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University of Toronto
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ZEITSCHRIFT
FÜR
VERBIEIGHENDE RECHTSWISSENSCHAFT.
HERAUSGEGEBEN
VON
Dr. FRANZ BERNHÖFT Dr. GEORG COHN
o. 0. Professor an der Universitfit Rostock Honor. Professor an der Universität Heidelberg,
correspond. Mitglied der R. Accademia di
Scienze Lettere ed Arti di Padova
UND
Dr. J. KOHLER
o. 8. Professor an der Universitfit Berlin , Auswlirtigem Mitgliede des Königl. Instituts voor de Taal-Land- en
Volkenkunde van Nederlandsch IndiS, Correspondirendem Delegirten der Soci^te Academique Indo-ChiDoiae
zu Paris, Correspondirendem Mitglied der Societe de Legislation compar^e und Correspondirendem Mitglied
der Genootschap van kunsten en wetenschappen in Batavia.
ZEHNTER BAND.
STUTTGART.
VERLAG VON FERDINAND ENKE.
1892.
Druck der Uulou Deutsche Verlagggesellsokaft iu Stuttgart.
Inhalt.
Seite
I, Eine Skizze der Entwicklungsgescliiclite des muslimischen
Gesetzes. Von A. Sprenger 1
II. üeber das Recht der Amaxosa. Von Paul Kehme .... 32
III. Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. Von Professor
Dr. J. Kohler 64
Literarische Anzeigen.
Seefeld, Carl. Die Verbreitung der Rechtskenntniss. Ham-
burg 1890. (Deutsche Zeit- und Streitfragen, Heft 11) 143
Schröder. Das Familiengüterrecht in dem Entwürfe eines
bürgerlichen Gesetzbuches. Berlin 1889 143
Gutachten aus dem Anwaltstande über die erste Lesung des
Entwurfs eines bürgerlichen Gesetzbuches. Berlin 1888
bis 1890 144
Katz, Alexander. Erläuternde Anmerkungen zu den Vor-
schriften des Entwurfes eines bürgerlichen Gesetzbuches.
Berlin 1888 144
Seh er er. Das rheinische Recht und die Reichs- und Landes-
gesetzgebung. I. Bd., 2. Aufl. Mannheim 1889 . . . 144
Weissler. Das preussische Notariat im Geltungsgebiet der
allgemeinen Gerichtsordnung. Berlin 1888 145
Stintzing. Der Besitz. I. Buch: Wesen desselben. Mün-
chen 1889 145
Pflüger. Die sog. Besitzklagen des römischen Rechts.
Leipzig 1890 145
Gr lieb er. The Roman Law of damage to property. Ox-
ford 1886 145
Die Actes du congres international de droit commercial de
Bruxelles 1888. Droit maritime, lettre de change. Paris-
Bruxelles 1889 146
IV Inhalt.
Seite
Simon Süll. Das österreichisclie Warrantrecht. Berlin 1889 140
Stokes. Anglo-lndian Codes 1887—1888. Oxford 1889 . 146
Selim. ücbersichl der englischen Rechtspllege vom prak-
tischen und kaurmännischcn Standpunkte aus. Leipzig,
Wien, London 1886 146
Burckhard. System des österr. Privatrechtes. Zweiter
Theil: Elemente des Privatreclites. Dritter Thcil : Die ein-
zelnen Privatrechtverhältnisse. Erste Abtheilung (1. Heft
Besitz, 2. Heft Grundbuchsrecht). Wien 1884, 1885, 1889 147
v. Waldkirch. Erwerb und Schutz des Eigenthums an
Mobilien nach Titel VI Abschnitt I des Bundesgesetzes
über das Obligationenrecht. Zürich 1885 147
Janggen. Darstellung und Kritik der Bestimmungen des
schweizerischen Obligationenrechtes über die Sachmiethe
(Art. 274—295). Basel 1889 147
Heubberger. Die Sachmiethe nach dem schweizerischen
Obligationenrecht, mit Berücksichtigung des gemeinen
Rechtes und des Entwurfes eines bürgerlichen Gesetz-
buches für das deutsche Reich. Zürich 1889 .... 148
Sieb er. Das Recht der Expropriation mit besonderer Be-
rücksichtigung der schweizerischen Rechte. Zürich 1889 148
Rehm. Die rech tl. Natur der Gewer bsconcession. München 1889 148
Albicini, Cesare. Rivista di diritto pubblico .... 149
Huggenberger. Die Pflicht zur Urkundenedition. Mün-
chen 1889 149
Pollack. Die Widerklage. Wien 1889 149
Noest. Die Processkosten. Breslau 1890 149
Prise hl. Advocatur und Anwaltschaft. Berlin 1888 . . 150
Rein hold. Die Lehre von dem Klaggrund, der Einrede
und der Beweislast. Berlin 1888 150
Nessel. Civilprocessrechtliche Erörterungen im Anschlüsse
an die Schriften des Professors von Bülow. Berlin 1886 150
Warnatsch. Ist ein von dem Hauptvermiether gegen den
Hauptmiether erstrittenesRäumungsurtheil auch gegen den
Aftermiether vollstreckbar? Bunzlau 1889 151
Kali 8 eher. Bemerkungen über die Ausbildung der Gerichts-
referendare in Preussen. Berlin 1889 151
Stanski. Führer durch die Reichs- und preussischen Landes-
gesetze. Düsseldorf 1886 151
Strützki und Genzmer. Leitfaden zum Studium des
preussischen Rechts. Berlin 1888 151
Inhalt. V
Seite
01s hausen. Grundriss zu rechts wissenschaftlichen Vor-
lesungen an der königlichen Forstakademie zu Ebers-
walde. I. Heft. Gerichtsverfassung und Process. Berlin 1889 151
Wilmowski. Handausgabe der Konkursordnung für das
deutsche Reich. Berlin 1886 151
Wilmowski. Das Konkursverfahren an einem Rechtsfall
dargestellt, Berlin 1880, 5. Auflage 151
Bachern. Reichsgesetz, betr. die Gewerbegerichte. Köln 1890 151
Mühlbrecht, Otto. Uebersicht der gesammten Staats- und
rechtswissenschaftlichen Literatur des Jahres 1888. Ber-
lin 1889 151
Sech er. Fortegnelse over den danske Rets Literatur og
danske Forfatteres juridiske Arbejder 1884 — 1888 met
Tillaeg til Fortegnelsen for 1876—1883. Kopenhagen 1889 151
Thümmel. Sittenlehre und Strafrecht. Hamburg 1889, in
den deutschen Zeit- und Streitfragen 152
Arnoldi. Verbrechen und Strafe. Berlin 1890 .... 152
As ehr Ott. Ersatz kurzzeitiger Freiheitsstrafen. Hamburg 1889 152
Wach. Die Reform der Freiheitsstrafen. Leipzig 1890 . 152
Zucker. Einige criminalistische Zeit- und Streitfragen der
Gegenwart. (Separat-Abdruck aus dem Gerichtssaal
XLIV. Bd.) 153
Lombroso. Der geniale Mensch. Autorisirte Uebersetzung
von Fränkel 154
Olshausen. Kommentar zum Strafgesetzbuch. Berlin 1889/90 154
Pfenninger. Das Strafrecht der Schweiz. Berlin 1890 . 155
Herzog. Rücktritt zum Versuch. Würzburg 1889 . . . 155
Levy. Zur Lehre vom Zweikampfverbrechen. Leipzig 1889 156
Lauterburg. Die Eidesdelikte. Bern 1886 156
v. Calker. Das Recht des Militärs zum administrativen
Waffengebrauch. München 1888 156
Weisl. Das Militärstrafrecht (formeller Theil). Wien 1890.
Separatabdruck aus Streffleurs österreichischer militäri-
scher Zeitschrift 156
Freudenstein. Resume und Rechtsbelehrung im Schwur-
gerichtsverfahren. Minden 1883 157
Kr ohne. Lehrbuch der Gefängnisskunde. Stuttgart 1889 . 157
Wulff. Die Gefängnisse der Justizverwaltung in Preussen.
Hamburg 1890 . 157
Streng. Geschichte der Gefängnissverwaltung in Hamburg
von 1622—1872, Hamburg 1890 158
VI Inhalt.
Seite
A Schrott. Aus dem Straten- und Gelangnisswesen Nord-
amerikas. Hamburg 1889 158
Krause. Grundriss des Naturrechtes oder philosophischer
Grundriss des Ideales des Rechtes. Zweite Abtheilung.
Herausgegeben von Mollat (Leipzig 1890) 159
H a r m s. Begriff, Formen und Grundlegung der Rechtsphilo-
sophie. Herausgegeben von Wiese (Leipzig 1889) . . . 159
Van n i. II problema della filosofia del diritto (Verona 1890) 159
IV. Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. Von Professor
Dr. J. KoJiler ICl
V. Einzeluntersuchungen zur vergleichenden Rechtswissenschaft.
Von Karl Friedrichs 189
VI. Die neueste Schweizer Gesetzgebung und rechts wissenschaft-
liche Literatur. Von Dr. Plazld Meyer von Schauensee . 282
VII. Ehe und Concubinat im römischen Recht. Von Franz Bernhöft 296
Literarische Anzeigen.
Pulszky. The theory of law and civil society. London 1888 303
Ehrenzweig, lieber den Rechtsgrund der Vertragsverbind-
lichkeit. V^ien 1889 303
Roguin. La regle de droit. Lausanne 1889 304
Armand de Diffret. Gedanken über Nationalökonomie,
Politik, Philosophie. Heidelberg 1887 306
D'Aguanno. La genesi e l'evoluzione del diritto civile mit
Einleitung von Chironi. Turin 1890 306
Günther. Die Idee der Wiedervergeltung. Erlangen 1889.
Abtheilung I 307
Peisker. Die Knechtschaft in Böhmen, eine Streitfrage der
böhmischen Socialgeschichte. Prag 1890 308
Bühler's neue Manuübersetzung in den Sacred Books of
the East. Vol. XXV dieser Sammlung 309
Joll5''sche Uebersetzung des Narada und des Brihaspati . 309
Altindisches Prozessrecht. Stuttgart 1891 309
Bezold. Kurzgefasster Ueberblick über die babylonisch-
assyrische Literatur. Leipzig 1886 309
F. E. Peiser, Keilschriftliche Actenstücke aus babylonischen
Städten. Berlin 1889 309
Derselbe. Jurisprudentiae Babylonicae quae supersunt.
Habilitationsschrift, gedruckt Cöthen 1890 309
Derselbe. Babylonische Verträge des Berliner Museums.
Leipzig 1890 310
Inhalt. VII
Seite
Kohler. Juristischer Exkurs zu Peiser, Babylonische Ver-
träge. Berlin 1890 310
Kohl er und P eis er. Aus dem babylonischen Rechtsleben I.
Leipzig 1890 310
Chenon. Etüde sur l'histoire des alleux en France. Paris 1888 310
Ciccaglione. Le chiose di Andrea Bonello da Barletta
alle Costituzioni Sicule. Mailand-Neapel 1888 .... 310
Rhamm. Hexenglaube und Hexenprocesse vornehmlich in
den braunschweigischen Landen, Wolfenbüttel 1882 . 311
Karl Christoph Burekhardt. Zur Geschichte der locatio
conductio. Oeffentliche Habilitationsvorlesung. Basel.
C. Detloff's Buchhandlung 1889. 59 SS. 8« 311
Dr. A. Schneider. Der Process des C. Rabirius betreffend
verfassungswidrige Gewaltthat. Festschrift. Zürich. Ver-
lag von Friedrich Schulthess. 50 SS. 8^ 312
Mr. 0. Ch. van Swinderen. Het hedendagsche Strafrecht
in Nederland en in het Buitenland. Groningen. P. Noord-
hoff. I. Deel 1888. IL Deel 1889. 466 u. 485 SS. 8« . 312
Dr. Richard Loewy. Die Unmöglichkeit der Leistung bei
zweiseitigen Schuldverhältnissen. Eine romanistische Ab-
handlung. Berlin. J. J. Heine's Verlag 1888. 147 SS. 8'' 313
Dr. Emil üranitsch. Die Form Verfügung bei Rechts-
geschäften. Eine Studie im Gebiete des österreichischen
Privatrechts. Wien 1890 314
Zrodlowski. Codificationsfragen und Kritik des Entwurfes
eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich
als Beilage - Entwurf einer Civilprocessordnung. Prag,
Verlag von H. Dominicus. 1888 315
Dr. Ludwig Kuhlenbeck. Der Ciieck. Seine wirtlischaft-
liche und juristische Natur, zugleich ein Beitrag zur Lehre
vom Gelde, von Wechsel und von der Girobank. Leipzig,
C. L. Hirschfeld. 1890 317
VIII. Der Zivilprozess und die Gerichtsverfassung Schwedens,
nebst Bemerkungen für Finnland. Von Dr. W, Upp-
ström, Stockholm 321
IX. Zum japanischen Recht. Von Karl Friedrichs. [Mit Be-
merkungen und Zusätzen von J. Kohler] 351
X. Studien aus dem japanischen Recht. Von Prof. Dr. ./. Kohler 376
Dr. G. A. Wilken f . 450
VII l Inhalt.
Seite
XI. Das Schweizer. Bundesgesetz betr. die civilrechtlichen Verhält-
nisse der Niedergelassenen und Aufenthalter, vom 25. Juni
1891 (publizirt im B.Bl. Nr. 34, 19. August 1891. Abiaul'
der Einspruchsfrist 17. November 1891). Von Stadtrath
Schlatter in Zürich 455
Literarische Anzeigen.
Dr. Otto Bahr, Zur Beurtheilung des Entwurfs eines bürger-
lichen Gesetzbuchs für das deutsche Reich. München 1888. 474
Lehr, E., Elements de droit civil russe. Russie, Pologne,
Provinces baltiques. 2 vol. Paris. Plön, Nourrit et Cie.
1890. 8^ 573 475
Nordisk Retsencyclopsedi. Tolvte Hefte: De nordiske
Retskilder ved Ebbe Herzberg under medvirkning af flero.
Kjöbenhavn, Gyldendaloke Boghandels forlag (F. Hegel
u. Sön) 1890 47G
Verzeichniss der von dem 1. Januar 1890 bis 27. Januar 1891
bei der Redaktion eingegangenen Schriften 477
I.
Eine Skizze der Entwicklungsgeschichte des
mushmischen Gesetzes.
Von
A. Sprenger.
Unsere Geschichtschreiber datiren den Anfang der Geistes-
arbeit der Araber von der Einführung und Pflege der Philo-
sophie, Medicin, Astronomie und anderer Wissenschaften der
Griechen^ und beurkunden damit ebenso grosse Unkenntniss
der Thatsachen wie Mangel an Verständniss der für den Aufbau
eines weltbeherrschenden Reiches unerlässlichen Bedingungen.
Turanische Horden haben sich mehrmals den grössern Theil
von Asien unterworfen, mussten sich aber, wenn sie ein Reich
gründen wollten, unter die Religion und Gesetze der unter-
jochten Völker beugen ; denn ein Staat kann recht gut ohne
Philosophen, aber nicht ohne Gesetze und Religion bestehen.
Der Zweck der nachstehenden Bemerkungen ist : von der
gewaltigen Geistesthätigkeit der Araber, während der ersten
anderthalb Jahrhunderte des Islam, in denen sie ihre Gesetz-
gebung vollendeten, einen Begriff zu geben.
Die Muslime heissen ihr Gesetz Scheria oder Scher', was
wir gewöhnlich Scherra sprechen. Das Gesetz ist von Gott
durch seinen Boten Mohammed den Menschen kund gegeben
worden. Die im Koran enthaltenen Satzungen sind aber nicht
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. X. Band. \
2 Sprenger.
ausreichend für alle Bedürfnisse der Gläubigen, es wurde daher
auch die Sunna, d. h. die Aussprüche und Gepflogenheiten des
Gottesboten und wohl auch der ihm nahestehenden und unter
seinem Einflüsse handelnden Personen herbeigezogen, um dem
Bedürfnisse zu genügen. Unter Scheria haben wir also nicht ein
concretes Gesetzbuch zu verstehen, sondern es hat dieselbe
Bedeutung wie Nomos in den Worten Christi: Ich bin nicht
gekommen das Gesetz (den Nomos) aufzuheben, sondern es
zu bestätigen. Christus meinte gewiss nicht blos den Penta-
teuch unter Nomos, das Gesetz. Der Begriff, obwohl ur-
sprünglich ein alttestamentlicher, ist in der That von den
Christen zu den Arabern gekommen und sie schreiben Nämüs
für Nomos und gebrauchen dieses Wort in einem ähnlichen,
aber weiteren Sinne wie Scherta, indem sie auch die dem
Moses und Jesu gemachten Offenbarungen darunter verstehen.
In diesem Sinne sagte ein Vetter der ersten Gemahlin des
Mohammed, als dieser den ersten kataleptischen Anfall hatte:
Es ist der höchste Nämüs über ihn gekommen. Und die
Philosophen bezeichnen die Lehre von der Offenbarung mit
dem Namen Nämüs ijjat, die zum Nomos gehörigen Dinge.
Der Leser möge beachten, dass Gesetz, Scheria, bei den
Muslimen einen andern Sinn hat als bei uns, und dass ein
Gesetzeskundiger oder Rechtslehrer (Faqih) eigentlich ein
Theologe ist.
Den religiösen Enthusiasmus, welcher die Araber zum
Kampf gegen alle erreichbaren andern Völker einigte, hat
Omar mit dem Nationalitätsprincip vermählt und dadurch nach-
haltiger gemacht. Er bestimmte die Grenze der arabischen
Halbinsel und verfügte, dass nur Muslime darin sesshaft sein
dürfen und andersgläubige Gemeinden, wie die von Nedjran,
denen Glaubensfreiheit von Mohammed zugesichert worden
war, ihre Wohnsitze mit andern, die ihnen ausserhalb Arabiens
angewiesen wurden, vertauschen mussten. Kleine fremde
Völkerschaften, die sich zum Islam bekehrten, wie die Zott
und Siähpösch an der Ostgrenze Arabiens und am Persischen
Eine Skizze d. Entwicklungsgeschichte d. muslimischen Gesetzes. 3
Meere^ fanden es, da Araber und Kämpe für Allah und den
Islam gleichbedeutend geworden waren, vortheilhaft, sich als
Clienten einem arabischen Stamme anzuschliessen , wodurch
sie der Rechte geborener Araber theilhaftig wurden. Omar,
der am 23. August 634 zur Regierung kam, führte das Steuer-
ruder des neuen Staates mit Energie und Einsicht. Im Sep-
tember 635 erstürmten die Muslime Damascus, 637 die Re-
sidenzstadt der Chosroen und im December 640 Babylon in
Aegypten. Die römische Macht im Orient war somit gebrochen
und das persische Reich vernichtet. Letzteres lag bis zum
Oxus den Arabern wehrlos zu Füssen, und die Unterwerfung
desselben wurde in den nächsten drei Decennien vollendet. Zur
Befestigung und Ausdehnung seiner Eroberungen gründete
Omar Garnisonsstädte, in denen sich die arabischen Krieger
ansiedeln und ihre Pensionen verzehren sollen. Basra und
Kufa waren am besten dotirt, hatten die Aufgabe den Besitz
des ehemaligen Reiches des Cyrus zu consolidiren und waren
daher die wichtigsten. Die Ideale, welche den Arabern die
Kraft gaben, in einem Decennium den Grundstein zur Er-
richtung eines Weltreiches zu legen, lebten nach ihren Kriegs-
zügen fort und bewogen sie, die Gesetzgebung zu vollenden und
humanistische Studien zu treiben. Es war noch nicht einmal ein
halbes Jahrhundert verstrichen, als die Söhne der rauhen Krieger
die Wissenschaft zu pflegen anfingen. Medina war der Haupt-
sitz, aber nicht der einzige, der Pflege der Rechtswissenschaft
und vor Erbauung von Baghdad im Jahr 758 waren Basra
und Kufa die einzigen Schulen der Philologie und humanisti-
schen Wissenschaften.
Abul-Aswad (st. 689), Kadhi und einige Zeit Statthalter
von Basra, war der Erste, welcher der arabischen Grammatik
seine Aufmerksamkeit schenkte. Um zu allgemein gültigen
Regeln zu kommen, verglich man ähnliche Redeweisen und
würde z. B. gesagt haben : Es ist me miserum ! ^wie" quos
ego? und man gab dann dem Accusativ in solchen Fällen (die
auch im Arabischen oft vorkommen) den Namen Istighrä,.
4 Sprenger.
Casus der Aufhetzung. Weil man durch Vergleichung zur
Kenntniss der Sprachgesetze gekommen war, hiess man die
Grammatik die Wissenschaft vom „wie"^ Ilmu-lnahw. Der
nächste Zweck der grammatischen Studien war die Feststellung
und Berichtigung des Wortlautes des Koran. Man versah nun
die Koranabschriften mit Vocalen, was ursprünglich nicht ge-
schehen war und was in manchen Fällen ohne Kenntniss der
Grammatik nicht möglich ist. Abul-Aswad war auch Poet
(vgl. Hamasa p. 591 und 304), und er wird sich wohl mit
den Liedern alter Dichter bekannt gemacht haben. Jeden-
falls thaten dies die Grammatiker nach ihm. Sie sammelten
die alten Gedichte und Heldensagen und auch den Wort-
schatz der arabischen Sprache und der geniale Asmai zog
sogar die Geographie Arabiens in das Bereich der philo-
logischen Studien. Die Basrier und Kufier bewegten sich
also auf demselben Terrain wie unsere klassischen Philologen.
Die Methode war aber eine andere, nämlich die synthetische.
Viele Tausende wissbegieriger Männer verfolgten einen der
Zweige der Philologie, und ihr Streben war, möglichst viel
Material zusammen zu bringen und zu beherrschen. Ver-
wendet wurde das Material mit demselben Ameisenfleiss, mit
dem es gesammelt worden war, zum Bau einer Grammatik
auf synthetischem Wege. Auf diese Weise entstand eine un-
ermessliche Menge von Kategorien und eine entsprechende
Masse von Kunstwörtern. Wie gross die Aufgabe auch war,
diese Einzelforschungen in ein System zu vereinen, so war
sie doch am Schlüsse des 8. Jahrhunderts schon vollendet.
Das Buch des Sibaweih (st. zu Basra 795) ist das W^erk,
welches das Wesentliche der früheren Errungenschaften um-
fasst und aus dem die späteren Generationen ihr Wissen
schöpften.
Die Theorien der arabischen Grammatiker sind, wie
Merx gezeigt hat, vom Geiste der aristotelischen Philosophie
angehaucht. Man darf diese Erscheinung nicht überschätzen
und etwa gar glauben, die Thätigkeit auf diesem Gebiete,
Eine Skizze d. Entwicklungsgeschichte d. muslimischen Gesetzes. 5
welche zwischen Abul-Aswad und Sibaweih in Basra und
Kufa herrschte^ sei durch das Organon angefacht worden.
Das Organon ist, wie der Name besagt, ein Werkzeug und
hat durchaus nichts Belebendes, Befruchtendes. Es ist viel-
mehr der Gerbestoff, welcher bereits gewonnene Begriffe con-
densirt und ihnen Festigkeit verleiht. Vom kulturhistorischen
Standpunkte angesehen aber ist das Heranwachsen einer
Wissenschaft und nicht die Vollendung und der Uebergang
derselben in stereotype Formen das wichtigste Symptom des
Lebens eines Volkes. Weder die Anregung, ihre Sprache und
Poesie zum Gegenstand der Forschung zu machen, noch die
Methode, welche sie während der fast genau ein Jahrhundert
dauernden Jugendperiode der Wissenschaft befolgten, haben
die Araber den Griechen oder Syrern zu verdanken; wohl
aber hat, als sie zur Reife gekommen war und man die Noth-
wendigkeit fühlte, die Begriffe genauer zu definiren und durch
Unterordnung der specielleren unter die allgemeinen ein System
der Grammatik aufzubauen, die aristotelische Philosophie einigen,
aber höchst unbedeutenden Einfluss darauf geübt. Diese Arbeit
kam an die Tagesordnung zu einer Zeit, als Abu-Hanifa das
Gesetz auf ein Princip zurückführte, als die Gesetzeslehrer
den Kampf gegen Freidenker aufnehmen mussten, als man
zum Theil zu diesem Zweck die aristotelische Philosophie in
Bagdad zu pflegen angefangen hatte, und als überhaupt die
Araber am Anfang des grossen Wendepunktes ihres nationalen
Lebens standen. Die Geschichte der arabischen Grammatik
beleuchtet deshalb den Lebenslauf des arabischen Geistes,
und aus dieser Ursache schalte ich diese Bemerkungen dar-
über ein.
Die fernere Geschichte der arabischen Grammatik ist
die anderer scholastischen Wissenschaften. Für die kommen-
den Geschlechter bis auf den heutigen Tag war nicht die
arabische Sprache, sondern die von Sibaweih und Genossen
festgestellten Lehren und Begriffe das Object der Erkenntniss.
Man fasste sie in möglichst enigmatischen Sätzen zusammen
G Sprenger.
und schrieb lange Commentare dazu, wovon sich die jetzt
gebräuchlichen, namentlich der des Molla Djami zur Kafia
einzig und allein mit logischen Distinctionen befassen. Gram-
matik gehört zum Quinquivium der Ulema, und der Zweck
des Studiums derselben ist die Dressur des Geistes.
Der Koran enthält nur wenige Gesetze, und einige von
ihnen sind widersprechend oder der Sinn ist durch Einschal-
tung von verbessernden Novellen getrübt. Mohammed sagt
im Koran 3, 5: „Allah ist es, der das Buch auf Dich hinab-
gesandt hat. Einige Verse sind fest begründet und sie bilden
die Mutter des Buches; andere sind nachgebildet. Jene nun,
in deren Herzen Heterodoxie nistet, folgen dem Nachgebildeten
aus Rechthaberei und sucht zu deuteln. Niemand jedoch ver-
steht die Deutung des Buches als Allah und Männer von
gründlichem Wissen". In 39, 56 sagt Mohammed: „Folget
dem Besten von dem, was für euch hinabgesandt worden ist."
Bei dieser Lückenhaftigkeit des Korans als Gesetzbuch
waren streitende Parteien oft genöthigt, wenn sie den Rechts-
fall nicht nach dem heidnischen Gewohnheitsrecht, sondern
nach den Satzungen des Islam entschieden haben wollten, sich
an den Propheten um ein Fetwa (Gutachten, Rechtsspruch)
zu wenden. Nach dem Tode des Propheten (3. Juni 632)
hatten solche Gutachten und ebenso zufällige Aeusserungen
des Gottesboten Gesetzeskraft, man forderte aber von der
Partei, welche sich darauf berief, dass sie die Aechtheit der-
selben durch zwei Zeugen beweise. Das ist der Ursprung
der Sunna, d. h. Gepflogenheit. Mohammed verwies bisweilen
die streitenden Parteien an einen der „Männer von gründ-
lichem Wissen", namentlich an Omar, Abu Bekr etc., und
er empfahl dem Moadz, als er ihn als Statthalter nach Jemen
schickte, Rechtsfälle, wenn kein positives Gesetz vorliegt, nach
seinem besten Weissen und Gewissen zu entscheiden. Auch
die Fetwa solcher Männer galten als Sunna, und wenn sie
mit einander im Widerspruch standen, entschied die grössere
Autorität.
Eine Skizze d. Entwicklungsgeschichte d. muslimischen Gesetzes. 7
Nachdem der Mund^ durch den Gott der Menschheit seinen
Willen kundgegeben hatte, verstummt war, wurden Erinne-
rungen an den Gottesboten mehr und mehr das Thema der
Unterhaltung, und Mittheilungen über ihn hiess man Hadith,
Erzählung. Wir erfahren aus Tirmidzi p. 629 (vgl. Bochari
p. 531), dass schon vor dem Jahre 653 n. Chr. ein Mann von
Kufa nach Medina kam, um der Hadith zu lauschen ; so gross
war der Eifer der Gläubigen. Im Volksmunde erhielt Mo-
hammed jene Eigenschaften, die er hätte haben sollen, und
für die Geschichten von Wundern, die er gewirkt hatte, standen
zahlreiche Augenzeugen ein. Vier Decennien nach Moham-
meds Tod, als noch viele Hunderte seiner Zeitgenossen am
Leben waren, lag eine unermessliche Menge von Hadithen
(Erzählungen) vor, deren Färbung sich dem Geiste der schnell
fortschreitenden Zeit angepasst hatte, und ein reiches Material
für Fortentwicklung des Gesetzes bot. Den grössten Werth
legte man im Aufbau der Sunna auf die Aeusserungen des
Propheten. Sie wurden in aphoristischen Sätzen, meist mit
dramatischer Form wiedergegeben. Diese Gestalt gab man
auch Erzählungen : sie sind kurz und bündig, und man könnte
sie Baliaden in Prosa heissen. Die wichtigste und eine der
längsten von ihnen, die Himmelfahrt oder Verklärung des
Gottesboten, füllt nur zwei Seiten. Es bestand die Regel,
dass die Hadithe (die verbürgten Ueberlieferungen) in den
Herzen der Gläubigen leben, d. h. dem Gedächtnisse einge-
prägt und mündlich mitgetheilt werden sollen. Selbst schrift-
liche Notizen zur Unterstützung des Gedächtnisses zu machen
wurde missbilligt, und bis in die Mitte des 8. Jahrhunderts
wurden solche, sobald man sie entbehren konnte, gewöhnlich
vernichtet. Eine Ueberlieferung galt nur, wenn der Ueber-
lieferer oder Zeuge dafür mit Namen genannt wurde und er
als zuverlässig bekannt war, für ^gesund". Eine gesunde
Ueberlieferung wurde nur dann rechtskräftig, wenn sie durch
andere, ebenfalls gesunde Ueberlieferungen bestätigt wurde.
Diese strengen Regeln hatten allerlei Uebelstände im Gefolge:
8 Sprenger.
Die Texte erlitten, weil sie nicht durch die Schrift fixirt
wurden, wesentliche Veränderungen, und schon im Zeitalter
des Zohri (st. 743 n. Chr.) hatte man Ursache, viele Ueber-
lieferungslehrer der Zeugenfalschung zu bezichtigen: sie gaben
vor, Erzählungen obscuren Ursprunges von hervorragenden
Männern gehört zu haben.
Alle Zeitgenossen des Propheten, welche ihn gesehen
und gehört hatten, werden als dessen Jünger verehrt, und ihr
Zeugniss ist unanfechtbar. In diesem Grundsatz liegt die
historische Schwäche, aber auch die innere, organische, Stärke
der Ueberlieferungslehre und derSunna: denn seine jüngeren
Zeitgenossen bezeugten Wunder, die von ihm im Volksmunde
erzählt wurden, mit ihren Augen gesehen zu haben ; sie Hessen
sich aber auch als Zeugen dafür gebrauchen, Lehren und Ge-
setze, welche nothwendig wurden und vom Gottesboten hätten
festgestellt werden sollen, aber, weil man zu seiner Zeit noch
nicht das Bedürfniss danach fühlte, nicht festgestellt worden
sind, aus seinem Munde vernommen zu haben. Die von den
Jüngern, welche ihn am längsten überlebten, ihn nur in ihrer
frühesten Jugend gesehen hatten und deswegen als schwache
Zeugen hätten gelten sollen, sind es, auf deren Zeugniss die
meisten und wichtigsten Ueberlieferungen ruhen. Es genügt
drei von ihnen, um den Gang der Dinge zu veranschaulichen,
zu nennen. Ihn Abbas, ein Vetter des Gottesboten (Beider
Grossvater war Abd-elmottalib), war 13 Jahre alt, als Mo-
hammed starb, und überlebte ihn um 55 Jahre. Er war ein
stattlicher Mann, pflegte den Bart mit Henna zu färben und
beherrschte seine Umgebung ebenso durch seine äussere Er-
scheinung, wie durch die Fülle seiner Kenntnisse und sein
taktvolles Auftreten. Im Successionsstreit, welcher in 656 nach
Othmans Ermordung ausbrach, nahm er anfangs Partei für
seinen Vetter Ali und wurde von diesem zum Statthalter von
Babylonien ernannt. Als er aber sah, dass Alis Sache wenig
Aussicht auf Erfolg habe, verliess er seinen Posten, kehrte
nach Mekka zurück und lebte im Frieden mit den siegreichen
Eine Skizze d. Entwicklungegeschichte d. muslimischen Gesetzes. 9
Omajjiden. Sehr viel leistete er für die Entwicklung des
Gesetzes^ weil er sich von der Strömung der Zeit fortreissen
Hess und es mit der historischen Wahrheit nicht so genau
nahm. Seine Rechtsgutachten waren zeitgemäss und wurden
sehr hochgeschätzt und viele davon wurden im Gedächtniss
aufbewahrt und erhielten unter den späteren Generationen
Gesetzeskraft. Er wusste auch so viele Aussprüche des Gottes-
boten zu erzählen und erinnerte sich an so viele Präcedenz-
fälle, dass er als Förderer der zeitgemässen Gesetzgebung
mit Aischa, der Mutter der Gläubigen^ wetteifern konnte.
Von den Mitteln, welche die Rechtswissenschaft an-
wendete, um, ohne der Autorität des Ibn-Abbas zu nahe zu
treten, dessen Extravaganzen zu entkräften, verdient eines
erwähnt zu werden. Ikrima (st. 725), ein Client und Schüler
des Ibn-Abbas, entnahm einige Traditionen aus dem schrift-
lichen Nachlasse seines Meisters und diese hat die spätere
Kritik als nicht gesund erklärt, weil die Ueberlieferungen im
Herzen der Menschen leben und mündlich fortgepflanzt werden
sollen. Durch dieses und andere Mittelchen ist es der Kritik
gelungen, von der unermesslichen Menge jener Ueberlieferungen,
welche Ibn-Abbas in seinen exegetischen Vorträgen erzählte,
alle bis auf ein Plündert ausser Kurs zu setzen.
Anas liebte es, der Bediente des Gottesboten geheissen
zu werden. Die Angaben über sein Todesjahr schwanken
zwischen 710 und 715: er überlebte also seinen Herrn wenig-
stens um 78 Jahre. Die Behauptung, er habe ein Alter von
mehr als hundert Jahren erreicht, verräth die Verlegenheit,
in der sich die Ueberlieferungslehrer, indem sie sich auf sein
Zeugniss berufen, befinden. In seinen alten Tagen lebte Anas
in glänzenden Verhältnissen in einer Villa bei Basra. Er hatte
eine grosse Familie und war einer der drei Jünger des Pro-
pheten, die es erlebten, über ein Hundert männlicher Nach-
kommen zu sehen. Anas betrieb die Ueberlieferung plan-
mässig und 2286 Hadithe sind auf seine Bürgschaft fortgepflanzt
und bis auf den heutigen Tag erhalten worden und gelten für
10 «prcnger.
gesund. Wie er und andere Ueberlieferer ein halbes Jahr-
hundert nach des Propheten Tod vorgingen, erhellt aus fol-
genden zwei Angaben des Baghawi (pp. 431 und 167). Der
soeben erwähnte Ikrima sagte: ^Ich gehe in den Marktplatz
(ein Römer würde gesagt haben ins Forum), höre dem Volke zu
wie es redet, und da öffnen sich mir fünfzig Pforten der Wissen-
schaft, d. h. der Hadith." Ein Zeitgenosse des Ikrima sagte:
„Wenn wir über eine Hadtth im Zwiespalt waren, sagten wir:
Kommet, wir gehen zu dem (zu Anas), der sie vom Munde
des Propheten gehört hat." Die Schlussfolgerung aus diesen
zwei Berichten ist : Wenn Ikrima oder einer seiner Zeitge-
nossen eine für seine Zwecke passende Hadith, die wie die
Fama im Volke lebte, hörte, formulirte er sie, ging zu Anas
und der Hess sich immer bereit finden, die Paternität auf sich
zu nehmen. Dasselbe gilt von vielen anderen Jüngern des
Propheten. Anas schrieb sich seine Hadithe auf Rollen (ein-
zelne Blätter) auf, und wenn ihn seine zahlreichen Verehrer
bestürmten, er möge ihnen Hadithe erzählen, brachte er seine
Rollen und sagte, sie mögen sie darin lesen. Er soll schon
zu Lebzeiten des Gottesboten dessen Worte aufgeschrieben
haben, um sie nicht zu vergessen. Wahrscheinlich hat er erst
in seinen alten Tagen, als sein Gredächtniss schwach wurde,
zu diesem Mittel gegriffen.
Abu-Horeira (geb. circa 600, gest. circa 670), ein An-
gehöriger des Stammes Daus, welcher südlich von Mekka seine
Wohnsitze hatte und theils nomadisirte, theils Ackerbau be-
trieb, bekehrte sich frühestens in 627 zum Islam. Mohammed
hielt darauf, dass Proselyten, um die Wehrkraft zu vermehren,
sich in Medina ansiedeln. Das thaten auch 70 bis 80 Dau-
siten in 628, als der Islam einige Fortschritte unter ihnen
gemacht hatte, und die meisten von ihnen nahmen am Feld-
zuge gegen Cheibar theil. Vielleicht ist Abu-Horeira, der
seine Mutter begleitet hatte, mit dieser Einwanderung nach
Medina gekommen. Er war mittellos, wurde aber später
vom Propheten als Commissär nach Behrein geschickt. Er
Eine Skizze d. Entwicklungsgescliichte d. muslimischen Gesetzes. H
scheint ein höchst gemüthlicher Mann gewesen zu sein und
sein Bestreben war, sich Jedermanns Liebe zu erwerben. Er
erzählte, dass der Gottesbote zwei Wunder an ihm gewirkt
habe, das erste, das auf den Wunsch seiner Mutter gethan
wurde, bestand darin, dass er bei allen Menschen beliebt war,
das andere, dass er sich jedes Wortes, das der Gottesbote
sprach, genau erinnern konnte. Er nahm in der Successions-
frage gegen Ali, dem Schwiegersohne des Mohammed, für
Othman und später für die Omajjiden Partei, und seine Un-
terstützung mochte ebenso wie die der Aischa von grossem
Werth gewesen sein. Jedenfalls ist er und Ibn-Abbas einer
der bedeutendsten Gründer der Sunna. Es sind von ihm nicht
weniger als 3500 üeberlieferungen erhalten worden und sie
wurden von 300 seiner Hörer fortgepflanzt. Kunstgerecht
formulirt wurden sie wahrscheinlich von seinen Schülern, be-
sonders von seinem Schwiegersohne Said-Ibn-Mosejjeb. Man
geht nicht zu weit, wenn man behauptet, diese haben ihm
die meisten seiner Traditionen auf die Zunge gelegt.
Die von Omar I. getroffene Massregel, dass die Staats-
revenüen zu Stipendien verwendet und auch gewisse Klassen
von Muslimen, die keine Kriegsdienste geleistet hatten, damit
bedacht wurden, war unter Beschränkungen bis Anfang des
9. Jahrhunderts in Kraft. Unter diesen Verhältnissen wuchs
eine Bevölkerung von Arabern empor, deren Gewerbe die
Gesetzeskunde war. So erklärt es sich, dass die Zahl jener
Hörer des Abu-Horeira, welche der Nachwelt als Lehrer be-
kannt wurden, sich auf 800 beläuft. Schon am Anfang des
8. Jahrhunderts legte man grossen Werth darauf, möglichst
viele Scheiche (Ueberlieferungslehrer) zu hören oder wenig-
stens von ihnen die Erlaubniss erhalten zu haben, ihr Reper-
toir auf ihre Autorität fortpflanzen zu dürfen. Manche hatten
eine Liste von mehr als 1000 Scheichen, zu deren Füssen
sie gesessen hatten. Jeder Mann, der auf Bildung Anspruch
machte, wanderte von Stadt zu Stadt, um bewährte Lehrer
zu hören und seinen Vorrath von formulirten Üeberlieferungen,
12 Sprenger.
deren Zahl mit allen Varianten und mit Einschluss der von
Ketzern und Freidenkern colportirten sich zu Ende des 8. Jahr-
hunderts auf ein paar Millionen belaufen haben mag, zu ver-
mehren. Wir haben ein biographisches Wörterbuch der be-
rühmten orthodoxen Traditiouslehrer, und es enthält mehr als
9000 Nummern.
Die Satzungen des Islam wurden schon gegen Ende des
siebenten Jahrhunderts von den sieben (eigentlich neun) Rechts-
gelehrten von Medina festgestellt. Ein Buch hat keiner dieser
Männer geschrieben, und es wurden ihre Rechtsbestimmungen
wie die Ueberlieferung mündlich fortgeflanzt. Ibn Djoreidj
(st. 707 im Alter von 70 Jahren) ist der erste der Pandekten
hinterliess. Alle diese Männer waren eifrige Ueberlieferungs-
lehrer, und die meisten von ihnen standen in einem engen
Verhältnisse zu einem der hervorragendsten Jünger. So hielt
sich Said Ibn Mose jjeb vorzüglich an seinen Schwieger-
vater Abu Horeira, Obeidu-llah Ibn Abd- Allah an seinen
Grossoheim Ibn Masud , Qasim an seine Tante Aischa und
an Ibn Abbas, und Orwa ebenfalls an Aischa, mit der er nahe
verwandt war. Aischa (gest. 13. Juli 678) aber war während
der Regierung der ersten drei Chalifen die höchste Autorität
in der Entscheidung von Rechtsfragen und später unterwarfen
sich ihren Entscheidungen Ibn Abbas und die dynastische Familie
der Omajjiden. Der nachmalige ChalifeAbdu-lmelik schickte per
Postpferde Aerzte von Damaskus nach Arabien um den Ibn Abbas,
der an einem Augenübel litt, zu behandeln. Aischa wurde ge-
fragt, ob das Gesetz es erlaube, Aerzte (sie waren wahr-
scheinlich Christen) zu Rath zu ziehen, sie verneinte es und
man schickte die Aerzte zurück. Said Ibn Mosejjib (geb. 638
gest. 712), der hervorragendste unter den Sieben, war un-
abhängig von politischen Einflüssen. Er gründete mit seinem
ererbten Vermögen, welches aus 4000 Dinar (Ducaten) bestand,
eine Oelhandlung, und lebte davon. Die Pension, die er als
Sohn eines Kriegers hätte beanspruchen können, wies er zurück.
Auch Salim (st. ca. 727) einer der Sieben und ein Enkel des
Eine Skizze d. Entwicklungsgeschichte d. muslimischen Gesetzes. 13
Chalifen Omar I., lebte in ostentativer Einfachheit und trug
ein Kleid zwei Dirham (anderthalb Mark) im Werth.
Am Schlüsse des siebenten Jahrhunderts war man schon
einig über die Quellen des Gesetzes (o^ulu-lfiqh) und über die
Grundsätze, wie selbe zu benützen sind. Man erkannte deren fünf
an: I. Koran, IL die beglaubigten Ueberlieferungen. Wenn
über irgend eine Frage nur eine Hadith vorlag (solche Ha-
dithe heisst man Ahäd, vereinzelnde), war sie nicht rechts-
kräftig. Lagen, wie es in allen wichtigen Punkten der Fall
ist, mehrere vor, so entschied die Mehrheit und die grössere
Autorität der Zeugen. Die Regeln der Ueberlieferung waren,
wie wir gesehen haben, so eingerichtet, dass die Muslime auf diese
Weise zur Feststellung des unter Mitwirkung des ganzen Volkes
entstandenen Gewohnheitsgesetzes (Sunna) kamen. Die Gesetz-
gebung keines andern Volkes ruht auf einer so breiten soliden
democratischen Grundlage wie die der Islam. Es hat aber auch
kein Gemeindewesen in der kurzen Zeit von zweihundert Jahren
seine volle geistige Reife und politische Ueberlegenheit über
alle damaligen Völker der Erde erreicht wie die Muslime.
III. Die Uebereinstimmung der Gesammtheit (el-*^äma das
ist der Name den sich die Sunniten damals gewöhnlich bei-
legten). Diese Quelle war besonders in Ceremonialgesetzen,
wie die beim Pilgerfest, im Pflichtgebet, bei Leichenbegäng-
nissen etc. beobachteten Gebräuche massgebend. IV. Die
Schlussfolgerung. Die abgeleiteten Sätze sollen nicht mit den
Grundsätzen im Widerspruch stehen. Das versteht sich von selbst
und dieses Princip ist immer anerkannt worden; es ist aber
das Verdienst des Abu Hanifa, der erste gewesen zu sein, der
ihm constructive Macht zusprach. V. Idjtihad. Das Verbum,
wovon dieses Wort, ebenso wie Mudjtahid, abgeleitet ist, be-
deutet enitor und Modjtahid wäre demnach mit Enixus zu
übersetzen. Dem Sinn nach ist Idjtihad sorgsame Erwägung.
Sie gibt den Ausschlag, wenn kein positives Gesetz auf einen
vorliegenden Fall anwendbar ist und Opportunität, Billigkeit
und Humanität in Betracht gezogen werden müssen. Am
14 Sprenger.
Schlüsse des siebenten Jahrhunderts galten die Entscheidungen
und Aussprüche jener Modjtahide oder Doctores ecclesiae die
dem Propheten nahe gestanden hatten, als Sunna. In unserer
Zeit ist Modjtahid in der Schiitischen Hierarchie der offizielle
Titel eines Würdenträgers der so hoch steht wie ein Bischotf.
Die Sunniten kennen diesen Titel nicht.
Die Gesetzlehrer oder Schriftgelehrten, wie sie im neuen
Testament geheissen werden, haben für ihre Wissenschaft
eine grosse Anzahl technischer Ausdrücke erfunden. Einige
dienen dazu ihre Sätze mit grösserer Kürze auszudrücken, so
heissen sie z. B. ein Cavalleriepferd Kora*^, und den Chalifen
oder dessen Statthalter, insofern er die Excutivbehörde ist,
Imitm (Staatsoberhaupt). Andere stehen für neue juristische
Begriffe, so gebrauchten sie z. B. Mokallaf, wörtlich dienst-
pflichtig für zurechnungsfiihig, verantwortlich für seine Hand-
lungen. Die Geschichte solcher Wörter bezw. Begriffe bietet ein
doppeltes Interesse: Sie beleuchtet den Geist des Gesetzes und
bietet Anhaltspunkte für die Chronologie der Entwickelung
desselben. Bleiben wir, dies zu erläutern, bei Mokallaf. Im
Koran kommt das Verbum mehrmals in der Bedeutung: eine
Pflicht auferlegen, \ror. Am nächsten dem spätem technischen
Sinn kommt die Koranstelle 7; 40, welche Rückert übersetzt:
Die aber so glaubten und das Gute thaten — wir legen keiner
Seele auf über ihr Vermögen — dieselbigen sind die Genossen
des Gartens, worin sie ewig sind. Es ist zwar die einzige
Bestimmung eines jeden Menschen Gott zu dienen und die ihm
von Gott auferlegten Pflichten zu erfüllen — sich als Mokallaf
zu geberden ; wer aber dem Islam, der Religion der absoluten
Unterwürfigkeit, beitritt, ist ein beeidigter Diener Gottes und
sobald und so lange er im vollen Gebrauch seiner Vernunft ist, ein
Makallaf im engern Sinn des Wortes. Mokallaf wurde nachweis-
bar schon im Jahre 684 in dieser Bedeutung gebraucht. Merk-
würdig ist, dass im Volksmund das Verbum (namentlich Teklif)
eine ganz andere Bedeutung, nämlich die von Beschwerde, erhielt.
Zum Abschluss gebracht wurde die Rechtswissenschaft
Eine Skizze d. Entwicklungsgeschichte d. muslimischen Gesetzes, 15
durch die auch den Laien bekannten vier orthodoxen Rechts-
schulen^ sie entstanden im achten und in der ersten Hälfte
des neunten Jahrhunderts: Abu Hanifa, der Stifter der ältesten,
wurde im J. 699 geboren und starb in 767, und Ihn Hanbai,
der Stifter der jüngsten, starb in 855, 74^2 Jahre alt. Zuta
der Grossvater des Abu Hanifa war aus Kabul, wurde nach
Kufa als Sklave gebracht, erhielt dort die Freiheit und wurde,
wie das üblich ist, der Client seines früheren Herrn und ein Mit-
glied von dessen Stamm, den Teimiten. Thabit, der Vater Abu
Haiiifas, wurde als Mitglied dieses Stammes geboren, und scheint
sich einiges Vermögen erworben zu haben; denn dessen Sohn,
Abu Hanifa, hatte eine Tuchhandlung und war ein wohlhabender
Mann. Im zehnten Jahrhundert, als der schöpferische Geist
der Muslime verglimmt war, fingen sie an frühere Grössen zu
verherrlichen und sie schrieben voluminöse Werke zum Lobe
des Abu Hanifa, Schafii etc. Es waren aber die Araber, die
einst Populus Rex gewesen waren, auf das Niveau geknechteter
Völker hinabgesunken, und die Panegyristen, die keinen Be-
griff vom Geiste der Vorzeit hatten, bemassen ihrer Gewohnheit
gemäss den Wert eines Mannes nach der Auszeichnung, die
ihm von den Machthabern zu Theil geworden war, und er-
warteten, dass Abu Hanifa wenigstens die Stelle eines Kadhi
bekleidet haben soll. Da dieses nicht der Fall war, so er-
zählen sie, der Statthalter der Omajjiden und später der
Chalife Mansur haben ihm diese Würde angeboten und weil
er sich hartnäckig weigerte sie anzunehmen, ihn durch Ge-
fängniss, Prügelstrafe und Drohung mit dem Tode zur An-
nahme zwingen wollen. Da die Sache Licht wirft auf den
Geist jener stürmischen Zeit und auf die Stellung und den
Character der grossen Rechtslehrer in derselben, sei es mir
gestattet sie zu erörtern. Kufa, die Vaterstadt Abu Hanifas,
war während seiner Jugendzeit viel zu aristokratisch zu ge-
statten, dass der Enkel eines Sklaven zu einem hohen Amt
erhoben werde. Said Ihn Djobeir (st. 714) war der beste
Exeget und einer der grössten Rechtslehrer seiner Zeit. Had-
16 Sprenger.
jdjadj bestellte ihn als Vorbeter in Kufa, was eine allgemeine
Entrüstung hervorrief. Bisher, sagten die Kußer, hatten
wir reine Araber als Vorbeter; in den Adern Saids aber
fliesst afrikanisches Bhit und es ist beschämend für uns, dass
dieser Schwarze unser Vorbeter sein soll. Später wurde die
Stelle des Kadhi von Kufa frei und Hadjdjadj, der sich sonst
nicht viel um die öffentliche Meinung kümmerte, wagte es nicht,
den Said anzustellen, sondern traf nun folgendes Arrangement:
Er stellte den Abu Borda als Kadhi an und gab ihm den
Befehl, keine Entscheidung gegen den Rath des Said, der
sein Beisitzer sein soll, zu treffen.
Zur Zeit Abu Hanifas war Kufa der Sitz des omajji-
dischen Statthalters von Babylonien und nach Vertreibung des-
selben die Residenz des ersten Chalifen aus dem Hause Abbas.
Die Vaterstadt Abu Hanifas war daher der geistige Mittel-
punkt der gewaltigen Bewegung des Dynastiewechsels und
Abu Hanifa wurde ebenso wie sein Landsmann Sofian Thauri
(geb. 716, gest. 778) hineingezogen. Saffah, welcher am
20. Oktober 749 zu Kufa als Chalif ausgerufen wurde, war
ein Urenkel des oben erwähnten Ihn Abbas und machte ge-
meinsame Sache mit den Gebrüdern Mohammed und Ibrahim,
deren Vater ein Urenkel der Tochter des Propheten war und
welche an der Spitze der Aliden standen. Abu Hanifa nahm
Partei für die alidisch-abbasidischen Wühler gegen die omaj-
jidische Dynastie und es ist daher kein Wunder, wenn er
vom Statthalter der letzteren bestraft wurde. In 763 ent-
brannte ein Kampf zwischen den frühern Verbündeten, den
Abbasiden und Aliden^ und Mansur, der zweite Chalif ver-
nichtete seine Gregner und tödtete den Mohammed und Ibra-
him. Abu Hanifa, Malik, Sofian Thauri und andere grosse
Rechtslehrer, an welchen jene Zeit so reich war, nahmen
Partei für die Aliden, predigten den Aufruhr gegen Mansur
und hatten somit ihr Leben verwirkt. Von den genannten
drei wurde zwar keiner hingerichtet, aber Abu Hanifa starb
vier Jahre später im Gefängniss, wie einige behaupten an
Eine Skizze d. Entwicklungsgeschiciite d. muslimischen Gesetzes^ 17
Gift, und für Sofian Tauri wurde in 775 in Mekka, wohin er
sich begeben hatte, ein Kreuz errichtet, an das er geschlagen
werden sollte, sobald der Chalif, der die Pilgerfahrt verrichtete,
daselbst angekommen sein würde. Der Chalif erkrankte, ehe er
Mekka erreicht hatte, und starb ehe er den Sofian kreuzigen
konnte. Malik, der sich in Medina aufhielt, wurde in 764 von
Abu Djafar, dem Vetter des Mansur, auf die Folter gespannt bis
das Schultergelenk verrenkt war und erhielt siebenzig Geissei-
hiebe; sein Leben wurde aber nicht bedroht. Nehmen wir alles
zusammen, so kommen wir zum Schluss: es wurde der Versuch
gemacht durch Versprechungen hoher Ehrenstellen und durch
Drohungen, Gefängniss und die Folter diese Männer zu gewinnen,
sie blieben aber dabei zu erklären, dass der dem Mansur ge-
leistete Huldigungseid seit der Ermordung der Aliden nicht mehr
bindend sei. Dieses sind die Männer, welche am Schlüsse der
Omajjiden -Herrschaft herangewachsen waren, und das sind die
Schicksale, welche ihnen der Djnastiewechsel brachte.
Von den andern drei orthodoxen Rechtsschulen, besonders
der des Schafii, unterscheidet sich die des Abu Hanifa dadurch,
dass in derselben auf die Schlussfolgerung, Qias, grosses Ge-
wicht gelegt wird, während Schafii sich vorzüglich an die
Siinna hält. Abu Hanifa fasste den Islam als ein lebendiges
Ganzes auf und die Satzungen als Ausflüsse aus demselben,
und hielt es daher für legitim, unter ängstlicher Berücksich-
tigung der Sunna, Einzelheiten aus allgemeinen Principien zu
deducireu. Es gab damals auch andere Rechtslehrer, welche
diese Richtung einschlugen und A^habu-lrai, Leute der Spe-
culation, Denker genannt wurden. Ihn Koteiba zählt neun der-
selben auf. Zwei von ihnen, Abu Jusuf, von dem wir bald
mehr hören werden, und Zofar (geb. 728, gest. 775) gehören zur
Schule des Abu Hanifa. Drei andere Auzai, Sofian Thauri und
Malik, kennen wir bereits. Der Aelteste ist Ihn Abi Leila, der
sich mit dem Staatsrecht beschäftigte und in 775 zuBasra starb.
Abu Hanifa definirte Fiqh, Gesetzkunde: Marifatu-lnafs
ma laha waraa aleiha d. h. Erkenntniss des Menschen (wörtl.
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. X. Bn.nd. 2
18 Sprenger.
der Seele) seiner Ansprüche und seiner Pflichten. Die Scho-
lastiker rügen in dieser Definition, dass Erkenntniss d. h.
Innewerden und nicht Kenntniss gebraucht wird und dass
dem Menschen Gott gegenüber nicht nur Pflichten, sondern
auch Ansprüche zugeschrieben werden ^). Darin liegt in
der That der Unterschied zwischen den spätem Scholastikern
und diesen Denkern, deren Gemüth vom Geiste des Islam
durchdrungen war. Wir besitzen eine Schrift des Abu Hanifa,
welche uns Aufschluss gibt über die Gesetzkunde in jener Zeit.
Sie hat den Titel: Elfiqhu-lakbar, die höchste Gesetzkuude,
und enthält eine tiefgedachte und mit meisterhafter Klarheit
ausgesprochene Darstellung des islamischen Gottesbegriös und
der daraus fliessenden ethischen Consequenzen.
Kufa, die Vaterstadt Abu Hanifas, war einer der Mittel-
punkte der muslimischen Geisteskultur mit eigenthümlicher
Richtung. Der erste Statthalter und Religionslehrer von Kufa
war Ibn Masud (st. 653), der den Islam mit mehr Innigkeit auf-
fasste als irgend ein anderer von den Jüngern des Mohammed.
Und Kufa war eine der zwei Schulen der arabischen Philologie,
wodurch selbständiges Denken auch in denen angeregt wurde,
welche, wie Abu Hanifa, der selbst mit der arabischen Grram-
matik auf gespanntem Fusse stand, persönlich kein Interesse
nahmen an humanistischen und historischen Studien. Der Geist
philosophischer Speculation machte im Zeitalter des Abu Hanifa
^) Die Definition der Schafeiten stellt sieh in Gegensatz zu der
des Abu Hanifa und lautet: Die Gesetzeskunde (Fiqh) besteht in der
Kenntniss der unsere Handlungen (nicht aber unsere Gesinnungen oder
den Glauben) betreffenden Satzungen, wie jede für sich aus den im
Gesetz (d. h. im Koran, der Sunna) enthaltenden Bestimmungen erfliesst.
Die Schafeiten und wohl auch die anderen Rechtsschulen, theilten die
Satzungen in vier Klassen : Die das Seelenheil betreffenden oder gottes-
dienstlichen Handlungen, die das persönliche Wohl betrelTenden, die die
Familie betreffenden, und die den Staat betreffenden. Für staatlich ge-
brauchen sie Madani eine Uebersetzung von Politiken, und für Familie
eine Uebersetzung von Oikonomikon und verrathen damit den Ursprung
ihrer Theorie.
Eine Skizze d. Entwicklungsgeschichte d. muslimischen Gesetzes. 19
und schon etwas früher grosse Fortschritte, und man dispu-
tirte über das Fatum und ähnliche Fragen und es entstanden
Schulen von Ketzern und Freidenkern und fanden so viele
Anhänger, dass vierzehn Jahre nach Abu Hanifas Tod der
Chalife Mahdi es nöthig fand, da das Schwert nicht ausreichte,
die Bewegung zu unterdrücken, polemische Schriften gegen
sie verfassen zu lassen.
Das Rechtssystem des Abu Hanifa wurde erst durch
seine Schüler, unter denen Abu Jusuf den ersten Rang ein-
nimmt, vollendet. Es ist behauptet worden, die Lehren des
Abu Hanifa würden der Vergessenheit anheimgefallen sein,
wenn Abu Jusuf nicht gewesen wäre. Abu Jusuf (st. Donnerst.
25. April 798), wie weltlich er auch war, ist,, man muss es
zugeben, doch epochemachend. Er hat das Verdienst, der Rechts-
lehre eine wissenschaftliche Grrundlage gegeben zu haben, in-
dem er eine kritische Untersuchung über die soeben erwähnten
Quellen des Gesetzes schrieb. Auch Schafii'verfasste ein Werk
über diesen Gegenstand, aber das des Abu Jusuf ist älter
und seine Theorie über diesen Gegenstand lebt in schola-
stischen Umarbeitungen in den Hanefitischen Schulen wie die
des Schafii in den Schafiitischen bis an den heutigen Tag
fort. Von sehr grosser Bedeutung sowohl für die Geschichte
des muslimischen Rechtes als des Staatsorganismus ist Abu
Jusufs Denkschrift, die in den Rechtsbüchern unter dem Titel
Risale Harunijja citirt wird und letzthin in Egypten unter
dem Namen Kitabu-lcheradj (Steuerbuch) gedruckt worden ist.
Der Verfasser beantwortet darin staatsrechtliche und völkerrecht-
liche Fragen, welche ihm der Chalife Harun Erraschid (reg. 786
bis 809), oder richtiger gesagt dessen Gemahlin Zobeida vor-
gelegt hatte, damit ihm bezw. ihr die Antwort darauf als
Richtschnur diene in der Leitung der Staatsgeschäfte. Der
Form nach ist diese Denkschrift eine Feststellung der bezüg-
lichen göttlichen Gesetze, wie sie durch den Propheten und
durch die unter seinem Einflüsse stehenden Personen in Wort
und That promulgirt worden sind, und sie besteht deshalb
20 Sprenger.
hauptsächlich aus Ueberlieferungen : thatsächlich aber ent-
hält sie eine zeitgemässe Fortbildung des Gesetzes. Aus dem
unermesslichen Material von Ueberlieferungen, Rechtsgut-
achten etc. hat auch Jusuf was den Zwecken des Chalifen
am besten entsprach ausgelesen. Er verfährt mit solcher
Objectivität und scheinbarer Unparteilichkeit, dass die Kritik
dieses wichtigen Actenstückes für den zukünftigen Geschicht-
schreiber ein schwere Aufgabe sein wird. Soviel darf jedoch schon
jetzt behauptet werden : es war sein Zweck, die Rechte der
arabisch-muslimischen Gemeinde zu verkürzen, die Steuer-
schraube möglichst anzuziehen und den Staatsschatz, der immer
noch, was wie Ironie klingt, Beit malu-l'muslimin, Schatz-
kammer der Muslime, genannt wird, in der Theorie, wie es
thatsächlich immer der Fall gewesen ist, zum Privateigenthum
der Autokraten zu machen.
Abu Jusuf ist der einzige unter den grossen Rechtsge-
lehrten, welcher als officieller Kronjurist wirkte, es dürften
daher einige Bemerkungen über seine Zeit hier am Platze
sein. Mansur (reg. vom Juli 754 bis October 775), der eine
berberische Sklavin zur Mutter hatte, war ein Mann von
Blut und Eisen, aber nicht ohne Geist und Sinn für Kunst
und Wissenschaft. Einer der ersten Akte seiner Regierung
war, dass er den Abu Muslim, dem seine Dynastie die Herr-
schaft verdankte, weil er ihm, als er, der Beherrscher der
Gläubigen, im Jänner 755 Seleucia ad Tigrim besuchte,
mit zu grossem Selbstbewusstsein entgegentrat, erschlug.
Sieben Jahre später vernichtete er die Aliden, mit denen
einst seine Partei gemeinschaftliche Sache gemacht hatte,
und fing an den Abu Hanifa und andere grosse Rechts-
lehrer der biedern alten Schule zu verfolgen. Für die Araber
begann eine neue Aera. Ein Geschichtschreiber sagt (bei
Sojuti Gesch. d. Chal. p. 272): Mansur ist der erste Chalife,
an dessen Hofe Astrologen waren und der sich durch Stern-
deutung in seinen Unternehmungen leiten liess, und er ist der
erste^ der syrische und andere in fremden Sprachen geschrie-
Eine Skizze d. Entwicklungsgeschichte d. muslimischen Gesetzes. 21
bene Werke ins Arabische übersetzen liess^ so die Apologie
des Pilpai und Euclids Geometrie, und er ist der erste, der
seine Clienten (die Mehrzahl waren freigelassene Sklaven) in
hohen Aemtern anstellte und sie zu Vorgesetzten der Araber
machte. Nach ihm hat dieses so sehr zugenommen^ dass die Ober-
herrschaft der Araber und ihr Commando in der Armee aufhörte.
Zur Vervollständigung dieses Berichtes muss daran er-
innert werden^ dass die Abbasiden ihr Emporkommen den
Chorassaniern — Bewohern des östlichen Persien, theils persi-
schen und turanischen, theils arabischen Ursprungs — ver-
dankten, dass am Hofe Harun Erraschids persische Sitten
und persischer Luxus herrschten, und dass infolge dessen die
persischen Städte und Männer persischen Ursprunges mehr und
mehr an der geistigen Thätigkeit der Muslim auch auf dem
Gebiete der Ueberlieferungskunde theilnahmen und sich even-
tuell an die Spitze stellten. Motasim (Regierungsantritt August
833), ein roher gewaltiger Mann, der es nicht einmal im Lesen
und Schreiben zur Fertigkeit gebracht hatte, umgab sich mit
einer Garde von 10 000 türkischen Sklaven. Später erhöhte
er die Zahl bis auf 70000, gab ihnen ihre Freiheit, machte
sie zu seinen Clienten, wodurch sie die Rechte geborener
Araber erhielten, gab ihnen und auch ihren Frauen, die aber
Türkinnen sein mussten, Sold und vollendete somit die Unter-
drückung der arabischen Rasse. Er selbst und seine fünf
nächsten Nachfolger wurden von ihren türkischen Prätorianern
ermordet. Nehmen wir den Regierungsantritt Omars für den
Anfang und den Motasims für das Ende der Herrschaft der
Araber im Orient, so dauerte sie nur 199 Jahre. Die Araber
lebten sehr rasch und durchschritten die Perioden des geistigen
und politischen Lebens mit einer Schnelligkeit, dass ihr Fort-
schritt unsern Geschichtschreibern ebensowenig wahrnehmbar
ist, wie der Flug eines Pfeiles. Man wird es mir zu gute
halten, dass ich das Datum der handelnden Personen an-
gebe; denn die Lage und Gesinnungen der Söhne waren
gewöhnlich verschieden von denen ihrer Väter.
22 Sprenger.
Es vollzogen sich gewaltige Umwälzungen im politischen
und geselligen Leben. Die Türken, welche unter Motasim zur
Herrschaft kamen, und seitdem in allen Ländern des Orients, mit
wenigen und schnell vorübergehenden Ausnahmen, Herren der
Situation geblieben sind, bildeten von nun an den Wehrstand —
eine distinkte Kaste, und in früher Zeit kam es selten vor,
dass sich ein Türke mit Wissenschaft beschäftigte. Der Lehr-
stand, der anfangs aus Arabern oder Clientcn der Araber,
später aber im Orient (nicht so in Afrika) vorwiegend aus
Männern persischer Abkunft bestand, wurde von den türkischen
Herren mit grossmüthiger Aufmerksamkeit behandelt: die
Ulema standen sich viel besser als früher. Unter der neuen
G-estaltung der Dinge musste sich auch die Färbung des Ge-
setzes und der Charakter der Gesetzeslehrer und Richter
ändern.
Abu Jusuf war einer reinarabischen Familie entsprossen,
aber so arm, dass seine Mutter nach dem Tode seines Vaters
sich und ihren Sohn mit Spinnen ernährte und ihn dazu an-
hielt, Walker und Wascher zu werden. Der Drang nach
Wissen bewog den jungen Abu Jusuf, die Vorträge des Abu
Hanifa zu besuchen und dieser unterstützte ihn auch material.
Nach dem Tod seines Lehrers begab er sich nach Baghdad
und da er schon einen grossen Ruf als Rechtslehrer besass,
wandte sich ein Hofcavalier, der ein eidliches Gelöbniss ver-
letzt hatte, mit der Bitte an ihn, er möge sein Gewissen be-
ruhigen. Abu Jusuf erklärte, er sei des Eidbruches nicht
schuldig. Damit war das Glück des jungen Rechtsgelehrten
gemacht. Der Cavalier beschenkte ihn reichlich und baute
für ihn ein Haus neben dem seinigen. Das scheint unter der
Regierung Mahdi's vorgefallen zu sein. Einige Jahre später
fand dieser Cavalier den Chalifen Harun in sehr trüber Stim-
mung und erfuhr von ihm, dass er sich in einer Lage befinde, in
der er seine Rechtskundigen zu Rath zu ziehen wünsche.
Der Höfling empfahl ihm Abu Jusuf. Der Chalife schickte
um ihn, und als dieser zwischen den Gebäuden des Palais gegen
Eine Skizze d. Entwicklungsgeschichte d. muslimischen Gesetzes. 23
das Empfangzimmer ging, führte ihn sein Weg bei einer Kammer
vorüber, in der ein schöner junger Mann gefangen gehalten
wurde und den vorübergehenden Rechtsgelehrten mit flehender
Gebärde begrüsste. Die Frage, welche ihm der Chalif vor-
legte, war: Muss das Staatsoberhaupt, wenn es mit eigenen
Augen einen Mann Unzucht (Ehebruch) begehen gesehen hat,
die gesetzliche Strafe (Steinigung) an ihm vollstrecken^)? Abu
Jusuf merkte sogleich, dass der junge Mann, bei dessen Ge-
fängniss er vorübergegangen war, der Ehebrecher sei und der
Chalif ihn zu schonen wünsche, und sagte daher entschieden:
Nein, denn, fügte er bei, der Richter entscheidet nicht nach
seinem Wissen, sondern nach den Beweisgründen der Parteien.
Wenn der Stärkere auch weiss, dass er im Recht ist, darf er
sich sein Recht nicht selbst nehmen, sondern er muss es be-
weisen. Abu Jusuf wurde von dem jungen Manne und von dem
Chalifen reichlich beschenkt und zu den höchsten Ehrenämtern
erhoben.
Abu-Jusuf führte die Sitte ein, dass sich die der Rechts-
wissenschaft, bezw. der Theologie Beflissenen in ihrer Kleidung
von den Laien unterscheiden. Diese Sitte hat sich in einigen
Ländern des Orients erhalten und das Abzeichen besteht, so
viel ich weiss, darin, dass sie auf dem Kopf, allenfalls über
den Turban, ein Tailesan tragen, das auf die Schultern hinab-
fliesst. Dozy hat dieses Kleidungsstück in seinem Dict. des
noms des v^tements chez les arabes ausführlich beschrieben
und er führt auch die beachtenswerthe Stelle aus Lane an:
I am inclined to think that it is similar in its origin to our
academical scarfs and hoods. Der neuen Mode stellten sich
Feinde entgegen und nach damaliger Sitte bekämpften sie sie
mittelst der Ueberlieferung. Der Prophet, erzählten sie, sprach
vom Antichrist und sagte: Mit ihm rücken 70000 Juden aus
Ispahan, die Teilesane tragen, aus. Sie beriefen sich auch
^) Ueber die Zina und ihre Bestrafung vgl. Kohler, Gerichtssaal
Band 41. D. R.
24 Sprenger.
auf Anas und sagten^ er sei einst einer Anzahl Leuten be-
gegnet, die Teilesane trugen, und habe ausgerufen, wie ähn-
lich sie den Juden von Cheibar sind (vgl. Nuru-Lnibras
p.600). Wie sehr auch der neue Kopfputz dem der Juden gleichen
mochte, erklärte doch Schafii, dass es eine Verletzung des
Anstandes sei, wenn ein Theologe kein Teilesan trage. Abu-
Jusuf war der erste, welchem der Titel Qadhiu- Iqodhat,
Richter der Richter, beigelegt wurde. Dieses hohe Amt
dauert in Stambul noch fort und der Träger hat den Titel
Scheichu-lislam. Das Teilesan und der neue Hoftitel be-
zeichnen die Stellung , welche die Ulema (Theologen und
Rechtsgelehrte) von nun an einnahmen. Sie bildeten, wie
ich bereits angeführt habe, mehr und mehr einen eigenen
Stand. Die veranlassende Ursache dieser Reform war die
Unterdrückung der arabischen Grarnisonen von Kufa und Basra
durch fremde Kriegsvölker, und deswegen hat sie drei Decen-
nien, ehe die Türken zur Herrschaft kamen, angefangen. Mit
dieser Neubildung standen verschiedene Erscheinungen im
causalen Zusammenhang. Zwei davon verdienen besondere
Beachtung : Die gleichzeitige Entwicklung des Schriftthums
und die Pflege der aristotelischen Philosophie , besonders
der Logik. Dzohabi in seiner Chronik ad annum 143 Fl.
^ 760 n. Chr. fasst die Entstehungsgeschichte der arabischen
Literatur in wenigen Sätzen zusammen: Vor dieser Periode
(die wir das Zeitalter des Abu-PIanifa heissen wollen), discu-
tirten die Imame (Rechtslehrer, wie die 7 von Medina), die
Probleme aus dem Gedächtniss oder sie erzählten die Wissen-
schaft (d. h. die Ueberlieferung) nach zuverlässigen Aufzeich-
nungen, die nicht geordnet waren und nicht den Charakter
eines Buches hatten. Im Zeitalter des Abu-Hanifa aber wur-
den systematisch geordnete Traditionssammlungen und Bücher
über Rechtswissenschaft und Exegese verfasst. Ihn Djoreidj
(st. 767) that dies in Mekka, Malik st. 795) in Medina, Auzai
(ein muslimischer Heiliger von hohem Rang, st. 774) in Syrien
(Beirut), Ihn Abi Arüba (st. 773), und Hammad Ibu Salama
Eine Skizze d. Entwicklungsgeschichte d. muslimischen Gesetzes. 25
(st. 784) in Kufa. In dieser Periode verfasste Ibn Ishak
(st. 768) die Biographie des Mohammed und Abu Hanifa
seine Werke über Rechtswissenschaft und speculative Theologie.
Kurze Zeit nach dieser Periode folgte die Zeit des Abu Jusuf.
In und nach derselben wurden zahlreiche und voluminöse
Traditionssammlungen und Werke über Theologie, Grammatik,
Lexicographie, Geschichte und arabische Heldensagen ge-
schrieben. Soweit Dzohabi.
Der Chatib (Prediger) von Baghdad (st. 1072), einer der
gelehrtesten unter den vielen Sammlern biographischer Notizen,
schrieb eine Monographie über die ersten Anfänge des mus-
limischen Schriftthumes und ich habe einen vollständigen Aus-
zug daraus mit Zusätzen im Journal As. Soc. Bengal, Band 25,
veröffentlicht. Man findet darin wohl verbürgte Nachrichten,
dass Omar I. sich principiell Versuchen, Bücher zu schreiben
oder zu importiren, widersetzte, und wenn er hörte, dass ein
Muslim ein Buch habe, es vernichtete bezw. zu vernichten befahl.
Wenn die muslimischen Eroberer wirklich eine Bibliothek in
Alexandrien vorfanden, konnte sie der Vernichtungswuth dieses
Bücherfeindes nicht entgehen. Geschichtsforscher, welche sich
mit dieser Frage beschäftigen, sollen die Berichte des Chatib
nicht unberücksichtigt lassen.
Im Anfang des 8. Jahrhunderts war Zohri (st. 743)
der grösste Traditionslehrer. Er und seine Zeitgenossen er-
zählten zwar Ueberlieferungen aus dem Gedächtnisse, doch
hatten sie auch Collegienhefte, welche sie ihren Schülern
zum Abschreiben gaben und der Bedingung der mündlichen
Mittheilung wurde dadurch entsprochen, dass einer der Schüler
seine Abschrift vorlas und der Lehrer und die übrigen Schüler
zuhörten. Manchmal copirte ein Schüler das Collegienheft
eines andern, zeigte es dem Lehrer und fragte ihn: Sind das
Deine Traditionen? Wenn er es bejahte, war die Bedingung
der mündlichen Ueberlieferung erfüllt. Manche eifrige Tra-
ditionisten, welche die Mittel zu Reisen besassen, besuchten
mehr als tausend Lehrer, um ihre Collegienhefte zu copiren. Auf
26 Sprenger.
diese Weise entstand ein unermessliches schriftliches Material,
welches aber lediglich aus Collegienheften bestand.
Die erste Traditionssaminlung, welche die Form eines
Buches hat, ist die des Malik (st. 7. Juni 795). Sie ist wie
Rechtsbücher in Capitel getheilt und enthält nur solche
Ueberlieferungen, die Maliks Rechtssystera begründen. Der
Titel der Sammlung ist Muatta und sie ist in 1266 Fl. in
Dehli lithographirt worden. Damit auch der Laie wisse, was
eine Tradition ist, führe ich ein Beispiel an aus Muatta p, 192:
Malik von Abu-lzinnad, von el-Aradj, von Abu Horeira: Der
Gottesbote hat fürwahr gesagt, ein Mann darf nicht gleich-
zeitig zwei Frauen, welche Nichte und Tante zu einander
sind, zu Gemahlinnen haben. Die Bürgschaft bedeutet: Ich,
Malik, habe von Abu-lzinnad (st. 64 Jahre alt am 21. Juli
748) erfahren, dass er von el-Aradj (st. in Alexandrien in
735) und dieser von Abu Horeira erfahren habe: der Gottes-
bote etc. Von den sechs canonischen Traditionssammlungen,
welche bei den Sunniten als Quellen des Gesetzes den ersten
Rang nach dem Koran einnehmen, ist die des Bochari (geb.
19. Juli 810, gest. 2. Sept. 870) die älteste und geschätzteste.
Der Vorzug dieser Sammlungen vor der des Malik besteht
darin, dass strengere Regeln der Kritik befolgt werden. Nach
diesen Regeln ist die soeben angeführte Tradition nicht gesund,
weil Malik sagt: von Abu-Lzinnad etc. und nicht, Abu Izinnad
hat mir erzählt oder ich habe von Abu-lzinnad gehört, es
habe ihm N. N. erzählt etc. Eine Tradition ist nur dann
gesund, wenn jeder der successiven Ueberlieferer die persön-
liche Mittheilung ausdrücklich verbürgt. Die Ausdrucksweise
des Malik aber ist der Art, dass er sie einer schriftlichen
Notiz entnommen oder von zweiter Hand gehört haben konnte.
Das Princip, dass nur mündliches Zeugniss Gültigkeit habe,
wurde übertrieben, und in den Lehrbüchern über die Kritik
der üeberlieferung wird behauptet, diese Regel habe von jeher
bestanden. Auch die Nothwendigkeit, die Traditionen dem
Gedächtniss einzuprägen, wurde, als man sie in systematisch
Eine Skizze d. Entwicklungsgeschichte d. muslimischen Gesetzes. 27
geordneten Büchern niederlegte, mehr betont als früher. Von
Bochari wird behauptet, er habe 100000 gesunde und ebenso
viele ungesunde Traditionen dem Gedächtnisse eingeprägt.
Dass er seine eigene Sammlung, die 7275 Traditionen enthält
und einen stattlichen Folioband füllt, mit der Reihe der Bürgen
für jede auswendig wusste und aus dem Gedächtnisse vortrug,
versteht sich von selbst. Wir wollen die Wunderkräfte des
Gedächtnisses Bocharis und seiner Collegen nicht bezweifeln,
man wird aber zugestehen, dass sie ohne Zuhilfenahme der
Schrift nicht so viel hätten auswendig lernen können. Je
mehr man sich der Schrift bediente, desto mehr hat sich das
Traditionswesen erweitert und consolidirt.
Nachdem Abu Hanifa und seine Schüler, namentlich Abu
Jusuf, Zofar und Imam Mohammed das Gesetz dogmatisirt
und ihre Lehren in systematischen Büchern niedergelegt hatten,
studirten ihre Anhänger die Ueberlieferung in der Absicht,
darin Bestätigung der Lehren ihres Meisters und Stoff für
Erbauung zu finden. Es gab aber noch Männer, für
welche die Tradition die Hauptquelle der Gesetzeskunde war.
Unter diesen nimmt Schafii (geb. 767, gest. Freitag den
13. Jänner 820) den ersten Rang ein. Im Gegensatz zu den
A^habu-lrai, Leuten der Speculation, gründete er sein Rechts-
system ausschliesslich auf die Sunna, und man darf wohl be-
haupten, dass Bocharis Arbeiten keinen andern Zweck hatten,
als die Lehren Schafiis zu befestigen. Jedenfalls sind es bis
auf den heutigen Tag die Schafeiten, welche die Traditions-
wissenschaft pflegen. Nach meinem Ermessen kann die Neu-
belebung des Islam, wenn eine solche möglich ist, nur dadurch
bewirkt werden, dass Reformatoren, an jene Zeit anknüpfend,
als die Sunna noch lebendig im Volke war, die Ueberlieferung
im Geiste des Fortschrittes, aber ohne den Boden des Positiven
zu verlassen, studiren und erklären. In dieser Ueberzeugung
habe ich, als ich nach Kalkatta berufen wurde, die Madressen
von Kalkatta und Hughley zu reformiren, mich bemüht, in
denselben das Studium der Ueberlieferung und Koranexegese
28 Sprenger.
einzuführen und sie an die Stelle der Scholastik, die allmälig
verdrängt werden sollte, zu setzen. Mein Versuch scheiterte
am Widerstand der muslimischen Bevölkerung. Meine Denk-
schrift über diesen Gegenstand und die Folgen meines Ver-
suches sind in den Selections from the records of the Bengal
Government Nr. XIV veröffentlicht worden.
Die Ueberlieferung ist, wie ich gezeigt habe, im Volk
entstanden und ist der genaue Ausdruck des Gesetzes, wie es
im Volke lebte; der Unterschied zwischen den Lehren des
Abu Hanifa und Schafii konnte daher nicht bedeutend sein.
Er besteht meist in ganz untergeordneten Dingen, so z. B.
streichen die Hanefiten den Vorderarm in ihre Ablutionen von
oben nach unten, die Schafeiten von unten nach oben, und
deswegen erkennen sie sich einander an der Richtung des
Haarwuchses. Ich will aber noch ein Beispiel von grösserer
Tragweite, namentlich die Verschiedenheit der Definition von
moh^an erwähnen. Das Gesetz verhängt über Mann und
Frau, welche Zina, Unzucht, Ehebruch, treiben, wenn sie
vermöge ihrer Lebensstellung mohc^an, respectabel sind, das
volle Strafmass — die Steinigung. Wenn sie nicht moh^an
sind, verfallen sie einer milderen Strafe oder gehen frei aus ^).
Die Absicht des Gesetzgebers liegt auf der Hand: er wollte
nicht, dass Sklaven und unbeweibte freie Männer (auch diese
sind nicht Moh^an) wegen geschlechtlichen Vergehen so schwer
bestraft werden, wie anständige Freie, welche eine Frau haben,
noch wollte er Prostituirte oder überhaupt Gesindel wegen
zina züchtigen. Schafii, gestützt auf die Tradition, dass
Mohammed ein Judenpaar, weil es sich der Zina schuldig
gemacht hatte, steinigen liess, wollte das Gesetz auch auf
Juden und Christen angewendet wissen. Abu Hanifa behauptete
im Geiste der Zeit, in welcher das Gesetz entstanden ist,
nur Muslime gehören zu den Respectablen (mohc^an) und
^) Vgl. Kohler, Ueber das islamitische Strafrecht, im Gerichtssaal
Band 41. D. R.
Eine Skizze d. Entwicklungsgeschichte d. muslimischen Gesetzes. 29
sprach sich gegen die Anwendung der Strafe auf Juden und
Christen aus. — Die Wandlungen des Gesetzes bezüglich der
Zina sind eine der interessantesten Partien der muslimischen
Rechts- und Kulturgeschichte Es würde zu weit führen, sie
hier zu behandeln, ich will aber nicht unbemerkt lassen, dass
moh^an im Koran eine ganz andere Bedeutung hat als in der
Sunna, und dass die beschädigten Parteien von jeher der Zina
schuldige Frauen tödteten, ohne dass die Behörde die Mörder
verfolgt hätte.
Als die vier orthodoxen Rechtsschulen der Sunniten
vollendet waren , trat die Rechtswissenschaft in ein neues
Stadium. Alle Gesetzlehrer bekannten sich zu einer derselben
und die Lehren des Stifters und der hervorragendsten unter
seinen unmittelbaren Schülern waren für sie eine Art Katechis-
mus, an dem nicht gerüttelt werden darf. Selbständige, auf
die Tradition gegründete Forschung von Bedeutung hörte auf.
Eine der wenigen Ausnahmen ist Ghazali (st. 1126), er war
aber viel mehr Philosoph als Rechtslehrer und wenn er auch
in seinem berühmten Werke: „Die Neubelebung der Wissen-
schaften des Islam'' Gegenstände behandelt, welche das Gesetz
betreffen, so ist doch sein Zweck ein anderer, nämlich die
Aussöhnung der Theosophie mit der positiven Religion,
und die Erbauung. Das Hanefitische Rechtssystem ist zuerst
entstanden und naturgemäss zuerst verdorrt. Die Gesetze
nach der Redaction des Abu Hanifa wurden von seinem Schüler
Imam Mohammed (geb. 749, gest. 805) auf den Wunsch und
mit dem Beistand des Abu Jusuf in 1532 Paragraphen codi-
fizirt. Das ist, soviel ich weiss, die erste Sammlung muslimi-
scher Satzungen, welche Aehnlichkeit mit unsern Gesetzbüchern
hat^). Andere Rechtsbücher aus jener Zeit — auch eines des
Imam Mohammed — enthalten das ganze Material für die
Begründung eines jeden Gesetzes und sind sehr umfangreich.
^) In Berlin, Bibl. Spz. Nr. 611 ist eine alte Handschrift dieses für
die muslimische Rechtsgeschichte wichtigen Werkes.
30 Sprenger.
lu der Folgezeit bestand vielerorts die Verordnung, dass zur
Erlangung einer Ricliterstelle es nothwendig war, den Codex
des Imain Mohammed auswendig zu wissen. Unter den vielen
Hunderten von Reclitsbüchern, welche nach Imam Mohammed
geschrieben wurden, ist das Handbuch des Qoduri (geb. 973,
gest. 25. Mai 1033) das berühmteste. Darin wird das Gesetz
in bündiger Sprache und zusammenhängenden Sätzen, in denen
manches Mal ein Paragraph durch ein einziges Wort wieder-
gegeben ist, zusammengedrängt. Es ist schwer, dieses Büch-
lein ohne Commentar — es sind deren mehr als ein Dutzend
geschrieben worden — zu verstehen und unmöglich eine voll-
ständige Kenntniss des Gestzes daraus zu schöpfen. Die
Hanefiten waren immer stärker in der Scholastik als die
Schafeiten. In Indien, Afghanistan und Persien gibt es nur
wenig Schafeiten und deswegen ist in diesen Ländern die
scholastische Methode das Gesetz zu lehren mehr ausgebildet
worden als im osmanischen Reiche. Ich will dieses durch die
Genealogie der in indischen Schulen üblichsten Lehrbücher
veranschaulichen.
Marghinani (st. 1197) ist der Verfasser der Bidaja; sie
ist im selben Geiste geschrieben wie das qodurische Compen-
dium und kann als eine Abkürzung desselben angesehen wer-
den. Das Gesetz kann man daraus nicht lernen. Das war
auch nicht die Absicht des Verfassers: die Bidaja sollte viel-
mehr der Syllabus sein, zu dem bald darauf er sein berühmtes
Werk, die Hidaja, in der Form eines Commentars verfasste,
die in der Kalkatta-Ausgabe 1066 Seiten 4^ füllt. Einer der
vielen Supercommentare zur Hidaja, die Inaja ist ebenfalls
im Druck erschienen und besteht aus vier Quartbänden; ein
anderer, von dem es zwei Ausgaben gibt, hat den Titel Kifaja,
imd der Titel eines dritten ist Nihaja. Ueberhaupt reimen
die Titel der zu dieser Familie gehörigen Werke auf aja.
Ein Jurist, der den pompösen Titel „Die Brust des Gesetzes^
führte, fing von vorne an und reducirte den Inhalt der Hidaja
in ein Compendium, dem er den Titel Wiqaja gab. Die
Eine Skizze d. Entwicklungsgeschichte d. muslimischen Gesetzes. 31
Absichten des erlauchten Verfassers erfüllten sich und die
folgenden Generationen von Scholastikern pflanzten zu dem
dürren Geländer Schlingpflanzen. Der berühmteste Commentar
zur Wiqaja ist der, den der Enkel des Verfassers in 1342
vollendete. Zu diesem wurde ums Jahr 1485 ein Supercom-
mentar geschrieben. Ein Rechtslehrer, der in 1344 starb,
condensirte die Wiqaja und schuf einen Sjllabus, den er
Niqaja nannte und der alles bis dahin Dagewesene an Scharf-
sinn und Kürze übertrifi^t. Selbstverständlich wurde der tiefe
Sinn der Niqaja in zahlreichen Cömmentaren erläutert. Einer
davon hat den bezeichnenden Titel : „Sammlung der Räthsel"
und füllt in der zu Kalkatta in 1857 erschienenen Ausgabe
748 Quartseiten.
Rechtslehrer, gegen welche ich die Bemerkung machte,
dass ihre Schüler sehr wenig von den Gesetzen des Islam
wissen und dass sie, wenn sie das Erbrecht (welches unter
der englischen Herrschaft noch volle Gültigkeit hat) kennen
lernen wollen, die Hindustanische Uebersetzung von Mack-
naughtens vortrefflichem Buch über diesen Gegenstand zur
Hand nehmen, antworteten mir offen, dass die Kenntniss des
Gesetzes nicht der Zweck ihrer Studien ist; wir wollen, sagten
sie, unseren Schülern nur die Mittel an die Hand geben, die
Gesetzbücher zu verstehen. Thatsächlich ist das Rechtsstudium
wie der Rest des Quinquiviums für die Hanefiten nur eine
Disciplin des Geistes — ein Verdauungsmittel.
IL
lieber das Recht der Amaxosa^).
Von
Paul Rehme.
Die Eingeborenen Südafrikas zerfallen in drei Gruppen,
die Abantu^ die Hottentotten und die Buschmänner^). Die
Hottentotten, welche ursprünglich das dem Kap der guten
Hoffnung zunächst gelegene Gebiet innehatten, wurden durch
die europäischen Ansiedler von dort verdrängt^) und stiessen
bei ihrer Wanderung nach Norden auf die Buschmänner*).
Zu gleicher Zeit drangen von Norden her die Abantu vor^).
So mussten die Buschmänner mit zwei Völkern den Kampf
ums Dasein führen; den stärkeren Gegnern nicht gewachsen,
wurden sie soweit vernichtet, dass sie heute nur noch aus
einigen Horden bestehen, welche ohne Heimath sich durch
Diebstahl und Raub erhalten und von der übrigen farbigen
wie von der weissen Bevölkerung Südafrikas gehasst und ihrer
Hinterlist und Tücke wegen gefürchtet werden. Die Hotten-
totten mussten in jenem Völkerkampfe der Uebermacht der
^) Arbeit aus den rechtsvergleichenden Hebungen in Berlin, Winter-
semester 1888/89. D. R.
2) Fritsch, Die Eingeborenen Südafrikas. 1872. S. 3 ff.
3) Fritsch a. a. 0. S. 265.
^) Fritsch a. a. 0. S. 385 ff.
^) Vgl. Merensky, Zeitschr. f. Ethnologie. Bd. VII S. 20 ü\ —
Virchow in ders. Zeitschr. Bd. XVII S. 14.
lieber das Recht der Amaxosa. 33
Weissen einerseits und der Abantu andererseits weichen und
wurden nach der Südwestküste gedrängt^). Oestlich von ihnen
und nördlich von der Kapkolonie beginnt das Gebiet der
Abantu^ welches bis weit über die Grenze Südafrikas hinaus
sich erstreckt. Bei ihnen sind drei Hauptgruppen zu unter-
scheiden^ und zwar in der Richtung von Westen nach Osten
die OvahererO; die Bechuana und die Amaxosa und Amazulu.
Diese beiden Völker, welche die Südwestküste Afrikas vom
Grossen Fisch- Flusse bis zur Delagoa-Bai bewohnen, fasst
man gewöhnlich unter dem Namen „Kaffern" ^) zusammen,
indem man „eigentliche Kaffern" und „Zulukaffern" unter-
scheidet; jedoch findet jene Bezeichnung auch auf die ge-
sammte Völkergruppe der Abantu Anwendung; daher ist das
Wort „Kaffer" für die Benennung eines Volkes oder Volks-
stammes nicht empfehlenswerth.
Als die Buschmänner aus ihren Wohnsitzen vertrieben
waren/ geriethen die Amaxosa und Amazulu in unmittelbare
Berührung mit den W^eissen. Ihr beständiges Vordringen
nach Süden veranlasste die Kämpfe von 1806, 1812, 1834 — 1835,
1846—1848, 1851—1853, welche die Unterwerfung einer
Anzahl ihrer Stämme unter die britische Herrschaft zur Folge
hatten, so dass man „Britisch-Kafferland" und „Frei-Kafferland"
unterschied. Durch das fortwährende Eindringen der „freien
Kaffern" in die Kapkolonie wurden weitere blutige Kriege
(1877 — 1878) veranlasst, in welchen die britische Grenze stets
weiter nach Nordosten vorgerückt wurde, bis nach dem Falle
des tapferen und grausamen Zuluhäuptlings Ketschwayo fast
alle Stämme der Amaxosa und Amazulu unter die Herrschaft
der Briten gelangt sind^).
^') Vgl. W an gern an n, Südafrika und seine Bewohner. 1881. I S. 7 ff.
^) Vom arabischen Kafir — Ungläubiger.
^) W an gern an n a. a. 0. I S. 28. Ueber die Ursachen der Kämpfe
im Besonderen s. Moodie, An inquiry into the justice and expediency
of completing the publication of the authentic records of the Cape of
good Hope. Cape of good Hope 1841. p. 6 sqq.
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. X. Band. 3
34 Rehme.
Die Amaxosa, deren Recht wir hier zu untersuchen haben,
führen ihren Namen nach dem Häuptling Xosa, der um 1530
gelebt haben solP). Einer seiner Nachfolger, Palo, theilte
das Reich unter seine beiden Söhne Gcaleka und Khakhabe.
Die Amagcaleka haben sich bis heute als selbständiger Stamm
erhalten, während die Amakhakhabe wahrscheinlich infolge
wiederholter Erbtheilungen in eine grosse Anzahl kleinerer
Stämme oder Clanschaften zerfallen sind^^), an deren Spitze
ein Inkosi (Häuptling) steht. Bei jenen Erbtheilungen wurde
der Grundsatz befolgt, dass einer der Söhne des Herrschers ^^)
eine Art Oberhoheit über seine Brüder erhielt. Daher ist
noch heute mehreren Inkosi in der Regel ein Ukumkani über-
geordnet. Jedoch regiert der Inkosi selbständig; der Ukum-
kani hat nur das Leitungsrecht seines eigenen Stammes und
ein Entscheidungsrecht bei Streitigkeiten einzelner Inkosi ^^).
Aus diesen kurzen Andeutungen geht zugleich hervor, dass
die Verfassung bei den Amoxosa eine monarchische ist.
Bei der Betrachtung des Rechtes eines Naturvolkes, das
wie die Amaxosa eine Reihe von Jahrzehnten unter europäischer
Herrschaft steht, sollte man meinen, die Entwickelung des
Rechtes würde unter dem Einflüsse europäischer Kultur eine
verhältnissmässig rasche oder unter dem Drucke des Zwanges
vielleicht eine gewaltsame und dem Volksbewusstsein wider-
strebende sein. Dies ist bei den Amaxosa nicht der Fall.
Die britischen ,jCommissioners" haben der Rechtsentwickelung
vielmehr freien Lauf gelassen. Wir können daher ausser den
Schriftstellern, welche über die Amaxosa zur Zeit ihrer Un-
abhängigkeit schrieben, die neueren Autoren benutzen. In
jene Gruppe gehören die Werke von Lichtenstein, Reisen im
®) Das Präfix ama — ist Zeichen der Mehrzahl; Amaxosa bedeutet:
Leute des Xosa.
^^) Fritsch a. a. 0. S. 6. — Dohne S. 14. — Dugmore bei
Maclean, p. 8 ff.
^^) Vgl. unten im Erb- und Verfassungsrechte S. 48 und 57.
^^) Dohne, Das Kafferland und seine Bewohner. 1844. S. 19.
Ueber das Recht der Amaxosa. 35
südlichen Afrika, zwei Bände, 1803 — 4, und von Campbell,
Reisen in Südafrika, in deutscher Uebersetzung 1816, welche
hauptsächlich Berücksichtigung finden werden, um einige
Blicke auf die Rechtsgeschichte zu ermöglichen. In dieser
Gruppe ist neben einer Abhandlung von Bleek, Forschungen
in Natal, in Petermann's Mittheilungen, 1856, S. 362 fF., an
erster Stelle zu nennen : A compendium of Kafir laws and
customs compiled by direction of colonel Maclean, Mount
Coke 1858. Es ist dieses Werk eine Sammlung von Be-
richten der den einzelnen Bezirken von British Kaffraria vor-
gesetzten britischen Beamten; die Verfasser (Rev. Dugmore,
Warner, Brownlee und Maclean) fassen zunächst nur die Ver-
hältnisse ihres Bezirkes ins Auge 5 aus der Uebereinstimmung
ihrer Angaben in den meisten Fällen lässt sich aber schliessen,
dass die von dem einen oder dem anderen nicht erwähnten
Punkte sich auf das gesammte britische Kafferland beziehen,
wie denn Warner selbst sagt^^): „ — my notes and com-
pendium are in accordance with Tambookie usages. Kafir
law is however substantially same among all the Amaxosa
tribes." Hierdurch erstreckt er die Geltung der von ihm an-
geführten Rechtssätze sogar über British KafFraria hinaus.
Dass alle Amaxosa, sowohl die britischen als auch die damals
noch freien, in der That ein gemeinsames Recht haben, wird
bestätigt durch die Schrift Döhne's, Das Kafferland und seine
Bewohner, 1844, welche „über die Sitten, Einrichtungen und
Gebräuche" des ganzen Volkes der Amaxosa handelt^*); für
uns kommt aus dieser Beschreibung allerdings nur wenig in
Betracht; das aber stimmt im Allgemeinen mit den Beobach-
tungen der Briten überein. Von den Schriftstellern, welche
nach Maclean über die Amoxosa geschrieben haben, sind zu
erwähnen: Fritsch, Die Eingeborenen Südafrikas, 1872; Trol-
lope, South Africa, 1878; Weber, Vier Jahre in Südafrika,
1878; Joest, Um Afrika, 1885; Nauhaus in der Zeitschrift
^0 p. 60.
^0 Siehe Vorwort der angeführten Schrift.
36 Rehme.
für Ethnologie, Band XIII und XIV. Alle diese Schriften
weichen, soweit sie für uns in Betracht kommen, von Maclean
wenig oder gar nicht ab; sie handeln zum grossen Theil
über das Recht der Amaxosa im Anschluss an die Dar-
stellungen des Maclean'schen Werkes ^^).
Die Hauptquelle unserer Darstellung ist also theils aus
diesem Grunde, theils wegen seiner grossen inneren Vorzüge
das Werk Maclean's.
Rechtsquellen sind bei den Amaxosa nur Gewohnheits-
recht und Gerichtsgebrauch insofern, als die Entscheidungen
verstorbener Häuptlinge als Richtschnur für die Rechtsprechung
in ähnlichen Fällen gelten i^). Ob der vor einer Reihe von
Jahren gefasste Plan, die gewohnheitsrechtlichen Sätze zu
kodificiren, seine Ausführung gefunden hat, konnte nicht er-
mittelt werden.
Ausser dem Erbrechte baut sich ein grosser Theil des
Sachen- und Obligationenrechtes bei einem Naturvolke auf
der Grundlage des Familienrechtes auf. Seine Darstellung
muss daher dem übrigen Theile des Privatrechtes voran-
gehen.
Das Eherecht der Amaxosa hat bereits die niedrigste
Stufe überwunden ; es besteht keine Gruppenehe mehr, wenn
auch die ausgebreitetste Vielweiberei noch herrscht ^^), und
der Concubinat erlaubt ist^^). Jedoch hat die Concubine eine
niedrigere Stellung als die Ehefrauen ^^), und ihre Kinder
stehen den Kindern dieser nach, wenn sie auch nicht zu den
^^) Fritsch erwähnt Maclean wiederholt, Trollope sagt: „I have
taken my accounts of them (habits) Irom the papers published under
Maclean's narae."
^^) Dugmore p. 31 IT. — Warner p. 59. — Nauhaiis in Zeitschr.
f. Ethn. Bd. XIII S. 351.
^^) Dugmore p. 43. — Weber II S. 215. — Bleek in Petermann's
Mitth. 1856, S. 367.
^^) Dugmore p. 44.
'^) Nauhaus a. a. 0. XIV S. 209.
Ueber das Recht der Amaxosa. 37
unehelichen gerechnet werden; vor allem sind sie nur in Er-
mangelung von Kindern aus rechtmässiger Ehe erbfähig ^^).
Es gilt unbedingt der Grundsatz der Exogamie; die Ehe
zwischen Blutsverwandten, gleichviel welchen Grades, ist ver-
boten; sie ist nichtig und mit Strafe bedroht. Affinität ist
kein Ehehinderniss^^).
Ein merkwürdiges Eheverbot besteht für die jüngeren
Söhne; diese dürfen erst nach dem ältesten Bruder heirathen^^).
Der Ursprung dieser Bestimmung ist darin zu suchen, dass
der Erstgeborene durch die Verheirathung jüngerer Brüder
vor ihm benachtheiligt werden würde, da der Vater verpflichtet
ist, seinen Söhnen den Kaufpreis für ihre erste Frau zu ge-
währen.
Damit ist schon gesagt, dass sich das Eherecht der Ama-
xosa im Stadium des Frauenkaufes befindet ^^).
Das Anerbieten zur Heirath geht in der Regel vom Vater
des Mädchens aus, ohne dass dieses irgend welche Mitwirkung
dabei hat^^).
Die Verhandlungen w^erden damit eingeleitet, dass der
Vater, der eine Tochter verheirathen will, zur Nachtzeit Ge-
schenke (Schmucksachen) an den gewünschten Bräutigam
schickt. Zurückweisung derselben, welche übrigens als Be-
leidigung angesehen wird, ist ein Zeichen dafür, dass dieser
die geplante Verbindung ausschlägt. Anderenfalls kommen
einige Personen vom Kraal des Mädchens zu demjenigen des
Mannes, um mit dessen Beauftragten über den Kaufpreis zu
^^) Dugmore p. 45.
21) Brownleep. 115. — Warner p. 63. — Bleek a. a. 0. S. 370.—
Maclean S. 163.
22) Nauhaus a. a. 0. XIV S. 211. — Dugmore p. 45.
23) Lichtenstein I S. 430 ff. — Weber II S. 220. — Joest S. 140.
— Nauhaus a. a. 0. XIV S. 205 ff.
2^) Dugmore p. 45 ff. — Warner p. 68 ff. — Brownlee p. 114 f.
- Nauhaus a. a. 0. XIV S. 207. Vgl. dagegen Campbell S. 466. —
Dohne S. 26 ff.
38 Rehme.
unterhandeln ; hierauf folgt die Brautschau und die endgültige
Festsetzung des Kaufpreises; seine Höhe ist nach dem Range
des Brautvaters und der Schönheit der Braut verschieden ; er
schwankt zwischen der gewöhnlichen Zahl von 10 bis zu 20,
30 und sogar 50 Stück Vieh ; Vieh ist das einzige Zahlungs-
mittel. Der Kaufpreis (Ikazi) wird an den Vater oder in Er-
mangelung desselben an die nächsten agnatischen Verwandten
der Braut gezahlt^ welche ein Zurückbehaltungsrecht an der
Braut haben, bis der Bräutigam seinen Verpflichtungen nach-
gekommen ist ; jedoch wird ihm nicht selten Theilzahlung ge-
stattet''^^). Die bei vielen Völkern übliche Abstufung der
Rechte des Mannes an der Frau nach den gezahlten Raten
findet bei den Amaxosa nicht statt. Zur Consummation der
Ehe genügt Zahlung des Kaufpreises 2^); die copula carnalis
ist nicht erforderlich.
Wenn es hiernach auch unzweifelhaft ist, dass sich bei
den Amaxosa das Eherecht in der Periode des Frauenkaufes
befindet, so sind doch noch Spuren des Frauenraubes erkenn-
bar. Nach Ablauf eines Jahres nämlich seit der Eheschlies-
sung, bezw. nach der Geburt des ersten Kindes wird der Mann
durch einen Trupp männlicher Verwandter der Frau zur Zah-
lung einer weiteren Summe aufgefordert. Weigert er sich,
ihrem Verlangen nachzukommen, so veranlassen sie die Frau
zurückzukehren, wenn es den Freunden und Verwandten des
Mannes nicht gelingt, sie selbst mit Gewalt daran zu ver-
hindern. Zahlt der Mann auch dann die geforderte' Summe
nicht, so bleibt die Frau bei ihren Verwandten, und die Ehe
ist aufgelöst ^^).
Beide Theile haben in der Trennung der Ehe die grösste
^^) Warner p. 69. — Fritsch S. 112. — Bei einigen Stämmen wird
der Ikazi auch bei Lebzeiten des Vaters unter sämmtliche männliche
Verwandte der Frau getheilt. Brownlee p. 114.
26) Warner p. 68.
^^) Dugmore p. 52. -r- Brownlee p. 114.
Ueber das Recht der Amaxosa. 39
Freiheit. Hat der Mann einen Scheidungsgrund ^^) glaubhaft
gemacht, so ist ihm der gezahlte Kaufpreis zurückzuerstatten,
wenn die Frau ihm keine Kinder geboren hat, abgesehen von
dem Falle langer Dauer der Ehe^^). Wird die Ehe von
Seiten der Frau aufgelöst, so kann bei kinderloser Ehe der
Mann gleichfalls den Kaufpreis zurückfordern^^), wenn sie
nicht einen schwerwiegenden Grund hat, den Mann zu ver-
lassen^^). Die Frau darf sich wieder verheirathen , falls der
Ikazi oder ein Theil desselben von ihren Verwandten oder
ihrem zweiten Manne dem ersten Manne zurückgezahlt wird,
welcher ein Recht auf den Kaufpreis auch dann hat, wenn
ihm die Frau Kinder geboren hatte ^^). Die Kinder gehören
in allen Fällen ihrem Vater ^^). Uebrigens sollen Ehe-
scheidungen nicht sehr häufig sein. Auf der einen Seite
werden die Verwandten der Frau, die mit ihrem Manne nicht
mehr zusammenleben will, diese wegen der Scheidungsstrafe
in der Regel zur Rückkehr zwingen ^ ^) ^^), auf der anderen
Seite wird der Mann, selbst wenn er einen Ehescheidungs-
grund hat, die Frau nicht oft zu ihren Verwandten zurück-
schicken , da er sich hierdurch ihrer Dienste berauben
würde.
Denn kraft seiner eheherrlichen Gewalt hat er Anspruch
auf Verrichtung aller Dienste durch die Frau, welche durch
die Heirath seine Sklavin wird, in sein Eigenthum übergeht ^^).
^^} Siehe z. B. Dohne S. 21 : Grundloses Verlassen des Mannes.
^^) Warner p. 70. — Brownlee p. 115. — Vgl. Lichtenstein
I S. 436 f. — Weber II S. 221. — Nauhaus a. a. 0. XIV S. 210 f.
3<^) Warner p. 69 f.
»0 Dohne S. 21.
^^) Warner p. 70. — Brownlee p. 116.
^^) Warner p. 70. - Weber II S. 221.
3^) Weber II S. 220.
^^) Wie bei anderen Völkern, vgl. auch Kohler in dieser Zeitschr.
VI S. 342. D. R.
^^) Warner p. 69. — Brownlee p. 117. — Weber II S. 215. —
Nauhaus a. a. 0. XIV S. 210.
40 Relime.
Dem Ehemann ist das weitgehendste Züchtigungsrecht ein-
geräumt, jedoch werden körperliche Verstümmelungen der
Frau bestraft, ihre Tödtung wie die Tödtung eines Mannes^').
Diese seine Rechte werden aber beschränkt durch die Ver-
wandten der Frau, welche Grausamkeiten des Mannes zur
Wegtuhrung der Frau berechtigen, abgesehen davon, dass —
wie bereits erwähnt — diese selbst den Mann verlassen kann;
sie braucht erst nach Zahlung einer erneuten Forderung Vieh
zurückgegeben zu werden, und zwar muss der Mann in eigener
i^erson darum bitten und bekommt seine Frau nicht eher zu
seben, als bis diese von ihr nahestehenden Weibern durch
Wort und That gerächt ist^^).
Was das eheliche Güterrecht bei Lebzeiten beider Ehe-
gatten anlangt, so kommt nur das Vermögen des Mannes in
Betracht; die Frau ist vermögenslos, bringt also nichts in die
Ehe. Jedoch hat sie das Recht auf Alimentation durch den
Mann^^). Trotz der herrschenden Vielweiberei wird ein ge-
ordnetes Zusammenleben der Ehegatten dadurch ermöglicht,
dass jedes der drei Weiber — drei gilt als die regelmässige
Zahl — einen besonderen Haushalt erhält, indem ihr eine
Hütte und ein Theil des gesammten Viehbestandes zugewiesen
wird^^). Heirathet der Mann mehr als drei Frauen, so werden
die übrigen unter die drei „grossen'' Häuser vertheilt. Unter
diesen besteht eine bestimmte Reihenfolge, durch welche der
Rang der Frauen gekennzeichnet wird. An erster Stelle
steht die „grosse Frau" ; in der Regel gibt der Mann einem
seiner Weiber, welches nicht das zuerst geheirathete zu sein
braucht , diesen Ehrenvorrang. Die beiden anderen Häuser
heissen „Haus der rechten Hand" und „Haus der linken
") Vgl. Weber II S. 220.
^^) Dugmore p. 53.
^') Dohne S. 20: „Wenn eine Frau aus Hunger stiehlt, so wird
ihr Mann als Dieb hart bestraft."
^°) Vgl. Weber II S. 220. — Joest S. 140.
Ueber das Recht der Amaxosa. 41
Hand***^). Jedes dieser drei Häuser hat sein eigenes Ver-
mögen, welches allerdings rechtlich nach Art des römisch-
rechtlichen peculium im Eigenthume des Familienhauptes
bleibt. Der einzige Gegenstand des ehelichen Güterrechtes,
um den es sich nach dem Tode eines Ehegatten handelt, ist
der für die Frau gezahlte Kaufpreis. Derselbe wurde, wie
oben gesagt, an den Vater oder die agnatischen Verwandten
der Braut entrichtet. Jedoch haben weder der Vater noch
diese das Recht, ihn zu ihrem eigenen Nutzen zu verwenden ;
der Kaufpreis ist vielmehr eine Verfangenschaft der Wittwe
und der Kinder ^^). Stirbt die Frau vor dem Manne, so bleibt
der Kaufpreis ihren Verwandten, wenn sie dem Manne Kinder
geboren hatte; sonst ist er diesem zurückzuzahlen, abgesehen
wieder von dem Falle langen Zusammenlebens"^^). Stirbt der
Mann nach kinderloser Ehe, so können die Verwandten der
Frau diese gegen Zahlung des Kaufpreises an die Erben des
Mannes zurückfordern ; die Amaxosa nennen dies „ein Haus
auslöschen" ^^)'^^). War die Ehe dagegen mit Kindern ge-
segnet, so wird die Frau vererbt. Die Kinder bleiben stets
dem Manne, bezw. seinen Erben*^).
Auch über die Kinder hat das Familienhaupt die aus-
gedehnteste Gewalt, welche aber in derselben Weise beschränkt
ist, wie die Gewalt über seine Frauen^ '^). Der Vater hat
das Recht, sich von einem ungerathenen Sohne loszusagen;
der Sohn wird hierdurch geächtet, so dass jener für seine
Handlungen nicht mehr einzustehen hat, und jeder sich un-
*^) Warner p. 71. — Dugmore p. 45. — Vgl. Nauhaus a. a. 0.
XIV S, 211.
^^) Vgl. Dugmore p. 53.
^3) Vgl. Fritsch S. 113. — Lichtenstein 1 S. 434.
^0 Fritsch S. 117. — ßrownlee p. 115.
^^) Also eine Abscliwächung des Erbrechts der Familie an der Frau,
in der Art, dass die kinderlose Frau ausgekauft werden kann. D. R.
^^) Vgl. Erbrecht unten S. 48 1'.
^0 Brownlee p. 118.
42 Rehme.
gestraft an seiner Person vergreifen kann'^'*). Die Gewalt
des Vaters über seine Töchter geht so weit, dass er geehrten
Gästen das „Gastrecht'^ einräumt^ ^).
Nach dem Tode des Vaters erhalten die Kinder Vormünder,
und zwar werden es von Rechtswegen die aguatischen Verwandten
des Vaters, zunächst seine Brüder, in Ermangelung dieser weitere
männliche Agnaten. Sie können aber für den Fall, dass die
Wittwe mit ihrer Erlaubniss zu ihren Verwandten zurückkehrt,
dieser die Vormundschaft übertragen^ ^). Eine Pflicht zurUeber-
nahme der Vormundschaft besteht für die agnatischen Ver-
wandten des Verstorbenen nur den Söhnen gegenüber. Sind
sie zu arm^ um auch für die Töchter sorgen zu können, welche
aus dem Nachlasse nichts erhalten und darum ganz auf Kosten
der Vormünder ernährt werden müssten, so wird der Inkosi
Vormund der Waisen ^^). Diese Bestimmung hängt mit der
Stellung des Weibes bei den Amaxosa zusammen. Das Weib
steht rechtlich nur wenig über dem Vieh, es wird gekauft
und geerbt. Jenes Ablehnen der Vormundschaft über Mäd-
chen ist also nichts weiter als Dereliktion lästigen Eigen-
thums; die berufenen Vormünder sind hierzu befugt entweder
als Erben oder als Stellvertreter des oder der minderjährigen
Erben ^2). Dass dann der Inkosi die Vormundschaft über-
nimmt, hat seinen Grund in der Anschauung, dass er als
„Vater" des Stammes für seine Unterthanen sorgen müsse ^^).
Als solcher und als Repräsentant der Staatsgewalt hat er
das Recht, die Vormundschaft den Vormündern zu entziehen,
welche ihre Gewalt missbrauchen oder das ihnen anvertraute
Vermögen schlecht verwalten, und an deren Stelle andere
^«} Fritsch S. 108 f.
"^3 Lichtenstein I S. 438. — Bleek a. a. 0. S. 367. — Weber
II S. 218. — Nauhaus a. a. 0. XIV S. 210.
^°) Brownlee p. 117. — Dohne S. 21.
^0 Brownlee p. 117.
^2) Vgl. Erbrecht unten S. 48 f.
^3) Dohne S. 17.
lieber das Recht der Amaxosa, 43
Vormünder zu erneünen, welche mit den Waisen nicht ver-
wandt zu sein brauchen ^^).
Bei den Amaxosa finden sich also tutores legitimi, tutela
dativa und die Anfänge der Obervormundschaft.
Die Dauer der Vormundschaft ist bei beiden Geschlech-
tern verschieden ; bei den Knaben wird sie durch die Gross-
jährigkeit beendigt; bei den Mädchen währt sie bis zu ihrer
Verheirathung.
Einen Grossjährigkeitstermin kennen die Amaxosa nicht.
Bei der grossen Zahl Kinder, die der verheirathete Mann in-
folge der allgemein üblichen Vielweiberei hat, ist es natür-
lich — in Ermangelung von Civilstandsregistern — unmöglich,
das Alter derselben zumal in späteren Jahren genau zu kennen.
Wie fast alle Naturvölker richten sich daher die Amaxosa
nach der Entwickelung des einzelnen und bestimmen die Gross-
jährigkeit nach dem Eintritte der Pubertät, welcher bei ihnen
in die Zeit vom 14. bis zum 18. Lebensjahre fällt. Bei den
Amaxosa findet sowohl eine Jünglings- als auch eine Juugfern-
weihe statt. Die Knaben der benachbarten Kraals, welche
sich in der Pubertät befinden, werden zusammen der Obhut
eines besonders dazu ausgewählten Mannes (Inkankata) über-
geben und von diesem in einer beträchtlichen Entfernung von
ihrem Dorfe einige Tage lang abgeschlossen gehalten ; während
dieser Zeit nimmt der Inkankata an ihnen die Circumcision^^)
vor, ein Akt, welcher zum Eintritte in den Kreis der Männer
als unbedingt nothwendig gilt, so dass, wie ein Schriftsteller
sagt, ein unbeschnittener Greis, selbst im Alter eines Methu-
""') Brownlee p. 117.
^^) Dugmore p. 157 ff. — Warner p. 97 ff. — Lichtenstein
I S. 395. 425 ff. - Campbell S. 466. — Nauhaus a. a. 0. XIV S. 205.
— Dohne S. 25 ff. — Weber II 8. 218. Die üircumcision findet sich
auch bei den Ovaherero, Fritsch S. 235, und den Bechuana, Brownlee
p. 157; Holub, Sieben Jahre in SüdalVika, Bd. I S. 482 IT. Bei den
Zulus findet sie nicht statt, Fritsch S. 140.
44 Rehme.
salem, als Knabe betrachtet werden würde^^). Wenn die
Zeit ihrer Abschliessung beendigt ist, werden sie feierlich zu
Männern erklärt. Als solche geniessen sie die vollen Rechte;
u. a. sind sie von nun an heirathsfähig ; aber erst als ver-
heirathete Männer dürfen sie an den Volksfesten theilnehmen^'^).
Mit der Pubertät tritt auch das weibliche Geschlecht aus dem
Kreise der Kinder heraus. Die Ceremonien, die bei dieser
Gelegenheit vorgenommen werden (Intonjane) ^^), sind den
eben angeführten ganz ähnlich ^^). Die Intonjane unterscheidet
sich von der Jünglingsweihe nur durch ihren mehr „familiären
Charakter" ^^). Die ganze Bedeutung der Jungfernweihe liegt
darin, dass das Mädchen von dem Augenblicke an, in dem es
zur Frau (intombi) erklärt ist, heirathsfähig ist. Am öffent-
lichen Leben haben auch die Frauen nicht Theil^^); sie gelten
den Männern (den „grossen Leuten", abantu abakata) gegen-
über als „geringe Leute" (abantu abancinane); vor allem haben
sie keinen Zutritt zu den Gerichtsstätten und öffentlichen Ver-
sammlungen^^).
Eigenthum des einzelnen an Grund und Boden gibt es
bei den Amaxosa nicht ^^). Das gesammte bewohnte und be-
baute Gebiet steht im Eigenthume der einzelnen Inkosi, über
deren Ländereien der Ukumkani eine Art Territorialherrschaft
hat. Innerhalb eines Stammes aber darf jeder sich an einem
noch unbebauten Orte ansiedeln, d. h. durch seine Frauen
Hütten, Viehkraal und Garten bauen lassen, nach Dohne je-
doch nur mit Erlaubniss oder nachträglicher Bestätigung des
■'^) Warner p. 100.
'^') Dohne S. 25.
■^8) Warner p. 100 ff.
^^) Weber II S. 218 behauptet, dass auch bei den Miädehen die
Circumcision vorgenommen werde. Dasselbe berichtet Hol üb a. a. 0.
S. 482 von den Bechuana.
<=<>) Fritsch S. 111.
^^) Lichtenstein I S. 438.
«2) Dohne S. 24.
^3) Maclean p. 149.
Ueber das Recht der Amaxosa. 45
Inkosi^'^). Die landwirthschaftliche Thätigkeit^ welche bei allen
Abantii den Frauen obliegt ^^), wird durch den Inkosi ge-
regelte^). Veräussern darf der Occupant .auch sein bebautes
Land nicht; dies Recht steht allein dem Häuptling zu, auf
dessen Verlangen er Haus und Hof verlassen muss^^). Noch
bis zu Beginn unseres Jahrhunderts musste dem Inkosi ein
Zehnt vom Ertrage des Ackerbaues und der Viehzucht ent-
richtet werden. Er hatte ein Recht auf einen Theil der Ernte
und das Bruststüek jedes geschlachteten Rindes und auf der
Jagd erlegten Thieres^^).
Anderen aber als dem Inkosi gegenüber ist der Besitz
an Grund und Boden gesichert; niemand darf den Besitzer
vertreiben, ja er ist noch einige Jahre, nachdem er seine
Hütte verlassen hat, berechtigt, diese und das von ihm
bebaute Land von dem neuen Besitzergreifer zurückzufor-
dern^s) 70)^
Die Mobilien des Hirtenvolkes der Amaxosa bestehen fast
ausschliesslich in Vieh. Sie sind im Eigenthume des Privaten;
er darf sie veräussern und verpfänden, jedoch hat der Inkosi
ein unbedingtes Enteignungsrecht ^^).
Die wichtigste Rolle im Verkehrsrechte der Amaxosa spielt
der Frauenkauf oder richtiger der Tausch von Waare gegen
Waare, Frau gegen Vieh^^). Eine klagbare Verpflichtung zur
«^) S. 75.
«») Fritsch S. 79. 183. - Nauhaus a. a. 0. XIV S. 201.
^6) Nauhaus a. a. 0. XIV S. 202.
^0 Brownlee p. 119.
^^) Maclean p. 149. — Lichtenstein I S. 447. — Campbell
S. 479.
^^) Maclean p. 149. — Brownlee S. 119. 114. — Dohne S. 75.
— Nauhaus a. a. 0. XIV S. 211.
'*^) Also bereits ein Fortschritt gegenüber dem ursprünglichen afrika-
nischen Satze, wonach das Land dem possessor so lange gehört, als
er es bebaut, vgl. Post, Afrikanische Jurisprudenz II S. 168, Kohler,
Krit. Vierteljahresschr. N. F. XII S. 106.
'^) Vgl. Dohne S. 78.
'^) Vgl. die obigen Ausführungen.
46 ' Kehme.
ErtuUung besteht für die Parteien nicht; auch die Partei^ welche
ihrerseits bereits geleistet hat, hat kein klagbares Recht auf
die Gegenleistung. Jedoch steht dem Vater, der seine Tochter
dem Bräutigam ausgeliefert hat und den Kaufpreis von diesem
nicht erhält, die Möglichkeit offen, vom Vertrage zurück-
zutreten; allerdings muss er sein Recht durch Selbstbefrie-
digung herstellen und nöthigenfalls 'mit Hilfe seiner Ver-
wandten die Tochter in seinen Kraal zurückführen. Er
braucht sie übrigens dem Bräutigam nicht eher zu übergeben,
als bis dieser den Kaufpreis erstattet, hat vielmehr ein Zu-
rückbehaltungsrecht an ihr bis zur vollen Zahlung desselben,
es sei denn, dass Theilzahlung ausdrücklich vereinbart ist.
Ueber die Rechte des Käufers enthalten die Quellen nichts;
es ist wohl anzunehmen, dass ihm gegebenenfalls ebenso wie
dem Verkäufer das Recht der Selbstbefriedigung zusteht.
Die Töchter sind also wie das Vieh reines Verkehrsobjekt.
Daher bilden sie einen Bestandtheil des Vermögens des Vaters
und wird diesem auf die Hoffnung ihrer Verheirathung hin
kreditirt. Wir finden in dieser Hinsicht bei den Amaxosa
einen besonderen Gesellschaftsvertrag (Ubokolwane)^^) ; es ver-
einigen sich Leute, die einen grossen Viehbestand haben, mit
anderen, deren einziges Vermögen in einer Zahl Töchter be-
steht, derart, dass der Viehbestand jener unter alle Gesell-
schafter (Ikolwane) vertheilt wird, während die armen Gesell-
schafter ihre Töchter auf gemeinsame Rechnung zu verkaufen
suchen ^^).
Musste aber der Vater bereits vor Verkauf seiner Töchter
die Hilfe seiner Gesellschafter von neuem in Anspruch nehmen,
und kreditirten ihm diese nochmals, so werden ihnen hier-
durch die Töchter verpfändet; kann der Schuldner seinen
Verpflichtungen nicht nachkommen, so gehen die Töchter
ganz ins Eigenthum der Gläubiger über, und der Vater er-
") Dohne S. 84 f.
'^) Vgl. die allerdings spärlichen Angaben Döhne's.
Ueber das Recht der Amaxosa. 47
hält vom Kaufpreise nichts mehr, es sei denn, dass der er-
zielte Gewinn die geliehene Summe übersteigt.
Dem so Verarmten bleibt nichts weiter übrig, als sich
in Schuldknechtschaft zu begeben ; mit ihm kommen in Schuld-
knechtschaft seine Frauen, die früher noch nicht verpfändeten
Töchter und die minderjährigen Söhne ; der Gläubiger kann mit
ihnen nach Belieben handeln. Der Schuldknecht ist zwar
handlungsfähig, all sein Erwerb steht aber im Eigenthume
des Gläubigers, insbesondere auch nach seinem Tode. Ver-
pfändet ein grossjähriger Sohn sich selbst, etwa um den
Frauenkaufpreis sich zu verschaffen, den er von seinem ver-
armten Vater nicht mehr erbalten kann, so sucht er sich, wie
die Amaxosa sich ausdrücken, einen Vater, d. h. der gewalt-
frei Gewordene begibt sich wieder in fremde Gewalt, welche
allerdings nicht wie die des Vaters zeitlich begrenzt ist ; im
Uebrigen ist die Schuldknechtschaft der väterlichen Gewalt
sehr ähnlich ^^).
Was die Deliktsobligationen anlangt, so ist zunächst ein
jeder für den von ihm angerichteten Schaden verantwortlich,
vorausgesetzt, dass ihn ein Verschulden trifft ^^). Interessant
ist, dass der gute Ruf als Vermögensbestandtheil gilt^'^), dass
also z. B. Verleumdung zum Schadensersatze verpflichtet^^).
In zweiter Linie aber haften für Ersatz des Schadens die
nächsten Verwandten ^^), ein Princip , auf welches bei der
Untersuchung des Strafrechtes zurückzukommen ist.
In einem Falle findet sich die primäre, nicht bloss sub-
sidäre Haftung für Verschulden Dritter. Das Haupt des Kraals
ist nämlich für jeden Diebstahl, der an dem Eingebrachten
eines Gastes begangen ist, verantwortlich^^).
'^) Siehe die Andeutungen Döhne's S. 84 f.
'<') Warner p. 67.
'0 Dugmore p. 35.
') Uugmore p. 6b.
^) Brownlee p. 120. — Dohne S. 20.
') Warner p. 56. — cf. Dugmore p. 36.
^) Maclean p. 164.
48 Rehme.
Für Beschädigungen der Thiere hat deren Eigenthümer,
wenn er die Schadenszufügung nicht selbst zu verhüten suchte^
einzustehen. Eine Ausnahme greift bei Beschädigungen durch
Vieh Platz: wenn dieses Ländereien verwüstet, so ist ihr
Eigenthümer nie verantwortlich^^). Die ratio dieser Rechts-
regel scheint darin zu liegen , dass ein jeder Vieh und Län-
dereien hat, dass also ein jeder Beschädigungen seiner Felder
durch Vieh ausgesetzt ist, und dass eine Schadensersatzpflicht
in dieser Hinsicht zu unendlichen Verwickelungen führen
würde, denen das einfache Recht der Amaxosa nicht ge-
wachsen wäre.
Die Grundlage des Erbrechtes ^^) ist die Vertheilung des
Vermögens des Familienvaters unter die gelegentlich der Be-
sprechung des Eherechtes erwähnten drei Häuser. Erbfähig
ist nur das männliche Geschlecht. In jedem der drei Häuser
besitzt der älteste Sohn die Berufung.
Hat der Vater sein Vermögen unter die drei Häuser nicht
vertheilt, stirbt er so zu sagen ohne Testament, so ist sein
gesetzlicher Erbe der älteste Sohn der ^grossen Frau". Er ist
in der That Universalsuccessor ; auf der einen Seite gehen
auf ihn die Schulden des Erblassers über, auf der anderen
erhält er das gesammte Vermögen des Vaters, einschliesslich
der Frauen und Töchter; jedoch ist er verpflichtet, den väter-
lichen Hausstand weiter zu führen und für jene und seine
Brüder zu sorgen ^^).
Hinterlässt der Erblasser keine Söhne, so wird er beerbt
durch seine agnatischen Ascendenten und Collateralen, und
zwar hat der Vater ein Vorzugsrecht; nach diesem wird be-
rufen der älteste vollbürtige Bruder des Erblassers, dann die
81) Warner p. 67 f. — Brownlee p. 118.
82) Warner p. 71 ff. — Brownlee p. 116 ff.
8^) Das mag oft so geschehen, dass der Erbe sich mit den übrigen
Häusern durch Hingabe einer bestimmten Summe abfindet. Fritsch
S. 92. — Campbell S. 473 behauptet, der Erbe habe Jene Verptlioh-
tung nicht.
Ueber das Recht der Amaxosa. 49
ältesten Brüder desselben aus anderen Häusern, hinter diesen
der älteste vollbürtige Bruder des Vaters des Erblassers, in
Ermangelung dessen die Brüder des Vaters aus anderen
Häusern, u. s. w. Sind keine Agnaten vorhanden, so fällt
die Erbschaft unter Ausschluss jeglicher Erbfolge der Uterinen
an den Inkosi*^).
Das Erbrecht der Amaxosa ist also aufgebaut auf der
agnatischen Primogeniturordnung nach Parentelen mit
Vorzug der Vollgeburt vor der Halbgeburt.
Auch bei den Amaxosa hat einst die Blutrache bestanden;
das beweist, ganz abgesehen von der geschichtlichen Ent-
wickelung, der Umstand, dass Tödtung eines Mörders durch
die Verwandten des Gemordeten noch heute milder als Mord
bestraft wird^^). Ein Uebergang von der Blutrache zur Kom-
position scheint sich am Ende des vorigen oder am Anfange
dieses Jahrhunderts vollzogen zu haben. In jener Zeit standen
den Verwandten des Gemordeten beide Wege offen: sie konnten
von dem Rechte der Blutrache noch Gebrauch machen oder
sich mit dem Mörder vergleichen^^). Heutzutage sind aber
bereits öffentliche Strafen in Geltung, indem bei einer Zahl
von Verbrechen — den schwersten — der Inkosi als Re-
präsentant der Staatsgewalt als der Verletzte erscheint ; er leitet
infolgedessen das Verfahren ein, wozu in solchen Fällen kein
Privater berechtigt ist, und an ihn ist die Busse zu entrichten.
Bei anderen Delikten dagegen ist der Geschädigte selbst
Kläger und hat allein das Recht, die Komposition zu fordern ^^).
In welche dieser beiden Gruppen ein Delikt fällt, bestimmt
sich danach, ob es gegen eine Person als solche oder gegen
^*) Inwieweit Concubinensöhne berücksichtigt werden, erwähnen
die Quellen nicht. Vgl. Dugmore p. 45.
«^) Maclean p. 143 (query 34).
»^) Lichtenstein I S. 481.
^') Dugmore p. 34 ff. — Warner p. 57.
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. X. Band. 4
50 Rehme.
das Vermögen gerichtet ist^^). Hiernach unterliegen der Ver-
folgung und Bestrafung durch den Inkosi ausser denjenigen
Handlungen, durch welche er unmittelbar oder als Repräsen-
tant der Staatsgewalt angegriffen wird, Tödtung, Abortus,
Körperverletzung, Zauberei und einige Sittlichkeitsverbrechen,
mit welchen eine Verletzung der Person oder der mensch-
lichen Persönlichkeit verbunden ist (Nothzucht und wider-
natürliche Unzucht).
Zum Vermögen gehören ausser dem Viehbestande vor allem
Weiber und Hauskinder, so dass neben Diebstahl vornehmlich
Ehebruch und Verführung der Töchter als widerrechtlicher
Eingriff ins Eigenthum angesehen werden.
Auf das Willensmoment scheint man keine Rücksicht zu
nehmen ^^); nur bei dem Stamme der Gaika wird fahrlässige
Tödtung de jure nicht bestraft; jedoch fordert thatsächlich
auch hier der Inkosi häufig Sühne ^^). Auch andere Straf-
milderungs- oder Strafausschliessungsgründe kennen die Ama-
xosa nicht; nur in einem Falle ist die Nothwehr erlaubt, und
zwar in ihrer Funktion als Abwehr eines Angriffes gegen das
Vermögen; es ist nämlich straflos, fremdes Vieh, welches
Ländereien zu beschädigen droht, auf die Felder seiner Eigen-
thümer zu treiben ^^).
Für alle Verbrecher, die sich durch Flucht mit Hab und
Gut der Privatverfolgung oder der Vollstreckung des Urtheiles
entziehen, ist die Hütte des Inkosi ein Asyl. Bei Verletzung
des Inkosi selbst hat der Delinquent ein Asyl bei fremden
Häuptlingen, welche sich mit dem Inkosi, zu dessen Stamme
der Verbrecher gehört, derart vergleichen, dass sie die Kom-
position zahlen, während der Delinquent fortan zu ihrem
«8) Dugmore p. 35. — Warner p. 57. — Fritsch S. 96.
Weber II S. 222.
S9) Vgl. Warner p. 60.
»0) Brownlee p. 111.
»0 Warner p. 69 f.
üeber das Recht der Amaxosa. 51
Stamme gebort ^^). Auch das Grab des Inkosi und die Wobnung
der Wäcbter dieses Grabes sind Asyle ^^).
Strafverscbärfungsgründe greifen nur bei Sittlicbkeits-
verbrechen Platz. Ehebruch mit einer Frau des Häuptlings
wird schwerer bestraft als ein solcher mit anderen Weibern;
ebenso ist auf Sittlichkeitsverbrechen^ denen die Geburt eines
Kindes folgt^ eine härtere Strafe gesetzt ^''^).
Bezüglich der Theilnahme an Verbrechen ist zu bemerken,
dass Thäter, Mitthäter, Anstifter und Gehilfen gleichbestraft
werden. Blosse Begünstigung ist dagegen nicht strafbar ^^).
Was die Strafen ^^) anlangt^ so ist die regelmässige Strafe
die Busse, welche, wie schon erwähnt, in Viehstücken gezahlt
wird^^). Freiheitsstrafen finden sich gar nicht. Die Todes-
strafe , mit welcher stets Konfiskation des ganzen Ver-
mögens verbunden ist, kommt nur noch ausnahmsweise in
Fällen schwerer Zauberei vor^^). In den der britischen Herr-
schaft unterworfenen Stämmen darf aber heute wegen an-
geblicher Zauberei die Todesstrafe nicht mehr verhängt werden,
und jede sonstige etwaige Verurtheilung zum Tode muss vor
ihrer Vollstreckung dem Inspektor des Native Departement
unterbreitet werden, der sie jederzeit in eine andere Strafe
(Busse) umwandeln kann^^). Früher wurden Mord ^^^), Hoch-
verrath^^^), Ehebruch mit einer Frau des Inkosi ^^^), ferner
^^) Brownlee p. 119.
^3) Dohne S. 23 — cf. Brownlee p. 122.
^'*) Warner p. 63. — Brownlee p. 111.
^^) Dugmore p. 37.
®^) Dugmore p. 35 ff. — Warner p. 58. — Vgl. Nauhaus a. a. 0.
XIII S. 351.
9^ Fritsch S. 96. — Weber II S. 222.
9S) Brownlee p. 123.
^^) Weber II S. 221. Dies ist der einzige Fall, wo die britische
Regierung der Rechtsentwickelung vorgegriffen hat,
100) Weber a. a. 0. — Dohne S. 20.
101) Weber a. a. 0.
102) Dohne a. a. 0. .
52 Rehme.
der auf frischer That ertappte Dieb^*^^) und derjenige, welcher
einen Viehkraal oder Fluss, die beiden den Amaxosa unent-
behrlichen Dinge, verunreinigt ^^^'^), mit dem Tode bestraft.
Die Bestrafung der Tödtung befindet sich zu Anfang dieses
Jahrhunderts bereits in einem Uebergangsstadium ; die regel-
mässige Strafe war noch der Tod, jedoch konnte sich der
Verbrecher durch Zahlung einer Busse befreien ^^^) ^^^).
Körperstrafe findet sich nur bei Verletzung des Cere-
moniells durch die Wächter der eben beschnittenen Knaben ^^^).
Zu Beginn dieses Jahrhunderts wurde Diebstahl manchmal mit
Ruthenhieben bestraft ^^^).
Die Höhe der Busse bestimmt sich nach der Schwere
des Verbrechens und nach dem Range des Verletzten ^^^).
Konfiskation des gesammten Vermögens („Auffressen") tritt
bei Delikten ein, welche gegen den Häuptling begangen sind,
bei Zauberei und früher bei Diebstahl^ ^^). In allen Fällen
haften für Zahlung der Busse in zweiter Linie — wenn also
der Verbrecher sie nicht oder nicht ganz entrichten kann —
seine nächsten Verwandten ^^^). So muss z. B. der Vater
stets für Delikte seiner minderjährigen Söhne und unver-
heiratheten Töchter einstehen. Ist der Verurtheilte vermögens-
los, und sind auch seine Verwandten nicht im Stande, die Busse
zu zahlen, so wird ihm die Schuld vom Fiskus (d. i. dem
Inkosi) kreditirt, welcher ohne jede schriftliche Aufzeichnung
'03) Dohne S. 19.
10^) Lichtenstein I S. 479.
10^) Lichtenstein I S. 48L
^°^) Heutzutage ist an Stelle der Verwandtenbusse die öffentliche
Busse getreten, was eine bedeutende Steigerung der staatlichen Gewalt
Involvirt. D. B.
^®') Siehe oben S. 43 f. Jünglingsweihe, Brownlee p. 120.
108) Lichtenstein I S. 481.
109) Dugmore p. 36. — cf. Brownlee p. 123. — Maclean p. 144
(query 34).
110) Dohne S. 19.
111) Dugmore p. 36. — Warner p. 58. — Brownlee p. 118.
lieber das Recht der Amaxosa. 53
ein so gutes Gedächtniss haben soll, dass er selbst noch
20 Jahre nach Erlass des Urtheiles von dem in bessere Ver-
bältnisse gekommenen Schuldner die Komposition eingezogen
hatiV2).
Der Inkosi selbst steht über dem Strafrechte; jedoch ist
seine Bestrafung nur für Verbrechen ausgeschlossen, die er
in seinem eigenen Stamme verübt hat. Verletzt er einen In-
kosi oder dessen Unterthanen, so ist er der Strafgerichtsbar-
keit des Ukumkani unterworfen ^^^). Dieser wiederum hat
eine Schranke in der Gesammtheit seiner Inkosi^^*). Ob jenes
Vorrecht des Häuptlings auf seine Familienglieder auszu-
dehnen ist, darüber herrscht unter den Mitarbeitern an Mac-
lean's Werk Meinungsverschiedenheit^^^). Die Ansichten lassen
sich vielleicht dahin vereinigen, dass rechtlich die Delikte der
Familienglieder strafbar sind, dass der Inkosi aber in der
Regel von einer Bestrafung derselben absehen wird. In den
Fällen, in welchen die Busse an ihn selbst fallen würde, ist
dies klar, da er der alleinige Eigenthümer des Viehbestandes
ist, und so eine Bestrafung keinen Zweck hätte. Haben sich
dagegen seine Angehörigen einer Vermögensverletzung schuldig
gemacht, so würde er durch eine Verurtheilung derselben sich
selbst schädigen, auf der anderen Seite sich im Justizver-
weigerungsfalle einer Beschwerde beim Ukumkani aussetzen.
Hochverrath, Ungehorsam gegen die Befehle des In-
kosi ^^^) und Beleidigung desselben ^^'^) werden mit Konfiskation
des Vermögens bestraft.
Bei Bestrafung der Tödtung wird kein Unterschied ge-
macht zwischen Mord, Todtschlag und fahrlässiger Tödtung ^^^);
1
1
1
1
118
0 Dugmore p. 36 f.
'3) Vgl. Dohne S. 19.
^^) Warner p. 75.
'j w arner p. Vo.
^) Vgl. Warner p. 75. — Brownlee p. 112. p. 119.
^) Warner p. 73. — Brownlee p. 118.
