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Full text of "Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, einschliesslich der ethnologischen Rechtsforschung"

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University  of  Toronto 


http://www.archive.org/details/zeitschriftfrver10akad 


ZEITSCHRIFT 


FÜR 


VERBIEIGHENDE  RECHTSWISSENSCHAFT. 


HERAUSGEGEBEN 


VON 


Dr.  FRANZ  BERNHÖFT  Dr.  GEORG  COHN 

o.  0.  Professor  an  der  Universitfit  Rostock  Honor.  Professor  an  der  Universität  Heidelberg, 

correspond.  Mitglied  der  R.  Accademia  di 


Scienze  Lettere  ed  Arti  di  Padova 


UND 


Dr.  J.  KOHLER 


o.  8.  Professor  an  der  Universitfit  Berlin  ,   Auswlirtigem  Mitgliede  des  Königl.  Instituts  voor  de  Taal-Land-  en 

Volkenkunde   van  Nederlandsch  IndiS,  Correspondirendem  Delegirten    der  Soci^te  Academique  Indo-ChiDoiae 

zu    Paris,  Correspondirendem  Mitglied  der  Societe  de  Legislation  compar^e  und  Correspondirendem  Mitglied 

der   Genootschap  van   kunsten    en    wetenschappen   in   Batavia. 


ZEHNTER    BAND. 


STUTTGART. 

VERLAG   VON   FERDINAND   ENKE. 

1892. 


Druck  der  Uulou  Deutsche  Verlagggesellsokaft  iu  Stuttgart. 


Inhalt. 


Seite 
I,     Eine    Skizze    der    Entwicklungsgescliiclite    des    muslimischen 

Gesetzes.     Von  A.  Sprenger 1 

II.     üeber  das  Recht  der  Amaxosa.     Von  Paul  Kehme     ....       32 
III.     Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.     Von  Professor 

Dr.  J.  Kohler 64 

Literarische  Anzeigen. 

Seefeld,  Carl.  Die  Verbreitung  der  Rechtskenntniss.  Ham- 
burg  1890.     (Deutsche   Zeit-   und   Streitfragen,   Heft  11)     143 

Schröder.     Das  Familiengüterrecht  in  dem  Entwürfe  eines 

bürgerlichen  Gesetzbuches.     Berlin  1889 143 

Gutachten  aus  dem  Anwaltstande  über  die  erste  Lesung  des 
Entwurfs  eines  bürgerlichen  Gesetzbuches.  Berlin  1888 
bis  1890 144 

Katz,  Alexander.  Erläuternde  Anmerkungen  zu  den  Vor- 
schriften des  Entwurfes  eines  bürgerlichen  Gesetzbuches. 
Berlin  1888 144 

Seh  er  er.  Das  rheinische  Recht  und  die  Reichs-  und  Landes- 
gesetzgebung.    I.  Bd.,  2.  Aufl.     Mannheim  1889      .     .     .     144 

Weissler.     Das  preussische  Notariat  im  Geltungsgebiet  der 

allgemeinen  Gerichtsordnung.     Berlin  1888 145 

Stintzing.  Der  Besitz.  I.  Buch:  Wesen  desselben.  Mün- 
chen 1889 145 

Pflüger.      Die    sog.    Besitzklagen    des    römischen    Rechts. 

Leipzig  1890 145 

Gr  lieb  er.  The  Roman  Law  of  damage  to  property.  Ox- 
ford 1886 145 

Die  Actes  du  congres  international  de  droit  commercial  de 
Bruxelles  1888.  Droit  maritime,  lettre  de  change.  Paris- 
Bruxelles   1889 146 


IV  Inhalt. 

Seite 
Simon  Süll.     Das  österreichisclie  Warrantrecht.    Berlin  1889     140 
Stokes.     Anglo-lndian  Codes  1887—1888.     Oxford  1889      .     146 
Selim.      ücbersichl  der  englischen   Rechtspllege    vom   prak- 
tischen und   kaurmännischcn   Standpunkte  aus.     Leipzig, 

Wien,  London  1886        146 

Burckhard.  System  des  österr.  Privatrechtes.  Zweiter 
Theil:  Elemente  des  Privatreclites.  Dritter  Thcil :  Die  ein- 
zelnen Privatrechtverhältnisse.  Erste  Abtheilung  (1.  Heft 
Besitz,  2.  Heft  Grundbuchsrecht).  Wien  1884,  1885,  1889  147 
v.  Waldkirch.  Erwerb  und  Schutz  des  Eigenthums  an 
Mobilien  nach  Titel  VI   Abschnitt  I   des    Bundesgesetzes 

über  das  Obligationenrecht.     Zürich  1885 147 

Janggen.     Darstellung   und  Kritik   der  Bestimmungen   des 
schweizerischen  Obligationenrechtes  über  die  Sachmiethe 

(Art.  274—295).     Basel  1889 147 

Heubberger.     Die   Sachmiethe   nach   dem  schweizerischen 
Obligationenrecht,    mit    Berücksichtigung    des    gemeinen 
Rechtes   und   des  Entwurfes    eines    bürgerlichen   Gesetz- 
buches für  das  deutsche  Reich.     Zürich  1889      ....     148 
Sieb  er.     Das  Recht  der  Expropriation    mit  besonderer  Be- 
rücksichtigung der  schweizerischen  Rechte.     Zürich  1889     148 
Rehm.  Die  rech tl.  Natur  der  Gewer bsconcession.  München  1889     148 
Albicini,  Cesare.     Rivista  di  diritto  pubblico      ....     149 
Huggenberger.     Die   Pflicht   zur  Urkundenedition.     Mün- 
chen 1889 149 

Pollack.     Die  Widerklage.     Wien  1889 149 

Noest.     Die  Processkosten.     Breslau  1890 149 

Prise  hl.     Advocatur  und  Anwaltschaft.     Berlin  1888      .     .     150 
Rein  hold.     Die    Lehre   von    dem   Klaggrund,    der  Einrede 

und  der  Beweislast.     Berlin  1888 150 

Nessel.     Civilprocessrechtliche  Erörterungen  im  Anschlüsse 

an  die  Schriften  des  Professors  von  Bülow.    Berlin  1886     150 
Warnatsch.     Ist  ein  von  dem  Hauptvermiether  gegen  den 
Hauptmiether  erstrittenesRäumungsurtheil  auch  gegen  den 

Aftermiether  vollstreckbar?     Bunzlau  1889 151 

Kali 8 eher.  Bemerkungen  über  die  Ausbildung  der  Gerichts- 
referendare in  Preussen.     Berlin  1889 151 

Stanski.    Führer  durch  die  Reichs-  und  preussischen  Landes- 
gesetze.    Düsseldorf  1886 151 

Strützki    und    Genzmer.     Leitfaden     zum    Studium    des 

preussischen  Rechts.    Berlin  1888 151 


Inhalt.  V 

Seite 
01s  hausen.     Grundriss    zu    rechts  wissenschaftlichen    Vor- 
lesungen   an    der    königlichen  Forstakademie   zu   Ebers- 
walde. I.  Heft.  Gerichtsverfassung  und  Process.  Berlin  1889     151 
Wilmowski.     Handausgabe    der   Konkursordnung   für  das 

deutsche  Reich.     Berlin  1886 151 

Wilmowski.     Das   Konkursverfahren    an    einem  Rechtsfall 

dargestellt,  Berlin  1880,  5.  Auflage 151 

Bachern.  Reichsgesetz,  betr.  die  Gewerbegerichte.  Köln  1890     151 
Mühlbrecht,  Otto.     Uebersicht  der  gesammten  Staats-  und 
rechtswissenschaftlichen  Literatur  des  Jahres  1888.    Ber- 
lin 1889 151 

Sech  er.     Fortegnelse   over  den    danske   Rets   Literatur  og 
danske    Forfatteres    juridiske    Arbejder   1884 — 1888   met 
Tillaeg  til  Fortegnelsen  for  1876—1883.  Kopenhagen  1889     151 
Thümmel.     Sittenlehre  und  Strafrecht.     Hamburg  1889,  in 

den  deutschen  Zeit-  und  Streitfragen 152 

Arnoldi.     Verbrechen  und  Strafe.     Berlin  1890     ....     152 
As  ehr  Ott.  Ersatz  kurzzeitiger  Freiheitsstrafen.  Hamburg  1889     152 
Wach.     Die  Reform  der  Freiheitsstrafen.     Leipzig  1890      .     152 
Zucker.     Einige  criminalistische  Zeit-  und  Streitfragen  der 
Gegenwart.       (Separat-Abdruck     aus     dem     Gerichtssaal 

XLIV.  Bd.) 153 

Lombroso.     Der  geniale  Mensch.    Autorisirte  Uebersetzung 

von  Fränkel 154 

Olshausen.  Kommentar  zum  Strafgesetzbuch.  Berlin  1889/90  154 
Pfenninger.  Das  Strafrecht  der  Schweiz.  Berlin  1890  .  155 
Herzog.  Rücktritt  zum  Versuch.  Würzburg  1889  .  .  .  155 
Levy.     Zur  Lehre  vom  Zweikampfverbrechen.    Leipzig  1889     156 

Lauterburg.     Die  Eidesdelikte.     Bern  1886 156 

v.  Calker.     Das    Recht    des    Militärs    zum    administrativen 

Waffengebrauch.     München  1888 156 

Weisl.  Das  Militärstrafrecht  (formeller  Theil).  Wien  1890. 
Separatabdruck  aus  Streffleurs  österreichischer  militäri- 
scher Zeitschrift 156 

Freudenstein.  Resume  und  Rechtsbelehrung  im  Schwur- 
gerichtsverfahren.    Minden  1883 157 

Kr  ohne.  Lehrbuch  der  Gefängnisskunde.  Stuttgart  1889  .  157 
Wulff.     Die  Gefängnisse  der  Justizverwaltung  in  Preussen. 

Hamburg  1890      . 157 

Streng.     Geschichte  der  Gefängnissverwaltung  in  Hamburg 

von  1622—1872,     Hamburg  1890 158 


VI  Inhalt. 

Seite 

A  Schrott.  Aus  dem  Straten-  und  Gelangnisswesen  Nord- 
amerikas.    Hamburg  1889 158 

Krause.  Grundriss  des  Naturrechtes  oder  philosophischer 
Grundriss  des  Ideales  des  Rechtes.  Zweite  Abtheilung. 
Herausgegeben  von  Mollat  (Leipzig  1890) 159 

H  a  r  m  s.  Begriff,  Formen  und  Grundlegung  der  Rechtsphilo- 
sophie.    Herausgegeben  von  Wiese  (Leipzig  1889)  .     .     .     159 

Van  n  i.     II  problema  della  filosofia  del  diritto  (Verona  1890)     159 

IV.  Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.     Von  Professor 

Dr.  J.  KoJiler ICl 

V.  Einzeluntersuchungen  zur  vergleichenden  Rechtswissenschaft. 

Von  Karl  Friedrichs 189 

VI.  Die  neueste  Schweizer  Gesetzgebung   und  rechts  wissenschaft- 
liche Literatur.     Von  Dr.  Plazld  Meyer  von  Schauensee  .     282 
VII.  Ehe  und  Concubinat  im  römischen  Recht.   Von  Franz  Bernhöft    296 
Literarische  Anzeigen. 

Pulszky.   The  theory  of  law  and  civil  society.   London  1888     303 

Ehrenzweig,    lieber  den  Rechtsgrund  der  Vertragsverbind- 

lichkeit.     V^ien  1889 303 

Roguin.     La  regle  de  droit.     Lausanne  1889 304 

Armand  de  Diffret.     Gedanken   über  Nationalökonomie, 

Politik,  Philosophie.    Heidelberg  1887 306 

D'Aguanno.    La  genesi  e  l'evoluzione  del  diritto  civile  mit 

Einleitung  von  Chironi.     Turin  1890 306 

Günther.    Die  Idee  der  Wiedervergeltung.    Erlangen  1889. 

Abtheilung  I 307 

Peisker.    Die  Knechtschaft  in  Böhmen,  eine  Streitfrage  der 

böhmischen  Socialgeschichte.     Prag  1890 308 

Bühler's   neue   Manuübersetzung   in    den   Sacred  Books   of 

the  East.     Vol.  XXV  dieser  Sammlung 309 

Joll5''sche  Uebersetzung  des  Narada  und  des  Brihaspati      .     309 

Altindisches  Prozessrecht.     Stuttgart  1891       309 

Bezold.  Kurzgefasster  Ueberblick  über  die  babylonisch- 
assyrische Literatur.     Leipzig  1886 309 

F.  E.  Peiser,   Keilschriftliche  Actenstücke  aus  babylonischen 

Städten.     Berlin  1889 309 

Derselbe.     Jurisprudentiae    Babylonicae    quae    supersunt. 

Habilitationsschrift,  gedruckt  Cöthen  1890 309 

Derselbe.     Babylonische  Verträge  des  Berliner    Museums. 

Leipzig  1890 310 


Inhalt.  VII 

Seite 

Kohler.  Juristischer  Exkurs  zu  Peiser,  Babylonische  Ver- 
träge.    Berlin  1890 310 

Kohl  er  und  P  eis  er.    Aus  dem  babylonischen  Rechtsleben  I. 

Leipzig  1890 310 

Chenon.  Etüde  sur  l'histoire  des  alleux  en  France.  Paris  1888     310 

Ciccaglione.     Le   chiose   di   Andrea   Bonello   da  Barletta 

alle  Costituzioni  Sicule.     Mailand-Neapel  1888    ....     310 

Rhamm.     Hexenglaube  und  Hexenprocesse  vornehmlich  in 

den  braunschweigischen  Landen,     Wolfenbüttel  1882       .     311 

Karl  Christoph  Burekhardt.  Zur  Geschichte  der  locatio 
conductio.  Oeffentliche  Habilitationsvorlesung.  Basel. 
C.  Detloff's  Buchhandlung  1889.     59  SS.  8« 311 

Dr.  A.  Schneider.  Der  Process  des  C.  Rabirius  betreffend 
verfassungswidrige  Gewaltthat.  Festschrift.  Zürich.  Ver- 
lag von  Friedrich  Schulthess.     50  SS.     8^ 312 

Mr.  0.  Ch.  van  Swinderen.  Het  hedendagsche  Strafrecht 
in  Nederland  en  in  het  Buitenland.  Groningen.  P.  Noord- 
hoff.    I.  Deel  1888.    IL  Deel  1889.    466  u.  485  SS.     8« .     312 

Dr.  Richard  Loewy.  Die  Unmöglichkeit  der  Leistung  bei 
zweiseitigen  Schuldverhältnissen.  Eine  romanistische  Ab- 
handlung.   Berlin.    J.  J.  Heine's  Verlag  1888.    147  SS.  8''    313 

Dr.  Emil  üranitsch.  Die  Form  Verfügung  bei  Rechts- 
geschäften. Eine  Studie  im  Gebiete  des  österreichischen 
Privatrechts.     Wien  1890 314 

Zrodlowski.  Codificationsfragen  und  Kritik  des  Entwurfes 
eines  bürgerlichen  Gesetzbuches  für  das  Deutsche  Reich 
als  Beilage  -  Entwurf  einer  Civilprocessordnung.  Prag, 
Verlag  von  H.  Dominicus.     1888 315 

Dr.  Ludwig  Kuhlenbeck.  Der  Ciieck.  Seine  wirtlischaft- 
liche  und  juristische  Natur,  zugleich  ein  Beitrag  zur  Lehre 
vom  Gelde,  von  Wechsel  und  von  der  Girobank.   Leipzig, 

C.  L.  Hirschfeld.     1890 317 

VIII.  Der  Zivilprozess  und  die  Gerichtsverfassung  Schwedens, 
nebst  Bemerkungen  für  Finnland.  Von  Dr.  W,  Upp- 
ström,  Stockholm 321 

IX.    Zum  japanischen   Recht.      Von    Karl   Friedrichs.     [Mit  Be- 
merkungen und  Zusätzen  von  J.  Kohler] 351 

X.    Studien  aus  dem  japanischen  Recht.    Von  Prof.  Dr.  ./.  Kohler  376 

Dr.  G.  A.  Wilken  f  . 450 


VII  l  Inhalt. 

Seite 
XI.  Das  Schweizer.  Bundesgesetz  betr.  die  civilrechtlichen  Verhält- 
nisse der  Niedergelassenen  und  Aufenthalter,  vom  25.  Juni 
1891  (publizirt  im  B.Bl.  Nr.  34,  19.  August  1891.  Abiaul' 
der  Einspruchsfrist  17.  November  1891).  Von  Stadtrath 
Schlatter  in  Zürich 455 

Literarische  Anzeigen. 

Dr.  Otto  Bahr,  Zur  Beurtheilung  des  Entwurfs  eines  bürger- 
lichen Gesetzbuchs  für  das  deutsche  Reich.  München  1888.     474 

Lehr,  E.,  Elements  de  droit  civil  russe.  Russie,  Pologne, 
Provinces  baltiques.  2  vol.  Paris.  Plön,  Nourrit  et  Cie. 
1890.   8^   573 475 

Nordisk  Retsencyclopsedi.  Tolvte  Hefte:  De  nordiske 
Retskilder  ved  Ebbe  Herzberg  under  medvirkning  af  flero. 
Kjöbenhavn,  Gyldendaloke  Boghandels  forlag  (F.  Hegel 
u.  Sön)  1890 47G 

Verzeichniss  der  von  dem  1.  Januar  1890  bis  27.  Januar  1891 

bei  der  Redaktion  eingegangenen  Schriften 477 


I. 

Eine  Skizze  der  Entwicklungsgeschichte  des 
mushmischen  Gesetzes. 

Von 

A.  Sprenger. 

Unsere  Geschichtschreiber  datiren  den  Anfang  der  Geistes- 
arbeit der  Araber  von  der  Einführung  und  Pflege  der  Philo- 
sophie, Medicin,  Astronomie  und  anderer  Wissenschaften  der 
Griechen^  und  beurkunden  damit  ebenso  grosse  Unkenntniss 
der  Thatsachen  wie  Mangel  an  Verständniss  der  für  den  Aufbau 
eines  weltbeherrschenden  Reiches  unerlässlichen  Bedingungen. 
Turanische  Horden  haben  sich  mehrmals  den  grössern  Theil 
von  Asien  unterworfen,  mussten  sich  aber,  wenn  sie  ein  Reich 
gründen  wollten,  unter  die  Religion  und  Gesetze  der  unter- 
jochten Völker  beugen ;  denn  ein  Staat  kann  recht  gut  ohne 
Philosophen,  aber  nicht  ohne  Gesetze  und  Religion  bestehen. 
Der  Zweck  der  nachstehenden  Bemerkungen  ist :  von  der 
gewaltigen  Geistesthätigkeit  der  Araber,  während  der  ersten 
anderthalb  Jahrhunderte  des  Islam,  in  denen  sie  ihre  Gesetz- 
gebung vollendeten,  einen  Begriff  zu  geben. 

Die  Muslime  heissen  ihr  Gesetz  Scheria  oder  Scher',  was 
wir  gewöhnlich  Scherra  sprechen.  Das  Gesetz  ist  von  Gott 
durch  seinen  Boten  Mohammed  den  Menschen  kund  gegeben 
worden.    Die  im  Koran  enthaltenen  Satzungen  sind  aber  nicht 

Zeitschrift  für  vergleichende  Rechtswissenschaft.  X.  Band.  \ 


2  Sprenger. 

ausreichend  für  alle  Bedürfnisse  der  Gläubigen,  es  wurde  daher 
auch  die  Sunna,  d.  h.  die  Aussprüche  und  Gepflogenheiten  des 
Gottesboten  und  wohl  auch  der  ihm  nahestehenden  und  unter 
seinem  Einflüsse  handelnden  Personen  herbeigezogen,  um  dem 
Bedürfnisse  zu  genügen.  Unter  Scheria  haben  wir  also  nicht  ein 
concretes  Gesetzbuch  zu  verstehen,  sondern  es  hat  dieselbe 
Bedeutung  wie  Nomos  in  den  Worten  Christi:  Ich  bin  nicht 
gekommen  das  Gesetz  (den  Nomos)  aufzuheben,  sondern  es 
zu  bestätigen.  Christus  meinte  gewiss  nicht  blos  den  Penta- 
teuch  unter  Nomos,  das  Gesetz.  Der  Begriff,  obwohl  ur- 
sprünglich ein  alttestamentlicher,  ist  in  der  That  von  den 
Christen  zu  den  Arabern  gekommen  und  sie  schreiben  Nämüs 
für  Nomos  und  gebrauchen  dieses  Wort  in  einem  ähnlichen, 
aber  weiteren  Sinne  wie  Scherta,  indem  sie  auch  die  dem 
Moses  und  Jesu  gemachten  Offenbarungen  darunter  verstehen. 
In  diesem  Sinne  sagte  ein  Vetter  der  ersten  Gemahlin  des 
Mohammed,  als  dieser  den  ersten  kataleptischen  Anfall  hatte: 
Es  ist  der  höchste  Nämüs  über  ihn  gekommen.  Und  die 
Philosophen  bezeichnen  die  Lehre  von  der  Offenbarung  mit 
dem  Namen  Nämüs  ijjat,  die  zum  Nomos  gehörigen  Dinge. 
Der  Leser  möge  beachten,  dass  Gesetz,  Scheria,  bei  den 
Muslimen  einen  andern  Sinn  hat  als  bei  uns,  und  dass  ein 
Gesetzeskundiger  oder  Rechtslehrer  (Faqih)  eigentlich  ein 
Theologe  ist. 

Den  religiösen  Enthusiasmus,  welcher  die  Araber  zum 
Kampf  gegen  alle  erreichbaren  andern  Völker  einigte,  hat 
Omar  mit  dem  Nationalitätsprincip  vermählt  und  dadurch  nach- 
haltiger gemacht.  Er  bestimmte  die  Grenze  der  arabischen 
Halbinsel  und  verfügte,  dass  nur  Muslime  darin  sesshaft  sein 
dürfen  und  andersgläubige  Gemeinden,  wie  die  von  Nedjran, 
denen  Glaubensfreiheit  von  Mohammed  zugesichert  worden 
war,  ihre  Wohnsitze  mit  andern,  die  ihnen  ausserhalb  Arabiens 
angewiesen  wurden,  vertauschen  mussten.  Kleine  fremde 
Völkerschaften,  die  sich  zum  Islam  bekehrten,  wie  die  Zott 
und  Siähpösch  an  der  Ostgrenze  Arabiens  und  am  Persischen 


Eine  Skizze  d.  Entwicklungsgeschichte  d.  muslimischen  Gesetzes.       3 

Meere^  fanden  es,  da  Araber  und  Kämpe  für  Allah  und  den 
Islam  gleichbedeutend  geworden  waren,  vortheilhaft,  sich  als 
Clienten  einem  arabischen  Stamme  anzuschliessen ,  wodurch 
sie  der  Rechte  geborener  Araber  theilhaftig  wurden.  Omar, 
der  am  23.  August  634  zur  Regierung  kam,  führte  das  Steuer- 
ruder des  neuen  Staates  mit  Energie  und  Einsicht.  Im  Sep- 
tember 635  erstürmten  die  Muslime  Damascus,  637  die  Re- 
sidenzstadt der  Chosroen  und  im  December  640  Babylon  in 
Aegypten.  Die  römische  Macht  im  Orient  war  somit  gebrochen 
und  das  persische  Reich  vernichtet.  Letzteres  lag  bis  zum 
Oxus  den  Arabern  wehrlos  zu  Füssen,  und  die  Unterwerfung 
desselben  wurde  in  den  nächsten  drei  Decennien  vollendet.  Zur 
Befestigung  und  Ausdehnung  seiner  Eroberungen  gründete 
Omar  Garnisonsstädte,  in  denen  sich  die  arabischen  Krieger 
ansiedeln  und  ihre  Pensionen  verzehren  sollen.  Basra  und 
Kufa  waren  am  besten  dotirt,  hatten  die  Aufgabe  den  Besitz 
des  ehemaligen  Reiches  des  Cyrus  zu  consolidiren  und  waren 
daher  die  wichtigsten.  Die  Ideale,  welche  den  Arabern  die 
Kraft  gaben,  in  einem  Decennium  den  Grundstein  zur  Er- 
richtung eines  Weltreiches  zu  legen,  lebten  nach  ihren  Kriegs- 
zügen fort  und  bewogen  sie,  die  Gesetzgebung  zu  vollenden  und 
humanistische  Studien  zu  treiben.  Es  war  noch  nicht  einmal  ein 
halbes  Jahrhundert  verstrichen,  als  die  Söhne  der  rauhen  Krieger 
die  Wissenschaft  zu  pflegen  anfingen.  Medina  war  der  Haupt- 
sitz, aber  nicht  der  einzige,  der  Pflege  der  Rechtswissenschaft 
und  vor  Erbauung  von  Baghdad  im  Jahr  758  waren  Basra 
und  Kufa  die  einzigen  Schulen  der  Philologie  und  humanisti- 
schen Wissenschaften. 

Abul-Aswad  (st.  689),  Kadhi  und  einige  Zeit  Statthalter 
von  Basra,  war  der  Erste,  welcher  der  arabischen  Grammatik 
seine  Aufmerksamkeit  schenkte.  Um  zu  allgemein  gültigen 
Regeln  zu  kommen,  verglich  man  ähnliche  Redeweisen  und 
würde  z.  B.  gesagt  haben :  Es  ist  me  miserum !  ^wie"  quos 
ego?  und  man  gab  dann  dem  Accusativ  in  solchen  Fällen  (die 
auch    im   Arabischen    oft   vorkommen)    den   Namen    Istighrä,. 


4  Sprenger. 

Casus  der  Aufhetzung.  Weil  man  durch  Vergleichung  zur 
Kenntniss  der  Sprachgesetze  gekommen  war,  hiess  man  die 
Grammatik  die  Wissenschaft  vom  „wie"^  Ilmu-lnahw.  Der 
nächste  Zweck  der  grammatischen  Studien  war  die  Feststellung 
und  Berichtigung  des  Wortlautes  des  Koran.  Man  versah  nun 
die  Koranabschriften  mit  Vocalen,  was  ursprünglich  nicht  ge- 
schehen war  und  was  in  manchen  Fällen  ohne  Kenntniss  der 
Grammatik  nicht  möglich  ist.  Abul-Aswad  war  auch  Poet 
(vgl.  Hamasa  p.  591  und  304),  und  er  wird  sich  wohl  mit 
den  Liedern  alter  Dichter  bekannt  gemacht  haben.  Jeden- 
falls thaten  dies  die  Grammatiker  nach  ihm.  Sie  sammelten 
die  alten  Gedichte  und  Heldensagen  und  auch  den  Wort- 
schatz der  arabischen  Sprache  und  der  geniale  Asmai  zog 
sogar  die  Geographie  Arabiens  in  das  Bereich  der  philo- 
logischen Studien.  Die  Basrier  und  Kufier  bewegten  sich 
also  auf  demselben  Terrain  wie  unsere  klassischen  Philologen. 
Die  Methode  war  aber  eine  andere,  nämlich  die  synthetische. 
Viele  Tausende  wissbegieriger  Männer  verfolgten  einen  der 
Zweige  der  Philologie,  und  ihr  Streben  war,  möglichst  viel 
Material  zusammen  zu  bringen  und  zu  beherrschen.  Ver- 
wendet wurde  das  Material  mit  demselben  Ameisenfleiss,  mit 
dem  es  gesammelt  worden  war,  zum  Bau  einer  Grammatik 
auf  synthetischem  Wege.  Auf  diese  Weise  entstand  eine  un- 
ermessliche  Menge  von  Kategorien  und  eine  entsprechende 
Masse  von  Kunstwörtern.  Wie  gross  die  Aufgabe  auch  war, 
diese  Einzelforschungen  in  ein  System  zu  vereinen,  so  war 
sie  doch  am  Schlüsse  des  8.  Jahrhunderts  schon  vollendet. 
Das  Buch  des  Sibaweih  (st.  zu  Basra  795)  ist  das  W^erk, 
welches  das  Wesentliche  der  früheren  Errungenschaften  um- 
fasst  und  aus  dem  die  späteren  Generationen  ihr  Wissen 
schöpften. 

Die  Theorien  der  arabischen  Grammatiker  sind,  wie 
Merx  gezeigt  hat,  vom  Geiste  der  aristotelischen  Philosophie 
angehaucht.  Man  darf  diese  Erscheinung  nicht  überschätzen 
und  etwa    gar    glauben,    die  Thätigkeit    auf  diesem    Gebiete, 


Eine  Skizze  d.  Entwicklungsgeschichte  d.  muslimischen  Gesetzes.        5 

welche  zwischen  Abul-Aswad  und  Sibaweih  in  Basra  und 
Kufa  herrschte^  sei  durch  das  Organon  angefacht  worden. 
Das  Organon  ist,  wie  der  Name  besagt,  ein  Werkzeug  und 
hat  durchaus  nichts  Belebendes,  Befruchtendes.  Es  ist  viel- 
mehr der  Gerbestoff,  welcher  bereits  gewonnene  Begriffe  con- 
densirt  und  ihnen  Festigkeit  verleiht.  Vom  kulturhistorischen 
Standpunkte  angesehen  aber  ist  das  Heranwachsen  einer 
Wissenschaft  und  nicht  die  Vollendung  und  der  Uebergang 
derselben  in  stereotype  Formen  das  wichtigste  Symptom  des 
Lebens  eines  Volkes.  Weder  die  Anregung,  ihre  Sprache  und 
Poesie  zum  Gegenstand  der  Forschung  zu  machen,  noch  die 
Methode,  welche  sie  während  der  fast  genau  ein  Jahrhundert 
dauernden  Jugendperiode  der  Wissenschaft  befolgten,  haben 
die  Araber  den  Griechen  oder  Syrern  zu  verdanken;  wohl 
aber  hat,  als  sie  zur  Reife  gekommen  war  und  man  die  Noth- 
wendigkeit  fühlte,  die  Begriffe  genauer  zu  definiren  und  durch 
Unterordnung  der  specielleren  unter  die  allgemeinen  ein  System 
der  Grammatik  aufzubauen,  die  aristotelische  Philosophie  einigen, 
aber  höchst  unbedeutenden  Einfluss  darauf  geübt.  Diese  Arbeit 
kam  an  die  Tagesordnung  zu  einer  Zeit,  als  Abu-Hanifa  das 
Gesetz  auf  ein  Princip  zurückführte,  als  die  Gesetzeslehrer 
den  Kampf  gegen  Freidenker  aufnehmen  mussten,  als  man 
zum  Theil  zu  diesem  Zweck  die  aristotelische  Philosophie  in 
Bagdad  zu  pflegen  angefangen  hatte,  und  als  überhaupt  die 
Araber  am  Anfang  des  grossen  Wendepunktes  ihres  nationalen 
Lebens  standen.  Die  Geschichte  der  arabischen  Grammatik 
beleuchtet  deshalb  den  Lebenslauf  des  arabischen  Geistes, 
und  aus  dieser  Ursache  schalte  ich  diese  Bemerkungen  dar- 
über ein. 

Die  fernere  Geschichte  der  arabischen  Grammatik  ist 
die  anderer  scholastischen  Wissenschaften.  Für  die  kommen- 
den Geschlechter  bis  auf  den  heutigen  Tag  war  nicht  die 
arabische  Sprache,  sondern  die  von  Sibaweih  und  Genossen 
festgestellten  Lehren  und  Begriffe  das  Object  der  Erkenntniss. 
Man  fasste  sie  in   möglichst    enigmatischen  Sätzen    zusammen 


G  Sprenger. 

und  schrieb  lange  Commentare  dazu,  wovon  sich  die  jetzt 
gebräuchlichen,  namentlich  der  des  Molla  Djami  zur  Kafia 
einzig  und  allein  mit  logischen  Distinctionen  befassen.  Gram- 
matik gehört  zum  Quinquivium  der  Ulema,  und  der  Zweck 
des  Studiums  derselben  ist  die  Dressur  des  Geistes. 

Der  Koran  enthält  nur  wenige  Gesetze,  und  einige  von 
ihnen  sind  widersprechend  oder  der  Sinn  ist  durch  Einschal- 
tung von  verbessernden  Novellen  getrübt.  Mohammed  sagt 
im  Koran  3,  5:  „Allah  ist  es,  der  das  Buch  auf  Dich  hinab- 
gesandt hat.  Einige  Verse  sind  fest  begründet  und  sie  bilden 
die  Mutter  des  Buches;  andere  sind  nachgebildet.  Jene  nun, 
in  deren  Herzen  Heterodoxie  nistet,  folgen  dem  Nachgebildeten 
aus  Rechthaberei  und  sucht  zu  deuteln.  Niemand  jedoch  ver- 
steht die  Deutung  des  Buches  als  Allah  und  Männer  von 
gründlichem  Wissen".  In  39,  56  sagt  Mohammed:  „Folget 
dem  Besten  von  dem,  was  für  euch  hinabgesandt  worden  ist." 

Bei  dieser  Lückenhaftigkeit  des  Korans  als  Gesetzbuch 
waren  streitende  Parteien  oft  genöthigt,  wenn  sie  den  Rechts- 
fall nicht  nach  dem  heidnischen  Gewohnheitsrecht,  sondern 
nach  den  Satzungen  des  Islam  entschieden  haben  wollten,  sich 
an  den  Propheten  um  ein  Fetwa  (Gutachten,  Rechtsspruch) 
zu  wenden.  Nach  dem  Tode  des  Propheten  (3.  Juni  632) 
hatten  solche  Gutachten  und  ebenso  zufällige  Aeusserungen 
des  Gottesboten  Gesetzeskraft,  man  forderte  aber  von  der 
Partei,  welche  sich  darauf  berief,  dass  sie  die  Aechtheit  der- 
selben durch  zwei  Zeugen  beweise.  Das  ist  der  Ursprung 
der  Sunna,  d.  h.  Gepflogenheit.  Mohammed  verwies  bisweilen 
die  streitenden  Parteien  an  einen  der  „Männer  von  gründ- 
lichem Wissen",  namentlich  an  Omar,  Abu  Bekr  etc.,  und 
er  empfahl  dem  Moadz,  als  er  ihn  als  Statthalter  nach  Jemen 
schickte,  Rechtsfälle,  wenn  kein  positives  Gesetz  vorliegt,  nach 
seinem  besten  Weissen  und  Gewissen  zu  entscheiden.  Auch 
die  Fetwa  solcher  Männer  galten  als  Sunna,  und  wenn  sie 
mit  einander  im  Widerspruch  standen,  entschied  die  grössere 
Autorität. 


Eine  Skizze  d.  Entwicklungsgeschichte  d.  muslimischen  Gesetzes.        7 

Nachdem  der  Mund^  durch  den  Gott  der  Menschheit  seinen 
Willen  kundgegeben  hatte,  verstummt  war,  wurden  Erinne- 
rungen an  den  Gottesboten  mehr  und  mehr  das  Thema  der 
Unterhaltung,  und  Mittheilungen  über  ihn  hiess  man  Hadith, 
Erzählung.  Wir  erfahren  aus  Tirmidzi  p.  629  (vgl.  Bochari 
p.  531),  dass  schon  vor  dem  Jahre  653  n.  Chr.  ein  Mann  von 
Kufa  nach  Medina  kam,  um  der  Hadith  zu  lauschen ;  so  gross 
war  der  Eifer  der  Gläubigen.  Im  Volksmunde  erhielt  Mo- 
hammed jene  Eigenschaften,  die  er  hätte  haben  sollen,  und 
für  die  Geschichten  von  Wundern,  die  er  gewirkt  hatte,  standen 
zahlreiche  Augenzeugen  ein.  Vier  Decennien  nach  Moham- 
meds Tod,  als  noch  viele  Hunderte  seiner  Zeitgenossen  am 
Leben  waren,  lag  eine  unermessliche  Menge  von  Hadithen 
(Erzählungen)  vor,  deren  Färbung  sich  dem  Geiste  der  schnell 
fortschreitenden  Zeit  angepasst  hatte,  und  ein  reiches  Material 
für  Fortentwicklung  des  Gesetzes  bot.  Den  grössten  Werth 
legte  man  im  Aufbau  der  Sunna  auf  die  Aeusserungen  des 
Propheten.  Sie  wurden  in  aphoristischen  Sätzen,  meist  mit 
dramatischer  Form  wiedergegeben.  Diese  Gestalt  gab  man 
auch  Erzählungen :  sie  sind  kurz  und  bündig,  und  man  könnte 
sie  Baliaden  in  Prosa  heissen.  Die  wichtigste  und  eine  der 
längsten  von  ihnen,  die  Himmelfahrt  oder  Verklärung  des 
Gottesboten,  füllt  nur  zwei  Seiten.  Es  bestand  die  Regel, 
dass  die  Hadithe  (die  verbürgten  Ueberlieferungen)  in  den 
Herzen  der  Gläubigen  leben,  d.  h.  dem  Gedächtnisse  einge- 
prägt und  mündlich  mitgetheilt  werden  sollen.  Selbst  schrift- 
liche Notizen  zur  Unterstützung  des  Gedächtnisses  zu  machen 
wurde  missbilligt,  und  bis  in  die  Mitte  des  8.  Jahrhunderts 
wurden  solche,  sobald  man  sie  entbehren  konnte,  gewöhnlich 
vernichtet.  Eine  Ueberlieferung  galt  nur,  wenn  der  Ueber- 
lieferer  oder  Zeuge  dafür  mit  Namen  genannt  wurde  und  er 
als  zuverlässig  bekannt  war,  für  ^gesund".  Eine  gesunde 
Ueberlieferung  wurde  nur  dann  rechtskräftig,  wenn  sie  durch 
andere,  ebenfalls  gesunde  Ueberlieferungen  bestätigt  wurde. 
Diese  strengen  Regeln  hatten  allerlei  Uebelstände  im  Gefolge: 


8  Sprenger. 

Die  Texte  erlitten,  weil  sie  nicht  durch  die  Schrift  fixirt 
wurden,  wesentliche  Veränderungen,  und  schon  im  Zeitalter 
des  Zohri  (st.  743  n.  Chr.)  hatte  man  Ursache,  viele  Ueber- 
lieferungslehrer  der  Zeugenfalschung  zu  bezichtigen:  sie  gaben 
vor,  Erzählungen  obscuren  Ursprunges  von  hervorragenden 
Männern  gehört  zu  haben. 

Alle  Zeitgenossen  des  Propheten,  welche  ihn  gesehen 
und  gehört  hatten,  werden  als  dessen  Jünger  verehrt,  und  ihr 
Zeugniss  ist  unanfechtbar.  In  diesem  Grundsatz  liegt  die 
historische  Schwäche,  aber  auch  die  innere,  organische,  Stärke 
der  Ueberlieferungslehre  und  derSunna:  denn  seine  jüngeren 
Zeitgenossen  bezeugten  Wunder,  die  von  ihm  im  Volksmunde 
erzählt  wurden,  mit  ihren  Augen  gesehen  zu  haben ;  sie  Hessen 
sich  aber  auch  als  Zeugen  dafür  gebrauchen,  Lehren  und  Ge- 
setze, welche  nothwendig  wurden  und  vom  Gottesboten  hätten 
festgestellt  werden  sollen,  aber,  weil  man  zu  seiner  Zeit  noch 
nicht  das  Bedürfniss  danach  fühlte,  nicht  festgestellt  worden 
sind,  aus  seinem  Munde  vernommen  zu  haben.  Die  von  den 
Jüngern,  welche  ihn  am  längsten  überlebten,  ihn  nur  in  ihrer 
frühesten  Jugend  gesehen  hatten  und  deswegen  als  schwache 
Zeugen  hätten  gelten  sollen,  sind  es,  auf  deren  Zeugniss  die 
meisten  und  wichtigsten  Ueberlieferungen  ruhen.  Es  genügt 
drei  von  ihnen,  um  den  Gang  der  Dinge  zu  veranschaulichen, 
zu  nennen.  Ihn  Abbas,  ein  Vetter  des  Gottesboten  (Beider 
Grossvater  war  Abd-elmottalib),  war  13  Jahre  alt,  als  Mo- 
hammed starb,  und  überlebte  ihn  um  55  Jahre.  Er  war  ein 
stattlicher  Mann,  pflegte  den  Bart  mit  Henna  zu  färben  und 
beherrschte  seine  Umgebung  ebenso  durch  seine  äussere  Er- 
scheinung, wie  durch  die  Fülle  seiner  Kenntnisse  und  sein 
taktvolles  Auftreten.  Im  Successionsstreit,  welcher  in  656  nach 
Othmans  Ermordung  ausbrach,  nahm  er  anfangs  Partei  für 
seinen  Vetter  Ali  und  wurde  von  diesem  zum  Statthalter  von 
Babylonien  ernannt.  Als  er  aber  sah,  dass  Alis  Sache  wenig 
Aussicht  auf  Erfolg  habe,  verliess  er  seinen  Posten,  kehrte 
nach  Mekka  zurück  und  lebte  im  Frieden  mit  den  siegreichen 


Eine  Skizze  d.  Entwicklungegeschichte  d.  muslimischen  Gesetzes.       9 

Omajjiden.  Sehr  viel  leistete  er  für  die  Entwicklung  des 
Gesetzes^  weil  er  sich  von  der  Strömung  der  Zeit  fortreissen 
Hess  und  es  mit  der  historischen  Wahrheit  nicht  so  genau 
nahm.  Seine  Rechtsgutachten  waren  zeitgemäss  und  wurden 
sehr  hochgeschätzt  und  viele  davon  wurden  im  Gedächtniss 
aufbewahrt  und  erhielten  unter  den  späteren  Generationen 
Gesetzeskraft.  Er  wusste  auch  so  viele  Aussprüche  des  Gottes- 
boten zu  erzählen  und  erinnerte  sich  an  so  viele  Präcedenz- 
fälle,  dass  er  als  Förderer  der  zeitgemässen  Gesetzgebung 
mit  Aischa,  der  Mutter  der  Gläubigen^  wetteifern  konnte. 

Von  den  Mitteln,  welche  die  Rechtswissenschaft  an- 
wendete, um,  ohne  der  Autorität  des  Ibn-Abbas  zu  nahe  zu 
treten,  dessen  Extravaganzen  zu  entkräften,  verdient  eines 
erwähnt  zu  werden.  Ikrima  (st.  725),  ein  Client  und  Schüler 
des  Ibn-Abbas,  entnahm  einige  Traditionen  aus  dem  schrift- 
lichen Nachlasse  seines  Meisters  und  diese  hat  die  spätere 
Kritik  als  nicht  gesund  erklärt,  weil  die  Ueberlieferungen  im 
Herzen  der  Menschen  leben  und  mündlich  fortgepflanzt  werden 
sollen.  Durch  dieses  und  andere  Mittelchen  ist  es  der  Kritik 
gelungen,  von  der  unermesslichen  Menge  jener  Ueberlieferungen, 
welche  Ibn-Abbas  in  seinen  exegetischen  Vorträgen  erzählte, 
alle  bis  auf  ein  Plündert  ausser  Kurs  zu  setzen. 

Anas  liebte  es,  der  Bediente  des  Gottesboten  geheissen 
zu  werden.  Die  Angaben  über  sein  Todesjahr  schwanken 
zwischen  710  und  715:  er  überlebte  also  seinen  Herrn  wenig- 
stens um  78  Jahre.  Die  Behauptung,  er  habe  ein  Alter  von 
mehr  als  hundert  Jahren  erreicht,  verräth  die  Verlegenheit, 
in  der  sich  die  Ueberlieferungslehrer,  indem  sie  sich  auf  sein 
Zeugniss  berufen,  befinden.  In  seinen  alten  Tagen  lebte  Anas 
in  glänzenden  Verhältnissen  in  einer  Villa  bei  Basra.  Er  hatte 
eine  grosse  Familie  und  war  einer  der  drei  Jünger  des  Pro- 
pheten, die  es  erlebten,  über  ein  Hundert  männlicher  Nach- 
kommen zu  sehen.  Anas  betrieb  die  Ueberlieferung  plan- 
mässig  und  2286  Hadithe  sind  auf  seine  Bürgschaft  fortgepflanzt 
und  bis  auf  den  heutigen  Tag  erhalten  worden  und  gelten  für 


10  «prcnger. 

gesund.  Wie  er  und  andere  Ueberlieferer  ein  halbes  Jahr- 
hundert nach  des  Propheten  Tod  vorgingen,  erhellt  aus  fol- 
genden zwei  Angaben  des  Baghawi  (pp.  431  und  167).  Der 
soeben  erwähnte  Ikrima  sagte:  ^Ich  gehe  in  den  Marktplatz 
(ein  Römer  würde  gesagt  haben  ins  Forum),  höre  dem  Volke  zu 
wie  es  redet,  und  da  öffnen  sich  mir  fünfzig  Pforten  der  Wissen- 
schaft, d.  h.  der  Hadith."  Ein  Zeitgenosse  des  Ikrima  sagte: 
„Wenn  wir  über  eine  Hadtth  im  Zwiespalt  waren,  sagten  wir: 
Kommet,  wir  gehen  zu  dem  (zu  Anas),  der  sie  vom  Munde 
des  Propheten  gehört  hat."  Die  Schlussfolgerung  aus  diesen 
zwei  Berichten  ist :  Wenn  Ikrima  oder  einer  seiner  Zeitge- 
nossen eine  für  seine  Zwecke  passende  Hadith,  die  wie  die 
Fama  im  Volke  lebte,  hörte,  formulirte  er  sie,  ging  zu  Anas 
und  der  Hess  sich  immer  bereit  finden,  die  Paternität  auf  sich 
zu  nehmen.  Dasselbe  gilt  von  vielen  anderen  Jüngern  des 
Propheten.  Anas  schrieb  sich  seine  Hadithe  auf  Rollen  (ein- 
zelne Blätter)  auf,  und  wenn  ihn  seine  zahlreichen  Verehrer 
bestürmten,  er  möge  ihnen  Hadithe  erzählen,  brachte  er  seine 
Rollen  und  sagte,  sie  mögen  sie  darin  lesen.  Er  soll  schon 
zu  Lebzeiten  des  Gottesboten  dessen  Worte  aufgeschrieben 
haben,  um  sie  nicht  zu  vergessen.  Wahrscheinlich  hat  er  erst 
in  seinen  alten  Tagen,  als  sein  Gredächtniss  schwach  wurde, 
zu  diesem  Mittel  gegriffen. 

Abu-Horeira  (geb.  circa  600,  gest.  circa  670),  ein  An- 
gehöriger des  Stammes  Daus,  welcher  südlich  von  Mekka  seine 
Wohnsitze  hatte  und  theils  nomadisirte,  theils  Ackerbau  be- 
trieb, bekehrte  sich  frühestens  in  627  zum  Islam.  Mohammed 
hielt  darauf,  dass  Proselyten,  um  die  Wehrkraft  zu  vermehren, 
sich  in  Medina  ansiedeln.  Das  thaten  auch  70  bis  80  Dau- 
siten  in  628,  als  der  Islam  einige  Fortschritte  unter  ihnen 
gemacht  hatte,  und  die  meisten  von  ihnen  nahmen  am  Feld- 
zuge gegen  Cheibar  theil.  Vielleicht  ist  Abu-Horeira,  der 
seine  Mutter  begleitet  hatte,  mit  dieser  Einwanderung  nach 
Medina  gekommen.  Er  war  mittellos,  wurde  aber  später 
vom  Propheten   als    Commissär   nach  Behrein    geschickt.      Er 


Eine  Skizze  d.  Entwicklungsgescliichte  d.  muslimischen  Gesetzes.     H 

scheint  ein  höchst  gemüthlicher  Mann  gewesen  zu  sein  und 
sein  Bestreben  war,  sich  Jedermanns  Liebe  zu  erwerben.  Er 
erzählte,  dass  der  Gottesbote  zwei  Wunder  an  ihm  gewirkt 
habe,  das  erste,  das  auf  den  Wunsch  seiner  Mutter  gethan 
wurde,  bestand  darin,  dass  er  bei  allen  Menschen  beliebt  war, 
das  andere,  dass  er  sich  jedes  Wortes,  das  der  Gottesbote 
sprach,  genau  erinnern  konnte.  Er  nahm  in  der  Successions- 
frage  gegen  Ali,  dem  Schwiegersohne  des  Mohammed,  für 
Othman  und  später  für  die  Omajjiden  Partei,  und  seine  Un- 
terstützung mochte  ebenso  wie  die  der  Aischa  von  grossem 
Werth  gewesen  sein.  Jedenfalls  ist  er  und  Ibn-Abbas  einer 
der  bedeutendsten  Gründer  der  Sunna.  Es  sind  von  ihm  nicht 
weniger  als  3500  üeberlieferungen  erhalten  worden  und  sie 
wurden  von  300  seiner  Hörer  fortgepflanzt.  Kunstgerecht 
formulirt  wurden  sie  wahrscheinlich  von  seinen  Schülern,  be- 
sonders von  seinem  Schwiegersohne  Said-Ibn-Mosejjeb.  Man 
geht  nicht  zu  weit,  wenn  man  behauptet,  diese  haben  ihm 
die  meisten  seiner  Traditionen  auf  die  Zunge  gelegt. 

Die  von  Omar  I.  getroffene  Massregel,  dass  die  Staats- 
revenüen  zu  Stipendien  verwendet  und  auch  gewisse  Klassen 
von  Muslimen,  die  keine  Kriegsdienste  geleistet  hatten,  damit 
bedacht  wurden,  war  unter  Beschränkungen  bis  Anfang  des 
9.  Jahrhunderts  in  Kraft.  Unter  diesen  Verhältnissen  wuchs 
eine  Bevölkerung  von  Arabern  empor,  deren  Gewerbe  die 
Gesetzeskunde  war.  So  erklärt  es  sich,  dass  die  Zahl  jener 
Hörer  des  Abu-Horeira,  welche  der  Nachwelt  als  Lehrer  be- 
kannt wurden,  sich  auf  800  beläuft.  Schon  am  Anfang  des 
8.  Jahrhunderts  legte  man  grossen  Werth  darauf,  möglichst 
viele  Scheiche  (Ueberlieferungslehrer)  zu  hören  oder  wenig- 
stens von  ihnen  die  Erlaubniss  erhalten  zu  haben,  ihr  Reper- 
toir  auf  ihre  Autorität  fortpflanzen  zu  dürfen.  Manche  hatten 
eine  Liste  von  mehr  als  1000  Scheichen,  zu  deren  Füssen 
sie  gesessen  hatten.  Jeder  Mann,  der  auf  Bildung  Anspruch 
machte,  wanderte  von  Stadt  zu  Stadt,  um  bewährte  Lehrer 
zu  hören  und  seinen  Vorrath  von  formulirten  Üeberlieferungen, 


12  Sprenger. 

deren  Zahl  mit  allen  Varianten  und  mit  Einschluss  der  von 
Ketzern  und  Freidenkern  colportirten  sich  zu  Ende  des  8.  Jahr- 
hunderts auf  ein  paar  Millionen  belaufen  haben  mag,  zu  ver- 
mehren. Wir  haben  ein  biographisches  Wörterbuch  der  be- 
rühmten orthodoxen  Traditiouslehrer,  und  es  enthält  mehr  als 
9000  Nummern. 

Die  Satzungen  des  Islam  wurden  schon  gegen  Ende  des 
siebenten  Jahrhunderts  von  den  sieben  (eigentlich  neun)  Rechts- 
gelehrten von  Medina  festgestellt.  Ein  Buch  hat  keiner  dieser 
Männer  geschrieben,  und  es  wurden  ihre  Rechtsbestimmungen 
wie  die  Ueberlieferung  mündlich  fortgeflanzt.  Ibn  Djoreidj 
(st.  707  im  Alter  von  70  Jahren)  ist  der  erste  der  Pandekten 
hinterliess.  Alle  diese  Männer  waren  eifrige  Ueberlieferungs- 
lehrer,  und  die  meisten  von  ihnen  standen  in  einem  engen 
Verhältnisse  zu  einem  der  hervorragendsten  Jünger.  So  hielt 
sich  Said  Ibn  Mose  jjeb  vorzüglich  an  seinen  Schwieger- 
vater Abu  Horeira,  Obeidu-llah  Ibn  Abd- Allah  an  seinen 
Grossoheim  Ibn  Masud ,  Qasim  an  seine  Tante  Aischa  und 
an  Ibn  Abbas,  und  Orwa  ebenfalls  an  Aischa,  mit  der  er  nahe 
verwandt  war.  Aischa  (gest.  13.  Juli  678)  aber  war  während 
der  Regierung  der  ersten  drei  Chalifen  die  höchste  Autorität 
in  der  Entscheidung  von  Rechtsfragen  und  später  unterwarfen 
sich  ihren  Entscheidungen  Ibn  Abbas  und  die  dynastische  Familie 
der  Omajjiden.  Der  nachmalige  ChalifeAbdu-lmelik  schickte  per 
Postpferde  Aerzte  von  Damaskus  nach  Arabien  um  den  Ibn  Abbas, 
der  an  einem  Augenübel  litt,  zu  behandeln.  Aischa  wurde  ge- 
fragt, ob  das  Gesetz  es  erlaube,  Aerzte  (sie  waren  wahr- 
scheinlich Christen)  zu  Rath  zu  ziehen,  sie  verneinte  es  und 
man  schickte  die  Aerzte  zurück.  Said  Ibn  Mosejjib  (geb.  638 
gest.  712),  der  hervorragendste  unter  den  Sieben,  war  un- 
abhängig von  politischen  Einflüssen.  Er  gründete  mit  seinem 
ererbten  Vermögen,  welches  aus  4000  Dinar  (Ducaten)  bestand, 
eine  Oelhandlung,  und  lebte  davon.  Die  Pension,  die  er  als 
Sohn  eines  Kriegers  hätte  beanspruchen  können,  wies  er  zurück. 
Auch  Salim  (st.  ca.  727)  einer  der  Sieben  und  ein  Enkel  des 


Eine  Skizze  d.  Entwicklungsgeschichte  d.  muslimischen  Gesetzes.     13 

Chalifen  Omar  I.,  lebte  in  ostentativer  Einfachheit  und  trug 
ein  Kleid  zwei  Dirham  (anderthalb  Mark)  im  Werth. 

Am  Schlüsse  des  siebenten  Jahrhunderts  war  man  schon 
einig  über  die  Quellen  des  Gesetzes  (o^ulu-lfiqh)  und  über  die 
Grundsätze,  wie  selbe  zu  benützen  sind.  Man  erkannte  deren  fünf 
an:  I.  Koran,  IL  die  beglaubigten  Ueberlieferungen.  Wenn 
über  irgend  eine  Frage  nur  eine  Hadith  vorlag  (solche  Ha- 
dithe  heisst  man  Ahäd,  vereinzelnde),  war  sie  nicht  rechts- 
kräftig. Lagen,  wie  es  in  allen  wichtigen  Punkten  der  Fall 
ist,  mehrere  vor,  so  entschied  die  Mehrheit  und  die  grössere 
Autorität  der  Zeugen.  Die  Regeln  der  Ueberlieferung  waren, 
wie  wir  gesehen  haben,  so  eingerichtet,  dass  die  Muslime  auf  diese 
Weise  zur  Feststellung  des  unter  Mitwirkung  des  ganzen  Volkes 
entstandenen  Gewohnheitsgesetzes  (Sunna)  kamen.  Die  Gesetz- 
gebung keines  andern  Volkes  ruht  auf  einer  so  breiten  soliden 
democratischen  Grundlage  wie  die  der  Islam.  Es  hat  aber  auch 
kein  Gemeindewesen  in  der  kurzen  Zeit  von  zweihundert  Jahren 
seine  volle  geistige  Reife  und  politische  Ueberlegenheit  über 
alle   damaligen  Völker    der   Erde    erreicht    wie    die    Muslime. 

III.  Die  Uebereinstimmung  der  Gesammtheit  (el-*^äma  das 
ist  der  Name  den  sich  die  Sunniten  damals  gewöhnlich  bei- 
legten). Diese  Quelle  war  besonders  in  Ceremonialgesetzen, 
wie  die  beim  Pilgerfest,  im  Pflichtgebet,  bei  Leichenbegäng- 
nissen etc.  beobachteten  Gebräuche  massgebend.  IV.  Die 
Schlussfolgerung.  Die  abgeleiteten  Sätze  sollen  nicht  mit  den 
Grundsätzen  im  Widerspruch  stehen.  Das  versteht  sich  von  selbst 
und  dieses  Princip  ist  immer  anerkannt  worden;  es  ist  aber 
das  Verdienst  des  Abu  Hanifa,  der  erste  gewesen  zu  sein,  der 
ihm  constructive  Macht  zusprach.  V.  Idjtihad.  Das  Verbum, 
wovon  dieses  Wort,  ebenso  wie  Mudjtahid,  abgeleitet  ist,  be- 
deutet enitor  und  Modjtahid  wäre  demnach  mit  Enixus  zu 
übersetzen.  Dem  Sinn  nach  ist  Idjtihad  sorgsame  Erwägung. 
Sie  gibt  den  Ausschlag,  wenn  kein  positives  Gesetz  auf  einen 
vorliegenden  Fall  anwendbar  ist  und  Opportunität,  Billigkeit 
und    Humanität    in    Betracht    gezogen   werden    müssen.     Am 


14  Sprenger. 

Schlüsse  des  siebenten  Jahrhunderts  galten  die  Entscheidungen 
und  Aussprüche  jener  Modjtahide  oder  Doctores  ecclesiae  die 
dem  Propheten  nahe  gestanden  hatten,  als  Sunna.  In  unserer 
Zeit  ist  Modjtahid  in  der  Schiitischen  Hierarchie  der  offizielle 
Titel  eines  Würdenträgers  der  so  hoch  steht  wie  ein  Bischotf. 
Die  Sunniten  kennen  diesen  Titel  nicht. 

Die  Gesetzlehrer  oder  Schriftgelehrten,  wie  sie  im  neuen 
Testament  geheissen  werden,  haben  für  ihre  Wissenschaft 
eine  grosse  Anzahl  technischer  Ausdrücke  erfunden.  Einige 
dienen  dazu  ihre  Sätze  mit  grösserer  Kürze  auszudrücken,  so 
heissen  sie  z.  B.  ein  Cavalleriepferd  Kora*^,  und  den  Chalifen 
oder  dessen  Statthalter,  insofern  er  die  Excutivbehörde  ist, 
Imitm  (Staatsoberhaupt).  Andere  stehen  für  neue  juristische 
Begriffe,  so  gebrauchten  sie  z.  B.  Mokallaf,  wörtlich  dienst- 
pflichtig für  zurechnungsfiihig,  verantwortlich  für  seine  Hand- 
lungen. Die  Geschichte  solcher  Wörter  bezw.  Begriffe  bietet  ein 
doppeltes  Interesse:  Sie  beleuchtet  den  Geist  des  Gesetzes  und 
bietet  Anhaltspunkte  für  die  Chronologie  der  Entwickelung 
desselben.  Bleiben  wir,  dies  zu  erläutern,  bei  Mokallaf.  Im 
Koran  kommt  das  Verbum  mehrmals  in  der  Bedeutung:  eine 
Pflicht  auferlegen,  \ror.  Am  nächsten  dem  spätem  technischen 
Sinn  kommt  die  Koranstelle  7;  40,  welche  Rückert  übersetzt: 
Die  aber  so  glaubten  und  das  Gute  thaten  —  wir  legen  keiner 
Seele  auf  über  ihr  Vermögen  —  dieselbigen  sind  die  Genossen 
des  Gartens,  worin  sie  ewig  sind.  Es  ist  zwar  die  einzige 
Bestimmung  eines  jeden  Menschen  Gott  zu  dienen  und  die  ihm 
von  Gott  auferlegten  Pflichten  zu  erfüllen  —  sich  als  Mokallaf 
zu  geberden ;  wer  aber  dem  Islam,  der  Religion  der  absoluten 
Unterwürfigkeit,  beitritt,  ist  ein  beeidigter  Diener  Gottes  und 
sobald  und  so  lange  er  im  vollen  Gebrauch  seiner  Vernunft  ist,  ein 
Makallaf  im  engern  Sinn  des  Wortes.  Mokallaf  wurde  nachweis- 
bar schon  im  Jahre  684  in  dieser  Bedeutung  gebraucht.  Merk- 
würdig ist,  dass  im  Volksmund  das  Verbum  (namentlich  Teklif) 
eine  ganz  andere  Bedeutung,  nämlich  die  von  Beschwerde,  erhielt. 

Zum   Abschluss    gebracht    wurde    die    Rechtswissenschaft 


Eine  Skizze  d.  Entwicklungsgeschichte  d.  muslimischen  Gesetzes,     15 

durch  die  auch  den  Laien  bekannten  vier  orthodoxen  Rechts- 
schulen^  sie  entstanden  im  achten  und  in  der  ersten  Hälfte 
des  neunten  Jahrhunderts:  Abu  Hanifa,  der  Stifter  der  ältesten, 
wurde  im  J.  699  geboren  und  starb  in  767,  und  Ihn  Hanbai, 
der  Stifter  der  jüngsten,  starb  in  855,  74^2  Jahre  alt.  Zuta 
der  Grossvater  des  Abu  Hanifa  war  aus  Kabul,  wurde  nach 
Kufa  als  Sklave  gebracht,  erhielt  dort  die  Freiheit  und  wurde, 
wie  das  üblich  ist,  der  Client  seines  früheren  Herrn  und  ein  Mit- 
glied von  dessen  Stamm,  den  Teimiten.  Thabit,  der  Vater  Abu 
Haiiifas,  wurde  als  Mitglied  dieses  Stammes  geboren,  und  scheint 
sich  einiges  Vermögen  erworben  zu  haben;  denn  dessen  Sohn, 
Abu  Hanifa,  hatte  eine  Tuchhandlung  und  war  ein  wohlhabender 
Mann.  Im  zehnten  Jahrhundert,  als  der  schöpferische  Geist 
der  Muslime  verglimmt  war,  fingen  sie  an  frühere  Grössen  zu 
verherrlichen  und  sie  schrieben  voluminöse  Werke  zum  Lobe 
des  Abu  Hanifa,  Schafii  etc.  Es  waren  aber  die  Araber,  die 
einst  Populus  Rex  gewesen  waren,  auf  das  Niveau  geknechteter 
Völker  hinabgesunken,  und  die  Panegyristen,  die  keinen  Be- 
griff vom  Geiste  der  Vorzeit  hatten,  bemassen  ihrer  Gewohnheit 
gemäss  den  Wert  eines  Mannes  nach  der  Auszeichnung,  die 
ihm  von  den  Machthabern  zu  Theil  geworden  war,  und  er- 
warteten, dass  Abu  Hanifa  wenigstens  die  Stelle  eines  Kadhi 
bekleidet  haben  soll.  Da  dieses  nicht  der  Fall  war,  so  er- 
zählen sie,  der  Statthalter  der  Omajjiden  und  später  der 
Chalife  Mansur  haben  ihm  diese  Würde  angeboten  und  weil 
er  sich  hartnäckig  weigerte  sie  anzunehmen,  ihn  durch  Ge- 
fängniss,  Prügelstrafe  und  Drohung  mit  dem  Tode  zur  An- 
nahme zwingen  wollen.  Da  die  Sache  Licht  wirft  auf  den 
Geist  jener  stürmischen  Zeit  und  auf  die  Stellung  und  den 
Character  der  grossen  Rechtslehrer  in  derselben,  sei  es  mir 
gestattet  sie  zu  erörtern.  Kufa,  die  Vaterstadt  Abu  Hanifas, 
war  während  seiner  Jugendzeit  viel  zu  aristokratisch  zu  ge- 
statten, dass  der  Enkel  eines  Sklaven  zu  einem  hohen  Amt 
erhoben  werde.  Said  Ihn  Djobeir  (st.  714)  war  der  beste 
Exeget  und  einer  der  grössten  Rechtslehrer  seiner  Zeit.    Had- 


16  Sprenger. 

jdjadj  bestellte  ihn  als  Vorbeter  in  Kufa,  was  eine  allgemeine 
Entrüstung  hervorrief.  Bisher,  sagten  die  Kußer,  hatten 
wir  reine  Araber  als  Vorbeter;  in  den  Adern  Saids  aber 
fliesst  afrikanisches  Bhit  und  es  ist  beschämend  für  uns,  dass 
dieser  Schwarze  unser  Vorbeter  sein  soll.  Später  wurde  die 
Stelle  des  Kadhi  von  Kufa  frei  und  Hadjdjadj,  der  sich  sonst 
nicht  viel  um  die  öffentliche  Meinung  kümmerte,  wagte  es  nicht, 
den  Said  anzustellen,  sondern  traf  nun  folgendes  Arrangement: 
Er  stellte  den  Abu  Borda  als  Kadhi  an  und  gab  ihm  den 
Befehl,  keine  Entscheidung  gegen  den  Rath  des  Said,  der 
sein  Beisitzer  sein  soll,  zu  treffen. 

Zur  Zeit  Abu  Hanifas  war  Kufa  der  Sitz  des  omajji- 
dischen  Statthalters  von  Babylonien  und  nach  Vertreibung  des- 
selben die  Residenz  des  ersten  Chalifen  aus  dem  Hause  Abbas. 
Die  Vaterstadt  Abu  Hanifas  war  daher  der  geistige  Mittel- 
punkt der  gewaltigen  Bewegung  des  Dynastiewechsels  und 
Abu  Hanifa  wurde  ebenso  wie  sein  Landsmann  Sofian  Thauri 
(geb.  716,  gest.  778)  hineingezogen.  Saffah,  welcher  am 
20.  Oktober  749  zu  Kufa  als  Chalif  ausgerufen  wurde,  war 
ein  Urenkel  des  oben  erwähnten  Ihn  Abbas  und  machte  ge- 
meinsame Sache  mit  den  Gebrüdern  Mohammed  und  Ibrahim, 
deren  Vater  ein  Urenkel  der  Tochter  des  Propheten  war  und 
welche  an  der  Spitze  der  Aliden  standen.  Abu  Hanifa  nahm 
Partei  für  die  alidisch-abbasidischen  Wühler  gegen  die  omaj- 
jidische  Dynastie  und  es  ist  daher  kein  Wunder,  wenn  er 
vom  Statthalter  der  letzteren  bestraft  wurde.  In  763  ent- 
brannte ein  Kampf  zwischen  den  frühern  Verbündeten,  den 
Abbasiden  und  Aliden^  und  Mansur,  der  zweite  Chalif  ver- 
nichtete seine  Gregner  und  tödtete  den  Mohammed  und  Ibra- 
him. Abu  Hanifa,  Malik,  Sofian  Thauri  und  andere  grosse 
Rechtslehrer,  an  welchen  jene  Zeit  so  reich  war,  nahmen 
Partei  für  die  Aliden,  predigten  den  Aufruhr  gegen  Mansur 
und  hatten  somit  ihr  Leben  verwirkt.  Von  den  genannten 
drei  wurde  zwar  keiner  hingerichtet,  aber  Abu  Hanifa  starb 
vier   Jahre   später    im    Gefängniss,    wie   einige    behaupten    an 


Eine  Skizze  d.  Entwicklungsgeschiciite  d.  muslimischen  Gesetzes^     17 

Gift,  und  für  Sofian  Tauri  wurde  in  775  in  Mekka,  wohin  er 
sich  begeben  hatte,  ein  Kreuz  errichtet,  an  das  er  geschlagen 
werden  sollte,  sobald  der  Chalif,  der  die  Pilgerfahrt  verrichtete, 
daselbst  angekommen  sein  würde.  Der  Chalif  erkrankte,  ehe  er 
Mekka  erreicht  hatte,  und  starb  ehe  er  den  Sofian  kreuzigen 
konnte.  Malik,  der  sich  in  Medina  aufhielt,  wurde  in  764  von 
Abu  Djafar,  dem  Vetter  des  Mansur,  auf  die  Folter  gespannt  bis 
das  Schultergelenk  verrenkt  war  und  erhielt  siebenzig  Geissei- 
hiebe; sein  Leben  wurde  aber  nicht  bedroht.  Nehmen  wir  alles 
zusammen,  so  kommen  wir  zum  Schluss:  es  wurde  der  Versuch 
gemacht  durch  Versprechungen  hoher  Ehrenstellen  und  durch 
Drohungen,  Gefängniss  und  die  Folter  diese  Männer  zu  gewinnen, 
sie  blieben  aber  dabei  zu  erklären,  dass  der  dem  Mansur  ge- 
leistete Huldigungseid  seit  der  Ermordung  der  Aliden  nicht  mehr 
bindend  sei.  Dieses  sind  die  Männer,  welche  am  Schlüsse  der 
Omajjiden -Herrschaft  herangewachsen  waren,  und  das  sind  die 
Schicksale,  welche  ihnen  der  Djnastiewechsel  brachte. 

Von  den  andern  drei  orthodoxen  Rechtsschulen,  besonders 
der  des  Schafii,  unterscheidet  sich  die  des  Abu  Hanifa  dadurch, 
dass  in  derselben  auf  die  Schlussfolgerung,  Qias,  grosses  Ge- 
wicht gelegt  wird,  während  Schafii  sich  vorzüglich  an  die 
Siinna  hält.  Abu  Hanifa  fasste  den  Islam  als  ein  lebendiges 
Ganzes  auf  und  die  Satzungen  als  Ausflüsse  aus  demselben, 
und  hielt  es  daher  für  legitim,  unter  ängstlicher  Berücksich- 
tigung der  Sunna,  Einzelheiten  aus  allgemeinen  Principien  zu 
deducireu.  Es  gab  damals  auch  andere  Rechtslehrer,  welche 
diese  Richtung  einschlugen  und  A^habu-lrai,  Leute  der  Spe- 
culation,  Denker  genannt  wurden.  Ihn  Koteiba  zählt  neun  der- 
selben auf.  Zwei  von  ihnen,  Abu  Jusuf,  von  dem  wir  bald 
mehr  hören  werden,  und  Zofar  (geb.  728,  gest.  775)  gehören  zur 
Schule  des  Abu  Hanifa.  Drei  andere  Auzai,  Sofian  Thauri  und 
Malik,  kennen  wir  bereits.  Der  Aelteste  ist  Ihn  Abi  Leila,  der 
sich  mit  dem  Staatsrecht  beschäftigte  und  in  775  zuBasra  starb. 

Abu  Hanifa  definirte  Fiqh,  Gesetzkunde:  Marifatu-lnafs 
ma  laha  waraa  aleiha  d.  h.  Erkenntniss  des  Menschen  (wörtl. 

Zeitschrift  für  vergleichende  Rechtswissenschaft.   X.  Bn.nd.  2 


18  Sprenger. 

der  Seele)  seiner  Ansprüche  und  seiner  Pflichten.  Die  Scho- 
lastiker rügen  in  dieser  Definition,  dass  Erkenntniss  d.  h. 
Innewerden  und  nicht  Kenntniss  gebraucht  wird  und  dass 
dem  Menschen  Gott  gegenüber  nicht  nur  Pflichten,  sondern 
auch  Ansprüche  zugeschrieben  werden  ^).  Darin  liegt  in 
der  That  der  Unterschied  zwischen  den  spätem  Scholastikern 
und  diesen  Denkern,  deren  Gemüth  vom  Geiste  des  Islam 
durchdrungen  war.  Wir  besitzen  eine  Schrift  des  Abu  Hanifa, 
welche  uns  Aufschluss  gibt  über  die  Gesetzkunde  in  jener  Zeit. 
Sie  hat  den  Titel:  Elfiqhu-lakbar,  die  höchste  Gesetzkuude, 
und  enthält  eine  tiefgedachte  und  mit  meisterhafter  Klarheit 
ausgesprochene  Darstellung  des  islamischen  Gottesbegriös  und 
der  daraus  fliessenden  ethischen  Consequenzen. 

Kufa,  die  Vaterstadt  Abu  Hanifas,  war  einer  der  Mittel- 
punkte der  muslimischen  Geisteskultur  mit  eigenthümlicher 
Richtung.  Der  erste  Statthalter  und  Religionslehrer  von  Kufa 
war  Ibn  Masud  (st.  653),  der  den  Islam  mit  mehr  Innigkeit  auf- 
fasste  als  irgend  ein  anderer  von  den  Jüngern  des  Mohammed. 
Und  Kufa  war  eine  der  zwei  Schulen  der  arabischen  Philologie, 
wodurch  selbständiges  Denken  auch  in  denen  angeregt  wurde, 
welche,  wie  Abu  Hanifa,  der  selbst  mit  der  arabischen  Grram- 
matik  auf  gespanntem  Fusse  stand,  persönlich  kein  Interesse 
nahmen  an  humanistischen  und  historischen  Studien.  Der  Geist 
philosophischer  Speculation  machte  im  Zeitalter  des  Abu  Hanifa 


^)  Die  Definition  der  Schafeiten  stellt  sieh  in  Gegensatz  zu  der 
des  Abu  Hanifa  und  lautet:  Die  Gesetzeskunde  (Fiqh)  besteht  in  der 
Kenntniss  der  unsere  Handlungen  (nicht  aber  unsere  Gesinnungen  oder 
den  Glauben)  betreffenden  Satzungen,  wie  jede  für  sich  aus  den  im 
Gesetz  (d.  h.  im  Koran,  der  Sunna)  enthaltenden  Bestimmungen  erfliesst. 
Die  Schafeiten  und  wohl  auch  die  anderen  Rechtsschulen,  theilten  die 
Satzungen  in  vier  Klassen :  Die  das  Seelenheil  betreffenden  oder  gottes- 
dienstlichen Handlungen,  die  das  persönliche  Wohl  betrelTenden,  die  die 
Familie  betreffenden,  und  die  den  Staat  betreffenden.  Für  staatlich  ge- 
brauchen sie  Madani  eine  Uebersetzung  von  Politiken,  und  für  Familie 
eine  Uebersetzung  von  Oikonomikon  und  verrathen  damit  den  Ursprung 
ihrer  Theorie. 


Eine  Skizze  d.  Entwicklungsgeschichte  d.  muslimischen  Gesetzes.     19 

und  schon  etwas  früher  grosse  Fortschritte,  und  man  dispu- 
tirte  über  das  Fatum  und  ähnliche  Fragen  und  es  entstanden 
Schulen  von  Ketzern  und  Freidenkern  und  fanden  so  viele 
Anhänger,  dass  vierzehn  Jahre  nach  Abu  Hanifas  Tod  der 
Chalife  Mahdi  es  nöthig  fand,  da  das  Schwert  nicht  ausreichte, 
die  Bewegung  zu  unterdrücken,  polemische  Schriften  gegen 
sie  verfassen  zu  lassen. 

Das  Rechtssystem  des  Abu  Hanifa  wurde  erst  durch 
seine  Schüler,  unter  denen  Abu  Jusuf  den  ersten  Rang  ein- 
nimmt, vollendet.  Es  ist  behauptet  worden,  die  Lehren  des 
Abu  Hanifa  würden  der  Vergessenheit  anheimgefallen  sein, 
wenn  Abu  Jusuf  nicht  gewesen  wäre.  Abu  Jusuf  (st.  Donnerst. 
25.  April  798),  wie  weltlich  er  auch  war,  ist,,  man  muss  es 
zugeben,  doch  epochemachend.  Er  hat  das  Verdienst,  der  Rechts- 
lehre eine  wissenschaftliche  Grrundlage  gegeben  zu  haben,  in- 
dem er  eine  kritische  Untersuchung  über  die  soeben  erwähnten 
Quellen  des  Gesetzes  schrieb.  Auch  Schafii'verfasste  ein  Werk 
über  diesen  Gegenstand,  aber  das  des  Abu  Jusuf  ist  älter 
und  seine  Theorie  über  diesen  Gegenstand  lebt  in  schola- 
stischen Umarbeitungen  in  den  Hanefitischen  Schulen  wie  die 
des  Schafii  in  den  Schafiitischen  bis  an  den  heutigen  Tag 
fort.  Von  sehr  grosser  Bedeutung  sowohl  für  die  Geschichte 
des  muslimischen  Rechtes  als  des  Staatsorganismus  ist  Abu 
Jusufs  Denkschrift,  die  in  den  Rechtsbüchern  unter  dem  Titel 
Risale  Harunijja  citirt  wird  und  letzthin  in  Egypten  unter 
dem  Namen  Kitabu-lcheradj  (Steuerbuch)  gedruckt  worden  ist. 
Der  Verfasser  beantwortet  darin  staatsrechtliche  und  völkerrecht- 
liche Fragen,  welche  ihm  der  Chalife  Harun  Erraschid  (reg.  786 
bis  809),  oder  richtiger  gesagt  dessen  Gemahlin  Zobeida  vor- 
gelegt hatte,  damit  ihm  bezw.  ihr  die  Antwort  darauf  als 
Richtschnur  diene  in  der  Leitung  der  Staatsgeschäfte.  Der 
Form  nach  ist  diese  Denkschrift  eine  Feststellung  der  bezüg- 
lichen göttlichen  Gesetze,  wie  sie  durch  den  Propheten  und 
durch  die  unter  seinem  Einflüsse  stehenden  Personen  in  Wort 
und  That   promulgirt    worden    sind,    und   sie  besteht    deshalb 


20  Sprenger. 

hauptsächlich  aus  Ueberlieferungen :  thatsächlich  aber  ent- 
hält sie  eine  zeitgemässe  Fortbildung  des  Gesetzes.  Aus  dem 
unermesslichen  Material  von  Ueberlieferungen,  Rechtsgut- 
achten etc.  hat  auch  Jusuf  was  den  Zwecken  des  Chalifen 
am  besten  entsprach  ausgelesen.  Er  verfährt  mit  solcher 
Objectivität  und  scheinbarer  Unparteilichkeit,  dass  die  Kritik 
dieses  wichtigen  Actenstückes  für  den  zukünftigen  Geschicht- 
schreiber ein  schwere  Aufgabe  sein  wird.  Soviel  darf  jedoch  schon 
jetzt  behauptet  werden :  es  war  sein  Zweck,  die  Rechte  der 
arabisch-muslimischen  Gemeinde  zu  verkürzen,  die  Steuer- 
schraube möglichst  anzuziehen  und  den  Staatsschatz,  der  immer 
noch,  was  wie  Ironie  klingt,  Beit  malu-l'muslimin,  Schatz- 
kammer der  Muslime,  genannt  wird,  in  der  Theorie,  wie  es 
thatsächlich  immer  der  Fall  gewesen  ist,  zum  Privateigenthum 
der  Autokraten  zu  machen. 

Abu  Jusuf  ist  der  einzige  unter  den  grossen  Rechtsge- 
lehrten, welcher  als  officieller  Kronjurist  wirkte,  es  dürften 
daher  einige  Bemerkungen  über  seine  Zeit  hier  am  Platze 
sein.  Mansur  (reg.  vom  Juli  754  bis  October  775),  der  eine 
berberische  Sklavin  zur  Mutter  hatte,  war  ein  Mann  von 
Blut  und  Eisen,  aber  nicht  ohne  Geist  und  Sinn  für  Kunst 
und  Wissenschaft.  Einer  der  ersten  Akte  seiner  Regierung 
war,  dass  er  den  Abu  Muslim,  dem  seine  Dynastie  die  Herr- 
schaft verdankte,  weil  er  ihm,  als  er,  der  Beherrscher  der 
Gläubigen,  im  Jänner  755  Seleucia  ad  Tigrim  besuchte, 
mit  zu  grossem  Selbstbewusstsein  entgegentrat,  erschlug. 
Sieben  Jahre  später  vernichtete  er  die  Aliden,  mit  denen 
einst  seine  Partei  gemeinschaftliche  Sache  gemacht  hatte, 
und  fing  an  den  Abu  Hanifa  und  andere  grosse  Rechts- 
lehrer der  biedern  alten  Schule  zu  verfolgen.  Für  die  Araber 
begann  eine  neue  Aera.  Ein  Geschichtschreiber  sagt  (bei 
Sojuti  Gesch.  d.  Chal.  p.  272):  Mansur  ist  der  erste  Chalife, 
an  dessen  Hofe  Astrologen  waren  und  der  sich  durch  Stern- 
deutung  in  seinen  Unternehmungen  leiten  liess,  und  er  ist  der 
erste^  der  syrische  und  andere  in  fremden  Sprachen  geschrie- 


Eine  Skizze  d.  Entwicklungsgeschichte  d.  muslimischen  Gesetzes.     21 

bene  Werke  ins  Arabische  übersetzen  liess^  so  die  Apologie 
des  Pilpai  und  Euclids  Geometrie,  und  er  ist  der  erste,  der 
seine  Clienten  (die  Mehrzahl  waren  freigelassene  Sklaven)  in 
hohen  Aemtern  anstellte  und  sie  zu  Vorgesetzten  der  Araber 
machte.  Nach  ihm  hat  dieses  so  sehr  zugenommen^  dass  die  Ober- 
herrschaft der  Araber  und  ihr  Commando  in  der  Armee  aufhörte. 
Zur  Vervollständigung  dieses  Berichtes  muss  daran  er- 
innert werden^  dass  die  Abbasiden  ihr  Emporkommen  den 
Chorassaniern  —  Bewohern  des  östlichen  Persien,  theils  persi- 
schen und  turanischen,  theils  arabischen  Ursprungs  —  ver- 
dankten, dass  am  Hofe  Harun  Erraschids  persische  Sitten 
und  persischer  Luxus  herrschten,  und  dass  infolge  dessen  die 
persischen  Städte  und  Männer  persischen  Ursprunges  mehr  und 
mehr  an  der  geistigen  Thätigkeit  der  Muslim  auch  auf  dem 
Gebiete  der  Ueberlieferungskunde  theilnahmen  und  sich  even- 
tuell an  die  Spitze  stellten.  Motasim  (Regierungsantritt  August 
833),  ein  roher  gewaltiger  Mann,  der  es  nicht  einmal  im  Lesen 
und  Schreiben  zur  Fertigkeit  gebracht  hatte,  umgab  sich  mit 
einer  Garde  von  10  000  türkischen  Sklaven.  Später  erhöhte 
er  die  Zahl  bis  auf  70000,  gab  ihnen  ihre  Freiheit,  machte 
sie  zu  seinen  Clienten,  wodurch  sie  die  Rechte  geborener 
Araber  erhielten,  gab  ihnen  und  auch  ihren  Frauen,  die  aber 
Türkinnen  sein  mussten,  Sold  und  vollendete  somit  die  Unter- 
drückung der  arabischen  Rasse.  Er  selbst  und  seine  fünf 
nächsten  Nachfolger  wurden  von  ihren  türkischen  Prätorianern 
ermordet.  Nehmen  wir  den  Regierungsantritt  Omars  für  den 
Anfang  und  den  Motasims  für  das  Ende  der  Herrschaft  der 
Araber  im  Orient,  so  dauerte  sie  nur  199  Jahre.  Die  Araber 
lebten  sehr  rasch  und  durchschritten  die  Perioden  des  geistigen 
und  politischen  Lebens  mit  einer  Schnelligkeit,  dass  ihr  Fort- 
schritt unsern  Geschichtschreibern  ebensowenig  wahrnehmbar 
ist,  wie  der  Flug  eines  Pfeiles.  Man  wird  es  mir  zu  gute 
halten,  dass  ich  das  Datum  der  handelnden  Personen  an- 
gebe; denn  die  Lage  und  Gesinnungen  der  Söhne  waren 
gewöhnlich  verschieden  von  denen  ihrer  Väter. 


22  Sprenger. 

Es  vollzogen  sich  gewaltige  Umwälzungen  im  politischen 
und  geselligen  Leben.  Die  Türken,  welche  unter  Motasim  zur 
Herrschaft  kamen,  und  seitdem  in  allen  Ländern  des  Orients,  mit 
wenigen  und  schnell  vorübergehenden  Ausnahmen,  Herren  der 
Situation  geblieben  sind,  bildeten  von  nun  an  den  Wehrstand  — 
eine  distinkte  Kaste,  und  in  früher  Zeit  kam  es  selten  vor, 
dass  sich  ein  Türke  mit  Wissenschaft  beschäftigte.  Der  Lehr- 
stand, der  anfangs  aus  Arabern  oder  Clientcn  der  Araber, 
später  aber  im  Orient  (nicht  so  in  Afrika)  vorwiegend  aus 
Männern  persischer  Abkunft  bestand,  wurde  von  den  türkischen 
Herren  mit  grossmüthiger  Aufmerksamkeit  behandelt:  die 
Ulema  standen  sich  viel  besser  als  früher.  Unter  der  neuen 
G-estaltung  der  Dinge  musste  sich  auch  die  Färbung  des  Ge- 
setzes und  der  Charakter  der  Gesetzeslehrer  und  Richter 
ändern. 

Abu  Jusuf  war  einer  reinarabischen  Familie  entsprossen, 
aber  so  arm,  dass  seine  Mutter  nach  dem  Tode  seines  Vaters 
sich  und  ihren  Sohn  mit  Spinnen  ernährte  und  ihn  dazu  an- 
hielt, Walker  und  Wascher  zu  werden.  Der  Drang  nach 
Wissen  bewog  den  jungen  Abu  Jusuf,  die  Vorträge  des  Abu 
Hanifa  zu  besuchen  und  dieser  unterstützte  ihn  auch  material. 
Nach  dem  Tod  seines  Lehrers  begab  er  sich  nach  Baghdad 
und  da  er  schon  einen  grossen  Ruf  als  Rechtslehrer  besass, 
wandte  sich  ein  Hofcavalier,  der  ein  eidliches  Gelöbniss  ver- 
letzt hatte,  mit  der  Bitte  an  ihn,  er  möge  sein  Gewissen  be- 
ruhigen. Abu  Jusuf  erklärte,  er  sei  des  Eidbruches  nicht 
schuldig.  Damit  war  das  Glück  des  jungen  Rechtsgelehrten 
gemacht.  Der  Cavalier  beschenkte  ihn  reichlich  und  baute 
für  ihn  ein  Haus  neben  dem  seinigen.  Das  scheint  unter  der 
Regierung  Mahdi's  vorgefallen  zu  sein.  Einige  Jahre  später 
fand  dieser  Cavalier  den  Chalifen  Harun  in  sehr  trüber  Stim- 
mung und  erfuhr  von  ihm,  dass  er  sich  in  einer  Lage  befinde,  in 
der  er  seine  Rechtskundigen  zu  Rath  zu  ziehen  wünsche. 
Der  Höfling  empfahl  ihm  Abu  Jusuf.  Der  Chalife  schickte 
um  ihn,  und  als  dieser  zwischen  den  Gebäuden  des  Palais  gegen 


Eine  Skizze  d.  Entwicklungsgeschichte  d.  muslimischen  Gesetzes.     23 

das  Empfangzimmer  ging,  führte  ihn  sein  Weg  bei  einer  Kammer 
vorüber,  in  der  ein  schöner  junger  Mann  gefangen  gehalten 
wurde  und  den  vorübergehenden  Rechtsgelehrten  mit  flehender 
Gebärde  begrüsste.  Die  Frage,  welche  ihm  der  Chalif  vor- 
legte, war:  Muss  das  Staatsoberhaupt,  wenn  es  mit  eigenen 
Augen  einen  Mann  Unzucht  (Ehebruch)  begehen  gesehen  hat, 
die  gesetzliche  Strafe  (Steinigung)  an  ihm  vollstrecken^)?  Abu 
Jusuf  merkte  sogleich,  dass  der  junge  Mann,  bei  dessen  Ge- 
fängniss  er  vorübergegangen  war,  der  Ehebrecher  sei  und  der 
Chalif  ihn  zu  schonen  wünsche,  und  sagte  daher  entschieden: 
Nein,  denn,  fügte  er  bei,  der  Richter  entscheidet  nicht  nach 
seinem  Wissen,  sondern  nach  den  Beweisgründen  der  Parteien. 
Wenn  der  Stärkere  auch  weiss,  dass  er  im  Recht  ist,  darf  er 
sich  sein  Recht  nicht  selbst  nehmen,  sondern  er  muss  es  be- 
weisen. Abu  Jusuf  wurde  von  dem  jungen  Manne  und  von  dem 
Chalifen  reichlich  beschenkt  und  zu  den  höchsten  Ehrenämtern 
erhoben. 

Abu-Jusuf  führte  die  Sitte  ein,  dass  sich  die  der  Rechts- 
wissenschaft, bezw.  der  Theologie  Beflissenen  in  ihrer  Kleidung 
von  den  Laien  unterscheiden.  Diese  Sitte  hat  sich  in  einigen 
Ländern  des  Orients  erhalten  und  das  Abzeichen  besteht,  so 
viel  ich  weiss,  darin,  dass  sie  auf  dem  Kopf,  allenfalls  über 
den  Turban,  ein  Tailesan  tragen,  das  auf  die  Schultern  hinab- 
fliesst.  Dozy  hat  dieses  Kleidungsstück  in  seinem  Dict.  des 
noms  des  v^tements  chez  les  arabes  ausführlich  beschrieben 
und  er  führt  auch  die  beachtenswerthe  Stelle  aus  Lane  an: 
I  am  inclined  to  think  that  it  is  similar  in  its  origin  to  our 
academical  scarfs  and  hoods.  Der  neuen  Mode  stellten  sich 
Feinde  entgegen  und  nach  damaliger  Sitte  bekämpften  sie  sie 
mittelst  der  Ueberlieferung.  Der  Prophet,  erzählten  sie,  sprach 
vom  Antichrist  und  sagte:  Mit  ihm  rücken  70000  Juden  aus 
Ispahan,    die  Teilesane  tragen,    aus.     Sie  beriefen  sich    auch 


^)  Ueber  die  Zina  und   ihre  Bestrafung  vgl.  Kohler,  Gerichtssaal 
Band  41.  D.  R. 


24  Sprenger. 

auf  Anas  und  sagten^  er  sei  einst  einer  Anzahl  Leuten  be- 
gegnet, die  Teilesane  trugen,  und  habe  ausgerufen,  wie  ähn- 
lich sie  den  Juden  von  Cheibar  sind  (vgl.  Nuru-Lnibras 
p.600).  Wie  sehr  auch  der  neue  Kopfputz  dem  der  Juden  gleichen 
mochte,  erklärte  doch  Schafii,  dass  es  eine  Verletzung  des 
Anstandes  sei,  wenn  ein  Theologe  kein  Teilesan  trage.  Abu- 
Jusuf  war  der  erste,  welchem  der  Titel  Qadhiu- Iqodhat, 
Richter  der  Richter,  beigelegt  wurde.  Dieses  hohe  Amt 
dauert  in  Stambul  noch  fort  und  der  Träger  hat  den  Titel 
Scheichu-lislam.  Das  Teilesan  und  der  neue  Hoftitel  be- 
zeichnen die  Stellung ,  welche  die  Ulema  (Theologen  und 
Rechtsgelehrte)  von  nun  an  einnahmen.  Sie  bildeten,  wie 
ich  bereits  angeführt  habe,  mehr  und  mehr  einen  eigenen 
Stand.  Die  veranlassende  Ursache  dieser  Reform  war  die 
Unterdrückung  der  arabischen  Grarnisonen  von  Kufa  und  Basra 
durch  fremde  Kriegsvölker,  und  deswegen  hat  sie  drei  Decen- 
nien,  ehe  die  Türken  zur  Herrschaft  kamen,  angefangen.  Mit 
dieser  Neubildung  standen  verschiedene  Erscheinungen  im 
causalen  Zusammenhang.  Zwei  davon  verdienen  besondere 
Beachtung :  Die  gleichzeitige  Entwicklung  des  Schriftthums 
und  die  Pflege  der  aristotelischen  Philosophie ,  besonders 
der  Logik.  Dzohabi  in  seiner  Chronik  ad  annum  143  Fl. 
^  760  n.  Chr.  fasst  die  Entstehungsgeschichte  der  arabischen 
Literatur  in  wenigen  Sätzen  zusammen:  Vor  dieser  Periode 
(die  wir  das  Zeitalter  des  Abu-PIanifa  heissen  wollen),  discu- 
tirten  die  Imame  (Rechtslehrer,  wie  die  7  von  Medina),  die 
Probleme  aus  dem  Gedächtniss  oder  sie  erzählten  die  Wissen- 
schaft (d.  h.  die  Ueberlieferung)  nach  zuverlässigen  Aufzeich- 
nungen, die  nicht  geordnet  waren  und  nicht  den  Charakter 
eines  Buches  hatten.  Im  Zeitalter  des  Abu-Hanifa  aber  wur- 
den systematisch  geordnete  Traditionssammlungen  und  Bücher 
über  Rechtswissenschaft  und  Exegese  verfasst.  Ihn  Djoreidj 
(st.  767)  that  dies  in  Mekka,  Malik  st.  795)  in  Medina,  Auzai 
(ein  muslimischer  Heiliger  von  hohem  Rang,  st.  774)  in  Syrien 
(Beirut),  Ihn  Abi  Arüba  (st.  773),  und  Hammad  Ibu  Salama 


Eine  Skizze  d.  Entwicklungsgeschichte  d.  muslimischen  Gesetzes.     25 

(st.  784)  in  Kufa.  In  dieser  Periode  verfasste  Ibn  Ishak 
(st.  768)  die  Biographie  des  Mohammed  und  Abu  Hanifa 
seine  Werke  über  Rechtswissenschaft  und  speculative  Theologie. 
Kurze  Zeit  nach  dieser  Periode  folgte  die  Zeit  des  Abu  Jusuf. 
In  und  nach  derselben  wurden  zahlreiche  und  voluminöse 
Traditionssammlungen  und  Werke  über  Theologie,  Grammatik, 
Lexicographie,  Geschichte  und  arabische  Heldensagen  ge- 
schrieben.    Soweit  Dzohabi. 

Der  Chatib  (Prediger)  von  Baghdad  (st.  1072),  einer  der 
gelehrtesten  unter  den  vielen  Sammlern  biographischer  Notizen, 
schrieb  eine  Monographie  über  die  ersten  Anfänge  des  mus- 
limischen Schriftthumes  und  ich  habe  einen  vollständigen  Aus- 
zug daraus  mit  Zusätzen  im  Journal  As.  Soc.  Bengal,  Band  25, 
veröffentlicht.  Man  findet  darin  wohl  verbürgte  Nachrichten, 
dass  Omar  I.  sich  principiell  Versuchen,  Bücher  zu  schreiben 
oder  zu  importiren,  widersetzte,  und  wenn  er  hörte,  dass  ein 
Muslim  ein  Buch  habe,  es  vernichtete  bezw.  zu  vernichten  befahl. 
Wenn  die  muslimischen  Eroberer  wirklich  eine  Bibliothek  in 
Alexandrien  vorfanden,  konnte  sie  der  Vernichtungswuth  dieses 
Bücherfeindes  nicht  entgehen.  Geschichtsforscher,  welche  sich 
mit  dieser  Frage  beschäftigen,  sollen  die  Berichte  des  Chatib 
nicht  unberücksichtigt  lassen. 

Im  Anfang  des  8.  Jahrhunderts  war  Zohri  (st.  743) 
der  grösste  Traditionslehrer.  Er  und  seine  Zeitgenossen  er- 
zählten zwar  Ueberlieferungen  aus  dem  Gedächtnisse,  doch 
hatten  sie  auch  Collegienhefte,  welche  sie  ihren  Schülern 
zum  Abschreiben  gaben  und  der  Bedingung  der  mündlichen 
Mittheilung  wurde  dadurch  entsprochen,  dass  einer  der  Schüler 
seine  Abschrift  vorlas  und  der  Lehrer  und  die  übrigen  Schüler 
zuhörten.  Manchmal  copirte  ein  Schüler  das  Collegienheft 
eines  andern,  zeigte  es  dem  Lehrer  und  fragte  ihn:  Sind  das 
Deine  Traditionen?  Wenn  er  es  bejahte,  war  die  Bedingung 
der  mündlichen  Ueberlieferung  erfüllt.  Manche  eifrige  Tra- 
ditionisten,  welche  die  Mittel  zu  Reisen  besassen,  besuchten 
mehr  als  tausend  Lehrer,  um  ihre  Collegienhefte  zu  copiren.  Auf 


26  Sprenger. 

diese  Weise  entstand  ein  unermessliches  schriftliches  Material, 
welches  aber  lediglich  aus  Collegienheften  bestand. 

Die  erste  Traditionssaminlung,  welche  die  Form  eines 
Buches  hat,  ist  die  des  Malik  (st.  7.  Juni  795).  Sie  ist  wie 
Rechtsbücher  in  Capitel  getheilt  und  enthält  nur  solche 
Ueberlieferungen,  die  Maliks  Rechtssystera  begründen.  Der 
Titel  der  Sammlung  ist  Muatta  und  sie  ist  in  1266  Fl.  in 
Dehli  lithographirt  worden.  Damit  auch  der  Laie  wisse,  was 
eine  Tradition  ist,  führe  ich  ein  Beispiel  an  aus  Muatta  p,  192: 
Malik  von  Abu-lzinnad,  von  el-Aradj,  von  Abu  Horeira:  Der 
Gottesbote  hat  fürwahr  gesagt,  ein  Mann  darf  nicht  gleich- 
zeitig zwei  Frauen,  welche  Nichte  und  Tante  zu  einander 
sind,  zu  Gemahlinnen  haben.  Die  Bürgschaft  bedeutet:  Ich, 
Malik,  habe  von  Abu-lzinnad  (st.  64  Jahre  alt  am  21.  Juli 
748)  erfahren,  dass  er  von  el-Aradj  (st.  in  Alexandrien  in 
735)  und  dieser  von  Abu  Horeira  erfahren  habe:  der  Gottes- 
bote etc.  Von  den  sechs  canonischen  Traditionssammlungen, 
welche  bei  den  Sunniten  als  Quellen  des  Gesetzes  den  ersten 
Rang  nach  dem  Koran  einnehmen,  ist  die  des  Bochari  (geb. 
19.  Juli  810,  gest.  2.  Sept.  870)  die  älteste  und  geschätzteste. 
Der  Vorzug  dieser  Sammlungen  vor  der  des  Malik  besteht 
darin,  dass  strengere  Regeln  der  Kritik  befolgt  werden.  Nach 
diesen  Regeln  ist  die  soeben  angeführte  Tradition  nicht  gesund, 
weil  Malik  sagt:  von  Abu-Lzinnad  etc.  und  nicht,  Abu  Izinnad 
hat  mir  erzählt  oder  ich  habe  von  Abu-lzinnad  gehört,  es 
habe  ihm  N.  N.  erzählt  etc.  Eine  Tradition  ist  nur  dann 
gesund,  wenn  jeder  der  successiven  Ueberlieferer  die  persön- 
liche Mittheilung  ausdrücklich  verbürgt.  Die  Ausdrucksweise 
des  Malik  aber  ist  der  Art,  dass  er  sie  einer  schriftlichen 
Notiz  entnommen  oder  von  zweiter  Hand  gehört  haben  konnte. 
Das  Princip,  dass  nur  mündliches  Zeugniss  Gültigkeit  habe, 
wurde  übertrieben,  und  in  den  Lehrbüchern  über  die  Kritik 
der  üeberlieferung  wird  behauptet,  diese  Regel  habe  von  jeher 
bestanden.  Auch  die  Nothwendigkeit,  die  Traditionen  dem 
Gedächtniss  einzuprägen,    wurde,   als  man  sie  in  systematisch 


Eine  Skizze  d.  Entwicklungsgeschichte  d.  muslimischen  Gesetzes.     27 

geordneten  Büchern  niederlegte,  mehr  betont  als  früher.  Von 
Bochari  wird  behauptet,  er  habe  100000  gesunde  und  ebenso 
viele  ungesunde  Traditionen  dem  Gedächtnisse  eingeprägt. 
Dass  er  seine  eigene  Sammlung,  die  7275  Traditionen  enthält 
und  einen  stattlichen  Folioband  füllt,  mit  der  Reihe  der  Bürgen 
für  jede  auswendig  wusste  und  aus  dem  Gedächtnisse  vortrug, 
versteht  sich  von  selbst.  Wir  wollen  die  Wunderkräfte  des 
Gedächtnisses  Bocharis  und  seiner  Collegen  nicht  bezweifeln, 
man  wird  aber  zugestehen,  dass  sie  ohne  Zuhilfenahme  der 
Schrift  nicht  so  viel  hätten  auswendig  lernen  können.  Je 
mehr  man  sich  der  Schrift  bediente,  desto  mehr  hat  sich  das 
Traditionswesen  erweitert  und  consolidirt. 

Nachdem  Abu  Hanifa  und  seine  Schüler,  namentlich  Abu 
Jusuf,  Zofar  und  Imam  Mohammed  das  Gesetz  dogmatisirt 
und  ihre  Lehren  in  systematischen  Büchern  niedergelegt  hatten, 
studirten  ihre  Anhänger  die  Ueberlieferung  in  der  Absicht, 
darin  Bestätigung  der  Lehren  ihres  Meisters  und  Stoff  für 
Erbauung  zu  finden.  Es  gab  aber  noch  Männer,  für 
welche  die  Tradition  die  Hauptquelle  der  Gesetzeskunde  war. 
Unter  diesen  nimmt  Schafii  (geb.  767,  gest.  Freitag  den 
13.  Jänner  820)  den  ersten  Rang  ein.  Im  Gegensatz  zu  den 
A^habu-lrai,  Leuten  der  Speculation,  gründete  er  sein  Rechts- 
system ausschliesslich  auf  die  Sunna,  und  man  darf  wohl  be- 
haupten, dass  Bocharis  Arbeiten  keinen  andern  Zweck  hatten, 
als  die  Lehren  Schafiis  zu  befestigen.  Jedenfalls  sind  es  bis 
auf  den  heutigen  Tag  die  Schafeiten,  welche  die  Traditions- 
wissenschaft pflegen.  Nach  meinem  Ermessen  kann  die  Neu- 
belebung des  Islam,  wenn  eine  solche  möglich  ist,  nur  dadurch 
bewirkt  werden,  dass  Reformatoren,  an  jene  Zeit  anknüpfend, 
als  die  Sunna  noch  lebendig  im  Volke  war,  die  Ueberlieferung 
im  Geiste  des  Fortschrittes,  aber  ohne  den  Boden  des  Positiven 
zu  verlassen,  studiren  und  erklären.  In  dieser  Ueberzeugung 
habe  ich,  als  ich  nach  Kalkatta  berufen  wurde,  die  Madressen 
von  Kalkatta  und  Hughley  zu  reformiren,  mich  bemüht,  in 
denselben    das  Studium  der  Ueberlieferung  und  Koranexegese 


28  Sprenger. 

einzuführen  und  sie  an  die  Stelle  der  Scholastik,  die  allmälig 
verdrängt  werden  sollte,  zu  setzen.  Mein  Versuch  scheiterte 
am  Widerstand  der  muslimischen  Bevölkerung.  Meine  Denk- 
schrift über  diesen  Gegenstand  und  die  Folgen  meines  Ver- 
suches sind  in  den  Selections  from  the  records  of  the  Bengal 
Government  Nr.  XIV  veröffentlicht  worden. 

Die  Ueberlieferung  ist,  wie  ich  gezeigt  habe,  im  Volk 
entstanden  und  ist  der  genaue  Ausdruck  des  Gesetzes,  wie  es 
im  Volke  lebte;  der  Unterschied  zwischen  den  Lehren  des 
Abu  Hanifa  und  Schafii  konnte  daher  nicht  bedeutend  sein. 
Er  besteht  meist  in  ganz  untergeordneten  Dingen,  so  z.  B. 
streichen  die  Hanefiten  den  Vorderarm  in  ihre  Ablutionen  von 
oben  nach  unten,  die  Schafeiten  von  unten  nach  oben,  und 
deswegen  erkennen  sie  sich  einander  an  der  Richtung  des 
Haarwuchses.  Ich  will  aber  noch  ein  Beispiel  von  grösserer 
Tragweite,  namentlich  die  Verschiedenheit  der  Definition  von 
moh^an  erwähnen.  Das  Gesetz  verhängt  über  Mann  und 
Frau,  welche  Zina,  Unzucht,  Ehebruch,  treiben,  wenn  sie 
vermöge  ihrer  Lebensstellung  mohc^an,  respectabel  sind,  das 
volle  Strafmass  —  die  Steinigung.  Wenn  sie  nicht  moh^an 
sind,  verfallen  sie  einer  milderen  Strafe  oder  gehen  frei  aus  ^). 
Die  Absicht  des  Gesetzgebers  liegt  auf  der  Hand:  er  wollte 
nicht,  dass  Sklaven  und  unbeweibte  freie  Männer  (auch  diese 
sind  nicht  Moh^an)  wegen  geschlechtlichen  Vergehen  so  schwer 
bestraft  werden,  wie  anständige  Freie,  welche  eine  Frau  haben, 
noch  wollte  er  Prostituirte  oder  überhaupt  Gesindel  wegen 
zina  züchtigen.  Schafii,  gestützt  auf  die  Tradition,  dass 
Mohammed  ein  Judenpaar,  weil  es  sich  der  Zina  schuldig 
gemacht  hatte,  steinigen  liess,  wollte  das  Gesetz  auch  auf 
Juden  und  Christen  angewendet  wissen.  Abu  Hanifa  behauptete 
im  Geiste  der  Zeit,  in  welcher  das  Gesetz  entstanden  ist, 
nur    Muslime    gehören    zu    den    Respectablen    (mohc^an)    und 


^)  Vgl.  Kohler,  Ueber  das  islamitische  Strafrecht,  im  Gerichtssaal 
Band  41.  D.  R. 


Eine  Skizze  d.  Entwicklungsgeschichte  d.  muslimischen  Gesetzes.     29 

sprach  sich  gegen  die  Anwendung  der  Strafe  auf  Juden  und 
Christen  aus.  —  Die  Wandlungen  des  Gesetzes  bezüglich  der 
Zina  sind  eine  der  interessantesten  Partien  der  muslimischen 
Rechts-  und  Kulturgeschichte  Es  würde  zu  weit  führen,  sie 
hier  zu  behandeln,  ich  will  aber  nicht  unbemerkt  lassen,  dass 
moh^an  im  Koran  eine  ganz  andere  Bedeutung  hat  als  in  der 
Sunna,  und  dass  die  beschädigten  Parteien  von  jeher  der  Zina 
schuldige  Frauen  tödteten,  ohne  dass  die  Behörde  die  Mörder 
verfolgt  hätte. 

Als  die  vier  orthodoxen  Rechtsschulen  der  Sunniten 
vollendet  waren ,  trat  die  Rechtswissenschaft  in  ein  neues 
Stadium.  Alle  Gesetzlehrer  bekannten  sich  zu  einer  derselben 
und  die  Lehren  des  Stifters  und  der  hervorragendsten  unter 
seinen  unmittelbaren  Schülern  waren  für  sie  eine  Art  Katechis- 
mus, an  dem  nicht  gerüttelt  werden  darf.  Selbständige,  auf 
die  Tradition  gegründete  Forschung  von  Bedeutung  hörte  auf. 
Eine  der  wenigen  Ausnahmen  ist  Ghazali  (st.  1126),  er  war 
aber  viel  mehr  Philosoph  als  Rechtslehrer  und  wenn  er  auch 
in  seinem  berühmten  Werke:  „Die  Neubelebung  der  Wissen- 
schaften des  Islam''  Gegenstände  behandelt,  welche  das  Gesetz 
betreffen,  so  ist  doch  sein  Zweck  ein  anderer,  nämlich  die 
Aussöhnung  der  Theosophie  mit  der  positiven  Religion, 
und  die  Erbauung.  Das  Hanefitische  Rechtssystem  ist  zuerst 
entstanden  und  naturgemäss  zuerst  verdorrt.  Die  Gesetze 
nach  der  Redaction  des  Abu  Hanifa  wurden  von  seinem  Schüler 
Imam  Mohammed  (geb.  749,  gest.  805)  auf  den  Wunsch  und 
mit  dem  Beistand  des  Abu  Jusuf  in  1532  Paragraphen  codi- 
fizirt.  Das  ist,  soviel  ich  weiss,  die  erste  Sammlung  muslimi- 
scher Satzungen,  welche  Aehnlichkeit  mit  unsern  Gesetzbüchern 
hat^).  Andere  Rechtsbücher  aus  jener  Zeit  —  auch  eines  des 
Imam  Mohammed  —  enthalten  das  ganze  Material  für  die 
Begründung  eines  jeden  Gesetzes  und  sind  sehr  umfangreich. 


^)  In  Berlin,  Bibl.  Spz.  Nr.  611  ist  eine  alte  Handschrift  dieses  für 
die  muslimische  Rechtsgeschichte  wichtigen  Werkes. 


30  Sprenger. 

lu  der  Folgezeit  bestand  vielerorts  die  Verordnung,  dass  zur 
Erlangung  einer  Ricliterstelle  es  nothwendig  war,  den  Codex 
des  Imain  Mohammed  auswendig  zu  wissen.  Unter  den  vielen 
Hunderten  von  Reclitsbüchern,  welche  nach  Imam  Mohammed 
geschrieben  wurden,  ist  das  Handbuch  des  Qoduri  (geb.  973, 
gest.  25.  Mai  1033)  das  berühmteste.  Darin  wird  das  Gesetz 
in  bündiger  Sprache  und  zusammenhängenden  Sätzen,  in  denen 
manches  Mal  ein  Paragraph  durch  ein  einziges  Wort  wieder- 
gegeben ist,  zusammengedrängt.  Es  ist  schwer,  dieses  Büch- 
lein ohne  Commentar  —  es  sind  deren  mehr  als  ein  Dutzend 
geschrieben  worden  —  zu  verstehen  und  unmöglich  eine  voll- 
ständige Kenntniss  des  Gestzes  daraus  zu  schöpfen.  Die 
Hanefiten  waren  immer  stärker  in  der  Scholastik  als  die 
Schafeiten.  In  Indien,  Afghanistan  und  Persien  gibt  es  nur 
wenig  Schafeiten  und  deswegen  ist  in  diesen  Ländern  die 
scholastische  Methode  das  Gesetz  zu  lehren  mehr  ausgebildet 
worden  als  im  osmanischen  Reiche.  Ich  will  dieses  durch  die 
Genealogie  der  in  indischen  Schulen  üblichsten  Lehrbücher 
veranschaulichen. 

Marghinani  (st.  1197)  ist  der  Verfasser  der  Bidaja;  sie 
ist  im  selben  Geiste  geschrieben  wie  das  qodurische  Compen- 
dium  und  kann  als  eine  Abkürzung  desselben  angesehen  wer- 
den. Das  Gesetz  kann  man  daraus  nicht  lernen.  Das  war 
auch  nicht  die  Absicht  des  Verfassers:  die  Bidaja  sollte  viel- 
mehr der  Syllabus  sein,  zu  dem  bald  darauf  er  sein  berühmtes 
Werk,  die  Hidaja,  in  der  Form  eines  Commentars  verfasste, 
die  in  der  Kalkatta-Ausgabe  1066  Seiten  4^  füllt.  Einer  der 
vielen  Supercommentare  zur  Hidaja,  die  Inaja  ist  ebenfalls 
im  Druck  erschienen  und  besteht  aus  vier  Quartbänden;  ein 
anderer,  von  dem  es  zwei  Ausgaben  gibt,  hat  den  Titel  Kifaja, 
imd  der  Titel  eines  dritten  ist  Nihaja.  Ueberhaupt  reimen 
die  Titel  der  zu  dieser  Familie  gehörigen  Werke  auf  aja. 
Ein  Jurist,  der  den  pompösen  Titel  „Die  Brust  des  Gesetzes^ 
führte,  fing  von  vorne  an  und  reducirte  den  Inhalt  der  Hidaja 
in    ein    Compendium,    dem    er    den  Titel    Wiqaja    gab.     Die 


Eine  Skizze  d.  Entwicklungsgeschichte  d.  muslimischen  Gesetzes.     31 

Absichten  des  erlauchten  Verfassers  erfüllten  sich  und  die 
folgenden  Generationen  von  Scholastikern  pflanzten  zu  dem 
dürren  Geländer  Schlingpflanzen.  Der  berühmteste  Commentar 
zur  Wiqaja  ist  der,  den  der  Enkel  des  Verfassers  in  1342 
vollendete.  Zu  diesem  wurde  ums  Jahr  1485  ein  Supercom- 
mentar  geschrieben.  Ein  Rechtslehrer,  der  in  1344  starb, 
condensirte  die  Wiqaja  und  schuf  einen  Sjllabus,  den  er 
Niqaja  nannte  und  der  alles  bis  dahin  Dagewesene  an  Scharf- 
sinn und  Kürze  übertrifi^t.  Selbstverständlich  wurde  der  tiefe 
Sinn  der  Niqaja  in  zahlreichen  Cömmentaren  erläutert.  Einer 
davon  hat  den  bezeichnenden  Titel :  „Sammlung  der  Räthsel" 
und  füllt  in  der  zu  Kalkatta  in  1857  erschienenen  Ausgabe 
748  Quartseiten. 

Rechtslehrer,  gegen  welche  ich  die  Bemerkung  machte, 
dass  ihre  Schüler  sehr  wenig  von  den  Gesetzen  des  Islam 
wissen  und  dass  sie,  wenn  sie  das  Erbrecht  (welches  unter 
der  englischen  Herrschaft  noch  volle  Gültigkeit  hat)  kennen 
lernen  wollen,  die  Hindustanische  Uebersetzung  von  Mack- 
naughtens  vortrefflichem  Buch  über  diesen  Gegenstand  zur 
Hand  nehmen,  antworteten  mir  offen,  dass  die  Kenntniss  des 
Gesetzes  nicht  der  Zweck  ihrer  Studien  ist;  wir  wollen,  sagten 
sie,  unseren  Schülern  nur  die  Mittel  an  die  Hand  geben,  die 
Gesetzbücher  zu  verstehen.  Thatsächlich  ist  das  Rechtsstudium 
wie  der  Rest  des  Quinquiviums  für  die  Hanefiten  nur  eine 
Disciplin  des  Geistes  —  ein  Verdauungsmittel. 


IL 

lieber  das  Recht  der  Amaxosa^). 

Von 

Paul  Rehme. 

Die  Eingeborenen  Südafrikas  zerfallen  in  drei  Gruppen, 
die  Abantu^  die  Hottentotten  und  die  Buschmänner^).  Die 
Hottentotten,  welche  ursprünglich  das  dem  Kap  der  guten 
Hoffnung  zunächst  gelegene  Gebiet  innehatten,  wurden  durch 
die  europäischen  Ansiedler  von  dort  verdrängt^)  und  stiessen 
bei  ihrer  Wanderung  nach  Norden  auf  die  Buschmänner*). 
Zu  gleicher  Zeit  drangen  von  Norden  her  die  Abantu  vor^). 
So  mussten  die  Buschmänner  mit  zwei  Völkern  den  Kampf 
ums  Dasein  führen;  den  stärkeren  Gegnern  nicht  gewachsen, 
wurden  sie  soweit  vernichtet,  dass  sie  heute  nur  noch  aus 
einigen  Horden  bestehen,  welche  ohne  Heimath  sich  durch 
Diebstahl  und  Raub  erhalten  und  von  der  übrigen  farbigen 
wie  von  der  weissen  Bevölkerung  Südafrikas  gehasst  und  ihrer 
Hinterlist  und  Tücke  wegen  gefürchtet  werden.  Die  Hotten- 
totten   mussten    in   jenem  Völkerkampfe    der  Uebermacht   der 

^)  Arbeit  aus  den  rechtsvergleichenden  Hebungen  in  Berlin,  Winter- 
semester 1888/89.  D.  R. 

2)  Fritsch,  Die  Eingeborenen  Südafrikas.    1872.    S.  3  ff. 

3)  Fritsch  a.  a.  0.  S.  265. 

^)  Fritsch  a.  a.  0.  S.  385  ff. 

^)  Vgl.  Merensky,  Zeitschr.  f.  Ethnologie.  Bd.  VII  S.  20  ü\  — 
Virchow  in  ders.  Zeitschr.  Bd.  XVII  S.  14. 


lieber  das  Recht  der  Amaxosa.  33 

Weissen  einerseits  und  der  Abantu  andererseits  weichen  und 
wurden  nach  der  Südwestküste  gedrängt^).  Oestlich  von  ihnen 
und  nördlich  von  der  Kapkolonie  beginnt  das  Gebiet  der 
Abantu^  welches  bis  weit  über  die  Grenze  Südafrikas  hinaus 
sich  erstreckt.  Bei  ihnen  sind  drei  Hauptgruppen  zu  unter- 
scheiden^ und  zwar  in  der  Richtung  von  Westen  nach  Osten 
die  OvahererO;  die  Bechuana  und  die  Amaxosa  und  Amazulu. 
Diese  beiden  Völker,  welche  die  Südwestküste  Afrikas  vom 
Grossen  Fisch- Flusse  bis  zur  Delagoa-Bai  bewohnen,  fasst 
man  gewöhnlich  unter  dem  Namen  „Kaffern"  ^)  zusammen, 
indem  man  „eigentliche  Kaffern"  und  „Zulukaffern"  unter- 
scheidet; jedoch  findet  jene  Bezeichnung  auch  auf  die  ge- 
sammte  Völkergruppe  der  Abantu  Anwendung;  daher  ist  das 
Wort  „Kaffer"  für  die  Benennung  eines  Volkes  oder  Volks- 
stammes nicht  empfehlenswerth. 

Als  die  Buschmänner  aus  ihren  Wohnsitzen  vertrieben 
waren/  geriethen  die  Amaxosa  und  Amazulu  in  unmittelbare 
Berührung  mit  den  W^eissen.  Ihr  beständiges  Vordringen 
nach  Süden  veranlasste  die  Kämpfe  von  1806,  1812,  1834 — 1835, 
1846—1848,  1851—1853,  welche  die  Unterwerfung  einer 
Anzahl  ihrer  Stämme  unter  die  britische  Herrschaft  zur  Folge 
hatten,  so  dass  man  „Britisch-Kafferland"  und  „Frei-Kafferland" 
unterschied.  Durch  das  fortwährende  Eindringen  der  „freien 
Kaffern"  in  die  Kapkolonie  wurden  weitere  blutige  Kriege 
(1877 — 1878)  veranlasst,  in  welchen  die  britische  Grenze  stets 
weiter  nach  Nordosten  vorgerückt  wurde,  bis  nach  dem  Falle 
des  tapferen  und  grausamen  Zuluhäuptlings  Ketschwayo  fast 
alle  Stämme  der  Amaxosa  und  Amazulu  unter  die  Herrschaft 
der  Briten    gelangt  sind^). 


^')  Vgl.  W  an  gern  an  n,  Südafrika  und  seine  Bewohner.  1881.  I  S.  7  ff. 

^)  Vom  arabischen  Kafir  —  Ungläubiger. 

^)  W  an  gern  an  n  a.  a.  0.  I  S.  28.  Ueber  die  Ursachen  der  Kämpfe 
im  Besonderen  s.  Moodie,  An  inquiry  into  the  justice  and  expediency 
of  completing  the  publication  of  the  authentic  records  of  the  Cape  of 
good  Hope.     Cape  of  good  Hope  1841.    p.  6  sqq. 

Zeitschrift  für  vergleichende  Rechtswissenschaft.   X.  Band.  3 


34  Rehme. 

Die  Amaxosa,  deren  Recht  wir  hier  zu  untersuchen  haben, 
führen  ihren  Namen  nach  dem  Häuptling  Xosa,  der  um  1530 
gelebt  haben  solP).  Einer  seiner  Nachfolger,  Palo,  theilte 
das  Reich  unter  seine  beiden  Söhne  Gcaleka  und  Khakhabe. 
Die  Amagcaleka  haben  sich  bis  heute  als  selbständiger  Stamm 
erhalten,  während  die  Amakhakhabe  wahrscheinlich  infolge 
wiederholter  Erbtheilungen  in  eine  grosse  Anzahl  kleinerer 
Stämme  oder  Clanschaften  zerfallen  sind^^),  an  deren  Spitze 
ein  Inkosi  (Häuptling)  steht.  Bei  jenen  Erbtheilungen  wurde 
der  Grundsatz  befolgt,  dass  einer  der  Söhne  des  Herrschers  ^^) 
eine  Art  Oberhoheit  über  seine  Brüder  erhielt.  Daher  ist 
noch  heute  mehreren  Inkosi  in  der  Regel  ein  Ukumkani  über- 
geordnet. Jedoch  regiert  der  Inkosi  selbständig;  der  Ukum- 
kani hat  nur  das  Leitungsrecht  seines  eigenen  Stammes  und 
ein  Entscheidungsrecht  bei  Streitigkeiten  einzelner  Inkosi  ^^). 
Aus  diesen  kurzen  Andeutungen  geht  zugleich  hervor,  dass 
die  Verfassung  bei  den  Amoxosa  eine  monarchische  ist. 

Bei  der  Betrachtung  des  Rechtes  eines  Naturvolkes,  das 
wie  die  Amaxosa  eine  Reihe  von  Jahrzehnten  unter  europäischer 
Herrschaft  steht,  sollte  man  meinen,  die  Entwickelung  des 
Rechtes  würde  unter  dem  Einflüsse  europäischer  Kultur  eine 
verhältnissmässig  rasche  oder  unter  dem  Drucke  des  Zwanges 
vielleicht  eine  gewaltsame  und  dem  Volksbewusstsein  wider- 
strebende sein.  Dies  ist  bei  den  Amaxosa  nicht  der  Fall. 
Die  britischen  ,jCommissioners"  haben  der  Rechtsentwickelung 
vielmehr  freien  Lauf  gelassen.  Wir  können  daher  ausser  den 
Schriftstellern,  welche  über  die  Amaxosa  zur  Zeit  ihrer  Un- 
abhängigkeit schrieben,  die  neueren  Autoren  benutzen.  In 
jene  Gruppe  gehören  die  Werke  von  Lichtenstein,  Reisen  im 


®)  Das  Präfix  ama  —  ist  Zeichen  der  Mehrzahl;  Amaxosa  bedeutet: 
Leute  des  Xosa. 

^^)  Fritsch  a.  a.  0.  S.  6.  —  Dohne  S.  14.  —  Dugmore  bei 
Maclean,  p.  8  ff. 

^^)  Vgl.  unten  im  Erb-  und  Verfassungsrechte  S.  48  und  57. 

^^)  Dohne,  Das  Kafferland  und  seine  Bewohner.    1844.    S.  19. 


Ueber  das  Recht  der  Amaxosa.  35 

südlichen  Afrika,  zwei  Bände,  1803 — 4,  und  von  Campbell, 
Reisen  in  Südafrika,  in  deutscher  Uebersetzung  1816,  welche 
hauptsächlich  Berücksichtigung  finden  werden,  um  einige 
Blicke  auf  die  Rechtsgeschichte  zu  ermöglichen.  In  dieser 
Gruppe  ist  neben  einer  Abhandlung  von  Bleek,  Forschungen 
in  Natal,  in  Petermann's  Mittheilungen,  1856,  S.  362  fF.,  an 
erster  Stelle  zu  nennen :  A  compendium  of  Kafir  laws  and 
customs  compiled  by  direction  of  colonel  Maclean,  Mount 
Coke  1858.  Es  ist  dieses  Werk  eine  Sammlung  von  Be- 
richten der  den  einzelnen  Bezirken  von  British  Kaffraria  vor- 
gesetzten britischen  Beamten;  die  Verfasser  (Rev.  Dugmore, 
Warner,  Brownlee  und  Maclean)  fassen  zunächst  nur  die  Ver- 
hältnisse ihres  Bezirkes  ins  Auge  5  aus  der  Uebereinstimmung 
ihrer  Angaben  in  den  meisten  Fällen  lässt  sich  aber  schliessen, 
dass  die  von  dem  einen  oder  dem  anderen  nicht  erwähnten 
Punkte  sich  auf  das  gesammte  britische  Kafferland  beziehen, 
wie  denn  Warner  selbst  sagt^^):  „ —  my  notes  and  com- 
pendium are  in  accordance  with  Tambookie  usages.  Kafir 
law  is  however  substantially  same  among  all  the  Amaxosa 
tribes."  Hierdurch  erstreckt  er  die  Geltung  der  von  ihm  an- 
geführten Rechtssätze  sogar  über  British  KafFraria  hinaus. 
Dass  alle  Amaxosa,  sowohl  die  britischen  als  auch  die  damals 
noch  freien,  in  der  That  ein  gemeinsames  Recht  haben,  wird 
bestätigt  durch  die  Schrift  Döhne's,  Das  Kafferland  und  seine 
Bewohner,  1844,  welche  „über  die  Sitten,  Einrichtungen  und 
Gebräuche"  des  ganzen  Volkes  der  Amaxosa  handelt^*);  für 
uns  kommt  aus  dieser  Beschreibung  allerdings  nur  wenig  in 
Betracht;  das  aber  stimmt  im  Allgemeinen  mit  den  Beobach- 
tungen der  Briten  überein.  Von  den  Schriftstellern,  welche 
nach  Maclean  über  die  Amoxosa  geschrieben  haben,  sind  zu 
erwähnen:  Fritsch,  Die  Eingeborenen  Südafrikas,  1872;  Trol- 
lope,  South  Africa,  1878;  Weber,  Vier  Jahre  in  Südafrika, 
1878;    Joest,    Um  Afrika,    1885;    Nauhaus    in    der  Zeitschrift 

^0  p.  60. 

^0  Siehe  Vorwort  der  angeführten  Schrift. 


36  Rehme. 

für  Ethnologie,  Band  XIII  und  XIV.  Alle  diese  Schriften 
weichen,  soweit  sie  für  uns  in  Betracht  kommen,  von  Maclean 
wenig  oder  gar  nicht  ab;  sie  handeln  zum  grossen  Theil 
über  das  Recht  der  Amaxosa  im  Anschluss  an  die  Dar- 
stellungen des  Maclean'schen  Werkes  ^^). 

Die  Hauptquelle  unserer  Darstellung  ist  also  theils  aus 
diesem  Grunde,  theils  wegen  seiner  grossen  inneren  Vorzüge 
das  Werk  Maclean's. 

Rechtsquellen  sind  bei  den  Amaxosa  nur  Gewohnheits- 
recht und  Gerichtsgebrauch  insofern,  als  die  Entscheidungen 
verstorbener  Häuptlinge  als  Richtschnur  für  die  Rechtsprechung 
in  ähnlichen  Fällen  gelten i^).  Ob  der  vor  einer  Reihe  von 
Jahren  gefasste  Plan,  die  gewohnheitsrechtlichen  Sätze  zu 
kodificiren,  seine  Ausführung  gefunden  hat,  konnte  nicht  er- 
mittelt werden. 

Ausser  dem  Erbrechte  baut  sich  ein  grosser  Theil  des 
Sachen-  und  Obligationenrechtes  bei  einem  Naturvolke  auf 
der  Grundlage  des  Familienrechtes  auf.  Seine  Darstellung 
muss  daher  dem  übrigen  Theile  des  Privatrechtes  voran- 
gehen. 

Das  Eherecht  der  Amaxosa  hat  bereits  die  niedrigste 
Stufe  überwunden ;  es  besteht  keine  Gruppenehe  mehr,  wenn 
auch  die  ausgebreitetste  Vielweiberei  noch  herrscht  ^^),  und 
der  Concubinat  erlaubt  ist^^).  Jedoch  hat  die  Concubine  eine 
niedrigere  Stellung  als  die  Ehefrauen  ^^),  und  ihre  Kinder 
stehen  den  Kindern  dieser  nach,  wenn  sie  auch  nicht  zu  den 


^^)  Fritsch  erwähnt  Maclean  wiederholt,  Trollope  sagt:  „I  have 
taken  my  accounts  of  them  (habits)  Irom  the  papers  published  under 
Maclean's  narae." 

^^)  Dugmore  p.  31  IT.  —  Warner  p.  59.  —  Nauhaiis  in  Zeitschr. 
f.  Ethn.  Bd.  XIII  S.  351. 

^^)  Dugmore  p.  43.  —  Weber  II  S.  215.  —  Bleek  in  Petermann's 
Mitth.  1856,  S.  367. 

^^)  Dugmore  p.  44. 

'^)  Nauhaus  a.  a.  0.  XIV  S.  209. 


Ueber  das  Recht  der  Amaxosa.  37 

unehelichen  gerechnet  werden;  vor  allem  sind  sie  nur  in  Er- 
mangelung  von  Kindern    aus    rechtmässiger   Ehe    erbfähig ^^). 

Es  gilt  unbedingt  der  Grundsatz  der  Exogamie;  die  Ehe 
zwischen  Blutsverwandten,  gleichviel  welchen  Grades,  ist  ver- 
boten; sie  ist  nichtig  und  mit  Strafe  bedroht.  Affinität  ist 
kein  Ehehinderniss^^). 

Ein  merkwürdiges  Eheverbot  besteht  für  die  jüngeren 
Söhne;  diese  dürfen  erst  nach  dem  ältesten  Bruder  heirathen^^). 
Der  Ursprung  dieser  Bestimmung  ist  darin  zu  suchen,  dass 
der  Erstgeborene  durch  die  Verheirathung  jüngerer  Brüder 
vor  ihm  benachtheiligt  werden  würde,  da  der  Vater  verpflichtet 
ist,  seinen  Söhnen  den  Kaufpreis  für  ihre  erste  Frau  zu  ge- 
währen. 

Damit  ist  schon  gesagt,  dass  sich  das  Eherecht  der  Ama- 
xosa im  Stadium  des  Frauenkaufes  befindet ^^). 

Das  Anerbieten  zur  Heirath  geht  in  der  Regel  vom  Vater 
des  Mädchens  aus,  ohne  dass  dieses  irgend  welche  Mitwirkung 
dabei  hat^^). 

Die  Verhandlungen  w^erden  damit  eingeleitet,  dass  der 
Vater,  der  eine  Tochter  verheirathen  will,  zur  Nachtzeit  Ge- 
schenke (Schmucksachen)  an  den  gewünschten  Bräutigam 
schickt.  Zurückweisung  derselben,  welche  übrigens  als  Be- 
leidigung angesehen  wird,  ist  ein  Zeichen  dafür,  dass  dieser 
die  geplante  Verbindung  ausschlägt.  Anderenfalls  kommen 
einige  Personen  vom  Kraal  des  Mädchens  zu  demjenigen  des 
Mannes,  um  mit  dessen  Beauftragten    über  den  Kaufpreis  zu 


^^)  Dugmore  p.  45. 

21)  Brownleep.  115.  — Warner  p.  63.  —  Bleek  a.  a.  0.  S.  370.— 
Maclean  S.  163. 

22)  Nauhaus  a.  a.  0.  XIV  S.  211.  —  Dugmore  p.  45. 

23)  Lichtenstein  I  S.  430  ff.  —  Weber  II  S.  220.  —  Joest  S.  140. 

—  Nauhaus  a.  a.  0.  XIV  S.  205  ff. 

2^)  Dugmore  p.  45  ff.  —  Warner  p.  68  ff.  —  Brownlee  p.  114  f. 

-  Nauhaus  a.  a.  0.  XIV  S.  207.    Vgl.  dagegen  Campbell  S.  466. — 
Dohne  S.  26  ff. 


38  Rehme. 

unterhandeln ;  hierauf  folgt  die  Brautschau  und  die  endgültige 
Festsetzung  des  Kaufpreises;  seine  Höhe  ist  nach  dem  Range 
des  Brautvaters  und  der  Schönheit  der  Braut  verschieden ;  er 
schwankt  zwischen  der  gewöhnlichen  Zahl  von  10  bis  zu  20, 
30  und  sogar  50  Stück  Vieh ;  Vieh  ist  das  einzige  Zahlungs- 
mittel. Der  Kaufpreis  (Ikazi)  wird  an  den  Vater  oder  in  Er- 
mangelung desselben  an  die  nächsten  agnatischen  Verwandten 
der  Braut  gezahlt^  welche  ein  Zurückbehaltungsrecht  an  der 
Braut  haben,  bis  der  Bräutigam  seinen  Verpflichtungen  nach- 
gekommen ist ;  jedoch  wird  ihm  nicht  selten  Theilzahlung  ge- 
stattet''^^). Die  bei  vielen  Völkern  übliche  Abstufung  der 
Rechte  des  Mannes  an  der  Frau  nach  den  gezahlten  Raten 
findet  bei  den  Amaxosa  nicht  statt.  Zur  Consummation  der 
Ehe  genügt  Zahlung  des  Kaufpreises  2^);  die  copula  carnalis 
ist  nicht  erforderlich. 

Wenn  es  hiernach  auch  unzweifelhaft  ist,  dass  sich  bei 
den  Amaxosa  das  Eherecht  in  der  Periode  des  Frauenkaufes 
befindet,  so  sind  doch  noch  Spuren  des  Frauenraubes  erkenn- 
bar. Nach  Ablauf  eines  Jahres  nämlich  seit  der  Eheschlies- 
sung, bezw.  nach  der  Geburt  des  ersten  Kindes  wird  der  Mann 
durch  einen  Trupp  männlicher  Verwandter  der  Frau  zur  Zah- 
lung einer  weiteren  Summe  aufgefordert.  Weigert  er  sich, 
ihrem  Verlangen  nachzukommen,  so  veranlassen  sie  die  Frau 
zurückzukehren,  wenn  es  den  Freunden  und  Verwandten  des 
Mannes  nicht  gelingt,  sie  selbst  mit  Gewalt  daran  zu  ver- 
hindern. Zahlt  der  Mann  auch  dann  die  geforderte'  Summe 
nicht,  so  bleibt  die  Frau  bei  ihren  Verwandten,  und  die  Ehe 
ist  aufgelöst ^^). 

Beide  Theile  haben  in  der  Trennung  der  Ehe  die  grösste 


^^)  Warner  p.  69.  —  Fritsch  S.  112.  —  Bei  einigen  Stämmen  wird 
der  Ikazi  auch  bei  Lebzeiten  des  Vaters  unter  sämmtliche  männliche 
Verwandte  der  Frau  getheilt.     Brownlee  p.  114. 

26)  Warner  p.  68. 

^^)  Dugmore  p.  52.  -r-  Brownlee  p.  114. 


Ueber  das  Recht  der  Amaxosa.  39 

Freiheit.  Hat  der  Mann  einen  Scheidungsgrund  ^^)  glaubhaft 
gemacht,  so  ist  ihm  der  gezahlte  Kaufpreis  zurückzuerstatten, 
wenn  die  Frau  ihm  keine  Kinder  geboren  hat,  abgesehen  von 
dem  Falle  langer  Dauer  der  Ehe^^).  Wird  die  Ehe  von 
Seiten  der  Frau  aufgelöst,  so  kann  bei  kinderloser  Ehe  der 
Mann  gleichfalls  den  Kaufpreis  zurückfordern^^),  wenn  sie 
nicht  einen  schwerwiegenden  Grund  hat,  den  Mann  zu  ver- 
lassen^^). Die  Frau  darf  sich  wieder  verheirathen ,  falls  der 
Ikazi  oder  ein  Theil  desselben  von  ihren  Verwandten  oder 
ihrem  zweiten  Manne  dem  ersten  Manne  zurückgezahlt  wird, 
welcher  ein  Recht  auf  den  Kaufpreis  auch  dann  hat,  wenn 
ihm  die  Frau  Kinder  geboren  hatte ^^).  Die  Kinder  gehören 
in  allen  Fällen  ihrem  Vater  ^^).  Uebrigens  sollen  Ehe- 
scheidungen nicht  sehr  häufig  sein.  Auf  der  einen  Seite 
werden  die  Verwandten  der  Frau,  die  mit  ihrem  Manne  nicht 
mehr  zusammenleben  will,  diese  wegen  der  Scheidungsstrafe 
in  der  Regel  zur  Rückkehr  zwingen ^ ^)  ^^),  auf  der  anderen 
Seite  wird  der  Mann,  selbst  wenn  er  einen  Ehescheidungs- 
grund hat,  die  Frau  nicht  oft  zu  ihren  Verwandten  zurück- 
schicken ,  da  er  sich  hierdurch  ihrer  Dienste  berauben 
würde. 

Denn  kraft  seiner  eheherrlichen  Gewalt  hat  er  Anspruch 
auf  Verrichtung  aller  Dienste  durch  die  Frau,  welche  durch 
die  Heirath  seine  Sklavin  wird,  in  sein  Eigenthum  übergeht  ^^). 


^^}  Siehe  z.  B.  Dohne  S.  21 :  Grundloses  Verlassen  des  Mannes. 

^^)  Warner  p.  70.  —  Brownlee  p.  115.  —  Vgl.  Lichtenstein 
I  S.  436  f.  —  Weber  II  S.  221.  —  Nauhaus  a.  a.  0.  XIV  S.  210  f. 

3<^)  Warner  p.  69  f. 

»0  Dohne  S.  21. 

^^)  Warner  p.  70.  —  Brownlee  p.  116. 

^^)  Warner  p.  70.   -   Weber  II  S.  221. 

3^)  Weber  II  S.  220. 

^^)  Wie  bei  anderen  Völkern,  vgl.  auch  Kohler  in  dieser  Zeitschr. 
VI  S.  342.  D.  R. 

^^)  Warner  p.  69.  —  Brownlee  p.  117.  —  Weber  II  S.  215.  — 
Nauhaus  a.  a.  0.  XIV  S.  210. 


40  Relime. 

Dem  Ehemann  ist  das  weitgehendste  Züchtigungsrecht  ein- 
geräumt, jedoch  werden  körperliche  Verstümmelungen  der 
Frau  bestraft,  ihre  Tödtung  wie  die  Tödtung  eines  Mannes^'). 
Diese  seine  Rechte  werden  aber  beschränkt  durch  die  Ver- 
wandten der  Frau,  welche  Grausamkeiten  des  Mannes  zur 
Wegtuhrung  der  Frau  berechtigen,  abgesehen  davon,  dass  — 
wie  bereits  erwähnt  —  diese  selbst  den  Mann  verlassen  kann; 
sie  braucht  erst  nach  Zahlung  einer  erneuten  Forderung  Vieh 
zurückgegeben  zu  werden,  und  zwar  muss  der  Mann  in  eigener 
i^erson  darum  bitten  und  bekommt  seine  Frau  nicht  eher  zu 
seben,  als  bis  diese  von  ihr  nahestehenden  Weibern  durch 
Wort  und  That  gerächt  ist^^). 

Was  das  eheliche  Güterrecht  bei  Lebzeiten  beider  Ehe- 
gatten anlangt,  so  kommt  nur  das  Vermögen  des  Mannes  in 
Betracht;  die  Frau  ist  vermögenslos,  bringt  also  nichts  in  die 
Ehe.  Jedoch  hat  sie  das  Recht  auf  Alimentation  durch  den 
Mann^^).  Trotz  der  herrschenden  Vielweiberei  wird  ein  ge- 
ordnetes Zusammenleben  der  Ehegatten  dadurch  ermöglicht, 
dass  jedes  der  drei  Weiber  —  drei  gilt  als  die  regelmässige 
Zahl  —  einen  besonderen  Haushalt  erhält,  indem  ihr  eine 
Hütte  und  ein  Theil  des  gesammten  Viehbestandes  zugewiesen 
wird^^).  Heirathet  der  Mann  mehr  als  drei  Frauen,  so  werden 
die  übrigen  unter  die  drei  „grossen''  Häuser  vertheilt.  Unter 
diesen  besteht  eine  bestimmte  Reihenfolge,  durch  welche  der 
Rang  der  Frauen  gekennzeichnet  wird.  An  erster  Stelle 
steht  die  „grosse  Frau" ;  in  der  Regel  gibt  der  Mann  einem 
seiner  Weiber,  welches  nicht  das  zuerst  geheirathete  zu  sein 
braucht ,  diesen  Ehrenvorrang.  Die  beiden  anderen  Häuser 
heissen    „Haus    der    rechten    Hand"    und    „Haus    der    linken 


")  Vgl.  Weber  II  S.  220. 
^^)  Dugmore  p.  53. 

^')  Dohne  S.  20:    „Wenn   eine  Frau  aus  Hunger  stiehlt,  so  wird 
ihr  Mann  als  Dieb  hart  bestraft." 

^°)  Vgl.  Weber  II  S.  220.  —  Joest  S.  140. 


Ueber  das  Recht  der  Amaxosa.  41 

Hand***^).  Jedes  dieser  drei  Häuser  hat  sein  eigenes  Ver- 
mögen, welches  allerdings  rechtlich  nach  Art  des  römisch- 
rechtlichen peculium  im  Eigenthume  des  Familienhauptes 
bleibt.  Der  einzige  Gegenstand  des  ehelichen  Güterrechtes, 
um  den  es  sich  nach  dem  Tode  eines  Ehegatten  handelt,  ist 
der  für  die  Frau  gezahlte  Kaufpreis.  Derselbe  wurde,  wie 
oben  gesagt,  an  den  Vater  oder  die  agnatischen  Verwandten 
der  Braut  entrichtet.  Jedoch  haben  weder  der  Vater  noch 
diese  das  Recht,  ihn  zu  ihrem  eigenen  Nutzen  zu  verwenden ; 
der  Kaufpreis  ist  vielmehr  eine  Verfangenschaft  der  Wittwe 
und  der  Kinder ^^).  Stirbt  die  Frau  vor  dem  Manne,  so  bleibt 
der  Kaufpreis  ihren  Verwandten,  wenn  sie  dem  Manne  Kinder 
geboren  hatte;  sonst  ist  er  diesem  zurückzuzahlen,  abgesehen 
wieder  von  dem  Falle  langen  Zusammenlebens"^^).  Stirbt  der 
Mann  nach  kinderloser  Ehe,  so  können  die  Verwandten  der 
Frau  diese  gegen  Zahlung  des  Kaufpreises  an  die  Erben  des 
Mannes  zurückfordern ;  die  Amaxosa  nennen  dies  „ein  Haus 
auslöschen"  ^^)'^^).  War  die  Ehe  dagegen  mit  Kindern  ge- 
segnet, so  wird  die  Frau  vererbt.  Die  Kinder  bleiben  stets 
dem  Manne,  bezw.  seinen  Erben*^). 

Auch  über  die  Kinder  hat  das  Familienhaupt  die  aus- 
gedehnteste Gewalt,  welche  aber  in  derselben  Weise  beschränkt 
ist,  wie  die  Gewalt  über  seine  Frauen^ '^).  Der  Vater  hat 
das  Recht,  sich  von  einem  ungerathenen  Sohne  loszusagen; 
der  Sohn  wird  hierdurch  geächtet,  so  dass  jener  für  seine 
Handlungen  nicht    mehr   einzustehen  hat,    und  jeder    sich  un- 


*^)  Warner  p.  71.  —  Dugmore  p.  45.  —  Vgl.  Nauhaus  a.  a.  0. 
XIV  S,  211. 

^^)  Vgl.  Dugmore  p.  53. 

^3)  Vgl.  Fritsch  S.  113.  —  Lichtenstein  1  S.  434. 

^0  Fritsch  S.  117.  —  ßrownlee  p.  115. 

^^)  Also  eine  Abscliwächung  des  Erbrechts  der  Familie  an  der  Frau, 
in   der  Art,  dass  die  kinderlose  Frau  ausgekauft  werden  kann.      D.  R. 

^^)  Vgl.  Erbrecht  unten  S.  48  1'. 

^0  Brownlee  p.  118. 


42  Rehme. 

gestraft  an  seiner  Person  vergreifen  kann'^'*).  Die  Gewalt 
des  Vaters  über  seine  Töchter  geht  so  weit,  dass  er  geehrten 
Gästen  das   „Gastrecht'^  einräumt^ ^). 

Nach  dem  Tode  des  Vaters  erhalten  die  Kinder  Vormünder, 
und  zwar  werden  es  von  Rechtswegen  die  aguatischen  Verwandten 
des  Vaters,  zunächst  seine  Brüder,  in  Ermangelung  dieser  weitere 
männliche  Agnaten.  Sie  können  aber  für  den  Fall,  dass  die 
Wittwe  mit  ihrer  Erlaubniss  zu  ihren  Verwandten  zurückkehrt, 
dieser  die  Vormundschaft  übertragen^ ^).  Eine  Pflicht  zurUeber- 
nahme  der  Vormundschaft  besteht  für  die  agnatischen  Ver- 
wandten des  Verstorbenen  nur  den  Söhnen  gegenüber.  Sind 
sie  zu  arm^  um  auch  für  die  Töchter  sorgen  zu  können,  welche 
aus  dem  Nachlasse  nichts  erhalten  und  darum  ganz  auf  Kosten 
der  Vormünder  ernährt  werden  müssten,  so  wird  der  Inkosi 
Vormund  der  Waisen  ^^).  Diese  Bestimmung  hängt  mit  der 
Stellung  des  Weibes  bei  den  Amaxosa  zusammen.  Das  Weib 
steht  rechtlich  nur  wenig  über  dem  Vieh,  es  wird  gekauft 
und  geerbt.  Jenes  Ablehnen  der  Vormundschaft  über  Mäd- 
chen ist  also  nichts  weiter  als  Dereliktion  lästigen  Eigen- 
thums;  die  berufenen  Vormünder  sind  hierzu  befugt  entweder 
als  Erben  oder  als  Stellvertreter  des  oder  der  minderjährigen 
Erben ^2).  Dass  dann  der  Inkosi  die  Vormundschaft  über- 
nimmt, hat  seinen  Grund  in  der  Anschauung,  dass  er  als 
„Vater"   des  Stammes  für  seine  Unterthanen  sorgen  müsse ^^). 

Als  solcher  und  als  Repräsentant  der  Staatsgewalt  hat  er 
das  Recht,  die  Vormundschaft  den  Vormündern  zu  entziehen, 
welche  ihre  Gewalt  missbrauchen  oder  das  ihnen  anvertraute 
Vermögen    schlecht    verwalten,    und    an   deren   Stelle    andere 


^«}  Fritsch  S.  108  f. 

"^3  Lichtenstein  I  S.  438.  —  Bleek  a.  a.  0.  S.  367.  —  Weber 
II  S.  218.  —  Nauhaus  a.  a.  0.  XIV  S.  210. 
^°)  Brownlee  p.  117.  —  Dohne  S.  21. 
^0  Brownlee  p.  117. 
^2)  Vgl.  Erbrecht  unten  S.  48  f. 
^3)  Dohne  S.  17. 


lieber  das  Recht  der  Amaxosa,  43 

Vormünder    zu    erneünen,    welche  mit  den  Waisen  nicht  ver- 
wandt zu  sein  brauchen  ^^). 

Bei  den  Amaxosa  finden  sich  also  tutores  legitimi,  tutela 
dativa  und  die  Anfänge  der  Obervormundschaft. 

Die  Dauer  der  Vormundschaft  ist  bei  beiden  Geschlech- 
tern verschieden ;  bei  den  Knaben  wird  sie  durch  die  Gross- 
jährigkeit  beendigt;  bei  den  Mädchen  währt  sie  bis  zu  ihrer 
Verheirathung. 

Einen  Grossjährigkeitstermin  kennen  die  Amaxosa  nicht. 
Bei  der  grossen  Zahl  Kinder,  die  der  verheirathete  Mann  in- 
folge der  allgemein  üblichen  Vielweiberei  hat,  ist  es  natür- 
lich —  in  Ermangelung  von  Civilstandsregistern  —  unmöglich, 
das  Alter  derselben  zumal  in  späteren  Jahren  genau  zu  kennen. 
Wie  fast  alle  Naturvölker  richten  sich  daher  die  Amaxosa 
nach  der  Entwickelung  des  einzelnen  und  bestimmen  die  Gross- 
jährigkeit  nach  dem  Eintritte  der  Pubertät,  welcher  bei  ihnen 
in  die  Zeit  vom  14.  bis  zum  18.  Lebensjahre  fällt.  Bei  den 
Amaxosa  findet  sowohl  eine  Jünglings-  als  auch  eine  Juugfern- 
weihe  statt.  Die  Knaben  der  benachbarten  Kraals,  welche 
sich  in  der  Pubertät  befinden,  werden  zusammen  der  Obhut 
eines  besonders  dazu  ausgewählten  Mannes  (Inkankata)  über- 
geben und  von  diesem  in  einer  beträchtlichen  Entfernung  von 
ihrem  Dorfe  einige  Tage  lang  abgeschlossen  gehalten ;  während 
dieser  Zeit  nimmt  der  Inkankata  an  ihnen  die  Circumcision^^) 
vor,  ein  Akt,  welcher  zum  Eintritte  in  den  Kreis  der  Männer 
als  unbedingt  nothwendig  gilt,  so  dass,  wie  ein  Schriftsteller 
sagt,  ein  unbeschnittener  Greis,   selbst  im  Alter  eines  Methu- 


""')  Brownlee  p.  117. 

^^)  Dugmore  p.  157  ff.  —  Warner  p.  97  ff.  —  Lichtenstein 
I  S.  395.  425  ff.  -  Campbell  S.  466.  —  Nauhaus  a.  a.  0.  XIV  S.  205. 
—  Dohne  S.  25  ff.  —  Weber  II  8.  218.  Die  üircumcision  findet  sich 
auch  bei  den  Ovaherero,  Fritsch  S.  235,  und  den  Bechuana,  Brownlee 
p.  157;  Holub,  Sieben  Jahre  in  SüdalVika,  Bd.  I  S.  482  IT.  Bei  den 
Zulus  findet  sie  nicht  statt,  Fritsch  S.  140. 


44  Rehme. 

salem,  als  Knabe  betrachtet  werden  würde^^).  Wenn  die 
Zeit  ihrer  Abschliessung  beendigt  ist,  werden  sie  feierlich  zu 
Männern  erklärt.  Als  solche  geniessen  sie  die  vollen  Rechte; 
u.  a.  sind  sie  von  nun  an  heirathsfähig ;  aber  erst  als  ver- 
heirathete  Männer  dürfen  sie  an  den  Volksfesten  theilnehmen^'^). 
Mit  der  Pubertät  tritt  auch  das  weibliche  Geschlecht  aus  dem 
Kreise  der  Kinder  heraus.  Die  Ceremonien,  die  bei  dieser 
Gelegenheit  vorgenommen  werden  (Intonjane)  ^^),  sind  den 
eben  angeführten  ganz  ähnlich ^^).  Die  Intonjane  unterscheidet 
sich  von  der  Jünglingsweihe  nur  durch  ihren  mehr  „familiären 
Charakter"  ^^).  Die  ganze  Bedeutung  der  Jungfernweihe  liegt 
darin,  dass  das  Mädchen  von  dem  Augenblicke  an,  in  dem  es 
zur  Frau  (intombi)  erklärt  ist,  heirathsfähig  ist.  Am  öffent- 
lichen Leben  haben  auch  die  Frauen  nicht  Theil^^);  sie  gelten 
den  Männern  (den  „grossen  Leuten",  abantu  abakata)  gegen- 
über als  „geringe  Leute"  (abantu  abancinane);  vor  allem  haben 
sie  keinen  Zutritt  zu  den  Gerichtsstätten  und  öffentlichen  Ver- 
sammlungen^^). 

Eigenthum  des  einzelnen  an  Grund  und  Boden  gibt  es 
bei  den  Amaxosa  nicht ^^).  Das  gesammte  bewohnte  und  be- 
baute Gebiet  steht  im  Eigenthume  der  einzelnen  Inkosi,  über 
deren  Ländereien  der  Ukumkani  eine  Art  Territorialherrschaft 
hat.  Innerhalb  eines  Stammes  aber  darf  jeder  sich  an  einem 
noch  unbebauten  Orte  ansiedeln,  d.  h.  durch  seine  Frauen 
Hütten,  Viehkraal  und  Garten  bauen  lassen,  nach  Dohne  je- 
doch nur  mit  Erlaubniss  oder  nachträglicher  Bestätigung    des 

■'^)  Warner  p.  100. 

'^')  Dohne  S.  25. 

■^8)  Warner  p.  100  ff. 

^^)  Weber  II  S.  218  behauptet,  dass  auch  bei  den  Miädehen  die 
Circumcision  vorgenommen  werde.  Dasselbe  berichtet  Hol  üb  a.  a.  0. 
S.  482  von  den  Bechuana. 

<=<>)  Fritsch  S.  111. 

^^)  Lichtenstein  I  S.  438. 

«2)  Dohne  S.  24. 

^3)  Maclean  p.  149. 


Ueber  das  Recht  der  Amaxosa.  45 

Inkosi^'^).  Die  landwirthschaftliche  Thätigkeit^  welche  bei  allen 
Abantii  den  Frauen  obliegt  ^^),  wird  durch  den  Inkosi  ge- 
regelte^). Veräussern  darf  der  Occupant  .auch  sein  bebautes 
Land  nicht;  dies  Recht  steht  allein  dem  Häuptling  zu,  auf 
dessen  Verlangen  er  Haus  und  Hof  verlassen  muss^^).  Noch 
bis  zu  Beginn  unseres  Jahrhunderts  musste  dem  Inkosi  ein 
Zehnt  vom  Ertrage  des  Ackerbaues  und  der  Viehzucht  ent- 
richtet werden.  Er  hatte  ein  Recht  auf  einen  Theil  der  Ernte 
und  das  Bruststüek  jedes  geschlachteten  Rindes  und  auf  der 
Jagd  erlegten  Thieres^^). 

Anderen  aber  als  dem  Inkosi  gegenüber  ist  der  Besitz 
an  Grund  und  Boden  gesichert;  niemand  darf  den  Besitzer 
vertreiben,  ja  er  ist  noch  einige  Jahre,  nachdem  er  seine 
Hütte  verlassen  hat,  berechtigt,  diese  und  das  von  ihm 
bebaute  Land  von  dem  neuen  Besitzergreifer  zurückzufor- 
dern^s)  70)^ 

Die  Mobilien  des  Hirtenvolkes  der  Amaxosa  bestehen  fast 
ausschliesslich  in  Vieh.  Sie  sind  im  Eigenthume  des  Privaten; 
er  darf  sie  veräussern  und  verpfänden,  jedoch  hat  der  Inkosi 
ein  unbedingtes  Enteignungsrecht  ^^). 

Die  wichtigste  Rolle  im  Verkehrsrechte  der  Amaxosa  spielt 
der  Frauenkauf  oder  richtiger  der  Tausch  von  Waare  gegen 
Waare,   Frau  gegen  Vieh^^).    Eine  klagbare  Verpflichtung  zur 

«^)  S.  75. 

«»)  Fritsch  S.  79.  183.   -  Nauhaus  a.  a.  0.  XIV  S.  201. 

^6)  Nauhaus  a.  a.  0.  XIV  S.  202. 

^0  Brownlee  p.  119. 

^^)  Maclean  p.  149.  —  Lichtenstein  I  S.  447.  —  Campbell 
S.  479. 

^^)  Maclean  p.  149.  —  Brownlee  S.  119.  114.  —  Dohne  S.  75. 
—  Nauhaus  a.  a.  0.  XIV  S.  211. 

'*^)  Also  bereits  ein  Fortschritt  gegenüber  dem  ursprünglichen  afrika- 
nischen Satze,  wonach  das  Land  dem  possessor  so  lange  gehört,  als 
er  es  bebaut,  vgl.  Post,  Afrikanische  Jurisprudenz  II  S.  168,  Kohler, 
Krit.  Vierteljahresschr.  N.  F.  XII  S.  106. 

'^)  Vgl.  Dohne  S.  78. 

'^)  Vgl.  die  obigen  Ausführungen. 


46  '  Kehme. 

ErtuUung  besteht  für  die  Parteien  nicht;  auch  die  Partei^  welche 
ihrerseits  bereits  geleistet  hat,  hat  kein  klagbares  Recht  auf 
die  Gegenleistung.  Jedoch  steht  dem  Vater,  der  seine  Tochter 
dem  Bräutigam  ausgeliefert  hat  und  den  Kaufpreis  von  diesem 
nicht  erhält,  die  Möglichkeit  offen,  vom  Vertrage  zurück- 
zutreten; allerdings  muss  er  sein  Recht  durch  Selbstbefrie- 
digung herstellen  und  nöthigenfalls  'mit  Hilfe  seiner  Ver- 
wandten die  Tochter  in  seinen  Kraal  zurückführen.  Er 
braucht  sie  übrigens  dem  Bräutigam  nicht  eher  zu  übergeben, 
als  bis  dieser  den  Kaufpreis  erstattet,  hat  vielmehr  ein  Zu- 
rückbehaltungsrecht an  ihr  bis  zur  vollen  Zahlung  desselben, 
es  sei  denn,  dass  Theilzahlung  ausdrücklich  vereinbart  ist. 
Ueber  die  Rechte  des  Käufers  enthalten  die  Quellen  nichts; 
es  ist  wohl  anzunehmen,  dass  ihm  gegebenenfalls  ebenso  wie 
dem  Verkäufer  das  Recht  der  Selbstbefriedigung  zusteht. 

Die  Töchter  sind  also  wie  das  Vieh  reines  Verkehrsobjekt. 
Daher  bilden  sie  einen  Bestandtheil  des  Vermögens  des  Vaters 
und  wird  diesem  auf  die  Hoffnung  ihrer  Verheirathung  hin 
kreditirt.  Wir  finden  in  dieser  Hinsicht  bei  den  Amaxosa 
einen  besonderen  Gesellschaftsvertrag  (Ubokolwane)^^) ;  es  ver- 
einigen sich  Leute,  die  einen  grossen  Viehbestand  haben,  mit 
anderen,  deren  einziges  Vermögen  in  einer  Zahl  Töchter  be- 
steht, derart,  dass  der  Viehbestand  jener  unter  alle  Gesell- 
schafter (Ikolwane)  vertheilt  wird,  während  die  armen  Gesell- 
schafter ihre  Töchter  auf  gemeinsame  Rechnung  zu  verkaufen 
suchen  ^^). 

Musste  aber  der  Vater  bereits  vor  Verkauf  seiner  Töchter 
die  Hilfe  seiner  Gesellschafter  von  neuem  in  Anspruch  nehmen, 
und  kreditirten  ihm  diese  nochmals,  so  werden  ihnen  hier- 
durch die  Töchter  verpfändet;  kann  der  Schuldner  seinen 
Verpflichtungen  nicht  nachkommen,  so  gehen  die  Töchter 
ganz  ins  Eigenthum  der  Gläubiger    über,   und   der  Vater  er- 


")  Dohne  S.  84  f. 

'^)  Vgl.  die  allerdings  spärlichen  Angaben  Döhne's. 


Ueber  das  Recht  der  Amaxosa.  47 

hält  vom  Kaufpreise  nichts  mehr,  es  sei  denn,  dass  der  er- 
zielte Gewinn  die  geliehene  Summe  übersteigt. 

Dem  so  Verarmten  bleibt  nichts  weiter  übrig,  als  sich 
in  Schuldknechtschaft  zu  begeben ;  mit  ihm  kommen  in  Schuld- 
knechtschaft seine  Frauen,  die  früher  noch  nicht  verpfändeten 
Töchter  und  die  minderjährigen  Söhne ;  der  Gläubiger  kann  mit 
ihnen  nach  Belieben  handeln.  Der  Schuldknecht  ist  zwar 
handlungsfähig,  all  sein  Erwerb  steht  aber  im  Eigenthume 
des  Gläubigers,  insbesondere  auch  nach  seinem  Tode.  Ver- 
pfändet ein  grossjähriger  Sohn  sich  selbst,  etwa  um  den 
Frauenkaufpreis  sich  zu  verschaffen,  den  er  von  seinem  ver- 
armten Vater  nicht  mehr  erbalten  kann,  so  sucht  er  sich,  wie 
die  Amaxosa  sich  ausdrücken,  einen  Vater,  d.  h.  der  gewalt- 
frei Gewordene  begibt  sich  wieder  in  fremde  Gewalt,  welche 
allerdings  nicht  wie  die  des  Vaters  zeitlich  begrenzt  ist ;  im 
Uebrigen  ist  die  Schuldknechtschaft  der  väterlichen  Gewalt 
sehr  ähnlich  ^^). 

Was  die  Deliktsobligationen  anlangt,  so  ist  zunächst  ein 
jeder  für  den  von  ihm  angerichteten  Schaden  verantwortlich, 
vorausgesetzt,  dass  ihn  ein  Verschulden  trifft ^^).  Interessant 
ist,  dass  der  gute  Ruf  als  Vermögensbestandtheil  gilt^'^),  dass 
also  z.  B.  Verleumdung  zum  Schadensersatze  verpflichtet^^). 
In  zweiter  Linie  aber  haften  für  Ersatz  des  Schadens  die 
nächsten  Verwandten  ^^),  ein  Princip ,  auf  welches  bei  der 
Untersuchung  des  Strafrechtes  zurückzukommen  ist. 

In  einem  Falle  findet  sich  die  primäre,  nicht  bloss  sub- 
sidäre  Haftung  für  Verschulden  Dritter.  Das  Haupt  des  Kraals 
ist  nämlich  für  jeden  Diebstahl,  der  an  dem  Eingebrachten 
eines  Gastes  begangen  ist,  verantwortlich^^). 


'^)  Siehe  die  Andeutungen  Döhne's  S.  84  f. 
'<')  Warner  p.  67. 
'0  Dugmore  p.  35. 


')  Uugmore  p.  6b. 

^)  Brownlee  p.  120.  —  Dohne  S.  20. 
')  Warner  p.  56.  —  cf.  Dugmore  p.  36. 
^)  Maclean  p.  164. 


48  Rehme. 

Für  Beschädigungen  der  Thiere  hat  deren  Eigenthümer, 
wenn  er  die  Schadenszufügung  nicht  selbst  zu  verhüten  suchte^ 
einzustehen.  Eine  Ausnahme  greift  bei  Beschädigungen  durch 
Vieh  Platz:  wenn  dieses  Ländereien  verwüstet,  so  ist  ihr 
Eigenthümer  nie  verantwortlich^^).  Die  ratio  dieser  Rechts- 
regel scheint  darin  zu  liegen ,  dass  ein  jeder  Vieh  und  Län- 
dereien hat,  dass  also  ein  jeder  Beschädigungen  seiner  Felder 
durch  Vieh  ausgesetzt  ist,  und  dass  eine  Schadensersatzpflicht 
in  dieser  Hinsicht  zu  unendlichen  Verwickelungen  führen 
würde,  denen  das  einfache  Recht  der  Amaxosa  nicht  ge- 
wachsen wäre. 

Die  Grundlage  des  Erbrechtes  ^^)  ist  die  Vertheilung  des 
Vermögens  des  Familienvaters  unter  die  gelegentlich  der  Be- 
sprechung des  Eherechtes  erwähnten  drei  Häuser.  Erbfähig 
ist  nur  das  männliche  Geschlecht.  In  jedem  der  drei  Häuser 
besitzt  der  älteste  Sohn  die  Berufung. 

Hat  der  Vater  sein  Vermögen  unter  die  drei  Häuser  nicht 
vertheilt,  stirbt  er  so  zu  sagen  ohne  Testament,  so  ist  sein 
gesetzlicher  Erbe  der  älteste  Sohn  der  ^grossen  Frau".  Er  ist 
in  der  That  Universalsuccessor ;  auf  der  einen  Seite  gehen 
auf  ihn  die  Schulden  des  Erblassers  über,  auf  der  anderen 
erhält  er  das  gesammte  Vermögen  des  Vaters,  einschliesslich 
der  Frauen  und  Töchter;  jedoch  ist  er  verpflichtet,  den  väter- 
lichen Hausstand  weiter  zu  führen  und  für  jene  und  seine 
Brüder  zu  sorgen  ^^). 

Hinterlässt  der  Erblasser  keine  Söhne,  so  wird  er  beerbt 
durch  seine  agnatischen  Ascendenten  und  Collateralen,  und 
zwar  hat  der  Vater  ein  Vorzugsrecht;  nach  diesem  wird  be- 
rufen der  älteste  vollbürtige  Bruder  des  Erblassers,    dann  die 


81)  Warner  p.  67  f.  —  Brownlee  p.  118. 

82)  Warner  p.  71  ff.  —  Brownlee  p.  116  ff. 

8^)  Das  mag  oft  so  geschehen,  dass  der  Erbe  sich  mit  den  übrigen 
Häusern  durch  Hingabe  einer  bestimmten  Summe  abfindet.  Fritsch 
S.  92.  —  Campbell  S.  473  behauptet,  der  Erbe  habe  Jene  Verptlioh- 
tung  nicht. 


Ueber  das  Recht  der  Amaxosa.  49 

ältesten  Brüder  desselben  aus  anderen  Häusern,  hinter  diesen 
der  älteste  vollbürtige  Bruder  des  Vaters  des  Erblassers,  in 
Ermangelung  dessen  die  Brüder  des  Vaters  aus  anderen 
Häusern,  u.  s.  w.  Sind  keine  Agnaten  vorhanden,  so  fällt 
die  Erbschaft  unter  Ausschluss  jeglicher  Erbfolge  der  Uterinen 
an  den  Inkosi*^). 

Das  Erbrecht  der  Amaxosa  ist  also  aufgebaut  auf  der 
agnatischen  Primogeniturordnung  nach  Parentelen  mit 
Vorzug  der  Vollgeburt  vor  der  Halbgeburt. 

Auch  bei  den  Amaxosa  hat  einst  die  Blutrache  bestanden; 
das   beweist,    ganz    abgesehen    von    der   geschichtlichen  Ent- 
wickelung,  der  Umstand,  dass  Tödtung   eines  Mörders  durch 
die  Verwandten  des  Gemordeten  noch  heute  milder  als  Mord 
bestraft  wird^^).    Ein  Uebergang  von  der  Blutrache  zur  Kom- 
position scheint   sich  am  Ende  des    vorigen  oder  am  Anfange 
dieses  Jahrhunderts  vollzogen  zu  haben.    In  jener  Zeit  standen 
den  Verwandten  des  Gemordeten  beide  Wege  offen:  sie  konnten 
von  dem  Rechte  der  Blutrache  noch  Gebrauch   machen    oder 
sich  mit    dem  Mörder   vergleichen^^).     Heutzutage    sind    aber 
bereits  öffentliche  Strafen  in  Geltung,    indem   bei    einer  Zahl 
von    Verbrechen   —    den    schwersten   —   der    Inkosi    als    Re- 
präsentant der  Staatsgewalt  als  der  Verletzte  erscheint ;  er  leitet 
infolgedessen  das  Verfahren  ein,  wozu  in  solchen  Fällen  kein 
Privater  berechtigt  ist,  und  an  ihn  ist  die  Busse  zu  entrichten. 
Bei    anderen    Delikten    dagegen     ist    der    Geschädigte    selbst 
Kläger  und  hat  allein  das  Recht,  die  Komposition  zu  fordern  ^^). 
In  welche  dieser   beiden  Gruppen   ein  Delikt   fällt,    bestimmt 
sich  danach,    ob  es  gegen   eine  Person  als  solche  oder  gegen 


^*)  Inwieweit  Concubinensöhne    berücksichtigt    werden,    erwähnen 
die  Quellen  nicht.     Vgl.  Dugmore  p.  45. 

«^)  Maclean  p.  143  (query  34). 
»^)  Lichtenstein  I  S.  481. 
^')  Dugmore  p.  34  ff.  —   Warner  p.  57. 
Zeitschrift  für  vergleichende  Rechtswissenschaft.   X.  Band.  4 


50  Rehme. 

das  Vermögen  gerichtet  ist^^).  Hiernach  unterliegen  der  Ver- 
folgung und  Bestrafung  durch  den  Inkosi  ausser  denjenigen 
Handlungen,  durch  welche  er  unmittelbar  oder  als  Repräsen- 
tant der  Staatsgewalt  angegriffen  wird,  Tödtung,  Abortus, 
Körperverletzung,  Zauberei  und  einige  Sittlichkeitsverbrechen, 
mit  welchen  eine  Verletzung  der  Person  oder  der  mensch- 
lichen Persönlichkeit  verbunden  ist  (Nothzucht  und  wider- 
natürliche Unzucht). 

Zum  Vermögen  gehören  ausser  dem  Viehbestande  vor  allem 
Weiber  und  Hauskinder,  so  dass  neben  Diebstahl  vornehmlich 
Ehebruch  und  Verführung  der  Töchter  als  widerrechtlicher 
Eingriff  ins  Eigenthum  angesehen  werden. 

Auf  das  Willensmoment  scheint  man  keine  Rücksicht  zu 
nehmen  ^^);  nur  bei  dem  Stamme  der  Gaika  wird  fahrlässige 
Tödtung  de  jure  nicht  bestraft;  jedoch  fordert  thatsächlich 
auch  hier  der  Inkosi  häufig  Sühne  ^^).  Auch  andere  Straf- 
milderungs-  oder  Strafausschliessungsgründe  kennen  die  Ama- 
xosa  nicht;  nur  in  einem  Falle  ist  die  Nothwehr  erlaubt,  und 
zwar  in  ihrer  Funktion  als  Abwehr  eines  Angriffes  gegen  das 
Vermögen;  es  ist  nämlich  straflos,  fremdes  Vieh,  welches 
Ländereien  zu  beschädigen  droht,  auf  die  Felder  seiner  Eigen- 
thümer  zu  treiben  ^^). 

Für  alle  Verbrecher,  die  sich  durch  Flucht  mit  Hab  und 
Gut  der  Privatverfolgung  oder  der  Vollstreckung  des  Urtheiles 
entziehen,  ist  die  Hütte  des  Inkosi  ein  Asyl.  Bei  Verletzung 
des  Inkosi  selbst  hat  der  Delinquent  ein  Asyl  bei  fremden 
Häuptlingen,  welche  sich  mit  dem  Inkosi,  zu  dessen  Stamme 
der  Verbrecher  gehört,  derart  vergleichen,  dass  sie  die  Kom- 
position   zahlen,    während    der    Delinquent    fortan    zu    ihrem 


«8)  Dugmore    p.  35.   —   Warner   p.  57.   —   Fritsch   S.  96. 
Weber  II  S.  222. 

S9)  Vgl.  Warner  p.  60. 
»0)  Brownlee  p.  111. 
»0  Warner  p.  69  f. 


üeber  das  Recht  der  Amaxosa.  51 

Stamme  gebort  ^^).  Auch  das  Grab  des  Inkosi  und  die  Wobnung 
der  Wäcbter  dieses  Grabes  sind  Asyle ^^). 

Strafverscbärfungsgründe  greifen  nur  bei  Sittlicbkeits- 
verbrechen  Platz.  Ehebruch  mit  einer  Frau  des  Häuptlings 
wird  schwerer  bestraft  als  ein  solcher  mit  anderen  Weibern; 
ebenso  ist  auf  Sittlichkeitsverbrechen^  denen  die  Geburt  eines 
Kindes  folgt^  eine  härtere  Strafe  gesetzt ^''^). 

Bezüglich  der  Theilnahme  an  Verbrechen  ist  zu  bemerken, 
dass  Thäter,  Mitthäter,  Anstifter  und  Gehilfen  gleichbestraft 
werden.    Blosse  Begünstigung  ist  dagegen  nicht  strafbar ^^). 

Was  die  Strafen  ^^)  anlangt^  so  ist  die  regelmässige  Strafe 
die  Busse,  welche,  wie  schon  erwähnt,  in  Viehstücken  gezahlt 
wird^^).  Freiheitsstrafen  finden  sich  gar  nicht.  Die  Todes- 
strafe ,  mit  welcher  stets  Konfiskation  des  ganzen  Ver- 
mögens verbunden  ist,  kommt  nur  noch  ausnahmsweise  in 
Fällen  schwerer  Zauberei  vor^^).  In  den  der  britischen  Herr- 
schaft unterworfenen  Stämmen  darf  aber  heute  wegen  an- 
geblicher Zauberei  die  Todesstrafe  nicht  mehr  verhängt  werden, 
und  jede  sonstige  etwaige  Verurtheilung  zum  Tode  muss  vor 
ihrer  Vollstreckung  dem  Inspektor  des  Native  Departement 
unterbreitet  werden,  der  sie  jederzeit  in  eine  andere  Strafe 
(Busse)  umwandeln  kann^^).  Früher  wurden  Mord ^^^),  Hoch- 
verrath^^^),    Ehebruch  mit    einer  Frau    des  Inkosi  ^^^),    ferner 


^^)  Brownlee  p.   119. 

^3)  Dohne  S.  23  —  cf.  Brownlee  p.  122. 

^'*)  Warner  p.  63.  —  Brownlee  p.   111. 

^^)  Dugmore  p.  37. 

®^)  Dugmore  p.  35  ff.  —  Warner  p.  58.  —  Vgl.  Nauhaus  a.  a.  0. 
XIII  S.  351. 

9^  Fritsch  S.  96.  —  Weber  II  S.  222. 

9S)  Brownlee  p.  123. 

^^)  Weber  II  S.  221.  Dies  ist  der  einzige  Fall,  wo  die  britische 
Regierung  der  Rechtsentwickelung  vorgegriffen  hat, 

100)  Weber  a.  a.  0.  —  Dohne  S.  20. 

101)  Weber  a.  a.  0. 

102)  Dohne  a.  a.  0.        . 


52  Rehme. 

der  auf  frischer  That  ertappte  Dieb^*^^)  und  derjenige,  welcher 
einen  Viehkraal  oder  Fluss,  die  beiden  den  Amaxosa  unent- 
behrlichen Dinge,  verunreinigt ^^^'^),  mit  dem  Tode  bestraft. 
Die  Bestrafung  der  Tödtung  befindet  sich  zu  Anfang  dieses 
Jahrhunderts  bereits  in  einem  Uebergangsstadium ;  die  regel- 
mässige Strafe  war  noch  der  Tod,  jedoch  konnte  sich  der 
Verbrecher  durch   Zahlung  einer  Busse  befreien ^^^)  ^^^). 

Körperstrafe  findet  sich  nur  bei  Verletzung  des  Cere- 
moniells  durch  die  Wächter  der  eben  beschnittenen  Knaben ^^^). 
Zu  Beginn  dieses  Jahrhunderts  wurde  Diebstahl  manchmal  mit 
Ruthenhieben  bestraft  ^^^). 

Die  Höhe  der  Busse  bestimmt  sich  nach  der  Schwere 
des  Verbrechens  und  nach  dem  Range  des  Verletzten  ^^^). 
Konfiskation  des  gesammten  Vermögens  („Auffressen")  tritt 
bei  Delikten  ein,  welche  gegen  den  Häuptling  begangen  sind, 
bei  Zauberei  und  früher  bei  Diebstahl^ ^^).  In  allen  Fällen 
haften  für  Zahlung  der  Busse  in  zweiter  Linie  —  wenn  also 
der  Verbrecher  sie  nicht  oder  nicht  ganz  entrichten  kann  — 
seine  nächsten  Verwandten  ^^^).  So  muss  z.  B.  der  Vater 
stets  für  Delikte  seiner  minderjährigen  Söhne  und  unver- 
heiratheten  Töchter  einstehen.  Ist  der  Verurtheilte  vermögens- 
los, und  sind  auch  seine  Verwandten  nicht  im  Stande,  die  Busse 
zu  zahlen,  so  wird  ihm  die  Schuld  vom  Fiskus  (d.  i.  dem 
Inkosi)  kreditirt,  welcher  ohne  jede  schriftliche  Aufzeichnung 


'03)  Dohne  S.  19. 

10^)  Lichtenstein  I  S.  479. 

10^)  Lichtenstein  I  S.  48L 

^°^)  Heutzutage  ist  an  Stelle  der  Verwandtenbusse  die  öffentliche 
Busse  getreten,  was  eine  bedeutende  Steigerung  der  staatlichen  Gewalt 
Involvirt.  D.  B. 

^®')  Siehe  oben  S.  43  f.  Jünglingsweihe,     Brownlee  p.  120. 

108)  Lichtenstein  I  S.  481. 

109)  Dugmore  p.  36.  —  cf.  Brownlee  p.  123.  —  Maclean  p.  144 
(query  34). 

110)  Dohne  S.  19. 

111)  Dugmore  p.  36.  —  Warner  p.  58.  —  Brownlee  p.  118. 


lieber  das  Recht  der  Amaxosa.  53 

ein  so  gutes  Gedächtniss  haben  soll,  dass  er  selbst  noch 
20  Jahre  nach  Erlass  des  Urtheiles  von  dem  in  bessere  Ver- 
bältnisse gekommenen  Schuldner  die  Komposition  eingezogen 
hatiV2). 

Der  Inkosi  selbst  steht  über  dem  Strafrechte;  jedoch  ist 
seine  Bestrafung  nur  für  Verbrechen  ausgeschlossen,  die  er 
in  seinem  eigenen  Stamme  verübt  hat.  Verletzt  er  einen  In- 
kosi oder  dessen  Unterthanen,  so  ist  er  der  Strafgerichtsbar- 
keit des  Ukumkani  unterworfen  ^^^).  Dieser  wiederum  hat 
eine  Schranke  in  der  Gesammtheit  seiner  Inkosi^^*).  Ob  jenes 
Vorrecht  des  Häuptlings  auf  seine  Familienglieder  auszu- 
dehnen ist,  darüber  herrscht  unter  den  Mitarbeitern  an  Mac- 
lean's  Werk  Meinungsverschiedenheit^^^).  Die  Ansichten  lassen 
sich  vielleicht  dahin  vereinigen,  dass  rechtlich  die  Delikte  der 
Familienglieder  strafbar  sind,  dass  der  Inkosi  aber  in  der 
Regel  von  einer  Bestrafung  derselben  absehen  wird.  In  den 
Fällen,  in  welchen  die  Busse  an  ihn  selbst  fallen  würde,  ist 
dies  klar,  da  er  der  alleinige  Eigenthümer  des  Viehbestandes 
ist,  und  so  eine  Bestrafung  keinen  Zweck  hätte.  Haben  sich 
dagegen  seine  Angehörigen  einer  Vermögensverletzung  schuldig 
gemacht,  so  würde  er  durch  eine  Verurtheilung  derselben  sich 
selbst  schädigen,  auf  der  anderen  Seite  sich  im  Justizver- 
weigerungsfalle   einer  Beschwerde   beim  Ukumkani  aussetzen. 

Hochverrath,  Ungehorsam  gegen  die  Befehle  des  In- 
kosi ^^^)  und  Beleidigung  desselben  ^^'^)  werden  mit  Konfiskation 
des  Vermögens  bestraft. 

Bei  Bestrafung  der  Tödtung  wird  kein  Unterschied  ge- 
macht zwischen  Mord,  Todtschlag  und  fahrlässiger  Tödtung  ^^^); 


1 
1 
1 
1 

118 


0  Dugmore  p.  36  f. 
'3)  Vgl.  Dohne  S.  19. 
^^)  Warner  p.  75. 


'j   w  arner  p.  Vo. 

