

Bekreuzigen  170. 

Belavcnec,  M.  349. 

Belovic,  .1.  224. 

Benkovskij,  J.  354. 

V.  Benthcim-Tecklenburg,  M. 
40. 

Berchtesgaden  314. 

Bergmann  272. 

Berliner  Pfannkuchen  70. 

Bertelli,  C.  22-26. 

Bestreuen  470. 

Beterin  geäfft  102. 

Bettzeug  4.54- 

van  Beusekom,  F.  36. 

Bienen  348. 

Bierbuschcn  170. 

Bierki  -  spiel  91.  213. 

Bilderbogen  16  -  42.  425—441. 

Bjerge,  P.  241. 

Blüniuil,  E.  K.  203.  204.  207. 

Blutsegen  451. 

Bobrov,  V.  344. 

Böcke),  0.  116.  203.  ^ 

Boekenoogen,  G.  J.  334. 

Bogoras  342. 

Bogoslavskij,  B    A.  347. 

Böhm,  F.  3.59.    ■ 

Böhmische  Volkskunde  217  bis 
222. 

Bolme,  Kühle,  Strohhalm  129. 

Balte,  J.  200.  204.  246  f.  248. 
359  f.  443  f.  Die  sieben 
Lebensalter  werden  auf  den 
Tod  vorbereitet  41  f.  Zum 
Fangsteinchenspiele  85—89. 

31 


474 


Register. 


]>il(lorbogen  des  IG.  bis 
17.  Jahrli.  (I-Ci  423—441. 
Cbarlos  Peirault  über  fraii- 
zösiscben  Aberfjlaubcn  4.VJ 
bis  4.54.  Spiolmannsbiisse 
4G1.  Neuere  .-^rbeiti'n  über 
(las  (leutscbe  Vollislied  203 
bis  i'lo.  Kouere  Marcheii- 
literaturÖL".)-  IJJ-J.  Sitziiiiirs- 
protokull    \-2S       Rec.    11.'). 

i-2\.2i->.-2i:).-2U.  :^:^{  a/iö. 

4G.i.    Notizen  245  f.  'driü  bis 

358. 
Bonatti,  G.  MG. 
Bonavoslia,  B.  57    257.  i 

V.  Bonstetton,  A.  .5G. 
Bonus,  A.  4G5. 
Borozdin,  A.  II.  :'.49. 
Bottadii)  (Buttadeus),  G.  IKJf. 

1.51. 
Boulenger,  J.  C.  152. 
Bourne.  E.  G.  3.57. 
Brandsch,  G.  207. 
Brandstctter,  R.  245. 
Brandt,  J.  338. 
Bratie,  T.  A.  227. 
Brauiiscliweitr  .'!11.  457. 
Braut kiajifen  73. 
Breisgau  244. 
Brengliel,  P.  35G. 
Brix,  II    .■!:!l. 

Broadwood,  L.  E.  341.  1 

Bruclinalski  21G.  | 

lirih-kiicr,  A.    Neue  Arbeiten 

zur    polniscbon     u.     bühin. 

Volkskunde  210—222. 
Brüdi'rniärclien  124.  '• 

Jirunk,   A.      Volksrätsel    aus! 

Osnabrück    und  Umgegend  ' 

298  -  307, 
Bnauicr,  K.  128.35!).  Sitzungs- 
protokolle 24G-248,  -358  bis 

3(10, 
Buddliistisclie       Erzählungen 

189  f. 
Budzynovskyj,  V.  353. 
Bukowina  315. 
Bulgarische      .Märcbeu      181. 

Volkskunde  228-230. 
Bunker,  .1.  It.  333. 
Busch  190. 
Butler,  S,  1.85, 

Caesarius  von  Heisterbacli  315. 

Caland,  W.  4G8. 

Capiicller,  A.  .52.  G4, 

Carnoy,  H.  3.39. 

Carraruli,  ü.  3:i5, 

Cartaphilus  143  f.  153. 

Cellini,  B.  (iO.  258, 

Ccltcs,  K,   W:!, 

Chalatiaiiz,  B.  Kurdische 
Sagen  (15)  TG— .80.  Die 
iranische  Heldensage  bei 
den  Arnieniirn,  Nachtrag 
(1-Gi  411-421, 

Charusina.  V,  IGl,  318f. 

Chateaubriand  88. 

Cherokesen  12, 


Child,  H.  Sargent  210, 

Chorier,  N.  .X). 

Chotck,  K.  218. 

du  Clioul,  .).  (II, 

Cliristcnsen,  A.  .3.32. 

-,  G.  .345 

Christkinds  I'ford  274. 

Cidji'itechaia  90. 

Ciszewski,  St.  211. 

tMemens,  der  h.  217, 

Cluverus,  Pb,  152, 

de  Cock,  A,  33l, 

Colerus,  A,  152. 

Cornazano,  A.  332, 

Corona- gebet  95.  ' 

Couvadc  214. 

Cronie,  B.  113. 

Cyrano  de  ßergcrac  1.5.3. 

Cyrus  48. 

Cysat,  J.  E.  (i2, 

Cvijie,  .1,  228, 

Czermak,  W,  215. 

Dühiihardt.  ().  :',3().  3.59.  Bei- 
trage zur  vergleichenden 
Sagenforschung  (2.  Natur- 
deutung und  Sasencnt- 
wicklung)  1-lG.  129—11.3. 

Dames,  M.  L,  4(i5, 

Danilov,  V,  351, 

Dänische   Dorl'weistümer  241. ' 
Eieder  2(i9f.    Märchen  137. 
142.  334 f.    Siebensprung  8 1, 

Destainf,-,  E.  .339. 