0 Brownlee p. 123.
') Warner p. 60 ff,
54 Rehme.
bei dem Stamme der Gaika ist die letztere rechtlich zwar
straflos, thatsächlich aber wird sie von dem Inkosi oft be-
straft ^^'•^). Im Allgemeinen beträgt die Busse für einen ge-
tödteten Mann 1 , für eine Frau 10 Stück Vieh; bei dieser
ist die Summe wohl wegen ihres Tauschwerthes höher. Charak-
teristisch für den Rechtsformalismus des Naturvolkes ist es,
dass auch bei einem natürlichen Tode Busse zu zahlen ist,
es sei denn, dass derselbe dem Inkosi sofort gemeldet wurde,
und auf diese Weise die Vermuthung eines gewaltsamen Todes
die Begründung verliert. Kindesmord steht dem Morde eines
Erwachsenen gleich.
Abortus ^^^), obwohl bei den Amaxosa allgemein in Ge-
brauch, gilt trotzdem als schweres Verbrechen, welches, wenn
es zur Kenntniss des Häuptlings gelangt, mit einer Busse
von 4 — 5 Stück Vieh bestraft wird. Besonders erwähnt wird,
dass auch derjenige, welcher die Mittel dazu der Schwangeren
verschafft oder beibringt, der Bestrafung unterliegt. Abtreibung
der unehelichen Leibesfrucht oder Tödtung eines unehelichen
Kindes ist nicht strafbar, wenn der Inkosi die Genehmigung
dazu ertheiit hat.
Zauberei ^^^), durch welche Leib oder Leben eines Men-
schen bedroht ist, wird wie Tödtung bestraft. In schwereren
Fällen — wenn sie gegen den Häuptling gerichtet ist oder
über d en ganzen Stamm Unheil gebracht hat — tritt Kon-
iiskation des ganzen Vermögens oder Todesstrafe ein. Wer
sich für einen Intonga (Zauberpriester) ^^^) ausgiebt, ohne sich
in dem hierzu erforderlichen „krankhaften Zustande einer Ueber-
reizung des Nervensystems" ^^^)(ükutwasa)zu befinden, wird mit
dem Tode bestraft und „aufgefressen" ^^^).
119
) Brownlee p. 123. Vgl. oben allg. Theil.
120) Warner p. 62. — Brownlee p. 111 f.
121) Brownlee p. 122 f. — Fritsch S. 101.
122) Vgl. unten S. 62.
123) Fritsch S. 99.
124) Warner p. 79. Vgl. zu diesem Ausdrucke oben S. 52.
lieber das Recht der Amaxosa. 55
Körperverletzung^^^) ist nie straflos, auch nicht im Falle
der Nothwehr. Selbst der Verletzte wird bestraft, wenn seine
Schuldlosigkeit nicht klar erwiesen ist. Die Strafe beträgt
1 — 6 Viehstücke. Ist bei einem Auflaufe Blut geflossen, so
muss jeder Betheiligte 1 Stück Vieh zahlen.
Von den Sittlichkeitsverbrechen wird widernatürliche Un-
zucht ^^^) mit einer Busse von mindestens 5 Stück Vieh be-
straft. Blutschande ohne Ehe^^^) ist nicht strafbar; eine Ehe
dagegen zwischen Blutsverwandten muss aufgelöst werden und
wird an dem Manne hart geahndet.
Einen Uebergang zu den Delikten, bei welchen die Busse
an den verletzten Privaten fällt, bildet die Nothzucht^^^). Es
ist dies das einzige Verbrechen, bei welchem die Busse unter
den Inkosi und den unmittelbar Geschädigten (Ehemann, Vater
oder sonstigen nächsten männlichen Verwandten der Frauens-
person) getheilt wird. Die Strafe geht bis zu 4 Stück Vieh.
Verleitung einer unverheiratheten Frauensperson oder Wittwe
zum Beischlaf^ ^^) ist im Allgemeinen straflos; folgt aber die
Geburt eines Kindes, so kann der Vater eine Busse von
1 Stück Vieh verlangen. Das Kind gehört seinem natür-
lichen Vater, wenn dieser an den Vater der Mutter 2 — 4 Vieh-
stücke zahlt, es also so zu sagen aus dessen Familie auskauft.
Aehnlich ist die Bestimmung der alten Gesetze Irlands über
die Raubehe, wonach der Entführer kein Recht auf die im
ersten Monat gezeugten Kinder hatte, sie jedoch von der
Familie der Frau käuflich erwerben konnte ^^^). Bei den
Gaika findet sich wiederum eine Abweichung; es wird hier
die Verführung eines Mädchens mit einer Busse von 3 oder
4 Stück Vieh bestraft, bei Geburt eines Kindes härter. Andere
125) Warner p. 61 f. — Brownlee p. 111.
^'^^) Warner p. 62. — Brownlee p. 112.
1^0 Warner p. 62. — Brownlee p. 115.
128) Warner p. 62. — Brownlee p. 111 f.
129) Warner p. 63. — Brownlee p. 112.
13°) Kolller in dieser Zeitschrift Band V S. 363 f.
50 Rehme.
Fälle der Unzucht sind nicht straf har; gegen Zahlung von
1 Stück Vieh behält der natürliche Vater das Kind^^^).
Ehebruch 1^^)^ gleichfalls ein Verbrechen gegen das Eigen-
thum, wird nach dem Range des Mannes mit einer Komposition
von 1 — 4 Viehstücken belegt; wird ein Kind geboren, so steigt
die Busse bis zu 10 Stücken. Eine noch härtere Strafe tritt
ein bei Ehebruch mit einer Frau des Inkosi, ferner wenn der
Ehebrecher ein Unbeschnittener ist oder sich in der Zeit der
Jünglingsweihe befindet. Noch in der ersten Hälfte dieses
Jahrhunderts hatte der Mann das Recht, den in flagranti
ertappten Ehebrecher zu tödten^^^).
Von den übrigen Verbrechen gegen das Vermögen wird
nur der Diebstahl erwähnt ^^*). Falls der gestohlene Gegen-
stand dem Bestohlenen nicht unbeschädigt zurückerstattet
wird, ist der Werth der Sache zu ersetzen. Bei Viehdiebstahl
wird eine Busse vom Fünf- bis zum Zehnfachen der gestohlenen
Zahl auferlegt. Ist der Inkosi der Bestohlene, so koniiscirt
er das ganze Vermögen des Diebes. Hehlerei wird nicht
bestraft.
Besonders streng ist beim Diebstahl der Grundsatz der
Haftung der Verwandten für Delikte eines ihrer Angehörigen
durchgeführt. Es ist zur Erhebung der Klage auf jene Busse
nicht nöthig, dass die Person des Diebes ermittelt ist, es genügt
vielmehr, dass festgestellt ist, zu welchem Kraal er gehört ^^^).
Ferner zieht der Häuptling, wenn der Dieb kein Vermögen
besitzt, das gesammte Vermögen der Verwandten ein^^^).
Meineid als solcher ist straflos ^^'); concurrirt aber mit
133-
^^^) Brown lee a. a. 0.
132) Warner p. 63. — ßrownlee p. 111. — Weber II S. 220.
') ßrownlee p. 110. — Campbell S. 472.
13^) Warner p. 64 ff. — ßrownlee p. 112 f. — Maclean p. 143
(quer}' 33). — Lichtenstein I S. 436 f.
13^) Warner a. a. 0.
136) Maclean p. 143 (query 33).
137) Warner p. 58. — ßrownlee p. 124. — cf. Dugmore p. 164 tY.
Ueber das Recht der Amaxosa. 57
ihm Verleumdung^ so setzt sich der Verleumder abgesehen von
seiner Schadensersatzpflicht ^^^^) einer Strafklage aus^^*).
An der Spitze eines jeden Stammes steht ein Inkosi ;
mehreren Inkosi ist, wie schon oben erwähnt, gemäss der
geschichtlichen Entwickelung der einzelnen Stämme ein
ükumkani übergeordnet, welcher zugleich Inkosi seines
eigenen Stammes ist. Er hat, da ihm nur ein Entscheidungs-
recht der Streitigkeiten der selbständig regierenden Inkosi
zusteht, vor den Unterhäuptlingen nur einen Ehrenvorrang.
Die Würde beider ist erblich ^^^), und zwar geht sie auf den
ältesten Sohn der ,jgrossen Frau'' über ^*^). Ist der Thronfolger
beim Tode des Häuptlings noch minderjährig, d. h. noch nicht feier-
lich in den Kreis der Männer aufgenommen, so führt ein Kollegium
der ersten Beamten des Stammes (die Amapakati) die Regent-
schaft^*^). Der Ükumkani wie der Inkosi gelten als recht-
mässige Herrscher erst nach einer Huldigung seitens der In-
kosi bezw. des Stammes ^*^).
Die Einkünfte des Inkosi bestehen heute in Geschenken
der Stamm esanhörigen bei festlichen Gelegenheiten und vor
allem in der Busse für gewisse Verbrechen. Früher hatte er
das Recht auf einen Zehnt vom Ertrage der Feld- und Vieh-
wirthschaft und der Jagd^*^^).
Der Inkosi ist Gesetzgeber, Richter und Vollstrecker der
Urtheile^**). Wenn er auch rechtlich unbeschränkt herrscht,
so ist seine Regierung doch nicht despotisch ^'^^); einmal würde
137a) yg]_ oben S. 47. ^^^) Brownlee p. 120.
^39) Fritsch S. 92. — Dugmore p. 11 ff. 31. — Lichtenstein
I S. 396. — Maclean p. 141.
i-*») Vgl. oben S. 48.
1^1) Dugmore p. 26. — Nauhaus a. a. 0. XIII S. 349. - Da-
gegen Dohne S. 18.
1*2) Dohne S. 18.
1*^) Dugmore p. 28 f. — Maclean p. 142 (query 31). — Lichten-
stein I S. 477. — Nauhaus a. a. 0. S. 350 f.
^^^) Dugmore p. 32. — Lichtenstein I S. 474 ff.
1*^) Maclean p. 142 (query 27). Noch zu Beginn dieses Jahr-
58 Rehme.
er durch Grausamkeiten und grobe Ungerechtigkeiten seine
Unterthanen zur Flucht mit Hab und Gut zu anderen Häupt-
lingen veranlassen^ ^^) und sich so seiner Leute und damit
eines Theiles seiner Einkünfte berauben; dann stehen ihm,
wenn auch nicht rechtlich, so doch thatsächlich Rathgeber
(Amapakati) zur Seite, welche auf das Volk den grössten
Einfluss haben. Er ist zwar an deren Rath nicht gebunden,
wird jedoch in den meisten Fällen seine Entscheidungen in
Uebereinstimmung mit ihnen treflfen, um nicht Unzufriedenheit
in seinem Volke zu erregen. Das Amt der Amapakati ^*'^)
ist erblich; es geht auf den ältesten Sohn der „grossen Frau"
über^*^). Ist es durch erblosen Tod des Inhabers erledigt, so
wird von dessen Kraal ein Umpakati^^^^) gewählt, der sich durch
Tapferkeit und Klugheit auszeichnet^*^), und vom Inkosi be-
stätigt ^^^). Zu Anfang dieses Jahrhunderts war die Wahl
noch die regelmässige Besetzungsart. Wir haben zwei Klassen
der Amapakati zu unterscheiden. Vier bis sechs Amapakati
bilden einen ständigen Beirath des Inkosi ^^^); von den übrigen
steht je einer an der Spitze des Bezirkes, der ihn gewählt
hat. Diese zweite Gruppe hat von Zeit zu Zeit beim Inkosi,
am ^grossen Orte", zu erscheinen und über die Zustände ihrer
Distrikte zu berichten. Abgesehen von dem Falle der persön-
lichen Berichterstattung kommen die über das Land zerstreuten
Amapakati in unmittelbare Berührung mit dem Inkosi bei den
Volksversammlungen, welche dieser bei wichtigen Angelegen-
heiten beruft. Die Amapakati haben in denselben ein be-
hunderts hatte er das Recht über Leben und Tod seiner Unterthanen.
Lichtenstein I S. 478.
^'^) Dugmore p. 23 f.
1^') Dugmore p. 24 ff. — Maclean p. 141 f. (query 25). p. 142 f.
(query 32). — Lichtenstein I S. 480. — Fritsch S. 95. — Dohne
S. 15 f. — Weber II S. 220.
1^8) Dohne S. 21. ^^^^) Vgl. Anm. 9.
^^^) Dugmore p. 24.
^^0) Lichtensteiu I S. 474.
1^^) Dugmore p. 24 f. — Nauhaus a. a. 0. XIII S. 349.
lieber das Recht der Amaxosa. 59
rathende Stimme; das gemeine Volk (abantu abamnyama)
nimmt nur passiv theiP^^). Der Zweck der Volksversammlung
ist hiernach nur der, dem Volke den Willen des Inkosi gleich
nach seiner Entschliessung mitzutheilen. In dem dem einzelnen
ümpakati zugewiesenen Bezirke hat dieser den Inkosi zu
vertreten, besonders seine Befehle zu vollstrecken. Seine
Hauptfunktion ist aber die eines Richters erster Instanz. Da-
mit gelangen wir zum Prozessrechte.
Der einzige privatrechtliche Anspruch, der auf dem Wege
der Klage geltend gemacht werden kann, ist der Anspruch
auf Schadensersatz. Es ist daher natürlich, dass den Ama-
xosa der Unterschied zwischen Civil- und Strafprozess noch
unbekannt ist. Ein gerichtliches Verfahren wird ausser dem
Falle der Schadensersatzklage nur behufs Bestrafung von
Delikten eingeleitet, und zwar ist, je nachdem der Inkosi oder
ein Privater verletzt wurde, dieser oder jener Kläger ^^^). Der
Private erscheint nun als der Verletzte bei allen Handlungen
— mögen sie unter den Begriff des Verbrechens fallen oder
nicht — , welche gegen das Vermögen gerichtet sind^^"^). Ver-
mögen zur freien Verfügung hat aber nur der Hausvater.
Daher ist nur er als Hauptpartei partei- und prozessfähig.
Wegen des Interesses aber, das die männlichen Verwandten
beider Parteien, zumal des Beklagten, wegen ihrer Haftpflicht
für Zahlung der möglicherweise auferlegten Busse am Aus-
gange des Prozesses haben, betheiligen sie sich stets als
Nebenintervenienten. Die Ladung geschieht dadurch, dass
der Kläger und seine Verwandten vor die Hütten des Beklagten
kommen, diesem und seinen Verwandten die Klage vortragen
und sie zur Vertheidigung auffordern ^^^). Wird hier eine
15^) Dohne S. 15.
^^^) Es stehen daher dieEiitschädigungs- und die Privatkompositions-
klage sich gleich. Im Gegensatz dazu der Strafprozess, bei welchem der
Inkosi Ankläger und Richter ist. D. R.
154^ Vgl. die obigen Ausführungen im Strafrechte S. 49 f.
155) Dugmore, p. 38 f. — Warner p. 57 ff.
60 Relime,
Einigung nicht erzielt, so wird die Sache vor den Umpakati
gebracht ^^^), in dessen Bezirk der Beklagte seinen Wohnsitz,
und bei dessen Gericht er seinen einzigen Gerichtsstand hat.
Gelangt jener zu keiner Entscheidung, so muss er auf Antrag
der Parteien die Sache dem Inkosi unterbreiten, welcher in
diesem Fall also erste Instanz ist. Hat der Umpakati aber
ein Urtheil gefällt, so haben die Parteien das Recht der Ap-
pellation an den Inkosi ^^^). In einigen Fällen steht gegen
dessen Urtheil Berufung bei dem Ukumkani offen ^^^).
Die Haupteigenheit des Prozesses der Amaxosa ist die
ungünstigere Stellung des Beklagten, dehn er muss seine
Schuldlosigkeit beweisen ^^^). Er wie die Gegenpartei werden,
wie schon erwähnt, durch die gesammte beiderseitige Ver-
wandtschaft unterstützt; in der Regel ist jedoch die aktive Be-
theiligung am Prozesse auf beiden Seiten auf einige Wortführer
beschränkt. Erscheint eine Partei nicht, so kann dieselbe mit
Gewalt vorgeführt werden.
Das Verfahren ^^^) ist höchst umständlich. Ueber die
entlegensten Verhältnisse der Parteien werden Erhebungen
angestellt. Der Zeugenbeweis ist zwar allgemein in Gebrauch ;
da jedoch ein gerichtlicher Eid in unserem Sinne nicht be-
steht, so werden Lügen auf Lügen vorgebracht, und es ist
Sache des Richters, die materielle Wahrheit durch Kreuz-
fragen zu ermitteln. Gerade hierin besitzen die Amaxosa ^^eine be-
wunderungswürdige Gewandtheit" ^^^). Eide kommen, wenn auch
nur äusserst selten, im Prozesse vor; da aber Meineid nicht
^^^) Dugmore p. 38 f. — Maclean p. 142 (query 29); p. 143
(query 32).
^^^) Dugmore p. 41 ff. — Warner p. 59. — Dohne S. 19.
^^^) In welchen, lassen die Quellen dahingestellt. Dugmore p. 30.
- Vgl. Dohne S. 19.
^s9) Dugmore p. 37 ff. — Warner p. 58. — Weber II S. 222.
i'^ö) Dugmore p. 38 ff. — Warner p. 58 f. — Weber II S. 223.
— Dohne S. 15 f.
^^1) Fritsch S. 55. — Weber II S. 223 nennt sie „geborene
Disputanten".
Ueber das Recht der Amaxosa. 61
bestraft wird, haben sie keine grosse Bedeutung. Die Amaxosa
schwören, indem sie den rechten Arm und den Zeige- und Mittel-
finger nach vorn ausstrecken ; sie rufen als Zeugen für die
Wahrheit ihrer Aussagen in der Regel ihre Vorfahren an,
jedoch auch den Inkosi oder dessen Ahnen, „die grosse Frau^
des regierenden Häuptlings oder ihre eigene Mutter ^^^).
Was im Besonderen das Verfahren in der dritten Instanz
betrifft, so überlässt nicht selten der Ukumkani die ganze Be-
weisaufnahme den Amapakati und fällt selbst nur das Urtheil.
Die angeführten Sätze gelten auch für das Verfahren,
welches wegen Verbrechen gegen Leib und Leben eingeleitet
wird. Nur bilden nicht die Amapakati für ihre Bezirke die
erste Instanz. Da der Inkosi der Verletzte ist^^^), erhebt er
vielmehr selbst die Klage ; zugleich ist er mit dem ihn unter-
stützenden ständigen Beirathe einiger Amapakati in seiner
eigenen Sache Richter ^^^); die zweite Instanz bildet der
Ukumkani ^^^).
Die Vollstreckung der Urtheile steht in allen Fällen nur
dem Inkosi zu. Der Sieger im Prozesse darf den Verurtheilten
nie zur Zahlung der Busse bezw. zum Ersazte des Schadens
zwingen und auch der Umpakati hat, selbst wenn sein Urtheil
rechtskräftig geworden ist, nicht ohne Weiteres das Recht
der Exekution ^^^). Er muss vielmehr vom Inkosi förmlich
mit der Vollstreckung beauftragt werden. Nicht selten er-
^^^) Dugmorep. 164: „They take also to witness their Chief er some
great deceased Chief of his line, er sometimes their Chiefs great wife,
er their own father's daughter." Die letzten Worte wären schon an
und für sich ein sehr merkwürdiger Ausdruck für „Schwester"; dazu
ist es geradezu unerklärlich, weshalb die Amaxosa bei ihren Schwestern
schwören sollten. Wir haben es daher wohl mit einem Druckfehler zu
thun und müssen statt „daughter" „wife" setzen.
^^3) Vgl. Strafrecht S. 49 f.
^^^) Ueber den Schutz der Unterthanen vor Ungerechtigkeiten,
8. S. 57 f.
^^^) Dugmore p. 37. — Warner p. 57.
1^^) Warner p. 59.
(32 Rehme.
nennt der Inkosi besondere Exekutoren (Imisila), welche durch
den Sieger zu bezahlen sind^^^).
Besondere Regeln gelten für das wegen angeblicher Zau-
berei^^^) eingeleitete Verfahren. Dabei werden die Isintonga,
Zauberpriester oder Zauberpriesterinnen ^^^), verwendet. Diese
bilden eine besondere Kaste, zur Aufnahme in dieselbe ist
eine lange Prüfungszeit erforderlich ^'^^). Ihre Hauptfunktionen
sind die Vermittelung des Verkehres zwischen den Imishologu,
den Geistern der verstorbenen Vorfahren, und den Lebenden ^''^)
und die Aufspürung des der Hexerei Schuldigen. Bei dem
ungeheuer grossen Aberglauben, der sämmtlichen Abantu-
Völkern eigen ist^^^), wird Zauberei bei Unglücksfällen der
Menschen und des Viehs und bei grosser Dürre vermuthet.
Die Untersuchung ^^^), wenn wir so sagen dürfen, wird ge-
führt durch einen Isintonga; ehe sie eingeleitet wird, muss die
Erlaubniss des Inkosi eingeholt werden. Nachdem sich der
Isintonga in der Versammlung seiner Anhänger und der Mit-
glieder des beschuldigten Kraals und durch einen abenteuer-
lichen Tanz in eine gewisse Ekstase versetzt zu haben glaubt,
bezeichnet er ohne Weiteres den Schuldigen. Leugnet der
so Beschuldigte, so sucht man ihn unter den entsetzlichsten
Foltern ^^^) zum Geständniss zu bewegen; die Martern werden
so lange fortgesetzt, bis der Unglückliche gesteht oder stirbt.
Denn sein Geständniss soll des Zauberpriesters Ausspruch
nur bestätigen, welchen das Volk als unbedingt richtig aner-
kennt. Denn es schreibt den Isintonga die Gabe der Divi-
^^') Warner p. 57.
168) Yg\. Fritsch S. 98 ff.
^^^) Warner p. 79 ff. Früher scheinen Weiber regelmässig dazu
verwendet worden zu sein. Lichtenstein I S. 415.
^''^) ^ gl- ioi Strafrechte die Bestrafung falscher Zauberpriester.
^'') Fritsch S. 57.
172) Yg.] über die Zulus Fritsch S. 139, über die Bechuana
Fritsch S. 196 ff., über die Ovaherero Fritsch S. 198 ff.
^") Warner p. 88 ff. — Brownlee p. 123.
^'^) Lichtenstein I S. 416 f.
Ueber das Recht der Amaxosa. 63
nation zu. Auch bei den Amaxosa findet sich also eine Art
Ordalismus. Das Ordal, dessen eigentliches Wesen die „sin-
nenfällige Ueberführung" ^^^) des Beschuldigten ausmacht, hat
sich zu der Vision des Zauberers entwickelt, bei welcher die
Gottheit oder die über den Lebenden stehenden Wesen ^^^)
nicht durch äussere Ereignisse, sondern durch den Mund ihres
Auserkorenen die Wahrheit kund thun.
1^5) Kohl er in dieser Zeitschrift Band V S. 373 f.
^'^) Die Amaxosa kennen keine Gottheit, schreiben aber den Geistern
der Abgeschiedenen gewisse höhere Kräfte zu.
III.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay.
Von
Prof. Dr. J. Kohler.
Einleitung.
Das indische Recht gestattet den Gewohnheiten, insbesondere
auch den Dorf-, Distrikts-, Kastengewohnheiten die grösste Frei-
heit ^). Daher die äusserste Fülle von Gewohnheitsrechten.
Und doch wieder sehen wir den ausserordentlichen Einfluss
des indischen Kulturrechts: auch Stämme niederster Stufe
haben sich vielfach in Recht und Rechtssitten den Hindus
angeschlossen. So bieten uns die Gewohnheitsrechte zugleich
den lichtvollsten Kommentar über die Wirkungsweise und die
Geltung des officiellen indischen Rechts.
Die nachfolgende Darstellung der Gewohnheitsrechte
Bombay's beruht grösstentheils auf der Fülle von Materialien,
welche in dem Bombay Gazetteer niedergelegt sind ^). Die
mir zugänglichen Bände verbreiten sich über verschiedene
Gegenden der Präsidentschaft, wie folgt :
Band II handelt von Surat (bis p. 334) und von
B r o a c h (== Bharotsch).
Band III von Kaira (bis p. 180) und von Panch Mahal.
Band IV von Ahmedabad (^ Ahmadabad).
^) Vgl. darüber mein Altindisclies Processrecht S. IS.
^) Gazetter of the Bombay Presidency (Bombay 1877 — 86).
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 65
Band V von Cutch (bis p. 277) (= Katsch), Palan-
pur (bis p. 351); Mahi Kantha.
Band VI von Rewa Kantha (bis p. 170); Nahurot,
Cambay und den Suratstaaten.
Band VII von Baroda.
Band VIII von Kathiawar.
Band X von Ratnagiri (bis p. 384) und Savantvadi.
Band XI von Kolaba (bis p. 398) und Janjira.
Band XII von Kandesh,
Band XIII,, XIII^ und XIV von Thana.
Band XV , und XVg von Kanara.
Band XVI von Nasik.
Band XVII von Ahmadnagar.
Band XVIII,; XVIII^; XVIII3 von Puna.
Band XIX von Satara.
Band XX von Scholapur.
Band XXI von Belgaum.
Band XXII von Dharwar.
Band XXIII von Bijapur.
Band XXIV von Kolhapur.
Band XXV hat Naturwissenschaftliches.
Neben dieser ausserordentlich ergiebigen Sammlung; welche
im folgenden lediglich mit Band und Seite citirt wird; steht
folgendes :
2. Gazetteer of the Province of Sind (London 1876).
3. Selections from the Records of the Bombay
Government. No. VIII. New Series: Graham, Statistical
Report on the principality of Kolhapoor (Bombay 1854).
4. Idem XII New Series: Memoir on the Mahee Kanta
(Bombay 1855).
5. Idem XV New Series: Memoir and brief notes rela-
tive to the Kutsch State (Bombay 1855).
6. Idem XVI New Series: Howe, Tours for scientific
and economical research made in Guzerat Kattiawar and the
Conkuns fv. 1787/88] (Bombay 1855).
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. X. Band. 5
tj(3 Kollier.
7. Idem XXIII New Series: Sketches of the native
States linder the political agency in the Rewa Kanta (Bom-
bay 1856). P. I u. II.
8. Idem XXXVII New Series: Historical, geographica!
and Statistical memoirs on the province of Kattywar (Bom-
bay 1856).
Ausserdem wurden insbesondere benutzt :
9. Burton, Goa and the bhie mountains (London 1851).
10. Burton, Sindh (London 1851).
11. EUiot in der Ethnolog. Society of London, New Ser. I.
12. Gazetteer of South India by Pharoah and Co.
(Madras 1855).
13. Elphinstone, History of India.
14. Tod, Rajasthan.
15. Malcolm, Memoir of Central India (London 1823).
16. Herklots, Qanoon-e-Islam (London 1832).
17. Die Grihya-sütras: Cänkhäyana , Ac^valäyana,
Päraskara, Khädira nach Oldenberg's Uebersetzung in den
Sacred Books of the East XXIX.
18. Wilson, Glossary of judicial and revenue terms
(London 1855).
I. PersonenrecM.
§ 1.
Die Sc laverei als erbliche Personeneigenschaft war
unter den Peshwas in Dharwar und in Puna üblich (XXII,
463; XVIII, 2, 133); auch in Kolhapur^). DieSclaven wurden
mild behandelt, konnten auch frei gelassen werden.
Auch in Mala bar findet sich das Sclaveninstitut ; der
Sclave durfte nicht getödtet , aber körperlich gezüchtigt
werden, doch mit Mass; er war veräusserlich , doch war es
nicht üblich, die Frau von dem Manne, den Sclaven von seinem
3) Record of Kolliapur p. 163.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 67
Heimwesen zu trennen. Sie hatten ein Peculium , bekamen
namentlich einen Theil der Ernte ^^).
Im Innern, insbesondere in Malwa, gab es viele weib-
liche Sclaven, namentlich auch als Tanzmädchen : sie wurden
gekauft. Die Behandlung der Sclaven war meist gut^).
§2.
Dass das volle Mutter recht bei den Nairs in Mala-
bar besteht, ist eine bekannte, von dem Entdecker des Mutter-
rechts bereits gebührend hervorgehobene Thatsache ^). Zwar
heirathet die Frau, aber diese Ehe ist im Leben nicht ernst-
lich gerneint. Die Frau lebt mit ihrem Bruder zusammen;
unter den mehreren Schwestern leitet die älteste den Haus-
halt: die älteste der mehreren Schwestern, bezw. von den
mehreren Schwestertöchtern die älteste Tochter (nicht etwa
die Tochter der ältesten Schwester), denn das Altersvorrecht
bleibt nicht in der Generation konstant.
Die nächsten Zugehörigen des Mannes sind seine Neffen
(Schwestersöhne) : sie besorgen die Todtenopfer, sie beerben
ihn und die Mutter, soweit das Vermögen Sondervermögen
ist und nicht gemeinsames Hausvermögen.
Die Frauen haben freien Umgang mit Männern insofern,
als es ihnen stets freisteht , einen Mann aus ihrem Umgang
zu entlassen und einen andern zu wählen , aber immer nur
einen auf einmal. Das Verhältniss ist daher durchaus nicht
als poljandrisch zu bezeichnen ^).
In Nordmalabar findet sich die üebergangsform , dass
3a) Burton, Goa p. 225, 227, 228.
^) Malcolm II p. 199, 202, 204. Vgl. auch noch Elphinstone
p. 350.
0 Bachofen, Antiquarische Briefe I S. 216 f.
^) Vgl. auch Wilson, Historical Sketches of the South India III
p. 4 f., Elliot p. 119 f., Burton, Goa p. 213, 216 f., Gazetteer of
South India p. 509- 510.
C8 Kohler.
rechtlich die Mutterfamilie erhalten, taktisch aher das Mutter-
rechtahaus gehrochen wird, indem die Frau dem Manne folgt
(XV 1, 190).
Früher war es verhoten, den Söhnen etwas zum Nachtheil
der Neffen zuzuwenden; doch geschieht es jetzt, aber mit
Einwilligung der Neffen '^).
Dass hierbei die Namburibrahmanen eine besondere Rolle
spielen, ist gleichfalls bekannt und bereits durch Bachofen
hervorgehoben worden^). Von den Namburis pflegt nur
der älteste Sohn zu heirathen (nach Vaterrecht), dieser aller-
dings bis zu sieben Frauen; die jüngeren Söhne wohnen mit
den Nairweibern in der gedachten Weise : sie führen mit
ihnen temporäre Ehen nach Mutterrecht. Die Nair rechnen
sich dies zu grosser Ehre an ^) (XV, 1, 196).
Als ein Rest des Mutterrechts kann bezeichnet werden,
dass bei den Akarmashes in Thana der Knabe zwar der
Kaste des Vaters, das Mädchen aber der Kaste der Mutter
folgt (XIII, ], 143).
Wo ausnahmsweise nicht ebenbürtige Ehen, d. h. Ehen
mit einer Frau niederer Kaste stattfinden, da folgen die Kin-
der der letzteren, so bei den Rajputs in Kanara (XV, 1, 193).
Als Rest des Mutterrechts ist auch noch der Satz zu
betrachten, dass bei den Bhils in Panch Mahal der Um-
gang mit der Schwester des Vaters erlaubt ist, während
sonst der Incest mit Ausstossung bestraft wird (III, 222).
Ein Rest von Polyandrie findet sich bei den Bhils in
Panch-Mahal: der Umgang des älteren Bruders mit der
Frau des jüngeren ist nicht verboten (III, 222) ^^).
') Biirton, Goa p. 218.
«) A. a. 0. I S. 221 f.
^) Vgl. auch die soeben citirte Literatur.
^®) Vgl. auch Brihaspati XXVII, 20 (Sacred Books, Uebersetzung
Joll5'^s), welcher die Uebergabe der Braut an die Familie (d. h. an die
mehreren Brüder) als tadelswerthen Gebraucli bezeichnet. Vgl. auch
Zeitschr. VI S. 404 und die dort erwähnte Stelle aus Apastamba.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. G9
§ 3.
Vom Avunculat, d. h. von demjenigen Rechtszustande,
bei welchem der mütterliche Oheim das Haupt der Familie
war, finden sich noch deutliche Spuren. Bei den verschie-
densten Stämmen spielt der Avunculus eine besondere Rolle,
namentlich bei Eheabschluss, aber auch bei anderen mass-
gebenden Rechtsakten des Familienlebens, namentlich bei der
Haarschur.
So wirkt der Avunculus bei der Eheschliessung mit in
der Sitte der Saravats in Thana (XIH , 1, 84), der Patane
Prabhus in Puna (XVIH, 1, 312), der Halepaiks in Dhar-
war (XXn, 135), der Helavs in Bijapur (XXIII, 271) und
anderer. Die Mitwirkung des Avunculus ist eine verschiedene,
so mannigfach, wie die Ehegebräuche. Bei den Atti Vakkals
und den Ambigs in Kanara (XV, 1, 250, 304) verknotet
er die Kleider; ebenso bei den Kangaris (XV, 1, 374). Bei
den Gollars in Dharwar binden die Avunculi die kankans,
die Bänder, um die Handknöchel (XX, 202). Bei den Gujarat
Vanis in Bijapur legt der Avunculus der Braut das Mangal-
sütra, das glückbringende Halsband, an (XXIII, 106). Bei
den Jingars in Bijapur trägt der Avunculus die Braut in
die Halle, — doch können es auch andere Verwandte sein
(XXIII, 113); bei den Raddis in Puna wird die Braut durch
den Onkel zum Bräutigam getragen (XVIII, 1, 405). Auch
bei den Berads in Belgaum führt der Avunculus die Braut
(XXI, 164); bei den Deshasthbrahmanen in Kolhapur führt
er die Braut zum Altar, wo die Vorhangsceremonie stattfindet
(XXIV, 52); bei den Hanbars in Bijapur hält der Avun-
culus der Braut den Vorhang (XXIII, 108); bei den Ramoshis
in Puna steht er hinter der Braut (XVIII. 1, 419 f.). Bei
den Kunbis in Satara vollzieht der Avuncuhis die Uebergabe
der Braut, das kanyadan (XIX, 69); bei den Marathas in
Kolhapur vollbringt er die Handverbindung (XXIV, 77)^^).
0 Auch ein anderer Verwandter.
70 Kohler.
Nichts Seltenes ist es auch, dass der Avunculus des Bräuti-
gams mitwirkt, so bei den Lodhis in Puna (XVIII, 1, 400);
oder der Avunculus beider Brautleute, so bei den Pahadis in
Puna (XVIII, 1, 312), bei den Nhavis (XVIII, 1, 382).
Namentlich kommt es vor, dass bei der wichtigsten Ehescene,
der Vorhangscene, die Avunculi hinter den Brautleuten stehen ;
so bei den Jain Shimpis in Ahmadnagar (XVII, 101), bei
den Namdev Shimpis ebenda (XVII, 120), bei den Karan-
jikars in Scholapur (XX, 112); so auch bei den Sangars in
S a t a r a : hier stehen sie dahinter mit Dolchen in der Hand
(XIX, 94), bei den Jire Gavandis in Scholapur mit Lam-
pen in der Hand (XX, 90) '').
Eine andere Mitwirkung besteht darin, dass die Avunculi
die Brautleute auf ihren Schoos setzen ; so bei den Kunbis
in Satara (XIX, 69), bei den Mhars in Scholapur (XX,
179). Auch das findet sich, dass die Avunculi die Brautleute
in die Höhe heben und einen Tanz ausführen, einen Krieger-
tanz, der auf die Raubehe zurückführt; so bei den Kattais in
Ahmadnagar (XVII, 109), den Mochis, ebenda (XVII,
123), den Namdev Shimpis, ebenda (XVII, 126), wo bei dem
Tanze Kuchen aneinandergeschlagen werden; auch bei den Bhils
in Rewa-Kantha heben die Avunculi die Brautleute auf
die Schultern (VI, 31).
Mitunter nimmt der Avunculus des Bräutigams auch bei
der Verlobung Theil, so bei den Komtis in Bijapur, neben
dem Vater (XX, 59). Bei den Kunbis in Satara tritt die
Frau des Avunculus der Braut in den Vordergrund : sie und
die Grossmutter bekommen Kleider geschenkt (XIX, 67).
Ganz besonders bezeichnend ist es, wie in solchen Fällen
der Avunculus und der Vater abwechseln ; so bei den Sahadev
Joshis in Puna: Avunculus oder Vater (XVIII, 1, 462); bei
den Kunbis in Satara vollzieht der Avunculus das kanvadan
(oben S. 69), — in dessen Abwesenheit der Vater (XIX, 69).
^2) Lampen und Dolche wohl zum Vertreiben der bösen Geister.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 71
Wie bemerkt, wirkt der Avunculus nicht nur bei der
Eheschliessung mit, sondern auch bei anderen Akten: so bei
der Haarschur; der Avunculus setzt das Kind auf den Schoos
oder er nimmt ihm die ersten Haare ab. So bei vielen
Stämmen, z. B. in Puna bei den Kumbhars, den Patharvats,
den Salis, den Bhois, den Kanjaris, den Dhors, den Halikhors
(XVm 1, 350, 358, 363, 388, 429, 433, 438); in Scholapur
bei den Golaks, GJiisadis, Karanjkars, Panchals (XX, 29,
102, 106, 126); so bei den Berads in Bei g au m (XXI, 164),
den Mushtigers in Bijapur (XXIII, 135), den Yaklars und
den Ghisadis, den Kiriklets, Gavlis, Chih Kuruvinavars, ebenda
(XXIII, 175, 191, 199, 242, 261). Auch hier alternirt er
mit dem Vater: bei den Dasars in Bijapur: Vater oder
Avunculus (XXIII, 186), bei den Gujaratbrahmanen in Puna:
Vater oder Avunculus (XVIII, 1, 164); bei den Kamathis in
Puna ist es nur der Vater (XVIIl, 1,396), ebenso bei den Samvedis
in Thana (XIII, 1, 82) n. a. ^^). Auch bei der Ling-Cere-
monie (der Anlegung des heiligen Amulets) wirkt er mit,
so bei den Patta Salis in Dharwar: Avunculus oder Vater
(XXII, 174). Auch bei der Gürtungsceremonie spielt der
Avunculus nicht selten eine Rolle, wie dies unten (S. 73, 130)
zur Darstellung zu bringen ist.
Auch darin zeigt sich noch eine bedeutungsvolle Seite
des Avunculates, dass, wo die Frau gekauft wird, ein Theil
des Kaufpreises an den Avunculus fällt; so bei den
Uchlias in Puna: die Eltern der Braut erhalten 100 — 200,
der Avunculus 50 Rupees (XIII, 1, 472); so auch bei den
Korvis in Bijapur (XX [II, 204).
Dass dieses Auftreten des Avunculus kein zufälliges ist,
muss als sicher gelten: es ist sicher, dass er in der Familie
eine besondere Stellung einnimmt, und diese Stellung kann nur
auf Mutterrechtsgedanken beruhen: und da die Stämme, bei
^^) Bei den Bhils in Panch Mahal vollzieht es die Tante
{III, 220).
72 Kohler.
welchen eine solche Mitwirkung stattfindet, patriarchalisch, ja
agnatiach sind, so ist es ebenfalls sicher, dass die Stellung des
Avunculus das Residuum eines älteren Rechtssystems ist. Ob
dasselbe ein Ueberrest aus vorindogermanischer Zeit ist, oder
ob es von Urstämmen entlehnt wurde , lassen wir hier einst-
weilen dahingestellt; das ist eine Frage, die noch nicht völlig
reif sein dürfte. Das ist aber sicher, dass das Avunculats-
system älteren Datums ist, dass es als ein Residuum in die
agnatische Zeit hinein reicht, dass die Weltgeschichte vom
Mutterrecht zum Vaterrecht übergegangen ist, nicht umge-
kehrt, dass wir daher völlig in der Lage sind, beim Vater-
recht von „schon'' und beim Mutterrecht von „noch" zu
sprechen.
§ 4.
Von den obligatorischen Cousinehen, d. h. dem Rechts-
satze, dass Bruderssohn und Schwestertochter, oder noch
mehr: Bruderstochter und Schwestersohn einander von Rechts-
wegen zur Ehe bestimmt sind, finden sich mehrere Spuren ^^).
Bei den Komtis in Dharwar muss der Schwestersohn
die Bruderstochter heirathen (XXII, 131).
Bei den Shenvisbrahmanen in Kanara verspricht der
Bräutigam mit der Braut zusammen, dass ihre künftige Toch-
ter den Sohn der Schwester des Bräutigams heirathen werde:
also Bruderstochter und Schwestersohn. Ebenso bei den
Banjigs, ebenda (XV, 1, 162, 179); auch bei den Lads
Vanjaris in Nasik (XVI, 63). Dies scheint allerdings zur
Form geworden zu sein.
^*) Vgl. auch über derartige Gewohnheitsrechte das Rechtsbuch
Brihaspati (Sacred Books XXXIII, Uebersetzung Jollys) II, 29, XVII,
19, wo dies unter den verbotenen Gebräuchen angeführt ist. Vgl. ferner
in dieser Zeitschr. VIII S. 144 und die Nachweise von Weber in seinen
Indischen Studien X S. 75, 76. In der buddhistischen Legende findet
sich selbst der Fall der Geschwisterehe (unter Prinzen), Weber ib.
V S. 427.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bomba)''. 73
Eine ähnliche Formalität ist folgende :
Bei den Kimbis in Puna sagt die Tante des Kindes
nach der Geburt, wenn es ein Mädchen ist: dies ist meines
Sohnes Weib ; wenn ein Sohn, so hat die Mutter zur Tante zu
sagen : wecn du eine Tochter bekommst , so ist sie meine
Schwiegertochter : also Bruderstochter und Schwestersohn,
Schwestertochter und Bruderssohn (XVIII, 1, 296) ; ähnliches
gilt bei den Kunbis in Kolaba (XI, 55).
Eine weitere Formalität ist folgende :
Bei der Gürtungsceremonie verspricht der Avunculus
dem Jüngling, dass er ihm seine Tochter geben werde : also
Schwestersohn und Bruderstochter; so bei den Samavedis in
Thana (XIII, 1, 82), bei den Panchalis in Scholapur
(XX, 128) und so auch bei den bereits oben erwähnten Shenvis
in Kanara (XV, 1, 154).
§ 5.
Es ist ein bekannter Rechtssatz, dass, wenn Jemand nur
Töchter hat, die Familie dadurch fortgesetzt wird, dass die
Descendenz der Tochter wie eine Descendenz des
Sohnes gilt; d. h. es wird das Vaterrecht einen Moment bei
Seite gesetzt und das Mutterrecht hervorgeholt. Im indischen
Recht ist der Sohn der Putrikä putra, im persischen Recht
ist die Ehe die Yoganzan-Ehe ^^). Dieser Gedanke findet
seine eigenthümliche Ausprägung bei den allerdings niedrig
gekasteten Holias (Holayas) in Dharwar: wer nur Töchter
hat, widmet eine Tochter der Prostitution, er macht sie zur
Basavi, zum Tanzmädchen ; sie erhält die Eltern und sie und
ihr Sohn beerbt dieselben (XXII, 216). So auch die Holias in
Bijapur (XXIII, 216).
Der Mutterrechtsgedanke findet sich auch noch in anderen
residuären Formen. Bei den Kaikadis in Bei ga um, in Kan-
desch und in Bijapur hat der Schwiegersohn so lange bei
15) Zeitschrift III S. 396, Krit. Vierteljahresschrift N. F. IV S. 19.
74 Kohler.
den Eltern der Frau zu wohnen und ihnen zu helfen, bis er
drei Kinder hat; thut er es nicht, so muss er sie entschädigen
(XXI, 108, XII, 122, XXIII, 196); und bei den Korvis in
Bijapur verspricht bisweilen der Vater des Bräutigams dem
Vater der Braut zwei Söhne der Ehe^*^), oder an deren Stelle
eine Summe, von welcher aber die Hälfte an den Avunculus
fällt (XXIII, 204). Die agnatische Familie muss wiederum
die Mutterrechtsfamilie auskaufen.
Hiermit dürfte wohl auch noch der Brauch zusammen-
hängen, dass bei den Lamans in Ahmadnagar die Eheleute
2 — 3 Monate nach der Heirath im Brauthause bleiben
(XVII, 162).
§ 6.
Vom Frauenraub findet sich folgendes ^^) : Bei den
Naikdas in Panch Mahal kann sich die 16jährige Tochter
entführen lassen, worauf nachträglich den Eltern der ordent-
liche Frauenpreis, 16 — 50 Rupies, bezahlt wird (III, 225);
ebenso bei den Bhils in Panch Mahal (III, 221), und in Rewa
Kant ha: wenn hier der Frauenpreis nicht nachträglich be-
zahlt wird, so nimmt die Familie der Braut der Familie des
Entführers ein Mädchen oder ein Viehstück weg (VI, 31).
Bei den Bhrls in Kandesch wird besonders die Wittwenehe
in Gestalt der Entführung oder Scheinentführung eingegangen
(XII, 90).
Auch bei den Konds findet sich die Raubform ^'^^).
In Kathiawar bestand früher der Brauch, dass der Bräu-
tigam die Braut mit scheinbarer Waffengewalt heimführte;
er ist in Abgang gekommen ^^).
^^) Hier ist im Bericht ein offenbarer Druckfehler, es heisst: the
girl's father . . . makes the boy's father the promise . . .
17) Zeitschrift III S. 344, VII S. 227, VIII S. 91, 103, 144, IX S. 325.
1^0 Elliot, Ethn. Soc. p. 124.
1^) Record of Kattywar p. 34.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bomba5\ 75
Ausserdem haben sich noch einzelne Spuren erhalten.
Dahin gehört die Sitte^ dass Verwandte der Braut den Bräu-
tigam nicht über die Grenze lassen wollen^ bis er sie mit
Kokosnüssen und Betel beruhigt; so die Kunbis in Puna
(XVIII, 1, 304), und die Kunbis in Kolaba (XI, 60), ähn-
lich die Kunbis in Satara (XIX, 69). Ferner die Sitte in
Sindh, dass die Eltern der Braut zuerst die Anfrage ableh-
nen und sich erst bei einer zweiten Anfrage zu einer ver-
blümten Antwort herbeilassen^^).
Eine andere Reminiscenz ist in dem Gebrauch zu erblicken,
dass der Bräutigam vor dem Eintreten in die Brauthütte mit
einem Stock daran schlagen muss; so bei den Osval Marwaris
in Ahmadnagar (XVII, 80), bei den Lodhis in Kandesch
(XII, 70); oder dass vor der Hütte eine Holzsperre angebracht
ist, die er mit dem Schwerte berührt, so bei den Marvadis in
Kandesch (XII, 61). Ebenso reitet bei den Khatris in Katsch
der Bräutigam mit gezogenem Schwert zum Hause der Braut
(V, 49); in Sindh wird ein Dornstrauch in die Erde gesteckt
und der Bräutigam muss ihn mit einem Schwert durchhauend^).
Eine andere viel verbreitete Sitte kommt bei den niedrig-
stehenden Uchlias in Puna vor: die Braut verbirgt sich, der
Bräutigam sucht sie und trägt sie fort (XVIII, 1, 473) ; ähn-
lich bei den Kushasthalis in Kanara: die Braut verbirgt sich
und ein Knabe in Frauenkleidern setzt sich an ihren Platz
(XV, 1, 171); ähnlich bei den Banjigs, ebenda (XV, 1, 179),
aber auch bei den Shenvisbrahmanen , ebenda (XV, 1, 155).
Bei den Sonars (Goldarbeitern) in Kandesch verlassen
die Brautleute sofort nach dem Ritus das Brauthaus und die
Verwandten sehen die Braut drei Tage nicht (XII, 72).
Bei den Shenvisbrahmanen in Kanara darf die Braut
bei der Heimführung die Schwelle des Bräutigams nicht
betreten (weil sie in der Raubzeit mit Gewalt darüber getragen
wurde) (XV, 1, 155).
19) Burton, Sindh p. 262.
20) Burton, Sindh p. 272.
70 Köhler.
Bei den Bhils in Kandesch verlässt die Braut den Mann
nach fünf Tagen , geht ins Elternhaus und muss von neuem
geholt werden (XII, 99); ebenso bei den Raikaris in Thana
(XIII, 1, 176).
Ferner gehört hierher der Betelnussstreit: die Braut-
leute zanken sich um eine Betelnuss, einen Ring, eine Dattel
oder etwas ähnliches ^^): eine Art Wettspiel ; so bei den Kunbis in
Puna (XViri, 1, 306), Satara (XIX, 69, 70) ; bei den Lingayats
in Scholapur (XX, 80); bei den Deshasths in Kolhapur
(XXIV, 52), den Marathas, ebenda (XXIV, 77), den Shenvis-
brahmanen in Kanara (XV, 1, 155); so auch in Sindh^^).
Ferner die Sitte, dass der Bräutigam oder seine Ver-
wandten sich bei der Feier plötzlich beleidigt stellen,
davon gehen wollen und versöhnt werden : auch das erinnert
an ehemaligen wirklichen Streit und Hader, der beglichen wird ;
z. B. bei den Chitpavanbrahmanen in Puna (XVIII, 1, 135),
den Deshasths in Kolhapur (XXIV, 52), bei den Shenvis-
brahmanen in Kanara (XV, 1, 155). Bei den Raikaris in
Thana springt der Mann bei der Ehe auf, die Braut ihm
nach, dann bringt er sie auf seiner Hüfte zurück (XIII, 1, 176).
An den Frauenraub erinnert auch der Krieger tanz,
der, wie oben S. 70 erwähnt, von den Avunculi aufgeführt wird ;
ähnlich findet sich auch der Kriegertanz, indem zwei Männer
(nicht nothwendig Avunculi) die Brautleute auf sich nehmen,
bei den Kols in Ahmadnagar (XVII, 204).
Dahin gehört endlich die Sitte, dass der Bräutigam
thut, als ob er heimlich einen Hausgott raubt; er gibt
ihn dann gegen ein kleines Geldstück zurück : so bei den
Sangars in Satara (XIX, 94), bei den Marathas in Scho-
lapur (XX, 90).
Vielleicht hängt damit auch die seltsame Sitte der Abhir
in Kandesch zusammen, dass die Braut zwei Stunden vor der
-') Man denke an den deutschen Brautlaut'.
-2} Burton, Sindli p. 270.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 77
Ehe in Manneskleidern durch das Dorf reitet (XII, 53); sicher
aber die Rajputensitte, dass der Bräutigam der Braut Schwert
und Kleid schickt, Kathiawar (VIII, 120)23).
§ 7.
Bei manchen Stämmen ist noch der Frauentausch
vertreten: für eine Ehefrau eine andere Frau 2*); so bei den
Kadva Kanbis in Baroda: hat man keine Frau zum Gegen-
tausch, so gibt man entweder eine Geldsumme, oder man
verspricht zum Voraus die erste Tochter, welche aus der Ehe
mit der Braut hervorgeht (VII, 60).
Bei verschiedenen Stämmen ist der eigentliche Frauen-
kauf in Uebung^^), indem für die Frau eine oft ziemlich
erhebliche Summe an den Vater der Braut zu bezahlen ist; so
namentlich bei niederen Kasten, aber auch bei verhältnissmässig
höher stehenden. So werden bei den Samvedis (Brahmanen) in
Thana 200—1000 Rupees bezahlt (XIII, 1, 82), bei den Ha-
vigs (Brahmanen) in Kanara 500 — 1000 Rupees, bei den
Joshis ebenda 100—300 Rupees (XV, 1, 125, 134), bei den
Bavkule Vanis (Kaufleuten) in Kanara 20 — 200 Rupees
(XV, 1, 174), bei den Bhansalis (Kaufleuten) in Thana gar
500—2000 Rupees (XIII, 1, 109), bei den Telis 30—35
Rupees, bei den Bhats (Handwerkern) 20 — 25 Rupees (XIII,
1, 135. 141, vgl. auch VII, 64). So bezahlen auch die Gujarat
Vanis in Scholapur den Eltern der Braut beträchtliche
Summen; ebenso wird in Belgaum für die Braut eine
Summe bezahlt: bei den Kunbis (Landwirthen) 20 — 30 Rupees,
bei den Salis (Webern) 30 Rupees, bei den üppars (Sälzern)
40 Rupees, bei den Kolis (Fischern) 10 — 12 Rupees, bei den
Shikaris (Jägern) 40 Rupees (XXI, 120, 146, 149, 158, 176);
^^) Ueber die Raub form bei den Rajputen vgl. Zeitschrift VIII
S, 103.
24) Vgl. Zeitschrift VIII S. 112.
2^) Vgl. Zeitschrift VIII S. 145, VII, S. 227.
78 Kohler.
bei den Gosavis 80 Rupees, bei den (niedrig stehenden) Mangs
22— 30Rupees (XXI, 183, 195). Ebenso die (niedrig stehen-
den) Mhars in Ahmadnagar: 10—25 Rupees (XVII, 176)
und die Kols ebenda 15—30 Rupees (XVII, 203), die Kols
in Nasik 10 — 15 Rupees und Getreide (XVI, Gl). Ebenso
zahlen in Bijapur die Bhois 20 — 30 Rupees, die Helavs
20 — 30 Rupees; die Lamans zahlen Geld und Ochsen ^^)
(XXIII, 97, 271, 208). In Kanara zahlen die Chamgars
(Lederarbeiter) 16 — 64 Rupees, die Mukris 20 — 32 Rupees,
die Vaddars 30 Rupees und 100 Kokosnüsse, die Lambanis
100 Rupees und 4 Stiere (XV, 1, 357, 376, 348, 339). Die
Hatkars in Scholapur zahlen 50 — 500 Rupees (XX, 87), die
Kumbhars (Töpfer) in Puna 10—100 Rupees (XVIII, 1, 350).
In der Bettlerkaste in Janjira zahlt der Bräutigam 50 — 60
Rupees (XI, 415), die Panguls (Bettlerkaste) in Puna kaufen
sich ihre Frau (XVIII, 1, 460), die berüchtigte Klasse der
Uchlias zahlt 100 — 200 Rupees an die Eltern und (wie oben
S. 71 bereits bemerkt) noch 50 Rupees an den Avunculus;
die Tänzerklasse der Kalavants in Kanara kaufen sich ihre
Frauen aus den Kunbis (XV, 1, 323). So findet sich der
Frauenkauf ferner bei den Atti Vakkals und den Kangaris
in Kanara (XV, 1, 250), den Tambats in Kolhapur (XXIV,
99); auch dieVanjaris inKandesch geben 125 Rupees; dieBhils
in Rewa Kantha zahlen 60 — 80 Rupees, in Kandesch 10 — 20
Rupees (VI, 31; XII, 89), aber auch bis zu 60 Rupees (XII,
102) u. a. Auch die Ahirs und Babrias in Kathiawar zahlen
ihren Frauenpreis ^^).
Eine eigenthümliche Abstufung haben die Hatkars in
Belgaum; hier wird die Frau verschieden gewerthet nach
dem Alter, je nachdem die Frau unter 8, über 8 und bezw.
über 10 Jahre ist: darnach schwankt der Preis von 25 oder 30
^*) Ebenso die Lamans in Belgaum: 40 Rupees und 3 Ochsen
(XXI, 125).
^') Record of Kattywar p. 455.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 79
bis zu 100 Rupees; die Frau wird eben hauptsächlich als
Arbeiterin gewerthet ^s) (XXI, 137).
Mitunter wird den Verhältnissen Rechnung getragen;
ist der Vater der Braut arm, so bekommt er, ist er reich,
so gibt er. So bei den Kunbis in Satara: hier bekommt
der arme Vater 100 — 150 Rupees, während der reiche eine
Ausstattung von 50 — 100 Rupees gibt (XIX, 67); ebenso
bekommt bei den Telang in Scholapur der Vater, wenn
arm, 50 — 300 Rupees (XX, 41), bei den Patharvats in Satara
erhält der Vater, wenn arm, 40 — 50 Rupees als Aushilfe für
die Kosten der Ehe (XIX, 89).
Der Frauenpreis kommt regelmässig an den Vater der
Braut; dass ausnahmsweise ein Theil an den Avunculus fällt,
ist oben (S. 71) erwähnt worden; an die Mutter der Braut
ist die Summe zu zahlen bei den Bharvads in Katsch (V, 81);
an die Braut selbst kommt sie bei den Dasars in Bijapur
(XXIII, 186). Mitunter wird bestimmt, dass ein Theil des
Preises für Hochzeitskosten zu verwenden ist; so bei der
Bettlerklasse in Janjira: die Hälfte (XI, 415), so bei den
Kumbhars (Töpfern) in Puna (XVIII, 1, 350) u. a.
Das Abverdienen des Frauenpreises kommt mitunter
vor, aber selten; so bei den Shikaris (Jägern) in Beigau m
(XXI, 176), bei den Lamans, ebenda (XXI, 125), wo der
Dienst 2 — 3 Jahre dauert; auch in Dharwar finden wir das
Abverdienen (XXII, 330), auch bei den Kanaresen^^),
auch bei den Bhils in Rewa Kantha, wo der Bräutigam
schon während der Dienstzeit mit der Braut umgehen darf
(VI, 31); ähnlich bei den Bhils in Kandesch, wo diese
Dienstzeit 8 — 10 Jahre dauern sollte, aber gewöhnlich zur
Hälfte erlassen wird (XII, 98).
Dass, wenn der bedungene Preis nicht bezahlt wird, die
-^) Wesshalb hier auch oft eine erwachsene Wittwe theurer bezahlt
wird, als eine Jungfer,
29) Elliot, Ethn. Soc. p. 125; vgl. auch Zeitschr. VIII S. 113, 145.
80 Kohler.
Braut einem Dritten gegeben werden darf, findet sich bei den
Ghisadis in Scholapur (XX, 102).
Dagegen wird von den Mangelas (Fischern) in Thana
berichtet, dass sie keinen Frauenpreis bezahlen (XIII, 1, 147),
ebenso von den Pahadis in Nasik (XVI, 49); und bei der
herumziehenden Klasse der Vaidus in Ahmadnagar darf der
Vater nichts annehmen bei Verlust der Kaste (XVII, 214).
Auch die Uebergangsform, dass ein Theil des Frauen-
preises in Aussteuer zurückgegeben wird^^), ist bekannt; so
bei den bereits erwähnten Hatkars in Belgaum (XXI, 137);
bei den Bharvads in Katsch zahlt der Bräutigam der Mutter der
Braut 40 Koris und sein Vater erhält von dem Brautvater
5 Koris (V, 81); auch in Kolhapur findet sich Frauenpreis
und Aussteuer ^^).
Aber auch bei anderen Stämmen ist es üblich, dass die Braut
eine Ausstattung mitbekommt ; so bei den Marwadibrahmanen in
Nasik (XVI; 43), bei den Komtis, den Karanjkars in Scho-
lapur (XX, 59, 110), und namentlich bei den Marathas in
Kolhapur, wo desshalb manche Töchter ledig bleiben
(XXIV, 73).
Bei den Rajputen in Kathiawar bringt je nach dem
gegenseitigen Vermögen entweder der Bräutigam eine Summe
oder die Braut eine Mitgift (VIII, 121).
Bei den Shenvisbrahmanen in Kanara gibt der Bräuti-
gam der Braut ein Stridhana, der Vater der Braut dem Bräu-
tigam eine Gabe (XV; 1, 155).
In das donatorische Stadium ist der Kauf übergegangen
bei Koshtis in Kolhapur: hier erhält der Vater der Braut
ein Geschenk, ausserdem bestreitet der Bräutigam die Kosten
der Hochzeit (XXIV, 95). Vgl. auch noch unten S. 103 f.
Bei den Islamiten erfolgt die Stipulation des mahr^^);
^') Vgl. auch Zeitschrift III S. 346, VII S. 228, VIII S. 91.
3^ Record of Kolhapur p. 168.
32) Rechtsvergleichende Studien S. 28 f., Herklots p. 135.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 81
z. B. in Puna (XVIII, 1, 487), in Kanara (wo ein mahr
von 5 — 1000 Rupees zugesagt wird, XV, 1, 406), in Sindh^^);
bei den (wohl im sechsten Jahrhundert eingewanderten) Juden
in Puna ist die Verschreibung der Ketuba (XVIII, 1, 520)
üblich.
Doch gibt es auch islamitische Stämme, bei welchen der
Vater des Bräutigams dem Brautvater, wenn dieser arm ist,
Geld verspricht, welches zur Bestreitung der Hochzeit ver-
wendet werden soll, z. B. in Satara (XIX, 129, 144).
§ 8.
Von der Leviratsehe sind wenige Spuren nachzu-
weisen ^*). Bei den Bharvads in Kathiawar hat der jüngste
Bruder des Mannes ein Vorrecht auf die Wittwe, die wieder
heirathen will (VIII, 138); bei den Ahirs in Katsch heirathet
der jüngere Bruder die Wittwe des älteren (V, 80) ; auch bei
den Vanjaris in Thana soll dieses vorkommen (XIII, 1, 132);
bei den Kathis in Kathiawar (VIII, 127) findet die Wittwen-
ehe meist nur mit dem jüngeren Bruder des Mannes statt;
ebenso bei den Mhars in Kandesch (XII, 116); bei den
Charans Vanjaris in Kandesch gehört die Wittwe ohne wei-
teres dem nächsten Bruder oder sonst dem nächsten Ver-
wandten (XII, 112); bei den Khols in Rewa Kantha hei-
rathet der jüngere Bruder die Wittwe des altern; doch kann
sie sich loskaufen und einen andern Mann heirathen, indem
sie die Heirathskosten ersetzt (VI, 33)^^).
3^) Burton, Sindh p. 268.
^*) Ueber solche Verhältnisse vgl. auch das Rechtsbuch Brihaspati's
(üebers. Jolly's in den Sacred Books XXXIII) II, 31, XXVII, 20, wo dieser
Brauch als tadelnswerth erklärt wird. Vgl. auch Zeitschrift VII S. 229 f.
VIII S. 145.
^^) Vgl. auch Jellinghaus, Die Kohls in Ostindien (in der All-
gemeinen Missionszeitschrift I) S, 108, wo bestätigt wird, dass der
Bruder die Wittwe und die Töchter des Verstorbenen mit all ihrer Habe
zu sich nimmt.
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. X. Band. Q
82 Kohler.
§ 9.
Das Kastenwesen mit der Wirkung, dass Niemand
ausserhalb der Kaste heirathen darf, ist allüberall verbreitete^).
Häufig haben sich die Kasten in Unterabtheilungen gespalten,
welche entweder den Lebonsverkehr unt(?r sich aufrecht
erhalten oder sich wiederum gegenseitig abschliessen.
Der Kastenuuterschied beruht auf ethnographischer oder
religiöser Grundlage , oder auf der Grundlage des Lebens-
erwerbes, der Gemeinsamkeit des Handwerks oder Lebens-
berufes. Von religiöser Seite waren insbesondere kastenbildend
die Secten der Jainas und der Lingayats, die sich aber wieder
in verschiedene Untersecten gespalten haben, namentlich die
letzteren, welche in Verbindung mit dem Brahmanismus ver-
schiedene Mischlehren und Mischkulte bildeten.
Ethnographisch kommen die verschiedenen Ureinwohner
kolarischer und dravidischer Race in Betracht, die aber wieder
vielfach gemischt sind. Die Abtheilung nach Berufsklassen
ist die wichtigste; sie bleibt bestehen, wenn auch die Geschäfts-
wahl in der Familie nicht immer eine stetige bleibt; so kommt
es vor, dass Handwerker oder herTimziehende Hausirer als
Arbeiter eintreten oder sich zum Landbau verstehen e^).
Niedere Klassen recrutiren sich vielfach aus solchen, die
aus den höheren Kasten Verstössen worden sind; z. B. die
Kalavants, die Saibs in Kanara (XV, 1, 321, 325).
Die altindischen vier Klassen der Brahmanas, Kshatriyas,
VaiQjas und Sütras ^^) bilden nur den äussersten Rahmen für
^•^3 Schon Alberuni (aus dem 11. Jahrh.) besagt, dass zu seiner
Zeit Bralimanen nur noch in der eigenen Kaste heiratheten , obgleich
das Gegentheil ihnen nicht strikt verboten sei (Alberuni, India über-
setzt V. Sachau II p. 156).
'^) Vgl. auch Seh moller in seinen Jahrb. f. Gesetzgebung, Vor-
waltung und Volkswirthschaft N. F. XIV S. 92 f.
3«) Vgl. Zeitschrirt III S. 368 f.: vgl. auch VIII S. 92, 116, Vll
S. 232 l'.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 83
die jetzige Klassentheilung, und auch diesen nur unvollkommen.
So haben beispielsweise die Brahmanen in Baroda 84 Kasten,
welche nur in sich heirathen (VII, 52^ 53). Die Krieger-
kasten haben sich im Laufe der Zeit neu gebildet; so sollen
namentlich die Kriegerklassen in Baroda hauptsächlich
von Ministerialen der Rajputen stammen (VII^ 57). Auch
die Vai^yas oder Vanias haben sich in eine Unzahl von Klassen
getheilt mit dem Verbot der Zwischenheirath; dazu kommen ver-
schiedene Handwerkerklassen^ welche die Art der Zweigebornen,
insbesondere die Gürtungsceremonie angenommen haben. Die
Landleute zerfallen wiederum in eine Unzahl von Kasten-
gemeinschaften, und darunter stehen die niederen Klassen, die
Gaukler, Hausirer, Gerber, die Kolis, Bils u. s. w.
Uebrigens ist es auch vorgekommen, dass Unterklassen
sich nachträglich wieder verschmolzen haben; so in Kanara
(XV, 1, 171).
Auch die niedrigen Kasten, z. B. die Mhars, die Vanjaris
halten streng auf Einhaltung der Kastengrenze, nicht nur
bezüglich der Ehe, sondern auch bezüglich des sonstigen
Lebens Verkehrs; ihre Sanktion ist: Ausstossung aus der eigenen
Kaste (XIX, 112, XVIII, 1, 428, XXIV, 112).
Manche Kastenabtheilungen sind zwar nicht gegenseitig
exogam, sie gelten aber doch als höher oder niedriger, so dass
ein Mann der höheren Abtheilung zwar eine Frau aus der
niederen Abtheiiung holt, sich aber dafür bezahlen lässt; so
verhält es sich mit den Maratha Kunbis gegenüber den Thal-
heri Kunbis in Thana (XIII, 1, 128).
Die Rajputen in Kanara heirathen mitunter in eine
niedere Kaste, dann aber gehören die Kinder der niedrigen
Kaste an (XV, 1, 193)3 9).
.Von besonderem Interesse ist es aber, dass auch die
islamitische Bevölkerung sich vielfach in Klassen theilt,
welche nur in sich heirathen *^). Es ist dies theils so,
^^) Vgl. auch Malcolm 11 p. 129 f.
^") Wie auch in Bengalen, Zeitschrift IX S. 323.
84 Kohler.
dass die eingewanderte muhamedanische Bevölkerung die in-
dische Art angenommen , theils so, dass die einheimische Be-
völkerung bei ihrer Bekehrung ihre indische Art beibehalten
hat. Viele sog. islamitische Stämme folgen auch nur theil-
weise dem islamitischen Ritus, indem sie etwa die Beschneidung
und einige andere Gebräuche angenommen , im übrigen aber
nicht von der indischen Art gelassen haben.
So ist es begreiflich, dass die islamitischen Gemeinden sich
theilweise als ein ungetrenntes Ganze gestalten mit voller Ge-
stattung der Zwischenehe, dass es aber andererseits eine Reihe
islamitischer Gemeinschaften selbstständigen Charakters gibt,
die, wie die Hindus, nur in sich heirathen. Mitunter hat
diese Abtrennung übrigens auch eine religiöse Bedeutung,
indem manche Gemeinschaften besondere Sekten bilden.
So ist es bei den Moslims in Scholapur: viele Abthei-
luugen heirathen unter einander; andere heirathen nur in
sich : dahin gehören auch die Bohoras, welche eine schiitische
Diaspora in dem Bereich des sonst durchaus sunnitischen
Islams bilden (XX, 196, 202—206). Aehnlich in Baroda
(VII, 70), in Kolaba (XI, 78), in Thana (XIII, 1, 222, 234,
237, 238, 239, 241, 243, 244), in Belgaum (XXI, 20 —226);
in Puna (XVIII, 1, 494, 496, 497, 498—505), in Satara
(XX, 124), in Kolaba (XI, 84, 85), in Kolhapur
(XXIV, 144, 151), in Bijapur (XXIII, 282, 290 f.
294 f.). In Dharwar heirathen 9 Klassen unter einander,
25 Klassen nur in sich selbst (XXII, 222); in Ahmad-
nagar sind 17 Klassen gemeinsam, 18 schliessen sich ab
(XVII, 222).
Die Kastensonderung wird verworfen von den Lingayats
(vgl. XXIII, 227)^^) und namentlich von den Jains (vergl.
XXIII, 281): sie gehen von dem Princip der Gleichheit aller
^^) Die Lingayats, auch Jangams oder Vira-Qaivasekte, im 12. Jahr-
hundert von Bäsava gegründet. Vgl. auch Wilson (Brown) p. 312.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 85
Menschen aus^ welches bekanntlich auch ein Hauptprincip des
Buddhismus ist^^).
§ 10.
Die Kinder aus Wittwenehen sind bei manchen Stäm-
men etwas zurückgesetzt, entsprechend dem Gedanken, dass
der Makel der Verbindung den Kindern anklebt. Bei den
Kunbis in Puna bekommen die Kinder der Wittwenehe keinen
so grossen Vermögenstheil, als die Kinder erster Ehe (XVIII,
1, 307); bei den Bedars in Bijapur gilt gar der Rechtssatz,
dass Wittwenkinder nur Wittwenkinder heirathen sollen
(XXIII, 94).
Noch mehr treten vielfach die unehelichen Kinder in der
Kaste zurück und bilden eine niedere Klasse, so dass sie
nur unter sich, nicht mit der übrigen Kaste heirathen; so
bei den Kolhatis in Nasik und Satara (XVI, 55, XIX, 119)
und bei den Pardeshis in Scholapur (XX, 162). Bei den
Kols in Ahmadnagar aber werden sie in die Kaste aufge-
nommen, wenn der Vater 40 — 60 Rupees bezahlt (XVII, 208).
Bei den Salis in Belgaum werden die unehelichen Kinder
der Wittwe zur Prostitution verkauft (XXI, 146^ 147).
Bei manchen Stämmen dagegen sind die Kinder der
Prostituirten vollberechtigt; so bei den Kolhatis in Belgaum,
bei den Holayas in Dharwar (XXI, 170, XXII, 217), bei
den Bhils in Ahmadnagar (XVII, 193); bei den Kolhatis in
Kandesch (XII, 123) steigen wenigstens ihre Kinder wieder
in die ursprüngliche Kaste auf.
§ 11.
Die Stämme Bombay's bilden nach dem indischen System
agnatische Gotras (Bedags, Kuls)"^^) mit Exogamie '^^).
*^) Die Verwandtschaft der Jainalehre mit dem Buddhismus bedarf
keiner besonderen Hervorhebung.
^^) Kul ist eine Gesammtheit.
^4) Zeitschrift III S. 362, VII S. 233. Vgl. auch Gobhila bei
Weber, Indische Studien X S. 75.
86 Kohler.
Dio Ehe darf nie innerhalb des Gotra erfolgen. Dieser Gotra
wird häufig durch einen gemeinsamen Geschlechtsnamen^^)
charakterisirt, und wo der Zuname den Charakter des Ge-
schlechtsnaraens hat^ da geht der Satz: man darf nicht in
den Gotra heirathen^ in den andern Satz über: man darf nicht
in den Geschlechtsnamen heirathen. Vielfach aber haben die
Gotras keine Zunamen, vielfach sind die Zunamen der Familie
nicht Geschlechts-, sondern Localnamen, oder willkürliche
Ruf oder Unterscheidungsnamen '^*') : hier hat natürlich die
Gleichheit des Namens keinen Bezug auf die Ehe.
Stämme, welche keine Geschlechtsnamen und höch-
stens gewillkürte Zunamen haben, sind beispielsweise in Bija-
pur: die Gujarat Vanis, Kabligers, Raddis, Shetiyars, Shimpis,
Ganigs, Koshtis, Kuruvinshettis, Nadigs, Nilgars, Chik Kuru-
vinavars, Guravs, Hattkars, Helavs (XXIII, 105, 113, 145,
160, 164, 240, 245, 252, 254, 257, 259, 265, 267, 270); in
Dharwar die Sarvarias, Savvasi (Kaufleute), Komtis, Hale-
paiks (Landleute), Haslars, Kamatis, Kudava Kaligars, Mala-
vars, Rajputs, Badiges (Zimmerleute), Gavandis (Maurer),
Hugars (Blumenverkäufer), Kammars (Schmiede), Kumbhars
(Töpfer), Lad Suryavanchis (Metzger), Medars (Korbmacher),
Nagliks (Färber), Sanadi Koravars (Musikanten), Patta Salis,
Kurubar gurus, Kshetridasas (Bettler), Mangs, Mochigars
Samagars (XXII, 96, 97, 121, 130, 134, 135, 136, 137, 140,
144, 145, 146, 147, 151, 154, 156, 157, 158, 162, 173,
182, 207, 218, 219, 221); in Puna die Badhais, Pardeshis
Halvais, Shimpis (XVIII, 1, 314, 338, 368); in Scholapur
die Panchals, Shikaris, Chambhars (XXI, 144, 176, 191); so
auch in Kanara die Halepaiks, Chaudris, Harakantras, Pagis,
Kannad Kalavants, Konkani Madivals, Telugu Kelasis, Bandis,
Devlis (XV, 1, 284, 294, 306, 313, 324, 327, 331, 333, 334)
u. s. w.
^'*) Vgl. auch Elphinstone p. 354.
^'^) Vgl. Elphinstone p. 354 f.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 87
Manche Stämme haben in den letzten Jahrzehnten Zu-
namen angenommen, aber dann meist nach Stand oder
Wohnort, ohne geschlechtsbezeichnende Qualität; z. B. die
Mogers in Kanara (XV, 1. 312), die Patane Prabhus in
Puna (XVIII, 1, 193). Die Kunbis in Puna haben unvoll-
kommene Geschlechtsnamen, indem sie (nach der Art so vie-
ler Völker) den Vatersnamen beifügen : Sohn des V. (XVIII,
1, 285).
Es gibt auch Stämme , bei welchen einige Gentes Ge-
schlechtsnamen, andere nur Berufsnamen oder Localnamen
haben; z. B. die Deshasths in Scholapur (XX, 26).
So hat also der Name nicht immer unterscheidende, aus-
zeichnende Bedeutung.
Dagegen tritt vielfach noch ein anderes Element ein: der
Totemismus^^): die Gotras haben vielfach ihren Totem, ihren
devak^^), ihr Pflanzen- oder Thierzeichen , ihren Pflanzen-
oder Thiergott. So sind die Devaks der Marathaclans in
Ko 1ha pur Kriechpflanzen, Banyaneirbaum , Lotusblumen,
Sonnenblumen, Pfauenfedern, die Schneide eines Schwertes
(XXIV, 414); bei andern Stämmen ist es der Panchpalvi, d. h.
ein Gebinde von fünf Blättern verschiedener Bäume (XVIII, 1,
462); bei den Thalheri Kunbis in Thana ist es ein Baum, ein
Stein, oder ein Ameisenhaufen (XIII, 1, 125).
Der devak geniesst seinen Kult; die Familie schont den
Baum (d. h. die Baumart), welcher ihren devak bildet: er
ist ihr Behüter, ihr Lebensbaum; so darf bei den Ramoshis
in Puna die Familie nicht von der Frucht des Familiendevak
gemessen (XVIII, 1, 410).
Der devak ist das Zeichen des Gotra, er ist daher agna-
tisch und vererbt sich agnatisch; es verhält sich mit ihm
ähnlich, wie mit der Familienflagge und mit der Farbe des
*') Ueber den Totemismus in Bengalen, vergl. Zeitschr. IX S. 360.
Bezüglich der Gonds vgl. Zeitschr. VIII S. 145.
^s) Devaka = Gottheit.
88 Kohler.
Pferdes, welche vielfach die Familie kennzeichnet, z. B. bei
den Talheri Kunbis in Thana (XIII, 1, 125); der Totemis-
mus ist daher nicht ein neues Institut, welches den Gotra
kreuzt, sondern ein Institut, welches aus der gemeinsamen
Verehrung, dem gemeinsamen Kultus des Clans hervorgeht
und diesen Clan kennzeichnet.
Solche devaks finden sich in den verschiedensten Gebieten
der Bombayprovinz: bei den Konkani Kunbis und den Gabits
in Kanara (XV, 1, 216, 305), bei den Mitgodis, den Chaudris
in Kanara (XV, 1, 279, 294); bei den Kunbis, Malis, Kols,
Sahadev Joshis, Ramoshis in Puna (XVIII, 1, 300, 309,
389, 410, 462); bei den Marathas in Kolhapur (XXIV,
66, 73, 414) und in Scholapur (XX, 90); bei den Jire
Gavandis in Scholapur (XX, 94); bei den Kunbis in Bel-
gaum (XXI, 110, 120); bei den Kols in Ahmadnagar
(XVII, 204); bei den Bhils in Kandesch (XII, 88) u. a.
Doch gibt es auch Stämme, von welchen ausdrücklich ge-
sagt wird, dass sie keine devaks haben, z. B. die Bandis
in Kanara (XV, 1, 333). Bei anderen scheint der devak
nur zufällig zu sein; z. B. bei den Malis in Ahmadnagar
ist die Gleichheit des devak kein Ehehinderniss (XVII, 89),
ebensowenig bei den Vanjaris, ebenda (XVII, 162).
Der Gleichheit des devak analog ist mitunter die Gleich-
heit des Familienpriesters; es kommt vor, dass die Familien
ihren eigenen Familiengeistlichen haben: sie bilden eine spiri-
tuelle Gemeinschaft, und Familien mit demselben Familien-
priester heirathen unter sich nicht; so die Jangams in Dhar-
war (XXII, 112).
Von dem genannten Familiendevak ist übrigens der
Heirathsdevak wohl zu unterscheiden, d. h. ein an einer Pflanze
oder auch an einem Werkzeuge haftender Gott, der bei der
Ehe Glück, bringt. Insbesondere kommt hier der panchpalvi
vor, d. h. der Fünfzweigebündel oder die fünf Zweige mit
Federn u. a. (XIX, 94, XX, 87, 93, 99, 124, 156, 164, 170, 178,
XVIII, 155, 162, 177); so bei den Gavlis (Hirten) in Ahmad-
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 89
nagar ein Mangozweig (XVII^ 1^2); so aber auch bei den
Schneidern (Namdev Shimpis) in Ahmadnagar: Scheere,
Nadel und Messruthe, bei den Sonars (Goldschmieden) ebenda:
Zange und Blasrohr (XVII, 126, 136), bei der Bettlerklasse
der Tirmalis: Hirse (XVII, 212) u. a.
Auch bei der Gürtungsceremonie spielt ein solcher devak
eine Rolle, z. B. bei den Khatris in Ahmadnagar (XVII, 111).
Doch dies hängt mit dem Famiiiendevak nur lose zusammen.
Als exogam kommt regelmässig nur der väterliche
Gotra, der väterliche Gentilname, der väterliche devak
in Betracht. Dies wird noch insbesondere gesagt von den
Halvakki Vakkals und den Gam Vakkals in Kanara (XV,
1, 202, 220), von den Shimpis in Bijapur (XXIII, 164), von
den Kols in Ahmadnagar (XVII, 203). Doch gibt es auch
Ausnahmen. Die Chik Kuruvinavars in Bijapur verlangen,
dass der väterliche und der mütterliche Gotra beider Braut-
leute verschieden sei (XXIII, 259).
Das Exogamiegebot gilt auch bei den niedrigsten
Klassen, es ist nicht etwa ein Vorzug der höheren ; beispiels-
weise bei den Thakurs, Vadars, Dhors, Halakhors, Mhars,
Mangs, Chitrakathis in Puna: bei allen gilt der Satz, dass
sie nicht in den Geschlechtsnamen heirathen (XVIII, 1, 425,
426, 432, 436, 439, 443, 448). Der gleiche Satz gilt in
Ahmadnagar von den Wäschern (Parits), Hirten (Dhangars,
Gavlis) und den Fischern (Bhois) , von den Komödianten
(Bhorpis), von den Chambhars, Dhors, Mangs, Mhars, Bhils
(XVII, 147, 149, 151, 154, 177, 166, 168, 170, 172, 191);
und daselbe gilt von den Sattlern (Jingars), Puppenspielern
(Killikiatars) und Bettlern (Budbudkis) in Dharwar (XXII,
151, 152, 200), von den Quastenmachern (Patvekars) und
den Wäschern (Parits) in Satara (XIX, 92, 102), von einem
Theil der Kalkaris in Thana (XIII, 1, 161). Ebenso heisst
es von den Webern (Koshtis) und den Barbieren (Nadigs) in
Bijapur (XXIII, 245, 254), dass sie nicht in den Gotra
heirathen; ebenso von den Kupferschmieden (Tambats),
90 Kühler.
den Zimmerleuten (Badhais) in Puna (XVIII, 1, 375, 314);
ebenso von den Tänzern (Saibs) und Barbieren (Kelasis) in
Kanara (XV, 1, 325, 329); von den Lads Vanjaris in Nasik
(XVI, 62, 63). Die Kols in Puna heirathen nicht in Namen
und devak (XVIII, 1, 389) ^9).
Nach diesen Gesichtspunkten ist es zu beurtheilen, wenn
in den Berichten bald gesagt ist, die Familie heirathe nicht
in den nämlichen Gotra (Bedag, Kul), bald, sie heirathe nicht
in den nämlichen Zunamen, oder nicht in den nämlichen devak.
Unzählige Male heisst es, dass ein Stamm nicht in denselben
Zunamen heirathet; beispielsweise in Scholapur: die Mar-
wars, Telangs, Vidurs, Lingayat Vanis, Bhadbhunjas, Chamb-
hars (XX, 35, 40, 43, 75, 92, 93); in Puna: die Beldars,
Bhavsars, Buruds, Chambhars, Gaundis, Ghisadis, Khatris
(XVIII, 1, 316, 322, 325, 327 und 329, 331, 333, 346).
Anderwärts ist direkt gesagt, dass die Stammesmitglieder
nicht in den gotra heirathen; so die Lingayats, Ganigs,
Kabligers, Raddis in Bijapur (XXIII, 220, 240, 113, 145),
die Shrivaishnavs, Sonars in Dharwar (XXII, 98, 161), die
Haller Vajantris, Kasais, Haslars in Kanara (XV, 1, 318, 345,
367) u. a. Auch heisst es, dass Klan und Devak geschieden
sein müsse, z. B. bei den Kunbis in Puna (XVIII 1, 300);
oder Name und Devak, z. B. bei den Jire Gavandis in Schola-
pur (XX, 94).
Mitunter haben sich die gotras in Zweiggotras gespalten;
trotzdem halten manche Stämme den Satz aulVecht, dass die
Ehe in dem ganzen gotra ausgeschlossen ist, dass die Ver-
schiedenheit der Unterabtheilung nicht genügt: sobald gemein-
samer Stammvater, wird Ehehinderniss angenommen; so bei
den Komtis in Bijapur (XXIII, 118). Andere Stämme haben
*^} Vgl. auch noch Jellingshaus, Die Kolhs in Ostindien, in der
Allgemeinen Missionszeitschr. I S. 107, 108: darnach bilden 5 — 20 Dörfer
ein Kili; Männer des einen Kili dürfen nur Mädchen eines anderen Kili
heirathen. Kili (Kuli?) ist wohl gleich Kul = Gotra.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 91
von der Strenge nachgelassen ; so die Patvegars ebenda
(XXIII; 143): sie haben Untergotras mit besonderen Namen^
sie heirathen nicht in denselben Untergotra, wohl aber in eine
andere Unterabtheilung in demselben gotra. Das wird wohl
auch von den Tirmalis in P u n a gelten ; denn hier heisst es,
dass Gleichheit des Namens hinderlich ist^ nicht aber Gleichheit
des Clans (XVIII, 1, 463).
§ 12.
Die Ehe wähl ist daher nach zwei Seiten hin be-
stimmt: nur eine Ehe in der Kaste, niemals eine Ehe im
gotra (gens, Clan); daher ist es von selbst gegeben, dass der
Bräutigam eine Frau aus einem andern Clan innerhalb der-
selben Kaste wählen muss. Weiter ist die Wahl meist nicht be-
schränkt. Doch gibt es auch Ausnahmen; z. B. heirathen bei
den Konkani Kunbis in Belgaum (XXI, 109), bestimmte
Familien unter sich in althergebrachter Weise (XXI, 109).
Verschiedene Stämme haben die Voraussetzungen der
Ehe noch dadurch verschärft, dass sie die Zustimmung der
Kaste bezw. des Kastenhauptes verlangen. Davon ist
unten (S. 114) des weitern zu handeln; vgl. auch S. 95.
Ganz besonders eigenartig sind die Bestimmungen, wor-
nach nur zu bestimmten Zeiten geheirathet werden darf;
die Kathiawars in Nasik heirathen nur in einem bestimmten
Monat des Jahres (XVI, 60), die Ahirs in Kandesch heirathen
nur an einem bestimmten Tage des Jahres (V, 79) ; ja bei den
Kadva Kanbis in Bar o da wird nur einmal alle 10 — 12 Jahre
geheirathet nach der Bestimmung der Göttin Uma, die durch das
Loos gefragt wird (VII, 60); ähnlich bei den Bharvads in
Kathiawar (VIII, 138) 5«).
§ 13.
Bekanntlich verbietet das officielle indische Recht die
Wiederverheirathung der Wittwe nicht direkt, erklärt
50
') Vgl. auch schon Zeitschr. VIII S. 115 f.
92 Kohler.
sie aber als etwas tadelnswürdiges und verwerfliches •''^). Dem
gegenüber verbalten sich die Gewohnheitsrechte in der Art,
dass die Rechte vieler Kasten, insbesondere des höheren Grades
(Brahmanen, Kaufleute), aber auch mancher niederen Kasten,
die Wittwenehe verpönen. So ist die Wittwenehe verboten
bei den Kanojabrahmanen in Nasik (XVI, 42), bei den Raj-
puts ebenda (XVI, 48); bei den Gujarati und den Marwari-
brahmanen in Ahmadnagar (XVII, 57, 61); ebenso auch bei
den Lad Vanis, den Kayasth Prabhus in Ahmadnagar
(XVII, 72, 65); bei den Apastamba Hiranga-Keshi , den
Gujarat, Nagar, Samvedi, Sarasvatibrahmanen und bei den Kauf-
mannsständen der Gujar Vanis und Porvad Vanis in Thana
(XIII, 1, 74, 78, 81, 83, 85, 113, 113); ebenso bei den Shen-
vis, den Brahma Kshatris in Puna (XVIII, 1, 179, 267); bei den
Bhatias (Kaufleute) in Belgaum (XXI, 100); bei den Gujarat
Vanis, den Kayasth Prabhus in Scholapur (XX, 52, 44);
bei den Havig, Deshasth und Joishibrahmanen, sowie bei den
Kaufmannsklassen der Bavkule Vanis, Kaunad Vanis, Bardekan
Vanis, Lad Vanis, Bhatias, Pednekar Vanis, Lohanas, Komtigs
in Kanara (XV, 1, 124, 130, 134, 174, 181, 182, 185,186, 186,
188, 190), aber auch bei den Tempelbediensteten (Guravs, Aigals)
ebenda (XV, 1, 200, 201). So auch bei den Smart-Bhagvats,
den Kanwasbrahmanen, bei den Kaufmannsständen der Mehri
Vanias, der Karads, der Bhatias in Katsch (V, 50, 51, 54)
und bei den Kaufmannsständen der Marwaris, der Telugu
Banjigars, der Vaishyas in Dharwar (XXII, 92, 93, 125,
129, 131); bei den Deshasthbrahmanen, den Gujarat Vanis in
Bijapur (XXIII, 85, 106); bei den Vaishyas in Bar od a
(VII, 57), bei den höheren Klassen in Kolhapur^^j.
Aber auch bei verschiedenen Handwerkern und Acker-
baukasten u. a. , so bei den Aksalis (Goldarbeitern), den
^1) Zeitschrift III, 376 f., VII S. 234, VllI S. 113, IX, 332. Vgl.
auch Alberuni, India (übersetzt v. Sachau) II p. 155.
^2) Record of Kolhapur S. 169; das strenge Verbot der Wittwenehe ist
besonders eingeschärft worden durch Shankaracurya, im 4. Jahrh. v. Ohr.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 93
Sutars (Zimmerleuten), Gudigars, Shirogars, Chetris, Chamgars
(Lederarbeitern) in Kanara (XV, 1, 259, 263, 266, 227, 343,
356) ; bei den Sonars (Goldarbeitern), bei den Badiges, Lad
Suryavanshis (Metzgern) in Dharwar (XXII, 162, 146, 156);
bei den Sonars (Goldarbeitern) in Belgaum (XXI, 148);
bei den Shetijars, den Suryavanshi Lads, den Gondhlis
(Tänzern) in Bijapur (XXIII, 162, 172, 193); bei den Sonars
(Goldarbeitern) in Kolhapur (XXIV, 98); bei den Salis
(Webern) und Sutars (Zimmerleuten) in Scholapur (XX, 137,
140); bei den Sutars (Zimmerleuten) in Satara (XIX, 96);
bei den Khatris in Thana (XIII, 1, 133); bei den Labhane
und Mathure Vanjaris in Kandesh (XII, 113).
Bei manchen Kasten besteht zwar kein durchgängiges
Verbot, aber die einzelnen Familien haben ihren traditionellen
Rechtssatz, so dass die einen Familien die Wittwenehe verbieten,
die andern sie erlauben; so die Bhats inKathiawar (VIII, 153);
so die Radders (Landleute) und die Panchals (Handwerker)
in Dharwar (XXII, 142, 159); so die Kurubars in Bija-
pur (XXIII, 123).
Auch das kommt vor, dass das Verbot der Wittwenehe
ein Vorrecht der angesehensten Familien der Kaste ist. Bei
den Uppars in Belgaum ist sie in der Familie des Kasten-
hauptes untersagt, die Familie würde sonst diese Stellung ver-
lieren (XXI, 149); bei den Lingayats in Bijapur ist der
Wittwe des Priesters (Jangam) die Wiederverheirathung nicht
gestattet (XXIII, 229, 236) ; bei den Bhats in Baroda kommt
sie bei hohen Familien nicht vor (VII, 64). Bei den Korvis
in Belgaum darf die Wittwe, welche Söhne hat, nie mehr
heirathen, dagegen die Wittwe, welche Töchter hat, — aber
erst, wenn alle Töchter verheirathet sind (XXI, 172). Damit
hängt zusammen, dass bei den Buruds in Scholapur im Fall
der Wittwenehe die Kinder des ersten Mannes an Verwandte
kommen (XX, 93).
Bei manchen Klassen ist ein U ebergang nachzuweisen:
bei den Rajputs in Bijapur war die Wittwenehe früher ver-
94 Kohler.
boten, ist aber allmählich geatattet worden (XXIII, 159); ebenso
bei den Kasars in'^Belgaum (XXI^ 140) und bei den Brahma
Kshatris in Katsch (V, 49). Bei den Marathas in Bijapur
ist sie eigentlich verboten^ kommt aber doch mitunter vor
(XXIII, 127).
Bei andern Klassen ist die Wittwenehe zwar an sich er-
laubt, aber die wiederverheirathete Wittwe, die parapürvTi,
gilt als unrein und kann insbesondere an religiösen Cere-
monien nicht theilnehmen; so bei den Kunbis in Thana
(XIII, 1, 127) und in Kolhapur (XXIV, 91), bei den Kunshgi
Vakkals in Kanara (XV, 1, 243).
Damit hängt der Rechtsgebrauch zusammen, dass bei
verschiedenen Stämmen die wiederverheirathete Wittwe
einige Tage unsichtbar bleibt und dann erst wieder ange-
blickt werden darf; wie denn auch die Wiederheirathung viel-
fach in dunkler Nacht geschieht: kein Weib (das nicht Wittwe
ist) darf Theil nehmen; so bei den Naikdas in Panch Mahal
(III, 225), bei den Maratha Kunbis in Scholapur (XX, 90);
ähnlich bei den Kamathis in Thana (XIII, 1, 121) und in
Scholapur (XX, 159), bei den Lingayats in Bijapur
(XXIII, 229, 236), bei den Lonaris und Kols in Ahmad-
nagar (XVII, 121, 206), bei den Ramoshis und den Pathar-
vats in Puna (XVIII, 1, 358, 419) und in Satara, wo die
Ehe 100 Ellen vom Haus entfernt abgeschlossen werden muss
(XIX, 90); und selbst bei den (niedrigen) Mhars in Satara
(XIX, 115). Oder dass die Wittwenehe in der Form der Ent-
führung stattfindet, wie bei den Bhils in Kandesch (XII, 90);
oder überhaupt in der formlosen Gandharven weise, wie bei
den Lads Vanjaris in Kandesch (XII, 112, 113)^^).
Dem entspricht auch der Rechtsgebrauch, dass bei denHal-
vakki Vakkals in Kanara die sich wiederverheirathende Wittwe
das Elternhaus durch die Hinterthüre verlassen muss (XV, 1,
^^) Vgl. Zeitschr. VIII S. 113. Die Wittwenehe als Patehe; der
Name Pät ist mahrattisch (Wilson p. 406).
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 95
211): überall der Gedanke^ dass es sich eigentlich um etwas
wenig Erbauliches handelt^ welches man zwar als fait accorapli
duldet, aber doch so, dass man seine Hand nicht dazu bieten
mag. Damit stimmt auch der Satz, dass bei den Halakhors
in P u n a (XVIII, 1, 439) die Wittwe zwar wieder heirathen
darf, ihr zweiter Mann aber Strafe bezahlen muss ^^).
Bei manchen Stämmen ist die Wittwenehe in der Art
erlaubt, dass eine Wittwe einen Wittwer, aber keinen
Junggesellen heirathen darf; so bei den Kunbis und Ramoshis
in Puna (XVIII, 1, 307, 419), bei den Buruds in Kanara
(XV, 1, 341), bei den Chambhars und Mhars in Nasik
(XVI, 68, 70); und ein Jangampriester heirathet in Dharwar
nie eine Wittwe (XXII, 108). Manche erlauben einen zweiten,
aber keinen dritten Mann; so die Patvegars in Bijapur
(XXIII, 144). Bei denKorcharus in Kanara (XV, 1, 338)
darf die Frau nicht mehr als 7 Mal heirathen ; und bei den
Tambats in Puna (XVIII, 1, 37G) wird die Wittwe, sobald
sie über 40 Jahre alt ist, geschoren.
Bei manchen Stämmen bedarf die Wittwenehe der Ge-
nehmigung des patil, des Kastenhauptes; so in Thana
(XIII, 1, 276), so bei den (islamitischen) Mannas in Katsch
(V, 91).
Dass im Uebrigen bei den meisten der niederen Klassen
die Wittwenehe erlaubt ist^^), ergibt sich aus dem Obigen
von selbst; ich erwähne nur die Handwerkerklassen der
Devangs, Lingayat Ganigars, Hirekurvinavarus, Istarerus,
Salis; sodann die Hirten (Gavlis), die Fischer (Ambigs),
Wäscher (Parits), Wahrsager (Budbukis), Bettler (Gollars),
^'*) Damit hängt es vielleicht auch zusammen, dass bei den Ghadsis
in Puna (XVIII, 1, 378) der Mann, der eine Wittwe geheirathet hat,
nach seinem Tode nicht verbrannt, sondern begraben wird. Vielfach
sind ja auch die Todtenfeierlichkeiten für eine Wittwe geringer als für
eine Frau, die während der Ehe stirbt.
^^) Patehe; vgl. Elliot, Ethn. See. p. 124; ferner Zeitschr. f. vergl.
Rechtsw. VIII p. 114 f.; vgl. auch VII S. 234.
96 Kohler.
Tänzer (Goiulhalgars), Gerber (Dliors), Schuster (Mochigars);
sodann die verschiedenen Klassen der Landleute: Dasars,
Halepaiks, Haslars, Malavars, Paknak Radders zu Dharwar
(XXII, 161, 168, 169, 170, 173 [175, 178]; 179, 184, 189,
201, 203, 205, 214, 221; 134, 135, 136, 140, 143); die
Gaukler (Kolhatia) in Nasik (XVI, 55), die Gavlis (Milch-
männer), Kumbhars (Töpfer), Nadigs (Barbiere), Dhors (Ger-
ber), Parits (Wäscher), die Korvis (Musikanten), die niedrig-
stehenden Holias, Mangs in Bijapur (XXIII, 243, 252, 257,
264, 276; 205; 215, 218); die Bangdis (Weber), Lonaris
(Leimkocher), Moshis (Schuster), Niralis (Färber), Salis
(Weber), Sutars (Zimmerleute), Tambats (Kupferschmiede),
Telis (Oelpresser), Nhavis (Barbiere), Parits (Wäscher), Gavlis
(Hirten), Khatiks (Metzger), Kahars (Fischer), Kamathis
(Maurer), Bhangis (Kehrer) in Ahm ad na gar (XVII, 93, 120,
122, 128, 131, 138, 140, 141, 147, 149, 152, 153, 158, 160, 165);
so ferner die Töpfer, Schmiede, Barbiere in Belgaum (XXI,
141, 142, 152); die niederen Klassen der Agers, Bakads, Bellers,
Buttais, Chalvadis, Hatgars, Kolayas Korars, Kategars, Kan-
garis, Mukris, Mhars in Puna (XV, 1, 365, 360—379); die
Mangs in Kandesch (XII, 120) u. s. w. Bei den Lohano
amils in Sindh findet sich die Wittwenehe, wird aber nicht
gerne gesehen-''^).
Mitunter haben sich auch höhere Klassen ausnahms-
weise zur Wittwenehe verstanden ; so die Jaisbrahmanen und
die Kunams (Kaufleute) in Ahmadnagar (XVII, 57, 74);
die Modhs (Brahmanen) in Katsch (V, 46); auch die Brahma
Kshatris, aber erst seit späterer Zeit (V, 49).
Auch einige Moslim kästen folgen in ihrer Anschauung
dem indischen Rechte; so die Konkanis in Kolaba und in
Thana (XI, 82; XIII, 1, 234): sie gestatten zwar die
Wittwenehe, missbilligen sie aber in den höheren Familien;
die islamitischen Mannas in Katsch erlauben (wie bereits S. 95
56
) Gazetteer of the Province of Sind p. 9;>.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 97
erwähnt) die Wittwenehe nur mit Genehmigung des patilfV, 91).
Bei den Moslims in Satara findet sich sogar der indische
B&tz, dass eine Wittwe nur einen Wittwer heirathet, und auch
die Heimlichkeit der zweiten Ehe mit den eigenthümlichen
Formen ist hier üblich (XIX, 132, 133)^^).
Die Sanktion des Verbotes der Wittwenehe ist (wohl regel-
mässig) nicht die Nichtigkeit der Ehe, sondern, wie bei
schweren Verletzungen der Kastenregeln überhaupt, Verlust
der Kaste. So bei den Kataris in Puna (XVIII, 1, 345).
Die Wiederverheirathung des Wittwers ist allgemein
gestattet, doch findet sich auch der Satz, dass bei solcher
Wiederverheirathung die Eheceremonien verkürzt werden; so
bei den Kushasthalibrahmanen in Kanara (XV, 1, 171).
§ u.
Das officielle indische Recht gestattet die Polygamie
des Mannes; doch ist es der Wunsch des indischen Rechts,
dass der Mann zu gleicher Zeit möglichst nur eine Frau seiner
Kaste haben solle ^^) — ein Satz, der um so tiefer einschneiden
musste, als der Kastenunterschied sich so verschärft hat, dass
regelmässig nur eine Ehe in der eigenen Kaste erfolgen kann.
Die Gestaltung der Gewohnheitsrechte ist nun folgende. Weitaus
die meisten Statutarrechte gestatten die Polygamie ^^), nament-
lich fast durchaus die Rechte der mittleren und unteren Kasten ;
doch wird die Polygamie vielfach auch in den höchsten Kasten
unbedingt zugelassen. Umgekehrt gibt es einige niedere Kasten,
welche ausnahmsweise an der Polygamie Anstoss nehmen ; so
heirathen die Meshri Vanias (Kaufleute) in Katsch eine zweite
Frau nur, wenn die erste unfruchtbar ist, und ebenso die Karads
(Kaufleute) (V, 50, 51); die Meshris (Kaufleute) ebenda ver-
pönen die Polygamie vollkommen (V, 51); die Kathys in
") Vgl. auch Zeitschrift IX S. 333.
■■^«) Zeitschrift III S. 373 f.
s^) Zeitschrift VIII S. 90, 114; VII S. 228, IX S. 324.
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. X. Band. 7
98 Kohler.
Kathiawar nehmeo meist nur eine Frau ^*^); ebenso die
Lohano amils in Sindh ^^). Aber auch die (niederen) Ramoshis
in Belgaum nehmen eine zweite Frau nur, wenn die erste
kinderlos ist (XXI, 175); ebenso die niederen Klassen der
Chambhars und Mhars (XVI, 68, 70).
Bei manchen Klassen, wo die Polygamie erlaubt ist, kommt
sie doch nur selten vor; z. B. bei den Hatkars in Bijapur
(XXIII, 269), bei den Raddis, Shetiyars ebenda (XXIII, 152,
163); bei den Kunbis in Katsch meist nur, wenn die erste
Frau keine Söhne hat oder wenn der Mann Arbeiterinnen
braucht (XI, 61) u. a.
Dagegen istdiePolygamie gestattet bei denKayasthPrabhus
in Scholapur (XX, 44), den Deshasthbrahmanen in Bijapur
(XXIII, 85), den Smart Bhagvatsbrahmanen und den Kanvas-
brahmanen in Dharwar (XXII, 92, 93), den Kaufmanns-
ständen der Marwaris, Telugu Banjigars, Vaishyas ebenda
(XXII, 125, 129, 131); die Rajputs in Kathyawar haben
oft 8 Frauen (VIII, 121) «2). Ueber die Polygamie der Nam-
buris in Malabar vergl. oben S. 68.
Fast durchgängig ist sie gestattet bei den Handwerkern,
den Landleuten und den niederen Klassen. So in Ahmadnagar
bei den Bangdis (V^ebern), den Lonaris (Leimkochern), den
Moshis (Schustern), Niralis (Färbern), Sutars (Zimmerleuten),
Tambats (Kupferschmieden), Telis (Oelpressern), Nhavis (Bar-
bieren), Parits (Wäschern), Gavlis (Hirten), Khatiks (Metzgern),
Kahars (Fischern), Kamathis (Maurern), Bhangis (Kehrern),
Mhars, Bils u. s. w. (XVII, 93, 120, 122, 128, 138, 140,
141, 147, 149, 152, 153, 158, 160, 165, 175, 192); so in
Dharwar bei den Ackerbauklassen der Dasars, Halepaiks,
Ilaslars, Paknak Radders (XXII, 134, 135, 136, 143); ebenso die
Badiges (Zimmerleute), Hugars (Blumenverkäufer), Killikiatars
^^) Record of Kattywar p. 35.
«0 Gazetteer of Sind p. 93.
^^) Vgl. auch Record of Kattywar p. 35. Sie sollen übrigens nicht
selten von einer der Frauen vergiftet werden.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 99
(Puppenspieler), Lad Suryavanshis (Metzger), Namdev Nilaris
(Färber), Shir Shimpis (Schneider), Dhors (Gerber), Mochigars
(Schuster) u. a. (XXII, 146, 148, 153, 156, 158, 161, 214,
221), die Bettlerklasse der Gollars, Helawars, Jogis (XXII,
203, 206, 209), die Gondhalgars (Tänzer) (XXII, 205); ebenso
die Ackerbauklasse der Baris und Buruds in P u n a (XVIII,
1, 267, 283), die Töpfer, Weber, Gerber, Oeler, Barbiere
ebenda (XVIII, 1, 351, 362, 367, 377, 381) u. a.; ebenso
die Handwerkerklassen in Satara (XIX, 81, 83, 84, 90, 92,
96, 97), die Naikdas in Panch Mahal (III, 225), die Bhils
in Rewa Kantha (VI, 31) und in Kandesch (XII, 90), die
Berads in Scholapur (XX, 164), die Ahirs und Babrias in
Kathyawar ^^). Die Vaddars in Kanara haben oft 8 Frauen,
da sie die Frauen als Arbeiterinnen verwenden (XV, 1, 348).
Insbesondere ist vielfach die Polygamie selbst da erlaubt,
wo die Wittwenehe verboten ist; so bei den Aksalis in Kanara
(XV, 1, 259), bei den Kasars, Badiges, auch bei den Bardekan
Vanis, den Rajputs, Konger, Guravs ebenda (XV, 1, 261, 263;
182, 194, 198, 200); so bei den Rajputen in Kathiawar
(VIII, 118, 121).
§ 15.
Dass die Mädchen vor der Pubertät verheirathet wer-
den sollen, entspricht dem officiellen indischen Recht ^*). Dies
ist denn auch ein ganz regelmässiger Satz des indischen Ge-
wohnheitslebens ^^), und zwar bei höheren wie bei niederen
Klassen; ein regelmässiger, wenn auch nicht ausnahmsloser
Satz. Die Lingayats (die Lingverehrer) haben es allerdings
zu ihrem Glaubenssatz erhoben, dass die Frau erst nach der
^^) Records of Kattywar p. 455.
«0 Vgl. Gautama XVIII, 21—23, Vasishtha XVII, 70, 71, Manu
IX, 4, Yäjnavalkya I, 64. Sonst lädt der Vater die Schuld des Todes
der Embryonen auf sich, die mit den Menses abgehen.
«5) Zeitschrift VIII S. 115, auch VII S. 232.
lÜO Kohler.
Pubertät heirathen solle; aber in der Tbat verheirathen sie
die Mädcben so fr üb, wie es die Mitglieder der übrigen
Iveligionssekten tbim (vergl. XXIII, 227) ^•^). Docb gibt es
aucb einige Stämme (namentlich eiügeborener Rachen), welche
den Aufschub der Ehe bis nach der Pubertät zulassen ^^),
manche aber so, dass sie in solchen Fällen die Pubertät des
Mädchens geheim halten.
Das Ehealter der Mädchen ist in D bar war bei den Des-
hasth 4 — 11, bei den Kanoj 5 — 15, bei den Tailangs 6 — 10
Jahre (XXII, 78, 94, 100); bei den Telugu Banjigars (Kauf-
leuten) und bei den Gerbern (Dhors) kann allerdings die
Ehe auch nach der Pubertät stattfinden (XXII, 129, 214).
In Belgaum werden die Mädchen verheirathet: bei den Jains
mit 4 oder mehr Jahren, bei den Sonars (Goldarbeitern) vor
der Pubertät, bei den Dhangars ebenfalls vor der Pubertät
(XXI, 102, 148, 153); aber auch bei den niederen Ramoshis
zwischen 5 und 10 Jahren, bei den Mhars vor der Pubertät
(XXI, 175, 193), bei den Korvis, Vadars allerdings auch
nachher (XXI, 171, 177).
Ebenso ist in Bijapur das Ehealter der Mädchen bei
den Deshasthbrahmanen 7 — 11 Jahre , bei den Bedars von
6 Monaten zu 12 Jahren, bei den Gujarat Vanis 5 — 11 Jahre,
bei den Oshtams 1 — 12, bei den Gavlis 1 Monat bis 12 Jahre,
bei den Kumbhars bis 12 Jahre, bei den Parits 10—12 Jahre,
bei den Marathas vor 12 Jahren, und bei den Kurubars werden
die Mädchen oft mit 3 Monaten verheirathet (XXIII, 85, 94,
106, 139, 243, 252, 276, 127, 123); dagegen allerdings bei
denMarwaris mit 10 — 15, bei den Suryavanshi Lads von 1 Monat
bis zu 19 Jahren, bei den Vadars mit 6 — 16 Jahren, und auch
bei den Dandigdasars und den Kilikets vor und nach der Pubertät
(XXIII, 128, 171, 212, 182, 200).
^^} So selbst die Lingayatpriester, die Jangams in Scholapur:
zwischen 10 und 12 Jahren (XX, 185).
") Elliot, Ethn. Soc. p. 124.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 101
In Thana werden die Mädchen theilweise in frühester
Jugend verheirathet, bei den Kamathis vor 7 (die Knaben
vor 9), bei den Varlis mit 2 (die Knaben mit 5), bei den
Kathari von 8 — 10 J.; bei den Gavlis kommt es vor, dass
Mädchen mit 4 (Knaben mit 5) Jahren verheirathet werden
(XIII, 1, 120, 185, 137, 145); bei den Kols zwischen 6— 10 Jahren
(XIII, 1, 172); aber allerdings die Baris gestatten ein Alter
von 6 — 15, die Dhangars (Schäfer) ein solches von 5 — 15 Jahren
(XIII, 1, 117, 144).
Die Joshibrahmanen in Kanara verheirathen die Mädchen
von 8 — 10, die Komtigs (Kaufleute) ebenda von 6 — 12, die
Rajputen ebenda von 7—11 Jahren (XV, 1, 134, 190, 194).
In Scholapur verheirathen die Gujarat Vanis ihre
Mädchen vor 12, die Kashikapdis vor 10, die Komtis zwischen
7 und 10, die Buruds zwischen 7 — 12, die Jire Gavandis
zwischen 8 — 12, die Karanjkars zwischen 5 — 11, die Kasars
vor 9, die Panchals und die Tambats zwischen 8 — 12, die
Gavlis zwischen 6 — 12, die Kamathis zwischen 9 — 11, die
Dhangars (Schäfer) vor der Pubertät und die (niederen) Mangs
oft schon in der Wiege (XX, 52, 52, 58, 92, 95, 109,
118, 128, 142, 148, 158, 147, 173); dagegen allerdings
die Mudliars zwischen 10 — 16, die Holars zwischen 5 — 15,
die (wilden) Vadars nach 16, die (wilden) Vanjaris von 12 — 20 J.
(XX, 46, 146, 168, 169).
In Kolhapur verheirathen die Lingayats und die Jains
die Mädchen vor der Pupertät (XXIV, 129, 141), dagegen
die Berads und die Kunbis bis ins 16. Jahr (XXIV, 129,
141, 105, 91).
In Ahmadnagar werden bei den Mochis, Sonars, Telis,
Kahars, Vasudevs, Ravals die Mädchen vor der Pubertät ver-
heirathet (XVII, 123, 136, 141, 159, 188, 210); während
sonst das Alter, bis zu welchem zugewartet werden kann, sich
auf das 15. oder 16. Jahr beläuft; z. B. haben die Kols
12—16, die Bils 15—25, die Kaikadis und Bhangis 3—15,
die Khatris Lonaris, Salis, Sutars 5 — 15 Jahre und die Va-
102 Kühler.
daris, Mangs, Bhila, Mliars, Maratha Gopals lassen die Ver-
heirathung nach der Pubertät zu (XVII, 208, 192, 192, 105,
165, 111, 120, 131, 138, 143, 171, 170, 185); ja bei den (herum-
streichenden) Vaidus findet die Ehe sogar meist nach der
Pubertät des Mädchens statt (XVII, 213).
Etwas besonderes gilt für die Namburibrahmanen in
Malabar, bei welchen die Mädchen selten vor 25 — 30 Jahren
sich verehelichen ^'^).
Die Knaben heirathen etwas später: die Ehe findet oft
erst im 20. oder 25. Jahre statt, sie kann aber schon im 12.,
im 11., im 10., im 8., ja schon im 5. Jahre stattfinden; z. B.
bei den Deshasthbrahmanen in Bijapur zwischen 12 — 20
(XXIII, 85); bei den Panchals, Tambats in Scholapur
zwischen 12 — 25 (XX, 128, 142); bei den Kamathis in
8cholapur zwischen 11 — 15 (XX, 158), ebenso bei den
Kolis in Belgaum (XXI, 158); bei den Kahars in Ahmad-
nagar zwischen 10 und 25 (XVII, 159), bei den Deshasth in
Dharwar zwischen 8 und 20 (XXII, 78), bei den Deshasth
in Kolhapur zwischen 8 und 25 (XXIII, 50), bei den
Kaikadis in Ahm a dnagar zwischen 5 und 20 (XVII, 105)
und bei den Dhangars in Scholapur zwischen 5 und 15 J.
(XX, 147).
Manchmal soll das Heirathsalter der Knaben erst mit 14,
15 oder 16 Jahren beginnen; z. B. bei den Tambats in Kol-
ha^pur: 14—20 (XXIV, 99); bei den Mundliars, den Gujarat
Vanis, Lingayat Vanis in Scholapur: 15 — 25 (XX, 46, 52,
78), ebenso bei den Ravals in Ahmadnagar (XVII, 210);
bei den Kanoj in Dharwar 15 — 30 (XXII, 94); ja bei den
Gujarat Vanis in Bijapur 16 — 20 J. (XXIII, 106).
Die Islamiten haben im Allgemeinen die Kinderehe
nicht; so z. B. die Moslims in Ahmadnagar (XVII, 222).
Doch gibt es auch hier Ausnahmen ; z. B. die islamitischen
63
) Burtoii, Goa and the mountains p. 214.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 103
Shaiks in Katsch verheirathen die Knaben mit 8^ die Mäd-
chen mit 5 Jahren (V, 89).
§ 16.
Der Ehe geht nicht überall, aber bei vielen Stämmen
eine Verlobung voraus, ja eine Vorverlobung; während
nämlich die Verlobung ein formeller, feierlicher Act ist, be-
steht die Vorverlobung in der blossen Stipulation der Heiraths-
bedingungen, allerdings vielfach verbunden mit einem Opfer
an die Hausgötter der Braut, auch mit einigen sonstigen For-
malitäten, insbesondere mit dem Bestreichen der Brauen der
Braut mit Roth — einer glückverheissenden Ceremonie, welche
der Vater des Bräutigams vollzieht.
Die Vorverlobung oder auch die Verlobung findet oft vor
Gästen statt, auch in einer Kastenversammlung, um die An-
gelegenheit unzweifelhaft festzustellen.
So findet sich eine Vorverlobung (in unfeierlicher Weise)
bei den Kunbis in Kolaba (XI, 59); den Lohano amils in
Sindh^^^); bei verschiedenen Stämmen inBijapur: bei den
Yaklars, Dandigdasars , Ghisadis, Jogers, Kilikets, Vadars,
Holias, Mangs, Lingayats, Kumbhars, Nadigs, Chik Kuruvina-
vars, Dhors, Helavs, Parits (XXIII, 175, 182, 191, 195, 200,
212, 215, 218, 234, 250, 256, 261, 264, 271), bei den Kols
(Bestimmung des Preises) in Ahmadnagar (XVII, 203), bei
den Vadars in Bijapur in der Kastenversammlung (XXIII,
212).
Die Verlobung (bashtagi) findet gewöhnlich in der
Form statt, dass der Bräutigamvater der Braut Kleider und
Schmucksachen (auch Geld) schenkt; auch ein Geschenk an
den Vater oder die Mutter der Braut ist nicht selten: ein
Nachklang der Frauenkaufehe. Auch die glückbringende Cere-
monie der Schoossfüllung kommt hier vor, von welcher unten
^««) Gazetteer of Sind p. 93 f.
104 Kohler.
(S. 110) noch zu sprechen ist. Häufig sind Kastenleute, auch
Priester, auch der Dorfvorstand anwesend.
Die Stämme, bei welchen eine Verlobung in dieser Weise
stattfindet, brauchen nicht alle genannt zu werden. Ich führe
beispielsweise an aus Bijapur: die Bedars, Hanbars, Mara-
thas, Marwaris, Mudliars, Musbtigers, Oshtams, Raddis, Rajputs,
Shetiyars, Shimpis (XXIII, 94, 108, 126, 128, 132, 136, 139,
152, 159, 163, 167); aus Scholapur: die Bhatias, Komtis,
Lingayats, Marathas, Chambhars, Jire Gavands, Ghisadis,
Lonaris, Kolis, Kamathis, Pardeshis, Phansepardis, Mangs,
Kudbuda Joshis (XX, 51, 59, 78, 90, 93, 95, 102, 123, 154,
158, 162, 167, 173; 188); aus Satara: die Kunbis, Sangars,
Guravs, Mangs, Mhars (XIX, 67, 94, 99, 112, 114); so aus
Ahmadnagar: die Kattais, Namdev Shimpis, Bhois, Lamans,
Chambhars, Mhars, Kols, Ravals, Vaidus (XVII, 109, 126,
155, 161, 167, 176, 203, 210, 214); aus Kolhapur: die Jains
(XXIV, 142). So auch in Sindh«^).
Bei manchen Stämmen wird das Vorkommen des bashtagi
ausdrücklich verneint, z. B. bei den Dasars in Bijapur (XXIII,
186); bei den Tambolis in Satara wird es als nicht nöthig
erklärt (XIX, 62).
Bei den Muhamedanern spielt die Verlobung bekannt-
lich im officiellen Recht keine Rolle '^); sie wird daher auch
in Indien vielfach weggelassen, z. B. in Thana (XIII, 1, 228).
Doch nicht ausnahmslos. Die Muhamedaner in Satara haben
die Verlobung in der indischen Weise der Kleiderschenkung
(XIX, 130, 143); bei den Moslims in Ahmadnagar erfolgt
die Verlobung 1—2 Monate vor der Ehe (XVII, 222); auch
sonst findet sich die Verlobung iu der indischen Weise ^^).
Die Verlobung geht der Ehe oft beträchtliche Zeit vor-
aus. Bei den Ghisadis in Schiolap ur 1 — 5 Jahre (XX,
^*) Burton, Sindh p. 262.
'0) Vgl. meine Rechtsvergleichenden Studien S. 31
71
) Herklots p. 89 f.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 105
102)^ bei den Lingayats ebenda 2 Jahre (XX, 78), bei den
Sangars in Satara 3 Jahre (XIX, 94), bei den Islamiten in
Satara 6—8 Monate (XIX, 130).
Die Verlobung gilt als in thesi bindend, wenn auch
nur mit indirektem Zwange '^^). Insbesondere von den Vaidus
in Ahmadnagar wird bemerkt, dass bei Verlust der Kaste
die Verlobung nicht gebrochen werden darf (XVII, 214).
Auch in Sindh darf mindestens von der Frauenseite die Ver-
lobung nicht gelöst werden ^^).
Andererseits ist es allerdings sicher, dass man unter Um-
ständen noch im letzten Augenblicke von der Ehe zurück-
treten kann; vgl. unten S. 115.
§ 17.
Die Eheceremonien ähneln sich trotz vieler Abwei-
chungen des Einzelnen sehr in ihren principiellen Zügen '^*),
und zwar die Eheceremonien von fast allen Klassen.
Eifie der häufigsten Ceremonien ist die Vorhangscene
mit nachfolgender Reisbeschüttung: Der Antarpat^^),
ein Vorhang (oft mit einem rothen Kreuze in der Mitte), ein
Tuch und dergleichen wird zwischen die zwei Brautleute ge-
halten, welche sich (mit dem Gesicht zugewendet) gegenüber
stehen; so verbleibt die Scene, bis die heiligen Sprüche ge-
'2) Vgl. Zeitschrift III S. 353 f., VII S. 230, VIII S. 116.
") Burton, Sindh p. 264.
'*) Vgl. Zeitschrift VIII S. 113; vgl. auch VIII S. 91, 103, IX
S. 328; Colebrooke Essays p. 128 f. Ueber die officiellen Gebräuche,
Zeitschrift III S. 347 f., Haas in Webers Indischen Studien V S. 267;
A§valäyana-Grihya-Siitra (übersetzt von Oldenberg in den Sacred
Bocks XXIX) I, 7. Uebrigens sehen schon die alten Sutras den
variirenden Ortsgebrauch (gräma) vor und sagen, man solle sich nach
dem Ortsgebrauche richten; vgl. die Uebersetzung von Haas a. a. 0.
S. 359. In Acvalayana heisst es: various indeed are the customs of
the countries and the customs of the villages (I. 7, 1 p. 167).
'^) Antarpat, antahpata, wörtlich ein Zwischen tuch (mahrattisch),
vgl. Wilson p. 28.
106 Kohler.
lesen sind und der glückliche Augenblick kommt'"); dann
wird der Vorhang herabgelassen^ die Brautleute werden mit
Reis beschüttet und die Scene ist vorüber.
Dieser Gebrauch ist fast überall verbreitet^ bei den ver-
schiedensten Klassen; beispielsweise in Belgaum bei den
Kunbis^ Jingars^ Lohars ^ Patvegars^ Ghadsis^ Kalals^ Kor-
chars^ Bagdis^ Mangs^ also bei theilweise sehr niederen Klassen
(XXI, 121, 140, 142, 145, 159, 169, 173, 178, 195); in
Ahmadnagar bei den Jain Shimpis, den Mochis, den Namdev
Shimpis, den Bhois (Fischern), den Mangs, den Chambhars,
den Ravals, den Kols (XYII, 101, 123, 126, 156, 168, 171,
210, 204); in Bijapur bei den Deshasth brahmanen, den Be-
dars, den Gavandis, den Gujarat Vanis, Hanbars, Jingars, den
Mangs, Mushtigers, Oshtams, Patvegars, Raddis, Suryavanshi
Lads, Dandigdasars, Kilikets, Jogers, Gavlis, Dhors, Parits,
Salis (XXIII, 87, 95, 101, 106, 108, 113, 136, 140, 144,
153, 172, 183, 200, 195, 219, 243, 265, 276, 279); so in
Kolhapur'^'^) bei den Deshasths, den Marathas, Kunbis, Jains
(XXIV, 52, 77, 91, 143); so in K and e seh bei den Mhars
(XII, 117); so in Dharwar bei den Deshasths, Kanojs,
Radders (XXII, 80, 94, 142); so in Puna bei den Kanojs,
Shenvis, Patane Prabhus, Pahadis, Radhais, Bhadbhunjas, Bu-
ruds, Chambhars, Otaris, Rauls, Salis, Nhavis, Gavlis, Vanjaris
(XVIII, 1, 170, 179, 210, 312, 315, 321, 326, 328, 357,
360, 364, 382, 387, 430); so in Satara bei den Tambolis,
Kunbis, Marathas, Kurabhars, Guravs, Mhars (XIX, 63, 69, 77,
87, 100, 114); so in Scholapur bei den Telangbrahmanen, den
Marathas, denGhisadis,Lonaris, Niralis, Guravs Kolis, Kamathis,
Pardeshis, Dhors (eine Matratze statt Vorhang dazwischen),
Mangs, Mhars (XX, 41, 90, 102, 123, 124, 145, 155, 159,
162, 170, 173, 179); so in Thana bei den Samvedis, den
''^) Derselbe kann durch eine Sanduhr angezeigt werden; eine eigen-
thümliche Weise findet sich bei den Kanadas (Schäfern) in Thana: so-
lange ein Kalb an der Mutter saugt (XIII, 1, 146).
") Vgl. auch Record of Kolhapur p. 168.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 107
Kamathis.^ den Nakri Kunbis, den Kanadas Thakurs, Var-
lis (XIII, 1, 83, 121, 129, 146, 180, 185); in Kanara bei
den Havigs- und Shenvisbrabmanen, den Jains, bei den Hal-
vakki Vakals, den Ambigs, Cbetris, Chamgars, Cbalvadis (XV,
1, 125, 155, 235, 210, 304, 344, 357); in Ahmadnagar bei
den Mesbri Marwaris (XVII, 75).
Die (glückbringende) Reisbeschüttung, welche die
guten Geister herbeilocken soll, findet sich auch bei Stämmen,
von welchen die Vorhangscene nicht erwähnt wird; z. B. bei
den Beldars, Kanjaris in Satara (XIX, 80, 84), bei den
niederen Klassen der Kammars, Killikiatars, Hirekurvinavarus,
Salis, Kurubars in Dharwar (XXII, 153, 153, 168, 173, 181);
bei den Dhangars, Berads, Chikaris, Davris (Trommlern),
Gondhlis (Tänzern), Loshis (Bettlern) in Belgaum (XXI, 153,
164, 176, 181, 182, 184), bei den Kolhatis (Seiltänzern), Kud-
buda (Wahrsagern) in Scholapur (XX, 187, 188).
Ein altindischer, viel verbreiteter Gebrauch ist das Kan-
yadan^^), die Uebergabe der Braut, wobei Wasser über die
Hände (oder auch Füsse) gegossen wird; so bei den Agar-
vals, Lingayats, Marathas, Panchals, Kolis in Scholapur
(XX, 50, 80, 90, 130, 155), bei den Marathas in Kolhapur
(XXIV, 77), bei den Jain Shimpis und den Bhois in Ahmad-
nagar (XVII, 101, 156), bei den Patvegars in Bijapur
(XXIII, 144), bei den Kumbhars, den Ghisadis, den Ramoshis
in Puna (XVIII, 1, 350, 336, 419), bei den Marathas in
Satara (XIX, 77), bei den Shenvisbrabmanen, bei den Korars
und Kangars in Kanara (XV, 1, 155, 371, 374), bei den
Osval Marwaris in Ahmadnagar (XVII, 81), bei den Des-
hasthbrahmanen in Dharwar (XXII, 80).
Aehnlich ist das panigrahana, die Verbindung der
Hände ^^); so bei den Chitpavanbrahmanen, den Dhruv Prabhus
■^^3 Vgl. über das kanyädänam Haas a. a. 0. S. 309 f. Ferner
Päraskara-Grihya-Sütra I, 4, 14 f. Kanyä ist Mädchen, däna die Gabe.
'^) Auch hastamela, hastagrahana: ein Brauch, der in die Vedische
Zeit reicht, vgl. den Hymnus inWebers Indischen Studien S. V, 190, 201.
108 Kohler.
in Pirna (XVlll, 1, L'i3, 190)^ bei den Marwaris (durch den
Priester) in Bijapur (XXIII^ l'^8)^ bei den Arirs, Uppars^
Ambigs^ Chambhars und Chalvadis in Kanara (XV^ 1, 216^
281, 304, 357, 360), bei den Nakri Kunbis in Thana (XII,
1, 129), bei den Rewa Kunbis und den Koshtis und bei den
Bhils in Kandesch (XII, 65, 76, 89).
Von besonderer Bedeutung, namentlich in höheren Klassen,
ist das saptapadi ^^): die 7 Schritte der Brautleute; die
Ceremouie wird in der verschiedensten Weise variirt: häufig
werden 7 Reishaufen gelegt, der Bräutigam lüpft die Füsse
der Braut darüber; so bei den Deshasths in Dharwar
(XXII, 80), bei den Patane Prabhns in Puna (XVIII, 1,
212), ähnlich bei den Jains in Kolhapur (XXIV, 143). So
findet sich die Ceremonie der 7 Schritte auch bei den Chit-
pavanbrahmanen und den Shenvis in Puna (XVIII, 1, 135,
179); bei den Deshasth in Bijapur (XXIII, 87); bei den
Havigs- und Shenvisbrahmanen in Kanara (XV, 1, 125, 155).
Vielfach steht das saptapadi in Verbindung mit der Um-
wandlung des Feuers: das Feuer wird 7mal umwandelt; so
bei den Kanojbrahmanen in Dharwar (XXII, 94) und in
Puna (XVIII, 1, 170), bei den Bhadbhunjas, den Badhais,
den Halvais in Puna (XVIII, 1, 321, 315, 339), bei den
Marathas in Satara (XIX, 77) und in Kolhapur (XXIV, 77),
bei den Charans Vanjaiis in Kandesch (XII, 111).
Bei den Kirad in Puna geht das Paar 7mal um den Ehe-
devak (XVIII, 1, 269); bei den Pardeshi Chambhars in Puna
gehen die Brautleute 7 mal um einen Pfosten herum (XVIII,
1, 330); ebenso bei den Chambars in Kandesch (XII, 115);
ebenso bei den Agarvals in Scholapur (XX, 50) und bei den
Vgl. auch Haas ebenda S. 316 f., Zeitschrift III S. 347, VIII S. 103,
IX S. 329; Qänkhäyana-Grihya-Sütra I, 13; A^valayana I, 7, 3 f. ;
Päraskara I, 6, 3.
^") Die bekannte uraltindische Ceremonie; vgl. auch Haas a. a. 0.
S. 320, Zeitsciirift IX S. 828 f., VII S. 234; gänkhäyana-Grihya-
Sutra I, 14, 5 und 6, A^valayana I, 7, 19, Päraskara I, 8.
Die Gewohnheitsreclite der Provinz Bombay. 109
Rajputs in Bijapur (XXIII, 159) uod in Nasik (XVI, 48);
bei den Pardeshis in Scholapur gehen sie 7mal um irdene
Krüge (XX, 162).
Dem Saptapadi scheint es auch zu entsprechen, dass in
Sindh die Brautleute 7mal die Stirne aneinander schlagen ^^).
Eine sehr verbreitete Rechtssitte, namentlich bei den
höheren Ständen, ist das Anzünden des heiligen Feuers
mit Feueropfer (hom, homa) und die Umwandlung des-
selben^^); so die 5malige Umwandlung bei den Buruds in
Puna (XVIII, 1, 326), bei den Deshasthbrahmanen in Bijapur
(XXIII, 87), bei den Rewa Kunbis in Khandesch, XII, 65
(hier chavri bhavri genannt); so die 4malige Umwandlung bei
den Marvar Vahis in Puna (XVIII, 1, 279); so die Smalige
Umwandlung bei den Chitpavanbrahmanen, den Patane Prabhus
in Puna (XVIII, 1, 135, 212), den Deshasthbrahmanen in
Dharwar (XXII, 80), den Havigsbrahmanen und Shenvis-
brahmanen in Kanara (XV, 1, 125, 155). Ferner wird das Feuer
umwandelt bei den Gujaratbrahmanen, den Kanojbrahmanen
(XVIII, 1, 165, 170), bei denMarwaris in Bijapur (XXIII, 128).
An Stelle dessen tritt auch die Umwandlung der Braut-
hütte, z. B. bei den Kanjaris in Satara (XIX, 84); die Um-
wandlung eines viereckigen Platzes bei den Gujarat Vanis in
Kanara (XV, 1, 189); die Umwandlung des Altars (bahule)
bei den Velalis in Puna (XVIII, 1, 259), den Mudliars in
Bijapur (XXIII, 133); eines Baldachins bei den Telugu Ban-
jigars in Dharwar (XXII, 128); die Umwandlung von zwei
Keulen bei den Charans in Thana (XIII, 1, 118), eines
Pfahles oder Stabes, bei den Vaddars in Kanara (XV, 1,
348), eines Zweiges bei den Bhils in Panch Mahal (III,
221): 12mal.
Dass diese Umwandlung mehrfach mit dem saptapadi ver-
schmolzen wird, ist soeben betont worden.
«1) Burton, Sindh p. 270.
^^) Altindisch; vgl. auch Haas a,. a. 0. S. 318; Paraskara I, 7, 3.
110 Kohler.
Eine andere Ceremonie ist die Umfädmung: in der ver-
schiedensten Weise werden die Brautleute mit einem Faden
umwunden; so bei den Chitpavanbrahmanen, Dhruv Prabhus,
Bangars, den Ghisadis, Salis, Dhors, Ramoshis in Puna
(XVHI, 1, 135, 190, 265, 336, 364, 419, 434), bei den Kunbis
in Satara (XIX, 69), bei den Arirs in Kanara (XV, 1, 216)
bei den Jangams, den Mangs in Dharwar (XXII, 113, 219)
bei denMarathas, den Sagar Gavandis, denGhisadis, Karanjkars
Panchals, Berads in Scholapur (XX, 90, 99, 102, 112
130, 164); auch bei den Kolis in Scholapur (XX, 155), bei
den Shenvisbrahmanen in Kanara (XV, 1, 155), bei den Mhars
in Thana (XIII, 1, 192).
Damit hängt die Sitte des Kankanbindens^^) zusammen:
die Brautleute bekommen Schnüre, Zweige etc. um ihre Hand-
knöchel gewunden ^*). Oft ist es so, dass die Schnur, welche
beide umfädmet hat, zerschnitten und die beiden Theile dann
jeweils um den Handrist gebunden werden. Das Kankan-
binden findet sich beispielsweise bei den Bangars, den Ghisa-
dis, Kamathis in Puna (XVHI, 1, 265, 336, 397), bei den
Jangams, Telugu Banjigars, bei den Koravars, Shikalgars
(Vaganten) und der Bettlerklasse der Gollars, Helavars, Ma-
salars in Dharwar (XXII, 113, 128, 195, 202, 206, 210),
ferner bei den Marathas, Sagar Gavandis, Ghisadis, Karanj-
kars, Gavlis in Scholapur (XX, 90, 99, 102, 112, 151), bei
den Deshasth, Bedars, Gujarat Vanis, Hanbars, Shetiyars,
Yaklers, Ghisadis in Bijapur (XXIII, 87, 95, 106, 108, 163,
175, 192, 205), bei den Mochis, Bhois, Chambhars in Ahmad-
nagar (XVH, 123, 156, 168).
Der Umfädmung ist verwandt die Kleide rverknotung^^):
^^) Kankana ist Armband.
^^) Eine sinnige Sitte ist es, dass bei den Karanjkars die Kankans
nachher in der Nähe des Hauses begraben werden : als ständige Maliner
an das eheliche Versj3rechen (XX, 114). üeber die Kankan-Ceremonie
bei den Islamiten vgl. unten S. 116. Vgl. auch noch Zeitschr. VIII S. 113.
85) Zeitschr. III S. 347; VIII S. 113; IX S. 329.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 111
die Kleider der Brautleute werden verbunden: eine der häu-
figsten Ceremonien^ deren Bedeutung sofort erhellt. Von den
zahlreichen Klassen , welche die Kleiderknotung üben , seien
nur erwähnt: die Kanojbrahraanen, die Marwar Vanis, die Baris,
Kachis, Badhais, Beldars, Bhadbhunjas, Bhavsars, Buruds,
Halvais, Lakheris^ Shimpis, Vanjaris, Dhors, Halakhors,
Chitrakatis (Bilderzeiger), Kohlhatis (Gaukler), Sahadev Jos-
his, Dadhivale Vaidus (Vaganten) in Puna (XVIII, 1, 170,
279, 281, 284, 315, 318, 321, 324, 326, 339, 351, 369, 430,
434, 438, 450, 458, 462, 479); die Beldars in Satara
(XIX, 80) ; die Havigs- und die Shenvisbrahmanen, die Uppars,
Banjigs, Konkani Kunbigs, Ambigs, Korars, Kangars, Mhars
inKanara (XV, 1, 125, 155, 281, 179, 219, 304, 371, 374,
379), die Kabligers, Mushtigers, Shetiyars, Yaklars, Advi-
chinchers, Kilikets in Bijapur (XXIII, 116, 136, 163, 175,
178, 200); die Halepaiks, Mangs in Dharwar (XXII, 135,
219), die Lads Vanjaris in Nasik (XVI, 63); die Sangars,
Guravs in Satara (XIX, 94, 100); die Lingayats, Niralis,
Panchals, die (niedern) Phanepardhis, die Dhors, die Kol-
hatis in Scholapur (XX, 80, 124, 130, 167, 170, 187); die
Lingayats in Kolhapur (XXIV, 130); die Lamans und
Kols inAhmadnagar (XVII, 126, 204); die Kunbis in Bel-
gaum (XXI, 121); die Rajputen in Kathiawar (VIII, 121);
die Rewa Kunbis, die Koshtis, die Bhils, Vanjaris, Chamb-
hars inKandesch (XII, 65, 76, 95, 108, 115); die Kalkaris,
die Thakurs, die Varlis in Thana (XIII, 1, 161, 180, 185);
die Bhils in Panch Mahal (III, 221).
Eine sehr häufige, namentlich bei den Lingayats als
wichtig erachtete Sitte ist die Anlegung des mangalsütra
(des glückbringenden Halsbands) ^^) an den Nacken der Braut,
welches die Frau als Ehefrau charakterisirt; sie geschieht
^6) Vgl. Zeitschr. VIII S. 103, 113. Mangala ist glückverheissend,
daher aucli die glückverheissenden Verse, die der Brahmane ausspricht,
mangaläshtaka; vgl. Wilson -p. 328.
112 Kohler.
durch den Bräutigam^ vielfach auch durch den Priester, wobei
der Priester vorher das Band mit den Händen des Bräutigams
in Berührung bringt, um zu zeigen, dass es von ihm herrührt.
Es seien nur beispielsweise erwähnt die Arirs, Chatris, Cham-
gars, Banjigs, in Kanara (XV, 1, 179, 216, 344, 366), die
Gavandis, Gujarat Vanis, die Kurubars, Marwaris, die Raddis
in Bijapur (XXIII, 101, 106, 125, 128, 153), die Holias,
Mangs, namentlich aber die Lingayats ebenda (XXIII, 215,
218, 229 f.), die Kamraars, Patta Salis, Gollars, Holayas in
Dharwar (XXII, 153, 174, 202, 216), die Mochis in
Ahmadnagar (XVII, 123).
Auch der Guirlandenwurf ist häufig, z. B. bei den
Havigs, Jainas und Ambigs in Kanara (XV, 1, 125, 235,
304), den Mhars in Satara (XIX, 115), den Jains und Lohars
in Belgaum (XXI, 102, 152), den Samvedis und den Nakri
Kunbis in Thana (XIII, 1, 83, 129).
Und auch bei der Quasiehe der Nairs bindet der Bräutigam
seiner Braut ein Nackenband um^'^).
Auch die Schoossbeschüttung der Braut mit Früchten,
um Glück und Fruchtbarkeit herabzulocken, kommt vor, z. B.
bei den Pahadis in Puna (XVIII, 1, 312), bei den Lamans
und Kols in Ahmadnagar (XVII, 16, 204).
Aehnlich wird bei den Shenvisbrahmanen in Kanara die
Braut in einen Korb voll Reis gesetzt (XV, 1, 155).
Die altindische Ceremonie, dass der Polarstern (oder
ein anderer Stern des Bären) als Zeichen der Stetigkeit ge-
zeigt wird^^), ist bei verschiedenen Stämmen vertreten; so
bei den Deshasth in Dharwar (XXII, 80), so bei den Velalis
in Puna (XVIII 1, 259).
Als juristisch erheblich kann noch hervorgehoben werden:
die Grenzverehrung, die stmänta püjä^^'). Sobald der
^^) Burton, Goa and the blue mountains p. 216.
«8} Zeitschr. III S. 348 und die hier citirten Stellen.
^^*) Simä = Grenze, püjä = Verehrung.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 113
Bräutigam an der Grenze des Brautdorfes anlangt ^^), wird
ein Opfer dargebracht; nicht selten geschieht der Ritus in der
Kirche oder an anderer Stelle. Ursprünglich ist es wohl eine
Versöhnung der Grenzgötter für das ihnen durch den Raub
der Braut zugefügte Unrecht. So findet sich der Ritus bei
den Chitpavanbrahmanen in Po na (XVIII^ 1^ 129), bei den
Shenvis ebenda (XVIII, 1, 179), bei den Karanjkars in Scho-
lapur (XX, 112), bei den Deshasths in Kolhapur (XXIV,
52), bei den Shenvis in Kanara (XV, 1, 155).