^)  Vgl.  Warner  p.  75.  —  Brownlee  p.  112.    p.  119. 

^)  Warner  p.  73.  —  Brownlee  p.  118. 

0  Brownlee  p.  123. 


')  Warner  p.  60  ff, 


54  Rehme. 

bei  dem  Stamme  der  Gaika  ist  die  letztere  rechtlich  zwar 
straflos,  thatsächlich  aber  wird  sie  von  dem  Inkosi  oft  be- 
straft ^^'•^).  Im  Allgemeinen  beträgt  die  Busse  für  einen  ge- 
tödteten  Mann  1 ,  für  eine  Frau  10  Stück  Vieh;  bei  dieser 
ist  die  Summe  wohl  wegen  ihres  Tauschwerthes  höher.  Charak- 
teristisch für  den  Rechtsformalismus  des  Naturvolkes  ist  es, 
dass  auch  bei  einem  natürlichen  Tode  Busse  zu  zahlen  ist, 
es  sei  denn,  dass  derselbe  dem  Inkosi  sofort  gemeldet  wurde, 
und  auf  diese  Weise  die  Vermuthung  eines  gewaltsamen  Todes 
die  Begründung  verliert.  Kindesmord  steht  dem  Morde  eines 
Erwachsenen  gleich. 

Abortus ^^^),  obwohl  bei  den  Amaxosa  allgemein  in  Ge- 
brauch, gilt  trotzdem  als  schweres  Verbrechen,  welches,  wenn 
es  zur  Kenntniss  des  Häuptlings  gelangt,  mit  einer  Busse 
von  4 — 5  Stück  Vieh  bestraft  wird.  Besonders  erwähnt  wird, 
dass  auch  derjenige,  welcher  die  Mittel  dazu  der  Schwangeren 
verschafft  oder  beibringt,  der  Bestrafung  unterliegt.  Abtreibung 
der  unehelichen  Leibesfrucht  oder  Tödtung  eines  unehelichen 
Kindes  ist  nicht  strafbar,  wenn  der  Inkosi  die  Genehmigung 
dazu  ertheiit  hat. 

Zauberei  ^^^),  durch  welche  Leib  oder  Leben  eines  Men- 
schen bedroht  ist,  wird  wie  Tödtung  bestraft.  In  schwereren 
Fällen  —  wenn  sie  gegen  den  Häuptling  gerichtet  ist  oder 
über  d  en  ganzen  Stamm  Unheil  gebracht  hat  —  tritt  Kon- 
iiskation des  ganzen  Vermögens  oder  Todesstrafe  ein.  Wer 
sich  für  einen  Intonga  (Zauberpriester)  ^^^)  ausgiebt,  ohne  sich 
in  dem  hierzu  erforderlichen  „krankhaften  Zustande  einer  Ueber- 
reizung  des  Nervensystems"  ^^^)(ükutwasa)zu  befinden,  wird  mit 
dem   Tode  bestraft  und  „aufgefressen"  ^^^). 


119 


)  Brownlee  p.  123.     Vgl.  oben  allg.  Theil. 

120)  Warner  p.  62.   —  Brownlee  p.  111  f. 

121)  Brownlee  p.  122  f.  —  Fritsch  S.  101. 

122)  Vgl.  unten  S.  62. 

123)  Fritsch  S.  99. 

124)  Warner  p.  79.     Vgl.  zu  diesem  Ausdrucke  oben  S.  52. 


lieber  das  Recht  der  Amaxosa.  55 

Körperverletzung^^^)  ist  nie  straflos,  auch  nicht  im  Falle 
der  Nothwehr.  Selbst  der  Verletzte  wird  bestraft,  wenn  seine 
Schuldlosigkeit  nicht  klar  erwiesen  ist.  Die  Strafe  beträgt 
1  —  6  Viehstücke.  Ist  bei  einem  Auflaufe  Blut  geflossen,  so 
muss  jeder  Betheiligte  1  Stück  Vieh  zahlen. 

Von  den  Sittlichkeitsverbrechen  wird  widernatürliche  Un- 
zucht ^^^)  mit  einer  Busse  von  mindestens  5  Stück  Vieh  be- 
straft. Blutschande  ohne  Ehe^^^)  ist  nicht  strafbar;  eine  Ehe 
dagegen  zwischen  Blutsverwandten  muss  aufgelöst  werden  und 
wird  an  dem  Manne  hart  geahndet. 

Einen  Uebergang  zu  den  Delikten,  bei  welchen  die  Busse 
an  den  verletzten  Privaten  fällt,  bildet  die  Nothzucht^^^).  Es 
ist  dies  das  einzige  Verbrechen,  bei  welchem  die  Busse  unter 
den  Inkosi  und  den  unmittelbar  Geschädigten  (Ehemann,  Vater 
oder  sonstigen  nächsten  männlichen  Verwandten  der  Frauens- 
person) getheilt  wird.  Die  Strafe  geht  bis  zu  4  Stück  Vieh. 
Verleitung  einer  unverheiratheten  Frauensperson  oder  Wittwe 
zum  Beischlaf^ ^^)  ist  im  Allgemeinen  straflos;  folgt  aber  die 
Geburt  eines  Kindes,  so  kann  der  Vater  eine  Busse  von 
1  Stück  Vieh  verlangen.  Das  Kind  gehört  seinem  natür- 
lichen Vater,  wenn  dieser  an  den  Vater  der  Mutter  2 — 4  Vieh- 
stücke zahlt,  es  also  so  zu  sagen  aus  dessen  Familie  auskauft. 
Aehnlich  ist  die  Bestimmung  der  alten  Gesetze  Irlands  über 
die  Raubehe,  wonach  der  Entführer  kein  Recht  auf  die  im 
ersten  Monat  gezeugten  Kinder  hatte,  sie  jedoch  von  der 
Familie  der  Frau  käuflich  erwerben  konnte  ^^^).  Bei  den 
Gaika  findet  sich  wiederum  eine  Abweichung;  es  wird  hier 
die  Verführung  eines  Mädchens  mit  einer  Busse  von  3  oder 
4  Stück  Vieh  bestraft,  bei  Geburt  eines  Kindes  härter.   Andere 


125)  Warner  p.  61  f.  —  Brownlee  p.  111. 
^'^^)  Warner  p.  62.  —  Brownlee  p.  112. 
1^0  Warner  p.  62.  —  Brownlee  p.  115. 

128)  Warner  p.  62.  —  Brownlee  p.  111  f. 

129)  Warner  p.  63.  —  Brownlee  p.  112. 

13°)  Kolller  in  dieser  Zeitschrift  Band  V  S.   363  f. 


50  Rehme. 

Fälle    der  Unzucht    sind   nicht    straf har;    gegen  Zahlung   von 
1  Stück  Vieh  behält  der  natürliche  Vater  das  Kind^^^). 

Ehebruch  1^^)^  gleichfalls  ein  Verbrechen  gegen  das  Eigen- 
thum,  wird  nach  dem  Range  des  Mannes  mit  einer  Komposition 
von  1 — 4  Viehstücken  belegt;  wird  ein  Kind  geboren,  so  steigt 
die  Busse  bis  zu  10  Stücken.  Eine  noch  härtere  Strafe  tritt 
ein  bei  Ehebruch  mit  einer  Frau  des  Inkosi,  ferner  wenn  der 
Ehebrecher  ein  Unbeschnittener  ist  oder  sich  in  der  Zeit  der 
Jünglingsweihe  befindet.  Noch  in  der  ersten  Hälfte  dieses 
Jahrhunderts  hatte  der  Mann  das  Recht,  den  in  flagranti 
ertappten  Ehebrecher  zu  tödten^^^). 

Von  den  übrigen  Verbrechen  gegen  das  Vermögen  wird 
nur  der  Diebstahl  erwähnt  ^^*).  Falls  der  gestohlene  Gegen- 
stand dem  Bestohlenen  nicht  unbeschädigt  zurückerstattet 
wird,  ist  der  Werth  der  Sache  zu  ersetzen.  Bei  Viehdiebstahl 
wird  eine  Busse  vom  Fünf-  bis  zum  Zehnfachen  der  gestohlenen 
Zahl  auferlegt.  Ist  der  Inkosi  der  Bestohlene,  so  koniiscirt 
er  das  ganze  Vermögen  des  Diebes.  Hehlerei  wird  nicht 
bestraft. 

Besonders  streng  ist  beim  Diebstahl  der  Grundsatz  der 
Haftung  der  Verwandten  für  Delikte  eines  ihrer  Angehörigen 
durchgeführt.  Es  ist  zur  Erhebung  der  Klage  auf  jene  Busse 
nicht  nöthig,  dass  die  Person  des  Diebes  ermittelt  ist,  es  genügt 
vielmehr,  dass  festgestellt  ist,  zu  welchem  Kraal  er  gehört  ^^^). 
Ferner  zieht  der  Häuptling,  wenn  der  Dieb  kein  Vermögen 
besitzt,  das  gesammte  Vermögen  der  Verwandten  ein^^^). 

Meineid  als    solcher   ist   straflos  ^^');    concurrirt   aber  mit 


133- 


^^^)  Brown lee  a.  a.  0. 

132)  Warner   p.  63.  —  ßrownlee   p.  111.   —  Weber  II  S.  220. 

')  ßrownlee   p.  110.  —  Campbell    S.  472. 
13^)  Warner  p.  64  ff.  —  ßrownlee  p.  112  f.  —  Maclean  p.  143 
(quer}'  33).  —  Lichtenstein  I  S.  436  f. 
13^)  Warner  a.  a.  0. 

136)  Maclean  p.  143  (query  33). 

137)  Warner  p.  58.  —  ßrownlee  p.  124.  —  cf.  Dugmore  p.  164  tY. 


Ueber  das  Recht  der  Amaxosa.  57 

ihm  Verleumdung^  so  setzt  sich  der  Verleumder  abgesehen  von 
seiner  Schadensersatzpflicht  ^^^^)  einer  Strafklage  aus^^*). 

An  der  Spitze  eines  jeden  Stammes  steht  ein  Inkosi ; 
mehreren  Inkosi  ist,  wie  schon  oben  erwähnt,  gemäss  der 
geschichtlichen  Entwickelung  der  einzelnen  Stämme  ein 
ükumkani  übergeordnet,  welcher  zugleich  Inkosi  seines 
eigenen  Stammes  ist.  Er  hat,  da  ihm  nur  ein  Entscheidungs- 
recht der  Streitigkeiten  der  selbständig  regierenden  Inkosi 
zusteht,  vor  den  Unterhäuptlingen  nur  einen  Ehrenvorrang. 
Die  Würde  beider  ist  erblich  ^^^),  und  zwar  geht  sie  auf  den 
ältesten  Sohn  der  ,jgrossen  Frau''  über  ^*^).  Ist  der  Thronfolger 
beim  Tode  des  Häuptlings  noch  minderjährig,  d.  h.  noch  nicht  feier- 
lich in  den  Kreis  der  Männer  aufgenommen,  so  führt  ein  Kollegium 
der  ersten  Beamten  des  Stammes  (die  Amapakati)  die  Regent- 
schaft^*^). Der  Ükumkani  wie  der  Inkosi  gelten  als  recht- 
mässige Herrscher  erst  nach  einer  Huldigung  seitens  der  In- 
kosi bezw.  des  Stammes  ^*^). 

Die  Einkünfte  des  Inkosi  bestehen  heute  in  Geschenken 
der  Stamm esanhörigen  bei  festlichen  Gelegenheiten  und  vor 
allem  in  der  Busse  für  gewisse  Verbrechen.  Früher  hatte  er 
das  Recht  auf  einen  Zehnt  vom  Ertrage  der  Feld-  und  Vieh- 
wirthschaft  und  der  Jagd^*^^). 

Der  Inkosi  ist  Gesetzgeber,  Richter  und  Vollstrecker  der 
Urtheile^**).  Wenn  er  auch  rechtlich  unbeschränkt  herrscht, 
so  ist  seine  Regierung  doch  nicht  despotisch ^'^^);  einmal  würde 

137a)  yg]_  oben  S.  47.  ^^^)  Brownlee  p.  120. 

^39)  Fritsch  S.  92.  —  Dugmore  p.  11  ff.  31.  —  Lichtenstein 
I  S.  396.  —  Maclean  p.  141. 

i-*»)  Vgl.  oben  S.  48. 

1^1)  Dugmore  p.  26.  —  Nauhaus  a.  a.  0.  XIII  S.  349.  -  Da- 
gegen Dohne  S.  18. 

1*2)  Dohne  S.  18. 

1*^)  Dugmore  p.  28  f.  —  Maclean  p.  142  (query  31).  —  Lichten- 
stein I  S.  477.  —  Nauhaus  a.  a.  0.  S.  350  f. 

^^^)  Dugmore  p.  32.  —  Lichtenstein  I  S.  474  ff. 

1*^)  Maclean   p.    142  (query  27).     Noch   zu  Beginn   dieses  Jahr- 


58  Rehme. 

er  durch  Grausamkeiten  und  grobe  Ungerechtigkeiten  seine 
Unterthanen  zur  Flucht  mit  Hab  und  Gut  zu  anderen  Häupt- 
lingen veranlassen^  ^^)  und  sich  so  seiner  Leute  und  damit 
eines  Theiles  seiner  Einkünfte  berauben;  dann  stehen  ihm, 
wenn  auch  nicht  rechtlich,  so  doch  thatsächlich  Rathgeber 
(Amapakati)  zur  Seite,  welche  auf  das  Volk  den  grössten 
Einfluss  haben.  Er  ist  zwar  an  deren  Rath  nicht  gebunden, 
wird  jedoch  in  den  meisten  Fällen  seine  Entscheidungen  in 
Uebereinstimmung  mit  ihnen  treflfen,  um  nicht  Unzufriedenheit 
in  seinem  Volke  zu  erregen.  Das  Amt  der  Amapakati ^*'^) 
ist  erblich;  es  geht  auf  den  ältesten  Sohn  der  „grossen  Frau" 
über^*^).  Ist  es  durch  erblosen  Tod  des  Inhabers  erledigt,  so 
wird  von  dessen  Kraal  ein  Umpakati^^^^)  gewählt,  der  sich  durch 
Tapferkeit  und  Klugheit  auszeichnet^*^),  und  vom  Inkosi  be- 
stätigt ^^^).  Zu  Anfang  dieses  Jahrhunderts  war  die  Wahl 
noch  die  regelmässige  Besetzungsart.  Wir  haben  zwei  Klassen 
der  Amapakati  zu  unterscheiden.  Vier  bis  sechs  Amapakati 
bilden  einen  ständigen  Beirath  des  Inkosi ^^^);  von  den  übrigen 
steht  je  einer  an  der  Spitze  des  Bezirkes,  der  ihn  gewählt 
hat.  Diese  zweite  Gruppe  hat  von  Zeit  zu  Zeit  beim  Inkosi, 
am  ^grossen  Orte",  zu  erscheinen  und  über  die  Zustände  ihrer 
Distrikte  zu  berichten.  Abgesehen  von  dem  Falle  der  persön- 
lichen Berichterstattung  kommen  die  über  das  Land  zerstreuten 
Amapakati  in  unmittelbare  Berührung  mit  dem  Inkosi  bei  den 
Volksversammlungen,  welche  dieser  bei  wichtigen  Angelegen- 
heiten   beruft.     Die  Amapakati    haben    in    denselben    ein  be- 


hunderts  hatte  er  das  Recht  über  Leben  und  Tod  seiner  Unterthanen. 
Lichtenstein  I  S.  478. 

^'^)  Dugmore  p.  23  f. 

1^')  Dugmore  p.  24  ff.  —  Maclean  p.  141  f.  (query  25).  p.  142  f. 
(query  32).  —  Lichtenstein  I  S.  480.  —  Fritsch  S.  95.  —  Dohne 
S.  15  f.  —  Weber  II  S.  220. 

1^8)  Dohne  S.  21.  ^^^^)  Vgl.  Anm.  9. 

^^^)  Dugmore  p.  24. 

^^0)  Lichtensteiu  I  S.  474. 

1^^)  Dugmore  p.  24  f.  —  Nauhaus  a.  a.  0.  XIII  S.  349. 


lieber  das  Recht  der  Amaxosa.  59 

rathende  Stimme;  das  gemeine  Volk  (abantu  abamnyama) 
nimmt  nur  passiv  theiP^^).  Der  Zweck  der  Volksversammlung 
ist  hiernach  nur  der,  dem  Volke  den  Willen  des  Inkosi  gleich 
nach  seiner  Entschliessung  mitzutheilen.  In  dem  dem  einzelnen 
ümpakati  zugewiesenen  Bezirke  hat  dieser  den  Inkosi  zu 
vertreten,  besonders  seine  Befehle  zu  vollstrecken.  Seine 
Hauptfunktion  ist  aber  die  eines  Richters  erster  Instanz.  Da- 
mit gelangen  wir  zum  Prozessrechte. 

Der  einzige  privatrechtliche  Anspruch,  der  auf  dem  Wege 
der  Klage  geltend  gemacht  werden  kann,  ist  der  Anspruch 
auf  Schadensersatz.  Es  ist  daher  natürlich,  dass  den  Ama- 
xosa der  Unterschied  zwischen  Civil-  und  Strafprozess  noch 
unbekannt  ist.  Ein  gerichtliches  Verfahren  wird  ausser  dem 
Falle  der  Schadensersatzklage  nur  behufs  Bestrafung  von 
Delikten  eingeleitet,  und  zwar  ist,  je  nachdem  der  Inkosi  oder 
ein  Privater  verletzt  wurde,  dieser  oder  jener  Kläger ^^^).  Der 
Private  erscheint  nun  als  der  Verletzte  bei  allen  Handlungen 
—  mögen  sie  unter  den  Begriff  des  Verbrechens  fallen  oder 
nicht  — ,  welche  gegen  das  Vermögen  gerichtet  sind^^"^).  Ver- 
mögen zur  freien  Verfügung  hat  aber  nur  der  Hausvater. 
Daher  ist  nur  er  als  Hauptpartei  partei-  und  prozessfähig. 
Wegen  des  Interesses  aber,  das  die  männlichen  Verwandten 
beider  Parteien,  zumal  des  Beklagten,  wegen  ihrer  Haftpflicht 
für  Zahlung  der  möglicherweise  auferlegten  Busse  am  Aus- 
gange des  Prozesses  haben,  betheiligen  sie  sich  stets  als 
Nebenintervenienten.  Die  Ladung  geschieht  dadurch,  dass 
der  Kläger  und  seine  Verwandten  vor  die  Hütten  des  Beklagten 
kommen,  diesem  und  seinen  Verwandten  die  Klage  vortragen 
und    sie    zur  Vertheidigung    auffordern  ^^^).     Wird    hier    eine 


15^)  Dohne  S.  15. 

^^^)  Es  stehen  daher  dieEiitschädigungs-  und  die  Privatkompositions- 
klage  sich  gleich.  Im  Gegensatz  dazu  der  Strafprozess,  bei  welchem  der 
Inkosi  Ankläger  und  Richter  ist.  D.  R. 

154^  Vgl.  die  obigen  Ausführungen  im  Strafrechte  S.  49  f. 

155)  Dugmore,  p.  38  f.  —  Warner  p.  57  ff. 


60  Relime, 

Einigung  nicht  erzielt,  so  wird  die  Sache  vor  den  Umpakati 
gebracht ^^^),  in  dessen  Bezirk  der  Beklagte  seinen  Wohnsitz, 
und  bei  dessen  Gericht  er  seinen  einzigen  Gerichtsstand  hat. 
Gelangt  jener  zu  keiner  Entscheidung,  so  muss  er  auf  Antrag 
der  Parteien  die  Sache  dem  Inkosi  unterbreiten,  welcher  in 
diesem  Fall  also  erste  Instanz  ist.  Hat  der  Umpakati  aber 
ein  Urtheil  gefällt,  so  haben  die  Parteien  das  Recht  der  Ap- 
pellation an  den  Inkosi  ^^^).  In  einigen  Fällen  steht  gegen 
dessen  Urtheil  Berufung  bei  dem  Ukumkani  offen  ^^^). 

Die  Haupteigenheit  des  Prozesses  der  Amaxosa  ist  die 
ungünstigere  Stellung  des  Beklagten,  dehn  er  muss  seine 
Schuldlosigkeit  beweisen  ^^^).  Er  wie  die  Gegenpartei  werden, 
wie  schon  erwähnt,  durch  die  gesammte  beiderseitige  Ver- 
wandtschaft unterstützt;  in  der  Regel  ist  jedoch  die  aktive  Be- 
theiligung am  Prozesse  auf  beiden  Seiten  auf  einige  Wortführer 
beschränkt.  Erscheint  eine  Partei  nicht,  so  kann  dieselbe  mit 
Gewalt  vorgeführt  werden. 

Das  Verfahren  ^^^)  ist  höchst  umständlich.  Ueber  die 
entlegensten  Verhältnisse  der  Parteien  werden  Erhebungen 
angestellt.  Der  Zeugenbeweis  ist  zwar  allgemein  in  Gebrauch ; 
da  jedoch  ein  gerichtlicher  Eid  in  unserem  Sinne  nicht  be- 
steht, so  werden  Lügen  auf  Lügen  vorgebracht,  und  es  ist 
Sache  des  Richters,  die  materielle  Wahrheit  durch  Kreuz- 
fragen zu  ermitteln.  Gerade  hierin  besitzen  die  Amaxosa  ^^eine  be- 
wunderungswürdige Gewandtheit"  ^^^).  Eide  kommen,  wenn  auch 
nur  äusserst  selten,    im  Prozesse  vor;    da    aber  Meineid  nicht 


^^^)  Dugmore   p.   38  f.    —    Maclean   p.  142  (query  29);    p.  143 
(query  32). 

^^^)  Dugmore  p.  41  ff.  —  Warner  p.  59.   —  Dohne  S.  19. 
^^^)  In  welchen,  lassen  die  Quellen  dahingestellt.  Dugmore  p.  30. 

-  Vgl.  Dohne  S.  19. 

^s9)  Dugmore  p.  37  ff.  —  Warner  p.  58.  —  Weber  II  S.  222. 
i'^ö)  Dugmore  p.  38  ff.  —  Warner  p.  58  f.  —  Weber  II  S.  223. 

—  Dohne  S.  15  f. 

^^1)  Fritsch    S.   55.   —   Weber   II    S.  223    nennt    sie    „geborene 
Disputanten". 


Ueber  das  Recht  der  Amaxosa.  61 

bestraft  wird,  haben  sie  keine  grosse  Bedeutung.  Die  Amaxosa 
schwören,  indem  sie  den  rechten  Arm  und  den  Zeige-  und  Mittel- 
finger nach  vorn  ausstrecken ;  sie  rufen  als  Zeugen  für  die 
Wahrheit  ihrer  Aussagen  in  der  Regel  ihre  Vorfahren  an, 
jedoch  auch  den  Inkosi  oder  dessen  Ahnen,  „die  grosse  Frau^ 
des  regierenden  Häuptlings  oder  ihre  eigene  Mutter  ^^^). 

Was  im  Besonderen  das  Verfahren  in  der  dritten  Instanz 
betrifft,  so  überlässt  nicht  selten  der  Ukumkani  die  ganze  Be- 
weisaufnahme den  Amapakati  und  fällt  selbst  nur  das  Urtheil. 

Die  angeführten  Sätze  gelten  auch  für  das  Verfahren, 
welches  wegen  Verbrechen  gegen  Leib  und  Leben  eingeleitet 
wird.  Nur  bilden  nicht  die  Amapakati  für  ihre  Bezirke  die 
erste  Instanz.  Da  der  Inkosi  der  Verletzte  ist^^^),  erhebt  er 
vielmehr  selbst  die  Klage ;  zugleich  ist  er  mit  dem  ihn  unter- 
stützenden ständigen  Beirathe  einiger  Amapakati  in  seiner 
eigenen  Sache  Richter  ^^^);  die  zweite  Instanz  bildet  der 
Ukumkani  ^^^). 

Die  Vollstreckung  der  Urtheile  steht  in  allen  Fällen  nur 
dem  Inkosi  zu.  Der  Sieger  im  Prozesse  darf  den  Verurtheilten 
nie  zur  Zahlung  der  Busse  bezw.  zum  Ersazte  des  Schadens 
zwingen  und  auch  der  Umpakati  hat,  selbst  wenn  sein  Urtheil 
rechtskräftig  geworden  ist,  nicht  ohne  Weiteres  das  Recht 
der  Exekution  ^^^).  Er  muss  vielmehr  vom  Inkosi  förmlich 
mit   der  Vollstreckung   beauftragt   werden.     Nicht   selten    er- 


^^^)  Dugmorep.  164:  „They  take  also  to  witness  their  Chief  er  some 
great  deceased  Chief  of  his  line,  er  sometimes  their  Chiefs  great  wife, 
er  their  own  father's  daughter."  Die  letzten  Worte  wären  schon  an 
und  für  sich  ein  sehr  merkwürdiger  Ausdruck  für  „Schwester";  dazu 
ist  es  geradezu  unerklärlich,  weshalb  die  Amaxosa  bei  ihren  Schwestern 
schwören  sollten.  Wir  haben  es  daher  wohl  mit  einem  Druckfehler  zu 
thun  und  müssen  statt  „daughter"   „wife"  setzen. 

^^3)  Vgl.  Strafrecht  S.  49  f. 

^^^)  Ueber  den  Schutz  der  Unterthanen  vor  Ungerechtigkeiten, 
8.  S.  57  f. 

^^^)  Dugmore  p.  37.  —  Warner  p.  57. 

1^^)  Warner  p.  59. 


(32  Rehme. 

nennt  der  Inkosi  besondere  Exekutoren  (Imisila),  welche  durch 
den  Sieger  zu  bezahlen  sind^^^). 

Besondere  Regeln  gelten  für  das  wegen  angeblicher  Zau- 
berei^^^)  eingeleitete  Verfahren.  Dabei  werden  die  Isintonga, 
Zauberpriester  oder  Zauberpriesterinnen  ^^^),  verwendet.  Diese 
bilden  eine  besondere  Kaste,  zur  Aufnahme  in  dieselbe  ist 
eine  lange  Prüfungszeit  erforderlich  ^'^^).  Ihre  Hauptfunktionen 
sind  die  Vermittelung  des  Verkehres  zwischen  den  Imishologu, 
den  Geistern  der  verstorbenen  Vorfahren,  und  den  Lebenden  ^''^) 
und  die  Aufspürung  des  der  Hexerei  Schuldigen.  Bei  dem 
ungeheuer  grossen  Aberglauben,  der  sämmtlichen  Abantu- 
Völkern  eigen  ist^^^),  wird  Zauberei  bei  Unglücksfällen  der 
Menschen  und  des  Viehs  und  bei  grosser  Dürre  vermuthet. 
Die  Untersuchung  ^^^),  wenn  wir  so  sagen  dürfen,  wird  ge- 
führt durch  einen  Isintonga;  ehe  sie  eingeleitet  wird,  muss  die 
Erlaubniss  des  Inkosi  eingeholt  werden.  Nachdem  sich  der 
Isintonga  in  der  Versammlung  seiner  Anhänger  und  der  Mit- 
glieder des  beschuldigten  Kraals  und  durch  einen  abenteuer- 
lichen Tanz  in  eine  gewisse  Ekstase  versetzt  zu  haben  glaubt, 
bezeichnet  er  ohne  Weiteres  den  Schuldigen.  Leugnet  der 
so  Beschuldigte,  so  sucht  man  ihn  unter  den  entsetzlichsten 
Foltern  ^^^)  zum  Geständniss  zu  bewegen;  die  Martern  werden 
so  lange  fortgesetzt,  bis  der  Unglückliche  gesteht  oder  stirbt. 
Denn  sein  Geständniss  soll  des  Zauberpriesters  Ausspruch 
nur  bestätigen,  welchen  das  Volk  als  unbedingt  richtig  aner- 
kennt.    Denn    es  schreibt    den  Isintonga   die  Gabe    der  Divi- 

^^')  Warner  p.  57. 

168)  Yg\.  Fritsch  S.  98  ff. 

^^^)  Warner  p.  79  ff.  Früher  scheinen  Weiber  regelmässig  dazu 
verwendet  worden  zu  sein.     Lichtenstein  I  S.  415. 

^''^)  ^  gl-  ioi  Strafrechte  die  Bestrafung  falscher  Zauberpriester. 

^'')  Fritsch  S.  57. 

172)  Yg.]  über  die  Zulus  Fritsch  S.  139,  über  die  Bechuana 
Fritsch  S.  196  ff.,  über  die  Ovaherero  Fritsch  S.  198  ff. 

^")  Warner  p.  88  ff.  —  Brownlee  p.  123. 

^'^)  Lichtenstein  I  S.  416  f. 


Ueber  das  Recht  der  Amaxosa.  63 

nation  zu.  Auch  bei  den  Amaxosa  findet  sich  also  eine  Art 
Ordalismus.  Das  Ordal,  dessen  eigentliches  Wesen  die  „sin- 
nenfällige  Ueberführung"  ^^^)  des  Beschuldigten  ausmacht,  hat 
sich  zu  der  Vision  des  Zauberers  entwickelt,  bei  welcher  die 
Gottheit  oder  die  über  den  Lebenden  stehenden  Wesen  ^^^) 
nicht  durch  äussere  Ereignisse,  sondern  durch  den  Mund  ihres 
Auserkorenen  die  Wahrheit  kund  thun. 


1^5)  Kohl  er  in  dieser  Zeitschrift  Band  V  S.  373  f. 

^'^)  Die  Amaxosa  kennen  keine  Gottheit,  schreiben  aber  den  Geistern 


der  Abgeschiedenen  gewisse  höhere  Kräfte  zu. 


III. 

Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay. 

Von 
Prof.  Dr.  J.  Kohler. 

Einleitung. 

Das  indische  Recht  gestattet  den  Gewohnheiten,  insbesondere 
auch  den  Dorf-,  Distrikts-,  Kastengewohnheiten  die  grösste  Frei- 
heit ^).  Daher  die  äusserste  Fülle  von  Gewohnheitsrechten. 
Und  doch  wieder  sehen  wir  den  ausserordentlichen  Einfluss 
des  indischen  Kulturrechts:  auch  Stämme  niederster  Stufe 
haben  sich  vielfach  in  Recht  und  Rechtssitten  den  Hindus 
angeschlossen.  So  bieten  uns  die  Gewohnheitsrechte  zugleich 
den  lichtvollsten  Kommentar  über  die  Wirkungsweise  und  die 
Geltung  des  officiellen  indischen  Rechts. 

Die  nachfolgende  Darstellung  der  Gewohnheitsrechte 
Bombay's  beruht  grösstentheils  auf  der  Fülle  von  Materialien, 
welche  in  dem  Bombay  Gazetteer  niedergelegt  sind ^).  Die 
mir  zugänglichen  Bände  verbreiten  sich  über  verschiedene 
Gegenden  der  Präsidentschaft,  wie  folgt : 

Band  II  handelt  von  Surat  (bis  p.  334)  und  von 
B r o a c h  (==  Bharotsch). 

Band  III  von  Kaira  (bis  p.  180)  und  von  Panch  Mahal. 

Band  IV  von  Ahmedabad  (^  Ahmadabad). 

^)  Vgl.  darüber  mein  Altindisclies  Processrecht  S.  IS. 

^)  Gazetter  of  the  Bombay  Presidency  (Bombay  1877 — 86). 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  65 

Band  V  von  Cutch  (bis  p.  277)  (=  Katsch),  Palan- 
pur  (bis  p.  351);  Mahi  Kantha. 

Band  VI  von  Rewa  Kantha  (bis  p.  170);  Nahurot, 
Cambay  und  den  Suratstaaten. 

Band  VII   von  Baroda. 

Band  VIII   von  Kathiawar. 

Band  X   von  Ratnagiri  (bis  p.  384)  und  Savantvadi. 

Band  XI  von  Kolaba  (bis  p.  398)  und  Janjira. 

Band  XII  von  Kandesh, 

Band  XIII,,  XIII^  und  XIV  von   Thana. 

Band  XV ,  und  XVg  von  Kanara. 

Band  XVI  von  Nasik. 

Band  XVII  von  Ahmadnagar. 

Band  XVIII,;  XVIII^;  XVIII3  von  Puna. 

Band  XIX  von  Satara. 

Band  XX  von  Scholapur. 

Band  XXI  von  Belgaum. 

Band  XXII  von  Dharwar. 

Band  XXIII  von  Bijapur. 

Band  XXIV  von  Kolhapur. 

Band  XXV  hat  Naturwissenschaftliches. 

Neben  dieser  ausserordentlich  ergiebigen  Sammlung;  welche 
im  folgenden  lediglich  mit  Band  und  Seite  citirt  wird;  steht 
folgendes : 

2.  Gazetteer  of  the  Province  of  Sind  (London  1876). 

3.  Selections  from  the  Records  of  the  Bombay 
Government.  No.  VIII.  New  Series:  Graham,  Statistical 
Report  on  the  principality  of  Kolhapoor  (Bombay  1854). 

4.  Idem  XII  New  Series:  Memoir  on  the  Mahee  Kanta 
(Bombay  1855). 

5.  Idem  XV  New  Series:  Memoir  and  brief  notes  rela- 
tive to  the  Kutsch  State  (Bombay  1855). 

6.  Idem  XVI  New  Series:  Howe,  Tours  for  scientific 
and  economical  research  made  in  Guzerat  Kattiawar  and  the 
Conkuns  fv.   1787/88]  (Bombay  1855). 

Zeitschrift  für  vergleichende  Rechtswissenschaft.    X.  Band.  5 


tj(3  Kollier. 

7.  Idem  XXIII  New  Series:  Sketches  of  the  native 
States  linder  the  political  agency  in  the  Rewa  Kanta  (Bom- 
bay 1856).     P.  I  u.  II. 

8.  Idem  XXXVII  New  Series:  Historical,  geographica! 
and  Statistical  memoirs  on  the  province  of  Kattywar  (Bom- 
bay 1856). 

Ausserdem  wurden  insbesondere  benutzt : 

9.  Burton,  Goa  and  the  bhie  mountains  (London  1851). 

10.  Burton,  Sindh  (London  1851). 

11.  EUiot  in  der  Ethnolog.  Society  of  London,  New  Ser.  I. 

12.  Gazetteer  of  South  India  by  Pharoah  and  Co. 
(Madras  1855). 

13.  Elphinstone,  History  of  India. 

14.  Tod,  Rajasthan. 

15.  Malcolm,  Memoir  of  Central  India   (London  1823). 

16.  Herklots,  Qanoon-e-Islam  (London  1832). 

17.  Die  Grihya-sütras:  Cänkhäyana ,  Ac^valäyana, 
Päraskara,  Khädira  nach  Oldenberg's  Uebersetzung  in  den 
Sacred  Books  of  the  East  XXIX. 

18.  Wilson,  Glossary  of  judicial  and  revenue  terms 
(London  1855). 

I.   PersonenrecM. 

§  1. 

Die  Sc  laverei  als  erbliche  Personeneigenschaft  war 
unter  den  Peshwas  in  Dharwar  und  in  Puna  üblich  (XXII, 
463;  XVIII,  2,  133);  auch  in  Kolhapur^).  DieSclaven  wurden 
mild  behandelt,  konnten  auch  frei  gelassen  werden. 

Auch  in  Mala  bar  findet  sich  das  Sclaveninstitut ;  der 
Sclave  durfte  nicht  getödtet ,  aber  körperlich  gezüchtigt 
werden,  doch  mit  Mass;  er  war  veräusserlich ,  doch  war  es 
nicht  üblich,  die  Frau  von  dem  Manne,  den  Sclaven  von  seinem 


3)  Record  of  Kolliapur  p.  163. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  67 

Heimwesen    zu   trennen.     Sie    hatten    ein  Peculium ,    bekamen 
namentlich  einen  Theil  der  Ernte  ^^). 

Im  Innern,  insbesondere  in  Malwa,  gab  es  viele  weib- 
liche Sclaven,  namentlich  auch  als  Tanzmädchen :  sie  wurden 
gekauft.     Die  Behandlung  der  Sclaven  war  meist  gut^). 

§2. 

Dass  das  volle  Mutter  recht  bei  den  Nairs  in  Mala- 
bar  besteht,  ist  eine  bekannte,  von  dem  Entdecker  des  Mutter- 
rechts bereits  gebührend  hervorgehobene  Thatsache  ^).  Zwar 
heirathet  die  Frau,  aber  diese  Ehe  ist  im  Leben  nicht  ernst- 
lich gerneint.  Die  Frau  lebt  mit  ihrem  Bruder  zusammen; 
unter  den  mehreren  Schwestern  leitet  die  älteste  den  Haus- 
halt: die  älteste  der  mehreren  Schwestern,  bezw.  von  den 
mehreren  Schwestertöchtern  die  älteste  Tochter  (nicht  etwa 
die  Tochter  der  ältesten  Schwester),  denn  das  Altersvorrecht 
bleibt  nicht  in  der  Generation  konstant. 

Die  nächsten  Zugehörigen  des  Mannes  sind  seine  Neffen 
(Schwestersöhne) :  sie  besorgen  die  Todtenopfer,  sie  beerben 
ihn  und  die  Mutter,  soweit  das  Vermögen  Sondervermögen 
ist  und  nicht  gemeinsames  Hausvermögen. 

Die  Frauen  haben  freien  Umgang  mit  Männern  insofern, 
als  es  ihnen  stets  freisteht ,  einen  Mann  aus  ihrem  Umgang 
zu  entlassen  und  einen  andern  zu  wählen ,  aber  immer  nur 
einen  auf  einmal.  Das  Verhältniss  ist  daher  durchaus  nicht 
als  poljandrisch  zu  bezeichnen  ^). 

In   Nordmalabar    findet    sich    die    üebergangsform ,    dass 


3a)  Burton,  Goa  p.  225,  227,  228. 

^)  Malcolm  II  p.  199,  202,  204.  Vgl.  auch  noch  Elphinstone 
p.  350. 

0  Bachofen,  Antiquarische  Briefe  I  S.  216  f. 

^)  Vgl.  auch  Wilson,  Historical  Sketches  of  the  South  India  III 
p.  4  f.,  Elliot  p.  119  f.,  Burton,  Goa  p.  213,  216  f.,  Gazetteer  of 
South  India  p.  509-  510. 


C8  Kohler. 

rechtlich  die  Mutterfamilie  erhalten,  taktisch  aher  das  Mutter- 
rechtahaus  gehrochen  wird,  indem  die  Frau  dem  Manne  folgt 
(XV  1,   190). 

Früher  war  es  verhoten,  den  Söhnen  etwas  zum  Nachtheil 
der  Neffen  zuzuwenden;  doch  geschieht  es  jetzt,  aber  mit 
Einwilligung  der  Neffen  '^). 

Dass  hierbei  die  Namburibrahmanen  eine  besondere  Rolle 
spielen,  ist  gleichfalls  bekannt  und  bereits  durch  Bachofen 
hervorgehoben  worden^).  Von  den  Namburis  pflegt  nur 
der  älteste  Sohn  zu  heirathen  (nach  Vaterrecht),  dieser  aller- 
dings bis  zu  sieben  Frauen;  die  jüngeren  Söhne  wohnen  mit 
den  Nairweibern  in  der  gedachten  Weise :  sie  führen  mit 
ihnen  temporäre  Ehen  nach  Mutterrecht.  Die  Nair  rechnen 
sich  dies  zu  grosser  Ehre  an  ^)   (XV,   1,   196). 

Als  ein  Rest  des  Mutterrechts  kann  bezeichnet  werden, 
dass  bei  den  Akarmashes  in  Thana  der  Knabe  zwar  der 
Kaste  des  Vaters,  das  Mädchen  aber  der  Kaste  der  Mutter 
folgt  (XIII,  ],   143). 

Wo  ausnahmsweise  nicht  ebenbürtige  Ehen,  d.  h.  Ehen 
mit  einer  Frau  niederer  Kaste  stattfinden,  da  folgen  die  Kin- 
der der  letzteren,  so  bei  den  Rajputs  in  Kanara  (XV,  1,  193). 

Als  Rest  des  Mutterrechts  ist  auch  noch  der  Satz  zu 
betrachten,  dass  bei  den  Bhils  in  Panch  Mahal  der  Um- 
gang mit  der  Schwester  des  Vaters  erlaubt  ist,  während 
sonst   der    Incest    mit    Ausstossung   bestraft    wird    (III,    222). 

Ein  Rest  von  Polyandrie  findet  sich  bei  den  Bhils  in 
Panch-Mahal:  der  Umgang  des  älteren  Bruders  mit  der 
Frau  des  jüngeren  ist  nicht  verboten  (III,  222)  ^^). 


')  Biirton,  Goa  p.  218. 

«)  A.  a.  0.  I  S.  221  f. 

^)  Vgl.  auch  die  soeben  citirte  Literatur. 

^®)  Vgl.  auch  Brihaspati  XXVII,  20  (Sacred  Books,  Uebersetzung 
Joll5'^s),  welcher  die  Uebergabe  der  Braut  an  die  Familie  (d.  h.  an  die 
mehreren  Brüder)  als  tadelswerthen  Gebraucli  bezeichnet.  Vgl.  auch 
Zeitschr.  VI  S.  404  und  die  dort  erwähnte  Stelle  aus  Apastamba. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  G9 

§  3. 

Vom  Avunculat,  d.  h.  von  demjenigen  Rechtszustande, 
bei  welchem  der  mütterliche  Oheim  das  Haupt  der  Familie 
war,  finden  sich  noch  deutliche  Spuren.  Bei  den  verschie- 
densten Stämmen  spielt  der  Avunculus  eine  besondere  Rolle, 
namentlich  bei  Eheabschluss,  aber  auch  bei  anderen  mass- 
gebenden Rechtsakten  des  Familienlebens,  namentlich  bei  der 
Haarschur. 

So  wirkt  der  Avunculus  bei  der  Eheschliessung  mit  in 
der  Sitte  der  Saravats  in  Thana  (XIH ,  1,  84),  der  Patane 
Prabhus  in  Puna  (XVIH,  1,  312),  der  Halepaiks  in  Dhar- 
war  (XXn,  135),  der  Helavs  in  Bijapur  (XXIII,  271)  und 
anderer.  Die  Mitwirkung  des  Avunculus  ist  eine  verschiedene, 
so  mannigfach,  wie  die  Ehegebräuche.  Bei  den  Atti  Vakkals 
und  den  Ambigs  in  Kanara  (XV,  1,  250,  304)  verknotet 
er  die  Kleider;  ebenso  bei  den  Kangaris  (XV,  1,  374).  Bei 
den  Gollars  in  Dharwar  binden  die  Avunculi  die  kankans, 
die  Bänder,  um  die  Handknöchel  (XX,  202).  Bei  den  Gujarat 
Vanis  in  Bijapur  legt  der  Avunculus  der  Braut  das  Mangal- 
sütra,  das  glückbringende  Halsband,  an  (XXIII,  106).  Bei 
den  Jingars  in  Bijapur  trägt  der  Avunculus  die  Braut  in 
die  Halle,  —  doch  können  es  auch  andere  Verwandte  sein 
(XXIII,  113);  bei  den  Raddis  in  Puna  wird  die  Braut  durch 
den  Onkel  zum  Bräutigam  getragen  (XVIII,  1,  405).  Auch 
bei  den  Berads  in  Belgaum  führt  der  Avunculus  die  Braut 
(XXI,  164);  bei  den  Deshasthbrahmanen  in  Kolhapur  führt 
er  die  Braut  zum  Altar,  wo  die  Vorhangsceremonie  stattfindet 
(XXIV,  52);  bei  den  Hanbars  in  Bijapur  hält  der  Avun- 
culus der  Braut  den  Vorhang  (XXIII,  108);  bei  den  Ramoshis 
in  Puna  steht  er  hinter  der  Braut  (XVIII.  1,  419  f.).  Bei 
den  Kunbis  in  Satara  vollzieht  der  Avuncuhis  die  Uebergabe 
der  Braut,  das  kanyadan  (XIX,  69);  bei  den  Marathas  in 
Kolhapur  vollbringt  er  die  Handverbindung  (XXIV,  77)^^). 


0  Auch  ein  anderer  Verwandter. 


70  Kohler. 

Nichts  Seltenes  ist  es  auch,  dass  der  Avunculus  des  Bräuti- 
gams mitwirkt,  so  bei  den  Lodhis  in  Puna  (XVIII,  1,  400); 
oder  der  Avunculus  beider  Brautleute,  so  bei  den  Pahadis  in 
Puna  (XVIII,  1,  312),  bei  den  Nhavis  (XVIII,  1,  382). 
Namentlich  kommt  es  vor,  dass  bei  der  wichtigsten  Ehescene, 
der  Vorhangscene,  die  Avunculi  hinter  den  Brautleuten  stehen ; 
so  bei  den  Jain  Shimpis  in  Ahmadnagar  (XVII,  101),  bei 
den  Namdev  Shimpis  ebenda  (XVII,  120),  bei  den  Karan- 
jikars  in  Scholapur  (XX,  112);  so  auch  bei  den  Sangars  in 
S  a  t  a  r  a :  hier  stehen  sie  dahinter  mit  Dolchen  in  der  Hand 
(XIX,  94),  bei  den  Jire  Gavandis  in  Scholapur  mit  Lam- 
pen in  der  Hand  (XX,  90)  ''). 

Eine  andere  Mitwirkung  besteht  darin,  dass  die  Avunculi 
die  Brautleute  auf  ihren  Schoos  setzen ;  so  bei  den  Kunbis 
in  Satara  (XIX,  69),  bei  den  Mhars  in  Scholapur  (XX, 
179).  Auch  das  findet  sich,  dass  die  Avunculi  die  Brautleute 
in  die  Höhe  heben  und  einen  Tanz  ausführen,  einen  Krieger- 
tanz, der  auf  die  Raubehe  zurückführt;  so  bei  den  Kattais  in 
Ahmadnagar  (XVII,  109),  den  Mochis,  ebenda  (XVII, 
123),  den  Namdev  Shimpis,  ebenda  (XVII,  126),  wo  bei  dem 
Tanze  Kuchen  aneinandergeschlagen  werden;  auch  bei  den  Bhils 
in  Rewa-Kantha  heben  die  Avunculi  die  Brautleute  auf 
die  Schultern  (VI,  31). 

Mitunter  nimmt  der  Avunculus  des  Bräutigams  auch  bei 
der  Verlobung  Theil,  so  bei  den  Komtis  in  Bijapur,  neben 
dem  Vater  (XX,  59).  Bei  den  Kunbis  in  Satara  tritt  die 
Frau  des  Avunculus  der  Braut  in  den  Vordergrund :  sie  und 
die  Grossmutter  bekommen  Kleider  geschenkt  (XIX,  67). 

Ganz  besonders  bezeichnend  ist  es,  wie  in  solchen  Fällen 
der  Avunculus  und  der  Vater  abwechseln ;  so  bei  den  Sahadev 
Joshis  in  Puna:  Avunculus  oder  Vater  (XVIII,  1,  462);  bei 
den  Kunbis  in  Satara  vollzieht  der  Avunculus  das  kanvadan 
(oben  S.  69),  —  in  dessen  Abwesenheit  der  Vater  (XIX,  69). 


^2)  Lampen  und  Dolche  wohl  zum  Vertreiben    der   bösen  Geister. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  71 

Wie  bemerkt,  wirkt  der  Avunculus  nicht  nur  bei  der 
Eheschliessung  mit,  sondern  auch  bei  anderen  Akten:  so  bei 
der  Haarschur;  der  Avunculus  setzt  das  Kind  auf  den  Schoos 
oder  er  nimmt  ihm  die  ersten  Haare  ab.  So  bei  vielen 
Stämmen,  z.  B.  in  Puna  bei  den  Kumbhars,  den  Patharvats, 
den  Salis,  den  Bhois,  den  Kanjaris,  den  Dhors,  den  Halikhors 
(XVm  1,  350,  358,  363,  388,  429,  433,  438);  in  Scholapur 
bei  den  Golaks,  GJiisadis,  Karanjkars,  Panchals  (XX,  29, 
102,  106,  126);  so  bei  den  Berads  in  Bei  g au  m  (XXI,  164), 
den  Mushtigers  in  Bijapur  (XXIII,  135),  den  Yaklars  und 
den  Ghisadis,  den  Kiriklets,  Gavlis,  Chih  Kuruvinavars,  ebenda 
(XXIII,  175,  191,  199,  242,  261).  Auch  hier  alternirt  er 
mit  dem  Vater:  bei  den  Dasars  in  Bijapur:  Vater  oder 
Avunculus  (XXIII,  186),  bei  den  Gujaratbrahmanen  in  Puna: 
Vater  oder  Avunculus  (XVIII,  1,  164);  bei  den  Kamathis  in 
Puna  ist  es  nur  der  Vater  (XVIIl,  1,396),  ebenso  bei  den  Samvedis 
in  Thana  (XIII,  1,  82)  n.  a.  ^^).  Auch  bei  der  Ling-Cere- 
monie  (der  Anlegung  des  heiligen  Amulets)  wirkt  er  mit, 
so  bei  den  Patta  Salis  in  Dharwar:  Avunculus  oder  Vater 
(XXII,  174).  Auch  bei  der  Gürtungsceremonie  spielt  der 
Avunculus  nicht  selten  eine  Rolle,  wie  dies  unten  (S.  73,  130) 
zur  Darstellung  zu  bringen  ist. 

Auch  darin  zeigt  sich  noch  eine  bedeutungsvolle  Seite 
des  Avunculates,  dass,  wo  die  Frau  gekauft  wird,  ein  Theil 
des  Kaufpreises  an  den  Avunculus  fällt;  so  bei  den 
Uchlias  in  Puna:  die  Eltern  der  Braut  erhalten  100 — 200, 
der  Avunculus  50  Rupees  (XIII,  1,  472);  so  auch  bei  den 
Korvis  in  Bijapur  (XX [II,  204). 

Dass  dieses  Auftreten  des  Avunculus  kein  zufälliges  ist, 
muss  als  sicher  gelten:  es  ist  sicher,  dass  er  in  der  Familie 
eine  besondere  Stellung  einnimmt,  und  diese  Stellung  kann  nur 
auf  Mutterrechtsgedanken  beruhen:    und  da  die  Stämme,    bei 


^^)  Bei  den    Bhils    in   Panch    Mahal    vollzieht    es    die   Tante 
{III,  220). 


72  Kohler. 

welchen  eine  solche  Mitwirkung  stattfindet,  patriarchalisch,  ja 
agnatiach  sind,  so  ist  es  ebenfalls  sicher,  dass  die  Stellung  des 
Avunculus  das  Residuum  eines  älteren  Rechtssystems  ist.  Ob 
dasselbe  ein  Ueberrest  aus  vorindogermanischer  Zeit  ist,  oder 
ob  es  von  Urstämmen  entlehnt  wurde ,  lassen  wir  hier  einst- 
weilen dahingestellt;  das  ist  eine  Frage,  die  noch  nicht  völlig 
reif  sein  dürfte.  Das  ist  aber  sicher,  dass  das  Avunculats- 
system  älteren  Datums  ist,  dass  es  als  ein  Residuum  in  die 
agnatische  Zeit  hinein  reicht,  dass  die  Weltgeschichte  vom 
Mutterrecht  zum  Vaterrecht  übergegangen  ist,  nicht  umge- 
kehrt, dass  wir  daher  völlig  in  der  Lage  sind,  beim  Vater- 
recht von  „schon''  und  beim  Mutterrecht  von  „noch"  zu 
sprechen. 

§  4. 

Von  den  obligatorischen  Cousinehen,  d.  h.  dem  Rechts- 
satze, dass  Bruderssohn  und  Schwestertochter,  oder  noch 
mehr:  Bruderstochter  und  Schwestersohn  einander  von  Rechts- 
wegen zur  Ehe  bestimmt  sind,  finden  sich  mehrere  Spuren  ^^). 

Bei  den  Komtis  in  Dharwar  muss  der  Schwestersohn 
die  Bruderstochter  heirathen  (XXII,  131). 

Bei  den  Shenvisbrahmanen  in  Kanara  verspricht  der 
Bräutigam  mit  der  Braut  zusammen,  dass  ihre  künftige  Toch- 
ter den  Sohn  der  Schwester  des  Bräutigams  heirathen  werde: 
also  Bruderstochter  und  Schwestersohn.  Ebenso  bei  den 
Banjigs,  ebenda  (XV,  1,  162,  179);  auch  bei  den  Lads 
Vanjaris  in  Nasik  (XVI,  63).  Dies  scheint  allerdings  zur 
Form  geworden  zu  sein. 


^*)  Vgl.  auch  über  derartige  Gewohnheitsrechte  das  Rechtsbuch 
Brihaspati  (Sacred  Books  XXXIII,  Uebersetzung  Jollys)  II,  29,  XVII, 
19,  wo  dies  unter  den  verbotenen  Gebräuchen  angeführt  ist.  Vgl.  ferner 
in  dieser  Zeitschr.  VIII  S.  144  und  die  Nachweise  von  Weber  in  seinen 
Indischen  Studien  X  S.  75,  76.  In  der  buddhistischen  Legende  findet 
sich  selbst  der  Fall  der  Geschwisterehe  (unter  Prinzen),  Weber  ib. 
V  S.  427. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bomba)''.  73 

Eine  ähnliche  Formalität  ist  folgende : 

Bei  den  Kimbis  in  Puna  sagt  die  Tante  des  Kindes 
nach  der  Geburt,  wenn  es  ein  Mädchen  ist:  dies  ist  meines 
Sohnes  Weib ;  wenn  ein  Sohn,  so  hat  die  Mutter  zur  Tante  zu 
sagen :  wecn  du  eine  Tochter  bekommst ,  so  ist  sie  meine 
Schwiegertochter :  also  Bruderstochter  und  Schwestersohn, 
Schwestertochter  und  Bruderssohn  (XVIII,  1,  296) ;  ähnliches 
gilt  bei  den  Kunbis  in  Kolaba  (XI,  55). 

Eine  weitere  Formalität  ist  folgende : 

Bei  der  Gürtungsceremonie  verspricht  der  Avunculus 
dem  Jüngling,  dass  er  ihm  seine  Tochter  geben  werde :  also 
Schwestersohn  und  Bruderstochter;  so  bei  den  Samavedis  in 
Thana  (XIII,  1,  82),  bei  den  Panchalis  in  Scholapur 
(XX,  128)  und  so  auch  bei  den  bereits  oben  erwähnten  Shenvis 
in  Kanara  (XV,  1,  154). 

§  5. 

Es  ist  ein  bekannter  Rechtssatz,  dass,  wenn  Jemand  nur 
Töchter  hat,  die  Familie  dadurch  fortgesetzt  wird,  dass  die 
Descendenz  der  Tochter  wie  eine  Descendenz  des 
Sohnes  gilt;  d.  h.  es  wird  das  Vaterrecht  einen  Moment  bei 
Seite  gesetzt  und  das  Mutterrecht  hervorgeholt.  Im  indischen 
Recht  ist  der  Sohn  der  Putrikä  putra,  im  persischen  Recht 
ist  die  Ehe  die  Yoganzan-Ehe  ^^).  Dieser  Gedanke  findet 
seine  eigenthümliche  Ausprägung  bei  den  allerdings  niedrig 
gekasteten  Holias  (Holayas)  in  Dharwar:  wer  nur  Töchter 
hat,  widmet  eine  Tochter  der  Prostitution,  er  macht  sie  zur 
Basavi,  zum  Tanzmädchen ;  sie  erhält  die  Eltern  und  sie  und 
ihr  Sohn  beerbt  dieselben  (XXII,  216).  So  auch  die  Holias  in 
Bijapur  (XXIII,  216). 

Der  Mutterrechtsgedanke  findet  sich  auch  noch  in  anderen 
residuären  Formen.  Bei  den  Kaikadis  in  Bei ga um,  in  Kan- 
desch  und  in  Bijapur  hat  der  Schwiegersohn  so  lange  bei 


15)  Zeitschrift  III  S.  396,  Krit.  Vierteljahresschrift  N.  F.  IV  S.  19. 


74  Kohler. 

den  Eltern  der  Frau  zu  wohnen  und  ihnen  zu  helfen,  bis  er 
drei  Kinder  hat;  thut  er  es  nicht,  so  muss  er  sie  entschädigen 
(XXI,  108,  XII,  122,  XXIII,  196);  und  bei  den  Korvis  in 
Bijapur  verspricht  bisweilen  der  Vater  des  Bräutigams  dem 
Vater  der  Braut  zwei  Söhne  der  Ehe^*^),  oder  an  deren  Stelle 
eine  Summe,  von  welcher  aber  die  Hälfte  an  den  Avunculus 
fällt  (XXIII,  204).  Die  agnatische  Familie  muss  wiederum 
die  Mutterrechtsfamilie  auskaufen. 

Hiermit  dürfte  wohl  auch  noch  der  Brauch  zusammen- 
hängen, dass  bei  den  Lamans  in  Ahmadnagar  die  Eheleute 
2 — 3  Monate  nach  der  Heirath  im  Brauthause  bleiben 
(XVII,  162). 

§  6. 

Vom  Frauenraub  findet  sich  folgendes  ^^) :  Bei  den 
Naikdas  in  Panch  Mahal  kann  sich  die  16jährige  Tochter 
entführen  lassen,  worauf  nachträglich  den  Eltern  der  ordent- 
liche Frauenpreis,  16 — 50  Rupies,  bezahlt  wird  (III,  225); 
ebenso  bei  den  Bhils  in  Panch  Mahal  (III,  221),  und  in  Rewa 
Kant  ha:  wenn  hier  der  Frauenpreis  nicht  nachträglich  be- 
zahlt wird,  so  nimmt  die  Familie  der  Braut  der  Familie  des 
Entführers  ein  Mädchen  oder  ein  Viehstück  weg  (VI,  31). 

Bei  den  Bhrls  in  Kandesch  wird  besonders  die  Wittwenehe 
in  Gestalt  der  Entführung  oder  Scheinentführung  eingegangen 
(XII,  90). 

Auch  bei  den  Konds  findet  sich  die  Raubform  ^'^^). 

In  Kathiawar  bestand  früher  der  Brauch,  dass  der  Bräu- 
tigam die  Braut  mit  scheinbarer  Waffengewalt  heimführte; 
er  ist  in  Abgang  gekommen  ^^). 


^^)  Hier  ist  im  Bericht   ein  offenbarer  Druckfehler,   es  heisst:  the 
girl's  father  .  .  .  makes  the  boy's  father  the  promise  .  .  . 

17)  Zeitschrift  III  S.  344,  VII  S.  227,  VIII  S.  91,  103,  144,  IX  S.  325. 
1^0  Elliot,  Ethn.  Soc.  p.  124. 
1^)  Record  of  Kattywar  p.  34. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bomba5\  75 

Ausserdem  haben  sich  noch  einzelne  Spuren  erhalten. 
Dahin  gehört  die  Sitte^  dass  Verwandte  der  Braut  den  Bräu- 
tigam nicht  über  die  Grenze  lassen  wollen^  bis  er  sie  mit 
Kokosnüssen  und  Betel  beruhigt;  so  die  Kunbis  in  Puna 
(XVIII,  1,  304),  und  die  Kunbis  in  Kolaba  (XI,  60),  ähn- 
lich die  Kunbis  in  Satara  (XIX,  69).  Ferner  die  Sitte  in 
Sindh,  dass  die  Eltern  der  Braut  zuerst  die  Anfrage  ableh- 
nen und  sich  erst  bei  einer  zweiten  Anfrage  zu  einer  ver- 
blümten Antwort  herbeilassen^^). 

Eine  andere  Reminiscenz  ist  in  dem  Gebrauch  zu  erblicken, 
dass  der  Bräutigam  vor  dem  Eintreten  in  die  Brauthütte  mit 
einem  Stock  daran  schlagen  muss;  so  bei  den  Osval  Marwaris 
in  Ahmadnagar  (XVII,  80),  bei  den  Lodhis  in  Kandesch 
(XII,  70);  oder  dass  vor  der  Hütte  eine  Holzsperre  angebracht 
ist,  die  er  mit  dem  Schwerte  berührt,  so  bei  den  Marvadis  in 
Kandesch  (XII,  61).  Ebenso  reitet  bei  den  Khatris  in  Katsch 
der  Bräutigam  mit  gezogenem  Schwert  zum  Hause  der  Braut 
(V,  49);  in  Sindh  wird  ein  Dornstrauch  in  die  Erde  gesteckt 
und  der  Bräutigam  muss  ihn  mit  einem  Schwert  durchhauend^). 

Eine  andere  viel  verbreitete  Sitte  kommt  bei  den  niedrig- 
stehenden Uchlias  in  Puna  vor:  die  Braut  verbirgt  sich,  der 
Bräutigam  sucht  sie  und  trägt  sie  fort  (XVIII,  1,  473) ;  ähn- 
lich bei  den  Kushasthalis  in  Kanara:  die  Braut  verbirgt  sich 
und  ein  Knabe  in  Frauenkleidern  setzt  sich  an  ihren  Platz 
(XV,  1,  171);  ähnlich  bei  den  Banjigs,  ebenda  (XV,  1,  179), 
aber  auch  bei  den  Shenvisbrahmanen ,    ebenda  (XV,   1,   155). 

Bei  den  Sonars  (Goldarbeitern)  in  Kandesch  verlassen 
die  Brautleute  sofort  nach  dem  Ritus  das  Brauthaus  und  die 
Verwandten  sehen  die  Braut  drei  Tage  nicht  (XII,  72). 

Bei  den  Shenvisbrahmanen  in  Kanara  darf  die  Braut 
bei  der  Heimführung  die  Schwelle  des  Bräutigams  nicht 
betreten  (weil  sie  in  der  Raubzeit  mit  Gewalt  darüber  getragen 
wurde)  (XV,   1,  155). 

19)  Burton,  Sindh  p.  262. 

20)  Burton,  Sindh  p.  272. 


70  Köhler. 

Bei  den  Bhils  in  Kandesch  verlässt  die  Braut  den  Mann 
nach  fünf  Tagen ,  geht  ins  Elternhaus  und  muss  von  neuem 
geholt  werden  (XII,  99);  ebenso  bei  den  Raikaris  in  Thana 
(XIII,  1,   176). 

Ferner  gehört  hierher  der  Betelnussstreit:  die  Braut- 
leute zanken  sich  um  eine  Betelnuss,  einen  Ring,  eine  Dattel 
oder  etwas  ähnliches  ^^):  eine  Art  Wettspiel ;  so  bei  den  Kunbis  in 
Puna  (XViri,  1,  306),  Satara  (XIX,  69,  70) ;  bei  den  Lingayats 
in  Scholapur  (XX,  80);  bei  den  Deshasths  in  Kolhapur 
(XXIV,  52),  den  Marathas,  ebenda  (XXIV,  77),  den  Shenvis- 
brahmanen  in  Kanara  (XV,  1,  155);  so  auch  in  Sindh^^). 

Ferner  die  Sitte,  dass  der  Bräutigam  oder  seine  Ver- 
wandten sich  bei  der  Feier  plötzlich  beleidigt  stellen, 
davon  gehen  wollen  und  versöhnt  werden :  auch  das  erinnert 
an  ehemaligen  wirklichen  Streit  und  Hader,  der  beglichen  wird  ; 
z.  B.  bei  den  Chitpavanbrahmanen  in  Puna  (XVIII,  1,  135), 
den  Deshasths  in  Kolhapur  (XXIV,  52),  bei  den  Shenvis- 
brahmanen  in  Kanara  (XV,  1,  155).  Bei  den  Raikaris  in 
Thana  springt  der  Mann  bei  der  Ehe  auf,  die  Braut  ihm 
nach,  dann  bringt  er  sie  auf  seiner  Hüfte  zurück  (XIII,  1,  176). 

An  den  Frauenraub  erinnert  auch  der  Krieger  tanz, 
der,  wie  oben  S.  70  erwähnt,  von  den  Avunculi  aufgeführt  wird ; 
ähnlich  findet  sich  auch  der  Kriegertanz,  indem  zwei  Männer 
(nicht  nothwendig  Avunculi)  die  Brautleute  auf  sich  nehmen, 
bei  den  Kols  in  Ahmadnagar   (XVII,  204). 

Dahin  gehört  endlich  die  Sitte,  dass  der  Bräutigam 
thut,  als  ob  er  heimlich  einen  Hausgott  raubt;  er  gibt 
ihn  dann  gegen  ein  kleines  Geldstück  zurück :  so  bei  den 
Sangars  in  Satara  (XIX,  94),  bei  den  Marathas  in  Scho- 
lapur (XX,  90). 

Vielleicht  hängt  damit  auch  die  seltsame  Sitte  der  Abhir 
in  Kandesch  zusammen,  dass  die  Braut  zwei  Stunden  vor  der 


-')  Man  denke  an  den  deutschen  Brautlaut'. 
-2}  Burton,  Sindli  p.  270. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  77 

Ehe  in  Manneskleidern  durch  das  Dorf  reitet  (XII,  53);  sicher 
aber  die  Rajputensitte,  dass  der  Bräutigam  der  Braut  Schwert 
und  Kleid  schickt,  Kathiawar  (VIII,   120)23). 

§  7. 

Bei  manchen  Stämmen  ist  noch  der  Frauentausch 
vertreten:  für  eine  Ehefrau  eine  andere  Frau  2*);  so  bei  den 
Kadva  Kanbis  in  Baroda:  hat  man  keine  Frau  zum  Gegen- 
tausch, so  gibt  man  entweder  eine  Geldsumme,  oder  man 
verspricht  zum  Voraus  die  erste  Tochter,  welche  aus  der  Ehe 
mit  der  Braut  hervorgeht  (VII,  60). 

Bei  verschiedenen  Stämmen  ist  der  eigentliche  Frauen- 
kauf in  Uebung^^),  indem  für  die  Frau  eine  oft  ziemlich 
erhebliche  Summe  an  den  Vater  der  Braut  zu  bezahlen  ist;  so 
namentlich  bei  niederen  Kasten,  aber  auch  bei  verhältnissmässig 
höher  stehenden.  So  werden  bei  den  Samvedis  (Brahmanen)  in 
Thana  200—1000  Rupees  bezahlt  (XIII,  1,  82),  bei  den  Ha- 
vigs  (Brahmanen)  in  Kanara  500 — 1000  Rupees,  bei  den 
Joshis  ebenda  100—300  Rupees  (XV,  1,  125,  134),  bei  den 
Bavkule  Vanis  (Kaufleuten)  in  Kanara  20 — 200  Rupees 
(XV,  1,  174),  bei  den  Bhansalis  (Kaufleuten)  in  Thana  gar 
500—2000  Rupees  (XIII,  1,  109),  bei  den  Telis  30—35 
Rupees,  bei  den  Bhats  (Handwerkern)  20 — 25  Rupees  (XIII, 
1,  135.  141,  vgl.  auch  VII,  64).  So  bezahlen  auch  die  Gujarat 
Vanis  in  Scholapur  den  Eltern  der  Braut  beträchtliche 
Summen;  ebenso  wird  in  Belgaum  für  die  Braut  eine 
Summe  bezahlt:  bei  den  Kunbis  (Landwirthen)  20 — 30  Rupees, 
bei  den  Salis  (Webern)  30  Rupees,  bei  den  üppars  (Sälzern) 
40  Rupees,  bei  den  Kolis  (Fischern)  10 — 12  Rupees,  bei  den 
Shikaris  (Jägern)  40  Rupees  (XXI,   120,  146,  149,  158,  176); 


^^)  Ueber   die   Raub  form    bei    den   Rajputen    vgl.    Zeitschrift  VIII 
S,  103. 

24)  Vgl.  Zeitschrift  VIII  S.  112. 

2^)  Vgl.  Zeitschrift  VIII  S.  145,  VII,  S.  227. 


78  Kohler. 

bei  den  Gosavis  80  Rupees,  bei  den  (niedrig  stehenden)  Mangs 
22— 30Rupees  (XXI,  183,  195).  Ebenso  die  (niedrig  stehen- 
den) Mhars  in  Ahmadnagar:  10—25  Rupees  (XVII,  176) 
und  die  Kols  ebenda  15—30  Rupees  (XVII,  203),  die  Kols 
in  Nasik  10 — 15  Rupees  und  Getreide  (XVI,  Gl).  Ebenso 
zahlen  in  Bijapur  die  Bhois  20 — 30  Rupees,  die  Helavs 
20 — 30  Rupees;  die  Lamans  zahlen  Geld  und  Ochsen  ^^) 
(XXIII,  97,  271,  208).  In  Kanara  zahlen  die  Chamgars 
(Lederarbeiter)  16 — 64  Rupees,  die  Mukris  20 — 32  Rupees, 
die  Vaddars  30  Rupees  und  100  Kokosnüsse,  die  Lambanis 
100  Rupees  und  4  Stiere  (XV,  1,  357,  376,  348,  339).  Die 
Hatkars  in  Scholapur  zahlen  50 — 500  Rupees  (XX,  87),  die 
Kumbhars  (Töpfer)  in  Puna  10—100  Rupees  (XVIII,  1,  350). 
In  der  Bettlerkaste  in  Janjira  zahlt  der  Bräutigam  50 — 60 
Rupees  (XI,  415),  die  Panguls  (Bettlerkaste)  in  Puna  kaufen 
sich  ihre  Frau  (XVIII,  1,  460),  die  berüchtigte  Klasse  der 
Uchlias  zahlt  100 — 200  Rupees  an  die  Eltern  und  (wie  oben 
S.  71  bereits  bemerkt)  noch  50  Rupees  an  den  Avunculus; 
die  Tänzerklasse  der  Kalavants  in  Kanara  kaufen  sich  ihre 
Frauen  aus  den  Kunbis  (XV,  1,  323).  So  findet  sich  der 
Frauenkauf  ferner  bei  den  Atti  Vakkals  und  den  Kangaris 
in  Kanara  (XV,  1,  250),  den  Tambats  in  Kolhapur  (XXIV, 
99);  auch  dieVanjaris  inKandesch  geben  125 Rupees;  dieBhils 
in  Rewa  Kantha  zahlen  60 — 80  Rupees,  in  Kandesch  10 — 20 
Rupees  (VI,  31;  XII,  89),  aber  auch  bis  zu  60  Rupees  (XII, 
102)  u.  a.  Auch  die  Ahirs  und  Babrias  in  Kathiawar  zahlen 
ihren  Frauenpreis  ^^). 

Eine  eigenthümliche  Abstufung  haben  die  Hatkars  in 
Belgaum;  hier  wird  die  Frau  verschieden  gewerthet  nach 
dem  Alter,  je  nachdem  die  Frau  unter  8,  über  8  und  bezw. 
über  10  Jahre  ist:  darnach  schwankt  der  Preis  von  25  oder  30 


^*)  Ebenso    die   Lamans    in   Belgaum:     40   Rupees   und   3   Ochsen 
(XXI,  125). 

^')  Record  of  Kattywar  p.  455. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  79 

bis  zu  100  Rupees;  die  Frau  wird  eben  hauptsächlich  als 
Arbeiterin  gewerthet  ^s)  (XXI,   137). 

Mitunter  wird  den  Verhältnissen  Rechnung  getragen; 
ist  der  Vater  der  Braut  arm,  so  bekommt  er,  ist  er  reich, 
so  gibt  er.  So  bei  den  Kunbis  in  Satara:  hier  bekommt 
der  arme  Vater  100 — 150  Rupees,  während  der  reiche  eine 
Ausstattung  von  50 — 100  Rupees  gibt  (XIX,  67);  ebenso 
bekommt  bei  den  Telang  in  Scholapur  der  Vater,  wenn 
arm,  50 — 300  Rupees  (XX,  41),  bei  den  Patharvats  in  Satara 
erhält  der  Vater,  wenn  arm,  40 — 50  Rupees  als  Aushilfe  für 
die  Kosten  der  Ehe  (XIX,  89). 

Der  Frauenpreis  kommt  regelmässig  an  den  Vater  der 
Braut;  dass  ausnahmsweise  ein  Theil  an  den  Avunculus  fällt, 
ist  oben  (S.  71)  erwähnt  worden;  an  die  Mutter  der  Braut 
ist  die  Summe  zu  zahlen  bei  den  Bharvads  in  Katsch  (V,  81); 
an  die  Braut  selbst  kommt  sie  bei  den  Dasars  in  Bijapur 
(XXIII,  186).  Mitunter  wird  bestimmt,  dass  ein  Theil  des 
Preises  für  Hochzeitskosten  zu  verwenden  ist;  so  bei  der 
Bettlerklasse  in  Janjira:  die  Hälfte  (XI,  415),  so  bei  den 
Kumbhars  (Töpfern)  in  Puna  (XVIII,   1,  350)  u.  a. 

Das  Abverdienen  des  Frauenpreises  kommt  mitunter 
vor,  aber  selten;  so  bei  den  Shikaris  (Jägern)  in  Beigau m 
(XXI,  176),  bei  den  Lamans,  ebenda  (XXI,  125),  wo  der 
Dienst  2 — 3  Jahre  dauert;  auch  in  Dharwar  finden  wir  das 
Abverdienen  (XXII,  330),  auch  bei  den  Kanaresen^^), 
auch  bei  den  Bhils  in  Rewa  Kantha,  wo  der  Bräutigam 
schon  während  der  Dienstzeit  mit  der  Braut  umgehen  darf 
(VI,  31);  ähnlich  bei  den  Bhils  in  Kandesch,  wo  diese 
Dienstzeit  8 — 10  Jahre  dauern  sollte,  aber  gewöhnlich  zur 
Hälfte  erlassen  wird  (XII,  98). 

Dass,  wenn  der  bedungene  Preis  nicht  bezahlt  wird,  die 


-^)  Wesshalb  hier  auch  oft  eine  erwachsene  Wittwe  theurer  bezahlt 
wird,  als  eine  Jungfer, 

29)  Elliot,  Ethn.  Soc.  p.  125;  vgl.  auch  Zeitschr.  VIII  S.  113,  145. 


80  Kohler. 

Braut  einem  Dritten  gegeben  werden  darf,  findet  sich  bei  den 
Ghisadis  in  Scholapur  (XX,   102). 

Dagegen  wird  von  den  Mangelas  (Fischern)  in  Thana 
berichtet,  dass  sie  keinen  Frauenpreis  bezahlen  (XIII,  1,  147), 
ebenso  von  den  Pahadis  in  Nasik  (XVI,  49);  und  bei  der 
herumziehenden  Klasse  der  Vaidus  in  Ahmadnagar  darf  der 
Vater  nichts  annehmen  bei  Verlust  der  Kaste  (XVII,  214). 

Auch  die  Uebergangsform,  dass  ein  Theil  des  Frauen- 
preises in  Aussteuer  zurückgegeben  wird^^),  ist  bekannt;  so 
bei  den  bereits  erwähnten  Hatkars  in  Belgaum  (XXI,  137); 
bei  den  Bharvads  in  Katsch  zahlt  der  Bräutigam  der  Mutter  der 
Braut  40  Koris  und  sein  Vater  erhält  von  dem  Brautvater 
5  Koris  (V,  81);  auch  in  Kolhapur  findet  sich  Frauenpreis 
und  Aussteuer  ^^). 

Aber  auch  bei  anderen  Stämmen  ist  es  üblich,  dass  die  Braut 
eine  Ausstattung  mitbekommt ;  so  bei  den  Marwadibrahmanen  in 
Nasik  (XVI;  43),  bei  den  Komtis,  den  Karanjkars  in  Scho- 
lapur (XX,  59,  110),  und  namentlich  bei  den  Marathas  in 
Kolhapur,  wo  desshalb  manche  Töchter  ledig  bleiben 
(XXIV,  73). 

Bei  den  Rajputen  in  Kathiawar  bringt  je  nach  dem 
gegenseitigen  Vermögen  entweder  der  Bräutigam  eine  Summe 
oder  die  Braut  eine  Mitgift  (VIII,   121). 

Bei  den  Shenvisbrahmanen  in  Kanara  gibt  der  Bräuti- 
gam der  Braut  ein  Stridhana,  der  Vater  der  Braut  dem  Bräu- 
tigam eine  Gabe  (XV;  1,  155). 

In  das  donatorische  Stadium  ist  der  Kauf  übergegangen 
bei  Koshtis  in  Kolhapur:  hier  erhält  der  Vater  der  Braut 
ein  Geschenk,  ausserdem  bestreitet  der  Bräutigam  die  Kosten 
der  Hochzeit  (XXIV,  95).     Vgl.  auch   noch   unten  S.  103  f. 

Bei  den  Islamiten  erfolgt  die  Stipulation  des  mahr^^); 


^')  Vgl.  auch  Zeitschrift  III  S.  346,  VII  S.  228,  VIII  S.  91. 

3^  Record  of  Kolhapur  p.  168. 

32)  Rechtsvergleichende  Studien  S.  28  f.,  Herklots  p.  135. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  81 

z.  B.  in  Puna  (XVIII,  1,  487),  in  Kanara  (wo  ein  mahr 
von  5 — 1000  Rupees  zugesagt  wird,  XV,  1,  406),  in  Sindh^^); 
bei  den  (wohl  im  sechsten  Jahrhundert  eingewanderten)  Juden 
in  Puna  ist  die  Verschreibung  der  Ketuba  (XVIII,  1,  520) 
üblich. 

Doch  gibt  es  auch  islamitische  Stämme,  bei  welchen  der 
Vater  des  Bräutigams  dem  Brautvater,  wenn  dieser  arm  ist, 
Geld  verspricht,  welches  zur  Bestreitung  der  Hochzeit  ver- 
wendet werden  soll,  z.  B.  in  Satara  (XIX,   129,  144). 

§  8. 

Von  der  Leviratsehe  sind  wenige  Spuren  nachzu- 
weisen ^*).  Bei  den  Bharvads  in  Kathiawar  hat  der  jüngste 
Bruder  des  Mannes  ein  Vorrecht  auf  die  Wittwe,  die  wieder 
heirathen  will  (VIII,  138);  bei  den  Ahirs  in  Katsch  heirathet 
der  jüngere  Bruder  die  Wittwe  des  älteren  (V,  80) ;  auch  bei 
den  Vanjaris  in  Thana  soll  dieses  vorkommen  (XIII,  1,  132); 
bei  den  Kathis  in  Kathiawar  (VIII,  127)  findet  die  Wittwen- 
ehe  meist  nur  mit  dem  jüngeren  Bruder  des  Mannes  statt; 
ebenso  bei  den  Mhars  in  Kandesch  (XII,  116);  bei  den 
Charans  Vanjaris  in  Kandesch  gehört  die  Wittwe  ohne  wei- 
teres dem  nächsten  Bruder  oder  sonst  dem  nächsten  Ver- 
wandten (XII,  112);  bei  den  Khols  in  Rewa  Kantha  hei- 
rathet der  jüngere  Bruder  die  Wittwe  des  altern;  doch  kann 
sie  sich  loskaufen  und  einen  andern  Mann  heirathen,  indem 
sie  die  Heirathskosten  ersetzt  (VI,  33)^^). 

3^)  Burton,  Sindh  p.  268. 

^*)  Ueber  solche  Verhältnisse  vgl.  auch  das  Rechtsbuch  Brihaspati's 
(üebers.  Jolly's  in  den  Sacred  Books  XXXIII)  II,  31,  XXVII,  20,  wo  dieser 
Brauch  als  tadelnswerth  erklärt  wird.  Vgl.  auch  Zeitschrift  VII  S.  229  f. 
VIII  S.  145. 

^^)  Vgl.  auch  Jellinghaus,  Die  Kohls  in  Ostindien  (in  der  All- 
gemeinen Missionszeitschrift  I)  S,  108,  wo  bestätigt  wird,  dass  der 
Bruder  die  Wittwe  und  die  Töchter  des  Verstorbenen  mit  all  ihrer  Habe 
zu  sich  nimmt. 

Zeitschrift  für  vergleichende  Rechtswissenschaft.    X.  Band.  Q 


82  Kohler. 

§  9. 

Das  Kastenwesen  mit  der  Wirkung,  dass  Niemand 
ausserhalb  der  Kaste  heirathen  darf,  ist  allüberall  verbreitete^). 
Häufig  haben  sich  die  Kasten  in  Unterabtheilungen  gespalten, 
welche  entweder  den  Lebonsverkehr  unt(?r  sich  aufrecht 
erhalten  oder  sich  wiederum  gegenseitig  abschliessen. 

Der  Kastenuuterschied  beruht  auf  ethnographischer  oder 
religiöser  Grundlage ,  oder  auf  der  Grundlage  des  Lebens- 
erwerbes, der  Gemeinsamkeit  des  Handwerks  oder  Lebens- 
berufes. Von  religiöser  Seite  waren  insbesondere  kastenbildend 
die  Secten  der  Jainas  und  der  Lingayats,  die  sich  aber  wieder 
in  verschiedene  Untersecten  gespalten  haben,  namentlich  die 
letzteren,  welche  in  Verbindung  mit  dem  Brahmanismus  ver- 
schiedene Mischlehren  und  Mischkulte  bildeten. 

Ethnographisch  kommen  die  verschiedenen  Ureinwohner 
kolarischer  und  dravidischer  Race  in  Betracht,  die  aber  wieder 
vielfach  gemischt  sind.  Die  Abtheilung  nach  Berufsklassen 
ist  die  wichtigste;  sie  bleibt  bestehen,  wenn  auch  die  Geschäfts- 
wahl in  der  Familie  nicht  immer  eine  stetige  bleibt;  so  kommt 
es  vor,  dass  Handwerker  oder  herTimziehende  Hausirer  als 
Arbeiter  eintreten  oder  sich  zum  Landbau  verstehen  e^). 

Niedere  Klassen  recrutiren  sich  vielfach  aus  solchen,  die 
aus  den  höheren  Kasten  Verstössen  worden  sind;  z.  B.  die 
Kalavants,  die  Saibs  in  Kanara  (XV,   1,  321,  325). 

Die  altindischen  vier  Klassen  der  Brahmanas,  Kshatriyas, 
VaiQjas  und  Sütras  ^^)  bilden  nur  den  äussersten  Rahmen  für 


^•^3  Schon  Alberuni  (aus  dem  11.  Jahrh.)  besagt,  dass  zu  seiner 
Zeit  Bralimanen  nur  noch  in  der  eigenen  Kaste  heiratheten ,  obgleich 
das  Gegentheil  ihnen  nicht  strikt  verboten  sei  (Alberuni,  India  über- 
setzt V.  Sachau  II  p.  156). 

'^)  Vgl.  auch  Seh  moller  in  seinen  Jahrb.  f.  Gesetzgebung,  Vor- 
waltung und  Volkswirthschaft  N.  F.    XIV  S.  92  f. 

3«)  Vgl.  Zeitschrirt  III  S.  368  f.:  vgl.  auch  VIII  S.  92,  116,  Vll 
S.  232  l'. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  83 

die  jetzige  Klassentheilung,  und  auch  diesen  nur  unvollkommen. 
So  haben  beispielsweise  die  Brahmanen  in  Baroda  84  Kasten, 
welche  nur  in  sich  heirathen  (VII,  52^  53).  Die  Krieger- 
kasten haben  sich  im  Laufe  der  Zeit  neu  gebildet;  so  sollen 
namentlich  die  Kriegerklassen  in  Baroda  hauptsächlich 
von  Ministerialen  der  Rajputen  stammen  (VII^  57).  Auch 
die  Vai^yas  oder  Vanias  haben  sich  in  eine  Unzahl  von  Klassen 
getheilt  mit  dem  Verbot  der  Zwischenheirath;  dazu  kommen  ver- 
schiedene Handwerkerklassen^  welche  die  Art  der  Zweigebornen, 
insbesondere  die  Gürtungsceremonie  angenommen  haben.  Die 
Landleute  zerfallen  wiederum  in  eine  Unzahl  von  Kasten- 
gemeinschaften, und  darunter  stehen  die  niederen  Klassen,  die 
Gaukler,  Hausirer,  Gerber,  die  Kolis,  Bils  u.  s.  w. 

Uebrigens  ist  es  auch  vorgekommen,  dass  Unterklassen 
sich  nachträglich  wieder  verschmolzen  haben;  so  in  Kanara 
(XV,  1,   171). 

Auch  die  niedrigen  Kasten,  z.  B.  die  Mhars,  die  Vanjaris 
halten  streng  auf  Einhaltung  der  Kastengrenze,  nicht  nur 
bezüglich  der  Ehe,  sondern  auch  bezüglich  des  sonstigen 
Lebens  Verkehrs;  ihre  Sanktion  ist:  Ausstossung  aus  der  eigenen 
Kaste  (XIX,  112,  XVIII,  1,  428,  XXIV,  112). 

Manche  Kastenabtheilungen  sind  zwar  nicht  gegenseitig 
exogam,  sie  gelten  aber  doch  als  höher  oder  niedriger,  so  dass 
ein  Mann  der  höheren  Abtheilung  zwar  eine  Frau  aus  der 
niederen  Abtheiiung  holt,  sich  aber  dafür  bezahlen  lässt;  so 
verhält  es  sich  mit  den  Maratha  Kunbis  gegenüber  den  Thal- 
heri  Kunbis  in  Thana  (XIII,  1,  128). 

Die  Rajputen  in  Kanara  heirathen  mitunter  in  eine 
niedere  Kaste,  dann  aber  gehören  die  Kinder  der  niedrigen 
Kaste  an  (XV,   1,  193)3  9). 

.Von  besonderem  Interesse  ist  es  aber,  dass  auch  die 
islamitische  Bevölkerung  sich  vielfach  in  Klassen  theilt, 
welche    nur    in     sich    heirathen  *^).      Es    ist    dies    theils   so, 

^^)  Vgl.  auch  Malcolm  11  p.  129  f. 

^")  Wie  auch  in  Bengalen,  Zeitschrift  IX  S.  323. 


84  Kohler. 

dass  die  eingewanderte  muhamedanische  Bevölkerung  die  in- 
dische Art  angenommen ,  theils  so,  dass  die  einheimische  Be- 
völkerung bei  ihrer  Bekehrung  ihre  indische  Art  beibehalten 
hat.  Viele  sog.  islamitische  Stämme  folgen  auch  nur  theil- 
weise  dem  islamitischen  Ritus,  indem  sie  etwa  die  Beschneidung 
und  einige  andere  Gebräuche  angenommen ,  im  übrigen  aber 
nicht  von  der  indischen  Art  gelassen  haben. 

So  ist  es  begreiflich,  dass  die  islamitischen  Gemeinden  sich 
theilweise  als  ein  ungetrenntes  Ganze  gestalten  mit  voller  Ge- 
stattung der  Zwischenehe,  dass  es  aber  andererseits  eine  Reihe 
islamitischer  Gemeinschaften  selbstständigen  Charakters  gibt, 
die,  wie  die  Hindus,  nur  in  sich  heirathen.  Mitunter  hat 
diese  Abtrennung  übrigens  auch  eine  religiöse  Bedeutung, 
indem  manche  Gemeinschaften  besondere  Sekten  bilden. 

So  ist  es  bei  den  Moslims  in  Scholapur:  viele  Abthei- 
luugen  heirathen  unter  einander;  andere  heirathen  nur  in 
sich :  dahin  gehören  auch  die  Bohoras,  welche  eine  schiitische 
Diaspora  in  dem  Bereich  des  sonst  durchaus  sunnitischen 
Islams  bilden  (XX,  196,  202—206).  Aehnlich  in  Baroda 
(VII,  70),  in  Kolaba  (XI,  78),  in  Thana  (XIII,  1,  222,  234, 
237,  238,  239,  241,  243,  244),  in  Belgaum  (XXI,  20  —226); 
in  Puna  (XVIII,  1,  494,  496,  497,  498—505),  in  Satara 
(XX,  124),  in  Kolaba  (XI,  84,  85),  in  Kolhapur 
(XXIV,  144,  151),  in  Bijapur  (XXIII,  282,  290  f. 
294  f.).  In  Dharwar  heirathen  9  Klassen  unter  einander, 
25  Klassen  nur  in  sich  selbst  (XXII,  222);  in  Ahmad- 
nagar  sind  17  Klassen  gemeinsam,  18  schliessen  sich  ab 
(XVII,  222). 

Die  Kastensonderung  wird  verworfen  von  den  Lingayats 
(vgl.  XXIII,  227)^^)  und  namentlich  von  den  Jains  (vergl. 
XXIII,  281):  sie  gehen  von  dem  Princip  der  Gleichheit  aller 


^^)  Die  Lingayats,  auch  Jangams  oder  Vira-Qaivasekte,  im  12.  Jahr- 
hundert von  Bäsava  gegründet.    Vgl.  auch  Wilson  (Brown)  p.  312. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  85 

Menschen  aus^  welches  bekanntlich  auch  ein  Hauptprincip  des 
Buddhismus  ist^^). 

§  10. 

Die  Kinder  aus  Wittwenehen  sind  bei  manchen  Stäm- 
men etwas  zurückgesetzt,  entsprechend  dem  Gedanken,  dass 
der  Makel  der  Verbindung  den  Kindern  anklebt.  Bei  den 
Kunbis  in  Puna  bekommen  die  Kinder  der  Wittwenehe  keinen 
so  grossen  Vermögenstheil,  als  die  Kinder  erster  Ehe  (XVIII, 
1,  307);  bei  den  Bedars  in  Bijapur  gilt  gar  der  Rechtssatz, 
dass  Wittwenkinder  nur  Wittwenkinder  heirathen  sollen 
(XXIII,  94). 

Noch  mehr  treten  vielfach  die  unehelichen  Kinder  in  der 
Kaste  zurück  und  bilden  eine  niedere  Klasse,  so  dass  sie 
nur  unter  sich,  nicht  mit  der  übrigen  Kaste  heirathen;  so 
bei  den  Kolhatis  in  Nasik  und  Satara  (XVI,  55,  XIX,  119) 
und  bei  den  Pardeshis  in  Scholapur  (XX,  162).  Bei  den 
Kols  in  Ahmadnagar  aber  werden  sie  in  die  Kaste  aufge- 
nommen, wenn  der  Vater  40 — 60  Rupees  bezahlt  (XVII,  208). 
Bei  den  Salis  in  Belgaum  werden  die  unehelichen  Kinder 
der  Wittwe  zur  Prostitution  verkauft  (XXI,  146^   147). 

Bei  manchen  Stämmen  dagegen  sind  die  Kinder  der 
Prostituirten  vollberechtigt;  so  bei  den  Kolhatis  in  Belgaum, 
bei  den  Holayas  in  Dharwar  (XXI,  170,  XXII,  217),  bei 
den  Bhils  in  Ahmadnagar  (XVII,  193);  bei  den  Kolhatis  in 
Kandesch  (XII,  123)  steigen  wenigstens  ihre  Kinder  wieder 
in  die  ursprüngliche  Kaste  auf. 

§  11. 

Die  Stämme  Bombay's  bilden  nach  dem  indischen  System 
agnatische    Gotras    (Bedags,    Kuls)"^^)   mit  Exogamie '^^). 

*^)  Die  Verwandtschaft  der  Jainalehre  mit  dem  Buddhismus  bedarf 
keiner  besonderen  Hervorhebung. 

^^)  Kul  ist  eine  Gesammtheit. 

^4)  Zeitschrift  III  S.  362,  VII  S.  233.  Vgl.  auch  Gobhila  bei 
Weber,  Indische  Studien  X  S.  75. 


86  Kohler. 

Dio  Ehe  darf  nie  innerhalb  des  Gotra  erfolgen.  Dieser  Gotra 
wird  häufig  durch  einen  gemeinsamen  Geschlechtsnamen^^) 
charakterisirt,  und  wo  der  Zuname  den  Charakter  des  Ge- 
schlechtsnaraens  hat^  da  geht  der  Satz:  man  darf  nicht  in 
den  Gotra  heirathen^  in  den  andern  Satz  über:  man  darf  nicht 
in  den  Geschlechtsnamen  heirathen.  Vielfach  aber  haben  die 
Gotras  keine  Zunamen,  vielfach  sind  die  Zunamen  der  Familie 
nicht  Geschlechts-,  sondern  Localnamen,  oder  willkürliche 
Ruf  oder  Unterscheidungsnamen '^*') :  hier  hat  natürlich  die 
Gleichheit  des  Namens  keinen  Bezug  auf  die  Ehe. 

Stämme,  welche  keine  Geschlechtsnamen  und  höch- 
stens gewillkürte  Zunamen  haben,  sind  beispielsweise  in  Bija- 
pur:  die  Gujarat  Vanis,  Kabligers,  Raddis,  Shetiyars,  Shimpis, 
Ganigs,  Koshtis,  Kuruvinshettis,  Nadigs,  Nilgars,  Chik  Kuru- 
vinavars,  Guravs,  Hattkars,  Helavs  (XXIII,  105,  113,  145, 
160,  164,  240,  245,  252,  254,  257,  259,  265,  267,  270);  in 
Dharwar  die  Sarvarias,  Savvasi  (Kaufleute),  Komtis,  Hale- 
paiks  (Landleute),  Haslars,  Kamatis,  Kudava  Kaligars,  Mala- 
vars,  Rajputs,  Badiges  (Zimmerleute),  Gavandis  (Maurer), 
Hugars  (Blumenverkäufer),  Kammars  (Schmiede),  Kumbhars 
(Töpfer),  Lad  Suryavanchis  (Metzger),  Medars  (Korbmacher), 
Nagliks  (Färber),  Sanadi  Koravars  (Musikanten),  Patta  Salis, 
Kurubar  gurus,  Kshetridasas  (Bettler),  Mangs,  Mochigars 
Samagars  (XXII,  96,  97,  121,  130,  134,  135,  136,  137,  140, 
144,  145,  146,  147,  151,  154,  156,  157,  158,  162,  173, 
182,  207,  218,  219,  221);  in  Puna  die  Badhais,  Pardeshis 
Halvais,  Shimpis  (XVIII,  1,  314,  338,  368);  in  Scholapur 
die  Panchals,  Shikaris,  Chambhars  (XXI,  144,  176,  191);  so 
auch  in  Kanara  die  Halepaiks,  Chaudris,  Harakantras,  Pagis, 
Kannad  Kalavants,  Konkani  Madivals,  Telugu  Kelasis,  Bandis, 
Devlis  (XV,  1,  284,  294,  306,  313,  324,  327,  331,  333,  334) 
u.  s.  w. 


^'*)  Vgl.  auch  Elphinstone  p.  354. 
^'^)  Vgl.  Elphinstone  p.  354  f. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  87 

Manche  Stämme  haben  in  den  letzten  Jahrzehnten  Zu- 
namen angenommen,  aber  dann  meist  nach  Stand  oder 
Wohnort,  ohne  geschlechtsbezeichnende  Qualität;  z.  B.  die 
Mogers  in  Kanara  (XV,  1.  312),  die  Patane  Prabhus  in 
Puna  (XVIII,  1,  193).  Die  Kunbis  in  Puna  haben  unvoll- 
kommene Geschlechtsnamen,  indem  sie  (nach  der  Art  so  vie- 
ler Völker)  den  Vatersnamen  beifügen :  Sohn  des  V.  (XVIII, 
1,  285). 

Es  gibt  auch  Stämme ,  bei  welchen  einige  Gentes  Ge- 
schlechtsnamen, andere  nur  Berufsnamen  oder  Localnamen 
haben;  z.  B.  die  Deshasths  in  Scholapur  (XX,  26). 

So  hat  also  der  Name  nicht  immer  unterscheidende,  aus- 
zeichnende Bedeutung. 

Dagegen  tritt  vielfach  noch  ein  anderes  Element  ein:  der 
Totemismus^^):  die  Gotras  haben  vielfach  ihren  Totem,  ihren 
devak^^),  ihr  Pflanzen-  oder  Thierzeichen ,  ihren  Pflanzen- 
oder Thiergott.  So  sind  die  Devaks  der  Marathaclans  in 
Ko  1ha  pur  Kriechpflanzen,  Banyaneirbaum ,  Lotusblumen, 
Sonnenblumen,  Pfauenfedern,  die  Schneide  eines  Schwertes 
(XXIV,  414);  bei  andern  Stämmen  ist  es  der  Panchpalvi,  d.  h. 
ein  Gebinde  von  fünf  Blättern  verschiedener  Bäume  (XVIII,  1, 
462);  bei  den  Thalheri  Kunbis  in  Thana  ist  es  ein  Baum,  ein 
Stein,  oder  ein  Ameisenhaufen  (XIII,  1,  125). 

Der  devak  geniesst  seinen  Kult;  die  Familie  schont  den 
Baum  (d.  h.  die  Baumart),  welcher  ihren  devak  bildet:  er 
ist  ihr  Behüter,  ihr  Lebensbaum;  so  darf  bei  den  Ramoshis 
in  Puna  die  Familie  nicht  von  der  Frucht  des  Familiendevak 
gemessen  (XVIII,    1,  410). 

Der  devak  ist  das  Zeichen  des  Gotra,  er  ist  daher  agna- 
tisch und  vererbt  sich  agnatisch;  es  verhält  sich  mit  ihm 
ähnlich,    wie    mit   der  Familienflagge    und  mit   der  Farbe  des 


*')  Ueber  den  Totemismus  in  Bengalen,  vergl.  Zeitschr.  IX  S.  360. 
Bezüglich  der  Gonds  vgl.  Zeitschr.  VIII  S.  145. 

^s)  Devaka  =  Gottheit. 


88  Kohler. 

Pferdes,  welche  vielfach  die  Familie  kennzeichnet,  z.  B.  bei 
den  Talheri  Kunbis  in  Thana  (XIII,  1,  125);  der  Totemis- 
mus  ist  daher  nicht  ein  neues  Institut,  welches  den  Gotra 
kreuzt,  sondern  ein  Institut,  welches  aus  der  gemeinsamen 
Verehrung,  dem  gemeinsamen  Kultus  des  Clans  hervorgeht 
und  diesen  Clan  kennzeichnet. 

Solche  devaks  finden  sich  in  den  verschiedensten  Gebieten 
der  Bombayprovinz:  bei  den  Konkani  Kunbis  und  den  Gabits 
in  Kanara  (XV,  1,  216,  305),  bei  den  Mitgodis,  den  Chaudris 
in  Kanara  (XV,  1,  279,  294);  bei  den  Kunbis,  Malis,  Kols, 
Sahadev  Joshis,  Ramoshis  in  Puna  (XVIII,  1,  300,  309, 
389,  410,  462);  bei  den  Marathas  in  Kolhapur  (XXIV, 
66,  73,  414)  und  in  Scholapur  (XX,  90);  bei  den  Jire 
Gavandis  in  Scholapur  (XX,  94);  bei  den  Kunbis  in  Bel- 
gaum  (XXI,  110,  120);  bei  den  Kols  in  Ahmadnagar 
(XVII,  204);  bei  den  Bhils  in  Kandesch  (XII,  88)  u.  a. 
Doch  gibt  es  auch  Stämme,  von  welchen  ausdrücklich  ge- 
sagt wird,  dass  sie  keine  devaks  haben,  z.  B.  die  Bandis 
in  Kanara  (XV,  1,  333).  Bei  anderen  scheint  der  devak 
nur  zufällig  zu  sein;  z.  B.  bei  den  Malis  in  Ahmadnagar 
ist  die  Gleichheit  des  devak  kein  Ehehinderniss  (XVII,  89), 
ebensowenig  bei  den  Vanjaris,  ebenda  (XVII,  162). 

Der  Gleichheit  des  devak  analog  ist  mitunter  die  Gleich- 
heit des  Familienpriesters;  es  kommt  vor,  dass  die  Familien 
ihren  eigenen  Familiengeistlichen  haben:  sie  bilden  eine  spiri- 
tuelle Gemeinschaft,  und  Familien  mit  demselben  Familien- 
priester heirathen  unter  sich  nicht;  so  die  Jangams  in  Dhar- 
war  (XXII,  112). 

Von  dem  genannten  Familiendevak  ist  übrigens  der 
Heirathsdevak  wohl  zu  unterscheiden,  d.  h.  ein  an  einer  Pflanze 
oder  auch  an  einem  Werkzeuge  haftender  Gott,  der  bei  der 
Ehe  Glück,  bringt.  Insbesondere  kommt  hier  der  panchpalvi 
vor,  d.  h.  der  Fünfzweigebündel  oder  die  fünf  Zweige  mit 
Federn  u.  a.  (XIX,  94,  XX,  87,  93,  99,  124,  156,  164,  170,  178, 
XVIII,  155,  162,  177);  so  bei  den  Gavlis  (Hirten)  in  Ahmad- 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  89 

nagar  ein  Mangozweig  (XVII^  1^2);  so  aber  auch  bei  den 
Schneidern  (Namdev  Shimpis)  in  Ahmadnagar:  Scheere, 
Nadel  und  Messruthe,  bei  den  Sonars  (Goldschmieden)  ebenda: 
Zange  und  Blasrohr  (XVII,  126,  136),  bei  der  Bettlerklasse 
der  Tirmalis:  Hirse  (XVII,  212)  u.  a. 

Auch  bei  der  Gürtungsceremonie  spielt  ein  solcher  devak 
eine  Rolle,  z.  B.  bei  den  Khatris  in  Ahmadnagar  (XVII,  111). 
Doch  dies  hängt  mit  dem  Famiiiendevak  nur  lose  zusammen. 

Als  exogam  kommt  regelmässig  nur  der  väterliche 
Gotra,  der  väterliche  Gentilname,  der  väterliche  devak 
in  Betracht.  Dies  wird  noch  insbesondere  gesagt  von  den 
Halvakki  Vakkals  und  den  Gam  Vakkals  in  Kanara  (XV, 
1,  202,  220),  von  den  Shimpis  in  Bijapur  (XXIII,  164),  von 
den  Kols  in  Ahmadnagar  (XVII,  203).  Doch  gibt  es  auch 
Ausnahmen.  Die  Chik  Kuruvinavars  in  Bijapur  verlangen, 
dass  der  väterliche  und  der  mütterliche  Gotra  beider  Braut- 
leute verschieden  sei  (XXIII,  259). 

Das  Exogamiegebot  gilt  auch  bei  den  niedrigsten 
Klassen,  es  ist  nicht  etwa  ein  Vorzug  der  höheren ;  beispiels- 
weise bei  den  Thakurs,  Vadars,  Dhors,  Halakhors,  Mhars, 
Mangs,  Chitrakathis  in  Puna:  bei  allen  gilt  der  Satz,  dass 
sie  nicht  in  den  Geschlechtsnamen  heirathen  (XVIII,  1,  425, 
426,  432,  436,  439,  443,  448).  Der  gleiche  Satz  gilt  in 
Ahmadnagar  von  den  Wäschern  (Parits),  Hirten  (Dhangars, 
Gavlis)  und  den  Fischern  (Bhois) ,  von  den  Komödianten 
(Bhorpis),  von  den  Chambhars,  Dhors,  Mangs,  Mhars,  Bhils 
(XVII,  147,  149,  151,  154,  177,  166,  168,  170,  172,  191); 
und  daselbe  gilt  von  den  Sattlern  (Jingars),  Puppenspielern 
(Killikiatars)  und  Bettlern  (Budbudkis)  in  Dharwar  (XXII, 
151,  152,  200),  von  den  Quastenmachern  (Patvekars)  und 
den  Wäschern  (Parits)  in  Satara  (XIX,  92,  102),  von  einem 
Theil  der  Kalkaris  in  Thana  (XIII,  1,  161).  Ebenso  heisst 
es  von  den  Webern  (Koshtis)  und  den  Barbieren  (Nadigs)  in 
Bijapur  (XXIII,  245,  254),  dass  sie  nicht  in  den  Gotra 
heirathen;     ebenso     von     den     Kupferschmieden     (Tambats), 


90  Kühler. 

den  Zimmerleuten  (Badhais)  in  Puna  (XVIII,  1,  375,  314); 
ebenso  von  den  Tänzern  (Saibs)  und  Barbieren  (Kelasis)  in 
Kanara  (XV,  1,  325,  329);  von  den  Lads  Vanjaris  in  Nasik 
(XVI,  62,  63).  Die  Kols  in  Puna  heirathen  nicht  in  Namen 
und  devak  (XVIII,  1,  389)  ^9). 

Nach  diesen  Gesichtspunkten  ist  es  zu  beurtheilen,  wenn 
in  den  Berichten  bald  gesagt  ist,  die  Familie  heirathe  nicht 
in  den  nämlichen  Gotra  (Bedag,  Kul),  bald,  sie  heirathe  nicht 
in  den  nämlichen  Zunamen,  oder  nicht  in  den  nämlichen  devak. 
Unzählige  Male  heisst  es,  dass  ein  Stamm  nicht  in  denselben 
Zunamen  heirathet;  beispielsweise  in  Scholapur:  die  Mar- 
wars,  Telangs,  Vidurs,  Lingayat  Vanis,  Bhadbhunjas,  Chamb- 
hars  (XX,  35,  40,  43,  75,  92,  93);  in  Puna:  die  Beldars, 
Bhavsars,  Buruds,  Chambhars,  Gaundis,  Ghisadis,  Khatris 
(XVIII,  1,  316,  322,  325,  327  und  329,  331,  333,  346). 

Anderwärts  ist  direkt  gesagt,  dass  die  Stammesmitglieder 
nicht  in  den  gotra  heirathen;  so  die  Lingayats,  Ganigs, 
Kabligers,  Raddis  in  Bijapur  (XXIII,  220,  240,  113,  145), 
die  Shrivaishnavs,  Sonars  in  Dharwar  (XXII,  98,  161),  die 
Haller  Vajantris,  Kasais,  Haslars  in  Kanara  (XV,  1,  318,  345, 
367)  u.  a.  Auch  heisst  es,  dass  Klan  und  Devak  geschieden 
sein  müsse,  z.  B.  bei  den  Kunbis  in  Puna  (XVIII  1,  300); 
oder  Name  und  Devak,  z.  B.  bei  den  Jire  Gavandis  in  Schola- 
pur  (XX,  94). 

Mitunter  haben  sich  die  gotras  in  Zweiggotras  gespalten; 
trotzdem  halten  manche  Stämme  den  Satz  aulVecht,  dass  die 
Ehe  in  dem  ganzen  gotra  ausgeschlossen  ist,  dass  die  Ver- 
schiedenheit der  Unterabtheilung  nicht  genügt:  sobald  gemein- 
samer Stammvater,  wird  Ehehinderniss  angenommen;  so  bei 
den  Komtis  in  Bijapur  (XXIII,  118).    Andere  Stämme  haben 


*^}  Vgl.  auch  noch  Jellingshaus,  Die  Kolhs  in  Ostindien,  in  der 
Allgemeinen  Missionszeitschr.  I  S.  107,  108:  darnach  bilden  5 — 20  Dörfer 
ein  Kili;  Männer  des  einen  Kili  dürfen  nur  Mädchen  eines  anderen  Kili 
heirathen.    Kili  (Kuli?)  ist  wohl  gleich  Kul  =  Gotra. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  91 

von  der  Strenge  nachgelassen ;  so  die  Patvegars  ebenda 
(XXIII;  143):  sie  haben  Untergotras  mit  besonderen  Namen^ 
sie  heirathen  nicht  in  denselben  Untergotra,  wohl  aber  in  eine 
andere  Unterabtheilung  in  demselben  gotra.  Das  wird  wohl 
auch  von  den  Tirmalis  in  P  u  n  a  gelten ;  denn  hier  heisst  es, 
dass  Gleichheit  des  Namens  hinderlich  ist^  nicht  aber  Gleichheit 
des  Clans  (XVIII,   1,  463). 

§  12. 

Die  Ehe  wähl  ist  daher  nach  zwei  Seiten  hin  be- 
stimmt: nur  eine  Ehe  in  der  Kaste,  niemals  eine  Ehe  im 
gotra  (gens,  Clan);  daher  ist  es  von  selbst  gegeben,  dass  der 
Bräutigam  eine  Frau  aus  einem  andern  Clan  innerhalb  der- 
selben Kaste  wählen  muss.  Weiter  ist  die  Wahl  meist  nicht  be- 
schränkt. Doch  gibt  es  auch  Ausnahmen;  z.  B.  heirathen  bei 
den  Konkani  Kunbis  in  Belgaum  (XXI,  109),  bestimmte 
Familien  unter  sich  in  althergebrachter  Weise  (XXI,  109). 

Verschiedene  Stämme  haben  die  Voraussetzungen  der 
Ehe  noch  dadurch  verschärft,  dass  sie  die  Zustimmung  der 
Kaste  bezw.  des  Kastenhauptes  verlangen.  Davon  ist 
unten  (S.  114)  des  weitern  zu  handeln;  vgl.  auch  S.  95. 

Ganz  besonders  eigenartig  sind  die  Bestimmungen,  wor- 
nach  nur  zu  bestimmten  Zeiten  geheirathet  werden  darf; 
die  Kathiawars  in  Nasik  heirathen  nur  in  einem  bestimmten 
Monat  des  Jahres  (XVI,  60),  die  Ahirs  in  Kandesch  heirathen 
nur  an  einem  bestimmten  Tage  des  Jahres  (V,  79) ;  ja  bei  den 
Kadva  Kanbis  in  Bar o da  wird  nur  einmal  alle  10 — 12  Jahre 
geheirathet  nach  der  Bestimmung  der  Göttin  Uma,  die  durch  das 
Loos  gefragt  wird  (VII,  60);  ähnlich  bei  den  Bharvads  in 
Kathiawar  (VIII,  138)  5«). 

§  13. 
Bekanntlich    verbietet    das    officielle    indische    Recht    die 
Wiederverheirathung    der  Wittwe   nicht    direkt,    erklärt 


50 


')  Vgl.  auch  schon  Zeitschr.  VIII  S.  115  f. 


92  Kohler. 

sie  aber  als  etwas  tadelnswürdiges  und  verwerfliches  •''^).  Dem 
gegenüber  verbalten  sich  die  Gewohnheitsrechte  in  der  Art, 
dass  die  Rechte  vieler  Kasten,  insbesondere  des  höheren  Grades 
(Brahmanen,  Kaufleute),  aber  auch  mancher  niederen  Kasten, 
die  Wittwenehe  verpönen.  So  ist  die  Wittwenehe  verboten 
bei  den  Kanojabrahmanen  in  Nasik  (XVI,  42),  bei  den  Raj- 
puts  ebenda  (XVI,  48);  bei  den  Gujarati  und  den  Marwari- 
brahmanen  in  Ahmadnagar  (XVII,  57,  61);  ebenso  auch  bei 
den  Lad  Vanis,  den  Kayasth  Prabhus  in  Ahmadnagar 
(XVII,  72,  65);  bei  den  Apastamba  Hiranga-Keshi ,  den 
Gujarat,  Nagar,  Samvedi,  Sarasvatibrahmanen  und  bei  den  Kauf- 
mannsständen der  Gujar  Vanis  und  Porvad  Vanis  in  Thana 
(XIII,  1,  74,  78,  81,  83,  85,  113,  113);  ebenso  bei  den  Shen- 
vis,  den  Brahma Kshatris  in  Puna  (XVIII,  1,  179,  267);  bei  den 
Bhatias  (Kaufleute)  in  Belgaum  (XXI,  100);  bei  den  Gujarat 
Vanis,  den  Kayasth  Prabhus  in  Scholapur  (XX,  52,  44); 
bei  den  Havig,  Deshasth  und  Joishibrahmanen,  sowie  bei  den 
Kaufmannsklassen  der  Bavkule  Vanis,  Kaunad  Vanis,  Bardekan 
Vanis,  Lad  Vanis,  Bhatias,  Pednekar  Vanis,  Lohanas,  Komtigs 
in  Kanara  (XV,  1,  124, 130, 134,  174,  181,  182, 185,186, 186, 
188, 190),  aber  auch  bei  den  Tempelbediensteten  (Guravs,  Aigals) 
ebenda  (XV,  1,  200,  201).  So  auch  bei  den  Smart-Bhagvats, 
den  Kanwasbrahmanen,  bei  den  Kaufmannsständen  der  Mehri 
Vanias,  der  Karads,  der  Bhatias  in  Katsch  (V,  50,  51,  54) 
und  bei  den  Kaufmannsständen  der  Marwaris,  der  Telugu 
Banjigars,  der  Vaishyas  in  Dharwar  (XXII,  92,  93,  125, 
129,  131);  bei  den  Deshasthbrahmanen,  den  Gujarat  Vanis  in 
Bijapur  (XXIII,  85,  106);  bei  den  Vaishyas  in  Bar  od a 
(VII,  57),   bei  den  höheren  Klassen  in  Kolhapur^^j. 

Aber    auch    bei    verschiedenen  Handwerkern  und  Acker- 
baukasten   u.    a. ,    so    bei    den    Aksalis    (Goldarbeitern),    den 


^1)  Zeitschrift  III,  376  f.,  VII  S.  234,  VllI  S.  113,  IX,  332.  Vgl. 
auch  Alberuni,  India  (übersetzt  v.  Sachau)  II  p.  155. 

^2)  Record  of  Kolhapur  S.  169;  das  strenge  Verbot  der  Wittwenehe  ist 
besonders  eingeschärft  worden  durch  Shankaracurya,  im  4.  Jahrh.  v.  Ohr. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  93 

Sutars  (Zimmerleuten),  Gudigars,  Shirogars,  Chetris,  Chamgars 
(Lederarbeitern)  in  Kanara  (XV,  1,  259,  263,  266,  227,  343, 
356) ;  bei  den  Sonars  (Goldarbeitern),  bei  den  Badiges,  Lad 
Suryavanshis  (Metzgern)  in  Dharwar  (XXII,  162,  146,  156); 
bei  den  Sonars  (Goldarbeitern)  in  Belgaum  (XXI,  148); 
bei  den  Shetijars,  den  Suryavanshi  Lads,  den  Gondhlis 
(Tänzern)  in  Bijapur  (XXIII,  162,  172,  193);  bei  den  Sonars 
(Goldarbeitern)  in  Kolhapur  (XXIV,  98);  bei  den  Salis 
(Webern)  und  Sutars  (Zimmerleuten)  in  Scholapur  (XX,  137, 
140);  bei  den  Sutars  (Zimmerleuten)  in  Satara  (XIX,  96); 
bei  den  Khatris  in  Thana  (XIII,  1,  133);  bei  den  Labhane 
und  Mathure  Vanjaris  in  Kandesh  (XII,   113). 

Bei  manchen  Kasten  besteht  zwar  kein  durchgängiges 
Verbot,  aber  die  einzelnen  Familien  haben  ihren  traditionellen 
Rechtssatz,  so  dass  die  einen  Familien  die  Wittwenehe  verbieten, 
die  andern  sie  erlauben;  so  die  Bhats  inKathiawar  (VIII,  153); 
so  die  Radders  (Landleute)  und  die  Panchals  (Handwerker) 
in  Dharwar  (XXII,  142,  159);  so  die  Kurubars  in  Bija- 
pur (XXIII,  123). 

Auch  das  kommt  vor,  dass  das  Verbot  der  Wittwenehe 
ein  Vorrecht  der  angesehensten  Familien  der  Kaste  ist.  Bei 
den  Uppars  in  Belgaum  ist  sie  in  der  Familie  des  Kasten- 
hauptes untersagt,  die  Familie  würde  sonst  diese  Stellung  ver- 
lieren (XXI,  149);  bei  den  Lingayats  in  Bijapur  ist  der 
Wittwe  des  Priesters  (Jangam)  die  Wiederverheirathung  nicht 
gestattet  (XXIII,  229,  236) ;  bei  den  Bhats  in  Baroda  kommt 
sie  bei  hohen  Familien  nicht  vor  (VII,  64).  Bei  den  Korvis 
in  Belgaum  darf  die  Wittwe,  welche  Söhne  hat,  nie  mehr 
heirathen,  dagegen  die  Wittwe,  welche  Töchter  hat,  —  aber 
erst,  wenn  alle  Töchter  verheirathet  sind  (XXI,  172).  Damit 
hängt  zusammen,  dass  bei  den  Buruds  in  Scholapur  im  Fall 
der  Wittwenehe  die  Kinder  des  ersten  Mannes  an  Verwandte 
kommen  (XX,  93). 

Bei  manchen  Klassen  ist  ein  U ebergang  nachzuweisen: 
bei  den  Rajputs  in  Bijapur  war  die  Wittwenehe  früher  ver- 


94  Kohler. 

boten,  ist  aber  allmählich  geatattet  worden  (XXIII,  159);  ebenso 
bei  den  Kasars  in'^Belgaum  (XXI^  140)  und  bei  den  Brahma 
Kshatris  in  Katsch  (V,  49).  Bei  den  Marathas  in  Bijapur 
ist  sie  eigentlich  verboten^  kommt  aber  doch  mitunter  vor 
(XXIII,  127). 

Bei  andern  Klassen  ist  die  Wittwenehe  zwar  an  sich  er- 
laubt, aber  die  wiederverheirathete  Wittwe,  die  parapürvTi, 
gilt  als  unrein  und  kann  insbesondere  an  religiösen  Cere- 
monien  nicht  theilnehmen;  so  bei  den  Kunbis  in  Thana 
(XIII,  1,  127)  und  in  Kolhapur  (XXIV,  91),  bei  den  Kunshgi 
Vakkals  in  Kanara  (XV,   1,  243). 

Damit  hängt  der  Rechtsgebrauch  zusammen,  dass  bei 
verschiedenen  Stämmen  die  wiederverheirathete  Wittwe 
einige  Tage  unsichtbar  bleibt  und  dann  erst  wieder  ange- 
blickt werden  darf;  wie  denn  auch  die  Wiederheirathung  viel- 
fach in  dunkler  Nacht  geschieht:  kein  Weib  (das  nicht  Wittwe 
ist)  darf  Theil  nehmen;  so  bei  den  Naikdas  in  Panch  Mahal 
(III,  225),  bei  den  Maratha  Kunbis  in  Scholapur  (XX,  90); 
ähnlich  bei  den  Kamathis  in  Thana  (XIII,  1,  121)  und  in 
Scholapur  (XX,  159),  bei  den  Lingayats  in  Bijapur 
(XXIII,  229,  236),  bei  den  Lonaris  und  Kols  in  Ahmad- 
nagar  (XVII,  121,  206),  bei  den  Ramoshis  und  den  Pathar- 
vats  in  Puna  (XVIII,  1,  358,  419)  und  in  Satara,  wo  die 
Ehe  100  Ellen  vom  Haus  entfernt  abgeschlossen  werden  muss 
(XIX,  90);  und  selbst  bei  den  (niedrigen)  Mhars  in  Satara 
(XIX,  115).  Oder  dass  die  Wittwenehe  in  der  Form  der  Ent- 
führung stattfindet,  wie  bei  den  Bhils  in  Kandesch  (XII,  90); 
oder  überhaupt  in  der  formlosen  Gandharven weise,  wie  bei 
den  Lads  Vanjaris  in  Kandesch  (XII,  112,  113)^^). 

Dem  entspricht  auch  der  Rechtsgebrauch,  dass  bei  denHal- 
vakki  Vakkals  in  Kanara  die  sich  wiederverheirathende  Wittwe 
das  Elternhaus  durch  die  Hinterthüre  verlassen  muss  (XV,  1, 


^^)  Vgl.  Zeitschr.  VIII   S.  113.     Die  Wittwenehe    als  Patehe;   der 
Name  Pät  ist  mahrattisch  (Wilson  p.  406). 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  95 

211):  überall  der  Gedanke^  dass  es  sich  eigentlich  um  etwas 
wenig  Erbauliches  handelt^  welches  man  zwar  als  fait  accorapli 
duldet,  aber  doch  so,  dass  man  seine  Hand  nicht  dazu  bieten 
mag.  Damit  stimmt  auch  der  Satz,  dass  bei  den  Halakhors 
in  P  u  n  a  (XVIII,  1,  439)  die  Wittwe  zwar  wieder  heirathen 
darf,  ihr  zweiter  Mann  aber  Strafe  bezahlen  muss  ^^). 

Bei  manchen  Stämmen  ist  die  Wittwenehe  in  der  Art 
erlaubt,  dass  eine  Wittwe  einen  Wittwer,  aber  keinen 
Junggesellen  heirathen  darf;  so  bei  den  Kunbis  und  Ramoshis 
in  Puna  (XVIII,  1,  307,  419),  bei  den  Buruds  in  Kanara 
(XV,  1,  341),  bei  den  Chambhars  und  Mhars  in  Nasik 
(XVI,  68,  70);  und  ein  Jangampriester  heirathet  in  Dharwar 
nie  eine  Wittwe  (XXII,  108).  Manche  erlauben  einen  zweiten, 
aber  keinen  dritten  Mann;  so  die  Patvegars  in  Bijapur 
(XXIII,  144).  Bei  denKorcharus  in  Kanara  (XV,  1,  338) 
darf  die  Frau  nicht  mehr  als  7  Mal  heirathen ;  und  bei  den 
Tambats  in  Puna  (XVIII,  1,  37G)  wird  die  Wittwe,  sobald 
sie  über  40  Jahre  alt  ist,  geschoren. 

Bei  manchen  Stämmen  bedarf  die  Wittwenehe  der  Ge- 
nehmigung des  patil,  des  Kastenhauptes;  so  in  Thana 
(XIII,  1,  276),  so  bei  den  (islamitischen)  Mannas  in  Katsch 
(V,  91). 

Dass  im  Uebrigen  bei  den  meisten  der  niederen  Klassen 
die  Wittwenehe  erlaubt  ist^^),  ergibt  sich  aus  dem  Obigen 
von  selbst;  ich  erwähne  nur  die  Handwerkerklassen  der 
Devangs,  Lingayat  Ganigars,  Hirekurvinavarus,  Istarerus, 
Salis;  sodann  die  Hirten  (Gavlis),  die  Fischer  (Ambigs), 
Wäscher    (Parits),    Wahrsager   (Budbukis),    Bettler   (Gollars), 


^'*)  Damit  hängt  es  vielleicht  auch  zusammen,  dass  bei  den  Ghadsis 
in  Puna  (XVIII,  1,  378)  der  Mann,  der  eine  Wittwe  geheirathet  hat, 
nach  seinem  Tode  nicht  verbrannt,  sondern  begraben  wird.  Vielfach 
sind  ja  auch  die  Todtenfeierlichkeiten  für  eine  Wittwe  geringer  als  für 
eine  Frau,  die  während  der  Ehe  stirbt. 

^^)  Patehe;  vgl.  Elliot,  Ethn.  See.  p.  124;  ferner  Zeitschr.  f.  vergl. 
Rechtsw.  VIII  p.  114  f.;  vgl.  auch  VII  S.  234. 


96  Kohler. 

Tänzer  (Goiulhalgars),  Gerber  (Dliors),  Schuster  (Mochigars); 
sodann  die  verschiedenen  Klassen  der  Landleute:  Dasars, 
Halepaiks,  Haslars,  Malavars,  Paknak  Radders  zu  Dharwar 
(XXII,  161,  168,  169,  170,  173  [175,  178];  179,  184,  189, 
201,  203,  205,  214,  221;  134,  135,  136,  140,  143);  die 
Gaukler  (Kolhatia)  in  Nasik  (XVI,  55),  die  Gavlis  (Milch- 
männer), Kumbhars  (Töpfer),  Nadigs  (Barbiere),  Dhors  (Ger- 
ber), Parits  (Wäscher),  die  Korvis  (Musikanten),  die  niedrig- 
stehenden Holias,  Mangs  in  Bijapur  (XXIII,  243,  252,  257, 
264,  276;  205;  215,  218);  die  Bangdis  (Weber),  Lonaris 
(Leimkocher),  Moshis  (Schuster),  Niralis  (Färber),  Salis 
(Weber),  Sutars  (Zimmerleute),  Tambats  (Kupferschmiede), 
Telis  (Oelpresser),  Nhavis  (Barbiere),  Parits  (Wäscher),  Gavlis 
(Hirten),  Khatiks  (Metzger),  Kahars  (Fischer),  Kamathis 
(Maurer),  Bhangis  (Kehrer)  in  Ahm  ad  na  gar  (XVII,  93,  120, 
122,  128,  131,  138, 140,  141,  147,  149,  152, 153,  158,  160, 165); 
so  ferner  die  Töpfer,  Schmiede,  Barbiere  in  Belgaum  (XXI, 
141,  142,  152);  die  niederen  Klassen  der  Agers,  Bakads,  Bellers, 
Buttais,  Chalvadis,  Hatgars,  Kolayas  Korars,  Kategars,  Kan- 
garis,  Mukris,  Mhars  in  Puna  (XV,  1,  365,  360—379);  die 
Mangs  in  Kandesch  (XII,  120)  u.  s.  w.  Bei  den  Lohano 
amils  in  Sindh  findet  sich  die  Wittwenehe,  wird  aber  nicht 
gerne  gesehen-''^). 

Mitunter  haben  sich  auch  höhere  Klassen  ausnahms- 
weise zur  Wittwenehe  verstanden ;  so  die  Jaisbrahmanen  und 
die  Kunams  (Kaufleute)  in  Ahmadnagar  (XVII,  57,  74); 
die  Modhs  (Brahmanen)  in  Katsch  (V,  46);  auch  die  Brahma 
Kshatris,  aber  erst  seit  späterer  Zeit  (V,  49). 

Auch  einige  Moslim kästen  folgen  in  ihrer  Anschauung 
dem  indischen  Rechte;  so  die  Konkanis  in  Kolaba  und  in 
Thana  (XI,  82;  XIII,  1,  234):  sie  gestatten  zwar  die 
Wittwenehe,  missbilligen  sie  aber  in  den  höheren  Familien; 
die  islamitischen  Mannas  in  Katsch  erlauben  (wie  bereits  S. 95 


56 


)  Gazetteer  of  the  Province  of  Sind  p.  9;>. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  97 

erwähnt)  die  Wittwenehe  nur  mit  Genehmigung  des  patilfV,  91). 
Bei  den  Moslims  in  Satara  findet  sich  sogar  der  indische 
B&tz,  dass  eine  Wittwe  nur  einen  Wittwer  heirathet,  und  auch 
die  Heimlichkeit  der  zweiten  Ehe  mit  den  eigenthümlichen 
Formen  ist  hier  üblich  (XIX,  132,  133)^^). 

Die  Sanktion  des  Verbotes  der  Wittwenehe  ist  (wohl  regel- 
mässig) nicht  die  Nichtigkeit  der  Ehe,  sondern,  wie  bei 
schweren  Verletzungen  der  Kastenregeln  überhaupt,  Verlust 
der  Kaste.     So  bei  den  Kataris  in   Puna  (XVIII,   1,  345). 

Die  Wiederverheirathung  des  Wittwers  ist  allgemein 
gestattet,  doch  findet  sich  auch  der  Satz,  dass  bei  solcher 
Wiederverheirathung  die  Eheceremonien  verkürzt  werden;  so 
bei  den  Kushasthalibrahmanen  in  Kanara  (XV,  1,   171). 

§  u. 

Das  officielle  indische  Recht  gestattet  die  Polygamie 
des  Mannes;  doch  ist  es  der  Wunsch  des  indischen  Rechts, 
dass  der  Mann  zu  gleicher  Zeit  möglichst  nur  eine  Frau  seiner 
Kaste  haben  solle  ^^)  —  ein  Satz,  der  um  so  tiefer  einschneiden 
musste,  als  der  Kastenunterschied  sich  so  verschärft  hat,  dass 
regelmässig  nur  eine  Ehe  in  der  eigenen  Kaste  erfolgen  kann. 
Die  Gestaltung  der  Gewohnheitsrechte  ist  nun  folgende.  Weitaus 
die  meisten  Statutarrechte  gestatten  die  Polygamie  ^^),  nament- 
lich fast  durchaus  die  Rechte  der  mittleren  und  unteren  Kasten ; 
doch  wird  die  Polygamie  vielfach  auch  in  den  höchsten  Kasten 
unbedingt  zugelassen.  Umgekehrt  gibt  es  einige  niedere  Kasten, 
welche  ausnahmsweise  an  der  Polygamie  Anstoss  nehmen ;  so 
heirathen  die  Meshri  Vanias  (Kaufleute)  in  Katsch  eine  zweite 
Frau  nur,  wenn  die  erste  unfruchtbar  ist,  und  ebenso  die  Karads 
(Kaufleute)  (V,  50,  51);  die  Meshris  (Kaufleute)  ebenda  ver- 
pönen   die    Polygamie    vollkommen    (V,    51);    die    Kathys    in 


")  Vgl.  auch  Zeitschrift  IX  S.  333. 

■■^«)  Zeitschrift  III  S.  373  f. 

s^)  Zeitschrift  VIII  S.  90,  114;  VII  S.  228,  IX  S.  324. 

Zeitschrift  für  vergleichende  Rechtswissenschaft.   X.  Band.  7 


98  Kohler. 

Kathiawar  nehmeo  meist  nur  eine  Frau  ^*^);  ebenso  die 
Lohano  amils  in  Sindh  ^^).  Aber  auch  die  (niederen)  Ramoshis 
in  Belgaum  nehmen  eine  zweite  Frau  nur,  wenn  die  erste 
kinderlos  ist  (XXI,  175);  ebenso  die  niederen  Klassen  der 
Chambhars  und  Mhars  (XVI,  68,   70). 

Bei  manchen  Klassen,  wo  die  Polygamie  erlaubt  ist,  kommt 
sie  doch  nur  selten  vor;  z.  B.  bei  den  Hatkars  in  Bijapur 
(XXIII,  269),  bei  den  Raddis,  Shetiyars  ebenda  (XXIII,  152, 
163);  bei  den  Kunbis  in  Katsch  meist  nur,  wenn  die  erste 
Frau  keine  Söhne  hat  oder  wenn  der  Mann  Arbeiterinnen 
braucht  (XI,  61)  u.  a. 

Dagegen  istdiePolygamie  gestattet  bei  denKayasthPrabhus 
in  Scholapur  (XX,  44),  den  Deshasthbrahmanen  in  Bijapur 
(XXIII,  85),  den  Smart  Bhagvatsbrahmanen  und  den  Kanvas- 
brahmanen  in  Dharwar  (XXII,  92,  93),  den  Kaufmanns- 
ständen der  Marwaris,  Telugu  Banjigars,  Vaishyas  ebenda 
(XXII,  125,  129,  131);  die  Rajputs  in  Kathyawar  haben 
oft  8  Frauen  (VIII,  121)  «2).  Ueber  die  Polygamie  der  Nam- 
buris  in  Malabar  vergl.  oben  S.  68. 

Fast  durchgängig  ist  sie  gestattet  bei  den  Handwerkern, 
den  Landleuten  und  den  niederen  Klassen.  So  in  Ahmadnagar 
bei  den  Bangdis  (V^ebern),  den  Lonaris  (Leimkochern),  den 
Moshis  (Schustern),  Niralis  (Färbern),  Sutars  (Zimmerleuten), 
Tambats  (Kupferschmieden),  Telis  (Oelpressern),  Nhavis  (Bar- 
bieren), Parits  (Wäschern),  Gavlis  (Hirten),  Khatiks  (Metzgern), 
Kahars  (Fischern),  Kamathis  (Maurern),  Bhangis  (Kehrern), 
Mhars,  Bils  u.  s.  w.  (XVII,  93,  120,  122,  128,  138,  140, 
141,  147,  149,  152,  153,  158,  160,  165,  175,  192);  so  in 
Dharwar  bei  den  Ackerbauklassen  der  Dasars,  Halepaiks, 
Ilaslars,  Paknak  Radders  (XXII,  134,  135,  136,  143);  ebenso  die 
Badiges  (Zimmerleute),  Hugars  (Blumenverkäufer),  Killikiatars 

^^)  Record  of  Kattywar  p.  35. 
«0  Gazetteer  of  Sind  p.  93. 

^^)  Vgl.  auch  Record  of  Kattywar  p.  35.    Sie  sollen  übrigens  nicht 
selten  von  einer  der  Frauen  vergiftet  werden. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  99 

(Puppenspieler),  Lad  Suryavanshis  (Metzger),  Namdev  Nilaris 
(Färber),  Shir  Shimpis  (Schneider),  Dhors  (Gerber),  Mochigars 
(Schuster)  u.  a.  (XXII,  146,  148,  153,  156,  158,  161,  214, 
221),  die  Bettlerklasse  der  Gollars,  Helawars,  Jogis  (XXII, 
203,  206,  209),  die  Gondhalgars  (Tänzer)  (XXII,  205);  ebenso 
die  Ackerbauklasse  der  Baris  und  Buruds  in  P  u  n  a  (XVIII, 
1,  267,  283),  die  Töpfer,  Weber,  Gerber,  Oeler,  Barbiere 
ebenda  (XVIII,  1,  351,  362,  367,  377,  381)  u.  a.;  ebenso 
die  Handwerkerklassen  in  Satara  (XIX,  81,  83,  84,  90,  92, 
96,  97),  die  Naikdas  in  Panch  Mahal  (III,  225),  die  Bhils 
in  Rewa  Kantha  (VI,  31)  und  in  Kandesch  (XII,  90),  die 
Berads  in  Scholapur  (XX,  164),  die  Ahirs  und  Babrias  in 
Kathyawar  ^^).  Die  Vaddars  in  Kanara  haben  oft  8  Frauen, 
da  sie  die  Frauen  als  Arbeiterinnen  verwenden  (XV,   1,  348). 

Insbesondere  ist  vielfach  die  Polygamie  selbst  da  erlaubt, 
wo  die  Wittwenehe  verboten  ist;  so  bei  den  Aksalis  in  Kanara 
(XV,  1,  259),  bei  den  Kasars,  Badiges,  auch  bei  den  Bardekan 
Vanis,  den  Rajputs,  Konger,  Guravs  ebenda  (XV,  1,  261,  263; 
182,  194,  198,  200);  so  bei  den  Rajputen  in  Kathiawar 
(VIII,  118,   121). 

§  15. 

Dass  die  Mädchen  vor  der  Pubertät  verheirathet  wer- 
den sollen,  entspricht  dem  officiellen  indischen  Recht  ^*).  Dies 
ist  denn  auch  ein  ganz  regelmässiger  Satz  des  indischen  Ge- 
wohnheitslebens ^^),  und  zwar  bei  höheren  wie  bei  niederen 
Klassen;  ein  regelmässiger,  wenn  auch  nicht  ausnahmsloser 
Satz.  Die  Lingayats  (die  Lingverehrer)  haben  es  allerdings 
zu  ihrem  Glaubenssatz  erhoben,  dass  die  Frau  erst  nach  der 


^^)  Records  of  Kattywar  p.  455. 

«0  Vgl.  Gautama  XVIII,  21—23,  Vasishtha  XVII,  70,  71,  Manu 
IX,  4,  Yäjnavalkya  I,  64.  Sonst  lädt  der  Vater  die  Schuld  des  Todes 
der  Embryonen  auf  sich,  die  mit  den  Menses  abgehen. 

«5)  Zeitschrift  VIII  S.  115,  auch  VII  S.  232. 


lÜO  Kohler. 

Pubertät  heirathen  solle;  aber  in  der  Tbat  verheirathen  sie 
die  Mädcben  so  fr  üb,  wie  es  die  Mitglieder  der  übrigen 
Iveligionssekten  tbim  (vergl.  XXIII,  227)  ^•^).  Docb  gibt  es 
aucb  einige  Stämme  (namentlich  eiügeborener  Rachen),  welche 
den  Aufschub  der  Ehe  bis  nach  der  Pubertät  zulassen  ^^), 
manche  aber  so,  dass  sie  in  solchen  Fällen  die  Pubertät  des 
Mädchens  geheim  halten. 

Das  Ehealter  der  Mädchen  ist  in  D  bar  war  bei  den  Des- 
hasth  4 — 11,  bei  den  Kanoj  5 — 15,  bei  den  Tailangs  6 — 10 
Jahre  (XXII,  78,  94,  100);  bei  den  Telugu  Banjigars  (Kauf- 
leuten) und  bei  den  Gerbern  (Dhors)  kann  allerdings  die 
Ehe  auch  nach  der  Pubertät  stattfinden  (XXII,  129,  214). 
In  Belgaum  werden  die  Mädchen  verheirathet:  bei  den  Jains 
mit  4  oder  mehr  Jahren,  bei  den  Sonars  (Goldarbeitern)  vor 
der  Pubertät,  bei  den  Dhangars  ebenfalls  vor  der  Pubertät 
(XXI,  102,  148,  153);  aber  auch  bei  den  niederen  Ramoshis 
zwischen  5  und  10  Jahren,  bei  den  Mhars  vor  der  Pubertät 
(XXI,  175,  193),  bei  den  Korvis,  Vadars  allerdings  auch 
nachher  (XXI,  171,   177). 

Ebenso  ist  in  Bijapur  das  Ehealter  der  Mädchen  bei 
den  Deshasthbrahmanen  7 — 11  Jahre  ,  bei  den  Bedars  von 
6  Monaten  zu  12  Jahren,  bei  den  Gujarat  Vanis  5  — 11  Jahre, 
bei  den  Oshtams  1 — 12,  bei  den  Gavlis  1  Monat  bis  12  Jahre, 
bei  den  Kumbhars  bis  12  Jahre,  bei  den  Parits  10—12  Jahre, 
bei  den  Marathas  vor  12  Jahren,  und  bei  den  Kurubars  werden 
die  Mädchen  oft  mit  3  Monaten  verheirathet  (XXIII,  85,  94, 
106,  139,  243,  252,  276,  127,  123);  dagegen  allerdings  bei 
denMarwaris  mit  10 — 15,  bei  den  Suryavanshi  Lads  von  1  Monat 
bis  zu  19  Jahren,  bei  den  Vadars  mit  6 — 16  Jahren,  und  auch 
bei  den  Dandigdasars  und  den  Kilikets  vor  und  nach  der  Pubertät 
(XXIII,  128,  171,  212,  182,  200). 


^^}  So    selbst    die  Lingayatpriester,    die  Jangams    in   Scholapur: 
zwischen  10  und  12  Jahren  (XX,  185). 
")  Elliot,  Ethn.  Soc.  p.  124. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  101 

In  Thana  werden  die  Mädchen  theilweise  in  frühester 
Jugend  verheirathet,  bei  den  Kamathis  vor  7  (die  Knaben 
vor  9),  bei  den  Varlis  mit  2  (die  Knaben  mit  5),  bei  den 
Kathari  von  8 — 10  J.;  bei  den  Gavlis  kommt  es  vor,  dass 
Mädchen  mit  4  (Knaben  mit  5)  Jahren  verheirathet  werden 
(XIII,  1,  120,  185, 137, 145);  bei  den  Kols  zwischen  6— 10  Jahren 
(XIII,  1,  172);  aber  allerdings  die  Baris  gestatten  ein  Alter 
von  6 — 15,  die  Dhangars  (Schäfer)  ein  solches  von  5 — 15  Jahren 
(XIII,  1,  117,  144). 

Die  Joshibrahmanen  in  Kanara  verheirathen  die  Mädchen 
von  8 — 10,  die  Komtigs  (Kaufleute)  ebenda  von  6 — 12,  die 
Rajputen  ebenda  von  7—11  Jahren  (XV,   1,   134,   190,   194). 

In  Scholapur  verheirathen  die  Gujarat  Vanis  ihre 
Mädchen  vor  12,  die  Kashikapdis  vor  10,  die  Komtis  zwischen 
7  und  10,  die  Buruds  zwischen  7 — 12,  die  Jire  Gavandis 
zwischen  8 — 12,  die  Karanjkars  zwischen  5  —  11,  die  Kasars 
vor  9,  die  Panchals  und  die  Tambats  zwischen  8 — 12,  die 
Gavlis  zwischen  6  — 12,  die  Kamathis  zwischen  9 — 11,  die 
Dhangars  (Schäfer)  vor  der  Pubertät  und  die  (niederen)  Mangs 
oft  schon  in  der  Wiege  (XX,  52,  52,  58,  92,  95,  109, 
118,  128,  142,  148,  158,  147,  173);  dagegen  allerdings 
die  Mudliars  zwischen  10 — 16,  die  Holars  zwischen  5 — 15, 
die  (wilden)  Vadars  nach  16,  die  (wilden)  Vanjaris  von  12 — 20  J. 
(XX,  46,  146,  168,  169). 

In  Kolhapur  verheirathen  die  Lingayats  und  die  Jains 
die  Mädchen  vor  der  Pupertät  (XXIV,  129,  141),  dagegen 
die  Berads  und  die  Kunbis  bis  ins  16.  Jahr  (XXIV,  129, 
141,  105,  91). 

In  Ahmadnagar  werden  bei  den  Mochis,  Sonars,  Telis, 
Kahars,  Vasudevs,  Ravals  die  Mädchen  vor  der  Pubertät  ver- 
heirathet (XVII,  123,  136,  141,  159,  188,  210);  während 
sonst  das  Alter,  bis  zu  welchem  zugewartet  werden  kann,  sich 
auf  das  15.  oder  16.  Jahr  beläuft;  z.  B.  haben  die  Kols 
12—16,  die  Bils  15—25,  die  Kaikadis  und  Bhangis  3—15, 
die  Khatris  Lonaris,    Salis,    Sutars  5 — 15  Jahre  und  die  Va- 


102  Kühler. 

daris,  Mangs,  Bhila,  Mliars,  Maratha  Gopals  lassen  die  Ver- 
heirathung  nach  der  Pubertät  zu  (XVII,  208,  192,  192,  105, 
165,  111,  120,  131,  138,  143,  171,  170,  185);  ja  bei  den  (herum- 
streichenden) Vaidus  findet  die  Ehe  sogar  meist  nach  der 
Pubertät  des  Mädchens  statt  (XVII,  213). 

Etwas  besonderes  gilt  für  die  Namburibrahmanen  in 
Malabar,  bei  welchen  die  Mädchen  selten  vor  25 — 30  Jahren 
sich  verehelichen  ^'^). 

Die  Knaben  heirathen  etwas  später:  die  Ehe  findet  oft 
erst  im  20.  oder  25.  Jahre  statt,  sie  kann  aber  schon  im  12., 
im  11.,  im  10.,  im  8.,  ja  schon  im  5.  Jahre  stattfinden;  z.  B. 
bei  den  Deshasthbrahmanen  in  Bijapur  zwischen  12 — 20 
(XXIII,  85);  bei  den  Panchals,  Tambats  in  Scholapur 
zwischen  12 — 25  (XX,  128,  142);  bei  den  Kamathis  in 
8cholapur  zwischen  11 — 15  (XX,  158),  ebenso  bei  den 
Kolis  in  Belgaum  (XXI,  158);  bei  den  Kahars  in  Ahmad- 
nagar  zwischen  10  und  25  (XVII,  159),  bei  den  Deshasth  in 
Dharwar  zwischen  8  und  20  (XXII,  78),  bei  den  Deshasth 
in  Kolhapur  zwischen  8  und  25  (XXIII,  50),  bei  den 
Kaikadis  in  Ahm a dnagar  zwischen  5  und  20  (XVII,  105) 
und  bei  den  Dhangars  in  Scholapur  zwischen  5  und  15  J. 
(XX,  147). 

Manchmal  soll  das  Heirathsalter  der  Knaben  erst  mit  14, 
15  oder  16  Jahren  beginnen;  z.  B.  bei  den  Tambats  in  Kol- 
ha^pur:  14—20  (XXIV,  99);  bei  den  Mundliars,  den  Gujarat 
Vanis,  Lingayat  Vanis  in  Scholapur:  15 — 25  (XX,  46,  52, 
78),  ebenso  bei  den  Ravals  in  Ahmadnagar  (XVII,  210); 
bei  den  Kanoj  in  Dharwar  15 — 30  (XXII,  94);  ja  bei  den 
Gujarat  Vanis  in  Bijapur  16 — 20  J.  (XXIII,   106). 

Die  Islamiten  haben  im  Allgemeinen  die  Kinderehe 
nicht;  so  z.  B.  die  Moslims  in  Ahmadnagar  (XVII,  222). 
Doch    gibt    es   auch   hier  Ausnahmen ;    z.  B.  die  islamitischen 


63 


)  Burtoii,  Goa  and  the  mountains  p.  214. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  103 

Shaiks  in  Katsch  verheirathen  die  Knaben  mit  8^  die  Mäd- 
chen mit  5  Jahren  (V,  89). 

§  16. 

Der  Ehe  geht  nicht  überall,  aber  bei  vielen  Stämmen 
eine  Verlobung  voraus,  ja  eine  Vorverlobung;  während 
nämlich  die  Verlobung  ein  formeller,  feierlicher  Act  ist,  be- 
steht die  Vorverlobung  in  der  blossen  Stipulation  der  Heiraths- 
bedingungen,  allerdings  vielfach  verbunden  mit  einem  Opfer 
an  die  Hausgötter  der  Braut,  auch  mit  einigen  sonstigen  For- 
malitäten, insbesondere  mit  dem  Bestreichen  der  Brauen  der 
Braut  mit  Roth  —  einer  glückverheissenden  Ceremonie,  welche 
der  Vater  des  Bräutigams  vollzieht. 

Die  Vorverlobung  oder  auch  die  Verlobung  findet  oft  vor 
Gästen  statt,  auch  in  einer  Kastenversammlung,  um  die  An- 
gelegenheit unzweifelhaft  festzustellen. 

So  findet  sich  eine  Vorverlobung  (in  unfeierlicher  Weise) 
bei  den  Kunbis  in  Kolaba  (XI,  59);  den  Lohano  amils  in 
Sindh^^^);  bei  verschiedenen  Stämmen  inBijapur:  bei  den 
Yaklars,  Dandigdasars ,  Ghisadis,  Jogers,  Kilikets,  Vadars, 
Holias,  Mangs,  Lingayats,  Kumbhars,  Nadigs,  Chik  Kuruvina- 
vars,  Dhors,  Helavs,  Parits  (XXIII,  175,  182,  191,  195,  200, 
212,  215,  218,  234,  250,  256,  261,  264,  271),  bei  den  Kols 
(Bestimmung  des  Preises)  in  Ahmadnagar  (XVII,  203),  bei 
den  Vadars  in  Bijapur  in  der  Kastenversammlung  (XXIII, 
212). 

Die  Verlobung  (bashtagi)  findet  gewöhnlich  in  der 
Form  statt,  dass  der  Bräutigamvater  der  Braut  Kleider  und 
Schmucksachen  (auch  Geld)  schenkt;  auch  ein  Geschenk  an 
den  Vater  oder  die  Mutter  der  Braut  ist  nicht  selten:  ein 
Nachklang  der  Frauenkaufehe.  Auch  die  glückbringende  Cere- 
monie der  Schoossfüllung  kommt  hier  vor,   von  welcher  unten 


^««)  Gazetteer  of  Sind  p.  93  f. 


104  Kohler. 

(S.  110)  noch  zu  sprechen  ist.    Häufig  sind  Kastenleute,  auch 
Priester,   auch  der  Dorfvorstand  anwesend. 

Die  Stämme,  bei  welchen  eine  Verlobung  in  dieser  Weise 
stattfindet,  brauchen  nicht  alle  genannt  zu  werden.  Ich  führe 
beispielsweise  an  aus  Bijapur:  die  Bedars,  Hanbars,  Mara- 
thas,  Marwaris,  Mudliars,  Musbtigers,  Oshtams,  Raddis,  Rajputs, 
Shetiyars,  Shimpis  (XXIII,  94,  108,  126,  128,  132,  136,  139, 
152,  159,  163,  167);  aus  Scholapur:  die  Bhatias,  Komtis, 
Lingayats,  Marathas,  Chambhars,  Jire  Gavands,  Ghisadis, 
Lonaris,  Kolis,  Kamathis,  Pardeshis,  Phansepardis,  Mangs, 
Kudbuda  Joshis  (XX,  51,  59,  78,  90,  93,  95,  102,  123,  154, 
158,  162,  167,  173;  188);  aus  Satara:  die  Kunbis,  Sangars, 
Guravs,  Mangs,  Mhars  (XIX,  67,  94,  99,  112,  114);  so  aus 
Ahmadnagar:  die  Kattais,  Namdev  Shimpis,  Bhois,  Lamans, 
Chambhars,  Mhars,  Kols,  Ravals,  Vaidus  (XVII,  109,  126, 
155,  161,  167,  176,  203,  210,  214);  aus  Kolhapur:  die  Jains 
(XXIV,   142).     So  auch  in  Sindh«^). 

Bei  manchen  Stämmen  wird  das  Vorkommen  des  bashtagi 
ausdrücklich  verneint,  z.  B.  bei  den  Dasars  in  Bijapur  (XXIII, 
186);  bei  den  Tambolis  in  Satara  wird  es  als  nicht  nöthig 
erklärt  (XIX,  62). 

Bei  den  Muhamedanern  spielt  die  Verlobung  bekannt- 
lich im  officiellen  Recht  keine  Rolle '^);  sie  wird  daher  auch 
in  Indien  vielfach  weggelassen,  z.  B.  in  Thana  (XIII,  1,  228). 
Doch  nicht  ausnahmslos.  Die  Muhamedaner  in  Satara  haben 
die  Verlobung  in  der  indischen  Weise  der  Kleiderschenkung 
(XIX,  130,  143);  bei  den  Moslims  in  Ahmadnagar  erfolgt 
die  Verlobung  1—2  Monate  vor  der  Ehe  (XVII,  222);  auch 
sonst  findet  sich  die  Verlobung  iu  der  indischen  Weise  ^^). 

Die  Verlobung  geht  der  Ehe  oft  beträchtliche  Zeit  vor- 
aus.    Bei    den    Ghisadis    in    Schiolap ur    1 — 5    Jahre  (XX, 


^*)  Burton,  Sindh  p.  262. 

'0)  Vgl.  meine  Rechtsvergleichenden  Studien  S.  31 

71 


)  Herklots  p.  89  f. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  105 

102)^  bei  den  Lingayats  ebenda  2  Jahre  (XX,  78),  bei  den 
Sangars  in  Satara  3  Jahre  (XIX,  94),  bei  den  Islamiten  in 
Satara  6—8  Monate  (XIX,  130). 

Die  Verlobung  gilt  als  in  thesi  bindend,  wenn  auch 
nur  mit  indirektem  Zwange '^^).  Insbesondere  von  den  Vaidus 
in  Ahmadnagar  wird  bemerkt,  dass  bei  Verlust  der  Kaste 
die  Verlobung  nicht  gebrochen  werden  darf  (XVII,  214). 
Auch  in  Sindh  darf  mindestens  von  der  Frauenseite  die  Ver- 
lobung nicht  gelöst  werden  ^^). 

Andererseits  ist  es  allerdings  sicher,  dass  man  unter  Um- 
ständen noch  im  letzten  Augenblicke  von  der  Ehe  zurück- 
treten kann;  vgl.  unten  S.   115. 

§  17. 

Die  Eheceremonien  ähneln  sich  trotz  vieler  Abwei- 
chungen des  Einzelnen  sehr  in  ihren  principiellen  Zügen  '^*), 
und  zwar  die  Eheceremonien  von  fast  allen  Klassen. 

Eifie  der  häufigsten  Ceremonien  ist  die  Vorhangscene 
mit  nachfolgender  Reisbeschüttung:  Der  Antarpat^^), 
ein  Vorhang  (oft  mit  einem  rothen  Kreuze  in  der  Mitte),  ein 
Tuch  und  dergleichen  wird  zwischen  die  zwei  Brautleute  ge- 
halten, welche  sich  (mit  dem  Gesicht  zugewendet)  gegenüber 
stehen;    so   verbleibt  die  Scene,    bis  die    heiligen  Sprüche  ge- 


'2)  Vgl.  Zeitschrift  III  S.  353  f.,  VII  S.  230,  VIII  S.  116. 

")  Burton,  Sindh  p.  264. 

'*)  Vgl.  Zeitschrift  VIII  S.  113;  vgl.  auch  VIII  S.  91,  103,  IX 
S.  328;  Colebrooke  Essays  p.  128  f.  Ueber  die  officiellen  Gebräuche, 
Zeitschrift  III  S.  347  f.,  Haas  in  Webers  Indischen  Studien  V  S.  267; 
A§valäyana-Grihya-Siitra  (übersetzt  von  Oldenberg  in  den  Sacred 
Bocks  XXIX)  I,  7.  Uebrigens  sehen  schon  die  alten  Sutras  den 
variirenden  Ortsgebrauch  (gräma)  vor  und  sagen,  man  solle  sich  nach 
dem  Ortsgebrauche  richten;  vgl.  die  Uebersetzung  von  Haas  a.  a.  0. 
S.  359.  In  Acvalayana  heisst  es:  various  indeed  are  the  customs  of 
the  countries  and  the  customs  of  the  villages  (I.  7,  1  p.  167). 

'^)  Antarpat,  antahpata,  wörtlich  ein  Zwischen tuch  (mahrattisch), 
vgl.  Wilson  p.  28. 


106  Kohler. 

lesen  sind  und  der  glückliche  Augenblick  kommt'");  dann 
wird  der  Vorhang  herabgelassen^  die  Brautleute  werden  mit 
Reis  beschüttet  und  die  Scene  ist  vorüber. 

Dieser  Gebrauch  ist  fast  überall  verbreitet^  bei  den  ver- 
schiedensten Klassen;  beispielsweise  in  Belgaum  bei  den 
Kunbis^  Jingars^  Lohars ^  Patvegars^  Ghadsis^  Kalals^  Kor- 
chars^  Bagdis^  Mangs^  also  bei  theilweise  sehr  niederen  Klassen 
(XXI,  121,  140,  142,  145,  159,  169,  173,  178,  195);  in 
Ahmadnagar  bei  den  Jain  Shimpis,  den  Mochis,  den  Namdev 
Shimpis,  den  Bhois  (Fischern),  den  Mangs,  den  Chambhars, 
den  Ravals,  den  Kols  (XYII,  101,  123,  126,  156,  168,  171, 
210,  204);  in  Bijapur  bei  den  Deshasth  brahmanen,  den  Be- 
dars,  den  Gavandis,  den  Gujarat  Vanis,  Hanbars,  Jingars,  den 
Mangs,  Mushtigers,  Oshtams,  Patvegars,  Raddis,  Suryavanshi 
Lads,  Dandigdasars,  Kilikets,  Jogers,  Gavlis,  Dhors,  Parits, 
Salis  (XXIII,  87,  95,  101,  106,  108,  113,  136,  140,  144, 
153,  172,  183,  200,  195,  219,  243,  265,  276,  279);  so  in 
Kolhapur'^'^)  bei  den  Deshasths,  den  Marathas,  Kunbis,  Jains 
(XXIV,  52,  77,  91,  143);  so  in  K and e seh  bei  den  Mhars 
(XII,  117);  so  in  Dharwar  bei  den  Deshasths,  Kanojs, 
Radders  (XXII,  80,  94,  142);  so  in  Puna  bei  den  Kanojs, 
Shenvis,  Patane  Prabhus,  Pahadis,  Radhais,  Bhadbhunjas,  Bu- 
ruds,  Chambhars,  Otaris,  Rauls,  Salis,  Nhavis,  Gavlis,  Vanjaris 
(XVIII,  1,  170,  179,  210,  312,  315,  321,  326,  328,  357, 
360,  364,  382,  387,  430);  so  in  Satara  bei  den  Tambolis, 
Kunbis,  Marathas,  Kurabhars,  Guravs,  Mhars  (XIX,  63,  69,  77, 
87,  100,  114);  so  in  Scholapur  bei  den Telangbrahmanen,  den 
Marathas,  denGhisadis,Lonaris,  Niralis,  Guravs  Kolis,  Kamathis, 
Pardeshis,  Dhors  (eine  Matratze  statt  Vorhang  dazwischen), 
Mangs,  Mhars  (XX,  41,  90,  102,  123,  124,  145,  155,  159, 
162,   170,   173,   179);    so    in  Thana  bei  den  Samvedis,  den 

''^)  Derselbe  kann  durch  eine  Sanduhr  angezeigt  werden;  eine  eigen- 
thümliche  Weise  findet  sich  bei  den  Kanadas  (Schäfern)  in  Thana:  so- 
lange ein  Kalb  an  der  Mutter  saugt  (XIII,  1,  146). 

")  Vgl.  auch  Record  of  Kolhapur  p.  168. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  107 

Kamathis.^  den  Nakri  Kunbis,  den  Kanadas  Thakurs,  Var- 
lis  (XIII,  1,  83,  121,  129,  146,  180,  185);  in  Kanara  bei 
den  Havigs-  und  Shenvisbrabmanen,  den  Jains,  bei  den  Hal- 
vakki  Vakals,  den  Ambigs,  Cbetris,  Chamgars,  Cbalvadis  (XV, 
1,  125,  155,  235,  210,  304,  344,  357);  in  Ahmadnagar  bei 
den  Mesbri  Marwaris  (XVII,  75). 

Die  (glückbringende)  Reisbeschüttung,  welche  die 
guten  Geister  herbeilocken  soll,  findet  sich  auch  bei  Stämmen, 
von  welchen  die  Vorhangscene  nicht  erwähnt  wird;  z.  B.  bei 
den  Beldars,  Kanjaris  in  Satara  (XIX,  80,  84),  bei  den 
niederen  Klassen  der  Kammars,  Killikiatars,  Hirekurvinavarus, 
Salis,  Kurubars  in  Dharwar  (XXII,  153,  153,  168, 173,  181); 
bei  den  Dhangars,  Berads,  Chikaris,  Davris  (Trommlern), 
Gondhlis  (Tänzern),  Loshis  (Bettlern)  in  Belgaum  (XXI,  153, 
164,  176,  181,  182,  184),  bei  den  Kolhatis  (Seiltänzern),  Kud- 
buda  (Wahrsagern)  in  Scholapur  (XX,   187,   188). 

Ein  altindischer,  viel  verbreiteter  Gebrauch  ist  das  Kan- 
yadan^^),  die  Uebergabe  der  Braut,  wobei  Wasser  über  die 
Hände  (oder  auch  Füsse)  gegossen  wird;  so  bei  den  Agar- 
vals,  Lingayats,  Marathas,  Panchals,  Kolis  in  Scholapur 
(XX,  50,  80,  90,  130,  155),  bei  den  Marathas  in  Kolhapur 
(XXIV,  77),  bei  den  Jain  Shimpis  und  den  Bhois  in  Ahmad- 
nagar (XVII,  101,  156),  bei  den  Patvegars  in  Bijapur 
(XXIII,  144),  bei  den  Kumbhars,  den  Ghisadis,  den  Ramoshis 
in  Puna  (XVIII,  1,  350,  336,  419),  bei  den  Marathas  in 
Satara  (XIX,  77),  bei  den  Shenvisbrabmanen,  bei  den  Korars 
und  Kangars  in  Kanara  (XV,  1,  155,  371,  374),  bei  den 
Osval  Marwaris  in  Ahmadnagar  (XVII,  81),  bei  den  Des- 
hasthbrahmanen  in  Dharwar  (XXII,  80). 

Aehnlich  ist  das  panigrahana,  die  Verbindung  der 
Hände  ^^);  so  bei  den  Chitpavanbrahmanen,  den  Dhruv  Prabhus 

■^^3  Vgl.  über  das  kanyädänam  Haas  a.  a.  0.  S.  309  f.  Ferner 
Päraskara-Grihya-Sütra  I,  4, 14  f.  Kanyä  ist  Mädchen,  däna  die  Gabe. 

'^)  Auch  hastamela,  hastagrahana:  ein  Brauch,  der  in  die  Vedische 
Zeit  reicht,  vgl.  den  Hymnus  inWebers  Indischen  Studien  S.  V,  190,  201. 


108  Kohler. 

in  Pirna  (XVlll,  1,  L'i3,  190)^  bei  den  Marwaris  (durch  den 
Priester)  in  Bijapur  (XXIII^  l'^8)^  bei  den  Arirs,  Uppars^ 
Ambigs^  Chambhars  und  Chalvadis  in  Kanara  (XV^  1,  216^ 
281,  304,  357,  360),  bei  den  Nakri  Kunbis  in  Thana  (XII, 
1,  129),  bei  den  Rewa  Kunbis  und  den  Koshtis  und  bei  den 
Bhils  in  Kandesch  (XII,  65,  76,  89). 

Von  besonderer  Bedeutung,  namentlich  in  höheren  Klassen, 
ist  das  saptapadi  ^^):  die  7  Schritte  der  Brautleute;  die 
Ceremouie  wird  in  der  verschiedensten  Weise  variirt:  häufig 
werden  7  Reishaufen  gelegt,  der  Bräutigam  lüpft  die  Füsse 
der  Braut  darüber;  so  bei  den  Deshasths  in  Dharwar 
(XXII,  80),  bei  den  Patane  Prabhns  in  Puna  (XVIII,  1, 
212),  ähnlich  bei  den  Jains  in  Kolhapur  (XXIV,  143).  So 
findet  sich  die  Ceremonie  der  7  Schritte  auch  bei  den  Chit- 
pavanbrahmanen  und  den  Shenvis  in  Puna  (XVIII,  1,  135, 
179);  bei  den  Deshasth  in  Bijapur  (XXIII,  87);  bei  den 
Havigs-  und  Shenvisbrahmanen  in  Kanara  (XV,  1,  125,  155). 

Vielfach  steht  das  saptapadi  in  Verbindung  mit  der  Um- 
wandlung des  Feuers:  das  Feuer  wird  7mal  umwandelt;  so 
bei  den  Kanojbrahmanen  in  Dharwar  (XXII,  94)  und  in 
Puna  (XVIII,  1,  170),  bei  den  Bhadbhunjas,  den  Badhais, 
den  Halvais  in  Puna  (XVIII,  1,  321,  315,  339),  bei  den 
Marathas  in  Satara  (XIX,  77)  und  in  Kolhapur  (XXIV,  77), 
bei  den  Charans  Vanjaiis  in  Kandesch  (XII,   111). 

Bei  den  Kirad  in  Puna  geht  das  Paar  7mal  um  den  Ehe- 
devak  (XVIII,  1,  269);  bei  den  Pardeshi  Chambhars  in  Puna 
gehen  die  Brautleute  7 mal  um  einen  Pfosten  herum  (XVIII, 
1,  330);  ebenso  bei  den  Chambars  in  Kandesch  (XII,  115); 
ebenso  bei  den  Agarvals  in  Scholapur  (XX,  50)  und  bei  den 


Vgl.  auch  Haas  ebenda  S.  316  f.,  Zeitschrift  III  S.  347,  VIII  S.  103, 
IX  S.  329;  Qänkhäyana-Grihya-Sütra  I,  13;  A^valayana  I,  7,  3  f. ; 
Päraskara  I,  6,  3. 

^")  Die  bekannte  uraltindische  Ceremonie;  vgl.  auch  Haas  a.  a.  0. 
S.  320,  Zeitsciirift  IX  S.  828  f.,  VII  S.  234;  gänkhäyana-Grihya- 
Sutra  I,  14,  5  und  6,  A^valayana  I,  7,  19,  Päraskara  I,  8. 


Die  Gewohnheitsreclite  der  Provinz  Bombay.  109 

Rajputs  in  Bijapur  (XXIII,  159)  uod  in  Nasik  (XVI,  48); 
bei  den  Pardeshis  in  Scholapur  gehen  sie  7mal  um  irdene 
Krüge  (XX,   162). 

Dem  Saptapadi  scheint  es  auch  zu  entsprechen,  dass  in 
Sindh  die  Brautleute  7mal  die  Stirne  aneinander  schlagen  ^^). 

Eine  sehr  verbreitete  Rechtssitte,  namentlich  bei  den 
höheren  Ständen,  ist  das  Anzünden  des  heiligen  Feuers 
mit  Feueropfer  (hom,  homa)  und  die  Umwandlung  des- 
selben^^); so  die  5malige  Umwandlung  bei  den  Buruds  in 
Puna  (XVIII,  1,  326),  bei  den  Deshasthbrahmanen  in  Bijapur 
(XXIII,  87),  bei  den  Rewa  Kunbis  in  Khandesch,  XII,  65 
(hier  chavri  bhavri  genannt);  so  die  4malige  Umwandlung  bei 
den  Marvar  Vahis  in  Puna  (XVIII,  1,  279);  so  die  Smalige 
Umwandlung  bei  den  Chitpavanbrahmanen,  den  Patane  Prabhus 
in  Puna  (XVIII,  1,  135,  212),  den  Deshasthbrahmanen  in 
Dharwar  (XXII,  80),  den  Havigsbrahmanen  und  Shenvis- 
brahmanen  in  Kanara  (XV,  1,  125, 155).  Ferner  wird  das  Feuer 
umwandelt  bei  den  Gujaratbrahmanen,  den  Kanojbrahmanen 
(XVIII,  1, 165, 170),  bei  denMarwaris  in  Bijapur  (XXIII,  128). 

An  Stelle  dessen  tritt  auch  die  Umwandlung  der  Braut- 
hütte, z.  B.  bei  den  Kanjaris  in  Satara  (XIX,  84);  die  Um- 
wandlung eines  viereckigen  Platzes  bei  den  Gujarat  Vanis  in 
Kanara  (XV,  1,  189);  die  Umwandlung  des  Altars  (bahule) 
bei  den  Velalis  in  Puna  (XVIII,  1,  259),  den  Mudliars  in 
Bijapur  (XXIII,  133);  eines  Baldachins  bei  den  Telugu  Ban- 
jigars  in  Dharwar  (XXII,  128);  die  Umwandlung  von  zwei 
Keulen  bei  den  Charans  in  Thana  (XIII,  1,  118),  eines 
Pfahles  oder  Stabes,  bei  den  Vaddars  in  Kanara  (XV,  1, 
348),  eines  Zweiges  bei  den  Bhils  in  Panch  Mahal  (III, 
221):   12mal. 

Dass  diese  Umwandlung  mehrfach  mit  dem  saptapadi  ver- 
schmolzen wird,  ist  soeben  betont  worden. 


«1)  Burton,  Sindh  p.  270. 

^^)  Altindisch;  vgl.  auch  Haas  a,.  a.  0.  S.  318;  Paraskara  I,  7,  3. 


110  Kohler. 

Eine  andere  Ceremonie  ist  die  Umfädmung:  in  der  ver- 
schiedensten Weise  werden    die  Brautleute   mit   einem    Faden 
umwunden;   so  bei   den  Chitpavanbrahmanen,   Dhruv  Prabhus, 
Bangars,    den    Ghisadis,    Salis,    Dhors,    Ramoshis    in    Puna 
(XVHI,  1,  135,  190,  265,  336,  364,  419,  434),  bei  den  Kunbis 
in  Satara  (XIX,  69),  bei  den  Arirs  in  Kanara  (XV,  1,  216) 
bei  den  Jangams,  den  Mangs  in  Dharwar  (XXII,  113,  219) 
bei  denMarathas,  den  Sagar  Gavandis,  denGhisadis,  Karanjkars 
Panchals,  Berads   in   Scholapur  (XX,    90,    99,    102,    112 
130,   164);  auch  bei  den  Kolis  in  Scholapur  (XX,  155),  bei 
den  Shenvisbrahmanen  in  Kanara  (XV,  1,  155),  bei  den  Mhars 
in  Thana  (XIII,  1,   192). 

Damit  hängt  die  Sitte  des  Kankanbindens^^)  zusammen: 
die  Brautleute  bekommen  Schnüre,  Zweige  etc.  um  ihre  Hand- 
knöchel gewunden  ^*).  Oft  ist  es  so,  dass  die  Schnur,  welche 
beide  umfädmet  hat,  zerschnitten  und  die  beiden  Theile  dann 
jeweils  um  den  Handrist  gebunden  werden.  Das  Kankan- 
binden  findet  sich  beispielsweise  bei  den  Bangars,  den  Ghisa- 
dis,  Kamathis  in  Puna  (XVHI,  1,  265,  336,  397),  bei  den 
Jangams,  Telugu  Banjigars,  bei  den  Koravars,  Shikalgars 
(Vaganten)  und  der  Bettlerklasse  der  Gollars,  Helavars,  Ma- 
salars  in  Dharwar  (XXII,  113,  128,  195,  202,  206,  210), 
ferner  bei  den  Marathas,  Sagar  Gavandis,  Ghisadis,  Karanj- 
kars, Gavlis  in  Scholapur  (XX,  90,  99,  102,  112,  151),  bei 
den  Deshasth,  Bedars,  Gujarat  Vanis,  Hanbars,  Shetiyars, 
Yaklers,  Ghisadis  in  Bijapur  (XXIII,  87,  95,  106,  108,  163, 
175,  192,  205),  bei  den  Mochis,  Bhois,  Chambhars  in  Ahmad- 
nagar  (XVH,  123,  156,  168). 

Der  Umfädmung  ist  verwandt  die  Kleide  rverknotung^^): 


^^)  Kankana  ist  Armband. 

^^)  Eine  sinnige  Sitte  ist  es,  dass  bei  den  Karanjkars  die  Kankans 
nachher  in  der  Nähe  des  Hauses  begraben  werden :  als  ständige  Maliner 
an  das  eheliche  Versj3rechen  (XX,  114).  üeber  die  Kankan-Ceremonie 
bei  den  Islamiten  vgl.  unten  S.  116.   Vgl.  auch  noch  Zeitschr.  VIII  S.  113. 

85)  Zeitschr.  III  S.  347;  VIII  S.  113;  IX  S.  329. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  111 

die  Kleider  der  Brautleute  werden  verbunden:  eine  der  häu- 
figsten Ceremonien^  deren  Bedeutung  sofort  erhellt.  Von  den 
zahlreichen  Klassen ,  welche  die  Kleiderknotung  üben ,  seien 
nur  erwähnt:  die  Kanojbrahraanen,  die  Marwar  Vanis,  die  Baris, 
Kachis,  Badhais,  Beldars,  Bhadbhunjas,  Bhavsars,  Buruds, 
Halvais,  Lakheris^  Shimpis,  Vanjaris,  Dhors,  Halakhors, 
Chitrakatis  (Bilderzeiger),  Kohlhatis  (Gaukler),  Sahadev  Jos- 
his,  Dadhivale  Vaidus  (Vaganten)  in  Puna  (XVIII,  1,  170, 
279,  281,  284,  315,  318,  321,  324,  326,  339,  351,  369,  430, 
434,  438,  450,  458,  462,  479);  die  Beldars  in  Satara 
(XIX,  80) ;  die  Havigs-  und  die  Shenvisbrahmanen,  die  Uppars, 
Banjigs,  Konkani  Kunbigs,  Ambigs,  Korars,  Kangars,  Mhars 
inKanara  (XV,  1,  125,  155,  281,  179,  219,  304,  371,  374, 
379),  die  Kabligers,  Mushtigers,  Shetiyars,  Yaklars,  Advi- 
chinchers,  Kilikets  in  Bijapur  (XXIII,  116,  136,  163,  175, 
178,  200);  die  Halepaiks,  Mangs  in  Dharwar  (XXII,  135, 
219),  die  Lads  Vanjaris  in  Nasik  (XVI,  63);  die  Sangars, 
Guravs  in  Satara  (XIX,  94,  100);  die  Lingayats,  Niralis, 
Panchals,  die  (niedern)  Phanepardhis,  die  Dhors,  die  Kol- 
hatis  in  Scholapur  (XX,  80,  124,  130,  167,  170,  187);  die 
Lingayats  in  Kolhapur  (XXIV,  130);  die  Lamans  und 
Kols  inAhmadnagar  (XVII,  126,  204);  die  Kunbis  in  Bel- 
gaum  (XXI,  121);  die  Rajputen  in  Kathiawar  (VIII,  121); 
die  Rewa  Kunbis,  die  Koshtis,  die  Bhils,  Vanjaris,  Chamb- 
hars  inKandesch  (XII,  65,  76,  95,  108,  115);  die  Kalkaris, 
die  Thakurs,  die  Varlis  in  Thana  (XIII,  1,  161,  180,  185); 
die  Bhils  in  Panch  Mahal  (III,  221). 

Eine  sehr  häufige,  namentlich  bei  den  Lingayats  als 
wichtig  erachtete  Sitte  ist  die  Anlegung  des  mangalsütra 
(des  glückbringenden  Halsbands)  ^^)  an  den  Nacken  der  Braut, 
welches    die   Frau    als    Ehefrau    charakterisirt;    sie    geschieht 


^6)  Vgl.  Zeitschr.  VIII  S.  103,  113.  Mangala  ist  glückverheissend, 
daher  aucli  die  glückverheissenden  Verse,  die  der  Brahmane  ausspricht, 
mangaläshtaka;  vgl.  Wilson  -p.  328. 


112  Kohler. 

durch  den  Bräutigam^  vielfach  auch  durch  den  Priester,  wobei 
der  Priester  vorher  das  Band  mit  den  Händen  des  Bräutigams 
in  Berührung  bringt,  um  zu  zeigen,  dass  es  von  ihm  herrührt. 
Es  seien  nur  beispielsweise  erwähnt  die  Arirs,  Chatris,  Cham- 
gars,  Banjigs,  in  Kanara  (XV,  1,  179,  216,  344,  366),  die 
Gavandis,  Gujarat  Vanis,  die  Kurubars,  Marwaris,  die  Raddis 
in  Bijapur  (XXIII,  101,  106,  125,  128,  153),  die  Holias, 
Mangs,  namentlich  aber  die  Lingayats  ebenda  (XXIII,  215, 
218,  229  f.),  die  Kamraars,  Patta  Salis,  Gollars,  Holayas  in 
Dharwar  (XXII,  153,  174,  202,  216),  die  Mochis  in 
Ahmadnagar  (XVII,   123). 

Auch  der  Guirlandenwurf  ist  häufig,  z.  B.  bei  den 
Havigs,  Jainas  und  Ambigs  in  Kanara  (XV,  1,  125,  235, 
304),  den  Mhars  in  Satara  (XIX,  115),  den  Jains  und  Lohars 
in  Belgaum  (XXI,  102,  152),  den  Samvedis  und  den  Nakri 
Kunbis  in  Thana  (XIII,  1,  83,  129). 

Und  auch  bei  der  Quasiehe  der  Nairs  bindet  der  Bräutigam 
seiner  Braut  ein  Nackenband  um^'^). 

Auch  die  Schoossbeschüttung  der  Braut  mit  Früchten, 
um  Glück  und  Fruchtbarkeit  herabzulocken,  kommt  vor,  z.  B. 
bei  den  Pahadis  in  Puna  (XVIII,  1,  312),  bei  den  Lamans 
und  Kols  in  Ahmadnagar  (XVII,   16,  204). 

Aehnlich  wird  bei  den  Shenvisbrahmanen  in  Kanara  die 
Braut  in  einen  Korb  voll  Reis  gesetzt  (XV,   1,  155). 

Die  altindische  Ceremonie,  dass  der  Polarstern  (oder 
ein  anderer  Stern  des  Bären)  als  Zeichen  der  Stetigkeit  ge- 
zeigt wird^^),  ist  bei  verschiedenen  Stämmen  vertreten;  so 
bei  den  Deshasth  in  Dharwar  (XXII,  80),  so  bei  den  Velalis 
in  Puna  (XVIII  1,  259). 

Als  juristisch  erheblich  kann  noch  hervorgehoben  werden: 
die  Grenzverehrung,  die  stmänta  püjä^^').    Sobald  der 


^^)  Burton,  Goa  and  the  blue  mountains  p.  216. 
«8}  Zeitschr.  III  S.  348  und  die  hier  citirten  Stellen. 
^^*)  Simä  =  Grenze,  püjä  =  Verehrung. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  113 

Bräutigam  an  der  Grenze  des  Brautdorfes  anlangt  ^^),  wird 
ein  Opfer  dargebracht;  nicht  selten  geschieht  der  Ritus  in  der 
Kirche  oder  an  anderer  Stelle.  Ursprünglich  ist  es  wohl  eine 
Versöhnung  der  Grenzgötter  für  das  ihnen  durch  den  Raub 
der  Braut  zugefügte  Unrecht.  So  findet  sich  der  Ritus  bei 
den  Chitpavanbrahmanen  in  Po  na  (XVIII^  1^  129),  bei  den 
Shenvis  ebenda  (XVIII,  1,  179),  bei  den  Karanjkars  in  Scho- 
lapur  (XX,  112),  bei  den  Deshasths  in  Kolhapur  (XXIV, 
52),  bei  den  Shenvis  in  Kanara  (XV,   1,   155). 

§  18. 

Die  Mitwirkung  eines  Priesters  bei  der  Ehe,  sei  es  eines 
Brahmanen,  sei  es  eines  Jangams  (bei  den  Lingajats),  sei  es 
eines  Priesters  aus  der  eigenen  Klasse,  eines  Gurn  u.  s.  w.,  ist 
die  überwiegende  Regel.  Bei  niederen  Kasten,  mit  welchen  der 
Brahmane  nicht  näher  verkehren  kann,  liest  er  die  Gebete  in 
einiger  Entfernung  ab;  so  bei  den  Mangs  in  Ahmadnagar 
(XVII,  171),  ebenso  bei  den  Mangs  und  Mhars  in  Scholapur 
(XX,  173,  179).  Selbst  Klassen,  wie  die  Gavlis,  die  Kama- 
this,  Raddis,  Kaikadis,  Ramoshis,  Dhors,  Halakhors,  Chitra- 
katis,  Sahadev  Joshis,  Tirmalis  in  Puna  lassen  Priester  mit- 
wirken (XVIII,  1,  387,  397,  405,  407,  419,  434,  437,  449, 
462,  463),  ebenso  die  Ramoshis  in  Nasik  (XVI,  72);  und 
die  Kols,  Thakurs,  Konkanis  in  Thana(XIII,  1,  174,  175, 180). 

Die  Ehe  ist  daher  fast  regelmässig,  was  die  Rechtsbücher 
eine  Brahma,  Daiva  oder  Präjäpatyaehe  nennen  ^^). 

Ausnahmsweise  ziehen  niedere  Klassen  keine  Priester 
zu;  z.  B.  die  Kaikadis  in  Belgaum  (XXI,  168)  und  in 
Bijapur  (XXIII,  196):  sie  brauchen  einen  Priester  nur  zur 
Bestimmung   des   Ehetages;    ebenso   die    Mhars    in  Belgaum 

^^)  Kommt  die  Braut  von  Ferne,  wie  bei  Fürsten,  so  wird  eine 
Brauthütte  speciell  zum  Zweck  der  Brautceremonie  errichtet,  Elphin- 
stone  p.  352. 

^0)  Zeitschr.  III  S.  343  f.     Vgl.  auch  IX  S.  332. 

Zeitschrift  für  vergleichende  Rechtswissenschaft.    X.  Band.  8 


114  Kohler. 

(XXI ^  1Ö3);  ähnlich  die  Halvakki  Vakkals,  die  Chamgars, 
Kangaris,  Mukris  in  Kamara  (XV,  1,  208,  356,  374,  376), 
die  Vanjaris  in  Thana  (XlII,   1,   131). 