Detmold  447. 

Dido  ;!4,s. 

Dieb  entdeckt  274.  tauscht 
225, 

Dimitrov,  E    230. 

Dingclstedt,  V.  .357. 

Dingolfing  9G. 

Dionys-tag  I5."i. 

Dötid-,  A.  .333,  Volkslieder 
aus  Vorarlberg  (1  —  10)  307 
bis  311, 

Drache  419. 

Dracott,  A.  E,  341, 

Dragonianov,  JE  .349, 

Drei  gute  Dinge  lo.  Hexen 
407.     Jungfrauen  27.s.  404, 

Dreikönigstag  72. 

Dreizehn  4.52. 

Drescherbrauch  32.3.  Krapfen 
i3. 

Drzazdzynski,  St.  21:'.. 

Dii/ii,  IL  Drei  spät  mit  tol- 
altcrliche  Legenden  in  ihrer 
Wanderung  aus  Italien 
durch  die  Schweiz  nach 
Deutschland  42- G5.  143  bis 
IGO.  219-2G4. 

Dudulaeiis,  C.  154. 

Dumme  Frau  225.  Leute  225 f. 

Durchziehen  315,  348f,  470, 

van  Duyse,  F.  2(.)9, 

Ehermniin,  0.  24G,    Sitzungs- 
protokülle  127.     Bec.  4G2, 
Eckhardt,  E.  244, 


Edelstein  174.  177,  4.52. 

Egcr  201. 

Ehrenreich,  P.  342. 

Eia  popaia  280. 

Eiseuacber  Delegiertentag  359. 

St.  Elmsfeuer  314. 

Engel,     Bciig(d,     lass     mich 

leben  287. 
Eiif/lert,  A.   Die  menschlichen 

Altersstufen    in    Wort    und 

Bild  i3-5;  111-41. 
Enu'lische  Lieder210  Märchen 

138. 
Entwöhnen  1G8. 
Epheu  200, 
Erasmus,  D,  2(X), 
Erbse  i:'.2. 
Erdeljanovir,  .T.  228. 
Erntekröpeln  7.3. 
Esslinger  247, 
Estnische  Märchen  10. 
Estreicher,  K.  21G, 
Ettersburg   1 18. 
Eule  4  f.  45:!. 


Fabeln  3— IG.  131. 

Faber,  F.  259. 

Fackeln  bei  Leichenzüseu  :'iG7. 

FahneuschwiugenderFleischcr 

201  f. 
Fangsteinchenspiel  85-88. 
Fastnachtsgebäcke  70  f. 
Fastradas  King  :'.;)0. 
Fazio  degli  Uberti  .52. 
Fehlreim  394. 
Fee  111.5. 

Feilberg,  H.  F.  115. 
Feuer  229.   3G9     im    Toteu- 

brauch  .JGl  — :'iSG 
Fiebelkorn,  M.  248. 
Filipiii,  J,  .3:15. 
Fink,  P.  208. 
Finkel.  1..  21G. 
Finnische  .Märchen  11.  12. 
Firdousi  411  f. 
Fisch  in  Märchen  142. 
Fischart,  .1.  272,  274.  425,  429, 
Flajshans  221, 
Flandern  :'>99. 
Flodererfahren  323, 
Forke,  A.  .357. 
Frakmont  ^Pilutusl  5G.  Gl. 
Franko,  .1.  215,  :;.50, 
Französischer  Aberglaube  1.52. 

Bilderbotren  40.  Märchen  10. 

:;.35.  Volkskunde  121.  Wirls- 

hauszeichen  197. 
Frau  treulos  422.    F.  u   Pferd 

434.    Lieder  203.  s.  Gattin. 
Freiburg  i.    B  ,    Schauspiele 

241. 
Freitag  4.53.     Zwidf  F.  fasten 

449. 
Friedlaender,  M.  2<i5. 
Friesische  Märchen  140.   O.-l- 

fries.  Kunstsewcrbc  247. 
Frischlin,  E.  :>32. 
Froidurc  d'Aubigne,  G.  3,35. 


Register. 


475 


Frösche  u.  Hasen  '.)(.  Sturch 
14  f.  I 

Frühlingskultus  2:!äf.  -liedei- ' 
233  f. 

Fründ,  J.  40   53   55, 

Fuchs  u.  Gänse  428.  429.  Hase 
11.  12.  Krebs  :".:!2.  Pfann- 
kuchen 139.  ^Yolt•  22.') 
F.spiel  389. 

Fuchs,  H.  332. 

— ,  M.  24C.. 

Fürst,  P.  30.  40 

Gähnen  4G9. 

Gaidoz,  H.  357. 

Gaissach  95 

GallaS,  J.  220. 

Gänse    u.    Furhs    42s.     129. 

Wolf  429.  431. 
Garduer,  F.  341. 
Gasser,  A.  335 
Gassniann.  A.  L.  203. 
Gattin  treu,    brandmarl<t    die 

Versucher  179 
Gaudeamns  igitur  445. 
Gaunersprache  245. 
Gavrilovic,  A.  227. 
Gebildbrote    128.    3.58,     457, 

.s.  Krapfen. 
Geburt  165. 

Genjreubach,  P.  Kl.  IS.    II f. 
von  Gonnep,  A.  245   312. 
Georgiicv,  M.  230. 
Gerhardt,  M.  245. 
Gervasiiistafr  452. 
Gesner,  C    Gl. 
Gilgamescli  77. 
Giorsjevic,  T.  R.  223. 
Glocke  448. 