§ 18.
Die Mitwirkung eines Priesters bei der Ehe, sei es eines
Brahmanen, sei es eines Jangams (bei den Lingajats), sei es
eines Priesters aus der eigenen Klasse, eines Gurn u. s. w., ist
die überwiegende Regel. Bei niederen Kasten, mit welchen der
Brahmane nicht näher verkehren kann, liest er die Gebete in
einiger Entfernung ab; so bei den Mangs in Ahmadnagar
(XVII, 171), ebenso bei den Mangs und Mhars in Scholapur
(XX, 173, 179). Selbst Klassen, wie die Gavlis, die Kama-
this, Raddis, Kaikadis, Ramoshis, Dhors, Halakhors, Chitra-
katis, Sahadev Joshis, Tirmalis in Puna lassen Priester mit-
wirken (XVIII, 1, 387, 397, 405, 407, 419, 434, 437, 449,
462, 463), ebenso die Ramoshis in Nasik (XVI, 72); und
die Kols, Thakurs, Konkanis in Thana(XIII, 1, 174, 175, 180).
Die Ehe ist daher fast regelmässig, was die Rechtsbücher
eine Brahma, Daiva oder Präjäpatyaehe nennen ^^).
Ausnahmsweise ziehen niedere Klassen keine Priester
zu; z. B. die Kaikadis in Belgaum (XXI, 168) und in
Bijapur (XXIII, 196): sie brauchen einen Priester nur zur
Bestimmung des Ehetages; ebenso die Mhars in Belgaum
^^) Kommt die Braut von Ferne, wie bei Fürsten, so wird eine
Brauthütte speciell zum Zweck der Brautceremonie errichtet, Elphin-
stone p. 352.
^0) Zeitschr. III S. 343 f. Vgl. auch IX S. 332.
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. X. Band. 8
114 Kohler.
(XXI ^ 1Ö3); ähnlich die Halvakki Vakkals, die Chamgars,
Kangaris, Mukris in Kamara (XV, 1, 208, 356, 374, 376),
die Vanjaris in Thana (XlII, 1, 131).
Ebenso nehmen keine Priester die (niederen) Holias, die
Vadars in Bijapur (XXlll, 215, 213), die IJppars, die Hale-
paiks und Agers in Kanara (XV, 1, 281, 286, 360), die
Mangs in Satara (XIX, 112), die Sangars in Thana (XIII,
1, 134), die Katkaris in Nasik (XVI, 65).
Die Raikaris in Thana glauben, dass die Priesterehe
kein langes Leben gebe (XIII, 1, 175»).
Bei den Mangs in Belgaum wirkt statt des Priesters
ein altes Weib mit (XXI, 195), bei den Kanjaris in Satara
ein älteres Kastenmitglied (XIX, 84), bei den Varlis in Thana
eine Priesterin, bezw. ein Medium, in welches ein Geist ein-
gezogen ist (XIII, 1, 185, 186).
Dass bei einer Reihe, namentlich niederer Stämme die
Ehe Kastensache ist, dass sie der Zustimmung der Kaste
bedarf, wurde bereits bemerkt. Oefters wirkt das Kasten-
haupt selbst mit; so bei den Chamgars (Lederarbeiter), und
ebenso bei den Agers, den Buttais, den Korars, den Mukris
in Kanara (XV, 1, 357, 360, 364, 371, 376); so bei den
Kunams (Kaufleuten) in Ahmadnagar (XVII, 74); bei den
Davars in Thana (XIII, 1, 157). Bei den Bhils in Kan-
desch hat das panchayat zu entscheiden, ob die Ehe gültig
ist: die Uebergabe der Braut geshieht vor ihm (XII, 88, 94);
die Thakurs in Thana befragen die Kaste, ob die Ehe-
schliessung statthaft ist (XIII, 1, 179). Ebenso entscheidet
die Kaste bei den Shilangis, Harakantras in Kanara (XV, 1,
253, 307), bei den Katkaris in Janjira (XI, 416).
Für die Publicität ist bei manchen Kasten in folgender
Weise gesorgt: man verlangt, dass alle zur Kaste gehörigen
gotras durch einen Repräsentanten vertreten sind; allerdings
kann, wenn ein Vertreter nicht zu bekommen ist, an dessen
Stelle eine Betelnuss gesetzt werden; so die Komtis in Bija-
pur (XXIII, 120), die Jogers ebenda (XXIII, 194).
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 115
Bei den Vaddars in K anara findet der Eheabschluss in der
Kastenversammlung statt (XV; 1^ 348); bei den Bhils in Kan-
desch vor dem panchajat (XII^ 94).
Die Bedeutung der einzelnen Ceremonien für den Be-
stand derEhe^^) ist im Statutarrecht je n^ch der Kaste
verschieden zu beurtheilen. In manchen Klassen wird auf
die Vorhangscene das grösste Gewicht gelegt, in anderen auf
das saptapadi oder auf die Umwandelung des Feuers. Dies
zeigt sich namentlich in folgendem merkwürdigen Gebrauch.
Bei verschiedenen Klassen wird der letzte Schritt des sapta-
padi oder die letzte Umwandelung des Feuers erst vollzogen,
nachdem die Angehörigen noch besonders befragt sind, ob sie
keine Einwände haben; so bei den Kirads, so bei den Marwar
Vanis, bei den Bhadais in Puna (XVII, 1, 269, 279, 375), so
bei den Rajputs in Bijapur (XXIII, 159).
Aehnlich wird bei den Kanojbrahmanen in Dharwar vor
der 7. Umwandlung der beiderseitige gotra genannt (um zu
sehen, dass er verschieden ist) und die Braut nimmt Abschied
von den Ihrigen (XXII, 94).
Ein Einwurf gegen die Ehe kann besonders daraus ent-
springen, dass der Bräutigam durch ein Vergehen aus der
Kaste gefallen sei; wird solches geltend gemacht, so muss er
sich durch eine Summe wieder einkaufen; so bei den Agarvals
in Scholapur (XX, 50).
§ 19.
Bei den Islamiten '"^2) wurde die islamitische Form mehr
oder minder beibehalten. Der Zuzug des Kädhi oder minde-
stens die Anmeldung und Registrirung beim Kadhi ist häufig ;
so bei denMoslims in Thana (XIII, 1, 228, 237, 241, 244),
in Kanara (XV, 1, 405, 407), in Puna (XVIII, 1, 487), in
^0 Vgl. Zeitschr. III S. 350 f.
^2) Zeitschr. IX S. 333, Rechtsvergl. Studien S. 31 f., Herklots
p. 128 f.
11() Kohler.
Bijapur (XXIH, 285), in Belgaum (XX, 201), in Dhar-
war (XXII, 220), inAhmadnagar (XVII, 22). Die Braut
wird in Puna durch ihren Vater vertreten, in islamitischer
Weise (XVlll, 1, 487); auch in Sindh ist wesentlich die
islamitische Form erhalten: zwei Zeugen, Mitwirkung des
Mulla, und an Stelle der Braut ein vaquil, welcher die Ehe-
erklärung abgibt '^^).
Vielfach haben die Moslims indische Ceremonien, z. B. in
Puna die Vorhangscene, die Reisbeschüttung, das Ringwettspiel
(XVIII, 1, 487)9*), auch das Kankanbinden^^); in Ahmad-
nagar findet sich die Vorhangscene in der Variante, dass
die Braut ein weisses Tuch vor dem Gesicht hat, welches
dann abgenommen wird, so dass der Bräutigam sie zum
erstenmal sieht (XVII, 222); auch die dem Hindurechte fremde
Ceremonie des Ringansteckens kommt hier vor. Indische Ehe-
gebräuche haben auch die islamitischen Kers in Katsch (V,
100) und die Islamiten in Sindh ^^).
§ 20.
Wie bemerkt, findet die Ehe meist vor der Pubertät
des Mädchens statt; daher ist bei Eintritt der Menses eine
Feier üblich , welche man als Nachheirath bezeichnen
kann: das Mädchen ist zunächst unrein; am 4. oder 5. Tage
aber, oder auch einige Tage darauf (z. B. innerhalb 16 Tagen
oder am ersten glückverheissenden Tag nach der Periode)
finden besondere Festlichkeiten statt, worauf das Mädchen
dem Manne zum ehelichen Leben überliefert wird. Eine der
gewöhnlichsten Ceremonien ist hierbei die Schoossfüllung:
es werden Früchte in den Schooss des Mädchens gelegt, um
die guten Geister herbeizulocken. Auch die Anzündung des
^3) Burton, Sindh p. 268.
^*) lieber die Vorhangscene vgl. auch Herklo ts p. 13t>.
^^) Herklots p. 139 f.; vgl. auch Wilson p. 258.
^«) Burton, Sindh p. 270 f.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 117
heiligen Feuers (hom)^ auch das Färben der Brauen des Mäd-
chens mit Roth komnat vor. Die Feier heisst garbhadhan
oder auch phal9obhan^ auch otibharan ^^).
So findet sich diese Nachheirath in Ahmadnagar bei
den Ghisadis, Jain Shimpis^ Khatris, Lakheris^ Namdev Shim-
pis, Otaris, Vadars, Maratha Gopals (XVII, 98 , 102, 111,
115, 129, 143, 185); in Puna bei den Patane Prabhus, den
Kirads, Buruds, Gaundis, Ghisadis, Rauls, Salis, Vadars, Van-
jaris, Kolhatis, Uchlias (XVIII, 1, 218, 269, 326, 332, 336, 361,
364, 428, 430, 458, 473); in Satara bei den Tambolis, Kun-
bis, Patharvats, Guravs (XIX, 63, 72, 91, 100); in Schola-
pur bei den Agarvals, Komtis, Lingayats, Marathas, Ghisadis,
Panchals (XX, 50, 69, 82, 90, 102, 132); in Bijapur bei
den Deshasth, Kabligers, Mushtigers, Oshtams, Raddis, Kili-
kets, Kumbhars, Nadigs (XXIII, 87, 116, 137, 140, 154, 200,
251, 256); in Kolhapur bei den Deshasths, Marathas (XXIV,
58, 79); in Belgaum bei den Gosavis (XXI, 183); in Dhar-
war bei den Kanoj (XXII, 94); in Kanara bei den Haller
Vajantri (XV, 1, 319) u. a.
Manchmal findet auch hier eine Mitwirkung des Priesters
statt; so wirkt bei den Kumbhars in Bijapur der Jangam
mit und wünscht, das Mädchen solle Mutter von 8 Söhnen
werden (XXIII, 251).
Von den Bhois (Fischern) in Ahmadnagar wird aller-
dings berichtet, dass es hier keine phal^obhan-Ceremonie gibt,
dass eben einfach das (unterdessen zu Hause behaltene) ver-
heirathete Mädchen jetzt zu ihrem Manne darf (XVII, 156).
Auch einige islamitische Stämme üben die phalc^obhan-
Ceremonie, z. B. in Satara (XIX, 133).
^0 Garbhädhäna von garbha = Embryo: das Halten des Embryo;
phalgobhau von phala Frucht und gobhana glückverheissend : glück-
verheissende Fracht; otibharan von oti Reisgrund und bharana füllend.
Vgl. auch Wilson p. 167, 415, 487, 383.
118 Kolller.
§ 21.
Eine Ehescheidung kennt das officielle indische Recht
nicht; der Ehemann kann eine zweite Frau nehmen und die
erste zurücksetzen^ die Frau aber hat nur in den seltensten
Fällen ein Recht^ sich vom Manne zu lösen ^^).
Dem entspricht im Allgemeinen das Statutarrecht der
Kasten; so wird beispielsweise von den Malavars (Landleuten)
in Dharwar (XXII^ 140) ausdrücklich gesagt, dass sie keine
Ehescheidung haben.
Einige^ namentlich niedere Kasten gehen von der Norm
ab^^); die Dhors (Gerber) und die Mochigars (Schuster) in
Dharwar gestatten eine Ehescheidung, letztere wegen Ehe-
bruchs der Frau (XXII, 214, 221); ebenso findet sich die Ehe-
scheidung bei den Parits (Wäschern) und den Gavlis (Hirten)
in Dharwar (XXII, 189, 179); bei den Handwerkerklassen der
Hirekurvinavarus und den niederen Klassen der Chambhars
ebenda (XXII, 169, 221); bei den Kabligers, Kurubars und
Raddis in Bijapur (XXIII, 115 [117], 123, 154); bei den'
(niederen) Uchlias in Puna (XVIII, 1, 473).
Bei den Marvadis in Kandesch kann die Frau mit Willen
des Mannes geschieden werden und darf wieder heirathen
(XII, 61); bei den (niederen) Ramoshis in Nasik ist die Ehe-
scheidung leicht (XVI, 72); auch bei den Charans (Sängern)
in Katsch kann die Ehescheidung von Mann und Frau leicht
erlangt werden (V, 76). Bei den Kurubars in Kanara wird
die Ehescheidung nicht gerne gesehen, sie findet meist nur
statt, wenn die Frau mit einem Manne niederer Klasse Ehe-
bruch getrieben hat (XV, 1, 300). Bei den Rudbudkis (Wahr-
sagern) in Dharwar darf die Frau, wenn sie mit ihrem Lieb-
haber entlaufen ist, zum Manne zurückkehren gegen Zahlung
*^) Zeitschr. III S. 383 f. Dies bestätigt auch Alberuni, India
(Uebersetzung Sachaus) II p. 154. Alberuni lebte im 10. u. 11. Jahrh.
'•»öj Vgl. auch Zeitschr. VIII ö. 117; vgl. auch VII S. 230.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 119
von 5 Rupees; sie kann jedoch bei dem Liebhaber bleiben^
muss dann aber an den Priester 10 Rupees bezahlen, der beide
mit einem Zweig an der Zunge berührt ^^^) (XXII ^ 201).
Bei den Gollars in Kanara wird die Ehebrecherin geschieden^
wenn der Mann sie nicht mehr zu sich nehmen will (XV^ 1,
298).
Bei den Naikdas in Panch Mahal kann die Fran die
Ehe scheiden unter Rückgabe des Frauenpreises (III ^ 225);
ebenso bei den Bhils in Panch Mahal (III, 221) und in
Rewa Kantha (VI, 31); Ehescheidung der Frau mit Ein-
willigung des Mannes ist gestattet bei den Thakurs in Thana
(XIII, 1, 180).
Aber ausnahmsweise findet sie sich auch bei höheren
Kasten. Die Kanvasbrahman im Dharwar kennen die Ehe-
scheidung; ebenso die Kaufmannsklasse der Telugu Banjigars
daselbst (XXII, 129).
§ 22.
Die Scheinehe kommt in den verschiedensten Anwen-
dungen vor. So insbesondere als Ehe mit Thieren oder
Pflanzen. Man kann diese Ehe nach einem häufigen Fall dio
Arka- oder Sonnenehe nennen. Das merkwürdige Institut
ist bereits in der Darstellung der bengalischen Rechte (Zeit-
schrift IX, S. 331) erwähnt worden.
Die Gründe können verschieden sein. Man fürchtet, dass,
wer zum dritten Mal verheirathet war und zum vierten Mal
heirathet, dadurch ein Unglück über seinen Ehegatten bringt;
darum verheirathet er sich mit einer Pflanze. So kommt es in
Puna vor: mit einer Pflanze werden die verschiedensten
Heirathsceremonien vollzogen: die Vorhangscene, die ümfäd-
mung, das Anzünden des hom , des heiligen Feuers (XVIII,
1, 560).
100^ Wohl eine Art Reinigung.
120 Köhler.
Eine solche Ehe lenkt das Unglück ab^ eine weitere
Ehe steht darum nicht mehr im Zeichen des verfolgenden
Geistes.
Bei den Ramoshis in Puna heirathet die Frau^ die in die
vierte Ehe treten will, zuerst einen Hahn und vollzieht mit
ihm die Eheceremonien (XVIII, 1, 423).
Die Pflanzenehe findet sich auch bei den Komarpaiks in
Kanara (XV, 1, 292) ; der Mann vollzieht sie mit einer Pflanze,
die sofort abgeschlagen wird, das Weib mit einem Hahn, den
man sofort tödtet^^^).
Einen anderen Grund hat die Scheinehe der Kadva
Kanbis in Baroda. Hier besteht der S. 91 besprochene
Rechtssatz, dass nur alle 10 — 12 Jahre einmal geheirathet
werden darf. Nur Wittwenehen sind immer möglich. Daher
heirathet das Mädchen, welches auf den betreffenden Tag keinen
Mann bekommt, einen Blumenstrauss; welkt derselbe, so ist
sie Wittwe, und der Ehe in irgend einem Zeitpunkt steht kein
Hinderniss im Wege (VII, 60, 61).
Einen ganz anderen Charakter hat die Scheinehe der-
jenigen Mädchen, welche sich der Prostitution widmen und
daher überhaupt keine wirkliche Ehe eingehen wollen ; sie
wollen aber doch nicht unverheirathet sein, da jedes Mädchen
regelmässig bei Eintritt der Pubertät verehelicht sein soll.
Daher verheirathen sie sich mit dem Gotte, dem sie
sich widmen, da die Prostituirten vielfach Tänzerinnen sind
und einem Kultus dienen. So die Murlis in Scholapur, welche
dem Gott Kandhoba gewidmet werden : sie verheirathen sich mit
dessen Bild, indem Eheceremonien vorgenommen werden: über
beide wird Turmerik geworfen, der Gott bekommt Turban
und Sash, das Mädchen ein Halsband; so zwischem dem 1. und
^^^) Alles dieses macht es begreiflich, dass man bei einigen
Stämmen, so bei den Maravers, den Gebrauch hat, bei der wirklichen
Ehe in Abwesenheit des Bräutigams die Eheceremonie mit einem ßaum-
klotz u. dgl. zu vollziehen. Shortt, in Ethnolog. Society of London,
N. S. VII p. 191.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 121
12. Jahr; ist sie erwachsen^ so sucht sie einen Liebhaber, in
der Weise, die noch unten zu erwähnen ist (XX, 190).
Bei den Kalavants in Belgaum verheirathet sich in sol-
chen Fällen das Mädchen mit einem Dolch (XXI, 160^ 161).
Eine besonders häufige Form der Scheinehe ist in diesem
Fall die shes-Ehe^^^), die Ehe des Mädchens mit einem
Mädchen, das als Mann verkleidet wird. Es werden die
verschiedenen Heirathsceremonien ausgeübt: die Vorhangscene,
Handverbindung, Umwandlung des Feuers, das saptapadi,
auch fehlt der Brahmane nicht, der die mantras verliest; und
wenn die Pubertät kommt, so findet, wie bei Verheiratheten
jene Reinigungs- (phal^obhan) Ceremonie statt. So bei den
Kalavants (Tänzerinnen) in Kanara (XV, 1, 823^ 324); so
bei den Kanad Kalavants, den Saibs, den Devlis, den Padiars,
ebenda (XV, 1, 325, 326, 334, 335); auch bei den Kala-
vants in Belgaum kommt diese shes-Ehe vor (XXI,
160, 161).
Diese Scheinehe der Tanzmädchen genügt vielfach nicht;
die Ehe soll noch dadurch nachgebildet werden, dass das
Mädchen sich, wenn es zur Reife gekommen ist, einen beson-
deren Liebhaber sucht, der ihr einen Preis von 50 — 100
Rupees gibt. Er lebt eine Zeit lang mit ihr und steht auch in
Zukunft zu ihr in einem näheren Verhältniss. So bei den Kasbans
in Belgaum (XXI, 225), so bei den bereits erwähnten Murlis
in Scholapur (XX, 90) und bei den Patradavarus in Dhar-
war (XXII, 191).
Soeben ist von der Prostitution der Tanzmädchen die
Rede gewesen; davon ist noch weiteres zu sagen.
Gewisse Klassen erkennen die Prostitution an, nanaentlich
die Klasse^ aus welcher Tänzer und Tänzerinnen hervorgehen.
Das Mädchen hat in bestimmtem Alter zwischen Ehe und
Prostitution zu wählen; wählt sie das letztere, so wird
es der Kastenversammlung kundgegeben. So bei den Kolhatis
102
) Ob Schlang.enehe? von gesha, Schlange?
122 Kühler.
in Satara^ in Scholapur, inKandesch^ in Belgaum (XIX^
119, XX, 187, XII, 123, XXI, 170), bei den Gosavis in
Scholapur (XX, 184), bei den Chalvadis in Dharwar und
in Bijapur (XXII, 18G, XXIII, 230). Vgl. auch oben S. 73.
Die Ehefrauen der Bandis in Kanara verkehren frei mit
Männern, nur nicht mit denen einer unreinen Klasse; die
Mädchen werden meist prostituirt (XV, 1, 333), und bei den
Kurubars in Kanara (XV, 1, 300) leben die Mädchen, die
nicht heirathen, und die Ehebrecherinnen frei mit den Männern
als Kattigarus ^^^). Vgl. auch Baudhayana II, 2, 4, 3.
§ 23.
Der Mord weiblicher Kinder ist früher mannigfach
vorgekommen; bei den Jadeja Rajputfamilien in Kathiawar
ist er geradezu in Uebung gewesen (VIII, 112); auch sonst
bei den Rajputen, weil sie den Töchtern eine reiche Aus-
steuer zu geben hatten, ansonst sie ledig blieben '^^^).
§ 24.
Wie nach gut brahmanischer Satzung findet die Namen-
gebung des Kindes, das nämakarman ^^^), meist am zwölften
Tage statt, nachdem die elf oder zwölf Tage der Unreinheit und
des drohenden Unglücks, wo böse Geister lauern, vorüber sind.
'^^^) Mit dieser Rechtssitte dürfte ein Bericht aus der Buddhalegende
zusammengestellt werden. Es ist dort die Rede von einem Gesetze der
Stadt Vaisali, dass ein körperlich vollkommenes Weib sich nicht ver-
heirathen durfte, sondern sich der Prostitution widmen musste ; Rokhill,
Life of the Buddha p. 64.
1"^) Malcolm II p. 208.
^0*) Vgl. gänkhäyana-Grihya-Sütra I, 24, 6; I, 25, 8 (am
10. Tag); vgl. auch Acvalayana I, 15, 4 f.; Paraskara I, 17. Ferner
Zeitschr.IX S.335; sie wird auch vonAlberuni, India (übersetzt v. Sachau
II p. 156) erwähnt. Die Periode der Unreinheit, welche vor der Namen-
gebung vorübergehen soll , ist nach den offiziellen Büchern 10 Tage,
Baudhäyana I, 5, 11 § 1. Ueber dieselbe wird im „Ausland" näher
gesprochen werden.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 123
So findet z. B. die Namengebimg am zwölften Tage
statt bei den Deshasth-Brahman in Kolhapur (XXIV^ 46)^
bei den Mudliars, Kunbis, Kasars^ Salis^ Sonars^ Parits^
Ghadsis^ Korchars^, Bagdis in Belgaum (XXI^ 98, 120^ 140,
146, 148, 152, 159, 173, 178); bei den Lingajats, Sagar
Gavandis, Lonaris, Niralis, Tambats, Holars, Gavlis, Kalals,
Kamathis, Pardeshis, Mangs, Dauris, Kudbuda Joshis, Vasu-
devs in Scholapur (XX, 82, 100, 122, 123, 142, 146, 148,
157, 160, 162, 173, 182, 189, 191); bei den Bandekar Vanis,
Gujarat Vanis, Satarkars, Kunsbgi Vakkals, Habbus, Gong-
dikars. Badiges, Shimpis, Kallukatigs, Ambigs, Konkani
Madivals, Telugu Kelasis, Korcharus, Chetris, Kasais in Ka-
nara (XV, 1, 182, 189, 241, 243, 248, 255, 262, 268, 275,
303, 328, 332, 337, 343, 346); bei den Gujarat Brahmanen,
den Gujarat Jains, den Komtis, Kunam, Sansari Jangams,
Bangars, Kattais, Mochis, Bhois, Mangs, Maratha Gopals,
Sahadev Joshis, Kols in Ahmadnagar (XVII, 56, 66, 71,
74, 84, 86, 109, 122, 155, 171, 171, 187, 203); bei den Shenvis,
Tailangs, Bangars, Brahma Kshatris, Bhadbhunjas, Buruds,
Kataris, Khatris, Otaris, Tambats, Guravs, Nhavis, Bhois, Kols,
Kamathis, Thakurs, Vanjaris, Mhars, Chitrakatis, Jangams,
Sarvade Joshis, Tirmalis, üchlias, Vasudevs in Puna (XVIII,
1, 176, 182, 264, 267, 320, 326, 345, 346, 356, 376, 379,
381, 388, 393, 396, 426, 429, 442, 449, 454, 461, 463, 471,
480); bei den Marvar Vanis, Tambolis, Kazars, Kumbhars,
Mhars in Satara (XIX, 61, 62, 85, 87, 114); bei den Des-
hasthbrahmanen, den Dasars, Badiges, Kammars, Kumbhars,
Istaverus in Dharwar (XXII, 75, 133, 146, 152, 154, 169);
bei den Deshasthbrahmanen , den Marathas^ Korvis, Holias,
Gavlis, Salis in Bijapur (XXIII, 85, 126, 204, 215, 242, 279);
bei den Golas, den Lingayats, Gujar Vanis, Kamlis, Kunbis,
Sorathias, Sonars, Bhandaris in Thana (XIII, 1, 109, 110,
112, 123, 127, 131, 140, 150); bei den Kanojabrahman in
Nasik (XVI, 42).
Nicht selten ist auch das System, dass das Mädchen am
124 Kohler.
12., der Knabe am 13. Tag benannt wird; z. B. bei den
Golak (brabmanen), den Tirgul^ Agarvals, Komtis, Haikars,
Maratbas, Kumbhars, Lobars, PanchaHs in Scbolapur (XX,
29, 43, 49, 87, 90, 120, 122, 126), bei den Dhriiv Prabbus,
Lingayats, Halvais, SaUs, Telis, Tailang Nhavis in Puiia
(XVIII, 1, 187, 271, 339, 303, 377, 381), bei den Jain
Shirapis, den Tebs in Abmadnagar (XVII, 100, 141), bei
den Sbimpis in Bijapiir (XXIII, 167).
Auch die Benennung am 13. Tage ist nicht selten; so
die Bedars, Osbtam , Yaklars, Gondhlis, Chik Kuruvinavars,
Hatkars, Kabbers, Parits in Bijapur (XXIII^ 94, 139, 175,
193, 261, 269, 273, 276); so die Oswal Marwars in Abmad-
nagar (XVII, 79), die Kirads, Gavlis, Rajputs in Puna
(XVIII, 1, 268, 387, 403), die Jangams, Lads, Kamatis,
Ilgerus, Lad Suryavanshis, Medars, Bilejadars, Salis;, Ambigs,
Ksbetridasas, Moebigars in Dbarwar (XXII, 111, 120, 136^
149, 156, 157, 164, 173, 184, 208, 220), die Jains, Guravs,
Dbaogars in Belgaum (XXI, 102, 107, 153), die Banjigs,
Gaundis, Buruds, Hanbars in Kanara (XV, 1, 178, 274, 341,
239), die Berads in Scbolapur (XX, 164). Manchmal auch
schon am 11. Tag, so bei den Arirs, Jainas, Padumsalis,
Chamgars, Chalvadis in Kanara (XV, 1, 215, 234, 283, 356,
365), den Lakheris in Scbolapur (XX, 121), den Koravars
in Dbarwar (XXII, 195).
Manchmal auch schon am 5. Tage; so bei den Dhangars
(Schäfern): am 5. oder 10. Tag, den Kanphates in Puna
(XVIII, 1, 385, 456), bei den Vadars in Bijapur (XXIII, 212),
bei den Sanadi Koravars (Musikern) in Dbarwar (XXII, 163),
bei den Konkan Kumbis in Kanara (XV, 1, 218), den Telis,
Kalkaris, Mbars in Thana (XlII, 1, 135, 161, 192), den
Vaddarcj, Helavars (Bettlerklasse) in Dbarwar (XXII,
198, 206).
Oder am 6. Tag; so die Gudigars, die Mbars in Kanara
(XV, 1, 266,379). So am 7. Tag bei denKillikiatars, den Mangs
und den Gondhalgars in Dbarwar (XXM, 153, 219, 205);
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 125
den Kamathis in Thana (XIII, 1, 121), den Ghisadis in
Scholapiir (XX, 102). Am 9. Tag bei den Telugu Oshna-
marus in Dharwar (XXII, 130). Am 10. Tag bei den Velalis
in Puna (XVIII, 1; 257), den Hirekuvinavarus in Dhar-
war (XXII, 168).
Gar am 3. Tag bei den Pakak Raddery in Dharwar
(XXII, 143). Die Beldars in Puna endlich benennen die
Mädchen am 9., die Knaben am 12. (XVIII, 1, 317).
Mitunter wird die Namengebung über den 13. Tag
hinausgeschoben, aber selten; so bis zum 14. Tag bei den
Atti Vakkals in Kanara (XV, 1, 250); bis zum 16. Tag,
so bei den Bhatia in Scholapur (XX, 51); bis zum 19.
Tag, so bei den Berads in Belgaum (12. oder 19. Tag)
XXI, 164; bis zum 20. Tag bei den Lamans in Kolhapur
(XXIV, 108); bis zum 21. Tag bei den Holayas in Dhar-
war (XXII, 216), bei den Dhors in Puna (15. oder 21. Tag)
XVIII, 1, 433, bei den Lohanas (Kaufleuten) in Kanara
(XV, 1, 188).
Bei den Chambhars in Puna findet die Namengebung
am 11. oder 12. oder 42. Tag statt (XVIII, 1, 328), bei
den (niedrigen) Mhars in Scholapur zwischen dem 13. und
60. Tage (XX, 178), bei den Gujarat Vanis in Puna zwi-
schen dem 30. und 35. Tag (XVIII, 1, 275); bei den
Shimpis (Schneidern) in Puna werden die Knaben am 12.,
die Mädchen am 40. Tag benannt (XVIII, 1, 368); bei den
Vanjaris in Thana kann bis zur Ehe zugewartet werden
(XIII, 1, 132), bei den Bhils in Ahmadnagar am 12. Tag
oder später (XVII, 192).
Wie man sieht, ist die Namengebung am 12. Tag durch-
aus die Regel, auch am 12. und 13. Tag nach dem Unter-
schied von Knaben und Mädchen, selten am 13. Tag, noch
seltener später; auch die Namengebung am 11., 10. oder
5. Tag ist nicht häufig: meistens finden sich die Ab-
weichungen bei niedrigen Klassen, welche weniger auf die
Ceremonie Werth legen, oder welche, wie die Wanderkasten,
126 Kollier.
die Periode der Unreinheit nach der Geburt möglichst ver-
kürzen, um im Leben nicht beengt zu sein.
Die universelle Art der Namengebung nach einem Vor-
fahren mit Rücksicht auf die Idee, dass die Seele eines
Vorfahren in das Kind eingegangen sei, findet sich, aber nicht
constant, ja nicht eben sehr häufig ^^^). Bei den Halvakki
Vakkals in Kanara wird der Knabe nach einem verstorbenen
männlichen, das Mädchen nach einem verstorbenen weiblichen
Familiengliede benannt, und zwar so, dass man für den ältesten
Knaben bei einem älteren Mitglied anfängt und so abwärts
steigt (XV, 1, 208); ähnlich die Jainas in Kanara (XV,
1, 234). Die Deshasthbrahmanen in Bijapur wählen den
Namen des Grossvaters oder eines sonstigen Verwandten
(XXIII, 85); bei den Sarasvatbrahmanen in Thana wird
der älteste Sohn nach des Vaters Vater, der jüngste nach der
Mutter Vater benannt (XIII, 1, 84). Auch die (niedrig stehen-
den) Ramoshis in Belgaum wählen den Namen eines Vor-
fahren (XXI, 175). Vgl. auch Zeitschr. IX S. 335.
Nicht selten ist die Befragung eines Brahmanen bei der
NamenwahP^^*); auch bei niederen Klassen, z. B. bei den
Mhars in Kanara (XV, 1, 379), den Mangs in Ahmad-
nagar (XVII, 171), den Dhangars in Puna (XVIII, 1,
385), den Raikaris in Thana (XIII, 1, 175). Die Mhars
in Scholapur befragen den Astrologen, ohne sich je-
doch streng an ihn zu kehren (XX, 178); die Holayas
(Lederarbeiter) in D bar war befragen den Priester im Tempel,
der auf angeblich göttliche Eingebung den Namen nennt
(XXII, 216); die Ramoshis in Belgaum befragen den Jan-
gam (Lingayatpriester) XXI, 175; die Kunbis in Belgaum
berathen den Astrologen, welcher aber nur den ersten Buch-
staben sagt, mit welchem der Name anfangen muss (XXI,
120); ein Theil der Kalkaris und der Varlis in Thana be-
'°^') Auch bei islamitischen Stämmen, Herklots p. 17.
^o«"») Vgl. auch gänkhäyana-Grihya-Sütra T, 24, 6.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 127
fragen ein Medium^ in das ein Geist eingezogen ist (XIII^
1, 161, 185)1«^).
Nach der Ehe bekommt die Frau vielfach einen neuen
Namen; z. B. bei den Shenvisbrahmanen in Puna (XVIII^
1, 179), bei den Patane Prabhus ebenda (XVIII, 1, 213),
bei den Panchals in Scholapur (XX, 131), bei den Bhois
in Ahmadnagar (XVII, 156), bei den Kalkaris in Thana
(XIII, 1, 161).
Doch gibt es Ausnahmen, besonders unter den niederen
Klassen; so wird bei den Namdev Shimpis (Schneidern) in
Ahmadnagar die Braut nicht neu benannt (XVII, 126).
§ 25.
Die Initiationsfeierlichkeit der Haarschur (das Cüdakar-
man) ist ziemlich allgemein vertreten ^^^); sie findet statt nicht
nur bei den höheren und mittleren, sondern auch bei den
niedrigen Klassen mit einigen Ausnahmen. Sie geschieht in
dem ersten Lebensjahre, manchmal sogar in den ersten
Monaten.
Sie erfolgt beispielsweise bei den Shetiyars in Bijapur
im 4., 6. oder 12. Monat (XXIII, 162), bei den Suryavanshi
Lads ebenda im 3. oder 6. Monat (XXIII, 171), bei den
Yaklars im 7. Monat (XXIII, 175), bei den Kirikets in den
3 ersten Monaten — alles niedrigere Klassen. Ebenso bei den
Berads in Scholapur im 6. — 12. Monat (XX, 164); bei den
Ghitrakatis (Bilderzeigern) in Puna im 7. Monat, bei den
Holars (Sängern) ebenda zwischen dem 4. Monat und 1. Jahr
■**') Vgl. auch die oben allegirten Grihya-Sütras. Benennung
nach astrologischen oder auspikalischen Rücksichten findet sich auch bei
islamitischen Stämmen, Herklots p. 17 f.
108) Zeitsclir. III S. 410. Nach Cankhäyana-Grihya- Sütra I, 28
erfolgt sie im 1. oder 3. Jahre; bei Kshatriyas im 5., bei Vaicyas im
7. Jahre. Nach Acvaläyana I, 17 im 3. Jahr oder nach der Sitte der
Familie; nach Päraskara II, 1 f. vom 1. bis zum 3. Jahr, nach Khädira
II, 3, 16 im 3. Jahre.
128 Kohler.
(XVIII, 1, 44i), 453) u. s. w. Bei den Mudliars in Scho-
lapur erfolgt sie zwischen 1. — 3. Jahr (XX, 46), bei den
Ghisadis und Kuranjkars ebenda im 2. — 3. Jahr (XX, 102,
100), bei den Vanjaris in Puna zwischen 1. — 3. Jahr, bei den
Dhors ebenda zwischen 1.— 5. Jahr (XVllI, 1, 429, 433);
ebenso bei den Kataris undKhatris in Puna (XVIII, 1, 345,346);
bei den Bhils in Panch Mahal zwischen 2. — 5. Jahr (III, 220).
In S i n d h geschieht sie zwischen dem 3. Monat und
1. Jahr 10»).
Bei manchen Stämmen kann die Ceremonie verschoben
werden; so bei den Otaris in Puna bis zum 12. Jahr (XVIII,
1, 356), bei den Gavlis in Scholapur zwischen das 8. — 10. Jahr
(XX, 148), bei den Bhadbhunjas in Puna zwischen 1. — 7.
Jahr (XVIII, 1, 320).
Bei manchen Klassen findet die Haarschurceremonie für
Knaben und Mädchen statt; z. B. bei den Hatkars (Webern)
in Bijapur (XXIII, 269), bei den Bhois (Hirten) in Scho-
lapur (XX, 152); bei den Gavlis in Puna (XVIII, 1, 387).
Bei den Bhavsars (Färbern) in Puna wird das Mädchen nur
geschoren, wenn es nicht 3 Jahr älter ist, als der jüngste
Sohn (XVIII, 1, 323).
Die zweite Inititiationsfeier, die Gürtung, das upanä-
yana (auch munj) ist gleichfalls bis in ziemlich niedere
Schichten der Bevölkerung im Gebrauch, obgleich sie eigent-
lich nur ein Anrecht der zweifach geborenen ist^^*^). Sie
findet gewöhnlich unter Zuziehung eines Priesters, eines guru
statt, oft mit grossem Ceremoniell. Manchmal wird sie, wie
noch unten zu erwähnen, bis zur Ehe verschoben und bildet
dann einen Bestandtheil der Eheceremoniem).
109-
0 Burton, Sindli p. 259.
^^°) Zeitschr. III S. 409. Sie findet sich bekanntlich auch bei den
Persern, bei den alten Persern, wie noch bei den Parsen der heutigen
Tage, wo der Gürtel kosti heisst, und wo er jetzt schon im 7. Jahre
angelegt wird, Spiegel, Avesta (Leipzig 1852, 1859) II S. XXI f.
^^') lieber die offiziellen Formalitäten und Zeiten vgl. Vasishtha
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 129
Die Gürtung findet natürlich statt bei den Apastamba-,
Hironya-, Keshis-Brahmanen und anderen Brahmanenklassen in
Thana (XIII, 1, 74, 75, 78, 81, 82, 84, 86), bei den Des-
hasth und den Kanoj-Brahmanen in Dharwar (XXTI, 76), bei
den Chitpavan-, Kanoj-Brahmanen in Puna (XVIII, 1, 120, 168),
bei den Deshasths in Bijapur (XXIII, 85), bei den Kanoj-
Brahmanen in Nasik (XVI, 42), den Marwar-Brahmanen in
Ahmadnagar (XVII, 61); bei den Shenvis in Kanara
(XV, 1, 153). Aber auch bei den Kayasth Prabhus in Thana
(XIII, 1, 89), bei den Kaufmannsklassen der Bavkule Vanis,
der Kannad Vanis, der Baudekar Vanis, der Narvekar Vanis,
der Lad Vanis, der Padnekar Vanis in Kanara (XV, 1, 174,
181, 182, 184, 185, 186). Aber auch bei den Panchalis (Hand-
werkern), den Tambats (Kupferschmieden) in Scholapur
(XX, 126, 142), den Karanjkars und Kasars (Arbeitern) in
Satara (XIX, 85, 85), den Sutars (Zimmerleuten) ebenda
(XIX, 96), bei den Sonars (Groldarbeitern) , den Wäschern in
Belgaum (XXI, 148, 152), bei den Dasarus (Bettlern und
Musikanten) ebenda (XXI, 180), bei den Tambats (Kupfer-
schmieden) und den Khatris (Webern) in Puna (XVIII, 1,
376, 346), den Guravs (Musikanten) ebenda (XVIII, 1, 379),
bei den Patsalis (Seidenwebern) und den Shirogars in Kanara
(XV, 1, 276, 227), bei den Sutars (Zimmerleuten), Tambats
(Kupferschmieden) in Ahmadnagar (XVII, 138, 140); bei
den Handwerkerklassen der Devangs (Weber) und Istaverus
in Bijapur (XXII, 166, 169), bei den Sonars (Goldschmieden)
und den Halvais (Zuckerbäckern) in Thana (XIII, 1, 140,
152); bei den Lads Vanjaris in Nasik (XVI, 62).
Die Zeit der Gürtung differirt; meist im 7., 8. bis
XI, 49 f., Cänkhäyana-Grihya-Sütra II, 1, ħvaläyana I, 19,
Päraskara II, 2, Khädira II, 4. Ein Brahmane soll hienach ein-
geweiht werden zwischen dem 8. u. 16., ein Khatriya zwischen dem 11.
II. 22., ein Vaigya zwischen dem 12. u. 24. Jahre von der Konzeption an.
Vgl. auch Weber, Indische Studien X S. 21, 122. Nur ein so Geweihter
darf oi^fern; Apastamba 11, 6, 15, 19 und 24.
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. X. Band. 9
130 Kohler.
10. oder 11. Jahr; vgl. z. B. XIII, 1, 74, 78, 81, 82,
84; XXI, 148, XXII, 94, 100, 166; XXIII, 85; XX,
44, 106, 176; XVIII, 1, 345, 346, 376; XXI, 102, 140,
145; aber auch bis zum 12. Jahr, z. B. bei den Parits d. h.
Wäschern (XXI, 152), aber auch bei den Baudekar Vanis in
Kanara (XV, 1, 182), den Jainas, ebenda (XV, 1, 234);
bis zum 13. Jahr bei den Kupferschmieden (Tambats) in
Ahmadnagar (XVII, 140), oder bis zum 14. Jahr, z. B. bei
den Narvakar Vanis in Kanara (XV, 1, 184), oder bis zum
15. Jahr bei den Goldschnjieden, Schneidern und Zimmerleuteu
in Ahmadnagar (XVII, 136, 101, 138).
Von den Gürtungsceremonien ist insbesondere zu erwähnen
die Vorhangscene, ähnlich der Vorhangscene bei der Ehe:
der Vorhang wird zwischen dem Kind und dem Vater gehalten ;
dazu kommt die Reisbeschüttung, um die guten Geister
herbeizurufen, das Anzünden des Altarfeuers (hom)^^^);
endlich die bei der Gürtung oder nachher stattfindende Scene
des samävarttan, die Rückkehr: der Gegürtete thut zunächst
als Brahmäcärya^^^), als wolle er nach Benares gehen und
sich aus der Welt zurückziehen, er sammelt Almosen bei den
Umstehenden; dann wird ihm gesagt, er solle nicht nach
Benares gehen, er solle im Leben bleiben, man wolle ihm
seine Tochter zur Ehe geben (namentlich sagt dies der
Avunculus). Vgl. darüber beispielsweise XXIV, 46, 49 ; XX,
106—109, 128; XVIII, 1, 120, 168, 187; XV, 1, 276.
Manche Stämme tragen zwar den Gürtel, haben aber
keine besondere Feierlichkeit bei der Anlegung desselben,
z. B. die Lohars (Schmiede) in Satara und in Belgaum
(XIX, 88; XXI, 142), die Komtis in Scholapur (XX, 55);
oder sie verbinden die Gürtung mit der Ehe, z. B. die
^^^) Dies ist auch offizieller Ritus; vgl. Ä^valayana I, 21.
^'^) Ueber die Pflicht der Brahmäcärya vgl. A^valdyana II, 1;
über das Almosensammeln, Päraskara II, 5. In den obigen Gewohn-
heiten wird die Lehrzeit fingirt und erfolgt sofort das samiivarttan, das
sonst erst nach der Lehrzeit stattfindet.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. - 131
Shetiyars in Bijapur (XXIII, 162): wenigstens oft, die
Kasars in Scholapur (XX, 118); die Patni Sonis (Gold-
schmiede) und die Gugar Lishars (Schmiede) in Katsch (V,
71, 12), die Kshatris und Kayats in Kandesch (XII, 54, 55).
Bei den Kushasthalis erfolgt mindestens das samävarttan erst
am Tag der Ehe (XV, 1, 170).
Bei vielen der unteren Klassen findet keine Gürtung statt,
namentlich nicht bei den ganz niederstehenden und als unrein
geltenden ; so nicht bei den Vanjaris, den Dhors, den Halak-
hors, den Chitrakatis, den Holars (XVII, 1, 429, 433, 437, 449,
453), welche aber sämmtlich die Haarschurceremonie pflegen;
ferner haben die Ramoshis in Belgaum keine Puber täts-
ceremonie (XXI, 175); die Nhavis (Barbiere), Dhangars (Schä-
fer), Gavlis (Hirten), Bhois (Fischer) in Puna haben Haarschur,
aber keine Gürtung (XVIII, 1, 381, 385, 387, 388), ebenso
die Shimpis (Schneider) in Belgaum und in Nasik (XXI,
148, XVI, 51), ebenso die Dhangars, Gavlis, Bhois, Kolis in
Scholapur (XX, 146, 148, 151, 156).
Aber auch die Gujarat Vanis in Bijapur haben keine
Gürtung (XXIII, 106).
Bei einigen Stämmen kommen andere Initiationsfeierlich-
keiten vor; so bei den Lingayats die Anlegung des Ling,
des Amuletts ^^^), oft in den ersten Tagen nach der Geburt,
am 1. Tag bezw. am 5. oder 6. Tag; so bei den Jangams
(Priestern), den Gavandis (Maurern), Bilejadars (Webern), Patta
Salis in Dharwar (XXII, 111, 147, 164, 174), bei den Nadigs
in Bijapur (XXIII, 256), bei den Lingayats in Scholapur
(XX, 83, vgl. 143), in Belgaum (XXI, 136, 150); bei den
Lingayat Vanis in Kolaba mit 7 Jahren (XI, 49), bei den
Dhangars in Belgaum ausnahmsweise erst vor der Ehe (XXI,
153). Die Lingceremonie findet bei Knaben und Mädchen statt,
da der Glaube der Lingayats beide Geschlechter gleichstellt.
^^^) Eine Besonderheit des Vira-Qaivakultus ; das Amulett hat die
Form des Phallus.
132 Kohler.
Seltenere Ceremonien sind: die Ohrringanlegung bei
den Tromnilern (Davris) in Belgauna im 12. Jahr (XXI^
180); bei den Bharadis (Tänzern) in Ahmadnagar (XVII;
190); bei der Bettlerklasse der Bharadis in Puna zwischen dem
5. und 8. Jahr (XVIII^ 1, 447). Ferner das Ohrenschlitzen
bei den Kanphatas in Kandesch im 10. Jahr (XII^ 124); das
Ohrenblasen und das Verse- ins-Ohr-Murmeln bei den Mhars
in Scholapur^ Ahmadnagar, Nasik, Thana (XX, 176,
XVII, 175, XVI, 66, XIII, 1, 193).
Bei den Nairs in Kanara erfolgt die Verleihung des
Grürtelmessers im 16. Jahr (XV, 1, 196).
Die Islamiten ^^^) vollziehen, wenn sie nicht gar zu
laxe sind, im 4. Monat nach der Geburt das Akikaopfer ^^^), und
mit 4 Jahren, 4 Monaten, 4 Tagen die Initiationsfeier des bis-
milla^^^); die Beschneidung erfolgt im 7. Jahr^^^): so in
Puna (XVIII, 1, 488, 489), Satara (XIX, 136, 137), Bel-
gaum (XXI, 200, 201), Ahmadnagar (XVII, 223), Bijapur
(XXIII, 285).
Auch die Haarschurceremonie findet sich bei ihnen, z. B.
in Belgaum am 40. Tag, oder im 1. oder 2. Jahr (XXI,
200, 201)^19).
§ 26.
Dass die Adoption auch in diesen Theilen Indiens vor-
kommt, ist sicher, obgleich wir aus unseren Berichten ziem-
lich wenig darüber erfahren ^^^).
Ist bei den Ambigs (Fischern) in Kanara das Kind an
1^^) Ausführliches darüber bei Herklots p. 23 f., 33 f.
^^') Vgl. auch Herklots p. 30.
^^M Vgl. Herklots p. 39; man lehrt das Kind den Namen Gottes
sprechen.
^'^) Herklots p. 43: zwischen 7 u. 14 Jahren.
•19) Vgl. Herklots p. 31.
^20) Ueber die Adoption im Dekkan, Zeitschr. VIII S. 109 t\: im
Pendschab VII S. 218; in Bengalen IX S. 336.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 133
einem ünglückstag geboren, so wird es in Adoption gegeben, da
das Unglück in die Adoptivfamilie nicht mit übergeht (XV, 1, 303).
Eine besondere Art mehr spiritueller Adoption ist die
Schüleradoption der Priester oder Bettelmönche, wie der Gosa-
vis in Kanara (XV, 1, 351) ^2^) und der Banjigs ebenda
(XV, 1, 177).
Auch von Frauenadoption erfahren wir; die Tänzerinnen
der Kasbans in Belgaum adoptiren sich gefallene Mädchen,
welche die Prostitution fortsetzen; die Adoptivmutter heisst
baii22) (^XXI, 225).
§ 27.
Das Todtenopfer ^^^) ist hier insoweit zu besprechen,
als es mit juristischen Ideen verknüpft ist. Dies ist einmal in
der Art der Fall, dass der Ahnenkult bei den Hindus, wie bei
anderen Völkern, der Angelpunkt der patriarchalisch agnatischen
Familie gewesen ist. Daher hat die Jahresfeier zum Gedächt-
niss der männlichen Ahnen ihre ganz besondere Bedeutung.
Sie ist ausnehmend verbreitet, auch bei niederen Klassen; so
bei den Pahadis (Landleuten) in Puna (XVIII, 1, 313) u. a.
Besonders aber ist diejenige Todtenfeier bezeichnend, die
darin besteht, dass das verstorbene Familienhaupt unter die
Sapindaahnen aufgenommen wird. Bekanntlich besteht die
Sapindaverwandtschaft ^^*) aus drei Parentelen auf- und drei
Parentelen abwärts ; von den Ahnen kommen also in Betracht
Vater, Grossvater und Urgrossvater: stirbt nun das Familien-
haupt, so tritt dieses als Vater ein, der bisherige Vater wird
Grossvater, der bisherige Grossvater Urgrossvater, der bisherige
Urgrossvater fällt weg. Die Ceremonie, worin diese Umwand-
^21) Ueber dieselbe auch Zeitschrift VIII S. 112.
^^^) Bai (mahrattisch) = Herrin (Wilson p. 46).
^^0 Vgl. auch Colebrooke, Essays p. 101 f. Vgl. auch meinen
Aufsatz über den Animismus bei Hindustämmen im „Ausland" 1891.
124^ Vgl. auch Baudhäj^ana I, 5, 11 § 9. Auch Krit. Vierteljahrs-
schrift. N. F. IV S. 12; Zeitschr. VIII S. 93.
134 Kohler.
lang vollzogen wird^ besteht darin^ dass der Verstorbene und die
Ahnen durch Reisklöse repräsentirt werden: der Reisklos des
Verstorbenen wird in drei Theile getheilt und diese Theile mit
den Reisklösen der bisherigen Sapindaahnen verbunden : dadurch
wird das Familienhaupt in die Ahnengruppe aufgenommen ^'^^).
So bei den Deshasth- und Kanoj-Brahmanen in Dharwar
(XXII, 86, 95), bei den Chitpavans in Puna (XVIII, 1, 154).
Dies ist ja bereits die Vorschrift von Vishnu XXI, 17 (Ueber-
setzung Jollys in den Sacred Books of the East VII p. 86):
let him knead together the ball of the deceased person with
the three balls . . . Auch ist es ein altindischer Satz, dass drei
Ahnen: Vater, Grossvater, Urgrossvater angerufen werden
(Weber, Indische Studien X S. 82); womit auch der Gebrauch
verglichen werden kann, dass bei gewissen Stämmen der älteste
Sohn nach dem Grossvater, der zweite nach dem Urgrossvater,
die übrigen nach Seitenverwandten benannt werden (Zeit-
schrift IX S. 335).
Dass das System der Korwars^^^), der Ahnenbilder, bei
verschiedenen Stämmen gilt, darüber verweise ich auf meine
citirte Ausführung über den Animismus im ^^Ausland^^ 1891.
Bei manchen Stämmen wird eine Art bürgerlichen
Todes über denjenigen verhängt, der andern Glaubens wird,
oder über ein Weib, das vom schlechten Lebenswandel nicht
lassen will: der Betreffende wird in effigie verbrannt, ein
Klumpen an dessen Stelle; so in Puna (XVIII, 1, 564).
^^''') Es ist das Sapindikarana ; vgl. darüber Qänkhäyana-
Grihya-Sütra IV, 3; V, 9; Päraskara III, 10, 50 und 51. Hier heisst
es (Uebersetzung Oldenberg, Sacred Books XXIX p. 359): When the
pindas are prepared, the deceased person, if he has sons, shall be con-
sidered as the first of the fathers. The fourth one should be left out.
Aber es findet sich auch der Gebrauch, dass dem Verstorbenen ein Jahr
lang neben den drei früheren Ahnen geopfert und er erst dann als erster
Ahne in die Ahnenschaft aufgenommen wird.
^^^) Der Name ist von den Papua entlehnt, kann aber wie beispiels-
weise der Name Totem, zur allgemeinen ethnographisch-juristischen Be-
zeichnung gebraucht werden.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 135
IL Sachenreclit.
§ 28.
Die in Bengalen noch ziemlich vertretene Jumkultur
d. h. Hauberg- oder Feldgraswirthschaft ^^^)^ wo Wald und
Busch gerodet^ verbrannt, und wo dann in die Asche hinein
gesät wird^ findet sich noch in Kanara^ aber jetzt sehr selten
(XV, 2, 188).
§ 29.
Die Dorfgemeinschaft in der Art des Pattidarisy-
stems^^^), wornach zwar der Boden an die Familien vertheilt
wird, aber so, dass die einzelnen Theilgenossen immer noch
eine Gemeinschaft bilden und für die Steuern zusammen
haften, und dass, wer seinen Steuerantheil nicht zahlt, seinen
Antheil an die übrigen verliert, ist noch nicht völlig ver-
schwunden. Es findet sich in Kaira: der Antheil heisst
bhag^^^), der Inhaber desselben bhagdar (III, 88, 89).
Die Antheile der bhagdars sind veräusserlich ; dies wird aus-
drücklich vermerkt für Ahmadabad, wo dieses System gleich-
falls noch vertreten ist (IV, 156). In Bharotsch war diese
Art von Dorfgemeinschaft früher überwiegend (II, 482, 483);
die Stürme der Mahrattenzeit haben aber die ehemaligen Eigen-
thumsverhältnisse vielfach gebrochen.
§ 30.
Das Obereigenthumssystem mit seiner hierarchischen
Unterordnung, das in Bengalen die Grundeigenthumsverhält-
nisse so verwickelt hat^^*^), ist in unserem Theile Indiens
^2^) Zeitschr. IX S. 336 f., VIII S. 264.
^28) Zeitschr. VII S. 166 f., IX S. 337. Patti ist Theil, pattidär
ist der Inhaber eines Theiles.
^29) Bhäg, bhäga = Theil (Wilson p. 74).
^•^<^) Zeitschr. IX S. 338 f.; auch VIII S. 120, 268 f.
130 Kühler.
durchaus nicht in gleichem Masse herausgestaltet worden.
Allerdings fehlt es auch hier nicht an Beispielen.
In Ratnagiri und in Kolaba ist sehr häufig der über
der Gemeinde stehende Rentbeamte, khot^^^), zum Obereigner
geworden, indem er von sich aus die Gemeindesteuern ent-
richtete und sich derenthalben an die Bauern kehrte; er bekam
das Recht, Rodland und solches Land, welches von den Kul-
tivatoren verlassen war, zu verpachten, was zur neuen Quelle
seines Einkommens wurde ; zugleich erwarb er sich als Guts-
herr publizistische Befugnisse und verdrängte meist den patil,
den Bürgermeister, oder nahm ihm die Selbstständigkeit.
Früher konnte er auch Frohnden verlangen.
Nicht selten sind die Khot-Berechtigungen im Mitbesitz
mehrerer, welche die Herrschaft im Turnus führen.
Auch in Savantvadi finden sich Khots, aber weniger
häufig.
Die englische Regierung hat durch Akte von 1880 die
Rechte der Khotinhaber geregelt. Vgl. über das Gesagte X^
137, 139, 204, 206, 450, XI, 87, 164, 166.
In Kolhapur gilt das ganze Land als ursprüngliches
Fürstenland, welches aber theilweise durch sanad zinslos ver-
liehen worden ist, insbesondere an Stiftungen: devasthan ^^^).
Auch in Kathiawar sind die Dörfer vielfach im Eigen-
thum eines oder mehrerer Grundherren, mit Veräusserungsrecht
und mit publicistischen Gerechtsamen ; letztere sind allerdings
in der britischen Zeit weggefallen (VIII, 171, 319). Aehnlich
in Baroda: hier heissen die Dorfeigenthümer narvadars oder
(sofern sie Theilgenossen sind: bhag=Theil) bhagdars (VII,
357, 359); ähnlich die inamdars in Thana (XIII, 1, 535).
In manchen Gebieten gilt das aus dem Bengalrecht bekannte
System der Talukdare oder Zamindare^^^), welche als
131) Khota (mahrattisch). Vgl. Wilson p. 286.
13^) Record of Kolhapur p. 64.
133) Zeitschr. IX S. 338 i\\ vgl. auch VIII S. 270 f.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 137
Dorfeigenthümer und Grundherren die Dorfregierung unter
sich hatten und insbesondere die Dorfbeamten ernannten; so
in Ahmadabad (IV, 179, 184), in Mahi Kantha (V, 386),
in Rewa Kantha ^^*).
Vielfach sind Dörfer in Lehen gegeben worden ; viel-
fach sitzen auch die Bauern auf dem Fiskallande (9eri) und
auf dem Gotteslande, dem Lande, welches als inam^^^) den
Tempeln zugestiftet worden ist, so in Kolhapur (XXIV, 256).
Doch vielfach hat sich auch der Bauernstand im Grund-
besitz erhalten, auch wo die Dorfgemeinschaft sich gesprengt
und das Familieneigenthum ^^^) sich entwickelt hat. Sol-
ches Eigenthumsland heisst in Ratnagiri und Kolaba das
Dharekariland (X, 206, 209, XI, 164, 166); in Savant-
vadi: Khatelisland (X 450)^^^); in anderen Gegenden wird
das gegen die regelmässige Steuer zu ständigem Eigenthum
zugehörige Land als Mirasland bezeichnet; so in Satara
(XIX, 323 f.), in Kolhapur (XXIV, 250), in Ahmadnagar
(XVII, 437). In Kanara heisst das Eigenthümerland das
Muliland; muli ist der Eigenthümer (XV, 2, 186).
§ 31.
Das Land der Grossgrundbesitzer wurde vielfach in Em-
phyteuse vergeben ^^^), insbesondere so, dass die ehemaligen
Eigenthümer nach Entwickelung des Grossgrundrechts zu Em-
phyteuten wurden ; vielfach ist auch die Jahrespacht usuell zur
ewigen Pacht geworden, indem der Pächter nicht verdrängt
wurde und eine, Jahre lang im Genuss erhaltene, Familie als
13 4) Record of Rewa Kanta p. 804 f.
13^3 Qeri Staatsland ist mahrattisch; inäam ■= Gabe, rentfrei ge-
schenktes Land (Wilson p. 217).
136) Zeitschr. VIII S. 121, VII S. 168.
137) Dhärekari (mahrattisch) ist der Bauer, welcher die gebräuch-
liche Grundsteuer zahlt (dharä = Gebrauch); khatelis kommt von khätä,
dem Grundsteuerbuch (Wilson p. 136, 283).
138) Zeitschr. IX S. 340, VII S. 187 f.
138 Kohler.
imverdrängbiir erschien. So das unter der Herrschaft der
Khot- Inhaber stehende Pächterland: khotisbat in Ko-
laba (XI^ 87); so in Kanara die Emphyteuse der mulgeni-
darsi39) (XV, 2, 31, 182, 185, 18G), so in Ratnagiri die
Emphyteuse der vatandar kartas (X, 20G, 209). Die
Emphyteuse ist vererblich, aber nur mit Willen des khot
übertragbar (X, 206, 209); in Kanara kann sie nicht ver-
äussert, aber verpfändet werden (XV, 2, 186).
Vielfach ist das Emphyteuseland auch aus Neubruch
hervorgegangen, indem man das Rodland einem Erbpächter
zur Kultur überliess ; oft so, dass der Zins im Anfang geringer
war und sich dann steigerte ; oft so, dass man ihm das Land
zunächst nur für mehrere Jahre gab und es ihm dann in
ewigem Zins beliess. Solche Rodungsemphyteusen mit gleich-
bleibendem oder wachsendem Kanon finden sich in Kolhapur
(XXIV, 250), in Kolaba: Shilotriland (XI, 166), in
Satara: Istawaland i-^o) (XIX, 323 — 325). So auch das Mul-
geniland in Kanara, wovon soeben die Rede war.
§ 32.
Auch die Zeitpacht spielt eine grosse Rolle ^*^). Die
Zeitpacht heisst in Kanara: chalgeni (XV, 2, 32); in Kaira
heisst sie asami (III, 88); in Ratnagiri: bhadekari
(X, 206, 209, 211); in Savantvadi: kewikul (X, 450);
in Ahmadnagar, Satara und Kolhapur: upri (XVII,
437, XIX, 323 f., XXIV, 250) i*^) Ferner findet sich die
Zeitpacht in Pal an pur (V, 304).
^^^) Mulgaini (kanaresisch) — Neubruchsland (Wilson p. 353).
^^^) Istäwä (mahrattisch) -— eine Taxe, die allmählich anwachsend
der Normtaxe zustrebt (Wilson p. 220).
'''') Vgl. auch Zeitschr. IX S. 342, VII S. 188.
^■•2) Chäli gaini = Zeitpächter (kanaresisch), bhadekari von
bhäde Rente (mahrattisch), kewikul von kewi Ausmärker und kul
Familie, upri oder upari Fremder, Ausmärker (Wilson p. 99, 74, 273,
300, 534).
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 139
Namentlich die Zeitpacht an Ausmärker ist eine häufige
Erscheinung, so in Ratnagiri, in Satara (1. 1. c. c.), in
Rewa Kantha^*^). Daher kewikul^ upri (Note 142).
Besonders verbreitet ist die Theilpacht ^*^); so in
Ahmadabad in verschiedenen Verhältnissen, z. B. Feld-
land zu ^2 und ^/2, Gartenland zu ^/4 oder ^s (Pächter) und
^/4 bezw. ^/s (IV, 185). Aehnlich in Ratnagiri: der Domi-
nus bekommt ^/2, ^s oder V* (ardheli, thirdeli, chandeli)
(X, 211); ähnlich in Savantvadi (X, 450). In Kanara
bekommt bei der Pacht von Gartenland (nakdi) ^^^) der
Pächter ^/2, wenn er Bäume neu pflanzt; ist der Garten schon
mit Bäumen bepflanzt, so heisst die Theilpacht sulgi und
der Pächter bekommt nur ^/s (XV, 2, 186). In Palanpur
bekommt der Eigenthümer ^/e bis ^/2 (V, 305).
Dabei finden sich mehrfach Variationen. Auf der einen
oder anderen Seite wird ein Vortheil gestattet, z. B. dass der
Pächter Stroh und Gras am Grasrain für sich hat, so in
Ahmadabad (IV, 185). In Thana stellt der Eigenthümer
die Hälfte des Saatkornes und der Zugthiere, dann erhält er
die Hälfte der Früchte, sonst weniger (XIII, 1, 530). Auch
der in Bengalen so viel vorkommende Unterschied ^^^), dass
die Frucht entweder auf dem Feld oder erst in der Tenne
geschätzt und zugetheilt wird, ist vertreten in Kathiawar;
hier heisst die Theilpacht bhagvatai (VIII, 320). Endlich
findet sich die Theilpacht auch in Kolhapur ^^'^).
^"^O Record of Rewa Kanta p. 805.
1*^) Vgl. Zeitschr. IX S. 344, VII S. 189.
^'*^) Nakdi ist eigentlich Geldpacht, von nakd = Geld (Wilson
p. 363). Vgl. auch Zeitschr. IX S. 343.
1*6) Zeitschr. VIII S. 95.
1*') Record of Kolhapur p. 65.
140 Kühler.
§ 33.
Die Dienstallmende, das Chakaranland^ ist tief im
indischen Dorfwesen begründet ^'^); der Bürgermeister, der
Rathschreiber, der Dorfbote, die verschiedenen Dorfhandwerker
hatten für ihre Dienstleistungen häufig solches Chakaran-
land, und zwar ganz oder theilweise steuerfrei. Von der eng-
lischen Regierung sind sie vielfach gegen eine geringe Steuer
auf ihrem Gute belassen worden , auch als sie bei der Neu-
regulirung der Verwaltung ihres Dienstes enthoben wurden.
Die Diestallmende war in thesi persönlich, ein Annex
des Amtes, ist aber vielfach mit dem Amt erblich geworden.
So in Baroda (VII, 76, 349), in Bharotsch (II, 383), in
Ahmadabad (IV, 46, 155), in Kathiawar (VIII, 172),
Kandesch (XII, 275), in Rewa Kantha als Pasaita-, auch
Karammilandi^^) (VI, 36, 49); in Bijapur (XXIII, 75),
in Puna (XVIII, 1, 96); so das Dienstland, izafat^^^) in
Thana, das grösstentheils während der Mahrattenherrschaft
entzogen worden ist (XIII, 1, 276, 540); das Balutedarland
in Kolhapur^^^) und sonst.
Das Dienstland ist unveräusserlich, so in Kolhapur ^^^);
doch hat man eine Verpfändung zugelassen, z. B. in Rewa
Kantha (VI, 69).
§ 34.
Die Lehen^^^) sind als Lehen gegen Kriegsdienste oder
Ehrendienste creirt worden; so die jagirs in Satara (XIX,
326), die patavats in Rewa Kantha: letztere aber auch
als dienstlose Lehen , nur dass das Gut sich in Lehenfolge
'*^^ Zeitschr. IX S. 345. Chäkarän = Dienstland.
^'*^) Pasaita oder pasäitun = rentfreies Dienstland (Wilson
p. 405).
^^^) Izäfat eigentlich Vermehrung, also Zulage (Wilson p. 222).
^^0 Record of Kolhapur p. 65, 66. Balutil ~ Dorfbediensteter.
^^^) Record of Kolhapur p. 66.
^5^) Vgl. auch Zeitschr. IX S. 348.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 141
vererbt. Im Fall der Erblosigkeit kann ein Nachfolger adoptirt
werden; es ist aber in sochem Fall eine Lehengabe, ein nazrana
zu entrichten (VI, 67, 68)^^^). Ebenso sind die Lehen in
Mahi Kantha^'^^) vertreten und in Kathiawar (VIII, 319,)
in Satara (XIX, 326), in Kolhapur i^«).
§ 35.
Auch im Bombay lande gibt es Stiftungen, v^rie in ganz
Indien, namentlich solche religiösen Charakters. Solches Stif-
tungsland ist das Inamland in Satara (XIX, 326, 327); das
devasthan (für indischen Kult), das pirasthan (islamitisch)^^'')
in Baroda (VII, 350); das devasthan in Kolhapur ^^^).
Auch Stiftungen für Wasserreichung an Wanderer, für Unter-
haltshäuser an den Landstrassen finden sich; so in Ahmada-
bad (IV, 112).
Vielfach sind die Stiftungen fiduciarischer Na-
tur^^^), indem eine Innung Geld bei Seite legt, welches
künftig unabänderlich diesem Zwecke dienen soll, und dieses
Zweckvermögen durch zeitweise Zuschüsse vermehrt. So in
Ahmadabad (IV, 112, 114 f.), in Katsch (V, 122).
Auch religiöse Stiftungen sind vielfach fiduciarisch:
sie sind vielfach Familienland, das in der Familie sich ver-
erbt, aber in Unterordnung unter den bestimmten Zweck, z. B.
in Kolhapur i^^).
Für uns Occidentalen besonders eigenthümlich sind die
Thierstiftungen , die gestifteten Thierpfründenhäuser, die
^^'*) Vgl. Zeitschr. IX S. 348; nazr oder nazrana, hindostanisches
Wort (Wilson).
^'^) Record of Mahee Kanta p. 35.
'''^) Record of Kolhapur p. 67, 204.
^•^0 Zeitschr. IX S. 349, hier auch über pir.
1^^) Record of Kolhapur p. 64.
'•^^) Ueber den von mir klargelegten Begriff der fiduciarischen
Stiftung vgl. Arch. f. bürgerl. Recht III S. 268 f.
"°) Record of Kolhapur p. 203.
142 Kohler. Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay.
panchrapols, die sich beispielsweise in Ahmadabad, in
Ivatsch, in Sürat^^^) finden, vielfach als fiduciarische Stif-
tungen (1. 1. c. c). Es sind Stiftungen für herrenlose, oder
kranke oder vom Tode erkaufte Thiere; sie haben einen
besonderen Insektenraum: jivat khana.
Die Stiftungen haben Vorsteher und Kassenführer (Ahma-
dabad IV, 114 f.)
'^') Howe p. 175 f.
(Fortsetzung folgt.)
Literarische Anzeigen.
Seefeld^ Carl. Die Verbreitung der Rechtskenntniss. Ham-
burg 1890. (Deutsche Zeit- und Streitfragen, Heft 11.)
Zur Bekämpfung der leider herrschenden Rechtsunkenntniss
empfiehlt Verfasser zunächst kostenfreie Zustellung aller neuen Ge-
setze wenigstens an die Wahlberechtigten, sodann häufigeren Be-
such der Gerichtsverhandlungen seitens derjenigen Personen, die
bereits einige Rechtskenntnisse besitzen, ferner vor- und umsichtige
Gründung von Vereinen zur Verbreitung der Rechtskenntniss und
endlich schriftliche und mündliche orientirende Belehrung, die letzten
selbst in Schulen erster und zweiter Ordnung. Die Heranziehung
des Laienelements zur Rechtsprechung sei mehr ein Grund, als ein
allgemeines Mittel zur Verbreitung der Rechtskenntniss. Die wohl-
meinende kleine Schrift ist klar abgefasst. Auffallend ist die irrige
Behauptung (S. 7), dass Sachsen- und Schwabenspiegel viele Ele-
mente des römischen Rechts enthalten ; das trifft für den Sachsen-
spiegel bekanntlich nicht zu. G. C.
Civilistische und civilprocessualische Literatur.
Auf den Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches bezieht sich :
Schröder. Das Familiengüterrecht in dem Entwürfe eines
bürgerlichen Gesetzbuches. Berlin 1889.
Der Verfasser tritt der Kommission darin bei, dass sie die sog.
Verwaltungsgemeinschaft zum gesetzlichen System erhoben hat. Ich
kann dem nicht zustimmen; ich halte das System der Gütergemein-
schaft, sei es der allgemeinen, sei es auch nur der Errungenschafts-
X44 Literarische Anzeigen.
gemeinschaft für das der modernen Elieauffassung entsprechendste.
Will man aber die sog. Verwaltungsgemeinschaft, so soll man sie
nicht nach der Art des Entwurfs als ususfructus maritalis ge-
stalten. Das Recht des Ehemannes muss ein mit der eheherrlichen
Gewalt verbundener Dispositionsniessbrauch sein. Ueber diese und
andere Punkte gibt der Verfasser sehr schätzenswerthe Ausführungen.
Wir verweisen insbesondere auch auf seine Erörterungen über die
Gütergemeinschaft. Kohler.
Gutachten aus dem Anwaltstande über die erste Lesung des
Entwurfs eines bürgerlichen Gesetzbuches. Berlin 1888
bis 1890.
Sie enthalten eine Reihe schätzenswerther Abhandlungen; dar-
unter beispielsweise die vorzügliche Arbeit von Löwen feld über
Dienst-, Werk- und Auftragsvertrag (S. 858 f.), die kenntniss-
reiche Arbeit von Hachenburg über Schuld Verhältnisse aus Rechts-
geschäften unter Lebenden (S. 110 f.), die anregende Arbeit von Staub
über die Eigenthümerhypothek (S. 407 f.) u. a. Kohler.
Alexander Katz endlich gibt: Erläuternde Anmerkungen zu
den Vorschriften des Entwurfes eines bürgerlichen Gesetz-
buches. Berlin 1888.
Die Erläuterungen sind kurz , bündig und zum Gebrauche
förderlich; insbesondere auch die häufigen Nachweise verwandter und
bezüglicher Bestimmungen. Köhler.
Scherer. Das rheinische Recht und die Reichs- und Landes-
gesetzgebung. L Bd., 2. Aufl. Mannheim 1889.
Die CoUision der Reichsgesetze mit dem französisch-rheini-
schen Recht und die Lösung dieser Konflikte bildet das Problem,
dessen Bewältiofunef sich der Verfasser mit Geschick unterzieht.
Dabei werden moderne Institute, wie die Institute des Haftpflicht-
und Unfallversicherungsrechts, des sog. geistigen Eigenthnms u. a.
mit besonderer Ausführlichkeit behandelt.
Kohler.
Literarische Anzeigen. 145
Die preussischen Notariatsgesetze finden in der Schrift von :
Weissler, Das preussische Notariat im Geltungsgebiet der all-
gemeinen Gerichtsordnung. Berlin 1888
eine tüchtige und eingehende Darstellung , welche nicht nur
die Gesetze von 1845 und die verwandten preussischen Gesetze um-
fasst, sondern auch die neuen Reichsgesetze, soweit sie das Notariat
berühren, mit in den Kreis der Erörterungen zieht. Kohler.
Zwei civilistische Arbeiten aus der Besitzlehre sind:
I. Stintzing. Der Besitz. I. Buch : Wesen desselben. München
1889.
IL Pflüger. Die sog. Besitzklagen des römischen Rechts.
Leipzig 1890.
Beides Beiträge, um das geheimnissvolle Bild der Besitzlehre
historisch und dogmatisch zu entschleiern. Pflüger weist auch
auf die deutschen Gewere hin : in der That kann auch hier nur
eine Verbindung des römischen und deutschen Rechts frommen, — es
ist der Weg, auf den ich in meinen Pfandrechtlichen Forschungen
(S. 166 f.) hinwies; wo ich auch meine Auffassung des animus
domini dargelegt habe. Meine dortige Darlegung kann ich durch
Stintzing (S. 127) nicht als widerlegt erachten.
Kohler.
Eine weitere romanistische Arbeit ist :
Grueber. The Roman Law of damage to propertj. Oxford
1886.
Der Verfasser gibt eine ausführliche Darstellung der römischen
Lehre von der lex Aquilia unter tiefem Eingehen in die Details.
Die Arbeit, welche zunächst einen Kommentar des Pandektentitels,
sodann eine systematische Darstellung enthält, ist schätzenswerth,
fordert aber in manchem den Widerspruch heraus. Dass die Aqui-
lische Klage sich nur auf Tliun, nicht auf Unterlassen beziehe
(S. 208 f.) , halte ich nicht für begründet, üeber die actio legis
Aquiliae des Pfandgläubigers verweise ich auf meine Pfandrechtlichen
Forschungen (S. 224 f.). Kolller.
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. X. Band. 10
140 Literarische Anzeigen.
Um auf das Handelsrecht überzugehen :
Die Actes du congrc^s international de droit commercial de
Bruxelles 1888. Droit maritime, lettre de change. Paris-
Bruxelles 1889
bieten eine Fülle des belehrenden Materials und müssen daher
den Bearbeitern dieser Lehren angelegentlichst empfohlen werden.
Kohler.
Bemerkenswert!! ist ferner :
Simonsoii. Das österreichische Warrantrecht. Berlin 1889.
Der in der Warrantliteratur bereits bekannte Verfasser bietet
eine Besprechung des österreichischen Warantgesetzes vom 28. April
1889 mit legislativen Erwägungen. Die Arbeit ist gründlich und
tüchtig. Allerdings können wir nicht allen Anschauungen bei-
stimmen. Das Zweischeinsystem vertreten auch wir, halten aber
die Einregistrirung der Pfandforderung ins Lagerbuch für eine un-
umgängliche Einrichtung. Ob sich das Beleihungsverbot auf die
Dauer bewähren wird, möchten wir bezweifeln. Kolller.
Weiter ist hervorzuheben:
1. Ein Supplement zu den
Anglo-Indian Codes 1887 — 1888 von Stokes. Oxford 1889.
Dasselbe bietet, als neue Gesetze, namentlich das Gesetz über
Marken und Waarenbezeichnungen, sowie das Erbschaftslegitimations-
gesetz, beide von 1889; ausserdem, auf Grund der Jurisprudenz, eine
grosse Reihe von Zusätzen zu dem in Stokes Ausgabe enthaltenen
früheren Material. Von den genannten Gesetzen ist insbesondere das
erstere, sich in seinen Gedanken an die neueste englische Markenge-
setzgebung anschliessend, von grösster Bedeutung für den Weltmarkt.
Kolller.
2. Selim. Uebersicht der englischen Rechtspflege vom prakti-
schen und kaufmännischen Standpunkte aus. Leipzig,
Wien, London 1886.
Der Autor gibt ausser einigen ziemlich wenig ergiebigen hi-
storischen Notizen eine Reihe von Gesetzen theils in Uebersetzung
(wie die Wechselordnung), theils in auszugsweiser Darstellung, so
insbesondere das Konkursrecht, das Patent-, Autorrecht und so ver-
Literarische Anzeigen. 147
schiedenes andere. Einen geregelten Ueberblick über das in der
englischen Jurispndenz entwickelte Kecht bietet das Werk nicht
und auch in den vom Verfasser behandelten Materien wird das directe
Studium des Gesetze meist förderlicher sein, als die Leetüre des
Buches. Kolller.
3. Burckhard. System des österr. Privatrechtes. Zweiter
Theil : Elemente des Privatrechtes. Dritter Theil : Die ein-
zelnen Privatrechtverhältnisse. Erste Abtheilung (1. Heft
Besitz, 2. Heft Grundbuchsrecht). Wien 1884, 1885, 1889.
Wenn wir auch in gar manchen Punkten dem Verfasser nicht
zustimmen, so finden wir doch in seiner anregenden und kenntniss-
reichen Darstellung eine Reihe bedeutsamer Erörterungen, welche
vielseitige Belehrung geben und ein fruchtbares Ferment der
Weiterentwickelung gewähren. Kolller.
4. V. Waldkirch. Erwerb und Schutz des Eigenthums an Mo-
bilien nach Titel VI Abschnitt I des Bundesgesetzes über
das Obligationenrecht. Zürich 1885.
Das Schweizer Obligationenrecht hat bekanntlich einmal den
Satz angenommen, dass bei Mobilien Eigenthum nur durch Tradition
übergeht, und sodann, dass der gutgläubige Erwerber Eigenthümer
wird, auch wenn es dem Ver ausser er an Eigenthum fehlte ; jedoch
vorbehaltlich der 5jährigen Vindication gestohlener oder verlorener
Sachen (a. 199. 205. 206). lieber diese Materien verbreitet sich
die Abhandlung des Verfassers in ausführlicher Weise. Er hebt
insbesondere hervor, dass der Eigenthumserwerb des gutgläubigen Be-
sitzers ein originärer Erwerb ist, und dass durch diese gesetzliche Be-
stimmung nicht der Eigenthumsbegriff geschwächt, sondern nur die
Lehre vom Eigenthumserwerb verändert wird. (S. 65.) Kohler.
Ueber die Sachmiethe nach dem Schweizer Obligationsgesetz
haben wir in der Schrift von
5. Janggen. Darstellung und Kritik der Bestimmungen des
schweizerischen Obligationenrechtes über die Sachmiethe
(Art. 274-295). Basel 1889,
eine sehr tüchtige, durch gesunden praktischen Sinn ausge-
zeichnete Darstellung, unter reicher Benützung der schweizerischen
148 Literarische Anzeigen.
Praxis. Besonders interessant ist der Abschnitt über den Satz:
Kauf bricht Miethe, welchen bekanntlich das Schweizer Obligationen-
gesetz angenommen hat, jedoch so, dass es dem kantonalen Rechte
vorbehielt, durch Eintrag in das Grund- oder Hypothekenbuch eine
Wirkung gegen Dritte zu gewähren (a.281): ein solcher Eintrag ist in
verschiedenen Kantonen gestattet (so Zürich, Schaffhausen, Wallis,
Waadt, vergl. das Werk S. 71). Wir sind nun gegen den Grund-
satz : Kauf bricht Miethe ; aber das ist allerdings aus der Praxis
der Schweiz und anderer Ländern zu entnehmen, dass er nicht zu
so verderblichen Folgen führt, wie man gemeint hat. Immerhin ist
es, auch wenn Missstände nur in einer beschränkten Zahl von Fällen
aus einem Rechtssatze hervorgehen, gerathen, ihn zu vermeiden.
Ausserdem ist insbesondere der Abschnitt über das Retentions-
recht des Vermiethers hervorzuheben ; das Schweizer Obligationen-
recht hat hier Mängel und Unvollständigkeit, die aber jetzt theilweise
durch die §§ 28o und 284 der Schweizer K.-O. gehoben werden dürften.
Kohler.
Auf dasselbe Thema bezieht sich die Schrift von
6. Heilbberger. Die Sachmiethe nach dem schweizerischen Ob-
ligationenrecht, mit Berücksichtigung des geraeinen Rechtes
und des Entwurfes eines bürgerlichen Gesetzbuches für
das deutsche Reich. Zürich 1889^
eine Schrift, welche aber an Tiefe und Kraft der Auffassung
von der ersteren bedeutend übertroffen wird. Kohler.
7. Sieber. Das Recht der Expropriation mit besonderer Berück-
sichtigung der schweizerischen Rechte. Zürich 1889
gibt eine gute, kenntnissreiche, scharfsinnige Darstellung dieser
wichtigen Materie unter weitem rechtsvergleichenden Ausholen
und unter gründlicher Besprechung der intrikaten dogmatischen
Fragen. Kohler.
Streift schon diese Schrift an das öffentliche Recht, so bewegt
sich meist auf öffentlich rechtlichem Boden die Schrift von
8. ßelim. Die rechtliche Natur der Gewerbsconcession.
München 1889.
Dass die Gewerbsconcession , auch wenn es sich um Realge-
werbe handelt, einen publicistischen Charakter hat, ist unzweitVl-
Literarische Anzeigen. 149
haft richtig, und ebenso richtig ist es, dass der Mangel der Con-
cession die civilistische Gültigkeit der trotzdem abgeschlossenen
Civilrechtsgeschäfte nicht oder doch nur indirect berührt; letzteres,
sofern etwa mangels der Concession die Erfüllung realiter unmög-
ich wird und eine Entschädigungspflicht an die Stelle treten muss.
Kohler.
Als neue Zeitschrift soll endlich erwähnt werden
9. Cesare Albicini. Rivista di diritto pubblico,
welche eine erfreuliches Zeuguiss gibt von dem Fortgänge
der Studien des öff"entlichen Rechtes. Die Zeitschrift bietet, soweit
uns ihre Hefte vorliegen, Aufsätze, Entscheidungen (theils vollständig,
theils Auszüge), Literaturberichte. Auf die Entscheidungen machen
wir besonders aufmerksam , beispielsweise auf die Entscheidung
des römischen Cassationshofes v. 14. Mai 1889 (L p. 107) über die
gerichtliche und administrative Kompetenz. Kohler.
Von processualischen Schriften nenne ich
1. Huggenberger. Die Pflicht zur Urkundenedition. München
1889,
welche sich in einem Anhang auch mit den bayerischen Be-
stimmungen über die Archivbenutzung befasst, und
2. Pollack. Die Widerklage. Wien 1889,
welche in historischer Durchführung die Gestaltung der Wider-
klage nach dem jeweiligen Processsystem zu charakterisiren sucht.
Kohler.
In der Schrift von
3. Noest. Die Processkosten. Breslau 1890;
finden wir eine scharfe Polemik gegen unser heutiges System
der Anwaltsgebühren. Der Verfasser sucht darzuthun, dass bei den
Anwaltsgebühren die Höhe des Streitobjects viel weniger in Betracht
komme, als der Umfang der vom Anwalt entwickelten Thätigkeit,
und dass dementsprechend die Gebührenhöhe vom Anwalt selbst nach
freiem Ermessen bestimmt werden sollte.
Kohler.
150 Literarische Anzeigen.
Eine weitere Schrift ist:
4. Prischl. Advocatur und Anwaltschaft. Berlin 1888.
Ein lebhaft, manchmal zu lebhaft und in starken Ausdrücken
geschriebenes, aber von tiefem Gefühl für die Sache eingegebenes,
im Zink'schen Geiste verfasstes Buch, welches insbesondere unsere
Zustände mit den französischen vergleicht. Dass die Trennung der
Advocatur von der Procuratur d. h. der Rechtsausführung von der
Processleitung ein Erforderniss der Zeit ist, spreche auch ich mit
voller Ueberzeugung aus. Durch diese Trennung würde es ermög-
licht , dass die Advocatur , befreit von den formalen und verant-
wortlichen Geschäften des Processbetriebes, sich ganz und ungetheilt
dem Studium der Processsache und der im Processe schwebenden
Rechtsfragen, sowie der Vertretung derselben in bedeutender Rede
widmen könnte. Kohler.
5. ßeiuhold. Die Lehre von dem Klaggrnnd, der Einrede
und der Beweislast. Berlin 1888,
bietet die neue Bearbeitung einer früheren Abhandlung. Die
Lehre von der Beweislast hat allerdings sehr viel von ihrer früheren
Bedeutung verloren, sie wird noch mehr an Bedeutung verlieren,
wenn das letzte Bollwerk des formalen Beweisrechtes, die Eidesdela-
tion, dereinst gefallen sein wird. Die Beweislast ist nur ein äusserstes
Aushülfsmittel der aequitas für den Fall, dass der Richter an der
Gränze des Möglichen steht. Lnmerhin sind die Ausführungen
des Verfassers noch für das heutige Recht bedeutsam. Besonders
weise ich hin auf die Ausführungen (S. 130 f.) über den Einrede-
begriff im modernen Recht. Kolller.
Nessel. Civilprocessrechtliche Erörterungen im Anschlüsse an
die Schriften des Professors von Bülow. Berlin 188G.
Erörtert verschiedene fundamentale Processfragen nach prakti-
schen Gesichtspunkten unter reicher Bezugnahme auf die Praxis.
Hervorzuheben sind die Erörterungen zu § 267 C.P.O.
Kohler.
Mit einer praktisch wichtigen Frage befasst sich die Schrift von
Warnatsch , Ist ein von dem Hauptvermiether
gegen den Hauptmiether erstritten es Bau-
Literarische Anzeigen. 151
miingsurtheil auch gegen den Aftermiether
vollstreckbar? Bunzlau 1889.
Die Frage ist, wenn die Aftermietlie der Räumungsklage nach-
folgt, meines Erachtens sicher zu bejahen. Kohler.
Praktischen Zwecken, bezw. dem Zwecke der juristischen Aus-
bildung dienen:
1. Kalischer. Bemerkungen über die Ausbildung der Gerichts-
referendare in Preussen. Berlin 1889.
2. StansM. Führer durch die Reichs- und preussischen Landes-
gesetze. Düsseldorf 1886.
3. Strützki und Oenzmer. Leitfaden zum Studium des preussi-
schen Rechts. Berlin 1888.
4. Olshausen. Grundriss zu rechtswissenschaftlichen Vorlesungen
an der königlichen Forstakademie zu Eberswalde. I. Heft.
Gerichtsverfassung und Process. Berlin 1889.
5. Wilmowski. Handausgabe der Konkursordnung für das
deutsche Reich. Berlin 1886.
Ferner erschien:
6. Wilmowski. Das Konkursverfahren an einem Rechtsfall dar-
gestellt^ Berlin 1880, in 5. Auflage.
7. Von dem bekannten Kommentare desselben Autors zur
K.-O. ist (Berlin 1889) eine 4. Auflage erschienen.
Auch das Reichsgesetz über die Gewerbegerichte vom 29. Juli
1890 hat bereits Kommentare gefunden, so
8. Bachern. Reichsgesetz, betreffend die Gewerbegerichte. Köln
1890.
Der Kommentar ist auch für das theoretische Studium förderlich.
Kolller.
Bibliographisches und praktisches Interesse hat endlich:
9. Otto Mühlbreclit. Uebersicht der gesammten Staats- und
rechtswissenschaftlichen Literatur des Jahres 1888. Berlin
1889.
10. Seeher. Fortegnelse over den danske Rets Literatur og
danske Forfatteres juridiske Arbejder 1884 — 1888 met
Tillaeg til Fortegnelsen for 1876—1883. Kopenhagen 1889.
^52 Literarische Anzeigen.
Strafrechtliclie Literatur.
Mehrere Schriften handeln über allgemeine strafrechtliche
Probleme:
Thümmel. Sittenlehre und Strafrecht. Hamburg 1889, in den
deutschen Zeit- und Streitfragen^,
beschäftigt sich mit dem Unterschied zwischen Moral- und Straf-
recht und will das Charakteristikum des criminellen Unrechtes aus
dem Sicherungszwecke ableiten. Kohler.
Arnoldi. Verbrechen und Strafe. Berlin 1890,
sucht, von dem Standpunkt der Willensunfreiheit aus, die Strafe
anf Abschreckung zu gründen und weist darauf hin, wie durch
Erziehung und sociale Reform auf die Verhütung der Verbrechen
hingewirkt werden kann. Kohler.
Eine vorzügliche Schrift ist:
Aschrott. Ersatz kurzzeitiger Freiheitsstrafen. Hamburg 1889^).
Der Verfasser legt hier insbesondere das System der bedingten
Verurtheilung , oder vielmehr der bedingten Nichtverurtheilung
dar: das Probationssystem, wie es in Massachusetts und, nach der
Probation of First Offenders Act 1887, auch in England gilt, und wie
es in übertragener Form zur bedingten Verurtheilung des belgischen
Gesetzes vom 31. Mai 1888 geworden ist. Die Institution findet in
der Schrift nicht nur ihre Darstellung, sondern auch ihre Fürsprache
mit selbstständigen Vorschlägen.
Auch ich halte das Princip für ein äusserst fruchtbringendes,
sofern nur die Anwendung sich vom Schablonenhaften fern hält;
die Probation in Verbindung mit der Friedensbürgschaft wird im
Strafrechte der Zukunft eine grosse Rolle spielen.
Kohler.
Gegen dieses System spricht:
Wach. Die Reform der Freiheitsstrafen. Leipzig 1890.
Aber seine Gründe scheinen mir nicht überzeugend. Dass bei
schablonöser Anw^endung dasselbe seine Bestimmung nicht erfüllen
^) Vgl. auch die zweite Schrift von Aschrott unten S. 158.
Literarische Anzeigen. 153
wird, ist sicher; aber die Anwendung soll eben eine verständnissvoll
individualisirende sein ; insbesondere ist es wünschenswert!!, dass das
Gericht die discretionäre Macht hat, die ausgesetzte Strafe auch dann
nachträglich in Vollzug zu bringen, wenn der Verurtheilte zwar kein
Vergehen, aber doch sonst eine rohe oder gemeine That verübt hat.
Die Befürchtung, dass bei diesem System die Strafandrohung ihren
Stachel verlieren wird, kann ich nicht theilen, sofern die Sache nur
richtig gehandhabt und die Aussetzung der Bestrafung auf die Fälle
beschränkt wird, welche sie wirklich verdienen. Und wenn Wach
annimmt, dass, wenn die Neuerung nur ganz ausnahmsweise gewährt
werde, sie von verschwindendem Nutzen sei (S. 35): so ist zu er-
widern, dass, wenn sie auch nur in einigen Fällen angebracht sein sollte,
es eben ein Gebot der Rechtsentwickelung ist, dem Richter es zu
ermöglichen, dass in diesen einigen Fällen das Postulat der Rechts-
ordnung erfüllt und den wenigen Einzelnen eine Wohlthat zu Theil
werde, die ihnen vielleicht für ihr ganzes Leben bedeutungsvoll
sein kann ^).
Was die Frage der unbestimmten Strafen betrifft, so handelt es
sich allerdings darum, Strafe und Zwangserziehung von einander
zu scheiden : die Zwangserziehung kann mit der Strafe verbunden
sein, die Strafe geht aber nicht in der Zwangserziehung auf. Dass
aber die Möglichkeit einer Statuirung der Zwangserziehung besteht,
und dass dann die Erziehungsbehörde die Dauer einer solchen Er-
ziehung bestimmt, ist ein Postulat der Zukunft, für welches aller-
dings noch nicht die richtige Formel gefunden ist. Diese Formel
zu finden muss sich Wissenschaft und Praxis bemühen -).
Kohler.
Eine Schrift von
Zucker. Einige criminalistischeZeit- und Streitfragen der Gegen-
wart. (Separat- Abdruck aus dem Gerichtssaal XLIV Bd.)
behandelt die brennenden Fragen der bedingten Verurtheilung,
der kurzzeitigen Freiheitsstrafen u. a. mit ebensoviel Einsicht und Ver-
ständniss, als Umblick und Sorgfalt. Dass die kurzzeitigen Freiheits-
^) Vgl. auch noch Zucker in der sofort zu erwähnenden Schrift
S. 91 f.
^) Vgl. auch die S. 158 allegirte Schrift von Aschrott.
154 Literarische Anzeigen.
strafen nicht zu beseitigen sind, und diese Beseitigung auch nicht als
Ziel vor Augen zu setzen ist, darin stimmen wir dem Verfasser völlig
bei : der Besserungszweck ist nicht der einzige, der in Betracht
kommt. Die bedingte Verurtheilung findet bei dem Verfasser eine
sehr massvolle, aber doch warme Unterstützung; besonders schätzens-
werth sind die Mittheilungen (S. 81 f.) von Prins über die Art
und Weise, wie sich die Institution in der Praxis bewährt hat,
insofern es nicht zu einem nachträglichen Vollzug kommen musste.
Auch für die Friedensbürgschaft ist der Verfasser eingetreten. Ich
möchte noch auf jene alemannische Form der Friedensbürgschaft
hinweisen, die auch vonPfenninger^) (S. 832 f.) hervorgehoben wird,
wo die Friedensbürgschaft nicht auf eine Geldsumme geht, sondern
in einer blossen Zusicherung des Wohlverhaltens liegt, deren Bruch
zu einer besonderen Bestrafung führt.
Auch über Strafarbeit, Hausarrest und über Zwangserziehung
finden sich bei dem Verfasser gute Bemerkungen.
Kohler.
Hier sei endlich noch erwähnt:
Lombroso. Der geniale Mensch. Autorisirte Uebersetzung
von Fränkel,
ein kühnes, materialreiches Buch, von welchem wir das anerkennen,
dass die wahre Kraft des Genies in einem instinktiven Fühlen und
in einer gewaltigen Phantasie besteht, welche zu ungewöhnlicher
Combination befähigt, sowie dass die gewaltige Nervenarbeit des
Genies naturgemäss zu Absprüngen und Sonderlichkeiten führen kann.
Ein weiteres Eingehen auf den Grundgedanken des Buches und
seine Ausführung im Einzelnen kann uns an dieser Stelle erlassen
werden. Gegen vieles müssten wir uns von unserem Standpunkte
aus polemisiren.
An dogmatisch-historischer Literatur verzeichnen wir:
Olshausen. Kommentar zum Strafgesetzbuch. Berlin 1889/90.
Er ist in dritter umgearbeiteter Auflaf?e erschienen. Auch diese
zeigt alle Vorzüge der seitherigen Arbeit: Reichthum des Inhalts,
Gründlichkeit der Durchführung, Schärfe des juristischen Verständ-
') In dem S. 115 zu nennenden Werke.
Literarische Anzeigen. 155
nisses ; nicht als ob wir überall mit dem Verfasser einstimmen könnten,
und insbesondere in der Theilnahme- und Versuchslehre stehen wir
vielfach auf anderem Standpunkte; aber überall ist die Tüchtigkeit
der Darstellung des Verfassers anzuerkennen. In der dritten Auflage
sind auch die Uebertretungen ausführlich behandelt , was mit Rück-
sicht auf die praktische Wichtigkeit dieses Gebietes sehr zu begrüssen
ist : wir verweisen nur auf die Erläuterungen bezüglich des groben
Unfugs. Dieser Uebertretungsabschnitt ist auch separat erschienen.
Der Olshause n'sche Kommentar ist nicht nur der beste Kommen-
tar des R.St.G.B.'s, sondern auch eine hervorragende Erscheinung in
der criminalistischen Literatur überhaupt. Kolilpr
Pfenninger. Das Strafrecht der Schweiz. Berlin 1890^
ist ein sowohl historisch und rechtsvergleichend als auch legis-
lativ bedeutsames Werk, weit angelegt und von grosser historischer
Auffassung getragen. Der Verfasser schildert das alemannische
Recht der Schweiz in seinen Grundzügen, wobei die Berner Gerichts-
satzung von 1539 als Typus dient, untersucht eingehend die Frage
über die Geltung der C.C.C. in der Schweiz und geht sodann auf die
Weiterentwickelung über bis zur modernen Codification des Straf-
rechts. Diese wird im weitesten Umfange dargelegt , wobei die
einzelnen Gesetzbücher als Träger der jeweiligen Entwickelungs-
gedanken nach Perioden eingetheilt werden (bis 1830, bis 1848, bis
1870, von da an bis in die neueste Zeit); auch die bundesstraf-
rechtlichen Bestimmungen finden ihre Darstellung.
Besonders interessant sind die Vergleichungen mit dem deut-
schen Strafgesetzbuch und die Versuche, in der Verschiedenheit der
neuen Schweizer Strafrechte den Untergrund für ein gemeinsames
Schweizer Strafgesetz zu finden. Kohler.
Herzog. Rücktritt zum Versuch. Würzburg 1889,
behandelt eine historisch, philosophisch und dogmatisch gleich
wichtige Frage in eingehender und tüchtiger Weise , nament-
lich auch rechtsvergleichend unter Herbeiziehung fremder Gesetz-
gebungen. Wir stehen der Auffassung des Verfassers, wornach die
Straflosigkeit im Fall des Rücktritts aus dem Wesen der strafbaren
That folgt, sofern in einem solchen Falle der Thäter keine genügende
156 Literarische Anzeigen.
Energie des verbrecherischen Willens äusserst, sehr sympathisch
gegenüber und nehmen gleichfalls an, dass bei Rücktritt des Thäters
zugleich die Theilnehmer straflos werden. Kolller.
Die Schrift von
Levy. Zur Lehre vom Zweikampfverbrechen. Leipzig 1889,
ist insbesondere in ihrem historischen Theile bedeutsam. Sie geht
auf den Ursprung des Zweikampfes, auf den Ordalzweikampf, auf
die öffentlichen AustragskUmpfe ein, auf welche die Privatzweikämpfe,
d. h. die Zweikämpfe ohne Ingerenz der öffentlichen Macht folgten,
als die öffentliche Macht ihre Hand nicht mehr dazu bot, den Aus-
trag durch Zweikampf zu sanktioniren. Auch die dogmatische Dar-
stellung hat vieles Fördernde. Kollier.
Das Werk von
Lauterburg. Die Eidesdelikte. Bern 1886,
bietet eine historische wie dogmatische Behandlung der Lehre und
ist besonders werthvoll durch die Darstellung der Schweizer Rechts-
entwuckelung vor und nach der Carolina, welche Darstellung theil-
weise auf ungedrucktem Material beruht. Kollier.
V. Calker. Das Recht des Militärs zum administrativen
Wafl'en gebrauch. München 1888,
behandelt eine criminalistisch ausserordentlich wichtige Materie
mit Verständniss und mit Zuziehung eines reichlichen Materiales
an Gesetzen und Instruktionen. Das Tödtungsdelikt setzt eine un-
berechtigte Tödtung voraus ; berechtigt ist aber die Tödtung nicht
nur im Falle der Nothwehr, sondern auch im Fall einer öffentlichen
Berechtigung, noch mehr im Fall der öffentlichen Verpflichtung. Der
Nachweis dieser Fälle ist aber von besonderer Bedeutung : es handelt
sich einmal darum, dass das Leben des Bürgers nicht ohne Noth preis-
gegeben ist, andrerseits darum, dass der Staatsgewalt die Mittel zur
energischen Durchführung ihrer Aktionen often stehen.
Kohler.
Die Schrift von
Weisl. Das Militärstratrecht (formeller Theil). Wien 1890.
Separatabdruck aus Streffleurs österreichischen militä-
rischer Zeitschrift,
Literarische Anzeigen. 157
bietet eine kurze Geschichte des Militärstrafprocesses, aus der
hervorzuheben ist, wie auch hier der Anklage- in den Inquisitions-
process übergegangen ist, wie auch hier einst der Reinigungseid mit
Eideshelfern und später die ;,peinliche Frage" galt. Im Uebrigen geht
der Verfasser mit dem jetzigen deutschen und österreichischen
Strafprocesse überscharf ins Gericht — die Reformbedürftigkeit
ist ja anzuerkennen, die Ausdrücke aber wären milder zu wünschen —
und beantragt seine Umgestaltung, wobei er auf den italienischen
Codice penale per l'esercito del regno d'Italia vom 28. November 1869
verweist. Kohler.
Noch ist zu erwähnen:
Freudenstein. Resum^ und Rechtsbelehrung im Schwurge-
richtsverfahren. Minden 1883,
worin über die Resumirung des Vorsitzenden im deutschen, fran-
zösischen und englischen Verfahren gehandelt wird. In Frankreich
ist übrigens durch Gesetz vom 19. Juni 1881 der a. 336 Code
d'instruct. dahin abgeändert worden , dass ein resume nicht mehr
sein darf, ä peine de nullite. Kollier,
Auch die Gefängnisswissenschaft hat wesentliche Förderung
erfahren. In :
Krohne. Lehrbuch der Gefängnisskunde. Stuttgart 1889,
tritt uns aus sachkundiger Feder eine ebenso gründlich ein-
gehende, als fassliche und interessante Darstellung dieses wichtigen
Zweiges der Criminalistik entgegen. Köhler.
Dem praktischen Zwecke dient das Werk von
Wulff. Die Gefängnisse der Justizverwaltung in Preussen.
Hamburg 1890,
worin auf Grund der vorhandenen Vorschriften, Reglements,
Dienstanweisungen u. s. w. eine ausführliche praktische Darstellung
der auf die preussische Gefängnissverwaltung bezüglichen Punkte
gegeben wird. Die eingehende Arbeit ist auch für die wissenschaft-
liche Behandlung des Gefängnisswesens von höchstem Interesse, und
bei der übersichtlichen Anordnung des Stoffes ist das Einzelne
leicht erreichbar. Kohler.
l^S Literarische Anzeigen.
Ein ausgezeichnetes Werk, wie wir nur wenige auf diesem
Gebiete besitzen, ist von
Streng. Geschichte der Getangnissverwaltung in Hamburg
von 1622—1872. Hamburg 1890.
Von den Wirren und der Unkultur des 30 jährigen Krieges wenig
berührt, konnte Hamburg, wie in vielem anderen, so insbesondere
auch in der Handhabung des Strafrechts dem übrigen Deutsch-
land vorangehen. Und so geschah es, dass schon im 17. Jahrhundert
die verstümmelnden Strafen kaum mehr vorkommen, und dass in
eben diesem Jahrhundert zwei Anstalten auftauchen, die allerdings
mehr der Zwangserziehung , als der Strafe dienen sollten — der
richtige Charakter der Freiheitsentziehung als Strafe konnte sich
erst allmählig entwickeln ; aber dass sie auftauchten, ist ein glänzendes
Zeugniss für den humanitären und socialen Fortschritt. Diese Anstalten
sind das Werk- und Zuchthaus von 1622 und das Spinnhaus von
1669. Die Geschichte dieser Anstalten , welche der Verfasser auf
Grund reichhaltiger Archivalien gibt, ist ein bedeutsames Stück der
Rechts- und Kulturgeschichte, und die interessante Art der Dar-
stellung ist völlig geeignet, uns in die ehemalige Denk- und Fühls-
weise zurückzuversetzen und die Lebensverhältnisse jener Zeiten
unserer Empfindung näher zu rücken. Kohler.
Endlich gibt uns in seiner Schrift:
Asehrott, Aus dem Strafen- und Gefängnisswesen Nordamerikas.
Hamburg 1889,
einen bemerkenswerthen Bericht über eine amerikanische Studien-
reise zum Zwecke der Erforschung der dortigen Strafanstalten. Hier
sind ja die Stätten, in welchen die neuen Ideen des Gefängnisswesens
ihren Ausgang nehmen und ihre erste Verwirklichung finden.
Besondere Interesse erwecken die Schilderungen über das Reforma-
tory zu Elmira, über die Behandlung der Gewohnheitsverbrecher
(habitual criminels) in Ohio, wo sie auf unbestimmte Zeit fest-
gehalten werden können. Das Isolirsystem ist (abgeselien von den
Eastern Penitentiary bei Philadelphia) überall aufgeben.
Kohler.
Literarische Anzeigen. 159
RecMspliilosopliisclie Literatur.
Als rechtsphilosophische Werke sind hervorzuheben:
Krause, Grundriss des Naturrechtes oder philosophischer Grund-
riss des Ideales des Rechtes. Zweite Abtheilung. Heraus-
gegeben von Mollat (Leipzig 1890).
Harms, Begriff, Formen und Grundlegung der Rechtsphilo-
sophie. Herausgegeben von Wiese (Leipzig 1889).
Yanni, II problema della filosofia del diritto (Verona 1890).
In diesen drei so verschiedenen Schriften wird auf verschiedene
Weise der Versuch gemacht, die Philosophie des Rechts zu be-
gründen. Am modernsten ist die letzte Schrift; sie befasst sich
insbesondere mit der Sociologie und ihrem Verhältnisse zur Rechts-
philosophie : dass die Sociologie und dass die vergleichende Rechts-
wissenschaft das ganze Thema der Rechtsphilosophie ändern, neue
überraschende Ausblicke gewähren , wird von Niemanden mehr
verkannt werden ; dass aber darum doch noch die Rechtsphilosophie
bestehen muss, als eine Wissenschaft, welche für das in der Rechts-
geschichte gegebene Bildungsbestreben der Menschheit das richtige
Relief gibt, ist gleichfalls sicher. Auf dieser Bahn bewegen sich
die bemerkenswerthen Ausführungen des Verfassers.
Die Schrift vonKrause muthet durch ihre, unserer Vorstellungs-
und Darstellungsweise etwas abgekehrte, Art zunächst etwas seltsam
an, entschädigt uns aber sofort durch tiefe Gedanken und reiche
Blicke. Mit Recht wird auf S. 87 dargestellt, wie das Recht gerade
darin beruht, dass die Seelen „in der Vereinigung mit sich selbst
und mit der Natur hindurchgehen müssen durch die ihnen entgegen-
gesetzte Natur, deren Schranken also wo möglich durch das im Staate
realisirte Recht entfernt werden sollen und müssen". In
der That beruht der Ausgangspunkt des Rechts in dem ständigen
Kampf zwischen dem physischen Begehr und den Postulaten der
Vernunft. Nur ist dieser Kampf auf jeder Entwickelungsstufe ein
anderer und das Recht bietet darum immer neue Probleme.
Die Schrift ist von einem wohlthuenden tiefen Idealismus ge-
tragen und bietet eine neue Seite für die Beurtheilung eines Denkers,
wie Krause.
1(30 Literarische Anzeigen.
Die Schrift von Harms geht von der historischen Erkenntniss
des Rechtes aus und erklärt sich streng gegen das ehemalige Natur-
recht (S. 12 f.) und gegen die Begriffsphilosophie : „Diese blosse Begriffs-
philosophie verwarf die geschichtliche Schule und forderte dafür eine
inductive Erkenntniss des Rechts. Darin liegt nun aber offenbar
keine Leugnung oder Verwerfung der Rechtsphilosophie, wenn sie
auf ihrem Gebiete die richtige Methode des Erkennens fordert und
anwendet."
Dies ist sehr richtig ; die Rechtsphilosophie muss aber das
Recht als etwas Relatives, historisch und ethnologisch Werdendes
ansehen, dann ist sie auf dem rechten Wege. Ueber diese historisch-
ethnologische Methode der Rechtsphilosophie werde ich demnächst
eingehend handeln. Die Ausführungen des Verfassers aber, der
uns insbesondere auch eine Uebersicht über die Entwickelung der
Rechtsphilosophie von der Zeit der Griechen her gibt, sind sehr
bemerkenswerth. Kolller.
[Fortsetzung der Besprechungen folgt.]
IV.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay.
Von
Prof. Dr. J. Köhler.
(Schluss.)
III. Sdiuldrecht.
§ 36.
Das Dharnarsitzen war in Kathiawar noch Anfangs
dieses Jahrhunderts inUebung(VIII^ 326) ^^^). Insbesondere aber
galt noch in der Marathenzeit der altindische Satz^ dass der Gläu-
biger sich durch jedes Zwangsmittel seine Befriedigung ver-
schaffen könnC; namentlich gestattete man es dem Gläubiger^
dessen Forderung durch Urtheil erkannt war^ sich in jeder
Weise zu helfen; er hatte das Recht der takadha^^^), der be-
liebigen Selbsthülfe; so dadurch, dass er dem Schuldner eine
Wache einlegte , ihn am Essen hinderte , oder auch durch
wirkliche Peinigungen heimsuchte, indem er ihn aufhängte, in der
Sonnenhitze mit schwerem Stein auf dem Kopf sitzen Hess, ihn
einsperrte u. s. w. So in Kandesch (XII, 304), so in Nasik
(XVI, 305). In Puna setzte man dem Schuldner einen Diener
vor die Thür und belagerte ihn (XVIII, 2, Hl); auch kamen
^^^) Shakespeare vor dem Forum der Jurisprudenz S. 15; Zeitschr.
VIII S. 126; Elphinstone p. 364 f.
^^^) Takädhä vgl. Wilson p. 502; auch takazu, tukazu u. dgl.
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. X. Band. XI
162 Kohler.
hier Peinigungen der Schuldner vor, gleichfalls nach ]\Ia9s-
gabe des takadha (XVIII, 3, 9).
Ein anderes Zwangsmittel war das jhansa in Kathiawar:
man schrieb dem Schuldner Brandbriefe und drohte ihm mit
der Zerstörung seiner Habe (VIII, 326).
In Palanpur legte man dem säumigen Steuerzahler eine
Einquartierung ein oder bürdete ihm Geldstrafen auf (V, 305).
Aber auch bei Privatschulden kam es vor, dass der Gläu-
biger dem Schuldner ein Einlager (mohasal)^^*) sandte ; so in
Puna (XVIII, 2, 111).
Eine eigene Art des dharna hatten die Bhats und die
Charans^^^). Wenn Jemand ihnen sein Versprechen nicht
erfüllen wollte, so erklärten sie, sich oder eines ihrer Familien-
glieder zu tödten; diese Erklärung war für sie auf Ehre
bindend. Man nannte dies traga, d. h. Selbstverwundung.
Es übte einen ungeheueren moralischen Zwang aus^^^).
Daher kam es, dass auch andere Gläubiger zu ihren For-
derungen einen Bhat beitreten Hessen. Dieser erklärte, eines
seiner Familienglieder zu tödten, wenn nicht bezahlt würde.
Der Bhat verschaffte da(Jurch dem Gläubiger eine kräftige
Garantie : der Schuldner wagte es nicht, ein solches Unheil auf
sich zu nehmen. Man nannte diese Garanten: sabandhari; so
in Baroda (VII, 63) und in Kathiawar (VIII, 326) i«^).
^^*) Mohäsalu ist Teluguwort (Wilson p. 345).
^«^) Vgl. auch Guimet im Globus Bd. 48 S. 199. Ferner Tod,
Rajasthan I p. 602, Malcolm II p. 132, 134 f., Elphinstone p. 363 f.
^^^) Die Bhats und Charans geleiteten auch Karawanen; denn es
machte einen furchtbaren Eindruck auf die Räuber, wenn sie sich für den
Fall eines Angriffs selbst zu tödten drohten. Es kommt auch vor, dass sie
sich zunächst nur eine Wunde machen und das Blut auf die Gegner
spritzen; auch dies macht grössten Eindruck : es gilt für eine furchtbare
Schuld, den Tod eines solchen Mannes aul dem Gewissen zu haben.
Englische Gesetze bestrafen den Versuch des Selbstmords; vgl. Straf-
gesetzb. a. 309 (Stokes, Anglo-Indian Codes I p. 218), vgl. auch meine
strafrechtlichen Studien I S. 152.
^67) Vgl. auch Record of Kattywar p. 33. Heutzutage soll dies keinen
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 163
Auch die Sarasvatbrahmanen in Tliana drohten mit
Selbstmord; wenn ihnen ihre Leistungen nicht gemacht würden
(XIII, 1, 85).
Der Glaube, dass die Schuld bis ins Jenseits reiche und
den Schuldner beunruhige, ist ein kräftiges Zwangsmittel,
kräftiger als die meisten Mittel der diesseitigen Gerechtigkeit.
Daher gilt es in Kaira als strenge Pflicht der Söhne, die
Schulden des Vaters zu zahlen (III, 62). Hierher gehört es
auch, dass, wenn bei den Todtenopfern die Sache nicht
günstig abläuft, die Hinterbliebenen dem Verstorbenen ver-
sprechen, alle seine Wünsche zu erfüllen und alles zu seiner
Befriedigung zu thun , worüber ich auf meine Ausführungen
über den Animismus bei Hindustämmen im ^Ausland" 1891
S. 684 verweise.
Der indische Satz endlich, dass der Sohn die Schulden
des Vaters durchaus bezahlen muss, der Enkel nur bis zum
Betrag des geschuldeten Kapitals (ohne Zinsen), ein anderer
Erbe nur nach Massgabe des Aktivvermögens ^^^), war auch
in Baroda vertreten (VlI, 445).
§ 37.
Eine sehr häufige Art der Schuldsicheruug ist die Selbst-
verpfändung des Schuldners zur Pfandlingschaft ^^^).
Er gibt sich dem Gläubiger als Pfandling für eine be-
stimmte Zeit, für ein Jahr oder eine Reihe von Jahren und
arbeitet für den Gläubiger in der Art, dass in der betreffenden
Zeit Zins und Kapital getilgt wird. Entweder verköstigt er
sich hierbei selbst und bekommt dafür einige Freizeit für sich,
so grossen Eindruck mehr machen. Sabandhari wohl von sabat,
Festigkeit, Garantie, also Träger der Garantie.
'«'S) Vgl. Zeitschr. III S. 183; sodann VIII S. 133.
'^^) Vgl. hierüber auch die indischen Reclitsbücher, insbesondere
Brihaspati VIII, 10. Vgl. ferner: Shakespeare vor dem Forum der
Jurisprudenz S. 14 f.; Zeitschr. VTII S. 125 t., IX S. 350.
1(34 Kühler.
oder der Gläubiger verköstigt ihn, verlangt aber dann alle
Arbeit. Die Pfandlingachaft erstreckt sich nicht über die
Person des Schuldners hinaus, nicht auf seine Familie, ob-
gleich CS mitunter als Ehrenpunkt des Sohnes gilt, die Zeit
auszudienen, vv^enn der Vater vorher stirbt. Der Gläubiger
hat kein Züchtigungsrecht ^'^^) und kann den Schuldner nicht
an einen Dritten geben, mindestens nicht ohne seine Ein-
willigung.
So findet sich die Pfandlingschaft in Kanara (XV,
2, 32), in Nasik (XVI, 122), Satara (XIX, 189), Jan-
jira (XI, 427), Kandesch (XII, 199, 197 f.), Thana (XIII,
1, 189, 310), Baroda (VII, 117, 118), Ratnagiri (X, 162),
Savantvadi (X, 429), Kolaba (XI, 106), Kaira (III, 63),
Mahi Kantha (V, 373), Surat (II, 190), Bijapur (XIII,
349), Kolhapur (XXIV, 195), Bharotsch (II, 452), Ahmad-
nagar (XVII, 304).
Nicht selten kommt es vor, dass der Pfändung in Folge
von Kindergeburten und den damit verbundenen Auslagen bei
dem Herrn weiter in Schulden geräth, so dass faktisch die
Pfandlingschaft zur lebenslänglichen wird; vgl. z. B. Ba-
roda VII, 117, 118, Thana XIII, 1, 189.
Eine stufenweise Pfandlingschaft entsteht, wenn ein
Bürger sich eventuell in Pfandlingschaft verspricht, falls der
Hauptschuldner nicht eintreten sollte; z. B. in Kanara XV,
2, 32, in Thana XIII, 1, 310.
Die englischen Gerichte erkennen den Pfandlingsvertrag
nicht als erzwingbar an.
Eine wirkliche Schuldsklaverei war selten ; sie kam aber in
Puna vor, aber doch nur, wenn der Schuldner von niederer
Kaste und der Gläubiger ein Brahmane war (XVIII, 2, 134);
es kam auch vor, dass sich der Schuldner als Schuldsklave
verschrieb für den Fall der Nichtzahlung (XVIII, 3, 10).
*'*) Früher kam es allerdings vor, z. B. in Janjira, dass der
widerspenstige Pfandling ausgepeitscht wurde (XI, 427).
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 165
Ein Abdienen der Schuld ist auch bei Geldbussen im Ge-
brauch; so bei den Badiges in Kanara: wer die Geldstrafe nicht
zahlen kann, verdient sie dadurch ab, dass er eine Zeit lang
den Tempelboden reinigt (XV, 1, 262, 263).
§ 38.
Eine häufige Art, die Befriedigung einzuleiten, war es,
dass der Schuldner dem Gläubiger ein Pfand gab; in Rat-
nagiri ist noch jetzt der Urtheilsgläubiger meist zufrieden,
wenn er vom Schuldner ein Pfand erhält, lässt ihn auch wohl
gegen Zins im Besitz desselben (IX, 159).
Ein Konkursverfahren finden wir in Kaira: die Gläubiger
theilen nach Verhällniss; der Schuldner gilt, wenn nicht un-
redlich, als entlastet (III, 62) i^i).
§ 39.
Für das Vertragswesen interessant ist es, dass bei den
Marathas in Ko 1ha pur die Verlobung durch Auswechslung
von Betelnüssen stattfindet (XXIV, 74); ein Gebrauch, der
sich auch bei andern, insbesondere auch bei islamitischen
Stämmen findet ^^^).
Der Satz der Rechtsbücher über die Unverjährbar-
keit der Depositenklage, Pfandauslösungsklage, Theilungs-
klage 1^^) wird für Baroda (VII, 444) noch besonders
bestätigt.
§ 40.
Der Zinsfuss ist nach unsern Begriffen hoch, aber doch
weit niedriger, als der Zins in Bengalen i^'^). In der Mahratten-
*'^) Vg]. Zeitschr. VIII S. 126. Ueber das jetzige indische Konkurs-
verfahren vgl. mein Lehrbuch des Konkursrechts S. 60 f.
^^2) Herklots p. 89 f. (Austausch von Stücken von Betelblättern).
Vgl. auch die analoge Pendschabsitte, Zeitschrift VII S. 232.
^") Vgl. mein Altindisches Prozessrecht S. 55.
^'^) Zeitschrift IX S. 352. Vgl. auch TU S. 176 f., VIII S. 127.
1(5(3 Kohler.
zeit allerdings stieg der Zinsfuss z. B. in Bharotsch auf
48 — GO ^/o (II, 453). In der britischen Zeit ist er bedeutend
heruntergegangen. Fassen wir die Darlehen in 3 Klassen zu-
sammen : a) das Darlehen gegen Faustpfand, b) das Darlehen
gegen Immobiliarpfand, c) das Darlehen ohne dingliche Sicher-
heit, so stellen sich die Sätze zwar in den verschiedenen
Theilen von Bombay verschieden heraus, sie können aber auf
folgende Normen reducirt werden:
a) In Bharotsch, Palanpur, Kaira, Ahmadabad,
Kolaba, Satara, Belgaum, Kanara: 6, 6 — 9, () — 12^/o;
in Surat, Kandesch, Thana, Dharwar: 9, 9 — 12, 9 — 18,
9 — 24 ^/o ; in Ahmadnagar, Ratnagiri und Savantvadi
12, 12 — 24 ^/o: in Pu na in kleinen Sachen 19 — 37, in grösseren
9 — 12 ^/o. Selten geht der Zinsfuss weiter herunter; doch kommt
es vor, wenn leichtrealisirbare Kostbarkeiten oder gar Gold,
Silber als Pfand gegeben wird ^^^); so in Baroda, in Kaira:
in Mahihantha selbst bis zu 4^2^/0, ja 4 und 3^/o.
b) Die Sätze für das Darlehen mit Immobiliarversiche-
rung sind oftmals höher mit Rücksicht auf die schwerere
Realisirbarkeit. Sie schwanken von 6, 7, 8, 9 bis 12, 18, 20,
24, ja 36 >.
c) Bei bloss persönlicher Sicherung variiren die Sätze
am meisten: hier kommt die Art der Persönlichkeit und nament-
lich auch (in altindischer Weise) die Kaste des Geldbedürftigen
in Betracht. So haben in Rewa Kantha die (niederstehonden)
Bhils und Kols 25 ^/o zu zahlen, in Ahmadabad zahlen
niedere Klassen 12 — 24 ^/o, in Satara geht es auf 37^2—40^/0,
in Ratnagiri uiid Savantvadi bis 36 ^/o , in Surat sogar
bis auf 75^/0, in Kolaba in den mittleren Klassen bis 37,
den niederen von 40 bis 200 ^/o.
Besonders stark ist der Kornzins ^^^). Häufig ist dasSavyaj-
^''^) In Kolhapur kostet ein Darlehen gegen EdelmetalUonibard
7V2, gegen Perlenlombard 12 7o-
1^6) Vgl. Zeitschrift IX S. 352.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 167
System ^^'^)^ d. h. der Zuschlag von 2b ^jo, was aber, da die
Ernte in einem halben Jahr folgt, einen Jahreszins von 50 ^/o
repräsentirt. So in Ratnagiri, in Mahi Kantha, in Baroda;
50^/o in Kandesch, Ahmadnagar und Scholapur; 50 — 100 ^o
in Thana, ja in Nasik bis zu 200 ^/o. Ebenso findet sich
die Verdoppelung beim Getreidedarlehen in Rewa Kantha;
in Kolaba für Getreidedarlehen 50, für Futterdarlehen 100 ^/o.
Man vergleiche über diese Zinsverhältnisse Surat (11, 202),
Bharotsch (II, 453), Kaira (III, 61), Katsch (V, 111),
Mahi Kantha (V, 374), Ahmadabad (IV, 68, 70), Rewa
Kantha (VI, 41), Baroda (VII, 111, 116, 119, 127), Ratna-
giri (X, 159), Savantvadi (X, 429), Kolaba (XI, 104),
Palanpur (XI, 297), Kandesch (XII, 195), Thana (XIII, 1,
115), Kanara (XV. 2, 28), Nasik (XVI, 44, 119), Ahmad-
nagar (XVII, 301, 302), Puna (XVIII, 2, 107), Satara
(XIX, 183), Scholapur (XX, 245, 249), Belgaum (XXI, 295),
Dharwar (XXII, 326), Kolhapur (XXIV, 194).
§ 41.
Das Faustpfandrecht ^^^) ist allüberall verbreitet, vergl. bei-
spielsweise Surat (II, 186, 203), Kaira (III, 59), Palanpur
<V, 297), Ahmadabad (IV, 68), Puna (XVIII, 2, 107) u. a.
Aber auch eine Verpfändung von Mobilien ohne Besitz-
übergabe wird anerkannt; so in Mahi Kantha (V, 373, 374),
in Rewa Kantha (VI, 42) u. a.
Auch die Verpfändung der Ernte kommt vor, so in Ko-
loba als manoti^^^^): der Gläubiger nimmt die Ernte in
Beschlag und zahlt den Ueberschuss heraus (XI, 104).
Das Immobiliarpfand ist Besitz- oder Nichtbesitz-
pfand: beim Nichtbesitzpfand laufen die Zinsen des Schuld-
^'^) Savyäj (mahrattisch) heisst zunächst: verzinslich,
1^8) Vgl. zum folgenden auch Zeitschr. III S. 185, VII S. 191,
VIII S. 123, IX S. 353 f.
^^^*) Manoti, manauti = Sicherheit (Wilson).
108 Kohler.
ners weiter^ zahlt er nicht, so kann der Gläubiger die Ueber-
gabe in Besitzpfand verlangen: also vollkommen das altindische
System i'^). Bei dem Besitzpfand kann der Gläubiger das
Gut verpachten an Dritte, auch an den Schuldner selbst, der
dann, meist gegen Entrichtung einer Theilquote der Früchte
(z. B. ^/2), auf dem Grundstück sitzen bleibt.
Ameliorirt der Besitzpfandgläubiger die Sache, pflanzt er
Bäume, so kann er Aufrechnung begehren (so in Kanara
XV, 2, 31, 32).
Das Besitzpfand kann reine Antichrese sein, oder auch
Todsatzung; aber auch eine Verbindung von Zinspfand und
Todsatzung, indem ein Theil der Früchte an dem Kapital ab-
geht. Es kann auch festgesetzt werden, dass das Kapital
in bestimmter Zeit aufgezehrt sein soll (z. B. in Kanara
XV, 2, 32, in Kathiawar VIII, 212, 213, in Satara XIX,
189, in Kolaba XI, 106, in Kolhapur XXIV, 195). Nicht
selten lässt der Gläubiger beim Nichtbesitzpfand die rückständigen
Zinsen so hoch anwachsen, bis die Summe dem Werth des
Landes gleichkommt und nunmehr die reine Antichrese an-
gemessen ist (in Beigau m XXI, 296).
In Kathiawar heisst das Pfand giro, das Besitzpfand
kabdha-giro, das Nichtbesitzpfand s an -giro. Das Besitz-
pfand ist wieder entweder Antichrese: ghas kareniu oder
vatantar, oder Todsatzung: oghachhut oder pulachhut
(Kapitaltödtung VIII, 212, 213) i««).
Ebenso heisst in Kaira das Pfand giro, das Nichtbesitz-
pfand: San giro (III, 62).
In Kanara heisst das Nichtbesitzpfand toradav, das Be-
sitz(Genuss-)pfand bhogyadhi i^i) (XV, 2, 29, 31, 187); in
1^9) Zeitschr. III S. 187 f.
^^^) Giro (Hindostani) = Pfand, kabd h = ergreitend, in Besitz
nehmend; vatantar von watar, erblicher Besitz? (Vgl. Wilson.)
^^') Bhogyädhi von bhoga Genuss, Besitz und adhi Pfand
(Wilson).
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 1(39
Nasik das Nichtbesitzpfand najar gahan, das Nutzpfand
tabe gahani82) (XVI, 119).
Ebenso werden die beiden Arten von Immobiliarpfand ge-
meldet aus Ahmadabad (IV, 68), Baroda (VII, 134),
Kolaba (XI, 106), Belgaum (XXI, 296); und in der Art,
dass man den Schuldner als Pächter sitzen lassen kann, aus
Dharwar (XXII, 328), Surat (II, 203), Scholapur (XX,
248), Janjira (XI, 427), Kandesch (XII, 197), Mahi
Kantha (V, 373), Savantvadi (X, 429), Bharotsch (II,
456), Kolhapur (XXIV, 195).
Bleibt der Schuldner in Pacht, so kann in Kandesch
verlangt werden, dass er, zur Verrechnung, die Ernte abliefert;
es können auch beide miteinander kultiviren (qua socii!)
(XII, 197). Ebenso ist die Ernte abzuliefern in Janjira
(XI, 427).
Auch das Verfallpfand findet sich, doch seltener, — auch
dies ganz nach dem officiellen indischen Rechte ^^^). So
in Kolaba (XI, 106); so in Kathiawar als athi aghat
(VIII, 212, 213, 323). In Rewa Kantha wird dem Pfand-
gläubiger das Distraktionsrecht zugestanden, aber so, dass der
Schuldner das Land jederseits zurückkaufen kann (VI, 42) —
das letztere hat sich wohl in der Art entwickelt, dass der
Gläubiger zunächst die Sache nicht zu Eigenthum, sondern
zu Pfand veräusserte, später veräusserte er sie zu Eigenthum,
aber in der Weise, dass dem Schuldner das Einlösungsrecht
gewahrt wurde, als wie wenn er Eigenthümer geblieben
wäre^^^).
Die Bürgschaft ist verbreitet, auch der Vertrag, wornach
sich Jemand verpflichtet, Bürge zu werden gegen eine Pro-
vision (mano ti) ^^^); so in Ahmadabad (IV, 71).
^^^) Gahän (mahrattisch) = Pfand (Wilson).
183) Zeitschr. III S. 188; vgl. auch IX S. 355.
184) Vgl. auch noch VIT S. 194.
) Manauti oder man oti = Sicherheit, Vermittlung (Wilson).
185
170 Köhler.
§ 42.
lieber die Entwickelung des Rechtes der Wechsel (hun-
dis) in dieser Gegend ist bereits anderweit gehandelt wor-
den ^^^). Hier sei noch Folgendes beigefügt. Solche himdis
gab es schon unter der Mahrattenherrschaft. Der Sichtwechsel
heisst in Puna: darc^ani, der Nachsichtwechsel muddati^
ebenso in Kandesch (XVIII, 2, 101, 102; XII, 192). Die
Tratte kann eine Beschreibung, eine Art Signalement des
Remittenten enthalten, dann heisst sie sihajog (XVII, 2,
102); die Tratte an eigene Ordre heisst dhanijog (XII,
192). Der Regress geht in Puna auf Wechselsumme, dop-
pelte Zinsen und auf Strafsumme, die hier nakrai heisst ^^^)
(XVIII, 2, 102).
Ist die Prima verloren, so werden Duplikate gemacht
(peth)i»8)^ so in Kandesch (XII, 192).
Aehnliche Sätze gelten über die hundis in Kaira (VI,
58), Ahmadabad (IV, 56), Kolaba (VI, 101, 102) i«»).
Die Bankiers heissen Sahukars (VII, 108, VIII,
204) 190)^
Fix- und Differenzgeschäfte sind sehr verbreitet.
So werden Geschäfte in Baumwolle abgeschlossen derart, dass,
wenn der Käufer nicht rechtzeitig liefert, der Verkäufer auf
der Erfüllung bestehen kann, aber dies auch ausdrücklich er-
klären muss, ansonst das Geschäft zum DifFerenzgeschäft wird;
so in Kathiawar (VIII, 211).
1S6) Zeitschr. VIII S. 139.
18^) Vgl. Zeitschr. VIII S. 140: hier azora.
i«8) Zeitschr. VIII S. 140.
^^^) Hiindi, Wechsel ist Hindostani; dar^ana ist Sehen, also
hier: Sicht; m u d d a t ist Zeitraum ; jog (Hindostani) ist der Remittent ;
dhan heisst Darlehen, dhani Gläubiger, daher dhanijog ein Remit-
tent, welcher zugleich der Geldvorstrecker ist; peth heisst Avisbrief
und Duplikat (vgl. Wilson zu diesen Worten).
^^^) Vgl. Zeitschr. VIII S. 134; sähukar von sadhu gut, ehren-
voll (Wilson).
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 171
Aber auch DifFerenzgesehäfte von Haus aus werden abge-
schlossen in Opium, Baumwolle, Zuckerrohr, so in Ahmad a-
bad und in Kathiawar (IV, 67, VlII, 209, 210). Es gibt
Ausgleichtage, wo die gegenseitigen Differenzen beglichen
werden. P]s gibt auch Syndikate in der Art, dass jeder eine
Summe einbringt und bis zur Höhe der Summe spielt, wobei
dann an einem besonderen Stichtag die Sache zur Ausgleichung
kommt. Der Spielcharakter tritt noch mehr zu Tage, wenn,
wie es in Kathiawar vorkommt, nicht die ganze Differenz,
sondern nur eine Quote derselben, z. B. ^/le zu vergüten ist
(Vni, 210). Sind doch in Kathiawar auch Regenwetten
in Uebung (VIH, 212) i^i).
Eine wenig empfehlenswerthe Art des Darlehens kommt
in Surat und in Bar od a vor. Der Darleiher gibt geistige
Getränke und bekommt den entsprechenden Werth zur Zeit
in Getreide zurückbezahlt (II, 190, VII, 111).
Die Handarbeit wird vielfach durch Pfandlinge besorgt;
daher tritt der Arbeitsvertrag mehr zurück; doch auch er
ist vertreten, z. B. in Kathiawar: hier wird der Feldarbeiter
in Geld oder in Früchten, manchmal in einer Fruchtquote
bezahlt (VIII, 214).
Dass Makler (dal 1 als) in dieser Gegend aufgestellt sind,
wurde bereits anderwärts erwähnt ^^^). Sie stehen unter öffent-
licher Kontrole und können entlassen werden; so in Katsch
(V, 121, 122). Sie dürfen nicht selbst Kaufgeschäfte ab-
schliessen. Die Courtage (Prozentsätze betragend) ist entweder
von der einen oder von beiden Seiten aufzubringen, je nach der
Usance (ib. V. 121, 122). Namentlich in Versicherungssachen
spielen sie eine grosse Rolle (unten S. 172), ebenso als Wechsel-
makler, z. B. in Kandesch (XII, 193).
^*^) Auch sonst in Indien : erscheint eine Regenwolke, so wird ge-
wettet; es kommt darauf an, ob ein bestimmtes Wasserrohr sich füllt.
Vgl. auch Globus Bd. 56 S. 867.
192) Zeitschr. VIII S. 136. Dalläl ist Hindostani (Wilson).
172 Kohler.
Dass Bankiers und andere Kaufleute zum Zweck von
Versicherungen zusammentreten und so Zufallsgesellschaften
bilden^ ist alsbald zu erwähnen. Auch sonst finden sich Socie-
tätsverhältnisse. So bestehen in Ratnagirl Fischereigesell-
schaften von 2 — 3 Personen^ die zusammenschiessen^ um ein
Boot und das nöthige Ausrüstungskapital aufzubringen (X, 171).
Auch von den Transportversicherungen in diesen
Gegenden ist bereits die Rede gewesen ^^^). Sie waren in der
vorbritischen Zeit in zahlreicher Anwendung mit Rücksicht
auf die grosse Unsicherheit der Wege; so in Puna (XVIIT,
2, 105), in Ahmadabad (IV, 65). Gewöhnlich übernahmen
Bankiers (sahukars) die Versicherung.
Aber auch Seeversicherungen haben sich bereits in
der vorbritischen Zeit entwickelt. Es bildete sich jeweils für
die einzelne Saison oder für den einzelnen Fall ein Syndikat
von Bankiers, welche die Versicherung übernahmen; das Syn-
dikat wurde durch Makler (dal Ulis) zusammengebracht. Die
Polize hiess in Kathiawar: kabela^^^), die Prämie sala-
mati^^^): sie war nach der Seegefahr, insbesondere nach
der Jahreszeit, sehr verschieden. Die Versicherung ging ent-
weder nur für direkte Seeschäden oder für alle Gefahren.
Der Schaden wurde nicht völlig, sondern nur zu gewissen
Prozenten, z. B. zu 87 ^/o vergütet. So in Kathiawar
(VIII, 208); ähnlich im Hafen von Dholera in Ahmadabad
(IV, 65, 66): hier galt ein 3 Monate verschollenes Boot als
verloren (d. h. wohl: es konnte abandonirt werden). Eine Art
von Grossaventureigeschäft findet sich in Katsch. Hier kann
die Versicherung in gewöhnlicher Weise übernommen werden;
es kann aber auch der Versicherer eine bestimmte Summe
vorstrecken, die bei Verlust des Schiffes hinfällig wird (V, 122).
193) Zeitschr. VIII S. 138.
19^) Uebrigens ist kabala ein allgemeines Wort l'iir Vertrags-
iirkunde überliaupt (Wilson).
195^ Wohl mit Salami zusammenhängend ; oder ob = sdlabddi,
Jahreslast von sal Jahr?
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 173
Von Feuerversicherungen findet sich die Versiche-
rung von Baumwolle und Baumwollenmühlen in Kandesch
(XII, 192).
IV. Erbrecht.
§ 43.
Vom Erbrecht haben wir wenig Nachrichten; dasselbe
scheint sich meist nach den Rechtsbüchern zu gestalten. Nur
das ist zu bemerken^ dass die Talukdargüter in Ahmadabad
sich so vererben^ dass der älteste Sohn einen grösseren Antheil
bekommt^ z. B. einen doppelten Theil oder einen andert-
halbfachen (IV, 184).
V. Oeffentliclies Recht, Strafrecht, Prozess.
§ 44.
Das Innungswesen mit seiner strengen Abschliessung
ist, wie sonst in Ostasien, auch in indischen Gegenden, nament-
lich an der Westküste entwickelt. So insbesonders in Ahma-
dabad; die Gilde heisst mahajan: sie hat zwei Vorsteher,
seths, deren Amt in thesi erblich ist, einen Sekretär und einen
Schatzmeister (gumashta) ^^^), sowie einen Ausschuss. Sie
ist vermögensfähig.
Die Gilde ist massgebend in allen das Handwerk be-
treiFenden Beziehungen: sie bestimmt Arbeitsstunden, Preis,
Feiertage, Zahl der am Orte zulässigen Handwerker; sie
schlichtet alle Streitigkeiten. Der Zusammenhalt ist ein unge-
mein fester: wer die Bestimmungen übertritt, verwirkt Dis-
ciplinarstrafe oder wird entsprechenden Falls ausgestossen;
der Ausgestossene ist gegenüber den Zunftgenossen , auch
gegenüber den Kartellzünften, geboykottet (IV, 106 — 112).
*^®) Mahajan ist grosser Mann, Kaufmann, dann Kaufmannsgilde;
seth ist Kaufmann , dann ein ganz besonders geachteter Kaufmann ;
gumäshta ist Geschäftsführer (vgl. Wilson).
174 Kohler.
Aehnlich in Mahikaütha (V, 379); ähnlich in Katsch^
wo die Innung regelmässig die Handels-, insbesondere Versiche-
rungsstreitigkeiten schlichtet (V, 122); in Ahmadnagar be-
stimmt das Gildenhaupt (sethya) den Minimalpreis der Waaren
(XVll, 74).
Häufig, so in Panch Mahal, schliessen sich mehrere
Gilden zu einer Gesammtgilde zusammen^ welche die gegen-
seitigen Differenzen zwischen den verschiedenen Gilden und
ihren Mitgliedern begleichen (HI^ 251). So auch in Baroda
(Vni, IGO): hier heisst die Gesammtinnung mahajan, das
Oberhaupt des Ganzen nagarseth ^^'); wer aus dem maha-
jan ausgestossen ist, kann mit keinem Mitgliede einer In-
nung mehr im Verkehr stehen ; gegen die Entscheidung
der Einzelinnung kann an die Gesammtinnung appellirt werden
(VII, 160).
Wer in die Innung eintritt, hat einen Beitrag zu zahlen,
so in Baroda (VII, 160), in Khambat (VI, 204) und (in
^ Khambat) ein Fest zu geben.
§ 45.