Ebenso  nehmen  keine  Priester  die  (niederen)  Holias,  die 
Vadars  in  Bijapur  (XXlll,  215,  213),  die  IJppars,  die  Hale- 
paiks  und  Agers  in  Kanara  (XV,  1,  281,  286,  360),  die 
Mangs  in  Satara  (XIX,  112),  die  Sangars  in  Thana  (XIII, 
1,   134),  die  Katkaris  in  Nasik  (XVI,  65). 

Die  Raikaris  in  Thana  glauben,  dass  die  Priesterehe 
kein  langes  Leben  gebe  (XIII,   1,  175»). 

Bei  den  Mangs  in  Belgaum  wirkt  statt  des  Priesters 
ein  altes  Weib  mit  (XXI,  195),  bei  den  Kanjaris  in  Satara 
ein  älteres  Kastenmitglied  (XIX,  84),  bei  den  Varlis  in  Thana 
eine  Priesterin,  bezw.  ein  Medium,  in  welches  ein  Geist  ein- 
gezogen ist  (XIII,  1,  185,  186). 

Dass  bei  einer  Reihe,  namentlich  niederer  Stämme  die 
Ehe  Kastensache  ist,  dass  sie  der  Zustimmung  der  Kaste 
bedarf,  wurde  bereits  bemerkt.  Oefters  wirkt  das  Kasten- 
haupt selbst  mit;  so  bei  den  Chamgars  (Lederarbeiter),  und 
ebenso  bei  den  Agers,  den  Buttais,  den  Korars,  den  Mukris 
in  Kanara  (XV,  1,  357,  360,  364,  371,  376);  so  bei  den 
Kunams  (Kaufleuten)  in  Ahmadnagar  (XVII,  74);  bei  den 
Davars  in  Thana  (XIII,  1,  157).  Bei  den  Bhils  in  Kan- 
desch  hat  das  panchayat  zu  entscheiden,  ob  die  Ehe  gültig 
ist:  die  Uebergabe  der  Braut  geshieht  vor  ihm  (XII,  88,  94); 
die  Thakurs  in  Thana  befragen  die  Kaste,  ob  die  Ehe- 
schliessung statthaft  ist  (XIII,  1,  179).  Ebenso  entscheidet 
die  Kaste  bei  den  Shilangis,  Harakantras  in  Kanara  (XV,  1, 
253,  307),  bei  den  Katkaris  in  Janjira  (XI,  416). 

Für  die  Publicität  ist  bei  manchen  Kasten  in  folgender 
Weise  gesorgt:  man  verlangt,  dass  alle  zur  Kaste  gehörigen 
gotras  durch  einen  Repräsentanten  vertreten  sind;  allerdings 
kann,  wenn  ein  Vertreter  nicht  zu  bekommen  ist,  an  dessen 
Stelle  eine  Betelnuss  gesetzt  werden;  so  die  Komtis  in  Bija- 
pur (XXIII,  120),  die  Jogers  ebenda  (XXIII,  194). 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  115 

Bei  den  Vaddars  in  K  anara  findet  der  Eheabschluss  in  der 
Kastenversammlung  statt  (XV;  1^  348);  bei  den  Bhils  in  Kan- 
desch  vor  dem  panchajat  (XII^  94). 

Die  Bedeutung  der  einzelnen  Ceremonien  für  den  Be- 
stand derEhe^^)  ist  im  Statutarrecht  je  n^ch  der  Kaste 
verschieden  zu  beurtheilen.  In  manchen  Klassen  wird  auf 
die  Vorhangscene  das  grösste  Gewicht  gelegt,  in  anderen  auf 
das  saptapadi  oder  auf  die  Umwandelung  des  Feuers.  Dies 
zeigt  sich  namentlich  in  folgendem  merkwürdigen  Gebrauch. 
Bei  verschiedenen  Klassen  wird  der  letzte  Schritt  des  sapta- 
padi oder  die  letzte  Umwandelung  des  Feuers  erst  vollzogen, 
nachdem  die  Angehörigen  noch  besonders  befragt  sind,  ob  sie 
keine  Einwände  haben;  so  bei  den  Kirads,  so  bei  den  Marwar 
Vanis,  bei  den  Bhadais  in  Puna  (XVII,  1,  269,  279,  375),  so 
bei  den  Rajputs  in  Bijapur  (XXIII,   159). 

Aehnlich  wird  bei  den  Kanojbrahmanen  in  Dharwar  vor 
der  7.  Umwandlung  der  beiderseitige  gotra  genannt  (um  zu 
sehen,  dass  er  verschieden  ist)  und  die  Braut  nimmt  Abschied 
von  den  Ihrigen  (XXII,  94). 

Ein  Einwurf  gegen  die  Ehe  kann  besonders  daraus  ent- 
springen, dass  der  Bräutigam  durch  ein  Vergehen  aus  der 
Kaste  gefallen  sei;  wird  solches  geltend  gemacht,  so  muss  er 
sich  durch  eine  Summe  wieder  einkaufen;  so  bei  den  Agarvals 
in  Scholapur  (XX,  50). 

§  19. 

Bei  den  Islamiten '"^2)  wurde  die  islamitische  Form  mehr 
oder  minder  beibehalten.  Der  Zuzug  des  Kädhi  oder  minde- 
stens die  Anmeldung  und  Registrirung  beim  Kadhi  ist  häufig ; 
so  bei  denMoslims  in  Thana  (XIII,  1,  228,  237,  241,  244), 
in  Kanara  (XV,  1,  405,  407),  in  Puna  (XVIII,  1,  487),  in 


^0  Vgl.  Zeitschr.  III  S.  350  f. 

^2)  Zeitschr.  IX  S.  333,   Rechtsvergl.  Studien   S.  31  f.,  Herklots 
p.  128  f. 


11()  Kohler. 

Bijapur  (XXIH,  285),  in  Belgaum  (XX,  201),  in  Dhar- 
war  (XXII,  220),  inAhmadnagar  (XVII,  22).  Die  Braut 
wird  in  Puna  durch  ihren  Vater  vertreten,  in  islamitischer 
Weise  (XVlll,  1,  487);  auch  in  Sindh  ist  wesentlich  die 
islamitische  Form  erhalten:  zwei  Zeugen,  Mitwirkung  des 
Mulla,  und  an  Stelle  der  Braut  ein  vaquil,  welcher  die  Ehe- 
erklärung abgibt  '^^). 

Vielfach  haben  die  Moslims  indische  Ceremonien,  z.  B.  in 
Puna  die  Vorhangscene,  die  Reisbeschüttung,  das  Ringwettspiel 
(XVIII,  1,  487)9*),  auch  das  Kankanbinden^^);  in  Ahmad- 
nagar  findet  sich  die  Vorhangscene  in  der  Variante,  dass 
die  Braut  ein  weisses  Tuch  vor  dem  Gesicht  hat,  welches 
dann  abgenommen  wird,  so  dass  der  Bräutigam  sie  zum 
erstenmal  sieht  (XVII,  222);  auch  die  dem  Hindurechte  fremde 
Ceremonie  des  Ringansteckens  kommt  hier  vor.  Indische  Ehe- 
gebräuche haben  auch  die  islamitischen  Kers  in  Katsch  (V, 
100)  und  die  Islamiten  in  Sindh  ^^). 

§  20. 
Wie  bemerkt,  findet  die  Ehe  meist  vor  der  Pubertät 
des  Mädchens  statt;  daher  ist  bei  Eintritt  der  Menses  eine 
Feier  üblich ,  welche  man  als  Nachheirath  bezeichnen 
kann:  das  Mädchen  ist  zunächst  unrein;  am  4.  oder  5.  Tage 
aber,  oder  auch  einige  Tage  darauf  (z.  B.  innerhalb  16  Tagen 
oder  am  ersten  glückverheissenden  Tag  nach  der  Periode) 
finden  besondere  Festlichkeiten  statt,  worauf  das  Mädchen 
dem  Manne  zum  ehelichen  Leben  überliefert  wird.  Eine  der 
gewöhnlichsten  Ceremonien  ist  hierbei  die  Schoossfüllung: 
es  werden  Früchte  in  den  Schooss  des  Mädchens  gelegt,  um 
die  guten  Geister  herbeizulocken.     Auch    die    Anzündung    des 


^3)  Burton,  Sindh  p.  268. 

^*)  lieber  die  Vorhangscene  vgl.  auch  Herklo ts  p.  13t>. 
^^)  Herklots  p.  139  f.;  vgl.  auch  Wilson  p.  258. 
^«)  Burton,  Sindh  p.  270  f. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  117 

heiligen  Feuers  (hom)^  auch  das  Färben  der  Brauen  des  Mäd- 
chens mit  Roth  komnat  vor.  Die  Feier  heisst  garbhadhan 
oder  auch  phal9obhan^  auch  otibharan  ^^). 

So  findet  sich  diese  Nachheirath  in  Ahmadnagar  bei 
den  Ghisadis,  Jain  Shimpis^  Khatris,  Lakheris^  Namdev  Shim- 
pis,  Otaris,  Vadars,  Maratha  Gopals  (XVII,  98 ,  102,  111, 
115,  129,  143,  185);  in  Puna  bei  den  Patane  Prabhus,  den 
Kirads,  Buruds,  Gaundis,  Ghisadis,  Rauls,  Salis,  Vadars,  Van- 
jaris,  Kolhatis,  Uchlias  (XVIII,  1,  218,  269,  326,  332,  336,  361, 
364,  428,  430,  458,  473);  in  Satara  bei  den  Tambolis,  Kun- 
bis,  Patharvats,  Guravs  (XIX,  63,  72,  91,  100);  in  Schola- 
pur  bei  den  Agarvals,  Komtis,  Lingayats,  Marathas,  Ghisadis, 
Panchals  (XX,  50,  69,  82,  90,  102,  132);  in  Bijapur  bei 
den  Deshasth,  Kabligers,  Mushtigers,  Oshtams,  Raddis,  Kili- 
kets,  Kumbhars,  Nadigs  (XXIII,  87,  116,  137,  140,  154,  200, 
251,  256);  in  Kolhapur  bei  den  Deshasths,  Marathas  (XXIV, 
58,  79);  in  Belgaum  bei  den  Gosavis  (XXI,  183);  in  Dhar- 
war  bei  den  Kanoj  (XXII,  94);  in  Kanara  bei  den  Haller 
Vajantri  (XV,   1,  319)  u.  a. 

Manchmal  findet  auch  hier  eine  Mitwirkung  des  Priesters 
statt;  so  wirkt  bei  den  Kumbhars  in  Bijapur  der  Jangam 
mit  und  wünscht,  das  Mädchen  solle  Mutter  von  8  Söhnen 
werden  (XXIII,  251). 

Von  den  Bhois  (Fischern)  in  Ahmadnagar  wird  aller- 
dings berichtet,  dass  es  hier  keine  phal^obhan-Ceremonie  gibt, 
dass  eben  einfach  das  (unterdessen  zu  Hause  behaltene)  ver- 
heirathete  Mädchen  jetzt  zu  ihrem  Manne   darf  (XVII,  156). 

Auch  einige  islamitische  Stämme  üben  die  phalc^obhan- 
Ceremonie,  z.  B.  in  Satara  (XIX,  133). 


^0  Garbhädhäna  von  garbha  =  Embryo:  das  Halten  des  Embryo; 
phalgobhau  von  phala  Frucht  und  gobhana  glückverheissend :  glück- 
verheissende  Fracht;  otibharan  von  oti  Reisgrund  und  bharana  füllend. 
Vgl.  auch  Wilson  p.  167,  415,  487,  383. 


118  Kolller. 

§   21. 

Eine  Ehescheidung  kennt  das  officielle  indische  Recht 
nicht;  der  Ehemann  kann  eine  zweite  Frau  nehmen  und  die 
erste  zurücksetzen^  die  Frau  aber  hat  nur  in  den  seltensten 
Fällen  ein  Recht^  sich  vom  Manne  zu  lösen  ^^). 

Dem  entspricht  im  Allgemeinen  das  Statutarrecht  der 
Kasten;  so  wird  beispielsweise  von  den  Malavars  (Landleuten) 
in  Dharwar  (XXII^  140)  ausdrücklich  gesagt,  dass  sie  keine 
Ehescheidung  haben. 

Einige^  namentlich  niedere  Kasten  gehen  von  der  Norm 
ab^^);  die  Dhors  (Gerber)  und  die  Mochigars  (Schuster)  in 
Dharwar  gestatten  eine  Ehescheidung,  letztere  wegen  Ehe- 
bruchs der  Frau  (XXII,  214,  221);  ebenso  findet  sich  die  Ehe- 
scheidung bei  den  Parits  (Wäschern)  und  den  Gavlis  (Hirten) 
in  Dharwar  (XXII,  189,  179);  bei  den  Handwerkerklassen  der 
Hirekurvinavarus  und  den  niederen  Klassen  der  Chambhars 
ebenda  (XXII,  169,  221);  bei  den  Kabligers,  Kurubars  und 
Raddis  in  Bijapur  (XXIII,  115  [117],  123,  154);  bei  den' 
(niederen)  Uchlias  in  Puna  (XVIII,  1,  473). 

Bei  den  Marvadis  in  Kandesch  kann  die  Frau  mit  Willen 
des  Mannes  geschieden  werden  und  darf  wieder  heirathen 
(XII,  61);  bei  den  (niederen)  Ramoshis  in  Nasik  ist  die  Ehe- 
scheidung leicht  (XVI,  72);  auch  bei  den  Charans  (Sängern) 
in  Katsch  kann  die  Ehescheidung  von  Mann  und  Frau  leicht 
erlangt  werden  (V,  76).  Bei  den  Kurubars  in  Kanara  wird 
die  Ehescheidung  nicht  gerne  gesehen,  sie  findet  meist  nur 
statt,  wenn  die  Frau  mit  einem  Manne  niederer  Klasse  Ehe- 
bruch getrieben  hat  (XV,  1,  300).  Bei  den  Rudbudkis  (Wahr- 
sagern) in  Dharwar  darf  die  Frau,  wenn  sie  mit  ihrem  Lieb- 
haber entlaufen  ist,  zum  Manne  zurückkehren  gegen  Zahlung 


*^)  Zeitschr.  III  S.  383  f.     Dies    bestätigt  auch  Alberuni,   India 
(Uebersetzung  Sachaus)  II  p.  154.    Alberuni  lebte  im  10.  u.  11.  Jahrh. 
'•»öj  Vgl.  auch  Zeitschr.  VIII  ö.  117;  vgl.  auch  VII  S.  230. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  119 

von  5  Rupees;  sie  kann  jedoch  bei  dem  Liebhaber  bleiben^ 
muss  dann  aber  an  den  Priester  10  Rupees  bezahlen,  der  beide 
mit  einem  Zweig  an  der  Zunge  berührt  ^^^)  (XXII ^  201). 
Bei  den  Gollars  in  Kanara  wird  die  Ehebrecherin  geschieden^ 
wenn  der  Mann  sie  nicht  mehr  zu   sich  nehmen  will  (XV^   1, 

298). 

Bei  den  Naikdas  in  Panch  Mahal  kann  die  Fran  die 
Ehe  scheiden  unter  Rückgabe  des  Frauenpreises  (III  ^  225); 
ebenso  bei  den  Bhils  in  Panch  Mahal  (III,  221)  und  in 
Rewa  Kantha  (VI,  31);  Ehescheidung  der  Frau  mit  Ein- 
willigung des  Mannes  ist  gestattet  bei  den  Thakurs  in  Thana 
(XIII,  1,  180). 

Aber  ausnahmsweise  findet  sie  sich  auch  bei  höheren 
Kasten.  Die  Kanvasbrahman  im  Dharwar  kennen  die  Ehe- 
scheidung; ebenso  die  Kaufmannsklasse  der  Telugu  Banjigars 
daselbst  (XXII,  129). 

§  22. 

Die  Scheinehe  kommt  in  den  verschiedensten  Anwen- 
dungen vor.  So  insbesondere  als  Ehe  mit  Thieren  oder 
Pflanzen.  Man  kann  diese  Ehe  nach  einem  häufigen  Fall  dio 
Arka-  oder  Sonnenehe  nennen.  Das  merkwürdige  Institut 
ist  bereits  in  der  Darstellung  der  bengalischen  Rechte  (Zeit- 
schrift IX,  S.  331)  erwähnt  worden. 

Die  Gründe  können  verschieden  sein.  Man  fürchtet,  dass, 
wer  zum  dritten  Mal  verheirathet  war  und  zum  vierten  Mal 
heirathet,  dadurch  ein  Unglück  über  seinen  Ehegatten  bringt; 
darum  verheirathet  er  sich  mit  einer  Pflanze.  So  kommt  es  in 
Puna  vor:  mit  einer  Pflanze  werden  die  verschiedensten 
Heirathsceremonien  vollzogen:  die  Vorhangscene,  die  ümfäd- 
mung,  das  Anzünden  des  hom ,  des  heiligen  Feuers  (XVIII, 
1,  560). 


100^  Wohl  eine  Art  Reinigung. 


120  Köhler. 

Eine  solche  Ehe  lenkt  das  Unglück  ab^  eine  weitere 
Ehe  steht  darum  nicht  mehr  im  Zeichen  des  verfolgenden 
Geistes. 

Bei  den  Ramoshis  in  Puna  heirathet  die  Frau^  die  in  die 
vierte  Ehe  treten  will,  zuerst  einen  Hahn  und  vollzieht  mit 
ihm  die  Eheceremonien  (XVIII,  1,  423). 

Die  Pflanzenehe  findet  sich  auch  bei  den  Komarpaiks  in 
Kanara  (XV,  1,  292) ;  der  Mann  vollzieht  sie  mit  einer  Pflanze, 
die  sofort  abgeschlagen  wird,  das  Weib  mit  einem  Hahn,  den 
man  sofort  tödtet^^^). 

Einen  anderen  Grund  hat  die  Scheinehe  der  Kadva 
Kanbis  in  Baroda.  Hier  besteht  der  S.  91  besprochene 
Rechtssatz,  dass  nur  alle  10 — 12  Jahre  einmal  geheirathet 
werden  darf.  Nur  Wittwenehen  sind  immer  möglich.  Daher 
heirathet  das  Mädchen,  welches  auf  den  betreffenden  Tag  keinen 
Mann  bekommt,  einen  Blumenstrauss;  welkt  derselbe,  so  ist 
sie  Wittwe,  und  der  Ehe  in  irgend  einem  Zeitpunkt  steht  kein 
Hinderniss  im  Wege  (VII,  60,  61). 

Einen  ganz  anderen  Charakter  hat  die  Scheinehe  der- 
jenigen Mädchen,  welche  sich  der  Prostitution  widmen  und 
daher  überhaupt  keine  wirkliche  Ehe  eingehen  wollen ;  sie 
wollen  aber  doch  nicht  unverheirathet  sein,  da  jedes  Mädchen 
regelmässig    bei    Eintritt    der   Pubertät    verehelicht    sein    soll. 

Daher  verheirathen  sie  sich  mit  dem  Gotte,  dem  sie 
sich  widmen,  da  die  Prostituirten  vielfach  Tänzerinnen  sind 
und  einem  Kultus  dienen.  So  die  Murlis  in  Scholapur,  welche 
dem  Gott  Kandhoba  gewidmet  werden :  sie  verheirathen  sich  mit 
dessen  Bild,  indem  Eheceremonien  vorgenommen  werden:  über 
beide  wird  Turmerik  geworfen,  der  Gott  bekommt  Turban 
und  Sash,  das  Mädchen  ein  Halsband;  so  zwischem  dem  1.  und 


^^^)  Alles  dieses  macht  es  begreiflich,  dass  man  bei  einigen 
Stämmen,  so  bei  den  Maravers,  den  Gebrauch  hat,  bei  der  wirklichen 
Ehe  in  Abwesenheit  des  Bräutigams  die  Eheceremonie  mit  einem  ßaum- 
klotz  u.  dgl.  zu  vollziehen.  Shortt,  in  Ethnolog.  Society  of  London, 
N.  S.  VII  p.  191. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  121 

12.  Jahr;  ist  sie  erwachsen^  so  sucht   sie   einen  Liebhaber,  in 
der  Weise,  die  noch  unten  zu  erwähnen  ist  (XX,   190). 

Bei  den  Kalavants  in  Belgaum  verheirathet  sich  in  sol- 
chen Fällen  das  Mädchen  mit  einem  Dolch  (XXI,  160^  161). 

Eine  besonders  häufige  Form  der  Scheinehe  ist  in  diesem 
Fall  die  shes-Ehe^^^),  die  Ehe  des  Mädchens  mit  einem 
Mädchen,  das  als  Mann  verkleidet  wird.  Es  werden  die 
verschiedenen  Heirathsceremonien  ausgeübt:  die  Vorhangscene, 
Handverbindung,  Umwandlung  des  Feuers,  das  saptapadi, 
auch  fehlt  der  Brahmane  nicht,  der  die  mantras  verliest;  und 
wenn  die  Pubertät  kommt,  so  findet,  wie  bei  Verheiratheten 
jene  Reinigungs-  (phal^obhan)  Ceremonie  statt.  So  bei  den 
Kalavants  (Tänzerinnen)  in  Kanara  (XV,  1,  823^  324);  so 
bei  den  Kanad  Kalavants,  den  Saibs,  den  Devlis,  den  Padiars, 
ebenda  (XV,  1,  325,  326,  334,  335);  auch  bei  den  Kala- 
vants in  Belgaum  kommt  diese  shes-Ehe  vor  (XXI, 
160,   161). 

Diese  Scheinehe  der  Tanzmädchen  genügt  vielfach  nicht; 
die  Ehe  soll  noch  dadurch  nachgebildet  werden,  dass  das 
Mädchen  sich,  wenn  es  zur  Reife  gekommen  ist,  einen  beson- 
deren Liebhaber  sucht,  der  ihr  einen  Preis  von  50  — 100 
Rupees  gibt.  Er  lebt  eine  Zeit  lang  mit  ihr  und  steht  auch  in 
Zukunft  zu  ihr  in  einem  näheren  Verhältniss.  So  bei  den  Kasbans 
in  Belgaum  (XXI,  225),  so  bei  den  bereits  erwähnten  Murlis 
in  Scholapur  (XX,  90)  und  bei  den  Patradavarus  in  Dhar- 
war  (XXII,   191). 

Soeben  ist  von  der  Prostitution  der  Tanzmädchen  die 
Rede  gewesen;   davon  ist  noch  weiteres  zu  sagen. 

Gewisse  Klassen  erkennen  die  Prostitution  an,  nanaentlich 
die  Klasse^  aus  welcher  Tänzer  und  Tänzerinnen  hervorgehen. 
Das  Mädchen  hat  in  bestimmtem  Alter  zwischen  Ehe  und 
Prostitution  zu  wählen;  wählt  sie  das  letztere,  so  wird 
es  der  Kastenversammlung  kundgegeben.     So  bei  den  Kolhatis 


102 


)  Ob  Schlang.enehe?  von  gesha,  Schlange? 


122  Kühler. 

in  Satara^  in  Scholapur,  inKandesch^  in  Belgaum  (XIX^ 
119,  XX,  187,  XII,  123,  XXI,  170),  bei  den  Gosavis  in 
Scholapur  (XX,  184),  bei  den  Chalvadis  in  Dharwar  und 
in  Bijapur  (XXII,  18G,  XXIII,  230).  Vgl.  auch  oben  S.  73. 
Die  Ehefrauen  der  Bandis  in  Kanara  verkehren  frei  mit 
Männern,  nur  nicht  mit  denen  einer  unreinen  Klasse;  die 
Mädchen  werden  meist  prostituirt  (XV,  1,  333),  und  bei  den 
Kurubars  in  Kanara  (XV,  1,  300)  leben  die  Mädchen,  die 
nicht  heirathen,  und  die  Ehebrecherinnen  frei  mit  den  Männern 
als  Kattigarus  ^^^).     Vgl.  auch  Baudhayana  II,  2,  4,  3. 

§  23. 
Der  Mord  weiblicher  Kinder  ist  früher  mannigfach 
vorgekommen;  bei  den  Jadeja  Rajputfamilien  in  Kathiawar 
ist  er  geradezu  in  Uebung  gewesen  (VIII,  112);  auch  sonst 
bei  den  Rajputen,  weil  sie  den  Töchtern  eine  reiche  Aus- 
steuer zu  geben  hatten,  ansonst  sie  ledig  blieben  '^^^). 

§  24. 
Wie  nach  gut  brahmanischer  Satzung  findet  die  Namen- 
gebung  des  Kindes,  das  nämakarman  ^^^),  meist  am  zwölften 
Tage  statt,  nachdem  die  elf  oder  zwölf  Tage  der  Unreinheit  und 
des  drohenden  Unglücks,  wo  böse  Geister  lauern,  vorüber  sind. 


'^^^)  Mit  dieser  Rechtssitte  dürfte  ein  Bericht  aus  der  Buddhalegende 
zusammengestellt  werden.  Es  ist  dort  die  Rede  von  einem  Gesetze  der 
Stadt  Vaisali,  dass  ein  körperlich  vollkommenes  Weib  sich  nicht  ver- 
heirathen  durfte,  sondern  sich  der  Prostitution  widmen  musste ;  Rokhill, 
Life  of  the  Buddha  p.  64. 

1"^)  Malcolm  II  p.  208. 

^0*)  Vgl.  gänkhäyana-Grihya-Sütra  I,  24,  6;  I,  25,  8  (am 
10.  Tag);  vgl.  auch  Acvalayana  I,  15,  4  f.;  Paraskara  I,  17.  Ferner 
Zeitschr.IX  S.335;  sie  wird  auch  vonAlberuni,  India  (übersetzt  v.  Sachau 
II  p.  156)  erwähnt.  Die  Periode  der  Unreinheit,  welche  vor  der  Namen- 
gebung  vorübergehen  soll ,  ist  nach  den  offiziellen  Büchern  10  Tage, 
Baudhäyana  I,  5,  11  §  1.  Ueber  dieselbe  wird  im  „Ausland"  näher 
gesprochen  werden. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  123 

So  findet  z.  B.  die  Namengebimg  am  zwölften  Tage 
statt  bei  den  Deshasth-Brahman  in  Kolhapur  (XXIV^  46)^ 
bei  den  Mudliars,  Kunbis,  Kasars^  Salis^  Sonars^  Parits^ 
Ghadsis^  Korchars^,  Bagdis  in  Belgaum  (XXI^  98,  120^  140, 
146,  148,  152,  159,  173,  178);  bei  den  Lingajats,  Sagar 
Gavandis,  Lonaris,  Niralis,  Tambats,  Holars,  Gavlis,  Kalals, 
Kamathis,  Pardeshis,  Mangs,  Dauris,  Kudbuda  Joshis,  Vasu- 
devs  in  Scholapur  (XX,  82,  100,  122,  123,  142,  146,  148, 
157,  160,  162,  173,  182,  189,  191);  bei  den  Bandekar  Vanis, 
Gujarat  Vanis,  Satarkars,  Kunsbgi  Vakkals,  Habbus,  Gong- 
dikars.  Badiges,  Shimpis,  Kallukatigs,  Ambigs,  Konkani 
Madivals,  Telugu  Kelasis,  Korcharus,  Chetris,  Kasais  in  Ka- 
nara  (XV,  1,  182,  189,  241,  243,  248,  255,  262,  268,  275, 
303,  328,  332,  337,  343,  346);  bei  den  Gujarat  Brahmanen, 
den  Gujarat  Jains,  den  Komtis,  Kunam,  Sansari  Jangams, 
Bangars,  Kattais,  Mochis,  Bhois,  Mangs,  Maratha  Gopals, 
Sahadev  Joshis,  Kols  in  Ahmadnagar  (XVII,  56,  66,  71, 
74,  84,  86,  109,  122,  155,  171,  171,  187,  203);  bei  den  Shenvis, 
Tailangs,  Bangars,  Brahma  Kshatris,  Bhadbhunjas,  Buruds, 
Kataris,  Khatris,  Otaris,  Tambats,  Guravs,  Nhavis,  Bhois,  Kols, 
Kamathis,  Thakurs,  Vanjaris,  Mhars,  Chitrakatis,  Jangams, 
Sarvade  Joshis,  Tirmalis,  üchlias,  Vasudevs  in  Puna  (XVIII, 
1,  176,  182,  264,  267,  320,  326,  345,  346,  356,  376,  379, 
381,  388,  393,  396,  426,  429,  442,  449,  454,  461,  463,  471, 
480);  bei  den  Marvar  Vanis,  Tambolis,  Kazars,  Kumbhars, 
Mhars  in  Satara  (XIX,  61,  62,  85,  87,  114);  bei  den  Des- 
hasthbrahmanen,  den  Dasars,  Badiges,  Kammars,  Kumbhars, 
Istaverus  in  Dharwar  (XXII,  75,  133,  146,  152,  154,  169); 
bei  den  Deshasthbrahmanen ,  den  Marathas^  Korvis,  Holias, 
Gavlis,  Salis  in  Bijapur  (XXIII,  85,  126,  204,  215,  242,  279); 
bei  den  Golas,  den  Lingayats,  Gujar  Vanis,  Kamlis,  Kunbis, 
Sorathias,  Sonars,  Bhandaris  in  Thana  (XIII,  1,  109,  110, 
112,  123,  127,  131,  140,  150);  bei  den  Kanojabrahman  in 
Nasik  (XVI,  42). 

Nicht  selten  ist  auch  das  System,  dass  das  Mädchen  am 


124  Kohler. 

12.,  der  Knabe  am  13.  Tag  benannt  wird;  z.  B.  bei  den 
Golak  (brabmanen),  den  Tirgul^  Agarvals,  Komtis,  Haikars, 
Maratbas,  Kumbhars,  Lobars,  PanchaHs  in  Scbolapur  (XX, 
29,  43,  49,  87,  90,  120,  122,  126),  bei  den  Dhriiv  Prabbus, 
Lingayats,  Halvais,  SaUs,  Telis,  Tailang  Nhavis  in  Puiia 
(XVIII,  1,  187,  271,  339,  303,  377,  381),  bei  den  Jain 
Shirapis,  den  Tebs  in  Abmadnagar  (XVII,  100,  141),  bei 
den  Sbimpis  in  Bijapiir  (XXIII,    167). 

Auch  die  Benennung  am  13.  Tage  ist  nicht  selten;  so 
die  Bedars,  Osbtam ,  Yaklars,  Gondhlis,  Chik  Kuruvinavars, 
Hatkars,  Kabbers,  Parits  in  Bijapur  (XXIII^  94,  139,  175, 
193,  261,  269,  273,  276);  so  die  Oswal  Marwars  in  Abmad- 
nagar (XVII,  79),  die  Kirads,  Gavlis,  Rajputs  in  Puna 
(XVIII,  1,  268,  387,  403),  die  Jangams,  Lads,  Kamatis, 
Ilgerus,  Lad  Suryavanshis,  Medars,  Bilejadars,  Salis;,  Ambigs, 
Ksbetridasas,  Moebigars  in  Dbarwar  (XXII,  111,  120,  136^ 
149,  156,  157,  164,  173,  184,  208,  220),  die  Jains,  Guravs, 
Dbaogars  in  Belgaum  (XXI,  102,  107,  153),  die  Banjigs, 
Gaundis,  Buruds,  Hanbars  in  Kanara  (XV,  1,  178,  274,  341, 
239),  die  Berads  in  Scbolapur  (XX,  164).  Manchmal  auch 
schon  am  11.  Tag,  so  bei  den  Arirs,  Jainas,  Padumsalis, 
Chamgars,  Chalvadis  in  Kanara  (XV,  1,  215,  234,  283,  356, 
365),  den  Lakheris  in  Scbolapur  (XX,  121),  den  Koravars 
in  Dbarwar  (XXII,  195). 

Manchmal  auch  schon  am  5.  Tage;  so  bei  den  Dhangars 
(Schäfern):  am  5.  oder  10.  Tag,  den  Kanphates  in  Puna 
(XVIII,  1,  385,  456),  bei  den  Vadars  in  Bijapur  (XXIII,  212), 
bei  den  Sanadi  Koravars  (Musikern)  in  Dbarwar  (XXII,  163), 
bei  den  Konkan  Kumbis  in  Kanara  (XV,  1,  218),  den  Telis, 
Kalkaris,  Mbars  in  Thana  (XlII,  1,  135,  161,  192),  den 
Vaddarcj,  Helavars  (Bettlerklasse)  in  Dbarwar  (XXII, 
198,  206). 

Oder  am  6.  Tag;  so  die  Gudigars,  die  Mbars  in  Kanara 
(XV,  1,  266,379).  So  am  7.  Tag  bei  denKillikiatars,  den  Mangs 
und    den  Gondhalgars    in  Dbarwar    (XXM,   153,  219,  205); 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  125 

den  Kamathis  in  Thana  (XIII,  1,  121),  den  Ghisadis  in 
Scholapiir  (XX,  102).  Am  9.  Tag  bei  den  Telugu  Oshna- 
marus  in  Dharwar  (XXII,  130).  Am  10.  Tag  bei  den  Velalis 
in  Puna  (XVIII,  1;  257),  den  Hirekuvinavarus  in  Dhar- 
war (XXII,  168). 

Gar  am  3.  Tag  bei  den  Pakak  Raddery  in  Dharwar 
(XXII,  143).  Die  Beldars  in  Puna  endlich  benennen  die 
Mädchen  am  9.,  die  Knaben  am   12.  (XVIII,   1,  317). 

Mitunter  wird  die  Namengebung  über  den  13.  Tag 
hinausgeschoben,  aber  selten;  so  bis  zum  14.  Tag  bei  den 
Atti  Vakkals  in  Kanara  (XV,  1,  250);  bis  zum  16.  Tag, 
so  bei  den  Bhatia  in  Scholapur  (XX,  51);  bis  zum  19. 
Tag,  so  bei  den  Berads  in  Belgaum  (12.  oder  19.  Tag) 
XXI,  164;  bis  zum  20.  Tag  bei  den  Lamans  in  Kolhapur 
(XXIV,  108);  bis  zum  21.  Tag  bei  den  Holayas  in  Dhar- 
war (XXII,  216),  bei  den  Dhors  in  Puna  (15.  oder  21.  Tag) 
XVIII,  1,  433,  bei  den  Lohanas  (Kaufleuten)  in  Kanara 
(XV,  1,  188). 

Bei  den  Chambhars  in  Puna  findet  die  Namengebung 
am  11.  oder  12.  oder  42.  Tag  statt  (XVIII,  1,  328),  bei 
den  (niedrigen)  Mhars  in  Scholapur  zwischen  dem  13.  und 
60.  Tage  (XX,  178),  bei  den  Gujarat  Vanis  in  Puna  zwi- 
schen dem  30.  und  35.  Tag  (XVIII,  1,  275);  bei  den 
Shimpis  (Schneidern)  in  Puna  werden  die  Knaben  am  12., 
die  Mädchen  am  40.  Tag  benannt  (XVIII,  1,  368);  bei  den 
Vanjaris  in  Thana  kann  bis  zur  Ehe  zugewartet  werden 
(XIII,  1,  132),  bei  den  Bhils  in  Ahmadnagar  am  12.  Tag 
oder  später  (XVII,  192). 

Wie  man  sieht,  ist  die  Namengebung  am  12.  Tag  durch- 
aus die  Regel,  auch  am  12.  und  13.  Tag  nach  dem  Unter- 
schied von  Knaben  und  Mädchen,  selten  am  13.  Tag,  noch 
seltener  später;  auch  die  Namengebung  am  11.,  10.  oder 
5.  Tag  ist  nicht  häufig:  meistens  finden  sich  die  Ab- 
weichungen bei  niedrigen  Klassen,  welche  weniger  auf  die 
Ceremonie  Werth  legen,  oder  welche,  wie  die  Wanderkasten, 


126  Kollier. 

die   Periode   der  Unreinheit    nach    der  Geburt    möglichst  ver- 
kürzen,  um  im  Leben  nicht  beengt  zu  sein. 

Die  universelle  Art  der  Namengebung  nach  einem  Vor- 
fahren mit  Rücksicht  auf  die  Idee,  dass  die  Seele  eines 
Vorfahren  in  das  Kind  eingegangen  sei,  findet  sich,  aber  nicht 
constant,  ja  nicht  eben  sehr  häufig  ^^^).  Bei  den  Halvakki 
Vakkals  in  Kanara  wird  der  Knabe  nach  einem  verstorbenen 
männlichen,  das  Mädchen  nach  einem  verstorbenen  weiblichen 
Familiengliede  benannt,  und  zwar  so,  dass  man  für  den  ältesten 
Knaben  bei  einem  älteren  Mitglied  anfängt  und  so  abwärts 
steigt  (XV,  1,  208);  ähnlich  die  Jainas  in  Kanara  (XV, 
1,  234).  Die  Deshasthbrahmanen  in  Bijapur  wählen  den 
Namen  des  Grossvaters  oder  eines  sonstigen  Verwandten 
(XXIII,  85);  bei  den  Sarasvatbrahmanen  in  Thana  wird 
der  älteste  Sohn  nach  des  Vaters  Vater,  der  jüngste  nach  der 
Mutter  Vater  benannt  (XIII,  1,  84).  Auch  die  (niedrig  stehen- 
den) Ramoshis  in  Belgaum  wählen  den  Namen  eines  Vor- 
fahren (XXI,  175).     Vgl.  auch  Zeitschr.  IX  S.  335. 

Nicht  selten  ist  die  Befragung  eines  Brahmanen  bei  der 
NamenwahP^^*);  auch  bei  niederen  Klassen,  z.  B.  bei  den 
Mhars  in  Kanara  (XV,  1,  379),  den  Mangs  in  Ahmad- 
nagar  (XVII,  171),  den  Dhangars  in  Puna  (XVIII,  1, 
385),  den  Raikaris  in  Thana  (XIII,  1,  175).  Die  Mhars 
in  Scholapur  befragen  den  Astrologen,  ohne  sich  je- 
doch streng  an  ihn  zu  kehren  (XX,  178);  die  Holayas 
(Lederarbeiter)  in  D  bar  war  befragen  den  Priester  im  Tempel, 
der  auf  angeblich  göttliche  Eingebung  den  Namen  nennt 
(XXII,  216);  die  Ramoshis  in  Belgaum  befragen  den  Jan- 
gam  (Lingayatpriester)  XXI,  175;  die  Kunbis  in  Belgaum 
berathen  den  Astrologen,  welcher  aber  nur  den  ersten  Buch- 
staben sagt,  mit  welchem  der  Name  anfangen  muss  (XXI, 
120);    ein  Theil    der  Kalkaris   und   der  Varlis   in  Thana  be- 


'°^')  Auch  bei  islamitischen  Stämmen,  Herklots  p.  17. 
^o«"»)  Vgl.  auch  gänkhäyana-Grihya-Sütra  T,  24,  6. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  127 

fragen  ein  Medium^  in  das  ein  Geist  eingezogen  ist  (XIII^ 
1,  161,  185)1«^). 

Nach  der  Ehe  bekommt  die  Frau  vielfach  einen  neuen 
Namen;  z.  B.  bei  den  Shenvisbrahmanen  in  Puna  (XVIII^ 
1,  179),  bei  den  Patane  Prabhus  ebenda  (XVIII,  1,  213), 
bei  den  Panchals  in  Scholapur  (XX,  131),  bei  den  Bhois 
in  Ahmadnagar  (XVII,  156),  bei  den  Kalkaris  in  Thana 
(XIII,   1,  161). 

Doch  gibt  es  Ausnahmen,  besonders  unter  den  niederen 
Klassen;  so  wird  bei  den  Namdev  Shimpis  (Schneidern)  in 
Ahmadnagar  die  Braut  nicht  neu  benannt  (XVII,   126). 

§  25. 

Die  Initiationsfeierlichkeit  der  Haarschur  (das  Cüdakar- 
man)  ist  ziemlich  allgemein  vertreten  ^^^);  sie  findet  statt  nicht 
nur  bei  den  höheren  und  mittleren,  sondern  auch  bei  den 
niedrigen  Klassen  mit  einigen  Ausnahmen.  Sie  geschieht  in 
dem  ersten  Lebensjahre,  manchmal  sogar  in  den  ersten 
Monaten. 

Sie  erfolgt  beispielsweise  bei  den  Shetiyars  in  Bijapur 
im  4.,  6.  oder  12.  Monat  (XXIII,  162),  bei  den  Suryavanshi 
Lads  ebenda  im  3.  oder  6.  Monat  (XXIII,  171),  bei  den 
Yaklars  im  7.  Monat  (XXIII,  175),  bei  den  Kirikets  in  den 
3  ersten  Monaten  —  alles  niedrigere  Klassen.  Ebenso  bei  den 
Berads  in  Scholapur  im  6. — 12.  Monat  (XX,  164);  bei  den 
Ghitrakatis  (Bilderzeigern)  in  Puna  im  7.  Monat,  bei  den 
Holars  (Sängern)  ebenda  zwischen  dem  4.  Monat  und  1.  Jahr 


■**')  Vgl.  auch  die  oben  allegirten  Grihya-Sütras.  Benennung 
nach  astrologischen  oder  auspikalischen  Rücksichten  findet  sich  auch  bei 
islamitischen  Stämmen,  Herklots  p.  17  f. 

108)  Zeitsclir.  III  S.  410.  Nach  Cankhäyana-Grihya- Sütra  I,  28 
erfolgt  sie  im  1.  oder  3.  Jahre;  bei  Kshatriyas  im  5.,  bei  Vaicyas  im 
7.  Jahre.  Nach  Acvaläyana  I,  17  im  3.  Jahr  oder  nach  der  Sitte  der 
Familie;  nach  Päraskara  II,  1  f.  vom  1.  bis  zum  3.  Jahr,  nach  Khädira 
II,  3,  16  im  3.  Jahre. 


128  Kohler. 

(XVIII,  1,  44i),  453)  u.  s.  w.  Bei  den  Mudliars  in  Scho- 
lapur  erfolgt  sie  zwischen  1. —  3.  Jahr  (XX,  46),  bei  den 
Ghisadis  und  Kuranjkars  ebenda  im  2. — 3.  Jahr  (XX,  102, 
100),  bei  den  Vanjaris  in  Puna  zwischen  1. — 3.  Jahr,  bei  den 
Dhors  ebenda  zwischen  1.— 5.  Jahr  (XVllI,  1,  429,  433); 
ebenso  bei  den  Kataris  undKhatris  in  Puna  (XVIII,  1,  345,346); 
bei  den  Bhils  in  Panch  Mahal  zwischen  2. — 5.  Jahr  (III,  220). 

In  S  i  n  d  h  geschieht  sie  zwischen  dem  3.  Monat  und 
1.   Jahr  10»). 

Bei  manchen  Stämmen  kann  die  Ceremonie  verschoben 
werden;  so  bei  den  Otaris  in  Puna  bis  zum  12.  Jahr  (XVIII, 
1,  356),  bei  den  Gavlis  in  Scholapur  zwischen  das  8. — 10.  Jahr 
(XX,  148),  bei  den  Bhadbhunjas  in  Puna  zwischen  1. —  7. 
Jahr  (XVIII,   1,  320). 

Bei  manchen  Klassen  findet  die  Haarschurceremonie  für 
Knaben  und  Mädchen  statt;  z.  B.  bei  den  Hatkars  (Webern) 
in  Bijapur  (XXIII,  269),  bei  den  Bhois  (Hirten)  in  Scho- 
lapur (XX,  152);  bei  den  Gavlis  in  Puna  (XVIII,  1,  387). 
Bei  den  Bhavsars  (Färbern)  in  Puna  wird  das  Mädchen  nur 
geschoren,  wenn  es  nicht  3  Jahr  älter  ist,  als  der  jüngste 
Sohn  (XVIII,  1,  323). 

Die  zweite  Inititiationsfeier,  die  Gürtung,  das  upanä- 
yana  (auch  munj)  ist  gleichfalls  bis  in  ziemlich  niedere 
Schichten  der  Bevölkerung  im  Gebrauch,  obgleich  sie  eigent- 
lich nur  ein  Anrecht  der  zweifach  geborenen  ist^^*^).  Sie 
findet  gewöhnlich  unter  Zuziehung  eines  Priesters,  eines  guru 
statt,  oft  mit  grossem  Ceremoniell.  Manchmal  wird  sie,  wie 
noch  unten  zu  erwähnen,  bis  zur  Ehe  verschoben  und  bildet 
dann  einen  Bestandtheil  der  Eheceremoniem). 


109- 


0  Burton,  Sindli  p.  259. 

^^°)  Zeitschr.  III  S.  409.  Sie  findet  sich  bekanntlich  auch  bei  den 
Persern,  bei  den  alten  Persern,  wie  noch  bei  den  Parsen  der  heutigen 
Tage,  wo  der  Gürtel  kosti  heisst,  und  wo  er  jetzt  schon  im  7.  Jahre 
angelegt  wird,  Spiegel,  Avesta  (Leipzig  1852,  1859)  II  S.  XXI  f. 

^^')  lieber  die  offiziellen  Formalitäten   und  Zeiten  vgl.  Vasishtha 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  129 

Die  Gürtung  findet  natürlich  statt  bei  den  Apastamba-, 
Hironya-,  Keshis-Brahmanen  und  anderen  Brahmanenklassen  in 
Thana  (XIII,  1,  74,  75,  78,  81,  82,  84,  86),  bei  den  Des- 
hasth  und  den  Kanoj-Brahmanen  in  Dharwar  (XXTI,  76),  bei 
den  Chitpavan-,  Kanoj-Brahmanen  in  Puna  (XVIII,  1,  120, 168), 
bei  den  Deshasths  in  Bijapur  (XXIII,  85),  bei  den  Kanoj- 
Brahmanen  in  Nasik  (XVI,  42),  den  Marwar-Brahmanen  in 
Ahmadnagar  (XVII,  61);  bei  den  Shenvis  in  Kanara 
(XV,  1,  153).  Aber  auch  bei  den  Kayasth  Prabhus  in  Thana 
(XIII,  1,  89),  bei  den  Kaufmannsklassen  der  Bavkule  Vanis, 
der  Kannad  Vanis,  der  Baudekar  Vanis,  der  Narvekar  Vanis, 
der  Lad  Vanis,  der  Padnekar  Vanis  in  Kanara  (XV,  1,  174, 
181,  182,  184,  185,  186).  Aber  auch  bei  den  Panchalis  (Hand- 
werkern), den  Tambats  (Kupferschmieden)  in  Scholapur 
(XX,  126,  142),  den  Karanjkars  und  Kasars  (Arbeitern)  in 
Satara  (XIX,  85,  85),  den  Sutars  (Zimmerleuten)  ebenda 
(XIX,  96),  bei  den  Sonars  (Groldarbeitern) ,  den  Wäschern  in 
Belgaum  (XXI,  148,  152),  bei  den  Dasarus  (Bettlern  und 
Musikanten)  ebenda  (XXI,  180),  bei  den  Tambats  (Kupfer- 
schmieden) und  den  Khatris  (Webern)  in  Puna  (XVIII,  1, 
376,  346),  den  Guravs  (Musikanten)  ebenda  (XVIII,  1,  379), 
bei  den  Patsalis  (Seidenwebern)  und  den  Shirogars  in  Kanara 
(XV,  1,  276,  227),  bei  den  Sutars  (Zimmerleuten),  Tambats 
(Kupferschmieden)  in  Ahmadnagar  (XVII,  138,  140);  bei 
den  Handwerkerklassen  der  Devangs  (Weber)  und  Istaverus 
in  Bijapur  (XXII,  166,  169),  bei  den  Sonars  (Goldschmieden) 
und  den  Halvais  (Zuckerbäckern)  in  Thana  (XIII,  1,  140, 
152);  bei  den  Lads  Vanjaris  in  Nasik  (XVI,  62). 

Die  Zeit   der    Gürtung   differirt;    meist  im   7.,   8.  bis 


XI,  49  f.,  Cänkhäyana-Grihya-Sütra  II,  1,  ħvaläyana  I,  19, 
Päraskara  II,  2,  Khädira  II,  4.  Ein  Brahmane  soll  hienach  ein- 
geweiht werden  zwischen  dem  8.  u.  16.,  ein  Khatriya  zwischen  dem  11. 
II.  22.,  ein  Vaigya  zwischen  dem  12.  u.  24.  Jahre  von  der  Konzeption  an. 
Vgl.  auch  Weber,  Indische  Studien  X  S.  21,  122.  Nur  ein  so  Geweihter 
darf  oi^fern;  Apastamba  11,  6,  15,  19  und  24. 

Zeitschrift  für  vergleichende  Rechtswissenschaft.    X.  Band.  9 


130  Kohler. 

10.  oder  11.  Jahr;  vgl.  z.  B.  XIII,  1,  74,  78,  81,  82, 
84;  XXI,  148,  XXII,  94,  100,  166;  XXIII,  85;  XX, 
44,  106,  176;  XVIII,  1,  345,  346,  376;  XXI,  102,  140, 
145;  aber  auch  bis  zum  12.  Jahr,  z.  B.  bei  den  Parits  d.  h. 
Wäschern  (XXI,  152),  aber  auch  bei  den  Baudekar  Vanis  in 
Kanara  (XV,  1,  182),  den  Jainas,  ebenda  (XV,  1,  234); 
bis  zum  13.  Jahr  bei  den  Kupferschmieden  (Tambats)  in 
Ahmadnagar  (XVII,  140),  oder  bis  zum  14.  Jahr,  z.  B.  bei 
den  Narvakar  Vanis  in  Kanara  (XV,  1,  184),  oder  bis  zum 
15.  Jahr  bei  den  Goldschnjieden,  Schneidern  und  Zimmerleuteu 
in  Ahmadnagar  (XVII,  136,  101,   138). 

Von  den  Gürtungsceremonien  ist  insbesondere  zu  erwähnen 
die  Vorhangscene,  ähnlich  der  Vorhangscene  bei  der  Ehe: 
der  Vorhang  wird  zwischen  dem  Kind  und  dem  Vater  gehalten ; 
dazu  kommt  die  Reisbeschüttung,  um  die  guten  Geister 
herbeizurufen,  das  Anzünden  des  Altarfeuers  (hom)^^^); 
endlich  die  bei  der  Gürtung  oder  nachher  stattfindende  Scene 
des  samävarttan,  die  Rückkehr:  der  Gegürtete  thut  zunächst 
als  Brahmäcärya^^^),  als  wolle  er  nach  Benares  gehen  und 
sich  aus  der  Welt  zurückziehen,  er  sammelt  Almosen  bei  den 
Umstehenden;  dann  wird  ihm  gesagt,  er  solle  nicht  nach 
Benares  gehen,  er  solle  im  Leben  bleiben,  man  wolle  ihm 
seine  Tochter  zur  Ehe  geben  (namentlich  sagt  dies  der 
Avunculus).  Vgl.  darüber  beispielsweise  XXIV,  46,  49 ;  XX, 
106—109,  128;  XVIII,  1,   120,  168,  187;  XV,  1,  276. 

Manche  Stämme  tragen  zwar  den  Gürtel,  haben  aber 
keine  besondere  Feierlichkeit  bei  der  Anlegung  desselben, 
z.  B.  die  Lohars  (Schmiede)  in  Satara  und  in  Belgaum 
(XIX,  88;  XXI,  142),  die  Komtis  in  Scholapur  (XX,  55); 
oder    sie    verbinden    die    Gürtung    mit    der    Ehe,    z.  B.    die 


^^^)  Dies  ist  auch  offizieller  Ritus;  vgl.  Ä^valayana  I,  21. 

^'^)  Ueber  die  Pflicht  der  Brahmäcärya  vgl.  A^valdyana  II,  1; 
über  das  Almosensammeln,  Päraskara  II,  5.  In  den  obigen  Gewohn- 
heiten wird  die  Lehrzeit  fingirt  und  erfolgt  sofort  das  samiivarttan,  das 
sonst  erst  nach  der  Lehrzeit  stattfindet. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  -       131 

Shetiyars  in  Bijapur  (XXIII,  162):  wenigstens  oft,  die 
Kasars  in  Scholapur  (XX,  118);  die  Patni  Sonis  (Gold- 
schmiede) und  die  Gugar  Lishars  (Schmiede)  in  Katsch  (V, 
71,  12),  die  Kshatris  und  Kayats  in  Kandesch  (XII,  54,  55). 
Bei  den  Kushasthalis  erfolgt  mindestens  das  samävarttan  erst 
am  Tag  der  Ehe  (XV,  1,  170). 

Bei  vielen  der  unteren  Klassen  findet  keine  Gürtung  statt, 
namentlich  nicht  bei  den  ganz  niederstehenden  und  als  unrein 
geltenden ;  so  nicht  bei  den  Vanjaris,  den  Dhors,  den  Halak- 
hors,  den  Chitrakatis,  den  Holars  (XVII,  1,  429,  433,  437,  449, 
453),  welche  aber  sämmtlich  die  Haarschurceremonie  pflegen; 
ferner  haben  die  Ramoshis  in  Belgaum  keine  Puber täts- 
ceremonie  (XXI,  175);  die  Nhavis  (Barbiere),  Dhangars  (Schä- 
fer), Gavlis  (Hirten),  Bhois  (Fischer)  in  Puna  haben  Haarschur, 
aber  keine  Gürtung  (XVIII,  1,  381,  385,  387,  388),  ebenso 
die  Shimpis  (Schneider)  in  Belgaum  und  in  Nasik  (XXI, 
148,  XVI,  51),  ebenso  die  Dhangars,  Gavlis,  Bhois,  Kolis  in 
Scholapur  (XX,  146,  148,  151,  156). 

Aber  auch  die  Gujarat  Vanis  in  Bijapur  haben  keine 
Gürtung  (XXIII,  106). 

Bei  einigen  Stämmen  kommen  andere  Initiationsfeierlich- 
keiten vor;  so  bei  den  Lingayats  die  Anlegung  des  Ling, 
des  Amuletts  ^^^),  oft  in  den  ersten  Tagen  nach  der  Geburt, 
am  1.  Tag  bezw.  am  5.  oder  6.  Tag;  so  bei  den  Jangams 
(Priestern),  den  Gavandis  (Maurern),  Bilejadars  (Webern),  Patta 
Salis  in  Dharwar  (XXII,  111,  147,  164,  174),  bei  den  Nadigs 
in  Bijapur  (XXIII,  256),  bei  den  Lingayats  in  Scholapur 
(XX,  83,  vgl.  143),  in  Belgaum  (XXI,  136,  150);  bei  den 
Lingayat  Vanis  in  Kolaba  mit  7  Jahren  (XI,  49),  bei  den 
Dhangars  in  Belgaum  ausnahmsweise  erst  vor  der  Ehe  (XXI, 
153).  Die  Lingceremonie  findet  bei  Knaben  und  Mädchen  statt, 
da  der  Glaube  der  Lingayats   beide  Geschlechter   gleichstellt. 


^^^)  Eine  Besonderheit  des  Vira-Qaivakultus ;  das  Amulett  hat  die 
Form  des  Phallus. 


132  Kohler. 

Seltenere  Ceremonien  sind:  die  Ohrringanlegung  bei 
den  Tromnilern  (Davris)  in  Belgauna  im  12.  Jahr  (XXI^ 
180);  bei  den  Bharadis  (Tänzern)  in  Ahmadnagar  (XVII; 
190);  bei  der  Bettlerklasse  der  Bharadis  in  Puna  zwischen  dem 
5.  und  8.  Jahr  (XVIII^  1,  447).  Ferner  das  Ohrenschlitzen 
bei  den  Kanphatas  in  Kandesch  im  10.  Jahr  (XII^  124);  das 
Ohrenblasen  und  das  Verse- ins-Ohr-Murmeln  bei  den  Mhars 
in  Scholapur^  Ahmadnagar,  Nasik,  Thana  (XX,  176, 
XVII,  175,  XVI,  66,  XIII,  1,  193). 

Bei  den  Nairs  in  Kanara  erfolgt  die  Verleihung  des 
Grürtelmessers  im  16.  Jahr  (XV,   1,   196). 

Die  Islamiten  ^^^)  vollziehen,  wenn  sie  nicht  gar  zu 
laxe  sind,  im  4.  Monat  nach  der  Geburt  das  Akikaopfer  ^^^),  und 
mit  4  Jahren,  4  Monaten,  4  Tagen  die  Initiationsfeier  des  bis- 
milla^^^);  die  Beschneidung  erfolgt  im  7.  Jahr^^^):  so  in 
Puna  (XVIII,  1,  488,  489),  Satara  (XIX,  136,  137),  Bel- 
gaum  (XXI,  200,  201),  Ahmadnagar  (XVII,  223),  Bijapur 
(XXIII,  285). 

Auch  die  Haarschurceremonie  findet  sich  bei  ihnen,  z.  B. 
in  Belgaum  am  40.  Tag,  oder  im  1.  oder  2.  Jahr  (XXI, 
200,  201)^19). 

§  26. 

Dass  die  Adoption  auch  in  diesen  Theilen  Indiens  vor- 
kommt, ist  sicher,  obgleich  wir  aus  unseren  Berichten  ziem- 
lich wenig  darüber  erfahren  ^^^). 

Ist    bei   den  Ambigs  (Fischern)  in  Kanara  das  Kind  an 


1^^)  Ausführliches  darüber  bei  Herklots  p.  23  f.,  33  f. 

^^')  Vgl.  auch  Herklots  p.  30. 

^^M  Vgl.  Herklots  p.  39;  man  lehrt  das  Kind  den  Namen  Gottes 
sprechen. 

^'^)  Herklots  p.  43:  zwischen  7  u.  14  Jahren. 

•19)  Vgl.  Herklots  p.  31. 

^20)  Ueber  die  Adoption  im  Dekkan,  Zeitschr.  VIII  S.  109  t\:  im 
Pendschab  VII  S.  218;  in  Bengalen  IX  S.  336. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  133 

einem  ünglückstag  geboren,  so  wird  es  in  Adoption  gegeben,  da 
das  Unglück  in  die  Adoptivfamilie  nicht  mit  übergeht  (XV,  1, 303). 

Eine  besondere  Art  mehr  spiritueller  Adoption  ist  die 
Schüleradoption  der  Priester  oder  Bettelmönche,  wie  der  Gosa- 
vis  in  Kanara  (XV,  1,  351)  ^2^)  und  der  Banjigs  ebenda 
(XV,  1,  177). 

Auch  von  Frauenadoption  erfahren  wir;  die  Tänzerinnen 
der  Kasbans  in  Belgaum  adoptiren  sich  gefallene  Mädchen, 
welche  die  Prostitution  fortsetzen;  die  Adoptivmutter  heisst 
baii22)  (^XXI,  225). 

§  27. 

Das  Todtenopfer  ^^^)  ist  hier  insoweit  zu  besprechen, 
als  es  mit  juristischen  Ideen  verknüpft  ist.  Dies  ist  einmal  in 
der  Art  der  Fall,  dass  der  Ahnenkult  bei  den  Hindus,  wie  bei 
anderen  Völkern,  der  Angelpunkt  der  patriarchalisch  agnatischen 
Familie  gewesen  ist.  Daher  hat  die  Jahresfeier  zum  Gedächt- 
niss  der  männlichen  Ahnen  ihre  ganz  besondere  Bedeutung. 
Sie  ist  ausnehmend  verbreitet,  auch  bei  niederen  Klassen;  so 
bei  den  Pahadis  (Landleuten)  in  Puna  (XVIII,   1,  313)  u.  a. 

Besonders  aber  ist  diejenige  Todtenfeier  bezeichnend,  die 
darin  besteht,  dass  das  verstorbene  Familienhaupt  unter  die 
Sapindaahnen  aufgenommen  wird.  Bekanntlich  besteht  die 
Sapindaverwandtschaft  ^^*)  aus  drei  Parentelen  auf-  und  drei 
Parentelen  abwärts  ;  von  den  Ahnen  kommen  also  in  Betracht 
Vater,  Grossvater  und  Urgrossvater:  stirbt  nun  das  Familien- 
haupt, so  tritt  dieses  als  Vater  ein,  der  bisherige  Vater  wird 
Grossvater,  der  bisherige  Grossvater  Urgrossvater,  der  bisherige 
Urgrossvater  fällt  weg.    Die  Ceremonie,   worin  diese  Umwand- 


^21)  Ueber  dieselbe  auch  Zeitschrift  VIII  S.  112. 

^^^)  Bai  (mahrattisch)  =  Herrin  (Wilson  p.  46). 

^^0  Vgl.  auch  Colebrooke,  Essays  p.  101  f.  Vgl.  auch  meinen 
Aufsatz  über  den  Animismus  bei  Hindustämmen  im  „Ausland"  1891. 

124^  Vgl.  auch  Baudhäj^ana  I,  5,  11  §  9.  Auch  Krit.  Vierteljahrs- 
schrift.   N.  F.  IV  S.  12;  Zeitschr.  VIII  S.  93. 


134  Kohler. 

lang  vollzogen  wird^  besteht  darin^  dass  der  Verstorbene  und  die 
Ahnen  durch  Reisklöse  repräsentirt  werden:  der  Reisklos  des 
Verstorbenen  wird  in  drei  Theile  getheilt  und  diese  Theile  mit 
den  Reisklösen  der  bisherigen  Sapindaahnen  verbunden  :  dadurch 
wird  das  Familienhaupt  in  die  Ahnengruppe  aufgenommen  ^'^^). 
So  bei  den  Deshasth-  und  Kanoj-Brahmanen  in  Dharwar 
(XXII,  86,  95),  bei  den  Chitpavans  in  Puna  (XVIII,  1,  154). 
Dies  ist  ja  bereits  die  Vorschrift  von  Vishnu  XXI,  17  (Ueber- 
setzung  Jollys  in  den  Sacred  Books  of  the  East  VII  p.  86): 
let  him  knead  together  the  ball  of  the  deceased  person  with 
the  three  balls  .  .  .  Auch  ist  es  ein  altindischer  Satz,  dass  drei 
Ahnen:  Vater,  Grossvater,  Urgrossvater  angerufen  werden 
(Weber,  Indische  Studien  X  S.  82);  womit  auch  der  Gebrauch 
verglichen  werden  kann,  dass  bei  gewissen  Stämmen  der  älteste 
Sohn  nach  dem  Grossvater,  der  zweite  nach  dem  Urgrossvater, 
die  übrigen  nach  Seitenverwandten  benannt  werden  (Zeit- 
schrift IX  S.  335). 

Dass  das  System  der  Korwars^^^),  der  Ahnenbilder,  bei 
verschiedenen  Stämmen  gilt,  darüber  verweise  ich  auf  meine 
citirte  Ausführung  über  den  Animismus    im   ^^Ausland^^   1891. 

Bei  manchen  Stämmen  wird  eine  Art  bürgerlichen 
Todes  über  denjenigen  verhängt,  der  andern  Glaubens  wird, 
oder  über  ein  Weib,  das  vom  schlechten  Lebenswandel  nicht 
lassen  will:  der  Betreffende  wird  in  effigie  verbrannt,  ein 
Klumpen  an  dessen  Stelle;  so  in  Puna  (XVIII,  1,  564). 


^^''')  Es  ist  das  Sapindikarana ;  vgl.  darüber  Qänkhäyana- 
Grihya-Sütra  IV,  3;  V,  9;  Päraskara  III,  10,  50  und  51.  Hier  heisst 
es  (Uebersetzung  Oldenberg,  Sacred  Books  XXIX  p.  359):  When  the 
pindas  are  prepared,  the  deceased  person,  if  he  has  sons,  shall  be  con- 
sidered  as  the  first  of  the  fathers.  The  fourth  one  should  be  left  out. 
Aber  es  findet  sich  auch  der  Gebrauch,  dass  dem  Verstorbenen  ein  Jahr 
lang  neben  den  drei  früheren  Ahnen  geopfert  und  er  erst  dann  als  erster 
Ahne  in  die  Ahnenschaft  aufgenommen  wird. 

^^^)  Der  Name  ist  von  den  Papua  entlehnt,  kann  aber  wie  beispiels- 
weise der  Name  Totem,  zur  allgemeinen  ethnographisch-juristischen  Be- 
zeichnung gebraucht  werden. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  135 

IL    Sachenreclit. 

§  28. 

Die  in  Bengalen  noch  ziemlich  vertretene  Jumkultur 
d.  h.  Hauberg-  oder  Feldgraswirthschaft  ^^^)^  wo  Wald  und 
Busch  gerodet^  verbrannt,  und  wo  dann  in  die  Asche  hinein 
gesät  wird^  findet  sich  noch  in  Kanara^  aber  jetzt  sehr  selten 

(XV,  2,  188). 

§  29. 

Die  Dorfgemeinschaft  in  der  Art  des  Pattidarisy- 
stems^^^),  wornach  zwar  der  Boden  an  die  Familien  vertheilt 
wird,  aber  so,  dass  die  einzelnen  Theilgenossen  immer  noch 
eine  Gemeinschaft  bilden  und  für  die  Steuern  zusammen 
haften,  und  dass,  wer  seinen  Steuerantheil  nicht  zahlt,  seinen 
Antheil  an  die  übrigen  verliert,  ist  noch  nicht  völlig  ver- 
schwunden. Es  findet  sich  in  Kaira:  der  Antheil  heisst 
bhag^^^),  der  Inhaber  desselben  bhagdar  (III,  88,  89). 
Die  Antheile  der  bhagdars  sind  veräusserlich ;  dies  wird  aus- 
drücklich vermerkt  für  Ahmadabad,  wo  dieses  System  gleich- 
falls noch  vertreten  ist  (IV,  156).  In  Bharotsch  war  diese 
Art  von  Dorfgemeinschaft  früher  überwiegend  (II,  482,  483); 
die  Stürme  der  Mahrattenzeit  haben  aber  die  ehemaligen  Eigen- 
thumsverhältnisse  vielfach  gebrochen. 

§  30. 

Das  Obereigenthumssystem  mit  seiner  hierarchischen 
Unterordnung,  das  in  Bengalen  die  Grundeigenthumsverhält- 
nisse    so    verwickelt    hat^^*^),    ist    in   unserem    Theile  Indiens 


^2^)  Zeitschr.  IX  S.  336  f.,  VIII  S.  264. 

^28)  Zeitschr.  VII  S.  166  f.,  IX  S.  337.    Patti  ist  Theil,  pattidär 
ist  der  Inhaber  eines  Theiles. 

^29)  Bhäg,  bhäga  =  Theil  (Wilson  p.  74). 

^•^<^)  Zeitschr.  IX  S.  338  f.;  auch  VIII  S.  120,  268  f. 


130  Kühler. 

durchaus  nicht  in  gleichem  Masse  herausgestaltet  worden. 
Allerdings  fehlt  es  auch  hier  nicht  an  Beispielen. 

In  Ratnagiri  und  in  Kolaba  ist  sehr  häufig  der  über 
der  Gemeinde  stehende  Rentbeamte,  khot^^^),  zum  Obereigner 
geworden,  indem  er  von  sich  aus  die  Gemeindesteuern  ent- 
richtete und  sich  derenthalben  an  die  Bauern  kehrte;  er  bekam 
das  Recht,  Rodland  und  solches  Land,  welches  von  den  Kul- 
tivatoren verlassen  war,  zu  verpachten,  was  zur  neuen  Quelle 
seines  Einkommens  wurde ;  zugleich  erwarb  er  sich  als  Guts- 
herr publizistische  Befugnisse  und  verdrängte  meist  den  patil, 
den  Bürgermeister,  oder  nahm  ihm  die  Selbstständigkeit. 
Früher  konnte  er  auch  Frohnden  verlangen. 

Nicht  selten  sind  die  Khot-Berechtigungen  im  Mitbesitz 
mehrerer,  welche  die  Herrschaft  im  Turnus  führen. 

Auch  in  Savantvadi  finden  sich  Khots,  aber  weniger 
häufig. 

Die  englische  Regierung  hat  durch  Akte  von  1880  die 
Rechte  der  Khotinhaber  geregelt.  Vgl.  über  das  Gesagte  X^ 
137,  139,  204,  206,  450,  XI,  87,  164,  166. 

In  Kolhapur  gilt  das  ganze  Land  als  ursprüngliches 
Fürstenland,  welches  aber  theilweise  durch  sanad  zinslos  ver- 
liehen worden  ist,  insbesondere  an  Stiftungen:  devasthan  ^^^). 

Auch  in  Kathiawar  sind  die  Dörfer  vielfach  im  Eigen- 
thum  eines  oder  mehrerer  Grundherren,  mit  Veräusserungsrecht 
und  mit  publicistischen  Gerechtsamen ;  letztere  sind  allerdings 
in  der  britischen  Zeit  weggefallen  (VIII,  171,  319).  Aehnlich 
in  Baroda:  hier  heissen  die  Dorfeigenthümer  narvadars  oder 
(sofern  sie  Theilgenossen  sind:  bhag=Theil)  bhagdars  (VII, 
357,  359);    ähnlich  die  inamdars  in  Thana  (XIII,  1,  535). 

In  manchen  Gebieten  gilt  das  aus  dem  Bengalrecht  bekannte 
System    der    Talukdare   oder    Zamindare^^^),     welche    als 


131)  Khota  (mahrattisch).     Vgl.  Wilson  p.  286. 

13^)  Record  of  Kolhapur  p.  64. 

133)  Zeitschr.  IX  S.  338  i\\  vgl.  auch  VIII  S.  270  f. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  137 

Dorfeigenthümer  und  Grundherren  die  Dorfregierung  unter 
sich  hatten  und  insbesondere  die  Dorfbeamten  ernannten;  so 
in  Ahmadabad  (IV,  179,  184),  in  Mahi  Kantha  (V,  386), 
in  Rewa  Kantha  ^^*). 

Vielfach  sind  Dörfer  in  Lehen  gegeben  worden ;  viel- 
fach sitzen  auch  die  Bauern  auf  dem  Fiskallande  (9eri)  und 
auf  dem  Gotteslande,  dem  Lande,  welches  als  inam^^^)  den 
Tempeln  zugestiftet  worden  ist,  so  in  Kolhapur  (XXIV,  256). 

Doch  vielfach  hat  sich  auch  der  Bauernstand  im  Grund- 
besitz erhalten,  auch  wo  die  Dorfgemeinschaft  sich  gesprengt 
und  das  Familieneigenthum  ^^^)  sich  entwickelt  hat.  Sol- 
ches Eigenthumsland  heisst  in  Ratnagiri  und  Kolaba  das 
Dharekariland  (X,  206,  209,  XI,  164,  166);  in  Savant- 
vadi:  Khatelisland  (X  450)^^^);  in  anderen  Gegenden  wird 
das  gegen  die  regelmässige  Steuer  zu  ständigem  Eigenthum 
zugehörige  Land  als  Mirasland  bezeichnet;  so  in  Satara 
(XIX,  323  f.),  in  Kolhapur  (XXIV,  250),  in  Ahmadnagar 
(XVII,  437).  In  Kanara  heisst  das  Eigenthümerland  das 
Muliland;  muli  ist  der  Eigenthümer  (XV,  2,  186). 

§  31. 

Das  Land  der  Grossgrundbesitzer  wurde  vielfach  in  Em- 
phyteuse  vergeben  ^^^),  insbesondere  so,  dass  die  ehemaligen 
Eigenthümer  nach  Entwickelung  des  Grossgrundrechts  zu  Em- 
phyteuten  wurden ;  vielfach  ist  auch  die  Jahrespacht  usuell  zur 
ewigen  Pacht  geworden,  indem  der  Pächter  nicht  verdrängt 
wurde  und  eine,  Jahre  lang  im  Genuss  erhaltene,  Familie  als 


13  4)  Record  of  Rewa  Kanta  p.  804  f. 

13^3  Qeri  Staatsland  ist  mahrattisch;  inäam  ■=  Gabe,  rentfrei  ge- 
schenktes Land  (Wilson  p.  217). 

136)  Zeitschr.  VIII  S.  121,  VII  S.  168. 

137)  Dhärekari  (mahrattisch)  ist  der  Bauer,  welcher  die  gebräuch- 
liche Grundsteuer  zahlt  (dharä  =  Gebrauch);  khatelis  kommt  von  khätä, 
dem  Grundsteuerbuch  (Wilson  p.  136,  283). 

138)  Zeitschr.  IX  S.  340,  VII  S.  187  f. 


138  Kohler. 

imverdrängbiir  erschien.  So  das  unter  der  Herrschaft  der 
Khot- Inhaber  stehende  Pächterland:  khotisbat  in  Ko- 
laba  (XI^  87);  so  in  Kanara  die  Emphyteuse  der  mulgeni- 
darsi39)  (XV,  2,  31,  182,  185,  18G),  so  in  Ratnagiri  die 
Emphyteuse  der  vatandar  kartas  (X,  20G,  209).  Die 
Emphyteuse  ist  vererblich,  aber  nur  mit  Willen  des  khot 
übertragbar  (X,  206,  209);  in  Kanara  kann  sie  nicht  ver- 
äussert, aber  verpfändet  werden  (XV,  2,   186). 

Vielfach  ist  das  Emphyteuseland  auch  aus  Neubruch 
hervorgegangen,  indem  man  das  Rodland  einem  Erbpächter 
zur  Kultur  überliess ;  oft  so,  dass  der  Zins  im  Anfang  geringer 
war  und  sich  dann  steigerte ;  oft  so,  dass  man  ihm  das  Land 
zunächst  nur  für  mehrere  Jahre  gab  und  es  ihm  dann  in 
ewigem  Zins  beliess.  Solche  Rodungsemphyteusen  mit  gleich- 
bleibendem oder  wachsendem  Kanon  finden  sich  in  Kolhapur 
(XXIV,  250),  in  Kolaba:  Shilotriland  (XI,  166),  in 
Satara:  Istawaland  i-^o)  (XIX,  323  —  325).  So  auch  das  Mul- 
geniland  in  Kanara,  wovon  soeben  die  Rede  war. 

§  32. 

Auch  die  Zeitpacht  spielt  eine  grosse  Rolle  ^*^).  Die 
Zeitpacht  heisst  in  Kanara:  chalgeni  (XV,  2,  32);  in  Kaira 
heisst  sie  asami  (III,  88);  in  Ratnagiri:  bhadekari 
(X,  206,  209,  211);  in  Savantvadi:  kewikul  (X,  450); 
in  Ahmadnagar,  Satara  und  Kolhapur:  upri  (XVII, 
437,  XIX,  323  f.,  XXIV,  250)  i*^)  Ferner  findet  sich  die 
Zeitpacht  in  Pal  an  pur  (V,  304). 


^^^)  Mulgaini  (kanaresisch)  —  Neubruchsland  (Wilson  p.  353). 

^^^)  Istäwä  (mahrattisch)  -—  eine  Taxe,  die  allmählich  anwachsend 
der  Normtaxe  zustrebt  (Wilson  p.  220). 

'''')  Vgl.  auch  Zeitschr.  IX  S.  342,  VII  S.  188. 

^■•2)  Chäli  gaini  =  Zeitpächter  (kanaresisch),  bhadekari  von 
bhäde  Rente  (mahrattisch),  kewikul  von  kewi  Ausmärker  und  kul 
Familie,  upri  oder  upari  Fremder,  Ausmärker  (Wilson  p.  99,  74,  273, 
300,  534). 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  139 

Namentlich  die  Zeitpacht  an  Ausmärker  ist  eine  häufige 
Erscheinung,  so  in  Ratnagiri,  in  Satara  (1.  1.  c.  c.),  in 
Rewa  Kantha^*^).     Daher  kewikul^  upri  (Note  142). 

Besonders  verbreitet  ist  die  Theilpacht  ^*^);  so  in 
Ahmadabad  in  verschiedenen  Verhältnissen,  z.  B.  Feld- 
land zu  ^2  und  ^/2,  Gartenland  zu  ^/4  oder  ^s  (Pächter)  und 
^/4  bezw.  ^/s  (IV,  185).  Aehnlich  in  Ratnagiri:  der  Domi- 
nus bekommt  ^/2,  ^s  oder  V*  (ardheli,  thirdeli,  chandeli) 
(X,  211);  ähnlich  in  Savantvadi  (X,  450).  In  Kanara 
bekommt  bei  der  Pacht  von  Gartenland  (nakdi)  ^^^)  der 
Pächter  ^/2,  wenn  er  Bäume  neu  pflanzt;  ist  der  Garten  schon 
mit  Bäumen  bepflanzt,  so  heisst  die  Theilpacht  sulgi  und 
der  Pächter  bekommt  nur  ^/s  (XV,  2,  186).  In  Palanpur 
bekommt  der  Eigenthümer   ^/e   bis   ^/2   (V,   305). 

Dabei  finden  sich  mehrfach  Variationen.  Auf  der  einen 
oder  anderen  Seite  wird  ein  Vortheil  gestattet,  z.  B.  dass  der 
Pächter  Stroh  und  Gras  am  Grasrain  für  sich  hat,  so  in 
Ahmadabad  (IV,  185).  In  Thana  stellt  der  Eigenthümer 
die  Hälfte  des  Saatkornes  und  der  Zugthiere,  dann  erhält  er 
die  Hälfte  der  Früchte,  sonst  weniger  (XIII,  1,  530).  Auch 
der  in  Bengalen  so  viel  vorkommende  Unterschied  ^^^),  dass 
die  Frucht  entweder  auf  dem  Feld  oder  erst  in  der  Tenne 
geschätzt  und  zugetheilt  wird,  ist  vertreten  in  Kathiawar; 
hier  heisst  die  Theilpacht  bhagvatai  (VIII,  320).  Endlich 
findet  sich  die  Theilpacht  auch  in  Kolhapur  ^^'^). 


^"^O  Record  of  Rewa  Kanta  p.  805. 
1*^)  Vgl.  Zeitschr.  IX  S.  344,  VII  S.  189. 

^'*^)  Nakdi   ist   eigentlich   Geldpacht,   von  nakd  =  Geld  (Wilson 
p.  363).     Vgl.  auch  Zeitschr.  IX  S.  343. 
1*6)  Zeitschr.  VIII  S.  95. 
1*')  Record  of  Kolhapur  p.  65. 


140  Kühler. 

§  33. 

Die  Dienstallmende,  das  Chakaranland^  ist  tief  im 
indischen  Dorfwesen  begründet  ^'^);  der  Bürgermeister,  der 
Rathschreiber,  der  Dorfbote,  die  verschiedenen  Dorfhandwerker 
hatten  für  ihre  Dienstleistungen  häufig  solches  Chakaran- 
land,  und  zwar  ganz  oder  theilweise  steuerfrei.  Von  der  eng- 
lischen Regierung  sind  sie  vielfach  gegen  eine  geringe  Steuer 
auf  ihrem  Gute  belassen  worden ,  auch  als  sie  bei  der  Neu- 
regulirung  der  Verwaltung  ihres  Dienstes  enthoben  wurden. 

Die  Diestallmende  war  in  thesi  persönlich,  ein  Annex 
des  Amtes,  ist  aber  vielfach  mit  dem  Amt  erblich  geworden. 
So  in  Baroda  (VII,  76,  349),  in  Bharotsch  (II,  383),  in 
Ahmadabad  (IV,  46,  155),  in  Kathiawar  (VIII,  172), 
Kandesch  (XII,  275),  in  Rewa  Kantha  als  Pasaita-,  auch 
Karammilandi^^)  (VI,  36,  49);  in  Bijapur  (XXIII,  75), 
in  Puna  (XVIII,  1,  96);  so  das  Dienstland,  izafat^^^)  in 
Thana,  das  grösstentheils  während  der  Mahrattenherrschaft 
entzogen  worden  ist  (XIII,  1,  276,  540);  das  Balutedarland 
in  Kolhapur^^^)  und  sonst. 

Das  Dienstland  ist  unveräusserlich,  so  in  Kolhapur  ^^^); 
doch  hat  man  eine  Verpfändung  zugelassen,  z.  B.  in  Rewa 
Kantha  (VI,  69). 

§  34. 

Die  Lehen^^^)  sind  als  Lehen  gegen  Kriegsdienste  oder 

Ehrendienste  creirt  worden;    so   die  jagirs  in  Satara  (XIX, 

326),    die   patavats    in  Rewa  Kantha:    letztere   aber  auch 

als    dienstlose   Lehen ,    nur   dass    das  Gut    sich    in  Lehenfolge 


'*^^  Zeitschr.  IX  S.  345.     Chäkarän  =  Dienstland. 
^'*^)  Pasaita    oder    pasäitun  =  rentfreies    Dienstland    (Wilson 
p.  405). 

^^^)  Izäfat  eigentlich  Vermehrung,  also  Zulage  (Wilson  p.  222). 
^^0  Record  of  Kolhapur  p.  65,  66.    Balutil  ~  Dorfbediensteter. 
^^^)  Record  of  Kolhapur  p.  66. 
^5^)  Vgl.  auch  Zeitschr.  IX  S.  348. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  141 

vererbt.  Im  Fall  der  Erblosigkeit  kann  ein  Nachfolger  adoptirt 
werden;  es  ist  aber  in  sochem  Fall  eine  Lehengabe,  ein  nazrana 
zu  entrichten  (VI,  67,  68)^^^).  Ebenso  sind  die  Lehen  in 
Mahi  Kantha^'^^)  vertreten  und  in  Kathiawar  (VIII,  319,) 
in  Satara  (XIX,  326),  in  Kolhapur  i^«). 

§  35. 

Auch  im  Bombay  lande  gibt  es  Stiftungen,  v^rie  in  ganz 
Indien,  namentlich  solche  religiösen  Charakters.  Solches  Stif- 
tungsland ist  das  Inamland  in  Satara  (XIX,  326,  327);  das 
devasthan  (für  indischen  Kult),  das  pirasthan  (islamitisch)^^'') 
in  Baroda  (VII,  350);  das  devasthan  in  Kolhapur  ^^^). 
Auch  Stiftungen  für  Wasserreichung  an  Wanderer,  für  Unter- 
haltshäuser an  den  Landstrassen  finden  sich;  so  in  Ahmada- 
bad (IV,  112). 

Vielfach  sind  die  Stiftungen  fiduciarischer  Na- 
tur^^^),  indem  eine  Innung  Geld  bei  Seite  legt,  welches 
künftig  unabänderlich  diesem  Zwecke  dienen  soll,  und  dieses 
Zweckvermögen  durch  zeitweise  Zuschüsse  vermehrt.  So  in 
Ahmadabad  (IV,   112,  114  f.),  in  Katsch  (V,   122). 

Auch  religiöse  Stiftungen  sind  vielfach  fiduciarisch: 
sie  sind  vielfach  Familienland,  das  in  der  Familie  sich  ver- 
erbt, aber  in  Unterordnung  unter  den  bestimmten  Zweck,  z.  B. 
in  Kolhapur  i^^). 

Für  uns  Occidentalen  besonders  eigenthümlich  sind  die 
Thierstiftungen ,     die     gestifteten     Thierpfründenhäuser,     die 


^^'*)  Vgl.  Zeitschr.  IX  S.  348;  nazr  oder  nazrana,  hindostanisches 
Wort  (Wilson). 

^'^)  Record  of  Mahee  Kanta  p.  35. 

'''^)  Record  of  Kolhapur  p.  67,  204. 

^•^0  Zeitschr.  IX  S.  349,  hier  auch  über  pir. 

1^^)  Record  of  Kolhapur  p.  64. 

'•^^)  Ueber  den  von  mir  klargelegten  Begriff  der  fiduciarischen 
Stiftung  vgl.  Arch.  f.  bürgerl.  Recht  III  S.  268  f. 

"°)  Record  of  Kolhapur  p.  203. 


142         Kohler.     Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay. 

panchrapols,  die  sich  beispielsweise  in  Ahmadabad,  in 
Ivatsch,  in  Sürat^^^)  finden,  vielfach  als  fiduciarische  Stif- 
tungen (1.  1.  c.  c).  Es  sind  Stiftungen  für  herrenlose,  oder 
kranke  oder  vom  Tode  erkaufte  Thiere;  sie  haben  einen 
besonderen  Insektenraum:  jivat  khana. 

Die  Stiftungen  haben  Vorsteher  und  Kassenführer  (Ahma- 
dabad  IV,  114  f.) 


'^')  Howe  p.  175  f. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Literarische  Anzeigen. 


Seefeld^  Carl.     Die  Verbreitung  der  Rechtskenntniss.     Ham- 
burg 1890.     (Deutsche  Zeit-  und  Streitfragen,  Heft  11.) 

Zur  Bekämpfung  der  leider  herrschenden  Rechtsunkenntniss 
empfiehlt  Verfasser  zunächst  kostenfreie  Zustellung  aller  neuen  Ge- 
setze wenigstens  an  die  Wahlberechtigten,  sodann  häufigeren  Be- 
such der  Gerichtsverhandlungen  seitens  derjenigen  Personen,  die 
bereits  einige  Rechtskenntnisse  besitzen,  ferner  vor-  und  umsichtige 
Gründung  von  Vereinen  zur  Verbreitung  der  Rechtskenntniss  und 
endlich  schriftliche  und  mündliche  orientirende  Belehrung,  die  letzten 
selbst  in  Schulen  erster  und  zweiter  Ordnung.  Die  Heranziehung 
des  Laienelements  zur  Rechtsprechung  sei  mehr  ein  Grund,  als  ein 
allgemeines  Mittel  zur  Verbreitung  der  Rechtskenntniss.  Die  wohl- 
meinende kleine  Schrift  ist  klar  abgefasst.  Auffallend  ist  die  irrige 
Behauptung  (S.  7),  dass  Sachsen-  und  Schwabenspiegel  viele  Ele- 
mente des  römischen  Rechts  enthalten ;  das  trifft  für  den  Sachsen- 
spiegel bekanntlich  nicht  zu.  G.  C. 

Civilistische  und  civilprocessualische  Literatur. 

Auf  den  Entwurf  eines  bürgerlichen  Gesetzbuches  bezieht  sich : 
Schröder.      Das    Familiengüterrecht    in    dem    Entwürfe  eines 
bürgerlichen  Gesetzbuches.    Berlin  1889. 

Der  Verfasser  tritt  der  Kommission  darin  bei,  dass  sie  die  sog. 
Verwaltungsgemeinschaft  zum  gesetzlichen  System  erhoben  hat.  Ich 
kann  dem  nicht  zustimmen;  ich  halte  das  System  der  Gütergemein- 
schaft, sei  es  der  allgemeinen,  sei  es  auch  nur  der  Errungenschafts- 


X44  Literarische  Anzeigen. 

gemeinschaft  für  das  der  modernen  Elieauffassung  entsprechendste. 
Will  man  aber  die  sog.  Verwaltungsgemeinschaft,  so  soll  man  sie 
nicht  nach  der  Art  des  Entwurfs  als  ususfructus  maritalis  ge- 
stalten. Das  Recht  des  Ehemannes  muss  ein  mit  der  eheherrlichen 
Gewalt  verbundener  Dispositionsniessbrauch  sein.  Ueber  diese  und 
andere  Punkte  gibt  der  Verfasser  sehr  schätzenswerthe  Ausführungen. 
Wir  verweisen  insbesondere  auch  auf  seine  Erörterungen  über  die 
Gütergemeinschaft.  Kohler. 

Gutachten  aus  dem  Anwaltstande  über  die  erste  Lesung  des 
Entwurfs  eines  bürgerlichen  Gesetzbuches.  Berlin  1888 
bis  1890. 

Sie  enthalten  eine  Reihe  schätzenswerther  Abhandlungen;  dar- 
unter beispielsweise  die  vorzügliche  Arbeit  von  Löwen feld  über 
Dienst-,  Werk-  und  Auftragsvertrag  (S.  858  f.),  die  kenntniss- 
reiche Arbeit  von  Hachenburg  über  Schuld  Verhältnisse  aus  Rechts- 
geschäften unter  Lebenden  (S.  110  f.),  die  anregende  Arbeit  von  Staub 
über  die  Eigenthümerhypothek  (S.  407  f.)  u.  a.  Kohler. 

Alexander  Katz  endlich  gibt:  Erläuternde  Anmerkungen  zu 
den  Vorschriften  des  Entwurfes  eines  bürgerlichen  Gesetz- 
buches.    Berlin  1888. 

Die  Erläuterungen  sind  kurz ,  bündig  und  zum  Gebrauche 
förderlich;  insbesondere  auch  die  häufigen  Nachweise  verwandter  und 
bezüglicher  Bestimmungen.  Köhler. 

Scherer.  Das  rheinische  Recht  und  die  Reichs-  und  Landes- 
gesetzgebung. L  Bd.,  2.  Aufl.     Mannheim  1889. 

Die  CoUision  der  Reichsgesetze  mit  dem  französisch-rheini- 
schen Recht  und  die  Lösung  dieser  Konflikte  bildet  das  Problem, 
dessen  Bewältiofunef  sich  der  Verfasser  mit  Geschick  unterzieht. 
Dabei  werden  moderne  Institute,  wie  die  Institute  des  Haftpflicht- 
und  Unfallversicherungsrechts,  des  sog.  geistigen  Eigenthnms  u.  a. 
mit  besonderer  Ausführlichkeit  behandelt. 

Kohler. 


Literarische  Anzeigen.  145 

Die  preussischen  Notariatsgesetze  finden  in  der  Schrift  von : 
Weissler,  Das  preussische  Notariat  im  Geltungsgebiet  der  all- 
gemeinen Gerichtsordnung.     Berlin  1888 

eine  tüchtige  und  eingehende  Darstellung ,  welche  nicht  nur 
die  Gesetze  von  1845  und  die  verwandten  preussischen  Gesetze  um- 
fasst,  sondern  auch  die  neuen  Reichsgesetze,  soweit  sie  das  Notariat 
berühren,  mit  in  den  Kreis  der  Erörterungen  zieht.  Kohler. 


Zwei  civilistische  Arbeiten  aus  der  Besitzlehre  sind: 
I.  Stintzing.   Der  Besitz.  I.  Buch :  Wesen  desselben.  München 
1889. 
IL  Pflüger.     Die    sog.    Besitzklagen    des    römischen    Rechts. 
Leipzig  1890. 

Beides  Beiträge,  um  das  geheimnissvolle  Bild  der  Besitzlehre 
historisch  und  dogmatisch  zu  entschleiern.  Pflüger  weist  auch 
auf  die  deutschen  Gewere  hin :  in  der  That  kann  auch  hier  nur 
eine  Verbindung  des  römischen  und  deutschen  Rechts  frommen,  —  es 
ist  der  Weg,  auf  den  ich  in  meinen  Pfandrechtlichen  Forschungen 
(S.  166  f.)  hinwies;  wo  ich  auch  meine  Auffassung  des  animus 
domini  dargelegt  habe.  Meine  dortige  Darlegung  kann  ich  durch 
Stintzing  (S.  127)  nicht  als  widerlegt  erachten. 

Kohler. 

Eine  weitere  romanistische  Arbeit  ist : 
Grueber.     The   Roman  Law   of  damage    to  propertj.   Oxford 

1886. 

Der  Verfasser  gibt  eine  ausführliche  Darstellung  der  römischen 
Lehre  von  der  lex  Aquilia  unter  tiefem  Eingehen  in  die  Details. 
Die  Arbeit,  welche  zunächst  einen  Kommentar  des  Pandektentitels, 
sodann  eine  systematische  Darstellung  enthält,  ist  schätzenswerth, 
fordert  aber  in  manchem  den  Widerspruch  heraus.  Dass  die  Aqui- 
lische  Klage  sich  nur  auf  Tliun,  nicht  auf  Unterlassen  beziehe 
(S.  208  f.) ,  halte  ich  nicht  für  begründet,  üeber  die  actio  legis 
Aquiliae  des  Pfandgläubigers  verweise  ich  auf  meine  Pfandrechtlichen 
Forschungen  (S.  224  f.).  Kolller. 

Zeitschrift  für  vergleichende  Rechtswissenschaft.    X.  Band.  10 


140  Literarische  Anzeigen. 

Um  auf  das  Handelsrecht  überzugehen  : 
Die  Actes   du    congrc^s    international    de  droit    commercial    de 
Bruxelles   1888.     Droit  maritime,  lettre  de  change.  Paris- 
Bruxelles  1889 

bieten  eine  Fülle  des  belehrenden  Materials  und  müssen  daher 
den  Bearbeitern    dieser  Lehren  angelegentlichst   empfohlen  werden. 

Kohler. 

Bemerkenswert!!  ist  ferner : 
Simonsoii.     Das  österreichische  Warrantrecht.     Berlin    1889. 

Der  in  der  Warrantliteratur  bereits  bekannte  Verfasser  bietet 
eine  Besprechung  des  österreichischen  Warantgesetzes  vom  28.  April 
1889  mit  legislativen  Erwägungen.  Die  Arbeit  ist  gründlich  und 
tüchtig.  Allerdings  können  wir  nicht  allen  Anschauungen  bei- 
stimmen. Das  Zweischeinsystem  vertreten  auch  wir,  halten  aber 
die  Einregistrirung  der  Pfandforderung  ins  Lagerbuch  für  eine  un- 
umgängliche Einrichtung.  Ob  sich  das  Beleihungsverbot  auf  die 
Dauer  bewähren  wird,  möchten  wir  bezweifeln.  Kolller. 

Weiter  ist  hervorzuheben: 
1.  Ein  Supplement  zu  den 
Anglo-Indian  Codes    1887  —  1888    von  Stokes.     Oxford    1889. 

Dasselbe  bietet,  als  neue  Gesetze,  namentlich  das  Gesetz  über 
Marken  und  Waarenbezeichnungen,  sowie  das  Erbschaftslegitimations- 
gesetz,  beide  von  1889;  ausserdem,  auf  Grund  der  Jurisprudenz,  eine 
grosse  Reihe  von  Zusätzen  zu  dem  in  Stokes  Ausgabe  enthaltenen 
früheren  Material.  Von  den  genannten  Gesetzen  ist  insbesondere  das 
erstere,  sich  in  seinen  Gedanken  an  die  neueste  englische  Markenge- 
setzgebung anschliessend,  von  grösster  Bedeutung  für  den  Weltmarkt. 

Kolller. 

2.  Selim.  Uebersicht  der  englischen  Rechtspflege  vom  prakti- 
schen und  kaufmännischen  Standpunkte  aus.  Leipzig, 
Wien,  London  1886. 

Der  Autor  gibt  ausser  einigen  ziemlich  wenig  ergiebigen  hi- 
storischen Notizen  eine  Reihe  von  Gesetzen  theils  in  Uebersetzung 
(wie  die  Wechselordnung),  theils  in  auszugsweiser  Darstellung,  so 
insbesondere  das  Konkursrecht,  das  Patent-,  Autorrecht  und  so  ver- 


Literarische  Anzeigen.  147 

schiedenes  andere.  Einen  geregelten  Ueberblick  über  das  in  der 
englischen  Jurispndenz  entwickelte  Kecht  bietet  das  Werk  nicht 
und  auch  in  den  vom  Verfasser  behandelten  Materien  wird  das  directe 
Studium  des  Gesetze  meist  förderlicher  sein,  als  die  Leetüre  des 
Buches.  Kolller. 

3.  Burckhard.     System    des    österr.    Privatrechtes.     Zweiter 

Theil :  Elemente  des  Privatrechtes.  Dritter  Theil :  Die  ein- 
zelnen Privatrechtverhältnisse.    Erste  Abtheilung   (1.  Heft 
Besitz,  2.  Heft  Grundbuchsrecht).  Wien  1884,  1885,  1889. 
Wenn  wir  auch  in  gar  manchen  Punkten  dem  Verfasser  nicht 
zustimmen,  so  finden  wir  doch  in  seiner  anregenden  und  kenntniss- 
reichen Darstellung    eine    Reihe  bedeutsamer  Erörterungen,  welche 
vielseitige    Belehrung     geben     und    ein    fruchtbares   Ferment   der 
Weiterentwickelung  gewähren.  Kolller. 

4.  V.  Waldkirch.    Erwerb  und  Schutz  des  Eigenthums  an  Mo- 

bilien  nach  Titel  VI  Abschnitt  I  des  Bundesgesetzes  über 

das  Obligationenrecht.     Zürich  1885. 

Das  Schweizer  Obligationenrecht  hat  bekanntlich  einmal  den 
Satz  angenommen,  dass  bei  Mobilien  Eigenthum  nur  durch  Tradition 
übergeht,  und  sodann,  dass  der  gutgläubige  Erwerber  Eigenthümer 
wird,  auch  wenn  es  dem  Ver  ausser  er  an  Eigenthum  fehlte ;  jedoch 
vorbehaltlich  der  5jährigen  Vindication  gestohlener  oder  verlorener 
Sachen  (a.  199.  205.  206).  lieber  diese  Materien  verbreitet  sich 
die  Abhandlung  des  Verfassers  in  ausführlicher  Weise.  Er  hebt 
insbesondere  hervor,  dass  der  Eigenthumserwerb  des  gutgläubigen  Be- 
sitzers ein  originärer  Erwerb  ist,  und  dass  durch  diese  gesetzliche  Be- 
stimmung nicht  der  Eigenthumsbegriff  geschwächt,  sondern  nur  die 
Lehre  vom  Eigenthumserwerb  verändert  wird.  (S.  65.)     Kohler. 

Ueber  die  Sachmiethe  nach  dem  Schweizer  Obligationsgesetz 
haben  wir  in  der  Schrift  von 

5.  Janggen.     Darstellung   und  Kritik    der  Bestimmungen  des 

schweizerischen  Obligationenrechtes   über  die  Sachmiethe 
(Art.  274-295).     Basel  1889, 

eine  sehr  tüchtige,  durch  gesunden  praktischen  Sinn  ausge- 
zeichnete Darstellung,  unter  reicher  Benützung  der  schweizerischen 


148  Literarische  Anzeigen. 

Praxis.  Besonders  interessant  ist  der  Abschnitt  über  den  Satz: 
Kauf  bricht  Miethe,  welchen  bekanntlich  das  Schweizer  Obligationen- 
gesetz  angenommen  hat,  jedoch  so,  dass  es  dem  kantonalen  Rechte 
vorbehielt,  durch  Eintrag  in  das  Grund-  oder  Hypothekenbuch  eine 
Wirkung  gegen  Dritte  zu  gewähren  (a.281):  ein  solcher  Eintrag  ist  in 
verschiedenen  Kantonen  gestattet  (so  Zürich,  Schaffhausen,  Wallis, 
Waadt,  vergl.  das  Werk  S.  71).  Wir  sind  nun  gegen  den  Grund- 
satz :  Kauf  bricht  Miethe ;  aber  das  ist  allerdings  aus  der  Praxis 
der  Schweiz  und  anderer  Ländern  zu  entnehmen,  dass  er  nicht  zu 
so  verderblichen  Folgen  führt,  wie  man  gemeint  hat.  Immerhin  ist 
es,  auch  wenn  Missstände  nur  in  einer  beschränkten  Zahl  von  Fällen 
aus  einem  Rechtssatze  hervorgehen,  gerathen,  ihn  zu  vermeiden. 

Ausserdem  ist  insbesondere  der  Abschnitt  über  das  Retentions- 
recht des  Vermiethers  hervorzuheben ;  das  Schweizer  Obligationen- 
recht  hat  hier  Mängel  und  Unvollständigkeit,  die  aber  jetzt  theilweise 
durch  die  §§  28o  und  284  der  Schweizer  K.-O.  gehoben  werden  dürften. 

Kohler. 

Auf  dasselbe  Thema  bezieht  sich  die  Schrift  von 

6.  Heilbberger.  Die  Sachmiethe  nach  dem  schweizerischen  Ob- 

ligationenrecht, mit  Berücksichtigung  des  geraeinen  Rechtes 
und  des  Entwurfes  eines  bürgerlichen  Gesetzbuches  für 
das  deutsche  Reich.     Zürich  1889^ 

eine  Schrift,  welche  aber  an  Tiefe  und  Kraft  der  Auffassung 
von  der  ersteren  bedeutend  übertroffen  wird.  Kohler. 

7.  Sieber.  Das  Recht  der  Expropriation  mit  besonderer  Berück- 

sichtigung der  schweizerischen  Rechte.     Zürich   1889 
gibt  eine  gute,  kenntnissreiche,  scharfsinnige  Darstellung  dieser 
wichtigen    Materie    unter     weitem    rechtsvergleichenden    Ausholen 
und   unter    gründlicher    Besprechung   der    intrikaten    dogmatischen 
Fragen.  Kohler. 

Streift  schon  diese  Schrift  an  das  öffentliche  Recht,  so  bewegt 
sich  meist  auf  öffentlich  rechtlichem  Boden  die  Schrift  von 

8.  ßelim.       Die     rechtliche     Natur    der    Gewerbsconcession. 

München  1889. 

Dass  die  Gewerbsconcession ,  auch  wenn  es  sich  um  Realge- 
werbe  handelt,    einen  publicistischen  Charakter  hat,    ist  unzweitVl- 


Literarische  Anzeigen.  149 

haft  richtig,  und  ebenso  richtig  ist  es,  dass  der  Mangel  der  Con- 
cession  die  civilistische  Gültigkeit  der  trotzdem  abgeschlossenen 
Civilrechtsgeschäfte  nicht  oder  doch  nur  indirect  berührt;  letzteres, 
sofern  etwa  mangels  der  Concession  die  Erfüllung  realiter  unmög- 
ich   wird  und  eine  Entschädigungspflicht  an  die  Stelle  treten  muss. 

Kohler. 

Als  neue  Zeitschrift  soll  endlich  erwähnt  werden 

9.    Cesare  Albicini.     Rivista  di  diritto  pubblico, 

welche  eine  erfreuliches  Zeuguiss  gibt  von  dem  Fortgänge 
der  Studien  des  öff"entlichen  Rechtes.  Die  Zeitschrift  bietet,  soweit 
uns  ihre  Hefte  vorliegen,  Aufsätze,  Entscheidungen  (theils  vollständig, 
theils  Auszüge),  Literaturberichte.  Auf  die  Entscheidungen  machen 
wir  besonders  aufmerksam ,  beispielsweise  auf  die  Entscheidung 
des  römischen  Cassationshofes  v.  14.  Mai  1889  (L  p.  107)  über  die 
gerichtliche  und  administrative  Kompetenz.  Kohler. 

Von  processualischen  Schriften  nenne  ich 

1.  Huggenberger.    Die  Pflicht  zur  Urkundenedition.    München 

1889, 

welche  sich  in  einem  Anhang  auch  mit  den  bayerischen  Be- 
stimmungen über  die  Archivbenutzung  befasst,  und 

2.  Pollack.     Die  Widerklage.     Wien  1889, 

welche  in  historischer  Durchführung  die  Gestaltung  der  Wider- 
klage  nach  dem  jeweiligen  Processsystem  zu  charakterisiren  sucht. 

Kohler. 

In  der  Schrift  von 

3.  Noest.     Die  Processkosten.     Breslau  1890; 

finden  wir  eine  scharfe  Polemik  gegen  unser  heutiges  System 
der  Anwaltsgebühren.  Der  Verfasser  sucht  darzuthun,  dass  bei  den 
Anwaltsgebühren  die  Höhe  des  Streitobjects  viel  weniger  in  Betracht 
komme,  als  der  Umfang  der  vom  Anwalt  entwickelten  Thätigkeit, 
und  dass  dementsprechend  die  Gebührenhöhe  vom  Anwalt  selbst  nach 
freiem  Ermessen  bestimmt  werden  sollte. 

Kohler. 


150  Literarische  Anzeigen. 

Eine  weitere  Schrift  ist: 

4.  Prischl.     Advocatur  und  Anwaltschaft.     Berlin  1888. 

Ein  lebhaft,  manchmal  zu  lebhaft  und  in  starken  Ausdrücken 
geschriebenes,  aber  von  tiefem  Gefühl  für  die  Sache  eingegebenes, 
im  Zink'schen  Geiste  verfasstes  Buch,  welches  insbesondere  unsere 
Zustände  mit  den  französischen  vergleicht.  Dass  die  Trennung  der 
Advocatur  von  der  Procuratur  d.  h.  der  Rechtsausführung  von  der 
Processleitung  ein  Erforderniss  der  Zeit  ist,  spreche  auch  ich  mit 
voller  Ueberzeugung  aus.  Durch  diese  Trennung  würde  es  ermög- 
licht ,  dass  die  Advocatur ,  befreit  von  den  formalen  und  verant- 
wortlichen Geschäften  des  Processbetriebes,  sich  ganz  und  ungetheilt 
dem  Studium  der  Processsache  und  der  im  Processe  schwebenden 
Rechtsfragen,  sowie  der  Vertretung  derselben  in  bedeutender  Rede 
widmen  könnte.  Kohler. 

5.  ßeiuhold.     Die  Lehre   von    dem  Klaggrnnd,    der  Einrede 

und  der  Beweislast.     Berlin  1888, 

bietet  die  neue  Bearbeitung  einer  früheren  Abhandlung.  Die 
Lehre  von  der  Beweislast  hat  allerdings  sehr  viel  von  ihrer  früheren 
Bedeutung  verloren,  sie  wird  noch  mehr  an  Bedeutung  verlieren, 
wenn  das  letzte  Bollwerk  des  formalen  Beweisrechtes,  die  Eidesdela- 
tion,  dereinst  gefallen  sein  wird.  Die  Beweislast  ist  nur  ein  äusserstes 
Aushülfsmittel  der  aequitas  für  den  Fall,  dass  der  Richter  an  der 
Gränze  des  Möglichen  steht.  Lnmerhin  sind  die  Ausführungen 
des  Verfassers  noch  für  das  heutige  Recht  bedeutsam.  Besonders 
weise  ich  hin  auf  die  Ausführungen  (S.  130  f.)  über  den  Einrede- 
begriff im  modernen  Recht.  Kolller. 

Nessel.     Civilprocessrechtliche  Erörterungen  im  Anschlüsse  an 
die  Schriften  des  Professors  von  Bülow.     Berlin  188G. 

Erörtert  verschiedene  fundamentale  Processfragen  nach  prakti- 
schen   Gesichtspunkten  unter   reicher  Bezugnahme   auf  die    Praxis. 

Hervorzuheben  sind  die  Erörterungen  zu  §  267  C.P.O. 

Kohler. 

Mit  einer  praktisch  wichtigen  Frage  befasst  sich  die  Schrift  von 

Warnatsch ,       Ist      ein     von     dem    Hauptvermiether 

gegen     den     Hauptmiether     erstritten  es    Bau- 


Literarische  Anzeigen.  151 

miingsurtheil     auch    gegen     den    Aftermiether 
vollstreckbar?     Bunzlau  1889. 

Die  Frage  ist,  wenn  die  Aftermietlie  der  Räumungsklage  nach- 
folgt, meines  Erachtens  sicher  zu  bejahen.  Kohler. 

Praktischen  Zwecken,  bezw.   dem  Zwecke  der  juristischen  Aus- 
bildung dienen: 

1.  Kalischer.    Bemerkungen  über  die  Ausbildung  der  Gerichts- 

referendare in  Preussen.     Berlin  1889. 

2.  StansM.  Führer   durch  die  Reichs-  und  preussischen  Landes- 

gesetze.    Düsseldorf  1886. 

3.  Strützki  und  Oenzmer.    Leitfaden  zum  Studium  des  preussi- 

schen Rechts.     Berlin  1888. 

4.  Olshausen.  Grundriss  zu  rechtswissenschaftlichen  Vorlesungen 

an  der  königlichen  Forstakademie  zu  Eberswalde.    I.  Heft. 
Gerichtsverfassung  und  Process.     Berlin  1889. 

5.  Wilmowski.      Handausgabe    der    Konkursordnung    für    das 

deutsche  Reich.    Berlin  1886. 
Ferner  erschien: 

6.  Wilmowski.  Das  Konkursverfahren  an  einem  Rechtsfall  dar- 

gestellt^ Berlin  1880,  in  5.  Auflage. 

7.  Von  dem  bekannten  Kommentare  desselben  Autors  zur 

K.-O.  ist  (Berlin  1889)  eine  4.  Auflage  erschienen. 
Auch  das  Reichsgesetz  über  die  Gewerbegerichte  vom  29.  Juli 
1890  hat  bereits  Kommentare  gefunden,  so 

8.  Bachern.  Reichsgesetz,  betreffend  die  Gewerbegerichte.  Köln 

1890. 

Der  Kommentar  ist  auch  für  das  theoretische  Studium  förderlich. 

Kolller. 

Bibliographisches  und  praktisches  Interesse  hat  endlich: 

9.  Otto   Mühlbreclit.     Uebersicht   der   gesammten  Staats-  und 

rechtswissenschaftlichen  Literatur  des  Jahres  1888.    Berlin 
1889. 

10.  Seeher.     Fortegnelse  over    den    danske  Rets  Literatur   og 

danske   Forfatteres    juridiske    Arbejder    1884 — 1888    met 
Tillaeg  til  Fortegnelsen  for  1876—1883.  Kopenhagen  1889. 


^52  Literarische  Anzeigen. 


Strafrechtliclie  Literatur. 

Mehrere    Schriften    handeln     über     allgemeine    strafrechtliche 
Probleme: 
Thümmel.    Sittenlehre  und  Strafrecht.    Hamburg  1889,  in  den 

deutschen  Zeit-  und  Streitfragen^, 

beschäftigt  sich  mit  dem  Unterschied  zwischen  Moral-  und  Straf- 
recht und  will  das  Charakteristikum  des  criminellen  Unrechtes  aus 
dem  Sicherungszwecke  ableiten.  Kohler. 

Arnoldi.     Verbrechen  und  Strafe.     Berlin  1890, 

sucht,  von  dem  Standpunkt  der  Willensunfreiheit  aus,  die  Strafe 
anf  Abschreckung  zu  gründen  und  weist  darauf  hin,  wie  durch 
Erziehung  und  sociale  Reform  auf  die  Verhütung  der  Verbrechen 
hingewirkt  werden  kann.  Kohler. 

Eine  vorzügliche  Schrift  ist: 
Aschrott.  Ersatz  kurzzeitiger  Freiheitsstrafen.  Hamburg  1889^). 

Der  Verfasser  legt  hier  insbesondere  das  System  der  bedingten 
Verurtheilung ,  oder  vielmehr  der  bedingten  Nichtverurtheilung 
dar:  das  Probationssystem,  wie  es  in  Massachusetts  und,  nach  der 
Probation  of  First  Offenders  Act  1887,  auch  in  England  gilt,  und  wie 
es  in  übertragener  Form  zur  bedingten  Verurtheilung  des  belgischen 
Gesetzes  vom  31.  Mai  1888  geworden  ist.  Die  Institution  findet  in 
der  Schrift  nicht  nur  ihre  Darstellung,  sondern  auch  ihre  Fürsprache 
mit  selbstständigen  Vorschlägen. 

Auch  ich  halte   das  Princip   für   ein  äusserst  fruchtbringendes, 

sofern   nur    die  Anwendung   sich  vom  Schablonenhaften    fern  hält; 

die  Probation  in  Verbindung  mit   der  Friedensbürgschaft   wird  im 

Strafrechte  der  Zukunft  eine  grosse  Rolle  spielen. 

Kohler. 

Gegen  dieses  System  spricht: 
Wach.     Die  Reform  der  Freiheitsstrafen.     Leipzig  1890. 

Aber  seine  Gründe  scheinen  mir  nicht  überzeugend.  Dass  bei 
schablonöser  Anw^endung  dasselbe   seine  Bestimmung  nicht  erfüllen 


^)  Vgl.  auch  die  zweite  Schrift  von  Aschrott  unten  S.  158. 


Literarische  Anzeigen.  153 

wird,  ist  sicher;  aber  die  Anwendung  soll  eben  eine  verständnissvoll 
individualisirende  sein  ;  insbesondere  ist  es  wünschenswert!!,  dass  das 
Gericht  die  discretionäre  Macht  hat,  die  ausgesetzte  Strafe  auch  dann 
nachträglich  in  Vollzug  zu  bringen,  wenn  der  Verurtheilte  zwar  kein 
Vergehen,  aber  doch  sonst  eine  rohe  oder  gemeine  That  verübt  hat. 
Die  Befürchtung,  dass  bei  diesem  System  die  Strafandrohung  ihren 
Stachel  verlieren  wird,  kann  ich  nicht  theilen,  sofern  die  Sache  nur 
richtig  gehandhabt  und  die  Aussetzung  der  Bestrafung  auf  die  Fälle 
beschränkt  wird,  welche  sie  wirklich  verdienen.  Und  wenn  Wach 
annimmt,  dass,  wenn  die  Neuerung  nur  ganz  ausnahmsweise  gewährt 
werde,  sie  von  verschwindendem  Nutzen  sei  (S.  35):  so  ist  zu  er- 
widern, dass,  wenn  sie  auch  nur  in  einigen  Fällen  angebracht  sein  sollte, 
es  eben  ein  Gebot  der  Rechtsentwickelung  ist,  dem  Richter  es  zu 
ermöglichen,  dass  in  diesen  einigen  Fällen  das  Postulat  der  Rechts- 
ordnung erfüllt  und  den  wenigen  Einzelnen  eine  Wohlthat  zu  Theil 
werde,  die  ihnen  vielleicht  für  ihr  ganzes  Leben  bedeutungsvoll 
sein  kann  ^). 

Was  die  Frage  der  unbestimmten  Strafen  betrifft,  so  handelt  es 
sich  allerdings  darum,  Strafe  und  Zwangserziehung  von  einander 
zu  scheiden :  die  Zwangserziehung  kann  mit  der  Strafe  verbunden 
sein,  die  Strafe  geht  aber  nicht  in  der  Zwangserziehung  auf.  Dass 
aber  die  Möglichkeit  einer  Statuirung  der  Zwangserziehung  besteht, 
und  dass  dann  die  Erziehungsbehörde  die  Dauer  einer  solchen  Er- 
ziehung bestimmt,  ist  ein  Postulat  der  Zukunft,  für  welches  aller- 
dings noch  nicht  die  richtige  Formel  gefunden  ist.  Diese  Formel 
zu  finden  muss  sich  Wissenschaft  und  Praxis  bemühen  -). 

Kohler. 

Eine  Schrift  von 

Zucker.  Einige  criminalistischeZeit-  und  Streitfragen  der  Gegen- 
wart.   (Separat- Abdruck  aus  dem  Gerichtssaal  XLIV  Bd.) 

behandelt  die  brennenden  Fragen  der  bedingten  Verurtheilung, 
der  kurzzeitigen  Freiheitsstrafen  u.  a.  mit  ebensoviel  Einsicht  und  Ver- 
ständniss,  als  Umblick  und  Sorgfalt.   Dass  die  kurzzeitigen  Freiheits- 


^)  Vgl.  auch  noch  Zucker   in  der  sofort   zu  erwähnenden  Schrift 
S.  91  f. 

^)  Vgl.  auch  die  S.  158  allegirte  Schrift  von  Aschrott. 


154  Literarische  Anzeigen. 

strafen  nicht  zu  beseitigen  sind,  und  diese  Beseitigung  auch  nicht  als 
Ziel  vor  Augen  zu  setzen  ist,  darin  stimmen  wir  dem  Verfasser  völlig 
bei :  der  Besserungszweck  ist  nicht  der  einzige,  der  in  Betracht 
kommt.  Die  bedingte  Verurtheilung  findet  bei  dem  Verfasser  eine 
sehr  massvolle,  aber  doch  warme  Unterstützung;  besonders  schätzens- 
werth  sind  die  Mittheilungen  (S.  81  f.)  von  Prins  über  die  Art 
und  Weise,  wie  sich  die  Institution  in  der  Praxis  bewährt  hat, 
insofern  es  nicht  zu  einem  nachträglichen  Vollzug  kommen  musste. 
Auch  für  die  Friedensbürgschaft  ist  der  Verfasser  eingetreten.  Ich 
möchte  noch  auf  jene  alemannische  Form  der  Friedensbürgschaft 
hinweisen,  die  auch  vonPfenninger^)  (S.  832  f.)  hervorgehoben  wird, 
wo  die  Friedensbürgschaft  nicht  auf  eine  Geldsumme  geht,  sondern 
in  einer  blossen  Zusicherung  des  Wohlverhaltens  liegt,  deren  Bruch 
zu  einer  besonderen  Bestrafung  führt. 

Auch  über  Strafarbeit,  Hausarrest  und  über  Zwangserziehung 
finden  sich  bei  dem  Verfasser  gute  Bemerkungen. 

Kohler. 

Hier  sei  endlich  noch  erwähnt: 
Lombroso.     Der   geniale   Mensch.     Autorisirte    Uebersetzung 
von  Fränkel, 

ein  kühnes,  materialreiches  Buch,  von  welchem  wir  das  anerkennen, 
dass  die  wahre  Kraft  des  Genies  in  einem  instinktiven  Fühlen  und 
in  einer  gewaltigen  Phantasie  besteht,  welche  zu  ungewöhnlicher 
Combination  befähigt,  sowie  dass  die  gewaltige  Nervenarbeit  des 
Genies  naturgemäss  zu  Absprüngen  und  Sonderlichkeiten  führen  kann. 
Ein  weiteres  Eingehen  auf  den  Grundgedanken  des  Buches  und 
seine  Ausführung  im  Einzelnen  kann  uns  an  dieser  Stelle  erlassen 
werden.  Gegen  vieles  müssten  wir  uns  von  unserem  Standpunkte 
aus  polemisiren. 

An  dogmatisch-historischer  Literatur  verzeichnen  wir: 
Olshausen.     Kommentar  zum  Strafgesetzbuch.    Berlin  1889/90. 

Er  ist  in  dritter  umgearbeiteter  Auflaf?e  erschienen.  Auch  diese 
zeigt  alle  Vorzüge  der  seitherigen  Arbeit:  Reichthum  des  Inhalts, 
Gründlichkeit  der  Durchführung,  Schärfe  des  juristischen  Verständ- 


')  In  dem  S.  115  zu  nennenden  Werke. 


Literarische  Anzeigen.  155 

nisses ;  nicht  als  ob  wir  überall  mit  dem  Verfasser  einstimmen  könnten, 
und  insbesondere  in  der  Theilnahme-  und  Versuchslehre  stehen  wir 
vielfach  auf  anderem  Standpunkte;  aber  überall  ist  die  Tüchtigkeit 
der  Darstellung  des  Verfassers  anzuerkennen.  In  der  dritten  Auflage 
sind  auch  die  Uebertretungen  ausführlich  behandelt ,  was  mit  Rück- 
sicht auf  die  praktische  Wichtigkeit  dieses  Gebietes  sehr  zu  begrüssen 
ist :  wir  verweisen  nur  auf  die  Erläuterungen  bezüglich  des  groben 
Unfugs.  Dieser  Uebertretungsabschnitt  ist  auch  separat  erschienen. 
Der  Olshause  n'sche  Kommentar  ist  nicht  nur  der  beste  Kommen- 
tar des  R.St.G.B.'s,  sondern  auch  eine  hervorragende  Erscheinung  in 
der  criminalistischen  Literatur  überhaupt.  Kolilpr 

Pfenninger.     Das  Strafrecht  der  Schweiz.      Berlin  1890^ 

ist  ein  sowohl  historisch  und  rechtsvergleichend  als  auch  legis- 
lativ bedeutsames  Werk,  weit  angelegt  und  von  grosser  historischer 
Auffassung  getragen.  Der  Verfasser  schildert  das  alemannische 
Recht  der  Schweiz  in  seinen  Grundzügen,  wobei  die  Berner  Gerichts- 
satzung von  1539  als  Typus  dient,  untersucht  eingehend  die  Frage 
über  die  Geltung  der  C.C.C.  in  der  Schweiz  und  geht  sodann  auf  die 
Weiterentwickelung  über  bis  zur  modernen  Codification  des  Straf- 
rechts. Diese  wird  im  weitesten  Umfange  dargelegt ,  wobei  die 
einzelnen  Gesetzbücher  als  Träger  der  jeweiligen  Entwickelungs- 
gedanken  nach  Perioden  eingetheilt  werden  (bis  1830,  bis  1848,  bis 
1870,  von  da  an  bis  in  die  neueste  Zeit);  auch  die  bundesstraf- 
rechtlichen Bestimmungen  finden  ihre  Darstellung. 

Besonders  interessant  sind  die  Vergleichungen  mit  dem  deut- 
schen Strafgesetzbuch  und  die  Versuche,  in  der  Verschiedenheit  der 
neuen  Schweizer  Strafrechte  den  Untergrund  für  ein  gemeinsames 
Schweizer  Strafgesetz  zu  finden.  Kohler. 

Herzog.     Rücktritt  zum  Versuch.     Würzburg  1889, 

behandelt  eine  historisch,  philosophisch  und  dogmatisch  gleich 
wichtige  Frage  in  eingehender  und  tüchtiger  Weise ,  nament- 
lich auch  rechtsvergleichend  unter  Herbeiziehung  fremder  Gesetz- 
gebungen. Wir  stehen  der  Auffassung  des  Verfassers,  wornach  die 
Straflosigkeit  im  Fall  des  Rücktritts  aus  dem  Wesen  der  strafbaren 
That  folgt,  sofern  in  einem  solchen  Falle  der  Thäter  keine  genügende 


156  Literarische  Anzeigen. 

Energie  des  verbrecherischen  Willens  äusserst,  sehr  sympathisch 
gegenüber  und  nehmen  gleichfalls  an,  dass  bei  Rücktritt  des  Thäters 
zugleich  die  Theilnehmer  straflos  werden.  Kolller. 

Die  Schrift  von 
Levy.     Zur  Lehre  vom  Zweikampfverbrechen.    Leipzig  1889, 

ist  insbesondere  in  ihrem  historischen  Theile  bedeutsam.  Sie  geht 
auf  den  Ursprung  des  Zweikampfes,  auf  den  Ordalzweikampf,  auf 
die  öffentlichen  AustragskUmpfe  ein,  auf  welche  die  Privatzweikämpfe, 
d.  h.  die  Zweikämpfe  ohne  Ingerenz  der  öffentlichen  Macht  folgten, 
als  die  öffentliche  Macht  ihre  Hand  nicht  mehr  dazu  bot,  den  Aus- 
trag durch  Zweikampf  zu  sanktioniren.  Auch  die  dogmatische  Dar- 
stellung hat  vieles  Fördernde.  Kollier. 

Das  Werk  von 
Lauterburg.     Die  Eidesdelikte.     Bern  1886, 

bietet  eine  historische  wie  dogmatische  Behandlung  der  Lehre  und 
ist  besonders  werthvoll  durch  die  Darstellung  der  Schweizer  Rechts- 
entwuckelung  vor  und  nach  der  Carolina,  welche  Darstellung  theil- 
weise  auf  ungedrucktem  Material  beruht.  Kollier. 

V.  Calker.     Das     Recht     des     Militärs     zum    administrativen 
Wafl'en  gebrauch.     München  1888, 

behandelt  eine  criminalistisch  ausserordentlich  wichtige  Materie 
mit  Verständniss  und  mit  Zuziehung  eines  reichlichen  Materiales 
an  Gesetzen  und  Instruktionen.  Das  Tödtungsdelikt  setzt  eine  un- 
berechtigte Tödtung  voraus ;  berechtigt  ist  aber  die  Tödtung  nicht 
nur  im  Falle  der  Nothwehr,  sondern  auch  im  Fall  einer  öffentlichen 
Berechtigung,  noch  mehr  im  Fall  der  öffentlichen  Verpflichtung.  Der 
Nachweis  dieser  Fälle  ist  aber  von  besonderer  Bedeutung :  es  handelt 
sich  einmal  darum,  dass  das  Leben  des  Bürgers  nicht  ohne  Noth  preis- 
gegeben ist,  andrerseits  darum,  dass  der  Staatsgewalt  die  Mittel  zur 
energischen  Durchführung  ihrer  Aktionen  often  stehen. 

Kohler. 
Die  Schrift  von 
Weisl.     Das  Militärstratrecht    (formeller  Theil).     Wien   1890. 
Separatabdruck   aus  Streffleurs   österreichischen  militä- 
rischer Zeitschrift, 


Literarische  Anzeigen.  157 

bietet  eine  kurze  Geschichte  des  Militärstrafprocesses,  aus  der 
hervorzuheben  ist,  wie  auch  hier  der  Anklage-  in  den  Inquisitions- 
process  übergegangen  ist,  wie  auch  hier  einst  der  Reinigungseid  mit 
Eideshelfern  und  später  die  ;,peinliche  Frage"  galt.  Im  Uebrigen  geht 
der  Verfasser  mit  dem  jetzigen  deutschen  und  österreichischen 
Strafprocesse  überscharf  ins  Gericht  —  die  Reformbedürftigkeit 
ist  ja  anzuerkennen,  die  Ausdrücke  aber  wären  milder  zu  wünschen  — 
und  beantragt  seine  Umgestaltung,  wobei  er  auf  den  italienischen 
Codice  penale  per  l'esercito  del  regno  d'Italia  vom  28.  November  1869 
verweist.  Kohler. 

Noch  ist  zu  erwähnen: 
Freudenstein.     Resum^   und    Rechtsbelehrung    im    Schwurge- 
richtsverfahren.    Minden   1883, 

worin  über  die  Resumirung  des  Vorsitzenden  im  deutschen,  fran- 
zösischen und  englischen  Verfahren  gehandelt  wird.  In  Frankreich 
ist  übrigens  durch  Gesetz  vom  19.  Juni  1881  der  a.  336  Code 
d'instruct.  dahin  abgeändert  worden ,  dass  ein  resume  nicht  mehr 
sein  darf,  ä  peine  de  nullite.  Kollier, 

Auch  die  Gefängnisswissenschaft  hat  wesentliche  Förderung 
erfahren.     In : 

Krohne.     Lehrbuch  der  Gefängnisskunde.     Stuttgart  1889, 

tritt  uns  aus  sachkundiger  Feder  eine  ebenso  gründlich  ein- 
gehende, als  fassliche  und  interessante  Darstellung  dieses  wichtigen 
Zweiges  der  Criminalistik  entgegen.  Köhler. 

Dem  praktischen  Zwecke  dient  das  Werk  von 
Wulff.     Die    Gefängnisse    der    Justizverwaltung    in   Preussen. 
Hamburg  1890, 

worin  auf  Grund  der  vorhandenen  Vorschriften,  Reglements, 
Dienstanweisungen  u.  s.  w.  eine  ausführliche  praktische  Darstellung 
der  auf  die  preussische  Gefängnissverwaltung  bezüglichen  Punkte 
gegeben  wird.  Die  eingehende  Arbeit  ist  auch  für  die  wissenschaft- 
liche Behandlung  des  Gefängnisswesens  von  höchstem  Interesse,  und 
bei  der  übersichtlichen  Anordnung  des  Stoffes  ist  das  Einzelne 
leicht  erreichbar.  Kohler. 


l^S  Literarische  Anzeigen. 

Ein  ausgezeichnetes  Werk,  wie  wir  nur  wenige  auf  diesem 
Gebiete  besitzen,  ist  von 

Streng.      Geschichte    der   Getangnissverwaltung   in   Hamburg 
von  1622—1872.     Hamburg  1890. 

Von  den  Wirren  und  der  Unkultur  des  30  jährigen  Krieges  wenig 
berührt,  konnte  Hamburg,  wie  in  vielem  anderen,  so  insbesondere 
auch  in  der  Handhabung  des  Strafrechts  dem  übrigen  Deutsch- 
land vorangehen.  Und  so  geschah  es,  dass  schon  im  17.  Jahrhundert 
die  verstümmelnden  Strafen  kaum  mehr  vorkommen,  und  dass  in 
eben  diesem  Jahrhundert  zwei  Anstalten  auftauchen,  die  allerdings 
mehr  der  Zwangserziehung ,  als  der  Strafe  dienen  sollten  —  der 
richtige  Charakter  der  Freiheitsentziehung  als  Strafe  konnte  sich 
erst  allmählig  entwickeln ;  aber  dass  sie  auftauchten,  ist  ein  glänzendes 
Zeugniss  für  den  humanitären  und  socialen  Fortschritt.  Diese  Anstalten 
sind  das  Werk-  und  Zuchthaus  von  1622  und  das  Spinnhaus  von 
1669.  Die  Geschichte  dieser  Anstalten ,  welche  der  Verfasser  auf 
Grund  reichhaltiger  Archivalien  gibt,  ist  ein  bedeutsames  Stück  der 
Rechts-  und  Kulturgeschichte,  und  die  interessante  Art  der  Dar- 
stellung ist  völlig  geeignet,  uns  in  die  ehemalige  Denk-  und  Fühls- 
weise  zurückzuversetzen  und  die  Lebensverhältnisse  jener  Zeiten 
unserer  Empfindung  näher  zu  rücken.  Kohler. 

Endlich  gibt  uns  in  seiner  Schrift: 
Asehrott,  Aus  dem  Strafen-  und  Gefängnisswesen  Nordamerikas. 
Hamburg  1889, 

einen  bemerkenswerthen  Bericht  über  eine  amerikanische  Studien- 
reise zum  Zwecke  der  Erforschung  der  dortigen  Strafanstalten.  Hier 
sind  ja  die  Stätten,  in  welchen  die  neuen  Ideen  des  Gefängnisswesens 
ihren  Ausgang  nehmen  und  ihre  erste  Verwirklichung  finden. 
Besondere  Interesse  erwecken  die  Schilderungen  über  das  Reforma- 
tory  zu  Elmira,  über  die  Behandlung  der  Gewohnheitsverbrecher 
(habitual  criminels)  in  Ohio,  wo  sie  auf  unbestimmte  Zeit  fest- 
gehalten werden  können.  Das  Isolirsystem  ist  (abgeselien  von  den 
Eastern  Penitentiary  bei  Philadelphia)  überall  aufgeben. 

Kohler. 


Literarische  Anzeigen.  159 

RecMspliilosopliisclie  Literatur. 

Als  rechtsphilosophische  Werke  sind  hervorzuheben: 
Krause,  Grundriss  des  Naturrechtes  oder  philosophischer  Grund- 
riss  des  Ideales  des  Rechtes.    Zweite  Abtheilung.    Heraus- 
gegeben von  Mollat  (Leipzig  1890). 

Harms,    Begriff,    Formen  und  Grundlegung   der  Rechtsphilo- 
sophie.    Herausgegeben  von  Wiese  (Leipzig  1889). 

Yanni,  II  problema  della  filosofia  del  diritto  (Verona  1890). 

In  diesen  drei  so  verschiedenen  Schriften  wird  auf  verschiedene 
Weise  der  Versuch  gemacht,  die  Philosophie  des  Rechts  zu  be- 
gründen. Am  modernsten  ist  die  letzte  Schrift;  sie  befasst  sich 
insbesondere  mit  der  Sociologie  und  ihrem  Verhältnisse  zur  Rechts- 
philosophie :  dass  die  Sociologie  und  dass  die  vergleichende  Rechts- 
wissenschaft das  ganze  Thema  der  Rechtsphilosophie  ändern,  neue 
überraschende  Ausblicke  gewähren ,  wird  von  Niemanden  mehr 
verkannt  werden ;  dass  aber  darum  doch  noch  die  Rechtsphilosophie 
bestehen  muss,  als  eine  Wissenschaft,  welche  für  das  in  der  Rechts- 
geschichte gegebene  Bildungsbestreben  der  Menschheit  das  richtige 
Relief  gibt,  ist  gleichfalls  sicher.  Auf  dieser  Bahn  bewegen  sich 
die  bemerkenswerthen  Ausführungen  des  Verfassers. 

Die  Schrift  vonKrause  muthet  durch  ihre,  unserer  Vorstellungs- 
und Darstellungsweise  etwas  abgekehrte,  Art  zunächst  etwas  seltsam 
an,  entschädigt  uns  aber  sofort  durch  tiefe  Gedanken  und  reiche 
Blicke.  Mit  Recht  wird  auf  S.  87  dargestellt,  wie  das  Recht  gerade 
darin  beruht,  dass  die  Seelen  „in  der  Vereinigung  mit  sich  selbst 
und  mit  der  Natur  hindurchgehen  müssen  durch  die  ihnen  entgegen- 
gesetzte Natur,  deren  Schranken  also  wo  möglich  durch  das  im  Staate 

realisirte  Recht  entfernt werden  sollen  und  müssen".   In 

der  That  beruht  der  Ausgangspunkt  des  Rechts  in  dem  ständigen 
Kampf  zwischen  dem  physischen  Begehr  und  den  Postulaten  der 
Vernunft.  Nur  ist  dieser  Kampf  auf  jeder  Entwickelungsstufe  ein 
anderer  und  das  Recht  bietet  darum  immer  neue  Probleme. 

Die  Schrift  ist  von  einem  wohlthuenden  tiefen  Idealismus  ge- 
tragen und  bietet  eine  neue  Seite  für  die  Beurtheilung  eines  Denkers, 
wie  Krause. 


1(30  Literarische  Anzeigen. 

Die  Schrift  von  Harms  geht  von  der  historischen  Erkenntniss 
des  Rechtes  aus  und  erklärt  sich  streng  gegen  das  ehemalige  Natur- 
recht (S.  12  f.)  und  gegen  die  Begriffsphilosophie :  „Diese  blosse  Begriffs- 
philosophie  verwarf  die  geschichtliche  Schule  und  forderte  dafür  eine 
inductive  Erkenntniss  des  Rechts.  Darin  liegt  nun  aber  offenbar 
keine  Leugnung  oder  Verwerfung  der  Rechtsphilosophie,  wenn  sie 
auf  ihrem  Gebiete  die  richtige  Methode  des  Erkennens  fordert  und 
anwendet." 

Dies  ist  sehr  richtig ;  die  Rechtsphilosophie  muss  aber  das 
Recht  als  etwas  Relatives,  historisch  und  ethnologisch  Werdendes 
ansehen,  dann  ist  sie  auf  dem  rechten  Wege.  Ueber  diese  historisch- 
ethnologische Methode  der  Rechtsphilosophie  werde  ich  demnächst 
eingehend  handeln.  Die  Ausführungen  des  Verfassers  aber,  der 
uns  insbesondere  auch  eine  Uebersicht  über  die  Entwickelung  der 
Rechtsphilosophie  von  der  Zeit  der  Griechen  her  gibt,  sind  sehr 
bemerkenswerth.  Kolller. 

[Fortsetzung  der  Besprechungen  folgt.] 


IV. 

Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay. 

Von 
Prof.  Dr.  J.  Köhler. 

(Schluss.) 

III.   Sdiuldrecht. 

§  36. 

Das  Dharnarsitzen  war  in  Kathiawar  noch  Anfangs 
dieses  Jahrhunderts  inUebung(VIII^  326)  ^^^).  Insbesondere  aber 
galt  noch  in  der  Marathenzeit  der  altindische  Satz^  dass  der  Gläu- 
biger sich  durch  jedes  Zwangsmittel  seine  Befriedigung  ver- 
schaffen könnC;  namentlich  gestattete  man  es  dem  Gläubiger^ 
dessen  Forderung  durch  Urtheil  erkannt  war^  sich  in  jeder 
Weise  zu  helfen;  er  hatte  das  Recht  der  takadha^^^),  der  be- 
liebigen Selbsthülfe;  so  dadurch,  dass  er  dem  Schuldner  eine 
Wache  einlegte ,  ihn  am  Essen  hinderte ,  oder  auch  durch 
wirkliche  Peinigungen  heimsuchte,  indem  er  ihn  aufhängte,  in  der 
Sonnenhitze  mit  schwerem  Stein  auf  dem  Kopf  sitzen  Hess,  ihn 
einsperrte  u.  s.  w.  So  in  Kandesch  (XII,  304),  so  in  Nasik 
(XVI,  305).  In  Puna  setzte  man  dem  Schuldner  einen  Diener 
vor  die  Thür  und  belagerte  ihn  (XVIII,  2,  Hl);  auch  kamen 

^^^)  Shakespeare  vor  dem  Forum  der  Jurisprudenz  S.  15;  Zeitschr. 
VIII  S.  126;  Elphinstone  p.  364  f. 

^^^)  Takädhä  vgl.  Wilson  p.  502;    auch  takazu,  tukazu  u.  dgl. 
Zeitschrift  für  vergleichende  Rechtswissenschaft.    X.  Band.  XI 


162  Kohler. 

hier  Peinigungen  der  Schuldner  vor,  gleichfalls  nach  ]\Ia9s- 
gabe  des  takadha  (XVIII,  3,  9). 

Ein  anderes  Zwangsmittel  war  das  jhansa  in  Kathiawar: 
man  schrieb  dem  Schuldner  Brandbriefe  und  drohte  ihm  mit 
der  Zerstörung  seiner  Habe  (VIII,  326). 

In  Palanpur  legte  man  dem  säumigen  Steuerzahler  eine 
Einquartierung  ein  oder  bürdete  ihm  Geldstrafen  auf  (V,  305). 
Aber  auch  bei  Privatschulden  kam  es  vor,  dass  der  Gläu- 
biger dem  Schuldner  ein  Einlager  (mohasal)^^*)  sandte ;  so  in 
Puna  (XVIII,  2,  111). 

Eine  eigene  Art  des  dharna  hatten  die  Bhats  und  die 
Charans^^^).  Wenn  Jemand  ihnen  sein  Versprechen  nicht 
erfüllen  wollte,  so  erklärten  sie,  sich  oder  eines  ihrer  Familien- 
glieder zu  tödten;  diese  Erklärung  war  für  sie  auf  Ehre 
bindend.  Man  nannte  dies  traga,  d.  h.  Selbstverwundung. 
Es  übte  einen  ungeheueren  moralischen  Zwang  aus^^^). 
Daher  kam  es,  dass  auch  andere  Gläubiger  zu  ihren  For- 
derungen einen  Bhat  beitreten  Hessen.  Dieser  erklärte,  eines 
seiner  Familienglieder  zu  tödten,  wenn  nicht  bezahlt  würde. 
Der  Bhat  verschaffte  da(Jurch  dem  Gläubiger  eine  kräftige 
Garantie :  der  Schuldner  wagte  es  nicht,  ein  solches  Unheil  auf 
sich  zu  nehmen.  Man  nannte  diese  Garanten:  sabandhari;  so 
in  Baroda  (VII,  63)  und  in  Kathiawar  (VIII,  326)  i«^). 


^^*)  Mohäsalu  ist  Teluguwort  (Wilson  p.  345). 

^«^)  Vgl.  auch  Guimet  im  Globus  Bd.  48  S.  199.  Ferner  Tod, 
Rajasthan  I  p.  602,  Malcolm  II  p.  132,  134  f.,  Elphinstone  p.  363  f. 

^^^)  Die  Bhats  und  Charans  geleiteten  auch  Karawanen;  denn  es 
machte  einen  furchtbaren  Eindruck  auf  die  Räuber,  wenn  sie  sich  für  den 
Fall  eines  Angriffs  selbst  zu  tödten  drohten.  Es  kommt  auch  vor,  dass  sie 
sich  zunächst  nur  eine  Wunde  machen  und  das  Blut  auf  die  Gegner 
spritzen;  auch  dies  macht  grössten  Eindruck :  es  gilt  für  eine  furchtbare 
Schuld,  den  Tod  eines  solchen  Mannes  aul  dem  Gewissen  zu  haben. 
Englische  Gesetze  bestrafen  den  Versuch  des  Selbstmords;  vgl.  Straf- 
gesetzb.  a.  309  (Stokes,  Anglo-Indian  Codes  I  p.  218),  vgl.  auch  meine 
strafrechtlichen  Studien  I  S.  152. 

^67)  Vgl.  auch  Record  of  Kattywar  p.  33.  Heutzutage  soll  dies  keinen 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  163 

Auch  die  Sarasvatbrahmanen  in  Tliana  drohten  mit 
Selbstmord;  wenn  ihnen  ihre  Leistungen  nicht  gemacht  würden 
(XIII,  1,  85). 

Der  Glaube,  dass  die  Schuld  bis  ins  Jenseits  reiche  und 
den  Schuldner  beunruhige,  ist  ein  kräftiges  Zwangsmittel, 
kräftiger  als  die  meisten  Mittel  der  diesseitigen  Gerechtigkeit. 
Daher  gilt  es  in  Kaira  als  strenge  Pflicht  der  Söhne,  die 
Schulden  des  Vaters  zu  zahlen  (III,  62).  Hierher  gehört  es 
auch,  dass,  wenn  bei  den  Todtenopfern  die  Sache  nicht 
günstig  abläuft,  die  Hinterbliebenen  dem  Verstorbenen  ver- 
sprechen, alle  seine  Wünsche  zu  erfüllen  und  alles  zu  seiner 
Befriedigung  zu  thun ,  worüber  ich  auf  meine  Ausführungen 
über  den  Animismus  bei  Hindustämmen  im  ^Ausland"  1891 
S.   684  verweise. 

Der  indische  Satz  endlich,  dass  der  Sohn  die  Schulden 
des  Vaters  durchaus  bezahlen  muss,  der  Enkel  nur  bis  zum 
Betrag  des  geschuldeten  Kapitals  (ohne  Zinsen),  ein  anderer 
Erbe  nur  nach  Massgabe  des  Aktivvermögens  ^^^),  war  auch 
in  Baroda  vertreten  (VlI,  445). 

§  37. 

Eine  sehr  häufige  Art  der  Schuldsicheruug  ist  die  Selbst- 
verpfändung des  Schuldners  zur  Pfandlingschaft  ^^^). 
Er  gibt  sich  dem  Gläubiger  als  Pfandling  für  eine  be- 
stimmte Zeit,  für  ein  Jahr  oder  eine  Reihe  von  Jahren  und 
arbeitet  für  den  Gläubiger  in  der  Art,  dass  in  der  betreffenden 
Zeit  Zins  und  Kapital  getilgt  wird.  Entweder  verköstigt  er 
sich  hierbei  selbst  und  bekommt  dafür  einige  Freizeit  für  sich, 


so  grossen  Eindruck  mehr  machen.  Sabandhari  wohl  von  sabat, 
Festigkeit,  Garantie,  also  Träger  der  Garantie. 

'«'S)  Vgl.  Zeitschr.  III  S.  183;  sodann  VIII  S.  133. 

'^^)  Vgl.  hierüber  auch  die  indischen  Reclitsbücher,  insbesondere 
Brihaspati  VIII,  10.  Vgl.  ferner:  Shakespeare  vor  dem  Forum  der 
Jurisprudenz  S.  14  f.;  Zeitschr.  VTII  S.  125  t.,  IX  S.  350. 


1(34  Kühler. 

oder  der  Gläubiger  verköstigt  ihn,  verlangt  aber  dann  alle 
Arbeit.  Die  Pfandlingachaft  erstreckt  sich  nicht  über  die 
Person  des  Schuldners  hinaus,  nicht  auf  seine  Familie,  ob- 
gleich CS  mitunter  als  Ehrenpunkt  des  Sohnes  gilt,  die  Zeit 
auszudienen,  vv^enn  der  Vater  vorher  stirbt.  Der  Gläubiger 
hat  kein  Züchtigungsrecht  ^'^^)  und  kann  den  Schuldner  nicht 
an  einen  Dritten  geben,  mindestens  nicht  ohne  seine  Ein- 
willigung. 

So  findet  sich  die  Pfandlingschaft  in  Kanara  (XV, 
2,  32),  in  Nasik  (XVI,  122),  Satara  (XIX,  189),  Jan- 
jira  (XI,  427),  Kandesch  (XII,  199,  197  f.),  Thana  (XIII, 

1,  189,  310),  Baroda  (VII,  117,  118),  Ratnagiri  (X,  162), 
Savantvadi  (X,  429),  Kolaba  (XI,  106),  Kaira  (III,  63), 
Mahi  Kantha  (V,  373),  Surat  (II,  190),  Bijapur  (XIII, 
349),  Kolhapur  (XXIV,  195),  Bharotsch  (II,  452),  Ahmad- 
nagar  (XVII,  304). 

Nicht  selten  kommt  es  vor,  dass  der  Pfändung  in  Folge 
von  Kindergeburten  und  den  damit  verbundenen  Auslagen  bei 
dem  Herrn  weiter  in  Schulden  geräth,  so  dass  faktisch  die 
Pfandlingschaft  zur  lebenslänglichen  wird;  vgl.  z.  B.  Ba- 
roda VII,  117,  118,  Thana  XIII,  1,  189. 

Eine  stufenweise  Pfandlingschaft  entsteht,  wenn  ein 
Bürger  sich  eventuell  in  Pfandlingschaft  verspricht,  falls  der 
Hauptschuldner  nicht   eintreten  sollte;  z.  B.  in  Kanara  XV, 

2,  32,  in  Thana  XIII,  1,  310. 

Die  englischen  Gerichte  erkennen  den  Pfandlingsvertrag 
nicht  als  erzwingbar  an. 

Eine  wirkliche  Schuldsklaverei  war  selten ;  sie  kam  aber  in 
Puna  vor,  aber  doch  nur,  wenn  der  Schuldner  von  niederer 
Kaste  und  der  Gläubiger  ein  Brahmane  war  (XVIII,  2,  134); 
es  kam  auch  vor,  dass  sich  der  Schuldner  als  Schuldsklave 
verschrieb  für  den  Fall  der  Nichtzahlung  (XVIII,  3,   10). 


*'*)  Früher   kam    es    allerdings    vor,    z.  B.    in  Janjira,    dass  der 
widerspenstige  Pfandling  ausgepeitscht  wurde  (XI,  427). 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  165 

Ein  Abdienen  der  Schuld  ist  auch  bei  Geldbussen  im  Ge- 
brauch; so  bei  den  Badiges  in  Kanara:  wer  die  Geldstrafe  nicht 
zahlen  kann,  verdient  sie  dadurch  ab,  dass  er  eine  Zeit  lang 
den  Tempelboden  reinigt  (XV,  1,  262,  263). 

§  38. 

Eine  häufige  Art,  die  Befriedigung  einzuleiten,  war  es, 
dass  der  Schuldner  dem  Gläubiger  ein  Pfand  gab;  in  Rat- 
nagiri  ist  noch  jetzt  der  Urtheilsgläubiger  meist  zufrieden, 
wenn  er  vom  Schuldner  ein  Pfand  erhält,  lässt  ihn  auch  wohl 
gegen  Zins  im  Besitz  desselben  (IX,   159). 

Ein  Konkursverfahren  finden  wir  in  Kaira:  die  Gläubiger 
theilen  nach  Verhällniss;  der  Schuldner  gilt,  wenn  nicht  un- 
redlich, als  entlastet  (III,  62)  i^i). 

§  39. 

Für  das  Vertragswesen  interessant  ist  es,  dass  bei  den 
Marathas  in  Ko  1ha pur  die  Verlobung  durch  Auswechslung 
von  Betelnüssen  stattfindet  (XXIV,  74);  ein  Gebrauch,  der 
sich  auch  bei  andern,  insbesondere  auch  bei  islamitischen 
Stämmen  findet  ^^^). 

Der  Satz  der  Rechtsbücher  über  die  Unverjährbar- 
keit der  Depositenklage,  Pfandauslösungsklage,  Theilungs- 
klage  1^^)  wird  für  Baroda  (VII,  444)  noch  besonders 
bestätigt. 

§  40. 
Der  Zinsfuss  ist  nach  unsern  Begriffen  hoch,    aber  doch 
weit  niedriger,  als  der  Zins  in  Bengalen i^'^).   In  der  Mahratten- 


*'^)  Vg].  Zeitschr.  VIII  S.  126.  Ueber  das  jetzige  indische  Konkurs- 
verfahren vgl.  mein  Lehrbuch  des  Konkursrechts  S.  60  f. 

^^2)  Herklots  p.  89  f.  (Austausch  von  Stücken  von  Betelblättern). 
Vgl.  auch  die  analoge  Pendschabsitte,  Zeitschrift  VII  S.  232. 

^")  Vgl.  mein  Altindisches  Prozessrecht  S.  55. 

^'^)  Zeitschrift  IX  S.  352.     Vgl.  auch  TU  S.  176  f.,  VIII  S.  127. 


1(5(3  Kohler. 

zeit  allerdings  stieg  der  Zinsfuss  z.  B.  in  Bharotsch  auf 
48 — GO  ^/o  (II,  453).  In  der  britischen  Zeit  ist  er  bedeutend 
heruntergegangen.  Fassen  wir  die  Darlehen  in  3  Klassen  zu- 
sammen :  a)  das  Darlehen  gegen  Faustpfand,  b)  das  Darlehen 
gegen  Immobiliarpfand,  c)  das  Darlehen  ohne  dingliche  Sicher- 
heit, so  stellen  sich  die  Sätze  zwar  in  den  verschiedenen 
Theilen  von  Bombay  verschieden  heraus,  sie  können  aber  auf 
folgende  Normen  reducirt  werden: 

a)  In  Bharotsch,  Palanpur,  Kaira,  Ahmadabad, 
Kolaba,  Satara,  Belgaum,  Kanara:  6,  6 — 9,  ()  — 12^/o; 
in  Surat,  Kandesch,  Thana,  Dharwar:  9,  9 — 12,  9  — 18, 
9 — 24  ^/o  ;  in  Ahmadnagar,  Ratnagiri  und  Savantvadi 
12,  12 — 24  ^/o:  in  Pu na  in  kleinen  Sachen  19 — 37,  in  grösseren 
9  —  12  ^/o.  Selten  geht  der  Zinsfuss  weiter  herunter;  doch  kommt 
es  vor,  wenn  leichtrealisirbare  Kostbarkeiten  oder  gar  Gold, 
Silber  als  Pfand  gegeben  wird  ^^^);  so  in  Baroda,  in  Kaira: 
in  Mahihantha  selbst  bis  zu  4^2^/0,  ja  4  und  3^/o. 

b)  Die  Sätze  für  das  Darlehen  mit  Immobiliarversiche- 
rung sind  oftmals  höher  mit  Rücksicht  auf  die  schwerere 
Realisirbarkeit.  Sie  schwanken  von  6,  7,  8,  9  bis  12,  18,  20, 
24,  ja  36  >. 

c)  Bei  bloss  persönlicher  Sicherung  variiren  die  Sätze 
am  meisten:  hier  kommt  die  Art  der  Persönlichkeit  und  nament- 
lich auch  (in  altindischer  Weise)  die  Kaste  des  Geldbedürftigen 
in  Betracht.  So  haben  in  Rewa  Kantha  die  (niederstehonden) 
Bhils  und  Kols  25  ^/o  zu  zahlen,  in  Ahmadabad  zahlen 
niedere  Klassen  12 — 24  ^/o,  in  Satara  geht  es  auf  37^2—40^/0, 
in  Ratnagiri  uiid  Savantvadi  bis  36  ^/o  ,  in  Surat  sogar 
bis  auf  75^/0,  in  Kolaba  in  den  mittleren  Klassen  bis  37, 
den  niederen  von  40  bis  200  ^/o. 

Besonders  stark  ist  der  Kornzins  ^^^).  Häufig  ist  dasSavyaj- 


^''^)  In  Kolhapur    kostet   ein  Darlehen    gegen  EdelmetalUonibard 
7V2,  gegen  Perlenlombard  12  7o- 

1^6)  Vgl.  Zeitschrift  IX  S.  352. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  167 

System  ^^'^)^  d.  h.  der  Zuschlag  von  2b  ^jo,  was  aber,  da  die 
Ernte  in  einem  halben  Jahr  folgt,  einen  Jahreszins  von  50  ^/o 
repräsentirt.  So  in  Ratnagiri,  in  Mahi  Kantha,  in  Baroda; 
50^/o  in  Kandesch,  Ahmadnagar  und  Scholapur;  50 — 100 ^o 
in  Thana,  ja  in  Nasik  bis  zu  200  ^/o.  Ebenso  findet  sich 
die  Verdoppelung  beim  Getreidedarlehen  in  Rewa  Kantha; 
in  Kolaba  für  Getreidedarlehen  50,  für  Futterdarlehen  100  ^/o. 
Man  vergleiche  über  diese  Zinsverhältnisse  Surat  (11,  202), 
Bharotsch  (II,  453),  Kaira  (III,  61),  Katsch  (V,  111), 
Mahi  Kantha  (V,  374),  Ahmadabad  (IV,  68,  70),  Rewa 
Kantha  (VI,  41),  Baroda  (VII,  111,  116,  119,  127),  Ratna- 
giri  (X,  159),  Savantvadi  (X,  429),  Kolaba  (XI,  104), 
Palanpur  (XI,  297),  Kandesch  (XII,  195),  Thana  (XIII,  1, 
115),  Kanara  (XV.  2,  28),  Nasik  (XVI,  44,  119),  Ahmad- 
nagar (XVII,  301,  302),  Puna  (XVIII,  2,  107),  Satara 
(XIX,  183),  Scholapur  (XX,  245,  249),  Belgaum  (XXI,  295), 
Dharwar  (XXII,  326),  Kolhapur  (XXIV,  194). 

§  41. 

Das  Faustpfandrecht  ^^^)  ist  allüberall  verbreitet,  vergl.  bei- 
spielsweise Surat  (II,  186,  203),  Kaira  (III,  59),  Palanpur 
<V,  297),  Ahmadabad  (IV,  68),  Puna  (XVIII,  2,  107)  u.  a. 

Aber  auch  eine  Verpfändung  von  Mobilien  ohne  Besitz- 
übergabe wird  anerkannt;  so  in  Mahi  Kantha  (V,  373,  374), 
in  Rewa  Kantha  (VI,  42)  u.  a. 

Auch  die  Verpfändung  der  Ernte  kommt  vor,  so  in  Ko- 
loba  als  manoti^^^^):  der  Gläubiger  nimmt  die  Ernte  in 
Beschlag  und  zahlt  den  Ueberschuss  heraus  (XI,  104). 

Das  Immobiliarpfand  ist  Besitz-  oder  Nichtbesitz- 
pfand: beim  Nichtbesitzpfand  laufen  die  Zinsen  des  Schuld- 


^'^)  Savyäj  (mahrattisch)  heisst  zunächst:  verzinslich, 

1^8)  Vgl.   zum   folgenden    auch    Zeitschr.   III   S.  185,    VII   S.    191, 


VIII  S.  123,  IX  S.  353  f. 

^^^*)  Manoti,  manauti  =  Sicherheit  (Wilson). 


108  Kohler. 

ners  weiter^  zahlt  er  nicht,  so  kann  der  Gläubiger  die  Ueber- 
gabe  in  Besitzpfand  verlangen:  also  vollkommen  das  altindische 
System  i'^).  Bei  dem  Besitzpfand  kann  der  Gläubiger  das 
Gut  verpachten  an  Dritte,  auch  an  den  Schuldner  selbst,  der 
dann,  meist  gegen  Entrichtung  einer  Theilquote  der  Früchte 
(z.  B.    ^/2),  auf  dem  Grundstück  sitzen  bleibt. 

Ameliorirt  der  Besitzpfandgläubiger  die  Sache,  pflanzt  er 
Bäume,  so  kann  er  Aufrechnung  begehren  (so  in  Kanara 
XV,  2,  31,  32). 

Das  Besitzpfand  kann  reine  Antichrese  sein,  oder  auch 
Todsatzung;  aber  auch  eine  Verbindung  von  Zinspfand  und 
Todsatzung,  indem  ein  Theil  der  Früchte  an  dem  Kapital  ab- 
geht. Es  kann  auch  festgesetzt  werden,  dass  das  Kapital 
in  bestimmter  Zeit  aufgezehrt  sein  soll  (z.  B.  in  Kanara 
XV,  2,  32,  in  Kathiawar  VIII,  212,  213,  in  Satara  XIX, 
189,  in  Kolaba  XI,  106,  in  Kolhapur  XXIV,  195).  Nicht 
selten  lässt  der  Gläubiger  beim  Nichtbesitzpfand  die  rückständigen 
Zinsen  so  hoch  anwachsen,  bis  die  Summe  dem  Werth  des 
Landes  gleichkommt  und  nunmehr  die  reine  Antichrese  an- 
gemessen ist  (in  Beigau m  XXI,  296). 

In  Kathiawar  heisst  das  Pfand  giro,  das  Besitzpfand 
kabdha-giro,  das  Nichtbesitzpfand  s  an -giro.  Das  Besitz- 
pfand ist  wieder  entweder  Antichrese:  ghas  kareniu  oder 
vatantar,  oder  Todsatzung:  oghachhut  oder  pulachhut 
(Kapitaltödtung  VIII,  212,  213)  i««). 

Ebenso  heisst  in  Kaira  das  Pfand  giro,  das  Nichtbesitz- 
pfand: San  giro  (III,  62). 

In  Kanara  heisst  das  Nichtbesitzpfand  toradav,  das  Be- 
sitz(Genuss-)pfand   bhogyadhi  i^i)  (XV,  2,  29,  31,  187);    in 


1^9)  Zeitschr.  III  S.  187  f. 

^^^)  Giro  (Hindostani)  =  Pfand,   kabd  h  =  ergreitend,   in   Besitz 
nehmend;  vatantar  von  watar,  erblicher  Besitz?  (Vgl.  Wilson.) 
^^')  Bhogyädhi   von  bhoga  Genuss,    Besitz    und    adhi  Pfand 

(Wilson). 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  1(39 

Nasik    das    Nichtbesitzpfand    najar    gahan,    das    Nutzpfand 
tabe  gahani82)  (XVI,   119). 

Ebenso  werden  die  beiden  Arten  von  Immobiliarpfand  ge- 
meldet aus  Ahmadabad  (IV,  68),  Baroda  (VII,  134), 
Kolaba  (XI,  106),  Belgaum  (XXI,  296);  und  in  der  Art, 
dass  man  den  Schuldner  als  Pächter  sitzen  lassen  kann,  aus 
Dharwar  (XXII,  328),  Surat  (II,  203),  Scholapur  (XX, 
248),  Janjira  (XI,  427),  Kandesch  (XII,  197),  Mahi 
Kantha  (V,  373),  Savantvadi  (X,  429),  Bharotsch  (II, 
456),  Kolhapur  (XXIV,  195). 

Bleibt  der  Schuldner  in  Pacht,  so  kann  in  Kandesch 
verlangt  werden,  dass  er,  zur  Verrechnung,  die  Ernte  abliefert; 
es  können  auch  beide  miteinander  kultiviren  (qua  socii!) 
(XII,  197).  Ebenso  ist  die  Ernte  abzuliefern  in  Janjira 
(XI,  427). 

Auch  das  Verfallpfand  findet  sich,  doch  seltener,  —  auch 
dies  ganz  nach  dem  officiellen  indischen  Rechte  ^^^).  So 
in  Kolaba  (XI,  106);  so  in  Kathiawar  als  athi  aghat 
(VIII,  212,  213,  323).  In  Rewa  Kantha  wird  dem  Pfand- 
gläubiger das  Distraktionsrecht  zugestanden,  aber  so,  dass  der 
Schuldner  das  Land  jederseits  zurückkaufen  kann  (VI,  42)  — 
das  letztere  hat  sich  wohl  in  der  Art  entwickelt,  dass  der 
Gläubiger  zunächst  die  Sache  nicht  zu  Eigenthum,  sondern 
zu  Pfand  veräusserte,  später  veräusserte  er  sie  zu  Eigenthum, 
aber  in  der  Weise,  dass  dem  Schuldner  das  Einlösungsrecht 
gewahrt  wurde,  als  wie  wenn  er  Eigenthümer  geblieben 
wäre^^^). 

Die  Bürgschaft  ist  verbreitet,  auch  der  Vertrag,  wornach 
sich  Jemand  verpflichtet,  Bürge  zu  werden  gegen  eine  Pro- 
vision (mano ti)  ^^^);  so  in  Ahmadabad  (IV,   71). 


^^^)  Gahän  (mahrattisch)  =  Pfand  (Wilson). 

183)  Zeitschr.  III  S.  188;  vgl.  auch  IX  S.  355. 

184)  Vgl.  auch  noch  VIT  S.  194. 
)  Manauti  oder  man  oti  =  Sicherheit,  Vermittlung  (Wilson). 


185 


170  Köhler. 

§  42. 

lieber  die  Entwickelung  des  Rechtes  der  Wechsel  (hun- 
dis)  in  dieser  Gegend  ist  bereits  anderweit  gehandelt  wor- 
den ^^^).  Hier  sei  noch  Folgendes  beigefügt.  Solche  himdis 
gab  es  schon  unter  der  Mahrattenherrschaft.  Der  Sichtwechsel 
heisst  in  Puna:  darc^ani,  der  Nachsichtwechsel  muddati^ 
ebenso  in  Kandesch  (XVIII,  2,  101,  102;  XII,  192).  Die 
Tratte  kann  eine  Beschreibung,  eine  Art  Signalement  des 
Remittenten  enthalten,  dann  heisst  sie  sihajog  (XVII,  2, 
102);  die  Tratte  an  eigene  Ordre  heisst  dhanijog  (XII, 
192).  Der  Regress  geht  in  Puna  auf  Wechselsumme,  dop- 
pelte Zinsen  und  auf  Strafsumme,  die  hier  nakrai  heisst  ^^^) 
(XVIII,  2,  102). 

Ist  die  Prima  verloren,  so  werden  Duplikate  gemacht 
(peth)i»8)^  so  in  Kandesch  (XII,   192). 

Aehnliche  Sätze  gelten  über  die  hundis  in  Kaira  (VI, 
58),  Ahmadabad  (IV,  56),  Kolaba  (VI,  101,  102)  i«»). 

Die  Bankiers  heissen  Sahukars  (VII,  108,  VIII, 
204)   190)^ 

Fix-  und  Differenzgeschäfte  sind  sehr  verbreitet. 
So  werden  Geschäfte  in  Baumwolle  abgeschlossen  derart,  dass, 
wenn  der  Käufer  nicht  rechtzeitig  liefert,  der  Verkäufer  auf 
der  Erfüllung  bestehen  kann,  aber  dies  auch  ausdrücklich  er- 
klären muss,  ansonst  das  Geschäft  zum  DifFerenzgeschäft  wird; 
so  in  Kathiawar  (VIII,  211). 


1S6)  Zeitschr.  VIII  S.  139. 

18^)  Vgl.  Zeitschr.  VIII  S.  140:  hier  azora. 

i«8)  Zeitschr.  VIII  S.  140. 

^^^)  Hiindi,  Wechsel  ist  Hindostani;  dar^ana  ist  Sehen,  also 
hier:  Sicht;  m  u  d  d  a  t  ist  Zeitraum ;  jog  (Hindostani)  ist  der  Remittent ; 
dhan  heisst  Darlehen,  dhani  Gläubiger,  daher  dhanijog  ein  Remit- 
tent, welcher  zugleich  der  Geldvorstrecker  ist;  peth  heisst  Avisbrief 
und  Duplikat  (vgl.  Wilson  zu  diesen  Worten). 

^^^)  Vgl.  Zeitschr.  VIII  S.  134;  sähukar  von  sadhu  gut,  ehren- 
voll (Wilson). 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  171 

Aber  auch  DifFerenzgesehäfte  von  Haus  aus  werden  abge- 
schlossen in  Opium,  Baumwolle,  Zuckerrohr,  so  in  Ahmad a- 
bad  und  in  Kathiawar  (IV,  67,  VlII,  209,  210).  Es  gibt 
Ausgleichtage,  wo  die  gegenseitigen  Differenzen  beglichen 
werden.  P]s  gibt  auch  Syndikate  in  der  Art,  dass  jeder  eine 
Summe  einbringt  und  bis  zur  Höhe  der  Summe  spielt,  wobei 
dann  an  einem  besonderen  Stichtag  die  Sache  zur  Ausgleichung 
kommt.  Der  Spielcharakter  tritt  noch  mehr  zu  Tage,  wenn, 
wie  es  in  Kathiawar  vorkommt,  nicht  die  ganze  Differenz, 
sondern  nur  eine  Quote  derselben,  z.  B.  ^/le  zu  vergüten  ist 
(Vni,  210).  Sind  doch  in  Kathiawar  auch  Regenwetten 
in  Uebung  (VIH,  212)  i^i). 

Eine  wenig  empfehlenswerthe  Art  des  Darlehens  kommt 
in  Surat  und  in  Bar  od  a  vor.  Der  Darleiher  gibt  geistige 
Getränke  und  bekommt  den  entsprechenden  Werth  zur  Zeit 
in  Getreide  zurückbezahlt  (II,   190,  VII,   111). 

Die  Handarbeit  wird  vielfach  durch  Pfandlinge  besorgt; 
daher  tritt  der  Arbeitsvertrag  mehr  zurück;  doch  auch  er 
ist  vertreten,  z.  B.  in  Kathiawar:  hier  wird  der  Feldarbeiter 
in  Geld  oder  in  Früchten,  manchmal  in  einer  Fruchtquote 
bezahlt  (VIII,  214). 

Dass  Makler  (dal  1  als)  in  dieser  Gegend  aufgestellt  sind, 
wurde  bereits  anderwärts  erwähnt  ^^^).  Sie  stehen  unter  öffent- 
licher Kontrole  und  können  entlassen  werden;  so  in  Katsch 
(V,  121,  122).  Sie  dürfen  nicht  selbst  Kaufgeschäfte  ab- 
schliessen.  Die  Courtage  (Prozentsätze  betragend)  ist  entweder 
von  der  einen  oder  von  beiden  Seiten  aufzubringen,  je  nach  der 
Usance  (ib.  V.  121,  122).  Namentlich  in  Versicherungssachen 
spielen  sie  eine  grosse  Rolle  (unten  S.  172),  ebenso  als  Wechsel- 
makler, z.  B.  in  Kandesch  (XII,   193). 


^*^)  Auch  sonst  in  Indien :  erscheint  eine  Regenwolke,  so  wird  ge- 
wettet; es  kommt  darauf  an,  ob  ein  bestimmtes  Wasserrohr  sich  füllt. 
Vgl.  auch  Globus  Bd.  56  S.  867. 

192)  Zeitschr.  VIII  S.  136.     Dalläl  ist  Hindostani  (Wilson). 


172  Kohler. 

Dass  Bankiers  und  andere  Kaufleute  zum  Zweck  von 
Versicherungen  zusammentreten  und  so  Zufallsgesellschaften 
bilden^  ist  alsbald  zu  erwähnen.  Auch  sonst  finden  sich  Socie- 
tätsverhältnisse.  So  bestehen  in  Ratnagirl  Fischereigesell- 
schaften von  2 — 3  Personen^  die  zusammenschiessen^  um  ein 
Boot  und  das  nöthige  Ausrüstungskapital  aufzubringen  (X,  171). 

Auch  von  den  Transportversicherungen  in  diesen 
Gegenden  ist  bereits  die  Rede  gewesen  ^^^).  Sie  waren  in  der 
vorbritischen  Zeit  in  zahlreicher  Anwendung  mit  Rücksicht 
auf  die  grosse  Unsicherheit  der  Wege;  so  in  Puna  (XVIIT, 
2,  105),  in  Ahmadabad  (IV,  65).  Gewöhnlich  übernahmen 
Bankiers  (sahukars)  die  Versicherung. 

Aber  auch  Seeversicherungen  haben  sich  bereits  in 
der  vorbritischen  Zeit  entwickelt.  Es  bildete  sich  jeweils  für 
die  einzelne  Saison  oder  für  den  einzelnen  Fall  ein  Syndikat 
von  Bankiers,  welche  die  Versicherung  übernahmen;  das  Syn- 
dikat wurde  durch  Makler  (dal Ulis)  zusammengebracht.  Die 
Polize  hiess  in  Kathiawar:  kabela^^^),  die  Prämie  sala- 
mati^^^):  sie  war  nach  der  Seegefahr,  insbesondere  nach 
der  Jahreszeit,  sehr  verschieden.  Die  Versicherung  ging  ent- 
weder nur  für  direkte  Seeschäden  oder  für  alle  Gefahren. 
Der  Schaden  wurde  nicht  völlig,  sondern  nur  zu  gewissen 
Prozenten,  z.  B.  zu  87  ^/o  vergütet.  So  in  Kathiawar 
(VIII,  208);  ähnlich  im  Hafen  von  Dholera  in  Ahmadabad 
(IV,  65,  66):  hier  galt  ein  3  Monate  verschollenes  Boot  als 
verloren  (d.  h.  wohl:  es  konnte  abandonirt  werden).  Eine  Art 
von  Grossaventureigeschäft  findet  sich  in  Katsch.  Hier  kann 
die  Versicherung  in  gewöhnlicher  Weise  übernommen  werden; 
es  kann  aber  auch  der  Versicherer  eine  bestimmte  Summe 
vorstrecken,  die  bei  Verlust  des  Schiffes  hinfällig  wird  (V,  122). 


193)  Zeitschr.  VIII  S.  138. 

19^)  Uebrigens  ist  kabala  ein  allgemeines  Wort  l'iir  Vertrags- 
iirkunde  überliaupt  (Wilson). 

195^  Wohl  mit  Salami  zusammenhängend ;  oder  ob  =  sdlabddi, 
Jahreslast  von  sal  Jahr? 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  173 

Von  Feuerversicherungen  findet  sich  die  Versiche- 
rung von  Baumwolle  und  Baumwollenmühlen  in  Kandesch 
(XII,  192). 

IV.  Erbrecht. 

§  43. 
Vom  Erbrecht  haben  wir  wenig  Nachrichten;  dasselbe 
scheint  sich  meist  nach  den  Rechtsbüchern  zu  gestalten.  Nur 
das  ist  zu  bemerken^  dass  die  Talukdargüter  in  Ahmadabad 
sich  so  vererben^  dass  der  älteste  Sohn  einen  grösseren  Antheil 
bekommt^  z.  B.  einen  doppelten  Theil  oder  einen  andert- 
halbfachen (IV,   184). 

V.  Oeffentliclies  Recht,  Strafrecht,  Prozess. 

§  44. 

Das  Innungswesen  mit  seiner  strengen  Abschliessung 
ist,  wie  sonst  in  Ostasien,  auch  in  indischen  Gegenden,  nament- 
lich an  der  Westküste  entwickelt.  So  insbesonders  in  Ahma- 
dabad;  die  Gilde  heisst  mahajan:  sie  hat  zwei  Vorsteher, 
seths,  deren  Amt  in  thesi  erblich  ist,  einen  Sekretär  und  einen 
Schatzmeister  (gumashta)  ^^^),  sowie  einen  Ausschuss.  Sie 
ist  vermögensfähig. 

Die  Gilde  ist  massgebend  in  allen  das  Handwerk  be- 
treiFenden  Beziehungen:  sie  bestimmt  Arbeitsstunden,  Preis, 
Feiertage,  Zahl  der  am  Orte  zulässigen  Handwerker;  sie 
schlichtet  alle  Streitigkeiten.  Der  Zusammenhalt  ist  ein  unge- 
mein fester:  wer  die  Bestimmungen  übertritt,  verwirkt  Dis- 
ciplinarstrafe  oder  wird  entsprechenden  Falls  ausgestossen; 
der  Ausgestossene  ist  gegenüber  den  Zunftgenossen ,  auch 
gegenüber  den  Kartellzünften,  geboykottet  (IV,   106 — 112). 


*^®)  Mahajan  ist  grosser  Mann,  Kaufmann,  dann  Kaufmannsgilde; 
seth  ist  Kaufmann ,  dann  ein  ganz  besonders  geachteter  Kaufmann ; 
gumäshta  ist  Geschäftsführer  (vgl.  Wilson). 


174  Kohler. 

Aehnlich  in  Mahikaütha  (V,  379);  ähnlich  in  Katsch^ 
wo  die  Innung  regelmässig  die  Handels-,  insbesondere  Versiche- 
rungsstreitigkeiten schlichtet  (V,  122);  in  Ahmadnagar  be- 
stimmt das  Gildenhaupt  (sethya)  den  Minimalpreis  der  Waaren 
(XVll,   74). 

Häufig,  so  in  Panch  Mahal,  schliessen  sich  mehrere 
Gilden  zu  einer  Gesammtgilde  zusammen^  welche  die  gegen- 
seitigen Differenzen  zwischen  den  verschiedenen  Gilden  und 
ihren  Mitgliedern  begleichen  (HI^  251).  So  auch  in  Baroda 
(Vni,  IGO):  hier  heisst  die  Gesammtinnung  mahajan,  das 
Oberhaupt  des  Ganzen  nagarseth  ^^');  wer  aus  dem  maha- 
jan  ausgestossen  ist,  kann  mit  keinem  Mitgliede  einer  In- 
nung mehr  im  Verkehr  stehen ;  gegen  die  Entscheidung 
der  Einzelinnung  kann  an  die  Gesammtinnung  appellirt  werden 
(VII,  160). 

Wer  in  die  Innung  eintritt,  hat  einen  Beitrag  zu  zahlen, 
so  in  Baroda  (VII,  160),  in  Khambat  (VI,  204)  und  (in 
^  Khambat)  ein  Fest  zu  geben. 

§  45. 

Das  Strafrecht  ^^^)  steht  theils  auf  der  Stufe  vor  den 
Rechtsbüchern,  nämlich  auf  der  Stufe  des  Blutracherechts,  theils 
auf  der  Stufe  der  Rechtsbücher,  als  staatliches  Strafrecht,  viel- 
fach aber  im  Laufe  der  Zeit  geändert  und  umgestaltet.  Eine 
besondere  Rolle  spielt  das  sühnende  Strafrecht  und  das  Straf- 
recht der  Kaste. 

In  Kathiawar  finden  wir  noch  Blutrache  bis  in  dieses 
Jahrhundert  ^^^),  ebenso  die  Gewöhnung,  dem  Verfolgten  Asyl 
zu  geben;  auch  die  Blutrache  in  der  Art,  dass  der  Rächer 
(in   der  Art   des  Kohlhaas)   aus   dem    Dorfe   tritt   und    gegen 


'^')  Nagar  ist  Stadt;  nagarseth  also  der  Haupt(kauf)mann  in  der 
Stadt  (vgl.  Wilson). 


^»«)  Vgl.  Zeitschr.  VIII  S.  143,  146. 
^»»)  Vgl.  auch  Zeitschr.  IX  S.  357. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  175 

das  ganze  Dorf  feindselig  verfährt;  man  nannte  dies  bahar- 
vatia^oo)  (VIII,  325,  329).  Im  Uebrigen  Hess  man  in 
Kathiawar  die  Delikte  meist  durch  Geld  büssen ;  nur  auf 
der  Tödtung   einer  Kuh    stand  Todesstrafe   (VIII,  324,  325). 

Das  Recht  des  Ehemanns,  den  Ehebrecher  und  das  Weib 
zu  tödten,  galt  in  Kolhapur  ^^^). 

In  manchen  Gebieten  bestand  das  Strafrecht  der  Smritis 
weiter,  das  Strafrecht  der  Todes-  und  Verstümmelungs- 
strafen; so  in  Kandesch  (XII,  305),  in  Baroda  (VII,  442), 
wo  insbesondere  das  Tödten  einer  Kuh  mit  Todesstrafe  gebüsst 
wurde  (VII,  445)2^2). 

In  anderen  Gebieten  war  das  Strafrecht  der  Rechtsbücher 
längst  vergessen.  Die  Hauptstrafe  war  Geld  und  Konfiskation, 
auch  Peitschenhiebe ;  sonst  auch  arbiträres  Gefängniss  und  Ver- 
stümmelung; so  in  Puna  (XVIII,  3,  15). 

In  Köln a pur  hatte  man  in  der  Mahrattenzeit  Todes-  und 
verstümmelnde  Strafen,  Gefängniss,  meistens  aber  Geldbusse; 
doch  auch  das  kam  vor,  dass  der  Mörder  die  Familie  des 
Erschlagenen  entschädigen  musste  (XXIV,  267).. 

Auch  Strafsklaverei,  namentlich  für  Ehebruch  war  üblich  2^^). 
Unter  den  Peshwas  kam  das  des  Ehebruchs  oder  Diebstahls 
schuldige  Weib  in  staatliche  Sklaverei;  so  in  Dharwar 
(XXII,  463). 

Geldstrafen  sind  äusserst  verbreitet,  auch  Gefängniss 
für  den  Fall  der  Nichtzahlung;  so  in  Katsch^^*). 

Sühnende    Strafen     und,     damit     verbunden,    nieder- 


^^®)  Bähar  heisst:  ausserhalb  des  Dorfes,  bäharväsi  ein  ausser- 
halb des  Dorfes  wohnender,  der  nicht  im  Dorf  wohnen  darf  (Wilson). 
Oder  hängt  der  zweite  Theil  des  Wortes  mit  v  ä  t  a  Weg  zusammen  ? 

201)  Record  of  Kolhapur  p.  169  f. 

2''^)  Bezüglich  der  Rechtsbücher,  wo  solches  der  Tödtung  eines  Ksha- 
triyas  gleichgestellt  wird,  vgl.  Manu  XI,  60,  67,  auch  XI,  109  f., 
Vishnu  L,  16  f.,  Yäjnav.  III,  263  f. 

203)  Record  of  Kolhapur  p.  163^  169. 

204)  Record  of  Kutch  p.  87. 


176  Kohler. 

drückende    und    beschimpfende    Bussen    sind    noch    jetzt    im 
Gebrauch. 

In  der  Mahrattenzeit  war  in  Kolhapur  der  Esels  ritt 
(rückwärts  mit  geschwärztem  Gesicht)  ebenso  häufig,  wie  im 
Occident^os)  (XXIV,  2(37). 

Namentlich  sind  solche  die  Person  ergreifende  Sühne- 
mittel im  Kastenstrafrecht  vertreten.  Das  Strafrecht  wird 
vielfach  innerhalb  einer  jeden  Kaste  geübt;  es  wird  ge- 
übt unter  der  schweren  Sanktion  der  Kastenausstossung:  der 
Ausgestossene  ist  fast  rechtlos :  kein  Kastengenosse  darf  ihm 
Wasser  reichen,  so  die  Bhils  in  Ahmad nagar  (XVII,  193); 
keiner  Wasser  imd  Tabak,  so  die  Telis  und  Pinjaras  in  Nasik 
(XVI,  83),   die  Kanjaris   in  Ahmadnagar  (XVII,    180)  ^o«). 

So  muss  bei  den  Gollars  (Bettlerkaste)  in  Dharwar 
die  Ehebrecherin  öffentlich  in  Dornen  sitzen,  Kuhdung  mit 
Wasser  trinken,  einen  Stein  auf  den  Kopf,  unter  öffentlichen 
Schmähungen  (XXII,  203);  bei  den  Gollars  in  Kanara  wird 
die  Frau  nur  vor  den  Aeltesten  geladen  und  dort  des  Ehe- 
bruchs halber  gerügt  (XV,  1,  298);  bei  den  Uchlias  in  Puna 
wird    die  Ehebrecherin    mit  Koth   beworfen    (XVIII,  1,  474). 