Gnadenbrünnleiu,  Geistl.  41!i. 
Goisern  441. 
(Jorodcev,  P.  .348. 
Gottfried  von  Vitcrbo  5;i. 
Göttinnen  113, 
van  de  Graft,  C.  357. 
Grassau  321. 
•  ireise  getötet  184. 
Grimm,  Brüder  :j.".2. 
Grisebach,  E.  2o4. 
Grubac,  S.  227. 
Grusevskij,  A.  349. 
Grzetic  227. 
Guckkastenllcder  .355. 
Giimowski,  M.  215. 
Günter,  H.  23»;. 
Günther,  A.  121. 
Gurdon,  P.  IL  T.  .357. 
Gutmann  340. 

Haar  127. 
Habicht  5. 
Hadaczek  215. 
Hafermähspiel  390. 
Haffner,  0    244. 
Hagberg,  L.  240. 
Hagelkreuz  113. 
Hahn  8. 

Hahn,  E.  127.  128. 
Hahn,  F.  340. 


Haikar,  der  weise   172-195. 
Handelsmann,  M.  2Ri. 
Hannover  82. 

V.  Harff,  A.  60   257.  | 

Harris,  J.  R.  342.  ; 

Hartmann,  M.  .■!.59.  i 

Hase  6.  H.  u.  Frösche  9  f.  12. 
u.    Löwen    429.     H.   braten 
Jäger  425. 
Hauffen,  A,  206. 
Haus  -  einrichtung    454.    4.57.  | 
Inschriften  447.    Marke  245. 
Hedu  395. 

Heiliff,    0.      Badische    Volks- 
bräuche des  17.  Jalirh.  96  f. 
Heiligenkultus  23(i. 
Heine,  H.  120. 
Heinemann,  F.  245.  357. 
Heischesprücho  273.  275.  402. 
Heldensaije,      deutsche    237. 

iranische  414. 
Hclhvig,  A.  248.  357. 
Hemmerlin,  F.  .55.  251.  , 

Herntann,    K      Nachtrag    zu  . 
dem  Artikel  'Siebenspriing' 
81—85. 
Hermannus  Gygas  51. 
Hertel,  .7.  .331. 
Hertz,  D.  40 
,  Herz  essen  74  f. 
Horzgebäck  73  f. 
Hessen  81 
Hcup ,     II.       Hausinsciiriftcn 

aus  Detmold  447  f. 
Heusler,    A.     Rec.    113     241. 

465. 
Hexe  449. 
Hirse  128. 

Hnatjuk,  V.  3.52.  354. 
Hoarer  322  f. 

Hochzeit  227.  240.  •■!48.  Spott- 
!      lieder  390. 
I  van  den  Hocje,  R.  '-',1  f. 
;  Hoffmann-Kvayor,  F.  245. 
Jlüfler,  J/.  358.    Der  Krapfen 
65 — 75.    Ein  .loliannisbaum 
in  den  Pyrenäen  94  f.    Zum 
St.  Coronasrebct  95  f. 
Höhr.  A.  208':^ 

Holländische  Bilderbogen  35. 
Holle,  Frau  448. 
Hölle:     einem    die    H.    hciss 

machen  325  -  .328. 
Hölzchen-  oder  Klötzchenspiel 

91.  213. 
Horoskop  452. 
l'Houet,  A.  462. 
Howitt,  A.  \\.  ,358 
Hugo  von  Flavigny  45. 
Hundstage  453. 

11g,  B.  336. 
Ilja  Muromec  343. 
Indischer  Brauch  4()8f,    Mär- 
chen 172   331,  340. 
Innsbruck  454. 
Inschriften  447, 
Iranische  Sagen  414  -  424. 
Ischtar  77. 


Islamisches  Recht  359, 

Island  465. 

Ispirescu.  P.  105. 

Italienische  Legenden  42-65. 
Lieder  242.  Märchen  335f. 
Spiel  86.  Verse  auf  die 
Altersstufen  22  f.  Wirts- 
hauszeichen 198  f. 

Ivanic,  J.  228. 

Ivanisevid,  F.  225 

Jablonovskyj,  V.  .'154. 
Jacimirskij  218. 
Jacob,  G.  354. 
Jacobus  a  Voragine  46. 
Jagd  in  Schweden  241. 
Jakovlev,  G.  348. 
Jakub,  A.  343. 
.lakubcc,  J.  217. 
Jakuskin,  E.  .348. 
Jamaika  341. 
Jan6uk,  N.  A.  347. 
Japan,  Laterneufest  382. 
Jatakas  173-180. 
Javasev,  A.  230. 
Jedemskij,  M.  348. 
Jekyll,  \V.  341. 
Jelconskaja,  J.  345, 
Jinistische  Erzählungen  ISO  f. 

19tt. 
Jochelson,  W,  342. 
Jobannislniuni  94.  -359. 
John,  A    218.      Das  Fahnen- 

fchwingen  der  Fleischer  zu 

Etrer  201—203. 
Joseph  und  Petrus  loi.i.  102. 
Jude,  der  ewige  63.,  1 1:'>  —160. 
Jul  115. 
Justinger,  C.  43. 

i  Kahle,  B.  209.  330. 

Kaindl,  R.  F.    Beiträge  zur 
I      Volkskunde     des     Ostkar- 
pathengebietes    (,1—4)    315 
:      bis  321. 

Kallenbach  216. 

Kaudschur  172. 
I  Kaninchen  12. 
I  Kaniowski  (Sagen)  .319. 
1  Kanne  Wirtszeichen  196. 