Das Strafrecht ^^^) steht theils auf der Stufe vor den
Rechtsbüchern, nämlich auf der Stufe des Blutracherechts, theils
auf der Stufe der Rechtsbücher, als staatliches Strafrecht, viel-
fach aber im Laufe der Zeit geändert und umgestaltet. Eine
besondere Rolle spielt das sühnende Strafrecht und das Straf-
recht der Kaste.
In Kathiawar finden wir noch Blutrache bis in dieses
Jahrhundert ^^^), ebenso die Gewöhnung, dem Verfolgten Asyl
zu geben; auch die Blutrache in der Art, dass der Rächer
(in der Art des Kohlhaas) aus dem Dorfe tritt und gegen
'^') Nagar ist Stadt; nagarseth also der Haupt(kauf)mann in der
Stadt (vgl. Wilson).
^»«) Vgl. Zeitschr. VIII S. 143, 146.
^»») Vgl. auch Zeitschr. IX S. 357.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 175
das ganze Dorf feindselig verfährt; man nannte dies bahar-
vatia^oo) (VIII, 325, 329). Im Uebrigen Hess man in
Kathiawar die Delikte meist durch Geld büssen ; nur auf
der Tödtung einer Kuh stand Todesstrafe (VIII, 324, 325).
Das Recht des Ehemanns, den Ehebrecher und das Weib
zu tödten, galt in Kolhapur ^^^).
In manchen Gebieten bestand das Strafrecht der Smritis
weiter, das Strafrecht der Todes- und Verstümmelungs-
strafen; so in Kandesch (XII, 305), in Baroda (VII, 442),
wo insbesondere das Tödten einer Kuh mit Todesstrafe gebüsst
wurde (VII, 445)2^2).
In anderen Gebieten war das Strafrecht der Rechtsbücher
längst vergessen. Die Hauptstrafe war Geld und Konfiskation,
auch Peitschenhiebe ; sonst auch arbiträres Gefängniss und Ver-
stümmelung; so in Puna (XVIII, 3, 15).
In Köln a pur hatte man in der Mahrattenzeit Todes- und
verstümmelnde Strafen, Gefängniss, meistens aber Geldbusse;
doch auch das kam vor, dass der Mörder die Familie des
Erschlagenen entschädigen musste (XXIV, 267)..
Auch Strafsklaverei, namentlich für Ehebruch war üblich 2^^).
Unter den Peshwas kam das des Ehebruchs oder Diebstahls
schuldige Weib in staatliche Sklaverei; so in Dharwar
(XXII, 463).
Geldstrafen sind äusserst verbreitet, auch Gefängniss
für den Fall der Nichtzahlung; so in Katsch^^*).
Sühnende Strafen und, damit verbunden, nieder-
^^®) Bähar heisst: ausserhalb des Dorfes, bäharväsi ein ausser-
halb des Dorfes wohnender, der nicht im Dorf wohnen darf (Wilson).
Oder hängt der zweite Theil des Wortes mit v ä t a Weg zusammen ?
201) Record of Kolhapur p. 169 f.
2''^) Bezüglich der Rechtsbücher, wo solches der Tödtung eines Ksha-
triyas gleichgestellt wird, vgl. Manu XI, 60, 67, auch XI, 109 f.,
Vishnu L, 16 f., Yäjnav. III, 263 f.
203) Record of Kolhapur p. 163^ 169.
204) Record of Kutch p. 87.
176 Kohler.
drückende und beschimpfende Bussen sind noch jetzt im
Gebrauch.
In der Mahrattenzeit war in Kolhapur der Esels ritt
(rückwärts mit geschwärztem Gesicht) ebenso häufig, wie im
Occident^os) (XXIV, 2(37).
Namentlich sind solche die Person ergreifende Sühne-
mittel im Kastenstrafrecht vertreten. Das Strafrecht wird
vielfach innerhalb einer jeden Kaste geübt; es wird ge-
übt unter der schweren Sanktion der Kastenausstossung: der
Ausgestossene ist fast rechtlos : kein Kastengenosse darf ihm
Wasser reichen, so die Bhils in Ahmad nagar (XVII, 193);
keiner Wasser imd Tabak, so die Telis und Pinjaras in Nasik
(XVI, 83), die Kanjaris in Ahmadnagar (XVII, 180) ^o«).
So muss bei den Gollars (Bettlerkaste) in Dharwar
die Ehebrecherin öffentlich in Dornen sitzen, Kuhdung mit
Wasser trinken, einen Stein auf den Kopf, unter öffentlichen
Schmähungen (XXII, 203); bei den Gollars in Kanara wird
die Frau nur vor den Aeltesten geladen und dort des Ehe-
bruchs halber gerügt (XV, 1, 298); bei den Uchlias in Puna
wird die Ehebrecherin mit Koth beworfen (XVIII, 1, 474).
Bei den Bedars in Bijapur muss die Frau nach dem
Ehebruch, der Mann nach dem Incest gereinigt werden durch
Scheeren, durch Berühren der Zunge mit einer glühenden
Kohle, durch Trinken eines geistigen Getränkes (XXIII, 94);
ebenso kennen die Holias in Bijapur die Reinigung durch
Scheerung und Brand der Zunge (XXIII, 216).
Bei den Gonds in K and e seh ist die Strafe: Abrasiren
des Bartes, Brennen auf der Zunge (XII, 106).
^^^) Derartiges wird auch in den Rechtsbüchern erwähnt, Gau tarn a
XXIII, 15, Vasishtha XXI, 1 f. (die Frau soll nackt auf einem Affen
herumgeführt werden).
'^"^) Das Ausstossen aus der Ka&te statuiren auch die Rechtsbücher
mit dem Anfügen, dass, wer mit einem Ausgestossenen umgeht, selbst
wieder ausgestossen wird. Vgl. Vishnu XXXV, 3 — 5, Gautama
XXI, 3, Manu XI, 67. Vgl. ferner mein Altindisches Prozessrecht 8. 11.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 177
Bei den Lads Vanjaris in Nasik findet sich die Demü-
thigung durch das Auflegen einer Sandale auf den Kopf
(XVI, 63); bei den Teils und Pinjaras ebenda: Abbitte vor
der Versammlung (XVI; 83). Bei den Vaidus in Puna muss
die Schwiegertochter, welche die Schwiegermutter beschimpft,
sie um Verzeihung bitten (Staub auf dem Kopf) und ihr
Hände und Füsse waschen (XVIII, 1, 478)^07).
Nicht selten ist auch die Reinigung durch Trinken von
Wasser, in welches ein Priester (Jangam-Lingampriester) den
Fuss getaucht; so bei den Gavlis in Scholapur (XX, 151),
den Ilgerus in Dharwar (XXII, 149). Bei den Chaudri in
Kanara erfolgt die Sühnung durch Uebergiessen mit Wasser
(XV, 1, 295); ebenso bei den Kunbis in Thana (XIII, 1, 128).
Manche Kasten lassen einen Ausgestossenen selten wieder
zu; so die Pardeshis-Brahmanen in Ahmadnagar (XVII, 63).
Am gebräuchlichsten sind im Kasten recht die Geld-
strafen, hinter welchen als letztes Drohmittel die Ausstossung
steht ^^^); so in Scholapur bei den Gujarat, Kanauj , Mar-
var, Kudbuda (XX, 31, 32, 35, 188), in Puna bei den
Kirads, Gujarat Vanis, Kashis, Pahadis, Chambhars, Ghisadis,
Salis, Guravs, Kamathis, Dhors, Halakhors, Uchlias, Vaidus,
Vasudevs (XVIII, 1, 270, 277, 284, 313, 329, 338, 365, 379,
397, 435, 439, 474, 478, 480); in Satara bei den Kasars,
Telis, Holars, auch bei den unreinen Dhors , Mangs, Mhars
u. s. w. (XIX, 85, 97, 102, 111, 112, 115); in Kanara bei
den Karhadas, Komtigs , Buruds, Bakads, Haslars (XV, 1,
133, 198, 341, 362, 368); in Nasik bei den Guravs (XVI,
54); so auch bei den Bhils in Panch Mahal (III, 221, 222), bei
Stämmen in Thana (XIII, 1, 133, 138, 148), in Katsch
(V. 80), in Kandesch (XII, 74). So auch bei den muha-
^®') Ueber solche Büssungen, um die Kastenrechte wieder zu er-
werben, vgl. auch schon Alberuni, India (übersetzt von Sachau) II p. 162,
163. Ueber die Büssungen nach den Rechtsbüchern ist anderwärts zu
handeln.
^''^) Dies entspricht der Satzung bei Brihaspati XVII, 13 f.
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. X. Band. 12
178 Kohler.
medaniscben Kafshgars in Puna (XVIll^ 1^ ^^'^^) , wo das
GeM für Moscheenöl verwendet wird.
Die Ausstossung ans der Kaste findet mitunter mit
besonderer Feierlichkeit statt; so bei den Mhars in Bijapur,
wo zum Zeichen des Kasten Verlustes ein Zweig an das Haus
gebunden wird (XXIV, 114); ebenso bei den Kol^ in Thana:
ein Zweig und ein Kuhbein (XIII^ 1^ 172).
Zu den Kastenvergehen gehört natürlich insbesondere das
Essen von verbotenen Speisen, der Umgang mit Un-
genossen, aber auch der Ehebruch der Frau und mit
der Frau eines Anderen. So bei den Holayas in Kanara
(XV, 1, 370); bei den Meta Koli in Thana hat Ehebruch
und Unsittlichkeit ständige Ausstossung zur Folge (XIII,
1, 174), bei den Thakurs nur Geldstrafe (XIII, 1, 180);
ebenso fällt auf Ehebruch nur Geldstrafe bei den Halakhors
in Puna (XVIII, 1, 439)^ bei den Uchlias ebenda Geldstrafe
und Beschimpfung (Kothwurf) (XVIII, 1, 474).
Bei den Mhars in Kandesch hat Ehebruch und Kon-
kubinat Ausstossung zur Folge (XII, 119).
Bei den Mukris in Kanara (XV, 1, 378) wird die
Wittwe, die schwanger wird, ausgestossen, ihr Mitgenosse
mit Geldstrafe gebusst; bei den Satarkars ebenda wird die
Frau ausgestossen , welche mit einem Manne niederer Kaste
Ehebruch treibt (XV, 1, 242).
Auch die Verletzung, Verwundung des Kastenhauptes ge-
hört hierher, z. B. bei den Mukris in Kanara (XV, 1, 378);
ja auch die Verletzung eines Kastengenossen, z. B. der Schlag
mit der Sandale (bei den Mukris ebenda) ; ebenso findet bei
den Chambhars in Nasik Ausstossung statt wegen Schmähung
eines Kastengenossen, auch wegen Tödtung einer Kuh (XVI, 71),
Wo, wie im Innern, in Malwa, der Hexenghuibe verbrei-
tet ist, wird die Hexe getödtet, oder man schneidet ihr die
Nase ab, oder stösst sie aus der Kaste aus^^^).
209
) Malcolm II p. 214 f. Vgl. auch Ausland 1891 S. 6C^S.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bonibay. 179
Die Ausstossung findet sich auch bei islamitischen
Kasten^ z. B. bei den Momnas in Katsch (V^ 91).
§ 46.
Nach den Rechtsbüchern gibt es ein Dorfoberhaupt, ein
Oberhaupt über 10 Dörfer, über 100 Dörfer und über
1000 Dörfer oder den Distrikt, Vishnu III, 7 — 10, Manu
VII, 115.
Diese Dorfverfassung hat sich vielfach erhalten.
So bei den Halvakki Vakkals in Kanara: das Dorf steht
unter dem urgauda; eine Dorfgruppe steht unter dem sime-
gauda, fünf Gruppen wieder unter einem aras-gauda und
einem (religiösen) guru-gauda^^^). Kleinere Vergehen kom-
men vor den ersteren, grössere vor den sime-gauda; auch
kann vom ersteren an den letzteren appellirt werden (XV, 1,
211—213). Auch die Kare Vakkals und die Torki Nadors
ebendahaben ihre budvants undsime budvants (XV, 1,221,
225); die Mukris ihre budvants und ihre barkas, diese als
Gruppenhäupter (XV, 1, 378).
Ebenso haben die Konkan Kürbis ein Dorfhaupt bud-
vant, mehrere Dörfer einen mahal budvant, und über
mehrere mahals einen gauda; der erstere kann auf Zeit aus-
stoßsen , der zweite in perpetuum, der letztere kann immer
wieder aufnehmen (XV, 1, 219, 220).
In Puna bilden mehrere Dörfer einen Distrikt, taraf
(XVIII, 2, 366): an der Spitze des Distrikts stets der dec^ad-
hikari, später de9mukh genannt (XVIII, 3, 4); ebenso in
Nasik (XVI, 304)211).
Die Städte hatten schon von früherher ihre besondere Ver-
^^^) Gauda ist kanaresisch dasselbe, was mahrattisch patil; ur
ist Dorl", sime ist Gegend, also Bezirk, arasa ist Fürst (Wilson).
^^*) Taraf ein Landstrich, decädikäri = Distriktvorsteher (von
dega = Distrikt und adhi über) ist die Sanskritbenennung, decmukh
ist die mahrattische Bezeichnung (vgl. Wilson).
180 Kolller.
fassiing^ hier gab es auch besondere Richter; so in Puna
(XVIII, 3, 8).
In den Lehen hielten auch die jagirdars ihre eigene
Justiz (XVIII, 3, 5).
Nach guter alter Weise hat das Dorf sein Dorf haupt^^^),
oft auch zwei: eines für Polizei, eines für Abgaben; seinen
Dorfeinnehmer (talati), den Dorfboten (hawaldar), den
Dorfwächter (wasawar, rakhna, vartanio), den Dorf-
polizeidiener (dher)^!^); sodann seine Dorfhandwerker (balu-
tas)^^*), seinen Barbier, Schmied, Zimmermann. Schuster,
Töpfer, Waschmann. So in Surat (II, 56, 57), So findet
sich auch in Panch Mahal der patil, talati, hawaldar,
rawanio^^^) (Wächter) und die Handwerker (III, 227); in
Kaira gibt es patil und talati (III, 91); in Baroda zwei
patils, talati, hawaldar, vartanio, rakhna und die Hand-
werker (VII, 75, 76); in Kathiawar: patil, hawaldar,
pasaita^i«) (Polizei), Dorfhandwerker (VIII, 171); in Ba-
rotsch: patil, talati, hawaldar, vartanio und Dorfhand-
werker (II, 382, 383); in Ahmadabad: patil, talati,
hawaldar, chokiwala ^^'^) (Wächter) u. a. (IV, 46, 47); in
Bijapur: patil, kulkarni (Dorfeinnehmer), talvar^^^)
(Wächter): diese allein sind übrig geblieben (XXIII, 75); in
Kolhapur: patil, mehrere Beamte und die Dorfhand-
^^^) Die mahrattische Bezeichnung ist pätil, die Sanskritbenennung
war grämädhikäri von gräma = Dorf (vgl. Wilson).
^^^) Talati = Verrechner; hawäladär, von hawäla, ist Inhaber
eines Vertrauensamtes, Führer, Bote; räkhnä, räkhandär ist Wächter ;
ebenso vartanio und dher (vgl. Wilson).
^'^) Bai Uta ist der Mahrattaname für Dorfbeamte und Dorfhand-
werker, zusammen 12: 5 Beamte, 7 Handwerker. Ausführlich darüber
Wilson ad h. v.
^^*) Rawanio, wohl von rawäna Pass, Geleite (vgl. auch Wilson).
^**') Pasäita ist eigentlich Dienstland.
^^^) Chauki ist die Wacht, daher chaukidär oder chaukiwal a
der Innehaber des Wächteramtes (vgl. Wilson).
^^^) Kulkarani, Einnehmer, Verrechner; tal avära = Wächter.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 181
werker ^^^). In Kolaba gibt es patil^ talati, mhar (Bote);
Dorfhandwerker (XI ^ 87); in Kandesh: patil^ chaudhari
(Bürgermeistergehülfe)^ kulkarni (Dorfeinnehmer), jaglia
(Wachtmann), mhar und Dorfhandwerker (XII, 132, 275). In
Thana bestehen erbliche patils und erbliche mhars (XIII,
1, 276); in Nasik: patil, kulkarni, taral (Bote) u. a.
(XVI, 87); in Ahmadnagar zwei patils, ein kulkarni,
jaglia, Dorfhandwerker (XVII, 48); in Puna: patil, kul-
karni, mhar, ramoc^i^^^) (Wächter), Dorfhandwerker
(XVIII, 1, 96 und XVIII, 2, 361); in Katsch: patil,
chaudri, talati, hawaldar, kathodia (Wächter) u. a. (V,
101); in Rewa Kantha: patil, talati, hawaldar, rakha
(VI, 36, 96). In Savantvadi heisst das Dorfhaupt gavkar;
daneben besteht der Dorfeinnehmer faujdar und die Dorf-
bediensteten ^'^^) ; oft auch mehrere gavkars, die im Turnus
kommen (X, 421, 448).
§ 47.
Der Satz der Rechtsbücher, dass die Streitigkeiten zu-
nächst von den Dorf-, Gilde- und Kastengemeinschaften
auszutragen sind^^^), findet seine volle Bestätigung. Die
Kasten- und Dorfgerichtsbarkeit verschlingt fast jede andere.
Diese Gerichtsbarkeit ist bald mehr demokratisch, indem die
Versammlung entscheidet, bald mehr monarchisch, indem das
Haupt der Kaste die Entscheidung gibt; oftmals entscheidet
das Haupt mit Zustimmung der Versammlung.
Dieses System beliessen auch die Moguls, auch die Mah-
ratten; so namentlich in Puna (XVIII, 3, 4 und 5).
2^^) Vgl. Record of Kolhapur p. 162.
^^°) Mahär oder mhar, Bote (von niederer Kaste); chaudhari
oder chaudhri ist Ortsvorsteher ; jägalyä, jäglä ist Wächter; taräl
ist Bote, Büttel; die rämoci gehören der bekannten Diebsklasse an, sie
werden aber in den Dörfern als Wächter verwendet (vgl. Wilson).
^^^) Fauj ist Polizei, faujdar Polizeibeamter (Wilson).
222j Ygi jneJYi Altindisches Prozessrecht S. 11.
182 Kohler.
Solche Kastenhäupter: gaudas^ budvants^ sethyas,
mehetryas ^^^), naiks^ patila finrlen sich bei verschiedenen
Stämmen in Kanara (XV, 1, 180, 198, 228, 229, 242, 243,
245, 248, 252, 253, 256, 262, 263, 266, 269, 315, 316, 317, 319,
321, 325, 326, 327, 328, 331, 341, 346, 347, 350, 354, 357,
358, 359, 360, 362, 363, 364, 366, 367, 368, 371, 374, 378,
388)5 80 auch in Pun a bei den Mjilis, Bhadbunjas, Otaris, Shimpis,
Gurava, Ramoshis, Bharadis, Uchlias, Vaidus (XVIII, 1, 310,
322, 357, 369, 379, 425, 447, 475, 478); so bei Stämmen
in Satara (XIX, 84, 87, 92, 116, 123); so bei Stämmen
in Scholapur (XX, 91, 93, 120, 158, 161, 171, 180); in
Belgaum (XXI, 135, 172, 174, 178); in Nasik (XVI,
58, 71); in Ahmadnagar (XVII, 86); in Thana (XIU, 1,
138, 147, 148, 158); in Bijapur (XXIII, 112, 137,280); in
Ahmadnagar (XVII, 109).
Bei den Aigals (Tempelbedienten) in Kanara entscheidet
das Tempelhaupt (XV, 1 , 201) ; bei den Nairs steht (ent-
sprechend dem Ansehen der Namburis) die Versammlung unter
einem erblichen Nambiar.
Auch ein weibliches Oberhaupt kommt vor: bei den
Tanzmädchen, kasbans in Belgaum: eine naikin oder bai
(XXI, 225)2 24).
Die Majorität der Versammlung entscheidet beispiels-
weise in Kanara bei den Chitpavansbrahmanen, den Joishis-,
den Andhras-, den Sinvalli-Brahmanen , den Bavkule Vanis,
Narvakar Vanis, Lad Vanis, Padnekar Vanis, Lohauas, Gujarat
Vanis, Marvar Vanis, Adbatkis u. a. (XV, 1, 129, 134, 136,
174, 184, 185, 187, 188, 189, 192, 333); ebenso in Belgaum
bei den Gujarat Vanis, den Kamathis, Marathas, Mithgavdas,
Tilaris, Gabits (XXI, 101, 108, 128, 129, 132, 157); ebenso in
Scholapur die Golak, Gujarati, Kanauj, die Kayasth Prab-
hus, Mudliars, Gujarat Vanis (XX, 30, 31, 32, 44, 48, 52);
^^^) Mehtar ist Haupt, ähnlich wie patil.
"4) Bai ist Herrin, vgl. oben 8. 183.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 183
<}ben30 in Puna die Kirads^ Kachis, Pahadis^ Badhais, Beldars,
Chambhars, Ghisadis, Kataris, Lakheris, Rauls, Sonars, Telis,
Nhavis, Kamathis, Dhors, Mhars, Sarvadev Joshis, Vasudevs
(XVIII, 1, 270, 284, 313, 316, 319, 329, 337, 346, 352, 361,
374, 377, 381, 397, 435, 443, 461, 480). Ebenso entscheidet
die Versammlung in Nasik bei den Lingayat Vanis , Malis,
Shimpis, Sutars , Kasars, Niralis, Guravs, Kolhatis, Joharis,
Vaidus (XVI, 46, 47, 51,51, 52, 54, 54, 55, 55, 66)-, in Satara
bei den Kasars, Lohars, Salis, Sonars, Sutars, Teils, Chitra-
katis (XIX, 85, 88, 93, 96, 96, 97, 117); in Scholapur bei
den Sagar Gavandis, Ghisadis, Koshtis, Rangaris, Rauls, Salis,
Shimpis, Dhangars, Ledhis, Vanjaris, Balsantoshis , Bhats,
Dasaris, Gondhlis, Jangams, Kudbudas (XX, 101, 119, 135,
136, 137, 140, 148, 161, 169, 181, 181, 182, 183, 185, 188);
in Kanara bei den Kallukutigs (XV, 1, 275); in Ratnagiri
bei den Kunbis (IX, 122); in Kandesch bei den Abhirs
(XII, 53); in Thana bei den Brahmanen, den Prabhus, den
Porvad Vanis, Kochis, Kamlis, Vanjaris, Beldars, Jingars und
anderen Stämmen (XIII, 1, 74, 78, 82, 83, 86, 89, 109, 113,
119, 123, 132, 136, 137, 138, 140, 141, 143, 145, 151,
158, 191).
Manchmal ist es auch ein religiöses Plaupt, an wel-
ches die Kastenstreitigkeiten, sei es in erster, sei es in
zweiter Reihe gebracht werden, ein guru, ein ä^ärya; so bei
den Kasars (Jains) , den Kumbhars, Panchals in Belgaum
(XXI, 140, 141, 134); bei den Shrivaishnavs, Komtis, Ilgerus
in Dharwar (XXII, 100, 131, 149); bei den Chetris , den
Patsalis, Jads in Kanara (XV, 1, 344, 276, 277); bei den
Shenvis in Ahmadnagar (XVII, 64); bei den Shirogars,
Jainas, Sadars, Satarkars, Ari Marathas, Habbus, Sonars,
Golak Sonars, Badiges in Kanara (XV, 1, 227, 236, 240,
242, 245, 248, 258, 260, 262). Ebenso verschiedene Brah-
manenklassen in Kanara (XV, 1, 131); die Sarasvats in
Thana (XIII, 1, 85); die Bedars, Oshtams in Bijapur
(XXIII, 93, 141); die Jains in Kolhapur (XXIV, 146).
184 Kohler.
Wo die Islam iten Kastenwesen haben, da haben sie zum
Theil auch ihre Kastenversammlungen und oftmals ihren bud-
vant; so in Belgaum (XXI, 207, 210, 211, 214, 215, 216),
in Dharwar (XXII, 239, 242, 248), in Scholapur (XX,
203, 204), in Satara (XIX, 138, 139, 140, 141, 142, 143,
145), in Puna (XVIII, 1, 498, 505, 506), in Thana (XIII,
1, 222, 237, 238, 239, 246), in Katsch (V, 91, 94, 98, 99),
in Bijapur (XXIII, 297, 301, 303); ferner die Bohorars in
Baroda: sie verpönen jede Anrufung der staatlichen Justiz
(VII, 71). Oefters fehlt aber auch eine jede Organisation: da ist
das Kastenwesen in den Anfängen stehen geblieben, z. B. in
Dharwar (XXII, 241, 244, 245, 246, 249), in Satara (XIX,
142), in Puna (XVIII, 1, 494, 495, 496, 504).
Andere islamitische Stämme bringen die Streitigkeiten
vor den Kädhi oder vor den Kädhi und die Honoratioren ; so
in Thana (XIII, 1, 234).
Einfache Streitigkeiten kommen nicht selten an einen
Ausschuss, an ein Fünfercollegium: panch, panchayat, das
aus fünf oder mehr Mitgliedern bestehen kann ^2^).
Der panch wird von den Parteien aus gewählt; die Par-
teien unterwerfen sich ihm : wer sich nicht unterwirft, der gilt
als trügerisch und sachfällig, entsprechend der Eigenart des
altindischen Prozesses ^^^); so in Kolhapur (XXIV, 267).
Auch in Nasik wurde der panch von Parteien und Regierung
ernannt (XVI, 304). Auch in Palanpur (V, 306) und in
Baroda war der panch von der grössten Bedeutung (VII,
440), während in Savantvadi meist das Dorfhaupt allein ent-
schied, selten der panch (X, 421).
Besondere Verfassungen finden sich bei Urstämmen, ins-
besondere bei den Kols. Die Mahadev Kolis in Ahmadnagar
hatten ein Tribunal oder gotarni, bestehend aus den ragatvan
2") Vgl. Zeitschrift VIII S. 99, 140, IX S. 357. Vgl. auch Wilson
ad h. V.
^"^) Vgl. mein Altindisches Prozessrecht S. 21 f.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 185
(Präsidenten); metal^ seinem Gehilfen^ sabla, dem Rüger,
welcher die Leute erkundete und bei Vergehungen vorführte, dem
dhalia (Ruthe), welcher an die Thüre der Ungehorsamen einen
Zweig, und dem hadkya (Kuhbein), welcher an diese Thür
einen Kuhknochen band: dadurch wurde der Ungehorsame
ausgeschlossen, bis er durch den ragatvan wieder auf
genommen war, worauf das Haus durch den madkya (irdenen
Topf) wieder entsühnt wurde. Geldstrafen fielen ^/2 an Kaste,
1/2 an den Tempelbaufond (XVII, 208). Aehnlich die Kols
in Thana (XIII, 1, 172, 173).
Bei den Bhils steht den Clans ein tadvi oder tadvadi
vor; so in Panch Mahal, in Rewa Kantha (III, 221,
VI, 36). Die Bhils in den Berggegenden von Kandesch
bringen ihre Streitigkeiten vor den naik oder khan sahibs
(Distriktshaupt), welcher erbliche Minister hat (XII, 93, 105);
oder vor einen alten Mann (XII, 102).
Ebenso haben die Vanjaris in Kandisch ihre erblichen
Hauptleute, naiks, welche mit einem Rathe von 10 — 12 Per-
sonen entscheiden (XII, 108).
§ 48.
Das Verfahren entspricht den indischen Rechtsbüchern :
die Darstellung der Sachlage durch die Partei, die Unter-
suchung, Zeugenvernehmung, das Ordal; so in Kolhapur
(XXIV, 266). Auch die Prozesswette kam vor, auch die
Erscheinung, dass der siegende und der unterliegende Theil
eine Summe an den Richter zahlte 2^'^); so in Puna (XVIII,
3, 7 und 9). Erschien der Beklagte nicht, so bekam er einen
Pressboten, in Puna (XVIII, 3, 7). Wenn er wiederholt nicht
erschien, erlitt er Vermögensbeschlag und der Prozess wurde
ohne ihn geführt, allerdings mit der Möglichkeit der in
227^ Vgl. auch Zeitschrift VIII S. 141 ; Altindisches Prozessrecht
S. 18.
180 Kohler.
integrum restitutio, namentlich bei Landstreitigkeiten; so in
Puna (XVHI, 3, 8) 2^«).
Die Hauptpunkte des Prozesses wurden oft schriftlich
gefasst und dem Sieger eine Urtheilsausfertigung, Chut-
patra^^^), gegeben; so in Kolhapur (XXIV, 2GG).
Bisweilen wird auch (den Rechtsbüchern entsprechend) eine
nochmalige Verhandlung gestattet (XXIV, 267) ^^^).
Ganz nach den Rechtsbüchern gab es endlich besondere
Sachkundige für die Gränzstreitigkeiten ; so in Puna (XVIII,
3, 8)231).
§ 49.
Unter den Ordalien nimmt das HeissÖlordal eine beson-
dere Stellung ein 2^^). Der Beschuldigte hat einen Stein oder
Ring aus einem Topf siedenden Oeles herauszuholen, und es
entscheidet der Befund. So bei den (übel berüchtigten)
Uchlias in Puna, namentlich für den Ehebruch: die Prüfung
des Armes erfolgt hier nach 24 Stunden; der Beschuldigte
sagt, wenn er das Ordal eingeht : „bin ich unschuldig, so soll
das Oel sein wie Milch, bin ich schuldig, schlimmer als Feuer"
(XVIII, 1, 468, 469, 475). Auch sonst war in Puna das
HeissÖlordal in Uebung (XVHI, 3, 8). Ebenso holt bei den
Phansepardhis in Scholapur der Beschuldigte eine Münze
aus dem Oel (XX, 167). Auch in Kolhapur findet sich
das HeissÖlordal (XXIV, 266; auch in Nasik (XVI, Qid), Auch
der Ordaleid war in Puna gebräuchlich: der Beschuldigte
sprach über sich den Fluch aus; es wurde dann eine Zeit lang
^^®) Altindisches Prozessrecht S. 22 f.
'^^^) Chchüt = Erledigung, Patra ist Blatt, Urkunde. Es entspricht
dem altindischen jayapattra (Altindisches Prozessrecht S. 51).
^^°) Altindisches Prozessrecht S. 52.
^'^) Altindisches Prozessrecht S. 32.
232^ Vgl. Altindisches Prozessrecht S. 45. Ferner Zeitschr. VIII,
146, 268 ; IX, 358.
Die Gewohnheitsrechte der Provinz Bombay. 187
abgewartet; ob ihm nicht ein Unglück zustosse: dies war ent-
scheidend (XVIII, 3, 8).
In Kathiawar ist der Ordaleid in den Reinigungseid
übergegangen: der Beschuldigte schwört vor einem Sivabild^
oder er berührt den Hals einer Kuh oder eines Brahmanen
mit einem Messer und will damit für den Fall des Falsch-
schwörens die Schuld auf sich laden , als ob er ihn getödtet
hätte: der Eid reinigt ihn (VIII, 327).
Hier gilt aber auch das Ordal des glühenden Ringes und
der glühenden Kugel, welche unter einem besonderen Baume
(dem Diebsbaume) erhitzt wird (VIII, 327).
Ein anderes Ordal war in Puna besonders bei Gränz-
streitigkeiten üblich: das Haupt des Dorfes, um dessen
Gränze es sich handelte, umwandelte den Gränzstreif mit
einem Klumpen Erde auf dem Kopf: hielt der Klumpen zu-
sammen, so war er im Recht (XVIII, 3, 8)^^^).
Verwandt ist das Ordal der Grabesumwandlung in
Kathiawar: der Bezichtigte umwandelt das Grab eines
Heiligen, gefesselt; ist er unschuldig, so fallen die Fesseln ab
(VIII, 327).
Eine Art Bahrprobe lässt sich bei den Kols in Ahmad-
nagar nachweisen. Wenn die Leiche verbrannt ist, wird
nachgesucht, ob nicht ein Fetzen Kleid oder ein Korn unver-
brannt da liegt: es wird angenommen, dass dieses unverbrannte
Stück seinen Tod veranlasst und dass Jemand aus Rache
ihm das Stück angezaubert habe (namentlich aus Rache, weil
er vom Verstorbenen bestohlen worden sei) XVII, 207.
Im Innern, namentlich in Malwa, wo der Hexenglaube
verbreitet ist, finden sich auch Hexenordale der verschiedensten
Art: es gibt Leute, welche den Hexen die Hexereien ansehen
(Auguration) ; der Hexe wird rother Pfeffer in's Auge ge-
streut: thränt sie nicht, so ist sie eine Hexe; man schlägt sie
mit gewissen Zweigen: schreit sie, ist sie eine Hexe; auch
233
) Vgl. Altindisches Prozessrecht S. 32.
188 Kühler. Die Gewolinheitsrechte der Provinz Bombay.
die Hexenprobe durch Wasser findet sich : die Hexe schwimmt
oben 23*).
Eigenthümlich ist Folgendes: Bei den Bhamtas in Nasik
kann man sich im Zweifelsfall mit 50 Rupees vom Ordale
lösen, so dass es nach der Zahlung ist, als ob das Ordal ge-
wonnen wäre (XVI, 66) : also nicht eine Lösung vom Ver-
brechen, aber von der Ordal pflicht, von dem Ordalzwang.
Was die Stellung des Ordals betrifft, so konnte in Nasik
die Partei, welche mit dem ürtheil nicht zufrieden war, sich
auf das Ordal als letzte Aushilfe berufen (XVI, 304).
234
) Malcolm II p. 214 f.
V.
Einzeluntersuchungen zur vergleichenden Eechts-
wissenschaft.
Von
Karl Friedrichs.
Familienstufen und Eheformen.
In keiner wissenschaftlichen Disciplin sind die Begriffe
so schwankend und unbestimmt, die Kunstausdrücke so un-
klar und vieldeutig wie in der vergleichenden Rechtswissen-
schaft. Es erscheint daher geboten, einmal der Feststellung
der wichtigsten Begriffe eine eigene Untersuchung zu widmen.
Im Folgenden sollen besprochen werden :
1. Die Familienstufen (FamilienentwickelungsBtufen): Lose
Familie, Matriarchat = Mutterrecht, Patriarchat = Vaterrecht,
zweiseitige Familie.
2. a) Die Eheformen : Promiscuität, Polyandrie, Poljgynie,
Monogamie, sowie b) die Frauenstufen (Hauptfrau, Nebenfrau,
Kebsweib, Sklavin), und die Männerstufen (Ehemann, Cicis-
beo, Prinzessinnenbuhle).
Weitere Ausführungen sollen einem späteren Aufsatze
vorbehalten bleiben.
190 Fritdrichs.
Erster Theü.
Die Familienstufen.
§ 1.
Aufzählung der Familienstufen.
Die Zahl der Familienstufen oder Familienentwickelungs-
stut'en beträgt wenigstens vier:
1. Die lose Familie.
2. Die matriarchale, uterine Familie.
3. Die patriarchale, agnatische Familie.
4. Die moderne, zweiseitige Familie.
Im Sprachgebrauche Bachofen's und Lafitau's be-
zeichnen die Worte: „Matriarchat" und „Gynaikokratie" so-
wohl die Berechnung der Sippenangehörigkeit nach der Mutter,
als auch eine politische Verfassung, nach welcher die Weiber
die Führerrolle haben und die Männer unterworfen sind^).
Diese beiden Bedeutungen sind aber scharf von einander zu
trennen: auch wo die Mutter die für die Sippe des Kindes
entscheidende Persönlichkeit ist, können dennoch im Recht
und im Leben die Männer die einflussreicheren sein und um-
gekehrt^). Da das Wort „Mutterrecht" sich für den prak-
tischen Gebrauch wenig empfiehlt'), indem es einmal nichts-
sagend ist, und ausserdem der grammatischen Ableitungen
entbehrt, so wird man gut thun, die Herrschaft der Weiber
als „Gynaikokratie", die uterine Verwandtschaftsberechnung
als „Matriarchat" zu bezeichnen. Der wörtliche Sinn der
1) Bachofen, MR p. 28a. — Vgl. dazu: Peschel, VK p. 244. —
Ploss, KBS 2, p. 393. — Jäger in Trewendts Handwörterbuch der
Zoologie 2, p. 491. — Hellwald, MF p. 214, 279. — üargun, MR
p. 1, Note.
2) Hellwald, MF p. 214, 275, 279.
^) Der Versuch Hellwalds, MF p. 204, mit dem Worte Mutter-
recht noch einen andern Begriff zu verbinden, ist zu verwerten.
Familienstufen und Eheformen. 191
beiden Fremdworte spricht nicht dagegen. Denn ap)(siv (führen)^
ist nicht dasselbe wie Ttpatsiv (herrschen).
In diesem Sinne soll im Folgenden die Bedeutung der
vier Familienstufen, ihre Einwirkung auf die einzelnen Rechts
Institute und ihre Kennzeichen behandelt werden, und zwar
in vier Kapiteln :
I. Gentilverfassung (§ 2 — 5).
II. Hausgewalt (§ 6 — 8).
III. Erbfolge (§ 9).
IV. Kinder ein Segen (§ 10 — 14).
Bedeutung und Kennzüge der Familienstufen.
I. Gentilverfassung.
§ 2.
1. Im Allgemeinen.
Die Familienstufe wirkt durchaus nicht nur auf das Ver-
hältniss zwischen Vater, Mutter und Kindern ; ja dieses Ver-
hältniss wird nicht einmal in erster Linie durch die Familien-
stufe bestimmt. Denn so verschieden das Leben des Hauses
sich auch in den verschiedenen Rechtsgebieten gestaltet, so giebt
es doch gewisse Sätze des jus naturale , quod natura omnia
animalia docuit. Ueberall ist der Mann der körperlich
stärkere und gutmüthigere, die Frau der körperlich schwächere
und schlauere Theil, beide streben mit mehr oder weniger
Energie nach dem überwiegenden Einfluss im Hause und
überall sind die Kinder, so lange sie der elterlichen Pflege
bedürfen, vollkommen abhängig von den Eltern und suchen
sich nachher mehr oder weniger selbstständig zu machen.
Ueberall wird sich jeder bemühen, sein Familienleben seinem
und seiner Hausgenossen Charakter und Bedürfnissen anzu-
passen und wird die Vorschriften der Rechtsordnung nur als
J92 Fiiedriclis.
einen Rahmen ansehen, innerhalb dessen er sich das Heim so
behaglich ausbaut wie er kann. Die herrschenden Anschau-
ungen der verschiedenen Völker weichen von einander ab, aber
auch innerhalb desselben Volkes sind solche Abweichungen
möglich, und bei höher cultivirten Völkern gewöhnlich. Aus
diesem Grunde müssen auch innerhalb desselben Rechts -
gebietes die Lebensgewohnheiten in den verschiedenen Haus-
ständen grosse Unterschiede von einander zeigen.
Wir leben heute im System der zweiseitigen Familie
und doch finden wir überall Haushaltungen, in denen nur der
Mann oder nur die Frau oder gar über beide Eltern das ver-
zogene Töchterchen allein das Wort führt.
Die Sage von Herakles und Omphale und gerade das
Sinnbild des Pantoffels*) ist in einem patriarchal lebenden
Volke entstanden; und beruhen nicht die Mährehen von der
bösen Stiefmutter auf dem Gedanken, dass es in einem patriar-
chalen Hause der klugen und boshaften zweiten Frau gelingt,
den rechtlich unbeschränkten Hausvater thatsächlich so zu
beherrschen , dass er ihr zu liebe die Kinder seiner ersten
TtooptSiTj aXoy^OQ als Sklavenkinder hält!
Römische uxores in manu haben ihren Pantoffel gewiss
ebenso wacker geschwungen wie je eine Ehefrau der Ba Londa
oder Ba Nyay.
Dass immerhin der Aufbau der Familie im Staat auf
das Leben der einzelnen Hausstände seinen grossen Einfluss
hat, soll nicht verkannt werden ; aber dieser Einfluss darf
auch nicht überschätzt werden und insbesondere darf aus dem
thatsächlichen Leben im Hausstande kein Schluss auf den
Familienaufbau gezogen werden.
Im Gegensatze hierzu werden die Beziehungen der Kinder zu
den Verwandten der Eltern, d. h. das Verhältniss zwischen Gross-
eltern und Enkeln, Onkel und Neffen, auch zwischen Schwieger-
eltern und Schwiegerkindern, und endlich zwischen den noch
0 Bachofen ST p. 75.
Familienstufen und Eheformen. 193
entfernteren Verwandtschaftsgraden, — nicht nur in den recht-
lichen Wirkungen, sondern auch in Bezug auf die persönlichen
und Herzensbeziehungen — von der Familienstufe, welcher das
Volk angehört, überwiegend oder allein bestimmt. Abweich-
ungen von dem Regelmässigen pflegen nur durch solche per-
sönliche Gründe der Freundschaft oder der Abneigung her-
vorgerufen zu werden, welche sich auch Fremden gegenüber
geltend machen würden.
Für das heutige Deutschland liegen die Dinge so, dass
der einzelne sich mit den väterlichen und den mütterlichen
Angehörigen gleich nahe verwandt fühlt. Der Gedanke, dass
wir dem Vaterbruder grundsätzlich näher oder ferner stehen
sollten als dem Mutterbruder u. s. w., wäre uns unverständlich.
Die Eltern ziehen ihre Kinder mit Last und Mühe auf, bei
den ärmeren bis zum 14. oder 16., bei den wohlhabenderen
bis zum 20. Jahre und darüber ohne jede Hoffnung auf einen
materiellen Entgelt für ihre Sorgen. Sie freuen sich, wenn
es dem Kinde früh glückt, sich von ihnen zu trennen und
einen eigenen Haushalt zu begründen, aber immerhin wohnt
das junge und das alte Paar gern am selben Orte, in mög-
lichster Nachbarschaft, man fragt sich um Rath, man hilft
sich aus, die erste Niederkunft der jungen Frau pflegt selten
ohne die Mitwirkung ihrer Mutter zu geschehen, die über-
haupt sich berechtigt und verpflichtet glaubt, für ihre Tochter
zu sorgen, oft mehr als es dem Schwiegersohne lieb ist.
Auf dieser Grundlage stehen die Beziehungen der weiteren
Verwandten zu einander. Ein jeder scheut sich, gegen einen
Verwandten Zeugniss abzulegen, sei es in Civil- oder Straf-
sachen, und das Gesetz hat dies Gefühl gebilligt und aner-
kannt, aber wenn die Verurtheilung stattgefunden hat, so sind
die Verwandten nicht berufen, für Schulden und Strafe ihrer
Angehörigen einzutreten; ja in Strafsachen nicht einmal be-
fugt. Delicte von Verwandten untereinander werden, wenn sie
gering sind; milder, wenn sie schwer sind, strenger beurtheilt
als unter Fremden. Im Uebrigen gilt das Band der Verwandt-
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenscliaft. X, Band. 13
li)4 Fiieilrichs.
Schaft in der Regel nur als bequeme Gelegenheit, mit einer
beschränkten Anzahl von Personen, welche wir von Jugend
auf kennen, und deren Eigenarten uns vertraut sind, in
zwangloserer und formloserer Weise zu verkehren als mit
Fremden; das Band ist nicht stark genug, um Ehen als ver-
boten erscheinen zu lassen^), und es fällt oft ganz zusammen,
wenn nicht auch Bekanntschaft und Verkehr die Verwandten
verbindet. Unterstützungen, welche etwa der Onkel dem
Neffen zuwendet, gelten nicht als Wohlthätigkeiten Fremder,
deren Zurückweisung der Stolz gebietet, aber auch nicht als
Pflichtgaben-, der Neffe hat nicht zu quittiren, sondern zu
danken.
Im Uebrigen haben wir die volle Möglichkeit, uns auch
mit Fremden auf einen gleichen Verkehrsfuss zu stellen. Wir
können den Fremden trauen, denn wir haben Frieden mit
einer umgebenden Bevölkerung von Millionen, und in allen
Nöthen und Bedrängnissen finden wir bei staatlich geordneten
Gerichten einen sicheren Schutz. Wie weit wir unsere Ver-
wandtschaft rechnen wollen, dafür haben wir kein festes Mass,
aber es ist sicher, dass sie mit der grösseren Ferne ganz all-
mählich verblasst.
Einen Gegensatz hierzu bildet das Thierleben. Ein Thier
kennt nie seine Grosseltern, fast nie seine älteren Geschwister,
selten seinen Vater, immer seine Mutter; obwohl bei unseren
Hausthieren auch dieses Verhältniss durch längere räumliche
Trennung aus dem Gedächtniss schwinden kann. Neben diesem
engsten Verbände kennen die frei lebenden noch eine Grup-
pirung in Rudel, Horden, Völker, Schoofe, Staaten; im
Uebrigen wird nicht einmal die Species das Gefühl der Zu-
sammengehörigkeit haben.
Eine andere Art der Gliederung ist die Gentilverfassung.
Sie besteht nur in solchen Gemeinwesen, in denen staatliches
^) Die strengeren kirchlichen Eheverbote sind Ueberlebsel aus
früherer Zeit.
Familienstufen und Eheformen. 195
Leben überhaupt nicht bekannt oder erst in den ersten
rohesten Ansätzen begriffen ist. Zugleich aber besteht sie
nur in solchen Gemeinwesen^ welche schon eine gewisse An-
sammlung von Capital erworben haben, zu dessen Schutz der
Einzelne sich auf seine eigenen Kräfte nicht genügend verlassen
kann, und das ihm das Leben von der Hand in den Mund erspart.
Vermöge der Gentilverfassung zerfallen die durch gemeinsame
Sprache oder durch Bewohnen desselben Gebietes mit einander
vereinigten Menschen in souveräne Stämme, welche ihrerseits
wieder in Unterstämme, gentes, gegliedert sein können. Der
Stamm hat die Summe der Einzelinteressen seiner Mitglieder
zum Gemeininteresse erhoben ; er steht für alle Gut- und Blut-
schulden seiner Genossen ein und unterstützt dieselben in der
Verfolgung ihrer Rechte nach aussen und betreibt die Rache
für erlittene Frevel mit unerbittlicher Strenge: Mass der
Rache ist nur das Mass der Kraft. Wenn ein Stamm genösse
einem Fremden Unrecht thut, so wird ihn sein Stamm nicht
desshalb strafen, sondern ihn mit allen Mitteln gegen den rächen-
den Stamm beschützen. Wer einem Genossen Unrecht thut, geht
in vielen Fällen auch straflos aus, da sein Stamm seine Kraft
nicht entbehren kann, eventuell trifft ihn die Ausstossung,
welche von selbst mit einer Friedlossetzung verbunden ist,
da sein Stamm ihn nicht mehr schützt und rächt, und er
somit von jedem Stärkeren straflos getödtet werden kann:
eine Wirkung der Gentilverfassung ist die, dass jeder, der
nicht einer ihn schützenden gens angehört, also der Fremde,
der Flüchtling, allen Angriffen wehrlos ausgesetzt ist.
„Gentilität und volle Rechtsfähigkeit, Nichtgentilität und
volle Rechtlosigkeit sind ursprünglich gleichbedeutend^^) —
„whoever is foreign to a group, is hostile to it" ^) —
„der primitive Mensch betrachtet nur denjenigen als »ich
durch Rechtsgenossenschaft verbunden, welcher demselben
'') I he ring GRR 1, p. 226.
0 Mac Lennan StAH p. 107.
10(j Friedrichs.
Stamme wie er angehört. Der Fremde ist schutzloa und
reehtlos"^).
Eine andere Folge ist die, dass jeder nur einem Stamme,
einer Gruppongenossenschaft angehören kann. Und ebenso
gross, wie das Interesse der Einzelnen an der Zugehörigkeit
zu einem Stamme ist, so gross ist auch das Interesse des
Stammes, möglichst viele Individuen zu Genossen zu haben.
Es ist nicht möglich, dass die Willkühr des Einzelnen darüber
entscheidet, ob er einem Stamme angehören will und welchem,
sondern es ist nothwendig, dass jeder von der Geburt an
Mitglied eines bestimmten Stammes ist. Wenn nun beide
Eltern derselben Gliederungsgruppe angehören, so ist es
zweifellos, dass auch das Kind zu derselben gehört. Stammen
aber die Eltern aus verschiedenen Gruppen, so kann das Kind
— wenn nicht ganz abnorme Verhältnisse vorliegen — ent-
weder zu der Gruppe des Vaters oder zu der der Mutter ge-
hören, und wenn auch die Eltern selbst in enger Gemeinschaft
unter einander leben, so wird doch das Kind im einen Falle
den Agnaten sehr nahe, den Uterinen aber fern, im andern
Falle den Uterinen nahe und den Agnaten fern stehen. Den
reinen Cognaten, d. h. den Verwandten, welche durch Männer
und Weiber mit ihm verbunden sind (z. B. der Vaters-Schwester-
tochter, dem Mutter-Bruder-Sohne), ist es in beiden Fällen
fremd ^).
Dort wo sich eine in der Ausbildung begriffene Staats-
verfassung als mehr oder weniger loser Rahmen um die Gen-
«) 0. Schrader, SU p. 505.
^) Es müsste denn schon sein, wie auf Timor, und vielleicht bei
einer Reihe von weiteren Malayenstämmen, wo die Kinder aus einer
Digaehe (§ 6) in die Marga des Vaters, und die Kinder aus einer Binaehe in
die Marga der Mutter fallen, und somit die Marga sich weder aus Agnaten,
noch aus Uterinen, sondern nur aus Cognaten zusammensetzt, aber auch
hier ist es schon vor der Geburt für jedes Kind sicher feststehend, zu
welcher Marga es gehören wird , so dass die obige Regel keine Aus-
nahme erleidet.
Familienstufen und Eheformen. 197
tilverfassung geschlungen hat, ist die letztere noch daran zu
erkennen, dass der Staat niemals mit den einzelnen Indivi-
duen, sondern nur mit den Stämmen als Ganzen zu thun hat.
§ 3.
2. Verhältniss zu den Familienstufen. .
Wenn nun das Matriarchat die Familienstufe ist, in der
die Beziehungen der Kinder zu den väterlichen Verwandten
keine rechtliche Wirkung haben, so liegt es meines Erachtens
nahe, ein wirkliches Matriarchat nur da als vorhanden an-
zusehen, wo diese Behandlung der Verwandtschaftsbeziehungen
durch das Bestehen der Gentilverfassung zu einer nothwen-
digen dauernden Einrichtung gemacht ist; dagegen jene Völker,
die weder ein Staatsleben noch ein Gentilleben kennen , son-
dern nach Art der thierischen Hordengliederung in losen
wechselnden Horden dahinleben, unter allen Umständen der
losen Familie zuzuweisen; auch dann, wenn die eine Seite
der Verwandtschaft von dem herrschenden Rechtssystem nicht
anerkannt wird. Denn bei diesen Völkern stellt auch die
andere, die anerkannte Seite der Verwandtschaft kein noth-
wendiges und festes Gefüge dar, sondern ein zufälliges loses
Band, welches dem Wechsel unterliegen kann, und von dem wir
erwarten müssen, dass es einmal mit einem andersgearteten
Bande vertauscht wird, ohne dass dadurch das Leben des
Volkes im üebrigen beeinflusst zu werden braucht.
Es ist somit das Vorhandensein der Gentilverfassung eine
Voraussetzung und somit auch das erste und wichtigste Kenn-
zeichen des Matriarchats und des Patriarchats; die Horden-
verfassung ist ein Kennzeichen der losen Familie, selbst dann,
wenn der Familienaufbau eines Volkes in einzelnen Bezieh-
ungen eine äussere Aehnlichkeit mit dem Matriarchat oder
Patriarchat haben sollte. Die Möglichkeit der zweiseitigen
Familie wird am Vorhandensein des Staates erkannt.
Natürlich gibt es Uebergangsstufen. Wir sehen manches
108 Friedrichs.
Volk in einer werdenden oder in der Kntwiekelung goheinmten
(Jentilvertassung; andre, bei denen die letztere im Begriffe
ist, sieh zur Staatsverfassung auszubilden oder einer solchen
Platz zu machen; diese Uebergangsstufen finden bequem ihren
Platz in der Eintheilung und sind nach den benachbarten
Hauptstufen zu beurthcilen. Andererseits liegt aber keine
Nothwendigkeit dafür vor, dass das Familienleben aller Völker
der Erde in einer dieser Kategorien unterzubringen sei^^).
Es ist noch kein Beweis dafür erbracht, dass alle Rechts-
systeme Sprossen an derselben Leiter sind. Vielleicht haben
wir es nicht mit einer Leiter, sondern mit einem Flusse zu
thun, der aus mehreren Quellen zusammen gewachsen, im
flachen Lande sich theilt und gabelt und Inseln bildet, dessen
Läufe sich dann bald hier, bald dort wieder vereinigen , um
endlich in einem breiten Delta ins Meer zu fliessen. Wo
wir daher ein Rechtssystem finden, welches in das Schema
nicht genau hinein zu passen scheint, mag es seinen eigenen
Namen bekommen, bis es gelingt, seine Stellung in oder zu
dem als typisch vorausgesetzten Systeme zu ermitteln. Es gilt
der Verwirrung vorzubeugen, welche mehr schadet als ein
einzelner LTthum.
Im einzelnen ist noch folgendes zu bemerken:
Die lose Familie kennt keine andere Gruppirung als die
in Horden. Mitglied der Horde ist, wer sich gerade zu ihr
hält, Häuptling ist der, dessen Anordnung Gehorsam findet,
und so weit und so lange der Gehorsam reicht.
Ist die Nahrung reichlich, so kommen viele zusammen;
ist die Nahrung knapp, so trennen sich alle, um jeder für sich
sein Leben zu fristen. Der Schutz gegen Feinde wird manch-
mal im vereinten kräftigen Widerstände, bald in regelloser
vereinzelter Flucht und Nachstellungen aus dem Hinterhalte
gefunden werden.
Wo die Gentilverfassung herrscht, da gehört jeder einer
^°) Eine Ausnahme macht schon Timor, s. Note 9 und § (>.
Familienstufen und Eheformen. 199
und nur einer gens von seiner Geburt an zu und bleibt in
ihr so lange, bis er aus ihr heraustritt und in eine andere
hineintritt. Weder Kriegsgefangenschaft noch freiwillige Ab-
wesenheit, noch Theilnahmlosigkeit gegenüber den gemein-
samen Angelegenheiten vermögen den Zusammenhang des
Einzelnen zum Ganzen aufzuheben.
Im einzelnen erscheint der Stamm als
Kriegsgenossenschaft,
Blutrachegenossenschaft,
Raubgenossenschaft ^ i),
er hat gemeinsame Finanzen, Gebietshoheit und Grund-
eigenthum,
gemeinsamen Cultus, gemeinsame Grabstätten, einen ge-
meinsamen Totem oder Schutzgötzen,
gemeinsame Namen, Hausmarken und Pfetzungen (=Täto-
wirungen vgl. 3 Mos. 19, 28),
active und passive Solidarität in allen Obligationen, welche
einem Stammfremden gegenüber begründet sind,
Straflosigkeit der von den Mitgliedern gegen einander
begangenen Delicte^^) oder aber ein geordnetes Gericht, wel-
ches nur auf erträgliche Geldstrafe oder Ausschliessung er-
kennt.
Der erste moralische Grundsatz in jeder Gentilverfassung
ist der: du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind
hassen.
Ein Buschmann wurde von einem Missionär gefragt, ob
er auch wisse, was gut und böse sei, und er antwortete: „Eine
^^) Wer in der Gentilverfassung einen Raub oder Diebstahl in
einer fremden gens begeht, ist zwar der Rache der beschädigten Genossen-
schaft ausgesetzt; aber unter seinen Genossen ist er straflos und hoch
angesehen. Caesar, BG 6, 23. — Klemm, CG 4, p. 175 f.
^^) „Es tritt oft ein Fuss den andern, der Zahnbeisst oft die Zunge,
es stösst sich mancher selber mit einem Finger ins Auge und thut ihm
wehe. Aber da ist reiche Vergebung und hat ein Glied mit dem andern
Mitleid und Geduld, sonst könnte der Leib nicht erhalten werden."
Luthers Tischreden in Meyers Volksbüchern, Nr. 400, p. 33 f.
200 Friedrichs.
böse That ist, wenn ein Anderer meine Frau raubt, eine gute
That, wenn ich einem Andern seine Frau raube* ^^). Das ist
die Moral der losen Familie. In der Gentilverfassung würde
sie lauten: „Eine böse That ist es, wenn ein Stammfremder
einem Stammgenossen von mir eine Frau raubt; eine gute
That ist es, wenn ich einem Stammgenossen helfe, aus der
Fremde eine Frau zu rauben."
Der Stamm hat stets ein Haupt, dessen Einfluss aber
immer abhängig ist von der Autorität, welche er persönlich
auszuüben fähig ist.
Der Stamm hat oft einen Rath, eine Volksversammlung
oder eine Deputirtenversammlung, aber keine geregelte Ge-
setzgebungsmaschine, welche die Erfüllung von Formvor-
schriften für erforderlich und ausreichend zum Zustandekommen
einer bindenden Rechtsnorm hielte.
Der Staat befriedigt alle Bedürfnisse, welchen auch die
gens genügt, aber nach anderen Grundsätzen und auf andere
Weise. Ausserdem pflegt er eine Reihe von Aufgaben zu er-
füllen, welche in der Gentilverfassung durch die Einzelnen er-
ledigt werden oder unbefriedigt bleiben.
Eine seiner wichtigsten Functionen ist die, dass er das
Rachesystem durch ein Strafsystem ersetzt, aber das ent-
scheidende Merkmal ist die politische Arbeitstheilung. Diese
besteht darin, dass die Gesammtheit die gemeinsamen Ange-
legenheiten nicht selbst besorgt, sondern durch Organe be-
sorgen lässt, und dass die Organe des öffentlichen Willens eine
von ihrem persönlichen Einflüsse losgelöste Machtbefugniss
haben.
Ein Staat kann sich aus gentes zusammensetzen, und dann
pflegen diese als Einheiten in der Verwaltung der Heeres-
ordnung und der Volksabstimmung und als Eideshelfergenossen-
schaften im Processe aufzutreten.
13
) Peschel, VK p. 294.
Familienstufen und Eheformen. 201
§4.
3. Mutterfolge in Bezug auf den Stand.
Wenn die Gentilverfassung feststeht, so erkennt man das
Matriarchat an der uterinen Bestimmung der Stammes- und
Sippenangehörigkeit. Von dieser aber ist sehr wohl zu unter-
scheiden die Mutterfolge des Standes, die uterine Festsetzung
der Standesangehörigkeit oder die Regel, dass Kinder aus
Missehen oder aus Geschlechtsverbindungen von Personen ver-
schiedener Geburtsstände dem Stande der Mutter folgen. Dieser
letzte Grundsatz ist vielfach und noch von Dargun für einen ent-
scheidenden Kennzug des Matriarchats gehalten worden^*), er
ist aber nicht nur mit der losen Familie, sondern auch mit dem
Patriarchate sehr wohl verträglich.
Die Weissen Brasiliens gehören wie alle Völker europäischer
Cultur der zweiseitigen Familie an, in den Beziehungen, in
welchen ein Geschlecht überwiegen muss, geben sie dem
männlichen den Vorzug. Bei ihnen wurde 1830 jedes von
einer Sklavin geborene Kind als Sklave, jedes von einer
Freien geborene als frei behandelt, das letztere auch dann,
wenn der Vater ein Sklave war^^). Dasselbe galt in den
französischen Colonien ^^) und vielleicht bei den alten Dänen ^').
Die Singhalesen haben neben der Bina-Ehe eine Diga-Ehe
mit Frauenkauf ^^), Frauenleihe ^^), Verpfändung von Frau und
Kindern durch den Hausvater ^^), fortgesetzter Familie unter
Leitung des ältesten Bruders ^^), eine Polyandrie rein patriar-
'^) Dargun, MR p. 32. — Hellwald, MF p. 396.
i'O Meyen, RE 1, p. 81.
16) Waitz, ANV 2, p. 294.
^0 Starcke, PF p. 115.
1^3 Hellwald, MF p. 255. — Später abgeschwächt zum Braut-
geschenk. Kohler, RSt p. 231.
i^J Knox, CRB 3, 7, p. 194. — Mac Lennan, StAH p. 140.
20) Knox, CRH 3, 9, p. 216. — Kohler, RSt p. 234.
2^ Knox, CRB 3, 9, p. 213. - Kohler, RSt p. 236.
202 Friedrichs.
chaloii Charakters ^^), gehören also gewiss nicht zu den Völkern,
welche die Sippenangehörigkeit matriarchal berechnen. Den-
noch gilt auch bei ihnen der Satz, dass die Kinder jederzeit
in Freiheit oder Unfreiheit dem Stande der Mutter folgen ^^).
Die Batak auf Sumatra verbinden patriarchale Sippen-
angehörigkeit^^), Treupflicht der Ehefrau ^^), patriarchales
Eheleben mit Frauenraub, Frauenkauf ^^) und Frauenerdienung,
patriarchale Exogamie^'), patriarchale Frauenvererbung ^^) mit
Mutterfolge des Standes 2^).
Auch die melanesischen Fidschiinsulaner haben Polygynie^^),
Verkauf der Frauen durch den Ehemann ^^) Satti (Witwen-
verbrennung) ^^), Eheschluss durch Scheinraub ^^) undHlonipa^^)
22) Bastian, VÖA 6 p. 70, Note *). p. 156, Note *). — Davy, RIC
p.83. — Hellwald, MF p.255. 260. — Klemm, CG 7, p. 115. - DobUioff,
PN p. 108, 117. — Kohler, RSt p. 233. - Lubbock, Entstehung der
Civilisation , Jena 1875, p. 118. — Mac Lennan, StAH p. 145. —
Puffendorf, de Jure Naturae ac Gentium, Lund in Schonen 1672,
6, 1, 15.
") Knox, CRB 3, 9, p. 216. — Kohler, RSt p. 231.
2^) Hellwald, MF p. 269.
25) Hellwald in THZ 1, p. 372. — Hellwald, MF p. 332. —
Starcke, PF p. 283.
26) Hellwald in THZ 1, p. 372. — F. Müller, Allgemeine Ethno-
logie. Wien 1879, p. 361. — Bastian, Rechtsverhältnisse b. d. versch.
V. der Erde. Berlin 1872, p. 217. — Hellwald, MF p. 269.
2^) Hellwald in THZ 1, p. 372. — Bastian, VÖA 5, p. 408.—
Hellwald, MF p. 232, 269.
28) Hellwald, MF p. 268, 269.
29) Ploss, Das Kind in Brauch und Sitte der Völker. Berlin 1882,
2, p. 394. — üeber die Erb- und Thronfolge vgl. Lubbock EC p. 125.
— Bastian RV p. 183.
30) Hellwald, MF p. 228. — Starcke, PF p. 98. 307.
31) Lubbock, VZ 2, p. 158.
32) Bastian, VÖA 5, p. 230, Note**). — Hellwald, KG 1, p. 85.
— Klemm, CG 4, p. 370. — Lubbock, VZ 2, p. 161. - Peschel,
VK p. 359.
33) Hellwald, MF p. 183, 290. — Lubbock, EdC p. 93. —
Peschel, VK p. 235.
') Bastian, VÖA 6, p. 475, Note *). — Lubbock , VZ 2, p. 164.
34>
Familienstufen und Eheformen. 203
patriarchale Thronfolgeordnung (Seniorat ?) ^ ^) und patriarchale
Erbfolge ^^); endlich auch ausgesprochen patriarchale Berechnung
der Sippenangehörigkeit ^"^j, also ein vollkommen patriarchales
Familiensystem, welches auch durch das eigenthümliche Vasu-
recht des Schwestersohns ^^) nicht beeinträchtigt wird. Daneben
besteht aber der Grundsatz der Mutterfolge im Stande ^^), welcher
sich besonders in der Weise geltend macht, dass die Kinder
eines Mannes von verschiedenen Frauen nach dem Stande der
Mutter rangiren^^).
Bei den polynesischen Tonganern (Freundschaftsinsulanern)
welche wohl weder dem Patriarchat noch dem Matriarchat,
sondern der losen Familie angehören, erscheint mütterliche
Vererbung des Adelsstandes*^) neben väterlicher Sippenange-
hörigkeit*^).
Die Dahomeneger haben agnatische Thronfolge (Primo-
genitur*^), Treupflicht der Ehefrau**), Keuschheitspflicht der
— Starcke, PF p. 256. Hlonipa sind Vorschriften, welche sich auf den
Verkehr zwischen nahe verschwägerten Personen beziehen. Bastian,
ZE 1874, p. 382. 388. -Büchner, Goldnes Zeitalter, p. 273. — Dargun,
MRp. 91. 92. — Hellwald, MF p. 290. — Kohler KVjft NF 4, p. 184.
— Kohler, ZVR 5, p. 416. — Lubbock, EC p. 99. — Starcke PF
p. 254.
^5) Morgan, SCA p. 582. — Starcke, PF p. 98, 307.
36) Morgan, SCA p. 583. — Dagegen: Hellwald, MF p. 219. —
Lubbock, EC p. 144.
3') Morgan, Systems of Consanguinity and Affinity in the Human
Family, W^ashington 1871, p. 582.
3«) Lubbock, EC p. 390. — Starcke, PF p. 99.
3^) Ploss, Kind 2, p. 393.
^<') Starcke, PF p. 98, 307.
^1) Bastian, RV p. 171. — Lubbock, EC p. 126, 378. — Ploss
KBS 2, p. 393.
'*2) Morgan, SCA p. 579. - Bastian, RV p. 247. — Klemm,
CG 4, p. 328. 357. — Starcke, PF p. 96.
^3) Hellwald in THZ 2, p. 315.
'') Waitz, ANV 2, p. 115.
204 Friedrichs.
Mädchen ^^); Frauenkauf**'); daneben aber Mutterfolge des
Standes i').
Die Ama Zulu (ba Ntu) haben einen Frauenkauf mit ähn-
lichen Wirkungen wie der Mundschaftskauf der alten Ger-
manen'*^) mit Scheinraub ^^), Frauenleihe ^®), Tödtungsrecht
des Mannes gegenüber der Frau^^), Treupflicht der Frau ^2),
Keuschheitspflicht der Mädchen ^^) patriarchale Frauenverer-
bung, patriarchale Thronfolge ^*), daneben aber Mutterfolge
im Stande, welche sich wie bei den Fidschiinsulanern auch
zwischen den Söhnen desselben Vaters äussert.
Die Fulbe im Mittelsudan, welche im wesentlichen nach
muslimischem Rechte leben, insbesondere patriarchale Thron-
folge^^) ehemännische Gewalt (Manus)^^), Treupflicht der
Ehefrau ^'^) anerkennen, geben dennoch bei Missverbindungen
49~
5 2-
•»5) Waitz, ANV 2, p. 113.
*6) Hellwald, MF p. 309.
47) Hellwald, MF p. 209.
48) Hellwald in THZ 4, p. 368. — Klemm, CG 3, p. 277. —
Waitz, ANV 2, p. 382. — Peschel, VK p. 237. — F. Müller, AE
p. 190 f. — Hellwald, MF p. 307. — Sern au in der Deutschen
Kolonialzeitung 2, p. 490 a.
3) Waitz, AMV 2, p. 358. — Lubbock, EC p. 95.
») Lubbock, VZ 2, p. 265. — Kohler in ZVR 5, p. 350.
0 Waitz, ANV 2, p. 387.
0 Hellwald, MF p. 331, 333, Note 2. — Klemm, CG 3, p. 278.
279. — F. Müller, AE p. 192.
53) Waitz, ANV 2, p. 389; anders Starcke, PF p. 278; vgl.
dazu Ploss, KBS 2, p. 443.
-'4) Klemm, CG 3, p. 323, 338. — Waitz, ANV 2, p. 392. —
Lubbock, EC p. 391. — Hellwald in THZ 4, p. 368. — F. Müller,
AE p. 193. — Sern au in DKZ 2, p. 488 b. '
5^) Barth, Reisen und Entdeckungen in 'Nord- und Central-AtVika.
Gotha 1857, 1858: 2, p. 586; 4, p. 142. 154. 198. 208. 540.
5'^) Clapperton in Denliam, Clapperton und Oudneys Be-
schreibung der Reisen etc. Weimar 1827, in der neuen Bibliothek etc.,
I, 2, p. 578.
^') Waitz, ANV 2, p. 472.
Familienstufen und Elieformen. 205
dem Kinde den Stand der Mutter, insbesondere also dem Kinde
den Adel, wenn die Mutter adelig ist^^).
§ 5.
4. Patronymie und Metronymie.
Ein äusseres Zeichen der Sippenangehörigkeit liegt in der
Benennung. Entweder können die Kinder neben ihrem Haupt-
namen einen Beinamen haben, welcher den Namen des Vaters
oder der Mutter wiederholt oder andeutet (Patronymie, Metro-
nymie), oder jede Familie hat einen gemeinsamen Namen,
welchen die Kinder entweder mit dem Vater oder mit der Mutter
gemeinsam haben — (männliche, — weibliche Vererbung des
Familiennamens). Selbstverständlich aber ist es völlig gleich-
gültig, welcher Elterntheil dem Kinde den Vornamen ausge-
sucht und beigelegt hat^^).
Metronymie und weibliche Vererbung des Familiennamens
sind Zeichen für die lose Familie, das Matriarchat und für die
zweiseitige Familie, welche sich aus dem Matriarchat entwickelt
hat^^). Patronymie und männliche Vererbung des Familien-
namens finden sich im Patriarchat und der daraus ent-
wickelten zweiseitigen Familie.
58) Bastian, RV p. 176. — Hellwald, MF p. 209.
5^) Anders Mac Lennan, StAH p. 289.
^^) Mac Lennan, StAH p. 180 hält die Metronymie für eine noth-
wendige Folge des Frauenraubes , weil die Frau in der Zeit zwischen
Empfängniss und Geburt in vielen verschiedenen Händen ist, so dass
der Erzeuger des Kindes in der Regel nicht bekannt ist, und auf diesen
also auch kein Gewicht gelegt werden kann. Mac Lennan übersieht
aber, dass nicht nur durch Zeugung, sondern auch durch Geburt die
väterliche Gewalt erworben werden kann, und dass durch den Frauen-
raub auch der Name der Mutter in Vergessenheit gerathen kann,
wenn nämlich diese ohne ihr Kind durch einen fremden Stamm ge-
raubt wird.
200 Friedrichs.
II. Hausgewalt.
§ »3.
1. Im Allgemeinen.
Dass der Ehemann über seine Frau und Kinder häusliche
Gewalt besitzt, die Erziehung der letzteren leitet, der ersteren
die Arbeiten anweist, ist eine Erscheinung, welche dem Pa-
triarchat nicht eigenthümlich ist, sondern sich auch mit der
losen Familie und selbst dem Matriarchate, ganz abgesehen
von der zweiseitigen Familie, sehr wohl verträgt ^^).
Aber diese Gewalt kann eine mehr oder weniger ausge-
dehnte sein. Wenn wir finden , dass der Mann seine Frauen
und Kinder verleihen, vermiethen, prostituiren, verkaufen,
verpfänden, züchtigen, endlich auch nach Belieben miss-
handeln oder tödten kann, wenn endlich am Grabe des ver-
storbenen Hausvaters die Witwen erdrosselt oder verbrannt
werden (satti) ^2), so ist das Matriarchat immerhin noch nicht
ganz unmöglich, wie uns die Ba Ntustämme der portugiesischen
Besitzungen Angola und Benguela beweisen, aber im All-
gemeinen berechtigt uns diese Erscheinung doch zu der V^er-
muthung, dass das Volk den Patriarchalen zuzurechnen sei.
Wenn aber andrerseits diese ausgedehnte Gewalt dem
Mutterbruder gegenüber den Schwestersöhnen zusteht, dann
haben wir ein sicheres Kennzeichen des Matriarchats.
Vielfach ist übrigens die Gewalt zwischen dem Vater
und dem Mutterbruder getheilt. Ob hierzu auch die Stelle
Tac. Germ. 20 gehört, ist nicht ohne Zweifel ^^).
Indessen fällt bei den Savaras in Indien der Brautpreis
'''O So auch Lafitau bei Peschel, VK p. 244. — Starcke, PF
p. 244. - Anders Hellwald, MF p. 228.
«2) Hellwald, MF p. 352.
^'^) Vgl. die Erklärungen bei Bachofen, MR p. 79a. — Kohler
in KVjft 23, p. 179, Note*). — Schrader, SU p. 571.
Familienstufen und Eheformen. 207
zu gleichen Theilen an den Vater und an den Mutterbruder ^*)
und bei den Nairn tritt der Vater wahlweise mit dem Mut-
terbruder bei der Namengebung des Kindes auf^^)^ während
zur Ausübung materieller familienrechtlicher Befugnisse nur
der letztere berufen ist^^). In China hat der Mutterbruder
das Recht, den Schwestersohn gegen die Züchtiguii:^ durch
dessen Vater in Schutz zu nehmen ^^).
Bei den Wa Nyamnezi wird die Tochter vom Vater^ wenn
dieser aber gestorben ist^ vom Mutterbruder ausgeheirathet,
auch hat der letztere schon zu Lebzeiten des ersteren eine
berathende Stimme, wenn über die Verlobung des jungen
Mädchens verhandelt wird^^).
Solche Fälle sind nur dann zu entscheiden, wenn man
die ganzen familienrechtlichen Institutionen eines Volkes
kennt und somit beurtheilen kann , ob ein blosses Ueber-
lebsel vorliegt, wie in China, oder ob das Rechtssystem ausser-
halb der im vorliegenden Aufsatze als normal angenommenen
Scala liegt.
Es ist hier indessen noch ein Moment zu würdigen, das
System der Diga- und Binaehe. Es gibt nämlich Völker, bei
welchen wahlweise nach Verabredung der Nupturienten ent-
weder die Frau in das Haus ihres Mannes einziehen und in
seine Sippe aufgenommen werden kann (Digaehe), oder aber
der Mann in das Haus seiner Frau einzieht und sich als
dauerndes Glied der Sippe seiner Ehefrau anschliesst (Bina-
ehe). Bei der Digaehe pflegen die Kinder dem Manne zu ge-
hören, bei der Binaehe der Frau, doch gibt es Ausnahmen ;
ferner pflegt die Digaehe durch wahren Frauenkauf geschlossen
*'^) Westermarck, HM 1, p. 51.
«5) Ploss, KBS 1, p. 84.
66) Bastian, VÖA 5, p. 13. — Hellwald in THZ 5, p. 578. —
Hellwald, MF p. 249. — Buchanan bei Mae Lennan, StAH p. 148.
— Peschel, ZE p. 451. — Starcke, PF p. 90.
^0 Bastian, VÖA 3, p. 109.
68) Reichard in ZGE 24, p. 254.
208 Friedrichs.
ZU werden, die Binaehe aber nicht, so dass die letztere meist
dann ins Leben tritt, wenn der Bräutigam zu arm ist, um einen
Kaufpreis zu zahlen, oder so wenig vornehm, dass er der
Braut nicht zutnuthen kann, in sein Haus zu kommen; es
gibt auch Rechtsgebiete, in denen der Ehemann das Recht
hat, durch Nachzahlung des Brautpreises die Binaehe in eine
Digaehe zu verwandeln ^^).
Post hält die Diga für patriarchal^ die Bina für ma-
triarchal und nimmt daher a. a. 0. an, dass die Völker
mit zwei Ehesjstemen, deren Zahl übrigens noch sehr viel
grösser ist, als bei Post aufgezählt, auf einer Uebergangsstufe
zwischen Matriarchat und Patriarchat ständen.
Dass aber die Digaehe nichts nothwendig Patriarchales
hat, ist bereits oben angeführt, wird übrigens auch von
Starcke angenommen'^). Aber auch die Binaehe, die be-
reits von Puffendorf theoretisch construirt und als Matri-
monium Amazonium bezeichnet worden ist ' ^), bis sie heute als
wirklich entdeckt ist, hat nichts nothwendig matriarchales.
Man denke zunächst an die weitverbreitete Uebung der
Jakobsehe. In einem rein patriarchalen Volke, bei dem der
Frauenkauf die herrschende Eheschliessungsform, erscheint ein
mittelloser Fremdling und hält um die Tochter eines reichen
Mannes an. Den Kaufpreis, den er nicht haar erlegen kann,
will er abarbeiten, er will die Frau erdienen. Diese Art der
Eheschliessung, ist sicher keineswegs matriarchal, sondern
sie hat genau denselben symptomatischen Werth, wie der
Frauenkauf, und man könnte fast in Versuchung kommen, sie
für ein patriarchales Zeichen zu halten.
Von dieser Jakobsehe ist die Binaehe, wie Starcke mit
Recht betont, begrifflich scharf zu trennen'^). Indessen
^«) Post, StEF p. 8—13. — Dargun, MR p. 93.
'«) Starcke, PF p. 244.
'') Puffendorf, JN 6, 1, 9,
'2) Starcke, PF p. 86.
Familienstufen und Eheformen. 209
können nkht nur die äusseren Formen einander ähnlich
werden, sondern es sind auch Uebergänge möglich. Ob die
Erdienungszeit lang oder kurz sein soll, ist im Wesentlichen
Sache der Abrede, und daher abhängig von Angebot und
Nachfrage. Man lasse nun das Angebot von Bräuten sinken
und die Nachfrage steigen, die Dienstzeit wird immer länger
werden, und einige übermüthige Familien können es wagen,
ihre Mädchen nur gegen lebenslängliche Dienste zu verheirathen.
Sobald diese Zumuthung aufgehört hat, als ein Act ein-
maligen Uebermuthes zu erscheinen, sobald derartige Abreden
zur Gewohnheit geworden sind, ist auch die Binaehe fertig,
aber noch lange kein Matriarchat. Denn mit dem Worte
Bina-Ehe ist noch nicht gesagt, wohin die Kinder schlagen.
Die Kinder können nämlich auch bei der Bina-Ehe dem Vater
folgen, und wenn sie auch den mütterlichen Verwandten folgen,
so braucht auch das noch kein Matriarchat zu sein. Vielmehr
kann ein Verhältniss vorliegen, nach Art des Indischen Tochter-
sohns-Verhältnisses ^^), und dieses ist im Stande, überall im
Patriarchat ein Gebilde hervorzurufen, welches den äusseren
Anschein des Matriarchates hervorruft. -
Denn der Muttervater ist weder Agnat noch Uteriner,
sondern blosser Cognat, und wenn er daher in irgend einem
System besondre Rechte bekommen soll, so muss irgend eine
künstliche Gestaltung eintreten, welche ein trügerisches Bild
von dem entgegengesetzten System gewährt.
Die blosse Binaehe ist daher weder für Patriarchat noch
für Matriarchat ein Kennzeichen. Zu welchem System man
das Volk rechnen will, muss man aus andern Mitteln er-
schliessen. Freilich ist dies nicht immer möglich.
So zerfällt auf Timor das Volk in Margen, der Art, dass bei
der Frauenkauf- und Digaehe das Kind in die Marga des Vaters
fällt, bei der Binaehe in die Marga der Mutter ^^). Wir wissen
") Vgl. § 15 Note 273.
'") Hellwald, MF p. 266, 269. — Post, StEF p. 10-12. (3 Stellen.)
— Cordier in RHD 5, p. 360.
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. X. Band. 14
210 Friedrichs.
von den Timoresen weiter, dass die Frauen eigenthumsl( s sind,
und dass die Marga Exogamiegrenze ist, d. h. dass zwei An-
gehörige derselben Marga sich nicht heirathen dürfen '^^). Dies
tuhrt uns aber zu nichts, denn die Eigenthumslosigkeit der
Frauen ist im Matriarchat wie im Patriarchat häufig, und
die Marga hat eine solche Zusammensetzung, dass sie weder
als agnatische noch als uterine angesprochen werden kann.
Man nehme an, einer Ehe entstammen zwei Söhne und zwei
Töchter, von denen ein Sohn und eine Tochter sich in
Digaehe und je ein Sohn und eine Tochter sich in Binaehe
verheirathen. Von den Enkeln aus diesen vier Ehepaaren gehören
a) die Kinder des Digasohnes und der Binatochter zur
Marga ihrer Grosseltern, und somit unter einander zur
selben Marga, obwohl sie bloss cognatisch mit einander
verwandt sind;
b) die Kinder des Binasohnes und der Digatochter gehören
nicht zur Marga der gemeinsamen Grosseltern.
Die Kinder des Digasohnes gehören somit nicht in die-
selbe Marga, wie die Kinder des Binasohnes, obwohl sie
reine Agnaten sind; und ebenso sind die Kinder der
Binatochter und die der Digatochter einander fremd,
obwohl sie uterine sind.
Auf Timor und den Inseln mit ähnlichen Rechtsverhält-
nissen scheint die Gentil Verfassung zu herrschen, und es ist
klar, dass jedes Kind hier nur einer Marga angehört, und
dass schon vor der Geburt bestimmt ist, welcher es ange-
hören wird. Dennoch aber scheint weder Matriarchat noch
Patriarchat vorhanden zu sein, sondern ein drittes System,
welches zwischen beiden in der Mitte steht, und das wir
Wechselsystem nennen können.
Post hält diese Erscheinung für eine Uebergangsstufe
zwischen Mutterrecht und Vaterrecht '^), und zwar hält er
'^) Hellwald, MF p. 232, 269.
'«) Post, StEF p. 10.
Familienstufen und Eheformen. 211
das Matriarchat für das vergangene und das Patriarchat für
das werdende, künftige System"^').
Dieses ist aber nicht ohne weiteres anzuerkennen.
Wie wir gesehen haben, kann das Wechselsystem dann
aus dem Patriarchat entstehen, wenn die Jakobsehe zur Binaehe
wird; es kann sich aber zweifellos auch unter Hinzutreten
der Digaehe aus dem Matriarchat entwickeln. Was von beiden
auf Timor geschehen ist, wissen wir nicht. Andrerseits kann
das Wechselsystem dann, wenn die Binaehe in desuetudo
geräth, wie es bei den Redschang-Malayen geschehen ist^*),
zum Patriarchat werden. Aber ebensogut kann auch die
Digaehe in Vergessenheit gerathen und ein reines Matriarchat
sich bilden.
Und selbst wenn wir annehmen, dass das Wechselsystem
bei einem Volke aus dem Matriarchat entstanden sei und sich
wieder zu einem andern System vereinfachen werde, so liegt
kein Grund vor, wesshalb das System gerade patriarchal werden
müsste. Vielmehr ist es eher zu erwarten, dass die neu hinzu-
gekommene Form die seltenere bleibt und zuerst wieder ver-
altet, so dass das Volk wieder in das System zurücktritt,
aus dem es gekommen ist. Wenn das Volk also früher ma-
triarchal gewesen ist, so wird es — abgesehen von fremden
Einflüssen — sich leichter wieder zum Matriarchat zurück-
bilden, als dass es zum Patriarchat fortschreitet.
Es wird wohl nicht bezweifelt werden, dass ein Ueber-
gang vom Matriarchat zum Patriarchat oder umgekehrt, auch
ohne die Erscheinung der doppelten Ehe und der cognatischen
Sippenverfassung, stattfinden kann.
Einen weiteren Aufschluss über das Wesen des Wechsel-
systems werden wir vielleicht durch das Studium der japa-
nischen Geschichte erhalten. Denn auch bei den Japanern
wie bei den Basken der Pyrenäenabhänge finden wir die Diga-
'") Post, StEF p. 7.
78) Hellwald, MF p. 236. — Post, AStR p. 26.
212 Fried richö.
und Binaohe neben einander. Aber während sie bei den Ma-
laien und Verwandten ein Ausdruck der Macht- und Ver-
mögensunterschiede ist, ist sie bei jenen Völkern eine Folge
des übergrossen Ansehens, welches die Primogenitur in der
öffentlichen Meinung genicsst. Das japanische Recht wird
auch durch die weitverbreitete Adoption etwas eigenthümlich
gestaltet, aber es hat den Vorzug, dass seine Geschichte ur-
kundlich niedergelegt ist, und ein Studium dieser Geschichte, für
welches schon einige Grundlagen geschaffen sind'''^), wird uns
auch im Verständniss der tiraoresischen Familienverfassung
weiter bringen.
Aus dem Vorstehenden sehen wir also :
Hausgewalt des Vaters — bei jedem System möglich; wenn
sie sehr weitgehende Befugnisse gibt, wahrscheinlich
patriarchal.
Hausgewalt des Mutterbruders: matriarchal.
Hausgewalt abwechselnd dem Vater, abwechselnd dem Mutter-
bruder zustehend: Wechselsystem.
§ 7.
2. Eheschliessungsweisen.
Nicht ganz ohne Einfluss auf die Unterordnung der
Völker unter die verschiedenen Entwickelungsstufen sind die
Eheschliessungsweisen. Dieselben sind sehr mannichfaltig, so
haben wir:
Frauenraub,
Frauenkauf,
Frauen erdienung,
Aufnahme des Mannes in die Familie der Frau,
'^) Weipert, Die Ehe in Jai^an, in der Oesterreichischen Monats-
schrift für den Orient. April, Mai 1890. — Post, Japanisches Familien-
recht, im Ausland 1890, p. 448b. — Kohler, RSt. p. 197 f.
Familienstufen und Eheformen. 213
Eheschluss mit charakterlosen Förmlichkeiten mit
oder ohne obrigkeitliche Mitwirkung,
Formlose Consensehe mit oder ohne Ersitzung.
Von diesen Eheschliessungsweisen wird der Frauenraub
zweifellos über kurz oder lang als diejenige anerkannt werden,
durch deren Aufkommen das Patriarchat bei den meisten Völkern
herbeigeführt oder wenigstens mächtig gefördert ist. Indessen
hat der Raub diese Wirkung nicht immer; sein Einfluss ist
nicht stark genug, um nicht durch grössere Gegeneinflüsse
gehemmt werden zu können.
Immerhin aber ist der Frauenraub weder ein Kennzeichen
des Matriarchats, wie Kautsky^^), noch der losen Fa-
milie, wie Zmigrodzki ^^) meint. Wenn aber der Frauenraub
gegen fremde Nationen gerichtet wird, so dass die Frauen eine
andre Sprache reden als die Männer ^^), dann ist nicht zu
erwarten, dass es den Frauen gelingen wird, ihre bisherigen
Beziehungen über die nationalen Grenzen herüber festzuhalten,
und in diesem Falle ist immer anzunehmen, dass eine agnatische
Ordnung und Gliederung der Menschen Platz greifen wird.
Der Frauenkauf kommt im Patriarchate vor , aber er
verträgt sich in einzelnen Fällen auch mit dem Matriarchat
und vielleicht auch der losen Familie. Nur die zweiseitige
Familie denkt nobler. Wo sie herrscht, ist der Bräutigam
zu edel, um etwas für die Braut zu bezahlen, sondern er er-
wartet, dass er etwas mit ihr mit bekommt. Der Frauenkauf
ist also weder wesentlich matriarchal ^^) noch nothwendig
patriarchal ^^), wenngleich er regelmässig mit dem Patriarchate
zusammenhängt.
Die Frauenerdienung, welche den Bräutigam auf kurze
Zeit in den Hausstand des Schwiegervaters eingliedert, um
8») Kautsky bei Hellwald, MF. p. 187 in Verb, mit p. 228.
8') Zmigrodzki, MASt p. 249.
82) Hellwald, MF p. 188. — Kohler in ZVR 5, p. 352.
«3) Anders Hellwald, MF p. 306.
«'*) Anders Hellwald, MF p. 303.
211 Friedrichs,
ihn und äcine Frau nach abgeleisteter Arbeit unter seine
Verwandten ziehen zu lassen, ist eigentlich nichts, als eine
Abart des Fruueukaufes ; wenn sie daher auch in der Regel
in patriarchalen Rechtsgebieten vorkommt, so ist nicht un-
bedingt auszuschliessen, dass sie auch einmal im Matriarchat
vorkäme.
Die Adoption des Ehemannes, d. h. die dauernde Ein-
gliederung des Mannes in die Schwiegerfamilie ist als Binaehe
bereits im vorigen Paragraphen besprochen.
Die charakterlose und die formlose Ehescheidung ge-
hören keiner Entwickelungsstufe ausschliesslich an, die Frauen-
ersitzung wird als Kennzeichen des Patriarchats zu be-
trachten sein.
§ 8.
3. Eheliche Treue.
Die Verpflichtung der Ehefrauen zur ehelichen Treue kommt
unter allen Familienstufen vor und ist für keine ein Kenn-
zeichen^^). Dagegen ist das Gebot der vorehelichen Keusch-
heit nur von patriarchalen Völkern bekannt ^^), und auch bei
diesen noch nicht immer durchgeführt. Vollends ganz jung
ist die rechtliche Privilegierung der Jungfernkinder; diese haben
im heroischen und noch im späteren Patriarchate dieselben
Statusrechte, wie die ehelichen, aber natürlich in der Familie
der Mutter, und stehen also entweder in der Gewalt des Mutter-
bruders oder in der des Muttervaters ^'^).
Einzelne Institute, welche gegen den Grundsatz der
ehelichen Treue und der jungfräulichen Keuschheit gerichtet
^^) Friedriclis in ZVR 8, p. 374. — Auch einen Zusammenhang
zwischen dem Treugebot und dem Frauenkaufe, wie ihn Hellvvald,
MF p. 329 aufstellt, vermag ich nicht zu erkennen.
86) Hellwald, MF p. 220, 357; vgl. auch Hellwald, MF p. 341.
— Kohl er in ZVR 5, p. 328.
«') Friedrichs in ZE 1888 p. 214. — Dargun, MR p. 41.
Familienstufen und Eheformen. 215
sind, werden auch zur Charakterisirung herangezogen. So
meint Starcke, das Brautnachtsrecht habe nur da einen Zweck
und könne im eigentlichen Sinne nur da vorkommen, wo
Keuschheit und Ehetreue eingeführt seien ^^). Die Brautnachts-
rechte lassen sich aber in einem Lande ohne Ehetreue sehr
gut denken; denn wenn auch die Frau das Recht hat, sich
jedem hinzugeben, so hat sie damit noch nicht die Pflicht,
grade dem Fürsten zu Willen zu sein, und zwar grade in der
ersten Nacht der Ehe; eine solche Verpflichtung muss durch
ein besonderes Rechtsinstitut begründet werden, und hierzu
dient eben das Brautnachtsrecht. Wäre die Stare ke'sche
Auffassung richtig, so würde das Brautnachtsrecht nur im
Patriarchat vorkommen, thatsächlich ist sie aber in allen Ent-
wickelungsstufen möglich. Lubbock erklärt das Brautnachts-
recht als eine Art Abfindung, indem der Ehemann durch
Gewährung der Brautnacht die Stamraesgenossen dafür ent-
schädigen will, dass er ihnen den promiscuen Mitgenuss des
Weibes entziehe ^^). Da nun Lubbock an anderen Stellen das
Aufkommen der Einzelehe mit dem Entstehen des Patriarchates
zusammenfallen lässt, so würde durch diese Erklärung das
Brautnachtsrecht wiederum zu einem patriarchalen Institute
werden. Die Lubbock'sche Erklärung wird aber dem That-
bestande nur in einigen wenigen Fällen gerecht. Die Wurzeln
dieses Rechtes sind vielmehr sehr mannichfach ; die wichtigsten
derselben sind auch schon von K o h 1 e r ausführlich ent-
wickelt^o).
Ein anderes Institut ist die Tempelprostitution. Michaelis
glaubt, sie sei eingeführt im Interesse unkeuscher Bräute,
damit kein Bräutigam den Nachweis der Jungfernschaft ver-
langen könne ^^). Sie müsste also zu einer Zeit entstanden
sein , als das Keuschheitsprincip schon allgemeine Geltung
^8) Starcke, PF p. 134.
««) Lubbock, EC p. 101.
^0) Kohler in ZVR, 4, p. 280.
^^) Michaelis, MR 2, p. 151. § 92.
21(5 Friedrichs.
gewonnen hatte, also im Patriarchat. Die Unrichtigkeit der
Erkhirung erscheint mir zweifellos. Die beiden einander
widersprechenden Erklärungen von Hellwald^^), durch welche
das Institut auf anderem Wege zu einem patriarchalen ge-
macht würde, erscheinen gleichfalls unzutreffend; richtig er-
scheint mir Smith: This practice . . . seems to have arisen
from the notion that the gods ought to have the first-fruits
of every thing^^).
Mit dieser Erklärung gehört die Tempelprostitution aber
keiner Entwickelungsstufe an.
Die einfache Prostitution soll nach Puffendorf nur in
solchen Gebieten vorkommen, in denen Ehetreue und Keusch-
heit grundsätzlich anerkannt sind und gegen Nachstellungen
geschützt werden sollen ^^). Und es ist gewiss, dass die Pro-
stitution ein wirksames Mittel zur Erreichung dieses Zweckes
ist, und dass sie — nach Hellwald — in der Regel um so
entwickelter ist, je höher in einem Volke die Begriffe von
der Strenge der ehelichen Bande sind^^).
Wenn es der Fall wäre, dass die Prostitution jedesmal
und nothwendig mit dem Keuschheitsgebote zusammenträfe,
dann würde sie ein, wenn auch geringes Kennzeichen für das
Patriarchat enthalten. Ein solches Zusammentreffen ist aber
nicht innerlich begründet, und auch thatsächlich nicht vor-
handen. Bei den Abyssiniern (welche freilich patriarchal
leben) scheint es ausgemachte Prostituirte zu geben, welche
in hohem Ansehen stehen, obgleich auch den anderen Mädchen
keine Keuschheitspflicht obliegt ^^).
Aehnlich scheint es auch bei den alten Aegyptern ge*
^2) Hellwald, KG 1, p. 92. — Hellwald MF p. 357.
»3) Smith, DGA p. 607a.
^') Puffendorf, JNG 6, 1, 4.
^^) Hellwald, MF p. 274.
»6) Hellwald, KG 1, p. 93. — Hellwald, MF 359. 328. —
Starcke, PF p. 131.
Familienstiifen und Eheformen. 217
wesen zu sem^'), vielleicht auch in Birma und Pegu^^), in
Siam^^) und bei den Quichua in Peru zur Zeit der Ent-
deckung ^^^).
Dass ein solcher Zusammenhang zwischen Keuschheits-
gebot und Prostitution nicht besteht, lehrt übrigens auch das
Leben unserer grossen Städte. Es giebt ganze Klassen von
Arbeiterinnen, welche durchaus unkeusch leben und deswegen
von ihren Standesgenossen durchaus nicht verachtet werden;
diese arbeiten aber und geben sich nur bestimmten standes-
genössischen Liebhabern hin; sie prostituiren sich nicht, und
die Polizeibeamten wissen zwischen ihnen und denjenigen Per-
sonen, welche sie auf Grund des § 361, 8 St. G. B. zu be-
aufsichtigen haben, mit Sicherheit zu unterscheiden.
III. Erbfolge.
§9.
Ein wichtiges Kennzeichen ist die Erbfolgeordnung.
Die zweiseitige Familie macht keinen Unterschied zwischen
den Agnaten, den Uterinen und den Cognaten im engeren
Sinne.
Die einseitige Familie schliesst die reinen Cognaten von
der Erbschaft aus, und lässt entweder nur Agnaten oder nur
Uterine erben; in der losen Familie werden nicht leicht ent-
»") Erman, ÄÄL 1, p. 223. — Bernhöft, in ZVR 8, p. 165
Note 14. — Bachofen, ST p. 65 Note 49. - Bachofen, MR p. 12b.
— Dagegen Revillout, im Journal asiatique 1877 p. 275.
^s) Kohler in ZVR 6, p. 166. — Bastian, VÖA 2, p. 53. 497.—
Buddeus in Ersch' und Grubers AE I 31, p. 295. — Dagegen Waitz,
ANV 2, p. 111. — Ploss, KBS 1, p. 386. — Hellwald, MF p. 344.
9^) Bastian, VÖA 3, p. 90. — Buddeus in Ersch' und Grubers
AE I, 31, p. 295.
^^-) F. Müller. AE p. 308. — Pöppiz in Ersch' und Grubers
AE II, 17, p. 375. — Westermarck, HM 1, p. 100. - Waitz, ANV
1, p. 354.
218 Friedrichs.
fernterc Verwandte als die Eltern, Geschwister und Kinder
zur Erbschaft berufen sein; sobald eine dieser drei Gruppen
von Verwandten erbt, ist die Familienstufe daraus nicht zu
erkennen, da die Vollgeschwister stets Agnaten und Uterine
zugleich sind^^^), und auch beide Elterntheile und die Kinder
beides zugleich sein können ; so war z. B. die uxor in manu
in Rom auch zur patriarchalen Zeit agnatische und uterine
Verwandte ihrer Kinder. Charakteristisch ist für das Matriar-
chat das Erbrecht des Mutterbruders und Schwestersohnes
gegen einander ; für das Patriarchat das Erbrecht der Sohnes-
söhne nach dem Vatervater.
Ganz gleichmässig mit der Vermögenserbfolge muss auch
die Frauenvererbung behandelt werden. Sie ist weder ein
Kennzeichen des Patriarchats ^^^), noch des Matriarchats ^ '^ ^) ;
ist der Erbe der Schwestersohn oder Mutterbruder des Erb-
lassers, so gehört das Volk der matriarchalen oder losen
Familie an; wenn der Erbe der Sohn des Erblassers ist, so
lebt das Volk im Patriarchat. Die Vererbung der Fi-au an
den Bruder, welche in der Litteratur so oft und so gern mit
dem Levirat verwechselt worden ist^^^), beweist weder für
das eine noch für das andere, und es macht auch keinen
Unterschied, ob eine Vererbung des Ehebandes oder der
Mundschaft über das Weib vorliegt, ob die Frau selbst als
Sache vererbt wird, oder ob das Verliältniss, in welchem der
Erbe zu ihr gestanden hat, Gegenstand der Nachfolge ist.
^^^) Insbesonders weist die Erbfolge des Braders weder auf
Matriarchat noch auf Polyandrie: Starcke, PF p. 171, 176.
1^1) Wie Hellwald, MF p. 267. 269.
102) Wie Spencer bei Starcke, PF p. 162.
1°^) Das Levirat legt dem Schwager die Pflicht auf, dem verstorbenen
Bruder einen Sohn zu zeugen, die Wittwe ist der berechtigte Theil.
Durch die Frauenvererbung ist der Schwager berechtigt und die Wittwe
verpflichtet. Vgl. über diese Frage: Bernhöft in ZVR 4, p. 234. —
Hellwald, MF p. 268. — Kohler, in ZVR 5, p. 350. — Klemm, CG
3, p. 278. — Lubbock, EC p. 118. — Waitz, ANV 2, p. 390.
Familienstufen und Eheformen. 219
IV. Kinder ein Segen.
§ 10.
1. Im Allgemeinen.
Wichtig ist die Frage, ob die Kinder bei einem ge-
gebenen Volke als Segen betrachtet werden, d. h. ob der
von dem Kinde zu erwartende materielle Nutzen in jeder
einzelnen Familie als grösser betrachtet wird, als die Last
der Aufziehung. Bei uns pflegt der Einzelne immer die Auf-
ziehungslast in erster Linie ins Auge zu fassen. Puffen -
dorf sagt 1672: „Quotus quisque enim liberis operam daret,
qui saepe materiam dolendi, semper curarum et laborum
praebent, ni super rationem etiam naturalis inclinatio eodem
traheret" ^^*). Michaelis fragt sich 1770, warum der Ehe-
bruch strafbar sei, und führt als Gründe an: die Verkürzung
des Erbtheils zu Lasten der rechten Kinder und zu Gunsten
der Kukukskinder und die dem betrogenen Ehemanne auf-
gebürdete grosse Erziehungslast. Er parallelisirt die Todes-
strafe für Ehebruch mit der Todesstrafe für DiebstahP*^^).
Buddeus sagt 1830: „Der Mann kann nicht zugeben, dass
er mit der Erhaltung fremder Kinder belästigt werde ^^^)."
Der Bayer betet: „Schick uns Kühe, schick uns Rinder,
schick uns doch nicht zu viele Kinder i^^)." Dieselbe Auf-
fassungsweise bezeugt auch der Schweizer Giraud-Teulon^^^).
Getragen von dieser allgemeinen Auffassungsweise haben
denn auch einige Gelehrte angenommen, dass das Kind unter
allen Umständen und Verhältnissen den Eltern materiell mehr
^04) Puffendorf, JNG 6, 1, 3.
105) Michaelis, MR § 260. 5, p. 241. Vgl. § 83. 2, p. 100.
106) Buddeus in Ersch' und Grubers Allg. Enc. der WK I, 31,
p. 289.
107) Pioss, KBS 1, p. 102. p. 90.
108) Lubbock, EC p. 128.
220 Friedrichs.
Naclitlieil als Nutzen bringen müsse. So Haberland ^^^)
und Hellwaldll«).
Aber an anderer Stelle erkennen Michaelis und Hell-
wald auch, dass diese Auffassung des Kinderreichthums eben
nur für unsere Zeit gilt. ^Denn ein Ackersmann kann Kinder
und Kindeskinder mit Vortheil gebrauchen, und sie sind ihm
besser als Taglöhner oder Knechte m)." — „Es ist nämlich
leicht zu erkennen, dass in jener Periode des Volkslebens,
als noch die Stammesbildung vorherrschte . . . alles davon
abhing, dass der Stamm möglichst stark sei und eine zu-
reichende Anzahl von kampftüchtigen Männern stellen könne.
Es lag also ein dringlicher Grund für jeden Stamm, für jede
Familie vor, sich nach Möglichkeit zu bestreben, eine zahl-
reiche Nachkommenschaft zu erlangen, denn davon hing die
Macht, das Ansehen, die Sicherheit der Familie und des ganzen
Stammes ab^i^).^
Starcke sagt: „Die Kinder sind in den primitiven Ge-
meinwesen dem Vater sehr nützlich. Sie erhöhen sein An-
sehen, das mit der Anzahl der Angehörigen und der Freunde,
die er um sich versammeln kann, wächst i^^).''
Zur weiteren Bestärkung kann auch noch eine Bemerkung
von Kremer^i*) herangezogen werden.
Es ist auch offenbar, dass viele Völker offen anerkennen,
dass der Kinderreichthum ihnen wirklich erwünscht ist, und
man kann diesen Wunsch nicht mit Hearnii^), Köhler^ i*^)
und Bastian^i'^) aus religiösen und ähnlichen Gründen erklären.
109) Ploss, KBS 2, p. 244.
110) Hellwald, MF p. 9. 10.
111) Michaelis, MR 1, p. 197.
112) Hellwald, MF p. 387. Vgl. p. 338.
113) Starcke, PF p. 279.
114) Kremer, KG 2, p. 112 f.
11*) He am, AH p. 71 und oft.
1^6) Kohler in KVjft, N F. 4, p. 17.
11^) Bastian in ZVP 5, p. 163. — Bastian, VÖA 6, p. 172 Note *).
Familienstufen und Eheformen. 221
Ich glaube nun, dass das Streben nach Kindern der
Gentilverfassung , der einseitigen Familie, also dem Matriar-
chat und dem Patriarchate gemeinsam eigenthümlich ist.
Denn wo nicht die Gentilverfassung ist, welche den Ein-
zelnen sein ganzes Leben hindurch zu Schutz und Trutz eng
an die Seinen kettet, da kommen die Kinder der Familie
auch nicht zu gut, und es lässt sich kein Grund absehen,
wesshalb die Eltern sich viele Kinder wünschen sollen. Wo
aber ein ausgebildetes, organisirtes Staatswesen das Ganze
umschliesst, da hat zwar der Staat Interesse am Nachwüchse,
aber der Einzelne wird von diesem Interesse nicht mitgerissen,
und er fühlt für seine Person zunächst die Lasten der Auf-
ziehung.
Ich nehme daher an :
1. Matriarchat und Patriarchat: Kinder ein Segen.
2. Lose und zweiseitige Familie: Kinder kein Segen.
Nun fragt es sich, woran es sich erkennen lässt, ob in
einem Volke in der oben angegebenen Weise die Kinder als
Segen anerkannt werden oder nicht. Hier sind es nun ausser
den registrirten ausdrücklichen Aussprüchen fünf Gruppen von
Thatsachen, welche als Kennzeichen wirken können,
nämlich:
a) Kindestödtung und Abtreibung (§ 11 — 13).
b) Adoption, Vaterwahl und ähnliche Rechtsinstitute
(§ 14-16).
c) Verkauf und Verpfändung der Kinder (§ 17).
d) Emancipation und Stammeswechsel (§ 18).
e) Aufschiebung und Aufhebung der Ehe (§ 19, 20).
2. Kindestödtung und Abtreibung.
a) Hunger, Aberglaube, Cultus.
§ 11.
Was die Kindestödtung betrifft, so ist der allgemeine
Grundsatz der, dass die allgemeine Uebung dieses Brauches
222 Friedrichs.
darauf hinweist, dass das betreffende Volk die Kinder nicht
als Segen betrachtet und somit der einseitigen Familie nicht
angehört. Dieser Grundsatz lässt sich aber nur mit vielfachen
Modificationen anwenden.
Zunächst giebt es vielfache Tödtung von Kindern aus
Nahrungsmangel oder aus anderer Art der Noth. Es kommt
hier insbesondere vor, dass ein Säugling getödtet wird, wenn
seine Mutter gestorben, und keine andere Frau zum Stillen
des armen Geschöpfes bereit ist, und geeignete künstliche
Kindernahrung fehlt ^^^). Dies ist der Fall bei einigen Austra-
liern ^^^), Eskimo ^2^), den Indianern Californiens^^^) und in
Südamerika bei den Moxos^^^), bei den Hottentotten ^^^) und
den Efiknegern am Altkalabarflusse nahe Kamerun ^^*).
Ein ähnlicher Fall ist der, wenn die Mutter Zwillinge
zur Welt bringt. Manchmal aus abergläubischer Scheu, manch-
mal aber auch desshalb, weil die Mutter nicht zwei Kinder
auf einmal ernähren kann, wird das eine oder beide getödtet.
Dasselbe gilt, wenn Nährzwillinge vorhanden sind, d. h. zwei
Kinder, von denen das eine vor der Entwöhnung des andern
empfangen ist, so dass auch hier die Mutter gezwungen wäre,
beide Kinder zugleich zu ernähren, das eine an der Brust ^^^),
das andere unterm Herzen.
Die australischen Weiber sind insbesondere nicht im
Stande, neben den Traglasten, welche sie auf ihren fort-
118) Frankenheim, VK p. 460.
119) Ploss, KBS 1, p. 109; 2, p. 294. — F. Müller, AE p. 214.
— Klemm, CG 1, p. 291. — Globus 55, p. 363. - Kohler in ZVR
7, p. 355.
120) Ploss, KBS 1, 109. — F. Müller, AE p. 241.
i'^i) Hellwald in THZ 4, p. 377. -- Ploss, KBS 2, p. 252.
1^2) Ploss, KBS 2, p. 252.
123) Waitz, ANV 2, p. 340. — Ploss, KBS 2, p. 258.
124) Ploss, KBS 2, p. 259.
12^) Bei den Wa-Suahili heisst ein solcher Säugling: patcha ja
nye: äusserer Zwilling, Ploss, KBS 2, p. 169.
Familienstufen und Eheformen. 223
währenden Fusswanderungen befördern müssen , noch mehr
als ein Kind zu tragen. Wenn das neugeborene Kind daher
noch nicht stark genug ist, um die Reise ungetragen mit-
zumachen, so muss es dem ungeborenen weichen ^^^).
Ausserdem finden wir die Zwillingstödtung unter den
Behringsvölkern bei den Kamtschadalen^^'), Kurilen ^^^); unter
den Indochinesen bei den Khasia^^^), in Amerika bei den
Kaliforniern^^^), Mexikanern ^^^), einigen Kariben, insbesondere
den Salivas^^i), den Moxos^^^)^ Campas (Peruanern) ^^^), den
Muiscas (Tschibtschas)^^^)^ in der malayischen Rasse bei den
Igorroten ^^^) und auf der Insel Serua^^^), in Afrika bei den
Hottentotten ^^'^), die sich zur Vermeidung solchen Ereignisses
den einen Hoden ausnehmen sollen ^^^), und unter Umständen
in der Landschaft tetui^s)^ bei den Efik^^^), den Ibo^^i), in
Dahome und bei den Arebonegern^*^); unter den Ba Ntu bei
126) Ploss, KBS 2, p. 254.
1") Ploss, KBS 2, p. 266.
128) Lubbock, EC p. 26.
129) Ploss, KBS 2, p. 269.
130) Ploss, KBS 1, p. 395.
131) Ploss, KBS 2, p. 266. 274. — Waitz, ANV 2, p. 124.
132) Ploss, KBS 2, p. 266.
i'3) Ploss, KBS 2, p. 274.
134) Ploss, KBS 2, p. 274 f.
135) Hellwald in THZ 4, p. 266. — H. Meyer, RW p. 529.
136) Post, StEF p. 335.
13") Lubbock, VZ 2, p. 137. — Schweitzer, OJR p. 14. —
Waitz, ANV 2, p. 340. Abweichend F. Müller, AE p. 86. 116. —
Ploss, KBS 2, p. 269.
'38) Ploss, KBS 1, p. 340 f. 2, p. 441. - Schweitzer, OJR p. 14.
— Waitz ANV 2, p. 341. — F.Müller, AE p. 109. — Klemm, CG,
3, p. 289.
139) Ploss, KBS 1, p. 269.
i^'^) Ploss, KBS 2, p. 267.
141) Lubbock, VZ2, p. 264. — Waitz, ANV 2, p. 124. — Ploss,
KBS 2, p. 268.
2) Lubbock, EC p. 26.
142-
224
Friedriclis.
den MaKalakai'^3), Wa Kikuyu^^*), Wa Zaramoi^-^) und den
Loangobewohnern ^ * ^).
Bei anderen Völkern finden wir eine Hungertödtung,
welche sich nicht an die genannten Anlässe oder nicht an
besondere Anlässe knüpft. Die alten Wenden sollen in Zeiten
der Hungersnoth ihre Kinder verzehrt haben ^*^); und gleich
ihnen die Markesasinsulaner ^^^). Australier tödten die Kinder,
wenn die Mittel zu ihrer Ernährung nicht hinreichend*^); ebenso
einzelne Eskimo ^^^) und die drawidischen Erulas auf den
Neilgherry-Hügeln (besonders im Winter) ^^*); die Califor-
jjJqj.i52j ^^jjjJ ^[q gän (Buschmänner) in Südafrika ^^^).
Einzelne Fälle der Zwillingstödtung geschehen nicht aus
Noth, sondern aus Aberglauben. Ausserdem finden wir
eine abergläubische Tödtung noch bei den drawidischen
Khunden ^^'^) und Singhalesen ^^^), den malayischen Male-
gaschen ^^^) und Igorroten ^^^), den Hottentotten ^^^), den
Wa Zaramoi59)^ AmaZulu^^^), Ma Kololo^«!), Wa Kikuyu,
143
144
145
146
147
14S
149
150
151
152
153
154
165
156
313—315
1-1 7
15S
159
IGO
161
Ploss, KBS 2, p. 268.
Ploss, KBS 1, p. 259.
Ploss, KBS 2, p. 268.
Ploss, KBS 2, 267.
Schwebel, GSB 1, p. 26.
Klemm, CG 4, p. 303.
F. Müller, AE p. 214.
Ploss, KBS 2, p. 252.
Hellwald in THZ 3, p. 50.
Ploss, KBS 2, p. 252.
Waitz, ANV 2, p. 340. Vergl. Post, B 2, p. 119.
Ploss, KBS 1, p. 87.
Knox, ORB 3, 7, p. 199. - Ploss, KBS 1, p. 87.
Ploss, KBS 2, p. 195, 258. - Sibree, M (deutsch) p. 154.
H. Meyer, RW p. 529.
Waitz, ANV 2, p. 340.
Ploss, KBS 2, p. 258.
Waitz, ANV 2, p. 391.
Ploss, KBS 2, p. 259.
— Ploss, KBS 2, p. 258.
Familienstufen und Eheformen. 225
Wa Nika und Wa Zegua^^^), Wa Nyamwezi^^^) und Be
Tschuana^ß*).
Eine Opferung von Kindern kennen die Moabiter ^^^),
Ammoniter^^^), Phöniker^^^), Karthager ^^^), die Syrer ^^^),
Juden '^'^) und, anscheinend als die einzigen unter den Nicht-
semiten, die Tonganer ^^^).
In allen diesen Fällen ist nicht die Uebung, sondern der
Grund das Entscheidende.
Dem religiösen Gefühle, dem Gott, wie dem Dämon des
Aberglaubens opfert der Mensch das Höchste, wie das Ge-
ringste; wenn das Volk auch das höchste Gewicht darauf
legt, eine möglichst grosse Zahl von glücklich geborenen
Kindern zu besitzen, so kann es dennoch dazu kommen, die
Tödtung der Kinder, welche unter unglücklichen Vorzeichen
geboren sind, den Vätern anzurathen oder zu befehlen. Dies
gilt von der Tödtung von allein geborenen Kindern wie von
Zwillingen, sie lässt niemals erkennen, welche Bedeutung der
Kinderreichthum hat, und kann in allen Familienstufen, wenig-
stens in den drei ersten, in gleicher Weise vorkommen.
Man könnte nun versucht sein, die Tödtung aus Noth
und Hunger in demselben Lichte erscheinen zu lassen. Denn
die augenblickliche Noth treibt den Menschen dazu, auch das
kostbarste künftige Gut dahinzugehen, um dem gegenwärtigen
Uebel zu steuern oder es zu erleichtern. Die Sache liegt
^62) Ploss, KBS 2, p. 259.
'^^) Reich ard in ZGE 24, p. 256.
16^) Waitz, ANV 2, p. 391. — Ploss, KBS 2, p. 241.
*'^) 2. B. der Könige 3, 27.
^«•) Ploss, KBS 2, p. 246.
^") Ploss, KBS 2, p. 246. - Hellwald, MF p. 354. — Michaelis,
MR § 247.
1^8) Bastian, VÖA 5, p. 371 Note *). — Ploss, KBS 2, p. 246.
— Hellwald, MF p. 354.
1^«) Hellwald, MF p. 354.
^"^) Hellwald, MF p. 355, Note 1. — Michaelis, MR § 247.
1^1) Bastian, VÖA 5, p. 293.
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. X. Band. 15
220 Friedrichs.
aber nicht ganz so. Denn wenn auch einzelne Nothfälle und
Calamitäten in jedem Volke vorkommen können, so ist die
Noth und der Unterhaltungsmangel als dauernder Zustand nur
bei einem kapitallosen Volke möglich; und ein kapitalloses
Volk gehört der losen Familie an, da sich bei ihm das wich-
tigste Band der Gentilität, das Streben nach gemeinsamem
Schutze des Erworbenen, noch nicht gebildet hat. In diesem
Sinne kann also auch die Kindestödtung aus Noth als Kenn-
zeichen für das Vorherrschen der losen Familie betrachtet
werden.
§ 12.
h) Krüppel^ Mädchen, Knaben.
Ganz indifferent ist die Tödtung von verkrüppelten,
buckligen und lahmen Kindern, wie wir sie bei Athenern ^'^^),
Römern ^^^), Australiern ^^^), besonders denen am unteren
Murray ^^^), den Tschuktschen^"^^), in Südamerika bei den
Chiriguanas^^'), Manaos^"^^), Salivas^*^^) und Engerekmung
(Botocudos)^^^, auf Neu-Guinea^^^), bei den San (Busch-
männern)i^2^, in Fetu^^^) und Akra^^^), bei den Kafirn^^^),
Betschuana^^^) und Loangoleuten^^^) antreffen. Denn wo die
1^2) pioss, KBS 2, p. 242.
1") Bastian, VÖA 6, p. 211 Note *).
1^*) Kohler in ZVR 7, p. 355. — Post, StEF p. 336.
1") Klemm, CG 1, p. 291.
''^) Ploss, KBS 2, p. 260.
1") Post, StEF p. 336.
"8) Ploss, KBS 2, p. 252 f.
1'») Ploss, KBS 2, p. 252. — Post, StEF p. 336.
180) Ploss, KBS 2, p. 241.
»81) Hellwald in THZ 6, p. 244.
^^^) Waitz, ANV 2, p. 340.
188) Ploss, KBS 1, p. 241.
18^) Waitz, ANV 2, p. 124.
^8^) Sernau in DKZ 2, p. 490a. — Ploss, KBS 2, p. 258.
18«) Waitz, ANV 2, p. 391.
^8") Ploss, KBS 2, p. 242.
Familienstufen und Ehefornaen. 227
Eltern von ihren Kindern einen materiellen Nutzen erwarten,
da können sie ihre Hoffnung doch in der Regel nur auf ge-
sunde, kräftige, arbeitsfähige Kinder stützen.
Wenn also auch Kinder der letzten Art den grössten
Gewinn bringen, so kann doch bei den Krüppeln die Last
grösser sein als die Lust, und diese daher der allgemeinen Ver-
nichtung unterliegen. Aber auch die Völker ohne Grentil-
verfassung, denen am grossen Kindersegen nichts gelegen ist,
werden der Tödtung immer in erster Linie die verkrüppelten
und in allerletzter Linie die gesunden Kinder aussetzen.
Anders ist es in der zweiseitigen Familie, wo die Kinder den
Eltern nicht nützen, sondern nur eine ideelle Freude machen
sollen. Diese ideelle Freude können auch Krüppel gewähren,
und als die Schmerzenskinder sind sie oft die Lieblingskinder
ihrer Eltern. Auch pflegt in Gebieten der zweiseitigen Familie
die ärztliche Kunst so hoch zu stehen, dass die Eltern noch
nicht sofort an der Gesundung des Kindes verzweifeln. Die
völlige Gleichstellung von Krüppeln und gesunden Kindern
kann daher unter Umständen als Kennzeichen für die zwei-
seitige Familie in Betracht kommen.
Nicht sehr verschieden ist die Rolle, welche die Mädchen-
tödtung spielt. Dass diese Sitte vorkommt, ist ohne Zweifel;
ebenso falsch wie es wäre, jede Kindertödtung als Mädchen-
tödtung aufzufassen ^^^), ebenso gegenstandslos ist die Ansicht
einiger Schriftsteller, es werden überall Knaben und Mädchen
in gleichem Masse getödtet. Lubbock nimmt an, es lasse
sich darthun, dass bei den niedrigsten Rassen die Knaben
ebenso oft getödtet werden als die Mädchen ^^^), während er
für spätere Entwickelungsstufen die Mädchentödtung kennt und
erklärt ^^^). Thatsächlich kommt die reine Mädchentödtung
^8'') Starcke, PF p. 141. - Dargun, MR p. 49.
^«ö) Lubbock, EC p. 83.
190
) Lubbock, EC p. 109.
228 Friedrichs.
vor in Korn^^^)^ bei den vürislamisclien Arabern ^^^), in einigen
Gegenden Indiens^^^), insbesondere bei den Dschadedscha^'^'^),
Radschputeni»^), in Gohiiri»«), bei den Kului»^), den Mul-
tanea Thag^^^) und den Toda auf den Neilgherryhügeln^^^),
bei Indianern, besonders den Kuttschin^^^), den Kri (Kenis-
tinowuk)^^^) und den Sklavcnindianern*^^), bei den Kariben
am Orinoco^^^ä) und den Guanas^"^).
Eine überwiegende Mädchentödtung, neben welcher auch
Knabentödtung^ aber in viel geringerem Umfange im Schwange
ist; finden wir bei den Athenern ^^^), den alten Germanen ^^"'),
den Australiern 2^'), insbesondere am unteren Murray ^^^), den
^^1) Montesquieu, GG 23, 22. — Hearn, AH p. 129. -
0. Schrader, SU p. 564.
1^2) Hellwald, MF p. 397, 398. — R. Smith, KM p. 279 ff. —
Kur'än, S. 6, 141. 152: 17, 33; 81, 8. — Nöldeke in ZDMG 40, p. 149.
— Klemm, CG 4, p. 154 f. — Post, StEF p. 333. — A.Müller, IMA
p. 48.
i»3) Mac Lennan, StAH p. 112. — Üoblhoff, PN p. 182.
1»*) Hellwald in THZ 2, p. 441.
i»5) Hellwald in THZ 2, p. 441. — Bastian, VÖA 5, p. 280. —
Ploss, KBS 2, p. 260. — Hellwald, MF p. 260. 490.
19C) Hellwald in THZ 3, p. 554.
i»7) Hellwald, MF p. 253.
198) Klemm, CG 7, p. 184.
^9») Starcke, PF p. 149. — Ploss, KBS 2, p. 261. - Hellwald
MF p. 247, 248. — F. Müller, AE p. 473.
200) Hellwald in THZ 5, p. 154. — Ploss, KBS 2, p. 252.
201) Klemm, CG 2, p. 84.
202) Bastian, RV p. 174.
203) Neuhaus in THZ 6, p. 55.
204) Klemm, CG 2, p. 83. — Hellwald in THZ 3, p. 581. —
Bastian, RV p. 180. — Ploss, KBS 2, p. 252.
20') Ploss, KBS 2, p. 247.
«oö) Grimm, DRA p. 403. - Ploss, KBS 2, p. 249.
207) Globus 55, p. 363. — Post, StEF p. 333.
208) Ploss, KBS 2, p. 254.
Familienstufen und Eheformen. 229
ärmeren Chinesen ^^^); insbesondere den Hakka-Chinesen^^^);
auf Neu- Guinea ^^^)^ den Fidschi-Inseln ^^ 2^, auf Tahiti ^^^) und
Neu Seeland ^^^) und bei den Hottentotten 2^^).
Lippert und Hellwald halten die Kindestödtung, ins-
besondere aber die Mädchentödtung für einen Ausfluss des
Matriarchats ^^^); eine durch nichts begründete Annahme. Mac
Lennan leugnet, dass im Matriarchat Kindestödtung und
besonders Mädchentödtung vorkomme, soweit gleichzeitig Exo-
gamie herrsche ^^'). Ich halte folgende Erwägungen für richtig.
In einem Volke, in welchem als ausschliessliche Eheschliessungs-
weise der Frauenraub anerkannt ist, wo also gleichzeitig Exo-
gamie herrscht, sind die Mädchen weder innerhalb des Stammes
als Gattinnen, noch ausserhalb zum Verkaufe zu verwerthen;
ihre Arbeitskraft ist beschränkt, Nahrung und Putz oft theuer,
und ausserdem lockt ihre Anwesenheit oft die Feinde heran.
Hier ist die Versuchung zur Tödtung der Mädchen so gross,
dass wir keiner andern Erklärung bedürfen.
Bei den Radschputen erfolgt die Tödtung wegen der
Schwierigkeit, welche mit der standesgemässen Verheirathung
verknüpft sind, bei den Toda vielleicht desshalb, weil alle
jüngeren Töchter Nebenfrauen des Mannes werden, der ihre
älteste Schwester geheirathet hat. Es lässt sich wenigstens
209) Hellwald in THZ 2, p. 12G. — Ploss, KBS 2, p. 262. —
Hellwald, MF p. 378. - Klemm, CG 6, p. 112. — Arendt im
Globus 55, p. 382.
"°) Ploss, KBS 2, p. 263. — Hellwald in THZ 3, p. 634.
21') Ploss, KBS 2, p. 257. — Chalmers u. Gill, NG p. 3. 80.
— Hellwald in THZ 6, p. 244.
212) Ploss, KBS 2, p. 256.
218) Lubboek, EC p. 329. — Ploss, KBS 2, p. 244.
21^) Frankenheim, VK p. 460. — Ploss, KBS 2, p. 257.
21^) Lubboek, VZ 2, p. 137. — Klemm , CG 3, p. 277.
21C) Hellwald, MF p. 340. 354. 361. - Zmigrodzki, MASt
p. 258.
21') Mac Lennan, StAH p. 210.
280 Friedrichs.
denken, dass ein Mann eine Schwester allein lieber nimmt,
als wenn er kraft Gesetzes mehrere nehmen müsste.
Bei mehreren Indianerstämmen tödten die Mütter ihre
Töchter in der Absicht, um ihnen ihr eigenes schweres Loos
zu ersparen, kurz die Mädchentödtung kann eine ganze Reihe
von verschiedenen Ursachen haben. Es lässt sich aus der
Mädchentödtung nicht erkennen, ob dem Volke Kinder als
ein Segen gelten, oder nicht; denn selbst da, wo Knaben den
Eltern den grössten Gewinn bringen, ist es nicht gesagt, dass
derselbe Gewinn auch von Mädchen erzielt werden kann.
Der Vortheil, den diese letzteren bringen, kann ein zwei-
facher sein: in matriarchalen Gebieten vermehren sie die
Wehrkraft des Stammes durch die Knaben, die sie gebären,
und durch die Männer, welche sie als Liebhaber oder Ehe-
männer an den mütterlichen Hausstand fesseln. So musste
bei den Aleuten (Behringsvolk) früher derjenige, welcher ein
Mädchen aus einem fremden Ostrog (Familiendorf) heirathen
wollte, bei der Familie seiner Frau Wohnung nehmen und
behalten; und wer viele Töchter hatte, konnte die Macht
seines Ostrogs leicht vermehren ^^^). In einem solchen Rechts-
gebiete gelten natürlich die Mädchen den Vätern als Segen,
und mehr vielleicht als die Knaben, welche als Männer die
Heimath der Eltern verlassen und vielleicht einem feindlichen
Ostrog sich anschliessen. Hier ist natürlich von Mädchen-
tödtung keine Rede. Und es lässt sich daher wohl behaupten,
dass diese Tödtung ein Kennzeichen für das Nichtvorhanden-
sein von wahrem Matriarchate ist.
Im Patriarchate kommen die Mädchen als gewinnbringend
nur soweit in Betracht, als sie dem Vater einen Brautkauf-
preis ins Haus bringen. Auf die Kinder, die sie vor der Ehe
gebären, ist kein Gewicht zu legen, da einerseits das Patriar-
chat die Tendenz hat, den Mädchen den vorehelichen Ge-
schlechtsverkehr zu untersagen, und da andererseits die vor
218
) Klemm, CG 2, p. 295.
Familienstufen und Eheformen. 231
der Ehe erzeugten Kinder, wie der indische Sahödha und
Kanina, oft mit der Mutter ihrem Manne folgen.
Der Kaufpreis ist aber nicht immer so gross, dass er das
Aufziehen der Töchter lohnt, er hat die Tendenz, sich im Laufe
der Zeit zu verringern und zu einem Scheinpreise zu werden,
vielfach fällt er auch an die Töchter selbst und in allen Fällen
kann der Nutzen des Vaters durch die Pflicht, seiner Tochter
eine Ausstattung zu geben und die Hochzeitskosten zu be-
streiten, thatsächlich aufgehoben werden; endlich ist wie heute,
so auch im Patriarchat, nicht jeder Vater sicher, seine Töchter
bis zur Heirath am Leben zu erhalten.
Es ist daher möglich, dass in Völkern, bei denen die
Weiber arbeiten, bei denen die Zahl der Sklaven gering und
"der Betrag des Brautkaufpreises hoch ist, die Töchter von
ihren Vätern als Segen betrachtet, und dass über die Erhaltung
ihres Lebens sorgfältig gewacht wird; aber das Vorhanden-
sein der Mädchentödtung ist kein Umstand, welcher die Sub-
sumtion eines Familiensystems unter das Patriarchat aus-
schliesst.
Die grundwsätzliche Tödtung von Knaben erscheint nur als
Akt der dynastischen Grewalt, um einer bestimmten Familie ^^^)
oder einer bestimmten Volksklasse ^^^) zu schaden.
§ 13.
c) Unterschiedslose Tödtung, Abtreibung.
Die unterschiedslose Tödtung der Kinder beiderlei Ge-
schlechts beweist dort, wo sie vereinzelt vorkommt, nichts;
denn der Einzelne kann auch in dem blühendsten Gemein-
wesen immer in der Lage sein, ein Kind nicht ernähren zu
können ^^^).
21^) Klemm, CG 7, p. 200 f. — Ploss, KBS 2, p. 263.
220) II. Mos. 1, 16.
221^
^) Frankenheim, VK p. 461.
232 Friedrichs.
Es giebt aber Völker, bei denen die Tödtung von kleinen
Kindern beiderlei Geschlechts nicht nur den Eltern erlaubt
ist; sondern systematisch betrieben wird, so dass ein bestimmter
Procentsatz der Geburten dieser Uebung jährlich zum Opfer
fällt, ohne dass ein Unterschied nach Alter und Gesundheit
gemacht würde, und ohne dass die That aus Noth oder Aber-
glauben geschehe.
In einzelnen Theilen Australiens ist es der Laune der
Mutter überlassen, ob sie das Kind aufziehen will oder nicht,
und oft pflegt sie es gleich nach der Geburt zu tödten^^^)-,
die Eskimo am Smithsund pflegen das dritte und alle folgen-
den Kinder, welche ihnen geboren werden, ohne Unterschied
des Geschlechts zu tödten^^^). Die Kamtschadalen tödten
ihre Kinder neben den vorangeführten Gründen (Aberglauben
und Armuth), auch aus Faulheit ^ 2*). Die ausgestorbenen
Wantschen (Guanchen auf den Canarischen Inseln) pflegten
das erste Kind am Leben zu erhalten, das zweite und alle
folgenden zu tödten. Dieser Brauch hat aber schon vor An-
kunft der Europäer aufgehört ^2^). Kindestödtung ohne zwin-
gende Noth zeigt sich bei den Pimas (Mexikanern am Gila-
fluss)^^^). Bei einigen Paraguay Völkern , insbesondere bei
den Mbaya, einem Unterstamme der Guaycuru-(Lengoas-)Nation
wollen die Eltern nur das letzte ihnen geborene Kind am
Leben erhalten. Sie tödten daher alle Kinder bis auf ein
spätgeborenes, und viele Ehen blieben kinderlos, weil das er-
wartete letzte Kind nicht mehr kommt. Hierdurch sind ganze
Nationen ausgestorben ^^^). Bei den nahe verwandten Abi-
ponern wurde die Kindestödtung von den Müttern aus einem
2-^^J Hellwald in THZ 1, p. 307.
223) pioss, KBS 2, p. 251.
22^) Ploss, KBS 2, p. 260.
225) Ploss, KBS 2, p. 260.
226) Ploss, KBS 2, p. 252.
227) Lubbock, VZ 2, p. 231. — Klemm, CG 2, p. 83. - Ploss,
KBS 2, p. 253. — Fr an keil heim. VK p. 461.
Familienstufen und Eheformen. 233
andern Grunde betrieben. Die Säugezeit dauerte bei ihnen
drei Jahre^ und während dieser ganzen Zeit war den Ehe-
leuten, wie bei anderen Völkern so auch hier, der eheliche
Verkehr untersagt. Die Frauen tödteten daher ihre Kinder
oft gleich nach der Geburt, um keine Nebenbuhlerinnen dul-
den zu müssen 2^^). Kindestödtung findet sich weiter bei
einzelnen Stämmen der Dajaken auf Borneo^^^), auf Ruk,
einer von Papua bewohnten Nebeninsel von Neu-Guinea, wo
zwei Drittel der Neugeborenen getödtet werden ^^^), früher
auch auf Hawaii, wo die Eltern sich nicht die Mühe der Auf-
ziehung machen wollten ^^i).
Die Frivolität dieser Uebung steigt auf den höchsten
Grad, wenn sie die Form der Abtreibung annimmt. Denn
diese richtet sich gegen alle Geburten, gegen Knaben und
Mädchen, gesunde und verkrüppelte gleichmässig. Sie wartet
nicht ab, ob nach der Geburt die Mittel zum Unterhalt vor-
handen sein werden , sondern sie wendet sich gegen die Ge-
burt selbst. Die Mutter setzt ihr Leben aufs Spiel, um das
zu verhindern, was bei andern Völkern das Leben des Weibes
erst ausfüllt.
Wenn die Dinge so lägen, dass die Frauen an Dingen,
worüber andere hoch beglückt sind, keine Freude finden, so
würde man daraus keinen Vorwurf entnehmen dürfen, denn
wie der Geschmack , so hat auch das sittliche Gefühl seine
Ethnologie und ist nicht bei allen Völkern gleich und kann
nicht gleich sein. In diesem Falle aber haben die Weiber
ein natürliches Gefühl unterdrückt, welches sich bei allen
Menschen und Thieren geltend macht und sie zu den grössten
Opfern befähigt, und diese Unterdrückung geschieht aus klein-
lichen Umständen; aus Bequemlichkeit, aus Laune, zur Er-
haltung der körperlichen Schönheit. Frankenheim sagt da-
228) Klemm, CG 2, p. 84. — Ploss, KBS 2, p. 253.
229) Ploss, KBS 2, p. 257.
230) Ploss, KBS 2, p. 256.
231) Hellwald in THZ 4, p. 397. — Ploss, KBS 2, p. 256.
234 Fried riclib.
her mit Recht, dass dieser Gebrauch sich bei keinem gesunden
Volke finde ^^^); und ich glaube, dass man selbst dann das
Leben des ganzen Volkes als erkrankt betrachten muss, wenn
nur ein Theil diesem Laster huldigt, und die andern nicht
den Willen und die Kraft haben, sie davon abzuhalten.
Eine solche Erkrankung des Volksgeistes ist vielfach
durch das Eindringen eines höher cultivirten Volkes herbei-
geführt worden. Denn bei einem solchen Zusammentreffen
pflegen die Uncultivirteren den Civilisirten zunächst ihre leich-
tere Lebensführung und ihre Vorurtheilslosigkeit, die Ueppig-
keit und den Luxus abzusehen. Die Moral der Eingeborenen
wird von den Höheren missachtet, und somit zuletzt auch dem
eigenen Volke unwerth gemacht, die Moral der Cultivirten ist
den Uncultivirten nicht verständlich. Je verschiedener nun
die moralischen Auffassungen beider Völker sind, um so leichter
verliert das uncultivirte seinen Halt; es lernt Frivolitäten und
Laster, die es bei dem cultivirten Volke gar nicht einmal in
derselben Form beobachtet zu haben braucht. Die Arbeit,
den sittlichen Ernst und die vertiefte Cultur des anderen
Volkes erwerben sich die Uncultivirten erst sehr viel später,
wenn sie nicht bis dahin so entnervt geworden sind, dass sie
zu Culturfortschritten unfähig werden.
Aber die Gründe des Kindermordes können auch in dem
Volke selbst entstehen, und insbesondere scheint eine solche
ungesunde Zeit der Entnervung vielfach mit dem Uebergang
aus dem Patriarchat in die zweiseitige Familie verbunden zu
sein. So sehen wir es wenigstens in Rom. Die Zeit der
ersten Kaiser ist die Zeit, in der die meisten Schritte zur?
Uebergang vom Patriarchat zur modernen Familie gemacht
wurden, und zugleich die Zeit der tiefsten Erschlaffung, wie
insbesondere die fruchtlosen Reformgesetze Augustus' beweisen.
(Viele Römer heirathen und zeugen Kinder, nicht um Erben
zu hinterlassen, sondern um selbst erben zu können ^^^).
232) Frankenheim, VK p. 461.
233) Plutarch bei Gothofredus zu rubr. tit. 13 ex corp. Ulpiani.
Familienstafen und Eheforraen.
235
In der alten Zeit opferten die Römerinnen zu Juno, um
den Abort zu verhüten^^^); zu Gellius' Zeit trieben sie ab,
um schön zu bleiben^^^); und die Abtreibung aus demselben
oder ähnlichen , meist frivolen Gründen findet sich bei den
Kamtschadalen^^*^), in Tunis ^^^), bei den Munda-Kolh (nord-
indischen Drawiden)^^^), den ärmeren Chinesen ^^^), den Kri
(Algonkin- Indianern) ^*^), den Pimos (Mexikanern) ^^i)^ den
Antillen-Indianern zur Entdeckungszeit ^*^), den Bruni auf
Borneo^*^)^ einzelnen Formosanerstämmen^^*), den Marshall-
insulanern ^*-^), den Bewohnern der Fidschi-Inseln ^^^), Neu-
kaledoniens^^^), Neu- Guineas ^^^), Tahitis^^^), der Samoa-
gruppe^*^), und bei den Osmanen^^^); selbst in den Neu-
England - Staaten Nordamerikas soll diese Sitte eingerissen
sem
251
)•
Gleichen Sinn hat die Anwendung von Zauber- und ähn-
lichen Mitteln zur Vermeidung der Empfängniss bei den
Kamtschadalen^^^), den Munda-Kolh ^^^), den Kariben Guja-
234
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251
252
253
Ploss, KBS 1, p. 26.
Gellius NA, 12, 1.
Klemm, CG 2, p. 296. — Ploss, KBS 2, p. 260
Klemm, CG 7, p. 121.
Ploss, KBS 2, p. 261.
Hellwald in THZ 2, p. 126.
Klemm, CG 2, p. 84.
Ploss, KBS 2, p. 252.
P esc hei, ZE p. 149. Vgl. p. 431.
Hellwald, MF p. 294.
Montesquieu, GG 23, 16.
Hellwald, MF p. 294. — DKZ 1886, p. 790b.
Hellwald, MF p. 69. 294.
Ploss, KBS 2, p. 257. — Hellwald in THZ 1, p. 219.
Ploss, KBS 2, p. 256. — Hellwald, MF p. 294.
Hellwald MF p. 294.
Hellwald in THZ 6, p. 165. — Hellwald, MF p. 432. 294.
Hellwald, MF p. 294.
Hellwald, MF p. 293.
Hellwald, MF p. 293. - Ploss, KBS 2, p. 261.
286 Friedrichs.
nas^^*). Die raalayischen Kebsen der europäischen Ilandlnngs-
gehilfen greifen zu ähnlichen Mitteln oder zur Abtreibung,
da sie wissen, dass sie bei eintretender Schwangerschaft von
ihren Herren entlassen zu werden pflegen ^^^), einer der
wenigen Fälle, in denen ein unmittelbarer entsittlichender Ein-
fluss der Europäer nachzuweisen ist.
Diese Laster können zweifellos auch bei einem Volke
einreissen, welches im Fortgange seiner Entwickelung die Stufe
zum Matriarchat oder Patriarchat schon überschritten hat;
es bleibt aber für Matriarchat und Patriarchat die Tendenz
zur Erzielung möglichst vieler Kinder charakteristisch ; und
wenn Umstände eintreten, durch welche ein dieser Tendenz
so sehr widerstrebendes Verfahren herbeigeführt wird, so
müssen diese selben Umstände auch über kurz oder lang
dahin führen, die Gentilverfassung selbst, den Kern des Fa-
miliensystems, anzufressen und zu zerstören.
In einem gesunden, ruhig in der Entwicklung fortschrei-
tenden matriarchalen oder patriarchalen Volke wird sich da-
her die allgemeine Uebung der Kindestödtung u. s. w. nie-
mals finden, und desshalb können wir diese Uebung als Kenn-
zeichen dafür verwerthen, dass ein Volk weder dem Patriarchat
noch dem Matriarchat angehört, — oder dass es sich wenig-
stens auf dem Uebergange vom Patriarchat zur zweiseitigen
Familie befindet.