Bei  den  Bedars  in  Bijapur  muss  die  Frau  nach  dem 
Ehebruch,  der  Mann  nach  dem  Incest  gereinigt  werden  durch 
Scheeren,  durch  Berühren  der  Zunge  mit  einer  glühenden 
Kohle,  durch  Trinken  eines  geistigen  Getränkes  (XXIII,  94); 
ebenso  kennen  die  Holias  in  Bijapur  die  Reinigung  durch 
Scheerung  und  Brand  der  Zunge  (XXIII,  216). 

Bei  den  Gonds  in  K and e seh  ist  die  Strafe:  Abrasiren 
des  Bartes,  Brennen  auf  der  Zunge  (XII,   106). 


^^^)  Derartiges  wird  auch  in  den  Rechtsbüchern  erwähnt,  Gau  tarn  a 
XXIII,  15,  Vasishtha  XXI,  1  f.  (die  Frau  soll  nackt  auf  einem  Affen 
herumgeführt  werden). 

'^"^)  Das  Ausstossen  aus  der  Ka&te  statuiren  auch  die  Rechtsbücher 
mit  dem  Anfügen,  dass,  wer  mit  einem  Ausgestossenen  umgeht,  selbst 
wieder  ausgestossen  wird.  Vgl.  Vishnu  XXXV,  3 — 5,  Gautama 
XXI,  3,  Manu  XI,  67.    Vgl.  ferner  mein  Altindisches  Prozessrecht  8.  11. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  177 

Bei  den  Lads  Vanjaris  in  Nasik  findet  sich  die  Demü- 
thigung  durch  das  Auflegen  einer  Sandale  auf  den  Kopf 
(XVI,  63);  bei  den  Teils  und  Pinjaras  ebenda:  Abbitte  vor 
der  Versammlung  (XVI;  83).  Bei  den  Vaidus  in  Puna  muss 
die  Schwiegertochter,  welche  die  Schwiegermutter  beschimpft, 
sie  um  Verzeihung  bitten  (Staub  auf  dem  Kopf)  und  ihr 
Hände  und  Füsse  waschen  (XVIII,   1,  478)^07). 

Nicht  selten  ist  auch  die  Reinigung  durch  Trinken  von 
Wasser,  in  welches  ein  Priester  (Jangam-Lingampriester)  den 
Fuss  getaucht;  so  bei  den  Gavlis  in  Scholapur  (XX,  151), 
den  Ilgerus  in  Dharwar  (XXII,  149).  Bei  den  Chaudri  in 
Kanara  erfolgt  die  Sühnung  durch  Uebergiessen  mit  Wasser 
(XV,  1,  295);  ebenso  bei  den  Kunbis  in  Thana  (XIII,  1,  128). 

Manche  Kasten  lassen  einen  Ausgestossenen  selten  wieder 
zu;  so  die  Pardeshis-Brahmanen  in  Ahmadnagar  (XVII,  63). 

Am  gebräuchlichsten  sind  im  Kasten  recht  die  Geld- 
strafen, hinter  welchen  als  letztes  Drohmittel  die  Ausstossung 
steht  ^^^);  so  in  Scholapur  bei  den  Gujarat,  Kanauj ,  Mar- 
var,  Kudbuda  (XX,  31,  32,  35,  188),  in  Puna  bei  den 
Kirads,  Gujarat  Vanis,  Kashis,  Pahadis,  Chambhars,  Ghisadis, 
Salis,  Guravs,  Kamathis,  Dhors,  Halakhors,  Uchlias,  Vaidus, 
Vasudevs  (XVIII,  1,  270,  277,  284,  313,  329,  338,  365,  379, 
397,  435,  439,  474,  478,  480);  in  Satara  bei  den  Kasars, 
Telis,  Holars,  auch  bei  den  unreinen  Dhors ,  Mangs,  Mhars 
u.  s.  w.  (XIX,  85,  97,  102,  111,  112,  115);  in  Kanara  bei 
den  Karhadas,  Komtigs ,  Buruds,  Bakads,  Haslars  (XV,  1, 
133,  198,  341,  362,  368);  in  Nasik  bei  den  Guravs  (XVI, 
54);  so  auch  bei  den  Bhils  in  Panch  Mahal  (III,  221,  222),  bei 
Stämmen  in  Thana  (XIII,  1,  133,  138,  148),  in  Katsch 
(V.   80),    in  Kandesch  (XII,  74).     So    auch    bei   den  muha- 


^®')  Ueber  solche  Büssungen,  um  die  Kastenrechte  wieder  zu  er- 
werben, vgl.  auch  schon  Alberuni,  India  (übersetzt  von  Sachau)  II  p.  162, 
163.  Ueber  die  Büssungen  nach  den  Rechtsbüchern  ist  anderwärts  zu 
handeln. 

^''^)  Dies  entspricht  der  Satzung  bei  Brihaspati  XVII,  13  f. 
Zeitschrift  für  vergleichende  Rechtswissenschaft.    X.  Band.  12 


178  Kohler. 

medaniscben  Kafshgars  in  Puna  (XVIll^  1^  ^^'^^) ,  wo  das 
GeM  für  Moscheenöl  verwendet  wird. 

Die  Ausstossung  ans  der  Kaste  findet  mitunter  mit 
besonderer  Feierlichkeit  statt;  so  bei  den  Mhars  in  Bijapur, 
wo  zum  Zeichen  des  Kasten  Verlustes  ein  Zweig  an  das  Haus 
gebunden  wird  (XXIV,  114);  ebenso  bei  den  Kol^  in  Thana: 
ein  Zweig  und  ein  Kuhbein  (XIII^  1^  172). 

Zu  den  Kastenvergehen  gehört  natürlich  insbesondere  das 
Essen  von  verbotenen  Speisen,  der  Umgang  mit  Un- 
genossen,  aber  auch  der  Ehebruch  der  Frau  und  mit 
der  Frau  eines  Anderen.  So  bei  den  Holayas  in  Kanara 
(XV,  1,  370);  bei  den  Meta  Koli  in  Thana  hat  Ehebruch 
und  Unsittlichkeit  ständige  Ausstossung  zur  Folge  (XIII, 
1,  174),  bei  den  Thakurs  nur  Geldstrafe  (XIII,  1,  180); 
ebenso  fällt  auf  Ehebruch  nur  Geldstrafe  bei  den  Halakhors 
in  Puna  (XVIII,  1,  439)^  bei  den  Uchlias  ebenda  Geldstrafe 
und  Beschimpfung  (Kothwurf)  (XVIII,   1,  474). 

Bei  den  Mhars  in  Kandesch  hat  Ehebruch  und  Kon- 
kubinat Ausstossung  zur  Folge  (XII,   119). 

Bei  den  Mukris  in  Kanara  (XV,  1,  378)  wird  die 
Wittwe,  die  schwanger  wird,  ausgestossen,  ihr  Mitgenosse 
mit  Geldstrafe  gebusst;  bei  den  Satarkars  ebenda  wird  die 
Frau  ausgestossen ,  welche  mit  einem  Manne  niederer  Kaste 
Ehebruch  treibt  (XV,  1,  242). 

Auch  die  Verletzung,  Verwundung  des  Kastenhauptes  ge- 
hört hierher,  z.  B.  bei  den  Mukris  in  Kanara  (XV,  1,  378); 
ja  auch  die  Verletzung  eines  Kastengenossen,  z.  B.  der  Schlag 
mit  der  Sandale  (bei  den  Mukris  ebenda) ;  ebenso  findet  bei 
den  Chambhars  in  Nasik  Ausstossung  statt  wegen  Schmähung 
eines  Kastengenossen,  auch  wegen  Tödtung  einer  Kuh  (XVI,  71), 

Wo,  wie  im  Innern,  in  Malwa,  der  Hexenghuibe  verbrei- 
tet ist,  wird  die  Hexe  getödtet,  oder  man  schneidet  ihr  die 
Nase  ab,  oder  stösst  sie  aus  der  Kaste  aus^^^). 


209 


)  Malcolm    II  p.  214  f.      Vgl.    auch  Ausland  1891  S.  6C^S. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bonibay.  179 

Die  Ausstossung  findet  sich  auch  bei  islamitischen 
Kasten^  z.  B.  bei  den  Momnas  in  Katsch  (V^  91). 

§  46. 

Nach  den  Rechtsbüchern  gibt  es  ein  Dorfoberhaupt,  ein 
Oberhaupt  über  10  Dörfer,  über  100  Dörfer  und  über 
1000  Dörfer  oder  den  Distrikt,  Vishnu  III,  7  —  10,  Manu 
VII,   115. 

Diese  Dorfverfassung  hat  sich  vielfach  erhalten. 

So  bei  den  Halvakki  Vakkals  in  Kanara:  das  Dorf  steht 
unter  dem  urgauda;  eine  Dorfgruppe  steht  unter  dem  sime- 
gauda,  fünf  Gruppen  wieder  unter  einem  aras-gauda  und 
einem  (religiösen)  guru-gauda^^^).  Kleinere  Vergehen  kom- 
men vor  den  ersteren,  grössere  vor  den  sime-gauda;  auch 
kann  vom  ersteren  an  den  letzteren  appellirt  werden  (XV,  1, 
211—213).  Auch  die  Kare  Vakkals  und  die  Torki  Nadors 
ebendahaben  ihre  budvants  undsime  budvants  (XV,  1,221, 
225);  die  Mukris  ihre  budvants  und  ihre  barkas,  diese  als 
Gruppenhäupter   (XV,  1,  378). 

Ebenso  haben  die  Konkan  Kürbis  ein  Dorfhaupt  bud- 
vant,  mehrere  Dörfer  einen  mahal  budvant,  und  über 
mehrere  mahals  einen  gauda;  der  erstere  kann  auf  Zeit  aus- 
stoßsen ,  der  zweite  in  perpetuum,  der  letztere  kann  immer 
wieder  aufnehmen  (XV,   1,  219,  220). 

In  Puna  bilden  mehrere  Dörfer  einen  Distrikt,  taraf 
(XVIII,  2,  366):  an  der  Spitze  des  Distrikts  stets  der  dec^ad- 
hikari,  später  de9mukh  genannt  (XVIII,  3,  4);  ebenso  in 
Nasik  (XVI,  304)211). 

Die  Städte  hatten  schon  von  früherher  ihre  besondere  Ver- 


^^^)  Gauda  ist  kanaresisch  dasselbe,  was  mahrattisch  patil;  ur 
ist  Dorl",  sime  ist  Gegend,  also  Bezirk,  arasa  ist  Fürst  (Wilson). 

^^*)  Taraf  ein  Landstrich,  decädikäri  =  Distriktvorsteher  (von 
dega  =  Distrikt  und  adhi  über)  ist  die  Sanskritbenennung,  decmukh 
ist  die  mahrattische  Bezeichnung  (vgl.  Wilson). 


180  Kolller. 

fassiing^  hier  gab  es  auch  besondere  Richter;  so  in  Puna 
(XVIII,  3,  8). 

In  den  Lehen  hielten  auch  die  jagirdars  ihre  eigene 
Justiz  (XVIII,  3,  5). 

Nach  guter  alter  Weise  hat  das  Dorf  sein  Dorf haupt^^^), 
oft  auch  zwei:  eines  für  Polizei,  eines  für  Abgaben;  seinen 
Dorfeinnehmer  (talati),  den  Dorfboten  (hawaldar),  den 
Dorfwächter  (wasawar,  rakhna,  vartanio),  den  Dorf- 
polizeidiener (dher)^!^);  sodann  seine  Dorfhandwerker  (balu- 
tas)^^*),  seinen  Barbier,  Schmied,  Zimmermann.  Schuster, 
Töpfer,  Waschmann.  So  in  Surat  (II,  56,  57),  So  findet 
sich  auch  in  Panch  Mahal  der  patil,  talati,  hawaldar, 
rawanio^^^)  (Wächter)  und  die  Handwerker  (III,  227);  in 
Kaira  gibt  es  patil  und  talati  (III,  91);  in  Baroda  zwei 
patils,  talati,  hawaldar,  vartanio,  rakhna  und  die  Hand- 
werker (VII,  75,  76);  in  Kathiawar:  patil,  hawaldar, 
pasaita^i«)  (Polizei),  Dorfhandwerker  (VIII,  171);  in  Ba- 
rotsch:  patil,  talati,  hawaldar,  vartanio  und  Dorfhand- 
werker (II,  382,  383);  in  Ahmadabad:  patil,  talati, 
hawaldar,  chokiwala  ^^'^)  (Wächter)  u.  a.  (IV,  46,  47);  in 
Bijapur:  patil,  kulkarni  (Dorfeinnehmer),  talvar^^^) 
(Wächter):  diese  allein  sind  übrig  geblieben  (XXIII,  75);  in 
Kolhapur:     patil,     mehrere    Beamte     und     die    Dorfhand- 


^^^)  Die  mahrattische  Bezeichnung  ist  pätil,  die  Sanskritbenennung 
war  grämädhikäri  von  gräma  =  Dorf  (vgl.  Wilson). 

^^^)  Talati  =  Verrechner;  hawäladär,  von  hawäla,  ist  Inhaber 
eines  Vertrauensamtes,  Führer,  Bote;  räkhnä,  räkhandär  ist  Wächter  ; 
ebenso  vartanio  und  dher  (vgl.  Wilson). 

^'^)  Bai  Uta  ist  der  Mahrattaname  für  Dorfbeamte  und  Dorfhand- 
werker,  zusammen  12:  5  Beamte,  7  Handwerker.  Ausführlich  darüber 
Wilson  ad  h.  v. 

^^*)  Rawanio,  wohl  von  rawäna  Pass,  Geleite  (vgl.  auch  Wilson). 

^**')   Pasäita  ist  eigentlich  Dienstland. 

^^^)  Chauki  ist  die  Wacht,  daher  chaukidär  oder  chaukiwal  a 
der  Innehaber  des  Wächteramtes  (vgl.   Wilson). 

^^^)  Kulkarani,    Einnehmer,  Verrechner;    tal  avära  =  Wächter. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  181 

werker  ^^^).  In  Kolaba  gibt  es  patil^  talati,  mhar  (Bote); 
Dorfhandwerker  (XI ^  87);  in  Kandesh:  patil^  chaudhari 
(Bürgermeistergehülfe)^  kulkarni  (Dorfeinnehmer),  jaglia 
(Wachtmann),  mhar  und  Dorfhandwerker  (XII,  132,  275).  In 
Thana  bestehen  erbliche  patils  und  erbliche  mhars  (XIII, 
1,  276);  in  Nasik:  patil,  kulkarni,  taral  (Bote)  u.  a. 
(XVI,  87);  in  Ahmadnagar  zwei  patils,  ein  kulkarni, 
jaglia,  Dorfhandwerker  (XVII,  48);  in  Puna:  patil,  kul- 
karni, mhar,  ramoc^i^^^)  (Wächter),  Dorfhandwerker 
(XVIII,  1,  96  und  XVIII,  2,  361);  in  Katsch:  patil, 
chaudri,  talati,  hawaldar,  kathodia  (Wächter)  u.  a.  (V, 
101);  in  Rewa  Kantha:  patil,  talati,  hawaldar,  rakha 
(VI,  36,  96).  In  Savantvadi  heisst  das  Dorfhaupt  gavkar; 
daneben  besteht  der  Dorfeinnehmer  faujdar  und  die  Dorf- 
bediensteten ^'^^) ;  oft  auch  mehrere  gavkars,  die  im  Turnus 
kommen  (X,  421,  448). 

§  47. 

Der  Satz  der  Rechtsbücher,  dass  die  Streitigkeiten  zu- 
nächst von  den  Dorf-,  Gilde-  und  Kastengemeinschaften 
auszutragen  sind^^^),  findet  seine  volle  Bestätigung.  Die 
Kasten-  und  Dorfgerichtsbarkeit  verschlingt  fast  jede  andere. 
Diese  Gerichtsbarkeit  ist  bald  mehr  demokratisch,  indem  die 
Versammlung  entscheidet,  bald  mehr  monarchisch,  indem  das 
Haupt  der  Kaste  die  Entscheidung  gibt;  oftmals  entscheidet 
das  Haupt  mit  Zustimmung  der  Versammlung. 

Dieses  System  beliessen  auch  die  Moguls,  auch  die  Mah- 
ratten;  so  namentlich  in  Puna  (XVIII,  3,  4  und  5). 


2^^)  Vgl.  Record  of  Kolhapur  p.  162. 

^^°)  Mahär  oder  mhar,  Bote  (von  niederer  Kaste);  chaudhari 
oder  chaudhri  ist  Ortsvorsteher ;  jägalyä,  jäglä  ist  Wächter;  taräl 
ist  Bote,  Büttel;  die  rämoci  gehören  der  bekannten  Diebsklasse  an,  sie 
werden  aber  in  den  Dörfern  als  Wächter  verwendet  (vgl.  Wilson). 

^^^)  Fauj  ist  Polizei,  faujdar  Polizeibeamter  (Wilson). 

222j  Ygi    jneJYi  Altindisches  Prozessrecht  S.  11. 


182  Kohler. 

Solche  Kastenhäupter:  gaudas^  budvants^  sethyas, 
mehetryas  ^^^),  naiks^  patila  finrlen  sich  bei  verschiedenen 
Stämmen  in  Kanara  (XV,  1,  180,  198,  228,  229,  242,  243, 
245,  248,  252,  253,  256,  262,  263,  266,  269,  315,  316,  317,  319, 

321,  325,  326,  327,  328,  331,  341,  346,  347,  350,  354,  357, 
358,  359,  360,  362,  363,  364,  366,  367,  368,  371,  374,  378, 
388)5  80  auch  in  Pun  a  bei  den  Mjilis,  Bhadbunjas,  Otaris,  Shimpis, 
Gurava,  Ramoshis,  Bharadis,  Uchlias,  Vaidus  (XVIII,   1,  310, 

322,  357,  369,  379,  425,  447,  475,  478);  so  bei  Stämmen 
in  Satara  (XIX,  84,  87,  92,  116,  123);  so  bei  Stämmen 
in  Scholapur  (XX,  91,  93,  120,  158,  161,  171,  180);  in 
Belgaum  (XXI,  135,  172,  174,  178);  in  Nasik  (XVI, 
58,  71);  in  Ahmadnagar  (XVII,  86);  in  Thana  (XIU,  1, 
138,  147,  148,  158);  in  Bijapur  (XXIII,  112,  137,280);  in 
Ahmadnagar  (XVII,  109). 

Bei  den  Aigals  (Tempelbedienten)  in  Kanara  entscheidet 
das  Tempelhaupt  (XV,  1 ,  201) ;  bei  den  Nairs  steht  (ent- 
sprechend dem  Ansehen  der  Namburis)  die  Versammlung  unter 
einem  erblichen  Nambiar. 

Auch  ein  weibliches  Oberhaupt  kommt  vor:  bei  den 
Tanzmädchen,  kasbans  in  Belgaum:  eine  naikin  oder  bai 
(XXI,  225)2  24). 

Die  Majorität  der  Versammlung  entscheidet  beispiels- 
weise in  Kanara  bei  den  Chitpavansbrahmanen,  den  Joishis-, 
den  Andhras-,  den  Sinvalli-Brahmanen ,  den  Bavkule  Vanis, 
Narvakar  Vanis,  Lad  Vanis,  Padnekar  Vanis,  Lohauas,  Gujarat 
Vanis,  Marvar  Vanis,  Adbatkis  u.  a.  (XV,  1,  129,  134,  136, 
174,  184,  185,  187,  188,  189,  192,  333);  ebenso  in  Belgaum 
bei  den  Gujarat  Vanis,  den  Kamathis,  Marathas,  Mithgavdas, 
Tilaris,  Gabits  (XXI,  101,  108,  128,  129,  132,  157);  ebenso  in 
Scholapur  die  Golak,  Gujarati,  Kanauj,  die  Kayasth  Prab- 
hus,  Mudliars,  Gujarat  Vanis    (XX,  30,  31,  32,  44,  48,  52); 


^^^)  Mehtar  ist  Haupt,  ähnlich  wie  patil. 
"4)  Bai  ist  Herrin,  vgl.  oben  8.  183. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  183 

<}ben30  in  Puna  die  Kirads^  Kachis,  Pahadis^  Badhais,  Beldars, 
Chambhars,  Ghisadis,  Kataris,  Lakheris,  Rauls,  Sonars,  Telis, 
Nhavis,  Kamathis,  Dhors,  Mhars,  Sarvadev  Joshis,  Vasudevs 
(XVIII,  1,  270,  284,  313,  316,  319,  329,  337,  346,  352,  361, 
374,  377,  381,  397,  435,  443,  461,  480).  Ebenso  entscheidet 
die  Versammlung  in  Nasik  bei  den  Lingayat  Vanis ,  Malis, 
Shimpis,  Sutars ,  Kasars,  Niralis,  Guravs,  Kolhatis,  Joharis, 
Vaidus  (XVI,  46,  47,  51,51,  52,  54,  54,  55,  55,  66)-,  in  Satara 
bei  den  Kasars,  Lohars,  Salis,  Sonars,  Sutars,  Teils,  Chitra- 
katis  (XIX,  85,  88,  93,  96,  96,  97,  117);  in  Scholapur  bei 
den  Sagar  Gavandis,  Ghisadis,  Koshtis,  Rangaris,  Rauls,  Salis, 
Shimpis,  Dhangars,  Ledhis,  Vanjaris,  Balsantoshis ,  Bhats, 
Dasaris,  Gondhlis,  Jangams,  Kudbudas  (XX,  101,  119,  135, 
136,  137,  140,  148,  161,  169,  181,  181,  182,  183,  185,  188); 
in  Kanara  bei  den  Kallukutigs  (XV,  1,  275);  in  Ratnagiri 
bei  den  Kunbis  (IX,  122);  in  Kandesch  bei  den  Abhirs 
(XII,  53);  in  Thana  bei  den  Brahmanen,  den  Prabhus,  den 
Porvad  Vanis,  Kochis,  Kamlis,  Vanjaris,  Beldars,  Jingars  und 
anderen  Stämmen  (XIII,  1,  74,  78,  82,  83,  86,  89,  109,  113, 
119,  123,  132,  136,  137,  138,  140,  141,  143,  145,  151, 
158,  191). 

Manchmal  ist  es  auch  ein  religiöses  Plaupt,  an  wel- 
ches die  Kastenstreitigkeiten,  sei  es  in  erster,  sei  es  in 
zweiter  Reihe  gebracht  werden,  ein  guru,  ein  ä^ärya;  so  bei 
den  Kasars  (Jains) ,  den  Kumbhars,  Panchals  in  Belgaum 
(XXI,  140,  141,  134);  bei  den  Shrivaishnavs,  Komtis,  Ilgerus 
in  Dharwar  (XXII,  100,  131,  149);  bei  den  Chetris ,  den 
Patsalis,  Jads  in  Kanara  (XV,  1,  344,  276,  277);  bei  den 
Shenvis  in  Ahmadnagar  (XVII,  64);  bei  den  Shirogars, 
Jainas,  Sadars,  Satarkars,  Ari  Marathas,  Habbus,  Sonars, 
Golak  Sonars,  Badiges  in  Kanara  (XV,  1,  227,  236,  240, 
242,  245,  248,  258,  260,  262).  Ebenso  verschiedene  Brah- 
manenklassen  in  Kanara  (XV,  1,  131);  die  Sarasvats  in 
Thana  (XIII,  1,  85);  die  Bedars,  Oshtams  in  Bijapur 
(XXIII,  93,  141);  die  Jains  in  Kolhapur  (XXIV,   146). 


184  Kohler. 

Wo  die  Islam iten  Kastenwesen  haben,  da  haben  sie  zum 
Theil  auch  ihre  Kastenversammlungen  und  oftmals  ihren  bud- 
vant;  so  in  Belgaum  (XXI,  207,  210,  211,  214,  215,  216), 
in  Dharwar  (XXII,  239,  242,  248),  in  Scholapur  (XX, 
203,  204),  in  Satara  (XIX,  138,  139,  140,  141,  142,  143, 
145),  in  Puna  (XVIII,  1,  498,  505,  506),  in  Thana  (XIII, 
1,  222,  237,  238,  239,  246),  in  Katsch  (V,  91,  94,  98,  99), 
in  Bijapur  (XXIII,  297,  301,  303);  ferner  die  Bohorars  in 
Baroda:  sie  verpönen  jede  Anrufung  der  staatlichen  Justiz 
(VII,  71).  Oefters  fehlt  aber  auch  eine  jede  Organisation:  da  ist 
das  Kastenwesen  in  den  Anfängen  stehen  geblieben,  z.  B.  in 
Dharwar  (XXII,  241,  244,  245,  246,  249),  in  Satara  (XIX, 
142),  in  Puna  (XVIII,  1,  494,  495,  496,  504). 

Andere  islamitische  Stämme  bringen  die  Streitigkeiten 
vor  den  Kädhi  oder  vor  den  Kädhi  und  die  Honoratioren ;  so 
in  Thana  (XIII,  1,  234). 

Einfache  Streitigkeiten  kommen  nicht  selten  an  einen 
Ausschuss,  an  ein  Fünfercollegium:  panch,  panchayat,  das 
aus  fünf  oder  mehr  Mitgliedern  bestehen  kann  ^2^). 

Der  panch  wird  von  den  Parteien  aus  gewählt;  die  Par- 
teien unterwerfen  sich  ihm :  wer  sich  nicht  unterwirft,  der  gilt 
als  trügerisch  und  sachfällig,  entsprechend  der  Eigenart  des 
altindischen  Prozesses  ^^^);  so  in  Kolhapur  (XXIV,  267). 
Auch  in  Nasik  wurde  der  panch  von  Parteien  und  Regierung 
ernannt  (XVI,  304).  Auch  in  Palanpur  (V,  306)  und  in 
Baroda  war  der  panch  von  der  grössten  Bedeutung  (VII, 
440),  während  in  Savantvadi  meist  das  Dorfhaupt  allein  ent- 
schied, selten  der  panch  (X,  421). 

Besondere  Verfassungen  finden  sich  bei  Urstämmen,  ins- 
besondere bei  den  Kols.  Die  Mahadev  Kolis  in  Ahmadnagar 
hatten  ein  Tribunal  oder  gotarni,  bestehend  aus  den  ragatvan 


2")  Vgl.  Zeitschrift  VIII  S.  99,  140,  IX  S.  357.    Vgl.  auch  Wilson 
ad  h.  V. 

^"^)  Vgl.  mein  Altindisches  Prozessrecht  S.  21  f. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  185 

(Präsidenten);  metal^  seinem  Gehilfen^  sabla,  dem  Rüger, 
welcher  die  Leute  erkundete  und  bei  Vergehungen  vorführte,  dem 
dhalia  (Ruthe),  welcher  an  die  Thüre  der  Ungehorsamen  einen 
Zweig,  und  dem  hadkya  (Kuhbein),  welcher  an  diese  Thür 
einen  Kuhknochen  band:  dadurch  wurde  der  Ungehorsame 
ausgeschlossen,  bis  er  durch  den  ragatvan  wieder  auf 
genommen  war,  worauf  das  Haus  durch  den  madkya  (irdenen 
Topf)  wieder  entsühnt  wurde.  Geldstrafen  fielen  ^/2  an  Kaste, 
1/2  an  den  Tempelbaufond  (XVII,  208).  Aehnlich  die  Kols 
in   Thana  (XIII,  1,   172,   173). 

Bei  den  Bhils  steht  den  Clans  ein  tadvi  oder  tadvadi 
vor;  so  in  Panch  Mahal,  in  Rewa  Kantha  (III,  221, 
VI,  36).  Die  Bhils  in  den  Berggegenden  von  Kandesch 
bringen  ihre  Streitigkeiten  vor  den  naik  oder  khan  sahibs 
(Distriktshaupt),  welcher  erbliche  Minister  hat  (XII,  93,  105); 
oder  vor  einen  alten  Mann  (XII,   102). 

Ebenso  haben  die  Vanjaris  in  Kandisch  ihre  erblichen 
Hauptleute,  naiks,  welche  mit  einem  Rathe  von  10 — 12  Per- 
sonen entscheiden  (XII,  108). 

§  48. 

Das  Verfahren  entspricht  den  indischen  Rechtsbüchern : 
die  Darstellung  der  Sachlage  durch  die  Partei,  die  Unter- 
suchung, Zeugenvernehmung,  das  Ordal;  so  in  Kolhapur 
(XXIV,  266).  Auch  die  Prozesswette  kam  vor,  auch  die 
Erscheinung,  dass  der  siegende  und  der  unterliegende  Theil 
eine  Summe  an  den  Richter  zahlte  2^'^);  so  in  Puna  (XVIII, 
3,  7  und  9).  Erschien  der  Beklagte  nicht,  so  bekam  er  einen 
Pressboten,  in  Puna  (XVIII,  3,  7).  Wenn  er  wiederholt  nicht 
erschien,  erlitt  er  Vermögensbeschlag  und  der  Prozess  wurde 
ohne    ihn    geführt,    allerdings    mit    der    Möglichkeit    der    in 


227^   Vgl.    auch  Zeitschrift  VIII    S.   141 ;    Altindisches  Prozessrecht 

S.  18. 


180  Kohler. 

integrum  restitutio,  namentlich  bei  Landstreitigkeiten;  so  in 
Puna  (XVHI,  3,  8)  2^«). 

Die  Hauptpunkte  des  Prozesses  wurden  oft  schriftlich 
gefasst  und  dem  Sieger  eine  Urtheilsausfertigung,  Chut- 
patra^^^),  gegeben;  so  in  Kolhapur  (XXIV,  2GG). 

Bisweilen  wird  auch  (den  Rechtsbüchern  entsprechend)  eine 
nochmalige  Verhandlung  gestattet  (XXIV,  267)  ^^^). 

Ganz  nach  den  Rechtsbüchern  gab  es  endlich  besondere 
Sachkundige  für  die  Gränzstreitigkeiten ;  so  in  Puna  (XVIII, 
3,   8)231). 

§  49. 

Unter  den  Ordalien  nimmt  das  HeissÖlordal  eine  beson- 
dere Stellung  ein  2^^).  Der  Beschuldigte  hat  einen  Stein  oder 
Ring  aus  einem  Topf  siedenden  Oeles  herauszuholen,  und  es 
entscheidet  der  Befund.  So  bei  den  (übel  berüchtigten) 
Uchlias  in  Puna,  namentlich  für  den  Ehebruch:  die  Prüfung 
des  Armes  erfolgt  hier  nach  24  Stunden;  der  Beschuldigte 
sagt,  wenn  er  das  Ordal  eingeht :  „bin  ich  unschuldig,  so  soll 
das  Oel  sein  wie  Milch,  bin  ich  schuldig,  schlimmer  als  Feuer" 
(XVIII,  1,  468,  469,  475).  Auch  sonst  war  in  Puna  das 
HeissÖlordal  in  Uebung  (XVHI,  3,  8).  Ebenso  holt  bei  den 
Phansepardhis  in  Scholapur  der  Beschuldigte  eine  Münze 
aus  dem  Oel  (XX,  167).  Auch  in  Kolhapur  findet  sich 
das  HeissÖlordal  (XXIV,  266;  auch  in  Nasik  (XVI,  Qid),  Auch 
der  Ordaleid  war  in  Puna  gebräuchlich:  der  Beschuldigte 
sprach  über  sich  den  Fluch  aus;  es  wurde  dann  eine  Zeit  lang 


^^®)  Altindisches  Prozessrecht  S.  22  f. 

'^^^)  Chchüt  =  Erledigung,  Patra  ist  Blatt,  Urkunde.  Es  entspricht 
dem  altindischen  jayapattra  (Altindisches  Prozessrecht  S.  51). 

^^°)  Altindisches  Prozessrecht  S.  52. 

^'^)  Altindisches  Prozessrecht  S.  32. 

232^  Vgl.  Altindisches  Prozessrecht  S.  45.  Ferner  Zeitschr.  VIII, 
146,  268 ;  IX,  358. 


Die  Gewohnheitsrechte  der  Provinz  Bombay.  187 

abgewartet;  ob  ihm  nicht  ein  Unglück  zustosse:  dies  war  ent- 
scheidend (XVIII,  3,  8). 

In  Kathiawar  ist  der  Ordaleid  in  den  Reinigungseid 
übergegangen:  der  Beschuldigte  schwört  vor  einem  Sivabild^ 
oder  er  berührt  den  Hals  einer  Kuh  oder  eines  Brahmanen 
mit  einem  Messer  und  will  damit  für  den  Fall  des  Falsch- 
schwörens  die  Schuld  auf  sich  laden ,  als  ob  er  ihn  getödtet 
hätte:  der  Eid  reinigt  ihn  (VIII,  327). 

Hier  gilt  aber  auch  das  Ordal  des  glühenden  Ringes  und 
der  glühenden  Kugel,  welche  unter  einem  besonderen  Baume 
(dem  Diebsbaume)  erhitzt  wird  (VIII,  327). 

Ein  anderes  Ordal  war  in  Puna  besonders  bei  Gränz- 
streitigkeiten  üblich:  das  Haupt  des  Dorfes,  um  dessen 
Gränze  es  sich  handelte,  umwandelte  den  Gränzstreif  mit 
einem  Klumpen  Erde  auf  dem  Kopf:  hielt  der  Klumpen  zu- 
sammen, so  war  er  im  Recht  (XVIII,  3,  8)^^^). 

Verwandt  ist  das  Ordal  der  Grabesumwandlung  in 
Kathiawar:  der  Bezichtigte  umwandelt  das  Grab  eines 
Heiligen,  gefesselt;  ist  er  unschuldig,  so  fallen  die  Fesseln  ab 
(VIII,  327). 

Eine  Art  Bahrprobe  lässt  sich  bei  den  Kols  in  Ahmad- 
nagar  nachweisen.  Wenn  die  Leiche  verbrannt  ist,  wird 
nachgesucht,  ob  nicht  ein  Fetzen  Kleid  oder  ein  Korn  unver- 
brannt da  liegt:  es  wird  angenommen,  dass  dieses  unverbrannte 
Stück  seinen  Tod  veranlasst  und  dass  Jemand  aus  Rache 
ihm  das  Stück  angezaubert  habe  (namentlich  aus  Rache,  weil 
er  vom  Verstorbenen  bestohlen  worden  sei)  XVII,  207. 

Im  Innern,  namentlich  in  Malwa,  wo  der  Hexenglaube 
verbreitet  ist,  finden  sich  auch  Hexenordale  der  verschiedensten 
Art:  es  gibt  Leute,  welche  den  Hexen  die  Hexereien  ansehen 
(Auguration) ;  der  Hexe  wird  rother  Pfeffer  in's  Auge  ge- 
streut: thränt  sie  nicht,  so  ist  sie  eine  Hexe;  man  schlägt  sie 
mit   gewissen  Zweigen:    schreit  sie,    ist  sie  eine  Hexe;    auch 


233 


)  Vgl.  Altindisches  Prozessrecht  S.  32. 


188  Kühler.    Die  Gewolinheitsrechte  der  Provinz  Bombay. 

die  Hexenprobe  durch  Wasser  findet  sich :  die  Hexe  schwimmt 
oben  23*). 

Eigenthümlich  ist  Folgendes:  Bei  den  Bhamtas  in  Nasik 
kann  man  sich  im  Zweifelsfall  mit  50  Rupees  vom  Ordale 
lösen,  so  dass  es  nach  der  Zahlung  ist,  als  ob  das  Ordal  ge- 
wonnen wäre  (XVI,  66) :  also  nicht  eine  Lösung  vom  Ver- 
brechen, aber  von  der  Ordal pflicht,  von  dem  Ordalzwang. 

Was  die  Stellung  des  Ordals  betrifft,  so  konnte  in  Nasik 
die  Partei,  welche  mit  dem  ürtheil  nicht  zufrieden  war,  sich 
auf  das  Ordal  als  letzte  Aushilfe  berufen  (XVI,  304). 


234 


)  Malcolm  II  p.  214  f. 


V. 

Einzeluntersuchungen   zur  vergleichenden  Eechts- 

wissenschaft. 

Von 

Karl  Friedrichs. 

Familienstufen  und  Eheformen. 

In  keiner  wissenschaftlichen  Disciplin  sind  die  Begriffe 
so  schwankend  und  unbestimmt,  die  Kunstausdrücke  so  un- 
klar und  vieldeutig  wie  in  der  vergleichenden  Rechtswissen- 
schaft. Es  erscheint  daher  geboten,  einmal  der  Feststellung 
der  wichtigsten  Begriffe  eine  eigene  Untersuchung  zu  widmen. 

Im  Folgenden  sollen  besprochen  werden : 

1.  Die  Familienstufen  (FamilienentwickelungsBtufen):  Lose 
Familie,  Matriarchat  =  Mutterrecht,  Patriarchat  =  Vaterrecht, 
zweiseitige  Familie. 

2.  a)  Die  Eheformen :  Promiscuität,  Polyandrie,  Poljgynie, 
Monogamie,  sowie  b)  die  Frauenstufen  (Hauptfrau,  Nebenfrau, 
Kebsweib,  Sklavin),  und  die  Männerstufen  (Ehemann,  Cicis- 
beo,  Prinzessinnenbuhle). 

Weitere  Ausführungen  sollen  einem  späteren  Aufsatze 
vorbehalten  bleiben. 


190  Fritdrichs. 

Erster  Theü. 
Die  Familienstufen. 

§  1. 
Aufzählung  der  Familienstufen. 

Die  Zahl  der  Familienstufen  oder  Familienentwickelungs- 
stut'en  beträgt  wenigstens  vier: 

1.  Die  lose  Familie. 

2.  Die  matriarchale,  uterine  Familie. 

3.  Die  patriarchale,  agnatische  Familie. 

4.  Die  moderne,  zweiseitige  Familie. 

Im  Sprachgebrauche  Bachofen's  und  Lafitau's  be- 
zeichnen die  Worte:  „Matriarchat"  und  „Gynaikokratie"  so- 
wohl die  Berechnung  der  Sippenangehörigkeit  nach  der  Mutter, 
als  auch  eine  politische  Verfassung,  nach  welcher  die  Weiber 
die  Führerrolle  haben  und  die  Männer  unterworfen  sind^). 
Diese  beiden  Bedeutungen  sind  aber  scharf  von  einander  zu 
trennen:  auch  wo  die  Mutter  die  für  die  Sippe  des  Kindes 
entscheidende  Persönlichkeit  ist,  können  dennoch  im  Recht 
und  im  Leben  die  Männer  die  einflussreicheren  sein  und  um- 
gekehrt^). Da  das  Wort  „Mutterrecht"  sich  für  den  prak- 
tischen Gebrauch  wenig  empfiehlt'),  indem  es  einmal  nichts- 
sagend ist,  und  ausserdem  der  grammatischen  Ableitungen 
entbehrt,  so  wird  man  gut  thun,  die  Herrschaft  der  Weiber 
als  „Gynaikokratie",  die  uterine  Verwandtschaftsberechnung 
als    „Matriarchat"    zu    bezeichnen.       Der    wörtliche   Sinn    der 


1)  Bachofen,  MR  p.  28a.  —  Vgl.  dazu:  Peschel,  VK  p.  244.  — 
Ploss,  KBS  2,  p.  393.  —  Jäger  in  Trewendts  Handwörterbuch  der 
Zoologie  2,  p.  491.  —  Hellwald,  MF  p.  214,  279.  —  üargun,  MR 
p.  1,  Note. 

2)  Hellwald,  MF  p.  214,  275,  279. 

^)  Der  Versuch  Hellwalds,  MF  p.  204,  mit  dem  Worte  Mutter- 
recht noch  einen  andern  Begriff  zu  verbinden,  ist  zu  verwerten. 


Familienstufen  und  Eheformen.  191 

beiden  Fremdworte  spricht  nicht  dagegen.  Denn  ap)(siv  (führen)^ 
ist  nicht  dasselbe  wie  Ttpatsiv  (herrschen). 

In    diesem   Sinne    soll   im  Folgenden   die  Bedeutung    der 
vier  Familienstufen,  ihre  Einwirkung  auf  die  einzelnen  Rechts 
Institute  und  ihre  Kennzeichen    behandelt  werden,    und    zwar 
in  vier  Kapiteln : 

I.  Gentilverfassung  (§  2 — 5). 

II.  Hausgewalt  (§  6 — 8). 

III.  Erbfolge  (§  9). 

IV.  Kinder  ein   Segen   (§   10 — 14). 


Bedeutung  und  Kennzüge  der  Familienstufen. 
I.  Gentilverfassung. 

§  2. 

1.  Im  Allgemeinen. 

Die  Familienstufe  wirkt  durchaus  nicht  nur  auf  das  Ver- 
hältniss  zwischen  Vater,  Mutter  und  Kindern ;  ja  dieses  Ver- 
hältniss  wird  nicht  einmal  in  erster  Linie  durch  die  Familien- 
stufe bestimmt.  Denn  so  verschieden  das  Leben  des  Hauses 
sich  auch  in  den  verschiedenen  Rechtsgebieten  gestaltet,  so  giebt 
es  doch  gewisse  Sätze  des  jus  naturale ,  quod  natura  omnia 
animalia  docuit.  Ueberall  ist  der  Mann  der  körperlich 
stärkere  und  gutmüthigere,  die  Frau  der  körperlich  schwächere 
und  schlauere  Theil,  beide  streben  mit  mehr  oder  weniger 
Energie  nach  dem  überwiegenden  Einfluss  im  Hause  und 
überall  sind  die  Kinder,  so  lange  sie  der  elterlichen  Pflege 
bedürfen,  vollkommen  abhängig  von  den  Eltern  und  suchen 
sich  nachher  mehr  oder  weniger  selbstständig  zu  machen. 
Ueberall  wird  sich  jeder  bemühen,  sein  Familienleben  seinem 
und  seiner  Hausgenossen  Charakter  und  Bedürfnissen  anzu- 
passen und  wird  die  Vorschriften    der  Rechtsordnung    nur  als 


J92  Fiiedriclis. 

einen  Rahmen  ansehen,  innerhalb  dessen  er  sich  das  Heim  so 
behaglich  ausbaut  wie  er  kann.  Die  herrschenden  Anschau- 
ungen der  verschiedenen  Völker  weichen  von  einander  ab,  aber 
auch  innerhalb  desselben  Volkes  sind  solche  Abweichungen 
möglich,  und  bei  höher  cultivirten  Völkern  gewöhnlich.  Aus 
diesem  Grunde  müssen  auch  innerhalb  desselben  Rechts - 
gebietes  die  Lebensgewohnheiten  in  den  verschiedenen  Haus- 
ständen grosse  Unterschiede  von  einander  zeigen. 

Wir  leben  heute  im  System  der  zweiseitigen  Familie 
und  doch  finden  wir  überall  Haushaltungen,  in  denen  nur  der 
Mann  oder  nur  die  Frau  oder  gar  über  beide  Eltern  das  ver- 
zogene Töchterchen  allein  das  Wort  führt. 

Die  Sage  von  Herakles  und  Omphale  und  gerade  das 
Sinnbild  des  Pantoffels*)  ist  in  einem  patriarchal  lebenden 
Volke  entstanden;  und  beruhen  nicht  die  Mährehen  von  der 
bösen  Stiefmutter  auf  dem  Gedanken,  dass  es  in  einem  patriar- 
chalen  Hause  der  klugen  und  boshaften  zweiten  Frau  gelingt, 
den  rechtlich  unbeschränkten  Hausvater  thatsächlich  so  zu 
beherrschen ,  dass  er  ihr  zu  liebe  die  Kinder  seiner  ersten 
TtooptSiTj  aXoy^OQ  als  Sklavenkinder  hält! 

Römische  uxores  in  manu  haben  ihren  Pantoffel  gewiss 
ebenso  wacker  geschwungen  wie  je  eine  Ehefrau  der  Ba  Londa 
oder  Ba  Nyay. 

Dass  immerhin  der  Aufbau  der  Familie  im  Staat  auf 
das  Leben  der  einzelnen  Hausstände  seinen  grossen  Einfluss 
hat,  soll  nicht  verkannt  werden ;  aber  dieser  Einfluss  darf 
auch  nicht  überschätzt  werden  und  insbesondere  darf  aus  dem 
thatsächlichen  Leben  im  Hausstande  kein  Schluss  auf  den 
Familienaufbau  gezogen  werden. 

Im  Gegensatze  hierzu  werden  die  Beziehungen  der  Kinder  zu 
den  Verwandten  der  Eltern,  d.  h.  das  Verhältniss  zwischen  Gross- 
eltern und  Enkeln,  Onkel  und  Neffen,  auch  zwischen  Schwieger- 
eltern und  Schwiegerkindern,    und  endlich  zwischen  den  noch 


0  Bachofen  ST  p.  75. 


Familienstufen  und  Eheformen.  193 

entfernteren  Verwandtschaftsgraden,  —  nicht  nur  in  den  recht- 
lichen Wirkungen,  sondern  auch  in  Bezug  auf  die  persönlichen 
und  Herzensbeziehungen  —  von  der  Familienstufe,  welcher  das 
Volk  angehört,  überwiegend  oder  allein  bestimmt.  Abweich- 
ungen von  dem  Regelmässigen  pflegen  nur  durch  solche  per- 
sönliche Gründe  der  Freundschaft  oder  der  Abneigung  her- 
vorgerufen zu  werden,  welche  sich  auch  Fremden  gegenüber 
geltend  machen  würden. 

Für  das  heutige  Deutschland  liegen  die  Dinge  so,  dass 
der  einzelne  sich  mit  den  väterlichen  und  den  mütterlichen 
Angehörigen  gleich  nahe  verwandt  fühlt.  Der  Gedanke,  dass 
wir  dem  Vaterbruder  grundsätzlich  näher  oder  ferner  stehen 
sollten  als  dem  Mutterbruder  u.  s.  w.,  wäre  uns  unverständlich. 
Die  Eltern  ziehen  ihre  Kinder  mit  Last  und  Mühe  auf,  bei 
den  ärmeren  bis  zum  14.  oder  16.,  bei  den  wohlhabenderen 
bis  zum  20.  Jahre  und  darüber  ohne  jede  Hoffnung  auf  einen 
materiellen  Entgelt  für  ihre  Sorgen.  Sie  freuen  sich,  wenn 
es  dem  Kinde  früh  glückt,  sich  von  ihnen  zu  trennen  und 
einen  eigenen  Haushalt  zu  begründen,  aber  immerhin  wohnt 
das  junge  und  das  alte  Paar  gern  am  selben  Orte,  in  mög- 
lichster Nachbarschaft,  man  fragt  sich  um  Rath,  man  hilft 
sich  aus,  die  erste  Niederkunft  der  jungen  Frau  pflegt  selten 
ohne  die  Mitwirkung  ihrer  Mutter  zu  geschehen,  die  über- 
haupt sich  berechtigt  und  verpflichtet  glaubt,  für  ihre  Tochter 
zu  sorgen,  oft  mehr  als  es  dem  Schwiegersohne  lieb  ist. 

Auf  dieser  Grundlage  stehen  die  Beziehungen  der  weiteren 
Verwandten  zu  einander.  Ein  jeder  scheut  sich,  gegen  einen 
Verwandten  Zeugniss  abzulegen,  sei  es  in  Civil-  oder  Straf- 
sachen, und  das  Gesetz  hat  dies  Gefühl  gebilligt  und  aner- 
kannt, aber  wenn  die  Verurtheilung  stattgefunden  hat,  so  sind 
die  Verwandten  nicht  berufen,  für  Schulden  und  Strafe  ihrer 
Angehörigen  einzutreten;  ja  in  Strafsachen  nicht  einmal  be- 
fugt. Delicte  von  Verwandten  untereinander  werden,  wenn  sie 
gering  sind;  milder,  wenn  sie  schwer  sind,  strenger  beurtheilt 
als  unter  Fremden.    Im  Uebrigen  gilt  das  Band  der  Verwandt- 

Zeitschrift  für  vergleichende  Rechtswissenscliaft.   X,  Band.  13 


li)4  Fiieilrichs. 

Schaft  in  der  Regel  nur  als  bequeme  Gelegenheit,  mit  einer 
beschränkten  Anzahl  von  Personen,  welche  wir  von  Jugend 
auf  kennen,  und  deren  Eigenarten  uns  vertraut  sind,  in 
zwangloserer  und  formloserer  Weise  zu  verkehren  als  mit 
Fremden;  das  Band  ist  nicht  stark  genug,  um  Ehen  als  ver- 
boten erscheinen  zu  lassen^),  und  es  fällt  oft  ganz  zusammen, 
wenn  nicht  auch  Bekanntschaft  und  Verkehr  die  Verwandten 
verbindet.  Unterstützungen,  welche  etwa  der  Onkel  dem 
Neffen  zuwendet,  gelten  nicht  als  Wohlthätigkeiten  Fremder, 
deren  Zurückweisung  der  Stolz  gebietet,  aber  auch  nicht  als 
Pflichtgaben-,  der  Neffe  hat  nicht  zu  quittiren,  sondern  zu 
danken. 

Im  Uebrigen  haben  wir  die  volle  Möglichkeit,  uns  auch 
mit  Fremden  auf  einen  gleichen  Verkehrsfuss  zu  stellen.  Wir 
können  den  Fremden  trauen,  denn  wir  haben  Frieden  mit 
einer  umgebenden  Bevölkerung  von  Millionen,  und  in  allen 
Nöthen  und  Bedrängnissen  finden  wir  bei  staatlich  geordneten 
Gerichten  einen  sicheren  Schutz.  Wie  weit  wir  unsere  Ver- 
wandtschaft rechnen  wollen,  dafür  haben  wir  kein  festes  Mass, 
aber  es  ist  sicher,  dass  sie  mit  der  grösseren  Ferne  ganz  all- 
mählich verblasst. 

Einen  Gegensatz  hierzu  bildet  das  Thierleben.  Ein  Thier 
kennt  nie  seine  Grosseltern,  fast  nie  seine  älteren  Geschwister, 
selten  seinen  Vater,  immer  seine  Mutter;  obwohl  bei  unseren 
Hausthieren  auch  dieses  Verhältniss  durch  längere  räumliche 
Trennung  aus  dem  Gedächtniss  schwinden  kann.  Neben  diesem 
engsten  Verbände  kennen  die  frei  lebenden  noch  eine  Grup- 
pirung  in  Rudel,  Horden,  Völker,  Schoofe,  Staaten;  im 
Uebrigen  wird  nicht  einmal  die  Species  das  Gefühl  der  Zu- 
sammengehörigkeit haben. 

Eine  andere  Art  der  Gliederung  ist  die  Gentilverfassung. 
Sie  besteht  nur  in  solchen  Gemeinwesen,  in  denen  staatliches 


^)  Die    strengeren    kirchlichen   Eheverbote    sind   Ueberlebsel    aus 
früherer  Zeit. 


Familienstufen  und  Eheformen.  195 

Leben  überhaupt  nicht  bekannt  oder  erst  in  den  ersten 
rohesten  Ansätzen  begriffen  ist.  Zugleich  aber  besteht  sie 
nur  in  solchen  Gemeinwesen^  welche  schon  eine  gewisse  An- 
sammlung von  Capital  erworben  haben,  zu  dessen  Schutz  der 
Einzelne  sich  auf  seine  eigenen  Kräfte  nicht  genügend  verlassen 
kann,  und  das  ihm  das  Leben  von  der  Hand  in  den  Mund  erspart. 
Vermöge  der  Gentilverfassung  zerfallen  die  durch  gemeinsame 
Sprache  oder  durch  Bewohnen  desselben  Gebietes  mit  einander 
vereinigten  Menschen  in  souveräne  Stämme,  welche  ihrerseits 
wieder  in  Unterstämme,  gentes,  gegliedert  sein  können.  Der 
Stamm  hat  die  Summe  der  Einzelinteressen  seiner  Mitglieder 
zum  Gemeininteresse  erhoben ;  er  steht  für  alle  Gut-  und  Blut- 
schulden seiner  Genossen  ein  und  unterstützt  dieselben  in  der 
Verfolgung  ihrer  Rechte  nach  aussen  und  betreibt  die  Rache 
für  erlittene  Frevel  mit  unerbittlicher  Strenge:  Mass  der 
Rache  ist  nur  das  Mass  der  Kraft.  Wenn  ein  Stamm  genösse 
einem  Fremden  Unrecht  thut,  so  wird  ihn  sein  Stamm  nicht 
desshalb  strafen,  sondern  ihn  mit  allen  Mitteln  gegen  den  rächen- 
den Stamm  beschützen.  Wer  einem  Genossen  Unrecht  thut,  geht 
in  vielen  Fällen  auch  straflos  aus,  da  sein  Stamm  seine  Kraft 
nicht  entbehren  kann,  eventuell  trifft  ihn  die  Ausstossung, 
welche  von  selbst  mit  einer  Friedlossetzung  verbunden  ist, 
da  sein  Stamm  ihn  nicht  mehr  schützt  und  rächt,  und  er 
somit  von  jedem  Stärkeren  straflos  getödtet  werden  kann: 
eine  Wirkung  der  Gentilverfassung  ist  die,  dass  jeder,  der 
nicht  einer  ihn  schützenden  gens  angehört,  also  der  Fremde, 
der  Flüchtling,  allen  Angriffen  wehrlos  ausgesetzt  ist. 
„Gentilität  und  volle  Rechtsfähigkeit,  Nichtgentilität  und 
volle  Rechtlosigkeit  sind  ursprünglich  gleichbedeutend^^)  — 
„whoever  is  foreign  to  a  group,  is  hostile  to  it"  ^)  — 
„der  primitive  Mensch  betrachtet  nur  denjenigen  als  »ich 
durch     Rechtsgenossenschaft    verbunden,     welcher    demselben 


'')  I  he  ring  GRR  1,  p.  226. 
0  Mac  Lennan  StAH  p.  107. 


10(j  Friedrichs. 

Stamme  wie  er  angehört.  Der  Fremde  ist  schutzloa  und 
reehtlos"^). 

Eine  andere  Folge  ist  die,  dass  jeder  nur  einem  Stamme, 
einer  Gruppongenossenschaft  angehören  kann.  Und  ebenso 
gross,  wie  das  Interesse  der  Einzelnen  an  der  Zugehörigkeit 
zu  einem  Stamme  ist,  so  gross  ist  auch  das  Interesse  des 
Stammes,  möglichst  viele  Individuen  zu  Genossen  zu  haben. 
Es  ist  nicht  möglich,  dass  die  Willkühr  des  Einzelnen  darüber 
entscheidet,  ob  er  einem  Stamme  angehören  will  und  welchem, 
sondern  es  ist  nothwendig,  dass  jeder  von  der  Geburt  an 
Mitglied  eines  bestimmten  Stammes  ist.  Wenn  nun  beide 
Eltern  derselben  Gliederungsgruppe  angehören,  so  ist  es 
zweifellos,  dass  auch  das  Kind  zu  derselben  gehört.  Stammen 
aber  die  Eltern  aus  verschiedenen  Gruppen,  so  kann  das  Kind 
—  wenn  nicht  ganz  abnorme  Verhältnisse  vorliegen  —  ent- 
weder zu  der  Gruppe  des  Vaters  oder  zu  der  der  Mutter  ge- 
hören, und  wenn  auch  die  Eltern  selbst  in  enger  Gemeinschaft 
unter  einander  leben,  so  wird  doch  das  Kind  im  einen  Falle 
den  Agnaten  sehr  nahe,  den  Uterinen  aber  fern,  im  andern 
Falle  den  Uterinen  nahe  und  den  Agnaten  fern  stehen.  Den 
reinen  Cognaten,  d.  h.  den  Verwandten,  welche  durch  Männer 
und  Weiber  mit  ihm  verbunden  sind  (z.  B.  der  Vaters-Schwester- 
tochter,  dem  Mutter-Bruder-Sohne),  ist  es  in  beiden  Fällen 
fremd  ^). 

Dort  wo  sich  eine  in  der  Ausbildung  begriffene  Staats- 
verfassung als  mehr  oder  weniger  loser  Rahmen  um  die  Gen- 


«)  0.  Schrader,  SU  p.  505. 

^)  Es  müsste  denn  schon  sein,  wie  auf  Timor,  und  vielleicht  bei 
einer  Reihe  von  weiteren  Malayenstämmen,  wo  die  Kinder  aus  einer 
Digaehe  (§  6)  in  die  Marga  des  Vaters,  und  die  Kinder  aus  einer  Binaehe  in 
die  Marga  der  Mutter  fallen,  und  somit  die  Marga  sich  weder  aus  Agnaten, 
noch  aus  Uterinen,  sondern  nur  aus  Cognaten  zusammensetzt,  aber  auch 
hier  ist  es  schon  vor  der  Geburt  für  jedes  Kind  sicher  feststehend,  zu 
welcher  Marga  es  gehören  wird ,  so  dass  die  obige  Regel  keine  Aus- 
nahme erleidet. 


Familienstufen  und  Eheformen.  197 

tilverfassung  geschlungen  hat,  ist  die  letztere  noch  daran  zu 
erkennen,  dass  der  Staat  niemals  mit  den  einzelnen  Indivi- 
duen, sondern  nur  mit  den  Stämmen  als  Ganzen  zu  thun  hat. 

§  3. 
2.  Verhältniss  zu  den  Familienstufen.   . 

Wenn  nun  das  Matriarchat  die  Familienstufe  ist,  in  der 
die  Beziehungen  der  Kinder  zu  den  väterlichen  Verwandten 
keine  rechtliche  Wirkung  haben,  so  liegt  es  meines  Erachtens 
nahe,  ein  wirkliches  Matriarchat  nur  da  als  vorhanden  an- 
zusehen, wo  diese  Behandlung  der  Verwandtschaftsbeziehungen 
durch  das  Bestehen  der  Gentilverfassung  zu  einer  nothwen- 
digen  dauernden  Einrichtung  gemacht  ist;  dagegen  jene  Völker, 
die  weder  ein  Staatsleben  noch  ein  Gentilleben  kennen ,  son- 
dern nach  Art  der  thierischen  Hordengliederung  in  losen 
wechselnden  Horden  dahinleben,  unter  allen  Umständen  der 
losen  Familie  zuzuweisen;  auch  dann,  wenn  die  eine  Seite 
der  Verwandtschaft  von  dem  herrschenden  Rechtssystem  nicht 
anerkannt  wird.  Denn  bei  diesen  Völkern  stellt  auch  die 
andere,  die  anerkannte  Seite  der  Verwandtschaft  kein  noth- 
wendiges  und  festes  Gefüge  dar,  sondern  ein  zufälliges  loses 
Band,  welches  dem  Wechsel  unterliegen  kann,  und  von  dem  wir 
erwarten  müssen,  dass  es  einmal  mit  einem  andersgearteten 
Bande  vertauscht  wird,  ohne  dass  dadurch  das  Leben  des 
Volkes  im  üebrigen  beeinflusst  zu  werden  braucht. 

Es  ist  somit  das  Vorhandensein  der  Gentilverfassung  eine 
Voraussetzung  und  somit  auch  das  erste  und  wichtigste  Kenn- 
zeichen des  Matriarchats  und  des  Patriarchats;  die  Horden- 
verfassung ist  ein  Kennzeichen  der  losen  Familie,  selbst  dann, 
wenn  der  Familienaufbau  eines  Volkes  in  einzelnen  Bezieh- 
ungen eine  äussere  Aehnlichkeit  mit  dem  Matriarchat  oder 
Patriarchat  haben  sollte.  Die  Möglichkeit  der  zweiseitigen 
Familie  wird  am  Vorhandensein  des  Staates  erkannt. 

Natürlich  gibt  es  Uebergangsstufen.    Wir  sehen  manches 


108  Friedrichs. 

Volk  in  einer  werdenden  oder  in  der  Kntwiekelung  goheinmten 
(Jentilvertassung;  andre,  bei  denen  die  letztere  im  Begriffe 
ist,  sieh  zur  Staatsverfassung  auszubilden  oder  einer  solchen 
Platz  zu  machen;  diese  Uebergangsstufen  finden  bequem  ihren 
Platz  in  der  Eintheilung  und  sind  nach  den  benachbarten 
Hauptstufen  zu  beurthcilen.  Andererseits  liegt  aber  keine 
Nothwendigkeit  dafür  vor,  dass  das  Familienleben  aller  Völker 
der  Erde  in  einer  dieser  Kategorien  unterzubringen  sei^^). 
Es  ist  noch  kein  Beweis  dafür  erbracht,  dass  alle  Rechts- 
systeme Sprossen  an  derselben  Leiter  sind.  Vielleicht  haben 
wir  es  nicht  mit  einer  Leiter,  sondern  mit  einem  Flusse  zu 
thun,  der  aus  mehreren  Quellen  zusammen  gewachsen,  im 
flachen  Lande  sich  theilt  und  gabelt  und  Inseln  bildet,  dessen 
Läufe  sich  dann  bald  hier,  bald  dort  wieder  vereinigen ,  um 
endlich  in  einem  breiten  Delta  ins  Meer  zu  fliessen.  Wo 
wir  daher  ein  Rechtssystem  finden,  welches  in  das  Schema 
nicht  genau  hinein  zu  passen  scheint,  mag  es  seinen  eigenen 
Namen  bekommen,  bis  es  gelingt,  seine  Stellung  in  oder  zu 
dem  als  typisch  vorausgesetzten  Systeme  zu  ermitteln.  Es  gilt 
der  Verwirrung  vorzubeugen,  welche  mehr  schadet  als  ein 
einzelner  LTthum. 

Im  einzelnen  ist  noch  folgendes  zu  bemerken: 

Die  lose  Familie  kennt  keine  andere  Gruppirung  als  die 
in  Horden.  Mitglied  der  Horde  ist,  wer  sich  gerade  zu  ihr 
hält,  Häuptling  ist  der,  dessen  Anordnung  Gehorsam  findet, 
und  so  weit  und  so  lange  der  Gehorsam  reicht. 

Ist  die  Nahrung  reichlich,  so  kommen  viele  zusammen; 
ist  die  Nahrung  knapp,  so  trennen  sich  alle,  um  jeder  für  sich 
sein  Leben  zu  fristen.  Der  Schutz  gegen  Feinde  wird  manch- 
mal im  vereinten  kräftigen  Widerstände,  bald  in  regelloser 
vereinzelter  Flucht  und  Nachstellungen  aus  dem  Hinterhalte 
gefunden  werden. 

Wo  die  Gentilverfassung  herrscht,  da  gehört  jeder  einer 


^°)  Eine  Ausnahme  macht  schon  Timor,  s.  Note  9  und  §  (>. 


Familienstufen  und  Eheformen.  199 

und  nur  einer  gens  von  seiner  Geburt  an  zu  und  bleibt  in 
ihr  so  lange,  bis  er  aus  ihr  heraustritt  und  in  eine  andere 
hineintritt.  Weder  Kriegsgefangenschaft  noch  freiwillige  Ab- 
wesenheit, noch  Theilnahmlosigkeit  gegenüber  den  gemein- 
samen Angelegenheiten  vermögen  den  Zusammenhang  des 
Einzelnen  zum  Ganzen  aufzuheben. 

Im    einzelnen    erscheint   der  Stamm   als 

Kriegsgenossenschaft, 

Blutrachegenossenschaft, 

Raubgenossenschaft  ^  i), 

er  hat  gemeinsame  Finanzen,  Gebietshoheit  und  Grund- 
eigenthum, 

gemeinsamen  Cultus,  gemeinsame  Grabstätten,  einen  ge- 
meinsamen Totem  oder  Schutzgötzen, 

gemeinsame  Namen,  Hausmarken  und  Pfetzungen  (=Täto- 
wirungen  vgl.  3  Mos.   19,  28), 

active  und  passive  Solidarität  in  allen  Obligationen,  welche 
einem  Stammfremden  gegenüber  begründet  sind, 

Straflosigkeit  der  von  den  Mitgliedern  gegen  einander 
begangenen  Delicte^^)  oder  aber  ein  geordnetes  Gericht,  wel- 
ches nur  auf  erträgliche  Geldstrafe  oder  Ausschliessung  er- 
kennt. 

Der  erste  moralische  Grundsatz  in  jeder  Gentilverfassung 
ist  der:  du  sollst  deinen  Nächsten  lieben  und  deinen  Feind 
hassen. 

Ein  Buschmann  wurde  von  einem  Missionär  gefragt,  ob 
er  auch  wisse,  was  gut  und  böse  sei,  und  er  antwortete:   „Eine 

^^)  Wer  in  der  Gentilverfassung  einen  Raub  oder  Diebstahl  in 
einer  fremden  gens  begeht,  ist  zwar  der  Rache  der  beschädigten  Genossen- 
schaft ausgesetzt;  aber  unter  seinen  Genossen  ist  er  straflos  und  hoch 
angesehen.     Caesar,  BG  6,  23.  —  Klemm,  CG  4,  p.  175  f. 

^^)  „Es  tritt  oft  ein  Fuss  den  andern,  der  Zahnbeisst  oft  die  Zunge, 
es  stösst  sich  mancher  selber  mit  einem  Finger  ins  Auge  und  thut  ihm 
wehe.  Aber  da  ist  reiche  Vergebung  und  hat  ein  Glied  mit  dem  andern 
Mitleid  und  Geduld,  sonst  könnte  der  Leib  nicht  erhalten  werden." 
Luthers  Tischreden  in  Meyers  Volksbüchern,  Nr.  400,  p.  33  f. 


200  Friedrichs. 

böse  That  ist,  wenn  ein  Anderer  meine  Frau  raubt,  eine  gute 
That,  wenn  ich  einem  Andern  seine  Frau  raube*  ^^).  Das  ist 
die  Moral  der  losen  Familie.  In  der  Gentilverfassung  würde 
sie  lauten:  „Eine  böse  That  ist  es,  wenn  ein  Stammfremder 
einem  Stammgenossen  von  mir  eine  Frau  raubt;  eine  gute 
That  ist  es,  wenn  ich  einem  Stammgenossen  helfe,  aus  der 
Fremde  eine  Frau  zu  rauben." 

Der  Stamm  hat  stets  ein  Haupt,  dessen  Einfluss  aber 
immer  abhängig  ist  von  der  Autorität,  welche  er  persönlich 
auszuüben  fähig  ist. 

Der  Stamm  hat  oft  einen  Rath,  eine  Volksversammlung 
oder  eine  Deputirtenversammlung,  aber  keine  geregelte  Ge- 
setzgebungsmaschine, welche  die  Erfüllung  von  Formvor- 
schriften für  erforderlich  und  ausreichend  zum  Zustandekommen 
einer  bindenden  Rechtsnorm  hielte. 

Der  Staat  befriedigt  alle  Bedürfnisse,  welchen  auch  die 
gens  genügt,  aber  nach  anderen  Grundsätzen  und  auf  andere 
Weise.  Ausserdem  pflegt  er  eine  Reihe  von  Aufgaben  zu  er- 
füllen, welche  in  der  Gentilverfassung  durch  die  Einzelnen  er- 
ledigt werden  oder  unbefriedigt  bleiben. 

Eine  seiner  wichtigsten  Functionen  ist  die,  dass  er  das 
Rachesystem  durch  ein  Strafsystem  ersetzt,  aber  das  ent- 
scheidende Merkmal  ist  die  politische  Arbeitstheilung.  Diese 
besteht  darin,  dass  die  Gesammtheit  die  gemeinsamen  Ange- 
legenheiten nicht  selbst  besorgt,  sondern  durch  Organe  be- 
sorgen lässt,  und  dass  die  Organe  des  öffentlichen  Willens  eine 
von  ihrem  persönlichen  Einflüsse  losgelöste  Machtbefugniss 
haben. 

Ein  Staat  kann  sich  aus  gentes  zusammensetzen,  und  dann 
pflegen  diese  als  Einheiten  in  der  Verwaltung  der  Heeres- 
ordnung und  der  Volksabstimmung  und  als  Eideshelfergenossen- 
schaften im  Processe  aufzutreten. 


13 


)  Peschel,  VK  p.  294. 


Familienstufen  und  Eheformen.  201 

§4. 
3.  Mutterfolge  in  Bezug  auf  den  Stand. 

Wenn  die  Gentilverfassung  feststeht,  so  erkennt  man  das 
Matriarchat  an  der  uterinen  Bestimmung  der  Stammes-  und 
Sippenangehörigkeit.  Von  dieser  aber  ist  sehr  wohl  zu  unter- 
scheiden die  Mutterfolge  des  Standes,  die  uterine  Festsetzung 
der  Standesangehörigkeit  oder  die  Regel,  dass  Kinder  aus 
Missehen  oder  aus  Geschlechtsverbindungen  von  Personen  ver- 
schiedener Geburtsstände  dem  Stande  der  Mutter  folgen.  Dieser 
letzte  Grundsatz  ist  vielfach  und  noch  von  Dargun  für  einen  ent- 
scheidenden Kennzug  des  Matriarchats  gehalten  worden^*),  er 
ist  aber  nicht  nur  mit  der  losen  Familie,  sondern  auch  mit  dem 
Patriarchate  sehr  wohl  verträglich. 

Die  Weissen  Brasiliens  gehören  wie  alle  Völker  europäischer 
Cultur  der  zweiseitigen  Familie  an,  in  den  Beziehungen,  in 
welchen  ein  Geschlecht  überwiegen  muss,  geben  sie  dem 
männlichen  den  Vorzug.  Bei  ihnen  wurde  1830  jedes  von 
einer  Sklavin  geborene  Kind  als  Sklave,  jedes  von  einer 
Freien  geborene  als  frei  behandelt,  das  letztere  auch  dann, 
wenn  der  Vater  ein  Sklave  war^^).  Dasselbe  galt  in  den 
französischen  Colonien  ^^)  und  vielleicht  bei  den  alten  Dänen  ^'). 

Die  Singhalesen  haben  neben  der  Bina-Ehe  eine  Diga-Ehe 
mit  Frauenkauf  ^^),  Frauenleihe  ^^),  Verpfändung  von  Frau  und 
Kindern  durch  den  Hausvater  ^^),  fortgesetzter  Familie  unter 
Leitung  des  ältesten  Bruders  ^^),  eine  Polyandrie  rein  patriar- 

'^)  Dargun,  MR  p.  32.  —  Hellwald,  MF  p.  396. 
i'O  Meyen,  RE  1,  p.  81. 
16)  Waitz,  ANV  2,  p.  294. 
^0  Starcke,  PF  p.  115. 

1^3  Hellwald,  MF  p.  255.  —  Später  abgeschwächt  zum  Braut- 
geschenk.    Kohler,  RSt  p.  231. 

i^J  Knox,  CRB  3,  7,  p.  194.  —  Mac  Lennan,  StAH  p.  140. 
20)  Knox,  CRH  3,  9,  p.  216.  —  Kohler,  RSt  p.  234. 
2^  Knox,  CRB  3,  9,  p.  213.  -  Kohler,  RSt  p.  236. 


202  Friedrichs. 

chaloii  Charakters  ^^),  gehören  also  gewiss  nicht  zu  den  Völkern, 
welche  die  Sippenangehörigkeit  matriarchal  berechnen.  Den- 
noch gilt  auch  bei  ihnen  der  Satz,  dass  die  Kinder  jederzeit 
in  Freiheit  oder  Unfreiheit  dem  Stande  der  Mutter  folgen  ^^). 

Die  Batak  auf  Sumatra  verbinden  patriarchale  Sippen- 
angehörigkeit^^), Treupflicht  der  Ehefrau  ^^),  patriarchales 
Eheleben  mit  Frauenraub,  Frauenkauf  ^^)  und  Frauenerdienung, 
patriarchale  Exogamie^'),  patriarchale  Frauenvererbung  ^^)  mit 
Mutterfolge  des  Standes  2^). 

Auch  die  melanesischen  Fidschiinsulaner  haben Polygynie^^), 
Verkauf  der  Frauen  durch  den  Ehemann  ^^)  Satti  (Witwen- 
verbrennung) ^^),  Eheschluss  durch  Scheinraub  ^^)  undHlonipa^^) 

22)  Bastian,  VÖA  6  p.  70,  Note  *).  p.  156,  Note  *).  —  Davy,  RIC 
p.83.  — Hellwald,  MF p.255.  260.  — Klemm,  CG  7,  p.  115.  -  DobUioff, 
PN  p.  108,  117.  —  Kohler,  RSt  p.  233.  -  Lubbock,  Entstehung  der 
Civilisation ,  Jena  1875,  p.  118.  —  Mac  Lennan,  StAH  p.  145.  — 
Puffendorf,   de   Jure   Naturae   ac   Gentium,   Lund   in   Schonen    1672, 

6,  1,  15. 

")  Knox,  CRB  3,  9,   p.  216.  —  Kohler,  RSt  p.  231. 
2^)  Hellwald,  MF  p.  269. 

25)  Hellwald  in  THZ  1,  p.  372.  —  Hellwald,  MF  p.  332.  — 
Starcke,  PF  p.  283. 

26)  Hellwald  in  THZ  1,  p.  372.  —  F.  Müller,  Allgemeine  Ethno- 
logie. Wien  1879,  p.  361.  —  Bastian,  Rechtsverhältnisse  b.  d.  versch. 
V.  der  Erde.     Berlin  1872,  p.  217.  —  Hellwald,  MF  p.  269. 

2^)  Hellwald  in  THZ  1,  p.  372.  —  Bastian,  VÖA  5,  p.  408.— 
Hellwald,  MF  p.  232,  269. 

28)  Hellwald,  MF  p.  268,  269. 

29)  Ploss,  Das  Kind  in  Brauch  und  Sitte  der  Völker.  Berlin  1882, 
2,  p.  394.  —  üeber  die  Erb-  und  Thronfolge  vgl.  Lubbock  EC  p.  125. 

—  Bastian  RV  p.  183. 

30)  Hellwald,  MF  p.  228.  —  Starcke,  PF  p.  98.  307. 

31)  Lubbock,  VZ  2,  p.  158. 

32)  Bastian,  VÖA  5,  p.  230,  Note**).  —  Hellwald,  KG  1,  p.  85. 

—  Klemm,  CG  4,  p.  370.  —  Lubbock,  VZ  2,  p.  161.  -  Peschel, 
VK  p.  359. 

33)  Hellwald,  MF  p.  183,  290.  —  Lubbock,  EdC  p.  93.  — 
Peschel,  VK  p.  235. 

')  Bastian,  VÖA  6,  p.  475,  Note  *).  — Lubbock ,  VZ  2,  p.  164. 


34> 


Familienstufen  und  Eheformen.  203 

patriarchale  Thronfolgeordnung  (Seniorat  ?)  ^  ^)  und  patriarchale 
Erbfolge  ^^);  endlich  auch  ausgesprochen  patriarchale  Berechnung 
der  Sippenangehörigkeit  ^"^j,  also  ein  vollkommen  patriarchales 
Familiensystem,  welches  auch  durch  das  eigenthümliche  Vasu- 
recht  des  Schwestersohns  ^^)  nicht  beeinträchtigt  wird.  Daneben 
besteht  aber  der  Grundsatz  der  Mutterfolge  im  Stande  ^^),  welcher 
sich  besonders  in  der  Weise  geltend  macht,  dass  die  Kinder 
eines  Mannes  von  verschiedenen  Frauen  nach  dem  Stande  der 
Mutter  rangiren^^). 

Bei  den  polynesischen  Tonganern  (Freundschaftsinsulanern) 
welche  wohl  weder  dem  Patriarchat  noch  dem  Matriarchat, 
sondern  der  losen  Familie  angehören,  erscheint  mütterliche 
Vererbung  des  Adelsstandes*^)  neben  väterlicher  Sippenange- 
hörigkeit*^). 

Die  Dahomeneger  haben  agnatische  Thronfolge  (Primo- 
genitur*^), Treupflicht   der  Ehefrau**),  Keuschheitspflicht  der 


—  Starcke,  PF  p.  256.  Hlonipa  sind  Vorschriften,  welche  sich  auf  den 
Verkehr  zwischen  nahe  verschwägerten  Personen  beziehen.  Bastian, 
ZE  1874,  p.  382.  388.  -Büchner,  Goldnes  Zeitalter,  p.  273.  —  Dargun, 
MRp.  91.  92.  —  Hellwald,  MF  p.  290.  —  Kohler  KVjft  NF  4,  p.  184. 

—  Kohler,  ZVR  5,  p.  416.  —  Lubbock,  EC  p.  99.  —  Starcke  PF 
p.  254. 

^5)  Morgan,  SCA  p.  582.  —  Starcke,  PF  p.  98,  307. 

36)  Morgan,  SCA  p.  583.  —  Dagegen:  Hellwald,  MF  p.  219.  — 
Lubbock,  EC  p.  144. 

3')  Morgan,  Systems  of  Consanguinity  and  Affinity  in  the  Human 
Family,  W^ashington  1871,  p.  582. 

3«)  Lubbock,  EC  p.  390.  —  Starcke,  PF  p.  99. 

3^)  Ploss,  Kind  2,  p.  393. 

^<')  Starcke,  PF  p.  98,  307. 

^1)  Bastian,  RV  p.  171.  —  Lubbock,  EC  p.  126,  378.  —  Ploss 
KBS  2,  p.  393. 

'*2)  Morgan,  SCA  p.  579.  -  Bastian,  RV  p.  247.  —  Klemm, 
CG  4,  p.  328.  357.  —  Starcke,  PF  p.  96. 

^3)  Hellwald  in  THZ  2,  p.  315. 

'')  Waitz,  ANV  2,  p.  115. 


204  Friedrichs. 

Mädchen ^^);   Frauenkauf**');    daneben    aber    Mutterfolge    des 
Standes  i'). 

Die  Ama  Zulu  (ba  Ntu)  haben  einen  Frauenkauf  mit  ähn- 
lichen Wirkungen  wie  der  Mundschaftskauf  der  alten  Ger- 
manen'*^) mit  Scheinraub  ^^),  Frauenleihe  ^®),  Tödtungsrecht 
des  Mannes  gegenüber  der  Frau^^),  Treupflicht  der  Frau  ^2), 
Keuschheitspflicht  der  Mädchen  ^^)  patriarchale  Frauenverer- 
bung, patriarchale  Thronfolge  ^*),  daneben  aber  Mutterfolge 
im  Stande,  welche  sich  wie  bei  den  Fidschiinsulanern  auch 
zwischen  den  Söhnen  desselben  Vaters  äussert. 

Die  Fulbe  im  Mittelsudan,  welche  im  wesentlichen  nach 
muslimischem  Rechte  leben,  insbesondere  patriarchale  Thron- 
folge^^) ehemännische  Gewalt  (Manus)^^),  Treupflicht  der 
Ehefrau  ^'^)  anerkennen,  geben    dennoch   bei  Missverbindungen 


49~ 

5  2- 


•»5)  Waitz,  ANV  2,  p.  113. 
*6)  Hellwald,   MF  p.  309. 

47)  Hellwald,  MF  p.  209. 

48)  Hellwald  in  THZ  4,  p.  368.  —  Klemm,  CG  3,  p.  277.  — 
Waitz,  ANV  2,  p.  382.  —  Peschel,  VK  p.  237.  —  F.  Müller,  AE 
p.  190  f.  —  Hellwald,  MF  p.  307.  —  Sern  au  in  der  Deutschen 
Kolonialzeitung  2,  p.  490  a. 

3)  Waitz,  AMV  2,  p.  358.  —  Lubbock,  EC  p.  95. 
»)  Lubbock,  VZ  2,  p.  265.  —  Kohler  in  ZVR  5,  p.  350. 
0  Waitz,  ANV  2,  p.  387. 

0  Hellwald,  MF  p.  331,  333,  Note  2.  —  Klemm,  CG  3,  p.  278. 
279.  —  F.  Müller,  AE  p.  192. 

53)  Waitz,  ANV  2,  p.  389;  anders  Starcke,  PF  p.  278;  vgl. 
dazu  Ploss,  KBS  2,  p.  443. 

-'4)  Klemm,  CG  3,  p.  323,  338.  —  Waitz,  ANV  2,  p.  392.  — 
Lubbock,  EC  p.  391.  —  Hellwald  in  THZ  4,  p.  368.  —  F.  Müller, 
AE  p.  193.  —  Sern  au  in  DKZ  2,  p.  488  b.      ' 

5^)  Barth,  Reisen  und  Entdeckungen  in 'Nord-  und  Central-AtVika. 
Gotha  1857,  1858:  2,  p.  586;  4,  p.  142.  154.  198.  208.  540. 

5'^)  Clapperton  in  Denliam,  Clapperton  und  Oudneys  Be- 
schreibung der  Reisen  etc.  Weimar  1827,  in  der  neuen  Bibliothek  etc., 
I,  2,  p.  578. 

^')  Waitz,  ANV  2,  p.  472. 


Familienstufen  und  Elieformen.  205 

dem  Kinde  den  Stand  der  Mutter,  insbesondere  also  dem  Kinde 
den  Adel,  wenn  die  Mutter  adelig  ist^^). 

§  5. 
4.  Patronymie  und  Metronymie. 

Ein  äusseres  Zeichen  der  Sippenangehörigkeit  liegt  in  der 
Benennung.  Entweder  können  die  Kinder  neben  ihrem  Haupt- 
namen einen  Beinamen  haben,  welcher  den  Namen  des  Vaters 
oder  der  Mutter  wiederholt  oder  andeutet  (Patronymie,  Metro- 
nymie), oder  jede  Familie  hat  einen  gemeinsamen  Namen, 
welchen  die  Kinder  entweder  mit  dem  Vater  oder  mit  der  Mutter 
gemeinsam  haben  —  (männliche,  —  weibliche  Vererbung  des 
Familiennamens).  Selbstverständlich  aber  ist  es  völlig  gleich- 
gültig, welcher  Elterntheil  dem  Kinde  den  Vornamen  ausge- 
sucht und  beigelegt  hat^^). 

Metronymie  und  weibliche  Vererbung  des  Familiennamens 
sind  Zeichen  für  die  lose  Familie,  das  Matriarchat  und  für  die 
zweiseitige  Familie,  welche  sich  aus  dem  Matriarchat  entwickelt 
hat^^).  Patronymie  und  männliche  Vererbung  des  Familien- 
namens finden  sich  im  Patriarchat  und  der  daraus  ent- 
wickelten zweiseitigen  Familie. 


58)  Bastian,  RV  p.  176.  —  Hellwald,  MF  p.  209. 

5^)  Anders  Mac  Lennan,  StAH  p.  289. 

^^)  Mac  Lennan,  StAH  p.  180  hält  die  Metronymie  für  eine  noth- 
wendige  Folge  des  Frauenraubes ,  weil  die  Frau  in  der  Zeit  zwischen 
Empfängniss  und  Geburt  in  vielen  verschiedenen  Händen  ist,  so  dass 
der  Erzeuger  des  Kindes  in  der  Regel  nicht  bekannt  ist,  und  auf  diesen 
also  auch  kein  Gewicht  gelegt  werden  kann.  Mac  Lennan  übersieht 
aber,  dass  nicht  nur  durch  Zeugung,  sondern  auch  durch  Geburt  die 
väterliche  Gewalt  erworben  werden  kann,  und  dass  durch  den  Frauen- 
raub auch  der  Name  der  Mutter  in  Vergessenheit  gerathen  kann, 
wenn  nämlich  diese  ohne  ihr  Kind  durch  einen  fremden  Stamm  ge- 
raubt wird. 


200  Friedrichs. 


II.  Hausgewalt. 

§  »3. 
1.  Im  Allgemeinen. 

Dass  der  Ehemann  über  seine  Frau  und  Kinder  häusliche 
Gewalt  besitzt,  die  Erziehung  der  letzteren  leitet,  der  ersteren 
die  Arbeiten  anweist,  ist  eine  Erscheinung,  welche  dem  Pa- 
triarchat nicht  eigenthümlich  ist,  sondern  sich  auch  mit  der 
losen  Familie  und  selbst  dem  Matriarchate,  ganz  abgesehen 
von  der  zweiseitigen  Familie,  sehr  wohl  verträgt  ^^). 

Aber  diese  Gewalt  kann  eine  mehr  oder  weniger  ausge- 
dehnte sein.  Wenn  wir  finden ,  dass  der  Mann  seine  Frauen 
und  Kinder  verleihen,  vermiethen,  prostituiren,  verkaufen, 
verpfänden,  züchtigen,  endlich  auch  nach  Belieben  miss- 
handeln oder  tödten  kann,  wenn  endlich  am  Grabe  des  ver- 
storbenen Hausvaters  die  Witwen  erdrosselt  oder  verbrannt 
werden  (satti)  ^2),  so  ist  das  Matriarchat  immerhin  noch  nicht 
ganz  unmöglich,  wie  uns  die  Ba  Ntustämme  der  portugiesischen 
Besitzungen  Angola  und  Benguela  beweisen,  aber  im  All- 
gemeinen berechtigt  uns  diese  Erscheinung  doch  zu  der  V^er- 
muthung,    dass    das  Volk    den  Patriarchalen    zuzurechnen   sei. 

Wenn  aber  andrerseits  diese  ausgedehnte  Gewalt  dem 
Mutterbruder  gegenüber  den  Schwestersöhnen  zusteht,  dann 
haben  wir  ein  sicheres  Kennzeichen  des  Matriarchats. 

Vielfach  ist  übrigens  die  Gewalt  zwischen  dem  Vater 
und  dem  Mutterbruder  getheilt.  Ob  hierzu  auch  die  Stelle 
Tac.  Germ.  20  gehört,  ist  nicht  ohne  Zweifel  ^^). 

Indessen   fällt    bei    den  Savaras    in  Indien  der  Brautpreis 


'''O  So  auch  Lafitau  bei  Peschel,  VK  p.  244.  —  Starcke,  PF 
p.  244.  -   Anders  Hellwald,  MF  p.  228. 

«2)  Hellwald,  MF  p.  352. 

^'^)  Vgl.  die  Erklärungen  bei  Bachofen,  MR  p.  79a.  —  Kohler 
in  KVjft  23,  p.  179,  Note*).  —  Schrader,  SU  p.  571. 


Familienstufen  und  Eheformen.  207 

zu  gleichen  Theilen  an  den  Vater  und  an  den  Mutterbruder  ^*) 
und  bei  den  Nairn  tritt  der  Vater  wahlweise  mit  dem  Mut- 
terbruder bei  der  Namengebung  des  Kindes  auf^^)^  während 
zur  Ausübung  materieller  familienrechtlicher  Befugnisse  nur 
der  letztere  berufen  ist^^).  In  China  hat  der  Mutterbruder 
das  Recht,  den  Schwestersohn  gegen  die  Züchtiguii:^  durch 
dessen  Vater  in  Schutz  zu  nehmen  ^^). 

Bei  den  Wa  Nyamnezi  wird  die  Tochter  vom  Vater^  wenn 
dieser  aber  gestorben  ist^  vom  Mutterbruder  ausgeheirathet, 
auch  hat  der  letztere  schon  zu  Lebzeiten  des  ersteren  eine 
berathende  Stimme,  wenn  über  die  Verlobung  des  jungen 
Mädchens  verhandelt  wird^^). 

Solche  Fälle  sind  nur  dann  zu  entscheiden,  wenn  man 
die  ganzen  familienrechtlichen  Institutionen  eines  Volkes 
kennt  und  somit  beurtheilen  kann ,  ob  ein  blosses  Ueber- 
lebsel  vorliegt,  wie  in  China,  oder  ob  das  Rechtssystem  ausser- 
halb der  im  vorliegenden  Aufsatze  als  normal  angenommenen 
Scala  liegt. 

Es  ist  hier  indessen  noch  ein  Moment  zu  würdigen,  das 
System  der  Diga-  und  Binaehe.  Es  gibt  nämlich  Völker,  bei 
welchen  wahlweise  nach  Verabredung  der  Nupturienten  ent- 
weder die  Frau  in  das  Haus  ihres  Mannes  einziehen  und  in 
seine  Sippe  aufgenommen  werden  kann  (Digaehe),  oder  aber 
der  Mann  in  das  Haus  seiner  Frau  einzieht  und  sich  als 
dauerndes  Glied  der  Sippe  seiner  Ehefrau  anschliesst  (Bina- 
ehe). Bei  der  Digaehe  pflegen  die  Kinder  dem  Manne  zu  ge- 
hören, bei  der  Binaehe  der  Frau,  doch  gibt  es  Ausnahmen ; 
ferner  pflegt  die  Digaehe  durch  wahren  Frauenkauf  geschlossen 


*'^)  Westermarck,  HM  1,  p.  51. 

«5)  Ploss,  KBS  1,  p.  84. 

66)  Bastian,  VÖA  5,  p.  13.  —  Hellwald  in  THZ  5,  p.  578.  — 
Hellwald,  MF  p.  249.  —  Buchanan  bei  Mae  Lennan,  StAH  p.  148. 
—  Peschel,  ZE  p.  451.  —  Starcke,  PF  p.  90. 

^0  Bastian,  VÖA  3,  p.  109. 

68)  Reichard  in  ZGE  24,  p.  254. 


208  Friedrichs. 

ZU  werden,  die  Binaehe  aber  nicht,  so  dass  die  letztere  meist 
dann  ins  Leben  tritt,  wenn  der  Bräutigam  zu  arm  ist,  um  einen 
Kaufpreis  zu  zahlen,  oder  so  wenig  vornehm,  dass  er  der 
Braut  nicht  zutnuthen  kann,  in  sein  Haus  zu  kommen;  es 
gibt  auch  Rechtsgebiete,  in  denen  der  Ehemann  das  Recht 
hat,  durch  Nachzahlung  des  Brautpreises  die  Binaehe  in  eine 
Digaehe  zu  verwandeln  ^^). 

Post  hält  die  Diga  für  patriarchal^  die  Bina  für  ma- 
triarchal  und  nimmt  daher  a.  a.  0.  an,  dass  die  Völker 
mit  zwei  Ehesjstemen,  deren  Zahl  übrigens  noch  sehr  viel 
grösser  ist,  als  bei  Post  aufgezählt,  auf  einer  Uebergangsstufe 
zwischen  Matriarchat  und  Patriarchat  ständen. 

Dass  aber  die  Digaehe  nichts  nothwendig  Patriarchales 
hat,  ist  bereits  oben  angeführt,  wird  übrigens  auch  von 
Starcke  angenommen'^).  Aber  auch  die  Binaehe,  die  be- 
reits von  Puffendorf  theoretisch  construirt  und  als  Matri- 
monium  Amazonium  bezeichnet  worden  ist '  ^),  bis  sie  heute  als 
wirklich  entdeckt  ist,  hat  nichts  nothwendig  matriarchales. 

Man  denke  zunächst  an  die  weitverbreitete  Uebung  der 
Jakobsehe.  In  einem  rein  patriarchalen  Volke,  bei  dem  der 
Frauenkauf  die  herrschende  Eheschliessungsform,  erscheint  ein 
mittelloser  Fremdling  und  hält  um  die  Tochter  eines  reichen 
Mannes  an.  Den  Kaufpreis,  den  er  nicht  haar  erlegen  kann, 
will  er  abarbeiten,  er  will  die  Frau  erdienen.  Diese  Art  der 
Eheschliessung,  ist  sicher  keineswegs  matriarchal,  sondern 
sie  hat  genau  denselben  symptomatischen  Werth,  wie  der 
Frauenkauf,  und  man  könnte  fast  in  Versuchung  kommen,  sie 
für  ein  patriarchales  Zeichen  zu  halten. 

Von  dieser  Jakobsehe  ist  die  Binaehe,  wie  Starcke  mit 
Recht     betont,     begrifflich    scharf    zu    trennen'^).      Indessen 


^«)  Post,  StEF  p.  8—13.  —  Dargun,  MR  p.  93. 
'«)  Starcke,  PF  p.  244. 


'')  Puffendorf,  JN  6,  1,  9, 
'2)  Starcke,  PF  p.  86. 


Familienstufen  und  Eheformen.  209 

können  nkht  nur  die  äusseren  Formen  einander  ähnlich 
werden,  sondern  es  sind  auch  Uebergänge  möglich.  Ob  die 
Erdienungszeit  lang  oder  kurz  sein  soll,  ist  im  Wesentlichen 
Sache  der  Abrede,  und  daher  abhängig  von  Angebot  und 
Nachfrage.  Man  lasse  nun  das  Angebot  von  Bräuten  sinken 
und  die  Nachfrage  steigen,  die  Dienstzeit  wird  immer  länger 
werden,  und  einige  übermüthige  Familien  können  es  wagen, 
ihre  Mädchen  nur  gegen  lebenslängliche  Dienste  zu  verheirathen. 

Sobald  diese  Zumuthung  aufgehört  hat,  als  ein  Act  ein- 
maligen Uebermuthes  zu  erscheinen,  sobald  derartige  Abreden 
zur  Gewohnheit  geworden  sind,  ist  auch  die  Binaehe  fertig, 
aber  noch  lange  kein  Matriarchat.  Denn  mit  dem  Worte 
Bina-Ehe  ist  noch  nicht  gesagt,  wohin  die  Kinder  schlagen. 
Die  Kinder  können  nämlich  auch  bei  der  Bina-Ehe  dem  Vater 
folgen,  und  wenn  sie  auch  den  mütterlichen  Verwandten  folgen, 
so  braucht  auch  das  noch  kein  Matriarchat  zu  sein.  Vielmehr 
kann  ein  Verhältniss  vorliegen,  nach  Art  des  Indischen  Tochter- 
sohns-Verhältnisses  ^^),  und  dieses  ist  im  Stande,  überall  im 
Patriarchat  ein  Gebilde  hervorzurufen,  welches  den  äusseren 
Anschein  des  Matriarchates  hervorruft.   - 

Denn  der  Muttervater  ist  weder  Agnat  noch  Uteriner, 
sondern  blosser  Cognat,  und  wenn  er  daher  in  irgend  einem 
System  besondre  Rechte  bekommen  soll,  so  muss  irgend  eine 
künstliche  Gestaltung  eintreten,  welche  ein  trügerisches  Bild 
von  dem  entgegengesetzten  System  gewährt. 

Die  blosse  Binaehe  ist  daher  weder  für  Patriarchat  noch 
für  Matriarchat  ein  Kennzeichen.  Zu  welchem  System  man 
das  Volk  rechnen  will,  muss  man  aus  andern  Mitteln  er- 
schliessen.     Freilich  ist  dies  nicht  immer  möglich. 

So  zerfällt  auf  Timor  das  Volk  in  Margen,  der  Art,  dass  bei 
der  Frauenkauf-  und  Digaehe  das  Kind  in  die  Marga  des  Vaters 
fällt,  bei  der  Binaehe  in  die  Marga  der  Mutter  ^^).  Wir  wissen 

")  Vgl.  §  15  Note  273. 

'")  Hellwald,  MF  p.  266,  269.  —  Post,  StEF  p.  10-12.  (3  Stellen.) 
—  Cordier  in  RHD  5,  p.  360. 

Zeitschrift  für  vergleichende  Rechtswissenschaft.    X.  Band.  14 


210  Friedrichs. 

von  den  Timoresen  weiter,  dass  die  Frauen  eigenthumsl(  s  sind, 
und  dass  die  Marga  Exogamiegrenze  ist,  d.  h.  dass  zwei  An- 
gehörige derselben  Marga  sich  nicht  heirathen  dürfen '^^).  Dies 
tuhrt  uns  aber  zu  nichts,  denn  die  Eigenthumslosigkeit  der 
Frauen  ist  im  Matriarchat  wie  im  Patriarchat  häufig,  und 
die  Marga  hat  eine  solche  Zusammensetzung,  dass  sie  weder 
als  agnatische  noch  als  uterine  angesprochen  werden  kann. 
Man  nehme  an,  einer  Ehe  entstammen  zwei  Söhne  und  zwei 
Töchter,  von  denen  ein  Sohn  und  eine  Tochter  sich  in 
Digaehe  und  je  ein  Sohn  und  eine  Tochter  sich  in  Binaehe 
verheirathen.  Von  den  Enkeln  aus  diesen  vier  Ehepaaren  gehören 

a)  die  Kinder  des  Digasohnes  und  der  Binatochter  zur 
Marga  ihrer  Grosseltern,  und  somit  unter  einander  zur 
selben  Marga,  obwohl  sie  bloss  cognatisch  mit  einander 
verwandt  sind; 

b)  die  Kinder  des  Binasohnes  und  der  Digatochter  gehören 
nicht  zur  Marga  der  gemeinsamen  Grosseltern. 

Die  Kinder  des  Digasohnes  gehören  somit  nicht  in  die- 
selbe Marga,  wie  die  Kinder  des  Binasohnes,  obwohl  sie 
reine  Agnaten  sind;  und  ebenso  sind  die  Kinder  der 
Binatochter  und  die  der  Digatochter  einander  fremd, 
obwohl  sie  uterine  sind. 

Auf  Timor  und  den  Inseln  mit  ähnlichen  Rechtsverhält- 
nissen scheint  die  Gentil Verfassung  zu  herrschen,  und  es  ist 
klar,  dass  jedes  Kind  hier  nur  einer  Marga  angehört,  und 
dass  schon  vor  der  Geburt  bestimmt  ist,  welcher  es  ange- 
hören wird.  Dennoch  aber  scheint  weder  Matriarchat  noch 
Patriarchat  vorhanden  zu  sein,  sondern  ein  drittes  System, 
welches  zwischen  beiden  in  der  Mitte  steht,  und  das  wir 
Wechselsystem  nennen  können. 

Post  hält  diese  Erscheinung  für  eine  Uebergangsstufe 
zwischen    Mutterrecht    und    Vaterrecht '^),    und    zwar    hält    er 


'^)  Hellwald,  MF  p.  232,  269. 
'«)  Post,  StEF  p.  10. 


Familienstufen  und  Eheformen.  211 

das  Matriarchat  für  das  vergangene  und  das  Patriarchat  für 
das  werdende,  künftige  System"^'). 

Dieses  ist  aber  nicht  ohne  weiteres  anzuerkennen. 

Wie  wir  gesehen  haben,  kann  das  Wechselsystem  dann 
aus  dem  Patriarchat  entstehen,  wenn  die  Jakobsehe  zur  Binaehe 
wird;  es  kann  sich  aber  zweifellos  auch  unter  Hinzutreten 
der  Digaehe  aus  dem  Matriarchat  entwickeln.  Was  von  beiden 
auf  Timor  geschehen  ist,  wissen  wir  nicht.  Andrerseits  kann 
das  Wechselsystem  dann,  wenn  die  Binaehe  in  desuetudo 
geräth,  wie  es  bei  den  Redschang-Malayen  geschehen  ist^*), 
zum  Patriarchat  werden.  Aber  ebensogut  kann  auch  die 
Digaehe  in  Vergessenheit  gerathen  und  ein  reines  Matriarchat 
sich  bilden. 

Und  selbst  wenn  wir  annehmen,  dass  das  Wechselsystem 
bei  einem  Volke  aus  dem  Matriarchat  entstanden  sei  und  sich 
wieder  zu  einem  andern  System  vereinfachen  werde,  so  liegt 
kein  Grund  vor,  wesshalb  das  System  gerade  patriarchal  werden 
müsste.  Vielmehr  ist  es  eher  zu  erwarten,  dass  die  neu  hinzu- 
gekommene Form  die  seltenere  bleibt  und  zuerst  wieder  ver- 
altet, so  dass  das  Volk  wieder  in  das  System  zurücktritt, 
aus  dem  es  gekommen  ist.  Wenn  das  Volk  also  früher  ma- 
triarchal  gewesen  ist,  so  wird  es  —  abgesehen  von  fremden 
Einflüssen  —  sich  leichter  wieder  zum  Matriarchat  zurück- 
bilden, als  dass  es  zum  Patriarchat  fortschreitet. 

Es  wird  wohl  nicht  bezweifelt  werden,  dass  ein  Ueber- 
gang  vom  Matriarchat  zum  Patriarchat  oder  umgekehrt,  auch 
ohne  die  Erscheinung  der  doppelten  Ehe  und  der  cognatischen 
Sippenverfassung,  stattfinden  kann. 

Einen  weiteren  Aufschluss  über  das  Wesen  des  Wechsel- 
systems werden  wir  vielleicht  durch  das  Studium  der  japa- 
nischen Geschichte  erhalten.  Denn  auch  bei  den  Japanern 
wie  bei  den  Basken  der  Pyrenäenabhänge  finden  wir  die  Diga- 


'")  Post,  StEF  p.  7. 

78)  Hellwald,  MF  p.  236.  —  Post,  AStR  p.  26. 


212  Fried  richö. 

und  Binaohe  neben  einander.  Aber  während  sie  bei  den  Ma- 
laien und  Verwandten  ein  Ausdruck  der  Macht-  und  Ver- 
mögensunterschiede ist,  ist  sie  bei  jenen  Völkern  eine  Folge 
des  übergrossen  Ansehens,  welches  die  Primogenitur  in  der 
öffentlichen  Meinung  genicsst.  Das  japanische  Recht  wird 
auch  durch  die  weitverbreitete  Adoption  etwas  eigenthümlich 
gestaltet,  aber  es  hat  den  Vorzug,  dass  seine  Geschichte  ur- 
kundlich niedergelegt  ist,  und  ein  Studium  dieser  Geschichte,  für 
welches  schon  einige  Grundlagen  geschaffen  sind'''^),  wird  uns 
auch  im  Verständniss  der  tiraoresischen  Familienverfassung 
weiter  bringen. 

Aus  dem  Vorstehenden  sehen  wir  also : 
Hausgewalt  des  Vaters   —  bei  jedem  System    möglich;   wenn 
sie    sehr    weitgehende    Befugnisse    gibt,    wahrscheinlich 
patriarchal. 
Hausgewalt  des  Mutterbruders:  matriarchal. 
Hausgewalt  abwechselnd  dem  Vater,  abwechselnd  dem  Mutter- 
bruder zustehend:  Wechselsystem. 

§  7. 

2.  Eheschliessungsweisen. 

Nicht  ganz  ohne  Einfluss  auf  die  Unterordnung  der 
Völker  unter  die  verschiedenen  Entwickelungsstufen  sind  die 
Eheschliessungsweisen.  Dieselben  sind  sehr  mannichfaltig,  so 
haben  wir: 

Frauenraub, 

Frauenkauf, 

Frauen  erdienung, 

Aufnahme  des  Mannes  in  die  Familie  der  Frau, 


'^)  Weipert,  Die  Ehe  in  Jai^an,  in  der  Oesterreichischen  Monats- 
schrift für  den  Orient.  April,  Mai  1890.  —  Post,  Japanisches  Familien- 
recht, im  Ausland  1890,  p.  448b.  —  Kohler,  RSt.  p.  197  f. 


Familienstufen  und  Eheformen.  213 

Eheschluss     mit     charakterlosen    Förmlichkeiten     mit 
oder  ohne  obrigkeitliche  Mitwirkung, 

Formlose  Consensehe  mit  oder  ohne  Ersitzung. 

Von  diesen  Eheschliessungsweisen  wird  der  Frauenraub 
zweifellos  über  kurz  oder  lang  als  diejenige  anerkannt  werden, 
durch  deren  Aufkommen  das  Patriarchat  bei  den  meisten  Völkern 
herbeigeführt  oder  wenigstens  mächtig  gefördert  ist.  Indessen 
hat  der  Raub  diese  Wirkung  nicht  immer;  sein  Einfluss  ist 
nicht  stark  genug,  um  nicht  durch  grössere  Gegeneinflüsse 
gehemmt  werden  zu  können. 

Immerhin  aber  ist  der  Frauenraub  weder  ein  Kennzeichen 
des  Matriarchats,  wie  Kautsky^^),  noch  der  losen  Fa- 
milie, wie  Zmigrodzki  ^^)  meint.  Wenn  aber  der  Frauenraub 
gegen  fremde  Nationen  gerichtet  wird,  so  dass  die  Frauen  eine 
andre  Sprache  reden  als  die  Männer  ^^),  dann  ist  nicht  zu 
erwarten,  dass  es  den  Frauen  gelingen  wird,  ihre  bisherigen 
Beziehungen  über  die  nationalen  Grenzen  herüber  festzuhalten, 
und  in  diesem  Falle  ist  immer  anzunehmen,  dass  eine  agnatische 
Ordnung   und    Gliederung   der   Menschen    Platz    greifen   wird. 

Der  Frauenkauf  kommt  im  Patriarchate  vor ,  aber  er 
verträgt  sich  in  einzelnen  Fällen  auch  mit  dem  Matriarchat 
und  vielleicht  auch  der  losen  Familie.  Nur  die  zweiseitige 
Familie  denkt  nobler.  Wo  sie  herrscht,  ist  der  Bräutigam 
zu  edel,  um  etwas  für  die  Braut  zu  bezahlen,  sondern  er  er- 
wartet, dass  er  etwas  mit  ihr  mit  bekommt.  Der  Frauenkauf 
ist  also  weder  wesentlich  matriarchal  ^^)  noch  nothwendig 
patriarchal  ^^),  wenngleich  er  regelmässig  mit  dem  Patriarchate 
zusammenhängt. 

Die  Frauenerdienung,  welche  den  Bräutigam  auf  kurze 
Zeit  in    den  Hausstand    des    Schwiegervaters    eingliedert,    um 

8»)  Kautsky  bei  Hellwald,  MF.  p.  187  in  Verb,  mit  p.  228. 

8')  Zmigrodzki,  MASt  p.  249. 

82)  Hellwald,  MF  p.  188.  —  Kohler  in  ZVR  5,  p.  352. 

«3)  Anders  Hellwald,  MF  p.  306. 

«'*)  Anders  Hellwald,  MF  p.  303. 


211  Friedrichs, 

ihn  und  äcine  Frau  nach  abgeleisteter  Arbeit  unter  seine 
Verwandten  ziehen  zu  lassen,  ist  eigentlich  nichts,  als  eine 
Abart  des  Fruueukaufes ;  wenn  sie  daher  auch  in  der  Regel 
in  patriarchalen  Rechtsgebieten  vorkommt,  so  ist  nicht  un- 
bedingt auszuschliessen,  dass  sie  auch  einmal  im  Matriarchat 
vorkäme. 

Die  Adoption  des  Ehemannes,  d.  h.  die  dauernde  Ein- 
gliederung des  Mannes  in  die  Schwiegerfamilie  ist  als  Binaehe 
bereits  im  vorigen  Paragraphen  besprochen. 

Die  charakterlose  und  die  formlose  Ehescheidung  ge- 
hören keiner  Entwickelungsstufe  ausschliesslich  an,  die  Frauen- 
ersitzung  wird  als  Kennzeichen  des  Patriarchats  zu  be- 
trachten sein. 

§  8. 
3.  Eheliche  Treue. 

Die  Verpflichtung  der  Ehefrauen  zur  ehelichen  Treue  kommt 
unter  allen  Familienstufen  vor  und  ist  für  keine  ein  Kenn- 
zeichen^^). Dagegen  ist  das  Gebot  der  vorehelichen  Keusch- 
heit nur  von  patriarchalen  Völkern  bekannt  ^^),  und  auch  bei 
diesen  noch  nicht  immer  durchgeführt.  Vollends  ganz  jung 
ist  die  rechtliche  Privilegierung  der  Jungfernkinder;  diese  haben 
im  heroischen  und  noch  im  späteren  Patriarchate  dieselben 
Statusrechte,  wie  die  ehelichen,  aber  natürlich  in  der  Familie 
der  Mutter,  und  stehen  also  entweder  in  der  Gewalt  des  Mutter- 
bruders oder  in  der  des  Muttervaters  ^'^). 

Einzelne  Institute,  welche  gegen  den  Grundsatz  der 
ehelichen  Treue    und    der  jungfräulichen  Keuschheit  gerichtet 


^^)  Friedriclis  in  ZVR  8,  p.  374.  —  Auch  einen  Zusammenhang 
zwischen  dem  Treugebot  und  dem  Frauenkaufe,  wie  ihn  Hellvvald, 
MF  p.  329  aufstellt,  vermag  ich  nicht  zu  erkennen. 

86)  Hellwald,  MF  p.  220,  357;  vgl.  auch  Hellwald,  MF  p.  341. 
—  Kohl  er  in  ZVR  5,  p.  328. 

«')  Friedrichs  in  ZE  1888  p.  214.  —  Dargun,  MR  p.  41. 


Familienstufen  und  Eheformen.  215 

sind,  werden  auch  zur  Charakterisirung  herangezogen.  So 
meint  Starcke,  das  Brautnachtsrecht  habe  nur  da  einen  Zweck 
und  könne  im  eigentlichen  Sinne  nur  da  vorkommen,  wo 
Keuschheit  und  Ehetreue  eingeführt  seien  ^^).  Die  Brautnachts- 
rechte lassen  sich  aber  in  einem  Lande  ohne  Ehetreue  sehr 
gut  denken;  denn  wenn  auch  die  Frau  das  Recht  hat,  sich 
jedem  hinzugeben,  so  hat  sie  damit  noch  nicht  die  Pflicht, 
grade  dem  Fürsten  zu  Willen  zu  sein,  und  zwar  grade  in  der 
ersten  Nacht  der  Ehe;  eine  solche  Verpflichtung  muss  durch 
ein  besonderes  Rechtsinstitut  begründet  werden,  und  hierzu 
dient  eben  das  Brautnachtsrecht.  Wäre  die  Stare  ke'sche 
Auffassung  richtig,  so  würde  das  Brautnachtsrecht  nur  im 
Patriarchat  vorkommen,  thatsächlich  ist  sie  aber  in  allen  Ent- 
wickelungsstufen  möglich.  Lubbock  erklärt  das  Brautnachts- 
recht  als  eine  Art  Abfindung,  indem  der  Ehemann  durch 
Gewährung  der  Brautnacht  die  Stamraesgenossen  dafür  ent- 
schädigen will,  dass  er  ihnen  den  promiscuen  Mitgenuss  des 
Weibes  entziehe  ^^).  Da  nun  Lubbock  an  anderen  Stellen  das 
Aufkommen  der  Einzelehe  mit  dem  Entstehen  des  Patriarchates 
zusammenfallen  lässt,  so  würde  durch  diese  Erklärung  das 
Brautnachtsrecht  wiederum  zu  einem  patriarchalen  Institute 
werden.  Die  Lubbock'sche  Erklärung  wird  aber  dem  That- 
bestande  nur  in  einigen  wenigen  Fällen  gerecht.  Die  Wurzeln 
dieses  Rechtes  sind  vielmehr  sehr  mannichfach ;  die  wichtigsten 
derselben  sind  auch  schon  von  K  o  h  1  e  r  ausführlich  ent- 
wickelt^o). 

Ein  anderes  Institut  ist  die  Tempelprostitution.  Michaelis 
glaubt,  sie  sei  eingeführt  im  Interesse  unkeuscher  Bräute, 
damit  kein  Bräutigam  den  Nachweis  der  Jungfernschaft  ver- 
langen könne ^^).  Sie  müsste  also  zu  einer  Zeit  entstanden 
sein ,    als    das    Keuschheitsprincip    schon    allgemeine    Geltung 


^8)  Starcke,  PF  p.   134. 

««)  Lubbock,  EC  p.  101. 

^0)  Kohler  in  ZVR,  4,  p.  280. 

^^)  Michaelis,  MR  2,  p.  151.    §  92. 


21(5  Friedrichs. 

gewonnen  hatte,  also  im  Patriarchat.  Die  Unrichtigkeit  der 
Erkhirung  erscheint  mir  zweifellos.  Die  beiden  einander 
widersprechenden  Erklärungen  von  Hellwald^^),  durch  welche 
das  Institut  auf  anderem  Wege  zu  einem  patriarchalen  ge- 
macht würde,  erscheinen  gleichfalls  unzutreffend;  richtig  er- 
scheint mir  Smith:  This  practice  .  .  .  seems  to  have  arisen 
from  the  notion  that  the  gods  ought  to  have  the  first-fruits 
of  every  thing^^). 

Mit  dieser  Erklärung  gehört  die  Tempelprostitution  aber 
keiner  Entwickelungsstufe  an. 

Die  einfache  Prostitution  soll  nach  Puffendorf  nur  in 
solchen  Gebieten  vorkommen,  in  denen  Ehetreue  und  Keusch- 
heit grundsätzlich  anerkannt  sind  und  gegen  Nachstellungen 
geschützt  werden  sollen ^^).  Und  es  ist  gewiss,  dass  die  Pro- 
stitution ein  wirksames  Mittel  zur  Erreichung  dieses  Zweckes 
ist,  und  dass  sie  —  nach  Hellwald  —  in  der  Regel  um  so 
entwickelter  ist,  je  höher  in  einem  Volke  die  Begriffe  von 
der  Strenge  der  ehelichen  Bande  sind^^). 

Wenn  es  der  Fall  wäre,  dass  die  Prostitution  jedesmal 
und  nothwendig  mit  dem  Keuschheitsgebote  zusammenträfe, 
dann  würde  sie  ein,  wenn  auch  geringes  Kennzeichen  für  das 
Patriarchat  enthalten.  Ein  solches  Zusammentreffen  ist  aber 
nicht  innerlich  begründet,  und  auch  thatsächlich  nicht  vor- 
handen. Bei  den  Abyssiniern  (welche  freilich  patriarchal 
leben)  scheint  es  ausgemachte  Prostituirte  zu  geben,  welche 
in  hohem  Ansehen  stehen,  obgleich  auch  den  anderen  Mädchen 
keine  Keuschheitspflicht  obliegt ^^). 

Aehnlich    scheint   es   auch   bei   den   alten  Aegyptern   ge* 


^2)  Hellwald,  KG  1,  p.  92.  —  Hellwald  MF  p.  357. 
»3)  Smith,  DGA  p.  607a. 
^')  Puffendorf,  JNG  6,  1,  4. 
^^)  Hellwald,  MF  p.  274. 

»6)  Hellwald,   KG    1,  p.   93.    —   Hellwald,    MF   359.    328.   — 
Starcke,  PF  p.  131. 


Familienstiifen  und  Eheformen.  217 

wesen  zu  sem^'),  vielleicht  auch  in  Birma  und  Pegu^^),  in 
Siam^^)  und  bei  den  Quichua  in  Peru  zur  Zeit  der  Ent- 
deckung ^^^). 

Dass  ein  solcher  Zusammenhang  zwischen  Keuschheits- 
gebot und  Prostitution  nicht  besteht,  lehrt  übrigens  auch  das 
Leben  unserer  grossen  Städte.  Es  giebt  ganze  Klassen  von 
Arbeiterinnen,  welche  durchaus  unkeusch  leben  und  deswegen 
von  ihren  Standesgenossen  durchaus  nicht  verachtet  werden; 
diese  arbeiten  aber  und  geben  sich  nur  bestimmten  standes- 
genössischen  Liebhabern  hin;  sie  prostituiren  sich  nicht,  und 
die  Polizeibeamten  wissen  zwischen  ihnen  und  denjenigen  Per- 
sonen, welche  sie  auf  Grund  des  §  361,  8  St.  G.  B.  zu  be- 
aufsichtigen haben,  mit  Sicherheit  zu  unterscheiden. 

III.  Erbfolge. 

§9. 

Ein  wichtiges  Kennzeichen  ist  die  Erbfolgeordnung. 

Die  zweiseitige  Familie  macht  keinen  Unterschied  zwischen 
den  Agnaten,  den  Uterinen  und  den  Cognaten  im  engeren 
Sinne. 

Die  einseitige  Familie  schliesst  die  reinen  Cognaten  von 
der  Erbschaft  aus,  und  lässt  entweder  nur  Agnaten  oder  nur 
Uterine    erben;    in  der  losen  Familie  werden  nicht  leicht  ent- 


»")  Erman,  ÄÄL  1,  p.  223.  —  Bernhöft,  in  ZVR  8,  p.  165 
Note  14.  —  Bachofen,  ST  p.  65  Note  49.  -  Bachofen,  MR  p.  12b. 
—   Dagegen  Revillout,  im  Journal  asiatique  1877  p.  275. 

^s)  Kohler  in  ZVR  6,  p.  166.  —  Bastian,  VÖA  2,  p.  53.  497.— 
Buddeus  in  Ersch'  und  Grubers  AE  I  31,  p.  295.  —  Dagegen  Waitz, 
ANV  2,  p.  111.  —  Ploss,  KBS  1,  p.  386.  —  Hellwald,  MF  p.  344. 

9^)  Bastian,  VÖA  3,  p.  90.  —  Buddeus  in  Ersch'  und  Grubers 
AE  I,  31,  p.  295. 

^^-)  F.  Müller.  AE  p.  308.  —  Pöppiz  in  Ersch'  und  Grubers 
AE  II,  17,  p.  375.  —  Westermarck,  HM  1,  p.  100.  -  Waitz,  ANV 
1,  p.  354. 


218  Friedrichs. 

fernterc  Verwandte  als  die  Eltern,  Geschwister  und  Kinder 
zur  Erbschaft  berufen  sein;  sobald  eine  dieser  drei  Gruppen 
von  Verwandten  erbt,  ist  die  Familienstufe  daraus  nicht  zu 
erkennen,  da  die  Vollgeschwister  stets  Agnaten  und  Uterine 
zugleich  sind^^^),  und  auch  beide  Elterntheile  und  die  Kinder 
beides  zugleich  sein  können ;  so  war  z.  B.  die  uxor  in  manu 
in  Rom  auch  zur  patriarchalen  Zeit  agnatische  und  uterine 
Verwandte  ihrer  Kinder.  Charakteristisch  ist  für  das  Matriar- 
chat das  Erbrecht  des  Mutterbruders  und  Schwestersohnes 
gegen  einander ;  für  das  Patriarchat  das  Erbrecht  der  Sohnes- 
söhne nach  dem  Vatervater. 

Ganz  gleichmässig  mit  der  Vermögenserbfolge  muss  auch 
die  Frauenvererbung  behandelt  werden.  Sie  ist  weder  ein 
Kennzeichen  des  Patriarchats ^^^),  noch  des  Matriarchats  ^ '^ ^) ; 
ist  der  Erbe  der  Schwestersohn  oder  Mutterbruder  des  Erb- 
lassers, so  gehört  das  Volk  der  matriarchalen  oder  losen 
Familie  an;  wenn  der  Erbe  der  Sohn  des  Erblassers  ist,  so 
lebt  das  Volk  im  Patriarchat.  Die  Vererbung  der  Fi-au  an 
den  Bruder,  welche  in  der  Litteratur  so  oft  und  so  gern  mit 
dem  Levirat  verwechselt  worden  ist^^^),  beweist  weder  für 
das  eine  noch  für  das  andere,  und  es  macht  auch  keinen 
Unterschied,  ob  eine  Vererbung  des  Ehebandes  oder  der 
Mundschaft  über  das  Weib  vorliegt,  ob  die  Frau  selbst  als 
Sache  vererbt  wird,  oder  ob  das  Verliältniss,  in  welchem  der 
Erbe  zu  ihr  gestanden  hat,  Gegenstand  der  Nachfolge  ist. 


^^^)  Insbesonders  weist  die  Erbfolge  des  Braders  weder  auf 
Matriarchat  noch  auf  Polyandrie:  Starcke,  PF  p.  171,  176. 

1^1)  Wie  Hellwald,  MF  p.  267.  269. 

102)  Wie  Spencer  bei  Starcke,  PF  p.  162. 

1°^)  Das  Levirat  legt  dem  Schwager  die  Pflicht  auf,  dem  verstorbenen 
Bruder  einen  Sohn  zu  zeugen,  die  Wittwe  ist  der  berechtigte  Theil. 
Durch  die  Frauenvererbung  ist  der  Schwager  berechtigt  und  die  Wittwe 
verpflichtet.  Vgl.  über  diese  Frage:  Bernhöft  in  ZVR  4,  p.  234.  — 
Hellwald,  MF  p.  268.  —  Kohler,  in  ZVR  5,  p.  350.  —  Klemm,  CG 
3,  p.  278.  —  Lubbock,  EC  p.  118.  —  Waitz,  ANV  2,  p.  390. 


Familienstufen  und  Eheformen.  219 

IV.  Kinder  ein  Segen. 

§  10. 
1.  Im  Allgemeinen. 

Wichtig  ist  die  Frage,  ob  die  Kinder  bei  einem  ge- 
gebenen Volke  als  Segen  betrachtet  werden,  d.  h.  ob  der 
von  dem  Kinde  zu  erwartende  materielle  Nutzen  in  jeder 
einzelnen  Familie  als  grösser  betrachtet  wird,  als  die  Last 
der  Aufziehung.  Bei  uns  pflegt  der  Einzelne  immer  die  Auf- 
ziehungslast in  erster  Linie  ins  Auge  zu  fassen.  Puffen - 
dorf  sagt  1672:  „Quotus  quisque  enim  liberis  operam  daret, 
qui  saepe  materiam  dolendi,  semper  curarum  et  laborum 
praebent,  ni  super  rationem  etiam  naturalis  inclinatio  eodem 
traheret"  ^^*).  Michaelis  fragt  sich  1770,  warum  der  Ehe- 
bruch strafbar  sei,  und  führt  als  Gründe  an:  die  Verkürzung 
des  Erbtheils  zu  Lasten  der  rechten  Kinder  und  zu  Gunsten 
der  Kukukskinder  und  die  dem  betrogenen  Ehemanne  auf- 
gebürdete grosse  Erziehungslast.  Er  parallelisirt  die  Todes- 
strafe für  Ehebruch  mit  der  Todesstrafe  für  DiebstahP*^^). 
Buddeus  sagt  1830:  „Der  Mann  kann  nicht  zugeben,  dass 
er  mit  der  Erhaltung  fremder  Kinder  belästigt  werde ^^^)." 
Der  Bayer  betet:  „Schick  uns  Kühe,  schick  uns  Rinder, 
schick  uns  doch  nicht  zu  viele  Kinder i^^)."  Dieselbe  Auf- 
fassungsweise bezeugt  auch  der  Schweizer  Giraud-Teulon^^^). 

Getragen  von  dieser  allgemeinen  Auffassungsweise  haben 
denn  auch  einige  Gelehrte  angenommen,  dass  das  Kind  unter 
allen  Umständen  und  Verhältnissen  den  Eltern  materiell  mehr 


^04)  Puffendorf,  JNG  6,  1,  3. 

105)  Michaelis,  MR  §  260.    5,  p.  241.     Vgl.  §  83.    2,  p.  100. 

106)  Buddeus   in    Ersch'    und    Grubers   Allg.  Enc.   der  WK  I,  31, 
p.  289. 

107)  Pioss,  KBS  1,  p.  102.  p.  90. 

108)  Lubbock,  EC  p.  128. 


220  Friedrichs. 

Naclitlieil  als  Nutzen  bringen  müsse.  So  Haberland  ^^^) 
und  Hellwaldll«). 

Aber  an  anderer  Stelle  erkennen  Michaelis  und  Hell- 
wald  auch,  dass  diese  Auffassung  des  Kinderreichthums  eben 
nur  für  unsere  Zeit  gilt.  ^Denn  ein  Ackersmann  kann  Kinder 
und  Kindeskinder  mit  Vortheil  gebrauchen,  und  sie  sind  ihm 
besser  als  Taglöhner  oder  Knechte  m)."  —  „Es  ist  nämlich 
leicht  zu  erkennen,  dass  in  jener  Periode  des  Volkslebens, 
als  noch  die  Stammesbildung  vorherrschte  .  .  .  alles  davon 
abhing,  dass  der  Stamm  möglichst  stark  sei  und  eine  zu- 
reichende Anzahl  von  kampftüchtigen  Männern  stellen  könne. 
Es  lag  also  ein  dringlicher  Grund  für  jeden  Stamm,  für  jede 
Familie  vor,  sich  nach  Möglichkeit  zu  bestreben,  eine  zahl- 
reiche Nachkommenschaft  zu  erlangen,  denn  davon  hing  die 
Macht,  das  Ansehen,  die  Sicherheit  der  Familie  und  des  ganzen 
Stammes  ab^i^).^ 

Starcke  sagt:  „Die  Kinder  sind  in  den  primitiven  Ge- 
meinwesen dem  Vater  sehr  nützlich.  Sie  erhöhen  sein  An- 
sehen, das  mit  der  Anzahl  der  Angehörigen  und  der  Freunde, 
die  er  um  sich  versammeln  kann,  wächst  i^^).'' 

Zur  weiteren  Bestärkung  kann  auch  noch  eine  Bemerkung 
von  Kremer^i*)  herangezogen  werden. 

Es  ist  auch  offenbar,  dass  viele  Völker  offen  anerkennen, 
dass  der  Kinderreichthum  ihnen  wirklich  erwünscht  ist,  und 
man  kann  diesen  Wunsch  nicht  mit  Hearnii^),  Köhler^  i*^) 
und  Bastian^i'^)  aus  religiösen  und  ähnlichen  Gründen  erklären. 


109)  Ploss,  KBS  2,  p.  244. 

110)  Hellwald,  MF  p.  9.  10. 

111)  Michaelis,  MR  1,  p.  197. 

112)  Hellwald,  MF  p.  387.     Vgl.  p.  338. 

113)  Starcke,  PF  p.  279. 

114)  Kremer,  KG  2,  p.  112  f. 
11*)  He  am,  AH  p.  71  und  oft. 

1^6)  Kohler  in  KVjft,  N  F.  4,  p.  17. 

11^)  Bastian  in  ZVP  5,  p.  163.  —  Bastian,  VÖA  6,  p.  172  Note  *). 


Familienstufen  und  Eheformen.  221 

Ich  glaube  nun,  dass  das  Streben  nach  Kindern  der 
Gentilverfassung ,  der  einseitigen  Familie,  also  dem  Matriar- 
chat und  dem  Patriarchate  gemeinsam  eigenthümlich  ist. 

Denn  wo  nicht  die  Gentilverfassung  ist,  welche  den  Ein- 
zelnen sein  ganzes  Leben  hindurch  zu  Schutz  und  Trutz  eng 
an  die  Seinen  kettet,  da  kommen  die  Kinder  der  Familie 
auch  nicht  zu  gut,  und  es  lässt  sich  kein  Grund  absehen, 
wesshalb  die  Eltern  sich  viele  Kinder  wünschen  sollen.  Wo 
aber  ein  ausgebildetes,  organisirtes  Staatswesen  das  Ganze 
umschliesst,  da  hat  zwar  der  Staat  Interesse  am  Nachwüchse, 
aber  der  Einzelne  wird  von  diesem  Interesse  nicht  mitgerissen, 
und  er  fühlt  für  seine  Person  zunächst  die  Lasten  der  Auf- 
ziehung. 

Ich  nehme  daher  an : 

1.  Matriarchat  und  Patriarchat:  Kinder  ein  Segen. 

2.  Lose  und  zweiseitige  Familie:  Kinder  kein  Segen. 
Nun  fragt  es  sich,    woran  es  sich  erkennen  lässt,    ob  in 

einem  Volke  in  der  oben  angegebenen  Weise    die  Kinder  als 
Segen  anerkannt  werden  oder  nicht.    Hier  sind  es  nun  ausser 
den  registrirten  ausdrücklichen  Aussprüchen  fünf  Gruppen  von 
Thatsachen,  welche  als  Kennzeichen  wirken  können, 
nämlich: 

a)  Kindestödtung  und  Abtreibung  (§  11 — 13). 

b)  Adoption,  Vaterwahl  und  ähnliche  Rechtsinstitute 
(§  14-16). 

c)  Verkauf  und  Verpfändung  der  Kinder  (§   17). 

d)  Emancipation  und  Stammeswechsel  (§  18). 

e)  Aufschiebung  und  Aufhebung  der  Ehe  (§  19,  20). 

2.  Kindestödtung  und  Abtreibung. 

a)  Hunger,  Aberglaube,  Cultus. 

§  11. 

Was  die  Kindestödtung  betrifft,  so  ist  der  allgemeine 
Grundsatz  der,    dass  die  allgemeine  Uebung    dieses   Brauches 


222  Friedrichs. 

darauf  hinweist,  dass  das  betreffende  Volk  die  Kinder  nicht 
als  Segen  betrachtet  und  somit  der  einseitigen  Familie  nicht 
angehört.  Dieser  Grundsatz  lässt  sich  aber  nur  mit  vielfachen 
Modificationen  anwenden. 

Zunächst  giebt  es  vielfache  Tödtung  von  Kindern  aus 
Nahrungsmangel  oder  aus  anderer  Art  der  Noth.  Es  kommt 
hier  insbesondere  vor,  dass  ein  Säugling  getödtet  wird,  wenn 
seine  Mutter  gestorben,  und  keine  andere  Frau  zum  Stillen 
des  armen  Geschöpfes  bereit  ist,  und  geeignete  künstliche 
Kindernahrung  fehlt ^^^).  Dies  ist  der  Fall  bei  einigen  Austra- 
liern ^^^),  Eskimo  ^2^),  den  Indianern  Californiens^^^)  und  in 
Südamerika  bei  den  Moxos^^^),  bei  den  Hottentotten  ^^^)  und 
den  Efiknegern  am  Altkalabarflusse  nahe  Kamerun  ^^*). 

Ein  ähnlicher  Fall  ist  der,  wenn  die  Mutter  Zwillinge 
zur  Welt  bringt.  Manchmal  aus  abergläubischer  Scheu,  manch- 
mal aber  auch  desshalb,  weil  die  Mutter  nicht  zwei  Kinder 
auf  einmal  ernähren  kann,  wird  das  eine  oder  beide  getödtet. 
Dasselbe  gilt,  wenn  Nährzwillinge  vorhanden  sind,  d.  h.  zwei 
Kinder,  von  denen  das  eine  vor  der  Entwöhnung  des  andern 
empfangen  ist,  so  dass  auch  hier  die  Mutter  gezwungen  wäre, 
beide  Kinder  zugleich  zu  ernähren,  das  eine  an  der  Brust  ^^^), 
das  andere  unterm  Herzen. 

Die  australischen  Weiber  sind  insbesondere  nicht  im 
Stande,    neben    den    Traglasten,    welche    sie   auf  ihren    fort- 


118)  Frankenheim,  VK  p.  460. 

119)  Ploss,  KBS  1,  p.  109;  2,  p.  294.  —  F.  Müller,  AE  p.  214. 
—  Klemm,  CG  1,  p.  291.  —  Globus  55,  p.  363.  -  Kohler  in  ZVR 
7,  p.  355. 

120)  Ploss,  KBS  1,  109.  —  F.  Müller,  AE  p.  241. 

i'^i)  Hellwald  in  THZ  4,  p.  377.  --  Ploss,  KBS  2,  p.  252. 
1^2)  Ploss,  KBS  2,  p.  252. 

123)  Waitz,  ANV  2,  p.  340.  —  Ploss,  KBS  2,  p.  258. 

124)  Ploss,  KBS  2,  p.  259. 

12^)  Bei  den  Wa-Suahili  heisst  ein  solcher  Säugling:  patcha  ja 
nye:  äusserer  Zwilling,  Ploss,  KBS  2,  p.  169. 


Familienstufen  und  Eheformen.  223 

währenden  Fusswanderungen  befördern  müssen ,  noch  mehr 
als  ein  Kind  zu  tragen.  Wenn  das  neugeborene  Kind  daher 
noch  nicht  stark  genug  ist,  um  die  Reise  ungetragen  mit- 
zumachen,  so  muss  es  dem  ungeborenen  weichen  ^^^). 

Ausserdem  finden  wir  die  Zwillingstödtung  unter  den 
Behringsvölkern  bei  den  Kamtschadalen^^'),  Kurilen  ^^^);  unter 
den  Indochinesen  bei  den  Khasia^^^),  in  Amerika  bei  den 
Kaliforniern^^^),  Mexikanern ^^^),  einigen  Kariben,  insbesondere 
den  Salivas^^i),  den  Moxos^^^)^  Campas  (Peruanern)  ^^^),  den 
Muiscas  (Tschibtschas)^^^)^  in  der  malayischen  Rasse  bei  den 
Igorroten  ^^^)  und  auf  der  Insel  Serua^^^),  in  Afrika  bei  den 
Hottentotten  ^^'^),  die  sich  zur  Vermeidung  solchen  Ereignisses 
den  einen  Hoden  ausnehmen  sollen  ^^^),  und  unter  Umständen 
in  der  Landschaft  tetui^s)^  bei  den  Efik^^^),  den  Ibo^^i),  in 
Dahome  und  bei  den  Arebonegern^*^);  unter  den  Ba  Ntu  bei 


126)  Ploss,  KBS  2,  p.  254. 
1")  Ploss,  KBS  2,  p.  266. 

128)  Lubbock,  EC  p.  26. 

129)  Ploss,  KBS  2,  p.  269. 

130)  Ploss,  KBS  1,  p.  395. 

131)  Ploss,  KBS  2,  p.  266.  274.  —  Waitz,  ANV  2,  p.  124. 

132)  Ploss,  KBS  2,  p.  266. 
i'3)  Ploss,  KBS  2,  p.  274. 

134)  Ploss,  KBS  2,  p.  274  f. 

135)  Hellwald  in  THZ  4,  p.  266.  —  H.  Meyer,  RW  p.  529. 

136)  Post,  StEF  p.  335. 

13")  Lubbock,  VZ  2,  p.  137.  —  Schweitzer,  OJR  p.  14.  — 
Waitz,  ANV  2,  p.  340.  Abweichend  F.  Müller,  AE  p.  86.  116.  — 
Ploss,  KBS  2,  p.  269. 

'38)  Ploss,  KBS  1,  p.  340  f.  2,  p.  441.  -  Schweitzer,  OJR  p.  14. 
—  Waitz  ANV  2,  p.  341.  —  F.Müller,  AE  p.  109.  —  Klemm,  CG, 
3,  p.  289. 

139)  Ploss,  KBS  1,  p.  269. 

i^'^)  Ploss,  KBS  2,  p.  267. 

141)  Lubbock,  VZ2,  p.  264.  —  Waitz,  ANV  2,  p.  124. —  Ploss, 
KBS  2,  p.  268. 

2)  Lubbock,  EC  p.  26. 


142- 


224 


Friedriclis. 


den  MaKalakai'^3),  Wa  Kikuyu^^*),  Wa  Zaramoi^-^)  und  den 
Loangobewohnern  ^  *  ^). 

Bei  anderen  Völkern  finden  wir  eine  Hungertödtung, 
welche  sich  nicht  an  die  genannten  Anlässe  oder  nicht  an 
besondere  Anlässe  knüpft.  Die  alten  Wenden  sollen  in  Zeiten 
der  Hungersnoth  ihre  Kinder  verzehrt  haben ^*^);  und  gleich 
ihnen  die  Markesasinsulaner ^^^).  Australier  tödten  die  Kinder, 
wenn  die  Mittel  zu  ihrer  Ernährung  nicht  hinreichend*^);  ebenso 
einzelne  Eskimo  ^^^)  und  die  drawidischen  Erulas  auf  den 
Neilgherry-Hügeln  (besonders  im  Winter)  ^^*);  die  Califor- 
jjJqj.i52j  ^^jjjJ  ^[q  gän  (Buschmänner)  in  Südafrika ^^^). 

Einzelne  Fälle  der  Zwillingstödtung  geschehen  nicht  aus 
Noth,  sondern  aus  Aberglauben.  Ausserdem  finden  wir 
eine  abergläubische  Tödtung  noch  bei  den  drawidischen 
Khunden  ^^'^)  und  Singhalesen  ^^^),  den  malayischen  Male- 
gaschen  ^^^)  und  Igorroten  ^^^),  den  Hottentotten ^^^),  den 
Wa  Zaramoi59)^  AmaZulu^^^),  Ma  Kololo^«!),  Wa  Kikuyu, 


143 
144 
145 
146 
147 
14S 
149 
150 
151 
152 
153 
154 
165 
156 


313—315 


1-1  7 
15S 
159 
IGO 
161 


Ploss,  KBS  2,  p.  268. 

Ploss,  KBS  1,  p.  259. 

Ploss,  KBS  2,  p.  268. 

Ploss,  KBS  2,  267. 

Schwebel,  GSB  1,  p.  26. 

Klemm,  CG  4,  p.  303. 

F.  Müller,  AE  p.  214. 

Ploss,  KBS  2,  p.  252. 

Hellwald  in  THZ  3,  p.  50. 

Ploss,  KBS  2,  p.  252. 

Waitz,  ANV  2,  p.  340.    Vergl.  Post,  B  2,  p.  119. 

Ploss,  KBS  1,  p.  87. 

Knox,  ORB  3,  7,  p.  199.  -  Ploss,  KBS  1,  p.  87. 

Ploss,   KBS  2,   p.  195,   258.  -  Sibree,   M  (deutsch)  p.  154. 


H.  Meyer,  RW  p.  529. 
Waitz,  ANV  2,  p.  340. 
Ploss,  KBS  2,  p.  258. 
Waitz,  ANV  2,  p.  391. 
Ploss,  KBS  2,  p.  259. 


—  Ploss,  KBS  2,  p.  258. 


Familienstufen  und  Eheformen.  225 

Wa  Nika    und   Wa    Zegua^^^),    Wa    Nyamwezi^^^)    und    Be 
Tschuana^ß*). 

Eine  Opferung  von  Kindern  kennen  die  Moabiter  ^^^), 
Ammoniter^^^),  Phöniker^^^),  Karthager  ^^^),  die  Syrer  ^^^), 
Juden '^'^)  und,  anscheinend  als  die  einzigen  unter  den  Nicht- 
semiten,  die  Tonganer  ^^^). 

In  allen  diesen  Fällen  ist  nicht  die  Uebung,  sondern  der 
Grund  das  Entscheidende. 

Dem  religiösen  Gefühle,  dem  Gott,  wie  dem  Dämon  des 
Aberglaubens  opfert  der  Mensch  das  Höchste,  wie  das  Ge- 
ringste; wenn  das  Volk  auch  das  höchste  Gewicht  darauf 
legt,  eine  möglichst  grosse  Zahl  von  glücklich  geborenen 
Kindern  zu  besitzen,  so  kann  es  dennoch  dazu  kommen,  die 
Tödtung  der  Kinder,  welche  unter  unglücklichen  Vorzeichen 
geboren  sind,  den  Vätern  anzurathen  oder  zu  befehlen.  Dies 
gilt  von  der  Tödtung  von  allein  geborenen  Kindern  wie  von 
Zwillingen,  sie  lässt  niemals  erkennen,  welche  Bedeutung  der 
Kinderreichthum  hat,  und  kann  in  allen  Familienstufen,  wenig- 
stens in  den  drei  ersten,  in  gleicher  Weise  vorkommen. 

Man  könnte  nun  versucht  sein,  die  Tödtung  aus  Noth 
und  Hunger  in  demselben  Lichte  erscheinen  zu  lassen.  Denn 
die  augenblickliche  Noth  treibt  den  Menschen  dazu,  auch  das 
kostbarste  künftige  Gut  dahinzugehen,  um  dem  gegenwärtigen 
Uebel    zu    steuern   oder   es    zu    erleichtern.     Die   Sache   liegt 


^62)  Ploss,  KBS  2,  p.  259. 

'^^)  Reich ard  in  ZGE  24,  p.  256. 

16^)  Waitz,  ANV  2,  p.  391.  —  Ploss,  KBS  2,  p.  241. 

*'^)  2.  B.  der  Könige  3,  27. 

^«•)  Ploss,  KBS  2,  p.  246. 

^")  Ploss,  KBS  2,  p.  246.  -  Hellwald,  MF  p.  354.  —  Michaelis, 
MR  §  247. 

1^8)  Bastian,  VÖA  5,  p.  371  Note  *).  —  Ploss,  KBS  2,  p.  246. 
—  Hellwald,  MF  p.  354. 

1^«)  Hellwald,  MF  p.  354. 

^"^)  Hellwald,  MF  p.  355,  Note  1.  —  Michaelis,  MR  §  247. 

1^1)  Bastian,  VÖA  5,  p.  293. 

Zeitschrift  für  vergleichende  Rechtswissenschaft.   X.  Band.  15 


220  Friedrichs. 

aber  nicht  ganz  so.  Denn  wenn  auch  einzelne  Nothfälle  und 
Calamitäten  in  jedem  Volke  vorkommen  können,  so  ist  die 
Noth  und  der  Unterhaltungsmangel  als  dauernder  Zustand  nur 
bei  einem  kapitallosen  Volke  möglich;  und  ein  kapitalloses 
Volk  gehört  der  losen  Familie  an,  da  sich  bei  ihm  das  wich- 
tigste Band  der  Gentilität,  das  Streben  nach  gemeinsamem 
Schutze  des  Erworbenen,  noch  nicht  gebildet  hat.  In  diesem 
Sinne  kann  also  auch  die  Kindestödtung  aus  Noth  als  Kenn- 
zeichen für  das  Vorherrschen  der  losen  Familie  betrachtet 
werden. 

§  12. 
h)  Krüppel^  Mädchen,  Knaben. 
Ganz  indifferent  ist  die  Tödtung  von  verkrüppelten, 
buckligen  und  lahmen  Kindern,  wie  wir  sie  bei  Athenern  ^'^^), 
Römern  ^^^),  Australiern  ^^^),  besonders  denen  am  unteren 
Murray  ^^^),  den  Tschuktschen^"^^),  in  Südamerika  bei  den 
Chiriguanas^^'),  Manaos^"^^),  Salivas^*^^)  und  Engerekmung 
(Botocudos)^^^,  auf  Neu-Guinea^^^),  bei  den  San  (Busch- 
männern)i^2^,  in  Fetu^^^)  und  Akra^^^),  bei  den  Kafirn^^^), 
Betschuana^^^)  und  Loangoleuten^^^)  antreffen.     Denn  wo  die 


1^2)  pioss,  KBS  2,  p.  242. 

1")  Bastian,  VÖA  6,  p.  211  Note  *). 

1^*)  Kohler  in  ZVR  7,  p.  355.  —  Post,  StEF  p.  336. 

1")  Klemm,  CG  1,  p.  291. 

''^)  Ploss,  KBS  2,  p.  260. 

1")  Post,  StEF  p.  336. 

"8)  Ploss,  KBS  2,  p.  252  f. 

1'»)  Ploss,  KBS  2,  p.  252.  —  Post,  StEF  p.  336. 

180)  Ploss,  KBS  2,  p.  241. 

»81)  Hellwald  in  THZ  6,  p.  244. 

^^^)  Waitz,  ANV  2,  p.  340. 

188)  Ploss,  KBS  1,  p.  241. 

18^)  Waitz,  ANV  2,  p.  124. 

^8^)  Sernau  in  DKZ  2,  p.  490a.  —  Ploss,  KBS  2,  p.  258. 

18«)  Waitz,  ANV  2,  p.  391. 

^8")  Ploss,  KBS  2,  p.  242. 


Familienstufen  und  Ehefornaen.  227 

Eltern  von  ihren  Kindern  einen  materiellen  Nutzen  erwarten, 
da  können  sie  ihre  Hoffnung  doch  in  der  Regel  nur  auf  ge- 
sunde, kräftige,  arbeitsfähige  Kinder  stützen. 

Wenn  also  auch  Kinder  der  letzten  Art  den  grössten 
Gewinn  bringen,  so  kann  doch  bei  den  Krüppeln  die  Last 
grösser  sein  als  die  Lust,  und  diese  daher  der  allgemeinen  Ver- 
nichtung unterliegen.  Aber  auch  die  Völker  ohne  Grentil- 
verfassung,  denen  am  grossen  Kindersegen  nichts  gelegen  ist, 
werden  der  Tödtung  immer  in  erster  Linie  die  verkrüppelten 
und  in  allerletzter  Linie  die  gesunden  Kinder  aussetzen. 
Anders  ist  es  in  der  zweiseitigen  Familie,  wo  die  Kinder  den 
Eltern  nicht  nützen,  sondern  nur  eine  ideelle  Freude  machen 
sollen.  Diese  ideelle  Freude  können  auch  Krüppel  gewähren, 
und  als  die  Schmerzenskinder  sind  sie  oft  die  Lieblingskinder 
ihrer  Eltern.  Auch  pflegt  in  Gebieten  der  zweiseitigen  Familie 
die  ärztliche  Kunst  so  hoch  zu  stehen,  dass  die  Eltern  noch 
nicht  sofort  an  der  Gesundung  des  Kindes  verzweifeln.  Die 
völlige  Gleichstellung  von  Krüppeln  und  gesunden  Kindern 
kann  daher  unter  Umständen  als  Kennzeichen  für  die  zwei- 
seitige Familie  in  Betracht  kommen. 

Nicht  sehr  verschieden  ist  die  Rolle,  welche  die  Mädchen- 
tödtung  spielt.  Dass  diese  Sitte  vorkommt,  ist  ohne  Zweifel; 
ebenso  falsch  wie  es  wäre,  jede  Kindertödtung  als  Mädchen- 
tödtung  aufzufassen ^^^),  ebenso  gegenstandslos  ist  die  Ansicht 
einiger  Schriftsteller,  es  werden  überall  Knaben  und  Mädchen 
in  gleichem  Masse  getödtet.  Lubbock  nimmt  an,  es  lasse 
sich  darthun,  dass  bei  den  niedrigsten  Rassen  die  Knaben 
ebenso  oft  getödtet  werden  als  die  Mädchen  ^^^),  während  er 
für  spätere  Entwickelungsstufen  die  Mädchentödtung  kennt  und 
erklärt ^^^).      Thatsächlich   kommt    die   reine   Mädchentödtung 


^8'')  Starcke,  PF  p.  141.  -  Dargun,  MR  p.  49. 
^«ö)  Lubbock,  EC  p.  83. 

190 


)  Lubbock,  EC  p.  109. 


228  Friedrichs. 

vor  in  Korn^^^)^  bei  den  vürislamisclien  Arabern  ^^^),  in  einigen 
Gegenden  Indiens^^^),  insbesondere  bei  den  Dschadedscha^'^'^), 
Radschputeni»^),  in  Gohiiri»«),  bei  den  Kului»^),  den  Mul- 
tanea  Thag^^^)  und  den  Toda  auf  den  Neilgherryhügeln^^^), 
bei  Indianern,  besonders  den  Kuttschin^^^),  den  Kri  (Kenis- 
tinowuk)^^^)  und  den  Sklavcnindianern*^^),  bei  den  Kariben 
am  Orinoco^^^ä)  und  den  Guanas^"^). 

Eine  überwiegende  Mädchentödtung,  neben  welcher  auch 
Knabentödtung^  aber  in  viel  geringerem  Umfange  im  Schwange 
ist;  finden  wir  bei  den  Athenern  ^^^),  den  alten  Germanen  ^^"'), 
den  Australiern 2^'),  insbesondere  am  unteren  Murray  ^^^),  den 


^^1)  Montesquieu,  GG  23,  22.  —  Hearn,  AH  p.  129.  - 
0.  Schrader,  SU  p.  564. 

1^2)  Hellwald,  MF  p.  397,  398.  —  R.  Smith,  KM  p.  279  ff.  — 
Kur'än,  S.  6,  141.  152:  17,  33;  81,  8.  —  Nöldeke  in  ZDMG  40,  p.  149. 
—  Klemm,  CG  4,  p.  154  f.  —  Post,  StEF  p.  333.  —  A.Müller,  IMA 
p.  48. 

i»3)  Mac  Lennan,  StAH  p.  112.  —  Üoblhoff,  PN  p.  182. 

1»*)  Hellwald  in  THZ  2,  p.  441. 

i»5)  Hellwald  in  THZ  2,  p.  441.  —  Bastian,  VÖA  5,  p.  280.  — 
Ploss,  KBS  2,  p.  260.  —  Hellwald,  MF  p.  260.  490. 

19C)  Hellwald  in  THZ  3,  p.  554. 

i»7)  Hellwald,  MF  p.  253. 

198)  Klemm,  CG  7,  p.  184. 

^9»)  Starcke,  PF  p.  149.  —  Ploss,  KBS  2,  p.  261.  -  Hellwald 
MF  p.  247,  248.  —  F.  Müller,  AE  p.  473. 

200)  Hellwald  in  THZ  5,  p.  154.  —  Ploss,  KBS  2,  p.  252. 

201)  Klemm,  CG  2,  p.  84. 

202)  Bastian,  RV  p.  174. 

203)  Neuhaus  in  THZ  6,  p.  55. 

204)  Klemm,  CG  2,  p.  83.  —  Hellwald  in  THZ  3,  p.  581.  — 
Bastian,  RV  p.  180.  —  Ploss,  KBS  2,  p.  252. 

20')  Ploss,  KBS  2,  p.  247. 

«oö)  Grimm,  DRA  p.  403.  -  Ploss,  KBS  2,  p.  249. 

207)  Globus  55,  p.  363.  —  Post,  StEF  p.  333. 

208)  Ploss,  KBS  2,  p.  254. 


Familienstufen  und  Eheformen.  229 

ärmeren  Chinesen ^^^);  insbesondere  den  Hakka-Chinesen^^^); 
auf  Neu- Guinea  ^^^)^  den  Fidschi-Inseln  ^^  2^,  auf  Tahiti  ^^^)  und 
Neu  Seeland  ^^^)  und  bei  den  Hottentotten 2^^). 

Lippert  und  Hellwald  halten  die  Kindestödtung,  ins- 
besondere aber  die  Mädchentödtung  für  einen  Ausfluss  des 
Matriarchats ^^^);  eine  durch  nichts  begründete  Annahme.  Mac 
Lennan  leugnet,  dass  im  Matriarchat  Kindestödtung  und 
besonders  Mädchentödtung  vorkomme,  soweit  gleichzeitig  Exo- 
gamie  herrsche  ^^').  Ich  halte  folgende  Erwägungen  für  richtig. 
In  einem  Volke,  in  welchem  als  ausschliessliche  Eheschliessungs- 
weise  der  Frauenraub  anerkannt  ist,  wo  also  gleichzeitig  Exo- 
gamie  herrscht,  sind  die  Mädchen  weder  innerhalb  des  Stammes 
als  Gattinnen,  noch  ausserhalb  zum  Verkaufe  zu  verwerthen; 
ihre  Arbeitskraft  ist  beschränkt,  Nahrung  und  Putz  oft  theuer, 
und  ausserdem  lockt  ihre  Anwesenheit  oft  die  Feinde  heran. 
Hier  ist  die  Versuchung  zur  Tödtung  der  Mädchen  so  gross, 
dass  wir  keiner  andern  Erklärung  bedürfen. 

Bei  den  Radschputen  erfolgt  die  Tödtung  wegen  der 
Schwierigkeit,  welche  mit  der  standesgemässen  Verheirathung 
verknüpft  sind,  bei  den  Toda  vielleicht  desshalb,  weil  alle 
jüngeren  Töchter  Nebenfrauen  des  Mannes  werden,  der  ihre 
älteste  Schwester   geheirathet    hat.     Es    lässt   sich   wenigstens 


209)  Hellwald  in  THZ  2,  p.  12G.  —  Ploss,  KBS  2,  p.  262.  — 
Hellwald,  MF  p.  378.  -  Klemm,  CG  6,  p.  112.  —  Arendt  im 
Globus  55,  p.  382. 

"°)  Ploss,  KBS  2,  p.  263.  —  Hellwald  in  THZ  3,  p.  634. 

21')  Ploss,  KBS  2,  p.  257.  —  Chalmers  u.  Gill,  NG  p.  3.  80. 
—  Hellwald  in  THZ  6,  p.  244. 

212)  Ploss,  KBS  2,  p.  256. 

218)  Lubboek,  EC  p.  329.  —  Ploss,  KBS  2,  p.  244. 

21^)  Frankenheim,  VK  p.  460.  —  Ploss,  KBS  2,  p.  257. 

21^)  Lubboek,  VZ  2,  p.  137.  —  Klemm ,  CG  3,  p.  277. 

21C)  Hellwald,  MF  p.  340.  354.  361.  -  Zmigrodzki,  MASt 
p.  258. 

21')  Mac  Lennan,  StAH  p.  210. 


280  Friedrichs. 

denken,    dass  ein  Mann    eine  Schwester   allein   lieber    nimmt, 
als  wenn  er  kraft  Gesetzes  mehrere  nehmen  müsste. 

Bei  mehreren  Indianerstämmen  tödten  die  Mütter  ihre 
Töchter  in  der  Absicht,  um  ihnen  ihr  eigenes  schweres  Loos 
zu  ersparen,  kurz  die  Mädchentödtung  kann  eine  ganze  Reihe 
von  verschiedenen  Ursachen  haben.  Es  lässt  sich  aus  der 
Mädchentödtung  nicht  erkennen,  ob  dem  Volke  Kinder  als 
ein  Segen  gelten,  oder  nicht;  denn  selbst  da,  wo  Knaben  den 
Eltern  den  grössten  Gewinn  bringen,  ist  es  nicht  gesagt,  dass 
derselbe  Gewinn  auch  von  Mädchen  erzielt  werden  kann. 

Der  Vortheil,  den  diese  letzteren  bringen,  kann  ein  zwei- 
facher sein:  in  matriarchalen  Gebieten  vermehren  sie  die 
Wehrkraft  des  Stammes  durch  die  Knaben,  die  sie  gebären, 
und  durch  die  Männer,  welche  sie  als  Liebhaber  oder  Ehe- 
männer an  den  mütterlichen  Hausstand  fesseln.  So  musste 
bei  den  Aleuten  (Behringsvolk)  früher  derjenige,  welcher  ein 
Mädchen  aus  einem  fremden  Ostrog  (Familiendorf)  heirathen 
wollte,  bei  der  Familie  seiner  Frau  Wohnung  nehmen  und 
behalten;  und  wer  viele  Töchter  hatte,  konnte  die  Macht 
seines  Ostrogs  leicht  vermehren ^^^).  In  einem  solchen  Rechts- 
gebiete gelten  natürlich  die  Mädchen  den  Vätern  als  Segen, 
und  mehr  vielleicht  als  die  Knaben,  welche  als  Männer  die 
Heimath  der  Eltern  verlassen  und  vielleicht  einem  feindlichen 
Ostrog  sich  anschliessen.  Hier  ist  natürlich  von  Mädchen- 
tödtung keine  Rede.  Und  es  lässt  sich  daher  wohl  behaupten, 
dass  diese  Tödtung  ein  Kennzeichen  für  das  Nichtvorhanden- 
sein von  wahrem  Matriarchate  ist. 

Im  Patriarchate  kommen  die  Mädchen  als  gewinnbringend 
nur  soweit  in  Betracht,  als  sie  dem  Vater  einen  Brautkauf- 
preis ins  Haus  bringen.  Auf  die  Kinder,  die  sie  vor  der  Ehe 
gebären,  ist  kein  Gewicht  zu  legen,  da  einerseits  das  Patriar- 
chat die  Tendenz  hat,  den  Mädchen  den  vorehelichen  Ge- 
schlechtsverkehr  zu    untersagen,    und   da  andererseits  die  vor 


218 


)  Klemm,  CG  2,  p.  295. 


Familienstufen  und  Eheformen.  231 

der   Ehe   erzeugten   Kinder,    wie    der   indische    Sahödha    und 
Kanina,  oft  mit  der  Mutter  ihrem  Manne  folgen. 

Der  Kaufpreis  ist  aber  nicht  immer  so  gross,  dass  er  das 
Aufziehen  der  Töchter  lohnt,  er  hat  die  Tendenz,  sich  im  Laufe 
der  Zeit  zu  verringern  und  zu  einem  Scheinpreise  zu  werden, 
vielfach  fällt  er  auch  an  die  Töchter  selbst  und  in  allen  Fällen 
kann  der  Nutzen  des  Vaters  durch  die  Pflicht,  seiner  Tochter 
eine  Ausstattung  zu  geben  und  die  Hochzeitskosten  zu  be- 
streiten, thatsächlich  aufgehoben  werden;  endlich  ist  wie  heute, 
so  auch  im  Patriarchat,  nicht  jeder  Vater  sicher,  seine  Töchter 
bis  zur  Heirath  am  Leben  zu  erhalten. 

Es  ist  daher  möglich,  dass  in  Völkern,  bei  denen  die 
Weiber  arbeiten,  bei  denen  die  Zahl  der  Sklaven  gering  und 
"der  Betrag  des  Brautkaufpreises  hoch  ist,  die  Töchter  von 
ihren  Vätern  als  Segen  betrachtet,  und  dass  über  die  Erhaltung 
ihres  Lebens  sorgfältig  gewacht  wird;  aber  das  Vorhanden- 
sein der  Mädchentödtung  ist  kein  Umstand,  welcher  die  Sub- 
sumtion eines  Familiensystems  unter  das  Patriarchat  aus- 
schliesst. 

Die  grundwsätzliche  Tödtung  von  Knaben  erscheint  nur  als 
Akt  der  dynastischen  Grewalt,  um  einer  bestimmten  Familie  ^^^) 
oder  einer  bestimmten  Volksklasse  ^^^)  zu  schaden. 

§  13. 

c)  Unterschiedslose  Tödtung,  Abtreibung. 

Die  unterschiedslose  Tödtung  der  Kinder  beiderlei  Ge- 
schlechts beweist  dort,  wo  sie  vereinzelt  vorkommt,  nichts; 
denn  der  Einzelne  kann  auch  in  dem  blühendsten  Gemein- 
wesen immer  in  der  Lage  sein,  ein  Kind  nicht  ernähren  zu 
können  ^^^). 


21^)  Klemm,  CG  7,  p.  200  f.  —  Ploss,  KBS  2,  p.  263. 
220)  II.   Mos.  1,  16. 

221^ 


^)  Frankenheim,  VK  p.  461. 


232  Friedrichs. 

Es  giebt  aber  Völker,  bei  denen  die  Tödtung  von  kleinen 
Kindern  beiderlei  Geschlechts  nicht  nur  den  Eltern  erlaubt 
ist;  sondern  systematisch  betrieben  wird,  so  dass  ein  bestimmter 
Procentsatz  der  Geburten  dieser  Uebung  jährlich  zum  Opfer 
fällt,  ohne  dass  ein  Unterschied  nach  Alter  und  Gesundheit 
gemacht  würde,  und  ohne  dass  die  That  aus  Noth  oder  Aber- 
glauben geschehe. 

In  einzelnen  Theilen  Australiens  ist  es  der  Laune  der 
Mutter  überlassen,  ob  sie  das  Kind  aufziehen  will  oder  nicht, 
und  oft  pflegt  sie  es  gleich  nach  der  Geburt  zu  tödten^^^)-, 
die  Eskimo  am  Smithsund  pflegen  das  dritte  und  alle  folgen- 
den Kinder,  welche  ihnen  geboren  werden,  ohne  Unterschied 
des  Geschlechts  zu  tödten^^^).  Die  Kamtschadalen  tödten 
ihre  Kinder  neben  den  vorangeführten  Gründen  (Aberglauben 
und  Armuth),  auch  aus  Faulheit ^ 2*).  Die  ausgestorbenen 
Wantschen  (Guanchen  auf  den  Canarischen  Inseln)  pflegten 
das  erste  Kind  am  Leben  zu  erhalten,  das  zweite  und  alle 
folgenden  zu  tödten.  Dieser  Brauch  hat  aber  schon  vor  An- 
kunft der  Europäer  aufgehört  ^2^).  Kindestödtung  ohne  zwin- 
gende Noth  zeigt  sich  bei  den  Pimas  (Mexikanern  am  Gila- 
fluss)^^^).  Bei  einigen  Paraguay  Völkern ,  insbesondere  bei 
den  Mbaya,  einem  Unterstamme  der  Guaycuru-(Lengoas-)Nation 
wollen  die  Eltern  nur  das  letzte  ihnen  geborene  Kind  am 
Leben  erhalten.  Sie  tödten  daher  alle  Kinder  bis  auf  ein 
spätgeborenes,  und  viele  Ehen  blieben  kinderlos,  weil  das  er- 
wartete letzte  Kind  nicht  mehr  kommt.  Hierdurch  sind  ganze 
Nationen  ausgestorben  ^^^).  Bei  den  nahe  verwandten  Abi- 
ponern  wurde  die  Kindestödtung  von   den  Müttern  aus  einem 


2-^^J  Hellwald  in  THZ  1,  p.  307. 
223)  pioss,  KBS  2,  p.  251. 
22^)  Ploss,  KBS  2,  p.  260. 

225)  Ploss,  KBS  2,  p.  260. 

226)  Ploss,  KBS  2,  p.  252. 

227)  Lubbock,  VZ  2,  p.  231.  —  Klemm,  CG  2,  p.  83.  -  Ploss, 
KBS  2,  p.  253.  —  Fr  an  keil  heim.  VK  p.  461. 


Familienstufen  und  Eheformen.  233 

andern  Grunde  betrieben.  Die  Säugezeit  dauerte  bei  ihnen 
drei  Jahre^  und  während  dieser  ganzen  Zeit  war  den  Ehe- 
leuten, wie  bei  anderen  Völkern  so  auch  hier,  der  eheliche 
Verkehr  untersagt.  Die  Frauen  tödteten  daher  ihre  Kinder 
oft  gleich  nach  der  Geburt,  um  keine  Nebenbuhlerinnen  dul- 
den zu  müssen  2^^).  Kindestödtung  findet  sich  weiter  bei 
einzelnen  Stämmen  der  Dajaken  auf  Borneo^^^),  auf  Ruk, 
einer  von  Papua  bewohnten  Nebeninsel  von  Neu-Guinea,  wo 
zwei  Drittel  der  Neugeborenen  getödtet  werden  ^^^),  früher 
auch  auf  Hawaii,  wo  die  Eltern  sich  nicht  die  Mühe  der  Auf- 
ziehung machen  wollten  ^^i). 

Die  Frivolität  dieser  Uebung  steigt  auf  den  höchsten 
Grad,  wenn  sie  die  Form  der  Abtreibung  annimmt.  Denn 
diese  richtet  sich  gegen  alle  Geburten,  gegen  Knaben  und 
Mädchen,  gesunde  und  verkrüppelte  gleichmässig.  Sie  wartet 
nicht  ab,  ob  nach  der  Geburt  die  Mittel  zum  Unterhalt  vor- 
handen sein  werden ,  sondern  sie  wendet  sich  gegen  die  Ge- 
burt selbst.  Die  Mutter  setzt  ihr  Leben  aufs  Spiel,  um  das 
zu  verhindern,  was  bei  andern  Völkern  das  Leben  des  Weibes 
erst  ausfüllt. 

Wenn  die  Dinge  so  lägen,  dass  die  Frauen  an  Dingen, 
worüber  andere  hoch  beglückt  sind,  keine  Freude  finden,  so 
würde  man  daraus  keinen  Vorwurf  entnehmen  dürfen,  denn 
wie  der  Geschmack ,  so  hat  auch  das  sittliche  Gefühl  seine 
Ethnologie  und  ist  nicht  bei  allen  Völkern  gleich  und  kann 
nicht  gleich  sein.  In  diesem  Falle  aber  haben  die  Weiber 
ein  natürliches  Gefühl  unterdrückt,  welches  sich  bei  allen 
Menschen  und  Thieren  geltend  macht  und  sie  zu  den  grössten 
Opfern  befähigt,  und  diese  Unterdrückung  geschieht  aus  klein- 
lichen Umständen;  aus  Bequemlichkeit,  aus  Laune,  zur  Er- 
haltung der  körperlichen  Schönheit.     Frankenheim  sagt  da- 

228)  Klemm,  CG  2,  p.  84.  —  Ploss,  KBS  2,  p.  253. 

229)  Ploss,  KBS  2,  p.  257. 

230)  Ploss,  KBS  2,  p.  256. 

231)  Hellwald  in  THZ  4,  p.  397.  —  Ploss,  KBS  2,  p.  256. 


234  Fried  riclib. 

her  mit  Recht,  dass  dieser  Gebrauch  sich  bei  keinem  gesunden 
Volke  finde ^^^);  und  ich  glaube,  dass  man  selbst  dann  das 
Leben  des  ganzen  Volkes  als  erkrankt  betrachten  muss,  wenn 
nur  ein  Theil  diesem  Laster  huldigt,  und  die  andern  nicht 
den  Willen  und  die  Kraft  haben,  sie  davon  abzuhalten. 

Eine  solche  Erkrankung  des  Volksgeistes  ist  vielfach 
durch  das  Eindringen  eines  höher  cultivirten  Volkes  herbei- 
geführt worden.  Denn  bei  einem  solchen  Zusammentreffen 
pflegen  die  Uncultivirteren  den  Civilisirten  zunächst  ihre  leich- 
tere Lebensführung  und  ihre  Vorurtheilslosigkeit,  die  Ueppig- 
keit  und  den  Luxus  abzusehen.  Die  Moral  der  Eingeborenen 
wird  von  den  Höheren  missachtet,  und  somit  zuletzt  auch  dem 
eigenen  Volke  unwerth  gemacht,  die  Moral  der  Cultivirten  ist 
den  Uncultivirten  nicht  verständlich.  Je  verschiedener  nun 
die  moralischen  Auffassungen  beider  Völker  sind,  um  so  leichter 
verliert  das  uncultivirte  seinen  Halt;  es  lernt  Frivolitäten  und 
Laster,  die  es  bei  dem  cultivirten  Volke  gar  nicht  einmal  in 
derselben  Form  beobachtet  zu  haben  braucht.  Die  Arbeit, 
den  sittlichen  Ernst  und  die  vertiefte  Cultur  des  anderen 
Volkes  erwerben  sich  die  Uncultivirten  erst  sehr  viel  später, 
wenn  sie  nicht  bis  dahin  so  entnervt  geworden  sind,  dass  sie 
zu  Culturfortschritten  unfähig  werden. 

Aber  die  Gründe  des  Kindermordes  können  auch  in  dem 
Volke  selbst  entstehen,  und  insbesondere  scheint  eine  solche 
ungesunde  Zeit  der  Entnervung  vielfach  mit  dem  Uebergang 
aus  dem  Patriarchat  in  die  zweiseitige  Familie  verbunden  zu 
sein.  So  sehen  wir  es  wenigstens  in  Rom.  Die  Zeit  der 
ersten  Kaiser  ist  die  Zeit,  in  der  die  meisten  Schritte  zur? 
Uebergang  vom  Patriarchat  zur  modernen  Familie  gemacht 
wurden,  und  zugleich  die  Zeit  der  tiefsten  Erschlaffung,  wie 
insbesondere  die  fruchtlosen  Reformgesetze  Augustus'  beweisen. 
(Viele  Römer  heirathen  und  zeugen  Kinder,  nicht  um  Erben 
zu  hinterlassen,  sondern  um  selbst  erben  zu  können  ^^^). 

232)  Frankenheim,  VK  p.  461. 

233)  Plutarch   bei  Gothofredus   zu    rubr.  tit.  13  ex  corp.  Ulpiani. 


Familienstafen  und  Eheforraen. 


235 


In  der  alten  Zeit  opferten  die  Römerinnen  zu  Juno,  um 
den  Abort  zu  verhüten^^^);  zu  Gellius'  Zeit  trieben  sie  ab, 
um  schön  zu  bleiben^^^);  und  die  Abtreibung  aus  demselben 
oder  ähnlichen ,  meist  frivolen  Gründen  findet  sich  bei  den 
Kamtschadalen^^*^),  in  Tunis  ^^^),  bei  den  Munda-Kolh  (nord- 
indischen Drawiden)^^^),  den  ärmeren  Chinesen ^^^),  den  Kri 
(Algonkin- Indianern)  ^*^),  den  Pimos  (Mexikanern)  ^^i)^  den 
Antillen-Indianern  zur  Entdeckungszeit ^*^),  den  Bruni  auf 
Borneo^*^)^  einzelnen  Formosanerstämmen^^*),  den  Marshall- 
insulanern ^*-^),  den  Bewohnern  der  Fidschi-Inseln ^^^),  Neu- 
kaledoniens^^^),  Neu- Guineas  ^^^),  Tahitis^^^),  der  Samoa- 
gruppe^*^),  und  bei  den  Osmanen^^^);  selbst  in  den  Neu- 
England  -  Staaten    Nordamerikas    soll    diese    Sitte    eingerissen 


sem 


251 


)• 


Gleichen  Sinn  hat  die  Anwendung  von  Zauber-  und  ähn- 
lichen Mitteln  zur  Vermeidung  der  Empfängniss  bei  den 
Kamtschadalen^^^),    den  Munda-Kolh ^^^),    den  Kariben  Guja- 


234 
235 
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2-17 
248 
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250 
251 
252 
253 


Ploss,  KBS  1,  p.  26. 

Gellius  NA,  12,  1. 

Klemm,  CG  2,  p.  296.  —  Ploss,  KBS  2,  p.  260 

Klemm,  CG  7,  p.  121. 

Ploss,  KBS  2,  p.  261. 

Hellwald  in  THZ  2,  p.  126. 

Klemm,  CG  2,  p.  84. 

Ploss,  KBS  2,  p.  252. 

P  esc  hei,  ZE  p.  149.     Vgl.  p.  431. 

Hellwald,  MF  p.  294. 

Montesquieu,  GG  23,  16. 

Hellwald,  MF  p.  294.  —  DKZ  1886,  p.  790b. 

Hellwald,  MF  p.  69.  294. 

Ploss,  KBS  2,  p.  257.  —  Hellwald  in  THZ  1,  p.  219. 

Ploss,  KBS  2,  p.  256.  —  Hellwald,  MF  p.  294. 

Hellwald  MF  p.  294. 

Hellwald  in  THZ  6,  p.  165.  —  Hellwald,  MF  p.  432.  294. 

Hellwald,  MF  p.  294. 

Hellwald,  MF  p.  293. 

Hellwald,  MF  p.  293.   -   Ploss,  KBS  2,  p.  261. 


286  Friedrichs. 

nas^^*).  Die  raalayischen  Kebsen  der  europäischen  Ilandlnngs- 
gehilfen  greifen  zu  ähnlichen  Mitteln  oder  zur  Abtreibung, 
da  sie  wissen,  dass  sie  bei  eintretender  Schwangerschaft  von 
ihren  Herren  entlassen  zu  werden  pflegen  ^^^),  einer  der 
wenigen  Fälle,  in  denen  ein  unmittelbarer  entsittlichender  Ein- 
fluss  der  Europäer  nachzuweisen  ist. 

Diese  Laster  können  zweifellos  auch  bei  einem  Volke 
einreissen,  welches  im  Fortgange  seiner  Entwickelung  die  Stufe 
zum  Matriarchat  oder  Patriarchat  schon  überschritten  hat; 
es  bleibt  aber  für  Matriarchat  und  Patriarchat  die  Tendenz 
zur  Erzielung  möglichst  vieler  Kinder  charakteristisch ;  und 
wenn  Umstände  eintreten,  durch  welche  ein  dieser  Tendenz 
so  sehr  widerstrebendes  Verfahren  herbeigeführt  wird,  so 
müssen  diese  selben  Umstände  auch  über  kurz  oder  lang 
dahin  führen,  die  Gentilverfassung  selbst,  den  Kern  des  Fa- 
miliensystems, anzufressen  und  zu  zerstören. 

In  einem  gesunden,  ruhig  in  der  Entwicklung  fortschrei- 
tenden matriarchalen  oder  patriarchalen  Volke  wird  sich  da- 
her die  allgemeine  Uebung  der  Kindestödtung  u.  s.  w.  nie- 
mals finden,  und  desshalb  können  wir  diese  Uebung  als  Kenn- 
zeichen dafür  verwerthen,  dass  ein  Volk  weder  dem  Patriarchat 
noch  dem  Matriarchat  angehört,  —  oder  dass  es  sich  wenig- 
stens auf  dem  Uebergange  vom  Patriarchat  zur  zweiseitigen 
Familie  befindet. 

Es  giebt  Rechtsgebiete,  in  denen  den  jungen  Mädchen 
der  Geschlechtsverkehr  vor  der  Ehe  an  sich  nicht  versagt  ist, 
und  die  Beiwohnung  ausgeübt  werden  kann,  ohne  ihrem  guten 
Ruf  zu  schaden,  wo  es  aber  für  eine  grosse  Schande  gilt  und 
eventuell  grössere  Nachtheile  bringt,  wenn  ein  Mädchen  ein 
Kind  gebiert.  (Völker  mit  halber  Keuschheit.)  So  ist  es 
vielleicht  bei  den  Muskoghi  (Florida,  Dacota)^^^),  jedenfalls  bei 


254)  Hellwald,  MF  p.  11. 

-5=)  Hellwald,  MF  p.  446.  —  Metzger  im  Globus  56,  p.  42. 

256 


)  Starcke,  PF  p.  278. 


Familienstufen  und  Eheformen.  237 

den  Chewsiiren  im  Kaukasus  (unverheirathet  niederzukommen 
gilt  für  eine  so  grosse  Schande,  dass  sie  selten  überlebt  wird, 
der  Umgang  ohne  reale  Folgen  wird  nicht  ungern  gesehen)  ^^^), 
bei  den  Massai  um  den  Kilima-Ndscharo  (den  Mädchen  ist 
die  Zügellosigkeit  in  der  unverschleiertsten  Form  gestattet, 
aber  Schwangerschaft  wird  mit  dem  Tode  bestraft)  ^5^).  Bei 
diesen  Völkern,  welche  gewiss  nicht  allein  stehen,  liegt  für 
die  jungen  Mädchen  natürlich  eine  besonders  grosse  Ver- 
suchung zur  Abtreibung  vor,  und  wenn  sie  geübt  werden 
sollte,  so  würde  sie  ihre  eigene  Erklärung  finden.  Die  Fa- 
milienstufe der  Muskoghi  ist  mir  nicht  bekannt,  die  Chew- 
suren  und  die  Massai  scheinen  dem  Patriarchat  anzugehören. 
Die  Sitte  wird  dadurch  zu  erklären  sein,  dass  früher  ein 
strengeres  Keuschheitsgebot  bestand,  welches  allmählich  laxer 
geworden  ist,  und  von  welchem  die  Mädchen  nur  das  eine 
äussere  Kennzeichen  der  Keuschheit,  das  Nichtgebären  und 
Nichtschwangerwerden  erhalten  haben.  Ein  ungesundes  Ver- 
hältniss  auch  hier. 

Eine  Versuchung  zur  Abtreibung  und  zum  Kindermord 
liegt  natürlich  im  ganzen  Geltungsbereich  des  Keuschheits- 
princips  vor,  aber  hier  werden  die  Mädchen  schon  durch  ihre 
Erziehung  auf  die  Enthaltung  gewiesen  und  womöglich  über- 
wacht und  körperlich  von  der  Verletzung  der  Keuschheit  ab- 
gehalten. 

3.    Die  Adoption  und  ähnliche  Rechtsinstitute. 

§  14. 

a)  Polynesische  Adoption. 
Die    Adoption    wird    von    Bachofen    den    matriarchalen 
Völkern  abgesprochen  und  auf  die  Rechtsgebiete  der  patriar- 

"7)  Hellwald  in  THZ  2,  p.  117.    —  Kohler   in  ZVR  5,  p.  343. 

2^8)  Johnston,  KN  p.  391.  —  Hellwald,  MF  p.  91,  293.  — 
Hellwald  in  THZ  5,  p.  330.  —  Abweichend  Höhnel,  OÄA  p.  27.  28. 
—  Peters,  EPE  p.  214.  215.  —  Ploss,  KBS  1,  p.  381  —  v.  d.  Decken, 
ROA  2,  p.  25.  -   Post,  AJ  1,  p.  290. 


238  Friedrichs. 

chalen  und  zweiseitigen  Familie  beschränkt '^"^).  Dies  ist  nicht 
richtig.  Die  Adoption  und  die  ilir  verwandten  Rechtsgeschäfte 
kommen  in  jeder  Entwickehingsstufe  vor  und  in  jeder  zu  einem 
anderen  Zwecke.  Im  Patriarchate  geschieht  sie  im  Interesse 
der  Eltern,  welchen  die  Erzeugung  und  Aufziehung  von  leib- 
lichen Kindern  versagt  ist,  in  einem  patriarchalen  Volke 
(z.  B.  Athen)  wird  die  Adoption  als  Wohlthat  —  allein  oder 
in  erster  Linie  —  für  den  Adoptanten  betrachtet  ^^^),  bei  uns 
ist  sie  etwas  wesentlich  anderes.  Sie  erfolgt  oft  genug  nicht 
im  Interesse  der  Eltern,  sondern  aus  Mitleid  mit  den  ver- 
waisten Kindern,  und  wo  sie  im  Interesse  der  Eltern  ge- 
schieht, so  soll  sie  mehr  einen  Gegenstand  des  Interesses  und 
der  Sorge  als  einen  Nutzen  bringen.  Bei  uns  gilt  die  Adop- 
tion —  und  die  Annahme  eines  Pflegekindes  —  als  Wohl- 
that nicht  für  die  Eltern,  sondern  für  das  Kind,  und  bei  uns 
werden  mit  Vorliebe  Mädchen  adoptirt,  im  Patriarchate  aber 
Knaben  2  61). 

Etwa  in  dem  heutigen  Sinne,  also  zur  Beschäftigung  der 
Adoptiveltern  oder  aus  Mitleid  mit  dem  Adoptivkinde,  kommt 
die  Adoption  nicht  nur  im  Thierreiche^6  2^^  sondern  auch  bei 
den  Menschen  der  niederen  Entwickelungsstufen  vor ;  und  eine 
ohne  sichtbare  Veranlassung  erfolgende  Adoption,  insbeson- 
dere, wenn  die  Adoptivkinder  nicht  elternlos  und  die  Adoptiv- 
eltern nicht  kinderlos  sind,  ist  sogar  charakteristisch  für  die 
lose  Familie.  Denn  wenn  die  Adoption  zum  Gegenstand  der 
Laune  und  Willkür  wird,  so  beweist  sie,  dass  auf  den  Be- 
sitz von  Kindern  wenig  Werth  gelegt  wird;  denn  dort,  wo 
die  Familie  und  der  Stamm  eifrig  darüber  wachen,  dass  den 
Vätern,  bezw.  Mutterbrüdern  die  Arbeits-  und  Gehülfenkräfte 
der  ihnen  geborenen  Kinder   auch  wirklich   zu  gute  kommen. 


■^'»)  ßachofen,  MR  p.  9b. 

26")  Hearn,  AH  p.  107.   -  Kohler  in  ZVR  5,  p.  427. 


-'■')  Hearn,  AH  p.  50. 

"2)  Jäger  in  THZ  1,  p.  45. 


Familienstufen  und  Eheformen.  239 

da  verbietet  sich  eine  solche  leichtsinnige  und  gleichgültige 
Adoption  von  selbst. 