Kapras  222. 

Karlowicz,  J.  213. 
!  Karlssage  43   48.  33(i. 
j  Katanov,  N.  345. 
I  Katze  u.  Mäuse  427. 

Katzenstriegel  244. 
[  Kegel  196. 

Keller,  A.  463. 

Ker,  W.  P.  209. 

Kerbschnitzerei  247. 

Kerze  bei  Sterbenden  361  f. 

Kettengespräch  390. 

Keule  im  Kasten  246. 

Kevland,  N  240  f. 

Kind  353.  Fliege  167.  K  aus 
Holz  .353.  K.  verwünscht 
169   s.  Lied,  Spiel. 

Kinderlosigkeit  188.  193f.  s. 
Unfruchtbarkeit. 

31* 


47Ü 


Register. 


Kirchhofl;  A.  2J7. 
Kittredge,  G.  L.  l>1m. 
Klemm,  0.  2;!.'). 
Kiemsee,  G.  4:51. 
Klinger,  W.  211. 
Klotspiel  24(1. 
Kluge,  F.  2:34    244. 
Knöchel  werfen  M.")  -  91. 
Kobylycia  ;U7. 
Kocliaiiowski,  J.  21  I. 
Kohl,  F.  F    2(17. 
Konrad  von  Mure  49. 
Koustanzer  Weltchrouik  .ö2. 
Kopp,  A.  2iM. 
Koppenwahl  'Mi. 
KorencvskiJ,  P.  349. 
Kosaken  olG. 
Kosii;,  M    ;!49. 
Kostko,  V.  :!4S 
Krankheit  1(39  f 
Kran«  Wirtshaiiszeichen  19.^ f. 
Krapfen  (O  -  7.'). 
Kraus,  A.  217. 
Krauss,  F.  S.  20«. 
Kreisfangen  32.'1  f. 
Kreuzstein  99.  -weg  47(». 
Kristensen,  M.  3;i4. 
Kroatische  Volkskunde  224  f. 
Kronfcld.  E.  M.  243. 
Kropatschetr,  (i.  210. 
Kröte  (if. 
Kuba,  L.  227. 
Küchengerät  4,V). 
Kuckuck  27(if. 
Kiihat,  Fr.  227. 
Kühn,  M.  20Ö. 
Kurdische  Sagen  7(5 — 80. 
Kuzelja,  '/..  3öO.  3.>'i. 
Kuznecov,  S    310. 

Lafontaine,  .1.   I. 

Landesvater  44(1. 

l.audtnianson,  !?.  24(j. 

Langer,  K.  208. 

Laufen  441. 

Laureuliiistag  452. 

Lebensalter,  s.  Altersstufen. 

Leciejewski,  .1.  212. 

Lcgcbdcn  23G.  Spätmittel- 
alterliche 42- (lä.  143-l(i0. 
249  -  2G4.  .Xus  dem  Hölmier- 
wald  und  Kuhland  Kid  his 
1(15. 

Lehmann-Sitsche,  R.  341. 

J>ehnclien  rufen  97. 

Lemke, L'.  Zum  Fangstcinchen- 
spicle  85—89.  Drei  russische 
Wnrfspielc  mit  Knöcheln 
89-91. 

Lesbos  ij. 

Lettisciie  Märclien    1 1.  13 

Levickij,  O.  .■>54. 

Libavius  154. 

Libussa  219. 

Licht  weissagt  372.  Ins  Grab 
gegeben  374. 

Licii'iski  21."'.. 

Liebesbiiffe  '.WS.   \{'ü,  -gcbiick 


Liebhaber  al.<  Frau  ;i5il. 

Lieder,  deutsche:  Kinder  2G4 
bis  298.  387—414.  418 
Studenten  443  f.  lialladen 
20G  f.  Historische  2s4  Aus 
Vorarlberg  :;(l7— 311.  Es 
war  einmal  ein  Mann  277. 
295.  Freierwalil  403.  Graf 
und  Nouue  .308.  Hänsdicn 
sass  im  Schornstein  392. 
Verschlafener  Jäger  .309. 
Kirniesbauer  288.  Eifer- 
süchtiger Knabe  308.  Lieb- 
haber gewarnt279.  Mädchen 
erstochen  289. 4 1 1.  Mädchen- 
räuber 307.     Kleiner  Mann 

294.  Jfüller  verkauft  Frau 
297.  Verpasster  Kock  .387. 
Schäfer  und  Edelmann  291. 
Schwester    dient  unerkannt 

295.  Strickerin  :'.(t9  Tann- 
häuser2.58. 2GO-2(;4.  Zahlen- 
lied 311  —  lialutsehen  4G5. 
Bosnisch  227.  Däniseh  209. 
Kroatisch  224.  Nieder- 
ländisch 209.  Russisch 
343  f.  .347  f  350-353.  Ru- 
thcniscli  315—318.  Schwe- 
disch 240.  Serbisch  230. 
351.  Slowenisch  222.  — 
s.  Frühlingsliedcr,  Volks- 
lieder. 

V.  l.iliencron,  R.  205. 
V.  I.iiiperheide,  F.  245. 
Litaneien  4.59. 
Lithberg,  N.  240. 
Ljudkcvyc,  S.  352. 
Lo/iiiir//er,    E.    Zum    Sieben- 
sprunge 447. 
Löhr,  M.  358. 
Lolire,  H.     Kec.  23G    4()3. 
Löland,  R.  213. 
Lopacinski,  H.  2!3. 
Lorentz,  F.  210. 
Loreti  G3. 