Es giebt Rechtsgebiete, in denen den jungen Mädchen
der Geschlechtsverkehr vor der Ehe an sich nicht versagt ist,
und die Beiwohnung ausgeübt werden kann, ohne ihrem guten
Ruf zu schaden, wo es aber für eine grosse Schande gilt und
eventuell grössere Nachtheile bringt, wenn ein Mädchen ein
Kind gebiert. (Völker mit halber Keuschheit.) So ist es
vielleicht bei den Muskoghi (Florida, Dacota)^^^), jedenfalls bei
254) Hellwald, MF p. 11.
-5=) Hellwald, MF p. 446. — Metzger im Globus 56, p. 42.
256
) Starcke, PF p. 278.
Familienstufen und Eheformen. 237
den Chewsiiren im Kaukasus (unverheirathet niederzukommen
gilt für eine so grosse Schande, dass sie selten überlebt wird,
der Umgang ohne reale Folgen wird nicht ungern gesehen) ^^^),
bei den Massai um den Kilima-Ndscharo (den Mädchen ist
die Zügellosigkeit in der unverschleiertsten Form gestattet,
aber Schwangerschaft wird mit dem Tode bestraft) ^5^). Bei
diesen Völkern, welche gewiss nicht allein stehen, liegt für
die jungen Mädchen natürlich eine besonders grosse Ver-
suchung zur Abtreibung vor, und wenn sie geübt werden
sollte, so würde sie ihre eigene Erklärung finden. Die Fa-
milienstufe der Muskoghi ist mir nicht bekannt, die Chew-
suren und die Massai scheinen dem Patriarchat anzugehören.
Die Sitte wird dadurch zu erklären sein, dass früher ein
strengeres Keuschheitsgebot bestand, welches allmählich laxer
geworden ist, und von welchem die Mädchen nur das eine
äussere Kennzeichen der Keuschheit, das Nichtgebären und
Nichtschwangerwerden erhalten haben. Ein ungesundes Ver-
hältniss auch hier.
Eine Versuchung zur Abtreibung und zum Kindermord
liegt natürlich im ganzen Geltungsbereich des Keuschheits-
princips vor, aber hier werden die Mädchen schon durch ihre
Erziehung auf die Enthaltung gewiesen und womöglich über-
wacht und körperlich von der Verletzung der Keuschheit ab-
gehalten.
3. Die Adoption und ähnliche Rechtsinstitute.
§ 14.
a) Polynesische Adoption.
Die Adoption wird von Bachofen den matriarchalen
Völkern abgesprochen und auf die Rechtsgebiete der patriar-
"7) Hellwald in THZ 2, p. 117. — Kohler in ZVR 5, p. 343.
2^8) Johnston, KN p. 391. — Hellwald, MF p. 91, 293. —
Hellwald in THZ 5, p. 330. — Abweichend Höhnel, OÄA p. 27. 28.
— Peters, EPE p. 214. 215. — Ploss, KBS 1, p. 381 — v. d. Decken,
ROA 2, p. 25. - Post, AJ 1, p. 290.
238 Friedrichs.
chalen und zweiseitigen Familie beschränkt '^"^). Dies ist nicht
richtig. Die Adoption und die ilir verwandten Rechtsgeschäfte
kommen in jeder Entwickehingsstufe vor und in jeder zu einem
anderen Zwecke. Im Patriarchate geschieht sie im Interesse
der Eltern, welchen die Erzeugung und Aufziehung von leib-
lichen Kindern versagt ist, in einem patriarchalen Volke
(z. B. Athen) wird die Adoption als Wohlthat — allein oder
in erster Linie — für den Adoptanten betrachtet ^^^), bei uns
ist sie etwas wesentlich anderes. Sie erfolgt oft genug nicht
im Interesse der Eltern, sondern aus Mitleid mit den ver-
waisten Kindern, und wo sie im Interesse der Eltern ge-
schieht, so soll sie mehr einen Gegenstand des Interesses und
der Sorge als einen Nutzen bringen. Bei uns gilt die Adop-
tion — und die Annahme eines Pflegekindes — als Wohl-
that nicht für die Eltern, sondern für das Kind, und bei uns
werden mit Vorliebe Mädchen adoptirt, im Patriarchate aber
Knaben 2 61).
Etwa in dem heutigen Sinne, also zur Beschäftigung der
Adoptiveltern oder aus Mitleid mit dem Adoptivkinde, kommt
die Adoption nicht nur im Thierreiche^6 2^^ sondern auch bei
den Menschen der niederen Entwickelungsstufen vor ; und eine
ohne sichtbare Veranlassung erfolgende Adoption, insbeson-
dere, wenn die Adoptivkinder nicht elternlos und die Adoptiv-
eltern nicht kinderlos sind, ist sogar charakteristisch für die
lose Familie. Denn wenn die Adoption zum Gegenstand der
Laune und Willkür wird, so beweist sie, dass auf den Be-
sitz von Kindern wenig Werth gelegt wird; denn dort, wo
die Familie und der Stamm eifrig darüber wachen, dass den
Vätern, bezw. Mutterbrüdern die Arbeits- und Gehülfenkräfte
der ihnen geborenen Kinder auch wirklich zu gute kommen.
■^'») ßachofen, MR p. 9b.
26") Hearn, AH p. 107. - Kohler in ZVR 5, p. 427.
-'■') Hearn, AH p. 50.
"2) Jäger in THZ 1, p. 45.
Familienstufen und Eheformen. 239
da verbietet sich eine solche leichtsinnige und gleichgültige
Adoption von selbst.
Die Eskimo sind entschieden kinderlieb^ ohne im Sinne
der Gentilverfassung den Kinderbesitz als Segen aufzufassen.
Bei ihnen sind Adoptionen sehr häufig. Die Eltern adoptiren
auch dann^ wenn sie eigene Kinder haben^ und die angewünsch-
ten sind meistens, aber nicht immer, solche Kinder, denen die
Eltern gestorben ^^^).
Auf den Palau- Inseln ist die Adoption sehr häufig, und
die von einer anderen Familie in Pflege genommenen Kinder
werden den ehelichen derselben vollkommen gleichgestellt 5
vielfach werden die Kinder zweier Familien mit einander aus-
getauscht ^^^). Aehnliches scheint nach Freycinet auf den
Marianen vorzukommen ^^^).
Auf den Tonga-Inseln ist es üblich, dass Kinder oder
junge Leute bei Lebzeiten ihrer Mutter sich eine zweite
wählen; diese versorgen ihre Pfleglinge mit allen Nothwendig-
keiten und Bequemlichkeiten des Lebens, und beide Mütter
werden einander völlig gleichgestellt ^^^).
Diese Adoption findet in der Regel unter Erwachsenen
statt. Daneben giebt es freilich noch eine andere Art, welche
dem Nachersatze weggestorbener Kinder dient ^^^). Auf den
Hawaii- Inseln ist die Adoption ein sehr häufiges, ohne Förm-
lichkeiten vollzogenes Institut; wenn ein Kind in einer nicht
verwandten Familie oder auf deren Kosten auferzogen wird,
so erbt es nach Gewohnheitsrecht wie ein wirkliches Kind^^^).
Auf den Markesas-Iuseln wird das Kind vom Augenblick
der Geburt an fremden Händen überlassen. Kaum fühlt sich
2«3) Klemm, CG 2, p. 210.
2«^) Semper, PI p. 117.
265) Cordier in RHD 5, p. 365. — Ploss, KBS 2, p. 410.
2«6) Klemm, CG 4, p. 386. — Lubbock, EC p. 77.
2") Klemm, CG 4, p. 303. — Morgan SCA p. 574. 579.
268j Morgan, SCA p. 453.
240 Friedrichs.
die Frau guter Hoffuung^ so beschäftigt sie sich schon mit
der Frage, wer ihr Kind adoptiren wird^^^).
Auf der Gilbertgruppe (Mikronesien)^'^) und auf den
Samoa-Insehi (Polynesien) ^'^^) scheint die Adoption ebenso
gehandhabt zu werden, wie auf den Marianen.
Nach Art der Palau-Insulaner üben die Adoption auch
die Mincopie auf den Andamanen^'^), einer der wenigen Pa-
puastämme^ welche nicht dem Patriarchate angehören.
§ 15.
b) Indische Adoptionen.
Das indische Recht kennt bekanntlich viele Arten von
künstlich erworbenen Kindern ^ '^ ^) ;• von diesen entspricht der
Dattaka, der in Adoption Gegebene, ganz dem römischen
datus in adoptionem; ein solches Institut wird nur im Patriar-
chat vorkommen. Für patriarchal halte ich auch den Putrika
putra, den Tochtersohn, welchen die Tochter im Auftrage
ihres Vaters empfangen und geboren hat, und welcher Sohn
seines Muttervaters wird und bleibt ^^^), den Käcina, welchen
ein Mädchen im Hause ihres Vaters ohne Auftrag geboren
hat, und welchen sie ihrem künftigen Manne in die Ehe mit-
bringt ^^^), den Sahödha, mit welchem die Mutter bei der
Eheschliessung schwanger ging, und welchen sie ihrem Ehe-
manne gebiert, einerlei, ob dieser ihn erzeugt hat, oder nicht ^^^),
den Päunarbhava, welchen die Mater binuba in der früheren
2««) Hellwald in THZ 5, p. 315. — Ploss, KBS 2, p. 410.
"») Ploss, KBS 2, p. 410.
"') Kohler in ZVR 5, p. 420.
"2) Kohler in ZVR 3, p. 402. — Hellwald, MF p. 473. —
Gans, ER 1, p. 84 f. — Starcke, PF p. 154.
"3) Kohler in ZVR 3, p. 396. — Kohler in KVjft., N. F., 4,
p. 19. — Gans, ER 1, p. 78. — Starcke, PF p. 155. 156.
2'^) Kohler in ZVR 5, p. 411.
"^) Kohler in ZVR 5, p. 411.
Familienstufen und Eheformen. 241
Ehe geboren hat und dem zweiten Gratten mitbringt ^^^). Dass
diese Kinder durch ausdrückliche Willenserklärung des Stief-
vaters zu den Seinen gemacht werden , kommt auch in der
zweiseitigen Familie und vielleicht auch in der losen Familie
vor; dass sie aber ipso jure dem Gatten oder Vater der Mutter als
eigene Kinder angehören, ist entschieden rein patriarchal.
Für patriarchal halte ich auch das Institut des Niyöga,
vermöge dessen eine Ehefrau im Auftrage ihres Mannes oder
eine Wittwe im Auftrage der Familie einen Sohn und Erben
ihres Gatten empfängt und gebiert^^^); Bernhöft spricht
sich dahin aus, dass mit der manuslosen Ehe (also un-
gefähr mit dem Uebergang aus der patriarchalen in die zwei-
seitige Familie) die Vertretung bei der Zeugung fortfalle ^^^).
Andere nehmen an , der Niyöga sei ein Kennzeichen des
Matriarchats ^^^) oder wenigstens früheren Matriarchats ^^^);
die hier vertretene Ansicht, welche auch von Kohler^^^),
Sehr ad er^^^), Starcke^^^) ausgesprochen wird, begründet
sich durch die nachstehenden Erwägungen.
Man nehme an: ein Bruderpaar Tiberius und Cajus Sempro-
nius, und ein Geschwisterpaar Cornelius und Cornelia. Tiberius
heirathet Cornelia: im Matriarchat würden die von Cornelia
^^^) Die besondere Auszeichnung und Benennung des Pännarbhava
Hesse sich auch als Material für die Geschichte der Satti (Wittwen-
verbrennung) bei den Hindu verwerthen, Pännarbhava und Satti schliessen
sich gegenseitig aus. Wer das eine nennt, kann das andere nicht
kennen.
2^') Die erste Form, der Ni5'^öga unter Lebenden, heisst auch
Nikäch' al-istibdä', die zweite Form, der Niyöga von todeswegen, it^t das-
selbe, wie das Levirat.
2'8) Bernhöft in ZVR 4, p. 235.
"9) Hellwald, MF p. 267. 270. — Dargun, MR p. 43—48.
280) Kautsky bei Hellwald, MF p. 264. 272. — Mac Lennan
bei Starcke, PF p. 159.
281) Kohler in ZVR 8, p. 242.
282) 0. Schrader, SU p. 561.
283) Starcke, PF p. 159.
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. X, Band. \Q
242 Friedrichs.
geborenen Kinder dem Cornelius , im Patriarchat würden sie
ihrem Vater Tiberius gehören. Wenn nun die Ehe zwischen
Tiberius und Cornelia kinderlos bleibt, so besteht der Niyöga
darin, dass Gajus der Cornelia beiwohnt, und der diesem Ver-
kehre entsprossene Sohn als Kind des impotenten oder ge-
storbenen Tiberius betrachtet wird und diesen beerbt. Wer
also den Niyöga für matriarchal hält, kommt zu der wunder-
lichen Consequenz, dass diejenigen Kinder, welche Cornelia
von ihrem Gatten Tiberius hat, ihrem Bruder Cornelius, und
diejenigen, welche sie von ihrem Schwager Gajus hat, ihrem
Gatten Tiberius gehören ^^^). Oder wenn die gegnerische
Ansicht dahin gehen sollte, dass die von Gajus erzeugten
Kinder gleichfalls dem Cornelius gehören (wofür nicht ein
einziges Beispiel überliefert ist), so ist wieder die Frage, wie
denn Gajus zu der Verpflichtung kommt, für die ihm voll-
kommen fremde und gleichgültige Familie Cornelius Kinder
in die Welt zu setzen, und wer ihn zu dieser Pflicht
zwingen will.
Der Niyöga scheint somit als vom Matriarchate ausge-
schlossen, aber damit ist noch nicht gesagt, dass er nicht in
der losen Familie vorkommen könne, denn was im Patriar-
chat auf Grund eines wirthschaftlichen Bedürfnisses geschieht,
kann in der losen Familie aus Laune und Spielerei geschehen.
So finden wir Istibdä' und Levirat, also beide Arten des Niyöga
bei den Eskimo in voller Blüthe^^^), obgleich der Mangel einer
jeden Gentilverfassung, die polynesische Adoption, das frühe
Aufhören der elterlichen Gewalt ^^^), die Behandlung der
^^*) Man bedenke noch, dass in vielen matriarchalen Rechtsgebieten
der Ehemann von seiner Frau strenge Wahrung der ehelichen Treue
verlangt, während er doch nach dem Vorstehenden das grösste Interesse
an jeder Handlung der Untreue haben sollte. Denn die von ihm er-
zeugten Kinder würden einem andern, die von einem andern erzeugten
Kinder ihm gehören !
-^'') Lubbock, VZ 2, p. 214. - Starcke, PF p. 132. — Klut-
schack, EE p. 234.
^^'') Westermarck, HM 1, p. 60.
Familienstufen und Eheformen. 243
Kinder bei der Ehescheidung und beim Tode der Eltern ^^^),
die Subsumtion unter das Patriarchat unmöglich machen.
Von dem echten Istibdä' ist übrigens noch ein falscher
zu unterscheiden, welcher nicht geschieht, um dem Manne
Kinder zu geben, sondern um der Frau ihr frauliches Recht
zukommen zu lassen ^^^). Dieser liefert für keine Familien-
stufe einen Beweis.
Die übrigen Arten künstlich erworbener Kinder, welche
die Inder aufzählen, Güdhadscha, der Geheimsohn der Frau,
mit ungewisser Vaterschaft, im Hause eines Mannes (etwa
während langer Abwesenheit) ihm von seiner Ehefrau geboren
— Kritrima, der formlos Adoptirte — Krita, der Gekaufte
— Svayamdatta, der sich selbst in Adoption gegeben —
Apaviddha, der von den Eltern verlassene und von einer
andern Familie Aufgenommene — Nishada, der Sohn des
Sudraweibes — haben nichts, was ihr Vorkommen in einer der
Entwickelungsstufen ausgeschlossen erscheinen lassen könnte.
Erschöpft sind mit alle diesem die Möglichkeiten noch
nicht. Eine speciell matriarchale Adoption ist z. B. die der
Irokesen, bei denen die Kinder der Ehefrau durch den Ehe-
mann adoptirt werden können ^^^) und somit anscheinend die
Stellung von künstlichen Schwesterkindern erwerben.
§ 16.
c) Vaterivahl.
Eine andere Weise, das Kindesverhältniss künstlich zu
begründen, ist die Vaterwahl. Dieselbe besteht darin, dass
die Neugeborenen einige Zeit nach der Geburt einem Manne
als Kinder zugewiesen werden, indem der Vater auf Grund
der Aehnlichkeit in den Gesichtszügen oder nach einem anderen
--^) Klemm, CG 2, p. 205. — Payne im Ausl. Oct. 1889, p. 833.
28«) Grimm, DRA p. 444. — Dargun, MR p. 45.
289) Morgan, SCA p. 165 Note 1.
244 Friedrichs.
Grundsätze aus einem grösseren oder kleineren Kreise heraus
ausgesucht wird.
Die Vaterwahl hat im Erfolge einige Achnlichkeit mit
der Adoption eines Findlings, in beiden Fällen bekommt ein
Kind einen Vater, das vorher keinen hatte; aber in jenem
Falle wählt der Vater sich ein Kind, während hier für das
Kind ein Vater gewählt wird.
Die Vaterwahl ist ein Kennzeichen der losen Familie.
Denn wo die Vaterschaft an ein so zweifelhaftes und trüge-
risches Kennzeichen wie die äussere körperliche Achnlichkeit
eines kleinen Kindes mit einem erwachsenen Manne geknüpft,
oder wo sie von der Laune des Wählers abhängig ist, da
kann jedenfalls kein grosser Werth auf den Besitz eines Kindes
gelegt sein, da kann auch das Band zwischen Kind und Vater
wie zwischen Kind und Mutter nicht sehr eng sein, und eine
Gliederung der Art, dass jeder Einzelne einem Stamme ganz
angehört und in demselben aufgeht, ist unmöglich.
Eine solche Vaterwahl wird von Puffendorf in die Stelle
Athenäus 13, 1 hinein interpretirt und würde sonach
von den kekropischen Athenern berichtet sein^^^); diese Aus-
legung erscheint aber nicht gesichert.
Dagegen kam es bei den Arabern vor, dass sich mehrere,
bis zu zehn Ehemännern um ein Weib vereinigten und dieser
später die Entscheidung überliessen, wem von ihnen das Kind
gehören sollte; oder dass mehrere Männer, als Socii, ein Weib
prostituirten, ohne ihr selbst beizuwohnen; die Kinder der
Prostituten wurden von einem Sachverständigen, Qa'if, einem
der Protistuenten, von denen keiner der Erzeuger sein konnte,
als Kinder zugewiesen ^^^).
Von den Auseern, westlich vom Tritonsee, berichtet Hc-
rodot: Sie vermischen sich durcheinander mit den Weibern;
ohne zusammen zu wohnen, vermischen sie sich heerdenweise;
"0) Puffendort\ JNG 6, 1, 5.
23^) Starcke, PF p. 130. - K. Smith, KMA.p.Ua
Familienstufen und Eheformen. 245
wenn aber das Kind des Weibes heranwächst^ kommen im
dritten Monat die Männer an demselben Ort zusammen
und dem Manne, welchem das Kind gleicht, wird es zu-
geschriebene^^). Dasselbe berichten andere von den Ga-
raraanten ^^^).
Von den Kalikutern heisst es: jede Frau verehelicht sich
mit sieben Männern, welche ihr nächtlich abwechselnd bei-
wohnen. Sie schreibt die Kinder nach ihrem Belieben einem
von den sieben Männern zu, und diese Entscheidung kann
nicht angefochten werden e^^).
Ebenso hatten die Liburner ihre Frauen gemeinsam , und
die Kinder wurden bis zum fünften Jahr zusammen auf-
gezogen; im sechsten Jahre wurden sie versammelt und den
Männern nach der Aehnlichkeit zugewiesen ; wer so von der
Mutter einen Knaben erhielt, betrachtete ihn als seinen Sohn e^^).
§ 17.
4. Verkauf und Verpfändung von Kindern.
Der Verkauf von Kindern ist eine universale Sitte, er
kommt auch bei uns vor. Ich erinnere nur an die von
Ploss angeführte Gartenlaubenanzeige aus dem April 1876,
nach welcher ein hübsches Kind gegen einmalige Zahlung von
zweitausend Thalern abzulassen war ^^^). Solche Fälle kommen
häufig vor, und ich kenne eine ganze Reihe von jungen Mädchen
geringer Herkunft, die von ihren Eltern entgeltlich an wohl-
habende kinderlose Ehepaare abgegeben und von diesen auf-
gezogen sind und ganz ausserordentlich gut angeschlagen
haben. Wenn man das Geschäft, wie es zwischen den natür-
"2) Herodot 4, 180. Dazu: Bastian RV p. LIX. — Hellwald,
MF p. 131. — ötarcke, PF p. 136.
293) Bachofen, MR p. IIa.
294) Puffendorf, JNG 6, 1, 15.
29') Bacliofen, MR p. 20b. - Starcke, PF p. 136.
"6) Ploss, KBS 2, p. 249.
240 Friedriclis.
liehen und den Pflegeeltern abgeschlossen wird, nüchtern auffasst,
so unterscheidet es sich in keinem wesentlichen Punkte von
dem, was wir bei wilden Völkern als Kauf zu bezeichnen
pflegen, wiewohl eine Klage auf Zahlung der Abfindung wohl
niemals als Kaufklagc substanziirt werden wird.
Dass der Kinderverkauf wie in der zweiseitigen Familie,
so auch in der einseitigen vorkommt, ist selbstverständlich,
und auch der losen Familie gehört er an; denn auch hier
kann es Personen geben, welche kinderlieb, und etwas aus-
zugeben bereit sind, um irgend ein Kind oder ein gewisses,
ins Auge gefasstes zu bekommen. Sowohl die ideelle Freude
an Kindern wie das Streben nach materiellem Nutzen kann
durch den Kauf befriedigt werden und kann den Kauf her-
vorrufen. Anders ist es aber, wenn das Kind verpfändet und
an Zahlungsstatt oder in anderer Weise in Anrechnung auf eine
Schuld hingegeben wird. Der Gläubiger hat dem Schuldner
einen materiellen Vortheil zugewandt und verlangt die Zuwendung
eines materiellen Vortheils als Gegenleistung. Wenn er in Anrech-
nung auf diese Leistung das Kind annimmt, so herrscht bei ihm
nicht eine ideelle Freude an der Zahl der Kinder, sondern er
betrachtet die Hingabe als materiellen Vortheil, eine Auffas-
sung, welche eben für Matriarchat und Patriarchat gemeinsam
charakteristisch ist.
Anders liegt die Sache, wo das Kind als Sklave verkauft
ist; hier bringt es dem Erwerber zwar einen materiellen Vor-
theil, aber es ist für diesen eben kein Kind mehr.
Wir sehen daher, dass die Kinderverpfändung ein Kenn-
zeichen für die einseitige Familie ist; der Kinderverkauf ohne
Kenntniss der näheren Umstände nicht als Kennzeichen ver-
werthet werden kann.
§ 18.
5. Emancipation.
Wo die Kinder sich von den Eltern früh lostrennen,
alle rechtlichen Beziehungen zu ihnen verlieren und selbst-
Familienstufen und Eheformen. 247
ständig werden^ da wird auf den Besitz von Kindern offenbar kein
Werth gelegt, denn die Eltern verzichten hier, obwohl sie
der stärkere Theil sind, auf die Fortdauer der elterlichen Ge-
walt aus Mangel an Interesse freiwillig.
Bei eigenthumslosen Völkern wird nach Frankenheim
mit der Pubertät der Kinder jedes Band zwischen ihnen und
den Eltern gelöst, mit Ausnahme der natürlichen Zuneigung ^^'^),
bei ackerbautreibenden sei das Band der Kindschaft von
längerer Dauer als bei eigenthumslosen ^^^) und bei Hirten
wiederum — was wohl in dieser Allgemeinheit zu bestreiten ist
— länger als bei ackerbautreibenden^^^).
Die Frankenheim'schen eigenthumslosen Völker sind
aber nichts anderes als die nach meiner Bezeichnung zur losen
Familie gehörenden. Wenn also bei den Australiern^®^), den
Eskirao-Togiagmuten ^'^^), californischen Indianern ^^2), den Ka-
riben^®^), den Pescherä (Feuerländern) ^^^), den wilderen
Dajaken^®^), den Strand-Aeten auf den Philippinen ^^^), den
Sandeh (Njam-Njam) ^^^), endlich auch bei den indogermanischen
Kortorar (wandernden Zigeunern) Siebenbürgens ^^^) die
Kinder ihre Eltern vor der Pubertät, wenigstens vor der
Heirath verlassen, und sich vollkommen selbstständig
machen, so ist dies ein Zug, der uns auf das Vorhandensein
der losen Familie schliessen lässt. Ob die Berichte nur
297) Frankenheim, VK p. 463.
298) Frankenheim, VK p. 459.
239) Frankenheim, VK p. 463.
^^'O) Hellwald, MF p. 148. — Hellwald in THZ 1, p. 307.
^°^) Westermarck, HM 1, p. 60. — Anders für die Hudsonsbay-
Eskimo: Kl u tschack, EE p. 234.
302) Klemm, CG 1, p. 348.
303) Heliwald, MF p. 148.
304) Hellwald, MF p. 147 f.
305) Westermarck, HM 1, p. 56.
308) Ploss, KBS 2, p. 408.
'07) Hellwald in THZ 6, p. 52.
05) Wlislocky VTZ p. 458.
306
30
30
248 Friedrichs.
auf Knaben oder auch auf Mädchen zu beziehen sind, lässt
sich nur für jeden Fall besonders entscheiden. Eine allge-
meine Regel wie die von Hellwald versuchte ^^^) lässt
sich gewiss nicht aufstellen. Jedenfalls kann die frühe Eman-
cipation auch dann als Kennzeichen für die lose Familie ver-
werthet werden, wenn sie sich nur auf Knaben bezieht.
Die Emancipatio saxonica , die Aufhebung der väter-
lichen Gewalt durch Etablirung des Sohnes, durch Heirath
der Tochter hat nichts für irgend eine Familienstufe Charak-
teristisches. Sie ist die Regel in der zweiseitigen Familie,
sie ist in der losen Familie in allen den Fällen vorauszusetzen,
wo eine noch frühere Emancipation nicht nachgewiesen ist; aber
sie ist auch für die einseitige Familie nicht ausgeschlossen.
Die Fortdauer der kindlichen Unterwerfung bis zum Tode
des Vaters und darüber hinaus in der vom ältesten Bruder
geleiteten fortgesetzten Familie ^^^) ist dagegen charakteristisch
für die Stufe der einseitigen Familie. In der zweiseitigen
Familie ist eine so lange Unterwürfigkeit wegen der freieren
Bewegung der Individuen im Staatsganzen nicht aufrecht zu
erhalten ; in der losen Familie fehlt jedes Band , um eine so
lange Dauer der Zusammengehörigkeit zu schaffen.
Diese Regel gilt nicht nur von der Familie, sondern auch
von den grösseren Genossenschaften. Die Horden der losen
Familie haben keinen festen Halt.
Das Lösen und Knüpfen von Verbindungen durch Aus-
wanderung und auf andern Wegen ist leicht und häufig ^^^). Die
Gentilverfassung der einseitigen Familie ist weit entfernt,
^^^) Hellwald, MF p. 168. Alle Beispiele rascher Entfremdung
zwischen Mutter und Kind, womit die moderne Völkerkunde uns ver-
sieht, betreffen auch stets nur den ohnehin überall von der Familie sich
frühzeitig ablösenden Sohn, niemals die Tochter, welche bis zum mann-
baren Alter fast ausnahmslos bei der Mutter bleibt.
^^^) Vgl. hierüber auch Dargun in ZVR 5, p. 65. — Kohl er in
KVjft. NF 4, p. 28. — Starcke, PF p. 106.
311) Frankenheim, VK p. 194.
Familienstufen und Eheformen.
249
einen solchen Austritt zu versagen, und insbesonders ist er
bei wandernden und an den Boden nicht gefesselten Völkern
sehr gut möglich^ ^^)^ aber er geschieht nie ohne ernste Gründe,
nie ohne feierliche Aufsagung und ohne gleichzeitigen Ueber-
tritt in eine andere gens. Charakteristisch in diesem Sinne
ist der feierliche Austritt Muhammeds aus dem Haschimitenver-
bande und sein Eintritt unter die Chasradschiten von Jathrib ^^^).
6. Aufschiebung und Aufhebung der Ehe.
§ 19.
a) Ehesuspension.
In vielen Rechtsgebieten ist es die Regel oder gewöhnlich,
dass die Ehe unter einer Bedingung abgeschlossen wird; ins-
besondere ist es eine häufige Erscheinung^ dass die vollen
Wirkungen der Ehe erst dann eintreten, nachdem die Ehe-
frau ein Kind geboren hat; so bei den Aleuten (Behringsvolk)^^*);
den Eskimo in Ostgrönland ^^^), den Kamtschadalen ^^^), den
Badagas (Dravidas), bei denen schon die Schwangerschaft ge-
nügt ^^'^), den Khjeng ( Karen) ^^^)^ den Luuktuung-jejäu (Lohita-
volk) ^^^), den Kenistenowuk (Cree-Indianern) ^^'^), den Sha-
wanesen^^^), in Ecuador ^^ 2), bei den Abiponern^^^), auf Yap^^^)
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marck,
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323
324
) Frankenheim, VK p. 507. 248.
) A. Müller, IMA p. 88 f.
) Kohler in ZVR 5, p. 342. — Westermarck, HM 1, p. 30.
) Westermarck, HM 1, p. 30.
) Starcke, PF p. 279.
) Westermarck, HM 1, p. 31.
) Westermarck, HM 1, p. 30 (in Hinderindien).
) Hellwald in THZ 5, p. 196 (in Hinterindien).
) Klemm, CG 2, p. 80. — Starcke, PF p. 36. 303. - Wester-
HM 1, p. 30.
) Westermarck, HM 1, p. 30.
) Hellwald, MF p. 450.
) Klemm, CG 2, p. 75. - Starcke, PF p. 277.
) Hernsheim, SE p. 26.
250
Friedrichs.
und den Kingsmill-Inseln (Micronesicn) ^^'^) auf Tahiti (Poly-
nesien — fraglich) ^^^) bei den Marea (Hamiten) ^^^) ^ den
Baeles ( Afrika) ^'-^s^, den Bari (Negern) ^29)^ den Wolotfen^^'^
(auch bei diesen genügt die Schwangerschaft), den Kafirn^^^),
den Be Tschuana^^^), den Badakschanern ^^^), den Kal-
myken ^^*).
Diese Erscheinung kann die verschiedensten Gründe haben.
Es kann darin jedenfalls der Gedanke zu Grunde liegen, dass
der Mann nur eine solche Frau zu haben wünscht, welche im
Stande ist, ihm viele Kinder zu gebären. In diesem Falle
ist das Abwarten der ersten Geburt eine Art Probeehe oder
Eheprobe, wie sie bei andern Völkern vielfach in andrer
Weise vorkommt, und das Vorhandensein dieser Probeehe weist
darauf hin , dass das Volk die Kinder als Segen betrachtet.
Diese Deutung kann der Ehesuspension aber nicht in allen
Fällen gegeben werden. Bei einigen der obigen Beispiele
liegt sicher ein anderer Grund vor, insbesondere der^ dass der
Mann nicht eher an das Weib gefesselt sein soll, bis die
Wirkungen des Zusammenlebens sich in deutlicher Weise
zeigen, und es besteht kein Anlass zu der Annahme, dass
die ersterwähnte Deutung auch nur in der Regel oder im
Zweifel anzuwenden sei.
325
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332
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334
Starcke, PF p. 277.
Starcke, PF p. 277. — Bernhöft in ZVR 8, p. 386.
Starcke, PF p. 277.
Westermarck, HM 1, p. 30.
Hellwald in THZ 1, p. 356.
Westermarck, HM 1, p. 31.
Starcke, PF p. 277.
Starcke, PF p. 255.
Starcke, PF p. 277.
Bastian, RV p. 182. Anders Buddeus in Ersch' und Griibers
allgemeiner Encyklopädie I, 31 s. v. Ehe.
Familienstufen und Eheformen, 251
§ 20.
h) Ehescheidung.
Eine gewisse Bedeutung kann auch die Ehescheidung als
Classificationsmarke haben.
Es giebt zunächst eine Reihe von Völkern^ bei denen die
Ehescheidung zu Gunsten des Ehemannes von Voraussetzungen
abhängig ist, und bei denen die Kinderlosigkeit der Frau
ein genügender Anlass zur Scheidung ist, — oder bei denen
dem Ehemann zwar das Recht zusteht, die Frau ohne Angabe
von Gründen zu entlassen, bei denen aber thatsächlich nur bei
Kinderlosigkeit der Frau von diesem Rechte Gebrauch ge-
macht wird.
Zu den ersteren gehören die alten Inder ^^^), die tal-
mudischen Juden (nachdem das mosaische Recht die Schei-
dung dem Manne völlig frei gegeben hatte) ^^^), die Aino ^^'^),
die Berber in Marokko und die Qabilen^^^), die Birmanen ^^^),
Chinesen ^^^), die Wa Nyamuezi ^^^), die Ba Rolong^^^), die
Dualla^^^^)^ aie Sandeh (Njam-Njam) 3*4).
Zu der zweiten Gruppe gehören die alten Spartaner ^*^),
die Eskimos ^^^), die Badagas (Draviden) ^*^), die Kuki (Lo-
335) Jolly, RSF p. 443. — Jelly in ZVR 4, p. 357. - Kohler
in ZVR 3, p. 384.
33«) Wunderbar, BTM. — Bergel, FAJ p. 30. - Heut nicht
mehr. Mendelssohn, RGJ 4, 17. § 1. 2.
337) Goodrich im Ausland 1889 p. 107.
338) Quedenfeldt in ZE 20, 4 p. 195 f.
339) Kohler in ZVR 6, p. 173.
340) Hellwald, MF p. 339. 380. — Arendt im Globus 55, p. 383.
— Gans, ER 1, p. 105. — Klemm, CG 6, p. 108.
3-^0 Reichard in ZGE 24, p. 255.
342) Kohler in ZVR 5, 351.
343) Hellwald in THZ 2, p. 449.
344) Hellwald in THZ 6, p. 81.
345) Herodot 6, 61; vgl. Smith, DGA p. 739b.
346) Klemm, CG 2, p. 204. 205.
347) Westermarck, HM 1, p. 31.
252 Friediichy.
hitavolk)^^^)^ die Miiskogi und Natsches (FIorida-Dacota)^'^^),
Kariben ^^*')^ die Paraguay-Indianer^^^), insbesondere die Te-
huelche^^^)^ Abiponen ^^^); auch die Hottentotten ^^ 9), die Mu-
gearn in der Sahara ^'*^).
Diese Art der Scheidung kann zwar auch bei Völkern
der losen Famihe vorkommen^ wie das Beispiel der Eskimo
zeigt, aber sie ist doch in der einseitigen Familie heimisch
und in der zweiseitigen Familie ausgeschlossen. Die That-
sache aber, dass die Kinderlosigkeit kein Scheidungsgrund ist,
kann niemals als erheblich betrachtet werden, wenn man nicht
weiss, ob der Ehemann sich nicht durch Hinzunahme einer
zweiten Frau, durch Kauf und Adoption oder auf andre Weise
Kinder verschaifen kann. In Verbindung mit andern Momenten
giebt daher auch die rechtliche oder thatsächliche Abhängigkeit
der Scheidung von der Kinderlosigkeit ein Kennzeichen für
die einseitige Familie, und zwar insbesondere für das Patri-
archat, denn hier ist es der Mann, der Interesse an zahlreicher
Nachkommenschaft hat. Im Matriarchat würde eher zu er-
warten sein, dass die Frau das Recht hat, einen Mann wegen
Kinderlosigkeit zu entlassen; ein solcher Satz ist aber ab-
gesehen vom patriarchalen Talmud ^^^) nirgendwo als an-
erkannt nachgewiesen.
Die Sachlage ist im Uebrigen ebenso zu beurtheilen, wenn
die Scheidung in ihren Voraussetzungen zwar rechtlich und
thatsächlich unabhängig von der Kinderlosigkeit ist, aber
in ihren Wirkungen dadurch abhängig, dass die Vermögens-
auseinandersetzung für den Mann günstiger ausfällt, sobald
er die Frau wegen Unfruchtbarkeit entlassen hat, wie z. B.
bei den Baghirmi-Negern und den Wa Nyoro, wo der Mann
348) Starcke, PF p. 276.
3"*») Starcke, PF p. 276.
35'») Klemm, CG 2, p. 77. - Starcke, PF p. 276.
3'i) Starcke, PF p. 49.
"2) Bergel, EAJ p. 31. — Wunderbar, BTM 2. 1 p. 43. 44
Familienstufen und Eheformen. 253
den Kaufpreis oder einen Theil desselben nur dann zurück-
erhält, wenn er die Frau wegen Unfruchtbarkeit entlassen
hat 3 53).
Zweiter Theil.
Eheformen.
§ 21.
I. Begriff der Ehe.
Wenn man den Begriff der Ehe für ein einzelnes
Rechtsgebiet feststellen will, so kann man einen ganz andern
Weg einschlagen, als es vom rechtsvergleichenden Standpunkte
aus hier möglich ist. Eine Definition der römischen Ehe kann
ohne falsch zu werden eine ganze Menge von Einzelbestimmungen
enthalten, welche im römischen Rechte zutreffen, aber in keinem
andern Rechtsgebiete wiederkehren. Eine Definition für ver-
gleichende Zwecke dagegen darf kein positives Merkmal haben,
welches in einem der verglichenen Rechte fehlt; dagegen ist
es kein Fehler, wenn auch ein Einzelrecht den Begriff enger
fasst, als die allgemeine Definition. Sehen wir uns in diesem
Sinne die classische römische Definition an:
„Nuptiae sunt conjunctio maris et feminae, divini et
humani juris communicatio 3^*)".
Es ist sicher, dass diese Worte auf die deutsche Ehe
nicht passen. Einerseits macht die blosse conjunctio bei uns
noch keine Ehe aus, sobald die Mitwirkung des Standes-
beamten fehlt. Andrerseits aber ist divini juris communi-
catio weder ein Zweck noch eine Wirkung derselben. Die
Definition ist also zu weit (was wie gesagt, nichts schadet) und
auch zu eng. Wenn man aber die römische Formel durch
Weglassnng des Wortes divini kürzt, so bleibt der Rest
352) Kohler in ZVR 5, p. 348.
3!^^) Fr 1 de RN 23, 2.
254 Friedrichs.
ziemlich wenig bezeichnend, da conjunctio im Nothfall auf die
copula carnalis, communicatio aber auf jede Societät bezogen
werden könnte. Es müssen also neue Merkmale eingeführt
werden, um eine brauchbare Definition zu bekommen. Als
solche Merkmale, welche der Ehe aller Völker gemeinsam
sind, können im Allgemeinen der gemeinsame Hausstand und
der Geschlechtsverkehr angesehen werden. Der erstere ohne
den letztern ist niemals eine Ehe: die Schwester, die dem
Bruder die Wirthschaft führt, ist nicht seine Frau. Einen
Geschlechtsverkehr ohne gemeinsamen Hausstand scheint
die Semandoehe Menangkabaus darzubieten ^^^). Hier muss
das Charakteristische der Ehe, wenn das Semandoverhältniss
überhaupt als solche betrachten werden soll, in der Ausschliess-
lichkeit des Geschlechtsverkehres bestehen, welche Ausschliess-
lichkeit der Ehe an sich bekanntlich nicht angehört.
Zu beachten ist noch, dass die Form, in welcher die
Parteien die Ehe eingehen wollen, in vielen Rechtsgebieten
ihrem Gutbefinden überlassen, in andern Gebieten aber genau
vorgeschrieben ist. Eine Aufnahme dieses Umstandes in die
Definition erscheint unerlässlich, indessen darf dieselbe nur in
ganz allgemeiiien Ausdrücken erfolgen.
Endlich ist noch folgender Umstand zu berücksichtigen :
Auch in denjenigen Rechtsgebieten, in welchen keine Ver-
bindungen als Ehen anerkannt und geregelt sind, pflegt es rechtlich
zulässig zu sein und thatsächlich vorzukommen, dass ein
Paar sich zusammenthut, sich in Treue auf einander beschränkt
und lebenslänglich bei einander aushält ^^^). Wenn nun die
Rechtsordnung des betreffenden Rechtsgebietes keine specifische
Wirkung an dieses Zusammenleben knüpft, sondern dasselbe mit
3^^) Bastian, VÖA 5, p. 12. - Hellwald, MF p. 233. — Starcke,
PF p. 84. - Post, StEF p. 99.
^*^) Instances of marriages between Single pairs may have, and
probably did, occur in all periods of mans history. But they miist
have been exceptional . .. Morgan in Proceedings of the Anier. Acad.
of Arts and Sciences, 7, p. 475, Boston und Cambridge 1868.
Familienstufen und Eheformen. 255
deDselben Augen betrachtet, wie den täglich wechselnden Ver-
kehr der andern Volksgenossen, so wäre es falsch, von einer
Ehe zu sprechen, und somit dem Rechtsgebiete das Vorhanden-
sein einer Ehe zuzuschreiben, während eine solche in Wahr-
heit nicht vorhanden ist. Wir können also eine Geschlechts-
verbindung dann nicht als Ehe bezeichnen, wenn sie nicht durch
die Rechtsordnung anerkannt und privilegirt ist, mag sie auch
im Uebrigen unserer Ehe noch so sehr ähneln.
Eine erschöpfende Definition der Ehe würde daher wie folgt
lauten können: ,jEine von der Rechtsordnung anerkannte
und privilegirte Vereinigung geschlechtsdifferenter
Personen, entweder zur Führung eines gemeinsamen
Hausstandes und zum Geschlechtsverkehr, oder zum
ausschliesslichen Geschlechtsverkehr.*
Starcke sagt: „Eine Verbindung zwischen Mann und
Weib, welche von einer mehr als augenblicklichen Dauer ist,
und während welcher die beiden gemeinsam für ihre Nahrung
sorgen" ^^'). Seine Auffassung der Ehe ist mit meiner über-
einstimmend, der Ausdruck dieser Auffassung aber meines Erach-
tens nicht vollständig. Der Geschlechtsverkehr ist nicht er-
wähnt, das Semandoverhältniss nicht berücksichtigt, andrerseits
zwei Umstände genannt (mehr als augenblickliche Dauer —
gemeinsame Sorge für die Nahrung), von denen der erste der
Ehe zwar angehört, aber durch meine Fassung wie ich glaube
selbstverständlich geworden ist, und der andere nicht regel-
mässig vorliegt. Unsere Ehe enthält z. B. nicht nothwendig
eine gemeinsame Sorge für die Nahrung, auch die Semandoehe
nicht: das, was Starcke hat sagen wollen, ist in den Worten
„gemeinsamer Hausstand" zum Ausdruck gekommen. Andre
Definitionen ^^^) pflegen sich, soweit sie für vergleichende
Zwecke geschrieben sind, von der Starcke'schen oder der
3") Starcke, PF p. 14.
3^8) Bergel, EAJ p. 1. — Hellwald, MF p. 228. — Wester-
marck, HM 1, p. 26. - Ratzel, VK 1, p. [79].
25(3 Friedriclis.
römischen meist durch geringere Vollständigkeit zu unter-
scheiden.
Keine Ehe ist somit die Promiscuität, welche darin be-
steht^ dass die Mutter nur mit ihren Kindern zusammen
lebt und nach eigener Wahl die Befruchtung aller Männer
oder aller Männer einer bestimmten Classe entgegennehmen
darf^s«).
Dieser Verkehr heisst aber nur dann Promiscuität, wenn er
in einem Rechtsgebiete geschieht, welches keine geregelten
und privilegirten Ehen kennt; wenn ein promiscuer Verkehr
neben der privilegirten Ehe stattfindet, so heisst er Fehlen
des Keuschheitsgebotes oder bezw. Prostitution ^^^).
§ 22.
II. Eheformen.
Auf die Frage, ob ein Hausstand als ehelicher zu be-
trachten sei, ist die Zahl der Personen, welche denselben bilden,
ohne Einfluss, wohl aber liegt darin ein geeignetes Merkmal,
um den Ehebegriff in verschiedene Unterbegriffe — Ehe-
formen — zu zerlegen. Eine Haupteintheilung ist die in
polygame und monogame Eheformen; die Ehe eines Rechts-
gebietes ist monogam, sobald vermöge gesetzlicher Noth-
^°^) Unter dem Namen Hetärismus finden wir die Promiscuität bei
Bachofen, s. Peschel, VK 6, p. 238 und Bachofen, MR passim.
Oommunal Marriage ist der von Lubbock, EC p. 121 gewählte Name;
Hellwald, MF p. 124 und Starcke, PF p. 273 haben den Ausdruck
Promiscuität und promisc[u?], die Sache ohne Namen bei Post, StEF p. 54.
'^^) Vgl. oben § 8, Anm. 94. — Unzutreffend ist die Begriffsbestim-
mung bei Hellwald, MF p. 274, eine wenig förderliche Verwechselung
von Promicuität und Prostitution begeht Westermarck, HM 1, p. 85 f.
und noch entschiedener auf p. 70 der completen Ausgabe von 1891. Ich
verstehe unter Promiscuität gerade diejenige Form des Geschlechts-
verkehres, welche Westermarck als free sexual intercourse bezeichnet,
und von der „promiscuity, the most genuine form of which is Prosti-
tution" zu unterscheiden sucht.
Familienstufen und Eheformen. 257
ivendigkeit ein Mann nur mit einer Frau, und eine Frau nur
mit einem Mann zugleich verheirathet sein kann. Die Ehe ist
polygam, sobald dieser Zwang nicht besteht, einerlei ob
von der somit gewährten Erlaubniss in grösserem oder ge-
ringerem Umfange Gebrauch gemacht wird, oder nicht ^^^).
Im Einzelnen lassen sich folgende Eheforuien sondern:
Erste Form:
la. Gruppenehe: Mehrere Männer bilden mit mehreren
Frauen einen Ehehausstand.
Ib. Doppelreihenehe: Alle Brüder aus einem Hause leben
mit allen Schwestern aus einem andern Hause ehelich zu-
sammen.
Zweite Form:
2. Polyandrie: Mehrere Männer bilden mit einer Frau
einen Hausstand, und zwar:
2a. Tibetanische Polyandrie: Die Männer vereinigen sich
(bilden eine Societas), um gemeinsam eine Frau zu nehmen.
2 b. Unrichtig sog. Nairpolyandrie^^^): Die Frau ist der
gemeinsame Sammelpunkt der Männer, die sonst mit einander
nichts zu thun haben.
2A. Männliche Reihenehe: Die Ehe, die ein Bruder ab-
schliesst, verleiht von selbst allen seinen jüngeren Brüdern
gleiche ehemännische Rechte.
361^ Wenn es also heisst: „Die Polygynie ist bei den X fast un-
bekannt" (Kirchhoff in Petermanns Mittheilungen 36, p. 25; Queden-
feld in ZE 20, 4, p. 193), „Die X sind fast durchweg monogyn"
(Diercks im Globus 56, p. 313), so muss das Volk zu den Polygamen
gerechnet werden, falls nicht aus anderen Gründen trotzdem Monogynie
anzunehmen ist.
^^') Die Nair (in Malabar, 'Vorder-Indien) leben in Promiscuität
und nicht in Polyandrie. Post, StEF p. 58.
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. X. Band. 17
25b l'iicdiichö.
Dritte Form:
3. Polygynie: Ein Mann hat mehrere Frauen, und zwar
3a. Vereinigte Polygynie: Alle Frauen desselben Mannes
leben unter demselben Dache und um denselben Herd.
3b. Getrennte Polygynie: Der Mann ist verpflichtet, für
jede seiner Frauen nebst deren Kindern eine besondere Woh-
nung herzurichten.
3a. Gleichordnende Polygynie: Alle Frauen desselben
Mannes haben gegenüber dem gemeinsamen Manne den-
selben Rang.
3ß. Unterordnende Polygynie: Eine Frau ist die Haupt-
frau, die andern sind Nebengemahlinnen, Kebsen oder Skla-
vinnen.
3A. Weibliche Reihenehe: Die Ehe, die ein Mann mit
einer von mehreren Schwestern abschliesst, verleiht ihm gegen
alle übrigen Schwestern ehemännische Rechte.
Vierte Form.
4. Monogamie: Der Hausstand kann nur von einem Manne
und einer Frau gebildet werden.
IN. Ehestufen.
§ 23.
a) Im Allgemeinen.
Nicht nur in der Zahl, sondern auch in der Rangstellung
der Ehegatten finden wir ein Mittel zur Diiferenzirung des
EhebegrifFes^ und wir haben daher von den Eheformen die Ehe-
stufen zu unterscheiden.
Es ist nemlich möglich, dass ein Volkswesen verschiedene
Ehen mit verschiedenem Masse der Privilegirung anerkennt
und den Parteien zur Auswahl stellt; es ist aber auch mög-
lich, dass die verschiedenen Ehen nicht in die freie Wahl der
Familienstufen und Ehelormen. 259
Nuptiirienten gestellt^ sondern von dem Geburtsstande der
Parteien abhängig gemacht werden^ so dass Personen von
einem gewissen Geburtsstande mit Personen von einem ge-
wissen andern Geburtsstande entweder gar keine Ehe oder
nur eine gewisse Art derselben eingehen können; endlich kann
auch bloss eine einzige Ehe proponirt sein, mit der Massgabe,
dass dieselbe aussergewöhnliche, stärkere oder schwächere
Wirkungen hat, sobald Personen von gewissen Geburtsständen
sie mit einander eingehen.
In einem monogamen Rechtsgebiete kann man die Ge-
sammtheit der in demselben abgeschlossenen oder abschliess-
baren Ehen nach dem Masse der ihnen ertheilten Privilegien
in eine Scala bringen und von höheren und niederen Ehe-
stufen sprechen. Das einzelne Paar ist aber in seinem Ver-
hältniss zu einander nicht davon berührt, wie andre, ihnen
fremde Paare sich zu einander verhalten.
In polygynen Gebieten ist es aber möglich, dass ein
Mann eine Mehrzahl von Frauen vermöge verschiedener Arten
von Ehen zu einem Hausstande vereinigt; wir haben hier nicht
nur von Ehestufen, sondern auch von Frauenstufen zu sprechen,
da die so mit einander vereinigten Ehegattinnen unter einander
in irgend einer Weise rangirt werden müssen ; und eine solche
ungleiche Rangstellung der Frauen kann sogar in solchen Haus-
ständen erfolgen, in denen die Weiber alle vermöge derselben
Ehestufe geheirathet sind.
Ebenso ist es auch in polyandrischen Gebieten möglich,
wenn auch in seltener Uebung, dass die verschiedenen Männer
einer Frau nicht gleichen Ranges sind, sondern der eine höher
steht als der andere, und auch ohne Polyandrie ist eine Ab-
stufung der Männer in Gatten vollen und minderen Rechtes
möglich.
Es ergiebt sich hieraus , dass die Ehearten nicht ohne
Besprechung der Ehestufen vollständig gewürdigt werden
können; einer solchen Besprechung sollen somit die folgenden
vier Paragraphen gewidmet werden.
200 iüiediichö.
1. Rechte Ehe und Cüncubinat § 24.
2. Ilauptfrau und Nebenfrau § 25.
3. Ehefrau, Kebse und Sklavin § 20.
4. Ehemann und Cicisbeo § 27.
§ 24.
b) Rechte Ehe und Concubinat.
Zwei oft schwer von einander zu unterscheidende Institute
sind die rechte Ehe und das Concubinat. Dass zwischen
beiden ein grosser und deutlicher Unterschied besteht, fällt dem
Auge sofort auf, aber es ist nicht leicht, diesen Unterschied auf
ein bestimmtes BegrifFsmerkmal zurückzuführen. Es ist zunächst
zu beachten, dass wir in Rom sogar drei Ehestufen finden : die
confarreirte Ehe, welche dadurch besonders privilegirt war, dass
nur Männer, welche aus ihr hervorgegangen waren, die Würde
eines Flamen major und Rex sacrorum erreichen konnten ^^^),
sodann die Ehe ohne Manus, welche sich in ihren nicht- ver-
mögensrechtlichen Wirkungen nur hierdurch von der Manus-
ehe unterschied, und endlich das am wenigsten privilegirte
Concubinat. Das letztere unterschied sich von der manus-
losen Ehe in Bezug auf die Form der Eingehung nur durch
die Absicht der Parteien ^^^), als äusseres Zeichen wird in-
dessen auch in Rom, wie bei den Athenern ^^^) und Juden ^^^)
das Fehlen der Dos gedient haben, denn die Dos konnte nur
in der rechten Ehe vorkommen, und wird jedesmal vorge-
kommen sein, da die Frau eine Ehre darin suchte, eine
Uxor dotata zu sein ; begrifflich war allerdings auch eine Uxor
indotata möglich. In seinen Wirkungen unterscheidet sich
'*') Gajus, Institutiones 1, 112. — Die Coemtionsehe, als Ehe mit
manus, aber ohne die Wirkungen der confarreatio, kann noch als vierte
Stufe angesehen werden, ihr gleich steht die Ususehe.
^'^'*) „Concubina igitur ab uxore solo dilectu separatur." Paulus,
HS 20, 1.
36">) Smith, DGRA p. 439. 436b. - Gans, ER 1, p. 302.
36«) Gans, ER 1, p. 144. 298.
Familienstufen und Eheformen. 2G1
das Concubinat von der Ehe dadurch^ dass die aus ihm er-
zeugten Kinder uneheliche sind und nicht den Namen des
Vaters tragen, aber dennoch ist es ein von der Rechtsordnung
anerkanntes und privilegirtes Geschlechtsverhältniss, da die
Concubinen-Kinder im Gegensatze zu andern unehelichen den
Ehrennamen Liberi naturales führen ^^') und in der späteren
Zeit sogar ein Intestaterbrecht gegen ihren Vater gewinnen ^^^).
Da das römische Concubinat ausser seiner Eigenschaft als Ge-
schlechtsverbindung auch einen gemeinen Hausstand und sogar
Ausschliesslichkeit des Geschlechtkehrers im Gefolge hat^ so ist
es eine Ehe in dem im §21 entwickelten Sinne. Die Beruh Öft'sche
Definition, nach welcher das Concubinat ein eheähnliches Verhält-
niss ohne Treupflicht ist^^^), würde daher wenigstens für Rom
nicht charakteristisch und sogar falsch sein ; denn von dem weib-
lichen Theile wurde unter Umständen auch Treue verlangt ^'^*^),
und auch ausserhalb Roms unterscheidet sich das- Concubinat als
festes Verhältniss durch die Treupflicht von der Prostitution;
ja an vielen Orten ist die Untreue der Concubine der Rache
und Strafe unterworfen, wie in Athen ^^^) und auf Java^'^^).
Wenn nun die Beruh öft'sche Definition weder für Rom noch
für das gesammte Gebiet der vergleichenden Rechtswissen-
schaft verwerthet werden kann (ob sie nicht für einzelne Ge-
biete, insbesondere in Anwendung auf heutige Verhältnisse
passt, ist hier nicht zu fragen), so ist die Hellwald'sche
Bestimmung unter allen Umständen verfehlt. Nach ihm
ist nemlich das Concubinat eigentlich eine Ehe auf Zeit (also
eine Mut'ahehe ^'^^), nur dass die Dauer der Ehe nicht im
^^') Windscheid, LPR 1 § 56a, Note 7.
^««) Nov. 18 cap. 5. - Nov. 89 cap. 12 § 4. — Dernburg, PPR
3 § 192. - Vgl. Const. 2 C de nat. lib. 5, 27.
^^») Bernhöft in ZVR 8, p. 163; vg\. p. 194.
"<') Ulpianus, fr. 13 pr. D ad leg. Jul. de adult. 48, 5.
"^) Lysias 1, § 31. — Dazu: Bernhöft in ZVR 2, p. 296. -
Hellwald, MF p. 331, Note 2. — Smith, DGRA p. 349a.
"2) Waitz, ANV 1, p. .377.
3^3) Friedrichs in ZVR 7, p. 241. — Kohler, RSt. p. 65.
2(J2 Fried ricli8.
Voraus festgesetzt wird^''). Nun ist aber gerade die
Vorausbestimmung der Ehedauer das für die Mut'ahehe
Charakteristische; ausserdem lässt sich eine Ehe, welche
ohne richterliche Mitwirkung mutuo consensu oder gar durch
die Willenserklärung einer Partei gelöst werden kann, schwer
von dem Hellwald'schen ConcubinatsbegrifF trennen, und
in letzter Linie bleibt hier auch die Unehelichkeit der Concu-
binenkinder unberücksichtigt.
Mit Unrecht hält Waitz das Concubinat für eine Art der
Ausschweifung ^'^^). Es ist gewiss, dass mit dem Concubinat
eine Ausschweifung verbunden sein kann, und ein grosser
Theil der von Hell wald mit Fleiss gesammelten Beispiele ^''^)
lässt sich nur von diesem Gesichtspunkte aus betrachten.
Aber das Concubinat war weder in Rom^^'') noch in Griechen-
land ^'^^) etwas Ausschweifendes und Unehrbares; ehrbar war
auch das Verhältniss der biscayischen Priester zu ihren Bar-
raganas 3^^) und das Concubinat des deutschen ^^^) und canoni-
schen Rechts ^^1).
' Charakteristisch für das Concubinat ist vielmehr das Fehlen
des wichtigsten Ehevorrechts, der Patronymität und der Ehe-
lichkeit der aus ihr hervorgegangenen Kinder. Wir müssen
daher entweder sagen, dass jede Ehe, welche den Kindern
nicht den Namen des Vaters giebt, — also auch die bestprivi-
legirte Ehe in matriarchalen und losen Rechtsgebieten — ein
blosses Concubinat sei, oder dass ein Concubinat nur dort
vorkommen kann, wo es eine patronyme Ehe giebt. Da wir
"*) Hell wald, MF p. 444.
37*) Waitz, ANV 1, p. 377.
»'6) Hellwald, MF p. 438—453.
377) Puffendorf, JNG 6, 1, 36. — Rotteck und Welckers
Staatslexicon 1836, 3, p. 623.
"8) Smith, DGRA p. 348.
^") Cordier in RHD 5 p. 370. — Kiiddeus in Ersch' und Grubers
AE I, 31, p. 323.
38<^) Grimm, DRA p. 439. — Jütisches Gesetz 1, 27.
381) Bist. 34, c. 4. — Grotius, JBP II, 5 § 15, 2.
Familienstufen und Eheformen. 263
den Namen Concubinatus aus dem römischen Rechte haben,
so steht es völlig frei, welche Weite man dem Begriffe geben
will; es scheint mir aber zweckmässiger, die zweite Fassung
zu nehmen, da die matriarchale privilegirte Geschlechtsver-
bindung allgemein als Ehe bezeichnet zu werden pflegt, und
es keinen Nutzen bringt , für diesen anerkannten Begriff ein
neues Wort einzuführen.
Die Ausschliessung der Kinder von der Patronymität
kann auf zwei Weisen geschehen : entweder dadurch, dass die
für die patronyme Ehe vorgeschriebenen Formen unberück-
sichtigt bleiben, oder dadurch, dass besondere, vom Gesetze für
diesen Zweck vorgesehene Formen erfüllt werden.
Es fallen unter den Begriff des Concubinats somit nicht
nur solche wenig angesehene Verhältnisse, wie die wilde Ehe,
die Maitressenwirthschaft, sondern eine Unterart dieses Be-
griffes bildet auch die morganatische Ehe oder die Ehe zur linken
Hand; die letztere ist immer ehrbar, an eine Form gebunden
und nur in demselben Verfahren zu lösen, wie die rechte Va-
terehe, und ist somit von allen Arten des Concubinats das
best privilegirte, aber immerhin stehen diese Umstände der
Unterordnung unter den Concubinatsbegriff nicht entgegen;
insbesondere fällt auch die morganatische Ehe in ihrem wirth-
schaftlichen Zwecke mit dem römischen Concubinate vollkommen
zusammen. Entweder ist nämlich die Frau minderen Ge-
burtsstandes, oder der Parens binubus wünscht seinen Vor-
kindern keine Stiefmutter zu geben und keine gleichberech-
tigten Nachkinder zu erzeugen; endlich können auch beide
Gründe zusammentreffen. Genau so war es im alten Rom.
Das typische Concubinat war das zwischen Senator und der
Freigelassenen, zwischen denen keine Ehe erlaubt war^^^)
und auch römische Kaiser gingen anstatt der zweiten Ehe ein
Concubinat ein, um ihren Kindern keine Stiefmutter zu geben^^^).
382) ülpiani fgm. 13, 1. - Paulus fr. 44 pr. de RN 23, 2.
3«3) Puffendorf, JNG 6, 1, 36.
2(34 Friedrichs.
Andrerseits ist es dem Concubinatsbegriff zwar nicht
widerstreitend, wenn das Verhiiltniss innerhalb eines bestimmten
Rechtsgebietes von der Rechtsordnung privilegirt und somit
als Ehe in unserem Sinne anzusehen ist; dieses Moment ist
aber für den Begriff des Concubinats auch nicht erforderlich,
da auch unprivilegirte Verbindungen, wenn sie nur erlaubt und
auf die Dauer berechnet sind, als Concubinate angesehen werden
müssen. Eine Definition könnte somit folgendermassen lauten:
Das Concubinat ist eine Vereinigung geschlechts-
differenter Personen zur Führung eines gemein-
samen Hausstandes und zum Geschlechtsverkehr, bei
deren Abschluss entweder die zur Patronymisirung
der Kinder erforderlichen Formen nicht beobachtet
sind, oder die Formen beobachtet sind, welche die
Patronymität ausschliessen.
§ 25.
c) Hauptfrau und Nebenfrau.
Die Hauptfrau und die Nebenfrau sind beide rechte Ehe-
frauen; d. h. ihrem gemeinsamen Ehemanne vermöge der best-
privilegirten der im Rechtsgebiete anerkannten Ehen verbunden.
Sie sind unter einander ebenbürtig und standesgleich; sie un-
terscheiden sich nur dadurch, dass die eine die Leitung gegen-
über den andern und eine höhere Autorität bei dem gemein-
samen Hausherrn hat. Es ist für den Begriff wesentlich,
dass ihre Kinder einander vollkommen gleichstehen, und auch,
dass jedes Kind seine eigene Mutter als Mutter verehrt.
Der Vorzug, den die Hauptfrau hat, ist nicht ein ihrer
Persönlichkeit absolut anhaftender, sondern nur ein relativer
den andern Frauen gegenüber. Die Hauptfrau ist entweder
die zuerst geheirathete, wie bei den alten Indern (wenn ein Mann
mehrere Frauen derselben Kaste hatte ^^^), einigen Austra-
^®^) Jelly in den Münchener Akademie-Ber. , phil.-hist. , 187(),
p. 446. 472.
Familienstufen und Eheformen.
265
liern^^^), den Eskimos von Boothia felix^^^), in Kampion
(Tibet)^^^), bei den Wyandot-Huronen^^^), den Tscbinuk ^^^),
Thlinkiten3 9 0)^ den Arawaken^ai)^ den Tschibtscha ^^o)^ den
Malegaschen^^^), den Palaninsulanern ^9^), den Maori auf
Neuseeland ^9^), den Negern in Iddah am Niger ^^*), in Libe-
ria^^^)^ inQuoja^^^) und auf Saint Louis ^^^), bei den Bambuk-
negern^^^); am Gross- Bassam ^9^), bei den Ba Ntu in Monomo-
tapa^^^), den Wa Ganda^^^), den Wa Njamwezi^^^), den Ba
Suto^^^), dem Kimbundavolke in Angola ^^^), den Mpongwe am
Gabun395) ^^^^ ^^^ Ba Kalai^aö), den Wa Schekianis^ß), den
Duala^^^), endlich den Bajbetschekirgisen ^^^), oder sie ist die
vom Ehemanne erwählte Lieblingsfrau, wie bei den Nu^r-
negern'^^i), den Kafirn^^^^, den Wa Kamba^^^), den BeTschuana
(mit Ausnahme der Ba Suto)*^^) und den Ova-Herero^^^), end-
lich bei den alten Persern die Mutter des ersten Sohnes ^^^).
Ein solches Verhältniss kann nur in Rechtsgebieten vor-
kommen, in denen die polygyne Ehe anerkannt ist. Die Ehe
385
386
887
388
389
390
391
992
393
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395
396
397
398
399
400
401
402
403
404
405
Klemm, CG 1, p. 288.
Post, GU p. 28. - Post, StEF p. 68.
Post, AStR p. 59.
Post, AStR p. 59.
Archiv für Anthropologie 16, p.
Post, StEF p. 68.
559.
Post, GU p. 28. - Post, StEF p. 68.
Klemm, CG 2, p. 77.
Sibree, M p. 281. 284. - Waitz. AI
Kl ^^ ■
iviemm, uur z, p. ri.
Sibree, M p. 281. 284. - Waitz, ANV 2, p. 438.
Klemm, CG 4, p. 299. — Post, AStR p. 59.
Post, AJ 1, p. 312.
Waitz, ANV 2, p. 110. - Post, AJ 1, p. 312.
Post, AJ 1, p. 312.
Reichard. ■- "^
He
He
iichard in ZGE 24, p. 255.
illwald in THZ 1, p. 367.
illwald in THZ 1, p. 345.
d in THZ 1, p.
Post, StEF p. 68.
Post, AJ 1, p. 313.
Klemm ^^
St
i Ui3 t, rs^o 1, y. OiO.
Klemm, CG 3, p. 278. - Post, AJ 1, p. 313.
Starcke, PF p. 63. — Post, AJ 1, p. 313.
Starcke, PF p. 68.
Justi, GAP, p. 125.
266 Friedrichs.
gehört in die Gruppe der unterordnenden Polygynie (3 ß),
denn es giebt auch Ehen, wie die muslimische ^^^), in der alle
Frauen einander gleichstehen. Indessen können wir hier nur
von einer relativen Unterordnung sprechen.
In den Rechtsgebieten aber, in denen das Institut der Haupt-
frau eingeführt ist, kann keine polygyne Ehe ohne Hauptfrau
sein, und sobald die bisherige gestorben ist, rückt die zunächst
berufene ohne weiteres in ihre Stelle nach, oder es muss so-
fort eine andre vom Ehemann gewählt werden.
§ 26.
d) Ehefrauen, Kebsen und Sklavinnen.
Die Ehefrauen unterscheiden sich nur unter einander als
Haupt- und Nebenfrauen, aber sie stehen als Ganzes den
Kebsen und Sklavinnen gegenüber.
Die Kebse gehört mit der Sklavin und der Ehefrau dem-
selben von einem Manne geleiteten und dem Hausvater die-
nenden Hausstande an. Sie unterscheidet sich von der Sklavin
durch ihre Freiheit; von der Concubine durch ihre Eingliederung
in den Gesammthaushalt; von der Ehefrau immer durch das
Fehlen der affectio maritalis, in der Regel auch durch ihre
niedere Herkunft und durch das Fehlen der Hochzeitsge-
bräuche ^^'^), und dadurch, dass ihre Kinder entweder nicht
erbberechtigt sind oder rechtlich als Kinder der Hauptfrau
fingiert werden. Die Kebse kann nicht durch den Tod
der Ehefrau von selbst in deren Stelle nachrücken, sondern, wie
die Concubine, nur dadurch, dass der Hausherr sie nachträg-
lich heirathet, die Unterordnung unter die Mater familias ist
also nicht eine relative, wie die der Nebenfrau, sondern eine
absolute.
Im Uebrigen gleicht die Kebse der Concubine auch darin,
dass ihr Verhältniss zu dem Manne zwar von der Rechtsord-
^0''') Friedrichs in ZVR 7, p. 25G.
^") Starcke, PF p. 280.
Familienstufen und Eheformen. 2(37
nung privilegirt sein und somit eine Ehe in unserem Sinne
werden kann^ aber nicht muss. Es giebt Rechtsgebiete, in
welchem dem Kebsverhältniss zwar nicht alle, aber doch einige
Folgen der rechten Ehe beigelegt sind, und wieder andere,
wo der Verkehr und seine Folgen keine anderen Rechtswir-
kungen haben, als jeder andere uneheliche Verkehr. In dem
ersteren Falle ist der Gesammthausstand zweifellos als unter-
ordnend polygyner aufzufassen. In dem zweiten Falle könnte
man daran denken, das System als monogyn zu bezeichnen,
da nur einer einzigen Frau gegenüber ein eheliches Verhält-
niss besteht. Aus praktischen Gründen empfiehlt es sich aber,
auch hier von absolut unterordnender Polygynie zu sprechen,
da die Sonderung der rein thatsächlichen Kebsverhältnisse
von den Kebsehen bei der Beschaffenheit unseres Materials
mit grossen oder unüberwindlichen Schwierigkeiten verknüpft ist.
Dasselbe gilt übrigens auch von der Sklavin. Das
Geschlechtsverhältniss zwischen ihr und ihrem Herrn kann
mit rechtlichen Wirkungen verknüpft sein, insbesondere können
die Sklavinnenkinder in vollem Masse oder theilweise zur
Erbschaft nach dem Hausvater berufen sein, und dann ist das
Verhältniss ein eheliches, sei es, dass die Sklavin selbst in
Folge der Verbindung zur Freien wird, wie bei den Arabern *^^),
Berbern ^^^) und den übrigen muslimischen Völkern *^*^), den
Juden *^^), den Birmanen *^ 2) und vielen Negervölkern *^^), sei
es, dass sie nur thatsächlich bevorzugt ist, wie bei andern Neger-
völkern *^*), sei es endlich, dass sie selbst in der Masse der andern
Mägde verbleibt. Wo aber das Verhältniss keine recht-
los) Köhler in ZVR 8, p. 241. — Leue in DKZ 1889, p. 198.
^09) Denham IR p. 437.
^''^) Friedrichs in ZVR 7, p. 277. — Kohler, RSt p. 35. —
Kremer, KG 1, p. 489.
^11) Kremer, KG 1, p. 520.
412) Bastian, VÖA 2, p. 199.
413) Waitz, ANV 2, p. 282.
414) Barth, REA 2, p. 174. 175. 181. — Denham, IR p. 147. 363.
208 Friedrichs.
liehen Folgen erzeugt, wo insbesondere die Sklavinnen zur Zucht
prostituirt werden, und der Herr die möglicherweise von ihm selbst
erzeugten Kinder wie ein landwirthschaftliches Produkt ver-
kaufen kann, wie bei den Romanen in Brasilien *^^), den Angel-
saxen in Maryland, Virginia und Kentucky ^^^) und den Nubiern
in Sennaar * ^ ^), daliegt kein eheliches Verhältniss vor, und os
besteht rechtliche Monogynie^^^). Die Scheidung zwischen
monogynen und absolut unterordnenden polygynen Rechtsge-
bieten macht hier auch anscheinend geringere Schwierigkeiten
als bei dem Kebsverhältniss.
Dass die Sklavin nicht nur zum Dienst mit Besen und
Mühle, sondern auch zum Geschlechtsverkehr mit ihrem Herrn
berufen ist, scheint bei den meisten sklavenhaltenden Völkern
als selbstverständlich angesehen zu werden '^^^), nur die Araber
Zanzibars*^^) und vielleicht die Aeneze-Beduinen Syriens *^^)
scheinen ihre Mägde nicht zu zwingen.
Die interessantesten der einschlägigen Verhältnisse sind
die der jüdischen Sage und die der Chinesen.
Nachdem Abraham zunächst daran gedacht hat, den Sohn
seines Sklaven Eli'ezer zum Erben zu ernennen *^^), wird ihm
von der Sklavin Hägär ein erster Sohn geboren '^^^); sobald
aber die Ehefrau Sarah selbst einen Sohn bekommen hat,
gelingt es ihr nicht nur, den Sohn der Sklavin von der Erb-
schaft auszuschliessen '^^^), sondern auch die Kinder der spä-
teren Kebsweiber werden abgefunden ^^•^) und erben nicht.
^15) Meyen, RE 1, p. 80. (1830.)
*^^) Waitz, ANV 2, p. 302.
^^) Waitz, ANV 2, p. 282. 283.
^1«) Frankenheim, VK p. 483.
^1») Hellwald, MF p. 369. — Frankenheim, VK p. 474.
^20) Leue in DKZ 1889, p. 198.
^2^) Klemm, CG 4, p. 196.
^22) Mos. I, 15, 2. 3.
^23) Mos. I, 16, 4. 15.
^2^) Mos. I, 21, 6. 10—14.
^25) Mos. 1,25,6. — Grotius,JßPII,7§ 8,3. — Michaelis, MR§79.
Familienstufen und Eheformen. 269
Aber im Hause Jäköbs sind die Kinder der Sklavinnen
Bilhäh und Zilpäh*^^) frei und erbberechtigt*^^), aber sie
gelten nicht als Kinder ihrer Mütter, sondern als solche Leähs
und Rächeis, auf deren Schooss sie auch geboren sind*^^).
In China hat der Hausvater neben der ersten Frau (tsi)
noch „zweite Frauen" (tsie, oder wenn sie Sklavinnen sind,
pi)*^^); es ist streitig, ob die tsie als Frauen aufzufassen sind,
oder nicht *^^). Sie werden ohne Hochzeitsfeier geehelicht* ^^),
ihre Kinder sind frei und erbberechtigt*^^), werden aber in
Recht und Leben wie Kinder der Hauptfrau behandelt und
sind ihr allein Ehrfurcht und Gehorsam schuld ig *^^) 5 nach
dem Tode der Hauptfrau rückt keine zweite Frau von selbst
an ihre Stelle, sondern der Ehemann hat die Wahl, ob er
einer von ihnen diesen Ehrenrang verleihen, oder ob er (was
aus Sparsamkeitsgründen vielfach geschieht) ohne eine solche,
nur mit tsie weiter wirthschaften will*^*). Kein Chinese kann
mehr als eine Hauptfrau haben* ^^). Aber die chinesische
Ehe ist doch nicht monogyn, weil auch das Verhältniss zu
den tsie ein eheliches ist; die tsie sind aber keine Ehefrauen
^26) Mos. I, 35, 25. 26.
^") Mos. I, 30, 6; 49, 16; 30, 8; 49, 21; 30, 11; 49, 19; 30, 13;
49, 20. — Grotius, JBP 2, 7 § 8, 2.
^28) Gans, ER 1, p. 131. — Starcke, PF p. 168.
^29) Hellwald, MF p. 382.
^^°) üeber die Controverse: Doblhoff, PN p. 269. — Hellwald,
MF p. 381. — Plath, WC p. 468. — Arendt im Globus 55, p. 383. —
Gans, ER 1, p. 103 Note 14.
*^') Plath, GRC p. 688. — Starcke, PF p. 168. - Gans, ER
1, p. 104.
^32) Arendt im Globus 55, p. 383.
^33) Rottecks und Welckers St. L. 4, p. 656. — Gottschall, TDC
p. 16. — Gans, ER 1, p. 103. — Ploss, KBS 2, p. 404. — Starcke,
PF p. 168.
'^^) Gans, ER 1, p. 103. 104.
^3^) Gans, ER 1, p. 67. 103. —Hellwald, MF p. 382. — F.Müller,
AE p. 440. — Puffendorf, JNG VI, 1, 36.
270 Friedrichs.
im engeren Sinne (rechte Ehefrauen, Gemahlinnen), sondern
Kebsen.
Ein vollständiger Haushalt kann somit aus einer Haupt-
frau, einer oder mehreren Nebengemahlinnen und aus Kebsen
und Sklavinnen zusammengesetzt sein.
So finden wir es in den Königshäusern Altpersiens^^c^^
Altägyptens* ^') und Aschantis*^^).
Kebsweiber neben einer oder mehreren Ehefrauen finden
wir bei den Osseten^^D)^ den alten Iren (um 500 n. Chr.)**^),
den alten Juden** i), den alten Arabern**^)^ einigen heutigen
indischen Völkern**^), in Birma^**), bei einem Miso-tsz^-
Stamme**^), sowie in Siam**^) und bei den Lao**"^), bei den
alten Mexikanern**^) und in Panam?!**^), bei den Antillen
und den Chorotega*^^), den Arawaken*^!), bei einzelnen Neger-
stämmen*^^), insbesondere den Bertät*^^), in Dahome*^*), bei
^36) Justi, GAP p. 125.
4") Erman, ÄÄL 1, p. 114.
438) Roskoschny, WA p. 171. — Post, AJ 1, p. 306. 313. 314.
439) Post, AStR p. 60.
440) Hellwald, MF p. 499.
441) Könige I, 11, 3. — Richter 8, 30. 31; 9, 18. — Michaelis,
MR § 88. — Gans, ER 1, p. 131.
442) Krem er, KG 2, p. 113 f.
443) Hellwald, MF p. 476.
444) Buddeus in Ersch' und Grubers AE I, 31 p. 384b. — Hell-
wald in THZ 1, p. 424. — Bastian, VÖA 2, p. 149. 197; 4, p. 201
Nr. 46, 47 p. 214. — Kohl er in ZVR 6, p. 170.
44-^) Hellwald in THZ 5, p. 397 f.
446) Bastian, VÖA 3, p. 91. 108. 202.
44') Hellwald in THZ 5, p. 12.
448) Post, GU p. 27.
449) Post, GU p. 27. — Post, StEF p. 68.
-••-o) Peschel, ZE p. 148. 405. — Post, GU p. 27.
451) Stareke, PF p. 42 i'. — Klemm, CG 2, p. 77.
462) Klemm, CG 1, p. 279. - Waitz, ANV 2, p. 109.
4''3) Hellwald in THZ 1, p. 405.
4-'4) vVaitz, ANV 2, p. 110. — Post, AJ 1, p. 306. 312. 315.
Familienstufen und Eheformen. 271
den Bogos, Landamas und Nalus*^^), den Ba Ntu in Mos-
sumba^^^), endlich den nubischen Berabera^^^) und den Ost-
Mongolen^ ^^).
§ 27.
Ehemann und Cicisbeo.
Wie die Polygynie zu einer Stufenordnung der Frauen
Anlass bietet^ so finden wir auch unter den Ehemännern ver-
schiedene Rangordnungen, die allerdings mit weniger Bei-
spielen, aber immerhin mit genügender Sicherheit, be-
legt sind.
Zunächst ist hier die Stellung des eigentlichen Cicisbeos
zu betrachten. Der Cicisbeo stellt sich zur Ehefrau wie
die Kebse zum Ehemann, er ist ein Nebenmann zweiten
Ranges.
Solche Concubini mulierum oder Connubii adjutores gab
es bei den alten Litthauern ^^^), und heute darf bei den Dieyerie
in Australien jede Frau einen Cicisbeo haben ^^^); bei den
Drawida in Kalikut hatte jede der beiden Königsfrauen zehn
Priester in dieser Stellung* ^^), und bei den Kannuvan auf
Madura hat jede Frau neben einem legitimen Ehemanne so
viele Liebhaber, wie sie will, doch müssen diese aus gleicher
Kaste sein^^^). Auf Hawaii machten die Häuptlingsfrauen
^^^) Klemm, CG 1, p. 279. — Post, AJ 1, p. 305.
*5^) Post, AJ 1, p. 316.
^") Hellwald in THZ 1, p. 399.
*^«) F. Müller, AE p. 434. — (Ueber die Kebsehe bei den Ger-
manen vgl. C. Köhne in Gierke's Untersuchungen z. D. St.- u. R.-Gesch.
XXU, sowie Schröder, D. R.-Gesch. p. 293. 294. D. Red.)
^^») Puffendorf, JNG 6, 1, 15.
^«<') Hellwald in THZ 2, p. 379. — Starcke, PF p. 131.
*6*) Puffendorf, JNG6, 1, 10. Vielleicht liegt hier missverstandene
Nairpolyandrie vor. Kalikut ist der Hauptsitz der Nairen, und bei diesen
hat jedes Weib einen Ehemann, der sie nie berührt und eine Mehrheit
von Liebhabern.
*«2) Post, StEF p. 61.
272 Friedrichs.
von dorn ihnen zustehenden Rechte der Ehescheidung niemals
Gebrauch, sondern nahmen sich statt dessen Kebsmänner an,
ebenso wie die Häuptlinge selbst die Scheidung durch An-
nahme von Kebsfrauen ersetzten '^^^). Die Atapejusfürstinnen
der Markesasinseln wurden in früher Jugend einem Manne
vermählt, und beide sodann von einem reiferen Liebhaber in
sein Haus genommen ; und diese beiden Männer lebten ohne
Eifersucht in voller Eintracht mit einander* ^^). In Afrika hat
bei den Bullamern, Bagoes und Timmaniern in Sierra Leone
fast jede Ehefrau ihren Yangih Kamih (Cicisbeo)^ dem sie selbst
den ersten Antrag macht. Dies Verhältniss scheint zwar für
Ehebruch gehalten zu werden, aber thatsächlich straflos zu
bleiben, da ein Ehemann grosses Ansehen haben muss, wenn
er die Strafbestimmungen wegen Ehebruchs in Anwendung
gebracht sehen will*^^). Bei den Fulbe in Futa-Dschallon
hat jede Ehefrau einen Cicisbeo, der den Namen Kele führt;
dieser erfüllt alle Wünsche seiner Herrin, er bezahlt den
Griot, der sie besingt, und wird im Falle der Noth von ihr
unterstützt. Dieses Verhältniss findet aber stets mit Wissen
des Ehemannes statt und bringt der Ehetreue keine Ge-
fährde 6)
Vielleicht ist hierher auch die Thatsache zu rechnen,
dass bei den Brames in Afrika die Ehemänner es ihren Frauen
als Verdienst anrechnen, wenn sie viele Liebhaber besitzendem),
vielleicht bedeutet dieses nur einen Verzicht auf eheliche Treue
der Frau.
Eine eigenthümliche Form des Cicisbeats findet bei den
Ba Suto statt, wo ein Häuptling dem einen oder dem andern
seiner Diener eine seiner Frauen als Concubine giebt ; sie
bleibt dabei rechtlich nach wie vor Gattin des Häuptlings,
"63) Starcke, PF p. 97.
"«*) Hellwald in THZ 5, p. 314. — Hellwald, MF p. 215. 244.
^'^) Post, AJ 1, p. 468.
"•^6) Post, AJ 1, p. 410. 468. - Waitz, ANV 2, p. 472.
"«^) Post, AJ 1, p. 468.
Familienstufen und Elieformen. 273
und diesem gehören auch die von ihr geborenen Kinder^^^).
Hier ist der Diener kein Ehebrecher, aber doch auch kein
gleichberechtigter Ehemann ; auch scheint das Verhältniss ein
dauerndes zu sein, so dass an Frauenleihe und Istibdä'^^^)
nicht zu denken ist ; wir müssen daher auch dieser Verbindung
den Namen Cicisbeat beilegen.
Eine weitere Form ist die, dass der Nebengatte nur
Vertreter des Hauptgatten während seiner Abwesenheit ist.
So war es in dem afrikanischen Königreiche Merine
üblich, dass wenn ein Ehemann auf Reisen ging, sein nächster
Nachbar von dessen Frau Besitz nahm und sich von ihr be-
dienen, beköstigen und verpflegen liess*^^), und bei den Howa
hat die Frau bei längerer Abwesenheit des Mannes das Recht,
sich von anderen bedienen zu lassen; wenn der Ehemann der
Frau diese Befugniss ausnahmsweise nicht zugestanden hat,
so muss die Frau dies durch besondere Zierrathen kenntlich
machen, und nur wenn der Mann in den Krieg zieht, ist die
Frau zu strenger Wahrung der Treue verpflichtet*'*^^).
Fester organisirt ist die Vertretung bei andern Völkern.
Bei dem Behringsvolke der Konjaken am Ochotzkischen Meere
haben die Frauen zwei Männer, von denen der zweite aber
nur zur Vertretung des ersten während seiner Abwesenheit
dient* '^^), ebenso hat bei den Thlinkiten (Koluscheu) jede
Frau einen Nebenmann, und zwar nach einigen Berichten den
jüngeren Bruder des Hauptgatten, nach anderen Berichten
einen Mann von niederem Range, welcher bei Lebzeiten des
ersten Mannes eingeführt wird und die Aufgabe hat, in dessen
*68) Post, AJ 1, p. 472.
^'^) Vgl. § 15 Note 277.
^^0) Post, AJ 1, p. 473.
^^1) Bastian, VÖA 5, p. 371 Note *). — Sibree, M p. 283. •—
Vgl. auch Kohl er in ZVR 5, p. 345.
^'2) Mac Lennan, StAH p. 145. — Peschel, VK p. 231. 233. -
Hellwald, MF p. 245. — Westermarck, HM 1, p. 141. — Post,
StEF p. 61.
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. X. Band. Jg
274 Friedrichs.
Abwesenheit die Frau und das Haus zu beschützen. Ab-
gesehen hiervon wird der Ehebruch der Frau an ihr und
ihrem ^Mitschuldigen auf dem Wege der Bhitrache bestraft ^^^).
Auch auf den Markesas-Inseln hatten reiche Frauen zwei
Männer, von denen nur der eine wahrer Gatte war, und
der andere diesen während seiner Abwesenheit zu vertreten
hatte^^^).
Dies alles sind relative Männerstufen; daneben giebt es
auch noch absolute, die ihre Ursache allerdings nicht in der
Herkunft des Mannes, sondern in der der Frau suchen. Denn
nicht überall betrachten es die Mädchen als ein Glück und
eine Ehre, unter die Haube zu kommen, sondern es giebt
auch Mädchen, welche zu vornehm zum Heirathen sind. So
heirathet in dem Drawidavolke der Buntar die älteste Tochter
des Tuluvakönigs nie, sondern sie nimmt bald diesen, bald
jenen Brahmanen zum Liebhaber ; ihre Söhne werden Radschas
und ihre älteste Tochter pflanzt das Geschlecht fort^^'').
Auf den Marshall-Inseln ist es den Mädchen höherer Ab-
kunft erlaubt, sich einen Ehemann geringeren Standes aus-
zusuchen ; sie kann ihn jeder Zeit wieder entlassen, und dann
darf er sich niemals wieder mit Mädchen gemeinen Standes
einlassen, da sonst seine neue Liebhaberin von ihrer Vor-
gängerin ermordet werden würde ^^^).
Für Westafrika nimmt Lubbock ganz allgemein an,
dass die Frauen der herrschenden Familien sich nicht durch
eine Heirath herabwürdigen, dafür aber so viele Liebhaber
473\
Hellwald in THZ 4, 536. — Peschel, VK p. 231. 245. —
Post, StEF p. 61. — Starcke, PF p. 147. — Waitz, ANV 1, p. 356
Note *).
^^*) Bastian, RV p. 223. — Lubbock, EC p. 116. — Müller,
AE p. 340. — Starcke, PF p. 147. — VVaitz, ANV 1, p. 355. -
Westermarck, HM 1, p. 141.
^'•') Starcke, PF p. 92.
■*'^) Knappe in den Mittlieilungen aus den Deutschen Schutz-
gebieten 1, p. 76.
Familienstufen und Eheformen. 275
halten dürfen, wie sie wollen ^'^^), und wenigstens bei vielen
Völkern sowohl der Neger- wie der Ba Ntu-Familie scheint
dies zuzutreffen.
In Aschanti^^^) wählen die Schwestern des Königs ihren
Mann, der Gewählte darf ihren Antrag nicht ablehnen, und
muss ihnen, wenn sie sterben, ins andere Leben folgen *'^^),
und ebenso können die Fürstentöchter in Yoriba jeden, den
sie wollen, zum Mann oder Liebhaber wählen^^^).
Unter den Ba Ntu- Völkern kennen auch die Be Tschuana
Weiber, welche zu hoch zum Heirathen stehen ^^^). Die Prin-
zessinnen der Ba Kongo konnten früher ihren Ehemann be-
liebig unter den Grossen des Reiches aussuchen, der Erwählte
wurde durch mehrmonatliche Einsamkeit auf sein Amt vor-
bereitet; durch die Verbindung wurde er willenloser Sklave
seiner Herrin und durfte bei Todesgefahr kein anderes Weib
anblicken; durch ihren Tod wurde er frei und bekam den Rang
eines Prinzen ^^^). Ein anderer Bericht, welcher dasselbe
oder ein verwandtes Volk betrifft, giebt den Weibern aus
fürstlichem Geblüte das Recht, sich ihren Liebhaber zu wählen
und nach Belieben wieder zu Verstössen ; wenn der Concubin
verheirathet war, musste er sich von seiner Frau trennen und
durfte sich nicht wieder anderweit verheirathen , und er be-
fand sich während der Dauer der Verbindung in der precären
Lage eine's Günstlings*^^),
^'") Lubbock, EC p. 117. - Lubbock, VZ 2, p. 264.
^''^) Obwohl in diesem und den folgenden Berichten zum Theil
eine Angabe des Grundes fehlt und die Ausdrucksweise zwischen Ehe-
mann und Liebhaber schwankt, so scheinen doch alle dasselbe im Sinne
zu haben, nämlich einen Mann, der nicht Maritus, sondern Concubinus ist.
^") Bastian, RV p. 176. — Waitz, ANV 2, p. 108.
^«") Clapperton, 2 R p. 82.
^si) Lubbock, EC p. 81.
*«2) Bastian, BSS p. 173.
^s^) Waitz, ANV 2, p. 109. - Hellwald, MF p. 246. Für ge-
wöhnliche Fälle hat ausschliesslich der Mann das Recht zur Repudiation.
— Waitz, ANV 2, p. 114.
270 Friedrichs.
Eine Kongo-Königin Zinga (um 1640) hatte viele Männer,
denen sie erlaubte, andere Frauen neben sich zu haben, aber
unter der Bedingung, dass sie die von jenen geborenen Kinder
umbrächten* ^^). Im Jahre 1700 hatte die Königin Donna
Veronica von Dschinga eine Mehrzahl von Buhlen, ohne mit
einem von ihnen verheirathet zu sein*^^). Aehnlich ist es in
Loango'^^^): die Prinzessinnen haben das Recht, mit jedem
Manne frei zu verkehren, und suchen sich mit vielen reichen
Männern zu verbinden, die sie baldigst ruiniren und dann
gehen lassen"^^').
Zur Würdigung der letzten Berichte ist noch anzuführen,
dass bei den Ba Kongo die Weiher überhaupt wenig auf
Keuschheit geben, und der ungehinderte Verkehr ohne die
Eifersucht die Regel bilden würde, und dass hier, insbesondere
in Sonyo schon 1700 ,jdie schwarzen Frauen von der Keusch-
heit wenig Staat machten, und alle Jahre den Missionarien
ein Kind, sie mochten es bekommen haben, wo sie gewollt,
zur Taufe brachten'' *^^). Und ähnlich ist es in Loango*^^),
und vermuthlich auch in den übrigen Gebieten.
Es ist natürlich, dass die Stellung von 'Buhlern, wie wir
sie eben kennen lernten, nur dort möglich ist, wo das Keusch-
heitsprincip für ledige Weiber keine Anerkennung findet,
ebenso wie nur dort die Kebsen und Concubinen zu gesetz-
licher Anerkennung kommen können, wo die Männer nicht
zur Enthaltsamkeit und zur Treue gegen ihre Frauen ver-
pflichtet sind.
^8^) Waitz, ANV 2, p. 109.
*83) Zucchelli, MRB 7 § 14, p. 164.
^^6) Waitz, ANV 2, p. 109.
''") Bastian, RV p. LXI Note 34. — Starcke, PF p. 73.
^ö8) Hellwald, MF p. 109. - Waitz, ANV 2, p. 112. —
Zucchelli, MRB 9 § 3 p. 202.
*^^) Kohler in ZVR 5, p. 351. — Einen das Gegentheil besagenden,
aber weniger glaubwürdigen Bericht findet man bei Westermarck, HM
1, p. 76.
Familienstufen und Eheformen. 277
Wie sich die Sache in solchen Ländern gestaltet, wo die
Auffassung von der Ehe eine ähnliche ist, aber die Mädchen,
wenigstens die vornehmen, keine Unkeuschheit wagen dürfen,
sehen wir an Siam, wo die Tochter des ersten Königs ent-
weder den zweiten König heirathen oder ledig bleiben
nQuss^^^).
In einem Schlusskapitel werde ich durch eine umfassende
Zusammenstellung zu erweisen suchen, dass alle Eheformen
neben allen Familienentwicklungsstufen vorkommen können.
Verzeichniss der abgekürzten Büchertitel.
Bachofen (MR), Das Mutterrecht. Stuttgart 1861.
— (ST), Die Sage von Tanaquil. Heidelberg 1870.
Barth (REA), Reisen und Entdeckungen in Nord- und Central-
Africa. Gotha 1857, 1858.
Bastian (BSS), Ein Besuch in San Salvador. Bremen 1859.
— (RV), Die Rechtsverhältnisse. Berlin 1872.
— (VOA), Die Völker des östlichen Asiens. Leipzig 1866,
Jena 1867—1871.
Bergel (EAJ), Die Eheverhältnisse der alten Juden. Leipzig
1881.
Caesar (BG), De hello Gallico, comm. Kramer. Berlin 1881.
Chalmers und Gill (NG), Neu-Guinea. Leipzig 1886.
Clapperton (2 R), Tagebuch der zweiten Reise, in Bertuchs
Neuer Bibliothek, Band 55. Weimar 1830.
Dargun (MR), Mutterrecht und Raubehe, in Gierkes Unter-
suchungen, Nr. 16. Breslau 1883.
Davy (RIC), Reise im Innern der Insel Ceylon. Jena 1822.
von der Decken (ROA), Reisen in Ostafrika, Erzählender Theil,
Leipzig und Heidelberg 1869.
490
) Bastian, VÖA 3, p. 110 111.
278 Friedrichs.
Denham , Clapperton und Oudney (IR) , Beschreibung der
Reisen und Entdeckungen im nördlichen und mittleren
Afrika, in Bortuchs Neuer Bibliothek^ Nr. 43. Weimar
1827.
Dernburg (PPR), Lehrbuch des preussischen Privatrechts.
Halle 1879.
von Doblhoff (PN), Von den Pyramiden zum Niagara. Wien
1881.
Erman (AAL); Aegypten und ägyptisches Leben. Tübingen.
Ersch' und Grubers (AE), Allgemeine Encyklopädie der Wissen-
schaften und Künste. (Sectionen und Theile). Leipzig.
Frankenheim (VK), Völkerkunde. Breslau 1852.
Gans (ER), Das Erbrecht. Berlin 1824—1825. Stuttgart
1829. 1835.
Gellius (NA), Noctes Atticae ed. Gronov, Leyden 1706.
von Gottschall (TDC), Theater und Drama der Chinesen.
Breslau 1887.
Grimm (DRA), Deutsche Rechtsalterthümer. Göttingen 1854.
Grotius (JBP), De jure belli ac pacis. Leipzig 1758.
Hearn (AH), The Aryan household. London und Melbourne
1879.
von Hellwald (KG), Kulturgeschichte. Augsburg 1877.
— (MF), Die menschliche Familie. Leipzig 1888.
Hernsheim (SE); Südsee-Erinnerungen. Berlin.
von Höhnel (OÄA) Gst-Aequatorial-Afrika, Ergänzungsheft 99
zu Petermanns Mittheilungen, Gotha 1890.
Ihering (GRR), Geist des römischen Rechts. Leipzig 1873 ff.
Johnston (KN), Der Kilima-Ndjaro. Leipzig 1886.
Jolly (RSF), Ueber die rechtliche Stellung der Frauen bei
den alten Indern. Münchener Akademiebericht, 1876
phil. bist., p. 420—477.
Justi (GAP), Geschichte des alten Persiens in Onckens all-
gemeiner Geschichte. Berlin 1879.
Klemm (CG), Allgemeine Cultur-Geschichte. Leipzig 1843
bis 1852.
Familienstufen und Eheformen. 279
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Leipzig 1881.
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Paulus (RS), Receptae sententiae, ed. Krüger. Berlin 1878.
Peschel (VK), Völkerkunde. Leipzig 1885.
— (ZE), Geschichte des Zeitalters der Entdeckungen.
Stuttgart 1877.
Peters (EPE), Die Deutsche Emin Pascha-Expedition, München
und Leipzig 1891.
Plath (GRC), Gesetz und Recht im alten China. München
1865. Münchener Akademiebericht in Ph.-Ph. 10.
— (VVC)^ lieber die Verfassung und Verwaltung Chinas.
Münchener Akademiebericht in Ph.-Ph. 10.
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Stuttgart 1876.
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1888.
— (AStR), Die Anfänge des Staats- und Rechtslebens.
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Oldenburg 1880. 1881.
— (GrU), Die Geschlechtsgenossenschaft der Urzeit. Olden-
burg 1875.
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lienrechts. Oldenburg und Leipzig 1890.
PufFendorf (JNG), De jure naturae ac gentium. Lund in
Schonen 1672.
Roskoschny (WA), Westafrika vom Senegal zum Kamerun.
Leipzig.
O. Schrader (SU), Sprachvergleichung und Urgeschichte.
Jena 1890.
Schwebel (GSB), Geschichte der Stadt Berhn. Berlin 1888.
Schweitzer (OIR), Journal und Tagebuch seiner Ost-Indischen
Reise. Tübingen 1688.
Semper (PI), Die Palau-Inseln. Leipzig 1873.
Sibree (M), Madagaskar, Deutsche Ausgabe, Leipzig 1881.
Smith (DGA), Dictionary of Greek and Roman antiquities.
London 1882.
R. Smith (KMA), Kinship and marriage in early Arabia. Cam-
bridge 1885.
Starcke (PF), Die primitive Familie, in der Internationalen
wissenschaftlichen Bibliothek Nr. 56. Leipzig 1888.
Waitz (ANV), Anthropologie der Naturvölker. Leipzig 1859
bis 1872.
Westermarck (HMl), The history of human Marriage Part 1.
Helsingfors 1889. (Das 1891 in London unter gleichem
Titel erschienene complete Werk hat eine Umarbeitung
dieses ersten Theils in sich aufgenommen.)
Windscheid (LPR), Lehrbuch des Pandektenrechts. Leipzig,
von Wlislocky (VTZ), Zur Volkskunde der transsilvanischen
Zigeuner in Virchows und HolzendorfFs Vorträgen, N. F.
2, 12. Hamburg 1887.
Wunderbar (BTM), Biblisch-talmudische Medicin. Riga und
Leipzig 1850—1860.
Familienstufen und Eheformen. 281
von Zmigrodzki (MASt); Die Mutter bei den Völkern des ari-
schen Stammes. München 1886.
Zucchelli (MRB), Merkwürdige Missions- und Reisebeschreibung.
Frankfurt 1715.
DKZ = Deutsche Kolonialzeitung. Berlin.
KVjft, Kritische Vierteljahrsschrift für Gesetzgebung und
Rechtswissenschaft. München und Leipzig.
RHD^ Revue historique de droit fran^ais et dtranger. Paris.
THZ, Trewendts Handwörterbuch der Zoologie, Anthropologie
und Ethnologie. Breslau.
ZDMG, Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesell-
schaft. Halle.
ZE; Zeitschrift für Ethnologie. Berlin.
ZGE, Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde. Berlin.
ZVP; Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissen-
schaft. Leipzig.
ZVR, Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft.
VI.
Die neueste Schweizer Gesetzgebung und rechts-
wissenschaftliche Literatur.
Von
Dr. Plazid Meyer von Schauensee,
Oberrichter in Luzern.
Die Bundesverfassung spricht in Art. 3 noch immer von
der Souveränität der Kantone, soweit sie nicht durch den
Bund beschränkt sei, allein es ist dies eine theoretisch un-
richtige Anschauung, indem die Souveränität begriffsmässig
nur dem Gesammtstaat und nicht diesem und den Gliedstaaten
zugleich zustehen kann, und man würde auch praktisch un-
endlich viel besser thun, statt dieser in Art. 3 nach ameri-
kanischem Muster zu Gunsten der Kantone aufgestellten
Präsumtion die umgekehrte, praktischere Präsumtion zu Gunsten
des Bundes einzuführen und den Kantonen bestimmte Reservat-
rechte vorzubehalten.
Durch die Partialrevision von 1879 ist das in Art. 65
der Bundesverfassung von 1874 enthaltene Verbot der
Todesstrafe aufgehoben und. den Kantonen dieser Theil
der Kriminalsouveränität wieder eingeräumt worden. Die-
selben haben jedoch in ihrer Mehrheit diese Strafe nicht
wieder eingeführt und in keinem einzigen Kanton ist seitdem
bis zur Stunde ein Todesurtheil vollzogen worden. Auf Grund
einer weiteren Partialrevision von 1885 (Art. 31, 32 u. tf.)
Die neueste Schweizer Gesetzgebung u. rechtswissensch. Literatur. 283
wurde das Alkoholmonopol zu Gunsten des Bundes ein-
geführt.
Am 10. Juli 1887 vollzog sich sodann die 3. partiale
Revision^ wonach nunmehr der Art. 64 der Bundesverfassung
folgendermassen lautet: „Dem Bunde steht die Gesetz-
gebung zu :
Ueber persönliche Handlungsfähigkeit;
über alle auf den Handel und Mobiliarverkehr bezüg-
lichen Rechtsverhältnisse (Obligationenrecht^ mit Inbegriff des
Handels- und Wechselrechts) ;
über das Urheberrecht an Werken der Literatur und
Kunst;
über den Schutz neuer Muster und Modelle; sowie solcher
Erfindungen, welche durch Modelle dargestellt und gewerblich
verwerthbar sind (Einschaltung vom 10. Juli 1887);
über das Betreibungsverfahren und das Konkursrecht.
Die Rechtsprechung selbst verbleibt den Kantonen mit
Vorbehalt der dem Bundesgericht eingeräumten Kompetenzen.
Ende des Jahres 1890 wurde endlich durch die Volks-
abstimmung vom 26. Oktober 1890 genehmigt als Resultat
der 4. Partialrevision folgende Bestimmung in die Bundes-
verfassung aufgenommen :
„Art. 34 bis Der Bund wird auf dem Wege der Gesetz-
gebung die Kranken- und Unfallversicherung ein-
richten, unter Berücksichtigung der bestehenden Kranken-
kassen. Er kann den Beitritt allgemein oder für einzelne
Bevölkerungsklassen obligatorisch erklären."
Die nothwendige Folge dieser rasch nacheinander er-
folgten Abänderungen der Bundesverfassung von 1874 ist,
dass Bundes- und Kantonalverwaltung in einem ganz be-
deutenden Missverhältniss zu einander stehen. Hilty sagt
darüber im Jahrbuch für 1888, S. 841 : Charakteristisch für
das innere Leben des Bundes ist eine fortwährende Zunahme
der Bundesverwaltung und das dadurch bedingte Eingreifen
in alle kantonalen Verhältnisse, womit nothwendig eine öftere
284 Meyer.
Verschiebung der Grenzlinie zwischen den beiden Staats-
gewalten und damit eine gewisse Unsicherheit in zahh'eichen
Rechtsbeziehungen des täglichen Lebens verbunden ist.
Ein Hauptgrund dieses stets wachsenden Missverhältnisses war
ursprünglich der unklare Komproraiss zwischen Bundes- und
Kantonalsouveränität^ den wir der Verfassung von 1874 ver-
danken ; ein anderer liegt darin, dass die Kantone allzu geneigt
sind , Grenzverschiebungen zu Gunsten des Bundes anzu-
erkennen, ja sogar zu begrüssen, die mit Erleichterungen
finanzieller Art verbunden sind.^ —
Die eidgenössische Spezialgesetzgebung hat seit unserem
letzten in Band VII. dieser Zeitschrift enthaltenen Referat
folgende wesentliche Ergänzung erhalten :
1. Das Bundesgesetz betreffend die Erfindungspatente
vom 29. Juni 1888 (in Kraft seit 15. November 1888).
2. Das Bundesgesetz betreffend die gewerblichen Muster
und Modelle vom 21. December 1888 (in Kraft seit 1. Juni
1889).
3. Das Bundesgesetz vom 26. April 1887 betreffend die
Ausdehnung der Haftpflicht und die Ergänzung des Bundes-
gesetzes vom 25. Juni 1881.
4. Das Bundesgesetz betreffend Beaufsichtigung von Privat-
unternehmungen im Gebiete des Versicherungswesens vom
25. Juni 1885.
5. Bundesgesetz betreffend die Erstellung von Telegraphen
und Telephonlinien vom 26. Juni 1889.
6. Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs vom
11. April 1889.
7. Bundesgesetz über Militärstrafgerichtsordnung vom
28. Juni 1889.
8. Bundesgesetz über die Bundesanwaltschaft vom 28. Juni
1889.
Von allen diesen Gesetzen hat für die schweizerische
Rechtseinheit keines grössere Bedeutung als das in der Refe-
Die neueste Schweizer Gesetzgebung u. rechtswissensch. Literatur. 285
rendumsabstimmuDg vom 17. November 1889 mit 244,317
gegen 217,921 Stimmen angenommene Bundesgesetz über
Schuldbetreibung und Konkurs.
In diesem Gesetz ist der französisch-rechtliche Unterschied
der commer9ants und non-commer9ants zum prinzipalen Aus-
gangspunkt genommen. Der Konkurs kann nur gegen im
Handelsregister Eingetragene eröffnet werden , gegen Nicht-
eingetragene ist nur die Pfändung zulässig, letztere ist aber
mehr nach welschem, als nach deutsch-schweizerischem Muster
zugeschnitten, d. h. sie gewährt dem ersten Pfändenden nicht
ein ausschliessliches Recht auf das gepfändete Objekt, sondern
gestattet auch andern Gläubigern, sich pro rata ihrer Forde-
rungen an die Pfändung anzuschliessen (Art. 110, 111). Die
Organisation der Betreibungs- und der Konkursbeamten ist
Sache der Kantone.
Professor Andreas Heusler in Basel bezeichnet es als
eine der schwierigsten, aber zugleich auch dankbarsten Auf-
gaben der eidgenössischen Rechtsgesetzgebung, sich so ein-
zurichten, dass aus dem Nebeneinanderbestehen von Bundes-
und Kantonsgesetzen keine oder doch möglichst geringe Härten
und Missverhältnisse entspringen.
Der Praktiker hat jedoch nicht immer das gleiche Gefühl
der Befriedigung, indem ihm diese Grenzregulirung oft un-
überwindliche Schwierigkeiten setzt und zu grossen Incon-
gruenzen führt.
Immerhin sieht man, dass die Schweiz das Ziel einer
einheitlichen Gesetzgebung durch den Erlass von Partial-
gesetzen zu erreichen sucht, einem Weg, der von kompe-
tentester Seite auch für Deutschland empfohlen wurde und sogar
nach Publikation des Entwurfes wiederholt worden ist. Der
Inhalt des sog. allgemeinen Theils eines Gesetzbuches kann
sehr wohl entbehrt werden, denn es fängt allgemein an, kein
Geheimniss mehr zu sein, dass die im allgemeinen Theil der
Pandekten vorgetragenen Lehren sich vielfach als Ueberreste
des von der historischen Schule so sehr verpönten Naturrechts
28(3 Meyer.
darstellen oder dann zum Theil der Disciplin der juristiscben
Hermeneutik angehören.
Bei allen Centralisationsbestrebungen auf dem Gebiete
dos schweizerischen Rechts darf aber nie der historisch-poli-
tische Zusammenhang der Schweiz und der durchaus germa-
nische Ursprung derselben vergessen werden.
Erst die grosse Rolle, welche in der helvetischen Revo-
lution die Waadtländer spielten, Hess den heutigen Gedanken
von besonderen ^ Sprachnationalitäten" entstehen, welcher ein
Erzeugniss moderner Reflexion ist (Hilty).
Ohne die genaue Kenntniss der eigentlichen Grundbegriffe
des deutschen Rechts schweizerische Geschichte studiren zu
wollen, ist ein fruchtloses Bemühen. Deshalb haben auch die
in Bindings Sammlung erschienenen „Institutionen des
deutschen Privatrechts" von Professor Andreas Heus-
1er in Basel für die Schweiz, wo sich wie sonst nirgends in
Europa deutsche Rechtsinstitute unverändert erhalten haben,
und die ein neuerer Schriftsteller das Pompeji des Mittelalters
nennt, ganz spezielle Bedeutung. Der Verfasser, ein auch in
der schweizerischen Gerichtspraxis erfahrener Jurist, stellt
hier die einzelnen Rechtsinstitute so recht aus eigener An-
schauung dar.
Auf dem Gebiete der schweizerischen Rechtsliteratur sind
sodann hauptsächlich zwei bedeutsame Werke zu erwähnen,
die beide von der Idee schweizerischer Rechtseinheit getragen
sind. Das eine Werk trägt den Titel: „System und Ge-
schichte des schweizerischen Privatrechts", Basel,
Detloff'sche Buchhandlung, und ist verfasst von Dr. Eugen
Hub er, gegenwärtig Professor in Halle; das andere bildet
eine Arbeit von Professor Stooss in Bern: „Die schwei-
zerischen Strafgesetzbücher", Basel und Genf bei
H. Georg. 1890. Das Huber'sche Werk, welches ergänzt
wird durch das von Professor V. Rössel in Bern heraus-
gegebene Manuel du droit civil de la Suisse Ro-
mande. Bäle-Gen^ve — Lyon 188G, hat für die Schweiz die
Die neueste Schweizer Gesetzgebung u. rechtswissensch. Literatur. 287
gleiche Bedeutung^ welche das System des deutschen Privat-
rechts von Paul von Roth für das deutsche Reich besitzt, —
den eines zum Zwecke der Codification aufgenommenen In-
ventars der verschiedenen innerhalb eines Bundesstaates gel-
tenden Territorialrechte. Die bis jetzt erschienenen 3 Baude
schliessen den 1. Theil des Werkes — das System — ab und
es beginnt nun die historische Darstelluug. Während Huber
bei seinem auf die ganze Schweiz berechneten Werke keine
allgemeine Rechtsquelle zu Grunde legen konnte, so befand
sich Rössel, der bloss das geltende Recht der welschen Kantone
zur Darstellung bringen wollte, in der Lage, seinem Buche
die Ordnung des napoleonischen Gesetzbuches zu Grunde zu
legen. Auch Rössel, der in der Einleitung seine Arbeit noch
ausdrücklich als im Interesse der Rechtseinheit unternommen
bezeichnet, betont eingehend, dass die Differenzen in den
Rechtsanschauungen der deutschen und welschen Schweiz keine
tief eingreifenden seien, indem sie sich bloss auf die Methode
der Rechtswissenschaft und nicht auf das historische Recht
bezögen.
Die Rechtscentralisation ist aber auf keinem Gebiet inner-
lich besser begründet als auf dem des Strafrechts. Während
der Unification des Civilrechts bezüglich des Hypothekar-,
ehelichen, Güter- und Erbrechts historisch berechtigte Eigen-
thümlichkeiten und wirkliche materielle Interessen entgegen-
stehen, ist dies auf dem Gebiet des Strafrechts in keiner
Weise der Fall. Wie die Anregung zu dem Werke von Huber,
so ging auch die zum Buche von Stooss vom schweizerischen
Juristenverein aus. Stooss hat der Vereinheitlichung des
Strafrechts durch eine systematische Gruppirung der Gesetzes-
texte ganz wesentlich vorgearbeitet und es hat der Verfasser
seine Aufgabe mit Geschick und Sorgfalt gelöst.
Ungefähr gleichzeitig mit dem Buche von Stooss ist das
Strafrecht der Schweiz von Heinrich Pfenninger, Docent
der Rechte an der Universität Zürich, Berlin, Puttkammer
& Mühlbrecht, 1890, erschienen. Der Inhalt dieses Werkes
288 Meyer.
ist wesentlich gescliiclitlicli von den Tagen der Berner Hand-
feste bis auf die neuesten Codificationen, mit der Tendenz,
überall in der Mannigfaltigkeit die verbindenden Einlieits-
momente nachzuweisen. Der Verfasser arbeitet auch auf die
Vereinheitlichung des Strafrechts hin , die er indess auf der
geschichtlichen Grundlage des altschweizerischen Friedensrechts
herbeiführen möchte.
Die grosse Frage der Rechtsunification liegt gegen-
wärtig unzweifelhaft in den Händen der schweizerischen
Juristen, die, um die öffentliche Meinung wirksam aufklären
zu können, vor Allem der nöthigen positiven Kenntnisse
bedürfen. Diese finden sie nun in den Büchern von Huber,
Rössel, Stooss und Pfenninger. — Die 1872 verworfene
Bundesverfassung hat neben einem einheitlichen Civilrecht ein
einheitliches Civilprozessrecht vorgesehen, seither ist merk-
würdigerweise von keiner Seite mehr weder die Unification
des Civil- noch des Strafprozesses angeregt worden. Die von
Professor Stooss in Bern unter Mitwirkung von Professoren
des Strafrechts der schweizerischen Hochschulen 1887 ge-
gründete Zeitschrift für schweizerisches Straf-
recht, von der bereits der 3. Jahrgang abgeschlossen ist,
hat sich auch die Bearbeitung des Strafprozesses in Verbin-
dung mit dem gesammten Gebiet der kriminalistischen Fächer
zur Aufgabe gesetzt.
Die gegenwärtig 31 Bände haltende Zeitschrift für
schweizerisches Recht gibt jedes Jahr eine sorgfältige
Uebersicht der schweizerischen Rechtsgesetzgebung sowohl des
Bundes als der einzelnen Kantone. Darunter findet sich auch
eine kurze Erwähnung und Charakterisirung der neuen Prozess-
gesetze.
Nicht bloss einen juristisch- wissenschaftlichen, sondern
mehr noch einen patriotischen Werth hat Professor Hilty's im
Herbst 1890 zum 5. Mal erschienenes politisches Jahrbuch
der schweizerischen Eidgenossenschaft.
Das Centralkomitd des schweizerischen Juristenvereins
Die neueste Schweizer Gesetzgebung u. rechtswissensch. Literatur. 289
hatte für die im Herbste 1891 in Genf stattfindende Jahres-
versammlung als Verhandlungsgegenstand das Thema auf-
gestellt: Wie soll der Bund den Rechtsunterricht in der
Schweiz fördern? Die These des Referenten (Herr Professor
Meili in Zürich) gieng dahin: Der schweizerische Juristen-
verein erklärt^ dass nach seiner Ueberzeugung der Bund den
Rechtsunterricht am besten durch die Errichtung einer eid-
genössischen Rechtsschule fördert. Dem Referat ist der Vor-
schlag eines Bundesgesetzes betreffend die Errichtung einer
eidgenössischen Rechtsschule beigegeben. Als ganz vorzüglich
geeignet erscheint dem Referenten die Schweiz, die Disciplin
des internationalen Rechts zu pflegen, weil sie eine eigen-
artige völkerrechtliche Stellung einnehme und weil sie aus
Elementen zusammengesetzt sei, die im kleinen gewissermassen
die grossen Kulturvölker wieder spiegle. Es hat der Herr
Verfasser schon in einem am 5. Januar 1889 in der juristischen
Gesellschaft zu Berlin gehaltenen Vortrag: „Die internatio-
nalen Unionen'' seine Meinung dahin abgegeben, dass er den
schweizerischen Bund ganz besonders für geeignet halte, bei
der Fortbildung der internationalen Unionen vorzugehen.
Allein hiegegen kann man einwenden, ob die Schweiz nicht,
bevor sie in dieser Hinsicht Propaganda machen könne, zuerst
die nothwendigsten Rechtsmaterien (Strafrecht, Civil- und
Strafprozess) selbst zu codifiziren habe. Alle grossen Fort-
schritte der Menschheit geschehen eben in erster Linie durch das
Mittel historisch gegebener Völker.
Sehr schön liest sich auch bei Meili das Kapitel : „Die
vergleichende Rechtswissenschaft ist zu pflegen und zu be-
treiben" auf Seite 73 u. folg. des Referats. Die hohe Per-
spektive , welche der Verfasser der vergleichenden Rechts-
wissenschaft stellt, hat ihre volle Berechtigung. Aber auch
hier muss bemerkt werden, dass rechtsvergleichende Arbeiten,
sofern sie einen wirklichen wissenschaftlichen Werth haben
sollen, eine gründliche Kenntniss der zu vergleichenden Rechte
voraussetzen, eine solche aber für ein ganzes Rechtssystem
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. X. Band. 19
290 Meyer.
selten bei einem einzelnen Juristen gefunden wird. Da sich
nun aber für den juristischen Unterricht hauptsächlich die
systematische Behandlung des Rechts empfiehlt, so wird
die Rechtsvergleichung im juristischen Studienplan nament-
lich so lange als wir noch so viel mit der Bearbeitung des
einheimischen Rechts zu thun haben, etwas zurücktreten
müssen^).
Bluntschli hat in einem Aufsatz vom Jahr 1875 (ge-
sammelte Schriften IL, S. 114) den Gedanken, den Professor
Hilty in seinen „Vorlesungen über die Politik der Eidgenossen-
schaft'* zuerst wissenschaftlich zu begründen versucht hat, ob
es eine eigenartige schweizerische Nationalität gebe, geprüft
und gesteht dann der Schweiz eine relative politische Natio-
nalität zu, betont dabei aber die Fortdauer der nationalen
Kulturgemeinschaften der deutschen Schweizer mit der
deutschen Nation, der französischen Schweizer mit der fran-
zösischen Nation und der italienischen Schweizer mit der
italienischen Nation.
Schon in einer anonymen Brochüre von 1866 „Die Neu-
gestaltung von Deutschland und der Schweiz" (wahrscheinlich
ebenfalls von Bluntschli) wird der Schweiz die Aufgabe ge-
stellt, dem friedlichen Verkehr und der Freiheit aller Nationen
zu dienen. Meili knüpft an diesen Gedanken von Bluntschli
an, um die Bedeutung der Schweiz für die Propaganda des
internationalen Rechts zu begründen, wir unsrerseits huldigen
dagegen mehr der Auffassung Hilty 's (Jahrbuch IV, S. 111,
Note 1 und Neutralität der Schweiz, Bern 1889, S. 91): Die
schweizerische Eidgenossenschaft steht und fällt mit ihrem
Prinzip weitgehender bürgerlicher und persönlicher Frei-
heit, allerdings einer sittlichen Freiheit, die ihr Haus nicht
ohne Weiteres zu einem bequemen Wafi'enplatz für alle inter-
nationalen Agitationen hergibt. Daran soll man uns nicht
vergeblich gemahnt haben und das ist der Gewinn jeder
^) Damit sind wir nicht einverstanden. D. Red.
Die neueste Schweizer Gesetzgebung u. rechts wissensch. Literatur. 291
Anfechtung; dass sie in der Schweiz die Nothwendigkeit des
historisch nationalen Bewusstseins gegenüber einer mehr kos-
mopolitischen Lebensauffassung wieder Jedermann klar ge-
macht haben wird. —
Wenn nun auch Professor Meili im Grossen und Ganzen
und namentlich im Hinblick auf übertriebene politisch-patrio-
tische Ideale einen nüchternen Realismus verlangt^ der Rück-
sicht nehme auf die Geschichte und die praktischen Bedürf-
nisse des Lebens, so scheint er uns dagegen in Bezug auf
die Anforderungen , die er an die Pflege und staatliche
Berücksichtigung des internationalen Rechts speziell mit
Rücksicht auf schweizerische Verhältnisse stellt, selbst nicht
völlig frei von jenem Rechtsidealismus, den er in anderer
Richtung entschieden zurückweist. Im üebrigen erklären wir
uns mit der Tendenz der verdienstvollen Schrift von Meili,
dessen Resolutionen jedoch vom diesjährigen schweizerischen
Juristentag in Genf abgelehnt wurden, einverstanden.
Wenn wir demnach bei der Organisation des Rechts-
unterrichts den historisch-politischen Zusammenhang des Rechts
namentlich betont wissen wollen, so begrüssen wir dagegen
aufrichtig wirklich gesunde Bestrebungen zur Förderung
des internationalen Rechts und halten dafür, dass die Be-
urtheilung, die Hilty im Jahrbuch von 1890, S. 695 der
am 12/14. August 1890 in Bern versammelten internationalen
kriminalistischen Vereinigung zu theil werden Hess, nicht zu-
treffend ist.
Der internationalen kriminalistischen Vereinigung wird
hier mit Unrecht der Vorwurf gemacht, sie leugne die Frei-
heit des menschlichen Willens und entziehe dem Strafrecht
mit dem Begriff der Schuld sein Fundament. Schon Kant
und Schopenhauer versetzten aber die Willensfreiheit in den
intelligiblen Charakter. Das Strafrecht hat es jedoch bloss
mit dem empirischen Menschen zu thun und hier bedeutet
Freiheit Ausschluss des mechanischen Zwanges. Ueberhaupt
ist schon mehrfach nachgewiesen worden, dass durch die
292 ^^y^""-
Retbrmvorschläge der internationalen kriminalistischen Ver-
einigung kein einziger der geltenden metapliysischen oder
Rechtsbegriffe angegriffen wird und ebensowenig für die Ver-
einheitlichung des schweizerischen Strafrechts in dieser Be-
ziehung irgend eine Gefahr droht. Die von der internatio-
nalen kriminalistischen Vereinigung gemachten Vorschläge
der unbedingten und unbestimmten Verurtheilung werden
überhaupt nur als durch soziologische Momente veranlasste
Abweichungen von der normalen Gestaltung des Strafrechts
gerechtfertigt. —
Das weitaus bedeutendste Ereigniss in der Entwickelung
des schweizerischen Bundesstaates ist unzweifelhaft die Ein-
führung der Kranken- und Unfallv er Sicherung. Hilty
erblickt in diesem Beschluss nicht mit Unrecht emen histo-
rischen Marchstein, der eine alte Zeit und Methode der Armen
Unterstützung abschliesse. Wenige wohl von denjenigen,
welche diesen Beschluss angenommen haben, waren sich da-
bei bewusst, dass sich derselbe ohne eine durchgreifende Re-
form des Bürgerguts- und Armenunterstützungswesens mcht
durchführen lässt. Die Unklarheit über das Verhältniss von
Heimathsrecht und Domizil hat in Deutschland schon mehr-
fach namentlich im Verhältniss zu den süddeutschen Staaten
in gesetzgeberischen und sogar politischen Fragen eine fatale
Rolle gespielt, in der Schweiz aber, wo die historischen Ver-
hältnisse mächtiger sind als in jedem andern Lande, wird
man nicht leicht geneigt sein, das Heimath- oder Gemeinde-
bürgerrecht, mit dem der Tagsatzungsbeschluss vom 30. bep-
tember 1551 die bürgerliche Armenunterstützung verband,
preiszugeben.
In dieser ganzen Frage der Reorganisation des Armen-
unterstützungswesens resp. der Arbeitergesetzgebung hegt
neben dem Militärwesen, das zum grössten Theil schon bache
des Bundes ist, das mächtigste Element der Centralisation.
Am meisten widerstrebt gegenwärtig der Mehrheit des Volkes
noch die einheitliche Schulaufsicht und doch ist dieselbe schon
Die neueste Schweizer Gesetzgebung u. rechtswissensch. Literatur. 293
zur Zeit der Helvetik energisch angeregt worden. Namentlich
hatte der damalige Minister des Unterrichts^ Mohr aus Luzern^
betont: Das grosse Geschäft der allmäligen Vereinigung der
ehemaligen Schweizerkantone zur Einheit werde hauptsächlich
durch die Erziehung bewirkt, weswegen ihre Organisation
nirgends weniger als in Helvetien den einzelnen Abtheilungen
zu überlassen sei.
Es sprechen überhaupt gegenwärtig gewichtige Anzeichen
für einen Uebergang des gegenwärtigen Bundesstaats in die-
jenige Form des gemässigten Einheitsstaats, die wir bereits
in der zweiten helvetischen Verfassung vom 20. Mai 1802
einmal besassen.
Ueber die schweizerische Verfassungsgeschichte kann man
sich leicht und gut orientiren aus dem soeben in der 2. Auf-
lage erschienenen schweizerischen Verfassungsbüchlein von
Dr. Job. Strickler (Bern, Verlag von K. J. Wyss, 1891).
Der Verfasser dieser Schrift ergänzte einen kleinen historischen
Artikel, den er für das schweizerische Volkswirthschaftslexikon
von A. Furrer geschrieben, durch eine Geschichte der schweize-
rischen Bundes- und Verfassungsverhältnisse. Daraus ent-
stand die gegenwärtige Arbeit, die weder eine „Schweizer-
geschichte" noch ein „Bundesrecht" sein will.
Wer sich eingehender um die Verhältnisse des schweize-
rischen Staats- und Bundesrechts interessirt, findet dieselben
in dem Staatsrecht der schweizerischen Eidgenossenschaft von
Professor Dr. Aloys v. Orelli, das in Marquardsen's Hand-
buch des öffentlichen Rechts als IV. Band, I. Halbband, 2. Ab-
theilung, in Freiburg i. B. 1885 erschien.
Dieses Buch, das in erster Linie für Ausländer berechnet
ist, bietet eine höchst anziehende Darstellung des schweize-
rischen Staatsrechts, die besonders durch die eingehende Be-
handlung des Kantonalstaatsrechts an Werth gewinnt. In dem
engen Raum von zehn Druckbogen gibt uns der Verfasser
im 1. Abschnitt eine historische Einleitung, stellt dann im
2. Abschnitt das schweizerische Bundesstaatsrecht auf Grund-
294 Meyer.
läge der Bundesverfassung von 1874 und im 3. das Kantonal-
staatsrecht dar, um dann im 4. Abschnitt mit dem Verhältniss
von Staat und Kirche im Bund und in den Kantonen abzu-
schliessen.
Von der richtigen Ansicht ausgehend, dass das öffentliche
Recht der Schweiz nur dann verstanden werden kann, wenn
man nicht bloss den Bund, sondern auch die Kantone ins
Auge fasst, führt uns der Verfasser im 3. Abschnitt die
politischen Institutionen der einzelnen Kantone mit besonderer
Betonung der vielen und stets sich mehrenden gemeinsamen
Punkte in lebendiger Darstellung vor Augen und bietet uns
eine anziehende Betrachtung der Gemeinden nach ihrer Ent-
wickelung und gegenwärtigen Bedeutung. Sehr richtig zeigt
der Verfasser, dass der Gegensatz zwischen der deutschen
und romanischen Schweiz sich gerade auf dem Boden der
Gemeindeorganisation scharf abspiegelt. Die romanische Auf-
fassung, welche in Frankreich und selbst in einem Theile von
Deutschland gilt, leitet das Recht der Gemeinden vom Staate
ab, die Gemeinde ist ein staatlicher Bezirk und die Gemeinde-
verwaltung wird den gleichen Regeln unterstellt wie die Staats-
verwaltung, während dagegen nach der deutschen (und eng-
lischen) Auffassung die Gemeinde ihren selbständigen Wirkungs-
kreis und eine gewisse Autonomie hat, die ihr gestattet, je
nach den lokalen Bedürfnissen, immerhin innerhalb des all-
gemeinen Rahmens der Staatsverfassung, ihre Organisation so
oder anders zu gestalten.
Im Kapitel Verhältniss zwischen Kirche und Staat weist
der Verfasser auf den konfessionellen Dualismus hin, der seit
dem Kappeier Krieg einer dauernden Konsolidation der
schweizerischen Verhältnisse entgegenstund. Er bemerkt, dass
wenn die katholischen Regierungen die Diener ihrer Kirche
waren, so die reformirten umgekehrt die Gebieter, derselben.
Das Buch bietet In- und Ausländern Anregung und Be-
lehrung. —
Eine Uebersicht über die Thätigkeit des schweizerischen
Die neueste Schweizer Gesetzgebung u. rechtswissensch. Literatur. 295
Juristenvereins in den ersten 25 Jahren 1861 — 1886 findet
man in einer von Herrn Professor A. Zeerleder, gewesenen
Präsidenten des schweizerischen Juristenvereins, herausge-
gebenen Schrift: Der schweizerische Juristen verein.
(Basel 1887, Detloff'sche Buchhandlung).
Von Angabe und Besprechung einzelner juristischer Mono-
graphieen abstrahiren wir, indem uns für die Periode, über
welche wir zu referiren hatten, die allgemeine bundes- und
staatsrechtliche Entwickelung der Eidgenossenschaft vor-
wiegende Bedeutung zu haben scheint.
VII.
Ehe und Concubinat im römischen Eecht.
Von
Franz Bernhöft.
Zu dem vorstehenden Aufsatz von Friedrichs' „Familien-
stufen und Eheformen'' S. 261 möchte ich eine Bemerkung
machen, um ein Missverständniss kurzer Hand zu beseitigen.
Bekanntlich sehen die Römer den Unterschied zwischen
Ehe und Concubinat in der affectio maritalis. Auch wird es
dem Romanisten kaum zweifelhaft sein, worin diese bestand,
nämlich in dem Willen, eine gemeinsame Familie zu gründen,
am markantesten hervortretend in der Absicht, Kinder zu
zeugen und sie zu erziehen , wie denn auch die censorische
Formel direkt daraufgestellt war, dass man eine Frau libe-
rorum quaerendorum causa habe ^), Wirthschaftlich pflegte sich
jene Absicht dadurch zu bekunden, dass die Frau in den ge-
meinsamen Hausstand von ihrer Seite eine dos einbrachte ;
eine vulgäre Meinung betrachtete diese geradezu als noth-
wendiges Erforderniss, doch konnte der aifectus maritalis auch
aus andern Umständen gefolgert werden. Der Zweck des
Concubinates war dagegen lediglich geschlechtlicher Verkehr,
die Kinder waren — ebenso wie heute in ähnlichen Vorhält-
^) Vgl. Puchta, Institutionen § 287 : Die „atVectio maritalis" wird
ausgedrückt durch die Worte „liberorum quaerendorum causa".
Ehe und Concubinat im römischen Recht. 297
nissen — eine unerwünschte Folge und wurden regelmässig
ausgesetzt. Dem entsprechend finde ich das Wesen des Unter-
schiedes von Ehe und Concubinat für das römische Recht in
dem Zwecke, welcher bei der Eingehung verfolgt wird, und
beziehe mich dafür auf meine Aeusserung in dieser Zeit-
schrift VIII S. 386 2).
Ein anderer Unterschied liegt darin, dass bei dem Con-
cubinat die Treupflicht der Frau fehlt. Er ist freilich mehr
secundärer Natur, darf aber dennoch für das römische Recht
nicht aufgegeben werden. Die von Friedrichs S. 261 Anm. 370
zitirte 1. 14 (13) D. ad legem Jul. de adulteriis beweist auch
keineswegs für eine Treupflicht der Concubine, sondern da-
gegen. Sie lautet:
Si uxor non fuerit in adulterio, concubina tarnen fuit,
iure quidem mariti eam accusare non poterit, quae uxor
non fuerit, iure tamen extranei accusationem instituere
non prohibetur, si modo ea sit, quae in concubinatum se
dando matronae nomen non amisit, utputa quae patroni
concubina fuit.
Vorauszuschicken ist, dass die lex Julia de adulteriis adul-
terium und stuprum gleichstellte und beides nicht einmal im
Ausdruck unterschied ^). Sie verfolgte auch keineswegs als
Hauptzweck, das Recht des Mannes auf Treue zu schützen,
sondern wollte gleichmässig die geschlechtlichen Vergehen
gegen die Sitte mit strenger Strafe treff'en. Die Rücksicht
auf ein etwaiges privates Recht, welches zugleich durch das
Vergehen verletzt worden war, trat dabei sehr in den Hinter-
grund. Deshalb wurde das adulterium, welches eine Treu-
pflicht verletzt, und das stuprum, welches nur die Sitte ver-
letzt, im Wesentlichen gleich behandelt; deshalb konnte auch
wegen adulterium ein jeder die Anklage erheben, und dem
^) Das betreffende Heft dürfte dem Verf. noch nicht vorgelegen
haben, jedenfalls ist sein Aufsatz bereits im vorigen Jahre bei der
Redaktion eingeliefert.
3) 1. 6 § 1 h. t.
298 Bernhöft.
Ehemaiiu blieb lediglich ein zeitliches Vorrecht zur Anklage.
Ueberhaupt richtete das Gesetz nicht zum mindesten seine
Spitze gerade gegen allzu nachsichtige Ehemänner. Von der
Androhung einer Strafe auf das Bestehen einer Treupflicht zu
schliessen^ ist unzulässig.
Die lex Julia bedrohte nun jeden geschlechtlichen Verkehr
mit einer persona honesta ausserhalb der Ehe oder des Con-
cubinats'^). Regelmässig verlor eine Frauensperson, welche
ein Concubinat einging, den Charakter einer mulier honesta
(„matronae nomen amittit^) : die regelmässige Folge des Con-
cubinats war also gerade die, dass ihr jetzt freier geschlecht-
licher Verkehr auch mit Dritten möglich wurde, selbst wenn
er bis dahin strafbar gewesen wäre. Ausnahmsweise behielt
sie den Charakter einer matrona, nämlich wenn sie als Frei-
gelassene mit ihrem Patron ein Concubinat eingegangen war:
dann fiel natürlich geschlechtlicher Umgang mit Dritten unter
die Strafen der lex Julia. Aber derselbe wurde keineswegs
als Verletzung einer Treupflicht, sondern lediglich als Verstoss
gegen die Sitte geahndet ; deshalb stand dem Manne keinerlei
Vorrecht zu (iure mariti eam accusare non poterit), sondern
er konnte die Anklage lediglich wie jeder Dritte erheben (iure
ejiitranei accusationem instituere non prohibetur).
Einen dritten, sehr wichtigen Unterschied finde ich,
mit Friedrichs übereinstimmend, in dem mutterrechtlichen ^)
Charakter des Concubinats. Indessen kann ich auch in diesem
Punkte den Ausführungen von Friedrichs nicht vollständig
beitreten, da die von ihm gegebene Formulirung gerade für
das römische Recht nicht passt. Er findet nämlich S. 264
den Unterschied darin, dass bei dem Abschluss des Concubinates
^entweder die zur Patronymisirung der Kinder erforderlichen
Formen nicht beobachtet sind, oder die Formen beobachtet
■') 1. 35 C34) h. t.
^) Ich möchte diesen von Bachol'en aufgebrachten Ausdruck
wegen der Verbreitung, die er bereits edangt hat, beibehalten.
Ehe und Concubinat im römischen Recht. 299
sind, welche die Patronymität ausschliessen". Nach der Auf-
fassung der Römer kommt es aber bei der Ehe wie bei dem
Concubinat ausschliesslich auf den Willen der betheiligten
Personen an; irgend welche Förmlichkeiten sind bei beiden
nicht wesentlich und können höchstens insofern in Betracht
gezogen werden, als sie auf den Willen schliessen lassen.
Der Wille, welcher dem Verhältniss seinen Charakter gibt,
bezieht sich überhaupt nicht auf die Rechtsstellung der Kinder,
sondern auf die Stellung der Gatten zu einander. Gewiss wird
es häufig im Sinne der Betheiligten sein, dass die Kinder aus
einer Ehe dem Vater, die Kinder aus einem Coneubinate der
Mutter folgen, aber auch die entgegengesetzte Absicht würde
den Charakter des Verhältnisses nicht ändern können. Eine
Verbindung mit affectio maritalis würde z. B. nicht zum Con-
eubinate werden, wenn die Eltern aus irgend einem Grunde
wollen, dass die Kinder der Familie der Mutter folgen.
Eine scharfe begriffliche Begrenzung der affectio maritalis
ist schwer, allerdings mehr in der Theorie als in der Praxis.
Thatsächlich werden nur sehr selten Zweifel aufgetaucht sein.
So genügte bereits die Ausstellung von Dotalurkunden, wie
sie regelmässig stattfand, um klar zu legen, dass eine Ehe
beabsichtigt war, weil eine dos nur bei einer Ehe möglich
war; ebenso konnten die deductio in domum mariti und andere
nach der Sitte übliche Feierlichkeiten zum Beweise heran-
gezogen werden. Bei anständigen freien Frauenspersonen nahm
man überhaupt regelmässig eine Ehe an ®).
Anders bei der Formulirung des Begriffes. Schon die
Römer haben die obwaltenden Schwierigkeiten nicht verkannt,
da das Concubinat in den meisten äusseren Merkmalen mit
der Ehe übereinstimmen kann.
Am ältesten ist sicherlich die Definition, welche uns noch
^) 1. 245. R. N. 23, 2. In liberae mulieris consuetudine non con-
cubinatus sed nuptiae intelligendae sunt, si non corpore quaestum
fecerit.
300 Bernhült.
von Modestinus gegeben wird ') : coniunetio maris et teminao
et consortium omnis vitae, divini et hiimani iuris communieatio.
Sie reichte für die Zeiten der Manusehe aus, denn die con-
farreatio führte in der That die communieatio divini et humani
iuris, die coeratio und der usus wenigstens die communieatio
humani iuris herbei.
Die Schwierigkeiten begannen, als man auch formlos ein-
gegangenen Verbindungen die Wirkungen der Ehe beilegte.
Wann dies geschehen ist, wissen wir nicht genau, vielleicht
445 v. Chr. durch die lex Canuleia. Auf die communieatio
iuris konnte mau jetzt die Definition nicht mehr stellen, denn
gerade sie sollte vermieden werden.
Man legte zunächst das Gewicht auf den animus quaeren-
dorum liberorum. Das war insofern richtig, als der Zweck
des Institutes dadurch richtig aufgefasst war, der zum grossen
Theile der Ehe ihren sittlichen Charakter gibt und in noch
höherem Maasse für ihre juristische Behandlung bestimmend
gewesen ist. Aber das Institut geht weder nach seiner sitt-
lichen noch nach seiner juristischen Seite in jenem Zwecke
auf, dieselbe braucht sich also nicht gerade in einem jeden
Anwendungsfall zu verwirklichen. Der begangene Fehler
wurde bemerklich, als der vielgenannte Sp. Carvilius Ruga
mit den Worten Ernst machte und seine unfruchtbare Frau
entliess. Das grosse Aufsehen, welches der Fall erregte, zeigt,
dass die Formulirung schon nach damaliger Anschauung dem
Wesen der Ehe nicht in allen Beziehungen gerecht wurde.
Man gab sie deshalb auf, und legte das Hauptgewicht auf das
„consortium omnis vitae", die „individua vitae consuetudo'',
was wir etwa als „vollständige sociale Vereinigung" wieder-
geben können. Hierauf musste nothwendig der Wille der Ehe-
gatten gerichtet sein; und das Recht gab demselben insoweit
Folge, als es der Frau Stand und Rang des Mannes beilegte.
Es lag darin von selbst die Verpflichtung zu gemeinsamer
') 1. 15. R. N.
Ehe und Concubinat im römischen Recht. 301
Unterhaltung und Erziehung der Kinder ; aber die afFectio
maritalis erschöpfte sich in der Verpflichtung nicht, und blieb
möglich, wo diese aus irgend einem Grunde gegenstandslos war.