Die  Eskimo  sind  entschieden  kinderlieb^  ohne  im  Sinne 
der  Gentilverfassung  den  Kinderbesitz  als  Segen  aufzufassen. 
Bei  ihnen  sind  Adoptionen  sehr  häufig.  Die  Eltern  adoptiren 
auch  dann^  wenn  sie  eigene  Kinder  haben^  und  die  angewünsch- 
ten sind  meistens,  aber  nicht  immer,  solche  Kinder,  denen  die 
Eltern  gestorben  ^^^). 

Auf  den  Palau- Inseln  ist  die  Adoption  sehr  häufig,  und 
die  von  einer  anderen  Familie  in  Pflege  genommenen  Kinder 
werden  den  ehelichen  derselben  vollkommen  gleichgestellt  5 
vielfach  werden  die  Kinder  zweier  Familien  mit  einander  aus- 
getauscht ^^^).  Aehnliches  scheint  nach  Freycinet  auf  den 
Marianen  vorzukommen  ^^^). 

Auf  den  Tonga-Inseln  ist  es  üblich,  dass  Kinder  oder 
junge  Leute  bei  Lebzeiten  ihrer  Mutter  sich  eine  zweite 
wählen;  diese  versorgen  ihre  Pfleglinge  mit  allen  Nothwendig- 
keiten  und  Bequemlichkeiten  des  Lebens,  und  beide  Mütter 
werden  einander  völlig  gleichgestellt ^^^). 

Diese  Adoption  findet  in  der  Regel  unter  Erwachsenen 
statt.  Daneben  giebt  es  freilich  noch  eine  andere  Art,  welche 
dem  Nachersatze  weggestorbener  Kinder  dient ^^^).  Auf  den 
Hawaii- Inseln  ist  die  Adoption  ein  sehr  häufiges,  ohne  Förm- 
lichkeiten vollzogenes  Institut;  wenn  ein  Kind  in  einer  nicht 
verwandten  Familie  oder  auf  deren  Kosten  auferzogen  wird, 
so  erbt  es  nach  Gewohnheitsrecht  wie  ein  wirkliches  Kind^^^). 

Auf  den  Markesas-Iuseln  wird  das  Kind  vom  Augenblick 
der  Geburt  an  fremden  Händen  überlassen.    Kaum  fühlt  sich 


2«3)  Klemm,  CG  2,  p.  210. 

2«^)  Semper,  PI  p.  117. 

265)  Cordier  in  RHD  5,  p.  365.  —  Ploss,  KBS  2,  p.  410. 

2«6)  Klemm,  CG  4,  p.  386.  —  Lubbock,  EC  p.  77. 

2")  Klemm,  CG  4,  p.  303.   —  Morgan  SCA  p.  574.  579. 

268j  Morgan,  SCA  p.  453. 


240  Friedrichs. 

die  Frau  guter  Hoffuung^  so  beschäftigt  sie  sich  schon  mit 
der  Frage,  wer  ihr  Kind  adoptiren  wird^^^). 

Auf  der  Gilbertgruppe  (Mikronesien)^'^)  und  auf  den 
Samoa-Insehi  (Polynesien)  ^'^^)  scheint  die  Adoption  ebenso 
gehandhabt  zu  werden,  wie  auf  den  Marianen. 

Nach  Art  der  Palau-Insulaner  üben  die  Adoption  auch 
die  Mincopie  auf  den  Andamanen^'^),  einer  der  wenigen  Pa- 
puastämme^  welche  nicht  dem  Patriarchate  angehören. 

§  15. 

b)  Indische  Adoptionen. 

Das  indische  Recht  kennt  bekanntlich  viele  Arten  von 
künstlich  erworbenen  Kindern  ^ '^  ^)  ;•  von  diesen  entspricht  der 
Dattaka,  der  in  Adoption  Gegebene,  ganz  dem  römischen 
datus  in  adoptionem;  ein  solches  Institut  wird  nur  im  Patriar- 
chat vorkommen.  Für  patriarchal  halte  ich  auch  den  Putrika 
putra,  den  Tochtersohn,  welchen  die  Tochter  im  Auftrage 
ihres  Vaters  empfangen  und  geboren  hat,  und  welcher  Sohn 
seines  Muttervaters  wird  und  bleibt ^^^),  den  Käcina,  welchen 
ein  Mädchen  im  Hause  ihres  Vaters  ohne  Auftrag  geboren 
hat,  und  welchen  sie  ihrem  künftigen  Manne  in  die  Ehe  mit- 
bringt ^^^),  den  Sahödha,  mit  welchem  die  Mutter  bei  der 
Eheschliessung  schwanger  ging,  und  welchen  sie  ihrem  Ehe- 
manne gebiert,  einerlei,  ob  dieser  ihn  erzeugt  hat,  oder  nicht  ^^^), 
den  Päunarbhava,    welchen   die  Mater  binuba  in  der  früheren 


2««)  Hellwald  in  THZ  5,  p.  315.  —  Ploss,  KBS  2,  p.  410. 

"»)  Ploss,  KBS  2,  p.  410. 

"')  Kohler  in  ZVR  5,  p.  420. 

"2)  Kohler  in  ZVR  3,  p.  402.  —  Hellwald,  MF  p.  473.  — 
Gans,  ER  1,  p.  84  f.  —  Starcke,  PF  p.  154. 

"3)  Kohler  in  ZVR  3,  p.  396.  —  Kohler  in  KVjft.,  N.  F.,  4, 
p.  19.  —  Gans,  ER  1,  p.  78.  —  Starcke,  PF  p.  155.  156. 

2'^)  Kohler  in  ZVR  5,  p.  411. 

"^)  Kohler  in  ZVR  5,  p.  411. 


Familienstufen  und  Eheformen.  241 

Ehe  geboren  hat  und  dem  zweiten  Gratten  mitbringt ^^^).  Dass 
diese  Kinder  durch  ausdrückliche  Willenserklärung  des  Stief- 
vaters zu  den  Seinen  gemacht  werden ,  kommt  auch  in  der 
zweiseitigen  Familie  und  vielleicht  auch  in  der  losen  Familie 
vor;  dass  sie  aber  ipso  jure  dem  Gatten  oder  Vater  der  Mutter  als 
eigene  Kinder  angehören,  ist  entschieden  rein  patriarchal. 

Für  patriarchal  halte  ich  auch  das  Institut  des  Niyöga, 
vermöge  dessen  eine  Ehefrau  im  Auftrage  ihres  Mannes  oder 
eine  Wittwe  im  Auftrage  der  Familie  einen  Sohn  und  Erben 
ihres  Gatten  empfängt  und  gebiert^^^);  Bernhöft  spricht 
sich  dahin  aus,  dass  mit  der  manuslosen  Ehe  (also  un- 
gefähr mit  dem  Uebergang  aus  der  patriarchalen  in  die  zwei- 
seitige Familie)  die  Vertretung  bei  der  Zeugung  fortfalle  ^^^). 
Andere  nehmen  an ,  der  Niyöga  sei  ein  Kennzeichen  des 
Matriarchats  ^^^)  oder  wenigstens  früheren  Matriarchats  ^^^); 
die  hier  vertretene  Ansicht,  welche  auch  von  Kohler^^^), 
Sehr  ad  er^^^),  Starcke^^^)  ausgesprochen  wird,  begründet 
sich  durch  die  nachstehenden  Erwägungen. 

Man  nehme  an:  ein  Bruderpaar  Tiberius  und  Cajus  Sempro- 
nius,  und  ein  Geschwisterpaar  Cornelius  und  Cornelia.  Tiberius 
heirathet  Cornelia:   im    Matriarchat  würden    die   von  Cornelia 


^^^)  Die  besondere  Auszeichnung  und  Benennung  des  Pännarbhava 
Hesse  sich  auch  als  Material  für  die  Geschichte  der  Satti  (Wittwen- 
verbrennung)  bei  den  Hindu  verwerthen,  Pännarbhava  und  Satti  schliessen 
sich  gegenseitig  aus.  Wer  das  eine  nennt,  kann  das  andere  nicht 
kennen. 

2^')  Die  erste  Form,  der  Ni5'^öga  unter  Lebenden,  heisst  auch 
Nikäch'  al-istibdä',  die  zweite  Form,  der  Niyöga  von  todeswegen,  it^t  das- 
selbe, wie  das  Levirat. 

2'8)  Bernhöft  in  ZVR  4,  p.  235. 

"9)  Hellwald,  MF  p.  267.  270.  —  Dargun,  MR  p.  43—48. 

280)  Kautsky  bei  Hellwald,  MF  p.  264.  272.  —  Mac  Lennan 
bei  Starcke,  PF  p.  159. 

281)  Kohler  in  ZVR  8,  p.  242. 

282)  0.  Schrader,  SU  p.  561. 

283)  Starcke,  PF  p.  159. 

Zeitschrift  für  vergleichende  Rechtswissenschaft.   X,  Band.  \Q 


242  Friedrichs. 

geborenen  Kinder  dem  Cornelius ,  im  Patriarchat  würden  sie 
ihrem  Vater  Tiberius  gehören.  Wenn  nun  die  Ehe  zwischen 
Tiberius  und  Cornelia  kinderlos  bleibt,  so  besteht  der  Niyöga 
darin,  dass  Gajus  der  Cornelia  beiwohnt,  und  der  diesem  Ver- 
kehre entsprossene  Sohn  als  Kind  des  impotenten  oder  ge- 
storbenen Tiberius  betrachtet  wird  und  diesen  beerbt.  Wer 
also  den  Niyöga  für  matriarchal  hält,  kommt  zu  der  wunder- 
lichen Consequenz,  dass  diejenigen  Kinder,  welche  Cornelia 
von  ihrem  Gatten  Tiberius  hat,  ihrem  Bruder  Cornelius,  und 
diejenigen,  welche  sie  von  ihrem  Schwager  Gajus  hat,  ihrem 
Gatten  Tiberius  gehören ^^^).  Oder  wenn  die  gegnerische 
Ansicht  dahin  gehen  sollte,  dass  die  von  Gajus  erzeugten 
Kinder  gleichfalls  dem  Cornelius  gehören  (wofür  nicht  ein 
einziges  Beispiel  überliefert  ist),  so  ist  wieder  die  Frage,  wie 
denn  Gajus  zu  der  Verpflichtung  kommt,  für  die  ihm  voll- 
kommen fremde  und  gleichgültige  Familie  Cornelius  Kinder 
in  die  Welt  zu  setzen,  und  wer  ihn  zu  dieser  Pflicht 
zwingen  will. 

Der  Niyöga  scheint  somit  als  vom  Matriarchate  ausge- 
schlossen, aber  damit  ist  noch  nicht  gesagt,  dass  er  nicht  in 
der  losen  Familie  vorkommen  könne,  denn  was  im  Patriar- 
chat auf  Grund  eines  wirthschaftlichen  Bedürfnisses  geschieht, 
kann  in  der  losen  Familie  aus  Laune  und  Spielerei  geschehen. 
So  finden  wir  Istibdä'  und  Levirat,  also  beide  Arten  des  Niyöga 
bei  den  Eskimo  in  voller  Blüthe^^^),  obgleich  der  Mangel  einer 
jeden  Gentilverfassung,  die  polynesische  Adoption,  das  frühe 
Aufhören    der    elterlichen    Gewalt  ^^^),    die    Behandlung    der 

^^*)  Man  bedenke  noch,  dass  in  vielen  matriarchalen  Rechtsgebieten 
der  Ehemann  von  seiner  Frau  strenge  Wahrung  der  ehelichen  Treue 
verlangt,  während  er  doch  nach  dem  Vorstehenden  das  grösste  Interesse 
an  jeder  Handlung  der  Untreue  haben  sollte.  Denn  die  von  ihm  er- 
zeugten Kinder  würden  einem  andern,  die  von  einem  andern  erzeugten 
Kinder  ihm  gehören ! 

-^'')  Lubbock,  VZ  2,  p.  214.  -  Starcke,  PF  p.  132.  —  Klut- 
schack,  EE  p.  234. 

^^'')  Westermarck,  HM  1,  p.  60. 


Familienstufen  und  Eheformen.  243 

Kinder  bei  der  Ehescheidung  und  beim  Tode  der  Eltern  ^^^), 
die  Subsumtion  unter  das  Patriarchat  unmöglich  machen. 

Von  dem  echten  Istibdä'  ist  übrigens  noch  ein  falscher 
zu  unterscheiden,  welcher  nicht  geschieht,  um  dem  Manne 
Kinder  zu  geben,  sondern  um  der  Frau  ihr  frauliches  Recht 
zukommen  zu  lassen ^^^).  Dieser  liefert  für  keine  Familien- 
stufe einen  Beweis. 

Die  übrigen  Arten  künstlich  erworbener  Kinder,  welche 
die  Inder  aufzählen,  Güdhadscha,  der  Geheimsohn  der  Frau, 
mit  ungewisser  Vaterschaft,  im  Hause  eines  Mannes  (etwa 
während  langer  Abwesenheit)  ihm  von  seiner  Ehefrau  geboren 

—  Kritrima,    der    formlos  Adoptirte  —   Krita,    der   Gekaufte 

—  Svayamdatta,  der  sich  selbst  in  Adoption  gegeben  — 
Apaviddha,  der  von  den  Eltern  verlassene  und  von  einer 
andern  Familie  Aufgenommene  —  Nishada,  der  Sohn  des 
Sudraweibes  —  haben  nichts,  was  ihr  Vorkommen  in  einer  der 
Entwickelungsstufen  ausgeschlossen  erscheinen  lassen    könnte. 

Erschöpft  sind  mit  alle  diesem  die  Möglichkeiten  noch 
nicht.  Eine  speciell  matriarchale  Adoption  ist  z.  B.  die  der 
Irokesen,  bei  denen  die  Kinder  der  Ehefrau  durch  den  Ehe- 
mann adoptirt  werden  können  ^^^)  und  somit  anscheinend  die 
Stellung  von  künstlichen  Schwesterkindern  erwerben. 

§  16. 

c)  Vaterivahl. 

Eine  andere  Weise,  das  Kindesverhältniss  künstlich  zu 
begründen,  ist  die  Vaterwahl.  Dieselbe  besteht  darin,  dass 
die  Neugeborenen  einige  Zeit  nach  der  Geburt  einem  Manne 
als  Kinder  zugewiesen  werden,  indem  der  Vater  auf  Grund 
der  Aehnlichkeit  in  den  Gesichtszügen  oder  nach  einem  anderen 


--^)  Klemm,  CG  2,  p.  205.  —  Payne  im  Ausl.  Oct.  1889,  p.  833. 
28«)  Grimm,  DRA  p.  444.  —  Dargun,  MR  p.  45. 
289)  Morgan,  SCA  p.  165  Note  1. 


244  Friedrichs. 

Grundsätze  aus  einem  grösseren  oder  kleineren  Kreise  heraus 
ausgesucht  wird. 

Die  Vaterwahl  hat  im  Erfolge  einige  Achnlichkeit  mit 
der  Adoption  eines  Findlings,  in  beiden  Fällen  bekommt  ein 
Kind  einen  Vater,  das  vorher  keinen  hatte;  aber  in  jenem 
Falle  wählt  der  Vater  sich  ein  Kind,  während  hier  für  das 
Kind  ein  Vater  gewählt  wird. 

Die  Vaterwahl  ist  ein  Kennzeichen  der  losen  Familie. 
Denn  wo  die  Vaterschaft  an  ein  so  zweifelhaftes  und  trüge- 
risches Kennzeichen  wie  die  äussere  körperliche  Achnlichkeit 
eines  kleinen  Kindes  mit  einem  erwachsenen  Manne  geknüpft, 
oder  wo  sie  von  der  Laune  des  Wählers  abhängig  ist,  da 
kann  jedenfalls  kein  grosser  Werth  auf  den  Besitz  eines  Kindes 
gelegt  sein,  da  kann  auch  das  Band  zwischen  Kind  und  Vater 
wie  zwischen  Kind  und  Mutter  nicht  sehr  eng  sein,  und  eine 
Gliederung  der  Art,  dass  jeder  Einzelne  einem  Stamme  ganz 
angehört  und  in  demselben  aufgeht,  ist  unmöglich. 

Eine  solche  Vaterwahl  wird  von  Puffendorf  in  die  Stelle 
Athenäus  13,  1  hinein  interpretirt  und  würde  sonach 
von  den  kekropischen  Athenern  berichtet  sein^^^);  diese  Aus- 
legung erscheint  aber  nicht  gesichert. 

Dagegen  kam  es  bei  den  Arabern  vor,  dass  sich  mehrere, 
bis  zu  zehn  Ehemännern  um  ein  Weib  vereinigten  und  dieser 
später  die  Entscheidung  überliessen,  wem  von  ihnen  das  Kind 
gehören  sollte;  oder  dass  mehrere  Männer,  als  Socii,  ein  Weib 
prostituirten,  ohne  ihr  selbst  beizuwohnen;  die  Kinder  der 
Prostituten  wurden  von  einem  Sachverständigen,  Qa'if,  einem 
der  Protistuenten,  von  denen  keiner  der  Erzeuger  sein  konnte, 
als  Kinder  zugewiesen  ^^^). 

Von  den  Auseern,  westlich  vom  Tritonsee,  berichtet  Hc- 
rodot:  Sie  vermischen  sich  durcheinander  mit  den  Weibern; 
ohne   zusammen  zu  wohnen,  vermischen  sie  sich  heerdenweise; 


"0)  Puffendort\  JNG  6,  1,  5. 

23^)  Starcke,  PF  p.  130.    -    K.  Smith,  KMA.p.Ua 


Familienstufen  und  Eheformen.  245 

wenn  aber  das  Kind  des  Weibes  heranwächst^  kommen  im 
dritten  Monat  die  Männer  an  demselben  Ort  zusammen 
und  dem  Manne,  welchem  das  Kind  gleicht,  wird  es  zu- 
geschriebene^^). Dasselbe  berichten  andere  von  den  Ga- 
raraanten  ^^^). 

Von  den  Kalikutern  heisst  es:  jede  Frau  verehelicht  sich 
mit  sieben  Männern,  welche  ihr  nächtlich  abwechselnd  bei- 
wohnen. Sie  schreibt  die  Kinder  nach  ihrem  Belieben  einem 
von  den  sieben  Männern  zu,  und  diese  Entscheidung  kann 
nicht  angefochten  werden  e^^). 

Ebenso  hatten  die  Liburner  ihre  Frauen  gemeinsam ,  und 
die  Kinder  wurden  bis  zum  fünften  Jahr  zusammen  auf- 
gezogen; im  sechsten  Jahre  wurden  sie  versammelt  und  den 
Männern  nach  der  Aehnlichkeit  zugewiesen ;  wer  so  von  der 
Mutter  einen  Knaben  erhielt,  betrachtete  ihn  als  seinen  Sohn  e^^). 

§  17. 

4.  Verkauf  und  Verpfändung  von  Kindern. 

Der  Verkauf  von  Kindern  ist  eine  universale  Sitte,  er 
kommt  auch  bei  uns  vor.  Ich  erinnere  nur  an  die  von 
Ploss  angeführte  Gartenlaubenanzeige  aus  dem  April  1876, 
nach  welcher  ein  hübsches  Kind  gegen  einmalige  Zahlung  von 
zweitausend  Thalern  abzulassen  war  ^^^).  Solche  Fälle  kommen 
häufig  vor,  und  ich  kenne  eine  ganze  Reihe  von  jungen  Mädchen 
geringer  Herkunft,  die  von  ihren  Eltern  entgeltlich  an  wohl- 
habende kinderlose  Ehepaare  abgegeben  und  von  diesen  auf- 
gezogen sind  und  ganz  ausserordentlich  gut  angeschlagen 
haben.     Wenn  man  das  Geschäft,  wie  es  zwischen  den  natür- 


"2)  Herodot  4,  180.     Dazu:  Bastian  RV  p.  LIX.  —  Hellwald, 
MF  p.  131.  —  ötarcke,  PF  p.  136. 

293)  Bachofen,  MR  p.  IIa. 

294)  Puffendorf,  JNG  6,  1,  15. 

29')  Bacliofen,  MR  p.  20b.  -  Starcke,  PF  p.  136. 
"6)  Ploss,  KBS  2,  p.  249. 


240  Friedriclis. 

liehen  und  den  Pflegeeltern  abgeschlossen  wird,  nüchtern  auffasst, 
so  unterscheidet  es  sich  in  keinem  wesentlichen  Punkte  von 
dem,  was  wir  bei  wilden  Völkern  als  Kauf  zu  bezeichnen 
pflegen,  wiewohl  eine  Klage  auf  Zahlung  der  Abfindung  wohl 
niemals  als  Kaufklagc  substanziirt  werden  wird. 

Dass  der  Kinderverkauf  wie  in  der  zweiseitigen  Familie, 
so  auch  in  der  einseitigen  vorkommt,  ist  selbstverständlich, 
und  auch  der  losen  Familie  gehört  er  an;  denn  auch  hier 
kann  es  Personen  geben,  welche  kinderlieb,  und  etwas  aus- 
zugeben bereit  sind,  um  irgend  ein  Kind  oder  ein  gewisses, 
ins  Auge  gefasstes  zu  bekommen.  Sowohl  die  ideelle  Freude 
an  Kindern  wie  das  Streben  nach  materiellem  Nutzen  kann 
durch  den  Kauf  befriedigt  werden  und  kann  den  Kauf  her- 
vorrufen. Anders  ist  es  aber,  wenn  das  Kind  verpfändet  und 
an  Zahlungsstatt  oder  in  anderer  Weise  in  Anrechnung  auf  eine 
Schuld  hingegeben  wird.  Der  Gläubiger  hat  dem  Schuldner 
einen  materiellen  Vortheil  zugewandt  und  verlangt  die  Zuwendung 
eines  materiellen  Vortheils  als  Gegenleistung.  Wenn  er  in  Anrech- 
nung auf  diese  Leistung  das  Kind  annimmt,  so  herrscht  bei  ihm 
nicht  eine  ideelle  Freude  an  der  Zahl  der  Kinder,  sondern  er 
betrachtet  die  Hingabe  als  materiellen  Vortheil,  eine  Auffas- 
sung, welche  eben  für  Matriarchat  und  Patriarchat  gemeinsam 
charakteristisch  ist. 

Anders  liegt  die  Sache,  wo  das  Kind  als  Sklave  verkauft 
ist;  hier  bringt  es  dem  Erwerber  zwar  einen  materiellen  Vor- 
theil, aber  es  ist  für  diesen  eben  kein  Kind  mehr. 

Wir  sehen  daher,  dass  die  Kinderverpfändung  ein  Kenn- 
zeichen für  die  einseitige  Familie  ist;  der  Kinderverkauf  ohne 
Kenntniss  der  näheren  Umstände  nicht  als  Kennzeichen  ver- 
werthet  werden  kann. 

§  18. 
5.  Emancipation. 

Wo  die  Kinder  sich  von  den  Eltern  früh  lostrennen, 
alle    rechtlichen   Beziehungen    zu    ihnen    verlieren  und   selbst- 


Familienstufen  und  Eheformen.  247 

ständig  werden^  da  wird  auf  den  Besitz  von  Kindern  offenbar  kein 
Werth  gelegt,  denn  die  Eltern  verzichten  hier,  obwohl  sie 
der  stärkere  Theil  sind,  auf  die  Fortdauer  der  elterlichen  Ge- 
walt aus  Mangel  an  Interesse  freiwillig. 

Bei  eigenthumslosen  Völkern  wird  nach  Frankenheim 
mit  der  Pubertät  der  Kinder  jedes  Band  zwischen  ihnen  und 
den  Eltern  gelöst,  mit  Ausnahme  der  natürlichen  Zuneigung  ^^'^), 
bei  ackerbautreibenden  sei  das  Band  der  Kindschaft  von 
längerer  Dauer  als  bei  eigenthumslosen  ^^^)  und  bei  Hirten 
wiederum  —  was  wohl  in  dieser  Allgemeinheit  zu  bestreiten  ist 
—  länger  als  bei  ackerbautreibenden^^^). 

Die  Frankenheim'schen  eigenthumslosen  Völker  sind 
aber  nichts  anderes  als  die  nach  meiner  Bezeichnung  zur  losen 
Familie  gehörenden.  Wenn  also  bei  den  Australiern^®^),  den 
Eskirao-Togiagmuten  ^'^^),  californischen  Indianern  ^^2),  den  Ka- 
riben^®^),  den  Pescherä  (Feuerländern)  ^^^),  den  wilderen 
Dajaken^®^),  den  Strand-Aeten  auf  den  Philippinen  ^^^),  den 
Sandeh  (Njam-Njam)  ^^^),  endlich  auch  bei  den  indogermanischen 
Kortorar  (wandernden  Zigeunern)  Siebenbürgens  ^^^)  die 
Kinder  ihre  Eltern  vor  der  Pubertät,  wenigstens  vor  der 
Heirath  verlassen,  und  sich  vollkommen  selbstständig 
machen,  so  ist  dies  ein  Zug,  der  uns  auf  das  Vorhandensein 
der    losen    Familie     schliessen    lässt.      Ob    die    Berichte    nur 


297)  Frankenheim,  VK  p.  463. 

298)  Frankenheim,  VK  p.  459. 
239)  Frankenheim,  VK  p.  463. 

^^'O)  Hellwald,  MF  p.  148.  —  Hellwald  in  THZ  1,  p.  307. 
^°^)  Westermarck,  HM  1,  p.  60.  —  Anders  für  die  Hudsonsbay- 
Eskimo:  Kl u tschack,  EE  p.  234. 

302)  Klemm,  CG  1,  p.  348. 

303)  Heliwald,  MF  p.  148. 

304)  Hellwald,  MF  p.  147  f. 

305)  Westermarck,  HM  1,  p.  56. 
308)  Ploss,  KBS  2,  p.  408. 
'07)  Hellwald  in  THZ  6,  p.  52. 
05)  Wlislocky  VTZ  p.  458. 


306 

30 

30 


248  Friedrichs. 

auf  Knaben  oder  auch  auf  Mädchen  zu  beziehen  sind,  lässt 
sich  nur  für  jeden  Fall  besonders  entscheiden.  Eine  allge- 
meine Regel  wie  die  von  Hellwald  versuchte  ^^^)  lässt 
sich  gewiss  nicht  aufstellen.  Jedenfalls  kann  die  frühe  Eman- 
cipation  auch  dann  als  Kennzeichen  für  die  lose  Familie  ver- 
werthet  werden,  wenn  sie  sich  nur  auf  Knaben  bezieht. 

Die  Emancipatio  saxonica ,  die  Aufhebung  der  väter- 
lichen Gewalt  durch  Etablirung  des  Sohnes,  durch  Heirath 
der  Tochter  hat  nichts  für  irgend  eine  Familienstufe  Charak- 
teristisches. Sie  ist  die  Regel  in  der  zweiseitigen  Familie, 
sie  ist  in  der  losen  Familie  in  allen  den  Fällen  vorauszusetzen, 
wo  eine  noch  frühere  Emancipation  nicht  nachgewiesen  ist;  aber 
sie  ist  auch  für  die  einseitige  Familie  nicht  ausgeschlossen. 

Die  Fortdauer  der  kindlichen  Unterwerfung  bis  zum  Tode 
des  Vaters  und  darüber  hinaus  in  der  vom  ältesten  Bruder 
geleiteten  fortgesetzten  Familie ^^^)  ist  dagegen  charakteristisch 
für  die  Stufe  der  einseitigen  Familie.  In  der  zweiseitigen 
Familie  ist  eine  so  lange  Unterwürfigkeit  wegen  der  freieren 
Bewegung  der  Individuen  im  Staatsganzen  nicht  aufrecht  zu 
erhalten ;  in  der  losen  Familie  fehlt  jedes  Band ,  um  eine  so 
lange  Dauer  der  Zusammengehörigkeit  zu  schaffen. 

Diese  Regel  gilt  nicht  nur  von  der  Familie,  sondern  auch 
von  den  grösseren  Genossenschaften.  Die  Horden  der  losen 
Familie  haben  keinen  festen  Halt. 

Das  Lösen  und  Knüpfen  von  Verbindungen  durch  Aus- 
wanderung und  auf  andern  Wegen  ist  leicht  und  häufig  ^^^).  Die 
Gentilverfassung    der    einseitigen    Familie     ist    weit    entfernt, 


^^^)  Hellwald,  MF  p.  168.  Alle  Beispiele  rascher  Entfremdung 
zwischen  Mutter  und  Kind,  womit  die  moderne  Völkerkunde  uns  ver- 
sieht, betreffen  auch  stets  nur  den  ohnehin  überall  von  der  Familie  sich 
frühzeitig  ablösenden  Sohn,  niemals  die  Tochter,  welche  bis  zum  mann- 
baren Alter  fast  ausnahmslos  bei  der  Mutter  bleibt. 

^^^)  Vgl.  hierüber  auch  Dargun  in  ZVR  5,  p.  65.  —  Kohl  er  in 
KVjft.  NF  4,  p.  28.  —  Starcke,  PF  p.  106. 

311)  Frankenheim,  VK  p.  194. 


Familienstufen  und  Eheformen. 


249 


einen  solchen  Austritt  zu  versagen,  und  insbesonders  ist  er 
bei  wandernden  und  an  den  Boden  nicht  gefesselten  Völkern 
sehr  gut  möglich^  ^^)^  aber  er  geschieht  nie  ohne  ernste  Gründe, 
nie  ohne  feierliche  Aufsagung  und  ohne  gleichzeitigen  Ueber- 
tritt  in  eine  andere  gens.  Charakteristisch  in  diesem  Sinne 
ist  der  feierliche  Austritt  Muhammeds  aus  dem  Haschimitenver- 
bande  und  sein  Eintritt  unter  die  Chasradschiten  von  Jathrib  ^^^). 


6.    Aufschiebung  und  Aufhebung  der  Ehe. 

§  19. 
a)  Ehesuspension. 

In  vielen  Rechtsgebieten  ist  es  die  Regel  oder  gewöhnlich, 
dass  die  Ehe  unter  einer  Bedingung  abgeschlossen  wird;  ins- 
besondere ist  es  eine  häufige  Erscheinung^  dass  die  vollen 
Wirkungen  der  Ehe  erst  dann  eintreten,  nachdem  die  Ehe- 
frau ein  Kind  geboren  hat;  so  bei  den  Aleuten  (Behringsvolk)^^*); 
den  Eskimo  in  Ostgrönland  ^^^),  den  Kamtschadalen  ^^^),  den 
Badagas  (Dravidas),  bei  denen  schon  die  Schwangerschaft  ge- 
nügt ^^'^),  den  Khjeng  ( Karen) ^^^)^  den  Luuktuung-jejäu  (Lohita- 
volk) ^^^),  den  Kenistenowuk  (Cree-Indianern)  ^^'^),  den  Sha- 
wanesen^^^),  in  Ecuador  ^^ 2),  bei  den  Abiponern^^^),  auf  Yap^^^) 


312 
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marck, 

321 


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324 


)  Frankenheim,  VK  p.  507.  248. 
)  A.  Müller,  IMA  p.  88  f. 

)  Kohler  in  ZVR  5,  p.  342.  —  Westermarck,   HM  1,   p.  30. 
)  Westermarck,  HM  1,  p.  30. 
)  Starcke,  PF  p.  279. 
)  Westermarck,  HM  1,  p.  31. 
)  Westermarck,  HM  1,  p.  30  (in  Hinderindien). 
)  Hellwald  in  THZ  5,  p.  196  (in  Hinterindien). 
)  Klemm,  CG  2,  p.  80.  —  Starcke,  PF  p.  36.  303.  -  Wester- 
HM  1,  p.  30. 

)  Westermarck,  HM  1,  p.  30. 
)  Hellwald,  MF  p.  450. 

)  Klemm,  CG  2,  p.  75.  -  Starcke,  PF  p.  277. 
)  Hernsheim,  SE  p.  26. 


250 


Friedrichs. 


und  den  Kingsmill-Inseln  (Micronesicn)  ^^'^)  auf  Tahiti  (Poly- 
nesien —  fraglich)  ^^^)  bei  den  Marea  (Hamiten)  ^^^)  ^  den 
Baeles  ( Afrika) ^'-^s^,  den  Bari  (Negern)  ^29)^  den  Wolotfen^^'^ 
(auch  bei  diesen  genügt  die  Schwangerschaft),  den  Kafirn^^^), 
den  Be  Tschuana^^^),  den  Badakschanern  ^^^),  den  Kal- 
myken ^^*). 

Diese  Erscheinung  kann  die  verschiedensten  Gründe  haben. 
Es  kann  darin  jedenfalls  der  Gedanke  zu  Grunde  liegen,  dass 
der  Mann  nur  eine  solche  Frau  zu  haben  wünscht,  welche  im 
Stande  ist,  ihm  viele  Kinder  zu  gebären.  In  diesem  Falle 
ist  das  Abwarten  der  ersten  Geburt  eine  Art  Probeehe  oder 
Eheprobe,  wie  sie  bei  andern  Völkern  vielfach  in  andrer 
Weise  vorkommt,  und  das  Vorhandensein  dieser  Probeehe  weist 
darauf  hin ,  dass  das  Volk  die  Kinder  als  Segen  betrachtet. 
Diese  Deutung  kann  der  Ehesuspension  aber  nicht  in  allen 
Fällen  gegeben  werden.  Bei  einigen  der  obigen  Beispiele 
liegt  sicher  ein  anderer  Grund  vor,  insbesondere  der^  dass  der 
Mann  nicht  eher  an  das  Weib  gefesselt  sein  soll,  bis  die 
Wirkungen  des  Zusammenlebens  sich  in  deutlicher  Weise 
zeigen,  und  es  besteht  kein  Anlass  zu  der  Annahme,  dass 
die  ersterwähnte  Deutung  auch  nur  in  der  Regel  oder  im 
Zweifel  anzuwenden  sei. 


325 
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328 
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333 
334 


Starcke,  PF  p.  277. 

Starcke,  PF  p.  277.  —  Bernhöft  in  ZVR  8,  p.  386. 

Starcke,  PF  p.  277. 

Westermarck,  HM  1,  p.  30. 

Hellwald  in  THZ  1,  p.  356. 

Westermarck,  HM  1,  p.  31. 

Starcke,  PF  p.  277. 

Starcke,  PF  p.  255. 

Starcke,  PF  p.  277. 

Bastian,  RV  p.  182.   Anders  Buddeus  in  Ersch'  und  Griibers 


allgemeiner  Encyklopädie  I,  31  s.  v.  Ehe. 


Familienstufen  und  Eheformen,  251 

§  20. 
h)  Ehescheidung. 

Eine  gewisse  Bedeutung  kann  auch  die  Ehescheidung  als 
Classificationsmarke  haben. 

Es  giebt  zunächst  eine  Reihe  von  Völkern^  bei  denen  die 
Ehescheidung  zu  Gunsten  des  Ehemannes  von  Voraussetzungen 
abhängig  ist,  und  bei  denen  die  Kinderlosigkeit  der  Frau 
ein  genügender  Anlass  zur  Scheidung  ist,  —  oder  bei  denen 
dem  Ehemann  zwar  das  Recht  zusteht,  die  Frau  ohne  Angabe 
von  Gründen  zu  entlassen,  bei  denen  aber  thatsächlich  nur  bei 
Kinderlosigkeit  der  Frau  von  diesem  Rechte  Gebrauch  ge- 
macht wird. 

Zu  den  ersteren  gehören  die  alten  Inder  ^^^),  die  tal- 
mudischen Juden  (nachdem  das  mosaische  Recht  die  Schei- 
dung dem  Manne  völlig  frei  gegeben  hatte)  ^^^),  die  Aino  ^^'^), 
die  Berber  in  Marokko  und  die  Qabilen^^^),  die  Birmanen  ^^^), 
Chinesen  ^^^),  die  Wa  Nyamuezi  ^^^),  die  Ba  Rolong^^^),  die 
Dualla^^^^)^  aie  Sandeh  (Njam-Njam)  3*4). 

Zu  der  zweiten  Gruppe  gehören  die  alten  Spartaner  ^*^), 
die  Eskimos  ^^^),   die  Badagas  (Draviden)  ^*^),    die  Kuki  (Lo- 

335)  Jolly,  RSF  p.  443.  —  Jelly  in  ZVR  4,  p.  357.  -  Kohler 
in  ZVR  3,  p.  384. 

33«)  Wunderbar,  BTM.  —  Bergel,  FAJ  p.  30.  -  Heut  nicht 
mehr.     Mendelssohn,  RGJ  4,  17.    §  1.  2. 

337)  Goodrich  im  Ausland  1889  p.  107. 

338)  Quedenfeldt  in  ZE  20,  4  p.  195  f. 

339)  Kohler  in  ZVR  6,  p.  173. 

340)  Hellwald,  MF  p.  339.  380.  —  Arendt  im  Globus  55,  p.  383. 
—  Gans,  ER  1,  p.  105.  —  Klemm,  CG  6,  p.  108. 

3-^0  Reichard  in  ZGE  24,  p.  255. 

342)  Kohler  in  ZVR  5,  351. 

343)  Hellwald  in  THZ  2,  p.  449. 

344)  Hellwald  in  THZ  6,  p.  81. 

345)  Herodot  6,  61;  vgl.  Smith,  DGA  p.  739b. 

346)  Klemm,  CG  2,  p.  204.  205. 

347)  Westermarck,  HM  1,  p.  31. 


252  Friediichy. 

hitavolk)^^^)^  die  Miiskogi  und  Natsches  (FIorida-Dacota)^'^^), 
Kariben  ^^*')^  die  Paraguay-Indianer^^^),  insbesondere  die  Te- 
huelche^^^)^  Abiponen  ^^^);  auch  die  Hottentotten  ^^ 9),  die  Mu- 
gearn  in  der  Sahara ^'*^). 

Diese  Art  der  Scheidung  kann  zwar  auch  bei  Völkern 
der  losen  Famihe  vorkommen^  wie  das  Beispiel  der  Eskimo 
zeigt,  aber  sie  ist  doch  in  der  einseitigen  Familie  heimisch 
und  in  der  zweiseitigen  Familie  ausgeschlossen.  Die  That- 
sache  aber,  dass  die  Kinderlosigkeit  kein  Scheidungsgrund  ist, 
kann  niemals  als  erheblich  betrachtet  werden,  wenn  man  nicht 
weiss,  ob  der  Ehemann  sich  nicht  durch  Hinzunahme  einer 
zweiten  Frau,  durch  Kauf  und  Adoption  oder  auf  andre  Weise 
Kinder  verschaifen  kann.  In  Verbindung  mit  andern  Momenten 
giebt  daher  auch  die  rechtliche  oder  thatsächliche  Abhängigkeit 
der  Scheidung  von  der  Kinderlosigkeit  ein  Kennzeichen  für 
die  einseitige  Familie,  und  zwar  insbesondere  für  das  Patri- 
archat, denn  hier  ist  es  der  Mann,  der  Interesse  an  zahlreicher 
Nachkommenschaft  hat.  Im  Matriarchat  würde  eher  zu  er- 
warten sein,  dass  die  Frau  das  Recht  hat,  einen  Mann  wegen 
Kinderlosigkeit  zu  entlassen;  ein  solcher  Satz  ist  aber  ab- 
gesehen vom  patriarchalen  Talmud  ^^^)  nirgendwo  als  an- 
erkannt nachgewiesen. 

Die  Sachlage  ist  im  Uebrigen  ebenso  zu  beurtheilen,  wenn 
die  Scheidung  in  ihren  Voraussetzungen  zwar  rechtlich  und 
thatsächlich  unabhängig  von  der  Kinderlosigkeit  ist,  aber 
in  ihren  Wirkungen  dadurch  abhängig,  dass  die  Vermögens- 
auseinandersetzung für  den  Mann  günstiger  ausfällt,  sobald 
er  die  Frau  wegen  Unfruchtbarkeit  entlassen  hat,  wie  z.  B. 
bei  den  Baghirmi-Negern  und  den  Wa  Nyoro,   wo  der  Mann 


348)  Starcke,  PF  p.  276. 
3"*»)  Starcke,  PF  p.  276. 


35'»)  Klemm,  CG  2,  p.  77.   -    Starcke,  PF  p.  276. 

3'i)  Starcke,  PF  p.  49. 

"2)  Bergel,  EAJ  p.  31.  —  Wunderbar,  BTM  2.  1  p.  43.  44 


Familienstufen  und  Eheformen.  253 

den  Kaufpreis  oder  einen  Theil  desselben  nur  dann  zurück- 
erhält, wenn  er  die  Frau  wegen  Unfruchtbarkeit  entlassen 
hat  3  53). 


Zweiter   Theil. 

Eheformen. 

§  21. 
I.  Begriff  der  Ehe. 

Wenn  man  den  Begriff  der  Ehe  für  ein  einzelnes 
Rechtsgebiet  feststellen  will,  so  kann  man  einen  ganz  andern 
Weg  einschlagen,  als  es  vom  rechtsvergleichenden  Standpunkte 
aus  hier  möglich  ist.  Eine  Definition  der  römischen  Ehe  kann 
ohne  falsch  zu  werden  eine  ganze  Menge  von  Einzelbestimmungen 
enthalten,  welche  im  römischen  Rechte  zutreffen,  aber  in  keinem 
andern  Rechtsgebiete  wiederkehren.  Eine  Definition  für  ver- 
gleichende Zwecke  dagegen  darf  kein  positives  Merkmal  haben, 
welches  in  einem  der  verglichenen  Rechte  fehlt;  dagegen  ist 
es  kein  Fehler,  wenn  auch  ein  Einzelrecht  den  Begriff  enger 
fasst,  als  die  allgemeine  Definition.  Sehen  wir  uns  in  diesem 
Sinne    die  classische  römische  Definition  an: 

„Nuptiae  sunt  conjunctio  maris  et  feminae,  divini  et 
humani  juris  communicatio  3^*)". 

Es  ist  sicher,  dass  diese  Worte  auf  die  deutsche  Ehe 
nicht  passen.  Einerseits  macht  die  blosse  conjunctio  bei  uns 
noch  keine  Ehe  aus,  sobald  die  Mitwirkung  des  Standes- 
beamten fehlt.  Andrerseits  aber  ist  divini  juris  communi- 
catio  weder  ein  Zweck  noch  eine  Wirkung  derselben.  Die 
Definition  ist  also  zu  weit  (was  wie  gesagt,  nichts  schadet)  und 
auch  zu  eng.  Wenn  man  aber  die  römische  Formel  durch 
Weglassnng    des    Wortes    divini    kürzt,    so     bleibt    der    Rest 


352)  Kohler  in  ZVR  5,  p.  348. 
3!^^)  Fr  1  de  RN  23,  2. 


254  Friedrichs. 

ziemlich  wenig  bezeichnend,  da  conjunctio  im  Nothfall  auf  die 
copula  carnalis,  communicatio  aber  auf  jede  Societät  bezogen 
werden  könnte.  Es  müssen  also  neue  Merkmale  eingeführt 
werden,  um  eine  brauchbare  Definition  zu  bekommen.  Als 
solche  Merkmale,  welche  der  Ehe  aller  Völker  gemeinsam 
sind,  können  im  Allgemeinen  der  gemeinsame  Hausstand  und 
der  Geschlechtsverkehr  angesehen  werden.  Der  erstere  ohne 
den  letztern  ist  niemals  eine  Ehe:  die  Schwester,  die  dem 
Bruder  die  Wirthschaft  führt,  ist  nicht  seine  Frau.  Einen 
Geschlechtsverkehr  ohne  gemeinsamen  Hausstand  scheint 
die  Semandoehe  Menangkabaus  darzubieten  ^^^).  Hier  muss 
das  Charakteristische  der  Ehe,  wenn  das  Semandoverhältniss 
überhaupt  als  solche  betrachten  werden  soll,  in  der  Ausschliess- 
lichkeit des  Geschlechtsverkehres  bestehen,  welche  Ausschliess- 
lichkeit der  Ehe  an  sich  bekanntlich  nicht  angehört. 

Zu  beachten  ist  noch,  dass  die  Form,  in  welcher  die 
Parteien  die  Ehe  eingehen  wollen,  in  vielen  Rechtsgebieten 
ihrem  Gutbefinden  überlassen,  in  andern  Gebieten  aber  genau 
vorgeschrieben  ist.  Eine  Aufnahme  dieses  Umstandes  in  die 
Definition  erscheint  unerlässlich,  indessen  darf  dieselbe  nur  in 
ganz  allgemeiiien  Ausdrücken  erfolgen. 

Endlich  ist  noch  folgender  Umstand  zu  berücksichtigen : 
Auch  in  denjenigen  Rechtsgebieten,  in  welchen  keine  Ver- 
bindungen als  Ehen  anerkannt  und  geregelt  sind,  pflegt  es  rechtlich 
zulässig  zu  sein  und  thatsächlich  vorzukommen,  dass  ein 
Paar  sich  zusammenthut,  sich  in  Treue  auf  einander  beschränkt 
und  lebenslänglich  bei  einander  aushält  ^^^).  Wenn  nun  die 
Rechtsordnung  des  betreffenden  Rechtsgebietes  keine  specifische 
Wirkung  an  dieses  Zusammenleben  knüpft,  sondern  dasselbe  mit 


3^^)  Bastian,  VÖA  5,  p.  12.  -  Hellwald,  MF  p.  233.  —  Starcke, 
PF  p.  84.  -  Post,  StEF  p.  99. 

^*^)  Instances  of  marriages  between  Single  pairs  may  have,  and 
probably  did,  occur  in  all  periods  of  mans  history.  But  they  miist 
have  been  exceptional  .  ..  Morgan  in  Proceedings  of  the  Anier.  Acad. 
of  Arts  and  Sciences,  7,  p.  475,  Boston  und  Cambridge  1868. 


Familienstufen  und  Eheformen.  255 

deDselben  Augen  betrachtet,  wie  den  täglich  wechselnden  Ver- 
kehr der  andern  Volksgenossen,  so  wäre  es  falsch,  von  einer 
Ehe  zu  sprechen,  und  somit  dem  Rechtsgebiete  das  Vorhanden- 
sein einer  Ehe  zuzuschreiben,  während  eine  solche  in  Wahr- 
heit nicht  vorhanden  ist.  Wir  können  also  eine  Geschlechts- 
verbindung dann  nicht  als  Ehe  bezeichnen,  wenn  sie  nicht  durch 
die  Rechtsordnung  anerkannt  und  privilegirt  ist,  mag  sie  auch 
im  Uebrigen  unserer  Ehe  noch  so  sehr  ähneln. 

Eine  erschöpfende  Definition  der  Ehe  würde  daher  wie  folgt 
lauten  können:  ,jEine  von  der  Rechtsordnung  anerkannte 
und  privilegirte  Vereinigung  geschlechtsdifferenter 
Personen,  entweder  zur  Führung  eines  gemeinsamen 
Hausstandes  und  zum  Geschlechtsverkehr,  oder  zum 
ausschliesslichen  Geschlechtsverkehr.* 

Starcke  sagt:  „Eine  Verbindung  zwischen  Mann  und 
Weib,  welche  von  einer  mehr  als  augenblicklichen  Dauer  ist, 
und  während  welcher  die  beiden  gemeinsam  für  ihre  Nahrung 
sorgen"  ^^').  Seine  Auffassung  der  Ehe  ist  mit  meiner  über- 
einstimmend, der  Ausdruck  dieser  Auffassung  aber  meines  Erach- 
tens  nicht  vollständig.  Der  Geschlechtsverkehr  ist  nicht  er- 
wähnt, das  Semandoverhältniss  nicht  berücksichtigt,  andrerseits 
zwei  Umstände  genannt  (mehr  als  augenblickliche  Dauer  — 
gemeinsame  Sorge  für  die  Nahrung),  von  denen  der  erste  der 
Ehe  zwar  angehört,  aber  durch  meine  Fassung  wie  ich  glaube 
selbstverständlich  geworden  ist,  und  der  andere  nicht  regel- 
mässig vorliegt.  Unsere  Ehe  enthält  z.  B.  nicht  nothwendig 
eine  gemeinsame  Sorge  für  die  Nahrung,  auch  die  Semandoehe 
nicht:  das,  was  Starcke  hat  sagen  wollen,  ist  in  den  Worten 
„gemeinsamer  Hausstand"  zum  Ausdruck  gekommen.  Andre 
Definitionen  ^^^)  pflegen  sich,  soweit  sie  für  vergleichende 
Zwecke    geschrieben    sind,    von    der   Starcke'schen   oder  der 


3")  Starcke,  PF  p.  14. 

3^8)  Bergel,    EAJ   p.  1.  —  Hellwald,   MF  p.   228.  —  Wester- 


marck,  HM  1,  p.  26.  -  Ratzel,  VK  1,  p.  [79]. 


25(3  Friedriclis. 

römischen  meist  durch  geringere  Vollständigkeit  zu  unter- 
scheiden. 

Keine  Ehe  ist  somit  die  Promiscuität,  welche  darin  be- 
steht^ dass  die  Mutter  nur  mit  ihren  Kindern  zusammen 
lebt  und  nach  eigener  Wahl  die  Befruchtung  aller  Männer 
oder  aller  Männer  einer  bestimmten  Classe  entgegennehmen 
darf^s«). 

Dieser  Verkehr  heisst  aber  nur  dann  Promiscuität,  wenn  er 
in  einem  Rechtsgebiete  geschieht,  welches  keine  geregelten 
und  privilegirten  Ehen  kennt;  wenn  ein  promiscuer  Verkehr 
neben  der  privilegirten  Ehe  stattfindet,  so  heisst  er  Fehlen 
des  Keuschheitsgebotes  oder  bezw.  Prostitution  ^^^). 

§  22. 

II.  Eheformen. 

Auf  die  Frage,  ob  ein  Hausstand  als  ehelicher  zu  be- 
trachten sei,  ist  die  Zahl  der  Personen,  welche  denselben  bilden, 
ohne  Einfluss,  wohl  aber  liegt  darin  ein  geeignetes  Merkmal, 
um  den  Ehebegriff  in  verschiedene  Unterbegriffe  —  Ehe- 
formen —  zu  zerlegen.  Eine  Haupteintheilung  ist  die  in 
polygame  und  monogame  Eheformen;  die  Ehe  eines  Rechts- 
gebietes   ist     monogam,     sobald    vermöge    gesetzlicher    Noth- 


^°^)  Unter  dem  Namen  Hetärismus  finden  wir  die  Promiscuität  bei 
Bachofen,  s.  Peschel,  VK  6,  p.  238  und  Bachofen,  MR  passim. 
Oommunal  Marriage  ist  der  von  Lubbock,  EC  p.  121  gewählte  Name; 
Hellwald,  MF  p.  124  und  Starcke,  PF  p.  273  haben  den  Ausdruck 
Promiscuität  und  promisc[u?],  die  Sache  ohne  Namen  bei  Post,  StEF  p.  54. 

'^^)  Vgl.  oben  §  8,  Anm.  94.  —  Unzutreffend  ist  die  Begriffsbestim- 
mung bei  Hellwald,  MF  p.  274,  eine  wenig  förderliche  Verwechselung 
von  Promicuität  und  Prostitution  begeht  Westermarck,  HM  1,  p.  85  f. 
und  noch  entschiedener  auf  p.  70  der  completen  Ausgabe  von  1891.  Ich 
verstehe  unter  Promiscuität  gerade  diejenige  Form  des  Geschlechts- 
verkehres, welche  Westermarck  als  free  sexual  intercourse  bezeichnet, 
und  von  der  „promiscuity,  the  most  genuine  form  of  which  is  Prosti- 
tution" zu  unterscheiden  sucht. 


Familienstufen  und  Eheformen.  257 

ivendigkeit  ein  Mann  nur  mit  einer  Frau,  und  eine  Frau  nur 
mit  einem  Mann  zugleich  verheirathet  sein  kann.  Die  Ehe  ist 
polygam,  sobald  dieser  Zwang  nicht  besteht,  einerlei  ob 
von  der  somit  gewährten  Erlaubniss  in  grösserem  oder  ge- 
ringerem  Umfange  Gebrauch    gemacht    wird,    oder  nicht ^^^). 

Im  Einzelnen  lassen  sich  folgende  Eheforuien  sondern: 

Erste  Form: 

la.  Gruppenehe:  Mehrere  Männer  bilden  mit  mehreren 
Frauen  einen  Ehehausstand. 

Ib.  Doppelreihenehe:  Alle  Brüder  aus  einem  Hause  leben 
mit  allen  Schwestern  aus  einem  andern  Hause  ehelich  zu- 
sammen. 

Zweite  Form: 

2.  Polyandrie:  Mehrere  Männer  bilden  mit  einer  Frau 
einen  Hausstand,  und  zwar: 

2a.  Tibetanische  Polyandrie:  Die  Männer  vereinigen  sich 
(bilden  eine  Societas),    um  gemeinsam    eine  Frau    zu  nehmen. 

2  b.  Unrichtig  sog.  Nairpolyandrie^^^):  Die  Frau  ist  der 
gemeinsame  Sammelpunkt  der  Männer,  die  sonst  mit  einander 
nichts  zu  thun  haben. 

2A.  Männliche  Reihenehe:  Die  Ehe,  die  ein  Bruder  ab- 
schliesst,  verleiht  von  selbst  allen  seinen  jüngeren  Brüdern 
gleiche  ehemännische  Rechte. 


361^  Wenn  es  also  heisst:  „Die  Polygynie  ist  bei  den  X  fast  un- 
bekannt" (Kirchhoff  in  Petermanns  Mittheilungen  36,  p.  25;  Queden- 
feld  in  ZE  20,  4,  p.  193),  „Die  X  sind  fast  durchweg  monogyn" 
(Diercks  im  Globus  56,  p.  313),  so  muss  das  Volk  zu  den  Polygamen 
gerechnet  werden,  falls  nicht  aus  anderen  Gründen  trotzdem  Monogynie 
anzunehmen  ist. 

^^')  Die  Nair  (in  Malabar,  'Vorder-Indien)  leben  in  Promiscuität 
und  nicht  in  Polyandrie.     Post,  StEF  p.  58. 

Zeitschrift  für  vergleichende  Rechtswissenschaft.   X.  Band.  17 


25b  l'iicdiichö. 

Dritte  Form: 

3.  Polygynie:    Ein  Mann  hat  mehrere  Frauen,  und  zwar 

3a.  Vereinigte  Polygynie:  Alle  Frauen  desselben  Mannes 
leben  unter  demselben  Dache  und  um  denselben  Herd. 

3b.  Getrennte  Polygynie:  Der  Mann  ist  verpflichtet,  für 
jede  seiner  Frauen  nebst  deren  Kindern  eine  besondere  Woh- 
nung herzurichten. 

3a.  Gleichordnende  Polygynie:  Alle  Frauen  desselben 
Mannes  haben  gegenüber  dem  gemeinsamen  Manne  den- 
selben Rang. 

3ß.  Unterordnende  Polygynie:  Eine  Frau  ist  die  Haupt- 
frau, die  andern  sind  Nebengemahlinnen,  Kebsen  oder  Skla- 
vinnen. 

3A.  Weibliche  Reihenehe:  Die  Ehe,  die  ein  Mann  mit 
einer  von  mehreren  Schwestern  abschliesst,  verleiht  ihm  gegen 
alle  übrigen  Schwestern  ehemännische  Rechte. 

Vierte  Form. 

4.  Monogamie:  Der  Hausstand  kann  nur  von  einem  Manne 
und  einer  Frau  gebildet  werden. 

IN.  Ehestufen. 

§  23. 
a)  Im  Allgemeinen. 

Nicht  nur  in  der  Zahl,  sondern  auch  in  der  Rangstellung 
der  Ehegatten  finden  wir  ein  Mittel  zur  Diiferenzirung  des 
EhebegrifFes^  und  wir  haben  daher  von  den  Eheformen  die  Ehe- 
stufen zu  unterscheiden. 

Es  ist  nemlich  möglich,  dass  ein  Volkswesen  verschiedene 
Ehen  mit  verschiedenem  Masse  der  Privilegirung  anerkennt 
und  den  Parteien  zur  Auswahl  stellt;  es  ist  aber  auch  mög- 
lich, dass  die  verschiedenen  Ehen  nicht  in  die  freie  Wahl  der 


Familienstufen  und  Ehelormen.  259 

Nuptiirienten  gestellt^  sondern  von  dem  Geburtsstande  der 
Parteien  abhängig  gemacht  werden^  so  dass  Personen  von 
einem  gewissen  Geburtsstande  mit  Personen  von  einem  ge- 
wissen andern  Geburtsstande  entweder  gar  keine  Ehe  oder 
nur  eine  gewisse  Art  derselben  eingehen  können;  endlich  kann 
auch  bloss  eine  einzige  Ehe  proponirt  sein,  mit  der  Massgabe, 
dass  dieselbe  aussergewöhnliche,  stärkere  oder  schwächere 
Wirkungen  hat,  sobald  Personen  von  gewissen  Geburtsständen 
sie  mit  einander  eingehen. 

In  einem  monogamen  Rechtsgebiete  kann  man  die  Ge- 
sammtheit  der  in  demselben  abgeschlossenen  oder  abschliess- 
baren  Ehen  nach  dem  Masse  der  ihnen  ertheilten  Privilegien 
in  eine  Scala  bringen  und  von  höheren  und  niederen  Ehe- 
stufen sprechen.  Das  einzelne  Paar  ist  aber  in  seinem  Ver- 
hältniss  zu  einander  nicht  davon  berührt,  wie  andre,  ihnen 
fremde  Paare  sich  zu  einander  verhalten. 

In  polygynen  Gebieten  ist  es  aber  möglich,  dass  ein 
Mann  eine  Mehrzahl  von  Frauen  vermöge  verschiedener  Arten 
von  Ehen  zu  einem  Hausstande  vereinigt;  wir  haben  hier  nicht 
nur  von  Ehestufen,  sondern  auch  von  Frauenstufen  zu  sprechen, 
da  die  so  mit  einander  vereinigten  Ehegattinnen  unter  einander 
in  irgend  einer  Weise  rangirt  werden  müssen ;  und  eine  solche 
ungleiche  Rangstellung  der  Frauen  kann  sogar  in  solchen  Haus- 
ständen erfolgen,  in  denen  die  Weiber  alle  vermöge  derselben 
Ehestufe  geheirathet  sind. 

Ebenso  ist  es  auch  in  polyandrischen  Gebieten  möglich, 
wenn  auch  in  seltener  Uebung,  dass  die  verschiedenen  Männer 
einer  Frau  nicht  gleichen  Ranges  sind,  sondern  der  eine  höher 
steht  als  der  andere,  und  auch  ohne  Polyandrie  ist  eine  Ab- 
stufung der  Männer  in  Gatten  vollen  und  minderen  Rechtes 
möglich. 

Es  ergiebt  sich  hieraus ,  dass  die  Ehearten  nicht  ohne 
Besprechung  der  Ehestufen  vollständig  gewürdigt  werden 
können;  einer  solchen  Besprechung  sollen  somit  die  folgenden 
vier  Paragraphen  gewidmet  werden. 


200  iüiediichö. 

1.  Rechte  Ehe  und  Cüncubinat  §  24. 

2.  Ilauptfrau  und  Nebenfrau  §  25. 

3.  Ehefrau,  Kebse  und  Sklavin  §  20. 

4.  Ehemann  und  Cicisbeo  §  27. 

§  24. 
b)  Rechte  Ehe  und  Concubinat. 
Zwei  oft  schwer  von  einander  zu  unterscheidende  Institute 
sind  die  rechte  Ehe  und  das  Concubinat.  Dass  zwischen 
beiden  ein  grosser  und  deutlicher  Unterschied  besteht,  fällt  dem 
Auge  sofort  auf,  aber  es  ist  nicht  leicht,  diesen  Unterschied  auf 
ein  bestimmtes  BegrifFsmerkmal  zurückzuführen.  Es  ist  zunächst 
zu  beachten,  dass  wir  in  Rom  sogar  drei  Ehestufen  finden :  die 
confarreirte  Ehe,  welche  dadurch  besonders  privilegirt  war,  dass 
nur  Männer,  welche  aus  ihr  hervorgegangen  waren,  die  Würde 
eines  Flamen  major  und  Rex  sacrorum  erreichen  konnten ^^^), 
sodann  die  Ehe  ohne  Manus,  welche  sich  in  ihren  nicht- ver- 
mögensrechtlichen Wirkungen  nur  hierdurch  von  der  Manus- 
ehe  unterschied,  und  endlich  das  am  wenigsten  privilegirte 
Concubinat.  Das  letztere  unterschied  sich  von  der  manus- 
losen  Ehe  in  Bezug  auf  die  Form  der  Eingehung  nur  durch 
die  Absicht  der  Parteien  ^^^),  als  äusseres  Zeichen  wird  in- 
dessen auch  in  Rom,  wie  bei  den  Athenern  ^^^)  und  Juden  ^^^) 
das  Fehlen  der  Dos  gedient  haben,  denn  die  Dos  konnte  nur 
in  der  rechten  Ehe  vorkommen,  und  wird  jedesmal  vorge- 
kommen sein,  da  die  Frau  eine  Ehre  darin  suchte,  eine 
Uxor  dotata  zu  sein ;  begrifflich  war  allerdings  auch  eine  Uxor 
indotata    möglich.      In    seinen   Wirkungen    unterscheidet    sich 


'*')  Gajus,  Institutiones  1,  112.  —  Die  Coemtionsehe,  als  Ehe  mit 
manus,  aber  ohne  die  Wirkungen  der  confarreatio,  kann  noch  als  vierte 
Stufe  angesehen  werden,  ihr  gleich  steht  die  Ususehe. 

^'^'*)  „Concubina  igitur  ab  uxore  solo  dilectu  separatur."  Paulus, 
HS  20,  1. 

36">)  Smith,  DGRA  p.  439.  436b.  -  Gans,  ER  1,  p.  302. 

36«)  Gans,  ER  1,  p.  144.  298. 


Familienstufen  und  Eheformen.  2G1 

das  Concubinat  von  der  Ehe  dadurch^  dass  die  aus  ihm  er- 
zeugten Kinder  uneheliche  sind  und  nicht  den  Namen  des 
Vaters  tragen,  aber  dennoch  ist  es  ein  von  der  Rechtsordnung 
anerkanntes  und  privilegirtes  Geschlechtsverhältniss,  da  die 
Concubinen-Kinder  im  Gegensatze  zu  andern  unehelichen  den 
Ehrennamen  Liberi  naturales  führen  ^^')  und  in  der  späteren 
Zeit  sogar  ein  Intestaterbrecht  gegen  ihren  Vater  gewinnen  ^^^). 
Da  das  römische  Concubinat  ausser  seiner  Eigenschaft  als  Ge- 
schlechtsverbindung auch  einen  gemeinen  Hausstand  und  sogar 
Ausschliesslichkeit  des  Geschlechtkehrers  im  Gefolge  hat^  so  ist 
es  eine  Ehe  in  dem  im  §21  entwickelten  Sinne.  Die  Beruh Öft'sche 
Definition,  nach  welcher  das  Concubinat  ein  eheähnliches  Verhält- 
niss  ohne  Treupflicht  ist^^^),  würde  daher  wenigstens  für  Rom 
nicht  charakteristisch  und  sogar  falsch  sein ;  denn  von  dem  weib- 
lichen Theile  wurde  unter  Umständen  auch  Treue  verlangt  ^'^*^), 
und  auch  ausserhalb  Roms  unterscheidet  sich  das- Concubinat  als 
festes  Verhältniss  durch  die  Treupflicht  von  der  Prostitution; 
ja  an  vielen  Orten  ist  die  Untreue  der  Concubine  der  Rache 
und  Strafe  unterworfen,  wie  in  Athen  ^^^)  und  auf  Java^'^^). 
Wenn  nun  die  Beruh öft'sche  Definition  weder  für  Rom  noch 
für  das  gesammte  Gebiet  der  vergleichenden  Rechtswissen- 
schaft verwerthet  werden  kann  (ob  sie  nicht  für  einzelne  Ge- 
biete, insbesondere  in  Anwendung  auf  heutige  Verhältnisse 
passt,  ist  hier  nicht  zu  fragen),  so  ist  die  Hellwald'sche 
Bestimmung  unter  allen  Umständen  verfehlt.  Nach  ihm 
ist  nemlich  das  Concubinat  eigentlich  eine  Ehe  auf  Zeit  (also 
eine   Mut'ahehe  ^'^^),   nur   dass    die    Dauer    der   Ehe    nicht  im 

^^')  Windscheid,  LPR  1  §  56a,  Note  7. 

^««)  Nov.  18  cap.  5.  -  Nov.  89  cap.  12  §  4.  —  Dernburg,  PPR 
3  §  192.  -  Vgl.  Const.  2  C  de  nat.  lib.  5,  27. 

^^»)  Bernhöft  in  ZVR  8,  p.  163;  vg\.  p.  194. 

"<')  Ulpianus,  fr.  13  pr.  D  ad  leg.  Jul.  de  adult.  48,  5. 

"^)  Lysias  1,  §  31.  —  Dazu:  Bernhöft  in  ZVR  2,  p.  296.  - 
Hellwald,  MF  p.  331,  Note  2.  —  Smith,  DGRA  p.  349a. 

"2)  Waitz,  ANV  1,  p.  .377. 

3^3)  Friedrichs  in  ZVR  7,  p.  241.  —  Kohler,  RSt.  p.  65. 


2(J2  Fried  ricli8. 

Voraus  festgesetzt  wird^'').  Nun  ist  aber  gerade  die 
Vorausbestimmung  der  Ehedauer  das  für  die  Mut'ahehe 
Charakteristische;  ausserdem  lässt  sich  eine  Ehe,  welche 
ohne  richterliche  Mitwirkung  mutuo  consensu  oder  gar  durch 
die  Willenserklärung  einer  Partei  gelöst  werden  kann,  schwer 
von  dem  Hellwald'schen  ConcubinatsbegrifF  trennen,  und 
in  letzter  Linie  bleibt  hier  auch  die  Unehelichkeit  der  Concu- 
binenkinder  unberücksichtigt. 

Mit  Unrecht  hält  Waitz  das  Concubinat  für  eine  Art  der 
Ausschweifung ^'^^).  Es  ist  gewiss,  dass  mit  dem  Concubinat 
eine  Ausschweifung  verbunden  sein  kann,  und  ein  grosser 
Theil  der  von  Hell wald  mit  Fleiss  gesammelten  Beispiele ^''^) 
lässt  sich  nur  von  diesem  Gesichtspunkte  aus  betrachten. 
Aber  das  Concubinat  war  weder  in  Rom^^'')  noch  in  Griechen- 
land ^'^^)  etwas  Ausschweifendes  und  Unehrbares;  ehrbar  war 
auch  das  Verhältniss  der  biscayischen  Priester  zu  ihren  Bar- 
raganas 3^^)  und  das  Concubinat  des  deutschen  ^^^)  und  canoni- 
schen Rechts  ^^1). 

'  Charakteristisch  für  das  Concubinat  ist  vielmehr  das  Fehlen 

des  wichtigsten  Ehevorrechts,  der  Patronymität  und  der  Ehe- 
lichkeit der  aus  ihr  hervorgegangenen  Kinder.  Wir  müssen 
daher  entweder  sagen,  dass  jede  Ehe,  welche  den  Kindern 
nicht  den  Namen  des  Vaters  giebt,  —  also  auch  die  bestprivi- 
legirte  Ehe  in  matriarchalen  und  losen  Rechtsgebieten  —  ein 
blosses  Concubinat  sei,  oder  dass  ein  Concubinat  nur  dort 
vorkommen  kann,  wo  es  eine  patronyme  Ehe  giebt.     Da  wir 

"*)  Hell  wald,  MF  p.  444. 
37*)  Waitz,  ANV  1,  p.  377. 
»'6)  Hellwald,  MF  p.  438—453. 

377)  Puffendorf,    JNG   6,    1,   36.    —  Rotteck   und    Welckers 
Staatslexicon  1836,  3,  p.  623. 

"8)  Smith,  DGRA  p.  348. 

^")  Cordier  in  RHD  5  p.  370.  —  Kiiddeus  in  Ersch'  und  Grubers 

AE  I,  31,  p.  323. 

38<^)  Grimm,  DRA  p.  439.  —  Jütisches  Gesetz  1,  27. 
381)  Bist.  34,  c.  4.  —  Grotius,  JBP  II,  5  §  15,  2. 


Familienstufen  und  Eheformen.  263 

den  Namen  Concubinatus  aus  dem  römischen  Rechte  haben, 
so  steht  es  völlig  frei,  welche  Weite  man  dem  Begriffe  geben 
will;  es  scheint  mir  aber  zweckmässiger,  die  zweite  Fassung 
zu  nehmen,  da  die  matriarchale  privilegirte  Geschlechtsver- 
bindung allgemein  als  Ehe  bezeichnet  zu  werden  pflegt,  und 
es  keinen  Nutzen  bringt ,  für  diesen  anerkannten  Begriff  ein 
neues  Wort  einzuführen. 

Die  Ausschliessung  der  Kinder  von  der  Patronymität 
kann  auf  zwei  Weisen  geschehen :  entweder  dadurch,  dass  die 
für  die  patronyme  Ehe  vorgeschriebenen  Formen  unberück- 
sichtigt bleiben,  oder  dadurch,  dass  besondere,  vom  Gesetze  für 
diesen  Zweck  vorgesehene  Formen  erfüllt  werden. 

Es  fallen  unter  den  Begriff  des  Concubinats  somit  nicht 
nur  solche  wenig  angesehene  Verhältnisse,  wie  die  wilde  Ehe, 
die  Maitressenwirthschaft,  sondern  eine  Unterart  dieses  Be- 
griffes bildet  auch  die  morganatische  Ehe  oder  die  Ehe  zur  linken 
Hand;  die  letztere  ist  immer  ehrbar,  an  eine  Form  gebunden 
und  nur  in  demselben  Verfahren  zu  lösen,  wie  die  rechte  Va- 
terehe, und  ist  somit  von  allen  Arten  des  Concubinats  das 
best  privilegirte,  aber  immerhin  stehen  diese  Umstände  der 
Unterordnung  unter  den  Concubinatsbegriff  nicht  entgegen; 
insbesondere  fällt  auch  die  morganatische  Ehe  in  ihrem  wirth- 
schaftlichen  Zwecke  mit  dem  römischen  Concubinate  vollkommen 
zusammen.  Entweder  ist  nämlich  die  Frau  minderen  Ge- 
burtsstandes, oder  der  Parens  binubus  wünscht  seinen  Vor- 
kindern keine  Stiefmutter  zu  geben  und  keine  gleichberech- 
tigten Nachkinder  zu  erzeugen;  endlich  können  auch  beide 
Gründe  zusammentreffen.  Genau  so  war  es  im  alten  Rom. 
Das  typische  Concubinat  war  das  zwischen  Senator  und  der 
Freigelassenen,  zwischen  denen  keine  Ehe  erlaubt  war^^^) 
und  auch  römische  Kaiser  gingen  anstatt  der  zweiten  Ehe  ein 
Concubinat  ein,  um  ihren  Kindern  keine  Stiefmutter  zu  geben^^^). 


382)  ülpiani  fgm.   13,  1.   -   Paulus  fr.  44  pr.  de  RN  23,  2. 
3«3)  Puffendorf,  JNG  6,  1,  36. 


2(34  Friedrichs. 

Andrerseits  ist  es  dem  Concubinatsbegriff  zwar  nicht 
widerstreitend,  wenn  das  Verhiiltniss  innerhalb  eines  bestimmten 
Rechtsgebietes  von  der  Rechtsordnung  privilegirt  und  somit 
als  Ehe  in  unserem  Sinne  anzusehen  ist;  dieses  Moment  ist 
aber  für  den  Begriff  des  Concubinats  auch  nicht  erforderlich, 
da  auch  unprivilegirte  Verbindungen,  wenn  sie  nur  erlaubt  und 
auf  die  Dauer  berechnet  sind,  als  Concubinate  angesehen  werden 
müssen.    Eine  Definition  könnte  somit  folgendermassen  lauten: 

Das  Concubinat  ist  eine  Vereinigung  geschlechts- 
differenter  Personen  zur  Führung  eines  gemein- 
samen Hausstandes  und  zum  Geschlechtsverkehr,  bei 
deren  Abschluss  entweder  die  zur  Patronymisirung 
der  Kinder  erforderlichen  Formen  nicht  beobachtet 
sind,  oder  die  Formen  beobachtet  sind,  welche  die 
Patronymität  ausschliessen. 

§  25. 
c)  Hauptfrau  und  Nebenfrau. 

Die  Hauptfrau  und  die  Nebenfrau  sind  beide  rechte  Ehe- 
frauen; d.  h.  ihrem  gemeinsamen  Ehemanne  vermöge  der  best- 
privilegirten  der  im  Rechtsgebiete  anerkannten  Ehen  verbunden. 
Sie  sind  unter  einander  ebenbürtig  und  standesgleich;  sie  un- 
terscheiden sich  nur  dadurch,  dass  die  eine  die  Leitung  gegen- 
über den  andern  und  eine  höhere  Autorität  bei  dem  gemein- 
samen Hausherrn  hat.  Es  ist  für  den  Begriff  wesentlich, 
dass  ihre  Kinder  einander  vollkommen  gleichstehen,  und  auch, 
dass  jedes  Kind  seine  eigene  Mutter  als  Mutter  verehrt. 

Der  Vorzug,  den  die  Hauptfrau  hat,  ist  nicht  ein  ihrer 
Persönlichkeit  absolut  anhaftender,  sondern  nur  ein  relativer 
den  andern  Frauen  gegenüber.  Die  Hauptfrau  ist  entweder 
die  zuerst  geheirathete,  wie  bei  den  alten  Indern  (wenn  ein  Mann 
mehrere    Frauen  derselben   Kaste   hatte  ^^^),    einigen   Austra- 


^®^)  Jelly    in    den    Münchener   Akademie-Ber. ,    phil.-hist. ,    187(), 
p.  446.  472. 


Familienstufen  und  Eheformen. 


265 


liern^^^),  den  Eskimos  von  Boothia  felix^^^),  in  Kampion 
(Tibet)^^^),  bei  den  Wyandot-Huronen^^^),  den  Tscbinuk  ^^^), 
Thlinkiten3  9  0)^  den  Arawaken^ai)^  den  Tschibtscha  ^^o)^  den 
Malegaschen^^^),  den  Palaninsulanern  ^9^),  den  Maori  auf 
Neuseeland  ^9^),  den  Negern  in  Iddah  am  Niger  ^^*),  in  Libe- 
ria^^^)^  inQuoja^^^)  und  auf  Saint  Louis  ^^^),  bei  den  Bambuk- 
negern^^^);  am  Gross- Bassam  ^9^),  bei  den  Ba  Ntu  in  Monomo- 
tapa^^^),  den  Wa  Ganda^^^),  den  Wa  Njamwezi^^^),  den  Ba 
Suto^^^),  dem  Kimbundavolke  in  Angola  ^^^),  den  Mpongwe  am 
Gabun395)  ^^^^  ^^^  Ba  Kalai^aö),  den  Wa  Schekianis^ß),  den 

Duala^^^),  endlich  den  Bajbetschekirgisen  ^^^),  oder  sie  ist  die 
vom  Ehemanne  erwählte  Lieblingsfrau,  wie  bei  den  Nu^r- 
negern'^^i),  den  Kafirn^^^^,  den  Wa  Kamba^^^),  den  BeTschuana 
(mit  Ausnahme  der  Ba  Suto)*^^)  und  den  Ova-Herero^^^),  end- 
lich bei  den  alten  Persern  die  Mutter  des  ersten  Sohnes ^^^). 
Ein  solches  Verhältniss  kann  nur  in  Rechtsgebieten  vor- 
kommen, in  denen  die  polygyne  Ehe  anerkannt  ist.    Die  Ehe 


385 
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405 


Klemm,  CG  1,  p.  288. 

Post,  GU  p.  28.  -  Post,  StEF  p.  68. 

Post,  AStR  p.  59. 


Post,  AStR  p.  59. 

Archiv  für  Anthropologie  16,  p. 

Post,  StEF  p.  68. 


559. 


Post,  GU  p.  28.  -  Post,  StEF  p.  68. 

Klemm,  CG  2,  p.  77. 

Sibree,  M  p.  281.  284.  -  Waitz.  AI 

Kl  ^^    ■ 


iviemm,  uur  z,  p.   ri. 

Sibree,  M  p.  281.  284.  -  Waitz,  ANV  2,  p.  438. 

Klemm,  CG  4,  p.  299.  —  Post,  AStR  p.  59. 

Post,  AJ  1,  p.  312. 

Waitz,  ANV  2,  p.  110.  -  Post,  AJ  1,  p.  312. 

Post,  AJ  1,  p.  312. 

Reichard.  ■-   "^ 

He 

He 


iichard  in  ZGE  24,  p.  255. 

illwald  in  THZ  1,  p.  367. 

illwald  in  THZ  1,  p.  345. 


d  in  THZ  1,  p. 

Post,  StEF  p.  68. 
Post,  AJ  1,  p.  313. 
Klemm    ^^ 

St 


i   Ui3  t,    rs^o     1,    y.    OiO. 

Klemm,  CG  3,  p.  278.  -  Post,  AJ  1,  p.  313. 
Starcke,  PF  p.  63.  —  Post,  AJ  1,  p.  313. 
Starcke,  PF  p.  68. 
Justi,  GAP,  p.  125. 


266  Friedrichs. 

gehört  in  die  Gruppe  der  unterordnenden  Polygynie  (3  ß), 
denn  es  giebt  auch  Ehen,  wie  die  muslimische  ^^^),  in  der  alle 
Frauen  einander  gleichstehen.  Indessen  können  wir  hier  nur 
von  einer  relativen  Unterordnung  sprechen. 

In  den  Rechtsgebieten  aber,  in  denen  das  Institut  der  Haupt- 
frau eingeführt  ist,  kann  keine  polygyne  Ehe  ohne  Hauptfrau 
sein,  und  sobald  die  bisherige  gestorben  ist,  rückt  die  zunächst 
berufene  ohne  weiteres  in  ihre  Stelle  nach,  oder  es  muss  so- 
fort eine  andre  vom  Ehemann  gewählt  werden. 

§  26. 
d)  Ehefrauen,  Kebsen  und  Sklavinnen. 

Die  Ehefrauen  unterscheiden  sich  nur  unter  einander  als 
Haupt-  und  Nebenfrauen,  aber  sie  stehen  als  Ganzes  den 
Kebsen  und  Sklavinnen  gegenüber. 

Die  Kebse  gehört  mit  der  Sklavin  und  der  Ehefrau  dem- 
selben von  einem  Manne  geleiteten  und  dem  Hausvater  die- 
nenden Hausstande  an.  Sie  unterscheidet  sich  von  der  Sklavin 
durch  ihre  Freiheit;  von  der  Concubine  durch  ihre  Eingliederung 
in  den  Gesammthaushalt;  von  der  Ehefrau  immer  durch  das 
Fehlen  der  affectio  maritalis,  in  der  Regel  auch  durch  ihre 
niedere  Herkunft  und  durch  das  Fehlen  der  Hochzeitsge- 
bräuche ^^'^),  und  dadurch,  dass  ihre  Kinder  entweder  nicht 
erbberechtigt  sind  oder  rechtlich  als  Kinder  der  Hauptfrau 
fingiert  werden.  Die  Kebse  kann  nicht  durch  den  Tod 
der  Ehefrau  von  selbst  in  deren  Stelle  nachrücken,  sondern,  wie 
die  Concubine,  nur  dadurch,  dass  der  Hausherr  sie  nachträg- 
lich heirathet,  die  Unterordnung  unter  die  Mater  familias  ist 
also  nicht  eine  relative,  wie  die  der  Nebenfrau,  sondern  eine 
absolute. 

Im  Uebrigen  gleicht  die  Kebse  der  Concubine  auch  darin, 
dass  ihr  Verhältniss  zu  dem  Manne    zwar  von  der  Rechtsord- 


^0''')  Friedrichs  in  ZVR  7,  p.  25G. 
^")  Starcke,  PF  p.  280. 


Familienstufen  und  Eheformen.  2(37 

nung  privilegirt  sein  und  somit  eine  Ehe  in  unserem  Sinne 
werden  kann^  aber  nicht  muss.  Es  giebt  Rechtsgebiete,  in 
welchem  dem  Kebsverhältniss  zwar  nicht  alle,  aber  doch  einige 
Folgen  der  rechten  Ehe  beigelegt  sind,  und  wieder  andere, 
wo  der  Verkehr  und  seine  Folgen  keine  anderen  Rechtswir- 
kungen haben,  als  jeder  andere  uneheliche  Verkehr.  In  dem 
ersteren  Falle  ist  der  Gesammthausstand  zweifellos  als  unter- 
ordnend polygyner  aufzufassen.  In  dem  zweiten  Falle  könnte 
man  daran  denken,  das  System  als  monogyn  zu  bezeichnen, 
da  nur  einer  einzigen  Frau  gegenüber  ein  eheliches  Verhält- 
niss  besteht.  Aus  praktischen  Gründen  empfiehlt  es  sich  aber, 
auch  hier  von  absolut  unterordnender  Polygynie  zu  sprechen, 
da  die  Sonderung  der  rein  thatsächlichen  Kebsverhältnisse 
von  den  Kebsehen  bei  der  Beschaffenheit  unseres  Materials 
mit  grossen  oder  unüberwindlichen  Schwierigkeiten  verknüpft  ist. 

Dasselbe  gilt  übrigens  auch  von  der  Sklavin.  Das 
Geschlechtsverhältniss  zwischen  ihr  und  ihrem  Herrn  kann 
mit  rechtlichen  Wirkungen  verknüpft  sein,  insbesondere  können 
die  Sklavinnenkinder  in  vollem  Masse  oder  theilweise  zur 
Erbschaft  nach  dem  Hausvater  berufen  sein,  und  dann  ist  das 
Verhältniss  ein  eheliches,  sei  es,  dass  die  Sklavin  selbst  in 
Folge  der  Verbindung  zur  Freien  wird,  wie  bei  den  Arabern  *^^), 
Berbern  ^^^)  und  den  übrigen  muslimischen  Völkern  *^*^),  den 
Juden  *^^),  den  Birmanen  *^ 2)  und  vielen  Negervölkern  *^^),  sei 
es,  dass  sie  nur  thatsächlich  bevorzugt  ist,  wie  bei  andern  Neger- 
völkern *^*),  sei  es  endlich,  dass  sie  selbst  in  der  Masse  der  andern 
Mägde    verbleibt.      Wo    aber    das    Verhältniss    keine    recht- 


los) Köhler  in  ZVR  8,  p.  241.  —  Leue  in  DKZ  1889,  p.  198. 
^09)  Denham  IR  p.  437. 

^''^)  Friedrichs   in    ZVR  7,   p.  277.   —   Kohler,    RSt   p.  35.  — 
Kremer,  KG  1,  p.  489. 

^11)  Kremer,  KG  1,  p.  520. 

412)  Bastian,  VÖA  2,  p.  199. 

413)  Waitz,  ANV  2,  p.  282. 

414)  Barth,  REA  2,  p.  174.  175.  181.  —  Denham,  IR  p.  147.  363. 


208  Friedrichs. 

liehen  Folgen  erzeugt,  wo  insbesondere  die  Sklavinnen  zur  Zucht 
prostituirt  werden,  und  der  Herr  die  möglicherweise  von  ihm  selbst 
erzeugten  Kinder  wie  ein  landwirthschaftliches  Produkt  ver- 
kaufen kann,  wie  bei  den  Romanen  in  Brasilien  *^^),  den  Angel- 
saxen  in  Maryland,  Virginia  und  Kentucky  ^^^)  und  den  Nubiern 
in  Sennaar  *  ^  ^),  daliegt  kein  eheliches  Verhältniss  vor,  und  os 
besteht  rechtliche  Monogynie^^^).  Die  Scheidung  zwischen 
monogynen  und  absolut  unterordnenden  polygynen  Rechtsge- 
bieten macht  hier  auch  anscheinend  geringere  Schwierigkeiten 
als  bei  dem  Kebsverhältniss. 

Dass  die  Sklavin  nicht  nur  zum  Dienst  mit  Besen  und 
Mühle,  sondern  auch  zum  Geschlechtsverkehr  mit  ihrem  Herrn 
berufen  ist,  scheint  bei  den  meisten  sklavenhaltenden  Völkern 
als  selbstverständlich  angesehen  zu  werden '^^^),  nur  die  Araber 
Zanzibars*^^)  und  vielleicht  die  Aeneze-Beduinen  Syriens  *^^) 
scheinen  ihre  Mägde  nicht  zu  zwingen. 

Die  interessantesten  der  einschlägigen  Verhältnisse  sind 
die  der  jüdischen  Sage  und  die  der  Chinesen. 

Nachdem  Abraham  zunächst  daran  gedacht  hat,  den  Sohn 
seines  Sklaven  Eli'ezer  zum  Erben  zu  ernennen *^^),  wird  ihm 
von  der  Sklavin  Hägär  ein  erster  Sohn  geboren '^^^);  sobald 
aber  die  Ehefrau  Sarah  selbst  einen  Sohn  bekommen  hat, 
gelingt  es  ihr  nicht  nur,  den  Sohn  der  Sklavin  von  der  Erb- 
schaft auszuschliessen '^^^),  sondern  auch  die  Kinder  der  spä- 
teren Kebsweiber  werden  abgefunden  ^^•^)  und  erben  nicht. 


^15)  Meyen,  RE  1,  p.  80.   (1830.) 

*^^)  Waitz,  ANV  2,  p.  302. 

^^)  Waitz,  ANV  2,  p.  282.  283. 

^1«)  Frankenheim,  VK  p.  483. 

^1»)  Hellwald,  MF  p.  369.  —  Frankenheim,  VK  p.  474. 

^20)  Leue  in  DKZ  1889,  p.  198. 

^2^)  Klemm,  CG  4,  p.  196. 

^22)  Mos.  I,  15,  2.  3. 

^23)  Mos.  I,  16,  4.  15. 

^2^)  Mos.  I,  21,  6.  10—14. 

^25)  Mos.  1,25,6.  — Grotius,JßPII,7§  8,3.  — Michaelis,  MR§79. 


Familienstufen  und  Eheformen.  269 

Aber  im  Hause  Jäköbs  sind  die  Kinder  der  Sklavinnen 
Bilhäh  und  Zilpäh*^^)  frei  und  erbberechtigt*^^),  aber  sie 
gelten  nicht  als  Kinder  ihrer  Mütter,  sondern  als  solche  Leähs 
und  Rächeis,  auf  deren  Schooss  sie  auch  geboren  sind*^^). 

In  China  hat  der  Hausvater  neben  der  ersten  Frau  (tsi) 
noch  „zweite  Frauen"  (tsie,  oder  wenn  sie  Sklavinnen  sind, 
pi)*^^);  es  ist  streitig,  ob  die  tsie  als  Frauen  aufzufassen  sind, 
oder  nicht *^^).  Sie  werden  ohne  Hochzeitsfeier  geehelicht* ^^), 
ihre  Kinder  sind  frei  und  erbberechtigt*^^),  werden  aber  in 
Recht  und  Leben  wie  Kinder  der  Hauptfrau  behandelt  und 
sind  ihr  allein  Ehrfurcht  und  Gehorsam  schuld  ig  *^^)  5  nach 
dem  Tode  der  Hauptfrau  rückt  keine  zweite  Frau  von  selbst 
an  ihre  Stelle,  sondern  der  Ehemann  hat  die  Wahl,  ob  er 
einer  von  ihnen  diesen  Ehrenrang  verleihen,  oder  ob  er  (was 
aus  Sparsamkeitsgründen  vielfach  geschieht)  ohne  eine  solche, 
nur  mit  tsie  weiter  wirthschaften  will*^*).  Kein  Chinese  kann 
mehr  als  eine  Hauptfrau  haben* ^^).  Aber  die  chinesische 
Ehe  ist  doch  nicht  monogyn,  weil  auch  das  Verhältniss  zu 
den  tsie  ein  eheliches  ist;  die  tsie  sind  aber  keine  Ehefrauen 


^26)  Mos.  I,  35,  25.  26. 

^")  Mos.  I,  30,  6;  49,  16;  30,  8;  49,  21;  30,  11;  49,  19;  30,  13; 
49,  20.  —  Grotius,  JBP  2,  7  §  8,  2. 

^28)  Gans,  ER  1,  p.  131.  —  Starcke,  PF  p.  168. 

^29)  Hellwald,  MF  p.  382. 

^^°)  üeber  die  Controverse:  Doblhoff,  PN  p.  269.  —  Hellwald, 
MF  p.  381.  —  Plath,  WC  p.  468.  —  Arendt  im  Globus  55,  p.  383.  — 
Gans,  ER  1,  p.  103  Note  14. 

*^')  Plath,  GRC  p.  688.  —  Starcke,  PF  p.  168.  -  Gans,  ER 
1,  p.  104. 

^32)  Arendt  im  Globus  55,  p.  383. 

^33)  Rottecks  und  Welckers  St.  L.  4,  p.  656.  —  Gottschall,  TDC 
p.  16.  —  Gans,  ER  1,  p.  103.  —  Ploss,  KBS  2,  p.  404.  —  Starcke, 
PF  p.  168. 

'^^)  Gans,  ER  1,  p.  103.  104. 

^3^)  Gans,  ER  1,  p.  67.  103. —Hellwald,  MF  p.  382.  —  F.Müller, 
AE  p.  440.  —  Puffendorf,  JNG  VI,  1,  36. 


270  Friedrichs. 

im  engeren  Sinne    (rechte  Ehefrauen,    Gemahlinnen),    sondern 
Kebsen. 

Ein  vollständiger  Haushalt  kann  somit  aus  einer  Haupt- 
frau, einer  oder  mehreren  Nebengemahlinnen  und  aus  Kebsen 
und  Sklavinnen  zusammengesetzt  sein. 

So  finden  wir  es  in  den  Königshäusern  Altpersiens^^c^^ 
Altägyptens* ^')  und  Aschantis*^^). 

Kebsweiber  neben  einer  oder  mehreren  Ehefrauen  finden 
wir  bei  den  Osseten^^D)^  den  alten  Iren  (um  500  n.  Chr.)**^), 
den  alten  Juden** i),  den  alten  Arabern**^)^  einigen  heutigen 
indischen  Völkern**^),  in  Birma^**),  bei  einem  Miso-tsz^- 
Stamme**^),  sowie  in  Siam**^)  und  bei  den  Lao**"^),  bei  den 
alten  Mexikanern**^)  und  in  Panam?!**^),  bei  den  Antillen 
und  den  Chorotega*^^),  den  Arawaken*^!),  bei  einzelnen  Neger- 
stämmen*^^),  insbesondere  den  Bertät*^^),  in  Dahome*^*),  bei 


^36)  Justi,  GAP  p.  125. 
4")  Erman,  ÄÄL  1,  p.  114. 

438)  Roskoschny,  WA  p.  171.  —  Post,  AJ  1,  p.  306.  313.  314. 

439)  Post,  AStR  p.  60. 

440)  Hellwald,  MF  p.  499. 

441)  Könige  I,  11,  3. —  Richter  8,  30.  31;  9,  18.  —  Michaelis, 
MR  §  88.  —  Gans,  ER  1,  p.  131. 

442)  Krem  er,  KG  2,  p.  113  f. 

443)  Hellwald,  MF  p.  476. 

444)  Buddeus  in  Ersch'  und  Grubers  AE  I,  31  p.  384b.  —  Hell- 
wald in  THZ  1,  p.  424.  —  Bastian,  VÖA  2,  p.  149.  197;  4,  p.  201 
Nr.  46,  47  p.  214.  —  Kohl  er  in  ZVR  6,  p.  170. 

44-^)  Hellwald  in  THZ  5,  p.  397  f. 
446)  Bastian,  VÖA  3,  p.  91.  108.  202. 
44')  Hellwald  in  THZ  5,  p.  12. 

448)  Post,  GU  p.  27. 

449)  Post,  GU  p.  27.  —  Post,  StEF  p.  68. 

-••-o)  Peschel,  ZE  p.  148.  405.  —  Post,  GU  p.  27. 

451)  Stareke,  PF  p.  42  i'.  —  Klemm,  CG  2,  p.  77. 

462)  Klemm,  CG  1,  p.  279.  -  Waitz,  ANV  2,  p.  109. 

4''3)  Hellwald  in  THZ  1,  p.  405. 

4-'4)  vVaitz,  ANV  2,  p.  110.  —  Post,  AJ  1,  p.  306.  312.  315. 


Familienstufen  und  Eheformen.  271 

den  Bogos,  Landamas  und  Nalus*^^),  den  Ba  Ntu  in  Mos- 
sumba^^^),  endlich  den  nubischen  Berabera^^^)  und  den  Ost- 
Mongolen^  ^^). 

§  27. 
Ehemann  und  Cicisbeo. 

Wie  die  Polygynie  zu  einer  Stufenordnung  der  Frauen 
Anlass  bietet^  so  finden  wir  auch  unter  den  Ehemännern  ver- 
schiedene Rangordnungen,  die  allerdings  mit  weniger  Bei- 
spielen, aber  immerhin  mit  genügender  Sicherheit,  be- 
legt sind. 

Zunächst  ist  hier  die  Stellung  des  eigentlichen  Cicisbeos 
zu  betrachten.  Der  Cicisbeo  stellt  sich  zur  Ehefrau  wie 
die  Kebse  zum  Ehemann,  er  ist  ein  Nebenmann  zweiten 
Ranges. 

Solche  Concubini  mulierum  oder  Connubii  adjutores  gab 
es  bei  den  alten  Litthauern ^^^),  und  heute  darf  bei  den  Dieyerie 
in  Australien  jede  Frau  einen  Cicisbeo  haben ^^^);  bei  den 
Drawida  in  Kalikut  hatte  jede  der  beiden  Königsfrauen  zehn 
Priester  in  dieser  Stellung* ^^),  und  bei  den  Kannuvan  auf 
Madura  hat  jede  Frau  neben  einem  legitimen  Ehemanne  so 
viele  Liebhaber,  wie  sie  will,  doch  müssen  diese  aus  gleicher 
Kaste    sein^^^).      Auf   Hawaii   machten    die   Häuptlingsfrauen 


^^^)  Klemm,  CG  1,  p.  279.  —  Post,  AJ  1,  p.  305. 

*5^)  Post,  AJ  1,  p.  316. 

^")  Hellwald  in  THZ  1,  p.  399. 

*^«)  F.  Müller,  AE  p.  434.  —  (Ueber  die  Kebsehe  bei  den  Ger- 
manen vgl.  C.  Köhne  in  Gierke's  Untersuchungen  z.  D.  St.-  u.  R.-Gesch. 
XXU,  sowie  Schröder,  D.  R.-Gesch.  p.  293.  294.  D.  Red.) 

^^»)  Puffendorf,  JNG  6,  1,  15. 

^«<')  Hellwald  in  THZ  2,  p.  379.  —  Starcke,  PF  p.  131. 

*6*)  Puffendorf,  JNG6, 1, 10.  Vielleicht  liegt  hier  missverstandene 
Nairpolyandrie  vor.  Kalikut  ist  der  Hauptsitz  der  Nairen,  und  bei  diesen 
hat  jedes  Weib  einen  Ehemann,  der  sie  nie  berührt  und  eine  Mehrheit 
von  Liebhabern. 

*«2)  Post,  StEF  p.  61. 


272  Friedrichs. 

von  dorn  ihnen  zustehenden  Rechte  der  Ehescheidung  niemals 
Gebrauch,  sondern  nahmen  sich  statt  dessen  Kebsmänner  an, 
ebenso  wie  die  Häuptlinge  selbst  die  Scheidung  durch  An- 
nahme von  Kebsfrauen  ersetzten '^^^).  Die  Atapejusfürstinnen 
der  Markesasinseln  wurden  in  früher  Jugend  einem  Manne 
vermählt,  und  beide  sodann  von  einem  reiferen  Liebhaber  in 
sein  Haus  genommen ;  und  diese  beiden  Männer  lebten  ohne 
Eifersucht  in  voller  Eintracht  mit  einander* ^^).  In  Afrika  hat 
bei  den  Bullamern,  Bagoes  und  Timmaniern  in  Sierra  Leone 
fast  jede  Ehefrau  ihren  Yangih  Kamih  (Cicisbeo)^  dem  sie  selbst 
den  ersten  Antrag  macht.  Dies  Verhältniss  scheint  zwar  für 
Ehebruch  gehalten  zu  werden,  aber  thatsächlich  straflos  zu 
bleiben,  da  ein  Ehemann  grosses  Ansehen  haben  muss,  wenn 
er  die  Strafbestimmungen  wegen  Ehebruchs  in  Anwendung 
gebracht  sehen  will*^^).  Bei  den  Fulbe  in  Futa-Dschallon 
hat  jede  Ehefrau  einen  Cicisbeo,  der  den  Namen  Kele  führt; 
dieser  erfüllt  alle  Wünsche  seiner  Herrin,  er  bezahlt  den 
Griot,  der  sie  besingt,  und  wird  im  Falle  der  Noth  von  ihr 
unterstützt.     Dieses  Verhältniss   findet    aber  stets  mit  Wissen 

des  Ehemannes  statt  und  bringt  der  Ehetreue  keine  Ge- 
fährde 6) 

Vielleicht  ist  hierher  auch  die  Thatsache  zu  rechnen, 
dass  bei  den  Brames  in  Afrika  die  Ehemänner  es  ihren  Frauen 
als  Verdienst  anrechnen,  wenn  sie  viele  Liebhaber  besitzendem), 
vielleicht  bedeutet  dieses  nur  einen  Verzicht  auf  eheliche  Treue 
der  Frau. 

Eine  eigenthümliche  Form  des  Cicisbeats  findet  bei  den 
Ba  Suto  statt,  wo  ein  Häuptling  dem  einen  oder  dem  andern 
seiner  Diener  eine  seiner  Frauen  als  Concubine  giebt ;  sie 
bleibt    dabei    rechtlich   nach   wie    vor  Gattin   des    Häuptlings, 


"63)  Starcke,  PF  p.  97. 

"«*)  Hellwald  in  THZ  5,  p.  314.  —  Hellwald,  MF  p.  215.  244. 

^'^)  Post,  AJ  1,  p.  468. 

"•^6)  Post,  AJ  1,  p.  410.  468.  -   Waitz,  ANV  2,  p.  472. 

"«^)  Post,  AJ  1,  p.  468. 


Familienstufen  und  Elieformen.  273 

und  diesem  gehören  auch  die  von  ihr  geborenen  Kinder^^^). 
Hier  ist  der  Diener  kein  Ehebrecher,  aber  doch  auch  kein 
gleichberechtigter  Ehemann ;  auch  scheint  das  Verhältniss  ein 
dauerndes  zu  sein,  so  dass  an  Frauenleihe  und  Istibdä'^^^) 
nicht  zu  denken  ist ;  wir  müssen  daher  auch  dieser  Verbindung 
den  Namen  Cicisbeat  beilegen. 

Eine  weitere  Form  ist  die,  dass  der  Nebengatte  nur 
Vertreter    des    Hauptgatten    während    seiner   Abwesenheit   ist. 

So  war  es  in  dem  afrikanischen  Königreiche  Merine 
üblich,  dass  wenn  ein  Ehemann  auf  Reisen  ging,  sein  nächster 
Nachbar  von  dessen  Frau  Besitz  nahm  und  sich  von  ihr  be- 
dienen, beköstigen  und  verpflegen  liess*^^),  und  bei  den  Howa 
hat  die  Frau  bei  längerer  Abwesenheit  des  Mannes  das  Recht, 
sich  von  anderen  bedienen  zu  lassen;  wenn  der  Ehemann  der 
Frau  diese  Befugniss  ausnahmsweise  nicht  zugestanden  hat, 
so  muss  die  Frau  dies  durch  besondere  Zierrathen  kenntlich 
machen,  und  nur  wenn  der  Mann  in  den  Krieg  zieht,  ist  die 
Frau  zu  strenger  Wahrung  der  Treue  verpflichtet*'*^^). 

Fester  organisirt  ist  die  Vertretung  bei  andern  Völkern. 
Bei  dem  Behringsvolke  der  Konjaken  am  Ochotzkischen  Meere 
haben  die  Frauen  zwei  Männer,  von  denen  der  zweite  aber 
nur  zur  Vertretung  des  ersten  während  seiner  Abwesenheit 
dient* '^^),  ebenso  hat  bei  den  Thlinkiten  (Koluscheu)  jede 
Frau  einen  Nebenmann,  und  zwar  nach  einigen  Berichten  den 
jüngeren  Bruder  des  Hauptgatten,  nach  anderen  Berichten 
einen  Mann  von  niederem  Range,  welcher  bei  Lebzeiten  des 
ersten  Mannes  eingeführt  wird  und  die  Aufgabe  hat,  in  dessen 


*68)  Post,  AJ  1,  p.  472. 

^'^)  Vgl.  §  15  Note  277. 

^^0)  Post,  AJ  1,  p.  473. 

^^1)  Bastian,  VÖA  5,  p.  371  Note  *).  —  Sibree,  M  p.  283.  •— 
Vgl.  auch  Kohl  er  in  ZVR  5,  p.  345. 

^'2)  Mac  Lennan,  StAH  p.  145.  —  Peschel,  VK  p.  231.  233.  - 
Hellwald,  MF  p.  245.  —  Westermarck,  HM  1,  p.  141.  —  Post, 
StEF  p.  61. 

Zeitschrift  für  vergleichende  Rechtswissenschaft.  X.  Band.  Jg 


274  Friedrichs. 

Abwesenheit  die  Frau  und  das  Haus  zu  beschützen.  Ab- 
gesehen hiervon  wird  der  Ehebruch  der  Frau  an  ihr  und 
ihrem  ^Mitschuldigen  auf  dem  Wege  der  Bhitrache  bestraft  ^^^). 
Auch  auf  den  Markesas-Inseln  hatten  reiche  Frauen  zwei 
Männer,  von  denen  nur  der  eine  wahrer  Gatte  war,  und 
der  andere  diesen  während  seiner  Abwesenheit  zu  vertreten 
hatte^^^). 

Dies  alles  sind  relative  Männerstufen;  daneben  giebt  es 
auch  noch  absolute,  die  ihre  Ursache  allerdings  nicht  in  der 
Herkunft  des  Mannes,  sondern  in  der  der  Frau  suchen.  Denn 
nicht  überall  betrachten  es  die  Mädchen  als  ein  Glück  und 
eine  Ehre,  unter  die  Haube  zu  kommen,  sondern  es  giebt 
auch  Mädchen,  welche  zu  vornehm  zum  Heirathen  sind.  So 
heirathet  in  dem  Drawidavolke  der  Buntar  die  älteste  Tochter 
des  Tuluvakönigs  nie,  sondern  sie  nimmt  bald  diesen,  bald 
jenen  Brahmanen  zum  Liebhaber ;  ihre  Söhne  werden  Radschas 
und  ihre  älteste  Tochter  pflanzt  das  Geschlecht  fort^^''). 

Auf  den  Marshall-Inseln  ist  es  den  Mädchen  höherer  Ab- 
kunft erlaubt,  sich  einen  Ehemann  geringeren  Standes  aus- 
zusuchen ;  sie  kann  ihn  jeder  Zeit  wieder  entlassen,  und  dann 
darf  er  sich  niemals  wieder  mit  Mädchen  gemeinen  Standes 
einlassen,  da  sonst  seine  neue  Liebhaberin  von  ihrer  Vor- 
gängerin ermordet  werden  würde ^^^). 

Für  Westafrika  nimmt  Lubbock  ganz  allgemein  an, 
dass  die  Frauen  der  herrschenden  Familien  sich  nicht  durch 
eine  Heirath    herabwürdigen,    dafür    aber    so   viele  Liebhaber 


473\ 


Hellwald  in  THZ  4,  536.  —  Peschel,  VK  p.  231.  245.  — 
Post,  StEF  p.  61.  —  Starcke,  PF  p.  147.  —  Waitz,  ANV  1,  p.  356 
Note  *). 

^^*)  Bastian,  RV  p.  223.  —  Lubbock,  EC  p.  116.  —  Müller, 
AE  p.  340.  —  Starcke,  PF  p.  147.  —  VVaitz,  ANV  1,  p.  355.  - 
Westermarck,  HM  1,  p.  141. 

^'•')  Starcke,  PF  p.  92. 

■*'^)  Knappe  in  den  Mittlieilungen  aus  den  Deutschen  Schutz- 
gebieten 1,  p.  76. 


Familienstufen  und  Eheformen.  275 

halten  dürfen,  wie  sie  wollen ^'^^),  und  wenigstens  bei  vielen 
Völkern  sowohl  der  Neger-  wie  der  Ba  Ntu-Familie  scheint 
dies  zuzutreffen. 

In  Aschanti^^^)  wählen  die  Schwestern  des  Königs  ihren 
Mann,  der  Gewählte  darf  ihren  Antrag  nicht  ablehnen,  und 
muss  ihnen,  wenn  sie  sterben,  ins  andere  Leben  folgen *'^^), 
und  ebenso  können  die  Fürstentöchter  in  Yoriba  jeden,  den 
sie  wollen,  zum  Mann  oder  Liebhaber  wählen^^^). 

Unter  den  Ba  Ntu- Völkern  kennen  auch  die  Be  Tschuana 
Weiber,  welche  zu  hoch  zum  Heirathen  stehen ^^^).  Die  Prin- 
zessinnen der  Ba  Kongo  konnten  früher  ihren  Ehemann  be- 
liebig unter  den  Grossen  des  Reiches  aussuchen,  der  Erwählte 
wurde  durch  mehrmonatliche  Einsamkeit  auf  sein  Amt  vor- 
bereitet; durch  die  Verbindung  wurde  er  willenloser  Sklave 
seiner  Herrin  und  durfte  bei  Todesgefahr  kein  anderes  Weib 
anblicken;  durch  ihren  Tod  wurde  er  frei  und  bekam  den  Rang 
eines  Prinzen ^^^).  Ein  anderer  Bericht,  welcher  dasselbe 
oder  ein  verwandtes  Volk  betrifft,  giebt  den  Weibern  aus 
fürstlichem  Geblüte  das  Recht,  sich  ihren  Liebhaber  zu  wählen 
und  nach  Belieben  wieder  zu  Verstössen ;  wenn  der  Concubin 
verheirathet  war,  musste  er  sich  von  seiner  Frau  trennen  und 
durfte  sich  nicht  wieder  anderweit  verheirathen ,  und  er  be- 
fand sich  während  der  Dauer  der  Verbindung  in  der  precären 
Lage  eine's  Günstlings*^^), 


^'")  Lubbock,  EC  p.  117.  -  Lubbock,  VZ  2,  p.  264. 

^''^)  Obwohl  in  diesem  und  den  folgenden  Berichten  zum  Theil 
eine  Angabe  des  Grundes  fehlt  und  die  Ausdrucksweise  zwischen  Ehe- 
mann und  Liebhaber  schwankt,  so  scheinen  doch  alle  dasselbe  im  Sinne 
zu  haben,  nämlich  einen  Mann,  der  nicht  Maritus,  sondern  Concubinus  ist. 

^")  Bastian,  RV  p.  176.  —  Waitz,  ANV  2,  p.  108. 

^«")  Clapperton,  2  R  p.  82. 

^si)  Lubbock,  EC  p.  81. 

*«2)  Bastian,  BSS  p.  173. 

^s^)  Waitz,  ANV  2,  p.  109.  -  Hellwald,  MF  p.  246.  Für  ge- 
wöhnliche Fälle  hat  ausschliesslich  der  Mann  das  Recht  zur  Repudiation. 
—  Waitz,  ANV  2,  p.  114. 


270  Friedrichs. 

Eine  Kongo-Königin  Zinga  (um  1640)  hatte  viele  Männer, 
denen  sie  erlaubte,  andere  Frauen  neben  sich  zu  haben,  aber 
unter  der  Bedingung,  dass  sie  die  von  jenen  geborenen  Kinder 
umbrächten* ^^).  Im  Jahre  1700  hatte  die  Königin  Donna 
Veronica  von  Dschinga  eine  Mehrzahl  von  Buhlen,  ohne  mit 
einem  von  ihnen  verheirathet  zu  sein*^^).  Aehnlich  ist  es  in 
Loango'^^^):  die  Prinzessinnen  haben  das  Recht,  mit  jedem 
Manne  frei  zu  verkehren,  und  suchen  sich  mit  vielen  reichen 
Männern  zu  verbinden,  die  sie  baldigst  ruiniren  und  dann 
gehen  lassen"^^'). 

Zur  Würdigung  der  letzten  Berichte  ist  noch  anzuführen, 
dass  bei  den  Ba  Kongo  die  Weiher  überhaupt  wenig  auf 
Keuschheit  geben,  und  der  ungehinderte  Verkehr  ohne  die 
Eifersucht  die  Regel  bilden  würde,  und  dass  hier,  insbesondere 
in  Sonyo  schon  1700  ,jdie  schwarzen  Frauen  von  der  Keusch- 
heit wenig  Staat  machten,  und  alle  Jahre  den  Missionarien 
ein  Kind,  sie  mochten  es  bekommen  haben,  wo  sie  gewollt, 
zur  Taufe  brachten'' *^^).  Und  ähnlich  ist  es  in  Loango*^^), 
und  vermuthlich  auch  in  den  übrigen  Gebieten. 

Es  ist  natürlich,  dass  die  Stellung  von  'Buhlern,  wie  wir 
sie  eben  kennen  lernten,  nur  dort  möglich  ist,  wo  das  Keusch- 
heitsprincip  für  ledige  Weiber  keine  Anerkennung  findet, 
ebenso  wie  nur  dort  die  Kebsen  und  Concubinen  zu  gesetz- 
licher Anerkennung  kommen  können,  wo  die  Männer  nicht 
zur  Enthaltsamkeit  und  zur  Treue  gegen  ihre  Frauen  ver- 
pflichtet sind. 


^8^)  Waitz,  ANV  2,  p.  109. 

*83)  Zucchelli,  MRB  7  §  14,  p.  164. 

^^6)  Waitz,  ANV  2,  p.  109. 

''")  Bastian,  RV  p.  LXI  Note  34.  —  Starcke,  PF  p.  73. 

^ö8)  Hellwald,  MF  p.  109.  -  Waitz,  ANV  2,  p.  112.  — 
Zucchelli,  MRB  9  §  3  p.  202. 

*^^)  Kohler  in  ZVR  5,  p.  351.  —  Einen  das  Gegentheil  besagenden, 
aber  weniger  glaubwürdigen  Bericht  findet  man  bei  Westermarck,  HM 


1,  p.  76. 


Familienstufen  und  Eheformen.  277 

Wie  sich  die  Sache  in  solchen  Ländern  gestaltet,  wo  die 
Auffassung  von  der  Ehe  eine  ähnliche  ist,  aber  die  Mädchen, 
wenigstens  die  vornehmen,  keine  Unkeuschheit  wagen  dürfen, 
sehen  wir  an  Siam,  wo  die  Tochter  des  ersten  Königs  ent- 
weder den  zweiten  König  heirathen  oder  ledig  bleiben 
nQuss^^^). 


In  einem  Schlusskapitel  werde  ich  durch  eine  umfassende 
Zusammenstellung  zu  erweisen  suchen,  dass  alle  Eheformen 
neben   allen  Familienentwicklungsstufen    vorkommen    können. 


Verzeichniss  der  abgekürzten  Büchertitel. 

Bachofen  (MR),  Das  Mutterrecht.     Stuttgart  1861. 

—  (ST),  Die  Sage  von  Tanaquil.     Heidelberg  1870. 
Barth  (REA),  Reisen  und  Entdeckungen  in  Nord-  und  Central- 

Africa.     Gotha  1857,  1858. 
Bastian  (BSS),    Ein  Besuch  in  San  Salvador.     Bremen  1859. 

—  (RV),  Die  Rechtsverhältnisse.     Berlin  1872. 

—  (VOA),  Die  Völker  des  östlichen  Asiens.    Leipzig  1866, 
Jena  1867—1871. 

Bergel  (EAJ),  Die  Eheverhältnisse  der  alten  Juden.  Leipzig 
1881. 

Caesar  (BG),  De  hello  Gallico,  comm.   Kramer.    Berlin  1881. 

Chalmers  und  Gill  (NG),  Neu-Guinea.     Leipzig  1886. 

Clapperton  (2  R),  Tagebuch  der  zweiten  Reise,  in  Bertuchs 
Neuer  Bibliothek,  Band  55.     Weimar  1830. 

Dargun  (MR),  Mutterrecht  und  Raubehe,  in  Gierkes  Unter- 
suchungen, Nr.  16.     Breslau  1883. 

Davy  (RIC),  Reise  im  Innern  der  Insel  Ceylon.      Jena  1822. 

von  der  Decken  (ROA),  Reisen  in  Ostafrika,  Erzählender  Theil, 
Leipzig  und  Heidelberg  1869. 


490 


)  Bastian,  VÖA  3,  p.  110    111. 


278  Friedrichs. 

Denham ,  Clapperton  und  Oudney  (IR) ,  Beschreibung  der 
Reisen  und  Entdeckungen  im  nördlichen  und  mittleren 
Afrika,  in  Bortuchs  Neuer  Bibliothek^  Nr.  43.  Weimar 
1827. 

Dernburg  (PPR),  Lehrbuch  des  preussischen  Privatrechts. 
Halle  1879. 

von  Doblhoff  (PN),  Von  den  Pyramiden  zum  Niagara.  Wien 
1881. 

Erman  (AAL);  Aegypten  und  ägyptisches  Leben.     Tübingen. 

Ersch'  und  Grubers  (AE),  Allgemeine  Encyklopädie  der  Wissen- 
schaften und  Künste.     (Sectionen  und  Theile).    Leipzig. 

Frankenheim  (VK),  Völkerkunde.     Breslau  1852. 

Gans  (ER),  Das  Erbrecht.  Berlin  1824—1825.  Stuttgart 
1829.  1835. 

Gellius  (NA),  Noctes  Atticae  ed.  Gronov,  Leyden  1706. 

von  Gottschall  (TDC),  Theater  und  Drama  der  Chinesen. 
Breslau  1887. 

Grimm  (DRA),  Deutsche  Rechtsalterthümer.    Göttingen  1854. 

Grotius  (JBP),  De  jure  belli  ac  pacis.     Leipzig  1758. 

Hearn  (AH),  The  Aryan  household.  London  und  Melbourne 
1879. 

von  Hellwald  (KG),  Kulturgeschichte.     Augsburg  1877. 
—     (MF),  Die  menschliche  Familie.     Leipzig  1888. 

Hernsheim  (SE);  Südsee-Erinnerungen.     Berlin. 

von  Höhnel  (OÄA)  Gst-Aequatorial-Afrika,  Ergänzungsheft  99 
zu  Petermanns  Mittheilungen,  Gotha  1890. 

Ihering  (GRR),  Geist  des  römischen  Rechts.    Leipzig  1873  ff. 

Johnston  (KN),  Der  Kilima-Ndjaro.     Leipzig  1886. 

Jolly  (RSF),  Ueber  die  rechtliche  Stellung  der  Frauen  bei 
den  alten  Indern.  Münchener  Akademiebericht,  1876 
phil.  bist.,  p.  420—477. 

Justi  (GAP),  Geschichte  des  alten  Persiens  in  Onckens  all- 
gemeiner Geschichte.     Berlin  1879. 

Klemm  (CG),  Allgemeine  Cultur-Geschichte.  Leipzig  1843 
bis  1852. 


Familienstufen  und  Eheformen.  279 

Klutschack  (EE);  Als  Eskimo  unter  den  Eskimos.    Wien^  Pest^ 

Leipzig  1881. 
Knox  (CRB)^    Ceylanische  Reisebeschreibung.     Leipzig  1689. 
Kohler  (RSt)^  Rechtsvergleichende  Studien.     Berlin  1889. 
von  Kremer  (KG),  Kulturgeschichte  des  Orients.    Wien  1875. 
Lubbock  (EC);   Die  Entstehung  der  Civilisation.     Jena  1875. 

—  [VZ),  Die  vorgeschichtliche  Zeit.     Jena  1874. 

Mac  Lennan  (StAH),  Studies  in  ancient  history.  London  1876. 
Mendelssohn  (RGJ),  Ritualgesetze  der  Juden.  Berlin  1799. 
Meyen  (RE),  Reise  um  die  Erde,  historischer  Bericht.     Berlin 

1835. 
H.  Meyer  (WR),  Eine  Weltreise.     Leipzig  1885. 
Michaelis  (MR),    Mosaisches   Recht.      Frankfurt   1775—1803. 
de  Montesquieu  (GG),  Der  Geist  der  Gesetze.     Görlitz   1804. 
Morgan  (SCA),  The  Systems  of  Consanguinity  and  affinity  in 

the  human  family.     Washington  1871. 
A.  Müller    (IMA),    Der  Islam    im   Morgen-    und    Abendlande, 

in  Onckens  Allgemeiner  Geschichte.     Berlin  1885. 
F.  Müller  (AE),  Allgemeine  Ethnographie.     Wien  1879. 
Paulus  (RS),  Receptae  sententiae,    ed.  Krüger.     Berlin  1878. 
Peschel  (VK),  Völkerkunde.     Leipzig  1885. 

—  (ZE),     Geschichte     des    Zeitalters    der    Entdeckungen. 
Stuttgart  1877. 

Peters  (EPE),  Die  Deutsche  Emin  Pascha-Expedition,  München 

und  Leipzig  1891. 
Plath  (GRC),    Gesetz   und    Recht   im    alten  China.     München 

1865.     Münchener  Akademiebericht  in  Ph.-Ph.  10. 

—  (VVC)^  lieber  die  Verfassung  und  Verwaltung  Chinas. 
Münchener  Akademiebericht  in  Ph.-Ph.   10. 

Ploss  (KBS),    Das    Kind    in    Brauch    und    Sitte    der   Völker. 

Stuttgart  1876. 
Post  (AJ),  Afrikanische  Jurisprudenz.    Oldenburg  und  Leipzig 

1888. 

—  (AStR),    Die   Anfänge    des   Staats-    und    Rechtslebens. 
Oldenburg  1878. 


280  Friedrichs. 

Post  (B),    Bausteine    flir    eine    allgemeine  Rechtswissenschaft, 
Oldenburg  1880.   1881. 

—  (GrU),  Die  Geschlechtsgenossenschaft  der  Urzeit.  Olden- 
burg 1875. 

—  (StEF),  Studien  zur  Entwickelungsgeschichte  des  Fami- 
lienrechts.    Oldenburg  und  Leipzig   1890. 

PufFendorf  (JNG),    De   jure    naturae    ac    gentium.    Lund  in 

Schonen  1672. 
Roskoschny    (WA),    Westafrika   vom  Senegal   zum  Kamerun. 

Leipzig. 
O.    Schrader    (SU),     Sprachvergleichung     und    Urgeschichte. 

Jena  1890. 
Schwebel  (GSB),    Geschichte  der  Stadt  Berhn.     Berlin  1888. 
Schweitzer  (OIR),  Journal  und  Tagebuch  seiner  Ost-Indischen 

Reise.     Tübingen  1688. 
Semper  (PI),  Die  Palau-Inseln.     Leipzig  1873. 
Sibree  (M),  Madagaskar,  Deutsche  Ausgabe,  Leipzig  1881. 
Smith  (DGA),    Dictionary    of   Greek    and    Roman    antiquities. 

London  1882. 
R.  Smith  (KMA),  Kinship  and  marriage  in  early  Arabia.    Cam- 
bridge 1885. 
Starcke  (PF),    Die  primitive  Familie,    in   der   Internationalen 

wissenschaftlichen    Bibliothek    Nr.    56.      Leipzig   1888. 
Waitz  (ANV),  Anthropologie  der  Naturvölker.    Leipzig  1859 

bis  1872. 
Westermarck  (HMl),  The  history   of  human  Marriage  Part  1. 

Helsingfors  1889.    (Das  1891  in  London  unter  gleichem 

Titel  erschienene  complete  Werk  hat  eine  Umarbeitung 

dieses  ersten  Theils  in  sich  aufgenommen.) 
Windscheid  (LPR),    Lehrbuch  des  Pandektenrechts.     Leipzig, 
von  Wlislocky  (VTZ),    Zur  Volkskunde    der   transsilvanischen 

Zigeuner  in  Virchows  und  HolzendorfFs  Vorträgen,  N.  F. 

2,  12.     Hamburg  1887. 
Wunderbar  (BTM),  Biblisch-talmudische  Medicin.      Riga  und 

Leipzig  1850—1860. 


Familienstufen  und  Eheformen.  281 

von  Zmigrodzki  (MASt);  Die  Mutter  bei  den  Völkern  des  ari- 
schen Stammes.     München  1886. 

Zucchelli  (MRB),  Merkwürdige  Missions-  und  Reisebeschreibung. 
Frankfurt  1715. 

DKZ  =  Deutsche  Kolonialzeitung.     Berlin. 

KVjft,  Kritische  Vierteljahrsschrift  für  Gesetzgebung  und 
Rechtswissenschaft.     München  und  Leipzig. 

RHD^  Revue  historique  de  droit  fran^ais  et  dtranger.     Paris. 

THZ,  Trewendts  Handwörterbuch  der  Zoologie,  Anthropologie 
und  Ethnologie.     Breslau. 

ZDMG,  Zeitschrift  der  Deutschen  Morgenländischen  Gesell- 
schaft.    Halle. 

ZE;  Zeitschrift  für  Ethnologie.     Berlin. 

ZGE,  Zeitschrift  der  Gesellschaft  für  Erdkunde.     Berlin. 

ZVP;  Zeitschrift  für  Völkerpsychologie  und  Sprachwissen- 
schaft.    Leipzig. 

ZVR,  Zeitschrift  für  vergleichende  Rechtswissenschaft. 


VI. 

Die  neueste  Schweizer  Gesetzgebung   und  rechts- 
wissenschaftliche Literatur. 

Von 
Dr.  Plazid  Meyer  von  Schauensee, 

Oberrichter  in  Luzern. 

Die  Bundesverfassung  spricht  in  Art.  3  noch  immer  von 
der  Souveränität  der  Kantone,  soweit  sie  nicht  durch  den 
Bund  beschränkt  sei,  allein  es  ist  dies  eine  theoretisch  un- 
richtige Anschauung,  indem  die  Souveränität  begriffsmässig 
nur  dem  Gesammtstaat  und  nicht  diesem  und  den  Gliedstaaten 
zugleich  zustehen  kann,  und  man  würde  auch  praktisch  un- 
endlich viel  besser  thun,  statt  dieser  in  Art.  3  nach  ameri- 
kanischem Muster  zu  Gunsten  der  Kantone  aufgestellten 
Präsumtion  die  umgekehrte,  praktischere  Präsumtion  zu  Gunsten 
des  Bundes  einzuführen  und  den  Kantonen  bestimmte  Reservat- 
rechte vorzubehalten. 

Durch  die  Partialrevision  von  1879  ist  das  in  Art.  65 
der  Bundesverfassung  von  1874  enthaltene  Verbot  der 
Todesstrafe  aufgehoben  und.  den  Kantonen  dieser  Theil 
der  Kriminalsouveränität  wieder  eingeräumt  worden.  Die- 
selben haben  jedoch  in  ihrer  Mehrheit  diese  Strafe  nicht 
wieder  eingeführt  und  in  keinem  einzigen  Kanton  ist  seitdem 
bis  zur  Stunde  ein  Todesurtheil  vollzogen  worden.  Auf  Grund 
einer   weiteren    Partialrevision    von    1885    (Art.  31,  32  u.  tf.) 


Die  neueste  Schweizer  Gesetzgebung  u.  rechtswissensch.  Literatur.     283 

wurde  das  Alkoholmonopol  zu  Gunsten  des  Bundes  ein- 
geführt. 

Am  10.  Juli  1887  vollzog  sich  sodann  die  3.  partiale 
Revision^  wonach  nunmehr  der  Art.  64  der  Bundesverfassung 
folgendermassen  lautet:  „Dem  Bunde  steht  die  Gesetz- 
gebung zu : 

Ueber  persönliche  Handlungsfähigkeit; 

über  alle  auf  den  Handel  und  Mobiliarverkehr  bezüg- 
lichen Rechtsverhältnisse  (Obligationenrecht^  mit  Inbegriff  des 
Handels-  und  Wechselrechts) ; 

über  das  Urheberrecht  an  Werken  der  Literatur  und 
Kunst; 

über  den  Schutz  neuer  Muster  und  Modelle;  sowie  solcher 
Erfindungen,  welche  durch  Modelle  dargestellt  und  gewerblich 
verwerthbar  sind  (Einschaltung  vom   10.  Juli  1887); 

über  das  Betreibungsverfahren  und  das  Konkursrecht. 

Die  Rechtsprechung  selbst  verbleibt  den  Kantonen  mit 
Vorbehalt  der  dem  Bundesgericht  eingeräumten  Kompetenzen. 

Ende  des  Jahres  1890  wurde  endlich  durch  die  Volks- 
abstimmung vom  26.  Oktober  1890  genehmigt  als  Resultat 
der  4.  Partialrevision  folgende  Bestimmung  in  die  Bundes- 
verfassung aufgenommen : 

„Art.  34  bis  Der  Bund  wird  auf  dem  Wege  der  Gesetz- 
gebung die  Kranken-  und  Unfallversicherung  ein- 
richten, unter  Berücksichtigung  der  bestehenden  Kranken- 
kassen. Er  kann  den  Beitritt  allgemein  oder  für  einzelne 
Bevölkerungsklassen  obligatorisch  erklären." 

Die  nothwendige  Folge  dieser  rasch  nacheinander  er- 
folgten Abänderungen  der  Bundesverfassung  von  1874  ist, 
dass  Bundes-  und  Kantonalverwaltung  in  einem  ganz  be- 
deutenden Missverhältniss  zu  einander  stehen.  Hilty  sagt 
darüber  im  Jahrbuch  für  1888,  S.  841 :  Charakteristisch  für 
das  innere  Leben  des  Bundes  ist  eine  fortwährende  Zunahme 
der  Bundesverwaltung  und  das  dadurch  bedingte  Eingreifen 
in  alle  kantonalen  Verhältnisse,  womit  nothwendig  eine  öftere 


284  Meyer. 

Verschiebung  der  Grenzlinie  zwischen  den  beiden  Staats- 
gewalten und  damit  eine  gewisse  Unsicherheit    in  zahh'eichen 

Rechtsbeziehungen  des  täglichen  Lebens  verbunden  ist. 

Ein  Hauptgrund  dieses  stets  wachsenden  Missverhältnisses  war 
ursprünglich  der  unklare  Komproraiss  zwischen  Bundes-  und 
Kantonalsouveränität^  den  wir  der  Verfassung  von  1874  ver- 
danken ;  ein  anderer  liegt  darin,  dass  die  Kantone  allzu  geneigt 
sind ,  Grenzverschiebungen  zu  Gunsten  des  Bundes  anzu- 
erkennen, ja  sogar  zu  begrüssen,  die  mit  Erleichterungen 
finanzieller  Art  verbunden  sind.^   — 

Die  eidgenössische  Spezialgesetzgebung  hat  seit  unserem 
letzten  in  Band  VII.  dieser  Zeitschrift  enthaltenen  Referat 
folgende  wesentliche  Ergänzung  erhalten : 

1.  Das  Bundesgesetz  betreffend  die  Erfindungspatente 
vom  29.  Juni  1888  (in  Kraft  seit  15.  November  1888). 

2.  Das  Bundesgesetz  betreffend  die  gewerblichen  Muster 
und  Modelle  vom  21.  December  1888  (in  Kraft  seit  1.  Juni 
1889). 

3.  Das  Bundesgesetz  vom  26.  April  1887  betreffend  die 
Ausdehnung  der  Haftpflicht  und  die  Ergänzung  des  Bundes- 
gesetzes vom  25.  Juni  1881. 

4.  Das  Bundesgesetz  betreffend  Beaufsichtigung  von  Privat- 
unternehmungen im  Gebiete  des  Versicherungswesens  vom 
25.  Juni  1885. 

5.  Bundesgesetz  betreffend  die  Erstellung  von  Telegraphen 
und  Telephonlinien  vom  26.  Juni  1889. 

6.  Bundesgesetz  über  Schuldbetreibung  und  Konkurs  vom 
11.  April  1889. 

7.  Bundesgesetz  über  Militärstrafgerichtsordnung  vom 
28.  Juni  1889. 

8.  Bundesgesetz  über  die  Bundesanwaltschaft  vom  28.  Juni 
1889. 

Von  allen  diesen  Gesetzen  hat  für  die  schweizerische 
Rechtseinheit  keines  grössere  Bedeutung  als  das  in  der  Refe- 


Die  neueste  Schweizer  Gesetzgebung  u.  rechtswissensch.  Literatur.     285 

rendumsabstimmuDg  vom  17.  November  1889  mit  244,317 
gegen  217,921  Stimmen  angenommene  Bundesgesetz  über 
Schuldbetreibung  und  Konkurs. 

In  diesem  Gesetz  ist  der  französisch-rechtliche  Unterschied 
der  commer9ants  und  non-commer9ants  zum  prinzipalen  Aus- 
gangspunkt genommen.  Der  Konkurs  kann  nur  gegen  im 
Handelsregister  Eingetragene  eröffnet  werden ,  gegen  Nicht- 
eingetragene ist  nur  die  Pfändung  zulässig,  letztere  ist  aber 
mehr  nach  welschem,  als  nach  deutsch-schweizerischem  Muster 
zugeschnitten,  d.  h.  sie  gewährt  dem  ersten  Pfändenden  nicht 
ein  ausschliessliches  Recht  auf  das  gepfändete  Objekt,  sondern 
gestattet  auch  andern  Gläubigern,  sich  pro  rata  ihrer  Forde- 
rungen an  die  Pfändung  anzuschliessen  (Art.  110,  111).  Die 
Organisation  der  Betreibungs-  und  der  Konkursbeamten  ist 
Sache  der  Kantone. 

Professor  Andreas  Heusler  in  Basel  bezeichnet  es  als 
eine  der  schwierigsten,  aber  zugleich  auch  dankbarsten  Auf- 
gaben der  eidgenössischen  Rechtsgesetzgebung,  sich  so  ein- 
zurichten, dass  aus  dem  Nebeneinanderbestehen  von  Bundes- 
und Kantonsgesetzen  keine  oder  doch  möglichst  geringe  Härten 
und  Missverhältnisse  entspringen. 

Der  Praktiker  hat  jedoch  nicht  immer  das  gleiche  Gefühl 
der  Befriedigung,  indem  ihm  diese  Grenzregulirung  oft  un- 
überwindliche Schwierigkeiten  setzt  und  zu  grossen  Incon- 
gruenzen  führt. 

Immerhin  sieht  man,  dass  die  Schweiz  das  Ziel  einer 
einheitlichen  Gesetzgebung  durch  den  Erlass  von  Partial- 
gesetzen zu  erreichen  sucht,  einem  Weg,  der  von  kompe- 
tentester Seite  auch  für  Deutschland  empfohlen  wurde  und  sogar 
nach  Publikation  des  Entwurfes  wiederholt  worden  ist.  Der 
Inhalt  des  sog.  allgemeinen  Theils  eines  Gesetzbuches  kann 
sehr  wohl  entbehrt  werden,  denn  es  fängt  allgemein  an,  kein 
Geheimniss  mehr  zu  sein,  dass  die  im  allgemeinen  Theil  der 
Pandekten  vorgetragenen  Lehren  sich  vielfach  als  Ueberreste 
des  von  der  historischen  Schule  so  sehr  verpönten  Naturrechts 


28(3  Meyer. 

darstellen  oder  dann  zum  Theil  der  Disciplin  der  juristiscben 
Hermeneutik  angehören. 

Bei  allen  Centralisationsbestrebungen  auf  dem  Gebiete 
dos  schweizerischen  Rechts  darf  aber  nie  der  historisch-poli- 
tische Zusammenhang  der  Schweiz  und  der  durchaus  germa- 
nische Ursprung  derselben  vergessen  werden. 

Erst  die  grosse  Rolle,  welche  in  der  helvetischen  Revo- 
lution die  Waadtländer  spielten,  Hess  den  heutigen  Gedanken 
von  besonderen  ^ Sprachnationalitäten"  entstehen,  welcher  ein 
Erzeugniss  moderner  Reflexion  ist  (Hilty). 

Ohne  die  genaue  Kenntniss  der  eigentlichen  Grundbegriffe 
des  deutschen  Rechts  schweizerische  Geschichte  studiren  zu 
wollen,  ist  ein  fruchtloses  Bemühen.  Deshalb  haben  auch  die 
in  Bindings  Sammlung  erschienenen  „Institutionen  des 
deutschen  Privatrechts"  von  Professor  Andreas  Heus- 
1er  in  Basel  für  die  Schweiz,  wo  sich  wie  sonst  nirgends  in 
Europa  deutsche  Rechtsinstitute  unverändert  erhalten  haben, 
und  die  ein  neuerer  Schriftsteller  das  Pompeji  des  Mittelalters 
nennt,  ganz  spezielle  Bedeutung.  Der  Verfasser,  ein  auch  in 
der  schweizerischen  Gerichtspraxis  erfahrener  Jurist,  stellt 
hier  die  einzelnen  Rechtsinstitute  so  recht  aus  eigener  An- 
schauung dar. 

Auf  dem  Gebiete  der  schweizerischen  Rechtsliteratur  sind 
sodann  hauptsächlich  zwei  bedeutsame  Werke  zu  erwähnen, 
die  beide  von  der  Idee  schweizerischer  Rechtseinheit  getragen 
sind.  Das  eine  Werk  trägt  den  Titel:  „System  und  Ge- 
schichte des  schweizerischen  Privatrechts",  Basel, 
Detloff'sche  Buchhandlung,  und  ist  verfasst  von  Dr.  Eugen 
Hub  er,  gegenwärtig  Professor  in  Halle;  das  andere  bildet 
eine  Arbeit  von  Professor  Stooss  in  Bern:  „Die  schwei- 
zerischen Strafgesetzbücher",  Basel  und  Genf  bei 
H.  Georg.  1890.  Das  Huber'sche  Werk,  welches  ergänzt 
wird  durch  das  von  Professor  V.  Rössel  in  Bern  heraus- 
gegebene Manuel  du  droit  civil  de  la  Suisse  Ro- 
mande.    Bäle-Gen^ve —  Lyon  188G,  hat  für  die  Schweiz  die 


Die  neueste  Schweizer  Gesetzgebung  u.  rechtswissensch.  Literatur.     287 

gleiche  Bedeutung^  welche  das  System  des  deutschen  Privat- 
rechts von  Paul  von  Roth  für  das  deutsche  Reich  besitzt,  — 
den  eines  zum  Zwecke  der  Codification  aufgenommenen  In- 
ventars der  verschiedenen  innerhalb  eines  Bundesstaates  gel- 
tenden Territorialrechte.  Die  bis  jetzt  erschienenen  3  Baude 
schliessen  den  1.  Theil  des  Werkes  —  das  System  —  ab  und 
es  beginnt  nun  die  historische  Darstelluug.  Während  Huber 
bei  seinem  auf  die  ganze  Schweiz  berechneten  Werke  keine 
allgemeine  Rechtsquelle  zu  Grunde  legen  konnte,  so  befand 
sich  Rössel,  der  bloss  das  geltende  Recht  der  welschen  Kantone 
zur  Darstellung  bringen  wollte,  in  der  Lage,  seinem  Buche 
die  Ordnung  des  napoleonischen  Gesetzbuches  zu  Grunde  zu 
legen.  Auch  Rössel,  der  in  der  Einleitung  seine  Arbeit  noch 
ausdrücklich  als  im  Interesse  der  Rechtseinheit  unternommen 
bezeichnet,  betont  eingehend,  dass  die  Differenzen  in  den 
Rechtsanschauungen  der  deutschen  und  welschen  Schweiz  keine 
tief  eingreifenden  seien,  indem  sie  sich  bloss  auf  die  Methode 
der  Rechtswissenschaft  und  nicht  auf  das  historische  Recht 
bezögen. 

Die  Rechtscentralisation  ist  aber  auf  keinem  Gebiet  inner- 
lich besser  begründet  als  auf  dem  des  Strafrechts.  Während 
der  Unification  des  Civilrechts  bezüglich  des  Hypothekar-, 
ehelichen,  Güter-  und  Erbrechts  historisch  berechtigte  Eigen- 
thümlichkeiten  und  wirkliche  materielle  Interessen  entgegen- 
stehen, ist  dies  auf  dem  Gebiet  des  Strafrechts  in  keiner 
Weise  der  Fall.  Wie  die  Anregung  zu  dem  Werke  von  Huber, 
so  ging  auch  die  zum  Buche  von  Stooss  vom  schweizerischen 
Juristenverein  aus.  Stooss  hat  der  Vereinheitlichung  des 
Strafrechts  durch  eine  systematische  Gruppirung  der  Gesetzes- 
texte ganz  wesentlich  vorgearbeitet  und  es  hat  der  Verfasser 
seine  Aufgabe  mit  Geschick  und  Sorgfalt  gelöst. 

Ungefähr  gleichzeitig  mit  dem  Buche  von  Stooss  ist  das 
Strafrecht  der  Schweiz  von  Heinrich  Pfenninger,  Docent 
der  Rechte  an  der  Universität  Zürich,  Berlin,  Puttkammer 
&  Mühlbrecht,    1890,    erschienen.     Der  Inhalt  dieses  Werkes 


288  Meyer. 

ist  wesentlich  gescliiclitlicli  von  den  Tagen  der  Berner  Hand- 
feste bis  auf  die  neuesten  Codificationen,  mit  der  Tendenz, 
überall  in  der  Mannigfaltigkeit  die  verbindenden  Einlieits- 
momente  nachzuweisen.  Der  Verfasser  arbeitet  auch  auf  die 
Vereinheitlichung  des  Strafrechts  hin ,  die  er  indess  auf  der 
geschichtlichen  Grundlage  des  altschweizerischen  Friedensrechts 
herbeiführen  möchte. 

Die  grosse  Frage  der  Rechtsunification  liegt  gegen- 
wärtig unzweifelhaft  in  den  Händen  der  schweizerischen 
Juristen,  die,  um  die  öffentliche  Meinung  wirksam  aufklären 
zu  können,  vor  Allem  der  nöthigen  positiven  Kenntnisse 
bedürfen.  Diese  finden  sie  nun  in  den  Büchern  von  Huber, 
Rössel,  Stooss  und  Pfenninger.  —  Die  1872  verworfene 
Bundesverfassung  hat  neben  einem  einheitlichen  Civilrecht  ein 
einheitliches  Civilprozessrecht  vorgesehen,  seither  ist  merk- 
würdigerweise von  keiner  Seite  mehr  weder  die  Unification 
des  Civil-  noch  des  Strafprozesses  angeregt  worden.  Die  von 
Professor  Stooss  in  Bern  unter  Mitwirkung  von  Professoren 
des  Strafrechts  der  schweizerischen  Hochschulen  1887  ge- 
gründete Zeitschrift  für  schweizerisches  Straf- 
recht, von  der  bereits  der  3.  Jahrgang  abgeschlossen  ist, 
hat  sich  auch  die  Bearbeitung  des  Strafprozesses  in  Verbin- 
dung mit  dem  gesammten  Gebiet  der  kriminalistischen  Fächer 
zur  Aufgabe  gesetzt. 

Die  gegenwärtig  31  Bände  haltende  Zeitschrift  für 
schweizerisches  Recht  gibt  jedes  Jahr  eine  sorgfältige 
Uebersicht  der  schweizerischen  Rechtsgesetzgebung  sowohl  des 
Bundes  als  der  einzelnen  Kantone.  Darunter  findet  sich  auch 
eine  kurze  Erwähnung  und  Charakterisirung  der  neuen  Prozess- 
gesetze. 

Nicht  bloss  einen  juristisch- wissenschaftlichen,  sondern 
mehr  noch  einen  patriotischen  Werth  hat  Professor  Hilty's  im 
Herbst  1890  zum  5.  Mal  erschienenes  politisches  Jahrbuch 
der  schweizerischen  Eidgenossenschaft. 

Das    Centralkomitd    des    schweizerischen    Juristenvereins 


Die  neueste  Schweizer  Gesetzgebung  u.  rechtswissensch.  Literatur.     289 

hatte  für  die  im  Herbste  1891  in  Genf  stattfindende  Jahres- 
versammlung als  Verhandlungsgegenstand  das  Thema  auf- 
gestellt: Wie  soll  der  Bund  den  Rechtsunterricht  in  der 
Schweiz  fördern?  Die  These  des  Referenten  (Herr  Professor 
Meili  in  Zürich)  gieng  dahin:  Der  schweizerische  Juristen- 
verein erklärt^  dass  nach  seiner  Ueberzeugung  der  Bund  den 
Rechtsunterricht  am  besten  durch  die  Errichtung  einer  eid- 
genössischen Rechtsschule  fördert.  Dem  Referat  ist  der  Vor- 
schlag eines  Bundesgesetzes  betreffend  die  Errichtung  einer 
eidgenössischen  Rechtsschule  beigegeben.  Als  ganz  vorzüglich 
geeignet  erscheint  dem  Referenten  die  Schweiz,  die  Disciplin 
des  internationalen  Rechts  zu  pflegen,  weil  sie  eine  eigen- 
artige völkerrechtliche  Stellung  einnehme  und  weil  sie  aus 
Elementen  zusammengesetzt  sei,  die  im  kleinen  gewissermassen 
die  grossen  Kulturvölker  wieder  spiegle.  Es  hat  der  Herr 
Verfasser  schon  in  einem  am  5.  Januar  1889  in  der  juristischen 
Gesellschaft  zu  Berlin  gehaltenen  Vortrag:  „Die  internatio- 
nalen Unionen''  seine  Meinung  dahin  abgegeben,  dass  er  den 
schweizerischen  Bund  ganz  besonders  für  geeignet  halte,  bei 
der  Fortbildung  der  internationalen  Unionen  vorzugehen. 
Allein  hiegegen  kann  man  einwenden,  ob  die  Schweiz  nicht, 
bevor  sie  in  dieser  Hinsicht  Propaganda  machen  könne,  zuerst 
die  nothwendigsten  Rechtsmaterien  (Strafrecht,  Civil-  und 
Strafprozess)  selbst  zu  codifiziren  habe.  Alle  grossen  Fort- 
schritte der  Menschheit  geschehen  eben  in  erster  Linie  durch  das 
Mittel  historisch  gegebener  Völker. 

Sehr  schön  liest  sich  auch  bei  Meili  das  Kapitel :  „Die 
vergleichende  Rechtswissenschaft  ist  zu  pflegen  und  zu  be- 
treiben" auf  Seite  73  u.  folg.  des  Referats.  Die  hohe  Per- 
spektive ,  welche  der  Verfasser  der  vergleichenden  Rechts- 
wissenschaft stellt,  hat  ihre  volle  Berechtigung.  Aber  auch 
hier  muss  bemerkt  werden,  dass  rechtsvergleichende  Arbeiten, 
sofern  sie  einen  wirklichen  wissenschaftlichen  Werth  haben 
sollen,  eine  gründliche  Kenntniss  der  zu  vergleichenden  Rechte 
voraussetzen,    eine    solche    aber   für    ein  ganzes  Rechtssystem 

Zeitschrift  für  vergleichende  Rechtswissenschaft.   X.  Band.  19 


290  Meyer. 

selten  bei  einem  einzelnen  Juristen  gefunden  wird.  Da  sich 
nun  aber  für  den  juristischen  Unterricht  hauptsächlich  die 
systematische  Behandlung  des  Rechts  empfiehlt,  so  wird 
die  Rechtsvergleichung  im  juristischen  Studienplan  nament- 
lich so  lange  als  wir  noch  so  viel  mit  der  Bearbeitung  des 
einheimischen  Rechts  zu  thun  haben,  etwas  zurücktreten 
müssen^). 

Bluntschli  hat  in  einem  Aufsatz  vom  Jahr  1875  (ge- 
sammelte Schriften  IL,  S.  114)  den  Gedanken,  den  Professor 
Hilty  in  seinen  „Vorlesungen  über  die  Politik  der  Eidgenossen- 
schaft'* zuerst  wissenschaftlich  zu  begründen  versucht  hat,  ob 
es  eine  eigenartige  schweizerische  Nationalität  gebe,  geprüft 
und  gesteht  dann  der  Schweiz  eine  relative  politische  Natio- 
nalität zu,  betont  dabei  aber  die  Fortdauer  der  nationalen 
Kulturgemeinschaften  der  deutschen  Schweizer  mit  der 
deutschen  Nation,  der  französischen  Schweizer  mit  der  fran- 
zösischen Nation  und  der  italienischen  Schweizer  mit  der 
italienischen  Nation. 

Schon  in  einer  anonymen  Brochüre  von  1866  „Die  Neu- 
gestaltung von  Deutschland  und  der  Schweiz"  (wahrscheinlich 
ebenfalls  von  Bluntschli)  wird  der  Schweiz  die  Aufgabe  ge- 
stellt, dem  friedlichen  Verkehr  und  der  Freiheit  aller  Nationen 
zu  dienen.  Meili  knüpft  an  diesen  Gedanken  von  Bluntschli 
an,  um  die  Bedeutung  der  Schweiz  für  die  Propaganda  des 
internationalen  Rechts  zu  begründen,  wir  unsrerseits  huldigen 
dagegen  mehr  der  Auffassung  Hilty 's  (Jahrbuch  IV,  S.  111, 
Note  1  und  Neutralität  der  Schweiz,  Bern  1889,  S.  91):  Die 
schweizerische  Eidgenossenschaft  steht  und  fällt  mit  ihrem 
Prinzip  weitgehender  bürgerlicher  und  persönlicher  Frei- 
heit, allerdings  einer  sittlichen  Freiheit,  die  ihr  Haus  nicht 
ohne  Weiteres  zu  einem  bequemen  Wafi'enplatz  für  alle  inter- 
nationalen Agitationen  hergibt.  Daran  soll  man  uns  nicht 
vergeblich   gemahnt    haben    und    das    ist    der  Gewinn   jeder 


^)  Damit  sind  wir  nicht  einverstanden.  D.  Red. 


Die  neueste  Schweizer  Gesetzgebung  u.  rechts wissensch.  Literatur.     291 

Anfechtung;  dass  sie  in  der  Schweiz  die  Nothwendigkeit  des 
historisch  nationalen  Bewusstseins  gegenüber  einer  mehr  kos- 
mopolitischen Lebensauffassung  wieder  Jedermann  klar  ge- 
macht haben  wird.  — 

Wenn  nun  auch  Professor  Meili  im  Grossen  und  Ganzen 
und  namentlich  im  Hinblick  auf  übertriebene  politisch-patrio- 
tische Ideale  einen  nüchternen  Realismus  verlangt^  der  Rück- 
sicht nehme  auf  die  Geschichte  und  die  praktischen  Bedürf- 
nisse des  Lebens,  so  scheint  er  uns  dagegen  in  Bezug  auf 
die  Anforderungen ,  die  er  an  die  Pflege  und  staatliche 
Berücksichtigung  des  internationalen  Rechts  speziell  mit 
Rücksicht  auf  schweizerische  Verhältnisse  stellt,  selbst  nicht 
völlig  frei  von  jenem  Rechtsidealismus,  den  er  in  anderer 
Richtung  entschieden  zurückweist.  Im  üebrigen  erklären  wir 
uns  mit  der  Tendenz  der  verdienstvollen  Schrift  von  Meili, 
dessen  Resolutionen  jedoch  vom  diesjährigen  schweizerischen 
Juristentag  in  Genf  abgelehnt  wurden,  einverstanden. 

Wenn  wir  demnach  bei  der  Organisation  des  Rechts- 
unterrichts den  historisch-politischen  Zusammenhang  des  Rechts 
namentlich  betont  wissen  wollen,  so  begrüssen  wir  dagegen 
aufrichtig  wirklich  gesunde  Bestrebungen  zur  Förderung 
des  internationalen  Rechts  und  halten  dafür,  dass  die  Be- 
urtheilung,  die  Hilty  im  Jahrbuch  von  1890,  S.  695  der 
am  12/14.  August  1890  in  Bern  versammelten  internationalen 
kriminalistischen  Vereinigung  zu  theil  werden  Hess,  nicht  zu- 
treffend ist. 

Der  internationalen  kriminalistischen  Vereinigung  wird 
hier  mit  Unrecht  der  Vorwurf  gemacht,  sie  leugne  die  Frei- 
heit des  menschlichen  Willens  und  entziehe  dem  Strafrecht 
mit  dem  Begriff  der  Schuld  sein  Fundament.  Schon  Kant 
und  Schopenhauer  versetzten  aber  die  Willensfreiheit  in  den 
intelligiblen  Charakter.  Das  Strafrecht  hat  es  jedoch  bloss 
mit  dem  empirischen  Menschen  zu  thun  und  hier  bedeutet 
Freiheit  Ausschluss  des  mechanischen  Zwanges.  Ueberhaupt 
ist    schon    mehrfach    nachgewiesen    worden,    dass    durch    die 


292  ^^y^""- 

Retbrmvorschläge  der  internationalen  kriminalistischen  Ver- 
einigung kein  einziger  der  geltenden  metapliysischen  oder 
Rechtsbegriffe  angegriffen  wird  und  ebensowenig  für  die  Ver- 
einheitlichung des  schweizerischen  Strafrechts  in  dieser  Be- 
ziehung irgend  eine  Gefahr  droht.  Die  von  der  internatio- 
nalen kriminalistischen  Vereinigung  gemachten  Vorschläge 
der  unbedingten  und  unbestimmten  Verurtheilung  werden 
überhaupt  nur  als  durch  soziologische  Momente  veranlasste 
Abweichungen   von    der   normalen  Gestaltung   des  Strafrechts 

gerechtfertigt.  — 

Das  weitaus  bedeutendste  Ereigniss  in  der  Entwickelung 
des  schweizerischen  Bundesstaates   ist   unzweifelhaft    die  Ein- 
führung der  Kranken-  und  Unfallv  er  Sicherung.    Hilty 
erblickt   in    diesem  Beschluss   nicht   mit  Unrecht   emen  histo- 
rischen Marchstein,  der  eine  alte  Zeit  und  Methode  der  Armen 
Unterstützung    abschliesse.       Wenige    wohl     von     denjenigen, 
welche  diesen  Beschluss  angenommen  haben,    waren   sich  da- 
bei bewusst,   dass  sich  derselbe  ohne  eine  durchgreifende  Re- 
form    des  Bürgerguts-    und   Armenunterstützungswesens    mcht 
durchführen  lässt.     Die  Unklarheit   über    das  Verhältniss  von 
Heimathsrecht   und  Domizil   hat   in  Deutschland   schon  mehr- 
fach namentlich  im  Verhältniss   zu    den   süddeutschen  Staaten 
in  gesetzgeberischen  und  sogar  politischen  Fragen  eine  fatale 
Rolle  gespielt,  in  der  Schweiz  aber,  wo  die  historischen  Ver- 
hältnisse  mächtiger    sind    als    in  jedem    andern  Lande,    wird 
man  nicht  leicht  geneigt  sein,    das  Heimath-  oder  Gemeinde- 
bürgerrecht, mit  dem  der  Tagsatzungsbeschluss  vom  30.  bep- 
tember    1551    die    bürgerliche    Armenunterstützung    verband, 

preiszugeben. 

In  dieser  ganzen  Frage  der  Reorganisation  des  Armen- 
unterstützungswesens resp.  der  Arbeitergesetzgebung  hegt 
neben  dem  Militärwesen,  das  zum  grössten  Theil  schon  bache 
des  Bundes  ist,  das  mächtigste  Element  der  Centralisation. 
Am  meisten  widerstrebt  gegenwärtig  der  Mehrheit  des  Volkes 
noch  die  einheitliche  Schulaufsicht  und  doch  ist  dieselbe  schon 


Die  neueste  Schweizer  Gesetzgebung  u.  rechtswissensch.  Literatur.     293 

zur  Zeit  der  Helvetik  energisch  angeregt  worden.  Namentlich 
hatte  der  damalige  Minister  des  Unterrichts^  Mohr  aus  Luzern^ 
betont:  Das  grosse  Geschäft  der  allmäligen  Vereinigung  der 
ehemaligen  Schweizerkantone  zur  Einheit  werde  hauptsächlich 
durch  die  Erziehung  bewirkt,  weswegen  ihre  Organisation 
nirgends  weniger  als  in  Helvetien  den  einzelnen  Abtheilungen 
zu  überlassen  sei. 

Es  sprechen  überhaupt  gegenwärtig  gewichtige  Anzeichen 
für  einen  Uebergang  des  gegenwärtigen  Bundesstaats  in  die- 
jenige Form  des  gemässigten  Einheitsstaats,  die  wir  bereits 
in  der  zweiten  helvetischen  Verfassung  vom  20.  Mai  1802 
einmal  besassen. 

Ueber  die  schweizerische  Verfassungsgeschichte  kann  man 
sich  leicht  und  gut  orientiren  aus  dem  soeben  in  der  2.  Auf- 
lage erschienenen  schweizerischen  Verfassungsbüchlein  von 
Dr.  Job.  Strickler  (Bern,  Verlag  von  K.  J.  Wyss,  1891). 
Der  Verfasser  dieser  Schrift  ergänzte  einen  kleinen  historischen 
Artikel,  den  er  für  das  schweizerische  Volkswirthschaftslexikon 
von  A.  Furrer  geschrieben,  durch  eine  Geschichte  der  schweize- 
rischen Bundes-  und  Verfassungsverhältnisse.  Daraus  ent- 
stand die  gegenwärtige  Arbeit,  die  weder  eine  „Schweizer- 
geschichte" noch  ein   „Bundesrecht"   sein  will. 

Wer  sich  eingehender  um  die  Verhältnisse  des  schweize- 
rischen Staats-  und  Bundesrechts  interessirt,  findet  dieselben 
in  dem  Staatsrecht  der  schweizerischen  Eidgenossenschaft  von 
Professor  Dr.  Aloys  v.  Orelli,  das  in  Marquardsen's  Hand- 
buch des  öffentlichen  Rechts  als  IV.  Band,  I.  Halbband,  2.  Ab- 
theilung, in  Freiburg  i.  B.   1885  erschien. 

Dieses  Buch,  das  in  erster  Linie  für  Ausländer  berechnet 
ist,  bietet  eine  höchst  anziehende  Darstellung  des  schweize- 
rischen Staatsrechts,  die  besonders  durch  die  eingehende  Be- 
handlung des  Kantonalstaatsrechts  an  Werth  gewinnt.  In  dem 
engen  Raum  von  zehn  Druckbogen  gibt  uns  der  Verfasser 
im  1.  Abschnitt  eine  historische  Einleitung,  stellt  dann  im 
2.  Abschnitt  das  schweizerische  Bundesstaatsrecht  auf  Grund- 


294  Meyer. 

läge  der  Bundesverfassung  von  1874  und  im  3.  das  Kantonal- 
staatsrecht  dar,  um  dann  im  4.  Abschnitt  mit  dem  Verhältniss 
von  Staat  und  Kirche  im  Bund  und  in  den  Kantonen  abzu- 
schliessen. 

Von  der  richtigen  Ansicht  ausgehend,  dass  das  öffentliche 
Recht  der  Schweiz  nur  dann  verstanden  werden  kann,  wenn 
man  nicht  bloss  den  Bund,  sondern  auch  die  Kantone  ins 
Auge  fasst,  führt  uns  der  Verfasser  im  3.  Abschnitt  die 
politischen  Institutionen  der  einzelnen  Kantone  mit  besonderer 
Betonung  der  vielen  und  stets  sich  mehrenden  gemeinsamen 
Punkte  in  lebendiger  Darstellung  vor  Augen  und  bietet  uns 
eine  anziehende  Betrachtung  der  Gemeinden  nach  ihrer  Ent- 
wickelung  und  gegenwärtigen  Bedeutung.  Sehr  richtig  zeigt 
der  Verfasser,  dass  der  Gegensatz  zwischen  der  deutschen 
und  romanischen  Schweiz  sich  gerade  auf  dem  Boden  der 
Gemeindeorganisation  scharf  abspiegelt.  Die  romanische  Auf- 
fassung, welche  in  Frankreich  und  selbst  in  einem  Theile  von 
Deutschland  gilt,  leitet  das  Recht  der  Gemeinden  vom  Staate 
ab,  die  Gemeinde  ist  ein  staatlicher  Bezirk  und  die  Gemeinde- 
verwaltung wird  den  gleichen  Regeln  unterstellt  wie  die  Staats- 
verwaltung, während  dagegen  nach  der  deutschen  (und  eng- 
lischen) Auffassung  die  Gemeinde  ihren  selbständigen  Wirkungs- 
kreis und  eine  gewisse  Autonomie  hat,  die  ihr  gestattet,  je 
nach  den  lokalen  Bedürfnissen,  immerhin  innerhalb  des  all- 
gemeinen Rahmens  der  Staatsverfassung,  ihre  Organisation  so 
oder  anders  zu  gestalten. 

Im  Kapitel  Verhältniss  zwischen  Kirche  und  Staat  weist 
der  Verfasser  auf  den  konfessionellen  Dualismus  hin,  der  seit 
dem  Kappeier  Krieg  einer  dauernden  Konsolidation  der 
schweizerischen  Verhältnisse  entgegenstund.  Er  bemerkt,  dass 
wenn  die  katholischen  Regierungen  die  Diener  ihrer  Kirche 
waren,    so  die  reformirten  umgekehrt  die  Gebieter,  derselben. 

Das  Buch  bietet  In-  und  Ausländern  Anregung  und  Be- 
lehrung.  — 

Eine  Uebersicht  über  die  Thätigkeit  des  schweizerischen 


Die  neueste  Schweizer  Gesetzgebung  u.  rechtswissensch.  Literatur.     295 

Juristenvereins  in  den  ersten  25  Jahren  1861 — 1886  findet 
man  in  einer  von  Herrn  Professor  A.  Zeerleder,  gewesenen 
Präsidenten  des  schweizerischen  Juristenvereins,  herausge- 
gebenen Schrift:  Der  schweizerische  Juristen  verein. 
(Basel  1887,  Detloff'sche  Buchhandlung). 

Von  Angabe  und  Besprechung  einzelner  juristischer  Mono- 
graphieen  abstrahiren  wir,  indem  uns  für  die  Periode,  über 
welche  wir  zu  referiren  hatten,  die  allgemeine  bundes-  und 
staatsrechtliche  Entwickelung  der  Eidgenossenschaft  vor- 
wiegende Bedeutung  zu  haben  scheint. 


VII. 

Ehe  und  Concubinat  im  römischen  Eecht. 

Von 

Franz  Bernhöft. 

Zu  dem  vorstehenden  Aufsatz  von  Friedrichs'  „Familien- 
stufen und  Eheformen''  S.  261  möchte  ich  eine  Bemerkung 
machen,  um  ein  Missverständniss   kurzer  Hand  zu  beseitigen. 

Bekanntlich  sehen  die  Römer  den  Unterschied  zwischen 
Ehe  und  Concubinat  in  der  affectio  maritalis.  Auch  wird  es 
dem  Romanisten  kaum  zweifelhaft  sein,  worin  diese  bestand, 
nämlich  in  dem  Willen,  eine  gemeinsame  Familie  zu  gründen, 
am  markantesten  hervortretend  in  der  Absicht,  Kinder  zu 
zeugen  und  sie  zu  erziehen ,  wie  denn  auch  die  censorische 
Formel  direkt  daraufgestellt  war,  dass  man  eine  Frau  libe- 
rorum  quaerendorum  causa  habe  ^),  Wirthschaftlich  pflegte  sich 
jene  Absicht  dadurch  zu  bekunden,  dass  die  Frau  in  den  ge- 
meinsamen Hausstand  von  ihrer  Seite  eine  dos  einbrachte ; 
eine  vulgäre  Meinung  betrachtete  diese  geradezu  als  noth- 
wendiges  Erforderniss,  doch  konnte  der  aifectus  maritalis  auch 
aus  andern  Umständen  gefolgert  werden.  Der  Zweck  des 
Concubinates  war  dagegen  lediglich  geschlechtlicher  Verkehr, 
die  Kinder  waren  —  ebenso  wie  heute  in  ähnlichen  Vorhält- 


^)  Vgl.  Puchta,  Institutionen  §  287 :    Die  „atVectio  maritalis"   wird 
ausgedrückt  durch  die  Worte  „liberorum  quaerendorum  causa". 


Ehe  und  Concubinat  im  römischen  Recht.  297 

nissen  —  eine  unerwünschte  Folge  und  wurden  regelmässig 
ausgesetzt.  Dem  entsprechend  finde  ich  das  Wesen  des  Unter- 
schiedes von  Ehe  und  Concubinat  für  das  römische  Recht  in 
dem  Zwecke,  welcher  bei  der  Eingehung  verfolgt  wird,  und 
beziehe  mich  dafür  auf  meine  Aeusserung  in  dieser  Zeit- 
schrift VIII  S.  386  2). 

Ein  anderer  Unterschied  liegt  darin,  dass  bei  dem  Con- 
cubinat die  Treupflicht  der  Frau  fehlt.  Er  ist  freilich  mehr 
secundärer  Natur,  darf  aber  dennoch  für  das  römische  Recht 
nicht  aufgegeben  werden.  Die  von  Friedrichs  S.  261  Anm.  370 
zitirte  1.  14  (13)  D.  ad  legem  Jul.  de  adulteriis  beweist  auch 
keineswegs  für  eine  Treupflicht  der  Concubine,  sondern  da- 
gegen.    Sie  lautet: 

Si  uxor  non  fuerit  in  adulterio,  concubina  tarnen  fuit, 
iure  quidem  mariti  eam  accusare  non  poterit,  quae  uxor 
non  fuerit,  iure  tamen  extranei  accusationem  instituere 
non  prohibetur,  si  modo  ea  sit,  quae  in  concubinatum  se 
dando  matronae  nomen  non  amisit,  utputa  quae  patroni 
concubina  fuit. 

Vorauszuschicken  ist,  dass  die  lex  Julia  de  adulteriis  adul- 
terium  und  stuprum  gleichstellte  und  beides  nicht  einmal  im 
Ausdruck  unterschied  ^).  Sie  verfolgte  auch  keineswegs  als 
Hauptzweck,  das  Recht  des  Mannes  auf  Treue  zu  schützen, 
sondern  wollte  gleichmässig  die  geschlechtlichen  Vergehen 
gegen  die  Sitte  mit  strenger  Strafe  treff'en.  Die  Rücksicht 
auf  ein  etwaiges  privates  Recht,  welches  zugleich  durch  das 
Vergehen  verletzt  worden  war,  trat  dabei  sehr  in  den  Hinter- 
grund. Deshalb  wurde  das  adulterium,  welches  eine  Treu- 
pflicht verletzt,  und  das  stuprum,  welches  nur  die  Sitte  ver- 
letzt, im  Wesentlichen  gleich  behandelt;  deshalb  konnte  auch 
wegen  adulterium    ein  jeder    die  Anklage    erheben,    und    dem 


^)  Das  betreffende  Heft  dürfte  dem  Verf.  noch  nicht  vorgelegen 
haben,  jedenfalls  ist  sein  Aufsatz  bereits  im  vorigen  Jahre  bei  der 
Redaktion  eingeliefert. 

3)  1.  6  §  1  h.  t. 


298  Bernhöft. 

Ehemaiiu  blieb  lediglich  ein  zeitliches  Vorrecht  zur  Anklage. 
Ueberhaupt  richtete  das  Gesetz  nicht  zum  mindesten  seine 
Spitze  gerade  gegen  allzu  nachsichtige  Ehemänner.  Von  der 
Androhung  einer  Strafe  auf  das  Bestehen  einer  Treupflicht  zu 
schliessen^  ist  unzulässig. 

Die  lex  Julia  bedrohte  nun  jeden  geschlechtlichen  Verkehr 
mit  einer  persona  honesta  ausserhalb  der  Ehe  oder  des  Con- 
cubinats'^).  Regelmässig  verlor  eine  Frauensperson,  welche 
ein  Concubinat  einging,  den  Charakter  einer  mulier  honesta 
(„matronae  nomen  amittit^) :  die  regelmässige  Folge  des  Con- 
cubinats  war  also  gerade  die,  dass  ihr  jetzt  freier  geschlecht- 
licher Verkehr  auch  mit  Dritten  möglich  wurde,  selbst  wenn 
er  bis  dahin  strafbar  gewesen  wäre.  Ausnahmsweise  behielt 
sie  den  Charakter  einer  matrona,  nämlich  wenn  sie  als  Frei- 
gelassene mit  ihrem  Patron  ein  Concubinat  eingegangen  war: 
dann  fiel  natürlich  geschlechtlicher  Umgang  mit  Dritten  unter 
die  Strafen  der  lex  Julia.  Aber  derselbe  wurde  keineswegs 
als  Verletzung  einer  Treupflicht,  sondern  lediglich  als  Verstoss 
gegen  die  Sitte  geahndet ;  deshalb  stand  dem  Manne  keinerlei 
Vorrecht  zu  (iure  mariti  eam  accusare  non  poterit),  sondern 
er  konnte  die  Anklage  lediglich  wie  jeder  Dritte  erheben  (iure 
ejiitranei  accusationem  instituere  non  prohibetur). 

Einen  dritten,  sehr  wichtigen  Unterschied  finde  ich, 
mit  Friedrichs  übereinstimmend,  in  dem  mutterrechtlichen  ^) 
Charakter  des  Concubinats.  Indessen  kann  ich  auch  in  diesem 
Punkte  den  Ausführungen  von  Friedrichs  nicht  vollständig 
beitreten,  da  die  von  ihm  gegebene  Formulirung  gerade  für 
das  römische  Recht  nicht  passt.  Er  findet  nämlich  S.  264 
den  Unterschied  darin,  dass  bei  dem  Abschluss  des  Concubinates 
^entweder  die  zur  Patronymisirung  der  Kinder  erforderlichen 
Formen  nicht    beobachtet    sind,    oder   die  Formen    beobachtet 


■')  1.  35  C34)  h.  t. 

^)  Ich    möchte    diesen    von    Bachol'en    aufgebrachten    Ausdruck 
wegen  der  Verbreitung,  die  er  bereits  edangt  hat,  beibehalten. 


Ehe  und  Concubinat  im  römischen  Recht.  299 

sind,  welche  die  Patronymität  ausschliessen".  Nach  der  Auf- 
fassung der  Römer  kommt  es  aber  bei  der  Ehe  wie  bei  dem 
Concubinat  ausschliesslich  auf  den  Willen  der  betheiligten 
Personen  an;  irgend  welche  Förmlichkeiten  sind  bei  beiden 
nicht  wesentlich  und  können  höchstens  insofern  in  Betracht 
gezogen  werden,  als  sie  auf  den  Willen  schliessen  lassen. 

Der  Wille,  welcher  dem  Verhältniss  seinen  Charakter  gibt, 
bezieht  sich  überhaupt  nicht  auf  die  Rechtsstellung  der  Kinder, 
sondern  auf  die  Stellung  der  Gatten  zu  einander.  Gewiss  wird 
es  häufig  im  Sinne  der  Betheiligten  sein,  dass  die  Kinder  aus 
einer  Ehe  dem  Vater,  die  Kinder  aus  einem  Coneubinate  der 
Mutter  folgen,  aber  auch  die  entgegengesetzte  Absicht  würde 
den  Charakter  des  Verhältnisses  nicht  ändern  können.  Eine 
Verbindung  mit  affectio  maritalis  würde  z.  B.  nicht  zum  Con- 
eubinate werden,  wenn  die  Eltern  aus  irgend  einem  Grunde 
wollen,  dass  die  Kinder  der  Familie  der  Mutter  folgen. 

Eine  scharfe  begriffliche  Begrenzung  der  affectio  maritalis 
ist  schwer,  allerdings  mehr  in  der  Theorie  als  in  der  Praxis. 
Thatsächlich  werden  nur  sehr  selten  Zweifel  aufgetaucht  sein. 
So  genügte  bereits  die  Ausstellung  von  Dotalurkunden,  wie 
sie  regelmässig  stattfand,  um  klar  zu  legen,  dass  eine  Ehe 
beabsichtigt  war,  weil  eine  dos  nur  bei  einer  Ehe  möglich 
war;  ebenso  konnten  die  deductio  in  domum  mariti  und  andere 
nach  der  Sitte  übliche  Feierlichkeiten  zum  Beweise  heran- 
gezogen werden.  Bei  anständigen  freien  Frauenspersonen  nahm 
man  überhaupt  regelmässig  eine  Ehe  an  ®). 

Anders  bei  der  Formulirung  des  Begriffes.  Schon  die 
Römer  haben  die  obwaltenden  Schwierigkeiten  nicht  verkannt, 
da  das  Concubinat  in  den  meisten  äusseren  Merkmalen  mit 
der  Ehe  übereinstimmen  kann. 

Am  ältesten  ist  sicherlich  die  Definition,   welche  uns  noch 


^)  1.  245.  R.  N.  23,  2.  In  liberae  mulieris  consuetudine  non  con- 
cubinatus  sed  nuptiae  intelligendae  sunt,  si  non  corpore  quaestum 
fecerit. 


300  Bernhült. 

von  Modestinus  gegeben  wird ')  :  coniunetio  maris  et  teminao 
et  consortium  omnis  vitae,  divini  et  hiimani  iuris  communieatio. 
Sie  reichte  für  die  Zeiten  der  Manusehe  aus,  denn  die  con- 
farreatio  führte  in  der  That  die  communieatio  divini  et  humani 
iuris,  die  coeratio  und  der  usus  wenigstens  die  communieatio 
humani  iuris  herbei. 

Die  Schwierigkeiten  begannen,  als  man  auch  formlos  ein- 
gegangenen Verbindungen  die  Wirkungen  der  Ehe  beilegte. 
Wann  dies  geschehen  ist,  wissen  wir  nicht  genau,  vielleicht 
445  v.  Chr.  durch  die  lex  Canuleia.  Auf  die  communieatio 
iuris  konnte  mau  jetzt  die  Definition  nicht  mehr  stellen,  denn 
gerade  sie  sollte  vermieden  werden. 

Man  legte  zunächst  das  Gewicht  auf  den  animus  quaeren- 
dorum  liberorum.  Das  war  insofern  richtig,  als  der  Zweck 
des  Institutes  dadurch  richtig  aufgefasst  war,  der  zum  grossen 
Theile  der  Ehe  ihren  sittlichen  Charakter  gibt  und  in  noch 
höherem  Maasse  für  ihre  juristische  Behandlung  bestimmend 
gewesen  ist.  Aber  das  Institut  geht  weder  nach  seiner  sitt- 
lichen noch  nach  seiner  juristischen  Seite  in  jenem  Zwecke 
auf,  dieselbe  braucht  sich  also  nicht  gerade  in  einem  jeden 
Anwendungsfall  zu  verwirklichen.  Der  begangene  Fehler 
wurde  bemerklich,  als  der  vielgenannte  Sp.  Carvilius  Ruga 
mit  den  Worten  Ernst  machte  und  seine  unfruchtbare  Frau 
entliess.  Das  grosse  Aufsehen,  welches  der  Fall  erregte,  zeigt, 
dass  die  Formulirung  schon  nach  damaliger  Anschauung  dem 
Wesen  der  Ehe  nicht  in  allen  Beziehungen  gerecht  wurde. 
Man  gab  sie  deshalb  auf,  und  legte  das  Hauptgewicht  auf  das 
„consortium  omnis  vitae",  die  „individua  vitae  consuetudo'', 
was  wir  etwa  als  „vollständige  sociale  Vereinigung"  wieder- 
geben können.  Hierauf  musste  nothwendig  der  Wille  der  Ehe- 
gatten gerichtet  sein;  und  das  Recht  gab  demselben  insoweit 
Folge,  als  es  der  Frau  Stand  und  Rang  des  Mannes  beilegte. 
Es    lag   darin   von    selbst    die   Verpflichtung   zu    gemeinsamer 

')  1.  15.   R.  N. 


Ehe  und  Concubinat  im  römischen  Recht.  301 

Unterhaltung  und  Erziehung  der  Kinder ;  aber  die  afFectio 
maritalis  erschöpfte  sich  in  der  Verpflichtung  nicht,  und  blieb 
möglich,  wo  diese  aus  irgend  einem  Grunde  gegenstandslos  war. 

So  viel  über  das  römische  Recht.  Wollen  wir  nun  den 
Unterschied  zwischen  Ehe  und  Concubinat  für  die  vergleichende 
Rechtswissenschaft  verwenden,  so  brauchen  wir  nicht  alle  Eigen- 
thümlichkeiten  der  concreten  römischen  Institute  als  wesent- 
liche Begriflfsmerkmale  beizubehalten,  da  wir  äusserst  selten 
Rechtsbildungen  finden  würden,  welche  ihnen  in  allen  Punkten 
entsprechen,  sondern  wir  können  die  Begriffe  erweitern,  indem 
wir  nur  das  hervorstechendste  unter  den  Merkmalen  zum  mass- 
gebenden machen.  Welches  das  hervorstechendste  ist,  darüber 
wird  sich  ein  stringenter  Beweis  kaum  erbringen  lassen;  es 
kommt  darauf  an,  welches  von  ihnen  sich  bei  den  meisten 
Völkern  als  das  Charakteristische  herausstellt.  Die  Frage  ist 
nicht,  was  wahr  oder  falsch,  sondern  was  mehr  oder  minder 
zweckmässig  ist. 

Lippert  in  seiner  „Kulturgeschichte  der  Menschheit"  sieht 
das  wesentliche  Merkmal  der  Ehe  darin,  dass  sie  Mann  und 
Frau  gegenseitig  zu  gemeinsamer  Unterhaltung  und  Erziehung 
der  Kinder  verpflichtet  (s.  meinen  Aufsatz  in  dieser  Zeitschr.  VIII 
S.  386),  Friedrichs  dagegen  in  der  Patronymität  und  der  Ehe- 
lichkeit der  Kinder  (s.  dieses  Heft  S.  262).  Den  natürlichen 
Verhältnissen  wird  m.  E.  die  Lippert'sche  Auffassung  mehr 
gerecht.  Die  geringe  Achtung  des  Concubinats  und  der  Con- 
cubine  hat  nichts  damit  zu  thun,  dass  die  Kinder  der  Mutter 
folgen  —  dies  könnte  nur  ehrenvoll  für  sie  sein  — ;  sie  beruht 
vielmehr  darauf,  dass  das  Concubinat  keinem  höheren  sittlichen 
Zwecke,  sondern  lediglich  der  sinnlichen  Lust  dient.  Es  be- 
rührt uns  fremdartig,  wenn  Friedrichs,  seine  Ansicht  consequent 
durchführend,  die  morganatische  Ehe  für  eine  Unterart  des 
Concubinats  erklärt  (a.  a.  0.  S.  263),  während  sie  nach  der 
Lippert'schen  Definition  mit  Recht  als  wirkliche  Ehe  angesehen 
wird.  Ausserdem  gibt  es  Völker,  bei  denen  die  Ehe  je  nach 
den  äusseren  Umständen  bald  Patronymität  bald  Matronymität 


3U2  liernhort.    Ehe  und  OüiicubinaL  im  lüniisclien  Recht. 

zur  B^ülge  hat.  Um  ein  Beispiel  anzuführen,  so  erbt  bei  den 
Basken  und  den  Japanesen  das  älteste  Kind,  ob  Sohn  oder 
Tochter,  das  Familiengrundstlick,  dasselbe  heirathet  das  jüngere 
Kind  einer  anderen  Familie,  und  die  aus  der  Ehe  stammenden 
Kinder  folgen  dann  dem  Erben  bez.  der  Erbtochter,  niemals 
dem  in  das  Gut  Hineinheirathenden.  Hier  würde  man  dem 
Wesen  des  Institutes  kaum  gerecht  werden,  wenn  man  die 
Verbindung  des  Erben  als  Ehe,  die  der  Erbtochter  dagegen 
als  blosses  Concubinat  betrachten  wollte. 


Literarische  Anzeigen. 


Pulszky,    The   theory  of  law  and   civil  society  (London 

1888.) 

Verf.  versucht  eine  Grundlegung  des  Staates  und  Rechts  und  gibt 
zugleich  eine  interessante  Darstellung  früherer  Systeme  und  philo- 
sophischer Meinungen.  Das  Werk  ist  in  hohem  Grade  anregend. 
In  verschiedenen  Punkten  müssen  wir  allerdings  unsere  Reserven 
machen.  Es  ist  beispielsweise  nicht  richtig,  wenn  der  Verfasser 
p.  403  annimmt ,  dass  die  Völkerschaften ,  welche  nicht  von  der 
griechisch-römischen  Kultur  beeinflusst  waren,  nicht  über  das  Niveau 
des  religiösen  Rechts  hinausgekommen  seien.  Das  gilt  nicht  für 
das  babylonische,  es  gilt  insbesondere  nicht  für  das  chinesische 
Recht ;  denn  wenn  auch  hier  die  Moralgedanken,  die  in  der  Schrift 
des  Confucius  und  der  Confucianer  ihren  prägnanten  Ausdruck 
fanden,  für  das  Recht  mitbestimmend  waren,  so  kann  man  doch 
nicht  von  einem  religiösen  Rechte  sprechen :  die  Moralideen  haben  sich 
von  der  religiösen  Anschauung  losgerungen  und  sind  zu  selbst- 
ständigen socialen  Faktoren  geworden ;  sie  haben  die  chinesische 
Gesellschaft  durchdrungen,  wie  die  christliche  Moral  das  Recht  der 
modernen  Völker.  Insofern  bleibt  natürlich  ein  jedes  Recht  religiös, 
als  es  von  den  Moralideen,  welche  aus  einer  bestimmten  religiösen 
Anschauung  hervorgehen ,  durchzogen  ist.  Glücklich ,  dass  dem 
so  ist.  Kohler. 

Ehrenzweig,    Ueber    den    Rechtsgrund    der    Vertrags- 
verbindlichkeit (Wien  1889). 