Losen  der  Rekruten  459. 
Ijoiivot  152. 
Löwe  u.  Aal  241. 
Liican.  H.  330  L     Kec.   122. 
Lucian  124. 
Lucius,  E    2.3G. 
Lüdieke,  R.  41. 
Ludwig,  IL  2  IG. 
Luther,  M.  327. 
Luzel,  F.  M.  :;.1.5. 
Luzern  52. 

Mac  Culloch  .329. 

Mädchen    rettet   vom   (7algen 

:!.')4.     M.-raub  2.3(). 
Maeterlinck,  L.  .3.55. 
Magnabotti,  A.  dei  2.5(1. 
Maiuraf  233. 
Maikäfer  4(IS. 
:\lailand,  0.  109    .3:!8. 
.Mailehen  97.  2.33. 
Majewski,  E    213. 
^lalchus  448. 
Malta  33G. 


Märchen:  328  342.  Klassifi- 
zierung 229.  Schlüsse  3. 
Naturdeutendc  129-142. 
Lügenm.  185.  Mädchen  ohne 
Hände  .345.  Fliehender 
Pfannkuchen  133.  Rechtoder 
Unrecht  350.  Versenkte 
Schlüssel  141.  Schneider 
im  Himmel  103  Spiel- 
hanscl  l(i4.  Strohhalu), 
Kolile,  liohne  129.  Zauber- 
schwert .;29.  —  Afrikanisch 
34(J.  .\gjptisch  121.  .i;!8. 
345.  Amerikanisch  341. 
Arabisch  339.  Balutschen 
4(;(;.  Bulgarisch  184.  22.sf. 
Dänisch  137.  142.  334. 
Engliscli  138.  Französisch 
335.  Indisch  172.  ."..■'.l.  310. 
Italienisch  335.  Kroatisch 
225.  Maltesisch  .3;;(;  Nieder- 
ländiscli  12.  131.  .3:1-4.  Nor- 
wegisch 137.  Rumänisch 
•■'.f.  13  105  33G.  Russisdi 
9  f.  129.  1.33.  338.  3-14  f. 
Schweiz  330  Serbisch  227. 
Slowenisch  223.  Ungarisch 
8.  109.  338.  4G7.  Wendisch 
1.30. 

klares,  F.  220. 

Maria  7.  -bikler  schwarz  128. 

Marko  Kraljevic  35  L 

-Markov,  A.  343.  347. 

Markuskreuz  113. 

Martin,  des  h.  .Mutter  liKX 
Tag  72. 

Martin,  Minorit  51. 

Martynov,  S.  V.  34G. 

.\Iaslov,  A.  A.  347. 

Mattliäus  Paris  143 

Matthias  Oorvinus  ;)50. 

Mauleselmilch  184. 

Maurer.  H.  127.  24(1. 

Maus  130.  132.  u.  Katze  427. 

Medizin  230. 

Meier.  .1.  204.  20G. 

.Meisiiiger,  0.  209.  241. 

Menschen  liabcn  tierisclie 
Eigenschaften   137  f. 

van  Jlerle,  A.  2.58. 

Messen  1()9. 

Messer  verschenken  4ö:>. 

Mesula  240. 

Metalle  3.59. 

Mcver,  Rud.  .'IGO 

ilh-heh  It.  127.  Rcc.  234.  235. 

Miller,  V.  343. 

Minden,  O.  3G0.  Sitzlings- 
protokoll 128. 

Minns,  S.  22. 

Mitrovie,  A.  227. 

Mitternacht,  J.  S.  1.55 

Mit:sihL( .  P.  Sagen  von 
Tautenburg 98- K Kl.  Kinder- 
reim und  Aberglanbeii  aus 
Weimar  und  Ettersburg 
4  IS  f. 

Moe,  M.  3.",0. 

Mogk,  E.  3,59. 


Kps'ister. 


477 


Moiul  l-J.  TS.  452. 

Morawski,  S.  211;. 

Moskau  047. 

Mousket,  Plülijip  144. 

Mücken  13. 

Müller,  D.  H.  389. 

-,  J.  E.  V.  204. 

Museum  für  vläm.  VolkskunJe 

4.37. 
Myers,  C.  S.  .-Ml. 
Mythischer  Gehalt  fler  Kiniler- 

'lieder  206. 

Xame    nach    ilem    Grossvater 

17;;.' 

Naturdeutuni;'  und  Sag-enent- 

wicklung  i— 10.   129—140. 
Nejedly,  Zd.  219. 
Xeubatiei;  li.  Einem  die  Hölle 

heiss  machen  02.") -328. 
Neuhaus  erobert  202. 
Neujahrs -gebiick  72.  -wünsch 

4ÖG. 
Newell,  VV.  W.  ?.2'i. 
Nicodenuis-cvaiipelium  5.3. 
Niederdeutsche  Verse  42. 
Niederländische    Lieder   209. 

Märchen  12.  131.  004. 
Niederle.  L.  218  f. 
Nieimils  120. 
Niesen  4G9. 
Norcia  51.  5!>.  58. 
Norwegische  Märchen  107. 
de  Novaire,  F,  1 15. 

Uherlin,  .J.  J.  51. 
Odo  de  Girin^tonia  (>. 
Ofen  24(.i.  248. 
Oldenburg  11. 
Oldenburg-,  S.  :'.45. 
Olrik,  A.  210. 
Opferbrauch  471. 
Orlov,  A.  .-'.44. 
Ornamente,  textile  224. 
ürtel,  A.  258. 
Ortscbaftslied  .017.  448. 
Osnabrück  298. 
Ostern  449.     Eier  210. 
Ostpreussen  91. 
Otto  von  Freising  45. 