So viel über das römische Recht. Wollen wir nun den
Unterschied zwischen Ehe und Concubinat für die vergleichende
Rechtswissenschaft verwenden, so brauchen wir nicht alle Eigen-
thümlichkeiten der concreten römischen Institute als wesent-
liche Begriflfsmerkmale beizubehalten, da wir äusserst selten
Rechtsbildungen finden würden, welche ihnen in allen Punkten
entsprechen, sondern wir können die Begriffe erweitern, indem
wir nur das hervorstechendste unter den Merkmalen zum mass-
gebenden machen. Welches das hervorstechendste ist, darüber
wird sich ein stringenter Beweis kaum erbringen lassen; es
kommt darauf an, welches von ihnen sich bei den meisten
Völkern als das Charakteristische herausstellt. Die Frage ist
nicht, was wahr oder falsch, sondern was mehr oder minder
zweckmässig ist.
Lippert in seiner „Kulturgeschichte der Menschheit" sieht
das wesentliche Merkmal der Ehe darin, dass sie Mann und
Frau gegenseitig zu gemeinsamer Unterhaltung und Erziehung
der Kinder verpflichtet (s. meinen Aufsatz in dieser Zeitschr. VIII
S. 386), Friedrichs dagegen in der Patronymität und der Ehe-
lichkeit der Kinder (s. dieses Heft S. 262). Den natürlichen
Verhältnissen wird m. E. die Lippert'sche Auffassung mehr
gerecht. Die geringe Achtung des Concubinats und der Con-
cubine hat nichts damit zu thun, dass die Kinder der Mutter
folgen — dies könnte nur ehrenvoll für sie sein — ; sie beruht
vielmehr darauf, dass das Concubinat keinem höheren sittlichen
Zwecke, sondern lediglich der sinnlichen Lust dient. Es be-
rührt uns fremdartig, wenn Friedrichs, seine Ansicht consequent
durchführend, die morganatische Ehe für eine Unterart des
Concubinats erklärt (a. a. 0. S. 263), während sie nach der
Lippert'schen Definition mit Recht als wirkliche Ehe angesehen
wird. Ausserdem gibt es Völker, bei denen die Ehe je nach
den äusseren Umständen bald Patronymität bald Matronymität
3U2 liernhort. Ehe und OüiicubinaL im lüniisclien Recht.
zur B^ülge hat. Um ein Beispiel anzuführen, so erbt bei den
Basken und den Japanesen das älteste Kind, ob Sohn oder
Tochter, das Familiengrundstlick, dasselbe heirathet das jüngere
Kind einer anderen Familie, und die aus der Ehe stammenden
Kinder folgen dann dem Erben bez. der Erbtochter, niemals
dem in das Gut Hineinheirathenden. Hier würde man dem
Wesen des Institutes kaum gerecht werden, wenn man die
Verbindung des Erben als Ehe, die der Erbtochter dagegen
als blosses Concubinat betrachten wollte.
Literarische Anzeigen.
Pulszky, The theory of law and civil society (London
1888.)
Verf. versucht eine Grundlegung des Staates und Rechts und gibt
zugleich eine interessante Darstellung früherer Systeme und philo-
sophischer Meinungen. Das Werk ist in hohem Grade anregend.
In verschiedenen Punkten müssen wir allerdings unsere Reserven
machen. Es ist beispielsweise nicht richtig, wenn der Verfasser
p. 403 annimmt , dass die Völkerschaften , welche nicht von der
griechisch-römischen Kultur beeinflusst waren, nicht über das Niveau
des religiösen Rechts hinausgekommen seien. Das gilt nicht für
das babylonische, es gilt insbesondere nicht für das chinesische
Recht ; denn wenn auch hier die Moralgedanken, die in der Schrift
des Confucius und der Confucianer ihren prägnanten Ausdruck
fanden, für das Recht mitbestimmend waren, so kann man doch
nicht von einem religiösen Rechte sprechen : die Moralideen haben sich
von der religiösen Anschauung losgerungen und sind zu selbst-
ständigen socialen Faktoren geworden ; sie haben die chinesische
Gesellschaft durchdrungen, wie die christliche Moral das Recht der
modernen Völker. Insofern bleibt natürlich ein jedes Recht religiös,
als es von den Moralideen, welche aus einer bestimmten religiösen
Anschauung hervorgehen , durchzogen ist. Glücklich , dass dem
so ist. Kohler.
Ehrenzweig, Ueber den Rechtsgrund der Vertrags-
verbindlichkeit (Wien 1889).
In dieser anregenden Schrift untersucht der Verfasser das Pro-
blem der Bindung des Vertrages, insbesondere des obligatorischen
304 Literarische Anzeigen.
Vertrages und kommt nach einer Ueberschau über die verschiedenen
modernen Theorien zu dem Satze, dass wir „auch den bereits
aufgegebenen früheren Willen vermöge der ,Einerleiheit des Selbst-
bewusstseins* immer noch als unseren eigenen Willen anerkennen,
für dessen dauernde Folge wir uns dauernd verantwortlich fühlen,
und dem zu gehorchen wir für Freiheit halten" (S. 87). Ich zweifle,
ob hiermit des Räthsels Lösung gegeben ist. Gewollter Zwang sei
es, den der Schuldner leidet (S. 87). Aber sollte die Lösung nicht
eher in der socialen Natur des Menschen zu finden sein? Wie im
Organismus des Menschen die einzelne Zelle sich durch ihre
Evolution ihre Stellung schafft, so auch im Organismus des Ganzen;
wobei die Theorie des Vertrauens ebenso ihre Bedeutung gewinnt,
wie die Willenstheorie, sofern diese Theorie aus der Freiheit des
Willens argumentirt und die Menschheit als ein Ganzes darstellt,
welches nur in der freien Willensbethätigung der Einzelnen seine
normale Entwicklung finden kann. Kohler.
Weniger dagegen können wir uns mit einem weiteren Werke
einverstanden erklären:
Rogllin, La r^gle de droit (Lausanne 1889).
Das Werk sucht eine Läuterung der juristischen Begriffe an-
zubahnen ; da die Begrifi'e nur Formen sind , um den Geist des
Rechts zu fassen, so kann die ganze Behandlungsart des Verfassers
nur eine formalistische sein. Derartige formalistische Versuche
haben wir schon, wir erinnern nur an das Buch von Thon; v/ir
haben diesen Formalismus bekämpft, aber auch der Verfasser geht
auf dieser Bahn weiter. Dass die Existenz eines Rechts die Existenz
anderer Menschen voraussetzt, versteht sich bei der socialen Natur
des Rechts von selbst; sollte aber hieraus etwas folgen für die
Konstruktion des Eigenthums? sollen wir desshalb auf der Bahn
von Thon und Windscheid weiter schreiten und von einem Recht
gegen Jedermann sprechen ^) ?
Näher wollen wir hier nur auf die Polemik gegen die Imma-
terialgüterrechte eingehen. Die Theorie der Immaterialgüterrechte
^ Vgl. hiergegen meinen Aufsatz in Grünhuts Zeitschrift XIV
S. 6 f., jetzt auch Staub im Arch. f. bürgerl. Recht V S. 14 f.
Literarische Anzeigen. 305
sei schon durch das eine Wort widerlegt, das Recht könne eine
immaterielle Sache nicht direkt beherrschen (p. 328). — Natürlich
darf der Mensch denken, wie er will, aber ein Gedankengebilde ist
nicht nur zum Denken da, sondern auch zum Verwirklichen. Hier
setzt nun aber der Verfasser ein. Wir würden Zweck und Mittel
verwechseln : der Zweck beziehe sich auf etwas Gedankliches , das
Mittel aber könne sich nur auf die materielle Verwirklichung be-
ziehen. Das würden wir nicht sehen, darum würde unsere Theorie
keine tiefere Prüfung bestehen (p. 324, 325). Aber wenn das Recht
dem Autor gewisse Materialisationen des Immateriellen vorbehält,
so behält das Recht sie ihm vor, weil sie Materialisationen des Imma-
teriellen sind, und sofern und soweit sie es sind. Das Immaterielle
ist daher nicht nur das Ziel, es ist der Gegenstand des vorbehaltenen
Rechts, wie ich dies in der Schrift über das Kunstwerk und seinen
Schutz noch weiter ausführen werde. Wenn ferner der Verfasser
nähere Darlegungen über das Wesen des Immaterialgüterrechts ver-
misst (p. 325), so kann ich getrost auf meine Schriften über Patent-
recht, namentlich auf meine patentrechtlichen Forschungen verweisen ;
und wenn der Verfasser meint, der Effekt eines Patentschutzes Hesse
sich auch dadurch erzielen, dass der Erfinder mit allen Konkurrenten
Verträge schliesse (p. 329), so ist dies unrichtig; wer garantirt
dem Erfinder, dass nicht neue Fabrikanten auftauchen, dass die
patentirte Waare nicht im Ausland produzirt und in das Inland
eingeführt wird? Ob es nach alledem richtig ist, dass die Imma-
terialr-echtstheorie: manque absolument de finesse et de profondeur
d'analyse (p. 325), kann ich getrost dem Urtheile der Leser über-
lassen; und ebenso, ob es ein Ersatz für unsere Theorie ist, wenn
der Verfasser schliesslich (p. 328) das Autorrecht zurückführt auf
une Serie d'obligations de non-copie ou de non-adaptation , welche
peseront instantanement sur la totalite des justiciables ; wenn er
das Autorenrecht vergleicht mit jenem mittelalterlichen Bann-
rechte des seigneur, welcher allein ein pigeonnier haben durfte:
die Bücher gleichen den Vögeln und nur der Autorberechtigte darf
sie vermehren, oder sagen wir züchten (vgl. p. 329, 330). Und wenn
wir geltend machen: der Autor hat das Buch geschaffen, so werden
wir dahin belehrt, dass solche Betrachtungen, welche sich auf den
Ursprung des Rechtes beziehen, den Fragen der Konstruktion völlig
fremd seien (p. 330) — nun ist allerdings ein Recht noch nicht
Zeitschrift füi- vergleichende Rechtswissenschaft. X. Band. 20
300 Literarische Anzeigen.
durch seinen Ursprung charakterisirt, aber der Ursprung imprägnirt
hier das Recht doch insofern, als der Gegenstand des Rechts durch das
vom Autor Geschaffene gegeben ist, und dies ist etwas Immaterielles,
welches durch äussere Mittel lediglich materialisirt wird; wesshalb
das Autorrecht an einem Originalwerk auch ganz verschieden ist
von dem Autorrecht an einer Uebersetzung , obgleich es sich in
beiden Fällen um materielle Bücher handelt, die der Autor ver-
mehren oder, wie die Tauben im Taubenschlag, weiter züchten möchte.
Eben dass der Schutz in beiden Fällen ein so verschiedener ist,
bezeugt, dass es sich um den immateriellen Gehalt (Original, Ueber-
setzung) handelt, und dass dieser für das Recht das Bestimmende ist.
Kohler.
Einzelne aphoristische (deutsch oder französisch) geschriebene
Züge bietet die posthume Schrift von
Armand de Diffret, Gedanken über Nationalökonomie, Politik,
Philosophie (Heidelberg 1887).
Die Aphorismen sind von verschiedener Bedeutung , sie ver-
breiten sich über abstrakte Probleme des Glaubens und der Philo-
sophie, wie über aktuelle Fragen der Gegenwart, insbesondere auf
ökonomischem Gebiete. Dass wir uns mit vielem nicht einverstanden
finden, w^oUen wir hiermit zum Ausdruck bringen, allein eine solche
Aphorismensammlung ist nicht zur Discussion geeignet, ihr könnte
man höchstens wiederum mit Aphorismen antworten. Manche Ge-
danken zeugen aber von originellem Geist. Kolller.
Einen Versuch der Universalentwicklung des Rechts auf ethno-
logischer Basis bietet die Schrift von
1. D'Aguanno, La genesi e l'evoluzione del diritto civile
mit Einleitung von Chiron i (Turin 1890),
welche die Herausbildung des Rechts überhaupt, sodann des
Rechts der Person, des Eigenthums, der Erbschaft, der Obligation
von den ersten Zeiten an darzulegen versucht. Die Schrift ist
schätzenswerth, obgleich eine Fundirung auf umfassenden, erst mit
der Zeit zu gebenden Detailstudien für eine solch ausgedehnte
Arbeit wünschenswerth ist.
Kolller.
Literarische Anzeigen. 307
Eine in vielen Beziehungen vortreffliche Schrift ist
2. Günther, Die Idee der Wiedervergeltiing (Erlangen
1889) Abtheilung I,
ausgezeichnet durch Weite des Blickes und Fülle des Materiales.
Die hier vorliegende erste Abtheilung verfolgt die Idee bei den
Aegyptern, Indern, im mosaischen, islamitischen, sodann im griechi-
schen, römischen und deutschen Recht, im letztern bis zur Carolina.
Allerdings ist der Begriff der Wiedervergeltung ein schillernder.
Er enthält die Idee:
1. auf die That muss Strafe folgen, weil sie begangen ist;
sodann,
2. auf die That muss dem Effekt nach das gleiche oder ein
ähnliches Uebel als Strafübel folgen , wie dasjenige ist , welches
der Thäter einem Andern zugefügt hat;
3. auf die That soll dasjenige Uebel als Strafübel folgen,
in dessen präsente Gefahr die That einen Dritten gebracht hat;
4. die That soll bestraft werden nicht nach der Art des Er-
folgs, sondern nach dem verwendeten Mittel: es soll dasjenige Glied
gezüchtigt werden, welches bei der That eine besondere Rolle spielte;
endlich :
5. die That soll so bestraft werden , dass der Erfolg in ihr
symbolisch wiedergegeben wird , so dass die Strafe gleichsam das
theatralische Abbild der That ist.
Schliesslich kann auch
6. unter Wiedervergeltung lediglich das gemeint sein, dass die
Strafe gerade diejenigen Bestrebungen des Thäters treffen soll, welche
bei der That von überwiegender Motivkraft waren (Geldstrafe bei
Gewinnsucht u. s. w.).
Man kann nun dem Verfasser vielleicht entgegenhalten , dass
er nicht immer in gehörig scharfer Weise diese verschiedenen Be-
deutungen der Wiedervergeltung trennt. Die Talion im gewöhn-
lichen Sinne ist verschieden von der Strafe des Handabhauens gegen
den Dieb oder von der Strafe des Feuertodes gegen den Brand-
stifter oder Münzfälscher , verschieden auch von der Strafe gegen
den calumniator, sofern ihm die Strafe des Deliktes auferlegt wird,
dessen er einen Andern falsch angeklagt hat. Dass alles dieses in
308 Literariöche Anzeigen.
gewissem Masse historisch, auch psychologisch, zusammenhängt, ist
richtig, macht aber eine scharfe Scheidung nicht entbelirlich.
Gänzlich davon absondern möchte ich etwas Weiteres: dass
nämlich der Begünstiger eines Deliktes (z. B. der Gefüngnisswärter,
welcher einen Delinquenten absichtlich entkommen lässt) mit der
Strafe belegt wird, welche den Delinquenten trifft. Dieser univer-
selle Gedanke (vgl. meine Studien aus dem Strafrecht S. 154 f.)
beruht nicht auf der Wiedervergeltungsidee , sondern darauf, dass
man in solchem Fall an Stelle des Thäters den Andern als Substituten
nimmt ; eine Idee , welche ja auch noch in der Strafbürgschaft
mächtig ist.
Die Mängel des Werkes werden aber ausgeglichen durch die
Fülle seines Inhaltes , durch das reiche Material , das in Bezug
auf die Rechte der verschiedensten Völker geboten wird ; der
Romanist und der Germanist werden in der Schrift Belehrung finden,
sofern sie auf verschiedene Seiten der Rechtsentwicklung besonderes
Licht wirft; aber auch was die übrigen Rechte betrifft, so hat der
Verfasser mit grossem Fleisse die früheren Forschungen benützt. Be-
züglich des islamitischen Strafrechts kann ich nunmehr auf meine
Abhandlung im Gerichtssaal XLI verweisen. Wir wünschen das
baldige Erscheinen der Fortsetzung des Werkes.
Kohler.
Hier ist weiter zu erwähnen :
3. Peisker , Die Knechtschaft in Böhmen, eine
Streitfrage der böhmischen Socialgeschichte
(Prag 1890).
Diese gegen Lippert gerichtete Schrift sucht die Behauptung
von der frühen Knechtschaft und Eigenthumslosigkeit der Böhmen
(im 10. — 12. Jahrh.) zu widerlegen und enthält bemerkenswerthe
Ausführungen über die böhmische Hausgemeinschaft mit dem Haus-
vermögen, der dedina, welches sich nach Parentelen gliederte, und
über die Lage der Sippendörfer mit dem circuitus, d. h. dem um-
gebenden Waldlande, welches mit der Zeit von den Fürsten zur
Rodung abgegeben wurde.
Kohler.
Literarische Anzeigen. 309
Eine für die vergleichende Rechtswissenschaft hochbedeutende
Leistung ist
4. Bühler's neue Manuübersetzung in den Sacred Books
of the East (Vol. XXV dieser Sammlung),
mit einer ausführlichen Einleitung über die Geschichte und
das vermuthliche Alter des Rechtsbuchs. Von einem fabelhaften
Alter desselben kann keine Rede mehr sein , Max Müller will es
gar erst in das 4. Jahrhundert unserer Zeitrechnung verlegen,
während Bühler als die äusserste Grenze das 2. Jahrhundert vor
und das 2. Jahrhundert nach Chr. annimmt (p. CXVII).
Kohler.
Eine weitere, namentlich auch für die Geschichte des in-
dischen Processrechts bedeutungsvolle, Publikation ist die als Vol.
XXXIII jener Sammlung erschienene
5. Jolly'sche Uebersetzung des Narada und des Briha-
spati,
im Anschluss an welche ich auf meine Schrift
6. Altindisches Prozessrecht (Stuttgart 1891)
verweisen kann. Kohler.
Aus dem Gebiete des babylonischen Rechtes erwähne ich zu-
nächst das ausserordentlich tüchtige und brauchbare Buch von
7. Bezold, Kurzgefasster Ueberbhck über die babylonisch-
assyrische Literatur (Leipzig 1886),
worin S. 148 f. auch ein Verzeichniss von Rechtsurkunden mit
Angabe des Ortes der Veröffentlichung und mit Hinweisung auf
die Uebersetzungen und Erläuterungen gegeben ist. Kohler.
Ein eifriger Erforscher der babylonischen Rechtsurkunden ist
der Assyriologie in F. E. Peiser erstanden; an dieser Stelle ist
hervorzuheben :
8. F. E. Peiser, Keilschriftliche Actenstücke aus
babylonischen Städten (Berlin 1889).
Derselbe, Jurisprudentiae Babylonicae quae supersunt
(Habilitationsschrift; gedruckt Cöthen 1890).
310 Literarische Anzeigen.
Derselbe, Babylonisehe Verträge des Berliner
Museums (Leipzig 1890).
Für letzte Schrift habe ich einen Exkurs S. XXXII— XLIX
geschrieben, der auch separat erschienen ist unter dem Titel:
9. Kohler, Juristischer Exkurs zu Peiser, Babylonische
Verträge (Berlin 1890).
Endlich darf ich mir erlauben, auf unsere gemeinsamen Arbeiten
hinzuweisen, von welchen erschienen ist:
10. Kolller und Peiser, Aus dem babylonischen Rechts-
leben I (Leipzig 1890). — Heft II erscheint demnächst.
Ausserdem nenne ich von rechtshistorischen Werken:
1. Cli^non, Etüde sur l'histoire des alleux en France
(Paris 1888).
Es bietet eine ausführliche Schilderung des AUodrechts in Frank-
reich und ist besonders bedeutsam durch Darstellung der coutu-
miären Entwicklung, welche theils zu dem Satze „Nulle terre sans
seigneur", theils zu dem Satze „Nul seigneur sans titre" führte, theils
auch zu dem mittleren Zustande der sogen. Coutumes censuelles,
in welchen zwar Allode vorkamen, aber nicht präsumirt wurden,
sondern bestimmt erwiesen werden mussten: es musste der Titel
der Erwerbung dargethan werden. In der Folge erörtert der Ver-
fasser die Stellunor der Allode zur könio-lichen Gev/alt in Frankreich,
die bekannte Bestimmung des Code Michau v. 1629, das Arrest v.
1667 , das Edikt v. 1692, sowie die Schicksale des Freieigenthums
während der Revolution und wendet sich dann zu der bekannten Ent-
scheidung des Cassationshofes v. 23. /6 1857, welche die Anschauung
von dem staatlichen Obereigenthum über das Privateigenthum strikte
verwarf und damit die letzten Reste des Feudalgedankens begrub.
Die Schrift eröffnet ein interessantes Blatt in der Geschichte
des Eigenthums. Kohler.
Eine weitere Arbeit ist:
2. Ciceaglione, Le chiose di Andrea Bonello da Bar-
letta alle Costituzioni Sicule (Mailand-Neapel 1888).
Andrea Bonello von Barletta, Jurist des 13. Jahrhunderts,
schrieb, unter anderem, Glossen zu den Constitutiones Siculae Fried-
Literarische Anzeigen. 311
rieh's II., welche, zusammen mit den Glossen anderer, den apparatus
vetus dieses Gesetzwerkes bildeten, aber auch später, als Ma,rino di
Caramanico den novus apparatus verfasste, mitverwendet wurden.
Ueber die Eigenart der Glossen unseres Juristen und ihren Charakter
handelt die obige bemerkenswerthe Schrift. Wichtig ist insbesondere
der Nachweis, dass Andrea in der Glossirung neben dem römischen
Recht auch das langobardische benutzt hat. Kohler.
Zu erwähnen ist noch:
Bhamm^ Hexenglaube und Hexenprocesse vornehmlich
in den braunschweigischen Landen (Wolfenbüttel
1882),
welche Schrift eine Darstellung des Hexenwesens vom 15. bis
zum 17. und 18. Jahrhundert überhaupt, und insbesondere in Braun-
schweig gibt. Das universelle Vorkommen des Hexenglaubens und
die Analogie der Hexenprobe (Wasserprobe) mit dem Ordalismus
anderer Völker gibt der Geschichte dieser ethnologischen Erscheinung
ein besonderes Relief. Kohler.
Karl Christoph Burckhardt, Zur Geschichte der locatio con-
ductio. OefFentliche Habilitationsvorlesung. (Basel. C. Det-
loff's Buchhandlung 1889. 59 SS. 8^.)
B. geht davon aus , dass der Konsensualkontrakt der Miethe
klagbar war in der Mitte des 7. Jahrhunderts, dagegen noch nicht
zur Zeit der XII tab. Er lehnt im Anfang die Ansicht Mommsen's
ab, nach welcher die private Miethe sich aus der staatsrechtlichen
entwickelt habe und gibt in der Begründung seiner Auffassung
besonders Pernice folgend nur zu, dass wie überall nun vereinzelte
Einflüsse des Staatsvermögensrechtes auf das Privatrecht stattgehabt
hätten. Die private Konsensualmiethe läuft nach B. der staats-
rechtlichen seit lange faktisch parallel, die Klagbarkeit der ersteren
hat sich schon bald nach den XII tab. gewohnheitsrechtlich ent-
wickelt eher in der Gestalt der 1. a. sacramento als der der 1. a.
per judicis arbitrive postulationem. Der Vertrag wurde zunächst
streng as stricti juris obligatio behandelt und ist erst später bonae
fidei negotium geworden (cf. S. 13 f.). Zu dieser Auffassung ge-
langt der Verf. weniger nach einer positiven Begründung dieser
312 Literarisclie Anzeigen.
selbst, als dadurch dass er das Nichtzutreffende und die nur sekun-
däre Bedeutung anderer Ansichten darzuthun versucht. Positiv be-
gründet ist diese seine Auffassung nur durch den Hinweis auf das
Bedürfniss des Verkehrs, welcher die Miethe und die Klasbarkeit
derselben frühzeitig verlangt habe. Die eminent praktische Be-
deutung der Pönalstipulation zum Zwecke der Sicherung der Er-
füllung klagloser Abreden wird vom Verf. gänzlich übersehen.
Matthiass.
I)r. A. Schneider 5 Der Process des C. Rabirius betreffend
verfassungswidrige Gewaltthat. Festschrift. (Zürich. Ver-
lag von Friedrich Schulthess. 50 SS. S^.)
Der Verf. vertritt mit guten Gründen hinsichtlich der Eede
Cicero's pro Rabirio und ihrer Vorgeschichte die folgende Auf-
fassung: Gegen Rabirius war von Labienus Anklage wegen per-
duellio beim praetor urbanus erhoben; die Sache gelangt an den
Senat, der auf Cäsar's Betreiben beschliesst, dass die Anklage den
duumviri perduellionis zu überweisen sei, die dann der praetor er-
nennt. Der ausgeloste duumvir verurtheilt den Rabirius zum Tode.
In Folge der provocatio ad populum wird in den Centuriatkomitien
auf Cicero's Betreiben das Urtheil aufgehoben. Labienus erhebt
nun die tribunicische Anklage wegen perduellio bei den Centuriat-
komitien. Hier ist Cicero's Rede gehalten. Völlig überzeugend ist
die Niebuhr'sche Auffassung, als handele es sich für Cicero um die
Abwehr einer mulctae irrogatio, widerlegt und der Zweck der Rede
entwickelt. Wenn es dem Verf. nicht gelungen ist , jeden Zweifel
namentlich hinsichtlieh der Vorgeschichte der Rede zu beheben, so
trägt seine umsichtige Nachprüfung der Quellen und Literatur
gewiss nicht die Schuld. Matthiass.
Mr. 0. Ch. van Swinderen, Het hedendagsche Strafrecht in
Nederland en in het Buitenland. (Groningen. P. Noord-
hoff. L Deel 1888. IL Deel 1889. 466 ii. 485 SS. 8«.)
Dieses umfassende und in den zwei ersten Theilen vorliegeirde
Werk verdient seiner eigenthümlichen Anlage wegen in hervor-
ragendem Masse die Beachtung derjenigen , die an der Rechtsver-
irleichunof auf dem Gebiete des Strafrechts Interesse nehmen. Der
Literarische Anzeigen. 313
bekannte Verf. ist zunächst von dem Bedürfnisse der Praxis und
des Universitätsunterriclites seines Heimathlandes bestimmt worden,
das Strafrecht auf Grund des neuen Wetboek van Strafrecht syste-
matisch darzustellen. Er folgt der deutschen Methode und behandelt
in diesen beiden Theilen die allgemeinen Lehren des Strafrechts^
während in den folgenden Theilen — der Verf. hofft sein Werk in
sieben Jahren beenden zu können — die Darstellung der einzelnen
Delikte folgen soll. Die bei der Behandlung der einzelnen Materien
gegebenen allgemeinhistorischen Daten wollen uns allerdings oft
zu wenig eingehend erscheinen. Dagegen ist die Literatur und
moderne Gesetzgebung des Auslandes, also auch Deutschlands in
einer Vollständigkeit benützt und vorgeführt, dass das Werk in
dieser Richtung auch für uns eine Lücke ausfüllt.
Mattliiass.
Dr. Richard Loewy, Die Unmöglichkeit der Leistung bei
zweiseitigen Schuldverhältnissen. Eine romanistische Ab-
handlung. (Berlin. J. J. Heine's Verlag 1888. 147 SS. 8^)
In dem grösseren Theile der aus einer Dissertation herausge-
wachsenen fleissigen Arbeit nimmt der Verf. eingehend zu den zahl-
reichen Einzelkontroversen der Lehre von der Gefahrvertheilung
bei Kauf, Miethe , Innominatverträgen , Societät Stellung , knüpft
daran eine Kritik der aufgestellten Theorieen und gibt so eine
brauchbare Uebersicht. Die eigne Theorie des Verf. ist eine histo-
rische (S. 127 — 147), sie geht der Bechmann'schen Auffassung
folgend von der mancipatio aus , die alle Momente des Kaufge-
schäftes (Verabredung und Vollzug) real in sich enthalten habe.
Die Gefahr sei hier naturgemäss mit der Eigenthumsübertragung
übergegangen. Nachdem die Verabredung und der Vollzug sich
trennten, gab man in der Erage des Gefahrüberganges der Verab-
redung den Vorzug. Der Verf. erklärt das so: schon zu der Zeit,
als die mancipatio Begründung und Vollzug in sich vereinigte,
war für die Rechtsanschauung der Zusammenhang von Eigenthum
und Gefahr kein nothwendiger, weil die Gefahr mit der mancipatio,
das Eigenthum mit der Baarzahlung überging, ferner weil bei den
Grundstückskäufen der Vollzug in der Tradition lag, die mancipatio
also hier den Charakter des Begründungsaktes annahm, an den sich
314 Literarische Anzeigen.
der Gefahrübergang anschloss. Nachdem sich dann der Konsensual-
kauf entwickelt hatte, habe positive Norm der bisherigen Entwick-
lung folgend mit dem Vertragsabschluss den Gefahrübergang ver-
knüpft. Der Verf. fühlt, dass diese äusserliche Anlehnung an die
historische Entwicklung keine genügende Begründung für den in
Frage stehenden Grundsatz abgibt. Mit der von ihm nun (S. 132)
angeführten materiellen Motivirung lenkt er ganz in die von ihm
(S. 120 f.) bekämpfte Theorie ein. Die Nichtanwendbarkeit des für
den Kauf geltenden Satzes auf die Miethe wird aus der wirthschaft-
lichen Natur derselben nachzuweisen gesucht und mit eineni Blicke
auf den Entwurf des bürgerlichen Gesetzbuches geschlossen.
Matthiass.
Dr. Emil Uranitsch, Die Formverfügung bei Rechtsgeschäften.
Eine Studie im Gebiete des österreichischen Privatrechts.
Wien 1890.
Der Verf. gibt keine Definition des Begriffes der Formverfügung.
Er versteht darunter die Bestimmung der ein Rechtsgeschäft vor-
nehmenden Person oder Personen, kraft deren dies Rechtsgeschäft
nur bei Beobachtung einer gewissen Form Gültigkeit erlangen soll,
deren es an sich zu seinem Bestände nicht bedarf. Der häufigste
Fall dieser Art, von welchem auch der Verf. ausgeht und welchen
das österreichische bürgerliche Gesetzbuch auch allein ausdrücklich
erwähnt, liegt bei der Verabredung zweier Paciszenten vor, dass
ein mündlich besprochener Vertrag, zu dessen Gültigkeit die Schrift-
form nicht erforderlich ist, gleichwohl in einer Urkunde nieder-
gelegt werden soll. Der Verf. prüft vornehmlich die im gemeinen
wie im österreichischen Recht bestrittene Frage, ob eine solche Be-
redung stets oder wenigstens im Zweifel die Gültigkeit des Vertrags
von der Errichtung der Urkunde abhängen lasse , oder ob diese
Rechtsfolge nur dann einzutreten habe, wenn die Parteien dieselbe
nachweislich beabsichtigten. Er gelangt — aus unseres Erachtens
zutreffenden Gründen — für beide Rechtsgebiete zur Entscheidung
der Frage in dem letzterwähnten Sinne; er nimmt an, dass im
Zweifel die Errichtung der Urkunde nur zum Zwecke besserer Be-
weisbarkeit verabredet ist. Demgemäss bürdet er, falls über den
Sinn einer derartigen Klausel Streit besteht, demjenigen die Beweis-
Literarische Anzeigen. 315
o
last auf, welcher das Vorliegen einer „Formverfügung" , also die
Ungültigkeit des Vertrags vor Erfüllung der beredeten Form be-
haupten will. — Die weitere Möglichkeit, dass nach Absicht der
Parteien die Einhaltung der bestimmten Form als Bedingung der
Wirksamkeit, nicht der Gültigkeit des Vertrages gesetzt sein sollte,
lässt Uranitsch ausser Betracht; jedoch werden auch bei Berück-
sichtigung dieser Fälle die von dem Verf. gewonnenen Ergebnisse
ihre Richtigkeit behalten.
Des Weiteren legt der Verf. dar, dass sowohl nach gemeinem,
wie nach österreichischem Rechte die Formverfügung gleichermassen
durch stillschweigende, wie durch ausdrückliche Uebereinkunft ge-
troffen werden kann. Nicht zutreffend dagegen erscheinen uns
die Ausführungen des Verfassers auf S. 18 unter VII, 3; auch
in den hier erwähnten Fällen erlangt die Formverfügung nur
durch den übereinstimmenden Willen beider Paciszenten verbind-
liche Kraft.
Während für das französische Recht ähnliche Grundsätze im
Wesentlichen gelten, wie sie Uranitsch für das gemeine und öster-
reichische Recht aufstellt, will de» Entwurf des deutschen bürger-
lichen Gesetzbuchs (§. 91, Absatz 2, Satz 2) das entgegengesetzte
Prinzip zur Geltung bringen. Der Grund hierfür liegt, soviel er-
sichtlich, darin, dass in dieser Gesetzesstelle zusammen mit den
oben abgegrenzten Fällen der eigentlichen Formverfügung auch die-
jenigen, gänzlich davon unterschiedenen Fälle geregelt werden sollen,
in welchen rechtsgeschäftlich für ein anderes Rechtsgeschäft (z. B.
beim Abschlüsse eines Miethvertrags für die Kündigung , in einem
Testamente für gewisse Erklärungen der Erben) die Beobachtung
einer Form vorgeschrieben wird. Hier allerdings ist es berechtigt,
bei Verletzung der Formvorschrift Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts
eintreten zu lassen ; in den Fällen der eigentlichen Formverfügung
dagegen steht zu fürchten, dass die Bestimmung des Entwurfs der
Verkehrsanschauung widerspricht und deshalb dem Verkehre hinder-
lich werden wird. Auch im Hinblick auf diesen Gesichtspunkt er-
scheint die Schrift Uranitsch's lesenswerth.
Heidelberg. Dr. R. Fürst.
Zrödlowski, Codificationsfragen und Kritik des Ent-
wurfes eines bürgerlichen Gesetzbuches für das
31(3 Literarische Anzeigen.
Deutsche Reich als Beilage Entwurf einer Civil-
processordnung. Prag, Verlag von H. Dominicus. 1888.
Die Schrift des Verf. zerfällt in zwei Theile, die auch ihrer
zeitlichen Entstehung nach verschieden sind. Der erste Theil, „Codi-
ficationsfragen" ist ein Fragment aus des Verf. „Römischem Privat-
rechte" und enthält zwölf allgemeine Normen, die nach seiner An-
sicht massgehend für jedes Gesetzgebungswerk sein müssen. Es ist
vor dem Bekanntwerden des Entwurfs des deutschen bürgerlichen
Gesetzbuches geschrieben, jedoch im Hinblicke auf dessen Erscheinen.
Seine allgemeinen Sätze haben leider in dem Entwürfe selbst in
seiner ersten Fassung zu wenig Beachtung gefunden. Es wird die
Ueber arbeitung desselben vielfach die von dem Verf. aufgestellten
Gesichtspunkte, insbesondere was die formelle und redaktionelle
Durcharbeitung, die Auswahl des aufzunehmenden Stoffes betrifft,
vornehmlich zu beachten haben.
Die in dem zweiten Theile enthaltene „Kritik des Entwurfs
für das bürgerliche Gesetzbuch des deutschen Reichs" wendet diese
Grundsätze auf das nunmehr erschienene Gesetzgebungswerk an.
Es kann den von dem Verf. vorgetragenen Ausstellungen im Wesent-
lichen zugestimmt werden. Mit Recht rügt der Verf. die ja nicht
zu leugnenden formellen und redaktionellen Mängel des Entwurfs,
der in seiner ersten Gestalt häufig mehr ein Lehrbuch als ein Ge-
setzbuch darstellt. Der Verf. bespricht dann mehrere Abschnitte
des Entwurfs im Einzelnen, nämlich Rechtsnormen, Beginn und
Ende der Rechtsfähigkeit, Verwandtschaft, Juristische Personen,
Rechtsgeschäfte, Anspruchsverjährung, Besitz und Ersitzung. Seinen
Ausstellungen scheint bei der jetzt stattfindenden Ueberarbeitung
vielfach Rechnung getragen zu werden. So sind die von ihm bean-
standeten Sätze über „Rechtsnormen", ebenso mehrere Sätze aus dem
Abschnitte „Beginn und Ende der Rechtsfähigkeit" bei der zweiten
Lesung gestrichen worden. Des Näheren auf die vielfach zutreffenden
Einzelausführungen einzugehen , würde den Rahmen dieser Bespre-
chung überschreiten.
Dem ersten Abschnitte ist als Beilage ein Entwurf einer Civil-
processordnung beigegeben, d. h. 27 Sätze, die nach Ansicht des
Verf. jede gute Civilprocessordnung enthalten müsste. Wir glauben
jedoch , dass diese Grundsätze nur für einfachere Verhältnisse zu
Literarische Anzeigen. 317
verwerthen sind , dass der hochentwickelte Verkehr unserer Zeit
und unseres Landes andere Verfahrensformen bedingt , und dass
deshalb die Vorschläge des Verf. die Fortdauer der Gültigkeit der
im Ganzen bewährten Reichscivilprocessordnung nicht in Frage ziehen
dürften.
Heidelberg. Dr. R. Fürst.
Dr. Ludwig Kuhlenbeck, Der Check. Seine wirthschaftliche
und juristische Natur ^ zugleich ein Beitrag zur Lehre
vom Gelde, von Wechsel und von der Girobank. Leipzig,
C. L. Hirschfeld. 1890.
Das Institut des Ohecks hat in neuerer Zeit in allen civilisirten
Ländern die Bedeutung eines wichtigen , wenn auch nicht überall
noch in entsprechendem Umfang benutzten Verkehrsmittels errungen;
die rechtliche Behandlung desselben, welche in zahlreichen Ländern
seitens der Gesetzgebung geregelt, in andern („wie bei uns") noch
der Praxis überlassen ist, hat sich selbstredend nicht überall gleich-
massig entwickelt, und es bietet daher die nothwendige Berück-
sichtigung dieser verschiedenartigen Gestaltung gerade auch für
die vergleichende Rechtswissenschaft besonderes Interesse.
Die vorliegende , dem Mitredakteur dieser Zeitschrift , Herrn
Professor Dr. Cohn gewidmete fleissige und interessante Studie hat
fast die gesammte ausländische Gesetzgebung , Theorie und Praxis
eingehend berücksichtigt.
Verf. erörtert, von der gesunden Anschauung ausgehend, dass
alle Jurisprudenz socialen Zwecken zu dienen habe , und dass sich
daher die juristische Natur eines Instituts in erster Linie aus dessen
wirthschaftlichen Zwecken erkläre, im ersten Abschnitte zunächst
die wirthschaftliche Bedeutung des von ihm behandelten Rechts-
institutes. Und zwar beginnt derselbe mit einer Darlegung der
wirthschaftlichen Natur des Geldes (Kapitel 1), behandelt sodann
in Kapitel 2 und 3 die sogen. Geldsurrogate, d. h. Papiergeld und
Wechsel, welche beide auf Grund vorhandener Mittel dem Zweck
des Credits dienen. Im Gegensatz hierzu steht der Check, dessen
wirthschaftliche Funktion nicht darin besteht, Credit zu schaffen,
und mithin das Geld zu ersetzen , sondern den Geldumlauf zu be-
fördern und zu beschleunigen und hierdurch nützlicher zu machen
318 Literarische Anzeigen.
(Kapitel 5). Eine ausführliche historische Einleitung und eine inter-
essante Darstellung des englischen Checkwesens , sowie der Ein-
richtungen des Londoner Clearing House dienen dazu diese Ansicht
zu rechtfertigen.
Der zweite Haupttheil, welcher in zehn Kapiteln die juri-
stische Natur des Checks behandelt, wird eingeleitet durch ein
Kapitel über die Methode der Untersuchung, in welchem nochmals
auf den Zweck eines Rechtsinstituts als das für seine Ergründung
massgebende Moment hingewiesen wird. Das zweite Kapitel be-
handelt unter dem Titel: Die juristischen Voraussetzungen
(Check vertrag) zunächst die Unterlagen, auf die sich ein Check-
vertrag gründen kann , nämlich das Bankdepot in Baar oder son-
stigen Werthen einer- und die Crediteröifnung andererseits; sodann
wird die Natur des Checkvertrags selbst erörtert, welcher dem Zwecke
der Zahlunsf für einen andern dient und daher von dem Verf.
definirt wird, „als der Vertrag, inhaltlich dessen sich der eine Con-
trahent verpflichtet, die in Checkanweisungen ertheilten Zahlungs-
aufträge des andern bei Sicht zu erfüllen". Die weiteren Abschnitte
enthalten Erörterungen über die Bedeutung des von dem einen Contra-
henten (Bankier) dem andern ausgehändigten Contogegenbuchs, so-
wie über die Natur des Checkvertrages als Bankgeschäft und Be-
gründer eines Contocorrentverhältnisses. Das dritte Kapitel (Der
Check als Anweisung) stellt zunächst als die Erfordernisse des
Checks auf:
1. den Zahlungsauftrag;
2. die Ueberschrift des Ausstellers ;
3. die Bezeichnung des Bezogenen :
4. die Angabe der zu zahlenden Geldsumme;
sodann werden das durch den Check begründete Verhältniss des
Ausstellers zum Bezogenen, welches sich als Zahlungsmandat, und
das des Remittenten zum Bezogenen, welches sich als Incassomandat
charakterisirt , erörtert. Das vierte Kapitel ist der ausführlichen
Darstellung der aus diesem letzterwähnten Verhältniss entspringenden
Rechtsfolgen, insbesondere der Präsentationspflicht und des Regress-
rechtes des Checknehmers bezw. -Inhabers gewidmet und kommt zu
dem Schlüsse, dass erstere bei uns bereits auf Grund der bestehen-
den Gesetzgebungen anzunehmen sei , während mit Rücksicht auf
dieselben die Frage des Regressrechtes gegen die Indossanten , für
Literarische Anzeigen. 319
welche die Analogie des Wechsels nicht gelte, aus der Urkunde zu
verneinen und nur aus der zu Grunde liegenden causa zuzulassen
sei ; doch wird zugegeben , dass diese Frage discutabel und eine
derjenigen sei, welche die gesetzgeberische Regelung am dringendsten
erheische. Das fünfte Kapitel behandelt die aus dem Verhältniss
des Checkinhabers zum Bezogenen erfliessenden Rechtsfolgen und
lehnt für den (häufigsten) Fall des nicht acceptirten Checks dies Klage-
recht auf dem Boden des gemeinen Rechtes, insbesondere unter aus-
dehnender Zugrundelegung der Sätze über die Verträge zu Gunsten
Dritter, ab.
Für das französische Recht hingegen dürfte sich diese Con-
struction schon auf Grund des L. R. S. 1121 begründet erweisen,
ohne dass es der vom Verf. verworfenen Construction des Eigen-
thumsübergangs am Depot durch Begebung des Checks bedürfte ;
auch diese letztere verdiente indessen wohl nicht die schroffe Ab-
fertigung, die ihr der Verf. (S. 107) zu Theil werden lässt, zumal
sie gerade im gemeinen Recht ihre Analogie im Eigenthumsüber-
gang durch Begebung des Connossements findet ^).
Das sechste Kapitel behandelt die Fälle der ungültigen Checks,
nämlich der Ausstellung eines Checks ohne Checkvertrag, in welchem
Falle der Verf. den Aussteller, der ja seiner Ansicht nach nicht
aus der Urkunde in Anspruch genommen werden kann , mit der
a. mandati contraria haften lässt, und den Fall der Fälschung oder
Verfälschung eines Checks, in welchem der Verf. den Schaden der
Bank aufbürdet, falls nicht den Aussteller bei der Ausstellung selbst
ein Mangel an Sorgfalt trifft.
Das siebente Kapitel handelt vom sogen. Quittungscheck, bezüg-
lich dessen die gleichen Grundsätze zu gelten haben wie beim An-
weisungscheck; das achte Kapitel gibt die juristische Construction der
mit dem Checkverkehr connexen Institute der Scontration, der Giro-
zahlung und des sogen, rothen Checks, welche als Delegation auf-
zufassen seien; das neunte Kapitel erörtert die mit dem eigentlichen
Thema nicht gerade unmittelbar zusammenhängende Frage des
Wechsels im internationalen Zahlungsverkehr oder des sogen. Bankier-
^) Doch bleibt immer zu erwägen, dass das Connossement über eine
species, der Check über Geld lautet. Vgl. indess auch jetzt die Ver-
handlungen des 21. Juristentages II S. 255. 256. D. R.
qo0 Literarische Anzeigen.
rembours hauptsächlich in Anlehnung an einen dem Verf. praktisch
vorgekommenen Fall; das zehnte Kapitel endlich behandelt die viel
erörterte Frage, ob ein Checkgesetz in Deutschland wünschenswerte
sei oder nicht, und es spricht sich der Verf., der, auf dem Boden des
gemeinen Hechtes erwachsen, im Allgemeinen kein Freund der Codi-
fication ist, doch dahin aus, dass einzelne Punkte eine gesetzliche
Regelung (allerdings wieder unter weitgehender Zulassung des richter-
lichen Ermessens) erfahren sollten; er fordert aber zugleich als Cor-
relat die Aufhebung (!) des Wechselrechts, da durch dasselbe nicht
der Geldverkehr begünstigt, sondern eine ungesunde Creditwirth-
schaft erzeugt werde. Der Anhang bringt werthvolles positives
Material: insbesondere die Bestimmungen für den Giroverkehr der
Ueichsbank, die Errichtung der Berliner Abrechnungsstelle, der aus-
ländischen Checkgesetze und die deutschen Entwürfe zu solchen 0.
Mannheim, 1891. Dr. F. Fürst.
1) Ueber den Check sind inzwischen noch erschienen: v. Canstein,
Check, Wechsel und deren Deckung, Berlin 1890, der Artikel von
G. Cohn im Handwörterbuch der Staatswissenschaften und besonders
R. Koch, Vorträge und Aufsätze, 1892, S. 140—251 (mit vielfachen
Zusätzen und Ergänzungen seiner früheren drei Abhandlungen über die
Checks.) Zur Geschichte des Checks vgl. jetzt die wichtigen Aufschlüsse
Goldschmidts in seiner Universalgeschichte des Handelsrechts 1891,
S. 318 ff. ^- ^-
VIIL
Der Zivilprozess und die Gerichtsverfassung
Schwedens, nebst Bemerkungen für Finnland.
Von
Dr. W. Uppström, Stockholm.
Die für die schwedische^) Gerichts-Organisation, sowie
den bürgerlichen und Strafprozess geltenden Vorschriften sind
in dem am 23. Januar 1736 publizirten „Gesetzbuch^) des
schwedischen Reichs (Sveriges Rikes Lag), Abschnitt vom
Prozess" (Rättegangsbalk) , nebst mehreren ergänzenden Ge-
setzen und Verordnungen enthalten.
^) Was hier über die schwedischen Rechtsverhältnisse gesagt wird,
gilt mit wenigen Ausnahmen auch für Finnland, welches seit seiner Zu-
sammengehörigkeit mit Schweden eine mit der schwedischen hauptsäch-
lich gleiche Gerichtsorganisation und Prozessordnung behalten hat. Die
wesentlichen Abweichungen für Finnland sind nach Mittheilungen von
den Herren Prof. Freiherr v. Wrede, Staatsrath W. de la Chapelle und
Häradshöfding W. Gummerus besonders bemerkt.
^) Siehe Sveriges Rikes Lag ed. W. Uppström VIIL Auflage,
Stockholm 1892, s. 284 — 390. Notizen über den schwedischen Rechts-
codex und schwed. Gesetzsammlungen siehe Laband und Stoerk,
Archiv f. öffentl. Recht 1889 s. 213 — 215. Ausser der dort erwähnten
amtlichen Uebersetzung (G. Schildener) von 1807 sind zu bemerken
zwei unvollständige, eine Deutsche ohne Titel (nach Klemming, Aus
den Sammlungen eines Notizenmachers) von J. Wilde, Stockholm 1755,
und eine Französische in St. Joseph's Concordance.
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. X. Band. 21
ooo Uppström.
A. GericMsverfassung.
I. Gerichtsbehörden.
1. Die ordentlichen Gerichte erster Instanz sind in
den Städten die Rathhaus-Gerichte^) (Radstufvurätter), auf
dem Lande die Hundertschafts-Gerichte (Häradsrätter,
Landtdomstolar)^).
Das Rathhaiis-Gericht^) (als städtische Verwaltungs-
behörde: Magistrat) besteht in der Regel aus einem rechts-
gelehrten Vorsitzenden (der Bürgermeister) und 2—3 meistens
rechtsgelehrten Beisitzern (Radmän, Rathmannen, Rathsherren).
In einzigen kleinen Städten sind die Beisitzer, oder einzelne
derselben, Laien, d. h. Bürger, die als ständige salarirte
Richter 6), also Beamten, angestellt werden und als solche
gleiches Stimmrecht wie die gelehrten Richter haben.
In den grösseren Städten sind die Rathhausgerichte in
mehrere Kammern, die in Besetzung von 3-4 Mitgliedern
erkennen, vertheilt.
In Dispachesachen, sowie bei Aufnahme von Seeverklarungen
werden in Schweden noch 2—3, von den Stadtverordneten oder
vom Gericht gewählte, sachverständige Laien zugezogen.
Der Gerichtssprengel des Rathhaus - Gerichts ist das
^^^^ von den imbedeutendsten Städten in Schweden sind dem
nächsten Hundertschafts- oder Häradsgerichte zugetheilt.
^) In der deutschen Uebersetzung von 1807 „Amtsgerichte" genannt.
Landgericht" heisst in derselben Uebersetzung die damalige, im J. 1849
eingegangene zweite Instanz auf dem Lande, schwedisch Lagm ansratt.
53 Rgs-B C=Rättegängs-Balk)Kap.6. DasRathhausgericht — iruher
der städtische Rath - war bis 1849 städtisches Obergericht. Das alte
Untergericht, Kämnersgericht, ist eingegangen. ,^ , ,.
n Die städtischen Richter werden von den Städten besoldet; die
Etats vom König nach dem Vorschlag der betreffenden Stadt festgestellt.
Die Bürgermeister, in Stockholm auch die Rathsherren, werden vom
König unter drei von den Wahlberechtigten der Stadt präsentirten
Candidaten ernannt. Die Rathsherren werden sonst von den Städten ge-
wählt. Die ordnungsmässig stattgefundene Wahl ist von der Provinzinl-
regierung zu bestätigen.
Der Zivilprozess und die Gerichtsverfassung Schwedens. 323
städtische Gebiet^ d. h. die Stadt nebst den dazu gehörigen,
innerhalb des Weichbildes liegenden Grundstücken, Aeckern,
Waldungen , Wiesen u. s. w. Die Sitzungen der Rathhaus-
gerichte werden ein oder mehrere Male wöchentlich gehalten.
Die Untergerichte auf dem Lande ^) (die Hundert-
schafts- oder Härads- Gerichte) bestehen aus einem rechts-
gelehrten Richter, als Vorsitzenden, schwed. Häradshöfding
(Hundertschafts -Häuptling) auch Landtdomare (etwa Land-
richter), oder Domhafvande (Gerichtsherr) genannt, nebst einem
Ausschusse (Nämnd) von 12 für bestimmte Zeit gewählten (er-
nannten) Mitgliedern der Gemeinde des Bezirks, deren wenigstens
7 (in Finnland 5) an jeder Sache sich betheiligen müssen.
Die Ernannten der Hundertschaftsgerichte erkennen, wie
die Beisitzer der oben erwähnten Stadtgerichte und die
jetzigen deutschen Schöffen, sowohl über die That- als die
Rechtsfragen, unterscheiden sich aber von den letzterwähnten
dadurch, dass sie nur ein collectives, aber kein individuelles Stimm-
recht haben. Ihre Meinung wird jedoch unter der Bedingung,
dass sie alle einig sind, gegen die des Vorsitzenden geltend, —
ein nur ganz ausnahmsweise vorkommender FalP). Sonst ist
das Votum des Vorsitzenden entscheidend. Vor der Beschluss-
fassung hat der Richter die Ergebnisse der Verhandlungen in ge-
drängter Darstellung zusammenzufassen und die Laien über die
in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkte zu belehren.
Der Gerichtssprengel des Hundertschafts-Gerichts besteht
aus einem oder mehreren Hundertschaften (Hundari, Härad,
Tings-lag) bezw. einem Theile einer grösseren : (Mittelgrösse,
13 000 Einwohner). Gewöhnlich ist der Richter (Häradshöfding)
Gerichtsherr in 2 oder mehreren Gerichtssprengeln^), in den
^) Rgs.-B. Kap. 7; Verordnung vom 17. Mai 1872. Für das ge-
schichtliche siehe Uppström, Svenska Processens historia, Stockh. 1884.
^) Der Einfluss der Ernannten ist kein erlieblicher. Ihr selbständiges
Vorgehen hat für sie gewöhnlich nicht den glücklichsten Erfolg gehabt.
^) Die gesammten Gerichtssprengel eines Landrichters bilden einen
Kreis (Domsaga), derer es in Schweden 117 gibt.
324 Uppström.
er (bezw. ein von dem vorgesetzten Hot'gerieht jedesmal eon-
stituirter liilf'srieliter) in bestimmter Ordnung Gerichtssitzungen
(Hundertscliaftsversammlungen, Ting), die längere oder kürzere
Zeit dauern, zu halten hat. Ordentliche Gerichtssitzungen (lag-
tima ting) sollten nach dem Gesetzbuche in jedem Gerichts-
sprengel dreimal jährlich innerhalb bestimmter Zeitabschnitte
(im Winter, Sommer und Herbst) gehalten werden. An man-
chen Orten (so in Finnland) wurden sie später auf zwei be-
schränkt. In Schweden sind jetzt die Ting an vielen Orten
in mehrere Perioden (allgemeine Zusammenkünfte) getheilt.
In Folge dessen werden an solchen Orten ordentliche Gerichts-
sitzungen 5 bis lOmal jährlich in jedem Gerichtssprengel ge-
halten. Unter gewissen Bedingungen können auch ausserordent-
liche Sitzungen (urtima ting) stattfinden ^^), Bei jeder ordent-
lichen Hundertschaftsversammlung tagt das Gericht so lange (so
viele Tage, Wochen, in Finnland sogar Monate), bis alle aus-
gesetzte und neue, streitige und nichtstreitige Sachen behandelt
sind. Die Erkenntnisse werden entweder sofort oder (einige
Wochen später) bei einer besonderen, bezw. der nächsten
ordentlichen Sitzung (Zusammenkunft) verkündet (in Finnland
nach und nach, oder während der letzten Versammlungstage).
Die Hundertschafts-Gerichte handhaben noch einige ökonomische
Angelegenheiten des Bezirks.
2. Die Gerichte zweiter Instanz ^^) sind die liof-
gerichte (in Schweden Svea Ilofgericht in Stockholm,
Göta Hof-G. in Jönköpiug, und das Hofgericht über Skäne
und Blekinge in Christianstad), — alle in mehrere Kammern
vertheilt, die in Besetzung von 5 Mitgliedern (Hofgerichts-
räthen und Assessoren), oder 4 wenn wenigstens 3 einver-
standen sind, entscheiden.
Die Hofgerichte erkennen als Berufungs- und Beschwerde-
gerichte. In Schweden sind sie ausserdem in gewissen Sachen
^°) Ueber Verhaftete wird auch in besonderen Sitzungen (oft im
Gerichtssaal des Gefängnisses) erkannt.
^') Rgs.-B. Kap. 8.
Der Zivilprozess und die Gerichtsverfassung Schwedens. 325
fora privilegiata für in- und ausländische Adelige. Auch in
einigen anderen privilegirten Sachen entscheiden sie in erster
Instanz, und zwar Svea Ilofgericht über Klagen gegen die
Reichsbank und die Reichsschulden -Verwaltung.
Finnland hat 3 Hofgerichte (Abo, Wiborg und Wasa),
deren privilegirte Zuständigkeit aufgehört hat.
3. In dritter Instanz erkennt in Schweden der oberste
Gerichtshof des Königs ^^) (in Stockholm), bestehend aus
16 sog. Justizräthen, die in 2 Abtheilungen, jede in Be-
setzung von 7 (bezw. 6, 5, höchstens 8) Mitgliedern, in gering-
fügigen Sachen sogar 4 wenn alle einverstanden sind, ur-
theilen. Der König hat in dem obersten Gerichtshofe zwei
Stimmen, wenn Er persönlich den Vorträgen und der Beschluss-
fassung beizuwohnen geruht. In der Regel wird von diesem
Recht kein Gebrauch gemacht ^^). Will eine Abtheilung in
einer Rechtsfrage von den früheren Entscheidungen des Ge-
richtshofes abweichen, wird die Sache in der Regel vor das
Plenum der vereinigten Abtheilungen verwiesen und die Ent-
scheidung in ein besonderes Denkbuch eingetragen. Neben
dem obersten Gerichtshofe besteht in Schweden ein besonderes
Collegium, die sog. Untere Justiz-Revision, von 11 — 14 aus
dem Richterstand genommenen Berichterstattern (Revisions-
sekretären), welche die Sachen vorbereiten und dem Gerichts-
hofe vortragen.
In Finnland fungirt als dritte Instanz das Justiz-Depar-
tement des Kaiserl. Senats für Finnland.
4. Besondere Gerichte sind a) die Grundstücks-
Auseinandersetzungs-Gerichte (Egodelnings-, Egoskil-
nads-rätter) , in der Regel von dem Landrichter und 3 (in
Finnland 2) besonders erwählten sachverständigen Laien-
^^) Regicrungsform §§ 17 — 26 (siehe Sveriges Grnndlagar, ed.
W. Uppström, II. Aufl. Stockholm 1892); Rgs.-B. Kap. 30.
^^) Seit 1823 nur einmal, als der jetzige König, S. M. Oskar II.,
bei der hundertjährigen Jubiläumsfeier des obersten Gerichtshofes den
15. Mai 1889 an der Behandlung und Entscheidung einer Sache theilnahm.
320 Uppström.
Beiäitzern zusammengesetzt^ b) die Militärgerichte, c) das
Kammergericht (Rechnungshof), d) die Consistoria eccle-
siastica, e) die Grenz-Zoll-Gerichte, f) die Polizei-
gerichte (in Stockholm und Göteborg, aus einem Einzel-
richter bestehend), und g) die in einigen Städten eingerichteten
P 0 1 i z e i k a m m e r n ^^).
5. Consulargerichtsbarkeit. Die bürgerliche Gerichts-
barkeit der schwedisch-norwegischen Consularbeamten im Aus-
lande ist eine beschränkte. Abgesehen von vorläufigen Ver-
fügungen in Streitigkeiten zwischen Schiffern und Schiff'sleuten
auf schwedischen und norwegischen Schiff'en (sowie Vorunter-
suchungen in Criminalfällen), ist hier zu erwähnen, dass
nach dem Tractate mit China vom 20. März 1847 Rechts-
streitigkeiten zwischen einem Schweden oder Norweger und
einem Unterthan eines dritten Staates, ohne Einmischung der
chinesischen Behörden, gemäss der mit dem betreff*enden
Staate bestehenden Tractate behandelt werden. Nach einer
mit der internationalen Congo-Association abgeschlossenen Con-
vention vom 10. Februar 1885 sind die im Gebiete des Congo-
staates autorisirten schwedisch -norwegischen Consuln, bis die
dortige Gerichtsorganisation geordnet worden ist, berechtigt,
Consulargerichte zu organisiren und die Gerichtsbarkeit be-
treff'end Person und Eigenthum schwedischer und norwegischer
Unterthanen auszuüben. In der Türkei gelten die gewöhnlichen
Bestimmungen derCapitulationen (TractatlO. Jan.1737 Art. IV).
6. Das Richteramt. Mit den schon (A. I: 1, not. G,
A. I: 4) erwähnten Ausnahmen werden die schwedischen
Richter vom König ernannt. Betreffend die Landrichter sowie
die Assessoren der Hofgerichte steht dem betr. Hofgerichte
das Präsentationsrecht zu. Die jüngsten (2 — 8) Assessoren
der Hofgerichte sind zu einem anderen Hofgerichte versetzbar.
Sonst können die Richter blos kraft richterlicher Entschei-
^0 Uppström, Domstolarnas inrättning, Kap. 4. Om jurisdiktioneil
polismal, Stockholm 1884-
Der Zivilprozess und die Gerichtsverfassung Schwedens. 327
düng dauernd oder zeitweise ihres Amtes enthoben werden.
Bei erreichten 70 Jahren sind in d. R. die schwedischen Richter
verpflichtet (bei 65 berechtigt) mit Ruhegehalt abzugehen ^^).
Die Richter sind unabhängig, nur dem Gesetze unter-
worfen. Dieser Grundsatz erleidet in Schweden in soweit
eine Ausnahme, als der Reichstag alle drei Jahre eine beson-
dere Deputation erwählt, die nach einer complicirten Ab-
stimmung beschliesst, ob und welche (höchstens 3) von den
Mitgliedern des obersten Gerichtshofes ohne beweisliche Ver-
sehen, als des Vertrauens des Reichstags unwürdig, der Aus-
übung der höchsten Gerichtsbarkeit zu entheben seien. Auf
Antrag des Reichstages werden die von der Abstimmung be-
troffenen vom König gegen Gewährung eines Ruhegehaltes in
den Ruhestand versetzt. Bisher ist keiner der obersten Richter
durch diese Censur betroffen.
Die Fähigkeit zum Richteramt wird, mit oben genannten
Ausnahmen, durch die Ablegung der juristischen Staatsprüfung
bei der Universität, oder eines juristischen Fakultätsexamens
erlangt. Nur betreffend die Mitglieder des obersten Gerichts-
hofes wird ausserdem ausdrücklich praktische Erfahrung
gefordert. Thatsächlich muss doch jeder Aspirant auf das
Richteramt sich eines mehrjährigen Vorbereitungsdienstes als
Hilfsarbeiter und Hilfsrichter u. s. w. unterziehen.
II. Zuständigkeit der Gerichte ^^).
1. Sachliche Zuständigkeit. Sämmtliche Instanzen
enthalten nur eine Stufe von Gerichten. Die sachliche Zu-
ständigkeit der einzelnen Gerichte in jeder Instanz ist, von
den oben (A. I: 2) erwähnten Ausnahmen abgesehen, in der
Regel eine gleiche. Doch sind in Schweden die Rathhaus-
gerichte in Wechsel- und Seerechtssachen ausschliesslich zu-
ständig, in Dispachesachen nur die Rathhausgerichte in den
Städten, wo Dispacheure angestellt sind. In Streitigkeiten be-
^^) Ausnahme in einigen Städten.
1«) Rgs.-B. Kap. 10.
328 Uppström.
treffend fremde Waarenmarken, sowie in Patentstreitigkeiten,
die sich nicht auf Verfolgung unerlaubter Nachahmungen be-
ziehen, ist in Schweden das Rathhausgericht in Stockholm
das zuständige Gericht.
2. Oertliche Zuständigkeit, in bürgerlichen Rechts-
streitigkeiten. Gerichtsstände.
In Klagen wegen Forderungen^') und anderer persön-
licher Ansprüche, einschliesslich Gewährleistung in Folge eines
Verkaufs, ist das Gericht des Wohnsitzes des Beklagten zu-
ständig. Als Wohnsitz gilt der Ort, wo jemand in die staat-
liche Steuerrolle eingetragen ist. Schwedische Unterthanen,
die keinen festen Wohnsitz im Lande haben, werden verklagt,
wo sie angetroffen werden, und wenn sie sich im Auslande
aufhalten, wo sie ihren letzten Wohnsitz hatten. — Aus-
länder, ohne Wohnsitz in Schweden werden verklagt bei dem
Gericht, in dessen Bezirk sie angetroffen werden. Für Klagen
auf Erfüllung einer von einem Ausländer in Schweden ein-
gegangener Verpflichtung oder auf Bezahlung einer von ihm
während seines Aufenthaltes in Schweden zugezogener Schuld
gilt als zuständig entweder das Gericht, in dessen Bezirk er
Vermögen hat, oder das forum contractus oder das Ge-
richt des Orts, wo die Schuld entstanden ist (Ges. vom
20. März 1891). Betreffend die Dänen gilt eine besondere Con-
vention vom 25. April 1861. — Die bei städtischen Jahrmärkten
zwischen Käufer und Verkäufer entstehenden Streitigkeiten ge-
hören zum Stadtgericht, wenn sie sofort anhängig gemacht werden
oder Beklagter später, — doch ehe er in der Sache vor ein
^") Bei Ansprüchen wegen Forderungen, die auf Schuldscheine und
dgl. Urkunden gestützt sind, kann der Kläger, statt des gerichtlichen
Verfahrens, ein theils mit dem Mahnverfahren theils mit dem deutschen
Urkundenprozesse analoges Executivverfahren (Lagsökning) in Sclnveden
beim Oberexekutor, in Finnland bei den Provinzialregierungen durch
schriftlichen Antrag anhängig machen. Der Oberexekutor ist in Stock-
holm das königl. Oberstatthalter- Amt, in übrigen Städten der Magistrat
bezw. ein Mitglied desselben, auf dem Lande die Provinzialregierung.
(Utsöknings-Lag vom 10. Aug. 1877.)
Der Zivilprozess und die Gerichtsverfassung Schwedens. 329
anderes Gericht vorgeladen ist^ — wieder nach der Stadt
kommt. — Erbschafts- und Testamentsklagen, sowie
Streitigkeiten wegen Forderungen an einen Verstorbenen wer-
den vor dem Gericht, bei welchem dieser seinen persönlichen
Gerichtsstand hatte, oder in dem Orte, wo er angestellt war,
erhoben. — Als Gerichtsstand des Vormundes gilt entweder
das Gericht seines Wohnsitzes oder das die Aufsicht über die
Vormundschaft ausübende Gericht. — Der Gerichtsstand des
Verwalters wird durch den Ort, wo die Verwaltung geführt
ist, bestimmt. — Die Handels-Gesellschaften, bezw. die
Genossen derselben, werden an dem Orte, wo die Gesellschaft
ihren Sitz hat, verklagt; die Actien-Gesellschaften an
dem in der octroyirten Gesellschafts-Ordn. als der Sitz des
Verwaltungsrathes bestimmten Ort. Das zuständige Gericht
für Banknoten ausgebende Privatbanken ist das Rathhaus-
gericht in der Stadt, wo das Hauptbetriebslokal der Bank ist.
— Mehrere Personen, die ihren persönlichen Gerichtsstand
bei verschiedenen Gerichten haben, können als Streitgenossen
bei dem Gericht, in dessen Bezirk der am meisten Betheiligte
seinen Wohnsitz hat, verklagt werden. Bei Klagen gegen
mehrere Schuldner ^^) kann ein jeder bei seinem persönlichen
Gerichtsstand belangt werden, oder erfolgt die Ladung sämmt-
licher Betheiligter vor das Gericht eines derselben nach der
Wahl des Klägers. — lieber Entschädigungsansprüche
aus einem Delicte wird von dem Gericht erkannt, wo die
Klage wegen des Delicts erhoben ist^^). Für Klagen wegen
Ansprüche aus einem ausserehelichen Beischlaf ist das Gericht,
in dessen Bezirk der Beischlaf stattgefunden hat, zuständig. —
Der Gerichtsstand in Ehe- und Verlöbnisssachen wird
nach dem Wohnorte des Unschuldigen, oder nach dem letzten
^^) Die Auslegung des Ges. nicht ganz unstreitig.
^^) Solche Anspräche werden in der Regel als Nebenfragen zu der
Strafsache behandelt. Der allgemeine Gerichtsstand in Strafsachen ist bei
demjenigen Gerichte begründet, in dessen Bezirk die strafbare Handlung
begangen ist.
330 Uppström.
Wohnsitz des Entwichenen , bezw. nach dem Orte des Ehe-
bruches u. s. w. bestimmt. — Streitigkeiten wegen Eigen-
thumes, Besitzes oder Niessbrauches eines Grundstückes,
sowie Grenzstreitigkeiten n. dergl. dingliche Klagen ge-
hören zu dem Gericht, in dessen Bezirk das Grundstück
(bezw. das Hauptgut) liegt. — Für Klagen von Prozess-
bevollmächtigten wegen Auslagen und Gebühren ist das
Gericht zuständig, welches zuletzt in der Sache erkannt hat
(sofern der Bevollmächtigte auch in diesem Gericht die Partei
vertreten hat). — lieber sonstige Ansprüche, die aus einer
Hauptsache herfliessen, wie Schadenersatz, Prozesskosten
u. dergl., worüber eine besondere Klage vorbehalten ist, wird
vom Gerichte des Hauptprozesses erkannt. — Bei dem Gericht
der Klage kann die Widerklage erhoben werden, wenn beide
Klagen Gemeinschaft mit einander haben. —
Vereinbarung über den Gerichtsstand darf in der
Regel nur mit der Erlaubniss des Königs stattfinden. (Mir
Avissentlich ist davon kein Gebrauch gemacht.)
III. Processbeistände. Advokaten.
Weder in Schweden noch in Finnland besteht ein auto-
risirter Anwaltsstand (auch kein Anwaltszwang). Die Anwälte
können jedoch die Genehmigung des Gerichts nachsuchen.
Als Prozessbevollmächtigte werden bei den Gerichten sowohl
rechtsgelehrte als nicht rechtsgelehrte Personen zugelassen ^^).
Privat-Anwälte auch der ersterwähnten Art giebt es an allen
Orten von einiger Bedeutung. Die Anwaltsgebühren werden
durch Vereinbarung oder vom Gericht festgestellt (siehe D. 3).
IV. Die Gerichtssprache.
Die Gerichtssprache ist die schwedische, in Finnland auch
die finnische. Dollmetscher können von den Parteien oder
2^) (cf. auch Wolfl', Zur Gesch. der Stellvertretung vor Gericht
nach nordiscliem Recht in dieser Z. YI p. 1 IT. besonders p. 42 — 87.)
D. Red.
Der Zivilprozess und die Gerichtsverfassung Schwedens. 331
von den Gerichten zugezogen werden. Eingaben in fremden
Sprachen müssen in der Regel übersetzt werden.
B. GericMsverfalireii.
I. Verfahren in erster Instanz.
1. Allgemeiner Gang des Prozesses ^^). Urtheil.
Das erstinstanzliche Verfahren ist in der Regel mündlich-
protokollarisch und öffentlich. In zweiter und dritter Instanz
ist das Verfahren fast rein schriftlich und nicht öffentlich.
Es besteht (A. III.) kein Anwaltszwang. Die Parteien er-
scheinen persönlich oder durch einen Bevollmächtigten ver-
treten. Die Verhandlungsweise ist schlicht und formlos. Vor-
bereitende Schriftsätze werden nicht gewechselt. Von Even-
tualprinzip und Präclusion ist kaum die Rede. Die wenigen
eine bestimmte Ordnung der Verhandlung erzielenden Gesetz-
vorschriften sind — als unzweckmässig und ungenügend —
erfolglos und unwirksam geblieben. Nova werden reichlich
zugelassen. Vertagungen^^) müssen vielfach bewilligt werden:
— anfangs meistens unter Androhung einer Geldstrafe, später
mit Bestimmung, dass ohne Rücksicht auf die Versäumniss
oder das Ausbleiben der Parteien in der Sache erkannt werde.
Alles was zur Erklärung der Sache gehört (die Darstellung,
der Sachverhalt, Anträge, Begründung, Rechtsausführungen)
soll nach der unbestrittenen Auffassung des Gesetzes, unter
der Leitung des Vorsitzenden , mündlich oder durch zu ver-
lesende^^) Schriftsätze, Urkunden u. dergl. vorgebracht und
nebst den Beweiserhebungen ins Protokoll eingetragen werden.
Von dem richterlichen Prozessleitungs- und Fragerecht muss
ein sehr umfassender und ausgedehnter Gebrauch gemacht
werden. Thatsächlich ist der Richter genöthigt, für die Er-
2') Rgs.-B. Kap. 14, 16, 17.
^^) Rechtsmittel: Beschwerde an das vorgesetzte Gericht; — wo-
durch das Verfahren nicht gehemmt wird.
^^) Die Verlesung oft fmgirt.
332 Uppström.
mittelung der Wahrheit ex nobili officio, doch ohne Ver-
rückung oder Unterdrückung der Parteirechte zu wirken. Am
treffendsten scheint die vorherrschende Verhandhingsart in der
ersten Instanz als eine die Parteirechte nicht beeinträchtigende
Untersuchungsmethode bezeichnet werden zu können. In
2. und 3. Instanz ist eine nackte Verhandhmgsraethode zur
Alleinherrschaft gekommen.
Die Beweiserhebungen in erster Instanz (B. II 3 b) finden
in der Regel vor dem erkennenden Gerichte statt. Sie können
einem anderen Gerichte, niemals einem beauftragten oder er-
suchten Richter, überlassen werden. Die Protokollirungsarbeit
in derselben Instanz ist während, sowie nach der Verhandlung
eine sehr umfassende. Die Protokollsurkunde, die auch als
Grundlage für die oberinstanzliche Behandlung und Beurthei-
lung der Sache zu dienen hat, wird gewöhnlich erst nach
beendigter Sitzung an der Hand schriftlicher Aufzeichnungen
des Richters (bezw. eines zu seiner Ausbildung bei ihm be-
schäftigten Juristen oder dergl.) angefertigt. Nur ausnahms-
weise wird das Protokoll behufs Genehmigung während der
Sitzung vorgelesen. Nach beendigter Verhandlung ist das
XJrtheil — durch Verlesung oder Mittheilung des wesentlichen
Inhalts — sofort zu verkündigen oder — was in Schweden
meistens geschieht — wird den P.irteien eröffnet, wann
die Urtheilsverkündigung zu erwarten ist. Die Berathung,
Abstimmung und Urtheilseröffnung findet also (A. I. 1) ge-
wöhnlich in einer besonderen Sitzung statt. Abweichende
Meinungen (doch nicht die der Ernannten) werden zum Proto-
koll aufgenommen. Vom Protokoll nebst dem Erkenntniss
muss der Kläger eine Abschrift auslösen. Für den Beklagten
wird ein Exemplar davon auf Verlangen ausgefertigt.
Ueber die Einlegung der Rechtsmittel sind die Parteion
zu belehren.
2. Vorladung 2^). Die Klageerhebung, die von keinem
■*) Rgs.-B. Kap. 11,
Der Zivilprozess und die Gerichtsverfassung Schwedens. 333
vorausgehenden Sühneversuch bedingt ist, erfolgt durch Be-
händigung einer schriftlichen Vorladung. lu Finnland ist auch
mündliche Vorladung in Streitigkeiten, die nicht Grundbesitz
und Häuser betreffen, erlaubt. — Die Vorladungsfrist beträgt
bei den Landgerichten 14, bei den Stadtgerichten 8 Tage
nach der Behändigung, wenn der Beklagte innerhalb des
Gerichtsbezirkes wohnt. Sonst sind längere Erscheinungs-
fristen vorgeschrieben ; — für Personen, die sich im Auslande
aufhalten, 6 Monate. In Wechselsachen kann Beklagter zu
sofortiger Erscheinung vorgeladen werden. — Die Behändi-
gung, die vom Kläger durch gerichtlich bestellte und beeidigte
oder andere unverwerfliche Zustellungsbeauftragte besorgt
werden soll, geschieht in der Regel durch Zustellung in Person
und Verlesung der Vorladungsurkunde , worüber von den Zu-
stellungsbeauftragten ein Zeugniss behufs Präsentirung beim
Gericht angefertigt wird.
Wenn der Beklagte nicht angetroffen werden kann, ge-
schieht unter gewissen Bedingungen die Behändigung durch
Anschlag an seiner Hausthür oder durch Bekanntmachung in
der offiziellen Zeitung.
Subjective Klagehäufung ist zulässig; objective Klage-
häufung wirkt keine Nichtigkeit. Die Widerklage ist binnen
der Hälfte der gesetzlichen Ladungsfrist durch Zustellung
einer Vorladungsurkunde zu erheben; Compensationseinreden
hierdurch nicht betroffen.
3. Versäumnissverfahren ^^). Wenn beide Parteien
im ersten Termin ausbleiben, wird die Sache gestrichen.
Bleibt der Kläger aus, der Gegner aber erscheint, wird dem
Kläger eine unbedeutende Geldstrafe nebst der Wieder-
erstattung der gegnerischen Kosten auferlegt, sofern er nicht
binnen gesetzlich vorgeschriebener Zeit darthut, dass er vom
Gesetz anerkannte Hindernisse, ohne dem Gericht zur rechten
Zeit davon Anzeige machen zu können, gehabt. Wenn der
25
) Bgs.-B. Kap. 12.
334 Uppström.
Kläger nicht binnen der vorgeschriebenen Zeit durch neue
Klageerhebung die Sache verfolgt, ist das Klagerecht ver-
loren.
Wenn der Kläger (im ersten Termin) erscheint, der Be-
klagte aber ohne gesetzlichen Vorwand ausbleibt und die
rechtzeitige Behändigung der Vorladung erwiesen wird, so
soll in der Sache erkannt werden, sowie die Wahrheit er-
mittelt werden kann, mit Vorbehalt für den Beklagten binnen
gewisser Zeit Einspruch zu erheben oder Berufung einzulegen.
4. Einreden ^^) sind, wenn möglich, sogleich im Anfange
des Prozesses auf einmal vorzubringen. Die gesetzliche An-
drohung von Geldstrafen wegen vorsätzlicher Zurückhaltung
derselben ist selbstverständlich ohne Erfolg geblieben. Prozess-
hindernde Einreden sind nur die der Unzuständigkeit
des Gerichts und die der Streitgenossenschaft (exe. plur.
citand.). Gegen Entscheidungen über die letztgenannten Ein-
reden findet sofortige Beschwerde an das vorgesetzte Hof-
gericht statt. Die Zuständigkeit wird selbst von Amtswegen
geprüft.
5. Kosten-Caution von Ausländern ^^). Von aus-
ländischen Klägern kann Beklagter im ersten Termin, wo er
erscheint, Sicherstellung wegen der Kosten und etwaiger Ent-
schädigung verlangen. In Ermangelung von Vereinbarung
darüber wird der Betrag und die Art der Sicherstellung vom
Gericht unter Androhung der Löschung der Sache bestimmt.
Durch Staatsvertrag vom 7. Juli 1887 sind dänische Staats-
angehörige von dieser Verpflichtung befreit.
II. Der Beweis-^)
tretung findel
statt. Ein Beweisbeschluss kommt nur dann vor, wenn die
1. Die Beweisantretung findet ohne Beweisinterlokut
-'"') Rgs.-B. Kap. 16.
2^) Ges. d. 19. Nov. 1886.
28
) Rgs.-B. Kap. 17.
Der Zivilprozess und die Gerichtsverfassung Schwedens. 335
Führung irgend eines Beweises bestritten wird. Die Beweise
können sofort, bezw. in einem folgenden Termin geführt
werden. Zeugen und Sachverständige können die Parteien
selbst mitbringen oder vorladen lassen. Wenn der etwa er-
forderliche Gegenbeweis nicht sogleich geführt werden kann,
wird die Sache vertagt. Neue Beweise, bezw, Gegenbeweise,
können im Laufe der Verhandhingen jederzeit angetreten und
aufgenommen werden, — bis die Sache genügend aufgeklärt
erscheint und weitere Vertagung als Missbrauch der Partei-
rechte erachtet werden muss.
2. Beweisprüfung. Nach dem Wortlaut des Gesetzes
gilt die gesetzliche Beweistheorie hauptsächlich in sofern, dass
die übereinstimmende Aussage zweier klassischer Zeugen den
vollen Beweis einer behaupteten Thatsache liefert. Ein Zeuge
oder Indizien sollten nur den halben Beweis liefern, in wel-
chem Fall vorgeschrieben wurde, dass dem Beklagten der
Reinigungseid auferlegt werden könne.
Von den wesentlichsten Unbequemlichkeiten der legalen
Beweistheorie hat die Gerichtspraxis sich jedoch allmählig
frei gemacht. Besonders wird auch den Indizien volle Beweis-
kraft beigelegt. Verwerfungs- oder Verdachtsgründe gegen
Zeugen werden dagegen in ziemlich grossem Maasse zuge-
lassen. (Siehe auch unten 3 d. e.)
3. Die einzelnen Beweismittel:
a) Gerichtliches Geständniss ist dem Zeugnisse zweier
klassischer Zeugen gleich zu erachten. Das Geständniss ver-
liert die Wirkung durch Wiederrufung, wenn nachgewiesen
wird, dass es der Wahrheit nicht entspricht oder durch Irr-
thum veranlasst worden ist.
b) Der Zeugenbeweis ist in allen Sachen zulässig. Die
Zeugen werden in der Regel vor dem erkennenden Gericht
in der gewöhnlichen Gerichtssitzung beeidigt und (B. I. 1)
vernommen. Vor der Beeidigung werden die Parteien und
der Zeuge befragt, ob Verdachtsgründe gegen den Zeugen
336 Uppström.
vorliegen. Solche Gründe können auch nachträglich geltend
gemacht werden. Die Zeugenvernehmung wird von dem
Richter (Vorsitzenden) bewirkt. Auch die von den Parteien
beantragten Fragen werden vom Richter vorgelegt, wenn sie
zulässig erscheinen. Die Aussagen werden zum Protokoll ge-
bracht und vorgelesen. Der vernommene Zeuge wird an-
gehalten zu erklären, ob seine Aussage richtig aufgefasst ist.
Die Erscheinungskostea werden von der das Erscheinen des
Zeugen veranlassenden Partei erstattet, vorbehaltlich einer
Wiedererstattung von der unterliegenden Partei.
c) Sachverständige können wie Zeugen eidlich ver-
nommen werden oder schriftliche Gutachten abgeben.
d) Der richterliche Eid ist entweder Reinigungseid
(B. II. 2) oder Ergänzungseid. Schiebt eine Partei dem
Gegner einen Eid zu oder erbietet sie sich selbst zur Eides-
leistung, steht es dem Gegner frei, die Eidesleistung zu
übernehmen, bezw. zu bewilligen, oder zu weigern. Der
richterliche Eid wird durch Urtheil, gegen welches (so-
fortige) Berufung stattfindet, auferlegt. Die speziellen Folgen
einer Eidesleistung (bezw. der Nichtleistung eines Eides) wer-
den nachträglich in einem besonderen durch die gewöhnlichen
Rechtsmittel anfechtbaren Urtheil bestimmt. Die Eidesleistung
liefert den vollen Beweis für die von der Partei beschworenen
Thatsachen, sowie die Nichtleistung des Eides für das Gegen-
theil.
e) Ueber den Urkundenbeweis enthält das Gesetz
nichts erhebliches. In Streitigkeiten zwischen Kaufleuten
können ordnungsmässig geführte Handelsbücher, wenn sie eid-
lich erhärtet werden, oder ihre Glaubwürdigkeit durch andere
Gründe bestätigt wird, den vollen Beweis liefern.
f) Das Beweismittel Augenschein und Ortsbesichti-
gung kommt in Streitigkeiten wegen Eigenthums- und anderer
Rechte an Grundstücken, Wasserrechtsstreitigkeiten u. s. w.
häufig vor und ist sehr ausgebildet.
Der Zivüprozess und die Gerichtsverfassung Schwedens. 337
III. Das Urtheil.
Das Nöthige siehe A. I. 1 (Ende); 3 und. B. IL 3 d.
IV. Rechtsmittel.
1. Berufung. Das ordentliche Rechtsmittel gegen die
Endurtheile der Untergerichte ist die Berufung^^) (schw. Vad,
Wette). Nichtigkeitsklagen können ausserdem durch Beschwerde
bei dem vorgesetzten Gericht erhoben werden. Die Ein-
legung der Berufung geschieht bei dem Untergericht oder
einem beauftragten Mitglied desselben binnen einer Woche
nach der Verkündigung des Urtheils durch das Entrichten einer
Abgabe (Wettsumme), in Schweden 1.50 Kronen bei den
Landgerichten, 2.50 Kr. bei den Stadtgerichten, in Finnland
5.76^^) Finn. Mk. Ueber die von den Parteien weiter zu
beobachtenden Maassregeln wird vom Richter schriftlicher Be-
scheid mitgetheilt. Der Berufungsbeklagte muss sich über diese
Maassregeln selbst beim Richter erkundigen. DieNothfrist für die
weitere Verfolgung der Sache in der Appelliustanz beträgt (je
nach der Entfernung vom Sitze des Hofgerichts) 30 — 90 (in
Finnland 30 — 60) Tage, in Wechsel- und Seerechtssachen die
Hälfte. Will der Appellant die Sache in der Berufungs-Instanz
nicht verfolgen, muss er den Gegner davon binnen der Hälfte
der Nothfrist benachrichtigen; bei Gefahr, dass er die Kosten des
Gegners, wenn dieser rechtzeitig vor dem Hofgericht erscheint,
wieder erstatten muss.
An dem zur Verfolgung der Sache in der Berufungs-
instanz^^) bestimmten Tage muss der Berufungskläger im
^^) Rgs.-B. Kap. 25. Die Erkenntnisse gewisser Rathhausgerichte
(s. A. II: 1) in Dispachesachen sind durch Beschwerde an den obersten
Gerichtshof anzufechten. Die Beschwerdeschrift wird eingereicht bei dem
Rathhausgericht, wo auch der Gegner Gegenanträge abgeben kann. Die
Akten werden verschickt. Seegesetz v. 12. Juni 1891.
30) 1 Krone = 1.12 Rm.; 1 Finn. Mark = 80 Pfennige ; 1 Penni = 0.8 Pf.
3^) Das Verfahren in den bei den Hofgerichten zu verhandelnden
erstinstanzlichen Sachen ist mit wenigen Ausnahmen ein gleiches wie
in den Berufungssachen.
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, X. Band. 22
338 Uppström.
Bureau des Hofgericlits persönlich oder durch einen Bevoll-
mächtigten eine Berutungsschrift (Libell) in 2 Exemplaren
einreichen, nebst (in Schweden) einer von 2 zahlungsfähigen
(inländischen) Personen unter solidarischer Verantwortlichkeit
ausgefertigter Caution^^^ wegen der Kosten und der Ent-
schädigung, die dem Berufungskläger auferlegt werden können.
Enthält die Berufungsschrift keine genügende Rechtfertigung
der Berufung, kann das Versäumte später nachgeholt werden.
An dem oben erwähnten Tage muss auch der Gegner,
bei Gefahr, in der Berufungs-Instanz nicht gehört zu werden,
persönlich oder durch einen Bevollmächtigten erscheinen, um
die Bernfungsschrift zu empfangen. Nach einer Woche (wenn
Gerichtsferien eintreffen, später) wird die Sache nach voraus-
gegangenem Anschlag an der Gerichtsthür aufgerufen, damit
der Berufungs-Beklagte persönlich oder durch einen Bevoll-
mächtigten Gegenanträge (Gensvar) in duplo abgebe. Bei
dieser Gelegenheit müssen auch die Einreden gegen die
klägerische Caution bei Präclusionsgefahr (mündlich oder
schriftlich) angemeldet werden. Eine Aussetzung der Sache
behufs Stellung der Gegenanträge ist zulässig.
Berufungsanschliessung findet nicht statt.
Nachdem der Schriftwechsel beendigt worden ist, w^erden
die Sachen durchs Loos zwischen den (in Schweden 4 jüngsten)
Mitgliedern jeder Kammer zur Berichterstattung vertheilt. —
Ein von dem Referenten verfasster schriftlicher „ßericht"^^^)
wird den Parteien zur Durchsicht und Unterschrift übergeben.
Beim Unterzeichnen desselben können die Parteien mündliche
Verhöre, (deren ursprüngliche Bedeutung jedoch nunmehr ziem-
^2) Statt der Caution kann baares Geld, Silber oder Gold deponirt
werden.
^^) In Konkurs-, Wechsel- und Seerechtssachen, die als Schleunig-
keitssachen behandelt werden, ist weder bei den Holgerichten noch bei
dem obersten Gerichtshof schriftlicher Bericht erforderlich. Der Bericht
enthält eine in gedrängter, eng zusammenhängender Form abgefasste
Darstellung der Streitpunkte nebst dem Spruch des Untergerichts.
Der Zivilprozess und die Gerichtsverfassung Schwedens. 339
lieh geschmälert ist), wegen weiterer Begründung, Beweis-
erhebungen u. dergl. beantragen. Mit der Beweisaufnahme
(in sofern sie in Vernehmung von Zeugen besteht) wird ge-
wöhnlich ein Untergericht beauftragt. Die spruchreifen Sachen
werden von dem Berichterstatter in nichtöffentlicher Sitzung
vorgetragen und nach erfolgter Verlesung (bezw. Durch-
lesung) der Akten und Berathung, wenn möglich sofort, ab-
geurtheilt. Erscheint eine genauere Kenntnissnahme der Akten
den Richtern wünschenswerth, findet Abstimmung und Be-
schlussfassung in einer folgenden Sitzung statt. Das Erkennt-
niss wird schriftlich an einem vorher bekannt gemachten Tage
ausgegeben. Reformatio in pejus ist unzulässig.
2. Beschwerde. Die Nothfrist in Beschwerdesachen
(B. I: 4; IV: 1) beträgt nur die Hälfte der Berufungsfrist.
Der Beschwerdeführer hat spätestens vor dem Ablauf der
Nothfrist schriftliche Anträge an das vorgesetzte Gericht ein-
zureichen. Persönliches Erscheinen oder Bestellung eines Be-
vollmächtigten ist nur dann nöthig, wenn der Beschwerdeführer
nicht selbst den Schriftsatz unterzeichnet hat. Wird die An-
hörung des Gegners für nöthig erachtet, bestimmt das Hof-
gericht (nach den Vorträgen des Sekretärs oder eines Fiscals),
wie die Akten dem Gegner des Beschwerdeführers mitzu-
theilen sind, sowie die Zeit für die Einreichung der gegne-
rischen Erklärung. Nach der Einlieferung der Erklärung oder
dem Ablauf der dafür festgesetzten (bezw. verlängerten) Frist
werden auch diese Sachen, wie die Berufungssachen, vertheilt,
vorgetragen und abgeurtheilt. Schriftlicher Bericht wird in
Beschwerdesachen nicht ausgegeben.
3. Revision ^^). Das Rechtsmittel gegen die End-
urtheile der Hofgerichte, die Revision, die ursprünglich nur
auf eine Durchsicht der Akten (examen actorum prioris in-
stantiae) berechnet war, ist ihrem Wesen nach nichts anderes
34
) R§s.-B. Kap. 30.
340 Uppström.
als ein Oberappcll. Sowohl die That- als die Rechtsfragen
unterliegen der Prüfung der drittinstanzlichen Richter. Neue
Beweise^-') sollten eigentlich nur in Restitutionsfällen zu-
gelassen werden, eine Vorschrift, die jetzt nicht mehr be-
obachtet wird.
Die Revision muss spätestens am 20. (in Finnland 21.)
Tage nach der Urtheilsausfertigung des Hofgerichts schriftlich,
nebst Entrichtung einer Abgabe (Revisionsschilling) von 100 Kr.
(192 finn. Mark) beim Hofgericht angemeldet werden (Revisions-
gesuch). Die Abgabe fällt, wenn die Erkenntniss des Hof-
gerichts bestätigt wird, in Schweden der Staatskasse, in Finn-
land dem Hofgericht zu. Sonst wird sie dem Revisionskläger
auf Antrag zurückerstattet. Weniger Bemittelte werden unter
gewissen Bedingungen von dieser Abgabe befreit. Nach An-
hörung des Gegners schreibt das Hofgericht die weiter zu
beobachtenden Maassregeln vor.
DieNothfrist für die Verfolgung der Sache beim obersten Ge-
richtshofe (Finnl. Kaiserl. Senat) beträgt, je nach der Entfernung,
60 — 90 Tage, in Wechsel- und Seerechtssachen die Hälfte.
Der Revisionskläger muss vor dem Ablauf der Nothfrist
oder, wenn er ausserhalb des Landes wohnt, binnen 6 Monaten
das dem Gegner durch das angefochtene Urtheil Zuerkannte
bei der Provinzialregierung oder zuverlässigen Bürgen hinter-
legen. Unter gewissen Bedingungen genügt auch Pfand-
bestellung oder Bürgschaft ^^). Für Kosten und Schadenersatz
wird in Schweden binnen derselben Zeit eine besondere Caution
gestellt. Ausserdem ist die gesetzliche Abgabe zu entrichten
für die Protokolle des Hofgerichts, die nebst den Akten an
die Untere Revision geschickt werden (schwed.), wenn recht-
zeitig nachgewiesen wird, dass obenerwähnte Vorschriften
(Prästanda) ordnungsmässig erfüllt sind.
^^) Für Konkurssachen siehe E.
^^) Wenn diese Vorschriften befolgt sind, kann das angefochtene
Urtheil nicht zwangsweise vollstreckt werden. Das Hinterlegte kann von
der obsiegenden Partei gegen Pfand oder Caution erhoben werden.
Der ZiviJprozess und die Gerichtsverrassung Schwedens. 341
Das drittinstanzliche Verfahren erbietet keine grossen Ab-
weichungen von dem zweitinstanzlichen. Auf die Anträge des
Revisionsklägers (die Dednction); die spätestens an dem zur
Verfolgung der Sache bestimmten Tage im Bureau der unteren
Revision eingereicht werden müssen^ hat der Gegner binnen
22 Tagen seine Gegenanträge (Contradeduction) abzugeben.
Nach Beendigung des Schriftwechsels wird von einem
Revisionssekretär (in Finnland Referendarie - Sekretär des
Justiz - Departements) ^ dem die Sache durch Loos zugetheilt
worden ist, ein Bericht (wie im Hofgericht) ausgefertigt.
Mündliche Verhöre , Beweiserhebungen (bestrittene Zeugen-
vernehmungen nur mit Erlaubniss des Gerichtshofes) u. dergl.
können in Schweden in der unteren Revision, in Finnland vor
2 Referendarie- Sekretären (in beiden Ländern in gewissen Fällen
bezw. auch bei einem Unter- Gericht), stattfinden. Nachdem
die Vorbereitungen zum Abschluss gelangt sind, trägt in
Schweden der berichterstattende Referendarie-Sekretär die Sache
erst in der unteren Revision in Gegenwart von (in der Regel)
2 Collegen vor, worauf von den betheiligten Revisionssekretären
unter Beobachtung der gewöhnlichen Abstimmungsregeln ein
Gutachten abgegeben wird. In Finnland wird das Gutachten von
dem berichterstattenden Referendarie Sekretär allein geliefert.
Schliesslich wird die Sache in nichtöffentlicher Sitzung vom
Berichterstatter vor dem Gerichtshof vorgetragen (in Finnland
vor dem Just.-Dep. des Senats vorgelesen). Die Berathung
und Abstimmung der erkennenden Richter erfolgt in der
Regel sofort nach der Verlesung der Schriftsätze. Weitere
Ueberlegungsfrist kann vorbehalten werden. Mit der Aus-
fertigung der Urteile, welche in Schweden unter dem Siegel
des Königs von dem vortragenden Revisions- Sekretär unter-
zeichnet werden, wird auf gleiche Weise wie in den Hofgerichten
verfahren. Ueber Plenum siehe A. I: 3.
4. In Nullitäts- und gewissen Präliminarfragen, sowie
in Fragen der nichtstreitigen Rechtspflege u. s. w. kann auch
in dritter Instanz das Rechtsmittel der Beschwerde stattfinden.
342 Uppström.
Durch die Nullitätsklage wird die VoUstrcckbarkeit des un-
getüchtenen Urtheils nicht gehemmt^ sofern nicht anders von
dem Beschwerdegericht verfügt wird. Hinterlegungs - und
^Sicherstellungspflicht liegt dem Beschwerdeführer in dritter
Inatanz ob. Ueber die ordnungsmässig eingelegte Beschwerde
wird der Gegner gehört. Für Dispachesachen gelten besondere
Vorschriften (siehe Note 29).
5. Die Wiederaufnahme des Verfahrens sowie die
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Ver-
säumuiss der Nothfristen ^'^) in gewissen Fällen kann aus
triftigen Gründen, oder wenn neue Thatsachen oder Beweise
beigebracht werden, vom obersten Gerichtshof (Finnl. Just.-Dep.
des Kaiser]. Senats) bewilligt werden. Durch den Antrag auf
Wiederaufnahme des Verfahrens wird die Vollstreckbarkeit
des Urtheils nicht gehemmt. Betr. die Sicherstellungspflicht etc.
siehe oben 3, 4.
C. Vollstreckung und SicherungsmitteP^).
Die Urtheile der Unter- Gerichte können in Schweden in
der Regel unbehindert von der Einlegung eines Rechtsmittels
(vergl. B. IV: 4, 5) durch Zwangsvollstreckung (vorzugsweise
Pfändung) von den Exekutionsbeamten ^^) vollzogen werden.
Der unterliegenden Partei, die die Berufung eingelegt hat,
steht es jedoch frei, sich durch Pfand- oder Cautionsstellung
dagegen zu verwahren. In Finnland wird die Vollstreckbar-
keit der Urtheile — mit Ausnahme für Wechsel- und See-
rechtssachen — durch die Berufung gehemmt. Das vom
Exekutor Gepfändete kann gegen Caution oder Pfand von der
^') In Berulungssaclieii können die Hofgerichte bei unverschuldeten
Versäumungen in besonders bezeichneten Fällen die Wiedereinsetzung
bewilligen,
^^) Utsökningslag Kap. 3, 4, 7. Ges. von Schiedsrichtern 28. Oktober
1887. Seegesetz § 331.
^^) Kronenvoigt (in Schweden auch Stadtvoigt) und Unterbeamten,
die alle dem Oberexekutor (Prov. Reg.) untergeordnet sind.
Der Zivilprozess und die Gerichtsverfassung- Schwedens. 343
obsiegenden Partei erhoben^ aber nicht zwangsweise versteigert
werden^ ehe das betr. Urtheil bestätigt oder rechtskräftig ge-
worden ist. Für die Exekutionskosten ist der Exekutor be-
rechtigt, einen Vorschuss zu verlangen.
Von den Gerichten bestätigte Vergleiche sowie gesetzlich
zu Stande gebrachte Schiedssprüche sind wie rechtskräftige
Urtheile vollstreckbar.
Von ausländischen Urtheilen sind in Schweden nur die
dänischen (kraft Staatsvertrages) vollstreckbar ; in Finnland
keine.
Vorläufige Sicherungsmittel sind Arrest, Verbot gegen
Veräusserung; BeiseiteschafFung oder Aufenthaltswechsel u. s. w.
Die Schuldhaft ist in Schweden aufgehoben.
D. Kostenwesen.
1. Gerichtskosten^^). Ueber den Kostenpunkt Avird
nebst der Hauptsache erkannt. Bei den Untergerichten kann
jedoch eine besondere Klage darüber vorbehalten werden.
Die Parteien müssen den Betrag ihrer Kosten rechtzeitig
(bei den Untergerichten vor dem Schluss der Verhandlung)
angeben. Ist die Sache so dunkel und zweifelhaft, dass ge-
gründete Ursachen zum Prozesse vorhanden waren, oder ist
der obsiegenden Partei ein richterlicher Eid auferlegt, findet
keine Kostenerstattungspflicht statt. Wenn die Parteien wech-
selweise obsiegen und unterliegen, oder wenn die im Unter-
gericht gewinnende Partei im Obergericht unterliegt, sind die
Kosten zu compensiren.
2. Gerichtskosten-Beträge^^):
Die Vorladungsresolution kostet an Stempel und Gebühren in
Schweden 2 Kr. (Finnland 2.50 Mk.).
Die Zustellungsbeauftragten bekommen ein Jeder für jede
BehändigungÖO Oere (Finnl. 60 penni) nebst etwa nöthigen Reisekosten.
40) Rgs.-B. Kap. 21.
4^3 Verordnung von Expeditionsgebühren vom 7. Dezember 1883;
Verordnung von Stempelabgaben vom 5. Dezember 1890.
344 Uppström.
P rot. und Urtheil bei den Unterge richten (gewöhnlich im Zu-
sammenhang ausgel'ertigt) kosten an Stempel und Gebühren in Schweden
rUr den ersten Bogen 3 Kr., Finnland 4 Mk., l'iir jeden folgenden 2 Kr.,
1.50 Mk.
Die Urtheile der Hol'gerichte werden in Schweden mit
Stempel versehen, von 10 Kr. für den ersten Bogen (Finnl. Stempel und
Gebühren 10 Mk.), für jede folgende 2 Kr. (Finnl. 5 Mk.).
Bescheid über Revisionsgesuch sowie über Erfüllung der
vorgeschriebenen Prästanda und die Protokolle des Hofgerichtes für
die revisionssuchende Partei werden bezahlt mit 4 Kr. (Stempel) für den
ersten Bogen, 2 Kr. für jeden folgenden; in Finnl. bez. 7 — 4 Mk. Dies
alles obligatorisch. Für Prot., die auf facultatives Begehren ausgegeben
werden, sind die Kosten geringer.
Die Urtheile der dritten Instanz werden in Schweden für
den Revisionskläger mit Stempel zu 20 Kr. für den ersten Bogen, 5 Kr.
für jeden folgenden Bogen versehen. Dem Revisionsbeklagten wird auf
Verlangen ein Ex. des Urth. (nach Maassstab der Kosten für Prot., deren
Auslösung nicht obligatorisch ist), gegen Stempel und Gebühr, zusammen
4 Kr. für den ersten Bogen, 2.50 für jeden folgenden, ausgegeben.
Die Urtheile der obersten Instanz in Finnland werden mit Stempel
zu 4 Mk. pro Bogen versehen.
Andere Abgaben für das Verfahren finden nicht statt.
I Die Exekutions k Osten ^^) (die auch mitgepfändet werden), be-
tragen in Schweden:
a) beiMobilien, für die Pfändung zusammen 3 Kr. nebst etwa
erforderlichen Reisekosten, für die Versteigerung 2 Kr. nebst Reise-
kosten.
b) bei Immobilien: für die Pfändung wie bei a); für die Ver-
steigerung, auf dem Lande, ausser Reisekosten, IY2 Prozent vom
Kaufpreis desPfandobjects bis zu 1500 Kr., darüber hinaus bis zu 7500 Kr.
1 Proz., von 7500 bis zu 15000 Kr. ^4 Proz., und für darüber Hinaus-
gehendes V2 Proz., jedoch nicht über 500 Kronen.
Für die Städte gelten betreffend Versteigerung von Immobilien be-
sondere Vorschriften ; (in Stockholm ist lür einen Kaufpreis von 100 000 Kr.
Vs Proz., lür das darüber Hinausgehende ^jio Proz. zu zahlen).
In Finnland betragen die Fxekutionskosten , auf dem Lande,
betreffs Mob ilien 8 Mk. für jede Pfändung (bezw. Versteigerung), wenn
die Entfernung vom Wohnsitz des Exekutionsbeamten bis zu dem Ort,
^2) Verordnung vom 12. Juli 1878. Erlass vom 10. Okt. 1890.
Der Zivilprozess und die Gerichtsverfassung Schwedens. 345
wo die Objekte sind, 50 Werst (circa 53 Kilometer) nicht übersteigt.
Ist die Entfernung- grösser, kommen die Reisekosten hinzu.
Bei Exekution an Immobilien wird, falls der Verkauf bei der
Provinzialregierung stattfindet, bezahlt: Vj-z Proz. vom Werthe des
Eigenthums bis zu 48000 Mk., darüber hinaus bis 24000 Mk. 1 Proz.;
von 24000 Mk. bis 48000 Mk. ^i Proz. und für darüber Hinausgehendes
V2 Proz.; geschieht aber der Verkauf anderswo, bezw. 1 Proz., ^/4 Proz.,
72 Proz. und V^ Proz.
In den Städten betragen die Kosten für Exekution an Grund-
besitz IV2 Proz. vom Werthe und für bewegliches Eigenthum 2 Mk.,
falls die Verrichtung weniger als einen Tag in Anspruch nimmt; dauert
sie aber einen ganzen Tag oder länger, 8 Mk. per Tag. —
Für den Exekutionsbefehl wird 1 Mk. bezahlt.
3. AnwaltsgebühreE. Die Honorare und Entschädi-
gungen der Rechtsanwälte (worüber es keine gesetzliche Be-
stimmungen giebt), werden in Stockholm usuell nach etwa
folgenden Normen berechnet ^^).
Bei Eintreibung von Forderungen auf Grund klarer
Schuldscheine u. dergl. im Wege des Exekutiv-Verfahrens
beträgt das Honorar 5 — G Proz. der einzutreibenden Summe.
In streitigen Sachen, die grössere Werthe betreffen,
wird unter Voraussetzung, dass die Sache gewonnen wird,
derselbe Prozentsatz von dem nach Vollstreckung des Urtheils
für den Gläubiger erlangten Betrag, bezw. von dem Werthe
des zuerkannten Streitgegenstandes berechnet. Bei einem ge-
ringeren Streitgegenstand stellt sich der Prozentsatz höher
(etwa 10 Proz.). Für den Fall des Unterliegens wird ein
geringerer Betrag als Minimalsatz festgestellt. Ausser dem
Honorar, welches hauptsächlich als Vergütigung für Infor-
mation, Geschäftsbetrieb, Schriftsätze u. dgl. zu betrachten
ist, wird für jeden Termin bei den Untergerichten in dem
Ort, wo der Anwalt wohnt, eine Summe von 15 — 25 Kronen
bezahlt. Für das Erscheinen bei Gerichten an anderen Orten
werden 50 — 100 Kronen an Tagegeldern nebst Fuhrkosten
^^) Nach geneigter Mittheilung des Herrn Rechtsanwalts E. Udden-
berg, Stockholm.
346 U})psti'üm.
gefordert. — In zweiter Instanz wird, wenn Anderes nicht
vereinbart ist, ein Pauschquantum von 50 Kronen, in dritter
Instanz 100 Kronen, nebst etwaigen Gebühren für Schriftsätze,
berechnet. — In der Provinz stellen sich die Sätze niedriger.
Für Finnland können keine Nornaen betr. die Berech-
nung der Honorare aufgestellt werden.
4. Armenrecht. Die Armen sind von Stempel und
Gerichtsgebühren (Behändigungskosten ausgenommen), sowie
von Hinterlegungs - und Sicherstellungspflicht, Revisions-
abgabe (B. IV: 3) u. dgl. frei. Die etwa vom Gericht ge-
nehmigten Anwälte sind verpflichtet, den Armen umsonst vor
dem Gericht Beistand zu leisten.
5. Bez. Konkurskosten siehe E.
E. Konkursverfahren*^).
Die Eröffnung des Konkursverfahrens (welches auf Nicht-
kaufleute ebenso wie auf Kaufleute Anwendung findet) setzt
die EinwilHgung des Gemeinschuldners oder seine nachweis-
liche Zahlungsunfähigkeit (Zahlungseinstellung u. dgl.) oder
Entweichung voraus*^). Das Konkursverfahren kann auf
schriftlichen Antrag*^) des Gemeinschuldners oder eines
^4) Konk.-Ges. vom 18. Sept. 1862. — Für Konkurse von Privat-
banken, die Banknoten ausgeben, Bankactiengesellschaften und Spar-
banken gelten in Schweden theilweise besondere Vorschriften. [Auch
über den Konkurs von Eisenbahnen, vgl. Kohl er, Lehrb. des Konkurs-
rechts S. 49, 276. D. Red.]
'*^) Die Auseinandersetzung der Gütergemeinschaft zum Besten der
Ehefrau (bezw. ihrer nachgelassenen Kinder) kann im Zusammenhange
mit dem Konkurs erfolgen. Die Ehefrau kann, wenn solche Auseinander-
setzung beantragt ist, im Konkurs ihres Mannes Forderungen geltend
machen. Im Konkurs wird für sie ein Geschäftsführer gerichtlicherseits
verordnet, — und wenn Auseinandersetzung der Gütergemeinschaft sonst
beantragt ist, auf ihr Verlangen. — Ueber Nachlasskonkurs siehe
S. 350.
''^) Alle Schriftstücke in Konkurssachen sollen in duplo eingereicht
werden oder werden dem Betrelfenden die Kosten für Abschriften auferlegt.
Der Zivilprozess und die Gerichtsverfassung Schwedens. 347
Gläubigers eröffnet werden. Für das zuständige Gericht ist
der allgemeine persönliche Gerichtsstand des Gemeinschuldners
bestimmend. Wird die Eröffnung des Konkursverfahrens von
einem Gläubiger beantragt, so hat der Richter die schleunige
Anhörung des Schuldners anzuordnen. Ueber die vom
Schuldner etwa gemachten Einreden entscheidet das Gericht.
Gegen die Entscheidung des Gerichts findet Beschwerde an
das vorgesetzte Gericht statt.
Wird die Eröffnung des Konkurses angeordnet, so wer-
den die Gläubiger durch Edictalladung (Proclama) berufen
spätestens an einem bestimmten Tage (in Schweden nach 2,
höchstens vor dem Ablauf von 4 Monaten seit dem Eröffnungs-
beschlusse, in Finnland 2 — 6 Monate von dem unten er-
wähnten „ersten Verhör" gerechnet) ihre Forderungen beim
Gericht (auf dem Lande beim Richter) schriftlich (in Finn-
land auch mündlich, wenn der Gläubiger unbemittelt ist und
nicht schreiben kann) anzumeldend^). Die Edict.-L. wird
durch Anschlag an der Gerichtsthür und durch Kundmachung
in den Zeitungen veröffentlicht. Inländische Gläubiger
werden besonders benachrichtigt.
Bei der Eröffnung des Konkurses verfügt das Gericht
(auf dem Lande der Richter) die Aufnahme des Inventars,
wenn ein solches nicht schon vom Schuldner eingereicht wor-
den ist. Das Inventar muss vom Gemeinschuldner (bezw.
auch von seiner Ehefrau, Dienerschaft u. a., welche vom Ver-
mögenszustand des Schuldners Kenntniss haben), beeidigt
werden. Die Verwaltung der Masse wird bis zum Proclama-
tage von einstweiligen Syndiken geführt. Ausserdem wird
in Schweden vom Gericht (Richter) ein Gerichtskommissar, in
den vorher (E. Not. 44) erwähnten Bankkonkursen ausserdem
ein besonderer öffentlicher Anwalt ernannt, deren Obliegen-
heiten im Gesetz näher bestimmt sind^^). Definitive Syndiken
^^3 Siehe E. Note 46.
^^) Bei dem (sog. ersten) Verhör gescliieht in der Regel die Be-
348 Uppström.
(Curatoren, Sysslomän) werden am Proclamatage von den
Gläubigern gewählt. Die Verwaltung und Verwerthung des
Schuldvermögens, sowie die Vertheilung der Netto-Masse er-
folgt, den gesetzlichen Vorschriften gemäss, unter der Leitung
der Syndiken und des Gerichts- Kommissars nach Berathung
mit den Konkurs-Gläubigern und dem Gemeinschuldner, bezw.
nach dem Beschluss der Gläubiger.
Die angemeldeten Forderungen'^^), welche in Finnland in
der Regel unbedingt, in Schweden nach Antrag, beeidigt
werden müssen, werden auf dem Proclamatage (in Finnland
auch bei besonderen „Aufrufen") zur (vorläufigen, bezw. end-
gültigen) Behandlung vorgenommen^^). Die Anmeldungen
sollen die Angabe der Forderung sowie des beanspruchten
Vorrechts enthalten. Die urkundlichen Beweisstücke oder Ab-
schriften derselben sind beizufügen. Die Angabe eines be-
stimmten Betrages ist bei dieser Gelegenheit in Schweden
nicht unbedingt erforderlich; in Finnland muss ein Höchst-
betrag bezeichnet werden.
Will Jemand Einwendungen gegen eine Forderung oder
das beanspruchte Vorrecht machen, so wird in Schweden eine
bestimmte Zeit festgesezt, binnen welcher schriftliche Anträge
an das Gericht (den Richter) eingereicht werden müssen, so-
wie eine Zusammenkunft vor dem Gerichtskommissar anbe-
raumt, wobei schriftliche Gegenanträge abzugeben sind und
die Parteien sich zu einigen angehalten werden. Die nicht
beigelegten Streitigkeiten werden an das Konkursgericht, wo
weitere Begründung gemachter Behauptungen nur, wenn dies
bei obenerwähnter Zusammenkunft vorbehalten, bezw. vom
Gericht nöthig erachtet wird, stattfindet, zu schleuniger Be-
eidigung des Inventars, sowie die Wahl von einstweiligen Syndiken,
wobei die Gläubiger mitwirken, und die Ernennung des Ger.-Kommissars.
^3) Siehe E. Note 4G.
^°) Bei nachträglicher Anmeldung von Forderungen (die in Finn-
land nicht zulässig ist), findet in Schweden ein besonderer Prülungs-
termin statt.
Der Zivilprozess und die Gerichtsverfassung Schwedens. 349
urtheilung verwiesen. Was im Prüfungstermin anerkannt
wird oder unangefochten bleibt, kann nachträglich nicht an-
gefochten werden.
Gegen das Urtheil des Konkursgerichts findet Berufung
statt. Neue Beweise sind in Konkurssachen in der Berufungs-
Instanz, wo sie als Schleunigkeitssachen behandelt werden,
nur dann zulässig, wenn der Berufungskläger gerichtlicher-
seits verhindert worden ist, sie vorher zu führen, oder das
angefochtene Urtheil auf andere Gründe als die von den
Parteien vorgebrachten gestützt ist.
Zwangsvergleich. Ein von den Konkursgläubigern
in Schweden durch Abstimmung nach Maassstab des Konkurs-
gesetzes angenommener Vorschlag eines Zwangsvergleiches
(Accord)^^), sowie Einreden gegen die Vertheilungsvorschläge
der Sjndiken werden vom Gericht nach Anhörung der Parteien
geprüft. Der Zwangsvergleich ist unzulässig, wenn der Be-
schluss der Gläubiger nicht gesetzmässig zu Stande gekommen
war, wenn der Schuldner wegen Betrugs oder Unehrlichkeit
gegen die Gläubiger verurtheilt, bezw. angeklagt oder ver-
dächtigt ist, — wenn der Zwangsvergleich nicht allen unpriori-
tirten Gläubigern gleiches Recht gewährt, — wenn alle be-
treffende Gläubiger nicht mindestens 50 Proz. ihrer Forderungs-
beträge, spätestens ein Jahr nach der Feststellung des Accords
zahlbar, erhalten, es sei denn, dass welche derselben in etwas
Anderes ausdrücklich eingewilligt haben, — oder wenn der
Zwangsvergleich den Gläubigern offenbar nachtheilig ist.
Die Syndiken sind für die Verwaltung wie Mandatarien
verantwortlich, und den Gläubigern, sowie dem Gemein-
schuldner zur Rechnungslegung verpflichtet. Die Klage gegen
die Schlussrechnung steht den Betreffenden binnen einer Frist
von 3 Monaten zu. Das Honorar der Syndiken wird von den
^^) In Finnland ist Accord nur unter Zustimmung sämmtlicher
Gläubiger, von welchen Forderungen angemeldet sind, zulässig. In
Schweden darf Zwangsvergleich nicht Banken und dergleichen Ein-
richtungen bewilligt werden.
350 Uppström. Der Zivilprozess und die Gerichtsverlassung Schwedens.
Gläubigern bestimmt, vorbehaltlich der Entscheidung des Ge-
richts, wenn Streitigkeiten darüber entstehen ^^). Das Honorar
des Gerichtskommissars wird auf den Vorschlag der Gläubiger
vom Gericht festgestellt.
Kosten. Bei Abweisung des Konkurseröffnungsantrages
fallen die Kosten dem Antragsteller zur Last. Im Fall der
Eröffnung des Konkurses gehören die Gerichtskosten zu den
Massenkosten. Mit der ordnungsmässigen Anmeldung einer
Konkursforderung sind keine Kosten verbunden (ausser etwa
für Vertretung durch einen Bevollmächtigten).
Die Gerichtskosten bei einem Konkurs (incl. für
etwaige Reisen des Richters auf dem Lande, gerichtliche Be-
kanntmachungen u. dergl.) können zu etwa 100 Kronen be-
rechnet werden. Die Verwaltungskosten betragen 1 — 2 Proz.
vom Werthe des Grundeigenthums und 0 — 10 Proz. vom
Werthe der Mobilien (ausschliesslich Kosten für Bekannt-
machungen, etwaige Reisen der Syndiken u. s. w.).
Nachlasskonkurs. Ein Erbe, der die Verantwortlich-
keit für die Schulden des Erblassers nicht übernehmen will,
bezw. der Ueberlebende von den Ehegatten, hat binnen eines
Monats nach dem Abschluss der Inventaraufnahme oder, wenn
neue Schulden nachträglich bekannt werden, binnen derselben
Zeit, nachdem er von solchen Schulden Kenntniss erhielt, die
Erbschaft an den Konkurs abzutreten. Näheres siehe die Ver-
ordnung über die Rechtswohlthat des Inventars und die Ver-
zichtleistung auf die Erbschaft vom 18. September 1862.
52
3 Siehe E. Note 44.
IX.
Zum japanischen Recht.
Von
Karl Friedrichs.
[Mit Bemerkungen und Zusätzen von J. Kohler] ^).
Die nachfolgenden Ausführungen enthalten ausschliess-
lich Mittheilungen, welche mir Herr Sughi-Yama, Licentiat
der Rechte und Hilfsarbeiter am kaiserlich japanischen
Justizministerium, gebürtig aus dem japanischen ehemaligen
Lehnsfürstenthum Koga bei Tokio, während seines Aufenthalts
in Breslau 1889 gemacht hat. Ich gebe dieselben so wieder,
wie ich sie gehört habe, da sie zwar manches Bekannte, aber
auch viel Neues enthalten, das sich aus dem Bücherstudium
nur schwierig oder garnicht ermitteln lässt.
I. PersonenrecM.
§ 1.
1. Alter.
Die Namengebung findet am siebenten Lebenstage statt ^).
[Vgl. auch Rein I, p.495; ist übrigens verschieden, inKiusiu nach
^) [Ich habe auf Grund der vorliegenden Arbeit mit Herrn Staats-
anwalt Yo cot a aus Japan Konferenzen gepflogen, welche die hier folgen-
den Angaben im Wesentlichen bestätigten. Wo im Einzelnen etliche Be-
schränkungen, Vorbehalte, Abänderungen zu Tage traten, habe ich
Zusätze gemacht. Dessgleichen habe ich aus meinen sonstigen Studien
verschiedenes Weitere beigegeben. Alles, was ich auf solche Weise zu-
gefügt habe, ist mit eckigen Klammern [ ] bezeichnet. Ausserdem ver-
weise ich auf nachfolgende Arbeit von mir, S. 376 f. Kohl er.]
2) Ploss, Kind in Brauch und Sitte 1 S. 292.
352 Friedrichs [und KoiilerJ.
100 Tagen.] Die Japaner haben Familiennamen und Rufnamen ;
die letzteren werden nachgesetzt, „wie es bei den Chinesen, den
Ungarn und in den Registern der deutschen Behörden üblich
ist" ^). Wenn ein Kind durch den Tod seines pater familias
selbst Familienhaupt wird, so konnte es vor 1808 den Vor-
namen seines Vaters annehmen. Das ist aber nicht mit
unserer Uebernahme der väterlichen Firma zu vergleichen, son-
dern eine wirkliche Namensänderung, da sie auch im Krieger-
stande vorkommt, dessen Mitglieder keine Geschäfte treiben
und keine Firmen haben. Diese Namensänderung war nicht
obligatorisch, sondern facultativ und nicht jeder machte Ge-
brauch davon ^); jetzt ist dieselbe sehr erschwert worden, da
bei den japanischen Behörden Familienlisten geführt werden,
und in diese nur im Falle nachgewiesenen Bedürfnisses
(also wenn zwei Personen mit gleichem Ruf- und Familien-
namen in derselben Gemeinde leben) eine Namensänderung
eingetragen werden darf. Ein Schauspieler, wenn Sohn eines
berühmten Schauspielers, nimmt den Namen seines Vaters als
Theaternamen an, oder den Namen eines berühmten Vor-
fahren ^).
Die erste Namengebung erfolgt durch den Vater des
Kindes nach Berathung mit der Familie; aber nie, oder nur
vereinzelt durchs Loos ^). In vielen Provinzen ist es Sitte,
dass der Vater dem ältesten Sohne seinen eigenen Knaben-
namen giebt.
^) Herr Sughi-Yama hat die Registerführung bei der königliclien
Staatsanwaltschaft in Breslau kennen gelernt. KF.
^) [Vgl. auch Weipert, Mittheil, der deutschen Gesellsch. f. Ost-
asien V S. 87. Der Familienname bei den Samurai war der sei, der
Personenname mei; während der Lebzeit des Vaters führte der künftige
Erbe einen Minderjährigkeitsnamen (yomei), dann nahm er den Namen
des Vaters an, K.]
^) [Es kam auch vor, dass der Schauspieler einen Knaben, den er
in seine Kunst einweihte, quasi adoptirte und ihm seinen Namen gab :
geido-yoshi; \gU Weipert S. 111, 112. K.]
^) Dies stellt Ploss 1, 161 nach Kudriaffsky als die Req:el hin.
Zum japanischen Recht. 353
Ein officieller Beginn der Mündigkeit, wie das römische
14. bezw. 12. Lebensjahr, besteht in Japan nicht. Die An-
nahme der männlichen Frisur erfolgte früher mit dem 18. bis
20. Jahre, aber die Zeit war nicht fest bestimmt [auch mit
17 Jahren, ja 15 Jahren]^); seit 1868 ist auch dieses Zeichen
des erwachsenen Alters im Wesentlichen gefallen.
Eine gesetzliche Gränze des Heirathsalters hat es nie
gegeben. Die natürliche Pubertät tritt in Japan wenig früher
als in Deutschland ein. In den 300 Jahren des ununterbrochenen
Friedens (bis zum Jahre 1868), während die Lebensverhält-
nisse sehr behäbig waren, konnte jeder Mann mit 20 Jahren
heirathen und nahm dann ein ganz junges Mädchen zur Frau.
Heute sind die Erwerbsverhältnisse schwieriger gewor-
den und so frühe Heirathen verbieten sich von selbst. Män-
ner verehelichen sich etwa mit 27 Jahren, bei reichen und
gebildeten Mädchen kommt es vor, dass sie mit 18 — 20 Jahren
heirathen; eine solche Ehe gilt aber als recht frühzeitig [ist
verschieden nach den Verhältnissen].
§ 2.
2. Stände.
Vor der Restauration waren die Kugi [Kuge]; der Hof-
adel, die angesehensten Personen nach dem Mikado; dabei
hatten dieselben weder politischen Einfluss noch Vermögen,
sondern bezogen entweder Renten vom Mikado oder lebten
in Armuth; einige sollen sich auch, durch Noth gedrungen,
an industriellen Unternehmungen betheiligt haben ^).
0 [Vgl. auch Weipert S. 119. K.]
^) [Den Einfluss der Kuge, des Hofadels, zu schwächen im Interesse
des Militäradels, der Büke, war die Politik der Tokugawa, welche
bekanntlich das Shogunat von 1603—1867 erblich führten. In den 18 Ge-
setzen des ersten Tokugawa, in den Gesetzen lyeyasu's von 1615 a. 10,
ist vorgesehen, dass eine eheliche Verbindung zwischen Kuge und Büke
nur mit Genehmigung des Shogun geschelien könne und dass die Kuge eine
solche Ehe nicht benützen sollten, um von den Büke Geld zu erlangen.
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. X. Band. 23
354 Friedrichs [und Kohler].
In den der Centralverwaltung des Kaisers unmittelbar
unterstehenden Gebieten war nach dem Kaiser die erste Per-
son der Taikun ; dann kamen zwei Klassen Adliger, die Fu-
dai-daimio (landsässigen Fürsten) und die Chatamoto (Ritter) ;
aus den Letzteren war die Leibwache der Taikune entnommen.
[Dazu kamen die Gokenin oder Hausmannen; die Chatamotos
hatten ein Einkommen von 300 — 10000 Koku, die Gokenin
unter 300 Koku; vergl. Rudorff, Mittheil. d. Gesellsch. f.
Ostasien IV. p. 383. Die Chatamotos wurden zu Dienst-
leistungen für die Shogun verwendet; vergl. lyeyasu's 100
Gesetze a. 62. Vergl. auch Adam's History of Japan I
p. 74, 75. K.]
Als besondere Ehrenbezeugung wurde einigen der Fudaf-
daimio und Chatamoto der Titel No-kami (Propraetor, Statt-
halter) verliehen; no ist Genitivbezeichnung, kami = Statthalter:
[früher war solches eine wirkliche Statthaltung, später nur
Ehrentitel : Statthalter von dem oder dem KreisJ ; beide galten
als Unterthanen des Taikun, einige von ihnen hatten Ver-
waltungsstellen inne und somit ihrerseits wieder Unterthanen.
In den Lehnsfürstenthümern stand an der Spitze eines
jeden der Koku-si-daimio (Koku-si heisst Landesherr) ^). In
Vgl. Rudorff, Tokugawagesetzsammlung S. 2. Aber auch schon vor den
Tokugawas wurden die Kuges geschwächt; der Hauptunterdrücker der-
selben und der Mann, welcher der japanischen Gesellschaft (neben lyeyasu)
hauptsächlich das Gepräge verlieh, war der erste shogun, Yoritomo,
Ende des 12. Jahrhundert?. Indem er als Krieger die Hausmeierschaft
übernahm und seine Leute als Militärstatthalter in das Land setzte,
schwächte er die Macht der Kuge, welche Jahrhunderte lang unter den
Fujiwaras (den früheren Hausmeiern) das Regiment geführt hatten. Die
Kuges lebten von nun an meist in Kioto, wie der Mikado selbst, von
jedem Einfluss auf die Regierung abgeschnitten, bis in den 50er Jahren
dieses Jahrhunderts das Shogunat in Niedergang kam. Vgl. auch Rein,
Japan I S. 367 f., Adams, History of Japan I p. 18 f., Reed, Japan I
S. 137 f. K.]
^) [Der Unterschied zwischen den Fudai und den übrigen Fürsten
(auch Tos am a) rührt von dem Begründer der Tokugawa, von lyeyasu
her; er suchte die ihm getreuen Fürsten durch besondere Ehrenbezeugungen
Zum japanischen Recht. 355
ihren Gebieten lebten keine Fudai-daimio und keine Chata-
moto.
Die Kokii-si-daimio hatten gleichen Rang mit den Kugi
[der Kuge hatte im Allgemeinen höhern Rang, doch gab es
einige Koku-si-daimios, die ebenso hoch rangirten ; übrigens be-
standen mehrere Rangstufen der Kuge] und dem Taikun, der
letzte war einer ihresgleichen, aber princeps inter pares und
hatte zu allen Zeiten eine thatsächliche unbeschränkte Auto-
rität über sie. Die Koku-si-daimio mussten stets ein Haus
in der Hauptstadt haben und dasselbe durch einen Theil des
Jahres bewohnen. Die Häuser waren durch eine Wache vor
den Thoren gekennzeichnet. In diesen Häusern hatte die
vom Taikun vertretene Centralregierung sehr wenig Gewalt.
Es war der Polizei sehr schwer, in dieselben einzudringen,
so dass auch niemals festzustellen war, ob ein verfolgter Ver-
brecher sich in demselben befand oder nicht; sie hatten da-
her keine rechtliche, aber eine thatsächliche Asylgewalt ^^).
für sich zu gewinnen. Vgl. seine 100 Gesetze a. 7, 9 und 10 (Rudorff,
Tokugawagesetze S. 5 und 6). üebrigens wird der Unterschied zwischen
den Kokushi und Fudai nicht immer in gleicher Weise gemacht. Als
lyeyasu die Tokugawadynastie gründete, gab es schon grosse und kleine
Landesherren, Daimios und Shomios, oder, wie er selbst unterscheidet
(a. 11 seine 100 Gesetze): Kokushi, Rioshu und Joshu (Schlossherren);
alle zusammen bildeten den Stand der Samurai. Von diesen hat lyeyasu
diejenigen, welche ihm vor dem Fall des Schlosses von Osaka anhingen
(a. 7 seiner 100 Gesetze) zu Fudai gemacht, d. h. sie als seine Vasallen
erklärt, aber zugleich bestimmt, dass die regierenden Beamten aus ihnen
genommen werden sollen (a. 9 seiner 100 Gesetze). Daher können auch
grosse Fudai- Vasallen mit Kokushi bezeichnet werden. Auf der anderen
Seite sind nicht alle Tosamas Kokushi. Aus seinen kleinen Dienst-
vasallen nahm der Shogun seine Chatamotos und Gokenins; daher konnten
solche natürlich nur im Shogunlande vorkommen. Vgl. hierzu unten
S. 433 f., Rudorff in den Mittheilungen des Ges. f. Ostasien IV S. 381,
Gubbins in den Transactions of the Society of Japan XV S. 131 f..
Rein, Japan I S. 370 f. K.]
^^) [üebrigens war die Verpflichtung der Landesherren, in Yeddo ein
Haus zu haben, eine Massnahme der Shoguns, um die Landesfürsten im
356 Friedrichs [und Köhler].
Wenn der Koku-si-daimio von der Hauptstadt nach Haus und
zurück reiste, so wurden aus jeder durchzogenen Gemeinde
zwei [manchmal auch mehrj Landleute requirirt, welche dem Zuge
vorangingen und allen Vorübergehenden ein „Schtan Schtan"
[Sitani-Sitani (d. h. nieder)] zuriefen, worauf diese nieder-
knieten, bis der Koku-si-daimio vorbei war. Die Koku-si-
daimio hatten unter einander eine bestimmte Rangordnung,
welche für das Ausweichen und Grüssen auf der Strasse von
Bedeutung war.
Wie der Taikun in den Reichsunmittelbaren, so hatten
auch die Lehensfürsten in ihren Gebieten eine Art von After-
lehen. Es kam nämlich vor, dass die Koku-si-daimio einzelnen
ihrer ünterthanen einen Theil ihres Landes zur Verwaltung
übertrugen mit dem Rechte, die Steuern ganz oder zum Theil
für eigene Rechnung zu erheben. Diese Verwalter betrach-
teten ihre Steuerzahler als ihre ünterthanen, wie sie selbst
Ünterthanen ihres Koku-si-daimio waren. Solche Afterlehen
waren aber verhältnissmässig selten.
Durch die Restauration von 18G8 und die darauf er-
folgte Einziehung aller Lehensländereien ist die Stellung der
Koku-si-daimio sehr verändert worden. Sie sind jetzt einfache
Privatleute, aber sie beziehen als Entschädigung für die ihnen
genommenen Rechte eine Rente und zwar alle achtzehn ehe-
maligen Koku-si-daimio zusammen die jährlichen Zinsen eines
Capitals von 154 Millionen Yen^^).
Bald nach der Restauration wurden alle Adelstitel und
-Vorrechte aufgehoben; aber im Jahre 1882 ist durch Gesetz
ein neuer Adel geschaffen. Dieser Adel besteht
a) aus den früheren Daimio;
b) aus den früheren Kugi [Kuge];
c) aus solchen Leuten, welche sich um die Restauration
verdient gemacht haben.
Zaume zuhalten; sie stammt von dem dritten Tokugawa, von lyemitsu
her; vgl. Rudorff in den Mittheil. d. Gesellsch. f. Ostasien IV S. 380.
^0 Ein Yen = M. 4,12. KF.]
Zum japanischen Recht. 357
Der neue Adel besteht ans fünf Klassen; seine Privi-
legien sollen noch durch Gesetz festgestellt werden ^^).
Nach dem Adel giebt es vier bürgerliche Stände, welche
noch heute bestehen. Es sind dies die
Si oder Samurai ^^)^ Krieger;
No Bauern;
Ko Handwerker und Arbeiter;
Sjo Kaufleute.
Das Ansehen derselben unter einander ist ziemlich gleich,
nur die Samurai scheinen sich einen Vorrang anzumassen
[faktisch] 1*).
Die Samurai, Krieger, und die Jakonin, Beamten, tru-
gen zwei Schwerter ^^), die Ortsvorsteher ein Schwert, Die
alten Samurai, welche ihren Posten und ihr Recht auf Renten-
bezug schon bei Lebzeiten an einen Sohn abgegeben hatten,
pflegten als Erinnerung an ihr ehemaliges Amt nur ein
Schwert zu tragen, und zwar ein ganz kleines [war verschieden,
manchmal auch zwei Schwerter] ^^). Die Beschäftigung der
Samurai war die Vorbereitung auf den Kriegsdienst. Wäh-
rend der dreihundertjährigen Friedenszeit lagen sie auch
^^) [Nach der japanischen Verfassung vom 11. Februar 1889 a. 34
und der Verordnung vom gleichen Tage sind die Mitglieder des Adels
theils von selbst Mitglieder der 1. Kammer des Parlaments, theils werden
aus ihnen Vertreter in die 1. Kammer vom Kaiser ernannt. K.]
^^) [Si ist chinesische Bezeichnung, aber auch in Japan gebräuch-
lich. K.]
^^) [Uebrigens erklären schon die lyeyasugesetze a. 44 die Samurai
für die erste Klasse, der die anderen höflich begegnen müssten ; ferner dass,
wenn ein Samurai Jemanden niederhaut, der ihm grob begegnete, man sich
nicht hineinmischen solle, Rudorff, Tokugawagesetzsamml. S.U. K.]
^^) [„Das umgegürtete Schwert ist der lebendige Geist des Samurai",
so lyeyasu in seinen 100 Gesetzen a. 3G, Rudorff, Togugawagesetz-
sammlung S. 10. Verlust des Schwerttragens, kaiehi, ist Strafe (unten
S. 397). K.]
^^) [Auf unbefugtes Tragen der Schwerter durch Bürger und Bauern
setzte der Kamporitsu Landesverweisung; vgl. Rudorff, Kamporitsu
S. 39. Vgl. auch unten S. 411. K.]
358 Friedrichs [und Köhler].
geistigen und wissenBcliaftlichen Bestrebungen ob, so daas im
Jahre 18G8 alle gebildeten Japaner dem Samuraistande an-
gehörten. Es galt für den Samurai für unpassend, wenn er
sich in Begleitung seiner Frau auf der Strasse sehen Hess,
da er seine Zeit nicht mit Spazierengehen vergeuden, sondern
exerciren und studiren sollte.
Der Stand der Samurai ist historisch aus dem der rei-
chen Landwirthe (gosi) hervorgegangen und entstanden. In
der letzten Zeit lebten die Krieger aber nicht mehr von der
Landwirthschaft, sondern bezogen feste Renten von den Fürsten.
Seit 18G8 haben sie statt der Renten Staatspapiere bekommen
und wie die Veräusserlichkeit des Besitzes immer Ungleich-
heit des Besitzes nach sich führt, so sind auch von den japa-
nischen Samuraifamilien viele verarmt.
Von den drei übrigen Ständen ist nur zu bemerken,
dass dieselben keine Waffen trugen, und dass die Sjo, Kauf-
leute, steuerfrei waren.
Die Vererblichkeit der einzelnen Gewerbe ist thatsäch-
lich häufig, aber weder durch Gesetz noch durch Sitte vor-
geschrieben. Sie wurzelt viel mehr in dem bei allen Japanern
überwiegenden Widerwillen gegen eine Ueberlassung des vä-
terlichen Anwesens an Fremde.
Unterhalb der vier Stände der Si, No, Ko, Sjo, standen bis
zur Restauration die Ita [Jeta] ^^), es waren die Lederbereiter,
Abdecker und Henker, und diejenigen, welche sich mit Ab-
fällen beschäftigten ^^). Sie hatten zum Theil ein grosses
^") [Die Jeta haben ein besonderes Oberhaupt, welches von Alters
her Gerichtsbarkeit hatte. Von den Jetas unterschieden sind die Hinin,
welche nicht von Geburt, aber durch Gewerbe oder zur Strafe ehrlos
sind; vgl. Rudorff, Kamporitsu S. 45; unten S. 397 i". Ueber den Vor-
stand der Jetas spricht auch schon lyeyasu in den 100 Gesetzen a. 35;
vgl. Rudorff, Tokugawagesetze S. 10. Ueber das Ganze vgl. Adam,
History of Japan I p. 77. K.]
^^) [Ueber ähnliche Verhältnisse in Korea vgl. Köhler in dieser
Zeitschr. VI S. 401, 402. K.]
Zum japanischen Recht. 359
Vermögen und pflegten Geld gegen Zinsen zu verleihen. Ein
Ita bekam niemals eine Tochter eines Si^ No, Ko oder Sjo zur
Ehe [vielleicht eine sehr arme]. Dieser Satz, der seinen
Grundursprung wohl nur in der gesellschaftlichen Sitte hatte,
hat sich mit der Zeit fast zum Gewohnheitsrechtssatz ge-
festigt.
Es galt nicht einmal für passend, wenn ein Mann aus
den vier bürgerlichen Ständen sich von einem Ita [Jeta] ein-
laden und bewirthen Hess und die Kinder der Samurai wur-
den von ihren Eltern gewarnt, in die Häuser der Ita einzu-
treten und dort Thee zu trinken. Es wird erzählt, dass ein
Ita einmal seine sämmtlichen Schuldner zu Gast geladen hatte.
Die meisten kamen nicht; die wenigen, welche der Einladung
Folge geleistet hatten, fanden auf ihrem Platze ihren Schuld-
schein qnittirt. Ein Beispiel für die Verachtung, in welcher
die Ita stehen, und für das Vermögen, welches sie oft
haben.
Die buddhistischen Priester und die Aerzte tragen je
eine besondere Tracht und beide den Kopf geschoren [ge-
wöhnliche Aerzte tragen jetzt auch Haar, fürstliche sind ge-
schoren; die Schintopriester hatten auch besondere Haartracht];
auf die Cultusbeamten des Schintodienstes, welche von Sughi-
Yama nicht als Priester betrachtet werden, bezieht sich dies
nicht. Im übrigen scheinen weder Priester noch Aerzte einen
besonderen Stand zu bilden.
Die Schmiede, welche in weniger cultivirten Ländern
eine besonders privilegirte Stellung einzunehmen pflegen, sind
in Japan in die Reihe der gewöhnlichen Arbeiter eingerückt
[der Schwertschmied hatte höheren Titel].
§ 3.
3. Ende der Persönlichkeit.
Früher gab es eine gesetzliche Trauerzeit. Seit der
Restauration existirt dieselbe jedoch nicht mehr.
360 Friedrichs [und Kohler].
Beim Tode eines Taikim pflegten sich einige treue
Diener zu entleiben. Dies ist später verboten worden ^^).
IL Familienreclit.
§ 4.
1. Ehe recht.
Im Kriegerstande wurde vor der Restauration die Ver-
letzung der Keuschheit an beiden Theilen bestraft [durch
Strafversetzung oder Hausarrest]. Doch konnte die Sache
durch eine Heirath oder auf andere Weise arrangirt werden.
Im Bauernstande wurde es nicht so streng genommen.
Für Männer ist der Besuch des Bordells zwar eine
Schande^ aber selbst für Verheirathete nicht strafbar; nur für
die Samurai war es vor der Restauration strafbar und eben-
so anscheinend für die buddhistischen Priester^ denn man
sagte ihnen nach, dass sie sich zu diesem Zwecke als Aerzte
verkleideten.
Die Ehefrau ist zur Treue gegen ihren Ehemann in
derselben Weise verpflichtet wie in Deutschland.