In  dieser  anregenden  Schrift  untersucht  der  Verfasser  das  Pro- 
blem der  Bindung  des  Vertrages,  insbesondere  des  obligatorischen 


304  Literarische  Anzeigen. 

Vertrages  und  kommt  nach  einer  Ueberschau  über  die  verschiedenen 
modernen  Theorien  zu  dem  Satze,  dass  wir  „auch  den  bereits 
aufgegebenen  früheren  Willen  vermöge  der  ,Einerleiheit  des  Selbst- 
bewusstseins*  immer  noch  als  unseren  eigenen  Willen  anerkennen, 
für  dessen  dauernde  Folge  wir  uns  dauernd  verantwortlich  fühlen, 
und  dem  zu  gehorchen  wir  für  Freiheit  halten"  (S.  87).  Ich  zweifle, 
ob  hiermit  des  Räthsels  Lösung  gegeben  ist.  Gewollter  Zwang  sei 
es,  den  der  Schuldner  leidet  (S.  87).  Aber  sollte  die  Lösung  nicht 
eher  in  der  socialen  Natur  des  Menschen  zu  finden  sein?  Wie  im 
Organismus  des  Menschen  die  einzelne  Zelle  sich  durch  ihre 
Evolution  ihre  Stellung  schafft,  so  auch  im  Organismus  des  Ganzen; 
wobei  die  Theorie  des  Vertrauens  ebenso  ihre  Bedeutung  gewinnt, 
wie  die  Willenstheorie,  sofern  diese  Theorie  aus  der  Freiheit  des 
Willens  argumentirt  und  die  Menschheit  als  ein  Ganzes  darstellt, 
welches  nur  in  der  freien  Willensbethätigung  der  Einzelnen  seine 
normale  Entwicklung  finden  kann.  Kohler. 

Weniger  dagegen  können  wir  uns  mit  einem  weiteren  Werke 
einverstanden  erklären: 

Rogllin,   La  r^gle  de  droit  (Lausanne  1889). 

Das  Werk  sucht  eine  Läuterung  der  juristischen  Begriffe  an- 
zubahnen ;  da  die  Begrifi'e  nur  Formen  sind ,  um  den  Geist  des 
Rechts  zu  fassen,  so  kann  die  ganze  Behandlungsart  des  Verfassers 
nur  eine  formalistische  sein.  Derartige  formalistische  Versuche 
haben  wir  schon,  wir  erinnern  nur  an  das  Buch  von  Thon;  v/ir 
haben  diesen  Formalismus  bekämpft,  aber  auch  der  Verfasser  geht 
auf  dieser  Bahn  weiter.  Dass  die  Existenz  eines  Rechts  die  Existenz 
anderer  Menschen  voraussetzt,  versteht  sich  bei  der  socialen  Natur 
des  Rechts  von  selbst;  sollte  aber  hieraus  etwas  folgen  für  die 
Konstruktion  des  Eigenthums?  sollen  wir  desshalb  auf  der  Bahn 
von  Thon  und  Windscheid  weiter  schreiten  und  von  einem  Recht 
gegen  Jedermann  sprechen  ^)  ? 

Näher  wollen  wir  hier  nur  auf  die  Polemik  gegen  die  Imma- 
terialgüterrechte eingehen.     Die  Theorie  der  Immaterialgüterrechte 


^  Vgl.    hiergegen   meinen  Aufsatz    in    Grünhuts    Zeitschrift   XIV 
S.  6  f.,  jetzt  auch  Staub  im  Arch.  f.  bürgerl.  Recht  V  S.  14  f. 


Literarische  Anzeigen.  305 

sei   schon  durch    das   eine  Wort  widerlegt,    das  Recht   könne    eine 
immaterielle  Sache  nicht  direkt  beherrschen  (p.  328).  —  Natürlich 
darf  der  Mensch  denken,  wie  er  will,  aber  ein  Gedankengebilde  ist 
nicht  nur  zum  Denken  da,  sondern  auch  zum  Verwirklichen.    Hier 
setzt  nun  aber  der  Verfasser  ein.     Wir  würden  Zweck  und  Mittel 
verwechseln :    der  Zweck  beziehe  sich  auf  etwas  Gedankliches ,   das 
Mittel  aber  könne  sich  nur    auf  die   materielle  Verwirklichung  be- 
ziehen.   Das  würden  wir  nicht  sehen,  darum  würde  unsere  Theorie 
keine  tiefere  Prüfung  bestehen  (p.  324,  325).    Aber  wenn  das  Recht 
dem  Autor  gewisse  Materialisationen    des  Immateriellen  vorbehält, 
so  behält  das  Recht  sie  ihm  vor,  weil  sie  Materialisationen  des  Imma- 
teriellen sind,  und  sofern  und  soweit  sie  es  sind.    Das  Immaterielle 
ist  daher  nicht  nur  das  Ziel,  es  ist  der  Gegenstand  des  vorbehaltenen 
Rechts,  wie  ich  dies  in  der  Schrift  über  das  Kunstwerk  und  seinen 
Schutz   noch   weiter  ausführen    werde.     Wenn  ferner  der  Verfasser 
nähere  Darlegungen  über  das  Wesen  des  Immaterialgüterrechts  ver- 
misst  (p.  325),  so  kann  ich  getrost  auf  meine  Schriften  über  Patent- 
recht, namentlich  auf  meine  patentrechtlichen  Forschungen  verweisen ; 
und  wenn  der  Verfasser  meint,  der  Effekt  eines  Patentschutzes  Hesse 
sich  auch  dadurch  erzielen,  dass  der  Erfinder  mit  allen  Konkurrenten 
Verträge    schliesse    (p.  329),    so    ist   dies  unrichtig;    wer   garantirt 
dem  Erfinder,    dass  nicht   neue  Fabrikanten    auftauchen,    dass  die 
patentirte  Waare    nicht   im  Ausland  produzirt   und  in  das  Inland 
eingeführt  wird?    Ob  es  nach  alledem  richtig  ist,    dass  die  Imma- 
terialr-echtstheorie:  manque  absolument  de  finesse  et  de  profondeur 
d'analyse  (p.  325),    kann  ich  getrost  dem  Urtheile  der  Leser  über- 
lassen; und  ebenso,  ob  es  ein  Ersatz  für  unsere  Theorie  ist,  wenn 
der  Verfasser  schliesslich  (p.  328)    das  Autorrecht  zurückführt  auf 
une  Serie  d'obligations  de  non-copie  ou  de  non-adaptation ,    welche 
peseront   instantanement   sur   la  totalite  des  justiciables ;    wenn   er 
das    Autorenrecht    vergleicht    mit    jenem    mittelalterlichen    Bann- 
rechte   des  seigneur,    welcher    allein   ein  pigeonnier    haben  durfte: 
die  Bücher  gleichen  den  Vögeln  und  nur  der  Autorberechtigte  darf 
sie  vermehren,  oder  sagen  wir  züchten  (vgl.  p.  329,  330).    Und  wenn 
wir  geltend  machen:  der  Autor  hat  das  Buch  geschaffen,  so  werden 
wir  dahin  belehrt,  dass  solche  Betrachtungen,  welche  sich  auf  den 
Ursprung  des  Rechtes  beziehen,  den  Fragen  der  Konstruktion  völlig 
fremd    seien  (p.  330)  —  nun    ist   allerdings    ein  Recht   noch    nicht 

Zeitschrift  füi-  vergleichende  Rechtswissenschaft.  X.  Band.  20 


300  Literarische  Anzeigen. 

durch  seinen  Ursprung  charakterisirt,  aber  der  Ursprung  imprägnirt 
hier  das  Recht  doch  insofern,  als  der  Gegenstand  des  Rechts  durch  das 
vom  Autor  Geschaffene  gegeben  ist,  und  dies  ist  etwas  Immaterielles, 
welches  durch  äussere  Mittel  lediglich  materialisirt  wird;  wesshalb 
das  Autorrecht  an  einem  Originalwerk  auch  ganz  verschieden  ist 
von  dem  Autorrecht  an  einer  Uebersetzung ,  obgleich  es  sich  in 
beiden  Fällen  um  materielle  Bücher  handelt,  die  der  Autor  ver- 
mehren oder,  wie  die  Tauben  im  Taubenschlag,  weiter  züchten  möchte. 
Eben  dass  der  Schutz  in  beiden  Fällen  ein  so  verschiedener  ist, 
bezeugt,  dass  es  sich  um  den  immateriellen  Gehalt  (Original,  Ueber- 
setzung) handelt,  und  dass  dieser  für  das  Recht  das  Bestimmende  ist. 

Kohler. 

Einzelne  aphoristische  (deutsch  oder  französisch)  geschriebene 
Züge  bietet  die  posthume  Schrift  von 

Armand  de  Diffret,  Gedanken  über  Nationalökonomie,  Politik, 
Philosophie  (Heidelberg  1887). 

Die  Aphorismen  sind  von  verschiedener  Bedeutung ,  sie  ver- 
breiten sich  über  abstrakte  Probleme  des  Glaubens  und  der  Philo- 
sophie, wie  über  aktuelle  Fragen  der  Gegenwart,  insbesondere  auf 
ökonomischem  Gebiete.  Dass  wir  uns  mit  vielem  nicht  einverstanden 
finden,  w^oUen  wir  hiermit  zum  Ausdruck  bringen,  allein  eine  solche 
Aphorismensammlung  ist  nicht  zur  Discussion  geeignet,  ihr  könnte 
man  höchstens  wiederum  mit  Aphorismen  antworten.  Manche  Ge- 
danken zeugen  aber  von  originellem  Geist.  Kolller. 

Einen  Versuch  der  Universalentwicklung  des  Rechts  auf  ethno- 
logischer Basis  bietet  die  Schrift  von 

1.  D'Aguanno,  La  genesi  e  l'evoluzione  del  diritto  civile 
mit  Einleitung  von  Chiron i  (Turin  1890), 
welche  die  Herausbildung  des  Rechts  überhaupt,  sodann  des 
Rechts  der  Person,  des  Eigenthums,  der  Erbschaft,  der  Obligation 
von  den  ersten  Zeiten  an  darzulegen  versucht.  Die  Schrift  ist 
schätzenswerth,  obgleich  eine  Fundirung  auf  umfassenden,  erst  mit 
der   Zeit    zu   gebenden    Detailstudien    für    eine   solch    ausgedehnte 

Arbeit  wünschenswerth  ist. 

Kolller. 


Literarische  Anzeigen.  307 

Eine  in  vielen  Beziehungen  vortreffliche  Schrift  ist 
2.  Günther,    Die   Idee    der  Wiedervergeltiing    (Erlangen 
1889)  Abtheilung  I, 

ausgezeichnet  durch  Weite  des  Blickes  und  Fülle  des  Materiales. 
Die  hier  vorliegende  erste  Abtheilung  verfolgt  die  Idee  bei  den 
Aegyptern,  Indern,  im  mosaischen,  islamitischen,  sodann  im  griechi- 
schen, römischen  und  deutschen  Recht,  im  letztern  bis  zur  Carolina. 

Allerdings  ist  der  Begriff  der  Wiedervergeltung  ein  schillernder. 
Er  enthält  die  Idee: 

1.  auf  die  That  muss  Strafe  folgen,  weil  sie  begangen  ist; 
sodann, 

2.  auf  die  That  muss  dem  Effekt  nach  das  gleiche  oder  ein 
ähnliches  Uebel  als  Strafübel  folgen ,  wie  dasjenige  ist ,  welches 
der  Thäter  einem  Andern  zugefügt  hat; 

3.  auf  die  That  soll  dasjenige  Uebel  als  Strafübel  folgen, 
in  dessen  präsente  Gefahr  die  That  einen  Dritten  gebracht  hat; 

4.  die  That  soll  bestraft  werden  nicht  nach  der  Art  des  Er- 
folgs, sondern  nach  dem  verwendeten  Mittel:  es  soll  dasjenige  Glied 
gezüchtigt  werden,  welches  bei  der  That  eine  besondere  Rolle  spielte; 

endlich  : 

5.  die  That  soll  so  bestraft  werden ,  dass  der  Erfolg  in  ihr 
symbolisch  wiedergegeben  wird ,  so  dass  die  Strafe  gleichsam  das 
theatralische  Abbild  der  That  ist. 

Schliesslich  kann  auch 

6.  unter  Wiedervergeltung  lediglich  das  gemeint  sein,  dass  die 
Strafe  gerade  diejenigen  Bestrebungen  des  Thäters  treffen  soll,  welche 
bei  der  That  von  überwiegender  Motivkraft  waren  (Geldstrafe  bei 
Gewinnsucht  u.  s.  w.). 

Man  kann  nun  dem  Verfasser  vielleicht  entgegenhalten ,  dass 
er  nicht  immer  in  gehörig  scharfer  Weise  diese  verschiedenen  Be- 
deutungen der  Wiedervergeltung  trennt.  Die  Talion  im  gewöhn- 
lichen Sinne  ist  verschieden  von  der  Strafe  des  Handabhauens  gegen 
den  Dieb  oder  von  der  Strafe  des  Feuertodes  gegen  den  Brand- 
stifter oder  Münzfälscher ,  verschieden  auch  von  der  Strafe  gegen 
den  calumniator,  sofern  ihm  die  Strafe  des  Deliktes  auferlegt  wird, 
dessen   er  einen  Andern  falsch  angeklagt  hat.     Dass  alles  dieses  in 


308  Literariöche  Anzeigen. 

gewissem  Masse  historisch,  auch  psychologisch,  zusammenhängt,  ist 
richtig,  macht  aber  eine  scharfe  Scheidung  nicht  entbelirlich. 

Gänzlich  davon  absondern  möchte  ich  etwas  Weiteres:  dass 
nämlich  der  Begünstiger  eines  Deliktes  (z.  B.  der  Gefüngnisswärter, 
welcher  einen  Delinquenten  absichtlich  entkommen  lässt)  mit  der 
Strafe  belegt  wird,  welche  den  Delinquenten  trifft.  Dieser  univer- 
selle Gedanke  (vgl.  meine  Studien  aus  dem  Strafrecht  S.  154  f.) 
beruht  nicht  auf  der  Wiedervergeltungsidee ,  sondern  darauf,  dass 
man  in  solchem  Fall  an  Stelle  des  Thäters  den  Andern  als  Substituten 
nimmt ;  eine  Idee ,  welche  ja  auch  noch  in  der  Strafbürgschaft 
mächtig  ist. 

Die  Mängel  des  Werkes  werden  aber  ausgeglichen  durch  die 
Fülle  seines  Inhaltes ,  durch  das  reiche  Material ,  das  in  Bezug 
auf  die  Rechte  der  verschiedensten  Völker  geboten  wird ;  der 
Romanist  und  der  Germanist  werden  in  der  Schrift  Belehrung  finden, 
sofern  sie  auf  verschiedene  Seiten  der  Rechtsentwicklung  besonderes 
Licht  wirft;  aber  auch  was  die  übrigen  Rechte  betrifft,  so  hat  der 
Verfasser  mit  grossem  Fleisse  die  früheren  Forschungen  benützt.  Be- 
züglich des  islamitischen  Strafrechts  kann  ich  nunmehr  auf  meine 
Abhandlung  im  Gerichtssaal  XLI  verweisen.  Wir  wünschen  das 
baldige  Erscheinen  der  Fortsetzung  des  Werkes. 

Kohler. 

Hier  ist  weiter  zu  erwähnen : 

3.  Peisker ,  Die  Knechtschaft  in  Böhmen,  eine 
Streitfrage  der  böhmischen  Socialgeschichte 
(Prag  1890). 

Diese  gegen  Lippert  gerichtete  Schrift  sucht  die  Behauptung 
von  der  frühen  Knechtschaft  und  Eigenthumslosigkeit  der  Böhmen 
(im  10. — 12.  Jahrh.)  zu  widerlegen  und  enthält  bemerkenswerthe 
Ausführungen  über  die  böhmische  Hausgemeinschaft  mit  dem  Haus- 
vermögen, der  dedina,  welches  sich  nach  Parentelen  gliederte,  und 
über  die  Lage  der  Sippendörfer  mit  dem  circuitus,  d.  h.  dem  um- 
gebenden Waldlande,  welches  mit  der  Zeit  von  den  Fürsten  zur 
Rodung  abgegeben  wurde. 

Kohler. 


Literarische  Anzeigen.  309 

Eine  für  die  vergleichende  Rechtswissenschaft  hochbedeutende 
Leistung  ist 

4.  Bühler's  neue  Manuübersetzung  in  den  Sacred  Books 

of  the  East  (Vol.  XXV  dieser  Sammlung), 

mit  einer  ausführlichen  Einleitung  über  die  Geschichte  und 
das  vermuthliche  Alter  des  Rechtsbuchs.  Von  einem  fabelhaften 
Alter  desselben  kann  keine  Rede  mehr  sein ,  Max  Müller  will  es 
gar  erst  in  das  4.  Jahrhundert  unserer  Zeitrechnung  verlegen, 
während  Bühler  als  die  äusserste  Grenze  das  2.  Jahrhundert  vor 
und  das  2.  Jahrhundert  nach  Chr.  annimmt  (p.  CXVII). 

Kohler. 

Eine  weitere,  namentlich  auch  für  die  Geschichte  des  in- 
dischen Processrechts  bedeutungsvolle,  Publikation  ist  die  als  Vol. 
XXXIII  jener  Sammlung  erschienene 

5.  Jolly'sche  Uebersetzung  des  Narada  und  des  Briha- 

spati, 

im  Anschluss  an  welche  ich  auf  meine  Schrift 

6.  Altindisches  Prozessrecht  (Stuttgart  1891) 
verweisen  kann.  Kohler. 

Aus  dem  Gebiete  des  babylonischen  Rechtes  erwähne  ich  zu- 
nächst das  ausserordentlich  tüchtige  und  brauchbare  Buch  von 

7.  Bezold,    Kurzgefasster   Ueberbhck   über   die    babylonisch- 

assyrische  Literatur  (Leipzig  1886), 

worin  S.  148  f.  auch  ein  Verzeichniss  von  Rechtsurkunden  mit 
Angabe  des  Ortes  der  Veröffentlichung  und  mit  Hinweisung  auf 
die  Uebersetzungen  und  Erläuterungen  gegeben  ist.      Kohler. 

Ein  eifriger  Erforscher  der  babylonischen  Rechtsurkunden  ist 
der  Assyriologie  in  F.  E.  Peiser  erstanden;  an  dieser  Stelle  ist 
hervorzuheben : 

8.  F.  E.  Peiser,   Keilschriftliche    Actenstücke    aus 

babylonischen  Städten  (Berlin   1889). 
Derselbe,  Jurisprudentiae  Babylonicae  quae  supersunt 
(Habilitationsschrift;  gedruckt  Cöthen  1890). 


310  Literarische  Anzeigen. 

Derselbe,  Babylonisehe  Verträge   des  Berliner 

Museums  (Leipzig  1890). 

Für  letzte  Schrift  habe  ich  einen  Exkurs  S.  XXXII— XLIX 
geschrieben,  der  auch  separat  erschienen  ist  unter  dem  Titel: 

9.  Kohler,  Juristischer  Exkurs  zu  Peiser,  Babylonische 

Verträge  (Berlin  1890). 

Endlich  darf  ich  mir  erlauben,  auf  unsere  gemeinsamen  Arbeiten 
hinzuweisen,  von  welchen  erschienen  ist: 

10.  Kolller  und  Peiser,  Aus  dem  babylonischen  Rechts- 

leben I  (Leipzig  1890).  —  Heft  II  erscheint  demnächst. 

Ausserdem  nenne  ich  von  rechtshistorischen  Werken: 

1.  Cli^non,  Etüde    sur    l'histoire    des    alleux   en  France 

(Paris  1888). 

Es  bietet  eine  ausführliche  Schilderung  des  AUodrechts  in  Frank- 
reich und  ist  besonders  bedeutsam  durch  Darstellung  der  coutu- 
miären  Entwicklung,  welche  theils  zu  dem  Satze  „Nulle  terre  sans 
seigneur",  theils  zu  dem  Satze  „Nul  seigneur  sans  titre"  führte,  theils 
auch  zu  dem  mittleren  Zustande  der  sogen.  Coutumes  censuelles, 
in  welchen  zwar  Allode  vorkamen,  aber  nicht  präsumirt  wurden, 
sondern  bestimmt  erwiesen  werden  mussten:  es  musste  der  Titel 
der  Erwerbung  dargethan  werden.  In  der  Folge  erörtert  der  Ver- 
fasser die  Stellunor  der  Allode  zur  könio-lichen  Gev/alt  in  Frankreich, 
die  bekannte  Bestimmung  des  Code  Michau  v.  1629,  das  Arrest  v. 
1667 ,  das  Edikt  v.  1692,  sowie  die  Schicksale  des  Freieigenthums 
während  der  Revolution  und  wendet  sich  dann  zu  der  bekannten  Ent- 
scheidung des  Cassationshofes  v.  23. /6  1857,  welche  die  Anschauung 
von  dem  staatlichen  Obereigenthum  über  das  Privateigenthum  strikte 
verwarf  und  damit  die  letzten  Reste  des  Feudalgedankens  begrub. 

Die  Schrift  eröffnet  ein  interessantes  Blatt  in  der  Geschichte 
des  Eigenthums.  Kohler. 

Eine  weitere  Arbeit  ist: 

2.  Ciceaglione,    Le   chiose    di    Andrea   Bonello   da   Bar- 

letta  alle  Costituzioni  Sicule  (Mailand-Neapel  1888). 

Andrea  Bonello  von  Barletta,  Jurist  des  13.  Jahrhunderts, 
schrieb,  unter  anderem,  Glossen  zu  den  Constitutiones  Siculae  Fried- 


Literarische  Anzeigen.  311 


rieh's  II.,  welche,  zusammen  mit  den  Glossen  anderer,  den  apparatus 
vetus  dieses  Gesetzwerkes  bildeten,  aber  auch  später,  als  Ma,rino  di 
Caramanico  den  novus  apparatus  verfasste,  mitverwendet  wurden. 
Ueber  die  Eigenart  der  Glossen  unseres  Juristen  und  ihren  Charakter 
handelt  die  obige  bemerkenswerthe  Schrift.  Wichtig  ist  insbesondere 
der  Nachweis,  dass  Andrea  in  der  Glossirung  neben  dem  römischen 
Recht  auch  das  langobardische  benutzt  hat.  Kohler. 

Zu  erwähnen  ist  noch: 
Bhamm^  Hexenglaube  und  Hexenprocesse  vornehmlich 
in    den    braunschweigischen    Landen    (Wolfenbüttel 

1882), 

welche  Schrift  eine  Darstellung  des  Hexenwesens  vom  15.  bis 
zum  17.  und  18.  Jahrhundert  überhaupt,  und  insbesondere  in  Braun- 
schweig gibt.  Das  universelle  Vorkommen  des  Hexenglaubens  und 
die  Analogie  der  Hexenprobe  (Wasserprobe)  mit  dem  Ordalismus 
anderer  Völker  gibt  der  Geschichte  dieser  ethnologischen  Erscheinung 
ein  besonderes  Relief.  Kohler. 


Karl  Christoph  Burckhardt,  Zur  Geschichte  der  locatio  con- 
ductio.  OefFentliche  Habilitationsvorlesung.  (Basel.  C.  Det- 
loff's  Buchhandlung  1889.  59  SS.  8^.) 

B.  geht  davon  aus ,  dass  der  Konsensualkontrakt  der  Miethe 
klagbar  war  in  der  Mitte  des  7.  Jahrhunderts,  dagegen  noch  nicht 
zur  Zeit  der  XII  tab.  Er  lehnt  im  Anfang  die  Ansicht  Mommsen's 
ab,  nach  welcher  die  private  Miethe  sich  aus  der  staatsrechtlichen 
entwickelt  habe  und  gibt  in  der  Begründung  seiner  Auffassung 
besonders  Pernice  folgend  nur  zu,  dass  wie  überall  nun  vereinzelte 
Einflüsse  des  Staatsvermögensrechtes  auf  das  Privatrecht  stattgehabt 
hätten.  Die  private  Konsensualmiethe  läuft  nach  B.  der  staats- 
rechtlichen seit  lange  faktisch  parallel,  die  Klagbarkeit  der  ersteren 
hat  sich  schon  bald  nach  den  XII  tab.  gewohnheitsrechtlich  ent- 
wickelt eher  in  der  Gestalt  der  1.  a.  sacramento  als  der  der  1.  a. 
per  judicis  arbitrive  postulationem.  Der  Vertrag  wurde  zunächst 
streng  as  stricti  juris  obligatio  behandelt  und  ist  erst  später  bonae 
fidei  negotium  geworden  (cf.  S.  13  f.).  Zu  dieser  Auffassung  ge- 
langt   der  Verf.    weniger   nach    einer    positiven  Begründung    dieser 


312  Literarisclie  Anzeigen. 

selbst,  als  dadurch  dass  er  das  Nichtzutreffende  und  die  nur  sekun- 
däre Bedeutung  anderer  Ansichten  darzuthun  versucht.  Positiv  be- 
gründet ist  diese  seine  Auffassung  nur  durch  den  Hinweis  auf  das 
Bedürfniss  des  Verkehrs,  welcher  die  Miethe  und  die  Klasbarkeit 
derselben  frühzeitig  verlangt  habe.  Die  eminent  praktische  Be- 
deutung der  Pönalstipulation  zum  Zwecke  der  Sicherung  der  Er- 
füllung klagloser  Abreden  wird  vom  Verf.  gänzlich  übersehen. 

Matthiass. 

I)r.  A.  Schneider  5  Der  Process  des  C.  Rabirius  betreffend 
verfassungswidrige  Gewaltthat.  Festschrift.  (Zürich.  Ver- 
lag von  Friedrich  Schulthess.     50  SS.     S^.) 

Der  Verf.  vertritt  mit  guten  Gründen  hinsichtlich  der  Eede 
Cicero's  pro  Rabirio  und  ihrer  Vorgeschichte  die  folgende  Auf- 
fassung: Gegen  Rabirius  war  von  Labienus  Anklage  wegen  per- 
duellio  beim  praetor  urbanus  erhoben;  die  Sache  gelangt  an  den 
Senat,  der  auf  Cäsar's  Betreiben  beschliesst,  dass  die  Anklage  den 
duumviri  perduellionis  zu  überweisen  sei,  die  dann  der  praetor  er- 
nennt. Der  ausgeloste  duumvir  verurtheilt  den  Rabirius  zum  Tode. 
In  Folge  der  provocatio  ad  populum  wird  in  den  Centuriatkomitien 
auf  Cicero's  Betreiben  das  Urtheil  aufgehoben.  Labienus  erhebt 
nun  die  tribunicische  Anklage  wegen  perduellio  bei  den  Centuriat- 
komitien. Hier  ist  Cicero's  Rede  gehalten.  Völlig  überzeugend  ist 
die  Niebuhr'sche  Auffassung,  als  handele  es  sich  für  Cicero  um  die 
Abwehr  einer  mulctae  irrogatio,  widerlegt  und  der  Zweck  der  Rede 
entwickelt.  Wenn  es  dem  Verf.  nicht  gelungen  ist ,  jeden  Zweifel 
namentlich  hinsichtlieh  der  Vorgeschichte  der  Rede  zu  beheben,  so 
trägt  seine  umsichtige  Nachprüfung  der  Quellen  und  Literatur 
gewiss  nicht  die  Schuld.  Matthiass. 

Mr.  0.  Ch.  van  Swinderen,  Het  hedendagsche  Strafrecht  in 
Nederland  en  in  het  Buitenland.  (Groningen.  P.  Noord- 
hoff.  L  Deel  1888.  IL  Deel  1889.    466  ii.  485  SS.    8«.) 

Dieses  umfassende  und  in  den  zwei  ersten  Theilen  vorliegeirde 
Werk  verdient  seiner  eigenthümlichen  Anlage  wegen  in  hervor- 
ragendem Masse  die  Beachtung  derjenigen ,  die  an  der  Rechtsver- 
irleichunof  auf  dem  Gebiete  des  Strafrechts  Interesse  nehmen.     Der 


Literarische  Anzeigen.  313 

bekannte  Verf.  ist  zunächst  von  dem  Bedürfnisse  der  Praxis  und 
des  Universitätsunterriclites  seines  Heimathlandes  bestimmt  worden, 
das  Strafrecht  auf  Grund  des  neuen  Wetboek  van  Strafrecht  syste- 
matisch darzustellen.  Er  folgt  der  deutschen  Methode  und  behandelt 
in  diesen  beiden  Theilen  die  allgemeinen  Lehren  des  Strafrechts^ 
während  in  den  folgenden  Theilen  —  der  Verf.  hofft  sein  Werk  in 
sieben  Jahren  beenden  zu  können  —  die  Darstellung  der  einzelnen 
Delikte  folgen  soll.  Die  bei  der  Behandlung  der  einzelnen  Materien 
gegebenen  allgemeinhistorischen  Daten  wollen  uns  allerdings  oft 
zu  wenig  eingehend  erscheinen.  Dagegen  ist  die  Literatur  und 
moderne  Gesetzgebung  des  Auslandes,  also  auch  Deutschlands  in 
einer  Vollständigkeit  benützt  und  vorgeführt,  dass  das  Werk  in 
dieser  Richtung  auch  für  uns  eine  Lücke  ausfüllt. 

Mattliiass. 

Dr.  Richard  Loewy,  Die  Unmöglichkeit  der  Leistung  bei 
zweiseitigen  Schuldverhältnissen.  Eine  romanistische  Ab- 
handlung. (Berlin.  J.  J.  Heine's  Verlag  1888.  147  SS.  8^) 

In  dem  grösseren  Theile  der  aus  einer  Dissertation  herausge- 
wachsenen fleissigen  Arbeit  nimmt  der  Verf.  eingehend  zu  den  zahl- 
reichen Einzelkontroversen  der  Lehre  von  der  Gefahrvertheilung 
bei  Kauf,  Miethe ,  Innominatverträgen ,  Societät  Stellung ,  knüpft 
daran  eine  Kritik  der  aufgestellten  Theorieen  und  gibt  so  eine 
brauchbare  Uebersicht.  Die  eigne  Theorie  des  Verf.  ist  eine  histo- 
rische (S.  127 — 147),  sie  geht  der  Bechmann'schen  Auffassung 
folgend  von  der  mancipatio  aus ,  die  alle  Momente  des  Kaufge- 
schäftes (Verabredung  und  Vollzug)  real  in  sich  enthalten  habe. 
Die  Gefahr  sei  hier  naturgemäss  mit  der  Eigenthumsübertragung 
übergegangen.  Nachdem  die  Verabredung  und  der  Vollzug  sich 
trennten,  gab  man  in  der  Erage  des  Gefahrüberganges  der  Verab- 
redung den  Vorzug.  Der  Verf.  erklärt  das  so:  schon  zu  der  Zeit, 
als  die  mancipatio  Begründung  und  Vollzug  in  sich  vereinigte, 
war  für  die  Rechtsanschauung  der  Zusammenhang  von  Eigenthum 
und  Gefahr  kein  nothwendiger,  weil  die  Gefahr  mit  der  mancipatio, 
das  Eigenthum  mit  der  Baarzahlung  überging,  ferner  weil  bei  den 
Grundstückskäufen  der  Vollzug  in  der  Tradition  lag,  die  mancipatio 
also  hier  den  Charakter  des  Begründungsaktes  annahm,  an  den  sich 


314  Literarische  Anzeigen. 

der  Gefahrübergang  anschloss.  Nachdem  sich  dann  der  Konsensual- 
kauf entwickelt  hatte,  habe  positive  Norm  der  bisherigen  Entwick- 
lung folgend  mit  dem  Vertragsabschluss  den  Gefahrübergang  ver- 
knüpft. Der  Verf.  fühlt,  dass  diese  äusserliche  Anlehnung  an  die 
historische  Entwicklung  keine  genügende  Begründung  für  den  in 
Frage  stehenden  Grundsatz  abgibt.  Mit  der  von  ihm  nun  (S.  132) 
angeführten  materiellen  Motivirung  lenkt  er  ganz  in  die  von  ihm 
(S.  120  f.)  bekämpfte  Theorie  ein.  Die  Nichtanwendbarkeit  des  für 
den  Kauf  geltenden  Satzes  auf  die  Miethe  wird  aus  der  wirthschaft- 
lichen  Natur  derselben  nachzuweisen  gesucht  und  mit  eineni  Blicke 
auf  den  Entwurf  des  bürgerlichen  Gesetzbuches  geschlossen. 

Matthiass. 


Dr.  Emil  Uranitsch,  Die  Formverfügung  bei  Rechtsgeschäften. 
Eine  Studie  im  Gebiete  des  österreichischen  Privatrechts. 
Wien  1890. 

Der  Verf.  gibt  keine  Definition  des  Begriffes  der  Formverfügung. 
Er  versteht  darunter  die  Bestimmung  der  ein  Rechtsgeschäft  vor- 
nehmenden Person  oder  Personen,  kraft  deren  dies  Rechtsgeschäft 
nur  bei  Beobachtung  einer  gewissen  Form  Gültigkeit  erlangen  soll, 
deren  es  an  sich  zu  seinem  Bestände  nicht  bedarf.  Der  häufigste 
Fall  dieser  Art,  von  welchem  auch  der  Verf.  ausgeht  und  welchen 
das  österreichische  bürgerliche  Gesetzbuch  auch  allein  ausdrücklich 
erwähnt,  liegt  bei  der  Verabredung  zweier  Paciszenten  vor,  dass 
ein  mündlich  besprochener  Vertrag,  zu  dessen  Gültigkeit  die  Schrift- 
form nicht  erforderlich  ist,  gleichwohl  in  einer  Urkunde  nieder- 
gelegt werden  soll.  Der  Verf.  prüft  vornehmlich  die  im  gemeinen 
wie  im  österreichischen  Recht  bestrittene  Frage,  ob  eine  solche  Be- 
redung stets  oder  wenigstens  im  Zweifel  die  Gültigkeit  des  Vertrags 
von  der  Errichtung  der  Urkunde  abhängen  lasse ,  oder  ob  diese 
Rechtsfolge  nur  dann  einzutreten  habe,  wenn  die  Parteien  dieselbe 
nachweislich  beabsichtigten.  Er  gelangt  —  aus  unseres  Erachtens 
zutreffenden  Gründen  —  für  beide  Rechtsgebiete  zur  Entscheidung 
der  Frage  in  dem  letzterwähnten  Sinne;  er  nimmt  an,  dass  im 
Zweifel  die  Errichtung  der  Urkunde  nur  zum  Zwecke  besserer  Be- 
weisbarkeit verabredet  ist.  Demgemäss  bürdet  er,  falls  über  den 
Sinn  einer  derartigen  Klausel  Streit  besteht,  demjenigen  die  Beweis- 


Literarische  Anzeigen.  315 


o 


last  auf,  welcher  das  Vorliegen  einer  „Formverfügung" ,  also  die 
Ungültigkeit  des  Vertrags  vor  Erfüllung  der  beredeten  Form  be- 
haupten will.  —  Die  weitere  Möglichkeit,  dass  nach  Absicht  der 
Parteien  die  Einhaltung  der  bestimmten  Form  als  Bedingung  der 
Wirksamkeit,  nicht  der  Gültigkeit  des  Vertrages  gesetzt  sein  sollte, 
lässt  Uranitsch  ausser  Betracht;  jedoch  werden  auch  bei  Berück- 
sichtigung dieser  Fälle  die  von  dem  Verf.  gewonnenen  Ergebnisse 
ihre  Richtigkeit  behalten. 

Des  Weiteren  legt  der  Verf.  dar,  dass  sowohl  nach  gemeinem, 
wie  nach  österreichischem  Rechte  die  Formverfügung  gleichermassen 
durch  stillschweigende,  wie  durch  ausdrückliche  Uebereinkunft  ge- 
troffen werden  kann.  Nicht  zutreffend  dagegen  erscheinen  uns 
die  Ausführungen  des  Verfassers  auf  S.  18  unter  VII,  3;  auch 
in  den  hier  erwähnten  Fällen  erlangt  die  Formverfügung  nur 
durch  den  übereinstimmenden  Willen  beider  Paciszenten  verbind- 
liche Kraft. 

Während  für  das  französische  Recht  ähnliche  Grundsätze  im 
Wesentlichen  gelten,  wie  sie  Uranitsch  für  das  gemeine  und  öster- 
reichische Recht  aufstellt,  will  de»  Entwurf  des  deutschen  bürger- 
lichen Gesetzbuchs  (§.  91,  Absatz  2,  Satz  2)  das  entgegengesetzte 
Prinzip  zur  Geltung  bringen.  Der  Grund  hierfür  liegt,  soviel  er- 
sichtlich, darin,  dass  in  dieser  Gesetzesstelle  zusammen  mit  den 
oben  abgegrenzten  Fällen  der  eigentlichen  Formverfügung  auch  die- 
jenigen, gänzlich  davon  unterschiedenen  Fälle  geregelt  werden  sollen, 
in  welchen  rechtsgeschäftlich  für  ein  anderes  Rechtsgeschäft  (z.  B. 
beim  Abschlüsse  eines  Miethvertrags  für  die  Kündigung ,  in  einem 
Testamente  für  gewisse  Erklärungen  der  Erben)  die  Beobachtung 
einer  Form  vorgeschrieben  wird.  Hier  allerdings  ist  es  berechtigt, 
bei  Verletzung  der  Formvorschrift  Nichtigkeit  des  Rechtsgeschäfts 
eintreten  zu  lassen ;  in  den  Fällen  der  eigentlichen  Formverfügung 
dagegen  steht  zu  fürchten,  dass  die  Bestimmung  des  Entwurfs  der 
Verkehrsanschauung  widerspricht  und  deshalb  dem  Verkehre  hinder- 
lich werden  wird.  Auch  im  Hinblick  auf  diesen  Gesichtspunkt  er- 
scheint die  Schrift  Uranitsch's  lesenswerth. 

Heidelberg.  Dr.  R.  Fürst. 

Zrödlowski,    Codificationsfragen   und  Kritik    des   Ent- 
wurfes   eines   bürgerlichen  Gesetzbuches   für  das 


31(3  Literarische  Anzeigen. 

Deutsche  Reich   als   Beilage  Entwurf  einer  Civil- 
processordnung.    Prag,  Verlag  von  H.  Dominicus.  1888. 

Die  Schrift  des  Verf.  zerfällt  in  zwei  Theile,  die  auch  ihrer 
zeitlichen  Entstehung  nach  verschieden  sind.  Der  erste  Theil,  „Codi- 
ficationsfragen"  ist  ein  Fragment  aus  des  Verf.  „Römischem  Privat- 
rechte" und  enthält  zwölf  allgemeine  Normen,  die  nach  seiner  An- 
sicht massgehend  für  jedes  Gesetzgebungswerk  sein  müssen.  Es  ist 
vor  dem  Bekanntwerden  des  Entwurfs  des  deutschen  bürgerlichen 
Gesetzbuches  geschrieben,  jedoch  im  Hinblicke  auf  dessen  Erscheinen. 
Seine  allgemeinen  Sätze  haben  leider  in  dem  Entwürfe  selbst  in 
seiner  ersten  Fassung  zu  wenig  Beachtung  gefunden.  Es  wird  die 
Ueber arbeitung  desselben  vielfach  die  von  dem  Verf.  aufgestellten 
Gesichtspunkte,  insbesondere  was  die  formelle  und  redaktionelle 
Durcharbeitung,  die  Auswahl  des  aufzunehmenden  Stoffes  betrifft, 
vornehmlich  zu  beachten  haben. 

Die  in  dem  zweiten  Theile  enthaltene  „Kritik  des  Entwurfs 
für  das  bürgerliche  Gesetzbuch  des  deutschen  Reichs"  wendet  diese 
Grundsätze  auf  das  nunmehr  erschienene  Gesetzgebungswerk  an. 
Es  kann  den  von  dem  Verf.  vorgetragenen  Ausstellungen  im  Wesent- 
lichen zugestimmt  werden.  Mit  Recht  rügt  der  Verf.  die  ja  nicht 
zu  leugnenden  formellen  und  redaktionellen  Mängel  des  Entwurfs, 
der  in  seiner  ersten  Gestalt  häufig  mehr  ein  Lehrbuch  als  ein  Ge- 
setzbuch darstellt.  Der  Verf.  bespricht  dann  mehrere  Abschnitte 
des  Entwurfs  im  Einzelnen,  nämlich  Rechtsnormen,  Beginn  und 
Ende  der  Rechtsfähigkeit,  Verwandtschaft,  Juristische  Personen, 
Rechtsgeschäfte,  Anspruchsverjährung,  Besitz  und  Ersitzung.  Seinen 
Ausstellungen  scheint  bei  der  jetzt  stattfindenden  Ueberarbeitung 
vielfach  Rechnung  getragen  zu  werden.  So  sind  die  von  ihm  bean- 
standeten Sätze  über  „Rechtsnormen",  ebenso  mehrere  Sätze  aus  dem 
Abschnitte  „Beginn  und  Ende  der  Rechtsfähigkeit"  bei  der  zweiten 
Lesung  gestrichen  worden.  Des  Näheren  auf  die  vielfach  zutreffenden 
Einzelausführungen  einzugehen  ,  würde  den  Rahmen  dieser  Bespre- 
chung überschreiten. 

Dem  ersten  Abschnitte  ist  als  Beilage  ein  Entwurf  einer  Civil- 
processordnung  beigegeben,  d.  h.  27  Sätze,  die  nach  Ansicht  des 
Verf.  jede  gute  Civilprocessordnung  enthalten  müsste.  Wir  glauben 
jedoch ,    dass    diese  Grundsätze   nur   für   einfachere  Verhältnisse  zu 


Literarische  Anzeigen.  317 

verwerthen  sind ,  dass  der  hochentwickelte  Verkehr  unserer  Zeit 
und  unseres  Landes  andere  Verfahrensformen  bedingt ,  und  dass 
deshalb  die  Vorschläge  des  Verf.  die  Fortdauer  der  Gültigkeit  der 
im  Ganzen  bewährten  Reichscivilprocessordnung  nicht  in  Frage  ziehen 
dürften. 

Heidelberg.  Dr.  R.  Fürst. 

Dr.  Ludwig  Kuhlenbeck,  Der  Check.  Seine  wirthschaftliche 
und  juristische  Natur  ^  zugleich  ein  Beitrag  zur  Lehre 
vom  Gelde,  von  Wechsel  und  von  der  Girobank.  Leipzig, 
C.  L.  Hirschfeld.   1890. 

Das  Institut  des  Ohecks  hat  in  neuerer  Zeit  in  allen  civilisirten 
Ländern  die  Bedeutung  eines  wichtigen ,  wenn  auch  nicht  überall 
noch  in  entsprechendem  Umfang  benutzten  Verkehrsmittels  errungen; 
die  rechtliche  Behandlung  desselben,  welche  in  zahlreichen  Ländern 
seitens  der  Gesetzgebung  geregelt,  in  andern  („wie  bei  uns")  noch 
der  Praxis  überlassen  ist,  hat  sich  selbstredend  nicht  überall  gleich- 
massig  entwickelt,  und  es  bietet  daher  die  nothwendige  Berück- 
sichtigung dieser  verschiedenartigen  Gestaltung  gerade  auch  für 
die  vergleichende  Rechtswissenschaft  besonderes  Interesse. 

Die  vorliegende ,  dem  Mitredakteur  dieser  Zeitschrift ,  Herrn 
Professor  Dr.  Cohn  gewidmete  fleissige  und  interessante  Studie  hat 
fast  die  gesammte  ausländische  Gesetzgebung ,  Theorie  und  Praxis 
eingehend  berücksichtigt. 

Verf.  erörtert,  von  der  gesunden  Anschauung  ausgehend,  dass 
alle  Jurisprudenz  socialen  Zwecken  zu  dienen  habe ,  und  dass  sich 
daher  die  juristische  Natur  eines  Instituts  in  erster  Linie  aus  dessen 
wirthschaftlichen  Zwecken  erkläre,  im  ersten  Abschnitte  zunächst 
die  wirthschaftliche  Bedeutung  des  von  ihm  behandelten  Rechts- 
institutes. Und  zwar  beginnt  derselbe  mit  einer  Darlegung  der 
wirthschaftlichen  Natur  des  Geldes  (Kapitel  1),  behandelt  sodann 
in  Kapitel  2  und  3  die  sogen.  Geldsurrogate,  d.  h.  Papiergeld  und 
Wechsel,  welche  beide  auf  Grund  vorhandener  Mittel  dem  Zweck 
des  Credits  dienen.  Im  Gegensatz  hierzu  steht  der  Check,  dessen 
wirthschaftliche  Funktion  nicht  darin  besteht,  Credit  zu  schaffen, 
und  mithin  das  Geld  zu  ersetzen ,  sondern  den  Geldumlauf  zu  be- 
fördern und   zu  beschleunigen  und  hierdurch  nützlicher  zu  machen 


318  Literarische  Anzeigen. 

(Kapitel  5).  Eine  ausführliche  historische  Einleitung  und  eine  inter- 
essante Darstellung  des  englischen  Checkwesens ,  sowie  der  Ein- 
richtungen des  Londoner  Clearing  House  dienen  dazu  diese  Ansicht 
zu  rechtfertigen. 

Der  zweite  Haupttheil,  welcher  in  zehn  Kapiteln  die  juri- 
stische Natur  des  Checks  behandelt,  wird  eingeleitet  durch  ein 
Kapitel  über  die  Methode  der  Untersuchung,  in  welchem  nochmals 
auf  den  Zweck  eines  Rechtsinstituts  als  das  für  seine  Ergründung 
massgebende  Moment  hingewiesen  wird.  Das  zweite  Kapitel  be- 
handelt unter  dem  Titel:  Die  juristischen  Voraussetzungen 
(Check vertrag)  zunächst  die  Unterlagen,  auf  die  sich  ein  Check- 
vertrag gründen  kann ,  nämlich  das  Bankdepot  in  Baar  oder  son- 
stigen Werthen  einer-  und  die  Crediteröifnung  andererseits;  sodann 
wird  die  Natur  des  Checkvertrags  selbst  erörtert,  welcher  dem  Zwecke 
der  Zahlunsf  für  einen  andern  dient  und  daher  von  dem  Verf. 
definirt  wird,  „als  der  Vertrag,  inhaltlich  dessen  sich  der  eine  Con- 
trahent  verpflichtet,  die  in  Checkanweisungen  ertheilten  Zahlungs- 
aufträge des  andern  bei  Sicht  zu  erfüllen".  Die  weiteren  Abschnitte 
enthalten  Erörterungen  über  die  Bedeutung  des  von  dem  einen  Contra- 
henten  (Bankier)  dem  andern  ausgehändigten  Contogegenbuchs,  so- 
wie über  die  Natur  des  Checkvertrages  als  Bankgeschäft  und  Be- 
gründer eines  Contocorrentverhältnisses.  Das  dritte  Kapitel  (Der 
Check  als  Anweisung)  stellt  zunächst  als  die  Erfordernisse  des 
Checks  auf: 

1.  den  Zahlungsauftrag; 

2.  die  Ueberschrift  des  Ausstellers ; 

3.  die  Bezeichnung  des  Bezogenen : 

4.  die  Angabe  der  zu  zahlenden  Geldsumme; 

sodann  werden  das  durch  den  Check  begründete  Verhältniss  des 
Ausstellers  zum  Bezogenen,  welches  sich  als  Zahlungsmandat,  und 
das  des  Remittenten  zum  Bezogenen,  welches  sich  als  Incassomandat 
charakterisirt ,  erörtert.  Das  vierte  Kapitel  ist  der  ausführlichen 
Darstellung  der  aus  diesem  letzterwähnten  Verhältniss  entspringenden 
Rechtsfolgen,  insbesondere  der  Präsentationspflicht  und  des  Regress- 
rechtes des  Checknehmers  bezw.  -Inhabers  gewidmet  und  kommt  zu 
dem  Schlüsse,  dass  erstere  bei  uns  bereits  auf  Grund  der  bestehen- 
den Gesetzgebungen  anzunehmen  sei ,  während  mit  Rücksicht  auf 
dieselben  die  Frage  des  Regressrechtes  gegen  die  Indossanten ,   für 


Literarische  Anzeigen.  319 

welche  die  Analogie  des  Wechsels  nicht  gelte,  aus  der  Urkunde  zu 
verneinen  und  nur  aus  der  zu  Grunde  liegenden  causa  zuzulassen 
sei ;  doch  wird  zugegeben ,  dass  diese  Frage  discutabel  und  eine 
derjenigen  sei,  welche  die  gesetzgeberische  Regelung  am  dringendsten 
erheische.  Das  fünfte  Kapitel  behandelt  die  aus  dem  Verhältniss 
des  Checkinhabers  zum  Bezogenen  erfliessenden  Rechtsfolgen  und 
lehnt  für  den  (häufigsten)  Fall  des  nicht  acceptirten  Checks  dies  Klage- 
recht auf  dem  Boden  des  gemeinen  Rechtes,  insbesondere  unter  aus- 
dehnender Zugrundelegung  der  Sätze  über  die  Verträge  zu  Gunsten 
Dritter,  ab. 

Für  das  französische  Recht  hingegen  dürfte  sich  diese  Con- 
struction  schon  auf  Grund  des  L.  R.  S.  1121  begründet  erweisen, 
ohne  dass  es  der  vom  Verf.  verworfenen  Construction  des  Eigen- 
thumsübergangs  am  Depot  durch  Begebung  des  Checks  bedürfte ; 
auch  diese  letztere  verdiente  indessen  wohl  nicht  die  schroffe  Ab- 
fertigung, die  ihr  der  Verf.  (S.  107)  zu  Theil  werden  lässt,  zumal 
sie  gerade  im  gemeinen  Recht  ihre  Analogie  im  Eigenthumsüber- 
gang  durch  Begebung  des  Connossements  findet  ^). 

Das  sechste  Kapitel  behandelt  die  Fälle  der  ungültigen  Checks, 
nämlich  der  Ausstellung  eines  Checks  ohne  Checkvertrag,  in  welchem 
Falle  der  Verf.  den  Aussteller,  der  ja  seiner  Ansicht  nach  nicht 
aus  der  Urkunde  in  Anspruch  genommen  werden  kann ,  mit  der 
a.  mandati  contraria  haften  lässt,  und  den  Fall  der  Fälschung  oder 
Verfälschung  eines  Checks,  in  welchem  der  Verf.  den  Schaden  der 
Bank  aufbürdet,  falls  nicht  den  Aussteller  bei  der  Ausstellung  selbst 
ein  Mangel  an  Sorgfalt  trifft. 

Das  siebente  Kapitel  handelt  vom  sogen.  Quittungscheck,  bezüg- 
lich dessen  die  gleichen  Grundsätze  zu  gelten  haben  wie  beim  An- 
weisungscheck; das  achte  Kapitel  gibt  die  juristische  Construction  der 
mit  dem  Checkverkehr  connexen  Institute  der  Scontration,  der  Giro- 
zahlung und  des  sogen,  rothen  Checks,  welche  als  Delegation  auf- 
zufassen seien;  das  neunte  Kapitel  erörtert  die  mit  dem  eigentlichen 
Thema  nicht  gerade  unmittelbar  zusammenhängende  Frage  des 
Wechsels  im  internationalen  Zahlungsverkehr  oder  des  sogen.  Bankier- 


^)  Doch  bleibt  immer  zu  erwägen,  dass  das  Connossement  über  eine 
species,  der  Check  über  Geld  lautet.  Vgl.  indess  auch  jetzt  die  Ver- 
handlungen des  21.  Juristentages  II  S.  255.  256.  D.  R. 


qo0  Literarische  Anzeigen. 

rembours  hauptsächlich  in  Anlehnung  an  einen  dem  Verf.  praktisch 
vorgekommenen  Fall;  das  zehnte  Kapitel  endlich  behandelt  die  viel 
erörterte  Frage,  ob  ein  Checkgesetz  in  Deutschland  wünschenswerte 
sei  oder  nicht,  und  es  spricht  sich  der  Verf.,  der,  auf  dem  Boden  des 
gemeinen  Hechtes  erwachsen,  im  Allgemeinen  kein  Freund  der  Codi- 
fication  ist,  doch  dahin  aus,    dass  einzelne  Punkte  eine  gesetzliche 
Regelung  (allerdings  wieder  unter  weitgehender  Zulassung  des  richter- 
lichen Ermessens)  erfahren  sollten;  er  fordert  aber  zugleich  als  Cor- 
relat  die  Aufhebung  (!)  des  Wechselrechts,  da  durch  dasselbe  nicht 
der  Geldverkehr   begünstigt,    sondern    eine   ungesunde  Creditwirth- 
schaft    erzeugt   werde.      Der   Anhang   bringt    werthvolles   positives 
Material:  insbesondere   die  Bestimmungen  für  den  Giroverkehr  der 
Ueichsbank,  die  Errichtung  der  Berliner  Abrechnungsstelle,  der  aus- 
ländischen Checkgesetze  und   die  deutschen  Entwürfe   zu  solchen  0. 
Mannheim,  1891.  Dr.  F.  Fürst. 

1)  Ueber  den  Check  sind  inzwischen  noch  erschienen:  v.  Canstein, 
Check,  Wechsel  und  deren  Deckung,  Berlin  1890,  der  Artikel  von 
G.  Cohn  im  Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften  und  besonders 
R.  Koch,  Vorträge  und  Aufsätze,  1892,  S.  140—251  (mit  vielfachen 
Zusätzen  und  Ergänzungen  seiner  früheren  drei  Abhandlungen  über  die 
Checks.)  Zur  Geschichte  des  Checks  vgl.  jetzt  die  wichtigen  Aufschlüsse 
Goldschmidts  in  seiner  Universalgeschichte  des  Handelsrechts  1891, 
S.  318  ff.  ^-  ^- 


VIIL 

Der  Zivilprozess  und  die  Gerichtsverfassung 
Schwedens,  nebst  Bemerkungen  für  Finnland. 

Von 
Dr.  W.  Uppström,  Stockholm. 

Die  für  die  schwedische^)  Gerichts-Organisation,  sowie 
den  bürgerlichen  und  Strafprozess  geltenden  Vorschriften  sind 
in  dem  am  23.  Januar  1736  publizirten  „Gesetzbuch^)  des 
schwedischen  Reichs  (Sveriges  Rikes  Lag),  Abschnitt  vom 
Prozess"  (Rättegangsbalk) ,  nebst  mehreren  ergänzenden  Ge- 
setzen und  Verordnungen  enthalten. 


^)  Was  hier  über  die  schwedischen  Rechtsverhältnisse  gesagt  wird, 
gilt  mit  wenigen  Ausnahmen  auch  für  Finnland,  welches  seit  seiner  Zu- 
sammengehörigkeit mit  Schweden  eine  mit  der  schwedischen  hauptsäch- 
lich gleiche  Gerichtsorganisation  und  Prozessordnung  behalten  hat.  Die 
wesentlichen  Abweichungen  für  Finnland  sind  nach  Mittheilungen  von 
den  Herren  Prof.  Freiherr  v.  Wrede,  Staatsrath  W.  de  la  Chapelle  und 
Häradshöfding  W.  Gummerus  besonders  bemerkt. 

^)  Siehe  Sveriges  Rikes  Lag  ed.  W.  Uppström  VIIL  Auflage, 
Stockholm  1892,  s.  284 — 390.  Notizen  über  den  schwedischen  Rechts- 
codex und  schwed.  Gesetzsammlungen  siehe  Laband  und  Stoerk, 
Archiv  f.  öffentl.  Recht  1889  s.  213 — 215.  Ausser  der  dort  erwähnten 
amtlichen  Uebersetzung  (G.  Schildener)  von  1807  sind  zu  bemerken 
zwei  unvollständige,  eine  Deutsche  ohne  Titel  (nach  Klemming,  Aus 
den  Sammlungen  eines  Notizenmachers)  von  J.  Wilde,  Stockholm  1755, 
und  eine  Französische  in  St.  Joseph's  Concordance. 

Zeitschrift  für  vergleichende  Rechtswissenschaft.  X.  Band.  21 


ooo  Uppström. 

A.   GericMsverfassung. 

I.   Gerichtsbehörden. 

1.  Die  ordentlichen  Gerichte  erster  Instanz  sind  in 

den  Städten  die  Rathhaus-Gerichte^)  (Radstufvurätter),  auf 

dem    Lande    die    Hundertschafts-Gerichte    (Häradsrätter, 

Landtdomstolar)^). 

Das  Rathhaiis-Gericht^)  (als  städtische  Verwaltungs- 
behörde: Magistrat)  besteht  in  der  Regel  aus  einem  rechts- 
gelehrten Vorsitzenden  (der  Bürgermeister)  und  2—3  meistens 
rechtsgelehrten  Beisitzern  (Radmän,  Rathmannen,  Rathsherren). 
In  einzigen  kleinen  Städten  sind  die  Beisitzer,  oder  einzelne 
derselben,  Laien,  d.  h.  Bürger,  die  als  ständige  salarirte 
Richter 6),  also  Beamten,  angestellt  werden  und  als  solche 
gleiches  Stimmrecht  wie  die  gelehrten  Richter  haben. 

In  den  grösseren  Städten  sind  die  Rathhausgerichte  in 
mehrere  Kammern,    die   in    Besetzung   von  3-4  Mitgliedern 

erkennen,  vertheilt. 

In  Dispachesachen,  sowie  bei  Aufnahme  von  Seeverklarungen 

werden  in  Schweden  noch  2—3,  von  den  Stadtverordneten  oder 
vom  Gericht  gewählte,  sachverständige  Laien  zugezogen. 

Der    Gerichtssprengel     des    Rathhaus  -  Gerichts    ist    das 

^^^^  von  den  imbedeutendsten  Städten  in  Schweden  sind  dem 
nächsten  Hundertschafts-  oder  Häradsgerichte  zugetheilt. 

^)  In  der  deutschen  Uebersetzung  von  1807  „Amtsgerichte"  genannt. 

Landgericht"  heisst  in  derselben  Uebersetzung  die  damalige,  im  J.  1849 

eingegangene  zweite  Instanz  auf  dem  Lande,  schwedisch  Lagm  ansratt. 

53  Rgs-B  C=Rättegängs-Balk)Kap.6.  DasRathhausgericht  —  iruher 
der  städtische  Rath  -  war  bis  1849  städtisches  Obergericht.  Das  alte 
Untergericht,  Kämnersgericht,  ist  eingegangen.  ,^  ,      ,. 

n  Die  städtischen  Richter  werden  von  den  Städten  besoldet;  die 
Etats  vom  König  nach  dem  Vorschlag  der  betreffenden  Stadt  festgestellt. 
Die  Bürgermeister,  in  Stockholm  auch  die  Rathsherren,  werden  vom 
König  unter  drei  von  den  Wahlberechtigten  der  Stadt  präsentirten 
Candidaten  ernannt.  Die  Rathsherren  werden  sonst  von  den  Städten  ge- 
wählt. Die  ordnungsmässig  stattgefundene  Wahl  ist  von  der  Provinzinl- 
regierung  zu  bestätigen. 


Der  Zivilprozess  und  die  Gerichtsverfassung  Schwedens.        323 

städtische  Gebiet^  d.  h.  die  Stadt  nebst  den  dazu  gehörigen, 
innerhalb  des  Weichbildes  liegenden  Grundstücken,  Aeckern, 
Waldungen ,  Wiesen  u.  s.  w.  Die  Sitzungen  der  Rathhaus- 
gerichte  werden  ein  oder  mehrere  Male  wöchentlich  gehalten. 

Die  Untergerichte  auf  dem  Lande  ^)  (die  Hundert- 
schafts- oder  Härads- Gerichte)  bestehen  aus  einem  rechts- 
gelehrten Richter,  als  Vorsitzenden,  schwed.  Häradshöfding 
(Hundertschafts -Häuptling)  auch  Landtdomare  (etwa  Land- 
richter), oder  Domhafvande  (Gerichtsherr)  genannt,  nebst  einem 
Ausschusse  (Nämnd)  von  12  für  bestimmte  Zeit  gewählten  (er- 
nannten) Mitgliedern  der  Gemeinde  des  Bezirks,  deren  wenigstens 
7  (in  Finnland  5)  an  jeder  Sache  sich  betheiligen  müssen. 

Die  Ernannten  der  Hundertschaftsgerichte  erkennen,  wie 
die  Beisitzer  der  oben  erwähnten  Stadtgerichte  und  die 
jetzigen  deutschen  Schöffen,  sowohl  über  die  That-  als  die 
Rechtsfragen,  unterscheiden  sich  aber  von  den  letzterwähnten 
dadurch,  dass  sie  nur  ein  collectives,  aber  kein  individuelles  Stimm- 
recht haben.  Ihre  Meinung  wird  jedoch  unter  der  Bedingung, 
dass  sie  alle  einig  sind,  gegen  die  des  Vorsitzenden  geltend,  — 
ein  nur  ganz  ausnahmsweise  vorkommender  FalP).  Sonst  ist 
das  Votum  des  Vorsitzenden  entscheidend.  Vor  der  Beschluss- 
fassung hat  der  Richter  die  Ergebnisse  der  Verhandlungen  in  ge- 
drängter Darstellung  zusammenzufassen  und  die  Laien  über  die 
in  Betracht  kommenden  rechtlichen  Gesichtspunkte  zu  belehren. 

Der  Gerichtssprengel  des  Hundertschafts-Gerichts  besteht 
aus  einem  oder  mehreren  Hundertschaften  (Hundari,  Härad, 
Tings-lag)  bezw.  einem  Theile  einer  grösseren :  (Mittelgrösse, 
13  000  Einwohner).  Gewöhnlich  ist  der  Richter  (Häradshöfding) 
Gerichtsherr  in  2  oder  mehreren  Gerichtssprengeln^),    in   den 


^)  Rgs.-B.  Kap.  7;  Verordnung  vom  17.  Mai  1872.  Für  das  ge- 
schichtliche siehe  Uppström,  Svenska  Processens  historia,  Stockh.  1884. 

^)  Der  Einfluss  der  Ernannten  ist  kein  erlieblicher.  Ihr  selbständiges 
Vorgehen  hat  für  sie  gewöhnlich  nicht  den  glücklichsten  Erfolg  gehabt. 

^)  Die  gesammten  Gerichtssprengel  eines  Landrichters  bilden  einen 
Kreis  (Domsaga),  derer  es  in  Schweden  117  gibt. 


324  Uppström. 

er  (bezw.  ein  von  dem  vorgesetzten  Hot'gerieht  jedesmal  eon- 
stituirter  liilf'srieliter)  in  bestimmter  Ordnung  Gerichtssitzungen 
(Hundertscliaftsversammlungen,  Ting),  die  längere  oder  kürzere 
Zeit  dauern,  zu  halten  hat.  Ordentliche  Gerichtssitzungen  (lag- 
tima  ting)  sollten  nach  dem  Gesetzbuche  in  jedem  Gerichts- 
sprengel dreimal  jährlich  innerhalb  bestimmter  Zeitabschnitte 
(im  Winter,  Sommer  und  Herbst)  gehalten  werden.  An  man- 
chen Orten  (so  in  Finnland)  wurden  sie  später  auf  zwei  be- 
schränkt. In  Schweden  sind  jetzt  die  Ting  an  vielen  Orten 
in  mehrere  Perioden  (allgemeine  Zusammenkünfte)  getheilt. 
In  Folge  dessen  werden  an  solchen  Orten  ordentliche  Gerichts- 
sitzungen 5  bis  lOmal  jährlich  in  jedem  Gerichtssprengel  ge- 
halten. Unter  gewissen  Bedingungen  können  auch  ausserordent- 
liche Sitzungen  (urtima  ting)  stattfinden  ^^),  Bei  jeder  ordent- 
lichen Hundertschaftsversammlung  tagt  das  Gericht  so  lange  (so 
viele  Tage,  Wochen,  in  Finnland  sogar  Monate),  bis  alle  aus- 
gesetzte und  neue,  streitige  und  nichtstreitige  Sachen  behandelt 
sind.  Die  Erkenntnisse  werden  entweder  sofort  oder  (einige 
Wochen  später)  bei  einer  besonderen,  bezw.  der  nächsten 
ordentlichen  Sitzung  (Zusammenkunft)  verkündet  (in  Finnland 
nach  und  nach,  oder  während  der  letzten  Versammlungstage). 
Die  Hundertschafts-Gerichte  handhaben  noch  einige  ökonomische 
Angelegenheiten  des  Bezirks. 

2.  Die  Gerichte  zweiter  Instanz  ^^)  sind  die  liof- 
gerichte  (in  Schweden  Svea  Ilofgericht  in  Stockholm, 
Göta  Hof-G.  in  Jönköpiug,  und  das  Hofgericht  über  Skäne 
und  Blekinge  in  Christianstad),  —  alle  in  mehrere  Kammern 
vertheilt,  die  in  Besetzung  von  5  Mitgliedern  (Hofgerichts- 
räthen  und  Assessoren),  oder  4  wenn  wenigstens  3  einver- 
standen sind,  entscheiden. 

Die  Hofgerichte  erkennen  als  Berufungs-  und  Beschwerde- 
gerichte.   In  Schweden  sind  sie  ausserdem  in  gewissen  Sachen 

^°)  Ueber  Verhaftete   wird  auch   in  besonderen  Sitzungen  (oft  im 
Gerichtssaal  des  Gefängnisses)  erkannt. 
^')  Rgs.-B.  Kap.  8. 


Der  Zivilprozess  und  die  Gerichtsverfassung  Schwedens.       325 

fora  privilegiata  für  in-  und  ausländische  Adelige.  Auch  in 
einigen  anderen  privilegirten  Sachen  entscheiden  sie  in  erster 
Instanz,  und  zwar  Svea  Ilofgericht  über  Klagen  gegen  die 
Reichsbank  und  die  Reichsschulden -Verwaltung. 

Finnland  hat  3  Hofgerichte  (Abo,  Wiborg  und  Wasa), 
deren  privilegirte  Zuständigkeit  aufgehört  hat. 

3.  In  dritter  Instanz  erkennt  in  Schweden  der  oberste 
Gerichtshof  des  Königs  ^^)  (in  Stockholm),  bestehend  aus 
16  sog.  Justizräthen,  die  in  2  Abtheilungen,  jede  in  Be- 
setzung von  7  (bezw.  6,  5,  höchstens  8)  Mitgliedern,  in  gering- 
fügigen Sachen  sogar  4  wenn  alle  einverstanden  sind,  ur- 
theilen.  Der  König  hat  in  dem  obersten  Gerichtshofe  zwei 
Stimmen,  wenn  Er  persönlich  den  Vorträgen  und  der  Beschluss- 
fassung beizuwohnen  geruht.  In  der  Regel  wird  von  diesem 
Recht  kein  Gebrauch  gemacht  ^^).  Will  eine  Abtheilung  in 
einer  Rechtsfrage  von  den  früheren  Entscheidungen  des  Ge- 
richtshofes abweichen,  wird  die  Sache  in  der  Regel  vor  das 
Plenum  der  vereinigten  Abtheilungen  verwiesen  und  die  Ent- 
scheidung in  ein  besonderes  Denkbuch  eingetragen.  Neben 
dem  obersten  Gerichtshofe  besteht  in  Schweden  ein  besonderes 
Collegium,  die  sog.  Untere  Justiz-Revision,  von  11 — 14  aus 
dem  Richterstand  genommenen  Berichterstattern  (Revisions- 
sekretären), welche  die  Sachen  vorbereiten  und  dem  Gerichts- 
hofe vortragen. 

In  Finnland  fungirt  als  dritte  Instanz  das  Justiz-Depar- 
tement des  Kaiserl.   Senats  für  Finnland. 

4.  Besondere  Gerichte  sind  a)  die  Grundstücks- 
Auseinandersetzungs-Gerichte  (Egodelnings-,  Egoskil- 
nads-rätter) ,  in  der  Regel  von  dem  Landrichter  und  3  (in 
Finnland     2)     besonders     erwählten     sachverständigen    Laien- 


^^)  Regicrungsform  §§  17 — 26  (siehe  Sveriges  Grnndlagar,  ed. 
W.  Uppström,  II.  Aufl.    Stockholm  1892);  Rgs.-B.  Kap.  30. 

^^)  Seit  1823  nur  einmal,  als  der  jetzige  König,  S.  M.  Oskar  II., 
bei  der  hundertjährigen  Jubiläumsfeier  des  obersten  Gerichtshofes  den 
15.  Mai  1889  an  der  Behandlung  und  Entscheidung  einer  Sache  theilnahm. 


320  Uppström. 

Beiäitzern  zusammengesetzt^  b)  die  Militärgerichte,  c)  das 
Kammergericht  (Rechnungshof),  d)  die  Consistoria  eccle- 
siastica,  e)  die  Grenz-Zoll-Gerichte,  f)  die  Polizei- 
gerichte (in  Stockholm  und  Göteborg,  aus  einem  Einzel- 
richter bestehend),  und  g)  die  in  einigen  Städten  eingerichteten 
P  0 1  i  z  e  i  k  a  m  m  e  r  n  ^^). 

5.  Consulargerichtsbarkeit.  Die  bürgerliche  Gerichts- 
barkeit der  schwedisch-norwegischen  Consularbeamten  im  Aus- 
lande ist  eine  beschränkte.  Abgesehen  von  vorläufigen  Ver- 
fügungen in  Streitigkeiten  zwischen  Schiffern  und  Schiff'sleuten 
auf  schwedischen  und  norwegischen  Schiff'en  (sowie  Vorunter- 
suchungen in  Criminalfällen),  ist  hier  zu  erwähnen,  dass 
nach  dem  Tractate  mit  China  vom  20.  März  1847  Rechts- 
streitigkeiten zwischen  einem  Schweden  oder  Norweger  und 
einem  Unterthan  eines  dritten  Staates,  ohne  Einmischung  der 
chinesischen  Behörden,  gemäss  der  mit  dem  betreff*enden 
Staate  bestehenden  Tractate  behandelt  werden.  Nach  einer 
mit  der  internationalen  Congo-Association  abgeschlossenen  Con- 
vention vom  10.  Februar  1885  sind  die  im  Gebiete  des  Congo- 
staates  autorisirten  schwedisch -norwegischen  Consuln,  bis  die 
dortige  Gerichtsorganisation  geordnet  worden  ist,  berechtigt, 
Consulargerichte  zu  organisiren  und  die  Gerichtsbarkeit  be- 
treff'end  Person  und  Eigenthum  schwedischer  und  norwegischer 
Unterthanen  auszuüben.  In  der  Türkei  gelten  die  gewöhnlichen 
Bestimmungen  derCapitulationen  (TractatlO.  Jan.1737  Art. IV). 

6.  Das  Richteramt.  Mit  den  schon  (A.  I:  1,  not.  G, 
A.  I:  4)  erwähnten  Ausnahmen  werden  die  schwedischen 
Richter  vom  König  ernannt.  Betreffend  die  Landrichter  sowie 
die  Assessoren  der  Hofgerichte  steht  dem  betr.  Hofgerichte 
das  Präsentationsrecht  zu.  Die  jüngsten  (2 — 8)  Assessoren 
der  Hofgerichte  sind  zu  einem  anderen  Hofgerichte  versetzbar. 
Sonst   können    die   Richter    blos    kraft    richterlicher    Entschei- 


^0  Uppström,  Domstolarnas  inrättning,  Kap. 4.    Om  jurisdiktioneil 
polismal,  Stockholm  1884- 


Der  Zivilprozess  und  die  Gerichtsverfassung  Schwedens.        327 

düng  dauernd  oder  zeitweise  ihres  Amtes  enthoben  werden. 
Bei  erreichten  70  Jahren  sind  in  d.  R.  die  schwedischen  Richter 
verpflichtet  (bei  65   berechtigt)  mit  Ruhegehalt  abzugehen ^^). 

Die  Richter  sind  unabhängig,  nur  dem  Gesetze  unter- 
worfen. Dieser  Grundsatz  erleidet  in  Schweden  in  soweit 
eine  Ausnahme,  als  der  Reichstag  alle  drei  Jahre  eine  beson- 
dere Deputation  erwählt,  die  nach  einer  complicirten  Ab- 
stimmung beschliesst,  ob  und  welche  (höchstens  3)  von  den 
Mitgliedern  des  obersten  Gerichtshofes  ohne  beweisliche  Ver- 
sehen, als  des  Vertrauens  des  Reichstags  unwürdig,  der  Aus- 
übung der  höchsten  Gerichtsbarkeit  zu  entheben  seien.  Auf 
Antrag  des  Reichstages  werden  die  von  der  Abstimmung  be- 
troffenen vom  König  gegen  Gewährung  eines  Ruhegehaltes  in 
den  Ruhestand  versetzt.  Bisher  ist  keiner  der  obersten  Richter 
durch  diese  Censur  betroffen. 

Die  Fähigkeit  zum  Richteramt  wird,  mit  oben  genannten 
Ausnahmen,  durch  die  Ablegung  der  juristischen  Staatsprüfung 
bei  der  Universität,  oder  eines  juristischen  Fakultätsexamens 
erlangt.  Nur  betreffend  die  Mitglieder  des  obersten  Gerichts- 
hofes wird  ausserdem  ausdrücklich  praktische  Erfahrung 
gefordert.  Thatsächlich  muss  doch  jeder  Aspirant  auf  das 
Richteramt  sich  eines  mehrjährigen  Vorbereitungsdienstes  als 
Hilfsarbeiter  und  Hilfsrichter  u.  s.  w.  unterziehen. 

II.  Zuständigkeit  der  Gerichte  ^^). 

1.  Sachliche  Zuständigkeit.  Sämmtliche  Instanzen 
enthalten  nur  eine  Stufe  von  Gerichten.  Die  sachliche  Zu- 
ständigkeit der  einzelnen  Gerichte  in  jeder  Instanz  ist,  von 
den  oben  (A.  I:  2)  erwähnten  Ausnahmen  abgesehen,  in  der 
Regel  eine  gleiche.  Doch  sind  in  Schweden  die  Rathhaus- 
gerichte  in  Wechsel-  und  Seerechtssachen  ausschliesslich  zu- 
ständig, in  Dispachesachen  nur  die  Rathhausgerichte  in  den 
Städten,  wo  Dispacheure  angestellt  sind.   In  Streitigkeiten  be- 

^^)  Ausnahme  in  einigen  Städten. 
1«)  Rgs.-B.  Kap.  10. 


328  Uppström. 

treffend  fremde  Waarenmarken,  sowie  in  Patentstreitigkeiten, 
die  sich  nicht  auf  Verfolgung  unerlaubter  Nachahmungen  be- 
ziehen, ist  in  Schweden  das  Rathhausgericht  in  Stockholm 
das  zuständige  Gericht. 

2.  Oertliche  Zuständigkeit,  in  bürgerlichen  Rechts- 
streitigkeiten.    Gerichtsstände. 

In  Klagen  wegen  Forderungen^')  und  anderer  persön- 
licher Ansprüche,  einschliesslich  Gewährleistung  in  Folge  eines 
Verkaufs,  ist  das  Gericht  des  Wohnsitzes  des  Beklagten  zu- 
ständig. Als  Wohnsitz  gilt  der  Ort,  wo  jemand  in  die  staat- 
liche Steuerrolle  eingetragen  ist.  Schwedische  Unterthanen, 
die  keinen  festen  Wohnsitz  im  Lande  haben,  werden  verklagt, 
wo  sie  angetroffen  werden,  und  wenn  sie  sich  im  Auslande 
aufhalten,  wo  sie  ihren  letzten  Wohnsitz  hatten.  —  Aus- 
länder, ohne  Wohnsitz  in  Schweden  werden  verklagt  bei  dem 
Gericht,  in  dessen  Bezirk  sie  angetroffen  werden.  Für  Klagen 
auf  Erfüllung  einer  von  einem  Ausländer  in  Schweden  ein- 
gegangener Verpflichtung  oder  auf  Bezahlung  einer  von  ihm 
während  seines  Aufenthaltes  in  Schweden  zugezogener  Schuld 
gilt  als  zuständig  entweder  das  Gericht,  in  dessen  Bezirk  er 
Vermögen  hat,  oder  das  forum  contractus  oder  das  Ge- 
richt des  Orts,  wo  die  Schuld  entstanden  ist  (Ges.  vom 
20.  März  1891).  Betreffend  die  Dänen  gilt  eine  besondere  Con- 
vention vom  25.  April  1861.  —  Die  bei  städtischen  Jahrmärkten 
zwischen  Käufer  und  Verkäufer  entstehenden  Streitigkeiten  ge- 
hören zum  Stadtgericht,  wenn  sie  sofort  anhängig  gemacht  werden 
oder  Beklagter   später,  —  doch   ehe  er  in  der  Sache  vor  ein 

^")  Bei  Ansprüchen  wegen  Forderungen,  die  auf  Schuldscheine  und 
dgl.  Urkunden  gestützt  sind,  kann  der  Kläger,  statt  des  gerichtlichen 
Verfahrens,  ein  theils  mit  dem  Mahnverfahren  theils  mit  dem  deutschen 
Urkundenprozesse  analoges  Executivverfahren  (Lagsökning)  in  Sclnveden 
beim  Oberexekutor,  in  Finnland  bei  den  Provinzialregierungen  durch 
schriftlichen  Antrag  anhängig  machen.  Der  Oberexekutor  ist  in  Stock- 
holm das  königl.  Oberstatthalter- Amt,  in  übrigen  Städten  der  Magistrat 
bezw.  ein  Mitglied  desselben,  auf  dem  Lande  die  Provinzialregierung. 
(Utsöknings-Lag  vom  10.  Aug.  1877.) 


Der  Zivilprozess  und  die  Gerichtsverfassung  Schwedens.       329 

anderes  Gericht  vorgeladen  ist^  —  wieder  nach  der  Stadt 
kommt.  —  Erbschafts-  und  Testamentsklagen,  sowie 
Streitigkeiten  wegen  Forderungen  an  einen  Verstorbenen  wer- 
den vor  dem  Gericht,  bei  welchem  dieser  seinen  persönlichen 
Gerichtsstand  hatte,  oder  in  dem  Orte,  wo  er  angestellt  war, 
erhoben.  —  Als  Gerichtsstand  des  Vormundes  gilt  entweder 
das  Gericht  seines  Wohnsitzes  oder  das  die  Aufsicht  über  die 
Vormundschaft  ausübende  Gericht.  —  Der  Gerichtsstand  des 
Verwalters  wird  durch  den  Ort,  wo  die  Verwaltung  geführt 
ist,  bestimmt.  —  Die  Handels-Gesellschaften,  bezw.  die 
Genossen  derselben,  werden  an  dem  Orte,  wo  die  Gesellschaft 
ihren  Sitz  hat,  verklagt;  die  Actien-Gesellschaften  an 
dem  in  der  octroyirten  Gesellschafts-Ordn.  als  der  Sitz  des 
Verwaltungsrathes  bestimmten  Ort.  Das  zuständige  Gericht 
für  Banknoten  ausgebende  Privatbanken  ist  das  Rathhaus- 
gericht  in  der  Stadt,  wo  das  Hauptbetriebslokal  der  Bank  ist. 
—  Mehrere  Personen,  die  ihren  persönlichen  Gerichtsstand 
bei  verschiedenen  Gerichten  haben,  können  als  Streitgenossen 
bei  dem  Gericht,  in  dessen  Bezirk  der  am  meisten  Betheiligte 
seinen  Wohnsitz  hat,  verklagt  werden.  Bei  Klagen  gegen 
mehrere  Schuldner ^^)  kann  ein  jeder  bei  seinem  persönlichen 
Gerichtsstand  belangt  werden,  oder  erfolgt  die  Ladung  sämmt- 
licher  Betheiligter  vor  das  Gericht  eines  derselben  nach  der 
Wahl  des  Klägers.  —  lieber  Entschädigungsansprüche 
aus  einem  Delicte  wird  von  dem  Gericht  erkannt,  wo  die 
Klage  wegen  des  Delicts  erhoben  ist^^).  Für  Klagen  wegen 
Ansprüche  aus  einem  ausserehelichen  Beischlaf  ist  das  Gericht, 
in  dessen  Bezirk  der  Beischlaf  stattgefunden  hat,  zuständig.  — 
Der  Gerichtsstand  in  Ehe-  und  Verlöbnisssachen  wird 
nach  dem  Wohnorte  des  Unschuldigen,  oder  nach  dem  letzten 


^^)  Die  Auslegung  des  Ges.  nicht  ganz  unstreitig. 

^^)  Solche  Anspräche  werden  in  der  Regel  als  Nebenfragen  zu  der 
Strafsache  behandelt.  Der  allgemeine  Gerichtsstand  in  Strafsachen  ist  bei 
demjenigen  Gerichte  begründet,  in  dessen  Bezirk  die  strafbare  Handlung 
begangen  ist. 


330  Uppström. 

Wohnsitz  des  Entwichenen ,  bezw.  nach  dem  Orte  des  Ehe- 
bruches u.  s.  w.  bestimmt.  —  Streitigkeiten  wegen  Eigen- 
thumes,  Besitzes  oder  Niessbrauches  eines  Grundstückes, 
sowie  Grenzstreitigkeiten  n.  dergl.  dingliche  Klagen  ge- 
hören zu  dem  Gericht,  in  dessen  Bezirk  das  Grundstück 
(bezw.  das  Hauptgut)  liegt.  —  Für  Klagen  von  Prozess- 
bevollmächtigten wegen  Auslagen  und  Gebühren  ist  das 
Gericht  zuständig,  welches  zuletzt  in  der  Sache  erkannt  hat 
(sofern  der  Bevollmächtigte  auch  in  diesem  Gericht  die  Partei 
vertreten  hat).  —  lieber  sonstige  Ansprüche,  die  aus  einer 
Hauptsache  herfliessen,  wie  Schadenersatz,  Prozesskosten 
u.  dergl.,  worüber  eine  besondere  Klage  vorbehalten  ist,  wird 
vom  Gerichte  des  Hauptprozesses  erkannt.  —  Bei  dem  Gericht 
der  Klage  kann  die  Widerklage  erhoben  werden,  wenn  beide 
Klagen  Gemeinschaft  mit  einander  haben.  — 

Vereinbarung  über  den  Gerichtsstand  darf  in  der 
Regel  nur  mit  der  Erlaubniss  des  Königs  stattfinden.  (Mir 
Avissentlich  ist  davon  kein  Gebrauch  gemacht.) 

III.  Processbeistände.    Advokaten. 

Weder  in  Schweden  noch  in  Finnland  besteht  ein  auto- 
risirter  Anwaltsstand  (auch  kein  Anwaltszwang).  Die  Anwälte 
können  jedoch  die  Genehmigung  des  Gerichts  nachsuchen. 
Als  Prozessbevollmächtigte  werden  bei  den  Gerichten  sowohl 
rechtsgelehrte  als  nicht  rechtsgelehrte  Personen  zugelassen ^^). 
Privat-Anwälte  auch  der  ersterwähnten  Art  giebt  es  an  allen 
Orten  von  einiger  Bedeutung.  Die  Anwaltsgebühren  werden 
durch  Vereinbarung  oder  vom  Gericht  festgestellt  (siehe  D.  3). 

IV.   Die  Gerichtssprache. 
Die  Gerichtssprache  ist  die  schwedische,  in  Finnland  auch 
die    finnische.     Dollmetscher    können   von    den   Parteien    oder 


2^)  (cf.  auch  Wolfl',   Zur  Gesch.   der   Stellvertretung   vor  Gericht 
nach   nordiscliem  Recht   in    dieser  Z.    YI  p.  1  IT.    besonders  p.  42 — 87.) 

D.  Red. 


Der  Zivilprozess  und  die  Gerichtsverfassung  Schwedens.       331 

von  den  Gerichten  zugezogen  werden.     Eingaben   in  fremden 
Sprachen  müssen  in  der  Regel  übersetzt  werden. 

B.    GericMsverfalireii. 

I.  Verfahren  in  erster  Instanz. 

1.  Allgemeiner  Gang  des  Prozesses  ^^).  Urtheil. 
Das  erstinstanzliche  Verfahren  ist  in  der  Regel  mündlich- 
protokollarisch und  öffentlich.  In  zweiter  und  dritter  Instanz 
ist  das  Verfahren  fast  rein  schriftlich  und  nicht  öffentlich. 
Es  besteht  (A.  III.)  kein  Anwaltszwang.  Die  Parteien  er- 
scheinen persönlich  oder  durch  einen  Bevollmächtigten  ver- 
treten. Die  Verhandlungsweise  ist  schlicht  und  formlos.  Vor- 
bereitende Schriftsätze  werden  nicht  gewechselt.  Von  Even- 
tualprinzip  und  Präclusion  ist  kaum  die  Rede.  Die  wenigen 
eine  bestimmte  Ordnung  der  Verhandlung  erzielenden  Gesetz- 
vorschriften sind  —  als  unzweckmässig  und  ungenügend  — 
erfolglos  und  unwirksam  geblieben.  Nova  werden  reichlich 
zugelassen.  Vertagungen^^)  müssen  vielfach  bewilligt  werden: 
—  anfangs  meistens  unter  Androhung  einer  Geldstrafe,  später 
mit  Bestimmung,  dass  ohne  Rücksicht  auf  die  Versäumniss 
oder  das  Ausbleiben  der  Parteien  in  der  Sache  erkannt  werde. 
Alles  was  zur  Erklärung  der  Sache  gehört  (die  Darstellung, 
der  Sachverhalt,  Anträge,  Begründung,  Rechtsausführungen) 
soll  nach  der  unbestrittenen  Auffassung  des  Gesetzes,  unter 
der  Leitung  des  Vorsitzenden ,  mündlich  oder  durch  zu  ver- 
lesende^^) Schriftsätze,  Urkunden  u.  dergl.  vorgebracht  und 
nebst  den  Beweiserhebungen  ins  Protokoll  eingetragen  werden. 
Von  dem  richterlichen  Prozessleitungs-  und  Fragerecht  muss 
ein  sehr  umfassender  und  ausgedehnter  Gebrauch  gemacht 
werden.     Thatsächlich  ist  der  Richter  genöthigt,    für  die  Er- 


2')  Rgs.-B.  Kap.  14,  16,  17. 

^^)  Rechtsmittel:    Beschwerde  an    das   vorgesetzte  Gericht;  —  wo- 
durch das  Verfahren  nicht  gehemmt  wird. 
^^)  Die  Verlesung  oft  fmgirt. 


332  Uppström. 

mittelung  der  Wahrheit  ex  nobili  officio,  doch  ohne  Ver- 
rückung oder  Unterdrückung  der  Parteirechte  zu  wirken.  Am 
treffendsten  scheint  die  vorherrschende  Verhandhingsart  in  der 
ersten  Instanz  als  eine  die  Parteirechte  nicht  beeinträchtigende 
Untersuchungsmethode  bezeichnet  werden  zu  können.  In 
2.  und  3.  Instanz  ist  eine  nackte  Verhandhmgsraethode  zur 
Alleinherrschaft  gekommen. 

Die  Beweiserhebungen  in  erster  Instanz  (B.  II  3  b)  finden 
in  der  Regel  vor  dem  erkennenden  Gerichte  statt.    Sie  können 
einem  anderen  Gerichte,  niemals  einem  beauftragten  oder  er- 
suchten Richter,  überlassen  werden.    Die  Protokollirungsarbeit 
in  derselben  Instanz  ist  während,  sowie  nach  der  Verhandlung 
eine  sehr   umfassende.     Die   Protokollsurkunde,    die    auch    als 
Grundlage  für  die  oberinstanzliche  Behandlung  und  Beurthei- 
lung    der  Sache    zu    dienen    hat,    wird    gewöhnlich    erst   nach 
beendigter  Sitzung  an  der  Hand  schriftlicher  Aufzeichnungen 
des  Richters    (bezw.  eines    zu    seiner  Ausbildung  bei   ihm  be- 
schäftigten Juristen  oder  dergl.)   angefertigt.     Nur  ausnahms- 
weise   wird   das  Protokoll   behufs  Genehmigung    während   der 
Sitzung    vorgelesen.      Nach    beendigter    Verhandlung    ist    das 
XJrtheil  —  durch  Verlesung  oder  Mittheilung  des  wesentlichen 
Inhalts  —   sofort    zu    verkündigen    oder  —  was    in  Schweden 
meistens    geschieht     —    wird     den     P.irteien    eröffnet,     wann 
die  Urtheilsverkündigung    zu    erwarten    ist.     Die    Berathung, 
Abstimmung    und    Urtheilseröffnung    findet  also  (A.  I.   1)    ge- 
wöhnlich   in    einer    besonderen    Sitzung    statt.      Abweichende 
Meinungen  (doch  nicht  die  der  Ernannten)  werden  zum  Proto- 
koll   aufgenommen.      Vom    Protokoll   nebst    dem    Erkenntniss 
muss  der  Kläger  eine  Abschrift  auslösen.     Für  den  Beklagten 
wird  ein  Exemplar  davon  auf  Verlangen  ausgefertigt. 

Ueber  die  Einlegung    der  Rechtsmittel  sind    die  Parteion 

zu  belehren. 

2.  Vorladung  2^).    Die  Klageerhebung,  die  von  keinem 


■*)  Rgs.-B.  Kap.  11, 


Der  Zivilprozess  und  die  Gerichtsverfassung  Schwedens.        333 

vorausgehenden  Sühneversuch  bedingt  ist,  erfolgt  durch  Be- 
händigung  einer  schriftlichen  Vorladung.  lu  Finnland  ist  auch 
mündliche  Vorladung  in  Streitigkeiten,  die  nicht  Grundbesitz 
und  Häuser  betreffen,  erlaubt.  —  Die  Vorladungsfrist  beträgt 
bei  den  Landgerichten  14,  bei  den  Stadtgerichten  8  Tage 
nach  der  Behändigung,  wenn  der  Beklagte  innerhalb  des 
Gerichtsbezirkes  wohnt.  Sonst  sind  längere  Erscheinungs- 
fristen vorgeschrieben ;  —  für  Personen,  die  sich  im  Auslande 
aufhalten,  6  Monate.  In  Wechselsachen  kann  Beklagter  zu 
sofortiger  Erscheinung  vorgeladen  werden.  —  Die  Behändi- 
gung, die  vom  Kläger  durch  gerichtlich  bestellte  und  beeidigte 
oder  andere  unverwerfliche  Zustellungsbeauftragte  besorgt 
werden  soll,  geschieht  in  der  Regel  durch  Zustellung  in  Person 
und  Verlesung  der  Vorladungsurkunde ,  worüber  von  den  Zu- 
stellungsbeauftragten ein  Zeugniss  behufs  Präsentirung  beim 
Gericht  angefertigt  wird. 

Wenn  der  Beklagte  nicht  angetroffen  werden  kann,  ge- 
schieht unter  gewissen  Bedingungen  die  Behändigung  durch 
Anschlag  an  seiner  Hausthür  oder  durch  Bekanntmachung  in 
der  offiziellen  Zeitung. 

Subjective  Klagehäufung  ist  zulässig;  objective  Klage- 
häufung wirkt  keine  Nichtigkeit.  Die  Widerklage  ist  binnen 
der  Hälfte  der  gesetzlichen  Ladungsfrist  durch  Zustellung 
einer  Vorladungsurkunde  zu  erheben;  Compensationseinreden 
hierdurch  nicht  betroffen. 

3.  Versäumnissverfahren  ^^).  Wenn  beide  Parteien 
im  ersten  Termin  ausbleiben,  wird  die  Sache  gestrichen. 
Bleibt  der  Kläger  aus,  der  Gegner  aber  erscheint,  wird  dem 
Kläger  eine  unbedeutende  Geldstrafe  nebst  der  Wieder- 
erstattung der  gegnerischen  Kosten  auferlegt,  sofern  er  nicht 
binnen  gesetzlich  vorgeschriebener  Zeit  darthut,  dass  er  vom 
Gesetz  anerkannte  Hindernisse,  ohne  dem  Gericht  zur  rechten 
Zeit   davon  Anzeige    machen  zu   können,    gehabt.     Wenn  der 


25 


)  Bgs.-B.  Kap.  12. 


334  Uppström. 

Kläger  nicht  binnen  der  vorgeschriebenen  Zeit  durch  neue 
Klageerhebung  die  Sache  verfolgt,  ist  das  Klagerecht  ver- 
loren. 

Wenn  der  Kläger  (im  ersten  Termin)  erscheint,  der  Be- 
klagte aber  ohne  gesetzlichen  Vorwand  ausbleibt  und  die 
rechtzeitige  Behändigung  der  Vorladung  erwiesen  wird,  so 
soll  in  der  Sache  erkannt  werden,  sowie  die  Wahrheit  er- 
mittelt werden  kann,  mit  Vorbehalt  für  den  Beklagten  binnen 
gewisser  Zeit  Einspruch  zu  erheben  oder  Berufung  einzulegen. 

4.  Einreden  ^^)  sind,  wenn  möglich,  sogleich  im  Anfange 
des  Prozesses  auf  einmal  vorzubringen.  Die  gesetzliche  An- 
drohung von  Geldstrafen  wegen  vorsätzlicher  Zurückhaltung 
derselben  ist  selbstverständlich  ohne  Erfolg  geblieben.  Prozess- 
hindernde  Einreden  sind  nur  die  der  Unzuständigkeit 
des  Gerichts  und  die  der  Streitgenossenschaft  (exe.  plur. 
citand.).  Gegen  Entscheidungen  über  die  letztgenannten  Ein- 
reden findet  sofortige  Beschwerde  an  das  vorgesetzte  Hof- 
gericht statt.  Die  Zuständigkeit  wird  selbst  von  Amtswegen 
geprüft. 

5.  Kosten-Caution  von  Ausländern  ^^).  Von  aus- 
ländischen Klägern  kann  Beklagter  im  ersten  Termin,  wo  er 
erscheint,  Sicherstellung  wegen  der  Kosten  und  etwaiger  Ent- 
schädigung verlangen.  In  Ermangelung  von  Vereinbarung 
darüber  wird  der  Betrag  und  die  Art  der  Sicherstellung  vom 
Gericht  unter  Androhung  der  Löschung  der  Sache  bestimmt. 
Durch  Staatsvertrag  vom  7.  Juli  1887  sind  dänische  Staats- 
angehörige von  dieser  Verpflichtung  befreit. 


II.   Der  Beweis-^) 

tretung    findel 
statt.     Ein  Beweisbeschluss  kommt   nur   dann    vor,   wenn  die 


1.  Die  Beweisantretung    findet    ohne  Beweisinterlokut 


-'"')  Rgs.-B.  Kap.  16. 

2^)  Ges.  d.  19.  Nov.  1886. 


28 


)  Rgs.-B.  Kap.  17. 


Der  Zivilprozess  und  die  Gerichtsverfassung  Schwedens.       335 

Führung  irgend  eines  Beweises  bestritten  wird.  Die  Beweise 
können  sofort,  bezw.  in  einem  folgenden  Termin  geführt 
werden.  Zeugen  und  Sachverständige  können  die  Parteien 
selbst  mitbringen  oder  vorladen  lassen.  Wenn  der  etwa  er- 
forderliche Gegenbeweis  nicht  sogleich  geführt  werden  kann, 
wird  die  Sache  vertagt.  Neue  Beweise,  bezw,  Gegenbeweise, 
können  im  Laufe  der  Verhandhingen  jederzeit  angetreten  und 
aufgenommen  werden,  —  bis  die  Sache  genügend  aufgeklärt 
erscheint  und  weitere  Vertagung  als  Missbrauch  der  Partei- 
rechte erachtet  werden  muss. 

2.  Beweisprüfung.  Nach  dem  Wortlaut  des  Gesetzes 
gilt  die  gesetzliche  Beweistheorie  hauptsächlich  in  sofern,  dass 
die  übereinstimmende  Aussage  zweier  klassischer  Zeugen  den 
vollen  Beweis  einer  behaupteten  Thatsache  liefert.  Ein  Zeuge 
oder  Indizien  sollten  nur  den  halben  Beweis  liefern,  in  wel- 
chem Fall  vorgeschrieben  wurde,  dass  dem  Beklagten  der 
Reinigungseid  auferlegt  werden  könne. 

Von  den  wesentlichsten  Unbequemlichkeiten  der  legalen 
Beweistheorie  hat  die  Gerichtspraxis  sich  jedoch  allmählig 
frei  gemacht.  Besonders  wird  auch  den  Indizien  volle  Beweis- 
kraft beigelegt.  Verwerfungs-  oder  Verdachtsgründe  gegen 
Zeugen  werden  dagegen  in  ziemlich  grossem  Maasse  zuge- 
lassen.   (Siehe  auch  unten  3  d.  e.) 

3.  Die  einzelnen  Beweismittel: 

a)  Gerichtliches  Geständniss  ist  dem  Zeugnisse  zweier 
klassischer  Zeugen  gleich  zu  erachten.  Das  Geständniss  ver- 
liert die  Wirkung  durch  Wiederrufung,  wenn  nachgewiesen 
wird,  dass  es  der  Wahrheit  nicht  entspricht  oder  durch  Irr- 
thum  veranlasst  worden  ist. 

b)  Der  Zeugenbeweis  ist  in  allen  Sachen  zulässig.  Die 
Zeugen  werden  in  der  Regel  vor  dem  erkennenden  Gericht 
in  der  gewöhnlichen  Gerichtssitzung  beeidigt  und  (B.  I.  1) 
vernommen.  Vor  der  Beeidigung  werden  die  Parteien  und 
der    Zeuge   befragt,    ob  Verdachtsgründe    gegen   den  Zeugen 


336  Uppström. 

vorliegen.  Solche  Gründe  können  auch  nachträglich  geltend 
gemacht  werden.  Die  Zeugenvernehmung  wird  von  dem 
Richter  (Vorsitzenden)  bewirkt.  Auch  die  von  den  Parteien 
beantragten  Fragen  werden  vom  Richter  vorgelegt,  wenn  sie 
zulässig  erscheinen.  Die  Aussagen  werden  zum  Protokoll  ge- 
bracht und  vorgelesen.  Der  vernommene  Zeuge  wird  an- 
gehalten zu  erklären,  ob  seine  Aussage  richtig  aufgefasst  ist. 
Die  Erscheinungskostea  werden  von  der  das  Erscheinen  des 
Zeugen  veranlassenden  Partei  erstattet,  vorbehaltlich  einer 
Wiedererstattung  von  der  unterliegenden  Partei. 

c)  Sachverständige  können  wie  Zeugen  eidlich  ver- 
nommen werden  oder  schriftliche  Gutachten  abgeben. 

d)  Der  richterliche  Eid  ist  entweder  Reinigungseid 
(B.  II.  2)  oder  Ergänzungseid.  Schiebt  eine  Partei  dem 
Gegner  einen  Eid  zu  oder  erbietet  sie  sich  selbst  zur  Eides- 
leistung, steht  es  dem  Gegner  frei,  die  Eidesleistung  zu 
übernehmen,  bezw.  zu  bewilligen,  oder  zu  weigern.  Der 
richterliche  Eid  wird  durch  Urtheil,  gegen  welches  (so- 
fortige) Berufung  stattfindet,  auferlegt.  Die  speziellen  Folgen 
einer  Eidesleistung  (bezw.  der  Nichtleistung  eines  Eides)  wer- 
den nachträglich  in  einem  besonderen  durch  die  gewöhnlichen 
Rechtsmittel  anfechtbaren  Urtheil  bestimmt.  Die  Eidesleistung 
liefert  den  vollen  Beweis  für  die  von  der  Partei  beschworenen 
Thatsachen,  sowie  die  Nichtleistung  des  Eides  für  das  Gegen- 
theil. 

e)  Ueber  den  Urkundenbeweis  enthält  das  Gesetz 
nichts  erhebliches.  In  Streitigkeiten  zwischen  Kaufleuten 
können  ordnungsmässig  geführte  Handelsbücher,  wenn  sie  eid- 
lich erhärtet  werden,  oder  ihre  Glaubwürdigkeit  durch  andere 
Gründe  bestätigt  wird,  den  vollen  Beweis  liefern. 

f)  Das  Beweismittel  Augenschein  und  Ortsbesichti- 
gung kommt  in  Streitigkeiten  wegen  Eigenthums-  und  anderer 
Rechte  an  Grundstücken,  Wasserrechtsstreitigkeiten  u.  s.  w. 
häufig  vor  und  ist  sehr  ausgebildet. 


Der  Zivüprozess  und  die  Gerichtsverfassung  Schwedens.        337 

III.  Das  Urtheil. 

Das  Nöthige  siehe  A.  I.  1  (Ende);  3  und.  B.  IL  3  d. 

IV.  Rechtsmittel. 

1.  Berufung.  Das  ordentliche  Rechtsmittel  gegen  die 
Endurtheile  der  Untergerichte  ist  die  Berufung^^)  (schw.  Vad, 
Wette).  Nichtigkeitsklagen  können  ausserdem  durch  Beschwerde 
bei  dem  vorgesetzten  Gericht  erhoben  werden.  Die  Ein- 
legung der  Berufung  geschieht  bei  dem  Untergericht  oder 
einem  beauftragten  Mitglied  desselben  binnen  einer  Woche 
nach  der  Verkündigung  des  Urtheils  durch  das  Entrichten  einer 
Abgabe  (Wettsumme),  in  Schweden  1.50  Kronen  bei  den 
Landgerichten,  2.50  Kr.  bei  den  Stadtgerichten,  in  Finnland 
5.76^^)  Finn.  Mk.  Ueber  die  von  den  Parteien  weiter  zu 
beobachtenden  Maassregeln  wird  vom  Richter  schriftlicher  Be- 
scheid mitgetheilt.  Der  Berufungsbeklagte  muss  sich  über  diese 
Maassregeln  selbst  beim  Richter  erkundigen.  DieNothfrist  für  die 
weitere  Verfolgung  der  Sache  in  der  Appelliustanz  beträgt  (je 
nach  der  Entfernung  vom  Sitze  des  Hofgerichts)  30 — 90  (in 
Finnland  30 — 60)  Tage,  in  Wechsel-  und  Seerechtssachen  die 
Hälfte.  Will  der  Appellant  die  Sache  in  der  Berufungs-Instanz 
nicht  verfolgen,  muss  er  den  Gegner  davon  binnen  der  Hälfte 
der  Nothfrist  benachrichtigen;  bei  Gefahr,  dass  er  die  Kosten  des 
Gegners,  wenn  dieser  rechtzeitig  vor  dem  Hofgericht  erscheint, 
wieder  erstatten  muss. 

An  dem  zur  Verfolgung  der  Sache  in  der  Berufungs- 
instanz^^)   bestimmten    Tage    muss    der   Berufungskläger   im 

^^)  Rgs.-B.  Kap.  25.  Die  Erkenntnisse  gewisser  Rathhausgerichte 
(s.  A.  II:  1)  in  Dispachesachen  sind  durch  Beschwerde  an  den  obersten 
Gerichtshof  anzufechten.  Die  Beschwerdeschrift  wird  eingereicht  bei  dem 
Rathhausgericht,  wo  auch  der  Gegner  Gegenanträge  abgeben  kann.  Die 
Akten  werden  verschickt.     Seegesetz  v.  12.  Juni  1891. 

30)  1  Krone  =  1.12  Rm.;  1  Finn.  Mark  =  80  Pfennige  ;  1  Penni  =  0.8  Pf. 

3^)  Das  Verfahren  in  den  bei  den  Hofgerichten  zu  verhandelnden 
erstinstanzlichen  Sachen  ist  mit  wenigen  Ausnahmen  ein  gleiches  wie 
in  den  Berufungssachen. 

Zeitschrift  für  vergleichende  Rechtswissenschaft,  X.  Band.  22 


338  Uppström. 

Bureau  des  Hofgericlits  persönlich  oder  durch  einen  Bevoll- 
mächtigten eine  Berutungsschrift  (Libell)  in  2  Exemplaren 
einreichen,  nebst  (in  Schweden)  einer  von  2  zahlungsfähigen 
(inländischen)  Personen  unter  solidarischer  Verantwortlichkeit 
ausgefertigter  Caution^^^  wegen  der  Kosten  und  der  Ent- 
schädigung, die  dem  Berufungskläger  auferlegt  werden  können. 
Enthält  die  Berufungsschrift  keine  genügende  Rechtfertigung 
der  Berufung,  kann  das  Versäumte  später  nachgeholt  werden. 

An  dem  oben  erwähnten  Tage  muss  auch  der  Gegner, 
bei  Gefahr,  in  der  Berufungs-Instanz  nicht  gehört  zu  werden, 
persönlich  oder  durch  einen  Bevollmächtigten  erscheinen,  um 
die  Bernfungsschrift  zu  empfangen.  Nach  einer  Woche  (wenn 
Gerichtsferien  eintreffen,  später)  wird  die  Sache  nach  voraus- 
gegangenem Anschlag  an  der  Gerichtsthür  aufgerufen,  damit 
der  Berufungs-Beklagte  persönlich  oder  durch  einen  Bevoll- 
mächtigten Gegenanträge  (Gensvar)  in  duplo  abgebe.  Bei 
dieser  Gelegenheit  müssen  auch  die  Einreden  gegen  die 
klägerische  Caution  bei  Präclusionsgefahr  (mündlich  oder 
schriftlich)  angemeldet  werden.  Eine  Aussetzung  der  Sache 
behufs  Stellung  der  Gegenanträge  ist  zulässig. 

Berufungsanschliessung  findet  nicht  statt. 

Nachdem  der  Schriftwechsel  beendigt  worden  ist,  w^erden 
die  Sachen  durchs  Loos  zwischen  den  (in  Schweden  4  jüngsten) 
Mitgliedern  jeder  Kammer  zur  Berichterstattung  vertheilt.  — 
Ein  von  dem  Referenten  verfasster  schriftlicher  „ßericht"^^^) 
wird  den  Parteien  zur  Durchsicht  und  Unterschrift  übergeben. 
Beim  Unterzeichnen  desselben  können  die  Parteien  mündliche 
Verhöre,  (deren  ursprüngliche  Bedeutung  jedoch  nunmehr  ziem- 


^2)  Statt  der  Caution  kann  baares  Geld,  Silber  oder  Gold  deponirt 
werden. 

^^)  In  Konkurs-,  Wechsel-  und  Seerechtssachen,  die  als  Schleunig- 
keitssachen  behandelt  werden,  ist  weder  bei  den  Holgerichten  noch  bei 
dem  obersten  Gerichtshof  schriftlicher  Bericht  erforderlich.  Der  Bericht 
enthält  eine  in  gedrängter,  eng  zusammenhängender  Form  abgefasste 
Darstellung  der  Streitpunkte  nebst  dem  Spruch  des  Untergerichts. 


Der  Zivilprozess  und  die  Gerichtsverfassung  Schwedens.        339 

lieh  geschmälert  ist),  wegen  weiterer  Begründung,  Beweis- 
erhebungen u.  dergl.  beantragen.  Mit  der  Beweisaufnahme 
(in  sofern  sie  in  Vernehmung  von  Zeugen  besteht)  wird  ge- 
wöhnlich ein  Untergericht  beauftragt.  Die  spruchreifen  Sachen 
werden  von  dem  Berichterstatter  in  nichtöffentlicher  Sitzung 
vorgetragen  und  nach  erfolgter  Verlesung  (bezw.  Durch- 
lesung) der  Akten  und  Berathung,  wenn  möglich  sofort,  ab- 
geurtheilt.  Erscheint  eine  genauere  Kenntnissnahme  der  Akten 
den  Richtern  wünschenswerth,  findet  Abstimmung  und  Be- 
schlussfassung in  einer  folgenden  Sitzung  statt.  Das  Erkennt- 
niss  wird  schriftlich  an  einem  vorher  bekannt  gemachten  Tage 
ausgegeben.     Reformatio  in  pejus  ist  unzulässig. 

2.  Beschwerde.  Die  Nothfrist  in  Beschwerdesachen 
(B.  I:  4;  IV:  1)  beträgt  nur  die  Hälfte  der  Berufungsfrist. 
Der  Beschwerdeführer  hat  spätestens  vor  dem  Ablauf  der 
Nothfrist  schriftliche  Anträge  an  das  vorgesetzte  Gericht  ein- 
zureichen. Persönliches  Erscheinen  oder  Bestellung  eines  Be- 
vollmächtigten ist  nur  dann  nöthig,  wenn  der  Beschwerdeführer 
nicht  selbst  den  Schriftsatz  unterzeichnet  hat.  Wird  die  An- 
hörung des  Gegners  für  nöthig  erachtet,  bestimmt  das  Hof- 
gericht (nach  den  Vorträgen  des  Sekretärs  oder  eines  Fiscals), 
wie  die  Akten  dem  Gegner  des  Beschwerdeführers  mitzu- 
theilen  sind,  sowie  die  Zeit  für  die  Einreichung  der  gegne- 
rischen Erklärung.  Nach  der  Einlieferung  der  Erklärung  oder 
dem  Ablauf  der  dafür  festgesetzten  (bezw.  verlängerten)  Frist 
werden  auch  diese  Sachen,  wie  die  Berufungssachen,  vertheilt, 
vorgetragen  und  abgeurtheilt.  Schriftlicher  Bericht  wird  in 
Beschwerdesachen  nicht  ausgegeben. 

3.  Revision  ^^).  Das  Rechtsmittel  gegen  die  End- 
urtheile  der  Hofgerichte,  die  Revision,  die  ursprünglich  nur 
auf  eine  Durchsicht  der  Akten  (examen  actorum  prioris  in- 
stantiae)  berechnet  war,  ist  ihrem  Wesen  nach  nichts  anderes 


34 


)  R§s.-B.  Kap.  30. 


340  Uppström. 

als  ein  Oberappcll.  Sowohl  die  That-  als  die  Rechtsfragen 
unterliegen  der  Prüfung  der  drittinstanzlichen  Richter.  Neue 
Beweise^-')  sollten  eigentlich  nur  in  Restitutionsfällen  zu- 
gelassen werden,  eine  Vorschrift,  die  jetzt  nicht  mehr  be- 
obachtet wird. 

Die  Revision  muss  spätestens  am  20.  (in  Finnland  21.) 
Tage  nach  der  Urtheilsausfertigung  des  Hofgerichts  schriftlich, 
nebst  Entrichtung  einer  Abgabe  (Revisionsschilling)  von  100  Kr. 
(192  finn.  Mark)  beim  Hofgericht  angemeldet  werden  (Revisions- 
gesuch). Die  Abgabe  fällt,  wenn  die  Erkenntniss  des  Hof- 
gerichts bestätigt  wird,  in  Schweden  der  Staatskasse,  in  Finn- 
land dem  Hofgericht  zu.  Sonst  wird  sie  dem  Revisionskläger 
auf  Antrag  zurückerstattet.  Weniger  Bemittelte  werden  unter 
gewissen  Bedingungen  von  dieser  Abgabe  befreit.  Nach  An- 
hörung des  Gegners  schreibt  das  Hofgericht  die  weiter  zu 
beobachtenden  Maassregeln  vor. 

DieNothfrist  für  die  Verfolgung  der  Sache  beim  obersten  Ge- 
richtshofe (Finnl.  Kaiserl.  Senat)  beträgt,  je  nach  der  Entfernung, 
60 — 90  Tage,    in  Wechsel-    und  Seerechtssachen   die  Hälfte. 

Der  Revisionskläger  muss  vor  dem  Ablauf  der  Nothfrist 
oder,  wenn  er  ausserhalb  des  Landes  wohnt,  binnen  6  Monaten 
das  dem  Gegner  durch  das  angefochtene  Urtheil  Zuerkannte 
bei  der  Provinzialregierung  oder  zuverlässigen  Bürgen  hinter- 
legen. Unter  gewissen  Bedingungen  genügt  auch  Pfand- 
bestellung oder  Bürgschaft  ^^).  Für  Kosten  und  Schadenersatz 
wird  in  Schweden  binnen  derselben  Zeit  eine  besondere  Caution 
gestellt.  Ausserdem  ist  die  gesetzliche  Abgabe  zu  entrichten 
für  die  Protokolle  des  Hofgerichts,  die  nebst  den  Akten  an 
die  Untere  Revision  geschickt  werden  (schwed.),  wenn  recht- 
zeitig nachgewiesen  wird,  dass  obenerwähnte  Vorschriften 
(Prästanda)  ordnungsmässig  erfüllt  sind. 


^^)  Für  Konkurssachen  siehe  E. 

^^)  Wenn  diese  Vorschriften  befolgt  sind,  kann  das  angefochtene 
Urtheil  nicht  zwangsweise  vollstreckt  werden.  Das  Hinterlegte  kann  von 
der  obsiegenden  Partei  gegen  Pfand  oder  Caution  erhoben  werden. 


Der  ZiviJprozess  und  die  Gerichtsverrassung  Schwedens.        341 

Das  drittinstanzliche  Verfahren  erbietet  keine  grossen  Ab- 
weichungen von  dem  zweitinstanzlichen.  Auf  die  Anträge  des 
Revisionsklägers  (die  Dednction);  die  spätestens  an  dem  zur 
Verfolgung  der  Sache  bestimmten  Tage  im  Bureau  der  unteren 
Revision  eingereicht  werden  müssen^  hat  der  Gegner  binnen 
22  Tagen   seine    Gegenanträge    (Contradeduction)    abzugeben. 

Nach  Beendigung  des  Schriftwechsels  wird  von  einem 
Revisionssekretär  (in  Finnland  Referendarie  -  Sekretär  des 
Justiz  -  Departements)  ^  dem  die  Sache  durch  Loos  zugetheilt 
worden  ist,  ein  Bericht  (wie  im  Hofgericht)  ausgefertigt. 
Mündliche  Verhöre ,  Beweiserhebungen  (bestrittene  Zeugen- 
vernehmungen nur  mit  Erlaubniss  des  Gerichtshofes)  u.  dergl. 
können  in  Schweden  in  der  unteren  Revision,  in  Finnland  vor 
2  Referendarie- Sekretären  (in  beiden  Ländern  in  gewissen  Fällen 
bezw.  auch  bei  einem  Unter- Gericht),  stattfinden.  Nachdem 
die  Vorbereitungen  zum  Abschluss  gelangt  sind,  trägt  in 
Schweden  der  berichterstattende  Referendarie-Sekretär  die  Sache 
erst  in  der  unteren  Revision  in  Gegenwart  von  (in  der  Regel) 
2  Collegen  vor,  worauf  von  den  betheiligten  Revisionssekretären 
unter  Beobachtung  der  gewöhnlichen  Abstimmungsregeln  ein 
Gutachten  abgegeben  wird.  In  Finnland  wird  das  Gutachten  von 
dem  berichterstattenden  Referendarie  Sekretär  allein  geliefert. 
Schliesslich  wird  die  Sache  in  nichtöffentlicher  Sitzung  vom 
Berichterstatter  vor  dem  Gerichtshof  vorgetragen  (in  Finnland 
vor  dem  Just.-Dep.  des  Senats  vorgelesen).  Die  Berathung 
und  Abstimmung  der  erkennenden  Richter  erfolgt  in  der 
Regel  sofort  nach  der  Verlesung  der  Schriftsätze.  Weitere 
Ueberlegungsfrist  kann  vorbehalten  werden.  Mit  der  Aus- 
fertigung der  Urteile,  welche  in  Schweden  unter  dem  Siegel 
des  Königs  von  dem  vortragenden  Revisions- Sekretär  unter- 
zeichnet werden,  wird  auf  gleiche  Weise  wie  in  den  Hofgerichten 
verfahren.     Ueber  Plenum  siehe  A.  I:  3. 

4.  In  Nullitäts-  und  gewissen  Präliminarfragen,  sowie 
in  Fragen  der  nichtstreitigen  Rechtspflege  u.  s.  w.  kann  auch 
in  dritter  Instanz  das  Rechtsmittel  der  Beschwerde  stattfinden. 


342  Uppström. 

Durch  die  Nullitätsklage  wird  die  VoUstrcckbarkeit  des  un- 
getüchtenen  Urtheils  nicht  gehemmt^  sofern  nicht  anders  von 
dem  Beschwerdegericht  verfügt  wird.  Hinterlegungs  -  und 
^Sicherstellungspflicht  liegt  dem  Beschwerdeführer  in  dritter 
Inatanz  ob.  Ueber  die  ordnungsmässig  eingelegte  Beschwerde 
wird  der  Gegner  gehört.  Für  Dispachesachen  gelten  besondere 
Vorschriften  (siehe  Note  29). 

5.  Die  Wiederaufnahme  des  Verfahrens  sowie  die 
Wiedereinsetzung  in  den  vorigen  Stand  wegen  Ver- 
säumuiss  der  Nothfristen  ^'^)  in  gewissen  Fällen  kann  aus 
triftigen  Gründen,  oder  wenn  neue  Thatsachen  oder  Beweise 
beigebracht  werden,  vom  obersten  Gerichtshof  (Finnl.  Just.-Dep. 
des  Kaiser].  Senats)  bewilligt  werden.  Durch  den  Antrag  auf 
Wiederaufnahme  des  Verfahrens  wird  die  Vollstreckbarkeit 
des  Urtheils  nicht  gehemmt.  Betr.  die  Sicherstellungspflicht  etc. 
siehe  oben  3,  4. 

C.  Vollstreckung  und  SicherungsmitteP^). 

Die  Urtheile  der  Unter- Gerichte  können  in  Schweden  in 
der  Regel  unbehindert  von  der  Einlegung  eines  Rechtsmittels 
(vergl.  B.  IV:  4,  5)  durch  Zwangsvollstreckung  (vorzugsweise 
Pfändung)  von  den  Exekutionsbeamten  ^^)  vollzogen  werden. 
Der  unterliegenden  Partei,  die  die  Berufung  eingelegt  hat, 
steht  es  jedoch  frei,  sich  durch  Pfand-  oder  Cautionsstellung 
dagegen  zu  verwahren.  In  Finnland  wird  die  Vollstreckbar- 
keit der  Urtheile  —  mit  Ausnahme  für  Wechsel-  und  See- 
rechtssachen —  durch  die  Berufung  gehemmt.  Das  vom 
Exekutor  Gepfändete  kann  gegen  Caution  oder  Pfand  von  der 

^')  In  Berulungssaclieii  können  die  Hofgerichte  bei  unverschuldeten 
Versäumungen  in  besonders  bezeichneten  Fällen  die  Wiedereinsetzung 
bewilligen, 

^^)  Utsökningslag  Kap.  3,  4,  7.  Ges.  von  Schiedsrichtern  28.  Oktober 
1887.    Seegesetz  §  331. 

^^)  Kronenvoigt  (in  Schweden  auch  Stadtvoigt)  und  Unterbeamten, 
die  alle  dem  Oberexekutor  (Prov.  Reg.)  untergeordnet  sind. 


Der  Zivilprozess  und  die  Gerichtsverfassung-  Schwedens.        343 

obsiegenden  Partei  erhoben^  aber  nicht  zwangsweise  versteigert 
werden^  ehe  das  betr.  Urtheil  bestätigt  oder  rechtskräftig  ge- 
worden ist.  Für  die  Exekutionskosten  ist  der  Exekutor  be- 
rechtigt, einen  Vorschuss  zu  verlangen. 

Von  den  Gerichten  bestätigte  Vergleiche  sowie  gesetzlich 
zu  Stande  gebrachte  Schiedssprüche  sind  wie  rechtskräftige 
Urtheile  vollstreckbar. 

Von  ausländischen  Urtheilen  sind  in  Schweden  nur  die 
dänischen  (kraft  Staatsvertrages)  vollstreckbar ;  in  Finnland 
keine. 

Vorläufige  Sicherungsmittel  sind  Arrest,  Verbot  gegen 
Veräusserung;  BeiseiteschafFung  oder  Aufenthaltswechsel  u.  s.  w. 
Die  Schuldhaft  ist  in  Schweden  aufgehoben. 

D.  Kostenwesen. 

1.  Gerichtskosten^^).  Ueber  den  Kostenpunkt  Avird 
nebst  der  Hauptsache  erkannt.  Bei  den  Untergerichten  kann 
jedoch  eine  besondere  Klage  darüber  vorbehalten  werden. 
Die  Parteien  müssen  den  Betrag  ihrer  Kosten  rechtzeitig 
(bei  den  Untergerichten  vor  dem  Schluss  der  Verhandlung) 
angeben.  Ist  die  Sache  so  dunkel  und  zweifelhaft,  dass  ge- 
gründete Ursachen  zum  Prozesse  vorhanden  waren,  oder  ist 
der  obsiegenden  Partei  ein  richterlicher  Eid  auferlegt,  findet 
keine  Kostenerstattungspflicht  statt.  Wenn  die  Parteien  wech- 
selweise obsiegen  und  unterliegen,  oder  wenn  die  im  Unter- 
gericht gewinnende  Partei  im  Obergericht  unterliegt,  sind  die 
Kosten  zu  compensiren. 

2.  Gerichtskosten-Beträge^^): 

Die  Vorladungsresolution  kostet  an  Stempel  und  Gebühren  in 
Schweden  2  Kr.  (Finnland  2.50  Mk.). 

Die  Zustellungsbeauftragten  bekommen  ein  Jeder  für  jede 
BehändigungÖO  Oere  (Finnl.  60  penni) nebst  etwa  nöthigen  Reisekosten. 

40)  Rgs.-B.  Kap.  21. 

4^3  Verordnung  von  Expeditionsgebühren  vom  7.  Dezember  1883; 
Verordnung  von  Stempelabgaben  vom  5.  Dezember  1890. 


344  Uppström. 

P  rot.  und  Urtheil  bei  den  Unterge richten  (gewöhnlich  im  Zu- 
sammenhang ausgel'ertigt)  kosten  an  Stempel  und  Gebühren  in  Schweden 
rUr  den  ersten  Bogen  3  Kr.,  Finnland  4  Mk.,  l'iir  jeden  folgenden  2  Kr., 
1.50  Mk. 

Die  Urtheile  der  Hol'gerichte  werden  in  Schweden  mit 
Stempel  versehen,  von  10  Kr.  für  den  ersten  Bogen  (Finnl.  Stempel  und 
Gebühren  10  Mk.),  für  jede  folgende  2  Kr.  (Finnl.  5  Mk.). 

Bescheid  über  Revisionsgesuch  sowie  über  Erfüllung  der 
vorgeschriebenen  Prästanda  und  die  Protokolle  des  Hofgerichtes  für 
die  revisionssuchende  Partei  werden  bezahlt  mit  4  Kr.  (Stempel)  für  den 
ersten  Bogen,  2  Kr.  für  jeden  folgenden;  in  Finnl.  bez.  7 — 4  Mk.  Dies 
alles  obligatorisch.  Für  Prot.,  die  auf  facultatives  Begehren  ausgegeben 
werden,  sind  die  Kosten  geringer. 

Die  Urtheile  der  dritten  Instanz  werden  in  Schweden  für 
den  Revisionskläger  mit  Stempel  zu  20  Kr.  für  den  ersten  Bogen,  5  Kr. 
für  jeden  folgenden  Bogen  versehen.  Dem  Revisionsbeklagten  wird  auf 
Verlangen  ein  Ex.  des  Urth.  (nach  Maassstab  der  Kosten  für  Prot.,  deren 
Auslösung  nicht  obligatorisch  ist),  gegen  Stempel  und  Gebühr,  zusammen 
4  Kr.  für  den  ersten  Bogen,  2.50  für  jeden  folgenden,  ausgegeben. 

Die  Urtheile  der  obersten  Instanz  in  Finnland  werden  mit  Stempel 
zu  4  Mk.  pro  Bogen  versehen. 

Andere  Abgaben  für  das  Verfahren  finden  nicht  statt. 
I  Die  Exekutions k Osten  ^^)  (die  auch  mitgepfändet  werden),   be- 

tragen in  Schweden: 

a)  beiMobilien,  für  die  Pfändung  zusammen  3  Kr.  nebst  etwa 
erforderlichen  Reisekosten,  für  die  Versteigerung  2  Kr.  nebst  Reise- 
kosten. 

b)  bei  Immobilien:  für  die  Pfändung  wie  bei  a);  für  die  Ver- 
steigerung, auf  dem  Lande,  ausser  Reisekosten,  IY2  Prozent  vom 
Kaufpreis  desPfandobjects  bis  zu  1500  Kr.,  darüber  hinaus  bis  zu  7500  Kr. 
1  Proz.,  von  7500  bis  zu  15000  Kr.  ^4  Proz.,  und  für  darüber  Hinaus- 
gehendes V2  Proz.,  jedoch  nicht  über  500  Kronen. 

Für  die  Städte  gelten  betreffend  Versteigerung  von  Immobilien  be- 
sondere Vorschriften ;  (in  Stockholm  ist  lür  einen  Kaufpreis  von  100  000  Kr. 
Vs  Proz.,  lür  das  darüber  Hinausgehende  ^jio  Proz.  zu  zahlen). 

In  Finnland  betragen  die  Fxekutionskosten ,  auf  dem  Lande, 
betreffs  Mob ilien  8  Mk.  für  jede  Pfändung  (bezw.  Versteigerung),  wenn 
die  Entfernung  vom  Wohnsitz   des  Exekutionsbeamten  bis  zu  dem  Ort, 


^2)  Verordnung  vom  12.  Juli  1878.     Erlass  vom  10.  Okt.  1890. 


Der  Zivilprozess  und  die  Gerichtsverfassung  Schwedens.        345 

wo  die  Objekte  sind,  50  Werst  (circa  53  Kilometer)  nicht  übersteigt. 
Ist  die  Entfernung-  grösser,  kommen  die  Reisekosten  hinzu. 

Bei  Exekution  an  Immobilien  wird,  falls  der  Verkauf  bei  der 
Provinzialregierung  stattfindet,  bezahlt:  Vj-z  Proz.  vom  Werthe  des 
Eigenthums  bis  zu  48000  Mk.,  darüber  hinaus  bis  24000  Mk.  1  Proz.; 
von  24000  Mk.  bis  48000  Mk.  ^i  Proz.  und  für  darüber  Hinausgehendes 
V2  Proz.;  geschieht  aber  der  Verkauf  anderswo,  bezw.  1  Proz.,  ^/4  Proz., 
72  Proz.  und   V^  Proz. 

In  den  Städten  betragen  die  Kosten  für  Exekution  an  Grund- 
besitz IV2  Proz.  vom  Werthe  und  für  bewegliches  Eigenthum  2  Mk., 
falls  die  Verrichtung  weniger  als  einen  Tag  in  Anspruch  nimmt;  dauert 
sie  aber  einen  ganzen  Tag  oder  länger,  8  Mk.  per  Tag.   — 

Für  den  Exekutionsbefehl  wird  1  Mk.  bezahlt. 

3.  AnwaltsgebühreE.  Die  Honorare  und  Entschädi- 
gungen der  Rechtsanwälte  (worüber  es  keine  gesetzliche  Be- 
stimmungen giebt),  werden  in  Stockholm  usuell  nach  etwa 
folgenden  Normen  berechnet  ^^). 

Bei  Eintreibung  von  Forderungen  auf  Grund  klarer 
Schuldscheine  u.  dergl.  im  Wege  des  Exekutiv-Verfahrens 
beträgt  das  Honorar  5 — G  Proz.  der  einzutreibenden  Summe. 

In  streitigen  Sachen,  die  grössere  Werthe  betreffen, 
wird  unter  Voraussetzung,  dass  die  Sache  gewonnen  wird, 
derselbe  Prozentsatz  von  dem  nach  Vollstreckung  des  Urtheils 
für  den  Gläubiger  erlangten  Betrag,  bezw.  von  dem  Werthe 
des  zuerkannten  Streitgegenstandes  berechnet.  Bei  einem  ge- 
ringeren Streitgegenstand  stellt  sich  der  Prozentsatz  höher 
(etwa  10  Proz.).  Für  den  Fall  des  Unterliegens  wird  ein 
geringerer  Betrag  als  Minimalsatz  festgestellt.  Ausser  dem 
Honorar,  welches  hauptsächlich  als  Vergütigung  für  Infor- 
mation, Geschäftsbetrieb,  Schriftsätze  u.  dgl.  zu  betrachten 
ist,  wird  für  jeden  Termin  bei  den  Untergerichten  in  dem 
Ort,  wo  der  Anwalt  wohnt,  eine  Summe  von  15 — 25  Kronen 
bezahlt.  Für  das  Erscheinen  bei  Gerichten  an  anderen  Orten 
werden    50 — 100   Kronen   an    Tagegeldern    nebst   Fuhrkosten 


^^)  Nach  geneigter  Mittheilung  des  Herrn  Rechtsanwalts  E.  Udden- 
berg,  Stockholm. 


346  U})psti'üm. 

gefordert.  —  In  zweiter  Instanz  wird,  wenn  Anderes  nicht 
vereinbart  ist,  ein  Pauschquantum  von  50  Kronen,  in  dritter 
Instanz  100  Kronen,  nebst  etwaigen  Gebühren  für  Schriftsätze, 
berechnet.  —  In  der  Provinz  stellen  sich  die  Sätze  niedriger. 
Für  Finnland  können  keine  Nornaen  betr.  die  Berech- 
nung der  Honorare  aufgestellt  werden. 

4.  Armenrecht.  Die  Armen  sind  von  Stempel  und 
Gerichtsgebühren  (Behändigungskosten  ausgenommen),  sowie 
von  Hinterlegungs  -  und  Sicherstellungspflicht,  Revisions- 
abgabe (B.  IV:  3)  u.  dgl.  frei.  Die  etwa  vom  Gericht  ge- 
nehmigten Anwälte  sind  verpflichtet,  den  Armen  umsonst  vor 
dem  Gericht  Beistand  zu  leisten. 

5.  Bez.  Konkurskosten  siehe  E. 

E.   Konkursverfahren*^). 

Die  Eröffnung  des  Konkursverfahrens  (welches  auf  Nicht- 
kaufleute ebenso  wie  auf  Kaufleute  Anwendung  findet)  setzt 
die  EinwilHgung  des  Gemeinschuldners  oder  seine  nachweis- 
liche Zahlungsunfähigkeit  (Zahlungseinstellung  u.  dgl.)  oder 
Entweichung  voraus*^).  Das  Konkursverfahren  kann  auf 
schriftlichen    Antrag*^)     des     Gemeinschuldners     oder     eines 


^4)  Konk.-Ges.  vom  18.  Sept.  1862.  —  Für  Konkurse  von  Privat- 
banken, die  Banknoten  ausgeben,  Bankactiengesellschaften  und  Spar- 
banken gelten  in  Schweden  theilweise  besondere  Vorschriften.  [Auch 
über  den  Konkurs  von  Eisenbahnen,  vgl.  Kohl  er,  Lehrb.  des  Konkurs- 
rechts S.  49,  276.  D.  Red.] 

'*^)  Die  Auseinandersetzung  der  Gütergemeinschaft  zum  Besten  der 
Ehefrau  (bezw.  ihrer  nachgelassenen  Kinder)  kann  im  Zusammenhange 
mit  dem  Konkurs  erfolgen.  Die  Ehefrau  kann,  wenn  solche  Auseinander- 
setzung beantragt  ist,  im  Konkurs  ihres  Mannes  Forderungen  geltend 
machen.  Im  Konkurs  wird  für  sie  ein  Geschäftsführer  gerichtlicherseits 
verordnet,  —  und  wenn  Auseinandersetzung  der  Gütergemeinschaft  sonst 
beantragt  ist,  auf  ihr  Verlangen.  —  Ueber  Nachlasskonkurs  siehe 
S.  350. 

''^)  Alle  Schriftstücke  in  Konkurssachen  sollen  in  duplo  eingereicht 
werden  oder  werden  dem  Betrelfenden  die  Kosten  für  Abschriften  auferlegt. 


Der  Zivilprozess  und  die  Gerichtsverfassung  Schwedens.       347 

Gläubigers  eröffnet  werden.  Für  das  zuständige  Gericht  ist 
der  allgemeine  persönliche  Gerichtsstand  des  Gemeinschuldners 
bestimmend.  Wird  die  Eröffnung  des  Konkursverfahrens  von 
einem  Gläubiger  beantragt,  so  hat  der  Richter  die  schleunige 
Anhörung  des  Schuldners  anzuordnen.  Ueber  die  vom 
Schuldner  etwa  gemachten  Einreden  entscheidet  das  Gericht. 
Gegen  die  Entscheidung  des  Gerichts  findet  Beschwerde  an 
das  vorgesetzte  Gericht  statt. 

Wird  die  Eröffnung  des  Konkurses  angeordnet,  so  wer- 
den die  Gläubiger  durch  Edictalladung  (Proclama)  berufen 
spätestens  an  einem  bestimmten  Tage  (in  Schweden  nach  2, 
höchstens  vor  dem  Ablauf  von  4  Monaten  seit  dem  Eröffnungs- 
beschlusse,  in  Finnland  2 — 6  Monate  von  dem  unten  er- 
wähnten „ersten  Verhör"  gerechnet)  ihre  Forderungen  beim 
Gericht  (auf  dem  Lande  beim  Richter)  schriftlich  (in  Finn- 
land auch  mündlich,  wenn  der  Gläubiger  unbemittelt  ist  und 
nicht  schreiben  kann)  anzumeldend^).  Die  Edict.-L.  wird 
durch  Anschlag  an  der  Gerichtsthür  und  durch  Kundmachung 
in  den  Zeitungen  veröffentlicht.  Inländische  Gläubiger 
werden  besonders  benachrichtigt. 

Bei  der  Eröffnung  des  Konkurses  verfügt  das  Gericht 
(auf  dem  Lande  der  Richter)  die  Aufnahme  des  Inventars, 
wenn  ein  solches  nicht  schon  vom  Schuldner  eingereicht  wor- 
den ist.  Das  Inventar  muss  vom  Gemeinschuldner  (bezw. 
auch  von  seiner  Ehefrau,  Dienerschaft  u.  a.,  welche  vom  Ver- 
mögenszustand des  Schuldners  Kenntniss  haben),  beeidigt 
werden.  Die  Verwaltung  der  Masse  wird  bis  zum  Proclama- 
tage  von  einstweiligen  Syndiken  geführt.  Ausserdem  wird 
in  Schweden  vom  Gericht  (Richter)  ein  Gerichtskommissar,  in 
den  vorher  (E.  Not.  44)  erwähnten  Bankkonkursen  ausserdem 
ein  besonderer  öffentlicher  Anwalt  ernannt,  deren  Obliegen- 
heiten im  Gesetz  näher  bestimmt  sind^^).    Definitive  Syndiken 


^^3  Siehe  E.    Note  46. 

^^)  Bei   dem  (sog.  ersten)  Verhör   gescliieht   in    der  Regel   die  Be- 


348  Uppström. 

(Curatoren,  Sysslomän)  werden  am  Proclamatage  von  den 
Gläubigern  gewählt.  Die  Verwaltung  und  Verwerthung  des 
Schuldvermögens,  sowie  die  Vertheilung  der  Netto-Masse  er- 
folgt, den  gesetzlichen  Vorschriften  gemäss,  unter  der  Leitung 
der  Syndiken  und  des  Gerichts- Kommissars  nach  Berathung 
mit  den  Konkurs-Gläubigern  und  dem  Gemeinschuldner,  bezw. 
nach  dem  Beschluss  der  Gläubiger. 

Die  angemeldeten  Forderungen'^^),  welche  in  Finnland  in 
der  Regel  unbedingt,  in  Schweden  nach  Antrag,  beeidigt 
werden  müssen,  werden  auf  dem  Proclamatage  (in  Finnland 
auch  bei  besonderen  „Aufrufen")  zur  (vorläufigen,  bezw.  end- 
gültigen) Behandlung  vorgenommen^^).  Die  Anmeldungen 
sollen  die  Angabe  der  Forderung  sowie  des  beanspruchten 
Vorrechts  enthalten.  Die  urkundlichen  Beweisstücke  oder  Ab- 
schriften derselben  sind  beizufügen.  Die  Angabe  eines  be- 
stimmten Betrages  ist  bei  dieser  Gelegenheit  in  Schweden 
nicht  unbedingt  erforderlich;  in  Finnland  muss  ein  Höchst- 
betrag bezeichnet  werden. 

Will  Jemand  Einwendungen  gegen  eine  Forderung  oder 
das  beanspruchte  Vorrecht  machen,  so  wird  in  Schweden  eine 
bestimmte  Zeit  festgesezt,  binnen  welcher  schriftliche  Anträge 
an  das  Gericht  (den  Richter)  eingereicht  werden  müssen,  so- 
wie eine  Zusammenkunft  vor  dem  Gerichtskommissar  anbe- 
raumt, wobei  schriftliche  Gegenanträge  abzugeben  sind  und 
die  Parteien  sich  zu  einigen  angehalten  werden.  Die  nicht 
beigelegten  Streitigkeiten  werden  an  das  Konkursgericht,  wo 
weitere  Begründung  gemachter  Behauptungen  nur,  wenn  dies 
bei  obenerwähnter  Zusammenkunft  vorbehalten,  bezw.  vom 
Gericht  nöthig  erachtet  wird,    stattfindet,    zu  schleuniger  Be- 


eidigung des  Inventars,  sowie  die  Wahl  von  einstweiligen  Syndiken, 
wobei  die  Gläubiger  mitwirken,  und  die  Ernennung  des  Ger.-Kommissars. 

^3)  Siehe  E.  Note  4G. 

^°)  Bei  nachträglicher  Anmeldung  von  Forderungen  (die  in  Finn- 
land nicht  zulässig  ist),  findet  in  Schweden  ein  besonderer  Prülungs- 
termin  statt. 


Der  Zivilprozess  und  die  Gerichtsverfassung  Schwedens.       349 

urtheilung  verwiesen.  Was  im  Prüfungstermin  anerkannt 
wird  oder  unangefochten  bleibt,  kann  nachträglich  nicht  an- 
gefochten werden. 

Gegen  das  Urtheil  des  Konkursgerichts  findet  Berufung 
statt.  Neue  Beweise  sind  in  Konkurssachen  in  der  Berufungs- 
Instanz,  wo  sie  als  Schleunigkeitssachen  behandelt  werden, 
nur  dann  zulässig,  wenn  der  Berufungskläger  gerichtlicher- 
seits  verhindert  worden  ist,  sie  vorher  zu  führen,  oder  das 
angefochtene  Urtheil  auf  andere  Gründe  als  die  von  den 
Parteien  vorgebrachten  gestützt  ist. 

Zwangsvergleich.  Ein  von  den  Konkursgläubigern 
in  Schweden  durch  Abstimmung  nach  Maassstab  des  Konkurs- 
gesetzes angenommener  Vorschlag  eines  Zwangsvergleiches 
(Accord)^^),  sowie  Einreden  gegen  die  Vertheilungsvorschläge 
der  Sjndiken  werden  vom  Gericht  nach  Anhörung  der  Parteien 
geprüft.  Der  Zwangsvergleich  ist  unzulässig,  wenn  der  Be- 
schluss  der  Gläubiger  nicht  gesetzmässig  zu  Stande  gekommen 
war,  wenn  der  Schuldner  wegen  Betrugs  oder  Unehrlichkeit 
gegen  die  Gläubiger  verurtheilt,  bezw.  angeklagt  oder  ver- 
dächtigt ist,  —  wenn  der  Zwangsvergleich  nicht  allen  unpriori- 
tirten  Gläubigern  gleiches  Recht  gewährt,  —  wenn  alle  be- 
treffende Gläubiger  nicht  mindestens  50  Proz.  ihrer  Forderungs- 
beträge, spätestens  ein  Jahr  nach  der  Feststellung  des  Accords 
zahlbar,  erhalten,  es  sei  denn,  dass  welche  derselben  in  etwas 
Anderes  ausdrücklich  eingewilligt  haben,  —  oder  wenn  der 
Zwangsvergleich  den  Gläubigern  offenbar  nachtheilig  ist. 

Die  Syndiken  sind  für  die  Verwaltung  wie  Mandatarien 
verantwortlich,  und  den  Gläubigern,  sowie  dem  Gemein- 
schuldner zur  Rechnungslegung  verpflichtet.  Die  Klage  gegen 
die  Schlussrechnung  steht  den  Betreffenden  binnen  einer  Frist 
von  3  Monaten  zu.    Das  Honorar  der  Syndiken  wird  von  den 

^^)  In  Finnland  ist  Accord  nur  unter  Zustimmung  sämmtlicher 
Gläubiger,  von  welchen  Forderungen  angemeldet  sind,  zulässig.  In 
Schweden  darf  Zwangsvergleich  nicht  Banken  und  dergleichen  Ein- 
richtungen bewilligt  werden. 


350     Uppström.  Der  Zivilprozess  und  die  Gerichtsverlassung  Schwedens. 

Gläubigern  bestimmt,  vorbehaltlich  der  Entscheidung  des  Ge- 
richts, wenn  Streitigkeiten  darüber  entstehen  ^^).  Das  Honorar 
des  Gerichtskommissars  wird  auf  den  Vorschlag  der  Gläubiger 
vom  Gericht  festgestellt. 

Kosten.  Bei  Abweisung  des  Konkurseröffnungsantrages 
fallen  die  Kosten  dem  Antragsteller  zur  Last.  Im  Fall  der 
Eröffnung  des  Konkurses  gehören  die  Gerichtskosten  zu  den 
Massenkosten.  Mit  der  ordnungsmässigen  Anmeldung  einer 
Konkursforderung  sind  keine  Kosten  verbunden  (ausser  etwa 
für  Vertretung  durch  einen  Bevollmächtigten). 

Die  Gerichtskosten  bei  einem  Konkurs  (incl.  für 
etwaige  Reisen  des  Richters  auf  dem  Lande,  gerichtliche  Be- 
kanntmachungen u.  dergl.)  können  zu  etwa  100  Kronen  be- 
rechnet werden.  Die  Verwaltungskosten  betragen  1 — 2  Proz. 
vom  Werthe  des  Grundeigenthums  und  0 — 10  Proz.  vom 
Werthe  der  Mobilien  (ausschliesslich  Kosten  für  Bekannt- 
machungen, etwaige  Reisen  der  Syndiken  u.  s.  w.). 

Nachlasskonkurs.  Ein  Erbe,  der  die  Verantwortlich- 
keit für  die  Schulden  des  Erblassers  nicht  übernehmen  will, 
bezw.  der  Ueberlebende  von  den  Ehegatten,  hat  binnen  eines 
Monats  nach  dem  Abschluss  der  Inventaraufnahme  oder,  wenn 
neue  Schulden  nachträglich  bekannt  werden,  binnen  derselben 
Zeit,  nachdem  er  von  solchen  Schulden  Kenntniss  erhielt,  die 
Erbschaft  an  den  Konkurs  abzutreten.  Näheres  siehe  die  Ver- 
ordnung über  die  Rechtswohlthat  des  Inventars  und  die  Ver- 
zichtleistung auf  die  Erbschaft  vom  18.  September  1862. 


52 


3  Siehe  E.  Note  44. 


IX. 

Zum  japanischen  Recht. 

Von 

Karl  Friedrichs. 

[Mit  Bemerkungen  und  Zusätzen  von  J.  Kohler]  ^). 

Die  nachfolgenden  Ausführungen  enthalten  ausschliess- 
lich Mittheilungen,  welche  mir  Herr  Sughi-Yama,  Licentiat 
der  Rechte  und  Hilfsarbeiter  am  kaiserlich  japanischen 
Justizministerium,  gebürtig  aus  dem  japanischen  ehemaligen 
Lehnsfürstenthum  Koga  bei  Tokio,  während  seines  Aufenthalts 
in  Breslau  1889  gemacht  hat.  Ich  gebe  dieselben  so  wieder, 
wie  ich  sie  gehört  habe,  da  sie  zwar  manches  Bekannte,  aber 
auch  viel  Neues  enthalten,  das  sich  aus  dem  Bücherstudium 
nur  schwierig  oder  garnicht  ermitteln  lässt. 

I.  PersonenrecM. 

§  1. 
1.  Alter. 

Die  Namengebung  findet  am  siebenten  Lebenstage  statt ^). 
[Vgl.  auch  Rein  I,  p.495;  ist  übrigens  verschieden,  inKiusiu  nach 

^)  [Ich  habe  auf  Grund  der  vorliegenden  Arbeit  mit  Herrn  Staats- 
anwalt Yo  cot  a  aus  Japan  Konferenzen  gepflogen,  welche  die  hier  folgen- 
den Angaben  im  Wesentlichen  bestätigten.  Wo  im  Einzelnen  etliche  Be- 
schränkungen, Vorbehalte,  Abänderungen  zu  Tage  traten,  habe  ich 
Zusätze  gemacht.  Dessgleichen  habe  ich  aus  meinen  sonstigen  Studien 
verschiedenes  Weitere  beigegeben.  Alles,  was  ich  auf  solche  Weise  zu- 
gefügt habe,  ist  mit  eckigen  Klammern  [  ]  bezeichnet.  Ausserdem  ver- 
weise ich  auf  nachfolgende  Arbeit  von  mir,  S.  376  f.         Kohl  er.] 

2)  Ploss,  Kind  in  Brauch  und  Sitte  1  S.  292. 


352  Friedrichs  [und  KoiilerJ. 

100  Tagen.]  Die  Japaner  haben  Familiennamen  und  Rufnamen  ; 
die  letzteren  werden  nachgesetzt,  „wie  es  bei  den  Chinesen,  den 
Ungarn  und  in  den  Registern  der  deutschen  Behörden  üblich 
ist"  ^).  Wenn  ein  Kind  durch  den  Tod  seines  pater  familias 
selbst  Familienhaupt  wird,  so  konnte  es  vor  1808  den  Vor- 
namen seines  Vaters  annehmen.  Das  ist  aber  nicht  mit 
unserer  Uebernahme  der  väterlichen  Firma  zu  vergleichen,  son- 
dern eine  wirkliche  Namensänderung,  da  sie  auch  im  Krieger- 
stande vorkommt,  dessen  Mitglieder  keine  Geschäfte  treiben 
und  keine  Firmen  haben.  Diese  Namensänderung  war  nicht 
obligatorisch,  sondern  facultativ  und  nicht  jeder  machte  Ge- 
brauch davon ^);  jetzt  ist  dieselbe  sehr  erschwert  worden,  da 
bei  den  japanischen  Behörden  Familienlisten  geführt  werden, 
und  in  diese  nur  im  Falle  nachgewiesenen  Bedürfnisses 
(also  wenn  zwei  Personen  mit  gleichem  Ruf-  und  Familien- 
namen in  derselben  Gemeinde  leben)  eine  Namensänderung 
eingetragen  werden  darf.  Ein  Schauspieler,  wenn  Sohn  eines 
berühmten  Schauspielers,  nimmt  den  Namen  seines  Vaters  als 
Theaternamen  an,  oder  den  Namen  eines  berühmten  Vor- 
fahren ^). 

Die  erste  Namengebung  erfolgt  durch  den  Vater  des 
Kindes  nach  Berathung  mit  der  Familie;  aber  nie,  oder  nur 
vereinzelt  durchs  Loos  ^).  In  vielen  Provinzen  ist  es  Sitte, 
dass  der  Vater  dem  ältesten  Sohne  seinen  eigenen  Knaben- 
namen  giebt. 


^)  Herr  Sughi-Yama  hat  die  Registerführung  bei  der  königliclien 
Staatsanwaltschaft  in  Breslau  kennen  gelernt.  KF. 

^)  [Vgl.  auch  Weipert,  Mittheil,  der  deutschen  Gesellsch.  f.  Ost- 
asien V  S.  87.  Der  Familienname  bei  den  Samurai  war  der  sei,  der 
Personenname  mei;  während  der  Lebzeit  des  Vaters  führte  der  künftige 
Erbe  einen  Minderjährigkeitsnamen  (yomei),  dann  nahm  er  den  Namen 
des  Vaters  an,         K.] 

^)  [Es  kam  auch  vor,  dass  der  Schauspieler  einen  Knaben,  den  er 
in  seine  Kunst  einweihte,  quasi  adoptirte  und  ihm  seinen  Namen  gab : 
geido-yoshi;  \gU  Weipert  S.  111,  112.  K.] 

^)  Dies   stellt  Ploss  1,  161    nach   Kudriaffsky    als    die  Req:el   hin. 


Zum  japanischen  Recht.  353 

Ein  officieller  Beginn  der  Mündigkeit,  wie  das  römische 
14.  bezw.  12.  Lebensjahr,  besteht  in  Japan  nicht.  Die  An- 
nahme der  männlichen  Frisur  erfolgte  früher  mit  dem  18.  bis 
20.  Jahre,  aber  die  Zeit  war  nicht  fest  bestimmt  [auch  mit 
17  Jahren,  ja  15  Jahren]^);  seit  1868  ist  auch  dieses  Zeichen 
des  erwachsenen  Alters  im  Wesentlichen  gefallen. 

Eine  gesetzliche  Gränze  des  Heirathsalters  hat  es  nie 
gegeben.  Die  natürliche  Pubertät  tritt  in  Japan  wenig  früher 
als  in  Deutschland  ein.  In  den  300  Jahren  des  ununterbrochenen 
Friedens  (bis  zum  Jahre  1868),  während  die  Lebensverhält- 
nisse sehr  behäbig  waren,  konnte  jeder  Mann  mit  20  Jahren 
heirathen  und  nahm  dann  ein  ganz  junges  Mädchen  zur  Frau. 

Heute  sind  die  Erwerbsverhältnisse  schwieriger  gewor- 
den und  so  frühe  Heirathen  verbieten  sich  von  selbst.  Män- 
ner verehelichen  sich  etwa  mit  27  Jahren,  bei  reichen  und 
gebildeten  Mädchen  kommt  es  vor,  dass  sie  mit  18 — 20  Jahren 
heirathen;  eine  solche  Ehe  gilt  aber  als  recht  frühzeitig  [ist 
verschieden  nach  den  Verhältnissen]. 

§  2. 
2.    Stände. 

Vor  der  Restauration  waren  die  Kugi  [Kuge];  der  Hof- 
adel, die  angesehensten  Personen  nach  dem  Mikado;  dabei 
hatten  dieselben  weder  politischen  Einfluss  noch  Vermögen, 
sondern  bezogen  entweder  Renten  vom  Mikado  oder  lebten 
in  Armuth;  einige  sollen  sich  auch,  durch  Noth  gedrungen, 
an  industriellen  Unternehmungen  betheiligt  haben  ^). 


0  [Vgl.  auch  Weipert  S.  119.         K.] 

^)  [Den  Einfluss  der  Kuge,  des  Hofadels,  zu  schwächen  im  Interesse 
des  Militäradels,  der  Büke,  war  die  Politik  der  Tokugawa,  welche 
bekanntlich  das  Shogunat  von  1603—1867  erblich  führten.  In  den  18  Ge- 
setzen des  ersten  Tokugawa,  in  den  Gesetzen  lyeyasu's  von  1615  a.  10, 
ist  vorgesehen,  dass  eine  eheliche  Verbindung  zwischen  Kuge  und  Büke 
nur  mit  Genehmigung  des  Shogun  geschelien  könne  und  dass  die  Kuge  eine 
solche  Ehe  nicht  benützen  sollten,  um  von  den  Büke  Geld  zu  erlangen. 

Zeitschrift  für  vergleichende  Rechtswissenschaft.   X.  Band.  23 


354  Friedrichs  [und  Kohler]. 

In  den  der  Centralverwaltung  des  Kaisers  unmittelbar 
unterstehenden  Gebieten  war  nach  dem  Kaiser  die  erste  Per- 
son der  Taikun ;  dann  kamen  zwei  Klassen  Adliger,  die  Fu- 
dai-daimio  (landsässigen  Fürsten)  und  die  Chatamoto  (Ritter) ; 
aus  den  Letzteren  war  die  Leibwache  der  Taikune  entnommen. 
[Dazu  kamen  die  Gokenin  oder  Hausmannen;  die  Chatamotos 
hatten  ein  Einkommen  von  300 — 10000  Koku,  die  Gokenin 
unter  300  Koku;  vergl.  Rudorff,  Mittheil.  d.  Gesellsch.  f. 
Ostasien  IV.  p.  383.  Die  Chatamotos  wurden  zu  Dienst- 
leistungen für  die  Shogun  verwendet;  vergl.  lyeyasu's  100 
Gesetze  a.  62.  Vergl.  auch  Adam's  History  of  Japan  I 
p.  74,  75.     K.] 

Als  besondere  Ehrenbezeugung  wurde  einigen  der  Fudaf- 
daimio  und  Chatamoto  der  Titel  No-kami  (Propraetor,  Statt- 
halter) verliehen;  no  ist  Genitivbezeichnung,  kami  =  Statthalter: 
[früher  war  solches  eine  wirkliche  Statthaltung,  später  nur 
Ehrentitel :  Statthalter  von  dem  oder  dem  KreisJ ;  beide  galten 
als  Unterthanen  des  Taikun,  einige  von  ihnen  hatten  Ver- 
waltungsstellen  inne  und  somit  ihrerseits  wieder  Unterthanen. 

In  den  Lehnsfürstenthümern  stand  an  der  Spitze  eines 
jeden   der   Koku-si-daimio  (Koku-si    heisst  Landesherr)  ^).     In 

Vgl.  Rudorff,  Tokugawagesetzsammlung  S.  2.  Aber  auch  schon  vor  den 
Tokugawas  wurden  die  Kuges  geschwächt;  der  Hauptunterdrücker  der- 
selben und  der  Mann,  welcher  der  japanischen  Gesellschaft  (neben  lyeyasu) 
hauptsächlich  das  Gepräge  verlieh,  war  der  erste  shogun,  Yoritomo, 
Ende  des  12.  Jahrhundert?.  Indem  er  als  Krieger  die  Hausmeierschaft 
übernahm  und  seine  Leute  als  Militärstatthalter  in  das  Land  setzte, 
schwächte  er  die  Macht  der  Kuge,  welche  Jahrhunderte  lang  unter  den 
Fujiwaras  (den  früheren  Hausmeiern)  das  Regiment  geführt  hatten.  Die 
Kuges  lebten  von  nun  an  meist  in  Kioto,  wie  der  Mikado  selbst,  von 
jedem  Einfluss  auf  die  Regierung  abgeschnitten,  bis  in  den  50er  Jahren 
dieses  Jahrhunderts  das  Shogunat  in  Niedergang  kam.  Vgl.  auch  Rein, 
Japan  I  S.  367  f.,  Adams,  History  of  Japan  I  p.  18  f.,  Reed,  Japan  I 
S.  137  f.         K.] 

^)  [Der  Unterschied  zwischen  den  Fudai  und  den  übrigen  Fürsten 
(auch  Tos  am  a)  rührt  von  dem  Begründer  der  Tokugawa,  von  lyeyasu 
her;  er  suchte  die  ihm  getreuen  Fürsten  durch  besondere  Ehrenbezeugungen 


Zum  japanischen  Recht.  355 

ihren   Gebieten    lebten   keine  Fudai-daimio    und    keine   Chata- 
moto. 

Die  Kokii-si-daimio  hatten  gleichen  Rang  mit  den  Kugi 
[der  Kuge  hatte  im  Allgemeinen  höhern  Rang,  doch  gab  es 
einige  Koku-si-daimios,  die  ebenso  hoch  rangirten ;  übrigens  be- 
standen mehrere  Rangstufen  der  Kuge]  und  dem  Taikun,  der 
letzte  war  einer  ihresgleichen,  aber  princeps  inter  pares  und 
hatte  zu  allen  Zeiten  eine  thatsächliche  unbeschränkte  Auto- 
rität über  sie.  Die  Koku-si-daimio  mussten  stets  ein  Haus 
in  der  Hauptstadt  haben  und  dasselbe  durch  einen  Theil  des 
Jahres  bewohnen.  Die  Häuser  waren  durch  eine  Wache  vor 
den  Thoren  gekennzeichnet.  In  diesen  Häusern  hatte  die 
vom  Taikun  vertretene  Centralregierung  sehr  wenig  Gewalt. 
Es  war  der  Polizei  sehr  schwer,  in  dieselben  einzudringen, 
so  dass  auch  niemals  festzustellen  war,  ob  ein  verfolgter  Ver- 
brecher sich  in  demselben  befand  oder  nicht;  sie  hatten  da- 
her   keine  rechtliche,    aber  eine    thatsächliche   Asylgewalt  ^^). 


für  sich  zu  gewinnen.  Vgl.  seine  100  Gesetze  a.  7,  9  und  10  (Rudorff, 
Tokugawagesetze  S.  5  und  6).  üebrigens  wird  der  Unterschied  zwischen 
den  Kokushi  und  Fudai  nicht  immer  in  gleicher  Weise  gemacht.  Als 
lyeyasu  die  Tokugawadynastie  gründete,  gab  es  schon  grosse  und  kleine 
Landesherren,  Daimios  und  Shomios,  oder,  wie  er  selbst  unterscheidet 
(a.  11  seine  100  Gesetze):  Kokushi,  Rioshu  und  Joshu  (Schlossherren); 
alle  zusammen  bildeten  den  Stand  der  Samurai.  Von  diesen  hat  lyeyasu 
diejenigen,  welche  ihm  vor  dem  Fall  des  Schlosses  von  Osaka  anhingen 
(a.  7  seiner  100  Gesetze)  zu  Fudai  gemacht,  d.  h.  sie  als  seine  Vasallen 
erklärt,  aber  zugleich  bestimmt,  dass  die  regierenden  Beamten  aus  ihnen 
genommen  werden  sollen  (a.  9  seiner  100  Gesetze).  Daher  können  auch 
grosse  Fudai- Vasallen  mit  Kokushi  bezeichnet  werden.  Auf  der  anderen 
Seite  sind  nicht  alle  Tosamas  Kokushi.  Aus  seinen  kleinen  Dienst- 
vasallen nahm  der  Shogun  seine  Chatamotos  und  Gokenins;  daher  konnten 
solche  natürlich  nur  im  Shogunlande  vorkommen.  Vgl.  hierzu  unten 
S.  433  f.,  Rudorff  in  den  Mittheilungen  des  Ges.  f.  Ostasien  IV  S.  381, 
Gubbins  in  den  Transactions  of  the  Society  of  Japan  XV  S.  131  f.. 
Rein,    Japan   I  S.  370  f.  K.] 

^^)  [üebrigens  war  die  Verpflichtung  der  Landesherren,  in  Yeddo  ein 
Haus  zu  haben,  eine  Massnahme  der  Shoguns,  um  die  Landesfürsten  im 


356  Friedrichs  [und  Köhler]. 

Wenn  der  Koku-si-daimio  von  der  Hauptstadt  nach  Haus  und 
zurück  reiste,  so  wurden  aus  jeder  durchzogenen  Gemeinde 
zwei  [manchmal  auch  mehrj  Landleute  requirirt,  welche  dem  Zuge 
vorangingen  und  allen  Vorübergehenden  ein  „Schtan  Schtan" 
[Sitani-Sitani  (d.  h.  nieder)]  zuriefen,  worauf  diese  nieder- 
knieten, bis  der  Koku-si-daimio  vorbei  war.  Die  Koku-si- 
daimio  hatten  unter  einander  eine  bestimmte  Rangordnung, 
welche  für  das  Ausweichen  und  Grüssen  auf  der  Strasse  von 
Bedeutung  war. 

Wie  der  Taikun  in  den  Reichsunmittelbaren,  so  hatten 
auch  die  Lehensfürsten  in  ihren  Gebieten  eine  Art  von  After- 
lehen. Es  kam  nämlich  vor,  dass  die  Koku-si-daimio  einzelnen 
ihrer  ünterthanen  einen  Theil  ihres  Landes  zur  Verwaltung 
übertrugen  mit  dem  Rechte,  die  Steuern  ganz  oder  zum  Theil 
für  eigene  Rechnung  zu  erheben.  Diese  Verwalter  betrach- 
teten ihre  Steuerzahler  als  ihre  ünterthanen,  wie  sie  selbst 
Ünterthanen  ihres  Koku-si-daimio  waren.  Solche  Afterlehen 
waren  aber  verhältnissmässig  selten. 

Durch  die  Restauration  von  18G8  und  die  darauf  er- 
folgte Einziehung  aller  Lehensländereien  ist  die  Stellung  der 
Koku-si-daimio  sehr  verändert  worden.  Sie  sind  jetzt  einfache 
Privatleute,  aber  sie  beziehen  als  Entschädigung  für  die  ihnen 
genommenen  Rechte  eine  Rente  und  zwar  alle  achtzehn  ehe- 
maligen Koku-si-daimio  zusammen  die  jährlichen  Zinsen  eines 
Capitals  von  154  Millionen  Yen^^). 

Bald  nach  der  Restauration  wurden  alle  Adelstitel  und 
-Vorrechte  aufgehoben;  aber  im  Jahre  1882  ist  durch  Gesetz 
ein  neuer  Adel  geschaffen.     Dieser  Adel  besteht 

a)  aus  den  früheren  Daimio; 

b)  aus  den  früheren  Kugi  [Kuge]; 

c)  aus  solchen  Leuten,  welche  sich  um  die  Restauration 
verdient  gemacht  haben. 


Zaume  zuhalten;  sie  stammt  von  dem  dritten  Tokugawa,  von  lyemitsu 
her;  vgl.  Rudorff  in  den  Mittheil.  d.  Gesellsch.  f.  Ostasien  IV  S.  380. 
^0  Ein  Yen  =  M.  4,12.  KF.] 


Zum  japanischen  Recht.  357 

Der  neue  Adel  besteht  ans  fünf  Klassen;  seine  Privi- 
legien sollen  noch  durch  Gesetz  festgestellt  werden  ^^). 

Nach  dem  Adel  giebt  es  vier  bürgerliche  Stände,  welche 
noch  heute  bestehen.     Es  sind  dies  die 

Si  oder  Samurai  ^^)^  Krieger; 

No  Bauern; 

Ko  Handwerker  und  Arbeiter; 

Sjo  Kaufleute. 
Das  Ansehen  derselben  unter  einander  ist  ziemlich  gleich, 
nur    die   Samurai    scheinen    sich    einen    Vorrang    anzumassen 
[faktisch]  1*). 

Die  Samurai,  Krieger,  und  die  Jakonin,  Beamten,  tru- 
gen zwei  Schwerter  ^^),  die  Ortsvorsteher  ein  Schwert,  Die 
alten  Samurai,  welche  ihren  Posten  und  ihr  Recht  auf  Renten- 
bezug schon  bei  Lebzeiten  an  einen  Sohn  abgegeben  hatten, 
pflegten  als  Erinnerung  an  ihr  ehemaliges  Amt  nur  ein 
Schwert  zu  tragen,  und  zwar  ein  ganz  kleines  [war  verschieden, 
manchmal  auch  zwei  Schwerter]  ^^).  Die  Beschäftigung  der 
Samurai  war  die  Vorbereitung  auf  den  Kriegsdienst.  Wäh- 
rend   der    dreihundertjährigen    Friedenszeit    lagen     sie    auch 


^^)  [Nach  der  japanischen  Verfassung  vom  11.  Februar  1889  a.  34 
und  der  Verordnung  vom  gleichen  Tage  sind  die  Mitglieder  des  Adels 
theils  von  selbst  Mitglieder  der  1.  Kammer  des  Parlaments,  theils  werden 
aus  ihnen  Vertreter  in    die  1.  Kammer  vom  Kaiser  ernannt.         K.] 

^^)  [Si  ist  chinesische  Bezeichnung,  aber  auch  in  Japan  gebräuch- 
lich.      K.] 

^^)  [Uebrigens  erklären  schon  die  lyeyasugesetze  a.  44  die  Samurai 
für  die  erste  Klasse,  der  die  anderen  höflich  begegnen  müssten ;  ferner  dass, 
wenn  ein  Samurai  Jemanden  niederhaut,  der  ihm  grob  begegnete,  man  sich 
nicht  hineinmischen  solle,  Rudorff,  Tokugawagesetzsamml.  S.U.      K.] 

^^)  [„Das  umgegürtete  Schwert  ist  der  lebendige  Geist  des  Samurai", 
so  lyeyasu  in  seinen  100  Gesetzen  a.  3G,  Rudorff,  Togugawagesetz- 
sammlung  S.  10.  Verlust  des  Schwerttragens,  kaiehi,  ist  Strafe  (unten 
S.  397).        K.] 

^^)  [Auf  unbefugtes  Tragen  der  Schwerter  durch  Bürger  und  Bauern 
setzte  der  Kamporitsu  Landesverweisung;  vgl.  Rudorff,  Kamporitsu 
S.  39.     Vgl.  auch  unten  S.  411.       K.] 


358  Friedrichs  [und  Köhler]. 

geistigen  und  wissenBcliaftlichen  Bestrebungen  ob,  so  daas  im 
Jahre  18G8  alle  gebildeten  Japaner  dem  Samuraistande  an- 
gehörten. Es  galt  für  den  Samurai  für  unpassend,  wenn  er 
sich  in  Begleitung  seiner  Frau  auf  der  Strasse  sehen  Hess, 
da  er  seine  Zeit  nicht  mit  Spazierengehen  vergeuden,  sondern 
exerciren  und  studiren  sollte. 

Der  Stand  der  Samurai  ist  historisch  aus  dem  der  rei- 
chen Landwirthe  (gosi)  hervorgegangen  und  entstanden.  In 
der  letzten  Zeit  lebten  die  Krieger  aber  nicht  mehr  von  der 
Landwirthschaft,  sondern  bezogen  feste  Renten  von  den  Fürsten. 
Seit  18G8  haben  sie  statt  der  Renten  Staatspapiere  bekommen 
und  wie  die  Veräusserlichkeit  des  Besitzes  immer  Ungleich- 
heit des  Besitzes  nach  sich  führt,  so  sind  auch  von  den  japa- 
nischen Samuraifamilien  viele  verarmt. 

Von  den  drei  übrigen  Ständen  ist  nur  zu  bemerken, 
dass  dieselben  keine  Waffen  trugen,  und  dass  die  Sjo,  Kauf- 
leute, steuerfrei  waren. 

Die  Vererblichkeit  der  einzelnen  Gewerbe  ist  thatsäch- 
lich  häufig,  aber  weder  durch  Gesetz  noch  durch  Sitte  vor- 
geschrieben. Sie  wurzelt  viel  mehr  in  dem  bei  allen  Japanern 
überwiegenden  Widerwillen  gegen  eine  Ueberlassung  des  vä- 
terlichen Anwesens  an  Fremde. 

Unterhalb  der  vier  Stände  der  Si,  No,  Ko,  Sjo,  standen  bis 
zur  Restauration  die  Ita  [Jeta]  ^^),  es  waren  die  Lederbereiter, 
Abdecker  und  Henker,  und  diejenigen,  welche  sich  mit  Ab- 
fällen   beschäftigten  ^^).      Sie    hatten    zum   Theil   ein    grosses 


^")  [Die  Jeta  haben  ein  besonderes  Oberhaupt,  welches  von  Alters 
her  Gerichtsbarkeit  hatte.  Von  den  Jetas  unterschieden  sind  die  Hinin, 
welche  nicht  von  Geburt,  aber  durch  Gewerbe  oder  zur  Strafe  ehrlos 
sind;  vgl.  Rudorff,  Kamporitsu  S.  45;  unten  S.  397  i".  Ueber  den  Vor- 
stand der  Jetas  spricht  auch  schon  lyeyasu  in  den  100  Gesetzen  a.  35; 
vgl.  Rudorff,  Tokugawagesetze  S.  10.  Ueber  das  Ganze  vgl.  Adam, 
History  of  Japan  I  p.  77.         K.] 

^^)  [Ueber  ähnliche  Verhältnisse  in  Korea  vgl.  Köhler  in  dieser 
Zeitschr.  VI  S.  401,  402.         K.] 


Zum  japanischen  Recht.  359 

Vermögen  und  pflegten  Geld  gegen  Zinsen  zu  verleihen.  Ein 
Ita  bekam  niemals  eine  Tochter  eines  Si^  No,  Ko  oder  Sjo  zur 
Ehe  [vielleicht  eine  sehr  arme].  Dieser  Satz,  der  seinen 
Grundursprung  wohl  nur  in  der  gesellschaftlichen  Sitte  hatte, 
hat  sich  mit  der  Zeit  fast  zum  Gewohnheitsrechtssatz  ge- 
festigt. 

Es  galt  nicht  einmal  für  passend,  wenn  ein  Mann  aus 
den  vier  bürgerlichen  Ständen  sich  von  einem  Ita  [Jeta]  ein- 
laden und  bewirthen  Hess  und  die  Kinder  der  Samurai  wur- 
den von  ihren  Eltern  gewarnt,  in  die  Häuser  der  Ita  einzu- 
treten und  dort  Thee  zu  trinken.  Es  wird  erzählt,  dass  ein 
Ita  einmal  seine  sämmtlichen  Schuldner  zu  Gast  geladen  hatte. 
Die  meisten  kamen  nicht;  die  wenigen,  welche  der  Einladung 
Folge  geleistet  hatten,  fanden  auf  ihrem  Platze  ihren  Schuld- 
schein qnittirt.  Ein  Beispiel  für  die  Verachtung,  in  welcher 
die  Ita  stehen,  und  für  das  Vermögen,  welches  sie  oft 
haben. 

Die  buddhistischen  Priester  und  die  Aerzte  tragen  je 
eine  besondere  Tracht  und  beide  den  Kopf  geschoren  [ge- 
wöhnliche Aerzte  tragen  jetzt  auch  Haar,  fürstliche  sind  ge- 
schoren; die  Schintopriester  hatten  auch  besondere  Haartracht]; 
auf  die  Cultusbeamten  des  Schintodienstes,  welche  von  Sughi- 
Yama  nicht  als  Priester  betrachtet  werden,  bezieht  sich  dies 
nicht.  Im  übrigen  scheinen  weder  Priester  noch  Aerzte  einen 
besonderen  Stand  zu  bilden. 

Die  Schmiede,  welche  in  weniger  cultivirten  Ländern 
eine  besonders  privilegirte  Stellung  einzunehmen  pflegen,  sind 
in  Japan  in  die  Reihe  der  gewöhnlichen  Arbeiter  eingerückt 
[der  Schwertschmied  hatte  höheren  Titel]. 

§  3. 

3.  Ende  der  Persönlichkeit. 

Früher  gab  es  eine  gesetzliche  Trauerzeit.  Seit  der 
Restauration  existirt  dieselbe  jedoch  nicht  mehr. 


360  Friedrichs  [und  Kohler]. 

Beim    Tode   eines    Taikim    pflegten    sich    einige     treue 
Diener  zu  entleiben.     Dies  ist  später  verboten  worden  ^^). 


IL  Familienreclit. 

§  4. 

1.  Ehe  recht. 

Im  Kriegerstande  wurde  vor  der  Restauration  die  Ver- 
letzung der  Keuschheit  an  beiden  Theilen  bestraft  [durch 
Strafversetzung  oder  Hausarrest].  Doch  konnte  die  Sache 
durch  eine  Heirath  oder  auf  andere  Weise  arrangirt  werden. 
Im  Bauernstande  wurde  es  nicht  so  streng  genommen. 

Für  Männer  ist  der  Besuch  des  Bordells  zwar  eine 
Schande^  aber  selbst  für  Verheirathete  nicht  strafbar;  nur  für 
die  Samurai  war  es  vor  der  Restauration  strafbar  und  eben- 
so anscheinend  für  die  buddhistischen  Priester^  denn  man 
sagte  ihnen  nach,  dass  sie  sich  zu  diesem  Zwecke  als  Aerzte 
verkleideten. 

Die  Ehefrau  ist  zur  Treue  gegen  ihren  Ehemann  in 
derselben  Weise  verpflichtet  wie  in  Deutschland. 

Die  japanische  Ebeform  ist  die  der  Monogamie,  die  Bi- 
gamie ist  strafbar. 

Auch  Kebsweiber  existiren  nicht  [vgl.  aber  unten  S.  448], 
Die  Personen,  welche  gemeiniglich  so  bezeichnet  werden, 
stehen  in  keiner  rechtlichen  Beziehung  zu  dem  Manne,  der 
sie  unterhält  [wenn  kein  eheliches  Kind  vorhanden  ist,  erben 
die  Concubinatskinder  ^*')]. 

Die  Maitresse  lebt  auch  nicht  im  Hause  ihres  Zu- 
hälters, wenn  sie  nicht   etwa  zufällig   gleichzeitig   als  Dienst- 


^^)  [Schon  vor  tausend  Jahren  verboten,  es  wurden  an  Stelle  dessen 
Lehmbilder  begraben;  vgl.  unten  S.  438.         K.] 

20)  [Vgl.  auch  Weipert  S.  108.  Dies  ist  bereits  altes  Recht,  es 
ergibt  sich  insbesondere  aus  dem  Taihorio,  dem  Gesetzbuch  von  702 
p.  Chr.;  vgl.  Weipert  S.  128.         K.] 


Zum  japanischen  Recht.  361 

mädchen  in  der  Familie  eine  Stellung  hat  [doch  ist  das  sehr 
verschieden].  Ihre  Stellung  ist  wie  in  Frankreich,  nur  dass 
man  mehr  und  offener  davon  spricht. 

Die  Kinder  der  Maitressen  können  von  ihrem  Vater 
adoptirt  werden,  wie  jedes  andere  fremde  Kind  [waren  keine 
ehelichen  Kinder  vorhanden,  so  war  dies  üblichj. 

Die  ehehindernde  Verwandtschaft  reicht  in  Japan  noch 
etwas  weiter  als  bei  uns.  Ausser  den  Ascendentinnen,  De- 
scendentinnen  und  Schwestern  sind  auch  die  Schwestern  des 
Vaters  und  der  Mutter  und  die  Töchter  des  Bruders  und  der 
Schwester  verboten.  Vetter  und  Cousine  dürfen  sich  heirathen. 
Der  chinesische  Grundsatz,  dass  die  Gleichheit  des  Familien- 
namens ein  Ehehinderniss  begründet,  ist  in  Japan  nie  durch- 
geführt ^^). 

Die  buddhistischen  Priester  mehrerer  Secten  durften  bis 
zur  Restauration  überhaupt  nicht  heirathen,  einige  Zeit  nach- 
her ist  ihnen  die  Ehe  von  Seiten  des  Staates  erlaubt  ^^). 
Gute   Priester   lebten    sehr   keusch   und    das   Institut   der  Zu- 


^0  [Ueber  ehemalige  Geschwisterehe  in  uralten  Zeiten  nach  den 
Kojiki  vgl.  Weipert  S.  95,  Chamberlain  in  der  Vorrede  zu  seiner 
Kojikiübersetzung,  in  den  Transact.  of  the  Asiat.  Soc.  of  Japan  X,  2 
S.  XXXVIII;  auch  Ehen  mit  Tanten,  Nichten  und  Stiefmütter  werden 
erwähnt.  Die  Ehe  mit  der  Schwester  scheint  so  gebräuchlich  gewesen 
zu  sein,  dass  der  Name  Imo  das  Weib  und  die  jüngere  Schwester  be- 
zeichnete. Dagegen  erhob  sich  die  chinesische  Cultur;  vgl.  den  Kojiki 
s.  LIX,  LXII,  CXVIl  (in  der  bezeichneten  Uebersetzung  p.  158,  167,  169, 
264),  namentlich  aber  CXLI  f.  (p.  296  f.),  woraus  hervorgeht,  wie  die 
Schwesterehe  späterhin  als  etwas  Verpöntes  galt.  In  s.  XCVII  p.  230 
wird  der  Incest  zwischen  Eltern  und  Kindern  als  Verbrechen  erwähnt 
(vgl.  unten  S.  379).  Den  neuen  Anschauungen  entspricht  es  daher, 
wenn  in  lyej^asu's  100  Gesetzen  a.  45  bestimmt  ist,  dass  man  das  Weib 
nicht  aus  dem  eigenen  Geschlecht  nehmen  soll,  Rudorff,  Tokngawa- 
gesetzsammlung  S.  11.  Doch  hat  sich  das  Gebot  der  Exogamie  in  Japan 
nie  auch  nur  annähernd  so  streng  entwickelt,  wie  in  China.      K.] 

^^)  Vermuthlich  in  derselben  Weise  wie  bei  uns  durch  §  39  des 
RG.  vom  5.  Februar  1875.  KF. 


302  Friedrichs  [und  Kohler]. 

Ijälteriniien,  wie  es  in  andern  buddhistischen  Ländern  be- 
steht ^^),  ist  in  Japan  nie  eingebürgert  gewesen. 

Bei  den  Personen  des  Militärstandes  ist  die  Eheschlies- 
sung heut  von  der  Erfüllung  von  Bedingungen  abhängig, 
welche  Sughi-Yama  mir  nicht  näher  bezeichnet  hat  [Cautions- 
leistung  u.  s.  w.j. 

Vor  der  Restauration  konnten  zwei  Personen,  von  denen 
der  eine  der  einzige  Sohn  seiner  Eltern  und  die  andere  die 
einzige  Tochter  ihrer  Eltern  war,  einander  nicht  heirathen, 
da  in  diesem  Falle  eine  Familie  ausgestorben  wäre.  Heut  hilft 
man  sich  durch  Adoption.     [Unten  S.  444.1 

Vor  der  Restauration  heiratheten  die  Krieger  (Samurai) 
nur  unter  einander  und  nur  innerhalb  des  Lehensfürstenthums, 
welchem  sie  angehörten  [nicht  ausnahmslos].  Heirathen  zwi- 
schen Fudai-daimio  und  Samurai  waren  sehr  selten,  noch 
seltener  aber  zwischen  Samurai  und  Chatamoto,  da  zwar  keine 
rechtliche  Schranke  bestand,  auch  Rang  und  Vermögen  nicht 
sehr  verschieden  war,  aber  weil  die  letzteren  meist  in  der 
Residenz  des  Taikun  lebten. 

Die  Stände  der  No,  Ko  und  Sjo  heiratheten  unter  ein- 
ander, so  weit  Vermögen  und  Erziehung  gleich  waren. 

Heut  hat  eine  Heirath  zwischen  einem  Prinzen  und  einer 
Arbeitertochter  nur  thatsächliche,  keine  rechtliche  Schranke, 
selbst  die  fünf  im  Jahre  1882  geschaffenen  Adelsklassen  sind 
nicht  auf  die  Ehe  unter  einander  angewiesen. 

Auf  die  Einwilligung  der  Betheiligten  kam  vor  der  Re- 
stauration wenig  an.  Eine  Fürstentochter  bekam  zum  Gatten 
oft  einen  Fürstensohn,  welchen  sie  vorher  nie  gesehen  hatte. 
Bei  den  Samurai  war  es  w^enigstens  Regel,  dass  die  Braut- 
leute sich  vorher  gegenseitig  kannten,  aber  auch  hier  lag  die 
wesentliche  Entscheidung  über  die  Wahl  bei  den  Eltern,  gegen 
deren  entschiedenen  Willen  die  Kinder  keinen  Widerspruch 
hatten.     Ob  aber  der  elterliche  Zwang  bis  in    die    äussersten 


23 


)  Bastian,  VÖA  G  S.  15  Note  *  und  S.  433  Note  ^^ 


Zum  japanischen  Recht.  363 

Consequenzen  getrieben  ist,  weiss  Sughi-Yama  nicht.  Bei  den 
andern  Ständen  sind  die  Kinder  von  den  Eltern  niemals  zur 
Ehe  gezwungen  worden  [bei  andern  Ständen  war  die  Compelle 
nicht  so  scharf]. 