Palästina  058. 
Pancatautra  .3;'iT. 
Papagenospicl  281. 
Papierdrachc  355. 
Paris,  G.  .058. 
Pecher,  K.  209.  244. 
Peisker  218. 
Pekai-,  J.  219, 
Pentagramma  19(1. 
Perrault,  Ch.  452. 
Persisches  Spiel  8(i. 
Petershauseri.  Chronik  48. 
Petkov,  8.  200. 
Petrus  IG.     Himmelspförfner 

103  f.     F.    u.  Antonius  101. 

Joseph    lOo.    102.     Mutter 

224. 


Pfaft-,  F.  244 
Pfannkuchen  Hiebt  1.0.0. 
Pfeile  der  Heiratslustigen  105. 
Pferil   hat    IG    Eigenschaften 

432. 
Pflanzen  121. 
Philipj)inen  .041. 
Pieko.sii'iski  217. 
Pierre  Bersuire  52. 
Pilatus  45— G5.    Bevy  52,  G2. 

See  51.  .55,  02. 
Pira,  A.  241. 
Pironkov,  M.  229, 
Piain  9G. 

Polikarpov,  Tb.  34 1. 
Polii-ka,  G.  210.  217  f  Neuere 

Arbeiten     zur    südslaw.    n. 

russischen  Volkskunde  222 

bis  234.  343-054. 
Poliziano,  A.  200. 
Polka  240. 
Polnische  Jlärchcn    5.  8.  13. 

Spiel    88.     Volkskunde  210 

bis  217. 
Polyphem  225 
Pommer,  .1.  205, 
Portugiesischer      Aberglaube 

314.     Religion  24G      Spiel 

87, 
Pradel,  F.  209. 
Prasek  221. 
Preispissen  4.59. 
Priebe,  U.  029.  _ 
Pulci,  L.  57,  25 1. 
Puppe   aufgehäimt     ITo.    ver- 
leiht Fruchtbarkeit  1G2. 
Pyrenäen  94, 

Quelle  mit  Wein  gelullt  224, 
Sage  100, 


Rabben.  E.  245. 

Rätsel  244.  298-007.  Auf- 
gaben 174.  18.0. 

Räuber  reuig  224,  225.  über- 
listet 034. 

Razzano,  P.  Gn.  25G. 

Rebhuhn  7. 

V.  d,  Recke,  E.  2i»9. 

Reif,  Wirtszeichen  19G. 

Reimende  Zunamen  108, 

Reiskel,  K.  2(i7. 

Heiterer,  K.  Die  zwölf  gold. 
Freitage  449f.  Segens- 
sprüche aus  den  Alpen  450. 

Reitzenstein,  R.  122.  .0.00. 

Ufuschcl,  K.  .058.     Rec.  11 G, 

Reuterton  40o. 

Rheinland  81. 

Kheinpfalz  81. 

Rheinsheim  97. 

Rhythmus  slaw.  Volkslieder 
351.     Balutsehen  4GG. 

Ricliter,  E.  l)ie  schönste  der 
Feen  105—109. 

Ridinger,  J.  R.  29. 

Robot  personifiziert  31G, 


Rochholz,  E.  L.  (U. 

Rockenfahrt  321  f. 

Hucdiger,   M.    24G.    3.58— ;5G0. 

Albert  Voss  f  HO. 
Roland,  A.  240. 
Romdahl,  A.  240. 
Rona-Sklarel;  E.    008.      Un- 
garische Volksmärchen    (4) 
109—112.     Rec.  4G7. 
Rotbe,  Job,  .50. 
Rozdol>kTJ,  J.  352. 
1  Rübezahl"  211. 
!  Rudberg,  G.  241. 
Rumänischer  .\bcrglaube  150. 
Märchen  4,  8.  10.  105.  0:'.G. 
I  Rummelpott  275.  088. 
i  Runen  212, 
Runzifall  43. 

Russischer  Brauch  IGO — 171. 
Eieder  343.  Märchen  9.  10. 
129.  133.  338,  Spiel  88, 
89f,  Volkskunde  230—201. 
343-354, 
Rustem  414  f, 
Uuthenische  Lieder  :j]5. 

Sachs,  H.  11.  IG    42G. 

V.  Sachsenheim.  H.  257. 

Sadowski,  H.  21G. 

Sagen:  von  Tautenburg  98. 
.Armenische  414.  Buko- 
winaer 319,    Kurdische  7(!, 

Sahr,  J.  205. 

de  la  Säle,  A.  ,58    252  f. 

Salin,  B,  2.08. 

Salman  419, 

Salomos  Urteil  174. 

Salz  verschütten  450. 

Samter,  E.  127.  OGO. 

Sandstricke  172-18G.   |i.;i. 

Sänaerstand  41G.  4GG. 

Sanskrit  468. 

Sartori,  F  Feuer  und  Licht 
im  Totengebrauche  361  bis 
380. 

Satirische  Bilder  vläm.  Maler 
355. 

Savcenko,  J.  354 

Savry,  S.  Oi5. 

Scapulimantia  .056.  .059. 

Sajscn,  N.  047. 

Scharfsinnige  Leute  125. 174f. 

Saselj,  J.  223. 

Schatten  1G9,  174,  -spiel  ;i54f. 

Schatzsagen  98, 

Scheibensprüche  441  f 

Sevalejevskij,  V.  349. 

Schildkröte  7  f. 