Die japanische Ebeform ist die der Monogamie, die Bi-
gamie ist strafbar.
Auch Kebsweiber existiren nicht [vgl. aber unten S. 448],
Die Personen, welche gemeiniglich so bezeichnet werden,
stehen in keiner rechtlichen Beziehung zu dem Manne, der
sie unterhält [wenn kein eheliches Kind vorhanden ist, erben
die Concubinatskinder ^*')].
Die Maitresse lebt auch nicht im Hause ihres Zu-
hälters, wenn sie nicht etwa zufällig gleichzeitig als Dienst-
^^) [Schon vor tausend Jahren verboten, es wurden an Stelle dessen
Lehmbilder begraben; vgl. unten S. 438. K.]
20) [Vgl. auch Weipert S. 108. Dies ist bereits altes Recht, es
ergibt sich insbesondere aus dem Taihorio, dem Gesetzbuch von 702
p. Chr.; vgl. Weipert S. 128. K.]
Zum japanischen Recht. 361
mädchen in der Familie eine Stellung hat [doch ist das sehr
verschieden]. Ihre Stellung ist wie in Frankreich, nur dass
man mehr und offener davon spricht.
Die Kinder der Maitressen können von ihrem Vater
adoptirt werden, wie jedes andere fremde Kind [waren keine
ehelichen Kinder vorhanden, so war dies üblichj.
Die ehehindernde Verwandtschaft reicht in Japan noch
etwas weiter als bei uns. Ausser den Ascendentinnen, De-
scendentinnen und Schwestern sind auch die Schwestern des
Vaters und der Mutter und die Töchter des Bruders und der
Schwester verboten. Vetter und Cousine dürfen sich heirathen.
Der chinesische Grundsatz, dass die Gleichheit des Familien-
namens ein Ehehinderniss begründet, ist in Japan nie durch-
geführt ^^).
Die buddhistischen Priester mehrerer Secten durften bis
zur Restauration überhaupt nicht heirathen, einige Zeit nach-
her ist ihnen die Ehe von Seiten des Staates erlaubt ^^).
Gute Priester lebten sehr keusch und das Institut der Zu-
^0 [Ueber ehemalige Geschwisterehe in uralten Zeiten nach den
Kojiki vgl. Weipert S. 95, Chamberlain in der Vorrede zu seiner
Kojikiübersetzung, in den Transact. of the Asiat. Soc. of Japan X, 2
S. XXXVIII; auch Ehen mit Tanten, Nichten und Stiefmütter werden
erwähnt. Die Ehe mit der Schwester scheint so gebräuchlich gewesen
zu sein, dass der Name Imo das Weib und die jüngere Schwester be-
zeichnete. Dagegen erhob sich die chinesische Cultur; vgl. den Kojiki
s. LIX, LXII, CXVIl (in der bezeichneten Uebersetzung p. 158, 167, 169,
264), namentlich aber CXLI f. (p. 296 f.), woraus hervorgeht, wie die
Schwesterehe späterhin als etwas Verpöntes galt. In s. XCVII p. 230
wird der Incest zwischen Eltern und Kindern als Verbrechen erwähnt
(vgl. unten S. 379). Den neuen Anschauungen entspricht es daher,
wenn in lyej^asu's 100 Gesetzen a. 45 bestimmt ist, dass man das Weib
nicht aus dem eigenen Geschlecht nehmen soll, Rudorff, Tokngawa-
gesetzsammlung S. 11. Doch hat sich das Gebot der Exogamie in Japan
nie auch nur annähernd so streng entwickelt, wie in China. K.]
^^) Vermuthlich in derselben Weise wie bei uns durch § 39 des
RG. vom 5. Februar 1875. KF.
302 Friedrichs [und Kohler].
Ijälteriniien, wie es in andern buddhistischen Ländern be-
steht ^^), ist in Japan nie eingebürgert gewesen.
Bei den Personen des Militärstandes ist die Eheschlies-
sung heut von der Erfüllung von Bedingungen abhängig,
welche Sughi-Yama mir nicht näher bezeichnet hat [Cautions-
leistung u. s. w.j.
Vor der Restauration konnten zwei Personen, von denen
der eine der einzige Sohn seiner Eltern und die andere die
einzige Tochter ihrer Eltern war, einander nicht heirathen,
da in diesem Falle eine Familie ausgestorben wäre. Heut hilft
man sich durch Adoption. [Unten S. 444.1
Vor der Restauration heiratheten die Krieger (Samurai)
nur unter einander und nur innerhalb des Lehensfürstenthums,
welchem sie angehörten [nicht ausnahmslos]. Heirathen zwi-
schen Fudai-daimio und Samurai waren sehr selten, noch
seltener aber zwischen Samurai und Chatamoto, da zwar keine
rechtliche Schranke bestand, auch Rang und Vermögen nicht
sehr verschieden war, aber weil die letzteren meist in der
Residenz des Taikun lebten.
Die Stände der No, Ko und Sjo heiratheten unter ein-
ander, so weit Vermögen und Erziehung gleich waren.
Heut hat eine Heirath zwischen einem Prinzen und einer
Arbeitertochter nur thatsächliche, keine rechtliche Schranke,
selbst die fünf im Jahre 1882 geschaffenen Adelsklassen sind
nicht auf die Ehe unter einander angewiesen.
Auf die Einwilligung der Betheiligten kam vor der Re-
stauration wenig an. Eine Fürstentochter bekam zum Gatten
oft einen Fürstensohn, welchen sie vorher nie gesehen hatte.
Bei den Samurai war es w^enigstens Regel, dass die Braut-
leute sich vorher gegenseitig kannten, aber auch hier lag die
wesentliche Entscheidung über die Wahl bei den Eltern, gegen
deren entschiedenen Willen die Kinder keinen Widerspruch
hatten. Ob aber der elterliche Zwang bis in die äussersten
23
) Bastian, VÖA G S. 15 Note * und S. 433 Note ^^
Zum japanischen Recht. 363
Consequenzen getrieben ist, weiss Sughi-Yama nicht. Bei den
andern Ständen sind die Kinder von den Eltern niemals zur
Ehe gezwungen worden [bei andern Ständen war die Compelle
nicht so scharf].
Heute findet keine Eheschliessung ohne die freie Ein-
willigung der Brautleute statt.
Die Eheschliessung lässt keine Reste vergangener Zeiten
erkennen, weder Frauenraub noch der Kampf ums Weib
(Rüstern und die Tochter des Königs von China, Perseus und
Andromache, König Drosselbart, Nala und Damayanti) sind
in Geschichte und Sage bekannt, [Vgl. aber unten Note 275,]
Die Ehe kommt in der Regel dadurch zu Stande, dass
ein gemeinsamer Bekannter beider Parteien die Vermittler-
rolle spielt ^^) und jeder Partei über Familie und Charakter
der anderen Seite die nöthige Auskunft ertheilt. Es sind
keine gewerbsmässigen Vermittler, sondern Mitglieder der-
selben Gesellschaftsschicht, welcher die Verlobten angehören.
Die Liebeserklärung und die Visite zum Zwecke des
Heirathsantrages sind unbekannt. Das Eheversprechen wird
von beiden Theilen dem Vermittler gegenüber abgegeben;
zunächst bekommt der Bewerber die Umworbene in Gegen-
wart ihrer Familie in einer besonderen, speciellen Zusammen-
kunft, Miai, zu sehen [miai heisst sehen], bei welcher der
Vermittler ihn vorstellt ^^). Dann hält dieser im Auftrag des
Bewerbers bei den Eltern des Mädchens officiell um die Hand
ihrer Tochter an; wenn diese befragt ist und ihrer Mutter
^^) [Es ist der Nakodo; vgl. Küchler in den Transactions of the
Asiat. See. of Japan XIII S. 119. Näheres über ihn in der Schrift von
Titsingh, Ceremonies usitees au Japon (Paris 1819). K.]
^^) [Bei dem Miai und nach demselben können die Brautleute sich
über einander erkundigen, auf dass sie nicht ohne gegenseitige Kennt-
niss in die Ehe gehen; ein bedeutender Fortschritt in den Rechten des
Individuums gegenüber dem chinesischen Leben, wo die Brautleute
einander nach der Eheschliessung zum erstenmale sehen. Dies letztere
galt in Japan nur in vornehmen Familien. Vgl. auch Küchler S. 119. K.]
3(34 Friedrichs [mul KolilerJ.
die Antwort ins Ohr geflüstert hat, so erklären die Eltern
dem Vermittler gegenüber ihre Entscheidung, welche dieser
dem Bewerber mittheilt. Darauf macht der nunmehrige
Bräutigam in der Familie der Braut seinen zweiten Besuch
und bei dieser Gelegenheit werden die Ehepakten festgestellt.
Die Brautleute machen sich gegenseitig Geschenke, Yulnö,
früher nur in Stoffen bestehend, heutzutage auch Schmuck-
sachen und eine gewisse Art eines harten getrockneten Fisches,
welcher Glück bedeutet [der Bräutigam macht der Braut Ge-
schenke und die Braut bringt, wenn sie in das Haus des
Bräutigams kommt, Geschenke mit] ^^).
Dieses Eheversprechen hat keine rechtlich verbindliche
Kraft, eine einseitige Aufhebung ist zulässig, kommt aber
selten vor.
Vor der Restauration brachte die Frau, welche in das
Haus ihres Mannes zog, diesem in der Regel keine Mitgift
mit. Heutzutage ist dies nicht ganz ausgeschlossen, kommt
aber nur vor, wenn die Braut dumm oder hässlich oder von
nicht untadelhaftem Charakter ist [auch wenn sie reich ist,
kommt es vor, aber selten],
Wittwe und Wittwer haben das Recht, sich wieder zu
verheirathen. Thatsächlich ist die Wiederheirath bei dem ver-
wittweten Manne die Regel, während Frauen in angesehener
Stellung, besonders wenn sie ein Kind haben, sich selten neu
zu verheirathen pflegen. [Vgl. unten S. 442.]
In der Kriegerkaste der Samurai hatte der Ehemann
auch das Recht, seine Frau zu tödten, aber nur, wenn er sie
im Ehebruche überraschte [auch in anderen Ständen]; ebenso
durfte er auch den Mitschuldigen erschlagen, und es ist auch
thatsächlich von dieser Befugniss Gebrauch gemacht worden.
2^3 [Vgl. Titsingh S. 19 f. 68; auch Köhler, Rechtsvergl. Studien
S. 197, Weipert S. 97. Wurde die Ehe aus Schuld der Frau geschieden,
so wurde vielfach das ihr gegebene Yuino vom Manne wieder zurück-
genommen, Weipert S. lOG. K.]
Zum japanischen Recht. 365
In den anderen Ständen bestand ein solches Recht nicht wegen
des Mangels der Waffenfähigkeit. [Vgl. aber unten S. 387.]
Die Ehefrau durfte sich eine gleiche Selbsthülfe gegen
den Ehemann, auch wenn sie ihn im Ehebruche betraf, nicht
gestatten.
§ 5.
2, Eltern und Kinder.
Für die Begründung des Kindschaftsverhältnisses ist die
Adoption fast ebenso wichtig wie die Geburt, und zwar hat
sich die Bedeutung der Adoption seit der Restauration nicht
verringert, sondern eher erhöht. [Vgl. unten S. 440 f. K.]
Die Adoption geschieht nicht wie Ploss, Das Kind in
Brauch und Sitte der Völker, 2, p, 410 annimmt, um dem
Gildenzwang zu entgehen ^ '^), denn ein solcher besteht in
diesem Sinne nicht, sondern um das Aussterben des Haus-
standes, die £p£[X7] ol'/.oq, zu vermeiden. Diese Bedeutung
kann erst bei der Darstellung des Erbrechts gewürdigt
werden.
Es giebt eine Adoption als Sohn oder Tochter und eine
Adoption als Schwiegersohn oder Schwiegertochter. Das
adoptirte Schwiegerkind hat bereits im Voraus die Stellung
im Hause, welche es sonst nur durch die Ehe erwerben würde.
Eine solche Adoption findet besonders nur dann statt, wenn
das entsprechende leibliche Kind noch zu jung zur Ehe ist,
und die Eltern sich doch die Verbindung mit einer bestimmten
Familie sichern wollen. Erforderniss der Adoption ist nicht
die Kinderlosigkeit des Adoptivvaters, vielmehr ist sie auch
möglich, wenn z. B. der im Hause vorhandene Sohn Geist-
licher werden oder zum Zwecke der Verehelichung mit einer
'^^) „Ein Musiker z. B. erkennt irgend einen Musiker als Sohn an,
während vielleicht sein bisheriger leiblicher Sohn von einem Arzt
adoptirt ist, und dessen Geschäft fortsetzt." [Vgl. auch oben S. 352
Note 5. K.]
366 Fiiedrichs [und KolilerJ.
Erbtocliter aus dem Hause gehen will: andrerseits ist die
Adoption bei vorhandener Kinderlosigkeit im Allgemeinen
Uebung. [Vgl. unten S. 440.]
Die Adoption vollzieht sich heut vor dem Standesamte
[S. 447J.
Sie begründet zwischen Adoptivvater und Adoptivkind
dasselbe Erbrecht wie zwischen leiblichen Eltern und Kindern,
auch in strafrechtlicher Beziehung stehen noch heut die
Adoptiveltern den leiblichen Eltern gleich. Das Adoptivkind
bekommt auch den Familiennamen der Adoptiveltern.
Die Adoption zum Kind wie die zum Schwiegerkind
kann aufgehoben werden, die Aufhebung geschieht durch Er-
klärung vor dem Standesamte.
Sie geschah besonders dann, wenn der als zukünftige
Schwiegersohn adoptirte Knabe sich später nach Erreichung
der Mannbarkeit weigerte, die ihm zugedachte Erbin zu
heirathen.
Der Verkauf eines Kihdes in die Sklaverei, von welchem
Klemm, Culturgeschichte 6, p. 520 spricht, ist in Japan
schon aus dem Grunde nie vorgekommen, weil es hier keine
Sklaverei gegeben hat. [yg). aber unten S. 368 f.]
Dass ein Vater seinen Sohn zur Strafe getödtet haben
soll, ist nicht nachgewiesen, indessen ist nicht zu bezweifeln,
dass wenigstens im Samurai- (Krieger-)stande dieses Recht
bestanden hat. Einem Bauern wäre die Tödtung schon des-
halb nicht möglich gewesen, weil diese keine Waffen hatten.
Dagegen ist es möglich, dass ein Krieger einen unverbesser-
lich lasterhaften Sohn, zu dessen Ausstossung er das Recht hatte,
wohl auch einmal getödtet hat. In diesem Fall wäre es aber
erforderlich gewesen, dass der Vater seinem Landesfürsten
(Koku si-daimio) den Fall nachträglich anzeigte, und dieser
wäre dann in der Lage gewesen, den Akt väterlichen Haus-
gerichts nachträglich zu billigen [wie bei der Blutrache].
Ohne Strafzweck, also im Zorn, hat auch ein Samuraivater
seine Kinder niemals tödten dürfen. Die gesetzliche Ahndung
Zum japanischen Reclit. 367
einer solchen Handlung wäre die Todesstrafe gewesen. Mit
der Restauration ist an ein jus vitae ac necis des Vaters nicht
mehr zu denken.
Den Verführer einer Tochter durfte in keinem Stande
der Vater eigenmächtig tödten. Die Angabe bei Klemm,
Culturgeschichte 6, p. 521 ist irrig [doch nicht ganz: nach
dem Kamporitsu a. 49 haben die Eltern ein Tödtungsrecht
gegenüber der verlobten Tochter, die sich mit einem Dritten
geschlechtlich vergeht, und gegen diesen Dritten, sofern sie
in frischer That betreten werden ; vgl. unten S. 387. 448. K.]
Das Kindesverhältniss konnte vor der Restauration durch
Ausstossung aus der Familie durch den Vater geendet wer-
den, wenn das Kind unverbesserliche Laster zeigte ^^). Die
Ausstossung hatte die Verwirkung des Erbrechtes zur Folge.
Heute besteht dies Institut nicht mehr.
Eine Endigung des Kindschaftsverhältnisses durch Be-
gründung eines eigenen Hausstandes (emancipatio Saxonica)
giebt es in Japan nicht. So viel Werth darauf gelegt wird,
das Aussterben eines Hausstandes zu verhüten, so schwer ist
es, einen neuen zu begründen; die Kinder bleiben bis zum
Tode des Vaters Theile von dessen Anwesen, und wenn etwa,
wie es seit der Restauration die Regel ist, mehrere Brüder
jeder für sich ein Anwesen gründen, so geschieht dies eben
erst nach dem Tode des Vaters.
Diese Thatsache ist es auch, die durch die Annahme
des väterlichen Vornamens durch den sui juris gewordenen
suus zweifellos zum Ausdruck gebracht werden soll.
§ 6.
3. Vormundschaft.
Die Vormundschaft ist in Japan noch nicht geregelt.
Es giebt statt der Vormünder Pflegeeltern , arme Japaner,
'^^) [Die Ausstossung hiessKando; vgl. darüber Grigsby in den
Transactions of the Asiatic Society of Japan III p. 133. K.]
368 Friedrichs [und KohlerJ.
welche ein uneheliches Kind aufgenommen haben, oder ent-
fernte Verwandte, welche oft genug ihre Stellung dazu miss-
brauchen, um ihre Pflegetöchter in ein öffentliches Haus zu
verkaufen.
Wenn ein Kind elternlos wird, so verwaltet in der Regel
der älteste Bruder des verstorbenen Vaters das Geschäft oder
die Wirthschaft des Kindes neben seinen eigenen Angelegen-
heiten. In grossen Handlungshäusern ist es oft der erste Ge-
hülfe, welcher das Geschäft für den Erben fortführt [aber in
solchem Falle findet eine Versammlung der Verwandten statt,
ob sie ihm das Geschäft belassen; ist ein Nebenhaus (Bunge)
vorhanden, dann führt der Inhaber des Nebenhauses die Ver-
waltung; über die Art der Verwaltung giebt es specielle
Familienstatute in den reicheren Familien].
Wenn eine Wittwe vorhanden ist, so ist sie, einerlei, ob
das Haus und das Vermögen von ihr oder dem verstorbenen
Manne stammt, die Verwalterin des Vermögens bis zur Mün-
digkeit der Kinder. Wenn sie eine neue Ehe eingeht, so tritt
der zweite Mann in den Namen und die rechtliche Stellung
des ersten Mannes ihr und ihrem Kinde gegenüber ein. Das
Vermögen, welches er etwa mitbringt, wird zu dem Erbe des
Kindes geschlagen ^^).
§ V.
4. Gesinderecht.
Sklaverei hat es nach Sughi-Yamas besonderen Forschun-
gen in Japan nie gegeben ^^). Die angeblichen Sklaven-
händler, welche in alten Dramen vorkommen, sind in Wahr-
^^) [Der zweite Mann tritt in das Hans ein, wie ein Muko-yoshi ; was
er einschiesst, ist sein Yoshi-Beibringen ; vgl. darüber unten S. 439 f. K.]
^°) [Dies ist jedenfalls für die ältere Zeit nicht richtig. Man nannte
in älterer Zeit die Sclaven Tom übe, später mit dem chinesischen Namen
Nuhi. Im Taihorio und Taihoritsu (702 p. Chr.) ist mehrfach von Sclaven
die Rede (ganz in chinesischer Weise — vgl. unten S. 430 — ); in dem
28. Kapitel des Taihorio (dem Hoborio) sind eigene Bestimmungen
Zum japanischen Recht. 369
heit Gesindevermiether, welche in einer verkehrsarmen Zeit
den Transport von Arbeitskräften aus den stärker bevölkerten
Inseln in die schwächer bevölkerten besorgt haben.
Als Knechte kommen auf dem Lande in erster Linie
solche Leute in Betracht, welche ihr Vermögen verloren haben,
und bei grossen Bauern für die Kost und ungefähr 100 Mark
jährlichen Lohn arbeiten. Kleinere Grundbesitzer, deren eigenes
Land ihnen nicht genügende Beschäftigung gewährt (Käthner),
pflegen einzelne Tage bei begüterteren Nachbarn thätig zu
sein; der Verdienst der Männer beträgt etwa eine Mark pro
Tag und Kopf.
III. ErbrecM.
§ 8.
1. Rechtssätze.
Bis zur Restauration war es die Regel, dass das älteste
Kind, einerlei ob Sohn oder Tochter, das väterliche Vermögen
erbte und den Hausstand und den Familiennamen fortsetzte
[jedoch die Tochter nur, wenn der jüngere Bruder wegen seiner
Jugendlichkeit zur Verwaltung unfähig war; und auch da pflegte
der Muko-yoshi denselben zu adoptiren] ^i). Doch konnte,
über das Gefangennehmen der entflohenen Sclaven und ist gesagt, dass,
wenn Jemand einen solchen Sclaven gefangen genommen hat, er aus
seiner Hand gelöst werden müsse gegen ein Lösegeld, welches bis zu
^20 bezw. 7io des Werthes des Sclaven aufsteigen könne. Ebenso ist
im Denrio, im 9. Kapitel der Taihorio, die Rede von dem Kubunden =
(Acker)antheil, den der Sclave bekommt. Vgl. die Ausführungen von
Florenz in den Mittheilungen der deutschen Gesellschaft für Ostasien
V S. 168 f., 170; Tarring in den Transactions of the Asiatic Society
of Japan VIII p. 146 f. K.]
^0 [Es ist dies ein Fall der Yun-yoshi; der Fall konnte auch so
vorkommen, dass der Vater wegen der Jugend seines Kindes einen
Fremden adoptirte, welcher dann wieder das gedachte Kind adoptirte
(zum Yun-yoshi machte), aber bei Volljährigkeit desselben sich von der
Wirthschaft zurückziehen musste; vgl. Weipert S. 111, 133. K.]
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. X. Band. 24
370 Friedrichs [und Köhler],
wenn das älteste Kind eine Tochter war^ der Vater nach Be-
fragung der Verwandten sie enterben und den ältesten ihrer
Brüder zum Erben machen.
Der erbende Sohn gab seiner Frau und seinen Kindern
seinen Namen und war patriarchalischer pater familias.
Die erbende Tochter war aber gleichfalls zur Fort-
setzung des Familiennamens berufen , ihr Mann musste daher^
wenn er nicht vorher von ihren Eltern als Schwiegersohn
adoptirt war und daher ihren Familiennamen trug, diesen
als Ehemann annehmen [er wurde Muko-yoshi] und die Kinder
schlugen somit nach der Mutter und nicht nach dem Vater.
Ein Erbe konnte eine Erbin nicht heirathen, da beide zur
Fortsetzung eines Hauses und Namens verpflichtet waren.
Wollte daher der älteste Sohn des einen Hauses die älteste
Tochter des andern Hauses heirathen, so musste auf einer
von beiden Seiten das Erbrecht auf ein jüngeres Kind über-
tragen werden. Dies war aber nicht möglich, wenn beide
keine jüngeren Geschwister hatten, also einzige Kinder waren,
da vor 1868 in diesem Falle eine Adoption ausgeschlossen
war. Hier bestand also ein unüberwindliches Ehehinderniss,
welches in Romanen gern behandelt wurde. [Vgl. unten S. 444.]
Die nicht erbenden Kinder gingen in der Regel aus
dem Hause. Der jüngere Sohn konnte sich in einer fremden
Familie, welche keine Söhne hatte, entweder als Sohn oder
Schwiegersohn adoptiren lassen. In beiden Fällen nahm er
den Namen der Adoptivfamilie an. Hatte diese Familie
Töchter, so wurde er in der Regel als Schwiegersohn und
als Ehemann einer von diesen adoptirt; hatte diese Familie
aber auch keine weibliche Nachkommenschaft, so wurde er
als Sohn adoptirt, und konnte ein Mädchen aus einer dritten
Familie heirathen und ihr seinen neugewonnenen Familiennamen
geben. Die aus dem Hause gehenden Söhne brachten nichts
mit, als Kleidung, Wäsche und eine kleine Ausrüstung, aber
niemals baares Geld. [Vgl. unten S. 439.]
Die erblose Tochter wurde in einer andern Familie als
Zum japanischen Recht. 371
Schwiegertochter adoptirt und heirathete den leiblichen oder
adoptirten Sohn der Farailie, in welche sie eintrat. Auch sie
brachte wie schon oben erwähnt, ihrem Gatten nichts mit als
Kleider und Schmucksachen; niemals eine Aussteuer in baarem
Gelde [doch gab es Ausnahmen, wenn ihr Vater sehr reich war] ^ ^).
Gelang es den enterbten Geschwistern nicht, in einem
fremden Hause Unterkunft zu finden, so wurden sie von dem
Erben verpflegt, aber niemals Mitinhaber des Vermögens.
Bei dem Samuraistande herrschten dieselben Regeln mit
der einen Massgabe, dass, so lange die Eltern noch einen
leiblichen Sohn hatten, dieser der Erbe wurde, selbst wenn
die Schwester älter war, und dass die Töchter somit nur dann
zur Erbschaft kamen und zur Adoption eines Schwiegersohns
Gelegenheit gaben, wenn keine Söhne im Hause vorhanden
waren ^^) [es gab Ausnahmen, jedoch nur mit Genehmigung
des Fürsten, vgl. unten S. 419, 439].
Wenn der älteste Sohn bei Lebzeiten seiner Eltern kin-
derlos starb, so trat sein nächster Bruder an seine Stelle.
Wenn sich dieser Tod aber ereignete, nachdem alle jüngeren
Söhne aus dem Hause gegeben waren, so war es möglich und
nicht selten, dass einer der jüngeren Söhne seine Ehe auflöste
und in das Elternhaus als Anwärter auf die elterliche Erb-
schaft zurückkehrte [vgl. S. 444; geschah selten, gewöhnlich
adoptirte hier der Vater einen Anderen]. Der Vater war aber
auch in der Lage, die jüngeren Söhne da zu lassen, wo sie
ihren Boden gefunden hatten, und einen fremden Erben zu
adoptiren. Seit der Restauration ist eine solche Rückberufung
ausgeschlossen.
Wenn die Wittwe sich wieder verheirathete, so behielt
nach wie vor ihr ältestes Kind Anspruch auf die Erbschaft.
Wenn die Wittwe aber aus der ersten Ehe nur Töchter und
aus der zweiten Ehe einen Sohn hatte, so war der Stiefvater
^2) [Vgl. auch Weipert S. 102. K.]
^^) Also wie im englischen Königshause. KF.
;i72 Friedrichs [und Kühler].
kraft seiner hausväterlichen Gewalt in der Lage, das Erbe
öoiner Stieftochter zu entziehen und seinem Sohne zuzuwen-
den. Wenn die Familie zum Kriegerstande gehörte, bei dem
die älteste Tochter überhaupt nur dann zur Erbschaft berufen
war, wenn keine Söhne vorhanden waren, so wurde die Tochter
erster Ehe von selbst erblos, wenn die Mutter aus der zweiten
Ehe noch einen Sohn bekam. Der zweite Mann erzeugte so-
mit dem verstorbenen Manne einen Erben ^^).
Diese Enterbung einer Tochter durch nachgeborene
Plalbbrüder galt aber als nicht wünschenswerth und man be-
trachtete es als moralische und Anstandspflicht, dass eine
Wittwe, die nur Töchter geboren hatte, sich nicht wieder
verheirathete. Dagegen konnte dieselbe einen Jüngling als
Sohn oder Schwiegersohn adoptiren.
Diese Regeln bestehen auch nach der Restauration mit
der einzigen Massgabe, dass die Adoption noch mehr er-
leichtert ist. Heute kann auch der älteste Sohn in Adoption
gegeben werden, was vorher, besonders bei adligen Familien,
nicht möglich war, und ein Vater ist im Stande, einen zweiten
Hausstand zu gründen; ja wenn er mehrere Söhne hinterlässt,
welche nicht von Anderen adoptirt sind, so entstehen von selbst
mehrere Hausstände. Die Erbschaft geht also in gleiche
Theile, während früher der Eine erbte und der Andere ver-
pflegt wurde. Diese neugebildete Familie bekommt natürlich
keinen neuen Namen, sondern den Namen der FamiHe, aus
welcher sie abgezweigt ist [schon früher konnte der zweite
Sohn aus seinem Verdienst ein Nebenhaus gründen].
Ein testamentarisches Erbrecht und eine gesetzliche In-
testaterbordnung in der Seitenlinie haben die Japaner nicht, eine
gewohnheitsmässige Erbordnung in der Seitenlinie hat sich
wegen der Häufigkeit der Adoptionen nicht ausbilden können.
Nur in der Familie des Mikados wurde der Erbe nicht
^*) [Richtiger gesagt, dem Hause des verstorbenen Mannes, in das
er als iri-muko eintrat; unten S. 441 1". K.]
Zum japanischen Recht. 373
adoptirt. Wenn also der Herrscher ohne Söhne starb, so ging
der Thron an seine Seitenverwandten über. In Ermangelung
bestimmter Regeln wurden die Streitigkeiten der verschiedenen
Thronprätendenten durch die Familienangehörigen oder die
Minister entschieden. Die Zahl der zur eventuellen Erbfolge
berufenen Personen ist sehr gross. Ausser dem Hause des
Mikado gehören dazu auch die Seitenlinien Arisugawa, Fu-
shimi und Kanin [wenn der Mikado keinen Sohn hat, bestimmt
er gewöhnlich selbst den Nachfolger] ^^).
Da eine Vererbung in der Seitenlinie und auch grössere
Vermächtnisse nicht vorkommen, so kennt Japan auch keine
unerwarteten Erbschaften und keine lachenden Erben.
Soweit gehen die Mittheilungen Sughi-Yama's; die nach-
folgenden Ausführungen beruhen im Wesentlichen auch noch
auf den mit ihm abgehaltenen Conferenzen.
§ 9.
2. Theorie und Construction.
Das japanische Erbrecht betrachtet den Hausstand und
dessen Erhaltung und Fortsetzung als die Hauptsache, die
Personen sind ihm nur Mittel, diesen höheren Zweck zur
Durchführung zu bringen. Der Japaner fragt sich also nicht
wie wir: „wo bleibt das Vermögen, welches der Verstorbene
nicht mehr braucht?'' sondern: „wer setzt das Amt des Ver-
storbenen fort''. Es ist dies die Auffassung des Erbrechts,
welche für die Wirthschaftsstufen des Hirtenthums und des
Ackerbaus und für die Familienstufen des Matriarchats und
des Patriarchats charakteristisch sind. Ich will noch bemerken
dass Sughi-Yama mich mehrfach voll Verwunderung fragte,
^^) [Aus dem Kojiki geht hervor, dass in alten Zeiten die Beerbung
des Mikado keine regelmässige war, sondern nach den Umständen des
Falls erfolgte. Bezüglich der Vererbung des Shogunats bestimmten die
100 Gesetze lyeyasu's a. 4, dass in Ermangelung eines Hauserben die
hohen Würdenträger, ohne Rücksicht auf nähere oder fernere Verwandt-
schaft, eine geeignete Person wählen sollten. K.]
374 Friedrichs [und Kohlerj.
wie es denn möglich sei, dass ein Gutsbesitzer oder ein Kauf-
mann sein Vermögen, welches nur in dem Gute oder in dem
Geschäfte besteht, unter seine Kinder vertheilte; es würde
dem Sohne, der das Geschäft fortsetzte, doch das Betriebs-
kapital entzogen; diese Frage stellte er nicht im Interesse des
immer noch etwas bevorzugten ältesten Sohnes, sondern eigent-
lich mehr im Interesse des Guts, der Handlung ^^).
Diese Auffassungsweise muthet uns an, wie die gute alte
Zeit. Der Gedanke, der bei uns in den Familienfideicommissen
und dem Landgüterrecht nur künstlich und mit Noth gehalten
wird, der Gedanke des Familienvermögens, ist in Japan noch
in voller Lebenskraft. Das Anerbenrecht wird dort noch nicht
für eine ungerechte Bevorzugung des einen Kindes vor den
andern angesehen, sondern als ein Mittel, dem, der die grössten
Pflichten hat, auch die Möglichkeit zu ihrer Erfüllung zu geben.
Dieses System der guten alten Zeit kann aber nur dort
bestehen, wo die Unterhaltsmittel allgemein reichlich fliessen
und Prunksucht und Luxus verhältnissmässig gering sind.
Das japanische System wird aber voraussichtlich in kurzer
Zeit einem andern weichen, welches dem unseren ähnlicher ist.
Der Grundgedanke des ersteren ist offenbar das l^rincip der
Untheilbarkeit der Anwesen. [Vgl. aber unten S. 437 f.]
Untheilbar war bisher die öffentliche Stelle des Mikados,
sowie des früheren Taikuns und der Lehensfürsten; untheilbar
war die Rentenberechtigung der Samurai, als der Entgelt für
eine untheilbare Dienstleistung, untheilbar waren auch bisher
die bürgerlichen Hausstände.
Das Grundeigenthum war veräusserlich, aber es wurden
nie ganze Besitzungen verkauft, sondern es fanden nur Ab-
verkäufe von einzelnen Parcellen statt; in der Regel aber
auch dies nicht [es galt als tadelnswerth, das Vaterhaus zu ver-
kaufen, kam aber vor]. Wer zu viel Arbeitskräfte in seiner
^®) [Anders iirtheilt, ganz von modern europäischen Ideen durch-
drungen, Kosaburo Kishi, Erbrecht Japans S. 40 t". K.J
Zum japanischen Recht. 375
Familie hatte^ pachtete seinem Nachbarn einige Parcellen ab
oder diente ihm an freien Tagen für Tagelohn; wer zu viel
Land hatte, um es mit den Kräften seiner Familie zu be-
wirthschaften, konnte einzelne Aecker verpachten oder Tage-
löhner annehmen. Es gab keine Personen, welche ihrem
Hauptberufe nach Pächter oder Tagelöhner gewesen wären,
ohne eigenes Land zu besitzen und zu bewirthschaften. Und
wenn ich Sughi-Yama recht verstanden habe, war die Zahl
der in einem Dorfe bestehenden Haushaltungen fest ge-
schlossen und konnte nicht vermehrt oder vermindert werden
[es können Nebenhäuser gegründet werden, die Zahl der
Haupthäuser ist regelmässig fest, vgl. unten S. 443, 444].
Die Geschäfte des Kaufmanns und des Handwerkers sind an
sich theilbar, aber sie sind in Japan bis 1868 nicht getheilt worden.
Nun ist es anders. Die Renten der mediatisirten Lehens-
fürsten, die Staatsschuldscheine der Samurai sind beliebig
theilbar; auch in den bürgerlichen Ständen theilt sich das
Vermögen, wenn ein Vater zwei Söhne im Hause hinterlässt,
von selbst. Diese neue Einrichtung wird über lang oder kurz
ihre Wirkung äussern.
Wenn der Mann nicht mehr das ganze Familienver-
mögen zur Verfügung hat, um seine Frau und seine Ge-
schwister zu ernähren, sondern wenn er sich zwar um seine
Brüder nicht mehr zu kümmern braucht, diesen aber eine
Quote der Erbschaft abgeben muss, so wird sich das Bedürf-
niss geltend machen, dass auch solche Frauen, welche nicht
Erbtöchter sind, ihren Männern einen Beitrag zu den Ehe-
lasten in die Ehe mitbringen, es wird also das Institut der
Mitgift und der Erbberechtigung der Frauen mit der Zeit
ganz allgemein werden.
Rechnen wir hierzu noch den unwiderstehlichen Einfluss
der europäischen Beispiele und die grosse Nachahmungsfähig-
keit und Nachahmungslust der Japaner, so unterliegt es keinem
Zweifel, dass es dort bald so aussehen wird wie bei uns.
X.
Studien ans dem japanischen Kecht.
Von
Prof. Dr. J. Kohler.
I.
Einleitung.
Ueber das japanische Recht ist in den Werken von
Rein u. A. vieles Beachtungswerthe gegeben; in den Mit-
theiliingen der Deutschen Gesellschaft für Ostasien und in den
Transactions of the Asiatic Society of Japan finden sich be-
deutungsvolle Detailarbeiten. Von besonderer Wichtigkeit sind
aber die mehr oder minder vollständig publicirten Rechts-
bücher, welche uns einen tiefen Blick in die rechtlichen
Vorstellungen und in den rechtlichen Verkehr dieses merk-
würdigen Volkes gestatten. Aus allem diesem sind nach-
folgende Studien geschöpft^). Für das Familienrecht ist das
neue Gesetz von 1890 vom höchsten Interesse — denn wenn
auch modern, hält es eine Reihe von Zügen des altjapanischen
Wesens aufrecht. Ich verdanke den Einblick in dasselbe, so-
wie eine Reihe bedeutender Mittheilungen, dem Japaner Yocota.
Von den grossen Codificationen des 8. Jahrhunderts ist
allerdings leider weder derTaihorio noch der Taihoritsu
0 Vgl. auch zur Ergänzung meine Bemerkungen zu dem vorstehen-
den Friedrichs'schen Aufsätze.
Studien aus dem japanischen Recht. 377
wirklich übersetzt, aber wir haben aus ihnen so viele Mit-
theilungen, dass eine Reihe der wesentlichsten Bestimmungen
unzweifelhaft hervortreten.
Dagegen ist uns die Gesetzgebung der Tokugawas (von
1603 an) in dankenswerthester Weise aufgeschlossen worden.
Von den Gesetzen der lyeyasu bestanden bereits Ueber-
setzungen. Eine neue Uebersetzung bietet Rudorff, dazu aber
noch eine Uebersetzung der Bukeshohattos, des Kampo-
ritsu, Osadamegaki und der ihnen nachfolgenden Gesetze:
des K ansei Keten und Scharitsu, sowie der Präjudizien-
(und Verordnungs-)sammlung Reigaki, die für das Rechtsleben
von grosser Bedeutung war; denn auf Präjudizien (resho)
legt der Japaner grossen Werth ^),
VondiesenRechtsbücherngeniessendielOOGesetzelyeyasu's
ein begründetes Ansehen: sie enthalten eine Fülle von Lebens-
weisheit; am ausgiebigsten aber und eingehendsten ist der Kam-
poritsu oder Hiakkajo aus dem Jahr 1742. Ich bezeichne
hiermit dasjenige, was auch Osadamegaki gehen heisst:
den zweiten Theil des Osadamegaki (Gesetzessammlung), be-
stehend aus 103 Artikeln. Allerdings stammt derselbe nicht
in der vorliegenden Gestalt aus 1742, sondern er wurde nach-
träglich ergänzt und erscheint im Jahre 1767 erweitert als
Kajoruiten. — Daran schliesst sich das Reigaki und das
K ansei Keten, eine modificirte Fassung des Hiakkajo.
Das Hiakkajo entspricht am meisten der Form unserer
heutigen Gesetze; es ist ein Strafgesetzbuch, welches aber,
wie der chinesische Ta-tsing-lü-li, auch eine Reihe civilisti-
scher Bestimmungen enthält.
Der erste Theil des Osadamegaki dagegen, das Osada-
megaki johen bietet eine Reihe ziemlich lose und systemlos
an einander gereihter Verordnungen.
Alle diese Tokugawagesetze finden sich übersetzt bei
Rudorff, Tokugawa-Gesetzsammlung (1889); das Hiakkajo
^) Vgl. Osadamegaki a. 23.
378 Kohler.
allein ist gegeben in Rudorff, Kamporitsu oder Hiakkajo.
Durch die Herausgabe dieser Uebersetzung ist der verglei-
chenden Rechtswissenschaft ein grosser Dienst geleistet wor-
den, nicht minder durch die ausführlichen Einleitungen, mit
welchen Rudorff die Rechtsbücher eingeführt hat.
In der Folge wird das Kamporitsu Hiakkajo als die
ausgiebigste Quelle lediglich durch Artikclangabe citirt werden;
das Osadamegaki johen (der erste Theil) als Osadamegaki.
Von besonderer Bedeutung ist uns die Vergleichung mit
dem chinesischen Rechte. Es hat sich klar ergeben, dass
nicht nur der Taihorio und Taihoritsu chinesisches Recht ent-
halten, sondern auch die Tokugawagesetze ganz auf chinesischer
Welt- und Lebensanschauung beruhen.
Das chinesische Recht ist ein Receptionsrecht, welches in
Japan Eingang gefunden hat, in Korea und in Annam^).
II.
Japanisches Strafrecht.
Von dem ältesten japanischen Strafrecht erzählen uns die
Japaner einiges Wenige*), so insbesondere, dass ursprünglich
der Thäter sich einer Sühne unterwerfen musste ^) und sein
Vermögen als sündhaft verwüstet wurde; später trat Lebens-
und Leibesstrafe ein, die aber durch Zahlung einer Geldsumme
^} ^gl- zum Folgenden auch noch die Werke: Adams, History
of Japan (London 1874); Reed, Japan (London 1880); Rein, Japan;
Pere de Charlevoix, Histoire et descriptlon du Japon (Paris 1736);
Kämpfer, Geschichte Japans (nach der mir vorliegenden französischen
Uebersetzung von Scheuchzer). Verschiedene Arbeiten in den Mit-
theilungen der deutschen Gesellschaft für Ostasien und in
den Trans actions of tlie asiatic societj^ of Japan.
^) Michaelis in den Mittheilungen der Gesellschaft für Ostasien IV
S. 353 f. (hauptsächlich nach Minamoto im Nihonshi).
^) Vgl. auch Pfizmaier (Note 8) S. 13 f. Auch allgemeine Süh-
nungen kamen vor, vgl. Kojiki s. XCVII (Chamberlain in den
Transactions X 2 p. 230).
Studien aus dem japanischen Recht. 379
abgelöst werden konnte^). Leibesstrafe war die Tättowi-
rung und die Prügelstrafe^ ausserdem gab es Verbannung und
Degradation. Auch das Ausreissen von Nägeln, das Durch-
schneiden der Kniesehnen wird erwähnt''^).
Von Delikten werden uns aus alter Zeit ausser Mord,
Verwundung, Leichenschändung und Diebstahl, insbesondere
Incest (zwischen Ascendenten undDescendenten) genannt, ferner
Sodomie mit Thieren, das lebendige Schinden (von Pferden?),
die Verwirrung der Grenzen der Reisfelder ^).
Auch kannte diese alte Zeit das Gottesurtheil des Kessel-
fangs (zweiseitig) und des heissen Eisens (Axt) — letzteres
wie es scheint, nur einseitig ^). Finden sich doch solche Or-
dalien, und zwar gerade das Heisseisenordal (glühender Nagel
auf die Hand, als einseitiges Ordal) auch bei den Ainos ^^).
Uebrigens sollen die Shintopriester noch bis in spätere Zeit
nebst anderem Zauber auch Gotteszauber geübt haben, um
den Verbrecher zu entdecken : sie gingen in die Wohnungen,
wo das Verbrechen begangen war, sprachen Verwünschungen
aus, Hessen den Beschuldigten ein Papier mit Zaubersprüchen
verschlingen, und wenn das ihn nicht zum Geständniss brachte,
liessen sie ihn über Kohlen schreiten ^^).
Wie es scheint, ist daher das Strafrecht Japans ursprüng-
lich andere Wege gegangen, als das chinesische. Als aber in
^) Ueber die Ablösung der Strafe im alten Japan vgl. auch Florenz
in den Mittheilungen der deutschen Gesellsch. V. S. 175.
0 Chamberlain in den Transactions X, 2 p. XLI.
^) Kojiki s. XCVII (cf. s. XV) bei Chamberlain in der Transact.
X, 2 p. 230, 53 Note 10; Nakatomibarai bei Pfizmaier, die Shintoo-
bannung des Geschlechtes Nakatomi S. 10, 12.
^) Michaelis S. 324, Chamberlain in den Transactions X, 2
p. LVIII.
^°) Sehe übe in den Mittheilungen der deutschen Gesellsch. für
Ostasien III S. 239; hier auch das Trinken von Seewasser: das Erbrechen
beweist die Schuld.
^^) Kämpfer I p, 203. Auch die Divination war bekannt,
Chamberlain a. a. 0. p. LIX.
380 Kohler.
der Bllithezeit Chinaf», in der Thangdynastie (GIB — 907 n. Chr.),
die chinesische Kultur in Japan ihren Einzug hielt ^2), wurde auch
das chinesische Strafrecht in Japan aufgenommen; wahrschein-
lich schon im G. u. 7. Jahrh. ^^), namentlich aber durch das Rechts-
buch, welches als Taihorio und Taihoritsu die Grundlage
des japanischen Rechts wurde — vom Jahre 702 n. Chr.
Das Taihogesetz soll nicht mehr im Original, sondern
nur in einer späteren Redaktion vorhanden sein, die aber im
Wesentlichen dem Original entsprechen soll. Eine ücber-
setzung desselben wäre sehr wllnschenswerth. Bis jetzt liegt
es uns nur in Auszügen vor, und zwar das Taihoritsu bei
Michaelis (IV S. 355 f.) und ein Theil des Taihorio im
Auszug bei Tarring in den Transactions of the Asiat. So-
ciety of Japan VIII p. 145 f.
Was uns aber von Michaelis aus dem Taihoritsu ge-
geben wird, beweist vollkommen die Reception des chine-
sischen Rechts; und zwar des chinesischen Strafrechts wesent-
lich in der Form, wie es uns in dem Ta-tsing-lü-li vorliegt ^*).
Daraus ergibt sich ein Doppeltes.
Schon an sich konnte kein Zweifel bestehen, dass der
Grrundbestandtheil des chinesischen Ta-tsing-lü-li aus älterer
Zeit stammt; jetzt ist es sicher, dass er mindestens auf das
8. und 9. Jahrhundert unserer Zeitrechnung zurückgeht, bis auf
die Dynastie der Thang, also auf 9 ^2 Jahrhunderte vor der Tsing-
dynastie, als deren Rechtsbuch der Ta-tsing-lü-li erscheint.
Es ergiebt sich ferner eine ziemlich genaue Ueber tragung
des chinesischen Rechts in das japanische; der Taihoritsu ist
^^) Das Eindringen der chinesischen Ciütur erfolgte zugleich mit
dem Eindringen des Buddhismus; im Jahre 604 wurde desshalb eine
Gesandtschaft nach China geschickt; Reed I p. 78 f.
^^) Von der Königin Jito im 6. Jahrh. soll ein Gesetz v. 20 Büchern
herrühren, Reed I p. 128. Besonders thätig für die chinesische Cultur
waren die Mikados (Tennos) Kotoku (645—654), Temmu (673-686),
Mannu (697—707), Shomu (723-748); vgl. Rein, Japan I S. 252 bis
254. Vgl. auch Chamberlain in den Transactions X, 2 p. LXVllI.
^'*) Ueber dasselbe vgl. mein chines. Strafrecht S. 11 f.
Studien aus dem japanischen Recht. 381
kaum etwas anderes^ als eine japanische Redaktion des chine-
sischen Gesetzbuchs in der Gestalt, wie es eben wohl in der
Thangdynastie in Geltung war. Es zeigt die Züge des chine-
sischen Rechts in seiner Beeinflussung durch den Thsinstaat,
durch Thsinschihoangti ^^). Insbesondere die Bestrafung der
Familie des Thäters mit dem Thäter ist ein Grundsatz^ den das
japanische Recht dem Rechte Thsinschihoangtis getreulich
entlehnt hat. Der Satz, dass Vater und Sohn des Hoch-
verräthers mit hingerichtet werden ^^)^ findet sich auch im Tai-
horitsu gegeben ^'^); ebenso kehrt die chinesische Bestimmung,
dass bei der grausamen Tödtung und bei der Tödtung zu
Zauberzwecken die Söhne verbannt werden ^^), im Taihoritsu
wieder ^^). Wir sehen daraus, dass, wenn die Familienhaf-
tung unter der Handynastie (306 vor bis 263 nach Chr.) auf-
gehoben war, sie bereits in der Thangdynastie wieder bestand.
Ebenso entspricht das Strafensystem des Taihoritsu dem
Strafwesen des Ta-tsing-lü-li ziemlich genau. Die verstüm-
melnde Strafe war in China bereits unter der Handynastie
aufgehoben worden ^^), sie blieb aufgehoben und findet sich
darum nicht mehr im Strafrecht der Thangperiode und nicht
im Taihoritsu. Dagegen zeigt sich die Todesstrafe in den
zwei Formen des Erdrosseins (als der milderen) und der Ent-
hauptung (als der schwereren Art) ^^). Auch das findet sich,
dass die Todesstrafe (mindestens die Erdrosselung) zu einer
bestimmten Jahreszeit, im Herbst stattfinden soll^^); den
Herbst bestimmt schon der Liki als die entsprechende
Jahreszeit ^^).
^0 Vgl. mein chinesisches Strafrecht S. 9.
^^) Ta-tsing-lü-li s. 254, chinesisches Strafrecht S. 22.
1^) Michaelis S. 357.
^«) Ta-tsing-lü-li s. 287, 288, chinesisches Strafrecht S. 21.
^^) Michaelis S. 357.
20) Chinesisches Strafrecht S. 10.
21) Chinesisches Strafrecht S. 16, Michaelis S. 356.
22) Michaelis S. 356.
23) Chinesisches Strafrecht S. 16.
382 Kohler.
Ebenso findet sich die Verbannung in mehreren Ab-
stufungen und der Bambus in zwei Varianten ^^).
Neben alledem erwähnt der Taihoritsu aber noch die
Zwangsarbeit^-'), die jedenfalls in früherer Zeit in China be-
stand ^^), wenn sie auch im Ta-tsing-lü-Ii nicht erwähnt wird.
Aber auch in der Deliktslehre zeigt der Taihoritsu voll-
kommen die Nachbildung des chinesischen Rechts. Der Ta-
tsing-lü-li zählt in s. 2 zehn Verbrechen auf, welche wegen
ihrer enormen Höhe, ihrer Naturwidrigkeit und Entsetzlich-
keit besonders schwere Behandlung verdienen :
1. Hochverrath gegen den Kaiser,
2. Verletzung kaiserlicher Tempel, Grabmäler, Paläste,
3. Landesverrath,
4. Elternmord: Mord von Eltern, Grosseltern, Onkel,
Tante,
5. Qualificirten Mord, insbesondere Ermordung mehrerer
Personen,
6. Sacrileg: Wegnahme von Tempelgeräthschaften, von
Dingen, die im Gebrauch des Kaisers sind. Nach-
machung des kaiserlichen Siegels, Gefährdung der
Person des Kaisers durch falsche Arzneimittel oder
sonstige Nachlässigkeiten,
7. Beschimpfung der Eltern bei Lebzeiten, Respektwid-
rigkeit nach dem Tode, insbesondere Verweigerung
der Trauer,
8. Grausamkeit gegen Familienangehörige, denen man
Familientrauer schuldet,
9. Widerstand gegen die Staatsgewalt,
10. Incest.
Ganz ähnlich hebt der Taihoritsu 8 Hauptdeliktsgruppen
hervor; davon stimmen 1 — 7 mit den Nr. 1 — 7 des Ta-tsing-
24) Michaelis S. 356, chines. Strafrecht S. 16.
2-^) Michaelis S. 356.
26^
^) Chinesisches Strafrecht S. 10.
Studien aus dem japanischen Recht. 383
lü-li im Ganzen, und sogar in vielen Einzelheiten, überein ;
die japanische Nr. 8 enthält den Widerstand gegen den Staat,
während die chinesische Nr. 8 in die japanische Nr. 4 auf-
genommen zu sein scheint und Nr. 10 (Incest) ganz weg-
geblieben ist, weil das japanische Leben die Eheverbote nie
so weit ausgedehnt und dem Incest nie dieselbe Bedeutung
beigemessen hat, wie das chinesische^^).
Aber auch in den Einzelheiten zeigt sich völlig die Ent-
lehnung des chinesischen Rechts; die Behandlung der Delikte
ist fast durchaus die gleiche, die Strafen sind manchmal andere,
aber die Abstufungen verrathen fast immer die chinesische An-
schauung. Dies zeigt sich aus folgender Zusammenstellung:
Der Versuch des Diebstahls wird bestraft mit 50 Hieben,
der vollendete Diebstahl, je nach dem Werth des Gestohlenen,
mit Prügel bis zur Verbannung mit Zwangsarbeit (im japa-
nischen)^^) bezw. Erdrosselung (im chinesischen)^^).
Der Raub wird nach dem Betrag des Geraubten bestraft,
mindestens mit 2 Jahre Zwangsarbeit (im japanischen),
100 Prügeln und 3 Jahre Verbannung (im chinesischen), in
schweren Fällen mit dem Tode^^).
Besonders auffallend ist die Uebereinstimmung bezüglich
der Körperverletzung. Gewöhnliche Körperverletzung wird
mit Prügeln bestraft; eine Erhöhung tritt ein, wenn über 1 Zoll
Haar herausgerissen wird^^), eine weitere, wenn Blut aus
(Auge oder) Ohr, aus Mund oder Nase fliesst (sofern es von
innen herauskommt), es wird das Brechen von Zähnen, von
Zehen, Fingern, das Ausschlagen von Augen, die Verletzung von
Ohr und Nase erwähnt. Das Brechen von 2 Zähnen, 2 Fingern
wird wiederum als erschwerend hervorgehoben, ebenso das
-') Vgl. meine Anmerkung oben S. 361, und unten S. 401 f.
28) Michaelis S. 360.
29) Chinesisches Strafrecht S. 44, Lü-li s. 269.
3°) Michaelis S. 360, chines. Strafrecht S. 45 f., Lü-li s. 268.
^^) Diese chinesische Bestimmung zeigt die Herkunft aus einer
Zeit vor der Periode des Zopfes, den erst die Mandschu eingeführt haben.
384 Köhler.
Ausreissen aller Haare ; letztenfalls 1 ^/^ Jahre Zwangsarbeit
(japanisch), 60 Hiebe und 1 Jahr Verbannung (chinesisch). Das
Abschneiden der Zunge und die Aufhebung der Zeugungsfühig-
keit wird mit der entferntesten Verbannung bestraft ^^).
Den beiden Rechten ist ferner die Krisenfrist gemeinsam,
die nach der Körperverletzung abzuwarten ist und für die
Haftung entscheidet; diese ist 10 — 50 Tage (japanisch) bezw.
20—50 Tage (chinesisch) ^a).
Die Behandlung der Verletzung Verwandter zeigt gleich-
falls die auffallendste Analogie. Wenn Eltern ihre Kinder
(absichtlich) tödten, so ist die Strafe 1 V^ Jahre Zwangsarbeit
(japanisch), bezw. GO Hiebe und 1 Jahr Verbannung (chine-
sisch) ^•^).
Ganz ähnliche Analogien ergeben sich bezüglich des Men-
schenraubs^^), bezüglich der Beamtenbestechung ^^), bezüglich
der Haftung des Arztes, welcher unrichtig verfährt ^ '^), und
namentlich auch bezüglich des Eindringens in den Kaiserlichen
Palast und des Schiessens gegen denselben ^^) : wer in die
Wohnräume des Kaisers eindringt oder gegen den Palast
schiesst, wird erdrosselt.
Ebenso ist chinesisch der Satz, dass, wer sich rechtzeitig
selbst anzeigt, straflos bleibt ^^), chinesisch ist die Privilegi-
rung der Beamten, der kaiserlichen Verwandten und der-
jenigen Personen, welche besondere Verdienste aufzuweisen
haben, und ihrer Verwandten ^^).
Inwiefern die Abweichungen von dem jetzigen chinesischen
32) Michaelis S. 359, Lü-li s. 302.
33) Michaelis S. 359, Lü-li s. 303.
34) Michaelis S. 359, Lü-li s. 319.
35) Michaelis S. 360, Lü-li s. 275.
3*5) Michaelis S. 360, chinesisches Strafrecht S. 34, Lü-li s. 344.
37) Michaelis S. 360, Lü-li s. 297.
38) Michaelis S. 359, Lü-li s. 184, 192.
39) Michaelis iS. 362, chinesisches Strafrecht S. 20.
4<^) Michaelis S. 363, chinesisches Strafrecht S. 18 f., Lü-li
8. 3 f., 7 f.
Studien aus dem japanischen Recht. 385
Strafgesetzbuch auf die frühere Fassung des chinesischen Codex
vor etwa 1000 Jahren zurückzuführen sind, oder auf selbst-
ständiger japanischer Verarbeitung beruhen, ist bis jetzt noch
nicht ersichtlich. Jedenfalls dürfte eine Uebersetzung des
Taihoritsu die principielle Gleichheit mit dem chinesischen
Recht noch klarer vor Augen führen.
§ 2. •
So weit der Taihoritsu. In der Folgezeit blieb er
nominell Jahrhunderte lange bestehen: er blieb bestehen, auch
als nachträglich zwei andere Strafgesetze erschienen, im
13. Jahrhundert das Joei-Shikimoku, und im 14. Jahrhundert
das Kemmu- Shikimoku. Aber das Strafrecht wurde in der
Periode Jahrhunderte langer Verwilderung und Innenkämpfe
bedeutend härter; es kamen grausame Strafen auf, wie das
Kesselsieden (kama-iri), die Kreuzigung und das Zersägen,
das nokogiri-biki^^).
Dazu trat die Strafe der Hauseinsperrung und der Confiscation.
In den 100 Gesetzen lyeyasu's a. 21 wird ausdrücklich
das Kesselsieden und das Zerreissen durch Ochsen aufgehoben,
dagegen an Strafen angeführt: Kreuzigung, Verbrennen, Ent-
haupten (mit und ohne Ausstellung des Kopfes), Erdrosseln;
sodann Verbannung und Ausweisung, Gefängniss, Brandmarkung
und Abschneiden der Nase. (Vgl. auch noch dieselben a. 88.)
Darauf folgten die Gesetze des 17. und 18. Jahrhunderts,
welche S. 377 angeführt sind, und deren Inhalt nunmehr
analysirt werden soll.
§ 3.
Die chinesische Gesetzgebung kennt von der Blutrache
nur noch wenige Spuren; dagegen hat in Japan allem An-
41) Michaelis S. 368, 369, Rudorff, Tokugawages. S. VII, und
in den Mittheilungen der Ostas. Gesellschaft IV S. 392. Der Verurtheilte
wurde in einen Kasten gestellt und neben ihn eine Säge gelegt. Jeder
Vorbeigehende konnte einigemale die Säge an seinem Halse hin- und her-
streifen; nach zwei Tagen wurde dem Unglücklichen der Tod gegeben.
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. X. Band. 25
38(3 Kohler.
scheine nach die Blutrache von je bestanden, und die Ge-
schichte liefert uns viele Beispiele, so aus dem 12., 13. und
It). Jahrhundert"^-), so aber auch bereits aus der ältesten
japanischen Zeif*^).
Eine mächtige Sanction fand das Institut in den sog.
100 Gesetzen lyeyasu's.
Hier ist nämlich in c. 51, 52 die Blutrache geregelt mit
Rücksicht auf den confuzianischen Satz, dass man mit dem Be-
leidiger nicht unter dem Himmel zusammen leben solle; sie ist
gestattet, wenn ein Unrecht gegen den Vater oder gegen den
Herrn geschehen ist. Aber sie setzt voraus, dass man die
Absicht der Blutrache gerichtlich darlegte und sich die Zeit
festsetzen Hess, innerhalb welcher die Rache zu vollziehen sei.
Mit andern Worten, die Blutrache wurde unter gerichtliche
Controle gestellt, — also ähnlich wie im islamitischen Rechte.
Der Gang, welchen die Sache nahm, war nun der: wer
die Blutrache vollziehen wollte, musste eine Klagschrift ein-
reichen und sich einen Erlaubnissbrief geben lassen, dass er
I den Mörder aufsuchen und niederschlagen dürfe. War die
Rache vollzogen, so musste der Rächer sich persönlich melden
und die Rache darlegen; er wurde einstweilen in Haft ge-
nommen und wurde entlassen, wenn er sich genügend gerecht-
fertigt hatte ^^).
Die Anzeige bei Gericht und die vorläufige Genehmigung
scheint dem chinesischen Rechte entnommen zu sein; sie ent-
spricht nämlich einer Stelle des Tscheuli XXXVI 27, welche
hierdurch ihre Beleuchtung erhält ^^).
Der vorläufigen Genehmigung konnte wohl unter Umstän-
den eine spätere Bestätigung gleichstehen, wenn das Einholen
^'^) Dautremer in den Transactions of the Asiatic Society of
Japan XIII p. 84. 86.
43) Kojiki CXLV, CXLVI, CLXIX; Chamberlain in den Trans-
actions X, 2 p. 305. 306, 336.
4*) Dautremer p. 84. 88.
^^) Chinesisches Strafreclit S. 13 Note 1.
Studien aus dem japanischen Recht. 387
der gerichtlichen Erlaubniss nicht hatte geschehen können ^^),
Dies war allerdings dem Wortlaute der Bestimmung nicht ge-
mäss, denn hiernach sollte, wer die Anmeldung in die Register
unterlassen hatte, einem Gewaltthäter gleichstehen (c. 51).
Rückrache sollte nicht sein: die legal ausgeübte Blut-
rache konnte nicht wieder Anlass zur Blutrache geben; so aus-
drücklich lyeyasu c. 51.
Diesem Zug des Rechts entspricht es , dass bei Tödtung
und Körperverletzung regelmässig (ohne Zustimmung der
Betheiligten) keine Begnadigung stattfinden soll, Scharitsu
a. 33 Z. 3.
Diesem Zug des Rechts entspricht ferner die Bestimmung,
dass, wenn ein Niederer sich beleidigend gegen einen Samurai
benimmt nud dieser ihn niederstösst, man sich nicht hinein-
mischen solle, lyeyasu c. 44; so auch noch Kamporitsu
a. 71 Z. 44^7).
Auch die im chinesischen Rechte begründete Tödtungs-
befugniss des Ehemanns gegen den Ehebrecher und die mit-
schuldige Frau wird in den Gesetzen des lyeyasu, mindestens
für die niederen Stände, bestätigt; will er dieses Recht nicht
ausüben und die Schuldigen gerichtlich verfolgen, so kann er
auf Tod oder auf mildere Strafe antragen, lyeyasu 49.
Dieses Tödtungsrecht des Mannes gegen beide Schuldige
findet sich noch im Kamporitsu a. 48 Z. 3 u. 4; es wird hier
aber auch gegen denjenigen statuirt, welcher sich nur zum
Zwecke des Ehebruchs einschleicht, a. 48 Z. 5 *^).
Aber auch die Eltern haben ein Tödtungsrecht bezüg-
lich der verlobten Tochter, welche sich mit einem Andern
vergeht, und bezüglich ihres Mitbetheiligten, sofern sie auf
frischer That ertappt werden, a. 49.
^^) Dautremer p. 85.
^0 Auch wenn ein Mann seine Frau todtschlägt, die sich unge-
bührlich gegen ihn bezeigt, kann Straflosigkeit eintreten, Reigaki a. 62.
^^) Vgl. auch Küchler in den Transactions of theAsiatic Societj''
of Japan XIII p. 132.
388 Kohler.
Die Composition ist noch im Kamporitsu verpönt ^'^):
die Eltern, welche vom Mörder ihres Sohnes Geld nehmen,
werden mit Stadtausweisimg, tokoro barai bestraft, a. 71 Z.45,
vgl. auch Z. 4(j; ebenso wer mit dem Ehemann verhandelt,
nachdem mit der Frau Ehebruch getrieben worden ist, a. 48
Z. 25. In milden Fällen tritt Geldstrafe ein, Reigaki a. 12.
Dagegen findet sich, an die Blutrache anknüpfend, das
System der Strafmilderung, wenn die Hinterbliebenen für
den Thäter Fürbitte einlegen, a. 72; z. B. bei der
Entführung, a. 90^^^); dies insbesondere auch bei fahrlässiger
Tödtung, und namentlich auch, wenn der Getroffene selbst
noch für ihn bittet a. 74 Z. 1 ; ferner bei der Verletzung in Noth-
wehr, Reigaki a. 71; namentlich aber auch beim Casualdelikt,
insbesondere bei der That des Wahnsinnigen, a. 78 Z. 1, je-
doch nicht bei der That des Betrunkenen, a. 77 Z. 1.
Ebenso soll es nach lyeyasu's 100 Gesetzen a. 49 in
den Willen des Ehemanns gestellt sein, ob die von ihm ver-
klagte Ehebrecherin mit dem Tode bestraft werden soll
oder nicht (oben S. 387).
§ 4.
Der chinesische Grundsatz der Verwandtenhaftung
wird von lyeyasu bestätigt, und zwar mit wesentlicher Ver-
schärfung; wenn der Diener seinen Herrn tödtet, so soll er
mit seiner ganzen Sippe ausgerottet werden, lyeyasu 100 Ge-
setze a. 52. Auch noch das Osadamegaki a. 40 bestimmt,
dass die Kinder von Herrn- und Ascendentenmördern zu be-
strafen seien ; sonst soll bei Bürgern und Bauern von einer
Bestrafung der unschuldigen Verwandten abgesehen werden;
jedoch heisst es wieder in a. 50, dass die Verwandten mit tsuiho
geahndet werden können. Hiernach blieb, besonders bei den
Samurai, eine Verwandtenhaftung noch in weitem Masse
^^3 Wie im chinesischen Recht, chines. Strafrecht S. 14.
^^) Auch bei Unterschlagung, Reigaki a. 8, bei Todtschlag auf
Provocation, Reigaki a. 02.
Studien aus dem japanischen Recht. 389
übrig. Dies ergiebt sich auch ans dem a. 97 des Kampo-
ritsu; denn hier ist von dem Falle die Rede, wo der Sohn
eines Hingerichteten, zwar nicht ebenfalls hingerichtet, aber
zu ento, tsuiho (Verbannung u. s. w.) verurtheilt ist, und zwar
in einem Alter von unter 15 Jahren, so dass die Verbannung
erst mit dem 15. Jahre beginnen kann und er unterdessen bei
Verwandten in Verwahrung sein muss. In solchem Falle
konnte erwirkt werden, dass ihm der Eintritt in die Priester-
schaft gestattet und er so von der Strafe befreit werde;
welcher Eintritt allerdings nur gegen einen beschränkenden
Revers erlaubt zu werden pflegte.
Und die Bestimmungen der Kamporitsu wurden in dem
Kansei Keten von 1790 a. 9G Z. 2 dahin ergänzt: wenn
ein Samurai mit shizai^^^) bestraft wird, so erleiden seine Söhne
ento, wenn mit ento, so erleiden sie chutsuiho, wenn da-
gegen bloss mit tsuiho, so bleiben die Söhne frei. Die Söhne
von Bauern bleiben frei, auch wenn ihre Väter ento bekommen
(vergl. Rudorff S. 133).
In anderen Fällen ist die Verwandtenhaftung zu fol-
gendem Systeme abgeschwächt: ist der Thäter der Justiz
erreichbar, so bleibt die Strafe bei ihm stehen; ist er aber
nicht zu bekommen und können ihn die Verwandten nicht
beibringen, so werden sie bestraft, je nach Umständen mit
Gefängniss oder mit Ausweisung, chutsuiho, oder mit Geld-
strafe, kario. Aber auch andere Personen, der Hausbürge,
Hausherr, der Dorfvorsteher u. s. w. sind zur Nachforschung
gehalten und werden eventuell (mit kario) bestraft, a. 82.
Dass früher noch eine weitergehende Einsperrung von Ver-
wandten stattgefunden hat, zeigt der Zusatz v. 2 Karapo (1742)
in a. 82 Z. 3.
§ 5.
Das System der Casualdelikte ist noch nicht völlig
verlassen. Dass der Fährmann, wenn das Boot sinkt, und
5^'^) Ueber die Bedeutung vgl. S. 39G f.
390 Kohler.
dass der Fuhrmann, der Jemanden durch Ucberfabren tödtet, der
Ochsentreiber, welcher den Tod veranlasst, mit ento oder mit
shizai bestraft wird, ist ausserordentlich hart ^^), beruht aber
wohl auf Annahme der Fahrlässigkeit, a. 71 Z. 35, 36, 38 ^^).
Dass aber auch der Eigenthümer der Transportwaaren mit Geld-
strafe belegt wird, ebenso der Hauswirth und der Herr des
Fuhrmanns, das ist Casualhaftung, a. 71 Z. 30^^). Ebenso ist es
Haftung für den Zufall, wenn Jemand an einem Schiessplatz
einen Anderen erschiesst, der plötzlich hinzutritt: er hat 30 Tage
Hausarrest, a. 74 Z. 2.
Namentlich aber zeigt sich die Zufallshaftung in der Haf-
tung der Wahnsinnigen. Wer im Wahnsinn Jemanden
tödtet, büsst mit dem Tode, geshinin, ja unter Umständen mit
shizai. Doch kann eine Milderung eintreten, wenn der Wahn-
sinn klar erwiesen ist, a. 78 Z. 1, 2, 3 ^*).
Ebenso wenn ein Kind Jemanden tödtet: es büsst mit ento,
und zwar in der Art, dass es zuerst bis zum 15. Jahre verwahrt
und dann in die Verbannung geschickt wird, a. 79 Z. 1 und 2.
Auch der Betrunkene, der einen Andern tödtet, büsst
mit geshinin, a. 77 Z. 1.
Ausserdem zeigt sich die Casualhaftung bei der Brand-
legung; wird ja doch auch im chinesischen Recht dieser
Fall besonders hervorgehoben^^); und zwar wird die Haftung
in der Art auferlegt, dass derjenige, bei dem das Feuer aus-
bricht, bezw. der Hausverwalter gestraft wird, a. 69.
Diesem Gedanken entsprechend, ist denn auch die Straf-
^^) In Ausnahmsfällen strafte die Praxis nailder, Reigaki a. 18.
^-) Vgl. auch Osadamegaki a. 64, 65.
^^) Osadamegaki a. 65, der allerdings davon ausgeht, dass der
Herr den Knecht besser hätte ziehen sollen.
^0 Vgl. auch Reigaki a. 35, 44. Milderung tritt insbesondere
ein, wenn die Verwandten des Erschlagenen mit milderer Behandlung
einverstanden sind (oben S. 388). Dies aber wird von ihnen erwartet. Im
cit. Fall des Reigaki wurde trotz solcher Fürbitte auf shizai erkannt,
weil der Wahnsinnige seine eigenen Eltern verwundet hatte.
^•') Chinesisches Strafrecht S. 47, Lü-li s. 382.
Studien aus dem japanischen Recht. 391
bürgschaft in Uebung: wer für Jemandes Leistung Bürge
ist^ haftet^ sofern derselbe zu der Leistung strafrechtlich
verbunden ist, gleichfalls strafrechtlich, wenn auch mitunter
weniger streng; so wenn der Diener mit dem Angeld entläuft:
der Bürge erleidet Yeddobarai mit Vermögensconfiscation,
a. 42 Z. 4; in anderen Fällen nur Geldstrafe, kario,
a. 42 Z. 4. 6.
Das spätere Recht sucht sich vom Casualdelikt zu
lösen und betrachtet die subjektiven Umstände des einzelnen
Falles, ob Fahrlässigkeit anzunehmen ist oder nicht ; so die
Entscheidung Reigaki a. 72.
§ 6.
Wie im chinesischen Recht ^^), so ist selbst noch im
Kamporitsu die Nothwehr mangelhaft entwickelt: sie ist nur
Milderungsgrund; wer den Andern in Nothwehr tödtet, büsst
mit ento, a. 71 Z. 33; und Derjenige, welcher dem Ange-
griffenen Beistand leistet, wobei der Angreifer getödtet wird,
mit chutsuiho, a. 71 Z. 31. Doch drängte die Entwickelung
zur Straflosigkeit, Reigaki a. 11, oder doch zur Milde-
rung (z. B. tokorobarai), Reigaki a. 60; zur Straflosigkeit,
namentlich wenn kein Antrag gestellt wird und der Angreifer
schlecht beleumundet ist, Reigaki a. 71^^).
Jedenfalls soll die Nothwehr ein Grund der Begnadi-
gung sein, vgl. Scharitsu a. 9 Z. 5.
Ebenso ist der Nothstand kein Schuldaufhebungsgrund,
aber es kann sofortige Begnadigung stattfinden, wenn Jemand
im Hunger oder aus plötzlicher Begier Nahrungsmittel ge-
nommen hat, Scharitsu a. 33 Z. 2.
§ 7.
Das System der Straflosigkeit kraft der Selbst-
en zeige findet sich noch in der Anwendung, dass der Mit-
■'^) Chinesisches Strafrecht S. 15.
") Vgl. auch noch Kansei Keten a. 71 Z. 20 (Rudorff S. 132).
392 Kohler.
schuldige, welcher als Kronzeuge gegen die übrigen Schuldigen
auftritt, straflos bleibt, a. 58^^), oder doch um einen Grad
milder bestraft wird, a. 102; ebenso wird der Dieb milder
bestraft, der freiwillig das Gestohlene zurückgiebt, Reigaki a.7.
Und wer auch nur andere Gefangene beobachtet und Angaben
macht, die zur Aufklärung führen, bekommt mildere Strafe,
z. B., statt ento, jutsuiho, Reigaki a. 68^^).
Die Begnadigung ist, wie im chinesischen Leben, ein
wichtiger Zug der Strafrechtspflege, im Tokugawarecht noch
besonders wichtig, da viele Strafen auf unbestimmte Zeit gehen,
wovon alsbald (S. 412).
Der Versuch wird, wie im chinesischen Recht ^^), milder
gestraft, als die Vollendung; so bei der Körperverletzung,
a. 71 Z. 2, 6, 13, 16, so bei dem Tödtungsdelikt a. 71 Z. 8,
10, 23 u. a.
Der freiwillige Rücktritt macht nicht straflos, erleichtert
aber die Begnadigung, vergl. Scharitsu a. 6.
Auch die Lehre der Theilnahme entspricht noch dem
chinesischen Rechte ^^).
Eine leichtere Strafe des Ge hülfen (des an der That
weniger Betheiligten), insbesondere wenn er keinen Gewinnantheil
nimmt, findet statt beim Diebstahl, a. 56 Z. 14, beim Morde,
a. 71 Z. 26,28,31, a.48 Z. 7, beim Menschenraub a. 61 Z. 2,
beim Ehebruch a. 48 Z. 6, 10, bei der Bigamie a. 48 Z. 16, bei
^^) Vgl. auch Osadamegaki a. 13 Sadame II Z. 1 (beim Handel
mit Giften nnd gefälschten Arzneien), a. 13 Sadame VII Z. 1 (bei Brand-
stiftung), ebenso a. 14 Z. 3, a. 13 Sadame VII Z. 5 (Unterschlagung),
a. 16 Z. 3 (Hazardspiel).
^^) Dies scheint sehr missbraucht worden zu sein ; eine Bestimmung
des Osadam. a. 3 Z. 2 Zusatz besagt, dass man sich derartiger Ver-
brecher nicht als Hülfsmittel der Regierung bedienen solle. Es wurden
auch Diener von Bordellen als Ausspäher benutzt; vgl. Osad. a. 3 Z. 5
Anhang.
^0) Chinesisches Strafrecht S. 25.
^^) Chinesisches Strafrecht S. 26.
Studien aus dem japanisclien Recht. 39S
der Urkiindenfälschimg a. 62, bei Erpressung a. 64 Z. 3, bei
Brandstiftung a. 70 Z. 2 «2).
Eine besondere Strafe des Ha uptbe theil igten (todori)
erfolgt beim Einbruchdiebstabl a. 56 Z. 5, beim Holzfrevel
a. 56 Z. 15, bei der Entführung a. 90, bei der Nothzucht
a. 48 Z. 11, bei der Brandstiftung a. 70 Z. 1, bei Landfrie-
densbruch a. 76 Z. 3 und 4, beim Aufruhr a. 28, bei der
Wunderverkündung a. 53 Z. 2.
Der Anstifter wird dem Thäter gleichgestellt; so beim
Mord a. 71 Z. 27, bei der Brandstiftung a. 70 Z. 2.
Bisweilen wird der Gehülfe dem Hauptthäter gleichbe-
straft, wenn der Hauptthäter nicht entdeckt wird; so beim
Tödtungsdelikt a. 71 Z. 26.
Bei Gehülfen und Nebenthätern ist auch die Begnadigung
erleichtert, Scharitsu a. 9 Z. 9 — 11.
Wer Brandstifter oder Mörder nach der That begün-
stigt^^), büsst mit shizai; jedoch tritt Milderung ein, wenn
der Begünstiger dem Thäter sehr nahe steht, oder sonst er-
leichternde Umstände vorliegen, a. 80, 100.
Wer aber den Herrn- oder Elternmörder oder den Ueber-
treter der Passwache nach der That verbirgt, haftet mit
gokumon, a. 81.
In anderen Fällen tritt nur Geldstrafe ein, a. 44 Z. 1 u. 2.
Ueber die strenge Strafe der Personenhehlerei ist demnächst
(S. 405) zu handeln.
Eine Anzeige pflicht besteht insbesondere beim Hazard-
spiel; es werden hier namentlich auch die Wohnungsnach-
barn, ja die gegenüber Wohnenden bestraft, wenn sie keine
Anzeige machen a. 55 Z. 17 f. Dahin kann auch die Haf-
tung des HauseigenthüDiers und des Hausverwalters bei
Kuppelei gezählt werden, a. 47 Z. 6 und 9: er hätte es ver-
^2) Vgl. auch Reigaki a. 40, 47, 50.
''^) Vgl. chinesisches Strafrecht S. 29, wo der Begünstiger eine
Stufe milder als der Thäter bestraft wird. Bezüglich der Begünstigung
des Brandstifters vgl. auch Osadamegaki a. 13 sadame VII.
394 Kohler.
hindern oder doch anzeigen sollen. Ebenso haftet ^ wer um
einen Todtschlag weiss und keine Anzeige macht, mit chu-
tsuiho, a. 71 Z. 32.
In manchen Fällen wird der Anzeiger besonders be-
lohnt; so bei Diebstahl und anderen Verbrechen *^^) ; so wenn
Jemand einen Andern anzeigt^ den er mit verbotenem Schiess-
gewehr antrifft a. 21 Z. 7 und 8 ^^); oder wenn Jemand Hazard-
spieler zur Anzeige bringt, a. 55 Z. 24 bis 26^^). Unter
Umständen v/ird auch Derjenige belohnt, welcher einen
Andern am Verbrechen hindert; so die Ortsbeamten, wenn sie
die Bauern vom Aufruhr zurückhalten, a. 28.
Auch bezüglich der Folter gilt noch das chinesische
System ^'^); wie in China, wird sie angewendet bei Tödtung^^)
und Raub (auch Diebstahl); dazu kommt noch Brandstiftung,
Urkundenfälschung und ein Vergehen, welches in Japan furcht-
bar geahndet wird ; Umgehung der Passbehörde, a. 83.
Für das Unterlassungsdelikt ist die Bestimmung in-
teressant, dass, wer bei einem Brande flieht, ohne für die
Eltern zu sorgen, mit shizai, und wenn es sich um andere
ältere Verwandte handelt, mit chutsuiho bestraft wird, sobald
solche Personen in Folge dessen im Feuer umkommen, a. 71
Z. 48. Dieses ist im Sinne des chinesischen Rechts ^^).
Im übrigen ist der Satz vom C au salitätszusammeu-
hang, dem chinesischen Recht gegenüber, weitergebildet^^).
Denn es wird ausdrücklich ausgesprochen, dass, wenn der
^*) Osadamegaki a. 13 sadame I Z. 7; selbst der Mitthäter soll
nicht nur straffrei werden, sondern auch Belohnung erhalten, Os ad am.
a. 13 sad. VII Z. 1 und 5, a. 14 Z. 3, a. 16 Z. 3, a. 17 Z. 5, a. 19 Z. 1.
^^) Vgl. auch Reigaki a. 46.
®^) Auch Anzeige bezüglich der nicht gestatteten Religionen, 0 s a-
dam. a. 13 sadame V.
<5 0 Chinesisches Strafrecht S. 50.
C8-) Vgl. auch Reigaki a. 42.
«») Chinesisches Strafrecht S. 22.
'ö) Chinesisches Strafrecht S. 23.
Studien aus dem japanischen Recht. 395
Verwundete an einer andern Ursache stirbt^ der Verletzer für
den Tod nicht verantwortlich wird, a. 73.
§ 8.
Dagegen hat das Recht der Tokugawa eine allgemeine
Rückfallsschärfung, es hat eine Verjährung entwickelt^
es hat ein vielfach anderes, insbesondere ein vielfach härteres
Strafensjstem ; es zeigt endlich eine Reihe von Modificationen
und Fortbildungen im Einzelnen.
Bei Rückfall findet eine Zusatzstrafe oder eine Steige-
rung statt: zu kario kommt Arrest, zu Prügelstrafe und zu
Brandmarkung tsuiho oder tokorobarai. Vergl. a. 103 Z. 37.
Doch scheint hierbei nicht bloss die Begehung des glei-
chen Verbrechens, sondern jedes neue Verbrechen in Betracht
zu kommen. Und wer, ausgewiesen, zurückkehrt und ein
neues Delikt begeht, der wird dafür um einen Grad höher
gestraft, und wenn die Strafe Brandmarkung ist, mit shizai,
a. 85 Z. 10, vergl. auch Z. 15, und auch Reigaki a. 17.
Besonderes gilt vom Rückfall beim Diebstahl, wovon alsbald
(S. 402 f.) zu handeln ist.
Auch im Fall der Konkurrenz scheint nach dem To-
kugawarecht das Schärfungssystem zu bestehen ^^); vergl. Rei-
gaki a. 40, wo bei Konkurrenz von Raubmord und Brand-
stiftung auf Kreuzestod (haritsuke) erkannt wurde; vgl. ferner
Reigaki a. 43, wo auf wiederholten Diebstahl chutsuiho ge-
legt wurde, a. 43; ferner Reigaki a. 49, wo auf shizai er-
kannt wurde, als Tödtungsversuch und Aussetzung des ver-
meintlichen Leichnams konkurrirten ; vergl. auch noch
Reigaki a. 54; endlich Reigaki a. 68: Verwundung eines
Verwandten des Herrn zieht shizai, Verwundung zweier Ver-
wandten des Herrn Kreuzigung nach sich.
Geringe Delikte verjähren in 12 Monaten: sie sind
^^) Das chinesische Recht hat das Absorptionssystem, vgl. Chines.
Strafrecht S. 31.
39() Kohler.
nach 12 Monaten kiuvvaku; jedoch wird die Verjährung unter-
brochen durch Untersuchungshandhingen a. 18. Schwerere
Delikte werden auch nachträglich bestraft — docli^ wie es
scheint, so, dass nach Umständen des einzelnen Falles eine
Verjährung statuirt werden kann^ a. 18.
Bei manchen Delikten tritt nach Ablauf längerer Zeit
keine Extinktivverjährung ein, aber eine Mi Iderun g :
Milderungsverjährung, z. B. bei Brandstiftung a. 70 Z. 6:
statt kwazai nur shizai.
§ 9.
Das Kamporitsu erwähnt in a. 103 folgende Todesstrafen:
1. das nokogiri-biki (oben S. 385),
2. die Kreuzigung, haritsuke: an das Kreuz Binden
und Durchstechen mit Lanzen,
3. Verbrennen • (k w az ai) ^^),
4. Enthauptung entweder einfach (zanzai), oder ohne
ehrliches Begräbniss (geshinin), oder mit Schändung
des Leichnams (shizai), oder mit Ausstellung des
Kopfes (gokumon).
Die Strafen 1 bis 4 hatten früher Vermögenseinziehung
(kessho) zur Folge; vergl. auch a. 27 Z. 1; doch hat man
bei geshinin später (seit 1744) davon abgesehen a. 27 Z. 1.
Ueber die eigenartige Confiscation , wobei ein Haus auf
5 Jahre eingezogen wird, ist im speciellen Theil zu handeln
(bei Kuppelei und Hazardspiel (S. 402, 410).
Die Todesstrafe soll an keiner schwangern Frau vollzogen
werden, Reigaki a. 13.
Die Verbannung ist entweder Deportation auf eine
Insel (ento) '^^); oder Landesverweisung (tsuiho) '^"*), schwere,
'-) Der Feuertod kam noch in den GOer Jahren vor; vgl. Bous-
quet, le Japon II p. 28.
'^) Sind in der Herrschaft des Gerichtsherrn keine Inseln, so tritt an
Stelle des ento lebenslängliche Gefängnissstrafe, Osadamegaki a. 55.
'"*) Sie wird bei vielen Delikten angedroht, obgleich nach dem
Osadamegaki a. 52 ein massiger Gebrauch davon zu machen ist.
Studien aus dem japanischen Recht. 397
mittlere, leichte, jutsuiho, chutsuiho, ketsuiho; oder
OrtsverweisuDg und zwar aus Jeddo und der Umgegend
von Jeddo: Yeddo juriyoho tsuiho, oder aus Yeddo
schlechthin: Yeddobarai, oder aus dem Wohnorte: toko-
robarai.
Das ento hat Vermögensconfiscation zur Folge, ebenso
das jutsuiho; bei chutsuiho tritt nur Einziehung des Im-
mobiliarvermögens, bei ketsuiho Einziehung der Acker-
grundstücke ein. Fehlt es allerdings an Immobiliarvermögen,
so treten die Fahrnisse an seine Stelle. Bei Ortsverweis tritt
nur ausnahmsweise in einzelnen Fällen kessho ein, a. 27 Z. 1,
a. 103 Z. 9, 10, 11, 12, 14. Die Vermögensconfiscation ist
in Japan schon sehr alten Datums ^^).
Die Verbannung geschieht in der Tokugawaperiode nicht
mehr auf Zeit, sondern immer auf das Unbestimmte, vorbe-
haltlich der Begnadigung. Für die Begnadigung haben sich
bestimmte Normen gebildet; in schweren Fällen soll gar keine
Begnadigung stattfinden, in gewöhnlichen Fällen nicht vor
Ablauf einer bestimmten Zeit, z. B. bei ento nicht vor 29,
bei jutsuiho nicht vor 26, bei chutsuiho nicht vor 23 Jahren
u. s. w. , in besonders leichten Fällen schon früher. Diese
Sätze sind in der letzten Zeit des altjapanischen Rechts
(1851 bezw. 1862) im Scharitsu festgesetzt worden (Ru-
dorff Tokugawagesetzsammlung S. 134 f.).
Beschimpfende Strafen sind: Ausstellung (sarashi):
3 Tage lang; Ausstossung aus der Priesterklasse, ja aus
der ganzen Sekte oder Religion; Ausstossung aus dem Adel
(Verlust des Rechts des Schwertertragens), kaiehi; das Ver-
stössen in die unehrlicheKlasse der hinin (hinin-te-shita);
Brandmarkung (irezumi) am Arm, aber auch an der Stirne.
Von Freiheitsstrafen ist Gefängniss ^^) und Einsper-
'^) Vgl. Kojiki II s. 71 p. 189 f.
'^) Ueber die Ordnung der Gefängnisse vgl. Osadamegaki a. 6
Anhang.
398 Kohler.
rung im Hause bekannt; letztere hat mehrere Grade, indem
der Bestrafte mehr oder weniger isolirt wird'^): tojime,
wo die Thüre verklammert wird, oshikome, wo die
Thüre verschlossen wird, heimon, wobei ebenfalls Thür und
Fenster verschlossen wird, und die milderen Formen: hissoku,
enryo.
Gesteigert wird die Freiheitsstrafe durch die Fesselung
(tejo), die alle paar Tage nachgesehen wird; die Fesseln wer-
den mit Siegeln beglaubigt.
Prügelstrafe (tataki) auf Rücken und Hintertheil, in
chinesischer Weise, bis zu 50 bezw. 100 Schlägen.
Geldstrafe (kario): 3 — 5 oder 10 kammon oder 20 bis
30 rio; im Fall des Zahlungsunvermögens Fesselung (tejo).
Ausserdem giebt es noch Verweis: shikari.
Eine leichtere Strafe kann durch die Untersuchungs-
haft (auch durch die Folter) als verbüsst betrachtet werden
a. 99. Dies soll jedoch nach den Kansei-Keten a. 96 Z. 3
bei Gokenins nicht eintreten : ihre Strafe soll nicht consumirt
werden (über Gokenins oben S. 354).
Bei der Strafenvollstreckung, namentlich bei der
Todesstrafe sollen nur die Vollstreckungsbeamten anwesend
sein ^^).
An Feiertagen soll die Todesstrafe nicht vollzogen
werden ' ^).
§ 10.
Die Tödtung wird mit dem Tode bestraft*^), und zwar
zunächst mit geshinin, a. 71 Z. 25, in qualificirten Fällen mit
shizai : so die verruchte Tödtung (wohl, wie im chinesischen
''') Früher nicht in Dörfern, später auch in diesen, a. 23.
'^) 2 Bukeshohatto a. 5; 4 Bukesh. a. 5 und 8; Osadameg.
a. 13 sadame I Z. 8. Dem steht allerdings die Ordnung des nokogiri-
biki entgegen; allein dieses war wohl kaum mehr in Anwendung.
'*) Osadamegaki a. 41. Sonst bestehen keine besonderen
Zeiten mehr (oben S. 381).
^^) Vgl. auch schon lyeyasu 100 Gesetze a. 43.
Studien aus dem japanischen Recht. 399
Recht, die Tödtung mit besonderer Grausamkeit), a. 18 Z. 2;
so wenn die Tödtung stattfindet, um einen Zeugen des Ver-
brechens wegzuschaffen a. 71 Z. 29; so der Strassenmord
a. 71 Z. 34. Namentlich aber ist, wie im chinesischen Recht,
qualificirt der Elternmord: hier tritt haritsuke ein^^), und
auf den Herrenmord soll selbst nokogiri-biki stehen a. 71
Z. 1, 14; qualificirt ist auch die Tödtung eines früheren
Herrn, die Tödtung eines Verwandten des Herrn, die Tödtung
des Orts Vorstandes, des Lehrers, a. 71 Z. 4, 11, 23, 21^^).
Dagegen werden, wie im chinesischen Rechte, Eltern, welche
ihre Kinder tödten, milder bestraft: mit ento, nur wenn
aus gewinnsüchtigen Motiven, mit shizai a. 71 Z. 19; ebenso
wenn der ältere Bruder den jüngeren tödtet a. 71 Z. 20 —
dieses ist chinesisches Recht ^^).
Eine mildere Strafe tritt auch ein, wenn der Erschlagene
den Thäter gereizt hat oder ein schlechtes Subject ist; dies
insbesondere wenn die Verwandten des Erschlagenen für den
Thäter bitten, a. 72, Reigaki a. 51.
Wer ein angenommenes Kind tödtet, wird mit goku-
mon, ja mit haritsuke, Kreuzigung gestraft, a. 45 Z. 1; und
wer ein solches Kind aussetzt, mit gokumon, a. 45 Z. 1^^);
der Polizeibeamte, der ein Findelkind findet und anderswo
aussetzt, mit shizai, a. 86 Z. 4^^). Auch die Aussetzung
eines Kindes durch seine leiblichen Eltern ist verboten ^^).
Der Giftmörder büsst mit gokumon, a. 71 Z. 24^^), der
Strassenmörder mit shizai, a. 71 Z. 34.
^') Dahin gehört, wie im chinesischen Rechte, auch der Mord des
Mannes durch die Frau, a. 48 Z. 7.
^^) "^gl* auch Reigaki a. 13', auch a. 53 (wenn ein Jeta einen
Bauern erschlägt).
«3) Chinesisches Strafrecht S. 41, Lü-li s. 318, 319.
^*) Osadamegaki a. 63.
^^) Osadamegaki a. 81 III.
^^) Osadamegaki a. 62.
^') lyeyasu 100 Gesetze a. 88 bestimmte sogar Kreuzigung.
400 Kohler.
Auch die Tüdtung eines Einwilligenden wird mit
gesliinin bestraft, so insbesondere wenn zwei sich gegenseitig
tödten wollen und der eine Theil dabei stirbt; stirbt Keiner,
so tritt Verstossung unter die hinin ein a. 50.
Fahrlässige Tödtung büsst mit ento, und bei geringer
Fahrlässigkeit mit chutsuiho a. 74 Z. 1 und 3.
Die Körperverletzung wird, wenn sie stattfindet gegen
den Gläubiger, der zur Zahlung der Schuld mahnt, mit
jutsuiho, und wenn sie mit Waffen geschieht, sogar mit
shizai bestraft, a. 64 Z. 41 ; die Körperverletzung des Ehe-
mannes durch den Ehebrecher gar mit gokumon, a. 48 Z. 8.
Sonst wird die Körperverletzung, wenn schwere Folgen ein-
treten, mit chutsuiho bezw. ento geahndet, letzteres wenn der
Verletzte arbeitsunfähig wird a. 71 Z. 40.
Bei einfachen leichten Verletzungen ist eine (be-
stimmte) Busse an den Verletzten für Heilungskosten zu ent-
richten; kann sie nicht entrichtet werden^ so tritt tokorobarai
ein a. 77 Z. 2 — 5; der Dienstmann eines Büke büsst mit
Yeddobarai, Reigaki a. 79, Kansei-Keten a. 76 Z. 4 (Ru-
dorff S. 132).
Körperverletzung mit nachfolgendem Tod wird
mit geshinin bestraft, und wenn mehrere zusammenwirkten,
so erleidet derjenige die Todesstrafe, der den ersten Schlag
gethan hat a. 71 Z. 25, 30; kann solches nicht constatirt
werden, so tritt ento ein, Reigaki a. ijß.
Wer aber seinen Herrn am Körper beschädigt, büsst
mit haritsuke, ebenso wer seinen früheren Herrn oder seine
Eltern verletzt; wer Verwandte seines Herrn oder seine eigenen
Verwandten oder seinen Lehrer, mit shizai a. 71 Z. 2^ 5, 15,
12, 18, 22, wer seine geschiedene Frau, mit Brandmarkung
und Verstossung zu den hinin a. 71 Z. 42.
Das Eingeben von Gift wird mit ento bestraft, wenn der
Tod nicht eintritt, a. 24.
Der Theilnehmer an einem Raufhandel, bei welchem
Studien aus dem japanischen Recht. 401
eine Tödtung erfolgt, büsst mit Geldstrafe a. 71 Z. 50^^j:
man soll sich nicht in Streitigkeiten hineinmischen^^).
§ 11.
Die Strafe des Menschenraubs (in China ständige Ver-
bannung und Bambus) ist zu shizai gesteigert, a. 61 Z. 1 ^^).
Auf gewaltsame Entführung steht, bezüglich des
Hauptthäters, Tod (shizai)^ ähnlich wie im chinesischen
Recht, a. 90^^). Jedoch kann, wenn der Schwiegervater um
Erlass bittet, Milderung eintreten. Entführung mit Einwil-
ligung derFrauensperson wird mit tejo bestraft, a. 48 Z. 22.
Bei Nöthigung, insbesondere bei der Nöthigung, eine
Tochter zur Frau zu geben, tritt chutsuiho ein, Reigaki a. 64.
Ehebruch (mitsutsu) wird härter bestraft, als im chine-
sischen Recht: die Strafe ist shizai, a. 48 Z. 1, 2^^).
Der Umgang mit einer Verlobten wird mitketsuiho geahndet,
die Verlobte mit Abschneiden der Haare, a. 49 (unten S. 447).
Nothzucht wird mit jutsuiho, Nothzucht an einer Ehe-
frau mit shizai bestraft, a. 48 Z. 11, 21, die Unzucht an einem
jungen Mädchen aber nur mit ento, a. 48 Z. 20. Dagegen
wird der Incest nicht mit gleicher Strenge behandelt, wie
im chinesischen Recht ^^), bestraft wird überhaupt nur der
Umgang mit Pflege- und Schwiegertochter, sodann mit
®^) Vgl. auch lyeyasu 100 Gesetze a. 42.
s^) 4 Bukeshohatto a. 9 (Rudorff S. 27); Osadamegaki a. 13
sadame I Z. 5 (Rudorff S. 46).
*°) Vgl. auch Osadamegaki a. 13 sadame I Z. 9.
«0 Lü-li s. 112, Zeitschr. VI S. 365.
®^j Ja, schon der Wechsel von Liebesbriefen mit einer Ehefrau wird
bestraft, a. 48 Z. 26. Ein Straferhöhungsgrund beim Ehebruch, wie
bei der Unzucht, ist es, wenn der Thäter ein Priester ist (a. 51); ebenso
im chines. Recht (s. 114). Eine Straferhöhung tritt auch ein, wenn
Jemand mit der Frau seines Herrn Ehebruch treibt: die Strafe des
Ellebrechers ist hier gokumon, a. 48 Z. 9. Vgl. auch Küchler in den
Trasact. of the As. Sog. of Japan XIII p. 133. Vgl. auch oben S. 387.
^3) Vgl. chinesisches Strafrecht S. 39. Vgl. auch oben S. 361.
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. X. Band. 26
402 Kohler.
Schwester, Tante und Nichte, ersternfalls allerdings mit goku-
mon, letzternfalls aber nur mit Verstossung unter die Unehr-
lichen (hinin), a. 48 Z. 13 und 14. Wie im chinesischen
Recht, gilt auch hier der Umgang des Dieners mit der Tochter
des Herrn als Incest: er wird aber nur mit chutsuiho be-
straft, a. 48 Z. 18.
Die Kuppelei durch Halten heimlicher Dirnen wird
mit Geldstrafe und 100 Tagen Fesselung geahndet, a. 47 Z. 1
und 2, die Kuppelei von Wirthen durch Zulassung von
Dirnen mit tokorobarai, a. 47 Forts. Z. 1. Im ersten Fall
tritt auch Confiscation des Hauses ein, aber nur auf 5 Jahre,
a. 47 Z. 6 und 9 9^).
Von einer Bigamie des Mannes ist insofern die Rede,
als er eine zweite Hauptfrau erst nehmen kann, nachdem er
der ersten den Scheidebrief gegeben: Strafe ist tokorobarai,
wozu, bei habsüchtigen Motiv, Confiscation des Mobiliarver-
mögens hinzutritt; eine Frau, die sich ohne Scheidebrief neu
verheirathet, bekommt die Haare geschoren, der Vermittler
wird mit Geld gestraft, a. 48 Z. 15, 16^^).
§ 12.
Bei Sachbeschädigung ist der Schaden zu vergüten;
wer das nicht kann, bekommt tokorobarai, a. 77 Z. 6.
Diebstahl wird, wie im chinesischen Recht ^^), mit
Brandmarkung und Prügeln bestraft; ist aber der Betrag über
10 yen, dann mit dem Tod; in leichteren Fällen erhält der
Dieb (das erstemal) nur Prügel mit oder ohne Brandmarkung,
a. 56 Z. 6, 11, 16— 20 9'). Wer einem Krüppel seine Habe
stiehlt, büsst mit shizai, a. 56 Z. 8. Erschwerter Diebstahl ist
^^) Vgl. auch Osadamegaki a. 76.
^^) Vgl. auch Küchler in den Transact. of the As. Soc. of
Japan XIII p. 133.
^^) Chinesisches Strafrecht S. 44.
^'3 Vgl. auch a. 43 Z. 1, sodann Reigaki a. 21, wo auf Prügel
und Ortsvei Weisung erkannt wurde.
Studien aus dem japanischen Recht. 403
ferner Diebstahl mittelst Einschleichens oder Einbrechens, ins-
besondere wenn der Einbruch gewaltsam durch Mehrere ge-
schieht: hier tritt Todesstrafe^ shizai, ja (beim. Hauptbethei-
ligten) gokumon ein^ a. 56 Z. 5 und 6; Todesstrafe mit
öffentlichem Umzug trifft bei Einschleichdiebstahl zu, wenn
er mindestens fünfmal begangen wurde, ja hier selbst beim
Versuch, a. 56 Z. 28.
Der Holzfrevler verwirkt Geldstrafe, jedoch der Haupt-
betheiligte Ausweisung: jutsuiho oder chutsuiho, a. 56 Z. 15.
Wer wegen Diebstahls mit ßrandmarkung bestraft ist
und, nachdem die Brandmarkung vollzogen ist, wieder stiehlt,
erleidet shizai, a. 85 Z. 14.
Der Kansei-keten von 1790 a. 56 Z. 11 hat folgende
Abstufung: der erste leichte Diebstahl: Prügel, der zweite:
irezumi, der dritte: shizai (Rudorff S. 131). Vergl. auch
Scharitsu a. 21 Z. 4.
Die Unterschlagung anvertrauter Sachen wird dem
Diebstahl gleich bestraft: mit Brandmarkung und Prügeln;
wenn über 10 yen, mit dem Tod, a. 37 Z. 2^^). Doch ist
nach einer Zusatzbemerkung die Strafe später gemildert worden:
in Kerker, in jutsuiho bzw. Yeddobarai oder tokorobarai ^^).
Wenn der Diener mit anvertrauten Sachen des Herrn entläuft,
soll er mit dem Tode büssen, wenn die Sachen 1 riyo Werth
betragen, a. 43 Z. 2.
Bestraft wird auch die Verpfändung und der Verkauf einer
res Sacra; sie werden bestraft mit Ausschliessung aus dem
Tempel, mit Hausarrest bzw. tejo, a. 36 Z. 6 ^^^).
Unterschlagung durch Verheimlichung eines Fundes
dagegen wird nur mit Geld geahndet, a. 59 Z. 1, a. 60 Z. 3^^^).
Als ein Act der Unterschlagung wird es auch betrachtet,
^^) In China milder, chinesisches Strafrecht S. 45.
^^) Namentlich dann, wenn das Geld ganz ersetzt wird oder wenn
bei theilweisem Ersatz der Verletzte Fürbitte einlegt, Reigaki a. 8.
^0°) Osadamegaki a. 39.
i'^O Vgl. auch Osadameg. a. 13 sad. VII Z. 5.
404 Kohler.
wenn Jemand trotz öffentlicher Ankündigung den aufgebotenen
Gegenstand behält; hier tritt Yeddobarai ein und Mobiliar-
confiscation^ a. 57 Z. 4 (vergl. auch Z. 0)^ a. 92 Z. 3.
Qualificirt wird die Fundunterschlagung gebüsst, wenn
von einem öffentlichen Wächter begangen {welcher für
die Bewahrung gefundener Sachen zu sorgen hat); hier tritt
die Strafe des Diebstahls ein, a. 8G Z. 1.
Besonders schwer wird der Diebstahl zur See bestraft,
auch die Unterschlagung zur See, sofern sie unter dem
Verwände stattfindet, dass die Waaren geworfen worden
seien; der Capitän und der Waarenmeister büssen mit go-
kumon, die Matrosen mit Prügeln und Brandmarkung, a. 38
Z. 2^^^). Auch die Strandbewohner, welche mitwirken,
büssen schwer ^^^). Ebenso wird bestraft der Diebstahl von
Seewaaren eines verunglückten Schiffes durch die Strand-
leute i^-^).
Der Raub, ja der Raub versuch, sofern dabei eine Körper-
verletzung stattfindet, wird mit dem Tode bestraft: shizai^^^),
der Wegelagerer und der, welcher beim Raub einen Men-
schen tödtet, mit gokumon, a. 56 Z. 2, 3, 4, 9, 10, 27 1<^^).
Betrug gegen die Regierung wird, wenn er auf 1 yen
oder mehr geht, mit shizai, im Wiederholungsfalle mit go-
kumon bestraft, a. 64 Z. 1 und 2; in milden Fällen tritt die
einfache Diebstahlsstrafe ein, a. 64 Z. 1. Der Betrug durch
Verkauf gefälschter Waaren bezw. durch Unterschiebung
dritter Personen als Scheinkäufer wird mit Brandmarkung und
chutsuiho geahndet, a. 64 Z. 8.
^°') Auch das chinesische Recht straft den Seeraub besonders streng,
Li zu s. 225 in Jamieson, China Review VIII p. 4 und 7.
103) Osadamegaki a. 17 Z. 3.
i°4) Osadamegaki a. 18 Z. 3.
i<>^) Vgl. auch schon lyeyasu 100 Gesetze a. 43.
1°^) Vgl. auch Chinesisches StralVecht S. 45; auch Li zu s. 102 und
Li 15 zu s. 225 des Tatsing lü-li (Jamieson, China Review X j). 80,
VIII p. 9).
Studien aus dem japanischen Recht. 405
Die Erpressung ^^'^) wird mit gokumon gebüsst; wenn
der Vortheil nicht erreicht wird^ mit shizai^ a. 64 Z. 3. So
wenn durch die Erpressungsgewalt der Gezwungene verletzt
wird; sonst gilt jutsuiho^ Reigaki a. 33.
Der Hehler wird verschieden bestraft: mit Prügeln mit
oder ohne Brandmarkung, oder auch mit tokorobarai; der
gewerbsmässige Hehler (und der Dienstbürge, der die vom
Diener gestohlenen Sachen verhehlt) mit shizai ; so auch der
Hehler von veruntreuten Seewaaren; der culpose Hehler büsst
mit Geldstrafe; so was die Sachhehlerei betrifft, a. 56 Z. 22
bis 26 und 31; a. 57 Z. 1; a. 38 Z. 3; a. 42 Z. 17 ^^s)
Der Personenhehler bekommt jutsuiho, bei Veruntreuung zur
See: ento, ja in schweren Fällen und wenn er zugleich Sach-
hehler ist und den Verkauf der gestohlenen Sachen besorgt:
shizai; bei leichtem Diebstahl tritt bloss tokorobarai ein, a. 56
Z. 12, 13, 21; a. 80; a. 38 Z. 5; oder auch Yeddo yuriyohotsuiho
a. 42 Z. 81«^).
Der Diener, welcher dem Dienst entläuft, büsst mit
Prügeln, unter Umständen aber auch mit tejo, bezw. mit Yed-
dobarai, a. 32 Z. 3—5, a. 42 Z. 4.
§ 13.
Das Verbreiten gewisser Lehren ^^^) wird mit ento be-
straft, wer Wunder verkündet, mit Yeddobarai bezw. tokoro-
^'^^) In China einen Grad höher als der Diebstahl, chinesisches Straf-
recht S. 45.
^"^) Etwas härter wird der bestraft, der von einem Diener, von
dem er weiss, dass er entflohen ist, ohne zu wissen , dass er gestohlen
hat, Sachen genommen und verpfändet hat; er erleidet Yeddo-juriyoho-
tsuiho, a. 42 Z. 16 ; auch sonst tritt bei schwerer culpa schwerere Strafe :
Prügelstrafe und tokorobarai, ein, Reigaki a. 20. Besondere Vorsicht
wird den Pfandleihern und Trödlern anempfohlen, Osadamegaki a. 70;
sie sollen sich stets Bürgen geben lassen; ib a. 81 Z. III.
'^^) Vgl. auch Reigaki a. 5, 25.
^'°) Chinesisches Strafrecht S. 33. Das Christenthum war ver-
boten, Osadamegaki a. 13 sadame V.
40G Kohler.
barai^^^); wer im Tempcldienst Aendcrungcn bringt, wird
mit tokorobarai oder Einsperrung geahndet, a. 52 und 53. Vgl.
auch Keigaki a. 63^^-).
Wer einen Leiciinam bei Seite schafft, büsst mit
ketsuiho, Reigaki a. 52, wer die Leichname der Eltern
findet und keine Anzeige macht, mit ento, a. 71 Z. 49.
Wer eine falsche Urkunde anfertigt, wird, wie in China,
mit dem Tode, und zwar mit gokumon bestraft, a. 40, Rei-
gaki a. 58^^^). Milderung tritt ein, wenn die Fälschung
ohne Gewinnabsicht erfolgte, a. 100^^^).
Die intellectuelle Fälschung ^^•'') des Ortsvorstehers,
welcher dem Capitän bezüglich des Werfens der Waaren ein
falsches Attest ausgestellt hat (während dieser die Waaren
gestohlen hatte), wird, wenn in Gewinnabsicht, mit gokumon
bestraft, a. 38 Z. 3, milder, wenn ohne Gewinnabsicht, vergl.
a. 100. Intellectuelle Fälschung eines Privaten, sofern er
Jemanden unrichtig als seinen Diener eintragen lässt, wird
mit jutsuiho geahndet, Reigaki a. 65.
Münzfälschung wird, wie im chinesischen Recht, mit
dem Tode bestraft ^^^), aber in Japan mit Kreuzestod, hari-
tsuke, a. 67. Aber auch Fälschung von Mass und Gewicht
wird mit Tod gebüsst, und zwar mit gokumon, a. 68 Z. 1
und 2^^'^). Wer aber falsche Würfel macht, büsst nur mit
Prügeln und Brandmarkung, a. 55 Z. 11.
*^^) Kleinere Erdichtungen mit kario, Reigaki a. 6. Vgl. auch
Osadamegaki a. 38.
^^^) Ueberhaupt werden religiöse Aenderungen untersagt, Osada-
m egaki a. 37.
^^^) So schon Ij'^eyasu 100 Gesetze a. 88; vgl. auch Chinesisches
Strafrecht S. 30.
1^*) Vgl. auch Reigaki a. 29, 54.
^^') lieber intellectuelle Fälschung im chinesischen Recht s. Chines.
Strafrecht S. 36.
116) Chinesisches Strafrecht S. 86, Lü li s. 359.
1") In China nur mit Bambus, Chinesisches Strafrecht S. 36,
Lind, a chapter of tlie Chinese Penal Code p. 65 f., Lii-Ii s. 155.
Studien aus dem japanischen Recht. ' 407
Wie im chinesischen Recht, wird absichtliche Brand-
stiftung mit dem Tode bestraft, aber nach lyeyasu's Gesetzen
(100 Gesetze a. 88) und nach dem Kamporitsu mit dem
Feuertod, kwazai, a. 70 Z. 1, 3, 4. Bei Versuch tritt shizai
ein, Kansei-Keten a. 70 Z. 1.
Wer ein Schiff zum Scheitern bringt oder zum Aus-
werfen von Waaren zwingt, wird schwer bestraft ^^^).
Landzwang durch öffentliche Androhung einer Brand-
stiftung wird mit shizai gebüsst, a. 68 Z. 1^^^).
Auf Verkauf von Giften und gefälschten Arzneien steht
gokumon oder doch shizai, a. 66, 100^^^); geringere Strafe
auf dem Verkauf anderer gefälschter Waaren, a. 100.
Gestraft wird der Handel mit nachgemachtem Gold
und Silber^^^), ferner der Handel mit unzuverlässigen
Büchern ^^^). Gestraft wird es auch, mit Rothtusche zu han-
deln: sie ist Monopol, a. 68 Z. 2^^^).
Die Talion wegen falscher Anzeige ^^^) ist gemildert:
bei Anzeige wegen Tödtung gilt jutsuiho, nur in schwereren
Fällen ento oder Tod, a. 65 Z. 5; bei sonstiger Anzeige, wenn zur
Erlangung eines Vortheils, Prügelstrafe und chutsuiho, a. 65 Z. 4.
Es ist verboten, gegen Eltern (oder Lehensherrn) eine
Anzeige zu machen, ausser bei Staatsverbrechen, a. 65 Z. 1;
eine solche Anzeige soll, selbst wenn wahr, Strafe nach sich
ziehen, wenn unwahr, Todesstrafe (sogar haritsuke, Kreuzi-
gung); der Angezeigte aber soll milder behandelt werden, als
sonst, a. 65 Z. 1 und 2 — alles dies beruht auf chinesischen
^^^) Osadamegaki a. 18.
ii9j Vgl. Osadamegaki a. 60.
120) Yg]^ auch Osadamegaki a. 13 sadame II Z. 1.
^^^) Osadamegaki a. 13 sadame II Z. 2.
^^2) Osadamegaki a. 13 sadame II Z. 5.
^^^) Osadamegaki a. 34.
^^*) Chinesisches Strafrecht S. 37; übrigens ist sie auch schon im
chinesischen Recht gemildert, wenn die Todesstrafe gegen den falsch
Angezeigten noch rechtzeitig verhindert wird, Lü-li s. 336.
408 Kohler.
Grundsätzen ^2^). Die tahche Anzeige gegen einen Oheim soll
mit shizai bestraft werden, — die falsche Anzeige ist eben wie
die Verwundung, und die Verwundung der Eltern wird mit
haritsuke, die des Oheims mit shizai gebüsst, Reigaki a. 73.
Auch der chinesische Satz, dass der Gefangene, welcher
sich selbst befreit, um einen Grad höher bestraft wird ^^^),
hat sich erhalten, a. 85 Z. 1, vgl. auch Z. 4. Eine gleiche
Erhöhung trifft aber auch den Verbannten, welcher widerrecht-
lich zurückkehrt, bezw. die Brandmarkung ausmerzt, a. 85,
Z. 8, 12, Reigaki a. 76; während im chinesischen Rechte
hier eine andere Behandlung eintritt ^^^). Wer sich einem
Urtheile nicht fügt, büsst mit jutsuiho, a. 19 Z. 1 und 3,
in milden Fällen milder, Reigaki a. 26.
Der Satz von der Talion im Falle der Gefangenen-
befreiung ist abgeschwächt. Wer den Gefesselten befreit,
haftet mit kario oder ketsuiho; wer die Brandmarkung eines
Andern beseitigt, erhält Prügel, wer einen Ausgewiesenen
aufnimmt, wird allerdings selbst ausgewiesen, a. 85 Z. 5,
13, 9128).
Der Hausverwalter haftet, wenn Jemand bei ihm ge-
fesselt wird und loskommt, auch für Fahrlässigkeit, ja casus,
mit Geldstrafe, a. 85 Z. 6 ; ebenso (oder noch schwerer) wenn
Jemand einem Anderen zur Verwahrung gegeben wird, a. 89
Z. 7, 11.
Wer sich ein Amt anmasst, wird bestraft, mit Tod
(shizai), oder milder, chutsuiho, vergl. a. 64 Z. 5, Rei-
g aki a. 30.
Der Polizeibeamte, welcher einen Mörder nicht fest-
hält, büsst mit chutsuiho, a. 86 Z. 2.
^-^) Lü-li s. 337: liier soll der Elterntheil sogar ganz frei ausgehen,
wenn er gesteht (das Geständniss gilt ja als freiwilliges, da die Anzeige
ignorirt wird, vgl. Chinesisches Strafrecht S. 20).
^2<5) Chinesisches Strafrecht S. 35, Lü-li s. 389.
^2') Chinesisches Strafrecht S. 35, Lü-li 8. 390.
^^^) Vgl. auch Osadamegaki a. 53.
Studien aus dem japanischen Recht. 409
Der Postbeamte, welcher aus Geldbriefen Geld heraus-
nimmt, büsst mit shizai, a. 91.
Die Bestechung wird bezüglich des Bestechenden nur
mit ketsuiho bestraft werden, a. 26 ; ausserdem soll, wer den
Richter besticht, mit seinem Process zurückgewiesen werden ^^^).
Im chinesischen Recht wird ein thätlicher Streit im
kaiserlichen Palast besonders bestraft, mit Bambus, und
wenn dabei Verwundungen vorkommen, sogar mit ständiger
Verbannung '^^^). Auch nach japanischem Recht tritt, wenn
ein solcher Streit im Schlosse des shogun stattfindet, Prügel
und Yeddobarai ein, bei den Anführern jutsuiho, a. 76 Z. 1.
Aber auch Landfriedensbruch wird nach japanischem
Recht schwer bestraft, am schwersten wenn dabei Tödtungen
vorkommen (der Rädelsführer mit dem Tod), weniger, wenn
nur Sachverletzungen (der Rädelsführer mit jutsuiho), a. 76
Z. 3 und 4.
Gestraft soll auch werden der Ausstand der Arbeiter
zur Lohnsteigerung und die Vereinigung zur Monopolisi-
rung der Waaren ^^^).
Ruhestörung in der Art, dass ein Auflauf entsteht,
wird mit Prügel und tokorobarai (in schweren Fällen mit
chutsuiho) bestraft, a. 76 Z. 2.
Der Aufruhr ^^^), der darin besteht, dass Bauern gemein-
schaftlich Gewalt gegen den jito (S. 435) anwenden und das Dorf
verlassen, wird bei den Rädelsführern mit dem Tod, bei den
Andern je nach ihrer Stellung mit jutsuiho, tokorobarai, kario
bestraft; Minderung der Strafe tritt ein, wenn der jito die
Bauern bedrängt hat, a. 28. Verlassen sie das Dorf nicht, so
tritt (als bei blossem Versuch) mildere Strafe ein : beim
^^^) Osadamegaki a. 22.
130) Lü-li s. 304.
131) Osadamegaki a. 13 sad. II Z. 6.
132) Chinesisches Strafrecht S. 35, Lü-li s. 267. Hier wird der
Rädelsführer regelmässig mit ständiger Verbannung bestraft.
410 Kohler.
Ivädelsführer ento^ bei Andern cliutsuiho^ Feaselung, Verweis^
Yeddobarai oder tokorobarai, Reigaki a. 78.
Die Ueberscbreitung der Grenzen ohne die nötbige
Passabfertigung wird im chinesischen Rechte nur mit Bambus
bestraft, und die Ueberscbreitung der Landesgränze mit Sjähriger
Verbannung; und nur dann soll Todesstrafe eintreten, wenn
der Ueberschreiter der Grenze mit fremden Völkern in Be-
ziehung tritt ^^^). Dagegen ist das unbefugte Ueberschreiten der
Grenze in Japan zum Capitalverbrechen geworden, es hat
Kreuzestod, in weniger schweren Fällen jutsuiho zur Folge
a. 20; vorausgesetzt, dass es absichtlich erfolgt, Reigaki a. 67.
Wie im chinesischen Recht, wird das Hazardspiel be-
straft, insbesondere tritt auch die Einziehung des Spielhauses
ein — jedoch soll dasselbe nach 5 bzw. 3 Jahren zurückge-
geben werden, a. 55 Z. 1 f. 16 ^^^). Verboten ist auch die
Lotterie ^^^).
Besondere Bestimmungen gelten gegen den heimlichen
Besitz von Schiesswaffen ^^^) und gegen die Vogeljagd,
a. 21, 22^^^); auch gegen die Unterkunft von Personen
ohne Eintrag in die Register, a. 25-^^^); gegen die Er-
richtung von Gebäuden ohne Anzeige a. 95; gegen die Ver-
letzung des Zunftmonopols a. 57 Z. 5; gegen das directe
Kaufen vom Schiffe aus a. 38 Z. 1^^^). Die Vorspiegelung,
der Vasall eines hohen Beamten zu sein, wird mit shizai be-
133) Lü-li s. 220.
^^0 Vgl- gegen das Hazardspiel auch lyeyasu 100 Gesetze a. 87;
Osadamegaki a. 13 I sadame Z. 4, a. 16, a. 66^ 67, 68.
13^) Osadamegaki a. 69.
13°) Auch gegen heimlichen Verkauf von Pulver und Blei, Reigaki
a. 1. Die SchiesswafTen müssen einem Inspektor vorgewiesen werden,
Osadamegaki a. 28; vgl. auch a. 29.
137) Yg] rj^^yicii Osadamegaki a. 13 sadame VI. Auch gegen das
Ausnehmen von Vogeleiern, Reigaki a. 3.
138) Yg\, auch Reigaki a. 34. (Auch ein Motiv in Loti's Madame
Chrj'^santheme.)
139) Vgl. auch Osadamegaki a. 19 Z. 1. Vgl. unten S. 429.
Studien aus dem japanischen Recht. 411
straft a. 64 Z. 5 ^^^), die Beilegung eines falschen Titels mit
entO; Reigaki a. 55; das unbefugte Schwerttragen (von
Seiten eines Nichtsamurai) mit ketsuiho^ a, 94^^^).
§ 14.
Aus der Darstellung des Tokugawastrafrechts geht hervor,
dass auch in dieser Periode die chinesischen Ideen die Fiih-
rungsrolle haben; doch zeigt sich in vielen Punkten eine
Weiterentwickelung: eine Weiterentwickelung im Einzelnen,
in manchen Dingen auch ein principielles Weitergestalten.
Die lange Zeit der Kämpfe und Wirren hat eine gewisse
Härte in den Gemüthern erzeugt, welche zu schweren, ja
barbarischen Strafen geführt hat. Der Gedanke der Blut-
rache, welcher im chinesischen Rechte fast zum Erlöschen
gebracht wurde, ist neu aufgelodert, an der Milderung der
Haftung aus Casualdelikt und Nothwehrverletzung hat das
Recht unablässig gearbeitet, während das politische System
die Verwandtenhaftung in ziemlichem Umfange bestehen Hess,
und dies namentlich in den oberen Familien.
Eine Fortbildung zeigt sich in der Lehre von der Be-
günstigung, in der Entwickelung der Rückfallsstrafe und der
Strafverjährung und in der Lehre von der Verbrechens-
concurrenz.
Bei der Körperverletzung hören die gesetzlichen Krisen-
fristen auf und die Frage über den Zusammenhang zwischen
Verletzung und Folge wird in jedem Falle individuell ins
Auge gefasst.
Bezüglich der Bestrafung der Fälschung öffentlicher Ur-
kunden ist eine Verschärfung eingetreten, ebenso bezüglich der
Münz- und Massfälschung, die Behandlung der Brandstiftung ist
über die Massen streng; dagegen finden sich wiederum Mil-
^^^3 Daher wird auch die unbefugte Annahme eines Wappens ge-
ahndet, Osadamegaki a. 33.
141
) Vgl. auch Osadamegaki a. 35 Z. 1. Oben S. 357.
412 Kohler.
derungen bezüglich der falschen Anzeige und der Gefjingenen-
befreiung. Die Ueberschreitung der Grenze ist zu einem
masslosen Delikte erhoben worden.
Das System der unbestimmten Strafen endlich drückt
der Gesetzgebung des Tokugawas ihr besonderes Gepräge
auf; unbestimmt nicht in Bezug auf die Schätzung des Richters,
sondern unbestimmt im Vollzuge, so dass der Bestrafte völlig
der Discretion der Regierung preisgegeben ist, die ihn be-
gnadigen kann oder nicht. An und für sich kann die Unbe-
stimmtheit auch heute ihre rationelle Bedeutung haben, sofern
die Strafe zugleich Zwangserziehung ist und die Dauer der
Zwangserziehung eine individuell verschiedene sein muss; aber
so hat das Recht der Shoguns die Strafe nicht aufgefasst und
nicht gehandhabt.
Von der modernen Anschauung unterscheidet sich die
Shogungesetzgebung nicht nur durch das unseren Gefühlen wider-
strebende Strafensystem, sondern auch dadurch, dass die Ge-
sammthaftung der Familie nicht ausgeschlossen ist, die Casual-
haftung immer noch nachklingt, Nothwehr und Nothstand
wenig entwickelt sind. Ausserdem führen die Familienver-
hältnisse mit der Pflicht der unbedingten Verehrung des
Alters zu Bestimmungen, die in unserem Rechte keinen Wider-
hall haben: so die schwere Bestrafung der Anzeige eines
Ascendenten , auch wenn sie richtig ist, so die aus den
Feudalanschauungen entsprungenen furchtbaren Bestimmungen
über die Verletzung des Herrn.
Wir finden daher auch in der letzten Periode des alt-
japanischen Rechts ein Festhalten an den ostasiatischen An-
schauungen mit all ihrer eigenartigen Grösse, aber auch ihrem
eigenartigen Widerstand gegenüber der freien Entwickelung
des Einzelnen und dem Eintritt in den internationalen Ver-
kehr. Hier hat erst die Periode Meji neue Bahnen ein-
geschlagen. Doch das Recht dieser Periode steht ausserhalb
unserer Betrachtung.
Studien aus dem japanischen Recht. 413
III.
Grundeigentlmmsordnuiig und dingliclies Reclit.
§ 1.
Wie der Taihoritsu, so ist auch der zweite Theil der
Taihogesetzgebung, der Taihorio, soweit bis jetzt zu ersehen;
chinesischer Quelle entnommen. Er besteht aus 30 Abschnitten,
wovon uns insbesondere der Abschnitt 9 über das Landeigen-
thum : Den rio interessirt; der wesentliche Inhalt ist uns in
englischer Bearbeitung bekannt gegeben ^^^).
Zum Verständniss desselben müssen wir Folgendes aus
dem chinesischen Rechte anführen.
Dass in China das System des Staatslandes bestand;
welches erst unter der Thsindynastie in 4. und 3. Jahrh. v. Chr.
dem System des Landeigenthums Platz machte , ist bekannt;
ebenso dass nach dieser Zeit verschiedene Versuche gemacht
wurden, um das ursprüngliche System wieder einzuführen,
oder doch theilweise zu Verhältnissen zu gelangen; wie sie die
„gute alte Zeit'' gezeitigt hatte, so dass der Unterschied
zwischen Reich und Arm verschwinde. Davon ist anderwärts
die Rede gewesen ^^^).
Auf diese Versuche ist etwas näher einzugehen, denn ihr
Nachklang ist im Taihorio zu verspüren.
Ernstliche Versuche ^^^) machte in China die Dynastie
Zsin V. 280—419 n. Chr., sodann die Weidynastie (385—557),
die übrigens nur den Norden Chinas beherrschte, und endlich
^■*^) Tarring, Land Provisions of the Taiho Rio, in den Trans-
actions of the Asiatic Society of Japan VIII p. 145; sodann Weipert
in den Mittheilungen der deutschen Gesellschaft für Ostasien V und
Ota-Nitobe, Japanischer Grundbesitz (1890).
^"3) Zeitschr. VI S. 352 f., und Rechtsvergleichende Studien S. 199 f.
144-) Vgl. zum Folgenden Sacharoff, in den Arbeiten der kaiser-
lich russischen Gesandtschaft in Peking (übers, v. Abel und Mecklen-
burg) I S. 16 f., 18 f.
414 Kohler.
(lio Dynastie der Thang (G18 — 907), unter der eben die
Reception des chinesischen Rechts in Japan erfolgte.
Die Versuche liefen darauf hinaus, allen arbeitsfähigen
Personen ein bestimmtes Ackerland zur lebenslänglichen Be-
nutzung anzuweisen; auch Greise, Wittwen, Minderjährige
sollten einen Theil bekommen, aber nur einen Halbtheil;
jedes Jahr sollte eine Zuweisung erfolgen. Baumland sollte
auch zugetheilt werden, aber dieses sollte in der Familie
bleiben, bis die Familie ausstarb. So das System derWei^*^).
Aehnlich die Thang. Auch hier wurde Land zum zeit-
weisen Besitz angewiesen, in ähnlicher Weise. Die Periode
des Vollantheils ging vom 18. bis zum 60. Lebensjahre; ein im
Kriege Verwundeter sollte seinen Vollantheil bis zum Tode be-
halten, ja dieser sollte an Descendenten ersten und zweiten
Grades übergehen. Dazu kam das zum ständigen Besitz gegebene
Baumland ; dieses konnte verkauft oder verpfändet werden ex
justa causa unter obrigkeitlicher Bestätigung, während der
einstweilige Besitz nicht einmal verpachtet werden durfte.
Ausser dem Baumlande wurde noch weiter beständiger
Besitz gegeben an die Adeligen und die Krieger; ferner be-
kamen die Beamten ein Amtsgut für die Dienstzeit ^^^).
Diese Gesetzgebung wurde bereits unter der Thang-
dynastie selbst umgangen. Dazu kam, dass vielfach in den
Kriegswirren Landstriche ihre Besitzer einbüssten: da be-
trachtete man es als ein Recht der Occupanten, das Land an
sich zu ziehen; oder der Beamten, den Landstrich neu zu
vergeben ^^'^).
Gerade diese Zustände sind es nun, welche uns der
Taihorio schildert ^^^). Hier wird unterschieden zwischen
'*'') Sacharoff S. 17. '^') Sacharoff S. 19.
1^0 Sacharoff S. 20, 22.
^^^) Dem Taihorio ging bereits ein Gesetz v. 646 (im 2. Jahre
T^ikwa) vorher, welches eine ähnliche Ordnung enthielt. Der Mikado
Mannii (Mannu- tenno) zwischen 697 und 707 verbreitet die Maul-
beefcultur (Rein I S. 254).
Studien aus dem japanisclian Recht. 415
dem zeitweise zugewiesenen Lande: dem kubunden, solches
sollte allen Personen zukommen im Lebensalter von 5 Jahren
aufwärts, und zwar dem Mann dreimal so viel als der Frau,
der Frau dreimal so viel als dem Sklaven. Nicht jedes Jahr,
aber alle 6 Jahre, sollte eine Neuvertheilung erfolgen. Das
Kubundenland konnte nicht verkauft und höchstens auf 1 Jahr
verpachtet werden. Eine Art des kubunden war das shi-den,
welches in Ermangelung von Nahland in der Ferne gegeben
wurde ^'^^).
Einen Gegensatz zu dem Kubundenland bildete das Onchi-
land^^^), welches zur Maulbeer- und Lackbaumzucht bestimmt
war; dieses Land wurde der Familie zugewiesen, solange sie
existirte, bis sie ausstarb; dasselbe konnte nicht nur verpachtet,
sondern auch verkauft werden, allerdings nur mit Zustimmung
der Obrigkeit 1^^).
Daneben bestand, wie nach dem Rechte der Thang-
dynastie, anderweitiges auf die Dauer verliehenes Land: das
Idenland für Personen der kaiserlichen Familie und des
Adels; sowie das Dienstland, shoku-bunden, das den
Beamten verliehen wurde während der Dauer des Dienstes,
und das Ko-denland, welches für Verdienste um den Staat
zugewiesen wurde , entweder für immer, oder für 3 oder 2
Generationen oder nur auf Lebenszeit ^^^).
Dazu galten besondere Bestimmungen über das Occupations-
recht. Wer sein Land 3 Jahre lang brach liegen Hess, hatte zu
gewärtigen, dass es einem Andern verliehen wurde, aber doch
so, dass der erste Besitzer es in 3 Jahren wieder an sich ziehen
konnte. Kehrte er nicht wieder, so verfiel es dem Staate. Un-
bebautes Land konnten die Beamten für sich in Cultur nehmen ^ ^ ^).
Es kann nicht zweifelhaft sein, dass wir eine Entlehnung
dessen haben, was die W ei- und Thangdynastie zu dem Zweck
^^») Tarring p. 146"; Weipert S. 122.
^^0) Tarring p. 150 f.
1^0 Tarring p. 149; Weipert S. 123.
152) Tarring p. 152, 154.
410 Kohler.
bestimmten, um die alte Zeit des Gemeineigenthums wieder
zurückzuführen.
Ob die einzelnen Differenzen japanisch sind, oder ob es
sich um eine neue Fassung der Thanggesetzgebung handelt,
die in Japan übernommen wurde, ist einstweilen, solange nicht
auch die chinesische Fassung vorliegt, nicht zu entscheiden.
In China ging schon während der Thangdynastie das ge-
schilderte Ackersystem zu Grunde, und zwar schon gegen Ende
des 8. Jahrb., in Japan dauerte es, wenn auch mit Beschränkung
bis in das 10. Jahrb. hinein; in manchen Theilen Japans
scheint es allerdings wenig Durchführung gefunden zu haben,
und zwar mehr in dem direkt kaiserlichen Gebiet, weniger in
den Gebieten der Vasallenfürsten.
Aber auch hier hat schon die nächste Folgezeit Vieles
geändert. Nicht nur wurde die Art der Kubundentheilung
geändert, so durch Gesetz v. 792, 873, 877^^^), sondern es
wurde bereits im Jahre 723 bestimmt, dass, wer ein unbe-
bautes Feld neu bewirthschaftet, daran ein lebenslängliches
Anrecht bekomme, und wenn er dabei eine neue Wasseranlage
mache, ein Anrecht auf 3 Leiber, und im Jahr 743 wurde
dies dahin gestaltet, dass er in solchem Falle erbliches Eigen-
thum erwerbe ^^^), Man nannte dieses Land Kondenland^^^).
Durch ein Gesetz v. 902 wurde die Vertheihmgsperiode
von 6 auf 12 Jahre verlängert ^^^); in manchen Provinzen
war die Kubundenzutheilung nicht, in anderen nur mangelhaft
zur Durchführung gekommen ^^'^j; in den langjährigen Kriegen
suchte der Mächtige sich unabhängiges Eigengut zu verschaffen:
i53j Weipert in den Mittlieilungen der deutschen Gesellsch. für
Ostasien V, S. 122.
^^^) Davon spricht auch noch lyeyasu in den 100 Gesetzen c. 16
(Rudorff S. 7), aber er verlangte eine staatliche Genehmigung zur
Neucultur. Vgl. darüber unten S. 417. Ota-Nitobe S. 16 gibt ein Edikt
■von 760 an, wornach Neuland zu Privateigenthum werden sollte.
1^5) Weipert S. 123.
1^6) Weipert S. 125.
^") Weipert S. 125.
Studien aus dem japanischen Recht. 417
das sog. shoyen; dieses mehrte sich und die Kubundenver-
theilung unterblieb ^^^).
Aus den grossen Shoyenbesitzern sind vielfach die Grund-
und Landesherren geworden ^^^).
§ 2.
Pleutzutage ist, wie in China, Grund und Boden Privat-
eigenthum und veräusserlich — abgesehen von Stamm-
gütern, deren es auch in Japan gibt. Die Veräusserung wird
aber nicht gerne gesehen, sie geschieht mehr im Falle der
Noth; auch kommt es häufig vor, dass sich der Veräusserer
den Rückkauf ausbedingt ^^^) — wie im chinesischen Recht ^^^).
In einigen Gegenden hat sich local die Feldgemeinschaft bis
in die 70er Jahre erhalten, indem der Gemeindeboden alle
3 — 10 Jahre neu zugeloost wurde; die Gemeinschaft hiess
waritsi ^^2).
Die Veräusserung mindestens von Stadtgrundstücken
muss den Nachbarn und Verwandten bekannt gegeben und
im Grundbuch eingetragen werden a. 41^^^) — auch dies
entsprechend dem chinesischen Recht ^^*).
Ein jeder Neubruch muss angezeigt werden ^^^); wer ihn
verheimlicht, büsst mit jutsuiho, schwerer Landesverweisung,
a. 30 Z. 5, vergl. auch Osadamegaki a. 15, a. 21 Z. 3,
Reigaki a. 70. Schon lyeyasu hatte (100 Gesetze a. 16)
bestimmt, dass vor Anlegung neuer Reisfelder bei der Regie-
rung angefragt werden solle; so auch sonst bei Neuerungen
1^«) Ota-Nitobe S. 17.
159) Weipert S. 126, Adams I p. 40.
1601
') Nach Yoeota. Vgl. auch oben S. 374.
1^1) Rechtsvergleichende Studien S. 199.
1^2) Ota-Nitobe S. 10; Kosaburo Kishi, Erbrecht Japans S. 20.
1^^) Osadamegaki a. 58.
^^^) Rechtsvergleichende Studien S. 202.
i65-> Yg\. oben S. 416, und bezüglich des chinesischen Rechts meine
Rechtsvergleichende Studien S. 200.
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. X. Band. 27
418 Köhler.
(lyeyasu a. 17), auch bei Anlegung eines neuen Waldes
(lyeyasu a. 67); so muss insbesondere auch ein neuer Bau
angezeigt werden, Kamporitsu a. 95; ja auf dem Acker-
lande soll es überhaupt nicht gestattet sein, Häuser aufzu-
führen, weil dies der Landwirthschaft schädlich sei, lyeyasu
100 Ges. a. 67.
Die Waldungen sollen geschont, Holz soll nur im Fall
der Nothwendigkeit geschlagen werden ^^^).
Bäume an der Grenze sollen, wenn ihr Schatten dem
Wachsthura des Nachbargrundstückes schädlich ist, gestutzt
oder abgehauen werden ^^').
Keiner darf das Flusswasser über Gebühr stauen ^^^).
An Flussufern dürfen keine Wohnungen errichtet wer-
den, weil sie bei Wassersteigungen störend sind^^^).
Zur Verhütung von Wildschaden ist auf dem Lande die
Jagd gestattet, aber gegen vorgängige Anzeige; doch gilt
dies nicht für alle Gegenden ^^^).
Der Pächter, welcher auf fremdem Boden ein Haus^
baut, hat an dem Haus ein dingliches Recht; es kann Gegen-
stand der Vollstreckung sein, a. 29 Z. 2.
Die Hingabe eines Landes zu ewiger Rente ist ver-
böten, ausser bei Neubruch, a. 30 Z. 1 — 3: eine solche Hin-
gabe ist verboten, auch wenn sie nicht zu Eigenthum erfolgt,
sondern zu Emphyteuse: eine Emphyteuse auf 20 oder
mehr Jahre gilt als eine ewige (ehosaku) a. 31 Z. 17.
Eine 50 Jahre lang ausgeübte Servitut soll als legalisirt
gelten, lyeyasu 100 Gesetze a. 18.
^^^) Osadamegaki a.21 Z. 4. Bezügl. Chinas s. rechtsvergleichende
Studien S. 201.
^6 7) lyeyasu 100 Gesetze a. 68.
^^^) Osadamegaki a. 25 Z. 1.
^^^) Osadamegaki a. 26.
i'<^) Osadamegaki a. 30.
Studien aus dem japanischen Recht. 419
§ 3.
Bekanntlich spielte das Lehenswesen^^^) früher eine
grosse Rolle. Das Lehen hiess koku (= Land), der Vasall
hiess kerai, das Lehen war ein Grundlehen gegen Dienste:
Militärdienste, Amtsdienste, Hofdienste ^^^). Zu dem Militär-
dienst gehörte besonders die Pflicht, eine Anzahl Reiter zu
stellen, nach der Grösse und dem Erträgnisse des Lehens ^'^^).
Besonders wichtig war die Bewachung der Hauptfestungen ^^^).
Konnte ein Vasall seine Dienste nicht mehr leisten, so
musste er zurücktreten (ingo werden) ^^^) und das Lehen
seinem Sohn überlassen.
Die Lehen waren theils vererblich, theils unvererblich.
Nach lyeyasu's 100 Gesetzen a. 48 sollten die kleinen Lehen
nicht ständig sein, sie sollten alljährlich besonders ange-
wiesen werden ^'^^). Die grossen Lehen aber waren schon
unter lyeyasu erblich.
Die Beerbung erfolgte nach den Sätzen der Hauserb -
folge, jedoch nur an den ältesten Sohn; im Falle der Sohn-
losigkeit trat Heimfall des Lehens ein^^^). Dieser Heim-
fall konnte durch Adoption abgewendet werden, jedoch nur
unter bestimmten Cautelen, wovon unten S. 440 die Rede
sein wird.
Beim Dienst Wechsel waren dem dominus bzw. demRath
desselben (goroju) bestimmte Leistungen zu machen ^^^).
171^ Vgl, zum Folgenden auch Grigsby in den Transactions of the
Asiatic Society of Japan III p. 134 f.
^'^) lyeyasu's 100 Gesetze a. 20; auch 18 Gesetze a. 10, worin
besonders hervorgehoben wird, dass, wenn die Vasallen auch grosse
Einkünfte besässen, sie dafür Leistungen zu machen hätten.
1") lyeyasu's 100 Gesetze a. 38.
^^*) lyeyasu's 100 Gesetze a. 55.
''^) Vgl. darüber später S. 442.
^^6) Vgl. auch lyeyasu a. 81, 83.
''") Grigsby p. 135.
1'«) lyeyasu's 100 Gesetze a. 83.