Heute  findet  keine  Eheschliessung  ohne  die  freie  Ein- 
willigung der  Brautleute  statt. 

Die  Eheschliessung  lässt  keine  Reste  vergangener  Zeiten 
erkennen,  weder  Frauenraub  noch  der  Kampf  ums  Weib 
(Rüstern  und  die  Tochter  des  Königs  von  China,  Perseus  und 
Andromache,  König  Drosselbart,  Nala  und  Damayanti)  sind 
in  Geschichte  und  Sage  bekannt,     [Vgl.  aber  unten  Note  275,] 

Die  Ehe  kommt  in  der  Regel  dadurch  zu  Stande,  dass 
ein  gemeinsamer  Bekannter  beider  Parteien  die  Vermittler- 
rolle spielt  ^^)  und  jeder  Partei  über  Familie  und  Charakter 
der  anderen  Seite  die  nöthige  Auskunft  ertheilt.  Es  sind 
keine  gewerbsmässigen  Vermittler,  sondern  Mitglieder  der- 
selben Gesellschaftsschicht,  welcher  die  Verlobten  angehören. 

Die  Liebeserklärung  und  die  Visite  zum  Zwecke  des 
Heirathsantrages  sind  unbekannt.  Das  Eheversprechen  wird 
von  beiden  Theilen  dem  Vermittler  gegenüber  abgegeben; 
zunächst  bekommt  der  Bewerber  die  Umworbene  in  Gegen- 
wart ihrer  Familie  in  einer  besonderen,  speciellen  Zusammen- 
kunft, Miai,  zu  sehen  [miai  heisst  sehen],  bei  welcher  der 
Vermittler  ihn  vorstellt  ^^).  Dann  hält  dieser  im  Auftrag  des 
Bewerbers  bei  den  Eltern  des  Mädchens  officiell  um  die  Hand 
ihrer  Tochter  an;    wenn    diese  befragt   ist    und   ihrer  Mutter 


^^)  [Es  ist  der  Nakodo;  vgl.  Küchler  in  den  Transactions  of  the 
Asiat.  See.  of  Japan  XIII  S.  119.  Näheres  über  ihn  in  der  Schrift  von 
Titsingh,  Ceremonies  usitees  au  Japon  (Paris  1819).  K.] 

^^)  [Bei  dem  Miai  und  nach  demselben  können  die  Brautleute  sich 
über  einander  erkundigen,  auf  dass  sie  nicht  ohne  gegenseitige  Kennt- 
niss  in  die  Ehe  gehen;  ein  bedeutender  Fortschritt  in  den  Rechten  des 
Individuums  gegenüber  dem  chinesischen  Leben,  wo  die  Brautleute 
einander  nach  der  Eheschliessung  zum  erstenmale  sehen.  Dies  letztere 
galt  in  Japan  nur  in  vornehmen  Familien.  Vgl.  auch  Küchler  S.  119.    K.] 


3(34  Friedrichs  [mul  KolilerJ. 

die  Antwort  ins  Ohr  geflüstert  hat,  so  erklären  die  Eltern 
dem  Vermittler  gegenüber  ihre  Entscheidung,  welche  dieser 
dem  Bewerber  mittheilt.  Darauf  macht  der  nunmehrige 
Bräutigam  in  der  Familie  der  Braut  seinen  zweiten  Besuch 
und  bei  dieser  Gelegenheit  werden  die  Ehepakten  festgestellt. 
Die  Brautleute  machen  sich  gegenseitig  Geschenke,  Yulnö, 
früher  nur  in  Stoffen  bestehend,  heutzutage  auch  Schmuck- 
sachen und  eine  gewisse  Art  eines  harten  getrockneten  Fisches, 
welcher  Glück  bedeutet  [der  Bräutigam  macht  der  Braut  Ge- 
schenke und  die  Braut  bringt,  wenn  sie  in  das  Haus  des 
Bräutigams  kommt,  Geschenke  mit]  ^^). 

Dieses  Eheversprechen  hat  keine  rechtlich  verbindliche 
Kraft,  eine  einseitige  Aufhebung  ist  zulässig,  kommt  aber 
selten  vor. 

Vor  der  Restauration  brachte  die  Frau,  welche  in  das 
Haus  ihres  Mannes  zog,  diesem  in  der  Regel  keine  Mitgift 
mit.  Heutzutage  ist  dies  nicht  ganz  ausgeschlossen,  kommt 
aber  nur  vor,  wenn  die  Braut  dumm  oder  hässlich  oder  von 
nicht  untadelhaftem  Charakter  ist  [auch  wenn  sie  reich  ist, 
kommt  es  vor,  aber  selten], 

Wittwe  und  Wittwer  haben  das  Recht,  sich  wieder  zu 
verheirathen.  Thatsächlich  ist  die  Wiederheirath  bei  dem  ver- 
wittweten  Manne  die  Regel,  während  Frauen  in  angesehener 
Stellung,  besonders  wenn  sie  ein  Kind  haben,  sich  selten  neu 
zu  verheirathen  pflegen.     [Vgl.  unten  S.  442.] 

In  der  Kriegerkaste  der  Samurai  hatte  der  Ehemann 
auch  das  Recht,  seine  Frau  zu  tödten,  aber  nur,  wenn  er  sie 
im  Ehebruche  überraschte  [auch  in  anderen  Ständen];  ebenso 
durfte  er  auch  den  Mitschuldigen  erschlagen,  und  es  ist  auch 
thatsächlich  von  dieser  Befugniss  Gebrauch   gemacht   worden. 


2^3  [Vgl.  Titsingh  S.  19  f.  68;  auch  Köhler,  Rechtsvergl.  Studien 
S.  197,  Weipert  S.  97.  Wurde  die  Ehe  aus  Schuld  der  Frau  geschieden, 
so  wurde  vielfach  das  ihr  gegebene  Yuino  vom  Manne  wieder  zurück- 
genommen, Weipert  S.  lOG.         K.] 


Zum  japanischen  Recht.  365 

In  den  anderen  Ständen  bestand  ein  solches  Recht  nicht  wegen 
des  Mangels  der  Waffenfähigkeit.  [Vgl.  aber  unten  S.  387.] 
Die  Ehefrau  durfte  sich  eine  gleiche  Selbsthülfe  gegen 
den  Ehemann,  auch  wenn  sie  ihn  im  Ehebruche  betraf,  nicht 
gestatten. 

§  5. 
2,  Eltern  und  Kinder. 

Für  die  Begründung  des  Kindschaftsverhältnisses  ist  die 
Adoption  fast  ebenso  wichtig  wie  die  Geburt,  und  zwar  hat 
sich  die  Bedeutung  der  Adoption  seit  der  Restauration  nicht 
verringert,  sondern  eher  erhöht.     [Vgl.  unten  S.  440  f.      K.] 

Die  Adoption  geschieht  nicht  wie  Ploss,  Das  Kind  in 
Brauch  und  Sitte  der  Völker,  2,  p,  410  annimmt,  um  dem 
Gildenzwang  zu  entgehen  ^ '^),  denn  ein  solcher  besteht  in 
diesem  Sinne  nicht,  sondern  um  das  Aussterben  des  Haus- 
standes, die  £p£[X7]  ol'/.oq,  zu  vermeiden.  Diese  Bedeutung 
kann  erst  bei  der  Darstellung  des  Erbrechts  gewürdigt 
werden. 

Es  giebt  eine  Adoption  als  Sohn  oder  Tochter  und  eine 
Adoption  als  Schwiegersohn  oder  Schwiegertochter.  Das 
adoptirte  Schwiegerkind  hat  bereits  im  Voraus  die  Stellung 
im  Hause,  welche  es  sonst  nur  durch  die  Ehe  erwerben  würde. 
Eine  solche  Adoption  findet  besonders  nur  dann  statt,  wenn 
das  entsprechende  leibliche  Kind  noch  zu  jung  zur  Ehe  ist, 
und  die  Eltern  sich  doch  die  Verbindung  mit  einer  bestimmten 
Familie  sichern  wollen.  Erforderniss  der  Adoption  ist  nicht 
die  Kinderlosigkeit  des  Adoptivvaters,  vielmehr  ist  sie  auch 
möglich,  wenn  z.  B.  der  im  Hause  vorhandene  Sohn  Geist- 
licher werden  oder  zum  Zwecke  der  Verehelichung  mit  einer 


'^^)  „Ein  Musiker  z.  B.  erkennt  irgend  einen  Musiker  als  Sohn  an, 
während  vielleicht  sein  bisheriger  leiblicher  Sohn  von  einem  Arzt 
adoptirt  ist,  und  dessen  Geschäft  fortsetzt."  [Vgl.  auch  oben  S.  352 
Note  5.         K.] 


366  Fiiedrichs  [und  KolilerJ. 

Erbtocliter  aus  dem  Hause  gehen  will:  andrerseits  ist  die 
Adoption  bei  vorhandener  Kinderlosigkeit  im  Allgemeinen 
Uebung.     [Vgl.  unten  S.  440.] 

Die  Adoption  vollzieht  sich  heut  vor  dem  Standesamte 
[S.  447J. 

Sie  begründet  zwischen  Adoptivvater  und  Adoptivkind 
dasselbe  Erbrecht  wie  zwischen  leiblichen  Eltern  und  Kindern, 
auch  in  strafrechtlicher  Beziehung  stehen  noch  heut  die 
Adoptiveltern  den  leiblichen  Eltern  gleich.  Das  Adoptivkind 
bekommt  auch  den  Familiennamen  der  Adoptiveltern. 

Die  Adoption  zum  Kind  wie  die  zum  Schwiegerkind 
kann  aufgehoben  werden,  die  Aufhebung  geschieht  durch  Er- 
klärung vor  dem  Standesamte. 

Sie  geschah  besonders  dann,  wenn  der  als  zukünftige 
Schwiegersohn  adoptirte  Knabe  sich  später  nach  Erreichung 
der  Mannbarkeit  weigerte,  die  ihm  zugedachte  Erbin  zu 
heirathen. 

Der  Verkauf  eines  Kihdes  in  die  Sklaverei,  von  welchem 
Klemm,  Culturgeschichte  6,  p.  520  spricht,  ist  in  Japan 
schon  aus  dem  Grunde  nie  vorgekommen,  weil  es  hier  keine 
Sklaverei  gegeben  hat.     [yg).  aber  unten  S.  368  f.] 

Dass  ein  Vater  seinen  Sohn  zur  Strafe  getödtet  haben 
soll,  ist  nicht  nachgewiesen,  indessen  ist  nicht  zu  bezweifeln, 
dass  wenigstens  im  Samurai- (Krieger-)stande  dieses  Recht 
bestanden  hat.  Einem  Bauern  wäre  die  Tödtung  schon  des- 
halb nicht  möglich  gewesen,  weil  diese  keine  Waffen  hatten. 
Dagegen  ist  es  möglich,  dass  ein  Krieger  einen  unverbesser- 
lich lasterhaften  Sohn,  zu  dessen  Ausstossung  er  das  Recht  hatte, 
wohl  auch  einmal  getödtet  hat.  In  diesem  Fall  wäre  es  aber 
erforderlich  gewesen,  dass  der  Vater  seinem  Landesfürsten 
(Koku  si-daimio)  den  Fall  nachträglich  anzeigte,  und  dieser 
wäre  dann  in  der  Lage  gewesen,  den  Akt  väterlichen  Haus- 
gerichts nachträglich  zu  billigen  [wie  bei  der  Blutrache]. 
Ohne  Strafzweck,  also  im  Zorn,  hat  auch  ein  Samuraivater 
seine  Kinder  niemals  tödten  dürfen.    Die  gesetzliche  Ahndung 


Zum  japanischen  Reclit.  367 

einer  solchen  Handlung  wäre  die  Todesstrafe  gewesen.  Mit 
der  Restauration  ist  an  ein  jus  vitae  ac  necis  des  Vaters  nicht 
mehr  zu  denken. 

Den  Verführer  einer  Tochter  durfte  in  keinem  Stande 
der  Vater  eigenmächtig  tödten.  Die  Angabe  bei  Klemm, 
Culturgeschichte  6,  p.  521  ist  irrig  [doch  nicht  ganz:  nach 
dem  Kamporitsu  a.  49  haben  die  Eltern  ein  Tödtungsrecht 
gegenüber  der  verlobten  Tochter,  die  sich  mit  einem  Dritten 
geschlechtlich  vergeht,  und  gegen  diesen  Dritten,  sofern  sie 
in  frischer  That  betreten  werden ;  vgl.  unten  S.  387.  448.    K.] 

Das  Kindesverhältniss  konnte  vor  der  Restauration  durch 
Ausstossung  aus  der  Familie  durch  den  Vater  geendet  wer- 
den, wenn  das  Kind  unverbesserliche  Laster  zeigte  ^^).  Die 
Ausstossung  hatte  die  Verwirkung  des  Erbrechtes  zur  Folge. 
Heute  besteht  dies  Institut  nicht  mehr. 

Eine  Endigung  des  Kindschaftsverhältnisses  durch  Be- 
gründung eines  eigenen  Hausstandes  (emancipatio  Saxonica) 
giebt  es  in  Japan  nicht.  So  viel  Werth  darauf  gelegt  wird, 
das  Aussterben  eines  Hausstandes  zu  verhüten,  so  schwer  ist 
es,  einen  neuen  zu  begründen;  die  Kinder  bleiben  bis  zum 
Tode  des  Vaters  Theile  von  dessen  Anwesen,  und  wenn  etwa, 
wie  es  seit  der  Restauration  die  Regel  ist,  mehrere  Brüder 
jeder  für  sich  ein  Anwesen  gründen,  so  geschieht  dies  eben 
erst  nach  dem  Tode  des  Vaters. 

Diese  Thatsache  ist  es  auch,  die  durch  die  Annahme 
des  väterlichen  Vornamens  durch  den  sui  juris  gewordenen 
suus  zweifellos  zum  Ausdruck  gebracht  werden  soll. 

§  6. 

3.  Vormundschaft. 

Die  Vormundschaft  ist  in  Japan  noch  nicht  geregelt. 
Es    giebt   statt    der    Vormünder    Pflegeeltern ,    arme  Japaner, 


'^^)  [Die  Ausstossung  hiessKando;  vgl.  darüber  Grigsby  in  den 
Transactions  of  the  Asiatic  Society  of  Japan  III  p.  133.         K.] 


368  Friedrichs  [und  KohlerJ. 

welche  ein  uneheliches  Kind  aufgenommen  haben,  oder  ent- 
fernte Verwandte,  welche  oft  genug  ihre  Stellung  dazu  miss- 
brauchen, um  ihre  Pflegetöchter  in  ein  öffentliches  Haus  zu 
verkaufen. 

Wenn  ein  Kind  elternlos  wird,  so  verwaltet  in  der  Regel 
der  älteste  Bruder  des  verstorbenen  Vaters  das  Geschäft  oder 
die  Wirthschaft  des  Kindes  neben  seinen  eigenen  Angelegen- 
heiten. In  grossen  Handlungshäusern  ist  es  oft  der  erste  Ge- 
hülfe, welcher  das  Geschäft  für  den  Erben  fortführt  [aber  in 
solchem  Falle  findet  eine  Versammlung  der  Verwandten  statt, 
ob  sie  ihm  das  Geschäft  belassen;  ist  ein  Nebenhaus  (Bunge) 
vorhanden,  dann  führt  der  Inhaber  des  Nebenhauses  die  Ver- 
waltung; über  die  Art  der  Verwaltung  giebt  es  specielle 
Familienstatute  in  den  reicheren  Familien]. 

Wenn  eine  Wittwe  vorhanden  ist,  so  ist  sie,  einerlei,  ob 
das  Haus  und  das  Vermögen  von  ihr  oder  dem  verstorbenen 
Manne  stammt,  die  Verwalterin  des  Vermögens  bis  zur  Mün- 
digkeit der  Kinder.  Wenn  sie  eine  neue  Ehe  eingeht,  so  tritt 
der  zweite  Mann  in  den  Namen  und  die  rechtliche  Stellung 
des  ersten  Mannes  ihr  und  ihrem  Kinde  gegenüber  ein.  Das 
Vermögen,  welches  er  etwa  mitbringt,  wird  zu  dem  Erbe  des 
Kindes  geschlagen  ^^). 

§  V. 
4.  Gesinderecht. 

Sklaverei  hat  es  nach  Sughi-Yamas  besonderen  Forschun- 
gen in  Japan  nie  gegeben  ^^).  Die  angeblichen  Sklaven- 
händler, welche  in  alten  Dramen  vorkommen,   sind  in  Wahr- 


^^)  [Der  zweite  Mann  tritt  in  das  Hans  ein,  wie  ein  Muko-yoshi ;  was 
er  einschiesst,  ist  sein  Yoshi-Beibringen ;  vgl.  darüber  unten  S.  439  f.     K.] 

^°)  [Dies  ist  jedenfalls  für  die  ältere  Zeit  nicht  richtig.  Man  nannte 
in  älterer  Zeit  die  Sclaven  Tom  übe,  später  mit  dem  chinesischen  Namen 
Nuhi.  Im  Taihorio  und  Taihoritsu  (702  p.  Chr.)  ist  mehrfach  von  Sclaven 
die  Rede  (ganz  in  chinesischer  Weise  —  vgl.  unten  S.  430  — );  in  dem 
28.    Kapitel    des    Taihorio   (dem  Hoborio)    sind    eigene    Bestimmungen 


Zum  japanischen  Recht.  369 

heit  Gesindevermiether,  welche  in  einer  verkehrsarmen  Zeit 
den  Transport  von  Arbeitskräften  aus  den  stärker  bevölkerten 
Inseln  in  die  schwächer  bevölkerten  besorgt  haben. 

Als  Knechte  kommen  auf  dem  Lande  in  erster  Linie 
solche  Leute  in  Betracht,  welche  ihr  Vermögen  verloren  haben, 
und  bei  grossen  Bauern  für  die  Kost  und  ungefähr  100  Mark 
jährlichen  Lohn  arbeiten.  Kleinere  Grundbesitzer,  deren  eigenes 
Land  ihnen  nicht  genügende  Beschäftigung  gewährt  (Käthner), 
pflegen  einzelne  Tage  bei  begüterteren  Nachbarn  thätig  zu 
sein;  der  Verdienst  der  Männer  beträgt  etwa  eine  Mark  pro 
Tag  und  Kopf. 

III.  ErbrecM. 

§  8. 
1.  Rechtssätze. 

Bis  zur  Restauration  war  es  die  Regel,  dass  das  älteste 
Kind,  einerlei  ob  Sohn  oder  Tochter,  das  väterliche  Vermögen 
erbte  und  den  Hausstand  und  den  Familiennamen  fortsetzte 
[jedoch  die  Tochter  nur,  wenn  der  jüngere  Bruder  wegen  seiner 
Jugendlichkeit  zur  Verwaltung  unfähig  war;  und  auch  da  pflegte 
der    Muko-yoshi     denselben    zu    adoptiren]  ^i).      Doch   konnte, 


über  das  Gefangennehmen  der  entflohenen  Sclaven  und  ist  gesagt,  dass, 
wenn  Jemand  einen  solchen  Sclaven  gefangen  genommen  hat,  er  aus 
seiner  Hand  gelöst  werden  müsse  gegen  ein  Lösegeld,  welches  bis  zu 
^20  bezw.  7io  des  Werthes  des  Sclaven  aufsteigen  könne.  Ebenso  ist 
im  Denrio,  im  9.  Kapitel  der  Taihorio,  die  Rede  von  dem  Kubunden  = 
(Acker)antheil,  den  der  Sclave  bekommt.  Vgl.  die  Ausführungen  von 
Florenz  in  den  Mittheilungen  der  deutschen  Gesellschaft  für  Ostasien 
V  S.  168  f.,  170;  Tarring  in  den  Transactions  of  the  Asiatic  Society 
of  Japan  VIII  p.  146  f.         K.] 

^0  [Es  ist  dies  ein  Fall  der  Yun-yoshi;  der  Fall  konnte  auch  so 
vorkommen,  dass  der  Vater  wegen  der  Jugend  seines  Kindes  einen 
Fremden  adoptirte,  welcher  dann  wieder  das  gedachte  Kind  adoptirte 
(zum  Yun-yoshi  machte),  aber  bei  Volljährigkeit  desselben  sich  von  der 
Wirthschaft  zurückziehen  musste;  vgl.  Weipert  S.  111,  133.  K.] 
Zeitschrift  für  vergleichende  Rechtswissenschaft.    X.  Band.  24 


370  Friedrichs  [und  Köhler], 

wenn  das  älteste  Kind  eine  Tochter  war^  der  Vater  nach  Be- 
fragung der  Verwandten  sie  enterben  und  den  ältesten  ihrer 
Brüder  zum  Erben  machen. 

Der  erbende  Sohn  gab  seiner  Frau  und  seinen  Kindern 
seinen   Namen  und  war  patriarchalischer  pater  familias. 

Die  erbende  Tochter  war  aber  gleichfalls  zur  Fort- 
setzung des  Familiennamens  berufen ,  ihr  Mann  musste  daher^ 
wenn  er  nicht  vorher  von  ihren  Eltern  als  Schwiegersohn 
adoptirt  war  und  daher  ihren  Familiennamen  trug,  diesen 
als  Ehemann  annehmen  [er  wurde  Muko-yoshi]  und  die  Kinder 
schlugen  somit  nach  der  Mutter  und  nicht  nach  dem  Vater. 
Ein  Erbe  konnte  eine  Erbin  nicht  heirathen,  da  beide  zur 
Fortsetzung  eines  Hauses  und  Namens  verpflichtet  waren. 
Wollte  daher  der  älteste  Sohn  des  einen  Hauses  die  älteste 
Tochter  des  andern  Hauses  heirathen,  so  musste  auf  einer 
von  beiden  Seiten  das  Erbrecht  auf  ein  jüngeres  Kind  über- 
tragen werden.  Dies  war  aber  nicht  möglich,  wenn  beide 
keine  jüngeren  Geschwister  hatten,  also  einzige  Kinder  waren, 
da  vor  1868  in  diesem  Falle  eine  Adoption  ausgeschlossen 
war.  Hier  bestand  also  ein  unüberwindliches  Ehehinderniss, 
welches  in  Romanen  gern  behandelt  wurde.  [Vgl.  unten  S.  444.] 

Die  nicht  erbenden  Kinder  gingen  in  der  Regel  aus 
dem  Hause.  Der  jüngere  Sohn  konnte  sich  in  einer  fremden 
Familie,  welche  keine  Söhne  hatte,  entweder  als  Sohn  oder 
Schwiegersohn  adoptiren  lassen.  In  beiden  Fällen  nahm  er 
den  Namen  der  Adoptivfamilie  an.  Hatte  diese  Familie 
Töchter,  so  wurde  er  in  der  Regel  als  Schwiegersohn  und 
als  Ehemann  einer  von  diesen  adoptirt;  hatte  diese  Familie 
aber  auch  keine  weibliche  Nachkommenschaft,  so  wurde  er 
als  Sohn  adoptirt,  und  konnte  ein  Mädchen  aus  einer  dritten 
Familie  heirathen  und  ihr  seinen  neugewonnenen  Familiennamen 
geben.  Die  aus  dem  Hause  gehenden  Söhne  brachten  nichts 
mit,  als  Kleidung,  Wäsche  und  eine  kleine  Ausrüstung,  aber 
niemals  baares  Geld.    [Vgl.  unten  S.  439.] 

Die  erblose  Tochter  wurde  in  einer  andern  Familie  als 


Zum  japanischen  Recht.  371 

Schwiegertochter  adoptirt  und  heirathete  den  leiblichen  oder 
adoptirten  Sohn  der  Farailie,  in  welche  sie  eintrat.  Auch  sie 
brachte  wie  schon  oben  erwähnt,  ihrem  Gatten  nichts  mit  als 
Kleider  und  Schmucksachen;  niemals  eine  Aussteuer  in  baarem 
Gelde  [doch  gab  es  Ausnahmen,  wenn  ihr  Vater  sehr  reich  war]  ^  ^). 

Gelang  es  den  enterbten  Geschwistern  nicht,  in  einem 
fremden  Hause  Unterkunft  zu  finden,  so  wurden  sie  von  dem 
Erben  verpflegt,  aber  niemals  Mitinhaber  des  Vermögens. 

Bei  dem  Samuraistande  herrschten  dieselben  Regeln  mit 
der  einen  Massgabe,  dass,  so  lange  die  Eltern  noch  einen 
leiblichen  Sohn  hatten,  dieser  der  Erbe  wurde,  selbst  wenn 
die  Schwester  älter  war,  und  dass  die  Töchter  somit  nur  dann 
zur  Erbschaft  kamen  und  zur  Adoption  eines  Schwiegersohns 
Gelegenheit  gaben,  wenn  keine  Söhne  im  Hause  vorhanden 
waren  ^^)  [es  gab  Ausnahmen,  jedoch  nur  mit  Genehmigung 
des  Fürsten,  vgl.  unten  S.  419,  439]. 

Wenn  der  älteste  Sohn  bei  Lebzeiten  seiner  Eltern  kin- 
derlos starb,  so  trat  sein  nächster  Bruder  an  seine  Stelle. 
Wenn  sich  dieser  Tod  aber  ereignete,  nachdem  alle  jüngeren 
Söhne  aus  dem  Hause  gegeben  waren,  so  war  es  möglich  und 
nicht  selten,  dass  einer  der  jüngeren  Söhne  seine  Ehe  auflöste 
und  in  das  Elternhaus  als  Anwärter  auf  die  elterliche  Erb- 
schaft zurückkehrte  [vgl.  S.  444;  geschah  selten,  gewöhnlich 
adoptirte  hier  der  Vater  einen  Anderen].  Der  Vater  war  aber 
auch  in  der  Lage,  die  jüngeren  Söhne  da  zu  lassen,  wo  sie 
ihren  Boden  gefunden  hatten,  und  einen  fremden  Erben  zu 
adoptiren.  Seit  der  Restauration  ist  eine  solche  Rückberufung 
ausgeschlossen. 

Wenn  die  Wittwe  sich  wieder  verheirathete,  so  behielt 
nach  wie  vor  ihr  ältestes  Kind  Anspruch  auf  die  Erbschaft. 
Wenn  die  Wittwe  aber  aus  der  ersten  Ehe  nur  Töchter  und 
aus  der  zweiten  Ehe  einen  Sohn  hatte,  so  war  der  Stiefvater 


^2)  [Vgl.  auch  Weipert  S.  102.        K.] 

^^)  Also  wie  im  englischen  Königshause.     KF. 


;i72  Friedrichs  [und  Kühler]. 

kraft  seiner  hausväterlichen  Gewalt  in  der  Lage,  das  Erbe 
öoiner  Stieftochter  zu  entziehen  und  seinem  Sohne  zuzuwen- 
den. Wenn  die  Familie  zum  Kriegerstande  gehörte,  bei  dem 
die  älteste  Tochter  überhaupt  nur  dann  zur  Erbschaft  berufen 
war,  wenn  keine  Söhne  vorhanden  waren,  so  wurde  die  Tochter 
erster  Ehe  von  selbst  erblos,  wenn  die  Mutter  aus  der  zweiten 
Ehe  noch  einen  Sohn  bekam.  Der  zweite  Mann  erzeugte  so- 
mit dem  verstorbenen  Manne  einen  Erben  ^^). 

Diese  Enterbung  einer  Tochter  durch  nachgeborene 
Plalbbrüder  galt  aber  als  nicht  wünschenswerth  und  man  be- 
trachtete es  als  moralische  und  Anstandspflicht,  dass  eine 
Wittwe,  die  nur  Töchter  geboren  hatte,  sich  nicht  wieder 
verheirathete.  Dagegen  konnte  dieselbe  einen  Jüngling  als 
Sohn  oder  Schwiegersohn  adoptiren. 

Diese  Regeln  bestehen  auch  nach  der  Restauration  mit 
der  einzigen  Massgabe,  dass  die  Adoption  noch  mehr  er- 
leichtert ist.  Heute  kann  auch  der  älteste  Sohn  in  Adoption 
gegeben  werden,  was  vorher,  besonders  bei  adligen  Familien, 
nicht  möglich  war,  und  ein  Vater  ist  im  Stande,  einen  zweiten 
Hausstand  zu  gründen;  ja  wenn  er  mehrere  Söhne  hinterlässt, 
welche  nicht  von  Anderen  adoptirt  sind,  so  entstehen  von  selbst 
mehrere  Hausstände.  Die  Erbschaft  geht  also  in  gleiche 
Theile,  während  früher  der  Eine  erbte  und  der  Andere  ver- 
pflegt wurde.  Diese  neugebildete  Familie  bekommt  natürlich 
keinen  neuen  Namen,  sondern  den  Namen  der  FamiHe,  aus 
welcher  sie  abgezweigt  ist  [schon  früher  konnte  der  zweite 
Sohn  aus  seinem  Verdienst  ein  Nebenhaus  gründen]. 

Ein  testamentarisches  Erbrecht  und  eine  gesetzliche  In- 
testaterbordnung  in  der  Seitenlinie  haben  die  Japaner  nicht,  eine 
gewohnheitsmässige  Erbordnung  in  der  Seitenlinie  hat  sich 
wegen  der  Häufigkeit  der  Adoptionen  nicht  ausbilden  können. 

Nur  in  der  Familie  des  Mikados  wurde   der  Erbe   nicht 


^*)  [Richtiger  gesagt,  dem  Hause  des  verstorbenen  Mannes,  in  das 
er  als  iri-muko  eintrat;  unten  S.  441  1".         K.] 


Zum  japanischen  Recht.  373 

adoptirt.  Wenn  also  der  Herrscher  ohne  Söhne  starb,  so  ging 
der  Thron  an  seine  Seitenverwandten  über.  In  Ermangelung 
bestimmter  Regeln  wurden  die  Streitigkeiten  der  verschiedenen 
Thronprätendenten  durch  die  Familienangehörigen  oder  die 
Minister  entschieden.  Die  Zahl  der  zur  eventuellen  Erbfolge 
berufenen  Personen  ist  sehr  gross.  Ausser  dem  Hause  des 
Mikado  gehören  dazu  auch  die  Seitenlinien  Arisugawa,  Fu- 
shimi  und  Kanin  [wenn  der  Mikado  keinen  Sohn  hat,  bestimmt 
er  gewöhnlich  selbst  den  Nachfolger]  ^^). 

Da  eine  Vererbung  in  der  Seitenlinie  und  auch  grössere 
Vermächtnisse  nicht  vorkommen,  so  kennt  Japan  auch  keine 
unerwarteten  Erbschaften   und  keine  lachenden  Erben. 

Soweit  gehen  die  Mittheilungen  Sughi-Yama's;  die  nach- 
folgenden Ausführungen  beruhen  im  Wesentlichen  auch  noch 
auf  den  mit  ihm  abgehaltenen  Conferenzen. 

§  9. 
2.   Theorie  und  Construction. 

Das  japanische  Erbrecht  betrachtet  den  Hausstand  und 
dessen  Erhaltung  und  Fortsetzung  als  die  Hauptsache,  die 
Personen  sind  ihm  nur  Mittel,  diesen  höheren  Zweck  zur 
Durchführung  zu  bringen.  Der  Japaner  fragt  sich  also  nicht 
wie  wir:  „wo  bleibt  das  Vermögen,  welches  der  Verstorbene 
nicht  mehr  braucht?''  sondern:  „wer  setzt  das  Amt  des  Ver- 
storbenen fort''.  Es  ist  dies  die  Auffassung  des  Erbrechts, 
welche  für  die  Wirthschaftsstufen  des  Hirtenthums  und  des 
Ackerbaus  und  für  die  Familienstufen  des  Matriarchats  und 
des  Patriarchats  charakteristisch  sind.  Ich  will  noch  bemerken 
dass  Sughi-Yama  mich  mehrfach  voll  Verwunderung  fragte, 

^^)  [Aus  dem  Kojiki  geht  hervor,  dass  in  alten  Zeiten  die  Beerbung 
des  Mikado  keine  regelmässige  war,  sondern  nach  den  Umständen  des 
Falls  erfolgte.  Bezüglich  der  Vererbung  des  Shogunats  bestimmten  die 
100  Gesetze  lyeyasu's  a.  4,  dass  in  Ermangelung  eines  Hauserben  die 
hohen  Würdenträger,  ohne  Rücksicht  auf  nähere  oder  fernere  Verwandt- 
schaft, eine  geeignete  Person  wählen  sollten.         K.] 


374  Friedrichs  [und  Kohlerj. 

wie  es  denn  möglich  sei,  dass  ein  Gutsbesitzer  oder  ein  Kauf- 
mann sein  Vermögen,  welches  nur  in  dem  Gute  oder  in  dem 
Geschäfte  besteht,  unter  seine  Kinder  vertheilte;  es  würde 
dem  Sohne,  der  das  Geschäft  fortsetzte,  doch  das  Betriebs- 
kapital entzogen;  diese  Frage  stellte  er  nicht  im  Interesse  des 
immer  noch  etwas  bevorzugten  ältesten  Sohnes,  sondern  eigent- 
lich mehr  im  Interesse  des  Guts,  der  Handlung  ^^). 

Diese  Auffassungsweise  muthet  uns  an,  wie  die  gute  alte 
Zeit.  Der  Gedanke,  der  bei  uns  in  den  Familienfideicommissen 
und  dem  Landgüterrecht  nur  künstlich  und  mit  Noth  gehalten 
wird,  der  Gedanke  des  Familienvermögens,  ist  in  Japan  noch 
in  voller  Lebenskraft.  Das  Anerbenrecht  wird  dort  noch  nicht 
für  eine  ungerechte  Bevorzugung  des  einen  Kindes  vor  den 
andern  angesehen,  sondern  als  ein  Mittel,  dem,  der  die  grössten 
Pflichten  hat,  auch  die  Möglichkeit  zu  ihrer  Erfüllung  zu  geben. 

Dieses  System  der  guten  alten  Zeit  kann  aber  nur  dort 
bestehen,  wo  die  Unterhaltsmittel  allgemein  reichlich  fliessen 
und  Prunksucht  und  Luxus  verhältnissmässig  gering  sind. 

Das  japanische  System  wird  aber  voraussichtlich  in  kurzer 
Zeit  einem  andern  weichen,  welches  dem  unseren  ähnlicher  ist. 
Der  Grundgedanke  des  ersteren  ist  offenbar  das  l^rincip  der 
Untheilbarkeit  der  Anwesen.     [Vgl.  aber  unten  S.  437  f.] 

Untheilbar  war  bisher  die  öffentliche  Stelle  des  Mikados, 
sowie  des  früheren  Taikuns  und  der  Lehensfürsten;  untheilbar 
war  die  Rentenberechtigung  der  Samurai,  als  der  Entgelt  für 
eine  untheilbare  Dienstleistung,  untheilbar  waren  auch  bisher 
die  bürgerlichen  Hausstände. 

Das  Grundeigenthum  war  veräusserlich,  aber  es  wurden 
nie  ganze  Besitzungen  verkauft,  sondern  es  fanden  nur  Ab- 
verkäufe von  einzelnen  Parcellen  statt;  in  der  Regel  aber 
auch  dies  nicht  [es  galt  als  tadelnswerth,  das  Vaterhaus  zu  ver- 
kaufen, kam  aber  vor].     Wer  zu  viel  Arbeitskräfte  in  seiner 


^®)  [Anders  iirtheilt,   ganz  von  modern  europäischen  Ideen  durch- 
drungen, Kosaburo  Kishi,  Erbrecht  Japans  S.  40  t".         K.J 


Zum  japanischen  Recht.  375 

Familie  hatte^  pachtete  seinem  Nachbarn  einige  Parcellen  ab 
oder  diente  ihm  an  freien  Tagen  für  Tagelohn;  wer  zu  viel 
Land  hatte,  um  es  mit  den  Kräften  seiner  Familie  zu  be- 
wirthschaften,  konnte  einzelne  Aecker  verpachten  oder  Tage- 
löhner annehmen.  Es  gab  keine  Personen,  welche  ihrem 
Hauptberufe  nach  Pächter  oder  Tagelöhner  gewesen  wären, 
ohne  eigenes  Land  zu  besitzen  und  zu  bewirthschaften.  Und 
wenn  ich  Sughi-Yama  recht  verstanden  habe,  war  die  Zahl 
der  in  einem  Dorfe  bestehenden  Haushaltungen  fest  ge- 
schlossen und  konnte  nicht  vermehrt  oder  vermindert  werden 
[es  können  Nebenhäuser  gegründet  werden,  die  Zahl  der 
Haupthäuser  ist  regelmässig  fest,  vgl.  unten  S.  443,  444]. 

Die  Geschäfte  des  Kaufmanns  und  des  Handwerkers  sind  an 
sich  theilbar,  aber  sie  sind  in  Japan  bis  1868  nicht  getheilt  worden. 

Nun  ist  es  anders.  Die  Renten  der  mediatisirten  Lehens- 
fürsten, die  Staatsschuldscheine  der  Samurai  sind  beliebig 
theilbar;  auch  in  den  bürgerlichen  Ständen  theilt  sich  das 
Vermögen,  wenn  ein  Vater  zwei  Söhne  im  Hause  hinterlässt, 
von  selbst.  Diese  neue  Einrichtung  wird  über  lang  oder  kurz 
ihre  Wirkung  äussern. 

Wenn  der  Mann  nicht  mehr  das  ganze  Familienver- 
mögen zur  Verfügung  hat,  um  seine  Frau  und  seine  Ge- 
schwister zu  ernähren,  sondern  wenn  er  sich  zwar  um  seine 
Brüder  nicht  mehr  zu  kümmern  braucht,  diesen  aber  eine 
Quote  der  Erbschaft  abgeben  muss,  so  wird  sich  das  Bedürf- 
niss  geltend  machen,  dass  auch  solche  Frauen,  welche  nicht 
Erbtöchter  sind,  ihren  Männern  einen  Beitrag  zu  den  Ehe- 
lasten in  die  Ehe  mitbringen,  es  wird  also  das  Institut  der 
Mitgift  und  der  Erbberechtigung  der  Frauen  mit  der  Zeit 
ganz  allgemein  werden. 

Rechnen  wir  hierzu  noch  den  unwiderstehlichen  Einfluss 
der  europäischen  Beispiele  und  die  grosse  Nachahmungsfähig- 
keit und  Nachahmungslust  der  Japaner,  so  unterliegt  es  keinem 
Zweifel,  dass  es  dort  bald  so  aussehen  wird  wie  bei  uns. 


X. 

Studien  ans  dem  japanischen  Kecht. 

Von 
Prof.  Dr.  J.  Kohler. 

I. 

Einleitung. 

Ueber  das  japanische  Recht  ist  in  den  Werken  von 
Rein  u.  A.  vieles  Beachtungswerthe  gegeben;  in  den  Mit- 
theiliingen  der  Deutschen  Gesellschaft  für  Ostasien  und  in  den 
Transactions  of  the  Asiatic  Society  of  Japan  finden  sich  be- 
deutungsvolle Detailarbeiten.  Von  besonderer  Wichtigkeit  sind 
aber  die  mehr  oder  minder  vollständig  publicirten  Rechts- 
bücher, welche  uns  einen  tiefen  Blick  in  die  rechtlichen 
Vorstellungen  und  in  den  rechtlichen  Verkehr  dieses  merk- 
würdigen Volkes  gestatten.  Aus  allem  diesem  sind  nach- 
folgende Studien  geschöpft^).  Für  das  Familienrecht  ist  das 
neue  Gesetz  von  1890  vom  höchsten  Interesse  —  denn  wenn 
auch  modern,  hält  es  eine  Reihe  von  Zügen  des  altjapanischen 
Wesens  aufrecht.  Ich  verdanke  den  Einblick  in  dasselbe,  so- 
wie eine  Reihe  bedeutender  Mittheilungen,  dem  Japaner  Yocota. 

Von  den  grossen  Codificationen  des  8.  Jahrhunderts  ist 
allerdings  leider  weder  derTaihorio  noch  der  Taihoritsu 


0  Vgl.  auch  zur  Ergänzung  meine  Bemerkungen  zu  dem  vorstehen- 
den Friedrichs'schen  Aufsätze. 


Studien  aus  dem  japanischen  Recht.  377 

wirklich  übersetzt,  aber  wir  haben  aus  ihnen  so  viele  Mit- 
theilungen, dass  eine  Reihe  der  wesentlichsten  Bestimmungen 
unzweifelhaft  hervortreten. 

Dagegen  ist  uns  die  Gesetzgebung  der  Tokugawas  (von 
1603  an)  in  dankenswerthester  Weise  aufgeschlossen  worden. 
Von  den  Gesetzen  der  lyeyasu  bestanden  bereits  Ueber- 
setzungen.  Eine  neue  Uebersetzung  bietet  Rudorff,  dazu  aber 
noch  eine  Uebersetzung  der  Bukeshohattos,  des  Kampo- 
ritsu,  Osadamegaki  und  der  ihnen  nachfolgenden  Gesetze: 
des  K ansei  Keten  und  Scharitsu,  sowie  der  Präjudizien- 
(und  Verordnungs-)sammlung  Reigaki,  die  für  das  Rechtsleben 
von  grosser  Bedeutung  war;  denn  auf  Präjudizien  (resho) 
legt  der  Japaner  grossen  Werth  ^), 

VondiesenRechtsbücherngeniessendielOOGesetzelyeyasu's 
ein  begründetes  Ansehen:  sie  enthalten  eine  Fülle  von  Lebens- 
weisheit; am  ausgiebigsten  aber  und  eingehendsten  ist  der  Kam- 
poritsu  oder  Hiakkajo  aus  dem  Jahr  1742.  Ich  bezeichne 
hiermit  dasjenige,  was  auch  Osadamegaki  gehen  heisst: 
den  zweiten  Theil  des  Osadamegaki  (Gesetzessammlung),  be- 
stehend aus  103  Artikeln.  Allerdings  stammt  derselbe  nicht 
in  der  vorliegenden  Gestalt  aus  1742,  sondern  er  wurde  nach- 
träglich ergänzt  und  erscheint  im  Jahre  1767  erweitert  als 
Kajoruiten.  —  Daran  schliesst  sich  das  Reigaki  und  das 
K ansei  Keten,  eine  modificirte  Fassung  des  Hiakkajo. 

Das  Hiakkajo  entspricht  am  meisten  der  Form  unserer 
heutigen  Gesetze;  es  ist  ein  Strafgesetzbuch,  welches  aber, 
wie  der  chinesische  Ta-tsing-lü-li,  auch  eine  Reihe  civilisti- 
scher Bestimmungen  enthält. 

Der  erste  Theil  des  Osadamegaki  dagegen,  das  Osada- 
megaki johen  bietet  eine  Reihe  ziemlich  lose  und  systemlos 
an  einander  gereihter  Verordnungen. 

Alle  diese  Tokugawagesetze  finden  sich  übersetzt  bei 
Rudorff,    Tokugawa-Gesetzsammlung   (1889);    das   Hiakkajo 


^)  Vgl.  Osadamegaki  a.  23. 


378  Kohler. 

allein  ist  gegeben  in  Rudorff,  Kamporitsu  oder  Hiakkajo. 
Durch  die  Herausgabe  dieser  Uebersetzung  ist  der  verglei- 
chenden Rechtswissenschaft  ein  grosser  Dienst  geleistet  wor- 
den, nicht  minder  durch  die  ausführlichen  Einleitungen,  mit 
welchen  Rudorff  die    Rechtsbücher  eingeführt  hat. 

In  der  Folge  wird  das  Kamporitsu  Hiakkajo  als  die 
ausgiebigste  Quelle  lediglich  durch  Artikclangabe  citirt  werden; 
das  Osadamegaki  johen  (der  erste  Theil)  als  Osadamegaki. 

Von  besonderer  Bedeutung  ist  uns  die  Vergleichung  mit 
dem  chinesischen  Rechte.  Es  hat  sich  klar  ergeben,  dass 
nicht  nur  der  Taihorio  und  Taihoritsu  chinesisches  Recht  ent- 
halten, sondern  auch  die  Tokugawagesetze  ganz  auf  chinesischer 
Welt-  und  Lebensanschauung  beruhen. 

Das  chinesische  Recht  ist  ein  Receptionsrecht,  welches  in 
Japan  Eingang  gefunden  hat,  in  Korea  und  in  Annam^). 

II. 

Japanisches  Strafrecht. 

Von  dem  ältesten  japanischen  Strafrecht  erzählen  uns  die 
Japaner  einiges  Wenige*),  so  insbesondere,  dass  ursprünglich 
der  Thäter  sich  einer  Sühne  unterwerfen  musste  ^)  und  sein 
Vermögen  als  sündhaft  verwüstet  wurde;  später  trat  Lebens- 
und Leibesstrafe  ein,  die  aber  durch  Zahlung  einer  Geldsumme 

^}  ^gl-  zum  Folgenden  auch  noch  die  Werke:  Adams,  History 
of  Japan  (London  1874);  Reed,  Japan  (London  1880);  Rein,  Japan; 
Pere  de  Charlevoix,  Histoire  et  descriptlon  du  Japon  (Paris  1736); 
Kämpfer,  Geschichte  Japans  (nach  der  mir  vorliegenden  französischen 
Uebersetzung  von  Scheuchzer).  Verschiedene  Arbeiten  in  den  Mit- 
theilungen der  deutschen  Gesellschaft  für  Ostasien  und  in 
den  Trans actions  of  tlie  asiatic  societj^  of  Japan. 

^)  Michaelis  in  den  Mittheilungen  der  Gesellschaft  für  Ostasien  IV 
S.  353  f.  (hauptsächlich  nach  Minamoto  im  Nihonshi). 

^)  Vgl.  auch  Pfizmaier  (Note  8)  S.  13  f.  Auch  allgemeine  Süh- 
nungen kamen  vor,  vgl.  Kojiki  s.  XCVII  (Chamberlain  in  den 
Transactions  X  2  p.  230). 


Studien  aus  dem  japanischen  Recht.  379 

abgelöst  werden  konnte^).  Leibesstrafe  war  die  Tättowi- 
rung  und  die  Prügelstrafe^  ausserdem  gab  es  Verbannung  und 
Degradation.  Auch  das  Ausreissen  von  Nägeln,  das  Durch- 
schneiden der  Kniesehnen  wird  erwähnt''^). 

Von  Delikten  werden  uns  aus  alter  Zeit  ausser  Mord, 
Verwundung,  Leichenschändung  und  Diebstahl,  insbesondere 
Incest  (zwischen  Ascendenten  undDescendenten)  genannt,  ferner 
Sodomie  mit  Thieren,  das  lebendige  Schinden  (von  Pferden?), 
die  Verwirrung  der  Grenzen  der  Reisfelder  ^). 

Auch  kannte  diese  alte  Zeit  das  Gottesurtheil  des  Kessel- 
fangs (zweiseitig)  und  des  heissen  Eisens  (Axt)  —  letzteres 
wie  es  scheint,  nur  einseitig  ^).  Finden  sich  doch  solche  Or- 
dalien,  und  zwar  gerade  das  Heisseisenordal  (glühender  Nagel 
auf  die  Hand,  als  einseitiges  Ordal)  auch  bei  den  Ainos  ^^). 
Uebrigens  sollen  die  Shintopriester  noch  bis  in  spätere  Zeit 
nebst  anderem  Zauber  auch  Gotteszauber  geübt  haben,  um 
den  Verbrecher  zu  entdecken :  sie  gingen  in  die  Wohnungen, 
wo  das  Verbrechen  begangen  war,  sprachen  Verwünschungen 
aus,  Hessen  den  Beschuldigten  ein  Papier  mit  Zaubersprüchen 
verschlingen,  und  wenn  das  ihn  nicht  zum  Geständniss  brachte, 
liessen  sie  ihn  über  Kohlen  schreiten  ^^). 

Wie  es  scheint,  ist  daher  das  Strafrecht  Japans  ursprüng- 
lich andere  Wege  gegangen,  als  das  chinesische.    Als  aber  in 


^)  Ueber  die  Ablösung  der  Strafe  im  alten  Japan  vgl.  auch  Florenz 
in  den  Mittheilungen  der  deutschen  Gesellsch.  V.  S.  175. 

0  Chamberlain  in  den  Transactions  X,  2  p.  XLI. 

^)  Kojiki  s.  XCVII  (cf.  s.  XV)  bei  Chamberlain  in  der  Transact. 
X,  2  p.  230,  53  Note  10;  Nakatomibarai  bei  Pfizmaier,  die  Shintoo- 
bannung  des  Geschlechtes  Nakatomi  S.  10,  12. 

^)  Michaelis  S.  324,  Chamberlain  in  den  Transactions  X,  2 
p.  LVIII. 

^°)  Sehe  übe  in  den  Mittheilungen  der  deutschen  Gesellsch.  für 
Ostasien  III  S.  239;  hier  auch  das  Trinken  von  Seewasser:  das  Erbrechen 
beweist  die  Schuld. 

^^)  Kämpfer  I  p,  203.  Auch  die  Divination  war  bekannt, 
Chamberlain  a.  a.  0.  p.  LIX. 


380  Kohler. 

der  Bllithezeit  Chinaf»,  in  der  Thangdynastie  (GIB — 907  n.  Chr.), 
die  chinesische  Kultur  in  Japan  ihren  Einzug  hielt  ^2),  wurde  auch 
das  chinesische  Strafrecht  in  Japan  aufgenommen;  wahrschein- 
lich schon  im  G.  u.  7.  Jahrh.  ^^),  namentlich  aber  durch  das  Rechts- 
buch, welches  als  Taihorio  und  Taihoritsu  die  Grundlage 
des  japanischen  Rechts  wurde  —  vom  Jahre  702  n.  Chr. 

Das  Taihogesetz  soll  nicht  mehr  im  Original,  sondern 
nur  in  einer  späteren  Redaktion  vorhanden  sein,  die  aber  im 
Wesentlichen  dem  Original  entsprechen  soll.  Eine  ücber- 
setzung  desselben  wäre  sehr  wllnschenswerth.  Bis  jetzt  liegt 
es  uns  nur  in  Auszügen  vor,  und  zwar  das  Taihoritsu  bei 
Michaelis  (IV  S.  355  f.)  und  ein  Theil  des  Taihorio  im 
Auszug  bei  Tarring  in  den  Transactions  of  the  Asiat.  So- 
ciety of  Japan  VIII  p.   145  f. 

Was  uns  aber  von  Michaelis  aus  dem  Taihoritsu  ge- 
geben wird,  beweist  vollkommen  die  Reception  des  chine- 
sischen Rechts;  und  zwar  des  chinesischen  Strafrechts  wesent- 
lich in  der  Form,  wie  es  uns  in  dem  Ta-tsing-lü-li  vorliegt  ^*). 
Daraus  ergibt  sich  ein  Doppeltes. 

Schon  an  sich  konnte  kein  Zweifel  bestehen,  dass  der 
Grrundbestandtheil  des  chinesischen  Ta-tsing-lü-li  aus  älterer 
Zeit  stammt;  jetzt  ist  es  sicher,  dass  er  mindestens  auf  das 
8.  und  9.  Jahrhundert  unserer  Zeitrechnung  zurückgeht,  bis  auf 
die  Dynastie  der  Thang,  also  auf  9  ^2  Jahrhunderte  vor  der  Tsing- 
dynastie,  als  deren  Rechtsbuch  der  Ta-tsing-lü-li  erscheint. 

Es  ergiebt  sich  ferner  eine  ziemlich  genaue  Ueber tragung 
des  chinesischen  Rechts  in  das  japanische;    der  Taihoritsu  ist 

^^)  Das  Eindringen  der  chinesischen  Ciütur  erfolgte  zugleich  mit 
dem  Eindringen  des  Buddhismus;  im  Jahre  604  wurde  desshalb  eine 
Gesandtschaft  nach  China  geschickt;  Reed  I  p.  78  f. 

^^)  Von  der  Königin  Jito  im  6.  Jahrh.  soll  ein  Gesetz  v.  20  Büchern 
herrühren,  Reed  I  p.  128.  Besonders  thätig  für  die  chinesische  Cultur 
waren  die  Mikados  (Tennos)  Kotoku  (645—654),  Temmu  (673-686), 
Mannu  (697—707),  Shomu  (723-748);  vgl.  Rein,  Japan  I  S.  252  bis 
254.     Vgl.  auch  Chamberlain  in  den  Transactions  X,  2  p.  LXVllI. 

^'*)  Ueber  dasselbe  vgl.  mein  chines.  Strafrecht  S.  11   f. 


Studien  aus  dem  japanischen  Recht.  381 

kaum  etwas  anderes^  als  eine  japanische  Redaktion  des  chine- 
sischen Gesetzbuchs  in  der  Gestalt,  wie  es  eben  wohl  in  der 
Thangdynastie  in  Geltung  war.  Es  zeigt  die  Züge  des  chine- 
sischen Rechts  in  seiner  Beeinflussung  durch  den  Thsinstaat, 
durch  Thsinschihoangti  ^^).  Insbesondere  die  Bestrafung  der 
Familie  des  Thäters  mit  dem  Thäter  ist  ein  Grundsatz^  den  das 
japanische  Recht  dem  Rechte  Thsinschihoangtis  getreulich 
entlehnt  hat.  Der  Satz,  dass  Vater  und  Sohn  des  Hoch- 
verräthers mit  hingerichtet  werden  ^^)^  findet  sich  auch  im  Tai- 
horitsu  gegeben  ^'^);  ebenso  kehrt  die  chinesische  Bestimmung, 
dass  bei  der  grausamen  Tödtung  und  bei  der  Tödtung  zu 
Zauberzwecken  die  Söhne  verbannt  werden  ^^),  im  Taihoritsu 
wieder  ^^).  Wir  sehen  daraus,  dass,  wenn  die  Familienhaf- 
tung unter  der  Handynastie  (306  vor  bis  263  nach  Chr.)  auf- 
gehoben war,  sie  bereits  in  der  Thangdynastie  wieder  bestand. 
Ebenso  entspricht  das  Strafensystem  des  Taihoritsu  dem 
Strafwesen  des  Ta-tsing-lü-li  ziemlich  genau.  Die  verstüm- 
melnde Strafe  war  in  China  bereits  unter  der  Handynastie 
aufgehoben  worden  ^^),  sie  blieb  aufgehoben  und  findet  sich 
darum  nicht  mehr  im  Strafrecht  der  Thangperiode  und  nicht 
im  Taihoritsu.  Dagegen  zeigt  sich  die  Todesstrafe  in  den 
zwei  Formen  des  Erdrosseins  (als  der  milderen)  und  der  Ent- 
hauptung (als  der  schwereren  Art)  ^^).  Auch  das  findet  sich, 
dass  die  Todesstrafe  (mindestens  die  Erdrosselung)  zu  einer 
bestimmten  Jahreszeit,  im  Herbst  stattfinden  soll^^);  den 
Herbst  bestimmt  schon  der  Liki  als  die  entsprechende 
Jahreszeit  ^^). 

^0  Vgl.  mein  chinesisches  Strafrecht  S.  9. 

^^)  Ta-tsing-lü-li  s.  254,  chinesisches  Strafrecht  S.  22. 

1^)  Michaelis  S.  357. 

^«)  Ta-tsing-lü-li  s.  287,  288,  chinesisches  Strafrecht  S.  21. 

^^)  Michaelis  S.  357. 

20)  Chinesisches  Strafrecht  S.  10. 

21)  Chinesisches  Strafrecht  S.  16,  Michaelis  S.  356. 

22)  Michaelis  S.  356. 

23)  Chinesisches  Strafrecht  S.  16. 


382  Kohler. 

Ebenso  findet  sich  die  Verbannung  in  mehreren  Ab- 
stufungen und  der  Bambus  in  zwei  Varianten  ^^). 

Neben  alledem  erwähnt  der  Taihoritsu  aber  noch  die 
Zwangsarbeit^-'),  die  jedenfalls  in  früherer  Zeit  in  China  be- 
stand ^^),  wenn  sie  auch  im  Ta-tsing-lü-Ii  nicht   erwähnt  wird. 

Aber  auch  in  der  Deliktslehre  zeigt  der  Taihoritsu  voll- 
kommen die  Nachbildung  des  chinesischen  Rechts.  Der  Ta- 
tsing-lü-li  zählt  in  s.  2  zehn  Verbrechen  auf,  welche  wegen 
ihrer  enormen  Höhe,  ihrer  Naturwidrigkeit  und  Entsetzlich- 
keit besonders  schwere  Behandlung  verdienen : 

1.  Hochverrath  gegen  den  Kaiser, 

2.  Verletzung  kaiserlicher  Tempel,  Grabmäler,  Paläste, 

3.  Landesverrath, 

4.  Elternmord:  Mord  von  Eltern,  Grosseltern,  Onkel, 
Tante, 

5.  Qualificirten  Mord,  insbesondere  Ermordung  mehrerer 
Personen, 

6.  Sacrileg:  Wegnahme  von  Tempelgeräthschaften,  von 
Dingen,  die  im  Gebrauch  des  Kaisers  sind.  Nach- 
machung des  kaiserlichen  Siegels,  Gefährdung  der 
Person  des  Kaisers  durch  falsche  Arzneimittel  oder 
sonstige  Nachlässigkeiten, 

7.  Beschimpfung  der  Eltern  bei  Lebzeiten,  Respektwid- 
rigkeit nach  dem  Tode,  insbesondere  Verweigerung 
der  Trauer, 

8.  Grausamkeit  gegen  Familienangehörige,  denen  man 
Familientrauer  schuldet, 

9.  Widerstand  gegen  die  Staatsgewalt, 
10.  Incest. 

Ganz  ähnlich  hebt  der  Taihoritsu  8  Hauptdeliktsgruppen 
hervor;  davon  stimmen  1  —  7  mit  den  Nr.  1 — 7  des  Ta-tsing- 


24)  Michaelis  S.  356,  chines.  Strafrecht  S.  16. 
2-^)  Michaelis  S.  356. 

26^ 


^)  Chinesisches  Strafrecht  S.  10. 


Studien  aus  dem  japanischen  Recht.  383 

lü-li  im  Ganzen,  und  sogar  in  vielen  Einzelheiten,  überein ; 
die  japanische  Nr.  8  enthält  den  Widerstand  gegen  den  Staat, 
während  die  chinesische  Nr.  8  in  die  japanische  Nr.  4  auf- 
genommen zu  sein  scheint  und  Nr.  10  (Incest)  ganz  weg- 
geblieben ist,  weil  das  japanische  Leben  die  Eheverbote  nie 
so  weit  ausgedehnt  und  dem  Incest  nie  dieselbe  Bedeutung 
beigemessen  hat,  wie  das  chinesische^^). 

Aber  auch  in  den  Einzelheiten  zeigt  sich  völlig  die  Ent- 
lehnung des  chinesischen  Rechts;  die  Behandlung  der  Delikte 
ist  fast  durchaus  die  gleiche,  die  Strafen  sind  manchmal  andere, 
aber  die  Abstufungen  verrathen  fast  immer  die  chinesische  An- 
schauung.   Dies  zeigt  sich  aus  folgender  Zusammenstellung: 

Der  Versuch  des  Diebstahls  wird  bestraft  mit  50  Hieben, 
der  vollendete  Diebstahl,  je  nach  dem  Werth  des  Gestohlenen, 
mit  Prügel  bis  zur  Verbannung  mit  Zwangsarbeit  (im  japa- 
nischen)^^) bezw.  Erdrosselung  (im  chinesischen)^^). 

Der  Raub  wird  nach  dem  Betrag  des  Geraubten  bestraft, 
mindestens  mit  2  Jahre  Zwangsarbeit  (im  japanischen), 
100  Prügeln  und  3  Jahre  Verbannung  (im  chinesischen),  in 
schweren  Fällen  mit  dem  Tode^^). 

Besonders  auffallend  ist  die  Uebereinstimmung  bezüglich 
der  Körperverletzung.  Gewöhnliche  Körperverletzung  wird 
mit  Prügeln  bestraft;  eine  Erhöhung  tritt  ein,  wenn  über  1  Zoll 
Haar  herausgerissen  wird^^),  eine  weitere,  wenn  Blut  aus 
(Auge  oder)  Ohr,  aus  Mund  oder  Nase  fliesst  (sofern  es  von 
innen  herauskommt),  es  wird  das  Brechen  von  Zähnen,  von 
Zehen,  Fingern,  das  Ausschlagen  von  Augen,  die  Verletzung  von 
Ohr  und  Nase  erwähnt.  Das  Brechen  von  2  Zähnen,  2  Fingern 
wird   wiederum    als    erschwerend   hervorgehoben,    ebenso    das 


-')  Vgl.  meine  Anmerkung  oben  S.  361,  und  unten  S.  401  f. 

28)  Michaelis  S.  360. 

29)  Chinesisches  Strafrecht  S.  44,  Lü-li  s.  269. 

3°)  Michaelis  S.  360,  chines.  Strafrecht  S.  45  f.,  Lü-li  s.  268. 
^^)  Diese    chinesische   Bestimmung    zeigt    die  Herkunft   aus    einer 
Zeit  vor  der  Periode  des  Zopfes,  den  erst  die  Mandschu  eingeführt  haben. 


384  Köhler. 

Ausreissen  aller  Haare ;  letztenfalls  1  ^/^  Jahre  Zwangsarbeit 
(japanisch),  60  Hiebe  und  1  Jahr  Verbannung  (chinesisch).  Das 
Abschneiden  der  Zunge  und  die  Aufhebung  der  Zeugungsfühig- 
keit  wird  mit  der  entferntesten  Verbannung  bestraft  ^^). 

Den  beiden  Rechten  ist  ferner  die  Krisenfrist  gemeinsam, 
die  nach  der  Körperverletzung  abzuwarten  ist  und  für  die 
Haftung  entscheidet;  diese  ist  10 — 50  Tage  (japanisch)  bezw. 
20—50  Tage  (chinesisch)  ^a). 

Die  Behandlung  der  Verletzung  Verwandter  zeigt  gleich- 
falls die  auffallendste  Analogie.  Wenn  Eltern  ihre  Kinder 
(absichtlich)  tödten,  so  ist  die  Strafe  1  V^  Jahre  Zwangsarbeit 
(japanisch),  bezw.  GO  Hiebe  und  1  Jahr  Verbannung  (chine- 
sisch) ^•^). 

Ganz  ähnliche  Analogien  ergeben  sich  bezüglich  des  Men- 
schenraubs^^), bezüglich  der  Beamtenbestechung  ^^),  bezüglich 
der  Haftung  des  Arztes,  welcher  unrichtig  verfährt  ^ '^),  und 
namentlich  auch  bezüglich  des  Eindringens  in  den  Kaiserlichen 
Palast  und  des  Schiessens  gegen  denselben  ^^) :  wer  in  die 
Wohnräume  des  Kaisers  eindringt  oder  gegen  den  Palast 
schiesst,  wird  erdrosselt. 

Ebenso  ist  chinesisch  der  Satz,  dass,  wer  sich  rechtzeitig 
selbst  anzeigt,  straflos  bleibt  ^^),  chinesisch  ist  die  Privilegi- 
rung  der  Beamten,  der  kaiserlichen  Verwandten  und  der- 
jenigen Personen,  welche  besondere  Verdienste  aufzuweisen 
haben,  und  ihrer  Verwandten  ^^). 

Inwiefern  die  Abweichungen  von  dem  jetzigen  chinesischen 


32)  Michaelis  S.  359,  Lü-li  s.  302. 

33)  Michaelis  S.  359,  Lü-li  s.  303. 

34)  Michaelis  S.  359,  Lü-li  s.  319. 

35)  Michaelis  S.  360,  Lü-li  s.  275. 

3*5)  Michaelis  S.  360,  chinesisches  Strafrecht  S.  34,    Lü-li  s.  344. 

37)  Michaelis  S.  360,  Lü-li  s.  297. 

38)  Michaelis  S.  359,  Lü-li  s.  184,  192. 

39)  Michaelis  iS.  362,  chinesisches  Strafrecht  S.  20. 

4<^)  Michaelis    S.    363,     chinesisches    Strafrecht   S.   18     f.,    Lü-li 
8.  3  f.,  7  f. 


Studien  aus  dem  japanischen  Recht.  385 

Strafgesetzbuch  auf  die  frühere  Fassung  des  chinesischen  Codex 
vor  etwa  1000  Jahren  zurückzuführen  sind,  oder  auf  selbst- 
ständiger japanischer  Verarbeitung  beruhen,  ist  bis  jetzt  noch 
nicht  ersichtlich.  Jedenfalls  dürfte  eine  Uebersetzung  des 
Taihoritsu  die  principielle  Gleichheit  mit  dem  chinesischen 
Recht  noch  klarer  vor  Augen  führen. 

§  2.    • 

So  weit  der  Taihoritsu.  In  der  Folgezeit  blieb  er 
nominell  Jahrhunderte  lange  bestehen:  er  blieb  bestehen,  auch 
als  nachträglich  zwei  andere  Strafgesetze  erschienen,  im 
13.  Jahrhundert  das  Joei-Shikimoku,  und  im  14.  Jahrhundert 
das  Kemmu- Shikimoku.  Aber  das  Strafrecht  wurde  in  der 
Periode  Jahrhunderte  langer  Verwilderung  und  Innenkämpfe 
bedeutend  härter;  es  kamen  grausame  Strafen  auf,  wie  das 
Kesselsieden  (kama-iri),  die  Kreuzigung  und  das  Zersägen, 
das  nokogiri-biki^^). 

Dazu  trat  die  Strafe  der  Hauseinsperrung  und  der  Confiscation. 

In  den  100  Gesetzen  lyeyasu's  a.  21  wird  ausdrücklich 
das  Kesselsieden  und  das  Zerreissen  durch  Ochsen  aufgehoben, 
dagegen  an  Strafen  angeführt:  Kreuzigung,  Verbrennen,  Ent- 
haupten (mit  und  ohne  Ausstellung  des  Kopfes),  Erdrosseln; 
sodann  Verbannung  und  Ausweisung,  Gefängniss,  Brandmarkung 
und  Abschneiden  der  Nase.  (Vgl.  auch  noch  dieselben  a.  88.) 
Darauf  folgten  die  Gesetze  des  17.  und  18.  Jahrhunderts, 
welche  S.  377  angeführt  sind,  und  deren  Inhalt  nunmehr 
analysirt  werden  soll. 

§  3. 
Die   chinesische  Gesetzgebung   kennt   von    der  Blutrache 
nur  noch    wenige  Spuren;   dagegen    hat   in  Japan   allem  An- 

41)  Michaelis  S.  368,  369,  Rudorff,  Tokugawages.  S.  VII,  und 
in  den  Mittheilungen  der  Ostas.  Gesellschaft  IV  S.  392.  Der  Verurtheilte 
wurde  in  einen  Kasten  gestellt  und  neben  ihn  eine  Säge  gelegt.  Jeder 
Vorbeigehende  konnte  einigemale  die  Säge  an  seinem  Halse  hin-  und  her- 
streifen; nach  zwei  Tagen  wurde  dem  Unglücklichen  der  Tod  gegeben. 
Zeitschrift  für  vergleichende  Rechtswissenschaft.    X.  Band.  25 


38(3  Kohler. 

scheine  nach  die  Blutrache  von  je  bestanden,  und  die  Ge- 
schichte liefert  uns  viele  Beispiele,  so  aus  dem  12.,  13.  und 
It).  Jahrhundert"^-),  so  aber  auch  bereits  aus  der  ältesten 
japanischen  Zeif*^). 

Eine  mächtige  Sanction  fand  das  Institut  in  den  sog. 
100  Gesetzen  lyeyasu's. 

Hier  ist  nämlich  in  c.  51,  52  die  Blutrache  geregelt  mit 
Rücksicht  auf  den  confuzianischen  Satz,  dass  man  mit  dem  Be- 
leidiger nicht  unter  dem  Himmel  zusammen  leben  solle;  sie  ist 
gestattet,  wenn  ein  Unrecht  gegen  den  Vater  oder  gegen  den 
Herrn  geschehen  ist.  Aber  sie  setzt  voraus,  dass  man  die 
Absicht  der  Blutrache  gerichtlich  darlegte  und  sich  die  Zeit 
festsetzen  Hess,  innerhalb  welcher  die  Rache  zu  vollziehen  sei. 
Mit  andern  Worten,  die  Blutrache  wurde  unter  gerichtliche 
Controle  gestellt,  —  also  ähnlich  wie  im  islamitischen  Rechte. 
Der  Gang,  welchen  die  Sache  nahm,  war  nun  der:  wer 
die  Blutrache  vollziehen  wollte,  musste  eine  Klagschrift  ein- 
reichen und  sich  einen  Erlaubnissbrief  geben  lassen,  dass  er 
I  den  Mörder  aufsuchen  und  niederschlagen  dürfe.  War  die 
Rache  vollzogen,  so  musste  der  Rächer  sich  persönlich  melden 
und  die  Rache  darlegen;  er  wurde  einstweilen  in  Haft  ge- 
nommen und  wurde  entlassen,  wenn  er  sich  genügend  gerecht- 
fertigt hatte  ^^). 

Die  Anzeige  bei  Gericht  und  die  vorläufige  Genehmigung 
scheint  dem  chinesischen  Rechte  entnommen  zu  sein;  sie  ent- 
spricht nämlich  einer  Stelle  des  Tscheuli  XXXVI  27,  welche 
hierdurch  ihre  Beleuchtung  erhält  ^^). 

Der  vorläufigen  Genehmigung  konnte  wohl  unter  Umstän- 
den eine  spätere  Bestätigung  gleichstehen,  wenn  das  Einholen 


^'^)  Dautremer  in  den  Transactions  of  the  Asiatic  Society  of 
Japan  XIII  p.  84.  86. 

43)  Kojiki  CXLV,  CXLVI,  CLXIX;  Chamberlain  in  den  Trans- 
actions X,  2  p.  305.  306,  336. 

4*)  Dautremer  p.  84.  88. 

^^)  Chinesisches  Strafreclit  S.  13  Note  1. 


Studien  aus  dem  japanischen  Recht.  387 

der  gerichtlichen  Erlaubniss  nicht  hatte  geschehen  können  ^^), 
Dies  war  allerdings  dem  Wortlaute  der  Bestimmung  nicht  ge- 
mäss, denn  hiernach  sollte,  wer  die  Anmeldung  in  die  Register 
unterlassen  hatte,  einem  Gewaltthäter  gleichstehen  (c.   51). 

Rückrache  sollte  nicht  sein:  die  legal  ausgeübte  Blut- 
rache konnte  nicht  wieder  Anlass  zur  Blutrache  geben;  so  aus- 
drücklich lyeyasu  c.  51. 

Diesem  Zug  des  Rechts  entspricht  es ,  dass  bei  Tödtung 
und  Körperverletzung  regelmässig  (ohne  Zustimmung  der 
Betheiligten)  keine  Begnadigung  stattfinden  soll,  Scharitsu 
a.  33  Z.  3. 

Diesem  Zug  des  Rechts  entspricht  ferner  die  Bestimmung, 
dass,  wenn  ein  Niederer  sich  beleidigend  gegen  einen  Samurai 
benimmt  nud  dieser  ihn  niederstösst,  man  sich  nicht  hinein- 
mischen solle,  lyeyasu  c.  44;  so  auch  noch  Kamporitsu 
a.  71  Z.  44^7). 

Auch  die  im  chinesischen  Rechte  begründete  Tödtungs- 
befugniss  des  Ehemanns  gegen  den  Ehebrecher  und  die  mit- 
schuldige Frau  wird  in  den  Gesetzen  des  lyeyasu,  mindestens 
für  die  niederen  Stände,  bestätigt;  will  er  dieses  Recht  nicht 
ausüben  und  die  Schuldigen  gerichtlich  verfolgen,  so  kann  er 
auf  Tod  oder  auf  mildere  Strafe  antragen,  lyeyasu  49. 

Dieses  Tödtungsrecht  des  Mannes  gegen  beide  Schuldige 
findet  sich  noch  im  Kamporitsu  a.  48  Z.  3  u.  4;  es  wird  hier 
aber  auch  gegen  denjenigen  statuirt,  welcher  sich  nur  zum 
Zwecke  des  Ehebruchs  einschleicht,  a.  48  Z.  5  *^). 

Aber  auch  die  Eltern  haben  ein  Tödtungsrecht  bezüg- 
lich der  verlobten  Tochter,  welche  sich  mit  einem  Andern 
vergeht,  und  bezüglich  ihres  Mitbetheiligten,  sofern  sie  auf 
frischer  That  ertappt  werden,  a.  49. 

^^)  Dautremer  p.  85. 

^0  Auch  wenn  ein  Mann  seine  Frau  todtschlägt,  die  sich  unge- 
bührlich gegen  ihn  bezeigt,  kann  Straflosigkeit  eintreten,  Reigaki  a.  62. 

^^)  Vgl.  auch  Küchler  in  den  Transactions  of  theAsiatic  Societj'' 
of  Japan  XIII  p.  132. 


388  Kohler. 

Die  Composition  ist  noch  im  Kamporitsu  verpönt  ^'^): 
die  Eltern,  welche  vom  Mörder  ihres  Sohnes  Geld  nehmen, 
werden  mit  Stadtausweisimg,  tokoro  barai  bestraft,  a.  71  Z.45, 
vgl.  auch  Z.  4(j;  ebenso  wer  mit  dem  Ehemann  verhandelt, 
nachdem  mit  der  Frau  Ehebruch  getrieben  worden  ist,  a.  48 
Z.  25.    In  milden  Fällen  tritt  Geldstrafe  ein,  Reigaki  a.  12. 

Dagegen  findet  sich,  an  die  Blutrache  anknüpfend,  das 
System  der  Strafmilderung,  wenn  die  Hinterbliebenen  für 
den  Thäter  Fürbitte  einlegen,  a.  72;  z.  B.  bei  der 
Entführung,  a.  90^^^);  dies  insbesondere  auch  bei  fahrlässiger 
Tödtung,  und  namentlich  auch,  wenn  der  Getroffene  selbst 
noch  für  ihn  bittet  a.  74  Z.  1 ;  ferner  bei  der  Verletzung  in  Noth- 
wehr,  Reigaki  a.  71;  namentlich  aber  auch  beim  Casualdelikt, 
insbesondere  bei  der  That  des  Wahnsinnigen,  a.  78  Z.  1,  je- 
doch nicht  bei  der  That  des  Betrunkenen,  a.   77  Z.   1. 

Ebenso  soll  es  nach  lyeyasu's  100  Gesetzen  a.  49  in 
den  Willen  des  Ehemanns  gestellt  sein,  ob  die  von  ihm  ver- 
klagte Ehebrecherin  mit  dem  Tode  bestraft  werden  soll 
oder  nicht  (oben  S.  387). 

§  4. 
Der  chinesische  Grundsatz  der  Verwandtenhaftung 
wird  von  lyeyasu  bestätigt,  und  zwar  mit  wesentlicher  Ver- 
schärfung; wenn  der  Diener  seinen  Herrn  tödtet,  so  soll  er 
mit  seiner  ganzen  Sippe  ausgerottet  werden,  lyeyasu  100  Ge- 
setze a.  52.  Auch  noch  das  Osadamegaki  a.  40  bestimmt, 
dass  die  Kinder  von  Herrn-  und  Ascendentenmördern  zu  be- 
strafen seien ;  sonst  soll  bei  Bürgern  und  Bauern  von  einer 
Bestrafung  der  unschuldigen  Verwandten  abgesehen  werden; 
jedoch  heisst  es  wieder  in  a.  50,  dass  die  Verwandten  mit  tsuiho 
geahndet  werden  können.  Hiernach  blieb,  besonders  bei  den 
Samurai,    eine    Verwandtenhaftung    noch    in     weitem    Masse 

^^3  Wie  im  chinesischen  Recht,  chines.  Strafrecht  S.  14. 
^^)  Auch  bei  Unterschlagung,  Reigaki    a.    8,   bei  Todtschlag   auf 
Provocation,  Reigaki  a.  02. 


Studien  aus  dem  japanischen  Recht.  389 

übrig.  Dies  ergiebt  sich  auch  ans  dem  a.  97  des  Kampo- 
ritsu;  denn  hier  ist  von  dem  Falle  die  Rede,  wo  der  Sohn 
eines  Hingerichteten,  zwar  nicht  ebenfalls  hingerichtet,  aber 
zu  ento,  tsuiho  (Verbannung  u.  s.  w.)  verurtheilt  ist,  und  zwar 
in  einem  Alter  von  unter  15  Jahren,  so  dass  die  Verbannung 
erst  mit  dem  15.  Jahre  beginnen  kann  und  er  unterdessen  bei 
Verwandten  in  Verwahrung  sein  muss.  In  solchem  Falle 
konnte  erwirkt  werden,  dass  ihm  der  Eintritt  in  die  Priester- 
schaft gestattet  und  er  so  von  der  Strafe  befreit  werde; 
welcher  Eintritt  allerdings  nur  gegen  einen  beschränkenden 
Revers  erlaubt  zu  werden  pflegte. 

Und  die  Bestimmungen  der  Kamporitsu  wurden  in  dem 
Kansei  Keten  von  1790  a.  9G  Z.  2  dahin  ergänzt:  wenn 
ein  Samurai  mit  shizai^^^)  bestraft  wird,  so  erleiden  seine  Söhne 
ento,  wenn  mit  ento,  so  erleiden  sie  chutsuiho,  wenn  da- 
gegen bloss  mit  tsuiho,  so  bleiben  die  Söhne  frei.  Die  Söhne 
von  Bauern  bleiben  frei,  auch  wenn  ihre  Väter  ento  bekommen 
(vergl.  Rudorff  S.  133). 

In  anderen  Fällen  ist  die  Verwandtenhaftung  zu  fol- 
gendem Systeme  abgeschwächt:  ist  der  Thäter  der  Justiz 
erreichbar,  so  bleibt  die  Strafe  bei  ihm  stehen;  ist  er  aber 
nicht  zu  bekommen  und  können  ihn  die  Verwandten  nicht 
beibringen,  so  werden  sie  bestraft,  je  nach  Umständen  mit 
Gefängniss  oder  mit  Ausweisung,  chutsuiho,  oder  mit  Geld- 
strafe, kario.  Aber  auch  andere  Personen,  der  Hausbürge, 
Hausherr,  der  Dorfvorsteher  u.  s.  w.  sind  zur  Nachforschung 
gehalten  und  werden  eventuell  (mit  kario)  bestraft,  a.  82. 
Dass  früher  noch  eine  weitergehende  Einsperrung  von  Ver- 
wandten stattgefunden  hat,  zeigt  der  Zusatz  v.  2  Karapo  (1742) 
in  a.  82  Z.  3. 

§  5. 
Das   System    der    Casualdelikte    ist   noch    nicht   völlig 
verlassen.     Dass    der  Fährmann,    wenn    das  Boot    sinkt,    und 

5^'^)  Ueber  die  Bedeutung  vgl.  S.  39G  f. 


390  Kohler. 

dass  der  Fuhrmann,  der  Jemanden  durch  Ucberfabren  tödtet,  der 
Ochsentreiber,  welcher  den  Tod  veranlasst,  mit  ento  oder  mit 
shizai  bestraft  wird,  ist  ausserordentlich  hart  ^^),  beruht  aber 
wohl  auf  Annahme  der  Fahrlässigkeit,  a.  71  Z.  35,  36,  38  ^^). 
Dass  aber  auch  der  Eigenthümer  der  Transportwaaren  mit  Geld- 
strafe belegt  wird,  ebenso  der  Hauswirth  und  der  Herr  des 
Fuhrmanns,  das  ist  Casualhaftung,  a.  71  Z.  30^^).  Ebenso  ist  es 
Haftung  für  den  Zufall,  wenn  Jemand  an  einem  Schiessplatz 
einen  Anderen  erschiesst,  der  plötzlich  hinzutritt:  er  hat  30  Tage 
Hausarrest,  a.  74  Z.  2. 

Namentlich  aber  zeigt  sich  die  Zufallshaftung  in  der  Haf- 
tung der  Wahnsinnigen.  Wer  im  Wahnsinn  Jemanden 
tödtet,  büsst  mit  dem  Tode,  geshinin,  ja  unter  Umständen  mit 
shizai.  Doch  kann  eine  Milderung  eintreten,  wenn  der  Wahn- 
sinn klar  erwiesen  ist,  a.  78  Z.   1,  2,  3  ^*). 

Ebenso  wenn  ein  Kind  Jemanden  tödtet:  es  büsst  mit  ento, 
und  zwar  in  der  Art,  dass  es  zuerst  bis  zum  15.  Jahre  verwahrt 
und  dann  in  die  Verbannung  geschickt  wird,  a.  79  Z.  1  und  2. 

Auch  der  Betrunkene,  der  einen  Andern  tödtet,  büsst 
mit  geshinin,  a.  77  Z.  1. 

Ausserdem  zeigt  sich  die  Casualhaftung  bei  der  Brand- 
legung; wird  ja  doch  auch  im  chinesischen  Recht  dieser 
Fall  besonders  hervorgehoben^^);  und  zwar  wird  die  Haftung 
in  der  Art  auferlegt,  dass  derjenige,  bei  dem  das  Feuer  aus- 
bricht, bezw.  der  Hausverwalter  gestraft  wird,  a.  69. 

Diesem  Gedanken  entsprechend,  ist  denn  auch  die  Straf- 


^^)  In  Ausnahmsfällen  strafte  die  Praxis  nailder,  Reigaki  a.  18. 

^-)  Vgl.  auch  Osadamegaki  a.  64,  65. 

^^)  Osadamegaki  a.  65,  der  allerdings  davon  ausgeht,  dass  der 
Herr  den  Knecht  besser  hätte  ziehen  sollen. 

^0  Vgl.  auch  Reigaki  a.  35,  44.  Milderung  tritt  insbesondere 
ein,  wenn  die  Verwandten  des  Erschlagenen  mit  milderer  Behandlung 
einverstanden  sind  (oben  S.  388).  Dies  aber  wird  von  ihnen  erwartet.  Im 
cit.  Fall  des  Reigaki  wurde  trotz  solcher  Fürbitte  auf  shizai  erkannt, 
weil  der  Wahnsinnige  seine  eigenen  Eltern  verwundet  hatte. 

^•')  Chinesisches  Strafrecht  S.  47,  Lü-li  s.  382. 


Studien  aus  dem  japanischen  Recht.  391 

bürgschaft  in  Uebung:  wer  für  Jemandes  Leistung  Bürge 
ist^  haftet^  sofern  derselbe  zu  der  Leistung  strafrechtlich 
verbunden  ist,  gleichfalls  strafrechtlich,  wenn  auch  mitunter 
weniger  streng;  so  wenn  der  Diener  mit  dem  Angeld  entläuft: 
der  Bürge  erleidet  Yeddobarai  mit  Vermögensconfiscation, 
a.  42  Z.  4;  in  anderen  Fällen  nur  Geldstrafe,  kario, 
a.  42  Z.  4.  6. 

Das  spätere  Recht  sucht  sich  vom  Casualdelikt  zu 
lösen  und  betrachtet  die  subjektiven  Umstände  des  einzelnen 
Falles,  ob  Fahrlässigkeit  anzunehmen  ist  oder  nicht ;  so  die 
Entscheidung  Reigaki  a.   72. 

§  6. 

Wie  im  chinesischen  Recht  ^^),  so  ist  selbst  noch  im 
Kamporitsu  die  Nothwehr  mangelhaft  entwickelt:  sie  ist  nur 
Milderungsgrund;  wer  den  Andern  in  Nothwehr  tödtet,  büsst 
mit  ento,  a.  71  Z.  33;  und  Derjenige,  welcher  dem  Ange- 
griffenen Beistand  leistet,  wobei  der  Angreifer  getödtet  wird, 
mit  chutsuiho,  a.  71  Z.  31.  Doch  drängte  die  Entwickelung 
zur  Straflosigkeit,  Reigaki  a.  11,  oder  doch  zur  Milde- 
rung (z.  B.  tokorobarai),  Reigaki  a.  60;  zur  Straflosigkeit, 
namentlich  wenn  kein  Antrag  gestellt  wird  und  der  Angreifer 
schlecht  beleumundet  ist,  Reigaki  a.   71^^). 

Jedenfalls  soll  die  Nothwehr  ein  Grund  der  Begnadi- 
gung sein,  vgl.  Scharitsu  a.  9  Z.  5. 

Ebenso  ist  der  Nothstand  kein  Schuldaufhebungsgrund, 
aber  es  kann  sofortige  Begnadigung  stattfinden,  wenn  Jemand 
im  Hunger  oder  aus  plötzlicher  Begier  Nahrungsmittel  ge- 
nommen hat,  Scharitsu  a.  33  Z.  2. 

§  7. 
Das  System   der  Straflosigkeit  kraft  der   Selbst- 
en zeige  findet  sich  noch  in  der  Anwendung,    dass  der  Mit- 

■'^)  Chinesisches  Strafrecht  S.  15. 

")  Vgl.  auch  noch  Kansei  Keten  a.  71  Z.  20  (Rudorff  S.  132). 


392  Kohler. 

schuldige,  welcher  als  Kronzeuge  gegen  die  übrigen  Schuldigen 
auftritt,  straflos  bleibt,  a.  58^^),  oder  doch  um  einen  Grad 
milder  bestraft  wird,  a.  102;  ebenso  wird  der  Dieb  milder 
bestraft,  der  freiwillig  das  Gestohlene  zurückgiebt,  Reigaki  a.7. 
Und  wer  auch  nur  andere  Gefangene  beobachtet  und  Angaben 
macht,  die  zur  Aufklärung  führen,  bekommt  mildere  Strafe, 
z.  B.,  statt  ento,  jutsuiho,  Reigaki  a.  68^^). 

Die  Begnadigung  ist,  wie  im  chinesischen  Leben,  ein 
wichtiger  Zug  der  Strafrechtspflege,  im  Tokugawarecht  noch 
besonders  wichtig,  da  viele  Strafen  auf  unbestimmte  Zeit  gehen, 
wovon  alsbald  (S.  412). 

Der  Versuch  wird,  wie  im  chinesischen  Recht  ^^),  milder 
gestraft,  als  die  Vollendung;  so  bei  der  Körperverletzung, 
a.  71  Z.  2,  6,  13,  16,  so  bei  dem  Tödtungsdelikt  a.  71  Z.  8, 
10,  23  u.  a. 

Der  freiwillige  Rücktritt  macht  nicht  straflos,  erleichtert 
aber  die  Begnadigung,  vergl.  Scharitsu  a.  6. 

Auch  die  Lehre  der  Theilnahme  entspricht  noch  dem 
chinesischen  Rechte  ^^). 

Eine  leichtere  Strafe  des  Ge hülfen  (des  an  der  That 
weniger  Betheiligten),  insbesondere  wenn  er  keinen  Gewinnantheil 
nimmt,  findet  statt  beim  Diebstahl,  a.  56  Z.  14,  beim  Morde, 
a.  71  Z.  26,28,31,  a.48  Z.  7,  beim  Menschenraub  a.  61  Z.  2, 
beim  Ehebruch  a.  48  Z.  6,  10,  bei  der  Bigamie  a.  48  Z.  16,  bei 


^^)  Vgl.  auch  Osadamegaki  a.  13  Sadame  II  Z.  1  (beim  Handel 
mit  Giften  nnd  gefälschten  Arzneien),  a.  13  Sadame  VII  Z.  1  (bei  Brand- 
stiftung), ebenso  a.  14  Z.  3,  a.  13  Sadame  VII  Z.  5  (Unterschlagung), 
a.  16  Z.  3  (Hazardspiel). 

^^)  Dies  scheint  sehr  missbraucht  worden  zu  sein ;  eine  Bestimmung 
des  Osadam.  a.  3  Z.  2  Zusatz  besagt,  dass  man  sich  derartiger  Ver- 
brecher nicht  als  Hülfsmittel  der  Regierung  bedienen  solle.  Es  wurden 
auch  Diener  von  Bordellen  als  Ausspäher  benutzt;  vgl.  Osad.  a.  3  Z.  5 
Anhang. 

^0)  Chinesisches  Strafrecht  S.  25. 

^^)  Chinesisches  Strafrecht  S.  26. 


Studien  aus  dem  japanisclien  Recht.  39S 

der  Urkiindenfälschimg  a.  62,  bei  Erpressung  a.  64  Z.  3,  bei 
Brandstiftung  a.  70  Z.  2  «2). 

Eine  besondere  Strafe  des  Ha  uptbe  theil igten  (todori) 
erfolgt  beim  Einbruchdiebstabl  a.  56  Z.  5,  beim  Holzfrevel 
a.  56  Z.  15,  bei  der  Entführung  a.  90,  bei  der  Nothzucht 
a.  48  Z.  11,  bei  der  Brandstiftung  a.  70  Z.  1,  bei  Landfrie- 
densbruch a.  76  Z.  3  und  4,  beim  Aufruhr  a.  28,  bei  der 
Wunderverkündung  a.  53  Z.  2. 

Der  Anstifter  wird  dem  Thäter  gleichgestellt;  so  beim 
Mord  a.  71  Z.  27,  bei  der  Brandstiftung  a.  70  Z.  2. 

Bisweilen  wird  der  Gehülfe  dem  Hauptthäter  gleichbe- 
straft, wenn  der  Hauptthäter  nicht  entdeckt  wird;  so  beim 
Tödtungsdelikt  a.  71  Z.  26. 

Bei  Gehülfen  und  Nebenthätern  ist  auch  die  Begnadigung 
erleichtert,  Scharitsu  a.  9  Z.  9 — 11. 

Wer  Brandstifter  oder  Mörder  nach  der  That  begün- 
stigt^^), büsst  mit  shizai;  jedoch  tritt  Milderung  ein,  wenn 
der  Begünstiger  dem  Thäter  sehr  nahe  steht,  oder  sonst  er- 
leichternde Umstände  vorliegen,  a.  80,  100. 

Wer  aber  den  Herrn-  oder  Elternmörder  oder  den  Ueber- 
treter  der  Passwache  nach  der  That  verbirgt,  haftet  mit 
gokumon,  a.  81. 

In  anderen  Fällen  tritt  nur  Geldstrafe  ein,  a.  44  Z.  1  u.  2. 
Ueber  die  strenge  Strafe  der  Personenhehlerei  ist  demnächst 
(S.  405)  zu  handeln. 

Eine  Anzeige  pflicht  besteht  insbesondere  beim  Hazard- 
spiel;  es  werden  hier  namentlich  auch  die  Wohnungsnach- 
barn, ja  die  gegenüber  Wohnenden  bestraft,  wenn  sie  keine 
Anzeige  machen  a.  55  Z.  17  f.  Dahin  kann  auch  die  Haf- 
tung des  HauseigenthüDiers  und  des  Hausverwalters  bei 
Kuppelei  gezählt  werden,  a.  47  Z.  6  und  9:  er  hätte  es  ver- 

^2)  Vgl.  auch  Reigaki  a.  40,  47,  50. 

''^)  Vgl.  chinesisches  Strafrecht  S.  29,  wo  der  Begünstiger  eine 
Stufe  milder  als  der  Thäter  bestraft  wird.  Bezüglich  der  Begünstigung 
des  Brandstifters  vgl.  auch  Osadamegaki  a.  13  sadame  VII. 


394  Kohler. 

hindern  oder  doch  anzeigen  sollen.  Ebenso  haftet  ^  wer  um 
einen  Todtschlag  weiss  und  keine  Anzeige  macht,  mit  chu- 
tsuiho,  a.  71  Z.  32. 

In  manchen  Fällen  wird  der  Anzeiger  besonders  be- 
lohnt; so  bei  Diebstahl  und  anderen  Verbrechen  *^^) ;  so  wenn 
Jemand  einen  Andern  anzeigt^  den  er  mit  verbotenem  Schiess- 
gewehr antrifft  a.  21  Z.  7  und  8  ^^);  oder  wenn  Jemand  Hazard- 
spieler  zur  Anzeige  bringt,  a.  55  Z.  24  bis  26^^).  Unter 
Umständen  v/ird  auch  Derjenige  belohnt,  welcher  einen 
Andern  am  Verbrechen  hindert;  so  die  Ortsbeamten,  wenn  sie 
die  Bauern  vom  Aufruhr  zurückhalten,  a.  28. 

Auch  bezüglich  der  Folter  gilt  noch  das  chinesische 
System  ^'^);  wie  in  China,  wird  sie  angewendet  bei  Tödtung^^) 
und  Raub  (auch  Diebstahl);  dazu  kommt  noch  Brandstiftung, 
Urkundenfälschung  und  ein  Vergehen,  welches  in  Japan  furcht- 
bar geahndet  wird  ;  Umgehung  der  Passbehörde,  a.   83. 

Für  das  Unterlassungsdelikt  ist  die  Bestimmung  in- 
teressant, dass,  wer  bei  einem  Brande  flieht,  ohne  für  die 
Eltern  zu  sorgen,  mit  shizai,  und  wenn  es  sich  um  andere 
ältere  Verwandte  handelt,  mit  chutsuiho  bestraft  wird,  sobald 
solche  Personen  in  Folge  dessen  im  Feuer  umkommen,  a.  71 
Z.  48.    Dieses  ist  im  Sinne  des  chinesischen  Rechts  ^^). 

Im  übrigen  ist  der  Satz  vom  C  au  salitätszusammeu- 
hang,  dem  chinesischen  Recht  gegenüber,  weitergebildet^^). 
Denn    es  wird    ausdrücklich    ausgesprochen,    dass,  wenn    der 


^*)  Osadamegaki  a.  13  sadame  I  Z.  7;  selbst  der  Mitthäter  soll 
nicht  nur  straffrei  werden,  sondern  auch  Belohnung  erhalten,  Os  ad  am. 
a.  13  sad.  VII  Z.  1  und  5,  a.  14  Z.  3,  a.  16  Z.  3,  a.  17  Z.  5,  a.  19  Z.  1. 

^^)  Vgl.  auch  Reigaki  a.  46. 

®^)  Auch  Anzeige  bezüglich  der  nicht  gestatteten  Religionen,  0  s  a- 
dam.  a.  13  sadame  V. 

<5  0  Chinesisches  Strafrecht  S.  50. 

C8-)  Vgl.  auch  Reigaki  a.  42. 

«»)  Chinesisches  Strafrecht  S.  22. 

'ö)  Chinesisches  Strafrecht  S.  23. 


Studien  aus  dem  japanischen  Recht.  395 

Verwundete  an  einer  andern  Ursache  stirbt^  der  Verletzer  für 
den  Tod  nicht  verantwortlich  wird,  a.  73. 

§  8. 

Dagegen  hat  das  Recht  der  Tokugawa  eine  allgemeine 
Rückfallsschärfung,  es  hat  eine  Verjährung  entwickelt^ 
es  hat  ein  vielfach  anderes,  insbesondere  ein  vielfach  härteres 
Strafensjstem ;  es  zeigt  endlich  eine  Reihe  von  Modificationen 
und  Fortbildungen  im  Einzelnen. 

Bei  Rückfall  findet  eine  Zusatzstrafe  oder  eine  Steige- 
rung statt:  zu  kario  kommt  Arrest,  zu  Prügelstrafe  und  zu 
Brandmarkung  tsuiho  oder  tokorobarai.      Vergl.  a.  103  Z.  37. 

Doch  scheint  hierbei  nicht  bloss  die  Begehung  des  glei- 
chen Verbrechens,  sondern  jedes  neue  Verbrechen  in  Betracht 
zu  kommen.  Und  wer,  ausgewiesen,  zurückkehrt  und  ein 
neues  Delikt  begeht,  der  wird  dafür  um  einen  Grad  höher 
gestraft,  und  wenn  die  Strafe  Brandmarkung  ist,  mit  shizai, 
a.  85  Z.  10,  vergl.  auch  Z.  15,  und  auch  Reigaki  a.  17. 
Besonderes  gilt  vom  Rückfall  beim  Diebstahl,  wovon  alsbald 
(S.  402  f.)  zu  handeln  ist. 

Auch  im  Fall  der  Konkurrenz  scheint  nach  dem  To- 
kugawarecht  das  Schärfungssystem  zu  bestehen  ^^);  vergl.  Rei- 
gaki a.  40,  wo  bei  Konkurrenz  von  Raubmord  und  Brand- 
stiftung auf  Kreuzestod  (haritsuke)  erkannt  wurde;  vgl.  ferner 
Reigaki  a.  43,  wo  auf  wiederholten  Diebstahl  chutsuiho  ge- 
legt wurde,  a.  43;  ferner  Reigaki  a.  49,  wo  auf  shizai  er- 
kannt wurde,  als  Tödtungsversuch  und  Aussetzung  des  ver- 
meintlichen Leichnams  konkurrirten ;  vergl.  auch  noch 
Reigaki  a.  54;  endlich  Reigaki  a.  68:  Verwundung  eines 
Verwandten  des  Herrn  zieht  shizai,  Verwundung  zweier  Ver- 
wandten des  Herrn  Kreuzigung  nach  sich. 

Geringe  Delikte  verjähren  in    12  Monaten:    sie    sind 


^^)  Das  chinesische  Recht  hat  das  Absorptionssystem,  vgl.  Chines. 
Strafrecht  S.  31. 


39()  Kohler. 

nach  12  Monaten  kiuvvaku;  jedoch  wird  die  Verjährung  unter- 
brochen durch  Untersuchungshandhingen  a.  18.  Schwerere 
Delikte  werden  auch  nachträglich  bestraft  —  docli^  wie  es 
scheint,  so,  dass  nach  Umständen  des  einzelnen  Falles  eine 
Verjährung  statuirt  werden  kann^  a.   18. 

Bei  manchen  Delikten  tritt  nach  Ablauf  längerer  Zeit 
keine  Extinktivverjährung  ein,  aber  eine  Mi  Iderun g  : 
Milderungsverjährung,  z.  B.  bei  Brandstiftung  a.  70  Z.  6: 
statt  kwazai  nur  shizai. 

§  9. 
Das  Kamporitsu  erwähnt  in  a.  103  folgende  Todesstrafen: 

1.  das  nokogiri-biki  (oben  S.  385), 

2.  die  Kreuzigung,  haritsuke:  an  das  Kreuz  Binden 
und  Durchstechen  mit  Lanzen, 

3.  Verbrennen •  (k w az ai)  ^^), 

4.  Enthauptung  entweder  einfach  (zanzai),  oder  ohne 
ehrliches  Begräbniss  (geshinin),  oder  mit  Schändung 
des  Leichnams  (shizai),  oder  mit  Ausstellung  des 
Kopfes  (gokumon). 

Die  Strafen  1  bis  4  hatten  früher  Vermögenseinziehung 
(kessho)  zur  Folge;  vergl.  auch  a.  27  Z.  1;  doch  hat  man 
bei  geshinin  später  (seit  1744)  davon  abgesehen  a.  27  Z.  1. 

Ueber  die  eigenartige  Confiscation ,  wobei  ein  Haus  auf 
5  Jahre  eingezogen  wird,  ist  im  speciellen  Theil  zu  handeln 
(bei  Kuppelei  und  Hazardspiel  (S.  402,  410). 

Die  Todesstrafe  soll  an  keiner  schwangern  Frau  vollzogen 
werden,  Reigaki  a.  13. 

Die  Verbannung  ist  entweder  Deportation  auf  eine 
Insel  (ento)  '^^);  oder  Landesverweisung  (tsuiho)  '^"*),  schwere, 

'-)  Der  Feuertod  kam  noch  in  den  GOer  Jahren  vor;  vgl.  Bous- 
quet, le  Japon  II  p.  28. 

'^)  Sind  in  der  Herrschaft  des  Gerichtsherrn  keine  Inseln,  so  tritt  an 
Stelle  des  ento  lebenslängliche  Gefängnissstrafe,    Osadamegaki  a.  55. 

'"*)  Sie  wird  bei  vielen  Delikten  angedroht,  obgleich  nach  dem 
Osadamegaki  a.  52  ein  massiger  Gebrauch  davon  zu  machen  ist. 


Studien  aus  dem  japanischen  Recht.  397 

mittlere,  leichte,  jutsuiho,  chutsuiho,  ketsuiho;  oder 
OrtsverweisuDg  und  zwar  aus  Jeddo  und  der  Umgegend 
von  Jeddo:  Yeddo  juriyoho  tsuiho,  oder  aus  Yeddo 
schlechthin:  Yeddobarai,  oder  aus  dem  Wohnorte:  toko- 
robarai. 

Das  ento  hat  Vermögensconfiscation  zur  Folge,  ebenso 
das  jutsuiho;  bei  chutsuiho  tritt  nur  Einziehung  des  Im- 
mobiliarvermögens, bei  ketsuiho  Einziehung  der  Acker- 
grundstücke ein.  Fehlt  es  allerdings  an  Immobiliarvermögen, 
so  treten  die  Fahrnisse  an  seine  Stelle.  Bei  Ortsverweis  tritt 
nur  ausnahmsweise  in  einzelnen  Fällen  kessho  ein,  a.  27  Z.  1, 
a.  103  Z.  9,  10,  11,  12,  14.  Die  Vermögensconfiscation  ist 
in  Japan  schon  sehr  alten  Datums  ^^). 

Die  Verbannung  geschieht  in  der  Tokugawaperiode  nicht 
mehr  auf  Zeit,  sondern  immer  auf  das  Unbestimmte,  vorbe- 
haltlich der  Begnadigung.  Für  die  Begnadigung  haben  sich 
bestimmte  Normen  gebildet;  in  schweren  Fällen  soll  gar  keine 
Begnadigung  stattfinden,  in  gewöhnlichen  Fällen  nicht  vor 
Ablauf  einer  bestimmten  Zeit,  z.  B.  bei  ento  nicht  vor  29, 
bei  jutsuiho  nicht  vor  26,  bei  chutsuiho  nicht  vor  23  Jahren 
u.  s.  w. ,  in  besonders  leichten  Fällen  schon  früher.  Diese 
Sätze  sind  in  der  letzten  Zeit  des  altjapanischen  Rechts 
(1851  bezw.  1862)  im  Scharitsu  festgesetzt  worden  (Ru- 
dorff  Tokugawagesetzsammlung  S.   134  f.). 

Beschimpfende  Strafen  sind:  Ausstellung  (sarashi): 
3  Tage  lang;  Ausstossung  aus  der  Priesterklasse,  ja  aus 
der  ganzen  Sekte  oder  Religion;  Ausstossung  aus  dem  Adel 
(Verlust  des  Rechts  des  Schwertertragens),  kaiehi;  das  Ver- 
stössen in  die  unehrlicheKlasse  der  hinin  (hinin-te-shita); 
Brandmarkung  (irezumi)  am  Arm,  aber  auch  an  der  Stirne. 

Von  Freiheitsstrafen  ist  Gefängniss  ^^)  und  Einsper- 


'^)  Vgl.  Kojiki  II  s.  71  p.  189  f. 

'^)  Ueber  die  Ordnung   der  Gefängnisse   vgl.  Osadamegaki  a.  6 


Anhang. 


398  Kohler. 

rung  im  Hause  bekannt;  letztere  hat  mehrere  Grade,  indem 
der  Bestrafte  mehr  oder  weniger  isolirt  wird'^):  tojime, 
wo  die  Thüre  verklammert  wird,  oshikome,  wo  die 
Thüre  verschlossen  wird,  heimon,  wobei  ebenfalls  Thür  und 
Fenster  verschlossen  wird,  und  die  milderen  Formen:  hissoku, 
enryo. 

Gesteigert  wird  die  Freiheitsstrafe  durch  die  Fesselung 
(tejo),  die  alle  paar  Tage  nachgesehen  wird;  die  Fesseln  wer- 
den mit  Siegeln  beglaubigt. 

Prügelstrafe  (tataki)  auf  Rücken  und  Hintertheil,  in 
chinesischer  Weise,  bis  zu  50  bezw.   100  Schlägen. 

Geldstrafe  (kario):  3 — 5  oder  10  kammon  oder  20  bis 
30  rio;  im  Fall  des  Zahlungsunvermögens  Fesselung  (tejo). 

Ausserdem  giebt  es  noch  Verweis:  shikari. 

Eine  leichtere  Strafe  kann  durch  die  Untersuchungs- 
haft (auch  durch  die  Folter)  als  verbüsst  betrachtet  werden 
a.  99.  Dies  soll  jedoch  nach  den  Kansei-Keten  a.  96  Z.  3 
bei  Gokenins  nicht  eintreten :  ihre  Strafe  soll  nicht  consumirt 
werden  (über  Gokenins  oben  S.  354). 

Bei  der  Strafenvollstreckung,  namentlich  bei  der 
Todesstrafe  sollen  nur  die  Vollstreckungsbeamten  anwesend 
sein  ^^). 

An  Feiertagen  soll  die  Todesstrafe  nicht  vollzogen 
werden '  ^). 

§  10. 
Die  Tödtung  wird  mit  dem  Tode  bestraft*^),  und  zwar 
zunächst  mit  geshinin,  a.  71  Z.  25,  in  qualificirten  Fällen  mit 
shizai :  so  die  verruchte  Tödtung  (wohl,    wie  im   chinesischen 

''')  Früher  nicht  in  Dörfern,  später  auch  in  diesen,  a.  23. 

'^)  2  Bukeshohatto  a.  5;  4  Bukesh.  a.  5  und  8;  Osadameg. 
a.  13  sadame  I  Z.  8.  Dem  steht  allerdings  die  Ordnung  des  nokogiri- 
biki  entgegen;  allein  dieses  war  wohl  kaum  mehr  in  Anwendung. 

'*)  Osadamegaki  a.  41.  Sonst  bestehen  keine  besonderen 
Zeiten  mehr  (oben  S.  381). 

^^)  Vgl.  auch  schon  lyeyasu  100  Gesetze  a.  43. 


Studien  aus  dem  japanischen  Recht.  399 

Recht,  die  Tödtung  mit  besonderer  Grausamkeit),  a.  18  Z.  2; 
so  wenn  die  Tödtung  stattfindet,  um  einen  Zeugen  des  Ver- 
brechens wegzuschaffen  a.  71  Z.  29;  so  der  Strassenmord 
a.  71  Z.  34.  Namentlich  aber  ist,  wie  im  chinesischen  Recht, 
qualificirt  der  Elternmord:  hier  tritt  haritsuke  ein^^),  und 
auf  den  Herrenmord  soll  selbst  nokogiri-biki  stehen  a.  71 
Z.  1,  14;  qualificirt  ist  auch  die  Tödtung  eines  früheren 
Herrn,  die  Tödtung  eines  Verwandten  des  Herrn,  die  Tödtung 
des  Orts  Vorstandes,  des  Lehrers,  a.  71  Z.  4,  11,  23,  21^^). 
Dagegen  werden,  wie  im  chinesischen  Rechte,  Eltern,  welche 
ihre  Kinder  tödten,  milder  bestraft:  mit  ento,  nur  wenn 
aus  gewinnsüchtigen  Motiven,  mit  shizai  a.  71  Z.  19;  ebenso 
wenn  der  ältere  Bruder  den  jüngeren  tödtet  a.  71  Z.  20  — 
dieses  ist  chinesisches  Recht  ^^). 

Eine  mildere  Strafe  tritt  auch  ein,  wenn  der  Erschlagene 
den  Thäter  gereizt  hat  oder  ein  schlechtes  Subject  ist;  dies 
insbesondere  wenn  die  Verwandten  des  Erschlagenen  für  den 
Thäter  bitten,  a.  72,  Reigaki  a.  51. 

Wer  ein  angenommenes  Kind  tödtet,  wird  mit  goku- 
mon,  ja  mit  haritsuke,  Kreuzigung  gestraft,  a.  45  Z.  1;  und 
wer  ein  solches  Kind  aussetzt,  mit  gokumon,  a.  45  Z.  1^^); 
der  Polizeibeamte,  der  ein  Findelkind  findet  und  anderswo 
aussetzt,  mit  shizai,  a.  86  Z.  4^^).  Auch  die  Aussetzung 
eines    Kindes   durch    seine   leiblichen    Eltern    ist   verboten  ^^). 

Der  Giftmörder  büsst  mit  gokumon,  a.  71  Z.  24^^),  der 
Strassenmörder  mit  shizai,  a.   71  Z.  34. 


^')  Dahin  gehört,  wie  im  chinesischen  Rechte,  auch  der  Mord  des 
Mannes  durch  die  Frau,  a.  48  Z.  7. 

^^)  "^gl*  auch  Reigaki  a.  13',  auch  a.  53  (wenn  ein  Jeta  einen 
Bauern  erschlägt). 

«3)  Chinesisches  Strafrecht  S.  41,  Lü-li  s.  318,  319. 

^*)  Osadamegaki  a.  63. 

^^)  Osadamegaki  a.  81  III. 

^^)  Osadamegaki  a.  62. 

^')  lyeyasu  100  Gesetze  a.  88  bestimmte  sogar  Kreuzigung. 


400  Kohler. 

Auch  die  Tüdtung  eines  Einwilligenden  wird  mit 
gesliinin  bestraft,  so  insbesondere  wenn  zwei  sich  gegenseitig 
tödten  wollen  und  der  eine  Theil  dabei  stirbt;  stirbt  Keiner, 
so  tritt  Verstossung  unter  die  hinin  ein  a.  50. 

Fahrlässige  Tödtung  büsst  mit  ento,  und  bei  geringer 
Fahrlässigkeit  mit  chutsuiho  a.   74  Z.   1   und  3. 

Die  Körperverletzung  wird,  wenn  sie  stattfindet  gegen 
den  Gläubiger,  der  zur  Zahlung  der  Schuld  mahnt,  mit 
jutsuiho,  und  wenn  sie  mit  Waffen  geschieht,  sogar  mit 
shizai  bestraft,  a.  64  Z.  41 ;  die  Körperverletzung  des  Ehe- 
mannes durch  den  Ehebrecher  gar  mit  gokumon,  a.  48  Z.  8. 
Sonst  wird  die  Körperverletzung,  wenn  schwere  Folgen  ein- 
treten, mit  chutsuiho  bezw.  ento  geahndet,  letzteres  wenn  der 
Verletzte  arbeitsunfähig  wird  a.  71  Z.  40. 

Bei  einfachen  leichten  Verletzungen  ist  eine  (be- 
stimmte) Busse  an  den  Verletzten  für  Heilungskosten  zu  ent- 
richten; kann  sie  nicht  entrichtet  werden^  so  tritt  tokorobarai 
ein  a.  77  Z.  2 — 5;  der  Dienstmann  eines  Büke  büsst  mit 
Yeddobarai,  Reigaki  a.  79,  Kansei-Keten  a.  76  Z.  4  (Ru- 
dorff  S.   132). 

Körperverletzung  mit  nachfolgendem  Tod  wird 
mit  geshinin  bestraft,  und  wenn  mehrere  zusammenwirkten, 
so  erleidet  derjenige  die  Todesstrafe,  der  den  ersten  Schlag 
gethan  hat  a.  71  Z.  25,  30;  kann  solches  nicht  constatirt 
werden,  so  tritt  ento  ein,  Reigaki  a.  ijß. 

Wer  aber  seinen  Herrn  am  Körper  beschädigt,  büsst 
mit  haritsuke,  ebenso  wer  seinen  früheren  Herrn  oder  seine 
Eltern  verletzt;  wer  Verwandte  seines  Herrn  oder  seine  eigenen 
Verwandten  oder  seinen  Lehrer,  mit  shizai  a.  71  Z.  2^  5,  15, 
12,  18,  22,  wer  seine  geschiedene  Frau,  mit  Brandmarkung 
und  Verstossung  zu  den  hinin  a.  71   Z.  42. 

Das  Eingeben  von  Gift  wird  mit  ento  bestraft,  wenn  der 
Tod  nicht  eintritt,  a.  24. 

Der  Theilnehmer   an  einem  Raufhandel,    bei   welchem 


Studien  aus  dem  japanischen  Recht.  401 

eine  Tödtung   erfolgt,    büsst    mit    Geldstrafe  a.  71  Z.  50^^j: 
man  soll  sich  nicht  in  Streitigkeiten  hineinmischen^^). 

§  11. 

Die  Strafe  des  Menschenraubs  (in  China  ständige  Ver- 
bannung und  Bambus)  ist  zu  shizai  gesteigert,  a.  61  Z.  1  ^^). 

Auf  gewaltsame  Entführung  steht,  bezüglich  des 
Hauptthäters,  Tod  (shizai)^  ähnlich  wie  im  chinesischen 
Recht,  a.  90^^).  Jedoch  kann,  wenn  der  Schwiegervater  um 
Erlass  bittet,  Milderung  eintreten.  Entführung  mit  Einwil- 
ligung derFrauensperson  wird  mit  tejo  bestraft,  a.  48  Z.  22. 

Bei  Nöthigung,  insbesondere  bei  der  Nöthigung,  eine 
Tochter  zur  Frau  zu  geben,  tritt  chutsuiho  ein,  Reigaki  a.  64. 

Ehebruch  (mitsutsu)  wird  härter  bestraft,  als  im  chine- 
sischen Recht:  die  Strafe  ist  shizai,  a.  48  Z.  1,  2^^). 

Der  Umgang  mit  einer  Verlobten  wird  mitketsuiho  geahndet, 
die  Verlobte  mit  Abschneiden  der  Haare,  a.  49  (unten  S.  447). 

Nothzucht  wird  mit  jutsuiho,  Nothzucht  an  einer  Ehe- 
frau mit  shizai  bestraft,  a.  48  Z.  11,  21,  die  Unzucht  an  einem 
jungen  Mädchen  aber  nur  mit  ento,  a.  48  Z.  20.  Dagegen 
wird  der  Incest  nicht  mit  gleicher  Strenge  behandelt,  wie 
im  chinesischen  Recht  ^^),  bestraft  wird  überhaupt  nur  der 
Umgang     mit     Pflege-     und     Schwiegertochter,     sodann     mit 


®^)  Vgl.  auch  lyeyasu  100  Gesetze  a.  42. 

s^)  4  Bukeshohatto  a.  9  (Rudorff  S.  27);  Osadamegaki  a.  13 
sadame  I  Z.  5  (Rudorff  S.  46). 

*°)  Vgl.  auch  Osadamegaki  a.  13  sadame  I  Z.  9. 

«0  Lü-li  s.  112,  Zeitschr.  VI  S.  365. 

®^j  Ja,  schon  der  Wechsel  von  Liebesbriefen  mit  einer  Ehefrau  wird 
bestraft,  a.  48  Z.  26.  Ein  Straferhöhungsgrund  beim  Ehebruch,  wie 
bei  der  Unzucht,  ist  es,  wenn  der  Thäter  ein  Priester  ist  (a.  51);  ebenso 
im  chines.  Recht  (s.  114).  Eine  Straferhöhung  tritt  auch  ein,  wenn 
Jemand  mit  der  Frau  seines  Herrn  Ehebruch  treibt:  die  Strafe  des 
Ellebrechers  ist  hier  gokumon,  a.  48  Z.  9.  Vgl.  auch  Küchler  in  den 
Trasact.  of  the  As.  Sog.  of  Japan  XIII  p.  133.     Vgl.  auch   oben  S.  387. 

^3)  Vgl.  chinesisches  Strafrecht  S.  39.  Vgl.  auch  oben  S.  361. 
Zeitschrift  für  vergleichende  Rechtswissenschaft.   X.  Band.  26 


402  Kohler. 

Schwester,  Tante  und  Nichte,  ersternfalls  allerdings  mit  goku- 
mon,  letzternfalls  aber  nur  mit  Verstossung  unter  die  Unehr- 
lichen (hinin),  a.  48  Z.  13  und  14.  Wie  im  chinesischen 
Recht,  gilt  auch  hier  der  Umgang  des  Dieners  mit  der  Tochter 
des  Herrn  als  Incest:  er  wird  aber  nur  mit  chutsuiho  be- 
straft, a.  48  Z.   18. 

Die  Kuppelei  durch  Halten  heimlicher  Dirnen  wird 
mit  Geldstrafe  und  100  Tagen  Fesselung  geahndet,  a.  47  Z.  1 
und  2,  die  Kuppelei  von  Wirthen  durch  Zulassung  von 
Dirnen  mit  tokorobarai,  a.  47  Forts.  Z.  1.  Im  ersten  Fall 
tritt  auch  Confiscation  des  Hauses  ein,  aber  nur  auf  5  Jahre, 
a.  47  Z.  6  und  9  9^). 

Von  einer  Bigamie  des  Mannes  ist  insofern  die  Rede, 
als  er  eine  zweite  Hauptfrau  erst  nehmen  kann,  nachdem  er 
der  ersten  den  Scheidebrief  gegeben:  Strafe  ist  tokorobarai, 
wozu,  bei  habsüchtigen  Motiv,  Confiscation  des  Mobiliarver- 
mögens hinzutritt;  eine  Frau,  die  sich  ohne  Scheidebrief  neu 
verheirathet,  bekommt  die  Haare  geschoren,  der  Vermittler 
wird  mit  Geld  gestraft,  a.  48  Z.   15,  16^^). 

§  12. 

Bei  Sachbeschädigung  ist  der  Schaden  zu  vergüten; 
wer  das  nicht  kann,  bekommt  tokorobarai,  a.   77  Z.  6. 

Diebstahl  wird,  wie  im  chinesischen  Recht  ^^),  mit 
Brandmarkung  und  Prügeln  bestraft;  ist  aber  der  Betrag  über 
10  yen,  dann  mit  dem  Tod;  in  leichteren  Fällen  erhält  der 
Dieb  (das  erstemal)  nur  Prügel  mit  oder  ohne  Brandmarkung, 
a.  56  Z.  6,  11,  16— 20  9').  Wer  einem  Krüppel  seine  Habe 
stiehlt,  büsst  mit  shizai,  a.  56  Z.  8.    Erschwerter  Diebstahl  ist 


^^)  Vgl.  auch  Osadamegaki  a.  76. 

^^)  Vgl.  auch  Küchler  in  den  Transact.  of  the  As.  Soc.  of 
Japan  XIII  p.  133. 

^^)  Chinesisches  Strafrecht  S.  44. 

^'3  Vgl.  auch  a.  43  Z.  1,  sodann  Reigaki  a.  21,  wo  auf  Prügel 
und  Ortsvei  Weisung  erkannt  wurde. 


Studien  aus  dem  japanischen  Recht.  403 

ferner  Diebstahl  mittelst  Einschleichens  oder  Einbrechens,  ins- 
besondere wenn  der  Einbruch  gewaltsam  durch  Mehrere  ge- 
schieht: hier  tritt  Todesstrafe^  shizai,  ja  (beim.  Hauptbethei- 
ligten)  gokumon  ein^  a.  56  Z.  5  und  6;  Todesstrafe  mit 
öffentlichem  Umzug  trifft  bei  Einschleichdiebstahl  zu,  wenn 
er  mindestens  fünfmal  begangen  wurde,  ja  hier  selbst  beim 
Versuch,  a.  56  Z.  28. 

Der  Holzfrevler  verwirkt  Geldstrafe,  jedoch  der  Haupt- 
betheiligte  Ausweisung:  jutsuiho    oder   chutsuiho,  a.  56  Z.  15. 

Wer  wegen  Diebstahls  mit  ßrandmarkung  bestraft  ist 
und,  nachdem  die  Brandmarkung  vollzogen  ist,  wieder  stiehlt, 
erleidet  shizai,  a.  85  Z.  14. 

Der  Kansei-keten  von  1790  a.  56  Z.  11  hat  folgende 
Abstufung:  der  erste  leichte  Diebstahl:  Prügel,  der  zweite: 
irezumi,  der  dritte:  shizai  (Rudorff  S.  131).  Vergl.  auch 
Scharitsu  a.  21   Z.  4. 

Die  Unterschlagung  anvertrauter  Sachen  wird  dem 
Diebstahl  gleich  bestraft:  mit  Brandmarkung  und  Prügeln; 
wenn  über  10  yen,  mit  dem  Tod,  a.  37  Z.  2^^).  Doch  ist 
nach  einer  Zusatzbemerkung  die  Strafe  später  gemildert  worden: 
in  Kerker,  in  jutsuiho  bzw.  Yeddobarai  oder  tokorobarai  ^^). 
Wenn  der  Diener  mit  anvertrauten  Sachen  des  Herrn  entläuft, 
soll  er  mit  dem  Tode  büssen,  wenn  die  Sachen  1  riyo  Werth 
betragen,  a.  43  Z.  2. 

Bestraft  wird  auch  die  Verpfändung  und  der  Verkauf  einer 
res  Sacra;  sie  werden  bestraft  mit  Ausschliessung  aus  dem 
Tempel,  mit  Hausarrest  bzw.   tejo,  a.  36  Z.  6  ^^^). 

Unterschlagung  durch  Verheimlichung  eines  Fundes 
dagegen  wird  nur  mit  Geld  geahndet,  a.  59  Z.  1,  a.  60  Z.  3^^^). 

Als  ein  Act  der  Unterschlagung  wird  es  auch  betrachtet, 

^^)  In  China  milder,  chinesisches  Strafrecht  S.  45. 
^^)  Namentlich  dann,  wenn  das  Geld  ganz  ersetzt  wird  oder  wenn 
bei  theilweisem  Ersatz  der  Verletzte  Fürbitte  einlegt,  Reigaki  a.  8. 
^0°)  Osadamegaki  a.  39. 
i'^O  Vgl.  auch  Osadameg.  a.  13  sad.  VII  Z.  5. 


404  Kohler. 

wenn  Jemand  trotz  öffentlicher  Ankündigung  den  aufgebotenen 
Gegenstand  behält;  hier  tritt  Yeddobarai  ein  und  Mobiliar- 
confiscation^  a.  57  Z.  4  (vergl.  auch  Z.  0)^  a.  92  Z.  3. 

Qualificirt  wird  die  Fundunterschlagung  gebüsst,  wenn 
von  einem  öffentlichen  Wächter  begangen  {welcher  für 
die  Bewahrung  gefundener  Sachen  zu  sorgen  hat);  hier  tritt 
die  Strafe  des  Diebstahls  ein,  a.  8G  Z.   1. 

Besonders  schwer  wird  der  Diebstahl  zur  See  bestraft, 
auch  die  Unterschlagung  zur  See,  sofern  sie  unter  dem 
Verwände  stattfindet,  dass  die  Waaren  geworfen  worden 
seien;  der  Capitän  und  der  Waarenmeister  büssen  mit  go- 
kumon,  die  Matrosen  mit  Prügeln  und  Brandmarkung,  a.  38 
Z.  2^^^).  Auch  die  Strandbewohner,  welche  mitwirken, 
büssen  schwer  ^^^).  Ebenso  wird  bestraft  der  Diebstahl  von 
Seewaaren  eines  verunglückten  Schiffes  durch  die  Strand- 
leute i^-^). 

Der  Raub,  ja  der  Raub  versuch,  sofern  dabei  eine  Körper- 
verletzung stattfindet,  wird  mit  dem  Tode  bestraft:  shizai^^^), 
der  Wegelagerer  und  der,  welcher  beim  Raub  einen  Men- 
schen tödtet,  mit  gokumon,  a.  56  Z.  2,  3,  4,  9,  10,  27 1<^^). 

Betrug  gegen  die  Regierung  wird,  wenn  er  auf  1  yen 
oder  mehr  geht,  mit  shizai,  im  Wiederholungsfalle  mit  go- 
kumon bestraft,  a.  64  Z.  1  und  2;  in  milden  Fällen  tritt  die 
einfache  Diebstahlsstrafe  ein,  a.  64  Z.  1.  Der  Betrug  durch 
Verkauf  gefälschter  Waaren  bezw.  durch  Unterschiebung 
dritter  Personen  als  Scheinkäufer  wird  mit  Brandmarkung  und 
chutsuiho  geahndet,  a.  64  Z.  8. 


^°')  Auch  das  chinesische  Recht  straft  den  Seeraub  besonders  streng, 
Li  zu  s.  225  in  Jamieson,  China  Review  VIII  p.  4  und  7. 

103)  Osadamegaki  a.  17  Z.  3. 

i°4)  Osadamegaki  a.  18  Z.  3. 

i<>^)  Vgl.  auch  schon  lyeyasu  100  Gesetze  a.  43. 

1°^)  Vgl.  auch  Chinesisches  StralVecht  S.  45;  auch  Li  zu  s.  102  und 
Li  15  zu  s.  225  des  Tatsing  lü-li  (Jamieson,  China  Review  X  j).  80, 
VIII  p.  9). 


Studien  aus  dem  japanischen  Recht.  405 

Die  Erpressung  ^^'^)  wird  mit  gokumon  gebüsst;  wenn 
der  Vortheil  nicht  erreicht  wird^  mit  shizai^  a.  64  Z.  3.  So 
wenn  durch  die  Erpressungsgewalt  der  Gezwungene  verletzt 
wird;  sonst  gilt  jutsuiho^  Reigaki  a.  33. 

Der  Hehler  wird  verschieden  bestraft:  mit  Prügeln  mit 
oder  ohne  Brandmarkung,  oder  auch  mit  tokorobarai;  der 
gewerbsmässige  Hehler  (und  der  Dienstbürge,  der  die  vom 
Diener  gestohlenen  Sachen  verhehlt)  mit  shizai ;  so  auch  der 
Hehler  von  veruntreuten  Seewaaren;  der  culpose  Hehler  büsst 
mit  Geldstrafe;  so  was  die  Sachhehlerei  betrifft,  a.  56  Z.  22 
bis  26  und  31;  a.  57  Z.  1;  a.  38  Z.  3;  a.  42  Z.  17  ^^s) 
Der  Personenhehler  bekommt  jutsuiho,  bei  Veruntreuung  zur 
See:  ento,  ja  in  schweren  Fällen  und  wenn  er  zugleich  Sach- 
hehler ist  und  den  Verkauf  der  gestohlenen  Sachen  besorgt: 
shizai;  bei  leichtem  Diebstahl  tritt  bloss  tokorobarai  ein,  a.  56 
Z.  12, 13,  21;  a.  80;  a.  38  Z.  5;  oder  auch  Yeddo  yuriyohotsuiho 
a.  42  Z.  81«^). 

Der  Diener,  welcher  dem  Dienst  entläuft,  büsst  mit 
Prügeln,  unter  Umständen  aber  auch  mit  tejo,  bezw.  mit  Yed- 
dobarai,  a.  32  Z.  3—5,  a.  42  Z.  4. 

§  13. 
Das  Verbreiten  gewisser  Lehren  ^^^)    wird  mit  ento  be- 
straft, wer  Wunder  verkündet,  mit  Yeddobarai  bezw.  tokoro- 


^'^^)  In  China  einen  Grad  höher  als  der  Diebstahl,  chinesisches  Straf- 
recht S.  45. 

^"^)  Etwas  härter  wird  der  bestraft,  der  von  einem  Diener,  von 
dem  er  weiss,  dass  er  entflohen  ist,  ohne  zu  wissen ,  dass  er  gestohlen 
hat,  Sachen  genommen  und  verpfändet  hat;  er  erleidet  Yeddo-juriyoho- 
tsuiho,  a.  42  Z.  16 ;  auch  sonst  tritt  bei  schwerer  culpa  schwerere  Strafe : 
Prügelstrafe  und  tokorobarai,  ein,  Reigaki  a.  20.  Besondere  Vorsicht 
wird  den  Pfandleihern  und  Trödlern  anempfohlen,  Osadamegaki  a.  70; 
sie  sollen  sich  stets  Bürgen  geben  lassen;  ib  a.  81  Z.  III. 

'^^)  Vgl.  auch  Reigaki  a.  5,  25. 

^'°)  Chinesisches  Strafrecht  S.  33.  Das  Christenthum  war  ver- 
boten, Osadamegaki  a.  13  sadame  V. 


40G  Kohler. 

barai^^^);  wer  im  Tempcldienst  Aendcrungcn  bringt,  wird 
mit  tokorobarai  oder  Einsperrung  geahndet,  a.  52  und  53.  Vgl. 
auch  Keigaki  a.  63^^-). 

Wer  einen  Leiciinam  bei  Seite  schafft,  büsst  mit 
ketsuiho,  Reigaki  a.  52,  wer  die  Leichname  der  Eltern 
findet  und  keine  Anzeige  macht,  mit  ento,  a.  71  Z.  49. 

Wer  eine  falsche  Urkunde  anfertigt,  wird,  wie  in  China, 
mit  dem  Tode,  und  zwar  mit  gokumon  bestraft,  a.  40,  Rei- 
gaki a.  58^^^).  Milderung  tritt  ein,  wenn  die  Fälschung 
ohne  Gewinnabsicht  erfolgte,  a.   100^^^). 

Die  intellectuelle  Fälschung  ^^•'')  des  Ortsvorstehers, 
welcher  dem  Capitän  bezüglich  des  Werfens  der  Waaren  ein 
falsches  Attest  ausgestellt  hat  (während  dieser  die  Waaren 
gestohlen  hatte),  wird,  wenn  in  Gewinnabsicht,  mit  gokumon 
bestraft,  a.  38  Z.  3,  milder,  wenn  ohne  Gewinnabsicht,  vergl. 
a.  100.  Intellectuelle  Fälschung  eines  Privaten,  sofern  er 
Jemanden  unrichtig  als  seinen  Diener  eintragen  lässt,  wird 
mit  jutsuiho  geahndet,  Reigaki  a.  65. 

Münzfälschung  wird,  wie  im  chinesischen  Recht,  mit 
dem  Tode  bestraft  ^^^),  aber  in  Japan  mit  Kreuzestod,  hari- 
tsuke,  a.  67.  Aber  auch  Fälschung  von  Mass  und  Gewicht 
wird  mit  Tod  gebüsst,  und  zwar  mit  gokumon,  a.  68  Z.  1 
und  2^^'^).  Wer  aber  falsche  Würfel  macht,  büsst  nur  mit 
Prügeln  und  Brandmarkung,  a.   55  Z.  11. 


*^^)  Kleinere  Erdichtungen  mit  kario,  Reigaki  a.  6.  Vgl.  auch 
Osadamegaki  a.  38. 

^^^)  Ueberhaupt  werden  religiöse  Aenderungen  untersagt,  Osada- 
m  egaki  a.  37. 

^^^)  So  schon  Ij'^eyasu  100  Gesetze  a.  88;  vgl.  auch  Chinesisches 
Strafrecht  S.  30. 

1^*)  Vgl.  auch  Reigaki  a.  29,  54. 

^^')  lieber  intellectuelle  Fälschung  im  chinesischen  Recht  s.  Chines. 
Strafrecht  S.  36. 

116)  Chinesisches  Strafrecht  S.  86,  Lü  li  s.  359. 

1")  In  China  nur  mit  Bambus,  Chinesisches  Strafrecht  S.  36, 
Lind,  a  chapter  of  tlie  Chinese  Penal  Code  p.  65  f.,  Lii-Ii  s.  155. 


Studien  aus  dem  japanischen  Recht.  '  407 

Wie  im  chinesischen  Recht,  wird  absichtliche  Brand- 
stiftung mit  dem  Tode  bestraft,  aber  nach  lyeyasu's  Gesetzen 
(100  Gesetze  a.  88)  und  nach  dem  Kamporitsu  mit  dem 
Feuertod,  kwazai,  a.  70  Z.  1,  3,  4.  Bei  Versuch  tritt  shizai 
ein,  Kansei-Keten  a.  70  Z.  1. 

Wer  ein  Schiff  zum  Scheitern  bringt  oder  zum  Aus- 
werfen von  Waaren  zwingt,  wird  schwer  bestraft  ^^^). 

Landzwang  durch  öffentliche  Androhung  einer  Brand- 
stiftung wird  mit  shizai  gebüsst,  a.   68  Z.   1^^^). 

Auf  Verkauf  von  Giften  und  gefälschten  Arzneien  steht 
gokumon  oder  doch  shizai,  a.  66,  100^^^);  geringere  Strafe 
auf  dem  Verkauf  anderer  gefälschter  Waaren,  a.   100. 

Gestraft  wird  der  Handel  mit  nachgemachtem  Gold 
und  Silber^^^),  ferner  der  Handel  mit  unzuverlässigen 
Büchern  ^^^).  Gestraft  wird  es  auch,  mit  Rothtusche  zu  han- 
deln: sie  ist  Monopol,  a.  68  Z.  2^^^). 

Die  Talion  wegen  falscher  Anzeige  ^^^)  ist  gemildert: 
bei  Anzeige  wegen  Tödtung  gilt  jutsuiho,  nur  in  schwereren 
Fällen  ento  oder  Tod,  a.  65  Z.  5;  bei  sonstiger  Anzeige,  wenn  zur 
Erlangung  eines  Vortheils,  Prügelstrafe  und  chutsuiho,  a.  65  Z.  4. 

Es  ist  verboten,  gegen  Eltern  (oder  Lehensherrn)  eine 
Anzeige  zu  machen,  ausser  bei  Staatsverbrechen,  a.  65  Z.  1; 
eine  solche  Anzeige  soll,  selbst  wenn  wahr,  Strafe  nach  sich 
ziehen,  wenn  unwahr,  Todesstrafe  (sogar  haritsuke,  Kreuzi- 
gung); der  Angezeigte  aber  soll  milder  behandelt  werden,  als 
sonst,  a.  65  Z.  1  und  2  —  alles  dies  beruht  auf  chinesischen 


^^^)  Osadamegaki  a.  18. 

ii9j  Vgl.  Osadamegaki  a.  60. 

120)  Yg]^  auch  Osadamegaki  a.  13  sadame  II  Z.  1. 

^^^)  Osadamegaki  a.  13  sadame  II  Z.  2. 

^^2)  Osadamegaki  a.  13  sadame  II  Z.  5. 

^^^)  Osadamegaki  a.  34. 

^^*)  Chinesisches  Strafrecht  S.  37;  übrigens  ist  sie  auch  schon  im 
chinesischen  Recht  gemildert,  wenn  die  Todesstrafe  gegen  den  falsch 
Angezeigten  noch  rechtzeitig  verhindert  wird,  Lü-li  s.  336. 


408  Kohler. 

Grundsätzen  ^2^).  Die  tahche  Anzeige  gegen  einen  Oheim  soll 
mit  shizai  bestraft  werden,  —  die  falsche  Anzeige  ist  eben  wie 
die  Verwundung,  und  die  Verwundung  der  Eltern  wird  mit 
haritsuke,  die  des  Oheims  mit  shizai  gebüsst,  Reigaki  a.  73. 

Auch  der  chinesische  Satz,  dass  der  Gefangene,  welcher 
sich  selbst  befreit,  um  einen  Grad  höher  bestraft  wird  ^^^), 
hat  sich  erhalten,  a.  85  Z.  1,  vgl.  auch  Z.  4.  Eine  gleiche 
Erhöhung  trifft  aber  auch  den  Verbannten,  welcher  widerrecht- 
lich zurückkehrt,  bezw.  die  Brandmarkung  ausmerzt,  a.  85, 
Z.  8,  12,  Reigaki  a.  76;  während  im  chinesischen  Rechte 
hier  eine  andere  Behandlung  eintritt  ^^^).  Wer  sich  einem 
Urtheile  nicht  fügt,  büsst  mit  jutsuiho,  a.  19  Z.  1  und  3, 
in  milden  Fällen  milder,  Reigaki  a.  26. 

Der  Satz  von  der  Talion  im  Falle  der  Gefangenen- 
befreiung ist  abgeschwächt.  Wer  den  Gefesselten  befreit, 
haftet  mit  kario  oder  ketsuiho;  wer  die  Brandmarkung  eines 
Andern  beseitigt,  erhält  Prügel,  wer  einen  Ausgewiesenen 
aufnimmt,  wird  allerdings  selbst  ausgewiesen,  a.  85  Z.  5, 
13,  9128). 

Der  Hausverwalter  haftet,  wenn  Jemand  bei  ihm  ge- 
fesselt wird  und  loskommt,  auch  für  Fahrlässigkeit,  ja  casus, 
mit  Geldstrafe,  a.  85  Z.  6 ;  ebenso  (oder  noch  schwerer)  wenn 
Jemand  einem  Anderen  zur  Verwahrung  gegeben  wird,  a.  89 
Z.  7,  11. 

Wer  sich  ein  Amt  anmasst,  wird  bestraft,  mit  Tod 
(shizai),  oder  milder,  chutsuiho,  vergl.  a.  64  Z.  5,  Rei- 
g  aki  a.  30. 

Der  Polizeibeamte,  welcher  einen  Mörder  nicht  fest- 
hält, büsst  mit  chutsuiho,  a.  86  Z.  2. 


^-^)  Lü-li  s.  337:  liier  soll  der  Elterntheil  sogar  ganz  frei  ausgehen, 
wenn  er  gesteht  (das  Geständniss  gilt  ja  als  freiwilliges,  da  die  Anzeige 
ignorirt  wird,  vgl.  Chinesisches  Strafrecht  S.  20). 

^2<5)  Chinesisches  Strafrecht  S.  35,  Lü-li  s.  389. 

^2')  Chinesisches  Strafrecht  S.  35,  Lü-li  8.  390. 

^^^)  Vgl.  auch  Osadamegaki  a.  53. 


Studien  aus  dem  japanischen  Recht.  409 

Der  Postbeamte,  welcher  aus  Geldbriefen  Geld  heraus- 
nimmt, büsst  mit  shizai,  a.  91. 

Die  Bestechung  wird  bezüglich  des  Bestechenden  nur 
mit  ketsuiho  bestraft  werden,  a.  26 ;  ausserdem  soll,  wer  den 
Richter  besticht,  mit  seinem  Process  zurückgewiesen  werden ^^^). 

Im  chinesischen  Recht  wird  ein  thätlicher  Streit  im 
kaiserlichen  Palast  besonders  bestraft,  mit  Bambus,  und 
wenn  dabei  Verwundungen  vorkommen,  sogar  mit  ständiger 
Verbannung  '^^^).  Auch  nach  japanischem  Recht  tritt,  wenn 
ein  solcher  Streit  im  Schlosse  des  shogun  stattfindet,  Prügel 
und  Yeddobarai  ein,  bei  den  Anführern  jutsuiho,   a.  76  Z.   1. 

Aber  auch  Landfriedensbruch  wird  nach  japanischem 
Recht  schwer  bestraft,  am  schwersten  wenn  dabei  Tödtungen 
vorkommen  (der  Rädelsführer  mit  dem  Tod),  weniger,  wenn 
nur  Sachverletzungen  (der  Rädelsführer  mit  jutsuiho),  a.  76 
Z.  3  und  4. 

Gestraft  soll  auch  werden  der  Ausstand  der  Arbeiter 
zur  Lohnsteigerung  und  die  Vereinigung  zur  Monopolisi- 
rung  der  Waaren  ^^^). 

Ruhestörung  in  der  Art,  dass  ein  Auflauf  entsteht, 
wird  mit  Prügel  und  tokorobarai  (in  schweren  Fällen  mit 
chutsuiho)  bestraft,  a.   76  Z.  2. 

Der  Aufruhr  ^^^),  der  darin  besteht,  dass  Bauern  gemein- 
schaftlich Gewalt  gegen  den  jito  (S.  435)  anwenden  und  das  Dorf 
verlassen,  wird  bei  den  Rädelsführern  mit  dem  Tod,  bei  den 
Andern  je  nach  ihrer  Stellung  mit  jutsuiho,  tokorobarai,  kario 
bestraft;  Minderung  der  Strafe  tritt  ein,  wenn  der  jito  die 
Bauern  bedrängt  hat,  a.  28.  Verlassen  sie  das  Dorf  nicht,  so 
tritt    (als    bei    blossem    Versuch)     mildere    Strafe    ein :     beim 


^^^)  Osadamegaki  a.  22. 

130)  Lü-li  s.  304. 

131)  Osadamegaki  a.  13  sad.  II  Z.  6. 

132)  Chinesisches    Strafrecht   S.    35,  Lü-li    s.    267.     Hier    wird   der 
Rädelsführer  regelmässig  mit  ständiger  Verbannung  bestraft. 


410  Kohler. 

Ivädelsführer  ento^  bei  Andern  cliutsuiho^  Feaselung,  Verweis^ 
Yeddobarai  oder  tokorobarai,  Reigaki  a.   78. 

Die  Ueberscbreitung  der  Grenzen  ohne  die  nötbige 
Passabfertigung  wird  im  chinesischen  Rechte  nur  mit  Bambus 
bestraft,  und  die  Ueberscbreitung  der  Landesgränze  mit  Sjähriger 
Verbannung;  und  nur  dann  soll  Todesstrafe  eintreten,  wenn 
der  Ueberschreiter  der  Grenze  mit  fremden  Völkern  in  Be- 
ziehung tritt  ^^^).  Dagegen  ist  das  unbefugte  Ueberschreiten  der 
Grenze  in  Japan  zum  Capitalverbrechen  geworden,  es  hat 
Kreuzestod,  in  weniger  schweren  Fällen  jutsuiho  zur  Folge 
a.  20;  vorausgesetzt,  dass  es  absichtlich  erfolgt,  Reigaki  a.  67. 

Wie  im  chinesischen  Recht,  wird  das  Hazardspiel  be- 
straft, insbesondere  tritt  auch  die  Einziehung  des  Spielhauses 
ein  —  jedoch  soll  dasselbe  nach  5  bzw.  3  Jahren  zurückge- 
geben werden,  a.  55  Z.  1  f.  16  ^^^).  Verboten  ist  auch  die 
Lotterie  ^^^). 

Besondere  Bestimmungen  gelten  gegen  den  heimlichen 
Besitz  von  Schiesswaffen  ^^^)  und  gegen  die  Vogeljagd, 
a.  21,  22^^^);  auch  gegen  die  Unterkunft  von  Personen 
ohne  Eintrag  in  die  Register,  a.  25-^^^);  gegen  die  Er- 
richtung von  Gebäuden  ohne  Anzeige  a.  95;  gegen  die  Ver- 
letzung des  Zunftmonopols  a.  57  Z.  5;  gegen  das  directe 
Kaufen  vom  Schiffe  aus  a.  38  Z.  1^^^).  Die  Vorspiegelung, 
der  Vasall  eines  hohen  Beamten  zu  sein,  wird  mit  shizai  be- 


133)  Lü-li  s.  220. 

^^0  Vgl-  gegen  das  Hazardspiel  auch  lyeyasu  100  Gesetze  a.  87; 
Osadamegaki  a.  13  I  sadame  Z.  4,  a.  16,  a.  66^  67,  68. 

13^)  Osadamegaki  a.  69. 

13°)  Auch  gegen  heimlichen  Verkauf  von  Pulver  und  Blei,  Reigaki 
a.  1.  Die  SchiesswafTen  müssen  einem  Inspektor  vorgewiesen  werden, 
Osadamegaki  a.  28;  vgl.  auch  a.  29. 

137)  Yg]  rj^^yicii  Osadamegaki  a.  13  sadame  VI.  Auch  gegen  das 
Ausnehmen  von  Vogeleiern,  Reigaki  a.  3. 

138)  Yg\,  auch  Reigaki  a.  34.  (Auch  ein  Motiv  in  Loti's  Madame 
Chrj'^santheme.) 

139)  Vgl.  auch  Osadamegaki  a.  19  Z.  1.    Vgl.  unten  S.  429. 


Studien  aus  dem  japanischen  Recht.  411 

straft  a.  64  Z.  5  ^^^),  die  Beilegung  eines  falschen  Titels  mit 
entO;  Reigaki  a.  55;  das  unbefugte  Schwerttragen  (von 
Seiten  eines  Nichtsamurai)  mit  ketsuiho^  a,  94^^^). 

§  14. 

Aus  der  Darstellung  des  Tokugawastrafrechts  geht  hervor, 
dass  auch  in  dieser  Periode  die  chinesischen  Ideen  die  Fiih- 
rungsrolle  haben;  doch  zeigt  sich  in  vielen  Punkten  eine 
Weiterentwickelung:  eine  Weiterentwickelung  im  Einzelnen, 
in  manchen  Dingen  auch  ein  principielles  Weitergestalten. 
Die  lange  Zeit  der  Kämpfe  und  Wirren  hat  eine  gewisse 
Härte  in  den  Gemüthern  erzeugt,  welche  zu  schweren,  ja 
barbarischen  Strafen  geführt  hat.  Der  Gedanke  der  Blut- 
rache, welcher  im  chinesischen  Rechte  fast  zum  Erlöschen 
gebracht  wurde,  ist  neu  aufgelodert,  an  der  Milderung  der 
Haftung  aus  Casualdelikt  und  Nothwehrverletzung  hat  das 
Recht  unablässig  gearbeitet,  während  das  politische  System 
die  Verwandtenhaftung  in  ziemlichem  Umfange  bestehen  Hess, 
und  dies  namentlich  in  den  oberen  Familien. 

Eine  Fortbildung  zeigt  sich  in  der  Lehre  von  der  Be- 
günstigung, in  der  Entwickelung  der  Rückfallsstrafe  und  der 
Strafverjährung  und  in  der  Lehre  von  der  Verbrechens- 
concurrenz. 

Bei  der  Körperverletzung  hören  die  gesetzlichen  Krisen- 
fristen auf  und  die  Frage  über  den  Zusammenhang  zwischen 
Verletzung  und  Folge  wird  in  jedem  Falle  individuell  ins 
Auge  gefasst. 

Bezüglich  der  Bestrafung  der  Fälschung  öffentlicher  Ur- 
kunden ist  eine  Verschärfung  eingetreten,  ebenso  bezüglich  der 
Münz-  und  Massfälschung,  die  Behandlung  der  Brandstiftung  ist 
über   die  Massen  streng;  dagegen    finden  sich    wiederum  Mil- 


^^^3  Daher  wird  auch  die  unbefugte  Annahme  eines  Wappens  ge- 
ahndet, Osadamegaki  a.  33. 


141 


)  Vgl.  auch  Osadamegaki  a.  35  Z.  1.    Oben  S.  357. 


412  Kohler. 

derungen  bezüglich  der  falschen  Anzeige  und  der  Gefjingenen- 
befreiung.  Die  Ueberschreitung  der  Grenze  ist  zu  einem 
masslosen  Delikte  erhoben  worden. 

Das  System  der  unbestimmten  Strafen  endlich  drückt 
der  Gesetzgebung  des  Tokugawas  ihr  besonderes  Gepräge 
auf;  unbestimmt  nicht  in  Bezug  auf  die  Schätzung  des  Richters, 
sondern  unbestimmt  im  Vollzuge,  so  dass  der  Bestrafte  völlig 
der  Discretion  der  Regierung  preisgegeben  ist,  die  ihn  be- 
gnadigen kann  oder  nicht.  An  und  für  sich  kann  die  Unbe- 
stimmtheit auch  heute  ihre  rationelle  Bedeutung  haben,  sofern 
die  Strafe  zugleich  Zwangserziehung  ist  und  die  Dauer  der 
Zwangserziehung  eine  individuell  verschiedene  sein  muss;  aber 
so  hat  das  Recht  der  Shoguns  die  Strafe  nicht  aufgefasst  und 
nicht  gehandhabt. 

Von  der  modernen  Anschauung  unterscheidet  sich  die 
Shogungesetzgebung  nicht  nur  durch  das  unseren  Gefühlen  wider- 
strebende Strafensystem,  sondern  auch  dadurch,  dass  die  Ge- 
sammthaftung  der  Familie  nicht  ausgeschlossen  ist,  die  Casual- 
haftung  immer  noch  nachklingt,  Nothwehr  und  Nothstand 
wenig  entwickelt  sind.  Ausserdem  führen  die  Familienver- 
hältnisse mit  der  Pflicht  der  unbedingten  Verehrung  des 
Alters  zu  Bestimmungen,  die  in  unserem  Rechte  keinen  Wider- 
hall haben:  so  die  schwere  Bestrafung  der  Anzeige  eines 
Ascendenten ,  auch  wenn  sie  richtig  ist,  so  die  aus  den 
Feudalanschauungen  entsprungenen  furchtbaren  Bestimmungen 
über  die  Verletzung  des  Herrn. 

Wir  finden  daher  auch  in  der  letzten  Periode  des  alt- 
japanischen Rechts  ein  Festhalten  an  den  ostasiatischen  An- 
schauungen mit  all  ihrer  eigenartigen  Grösse,  aber  auch  ihrem 
eigenartigen  Widerstand  gegenüber  der  freien  Entwickelung 
des  Einzelnen  und  dem  Eintritt  in  den  internationalen  Ver- 
kehr. Hier  hat  erst  die  Periode  Meji  neue  Bahnen  ein- 
geschlagen. Doch  das  Recht  dieser  Periode  steht  ausserhalb 
unserer  Betrachtung. 


Studien  aus  dem  japanischen  Recht.  413 

III. 

Grundeigentlmmsordnuiig  und  dingliclies  Reclit. 

§  1. 

Wie  der  Taihoritsu,  so  ist  auch  der  zweite  Theil  der 
Taihogesetzgebung,  der  Taihorio,  soweit  bis  jetzt  zu  ersehen; 
chinesischer  Quelle  entnommen.  Er  besteht  aus  30  Abschnitten, 
wovon  uns  insbesondere  der  Abschnitt  9  über  das  Landeigen- 
thum :  Den  rio  interessirt;  der  wesentliche  Inhalt  ist  uns  in 
englischer  Bearbeitung  bekannt  gegeben  ^^^). 

Zum  Verständniss  desselben  müssen  wir  Folgendes  aus 
dem  chinesischen  Rechte  anführen. 

Dass  in  China  das  System  des  Staatslandes  bestand; 
welches  erst  unter  der  Thsindynastie  in  4.  und  3.  Jahrh.  v.  Chr. 
dem  System  des  Landeigenthums  Platz  machte ,  ist  bekannt; 
ebenso  dass  nach  dieser  Zeit  verschiedene  Versuche  gemacht 
wurden,  um  das  ursprüngliche  System  wieder  einzuführen, 
oder  doch  theilweise  zu  Verhältnissen  zu  gelangen;  wie  sie  die 
„gute  alte  Zeit''  gezeitigt  hatte,  so  dass  der  Unterschied 
zwischen  Reich  und  Arm  verschwinde.  Davon  ist  anderwärts 
die  Rede  gewesen  ^^^). 

Auf  diese  Versuche  ist  etwas  näher  einzugehen,  denn  ihr 
Nachklang  ist  im  Taihorio  zu  verspüren. 

Ernstliche  Versuche  ^^^)  machte  in  China  die  Dynastie 
Zsin  V.  280—419  n.  Chr.,  sodann  die  Weidynastie  (385—557), 
die  übrigens  nur  den  Norden  Chinas  beherrschte,  und  endlich 


^■*^)  Tarring,  Land  Provisions  of  the  Taiho  Rio,  in  den  Trans- 
actions  of  the  Asiatic  Society  of  Japan  VIII  p.  145;  sodann  Weipert 
in  den  Mittheilungen  der  deutschen  Gesellschaft  für  Ostasien  V  und 
Ota-Nitobe,  Japanischer  Grundbesitz  (1890). 

^"3)  Zeitschr.  VI  S.  352  f.,  und  Rechtsvergleichende  Studien  S.  199  f. 

144-)  Vgl.  zum  Folgenden  Sacharoff,  in  den  Arbeiten  der  kaiser- 
lich russischen  Gesandtschaft  in  Peking  (übers,  v.  Abel  und  Mecklen- 
burg) I  S.  16  f.,  18  f. 


414  Kohler. 

(lio    Dynastie   der    Thang   (G18 — 907),    unter    der    eben    die 
Reception  des  chinesischen  Rechts  in  Japan  erfolgte. 

Die  Versuche  liefen  darauf  hinaus,  allen  arbeitsfähigen 
Personen  ein  bestimmtes  Ackerland  zur  lebenslänglichen  Be- 
nutzung anzuweisen;  auch  Greise,  Wittwen,  Minderjährige 
sollten  einen  Theil  bekommen,  aber  nur  einen  Halbtheil; 
jedes  Jahr  sollte  eine  Zuweisung  erfolgen.  Baumland  sollte 
auch  zugetheilt  werden,  aber  dieses  sollte  in  der  Familie 
bleiben,  bis  die  Familie  ausstarb.    So  das  System  derWei^*^). 

Aehnlich  die  Thang.  Auch  hier  wurde  Land  zum  zeit- 
weisen Besitz  angewiesen,  in  ähnlicher  Weise.  Die  Periode 
des  Vollantheils  ging  vom  18.  bis  zum  60.  Lebensjahre;  ein  im 
Kriege  Verwundeter  sollte  seinen  Vollantheil  bis  zum  Tode  be- 
halten, ja  dieser  sollte  an  Descendenten  ersten  und  zweiten 
Grades  übergehen.  Dazu  kam  das  zum  ständigen  Besitz  gegebene 
Baumland ;  dieses  konnte  verkauft  oder  verpfändet  werden  ex 
justa  causa  unter  obrigkeitlicher  Bestätigung,  während  der 
einstweilige  Besitz  nicht  einmal  verpachtet  werden  durfte. 

Ausser  dem  Baumlande  wurde  noch  weiter  beständiger 
Besitz  gegeben  an  die  Adeligen  und  die  Krieger;  ferner  be- 
kamen die  Beamten  ein  Amtsgut  für  die  Dienstzeit  ^^^). 

Diese  Gesetzgebung  wurde  bereits  unter  der  Thang- 
dynastie  selbst  umgangen.  Dazu  kam,  dass  vielfach  in  den 
Kriegswirren  Landstriche  ihre  Besitzer  einbüssten:  da  be- 
trachtete man  es  als  ein  Recht  der  Occupanten,  das  Land  an 
sich  zu  ziehen;  oder  der  Beamten,  den  Landstrich  neu  zu 
vergeben  ^^'^). 

Gerade  diese  Zustände  sind  es  nun,  welche  uns  der 
Taihorio    schildert  ^^^).      Hier    wird    unterschieden    zwischen 


'*'')  Sacharoff  S.  17.  '^')  Sacharoff  S.  19. 

1^0  Sacharoff  S.  20,  22. 

^^^)  Dem  Taihorio  ging  bereits  ein  Gesetz  v.  646  (im  2.  Jahre 
T^ikwa)  vorher,  welches  eine  ähnliche  Ordnung  enthielt.  Der  Mikado 
Mannii  (Mannu- tenno)  zwischen  697  und  707  verbreitet  die  Maul- 
beefcultur  (Rein  I  S.  254). 


Studien  aus  dem  japanisclian  Recht.  415 

dem  zeitweise  zugewiesenen  Lande:  dem  kubunden,  solches 
sollte  allen  Personen  zukommen  im  Lebensalter  von  5  Jahren 
aufwärts,  und  zwar  dem  Mann  dreimal  so  viel  als  der  Frau, 
der  Frau  dreimal  so  viel  als  dem  Sklaven.  Nicht  jedes  Jahr, 
aber  alle  6  Jahre,  sollte  eine  Neuvertheilung  erfolgen.  Das 
Kubundenland  konnte  nicht  verkauft  und  höchstens  auf  1  Jahr 
verpachtet  werden.  Eine  Art  des  kubunden  war  das  shi-den, 
welches  in  Ermangelung  von  Nahland  in  der  Ferne  gegeben 
wurde  ^'^^). 

Einen  Gegensatz  zu  dem  Kubundenland  bildete  das  Onchi- 
land^^^),  welches  zur  Maulbeer- und  Lackbaumzucht  bestimmt 
war;  dieses  Land  wurde  der  Familie  zugewiesen,  solange  sie 
existirte,  bis  sie  ausstarb;  dasselbe  konnte  nicht  nur  verpachtet, 
sondern  auch  verkauft  werden,  allerdings  nur  mit  Zustimmung 
der  Obrigkeit  1^^). 

Daneben  bestand,  wie  nach  dem  Rechte  der  Thang- 
dynastie,  anderweitiges  auf  die  Dauer  verliehenes  Land:  das 
Idenland  für  Personen  der  kaiserlichen  Familie  und  des 
Adels;  sowie  das  Dienstland,  shoku-bunden,  das  den 
Beamten  verliehen  wurde  während  der  Dauer  des  Dienstes, 
und  das  Ko-denland,  welches  für  Verdienste  um  den  Staat 
zugewiesen  wurde ,  entweder  für  immer,  oder  für  3  oder  2 
Generationen  oder  nur  auf  Lebenszeit  ^^^). 

Dazu  galten  besondere  Bestimmungen  über  das  Occupations- 
recht.  Wer  sein  Land  3  Jahre  lang  brach  liegen  Hess,  hatte  zu 
gewärtigen,  dass  es  einem  Andern  verliehen  wurde,  aber  doch 
so,  dass  der  erste  Besitzer  es  in  3  Jahren  wieder  an  sich  ziehen 
konnte.  Kehrte  er  nicht  wieder,  so  verfiel  es  dem  Staate.  Un- 
bebautes Land  konnten  die  Beamten  für  sich  in  Cultur  nehmen  ^  ^  ^). 

Es  kann  nicht  zweifelhaft  sein,  dass  wir  eine  Entlehnung 
dessen  haben,  was  die  W ei-  und  Thangdynastie  zu  dem  Zweck 

^^»)  Tarring  p.  146";  Weipert  S.  122. 
^^0)  Tarring  p.  150  f. 
1^0  Tarring  p.  149;  Weipert  S.  123. 
152)  Tarring  p.  152,  154. 


410  Kohler. 

bestimmten,    um    die   alte  Zeit  des  Gemeineigenthums  wieder 
zurückzuführen. 

Ob  die  einzelnen  Differenzen  japanisch  sind,  oder  ob  es 
sich  um  eine  neue  Fassung  der  Thanggesetzgebung  handelt, 
die  in  Japan  übernommen  wurde,  ist  einstweilen,  solange  nicht 
auch  die  chinesische  Fassung  vorliegt,   nicht    zu    entscheiden. 

In  China  ging  schon  während  der  Thangdynastie  das  ge- 
schilderte Ackersystem  zu  Grunde,  und  zwar  schon  gegen  Ende 
des  8.  Jahrb.,  in  Japan  dauerte  es,  wenn  auch  mit  Beschränkung 
bis  in  das  10.  Jahrb.  hinein;  in  manchen  Theilen  Japans 
scheint  es  allerdings  wenig  Durchführung  gefunden  zu  haben, 
und  zwar  mehr  in  dem  direkt  kaiserlichen  Gebiet,  weniger  in 
den  Gebieten  der  Vasallenfürsten. 

Aber  auch  hier  hat  schon  die  nächste  Folgezeit  Vieles 
geändert.  Nicht  nur  wurde  die  Art  der  Kubundentheilung 
geändert,  so  durch  Gesetz  v.  792,  873,  877^^^),  sondern  es 
wurde  bereits  im  Jahre  723  bestimmt,  dass,  wer  ein  unbe- 
bautes Feld  neu  bewirthschaftet,  daran  ein  lebenslängliches 
Anrecht  bekomme,  und  wenn  er  dabei  eine  neue  Wasseranlage 
mache,  ein  Anrecht  auf  3  Leiber,  und  im  Jahr  743  wurde 
dies  dahin  gestaltet,  dass  er  in  solchem  Falle  erbliches  Eigen- 
thum  erwerbe ^^^),    Man  nannte  dieses  Land  Kondenland^^^). 

Durch  ein  Gesetz  v.  902  wurde  die  Vertheihmgsperiode 
von  6  auf  12  Jahre  verlängert  ^^^);  in  manchen  Provinzen 
war  die  Kubundenzutheilung  nicht,  in  anderen  nur  mangelhaft 
zur  Durchführung  gekommen  ^^'^j;  in  den  langjährigen  Kriegen 
suchte  der  Mächtige  sich  unabhängiges  Eigengut  zu  verschaffen: 

i53j  Weipert  in  den  Mittlieilungen  der  deutschen  Gesellsch.  für 
Ostasien  V,  S.  122. 

^^^)  Davon  spricht  auch  noch  lyeyasu  in  den  100  Gesetzen  c.  16 
(Rudorff  S.  7),  aber  er  verlangte  eine  staatliche  Genehmigung  zur 
Neucultur.  Vgl.  darüber  unten  S.  417.  Ota-Nitobe  S.  16  gibt  ein  Edikt 
■von  760  an,  wornach  Neuland  zu  Privateigenthum  werden  sollte. 

1^5)  Weipert  S.  123. 

1^6)  Weipert  S.  125. 

^")  Weipert  S.  125. 


Studien  aus  dem  japanischen  Recht.  417 

das  sog.  shoyen;  dieses  mehrte   sich   und   die  Kubundenver- 
theilung  unterblieb  ^^^). 

Aus  den  grossen  Shoyenbesitzern  sind  vielfach  die  Grund- 
und  Landesherren  geworden  ^^^). 

§  2. 

Pleutzutage  ist,  wie  in  China,  Grund  und  Boden  Privat- 
eigenthum  und  veräusserlich  —  abgesehen  von  Stamm- 
gütern, deren  es  auch  in  Japan  gibt.  Die  Veräusserung  wird 
aber  nicht  gerne  gesehen,  sie  geschieht  mehr  im  Falle  der 
Noth;  auch  kommt  es  häufig  vor,  dass  sich  der  Veräusserer 
den  Rückkauf  ausbedingt  ^^^)  —  wie  im  chinesischen  Recht  ^^^). 
In  einigen  Gegenden  hat  sich  local  die  Feldgemeinschaft  bis 
in  die  70er  Jahre  erhalten,  indem  der  Gemeindeboden  alle 
3 — 10  Jahre  neu  zugeloost  wurde;  die  Gemeinschaft  hiess 
waritsi  ^^2). 

Die  Veräusserung  mindestens  von  Stadtgrundstücken 
muss  den  Nachbarn  und  Verwandten  bekannt  gegeben  und 
im  Grundbuch  eingetragen  werden  a.  41^^^)  —  auch  dies 
entsprechend  dem  chinesischen  Recht  ^^*). 

Ein  jeder  Neubruch  muss  angezeigt  werden  ^^^);  wer  ihn 
verheimlicht,  büsst  mit  jutsuiho,  schwerer  Landesverweisung, 
a.  30  Z.  5,  vergl.  auch  Osadamegaki  a.  15,  a.  21  Z.  3, 
Reigaki  a.  70.  Schon  lyeyasu  hatte  (100  Gesetze  a.  16) 
bestimmt,  dass  vor  Anlegung  neuer  Reisfelder  bei  der  Regie- 
rung angefragt  werden  solle;    so  auch   sonst   bei  Neuerungen 


1^«)  Ota-Nitobe  S.  17. 

159)  Weipert  S.  126,  Adams  I  p.  40. 

1601 


')  Nach  Yoeota.    Vgl.  auch  oben  S.  374. 
1^1)  Rechtsvergleichende  Studien  S.  199. 

1^2)  Ota-Nitobe  S.  10;  Kosaburo  Kishi,  Erbrecht  Japans  S.  20. 
1^^)  Osadamegaki  a.  58. 
^^^)  Rechtsvergleichende  Studien  S.  202. 

i65->  Yg\.  oben  S.  416,  und  bezüglich  des  chinesischen  Rechts  meine 
Rechtsvergleichende  Studien  S.  200. 

Zeitschrift  für  vergleichende  Rechtswissenschaft.  X.  Band.  27 


418  Köhler. 

(lyeyasu  a.  17),  auch  bei  Anlegung  eines  neuen  Waldes 
(lyeyasu  a.  67);  so  muss  insbesondere  auch  ein  neuer  Bau 
angezeigt  werden,  Kamporitsu  a.  95;  ja  auf  dem  Acker- 
lande soll  es  überhaupt  nicht  gestattet  sein,  Häuser  aufzu- 
führen, weil  dies  der  Landwirthschaft  schädlich  sei,  lyeyasu 
100  Ges.  a.  67. 

Die  Waldungen  sollen  geschont,  Holz  soll  nur  im  Fall 
der  Nothwendigkeit  geschlagen  werden  ^^^). 

Bäume  an  der  Grenze  sollen,  wenn  ihr  Schatten  dem 
Wachsthura  des  Nachbargrundstückes  schädlich  ist,  gestutzt 
oder  abgehauen  werden  ^^'). 

Keiner  darf  das  Flusswasser   über  Gebühr  stauen  ^^^). 

An  Flussufern  dürfen  keine  Wohnungen  errichtet  wer- 
den, weil  sie  bei  Wassersteigungen  störend  sind^^^). 

Zur  Verhütung  von  Wildschaden  ist  auf  dem  Lande  die 
Jagd  gestattet,  aber  gegen  vorgängige  Anzeige;  doch  gilt 
dies  nicht  für  alle  Gegenden  ^^^). 

Der  Pächter,  welcher  auf  fremdem  Boden  ein  Haus^ 
baut,  hat  an  dem  Haus  ein  dingliches  Recht;  es  kann  Gegen- 
stand der  Vollstreckung  sein,  a.  29  Z.  2. 

Die  Hingabe  eines  Landes  zu  ewiger  Rente  ist  ver- 
böten, ausser  bei  Neubruch,  a.  30  Z.  1 — 3:  eine  solche  Hin- 
gabe ist  verboten,  auch  wenn  sie  nicht  zu  Eigenthum  erfolgt, 
sondern  zu  Emphyteuse:  eine  Emphyteuse  auf  20  oder 
mehr  Jahre  gilt  als  eine  ewige  (ehosaku)  a.  31  Z.  17. 

Eine  50  Jahre  lang  ausgeübte  Servitut  soll  als  legalisirt 
gelten,  lyeyasu  100  Gesetze  a.  18. 


^^^)  Osadamegaki  a.21  Z.  4.  Bezügl. Chinas  s.  rechtsvergleichende 
Studien  S.  201. 

^6  7)  lyeyasu  100  Gesetze  a.  68. 
^^^)  Osadamegaki  a.  25  Z.  1. 
^^^)  Osadamegaki  a.  26. 
i'<^)  Osadamegaki  a.  30. 


Studien  aus  dem  japanischen  Recht.  419 

§  3. 

Bekanntlich  spielte  das  Lehenswesen^^^)  früher  eine 
grosse  Rolle.  Das  Lehen  hiess  koku  (=  Land),  der  Vasall 
hiess  kerai,  das  Lehen  war  ein  Grundlehen  gegen  Dienste: 
Militärdienste,  Amtsdienste,  Hofdienste  ^^^).  Zu  dem  Militär- 
dienst gehörte  besonders  die  Pflicht,  eine  Anzahl  Reiter  zu 
stellen,  nach  der  Grösse  und  dem  Erträgnisse  des  Lehens ^'^^). 
Besonders  wichtig  war  die  Bewachung  der  Hauptfestungen  ^^^). 

Konnte  ein  Vasall  seine  Dienste  nicht  mehr  leisten,  so 
musste  er  zurücktreten  (ingo  werden)  ^^^)  und  das  Lehen 
seinem  Sohn  überlassen. 

Die  Lehen  waren  theils  vererblich,  theils  unvererblich. 
Nach  lyeyasu's  100  Gesetzen  a.  48  sollten  die  kleinen  Lehen 
nicht  ständig  sein,  sie  sollten  alljährlich  besonders  ange- 
wiesen werden  ^'^^).  Die  grossen  Lehen  aber  waren  schon 
unter  lyeyasu  erblich. 

Die  Beerbung  erfolgte  nach  den  Sätzen  der  Hauserb - 
folge,  jedoch  nur  an  den  ältesten  Sohn;  im  Falle  der  Sohn- 
losigkeit  trat  Heimfall  des  Lehens  ein^^^).  Dieser  Heim- 
fall konnte  durch  Adoption  abgewendet  werden,  jedoch  nur 
unter  bestimmten  Cautelen,  wovon  unten  S.  440  die  Rede 
sein  wird. 

Beim  Dienst  Wechsel  waren  dem  dominus  bzw.  demRath 
desselben  (goroju)  bestimmte  Leistungen  zu  machen  ^^^). 


171^  Vgl,  zum  Folgenden  auch  Grigsby  in  den  Transactions  of  the 
Asiatic  Society  of  Japan  III  p.  134  f. 

^'^)  lyeyasu's  100  Gesetze  a.  20;  auch  18  Gesetze  a.  10,  worin 
besonders  hervorgehoben  wird,  dass,  wenn  die  Vasallen  auch  grosse 
Einkünfte  besässen,  sie  dafür  Leistungen  zu  machen  hätten. 

1")  lyeyasu's  100  Gesetze  a.  38. 

^^*)  lyeyasu's  100  Gesetze  a.  55. 

''^)  Vgl.  darüber  später  S.  442. 

^^6)  Vgl.  auch  lyeyasu  a.  81,  83. 

''")  Grigsby  p.  135. 

1'«)  lyeyasu's  100  Gesetze  a.  83. 


420  Kohler. 

Die  Vasjillen  konnten  Untervasallen  haben,  die  aber 
an  Rang  den  unmittelbaren  Vasallen  naehstanden  i'^^). 

Felonie  hat  Verfall  des  Lehenrechts  zur  Folge  ^^^);  bei 
schlechtem  Benehmen  können  dem  Vasallen  auch  zur  Strafe 
grössere  Leistungen  auferlegt  werden  ^^^);  fahrlässiges  Verhalten 
kann  nachgesehen  werden  ^^^).  Die  Tödtung  oder  Verwundung 
des  Lehensherrn  gilt  als  furchtbares  Verbrechen,  welches  die 
Austilgung  des  ganzen  Geschlechts  zur  Folge  haben  kann  ^^^). 

Soweit  das  Grundlehen.  Es  gab  indess  auch  Vasallen 
ohne  Grundbesitz,  mit  festen  Einkünften  von  dem  Lehens- 
herrn; so  viele  Samurai:  sie  waren  keine  Vasallen  in  dem 
eigentlichen  lehenrechtlichen  Sinne,  sie  waren  ein  Gefolge 
ihrer  Lehensherren,  denen  sie  unverbrüchlich  ergeben  waren, 
und  denen  sie  Hof-,  Geleit-  und  Wachedienst  zu  leisten  hatten. 
Während  der  langen  Friedenszeit  hatte  die  ganze  Institution 
keinen  rechten  Boden  mehr,  die  Samurai  waren  vielfach  ohne 
rechte  Lebensaufgabe,  und  die  Folge  war,  dass  sie  durch 
pointirte  Standesbegriffe  und  durch  einen  eigenartigen  Ehren- 
kodex eine  künstliche  sociale  Stellung  zn  behaupten  suchten. 
Der  äusserste  Ausläufer  dieser  künstlichen  Anschauung  war  das 
harakiri  ^^^). 

§4. 

Die  gefundene  Sache  ist  aufzubieten;  wird  der  Eigen- 
thümer  ermittelt,  so  hat  er  dem  Finder  ein  Fundgeld  zu 
entrichten,  welches  bis  zu  ^/2  der  Sache  aufsteigen  kann. 
Nach  6  Monaten  verfällt  die  Sache  dem  Finder,  a.  60  Z.  1,  2. 

Die  gestohlene  Sache  kann    in    die  Hand   des  Dritten, 


*^^)  lyeyasu's  100  Gesetze  a.  41. 

^^^)  Grigsby  p.  135;   vgl.  lyeyasu's  100  Gesetze  a.  10,  11;  ganz 
oder  theilweise,  vgl.  ib.  a.  40. 

^^0  lyeyasu's  100  Gesetze  a.  92. 

^)  lyeyasu's  100  Gesetze  a.  92. 

^)  lyeyasu's  100  Gesetze  a.  52.     Vgl.  auch  oben  S.  388,  399. 

*)  Oder  seppuku.     Vgl.  auch  Rein,  Japan  I  S.  379. 


182^ 
183' 
1S4- 


Studien  aus  dem  japanischen  Recht.  421 

auch  des  gutgläubigen  Erwerbers,  insbesondere  des  gutgläu- 
bigen Käufers  oder  Pfanderwerbers,  verfolgt  werden,  ohne  dass 
der  Eigenthümer  diesem  die  Schuldsumme  oder  den  Kaufpreis 
zu  vergüten  hätte,  a.  57  Z.  1  und  2,  a.  42  Z.  7^^^).  Der 
Kauf  einer  gestohlenen  Sache  ist  nichtig  und  der  Verkäufer 
hat  den  Kaufpreis  zurückzugeben;  jedoch  verfällt  derselbe 
dem  Staat,  wenn  der  Käufer  schuldhaft  gehandelt  hat,  a.  57 
Z.  2  und  3.  Ist  die  gestohlene  Sache  nicht  mehr  zu  erlangen, 
nachdem  sie  der  erste  Käufer  weiter  verkauft  hat,  so  hat  der 
erste  Käufer  dem  Bestohlenen  den  Kaufpreis  auszufolgen, 
a.  57  Z.  3. 

§  5. 

Das  japanische  Recht  kennt  bezüglich  der  Liegenschaft 
das  Besitzpfand,  shichi,  und  die  Hypothek,  kaki-ire; 
übrigens  kann  der  wirthschaftliche  Erfolg  der  Hypothek  auch 
dadurch  erzielt  werden,  dass  die  in  Besitzpfand  gegebene 
Sache  dem  Schuldner  zur  Pacht  (kosaku,  Selbstpacht  jiki- 
kosaku)  überlassen  wird. 

Das  Pfand  ist  aber  zugleich  Verfallpfand;  entweder  kraft 
Vertrages  oder  kraft  Gesetzes;  kraft  Vertrages:  in  solchem 
Falle  tritt  der  Eigenthumsübergang  nach  Ablauf  der  Frist 
ein,  doch  mit  dem  Aequitätsmoderamen,  dass  der  Schuldner  die 
Sache  innerhalb  2  Monaten  zurückkaufen  kann.  Wenn  dagegen 
die  Verfallklausel  fehlt,  so  verhält  es  sich  wie  folgt:  ist  eine  Frist 
gesetzt,  innerhalb  welcher  der  Gläubiger  die  Sache  antichretisch 
benutzen  darf,  so  ist  die  Einlösung  erst  nach  Ablauf  dieser  Frist 
möglich;  nach  Ablauf  dieser  Frist  aber  beginnt  eine  gesetz- 
liche Zeit  von  10  Jahren,  mit  deren  Verstreichen  das  Pfand 
verfällt.  Ist  keine  Benutzungsfrist  gesetzt,  so  verfällt  das 
Pfand  in  10  Jahren  nach  dem  Pfandvertrag:  die  Einlösung 
kann  innerhalb  dieser  10  Jahre  erfolgen,    sie  kann   innerhalb 


185 


)  Vgl.  auch  Osadamegaki  a.  70. 


422  Kühler. 

dieser  Frist  zu  jeder  Zeit  erfolgen  ^^^).  Der  Pfandgläubiger, 
welcher  das  nieht  verfallene  Pfandstück  veräussert,  büsst  mit 
Geldstrafe  i«7). 

Ist  das  Pfand  Nutzpfand  und  wird  dabei  der  Schuldner 
oder  Pächter  im  Grundbesitze  belassen,  so  hat  er  den  Pacht- 
zins zu  bezahlen,  und  das  Verhältniss  ist  insofern  ein  reines 
Pachtverhältniss:  Pachtrückstände  sind  in  gewöhnlicher  Weise 
beizutreiben:  hierfür  haftet  die  Sache  nicht  pfandweise,  es 
müsste  denn  ausdrücklich  gesagt  sein,  a.  31  Z.  7,  10,  11,  12,  13, 
14,  20;  a.  36  Z.  1  und  3.  Jedoch  kann  in  solchem  Falle 
auch  die  Pacht  gelöst,  das  Grundstück  dem  Pächter  entzogen 
und  in  den  Besitz  des  Gläubigers  gewiesen  werden,  a.  31  Z.  19. 
In  gleicher  Weise  ist  zu  verfahren,  wenn  die  Pachtzeit  auf- 
hört und  die  Pfandsumme  noch  rückständig  ist,  jedoch  muss 
dem  Schuldner  eine  bestimmte  gesetzliche  Frist  gewährt 
werden,  a.  36  Z.  1. 

Verfällt  das  Pfand,  nachdem  Theilzahlung  geleistet  ist, 
so  ist  dem  Schuldner  die  Theilzahlung  zu  erstatten,  a.  31  Z.  18. 

Der  Pfandgläubiger  kann  das  Pfand  in  Afterpfand 
geben,  aber  natürlich  nur  bis  zu  der  Belastung,  welche 
der  Eigenthümer  darauf  gelegt  hat;  das  Afterpfand  wird 
dem  ersten  Verp fänder  notificirt,  indem  er  die  Afterver- 
pfändungsurkunde mit  untersiegelt.  Dies  gilt  zugleich  als 
Verpfändung  der  Forderung:  der  erste  Verpfänder  hat  jetzt 
an  den  Afterpfandgläubiger,  nicht  an  den  creditor  primus  zu 
zahlen.  Sofern  der  creditor  primus  die  Sache  über  die  Be- 
lastung, d.  h.  über  sein  Recht  hinaus  weiter  verpfändet,  ist 
das  Pfand  ungiltig:  diese  weitere  Summe  ist  natürlich  er  selbst 
und  nur  er  zu  zahlen  schuldig  und  sie  ist  in  der  Art  persön- 
licher Schulden  beizutreiben,  a.  31  Z.  9. 

Das  Pfand  als  dingliches  Recht  bleibt  bestehen,  auch  wenn 
Vermögensconfiscation  (kessho)  eintritt:  der  Gläubiger  ist  zu- 


186)  Kamporitsu  a.  31  Z.  1—20.  a.  92  Z.  1;  Osadamegaki  a.  57. 
18')  Kamporitsu  a.  92. 


Studien  aus  dem  japanischen  Recht.  423 

vor  zu  befriedigen  oder  ihm  das  Pfand  zuzuweisen,  a.  27 
Z.  3  und  6;  vergl.  auch  Reigaki  a.  24. 

Der  Pfandvertrag  ist  publik  abzuschliessen:  er  bedarf 
■des  Siegels  des  Ortsvorstehers  (nanushi),  sonst  ist  er  nichtig; 
ist  der  Ortsvorsteher  selbst  Verpfänder,  so  soll  sein  Stellver- 
treter, eventuell  sonst  ein  Obmann  das  Siegel  auf  die  Urkunde 
setzen  ^^^). 

Liegenschaften  aller  Art  können  verpfändet  werden; 
aber  auch  Schiffe,  auch  die  Kundschaft  eines  Ladens 
(insbesondere  eines  Barbierladens)  kann  Gegenstand  des  Pfand- 
rechtes sein,  a.  36  Z.  5. 