Schiller,  F.  (Räuber)  445. 

Siskov,  St.  N.  230. 

ScJih'ii/er,  (i.  Nachlese  zu 
den  Sammlunaen  deutscher 
Kinderlieder  \l-200)  261 
bis  298.  087—414. 

Schlangenbcschwörung  124. 

Schleswig-Holstein  82. 

Schlüssel  versenkt  141. 


47.S 


Register. 


Sclimid,  Albr.  .'JS. 

Sehniidt,  Er.  i'OÖ. 

Sclmeider  im  Hiiiiiiiel  lo;). 
Spott  277. 

Schiiipßil,  E.  Das  ost- 
preussischo  Hölzchen-  oder 
Klötzclienspicl  !U— 94. 

Schönheiten  des  Pferdes  liW. 

Schottische  Märcheu  liiS. 

Sdirader,  F.  357. 

Schrot,  M.  lÜ-2-J. 

Sierhakovskyj,  V.  354. 

;■.  Srhiili'ii/iiiiy,  )('  Alte  Tür- 
liesel  ;U4. 

Schulterblattschau  35G.  359. 

SclniUerus,  A.  207.  24:). 

— ,  1'.  330. 

Schulze-Voltnip,  W.  127.  24(j. 

Sclii'itte,  O.  Tiorsfiinmcn  im 
Briiuiischweitrischcn  311  bis 
:U."i.  Hraunschweig'.  Scgen- 
sprütho  451. 

Schnabcnneckoreien  4(i3. 

Schwalbe  l'25.  229. 

Schwangerschaft  163. 

Schwanjiingfrau  224.  329 

Schwedische  Kulturgeschichte 
2:;9.     Spiel  88. 

Schwein  139. 

Schweizer  Legenden  42.  150. 
2(ii)  Märchen  133.  Sieben- 
sprung 81 .  \olkskuiide  245. 
AVirtshauszeichcn  197. 

SchwertmUrchen  ;')29. 

Sebestycn,  G.    1(57. 

Sibillot,  P.  121. 

Sechzig  188. 

Seele  ausserhalb  des  Leibes 
345  f.     Gestalt  4G9f. 

Seeleute,  Aberglaube  314. 

Segensprüche  240.  208.  Aus- 
gehen 4.50  Krankheit  451. 
Wetter  313.  450. 

Seidenraupe  7. 

Septimcr  .50. 

Shakespeare,  W.  (Hamlet, 
Kaufmann)  3.39  f. 

Sibyllenberg  57.  .58  f.  2.50f. 

Sidorov,  A.  .340. 

Sidrach  432. 

Sieben  Lebensalter  4 1.  -sprung 
81-85.  447.  S-tcr  Sohn 
453. 

Siebcnbiirger  Märchen  131. 

Sigerus,  E.  245. 

Sik-ora,A.  Innsbi'ucker  Haus- 
inventar 454 — 450. 

Sucher,  G.  .329. 

Simic,  St.  230. 

Sindbad  192. 

Singer,  S.  131.  330. 

Sidux-Indianer  (Spiell  88. 

Skalskv  221. 

Skinner,  0.  M.  341. 

Slawische  Volkskunde  210  bis 
23.  l.  :'.43— .354. 

Slowenische  Volkskunde  222 
bis  221. 


Slowinzen  210.  ' 

Sniirnov,  N.  349. 

Soliolevskij,  A.  344.  : 

Sochäii,  P.  127.  :!0O.  | 

Süegaard,  Th.  .L  241. 

Sokeland,  11.   127.  3(!0. 

Sokolowski  215.  [ 

Sonne  79f.  am  Sonnabend 
45:;. 

Spänchenspiel  94. 

Spangenberg,  W.  429. 

Spanische  Spiele  SO.  Verse 
22  f. 

Speranskij,  IJ.  A.  345. 

-  .  M.  N.  347. 

Spiegelungsmotiv  181. 

Spiele  der  Drescher  323. 
Fangsteinchen  8.5  f.  Hölz- 
chen 91  f.  Klot210.  Knöchel 
89  f.  s.  Abzählreime. 

Spielmannsbusse  401. 

Spiess,  K.  240. 

Spinne  3.11. 

Spinnen  am  Sonntag  448. 

Sprichwörter  180.  198.  200. 
240.  325. 

Ssakänianei  90. 

Standessprachen  235. 

Stai)f,  A.  44;!, 

Stawrow,  S.  .'.19. 

Steiermark  4.50. 

Steig,  R.  3..32. 

Steine  127    1.52. 

Sterngucken  323. 

Stickerei  224 

Stoilov,  A.  P.  229. 

Storch  u.  Froschkünig  15  f. 
Wolf  14. 

Stralil,  />.  Volkslegouden 
aus  dem  Böhmerwald  und 
dem  Kuhland  (1-9)  HK)  bis 
105. 

Strebekatzc  241. 

Stroliwisch   190. 

Studcntenlieder  443  f. 

Suchmotiv  13.  141. 

Svoboda  221. 

Tage,    unglückliche  221.  4.52. 
Tannhäuser  2 19—204. 
Tanzmelodicn  21(>.    s.    Polka. 

Siebensprung. 
Taufe   170  f. 
Tausend  und  eine  Nacht  187. 

19,5. 
Tautcnburg  98. 
Teichmann,  W.  208. 
Tellsage  215. 
Teufel  und  Alte  225. 
Thomas,  der  h.  120. 
Tliüringen  81 . 
Tiere  121.  Sinnbilder  nienschl. 