420 Kohler.
Die Vasjillen konnten Untervasallen haben, die aber
an Rang den unmittelbaren Vasallen naehstanden i'^^).
Felonie hat Verfall des Lehenrechts zur Folge ^^^); bei
schlechtem Benehmen können dem Vasallen auch zur Strafe
grössere Leistungen auferlegt werden ^^^); fahrlässiges Verhalten
kann nachgesehen werden ^^^). Die Tödtung oder Verwundung
des Lehensherrn gilt als furchtbares Verbrechen, welches die
Austilgung des ganzen Geschlechts zur Folge haben kann ^^^).
Soweit das Grundlehen. Es gab indess auch Vasallen
ohne Grundbesitz, mit festen Einkünften von dem Lehens-
herrn; so viele Samurai: sie waren keine Vasallen in dem
eigentlichen lehenrechtlichen Sinne, sie waren ein Gefolge
ihrer Lehensherren, denen sie unverbrüchlich ergeben waren,
und denen sie Hof-, Geleit- und Wachedienst zu leisten hatten.
Während der langen Friedenszeit hatte die ganze Institution
keinen rechten Boden mehr, die Samurai waren vielfach ohne
rechte Lebensaufgabe, und die Folge war, dass sie durch
pointirte Standesbegriffe und durch einen eigenartigen Ehren-
kodex eine künstliche sociale Stellung zn behaupten suchten.
Der äusserste Ausläufer dieser künstlichen Anschauung war das
harakiri ^^^).
§4.
Die gefundene Sache ist aufzubieten; wird der Eigen-
thümer ermittelt, so hat er dem Finder ein Fundgeld zu
entrichten, welches bis zu ^/2 der Sache aufsteigen kann.
Nach 6 Monaten verfällt die Sache dem Finder, a. 60 Z. 1, 2.
Die gestohlene Sache kann in die Hand des Dritten,
*^^) lyeyasu's 100 Gesetze a. 41.
^^^) Grigsby p. 135; vgl. lyeyasu's 100 Gesetze a. 10, 11; ganz
oder theilweise, vgl. ib. a. 40.
^^0 lyeyasu's 100 Gesetze a. 92.
^) lyeyasu's 100 Gesetze a. 92.
^) lyeyasu's 100 Gesetze a. 52. Vgl. auch oben S. 388, 399.
*) Oder seppuku. Vgl. auch Rein, Japan I S. 379.
182^
183'
1S4-
Studien aus dem japanischen Recht. 421
auch des gutgläubigen Erwerbers, insbesondere des gutgläu-
bigen Käufers oder Pfanderwerbers, verfolgt werden, ohne dass
der Eigenthümer diesem die Schuldsumme oder den Kaufpreis
zu vergüten hätte, a. 57 Z. 1 und 2, a. 42 Z. 7^^^). Der
Kauf einer gestohlenen Sache ist nichtig und der Verkäufer
hat den Kaufpreis zurückzugeben; jedoch verfällt derselbe
dem Staat, wenn der Käufer schuldhaft gehandelt hat, a. 57
Z. 2 und 3. Ist die gestohlene Sache nicht mehr zu erlangen,
nachdem sie der erste Käufer weiter verkauft hat, so hat der
erste Käufer dem Bestohlenen den Kaufpreis auszufolgen,
a. 57 Z. 3.
§ 5.
Das japanische Recht kennt bezüglich der Liegenschaft
das Besitzpfand, shichi, und die Hypothek, kaki-ire;
übrigens kann der wirthschaftliche Erfolg der Hypothek auch
dadurch erzielt werden, dass die in Besitzpfand gegebene
Sache dem Schuldner zur Pacht (kosaku, Selbstpacht jiki-
kosaku) überlassen wird.
Das Pfand ist aber zugleich Verfallpfand; entweder kraft
Vertrages oder kraft Gesetzes; kraft Vertrages: in solchem
Falle tritt der Eigenthumsübergang nach Ablauf der Frist
ein, doch mit dem Aequitätsmoderamen, dass der Schuldner die
Sache innerhalb 2 Monaten zurückkaufen kann. Wenn dagegen
die Verfallklausel fehlt, so verhält es sich wie folgt: ist eine Frist
gesetzt, innerhalb welcher der Gläubiger die Sache antichretisch
benutzen darf, so ist die Einlösung erst nach Ablauf dieser Frist
möglich; nach Ablauf dieser Frist aber beginnt eine gesetz-
liche Zeit von 10 Jahren, mit deren Verstreichen das Pfand
verfällt. Ist keine Benutzungsfrist gesetzt, so verfällt das
Pfand in 10 Jahren nach dem Pfandvertrag: die Einlösung
kann innerhalb dieser 10 Jahre erfolgen, sie kann innerhalb
185
) Vgl. auch Osadamegaki a. 70.
422 Kühler.
dieser Frist zu jeder Zeit erfolgen ^^^). Der Pfandgläubiger,
welcher das nieht verfallene Pfandstück veräussert, büsst mit
Geldstrafe i«7).
Ist das Pfand Nutzpfand und wird dabei der Schuldner
oder Pächter im Grundbesitze belassen, so hat er den Pacht-
zins zu bezahlen, und das Verhältniss ist insofern ein reines
Pachtverhältniss: Pachtrückstände sind in gewöhnlicher Weise
beizutreiben: hierfür haftet die Sache nicht pfandweise, es
müsste denn ausdrücklich gesagt sein, a. 31 Z. 7, 10, 11, 12, 13,
14, 20; a. 36 Z. 1 und 3. Jedoch kann in solchem Falle
auch die Pacht gelöst, das Grundstück dem Pächter entzogen
und in den Besitz des Gläubigers gewiesen werden, a. 31 Z. 19.
In gleicher Weise ist zu verfahren, wenn die Pachtzeit auf-
hört und die Pfandsumme noch rückständig ist, jedoch muss
dem Schuldner eine bestimmte gesetzliche Frist gewährt
werden, a. 36 Z. 1.
Verfällt das Pfand, nachdem Theilzahlung geleistet ist,
so ist dem Schuldner die Theilzahlung zu erstatten, a. 31 Z. 18.
Der Pfandgläubiger kann das Pfand in Afterpfand
geben, aber natürlich nur bis zu der Belastung, welche
der Eigenthümer darauf gelegt hat; das Afterpfand wird
dem ersten Verp fänder notificirt, indem er die Afterver-
pfändungsurkunde mit untersiegelt. Dies gilt zugleich als
Verpfändung der Forderung: der erste Verpfänder hat jetzt
an den Afterpfandgläubiger, nicht an den creditor primus zu
zahlen. Sofern der creditor primus die Sache über die Be-
lastung, d. h. über sein Recht hinaus weiter verpfändet, ist
das Pfand ungiltig: diese weitere Summe ist natürlich er selbst
und nur er zu zahlen schuldig und sie ist in der Art persön-
licher Schulden beizutreiben, a. 31 Z. 9.
Das Pfand als dingliches Recht bleibt bestehen, auch wenn
Vermögensconfiscation (kessho) eintritt: der Gläubiger ist zu-
186) Kamporitsu a. 31 Z. 1—20. a. 92 Z. 1; Osadamegaki a. 57.
18') Kamporitsu a. 92.
Studien aus dem japanischen Recht. 423
vor zu befriedigen oder ihm das Pfand zuzuweisen, a. 27
Z. 3 und 6; vergl. auch Reigaki a. 24.
Der Pfandvertrag ist publik abzuschliessen: er bedarf
■des Siegels des Ortsvorstehers (nanushi), sonst ist er nichtig;
ist der Ortsvorsteher selbst Verpfänder, so soll sein Stellver-
treter, eventuell sonst ein Obmann das Siegel auf die Urkunde
setzen ^^^).
Liegenschaften aller Art können verpfändet werden;
aber auch Schiffe, auch die Kundschaft eines Ladens
(insbesondere eines Barbierladens) kann Gegenstand des Pfand-
rechtes sein, a. 36 Z. 5.
Auch eine Verpfändung der Superficies, z. B. eine
Verpfändung von Bäumen kommt vor, so dass bei Verfall
der Gläubiger die Bäume fällen darf; vergl. den Rechtsfall
im Reigaki a. 49. Vgl. auch S. 418.
Das Mobiliarpfand als Faustpfand wird vielfach er-
wähnt, z. B. a. 57 Z. 1 und 6.
Bei einer solchen Gestaltung des Pfandrechts kann nur
von einer Verpfändung die Rede sein; ein Nachpfand ist
unstatthaft, es steht mit der ganzen Technik des Nutz- und
Verfallpfandes im Widerspruch. Daher ist auch die mehrfache
Verpfändung streng verpönt: die erste Verpfändung ist die
gültige, alle folgenden sind nichtig, a. 37 Z. 1.
Das Gesagte zeigt Uebereinstimmung mit dem chine-
sischen Recht, abgesehen etwa von den Bestimmungen über
das Afterpfand ^^^). Dem chinesischen Recht entspricht es auch,
dass man sehr darauf sieht, dass der Nutzpfandgläubiger und
nicht der Eigenthümer die Steuern und Abgaben bezahlt —
ein anderer Modus würde die fundirte Sicherheit der Grund-
steuern erschüttern. Ein entgegengesetztes Abkommen zieht
Strafe nach sich, a. 30 Z. 4; a. 31 Z. 15, 16 i^o).
^^^) Kamporitsu a. 31 Z. 5, Osadamegaki a. 57 Z. 1 und 2.
189) Zeitschr. VI S. 360.
^^0) Vgl. auch Osadamegaki a. 57 Z. 3.
424 Kohler.
IV.
Obligationen-, Gewerbe- und Handelsrecht.
§ 1.
Der chinesische Satz, dass der nicht zahlende Sc huldner
Strafe leiden solle, ist nicht aufgegeben; eine Strafe soll er-
folgen gegen den Schuldner, welcher nicht erscheint, aber auch
gegen denjenigen, welcher nicht zahlt, a. 33 Z. 1 : die Nicht-
erfüllung eines Urtheiles gilt als strafbar, und es ist Prinzip
des ostasiatischen Rechts, dass es hierbei auf dolus und culpa
nicht ankommt ^^^).
Ausserdem ist aber die Vermögensvollstreckung im
japanischen Recht völlig entwickelt. Der Verurtheilte erhält
eine Zahlungsfrist; diese ist je nach dem Betrag der Schuld
von 30 Tagen bis zu 13 Monaten: nach fruchtlosem Ablauf
der Frist tritt Vollstreckung ein, a. 32; die Vollstreckung
(shindaikagiri) ist eine Vollstreckung auf Fahrnisse und
Liegenschaften; auch eine Pacht des Schuldners kann zur
Vollstreckung gezogen werden, indem der Gläubiger da&
Grundstück in Pachtbesitz erhält und es nach Ablauf der
Frist dem Verpächter zurückstellt, a. 29 Z. 1.
Ist das Vermögen nicht hinreichend, alle Schulden zu
decken, so theilen die Gläubiger den Erlös nach gleichen
Raten, haben aber das Recht, den Schuldner später wieder zu
verfolgen: der Concurs befreit ihn nicht, a. 29 Z. 1, a. 35^^^).
Die Bürgschaft spielt eine grosse Rolle. Der Bürge
(ukenin) haftet mit dem Hauptschuldner solidarisch, vgl. a. 42
^^^) Gibt es in Japan eine Verjährung der Forderungen? Dafür
spricht die Analogie der Straf Verjährung. In der That wird der Aus-
druck „ki man men jo" angeführt, als Bezeichnung für „Statute of limi-
tation" (Chrysanthemum I p. 255). Näheres kann ich darüber nicht
angeben.
^^2) Eine eigenthümliche Art des Abverdienens der Schuld soll darin
bestehen, dass die Tochter gegen eine bestimmte Summe für gewisse Zeit
in Prostitution gegeben wird; vgl. Dalmas, Les Japonais p. 156.
Studien aus dem japanischen Recht. 425
Z. P^^). Für den Bürgen kann ein Rückbürge (shita ukenin)
gegeben werden^ a. 42 Z. 9^^^). Der Bürge hat den Regress
gegen den Hauptschuldner '^'■^^).
So findet sich insbesondere die Evictionsbürgschaft: wer
eine Sache kauft oder zu Pfand nimmt ^ bekommt einen
Bürgen dafür, dass die Sache Eigenthum des Mitcontrahenten
ist, a. 57 Z. 1, 2. Es gilt als unvorsichtig, eine Sache ohne
Bürgen zu kaufen oder in Pfand zu nehmen, a. 57 Z. 6.
Von besonderem Interesse aber ist es, dass der Bürge, welcher
unvorsichtig bürgt, nicht nur civilistisch haftet, sondern auch
mit Geldstrafe büsst, a. 85 Z. 17: in der That, gerade bei
der Evictionsbürgschaft sind nicht nur private, sondern auch
öffentliche Interessen im Spiele, a. 85 Z. 17, Reigaki a. 74;
ebenso wenn Jemand als Dienstbürge eintritt für eine Person,
welche nicht geistig gesund ist, Reigaki a. 45.
Besonderes gilt von dem Bürgen eines Dieners (hokonin):
er muss haften für den Dienstvorschuss, den der Diener noch
nicht abgedient hat, er muss haften, wenn der Diener aus
dem Dienst entläuft oder Gegenstände des Herrn stiehlt; je-
doch ist ihm letzternfalls Zeit zu geben, den Diener mit der
Sache zu ermitteln und zurückzubringen, a. 42 Z. 1, 4, 5, 6^^^).
Für den Dienstboten pflegt bereits dann eine Person als
Bürge einzutreten, wenn er sich dem Gesindemakler, dem
toyado übergiebt: dies ist der ukeninyado. Ebenso ist die
Wohnungsbürgschaft für den Miether bei dem Miethsherrn sehr
gebräuchlich: tana ukenin.
Diese Gesindebürgschaft wurde als förmliches Geschäft be-
trieben (gegen Provision) ^^'^).
193-j Yg^^ auch Osadamegaki a. 73 Z. 10. Das war nicht immer
der Fall, es gab eine Zeit, wo nach Stellung der Bürgschaft der Gläu-
biger sich nur an den Bürgen, nicht an den Hauptschuldner (hitonushi)
halten durfte.
^^'^) Osadamegaki a. 73 Z. 2, a. 74 Z. 3.
^^^) Osadamegaki a. 74 Z. 2.
^^^) Osadamegaki a. 73 Z. 1, 2.
^^■') Osadamegaki a. 75.
426 Kohler.
Für den Schuldner haftet aber nicht nur sein Ver-
tragsbürge; es gibt auch Personen, die gesetzlich für ihn
einstehen müssen. Man hat dies zeitweise soweit ausgedehnt,
dass man den Hausverwalter (iyenushi) und den tanaukenin
haften lassen wollte, wenn der Bewohner aus Kauf oder Dar-
lehen Schuldner wurde. Doch dies wurde verworfen ^^^).
Dagegen haftet Derjenige, welchem ein Schuldner (z. B.
der Dienstbürge) als Gefangener in Verwahrung gegeben ist,
für die volle Schuld, wenn er ihn rechtswidrig entweichen
lässti'J^).
Auch haftet der Gesindemakler (toyado) in gewissem
Sinne für den hokonin; er muss mindestens eine Geldstrafe
bezahlen, wenn der hokonin Entwendungen begangen hat; der
toyado muss sie bezahlen bzw. sein tana ukenin ^^^).
Der toyado haftet ferner für die Kosten, welche das
Ausfindigmachen des entlaufenen hokonin und sein Unter-
halt während der Verhaftung im Hause seines Bürgen bereitet,
a. 42 Z. 10. Denn der entlaufene Dienstbote steht eben zunächst
auf Kosten des toyado, der ihn ausfindig zu machen und zu
unterhalten hat — thut dies ein Anderer, so hat der toyado
die Kosten zu ersetzen ^^^).
§ 2.
Wie in China, besteht das Genossenschaftswesen,
und zwar mit rechtlicher Ausschliesslichkeit; wer, ohne zur
Genossenschaft zu gehören, mit ihren Waaren Handel treibt,
verwirkt das Eigenthum der Waaren und Geldstrafe, a. 57 Z. 5.
Wer daher ein Geschäft beginnt, muss, wenn bezügliche
Innungen bestehen, in eine solche eintreten ^^^); so namentlich
^93) Osadamegaki a. 73 Z. 13.
^^^) Osadamegaki a. 73 Z. 5. Ein universeller Grundsatz; vgl.
meinen Shakespeare S. 247.
200) Osadamegaki a. 73 Z. 9.
20«) Osadamegaki a. 74 Z. 3.
202) Osadamegaki a. 71 Z. 5.
1
i
Studien aus dem japanischen Recht. 427
auch die kleinen Kauf leute ^^^), die Trödler, die Pfandver-
leiher ^^'^)^ die Gesindebürgen ^^^).
Die Genossenschaft bedarf der Autorisation der Regierung;
wer eine solche vorspiegelt^ wird bestraft, a. 64 Z. 6.
Streitigkeiten unter den Genossen können nicht vor die
Gerichte gebracht werden, die Mittel des Genossenschafts-
wesens (Ausstossung u. dgl.) reichen hin, um die Interessen
zu befriedigen; dies geht soweit, dass überhaupt aus Gesell-
schaftsverhältnissen eine Klage ausgeschlossen ist; sie ist aus-
geschlossen, wenn mehrere eine gemeinsame Unternehmung ver-
anstalten, sich zu einem Ausspielgeschäft zusammen thun u. s. w.;
für die Auseinandersetzung solcher Gesellschaftsverhältnisse sind
die staatlichen Gerichte nicht gegeben, a. 33 Z. 3.
Ebenso sollen interne Streitigkeiten einer Confession
in ihrem eigenen Schosse verbeschieden und nur im Nothfalle
die Gerichte angerufen werden ^^^).
§ 3.
Der Darlehenszins hat ein Maximum von 15 ^/o, a. 33 Z. 5.
Die Darlehensgeschäfte müssen schriftlich abgeschlossen, die
Urkunden datirt und untersiegelt werden, sonst ist der Vertrag
unklagbar, a. 33 Z. 4.
Ein Darlehen gegen Verpfändung von res sacrae ist
nichtig, eine Darlehensklage ausgeschlossen ^^'^).
Der Gesindevertrag kann nicht nur auf Zeit, sondern
auch erblich abgeschlossen werden ; doch soll dies nicht er-
zwungen werden ^^^).
Die Kaufleute haben Handelsbücher zu führen,
namentlich die Trödler und Pfandleiher; sie haben sich, wo
^°^) Osadamegaki a. 71.
2°^) Osadamegaki a. 71.
'^^^) Osadamegaki a. 75.
206) Osadamegaki a. 36.
20') Osadamegaki a. 39.
208) Osadamegaki a. 13 sad. I Z. 9, a. 72.
428 Kohler.
nach gestohlenen Sachen gefahndet wird, einer genauen Con-
trole zu unterwerfen ''^°^).
Einige Bestimmungen über Gewerbepolizei erinnern
an das chinesische Recht. Die Industrieproduction soll nicht
gesteigert, neue Sachen sollen nicht erfunden werden ^^^).
Neue Gewerbe darf Niemand betreiben, ausgenommen die
Berg- und Strandbewohner ^^^).
Für den Preis der Waaren können Taxen gesetzt werden,
wenn der Preis als zu hoch erscheint ^^^).
Nur der Betrieb des Ackerbaus gilt als dem Gemeinwohl
entsprechend; alles andere ist nur für den Vortheil des Ein-
zelnen ^^^).
Der Trödelhandel mit altem Metall soll ganz verpönt
sein, namentlich als Hausirhandel ^^'^).
Der Hau sirer bedarf seines Hausirscheines ^^^).
Für den Seeverkehr finden sich interessante Bestim-
mungen, nicht nur gegen Seeraub und Seediebstahl, gegen
das Scheiternmachen eines Schiffes (darüber S. 404, 407),
sondern auch über Strandrecht, Bergung und Bergelohn.
Die Strandbewohner sind verpflichtet, einem in Noth
befindlichen Schiffe zu Hülfe zu kommen. Sie erhalten
dafür einen Bergelohn; derselbe beträgt ^/2o oder ^/io der ge-
borgeneu Sachen, je nachdem die Waare noch seetriftig oder
bereits am Sinken war. Ist der Eigenthümer der Waare
unbekannt, so wird der Berger Eigenthümer nach Ablauf
eines halben Jahres; doch kann er auch noch nach dieser Zeit
'^°^) Osadamegaki a. 71.
210) Osadamegaki a. 21 Z. 6.
211) Osadamegaki a. 35 Z. 2.
212) Osadamegaki a. 21 Z. 8.
21') Osadamegaki a. 21 Z. 9. Es gilt der Satz: No wa kimi no
Moto , der Ackerbauer ist das Fundament des Staates; vgl. Ota-
Nitobe S. 1.
21^) Osadamegaki a. 81 I.
21^) Osadamegaki a. 71.
Studien aus dem japanischen Recht. 429
zur Erstattung des Werthes verurtheilt werden^ ex aequo,
nach Ausspruch des Richters.
Das Gesagte gilt auch für die FlussschifFfahrt , doch be-
trägt hier der Bergelohn nur ^/so bzw. ^20 ^^^).
Ist einem Schiff ein Unfall zugestossen, sind insbesondere
Waaren geworfen worden, so ist im nächsten Hafen eine
Verklarung vorzunehmen: es muss insbesondere das, was übrig
geblieben ist, genau festgestellt werden; die Verklarung erfolgt
vor dem Amtmann des Ortes ^^^).
Ist das Schiff in einen Nothhafen eingelaufen, so ist davon
der Behörde Anzeige zu erstatten ^^^).
Der Verkehr mit fremden Schiffen soll vermieden
werden, sowohl zur See, als auch an den Hafenplätzen ^^^).
Von fremden Schiffen dürfen Waaren erst gekauft werden,
nachdem die Ladung der Behörde vorgewiesen worden ist, bei
Strafe, a. 38 Z. 1 ^^^). Ein solcher direkter Handel ist auch
desshalb verboten, weil er vielfach zu Diebstählen und Unter-
schlagungen missbraucht wird, indem die Matrosen für ihren
eigenen Gewinn Waaren verkaufen ^ 2^).
V.
Staatsorganisation und Grericlitsverfassuiig.
§ 1.
Die ältere japanische Organisation zeigt uns einen Ge-
schlechterstaat. Der Staat wurde gebildet aus Häusern:
uji; das uji war ein Geschlechterverband mit Haupthaus und
Nebenhäusern: an der Spitze stand das Geschlechterhaupt. Der
^^^) Osadamegaki a. 17 und 18.
217) Osadamegaki a. 17 Z. 2.
21^) Osadamegaki a. 17 Z. 4.
21^) Osadamegaki a. 19 Z, 2. Vgl. auch lyeyasu's 100 Ge-
setze a. 95.
220) Osadamegaki a. 19 Z. 1.
221) Osadamegaki a. 20 Z. 1; vgl. auch Kamporitsu a. 38
Zusatz zu Z. 1.
430 Kohler.
Kaiser war ursprünglich nur das Haupt des hervorragendsten
und mächtigsten uji-^^), erlangte aber mit der Zeit einen
Vorrang vor den übrigen, insbesondere als völkerrechtlicher
Repräsentant, als höchster Oberpriester und als Richter in
Streitfällen.
In derStändegliederung nahm neben dem Adel die Ackerbau-
klasse und die Handwerkerklasse eine besondere Stellung ein.
Der Adel theilte sich wieder in zwei Abtheilungen, die ko-
betsu und die shimbetsu; im Gegensatz dazu standen die
Ackerbauer: die kunitsukos, sodann die Handwerker, wohl
meist eingewanderte Chinesen, die tomonotsukos, wozu
noch die Schreibverständigen kamen, die fuhitos. Diese
Klassen (es gab deren noch mehrere) Messen kabane.
Darunter standen die tomobe oder Sklaven ^2^).
Später ist die japanische Verfassung in eine Terri-
torialverfassung übergegangen, und zwar ganz nach Ana-
logie des chinesischen Rechts. Die Familienordnung ist zwar
geblieben, und das System der Einheit des Hauses ist jetzt
noch in Japan, wie in China die Grundlage der Familien-
und Erbordnung. Dagegen ist die Einheit des Geschlechtes
nicht mehr von solcher Bedeutung, wie in China; denn die
strenge Exogamievorschriften Chinas haben in Japan nie
bestanden (oben S. 361, 401).
Die Territorialverfassung ist eine Gemeindeverfassung,
aber wie in China, mit engeren Kreisen innerhalb der Ge-
meinde. Das chinesische System sucht jede Familie streng
in eine locale Einheit einzuordnen, in eine Einheit mit schweren
Pflichten; die Einheit hat in gewissem Sinne zu garantiren, dass
der Einzelne seine Schuldigkeit gegen den Staat erfüllt, dass er
seine Steuern zahlt, dass er keine Ungebühr begeht; sie hat
ihn an Uebertretungen zu hindern, nöthigenfalls zur Anzeige
222) Vgl. auch Chamberlain in den Transactions X, 2 p. LXI f.
223) Ueber alles dieses vgl. die Darstellung von Florenz in den
Mittheil, der deutschen Gesellschaft für Ostasien V (Heft 44) S. 1(14 T.
167 f., 173, 174. Ueber das Sclavenwesen vgl. oben S. 368, 369.
Studien aus dem japanischen Recht. 431
zu bringen. So besteht in China das System der chia und pao's,
das Zehnersystem (10 Familien^ 10 x 10 Pamilien) ^^*); in
Japan gilt das Fünfersystem.
Fünf Familien, oder vielmehr die Vorstände von fünf
Familien bilden einen Fünfmännerbund : go-nin-kumi,
mehrere Fünfmännerbünde bilden wieder einen Gesammtbund,
an der Spitze die kashira und der Bürgermeister, nanushi;
in grösseren Städten sind es mehrere Bürgermeister mit einem
Oberbürgermeister, machi-nanushi an der Spitze ^^^).
Von der Verantwortung der Fünfmänner und des Bürger-
meisters ist viel die Rede. Der Bürgermeister hat das Grund-
buch zu führen und die Veräusserungen einzutragen, a. 41,
Pfandurkunden bedürfen seines Siegels a. 31 Z. 5 ; er hat die
Abgabenlisten aufzustellen und den Gemeindegenossen kund-
zugeben, a. 98^^^), er hat dafür zu haften, dass kein Hazard-
spiel betrieben wird, er, die kashira und die goninkumi, a. 55
Z. 17; ebenso haften sie, dass Niemand heimliche Schiess-
waffen führt, a. 21 Z. 3, dass Niemand unerlaubten Vogelfang
treibt, a. 22 Z. 2, dass kein Verbreiter einer verbotenen Sitte
im Dorfe sich aufhält, a. 52 Z. 5, a. 53 Z. 2, dass Niemand
einen Fund verheimlicht, a. 59 Z. 1, dass, wenn Vermögens-
confiscation ausgesprochen worden ist, kein Theil des Ver-
mögens verhehlt wird, a. 96 u. s. w.
Die Haftung ist nicht nur eine civilistische, sondern auch
eine strafrechtliche, in leichten Fällen mit Geldstrafe, in
schweren Fällen schwerer.
Ueber diesen Gemeindeordnungen hat sich die landesherr-
liche Gewalt der grossen Grundbesitzer aufgebaut und sodann
die Gewalt der grossen Vasallen, namentlich seitdem die Be-
gründer des dauernden Shogunat es Militärstatthalter, shugos
(oder kamis), in die Provinzen entsandten 2^'^). Aus diesen
224) Rechtsvergleichende Studien S. 179 f.
225) Rudorff, Kamporitsu S. VII und VIII.
226) Osadamegaki a. 32.
22 7) Weipert S. 126, Adams I p. 40. Diese Militärstatthalter
432 Kohler.
öliugos sind die grossen Herren geworden, die unter den
schwächlichen Nachfolgern Yoritomo's sich zur Selbstständig-
keit emporarbeiteten und ihre Selbstständigkeit behielten, auch
als seit 1333 die Ashikaga's das Shogunat in Händen
hielten. Im Jahr 1573, dem Jahre des Sturzes der Ashikagas,
begann die Krisis. Nobunaga, nachher Hideyoshi ergriffen
die Zügel mit gewaltiger Hand, aber nach seinem Tode war
es lyeyasu beschieden, unter Beseitigung von Hideyoshi's
Sohn das Shogunat dauernd an seine Familie (die Tokugawas)
zu ketten ^^^). lyeyasu aber machte diejenigen Reichsfürsten,
welche ihm schon vor Osaka 's Falle ^^^) anhingen, zu fudais,
er kettete sie an sich als Vasallen und gab ihnen die Aus-
sicht auf die Reichsämter 2^^), die übrigen Fürsten setzte er
als tosamas zurück: sie blieben Landesherren ohne nähere
rcvchtliche Verbindung mit dem Shogun, ohne Anw^artschaft
auf Reichsstellen*, sie standen zu dem shogun nur in Beziehung
als zu dem Regenten des Staates, sie standen nicht zu ihm
in Verbindung als seine Lehensleute; die hohen Staatsämter
aber besetzte der shogun nur mit seinen Vasallen. (Vgl. S. 354 f.)
So entwickelte sich die japanische Gesellschaft: auf der
einen Seite die Dorfschaft mit der darunter stehenden Fünfer-
schaft, auf der andern Seite die Grundherren, die mächtigen
Reichsvasallen und die nur lose mit dem Reiche verbundenen
Landesherren; über alle der Shogun, der Vasallenherr der
Reichsfürsten, der publicistische Oberherr der unabhängigen
Landes- und Grundherrn; der Mikado selbst war in mysti-
verdrängten die bisherigen Civilherrscher, die kokushi, und wurden
selbst zu kokushi daimios.
22^) Vgl. Kämpfer II (Append.) p. 67, Michaelis in den Mit-
theilungen IV S. 368, Ruder ff, Kamporitsu S. II, Rein, Japan I S. 258 f.,
347 f., Adams I p. 24 f., 38 f., 54, 59 f., Reed I p. 137 f., 146, 204.
^^^) Der Fall Osaka's erfolgte bald nach der Entscheidungsschlacht
von Sekigahara im Jahre 1600.
^^^) Die hohen Würdenträger heissen in Ij'eyasu's 100 Gesetzen
(a. 9) res hin.
Studien aus dem japanischen Recht. 433
sches Dunkel gerückt^ macht- und thatlos^^^). So bestand
die Ordnung des Staates in der Tokugawazeit von 1603 bis
1868; bis die gewaltige Umwälzung das Shogunat (Hausmeier-
thum) beseitigte, der Kaiser wieder zur actuellen Regierung
erhoben wurde, und in beispielloser Weise die occidentale
Cultur in Japan einzog, an Stelle der ostasiatisch-chinesischen
Cultur, welche bis dahin geherrscht hatte.
§ 2.
Das Land war hiernach Reichsland und Land der Landes-
fürsten. Eigentliches Reichsland war nur das Land des
Mikado, aber dem stand das Land des Shogun factisch gleich,
^^^) Das Hausmeierthum ist eine altjapanische Einrichtung. Schon
vor Yoritomo gab es Hausmeier: die Fujiwara hatten die Stellung
der Majores domus Jahrhunderte lang, als kuambakus (Adam I p. 17).
Mit Yoritomo aber trat der Umschwung ein, dass das Soldaten thum
an die Spitze kam, der Generalissimus — das bedeutet shogun — wurde
zum Regenten. Auf den Schultern Yoritomo's steht lyeyasu; seine
100 Gesetze verfolgen das System der Alleinmacht des shogun mit
Staunenswerther Consequenz. Besonders hervorzuheben ist die Bestim-
mung, dass stets ein kaiserlicher Sohn Oberpriester in Yeddo sein
soll (a. 29): also wie eine Geisel in der Hand des Shogun! Eine andere
Bestimmung ist in den 18 Gesetzen lyeyasu's a. 8: Kein Fürst darf sich
in das kaiserliche Schloss begeben, auch wenn er vom Kaiser dazu ge-
boten würde, bei Verlust seines Fürsten thums — oder gar bei Ver-
nichtung seines Geschlechts. Kein Fürst darf nach Kioto; ausnahms-
weise kann ihm gestattet werden, Theile der Stadt zu besehen — jeder
Verkehr zwischen dem Kaiser und den Vasallenfürsten oder Landesfürsten
ist aufgehoben. Alles muss durch den Shogun , den Hausmeier, gehen.
Darum soll auch der Beamte, welcher es wagt, dem Mikado direkt das
Gesuch eines Fürsten zu übermitteln, bestraft werden (lyeyasu's 18 Ge-
setze a. 9). Nur das Haus Mito soll sich an den Kaiser wenden dürfen
(a. 13 ibid.). Der Shogun hatte auch sein Kastell (Nijo) in Kioto, über
das er seine zuverlässigsten Vasallen setzte, um den Mikado und den
ganzen Hofadel, der meist in Kioto ansässig war, zu überwachen.
Vgl. Rein, Japan I S, 372 f. Den militärischen Charakter des Shogunats
charakterisirt auch der Ausdruck bakfu zur Bezeichnung des Regie-
rungskabinets der Shoguns: bakfu = Vorhang-, oder Zeltregierung. —
Ueber Yoritomo vgl. auch Charlevoix II p. 72.
Zeitschrift für vergleicliende Eechtswissenscliaft. X. Band. 28
434 Kohler.
imd ihm stand das Land gleich , welches die Vasallen des
Shogun innehatten. Im Gegensatz stand das lediglich der
publicistischen Oberhoheit unterworfene Land der tosamas.
Daher war auch die Gerichtbarkeit theils eine Reichs-, theils
eine lan des fürstliche Gerichtsbarkeit.
Die Reichsgerichtsbarkeit wurde ausgeübt in Städten und
wichtigen Bezirken durch bugio's, auf dem Lande durch
daikans; in beiden Fällen monokratisch, obgleich bei den
grossen bugios ein Rath bestand, welcher ihnen zur Seite
war, auch in vielen Sachen selbst entschied. Zu diesen
bugios gehörten insbesondere auch die machibugios in den
Kronstädten Kioto und Osaka.
Ueber dem Ganzen stand das Reichsgericht, hiojosho^^^);
dieses entschied kollegialisch; eine Hauptstellung nahmen darin
die drei Vorstände der obersten Verwaltungsressorts in Yeddo
ein: die Jisha-, Machi- und Kanjobugio's, wozu noch
Gerichtsrevisoren kamen (metsuke) ^^^).
Civilsachen, bei welchen die Untergebenen verschiedener
bugios oder daikans betheiligt waren, kamen an das hio-
josho ^^*). Adelige von bestimmtem Range an hatten bei dem
hiojosho ihren privilegirten Gerichtstand.
Ueber dem hiojosho als Aufsichtsbehörde stand der Staats-
rath, der goroju^^^).
Auch Strafsachen wurden von den daikans und bugios
behandelt, abgesehen von adeligen Personen, welche direkt
^^^) Das hiojosho soll seit dem Jahre 1632 bezw. 1635 bestehen,
vgl. Osadamegaki a. 1. Aber auch schon lyeyasu erwähnt ein
oberstes Gericht (100 Gesetze a. 13); sogar schon Yoritomo (Ende des
13. Jahrhunderts) soll ein oberstes Gericht monchiusho eingesetzt
haben (Adams I p. 38).
^^^) Die Mitwirkung von metsuke bezw. ometsuke (Oberrevisoren)
erfolgt seit dem Jahre 1689, Osad. a. 1, vgl. auch a. 6.
^^^) Sonst nicht; es war also incorrect, wenn doch derartige Klagen
in den Kasten des hiojosho eingeworfen wurden, vgl. Osadam. a. 10.
^^^) Schon Yoritomo soll einen Staatsrath kumonjo (später
mandokoro) gegründet haben, Adams I p. 38.
Studien aus dem japanischen Reclit. 435
unter dem hiojosho standen; schwere Strafsachen aber waren
von den daikans und bugios dem Staatsrathe, goroju^ vorzulegen:
schwere Strafsachen, sofern auf Todesstrafe, ento oder jutsuiho
erkannt wurde ^ ^ ^).
Das hiojosho entschied nach Einstimmigkeit in Civilsachen;
wo keine Einstimmigkeit war, und ferner in allen Criminal-
sachen war die Sache dem goroju zur Bestätigung zu geben ^^^).
Der goroju kam auch an gewissen Sitzungstagen, die Sitzungen
des Gerichtshofes zu überwachen ^^^).
Im Gegensatz zu der Reichsgerichtsbarkeit stand die der
tosamas, der grossen und kleinen Landesherren (kokushi,
joshu); sie hiessen in den Gesetzen in dieser Eigenschaft jito.
Diese Gerichtsbarkeit ist zwar eine ziemlich selbstständige;
aber auch hier hatte sich die Reichsgerichtsbarkeit darüber
gelegt.
Missi des Shogun : metsuke^^^) sollten alle 5 — 7 Jahre
das Reich durchreisen; sie durchzogen auch das Gebiet der
jito, der kokushi, wie der joshu. Beschwerden wegen ver-
weigerter Gerichtsausübung giengen an das Reich: der Landes-
herr wurde angewiesen, die Sache zu erledigen, Kamporitsu
a. 3 Z. 2; unter Umständen konnte die landesherrliche Ent-
scheidung nachgeprüft werden, Kamp. a. 3 Z. 3.
Klagen zwischen Unterthanen verschiedener j ito's kamen
an das hiojosho, Kamp. a. 1 Z. 3, a. 3 Z. 2^^^).
^^^) Osadamegaki a. 49.
^^0 Vgh zum Gesagten Kamporitsu a. 1 und f. Die Sache sollte
jedenfalls dem Shogun vorgelegt werden, wenn der Process schon
100 Tage währte, Osad. a. 4 Z. 1; ebenso alle Strafsachen, wenn der Be-
schuldigte schon 100 Tage verhaftet war, ib. a. 4 Z. 3. Vgl. auch
Osadamegaki a. 44, 45, 47.
^^^) Osadamegaki a. 5; hier wurden ihm auch die Sachen vor-
gelegt, über welche der Gerichtshof nicht einig geworden war.
^^®) Die kenshi des lyeyasu (100 Gesetze) a. 47, vgl. auch a. 14.
240^ Vgl. auch schon den 4. Bukeshohatto a. 17 aus der Zeit der
Jyemitsu (1623 — 1651): damals war das hiojosho noch nicht völlig ent-
wickelt, es sollten darum die beiderseitigen ban- oder kumigashira
430 Köhler.
Ein Landeölierr konnte nicht zur Verbannung «luf eine
Insel verurtheilen, die nicht in Heiner Herrschaft stand; in
solchem Falle war statt dessen auf lebenslängliches Gefängniss
zu erkennen ^^^).
Trat eine Confiscation ein, so erfolgte sie zu Gunsten
des Landesherrn, in dessen Gebiet das Vermögen war, Kamp,
a. 27 Z. 3.
• § ^'
Von Processbestimmungen bezüglich des hiojosho sind zu
bemerken :
Die Parteien mussten persönlich erscheinen, nur im
Falle der Noth war Vertretung statthaft, Osad. a. 2 Z. 4.
Es galten bestimmte Sitzungstage. Die Sachen kamen
nach der Reihe der Anmeldung; jedoch wurden dringliche
Sachen ausser der Ordnung verhandelt und wenn Parteien
von auswärts in Yeddo wohnen mussten, so wurde auch hie-
rauf Rücksicht genommen^ Osad. a. 2 Z. 1 und 7, a. 3 Z. 4.
Eine Sache, die in einer Sitzung nicht erledigt wurde, sollte
den folgenden Tag fortgesetzt werden, Osad. a. 2 Z. 10,
a. 3 Z. 1.
Besondere Sitzungstage galten für Darlehensklagen,
Osad. a. 4 Z. 2.
Die Berathung war koUegialisch ; die Mitglieder sollen
erscheinen und ein jedes seine Ansicht äussern, Osad. a. 3 Z. 3.
Beschuldigte, welche keine feste Wohnung hatten, konnte
man in Untersuchungshaft bringen, Osad. a. 4 Z. 2 Zusatz.
Untersuchungssachen sollten möglichst beschleunigt werden ^^^).
Daher musste in Haftsachen immer bemerkt werden, von wann
an Jemand in Haft sei ; und war die Haft über ein Jahr her,
so war der Grund anzugeben ^*^).
entscheiden; anders der 7 Buk es h chatte aus 1710 a. 9, wornach das
hiojosho angerufen werden soll.
^^^) Osadamegaki a. 55.
^*^) Osadamegaki a. 4 Z. 3.
^*^) Osadamegaki a. 42, 43; vgl. auch a. 47.
Studien aus dem japanischen Recht. 437
VI.
Familienreclit.
Unterm 6. October 1890 ist in Japan ein Gesetz über
Familien- und Erbrecht erschienen, welches am 1. Januar 1893
in Kraft treten wird.
Dasselbe schliesst sich in vielen Punkten an das occiden-
tale Recht an, behält aber in sehr einsichtiger Weise alther-
gebrachte und mit dem japanischen Rechtsleben verwachsene
Institutionen bei^^*).
Ich habe mir verschiedene Partien durch Herrn Staats-
anwalt Yocota vorübersetzen lassen und mit demselben be-
sprochen und gebe hiernach Folgendes:
Das Gesetz behält die Einheit des Hausstandes und
der Hausstandsvererbung bei. Es gibt immer nur einen
Hauserben ^*^), und ebenso kann Niemand zwei Hausstände
erben (§ 288): wer in eine fremde Familie übergegangen ist,
kann nicht das eigene Familienhaus erben; wem mehrere
Häuser in der Erbschaft zufallen, der kann nur eines an-
nehmen (§ 289, 290).
Dieser gesetzliche Hauserbe ist Not herbe; er kann nur
aus gesetzlich bestimmten Gründen ausgeschlossen werden
(§ 296 — 299). Gewisse Dinge kann man dem Hauserben nicht
entziehen: Hausbuch, gottesdienstliche Sachen, Grab, Firma,
Marke, Stammgut ^*^) (§ 294); von dem übrigen Vermögen
kann ihm jetzt die Hälfte durch Testament entzogen werden
^^^) Vgl. zum Folgenden auch Küchler in der Transactions ol
the Asiatic Society ol' Japan XIII p. 114 f.; Weipert in den Mitthei-
lungen der deutschen Gesellschaft für Ostasien V: Kosaburo Kishi,
Erbrecht Japans (1891).
^^•'') Altes japanisches Recht. Der Hausherr heisst koshu, die
Hausinsassen kasoku; vgl. Weipert S. 89; die Hauserbschaft kameiso-
soku (vgl. Kosaburo Kishi p. 22).
^'*^) Solche gibt es bei dem Adel.
488 Kohler.
(§ o83; 384)2^'): Testamente hat das moderne Recht eingeführt;
früher kam es nur vor, dass der Erblasser vor dem Tode
im Beisein der FamiHenglicder mündUch seine Erklärungen
machte'^ ^^). Schenkungen unterliegen keiner Beschränkung'-^ ^^■').
Der Hauserbe kann auch nicht auf die Erbschaft verzichten
(§ 317); früher kamen Verzichte vor, aber selten: der Hauserbe
verliess dann das Haus und siedelte an einen fremden Ort über.
Jetzt ist für den Fall der Ueberschuldung dadurch geholfen,
dass der Hauserbe sub beneficio antreten kann (§317)^^''^).
Es herrscht also noch die dem chinesischen Rechte ent-
sprechende Einheit des lar domesticus; und wie im chine-
sischen Rechte, bestimmt sich der Hauserbe nach der Erst-
geburt, und zwar so, dass der nächste Descendent dem ferneren,
und dass in der Descendentcnlinie der Mann dem Weib, der
eheliche Descendent dem unehelichen Kind vorgeht (§ 295);
regelmässig ist daher Hauserbe der älteste Sohn, dann der
Solm des ältesten Sohnes, dann ein zweiter und folgender
^^^) Es kann ihm entzogen werden; wird es ihm nicht entzogen,
so verbleibt es ihm; er ist also Intestaterbe des Ganzen. Dem war
nicht immer so; nach dem Taihorio (vom Jahr 702 v. Chr.) wurde
das Hausvermögen von dem Individualvermögen (zaisan) geschieden,
das letztere vererbte sich an alle Kinder nach bestimmten Theilen. Der
Unterschied zwischen Haiisvermögen und Individualvermögen ist aber
in dieser Art nicht aufrecht erhalten worden, und der Vertreter des
Hauses bekam in thesi das Ganze. Vgl. Weipert S. 127 f., 131 f.
Nach altjapanischem Recht wurden dem Todten Kleider, Schmuck u. dgl.
mitgegeben, auch Diener wurden lebendig mit bestattet; dieses wurde
später abgeschafft, und statt der Personen wurden Thonbilder begraben;
Chamberlain in den Transact. X, 2 p. XLI.
2^^) Die Sache war daher ungefähr auf dem Standpunkte des chine-
sischen Rechts (Rechtsvergleichende Studien S. 196), wenn auch viel-
leicht die letztwilligen Verfügungen häufiger waren; über das zulässige
Mass bestanden Ortsgewohnheiten und Familienstatuten; vgl. Weipert
S. 137 f., Kosaburo Kishi S. 26.
248a) Kosaburo Kishi S. 39, 62.
^^^) Natürlich eine neue, von dem Occident entlehnte Institution,
Kosaburo Kishi S. 33.
Studien aus dem japanischen Recht. 439
Sohn; danü, wenn keine Söhne vorhanden; die älteste Tochter,
schliesslich der uneheliche Sohn.
Die Hauserbfolge ist daher ähnlich wie schon nach dem
Taihorio (vom Jahr 702 n. Chr.), nur dass dort die Tochter-
erbfolge nicht, wenigstens nicht mit gleicher Sicherheit, aner-
kannt war^^^).
Auch in den Bukeshohattos des 17. Jahrhunderts war
wiederholt eingeschärft worden, dass die althergebrachte
Hauserbfolge zu beobachten sei und kein anderes Kind be-
stimmt werden dürfe ^^^).
§ 2.
Die älteste Tochter kann daher Hauserbe sein. Dann ist
sie Erbtochter, sie ist onnakoshu: sie setzt das Haus fort;
ihr Ehemann tritt in ihr Haus ein, er wird muko yoshi,
d. h. Adoptivsohn ^^^) und die Kinder sind Kinder des Erb-
hauses ^^^). Dass ein solcher muko yoshi nicht so viel zu
sagen hat, wie wenn er selbst angestammter Hauserbe wäre,
dass er mehr oder minder von der Familie abhängt, ist mir
von verschiedenen Seiten bestätigt worden, mindestens da,
wo noch die alten Familienideen gelten ^^^). Es ergibt sich
dies auch aus der Sachlage und findet sich so bei den ver-
schiedensten Völkern 2^^).
Dass übrigens die älteste Tochter auf ihr Recht ver-
zichten und der nächsten Tochter es überlassen kann, einen
250j Ygi^ Weipert S. 127 f. Besonderheiten bezüglich der Lehens-
erbfolge S. 371, 419.
'^^^) Rudorff, Tokugawagesetzsammlung S. 28, 29.
^^2) Muko ist Bräutigam, yoshi ist Adoptivsohn.
^^^) Der muko yoshi bringt mitunter eine Aussteuer mit, bisweilen
wird seine Erbberechtigung von der Aussteuer abhängig gemacht,
Weipert S. 103 f.
2^'*) Vgl. auch meine Rechtsvergl. Studien S. 198.
255j Yg\. auch Weipert S. 95; unrichtig ist daher die Bemerkung
Schnitze nstein's in Zeitschr. f. Civilprocess XIV S. 196. Sagt doch
das Sprichwort: hast du auch nur 3 Mass Kleie, werde nicht muko yoshi
(Küchler S. 115).
440 Kohler.
muko yoshi zu heirathen, ist wohl auch nach dem neuen Ge-
setze anzunehmen ^^^').
§ 3.
Dem ehelichen Kind steht der Adoptivsohn gleich ^•'^^);
aber wie man den zum Hauserben bestimmten Sohn (regel-
mässig) nicht enterben kann, so kann man auch nicht adop-
tiren, wenn man einen solchen Sohn hat (§ 107); früher
konnte das geschehen, aber doch nur so , dass man für den
Adoptivsohn ein Nebenhaus gründete 2^^). Das Vorhandensein
einer Tochter schliesst die Adoption nicht aus; man adoptirt
hier, um den Adoptivsohn zum Schwiegersohn, zum muko
yoshi zu machen.
Früher konnte der Ehemann von sich aus adoptiren, jetzt
bedarf er der Zustimmung der Ehefrau (§ 110); ebenso wie ein
verheiratheter Mann sich jetzt ni;r mit Genehmigung seiner
Frau in Adoption geben darf (§ 110).
Auch Töchter können adoptirt werden, sie können dann
Erbtöchter werden und heirathen einen muko yoshi.
§ 4. '
Ist beim Tode kein Hauserbe vorhanden, so muss, wie
nach chinesischem Rechte, ein Hauserbe von der Familie
ernannt werden ^^^), aber so, dass diese Ernennung keine
^^^) So altjapanisches Recht, Küchler p. 116. Auch das kam
vor, dass der muko j'^oshi nach dem Tode seiner Frau eine jüngere
Schwester derselben heirathete (ib. p. 116).
^'^) Die Adoption ist in chinesischer Weise entwickelt; im altjapa-
nischen Recht fmden wir sie nicht erwähnt, Cliambe riain in den
Transactions X, 2 p. XL.
25«) Vgl. auch den 4. Bukeshohatto a. 18 (Rudorff S. 28). Dass
der Adoptirte womöglich ein Verwandter sein soll, besagte der 4. Bnkesh.
a. 18, der 6. B. a. 12 und der 7. B. a. 15 (Rudorff S. 28, 29, 81).
-5^) Im Nothfall; daher kyu-yoshi, der Nothadoptirte. Wahrend
der Feudalzeit wurde bei höheren Klassen die Adoptionsurkunde der
Leiche des Verstorbenen vorgelegt, als ob er quasi vivus sie anerkenne,
Studien aus dem japanischen Recht. 441
freie ist, sondern nach einer bestimmten Gradation erfolgen
miiss^^^). Das Ernennungsrecht hat zunächst der Vater, dann
die Mutter des Erblassers und wenn keine Eltern vorhanden
sind, die Familienversammlung. Ernannt werden solP^^) ein
Bruder, eventuell eine Schwester, eventuell ein Descendent
von Bruder oder Schwester, aber so dass auch hier der Mann
dem Weibe vorgeht (§ 301, 302). In dieser Beziehung scheint
das japanische Recht von dem chinesischen abzuweichen ^^ 2),
sofern das chinesische Recht dahin abzielt, dass, wenn kein
Haussohn vorhanden ist, nicht der Bruder, sondern der Bruder-
sohn gewählt werden soll, überhaupt ein solcher, welcher in
der Familiengliederung auf der gleichen Generationsstufe steht,
auf welcher der Sohn stehen würde.
Dem japanischen Rechte ist auch das eigen, dass, wenn
keine Geschwister oder Geschwisterdescendenten vorhanden sind,
dann der nächste Ascendent, und wenn kein solcher vorhan-
den ist, der Ehegatte zum Hauserben ernannt wird (§ 303,
304)2 6 3).
Ist eine Wittwe auf solche Weise Hausinhaberin, so kann
sie gleichfalls eine Ehe in der Art abschliessen, dass der Ehe-
Weipert S. 114. Eine solche Adoptio post mortem bedurfte aber der
Genehmigung, weil dadurch der Heimfall des Lehens verhütet wurde;
und da es nicht üblich war, vor dem 16. Jahre zu adoptiren, so galt
es nicht als zulässig, eine Nothadoption vorzunehmen, wenn der Lehens-
fürst vor dem 16. Jahre starb. So nach den 18 Gesetzen lyeyasu's a. 7
und den 100 Gesetzen desselben Shogun a. 46 (Rudorff, Tokugawa-
gesetzsammlung S. 2 und 12); vgl. den 7. Bukeshohatto a. 15 (Rudorff
S. 31). Vgl. auch Grigsby in den Transactions of the Asiat. Society of
Japan III p. 135.
260) Vgl. meine Rechtsvergl. Studien S. 192 f., 194.
2C1) Früher war es gewohnheitsmässig so ; eine strenge Regel be-
stand nicht, vgl. Weipert S. 135.
2"2) üeber chinesisches Recht vgl. meine Rechtsvergl. Studien S. 193;
bezüglich Korea's Z. f. vgl. R. VI S. 403.
2^^) Alter Rechtsgebrauch; solange das System der Nebenfrauen
anerkannt war, konnte sogar eine Nebenfrau zur Hauserbin gewählt
werden; vgl. Weipert S. 136. — Vgl. auch Kosaburo Kishi S. 37.
442 Kohler.
mann in das Haus eintritt: es ist die Idimgo-Ehe; so jetzt
<iuch § 258 2«^).
§ 5.
Der Eintritt des Hauserben erfolgt auch dann, wenn der
Ilausinhaber seine Nationalität verliert und in Folge dessen
unfähig wird, Hausinhaber zu sein (§ 252); ferner dann, wenn
der Hausinhaber ingo wird d. h. sein Vermögen übergibt.
Diese Vermögensübergabe ist altjapanisches Institut ^^•''^). Sie
erfolgt durch Erklärung des Hausinhabers, der bejahrt ist
(bei vollendetem GO. Lebensjahr); sie erfolgt an den volljäh-
rigen Hauserben. Ausnahmsweise kann von dem Alter etwas
nachgelassen werden (§ 306, 307).
§ ß-
Im Hause ist der Hausinhaber (koshu) der Vorstand
und Leiter.
^^*) Der zweite Mann heisst auch iri-muko; vgl. WeipertS. 134.
Was er beibringt, kommt in das Haus, wie das sonstige Beibringen des
yoshi. Sonst sollte nach japanisch-chinesischem Rechte regelmässig die
Wittwe keine zweite Ehe eingehen, Hering in den Mittheilungen der
deutsch. Gesellsch. f. Ostasien V (Heft 41) S. 22. Auch die Braut
pflegte in früherer Zeit nicht mehr zu heirathen, wenn der Bräutigam
gestorben war, Titsingh, Ceremonies au Japon p. 59 — ganz wie in
China (Rechtsvergl. Studien S. 190).
^^^) Das Ingo-Institut spielte insbesondere auch im Lehenswesen
eine grosse Rolle; wer den Lehensdienst nicht mehr leisten konnte,
wurde ingo zu Gunsten seines Sohnes, Grigsby in den Transactions
of the Asiatic Soc. of Japan III p. 134. Auch sonst fand früher das
Ingothum in verhältnissmässig frühen Jahren statt. Bekannt ist es,
dass die Mikados meist in frühen Jahren ingos wurden; es war dies
das System des Hausmeierthums, um den Kaiser völlig machtlos zu
machen; Jahrhunderte lang waren meist Kinder oder angehende Jüng-
linge auf dem Thron, die alsbald wieder ingo wurden; vgl. Weipert
S. 109 f., Adams I p. 22 f. In gleicherweise wurden aber auch Yori-
tomo's Nachfolger niedergehalten, indem ihre Verwandten, die Hojos,
regierten: diese waren Hausmeier der Shoguns, also Hausmeier det*
Hausmeier; vgl. auch Adams I p. 54.
Studien aus dem japanischen Recht. 443
Unter ihm leben die Familienmitglieder, die nicht
in ein anderes Haus eingetreten sind oder nicht ein Neben-
haus gegründet haben. Der Hausinhaber trägt die Kosten;
dafür gehört ihm auch die Thätigkeit der Hausmitglieder;
was ein solches für das Haus verwendet, dafür kann es keinen
Ersatz begehren (§ 243—245).
Ein solches Hausmitglied (kazoku) kann keinen Hauserben
haben, es kann daher auch nicht adoptiren (§ 109)^^^). Aber
es ist nicht vermögenslos, es kann Vermögen erwerben ^^^), kann
sich verheirathen, es kann legitime Kinder haben; auch wird es
beerbt, aber der Erbe ist nicht Hauserbe, sondern Vermögens-
erbe. Vermögenserbe aber ist nicht der Nämliche, welcher
betreffenden Falles Hauserbe wäre. Vermögenserbe ist der
üescendent, welcher in Hausgemeinschaft wohnt, sodann der
Ehegatte, endlich der Hausinhaber, also der Herr des betref-
fenden Hauses, dem der zu Beerbende angehört (a. 313): auch
dies entspricht dem älteren Rechte.
Uebrigens kann ein solches Hausmitglied ein neues
Haus gründen: dann ist dies ein Nebenhaus (bunge)
neben dem Haupthaus (hunge). Dies tritt insbesondere
ein, wenn sich der jüngere Bruder ohne Einwilligung des
älteren verheirathet (§ 250), Es kann übrigens auch vor-
kommen, dass schon der Vater einem solchen Kinde ein
bunge verschafft ^^^). Die Erbfolge aus dem bunge ist wie-
der nach der Regel, es gibt hier wieder einen Hauserben
u. s. w. Doch steht das Nebenhaus zu dem Haupthaus immer
266j jTfüi^er war eine Adoption durch den kazoku gestattet,
Weipert ö. 113.
267^ Vgl. Weipert S. 89. Dieses Vermögen ist Sondergut und
haftet seinem Gläubiger.
^^^) Man möchte sagen: Secundogenitur; vgl. auchKosaburoKishi
S. 25. Auch das kann vorkommen, dass der zweite Sohn ein erloschenes
fremdes Haus neugründet, indem er den Namen desselben (sei) annimmt.
Vgl. Weipert S. 87. Auch eine Tochter kann ein Nebenhaus gründen,
indem sie einen muko yoshi heirathet. Vgl. Weipert S. 102 f.
414 Kohler.
noch in einiger Beziehung. Dies zeigt sich insbesonflere bei
der Adoption^ auch im Hausnamen 2^^).
§ 7.
Wie bei den Chinesen ^^^) darf der ITauserbe sich nicht
in einem anderen Hause adoptiren lassen: er müsste, da
Niemand zwei Hausstände haben kann, sein Haus aufgeben,
und das darf nicht sein, er darf sein Haus, sein sacra nicht
im Stiche lassen ^^^). Aber auch, wer noch nicht Hausbesitzer,
aber der vermuthete Hauserbe des Hausvaters ist, kann
nicht in Adoption gegeben werden: es würde ja sonst dem
eigenen Hause der Hauserbe genommen ; davon gibt es aber
eine Ausnahme: wer der vermuthete Hauserbe eines bunge
ist, der kann in das Haupthaus, hunge adoptirt werden (§ 111) ;
dies gilt in Japan, wie es in China gilt^^^).
Ueberhaupt besteht der Grundsatz : wer Hauserbe geworden
ist, kann das eigene Haus regelmässig nicht aufheben ^''^);
er kann es aber aufheben, wenn dadurch das Nebenhaus
wieder an das Haupthaus fällt (§ 251).
Der Inhaber des bunge tritt in solchem Falle in das
Haupthaus ein mit der ganzen Familie des Nebenhauses
(§ 253)2 74).
Auch das kann vorkommen, dass der Bunge-Inhaber nicht
^^^) Bei den Samurais hat das Nebenhaus denselben Familiennamen
(^sei), wie das Haiipthaus. Vgl. auch Weipert S. 87.
^'^) Rechtsvergleichende Studien S. 194.
^'^) Altjapanisches Recht, vgl. Weipert S. 113.
^^0 Rechtsvergleichende Studien S. 194.
273-^ Früher war dies ausnahmsweise gestattet durch Fusion mit
einem andern Hause; die Fusion hiess goke; sie wurde später verboten;
vgl. Weipert S. 87 f.
*^''^) Dagegen tritt der Inhaber des bunge nicht von selbst wieder
in das Haupthaus ein, wenn dieses keinen männlichen Erben hat, viel-
mehr wird dasselbe in diesem Falle durch die älteste Tochter mit Hülfe
eines muko yoshi fortgesetzt; dies gilt nach dem jetzigen Reclite, wie
nach dem älteren; vgl. auch Weipert S. 133.
Studien aus dem japanischen Recht. 445
das Bunge-Haus aufhebt^ wohl aber bezüglich desselben ingo
wird und so in das Haupthaus übergeht. Hier ist es aus-
drücklich gestattet^ dass er ingo werden kann, auch wenn er
das gesetzliche Alter von 60 Jahren noch nicht erreicht
hat (§ 307).
Wessen Eltern unbekannt sind, wer also keinem Hause
angehört, der kann ein neues Haus gründen (§ 255). Die
Vorschrift, dass er das Haus nicht aufheben oder nicht in
ein anderes Haus eintreten darf, gilt hier nicht (vgl. § 251, 253).
§ 8.
Aus dem Hause tritt man durch Ehe oder Adoption;
durch Ehe : nämlich durch Ehe der Tochter, die nicht Erb-
tochter ist ; oder durch Ehe ,des Mannes als muko yoshi.
Wer auf solche Weise austritt, kann in das Stammhaus
zurückkehren, wenn er durch Trennung der Ehe oder Lösung
der Adoption seinen Sitz im neuen Hause verliert. Jedoch ist
Folgendes zu beachten. Schon von früher her galt der Satz,
dass ein Hausmitglied zur Ehe oder Adoption der Zustim-
mung des Hausinhabers bedarf. Dies ist bestätigt worden
(§ 246). Tritt er ohne Zustimmung aus, so bestand früher
die Sitte, dass der Hausinhaber vor dem Standesamte er-
klärte, dass er ihn nicht mehr als Hausgenossen anerkenne.
Dies wurde im Gesetze beibehalten in der Art, dass der Haus-
inhaber solche Erklärung innerhalb eines Monats von dem
Momente an, wo ihm der Grund der Rückkehr ins Stamm-
haus bekannt wird, abgeben kann (§ 247).
Auch in anderen Fällen kann der Hausgenosse aus dem
fremden Haus in das Stammhaus zurückkehren, wenn die
beiden Hausinhaber mit einverstanden sind (§ 248).
Aber die Kinder, welche er in dem fremden Hause ge-
zeugt hat, bleiben dem fremden Hause; nur mit Genehmigung
des Hausinhabers kann er sie mit sich wegnehmen, und zu-
dem nur mit Genehmigung seines Ehegatten bezw. seines
Adoptivvaters (§ 254, 256). Dieses ist altes Recht.
446 Kohler.
Wer in ein fremdes Haus eingetreten ist, kann nicht
direct aus diesem Hause wieder in ein neues Haus eintreten,
so insbesondere auch nicht der muko yoshi, selbst wenn seine
Frau todt ist. Dies ist altes Recht. Man kann nur dann in ein
drittes Haus eintreten, wenn man zuerst in das Stammhaus
zurückgekehrt ist: nur von diesem aus darf man sich in ein
fremdes Haus begeben (§ 248).
§ 9.
Was die Form der Eheschliessung betrifft ^''^), so hat das
neue Gesetz sich weislich an den alten Gebrauch ange-
schlossen : es finden die Ceremonien statt, welche am Wohnsitz
des einen der beiden Ehegatten gelten (§43)^^^); eine Haupt-
ceremonie ist noch heutzutage das san san kudo, das drei-
mal drei; d. h. der Genuss aus denselben Bechern ^'^'^): dreimal
aus drei Bechern (zuerst einem kleinen, dann einem mittleren,
dann einem grösseren Becher). Die Anwesenheit von zwei
Zeugen (einem Paar: Mann und Frau) wurde schon früher
für nöthig erachtet; auch das Gesetz (§ 47) verlangt zwei
Zeugen ^^^).
Ausserdem ist die Erklärung vor dem Standes-
beamten nöthig, welche aber auch durch einen Stellver-
treter geschehen kann (§ 43). Früher konnte diese Erklä-
^^^) Ueber Reste des Frauenraubes, namentlich auf der Insel Ama-
kusa bei Nagasaki, vgl. Weipert S. 94.
-^^) Regelmässig findet die Ceremonie beim Bräutigam statt (yome-
iri d. h. Brauteingang); im Falle der Muko-yoshi- und Idimgo-Ehe bei
der Braut; hier ist es der Bräutigam, der in die Familie eintritt, daher
muko-iri. Vgl. Weipert S. 98. Dass die Eheschliessung nicht heimlich
geschehen soll, sagtauch der Bukeshohatto v. 1615 a. 8 (Rudorff S.24).
^^0 Schon im alt japanischen Leben findet sich der Becher als
Zeichen der Treue, vgl. Kojiki s. XXV (Chamberlain in den Trans-
actions X, 2 p. 80 f.).
-^^) Ueber anderweitige Formalitäten vgl. die minutiösen Angaben
in Titsingh, Ceremonies au Japon (Paris 1819). Der Zuzug eines
Priesters war nirgends üblich (ib. p. 41).
Studien aus dem japanischen Recht. 447
ruDg nach der Eheceremonie erfolgen : es war also bloss eine
Erklärung zur Registrirung 2^^); nach dem jetzigen Gesetze
muss diese Erklärung vorher geschehen, damit der Standes-
beamte ein causae cognitio vornehmen kann. Die Ehecere-
monie kann dann nach 3 Tagen erfolgen: in der Zwischen-
zeit kann der Standesbeamte die Vornahme untersagen; sie
hat in 30 Tagen zu erfolgen (§ 46, 48) — sonst verliert
die Erklärung vor dem Standesbeamten ihre Bedeutung, so
dass sie erneuert werden muss.
Entsprechend ist die Behandlung des Adoptionsaktes:
auch hier die übliche Form und auch hier die Anmeldung vor
dem Standesamte, auch hier die angegebenen Fristen (§ 113
cf. 43, 46, 48) ^^^). Ueblich ist auch hier der gemeinsame
dreimalige Trunk aus einem rothen Becher, aber nur aus
einem Becher; der Adoptant trinkt zweimal, das Adoptivkind
einmal. Der Zuzug von Zeugen, einer Art von Fathen, fand
auch schon früher statt, doch wurde es hier nicht so streng
genommen; das Gesetz erheischt auch hier zwei Zeugen (§113).
Die Adoption verlangt die Zustimmung beider Theile —
ist das Kind unter 15 Jahren, dann Zustimmung der Eltern
(§ 113, 115). Ebenso aber auch die Aufhebung der Adop-
tion (§ 137).
§ 10.
Die Verlobung hatte nach altjapanischem Rechte be-
reits eine familienrechtliche Wirkung: wer mit der Verlobten
eines Anderen geschlechtlich verkehrte, wurde zwar nicht wie
^^^) Bei den Samurai und Kuge war allerdings früher Genehmigung
des Oberherrn vorgeschrieben. Vgl. 7 Bukashohatto a. 14 (Rudorff
S. 31). In manchen Theilen Japans war auch das Institut der Probeehe
üblich , so dass erst längere Zeit nachher die Anmeldung erfolgte,
Weipert S. 98, 99.
^®°) Die Anmeldung zu den Personalregistern ist altjapanisches
Recht- vgl. Weipert S. 114. Nach dem Osadamegaki a. 50 Z. 2
sollte auch die Auflösung der Adoption innerhalb 6 Monaten angezeigt
werden.
448 Kohler.
üin Ehebrecher bestraft, aber doch mit ke-tsuiho, die Verlobte mit
Abschneiden der Haare, Kamporitsu a. 49, vgl. oben S. 401;
dass die Eltern eine Verlobte tödten durften, wenn sie mit
einem Dritten geschlechtlich verkehrte, ist bereits gleichfalls
oben S. 387 und 3G7 erwähnt worden.
§ 11.
Das Vermögen der Ehegatten bleibt nach altjapa-
nischem Rechte getrennt, der Acquäst gehört dem Manne;
dies war besonders wichtig bei der Vermögenseinziehung
(kessho) : sie erstreckte sich nicht auf das Vermögen der Frau,
Kamporitsu a. 27 Z. 1 und 3.
§ 12.
Das Concubinat ist in dem neuen Gesetze nicht als
Rechtsinstitut anerkannt. Die Concubinenkinder hiessen tsosi ;
das bedeutet jetzt: anerkannte uneheliche Kinder überhaupt,
im Gegensatz zu den sisesi, den heimlichen Kindern, die vom
Vater nicht anerkannt sind (§ 95, 96, 98).
Früher bestand das Concubinat, wenigstens in den höheren
Klassen, ähnlich wie in China ^^^).
28 ij Vgl. Weiperi S. 107 f.; vgl. auch die Bemerkungen zu dem
Friedrichs'schen Aufsatze S. 361. Die rechtliche Anerkennung ergibt
sich schon aus dem Taihorio, sodann aus der Tokugawagesetzgebung;
so aus den hundert Gesetzen des lyeyasu, wornach der Mikado 12, die
Fürsten 8, die Taifu 5, die Samurai 2 Nebenweiber haben dürfen (Ru-
dorff, Tokugawagesetzsammlung S. 13), und noch im Kamporitsu
a. 48 Z. 12 (Rudorff, Kamporitsu S. 22) wird der Ehebruch der
Nebenfrau dem Ehebruch der Frau gleichgestellt. Vgl. auch noch
Hering in den Mittheil, der deutschen Gesellsch. f. Ostasien V (Heft 41)
S. 23. Die Concubinen des Mikado hiessen früher niogo, über ihnen stand
die chiugu, das zweite Weib. Die Fuj iwaras (Hausmeier vor Yoritomo's
Zeit) wussten die Mikados an sich zu ketten, indem sie ihnen ihre
Töchter als Concubinen oder als zweite Frauen gaben, Adams Ip. 26.
Auch schon in Japans ältester Zeit hatte der Mikado mehrere Weiber
und Concubinen, wie aus verschiedenen Stellen des Koj iki hervorgeht,
s. XXV, LXXVI, CIV, CXXn (Chamberlain in den Transactions X, 2
p. 80 f., 202, 240, 370 f.). Vgl. auch noch Dalmas, Les Japonais p. 159.
Kohler. Studien aus dem japanischen Recht. 449
Dagegen war es, wie in China^ auch früher schon Vor-
schrift; dass man nur eine Hauptfrau haben durfte; es wurde
ausdrücklich für strafbar erklärt , eine zweite Hauptfrau zu
nehmen, ehe man der ersten den Scheidungsbrief zugestellt
hatte, Kamporitsu a. 48 Z. 15 ^s^),
§ 13.
Die Ehescheidung ist nunmehr in modern occidentaler
Weise gestaltet. Früher galt das Confuzianische Recht^^^).
Die Frau konnte sich wieder verheirathen im Falle der Ver-
schollenheit des Mannes; über diesen Punkt bestimmte das
Kamporitsu a. 44: 10 Monate, nachdem der Mann, der keine
Nachricht giebt, als verschollen zu betrachten ist, kann die Frau
um Gestattung der Wiederverheirathung nachsuchen; später
(1874) wurde nach 2 Jahren die Wiederverheirathung ge-
stattet ^s*).
Auch die Ehescheidung war nach dem Osadamegaki
a. 50 Z. 2 innerhalb 6 Monaten öffentlich anzumelden ^^^).
282) Vgl. auch Küchler p. 133, ferner oben S. 402; K. Kishi S. 14.
2^^) Rechtsvergl. Studien S. 198. Vgl. auch Hering in den Mit-
theilungen der deutschen Gesellsch. f. Ostasien V (Heft 41) S. 41;
Weipert S. 104, Küchler p. 130. Die Geltung desselben geht in die
Periode Taiho d. h. in der Periode der grossen Reception des chine-
sischen Rechts zurück, Küchler p. 130. Im ursprünglich japanischen
Rechte scheint der Mann ein freies Scheidungsrecht gehabt zu haben,
Chamberlain in den Transactions X, 2 p. XL.
284) Früher (vermuthlich nach der Taihogesetzgebung) scheinen
längere Wartefristen bestanden zu haben; 5 Jahre, wenn Kinder vor-
handen, sonst 3.
28^) Vgl. auch Küchler p. 132.
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. X. Band, 29
Dr. G. A. Wilkeii f-
Am 28. August 1891 hat die vergleichende Rechts-
wissenschaft durch den Tod von G. A. Wilken in
Leyden einen unersetzlichen Verlust erlitten. Er, der
wissenschaftliche Vermittler vom Osten und Westen
der Niederlande, der, wie kein Anderer, die Seele und
das Recht der indonesischen Völker durchschaute, der
mit einer einzigartigen Kenntniss der einschlägigen
Literatur und einer innigen Vertrautheit mit den
Principien der ethnologischen und der juristischen
Wissenschaft einen durchdringenden Verstand und einen
eisernen Fleiss verband, der wie die ethnographische,
so auch unsere juristische Kenntniss von den malaiischen
Völkern innerhalb eines Jahrzehntes auf eine Höhe ge-
hoben hat, die uns noch für lange unerreichbar
schien — er ist nicht mehr.
Ein Kind des Orientes, wurde er am 13. März 1847
zu Tombon auf Celebes geboren; sein Vater war
der um die Linguistik der malaiischen Völker hoch-
verdiente P. N. Wilken, seine Mutter eine einheimische
Christin aus der Familie Hoed. Mit 12 Jahren nach
Europa gebracht, genoss er hier seine Schulbildung
und bereitete sich für den indischen Dienst vor, in
dem er von 1869 bis 1880 wirkte, nacheinander in
Buru, Limbotto, Ratahan und Sipirok ; so lernte er jene
Dr. G. A. Wilken ■[. 451
Völker aus unmittelbarer Anschauung kennen, und es
bedurfte nur der wissenschaftlichen Weiterarbeit, um
die hier erlangte mächtige Anregung zur Geltung zu
bringen und den Völkern, die er aus lebendigem Um-
gange verstand, eine eindringliche Darstellung zu
widmen. Dies erfolgte nun auch in reichstem Masse.
Im Jahre 1880 mit Urlaub nach Europa zurück-
gekehrt, widmete er sich in Leyden so eifrigen Studien,
dass er bereits 1881 zum Leiter der Anstalt für indische
Beamte bestellt wurde; im Jahr 1884 von der Uni-
versität Leyden zum doctor honoris causa ernannt,
folgte er das Jahr darauf dem hochverdienten Veth
auf dem Lehrstuhle für Sprachen-, Land- und Völker-
kunde des indischen Archipels an der Universität Leyden.
Damals, am 16. September 1885, zeigte er seine
tiefe Hinneigung zur Jurisprudenz : seine Inaugural-
rede handelte von der vrucht van de beoefening der
ethnologie voor de vergelijkende rechtswetenschap.
Von 1883 an entwickelte er eine staunenswerthe
literarische Thätigkeit; Abhandlung folgte auf Ab-
handlung, bald mehr dem Bereich der Ethnologie an-
gehörig, bald tief in das juristische Gebiet einschlagend.
Doch die Zeit seines Wirkens war gemessen.
Der Sohn der südlichen Sonne war weder dem nörd-
lichen Klima, noch den unerhörten Anstrengungen des
Forscherlebens gewachsen. Noch wollte er im Anfang
dieses Jahres an einer wissenschaftlichen Expedition
theilnehmen, sein Heimathsland wieder besuchen —
vielleicht hätte ihm dies Linderung gebracht. Es sollte
nicht mehr geschehen. Ein Lungenleiden warf ihn Ende
Juni 1891 auf das Krankenlager und am 28. August
erlöste ihn der Tod von allen Leiden des Erdendaseins.
452 Dr. G. A. Wilken f.
Abgesehen von seinem holländisch und deutsch
geschriebenen Werke über das Matriarchat bei den
alten Arabern und einer Vertheidigung dieser Schrift,
bewegen sich seine Arbeiten fast durchgängig auf dem
Gebiete des indonesischen Lebens nach seinen ver-
schiedenen Richtungen hin ; überall staunt man über
die Beherrschung des Materials, über die scharfe Durch-
führung grosser Gesichtspunkte, über die Klarheit und
Sicherheit der Darstellung. Die meisten dieser Arbeiten
sind in dem Indischen Gids und in den Bijdragen tot de
taal-, land- en volkenkunde van Nederlandsch Indie
erschienen. Zu den mehr ethnologischen Schriften, die
aber vielfach das Recht berühren, gehört insbesondere
seine schöne Darstellung des Animismus bei den
Völkern des indischen Archipels, an die sich der Artikel
über die Beziehungen zwischen Menschen-, Thier- und
Pflanzenleben anschliesst; sodann eine Reihe weiterer
Artikel in den Bij dragen tot de taal-, land- en volkenkunde :
über die Beschneidung, die Zahnfeilung, die Schädel-
verehrung, die Couvade, die Albinos, das Zählen nach
Nächten, den Schamanismus im indischen Archipel u. a.
Das Gebiet des Rechts betritt er nicht nur in
seiner gedachten Inauguralschrift und in seiner Ab-
handlung über die Rechtsbegriffe des Ostens und
Westens, sondern auch in einer Reihe tiefgehender
Einzelforschungen, die für die vergleichende Rechts-
wissenschaft epochemachend geworden sind. Sie lassen
sich in drei Gruppen theilen :
Einmal die schöne Abhandlung über das Straf-
recht bei den Völkern der malaiischen Rasse, worin
zugleich der Strafprocess und namentlich auch das
Ordalwesen ausführlich behandelt wird.
Dr. G. A. Wilken f. 453
Sodann die Abhandlung über das Pfandrecht bei
den Völkern des indischen Archipels^ welche zugleich
einen lehrreichen Beitrag zum Schuldrecht bietet.
Die grössten Verdienste aber hat er um die Ent-
hüllung der Ehe-; Familien- und Erbrechtsverhältnisse
dieser Völker: die verschiedenfachsten Ehe- und Familien-
formen mutterrechtlicher wie vaterrechtlicher Art mit
ihren mannigfachen Zwischenstufen, sowie die Entwick-
lung von der einen Form zur andern hat er mit höchster
Meisterschaft dargelegt. Wir haben hier ein Stück
Bilduugsgeschichte vor uns, wie es uns wenige Rechts-
materien bieten: die Gesetze des Werdens lassen sich be-
lauschen, das innere Wesen der Völkerentwicklung liegt
vor unseren Augen. Und das Verdienst des Forschers ist
um nichts geringer, wenn auch gesagt werden muss,
dass das Material schon an und für sich so ausser-
ordentlich belehrend ist, dass kaum eine Völkergruppe
so reiche und fruchtbare Daten liefert: es gehörten
eben die Kenntnisse und der Feuereifer Wilken's dazu,
die Fülle der Daten zu verarbeiten. Immer wieder
kam er auf dieses Lieblingsgebiet zurück. So entstand
der Aufsatz über die Verwandtschaft, das Ehe- und Erb-
recht der Völker der malaiischen Rasse (1883), über ihre
Verlobungs- und Hochzeitsgebräuche (1886), über die
Verbreitung des Mutterrechts auf Sumatra (1888), über
die Ehe zwischen Blutsverwandten (1890), über Ehe- und
Erbrecht bei den Völkern auf Süd-Sumatra (1891); theil-
weise gehört hierher auch seine in der Revue Coloniale
erschienene Schrift über das Haaropfer und die Trauer-
gebräuche bei den Völkern Indonesiens (1886, 1887) ^).
^) Verschiedene dieser Schriften sind in dieser Zeitschrift
besprochen, V S. 458 f., VI S. 409 f.
454 I>r. G. A. Wilken f
Selbst voller Streben, erkannte er willig fremdes
Verdienst an ; die Leistungen Riedel's fanden in ihm
einen eifrigen Fürsprecher, die deutschen Kechtsforsch-
ungen wusste er nicht nur gerecht, sondern auch
wohlwollend zu würdigen; stets auskunftsbereit, zeigte
er sich als freundlichen liebevollen Genossen im Felde
des wissenschaftlichen Wirkens.
Was dieser Mann noch hätte leisten können ! Wir
müssen uns damit getrösten, dass all unser Forschen
Stückwerk ist und einem jeden die Zeit kommt, wo
ihm die Feder entfällt und wo der Engel des Todes
seine Stirne küsst. Glücklich, wer, wie der Verblichene,
sagen kann, dass er nicht nur Glänzendes, sondern auch
Grosses und Dauerndes geschaffen hat.
Berlin, Deccmber 1891. Kohl er.
XI.
Das schweizer. Bundesgesetz betr. die civilrechtlichen
Verhältnisse der Niedergelassenen und Aufenthalter
vom 25. Juni 1891, (publizirt im B.Bl. l^r. 34, 19. August 1891.
Ablauf der Einspruchsfrist 17. l^ovember 1891) ^).
Von
Stadtrath F. Schlatter in Zürich.
Das vorwürfige Gesetz ordnet einen Theil des internationalen
Privatrechts, die Frage der sogenannten Statutencollision und
zwar 1. für die Schweizer in der Schweiz, 2. für die Schweizer im
Auslande, 3. für die Ausländer in der Schweiz. Die nachstehenden
Erörterungen fussen in der Hauptsache auf den Verhandlungen der
eidgenössischen Räthe und den diesen Verhandlungen zu Grunde
liegenden Botschaften und Kommissionsberichten. (Vgl. S. 457.)
I. Für die Schweizer in der Schweiz war das Gesetz
längst ein Bedürfniss. Wir haben in der Schweiz 25 Staaten (19 Kan-
tone und 6 Halbkantone) und in jedem derselben eine eigene Gesetz-
gebung, eine eigene Rechtssprechung. Versetzen wir uns in die Zeit vor
Erlass des Gesetzes, so bietet sich folgendes Bild. Die einen Kantone
wollen in einer Reihe von sehr wichtigen rechtlichen Beziehungen,
z. B. im Vormundschaftswesen, im Erbrecht, im ehelichen Güterrecht
ihrer Gesetzgebung alle Diejenigen unterworfen wissen, welche ihnen
bürgerrechtlich angehören, gleichviel ob sie in- oder ausserhalb
der Kantonsgrenzen wohnen. Die andern Kantone erstrecken ihre
Gesetzgebung auf alle Diejenigen , aber auch nur auf Diejenigen,
welche auf ihrem Gebiet leben, mögen sie im Kantonsbürgerrecht
stehen oder nicht. Jene huldigen dem Nationalitäts- oder Heimaths-
princip, diese dem Territorialitäts- oder Wohnsitzprincip. Es ist
klar, dass die Kantone der letzteren Gruppe bei der Durchführung
^) Die Frist ist inzwischen abgelaufen, ohne dass Einspruch er-
hoben wurde. Das Gesetz ist somit definitiv ansrenommen.
45(3 Schlauer.
ihres Grundsatzes niemals auf Schwierigkeiten stossen, weil sie
gegen Niemanden Rechte in Anspruch nehmen, der nicht auch ihrer
Jurisdiction unterworfen wäre. Dagegen finden die Kantone der
ersten Gruppe überall da Schwierigkeiten , wo einer ihrer Bürger
in einem Kanton mit Territorialprincip niedergelassen ist, weil sie
thatsächlich nicht im Stande sind, diesem auswärts wohnenden
Bürger beizukommen , wenn er seiner heimathlichen Gesetzgebung
entgehen will und vom Niederlassungskanton unterstützt wird. So
oft aus dieser Sachlage ein Rekurs an die Bundesbehörde entstand,
haben die eidgenössischen Räthe zu Gunsten des Niederlassungs-
kantons entschieden, aus dem einfachen formellen Grunde, weil beim
Mangel einer in anderm Sinne lautenden Bundesgesetzgebung oder
Verständigung kein Kanton gezwungen werden konnte, gegen seinen
Willen die Ausübung fremder Souveränitätsrechte, bezw. die Anwen-
dung einer fremden Gesetzgebung auf seinem Gebiet zu dulden.
Die Bundesversammlung kam daher gar nicht in den Fall, materiell
die Frage zu prüfen, ob für ein gegebenes Rechtsgebiet, z. B. für
das Vormundschaf tswesen oder für das Erbrecht, das Territorial-
oder das Nationalitätsprincip das vorzüglichere, den Verhältnissen
entsprechendere gewesen wäre. Aus formellem Grunde war sie
gezwungen, immer zu Gunsten des Territorialitätsprincips zu ent-
scheiden. In Folge dessen musste das Nationalitätsprincip auf allen
'Gebieten immer unhaltbarer werden und das Territorialitätsprincip
nach und nach das ganze Bundesstaatsrecht erobern, nicht weil
man von dessen ausschliesslicher Richtigkeit überzeugt gewesen wäre,
sondern weil, wie die Einzelfälle sich darstellten , nur dieses Princip
angewendet werden konnte. Diese eigenthümliche und unbefriedigende
Sachlage, wo man, ohne es deutlich zu wissen und zu wollen, förm-
lich in ein Princip hineingetrieben wurde, Hess sich nur beseitigen
durch ein Bundesgesetz, wobei nun einmal materiell zu prüfen war,
ob man wirklich für alle Fälle nach der Territorialität oder der
Nationalität, oder ob man für einzelne Gebiete das eine, für die
übrigen das andere Princip zum Bundesrecht erheben wolle.
Schon 1862 legte daher der Bundesrath den eidgenössischen Räthen
einen Gesetzesentwurf über die Materie vor. Das Gesetz kam aber
nicht zu Stande ; der Versuch scheiterte, weil man sich im Stände-
rath über die Frage , ob für das Erbrecht das Heimaths- oder
Wohnsitzrecht gelten solle, nicht einigen konnte. Der zweite Ver-
D. Schweiz. Bundesges. betr. civilr. Verhältn. d. Niedergelassenen etc. 457
such in den 70er Jahren endigte damit, dass der Nationalrath am
9. Dezember 1879 das Ergebniss seiner zweiten Berathung mit
grosser Mehrheit verwarf, weil es ihm nicht gelungen war, die
allerdings schwierigste Materie, die des ehelichen Güterrechtes, be-
friedigend zu ordnen. Beide Eäthe beschlossen darauf, die Gesetzes-
vorlage („den Wechselbalg" nannte sie die Presse) an den Bundesrath
zurück zu weisen, um sie „in geeignetem Zeitpunkte" wieder ein-
zubringen. Das geschah im Jahre 1887, nachdem der schweizerische
Juristenverein in Lausanne 1884 sich damit beschäftigt hatte. Die
Ergebnisse der Prüfung dieses neuen Entwurfes durch die Kom-
mission des Nationalrathes (B.-Bl. 1888 III 608) , des Ständerathes
(B.-Bl. 1889 III 809) und die Käthe selbst (B.-Bl. 1891 III 572)
fasste der Bundesrath in einer Schlussvorlage zusammen (B.-Bl. 1891,
III 551 und 572). Diese wurde dann am 25. Juni 1891 nach kurzer
Berathung Gesetz (B. Bl. 1891 IV 202). Beinahe 30 Jahre hatte die
ganze legislatorische Arbeit gedauert.
Es ist keineswegs das gesammte Civilrecht, für welches Vor-
schriften über die Statutenkollision aufgestellt werden. Es ist nur
das Personen-, Familien- und Erbrecht, über welches in dieser
Richtung legiferirt wird. Auch von diesem sind es nur gewisse,
weiter unten speciell zu nennende , immerhin sehr wichtige Theile,
für die eine Norm Bedürfniss war. Während der letzten Decennien
sind nämlich in der Schweiz eine Anzahl Bundesgesetze civilrecht-
lichen Inhalts entstanden , welche , weil für alle Kantone gleich-
verbindlich , hinsichtlich der darin behandelten civilrechtlichen
Materien eine Statutenkollision zwischen den Kantonen gegenstands-
los machen. Dahin zählen: das Gesetz betr. Feststellung und Beur-
kundung des Civilstandes und die Ehe vom 24. Dezember 1874 mit
den civilrechtlichen Materien : Eheabschluss , Eheeinsprachen , Ehe-
scheidung, Ungültigerklärung der Ehe, Legitimation vorehelicher
Kinder; ferner das Gesetz betr. die Handlungsfähigkeit vom 22. Juni
1881 ; sodann namentlich das eidgenössische Obligationenrecht vom
14. Juni 1881, welches nur noch ein kleines Gebiet den Kantonen zur
selbständigen Legislation überlässt (z. B. Art. 10, 114, 198, 231, 890,
896, 76). Und erst kürzlich, 1. Januar 1892, hat ein bedeutendes
Rechtsgebiet aufgehört kantonal zu sein und ist schweizerisch ge-
worden ; wir meinen das Betreibungs- und Konkursrecht , in Folge
des in Kraft erwachsenen Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und
Heimathsrecht des Ehe-
manns, des Vaters, des
Adoptirenden.
458 Schlatter.
Konkurs vom 11. April 1889, Das hier besprochene Bundesgesetz
wäre in seinem Haupttheile (Ziffer 1 oben) überflüssig, wenn wir ein
schweizerisches Civilrecht hätten. Allein bis das kommt, können noch
viele Jahre verstreichen. Der Erlass eines Bundesgesetzes war nicht
zu umgehen.
An der Spitze des Gesetzes steht der Satz (Art. 1) , dass die
Personen- , familien- und erbrechtlichen Bestimmungen des Civil-
rechtes eines Kantons Anwendung finden sollen auf diejenigen
Schweizer, welche im Gebiete dieses Kantons wohn en, „nach Mass-
gabe der Vorschriften der folgenden Artikel". Durchgeht man nun
diese folgenden Artikel und stellt die erwähnten Civilrechtsverhält-
nisse zusammen und die dafür angewiesenen Statuten gegenüber,
so gelangt man zu nachstehender Uebersicht:
Status (Art. 8).
Eheliche oder uneheliche Geburt
Wirkunof der freiwilliofen Aner-
kennung oder behördlichen Zu-
sprechung Unehelicher : Adoption
Alimentationsklage .... Wohnsitzrecht des Beklagten.
Eamilien recht.
Persönliche Handluncrsfähisrkeit der
Ehefrau während der Ehe (Art. 7) . Wohnsitzrecht.
Elterliche Gewalt (Art. 9) . . . . Wohnsitzrecht.
Unterstützungspflicht zwischen Ver-
wandten (Art. 9) Heimathsrecht.
Befugnisse der Minderjährigen bei
Berufswahl , Mitspracherecht etc.
(Art. 7) Wohnsitzrecht.
Eheliches Güterrecht (Art. 19—21) . Wohnsitzrecht mit Mo-
dalitäten.
Vormundschaft (Art. 10—18) . . . Wohnsitzrecht i. e. der
Vormundschaftsbe-
hörde.
Erbrecht (Art. 22—27) .... Wohnsitzrecht, even-
tuell Heimathsrecht.
Gerichtsstand für diese Verhältnisse (Art. 2):
Als Regel Gerichtsstand des Wohn-
sitzes.
D. Schweiz. Bundesges. betr. civilr. Verhältn. d. Niedergelassenen etc. 459
Ausnahmen:
1. für Statusklagen \ r^ ■ ^ , , -, -, -tt •
n n. -tr 1 ^ nj. •'■> T (ierichtsstand der Hei-
2. für Vormundschalt über Lan- >
, , T math.
desabwesende j
Zu dieser Uebersicht sind folgende Bemerkungen zu machen.
1. Status. Der Gedanke, dass der Status eines Schweizers
nach seinem heimathlichen Recht beurtheilt werde, gründet sich
auf den engen Zusammenhang der Statusverhältnisse mit der An-
gehörigkeit zu einer Gemeinde, einem Kanton. Selbstverständlich
ist es wohl, sagt schon 1862 der bezügliche Bericht des Bundes-
rathes, dass hinsichtlich der Frage des Bürgerrechtserwerbes durch
Geburt oder nachfolgenden Rechtsakt, wie Legitimation, Adoption,
der Nationalitätsgrundsatz festgehalten werden muss. Denn es
steht natürlich keinem Kanton zu, über das Bürgerrecht eines
andern Kantons zu verfügen. Desshalb wird z. B. vom Gesetz die
gewöhnliche, blos auf Alimente gerichtete Vaterschaftsklage nicht
erwähnt, also dem Heimathsrecht nicht unterstellt; sie hat nur
priv^trechtliche Wirkungen und ist am Wohnort des Beklagten
nach dortigem Recht geltend zu machen.
2. Vormundschaftswesen. Hier greift das Gesetz tief ein
in bestehendes Recht, gewiss zum Heil des Mündels und sehr im
Interesse der Vereinfachung vormundschaftlicher Geschäftsführung.
Nach dem Konkordat vom 15. Juli 1822 galt für 15 Kantone und
Halbkantone (Zürich, Bern, Luzern , Uri, Schwyz, beide Unter-
waiden, Zug, Freiburg, Solothurn, Schaffhausen, beide Appenzell,
Aargau, Tessin, grundsätzlich auch in Basel) hinsichtlich der A^or-
mundschaft das Recht des heimathlichen Kantons des Bevormun-
deten. Das Verhältniss komplizirte sich noch durch Folgendes:
Gegenüber den ausserhalb des Konkordates stehenden Kantonen
wendeten einzelne Konkordatskantone das Wohnsitzrecht an ; bei
ihnen wechselte also der Grundsatz, je nachdem sie einem Konkor-
datskanton oder Nichtkonkordatskanton gegenüberstanden (vergl.
Eugen Huber, System und Geschichte des Schweiz. Privatr. I 91).
Es konnte hiernach eine mehrfache vormundschaftliche Verwaltung
entstehen : über die Person des Bevormundeten in dem einen, über
das Vermögen in einem andern Kanton, ja, über Theile des Ver-
mögens in einem dritten Kanton. Sehr bald einig war man in den
eidgenössischen Räthen , dass künftig nur an einem Orte die Vor-
400 Schlatter.
niundschaft zu führen sei , dass sie dem einen oder dem andern
Kanton , diesem aber ganz und ungetheilt zugeschieden werden
müsse. („Die gleichzeitige Führung der Vormundschaft im Wohn-
sitz- und im Heimathkanton ist unzulässig" Art. 18). Schwieriger
wurde die Frage , ob dem Heimathkanton oder dem Wohnsitz-
kanton der Vorzug zu geben sei.
Folgende Gründe führten dazu , das Heimathsprincip fallen
zu lassen und das Wohnsitzprincip an dessen Stelle zu setzen.
1. Die Zeit, unter der das Konkordat von 1822 entstanden
war, ist von der heutigen durchaus verschieden. Es gab damals
noch keine freie Niederlassung im Innern der Schweiz ; in allen
Kantonen bestanden eine Menge Beschränkungen für Handel und
Gewerbe; Eisenbahnen, DampfschiÖe und Telegraphen existirten
noch nicht, ja, in den meisten Kantonen fehlten sogar ordentliche
Strassenverbindungen. Vormundschaftsfälle ausserhalb der Heimath
waren Seltenheiten. Inzwischen ist nun aber die Zahl der Nieder-
gelassenen in andern Kantonen, die von der Heimath aus vormund-
schaftlich administrirt werden wollen, ganz bedeutend gewachsen.
Die Führung der Vormundschaft auf dem Correspondenzwege ist
für die Behörden eine grosse Last geworden, ja mit ökonomischer
Gefahr verbunden. 2. Es ist gar kein Zweifel, dass die Behörde
des Wohnsitzes des zu Bevormundenden viel besser im Falle ist,
einen passenden, die Mündelinteressen gehörig wahrenden Vormund,
der ja nothwendig in der Nähe des Mündels wohnen muss, aus-
findig zu machen. Sie wird weitaus eher als die Heimathsbehörde in
der Lage sein, die Verwaltung des in ihrem Amtskreise befindlichen
Vermögens zu überwachen ; sie wird viel richtiger, viel schneller und
mit weniger Kosten über wichtige, eine genauere Kenntniss von Per-
sonen und Sachen erfordernde Fragen ihren Entscheid fassen können.
Andererseits freilich lässt sich nicht leugnen, dass ein gewisses
Interesse der Heimathsbehörden an der Art der vormundschaftlichen
Verwaltung besteht. Bekanntlich hat schon die Tagsatzung in der
zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ausdrücklich vorgeschrieben, dass
die Unterstützung verarmter Bürger Sache des Kantons sei, dem sie
bürgerrechtlich angehören. Dieser Grundsatz ist festes eidgenössisches
Recht geworden. Bei den Heimathsbehörden besteht heute noch nicht
ohne Grund ein gewisses Misstrauen, die Behörde des Niederlassungs-
ortes möchte für die Personen und das Vermögen der Bevormundeten
D. Schweiz. Bundesges. betr. civilr. Verhältn. d. Niedergelassenen etc. 461
weniger gut sorgen, als sie selbst. Sie haben ein Interesse, etwaiger
späterer Verarmung vorzubeugen, ein Interesse, das bei jenen fehlt.
Desshalb überträgt denn auch das Gesetz die Führung der Vormund-
schaft allerdings grundsätzlich dem Wohnsitzkanton. („Für die Vor-
mundschaft ist unter Vorbehalt der Bestimmungen der Art. 12 — 15
ausschliesslich massgebend das Recht des Wohnsitzes der Person,
welche unter Vormundschaft zu stellen ist, oder über welche eine
Vormundschaft bereits bestellt ist." Art. 10). Es sichert aber der
Heimathsbehörde gegenüber dieser vormundschaftlichen Verwaltung
gewisse, ziemlich weitgehende Rechte.
Die Heimathsbehörde erhält nicht nur das Recht , die Bevor-
mundung ihres Angehörigen im Falle des Bedürfnisses von der
Wohnsitzbehörde zu verlangen (Art. 14) , sondern auch das Recht,
die vormundschaftliche Verwaltung der Wohnsitzbehörde einer be-
ständigen Controle zu unterwerfen ; also : Pflicht zur Mittheilung
vom Eintritt und von der Aufhebung einer Vormundschaft und vom
Domicilwechsel des Bevormundeten , Pflicht , auf Anfragen über
irgendwelche Verhältnisse des Bevormundeten Aufschlüsse zu geben
(Art. 12). Noch mehr. Falls sich ergeben sollte, dass die Interessen
des Bevormundeten oder die Interessen der Heimathsgemeinde durch
jene Verwaltung gefährdet werden, oder dass die Wohnsitzbehörde
nach den gegebenen Umständen von Anfang an oder in der Folge
gar nicht in der Lage ist, die Verwaltung richtig zu führen,
so soll die Heimathsbehörde die Abtretung der Vormundschaft
verlangen können (Art. 15). Ja, in einem Punkte (zur Ver-
hütung der Proselitenmacherei) wird der Heimathsbehörde ge-
radezu die Befugniss einer positiven Einwirkung auf die Führung
der Vormundschaft zugestanden : sie kann nach Massgabe und inner-
halb der Grenzen der Art. 49 Satz 3 der Bundesverfassung („Die
„Glaubens- und Gewissensfreiheit ist unverletzlich. Niemand darf
„zur Theilnahme an einer Religionsgenossenschaft oder an einem
„religiösen Unterricht, oder zur Vornahme einer religiösen Hand-
„lung gezwungen, oder wegen Glaubensansichten mit Strafen irgend
„welcher Art belegt werden. Ueber die religiöse Erziehung der
„Kinder bis zum erfüllten 16. Altersjahr verfügt im Sinne vor-
„ stehender Grundsätze der Inhaber der väterlichen oder vormund-
„ schaftlichen Gewalt") über die religiöse Erziehung eines am Wohnorte
unter amtlicher Vormundschaft stehenden Kindes bestimmen (Art. 13).
462 Schlatter.
Sollte zwischen den beiderseitigen Behörden eine auf gütlichem Wege
nicht zu beseitigende Meinungsverschiedenheit bestehen , so haben
über die Anträge und Begehren der Heimathsbehörde auf Grund
des Wohnsitzrechtes allerdings zuerst die zuständigen Organe des
Wohnsitzkantons, in letzter Instanz aber das Bundesgericht als
Staatsgerichtshof, d. li. in Anwendung des für staatsrechtliche Ent-
scheidungen vorgeschriebenen Verfahrens zu urtheilen. Dem Bundes-
gerichtspräsidenten wird in der eidgenössischen Instanz auch die
Competenz zum Erlass vorsorglicher Verfügungen eingeräumt
(Art. 16).
3. Elterliche Gewalt. Für das Elternrecht gelten natur-
gemäss im Allgemeinen die nämlichen Gesichtspunkte wie für die
Vormundschaftspflege öffentlicher Natur. Nachdem man also für
das Vormundschaftswesen das Wohnsitzprincip als massgebend er-
klärt hatte, führte dies konsequenterweise dazu, im Elternrecht das
gleiche Princip aufzustellen. Also Wohnsitzrecht in den Rechts-
verhältnissen zwischen Eltern und Kindern , der Erziehungspflicht
(religiöse und berufliche Erziehung, Schulunterricht, Züchtigungs-
recht), der Aussteuerpflicht im Fall der Verehelichung des Kindes,
der natürlichen Vormundschaft, der Rechte am Vermögen und Er-
trage der Arbeit des Kindes, der Sicherstellung des Kindesvermögens.
Und zwar musste sich das um so mehr empfehlen, als im Fall die
natürliche Vormundschaft fallen und durch die öffentliche ersetzt
werden sollte, das nämliche Landesrecht massgebend blieb. Kein Be-
dürfniss für die Unterstellung unter das Wohnsitzrecht, ja, ein
Bedürfniss für die Unterstellung unter das Heimathsrecht besteht
hingegen für einen gewissen Bestandtheil des in Rede stehenden
Rechtsinstitutes , die Unterstützungspflicht zwischen Eltern und
Kindern, oder allgemeiner gesprochen für die Unterstützungspflicht
zwischen nahen Verwandten überhaupt. Hier ist ein Zusammen-
hang mit dem Bürgerrecht des Pflichtigen vorhanden , das diesem
gegenüber einer Gemeinde, einem Kanton zusteht. Die Rechte der
deutschen Kantone behandeln die Materie bekanntlich in der Armen-
gesetzgebung, diejenigen der romanischen Schweiz verweisen sie in
das Privatrechtssystem. Wegen dieses Zusammenhangs zwischen
verwandtschaftlicher und heimathlicher Unterstützungspflicht war es
gerathen , das Heimathsrecht für massgebend zu erklären. Das
Gesetz sagt daher: ,Die elterliche Gewalt bestimmt sich nach
D. Schweiz. Bundesges. betr. civilr. Verhältn. d. Niedergelassenen etc. 463
dem Reclit des Wohnsitzes. Die Unterstützungspflicht zwischen
Verwandten richtet sich nach dem heimathlichen Rechte des ünter-
stützungspflichtigen " (Art. 9). (Näheres über jenen Zusammenhang
bei Blnntschli, Staats- und Rechtsgeschichte. Auflage 1839 II. 220 f.)
4. Eheliches Güterrecht- In den Kantonen galten be-
züglich des massgebenden Rechtes verschiedene Grundsätze. Zürich,
Zug und Schaffhausen, mit einer Unterscheidung auch Luzern, an-
erkannten für das Güterrecht das Heimathprincip für niedergelassene
Eheleute ausdrücklich an. Die Urkantone, Basel, Freiburg und
Genf, folgten demselben Grundsatze. Dagegen huldigten Bern, Solo-
thurn, Aargau, Tessin, Thurgau, St. Gallen, Glarus, sowie die
Mehrzahl der westschweizerischen Kantone, immerhin nicht ohne
Modifikationen und Schwankungen im Güterrecht, dem Territorial-
princip. Bekanntlich fügt sich aber das Institut des ehelichen
Güterrechtes seiner juristischen Natur nach keineswegs in die
Alternative : Wohnsitzrecht oder Heimathrecht , sondern die Alter-
native lautet : Wohnsitzrecht oder (vertraglich oder gesetzlich) bereits
begründetes Eherecht. Dazu kommt weiter, dass jedes eheliche Güter-
recht eine interne und eine externe Seite hat. Es ist dazu bestimmt,
unter zwei Personen (den Ehegatten) ein dauerndes, festes Rechts-
verhältniss zu schaffen ; zugleich erzeugt es aber auch nach Aussen,
gegenüber Dritten Rechtswirkungen. Der schweizerische Gesetzgeber
unterscheidet daher drei verschiedene Interessen: 1. Die Eheleute
und ihr Güterrecht untereinander, 2. die Eheleute und ihr Güter-
recht nach Aussen , 3. die wohlerworbenen Rechte Dritter. Für
die Eheleute untereinander wird das Verhältniss nach dem neuen
Bundesgesetz geordnet durch dasjenige Recht, welches an ihrem
ersten Wohnsitz gilt. Wechseln die Leute den Wohnsitz, so bleibt
das Güterrecht. Nur wenn sie wollen , können sie das Güterrecht
des neuen Wohnsitzes dann zu dem ihrigen machen. Dazu bedarf es
aber vertraglicher Uebereinkunft und Eröffnung derselben vor einem
bestimmten Beamten unter quasi vormundschaftlicher Mitwirkung
der Behörde. Dann wirkt es aber für sie zurück auf den Beginn
der Ehe; es ist, als wäre von Anfang an dieses Güterrecht für sie
das massgebende gewesen und kein anderes. Vorbehalten bleiben
allfällig inzwischen für Dritte durch besonderes Rechtsgeschäft er-
worbene Rechte. So das Verhältniss nach Innen. Nach Aussen,
d. h. gegenüber den Pfandgläubigern und gegenüber den Gläubigern
4G4 Schlatter.
im Konkurse des Mannes, ist dies System gar nicht vorhanden ; da
gilt das Recht des jeweiligen Wohnsitzes. — Man kann sagen, den
Interessen des Verkehrs wird hier die Einheit des Rechtes geopfert,
eine Spaltung herbeigeführt. Eine solche Spaltung ist juristisch
nicht empfehlenswerth. Allein sie erscheint auch nicht gerade als
juristisch unzulässig. Die Sorge für die Rechtssicherheit muss
überwiegen , das Publikum muss wissen , woran es ist in Be-
zug auf die Verpflichtungsfähigkeit der Ehegatten, die vor ihm
stehen. Wenn sich Schwierigkeiten aus dieser Art gesetzlicher
Regelung ergeben, so wird das nicht in Beziehung zu Drittpersonen,
sondern nur im Verhältniss der Gatten untereinander vorkommen
können und dann wird allerdings in der Regel die Ehefrau der
leidende Theil sein. Doch dürften die Fälle, wo der Ehemann gegen
seine Frau einen Vertrauensmissbrauch begeht (z. B. zu Gunsten
von Gläubigern über das Vermögen der Frau verfügt, gemäss dem
Gesetze des gegenwärtigen Wohnsitzes und zuwider demjenigen
des ersten ehelichen Domicils, oder entgegen den Bestimmungen des
Ehevertrages), nicht sehr häufig sein, wie denn auch der Frau gegen
Gefährdungen ihres Vermögens nach den Gesetzgebungen der Kan-
tone bestimmte rechtliche Schutzmittel zu Gebote stehen oder noch
aufgestellt und geschaffen werden können. Abgesehen davon hat
die Frau bei diesem Systeme den unverkennbaren Vortheil, dass
das einmal begründete Recht ihr ohne Weiteres umwandelbar überall
hin folgt. Nur wenn sie selbst dem Recht eines neuen Wohnsitzes
sich unterwerfen will, tritt die Aenderung ein, auch nicht gebunden
an Fristen und immer bloss dann, wenn sie eine Erklärung abgibt,
wobei ihr die zum Schutz gegen den Ehemann bestimmte, quasi
vormundschaftliche Mitwirkung der Behörden des neuen Wohnsitz-
kantons zur Seite steht. „Die Rücksicht auf die öffentlichen
Kreditverhältnisse scheint uns wichtiger zu sein" (sagt der Bundes-
rath in seiner Botschaft zum Gesetzesentwurf von 1862), „als die
Gefahr, die etwa in einzelnen Fällen für eine Ehefrau aus der An-
nahme des Territorialgrundsatzes sich ergeben mag und der wir
desshalb ein so grosses Gewicht nicht beilegen können, weil im
Ganzen genommen die Interessen der Ehegatten während bestehender
Ehe Hand in Hand zu gehen pflegen." Und der Kommissionsbericht
vom 29. Mai 1863 sagt ganz richtig: „Es ist nicht zu erwarten,
dass das Publikum, mit welchem ein niedergelassenes Ehepaar ver-
D. Schweiz. Bundesges. betr. civilr. Verhältn. d. Niedergelassenen etc. 465
kehrt, die ehelichen Güterrechte aller 22 Kantone kenne; man
nimmt eben gemeinhin an , die Verpflichtung der Frau zur Be-
zahlung der Schulden des Ehemannes sei die gleiche, wie sie nach
den Gesetzen des Ortes, wo man lebt, geregelt ist."
5. Erbrecht. Wir haben in der Schweiz noch 25 verschiedene
Erbrechte. Sieht man dieselben näher an, so liegt die Yerschieden-
heit weniger im Gebiete des Intestaterbrechtes, als in dem der
testamentarischen Erbfolge. Es ist die Frage der Ausdehnung der
Testirfreiheit, der Möglichkeit, das Erbgut ganz oder theilweise den
regelmässigen Erbberechtigten zu entziehen, worin die Kantone stark
von einander abweichen. Einzelne Kantone dehnen die Testirfrei-
heit sehr weit aus , andere lassen sie fast gar nicht oder nur in
beschränktem Masse zu. Massgebend ist für diese Verhältnisse in
den meisten Kantonen (Zürich , Bern , Luzern , Uri , Schwyz , beide
Unterwaiden , Glarus , Solothurn , Schaffhausen , beide Appenzell,
Aargau, Thurgau, Tessin) das Heimathsprincip. Gegenüber den
Nichtkonkordatskantonen huldigen einzelne Konkordatskantone dem
Territorialgrundsatze und die Nichtkonkordatskantone entbehren in
ihren Beziehungen zu einander und zu den Konkordatskantonen
einer festen Regel und Praxis, neigen sich indessen in der Mehr-
zahl der Anwendung des strengen Territorialgrundsatzes zu. Die
Folge ist ein Auseinanderreissen dessen, was zusammengehört und
durch eine einheitliche Rechtsnorm fest zusammengekittet sein sollte,
nämlich der Erbschaft. Die Einheit der Erbschaft wird preis-
gegeben und es kommt vor , dass für das in mehreren Kantonen
gelegene Vermögen besondere Erbmassen gebildet werden und die
Erbfolge in einer und derselben Verlassenschaft eine mehrfache,
nach den betreffenden Kantonalgesetzen verschieden ist. — Für die
Neuordnung der Dinge kamen nun in den eidgenössischen Räthen
wesentlich zwei Gesichtspunkte in Betracht: 1. die Einheit der
Universitas : Nur nach einem Erbrecht soll geerbt werden , nur
eine Behörde soll den Nachlass reguliren. 2. die Entscheidung für
das Wohnsitzprincip unter Gewährung einiger Zugeständnisse an
das Heimathsprincip, die jedoch den unter Ziffer 1 aufgestellten
Grundsatz nicht alteriren. Zwar wurden in den Debatten ganz
gute Gründe für das Heimathsprincip geltend gemacht: In der
Heimath wohne die Sippe des ausgewanderten Erblassers und
um deren Interessen handle es sich ; in der Heimath liegen die
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. X, Band. 30
400 Schlatter.
Register, nach denen der Stammbaum anzufertigen ist, auf Grund
dessen die Erben berufen werden ; es sei nicht schwierig für den
Erblasser, ein anderes Kantonsbürgerrecht zu erwerben, wenn ihn
das Erbgesetz der Heimath mit seinen Härten beim Testiren genire^
das Heimathsprincip sei bereits für die vielen Konkordatskantone
verbindlich und auch in den Staatsverträgen mit Italien (1868) und
Frankreich (18G9) niedergelegt worden. Andererseits niusste man
sich jedoch sagen, es sei eigentlich kein innerer Grund vorhanden,
einen Erblasser an sein (in manchen Kantonen grosse Härten ent-
haltendes) heimathliches Erbrecht zu fesseln, ihn zu nöthigen, im
Alter noch die Staatsangehörigkeit zu wechseln , um nach Wunsch
testiren zu können; im Zweifel solle man sich hier zu Gunsten der
Freiheit des Individuums entscheiden ; eine Reihe von Kantonen sei
im Verlaufe von dem das Heimathsprincip sanktionirenden Konkordate
vom 15. Juli 1822 zurückgetreten; die Liquidation der Erbschaft ge-
stalte sich unter dem Wohnsitzprincip ungleich einfacher und rascher.
So gelangte man zu folgenden Grundsätzen. Massgebend
ist für die Erbfolge (gesetzliche, testamentarische, vertragliche) das
Recht des Kantons , in dem der Erblasser seinen letzten Wohn-
sitz hatte. Er kann , wenn er es wünscht , letztwillig (durch
Testament, Erbvertrag) für die Erbfolge in seinen Nachlass das
Recht seines Heimathskantons massgebend machen. Dann muss
er es letztwillig anrufen. Hat er das nicht gethan , so gilt das
Recht des letzten Wohnorts. — Erbverträge sollen übrigens hinsicht-
lich ihres Inhaltes nach dem Recht des Wohnsitzes des Erblassers
zur Zeit des Vertragsabschlusses beurtheilt werden ; nur hinsicht-
lich des Notherbrechtes bleibt auch bei ihnen das für die Erbfolge
vorgeschriebene Recht (das des letzten Wohnsitzes, beziehungsweise
das angerufene heimathliche Erbrecht) massgebend. — Betreuend die
Form der letztwilligen Verfügungen genügt es, wenn sie gültig ist
nach irgend einem der in Betracht kommenden Rechte : des Er-
richtungsortes, des Wohnsitzes zur Zeit der Errichtung, des Wohn-
sitzes zur Zeit des Todes, des Heimathskantons. Die Eröffnung der
Erbschaft erfolgt immer am letzten Wohnsitz des Erblassers. Die
Testirfähigkeit beurtheilt sich nach dem Rechte des Wohnsitzes zur
Zeit der Errichtung des letzten Willens.
6. Gerichtsstand. Da in den Kantonen, je nachdem sie
dem Wohnsitzrecht oder dem Heimathrecht huldigten, auch die
D. Schweiz. Bundesges. betr. civilr.Verhältn. d. Niedergelassenen etc. 467
Frage des Gerichtsstandes im entsprechenden Sinne bestimmt
war, so konnte das Bundesgesetz bei der Entscheidung über
die Statutenkollision nicht stehen bleiben ; es musste über das
materielle Recht hinausgehen und auch mit jenen Bestimmungen
aufräumen. Dies geschieht nun durch Art. 2, lautend: „Wo dieses
Gesetz nicht ausdrücklich den Gerichtsstand der Heimath vorbehält,
unterliegen die Niedergelassenen und Aufenthalter in Bezug auf
die in Art. 1 erwähnten civilrechtlichen Verhältnisse der Gerichts-
barkeit des Wohnsitzes". Man findet im Gesetz dieser Ausnahmen
nur zwei. Die Behörden des Heimathskantons sind zuständig:
1. für Streitigkeiten über den Familienstand, 2. für die Bestellung
der Vormundschaft über eine auswandernde oder landesabwesende
Person.
Zum Schluss die Bemerkung, dass die im Gesetz vorkommende
Unterscheidung von „Niedergelassenen" und „Aufenthaltern" civil-
rechtlich ohne Bedeutung ist. Es ist eine Unterscheidung des
öffentlichen Rechtes; der Aufenthalter ist im Stimmrecht und in
der Steuerpflicht anders gehalten als der sesshafte Einwohner. Die
früheren Entwürfe des vorliegenden Gesetzes behandelten zugleich
auch die Steuerpflicht, ein Gebiet, das im Verlaufe der Debatten in
den Käthen ausgeschieden ward , während im Text die geläufigor.
Namen „Niedergelassene" und „Aufenthalter" statt „Einwohner"
stehen blieben. Civilrechtlich ist zwischen Niedergelassenen und
Aufenthaltern in der Schweiz kein Unterschied.
II. Schweizer im Aus lande. Es waren namentlich die
Bemerkungen und Mittheilungen des schweizerischen Ministers in
Paris, welche die Aufmerksamkeit des eidgenössischen Justiz- und
Polizeidepartements auf die civilrechtlichen Verhältnisse der
Schweizer im Auslande gelenkt hatten. Der Vertrag mit Frank-
reich vom 15. Juli 18G9 enthält eine internationale Regelung
prozessrechtlicher Materien. Eine Reihe von Fragen des inter-
nationalen Rechtes wird durch denselben nicht gelöst. Speziell war
es auch hier wieder das eheliche Güterrecht, das am meisten An-
lass zu Controversen bot. Wenn z. B. schweizerische Eheleute nach
Frankreich zogen, so wurden dort gemäss den Grundsätzen des Code
Napoleon das Güterrecht, die Handlungsfähigkeit und der Familien-
stand derselben nach den Gesetzen ihrer Heimath beurtheilt. Wie
nun, wenn in der Heimath selbst Niemand recht wusste, was galt?
• 108 Schlatter.
Wie, wenn die Elieleute während ihres Aufenthaltes im Heimaths-
staate keineswegs dem Rechte ihres Heimathkantons, sondern dem-
jenigen eines anderen Kantons unterstellt waren, das von jenem
vielleicht gründlich verschieden? Wie, wenn sie in mehreren Kan-
tonen das Heimathsrecht hatten? So kam es vor, dass der franzö-
sische Richter über das anzuwendende Recht, z. B. in Fragen der
Verfügungsbefugniss des einen oder anderen Ehegatten bei Rechts-
geschäften unter Lebenden, in absoluter Ungewissheit war, und was
noch bedenklicher, beim Repräsentanten des Landes sich darüber
nicht Raths erholen konnte.
In vier Artikeln (Art. 28—31) werden nun die Verhältnisse
wie folgt geordnet.
1. Ln allgemeinen soll es in erster Linie darauf ankommen, ob
in dem Lande ein Staatsvertrag mit der Schweiz existirt , und ob in
ihm etwas darüber bestimmt ist, welches Recht und welcher Richter für
die personen-, familien- oder erbrechtlichen Verhältnisse der Schweizer
in dem betreffenden auswärtigen Staate massgebend sein sollen. Ist
das der Fall, so gilt, was dort steht. Lassen die Staatsverträge die
Frage offen , so muss man nachsehen, ob die Frage auch nach den
ausländischen Gesetzen eine noch offene ist. Wenn ja, sollen für
die personen-, familien- und erbrechtlichen Verhältnisse Recht und
Gerichtsstand des Heimathkantons Platz greifen, weil wegen
Mangel eines Wohnsitzes in der Schweiz kein Wohnsitzrecht (schwei-
zerisches) , sondern nur heimathliches Recht in Betracht kommen
kann. Erklärt hingegen das ausländische Gesetz den Schweizer im
Ausland in seinen personen-, familien- oder erbrechtlichen Verhält-
nissen sich unterworfen , so soll wenigstens in Fällen , wo es sich
hinsichtlich dieser Fragen um Liegenschaften handelt, wenn diese
in der Schweiz liegen, das Recht und der Richter des Heimaths-
kantons massgebend sein.
2. Speziell für Vormundschaftsfälle wird sodann noch be-
stimmt: „Wenn bevormundete Schweizer die Schweiz verlassen, so
wird die Vormundschaft, so lange der Grund der Bevormundung
fortbesteht, von der bisherigen Vormundschaftsbehörde fortgeführt.
Die in Art. 15 der heimathlichen Vormundschaftsbehörde einge-
räumten Befugnisse" (von der kantonalen Behörde des Wohnsitzes
unter Umständen Abtretung der Vormundschaft zu verlangen und
hiefür das Bundesgericht anrufen zu können) „bleiben gleichfalls
D. Schweiz. Bundesges. betr. civilr. Verhältn. d. Niedergelassenen etc. 469
in Geltung (Art. 29). Wird die Bestellung einer Vormundschaft
über eine auswandernde oder landesabwesende Person nöthig, so
ist hiefür die Behörde des Heimathkantons zuständig" (Art. 30).
3. Beim Güterrecht speziell ergeben sich folgende Verhältnisse.
Auch für die Schweizer im Auslande soll das System, wonach alles
auf den ersten Wohnsitz ankommt, seine Anwendung finden. Da-
von ausgegangen sind drei Möglichkeiten vorhanden : a. der erste
Wohnsitz ist im Auslande und die Leute bleiben dort, b. der erste
Wohnsitz ist im Auslande, aber die Eheleute bleiben nicht dort,
sondern kehren hinterher in die Schweiz zurück, c. der erste Wohn-
sitz ist in der Schweiz und sie gehen von dort ins Ausland. (Die
vierte Möglichkeit, Wohnsitz in der Schweiz und Bleiben in der
Schweiz, fällt unter I oben pag. 463.) Dann gilt Ada das fremde
Güterrecht, sofern es vom ausländischen Recht für massgebend er-
klärt wird. Wenn das nicht der Fall ist, gilt das Güterrecht
des Heimathkantons. Das ist nur konsequent ; einen ersten Wohn-
sitz in der Schweiz und ein daraus herzuleitendes kantonales
Güterrecht gibt es nicht. Ad b. Da das Güterrecht der Gatten
unter einander nicht ändern soll, so setzen sie in dem Kanton, in
welchem sie ihren neuen Wohnsitz aufschlagen, das im Auslande
begründete Güterrecht fort ; das ausländische oder das (in Ermang-
lung einer Bestimmung, die jenes massgebend erklärt hat) dort
nach lit. a entstandene heimathliche Güterrecht. Natürlich sollen
diese Leute nicht schlechter stehen, als die, welche aus einem
anderen Kanton einwandern. Sie können desshalb wie andere
Schweizer von Art. 20 Gebrauch machen und durch Erklärung vor
dem Beamten das Güterrecht des jetzigen Wohnsitzes annehmen,
in welchem Falle dann die,^es für sie gilt. Wie für andere Ein-
wohner des Kantons kommen für Dritte (z. B. die Gläubiger des
Ehemannes) diese Verhältnisse gar nicht in Betracht; für sie und
ihre Interessen existirt gegenüber dem Gattenpaar immer das
Güterrecht des Wohnortes. Ade. Da ist zunächst das ausländische
Recht anzusehen. Steht dasselbe der Fortdauer des in der Schweiz
am ersten Wohnsitz begründeten Güterrechts nicht entgegen , so
gilt dieses. Stände das ausländische Recht ihm aber entgegen, er-
klärte es die schweizerischen Ehegatten sich im Güterrecht unter-
worfen, so gälte es nicht, sondern das Güterrecht des Auslandes
käme zur Anwendung.
470 äclilaLlcr.
111. Ausländer in der Schwel z. Auf die Ausländer,
wolulie in der Schweiz ihren Wohnsitz haben, sollen die „Vorschrif-
ten des gegenwärtigen Gesetzes entsprechende Anwendung" finden
(Art. 32). Vorbehalten bleiben die „besonderen Bestimmungen der
Staatsverträge" (Art. 34). Es werden hiernach bei uns dem
Deutschen, Oesterreicher, Italiener etc., welcher in einem Schweizer-
kanton niedergelassen ist, mit Bezug auf seine Angelegenheiten aus
dem Gebiete des Personen- , Familien- und Erbrechts dieselben
Landesrechte zugesichert, die für diese Verhältnisse dem niederge-
lassenen Schweizer zustehen, so dass z. B. der Status seiner Kinder
in der Schweiz nach deutschem , österreichischem etc. Recht sich
richtet und von deutschen , österreichischen etc. Gerichten ent-
schieden wird, das eheliche Güterrecht desselben nach dem kan-
tonalen Rechte seines ersten ehelichen Wohnsitzes zu beurtheilen
ist und beim Wechsel des Domicils bestehen bleibt, ausgenommen
mit Bezug auf die Gläubiger ; dass er von Art. 20 Gebrauch machen
kann, wie ein Schweizer; dass für die Erbfolge in seinen Nachlass
das kantonale Erbrecht seines letzten Wohnsitzes in der Schweiz
gilt , sofern er nicht letztwillig sein Heimathsrecht für massgebend
erklärt hat u. s. w. Alles mit dem Vorbehalt, dass nicht durch
■Staatsvertrag etwas Anderes vorgeschrieben worden ist, wie solches
z. B. der Fall ist für die Franzosen in Folge des Staatsvertrages
mit der Schweiz vom 15. Juni 1869, welcher für die in der Schweiz
lebenden Franzosen das französische Civilrecht festgesetzt hat. „Es
liegt im Wesen des modernen Rechtsstaates", sagt die Botschaft
des Bundesrathes zum Gesetzentwurfe vom 28. November 1887
(B.-Bl. 1887, III, 125), „die Vortheile seiner Gesetzgebung allen
Bewohnern des Staatsgebietes in gleicher Weise zu Theil werden zu
lassen. Selbst im A^ormundschaftsrecht", wo doch das Nationalitäts-
princip vermöge der Unterstützungspflicht des Heimathsstaates die
meiste Berechtigung für sich hat, zeigen sich als Ausfluss der
im allgemeinen menschlichen Interesse liegenden Rechtssorge für
Jedermann deutliche Uebergänge zum Territorialrecht".
Bei einem Falle, wo analog dem für die Kantone geltenden Art. 15
es sich um die Frage der Abtretung einer Vormundschaft an den aus-
wärtigen Staat handelt, fällt natürlich die bei I oben vorgeschriebene
besondere Begründung (Gefährdung der Interessen des Mündels oder
der Heimathsbehörde) , ebenso die Rechtssprechung des Bundes-
D. Schweiz. Bimdesges. betr. civilr. Verhältn. d. Niedergelassenen etc. 471
gerichtes weg. Es genügt das blosse Begehren der ausländischen,
zuständigen Heimathsbehörde. Auch ist die Verpflichtung zur Ab-
tretung insofern hier dadurch eine bedingte , als es ein Staat sein
muss, der der Schweiz Gegenrecht hält (Art. 33). Die bundesräth-
liche Botschaft bemerkt zu diesem Artikel : „ In Bezug auf die Vor-
mundschaft scheint uns die preussische Vormundschaftsordnung vom
5. Juli 1875 das Kichtige getroffen zu haben, wenn sie die Behörde
des Aufenthaltsortes verpflichtet , auch gegenüber einem Landes-
fremden die Vormundschaft einzuleiten, dieselbe jedoch auf Ver-
langen der Behörden des Heimathsstaates an diese abzugeben.
Dass deshalb unwürdige, liederliche Landesfremde unseres Rechts-
schutzes theilhaftig werden, ist nicht zu besorgen, da uns die
Niederlassungsverträge die Heimschaffung solcher Leute unbedingt
gestatten " .
Gemäss den U ebergangsbestimmungen (Art. 36) hat jeder
Kanton drei Amtsstellen zu bezeichnen : 1. Die zur Beurtheilung
•der Vormundschaftsstreitigkeiten (Antrag auf Bevormundung Seitens
der Heimathsbehörde , Begehren um Abtretung) zuständigen Be-
hörden am Sitz der Vormundschaft, sofern ein Kanton nicht das
Bundesgericht hierfür erst- und letztinstanzlich gelten lassen will.
2. Die Amtsstelle , welche die Erklärung der Ehegatten über An-
nahme des Güterrechts des neuen Wohnsitzes entgegen zu nehmen
hat. 3. Die Behörde, welche in Ausübung quasi vormundschaftlicher
Obsorge für die Ehefrau diese Erklärung zu genehmigen hat. —
Das Gesetz tritt nicht sofort in Kraft, sondern erst dann, wenn
nach Eingang dieser Mittheilungen Seitens der Kantone vom Bundes-
rathe eine angemessene Frist angesetzt und abgelaufen ist, innerhalb
deren die Vormundschaftsverwaltungen auf den Wohnsitzkanton
überzutragen sind und die entsprechende Rechnungsablage bewerk-
stelligt ist (Art. 35).
Man sieht, die Schweiz hat entgegen der neueren Doktrin ihre
Statutenkollision nicht nach dem Heimathsprincip, sondern
nach dem Wohnsitzprincip geordnet, das Heimathsprincip
nur ausnahmsweise und nur da als massgebend erklärt,
wo sich ein besonderes Bedürfniss hierfür ergab. Es ist
dies nichts Zufälliges , es hängt mit den eigenartigen Verhältnissen
zusammen, wie sie in der Schweiz sich vorfinden. Angewendet auf
472 Schlatter.
schweizerische Verhältnisse, hätte der Vorschlag, die Dinge nach dem
Heimaths- oder, wie Mancini es nennt, nach dem Nationalitäts-
princip zu regeln, zu den grössten Anomalien geführt.
Die erste wird von Speiser in einem Aufsatze, betitelt „Art. 46
der Bundesverfassung und das internationale Privatrecht" (Zeit-
schrift f. Schweiz. Recht, N. F. IX, 270 ff.) genannt. Verfassungs-
gemäss ist der schweizerische Niedergelassene mit Bezug auf seine
politischen Rechte, wie Stimmrecht etc. dem Kantonsbürger an
seinem Wohnsitze völlig gleichgestellt. Civilrechtlich würde er
beim Heimathsprincip von jenem verschieden behandelt, und zwar
macht sich die Verschiedenheit , wie Speiser treffend sagt , in der
Weise geltend : „ die Gesetze, die er erlassen hilft, treffen ihn nicht,
und die Gesetze, die ihn treffen, nämlich die des Heimathskantons,
hilft er nicht erlassen".
Eine zweite Anomalie ergibt sich durch einen Blick auf die
Statistik. In Italien leben (wir entnehmen die das Ausland be-
treffenden Ziffern der eben citirten Zeitschrift) etwa 0,2 Prozent
Ausländer, in Preussen 0,75 Prozent, in Baden 1 Prozent, in Frank-
reich steigt die Ziffer auf 3 Prozent. Die Leute, welche Heimaths-
recht beanspruchen, verschwinden so zu sagen unter der grossen
Menge derer, für welche Landesrecht gilt. Ganz anders wird dies
Verhältniss in der Schweiz. Nach der Volkszählung vom 1 . Dezember
1S89 waren Landesfremde:
im Kanton Bern von 539305 Einwohnern : 15 566 oder 3 Proz.^
Zug
„ 23120
»
886
n
4
St. Gallen
„ 229441
7)
18539
n
8
Zürich
, 339014
»
34607
»
10
Neuenburg
„ 50075
»
10120
n
20
Baselstadt
„ 74247
»
25598
n
34
Genf
, 106738
»
40705
n
38
n den Kantonen wohnen
Bürger anderer
K
ani
im Kanton
Bern :
40325
oder 8 Proz.
')
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Zürich :
53510
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St. Gallen:
48755
n
21 «
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Genf:
25 753
j)
24 ,
n 1?
Zug:
8297
»
35 ,
«9 •?
Baselstadt :
26954
7>
36 ,
jj »
Neuen bürg:
50075
r>
'^>0 ,
D. Schweiz. Bundesges. betr. civilr. Verhältn. d. Niedergelassenen etc. 473
Und wenn man, wie hier nöthig, die Landes fremden und
Bürger anderer Kantone zusam menzählt , so wohnten Nicht-
kantonsbürger
im Kanton Bern: 11 Proz. der gesammten Einwohnerschaft,
„ „ Zürich: 26 , „ „ „
„ St. Gallen: 29 „ , „
» » Zug: 39 „ „ „ „
„ „ Genf: 62 „ „ „ „
„ „ Baselstadt: 70 „ „ , „
„ „ Neuenburg: 70 „ „ „ „
Mit Eecht wurde es daher in den eidgenössischen Käthen als
eine „Ungeheuerlichkeit" bezeichnet, wenn der Bund ein Gesetz er-
liesse, durch welches in Kantonen, die in der Schweiz eine hervor-
ragende Rolle spielen, eine Grosszahl, ja die Mehrzahl der Einwohner
mit Bezug auf wichtige Rechtsbeziehungen , wie Vormundschafts-
wesen, Güterrecht der Ehegatten, Erbrecht, nicht unter das Landes-
recht, sondern unter ein fremdes Recht gestellt würden. Italien
und andere grosse Länder mögen das ohne Schaden thun, die Schweiz
kann es nicht.
Literarische Anzei^^en.
Dr. Otto Bahr, Zur Beurtheilung des Entwurfs eines bürger-
lichen Gesetzbuchs für das deutsche Reich. München. 1888.
Die vorliegende Kritik nimmt unter der grossen Zahl ihrer
Genossinnen einen der hervorragendsten Plätze ein. Sie verdankt
dies in erster Linie dem inneren Werthe der einzelnen Ausführungen,
daneben aber sicherlich auch der Selbstbeschränkung, welche sich
der Verf. auferlegt. Er bespricht weniger den Entwurf als Ganzes,
sondern greift eine Reihe von (ungefähr 120) Paragraphen des Entwurfes
oder Stellen der Motive heraus und prüft sie auf ihre Richtigkeit
und praktische Brauchbarkeit, und bringt die grossen leitenden Ge-
sichtspunkte, von denen er bei Betrachtung des Entwurfes ausgeht,
bei Besprechung der Einzelfragen zur Geltung. Zugleich bemüht
sich der Verf. , die von ihm beanstandeten Stellen des Entwurfs
durch eigene bessere Vorschläge zu ersetzen.
Auf den Inhalt der einzelnen Ausstellungen einzugehen, ist an
dieser Stelle unmöglich. Es mag nur auf einige Parthien hinge-
wiesen werden , deren treffende Ausführungen vor allem bei der
Ueberarbeitung des Entwurfs zu beachten sein werden; als solche
sind vor allem die Erörterungen über Willenserklärung ohne Willen
(Seite 14), Quittung (S. 37), Schuldübernahme (S. 44), Verträge
zu Gunsten Dritter (S. 60), Rechnungsablage (S. 82), abstraktes
Schuldversprechen (S. 85); constitutum possessorium (S. 104); Hypo-
theken (S. 131) zu bezeichnen.
Von den allgemeinen Gesichtspunkten , auf welche der Verf.
aufmerksam macht , ist auf einen hinzuweisen , der bisher weniger
Beachtung als andere Mängel des Entwu)-fes, wie seine Sprache,
seine mannigfachen Willkürlichkeiten, sein vielfaches Theoretisiren,
Literarische Anzeigen. 475
gefunden hat. Bahr macht S. 63 und an anderen Stellen mit Recht
darauf aufmerksam , dass der Entwurf zu häufig die Entscheidung
der Frage von der Würdigung des einzelnen Richters abhängig
mache, dass er Urtheile provozire, bei denen man sich sagen müsse:
„der Richter hätte ebenso gut anders entscheiden müssen". Dieser
Fehler ist thunlichst auszumerzen. Denn in allererster Linie soll
doch das Gesetzbuch nicht auf die Entscheidung streitiger Fälle
durch den Richter hinzielen, sondern den rechtsgeschäftlich handeln-
den Personen als Richtschnur ihres Vorgehens dienen. Dies ist aber
unmöglich , wenn das Gesetz so häufig seine Entscheidung von
inneren Vorgängen eines Kontrahenten oder gar von dem billigen
Ermessen des Richters abhängen lässt. Es ist häufig besser, wenn
das Gesetz positiv eine klare Bestimmung gibt, die vielleicht einmal
im einzelnen Falle zur Härte werden kann , als w^enn durch den
theoretischen Hang, allen Fällen gerecht zu werden, Processe über
Thatfragen veranlasst werden , bei welchen jeder der Streitenden
sich berechtigt glaubte, dass seine Auffassung dem Gesetze entspreche.
Heidelberg. Dr. R. Fürst.
Lehr, E., Elements de droit civil russe. Russie, Pologne,
Provinces baltiques. 2 vol. Paris. Plon^ Nourrit et Cie.
1890. 8^ 573.
Von Lehr besitzen wir bereits elementare Vorstellungen des
spanischen, englischen, deutschen und russischen Rechts von sehr
verschiedenem Werth. Von dem russischen Recht erschien der
erste Band 1877, und da bedeutende Aenderungen in der Gesetz-
gebung in Aussicht stunden, so wurde die Herausgabe des zweiten
Bandes verschoben, bis die Ueberzeugung unabweislich wurde, dass
dieselben nicht über das Stadium der Vorbereitung hinauskommen
würden. Der erste Band umfasste das Familien-, Sachen- und Intestat-
recht; daran schliesst sich nun im zweiten Bande die testamen-
tarische Erbfolge, das Obligationenrecht, die Beurkundung und der
Beweis der Rechte. In einem Anhang wird das Urheberrecht nach
der russischen Gesetzgebung, die Adoption und die erblose Ver-
lassenschaft erörtert. Das Verfahren des Verfassers bei Ausarbei-
tung dieses zweiten Theiles ist das nämliche geblieben wie bei dem
ersten Bande, und die Resultate erheben sich daher auch nicht über
diejenigen der früheren Arbeit. Der Verfasser ist weder mit der
47G Literarische Anzeigen.
Sprache, noch mit dem Gewohnheitsrechte, noch mit der Geschichte
des russischen Rechtes und der Rechtsprechung der Gerichte hin-
länglich vertraut, um eine Darstellung von wissenschaftlichem
Werthe liefern zu können ; was dagegen, gestützt auf die erreich-
baren Gesetzestexte und eine Sammlung von Entscheidungen, ge-
leistet werden konnte, um dem juristischen Publikum eine ungefähre
Vorstellung von dem russischen Civilrechte zu geben, hat Lehr red-
lich geleistet. Die Aufgabe, welche er sich stellte, gehörte auch
nicht zu denjenigen, welche ohne umfassendere Hülfsmittel gelöst
werden konnten, denn es handelte sich um eine vergleichende Studie
von drei verschiedenen Rechten, die wenig oder nichts mit einan-
der gemein haben. Das baltische beruht auf germanischen Prin-
cipien und dem gemeinen Rechte; das polnische Recht auf dem
Code Napoleon; das russische Recht dagegen auf einer Reihe von
kaiserlichen Ukasen. So heterogene Rechte aber entziehen sich
einer wissenschaftlich fruchtbaren Vergleichung ; sie machen aber
auch die Annahme Lehr's unmöglich, dass dem russischen Rechte
in den baltischen Provinzen subsidiäre Kraft zukomme; beide Rechte,
das russische und das baltische, gelten innerhalb ihrer Territorien,
aber nicht einen Werst darüber hinaus.
24. October 1891. König.
Nordisk Retsencyclopaedi. Tolvte Hefte: De nordiske Rets-
kilder vedEbbe Hertzberg under medvirkning af flere.
Kjübenhavn, Ojldendalske Boghaudels forlag (F. Hegel
u. Sön). 1890.
Dieses Werk, über das zuletzt in Bd. 9 S. 272 d. Ztschr. be-
richtet wurde, naht seinem Abschluss. Die Geschichte der Rechts-
überlieferung für den Norden hat in jüngster Zeit so grosse Fort-
schritte gemacht, dass eine ausführliche Darstellung dringend
erwünscht war. Im Verein mit mehreren bekannten Gelehrten hat
Herr Professor Hertzberg sich hohes Verdienst um diese Schilde-
rung nach dem jetzigen Stande der Quellenforschung und Rechts-
theorie erworben. Wir werden hier mit der ausgebreiteten
Literatur dieses Gebietes bekannt gemacht, für das man neuestens
alle glänzenden Fortschritte der Facsimilereproducirung verwendet.
In dieser Beziehung verweise ich — als für jede grössere Bibliothek
ansehaifenswerthe Werke — auf die photolithographische Repro-
Literarische Anzeigen. 477
duction der Yestgötaloven von Börtzell und Wieseigren (Stock-
holm 1889), die gleiche Reproduction des Borgavthingets Kristenret
nach Cod. Tunsbergensis (Christiania 1886) und das 1. Heft des
V. Bandes der Norges gamle Love (vgl. Bd. 9 Seite 275).
A. Teichmaun.
Verzeiclmiss der von dem 1. Januar 1890 bis 27. Januar 1891 bei der
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