Auch  eine  Verpfändung  der  Superficies,  z.  B.  eine 
Verpfändung  von  Bäumen  kommt  vor,  so  dass  bei  Verfall 
der  Gläubiger  die  Bäume  fällen  darf;  vergl.  den  Rechtsfall 
im  Reigaki  a.  49.     Vgl.  auch  S.  418. 

Das  Mobiliarpfand  als  Faustpfand  wird  vielfach  er- 
wähnt, z.  B.  a.  57  Z.  1  und  6. 

Bei  einer  solchen  Gestaltung  des  Pfandrechts  kann  nur 
von  einer  Verpfändung  die  Rede  sein;  ein  Nachpfand  ist 
unstatthaft,  es  steht  mit  der  ganzen  Technik  des  Nutz-  und 
Verfallpfandes  im  Widerspruch.  Daher  ist  auch  die  mehrfache 
Verpfändung  streng  verpönt:  die  erste  Verpfändung  ist  die 
gültige,  alle  folgenden  sind  nichtig,  a.  37  Z.  1. 

Das  Gesagte  zeigt  Uebereinstimmung  mit  dem  chine- 
sischen Recht,  abgesehen  etwa  von  den  Bestimmungen  über 
das  Afterpfand  ^^^).  Dem  chinesischen  Recht  entspricht  es  auch, 
dass  man  sehr  darauf  sieht,  dass  der  Nutzpfandgläubiger  und 
nicht  der  Eigenthümer  die  Steuern  und  Abgaben  bezahlt  — 
ein  anderer  Modus  würde  die  fundirte  Sicherheit  der  Grund- 
steuern erschüttern.  Ein  entgegengesetztes  Abkommen  zieht 
Strafe  nach  sich,  a.  30  Z.  4;  a.  31  Z.   15,   16  i^o). 


^^^)  Kamporitsu  a.  31  Z.  5,  Osadamegaki  a.  57  Z.    1    und    2. 

189)  Zeitschr.  VI  S.  360. 

^^0)  Vgl.  auch  Osadamegaki  a.  57  Z.  3. 


424  Kohler. 

IV. 

Obligationen-,  Gewerbe-  und  Handelsrecht. 

§  1. 

Der  chinesische  Satz,  dass  der  nicht  zahlende  Sc  huldner 
Strafe  leiden  solle,  ist  nicht  aufgegeben;  eine  Strafe  soll  er- 
folgen gegen  den  Schuldner,  welcher  nicht  erscheint,  aber  auch 
gegen  denjenigen,  welcher  nicht  zahlt,  a.  33  Z.  1 :  die  Nicht- 
erfüllung eines  Urtheiles  gilt  als  strafbar,  und  es  ist  Prinzip 
des  ostasiatischen  Rechts,  dass  es  hierbei  auf  dolus  und  culpa 
nicht  ankommt  ^^^). 

Ausserdem  ist  aber  die  Vermögensvollstreckung  im 
japanischen  Recht  völlig  entwickelt.  Der  Verurtheilte  erhält 
eine  Zahlungsfrist;  diese  ist  je  nach  dem  Betrag  der  Schuld 
von  30  Tagen  bis  zu  13  Monaten:  nach  fruchtlosem  Ablauf 
der  Frist  tritt  Vollstreckung  ein,  a.  32;  die  Vollstreckung 
(shindaikagiri)  ist  eine  Vollstreckung  auf  Fahrnisse  und 
Liegenschaften;  auch  eine  Pacht  des  Schuldners  kann  zur 
Vollstreckung  gezogen  werden,  indem  der  Gläubiger  da& 
Grundstück  in  Pachtbesitz  erhält  und  es  nach  Ablauf  der 
Frist  dem  Verpächter  zurückstellt,  a.  29  Z.   1. 

Ist  das  Vermögen  nicht  hinreichend,  alle  Schulden  zu 
decken,  so  theilen  die  Gläubiger  den  Erlös  nach  gleichen 
Raten,  haben  aber  das  Recht,  den  Schuldner  später  wieder  zu 
verfolgen:  der  Concurs  befreit  ihn  nicht,  a.  29  Z.  1,  a.  35^^^). 

Die  Bürgschaft  spielt  eine  grosse  Rolle.  Der  Bürge 
(ukenin)  haftet  mit  dem  Hauptschuldner  solidarisch,  vgl.  a.  42 

^^^)  Gibt  es  in  Japan  eine  Verjährung  der  Forderungen?  Dafür 
spricht  die  Analogie  der  Straf  Verjährung.  In  der  That  wird  der  Aus- 
druck „ki  man  men  jo"  angeführt,  als  Bezeichnung  für  „Statute  of  limi- 
tation"  (Chrysanthemum  I  p.  255).  Näheres  kann  ich  darüber  nicht 
angeben. 

^^2)  Eine  eigenthümliche  Art  des  Abverdienens  der  Schuld  soll  darin 
bestehen,  dass  die  Tochter  gegen  eine  bestimmte  Summe  für  gewisse  Zeit 
in  Prostitution  gegeben  wird;  vgl.  Dalmas,  Les  Japonais  p.  156. 


Studien  aus  dem  japanischen  Recht.  425 

Z.  P^^).  Für  den  Bürgen  kann  ein  Rückbürge  (shita  ukenin) 
gegeben  werden^  a.  42  Z.  9^^^).  Der  Bürge  hat  den  Regress 
gegen  den  Hauptschuldner  '^'■^^). 

So  findet  sich  insbesondere  die  Evictionsbürgschaft:  wer 
eine  Sache  kauft  oder  zu  Pfand  nimmt ^  bekommt  einen 
Bürgen  dafür,  dass  die  Sache  Eigenthum  des  Mitcontrahenten 
ist,  a.  57  Z.  1,  2.  Es  gilt  als  unvorsichtig,  eine  Sache  ohne 
Bürgen  zu  kaufen  oder  in  Pfand  zu  nehmen,  a.  57  Z.  6. 
Von  besonderem  Interesse  aber  ist  es,  dass  der  Bürge,  welcher 
unvorsichtig  bürgt,  nicht  nur  civilistisch  haftet,  sondern  auch 
mit  Geldstrafe  büsst,  a.  85  Z.  17:  in  der  That,  gerade  bei 
der  Evictionsbürgschaft  sind  nicht  nur  private,  sondern  auch 
öffentliche  Interessen  im  Spiele,  a.  85  Z.  17,  Reigaki  a.  74; 
ebenso  wenn  Jemand  als  Dienstbürge  eintritt  für  eine  Person, 
welche  nicht  geistig  gesund  ist,  Reigaki  a.  45. 

Besonderes  gilt  von  dem  Bürgen  eines  Dieners  (hokonin): 
er  muss  haften  für  den  Dienstvorschuss,  den  der  Diener  noch 
nicht  abgedient  hat,  er  muss  haften,  wenn  der  Diener  aus 
dem  Dienst  entläuft  oder  Gegenstände  des  Herrn  stiehlt;  je- 
doch ist  ihm  letzternfalls  Zeit  zu  geben,  den  Diener  mit  der 
Sache  zu  ermitteln  und  zurückzubringen,  a.  42  Z.  1,  4,  5,  6^^^). 

Für  den  Dienstboten  pflegt  bereits  dann  eine  Person  als 
Bürge  einzutreten,  wenn  er  sich  dem  Gesindemakler,  dem 
toyado  übergiebt:  dies  ist  der  ukeninyado.  Ebenso  ist  die 
Wohnungsbürgschaft  für  den  Miether  bei  dem  Miethsherrn  sehr 
gebräuchlich:  tana  ukenin. 

Diese  Gesindebürgschaft  wurde  als  förmliches  Geschäft  be- 
trieben (gegen  Provision)  ^^'^). 

193-j  Yg^^  auch  Osadamegaki  a.  73  Z.  10.  Das  war  nicht  immer 
der  Fall,  es  gab  eine  Zeit,  wo  nach  Stellung  der  Bürgschaft  der  Gläu- 
biger sich  nur  an  den  Bürgen,  nicht  an  den  Hauptschuldner  (hitonushi) 
halten  durfte. 

^^'^)  Osadamegaki  a.  73  Z.  2,  a.  74  Z.  3. 

^^^)  Osadamegaki  a.  74  Z.  2. 

^^^)  Osadamegaki  a.  73  Z.  1,  2. 

^^■')  Osadamegaki  a.  75. 


426  Kohler. 

Für  den  Schuldner  haftet  aber  nicht  nur  sein  Ver- 
tragsbürge; es  gibt  auch  Personen,  die  gesetzlich  für  ihn 
einstehen  müssen.  Man  hat  dies  zeitweise  soweit  ausgedehnt, 
dass  man  den  Hausverwalter  (iyenushi)  und  den  tanaukenin 
haften  lassen  wollte,  wenn  der  Bewohner  aus  Kauf  oder  Dar- 
lehen Schuldner  wurde.     Doch  dies  wurde  verworfen  ^^^). 

Dagegen  haftet  Derjenige,  welchem  ein  Schuldner  (z.  B. 
der  Dienstbürge)  als  Gefangener  in  Verwahrung  gegeben  ist, 
für  die  volle  Schuld,  wenn  er  ihn  rechtswidrig  entweichen 
lässti'J^). 

Auch  haftet  der  Gesindemakler  (toyado)  in  gewissem 
Sinne  für  den  hokonin;  er  muss  mindestens  eine  Geldstrafe 
bezahlen,  wenn  der  hokonin  Entwendungen  begangen  hat;  der 
toyado  muss  sie  bezahlen  bzw.  sein  tana  ukenin  ^^^). 

Der  toyado  haftet  ferner  für  die  Kosten,  welche  das 
Ausfindigmachen  des  entlaufenen  hokonin  und  sein  Unter- 
halt während  der  Verhaftung  im  Hause  seines  Bürgen  bereitet, 
a.  42  Z.  10.  Denn  der  entlaufene  Dienstbote  steht  eben  zunächst 
auf  Kosten  des  toyado,  der  ihn  ausfindig  zu  machen  und  zu 
unterhalten  hat  —  thut  dies  ein  Anderer,  so  hat  der  toyado 
die  Kosten  zu  ersetzen  ^^^). 

§  2. 

Wie  in  China,  besteht  das  Genossenschaftswesen, 
und  zwar  mit  rechtlicher  Ausschliesslichkeit;  wer,  ohne  zur 
Genossenschaft  zu  gehören,  mit  ihren  Waaren  Handel  treibt, 
verwirkt  das  Eigenthum  der  Waaren  und  Geldstrafe,  a.  57  Z.  5. 

Wer  daher  ein  Geschäft  beginnt,  muss,  wenn  bezügliche 
Innungen  bestehen,  in  eine  solche  eintreten  ^^^);  so  namentlich 


^93)  Osadamegaki  a.  73  Z.  13. 

^^^)  Osadamegaki  a.  73  Z.  5.     Ein  universeller  Grundsatz;   vgl. 
meinen  Shakespeare  S.  247. 

200)  Osadamegaki  a.  73  Z.  9. 
20«)  Osadamegaki  a.  74  Z.  3. 
202)  Osadamegaki  a.  71  Z.  5. 


1 


i 


Studien  aus  dem  japanischen  Recht.  427 

auch  die  kleinen  Kauf  leute  ^^^),  die  Trödler,  die  Pfandver- 
leiher ^^'^)^  die  Gesindebürgen  ^^^). 

Die  Genossenschaft  bedarf  der  Autorisation  der  Regierung; 
wer  eine  solche  vorspiegelt^  wird  bestraft,  a.  64  Z.  6. 

Streitigkeiten  unter  den  Genossen  können  nicht  vor  die 
Gerichte  gebracht  werden,  die  Mittel  des  Genossenschafts- 
wesens (Ausstossung  u.  dgl.)  reichen  hin,  um  die  Interessen 
zu  befriedigen;  dies  geht  soweit,  dass  überhaupt  aus  Gesell- 
schaftsverhältnissen eine  Klage  ausgeschlossen  ist;  sie  ist  aus- 
geschlossen, wenn  mehrere  eine  gemeinsame  Unternehmung  ver- 
anstalten, sich  zu  einem  Ausspielgeschäft  zusammen  thun  u.  s.  w.; 
für  die  Auseinandersetzung  solcher  Gesellschaftsverhältnisse  sind 
die  staatlichen  Gerichte  nicht  gegeben,  a.  33  Z.  3. 

Ebenso  sollen  interne  Streitigkeiten  einer  Confession 
in  ihrem  eigenen  Schosse  verbeschieden  und  nur  im  Nothfalle 
die  Gerichte  angerufen  werden  ^^^). 

§  3. 

Der  Darlehenszins  hat  ein  Maximum  von  15  ^/o,  a.  33  Z.  5. 
Die  Darlehensgeschäfte  müssen  schriftlich  abgeschlossen,  die 
Urkunden  datirt  und  untersiegelt  werden,  sonst  ist  der  Vertrag 
unklagbar,  a.  33  Z.  4. 

Ein  Darlehen  gegen  Verpfändung  von  res  sacrae  ist 
nichtig,  eine  Darlehensklage  ausgeschlossen  ^^'^). 

Der  Gesindevertrag  kann  nicht  nur  auf  Zeit,  sondern 
auch  erblich  abgeschlossen  werden ;  doch  soll  dies  nicht  er- 
zwungen werden  ^^^). 

Die  Kaufleute  haben  Handelsbücher  zu  führen, 
namentlich  die  Trödler  und  Pfandleiher;  sie   haben   sich,    wo 


^°^)  Osadamegaki  a.  71. 
2°^)  Osadamegaki  a.  71. 
'^^^)  Osadamegaki  a.  75. 
206)  Osadamegaki  a.  36. 
20')  Osadamegaki  a.  39. 
208)  Osadamegaki  a.  13  sad.  I  Z.  9,  a.  72. 


428  Kohler. 

nach  gestohlenen  Sachen  gefahndet  wird,  einer  genauen  Con- 
trole  zu  unterwerfen ''^°^). 

Einige  Bestimmungen  über  Gewerbepolizei  erinnern 
an  das  chinesische  Recht.  Die  Industrieproduction  soll  nicht 
gesteigert,  neue  Sachen  sollen  nicht  erfunden  werden  ^^^). 
Neue  Gewerbe  darf  Niemand  betreiben,  ausgenommen  die 
Berg-  und  Strandbewohner  ^^^). 

Für  den  Preis  der  Waaren  können  Taxen  gesetzt  werden, 
wenn  der  Preis  als  zu  hoch  erscheint  ^^^). 

Nur  der  Betrieb  des  Ackerbaus  gilt  als  dem  Gemeinwohl 
entsprechend;  alles  andere  ist  nur  für  den  Vortheil  des  Ein- 
zelnen ^^^). 

Der  Trödelhandel  mit  altem  Metall  soll  ganz  verpönt 
sein,  namentlich  als  Hausirhandel  ^^'^). 

Der  Hau  sirer  bedarf  seines  Hausirscheines  ^^^). 

Für  den  Seeverkehr  finden  sich  interessante  Bestim- 
mungen, nicht  nur  gegen  Seeraub  und  Seediebstahl,  gegen 
das  Scheiternmachen  eines  Schiffes  (darüber  S.  404,  407), 
sondern  auch  über  Strandrecht,  Bergung  und  Bergelohn. 

Die  Strandbewohner  sind  verpflichtet,  einem  in  Noth 
befindlichen  Schiffe  zu  Hülfe  zu  kommen.  Sie  erhalten 
dafür  einen  Bergelohn;  derselbe  beträgt  ^/2o  oder  ^/io  der  ge- 
borgeneu Sachen,  je  nachdem  die  Waare  noch  seetriftig  oder 
bereits  am  Sinken  war.  Ist  der  Eigenthümer  der  Waare 
unbekannt,  so  wird  der  Berger  Eigenthümer  nach  Ablauf 
eines  halben  Jahres;  doch  kann  er  auch  noch  nach  dieser  Zeit 


'^°^)  Osadamegaki  a.  71. 

210)  Osadamegaki  a.  21  Z.  6. 

211)  Osadamegaki  a.  35  Z.  2. 

212)  Osadamegaki  a.  21  Z.  8. 

21')  Osadamegaki  a.  21  Z.  9.  Es  gilt  der  Satz:  No  wa  kimi  no 
Moto ,  der  Ackerbauer  ist  das  Fundament  des  Staates;  vgl.  Ota- 
Nitobe  S.  1. 

21^)  Osadamegaki  a.  81  I. 

21^)  Osadamegaki  a.  71. 


Studien  aus  dem  japanischen  Recht.  429 

zur  Erstattung  des  Werthes  verurtheilt  werden^  ex  aequo, 
nach  Ausspruch  des  Richters. 

Das  Gesagte  gilt  auch  für  die  FlussschifFfahrt ,  doch  be- 
trägt hier  der  Bergelohn  nur   ^/so   bzw.    ^20  ^^^). 

Ist  einem  Schiff  ein  Unfall  zugestossen,  sind  insbesondere 
Waaren  geworfen  worden,  so  ist  im  nächsten  Hafen  eine 
Verklarung  vorzunehmen:  es  muss  insbesondere  das,  was  übrig 
geblieben  ist,  genau  festgestellt  werden;  die  Verklarung  erfolgt 
vor  dem  Amtmann  des  Ortes  ^^^). 

Ist  das  Schiff  in  einen  Nothhafen  eingelaufen,  so  ist  davon 
der  Behörde  Anzeige  zu  erstatten  ^^^). 

Der  Verkehr  mit  fremden  Schiffen  soll  vermieden 
werden,  sowohl  zur  See,  als  auch  an  den  Hafenplätzen ^^^). 

Von  fremden  Schiffen  dürfen  Waaren  erst  gekauft  werden, 
nachdem  die  Ladung  der  Behörde  vorgewiesen  worden  ist,  bei 
Strafe,  a.  38  Z.  1  ^^^).  Ein  solcher  direkter  Handel  ist  auch 
desshalb  verboten,  weil  er  vielfach  zu  Diebstählen  und  Unter- 
schlagungen missbraucht  wird,  indem  die  Matrosen  für  ihren 
eigenen  Gewinn  Waaren  verkaufen  ^  2^). 

V. 

Staatsorganisation  und  Grericlitsverfassuiig. 

§  1. 
Die  ältere  japanische  Organisation   zeigt   uns    einen   Ge- 
schlechterstaat.    Der   Staat   wurde   gebildet   aus  Häusern: 
uji;  das  uji  war  ein  Geschlechterverband  mit  Haupthaus  und 
Nebenhäusern:  an  der  Spitze  stand  das  Geschlechterhaupt.    Der 

^^^)  Osadamegaki  a.  17  und  18. 
217)  Osadamegaki  a.  17  Z.  2. 
21^)  Osadamegaki  a.  17  Z.  4. 

21^)  Osadamegaki  a.  19  Z,  2.  Vgl.  auch  lyeyasu's  100  Ge- 
setze a.  95. 

220)  Osadamegaki  a.  19  Z.  1. 

221)  Osadamegaki  a.  20  Z.  1;  vgl.  auch  Kamporitsu  a.  38 
Zusatz  zu  Z.  1. 


430  Kohler. 

Kaiser  war  ursprünglich  nur  das  Haupt  des  hervorragendsten 
und  mächtigsten  uji-^^),  erlangte  aber  mit  der  Zeit  einen 
Vorrang  vor  den  übrigen,  insbesondere  als  völkerrechtlicher 
Repräsentant,  als  höchster  Oberpriester  und  als  Richter  in 
Streitfällen. 

In  derStändegliederung  nahm  neben  dem  Adel  die  Ackerbau- 
klasse und  die  Handwerkerklasse  eine  besondere  Stellung  ein. 
Der  Adel  theilte  sich  wieder  in  zwei  Abtheilungen,  die  ko- 
betsu  und  die  shimbetsu;  im  Gegensatz  dazu  standen  die 
Ackerbauer:  die  kunitsukos,  sodann  die  Handwerker,  wohl 
meist  eingewanderte  Chinesen,  die  tomonotsukos,  wozu 
noch  die  Schreibverständigen  kamen,  die  fuhitos.  Diese 
Klassen  (es  gab  deren  noch  mehrere)  Messen  kabane. 

Darunter  standen  die  tomobe  oder  Sklaven  ^2^). 

Später  ist  die  japanische  Verfassung  in  eine  Terri- 
torialverfassung übergegangen,  und  zwar  ganz  nach  Ana- 
logie des  chinesischen  Rechts.  Die  Familienordnung  ist  zwar 
geblieben,  und  das  System  der  Einheit  des  Hauses  ist  jetzt 
noch  in  Japan,  wie  in  China  die  Grundlage  der  Familien- 
und  Erbordnung.  Dagegen  ist  die  Einheit  des  Geschlechtes 
nicht  mehr  von  solcher  Bedeutung,  wie  in  China;  denn  die 
strenge  Exogamievorschriften  Chinas  haben  in  Japan  nie 
bestanden  (oben  S.  361,  401). 

Die  Territorialverfassung  ist  eine  Gemeindeverfassung, 
aber  wie  in  China,  mit  engeren  Kreisen  innerhalb  der  Ge- 
meinde. Das  chinesische  System  sucht  jede  Familie  streng 
in  eine  locale  Einheit  einzuordnen,  in  eine  Einheit  mit  schweren 
Pflichten;  die  Einheit  hat  in  gewissem  Sinne  zu  garantiren,  dass 
der  Einzelne  seine  Schuldigkeit  gegen  den  Staat  erfüllt,  dass  er 
seine  Steuern  zahlt,  dass  er  keine  Ungebühr  begeht;  sie  hat 
ihn  an  Uebertretungen  zu  hindern,  nöthigenfalls  zur  Anzeige 


222)  Vgl.  auch  Chamberlain  in  den  Transactions  X,  2  p.  LXI  f. 

223)  Ueber  alles  dieses  vgl.  die  Darstellung  von  Florenz  in  den 
Mittheil,  der  deutschen  Gesellschaft  für  Ostasien  V  (Heft  44)  S.  1(14  T. 
167  f.,  173,  174.     Ueber  das  Sclavenwesen  vgl.  oben  S.  368,  369. 


Studien  aus  dem  japanischen  Recht.  431 

zu  bringen.  So  besteht  in  China  das  System  der  chia  und  pao's, 
das  Zehnersystem  (10  Familien^  10  x  10  Pamilien)  ^^*);  in 
Japan  gilt  das  Fünfersystem. 

Fünf  Familien,  oder  vielmehr  die  Vorstände  von  fünf 
Familien  bilden  einen  Fünfmännerbund :  go-nin-kumi, 
mehrere  Fünfmännerbünde  bilden  wieder  einen  Gesammtbund, 
an  der  Spitze  die  kashira  und  der  Bürgermeister,  nanushi; 
in  grösseren  Städten  sind  es  mehrere  Bürgermeister  mit  einem 
Oberbürgermeister,  machi-nanushi  an  der  Spitze  ^^^). 

Von  der  Verantwortung  der  Fünfmänner  und  des  Bürger- 
meisters ist  viel  die  Rede.  Der  Bürgermeister  hat  das  Grund- 
buch zu  führen  und  die  Veräusserungen  einzutragen,  a.  41, 
Pfandurkunden  bedürfen  seines  Siegels  a.  31  Z.  5 ;  er  hat  die 
Abgabenlisten  aufzustellen  und  den  Gemeindegenossen  kund- 
zugeben, a.  98^^^),  er  hat  dafür  zu  haften,  dass  kein  Hazard- 
spiel  betrieben  wird,  er,  die  kashira  und  die  goninkumi,  a.  55 
Z.  17;  ebenso  haften  sie,  dass  Niemand  heimliche  Schiess- 
waffen führt,  a.  21  Z.  3,  dass  Niemand  unerlaubten  Vogelfang 
treibt,  a.  22  Z.  2,  dass  kein  Verbreiter  einer  verbotenen  Sitte 
im  Dorfe  sich  aufhält,  a.  52  Z.  5,  a.  53  Z.  2,  dass  Niemand 
einen  Fund  verheimlicht,  a.  59  Z.  1,  dass,  wenn  Vermögens- 
confiscation  ausgesprochen  worden  ist,  kein  Theil  des  Ver- 
mögens verhehlt  wird,  a.  96  u.  s.  w. 

Die  Haftung  ist  nicht  nur  eine  civilistische,  sondern  auch 
eine  strafrechtliche,  in  leichten  Fällen  mit  Geldstrafe,  in 
schweren  Fällen  schwerer. 

Ueber  diesen  Gemeindeordnungen  hat  sich  die  landesherr- 
liche Gewalt  der  grossen  Grundbesitzer  aufgebaut  und  sodann 
die  Gewalt  der  grossen  Vasallen,  namentlich  seitdem  die  Be- 
gründer des  dauernden  Shogunat es  Militärstatthalter,  shugos 
(oder   kamis),  in  die  Provinzen    entsandten  2^'^).     Aus   diesen 

224)  Rechtsvergleichende  Studien  S.  179  f. 

225)  Rudorff,  Kamporitsu  S.  VII  und  VIII. 

226)  Osadamegaki  a.  32. 

22  7)  Weipert  S.  126,  Adams    I   p.   40.     Diese   Militärstatthalter 


432  Kohler. 

öliugos  sind  die  grossen  Herren  geworden,  die  unter  den 
schwächlichen  Nachfolgern  Yoritomo's  sich  zur  Selbstständig- 
keit emporarbeiteten  und  ihre  Selbstständigkeit  behielten,  auch 
als  seit  1333  die  Ashikaga's  das  Shogunat  in  Händen 
hielten.  Im  Jahr  1573,  dem  Jahre  des  Sturzes  der  Ashikagas, 
begann  die  Krisis.  Nobunaga,  nachher  Hideyoshi  ergriffen 
die  Zügel  mit  gewaltiger  Hand,  aber  nach  seinem  Tode  war 
es  lyeyasu  beschieden,  unter  Beseitigung  von  Hideyoshi's 
Sohn  das  Shogunat  dauernd  an  seine  Familie  (die  Tokugawas) 
zu  ketten ^^^).  lyeyasu  aber  machte  diejenigen  Reichsfürsten, 
welche  ihm  schon  vor  Osaka 's  Falle  ^^^)  anhingen,  zu  fudais, 
er  kettete  sie  an  sich  als  Vasallen  und  gab  ihnen  die  Aus- 
sicht auf  die  Reichsämter  2^^),  die  übrigen  Fürsten  setzte  er 
als  tosamas  zurück:  sie  blieben  Landesherren  ohne  nähere 
rcvchtliche  Verbindung  mit  dem  Shogun,  ohne  Anw^artschaft 
auf  Reichsstellen*,  sie  standen  zu  dem  shogun  nur  in  Beziehung 
als  zu  dem  Regenten  des  Staates,  sie  standen  nicht  zu  ihm 
in  Verbindung  als  seine  Lehensleute;  die  hohen  Staatsämter 
aber  besetzte  der  shogun  nur  mit  seinen  Vasallen.  (Vgl.  S.  354  f.) 

So  entwickelte  sich  die  japanische  Gesellschaft:  auf  der 
einen  Seite  die  Dorfschaft  mit  der  darunter  stehenden  Fünfer- 
schaft, auf  der  andern  Seite  die  Grundherren,  die  mächtigen 
Reichsvasallen  und  die  nur  lose  mit  dem  Reiche  verbundenen 
Landesherren;  über  alle  der  Shogun,  der  Vasallenherr  der 
Reichsfürsten,  der  publicistische  Oberherr  der  unabhängigen 
Landes-   und  Grundherrn;    der  Mikado    selbst  war   in   mysti- 


verdrängten  die  bisherigen  Civilherrscher,  die  kokushi,  und  wurden 
selbst  zu  kokushi  daimios. 

22^)  Vgl.  Kämpfer  II  (Append.)  p.  67,  Michaelis  in  den  Mit- 
theilungen IV  S.  368,  Ruder  ff,  Kamporitsu  S.  II,  Rein,  Japan  I  S.  258  f., 
347  f.,  Adams  I  p.  24  f.,  38  f.,  54,  59  f.,  Reed  I  p.  137  f.,  146,  204. 

^^^)  Der  Fall  Osaka's  erfolgte  bald  nach  der  Entscheidungsschlacht 
von  Sekigahara  im  Jahre  1600. 

^^^)  Die  hohen  Würdenträger  heissen  in  Ij'eyasu's  100  Gesetzen 
(a.  9)  res  hin. 


Studien  aus  dem  japanischen  Recht.  433 

sches  Dunkel  gerückt^  macht-  und  thatlos^^^).  So  bestand 
die  Ordnung  des  Staates  in  der  Tokugawazeit  von  1603  bis 
1868;  bis  die  gewaltige  Umwälzung  das  Shogunat  (Hausmeier- 
thum)  beseitigte,  der  Kaiser  wieder  zur  actuellen  Regierung 
erhoben  wurde,  und  in  beispielloser  Weise  die  occidentale 
Cultur  in  Japan  einzog,  an  Stelle  der  ostasiatisch-chinesischen 
Cultur,  welche  bis  dahin  geherrscht  hatte. 

§  2. 
Das  Land  war  hiernach  Reichsland  und  Land  der  Landes- 
fürsten.     Eigentliches    Reichsland     war     nur     das    Land    des 
Mikado,  aber  dem  stand  das  Land  des  Shogun  factisch  gleich, 


^^^)  Das  Hausmeierthum  ist  eine  altjapanische  Einrichtung.  Schon 
vor  Yoritomo  gab  es  Hausmeier:  die  Fujiwara  hatten  die  Stellung 
der  Majores  domus  Jahrhunderte  lang,  als  kuambakus  (Adam  I  p.  17). 
Mit  Yoritomo  aber  trat  der  Umschwung  ein,  dass  das  Soldaten thum 
an  die  Spitze  kam,  der  Generalissimus  —  das  bedeutet  shogun  —  wurde 
zum  Regenten.  Auf  den  Schultern  Yoritomo's  steht  lyeyasu;  seine 
100  Gesetze  verfolgen  das  System  der  Alleinmacht  des  shogun  mit 
Staunenswerther  Consequenz.  Besonders  hervorzuheben  ist  die  Bestim- 
mung, dass  stets  ein  kaiserlicher  Sohn  Oberpriester  in  Yeddo  sein 
soll  (a.  29):  also  wie  eine  Geisel  in  der  Hand  des  Shogun!  Eine  andere 
Bestimmung  ist  in  den  18  Gesetzen  lyeyasu's  a.  8:  Kein  Fürst  darf  sich 
in  das  kaiserliche  Schloss  begeben,  auch  wenn  er  vom  Kaiser  dazu  ge- 
boten würde,  bei  Verlust  seines  Fürsten thums  —  oder  gar  bei  Ver- 
nichtung seines  Geschlechts.  Kein  Fürst  darf  nach  Kioto;  ausnahms- 
weise kann  ihm  gestattet  werden,  Theile  der  Stadt  zu  besehen  —  jeder 
Verkehr  zwischen  dem  Kaiser  und  den  Vasallenfürsten  oder  Landesfürsten 
ist  aufgehoben.  Alles  muss  durch  den  Shogun ,  den  Hausmeier,  gehen. 
Darum  soll  auch  der  Beamte,  welcher  es  wagt,  dem  Mikado  direkt  das 
Gesuch  eines  Fürsten  zu  übermitteln,  bestraft  werden  (lyeyasu's  18  Ge- 
setze a.  9).  Nur  das  Haus  Mito  soll  sich  an  den  Kaiser  wenden  dürfen 
(a.  13  ibid.).  Der  Shogun  hatte  auch  sein  Kastell  (Nijo)  in  Kioto,  über 
das  er  seine  zuverlässigsten  Vasallen  setzte,  um  den  Mikado  und  den 
ganzen  Hofadel,  der  meist  in  Kioto  ansässig  war,  zu  überwachen. 
Vgl.  Rein,  Japan  I  S,  372  f.  Den  militärischen  Charakter  des  Shogunats 
charakterisirt  auch  der  Ausdruck  bakfu  zur  Bezeichnung  des  Regie- 
rungskabinets  der  Shoguns:  bakfu  =  Vorhang-,  oder  Zeltregierung.  — 
Ueber  Yoritomo  vgl.  auch  Charlevoix  II  p.  72. 

Zeitschrift  für  vergleicliende  Eechtswissenscliaft.    X.  Band.  28 


434  Kohler. 

imd  ihm  stand  das  Land  gleich ,  welches  die  Vasallen  des 
Shogun  innehatten.  Im  Gegensatz  stand  das  lediglich  der 
publicistischen  Oberhoheit  unterworfene  Land  der  tosamas. 
Daher  war  auch  die  Gerichtbarkeit  theils  eine  Reichs-,  theils 
eine  lan  des  fürstliche  Gerichtsbarkeit. 

Die  Reichsgerichtsbarkeit  wurde  ausgeübt  in  Städten  und 
wichtigen  Bezirken  durch  bugio's,  auf  dem  Lande  durch 
daikans;  in  beiden  Fällen  monokratisch,  obgleich  bei  den 
grossen  bugios  ein  Rath  bestand,  welcher  ihnen  zur  Seite 
war,  auch  in  vielen  Sachen  selbst  entschied.  Zu  diesen 
bugios  gehörten  insbesondere  auch  die  machibugios  in  den 
Kronstädten  Kioto  und  Osaka. 

Ueber  dem  Ganzen  stand  das  Reichsgericht,  hiojosho^^^); 
dieses  entschied  kollegialisch;  eine  Hauptstellung  nahmen  darin 
die  drei  Vorstände  der  obersten  Verwaltungsressorts  in  Yeddo 
ein:  die  Jisha-,  Machi-  und  Kanjobugio's,  wozu  noch 
Gerichtsrevisoren  kamen  (metsuke)  ^^^). 

Civilsachen,  bei  welchen  die  Untergebenen  verschiedener 
bugios  oder  daikans  betheiligt  waren,  kamen  an  das  hio- 
josho  ^^*).  Adelige  von  bestimmtem  Range  an  hatten  bei  dem 
hiojosho  ihren  privilegirten  Gerichtstand. 

Ueber  dem  hiojosho  als  Aufsichtsbehörde  stand  der  Staats- 
rath,  der  goroju^^^). 

Auch  Strafsachen  wurden  von  den  daikans  und  bugios 
behandelt,   abgesehen   von   adeligen   Personen,    welche   direkt 


^^^)  Das  hiojosho  soll  seit  dem  Jahre  1632  bezw.  1635  bestehen, 
vgl.  Osadamegaki  a.  1.  Aber  auch  schon  lyeyasu  erwähnt  ein 
oberstes  Gericht  (100  Gesetze  a.  13);  sogar  schon  Yoritomo  (Ende  des 
13.  Jahrhunderts)  soll  ein  oberstes  Gericht  monchiusho  eingesetzt 
haben  (Adams  I  p.  38). 

^^^)  Die  Mitwirkung  von  metsuke  bezw.  ometsuke  (Oberrevisoren) 
erfolgt  seit  dem  Jahre  1689,  Osad.  a.  1,  vgl.  auch  a.  6. 

^^^)  Sonst  nicht;  es  war  also  incorrect,  wenn  doch  derartige  Klagen 
in  den  Kasten  des  hiojosho  eingeworfen  wurden,  vgl.  Osadam.  a.  10. 

^^^)  Schon  Yoritomo  soll  einen  Staatsrath  kumonjo  (später 
mandokoro)  gegründet  haben,  Adams  I  p.  38. 


Studien  aus  dem  japanischen  Reclit.  435 

unter  dem  hiojosho  standen;  schwere  Strafsachen  aber  waren 
von  den  daikans  und  bugios  dem  Staatsrathe,  goroju^  vorzulegen: 
schwere  Strafsachen,  sofern  auf  Todesstrafe,  ento  oder  jutsuiho 
erkannt  wurde  ^  ^  ^). 

Das  hiojosho  entschied  nach  Einstimmigkeit  in  Civilsachen; 
wo  keine  Einstimmigkeit  war,  und  ferner  in  allen  Criminal- 
sachen  war  die  Sache  dem  goroju  zur  Bestätigung  zu  geben  ^^^). 
Der  goroju  kam  auch  an  gewissen  Sitzungstagen,  die  Sitzungen 
des  Gerichtshofes  zu  überwachen  ^^^). 

Im  Gegensatz  zu  der  Reichsgerichtsbarkeit  stand  die  der 
tosamas,  der  grossen  und  kleinen  Landesherren  (kokushi, 
joshu);  sie  hiessen  in  den  Gesetzen  in  dieser  Eigenschaft  jito. 
Diese  Gerichtsbarkeit  ist  zwar  eine  ziemlich  selbstständige; 
aber  auch  hier  hatte  sich  die  Reichsgerichtsbarkeit  darüber 
gelegt. 

Missi  des  Shogun :  metsuke^^^)  sollten  alle  5 — 7  Jahre 
das  Reich  durchreisen;  sie  durchzogen  auch  das  Gebiet  der 
jito,  der  kokushi,  wie  der  joshu.  Beschwerden  wegen  ver- 
weigerter Gerichtsausübung  giengen  an  das  Reich:  der  Landes- 
herr wurde  angewiesen,  die  Sache  zu  erledigen,  Kamporitsu 
a.  3  Z.  2;  unter  Umständen  konnte  die  landesherrliche  Ent- 
scheidung nachgeprüft  werden,  Kamp.  a.  3  Z.  3. 

Klagen  zwischen  Unterthanen  verschiedener  j  ito's  kamen 
an  das  hiojosho,  Kamp.  a.   1  Z.  3,  a.  3  Z.  2^^^). 


^^^)  Osadamegaki  a.  49. 

^^0  Vgh  zum  Gesagten  Kamporitsu  a.  1  und  f.  Die  Sache  sollte 
jedenfalls  dem  Shogun  vorgelegt  werden,  wenn  der  Process  schon 
100  Tage  währte,  Osad.  a.  4  Z.  1;  ebenso  alle  Strafsachen,  wenn  der  Be- 
schuldigte schon  100  Tage  verhaftet  war,  ib.  a.  4  Z.  3.  Vgl.  auch 
Osadamegaki  a.  44,  45,  47. 

^^^)  Osadamegaki  a.  5;  hier  wurden  ihm  auch  die  Sachen  vor- 
gelegt, über  welche  der  Gerichtshof  nicht  einig  geworden  war. 

^^®)  Die  kenshi  des  lyeyasu  (100  Gesetze)  a.  47,  vgl.  auch  a.  14. 

240^  Vgl.  auch  schon  den  4.  Bukeshohatto  a.  17  aus  der  Zeit  der 
Jyemitsu  (1623 — 1651):  damals  war  das  hiojosho  noch  nicht  völlig  ent- 
wickelt,   es    sollten    darum    die    beiderseitigen    ban-    oder    kumigashira 


430  Köhler. 

Ein  Landeölierr  konnte  nicht  zur  Verbannung  «luf  eine 
Insel  verurtheilen,  die  nicht  in  Heiner  Herrschaft  stand;  in 
solchem  Falle  war  statt  dessen  auf  lebenslängliches  Gefängniss 
zu  erkennen  ^^^). 

Trat  eine  Confiscation  ein,  so  erfolgte  sie  zu  Gunsten 
des  Landesherrn,  in  dessen  Gebiet  das  Vermögen  war,  Kamp, 
a.  27  Z.  3. 

•     §  ^' 
Von  Processbestimmungen  bezüglich  des  hiojosho  sind  zu 

bemerken : 

Die  Parteien  mussten  persönlich  erscheinen,  nur  im 
Falle  der  Noth  war  Vertretung  statthaft,  Osad.  a.  2  Z.  4. 

Es  galten  bestimmte  Sitzungstage.  Die  Sachen  kamen 
nach  der  Reihe  der  Anmeldung;  jedoch  wurden  dringliche 
Sachen  ausser  der  Ordnung  verhandelt  und  wenn  Parteien 
von  auswärts  in  Yeddo  wohnen  mussten,  so  wurde  auch  hie- 
rauf Rücksicht  genommen^  Osad.  a.  2  Z.  1  und  7,  a.  3  Z.  4. 
Eine  Sache,  die  in  einer  Sitzung  nicht  erledigt  wurde,  sollte 
den  folgenden  Tag  fortgesetzt  werden,  Osad.  a.  2  Z.  10, 
a.  3  Z.  1. 

Besondere  Sitzungstage  galten  für  Darlehensklagen, 
Osad.  a.  4  Z.  2. 

Die  Berathung  war  koUegialisch ;  die  Mitglieder  sollen 
erscheinen  und  ein  jedes  seine  Ansicht  äussern,  Osad.  a.  3  Z.  3. 

Beschuldigte,  welche  keine  feste  Wohnung  hatten,  konnte 
man  in  Untersuchungshaft  bringen,  Osad.  a.  4  Z.  2  Zusatz. 
Untersuchungssachen  sollten  möglichst  beschleunigt  werden ^^^). 
Daher  musste  in  Haftsachen  immer  bemerkt  werden,  von  wann 
an  Jemand  in  Haft  sei ;  und  war  die  Haft  über  ein  Jahr  her, 
so  war  der  Grund  anzugeben  ^*^). 

entscheiden;  anders  der  7  Buk  es  h  chatte  aus  1710  a.  9,  wornach  das 
hiojosho  angerufen  werden  soll. 

^^^)  Osadamegaki  a.  55. 

^*^)  Osadamegaki  a.  4  Z.  3. 

^*^)  Osadamegaki  a.  42,  43;  vgl.  auch  a.  47. 


Studien  aus  dem  japanischen  Recht.  437 

VI. 

Familienreclit. 

Unterm  6.  October  1890  ist  in  Japan  ein  Gesetz  über 
Familien-  und  Erbrecht  erschienen,  welches  am  1.  Januar  1893 
in  Kraft  treten  wird. 

Dasselbe  schliesst  sich  in  vielen  Punkten  an  das  occiden- 
tale  Recht  an,  behält  aber  in  sehr  einsichtiger  Weise  alther- 
gebrachte und  mit  dem  japanischen  Rechtsleben  verwachsene 
Institutionen  bei^^*). 

Ich  habe  mir  verschiedene  Partien  durch  Herrn  Staats- 
anwalt Yocota  vorübersetzen  lassen  und  mit  demselben  be- 
sprochen und  gebe  hiernach  Folgendes: 

Das  Gesetz  behält  die  Einheit  des  Hausstandes  und 
der  Hausstandsvererbung  bei.  Es  gibt  immer  nur  einen 
Hauserben  ^*^),  und  ebenso  kann  Niemand  zwei  Hausstände 
erben  (§  288):  wer  in  eine  fremde  Familie  übergegangen  ist, 
kann  nicht  das  eigene  Familienhaus  erben;  wem  mehrere 
Häuser  in  der  Erbschaft  zufallen,  der  kann  nur  eines  an- 
nehmen (§  289,  290). 

Dieser  gesetzliche  Hauserbe  ist  Not  herbe;  er  kann  nur 
aus  gesetzlich  bestimmten  Gründen  ausgeschlossen  werden 
(§  296 — 299).  Gewisse  Dinge  kann  man  dem  Hauserben  nicht 
entziehen:  Hausbuch,  gottesdienstliche  Sachen,  Grab,  Firma, 
Marke,  Stammgut ^*^)  (§  294);  von  dem  übrigen  Vermögen 
kann  ihm  jetzt  die  Hälfte  durch  Testament  entzogen  werden 


^^^)  Vgl.  zum  Folgenden  auch  Küchler  in  der  Transactions  ol 
the  Asiatic  Society  ol'  Japan  XIII  p.  114  f.;  Weipert  in  den  Mitthei- 
lungen der  deutschen  Gesellschaft  für  Ostasien  V:  Kosaburo  Kishi, 
Erbrecht  Japans  (1891). 

^^•'')  Altes  japanisches  Recht.  Der  Hausherr  heisst  koshu,  die 
Hausinsassen  kasoku;  vgl.  Weipert  S.  89;  die  Hauserbschaft  kameiso- 
soku  (vgl.  Kosaburo  Kishi  p.  22). 

^'*^)  Solche  gibt  es  bei  dem  Adel. 


488  Kohler. 

(§  o83;  384)2^'):  Testamente  hat  das  moderne  Recht  eingeführt; 
früher  kam  es  nur  vor,  dass  der  Erblasser  vor  dem  Tode 
im  Beisein  der  FamiHenglicder  mündUch  seine  Erklärungen 
machte'^ ^^).  Schenkungen  unterliegen  keiner  Beschränkung'-^ ^^■'). 

Der  Hauserbe  kann  auch  nicht  auf  die  Erbschaft  verzichten 
(§  317);  früher  kamen  Verzichte  vor,  aber  selten:  der  Hauserbe 
verliess  dann  das  Haus  und  siedelte  an  einen  fremden  Ort  über. 
Jetzt  ist  für  den  Fall  der  Ueberschuldung  dadurch  geholfen, 
dass  der  Hauserbe  sub  beneficio  antreten  kann  (§317)^^''^). 

Es  herrscht  also  noch  die  dem  chinesischen  Rechte  ent- 
sprechende Einheit  des  lar  domesticus;  und  wie  im  chine- 
sischen Rechte,  bestimmt  sich  der  Hauserbe  nach  der  Erst- 
geburt, und  zwar  so,  dass  der  nächste  Descendent  dem  ferneren, 
und  dass  in  der  Descendentcnlinie  der  Mann  dem  Weib,  der 
eheliche  Descendent  dem  unehelichen  Kind  vorgeht  (§  295); 
regelmässig  ist  daher  Hauserbe  der  älteste  Sohn,  dann  der 
Solm  des    ältesten  Sohnes,    dann    ein    zweiter    und   folgender 


^^^)  Es  kann  ihm  entzogen  werden;  wird  es  ihm  nicht  entzogen, 
so  verbleibt  es  ihm;  er  ist  also  Intestaterbe  des  Ganzen.  Dem  war 
nicht  immer  so;  nach  dem  Taihorio  (vom  Jahr  702  v.  Chr.)  wurde 
das  Hausvermögen  von  dem  Individualvermögen  (zaisan)  geschieden, 
das  letztere  vererbte  sich  an  alle  Kinder  nach  bestimmten  Theilen.  Der 
Unterschied  zwischen  Haiisvermögen  und  Individualvermögen  ist  aber 
in  dieser  Art  nicht  aufrecht  erhalten  worden,  und  der  Vertreter  des 
Hauses  bekam  in  thesi  das  Ganze.  Vgl.  Weipert  S.  127  f.,  131  f. 
Nach  altjapanischem  Recht  wurden  dem  Todten  Kleider,  Schmuck  u.  dgl. 
mitgegeben,  auch  Diener  wurden  lebendig  mit  bestattet;  dieses  wurde 
später  abgeschafft,  und  statt  der  Personen  wurden  Thonbilder  begraben; 
Chamberlain  in  den  Transact.  X,  2  p.  XLI. 

2^^)  Die  Sache  war  daher  ungefähr  auf  dem  Standpunkte  des  chine- 
sischen Rechts  (Rechtsvergleichende  Studien  S.  196),  wenn  auch  viel- 
leicht die  letztwilligen  Verfügungen  häufiger  waren;  über  das  zulässige 
Mass  bestanden  Ortsgewohnheiten  und  Familienstatuten;  vgl.  Weipert 
S.  137  f.,  Kosaburo  Kishi  S.  26. 

248a)  Kosaburo  Kishi  S.  39,  62. 

^^^)  Natürlich  eine  neue,  von  dem  Occident  entlehnte  Institution, 
Kosaburo  Kishi  S.  33. 


Studien  aus  dem  japanischen  Recht.  439 

Sohn;  danü,  wenn  keine  Söhne  vorhanden;  die  älteste  Tochter, 
schliesslich  der  uneheliche  Sohn. 

Die  Hauserbfolge  ist  daher  ähnlich  wie  schon  nach  dem 
Taihorio  (vom  Jahr  702  n.  Chr.),  nur  dass  dort  die  Tochter- 
erbfolge nicht,  wenigstens  nicht  mit  gleicher  Sicherheit,  aner- 
kannt war^^^). 

Auch  in  den  Bukeshohattos  des  17.  Jahrhunderts  war 
wiederholt  eingeschärft  worden,  dass  die  althergebrachte 
Hauserbfolge  zu  beobachten  sei  und  kein  anderes  Kind  be- 
stimmt werden  dürfe  ^^^). 

§  2. 

Die  älteste  Tochter  kann  daher  Hauserbe  sein.  Dann  ist 
sie  Erbtochter,  sie  ist  onnakoshu:  sie  setzt  das  Haus  fort; 
ihr  Ehemann  tritt  in  ihr  Haus  ein,  er  wird  muko  yoshi, 
d.  h.  Adoptivsohn ^^^)  und  die  Kinder  sind  Kinder  des  Erb- 
hauses ^^^).  Dass  ein  solcher  muko  yoshi  nicht  so  viel  zu 
sagen  hat,  wie  wenn  er  selbst  angestammter  Hauserbe  wäre, 
dass  er  mehr  oder  minder  von  der  Familie  abhängt,  ist  mir 
von  verschiedenen  Seiten  bestätigt  worden,  mindestens  da, 
wo  noch  die  alten  Familienideen  gelten  ^^^).  Es  ergibt  sich 
dies  auch  aus  der  Sachlage  und  findet  sich  so  bei  den  ver- 
schiedensten Völkern  2^^). 

Dass  übrigens  die  älteste  Tochter  auf  ihr  Recht  ver- 
zichten und  der  nächsten  Tochter  es  überlassen   kann,    einen 

250j  Ygi^  Weipert  S.  127  f.  Besonderheiten  bezüglich  der  Lehens- 
erbfolge S.  371,  419. 

'^^^)  Rudorff,  Tokugawagesetzsammlung  S.  28,  29. 

^^2)  Muko  ist  Bräutigam,  yoshi  ist  Adoptivsohn. 

^^^)  Der  muko  yoshi  bringt  mitunter  eine  Aussteuer  mit,  bisweilen 
wird  seine  Erbberechtigung  von  der  Aussteuer  abhängig  gemacht, 
Weipert  S.  103  f. 

2^'*)  Vgl.  auch  meine  Rechtsvergl.  Studien  S.  198. 

255j  Yg\.  auch  Weipert  S.  95;  unrichtig  ist  daher  die  Bemerkung 
Schnitze nstein's  in  Zeitschr.  f.  Civilprocess  XIV  S.  196.  Sagt  doch 
das  Sprichwort:  hast  du  auch  nur  3  Mass  Kleie,  werde  nicht  muko  yoshi 
(Küchler  S.  115). 


440  Kohler. 

muko  yoshi  zu  heirathen,  ist  wohl  auch  nach  dem  neuen  Ge- 
setze anzunehmen  ^^^'). 

§  3. 

Dem  ehelichen  Kind  steht  der  Adoptivsohn  gleich ^•'^^); 
aber  wie  man  den  zum  Hauserben  bestimmten  Sohn  (regel- 
mässig) nicht  enterben  kann,  so  kann  man  auch  nicht  adop- 
tiren,  wenn  man  einen  solchen  Sohn  hat  (§  107);  früher 
konnte  das  geschehen,  aber  doch  nur  so ,  dass  man  für  den 
Adoptivsohn  ein  Nebenhaus  gründete  2^^).  Das  Vorhandensein 
einer  Tochter  schliesst  die  Adoption  nicht  aus;  man  adoptirt 
hier,  um  den  Adoptivsohn  zum  Schwiegersohn,  zum  muko 
yoshi  zu  machen. 

Früher  konnte  der  Ehemann  von  sich  aus  adoptiren,  jetzt 
bedarf  er  der  Zustimmung  der  Ehefrau  (§  110);  ebenso  wie  ein 
verheiratheter  Mann  sich  jetzt  ni;r  mit  Genehmigung  seiner 
Frau  in  Adoption  geben  darf  (§  110). 

Auch  Töchter  können  adoptirt  werden,  sie  können  dann 
Erbtöchter  werden  und  heirathen  einen  muko  yoshi. 

§  4.    ' 
Ist  beim  Tode  kein  Hauserbe  vorhanden,   so  muss,    wie 
nach    chinesischem  Rechte,   ein   Hauserbe   von    der  Familie 
ernannt  werden  ^^^),  aber  so,    dass    diese  Ernennung    keine 


^^^)  So  altjapanisches  Recht,  Küchler  p.  116.  Auch  das  kam 
vor,  dass  der  muko  j'^oshi  nach  dem  Tode  seiner  Frau  eine  jüngere 
Schwester  derselben  heirathete  (ib.  p.  116). 

^'^)  Die  Adoption  ist  in  chinesischer  Weise  entwickelt;  im  altjapa- 
nischen Recht  fmden  wir  sie  nicht  erwähnt,  Cliambe riain  in  den 
Transactions  X,  2  p.  XL. 

25«)  Vgl.  auch  den  4.  Bukeshohatto  a.  18  (Rudorff  S.  28).  Dass 
der  Adoptirte  womöglich  ein  Verwandter  sein  soll,  besagte  der  4.  Bnkesh. 
a.  18,  der  6.  B.  a.  12  und  der  7.  B.  a.  15  (Rudorff  S.  28,  29,  81). 

-5^)  Im  Nothfall;  daher  kyu-yoshi,  der  Nothadoptirte.  Wahrend 
der  Feudalzeit  wurde  bei  höheren  Klassen  die  Adoptionsurkunde  der 
Leiche  des  Verstorbenen  vorgelegt,  als  ob  er  quasi  vivus  sie  anerkenne, 


Studien  aus  dem  japanischen  Recht.  441 

freie  ist,  sondern  nach  einer  bestimmten  Gradation  erfolgen 
miiss^^^).  Das  Ernennungsrecht  hat  zunächst  der  Vater,  dann 
die  Mutter  des  Erblassers  und  wenn  keine  Eltern  vorhanden 
sind,  die  Familienversammlung.  Ernannt  werden  solP^^)  ein 
Bruder,  eventuell  eine  Schwester,  eventuell  ein  Descendent 
von  Bruder  oder  Schwester,  aber  so  dass  auch  hier  der  Mann 
dem  Weibe  vorgeht  (§  301,  302).  In  dieser  Beziehung  scheint 
das  japanische  Recht  von  dem  chinesischen  abzuweichen  ^^ 2), 
sofern  das  chinesische  Recht  dahin  abzielt,  dass,  wenn  kein 
Haussohn  vorhanden  ist,  nicht  der  Bruder,  sondern  der  Bruder- 
sohn gewählt  werden  soll,  überhaupt  ein  solcher,  welcher  in 
der  Familiengliederung  auf  der  gleichen  Generationsstufe  steht, 
auf  welcher  der  Sohn  stehen  würde. 

Dem  japanischen  Rechte  ist  auch  das  eigen,  dass,  wenn 
keine  Geschwister  oder  Geschwisterdescendenten  vorhanden  sind, 
dann  der  nächste  Ascendent,  und  wenn  kein  solcher  vorhan- 
den ist,  der  Ehegatte  zum  Hauserben  ernannt  wird  (§  303, 
304)2  6  3). 

Ist  eine  Wittwe  auf  solche  Weise  Hausinhaberin,  so  kann 
sie  gleichfalls  eine  Ehe  in  der  Art  abschliessen,  dass  der  Ehe- 


Weipert  S.  114.  Eine  solche  Adoptio  post  mortem  bedurfte  aber  der 
Genehmigung,  weil  dadurch  der  Heimfall  des  Lehens  verhütet  wurde; 
und  da  es  nicht  üblich  war,  vor  dem  16.  Jahre  zu  adoptiren,  so  galt 
es  nicht  als  zulässig,  eine  Nothadoption  vorzunehmen,  wenn  der  Lehens- 
fürst vor  dem  16.  Jahre  starb.  So  nach  den  18  Gesetzen  lyeyasu's  a.  7 
und  den  100  Gesetzen  desselben  Shogun  a.  46  (Rudorff,  Tokugawa- 
gesetzsammlung  S.  2  und  12);  vgl.  den  7.  Bukeshohatto  a.  15  (Rudorff 
S.  31).  Vgl.  auch  Grigsby  in  den  Transactions  of  the  Asiat.  Society  of 
Japan  III  p.  135. 

260)  Vgl.  meine  Rechtsvergl.  Studien  S.  192  f.,  194. 

2C1)  Früher  war  es  gewohnheitsmässig  so  ;  eine  strenge  Regel  be- 
stand nicht,  vgl.  Weipert  S.  135. 

2"2)  üeber  chinesisches  Recht  vgl.  meine  Rechtsvergl.  Studien  S.  193; 
bezüglich  Korea's  Z.  f.  vgl.  R.  VI  S.  403. 

2^^)  Alter  Rechtsgebrauch;  solange  das  System  der  Nebenfrauen 
anerkannt  war,  konnte  sogar  eine  Nebenfrau  zur  Hauserbin  gewählt 
werden;   vgl.  Weipert  S.  136.  —  Vgl.  auch  Kosaburo  Kishi  S.  37. 


442  Kohler. 

mann  in  das  Haus  eintritt:    es   ist   die  Idimgo-Ehe;  so  jetzt 
<iuch  §  258  2«^). 

§  5. 
Der  Eintritt  des  Hauserben  erfolgt  auch  dann,  wenn  der 
Ilausinhaber  seine  Nationalität  verliert  und  in  Folge  dessen 
unfähig  wird,  Hausinhaber  zu  sein  (§  252);  ferner  dann,  wenn 
der  Hausinhaber  ingo  wird  d.  h.  sein  Vermögen  übergibt. 
Diese  Vermögensübergabe  ist  altjapanisches  Institut  ^^•''^).  Sie 
erfolgt  durch  Erklärung  des  Hausinhabers,  der  bejahrt  ist 
(bei  vollendetem  GO.  Lebensjahr);  sie  erfolgt  an  den  volljäh- 
rigen Hauserben.  Ausnahmsweise  kann  von  dem  Alter  etwas 
nachgelassen  werden  (§  306,  307). 

§  ß- 

Im  Hause    ist    der    Hausinhaber    (koshu)    der  Vorstand 
und  Leiter. 


^^*)  Der  zweite  Mann  heisst  auch  iri-muko;  vgl.  WeipertS.  134. 
Was  er  beibringt,  kommt  in  das  Haus,  wie  das  sonstige  Beibringen  des 
yoshi.  Sonst  sollte  nach  japanisch-chinesischem  Rechte  regelmässig  die 
Wittwe  keine  zweite  Ehe  eingehen,  Hering  in  den  Mittheilungen  der 
deutsch.  Gesellsch.  f.  Ostasien  V  (Heft  41)  S.  22.  Auch  die  Braut 
pflegte  in  früherer  Zeit  nicht  mehr  zu  heirathen,  wenn  der  Bräutigam 
gestorben  war,  Titsingh,  Ceremonies  au  Japon  p.  59  —  ganz  wie  in 
China  (Rechtsvergl.  Studien  S.  190). 

^^^)  Das  Ingo-Institut  spielte  insbesondere  auch  im  Lehenswesen 
eine  grosse  Rolle;  wer  den  Lehensdienst  nicht  mehr  leisten  konnte, 
wurde  ingo  zu  Gunsten  seines  Sohnes,  Grigsby  in  den  Transactions 
of  the  Asiatic  Soc.  of  Japan  III  p.  134.  Auch  sonst  fand  früher  das 
Ingothum  in  verhältnissmässig  frühen  Jahren  statt.  Bekannt  ist  es, 
dass  die  Mikados  meist  in  frühen  Jahren  ingos  wurden;  es  war  dies 
das  System  des  Hausmeierthums,  um  den  Kaiser  völlig  machtlos  zu 
machen;  Jahrhunderte  lang  waren  meist  Kinder  oder  angehende  Jüng- 
linge auf  dem  Thron,  die  alsbald  wieder  ingo  wurden;  vgl.  Weipert 
S.  109  f.,  Adams  I  p.  22  f.  In  gleicherweise  wurden  aber  auch  Yori- 
tomo's  Nachfolger  niedergehalten,  indem  ihre  Verwandten,  die  Hojos, 
regierten:  diese  waren  Hausmeier  der  Shoguns,  also  Hausmeier  det* 
Hausmeier;  vgl.  auch  Adams  I  p.  54. 


Studien  aus  dem  japanischen  Recht.  443 

Unter  ihm  leben  die  Familienmitglieder,  die  nicht 
in  ein  anderes  Haus  eingetreten  sind  oder  nicht  ein  Neben- 
haus gegründet  haben.  Der  Hausinhaber  trägt  die  Kosten; 
dafür  gehört  ihm  auch  die  Thätigkeit  der  Hausmitglieder; 
was  ein  solches  für  das  Haus  verwendet,  dafür  kann  es  keinen 
Ersatz  begehren  (§  243—245). 

Ein  solches  Hausmitglied  (kazoku)  kann  keinen  Hauserben 
haben,  es  kann  daher  auch  nicht  adoptiren  (§  109)^^^).  Aber 
es  ist  nicht  vermögenslos,  es  kann  Vermögen  erwerben ^^^),  kann 
sich  verheirathen,  es  kann  legitime  Kinder  haben;  auch  wird  es 
beerbt,  aber  der  Erbe  ist  nicht  Hauserbe,  sondern  Vermögens- 
erbe. Vermögenserbe  aber  ist  nicht  der  Nämliche,  welcher 
betreffenden  Falles  Hauserbe  wäre.  Vermögenserbe  ist  der 
üescendent,  welcher  in  Hausgemeinschaft  wohnt,  sodann  der 
Ehegatte,  endlich  der  Hausinhaber,  also  der  Herr  des  betref- 
fenden Hauses,  dem  der  zu  Beerbende  angehört  (a.  313):  auch 
dies  entspricht  dem  älteren  Rechte. 

Uebrigens  kann  ein  solches  Hausmitglied  ein  neues 
Haus  gründen:  dann  ist  dies  ein  Nebenhaus  (bunge) 
neben  dem  Haupthaus  (hunge).  Dies  tritt  insbesondere 
ein,  wenn  sich  der  jüngere  Bruder  ohne  Einwilligung  des 
älteren  verheirathet  (§  250),  Es  kann  übrigens  auch  vor- 
kommen, dass  schon  der  Vater  einem  solchen  Kinde  ein 
bunge  verschafft  ^^^).  Die  Erbfolge  aus  dem  bunge  ist  wie- 
der nach  der  Regel,  es  gibt  hier  wieder  einen  Hauserben 
u.  s.  w.    Doch  steht  das  Nebenhaus  zu  dem  Haupthaus  immer 


266j  jTfüi^er  war  eine  Adoption  durch  den  kazoku  gestattet, 
Weipert  ö.  113. 

267^  Vgl.  Weipert  S.  89.  Dieses  Vermögen  ist  Sondergut  und 
haftet  seinem  Gläubiger. 

^^^)  Man  möchte  sagen:  Secundogenitur;  vgl.  auchKosaburoKishi 
S.  25.  Auch  das  kann  vorkommen,  dass  der  zweite  Sohn  ein  erloschenes 
fremdes  Haus  neugründet,  indem  er  den  Namen  desselben  (sei)  annimmt. 
Vgl.  Weipert  S.  87.  Auch  eine  Tochter  kann  ein  Nebenhaus  gründen, 
indem  sie  einen  muko  yoshi  heirathet.     Vgl.  Weipert  S.  102  f. 


414  Kohler. 

noch  in  einiger  Beziehung.     Dies  zeigt   sich  insbesonflere  bei 
der  Adoption^  auch  im  Hausnamen  2^^). 

§  7. 

Wie  bei  den  Chinesen  ^^^)  darf  der  ITauserbe  sich  nicht 
in  einem  anderen  Hause  adoptiren  lassen:  er  müsste,  da 
Niemand  zwei  Hausstände  haben  kann,  sein  Haus  aufgeben, 
und  das  darf  nicht  sein,  er  darf  sein  Haus,  sein  sacra  nicht 
im  Stiche  lassen  ^^^).  Aber  auch,  wer  noch  nicht  Hausbesitzer, 
aber  der  vermuthete  Hauserbe  des  Hausvaters  ist,  kann 
nicht  in  Adoption  gegeben  werden:  es  würde  ja  sonst  dem 
eigenen  Hause  der  Hauserbe  genommen ;  davon  gibt  es  aber 
eine  Ausnahme:  wer  der  vermuthete  Hauserbe  eines  bunge 
ist,  der  kann  in  das  Haupthaus,  hunge  adoptirt  werden  (§  111) ; 
dies  gilt  in  Japan,  wie  es  in  China  gilt^^^). 

Ueberhaupt  besteht  der  Grundsatz :  wer  Hauserbe  geworden 
ist,  kann  das  eigene  Haus  regelmässig  nicht  aufheben  ^''^); 
er  kann  es  aber  aufheben,  wenn  dadurch  das  Nebenhaus 
wieder  an  das  Haupthaus  fällt  (§  251). 

Der  Inhaber  des  bunge  tritt  in  solchem  Falle  in  das 
Haupthaus  ein  mit  der  ganzen  Familie  des  Nebenhauses 
(§  253)2  74). 

Auch  das  kann  vorkommen,  dass  der  Bunge-Inhaber  nicht 


^^^)  Bei  den  Samurais  hat  das  Nebenhaus  denselben  Familiennamen 
(^sei),  wie  das  Haiipthaus.     Vgl.  auch  Weipert  S.  87. 

^'^)  Rechtsvergleichende  Studien  S.  194. 

^'^)  Altjapanisches  Recht,  vgl.  Weipert  S.  113. 

^^0  Rechtsvergleichende  Studien  S.  194. 

273-^  Früher  war  dies  ausnahmsweise  gestattet  durch  Fusion  mit 
einem  andern  Hause;  die  Fusion  hiess  goke;  sie  wurde  später  verboten; 
vgl.  Weipert  S.  87  f. 

*^''^)  Dagegen  tritt  der  Inhaber  des  bunge  nicht  von  selbst  wieder 
in  das  Haupthaus  ein,  wenn  dieses  keinen  männlichen  Erben  hat,  viel- 
mehr wird  dasselbe  in  diesem  Falle  durch  die  älteste  Tochter  mit  Hülfe 
eines  muko  yoshi  fortgesetzt;  dies  gilt  nach  dem  jetzigen  Reclite,  wie 
nach  dem  älteren;  vgl.  auch  Weipert  S.  133. 


Studien  aus  dem  japanischen  Recht.  445 

das  Bunge-Haus  aufhebt^  wohl  aber  bezüglich  desselben  ingo 
wird  und  so  in  das  Haupthaus  übergeht.  Hier  ist  es  aus- 
drücklich gestattet^  dass  er  ingo  werden  kann,  auch  wenn  er 
das  gesetzliche  Alter  von  60  Jahren  noch  nicht  erreicht 
hat  (§  307). 

Wessen  Eltern  unbekannt  sind,  wer  also  keinem  Hause 
angehört,  der  kann  ein  neues  Haus  gründen  (§  255).  Die 
Vorschrift,  dass  er  das  Haus  nicht  aufheben  oder  nicht  in 
ein  anderes  Haus  eintreten  darf,  gilt  hier  nicht  (vgl.  §  251,  253). 

§  8. 

Aus  dem  Hause  tritt  man  durch  Ehe  oder  Adoption; 
durch  Ehe :  nämlich  durch  Ehe  der  Tochter,  die  nicht  Erb- 
tochter ist ;  oder  durch  Ehe  ,des  Mannes  als  muko  yoshi. 

Wer  auf  solche  Weise  austritt,  kann  in  das  Stammhaus 
zurückkehren,  wenn  er  durch  Trennung  der  Ehe  oder  Lösung 
der  Adoption  seinen  Sitz  im  neuen  Hause  verliert.  Jedoch  ist 
Folgendes  zu  beachten.  Schon  von  früher  her  galt  der  Satz, 
dass  ein  Hausmitglied  zur  Ehe  oder  Adoption  der  Zustim- 
mung des  Hausinhabers  bedarf.  Dies  ist  bestätigt  worden 
(§  246).  Tritt  er  ohne  Zustimmung  aus,  so  bestand  früher 
die  Sitte,  dass  der  Hausinhaber  vor  dem  Standesamte  er- 
klärte, dass  er  ihn  nicht  mehr  als  Hausgenossen  anerkenne. 
Dies  wurde  im  Gesetze  beibehalten  in  der  Art,  dass  der  Haus- 
inhaber solche  Erklärung  innerhalb  eines  Monats  von  dem 
Momente  an,  wo  ihm  der  Grund  der  Rückkehr  ins  Stamm- 
haus bekannt  wird,  abgeben  kann    (§  247). 

Auch  in  anderen  Fällen  kann  der  Hausgenosse  aus  dem 
fremden  Haus  in  das  Stammhaus  zurückkehren,  wenn  die 
beiden  Hausinhaber  mit  einverstanden  sind  (§   248). 

Aber  die  Kinder,  welche  er  in  dem  fremden  Hause  ge- 
zeugt hat,  bleiben  dem  fremden  Hause;  nur  mit  Genehmigung 
des  Hausinhabers  kann  er  sie  mit  sich  wegnehmen,  und  zu- 
dem nur  mit  Genehmigung  seines  Ehegatten  bezw.  seines 
Adoptivvaters  (§  254,  256).     Dieses  ist  altes  Recht. 


446  Kohler. 

Wer  in  ein  fremdes  Haus  eingetreten  ist,  kann  nicht 
direct  aus  diesem  Hause  wieder  in  ein  neues  Haus  eintreten, 
so  insbesondere  auch  nicht  der  muko  yoshi,  selbst  wenn  seine 
Frau  todt  ist.  Dies  ist  altes  Recht.  Man  kann  nur  dann  in  ein 
drittes  Haus  eintreten,  wenn  man  zuerst  in  das  Stammhaus 
zurückgekehrt  ist:  nur  von  diesem  aus  darf  man  sich  in  ein 
fremdes  Haus  begeben  (§  248). 

§  9. 

Was  die  Form  der  Eheschliessung  betrifft  ^''^),  so  hat  das 
neue  Gesetz  sich  weislich  an  den  alten  Gebrauch  ange- 
schlossen :  es  finden  die  Ceremonien  statt,  welche  am  Wohnsitz 
des  einen  der  beiden  Ehegatten  gelten  (§43)^^^);  eine  Haupt- 
ceremonie  ist  noch  heutzutage  das  san  san  kudo,  das  drei- 
mal drei;  d.  h.  der  Genuss  aus  denselben  Bechern  ^'^'^):  dreimal 
aus  drei  Bechern  (zuerst  einem  kleinen,  dann  einem  mittleren, 
dann  einem  grösseren  Becher).  Die  Anwesenheit  von  zwei 
Zeugen  (einem  Paar:  Mann  und  Frau)  wurde  schon  früher 
für  nöthig  erachtet;  auch  das  Gesetz  (§  47)  verlangt  zwei 
Zeugen  ^^^). 

Ausserdem  ist  die  Erklärung  vor  dem  Standes- 
beamten nöthig,  welche  aber  auch  durch  einen  Stellver- 
treter   geschehen    kann  (§  43).     Früher   konnte    diese  Erklä- 


^^^)  Ueber  Reste  des  Frauenraubes,  namentlich  auf  der  Insel  Ama- 
kusa  bei  Nagasaki,  vgl.  Weipert  S.  94. 

-^^)  Regelmässig  findet  die  Ceremonie  beim  Bräutigam  statt  (yome- 
iri  d.  h.  Brauteingang);  im  Falle  der  Muko-yoshi-  und  Idimgo-Ehe  bei 
der  Braut;  hier  ist  es  der  Bräutigam,  der  in  die  Familie  eintritt,  daher 
muko-iri.  Vgl.  Weipert  S.  98.  Dass  die  Eheschliessung  nicht  heimlich 
geschehen  soll,  sagtauch  der  Bukeshohatto  v.  1615  a.  8  (Rudorff  S.24). 

^^0  Schon  im  alt  japanischen  Leben  findet  sich  der  Becher  als 
Zeichen  der  Treue,  vgl.  Kojiki  s.  XXV  (Chamberlain  in  den  Trans- 
actions  X,  2  p.  80  f.). 

-^^)  Ueber  anderweitige  Formalitäten  vgl.  die  minutiösen  Angaben 
in  Titsingh,  Ceremonies  au  Japon  (Paris  1819).  Der  Zuzug  eines 
Priesters  war  nirgends  üblich  (ib.  p.  41). 


Studien  aus  dem  japanischen  Recht.  447 

ruDg  nach  der  Eheceremonie  erfolgen :  es  war  also  bloss  eine 
Erklärung  zur  Registrirung  2^^);  nach  dem  jetzigen  Gesetze 
muss  diese  Erklärung  vorher  geschehen,  damit  der  Standes- 
beamte ein  causae  cognitio  vornehmen  kann.  Die  Ehecere- 
monie kann  dann  nach  3  Tagen  erfolgen:  in  der  Zwischen- 
zeit kann  der  Standesbeamte  die  Vornahme  untersagen;  sie 
hat  in  30  Tagen  zu  erfolgen  (§  46,  48)  —  sonst  verliert 
die  Erklärung  vor  dem  Standesbeamten  ihre  Bedeutung,  so 
dass  sie  erneuert  werden  muss. 

Entsprechend  ist  die  Behandlung  des  Adoptionsaktes: 
auch  hier  die  übliche  Form  und  auch  hier  die  Anmeldung  vor 
dem  Standesamte,  auch  hier  die  angegebenen  Fristen  (§  113 
cf.  43,  46,  48)  ^^^).  Ueblich  ist  auch  hier  der  gemeinsame 
dreimalige  Trunk  aus  einem  rothen  Becher,  aber  nur  aus 
einem  Becher;  der  Adoptant  trinkt  zweimal,  das  Adoptivkind 
einmal.  Der  Zuzug  von  Zeugen,  einer  Art  von  Fathen,  fand 
auch  schon  früher  statt,  doch  wurde  es  hier  nicht  so  streng 
genommen;  das  Gesetz  erheischt  auch  hier  zwei  Zeugen  (§113). 

Die  Adoption  verlangt  die  Zustimmung  beider  Theile  — 
ist  das  Kind  unter  15  Jahren,  dann  Zustimmung  der  Eltern 
(§  113,  115).  Ebenso  aber  auch  die  Aufhebung  der  Adop- 
tion (§  137). 

§  10. 
Die  Verlobung  hatte    nach   altjapanischem    Rechte    be- 
reits eine  familienrechtliche  Wirkung:  wer  mit  der  Verlobten 
eines  Anderen  geschlechtlich  verkehrte,  wurde  zwar  nicht  wie 


^^^)  Bei  den  Samurai  und  Kuge  war  allerdings  früher  Genehmigung 
des  Oberherrn  vorgeschrieben.  Vgl.  7  Bukashohatto  a.  14  (Rudorff 
S.  31).  In  manchen  Theilen  Japans  war  auch  das  Institut  der  Probeehe 
üblich ,  so  dass  erst  längere  Zeit  nachher  die  Anmeldung  erfolgte, 
Weipert  S.  98,  99. 

^®°)  Die  Anmeldung  zu  den  Personalregistern  ist  altjapanisches 
Recht-  vgl.  Weipert  S.  114.  Nach  dem  Osadamegaki  a.  50  Z.  2 
sollte  auch  die  Auflösung  der  Adoption  innerhalb  6  Monaten  angezeigt 
werden. 


448  Kohler. 

üin  Ehebrecher  bestraft,  aber  doch  mit  ke-tsuiho,  die  Verlobte  mit 
Abschneiden  der  Haare,  Kamporitsu  a.  49,  vgl.  oben  S.  401; 
dass  die  Eltern  eine  Verlobte  tödten  durften,  wenn  sie  mit 
einem  Dritten  geschlechtlich  verkehrte,  ist  bereits  gleichfalls 
oben  S.  387  und  3G7  erwähnt  worden. 

§  11. 
Das  Vermögen  der  Ehegatten  bleibt  nach  altjapa- 
nischem Rechte  getrennt,  der  Acquäst  gehört  dem  Manne; 
dies  war  besonders  wichtig  bei  der  Vermögenseinziehung 
(kessho) :  sie  erstreckte  sich  nicht  auf  das  Vermögen  der  Frau, 
Kamporitsu  a.  27  Z.   1  und  3. 

§  12. 

Das  Concubinat  ist  in  dem  neuen  Gesetze  nicht  als 
Rechtsinstitut  anerkannt.  Die  Concubinenkinder  hiessen  tsosi ; 
das  bedeutet  jetzt:  anerkannte  uneheliche  Kinder  überhaupt, 
im  Gegensatz  zu  den  sisesi,  den  heimlichen  Kindern,  die  vom 
Vater  nicht  anerkannt    sind  (§  95,  96,  98). 

Früher  bestand  das  Concubinat,  wenigstens  in  den  höheren 
Klassen,  ähnlich  wie  in  China  ^^^). 

28 ij  Vgl.  Weiperi  S.  107  f.;  vgl.  auch  die  Bemerkungen  zu  dem 
Friedrichs'schen  Aufsatze  S.  361.  Die  rechtliche  Anerkennung  ergibt 
sich  schon  aus  dem  Taihorio,  sodann  aus  der  Tokugawagesetzgebung; 
so  aus  den  hundert  Gesetzen  des  lyeyasu,  wornach  der  Mikado  12,  die 
Fürsten  8,  die  Taifu  5,  die  Samurai  2  Nebenweiber  haben  dürfen  (Ru- 
dorff,  Tokugawagesetzsammlung  S.  13),  und  noch  im  Kamporitsu 
a.  48  Z.  12  (Rudorff,  Kamporitsu  S.  22)  wird  der  Ehebruch  der 
Nebenfrau  dem  Ehebruch  der  Frau  gleichgestellt.  Vgl.  auch  noch 
Hering  in  den  Mittheil,  der  deutschen  Gesellsch.  f.  Ostasien  V  (Heft  41) 
S.  23.  Die  Concubinen  des  Mikado  hiessen  früher  niogo,  über  ihnen  stand 
die  chiugu,  das  zweite  Weib.  Die  Fuj  iwaras  (Hausmeier  vor  Yoritomo's 
Zeit)  wussten  die  Mikados  an  sich  zu  ketten,  indem  sie  ihnen  ihre 
Töchter  als  Concubinen  oder  als  zweite  Frauen  gaben,  Adams  Ip.  26. 
Auch  schon  in  Japans  ältester  Zeit  hatte  der  Mikado  mehrere  Weiber 
und  Concubinen,  wie  aus  verschiedenen  Stellen  des  Koj  iki  hervorgeht, 
s.  XXV,  LXXVI,  CIV,  CXXn  (Chamberlain  in  den  Transactions  X,  2 
p.  80  f.,  202,  240,  370  f.).   Vgl.  auch  noch  Dalmas,  Les  Japonais  p.  159. 


Kohler.    Studien  aus  dem  japanischen  Recht.  449 

Dagegen  war  es,  wie  in  China^  auch  früher  schon  Vor- 
schrift; dass  man  nur  eine  Hauptfrau  haben  durfte;  es  wurde 
ausdrücklich  für  strafbar  erklärt ,  eine  zweite  Hauptfrau  zu 
nehmen,  ehe  man  der  ersten  den  Scheidungsbrief  zugestellt 
hatte,  Kamporitsu  a.  48  Z.   15  ^s^), 

§  13. 

Die  Ehescheidung  ist  nunmehr  in  modern  occidentaler 
Weise  gestaltet.  Früher  galt  das  Confuzianische  Recht^^^). 
Die  Frau  konnte  sich  wieder  verheirathen  im  Falle  der  Ver- 
schollenheit des  Mannes;  über  diesen  Punkt  bestimmte  das 
Kamporitsu  a.  44:  10  Monate,  nachdem  der  Mann,  der  keine 
Nachricht  giebt,  als  verschollen  zu  betrachten  ist,  kann  die  Frau 
um  Gestattung  der  Wiederverheirathung  nachsuchen;  später 
(1874)  wurde  nach  2  Jahren  die  Wiederverheirathung  ge- 
stattet ^s*). 

Auch  die  Ehescheidung  war  nach  dem  Osadamegaki 
a.   50  Z.  2  innerhalb  6  Monaten  öffentlich  anzumelden  ^^^). 


282)  Vgl.  auch  Küchler  p.  133,  ferner  oben  S.  402;  K.  Kishi  S.  14. 

2^^)  Rechtsvergl.  Studien  S.  198.  Vgl.  auch  Hering  in  den  Mit- 
theilungen der  deutschen  Gesellsch.  f.  Ostasien  V  (Heft  41)  S.  41; 
Weipert  S.  104,  Küchler  p.  130.  Die  Geltung  desselben  geht  in  die 
Periode  Taiho  d.  h.  in  der  Periode  der  grossen  Reception  des  chine- 
sischen Rechts  zurück,  Küchler  p.  130.  Im  ursprünglich  japanischen 
Rechte  scheint  der  Mann  ein  freies  Scheidungsrecht  gehabt  zu  haben, 
Chamberlain  in  den  Transactions  X,  2  p.  XL. 

284)  Früher  (vermuthlich  nach  der  Taihogesetzgebung)  scheinen 
längere  Wartefristen  bestanden  zu  haben;  5  Jahre,  wenn  Kinder  vor- 
handen, sonst  3. 

28^)  Vgl.  auch  Küchler  p.  132. 


Zeitschrift  für  vergleichende  Rechtswissenschaft.    X.  Band,  29 


Dr.  G.  A.  Wilkeii  f- 


Am  28.  August  1891  hat  die  vergleichende  Rechts- 
wissenschaft durch  den  Tod  von  G.  A.  Wilken  in 
Leyden  einen  unersetzlichen  Verlust  erlitten.  Er,  der 
wissenschaftliche  Vermittler  vom  Osten  und  Westen 
der  Niederlande,  der,  wie  kein  Anderer,  die  Seele  und 
das  Recht  der  indonesischen  Völker  durchschaute,  der 
mit  einer  einzigartigen  Kenntniss  der  einschlägigen 
Literatur  und  einer  innigen  Vertrautheit  mit  den 
Principien  der  ethnologischen  und  der  juristischen 
Wissenschaft  einen  durchdringenden  Verstand  und  einen 
eisernen  Fleiss  verband,  der  wie  die  ethnographische, 
so  auch  unsere  juristische  Kenntniss  von  den  malaiischen 
Völkern  innerhalb  eines  Jahrzehntes  auf  eine  Höhe  ge- 
hoben hat,  die  uns  noch  für  lange  unerreichbar 
schien  —  er  ist  nicht  mehr. 

Ein  Kind  des  Orientes,  wurde  er  am  13.  März  1847 
zu  Tombon  auf  Celebes  geboren;  sein  Vater  war 
der  um  die  Linguistik  der  malaiischen  Völker  hoch- 
verdiente P.  N.  Wilken,  seine  Mutter  eine  einheimische 
Christin  aus  der  Familie  Hoed.  Mit  12  Jahren  nach 
Europa  gebracht,  genoss  er  hier  seine  Schulbildung 
und  bereitete  sich  für  den  indischen  Dienst  vor,  in 
dem  er  von  1869  bis  1880  wirkte,  nacheinander  in 
Buru,  Limbotto,  Ratahan  und  Sipirok ;  so  lernte  er  jene 


Dr.  G.  A.  Wilken  ■[.  451 


Völker  aus  unmittelbarer  Anschauung  kennen,  und  es 
bedurfte  nur  der  wissenschaftlichen  Weiterarbeit,  um 
die  hier  erlangte  mächtige  Anregung  zur  Geltung  zu 
bringen  und  den  Völkern,  die  er  aus  lebendigem  Um- 
gange verstand,  eine  eindringliche  Darstellung  zu 
widmen.     Dies  erfolgte  nun  auch  in  reichstem  Masse. 

Im  Jahre  1880  mit  Urlaub  nach  Europa  zurück- 
gekehrt, widmete  er  sich  in  Leyden  so  eifrigen  Studien, 
dass  er  bereits  1881  zum  Leiter  der  Anstalt  für  indische 
Beamte  bestellt  wurde;  im  Jahr  1884  von  der  Uni- 
versität Leyden  zum  doctor  honoris  causa  ernannt, 
folgte  er  das  Jahr  darauf  dem  hochverdienten  Veth 
auf  dem  Lehrstuhle  für  Sprachen-,  Land-  und  Völker- 
kunde des  indischen  Archipels  an  der  Universität  Leyden. 

Damals,  am  16.  September  1885,  zeigte  er  seine 
tiefe  Hinneigung  zur  Jurisprudenz :  seine  Inaugural- 
rede handelte  von  der  vrucht  van  de  beoefening  der 
ethnologie  voor  de  vergelijkende  rechtswetenschap. 

Von  1883  an  entwickelte  er  eine  staunenswerthe 
literarische  Thätigkeit;  Abhandlung  folgte  auf  Ab- 
handlung, bald  mehr  dem  Bereich  der  Ethnologie  an- 
gehörig, bald  tief  in  das  juristische  Gebiet  einschlagend. 

Doch  die  Zeit  seines  Wirkens  war  gemessen. 
Der  Sohn  der  südlichen  Sonne  war  weder  dem  nörd- 
lichen Klima,  noch  den  unerhörten  Anstrengungen  des 
Forscherlebens  gewachsen.  Noch  wollte  er  im  Anfang 
dieses  Jahres  an  einer  wissenschaftlichen  Expedition 
theilnehmen,  sein  Heimathsland  wieder  besuchen  — 
vielleicht  hätte  ihm  dies  Linderung  gebracht.  Es  sollte 
nicht  mehr  geschehen.  Ein  Lungenleiden  warf  ihn  Ende 
Juni  1891  auf  das  Krankenlager  und  am  28.  August 
erlöste  ihn  der  Tod  von  allen  Leiden  des  Erdendaseins. 


452  Dr.  G.  A.  Wilken  f. 


Abgesehen  von  seinem  holländisch  und  deutsch 
geschriebenen  Werke  über  das  Matriarchat  bei  den 
alten  Arabern  und  einer  Vertheidigung  dieser  Schrift, 
bewegen  sich  seine  Arbeiten  fast  durchgängig  auf  dem 
Gebiete  des  indonesischen  Lebens  nach  seinen  ver- 
schiedenen Richtungen  hin ;  überall  staunt  man  über 
die  Beherrschung  des  Materials,  über  die  scharfe  Durch- 
führung grosser  Gesichtspunkte,  über  die  Klarheit  und 
Sicherheit  der  Darstellung.  Die  meisten  dieser  Arbeiten 
sind  in  dem  Indischen  Gids  und  in  den  Bijdragen  tot  de 
taal-,  land-  en  volkenkunde  van  Nederlandsch  Indie 
erschienen.  Zu  den  mehr  ethnologischen  Schriften,  die 
aber  vielfach  das  Recht  berühren,  gehört  insbesondere 
seine  schöne  Darstellung  des  Animismus  bei  den 
Völkern  des  indischen  Archipels,  an  die  sich  der  Artikel 
über  die  Beziehungen  zwischen  Menschen-,  Thier-  und 
Pflanzenleben  anschliesst;  sodann  eine  Reihe  weiterer 
Artikel  in  den  Bij  dragen  tot  de  taal-,  land-  en  volkenkunde : 
über  die  Beschneidung,  die  Zahnfeilung,  die  Schädel- 
verehrung, die  Couvade,  die  Albinos,  das  Zählen  nach 
Nächten,  den  Schamanismus  im  indischen  Archipel  u.  a. 

Das  Gebiet  des  Rechts  betritt  er  nicht  nur  in 
seiner  gedachten  Inauguralschrift  und  in  seiner  Ab- 
handlung über  die  Rechtsbegriffe  des  Ostens  und 
Westens,  sondern  auch  in  einer  Reihe  tiefgehender 
Einzelforschungen,  die  für  die  vergleichende  Rechts- 
wissenschaft epochemachend  geworden  sind.  Sie  lassen 
sich  in  drei  Gruppen  theilen : 

Einmal  die  schöne  Abhandlung  über  das  Straf- 
recht bei  den  Völkern  der  malaiischen  Rasse,  worin 
zugleich  der  Strafprocess  und  namentlich  auch  das 
Ordalwesen  ausführlich  behandelt  wird. 


Dr.  G.  A.  Wilken  f.  453 


Sodann  die  Abhandlung  über  das  Pfandrecht  bei 
den  Völkern  des  indischen  Archipels^  welche  zugleich 
einen  lehrreichen  Beitrag  zum  Schuldrecht  bietet. 

Die  grössten  Verdienste  aber  hat  er  um  die  Ent- 
hüllung der  Ehe-;  Familien-  und  Erbrechtsverhältnisse 
dieser  Völker:  die  verschiedenfachsten  Ehe-  und  Familien- 
formen mutterrechtlicher  wie  vaterrechtlicher  Art  mit 
ihren  mannigfachen  Zwischenstufen,  sowie  die  Entwick- 
lung von  der  einen  Form  zur  andern  hat  er  mit  höchster 
Meisterschaft  dargelegt.  Wir  haben  hier  ein  Stück 
Bilduugsgeschichte  vor  uns,  wie  es  uns  wenige  Rechts- 
materien bieten:  die  Gesetze  des  Werdens  lassen  sich  be- 
lauschen,  das  innere  Wesen  der  Völkerentwicklung  liegt 
vor  unseren  Augen.  Und  das  Verdienst  des  Forschers  ist 
um  nichts  geringer,  wenn  auch  gesagt  werden  muss, 
dass  das  Material  schon  an  und  für  sich  so  ausser- 
ordentlich belehrend  ist,  dass  kaum  eine  Völkergruppe 
so  reiche  und  fruchtbare  Daten  liefert:  es  gehörten 
eben  die  Kenntnisse  und  der  Feuereifer  Wilken's  dazu, 
die  Fülle  der  Daten  zu  verarbeiten.  Immer  wieder 
kam  er  auf  dieses  Lieblingsgebiet  zurück.  So  entstand 
der  Aufsatz  über  die  Verwandtschaft,  das  Ehe-  und  Erb- 
recht der  Völker  der  malaiischen  Rasse  (1883),  über  ihre 
Verlobungs-  und  Hochzeitsgebräuche  (1886),  über  die 
Verbreitung  des  Mutterrechts  auf  Sumatra  (1888),  über 
die  Ehe  zwischen  Blutsverwandten  (1890),  über  Ehe-  und 
Erbrecht  bei  den  Völkern  auf  Süd-Sumatra  (1891);  theil- 
weise  gehört  hierher  auch  seine  in  der  Revue  Coloniale 
erschienene  Schrift  über  das  Haaropfer  und  die  Trauer- 
gebräuche bei  den  Völkern  Indonesiens  (1886,  1887)  ^). 

^)  Verschiedene  dieser  Schriften  sind  in  dieser  Zeitschrift 
besprochen,  V  S.  458  f.,  VI  S.  409  f. 


454  I>r.  G.  A.  Wilken  f 


Selbst  voller  Streben,  erkannte  er  willig  fremdes 
Verdienst  an ;  die  Leistungen  Riedel's  fanden  in  ihm 
einen  eifrigen  Fürsprecher,  die  deutschen  Kechtsforsch- 
ungen  wusste  er  nicht  nur  gerecht,  sondern  auch 
wohlwollend  zu  würdigen;  stets  auskunftsbereit,  zeigte 
er  sich  als  freundlichen  liebevollen  Genossen  im  Felde 
des  wissenschaftlichen  Wirkens. 

Was  dieser  Mann  noch  hätte  leisten  können !  Wir 
müssen  uns  damit  getrösten,  dass  all  unser  Forschen 
Stückwerk  ist  und  einem  jeden  die  Zeit  kommt,  wo 
ihm  die  Feder  entfällt  und  wo  der  Engel  des  Todes 
seine  Stirne  küsst.  Glücklich,  wer,  wie  der  Verblichene, 
sagen  kann,  dass  er  nicht  nur  Glänzendes,  sondern  auch 
Grosses  und  Dauerndes  geschaffen  hat. 

Berlin,  Deccmber  1891.  Kohl  er. 


XI. 

Das  schweizer.  Bundesgesetz  betr.  die  civilrechtlichen 
Verhältnisse  der  Niedergelassenen  und  Aufenthalter 

vom  25.  Juni  1891,  (publizirt  im  B.Bl.  l^r.  34, 19.  August  1891. 
Ablauf  der  Einspruchsfrist  17.  l^ovember  1891)  ^). 

Von 
Stadtrath  F.  Schlatter  in  Zürich. 

Das  vorwürfige  Gesetz  ordnet  einen  Theil  des  internationalen 
Privatrechts,  die  Frage  der  sogenannten  Statutencollision  und 
zwar  1.  für  die  Schweizer  in  der  Schweiz,  2.  für  die  Schweizer  im 
Auslande,  3.  für  die  Ausländer  in  der  Schweiz.  Die  nachstehenden 
Erörterungen  fussen  in  der  Hauptsache  auf  den  Verhandlungen  der 
eidgenössischen  Räthe  und  den  diesen  Verhandlungen  zu  Grunde 
liegenden  Botschaften  und  Kommissionsberichten.     (Vgl.  S.  457.) 

I.  Für  die  Schweizer  in  der  Schweiz  war  das  Gesetz 
längst  ein  Bedürfniss.  Wir  haben  in  der  Schweiz  25  Staaten  (19  Kan- 
tone und  6  Halbkantone)  und  in  jedem  derselben  eine  eigene  Gesetz- 
gebung, eine  eigene  Rechtssprechung.  Versetzen  wir  uns  in  die  Zeit  vor 
Erlass  des  Gesetzes,  so  bietet  sich  folgendes  Bild.  Die  einen  Kantone 
wollen  in  einer  Reihe  von  sehr  wichtigen  rechtlichen  Beziehungen, 
z.  B.  im  Vormundschaftswesen,  im  Erbrecht,  im  ehelichen  Güterrecht 
ihrer  Gesetzgebung  alle  Diejenigen  unterworfen  wissen,  welche  ihnen 
bürgerrechtlich  angehören,  gleichviel  ob  sie  in-  oder  ausserhalb 
der  Kantonsgrenzen  wohnen.  Die  andern  Kantone  erstrecken  ihre 
Gesetzgebung  auf  alle  Diejenigen ,  aber  auch  nur  auf  Diejenigen, 
welche  auf  ihrem  Gebiet  leben,  mögen  sie  im  Kantonsbürgerrecht 
stehen  oder  nicht.  Jene  huldigen  dem  Nationalitäts-  oder  Heimaths- 
princip,  diese  dem  Territorialitäts-  oder  Wohnsitzprincip.  Es  ist 
klar,  dass  die  Kantone  der  letzteren  Gruppe  bei  der  Durchführung 

^)  Die  Frist  ist  inzwischen  abgelaufen,  ohne  dass  Einspruch  er- 
hoben wurde.     Das  Gesetz  ist  somit  definitiv  ansrenommen. 


45(3  Schlauer. 

ihres  Grundsatzes  niemals  auf  Schwierigkeiten  stossen,  weil  sie 
gegen  Niemanden  Rechte  in  Anspruch  nehmen,  der  nicht  auch  ihrer 
Jurisdiction  unterworfen  wäre.  Dagegen  finden  die  Kantone  der 
ersten  Gruppe  überall  da  Schwierigkeiten ,  wo  einer  ihrer  Bürger 
in  einem  Kanton  mit  Territorialprincip  niedergelassen  ist,  weil  sie 
thatsächlich  nicht  im  Stande  sind,  diesem  auswärts  wohnenden 
Bürger  beizukommen ,  wenn  er  seiner  heimathlichen  Gesetzgebung 
entgehen  will  und  vom  Niederlassungskanton  unterstützt  wird.  So 
oft  aus  dieser  Sachlage  ein  Rekurs  an  die  Bundesbehörde  entstand, 
haben  die  eidgenössischen  Räthe  zu  Gunsten  des  Niederlassungs- 
kantons entschieden,  aus  dem  einfachen  formellen  Grunde,  weil  beim 
Mangel  einer  in  anderm  Sinne  lautenden  Bundesgesetzgebung  oder 
Verständigung  kein  Kanton  gezwungen  werden  konnte,  gegen  seinen 
Willen  die  Ausübung  fremder  Souveränitätsrechte,  bezw.  die  Anwen- 
dung einer  fremden  Gesetzgebung  auf  seinem  Gebiet  zu  dulden. 
Die  Bundesversammlung  kam  daher  gar  nicht  in  den  Fall,  materiell 
die  Frage  zu  prüfen,  ob  für  ein  gegebenes  Rechtsgebiet,  z.  B.  für 
das  Vormundschaf tswesen  oder  für  das  Erbrecht,  das  Territorial- 
oder das  Nationalitätsprincip  das  vorzüglichere,  den  Verhältnissen 
entsprechendere  gewesen  wäre.  Aus  formellem  Grunde  war  sie 
gezwungen,  immer  zu  Gunsten  des  Territorialitätsprincips  zu  ent- 
scheiden. In  Folge  dessen  musste  das  Nationalitätsprincip  auf  allen 
'Gebieten  immer  unhaltbarer  werden  und  das  Territorialitätsprincip 
nach  und  nach  das  ganze  Bundesstaatsrecht  erobern,  nicht  weil 
man  von  dessen  ausschliesslicher  Richtigkeit  überzeugt  gewesen  wäre, 
sondern  weil,  wie  die  Einzelfälle  sich  darstellten ,  nur  dieses  Princip 
angewendet  werden  konnte.  Diese  eigenthümliche  und  unbefriedigende 
Sachlage,  wo  man,  ohne  es  deutlich  zu  wissen  und  zu  wollen,  förm- 
lich in  ein  Princip  hineingetrieben  wurde,  Hess  sich  nur  beseitigen 
durch  ein  Bundesgesetz,  wobei  nun  einmal  materiell  zu  prüfen  war, 
ob  man  wirklich  für  alle  Fälle  nach  der  Territorialität  oder  der 
Nationalität,  oder  ob  man  für  einzelne  Gebiete  das  eine,  für  die 
übrigen  das  andere  Princip  zum  Bundesrecht  erheben  wolle. 

Schon  1862  legte  daher  der  Bundesrath  den  eidgenössischen  Räthen 
einen  Gesetzesentwurf  über  die  Materie  vor.  Das  Gesetz  kam  aber 
nicht  zu  Stande ;  der  Versuch  scheiterte,  weil  man  sich  im  Stände- 
rath  über  die  Frage ,  ob  für  das  Erbrecht  das  Heimaths-  oder 
Wohnsitzrecht  gelten  solle,  nicht  einigen  konnte.     Der  zweite  Ver- 


D.  Schweiz.  Bundesges.  betr.  civilr.  Verhältn.  d.  Niedergelassenen  etc.     457 

such  in  den  70er  Jahren  endigte  damit,  dass  der  Nationalrath  am 
9.  Dezember  1879  das  Ergebniss  seiner  zweiten  Berathung  mit 
grosser  Mehrheit  verwarf,  weil  es  ihm  nicht  gelungen  war,  die 
allerdings  schwierigste  Materie,  die  des  ehelichen  Güterrechtes,  be- 
friedigend zu  ordnen.  Beide  Eäthe  beschlossen  darauf,  die  Gesetzes- 
vorlage („den  Wechselbalg"  nannte  sie  die  Presse)  an  den  Bundesrath 
zurück  zu  weisen,  um  sie  „in  geeignetem  Zeitpunkte"  wieder  ein- 
zubringen. Das  geschah  im  Jahre  1887,  nachdem  der  schweizerische 
Juristenverein  in  Lausanne  1884  sich  damit  beschäftigt  hatte.  Die 
Ergebnisse  der  Prüfung  dieses  neuen  Entwurfes  durch  die  Kom- 
mission des  Nationalrathes  (B.-Bl.  1888  III  608) ,  des  Ständerathes 
(B.-Bl.  1889  III  809)  und  die  Käthe  selbst  (B.-Bl.  1891  III  572) 
fasste  der  Bundesrath  in  einer  Schlussvorlage  zusammen  (B.-Bl.  1891, 
III  551  und  572).  Diese  wurde  dann  am  25.  Juni  1891  nach  kurzer 
Berathung  Gesetz  (B.  Bl.  1891  IV  202).  Beinahe  30  Jahre  hatte  die 
ganze  legislatorische  Arbeit  gedauert. 

Es  ist  keineswegs  das  gesammte  Civilrecht,  für  welches  Vor- 
schriften über  die  Statutenkollision  aufgestellt  werden.  Es  ist  nur 
das  Personen-,  Familien-  und  Erbrecht,  über  welches  in  dieser 
Richtung  legiferirt  wird.  Auch  von  diesem  sind  es  nur  gewisse, 
weiter  unten  speciell  zu  nennende  ,  immerhin  sehr  wichtige  Theile, 
für  die  eine  Norm  Bedürfniss  war.  Während  der  letzten  Decennien 
sind  nämlich  in  der  Schweiz  eine  Anzahl  Bundesgesetze  civilrecht- 
lichen  Inhalts  entstanden ,  welche ,  weil  für  alle  Kantone  gleich- 
verbindlich ,  hinsichtlich  der  darin  behandelten  civilrechtlichen 
Materien  eine  Statutenkollision  zwischen  den  Kantonen  gegenstands- 
los machen.  Dahin  zählen:  das  Gesetz  betr.  Feststellung  und  Beur- 
kundung des  Civilstandes  und  die  Ehe  vom  24.  Dezember  1874  mit 
den  civilrechtlichen  Materien :  Eheabschluss ,  Eheeinsprachen  ,  Ehe- 
scheidung, Ungültigerklärung  der  Ehe,  Legitimation  vorehelicher 
Kinder;  ferner  das  Gesetz  betr.  die  Handlungsfähigkeit  vom  22.  Juni 
1881 ;  sodann  namentlich  das  eidgenössische  Obligationenrecht  vom 
14.  Juni  1881,  welches  nur  noch  ein  kleines  Gebiet  den  Kantonen  zur 
selbständigen  Legislation  überlässt  (z.  B.  Art.  10,  114,  198,  231,  890, 
896,  76).  Und  erst  kürzlich,  1.  Januar  1892,  hat  ein  bedeutendes 
Rechtsgebiet  aufgehört  kantonal  zu  sein  und  ist  schweizerisch  ge- 
worden ;  wir  meinen  das  Betreibungs-  und  Konkursrecht ,  in  Folge 
des  in  Kraft  erwachsenen  Bundesgesetzes  über  Schuldbetreibung  und 


Heimathsrecht  des  Ehe- 
manns, des  Vaters,  des 
Adoptirenden. 


458  Schlatter. 

Konkurs  vom  11.  April  1889,  Das  hier  besprochene  Bundesgesetz 
wäre  in  seinem  Haupttheile  (Ziffer  1  oben)  überflüssig,  wenn  wir  ein 
schweizerisches  Civilrecht  hätten.  Allein  bis  das  kommt,  können  noch 
viele  Jahre  verstreichen.  Der  Erlass  eines  Bundesgesetzes  war  nicht 
zu  umgehen. 

An  der  Spitze  des  Gesetzes  steht  der  Satz  (Art.  1) ,  dass  die 
Personen- ,  familien-  und  erbrechtlichen  Bestimmungen  des  Civil- 
rechtes  eines  Kantons  Anwendung  finden  sollen  auf  diejenigen 
Schweizer,  welche  im  Gebiete  dieses  Kantons  wohn  en,  „nach  Mass- 
gabe der  Vorschriften  der  folgenden  Artikel".  Durchgeht  man  nun 
diese  folgenden  Artikel  und  stellt  die  erwähnten  Civilrechtsverhält- 
nisse  zusammen  und  die  dafür  angewiesenen  Statuten  gegenüber, 
so  gelangt  man  zu  nachstehender  Uebersicht: 

Status  (Art.  8). 
Eheliche  oder  uneheliche  Geburt 
Wirkunof     der     freiwilliofen     Aner- 
kennung   oder    behördlichen    Zu- 
sprechung Unehelicher :  Adoption 
Alimentationsklage     ....     Wohnsitzrecht  des  Beklagten. 
Eamilien  recht. 
Persönliche    Handluncrsfähisrkeit    der 

Ehefrau  während  der  Ehe  (Art.  7)  .     Wohnsitzrecht. 
Elterliche  Gewalt  (Art.  9)    .     .     .     .     Wohnsitzrecht. 
Unterstützungspflicht    zwischen    Ver- 
wandten (Art.  9) Heimathsrecht. 

Befugnisse    der    Minderjährigen     bei 
Berufswahl ,    Mitspracherecht    etc. 

(Art.  7) Wohnsitzrecht. 

Eheliches   Güterrecht  (Art.  19—21)  .     Wohnsitzrecht  mit  Mo- 
dalitäten. 
Vormundschaft  (Art.  10—18)  .     .     .     Wohnsitzrecht  i.  e.  der 

Vormundschaftsbe- 
hörde. 
Erbrecht  (Art.  22—27)    ....     Wohnsitzrecht,     even- 
tuell Heimathsrecht. 
Gerichtsstand  für  diese  Verhältnisse  (Art.  2): 

Als  Regel Gerichtsstand  des  Wohn- 
sitzes. 


D.  Schweiz.  Bundesges.  betr.  civilr.  Verhältn.  d. Niedergelassenen  etc.     459 

Ausnahmen: 

1.  für  Statusklagen \  r^     ■  ^  ,     ,      -,      -,        -tt  • 

n    n.     -tr  1    ^    nj.  •'■>       T  (ierichtsstand     der    Hei- 

2.  für  Vormundschalt  über  Lan-  > 

,      ,             T  math. 

desabwesende j 

Zu   dieser  Uebersicht   sind    folgende  Bemerkungen    zu  machen. 

1.  Status.  Der  Gedanke,  dass  der  Status  eines  Schweizers 
nach  seinem  heimathlichen  Recht  beurtheilt  werde,  gründet  sich 
auf  den  engen  Zusammenhang  der  Statusverhältnisse  mit  der  An- 
gehörigkeit zu  einer  Gemeinde,  einem  Kanton.  Selbstverständlich 
ist  es  wohl,  sagt  schon  1862  der  bezügliche  Bericht  des  Bundes- 
rathes,  dass  hinsichtlich  der  Frage  des  Bürgerrechtserwerbes  durch 
Geburt  oder  nachfolgenden  Rechtsakt,  wie  Legitimation,  Adoption, 
der  Nationalitätsgrundsatz  festgehalten  werden  muss.  Denn  es 
steht  natürlich  keinem  Kanton  zu,  über  das  Bürgerrecht  eines 
andern  Kantons  zu  verfügen.  Desshalb  wird  z.  B.  vom  Gesetz  die 
gewöhnliche,  blos  auf  Alimente  gerichtete  Vaterschaftsklage  nicht 
erwähnt,  also  dem  Heimathsrecht  nicht  unterstellt;  sie  hat  nur 
priv^trechtliche  Wirkungen  und  ist  am  Wohnort  des  Beklagten 
nach  dortigem  Recht  geltend  zu  machen. 

2.  Vormundschaftswesen.  Hier  greift  das  Gesetz  tief  ein 
in  bestehendes  Recht,  gewiss  zum  Heil  des  Mündels  und  sehr  im 
Interesse  der  Vereinfachung  vormundschaftlicher  Geschäftsführung. 
Nach  dem  Konkordat  vom  15.  Juli  1822  galt  für  15  Kantone  und 
Halbkantone  (Zürich,  Bern,  Luzern ,  Uri,  Schwyz,  beide  Unter- 
waiden, Zug,  Freiburg,  Solothurn,  Schaffhausen,  beide  Appenzell, 
Aargau,  Tessin,  grundsätzlich  auch  in  Basel)  hinsichtlich  der  A^or- 
mundschaft  das  Recht  des  heimathlichen  Kantons  des  Bevormun- 
deten. Das  Verhältniss  komplizirte  sich  noch  durch  Folgendes: 
Gegenüber  den  ausserhalb  des  Konkordates  stehenden  Kantonen 
wendeten  einzelne  Konkordatskantone  das  Wohnsitzrecht  an ;  bei 
ihnen  wechselte  also  der  Grundsatz,  je  nachdem  sie  einem  Konkor- 
datskanton oder  Nichtkonkordatskanton  gegenüberstanden  (vergl. 
Eugen  Huber,  System  und  Geschichte  des  Schweiz.  Privatr.  I  91). 
Es  konnte  hiernach  eine  mehrfache  vormundschaftliche  Verwaltung 
entstehen :  über  die  Person  des  Bevormundeten  in  dem  einen,  über 
das  Vermögen  in  einem  andern  Kanton,  ja,  über  Theile  des  Ver- 
mögens in  einem  dritten  Kanton.  Sehr  bald  einig  war  man  in  den 
eidgenössischen  Räthen ,    dass  künftig  nur  an  einem  Orte  die  Vor- 


400  Schlatter. 

niundschaft  zu  führen  sei ,  dass  sie  dem  einen  oder  dem  andern 
Kanton ,  diesem  aber  ganz  und  ungetheilt  zugeschieden  werden 
müsse.  („Die  gleichzeitige  Führung  der  Vormundschaft  im  Wohn- 
sitz- und  im  Heimathkanton  ist  unzulässig"  Art.  18).  Schwieriger 
wurde  die  Frage ,  ob  dem  Heimathkanton  oder  dem  Wohnsitz- 
kanton der  Vorzug  zu  geben  sei. 

Folgende  Gründe  führten  dazu ,  das  Heimathsprincip  fallen 
zu  lassen  und  das  Wohnsitzprincip  an  dessen  Stelle  zu  setzen. 
1.  Die  Zeit,  unter  der  das  Konkordat  von  1822  entstanden 
war,  ist  von  der  heutigen  durchaus  verschieden.  Es  gab  damals 
noch  keine  freie  Niederlassung  im  Innern  der  Schweiz ;  in  allen 
Kantonen  bestanden  eine  Menge  Beschränkungen  für  Handel  und 
Gewerbe;  Eisenbahnen,  DampfschiÖe  und  Telegraphen  existirten 
noch  nicht,  ja,  in  den  meisten  Kantonen  fehlten  sogar  ordentliche 
Strassenverbindungen.  Vormundschaftsfälle  ausserhalb  der  Heimath 
waren  Seltenheiten.  Inzwischen  ist  nun  aber  die  Zahl  der  Nieder- 
gelassenen in  andern  Kantonen,  die  von  der  Heimath  aus  vormund- 
schaftlich administrirt  werden  wollen,  ganz  bedeutend  gewachsen. 
Die  Führung  der  Vormundschaft  auf  dem  Correspondenzwege  ist 
für  die  Behörden  eine  grosse  Last  geworden,  ja  mit  ökonomischer 
Gefahr  verbunden.  2.  Es  ist  gar  kein  Zweifel,  dass  die  Behörde 
des  Wohnsitzes  des  zu  Bevormundenden  viel  besser  im  Falle  ist, 
einen  passenden,  die  Mündelinteressen  gehörig  wahrenden  Vormund, 
der  ja  nothwendig  in  der  Nähe  des  Mündels  wohnen  muss,  aus- 
findig zu  machen.  Sie  wird  weitaus  eher  als  die  Heimathsbehörde  in 
der  Lage  sein,  die  Verwaltung  des  in  ihrem  Amtskreise  befindlichen 
Vermögens  zu  überwachen ;  sie  wird  viel  richtiger,  viel  schneller  und 
mit  weniger  Kosten  über  wichtige,  eine  genauere  Kenntniss  von  Per- 
sonen und  Sachen  erfordernde  Fragen  ihren  Entscheid  fassen  können. 

Andererseits  freilich  lässt  sich  nicht  leugnen,  dass  ein  gewisses 
Interesse  der  Heimathsbehörden  an  der  Art  der  vormundschaftlichen 
Verwaltung  besteht.  Bekanntlich  hat  schon  die  Tagsatzung  in  der 
zweiten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  ausdrücklich  vorgeschrieben,  dass 
die  Unterstützung  verarmter  Bürger  Sache  des  Kantons  sei,  dem  sie 
bürgerrechtlich  angehören.  Dieser  Grundsatz  ist  festes  eidgenössisches 
Recht  geworden.  Bei  den  Heimathsbehörden  besteht  heute  noch  nicht 
ohne  Grund  ein  gewisses  Misstrauen,  die  Behörde  des  Niederlassungs- 
ortes möchte  für  die  Personen  und  das  Vermögen  der  Bevormundeten 


D.  Schweiz.  Bundesges.  betr.  civilr.  Verhältn.  d.  Niedergelassenen  etc.     461 

weniger  gut  sorgen,  als  sie  selbst.  Sie  haben  ein  Interesse,  etwaiger 
späterer  Verarmung  vorzubeugen,  ein  Interesse,  das  bei  jenen  fehlt. 
Desshalb  überträgt  denn  auch  das  Gesetz  die  Führung  der  Vormund- 
schaft allerdings  grundsätzlich  dem  Wohnsitzkanton.  („Für  die  Vor- 
mundschaft ist  unter  Vorbehalt  der  Bestimmungen  der  Art.  12 — 15 
ausschliesslich  massgebend  das  Recht  des  Wohnsitzes  der  Person, 
welche  unter  Vormundschaft  zu  stellen  ist,  oder  über  welche  eine 
Vormundschaft  bereits  bestellt  ist."  Art.  10).  Es  sichert  aber  der 
Heimathsbehörde  gegenüber  dieser  vormundschaftlichen  Verwaltung 
gewisse,  ziemlich  weitgehende  Rechte. 

Die  Heimathsbehörde  erhält  nicht  nur  das  Recht ,  die  Bevor- 
mundung ihres  Angehörigen  im  Falle  des  Bedürfnisses  von  der 
Wohnsitzbehörde  zu  verlangen  (Art.  14) ,  sondern  auch  das  Recht, 
die  vormundschaftliche  Verwaltung  der  Wohnsitzbehörde  einer  be- 
ständigen Controle  zu  unterwerfen ;  also :  Pflicht  zur  Mittheilung 
vom  Eintritt  und  von  der  Aufhebung  einer  Vormundschaft  und  vom 
Domicilwechsel  des  Bevormundeten ,  Pflicht ,  auf  Anfragen  über 
irgendwelche  Verhältnisse  des  Bevormundeten  Aufschlüsse  zu  geben 
(Art.  12).  Noch  mehr.  Falls  sich  ergeben  sollte,  dass  die  Interessen 
des  Bevormundeten  oder  die  Interessen  der  Heimathsgemeinde  durch 
jene  Verwaltung  gefährdet  werden,  oder  dass  die  Wohnsitzbehörde 
nach  den  gegebenen  Umständen  von  Anfang  an  oder  in  der  Folge 
gar  nicht  in  der  Lage  ist,  die  Verwaltung  richtig  zu  führen, 
so  soll  die  Heimathsbehörde  die  Abtretung  der  Vormundschaft 
verlangen  können  (Art.  15).  Ja,  in  einem  Punkte  (zur  Ver- 
hütung der  Proselitenmacherei)  wird  der  Heimathsbehörde  ge- 
radezu die  Befugniss  einer  positiven  Einwirkung  auf  die  Führung 
der  Vormundschaft  zugestanden  :  sie  kann  nach  Massgabe  und  inner- 
halb der  Grenzen  der  Art.  49  Satz  3  der  Bundesverfassung  („Die 
„Glaubens-  und  Gewissensfreiheit  ist  unverletzlich.  Niemand  darf 
„zur  Theilnahme  an  einer  Religionsgenossenschaft  oder  an  einem 
„religiösen  Unterricht,  oder  zur  Vornahme  einer  religiösen  Hand- 
„lung  gezwungen,  oder  wegen  Glaubensansichten  mit  Strafen  irgend 
„welcher  Art  belegt  werden.  Ueber  die  religiöse  Erziehung  der 
„Kinder  bis  zum  erfüllten  16.  Altersjahr  verfügt  im  Sinne  vor- 
„ stehender  Grundsätze  der  Inhaber  der  väterlichen  oder  vormund- 
„  schaftlichen  Gewalt")  über  die  religiöse  Erziehung  eines  am  Wohnorte 
unter  amtlicher  Vormundschaft  stehenden  Kindes  bestimmen  (Art.  13). 


462  Schlatter. 

Sollte  zwischen  den  beiderseitigen  Behörden  eine  auf  gütlichem  Wege 
nicht  zu  beseitigende  Meinungsverschiedenheit  bestehen ,  so  haben 
über  die  Anträge  und  Begehren  der  Heimathsbehörde  auf  Grund 
des  Wohnsitzrechtes  allerdings  zuerst  die  zuständigen  Organe  des 
Wohnsitzkantons,  in  letzter  Instanz  aber  das  Bundesgericht  als 
Staatsgerichtshof,  d.  li.  in  Anwendung  des  für  staatsrechtliche  Ent- 
scheidungen vorgeschriebenen  Verfahrens  zu  urtheilen.  Dem  Bundes- 
gerichtspräsidenten wird  in  der  eidgenössischen  Instanz  auch  die 
Competenz  zum  Erlass  vorsorglicher  Verfügungen  eingeräumt 
(Art.  16). 

3.  Elterliche  Gewalt.  Für  das  Elternrecht  gelten  natur- 
gemäss  im  Allgemeinen  die  nämlichen  Gesichtspunkte  wie  für  die 
Vormundschaftspflege  öffentlicher  Natur.  Nachdem  man  also  für 
das  Vormundschaftswesen  das  Wohnsitzprincip  als  massgebend  er- 
klärt hatte,  führte  dies  konsequenterweise  dazu,  im  Elternrecht  das 
gleiche  Princip  aufzustellen.  Also  Wohnsitzrecht  in  den  Rechts- 
verhältnissen zwischen  Eltern  und  Kindern ,  der  Erziehungspflicht 
(religiöse  und  berufliche  Erziehung,  Schulunterricht,  Züchtigungs- 
recht), der  Aussteuerpflicht  im  Fall  der  Verehelichung  des  Kindes, 
der  natürlichen  Vormundschaft,  der  Rechte  am  Vermögen  und  Er- 
trage der  Arbeit  des  Kindes,  der  Sicherstellung  des  Kindesvermögens. 
Und  zwar  musste  sich  das  um  so  mehr  empfehlen,  als  im  Fall  die 
natürliche  Vormundschaft  fallen  und  durch  die  öffentliche  ersetzt 
werden  sollte,  das  nämliche  Landesrecht  massgebend  blieb.  Kein  Be- 
dürfniss  für  die  Unterstellung  unter  das  Wohnsitzrecht,  ja,  ein 
Bedürfniss  für  die  Unterstellung  unter  das  Heimathsrecht  besteht 
hingegen  für  einen  gewissen  Bestandtheil  des  in  Rede  stehenden 
Rechtsinstitutes ,  die  Unterstützungspflicht  zwischen  Eltern  und 
Kindern,  oder  allgemeiner  gesprochen  für  die  Unterstützungspflicht 
zwischen  nahen  Verwandten  überhaupt.  Hier  ist  ein  Zusammen- 
hang mit  dem  Bürgerrecht  des  Pflichtigen  vorhanden ,  das  diesem 
gegenüber  einer  Gemeinde,  einem  Kanton  zusteht.  Die  Rechte  der 
deutschen  Kantone  behandeln  die  Materie  bekanntlich  in  der  Armen- 
gesetzgebung, diejenigen  der  romanischen  Schweiz  verweisen  sie  in 
das  Privatrechtssystem.  Wegen  dieses  Zusammenhangs  zwischen 
verwandtschaftlicher  und  heimathlicher  Unterstützungspflicht  war  es 
gerathen ,  das  Heimathsrecht  für  massgebend  zu  erklären.  Das 
Gesetz   sagt    daher:     ,Die    elterliche    Gewalt    bestimmt    sich   nach 


D.  Schweiz. Bundesges.  betr.  civilr.  Verhältn.  d.  Niedergelassenen  etc.     463 

dem  Reclit  des  Wohnsitzes.  Die  Unterstützungspflicht  zwischen 
Verwandten  richtet  sich  nach  dem  heimathlichen  Rechte  des  ünter- 
stützungspflichtigen "  (Art.  9).  (Näheres  über  jenen  Zusammenhang 
bei  Blnntschli,  Staats-  und  Rechtsgeschichte.  Auflage  1839  II.  220  f.) 
4.  Eheliches  Güterrecht-  In  den  Kantonen  galten  be- 
züglich des  massgebenden  Rechtes  verschiedene  Grundsätze.  Zürich, 
Zug  und  Schaffhausen,  mit  einer  Unterscheidung  auch  Luzern,  an- 
erkannten für  das  Güterrecht  das  Heimathprincip  für  niedergelassene 
Eheleute  ausdrücklich  an.  Die  Urkantone,  Basel,  Freiburg  und 
Genf,  folgten  demselben  Grundsatze.  Dagegen  huldigten  Bern,  Solo- 
thurn,  Aargau,  Tessin,  Thurgau,  St.  Gallen,  Glarus,  sowie  die 
Mehrzahl  der  westschweizerischen  Kantone,  immerhin  nicht  ohne 
Modifikationen  und  Schwankungen  im  Güterrecht,  dem  Territorial- 
princip.  Bekanntlich  fügt  sich  aber  das  Institut  des  ehelichen 
Güterrechtes  seiner  juristischen  Natur  nach  keineswegs  in  die 
Alternative :  Wohnsitzrecht  oder  Heimathrecht ,  sondern  die  Alter- 
native lautet :  Wohnsitzrecht  oder  (vertraglich  oder  gesetzlich)  bereits 
begründetes  Eherecht.  Dazu  kommt  weiter,  dass  jedes  eheliche  Güter- 
recht eine  interne  und  eine  externe  Seite  hat.  Es  ist  dazu  bestimmt, 
unter  zwei  Personen  (den  Ehegatten)  ein  dauerndes,  festes  Rechts- 
verhältniss  zu  schaffen  ;  zugleich  erzeugt  es  aber  auch  nach  Aussen, 
gegenüber  Dritten  Rechtswirkungen.  Der  schweizerische  Gesetzgeber 
unterscheidet  daher  drei  verschiedene  Interessen:  1.  Die  Eheleute 
und  ihr  Güterrecht  untereinander,  2.  die  Eheleute  und  ihr  Güter- 
recht nach  Aussen ,  3.  die  wohlerworbenen  Rechte  Dritter.  Für 
die  Eheleute  untereinander  wird  das  Verhältniss  nach  dem  neuen 
Bundesgesetz  geordnet  durch  dasjenige  Recht,  welches  an  ihrem 
ersten  Wohnsitz  gilt.  Wechseln  die  Leute  den  Wohnsitz,  so  bleibt 
das  Güterrecht.  Nur  wenn  sie  wollen ,  können  sie  das  Güterrecht 
des  neuen  Wohnsitzes  dann  zu  dem  ihrigen  machen.  Dazu  bedarf  es 
aber  vertraglicher  Uebereinkunft  und  Eröffnung  derselben  vor  einem 
bestimmten  Beamten  unter  quasi  vormundschaftlicher  Mitwirkung 
der  Behörde.  Dann  wirkt  es  aber  für  sie  zurück  auf  den  Beginn 
der  Ehe;  es  ist,  als  wäre  von  Anfang  an  dieses  Güterrecht  für  sie 
das  massgebende  gewesen  und  kein  anderes.  Vorbehalten  bleiben 
allfällig  inzwischen  für  Dritte  durch  besonderes  Rechtsgeschäft  er- 
worbene Rechte.  So  das  Verhältniss  nach  Innen.  Nach  Aussen, 
d.  h.  gegenüber  den  Pfandgläubigern  und  gegenüber  den  Gläubigern 


4G4  Schlatter. 

im  Konkurse  des  Mannes,  ist  dies  System  gar  nicht  vorhanden ;  da 
gilt  das  Recht  des  jeweiligen  Wohnsitzes.  —  Man  kann  sagen,  den 
Interessen  des  Verkehrs  wird  hier  die  Einheit  des  Rechtes  geopfert, 
eine  Spaltung  herbeigeführt.  Eine  solche  Spaltung  ist  juristisch 
nicht  empfehlenswerth.  Allein  sie  erscheint  auch  nicht  gerade  als 
juristisch  unzulässig.  Die  Sorge  für  die  Rechtssicherheit  muss 
überwiegen ,  das  Publikum  muss  wissen ,  woran  es  ist  in  Be- 
zug auf  die  Verpflichtungsfähigkeit  der  Ehegatten,  die  vor  ihm 
stehen.  Wenn  sich  Schwierigkeiten  aus  dieser  Art  gesetzlicher 
Regelung  ergeben,  so  wird  das  nicht  in  Beziehung  zu  Drittpersonen, 
sondern  nur  im  Verhältniss  der  Gatten  untereinander  vorkommen 
können  und  dann  wird  allerdings  in  der  Regel  die  Ehefrau  der 
leidende  Theil  sein.  Doch  dürften  die  Fälle,  wo  der  Ehemann  gegen 
seine  Frau  einen  Vertrauensmissbrauch  begeht  (z.  B.  zu  Gunsten 
von  Gläubigern  über  das  Vermögen  der  Frau  verfügt,  gemäss  dem 
Gesetze  des  gegenwärtigen  Wohnsitzes  und  zuwider  demjenigen 
des  ersten  ehelichen  Domicils,  oder  entgegen  den  Bestimmungen  des 
Ehevertrages),  nicht  sehr  häufig  sein,  wie  denn  auch  der  Frau  gegen 
Gefährdungen  ihres  Vermögens  nach  den  Gesetzgebungen  der  Kan- 
tone bestimmte  rechtliche  Schutzmittel  zu  Gebote  stehen  oder  noch 
aufgestellt  und  geschaffen  werden  können.  Abgesehen  davon  hat 
die  Frau  bei  diesem  Systeme  den  unverkennbaren  Vortheil,  dass 
das  einmal  begründete  Recht  ihr  ohne  Weiteres  umwandelbar  überall 
hin  folgt.  Nur  wenn  sie  selbst  dem  Recht  eines  neuen  Wohnsitzes 
sich  unterwerfen  will,  tritt  die  Aenderung  ein,  auch  nicht  gebunden 
an  Fristen  und  immer  bloss  dann,  wenn  sie  eine  Erklärung  abgibt, 
wobei  ihr  die  zum  Schutz  gegen  den  Ehemann  bestimmte,  quasi 
vormundschaftliche  Mitwirkung  der  Behörden  des  neuen  Wohnsitz- 
kantons zur  Seite  steht.  „Die  Rücksicht  auf  die  öffentlichen 
Kreditverhältnisse  scheint  uns  wichtiger  zu  sein"  (sagt  der  Bundes- 
rath  in  seiner  Botschaft  zum  Gesetzesentwurf  von  1862),  „als  die 
Gefahr,  die  etwa  in  einzelnen  Fällen  für  eine  Ehefrau  aus  der  An- 
nahme des  Territorialgrundsatzes  sich  ergeben  mag  und  der  wir 
desshalb  ein  so  grosses  Gewicht  nicht  beilegen  können,  weil  im 
Ganzen  genommen  die  Interessen  der  Ehegatten  während  bestehender 
Ehe  Hand  in  Hand  zu  gehen  pflegen."  Und  der  Kommissionsbericht 
vom  29.  Mai  1863  sagt  ganz  richtig:  „Es  ist  nicht  zu  erwarten, 
dass  das  Publikum,  mit  welchem  ein  niedergelassenes  Ehepaar  ver- 


D.  Schweiz.  Bundesges.  betr.  civilr.  Verhältn.  d.  Niedergelassenen  etc.     465 

kehrt,  die  ehelichen  Güterrechte  aller  22  Kantone  kenne;  man 
nimmt  eben  gemeinhin  an ,  die  Verpflichtung  der  Frau  zur  Be- 
zahlung der  Schulden  des  Ehemannes  sei  die  gleiche,  wie  sie  nach 
den  Gesetzen  des  Ortes,  wo  man  lebt,  geregelt  ist." 

5.  Erbrecht.   Wir  haben  in  der  Schweiz  noch  25  verschiedene 
Erbrechte.   Sieht  man  dieselben  näher  an,  so  liegt  die  Yerschieden- 
heit   weniger   im    Gebiete    des   Intestaterbrechtes,    als   in    dem   der 
testamentarischen  Erbfolge.     Es  ist  die  Frage  der  Ausdehnung  der 
Testirfreiheit,  der  Möglichkeit,  das  Erbgut  ganz  oder  theilweise  den 
regelmässigen  Erbberechtigten  zu  entziehen,  worin  die  Kantone  stark 
von    einander    abweichen.     Einzelne  Kantone   dehnen  die  Testirfrei- 
heit   sehr    weit    aus ,    andere    lassen    sie  fast  gar  nicht  oder  nur  in 
beschränktem  Masse   zu.     Massgebend   ist  für  diese  Verhältnisse  in 
den  meisten  Kantonen  (Zürich ,  Bern ,  Luzern ,  Uri ,  Schwyz ,  beide 
Unterwaiden ,    Glarus ,    Solothurn ,    Schaffhausen  ,    beide   Appenzell, 
Aargau,    Thurgau,    Tessin)    das    Heimathsprincip.     Gegenüber    den 
Nichtkonkordatskantonen  huldigen  einzelne  Konkordatskantone  dem 
Territorialgrundsatze  und  die  Nichtkonkordatskantone  entbehren  in 
ihren    Beziehungen    zu    einander   und   zu    den   Konkordatskantonen 
einer   festen  Regel   und  Praxis,    neigen  sich  indessen  in  der  Mehr- 
zahl   der  Anwendung   des    strengen  Territorialgrundsatzes  zu.     Die 
Folge  ist  ein  Auseinanderreissen  dessen,   was  zusammengehört  und 
durch  eine  einheitliche  Rechtsnorm  fest  zusammengekittet  sein  sollte, 
nämlich    der    Erbschaft.      Die    Einheit    der    Erbschaft    wird    preis- 
gegeben  und    es   kommt  vor ,    dass  für  das  in  mehreren  Kantonen 
gelegene  Vermögen   besondere  Erbmassen   gebildet  werden  und  die 
Erbfolge   in    einer    und   derselben    Verlassenschaft   eine   mehrfache, 
nach  den  betreffenden  Kantonalgesetzen  verschieden  ist.  —  Für  die 
Neuordnung  der  Dinge  kamen   nun  in  den  eidgenössischen   Räthen 
wesentlich    zwei    Gesichtspunkte   in    Betracht:    1.    die   Einheit   der 
Universitas :   Nur    nach    einem   Erbrecht   soll   geerbt   werden ,    nur 
eine  Behörde  soll  den  Nachlass  reguliren.    2.  die  Entscheidung  für 
das   Wohnsitzprincip   unter    Gewährung   einiger  Zugeständnisse   an 
das   Heimathsprincip,    die   jedoch   den  unter   Ziffer    1    aufgestellten 
Grundsatz    nicht    alteriren.     Zwar    wurden   in    den    Debatten    ganz 
gute    Gründe    für    das   Heimathsprincip   geltend   gemacht:    In    der 
Heimath    wohne     die    Sippe    des    ausgewanderten    Erblassers    und 
um    deren    Interessen    handle   es   sich ;    in    der  Heimath   liegen    die 

Zeitschrift  für  vergleichende  Rechtswissenschaft.   X,  Band.  30 


400  Schlatter. 

Register,  nach  denen  der  Stammbaum  anzufertigen  ist,  auf  Grund 
dessen  die  Erben  berufen  werden ;  es  sei  nicht  schwierig  für  den 
Erblasser,  ein  anderes  Kantonsbürgerrecht  zu  erwerben,  wenn  ihn 
das  Erbgesetz  der  Heimath  mit  seinen  Härten  beim  Testiren  genire^ 
das  Heimathsprincip  sei  bereits  für  die  vielen  Konkordatskantone 
verbindlich  und  auch  in  den  Staatsverträgen  mit  Italien  (1868)  und 
Frankreich  (18G9)  niedergelegt  worden.  Andererseits  niusste  man 
sich  jedoch  sagen,  es  sei  eigentlich  kein  innerer  Grund  vorhanden, 
einen  Erblasser  an  sein  (in  manchen  Kantonen  grosse  Härten  ent- 
haltendes) heimathliches  Erbrecht  zu  fesseln,  ihn  zu  nöthigen,  im 
Alter  noch  die  Staatsangehörigkeit  zu  wechseln ,  um  nach  Wunsch 
testiren  zu  können;  im  Zweifel  solle  man  sich  hier  zu  Gunsten  der 
Freiheit  des  Individuums  entscheiden ;  eine  Reihe  von  Kantonen  sei 
im  Verlaufe  von  dem  das  Heimathsprincip  sanktionirenden  Konkordate 
vom  15.  Juli  1822  zurückgetreten;  die  Liquidation  der  Erbschaft  ge- 
stalte sich  unter  dem  Wohnsitzprincip  ungleich  einfacher  und  rascher. 

So  gelangte  man  zu  folgenden  Grundsätzen.  Massgebend 
ist  für  die  Erbfolge  (gesetzliche,  testamentarische,  vertragliche)  das 
Recht  des  Kantons ,  in  dem  der  Erblasser  seinen  letzten  Wohn- 
sitz hatte.  Er  kann ,  wenn  er  es  wünscht ,  letztwillig  (durch 
Testament,  Erbvertrag)  für  die  Erbfolge  in  seinen  Nachlass  das 
Recht  seines  Heimathskantons  massgebend  machen.  Dann  muss 
er  es  letztwillig  anrufen.  Hat  er  das  nicht  gethan ,  so  gilt  das 
Recht  des  letzten  Wohnorts.  —  Erbverträge  sollen  übrigens  hinsicht- 
lich ihres  Inhaltes  nach  dem  Recht  des  Wohnsitzes  des  Erblassers 
zur  Zeit  des  Vertragsabschlusses  beurtheilt  werden ;  nur  hinsicht- 
lich des  Notherbrechtes  bleibt  auch  bei  ihnen  das  für  die  Erbfolge 
vorgeschriebene  Recht  (das  des  letzten  Wohnsitzes,  beziehungsweise 
das  angerufene  heimathliche  Erbrecht)  massgebend.  —  Betreuend  die 
Form  der  letztwilligen  Verfügungen  genügt  es,  wenn  sie  gültig  ist 
nach  irgend  einem  der  in  Betracht  kommenden  Rechte :  des  Er- 
richtungsortes, des  Wohnsitzes  zur  Zeit  der  Errichtung,  des  Wohn- 
sitzes zur  Zeit  des  Todes,  des  Heimathskantons.  Die  Eröffnung  der 
Erbschaft  erfolgt  immer  am  letzten  Wohnsitz  des  Erblassers.  Die 
Testirfähigkeit  beurtheilt  sich  nach  dem  Rechte  des  Wohnsitzes  zur 
Zeit  der  Errichtung  des  letzten  Willens. 

6.  Gerichtsstand.  Da  in  den  Kantonen,  je  nachdem  sie 
dem    Wohnsitzrecht   oder   dem   Heimathrecht   huldigten,    auch    die 


D.  Schweiz.  Bundesges.  betr.  civilr.Verhältn.  d.  Niedergelassenen  etc.     467 

Frage  des  Gerichtsstandes  im  entsprechenden  Sinne  bestimmt 
war,  so  konnte  das  Bundesgesetz  bei  der  Entscheidung  über 
die  Statutenkollision  nicht  stehen  bleiben ;  es  musste  über  das 
materielle  Recht  hinausgehen  und  auch  mit  jenen  Bestimmungen 
aufräumen.  Dies  geschieht  nun  durch  Art.  2,  lautend:  „Wo  dieses 
Gesetz  nicht  ausdrücklich  den  Gerichtsstand  der  Heimath  vorbehält, 
unterliegen  die  Niedergelassenen  und  Aufenthalter  in  Bezug  auf 
die  in  Art.  1  erwähnten  civilrechtlichen  Verhältnisse  der  Gerichts- 
barkeit des  Wohnsitzes".  Man  findet  im  Gesetz  dieser  Ausnahmen 
nur  zwei.  Die  Behörden  des  Heimathskantons  sind  zuständig: 
1.  für  Streitigkeiten  über  den  Familienstand,  2.  für  die  Bestellung 
der  Vormundschaft  über  eine  auswandernde  oder  landesabwesende 
Person. 

Zum  Schluss  die  Bemerkung,  dass  die  im  Gesetz  vorkommende 
Unterscheidung  von  „Niedergelassenen"  und  „Aufenthaltern"  civil- 
rechtlich  ohne  Bedeutung  ist.  Es  ist  eine  Unterscheidung  des 
öffentlichen  Rechtes;  der  Aufenthalter  ist  im  Stimmrecht  und  in 
der  Steuerpflicht  anders  gehalten  als  der  sesshafte  Einwohner.  Die 
früheren  Entwürfe  des  vorliegenden  Gesetzes  behandelten  zugleich 
auch  die  Steuerpflicht,  ein  Gebiet,  das  im  Verlaufe  der  Debatten  in 
den  Käthen  ausgeschieden  ward ,  während  im  Text  die  geläufigor. 
Namen  „Niedergelassene"  und  „Aufenthalter"  statt  „Einwohner" 
stehen  blieben.  Civilrechtlich  ist  zwischen  Niedergelassenen  und 
Aufenthaltern  in  der  Schweiz  kein  Unterschied. 

II.  Schweizer  im  Aus  lande.  Es  waren  namentlich  die 
Bemerkungen  und  Mittheilungen  des  schweizerischen  Ministers  in 
Paris,  welche  die  Aufmerksamkeit  des  eidgenössischen  Justiz-  und 
Polizeidepartements  auf  die  civilrechtlichen  Verhältnisse  der 
Schweizer  im  Auslande  gelenkt  hatten.  Der  Vertrag  mit  Frank- 
reich vom  15.  Juli  18G9  enthält  eine  internationale  Regelung 
prozessrechtlicher  Materien.  Eine  Reihe  von  Fragen  des  inter- 
nationalen Rechtes  wird  durch  denselben  nicht  gelöst.  Speziell  war 
es  auch  hier  wieder  das  eheliche  Güterrecht,  das  am  meisten  An- 
lass  zu  Controversen  bot.  Wenn  z.  B.  schweizerische  Eheleute  nach 
Frankreich  zogen,  so  wurden  dort  gemäss  den  Grundsätzen  des  Code 
Napoleon  das  Güterrecht,  die  Handlungsfähigkeit  und  der  Familien- 
stand derselben  nach  den  Gesetzen  ihrer  Heimath  beurtheilt.  Wie 
nun,  wenn  in  der  Heimath  selbst  Niemand  recht  wusste,  was  galt? 


•  108  Schlatter. 

Wie,  wenn  die  Elieleute  während  ihres  Aufenthaltes  im  Heimaths- 
staate  keineswegs  dem  Rechte  ihres  Heimathkantons,  sondern  dem- 
jenigen eines  anderen  Kantons  unterstellt  waren,  das  von  jenem 
vielleicht  gründlich  verschieden?  Wie,  wenn  sie  in  mehreren  Kan- 
tonen das  Heimathsrecht  hatten?  So  kam  es  vor,  dass  der  franzö- 
sische Richter  über  das  anzuwendende  Recht,  z.  B.  in  Fragen  der 
Verfügungsbefugniss  des  einen  oder  anderen  Ehegatten  bei  Rechts- 
geschäften unter  Lebenden,  in  absoluter  Ungewissheit  war,  und  was 
noch  bedenklicher,  beim  Repräsentanten  des  Landes  sich  darüber 
nicht  Raths  erholen  konnte. 

In    vier  Artikeln   (Art.  28—31)    werden    nun    die    Verhältnisse 
wie  folgt  geordnet. 

1.  Ln  allgemeinen  soll  es  in  erster  Linie  darauf  ankommen,  ob 
in  dem  Lande  ein  Staatsvertrag  mit  der  Schweiz  existirt ,  und  ob  in 
ihm  etwas  darüber  bestimmt  ist,  welches  Recht  und  welcher  Richter  für 
die  personen-,  familien-  oder  erbrechtlichen  Verhältnisse  der  Schweizer 
in  dem  betreffenden  auswärtigen  Staate  massgebend  sein  sollen.  Ist 
das  der  Fall,  so  gilt,  was  dort  steht.  Lassen  die  Staatsverträge  die 
Frage  offen ,  so  muss  man  nachsehen,  ob  die  Frage  auch  nach  den 
ausländischen  Gesetzen  eine  noch  offene  ist.  Wenn  ja,  sollen  für 
die  personen-,  familien-  und  erbrechtlichen  Verhältnisse  Recht  und 
Gerichtsstand  des  Heimathkantons  Platz  greifen,  weil  wegen 
Mangel  eines  Wohnsitzes  in  der  Schweiz  kein  Wohnsitzrecht  (schwei- 
zerisches) ,  sondern  nur  heimathliches  Recht  in  Betracht  kommen 
kann.  Erklärt  hingegen  das  ausländische  Gesetz  den  Schweizer  im 
Ausland  in  seinen  personen-,  familien-  oder  erbrechtlichen  Verhält- 
nissen sich  unterworfen ,  so  soll  wenigstens  in  Fällen ,  wo  es  sich 
hinsichtlich  dieser  Fragen  um  Liegenschaften  handelt,  wenn  diese 
in  der  Schweiz  liegen,  das  Recht  und  der  Richter  des  Heimaths- 
kantons  massgebend  sein. 

2.  Speziell  für  Vormundschaftsfälle  wird  sodann  noch  be- 
stimmt: „Wenn  bevormundete  Schweizer  die  Schweiz  verlassen,  so 
wird  die  Vormundschaft,  so  lange  der  Grund  der  Bevormundung 
fortbesteht,  von  der  bisherigen  Vormundschaftsbehörde  fortgeführt. 
Die  in  Art.  15  der  heimathlichen  Vormundschaftsbehörde  einge- 
räumten Befugnisse"  (von  der  kantonalen  Behörde  des  Wohnsitzes 
unter  Umständen  Abtretung  der  Vormundschaft  zu  verlangen  und 
hiefür   das    Bundesgericht   anrufen    zu    können)   „bleiben  gleichfalls 


D. Schweiz.  Bundesges.  betr.  civilr.  Verhältn.  d. Niedergelassenen  etc.     469 

in  Geltung  (Art.  29).     Wird    die   Bestellung   einer   Vormundschaft 
über    eine    auswandernde    oder  landesabwesende  Person   nöthig,    so 
ist  hiefür    die    Behörde    des  Heimathkantons   zuständig"    (Art.  30). 
3.  Beim  Güterrecht  speziell  ergeben  sich  folgende  Verhältnisse. 
Auch  für  die  Schweizer  im  Auslande  soll  das  System,  wonach  alles 
auf  den  ersten  Wohnsitz  ankommt,  seine  Anwendung  finden.     Da- 
von   ausgegangen  sind  drei  Möglichkeiten  vorhanden  :    a.  der    erste 
Wohnsitz  ist  im  Auslande  und  die  Leute  bleiben  dort,  b.  der  erste 
Wohnsitz   ist   im  Auslande,    aber    die  Eheleute  bleiben  nicht  dort, 
sondern  kehren  hinterher  in  die  Schweiz  zurück,  c.  der  erste  Wohn- 
sitz  ist  in  der  Schweiz   und  sie  gehen  von  dort  ins  Ausland.    (Die 
vierte  Möglichkeit,    Wohnsitz   in    der  Schweiz   und  Bleiben    in    der 
Schweiz,  fällt  unter  I  oben  pag.  463.)    Dann  gilt  Ada  das  fremde 
Güterrecht,  sofern  es  vom  ausländischen   Recht  für  massgebend  er- 
klärt wird.      Wenn    das    nicht    der    Fall    ist,    gilt    das    Güterrecht 
des  Heimathkantons.    Das  ist  nur  konsequent ;  einen  ersten  Wohn- 
sitz   in    der    Schweiz    und    ein     daraus    herzuleitendes    kantonales 
Güterrecht   gibt   es   nicht.     Ad  b.    Da   das   Güterrecht   der  Gatten 
unter  einander  nicht  ändern  soll,  so  setzen  sie  in  dem  Kanton,  in 
welchem    sie   ihren    neuen  Wohnsitz  aufschlagen,    das  im  Auslande 
begründete  Güterrecht  fort ;  das  ausländische  oder  das  (in  Ermang- 
lung  einer    Bestimmung,    die   jenes    massgebend    erklärt  hat)    dort 
nach  lit.  a   entstandene   heimathliche  Güterrecht.     Natürlich  sollen 
diese   Leute    nicht    schlechter    stehen,    als    die,   welche   aus   einem 
anderen    Kanton     einwandern.      Sie    können    desshalb    wie    andere 
Schweizer  von  Art.  20  Gebrauch  machen  und  durch  Erklärung  vor 
dem    Beamten    das  Güterrecht    des  jetzigen  Wohnsitzes   annehmen, 
in   welchem  Falle    dann    die,^es    für    sie    gilt.     Wie  für  andere  Ein- 
wohner   des  Kantons   kommen   für  Dritte    (z.  B.  die  Gläubiger  des 
Ehemannes)    diese  Verhältnisse  gar  nicht  in  Betracht;   für  sie  und 
ihre    Interessen    existirt    gegenüber    dem    Gattenpaar    immer    das 
Güterrecht  des  Wohnortes.   Ade.   Da  ist  zunächst  das  ausländische 
Recht  anzusehen.    Steht  dasselbe  der  Fortdauer  des  in  der  Schweiz 
am    ersten  Wohnsitz   begründeten  Güterrechts    nicht   entgegen ,    so 
gilt  dieses.     Stände  das  ausländische  Recht  ihm  aber  entgegen,  er- 
klärte  es   die    schweizerischen  Ehegatten  sich  im  Güterrecht  unter- 
worfen,   so    gälte   es   nicht,    sondern  das  Güterrecht  des  Auslandes 
käme  zur  Anwendung. 


470  äclilaLlcr. 

111.  Ausländer  in  der  Schwel z.  Auf  die  Ausländer, 
wolulie  in  der  Schweiz  ihren  Wohnsitz  haben,  sollen  die  „Vorschrif- 
ten des  gegenwärtigen  Gesetzes  entsprechende  Anwendung"  finden 
(Art.  32).  Vorbehalten  bleiben  die  „besonderen  Bestimmungen  der 
Staatsverträge"  (Art.  34).  Es  werden  hiernach  bei  uns  dem 
Deutschen,  Oesterreicher,  Italiener  etc.,  welcher  in  einem  Schweizer- 
kanton niedergelassen  ist,  mit  Bezug  auf  seine  Angelegenheiten  aus 
dem  Gebiete  des  Personen- ,  Familien-  und  Erbrechts  dieselben 
Landesrechte  zugesichert,  die  für  diese  Verhältnisse  dem  niederge- 
lassenen Schweizer  zustehen,  so  dass  z.  B.  der  Status  seiner  Kinder 
in  der  Schweiz  nach  deutschem ,  österreichischem  etc.  Recht  sich 
richtet  und  von  deutschen ,  österreichischen  etc.  Gerichten  ent- 
schieden wird,  das  eheliche  Güterrecht  desselben  nach  dem  kan- 
tonalen Rechte  seines  ersten  ehelichen  Wohnsitzes  zu  beurtheilen 
ist  und  beim  Wechsel  des  Domicils  bestehen  bleibt,  ausgenommen 
mit  Bezug  auf  die  Gläubiger ;  dass  er  von  Art.  20  Gebrauch  machen 
kann,  wie  ein  Schweizer;  dass  für  die  Erbfolge  in  seinen  Nachlass 
das  kantonale  Erbrecht  seines  letzten  Wohnsitzes  in  der  Schweiz 
gilt ,  sofern  er  nicht  letztwillig  sein  Heimathsrecht  für  massgebend 
erklärt  hat  u.  s.  w.  Alles  mit  dem  Vorbehalt,  dass  nicht  durch 
■Staatsvertrag  etwas  Anderes  vorgeschrieben  worden  ist,  wie  solches 
z.  B.  der  Fall  ist  für  die  Franzosen  in  Folge  des  Staatsvertrages 
mit  der  Schweiz  vom  15.  Juni  1869,  welcher  für  die  in  der  Schweiz 
lebenden  Franzosen  das  französische  Civilrecht  festgesetzt  hat.  „Es 
liegt  im  Wesen  des  modernen  Rechtsstaates",  sagt  die  Botschaft 
des  Bundesrathes  zum  Gesetzentwurfe  vom  28.  November  1887 
(B.-Bl.  1887,  III,  125),  „die  Vortheile  seiner  Gesetzgebung  allen 
Bewohnern  des  Staatsgebietes  in  gleicher  Weise  zu  Theil  werden  zu 
lassen.  Selbst  im  A^ormundschaftsrecht",  wo  doch  das  Nationalitäts- 
princip  vermöge  der  Unterstützungspflicht  des  Heimathsstaates  die 
meiste  Berechtigung  für  sich  hat,  zeigen  sich  als  Ausfluss  der 
im  allgemeinen  menschlichen  Interesse  liegenden  Rechtssorge  für 
Jedermann  deutliche  Uebergänge  zum  Territorialrecht". 

Bei  einem  Falle,  wo  analog  dem  für  die  Kantone  geltenden  Art.  15 
es  sich  um  die  Frage  der  Abtretung  einer  Vormundschaft  an  den  aus- 
wärtigen Staat  handelt,  fällt  natürlich  die  bei  I  oben  vorgeschriebene 
besondere  Begründung  (Gefährdung  der  Interessen  des  Mündels  oder 
der   Heimathsbehörde) ,    ebenso    die    Rechtssprechung    des    Bundes- 


D.  Schweiz. Bimdesges.  betr.  civilr.  Verhältn.  d.  Niedergelassenen  etc.     471 

gerichtes  weg.  Es  genügt  das  blosse  Begehren  der  ausländischen, 
zuständigen  Heimathsbehörde.  Auch  ist  die  Verpflichtung  zur  Ab- 
tretung insofern  hier  dadurch  eine  bedingte ,  als  es  ein  Staat  sein 
muss,  der  der  Schweiz  Gegenrecht  hält  (Art.  33).  Die  bundesräth- 
liche  Botschaft  bemerkt  zu  diesem  Artikel :  „  In  Bezug  auf  die  Vor- 
mundschaft scheint  uns  die  preussische  Vormundschaftsordnung  vom 
5.  Juli  1875  das  Kichtige  getroffen  zu  haben,  wenn  sie  die  Behörde 
des  Aufenthaltsortes  verpflichtet ,  auch  gegenüber  einem  Landes- 
fremden die  Vormundschaft  einzuleiten,  dieselbe  jedoch  auf  Ver- 
langen der  Behörden  des  Heimathsstaates  an  diese  abzugeben. 
Dass  deshalb  unwürdige,  liederliche  Landesfremde  unseres  Rechts- 
schutzes theilhaftig  werden,  ist  nicht  zu  besorgen,  da  uns  die 
Niederlassungsverträge  die  Heimschaffung  solcher  Leute  unbedingt 
gestatten " . 

Gemäss  den  U  ebergangsbestimmungen  (Art.  36)  hat  jeder 
Kanton  drei  Amtsstellen  zu  bezeichnen :  1.  Die  zur  Beurtheilung 
•der  Vormundschaftsstreitigkeiten  (Antrag  auf  Bevormundung  Seitens 
der  Heimathsbehörde ,  Begehren  um  Abtretung)  zuständigen  Be- 
hörden am  Sitz  der  Vormundschaft,  sofern  ein  Kanton  nicht  das 
Bundesgericht  hierfür  erst-  und  letztinstanzlich  gelten  lassen  will. 
2.  Die  Amtsstelle ,  welche  die  Erklärung  der  Ehegatten  über  An- 
nahme des  Güterrechts  des  neuen  Wohnsitzes  entgegen  zu  nehmen 
hat.  3.  Die  Behörde,  welche  in  Ausübung  quasi  vormundschaftlicher 
Obsorge  für  die  Ehefrau  diese  Erklärung  zu  genehmigen  hat.  — 
Das  Gesetz  tritt  nicht  sofort  in  Kraft,  sondern  erst  dann,  wenn 
nach  Eingang  dieser  Mittheilungen  Seitens  der  Kantone  vom  Bundes- 
rathe  eine  angemessene  Frist  angesetzt  und  abgelaufen  ist,  innerhalb 
deren  die  Vormundschaftsverwaltungen  auf  den  Wohnsitzkanton 
überzutragen  sind  und  die  entsprechende  Rechnungsablage  bewerk- 
stelligt ist  (Art.  35). 

Man  sieht,  die  Schweiz  hat  entgegen  der  neueren  Doktrin  ihre 
Statutenkollision  nicht  nach  dem  Heimathsprincip,  sondern 
nach  dem  Wohnsitzprincip  geordnet,  das  Heimathsprincip 
nur  ausnahmsweise  und  nur  da  als  massgebend  erklärt, 
wo  sich  ein  besonderes  Bedürfniss  hierfür  ergab.  Es  ist 
dies  nichts  Zufälliges ,  es  hängt  mit  den  eigenartigen  Verhältnissen 
zusammen,  wie  sie  in  der  Schweiz  sich  vorfinden.     Angewendet  auf 


472  Schlatter. 

schweizerische  Verhältnisse,  hätte  der  Vorschlag,  die  Dinge  nach  dem 
Heimaths-  oder,  wie  Mancini  es  nennt,  nach  dem  Nationalitäts- 
princip  zu  regeln,  zu  den  grössten  Anomalien  geführt. 

Die  erste  wird  von  Speiser  in  einem  Aufsatze,  betitelt  „Art.  46 
der  Bundesverfassung  und  das  internationale  Privatrecht"  (Zeit- 
schrift f.  Schweiz.  Recht,  N.  F.  IX,  270  ff.)  genannt.  Verfassungs- 
gemäss  ist  der  schweizerische  Niedergelassene  mit  Bezug  auf  seine 
politischen  Rechte,  wie  Stimmrecht  etc.  dem  Kantonsbürger  an 
seinem  Wohnsitze  völlig  gleichgestellt.  Civilrechtlich  würde  er 
beim  Heimathsprincip  von  jenem  verschieden  behandelt,  und  zwar 
macht  sich  die  Verschiedenheit ,  wie  Speiser  treffend  sagt ,  in  der 
Weise  geltend :  „  die  Gesetze,  die  er  erlassen  hilft,  treffen  ihn  nicht, 
und  die  Gesetze,  die  ihn  treffen,  nämlich  die  des  Heimathskantons, 
hilft  er  nicht  erlassen". 

Eine  zweite  Anomalie  ergibt  sich  durch  einen  Blick  auf  die 
Statistik.  In  Italien  leben  (wir  entnehmen  die  das  Ausland  be- 
treffenden Ziffern  der  eben  citirten  Zeitschrift)  etwa  0,2  Prozent 
Ausländer,  in  Preussen  0,75  Prozent,  in  Baden  1  Prozent,  in  Frank- 
reich steigt  die  Ziffer  auf  3  Prozent.  Die  Leute,  welche  Heimaths- 
recht  beanspruchen,  verschwinden  so  zu  sagen  unter  der  grossen 
Menge  derer,  für  welche  Landesrecht  gilt.  Ganz  anders  wird  dies 
Verhältniss  in  der  Schweiz.  Nach  der  Volkszählung  vom  1 .  Dezember 
1S89  waren  Landesfremde: 
im  Kanton  Bern  von  539305  Einwohnern  :  15  566  oder  3  Proz.^ 


Zug 

„      23120 

» 

886 

n 

4 

St.  Gallen 

„     229441 

7) 

18539 

n 

8 

Zürich 

,    339014 

» 

34607 

» 

10 

Neuenburg 

„       50075 

» 

10120 

n 

20 

Baselstadt 

„       74247 

» 

25598 

n 

34 

Genf 

,     106738 

» 

40705 

n 

38 

n  den  Kantonen  wohnen 

Bürger  anderer 

K 

ani 

im  Kanton 

Bern : 

40325 

oder  8  Proz. 

') 

"5                     *) 

Zürich : 

53510 

n 

16      , 

n              V 

St.  Gallen: 

48755 

n 

21      « 

V               n 

Genf: 

25  753 

j) 

24      , 

n              1? 

Zug: 

8297 

» 

35      , 

«9                  •? 

Baselstadt : 

26954 

7> 

36      , 

jj              » 

Neuen  bürg: 

50075 

r> 

'^>0      , 

D.  Schweiz. Bundesges.  betr.  civilr.  Verhältn.  d.  Niedergelassenen  etc.     473 

Und  wenn  man,  wie  hier  nöthig,  die  Landes  fremden  und 
Bürger  anderer  Kantone  zusam menzählt ,  so  wohnten  Nicht- 
kantonsbürger 

im  Kanton  Bern:  11  Proz.  der  gesammten  Einwohnerschaft, 

„  „  Zürich:  26  ,  „  „  „ 

„  St.  Gallen:  29  „  ,  „ 

»  »  Zug:  39  „  „  „  „ 

„  „  Genf:  62  „  „  „  „ 

„  „  Baselstadt:  70  „  „  ,  „ 

„  „  Neuenburg:  70  „  „  „  „ 

Mit  Eecht  wurde  es  daher  in  den  eidgenössischen  Käthen  als 
eine  „Ungeheuerlichkeit"  bezeichnet,  wenn  der  Bund  ein  Gesetz  er- 
liesse,  durch  welches  in  Kantonen,  die  in  der  Schweiz  eine  hervor- 
ragende Rolle  spielen,  eine  Grosszahl,  ja  die  Mehrzahl  der  Einwohner 
mit  Bezug  auf  wichtige  Rechtsbeziehungen ,  wie  Vormundschafts- 
wesen, Güterrecht  der  Ehegatten,  Erbrecht,  nicht  unter  das  Landes- 
recht, sondern  unter  ein  fremdes  Recht  gestellt  würden.  Italien 
und  andere  grosse  Länder  mögen  das  ohne  Schaden  thun,  die  Schweiz 
kann  es  nicht. 


Literarische  Anzei^^en. 


Dr.  Otto  Bahr,  Zur  Beurtheilung  des  Entwurfs  eines  bürger- 
lichen Gesetzbuchs  für  das  deutsche  Reich.  München.  1888. 

Die  vorliegende  Kritik  nimmt  unter  der  grossen  Zahl  ihrer 
Genossinnen  einen  der  hervorragendsten  Plätze  ein.  Sie  verdankt 
dies  in  erster  Linie  dem  inneren  Werthe  der  einzelnen  Ausführungen, 
daneben  aber  sicherlich  auch  der  Selbstbeschränkung,  welche  sich 
der  Verf.  auferlegt.  Er  bespricht  weniger  den  Entwurf  als  Ganzes, 
sondern  greift  eine  Reihe  von  (ungefähr  120)  Paragraphen  des  Entwurfes 
oder  Stellen  der  Motive  heraus  und  prüft  sie  auf  ihre  Richtigkeit 
und  praktische  Brauchbarkeit,  und  bringt  die  grossen  leitenden  Ge- 
sichtspunkte, von  denen  er  bei  Betrachtung  des  Entwurfes  ausgeht, 
bei  Besprechung  der  Einzelfragen  zur  Geltung.  Zugleich  bemüht 
sich  der  Verf. ,  die  von  ihm  beanstandeten  Stellen  des  Entwurfs 
durch  eigene  bessere  Vorschläge  zu  ersetzen. 

Auf  den  Inhalt  der  einzelnen  Ausstellungen  einzugehen,  ist  an 
dieser  Stelle  unmöglich.  Es  mag  nur  auf  einige  Parthien  hinge- 
wiesen werden ,  deren  treffende  Ausführungen  vor  allem  bei  der 
Ueberarbeitung  des  Entwurfs  zu  beachten  sein  werden;  als  solche 
sind  vor  allem  die  Erörterungen  über  Willenserklärung  ohne  Willen 
(Seite  14),  Quittung  (S.  37),  Schuldübernahme  (S.  44),  Verträge 
zu  Gunsten  Dritter  (S.  60),  Rechnungsablage  (S.  82),  abstraktes 
Schuldversprechen  (S.  85);  constitutum  possessorium  (S.  104);  Hypo- 
theken (S.  131)  zu  bezeichnen. 

Von  den  allgemeinen  Gesichtspunkten ,  auf  welche  der  Verf. 
aufmerksam  macht ,  ist  auf  einen  hinzuweisen ,  der  bisher  weniger 
Beachtung  als  andere  Mängel  des  Entwu)-fes,  wie  seine  Sprache, 
seine  mannigfachen  Willkürlichkeiten,  sein  vielfaches  Theoretisiren, 


Literarische  Anzeigen.  475 

gefunden  hat.  Bahr  macht  S.  63  und  an  anderen  Stellen  mit  Recht 
darauf  aufmerksam ,  dass  der  Entwurf  zu  häufig  die  Entscheidung 
der  Frage  von  der  Würdigung  des  einzelnen  Richters  abhängig 
mache,  dass  er  Urtheile  provozire,  bei  denen  man  sich  sagen  müsse: 
„der  Richter  hätte  ebenso  gut  anders  entscheiden  müssen".  Dieser 
Fehler  ist  thunlichst  auszumerzen.  Denn  in  allererster  Linie  soll 
doch  das  Gesetzbuch  nicht  auf  die  Entscheidung  streitiger  Fälle 
durch  den  Richter  hinzielen,  sondern  den  rechtsgeschäftlich  handeln- 
den Personen  als  Richtschnur  ihres  Vorgehens  dienen.  Dies  ist  aber 
unmöglich ,  wenn  das  Gesetz  so  häufig  seine  Entscheidung  von 
inneren  Vorgängen  eines  Kontrahenten  oder  gar  von  dem  billigen 
Ermessen  des  Richters  abhängen  lässt.  Es  ist  häufig  besser,  wenn 
das  Gesetz  positiv  eine  klare  Bestimmung  gibt,  die  vielleicht  einmal 
im  einzelnen  Falle  zur  Härte  werden  kann ,  als  w^enn  durch  den 
theoretischen  Hang,  allen  Fällen  gerecht  zu  werden,  Processe  über 
Thatfragen  veranlasst  werden ,  bei  welchen  jeder  der  Streitenden 
sich  berechtigt  glaubte,  dass  seine  Auffassung  dem  Gesetze  entspreche. 
Heidelberg.  Dr.  R.  Fürst. 

Lehr,  E.,  Elements  de  droit  civil  russe.  Russie,  Pologne, 
Provinces  baltiques.  2  vol.  Paris.  Plon^  Nourrit  et  Cie. 
1890.  8^  573. 

Von  Lehr  besitzen  wir  bereits  elementare  Vorstellungen  des 
spanischen,  englischen,  deutschen  und  russischen  Rechts  von  sehr 
verschiedenem  Werth.  Von  dem  russischen  Recht  erschien  der 
erste  Band  1877,  und  da  bedeutende  Aenderungen  in  der  Gesetz- 
gebung in  Aussicht  stunden,  so  wurde  die  Herausgabe  des  zweiten 
Bandes  verschoben,  bis  die  Ueberzeugung  unabweislich  wurde,  dass 
dieselben  nicht  über  das  Stadium  der  Vorbereitung  hinauskommen 
würden.  Der  erste  Band  umfasste  das  Familien-,  Sachen-  und  Intestat- 
recht;  daran  schliesst  sich  nun  im  zweiten  Bande  die  testamen- 
tarische Erbfolge,  das  Obligationenrecht,  die  Beurkundung  und  der 
Beweis  der  Rechte.  In  einem  Anhang  wird  das  Urheberrecht  nach 
der  russischen  Gesetzgebung,  die  Adoption  und  die  erblose  Ver- 
lassenschaft erörtert.  Das  Verfahren  des  Verfassers  bei  Ausarbei- 
tung dieses  zweiten  Theiles  ist  das  nämliche  geblieben  wie  bei  dem 
ersten  Bande,  und  die  Resultate  erheben  sich  daher  auch  nicht  über 
diejenigen  der  früheren  Arbeit.     Der  Verfasser   ist  weder   mit    der 


47G  Literarische  Anzeigen. 

Sprache,  noch  mit  dem  Gewohnheitsrechte,  noch  mit  der  Geschichte 
des  russischen  Rechtes  und  der  Rechtsprechung  der  Gerichte  hin- 
länglich vertraut,  um  eine  Darstellung  von  wissenschaftlichem 
Werthe  liefern  zu  können ;  was  dagegen,  gestützt  auf  die  erreich- 
baren Gesetzestexte  und  eine  Sammlung  von  Entscheidungen,  ge- 
leistet werden  konnte,  um  dem  juristischen  Publikum  eine  ungefähre 
Vorstellung  von  dem  russischen  Civilrechte  zu  geben,  hat  Lehr  red- 
lich geleistet.  Die  Aufgabe,  welche  er  sich  stellte,  gehörte  auch 
nicht  zu  denjenigen,  welche  ohne  umfassendere  Hülfsmittel  gelöst 
werden  konnten,  denn  es  handelte  sich  um  eine  vergleichende  Studie 
von  drei  verschiedenen  Rechten,  die  wenig  oder  nichts  mit  einan- 
der gemein  haben.  Das  baltische  beruht  auf  germanischen  Prin- 
cipien  und  dem  gemeinen  Rechte;  das  polnische  Recht  auf  dem 
Code  Napoleon;  das  russische  Recht  dagegen  auf  einer  Reihe  von 
kaiserlichen  Ukasen.  So  heterogene  Rechte  aber  entziehen  sich 
einer  wissenschaftlich  fruchtbaren  Vergleichung ;  sie  machen  aber 
auch  die  Annahme  Lehr's  unmöglich,  dass  dem  russischen  Rechte 
in  den  baltischen  Provinzen  subsidiäre  Kraft  zukomme;  beide  Rechte, 
das  russische  und  das  baltische,  gelten  innerhalb  ihrer  Territorien, 
aber  nicht  einen  Werst  darüber  hinaus. 

24.  October  1891.  König. 

Nordisk  Retsencyclopaedi.    Tolvte  Hefte:   De  nordiske  Rets- 

kilder  vedEbbe  Hertzberg  under  medvirkning  af  flere. 

Kjübenhavn,    Ojldendalske    Boghaudels  forlag  (F.  Hegel 

u.  Sön).   1890. 

Dieses  Werk,  über  das  zuletzt  in  Bd.  9  S.  272  d.  Ztschr.  be- 
richtet wurde,  naht  seinem  Abschluss.  Die  Geschichte  der  Rechts- 
überlieferung für  den  Norden  hat  in  jüngster  Zeit  so  grosse  Fort- 
schritte gemacht,  dass  eine  ausführliche  Darstellung  dringend 
erwünscht  war.  Im  Verein  mit  mehreren  bekannten  Gelehrten  hat 
Herr  Professor  Hertzberg  sich  hohes  Verdienst  um  diese  Schilde- 
rung nach  dem  jetzigen  Stande  der  Quellenforschung  und  Rechts- 
theorie erworben.  Wir  werden  hier  mit  der  ausgebreiteten 
Literatur  dieses  Gebietes  bekannt  gemacht,  für  das  man  neuestens 
alle  glänzenden  Fortschritte  der  Facsimilereproducirung  verwendet. 
In  dieser  Beziehung  verweise  ich  —  als  für  jede  grössere  Bibliothek 
ansehaifenswerthe   Werke    —    auf  die   photolithographische   Repro- 


Literarische  Anzeigen.  477 

duction  der  Yestgötaloven  von  Börtzell  und  Wieseigren  (Stock- 
holm 1889),  die  gleiche  Reproduction  des  Borgavthingets  Kristenret 
nach  Cod.  Tunsbergensis  (Christiania  1886)  und  das  1.  Heft  des 
V.  Bandes  der  Norges  gamle  Love  (vgl.  Bd.  9  Seite  275). 

A.  Teichmaun. 


Verzeiclmiss  der  von  dem  1.  Januar  1890  bis  27.  Januar  1891  bei  der 
Redaktion  eingegangenen  Schriften. 

Berolzheimer,  F.  Die  Entschädigung  unschuldig  Verurtheilter  und 
Verhafteter.     Fürth. 

Crome,  C.  Allgeraeiner  Theil  der  modernen  französischen  Privat- 
rechtswissenschaft als  Supplement  zu  den  deutschen  Lehr-  und 
Handbüchern.     Mannheim  1892. 

Cuq^.  Les  institutions  juridiques  des  Romains  envisagees  dans 
leurs  rapports  avec  l'etat  social  et  avec  les  progres  de  la  juris- 
prudence.     Paris  1891. 

Dangelmaier.     Geschichte  des  Militärstrafrechts.     Berlin  1891. 

Deutsche  Justiz-Statistik  bearb.  im  Reichsjustizamt.     Berlin  1891. 

Esmein,  A.     Le  mariage  en  droit  canonique  I.  u.  II.    Paris  1891. 

Fritze.  Zusammenstellung  der  Behörden,  welche  den  preuss. 
Landes-  und  den  deutschen  Reichs-Fiskus  zu  vertreten  befugt 
sind.     Berlin   1891. 

Fuchs,  C.  J.     Der  Waarenterminhandel. 

Fürsteuau,  H.  Das  Grundrecht  der  Religionsfreiheit  nach  seiner 
geschichtlichen  Entwicklung  u.  heutigen  Geltung  in  Deutsch- 
land.    Leipzig  1891. 

Goldschmidt,  L.  Handbuch  des  Handelsrechts.  3.  Aufl.  Bd.  I. 
1.  Abth.  Universalgesch.  d.  Handelsrechts.    1  Lief.  Stuttg.  1891. 

Gubser.  Die  Münzverbrechen  in  den  cantonalen  Strafgesetz- 
gebungen der  Schweiz. 

Hahets,  J.  Limburg'sche  Wijsdommer.  Dorpcostumen  en  ge- 
woonten,  bevattende  voornamelijk  Bank-Laaten  Boschrechten 
's  Gravenh.  1891. 

Hart,  Bushnel.     Introduction  to  the  study  of  federal  government. 

Hachenburg.  Der  allgemeine  Theil  des  Bürgerlichen  Gesetzbuchs. 
Mannh.  1892. 


478  Literarische  Anzeigen. 

Her^onhuhu.     Actiengesetz.     Berlin  1891. 

Hippel,  K.  V.     Die  Thierqulilerei  in  der  Strafgesetzgebung  dos  In- 

und  Auslandes.     Berlin  1891. 
Hiibrich,  Ed.     Das  Recht  der  Ehescheidung  in  Deutschland.     Mit 

einem  Vorwort  von  Zorn.     Berlin  1891. 

Koch,  R.  Vortrüge  u.  Aufsätze,  hauptsächlich  aus  dem  Handels- 
u.  Wechselrecht.     Berlin  1891. 

Kohler,  J.  Altindisches  Prozessrecht.  Mit  e.  Anh.  Altindischer 
Eigenthumserwerb.     Stuttg.  Enke  1891. 

Kiirtz.     Gefangenen-Transportwesen.     Berlin  1891. 

Koppers.  Zusammenstellung  der  in  den  einzelnen  Staaten  gelten- 
den' Bestimmungen  über  die  Verpflichtung  des  Klägers  zur 
Sicherheitsleistung  u.  s.  w.     Berlin  1891. 

Lacointa.     Code  penal  d'Italie. 

Lang.     Finlands  Sjöratt. 

Lehr.  Code  de  commerce  portugais.     Paris  1889. 

Lehr.     Code  civil  du  canton  de  Zürich  de  1887.    Paris  1890. 

Lombroso  u.  Laschi.  Der  politische  Verbrecher  und  die  Revo- 
lution in  anthropologischer,  juristischer  u.  staatswissenschaft- 
licher Beziehung  T.  IL  Hamb.  1872.     (Deutsch  von  Kurella). 

Liehe,  v.  Sachenrechtliche  Erörterungen  zum  Entwurf  eines  Bür- 
gerlichen Gesetzbuches.     Berlin  1891. 

3Iaatschapij  der  Belgischen  Reeders  en  Scheepbouwers  voor  de 
Binnenvaart.     1891.     Dasselbe  französisch. 

Meili.  Die  internationalen  Unionen  über  das  Recht  der  Weltverkehrs- 
anstalten und  des  geistigen  Eigenthums. 

Meisner.  Das  Preussische  Allgemeine  Landrecht  und  der  Entwurf 
des  Deutschen  Bürgerlichen  Gesetzbuchs. 

Meyer,  H.     Bemerkungen   über   die  Fassung   der  Strafurtheile. 

Mittelstein.     Beiträge  zum  Postrecht.     Berlin  1891. 

Oetker,  Fr.  Concursrechtliche  Grundbegriffe.  I.  Die  Gläubiger. 
Stuttgart  1891. 

Olshausen.     Strafgesetzbuch  für  das  Deutsche  Reich.     4.  Aufl. 

Olshausen.  Grundriss  zu  rechtswissenschaftlichen  Vorlesungen  an 
der  Kgl.  Forstakademie  zu  Eberswalde.     3.  Theil. 

Pfersche,  E.  Die  Irrthumslehre  des  Oesterr.  Privatrechts.  Graz  1891. 
Leuschner  u.  Lubensteg. 


Literarische  Anzeigen.  479 

Post,  A.  H.    Ueber  die  Aufgaben  einer  Allgemeinen  Rechtswissen- 
schaft.    Oldenburg  u.  Leipzig  1891. 
Rivier,  A.     Precis  du  droit  de  famille  romain  contenant  un  choix 

de  textes.     Paris  1891. 
Revue    de    droit    international    et   de    legislation  comparee.   XXII 

Nro.  4.     1890. 
Sclimidt,  Richard.     Die  Affatomie  der  Lex  Salica.    München  1891. 
Schmidt,  Richard.     Staatsanwalt  und  Privatkläger.   Leipzig  1891. 
Stadtrechteu  van  Nijmwegen  I.  1890. 
Staub.      Commentar    zum   Allgem.    Deutschen    Handelsgesetzbuch. 

1.  2.  Lief.     Berlin  1891. 
Stelling.     Heber  das  Umherziehen  als  Landstreicher. 
Stölzel.   Ueber  das  landesherrliche  Ehescheidungsrecht,  Berlin  1891. 
Storni,  G.     Norges  Gamle  love  indtil  1387.     Christ.  1890. 
Ubbelohde.     Ueber  die  Berechnung  des  tempus  utile    der  honora- 
rischen Temporalklagen.     Marburg  1891.     Elwert. 
Unzner.     Die  querela   inofficiosi  testamenti  nach  dem  Rechte  vor 

der  Nov.  115.     München  1891. 
Uppström,  W.      Sveriges   Grundlagar  jemte   de   vigtigaste  di-thö- 

rande  för  fattning  ar.     Stockholm. 
Uppström,  W.     Sveriges   Rikes   Lag   gillad  och  antagen    pa  riks- 

dagen  ar  1734  af  konungen  stadfästad  den  23.  Jan.  1736  jemte 

förordningar    och    stadganden     som    utkommit    tili    slutet    af 

Jan.  1591.     attonde  Auü.     Stockholm  1892. 
Yocke,  W.    Handbuch  der  Rechtspflege  in  den  Vereinigten  Staaten 

von  Nord-Amerika.     Köln  1891. 
Westermarck.     The  History  of  Human  Mariage. 
Wilmowski  u.  Levy.    Civilprozessordnung  6  Aufl.    Lief.  1,  2,  3. 

Berlin  1891. 
Zeitschrift  für  Internationales  Privat-  und  Strafrecht  von  Böhm. 

Bd.  I.    Erlangen  1891. 
Zeitschrift  für  das  Privat-  u.  öffentliche  Recht  der  Gegenwart  von 

Grünhut.     Bd.  18.     Heft  IV.    Bd.  19,  Heft  1  u.  2. 
Lyon-Caen   et  Renault.     Traite   de    droit  commercial  III.     Paris 

1891.     2.  Ed. 
Kohler,  J.     Lehrbuch  des  Concursrechts.     Stuttg.  1891. 
Kaerger,  K.    Zwangsrechte.    Ein  Beitrag  zur  Systematisirung  der 

Rechte.     Berlin  1892. 


585Ö32 


48*^  w  *-/  vf  -*•  fc-  Literarische  Anzeigen. 

Napoduuo,  Gabr.    La  dottrina  della    pena  e  del   sistema    peniten- 
ziario.     Nap.  1891. 

Pulleske,  Zur  Reform  des  Studiums  und  Vorbereitungsdienstes  der 
preuss.  Juristen.     Berlin  1892. 

Savigiiy,  L.  v.     Die  fran/.  Rechtsfakultäten.     Berlin  1891. 

Schiffner.     Der  Vermächtnissvertrag    nach    österr.   Recht  u.  s.  w, 
Leipzig  1891. 

Mühlbrecht.    Die  Literatur  des  Entwurfs  eines  B.G.ß.  f.  d.  D.  R. 
Berlin  1892. 

Kohler  u.  Peiser.  Aus  dem  babylon.  Rechtsleben.  IL  Leipzig  1891. 

Majoraiia.     I  primi  principii  della  Sociologia.    1891. 

Wlassack.     Römische  Prozessgesetze.    2.  Abthlg.  1891. 

Amira,  K.  v.,  Thierstrafen  und  Thierprozesse.     Innsbruck  1891. 

Lindheim.     Das  Schiedsgericht  im   modernen  Civilprozesse.    1891. 

Leoiihard.     Die  Lebensbedingungen  der  Rechtspflege.    1891. 

Lehmann,  B.    Die  Rechtsverhältnisse  der  Fremden  in  Argentinien. 
Berlin  1889. 

Mitteis,  L.    Reichsrecht  und  Volksrecht  in  den  östlichen  Provinzen 
des  röm.  Kaiserreichs.     Leipzig  1891. 

Wilmowski  u.  Levy,  Civilprozessordnung  und  Gerichtsverfassungs- 
gesetz etc.     6.  Aufl.    5.  Lief.     Berlin  1892. 

Kloeppel,  P.     Gesetz  und  Obrigkeit.     Leipzig  1891. 

Stintzing,  Wolfg.     Zur  Besitzlehre.     München  1892. 

Weher,  Max.     Römische  Agrargeschichte.    Stuttgart,  Enke.    1891. 

Zenthöfer,  Philipp.     Das  subjective  Recht.     Berlin  1891. 

Stauh,  Kommentar  zum  dt.  Handelsgesetzbuche.     Lieferung  3 — 5. 

Lehmann,    Gustav.-   Die   Ausweitung   der   debitorischen  Verzugs- 
setzung etc.     Dresden  1891. 

Mumm,  Rud.   Gefängnissstrafe  und  bedingte  Verurtheilung.     (Den 
Zeit-  und  Streitfragen.    Heft  87.) 

Biermann,  Joh.     Traditio  Acta.     Stuttgart  1891. 

Rehme,   Paul.     Die   geschichtliche  Entwicklung  der  Haftung   des 
Rheders. 


K  30  .E75  V.10  IMS 
Zeltschrift  für 
vergleichende  Rechtswissensc 


PONa*»jcAu  iNSirrurifc 

O«?    MEDIAEVAL    STUDIEfc 

59     QUEEN'S     PARK 


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