A  ItcrstulVn  18-11:  inenschl 

Eigenschaften  4371'. 
Tierfabel  s.  Fabel,  -haut  ver- 
brannt 1115.   -märchen  229. 

.329.    341.    344      -stimmen 

311-313. 


Tille,  V.  218. 

Tintenstecher  4.5s. 

Tiroler  im  Lied  270. 

Tischzeug  454. 

Tizio,  S.  140. 

Tochter  säugt  .3;U. 

Tod  das  Gewisseste  42.   T.  u. 

Lebensalter  20.  42.  u.  Soldat 

11  »4.     L'rs|irung  12. 
Toskana  242. 
Totenbräuche  224.  3,01  f.  -fest 

11.5.   -hochzeit  320.  -licder 

203,. 
Tove  330. 

Trissino,  G.  GO.  2.58. 
Trojanovic.  S.  228. 
Trubeckij,  S.  N.  349.    ' 
Trubicyn,  X.  340. 
Türricgel  :',M. 


L'ffhauscn:  Veuusberg  2G1. 
Ulrich,  J.  C.  1.50. 
Uneheliche  Kinder  1G3. 
Unfruchtbare  Frau  1G2. 
Ungarische  Märchen   8.    109. 

338. 
Uiiibos  225. 

Unmögliche  Dinge   185    429. 
Unter-Grombacli  96. 
Unterirdische  211. 
rnterweltsfahit  125. 
Urhörner  241. 
Uspenskij,  D.  .'.48. 

de  Vasconcellos.  .T.  L    24t). 

Vatev,  S.  230. 

Vcnusberg  250  f. 

Verkehrte  Welt  427. 

Vico,  G.  R.  235. 

Vierzig  188. 

Vikar,  B.  338. 

Villette,  L.  3:3.5. 

Vinogradov,  N.  :!4~'. 

Vogel,  der  goldene  221.  229. 

Volf,  J.  222. 

Volksbuch:  Ewiger  Jude  03. 
149.     Pilatus  49.  .54. 

Volksdichtuui:-  UOf  Volks- 
lied 2113—21(1.  s.  Lied. 

Volksetymologie  127. 

Volksmärchen:  s.  Märchen. 

Vorarlberg  .307. 

Voss,  Alb.  11:'.. 

Votivgabcn  400 

Vovk,  C.  354. 

Vrene  249  f. 

Vvedenskij.  S.  345. 

Vykouhal,"F.  218. 

Wägen  der  Kinder  90. 
Wagner,  J.  ,L  0:'., 
Waldis,  B.  10. 
Wallonische  Spiele  87. 
Walpurgisnacht    1 19. 
Walther.  Arcliiporl:i    115 
Warmiiiski,  .1.  215. 


Register. 


4:7;i 


Wartburgkrieg  "230. 
Wasser:    hinein  geworfener 

Stein  erregt  L'nwotter  ÖG. 
Weder  bekleidet   noch   nackt 

ITG.  :'.20. 
Weibliclie  Altersstnfon  -20.  24. 

20    33.  3.5  f. 
Weihnacht    115.    -bäum    243. 

-gebäck     72.     -spiel     213. 

24G. 
Weimar  44b. 

Weisse  Frau  !)b.  :\Iann  91». 
Weissteiu,  G.  359. 
AVendisches     Märchen      130. 

Spiel  87  f. 
Werner,  A.  341. 
Werwolf  22G 

"Wesselofsky,  A.  23(1-232. 
Wesselski,  A.  3:12. 
Westfalen  82. 
AYettersegen  313..  430. 
Wctuchow,  A.  34G. 
Wiedemanii,  A.  3,38. 


Wielandsage  114. 

Wiesel  4.3;l. 

Wind  8. 

Wintemberu-,  W.  J.  341. 

Wirtshauskranz  li)5  -  2(J0. 

Wisk  213. 

Wisser,  W.  3,32. 

Wolckenstern,  J.  (.i.  40. 

Wolf  13 f.  22(;.  u.  Gänse  429. 
431. 

Wolf,  K.  41». 

Wossidlo,  R.  358. 

Wunderhorn  204. 

Wunschdingo  den  Erben  ge- 
nommen 103. 

Wünschelrute  9S. 

Würfel  4G1. 

Würzburg  443. 


Zachar,  0.  220. 
Zachariae,  TJi.  331.     Zur  Ge- 
schichte vom  weisen  Haikar 


172  —  193.        Die     Aufgabe 

Stricke  aus  Sand  zu  winden 

4Glf.  Rec.  4G8. 
Zacinjajev,  A.  34-">. 
Zahlen  -angaben   187.  -lioder 

225.  311.  ungerade  4.3.'!. 
Zährlngen  (Sage)  244. 
Zauber  -formein  34G.  -gerate 

4G0.  -ring    330.   Krankheit 
'      1G9. 22G.^Liebe73f.    Wiin- 
1      den  126.  s    Segen. 
\  Zelonin,  D.  34G-349. 
Zelinsky  343. 
Zerbrechen  von  Glas  453. 
Zeus  und  Affe  3f.  u.  Frösche 

15  f. 
Zibrt,  Ö.  220  •  222. 
Zifferschrift  128. 
Zodcr,     B.      Scheibensprüche 

aus  Oberösterreich  44 If. 
Zubryckjj,  M.  3,54. 
Zurgilge'n,  jM.  2G0. 
Züricher,  G.  2()8. 


Driict  von  Gebr.  Unger  in  Berlin,  Bernbnrger  Str.  30. 


GR 
1 
Z4 
Jg.  17 


Zeitschrift  für  Volkskunde 


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